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DIE 8TRAFGESETZGEBÜNG DER GEGENWART.
DIE
STßAFGESETZGEBÜNG
DER
GEGENWART
IN
RECHTSVERGLEICHENDER DARSTELLUNG.
HEßAUSGEGEBEN
VON DKR
INTERNATIONALEN KRIMINALISTISCHEN VEREINIGUNG.
I. BAND:
DAS STßAFRECHT DER STAATEN EUROPAS.
BERLIN 1894.
VERLAG VON OTTO LIEBMANN,
BUCHHANDLUNG FÜR RECHTS- UND STAATSWISSENSCHAFTEN.
W. LÜTZOWSTRASSE 27.
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DAS STEAFEECHT
DEB
STAATEN EUROPAS.
IM AÜFTEAGE
DER
INTERNATIONALEN KRIMINALISTISCHEN VEREINIGUNG
UNTER MIT-^VIRICUK-Gf 'VON
B. Alimena, Neapel — L. W. C. van den Berg, Delpt — V. Berg, Luxemburg —
G. Grüben, Hannover — K. Dickel, Berlin — I. Foinitzki, Petersburg — J. Forsmann,
Helbingfors — S, Gabuzzi, Bellinzona — A. Gautier, Genf — B. Gbtz, Kristiania —
G. A. VAN Hamel, Amsterdam — K. Hiller, Czernowitz — Josefo witsch, Belgrad —
K. A. Kypriadbs, Athen — P. Th. Missm, Jassy — E. Olrik, Kopenhagen — A. Prinb,
Brüssel — A. Kiviäre, Paris — E. Bosenfeld, Halle — Sawas Pascha, Aix-en-Provenoe
— M. St. Schischmanov, Sofia — E. Schuster, London — H. Seuffert, Bonn —
J. J. Tavares de Mbdeiros, Lissabon — A. Teichmann, Basel — E. Turrel, Monaco —
W. Uppström, Stockholm — M. Wesnitsch, Bblgrad — J. v. Wlasbios, Budapest
HEBAÜSGEGEBEN
vow
Dr. FRANZ VON LISZT,
O. ö. PROFESSOR DER RBCnTE AN DER DKIVERSTTAT HALLS.
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BERLIN 1894.
VERLAG VON OTTO LIEBMANN.
BUCHHANDLUNG FÜR RECHTS- UND STAATSWISSENSCHAFTEN.
W. LÜTZOWSTRASSE 27.
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Die Verlagsbuchbandluug behält sich das Übersetzungsrecht und alle anderen Rechte auf das
ganze Werk, wie auf einzelne Teile desselben, ausdrücklich vor.
^i^^ . ^^ (,, /f ^/
VERZEICHNIS DER MITARBEITER
DBB
ERSTEN BANDES
A LIM ENA, Dr. Bern., 0. 6. Professor an der Universität Neapel.
Berg, Dr. L. W. C. van den, Professor des mohamedanischen Rechts, Delft.
Berg, Viktor, Advokat, Luxemburg.
Grusen, Dr. Georg, Hannover.
Dickel, Dr. K., Amtsrichterund Lehrer an der Forstakademie in Eberswalde, Berlin
FoiNiTZKi, Dr. I WAN, Generaladvokat am Kassationssenat, o. ö. Professor a. d. Universität
St. Petersburg.
Forsmann, Dr. Jaakko, o. ö. Professor an der Universität Helsingfors.
Gabuzzi, Stefano, Advokat, Bellinzona.
Gautier, Dr. A., o. ö. Professor an der Universität Genf.
Getz, Dr. B., Oberreichsanwalt, Kristiania.
Hamel, Dr. G. A. van, o. ö. Professor an der Universität Amsterdam.
Hiller, Dr. K., Regierungsrat, o. 0. Professor an der Universität Czemowitz.
Josefowitsch, Dr., Belgrad.
Kypriades, Dr. Konst. A., Advokat, Athen.
Liszt, Dr. Franz, o. ö. Professor der Rechte an der Universität Halle a. S.
MissiR, P. Th., Professor an der Universität Jassy.
Olrik, Eyvind, Kopenhagen.
Prins, Ad., Generalinspektor der Gefängnisse, o. ö. Professor an der Universität Brüssel.
Rivii:RE, Albert, ehem. Richter, I. Schriftfahrer der „Sooiete generale des prisons**, Paris.
Rosenfeld, Dr. Ernst, Halle a. S.
Sa WAS Pascha, ehem. türkischer Staatsminister, Aix-en -Provence.
Schischmanov, Dr. M. St. , Richter am obersten Kassationshof, Sofia.
Schuster, Dr. Ernst, Barrister-at-Law, London.
Seuffert, Dr. H., Geh. Justizrat, o. 0. Professor an der Universität Bonn.
Tavarer de Medeiros, J. J., Advokat, Lissabon.
Teichmann, Dr. A., o. ö. Professor an der Universität Basel.
TuRREL, Edmond, Staatsrat und Generaladvokat, Monaco.
Up P STRÖM, Dr. WiLH., Häradshöfding, Stockholm.
Wesnitsch, Dr. Milenko J., Belgrad.
Wlassics, Dr. Jul. von, o. ö. Professor an der Universität Budapest.
INHALTSVERZEICHNIS.
(Die genauen Inhaltsübersichten sind der Darstellung der einzelnen L&nder vorangestellt)
Seit«
ZUR EINFÜHRUNG. Rückblick und Zukunftspläne. Von Prof. Dr. Feanz von
LiszT, Halle XIII
I. DEUTSCHES REICH. Von Geh. Justizrat Prof. Dr. Hermann Seüffekt, Bonn 1
I. Die Grundlagen der deutschen Strafgesetzgebung ( S. 3). II. Herstellung und
Umbildung des StGB. (S. 9). III. Der Inhalt des StGB. (S. 16). IV. Die Spezial-
gesetzgebung des deutschen Reiches (S. 30). V. Das besondere Strafrecht der
Beamten und die Disziplinarstrafgewalt (S. 66). VI. Das Militärstrafrecht (S. 69).
VII. Die Landesstrafgesetzgebung (S. 84). Anhang: Litteratur und Praxis
(S. 109).
n. ÖSTERREICH-UNGARN 113
1. Österreich. Von Regierungsrat Prof. Dr. Karl Hiller, Czemowitz. 115
I. Die geschichtlichen Grundlagen des österreichischen Strafrechts (S. 115).
n. Die gesetzlichen Grundlagen des geltenden Rechts (S. 127). III. Das Straf-
gesetz für Bosnien und Herzegowina (S. 152). IV. Die übrigen Gesetze straf-
rechtlichen Inhaltes (S. 153). V. Litteratur des Österreichischen Strafrechts
(S. 156). VI. Die Reform der Strafgesetzgebung und die Entwürfe seit 1861
(S. 158).
2. Ungarn. Von Prof. Dr. Julius v. Wlassics, Budapest .... 162
I. Die kodifikatorischen Bestrebungen (S. 162). II. Das geltende Recht (S. 168).
ni. Strafrechtliche Sondergesetze (S. 176). IV. Litteratur, Sammlungen von
Gesetzen und Entscheidungen (S. 182). V. Das Strafrecht von Kroatien-
Slavonien (S. 184).
lU. DIE NIEDERLANDE. Von Prof. Dr. G. A. van Hamel, Amsterdam. (Über-
setzung von Dr. Georg Grusen, Hannover) 187
I. Das Mutterland (S. 189). II. Das Strafrecht der Kolonieen (S. 202).
IV. DIE SKANDINAVISCHEN LÄNDER 205
1. Dänemark. Von Eyvind Olrik, Kopenhagen. (Übersetzmig von
Dr. Ernst Rosenfeld, Halle a. S.) 207
I. Das Mutterland (S. 207). 11. Nebenländer und Kolonieen (S. 224). III. Lil^
teratur, Rechtsprechung, Gesetzsammlungen (S. 225).
2. Norwegen. Von Oberreichsanwalt Dr. B. Getz, Kristiania . . . 227
I. Allgemeiner Teü (S. 227). 11. Besonderer Teil (S. 232).
3. Schweden. Von Häradshöfding Dr. Wilh. Uppström, Stockholm . 244
I. Quellen, Gesetzes-Texte. Litteratur (S. 244). II. Geschichtliche Vor-
bemerkungen (S. 245). III. Die geltende Gesetzgebung (S. 247). IV. Die all-
gemeinen strafrechtlichen Bestimmungen (S. 252).
Inhaltsverzeichnis. VII
Seito
V. DER RUSSISCHE STAAT 267
1. Das russische Kaisertum. Vom Generaladvokat Prof. Dr. Iwan
FoiNiTZKi, St. Petersburg 269
I. Geschichtlicher Überblick des russischen Strafrechts (S. 269). II. Das gel-
tende russische Strafrecht (S. 281).
2. Das Grossfürstentum Finnland. Von Prof. Dr. Jaakko FoBS-
MANN, Helsingfors 313
I. Einleitung (S. 313). II. Das StGB. v. 1889 (S. 316). III. Die strafrecht-
lichen Bestimmungen ausserhalb des StGB. fS. 326). IV. Rechtsprechung (S. 328).
VI. DIE BALKANSTAATEN 329
1. Bulgarien. Von Richter Dr. M. St. Schischmanov, Sofia .... 331
2. Griechenland. Von Advokat Dr. Konstantin A. Ktpbiades, Athen 336
3. Montenegro. Von Amtsrichter Dr. Kael Dickel, Berlin .... 339
4. Rumänien. Von Prof. P.TH.Mi88iK,Jas8y. (Übersetzung von Dr. Georg
Cbusen, Hannover) 343
5. Serbien. Von Dr. Milenko J. Wesnitsch und Dr. Josefowitsch,
Belgrad 352
VII. DIE SCHWEIZ 359
1. Die deutsche Schweiz (einschliesslich der Bundesgesetzgebung) von
Prof. Dr. A. Teichmann, Basel 361
I. Einleitung. Quellen und Litteratur (S. 361). U. Erste Abteilung. Eidgenössi-
sches (Bundes-) Strafrecht (S. 368). III. Zweite Abteilung (S. 392).
2. Die französische Schweiz. Von Prof. Dr. A. Gaütieb, Genf. (Über-
setzung von Dr. Geobg Cbusen, Hannover) 401
(Kantone Waadt, Wallis, Freiburg, Genf, Neuenburg.)
I. Die Quellen (S. 401). II. Die Grundzüge der StR. der französischen Schweiz
(S. 412).
3. Kanton Tessin. Von Advokat Stefano Gabuzzi, Bellinzona. (Über-
setzung von Dr. Geobg Cbusen, Hannover) 421
I. Einleitung (S. 421). IL Der allgemeine Teil des StGB. (S. 423). III. Die
einzelnen strafbaren Handlungen und ihre Bestrafung (S. 431). IV. Strafrecht-
liche Nebengesetze (S. 431).
Vm. PRANKREICH — BELGIEN — LUXEMBURG — MONACO .... 433
1. Frankreich. Von AlbebtRivtIibe, ehem. Richter, Paris. (Übersetzung
von Dr. Geobg Cbusen, Hannover) 435
I. Die allgemeinen Grundsätze des Strafrechts (S. 435). H. Der besondere Teil
des Strafrechts (S.453). IIL Das Strafrecht der französischen Kolonieen (S.460).
2. Belgien. Von Generalinspektor Prof. Adolf Pbins, Brüssel. (Über-
setzung von Dr. Geobg Cbusen, Hannover) 461
I. Der Code penal (S. 461). IL Die übrigen Gesetze strafrechtlichen Inhalts.
(S. 466).
3. Luxemburg. Von Advokat Viktob Bebg, Luxemburg. (Übersetzung
von Dr. Geobg Cbusen, Hannover) 472
4. Monaco. Von Dr. Geobg Cbusen, Hannover und Generaladvokat
Staatsrat Edmond Tübbel, Monaco 475
VIII Inhaltsverzeichnis.
Seite
IX. DIE IBEEISCHE HALBINSEL 481
1. Spanien. Von Dr. Ebnst Rosenfeld, Halle a. S 483
I. Bie geschichtliche Entwicklung des spanischen StE. (S. 483). ü. Das geltende
spanische StGB. (S. 502). HI. Das Spezialstrafrecht(S. 526). IV. Das Militär-
strafrecht (S. 531). V. Das Stß. der Kolonieen (S. 533).
2. Portugal. VonAdvokat J.J.Ta vares de Medeiros, Lissabon. (Über-
setzung von Dr. Geoeg Cbusen, Hannover) 535
I. Ursprung und geschichtliche Entwicklung des portugiesischen StR. (S. 535).
n. Litteratur-übersicht(S. 537). HI.DasStGB. vom 16. September 1886 (S. 538).
X. DIE ITALIENISCHE HALBINSEL. Von Prof. Dr. Bernardino Alimena,
Neapel. (Übersetzung von Dr. Georg Grusen, Hannover) 579
1. Italien nebst Kolonieen 581
L Einleitung (S. 581). II. Das heute geltende Recht (S. 588). IIL Das StR. der
Kolonieen (S. 603). IV. Litteratur-Übersicht (S. 603)
2. San Marino 606
XI. GROSSBRITANNIEN. Von Barrister-at-Law Dr. Ernst Schuster, London . 609
1. England und Irland 611
L Einleitung (S. 611). IL Allgemeiner Teil (S. 622). IIL Besonderer Teil (S. 636).
2. Schottland 676
I. Einleitung (S. 676). IL Allgemeiner Teil (S. 679). IIL Besonderer Teil
(S. 683). Nachträge (S. 690).
XII. DIE TÜRKEI 691
1. Die islamitischen Gerichte und die türkische Gerichts-
verfassung. Von Savvas Pascha, ehem. Staatsminister, Aix-en-
Provence. (Übersetzung von Dr. Georg Grusen, Hannover) . . . 693
I. Einleitung (S. 693). IL Geschichte der islamitischen Gerichtsverfassung
(S. 694). in. Die heutige Organisation der Gerichte (S. 701).
2. Das Strafrecht der Türkei. Von Prof. Dr. L. W. C van den Berg,
Delft. (Übersetzung von Dr. Georg Grusen, Hannover) .... 710
I. Die geschichtliche Entwicklung des türkischen StR. (S. 710). IL Das tür-
kische StR. seit 1858 (S. 723). HI. Das StR. des Vizekönigreiches Ägypten
(S. 735).
ZUR EINFÜHRUNG.
RÜCKBLICK UND ZÜKÜNFT8PLÄNB.
Von
Dr. FRANZ VON LISZT,
0. Ö. PROFESSOR DER RECHTE AN DER UNIVERSITÄT HALLE
I.
Im zweiten Jahre ihres Bestehens, auf der Versammlung zu Bern im
Jahre 1890, hat die Internationale kriminalistische Vereinigung auf Antrag
des Schreibers dieser Zeilen den Beschluss gefasst, eine rechtsvergleichende
Darstellung des heute in Europa geltenden Strafrechts in Angriff zu
nehmen. Ein engerer Ansschuss, bestehend aus den Herren van Hamel,
y. Liszt, Prins, als Mitgliedern des leitenden Ausschusses, sowie weiter den
Herren Gauckler, Lammasch und Stooss, erhielt den Auftrag, den Plan
des Unternehmens genauer festzustellen und für die Sicherung der finanziellen
Grundlagen seiner Durchführung zu sorgen.
Die Anregung zu diesem Antrage hatte ein wertvolles Geschenk gegeben,
das der eidgenössische Bundesrat am 14. August 1890 den auswärtigen Teil-
nehmern an unserer Versammlung überreichen zu lassen die Aufmerksamkeit
hatte. Es war das eben erschienene Buch des Bemer Rechtslehrers Karl
Stooss: „Die schweizerischen Strafgesetzbücher zur Vergleichung zusammen-
gestellt und im Auftrage des Bundesrates herausgegeben^^ (n^es codes pens^x
suisses. Ranges par ordre de matiöres et publi6s k la demande du conseil
f^deral.^) Meinen Lesern brauche ich die eigenartige Bedeutung dieses von
uns allen freudig begrüssten Werkes nicht auseinanderzusetzen. Sie wissen
alle, dass Stooss vom Bundesrate den Auftrag erhalten hatte, die Vorarbeiten
für ein einheitliches eidgenössisches Strafgesetzbuch zu beginnen und thunlichst
zu fördern; sie wissen alle, dass Stooss mit der ihm eigenen ruhigen Entr
schlossenheit an die grosse Aufgabe herangetreten ist und die Vorarbeiten zu
glücklichem Ende geführt hat. Das Ergebnis der ebenso umfassenden wie
tiefgehenden Untersuchungen von Stooss liegt heute in zwei weiteren Bänden
vor, die den Titel führen: „Grundzüge des schweizerischen Strafrechts", und
von denen der erste 1892, der zweite 1893 erschienen ist. Sofort hat auch
die Ausarbeitung des Entwurfes selbst begonnen, die, wieder in die bewährten
Hände unseres Berner Freundes und Kollegen gelegt, rüstig vorwärts schreitet.
Vor wenigen Monaten ist der Vorentwurf des allgemeinen Teiles eines schwei-
zerischen Strafgesetzbuchs deutsch und französisch der Öffentlichkeit übergeben
worden. Und während ich diese Zeilen schreibe, erhalte ich den Bericht über
die Verhandlungen der Expertenkommission, die das eidgenössische Justiz-
departement im September und Oktober 1893 zusammenberufen hatte.
Es wird zweckmässig sein, den Arbeitsplan klar zu legen, den Stooss
entworfen und durchgeführt hat. Denn von diesem Arbeitsplan sind wir aus-
XII V. Liszt.
gegangen, als wir, im Schosse des Redaktionsaasschusses, über die Erfüllung
der uns gestellten Aufgabe zu beraten uns anschickten.
Die Vorarbeiten zu dem Entwurf eines eidgenössischen Strafgesetzbuchs
sollten nach Ansicht von Stooss ein doppeltes umfassen. Es handelte sich
erstens dai'um, das kantonale Strafrecht selbst, also wenn ich so sagen darf
das Urmaterial für das zu schaffende einheitliche Strafgesetzbuch, allgemein
zugänglich zu machen. Und zweitens sollte nachgewiesen werden, welches
die übereinstimmenden, welches die auseinandertretenden Grundgedanken des
vielgestaltigen Eechts der einzelnen Kantone seien. Erst auf dieser breiten
und sicheren Grundlage sollte der stolze Bau eines Strafgesetzbuchs für die
schweizerische Eidgenossenschaft errichtet werden.
Es leuchtet wohl ein — und das war für Stellung und Annahme meines
Antrages massgebend — dass die umfangreichen „Vorarbeiten", auch abgesehen
von dem weiteren Ziele, dem zu dienen sie berufen waren, eine durchaus
selbständige und kaum hoch genug zu veranschlagende Bedeutung bean-
spruchen dürfen. Ein reiches, zerstreutes, kaum Einem von uns zugängliches
Material ist übersichtlich und bequem zusammengestellt. Und in die toten
Buchstaben des Gesetzes ist Leben und Bewegung gebracht; die treibenden
Kräfte sind uns klar gelegt, Verwandtschaften ergeben sich, wo wir sie nicht
gesucht hätten, selbständige Entwicklung tritt uns entgegen, wo wir, wegen
gemeinsamer Wurzel, gleichförmige Ausbildung erwarteten. Wer je in früheren
Jahren vergebliche Mühe darauf verwandt hat, Auskunft über die Behand-
lung irgend einer strafrechtlichen Frage in dem Rechte der Schweizer Kan-
tone zu erhalten, der — aber auch nur der — wird die wissenschaftliche
Bedeutung der Thatsache völlig zu würdigen wissen, dass er nunmehr in den
drei Bänden der Stooss'schen „Vorarbeiten" die Lösung jedes Zweifels in
wenigen Augenblicken findet.
Hier setzt unser Beschluss vom 14. August 1890 ein. Konnte es für die
jugendkräftige und arbeitsfrohe Internationale kriminalistische Vereinigung eine
schönere und grössere Aufgabe geben, als für das Recht aller Länder Europas
zu versuchen, was Stooss für die Kantone der Schweiz unternommen und zu
jener Zeit in dem schwierigeren Teile bereits gelöst hatte? Stand auch für
uns als weiteres Ziel nicht die Ausarbeitung eines europäischen Strafgesetz-
buchs in Frage (dass dieser Gedanke nicht gar so Utopist isch ist, als es auf
den ersten Blick scheinen möchte, hoffe ich noch zeigen zu können), so musste
doch eine „Rechtsvergleichende Darstellung des in Europa geltenden Strafrechts"
an sich von unschätzbarem Werte für jeden sein, in dessen Arbeitsgebiet das
Strafr^cht fällt: nicht nur für den Gesetzgeber, der seinem Volke ein neues
nationales Strafgesetzbuch zu geben berufen ist und der dabei die in anderen
Ländern gemachten Fortschritte und Erfahrungen vollständig benutzen möchte;
nicht nur für den Gelehrten, der rechtsvergleichende Studien um ihrer selbst
willen treibt und zu wissenschaftlicher Methode sich durchzuringen strebt;
sondern auch für den Richter, den Staatsanwalt, den Verteidiger, denen
die häufig auftauchenden Fragen nach ausländischem Strafrecht schlimme
Zur Einführung. Rückblick und Zukunftspläne. XIII
Sorgen zu bereiten pflegen; und für den Diplomaten, dem der Auslieferungs-
vertrag allein ein Buch mit sieben Siegeln bleibt, solange er über das Straf-
recbt des Landes, mit dem der Vertrag geschlossen ist, nicht raschere und zuver-
lässigere Auskunft sich zu verschaffen vermag, als die amtliche Nachfrage sie
bietet. Und je weiter der wirtschaftliche Verkehr seine Kreise zieht, je fester
die die Völker verbindenden Handelsbeziehungen sich verknüpfen und ver-
schlingen, desto wichtiger muss es selbst für den nichtjuristischen Geschäfts-
mann sein, das Strafrecht der fernen Länder zu kennen, in welchen seine
Thatkraft neue Werte geschaffen oder neue Absatzquellen eröffnet hat: ver-
bürgt ihm doch nicht das Privatrecht allein den Schutz seiner Interessen!
Die Schwierigkeiten des Unternehmens schreckten uns nicht. Nur quan-
titativ, nicht qualitativ war unsere Aufgabe eine andere, als die des Berner
Kollegen, der nicht nur deutsche, französische und italienische Rechtsbegriffe
zur einheitliclien Darstellung zu verbinden, sondern auch die Überlieferungen
der Urkantone mit den Bedürfnissen des Verkehrslebens unserer Tage zu ver-
söhnen und die Technik des Fachjuristen volkstümlicher Rechtsbildung dienst-
bar zu machen hatte. Was der eine Mann für die ganze Schweiz zu Wege
gebracht, das konnte die gesammelten Kräfte unserer Vereinigung nicht über-
steigen. So kam der Beschluss vom 14. August 1890 zu Stande. Aufgabe des
gewählten Ausschusses war es, auf Grund nüchterner Überlegung durchzuführen,
was in einer Stunde der Begeisterung beschlossen war.
II.
Der von Stooss aufgestellte Arbeitsplan bildete den Ausgangspunkt und
die Grundlage für die Beratungen und Beschlüsse des Redaktionsausschusses.
Dass er für die Lösung der uns gestellten Aufgabe nicht ohne weiteres und
nicht unverändert zur Anwendung gelangen könne, stand von allem Anfange
an ausser Zweifel. Genauere Prüfung ergab aber sehr bald, dass weitgehende
Abweichungen unvermeidlich waren, sollte das Unternehmen zu gedeihlichem
Ende geführt werden.
Schon die Aufgabe selbst, wie sie uns durch den Berner Beschluss
von 1890 vorgezeichnet war, musste anders und weiter gefasst werden. Die
Beschränkung auf Europa erwies sich als undurchführbar. Wenn das
mohammedanische Strafrecht der europäischen Türkei in die Darstellung ein-
bezogen wurde, so konnte das uns viel näher stehende Recht der Vereinigten
Staaten Nordamerikas nicht fehlen, so durften die spanischen und portugiesischen
Tochterrechte in Süd- und Mittelamerika nicht übergangen werden. Den Aus-
tausch der Güter wie der Rechtsideen hemmt das atlantische Weltmeer un-
gleich weniger als der Balkan. Europa ist ein geographischer, kein rechts-
philosophischer Begriff. Gegen diese Erkenntnis gab es kein Widerstreben.
Mochten die Schwierigkeiten auch ins Ungeahnte wachsen — es musste der
Versuch gemacht werden, sie zu überwinden. So ist, ohne dass wir darüber
viel Worte verloren hätten, aus dem Strafrecht Europas die „Strafgesetzgebung
der Gegenwart" geworden.
XIV V. Li8zt.
Aber auch damit war eine endgültige Abgrenzung noch nicht gegeben.
Auf der einen Seite bedurfte der von uns gewählte und dauernd beibehaltene
Ausdruck „ Straf gesetzgebung" selbst der erweiternden Auslegung. Es konnte
und durfte keine Rede davon sein, das Recht der Staaten ohne strafrechtliche
Kodifikation aus unserer Darstellung auszuschliessen. Gehört doch zu diesen
Staaten in erster Linie das englische Weltreich selbst. Ohne eingehendste
Berücksichtigung des englischen common law ist jede rechtsvergleichende Dar-
stellung des Strafrechts wertlos.
Auf der anderen Seite konnte es nicht unsere Aufgabe sein, „ethnologische
Jurisprudenz" zu treiben. Nur das entwickelte Recht der Kulturvölker kann
Gegenstand rechtsvergleichender Behandlung sein. Aber was sind Kultur-
völker? Wie schwer eine juristisch scharfe Antwort auf diese Frage gegeben
werden kann, weiss jeder, der dem Begriff des Völkerrechts näher zu treten
versucht hat. Jahr aus Jahr ein erweitert sich der Umkreis der Länder und
Völker, die, wenn auch zunächst nicht als völlig gleichberechtigte Mitglieder,
in die grosse den Erdball umspannende Rechtsgenossenschaft der Kulturstaaten
eintreten. Man braucht nur einen Blick auf die Unterschriften unter den
Wiener Protokollen des Weltpostvereins (1891) zu werfen, um die vor zwei
Jahrzehnten noch kaum zu ahnenden Fortschritte in ihrer ganzen Tragweite
zu erkennen. Mit der unwiderstehlichen Kraft eines Naturgesetzes wirkt die
Attraktionskraft des völkerrechtlichen Verbandes.
Der Begriff der Kulturstaaten durfte daher nicht zu eng gefasst werden.
Die Abgrenzung freilich bleibt mehr oder weniger eine willkürliche. Wir
haben die Entscheidung nach bestem Wissen getroffen; aber es darf und soll
nicht verschwiegen werden ^ dass auch äusserliche Momente bei der Ent-
scheidung eine Rolle gespielt haben. Wenn wir einerseits da und dort eine
zuverlässige Auskunft mit dankbarer Freude verzeichneten, obwohl sie uns
über die selbstgesteckte Grenze hinausführte, haben wir anderseits uns be-
scheiden müssen, wo unsere Quellen uns im Stiche liessen. Mögen Über-
schreitungen wie Lücken uns freundlich verziehen werden!
Mit dem Hinausgreifen über Europa war aber gleichzeitig eine wichtige
Abweichung von dem Stooss 'sehen Vorbilde geboten. Wir hatten zuerst daran
gedacht, vor allem den Wortlaut der Gesetze selbst allgemein zugäng-
lich zu machen, gleichgiltig, ob in der von Stooss gewählten oder in irgend
einer anderen Form. Wir sahen uns gezwungen, diesen Gedanken wieder
fallen zu lassen. Eine Ausgabe der „Strafgesetze des Erdballs'^ hätte unbe-
dingt zunächst den Text in der Ursprache bringen müssen; denn jede eingehende
wissenschaftliche Forschung ist auf den Wortlaut des Gesetzes unbedingt an-
gewiesen. Dem Original aber hätte, der von uns einmal angenommenen Zwei-
sprachigkeit des ganzen Unternehmens gemäss, je eine deutsche und eine fran-
zösische Übersetzung beigefügt werden müssen. Zu den kaum überwindlichen, und
nicht blos auf dem finanziellen Gebiete liegenden, Schwierigkeiten einer solchen
Ausgabe traten schwere Bedenken gegen ihre Brauchbarkeit. Ein Gesetzbuch
ohne Einführung und Erläuterung wird auch den gewandtesten Juristen häufig
Zur Einführung. Rückblick und Zukunftspläne. XV
genug in die Irre führen. Tieferes Eindringen in den Geist eines nationalen
Strafrechts, wie es die Wissenschaft erfordert, ist unmöglich ohne Kenntnis
seiner Entwicklungsgeschichte, seiner Grundgedanken, seiner Litteratur, seiner
Rechtsprechung. So kamen wir von zwei Seiten her zu demselben Gedanken:
Die Ausgabe der Strafgesetzbücher zu ersetzen durch eine systematische
Einführung in das Strafrecht der einzelnen Länder. Für die grossen
Gebiete des nicht-kodifizierten Rechts war ja von vornherein jede andere
Möglichkeit ausgeschlossen. Der Privatarbeit musste und konnte es überlassen
bleiben, die wünschenswerten Übersetzungen ausländischer Strafgesetzbücher
allmählich zu beschaffen. Wie die Soci6t6 de 16gislation compar6e zu Paris,
so ist die Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft seit Jahren mit
Erfolg nach dieser Richtung hin thätig. Da wie dort wird der Eifer auch
in Zukunft nicht erlahmen.
Nach Erledigung dieser Vorfrage konnten nunmehr die Grundzfige des
Unternehmens nach seiner wissenschaftlichen Seite hin rasch festgestellt
werden. Es sollte eine deutsche und eine französische Ausgabe ver-
anstaltet werden. Jede von ihnen wurde auf fünf Bände gross Lexikonoktav
zu etwa je 60 Druckbogen (von 16 Seiten) berechnet. Der L Band sollte die
systematische Einführung in das Strafrecht der einzelnen Länder, der IL
und IIL die allgemeinen Lehren des Strafrechts, der IV. und V. die einzelnen
strafbaren Handlungen umfassen.
Die „Sicherung der finanziellen Grundlagen" des Unternehmens war
mir von dem Ausschusse überlassen worden. Nach eingehenden Unterhand-
lungen kam eine vorläufige Vereinbarung zwischen mir und dem Verlags-
buchhändler Herrn Otto Liebmann (Berlin) zu Stande. Dieser erklärte,
das geschäftliche Risiko für den I. Band ohne weiteres, für die übrigen Bände
dann zu übernehmen, wenn eine genügende Anzahl von Subskribenten ge-
sichert sei. In der Sitzung des Redaktionsausschusses zu Kristiania am
25. August 1891 wurde die Vereinbarung gutgeheissen, nachdem als Probe
von Satz, Format und Papier einerseits, der Darstellung anderseits die kurze
Abhandlung von Dr. E. Rosenfeld „Die Tötungen" vorgelegt worden war.
Tags darauf, den 26. August 1891, beauftragte mich die dritte Jahresver-
sammlung der Internationalen kriminalistischen Vereinigung, den Vertrag mit
Herrn Otto Liebmann auf der bezeichneten Grundlage abzuschliessen. Damit
war wenigstens das Erscheinen des ersten Bandes endgültig gesichert.
IIL
Im Spätherbst 1891 konnte somit an die wissenschaftliche Vorbereitung
des I. Bandes herangetreten werden. Der Redaktionsausschuss genehmigte
den in Halle ausgearbeiteten Plan, der in den „Mitteilungen der Internationalen
kriminalistischen Vereinigung" III 390 zum Abdruck gebracht ist. Für die
Durchführung des Programms ist der Unterzeichnete, dem der Ausschuss
völlig freie Hand gelassen hat, allein verantwortlich.
Ein Blick in den vorliegenden, die Staaten Europas umfassenden, I. Band
XVI V. Liszt.
zeigt, dass ich nach mehreren Eichtungen hin von jenem Programm abgewichen
bin. Diese eigenmächtigen Abweichungen habe ich zu rechtfertigen.
Zunächst war das Programm von der Aufstellung der „Ländergruppen"
ausgegangen, die sich aus Dr. Rosenfeld 's Probearbeit über die „Tötungen"
ergeben hatten. Durch die Einreihung der einzelnen Länder in die eine oder
die andere der aufgestellten vier Gruppen (1. englisch-nordamerikanische Gruppe,
2. nord- und südromanische Gruppe, 3. deutsche Gruppe, 4. Gruppe der übrigen
Länder) sollte die innere Verwandtschaft der Strafgesetzgebungen ersichtlich
gemacht werden. Demgemäss waren z. B. die Türkei und Japan der nord-
romanischen, Serbien und Griechenland der deutschen Gruppe zugeteilt worden.
Sehr bald aber stellte sich bei genauerer Prüfung des Stoffes die Unmöglich-
keit heraus, an diesem Einteilungsgrunde festzuhalten. Die vielfachen Wechsel-
beziehungen der einzelnen Eechtssysteme untereinander gestatten eine so scharfe
Gruppeneinteilung zwar, solange es sich um einzelne strafrechtliche Materien
handelt, nicht mehr aber in dem Augenblicke, in welchem die Gesetzgebungen
als Ganzes einander gegenüber gestellt werden. So steht, um nur ein oder zwei
Beispiele anzuführen, das preussische Strafgesetzbuch von 1851 und somit auch
das auf ihm beruhende Strafgesetzbuch für das deutsche Reich dem fran-
zösischen Code penal viel näher, als dieser dem italienischen Strafgesetzbuch
oder auch nur dem Recht der romanischen Schweiz. Und die Selbständigkeit
des niederländischen oder des finnländischen Strafgesetzbuchs verbietet die im
übrigen vielleicht gerechtfertigte Einreihung in die deutsche Gruppe. Die
vierte, völlig zusammenhangslose Gruppe endlich wirft in allen Fällen das
Einteilungsprinzip selbst über den Haufen; eine Gruppe, die z. B. Russland
und China zusammenstellt, hat auf die Bedeutung einer wissenschaftlichen
Zusammenfassung überhaupt keinen Anspruch.
Ich glaube daher, auf die allgemeine Zustimmung, auch auf die meiner
Freunde im Redaktionsausschuss, dafür rechnen zu dürfen, dass ich unser
gemeinsames Programm in diesem Punkte aufgegeben und auf die Einteilung
in Gruppen verzichtet habe. Statt dessen ist Europa von den übrigen Welt-
teilen getrennt worden, soweit nicht die Kolonieen (wie bei den Niederlanden,
bei Italien u. s. w.) gleich mit dem Mutterlande, andere aussereuropäische
Landesgebiete (wie bei Russland und der Türkei) gleich mit dem europäischen
Hauptgebiete erledigt werden konnten. In der deutschen Ausgabe eröffnet das
deutsche Reich, in der französischen Frankreich die Reihe der europäischen
Staaten; die übrigen folgen ohne jedes Prinzip aufeinander, vielfach eben so,
wie die einzelnen Abhandlungen in der einen der beiden Sprachen druckfertig
vorlagen. Je weiter der Band vorrückte, desto mehr überzeugte ich mich
von der Richtigkeit dieses Verfahrens.
Auch an der Ausmessung des Raums für die einzelnen Darstellungen,
wie sie das Programm vorzeichnete, ist nicht in allen Fällen festgehalten
worden. Im Ganzen überwiegen die Überschreitungen. Umfasst doch die
Darstellung Europas allein 46, bezw. 45 Druckbogen, während für den ganzen
Band nur 50 gerechnet waren. Ich möchte es ausdrücklich und mit besonderer
Zur Einführung. Rückblick und Zukunftspläne. XVII
Dankbarkeit anerkennen, dass der Verleger dieser Überschreitung zugestimmt
und auch für die Behandlung der aussereurop&ischen Länder noch Baum
zur Verfügung gestellt hat. Einzelne Abhandlungen, so insbesondere die
über Frankreich, sind hinter dem angewiesenen Baum nicht unbeträchtlich
zurückgeblieben ; es rechtfertigt sich das gerade in diesem Falle wohl zur Genüge
dadurch, dass das System des Code penal in der ganzen Welt bekannt und
an sich einfach, dass die französische Litteratur jedermann zugänglich ist,
und dass Frankreich vor einer gründlichen Umgestaltung seiner Strafgesetz-
gebung steht.
Von diesen Äusserlichkeiten abgesehen, war ich bemüht, den Grund-
gedanken des Programms durchzuführen. Noch einmal möchte ich, um alle
Missverständnisse abzuschneiden, ausdrücklich betonen: Der erste Band enthält
die O^rondlage für eine rechtsTergleichende Darstellung des ouropttisehen
Strafi*eelits, nicht diese selbst. Um unser schweizerisches Vorbild heranzu-
ziehen: er entspricht nicht Stooss' „Grundzügen" von 1892/93, sondern der
Vorarbeit dazu von 1890. Er vertritt die Stelle einer Sammlung der ver-
schiedenen Strafgesetzbücher. Er soll die notwendige Vorbedingung für jede
rechtsvergleichende Arbeit auf strafrechtlichem Gebiete schaffen; und er bean-
sprucht daher selbständigen Wert auch für den Fall, dass der Kriminalistischen
Vereinigung die Fortführung des Unternehmens nicht beschieden sein sollte.
Systematisehe Einführung in das 8trafi*echt Jedes einzelnen Staates : das
ist die Aufgabe unseres ersten Bandes wie seiner nächsten Fortsetzung.
Diese Aufgabe brachte es mit sich, dass wir unseren Mitarbeitern einige
wenige „leitende Gesichtspunkte" an die Hand geben mussten (Berücksich-
tigung der geschichtlichen Grundlagen des geltenden Hechts, der strafrecht-
lichen Sondergesetze, der Litteratur, der Rechtsprechung), sie aber in allem
übrigen frei gewähren lassen konnten. Jedes grössere Werk, das der Feder
verschiedener Mitarbeiter entstammt, muss in seinen einzelnen Teilen Uneben-
heiten und Verschiedenheiten aufweisen. Das mag vielfach störend wirken;
in unserem Falle bietet gerade diese Abweichung der einzelnen Mitarbeiter
voneinander in der ganzen Art, wie sie die Aufgabe anpacken und lösen,
nicht nur hohen künstlerischen Reiz, sondern auch einen wissenschaftlichen
Vorzug des Buches, den ich um keinen Preis missen möchte. In den Einzel-
darstellungen tritt nicht nur die Eigenart des Verfassers, es tritt auch die
Eigenart der Gesetzgebung und der Wissenschaft des von ihm behandelten
Landes ins hellste Licht. Gerade aus diesem Grunde habe ich auch, soweit
es irgend möglich war, an dem Grundsatze festgehalten, dass jedes Land von
einem seiner Angehörigen zu bearbeiten sei. Auch für die überseeischen
Staaten war mir dieser Grundsatz massgebend. Und nur dort habe ich ihn
verlassen, wo mir die Not keine Wahl gestattete, wo ich einen Mitarbeiter
entweder überhaupt unter den Landesangehörigen nicht fand oder eine ge-
gebene Zusage im letzten Augenblick zurückgenommen wurde. Für die fol-
genden Bände, für die rechtsvergleichende Darstellung selbst, wird ein ein-
heitliches Zusammenwirken weniger Mitarbeiter nach fest bestimmten Grund-
Strafgesetzgebung der Gegenwarf. I. II
I
XVIII V. Liszt.
•
Sätzen unter strammer Centralleitung unbedingt notwendig sein; für die
in diesem Bande angestrebte übersichtliche Darstellung der einzelnen
nationalen Rechte kam es in erster Linie darauf an, das nationale Gepräge
zu wahren, die Abweichungen nicht etwa abzuschleifen, sondern möglichst
scharf hervortreten zu lassen.
IV.
So gebührt denn das Verdienst für das Zustandekommen des ersten Bandes
den Mitarbeitern, die in aufopferndster Weise der an sie gerichteten Auf-
forderung Folge geleistet haben. Mögen sie den Dank, den ich in diesem
Augenblicke so lebhaft empfinde, auch bei unseren Lesern finden. Und mögen
diese über die (mir recht gut bekannten) Fehler des Bandes, die allein der
unter sehr schwierigen Verhältnissen arbeitenden Redaktion zur Last fallen,
milde zu Gericht sitzen.
Zu den Mitarbeitern zählen auch unsere Übersetzer. Sie teilen sich
mit den Verfassern in die Ehren des Unternehmens. Ausdrücklich möchte ich
hervorheben, dass ich es dem überaus liebenswürdigen Entgegenkommen der
Societe de 16gislation comparee in Paris und ihres Generalsekretärs Daguin
verdanke, dass die, heute auch für die Zukunft gesicherten, l'^bertragungen
ins Französische in einem recht kritischen Augenblicke nicht ins Stocken
gerieten. Und bezüglich der Übertragungen ins Deutsche muss ich an dieser
Stelle mit herzlichem Danke des jungen Freundes in Hannover gedenken,
dessen bewährte Arbeitskraft, so oft sie auch in Anspruch genommen werden
mochte, mich niemals im Stiche gelassen hat.
Da meine einführenden Zeilen nicht nur diesem Bande, sondern auch dem
folgenden Halbbande gelten, so habe ich noch eine weitere Dankesschuld schon
heute abzutragen. Für zahlreiche überseeische Gebiete hat das Deutsche
Auswärtige Amt unserem Unternehmen seine machtvolle Unterstützung ge-
währt. Kurze aber wertvolle Notizen sowie umfangreichere Darstellungen
verdanke ich dieser Vermittlung, ohne welche die Fortsetzung des ersten
Bandes niemals auch nur annähernd die heute bereits erreichte Vollständig-
keit hätte gewinnen können. Mit lebhaftem Danke habe ich bei den be-
treffenden Abschnitten die Quelle angegeben, der sie entstammen.
Auch der erste Teil des zweiten Bandes, die sämtlichen übrigen Erd-
teile umfassend, ist Dank dieser Unterstützung heute bereits gesichert.
Aber gerade diese über mein Erwarten reichliche Hilfsquelle hat mich ver-
anlasst, im Einvernehmen mit dem Verleger, mit der Herausgabe des ersten
Bandes nicht länger zu zögern. Die abgeschlossen vorliegende Darstellung
der sämtlichen europäischen Staaten mit Einschluss der Türkei sollte nicht
durch die begründete Hoffnung um den Wert der Aktualität gebracht werden,
dass in einigen Monaten auch die bezüglich der überseeischen Länder noch
vorhandenen Lücken ergänzt sein würden. Zu etwa drei Vierteilen liegt auch
das Manuskript zu der ersten Hälfte des zweiten Bandes druckfertig in beiden
Sprachen vor. Binnen kurzer Frist kann, menschlicher Berechnung nach, auch
Zuv Einführung. Rückblick und Zukunftspläne. XIX
dieser Teil ausgegeben werden, und zwar in einer Vollständigkeit, die ich
vor wenigen Monaten noch für unerreichbar gehalten habe.
Soll unsere Darstellung bei dem raschen Fluss der Gesetzgebung nicht
veralten, so bedarf sie einer fortlaufenden Ergänzung durch Jahresberichte
über die in Gesetzgebung und Wissenschaft der verschiedenen
Länder gemachten Fortschritte. Ich kann bereits heute die Versicherung
geben, dass diese Ergänzung erfolgen wird, wenn ich auch noch nicht zu
sagen vermag, wo und wie das der Fall sein .wird. Hoffentlich sichert der
buchhändlerische Erfolg des Werkes die Ausgabe von Nachtragsheften.
Aber auch wenn der äussere Erfolg uns fehlen sollte, werden jene Jahres-
berichte irgendwo ihr Unterkommen finden. Soweit die Vermögensverhältnisse
der Internationalen kriminalistischen Vereinigung es gestatten, werden unsere
„Mitteilungen" die geeignetste Stelle dafür bieten. Jedenfalls aber werden die
diesem Plane entgegenstehenden Hindernisse auf die eine oder andere Weise
fiberwunden werden, wenn anders, woran ich nicht zweifle, der Opfermut
unserer Freunde im Dienste der Wissenschaft nicht erlahmt.
Zweifelhaft ist es dagegen noch im Augenblicke, ob die weiteren Bände
des Werkes zu stände kommen werden. Wie bereits erwähnt, ist die Fort-
setzung buchhändlerisch bedingt durch die Gewinnung einer entsprechenden
Anzahl von Zeichnungen auf das ganze Werk. Ob diese sich finden wird, ob
vielleicht die wissenschaftliche und praktische Bedeutung unseres Unternehmens
uns daneben noch andere Einnahmsquellen eröffnet, muss abgewartet werden.
Für alle Fälle aber möchte ich es nicht unterlassen, in wenigen Worten
meine Ansicht über die Aufgabe hier niederzulegen, welche die folgenden
Bände zu erfüllen hätten. Ob Vorwort zu diesen, ob Nachwort zu dem ein-
leitenden Teile, ob Arbeitsprogramm oder fromm-entsagender Wunsch — soll
diese kurze Darstellung meine Auffassung über Wesen und Ziel der Rechts-
vergleichung auf dem Gebiete der Strafgesetzgebung klarlegen.
V.
Rechtsvergleichung ist nicht, was nur zu oft dafür ausgegeben wird : die
Behandlung eines einzelnen, noch so entlegenen, nationalen Rechts. Wer
chinesisches Strafrecht darstellt, treibt ebensowenig Rechtsvergleichung wie
derjenige, der ein Lehrbuch des deutschen Strafrechts schreibt oder den Code
pönal kommentiert. Aber auch die Nebeneinanderstellung zweier oder
mehrerer Rechte ist noch nicht Rechtsvergleichung; ja, so paradox es
klingen mag, auch ihre Vergleichung, die Hervorhebung des Gemeinsamen
wie des Verschiedenen, ist es noch nicht.
Damit von Rechtsvergleichung im eigentlichen und allein wissenschaft-
lichen Sinne gesprochen werden könne, ist es notwendig, dass etwas Neues,
Selbständiges gesucht und gefunden werde, das von den einzelnen ver-
glichenen Rechten verschieden, in ihnen nicht ohne weiteres enthalten ist.
Was ich damit meine, wird vielleicht klar werden, wenn wir näher zusehen,
worin dieses Neue, Selbständige gelegen sein kann.
II*
XX V. Liszt.
1. Hinter der wechselnden Erscheinung des jeweils geltenden Eechts
können wir nach den Gesetzen, die sein Werden und Wachsen bestimmen,
und nach den typisch wiederkehrenden Stufen seiner Entwicklung
suchen. Wir verfolgen die gesellschaftliche Gliederung von den Blutsverbänden
bis zum heutigen europäischen Staat, mit all den tiefgreifenden Änderungen,
die mit dieser Entwicklung verbunden sind. Kausale oder teleologische Be-
trachtung — das bleibt sich gleich: Das, was wir suchen und was wir im
Falle des Gelingens finden, ist ein Neues, Selbständiges, qualitativ von all
den einzelnen Rechten völlig Verschiedenes, über ihnen allen Stehendes. Es
leuchtet ein, dass diese Untersuchung auf Bechtsgeschichte und Ethnologie
sich stützt, dass das heute geltende Recht der Eulturstaaten für sie in
den Hintergrund tritt. Damit ist aber auch gesagt, dass das zwar Rechts-
vergleichung ist, vielleicht die wertvollste von allen; aber nicht Rechts-
vergleichung im gewöhnlichen und gewiss nicht in dem Sinne, in dem unsere
folgenden Bände eine rechtsvergleichende Darstellung der Strafgesetzgebung
der Gegenwart zu bringen bestimmt sind. Das Neue, das wir suchen, muss
also ein Anderes sein.
2. Über das heute geltende Recht hinaus sucht unser Blick nach einem
neuen Recht der Zukunft. Den Massstab für dieses müssen wir in der
Tasche haben. Aber für die Einzelheiten des Neubaues finden wir Belehrung
und Anregung in den Baudenkmälern der G^enwart wie der Vergangenheit.
Das ist auch Rechtsvergleichung; nicht so vornehm wie die erste Art, aber
praktisch gewiss nicht minder wichtig als sie.
So hat Stooss in seinen Grundzügen gearbeitet, und ich weiss kein
Beispiel, welches in grösserer Reinheit das, was ich meine, zum Ausdrucke
brächte. Dass ein eidgenössisches Strafgesetzbuch der zielbewussten Be-
kämpfung des Verbrechens zu dienen habe, das musste Stooss wissen, ehe er
sich an die Arbeit machte; dieses Richtmass musste er haben, um kritisch
prüfen zu können, was bisher geleistet worden. Aber aus der Vergleichung
der kantonalen Rechte konnte er lernen, wie dieser mehr oder weniger dunkel
erkannte Gedanke da und dort zu glücklicher Verwertung gelangt ist. So
sind die „Grundzüge" entstanden. Auf Schritt und Tritt erkennt man in der
kritisch -wissenschaftlichen Darstellung den Gesetzgeber: nur vom legislativen
Standpunkte aus konnte Ordnung in das Chaos, Einheit in die vielgestaltige
Fülle des Einzelnen gebracht werden. In dem zu schaffenden Recht liegt hier
das Neue, das uns berechtigt, von Rechts vergleichung zu sprechen. Das
Mosaikbild ist etwas anderes als die Summe der einzelnen verwendeten Steine.
Es fragt sich: kann unsere Internationale Vereinigung in derselben
Weise Rechts vergleichung treiben wie der Strafgesetzgeber der Schweiz? Es
steht doch kein internationales Strafgesetzbuch in Aussicht, imd die
nationale Gesetzgebung hat an die heimische Rechtsentwicklung anzu-
knüpfen und heimische Anschauungen und Bedürfnisse allein zu berück-
sichtigen?
Ich halte diesen Einwand für völlig unerheblich. Es ist meiner Über-
Zur Einführung. Rückblick und Zukunftspläne XXI
Zeugung nach heute jeden Augenblick möglich, einen Strafgesetzentwurf aus-
zuarbeiten, der in seinen Grundzügen ebensogut für Frankreich wie für
das deutsche Reich, für Österreich-Ungarn sogut wie für die Niederlande an-
nehmbar wäre. Wer das Gegenteil behauptet, der verkennt die Geschichte
des Strafrechts. Gilt denn nicht die napoleonische Strafgesetzgebung in
allen ihren Grundzügen seit einem halben Jahrhundert in dem führenden
deutschen Staate und seit über zwanzig Jahren im ganzen deutschen Reich?
Lässt sich etwa die Rezeption des bayerischen Strafgesetzbuchs in den süd-
amerikanischen Staaten wie in Griechenland in Abrede stellen? Ich wieder-
hole es: nur die Grundzüge stehen in Frage. Aber man vergesse nicht,
dass unsere ganze Reformbewegung dahin drängt, gerade diesen Grundzügen
erhöhte Bedeutung zu verleihen. Je mehr wir uns darüber klar werden,
dass die Überladung des besonderen Teils unserer Strafgesetzbücher, diese
endlose Unterscheidung von schwereren und leichteren Fällen desselben Ver-
brechens wertlose Spielerei ist, desto geringeres Gewicht werden wir all diesen
ehrwürdigen Überlieferungen der nationalen Gesetzgebung beimessen. Wer
mit vorurteilsfreiem Blick ins Leben sieht, der kennt den international gleichen
Charakter unseres Verbrechertums. So lange der gewerbsmässige Taschendieb
und der Hochstapler in Paris ebenso heimisch ist wie in Wien oder London,
so lange der russische Rubel in Frankreich oder England angefertigt und
im deutschen Reiche vertrieben wird, so lange die Schwindelkonsortien
der „schwarzen Banden" ihren internationalen Betrieb nicht einstellen, so
lange die Leidenschaften und Schwächen der Sterblichen diesseits und
jenseits der Grenzen nur Variationen desselben Grundthemas darstellen —
so lange wird auch die Kriminalpolitik der verschiedenen Länder von ein-
heitlichen Grundgedanken ausgehen können. Und wird es in absehbarer Zeit
anders werden?
Der O^ewinnimg einheitlicher Grundgedanken fHr eine den For-
derungen der KrlmlnalpoUtlk Rechnung tragende Strafgesetzgebong der
Zukunft soll unsere rechtsverglelchende Darstellung, nach meiner Auf-
fassung, in erster Linie dienen. Bei der den einzelnen Ländern zu über-
lassenden Ausführung dieser internationalen Grundgedanken werden nationale
Überlieferungen und Bedürfnisse zu ihrem vollen Rechte kommen.
Ich glaube nicht, dass eine weitere Ausführung dieser einfachen und
durchaus nicht neuen Gedanken notwendig ist. Niemand wird heute für die
deutsche Gesetzgebung die Frage der Deportation behandeln wollen und dürfen,
ohne die in England, Frankreich und anderen Ländern gemachten Erfahrungen
heranzuziehen. Jede tüchtigere wissenschaftliche Arbeit, jede gründlich vor-
bereitete Gesetzesvorlage kann als Beispiel, zugleich aber auch als Beweis für
die Richtigkeit meiner Behauptung, dienen.
Nur Eins möchte ich noch einmal hervorhiüben. Wenn der Verfasser
einer wissenschaftlichen Monographie oder eines Gesetzentwurfs uns z. B. die in
den verschiedenen Ländern bezüglich der Tierquälerei geltenden Bestimmungen
zusammenstellt, sie gliedert, bespricht, vergleicht: so ist das nicht Rechts-
III e
XXII V. Liszt.
vergleichung in dem Sinne, wie ich das Wort verstanden wissen will. Die
Sechtsvergleichang beginnt für mich erst in dem Augenblicke, in dem der Ver-
fasser, gestützt auf diese seine sorgfältige Untersuchnng und ausgehend von
einer bestimmten und klaren kriminalpolitischen Grundanschauung^ uns sagt:
so, und nicht anders^ sollt ihr es machen.
In diesem Sinne hat Stooss, nicht in seiner Zusammenstellung der
Schweizer Strafgesetzbücher, wohl aber in seinen „Grundzügen" rechtsver-
gleichend gearbeitet
und in diesem Sinne sollen unsere folgenden Bände eine wirklich rechts-
vergleichende Darstellung der „Strafgesetzgebung der Gegenwart" uns bringen.
Was für einzelne Lehren des Strafrechts, unvollkommen und lückenhaft, von
einzelnen Schriftstellern geleistet worden ist, soll mit vereinten Kräften für
das Gesamtgebiet des Straf rechts, auf breiter Grundlage, mit fester Methode,
in scharfer Erfassung des Zielpunktes, in Angriff genommen werden. Fürwahr:
eine grosse und schwere Aufgabe — aber auch so lockend und lohnend wie
kaum eine andere!
3. Ich gehe aber noch einen Schritt weiter. Aufgabe der Rechtsver-
gleichung ist nicht nur die Findung des zweckentsprechenden Bechtssatzes^
sondern auch die Weiterbildung der Rechtswissenschaft. Auf der breiten^
empirischen Grundlage, die sie der Durchdringung fremder Leistungen ver-
dankt, soll die nationale Theorie sich über sich selbst hinaus erheben.
Es mag mir gestattet sein, mich deutlicher auszudrücken. Unsere Straf-
gesetzgebung lässt die wissenschaftliche Konstruktion offen. Und sie
wird, glaube ich, niemals anders zu Werke gehen können. Mag uns das Straf-
gesetzbuch immerhin den Versuch als Anfang der Ausführung oder den Mord
als die vorsätzlich und überlegte Tötung bestimmen: den Begriff des Versuches
und des Mordes muss doch stets erst die Wissenschaft (und ganz dasselbe gilt
auch selbstverständlich von der nicht bloss handwerksmässig betriebenen Recht-
sprechung) festzustellen sich bemühen. Es leuchtet ein, dass es sich ganz
ebenso mit allen Begriffen des Strafrechts, ganz besonders aber mit den sämt-
lichen Merkmalen des allgemeinen Verbrechensbegriffes verhält. Der einfacheren
und einleuchtenderen Auseinandersetzung wegen möchte ich mich auf diesen
letzteren Punkt beschränken.
Wenn ich behaupte, dass durch rechtsvergleichende Untersuchungen die
allgemeine Theorie des Verbrechens nicht nur quantitativ, sondern qualitativ
gefördert werden wird, so kenne ich den Einwand sehr genau, der mir ent-
gegengehalten werden wird. Man wird behaupten, dass der Begriff des Vor-
satzes z. B. aus dem nationalen Rechte jedes Landes und seiner geschicht-
lichen Entwicklung zu gewinnen sei. Die Frage also, ob etwa das Bewusstsein
der Rechtswidrigkeit zum Begriffe des Vorsatzes gehöre, könne nur „geschicht-
lich-dogmatisch", also für das deutsche Recht nur aus dem deutschen, nie aus
dem französischen oder englischen Recht beantwortet werden.
Diesem beliebten Einwand gegenüber habe ich ein doppeltes zu betonen.
Erstens, dass die geschichtliche Betrachtung uns sofort auf internationale
Zur Einführung. Rückblick und Zukunftspläne. XXIII
Wechselbeziehungen führt Den Italiener Julius Clarus darf man selbst in
streng geschichtlichen Untersuchungen über deutsches Strafrecht citieren; und
wenn der Spanier Coyyaruvias trotz des bestimmenden Einflusses, den er auf
Carpzov geübt hat, nicht zu seinem Hechte gelangt; so liegt das nur daran,
dass dieser Zusammenhang unseren „Rechtshistorikern^ bisher, wie so mancher
andere Zusammenhang, entgangen ist. Der Gedanke liegt nun, sollte ich meinen,
nahe genug, dass die Entwicklung des Vorsatzbegriffes in Italien von Julius
Clarus und in Spanien von Covvaruvias an bis zur Gegenwart uns auch f&r das
von diesen beiden Schriftstellern so wesentlich beeinflusste und unter ähnlichen
Bedingungen sich entwickelnde deutsche Recht vielleicht wertvolle Aufschlüsse
zu geben vermöchte, dass mithin, um es anders auszudrücken, eine geschicht-
liche Betrachtung, welche von derartiger Bechtsvergleichung absehen zu
können vermeint, völlig „unhistorisch^ genannt werden muss. Und wenn ein-
mal ein Staat, wie Preussen das im Jahre 1851 gethan hat, sein ganzes
Strafgesetzbuch einem anderen Staate entlehnt, kann man dann der straf-
rechtlichen Wissenschaft dieses anderen Staates, sowie seiner Rechtsprechung
die Bedeutung absprechen, selbst wenn man sich auf den extremsten Schul-
standpunkt der „historischen" Richtung stellt? Ich mache keine Vorwürfe;
ich stelle lediglich die unbestreitbare Thatsache fest, dass im 19. Jahrhundert
mehr als je zuvor, die wissenschaftliche Erkenntnis des nationalen Rechts
durch rechtsvergleichende Untersuchungen bedingt wird.
Das zweite, was ich betonen möchte, greift viel tiefer. Die geschichtlich-
dogmatische Methode versagt uns — ich spreche hier nur vom Strafrecht —
auf Schritt und Tritt. Es erscheint mir als ein geradezu kindlich-naives Be-
mühen, etwa das Verhältnis der Unterlassung zur Begehung mittels jener
Methode feststellen zu wollen. Denn ganz abgesehen davon, dass nur die
Rechtsübung der Gerichte eine authentische Auskunft über die den Gesetzen
zu einer bestimmten Zeit beigelegte Bedeutung zu geben vermag und dass
diese Quelle uns um so hoffnungsloser versagt, je weiter wir in die Vergangen-
heit unseres Rechts zurückgehen — arbeitet jene Methode mit einer geschicht-
lich falschen Voraussetzung: dass nämlich überhaupt frühere nationale Gesetz-
gebungen von einer bestimmten Auffassung des Verhältnisses der Unterlassung
zur Begehung ausgegangen seien. Das haben sie ebensowenig gethan, wie
unsere allemeuesten Strafgesetzbücher. Ich möchte den Fachmann kennen
lernen, der das Gegenteil zu behaupten den Mut hat.
Ich stelle also den Satz auf: Die ganze allgemeine Lehre vom Ver-
brechen kann und muss In ihren Grundzttgen unabhängig von dem
jeweils geltenden Recht aufgebaut werden. Was Handlung im Sinne
des Strafrechts ist, aus welchen Gründen die Rechtswidrigkeit entfällt, wie
der Begriff der Zurechnungsfähigkeit, des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit
zu bestimmen ist usw. usw. — das ist zum allerkleinsten Teil in den
Civil- und Strafgesetzen uns ausdrücklich oder stillschweigend gesagt. Und
wer als gesetzesgläubiger Dogmatiker die Benutzung anderer Erkenntnisquellen
ablehnen wollte, der wird sich gar bald gezwungen sehen, seinem doktrinären
XXIV V. Liszt.
Hochmut zu entsagen. Die wichtigsten bahnbrechenden Entscheidungen des
deutschen Reichsgerichts über den untauglichen Versuch, die Mitthäterschaft,
den Ursachenbegriff usw. sind praeter legem erfolgt. Und die wissenschaft-
lichen Arbeiten der „dogmatischen" Kollegen? Das Beste, was sie uns gegeben,
das haben sie wahrhaftig nicht aus den Gesetzbüchern geschöpft.
Ich hoffe, dass Missverständnisse ausgeschlossen sind. Das nationale Ge-
setz wird uns sagen, wann und wie der Versuch oder auch schon die Vor-
bereitung einer Ubelthat bestraft werden soll; aber den Begriff des Versuchs
und der Vorbereitung muss die Wissenschaft aufsuchen und weiterbilden. Nur
der wissenschaftlich erforschte und damit in den lebenspendenden Fluss un-
ausgesetzter wissenschaftlicher Erörterung gestellte Begriff vermag die Recht-
sprechung vor der Erstarrung zu bewahren, der sie rettungslos verfallen wäre,
sollte es der Gesetzgebung einmal gelingen, die Theorie des Verbrechens
lückenlos aufzubauen.
Die Wissenschaft des Straf rechts in diesem Sinne, d. h. als die Klar-
legung der allgemeinen Merkmale des Verbrechensbegriffs, ist notwendig inter-
national. Der Begriff der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist der gleiche
in Frankreich wie in Schweden, mögen auch die Grenzen der Strafmündigkeit
hier anders gezogen sein als dort; die Unterscheidung von Verursachung und
Veranlassung verliert an ihrem wissenschaftlichen Wert nichts durch die Er-
kenntnis, dass nach deutschem Recht schon die blosse Veranlassung für den
Erfolg haftbar macht; die Auffassung der Anstiftung und der Thäterschaft ist
in ihrem innersten Kern unabhängig von jeder positiv-rechtlichen Gestaltung;
und wer wollte behaupten, dass alle die psychischen Funktionen, deren Ana-
lyse für den Kriminalisten unentbehrlich ist, dass die Begiiffe des WoUens,
des Vorsatzes, der Absicht, des Entschlusses, der Überlegung usw. national-
englische oder spezifisch portugiesische wären?
Wer die strafrechtliche Litteratur der Kulturländer auch nur oberfläch-
lich kennt, der weiss, wie viel jedes Volk noch von den anderen gerade auf
diesem Gebiete lernen kann. Die englische, die deutsche, die französische
Strafrechtswissenschaft — sie gehen, jede für sich, getrennte Wege. Jede hat
ihre starken und ihre schwachen Seiten und jeder haften die Fehler ihrer
Tugenden an. Überall liegen neben tiefdurchackerten Feldern andere, deren
Anbau kaum begonnen hat; die eine zeichnet sich durch ihren praktischen
Blick, die andere durch Gedankentiefe aus; dort wird die Überlieferung treu
bewahrt und sorgfältig weitergebildet, hier mit rücksichtsloser Jugendkraft
dem kühnsten Fortschritt gehuldigt; dort werden die Ergebnisse der Natur-
wissenschaften für die Jurisprudenz fruchtbringend gemacht, hier die strengen
Lehren der Erkenntniskritik in den Dienst strafrechtlicher Forschung gestellt.
Überall eigenartiges Leben und übersprudelnde Kraft, überall das rastlose
Ringen nach Wahrheit und niemals gestillter Durst nach Erkenntnis. Aber
die gegenseitige Anregung und Befruchtung fehlt. Wenn all diese Ströme
in ein mächtiges Bett geleitet, wenn all diese Lebenskraft vereinigt, wenn
Schaffensdrang und Wissensdurst der einzelnen Länder zu wetteifernder ge-
Zur Einführung. Rückblick und Zukunftspläne. XXV
meinsamer Arbeit angespornt werden könnten — müsste dann unsere Wissen-
schaft nicht einen gewaltigen, heute kaum geahnten Aufschwung nehmen?
Diese Verbindung ist möglich. Freilich muss dann die ßechtsver-
gleichung mehr sein als „verglichene Gesetzgebung" („16gislation compar6e").
Neben den Strafgesetzbüchern muss Wissenschaft und Eechtsprechung der
einzelnen Länder herangezogen und zur höheren Einheit verarbeitet werden.
Eine gemeinsame, allen einzelnen Rechten entnommene, aber fiber ibnen
allen stehende Strafreehtswtssensehaft: das wäre die zweite und höchste
Aufgabe unserer Rechtsvergleichung.
VI.
Ich habe in dem Vorstehenden nur meine eigene Ansicht ausgesprochen,
und ich weiss nicht, ob meine Freunde sie teilen. Noch wäre es ja auch ver-
früht, den Plan für die Fortführung unseres Unternehmens im einzelnen end-
gültig festlegen zu wollen. Aber eben darum wii*d es nicht als unbescheiden
erscheinen können, wenn ich nunmehr des Näheren die Folgerungen aus meiner
Auffassung unserer Aufgabe ziehe.
Der allgemeine Teil unserer rechtsvergleichenden Darstellung soll, wie
ich es mir denke, drei Abschnitte umfassen.
Im ersten sind die Quellen des Straf rechts zu erörtern: das Gesetz
und sein Geltungsgebiet in zeitlicher, räumlicher, persönlicher Beziehung.
Dann folgt der zweite und schwierigste Abschnitt, die Lehre vom
Verbrechen: der ganze objektive und subjektive Thatbestand des peinlichen
Unrechts. Es ist meines Erachtens durchaus notwendig, diesen ganzen Ab-
schnitt einem einzigen Mitarbeiter zu übertragen; bei dem Ineinander-
greifen der sämtlichen Einzelfragen ist es unvermeidlich, dass die Einheitlich-
keit der Auffassung schwindet, wenn die verschiedenen Unterabschnitte von
Männern abweichender wissenschaftlicher Grundanschauung bearbeitet werden.
Gerade auf den einheitlichen Aufbau der Theorie vom Verbrechen aber kommt
es meiner Auffassung nach an. Dass der erste Versuch eines solchen Aufbaues
schwere Mängel und Gebrechen aufweisen wird, weiss ich sehr wohl; es kann
auch sein, dass er völlig misslingt. Aber selbst der misslungenste Versuch
wird unsere Wissenschaft mehr fördern als die Nebeneinanderstellung einwand-
freier, aber untereinander nicht zusammenhängender Einzelausfuhrungen. Die
Arbeitslast, die wir damit auf die Schultern eines einzelnen Mannes legen, ist,
daran lässt sich nicht zweifeln, erdrückend schwer. Aber sie kann durch die
Zuziehung von Gehilfen wesentlich erleichtert werden.
Dem dritten Abschnitt bleibt die Lehre von der Strafe vorbehalten:
Begriff der Strafe, Strafensystem, Strafzumessung, Strafaufhebung. Hier wäre
eine Einteilung in Arbeitspensa nicht ausgeschlossen. Für den ganzen all-
gemeinen Teil sind zwei Bände von je 50 Druckbogen vorgesehen. Nach meiner
Berechnung werden wir mit einem Bande von etwa 60 Druckbogen unser Aus-
langen finden und den überschiessenden Raum für den besonderen Teil ver-
werten können. Nicht die breite Fülle der Einzelnheiten, sondern die scharfe
XXVI V. Liszt.
Hervorhebung der leitenden Gesichtspunkte wird den Verfassern den Dank der
Leser sichern. Im zweiten Abschnitte wird die Rechtsdogmatik, im dritten die
Eriminalpolitik die entscheidende Stimme fuhren.
Die Aufgabe des besonderen Teils bildet die Darstellung der ein-
zelnen Verbrechen und der auf diese gesetzten Strafen. Weitgehende
Arbeitsteilung bei eingehender Ausführung wird hier möglich sein, wenn von
Seiten der Redaktion ein voUst&ndiges, bis ins Einzelne gehendes und zugleich
die leitenden Gesichtspunkte klar legendes System ausgearbeitet und das legis-
lative Material den Mitarbeitern zur Verfügung gestellt wird.
Die Ausarbeitung bietet recht bedeutende, aber keineswegs unüberwind-
liche Schwierigkeiten. Massgebend erscheinen mir dabei die folgenden Gesichts-
punkte, die ich hier nur kurz andeuten kann.
1. Die rechtsvergleichende Darstellung soll zunächt ein vollständiges
Bild der in den verschiedenen Gesetzbüchern gegen Angriffe strafrechtlich
geschützten Rechtsgüter bieten. Die sämtlichen Verbrechen, die in den
einzelnen Landesrechten unter Strafe gestellt sind, müssen zu diesem Zwecke
daraufhin geprüft werden, welches das durch die Strafdrohung geschützte
Interesse ist Neben Leben, Freiheit, Ehre, Vermögen und andere Interessen
des Einzelnen treten die Interessen der Gesamtheit, und sie alle schliessen
sich zu einem System zusammen, das notwendig ungleich vollständiger und
ungleich lehrreicher sein wird, als das System eines jeden einzelnen nationalen
Rechts. Die Redaktion wird bei Aufstellung des Systems diesem möglichste
Spannkraft zu wahren bemüht sein müssen, damit es der Auffassung der ver-
schiedenen Rechte über dieselbe Verbrechensgruppe (man denke z. B. an die
sogenannten Religionsdelikte) sich anzupassen befähigt bleibt.
2. Die Ausfüllung des Systems erfolgt durch die Einarbeitung und
vergleichende Darstellung der einzelnen, zu einer Gruppe gehören-
den Verbrechen, die ja ebensoviele Arten der Verletzung des durch die
Strafdrohung geschützten Interesses darstellen. Dabei werden die schwereren
wie die leichteren Fälle sich um den Durchschnittsfall gruppieren, und die Nutz-
anwendung für den Gesetzgeber wird unschwer hervortreten. Die Probedar-
stellung der Tötungsverbrechen von Dr. Rosen feld, die den meisten meiner
Leser bekannt sein dürfte, sonst aber gerne von der Verlagsbuchhandlung zur
Verfügung gestellt wird, mag zur Erläuterung des Gesagten dienen.
3. Die Strafmasse werden nicht im Einzelnen, sondern nur soweit zu
berücksichtigen sein, als sie das rechtliche Werturteil über die That zum
Ausdrucke bringen.
4. Von der Darstellung der Spezialgesetzgebung (Militärstrafrecht»
Schiffahrtsdelikte usw.) muss aus äusseren Gründen vorläufig Abstand genommen
werden. Für die vielfach wechselnde Abgrenzung soll die überwiegende An-
schauung der tonangebenden Staaten massgebend bleiben. Spätere Einbeziehung
auch dieser grossen und praktisch wichtigen Gruppe wird damit nicht aus-
geschlossen.
Zur Einführung. Rückblick und Zukunftspläne. XXVII
Soweit mein Plan. Ob es uns beschieden sein wird, ihn zur Ausführung
zn bringen, vermag heute keiner von uns zu sagen. Den äusseren Erfolg
haben wir nicht in der Hand. Wenn die zahlreichen Freunde der vergleichen-
den Strafrechtswissenschaft in den verschiedenen Ländern uns ihre thatkräftige
Unterstützung leihen, müsste es möglich sein, in kurzer Frist die zur Fort-
führung unbedingt erforderliche Anzahl von Abnehmern des ganzen Werkes
zu gewinnen. Die Entscheidung dieser Vorfrage müssen wir abwarten. Aber
das kann ich versichern^ dass wir jede andere Schwierigkeit überwinden werden,
wenn die Kosten der Veröffentlichung auch nur einer der beiden Ausgaben ge-
deckt sind. An Mitarbeitern wird es trotz der von diesen zu bringenden schweren
Opfer nicht fehlen: diese erhebende und beruhigende Überzeugung hat mir die
Redaktion des ersten Bandes gebracht. Und wenn uns die Kräfte versagen
sollten, werden andere nach uns die Arbeit aufnehmen. Die Strafrechtswissen-
schaft ist in raschem Aufschwung begriffen. Sie kennt daher für ihre Vertreter
den Begriff der fungiblen Grösse allerdings nicht. Aber gerade weil sie un-
aufhaltsam aufwärts strebt, arbeitet jeder von uns, auf den Schultern seiner
Vormänner stehend, für die Zukunft. Getrost können wir dem jungen Nach-
wuchs die Arbeit übertragen, mit der wir selbst nicht mehr fertig zu werden
vermochten: für unsere Wissenschaft ist das Zeitalter der Epigonen noch
lange nicht angebrochen.
I.
DEUTSCHES REICH.
Von
Dr. Hermann Senffert,
Oeli. Justizrat und ord. Professor der Rechte an der Univeraitüt Bonn.
Übersicht
I. Die Grundlagen der deutschen Strafgesetzgebung. § 1. Die peinliehe Gerichts-
ordnung und das frühere gemeine Strafrecht, § 2. Die deutsche Landesgesetz-
gebung bis zum Jahre 1869.
II. Herstellung und Umbildung des Strafgesetzbuches. § 3. Unmittelbare Vor-
geschichte der Entwürfe. § 4. Die Entwürfe. § 5. Die Verhandlungen im nord-
deutschen Reichstage. § 6. Die Umbildung des norddeutschen zum deutschen
Strafgesetzbuche. § 7. Inhaltliche Veränderungen des Strafgesetzbuches.
III. Der Inhalt des Strafgesetzbuches. § 8. Die einleitenden Bestimmungen des Straf-
gesetzbuches. § 9. Die allgemeinen Bestimmungen. § 10. Der zweite Teil
des Strafgesetzbuches. § 11. Das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuche.
§ 12. Schlussbetrachtungen.
IV. Die Spezialstrafgesetzgebiuig des deutschen Reiches. § 13. Einleitung. § 14. Das
Strafverordnungsrecht der Reicfasorgane. § 15. Straftechtsexemtionen ausserhalb
des Strafgesetzbuches. § 16. Beschränkung der freien Bewegung infolge von Be-
strafungen. § 17. Die Strafbestimmungen des Personenstandsgesetzes. § 18. Be-
sonderer Schutz in Bezug auf Leben und Gesundheit. § 19. Besonderer Schutz
des Publikums gegen Schädigungen des Vermögens. § 20. Fischerei- und Vogel-
schutz. § 21. Besondere Strafgesetze zum Schutze des Verkehrs. § 22. Besondere
Strafbestimmungen in Betreif der Seeschiffahrt. § 23. Handels-, Münz- und Bank-
wesen. § 24. Gewerbestrafrecht, Arbeiterschutz. § 25. Versicherungsstrafrecht.
§ 26. Der strafrechtliche Schutz des Urheberrechts. § 27. Press- und \ ereinsstraf-
recht. § 28. Strafrechtlicher Schutz der Einnahmen des Reichs. (Finanzstraf recht.)
§ 29. Verweigerung und Vernachlässigung von Amts- und Prozesspflichten.
§ 30. Ungebühr vor der Behörde. Verletzung der Pflicht des Verhandlungs-
geheimnisses. § 31. Die Strafe im Dienste des Erfüllungszwanges. § 32. Kriegs-
wesen. § 33. Strafrecht in Staatsverträgen. § 34. Die Auslieferungsverträge
insbesondere. § 35. Die Bestimmungen des Bundes- und Reichsrechtes in Betreff
der Begnadigung.
V. Das besondere Strafrecht der Beamten und die Disziplinarstrafgewalt. § 36.
VI. Das Militärstrafrecht. 1. Geschichte des Militärstrafgesetzbuches. § 37. 2. Der
Inhalt des Militärstrafgesetzbuches. § 38. Vorbemerkungen un4 die einleitenden
Bestimmungen. § 39. Der erste Teil des Militärstrafgesetzbuches. § 40. Der
zweite Teil des Militärstrafgesetzbuches. 3. Die Ergänzung des Militärstrafrechts
durch die Disziplin. § 41. 4. Das Strafrecht im sogenannten Kriegszustande.
(Belagerungszustand, Standrecht.) § 42.
VII. Die Landesstrafgesetzgebung. § 43. Das Verhältnis zwischen Landes- und Reichs-
recht. § 44. Die Landes-Einführungsgesetze zum Strafgesetzbuche. § 45. Die
Art der Quellen des deutschen Landesstrafrechts. § 46. Der Inhalt des Landes-
strafrechts. Anhang. § 47. Litteratur und Praxis.
L Die Grundlagen der deutschen Strafgesetzgebung.
§ 1. Die peinliche Grerlchteordnimg und das frfthere gemeine Strafrecht.^)
Die Rechtsentwickelung im deutschen Reiche war im Laufe des 15. Jahr-
hunderts wie diejenige der andern Länder des kontinentalen Westeuropas von «
dem Ideeenkreise des romanisch-italienischen Rechts erfüllt worden. In Rechts-
bücher, in Stadt- und Landrechte waren die fremden Rechtsgedanken einge-
zogen/ohne indes die überlieferten heimatlichen Gedanken und Rechtssätze
überaU zu überwinden und zu verdrängen. Der Fülle des Rechtsstoffes und
dem Widerstreite der darin enthaltenen Ideeen entsprach aber in den breiten
Schichten der zur Teilnahme an der Rechtspflege berufenen Personen nicht
die zur Beherrschung und Assimilierung erforderliche Geisteskraft und Geistes-
schulung. Auf dem Gebiete der Strafrechtspflege lähmten überdies soziale
und politische Zustände die äussere Macht von Recht und Gericht. Laut und
heftig waren am Ausgange des 15. Jahrhunderts die Klagen über den Zustand
der Strafrechtspflege im deutschen Reiche. Gegen Fürsten, Reichsstädte und
andere Obrigkeiten wurde bei dem neu (1495) errichteten Kammergerichte
Beschwerde geführt, dass sie Leute unverschuldet ohne ^Recht und redliche
Ursache zum Tode verurteilen und richten Hessen. Schuldige sollten durch
unordentliche oder böswillige Verzögerung des Prozesses, der allgemeinen
Wohlfahrt zum Nachteil, der verdienten Strafe entzogen worden sein. Kaiser
Karl V. und des Heiligen Römischen Reichs peinliche Gerichtsordnung, die
Constitutio criminalis Carolina, — nach langen Verhandlungen des Augsburger
(1530) und des Regensburger Reichstages (1532) am 27. Juli 1532 zum Ab-
schlüsse gebracht, — sollte diesen Klagen abhelfen. Als Prozessordnung
angelegt, enthielt die Carolina vom Artikel 104 an auch Bestimmungen darüber,
wie man Missethat peinlich strafen solle. Strafdrohungen fanden sich darin
gegen Gotteslästerung, Meineid, Bruch der Urphcde, Zauberei, Schmähschriften,
Münzfälschung, andere Fälle der Fälschung (darunter auch Betinigsfälle),
Prävarikation, zahlreiche Sittlichkeitsverbrechen (Sodomie, Incest, Entführung,
Notzucht, Ehebruch, Bigamie, Kuppelei), dann Verrat, Brandstiftung. Raub,
Aufruhr, Landzwang, widerrechtliche Fehde. Ausführlich waren die Tötungs-
verbrechen behandelt (Vergiftung, Kindestötung, Aussetzung, Abtreibung, Kunst-
fehler, Selbstmord, Tötung durch Tiere, Mord und Totschlag). In diesem
M G. Geib, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts. Leipzig 1861. Bd. 1, S. 240.
V Bar Handbuch des Deutschen Strafrechts. Bd. 1. Geschichte des Deutschen
Strafrechts und der Strafrechtstheorieen. Berlin 1882. S. 112. Hälschner, Geschichte
des Brandenburgisch-Preussischen Strafrechts (1. Teil des Preussischen Straf rechts).
Bonn 1855. S.57. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere Gemeines
Deutsches Strafrecht. Leipzig 1844. Brunnenmeister, Die Quellen der Bambergensis.
Leipzig 1879. Güterbock, Die Entstehungsgeschichte der Carolina auf Grund archiva-
liöcher Forschungen und neu aufgefundener Entwürfe. Würzburg 1876.
1*
Deutsches Reich. — Die sreschichtlichen Grundlao-en.
Zusammenhange wurden auch Bestimmungen über Strafausschliessimgsgründe
bei der Tötung, über zweifelhafte Tötungsfillle, über Schlägerei, Leichenschau
und sonstige prozessuale Fragen getroffen. Eingehend sind Diebstahl und Unter-
schlagung behandelt. Artikel 176 betrifft die Friedensbürgschaft, Artikel 177 die
Materie der Teilnahme, Artikel 178 den strafbaren Versuch. Artikel 179 handelt
vom Einfluss der Jugend und von anderen Gründen der Unzurechnungsfähig-
keit; Artikel 180 leitet, indem er sich mit der widerrechtlichen Gefangenenbefreiung
und mit dem Entweichenlassen von Gefangenen beschäftigt, wieder zum Prozess-
rechte über. Die Strafen entsprechen der Gesittung imd dem Geiste der Zeit.
Feuer, Schwert, Vierteilung, Rad, Galgen, Ertränken, lebendig Vergraben,
Schleifen, Reissen mit glühenden Zangen, Landesverweisung, Rutenaushauen
und dergleichen sind die Mittel, mit denen das 16. Jahrhundert die Lieb' der
Gerechtigkeit pflegen, Furcht erregen (abschrecken), bessern, überhaupt den
gemeinen Nutzen fördern wollte. Die Carolina war eine vom Standpunkte
ihrer Zeit wohlgelungene Verarbeitung des fremden mit dem einheimischen
Rechte. Hauptsächlich ein Werk des fränkischen Ritters und Staatsmannes
Johann von Schwarzenberg, gab sie in mehr als zwei Jahrhunderten der
deutschen Strafrechtspflege Richtung und Signatur. Allerdings gestatteten die
politischen und staatsrechtlichen Verhältnisse des deutschen Reiches im 16. Jahr-
hundert kein solches Machtwort der Reichsgesetzgebung, wie es die Verfassungen
des norddeutschen Bundes und des deutschen Reiches in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts gesprochen haben. Nicht übte im 16. Jahrhundert das
Reich die Gesetzgebung mit der Wirkung aus, dass die Reichsgesetze den
Landesgesetzen vorgingen. Kaiser Karl V. erklärte vielmehr am Schlüsse der
VoiTcde (des Einführungspatentes) zur Carolina, dass er „durch diese gnädige
Erinnerung Chm'fürsten, Fürsten und Ständen an ihren alten wohlhergebrachten,
rechtmässigen und billigen Gebräuchen nichts benommen haben" wolle. Und
manche Fürsten und Stände hielten sich nicht durch die neue Ordnung ge-
bunden, oder sie glaubten erst noch ihren landesherrlichen Willen hinzuthun
zu müssen, um dem Reichsgesetze in ihren Landen Eingang zu verschaffen.
Trotzdem ist die Carolina die Hauptgrundlage des gemeinen deutschen Straf-
rechts geworden. Dieselbe ging von der Geltung der Kaiserlichen Rechte
(römisches und kanonisches Recht) aus, und verwies zu ihrer Ergänzung auf
diese, sowie auf die Analogie, mit Einschränkung auch auf löbliche Gebräuche
und gute Gewohnheiten. Erst im 17. Jahrhundert ist aber, und zwar vor-
nehmlich durch den Einfluss der sächsischen Jurisprudenz (namentlich Benedikt
Carpzov, Practica nova Imperialis Saxonica reinim criminalium) aus diesem
Rechtsstoffe ein gemeines deutsches Strafrecht mit subsidiärer Geltung ausge-
bildet worden , welches über ein Jahrhundert formale Geltung besass und
inhaltlich bis weit in das 19. Jahrhundert fortwirkte. Seine Tendenz war
rücksichtsloser Schutz der Gesellschaft gegen verbrecherische Naturen, unter-
mischt mit dem Vergeltungswerke. Das Fortschreiten der Gesittung und Ge-
sinnung führte schon im 17., namentlich aber im 18. Jahrhundert zu einer
Bekämpfung der grausamen Strafdrohungen des geschriebenen Rechts. Lebhafte
Förderung fand dieser Kampf durch die Ideeen der naturrechtlichen Schule.
Das Ansehen und die Geltung des geschriebenen Strafrechts wurde erschüttert.
Praxis und Lehre setzten sich über die gesetzlichen Strafdrohungen hinweg
und setzten die Willkür an deren Stelle. Dass statt Todesstrafe eine Geld-
strafe von 20 Thalem erkannt, dass ein Inquisit wegen Ehebruchs und Unzucht
des Landes ewig verwiesen oder mit 30 Thalern bestraft wurde, war nichts
Auffallendes. Auch in unseren Tagen wird vielfach und gerade von der
Internationalen Kriminalistischen Vereinigung die Erweiterung des richterlichen
Strafzumessungsrechtes empfohlen. Wir stossen uns. nicht daran, wenn das
§ 2. Die deutsche Landes^esetz^ebung' bis 1869. 5
englische Gesetz vom 6. August 1861 (24, 25 Victoria, Cap. 100 No. 5^) dem
Cierichtshofe die Macht giebt, den Totschläger zu verurteilen, to be kept in
Penal Servitude for Life or for any Term not less than Three Years, — or
to be iraprisoned for any Term not exceeding Two Years, with or without
Hard Labour, or to pay such Fine as the Court shall award, in addition to
or without any such other discretionary Punishment as aforesaid. Aber wir
wollen solche Gewalt nur dem durchgc^bildeten und unabhängigen Richter anver-
trauen. Das deutsche Militärstrafgesetzbuch § 88 (RGBl. 1872, S. 190) enthält
in einem Falle eine noch weitere Ermächtigung. S. unten § 40 No. 5. Das
18. Jahrhundert konnte solches Vertrauen in seine Juristenwelt nicht setzen.
Die Gesetzgebung musste eingreifen, um der unerträglich gewordenen Zerfahren-
heit und Willkür des Strafrechts eine Schranke zu errichten.
§ 2. Die deutsehe Landesgesetzgebnng: bis znm Jahre 1869.^)
I. Das in der Auflösung begriffene alte deutsche Reich besass nicht mehr
die Kraft zu neuen Rechtsbildungsakten. Einzelne Gliedstaaten des alten
Reiches gingen daher selbständig vor, beseitigten die formale Geltung des
gemeinen Strafrechts und setzten partikuläre Strafrechtskodifikationen an dessen
Stelle. 1. Der Codex juris Bavarici criminalis vom Jahre 1751 eröffnete die
Reihe der Inndesrechtlichen Strafgesetzgebungen, welche über ein Jahrhundert
die Fort- und Umbildung des Strafrechts besorgten, bis der norddeutsche
Bund und das neue deutsche Reich zur Schöpfung eines deutschen Straf-
gesetzbuches gelangten. Bin ding hat hundert deutsche (iesetzgebungswerke,
teils Gesetze, teils Gesetzesentwürfe, ermittelt, welche von 1751 — 1809 für
deutsche Staaten (Österreich mit einbegriffen) ausgearbeitet wurden. 2. Dem
bayerischen Gesetzbuche folgte zunächst die Theresiana vom 31. Dezember 1768.
Die beiden Gesetzbücher sind trotz des formalen Bruches mit dem gemeinen
Rechte noch von dem Geiste desselben erfüllt. Man wirft ihnen grössere
Halte als der Carolina vor und bezeichnet sie als Rückschritte gegenüber
dem Gesetzbuche Johann von Schwarzenbergs. Hinsichtlich der Theresiana
dürfte dieser Vorwurf nicht in allen Beziehungen begründet sein. Jedenfalls
ist Maria Theresia für die Übertreibung der Grausamkeit in ihrem Gesetzbuche,
besonders für die Beibehaltung der Folter, nicht verantwortlich zu machen. Die
juristischen Ratgeber haben der an Geist sie weit überragenden Kaiserin das
Gesetzbuch abgetrotzt. 3« Vom Geiste der Aufklärung beeinflusst sind das
österreichische Strafgesetzbuch Josefs II, (die Josephina) von 1787, das Allge-
meine preussische Landrecht, Teil II, Titel 20 (1577 Paragraphen) von 1794
und das österreichische Strafgesetzbuch von 1803. Sie bilden den Übergang
von der Gesetzgebung des 18. zu der des 19. Jahrhunderts. 4. Eine neue
Periode der deutschen Strafgesetzgebung wurde eingeleitet durch das berühmte
bayerische Strafgesetzbuch von 1813, welches Anselm von Feuerbach,
den bedeutendsten deutschen Kriminalisten, zum Haupturheber hat. Dieses
Gesetzbuch ist nach Inhalt, Anordnung und Sprache der Markstein für die
moderne Strafgesetzgebung in Deutschland. Es sollte der Richterwillkür Ziel
*) The Statutes of the united Kingdom of Great Britain and Ireland 24 and 25
Victoria 1861 bv George Kettilbv Rickards, Esq. London 1861. S. 426.
*) G ei b, 'Lehrbuch, Bd. 1, S.806. v. Bar, Handbuch, Bd. 1, S. 155. Berner, Die
Strafgesetzgebung in Deutschland vom Jahre 1751 bis zur Gegenwart. Leipzig 1867.
Binding, Die gemeinen deutschen Strafgesetzbücher vom 26. Februar 1876 und
vom 20. Juni 1872. Kommentar. I. P^inleitung. 2. vermehrte Aufl. Leipzig 1877. S. 4 ff.
Binding, Handbuch, I, § 8, S. 38—48. Grundri8S (4. Aufl. 1890), § 14, S. 34. v. Liszt, Lehr-
buch (5. Aufl. 1892), § 10, S. 66. — Besonders brauchbar: M. Stenglein, Sammlung
der deutschen Strafgesetzbücher. Drei Bändchen mit Sachregister. München 1858.
Deutsches Reich. — Die geschichtliehen Grundlagen.
und Grenze setzen; daher die vielen Abstufungen in den Thatbeständen und
Straf drohungen. Offizielle Anmerkungen (3 Bände 1813 und 1814) sollten
Privatkommentare ersetzen. Die Anmerkungen waren abgefasst von Gönner,
einem Gegner Feuerbachs, der zwar hochbegabt, aber an gewissenhafter Gründ-
lichkeit, sowie philosophischer Durchbildung Feuerbach nicht ebenbürtig war.
Die Anmerkungen stehen nicht auf der Höhe des Gesetzbuches; sie haben
durch ihre Widersprüche mit dem Gesetzbuche den Ausleger nicht selten in
Verlegenheit gebracht. Das bayerische Strafgesetzbuch von 1813 ist die
bedeutendste gesetzgeberische Ausgestaltung der psychologischen Zwangstheorie.
Trotz seiner epochemachenden Bedeutung litt das bayerische Strafgesetzbuch
von 1813 doch an schweren Mängeln, zu denen namentlich eine übertriebene
Lehrhaftigkeit gehörte. Es war für den, der das Gesetzbuch anzuwenden hatte,
nicht selten eine peinliche Arbeit, die Thatbestände des Lebens den minutiös
unterscheidenden Thatbestandszeichnungen des Gesetzbuchs unterzuordnen. Das
bayerische Gesetzbuch von 1813 ist mehr durch den Anstoss, den es der
deutschen Rechtsbildung gegeben hat, durch die legislatorisch angemessene
Methode und Sprache bedeutsam geworden, als durch den Inhalt seiner Be-
stimmungen. Nachdem Oldenburg im Jahre 1814 das bayerische Strafgesetz-
buch fast wörtlich rezipiert hatte, trat wieder ein Stillstand in der deutschen
Strafgesetzgebung ein. Zwar die Vorarbeiten für neue Entwürfe ruhten nicht,
selbst in Bayern wurde schon im Jahre 1822 ein neuer Entwurf veröffentlicht;
aber erst das Jahr 1838 brachte ein neues Gesetzbuch, und zwar das königlich
sächsische, das auf die Strafgesetzgebung einer grösseren Anzahl der deutschen
Bundesstaaten erheblichen Einfluss äusserte.^) Bemerkenswert im sächsischen
Strafgesetzbuch mit Rücksicht auf die heutigen Ziele der Strafrechtsreform
ist die Handarbeitsstrafe als Surrogat der Gefängnisstrafe. Vergl. Wächter
a. a. O. S. 219 f. Das sächsische Strafgesetzbuch von 1838 liegt den Straf-
gesetzbüchern für Weimar (1839), Sachsen-Altenburg (1841), Sachsen-
Meiningen (1844) und Schwarzburg-Sondershausen (1845) zu Grunde;
es bildete ferner die Grundlage für das sogenannte thüringische Strafgesetz-
buch, zu dem sich in den Jahren von 1849 an eine grössere Anzahl der im
Zentrum von Deutschland gelegenen Staaten, freilich nicht ohne manche kleine
Veränderungen hinsichtlich einzelner Details, vereinbart hatten. (Weimar,
Meiningen, Koburg-Gotha, Schwarzburg-Sondershausen, Schwarzburg-Rudolstadt,
Reuss alt. L., Reuss j. L., Anhalt-Dessau und Köthen.*) Das Königreich
Sachsen selbst schritt noch zweimal, 1855 und 1868, zu einer Revision seines
Strafgesetzbuchs. Im Jahre 1840 wurde das braunschweigische Strafgesetz-
buch erlassen, welches zwar die vorhandenen Gesetzgebungsarbeiten berück-
sichtigte, aber doch eine selbständige und eigenartige Schöpfung war.**) Be-
sonders bemerkenswert in demselben ist die Bestimmung des § 4, wonach
die Vorschriften des Gesetzbuches auf solche Handlungen oder Unterlassungen
angewendet werden sollten, „welche entweder nach den Worten oder nach
dem Sinne oder nach dem Grunde der einzelnen Bestimmungen desselben, als
darin unzweifelhaft enthalten, anzusehen sind". Im Widerspruche mit dem
heutigen Rechte des deutschen Reiches, aber in Übereinstimmung mit Artikel 105
der Carolina wurde sonach die Gesetzesanalogie für das Gebiet des Strafrechts
gutgeheissen. Das ist ein Standpunkt der Strafgesetzgebung, der als ein idealer
erschiene, wenn auf den Richterbänken nur ideale Naturen gedacht werden
*) Vergl. bezüglich desselben namenthch: Wächter, Das Königlich sächsiche
und das thüringische Strafrecht. Ein Handbuch. Einleitung und allgemeiner Teil.
Stuttgart 1857. S. 1—27.
-) Vergl. Wächter, Sächsisch-thüringisches Straf recht. S. 54 ff.
») Vergl. dazu S. 8, III.
§ 2. Die deutsche Landesgesetzgebung bis 1869.
könnten. Gegenüber der nicht zu ändernden Unvollkommenheit der richter-
lichen Kräfte erscheint aber die heutige Begrenzung der richterlichen Gewalt
durch das Gesetz unzweifelhaft mehr empfehlenswert als die Ermächtigung
der Richter zur Bestrafung nach Analogie. Im Jahre 1843 ist das braun-
schweigische Strafgesetzbuch im Fürstentum Lippe-Detmold eingeführt worden.
Und unverkennbar ist der Einfluss dieses Gesetzbuches auf das hamburgische
Strafgesetzbuch von 1869. Auch Hannover gab sich im Jahre 1840 ein
Strafgesetzbuch, das bis zur Einführung des preussischen Strafgesetzbuches im
Jahre 1867 in Geltung blieb. Nach langen Vorbereitungen und Verhandlungen
gelangte im Jahre 1841 das Grossherzogtum Hessen zu einem Strafgesetz-
buche, welches 1849 die Grundlage des nassauischen, 1856 des frank-
furtischen und 1859 des hessen-homburgischen Strafgesetzbuches wurde. —
Baden hatte noch in einem Edikt von 1803 eine Kodifikation des gemeinen
Rechtes auf der Grundlage der Carolina unternommen. Nach langen und
sorgfältigen Vorbereitungen und Verhandlungen ist es darauf zu dem badischen
Strafgesetzbuche von 1845 gekommen. Württemberg war im Jahre 1839
hauptsächlich dem bayerischen Strafgesetzbuche von 1813 gefolgt. Entscheidend
für die deutsche Strafgesetzgebung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, nament-
lich auch für das heutige gemeine Reichsrecht wurde das preussische Straf-
gesetzbuch vom 14. April 1851. Dieses Gesetzbuch ist das Ergebnis von
Arbeiten Einzelner und von Beratungen und Beschlussfassungen in Kommissionen
während eines Vieiteljahrhunderts.
Das preussische Strafgesetzbuch ist in den Bannkreis des Code p^nal
getreten, namentlich in Hinsicht auf die Dreiteilung der strafbaren Handlungen,
sowie in Bezug auf die Behandlung des Versuchs und der Teilnahme. Im
preussischen Strafgesetzbuch ist sodann zuerst von einem deutschen Strafgesetz-
buche*) das französische System der ».mildernden Umstände", wenn auch
etwas verschieden von der Ausgestaltung in den französischen Gesetzen vom
25. Juni 1824 und 28. April 1832 angenommen worden. Die deutsche Rechts-
wissenschaft beklagt diese Gefolgschaft der preussischen gegenüber der franzö-
sischen Gesetzgebung. Hinsichtlich der Dreiteilung der strafbaren Handlungen
und der Annahme des Systems der mildernden Umstände wird diese Klage
mit ausreichenden Gründen nicht zu widerlegen sein. In Bezug auf die
Materie des Versuches und der Teilnahme kann aber derjenige die Nacfi-
bildung der französischen durch die preussische Gesetzgebung nicht tadeln,
welcher in der staatlichen Strafe Schutz gegen die wiederholte Verübung anti-
sozialer Handlungen seitens des bestraften Individuums sucht, und mit regel-
mässiger Erreichung dieses Zieles die Strafeinrichtung für begründet ansieht.
Es war eine nicht zu rechtfertigende Konzession des preussischen Strafgesetz-
buches an die deutsche Erfolgsüberschätzung, wenn es gerade in den schwersten
Fällen das eingenommene Prinzip verleugnete und z. B. den Mordversuch nur mit
Zuchthaus von 10 — 20 Jahren bestrafen Hess (preuss. StGB. § 32 Abs. 2). Vergleiche
demgegenüber das bayerische Strafgesetzbuch von 1861, Artikel 49, welches
den Versuch nach den nämlichen Bestimmungen wie die Vollendung bestrafte und
nur den Gerichten (ohne Beteiligung der Geschworenen) ein Ermässigungsrecht
einräumte. Das preussische Strafgesetzbuch bildete zum Teil fast wörtlich,
zum Teil in den Grundgedanken und in der Anlage das Vorbild für die
Strafgesetzbücher von Anhalt-Bemburg (1852), (das sich freilich später dem
thüringischen Strafgesetzbuche anschloss), Waldeck und Pyrmont (1855), Olden-
burg (1858), Lübeck (1861), Bayern (1861). Im Jahre 1867 wurde das
*) Vorher hatte das bayerische (Spezial-)Gesetz zum Schutz gegen den Miss-
brauch der Presse vom 17. März 1850 die Annahme mildernder Umstände im franzö-
sischen Sinne zugelassen. Vergl. auch Zeitschr. f. d. g. Strafrechtsw. XI, S. 220 (46).
Deutsches Reich. — Die geschichtlichen Gnmdlageii.
preussische Strafgesetzbuch in den von Preussen 1866 erworbenen Gebietsteilen
(Schleswig-Holstein, Hannover, Hessen-Nassau und Frankfurt a. M.) eingeführt.
II. Die Motive zum Strafgesetzbuch für den norddeutschen Bund unter-
scheiden acht Strafrechtsgruppen im Bundesgebiete, die Gruppe des preussischen,
des königlich sächsischen, des hessischen, des thüringischen, des braun-
schweigi sehen, altenburgischen und hamburgischen Strafgesetzbuches und das
gemeine deutsche Strafrecht. Sieht man auf den geschichtlichen und inhalt-
lichen Zusammenhang, so lässt sich die Gruppenbildung noch vereinlachen,
indem man gegen einander stellt die Gruppe der preussischen, der sächsisch-
thüringischen, der braunschweigischen und der hessischen Strafgesetzgebung,
sowie die Gruppe des gemeinen Rechts. Das letztere galt noch, allerdings
durch die Gesetzgebung teilweise modifiziert, in den beiden Grossherzogtümem
Mecklenburg, in Schaumburg-Lippe und in Bremen. Wohl fand sich in diesen
Gesetzgebungen viele Übereinstimmung, aber es waren auch viele recht ein-
greifende Verschiedenheiten darin. Und was das Störendste war, in dem
nämlichen Bundesstaate von 22 Gliedstaaten galten 18 formal selbständige
Strafgesetzbücher und das alte gemeine Recht.
III. Ein einheitliches Strafrechtsprinzip beherrschte weder die Gesan^theit
des Strafrechts, noch die einzelnen Gesetze. Wohl meinten die Motive und
Bemerkungen zum braunschweigischen Strafgesetzbuch, es müsse ein oberstes
Prinzip geben, dem man bei Bearbeitung eines Kriminalgesetzbuches „mit oder
ohne Absicht, mit Bewusstsein oder unwillkürlich" folge. Und nach einer
Auseinandersetzung über das Wesen der Strafe, die an Kant gemahnt, wird
erklärt: „Der Grund und Zweck der Rechtsgesetzgebung überhaupt und der
Strafgesetzgebung insbesondere kann daher lediglich in der Erhaltung und
Förderung der sittlichen Ordnung gefunden werden". Es dürfte schwer
sein, mit diesem Grundgedanken die Bestimmung des § 31 des Gesetzbuchs
in Einklang zu bringen, welcher dem Wahn, es sei die durch das Gesetz
bedrohte Übertretung nach dem Gewissen und nach der Religion erlaubt,
die Beachtung versagt. Schwer dürfte es sein, vom Standpunkte der sittlichen
Ordnung aus die mildere Bestrafung des Versuches zu rechtfertigen ; mit der sitt-
lichen Ordnung hat die Abstufung der Strafe vorsätzlicher Körperbeschädigungen
nach dem Erfolge und namentlich nach der Dauer der verursachten Krankheit
nichts zu thun. Mehr oder weniger bewusst wirkten in den Seelen der Ver-
fasser der deutschen Strafgesetzbücher und in den Seelen derer, die sie gut
hiessen , nebeneinander die absoluten und die relativen Theorien , bei der
einen Bestimmung vorwiegend der eine Zweck, bei der andern Vorschrift eine
andere Erwägung. Immerhin lässt sich nicht verkennen, dass die deutsche
Philosophie, besonders Hegel, in den Strafgesetzbüchern zum Worte gekommen
ist. Die überstarke Betonung der „Gleichheit vor dem Gesetze", welche in
der deutschen Strafgesetzgebung zu beobachten ist, dürfte nicht ausser Zu-
sammenhang mit den philosophischen Spekulationen über die Strafe stehen.
IV. Zusammenhängend mit der Vielheit der Gesetzbücher und der Selb-
ständigkeit der Gerichtsverfassung der zum ehemaligen deutschen Bunde
gehörenden Staaten verlor die Strafrechtspraxis mehr und mehr die Erinnerung
an die frühere Rechtsgemeinschaft. Von einer gesunden und kräftigen Ent-
wickelung und Fortbildung konnte in den kleineren Staatswesen nicht die
Rede sein. Das Recht bedarf eines weiten Bodens; auf engem Raum ver-
kümmern die 'Wurzeln und Aste und Zweige des Baumes, den das Recht
darstellt. Die deutsche Rechtswissenschaft hat wohl den Gedanken der Rechts-
einheit wert gehalten und gepflegt. Teils auf dem Boden der alten gemein-
rechtlichen Quellen, teils auf der Basis der neuen Landesgesetzgebungen ver-
suchte sie ein deutsches Straf recht zu konstruieren. Manche hochverdienst-
§ 3. Unmittelbare Vorgeschichte der Entwürfe.
liehe und noch heute zum Teil wertvolle Bearbeitungen des Strafrechts im
ganzen oder einzelner Teile sind aus dem Bestreben, die Einheit des Rechts
zu erhalten, hervorgegangen. Mit unmittelbarer Brauchbarkeit für das Rechts-
leben arbeitete diese Jurisprudenz nur in höchst bescheidenen Grenzen. Dem
praktischen Gebrauche diente vorzugsweise die Kommentarien- und Pr^tjudizien-
litteratur, wertvoll für den selbständigen, gefährlich für den unselbständigen
Juristen. Eine hochwertvolle und durchaus zuverlässige Zusammenstellung
der deutschen kriminalistischen Litteratur seit dem Ende des vorigen Jahr-
hunderts hat Binding, Grundriss des Gemeinen deutschen Strafrechts. I. Ein-
leitung und allgemeiner Teil; 4. verb. Aufl. Leipzig 1890. S. 43 — 48 gegeben.
Vergleiche auch v. Liszt, Lehrbuch (5. Aufl. 1892), S. 64 — 66. Ein kleines
Stück übereinstimmenden Strafrechts war für den deutschen Zollverein ge-
schafl'en worden, das isf in jener wirtschaftspolitischen Vereinigung deutscher
Staaten, durch deren Herbeiführung schon in den dreissiger Jahren des 19. Jahr-
hunderts die weitsichtige preussische Staatsleitung den ersten Keim für das
heutige deutsche Reich gelegt hatte. Das noch heute geltende Vereinszoll-
gesetz des Norddeutschen Bundes vom 1. Juli 1869 (BGBl. S. 355) enthält
diejenigen strafrechtlichen Grundsätze, welche bereits in der früheren vertrags-
mässigen Festsetzung enthalten waren.
n. Herstellimg nnd ümbildimg des Strafgesetzbuches.^)
§ 3. Unmittelbare Vorgeschichte der Entwürfe.
Schon in der Zeit vor der Gründung des Norddeutschen Bundes wurden
mehrere Projekte für ein gemeinsames deutsches Strafgesetzbuch ausgearbeitet.
Die Reichsverfassung von 1849 stellte im § 59 (64) das Programm auf, durch
die Erlassung allgemeiner Gesetzbücher über bürgerliches Recht, Handels- und
Wechselrecht, Strafrecht und gerichtliches Verfahren die Rechtseinheit im
deutschen Volke zu begründen. Darauf wurde im preussisclien Justizministerium
der Entwurf eines allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches ausgearbeitet.
„Derselbe betrachtet Deutschland strafrechtlich als ein einheitliches Gebiet und
beseitigt innerhalb der deutschen Grenzen die Unterscheidung von Inland und
Ausland."*) Den in der deutschen Reichsverfassung (1849) aufgenommenen
(xrundrechten entsprechend, hatte der preussische (!) Entwurf die Todesstrafe
beseitigt. Mit dem alsbaldigen Zusammenbrechen der Reichsverfassung wurde
der Entwurf gegenstandslos, und er wurde bis auf wenige Exemplare — ein-
gestampft. Ein Antrag Bayerns bei dem früheren Bundestage, die Möglich-
keit und Nützlichkeit einer gemeinsamen bürgerlichen und Strafgesetzgebung
zu erörtern (1859), fand keinen Anklang in der zwiespältigen Versammlung.
So wenig scheint in massgebenden Kreisen das Bedürfnis nach einheitlicher
Strafgesetzgebung empfunden oder für dringend erachtet worden zu sein, dass
sogar der Entwurf einer Verfassung des norddeutschen Bundes, welcher dem
konstituierenden Reichstage von 1867 vorgelegt worden war, das Strafrecht
nicht unter die Gegenstände der gemeinsamen Gesetzgebung aufgenommen
») Binding, Handbuch, I, §§ 9—18, S. 48—96. Derselbe, Grundriss, 4. Aufl.
1890, § 15. Rubo, Kommentar über das Strafgesetzbuch für das deutsche Reich imd
das EinführungRgesetz vom 31. Mai 1870 u. s. w. Nach amtlichen Quellen. Berlin
1879. S. 1—84. Rüdorff, Strafgesetzbuch für das deutsehe Reich. Mit Kommentar.
4., mit besonderer Berücksichtigung der Praxis des Reichsgerichtes neu bearbeitete
Aufl., herausgegeben von M. Stenglein. Berlin 1892. S. 6—26, 35—38.
«) Rüdorff (Stenglein) a. a .0. S. 8.
10 Deutsches Reich. — Herstellung und Umbildung des Strafgesetzbuches.
hatte. Und nachdem die Abgeordneten Miquel und Lasker diese Aufnahme
beantragt hatten, erklärte der bekannte sächsiche Kriminalist Generalstaats-
anwalt von Schwarze, es sei nach seiner Ansicht „gegenwärtig (1867) und
auf lange Zeit hinaus eine Unmöglichkeit, ein gemeinsames Strafgesetzbuch
zu erlassen ^^ Ein Glück, dass der nationale Einheitsgedanke den parti-
kularistischen Neigungen überlegen war! Mit beredten Worten verteidigte
Karl von Wächter neben andern das nationale Programm, dessen- Berech-
tigung ihm klar und unbestreitbar sei wie die Sonne. Das Strafrecht wurde
im Artikel 4 No. 13 der Verfassung des norddeutschen Bundes unter die Gegen-
stände aufgenommen, auf welche sich die Bundesgesetzgebung zu erstrecken
habe. Schon im Frühjahr des folgenden Jahres (18. April 1868) beschloss
darauf der norddeutsche Reichstag, den Bundeskanzler aufzufordern, die
Bundesgesetzgebung bezüglich des Strafrechts und des Strafprozesses einzu-
leiten und vorzubereiten. Der Bundesrat trat dem Beschlüsse bei. In Er-
mangelung von Bundesorganen für die Vorbereitung des Gesetzgebungswerkes
ersuchte der Bundeskanzler den preussischen Justizminister, die Herstellung
eines Entwurfes zu veranlassen.
§ 4. Die Entwürfe.
Mit der Ausarbeitung des Entwurfes wurde darauf der Geheime Ober-
justizrat (der spätere preussische Justizminister) Dr. Friedberg beauftragt.
Der preussische Kreisrichter Rüdorff und der preussische Gerichtsassessor
Dr. Rubo wurden als Hilfsarbeiter bestellt. Eine Denkschrift Friedbergs
an den Bundesrat vom 21. November 1868 entwickelte das Programm, das
der Redaktor sich gestellt hatte. Die Aufgabe war zum Teil neu und eigen-
artig. Zwar war in den Landesstrafgesetzbüchem ein reiches Material ver-
arbeitet und zum Teil erprobt; es lag ferner nahe, das preussische Strafgesetz-
buch dem Entwürfe zu Grunde zu legen. Aber das preussische Gesetzbuch
war für einen Einheitsstaat gearbeitet, das neue Gesetzbuch sollte für einen
Bundesstaat eingerichtet werden und zwar für einen Bundesstaat, der grössten-
teils aus Monarchieen bestand. Die Angehörigen des einen Gliedstaates waren
durch die Bundesgründung in ein staatsrechtliches Verhältnis zur Bundes-
gewalt und damit auch in ein solches Verhältnis zu den Staatsgewalten der
andern Gliedstaaten gekommen. Diese Beziehungen bedurften des strafi'echt-
lichen Schutzes. Auf der andern Seite liess sich nicht verkennen, dass die
Beziehungen der Angehörigen des einen Gliedstaates zu seiner eigenen Staats-
gewalt noch innigere waren, als zu den anderen Gliedstaaten. Der strafrecht-
liche Schutz musste dieser Verschiedenheit entsprechen.
Ausser dem im preussischen Justizministerium gesammelten Gesetzgebungs-
materiale wurden die von der Wissenschaft und Praxis, besonders in Golt-
dammers Archiv für preussisches Strafrecht gelieferten Beiträge, sowie nament-
lich der von John gearbeitete Entwurf mit Motiven zu einem Strafgesetzbuche
für den norddeutschen Bund berücksichtigt. Schon am 31. Juli 1869 überreichte
Friedberg dem Bundeskanzler den Entwurf. Derselbe war gedruckt und
wurde gleichzeitig der öffentlichen Kritik unterstellt.^) Das Werk bestand
aus sechs Folioheften und enthielt den Entwurf des Gesetzbuches selbst mit
356 Paragraphen, sowie den Entwurf eines Einführungsgesetzes (6 Paragraphen).
Beigegeben waren: Motive und vier Anlagen. Die letzteren enthielten eine synop-
tische Darstellung strafrechtlicher Bestimmungen des In- und Auslandes, eine
*) Hervorragenden Männern der Wissenschaft und Praxis wurde er besonders
mitgeteilt.
§ 4. Die Entwürfe. H
Erörterung über die Todesstrafe, Erläuterangen strafrechtlicher Fragen aus
dem Gebiete der gerichtlichen Medizin, sowie Gutachten von Strafanstalts-
beamten über die Maximaldauer der Zuchthausstrafe.
Der so ausgearbeitete Entwurf (Entwurf I oder Ministerialentwurf) wurde
in einer* Anzahl von handschriftlichen Mitteilungen (an die nachher zu
erwähnende Kommission), sowie in zahlreichen Druckschriften (namentlich von
Berner, Binding, Geyer, Hälschner, Heinze, John, H. Meyer, Vollert),
femer in den Gutachten von Stenglein, Ad. Merkel, v. Gossler und Seeger
für den deutschen Juristentag einer mehr oder weniger eingehenden Besprechung
unterzogen.*) Im Bundesrate war man der Ansicht, dass die Vertreter der
Theorie des Strafrechts hierdurch genügend zum Worte gekommen seien
und wählte zur Beratung des Entwurfes eine Kommission von sieben nord-
deutschen Praktikern, „deren Leistungen für das Kriminalrecht auf legislativem,
litterarischem oder forensischem Gebiete in weiteren Kreisen Anerkennung
gefunden hatten". Karl von Wächter war nicht zugezogen worden. Der
Kommission gehörten an: der preussische Justizminister Leonhardt als Vor-
sitzender und der sächsische Generalstaatsanwalt Schwarze als dessen Stell-
vertreter, Friedberg (der Verfasser des Entwurfes) als Referent, der Senator
Donandt zu Bremen, der Rechtsanwalt Dorn zu Berlin, der Appellations-
gerichtsrat Bürgers zu Köln und der Oberappellationsgerichtsrat Budde zu
Rostock. Rüdorf f und Rubo fungierten wieder als Schriftführer. Es galt,
noch in der ereten Legislaturperiode des Bundes das Gesetzgebungswerk ab-
zuschliessen. In dieser Absicht einigte man sich über Geschäftsordnungs-
maximen, die jeder Gesetzgebungskommission zu empfehlen sind. Nur über
schriftliche, an den Entwurf sich anschliessende und in Gesetzesform gebrachte
Anträge durfte eine Debatte stattfinden. Die Redaktion der gefassten Beschlüsse
erfolgte durch den Referenten Dr. Friedberg unter Mitwirkung Schwarzes
meist noch am Sitzungstage. Nach drei Lesungen in 43 Sitzungen wurde
am 31. Dezember 1869 die Beratung geschlossen. Am nämlichen Tage wurde
der Entwurf II (Kommissionsentwurf*) gedruckt dem Bundeskanzler über-
reicht. Der Entwurf bestand aus 366 Paragraphen, das Einführungsgesetz
aus acht Paragraphen. Motive waren nicht beigegeben. Der Entwurf* wurde
den Bundesregierungen, sowie allen denen mitgeteilt, welche Gutachten ein-
gereicht hatten. Nochmals wurden dem raschen Abschlüsse des Gesetzgebungs-
werkes Vertagungsanträge entgegengestellt. Die Regierungen des Grossherzog-
tums Sachsen und der Grossherzogtümer Mecklenburg, die Erste Kammer des
Königreichs Sachsen und das preussische Herrenhaus brachten Bedenken gegen
diesen Abschluss vor. Indessen schon am 11. Februar 1870 wurde der Ent-
wurf mit wenigen Modifikationen und unter Verwerfung der meisten Anträge,
welche von den Regierungen eingebracht worden waren, mit allen Stimmen
gegen die Stimmen der Grossherzogtümer Mecklenburg angenommen. Selbst
das Königreich Sachsen, dessen Abänderungsanträge sämtlich abgelehnt worden
waren, hatte mit Rücksicht auf den nationalen Zweck seine Zustimmung gegeben.
§ 5. Die Yerhandlungen Im norddeutschen Reichstage.
Am 14. Februar 1870 kündigte bei der Eröffnung des norddeutschen
Reichstages die Thronrede das Strafgesetzbuch an, dessen Entwurf III (Bundes-
ratsentwurf) noch am nämlichen Tage dem* Reichstage vorgelegt wurde. Bei-
') Vergl. Rüdorf f (Stenglein), Kommentar. 4. Aufl. S. 16 ff.
-) Entwurf eines Strafgesetzbuches für den norddeutschen Bund. Berlin, 31. Dezem-
ber 1869. Folio.
12 Deutsches Reich. — Herstellung und Umbildung- des Strafgesetzbuches.
gegeben waren Motive, welche auf der Grundlage der Motive des ersten Ent-
wurfes durch Friedberg und Schwarze unter Hilfeleistung der Schriftführer
ausgearbeitet worden waren. Dem Bundesrate haben diese Motive nicht vor-
gelegen. Die Anlagen des Entwurfes I waren auch diesmal beigefüg^t.
Im Reichstage beschloss man am 22. Februar 1870, die Einleitung, den
ersten Teil und die sieben ersten Abschnitte des zweiten Teiles des Entwurfes
(Hochverrat, Landesverrat, Beleidigung des Landesherrn und von Landesfürsten,
feindliche Handlungen gegen befreundete Staaten, Verbrechen und Vergehen
in Beziehung auf die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte, Widerstand gegen
die Staatsgewalt und Verbrechen und Vorgehen wider die öffentliche Ordnung,
also die Verbrechen und Vergehen, welche nicht selten eine politische Färbung
haben), sofort im Plenum zu beraten, dagegen die Abschnitte acht bis neun-
undzwanzig des zweiten Teiles einer Kommission zur Vorberatung zu über-
weisen. In zwanzig Sitzungen (28. Februar bis 8. April 1870) fand darauf
die zweite Lesung im Plenum statt. Ein Kardinalpunkt der Verhandlungen
war die FVage der Todesstrafe. Es lässt sich nicht verkennen, dass die seit
Beccaria, ja schon von Carpzov erörterte Frage über die Notwendigkeit
und Berechtigung der Todesstrafe gerade in der Zeit, welche den Beratmigen
über das Strafgesetzbuch vorausgegangen war, von der Mehrzahl der an dem
Streite Teilnehmenden im verneinenden Sinne beantwortet wurde. Es waren
nicht bloss. Juristen, welche „aus schwächlicher Abneigung, ihr Amt bis in
seine höchste Potenz zu üben" (Worte Bismarcks), gegen die Todesstrafe
sprachen und schrieben. Auch Philosophen und Theologen hatten sich gegen
dieses äusserste Mittel der Strafrechtspflege geäussert. Dem gegenüber erklärte
Oraf Bismarc k in der Sitzung vom I.März 1870: „Ich halte mich meinerseits
nicht für berechtigt, die Mehrheit der friedlichen Bürger dem Experiment (der
Abschaffung der Todesstrafe) ohne weiteres preiszugeben". Dm'ch Bismarcks
Rede über die Todesstrafe klingt einerseits die Fe uerb ach sehe psychologische
Zwangstheorie, andererseits der Glaube an einen göttlichen Auftrag zur Hand-
habung der Strafrechtspflege. „Eine menschliche Kraft, die keine Rechtfertigung
von oben in sich spürt, ist allerdings zur Führung des Richtschwertes nicht
stark genug." Trotz der lebhaften Verteidigung durch Bismarc k fiel die
Todesstrafe in der zweiten Lesung des Entwurfes; 118 gegen 81 Stimmen
hatten sie verworfen. Dieser, sowie ein paar andere Beschlüsse erschienen
dem Bundesrate unannehmbar. Nach Beendigung der zweiten Lesung trat der
Bundesrat gegen die sonstigen Gesetzgebungsgepflogenheiten in Beratung, um
Stellung zu den Beschlüssen des Reichstages zu nehmen. In der Sitzung vom
21. Mai 1870 bezeichnete der preussische Justizminister Dr. Leon hardt, unter
Anerkennung der Hingebung des Reichstages für das nationale Werk, diejenigen
Beschlüsse des Reichstages, die für den Bundesrat unannehmbar seien. Die Todes-
strafe müsse für den Mord und den schwersten Fall des Hochverrates wieder
in das Gesetzbuch aufgenommen, in den schwersten Fällen des Landesven'ates
müsse an lebenslänglicher Zuchthausstrafe als ausschliesslicher Strafe festgehalten,
und für gewisse politische Verbrechen müsse die Zulässigkeit landesrechtlicher
Einrichtung von besonderen Gerichtshöfen wieder hergestellt werden. Neue
Debatten, in welchen der Versuch gemacht wurde, für die Staaten, welche die
Todesstrafe schon beseitigt hatten (Königreich Sachsen, Oldenburg, Anhalt und
Bremen), eine Ausnahmestellung zu schaffen, die es den Staaten ermöglichte,
bei der Abschaffung der Todesstrafe zu bleiben. Durch Beschluss vom 22. Mai
lehnte der Bundesrat diese Sonderstellung einiger Staaten, als mit der Einheit
des Strafrechts in einem Kardinalpunkte unverträglich, ab. Die dritte Lesung
fand am 23., 24. und 25. Mai 1870 statt. Wieder griff Bismarck in die
Debatte ein. Waren es in der zweiten Lesung hauptsächlich strafpolitische
§ 6. Die Umbildung des norddeutschen zum deutschen Strafg-esetzbuche. . 13
Gründe, die Bisraarck geltend gemacht hatte, so stand die nationalpolitische
Seite der Frage im Vordergrunde, als Bismarck am 23. Mai 1870 die Ge-
währung eines Sonderrechts für einige Staaten des norddeutschen Bundes be-
kämpfte. . „Um zu der Vorlage zu gelangen, welche ursprünglich gemacht
wurde, — erklärte Bismarck — haben die einzelnen Regierungen, ich kann
sagen, fast jeder Fürst persönlich, fast jeder Ratgeber eines deutschen Fürsten
persönlich , wesentlich Opfer an ihren politischen Überzeugungen, an ihren
Wünschen, an ihrem Rechtsgefühl, ich möchte sagen, an ihrem Rechtsglauben
bringen müssen. Sie haben sie bereitwillig dem höher stehenden Zwecke
deutscher Rechtseinheit gebracht." „Die Regierungen haben den Beweis ge-
geben, dass sie die eigene Überzeugung, die eigene Rechtsansicht dem höheren
nationalen Zwecke zu opfern sich entschliessen können; nur Ein Opfer können
sie zu diesem Zwecke nicht bringen: das ist das Prinzip dieser nationalen
Einheit selbst." „Es ist für mich eine absolute Unmöglichkeit, es wäre ein
volles Verleugnen meiner Vergangenheit, wollte ich einem Gesetze hier zu-
stimmen, welches das Prinzip sanktioniert, dass durch den Bund zweierlei Recht
für die Norddeutschen geschaffen werden soll, dass ge Wissermassen zweierlei
Klassen von Norddeutschen geschaffen werden sollen — eine Selekta, die ver-
möge ihrer Gesittung, vermöge ihrer Erziehung soweit vorgeschritten ist, dass
selbst ihre üblen Subjekte des Korrektivs des Richtbeils nicht mehr bedürfen,
und dann das profanum vulgus von 27 Millionen, welches diesen sächsisch-
oldenburgischen Kulturgrad noch nicht erreicht hat, dem das Richtbeil im
Nacken sitzen muss, um es in Ordnung zu halten. Dem können wir nicht
zustimmen." Darauf wurde der Antrag zurückgezogen und mit 127 gegen
119 Stimmen wurde schliesslich die Todesstrafe in das Gesetzbuch wieder auf-
genommen. In einer Nachtsitzung vom 24. auf 25. Mai 1870 erfolgte die
Schlussredaktion des Entwurfes unter Berücksichtigung der zahlreichen in
der dritten Lesung beschlossenen Amendements; und am 25. Mai wurde
der so umgestaltete Entwurf mit sehr grosser Ma^jorität angenommen. Der
Bundesrat gab noch am nämlichen Tage einstimmig seine Genehmigung und
Wilhelm I. konnte als Oberhaupt des norddeutschen Bundes am 26. Mai bei
Schluss des Reichstages den Abschluss des grossen und mühsamen Gesetz-
gebungswerkes proklamieren. Am 31. Mai 1870 vollzog Wilhelm I. das Ge-
setzbuch. Dasselbe wurde im Bundesgesetzblatte No. 16 S. 195 am 8. Juni 1870
publiziert. Das Einführungsgesetz hatte den 1. Januar 1871 als ersten Gel-
tungstag bestimmt. — Die Jahre 1532 und 1870 sind die Zeitpunkte in der
deutschen Strafrechtsgeschichte, in denen deutsche Strafgesetzbücher zustande
gebracht wurden. Eine grosse Verschiedenheit des Kulturstandes trennt die
beiden Gesetzbücher; nach Inhalt, Anlage und Sprache sind diä Gesetzbücher
verschieden; auf beide darf aber die deutsche Nation mit freudiger Genug-
thuung blicken.
§ 6. Die Umbildung des norddeutseheii znni deutschen Strafgesetzbnehe.
I. Noch vor dem Tage, an welchem das Strafgesetzbuch ins Leben zu treten
hatte, verftnderten sich die staatsrechtlichen Verhältnisse, für die es berechnet
war. 1. Die Entwickelung des norddeutschen Bundes zum deutschen Reiche
dehnte auch das Herrschaftsgebiet des norddeutschen Strafgesetzbuches aus.
Artikel 80 der mit Baden und Hessen vereinbarten Übergangs- Verfassung
des deutschen Bundes erklärte das Strafgesetzbuch zum Strafgesetzbuch
des deutschen Bundes, bestimmte, dass die auf den norddeutschen Bund
sich beziehenden Vorschriften als für den deutschen Bund geltende zu ver-
stehen seien und verfügte, dass das Strafgesetzbuch in Hessen am 1. Januar
14 • Deutsches Reich. — Herstellung und Umbildung des Strafgesetzbuches.
1871, in Baden am 1. Januar 1872 in Kraft treten solle. 2. Diese Bestim-
mungen wurden durch Vertrag vom 25. November 1870 auf Württemberg aus-
gedehnt, so dass dort das Strafgesetzbuch am 1. Januar 1872 in Kraft zu
treten hatte. 3. Die Übergangsbestimmungen (Art. 79) der mit Bayern
am 23. November 1870 vereinbarten Bundesverfassung erklärten zwar gleich-
falls das Strafgesetzbuch vom 1. Januar 1872 an als Bundesgesetz; unter III § 8
dieser Bestimmungen wurde aber die Einführung des Strafgesetzbuchs, wie die der
meisten Bundesgesetze, in Bayern einem Akte der neukonstituierten Bundes-
gesetzgebung vorbehalten. IL Auf Anregung Bayerns ist darauf schon durch
Reichsgesetz vom 22. April 1871 (BGBl. S. 87) § 7 die Einführung des Straf-
gesetzbuchs in Bayern für den 1. Januar 1872 bestinmit worden. Nur bezüglich
des § 4 des Einführungsgesetzes, betreffend die Bestrafung gewisser, während des
Kriegszustandes und während eines Krieges begangener Verbrechen, war für
Bayern eine Ausnahme vorbehalten, welche durch Erlassung des Reichsmilitär-
gesetzes und des Militärstrafgesetzbuches grösstenteils, aber nicht ganz, gegen-
standslos geworden ist. Siehe unten §42. III. Durch Gesetz vom 15. Mai 1871
(RGBl. S. 127) erhielt das Strafgesetzbuch mit Wirkung vom 1. Januar 1872
als Strafgesetzbuch für das deutsche Reich eine den veränderten staatsrecht-
lichen Verhältnissen entsprechende, im bayerischen Justizministerium redi-
gierte, neue Fassung. xVn die Stelle der auf den „Norddeutschen Bund'* bezüg-
lichen Ausdrücke wurden solche gesetzt, welche dem neu gegründeten „Deutschen
Reiche" entsprachen. Namentlich wurde an die Stelle des „Bundesoberhauptes"
der „Deutsche Kaiser" gesetzt, und die in den §§ 102 und 103 zwischen nicht
zum norddeutschen Bunde gehörenden deutschen und andern Staaten ge-
machte Unterscheidung wurde ausgemerzt, da es nunmehr deutsche Staaten,
die nicht zum Bunde (Reiche) gehörten, nicht mehr gab. Das Gesetz vom
15. Mai 1871 ist niclft bloss Redaktionsgesetz.^) IV. Auffallender Weise ist
das Einführungsgesetz zum norddeutschen Strafgesetzbuche vom 31. Mai 1870
nicht von der Redaktionsänderung betroflFen worden, so dass dieses noch heutigen
Tages in seinem amtlichen Wortlaute die auf den norddeutschen Bund be-
zügliche Fassung enthält. V. Ein mit Zustimmung des Bundesrates vom
Kaiser (vergl. Ges. v. 9. Juni 1871, RGBl. S. 212 § 3) für Elsass-Lothringen
erlassenes Gesetz vom 30. August 1871 (Gesetzbl. f. Els.-Lothr. No. 14, S. 255;
vergl. dazu Ges. v. 14. Juli 1873, S. 166) verordnete die Einführung des neu-
redigierten Strafgesetzbuchs in Elsass-Lothringen mit Wirkung vom 1. Oktober
1871 an. Das norddeutsche Einführungsgesetz erlangte daselbst keine Geltung;
das für Elsass-Lothringen erlassene Einführungsgesetz enthält aber im wesent-
lichen die nämlichen Bestimmungen, wie das norddeutsche. Bemerkenswert
darin ist die im Artikel I Absatz 2 enthaltene Gleichstellung Elsass-Lothringens
mit den Bundesstaaten. Zum Artikel II des elsass-lothringischen Einführungs-
gesetzes ist am 29. März 1888 (RGBl. S. 127) ein auslegendes Reichsgesetz
ergangen. VI. Seit dem 1. Januar 1872 gilt sonach das Strafgesetzbuch
für das deutsche Reich als solches in dem ganzen Umfange des Reiches.
Und zwar gilt es, wie die anderen Reichsgesetze, unmittelbar für alle Personen
in- und ausserhalb des Reichs, auf welche seine Bestimmungen inhaltlich sich
beziehen, ohne dass es irgend einer Vermittelung der Gesetzgebung der Einzel-
staaten bedurfte.^) Yll. Das Strafgesetzbuch ist in der nachher zu erwähnenden
Fassung vom 26. Februar 1876 nebst dem norddeutschen Einführungsgesetze
und dem Wuchergesetzc mit Wirkung vom 1. April 1891 in Helgoland ein-
geführt worden. (Ges. v. 22. März 1891, S. 21, Art. I, No. IX.) VIIL In den
>) Vergl. Binding, Handbuch, I, S. 90.
•') Vergl. Hänel, Deutsches Staatsrecht. Leipzig 1892. § 42, Bd. 1, S. 268.
§ 7. Inhaltliche Veränderungen des Strafgesetzbuches. 15
Konsulargerichtsbezirken gilt das Strafgesetzbuch für die daselbst wohnen-
den Reichsangehörigen und Schutzgenossen (Ges. üb. d. Kons.-Gerichtsb. v.
10. Juli 1879, S. 197, § 1); in den Schutzgebieten für die gleichen Per-
sonenkategorieen, sowie für diejenigen Personen, auf .welche die deutsche
Gerichtsbarkeit durch kaiserliche Verordnung ausgedehnt worden ist. (Ges.
betr. die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete v. 15. /19. März
1888, S. 75, § 3, No. 3.) Es sind das namentlich alle in den Schutzgebieten
wohnenden, dort sich aufhaltenden oder, hiervon abgesehen, einem Gerichts-
stand innerhalb des Schutzgebietes unterworfenen Personen; die Eingeborenen
nur kraft besonderer Unterstellung. (Vergl. z. B. Verordn., betr. die Rechtsver-
hältnisse' in den Schutzgebieten der Neuguinea- Kompagnie v. 5. Juni 1886,
S. 187, § 2.) Handlungen der genannten Personen in den Konsulargerichts-
und Schutzgebieten werden in strafrechtlicher Beziehung als im deutschen
Inlande begangen angesehen.^)
§ 7. Inhaltliehe Yerfinderuni^en des Strafgesetzbuches.^)
l. Schon vor dem 1. Januar 1872 hat das Strafgesetzbuch durch Auf-
nahme des § 130a (Kanzelparagraph) eine Erweiterung erfahren. (Ges. v.
10. Dezember 1871, S. 442. Vergl. dazu Ges. v. 15. Juli 1872 für Elsass-
Lothringen, GBl. S. 531.) 2. Durch Gesetz vom 30. November 1874, S. 143,
§14 über den Markenschutz wurde § 287 des Strafgesetzbuchs und durch
das Personenstandsgesetz vom 6. Februar 1875, S. 23, §67 wurde §337 des
Strafgesetzbuchs (Vornahme der religiösen Ehefeierlichkeiten vor der standes-
amtlichen Schliessung der Ehe) ersetzt und beseitigt. 3. Sehr bald nach
dem Inslebentreten des Strafgesetzbuchs zeigten sich zahlreiche Redaktions-
versehen. Nach dem Wortlaute des § 102 z. B. hätte die Ermordung eines
auswärtigen Monarchen nur mit Festungshatit von 1 — 10 Jahren bestraft
werden können! Es stellte sich sodann heraus, dass der Schutz, den die Straf-
einrichtung zu gewähren hat, in mehreren Beziehungen vom Strafgesetzbuch
nicht ausreichend gewährt wurde. Dem gegenüber half man zum Teil durch
die Reicbsspezialgesetzgebung,*^) teils schritt man zu einer Revision des Straf-
gesetzbuchs selbst. Der preussische Justizminister hatte schon bei Einbringung
des Entwurfes eines Strafgesetzbuchs im norddeutschen Reichstage auf eine,
etwa nach 5 Jahren erfolgende Revision hingewiesen. Das Beispiel vom
Codex repetitae praelectionis hat noch nach 13 Jahrhunderten gewirkt! Nach
eingehenden Vorarbeiten seitens der Bundesregierungen und im Bundesrate
legte der Reichskanzler am 25. November 1875 dem Reichstage den Entwurf
eines Revisionsgesetzes vor, (das Projekt der Friedensbürgschaft war im
Bundesrate fallen gelassen). Nach lebhaften Debatten im Reichstage wurde
der zum Teil in einer Kommission vorberatene Entwurf unter wesentlichen
Änderungen angenommen und darauf das Revisionsgesetz vom 26. Februar 1876
(sowie das revidierte Gesetzbuch) am 6. März publiziert (RGBl. S. 25). Das
Gesetz beseitigte mehrere (nicht alle) Redaktionsversehen, vollzog eine Um-
rechnung der Thaler in Mark, änderte 44 Paragraphen (namentlich durch
Beseitigung des Antragseri'ordeniisses und der regelmässigen Zurücknehmbarkeit
des Antrages, vergl. dazu Art. III), fügte 6 neue Paragraphen (49a, 103a, 223a,
296a, 353a, 366a) ein, ergänzte den § 361 und ermächtigte den Reichskanzler,
eine neue Redaktion des Textes zu publizieren. Mit seinen nunmehrigen
375 Paragraphen ist das Strafgesetzbuch vom 26. Februar 1876 am 20. März
M Vergl. Bin ding, Handbuch, I, S.4101f.
•^) Vergl. Seite 14 zu Note 1.
«) Siehe unten § 13.
16 Deutsches Reich. — Der Inhalt des Strafgesetzbuches.
1876 in Wirksamkeit getreten. 4. Das Einführungsgesetz zur Konkursord-
nung für das deutsche Reich vom 10. Februar 1877, S. 390 beseitigte im
§ 3, No. 3 die §§ 281 — 283 des Strafgesetzbuchs über den Bankerott. An
deren Stelle traten die §§ 209 — 214 der Eonkursordnung. (Vergl. dazu Einf.-
Ges. Konk.-O. §4 Abs. 2, §5 No. 2; femer Konk.-O. § 76, Ordnungsstrafen
gegen den Verwalter). 5. Das Wuchergesetz vom 24. Mai 1880, S. 109, fügte
die §§ 302 a — d über die Bestrafung des Wuchers ein und ersetzte die
Nummer 12 des § 360. 6. Das Gesetz, betreffend die unter Ausschluss der
Öffentlichkeit stattfindenden Gerichtsverhandlungen vom 5. April 1888, S. 133,
ergänzte im Artikel IV den § 184 des Strafgesetzbuchs; vergl. dazu unten
§ 30. 7. Das Gesetz vom 13. Mai 1891, S. 107, ergänzte die §§276, 364
und 367, ersetzte die §§ 317 und 318 sowie § 360 No. 4 und schaltete den
§ 318a ein. (Es handelte sich um den bis dahin ungenügenden Strafschutz
gegen Miss brauch von Post- und Telegraphen Wertzeichen und um Ausdehnung
des Schutzes von Telegraphenanlagen, auf Rohrpost- und Fernsprechanlagen.)
Zur Zeit — 1. November 1892 — zählt das Strafgesetzbuch 370+1 — 1 —
l-J-6 — 3-j-4-|-l = 377 Paragraphen. Eine grössere, namentlich gegen das
Zuhälterunwesen gerichtete Ergänzung wurde durch einen im Anfange dieses
Jahres (1892) dem Reichstage vorgelegten Gesetzentwurf unternommen. Dieses
Projekt ist aber nicht mehr zum Abschlüsse gekommen. Eine neue Vorlage
wird erwartet.
m. Der Inhalt des Strafgesetzbuches. 0
§ 8. Die einleitenden Bestimmungen des Strafgesetzbuches.
Das Strafgesetzbuch zerfällt in „Einleitende Bestimmungen" und zwei
Teile. 1. Die einleitenden Bestimmungen rezipieren (§ 1) für das gemein-
deutsche Recht die schon von mehreren Landesstrafgesetzbüchem eingeführte
französische Dreiteilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen, Vergehen
und Übertretungen nach dem Maximum der angedrohten Strafe.") 2. In § 2
gelangen zwei Grundsätze zum Ausdrucke: a) der Grundsatz, dass eine Strafe
nur auf Grund des geschriebenen (Gesetzes-) Rechts, nicht nach Gewohnheits-
recht und nicht nach Analogie verhängt werden dürfe, '^) und b) dass im
Falle eines Wechsels der Gesetzgebung zwischen der Begehung und der straf-
gerichtlichen Erledigung einer Handlung das mildeste Gesetz anzuwenden
sei.*) 3. Die §§ 3 — 9 enthalten die Ordnung des sogenannten internatio-
*) Amtliche Ausgabe: Reichsgesetzblatt 1876, S. 40. Textausgaben mit kleineren
Noten: Rüdorff, 16. Aufl. (nach dem Tode des Verfassers besorgt von Appelius).
Berlin 1892. Olshausen, 4. Aufl. Berlin 1891. Erweiterte Textausgabe, namentlich
mit Entscheidungen des Reichsgerichts. Daude. 4. Aufl. Berlin 1891. Hinsichtlich
der Kommentare vergl. unten § 47.
'-) Vergl. aber das bayerische Ausführungsgesetz vom 18. August 1879 zur
Reichs-Strafprozessordnung Artikel 5, welches die reichsrechtliche Grenzbestimmung
etwas verschiebt. Unten § 44.
^) In andern Beziehungen ist die Analogie durch keine gesetzliche Bestimmung
ausgeschlossen.
*) Eine Merkwürdigkeit auf dem Gebiete der deutschen Strafgesetzgebung war
das am 26. Juli 1881, S. 247, verkündigte Gesetz vom 17. Juli 1881, betreffend die Be-
strafung von Zuwiderhandlungen gegen die österreichisch-ungarischen Zollgesetze,
welches im § 1 sich rückwärts für die Zeit vom 1. Juli 1881 au Kraft beilegte. Dar-
über Binding, Handbuch, I, S. 249; dagegen Laband, Staatsrecht § 57 a. E., Bd. 1,
S. 589, Note 1. Auch das baverische Gesetz vom 31. Januar 1888 über die Hunde-
Steuer ibayer. GVBl. S. 73), das im Artikel 4 die Straf bestimmung des Artikel 7, Absatz 1,
des älteren Hundesteuergesetzes änderte, legte sich Geltung vom 1. Januar 1888 an bei.
§ 8. Die einleitenden Bestimmungen des Strafgesetzbuches. 17
nalen Strafrechts. Für Handlungen im Inlande statuiert § 3 das Terri-
torialitätsprinzip, für Handlungen im Auslände stellt sich das Gesetz in der
Hauptsache auf den Standpunkt des Personalitätsprinzipes oder des Prinzipes
der aktiven Nationalität. Nur in wenigen Fällen nimmt das Gesetz gegen-
über auswärts vorgekonmienen Handlungen den Standpunkt des Realprinzips
oder des Prinzips der passiven Nationalität ein. (Vergl. auch Mil.-StGB.
§ 161 RGBl. 1872 S. 202.) Der Schutz, welchen das Strafgesetzbuch gegen von
auswärts kommende Angriffe auf inländische Rechtsgtlter gewährt, ist unge-
nügend. Schüsse, Rufe, Briefe und sonstige Sendungen, die über die deutsche
Grenze dringen, sind, wenn der Urheber ein Ausländer ist, nur in wenigen
Ausnahmefällen nach dem Strafgesetzbuch deutscherseits verfolgbar. Die
deutsche Strafrechtspraxis ist auf den Ausweg verfallen, solchen Handlungen
mit Rücksicht auf den Ort der Wirkung oder des Erfolges eine Beziehung
zum deutschen Gebiete zu geben; die Praxis fingiert mit Rücksicht auf den
Ort des Erfolges, dass die Handlung auf deutschem Boden begangen sei und
wendet dann auf solche Handlungen das Territorialitätsprinzip des § 3 an.
Die Vermittelung zu einem Viehkaufe in Russland verlegte man in Gedanken
nach Deutschland , um den Vermittler als Teilnehmer an der nachher von
anderen Leuten verübten Einschmuggelung des Viehs über die deutsche
Grenze bestrafen zu können. Dem auf französischem Boden ausgestossenen
Rufe: „vive la France" gab man einen deutschen Begehungsort, weil der Ruf,
wie allerdings beabsichtigt, in Deutschland vernehmbar war! Eine ganze
Litteratur ist über die Frage, wo eine Handlung begangen sei, entstanden.^)
Insoweit nicht das Gesetz zu Fiktionen nötigt, ist die Frage nicht nach
juristischen Gesichtspunkten zu beurteilen. Es steht nur die Anerkennung des
Ergebnisses einer sinnlichen Wahrnehmung in Frage. Gehandelt hat jemand
da und nur da, wo er sich beim Handeln räumlich befand. .Die Motive zur
deutschen Strafprozessordnung erklärten die Aufnahme einer Bestimmung über
den Handlungsort für entbehrlich, weil es „selbstverständlich" sei, dass es
nur auf den Ort der That und nicht auf den des Erfolges ankomme. Jede
Erweiterung des Handlungsbegriffes beruht auf Willkürlichkeit und führt zu
strafrechtlich unzulässigen Fiktionen. In der That brauchen wir einen Schutz
gegen die Angriffe, die bös- oder mutwillige Nachbarn über unsere Grenze
herüber auf unsere Rechtsgüter in Scene setzen. Aber diesen Schutz muss zu-
nächst das Gesetz gewähren; die Praxis, die ihn von sich aus bietet, hält
sich mit § 2 des Gesetzbuchs nicht in Einklang. — Die §§ 5 und 7 (vergl. auch
§ 37) tragen der auswärtigen Erledigung eines deutscherseits verfolgbaren
Straffalles Rechnung, § 6 erklärt auswärts verübte Übertretungen nur auf
Grund besonderer Gesetze (vergl. z. B. bayer. Forstgesetz — unten § 46
— Art. 49, Abs. 3) oder Verträge (vergl. namentlich das Zollkartell mit Öster-
reich vom 6. Dezember 1891 unten § 28) für strafbar. In § 8 wird der Aus-
landbegriff im Sinne des Strafgesetzbuchs festgestellt.*) Einen Verfassungsgrund-
satz enthält § 9, welcher die Auslieferung Deutseher an eine ausländische
Regierung zur Verfolgung und Bestrafung verbietet. 4. Auch § 10 greift über
das Strafgesetzbuch hinaus, indem die allgemeinen Strafgesetze des Reichs
auf Militärpersonen (vergl. das dem Mil.-StGB. vom 20. Juni 1872, RGBL
S. 204 beigefügte Verzeichnis) insoweit für anwendbar erklärt werden, als
nicht die Militärgesetze ein Anderes bestimmen. — 5. Die §§11 und 12 ent-
*) Vergl. namentlich v. Lilien thal, Der Ort der begangenen Handlung, Marburg
1890, dessen Resultat freilich hier nicht zugestimmt wird.
-) Vergl. dagegen z. B. Artikel 99 des bayerischen Malzaufschlaffgesetzes vom
8. Dezember 1889 (unten § 46), wo in Bezug auf mehrere Bestimmungen dieses Gesetzes
jeder nicht bayerische Gebietsteil als Ausland erklärt wird.
ätrafgesetzgebang der Gegenwart. I. 2
lg Deutsches Reich. — Der Inhalt des Strafgesetzbuches.
halten ein Stück gemeinsamen Landesstaatsrechtes mit strafrechtlicher Schluss-
wirkung. Die Reichsverfassung Artikel 30 hatte die Mitglieder des Reichstages
in Bezug auf ihre Abstinmiungen und hinsichtlich der in Ausübung ihres Berufes
gethanen Äusserungen von jeder gerichtlichen und disziplinarischen Verfolgung
sowie von jeder Verantwortung ausserhalb der Versammlung beft*eit. Artikel 22
der Reichsverfassung hatte wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in
den öffentlichen Sitzungen des Reichstages von jeder Verantwortung be&eit.
Die §§11 und 12 des Strafgesetzbuches (in den Verhandlungen des nord-
deutschen Reichstages eingefügt) dehnten die Straffreiheit der Reichstagsmit-
glieder auf die Mitglieder der gesetzgebenden Versammlungen in den Glied-
staaten aus und stellten die Unverantwortlichkeit der Presse auch in Bezug auf
wahrheitsgetreue Berichte über die Landtagsverhandlungen fest.^)
§ 9. Die allgemeinen Bestimmungen.
Der erste TeU des Strafgesetzbuches enthält in 5 Abschnitten und 67 Para-
graphen (§§ 13 — 79) allgemeine Bestimmungen über die Bestrafung von
Verbrechen, Vergehen und Übertretungen. Dieselben bilden den Mittelpunkt
und die Grundlage des heutigen deutschen Strafrechts. Sie kommen auch für
die Gebiete des besonderen Reichs- und des Landesstrafrechts in Betracht^
soweit diese nicht in gültiger Weise abweichende Bestimmungen enthalten.
(Vergl. unten § 43).
Der erste Abschnitt, §§ 13 — 42, handelt von den Strafen, der zweite,
§§ 43 — 46, vom Versuche, der dritte, §§ 47 — 50, von der Teilnahme, der
vierte, §§ 51 — 72, von den Gründen, welche die Strafe ausschliessen oder
mildem, der fünfte, §§ 73 — 79, vom Zusammentreffen strafbarer Handlungen.
1. Die Strafen des Strafgesetzbuches gliedern sich in Haupt- und Neben-
strafen. Die er'steren sind die Todesstrafe, Freiheitsstrafen und Geldstrafen;
bei jungen Leuten auch Verweis. (StGB. § 57, 4.)
1. Die Todesstrafe ist durch Enthaupten (Beil, Schwert, Fallbeil) und
zwar intramuran zu vollziehen; im Felde und im Kriegszustande — unten
§42 — durch Erschiessen. Für die Schutzgebiete kann durch kaiserliche
Verordnung eine andere, eine Schärtung nicht enthaltende Art der Voll-
streckung der Todesstrafe angeordnet werden. (Schutzgebietgesetz vom 15./19.
März 1888, RGBl. S. 75, § 3, No. 8; vergl. dazu Verordn. für die südwest-
afrikanischen Schutzgebiete vom 10. August 1890, RGBl. S. 171, § 14; desgl.
Verordn. für die Marschallinseln vom 7. Februar 1890, RGBl. S. 55, § 9,
Erschiessen oder Erhängen.) Todesurteile bedürfen keiner Bestätigung; die
Vollstreckung ist jedoch erst zulässig, wenn die Entschliessung des Staats-
oberhauptes ergangen ist, von dem Begnadigungsrechte keinen Gebrauch
machen zu wollen. In den durch das Reichsgericht in erster Instanz erledigten
Sachen ist die Entschliessung des Kaisers einzuholen. (Strafprozess.-O. § 484.
Vergl. jedoch unten § 42.) Die Todesstrafe ist angedroht für den Mord
(§ 211), den Mordversuch am Kaiser, am eigenen Landesherm und am Landes-
herm des Aufenthaltsortes (schwerste Fälle des Hochverrats: § 80) und im
schwersten Falle der SprengstoffVerbrechen. Ges. v. 9. Juni 1884 § 5.
2. Die Freiheitsstrafen des Strafgesetzbuches sind Zuchthaus, Gefängnis,
Haft und Festungshaft. Das Zuchthaus ist zum Teil auf Lebensdauer, zum Teil
zeitlich angedroht. Im letzten Falle ist die Minimaldauer 1 Jahr, die Maximal-
dauer 15 Jahre. Es kommen Minima von 1, 2, 3, 5 und 10 Jahren, Maxima von 3,
5, 10 und 15 Jahren vor. Die Zuchthausstrafe soll von einem Jahr ab nur in Zeit-
*) Vergl. dazu unten § 15.
§ 9. Die allgemeinen Bestimmungen. JQ
teilen von Jahren und Monaten erkannt werden. Die Praxis hat sich über diese
fundamentale, auf sorgfältigen Erwägungen beruhende Bestimmung bei mehreren
Gelegenheiten hinweggesetzt.^) Die Zuchthausstrafe soll auf die bisherige Lebens-
weise des Verurteilten keine Btlcksfcht nehmen; der Sträfling soll zu den in der
Anstalt eingeführten Arbeiten angehalten werden, selbstverständlich unter Berück-
sichtigung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Die Zuchthaussträflinge
dürfen auch, unter Vorbehalt der Trennung von freien Arbeitern, zu Aussen-
arbeiten angehalten werden. Die Zuchthausstrafe macht von rechtswegen auf
Lebenszeit ämter-, militär- und marineunfähig. Eidesunfähigkeit oder sonstige
Abminderungen der öffentlichen oder bürgerlichen Rechtsstellung sind mit
der Zuchthausstrafe nicht verbunden. Doch kann, in manchen Fällen muss
mit der Zuchthausstrafe die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte ver-
bunden werden.
Die Gefängnisstrafe ist in der Dauer von 1 Tage bis zu 5 Jahren zu-
lässig; bei Zusammentreffen mehrerer Gefängnisstrafen kann bis zu 10 Jahren
erkannt werden; und bei jugendlichen Verbrechern ersetzt Gefängnis bis zu
15 Jahren die Todes- und die lebenslängliche Zuchthausstrafe. Die Gefängnis-
strafe ist nach ganzen Tagen, nach Wochen, Monaten oder Jahren zu bestimmen.
Es kommen Minima von 1 Tag, 1 Woche, 14 Tagen, 1 Monat, 2, 3, 6 Monaten,
1, 2 und 3 Jahren vor, Maxima von 2, 3, 6 Monaten, 1, 2, 3 und 5 Jahren.
Die zur Gefängnisstrafe Verurteilten können in einer Gefangenanstalt in einer
ihren Fähigkeiten und Verhältnissen angemessenen Weise beschäftigt werden.
Auf ihr Verlangen sind sie in dieser Weise zu beschäftigen. Zur Aussenarbeit
dürfen sie nur mit ihrer Zustimmung angehalten werden. (Vergl. jedoch MiL-
StGB. § 15 Abs. 2). Straffolgen sind mit der Gefängnisstrafe nicht ver-
bunden; die Aberkennung der btlrgerlichen Ehrenrechte oder eine geringere
Einwirkung auf die Rechtsfähigkeit, beziehungsweise Rechtsstellung kann sich
unter gewissen Voraussetzungen auch an die Gefängnisstrafe anschliessen.
Einzelhaft ist bei Zuchthaus- und Gefängnissträflingen zulässig, ohne
deren Zustinmiung jedoch nur bis zu 3 Jahren. Eine Kürzung der Dauer
der Strafe ist mit der Einzelhaft nicht verbunden. — Zuchthaus- und Gefängnis-
sträflinge, die zu einer längeren Strafe verurteilt sind, können, wenn sie
wenigstens drei Vierteile der Strafe und mindestens ein Jahr erstanden und
sich während dieser Zeit gut geführt haben, mit ihrer Zustimmung vorläufig
entlassen werden. Es ist das Verdienst der sächsischen Landesgesetzgebung,
diesen guten und fruchtbaren Gedanken zuerst in Deutschland praktisch aus-
gestaltet zu haben. — Auf diese Einrichtung beziehen sich die §§ 23 — 26 des
Gesetzbuches.
Die Haft besteht in einfacher Freiheitsentziehung. (StGB. § 18.) Sie kann
von einem Tage bis zu 6 Wochen, im Falle des Zusammentreffens mehrerer
strafbarer Handlungen bis zu 3 Monaten erkannt werden. (§ 77.) Sie
ist regelmässig Übertretungsstrafe; zuweilen kann sie auch bei Vergehen
vorkommen (z. B. StGB. §§ 185, 233). Landstreicher, Bettler, durch Trunk
emährungsunfähig Gewordene, Weibspersonen, die sich der Prostitution ergeben,
Arbeitsscheue können, wenn sie aus § 361, No. 3 — 8 des Gesetzbuches zu
Haft verurteilt worden sind, zu Arbeiten, welche ihren Fähigkeiten und Ver-
hältnissen angemessen sind, innerhalb und, vorbehaltlich der Trennung von
freien Arbeitern, auch ausserhalb der Strafanstalt angehalten werden. Zugleich
dürfen diese Verurteilten seitens des Gerichtes der Landespolizeibehörde über-
wiesen werden, welche dadurch die Befugnis erhält, den Verurteilten bis auf
*) Stenglein, Zeitschrift für Gerichtspraxis, Bd. 14(1875), S. 100; Entscheidungen
des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 4 No. 58.
2*
20 Deutsches Reich. — Der Inhalt des Strafgesetzbuches.
zwei Jahre (nach erledigter Strafe) in einem Arbeitshause unterzubringen oder
zu gemeinnützigen Arbeiten zu verwenden und, wenn der Verurteilte ein Aus-
länder ist, denselben aus dem Bundesgebiete zu verweisen.
Die Festungshaft kommt als lebenslängliche sowie als zeitige in der
Dauer von 1 Tag bis 15 Jahren vor. Sie ist Verbrechensstrafe, wenn in
höherem Masse als 5 Jahren angedroht; ausserdem Vergehensstrafe. Maximal-
grenzen sind ausser 15 Jahren 10, 5, 3, 2 Jahre, 1 Jahr, 6 Monate; als Minimal-
grenzen erscheinen ausser 1 Tag, 1 Woche, 1 Monat, 2, 3, 6 Monate, 1, 2, 3,
5 Jahre. Die Festungshaft gilt als custodia honesta; sie besteht in Freiheits-
entziehung mit Beaufsichtigung der Beschäftigung und Lebensweise der Gre-
fangenen, welche in Festungen oder in anderen dazu bestimmten Räumen,
jedenfalls getrennt von sonstigen Gefangenen zu bewahren sind.
Sind ungleichartige Freiheitsstrafen zu verbinden oder sonst in Beziehung
zu bringen (z.B. StGB. §§ 7, 44, 49, 157, Strafprozess-0. § 492), so ist die
Zuchthausstrafe im Verhältnis zur Gefängnisstrafe und diese im Verhältnis zur
Festungshaft wie 2:3 anzusetzen; d.h. 2 Teile Zuchthaus == 3 Teilen Gefäng-
nis, und 2 Teile Gefängnis = 3 Teilen Festungshaft. (StGB. § 21.)
Jeder deutsche Staat vollzieht die von seinen Gerichten erkannten
Freiheitsstrafen. Die Zuchthausstrafen, welche vom Reichsgerichte in erster
Instanz erkannt werden, lässt der Oberreichsanwalt in der preussischen Straf-
anstalt zu Halle vollstrecken. Beruht eine Gesamtstrafe auf Einzelstrafen,
die von Gerichten verschiedener Staaten erkannt sind, so kommt die Voll-
streckung dem Staate zu, dessen Gericht zuletzt eine Zusatzstrafe erkannte
oder die Gesamtstrafe aussprach; doch ist ersatzlose Abwälzung auf den mit
der grössten Einzelstrafe beteiligten Staat zulässig. Bundesratsbeschluss vom
11. Juni 1885, Centralblatt 1885 S. 270.^) Übersteigt eine Freiheitsstrafe die
Dauer von 6 Wochen nicht, so ist dieselbe in demjenigen Bundesstaate zu
vollstrecken, in welchem der Verurteilte sich befindet, ohne Rücksicht darauf,
wo die Strafe erkannt wurde. (Ger. Verf. G. § 163.) — Hinsichtlich der pro-
zessualen Voraussetzungen der Vollstreckung der Freiheitsstrafen vergl. noch
Strafprozess-0. §§ 481—483, 487—490, 492—494.
Die Hauptsache, das ist der Inhalt der Freiheitsstrafen, ist reichs-
gesetzlich noch nicht geregelt. In Gesetzen und grösstenteils in Verordnungen
ist der Vollzug landesgesetzlich geordnet; im nämlichen Lande, wie z. B.
in Preussen, verschieden für die dem Ministerium des Innern unterstellten
Zuchthäuser (Strafanstalten) und die dem Justizministerium unterstellten Ge-
fangenanstalten. Alle Strafvollzugssysteme von planloser Gemeinschaftshaft
bis zur systemgetreuen, vielleicht übertriebenen Durchführung der Einzelhaft
finden sich in den deutschen Gefängnissen und Zuchthäusern vertreten. Die
im deutschen Reich erkannten Freiheitsstrafen haben überall denselben Namen,
dio zeitlichen Maximalgrenzen sind überall dieselben, im übrigen aber ist das
für die einzelne Anstalt massgebende Reglement und wohl auch Charakter,
Wissen und praktische Erfahrung des Anstaltsvorstandes entscheidend für Inhalt
und Wirkung der Freiheitsstrafen. Drei Jahre Zuchthaus oder Gefängnis in
der einen Anstalt und die gleichbemessene Strafe in der anderen Anstalt
können ganz verschiedene Strafen sein. Das deutsche Reich hat nur zum Teil
und vielleicht gerade bezüglich des weniger wichtigen Teiles der Strafein-
richtung einheitliches Recht. Die Voraussetzungen, unter denen die Gesell-
schaft mit dem Strafschutz einsetzen darf, sind, abgesehen vom Gebiete des
Landesstrafrechtes, übereinstimmend geordnet. Die Strafmittel sind auch überein-
*) Der citierte Beschluss enthält noch weitere, namentlich die Kosten betreffende
Bestimmungen.
§ 9. Die allgemeinen Bestimmungen. 21
stimmend etikettiert; die Mittel selbst aber sind noch recht verschiedene, daher
auch verschieden wirkende. In Erkenntnis dieses fundamentalen Misstandes
hatte die Reichsregierung einen Gesetzentwurf zur einheitlichen Regelung des
Vollzuges der Freiheitsstrafen im Reichsjustizamte ausarbeiten und in einer
Kommission von hervorragenden Praktikern des Gefängniswesens beraten und
feststellen lassen. Am 19. März 1879 gelangten diese Arbeiten zum Abschlüsse.
Zum Teil der Umschwung in den kriminalistischen Empfindungen und Urteilen,
vorzugsweise aber finanzielle Bedenken brachten das Gesetzgebungsprojekt zum
Stillstand, der Strafvollzugsentwurf gelangte nicht an den Reichstag.^) Die
Darstellung der Landes-Strafvollzugsgesetze , Verordnungen und Reglements
liegt nicht im Plane dieser Arbeit.
3. Die Geldstrafe ist mit der Minimalgrenze von 1 Mark für Über-
tretungen und mit der Minimalgrenze von 3 Mark bei Vergehen und Ver-
brechen zugelassen. Überschreitet die Maximalgrenze 150 Mark, so qualifiziert
das die That zum Vergehen. Die höchste im Strafgesetzbuche angedrohte
Geldstrafe beträgt 15000 Mark (§ 302 d, Wucher). Das Handelsgesetzbuch
Artikel 249, 249 a, 249 b (RGBl. 1884, S. 166) kennt Geldstrafen bis zu
20000 Mark; nach SpezialStrafgesetzen sind Geldstrafen möglich, die der
Konfiskation eines grossen Vermögens gleich kommen, indem sie in einem
Vielfachen eines dem Staate entzogenen Betrages bestehen. Geldstrafen, die
nicht beigetrieben werden können, sind in der Regel in Freiheitsstrafen zu
verwandeln. (StGB. §§ 28 — 30.) Und zwar giebt das Gesetzbuch den Ge-
richten die Befugnis, bei Verbrechen und Vergehen je 3, 4 u. s. w. bis
15 Mark durch je einen Tag Freiheitsentziehung zu ersetzen, während bei
Übertretungen ein Tag schon für eine Mark angesetzt werden kann. Es möchte
jedoch nicht als angemessen erscheinen, wenn eine Geldstrafe von 16 Mark
bei Übertretungen mit 15 Tagen ersetzt würde, während bei Vergehen nur
5 Tage an deren Stelle treten dürfen; es wird sich empfehlen, die Gleichung
zwischen Freiheits- und Geldstrafe bei Übertretungen nicht ungünstiger als
bei Vergehen anzusetzen. In manchen Spezialgesetzen ist die Umwandlung
der Geld- in Freiheitsstrafe ausgeschlossen, z. B. im Wechselstempelsteuer-
gesetze vom 10. Juni 1869 (BGBl. S. 193, § 15). Sogar die Subhastation
eines Grundstückes zum Zweck der Strafvollstreckung wird zuweilen für den
Fall verboten, dass der Verurteilte ein Inländer ist. Die Umwandlung der
Geld- in Freiheitsstrafe, wie sie vom deutschen Strafgesetzbuch vorgesehen
ist und von der deutschen Strafrechtspraxis gehandhabt wird, ist eine rein
fonnale und gänzlich zwecklose, sowie schädliche Massregel, deren baldige
Ablösung durch ein anderes Ersatzmittel der Geldstrafe, wie sie von der
Internationalen Kriminalistischen Vereinigung vorgeschlagen werden, anzustreben
ist. Nur insoweit nach (gültigen) Landesgesetzen anstatt der Gefängnis- oder
Geldstrafe Forst- oder Gemeindearbeit angedroht oder nachgelassen ist, soll
es nach §6, Abs. 2, des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch dabei sein
Bewenden haben. Hier wird die künftige Reichsgesetzgebung einzusetzen
und den bisher partikularrechtlichen Gedanken gemeinrechtlich zu verwerten
und weiter zu entwickeln haben.
4. Der Verweis ist nur bei Vergehen und Übertretungen Jugendlicher,
d. h. solcher, die zur Zeit der That 12, aber noch nicht 18 Jahre alt waren,
für besonders leichte Fälle zugelassen. (StGB. § 57, Z. 4.)
Als Nebenstrafen kennt das Strafgesetzbuch ausser der schon er-
wähnten ipso jure -Wirkung der Zuchthausstrafe: 1. die Aberkennung der
*) Vergl. die Darstellung v. Jagemanns im Handbuch des Gefängniswesens,
herausgegeben durch v. Holtzendorff und v. Jagemann. Hamburg 1888. Bd. 1,
S. 142 if., besonders S. 150 ff.
22 Deutsches Reich. — Der Inhalt des Strafgesetzbuches.
bürgerlichen Ehrenrechte neben der Todes- und Zuchthausstrafe, sowie
unter gewissen Voraussetzungen auch neben der Gefängnisstrafe. Die Ab-
erkennung bedeutet teils Verluste von Rechten, teils Unfähigkeiten zur Er-
langung gewisser Rechte. Die Unfähigkeit tritt im Falle des Ehrverlustes
während des Strafvollzuges und für einige Zeit nach Erledigung der Freiheits-
strafe ein. Das Gericht kann diese Zeit bei Zuchthausstrafen in der Dauer
von 2 — 10, bei Gefängnisstrafen in der Dauer von 1 — 5 Jahren bemessen.^)
Die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte bringt sowohl nach Reichs-
wie nach Landesrecht Zurücksetzungen in verschiedenen Lebensbeziehungen
mit sich, die aber nicht als Strafen angesehen werden, daher auch nicht der
Einschränkung nach § 5 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch unter-
liegen. (Vergl. z.B. Ger.Verf.G. §176, Gew.-O. §53, 83\ 100^ 106. Preuss.
Jagdpol.-Ges. vom 7. März 1850, GS. S. 165 § 15 lit. b. Preuss. Verordn.
betr. die Einrichtung einer ärztlichen Standesvertretung vom 25. Mai 1887,
GS. S. 169 §4, Abs. 3.) Bei Gefängnisstrafen kann die Aberkennung auf
die Ämterunfähigkeit beschränkt werden; bei manchen Vergehen darf über-
haupt nur Ämterunfähigkeit ausgesprochen werden. — Auswärtige Verurteilungen
eines Deutschen wirken nicht für das deutsche Reich, aber in einem Nach-
tragserkenntnisse kann die gänzliche beziehungsweise teilweise Aberkennung
der bürgerlichen Ehrenrechte erfolgen. (StGB. § 37. Vergl. eine ähnliche Be-
stimmung in § 42, Abs. 2 des Mil.-StGB.) 2. Das deutsche Strafgesetzbuch
kennt als Neben-, richtiger als Nachstrafen noch die Stellung unter Polizeiauf-
sicht (§§ 38, 39) und die Nachhaft, siehe S. 19 a. E. und S. 20; ferner 3. die
Einziehung einzelner Gegenstände (§ 40), sowie die Anordnung der Unbrauch-
barmachung von Druckschriften, Abbildungen, Darstellungen (§ 41). Vergl. auch
§ 42, der die zwei letzten Massregeln unter gewissen Voraussetzungen zulässt,
auch wenn kein Schuldiger mit Strafe zu erreichen ist. (Dazu Straf pr.Ordg.
§§ 477 — 479.) Ausser den vorstehend erwähnten Strafen kommen im Straf-
gesetzbuche noch folgende Massregeln als Nebenstrafen vor: 4. die Aberkennung
der Fähigkeit, als Zeuge oder Sachverständiger einen Eid zu leisten (StGB.
§ 161); 5. die Aberkennung der Fähigkeit zu einer Beschäftigung im Eisenbahn-
oder im Telegraphendienste oder in bestimmten Zweigen dieser Dienste (StGB.
§319); 6. die Verfallerklärung des Vorteils oder dessen Wertes bei der Bestechung
(StGB. § 335.) Nicht als Strafe erscheint die Anordnung der Zwangserziehung
in den Fällen der §§ 55 und 56 des Strafgesetzbuchs.
IL In der Materie des Versuches schliesst sich der 2. Abschnitt zunächst
an die Begriffsbestimmung des Code p^nal, Artikel 2 an, insofern als Haupt-
merkmal der Anfang der Ausführung (le commencement d'ex6cution) aufgestellt
ist. Auch hinsichtlich der Strafbarkeitserklärung folgt das deutsche dem
französischen Gesetzbuche, insofern es den Versuch eines Verbrechens ohne
weiteres, den eines Vergehens dagegen nur bei Vorhandensein einer besonderen
Bestimmung für strafbar erklärt. Dagegen ist die Unabhängigkeit des Aus-
bleibens des Erfolges vom Willen des Thäters nicht, wie nach dem Code
pönal, dem preussischen und bayerischen Strafgesetzbuche, Thatbestandsmerkmal
des Versuches; die Freiwilligkeit des Abstehens oder Rückgängigmachens ist
^) Auf die sogenannte restitutio ex capite gratiae (Rehabilitation) bezieht sich z. B.
das bayerische Gesetz vom 10. Juli 1861, betreflFend die Aufhebung der Straffolgen.
Man nimmt an, dass die deutschen Landesherren die Macht haben, auch die nach
§,31 des Strafgesetzbuchs mit der Zuchthausstrafe von rechtswegen verbundene
Ämter-, Militär- und Marineunfähigkeit wieder zu beseitigen. Vergl. Binding, Hand-
buch I, S. 375, 376. Ein nach Artikel XII des bayerischen Gesetzes vom 4. Juni 1848,
die Verantwortlichkeit der Minister betreffend, vom Staatsgerichtshofe zur Entlassung
verurteilter Minister kann nur mit Zustimmung der beiden Häuser des Landtages
begnadigt werden
§ 9. Die allgemeinen Bestimmungen. 23
vielmehr (§ 46) zum Elemente eines Strafaufhebungs- oder Tilgungsgrundes
gemacht. Am meisten verleugnet das deutsche Gesetzbuch sein Vorbild in
der schon kritisierten Bestimmung, dass das versuchte Verbrechen oder Ver-
gehen milder zu bestrafen sei als das vollendete. Nach meiner Auffassung
ist das eine Rückbildung des deutschen StrafVechts zu einem unvollkommeneren
Standpunkt. Die Landesgesetzgebung ist mehrfach auf den Standpunkt des
französischen Rechts zurückgekommen. (Vergl. unten § 43.)
III. In der Lehre von der Teilnahme ist das Strafgesetzbuch durch
eine metaphysische Auffassung der Willensfreiheit beeinflusst worden. Aus-
gehend von der Meinung, dass der keinem Zwange und keinem Irrtume unter-
liegende Mensch aus seiner Seele heraus neue Kausalitätsreihen eröffne und
dass die psychischen Einwirkungen anderer nicht unter dem Gesichtspunkte der
Verursachung aufgefasst werden dürften, ist die Annahme einer intellektuellen
Urheberschaft abgelehnt. Das Gesetzbuch erblickt im Anstifter und Qehtilfen
nicht Miturheber des verbrecherischen Erfolges, sondern lediglich Teilnehmer
an fremder Verurschuldung. Der Gedanke, an sich widerspruchsvoll, konnte
nicht konsequent durchgeführt werden. Und seine Ausprägung als Prinzip
stellt nicht selten die Rechtsanwendung vor unlösbare Probleme. Es ist un-
möglich, mit begrifflicher Schärfe die Mitthäterschaft von der thätigen Bei-
hülfe im Zeitpunkt der That zu unterscheiden. Und doch hat das Gesetzbuch
gerade bei den schwersten Verbrechen der Unterscheidung eine eminent prak-
tische Bedeutung beigelegt, indem es die Hülfeleistung in der Strafbarkeit
dem Versuche gleichstellt, so dass der Gehülfe beim Morde nur mit zeitiger
Freiheitsstrafe belegt werden kann, während den Mitthäter die Todesstrafe
trifift. Im § 49 a, dem sogenannten Duchesne-Paragraphen, hat das revidierte
Strafgesetzbuch den nicht gerade glücklich gelösten Versuch gemacht, das
Dingen zum Verbrechen und das sich Erbieten zum Verbrechen unter gewissen
Voraussetzungen unter Strafe zu stellen. (Über die Teilnahme von Civilpersonen
an militärischen Delikten vergl. unten § 38.)
Die Begünstigung ist in den besonderen Teil verwiesen und zusammen
mit der Hehlerei im 21. Abschnitte behandelt. Leider sind dadurch Vergehen
mit einander in Verbindung gebracht, welche einen grundverschiedenen Inhalt
haben. Die Unterstützung der Flucht eines politischen Verbrechers, eines
Duellanten und dergleichen gehört nicht in den nämlichen Abschnitt wie die
Hehlerei und Partiererei. Die unangemessene Verbindung hat auch zu unan-
gemessenen Bestimmungen geführt. Es ist nicht abzusehen, warum die Strafe
desjenigen, welcher um eigenen Vorteils willen nach Begehung eines Ver-
brechens dem Thäter oder einem Teilnehmer Beistand leistet, keine schwerere
sein darf, als die auf die Handlung selbst angedrohte.
IV. Der vierte Abschnitt des ersten Teiles stellt unter der Überschrift:
„Gründe, welche die Strafe ausschliessen oder mildem" Zustände und Vor-
gänge zusammen, die unter verschiedenen Gesichtspunkten wirken.^) Das
Verbindungsglied ist lediglich die Endwirkung auf die Bestrafung. 1. Die
Annahme einer strafbaren Handlung wird abgelehnt, wenn die freie Willens-
bestimmung durch Bewusstlosigkeit oder krankhafte Störung der Geistes-
thätigkeit ausgeschlossen ist (§ 51), im Falle unwiderstehlicher Gewalt (§ 52),
bei Notstand (§§ 52, 54), und im Falle der Notwehr (§ 53). Es ist sofort
ersichtlich, dass in den beiden ersten Fällen (Ausschliessung der freien Willens-
bestimmung und unwiderstehliche Gewalt) der Handlungsbegriff nicht gegeben
*) Als allgemeinen Straferhöhung8-(Schärfungs-)Grund kennt das Civilstraf-
gesetzbuch nur das Zusammentreffen mehrerer stran)aren Handlungen, vergl. nach-
her V. Es erfährt aber in dieser Beziehung für Militärpersonen eine Erweiterung durch
§ 55 des Militärstrafgesetzbuchs. S. unten § 39.
24 Deutsches Reich. — Der Inhalt des Strafgesetzbuches.
ist, während in den Fällen des Notstandes und der Notwehr das Moment der
RechtBwidrigkeit fehlt. Die Behandlung der Notwehr darf als mustergültig
erklärt werden; dem Notstande ist das Gesetzbuch nicht ausreichend gerecht
geworden.^) 2. Die §§55 — 57 beschäftigen sich mit dem Einfluss der Jugend.
Der Strafgewalt sind überhaupt entrückt die antisozialen Thaten von Personen,
die zur Zeit der That noch nicht 12 Jahre alt waren. Das Gesetzbuch erklärt
aber nicht, dass solche Thaten keine strafbaren Handlungen seien, sondern es
verbietet nur die Verfolgung. Durch die Revision vom Jahre 1876 ist die
Möglichkeit vorgesehen worden, seitens der Vormundschaftsbehörde die Begehimg
der That feststellen und die Zulässigkcit der Zwangserziehung aussprechen zu
lassen. Die hierauf folgende Behandlung richtet sich zur Zeit nach landes-
gesetzlichen Bestimmungen.^) War der Thäter zur Zeit der That 12 aber nicht
18 Jahre alt, so verlangt das Gesetzbuch die jedesmalige Kognition, ob er bei
Begehung der That die zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht
besass. Im Vemeinungsfalle ist freizusprechen, im Bejahungsfalle ist eine er-
heblich mildere, in besonderen Anstalten zu vollstreckende Strafe zu erkennen.
Vergleiche jetzt besonders Dr. H. Appelius, die Behandlung jugendlicher
Verbrecher und verwahrloster Kinder. Bericht der von der Internationalen
Kriminalistischen Vereinigung (Gruppe deutsches Reich) gewählten Kommission.
Berlin 1892. Der aus 100 §§ bestehende, dem Buche beigefügte Gesetzesent-
wurf unterscheidet verbrecherische Eander bis zum vollendeten 14. Jahre und
verbrecherische jugendliche Personen, Alter von 14 — 18 Jahren. Bei den ver-
brecherischen Kindern soll die strafrechtliche Verfolgung ausgeschlossen sein,
aber staatlich überwachte Erziehung angeordnet werden können. Bei ver-
brecherischen jugendlichen Personen soll das Strafgericht die Wahl haben, auf
Strafe, auf staatlich überwachte Erziehung oder auf Freiheitsstrafe und Er-
ziehung oder auf Überweisung an die Familie zu erkennen. Auch ohne das
Vorliegen einer strafbaren Handlung soll für Personen, welche das 16. Jahr
noch nicht vollendet haben, eine staatlich überwachte Erziehung angeordnet
werden können, wenn sittliche Veinvalirlosung festgestellt ist oder die häus-
lichen Verhältnisse sittliche Verwahrlosung befürchten lassen und die Mass-
regel als erforderlich erscheint, um die Person vor sittlichem Verderben zu
bewahren. Im VI. Abschnitt regelt der Entwurf den Vollzug der Strafen bei
Jugendlichen.
Die vom § 57 des Strafgesetzbuches vorgeschriebene Strafmilderung ist
ausgeschlossen vom Militär-Strafgesetzbuch § 50 und mehrfach von der Landes-
gesetzgebung. (Vergl. preuss. Forstdiebstahlsgesetz [unten § 46] § 10 und
preuss. Feld- und Forstpolizeigesetz [unten § 46] § 4.) Im Falle der Frei-
sprechung hat der Strafi'ichter nach § 56 des Strafgesetzbuches darüber zu
bestimmen, ob Zwangserziehung einzutreten habe, die bis zum vollendeten
20. Lebensjahre dauern darf. Auch bei Taubstummen ist jedesmal die Ein-
sichtsfrage aufzuwerfen (§ 58); eine besondere Strafmilderung im Falle der
Bejahung ist hier aber nicht vorgesehen. Viel erörtert ist die auf den IiTtum
bezügliche Bestimmung des § 59. Die Praxis giebt sich grosse Mühe, dessen
Nichtanwendbarkeit auf den sogenannten Irrtum über das Strafgesetz darzuthun.
3« Auf die Anrechnung der Untersuchungshaft bezieht sich die Bestimmung
^) Interessante Notstandsspezialbestimmungen z. B. im Intern. Vertrag zum
Schutze der unterseeischen Telegraphenkabel Art. 2 (unten § 20, No. 4), im preuss.
Feld- und Forstpolizeigesetz vom 1. April 1880, § 10 Abs. 2, im bayerischen Forstgesetze
vom 28. März 1852 (siehe unten § 46) Art. 61 (60).
^) Vergl. preuss Gesetz betr. die Unterbringung verw^ahrlost^r Kinder vom
13. März 1878, GS. S. 132 und Ergänzungsgesetz vom 27. März 1881, ferner Gesetz
vom 23. Juni 1884, GS. S. 306.
§ 9. Die allgemeinen Bestimmungen. 25
des § 60. 4, Die §§ 61 — 65 beschäftigen sich mit dem Erfordernis der Antrags-
stellung als Bedingung der Strafverfolgung. (Vergl. dazu oben § 7, S. 13 a. E.)
5. Die §§ 66 — 69 regeln die Verjährung der Strafverfolgung (Strafklage), die
§§ 70 — 72 die Verjährung der Strafvollstreckung. Keine Strafthat und keine
rechtskräftig erkannte Strafe ist nach dem Gesetzbuch unverjährbar.
V. 1. Der 5. Abschnitt beschäftigt sich mit einzelnen Fällen der so-
genannten Ideal- und Realkonkurrenz. Wenn eine Handlung die Merkmale
mehrerer strafbarer Handlungen enthält (Idealkonkurrenz), so soll nur die
schwerste Strafart oder das schwerste Strafmass verhängt werden. (StGB.
§ 73.) In den Fällen der Healkonkurrenz lässt das Gesetzbuch teils eine
Gesamtstrafe eintreten, teils schreibt es die Häufung der Strafen vor. Die
Praxis nimmt an, dass das letztere auch in den Fällen zu geschehen habe,
die das Gesetz nicht besonders geregelt hat. Zum mindesten wunderlich er-
scheinen aber Urteile, durch welche jemand zum Tode und zugleich zu lebens-
länglicher oder zeitlicher Zuchthausstrafe verurteilt wird. Man darf sicher sein,
dass der Gesetzgeber solche Unmöglichkeiten den Richtern nicht hat zumuten
wollen. 2. Für die Fälle der sogenannten Gesetzeskonkurrenz, z. B. §8 113 und
114, §§ 267 und 363, sowie für die Fälle des fortgesetzten Deliktes hat das
Gesetzbuch keine Bestimmungen aufgestellt.^) Die Gerichte müssen hierbei
teils die allgemeinen Regeln der Interpretation zur Anwendung bringen, teils
die natürliche Zusammenfassung mehrerer Muskelbewegungen zu einem Hand-
lungsbegriflFe auch für die rechtliche Beurteilung gelten lassen. — 3. Abweichend
vom preussischen hat das deutsche Strafgesetzbuch den Rückfj^Jl nicht als
einen allgemeinen Schärfungsgrund behandelt. Anders das Militär-Strafgesetz-
buch (vergl. unten § 39); vergl. auch die preussischen Disziplinarvorschriften
für das Heer vom 31. Oktober 1872, § 3 C. 4, (unten § 41). Nur bei Raub,
raubgleichem Diebstahl, räuberischer Erpressung, Diebstahl, Hehlerei, Betrug
(StGB. §§ 250 Z. 5, 252, 255, 244, 261, 264), sodann bei Zolldelikten, bei
Kontraventionen gegen die Gesetze über die Besteuerung des Tabaks, Zuckers,
Salzes, Branntweines und Bieres, bei Kontraventionen gegen das Gesetz be-
treffend die Reichsstempelabgaben (vergl. unten § 28 1 — lU) bewirkt teils der erste,
teils erst der zweite Rückfall die Möglichkeit einer Strafschärfung, beziehungs-
weise (beim Betteln, StGB § 362 Abs. 2) die Zulässigkeit der Straftaachbehand-
lung im Arbeitshause.*) Das Gesetzbuch hat bei jeder dieser strafbaren Handlungen
diejenigen bezeichnet, deren Vorbestrafung die Rückfall sstrafe begründen soll.
(Vergl. noch Gesetz über die Freizügigkeit vom 1. November 1867, BGBl. S. 55
§ 3.) — 4. Die Qewohnheitsmässigkeit ist bei dem Münzvergehen des § 150 und
bei der einfachen Kuppelei (§ 180) als Vergehensmerkmal ausgeprägt; bei Hehlerei
*) P^ine interessante Spezi albestimmung hinsichtlieh der Fortsetzung enthält
Artikel 20 des bayerischen Gesetzes, betreffend die Einrichtung des die Kunst-
strassen befahrenden Fuhrwerks vom 25. Juli 1850, (bayer. GBl. S. 321). Eine Über-
tretung, welche mit demselben Fuhrwerke an demselben Tage begangen wurde, darf
nur einmal zur Strafe gezogen werden. Und wer während einer Fahrt oder Reise
wegen einer Übertretung gegen die Artikel 1—9 in Untersuchung gezogen oder be-
straft wird, darf weder wegen der Fortsetzung der Fahrt oder Reise noch wegen der
Heimfahrt mit demselben Fuhrwerke bestraft werden, wenn er sich ein dem Absatz 3
des Artikel 20 entsprechendes Zeugnis hat ausstellen lassen. Nach § 10 des preussischen
Gesetzes vom 20. Juni 1887 (GS. S. 301, Art. II, § 11) findet eine wiederholte Be-
strafung wegen . auf derselben Reise fortgesetzter Zuwiderhandlungen schon dann
statt, wenn die Änderung des Fuhrwerks nicht im nächsten Orte, wo es möglich war,
bewerkstelligt wird.
^) Auch in einzelnen Landesgesetzen ist der Rückfall als Strafschärfungsgrund
behandelt. Preuss. Forstdiebstahlsgesetz vom 15. April 1878, GS. S. 222, §§ 7, 8, preuss.
Feld- und Forstpolizeigesetz vom I.April 1880, S. 230, § 2b, §3; baver. Forstgesetz
vom 28. März 1852 (GVBl. 1879, S. 1313), Art. 59 (58), No. 12.
26 Deutsches Reich. — Der Inhalt des Strafgesetzbuches
(§ 260) und Wucher (§ 302 d) ist die Gewohnheitsmässigkeit Strafschärfungs-
grund. Vergl. auch die starke Wirkung der gesetzlich näher begrenzten Ge-
wohnheitsmässigkeit im bayerischen Forstgesetze vom 28. März 1852 (bayer.
GVBl. 1879, S. 1313) Artikel 104 (103) und 105 (104). 5. Die Gewerbsmässigkeit
ist beim Glücksspiel (§284) und bei der Prostitution (§361, No. 6) Vergehens-
merkmal, bei dem Jagdfrevel (§ 294), bei der Hehlerei (§ 260) und bei dem
Wucher (§ 302 d) Strafschärfungsgrund. 6. Die Geschäftsmässigkeit hat im
§144 (Verleitung zur Auswanderung) entscheidenden Einfluss erlangt.
§ 10. Der zweite Teil des Strafgesetzbuches.
Der zweite Teil des Gesetzbuches enthält 28 noch in Geltung stehende
Abschnitte. Die Zählung der Abschnitte geht bis zu 29, der 24. Abschnitt
über den Bankerutt ist aber aufgehoben. (Siehe oben § 7 S. 16.) Nachstehend
folgen die Überschriften der Abschnitte. — 1, Hochverrat und Landesverrat.
2, Beleidigung des Landesherm. 3« Beleidigung von Bundesfürsten. 4. Feind-
liche Handlungen gegen befreundete Staaten. 5* Verbrechen und Vergehen
in Beziehung auf die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte. 6. Widerstand
gegen die Staatsgewalt. 7. Verbrechen und Vergehen wider die öffentliche
Ordnung. 8, Münzverbrechen und Münzvergehen. 9. Meineid. 10« Falsche
Anschuldigung. 11, Vergehen, welche sich auf die Religion beziehen. 12, Ver-
brechen und Vergehen in Beziehung auf den Personenstand. 13, Verbrechen
und Vergehen wider die Sittlichkeit. 14. Beleidigung. 15. Zweikampf. 16. Ver-
brechen un^ Vergehen wider das Leben. 17. Körperverletzung. 18. Ver-
brechen und Vergehen wider die persönliche Freiheit. 19. Diebstahl und
Unterschlagung. 20. Raub und Erpressung. 21. Begünstigung und Hehlerei.
22. Betrug und Untreue. 23. Urkundenfälschung. 24. vacat. 25. Strafbarer
Eigennutz und Verletzung fremder Geheimnisse. 26. Sachbeschädigung. 27. Ge-
meingefährliche Verbrechen und Vergehen. 28. Verbrechen und Vergehen im
Amte.^) 29. Übertretungen. — Die Überschriften entsprechen keineswegs in
allen Beziehungen dem Inhalte der Abschnitte ; und es ist nicht angängig, die
Überschriften ohne weiteres zur Auslegung der Tragweite der einzelnen Be-
stimmungen zu verwerten. Im 2. Abschnitte sind nicht bloss Beleidigungen
des Landesherm, sondern auch Beleidigungen von Mitgliedern der landesherr-
lichen Familien bedroht. Im Abschnitt über Beleidigung von Bundesfürsten
finden sich Strafdrohungen in Bezug auf Thätlichkeiten gegen Mitglieder bundes-
fürstlicher Familien, sowie in Bezug auf Thätlichkeiten und Beleidigungen
gegen den Regenten. Im 5. Abschnitte sind Gewaltthätigkeiten gegen die
Senate und die Bürgerschaften der freien Städte sowie gegen gesetzgebende
Versammlungen und deren Mitglieder mit Strafe bedroht; ferner Gewaltthätig-
keiten und Unredlichkeiten in Bezug auf öffentliche Wahlen. Der 6. Abschnitt
(Widerstand gegen die Staatsgewalt) entspricht in der Hauptsache seiner Über-
schrift; doch finden sich darin auch Gewaltthätigkeiten gegen Waldeigentümer,
Forst- und Jagdberechtigte, sowie gegen die von diesen bestellten Aufseher.
Die Überschrift des 7. Abschnitts „Verbrechen und Vergehen wider die öffent-
liche Ordnung" lässt die in demselben vorgesehenen Verbrechen und Vergehen
nicht alle erraten. Es gehören dahin der Hausfriedensbruch (§§ 123, 124),
der Landfriedensbruch (§ 125), die Störung des öffentlichen Friedens durch
Androhung eines gemeingefährlichen Verbrechens (§ 126), unerlaubte Verbin-
dungen und die Teilnahme daran (§§ 127 — 129), die Friedensgefährdung durch
Aufreizung von Bevölkerungsklassen gegen einander (§ 130), der Eanzelmiss-
brauch (§ 130a), die Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen und An-
*) Siehe unten § 36.
§ 10. Der zweite Teil des Strafgesetzbuches. 27
Ordnungen der Obrigkeit durch öflPentliche Unwahrheiten (§ 131), die Amts-
anmassung (§ 132), widerrechtliche Einwirkungen auf amtlich verwahrte Sachen
(§ 133), Widerrech tlichkeiten in Bezug auf öffentliche Anschläge (§ 134), des-
gleichen in Bezug auf öffentliche Autoritäte- und Hohheitszeichen (§ 135),
Amts-Siegelverletzung (§ 136), Arrestbruch (§ 137), falsche Entschuldigungen
von Schöffen, Geschworenen, Zeugen und Sachverständigen (§ 138), Nichtanzeige
gewisser bevorstehender Verbrechen (§ 139), Verletzungen der Wehrpflicht
(§§ 140, 142, 143), Falschwerben (§ 141), geschäftsmässige Verleitung zur
Auswanderung unter Anwendung täuschender Mittel (§ 144), Übertretung der
Seesehiffahrtsverordnungen (§ 145). Lediglich als Saramelabschnitt erscheint
der 25. Die §§ 284—286 beziehen sich auf das Glücksspiel; (§ 287 ist durch
das Markenschutzgesetz, siehe unten § 26, ersetzt); § 288 bedroht Vereitelung
bevorstehender Zwangsvollstreckungen, § 289 Eingriffe in ein fremdes Ge-
brauchs- oder Zurückbehaltungsrecht; § 290 hat einen Fall des furtum usus,
§ 291 einen speziellen Diebstahlsfall zum Gegenstande. Die §§ 292 — 295 be-
drohen die Eingriffe in ein fremdes Jagdrecht. Die Verstösse gegen die Jagd-
ordnungen sind der landesrechtlichen Straf bedrohung überlassen.^) Die Ver-
letzungen eines fremden Fischereirechtes sind als Übertretungen im § 370,
No. 4 vorgesehen; nur zwei Fälle sind mit Vergehensstrafen in den §§ 296
und 296 a bedroht. (Das unberechtigte Fischen und Krebsen in einer dem
Fischfang gefährlichen Weise und das unbefugte Fischen von Ausländem in
deutschen Küstengewässern.) Gegen die Gefährdung von Schiff oder Ladung
seitens der Reisenden, Schiffsleute oder Schiffer durch Mitnahme gefährlicher,
beziehungsweise verbotener Waren wendet sich § 297, gegen die Untreue der
Schiffsleute § 298. Die unbefugte Eröffnung verschlossener Schriftstücke ist
im § 299 (vergl. auch § 354), die Verletzung des Berufsgeheimnisses durch
Rechtsanwälte, Notare, Verteidiger, Ärzte und andere Medizinalpersonen im
§ 300 bedroht. Die Verletzung des Amtsgeheimnisses ist mit Ausnahme eines
Falles (§ 353a) nicht mit einer öffentlichen Strafe belegt, sondern der diszi-
plinaren Behandlung innerhalb der Amtsordnung überlassen. Die §§ 301 und
302 wenden sich gegen die geldgeschäftliche Ausnützung des Leichtsinnes und
der Unerfahrenheit der Minderjährigen, die §§ 302a — d gegen den Wucher.
Es lässt sich nicht verkennen, dass ein einheitlicher und abschliessender Ge-
danke der Verbindung all' dieser Strafdrohungen im 25. Abschnitte nicht zu
Grunde liegt. Und man kann nicht behaupten, dass die Nichtaufnahme eines
Thatbestandes, der in dieser äusserlichen Verbindung von Landesgesetzbüchem
bedroht war (vergl. § 270 des preuss. StGB.), im Sinne einer Straflosigkeits-
erklärung gedeutet werden müsse.
Noch willkürlicher ist die Verbindung von Thatbeständen im 29. Ab-
schnitte. Es ist lediglich die Geringfügigkeit der für angezeigt erachteten
Strafe, welche die Reichsgesetzgebung veranlasst hat, unter der Überschrift
„Übertretungen", Verstösse gegen Normen mit ganz verschiedenartigem Inhalt
in einem Abschnitt zusammenzufassen. Es sind teils Rechtsgüterverletzungen,
teils Gütergefährdungen, teils Fälle blossen Ungehorsams, welche im 29. Ab-
schnitte des Reichsstrafgesetzbuches in eine wunderliche Verbindung gekommen
sind.*) Im nämlichen § 360 ist z. B. das unerlaubte Zeichnen von Festungs-
werken, das unbefugte Tragen eines Ordens, die Verweigerung der Nothilfe,
die Erregung ruhestörenden Lärms und die Verübung groben Unfugs, die
öffentliche Tierquälerei und das unbefugte Veranstalten öffentlicher Glücks-
spiele bedroht. Im § 361 sind ausser den Bettlern, Landstreichern und öffent-
^) Vergl. unten § 46.
*) Vergl. Rosin in V. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2, 8.275 (§5).
28 Deutsches Reich. — Der Inhalt des Strafgesetzbuches.
liehen Dirnen auch Eltern bedroht, welche es unterlassen, ihre Kinder vom
unbefugten Jagen und Fischen abzuhalten. Als Gründe für die reichsrecht-
liche Bedrohung einer Reihe von Übertretungen stellen sich dar die Absicht,
für gewisse Handlungen und Unterlassungen die öffentliche Bestrafung sicher
zu stellen, andererseits die Absicht, in gewissen Fällen die Strafmittel zu be-
grenzen. „Die einschlägigen Bestimmungen — heisst es im Anhang I zu den
Motiven des norddeutschen StGB. — werden sich . . an der Aufgabe genügen
lassen müssen, diejenigen Vorschriften aufzustellen, die im wesentlichen überall
gleichmässig anwendbar sein werden, das Besondere dagegen der Partikular-
gesetzgebung oder der autonomischen Bestimmung der Behörden, Kreise und
Gemeinden, je nach der Verschiedenheit der politischen Organisation in den
verschiedenen Landesteilen, zu überlassen." Es gilt als ausgemacht, dass die
Straf drohungen des 29. Abschnittes die Landesgesetzgebungen nur insoweit
beschränken, als diese regelmässig nicht befugt sind, einen der Thatbestände
des 29. Abschnittes für straflos zu erklären oder anders zu bedrohen, als es
das Reichsstrafgesetzbuch gethan. Im übrigen hat das Landesstrafrecht freie
Hand; es darf Straf drohungen aufstellen, welche ganz ähnliche Thatbestände,
wie die im 29. Abschnitte enthaltenen betreffen. Vergl. z. B. bayer. PoL-
StGB. (unten § 46) Art. 30 mit RStGB. § 360 Ziff. 11, bayer. PStGB. Art. 39
mit RStGB. §367 Ziff. 9, Art. 44 mit §366 Ziff. 10 u. a. Insoweit „Vor-
schriften" in Frage kommen, welche durch § 2 Abs. 2 des Einführungsgesetzes
zum Strafgesetzbuche als in Geltung bleibend erklärt werden, darf die Landes-
gesetzgebung sogar abweichend von den Bestimmungen des 29. Abschnittes
einzelne Thatbestände behandeln (s. unten § 43). Die Übertretungen sind nicht,
wie im preussischen Strafgesetzbuch in einen besonderen Teil mit besonderen
allgemeinen Bestimmungen verwiesen. Man wollte das Anerkenntnis aussprechen,
„dass auch die sogenannten Polizeiübertretungen ein wirklich strafbares Un-
recht darstellen und daher gleich den Verbrechen und Vergehen zu verfolgen
und von den Gerichten zu bestrafen seien." ^) Wo aus praktischen Gründen eine
abweichende Behandlung für angezeigt schien, da ist dies an geeigneter Stelle
zum Ausdruck gebracht, wie z. B. hinsichtlich der im Ausland begangenen
Übertretungen (§ 6), hinsichtlich des Versuches (§ 43), der Hülfeleistung (§ 49),
der Begünstigung (§ 257).
§ 11. Das ElnJtlhrnngsgesetz znm Strafgesetzbuelie. ^)
Dasselbe hat noch heute die Fassung, die es bei seiner Verkündung für den
norddeutschen Bund bekommen hat. S. oben § 6 IV, S. 14. Die Bestimmung des
§ 1 über den Anfang der Geltung ist Gegenstand der Erörterung gewesen (vergl.
oben § 6); die §§ 2, 3 und 5 — 7, welche sich auf das Verhältnis des Landesstrafrechts
zum Strafgesetzbuch beziehen, fii den im § 43 dieser Darstellung eine Besprechung.
Der auf das Strafrecht im Kriege und im Kriegszustande sich beziehende §4 gelangt
in § 42 zur Erörterung. Und § 8 wird den Ausgangspunkt der Erörterung über
die Landes-Einführungsgesetze bilden (unten § 44).
§ 12. Sehlussbetrachtnngen.
Vom Standpunkte der Zeit, in welcher das Strafgesetzbuch für das
deutsche Reich erlassen wurde, ist dasselbe als ein gutes und brauchbares
Gesetzbuch zu bezeichnen. Gleich seinen Vorgängern ist das deutsche Straf-
gesetzbuch nicht einseitig von einer der Strafrechtstheorien beherrscht, wenn-
gleich sich nicht verkennen lässt, dass die ausgleichende Gerechtigkeit, mehr
*) Vergl. dazu die vorzüglich orientierende Darstellung von Rosin inv. Stengel,
Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Artikel Polizeistrafrecht, Bd. 2, S. 273 ff., besonders
§ 5, S. 275 f. — 8) Rüdorff (Stenglein) S. 45—48.
§ 12. Schlnssbetrachtungen. 29
als praktische Tendenzen, in dem Gesetzbuche zum Worte gekommen ist. Die
sittlichen und rechtlichen ünwerturteile, welche im deutschen Volke verbreitet
und massgebend waren, sind in der Hauptsache durch das Strafgesetzbuch
zum Ausdrucke gebracht worden. Diesen Urteilen entspricht auch die nicht
geringe Bedeutung, welche das Gesetzbuch dem Erfolge beigelegt hat. In der
Materie des Versuches, sowie bei zahlreichen Thatbeständen ist die Strafe eine
andere, wenn die That einen gewissen schweren Erfolg gehabt, als wenn sie
ihn nicht hatte. Die Spezialstrafgesetzgebung hat die Zahl dieser Fälle sehr
vermehrt. Vergl. z. B. unten § 18 (Nahrungsmittelgesetz). Und die Praxis ist
in der Betonung des Erfolgsmomentes soweit gegangen, dass sie die schwerere
Strafe lediglich mit der Thatsache des Erfolges verknüpft, ohne dass es dabei
irgendwie auf ein Verschulden des Thäters in Bezug auf den Überschuss des
Erfolges anzukommen habe. ^) Die Eonsequenz führt dazu, die kleinste
Überschreitung des Züchtigungsrechtes mit der Strafe der schweren Körper-
verletzung (StGB. §§ 224, 226) zu belegen, wenn diese Überschreitung, ob-
gleich ohne jedes weitere Verschulden des Handelnden, einen unglücklichen
Ausgang nimmt. Und da das Züchtigungsrecht der Lehrer in den deutschen
Staaten, ja selbst innerhalb Preussens, verschieden begrenzt ist, so kann es
leicht kommen, dass dieselbe Handlung der Schulzucht, die in nicht voraus-
sehbarer Weise unglücklich ausfällt, in dem einen Lande, in der einen Provinz
als strafrechtlich bedeutungsloser Unglücksfall erscheint, während sie in dem
andern deutschen Lande, in der andern Provinz das Verbrechen der schweren
Körperverletzung darstellt. Diese mit dem Grundprinzipe des Strafrechts un-
vereinbare Überschätzung des Erfolges iindet sich im Code p6nal und in der
preussischen Strafgesetzgebung vertreten, sie ist aber nicht in der gemein-
rechtlichen Lehre begründet; sie entspricht auch nicht der überwiegend in der
deutschen Landesgesetzgebung vertretenen Ansicht. Vergl. z. B. den Art. 238
' des Bayer. StGB, von 1861,^ welcher auf einer viel feineren strafrechtlichen
Würdigung beruht, als die heutige Strafrechtspraxis im deutschen Reiche. —
Der Rechtsgüterschutz, den das Publikum von den Strafgesetzen erwartet, wird
vom Strafgesetzbuche nicht in allen Beziehungen ausreichend gewährt. In
manchen Beziehungen hat die jüngere Gesetzgebung des Reiches schon mehr-
fach ergänzend nachgeholfen. Siehe den folgenden § 13. Besonders aber
sind die WaflPen, welche das Strafgesetzbuch zur Bekämpfung und Unschädlich-
machung des sozial gefährlichen Verbrechertums gewährt, nicht scharf genug
und dem zu bekämpfenden Übel nicht genügend angepasst. Deutschland be-
darf zwar nicht für seine Verbrecher der in allen Beziehungen verwerflichen
Prügelstrafe; ein gütiges Geschick bewahre die Deutschen vor dem übelberatenen
Eifer der Propheten des Stockes und der Peitsche! Aber die deutsche Straf-
rechtspflege bedarf einer Gesetzgebung, die es ermöglicht, gegenüber den anti-
sozialen Naturen der Strafe einen wirksameren und nachdrücklicheren Inhalt
zu geben, als dies zur Zeit der Fall ist. Nicht bloss gegen die Zuhälter,
sondern auch gegen das andere schädliche Gesindel, gegen die Messerhelden,
die professionellen Ehrabschneider und Denunzianten, gegen die rückfälligen
Diebe, Betrüger, Erpresser und Fälscher muss das Gesetzbuch den Gerichten
und Strafvollstreckungsbehörden Mittel zur Verfügung stellen, welche stark
und nachhaltig wii'ken. In Bezug auf militärische Vergehen von Militär-
*) Vergl. namentlich Entscheidungen des Reichsgerichts, Bd. 5, No. 9.
^) Hat eine körperliche Misshandlung nur wegen zufälliger, dem Thäter nicht
bekannter Umstände, eine (der schweren) Folgen gehabt, ohne dass die Absicht des
Thäters auf Hervorbringung derselben gerichtet war, so soll die Strafe nur nach dem Erfolge
bemessen werden, welcher ohne jene Umstände eingetreten wäre, vorbehaltlich der wegen
Tötung oder Körperverletzung aus Fahrlässigkeit etwa verwirkten höheren Strafe.
30 Deutsches Reich. — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Reiches.
Personen sind solche Mittel den Militärstraf behörden schon jetzt zur Verfügung-
gestellt (vergl. unten §§37, 39). Und einen Versuch zur Ausdehnung der Straf-
schärfungen auf bürgerliche Verhältnisse hat der Gesetzesrorschlag gemacht,
welcher im Anfange dieses Jahres (1892) dem deutschen Reichstage vorlag.
(Siehe oben § 7 a. E.) Die Beschränkung der Kost auf Wasser und Brot und
harte Lagerstätte zum Empfang und in angemessenen Perioden bis zu nach-
haltigen Proben einer Sinnesänderung und Willenskräftigung sind jedenfalls
einige der Mittel, mit denen auf das Verbrechertum eingewirkt werden kann.
Insoweit es sich aber um die erstmaligen Gesetzesübertreter und um die soge-
nannten Gelegenheitsverbrecher handelt, ist der Rechtsschutz, welchen auf
seinen Gebieten das Strafgesetzbuch gewährt, ein voll ausreichender. Wenn
im Publikum und in den Verhandlungen der gesetzgebenden Körperschaften
wiederholt die übertriebene Milde des deutschen Strafgesetzbuches beklagt
worden ist, so ist das ein unbegründeter Vorwurf. Das Gesetzbuch giebt aus-
reichend die Mittel, um auf lenksame, ja selbst auf harte, aber strafbestimm-
bare Naturen, die nicht zu den verbrecherischen gehören, denjenigen Eindruck
zu machen, welcher in den meisten Fällen vor Wiederholung antisozialer
Handlungen bewahrt. Hat in dieser Beziehung die Strafeinrichtung nicht
überall den gewünschten Erfolg gehabt, so hat die Strafrechtspflege die Ver-
antwortung zu tragen, welche nicht immer die Gewalten voll ausgenützt hat,
die ihr vom Gesetze anvertraut worden sind. — Die Systematik des Gesetz-
buches, im einzelnen anfechtbar, ist im ganzen klar und dem praktischen
Bedürfnisse entsprechend. Dass ein von den Reformgedanken beherrschtes
Strafgesetzbuch zu einer grundsätzlich verschiedenen Anordnung des Stoffes
gelangen würde, darf bei der Würdigung des auf anderen Voraussetzungen
aufgebauten und andere Ziele verfolgenden deutschen Strafgesetzbuches nicht
in Betracht kommen. — Die Sprache des Gesetzbuches ist knapp imd meist
dem Gedanken entsprechend. Die störende Kasuistik älterer Gesetzbücher ist
vermieden. Es kann kaum als ein Tadel angesehen werden, wenn da und
dort der Wunsch nach einer Definition laut geworden ist. Manches Urteil
z. B. wäre anders ausgefallen, wenn das Gesetzbuch den Urkundenbegriflf
nicht für einen selbstverständlichen angesehen, sondern begrenzt, wenn der
Gesetzgeber eine Andeutung darüber gegeben hätte, was er sich unter Belei-
digung denkt, was er unter grobem Unfug gemeint hat. Manche kriminali-
sierende Übertreibung hat indessen neuestens ohne Eingriff der Gesetzgebung
ihre Berichtigung gefunden. Wer auf dem Standpunkte steht, auf dem sich
die Gesetzgebung des Jahres 1870 befand, der würde mit dem jetzigen Straf-
gesetzbuche auch noch längere Zeit auskommen können. Wer aber vom Straf-
gesetzbuche vor allem Rechtsgüterschutz erwartet, der muss eine durchgreifende
Revision der deutschen Strafgesetzgebung empfehlen. Die jetzige Zeit aber,
in welcher die Grundmeinungen über die Aufgaben der Strafrechtspflege un-
vermittelt und schrofl" gegen einander stehen, dürfte wohl nicht die geeignete
für eine solche Revision sein!
IV. Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Reiches/)
§ 13. Einleitung.
1. Das deutsche Reich war nicht bloss zur Erlassung des Strafgesetz-
buches verfassungsmässig berechtigt, die Reichsverfassung unterstellt vielmehr
das „Strafrecht" schlechtweg der Gesetzgebung des Reichs. (RV. Art. 4 No. 13.)
*) Binding, Handbuch, I, §§ 25, 26, S. 123—144. — v. Liszt, Lehrbuch, 5. Aufl.
1892, § 14, S. 88—92. — Staudinger, Sammlung strafrechtlicher Spezialgesetze des
§ 13. Einleitung. 31
und man bat diesen Begriff auch auf das sogenannte Polizeistrafrecht zu be-
ziehen.^) Das Reich hat die Gewalt, auf allen Gebieten sowohl vollständige
Strafgesetze zu erlassen, als auch, unter Überlassung der Normbegrenzung an
die Landesgesetzgebung, bloss die Strafdrohungen aufzustellen. Unter der
Voraussetzung, dass ein das Reich berührendes Interesse vorhanden ist, darf
das Reich auch Strafbestimmungen mit Begrenzung für einen oder mehrere
Bundesstaaten erlassen. (Vergl. das Ges. v. 8. Juli 1868, unten § 28 II No. 4.)
Nur insoweit bei der Reichsgründung im November 1870 für einzelne Staaten
Reservatrechte anerkannt wurden, dürfte das Reich ohne die Zustimmung der
betreffenden Staaten durch seine Gesetzgebung den strafrechtlichen Schutz
nicht ausschliessen noch begrenzen. Das für mustergiltig gehaltene bayerische
Einführungsgesetz vom 26. Dezember 1871 (siehe unten § 44 No. 4) hat sich
mit gutem Grunde, trotz der allgemein lautenden Bestimmung des § 7 des
Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuche über die Verjährung von Zuwider-
handlungen gegen die Biersteuervorschriften, für befugt gehalten, eine mit dem
§ 7 allerdings inhaltlich übereinstimmende Bestimmung kraft eigenen Gesetz-
gebungsrechtes zu erlassen. (Vergl. Art. 24 No. 14 des cit. bayer. Gesetzes
und jetzt Art. 20 No. 14 des bayer. Ges. v. 18. August 1879.) Das Reich
darf auf den reservierten Gebieten den beteiligten Staaten den Strafschutz auch
nicht aufnötigen, wo diese ohne ihn auszukommen vermeinen; das Reich hat
sich femer durch Anerkennung des Reservatrechtes, von den Schranken der
§§ 5 und 6 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch abgesehen (vergl.
unten § 43), der Macht begeben, über Art und Mass des Strafschutzes zu
bestimmen. Das ergiebt sich für einzelne dieser Reservatrechte schon aus
dem Wortlaute ihrer Anerkennung, so z. B. bezüglich des bayerischen in
Betreff der Heimats- und Niederlassungsverhältnisse (RV. Art. 4. No. 1)
und des Eisenbahnwesens (RV. Art. 46 Abs. 2, vergl. unten § 14 No. 6).
Bezüglich aller Reservatrechte dürfte aber die Erwägung massgebend sein,
dass eine Gesetzgebung unvollkommen ist, wenn sie nicht über den Strafschutz
bestimmen kann, und dass kein geschichtlicher Vorgang bekannt ist, welcher
deutschen Reichs. Textausgabe mit kurzen Anmerkungen. Nördlingen 1880. Erstes
Ergänzungsbändchen. 1886. — Hellweg und Arndt, Die deutsche Strafgesetzgebung.
Eine Sammlung aller gegenwärtig geltenden Strafprozess und Strafrecht betreffenden
Gesetze des deutschen Reichs. Nebst einem Anhange, enthaltend sämtliche wiebtigeren
strafrechtlichen Gesetze und Verordnungen Preussens. Textausgabe mit Anmer-
kungen, einem vollständigen chronologischen und Sachregister. Berlin und Leipzig
1883. Ergänzungshefte 1888—1885. 1886. — Borchert, Kodex des deutsch-preussischen
Strafrechts und Strafprozesses, enthaltend sämtliche Gesetze und Verordnungen des
deutschen Reichs und Preussens, welche zur Zeit auf dem Gebiete des Strafrechts und
Strafverfahrens in Geltung sind, soweit dieselben für die ordentlichen Gerichte und
deren Staatsanwaltschaften Bedeutung haben. Anmerkungen. Berlin 1882. 1887. —
Bei der Fruchtbarkeit der heutigen Strafgesetzgebung im deutschen Reiche ist die
Veranstaltung einer neuen Sammlung ein gewagtes Unternehmen. Vor dem Ab-
schlüsse des Druckes dieser Übersicht kann dieselbe in einzelnen Teilen schon ver-
altet sein, besonders wenn noch mehrere Artikel der Reichsverfassung zum Ausgangs-
punkte einer Strafverordnungsthätigkeit des Bundesrates genommen werden, wie dies
bezüglich der Artikel 42 und 43 geschehen ist. (Siehe unten § 14 I, No. 5.) Trotz der
Besorgnis rascher Antiquierung in einzelnen Bestandteilen würde ein Corpus juris
criminalis nach dem heutigen Stande der Gesetzgebung des deutschen Reiches will-
kommen sein. — Der Spezialstrafgesetzgebung des Reiches ist gewidmet das während
der Drucklegung dieser Darstellung im Verlage von Otto Liebmann, Berlin, er-
scheinende Werk : „Die strafrechtlichen Nebengesetze des deutschen Reiches". Erläutert
von M. Stenglein, Dr. Appelius und Dr. Kleinfeller. In 11 Abteilungen ge-
langen sämtliche (78) Reichsgesetze zur Erläuterung. Die baldige Vollendung des
Werkes steht in Aussicht.
*) Vergl. namentlich Heinze, Das Verhältnis des Reichsstrafrechts zum Landes-
strafrecht, S. 12. — Binding, Handbuch, I, S. 276.
32 Deutsches Reich. — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Reiches.
auf diese Unvollkommenheit der Reservatrechte hinweist. Auch hier gilt der
Gedanke des römischen Juristen Javolenus: „Cüi jurisdictio data est, ea quoque
concessa esse videntur, sine quibus jurisdictio explicari non potuit. " (L. 2 D. de juris-
dictione 2,1.) 3» Schon vor dem Strafgesetzbuche ist eine Anzahl von Bundesgesetzen
mit strafrechtlichem Inhalt erlassen worden.^) Nur einige davon sind durch
das Strafgesetzbuch, beziehungsweise den § 2 des Einführungsgesetzes zu dem-
selben, ausser Kraft gesetzt worden, so namentlich Artikel 74 der Bundesver-
fassung, § 23 des Wechselstempelsteuergesetzes vom 10. Juni 1869; femer
der § 2 des Gesetzes betr. die Einführung von Telegraphen-Freimarken vom
16. Mai 1869, BGBl. S. 377, insoweit derselbe auf die Fälschungsstrafen
verweist. Insoweit § 2 auf die Defraudationsstrafen sich bezieht, hat er
auch jetzt noch, trotz des Absatz 2 des § 276 (Ges. vom 13. Mai 1891,
S. 107, Art. I) praktische Bedeutung. Die meisten der vor dem Strafgesetz-
buche erlassenen Spezialgesetze betreffen Materien, auf welche sich das Straf-
gesetzbuch nicht bezieht; sie sind deshalb (vergl. unten § 43 II) in Gemäss-
heit des § 2 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuche nicht aufgehoben
worden. 3. Viel reicher floss die Spezialstrafgesetzgebung des Reiches nach Er-
lassung d«s Strafgesetzbuches. Zum Teil sind es Verhältnisse, welche erst in
der neuesten Zeit eine rechtliche Ausgestaltung überhaupt oder wenigstens
eine öffentlich rechtliche Behandlung erfahren haben, wie namentlich das
Genossenschafts- und Versicherungswesen, teils lässt sich ein kriminalisierender
Zug in der neuesten deutschen Rechtsentwickelung — Gesetzgebung wie Rechts-
pflege — nicht verkennen (vergl. z. B. unten § 19 I 1). Man ist zu der
Erkenntnis durchgedrungen, dass man bei Aufstellung des Strafgesetzbuches
und bei Erlass von Spezialgesetzen in manchen Beziehungen zuviel von dem
verständigen und gesetzmässigen Sinn der Bevölkerung erwartet und zu wenig
mit Strafdrohungen eingesetzt hatte. Nicht bloss ein Fortschritt oder eine
Rückkehr zu grösserer Einsicht in Bezug auf die Ausnützung der Strafeinrich-
tung hat sich aber vollzogen, sondern auch auf dem Gebiete des Empfindungs-
lebens der deutschen Nation ist in den letzten zwei Dezennien ein Umschwung
eingetreten, der zu stärkerer Kriminalisierung hindrängt. *) Es lässt sich nicht
verkennen, dass die Einsetzung des Strafhebels Augenblickserfolge erzielen
kann, die bei grösserer Zurückhaltung des Strafrechts vermisst werden. Die
Straf einrichtung ist, besonders für den, der mit dem Straf Vollzüge und seinen
Nachwirkungen nichts zu thun hat, ein ziemlich leicht und bequem zu hand-
habendes Mittel der Staatsleitung. Aber die Strafeinrichtung ist auch ein
Mittel, das wie starke Arzneien bedenkliche Nachwirkungen erzeugen kann,
die noch gefährlicher für den sozialen Körper sind als die Handlungen, wegen
deren man straft. In einem im ganzen gesunden Volkskörper, wie es der
deutsche zur Zeit ist, wird die Übertreibung der Kriminalisierung sich von
selbst korrigieren und mit der Zeit überwunden werden. Zu lange darf aber
ein Volk an die drastischen Wirkungen der Straf einrichtung nicht gewöhnt
werden, sonst entsteht die Gefahr der Verrohung und der schliesslichen Ab-
stumpfung gegen die Strafe. „Je grausamer die Gesetze werden, desto härter
wird das menscliliche Gemüt, das gleich den Flüssigkeiten sich mit den um-
gebenden Gegenständen stets ins Gleichgewicht setzt; und die stets lebendige
Gewalt der Leidenschaften bewirkt, dass nach hundert Jahren grausamer Be-
strafung das Rad nicht mehr Schrecken einflösst als sonst das Gefängnis."^)
») Vergl. Binding, Handbuch, I, S. 126—136; v. Liszt, Lehrbuch. 5. Aufl.
S. 88 und 89.
«) Vergl. auch Binding, Die Ehre und ihre Verletzbarkeit. Leipzigl892. S.21(Vd).
•) Beccaria, dei delitti e delle pene, § 27.
§ 14. Das Strafverordnungsrecht der Reichsorgane. 33
§ 14. Das Strafv^erordnangsrecht der Reichsorgane. ^)
I. Die deutsche Rechtssprache begreift unter Strafgesetzen auch die
Strafverordnungen, d. h. allgemein wirkende Strafandrohungen, welche ohne
Mitwirkung der Volksvertretung erlassen werden. Die Reichsverfassung aller-
dings gewährt weder dem Kaiser, noch dem Bundesrate, noch irgend einem
Verwaltungsorgane die Macht zu solchen Strafverordnungen. Artikel 4 No. 13
der Reichsverfassung ist nur auf Strafgesetze im sogenannten konstitutionellen
Sinne zu beziehen, d. h. auf Strafdrohungen, welche im Namen des Reiches
und unter Zustimmung des Bundesrates und des Reichstages vom Kaiser
erlassen und verkündet werden. Wohl aber findet sich in einzelnen Reichs-
gesetzen für beschränkte Gebiete ein Strafverordnungsrecht anerkannt.
h Für das Inland kommt in dieser Beziehung die unten § 25 zu be-
sprechende Versicherungsgesetzgebung in Betracht. Durch Versicherungs-
genossenschaften , Ausftihrungsbehörden, Landescentralbehörden, Statuten von
Versicherungsanstalten sowie statutarische Bestimmungen von weiteren Kom-
munalverbänden oder Gemeinden können für gewisse Verhältnisse Normen
aufgestellt, und es darf die Übertretung mit Strafen bis zu gewissen Massen
bedroht werden, ünfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884, § 78 No. 2,
RGBl. S. 100; dazu Ges. vom 28. Mai 1885, § 9 mit § 2 Abs. 3, RGBl. S. 161;
Ges. vom 11. Juli 1887, § 44 No. 1, RGBl. S. 304; Ges. vom 13. Juli 1887,
§ 90, RGBl. S. 363; Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz vom 22. Juni
1889, § 112, RGBl. S. 131; Krankenversicherungsgesetz in der Fassung vom
10. April 1892, § 6a II, § 26a IL Besonders bemerkenswert ist § 109 Abs. 2
(RGBl. 1889, S. 130) des Invalid.- und Alters v.-Ges., welcher Paragraph den
Bundesrat ermächtigt, Vorschriften über die Entwertung und Vernichtung der
Versicherungsmarken zu erlassen und die Übertretung derselben mit Strafe zu
bedrohen. Also die Einräumung eines formal nicht begrenzten Straf bedrohungs-
rechtes an den Bundesrat! (Vergl. unten § 25 II No. 7 a. E.) Den anfänglichen
Gepflogenheiten der Reichsgesetzgebung entspricht diese Delegation zu Straf-
drohungen nicht. 2. Das Gesetz über die Konsulargerichtsbarkeit vom 10. Juli
1879, RGBl. S. 197 § 4 Abs. 3, ermächtigt den Konsul, für seinen Gerichtsbezirk
oder einen Teil desselben polizeiliche Vorschriften mit verbindlicher Kraft
für die seiner Gerichtsbarkeit unterworfenen Personen zu erlassen und die
Nichtbefolgung der Vorschriften mit Geldstrafen bis zum Betrage von 150 Mark
zu bedrohen. Der Reichskanzler, dem diese Vorschriften mitzuteilen sind, ist
befugt, sie aufzuheben. 3. Die gleiche Gewalt kommt in den deutschen Schutz-
gebieten dem Beamten zu, der vom Reichskanzler zur Ausübung der Gerichts-
barkeit ermächtigt ist. Gesetz, betreflTend die Rechtsverhältnisse der deutschen
Schutzgebiete, in der Fassung vom 15/19. März 1888, S. 75 § 2. 4. In den
Schutzgebieten kann überdies nach § 3 No. 3 dieses Gesetzes durch Kaiser-
liche Verordnung in Vorschriften über Materien, welche nicht Gegenstand des
Strafgesetzbuches für das deutsche Reich sind, Gefängnis bis zu 1 Jahr, Haft,
Geldstrafe und Einziehung einzelner Gegenstände angedroht werden. Der
Reichskanzler ist nach § 11 Abs. 2 des Gesetzes befugt, für die Schutz-
gebiete polizeiliche und sonstige, die Verwaltung betreffende Vorschriften zu
erlassen und gegen die Nichtbefolgung derselben Gefängnis bis zu 3 Monaten,
Haft, Geldstrafe und Einziehung einzelner Gegenstände anzudrohen. Der
Reichskanzler kann diese Befugnis weiter übertragen auf Kolonialgesellschaften,
die mit einem Schutzbriefe versehen sind und auf Beamte des Schutzgebietes.
') Binding, Handbuch, §43, I, S. 204. — Laband, Das Staatsrecht des deutschen
Reiches, § 58, Bd. 1, S. 589. — HäneJ, Deutsches Staatsrecht, §§ 43—48, Bd. 1, S. 271;
besonders S. 284. Siehe auch die Litteraturangaben unten bei § 45.
StrafgeBetsgebung der Gegenwart. I. 3
34 Deutsches Reich. — Die Spezialstrafgesetzgebung' des deutschen Reiches.
Vergl. dazu Verordnung vom 6. Mai 1890, S. 67 und Verordnung vom 15. Juni
1892, S. 673. 5. Das Bahnpolizeireglement für die Eisenbahnen Deutschlands
vom 30. November 1885, S. 312 enthält im § 62 Strafdrohungen. Die Rechts-
verbindlichkeit dieser vom Bundesrat beschlossenen Strafdrohungen ist nicht
zweifellos. Auf dieses Bedenken weist die Anordnung des § 74 Absatz 2
S. 316 hin, dass das Reglement, welches im Reichsgesetzblatte abgedruckt ist,
auch noch im Centralblatt für das deutsche Reich und von den Bundes-
regierungen publiziert werden solle. Die letzte Vorschrift wäre unerklärlich,
wenn man das Reglement, soweit es Rechtssätze enthält, für Reichsrecht ge-
halten hätte. Und in der That stellt das Reglement nicht Reichsrecht auf,
sondern gemeinsames Landesrecht für die Staaten des deutschen Reiches, dessen
verbindliche Kraft in jedem Staate nach dem Staatsrecht dieses Staates zu
beurteilen ist. Anders wurde das Verhältnis aufgefasst vom Reichsgerichte,
Entscheidung in Strafsachen Bd. 10 S. 327. Das Bahnpolizeireglement sei
„verfassungsmässig vom Bundesrat mit Gesetzeskraft erlassen". Dem gegen-
über Laband, Staatsrecht des deutschen Reichs, Bd. 2 S. 374, 2. Aufl. S. 118/119,
besonders Note 1, und, unter Berufung auf Laband, Reichsgericht in Civil-
sachen, Bd. 15 S. 156: „Mit Unrecht wird dem Eisenbahnbetriebsreglement die
Natur eines Polizeigesetzes beigelegt." Vergl. auch Ulrich in v. Stengel,
Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 1 S. 336. An die Stelle des Reglements
vom 30. Nov. 1885 tritt nach einer Bekanntmachung des Reichskanzlers vom 5. Juli
1892, RGBl. S. 691, eine neue Betriebsordnung für die Haupteisenbahnen ^)
„Deutschlands". Diese Betriebsordnung ist vom Bundesrate auf Grund der
Artikel 42 und 43 der Reichsverfassung am 30. Juni 1892 beschlossen worden.
Die Strafdrohung des § 62 ist geblieben, die Abgrenzung der strafbaren That-
bestände ist etwas geändert, namentlich mehr spezialisiert. Die Bestimmung,,
dass die Ordnung auch im Centralblatte und von den Bundesregierungen
publiziert werden solle, ist weggelassen; es heisst im § 74 Absatz 2 nur:
„dieselbe (die Betriebsordnung) wird durch das Reichsgesetzblatt veröffentlicht".
Es ist selbstverständlich, dass der Rechtsbestand des § 62 durch diese Ver-
änderung der Publikationsweise nicht verstärkt wird. Die Verordnung tritt
am 1. Januar 1893 in Kraft, aber nicht für ganz „Deutschland".*) Für Bayern
gilt vielmehr das Reglement (die Betriebsordnung) nach Artikel 46 Absatz 2
der Reichsverfassung nicht; statt dessen bis jetzt das auf Grund des bayerischen
Polizeistrafgesetzbuches erlassene, an das Reichsreglement sich anschliessende
bayerische Bahnpolizeireglement vom 29. März 1886. (Bayer. GVBl. 1886, S. 73.)
II. Nicht zu verwechseln mit dem Strafverordnungsrechte ist das Recht,
in Gemässheit einer Aufforderung des Gesetzes, einer Ermächtigung oder einer
Bezugnahme desselben Normen, d. h. Verbote oder Gebote in einer gewissen
Richtung aufzustellen, deren Übertretung das Gesetz mit einer von ihm selbst
begrenzten oder bestimmten Strafe bedroht hat. Solche Aufforderung, Er-
mächtigung oder Bezugnahme kommt in Reichs- wie in Landesgesetzen viel-
fach vor.^) Die Strafdrohung ist in diesen Fällen vom Gesetze (im engeren,
konstitutionellen Sinne) erlassen. Das Gesetz ist sog. Blankettstrafgesetz.*)
Unter diesem Gesichtspunkte sind auch die Verbote aufzufassen, welche der
*) Für die Nebeneisenbahnen Deutschlands ist am gleichen Tage eine „Bahn-
ordnung" beschlossen worden (RGBl. 1892, S. 764), in welcher § 45 die Strafbestim-
mung enthält.
*) Der Ausdruck „Deutschland" ist kein durch die Reichsverfassung gerecht-
fertigter.
») Vergl. StGB. §§ 145, 360 No. 2, 9, 12; § 361 No. 6; § 365; § 366 No. 1, 10;
§ 366 a; Nahrungsmittel-Gesetz §§ 5, 6 mit § 8.
*) Binding, Handbuch, I, § 35, S. 179 und 180.
§15. Strafrechtsexemtionen ausserhalb des Strafgesetzbuches. 35
Militärbefehlshaber bei Erklärung des Belagerungszustandes oder während des-
selben im Interesse der öffentlichen Sicherheit erlässt. (Preuss. Gesetz über
den Belagerungszustand vom 4. Juni 1851, preuss. GS. S. 451, § 9 lit. b und
unten § 42 II.)
III. Das gleiche strafrechtliche Verhältnis ist gegeben, wenn das Gesetz
den\jenigen Strafen androht, welcher die für einzelne Thatbestände oder für
eine begrenzte Mehrheit von Thatbeständen getroffenen Anordnungen der Obrig-
keit missachtet. (Vergl. StGB. § 360 No. 10, § 361 No. 1, 6, 7, § 367 No. 13,
14 u. s. w.; unten § 46 I a. E.).
§ 15. Straflrecht^xemtlonen ausserhalb des Strafgesetzbuches.^)
I. Staatsrechtliche: 1. Die Exemtion der Bundesfürsten, auch des Königs
von Preussen, beruht in ihren Ländern auf den bezüglichen Staatsgrund-
gesetzen;*) in andern Bundesstaaten beruht sie auf der Beteiligung der
Bundesfürsten an der souveränen Gewalt des Reichs. 2. Bezüglich der Reichs-
tagsabgeordneten vergl. RV. Art. 30, vergl. auch Art. 31; bezüglich der Land-
tagsabgeordneten vergl. StGB. § 11; vergl. auch oben § 8 S. 18. 3. Hin-
sichtlich wahrheitsgetreuer Berichte über Verhandlungen des Reichstages und
der Landtage RV. Art. 22, StGB. § 12 und oben § 8 S. 18. — Die Privilegien
der Mitglieder der regierenden Familien und der Häupter der standesherrlichen
Familien liegen ausschliesslich auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und
des Prozessrechts, nicht auf dem Gebiete des materiellen Strafrechts.
II. Auf völkerrechtlicher Grundlage*) beruhen: 1. Die Exemtionen aus-
wärtiger Staatsoberhäupter und deren Reisebegleiter; 2. die Exemtionen der
Gesandtschaften. Die letzteren sind im deutschen Reiche staatsrechtlich aner-
kannt und näher begrenzt in den §§18 und 19 des Gerichtsverfassungsgesetzes
vom 27. Januar 1877, RGBl. S. 41. Die bei dem deutschen Reiche beglaubigten
Missionsbeamten unterstehen nicht der deutschen Gerichtsgewalt und dem
deutschen Strafrechte. Die bei einem deutschen Einzelstaate beglaubigten
Missionsbeamten eines andern deutschen Staates oder eines auswärtigen Staates
sind der Gerichtsgewalt und damit dem Strafrechte des Staates nicht unter-
worfen, bei dem sie beglaubigt sind. Die ausserpreussischen Mitglieder des
deutschen Bundesrates unterstehen nicht der preussischen Gerichtsbarkeit und
dem preussischen Straf rechte.*) Diese Exemtionen sind auf die Familien-
glieder, das Geschäftspersonal und das nicht deutsche Dienstpersonal der
Missionsbeamten ausgedehnt. Die im deutschen Reiche angestellten Konsuln,
auch die missi, sind nur dann eximiert, wenn dies in Verträgen des Reiches
besonders vereinbart ist. (GVG. § 21.) 3. Bezüglich der Exterritorialität
fremder Truppenkörper und der Besatzung von KriegsschiflFen vergl. Rivier,
Völkerrecht § 28 II, S. 199; Dollmann, Komm, zum bayer. StGB, von 1861,
Abtl. I, S. 104. In den Etappen-Konventionen zwischen Bayern und Öster-
, ^ I.Februar ^^.^ 27. Juli ^.^^ , 23. April _^_ .
reich vom —r~^,z 1858, — — 1861 und ^—1863 ist von
9. März 5. September 6. August
dieser Exterritorialität nicht die Rede; die Konvention vom 24. Juni 1818,
Z. 2, Abs. 4 lit. d (Döllinger, Sammlung Bd. 10 S. 1107) enthielt Bestim-
mungen, welche die Exterritorialität der Truppen zur Voraussetzung haben.
^) Binding, Handbuch, I, § 140—143, S. 667.
2) z. B. preussische VU. von 1850, Art. 43; bayerische von 1818, Tit. II, § 1;
sächsische von 1831, §4; württembergische von 1819, §4; badische von 1818, §5 u. s. w.
») Vergl. Rivier, Lehrbuch des Völkerrechts, Stuttgart 1889, § 33, S. 239; § 38
III, S. 267.
^) § 18 des Gerichts Verfassungsgesetzes drückt sich abstrakter aus.
3*
36 Deutsches Reich. — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Reiches.
§16. BeschrSnkiing der freien Bewegung infolge Ton Bestrafiingen. ^)
Das Bundesgesetz vom 1. November 1867, S. 55 (jetzt Reichsgesetz,
BGBl. 1871, S. 87) über die Freizügigkeit giebt jedem Deutschen das Recht
des freien Aufenthalts und der freien Niederlassung im Bundesgebiete. Nach
§ 3 des Gesetzes bleiben aber Landesgesetze, nach welchen bestrafte Personen
Aufenthaltsbeschränkungen durch die Polizeibehörde unterworfen werden dürfen,
aufrecht erhalten. Und solchen Personen, welche derartigen Aufenthalts-
beschränkungen in einem Bundesstaate unterliegen, oder welche in einem
Bundesstaate innerhalb der letzten 12 Monate wegen wiederholten Betteins
oder wegen wiederholter Landstreicherei bestraft worden sind, darf in jedem
andern Bundesstaate der Aufenthalt von der Landespolizeibehörde verweigert
werden. (Vergl. ausserdem StGB. § 39, No. 1.) In diesen Zusammenhang
gehören auch die landesrechtlichen Bestimmungen in Bezug auf Reisen und
die Fremdenpolizei. (Vergl. z. B. bayer. Polizei-StGB. Art. 45 — 50.) Nach der
bestehenden Gesetzgebung des Reiches ist es dagegen unzulässig, dass die
Polizeibehörden unbestrafte Personen wegen ihres vorausgehenden Aufenthalts
in einem verseuchten Orte zurückweisen, darauf bezügliche Verordnungen
wären nicht zu Recht bestehend.
§ 17. Die Straf bestimnmngen des Personenstandsgesetzes.
Am 6. Februar 1875 erging das Gesetz über die Beurkundung des Per-
sonenstandes und die Eheschliessung. (RGBl. S. 23). Dieses Gesetz übertrug
die Beurkundung der Geburten, Heiraten und Sterbefälle ausschliesslich den
staatlich bestellten Standesbeamten, § 1, und stellte das Prinzip auf, dass
innerhalb des deutschen Reiches eine Ehe rechtsgültig nur vor dem Standes-
beamten abgeschlossen werden könne, § 41. Durch § 67 (an die Stelle von
StGB. § 337 getreten, vergl. oben § 7) wurde eine Strafe gegen Religions-
diener festgesetzt, die ohne den Nachweis der standesamtlichen Eheschliessung
zu den Feierlichkeiten einer kirchlichen Eheschliessung schreiten, § 69 bedroht
die Standesbeamten, welche unter Ausserachtlassung der in dem Gesetze ge-
gebenen Vorschriften eine Eheschliessung vollziehen. Die Versäumung der An-
zeigepflichten, sowie die Nichterfüllung der den SchiflFem und Steuerleuten
hinsichtlich der Beurkundung von Geburten und Sterbefällen auf Seeschiffen
während der Reise auferlegten Pflichten ist im § 68 mit Strafe bedroht. Vergl.
auch § 11 Abs. 2 (Verweise und Geldstrafen gegen die Standesbeamten durch
die Aufsichtsbehörden), ferner § 68 Abs. 3 (Zwangsstrafen durch die Standes-
beamten), sowie § 70 hinsichtlich der Verwendung der Geldstrafen.
§ 18. Besonderer Seliutz in Bezug auf Leben und Gesundheit.
I. Das Impfgesetz vom 8. April 1874 (RGBl. S. 31)*) unterwirft der
Impfung mit Schutzpocken jedes Kind vor dem Ablaufe des auf sein Geburts-
jahr folgenden Kalenderjahres, wenn es nicht die natürlichen Blattern tiber-
standen hat, sowie jeden Zögling einer öffentlichen Lehranstalt oder Privat-
schule (mit Ausnahme der Sonntags- und Abendschulen) innerhalb des Jahres,
in welchem der Zögling das 12. Lebensjahr zurücklegt, sofern der Zögling
nicht in den letzten 5 Jahren die natürlichen Blattern überstanden hat, oder
mit Erfolg geimpft worden ist. Die §§ 14 — 16 des Gesetzes wenden sich mit
*) H. Seuffert, im Wörterbuch des Verwaltungsrechts, herausgegeben durch
V. Stengel, Bd. 2, S. 258^261 (§ 11).
*) V ergl. V. Jolly in v. Stengels Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 1, S. 670.
§18. Besonderer Schatz in Bezug auf Leben und Gesundheit. 37
Geld- und Haftstrafen gegen säumige oder ungehorsame Eltern, Pflegeeltern,
Vormünder, Ärzte und Schulvorsteher und gegen die unbefugte Vornahme
von Impfungen. Fahrlässigkeiten bei Impfungen werden mit Geldstrafe bis
zu 500 Mark oder Gefängnis bis zu 3 Monaten bestraft, sofern nicht nach
dem Strafgesetzbuch eine höhere Strafe eintritt; § 17. — Absatz 3 des § 18 ent-
hält einen Vorbehalt zu Gunsten des Landesrechts über Zwaugsimpfungen bei
Ausbruch von Pocken-Epidemieen.
II. 1, Eine grosse Erweiterung erfuhr die deutsche Strafgesetzgebung
durch das Gesetz, betrefl'end den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln
und Gebrauchsgegenständen vom 14. Mai 1879, S. 145. (Sogenanntes Nahrungs-
mittelgesetz.) ^) Die im Strafgesetzbuch enthaltenen Bestimmungen, §§263,367
No. 7, 324, 326, erwiesen sich gegenüber der rücksichtslosen Gewinnsucht
gerade in Bezug auf die im täglichen Gebrauche und Verkehre stehenden Sachen
als unzureichend. Das Gesetz unterwarf infolgedessen den Verkehr mit Nahrungs-
und Genussmitteln, sowie mit Spielwaren, Tapeten, Farben, Ess-, Trink- und
Kochgeschirr und mit Petroleum der obrigkeitlichen Beaufsichtigung. (§ 1.)
Die Polizei wurde ermächtigt, in Verkaufslokale einzutreten und gegen den
üblichen Kaufpreis Proben zu entnehmen. Bei Personen, welche auf Grund
der §§10, 12 oder 13 des Gesetzes rechtskräftig verurteilt worden sind, darf
die Polizei von der Rechtskraft des Urteils an und noch drei Jahre nach Er-
ledigung der Hauptstrafe in den Geschäftslokalen und Vorratsräumen Revisionen
veranstalten (§ 3). Die §§ 5 und 6 ermächtigen den Kaiser, mit Zustimmung
des Bundesrates schützende Verbotsnormen aufzustellen, die aber auf Verlangen
des Reichstages ausser Kraft zu setzen sind. (§ 7.) Die Übertretung der
Kaiserlichen Verordnungen ist durch § 8, und die Auflehnung gegen die vom
Gesetze zugelassenen Polizeimassnahmen durch § 9 des Gesetzes mit Strafe
bedroht. Dem Schutze von Leben und Gesundheit sind besonders die §§ 12,
13 und 14 gewidmet. Das Gesetz unterscheidet in seinen Strafpositionen
Gegenstände, welche die menschliche Gesundheit zu beschädigen, und solche,
welche die Gesundheit zu zerstören geeignet sind. Das Gesetz bedroht die
voreätzliche wie die fahrlässige Herstellung, den wissentlichen wie den fahr-
lässigen Verkehr mit solchen Gegenständen. Herstellung und Verkehr sind
schon als solche strafbar, auch wenn gar kein Schaden erwächst. Führt aber
die That zu einer schweren Körperverletzung (StGB. § 224) oder gar zum
Tode eines Menschen, so steigern sich die Strafpositionen sehr erheblich und
gehen in einem Falle bis zu lebenslänglichem Zuchthaus. Im Falle der fahr-
lässigen Verübung berücksichtigt das Gesetz jeden Schaden an der Gesund-
heit als Straf erhöh ungsgrund.^)
Die §§10 und 11 des Gesetzes beabsichtigen zunächst eine Ergänzung
des Betrugsparagraphen § 263 des Strafgesetzbuches. Sie wollen das Publikum
vor wirtschaftlichen Benachteiligungen bewahren. Das Nachmachen und Ver-
fälschen von Nahrungs- oder Genussmitteln zum Zweck der Täuschung im Handel
und Verkehr, das Verkaufen und Feilhalten von verdorbenen, nachgemachten
^) Materialien zu dem Reichsgesetz, betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln
u. 8. w. in Goltdammer, Archiv für gemeines deutsches und für preussisches Straf-
recht Bd. 27, Berlin 1879, S. 316, 420, 481. — Schwarze, im Gerichtssaal, 1879, Bd. 31,
S. 81. — Zinn (Berichterstatter der Reichstags-Kommission), Reichsgesetz betreffend
den Verkehr mit Nahrungsmitteln u. s. w. Mit Einleitung, Erläuterungen und Re-
gister. Nördlingen 1879. 2. Aufl., durch die reichsgerichtlichen Entscheidungen, amt-
lichen Erlasse u. s. w. vermehrt, bearbeitet von R. Haas. 1885. Weitere Ausgaben:
Ortloff, Neuwied und Leipzig 1882. Marcinowsky, Berlin 1884. Meyer und
Finkelnburg, Berlin 1885. — v. Liszt, Lehrbuch (1892) § 158, S. 582. Vergl. auch
Finkeinburg bei v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 1, S. 152,
«) Ähnlich auch StGB. § 118.
38 Deutsches Reich. — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Reiches.
oder verfälschten Nahrungs- oder Genussmittelu , unter Verschweigen dieser
Umstände, ist mit Geföngnis bis zu 6 Monaten und Geldstrafe bis zu 1500 Mark
oder mit einer dieser Strafen bedroht, das Verkaufen und Feilhalten, wenn
es unwissentlich, aber aus Fahrlässigkeit, geschieht, mit Geldstrafe bis zu
150 Mark oder mit Haft. Der Zweck dieser Strafdrohungen ist aber nicht
bloss ein privat-vermögensrechtlicher. Das Gesetz will vielmehr und zwar in
erster Linie verhindern, dass die Ernährung des Publikums leide, dass die Be-
völkerung an Gesundheit und Kraft Einbusse erfahre, wenn sie die durch den
Stoffwechsel bedingte Ergänzung in den Nahrangs- und Genussmitteln nicht
empfangt. Vergl. auch die Strafdrohung gegen Bäcker und Brotwarenhändler,
welche unterwichtiges Brot feilbieten, im bayer. Pol.-StGB. von 1871, Art. 142
Abs. 3. Der § 15 des Gesetzes regelt die Einziehung der beanstandeten
Gegenstände, § 16 die Veröffentlichung des Urteils im Falle der Freisprechung
wie der Verurteilung,^) § 17 trifft Verfügungen über die Geldstrafen. Vergl.
zu dem Gesetz die Verordnung vom 24. Febniar 1882, S. 40 und die Verordnung
vom 1. Februar 1891, S. 11 (betr. Verbot von Maschinen zur Herstellung
künstlicher Kaffeebohnen). Eine ähnliche Bewandtnis wie mit den §§10 und
1 1 des Nahrungsmittelgesetzes hat es 2. mit dem Gesetz , betreffend den Ver-
kehr mit Ersatzmitteln mr Butter (Buttergesetz) vom 12. Juli 1887,'-*) S. 375,
§§ 5, 6. Hierher gehört ferner 3. das erst nach Überwindung schwerer Zweifel
und nach lebhaften Debatten zustande gekommene Gesetz, betreffend den Ver-
kehr mit Wein, weinhaltigen und weinähnlichen Getränken vom 20. April
1892, RGBl. S. 597. (Weingesetz.)^) Nach §1 dieses Gesetzes dürfen ge-
wisse Stoffe oder Gemische mit solchen Stoffen Wein, weinhaltigen und wein-
ähnlichen Getränken, die bestimmt sind. Anderen als Nahrungs- (?!) oder Genuss-
mittel zu dienen, weder bei, noch nach der Herstellung zugesetzt werden.
(Lösliche Aluminiumsalze [Alaun und dergl.], Baryum Verbindungen , Borsäure,
Glycerin, Kermesbeeren, Magnesium Verbindungen, Salicylsäure, unreiner [freien
Amylalkohol enthaltender] Sprit, unreiner [nicht technisch reiner] Stärkezucker,
Strontiumverbindungen, Teerfarbstoffe.) Wein u. s. w., welchem solche Stoffe
beigesetzt sind, darf weder feilgehalten noch verkauft werden. (Ges. § 2.)
Ebenso nicht Rotwein, dessen Gehalt an Schwefelsäure in 1 Liter Flüssigkeit
mehr beträgt, als sich in 2 Gramm neutralen schwefelsauren Kaliums vorfindet.
Diese Bestimmung findet jedoch auf solche Rotweine keine Anwendung, welche
als Dessertweine (Süd-, Süssweine) ausländischen Ursprungs in den Verkehr
kommen, § 2 Abs. 2. Wohl lehrt die Chemie, dass in jedem Naturweine 0,5 bis
ö>^ ^/o Glycerin sich befindet. Eine massige Zuthat von Salicylsäure wird von
manchem als unschädliches Präservativmittel angepriesen. Und der einmalige
oder selbst ein paarmal wiederholte Genuss von Getränken, in denen sich
massige Quantitäten der vorerwähnten Stoffe finden, dürfte gesundheitlich nicht
so bedenklich sein, wie die ebenso oftmalige Alkoholvergiftung durch über-
mässige Quantitäten von unverfälschtem Rheinwein. Aber die Gefahr ist ge-
') Durch das Gesetz vom 29. Juni 1887 (RGBl. S. 276) erhielt dieser Paragraph
einen Zusatz, betreffend die Kosten der polizeilichen Untersuchung im Falle der Ver-
urteilung.
*^) Zu diesem Gesetze, sowie zu den unter No. 4 und 5 genannten: R. Haas,
Die Reichsgesetze vom 25. Juni 1S85 und 12. Juli 1887 über: 1. den Verkehr mit blei-
und zinkhaltigen Gegenständen, 2. die Verwendung gesundheitsschädlicher Farben u. s. w.,
8. den Verkehr mit Ersatzmitteln für Butter, mit Ausführungsbestimmungen, nebst
einem Anhang, das Gesetz betreffend die Abänderung des Nahrungsmittelgesetzes vom
29. Juni 1887 enthaltend. Mit Einleitung, Erläuterungen, technischen Materialien und
Sachregister bearbeitet und herausgegeben. Nördlingen 1887.
*J Gesetz, betreffend den Verkehr mit Wein u. s. w. Nebst der dem Reichstage
vorgelegten allgemeinen und technischen Begründung. Berlin 1892.
§18. Besonderer Schutz in Bezug auf Leben und Gesundheit. 39
geben, dass der längere Zelt fortgesetzte, wenn auch jedesmal massvolle Genuss
von Getränken, in denen sieh die ausgeschlossenen Stoffe, namentlich Baryum-
und Strontiumverbindungen befinden, gesundheitsschädlich wirkt, ohne dass
sich der Geniessende bewusst ist, worin die Ursache seiner Erkrankung liegt.
Die sämtlichen genannten Stoffe sind — namentlich in unkontrollierten Mengen
— medizinisch nicht unverdächtig. Von Getränken, denen die genannten Stoffe
beigemischt sind, kann ferner nicht die günstige Wirkung, wie von unver-
fälschtem Wein erwartet werden. Deshalb verbietet das Gesetz die Beimischung
der Stoffe und bedroht den ungehorsamen Weinchemiker mit Strafen. Diese
sind die nämlichen, wie die des Nahrungsmittelgesetzes §§10 und 11 (oben S. 38),
vergl. Weingesetz § 7 No. 1 und § 8 (der letztere betreffend die fahrlässige
Verübung!). Wird durch die Weinfälschung nachweisbar die Gefahr begründet,
dass die Gesundheit anderer beschädigt oder zerstört werde, so kommen die
§§12 und 13 des Nahrungsmittelgesetzes in Anwendung. (Weingesetz § 10.)
Die §§ 3 bis 6 des Weingesetzes bringen eine Ergänzung des § 10 des Nahrungs-
mittelgesetzes. § 3 bezeichnet eine Anzahl von Behandlungsweisen des Weines,
die nicht als Verfälschung oder Nachmachung anzusehen sind. Dazu gehört
namentlich die Beifügung von Zuckerstoff bis zu den regelmässigen Grenzen
des durch die Etikette bezeichneten Weines. Solch' entsäuerter oder richtiger
gesüsster Wein darf als Wein schlechtweg verkauft werden ; aber er darf nicht
mit einer Etikette verkauft werden, welche auf reinen Naturwein hinweist.
Geschieht das letztere, so trifft den Weinchemiker die Strafe des § 7 No. 1.
Die Beimischung gewisser Stoffe wird vom § 4 als Weinfölschung im Sinne des
Nahrungsmittelgesetzes § 10 erklärt, und es wird der Verkauf nur unter der
Voraussetzung gestattet, dass die Etikette auf den Surrogatcharakter der Mischung
hinweist. Für den Schaumwein stellen die §§ 5 und 6 ein besonderes Recht
auf; vergl. auch § 4 Abs. 2 hinsichtlich der Dessert- (Süd-, Süssweine). § 9 des
Gesetzes bezieht sich auf die Einziehung. Nach § 10 des Gesetzes findet im
Falle einer Verurteilung wie einer Freisprechung aus dem Weingesetze die
Veröffentlichung des Urteils wie nach § 16 des Nahrungsmittelgesetzes statt;
das gleiche gilt von der Verwendung' der Geldstrafen. (NMG. §17.)^) Auf den
Schutz der Gesundheit zielen femer ab 4. das Gesetz, betreffend die Verwen-
dung gesundheitsschädlicher Farben (Färb engesetz) vom 5. Juli 1887, S. 277
§§ 12, 13;*) 5. das Gesetz, betreffend den Verkehr mit blei- und zinkhaltigen
Gegenständen vom 25. Juni 1887, S. 273 §§ 4 bis 7. Vergl. dazu RGBl.
1888, S. 114.^)
III. 1. Gesetz, betr. die Anfertigung von Zündhölzern vom 13. Mai
1884, S. 49 §§3, 4. Gehört auch zur Arbeiterschutzgesetzgebung. 2. Gesetz
gegen den verbrecherischen und gemeingefährlichen Gebrauch von Spreng-
stoffen vom 9. Juni 1884, S. 61.^) Dazu Bekanntmachung vom 13. März 1885
S. 78 (ein echtes Ergänzungsgesetz, Laband, Staatsrecht I, S. 593 Anm. 1);
Bekanntmachung vom 16. April 1891, S. 106. Nach § 1 Absatz 1 des Ge-
^) Zu § 11 des Weingesetzes vergl. Bekanntmachung des Bundesrates vom
29. April 1892 (RGBl. S. 600).
*) Vergl. S. 38 Note 3.
«) Vergl. S. 38 Note 3.
') Dynamitgesetz. — Das Reichsgesetz betreffend den verbrecherischen und ge-
meingefährlichen Gebrauch von Sprengstoffen. Nebst den zur Ausführung desselben
ergangenen preussischen Ministerial -Verordnungen, Erlassen und Zirkularen, sowie
den vom Reichsgericht angenommenen Rechtsgrundsätzen. Berlin und Neuwied
1887. — Ausgaben von Biberstein. Berlin 1885. Scheiff. Berlin 1886. — v. Liszt,
Lehrbuch § 157 (1892) S. 528. — Ommelmann (Berg Werksunternehmer), Das Dyna-
mitgesetz und seine Folgen. Essen 1887 (Erzählung eines auf Grund des Gesetzes
Angeklagten).
40 Deutsches Reich. — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Reiches.
setzes ißt die Herstellung, der Vertrieb und der Besitz von Sprengstoffen,
sowie die Einführung derselben aus dem Auslande, unbeschadet der bestehenden
sonstigen Beschränkungen, nur mit polizeilicher Genehmigung statthaft. VergL
dazu § 1 Absatz 2 — 4 und §§ 2 — 4. Die §§ 5 — 13 enthalten strenge, zum
Teil einen Fundamentalgrundsatz des Strafrechts (in Betreff des Verschuldens
als Voraussetzung der Strafbarkeit) verleugnende Strafbestimmungen. Zucht-
haus bis zu 15 Jahren soll den treffen, der vorsätzlich durch Anwendung von
Sprengstoffen Gefahr für das Eigentum, die Gesundheit oder das Leben eines
anderen herbeiführt. Die Strafe ist von 5 Jahren an zu bemessen, wenn durch
die That eine schwere Körperverletzung (StGB. § 224) verursacht wurde; die
Strafe ist Zuchthaus von 10 — 15 Jahren oder lebenslängliches Zuchthaus, wenn
der Tod eines Menschen verursacht worden ist. Und wenn der Thäter einen
solchen Erfolg hat voraussehen können, so soll denselben die Todesstrafe
treffen (Ges. § 5). ^) Komplott und Bande in Bezug auf Sprengstoffverbrechen
werden mit Zuchthaus von 5 — 15 Jahren bestraft, wenn es auch noch nicht
zu dem Anfange der Ausführung eines solchen Verbrechens gekommen ist (§ 6).
Und Zuchthaus bis zu 10 Jahren trifft die Vorbereitung eines Sprengstoff-
verbrechens durch Herstellung, Anschaffung, Bestellung von Sprengstoffen. Ja
es genügt schon der verbrecherische Besitz von Sprengstoffen oder die Über-
lassung an andere Personen, wenn der Thäter weiss, dass ein Sprengstoffver-
brechen geplant ist (§ 7). Und § 8 stellt Zuchthaus bis zu 5 Jahren oder
Gefängnis von 1 — 5 Jahren dem in Aussicht, der Sprengstoffe herstellt, an-
schafft, bestellt, wissentlich in seinem Besitze hat oder an andere Personen
überlässt, unter Umständen, die sein Benehmen nicht als ein erlaubtes er-
scheinen lassen. Wer mit Sprengstoffen manipuliert, hat die Vermutung miss-
bräuchlicher Anwendung gegen sich, wenn er sich nicht über das Vorhanden-
sein erlaubter Ziele ausweisen kann. Ja selbst derjenige, bei dem es zweifellos
ist, dass er erlaubte Zwecke verfolgt, wird auf 3 Monate bis zu 2 Jahren ins
Gefängnis geschickt, wenn er ohne polizeiliche Ermächtigung es unternimmt,
Sprengstoffe herzustellen, vom Auslande einzuführen, feilzuhalten, zu verkaufen
oder sonst an andere zu überlassen. Der gleichen Strafe verfällt, wer im
Besitze von Sprengstoffen betroffen wird, ohne polizeiliche Ermächtigung nach-
weisen zu können, sowie derjenige, welcher die in Bezug auf den Sprengstoff-
verkehr erlassenen Polizeivorschriften übertritt (Ges. § 9). Die Praxis hat,
der bezüglich des Rechtsirrtums ^herrschenden Ansicht folgend, ausgesprochen,
dass es bei Übertretungen des § 9 des Gesetzes auf irgend ein Bewusstsein
von dem Verbote oder Gebote nicht ankomme, die Schuldbarkeit des Vorsatzes
werde lediglich durch die objektive Rechtswidrigkeit bedingt. Entscheidungen
des Reichsgerichts in Strafsachen, Bd. 15 S. 159; in Bd. 13 S. 49 findet sich
der überraschende Ausspruch, „es könne dahin gestellt bleiben, ob nach § 9
(des Sprengstoffgesetzes) überhaupt ein bestimmtes Verschulden erforderlich ist".
Ja zu was wird denn gestraft, wenn kein Verschulden da ist? Die öffentliche
oder durch Verbreitung von Schriften und dergl. erfolgte Aufforderung zu den
Sprengstoffverbrechen der §§ 5 oder 6, das Anreizen oder Verleiten dazu durch
Anpreisen oder Rühmen wird mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren bestraft (§ 10).
Vergl. noch § 11 (Polizeiaufsicht und Einziehung), § 12 (bedingungslose An-
wendbarkeit des Gesetzes auf die im Auslande verübten Sprengstoffverbreehen),
§13 (Nichterfüllung der Anzeigepflicht gegenüber gewissen Sprengstoffver-
brechen). § 14 und 15 enthalten Übergangsbestimmungen. In diesen Zusammen-
*) Nach dem Wortlaute des Gesetzes ist auch derjenige dem Tode verfallen,
der die voraussehbare Tödlichkeit seines verbrecherischen Unternehmens nicht be-
dacht hat.
t) 19. Besonderer Schutz des Publikums gegen Schädigungen des Vermögens. 41
hang gehört S. das Gesetz, betr. die Prüfung der Läufe und Verschlüsse der
Handfeuerwaffen vom 19. Mai 1891, S. 109 §9. §8 des Gesetzes ist schon
in Wirksamkeit getreten; für die anderen Bestimmungen ist der Zeitpunkt noch
nicht bestimmt; der Kaiser hat ihn mit Zustimmung des Bundesrates festzu-
setzen. Eine vorbereitende Bestimmung enthält die Bekanntmachung vom
22. Juni 1892, S. 674.
rV. Vergl. unten § 19 VI No. 1—3; femer § 21 No. 2; § 22 No. 2, 7—12;
vergl. auch No. 6.^)
§ 19. Besonderer Schutz des Publikums gegen SchSdlgungen des
YermSgens.
I. Die im vorigen Paragraphen II, No. 1 — 3 erwähnten Gesetze (Nahrungs-
mittel-, Butter-, Weingesetz) haben auch Beziehungen zum Vermögensschutz.
Vergl. den vorigen Paragraphen. Ausserdem kommt in Betracht:
II. 1, Das Gesetz über den Feingehalt der Gold- und Silberwaren vom
16. Juli 1884, S. 120, § 9;*) 2. Das Gesetz, betr. die Bezeichnung des Raum-
gehaltes der Schankgefässe vom 20. Juli 1888, S. 249, § 5.*)
III. Konkursordnung vom 10. Februar 1877, S. 351, §§ 209 — 214,
Bankerutt und verwandte Fälle.*)
IV. Gesetz, betr. die Inhaberpapiere mit Prämien vom 8. Juni 1871,
S. 210, § 6 (gegen die Spielsucht) ;'^) vergl, preussisches Gesetz wegen Aus-
stellung von Papieren, welche eine Zahlungsverpflichtung an jeden Inhaber
enthalten, vom 17. Juni 1833, GS. S. 75, § 5; dazu Verordnung vom 17. Septem-
ber 1867, GS. S. 1518 (Ausdehnung des Gesetzes auf die neuen Gebietsteile).
V. SprengstoflPgesetz, s. oben S. 40.
VI.*) 1. Gesetz, betr. die Beseitigung von AnsteckungsstoflFen bei Vieh-
beförderung auf Eisenbahnen, vom 25. Februar 1876, S. 163, §5. 2» Gesetz,
betr. die Zuwiderhandlungen gegen die zur Abwehr der Rinderpest erlassenen
Vieheinfuhrverbote, vom 21. Mai 1878, S. 95, §§ 1 — 4. 3. Gesetz, betr. die
Abwehr und Unterdrückung von Viehseuchen, vom 23. Juni 1880, S. 153,
§§ 65—67.
VII.') Internationale Reblauskonvention, vom 3. November 1881, RGBl.
1882, S. 125, Art. 1, No. 4. Abgeschlossen von folgenden Staaten: Deutsches
Reich, Österreich -Ungarn, Frankreich, Portugal, Schweiz. Beigetreten sind:
Belgien, RGBl. 1882, S. 138; Luxemburg, RGBl. 1882, S. 139. — Deutsches
^) Das plötzliche Auftreten der Cholera im Sommer 1892 hat im deutschen
Publikum vielseitig das Verlangen nach einem Menschenseuchen- Gesetze erzeugt.
Die Tagespresse hat diesem Verlangen Ausdruck gegeben; und es verlautet, dass der
Bundesrat sich mit einer darauf bezüglichen Vorlage an den Reichstag beschäftige.
Es ist nur zu wünschen, dass das erwartete Gesetz nicht bloss Schutz gegen die
Setichengefahr gewähre, sondern auch aufgeregten und überängstlichen Gemütern
und übereifrigen Polizeiorganen die Grenzen ihres Handelns weise, damit nicht das
gesunde Publikum von unnötigen Plackereien heimgesucht werde.
*) Vergl. Lexis in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltimgsrechts Bd. 1, S. 378
bis 380 und die daselbst cit. Litteratur.
«) Lexis a. a. 0., Bd. 2. S. 400.
*) Vergl. V. Liszt, Lehrbuch (1892), § 136, S. 475. Besonders: Petersen und
Klein feller, Ronkursordnung für das deutsche Reich. Kommentar. 3. Aufl. Lahr
1892. S. 588 ff.
*) Vergl. Landgraf in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungarechts Bd. 1
S. 671, besonders § 3 S. 672. v. Liszt, Lehrbuch, (1892), § 146, III S. 502.
") Zu VI 1 — 3 vergl. Dam mann in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungs-
rechts Bd. 2, S. 809.
') Vergl. Hermes in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 2, S. 329.
42 Deutsches Reich. — Die Spezialstrafg'esetzgebung des deutschen Reiches.
Gesetz, betr. die Abwehr und Unterdrückung der Reblauskrankheit, vom
3. Juli 1883, S. 149, § 12.
§ 20. Fischerei- und Vogelscliutz. *)
Grundsätzlich hat die Reichsgesetzgebung die Ordnung der Jagd und
Fischerei, soweit es sich nicht um Gewaltthätigkeiten gegen das Jagdpei-sonal
oder um widerrechtliche Eingriffe in das Okkupationsrecht handelt (StGB.
§§ 117 — 119, 370, No. 4, 296a), der Landesgesetzgebung überlassen. Vergl.
Einf.-Ges. zum StGB. § 2. Neuestens hat aber das Reich, !• namentlich
im Interesse der Landwirtschaft, den Vogelschutz selbst geordnet und Straf-
bestimmungen gegen die Übertretungen der Ordnung aufgestellt. Gesetz,
betr. den Schutz von Vögeln, vom 22. März 1888, S. 111, §§ 6, 7, 9.
2. Die Fischerei in der Nordsee ist Gegenstand internationaler Vereinbarung
und ausführender Reichsgesetzgebung geworden. Internationaler Vertrag,
betr. die polizeiliche Regelung der Fischerei in der Nordsee ausserhalb der
Küstengewässer, vom 6. Mai 1882, RGBl. 1884, S. 25. Beteiligte Kontra-
henten: Deutsches Reich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien und
Irland, Niederlande, Art. 35. Vergl. Art. 32, 34. Vergl. auch die für die
Notstandslelire in Betracht kommenden Art. 14, 16, 19 — 22. Dazu deutsches
Gesetz zur Ausführung der internationalen Konvention vom 6. Mai 1882, betr.
die polizeiliche Regelung der Fischerei in der Nordsee, ausserhalb der Küsten-
gewässer, vom 30. April 1884, S. 48, § 2. (§ 1 bezieht die Normen der
Artikel 6 — 23 der Konvention auf die Seefischereifahrzeuge auch während ihres
Aufenthaltes in den zur Nordsee gehörigen Küstengewässern.) 3. Gesetz, betr.
die Schonzeit für den Fang von Robben, vom 4. Dezember 1876, S. 233.
Vergl. dazu die Kaiserliche Verordnung vom 29. März 1877, S. 409. 4. Ein
Vertrag zwischen dem deutschen Reiche und Belgien vom 29. April 1885,
R(tB1. S. 251, hat die Bestrafung der auf den beiderseitigen Gebieten be-
gangenen Forst-, Feld-, Fischerei- und Jagdfrevel verabredet. Vergl. StGB. § 296 a.
§ 21. Besondere Strafgesetze zum Schutze des Verkehrs.
1. Gesetz über das Postwesen des deutschen Reichs, vom 28. Ok-
tober 1871, S. 347, §§ 18, 19, 23; sodann §§ 27—33 (Defraudationen).^)
Einf.-Ges. zum StGB. § 7. Gesetz für Elsass-Lothringen vom 4. November 1871,
Gesetzbl. S. 348; für Helgoland Ges. vom 22. März 1891 (RGBl. S. 21). 2. Bahn-
polizeireglement für die Eisenbahnen Deutschlands. Bekanntmachung des Reichs-
kanzlers vom 30. November 1885 in Gemässheit der vom Bundesrat in der
Sitzung vom 26. November 1885 auf Grund der Artikel 42 und 43 der
RV. gefassten Beschlüsse. RGBl. 1885, S. 289, §62 (S. 312); vom I.Januar
1893, neue Bahnpolizeiordnung; s. oben § 14 S. 34. 3. Gesetz über das
Telegraphenwesen des deutschen Reichs vom 6. April 1892, S. 467, §§9, 10;
vergl. § 15. Gesetz, betr. die Einführung von Telegraphenfreimarken vom
16. Mai 1869, S. 377, § 2; trotz des Zusatzes zu § 276 des Strafgesetz-
buches noch in Geltung, ebenso wie § 27 des Postgesetzes. Vergl. ferner
Art. 9 des bayer. Ausführ.-Ges. vom 18. August 1879 zur Reichs- StPO.
4« Internationaler Vertrag zum Schutze der unterseeischen Telegraphenkabel,
nebst Zusatzartikel und Deklaration vom 14. März 1884, RGBl. 1888, S. 151,
Art. 2, 5, 6, 8—12.*). Dazu Erklärung vom 1. Dezember 1886, 23. März
*) Staudinger in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, S. 408.
") Vergl. Sydow inv. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2, S. 291.
') Vergl. Sydow inv. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2, S. 619.
§ 22. Besondere Strafbestimmungen in Betreff der Seeschiffahrt 48
1887, RGBl. 1888, S. 167, betreffend das Wort „vorsätzlich" (volontairement).
Der Vertrag ist abgeschlossen von folgenden Staaten: Deutsches Reich, Argen-
tinien, Österreich, Belgien, Brasilien, Costa Rica, Dänemark, S. Domingo,
Spanien, Vereinigte Staaten von Nordamerika, Staaten von Kolumbien, Frank-
reich, Grossbritannien und Irland (Indien), Guatemala, Griechenland, Italien,
Türkei, Niederlande (Luxemburg), Persien, Portugal, Rumänien, Russland, Sal-
vador, Serbien, Schweden und Norwegen, Uruguay. Beigetreten sind: Die
britischen Kolonien und Besitzungen Canada, Neufundland, Cap, Natal, Neu-
südwales, Tasmanien, Westaustralien, Neuseeland. Bekanntmachung vom
26. November 1888, S. 292; femer Tunis, Bekanntmachung vom 6. September
1889, S. 194. Dazu Reichsgesetz zur Ausführung des internationalen Vertrages
zum Schutze des unterseeischen Telegraphenkabels vom 21. November 1887,
RGBl. 1888, S. 169. Strafrechtlich interessant namentlich Artikel 2 des Ver-
trages, welcher eine Erweiterung des § 4 des Strafgesetzbuches bewirkt und
welcher im Absatz 2 eine Notstandsbestimmung enthält.
§ 22. Besondere Straf bestimmnngeii In Betreif der Seeschiffahrt.^)
1. Seemannsordnung. Vom 27. Dezember 1872, 8. 409, §§ 81—103, 107.
Zu vergleichen §§30, 32, 79. v. Liszt, Lehrbuch, § 195 (1892), S. 668. Lewis
in V. Stengel, Wörterbuch des Vcrwwaltungsrechts Bd. 2, 8. 415, § 5. 2. Bundes,
gesetz, betr. die Nationalität der Kauffahrteischiffe und ihre Befugnis zur Führung
der Bundesflagge. Vom 25. Oktober 1867, BGBl. S.35. Vergl. Lewis in v. Stengel,
Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, S. 632. 3. Gesetz, betr. die Regi-
strierung und die Bezeichnung der KauflPahrteischiffe. Vom 28. Juni 1873, S. 184,
§ 4. Vergl. auch Schiffs Vermessungsordnung vom 20. Juni 1888, S. 190, § 36,
No. 4 u. 5; dazu Hänel, Staatsrecht, S. 281; Lewis in v. Stengel, Wörterbuch
des Verwaltungsrechts, Bd. 2, S. 411, §3. 4, Gesetz, betr. die Küstenfrachtfahrt.
Vom 22. Mai 1881, S. 97, § 3. Dazu 2 Verordnungen vom 29. Dezember 1881, S. 275
und 276. (Die letztere durch die neuen Handelsverträge zum Teil ersetzt.) Vergl.
Lewis in v. Stengel , Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2, S. 412. 5. Gesetz,
betr. die Schiflfsmeldungen bei den Konsulaten des deutschen Reiches. Vom 25. März
1880, S. 181, § 4. Dazu Verordnung vom 28. Juli 1880, S. 183. 6, Gesetz,
betr. die Verpflichtung deutscher Kauffahrteischiffe zur Mitnahme hilfsbedürftiger
Seeleute. Vom 27. Dezember 1872, S. 432, § 8. 7- Zum Strafgesetzbuch § 145:
Not- und Lootsensignalordnung für Schiff'e auf See und auf den Küstengewässem.
Vom 14. August 1876, S. 187. 8. Verordnung zur Verhütung des Zusammen-
stossens der Schiffe auf See. Vom 7. Januar 1880, S. 1. Lewis in v. Stengel,
Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, S. 419. 9. Verordnung über das Ver-
halten der Schiffer nach einem Zusammenstoss von Schiffen auf See. Vom
15. August 1876, S. 189, § 1. 10. Verordnung zur Ergänzung der Verordnung
über das Verhalten der Schiffer nach einem Zusammenstosse auf See u. s. w.
Vom 29. Juli 1889, S. 171. IL Strandungsordnung. Vom 17. Mai 1874, S. 73,
§9, Abs. 2 (StGB. § 360 No. 10), § 43. Lewis in v. Stengel, Wörterbuch
des Verwaltungsrechts, Bd. 2, S. 574. 12. Gesetz, betr. die Untersuchung von
Seeunfällen. Vom 27. Juli 1877, S. 549, §§ 26, 34.
*) Vergl. das Überschriftscitat zu §23. Meves, die strafrechtlichen Bestimmungen
L im Gesetz, betr. die Nationalität der Kauffahrteischiffe und ihre Befugnis zur Führung
der Bundesflagge von 25. Oktober 1869 in Verbindung mit dem Gesetz, betr. die Re-
fistrierung und die Bezeichnung der Kauffahrteischiffe vom 28. Juni 1873; II. in der
eemannsordnung vom 27. Dezember 1872; III. in dem Gesetz, betr. die Mitnahme
hülfsbedürftiger Seeleute vom 27. Dezember 1872; IV. in der Strandungsordnung vom
17. Mai 1874, erläutert. Erlangen 1876.
44 Deutsches Reich. — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Reiches.
§ 23. Handels-, Mflnz- und Bankwesen.
I. 1.*) Die Veränderungen, welche das deutsche Handelsgesetzbuch er-
fahren hat, sind charakteristisch für den im § 13 geschilderten Entwickelungs-
gang. Ursprünglich nur das tibereinstimmende Gesetzbuch für die Staaten des
alten deutschen Bundes und durch Gesetz vom 5. Juni 1869 zum Gesetz des
norddeutschen Bundes erklärt, enthielt das Handelsgesetzbuch an strafrechtlich
bedeutsamen Bestimmungen lediglich die des Artikels 84, welche die Bestrafung
der von den Handelsmäklem begangenen Pflichtverletzungen den Landes-
gesetzen überliess. Vergl. preuss. Einf.-Ges. zum HandelsGB. vom 24. Juni 1861,
GS. S. 449, Art. 9. Schon das Bundesgesetz vom 11. Juni 1870, betr. die Kom-
manditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften, BGBl. 8. 375, ge-
langte zu Straf drohungen gegen Pflichtwidrigkeiten der persönlich haftenden
Mitglieder und der Mitglieder des Aufsichtsrates einer Kommanditgesellschaft auf
Aktien, sowie gegen Pflichtwidrigkeiten der Mitglieder des Aufsichtsrates und des
Vorstandes einer Aktiengesellschaft. (Art. 206, 249, 249 a.) Die Gründungsmiss-
bräuche in den 70er Jahren und die Ausdehnung des Aktienwesens haben zu den
viel weiter gehenden Straf bestimmungen des Gesetzes, betr. die Kommanditgesell-
schaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften vom 18. Juli 1884, S. 123, ge-
führt, durch welches Gesetz das Handelsgesetzbuch, Buch 2, Titel 2, Abschnitt 2
und Titel 3 (Art. 173 — 249) eine neue Ausgestaltung erfuhr. Die Strafdrohungen
sind in den neuen Artikeln 249 — 249f enthalten. Dieselben kündigen Ge-
fängnisstrafen bis zu 5 Jahren, Geldstrafen bis zu 20000 Mark an und lassen
mehrfach die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte zu, während das
Gesetz vom 11. Juni 1870 nicht mehr als 3 Monate Gefängnis und bei mil-
dernden Umständen Geldstrafe bis zu 3000 Mark androhte. Vergl. auch
Art. 249 g (Ordnungsstrafen durch die Handelsgerichte). In diesen Zusammen-
hang gehören ferner 2. die Straf bestimmungen des Gesetzes betr. die Erwerbs-
und Wirtschaftsgenossenschaften ^) (früher vom 4. Juli 1868, jetzt:) vom 1. Mai
1889, S. 55, §§ 140—145. Vergl. auch §§ 152 und 155, dazu Reichsgesetz
vom 23. Juni 1873, S. 146, § 2 in Betreff Bayerns; femer 3. Gesetz, betr.
die Gesellschaften mit beschränkter Haftung vom 20. April 1892, S. 477,
§§ 80 — 82 (in § 81 Bezugnahme auf die Straf Vorschriften der Konkursordnung,
§§ 209— -211); vergl. auch §62 (Auflösung der Gesellschaft wegen Gefährdung
des Gemeinwohls, z. B. Fassen gesetzwidriger Beschlüsse, Geschehenlassen i
gesetzwidriger Handlungen seitens der Geschäftsführer).
n. 1. Münzgesetz vom 9. Juni 1873, S. 233, Art. 13. Koch in v. Stengel,
Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2, S. 146 (§ 7). 2. Gesetz, betr. den
Schutz des zur Anfertigung von Reichskassenscheinen verwendeten Papieres
gegen unbefugte Nachahmung vom 26. Mai 1885, S. 165, §§ 2, 3. Koch in
V. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2, S. 205.
III. 1, Gesetz über die Ausgabe von Banknoten vom 21. Dezember 1874,
S. 193, Art. II, § 2. Koch in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts,
Bd. 2, S. 169. 2. Bankgesetz vom 14. März 1875, S. 177, §§ 55—59. Koch
in V. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts a. a. 0.
IV. Vergl. oben § 19, III, IV.
') Edwin Katz, Die strafrechtlichen Bestimmungen des Handels-Gesetzbuches
betreffend die Ordnungsstrafen, die Mäklervergehen, die Delikte des Aktienrechts und
des Seestrafrechts. Mit Kommentar und Anmerkungen. Berlin und Leipzig 1885.
*) Ludolf Parisius, Das Reichsgesetz, betrefFend die Erwerbs- und Wirt-
schaftsgenossenschaften u. s. w. Textausgabe mit Anmerkungen und Sachregister.
Berlin 1889.
§ 24. Gewerbestrafrecht, Arbeiterschutz. 45
§ 24. Oewerbestrafreclit, Arbeiterschutz. ^)
I. Vom Zunftzwan^e und von der obrigkeitlichen Konzessionierung, den
Realberechtigungen, den Zwangs- und Bannrechten, war die deutsche Gewerbe-
gesetzgebung, dem von der ausländischen Gesetzgebung gegebenen Anstosse
folgend, zum Prinzipe der Gewerbefreiheit übergegangen. Trotzdem enthielt
schon die Gewerbeordnung für den norddeutschen Bund vom 21. Juni 1869,
Bundesgesetzblatt S. 245, eine Reihe von Strafbestimmungen, welche teils auf
den Schutz des Publikums abzielen, teils die gewerblichen Gehülfen und die
im Gewerbe beschäftigte Jugend gegen die Übertreibungen des Egoismus
schützen wollen. Es sind leise Anfänge des Arbeiterschutzes in dieser ersten
Fassung der Gewerbeordnung enthalten. In beiden Beziehungen ist die Gesetz-
gebung des Reiches, sozialpolitischen Anregungen folgend, in zahlreichen Ver-
änderungen und Ergänzungen der Gewerbeordnung weiter gegangen. Vergl.
darüber Binding, Handbuch I, S. 132f. (No. 19). Einen vorübergehenden Ab-
schluss hatte diese Gesetzgebung in dem Gesetze vom 1. Juli 1883, S. 159
gefunden, welches den Reichskanzler ermächtigte, den Text der Gewerbe-
ordnung neu bekannt zu machen, wie er sich aus den Gesetzen von 1872,
1874, 1876, 1878, 1879, 1880, 1881, 1883, sowie aus den vom Reichstag ge-
nehmigten Bundesratsbeschlüssen von 1881 und 1883 ergiebt. Der Abdruck
ist im Reichsgesetzblatt 1883, S. 177 ff. erfolgt. Das Gesetz vom 6. Juli 1887,
S. 281 und der vom Reichstag genehmigte Bundesratsbeschluss vom 14. De-
zember 1888, Reichsgesetzblatt 1889, S. 1, brachten weitere Änderungen. Tief
eingreifend ist endlich das Gesetz, betr. Abänderung der Gewerbeordnung vom
1. Juni 1891, S. 261. Es ist dies das sogenannte Arbeiterschutzgesetz, dessen
Haupttendenz, in Normen und Straf drohungen, der Schutz von Arbeitern, Ge-
werbegehilfen, Frauen, Minderjährigen und Kindern gegen übermässige Aus-
nützung seitens der Arbeitgeber, sowie damit im Zusammenhange die Ordnung
der Sonntagsfeier ist. Das Arbeiterschutzgesetz bildet zusammen mit den im
nächsten Paragraph zu besprechenden Versicherungsgesetzen die Realisierung
der Gedanken, mit welchen Kaiser Wilhelm I. in der berühmten B(»tschaft an
den Reichstag vom 17. November 1881 die Sozialgesetzgebung des deutschen
Reiches einleitete. Das Arbeiterschutzgesetz ist zum Teil am 1. Oktober 1891,
in der Hauptsache aber am 1. April und am 1. Juli 1892 in Kraft getreten.
Für einzelne Bestimmungen ist die Inkraftsetzung Kaiserlicher Verordnung
mit Zustimmung des Bundesrates überlassen (cit. Ges. Art. 9). Vergl. fär
einen Teil dieser Bestimmungen hinsichtlich des Handelsgewerbes die Verordnung
vom 28. März 1892, S. 339: 1. April und 1. Juli 1892. Übergangsbestim-
mungen mit Wirkung bis zum 1. April 1894 enthalten die Absätze 4 und 5
des Artikels 9 des Gesetzes. Die Gewerbeordnung ist leider nicht neu redi
giert. Es ist der Privatthätigkeit überlassen, diese Redaktion zu vollziehen.
Auf Grund des § 139a des Arbeiterschutzgesetzes ist schon eine Reihe von
Bekanntmachungen des Bundesrates in Bezug auf die Beschäftigung von
Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in einzelnen Fabrikbetrieben erlassen
worden. Vergl. RGBl. 1892, S. 317, 324, 327, 328, 331, 334, 602,
604; vergl. auch S. 337; femer RGBl. 1888, S. 88, 172. Vergl. sodann
*) v. Liszt, Lehrbuch (1892), § 190, S. 652. Die Bearbeitungen von Meves und
Pfeiffer sind durch die Veränderungen der Gewerbegesetzgebung überholt. Ge-
werbeordnung für das deutsche Reich in der Fassung des Reichsgesetzes vom 1. Juni
1891. Mit alphabetischem Sachregister. München 1892. (Für das Gewerbestrafrecht
ist das Register nicht ausreichend.) — Münsterberg in v. Stengel, Wörterbuch
des Verwaltungsrechts, Ergänzungsband 1, S. 1 (Arbeiterschutz.) — Kulemann, Der
Arbeiterschutz sonst und jetzt in Deutschland und im Auslande. Leipzig 1893.
46 Dentocbes Reich. — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Reiches.
die auf den Arbeiterschutz abzielenden Bestimmungen des preussischen Ge-
setzes vom 24. Juni 1892, GS. S. 131, betr. die Abänderung einzelner
Bestimmungen des allgemeinen Berggesetzes vom 24. Juni 1865, §§ 207 a bis
207 e; femer die gesetzliche Ermächtigung der Oberpräsidenten und Regierungs-
präsidenten von Schleswig -Holstein, Hannover und Hessen - Nassau und der
hohenzollernschen Lande zur Erlassung von Verordnungen bezüglich der Sonn-
tagsfeier vom 9. Mai 1892, GS. S. 107.
Die Gewerbeordnung war ursprünglich für den norddeutschen Bund er-
lassen, ist aber dann auch in den übrigen Teilen des Reiches eingeführt
worden; in Bayern durch Gesetz vom 12. Juni 1872, RGBl. S. 170;
in Elsass-Lothringen erst durch Gesetz vom 27. Februar 1888, S. 57. Vergl.
dazu Bekanntmachung vom 27. Dezember 1888, S. 301. Dem Arbeiterschutze
dient auch das Gesetz betr. die Anfertigung u. s. w. von Zündhölzern vom
13. Mai 1884, S. 49, §§ 1—4.
II. Die Gewerbeordnung enthält nicht bloss im X. Titel, der die Über-
schrift „ Straf bestimmungen" trägt, sondern auch sonst zahlreiche, strafrechtlich
bedeutsame Vorschriften. 1. Die nach dem Strafgesetzbuch erfolgende Ab-
erkennung der bürgerlichen Ehrei^rechte hat in Bezug auf gewerbliche Ver-
hältnisse mehrfachen Einfluss. Vergl. §§ 53, 83 No. 1, 86, 100 Abs. 6, 106.
Ebenso 2. das Stehen unter Polizeiaufsicht, §§ 57, 57 b No. 2, 58, 62 Abs. 2.
3. Die Verurteilung wegen gewisser Delikte zieht oder kann nach sich ziehen
die Versagung des Wandergewerbescheines und der Erlaubnis, andere Personen
beim Gewerbebetriebe im Umherziehen mit sich zu führen, §§ 57 No. 3, 57b
No. 2, 3, 62 Abs. 2. 4, Die Gewerbeordnung giebt dem im deutschen Straf-
rechte nur ausnahmsweise auftauchenden Gedanken Raum, dass eine Personen-
mehrheit als solche gesetzwidrige Handlungen begehen könne, vergl. §§ 103
No. 3, 104g No. 3. 5. Mit der väterlichen Zucht über den Lehrling ist dem
Lehrherm durch § 127 ein Züchtigungsrecht eingeräumt. 6. Vergl. noch
§§ 98a No. 5, 100b Abs. 3, lOOd No. 2, 104 Abs. 3, 1041 Abs. 2 (Ordnungs-
strafen), § 130 (Anhaltung zur Rückkehr des Lehrlings durch Polizeistrafen).
7, Für die Straf bestimmungen in den Arbeitsordnungen setzt § 134b Schranken,
vergl. auch § 134 c Abs. 2.
III. Das eigentliche Gewerbestrafrecht ist im X.Titel §§ 143 — 153 und
§ 154a enthalten; und zwar stellen die §§ 143 — 145 einige allgemeine Be-
stimmungen auf (Entziehung von Gewerbeberechtigungen, vergl. dazu Gesetz
vom 27. Juli 1877, S. 549, § 26, betr. Untersuchung von Seeunfällen, Ver-
weisungen auf das allgemeine Strafrecht und sonstige Straf bestimmungen, Ver-
jährung). Die Strafdrohungen der §§ 146 — 150, 153 und 154a sind teils
vollständige Strafgesetze, teils verweisen sie auf die in ftliherem Zusammen-
hange aufgestellten Normen, teils sind es Blankettstrafgesetze in dem oben § 14,
II, S. 35 erwähnten Sinne. Die Einordnung der Strafdrohungen in die einzelnen
Paragraphen ist nicht mit Rücksicht auf die Verwandtschaft der Thatbestände,
sondern mit Rücksicht auf das Mass der Strafdrohung erfolgt. Die höchste
der angedrohten Strafen beträgt Geldstrafe bis zu 2000 Mark und im Un-
vermögensfalle Gefängnis bis zu 6 Monaten, die niederste: Geldstrafe bis zu
20 Mark, bezw. Haft bis zu 3 Tagen. § 151 regelt die strafrechtliche Ver-
antwortlichkeit im Falle der Übertretung polizeilicher Vorschriften durch Per-
sonen, welche zur Leitung des Betriebes oder zur Beaufsichtigung bestellt
sind; § 152 schliesst Verbote und Straf bestimmungen gegen gewerbliche
Koalitionen aus; § 153 bedroht aber die Anwendung von Zwang, Drohungen,
Ehrverletzungen und Verrufserklärungen durch solche Koalitionen.
§ 25. Versicherungsstrafrecht. 47
§ 25. Yersichemngsstrafrecht.
I. Das Reichsgesetz über die eingeschriebenen Hülfskassen vom 7. April
1876, S. 125, bezieht sich, auch in der Fassung, welche ihm durch das Gesetz
vom 1. Juni 1884, S. 64, gegeben worden ist, auf freiwillige Genossenschaften,
welche die gegenseitige Unterstützung ihrer Mitglieder für den Fall der Krank-
heit bezwecken. Die Rassen stehen -* unter der Beaufsichtigung von Landes-
behörden, welchen behufs Erzwingung der durch das Gesetz begründeten Pflichten
die Androhung, Festsetzung und Vollstreckung von Geldstrafen bis zu 100 Mark
eingeräumt ist; vergl. § 33 (neue Fassung). § 34 bestimmt öffentliche Strafen
gegen Mitglieder des Vorstandes, des Ausschusses oder einer örtlichen Ver-
waltungsstelle, welche gegen die Bestimmungen des Gesetzes handeln, und
unterstellt sie dem § 266 des Strafgesetzbuches (Untreue), wenn sie absichtlich
zum Nachteil der Kasse handeln.
n. Ein neues Gebiet der Sozialgesetzgebung und in derselben von neuen
strafrechtlichen Bestimmiyigen ist durch die der jüngsten Zeit angehörende
Versichenmgsgesetzgebung eröffnet worden.^) An die Stelle der ft^eiwilligen
Individual- und der freien (Tcnossenschaftsversicherung ist vielfach die Zwangs-
versicherung in Zwangsgenossenschaften, in Landes- und Reichseinrichtungen
getreten. Mit dem Zwangsgedanken hat sich die Strafeinrichtung verbunden.
Teils sind es Strafen, welche von den Gerichten im ordentlichen Verfahren
erkannt werden müssen (auch einzelne Ordnungsstrafen gehören dahin), teils
sind es Ordnungs- und Zwangsstrafen, welche von Verwaltungsbehörden (Ver-
waltungsgerichten) oder von Genossenschaftsorganen verhängt werden können.
In dieser Beziehung ist ähnlich wie bezüglich des Strafverordnungsrechtes (s. oben
§14, la. E.), ein Entwickelungsgang des Reichsrechtes zu beobachten, welcher
eine, der anfänglich vorhandenen, entgegengesetzte Richtung nimmt. Es galt
als ein Palladium des preussischen und später des Reichsrechtes, dass der
Streit um die Verhängung einer öffentlichen Strafe, von ganz untergeordneten
Thatbeständen abgesehen, sofort vor den Richter gehört oder doch im Wege
des Einspruches gegen eine Strafverfügung der Polizeibehörde dahin gebracht
werden kann. Jetzt mehrt sich die Zahl der gesetzlichen Bestimmungen,
welche die Verhängung einer Strafe wegen normwidrigen Benehmens in ein
Verwaltungs- oder Verwaltungsstreitverfahren mit Ausschluss des Prozessver-
fahrens vor dem ordentlichen Richter legen. Für den Anhänger des Rechts-
staat-Gedankens keine erfreuliche Entwickelung!
!• Die Reihe der Zwangsversicherungen wurde durch das Gesetz, betreffend
die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883, S. 73, eröffnet,
welches durch das Gesetz vom 10. April 1892, S. 379, eine neue Fassung er-
halten hat. (Geltung des revidierten Gesetzes vom 1. Januar 1893 an.)*) § 42 III
(Verweisung auf StGB. § 266). §§ 81, 82, 82 a— 82 c, 83; §§ 76a Abs. 3,
76b Abs. 2, 76c (Zwangsstrafen); § 6a II, § 26a No. 2 und 2a, § 45.^)
Daran schliesst sich 2.*) das Unfall Versicherungsgesetz vom 6. Juli 1884,
*) Vergl. R. Piloty, Zur Litteratur des Arbeiterversicherungsrechtes in der
Kritischen Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, herausgegeben
von Bechmann und Seydel. 34. Bd. (Neue Folge Bd. 15) 1892, S. 399.
-) Woedtke, Kranken Versicherungsgesetz in der Fassung der Novelle vom
10. April 1892. Textausgabe mit Anmerkungen. Berlin 1892.
*) Die Bestimmungen in §§ 50 und 71 legen doch nur eine Ersatzpflicht und
nicht eine Strafe auf, was Woedtke, Krankenversicherungsgesetz, Register S. 292
anzunehmen scheint. Auch die Massregeln in § 62 und § 68 Abs. 2 dürften nicht als
Strafen anzusehen sein.
*) Zu No. 2— 6 das grossartig angelegte Buch : Handbuch der Unfallversicherung.
Die Reichsunfallversicherungsgesctze (Hauptgesetz, Ausdehnungsgesetz, Landwirt-
48 Deutsches Reich. — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Kelches.
S. 69, welches in den §§ 11 Abs. 3, 49 Abs. 3, 78 (No. 1), No. 2, 80, 82,
85, 88 Abs. 3, 89 Zwangsstrafen (zum teil Zuschlagserhöhungen), in den §§ 103
bis 106 Ordnungsstrafen (durch die Genossenschaftsvorstände) und in den §§ 26
(StGB. § 266), 107, 108 ordentliche Strafen androht. Femer 8. das Gesetz
über die Ausdehnung der Unfall- und Krankenversicherung vom 28. Mai 1885,
S. 169 § 9 (dazu § 2 Abs. 3), s. § 17. Verordnung vom 25. September 1885,
S. 271, betr. die Inkraftsetzung des Unfall versicherungs-Gesetzes vom 6. Juli
1884 und die teilweise Inkraftsetzung des Gesetzes über die Ausdehnung der
Unfall- und Krankenversicherung vom 28. Mai 1885; Verordnung vom 24. Juni
1886, S. 205, betr. die Inkraftsetzung des Gesetzes Über die Ausdehnung etc.
vom 28. Mai 1885. 4. Gesetz betr. die Unfall- und Krankenversicherung der
in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Personen vom
5. Mai 1886, S. 132, §§ 29 Abs. 3, 53 Abs. 3, 87, 90 Abs. 2, 96 Abs. 3 a. E.,
123 bis 126 (Zwangs- und Ordnungsstrafen). §§ 31, 127, 128 (ordentliche
Strafen). (Vergl. § 129.) Hinsichtlich des Inkrafttretens dieses Gesetzes
kam zum teil § 143 des Gesetzes in Betracht, teilis sind auf Grund dieses
Paragraphen kaiserliche Verordnungen ergangen, welche für das Inkraft-
treten in den Bundesländern verschiedene Termine in den Jahren 1888 und
1889 bestimmten. (Vergl. RGBl. 1888, S. 125, 175, 207, 217, 235 für 1888;
RGBl. 1888, S. 237, 289, 297, RGBl. 1889, S. 51, 195 für 1889.) 5. Gesetz
betr. die Unfallversicherung der bei Bauten beschäftigten Personen vom
11. Juli 1887, S. 287, § 44 No. 1, § 49 Abs. 2, § 51. 6. Gesetz betr. die
Unfallversicherung der Seeleute und anderer bei der Seeschiffahrt be-
teiligten Personen vom 13. Juli 1887 S. 329, §§ 30 Abs. 3, 52 Abs. 4,
90, 93 Abs. 3, 98 Abs. 3, 99, 117 — 120, 122. (Vergl. dazu die Ein-
führungsverordnung [für 1. Januar 1888] vom 26. Dezember 1887, S. 537.
7. Gesetz betr. die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni
1889, S. 97,^) §§ 18, 126, 131 a. E., vergl. § 134 Abs. 1 a. E. (Zwangsstrafen);
§§ 60, 73 Abs. 3 (Ablehnung von Wahlen, Weigerung, Versäumung der Be-
rufspflicht), §§ 109 Abs. 2, 112 No. 2 a. E., 142, 143 (vergl. §§ 144, 145),
146 (Ordnungswidrigkeiten, Unterlassungen), § 59 (Verweisung auf StGB. § 266),
§ 147 — 155 (öffentliche Strafen). Dazu: Verordnung vom 25. November 1890,
S. 191, über die Inkraftsetzung des Gesetzes betr. die Invaliditäts- und Alters-
versicherung. Die Einrichtung ist am 1. Januar 1891 ins Leben getreten. —
Bekanntmachung, betr. die Erstreckung der Versicherungspflicht u. s. w. auf
die Hausgewerbetreibenden der Tabakfabrikation vom 16. Dezember 1891,
S. 395, No. 3 Abs. 3, No. 6, 7 Abs. 4, No. 9 Abs. 2. Bekanntmachung, betr. die
Durchführung der Invaliditäts- und Altersversicherung, vom 24. Dezember 1891,
S. 399; siehe oben § 14 I No. 1 a. E. S. 33, betr. die Entwertung und Ver-
nichtung der Marken.
schaftliches Unfallversicherungsgesetz, Bau-UVG., See-UVG., Verordnung über das
Verfahren vor den Schiedsgerichten, Anhang) dargestellt von Mitofliedern des Beichs-
Versicherimgsamtes nach dem Aktenmaterial dieser Behörde. S. VIII und 802 (leider
ohne Register). Leipzig 1892. Kürzere Darstellungen von Woedtke in v. Stengel,
Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 2, S. 636.
^) Ausgaben von: Bosse und v. Woedtke. Leipzig 1891. Nach amtlichen
Quellen mit Einleitung und Erläuterungen. S. 851. — R. Landmann und R. Rasp.
München 1891. 1. Bd. der Kommentare von Landmann und Rasp. Die Arbeiterver-
sicherungsgesetzfi^ebung für das deutsche Reich in ihrer Anwendung auf das König-
reich Bayern. S. 815. — Stenglein, Berlin 1890, S. 275. — Freund, Berlin 1891,
S. 308. — Fuld, Erlangen 1891, S. 561. — Gebhard, Altenburg 1891, S. 884. —
Trutzer, Ansbach 1891. Kürzere Darstellung von Woedtke bei v. Stengel,
Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 1, S. 681.
§ 26. Der strafrechtliche Schutz des Urheberrechts. , 49
§ 26. Der strafrechtlielie Schutz des Urheberrechts.^)
Auf den Schatz, des Urheberrechts beziehen sich Gesetze und inter-
nationale Verträge des Reichs. I. Grundlegend ist das Gesetz, betr. das Ur-
heberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kom-
positionen und dramatischen Werken vom 11. Juni 1870 (BGBl. S. 339).
Es. ist zum Reichsgesetz erhoben. Abteilung I bezieht sieh auf Schriftwerke,
Abteilung II auf geographische, topographische, naturwissenschaftliche, archi-
tektonische, technische und ähnliche Abbildungen — ob auf Abbildungen
plastischer Art, ist bestritten — , Abteilung III auf musikalische Komposi-
tionen, Abteilung IV auf die öffentliche Aufführung dramatischer, musikali-
scher oder dramatisch -musikalischer Werke; Abteilung Y enthält allgemeine
Bestimmungen. Die §§ 18 — 38 stellen die Entschädigungspflicht wegen Nach-
drucks von Schriftwerken fest, bestimmen die Strafen wegen des Nachdrucks
und regeln das Verfahren. Die §§ 43, 45, 54, 56 beziehen diese Vorschriften
in entsprechender Weise auf den Schutz der in den Abteilungen II — IV auf-
gestellten Normen. IL Gesetz, betr. das Urheberrecht an Werken der bil-
denden Künste vom 9. Januar 1876, RGBl. S. 4, § 6 No. 4; § 16.
- Zu I und II : Übereinkunft, betr. die Bildung eines internationalen Verbandes
zum Schutze von Werken der Litteratur und Kunst. Abgeschlossen Bern, 9. Sept.
1886. Mit Zusatzartikel, Schlussprotokoll, Vollziehungsprotokoll. (RGBl. 1887,
S. 493 bis 516.) Abgeschlossen ist das Übereinkommen von folgenden Staaten:
Belgien, deutsches Reich, Frankreich, Grossbritannien, Haiti, Italien, Liberia
(nicht ratifiziert), Schweiz, Tunis, Spanien. Beigetreten ist: Luxemburg, Be-
kanntmachung vom 30. Juli 1888 RGBl. S. 227. Vergl. Ausftihrungsgesetz vom
4. April 1888, S. 139. — Besondere noch in Kraft stehende Verträge, vergl.
internationale Übereinkunft Art. 15 — , über den Schutz von Werken der
Litteratur und Kunst sind abgeschlossen zwischen dem deutschen Reiche
und den folgenden Staaten: Belgien 12. Dezember 1883, RGBl. 1884, S. 173,
Art. 13; Frankreich 19. April 1883, RGBl. 8. 269, Art. 13; Grossbritannien
2. Juni 1886, S. 237; (vergl, bezüglich der praktischen Bedeutung Allfeld
a.a.O. S. 427); Italien 20. Juni 1884, RGBl. S. 193, Art. 13; Schweiz
13. Mai 1869, BGBl. S. 264, imd Vertrag vom 23. Mai 1881, RGBl S. 171;
Vereinigte Staaten von Amerika 15. Januar 1892, ratif. 15. April 1892,
RGBl. S. 473. Vergl. dazu deutsches Urhebergesetz vom 11. Juni 1870 § 62
*) Dambach in v. HoltzendorfTs Handbuch, Bd. 3 (1874), S. 1022 und die da-
selbst angegebene Litteratur. Derselbe in den Ergänzungen 4. (Supplement-) Band
(1877) S. 467. — Hugo Meyer, Lehrbuch des Strafrechts. 4. Aufl. Erlangen 1888.
§ 108 (99), S. 781, besonders Note 1. — v. Liszt, Lehrbuch (1892), §§ 124, 125, S. 424.
— Streissler, Das Recht für Urheber, Buchhandel und Presse. I. Rechtslexikon für
Urheber, Buchhandel und Presse in den Ländern deutscher Zunge. H. Die inter-
nationalen Urheberrechts-Gesetzgebungen und Konventionen. Leipzig 1890. — C. Da-
vids ohn, Die Reichsgesetze zum Schutze des gewerblichen geistigen Eigentums (in-
dustrielle und technische Urhebergesetze): 1. Das Markenschutzffesetz vom 30. November
1874. 2. Das Musterschutzgesetz vom 11. Januar 1876. 3. Das ratentgesetz vom 7. April
1891 und 4. Das Gesetz, betr. den Schutz der Gebrauchsmuster vom 1. Juni 1891.
Mit Einleitung und Erläuterungen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des
Reichsgerichts und Patentamts sowie einem Sachregister. Handbuch für Juristen,
Gewerbetreibende und Techniker. München 1891. Vergl. die Litteraturnach weise
S. V daselbst. — Staudinger, Sammlung von Staats vertragen des deutschen Reichs
über Gegenstände der Rechtspflege. Textausgabe mit Anmerkungen, Sachregister u. s. w.
Nördlingen 1882. II. Abschnitt, S. 144 — 182. 1. Ergänzungsband. Nördlingen 1884.
II, S. 18—42. — Stenglein, Appelius und Kleinfeller, Die strafrechtlichen Neben-
gesetze. Berlin 1892/93. I.Abteilung: Gesetze zum Schutze des geistigen Eigentums ,
S. 1. — Allfeld, Die Reichsgesetze betr. das litterarische und artistische Urheber-
recht. München 1893.
Strafgesetzgebnng der Gegenwart. I. 4
50 Deutsches Beieh. — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Kelches.
und Gesetz vom 6. Januar 1876 § 21 bezüglich Österreichs, Liechtensteins und
Luxemburgs. Vergl. auch die Obersichtstabelle bei Allfeld a. a. O. S. 432.
IIL Gesetz, betr. den Schutz der Photo graphieen gegen unbefugte Nach-
büdung vom 10. Januar 1876, RGBl. 8. 8 § 9. Vergl. dazu Übereinkunft, betr. die
Bildujdg eines internationalen Verbandes zum Schutze von Werken der Litteratur
und Kunst vom 9. September 1886, RGBl. 1887, S. 493, Schlussprotokoll No. 1
(S. 508). Im deutschen Reiche gehören Photographieen nicht zu den Werken
der Kunst. (Vergl. auch noch Vertrag mit Italien vom 20. Juni 1884, Schluss-
protokoll No. 4, RGBl. 1884, S. 210.) Der Photographieenschutz ist den Bürgern
der Vereinigten Staaten von Amerika durch Übereinkommen vom 15. Januar
und 15. April 1892, RGBl. S. 473, Art. 1 zugesichert. — Photographische Auf-
nahmen, welche vor dem 1. Juli 1876 landesgesetzlich gegen Nachbildung
geschützt waren, behalten diesen Schutz, jedoch mit der vom Landesgesetze
vorgesehenen räumlichen Beschränkung; § 12 des Gesetzes. Das bayerische
Gesetz zum Schutze der Urheberrechte an litterarischen Erzeugnissen und
Werken der Kunst vom 28. Juni 1865 (bayer. GBl. S. 65), bezieht sich auch
auf Photographieen. Nach Art. 12 dieses Gesetzes ist der Nachdruck während
der ganzen Lebenszeit des Urhebers und während der ersten 30 Jahre nach
dessen Tode verboten und durch Art. 37 mit Strafe bedroht. Vergl. auch
noch Art. 38, 61, 62 und 66 dieses Gesetzes. Nach dem letzten Artikel kam
der Schutz allen Werken der im Gebiete des (früheren) deutschen Bundes
sich ständig aufhaltenden Urheber, sowie den bei einem im Bundesgebiete
ansässigen Verleger erschienenen Werken zu, also auch den österreichischen
Photographen. Vergl. hierüber Staudinger, Die Einführung norddeutscher
Justizgesetze in Bayern, 11. Abtl. 1871, Exkurs XII.
IV. Zum Schutze des sogenannten gewerblichen geistigen Eigentums hat
das deutsche Reich vier Gesetze erlassen und zahlreiche Verträge mit andern
Staaten abgeschlossen, welche den Angehörigen dieser Staaten denselben
Schutz des gewerblichen geistigen Eigentums gewähren, wie den Reichs-
angehörigen. Geschützt werden im deutschen Reiche: Zeichen, welche zur
Unterscheidung von Waren anderer Gewerbtreibenden auf den Waren selbst
oder auf deren Verpackung angebracht sind (Marken), gewerbliche Geschmacks-
Muster und Modelle (Musterschutz), neue Erfindungen, welche eine gewerbliche
Verwertung gestatten (Patentschutz) und (körperliche) Modelle von Arbeits-
gerätschaften oder Gebrauchsgegenständen oder Teilen derselben, sofern sie
dem Arbeits- oder Gebrauchszwecke durch eine neue Gestaltung, Anordnung
oder Vorrichtung dienen (Gebrauchsmusterschutz). 1. Gesetz über den Marken-
schutz vom 30. November 1874, RGBl. S. 143 § 14 (statt StGB. § 287), § 15 (Buss-
anspruch), § 17. Vergl. § 20. Gegenseitiger Markenschutz ist vereinbart
zwischen dem deutschen Reich und folgenden Staaten: Nordamerika Kon-
sularkonvention vom 11. Dezember 1871, RGBl. 1872, S. 95, Art. 17; Belgien,
Bekanntmachung vom 13. September 1875, S. 301; Brasilien, Bekanntmachung
vom 28. Februar 1877, S. 406; Dänemark, Bekanntmachung vom 4. April
1879, S. 123; Frankreich, Deklaration vom 8. Oktober 1873, S. 365; Gross-
britannien, Deklaration vom 14. April 1875, S. 199; Italien, Übereinkunft
vom 18. Januar 1892, S. 293; Luxemburg, Bekanntmachung vom 2. August
1883, S. 268; Niederlande, Bekanntmachung vom 19. Januar 1882, S. 5;
Österreich-Ungarn, Übereinkommen über den gegenseitigen Patent-, Muster-
und Markenschutz vom 6. Dezember 1891, RGBL 1892, S. 289; Portugal,
Handels- und SchiflFahrtsvertrag vom 2. März 1872, S. 254 Art. 10; Rumänien,
Übereinkommen vom 27. Januar 1882, S. 7; Russland, Bekanntmachung vom
18. 'August 1873, S. 337; Schweden und Norwegen, Bekanntmachung vom
11. Juli 1872, S. 293; Schweiz, Bekanntmachung vom 31. Januar 1892, S. 304;
§ 27. Press- und Vereiiisstrafrecht. 51
Serbien, Übereinkommen vom 7. Juni 1886, S. 231; Spanien, Handels- und
SchiflFahrtsvertrag vom 12. Juli 1883, S. 307 Art. 7, (vergl. Abkommen vom
28. August 1886, S. 295 und Deklaration vom 16. Januar 1892, S. 307);
Venezuela, Bekanntmachung vom 8. Dezember 1883, S. 339. Vergl. noch
Handels- und SchiflFahrtsvertrag mit Griechenland vom 9. Juli 1884, RGBL
1886,. S. 23 Art. 7; Handels-, SchiflFahrts- und Konsularvertrag mit der Do-
minikanischen Republik vom 30. Januar 1885, RGBl. 1886, S. 3 Art. V;
Freundschafts- und Handelsvertrag mit der Südafrikanischen Republik
vom 22. Januar 1885, RGBl. 1886, S. 209 Art. 6. Auch die Verträge mit
Ecuador vom 28. Mäi-z 1887, RGBl. 1888, S. 136 Art. II, mit Paraguay
vom 21. Juli 1887, RGBl. 1888, S. 178 Art. 2; mit Guatemala vom 20. Sep-
tember 1887, RGBl. 1888, S. 238 Art. 5; mit Honduras vom 12. Dezember
1887, RGBl. 1888, S. 262 Art. 5; die Konvention mit Salvador vom 12. Januar
1888, RGBl. 1889, S. 191, dazu RGBl. 1872, S. 377 Art. IV dürften auf den
Markenschutz bezogen werden können, sobald in den genannten Ländern ein
solcher gesetzlich eingeführt wird. 2, Gesetz, betr. das Urheberrecht an
Mustern und Modellen, vom 11. Januar 1876, S. 11 § 14. (Dieses Gesetz
bezieht sich nur auf Geschmacksmuster und zwar auf Flächen- wie kör-
perliche Muster.) 3. Gesetz, betr. den Schutz von (körperlichen) Gebrauchs-
mustern vom 1. Juni 1891, S. 290 § 10 (§ 11 Busse). Den Musterschutz
betreffen folgende Staatsverträge, die wohl ebenso auf Gebrauchs- wie auf
Geschmacksmuster zu beziehen sind ^): Konsularkonvention mit Nord-Amerika
vom 11. Dezember 1871, RGBl. 1872, S. 95 Art. 17; Übereinkunft mit
Belgien vom 12. Dezember 1883, RGBl. 1884, S. 188; Deklaration des
Art. 6 des Handelsvertrages vom 30. Mai 1865 zwischen dem Zollverein und
Grossbritannien vom 14. April 1875, 8. 199; Handels- und Schiflfahrts-
vertrag mit Portugal vom 2. März 1872, S. 254 Art. 10; Übereinkommen
mit Italien vom 18. Januar 1892 S. 293; Handels- u. s. w. Vertrag mit
Spanien vom 12. Juli 1883, S. 307, Art. 7; Übereinkommen mit Österreich
vom 6. Dezember 1891, RGBl. 1892, S. 289; Serbien, Übereinkommen vom
3. Juli 1886, RGBl. 1887, S. 151. Die Bekanntmachung vom 11. Juli 1872,
S. 293 erstreckt den Musterschutz unter Bezugnahme auf § 287 des StGB,
auf Schweden und Norwegen. Allein dieser Paragraph bezieht sich so
wenig wie der an seine Stelle getretene § 14 des Markenschutzgesetzes vom
30. November 1874 auf den Schutz von Mustern und Modellen. Vergl. auch
den Vertrag mit Griechenland, oben I a. E. 4. Patentgesetz vom 7. April
1891, S. 79 §§ 36 (37), 39, 40.^) Vom alten Patentgesetze vom 25. Mai 1877,
S. 501, können möglicher Weise noch die Übergangsbestimmungen §§ 41 — 45,
die nicht aufgehoben sind, zur Anwendung kommen. Vergl. Handels- u. s. w.
Verti'ag mit Spanien vom 12. Juli 1883, S. 307 (Deklaration vom 16. Januar
1892, S. 307) Art. 7. Auch die mehrfach erwähnten Verträge mit Öster-
reich und Italien beziehen sich auf den Patentschutz.
§ 27. Press- und Verelnsstrafrecht.
I.«) Pressgesetz vom 7. Mai 1874, RGBl. S. 65, §§ 5, 14, 16 Abs. 2,
18, 19. Hinsichtlich der Verantwortlichkeit für die durch die Presse begangenen
^) In den Verträgen mit Österreich und Italien ist das ausdrücklich gesagt.
^) Vergl. Landgraf in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Er-
gänzungsband 1 (1892) S. 97, besonders § 9, S 74.
^ Marquardsen, Das Reichspressgesetz u. s. w. mit Einleitung und Kommentar.
Berlin 1875. — Schwarze, Das Reichspressgesetz u. s. w. Erläutert. 2. Aufl. Erlangen
1885. — Koller, Das Reichspressgesetz u. s. w. Unter Berücksichtigung der auf das
4»
52 Deutsches Reich. — - Die Spezialstrafgjesetzgebung des deutschen Reiches.
strafbaren Handlungen §§ 20, 21 . — Verjährung § 22. Auf die besondere Beschlag-
nahme von Druckschriften beziehen sich §§ 23— 29, darunter § 28 Abs. 2 mit einer
Straf bestimmung. In Bezug auf § 20 und sein Verhältnis zu § 193 des Straf-
gesetzbuches ist namentlich zu vergleichen die Entscheidung der Vereinigten
Strafsenate des Reichsgerichtes vom 6. Juni 1891 in den Entscheidungen
Bd. 22, S. 65. Im § 30 werden mehrere Vorbehalte zu Gunsten der Landes-
gesetzgebung gemacht. Vergl. preuss. Gresetz über die Presse vom 12. Mai
1851, GS. S. 273, bayer. Ausführ.-Gesetz vom 18. August 1879, Art. 12;
s. unten § 42 a. E.
II. Das Vereinsstrafrecht ist von der Landesgesetzgebung geregelt.^)
Das Reichssozialistengesetz vom 21. Oktober 1878, S. 351, ist am 1. Oktober
1890 ausser ELraft getreten. Für Übertretungen des Gesetzes, welche vor
diesem Tage begangen worden sind, behauptet die Entscheidung des Reichs-
gerichts vom 15. Januar 1891 (Bd. 21, S. 294) fortdau^ernde Anwendbarkeit.
Die Entscheidung dürfte trotz aller dafür beigebrachten Gründe mit § 2 Abs. 2
des Strafgesetzbuches nicht vereinbar sein.
III. Vergl. oben § 23, I 2, 3.
§ 28. Strafrechtlicher Schatz der Einnahmen des Reichs.
(Finanzstrafrecht.)
I. ZoUstrafrocht.-) Lange vor Gründung des norddeutschen Bundes und
des deutschen Reiches bestand unter der Mehrzahl der deutschen Staaten eine
Zollvereinigung, die allerdings nur einen völkerrechtlichen Charakter hatte.
(Beginn: 1. Januar 1834; Erneuerung: 1841, 1853, 1865.) Das Organ
dieser Vereinigung, die Generalzollkonferenz, war über leitende Grundsätze in
Betreff der Bestrafung von Zollvergehen übereingekommen. Erst der Verti'ag
zwischen dem norddeutschen Bunde, Bayern, Württemberg, Baden und Hessen
vom 8. Juli 1867 (BGBl. S. 81) schuf die staatsrechtliche Grundlage für
eine einheitliche Gesetzgebung. Nach Artikel 18 dieses Vertrages blieb das
Begnadigungs- und Strafverwandlungsrecht jedem Vereinsstaate in seinem
Gebiete vorbehalten. Im Jahre 1869 wurde für den deutschen Zollverein das
Vereinszollgesetz erlassen, welches ein ausführliches Zollstrafrecht aufstellte;
8. nachher Ziffer 1. Nach der Reichsverfassung, Artikel 33, bildet Deutsch-
land ein Zoll- und Handelsgebiet, von welchem die wegen ihrer Lage zui'
Presswesen bezüglichen Bestimmungen sonstiger Reichsgesetze, sowie mit Benutzung
der Ergebnisse der Rechtsprechung und der Litteratur erläutert. Nördlingen 1888. —
Bern er, Lehrbuch des deutschen Fressrechts. Leipzig 1876. — v. Liszt, Das deutsche
Reichspressrecht unter Berücksichtigung der Litteratur und der Rechtsprechung u. s. w.
systematisch dargestellt. Berlin und Leipzig 1880. — v. Liszt, Lehrbuch (1892) §42
S. 187, § 184 S. 637. — L. JoUv in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts
Bd. 2, S. 301.
*) Vergl. L. Jolly in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 2,
S. 666; sodann z. B. baver. Gesetz, die Versammlungen und Vereine betr. vom
26 Febr. 1850, GBl. S. 53, Art. 20—24; preussisches Gesetz über die Verhütung eines
die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Missbrauchs des Versammlungs-
und Vereinigungsrechtes vom 11. März 1850, GS. S. 277 §§ 12—19. (Verordnung
vom. 25. Juni 1867, GS. S. 921 Art. IL). — Preuss. Gesetz..betr. die Genehmigung zu
Schenkungen und letztwilligen Zuwendungen, sowie zur Übertragung von unbeweg-
lichen Gegenständen an Korporationen und andere juristische Personen vom 23. Fe-
bruar 1870, GS. S. 118, § 5.
^) Lobe, Das deutsche Zollstrafrecht. Die zoUstraf^echtlichen Vorschriften des
deutschen Reichs unter besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehungen zum Straf-
gesetzbuche und zur Strafprozessordnung, sowie der Rechtsprechung des Reichs-
gerichts erläutert; 2. vollständig neu bearbeitete Aufl. Leipzig 1890. — Dr. v. Mayr
in V. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 2, S. 973 ff.
§ 28. Strafrechtlicher Schatz der Einnahmen des Reichs. 53
Einschliessung in die Zollgrenze nicht geeigneten einzelnen Gebietsteile aus-
geschloBsen sind. Das deutsche Zollgebiet wird jetzt (Nov. 1892) gebildet vom
ganzen deutschen Reich mit Ausschluss von 68,7 qkm und 12288 Einwohnern.
(Teile von Hamburg, Bremen, Baden, sowie Helgoland.) Von ausscrdeutschen
Oebieten gehören zum Zollverein das Grossherzogtum Luxemburg, die tiro-
lische Gemeinde Jungholz und die Gemeinde Mittelberg in Vorarlberg
(Österreich). *) Vergl. Gesetz, betr. die Sicherung der Zollvereinsgrenze in den
vom Zollgebiete ausgeschlossenen hamburgschen Gebietsteilen vom 1. Juli
1869, BGBl. S. 370 Art. 1—12, lö (Art. 18 Abs. 2, 3) und Gesetz, betr. die
Sicherung der gemeinschaftlichen Zollgrenze in dem vom Zollgebiete ausge-
schlossenen bremischen Gebietsteilen vom 28. Juni 1879, RGBl. S. 159;
femer Vertrag mit Österreich-Ungarn vom 2. Dezember 1890, RGBl. 1891, S. 59;
«Schlussprotokoll III No. 6, IV No. 1, 3. Nach Artikel 9 dieses Vertrages
können Zuwiderhandlungen gegen die deutschen Zoll- und Steuergesetze, die
auf österreichischem Boden begangen sind, durch Strafbescheide der in Öster-
reich amtierenden bayerischen Verwaltungsbehörden erledigt werden, sofern
der anwesende Beschuldigte sich unterwirft und bezahlt oder Sicherheit leistet.
In diesem Falle verbleiben die Geldstrafe und die eingezogenen Gegenstände
der bayerischen Staatskasse, während sie der österreichischen Staatskasse zu-
fliessen, wenn der Kontravenient auf Entscheidung durch die (österreichischen)
Gerichte angetragen hat. Die österreichischen Gerichte verfahren nach öster-
reichischem Strafprozessrecht, haben aber die im deutschen Reiche und in
Bayern geltenden Straf bestimmungen anzuwenden. Schlussprotokoll IV, 1
(S. 67). In Luxemburg ist das (deutsche) Vereinszollgesetz durch Gesetz
vom 11. Dezember 1869 publiziert worden.
1. Das Vereinszollgesetz ist unter Mitwirkung des Bundesrates, des
deutschen Zollvereines und des deutschen Zollparlamentes am 1. Juli 1869
erlassen und im Bundesgesetzblatt des norddeutschen Bundes No. 30, S. 317
am 16. Juli 1869, sowie in den anderen Staaten des Zollvereines publiziert
worden. Die Abteilung XX S. 355 AT. enthält in den §§ 134 — 165 das deutsche
2Sollstrafrecht. Und zwar § 134 Begriff und Strafe der Kontrebande; § 135
Begriff und Strafe der Defraudation; §§ 136 — 139 Thatbestand der Kontre-
bande und der Defraudation (Rechtsvermutungen); §§ 140 — 143 Rüekfalls-
strafen; §§ 144 — 148 Kontrebande und Zolldefraudation unter erschwerenden
Umständen; § 149 Strafe der Teilnahme; § 150 Art der Vollstreckung der
Freiheitsstrafen und deren Folgen (jetzt gilt Reichsrecht); §§ 151, 152 Ordnungs-
strafen; § 153 subsidiarische Vertretungsverbindlichkeit dritter Personen;*)
§§ 154 — 157 Konfiskation; §§ 158, 159 Zusammentreffen mit anderen Handlungen;
§ 160 Bestechung; § 161 Widersetzlichkeit; § 162 Umwandlung der G^ld- in
Freiheitsstrafe (RStGB. §§ 28—30); § 163 Unbekanntschaft mit den Zollgesetzen;
§ 164 Verjährung; § 165 hinsichtlich des Strafverfahrens Verweisung auf die
Landesgesetze. Jetzt auch Strafprozessordnung §§ 459 — 469. 2. Gesetz vom
23. Juni 1882 betr. die Abänderung des Zolltarifgesetzes vom 15. Juli 1879,
RGBl. 1882, S. 59 § 1 a. E. 3. Gesetz, betr. die Statistik des Waren-
*) Otto Hühners geographisch -statistische Tabellen aller Länder der Erde,
herausgegeben von Prof. v. Jurascheck. Ausgabe 1892, S. 17. Vergl. Laband,
Das Staatsrecht des deutschen Reichs (1B91), Bd. 2, S. 899 und Ey sehen, Das Staats-
recht des Grossherzogtums Luxemburg im Handbuch des öiTentlichen Rechts (Mar-
quardsen), Bd. 4, Halbband 1, Abt. 1, S. 234.
«) Vergl. dazu v. Liszt, Lehrbuch, 5. Aufl. 1892, § 59, Note 5, S. 249 und die
daselbst Citierten. Femer: Julius Haimann, Die rechtliche Natur der subsidiarischen
Verbindlichkeiten dritter Personen nach den Zoll- und Steuergesetzen des deutschen
Reiches. München 1892.
54 Deutsches Reich — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Reiches.
verkehre des deutschen Zollgebietes mit dem Auslande vom 20. Juli 1879,
S. 261, § 17, vergl. §11. 4. Schon auf Grund des Handelsvertrages und
des Zollkartells mit Österreich vom 23. Mai 1881 war am 17. Juli 1881
(RGBl. 8. 247) ein Keichsgesetz erlassen worden, welches die Übertretung der
österreichisch -ungarischen Zollgesetze unter Strafe stellte. Vergl. §§ 2 — 5
dieses Gesetzes. Jetzt ist in Verbindung mit dem deutsch -österreichischen
Handelsvertrage vom 6. Dezember 1891 ein neues Zollkartell abgeschlossen
worden (RGBl. 1892, S. 63), welches in zahlreichen, teils strafrechtlich, teils
strafprozessual bedeutsamen Verabredungen das deutsche Reich verpflichtet,
Österreich-Ungarn gegen die Verletzung seiner Zollgesetze zu schützen. Vergl.
namentlich die §§ 12 — 16 des neuen Zollkartells. 5. Vergl. auch Handels-
und Zoll vertrag zwischen dem deutschen Reich und Belgien vom 6. Dezember
1891, RGBl. 1892, S. 241, Bestimmungen über die Zollabfertigung u. s. w.
S. 276 Art. 19.
II. Nach Artikel 35 der Reichsverfassung hat das Reich ausser der Zoll-
gesetzgebung auch die Gesetzgebung über die Besteuerung des im Bundes-
gebiete gewonnenen Salzes und Tabaks, des daselbst bereiteten Branntweins
und Bieres, des aus Rüben oder anderen inländischen Erzeugnissen dargestellten
Zuckere und Syrups, sowie über den gegenseitigen Schutz der in den einzelnen
Staaten erhobenen Verbrauchsabgaben gegen Hinterziehungen. Für Bayern,
Württemberg und Baden war die Besteuerung des inländischen Branntweins
und Bieres der Landesgesetzgebung vorbehalten worden. Thatsächlich beruht
der gegenseitige Schutz der Landesverbrauchsabgaben (Übergangssteuem)
überall noch auf Landesgesetzen, namentlich in Preussen auf Gesetz vom
23. Januar 1838, Bayern vom 17. November 1837, Sachsen vom 3. April
1838, Württemberg vom 15. Mai 1838, Baden vom 3. August 1837, Hessen
vom 9. März 1838. Besondere bedeutsam ist das für Elsass-Lothringen
'erlassene Gesetz vom 30. Juni 1873.*) Das süddeutsche Privileg für den
Branntwein ist von den betreffenden Staaten aufgegeben worden (s. unten No. 4),
es erstreckt sich nur mehr auf das Bier. Hinsichtlich des strafrechtlichen
Schutzes der Reichsverbrauchsabgaben kommen folgende Gesetze in Betracht:
1. Gesetz, betr. die Besteuerung des Tabaks vom 16. Juli 1879, S. 24ö,
§§ 32—47. Vergl. dazu Gesetz vom 5. April 1885, S. 83.*) 2. Gesetz, die
Besteuerung des Zuckers betr., vom 31. Mai 1891, S. 295, §§ 43—56, §§ 58
bis 64.*) Geltimg vom 1. August 1892 an. Von diesem Tage ab sind alle
gesetzlichen Vorechriften aufgehoben, welche über die Besteuerung des Zuckers
in dem Geltungsbereiche des Gesetzes zur Zeit bestehen. Für Gebietsteile,
welche am 1. August 1892 ausserhalb der Zollgrenze lagen, tritt, falls die-
selben in diese Grenze eingeschlossen werden, mit dem Tage der Einschlies-
sung das Gesetz in Kraft: § 66. Die §§ 43 — 46 bestimmen den „Begriff der
Defraudation der Zuckersteuer". Vergl. namentlich § 45: „Der Deflraudation
der Zuckereteuer wird es gleichgeachtet, wenn jemand Zucker, von dem er
weiss oder den Umständen nach annehmen muss, dass hinsichtlich desselben
eine Defraudation der Zuckereteuer verübt worden ist, erwirbt oder in Umsatz
bringt." Strafe der Defraudation der Zuckersteuer § 47. Rückfallsstrafen
§§ 48, 49. Erschwerende Umstände § 50. Ordnungsstrafen §§ 51—53. Strafen
für die Inhaber oder Leiter von Zuckerfabriken §§ 54 — 56. Besondere
M V. Mayr in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 2, S. 683.
*) Vergl. V. Mavr in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 2,
S. 597, besonders § 11,*^ S. 601.
*) Vergl. dazu die Darstellung von v. Mayr in v. Stengel, Wörterbuch des
Verwaltungsrechts Bd. 2, S. 982, sowie im Ergänzungsband 1 (1892), S. 109, besonders
§ 14, S. 116.
§ 28. Strafrechtlicher Schutz der Einnahmen des Reichs. 55
bemerkenswert § 56: Übertragung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit
möglich. § 58: Subsidiarische Vertretungsverbindlichkeit dritter Personen
(Haftung für die gegen Verwalter, Gewerbegehilfen und gewisse Hausgenossen
erkannten Geldstrafen im Falle von culpa in eligendo). Der Schlusssatz von I
stellt eine praesumtio juris in Bezug auf die Fahrlässigkeit auf. § 59: Zu-
sammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen. § 60: Umwandlung der Geld-
in Freiheitsstrafen. § 61: Strafveijährung. §§ 62, 64: Strafverfahren. § 6a:
Zufallen der Geldstrafen. •!• Gesetz, betr. die Erhebung einer Abgabe von
Salz, vom 12. Oktober 1867, S. 41. Geltung: I.Januar 1868. §§ 11—18;
vergl. § 19.^) Zunächst für den norddeutschen Bund erlassen, ist das Gesetz
mit geringen Veränderungen auch in Baden, Südhessen, Bayern, Württemberg
und Elsass-Lothringen eingeführt. 4. Gesetz, betr. die Besteuerung des Brannt-
weins, vom 24. Juni 1887, S. 253*), §§ 17—24, 26—35, 37, 40, 42, III (§ 25
ist aufgehoben durch Gesetz vom 7. April 1889, S. 49); dazu Bundesgesetz
wegen Besteuerung des Branntweins in verschiedenen zum norddeutschen
Bunde gehörenden Staaten und Gebietsteilen vom 8. Juli 1868, BGBl. S. 384,
§§ 50 — 68; Einf.-Ges. z. StGB. § 7 (betreffs der Verjährung); Verordnung
betr. die Besteuerung des Branntweins im Grossherzogtum Baden vom 9. Sep-
tember 1887, S. 485; in Württemberg vom 23. September 1887, S. 487; in
den hohenzollernschen Landen vom 25. September 1887, S. 489; in
Bayern vom 27. September 1887, S. 491,*) Gesetz, betr. die Steuerfreiheit
des Branntweins zu gewerblichen Zwecken vom 19. Juli 1879, S. 259, §§ 2 — 4.
Vergl. dazu Gesetz vom 24. Juni 1887, § 47 (RGBl. S. 271). 5. Gesetz wegen
Erhebung der Brausteuer vom 31. Mai 1872, S. 153*), §§ 27—42. Vergl.
dazu Einf.-Ges. z. StGB. § 7 (betreffs der Verjährung). Bezieht sich nicht
(vergl. oben II, Einl. und §13 S. 31) auf Bayern, Württemberg und Baden;
femer nicht auf Elsass-Lothringen (Ges. vom 25. Juni 1873, S. 161, § 4);
sodann nicht auf die dem bayerischen Biersteuersysteme angeschlossenen Ge-
biete des grossherzoglich sächsischen Vordergerichts Ostheim und des Sachsen-
Koburg-Gothaischen Amtes Königsberg.*)
III. ^) Strafschutz der Beichsstempelabgaben. L Gesetz, betr. den
Spielkartenstempel, vom 3. Juli 1878, S. 133, §§ 10—20, 25, 26. 2. Gesetz,
betr. die Wechselstempelsteuer im norddeutschen Bund^, vom 10. Juni
1869, Bundesgesetzblatt S. 193. (Geltung in Südhessen, Baden, Württem-
berg vom 1. Januar 1871, in Bayern vom 1. Juli 1871, in Elsass-
*) Vergl. V. Mavr in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 2,
S. 396, besonders § 10, S. 399.
^) Vergl. v. Mayr in V. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 1, S. 232.
') Der Weg, den Bayern bei Einführung der Reichsbranntwein gesetzgebung
einschlug, dürfte staatsrechtlich als mustergültig zu bezeichnen sein. §47 des Reichs-
gesetzes vom 24. Juni 1887 machte die Geltung des Gesetzes in den zur Branntwein-
steuergemeinschaft nicht gehörenden Staaten von deren Zustimmung abhängig. Darauf
liess sich die bayerische Staatsregierung durch ein mit dem Landtage vereinbartes
Gesetz zu dieser Zustimmung ermächtigen. Bayer. Gesetz vom 27. September 1887;
GVBl. S. 547; sie gab dann die Zustimmungserklärung, worauf der Kaiser, und zwar
in Gemässheit des § 47 Abs. 3 des Reichgesetzes, dessen Einführung in Bayern ver-
ordnete. Die bayerische Regierang liess hierauf das Gesetz, nicht um es zu publi-
zieren, sondern zur Benachrichtigung des Publikums abdrucken. Vergl. auch Lab and,
Das Staatsrecht des deutschen Reichs, Bd. 2, S. 919.
Vergl. V. Mayr in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 1, S. 240.
Vergl. Lab and; Das Staatsrecht des deutschen Reichs, Bd. 2, S. 924.
•) Hecht, Die Strafen der modernen Stempelgesetze, Stuttgart 1885. — Jacob
in V. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 2, S. 470; Xandgraf, ebenda
S.872, besonders § 6, S.875; derselbe Bd. 1, S. 227, besonders § 5 lit. b, S. 281, Bd. 1,
S. 671, besonders §3. — Olshausen, Kommentar zu § 275, Bemerkung 9 (4. Aufl.
1892) S. 1085.
:i
56 Deutsches Reich. — Die Spezialstrafgesetzgebung* des deutschen Reiches.
Lotbringen vom 15. Augast 1871.) §§ 15-^19. (Dazu Gesetz vom 4. Juni
1879, S. 151.) Statt § 23 des Gesetzes: Strafgesetzbuch §§ 275, 276, 364;
vergl. femer Strafgesetzbuch § 360 No. 4. 3. Gesetz, betr. die Erbebung von
Reichsstempelabgaben (von Aktien, Renten und Schuldverschreibungen,
Schlussnoten und Rechnungen, Lotterielosen) vom I.Juli 1881, S. 185; dazu
Abänderungsgesetz vom 29. Mai 1885, S. 171; neue Fassung des ganzen Ge-
setzes Reichsgesetzblatt 1885, S. 179, §§ 18—20, 25, 33, 36 (keine Verwand-
lung der Geldstrafe in Freiheitsstrafe, auch keine Subhastation des einem
Deutschen gehörenden Grundstückes nach § 15 Abs. 3 des unter No. 2 und
nach § 36 des unter 3 genannten Gesetzes). 4. Vergl. Gesetz, betr. die Inhaber-
papiere mit Prämien vom 8. Juni 1871, S. 210, § 3 (§ 5), § 6; s. oben § 19
IV. S. 41. 5. Vergl. femer oben I No. 3 (statistische Gebühr)*
§ 29. Verweigerung und Vemaehlässlgung von Amte- und Frozesspfliehten«
I. Zusammenhängend mit der Heranziehung des Publikums zur ^Be-
teiligung an den Geschäften der Rechtspflege und der öffentlichen Verwaltung
(Selbstverwaltung) haben mehrere Reichsgesetze Strafdrohungen gegen die
Verweigerung oder Versäumung der Amtspflicht aufgestellt. 1. Gerichts-
verfassungsgesetz vom 27. Januar 1877, S. 41, §§ 56, 96 in Bezug auf
SchöflTen und Geschworene. Vergl. dazu StGB. § 138. 2. Konkursordnung,
§ 76 RGBl. 1877, S. 366, Ordnungsstrafe gegen den Verwalter. 5. Gesetz,
betr. die Untersuchung von Seeunfällen vom 27. Juli 1877, S. 549, § 12
Abs. 2, §29 Abs. 1 a. E. 4.* Gewerbeordnung (Fassung von 1883), § lOOd
No. 2 (RGBl. S. 215). 5. Unfallversicherangsgesetz vom 6. Juli 1884, S. 69,
§ 49 Abs. 3, vergl. Gesetz vom 5. Mai 1886, S. 132, § 53 Abs. 3, femer Gesetz
vom 13. Juli 1887, § 52 Abs. 4, S. 350. 6. Invaliditäts- und Altersversicherungs-
gesetz vom 22. Juni 1889, § 60, S. 116, § 73 Abs. 3, S. 120. 7. Gesetz,
betr. die Gewerbegerichte vom 29. Juli 1890, S. 141, § 21. 8. Kranken-
versicherungsgesetz vom 15. Juni 1883 in der Fassung des Gesetzes vom
10. April 1892, § 6a II, 26a No. 2a. Diese Strafen werden nicht auf Straf-
klage hin im Strafverfahren, sondern incidenter in dem Verfahren erkannt, in
welchem der Ungehorsam- oder die Versäumung vorkommt.
II. Straf drohungen gegen Zeugen und Sachverständige, die nicht er-
scheinen, oder die Aussage dder den Eid ohne Grund verweigern: h Civil-
prozessordnung vom 30. Januar 1877, S. 83, §§ 345 (346), 355, 374. 2. Straf-
prozessordnung vom 1. Februar 1877, S. 253, §§ 50, 69, 77. Vergl. zu 1
und 2 StGB. § 138. 3. Gesetz über das Postwesen des deutschen Reichs
vom 28. Oktober 1871, § 38, S. 355. 4. Hinsichtlich der Strafbarkeit reni-
tenter Zeugen in Disziplinarsachen von Reichsbeamten vergl. Lab and, das
Staatsrecht des deutschen Reichs, 2. Aufl., 2 Bd. (1890), §..90, S. 462 No. 6.
5. Gewerbeordnung § 21 No. 1 (RGBl. 1883, S. 183). 6. Unfallversicherungs-
gesetz vom 6. Juli 1884, S. 69, §50 Abs. 1 und 4; dazu Kaiserliche Verord-
nung vom 2. November 1885, S. 279, § 17 (Verweisung auf die Civilprozess-
ordnung). 7. Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz vom 22. Juni 1889,
S. 97, § 74 Abs. 2 und 5; dazu Kaiserliche Verordnung vom 1. Dezember
1890, S. 193, § 17 Abs. 3 (wie bei No. 6). 8. Gesetz, betr. die Gewerbe-
gerichte vom 29. Juli 1890, S. 141, § 24.
§ 80. Ungebühr vor d. Behörde. Verletzung d. Pflicht d. Verhandlungsgeheimnisses. 57
§ 30. Vngebfllir Tor der BehSrde. Yerletzmig der Pflicht des Yerhand-
Inngsgelielinnlsses.
I. Reichs- wie Landesgesetze geben den Behörden und Beamten die
Gewalt, den ihrer Thätigkeit und ihren Anordnungen sich entgegenstellenden
Widerstand sofort thatsächlich zu übesrwinden oder überwinden zu lassen.
Ausserdem ist den (jerichten und gerichtliche Punktionen erfüllenden Behörden
eine, wenn auch engbegrenzte Strafgewalt wegen der ihnen entgegengebrachten
Ungebühr eingeräumt. 1. Gerich tsverfassungsgesetz § 178; Strafprozessordnung
§ 162; Kaiserliche Verordnung über das Verfahren vor den auf Grund des
TJnfallversicherungsgesetzes errichteten Schiedsgerichten vom 2. November 1885,
S. 279, § 12 Abs. 2; desgl. Verordnung vom 1. Dezember 1890, S. 193 in
Betreff des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes, § 12 Abs. 2: Gesetz,
betr. die Gewerbegerichte vom 29. Juli 1890, S. 141, § 36 Abs. 3. 2. Strafen:
Gerichtsverfassungsgesetz § 179 (Ordnungsstrafe bis zu 100 Mark oder Haft
bis zu 3 Tagen, sofort vollstreckbar (!) gegen Parteien, Beschuldigte, Zeugen,
Sachverständige, Publikum), § 180 (Ordnungsstrafe bis zu 100 Mark gegen
Rechtsanwälte und Verteidiger); §182 giebt die gleiche Gewalt auch einzelnen
Richtern bei ihren Amtshandlungen; zu vergl. noch §§ 181, 183, 184. Die
von der französischen Gesetzgebung — Code d'instruction crim. Art. 181,
505 — 508 — den Gerichten eingeräumte Befugnis, über strafbare Handlungen,
die in der Sitzung begangen werden, sofort zu verhandeln und zu entscheiden,
hat die deutsche Gesetzgebung den Gerichten nicht eingeräumt. Vergl. nur
Ger.Verf.G. § 185. Das vorher erwähnte Gesetz über die Gewerbegerichte § 36
Abs. 3. und die zum Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetze erlassene
Kaiserliche Verordnung § 12 Abs, 2 räumen die im (ierichts Verfassungsgesetz
§§ 179 ff. vorgesehene Strafgewalt auch den Gewerbegerichten, beziehungsweise
den auf Grund der erwähnten Verordnung gebildeten Schiedsgerichten ein.
(Hinsichtlich der Rechtsmittel Gesetz § 55, Verordnung § 12 a. E.)
II. Die im § 200 des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes den Schöffen
und Geschworenen aufgelegte Pflicht, über den Hergang bei der Beratung
und Abstimmung Stillschweigen zu beobachten, ist so wenig wie die Gerech-
tigkeit der Urteilsfällung durch Schöffen und Geschworene unter Sti*afschutz
gestellt.^) Die Reichsgesetzgebung enthielt bis zur neuesten Zeit nur in
wenigen Beziehungen Straf drohungen gegen Mitteilung von Geheimnissen. Vergl,
unten § 36. Durch das Reichsgesetz vom 5. April 1888, betr. die bei Aus-
schluss der Öffentlichkeit stattfindenden Gerichtsverhandlungen, RGBl. 1888,
S. 133, ist die rechtswirksame Auflage einer Pflicht zur Verschwiegenheit in
weitem Umfange zugelassen und die Verletzung der Auflage mit Strafe be-
droht worden.*) Ist die Öffentlichkeit einer Gerichtsverhandlung wegen Ge-
fährdung der Staatssicherheit ausgeschlossen worden, so kann das Gericht den
anwesenden Personen (Richter, Geschworene, Schöffen und Staatsanwälte ge-
hören selbstverständlich auch dazu) die Geheimhaltung von Thatsachen, welche
durch die Verhandlung, durch die Anklageschrift oder durch andere amtliche
Schriftstücke des Prozesses zu ihrer Kenntnis gelangen, zur Pflicht machen.
Soweit bei einer Gerichtsverhandlung die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der
Staatssicherheit ausgeschlossen war, dürfen Berichte über die Verhandlung
durch die Presse nicht veröffentlicht werden. Das Gleiche gilt auch nach der
*) Der die Rechtsbeugung als solche bedrohende § 336 des Strafgesetzbuches
bezieht sich nicht auf Schöffen und Geschworene. Diese sind — soweit nicht Be-
stechung unterläuft — nur ihrem Gott und ihrem Gewissen verantwortlich.
*) Kl ein fei 1er, Das Reichsgesetz betr. die unter Ausschluss der Öffentlichkeit
stattfindenden Gerichtsverhandlungen. Erlangen 1888.
58 Deutsches Reich. — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Reiches.
Beendigung des Verfahrens in BetreflF der VeröflFentlichung der Anklageschrift
und anderer amtlicher Schriftstücke des Prozesses. Zuwiderhandlungen gegen
diese Bestimmungen werden mit Geldstrafe bis zu 1000 Mark oder mit Haft
oder mit Gefängnis bis zu 6 Monaten bestraft.
§ 31. Die Strafe Im Dienste des ErfUlungszwaiiges.
Die Verhängung von Strafen (namentlich unter dem Gesichtspunkte
von Ordnungsstrafen) ist vielfach als Mittel zugelassen, um jemanden zur Er-
füllung einer öffentlichen Pflicht zu bestimmen. Vergl. oben § 14 III S. 35,
§ 29, S. 56 und unten § 45, I, a. E. Viel weiter geht in Ausnützung der
öflTentlichen Strafe zum Zwecke der Zwangsvollstreckung die deutsche Civil-
prozessordnung, welche im § 774 Geldstrafen bis zum Betrage von 1500 Mark
oder Zwangshaft zulässt, um einen verurteilten Beklagten zu bestimmen, eine Hand-
lung vorzunehmen, welche Dritte nicht vornehmen können, und welche aus-
schliesslich von seinem Willen abhängt. Und § 775 gestattet Greldstrafe bis zu
1500 Mark oder Verurteilung zu Strafhaft bis zu 6 Monaten für jede Zuwider-
handlung gegen ein Verbotsurteil. Im Falle mehrerer Zuwiderhandlungen
kann die Freiheitsstrafe im zweiten Falle bis auf zwei Jahre ausgedehnt
werden. Diese Massregeln und Strafen sind vom Prozessgericht erster Instanz
zu verhängen.
§ 32. Kriegswesen.
I. Auf die Heeresergänzung beziehen sich ausser den §§ 140 — 143 des
Strafgesetzbuches 1. das Reichsmilitärgesetz vom 2. Mai 1874, S. 45,^) §§ 18,
33 Abs. 1 und 3, 39, 60 No. 2 und 3.') 2. Das Gesetz, betr. die Ausübung
der militärischen Kontrolle über die Personen des Beurlaubtenstandes vom
15. Februar 1875, S. 65, §§ 6, 7; vergl. auch § 4 lit. b.
II. L Gesetz, betr. die Beschränkung des Grundeigentums in der Um-
gebung von Festungen vom 21. Dezember 1871 (Reichsrayongesetz), S. 459,
§ 32.*) 8. Gesetz, betr. die Reichskriegshäfen u. s. w. vom 19. Juni 1883,
S. 105, § 2 Schlusssatz, § 4. 3. Gesetz über die Eriegsleistungen vom 13. Juni
1873, S. 129, § 27 Satz 2.*) 4, Verordnung, betr. die Einführung von Reichs-
gesetzen in Helgoland vom 22. März 1891, S. 21, Art. I, No. IV. 5. Press-
gesetz vom 7. Mai 1874, RGBl. S. 65, § 15 mit 18, ZiflT. 1.
§ 33. Strafrecht in StaatsyertrBgen.'')
In verschiedenen Beziehungen strafrechtlich bedeutsame Verabredungen
finden sich in den von dem norddeutschen Bunde und von dem deutschen
Reiche abgeschlossenen Staatsverträgen. Diese Verabredungen fanden zum
Teil ihre Berücksichtigung in anderem Zusammenhange; so namentlich die
internationale Reblauskonvention, die Konventionen zum Schutze des geistigen
^) Die Militärgesetze des deutschen Reichs, mit Erläuterungen herausgegeben
auf Veranlassung des königl. preuss. Kriegsministeriums. Nene Bearbeitimg. Berlin
1890. Bd. 1, II, S. 29, 39, 41, 53.
') § 69 des Reichsmilitärgesetzes ist aufgehoben durch Art. 11, § 85 des Gesetzes
vom 11. Februar 1888, RGBl. S. 11.
*) Vergl. die Militärgesetze des deutschen Reichs (oben Note 1) Bd. 1, III,
S. 237, zu § 32, III, S. 251.
*) Vergl. die Militärgesetze u. s. w. (oben Note 1) Bd. 1, III, S. 153, zu § 27,
S. 182 u. 183.
^) Staudinger, Sammlung von Staats vertragen des deutschen Reichs über
Gegenstände der Kechtspilege. Nördlingen 1882; erster Ergänzungsband 1884.
§ 34. Die Auslieferungsverträge insbesondere. 59
und des gewerblich- geistigen Urheberrechts, der internationale Vertrag über
die Fischerei in der Nordsee, der Vertrag mit Belgien über die Bestrafung
von Forst-, Feld-, Fischerei- und Jagdfrevel, das Zollkartell mit Österreich.
Ausserdem kommen in Betracht: 1. Die Zusatzkonvention zu dem deutsch-
chinesischen Freundschafts- u. s. w. Vertrage vom 2. September 1861,
nebst erläuternden Spezialbestinmiungen vom 31. März 1880, RGBl. 1881,
8. 261, Art. 3, 4, 6, Spezialbestimmungen §§ 4, 5, 6, 9. 2. Der Vertrag mit
Japan vom 20. Februar 1869, Bundesgesetzblatt 1870, S. 1 Art. 3 Schluss-
satz, Art. 6, 7. 3. Der Handelsvertrag mit Korea vom 26. November 1883
RGBl. 1884, S. 221, Art. III No. 4, 5, 6, 10, IV, No. 6, 7, Art. VI und
Bestimmungen zur Regelung des Handelsverkehres S. 237, I, 3, 6; IH (Zoll-
sehutz) 2 — 5. 4. Der Handelsvertrag mit Serbien vom 6. Januar 1883,
S. 41. Besondere Bestimmungen 8. 57, § 3. 5. Freundschaftsvertrag mit der
südafrikanischen Republik vom 22. Januar 1885, RGBl. 1886, S. 209,
Art. 9 Abs. 2. 6, Freundschaftsvertrag u. s. w. mit dem Sultan von Zan-
zibar vom 20. Dezember 1885, RGBl. 1886, S. 275 Art. XHI, XIV Abs. 4,
XVI, XVII. Die Verabredungen statuieren zum Teil Strafgerichtsexemtionen,
zum Teil verpflichten sie zur Handhabung des Strafschutzes wegen ge-
wisser Delikte. 7. Kongoakte. (Generalakte der Berliner Konferenz) vom
26. Februar 1885. RGBl. S. 215 Art. 19 Abs. 4. 8. Generalakte der Brüsseler
Antisklavereikonferenz nebst Deklaration vom 2. Juli 1890, RGBl. 1892,
S. 605 Art. V, betr. Verpflichtung zur Strafgesetzgebung gegen die Ver-
anstalter und Teilnehmer von Menscheivjagden , gegen diejenigen, welche
sich der Verstümmelung von Erwachsenen und Kindern männlichen Geschlechts
schuldig machen, gegen alle Teilnehmer am Sklavenfange, gegen die Sklaven-
händler, Führer und Transporteure von Sklavenzügen, sowie gegen die Teil-
nehmer und Gehilfen aller dieser Personen. Vergl. femer Art. LXVII.
§ 34. Die Auslief enrngsrertrlge Insbesondere.^)
1* Mehrere Staaten des alten deutschen Bundes hatten mit ausserdeutschen
St^iaten Auslieferungsverträge abgeschlossen, so namentlich Preussen, Baden,
Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen-Darmstadt, Lübeck, Mecklenburg-Schwerin
und -Strelitz, Oldenburg, Sachsen, Sachsen -Weimar, Waldeck -Pyrmont, Würt-
temberg mit Frankreich; Preussen, Baden, Bayern, Bi'emen, Hamburg, Hessen-
Darmstadt, Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, Sachsen, Württemberg mit den
Niederlanden; Preussen, Bayern und Hessen -Darmstadt mit Bussland;
Preussen, Bayern imd Baden mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika.
2. Für die Staaten des deutschen Bundes, einschliesslich Österreichs, unter sich
bildete der Bundesbeschluss vom 26. Januar 1854 (vergl. preuss. GS. 1854,
S. 359), die völkerrechtliche Grundlage der Ausliefei'ungspflicht. 3. Die Ver-
träge mit Frankreich wurden nach dem Kriege erneuert. — Zusatzkonven-
^) Auslieferungsverträge. Berlin 1875. Amtliche Ausgabe. Staudinger, Samm-
lung von Staatsverträgen des deutschen Reichs über Gegenstände der Rechtspflege.
Textausgabe mit Anmerkungen, Sachregister u. s. w. Nördlingen, Becksche Buch-
handlung, 1882. I. Abschnitt S. 1 — 143. Erster Ergänzungsband 1884. Erster Ab-
schnitt S. 1—17. — G. Hetzer, Deutsche Auslieferungsverträge. Zusammenstellung
der vom deutschen Reiche, dem norddeutschen Bunde und von einzelnen deutschen
Staaten mit auswärtigen Staaten abgeschlossenen noch in Kraft befindUchen Aus-
lieferungsverträge nebst den dazu ergangenen deutschen und preussischen Aus-
führungsbestimmungen. Mit vergleichenden Übersichten und Erörterungen zum
praktischen Gebrauch. Berlin 1883. — Lammasch, Auslieferungspflicht und Asyl-
recht. Eine Studie über Theorie und Praxis des Internationalen Strafrechts. Leipzig
1887. — Binding, Handbuch, I, §81. — v. Liszt, Lehrbuch (5. Aufl. 1892), §20, S. 112.
60 Deutsches Reich. ■— Die Spezialstrafgesetzgebiuig des deutschen Reiches.
tion zu dem Frankfurter Frieden vom 11. Dezember 1871, RGBL 1872, S. 7,
Art. 18. Österreich betrachtet, nach einem Ministerial- Erlasse vom 7. De-
zember 1870, seit der Auflösung des alten deutschen Bundes, den Auslief e-
rungsbeschluss desselben vom 26. Januar 1854 als eine völkerrechtliche Ab-
machung und erachtet sich daran gebunden, wie auch die deutschen Bundes-
staaten im Verhältnisse zu Österi'eich nach wie vor an demselben festhalten.
4. Anlangend das heutige Verhältnis der deutschen Bundesstaaten zu einander,
so wurde schon dtirch das Gesetz des norddeutschen Bundes vom 21. Juni
1869, betreffend die Gewährung der Rechtshtilfe, BGBl. 1869, S. 305, dio
Auslieferungspflicht auf staatsrechtlicher Grundlage ausgebildet, und seit der
Geltung des deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes vom 27. Januar 1877, also
seit dem 1. Oktober 1879, bilden die ordentlichen deutschen Gerichte eine
innerstaatliche Gerichtsgemeinschaft, wie die Gerichte eines Einheitsstaates.
Die Gerichtsgewalt jedes deutschen Gerichts erstreckt sich derart auf alle im
Reiche sich aufhaltenden Personen, dass die Anordnung einer Ladung, einer
Vorführung oder Verhaftung durch die Zustellungs- und Vollstreckungsorgane
eines jeden Bimdesstaates zur Ausführung gebracht werden muss, gleichviel
ob das anordnende Gericht und der ausführende Beamte demselben Bundes-
staate angehören oder nicht. Der Haftbefehl des bayerischen Amtsrichters
muss inPreussen gerade so vollstreckt werden, wie in Bayern. (Ger.Verf.Q. § 161 ).
Es ist nicht einmal die Vemiittelung der Qerichtsgewalt des Richtei*s des
Ortes nötig. (Ger.Verf.G. § 162.) 5. Anlangend die heutigen Rechtsbeziehungen
des Reichs imd der Bundesstaaten zum Auslande, so sind dieselben nicht,
wie in einigen andern Ländern (Belgien, Holland, England, Luxemburg, Canada,
Argentinien, teilweise in den Vereinigten Staaten — v. Liszt, Lehrbuch, 5. Aufl.
1892, §20 Note 2, S. 113 — ) durch Auslief erungsge setze grundsätzlich ge-
regelt. Die Beziehungen des deutschen Reichs und der einzelnen Staaten in
Betreff der Auslieferung beruhen vielmehr, abgesehen von der Normierung
einzelner Fragen durch Gesetz — z. B. das Verbot /der Auslief erang der In-
länder, deutsches StGB. § 9 — auf internationalen Verträgen und völkerrecht-
lichen Gewohnheiten. Es ist zweifellos, dass der deutsche Kaiser für das
Reich Auslieferungsverträge abschliessen kann. Es ist nur zu ihrem Abschhiss
die Zustimmung des Bundesrates und zu ihrer Gültigkeit die Genehmigung
des Reichstages erforderlich. (Reichs- Verf. Art. 11, Abs. 3.) Und insoweit ein
solcher Vertrag wirksam abgeschlossen wurde, verlieren nach Art. 2 der Reichs-
verfassung die etwaigen Verträge einzelner Bundesstaaten ihre Wirkung; auch
können diese nicht mehr von sich aus mit dem auswärtigen Staate, mit dem
das Reich kontrahiert hat, einen Auslieferungsvertrag abschliessen. Insoweit
aber das Reich und vordem der norddeutsche Bund das Verhältnis zu einzelnen
Auslandstaaten in Hinsicht auf die Auslieferung nicht geordnet haben, gelten
die abgeschlossenen Verträge noch fort, und es hat jeder Staat das Recht,
neue Auslieferungsverträge abzuschliessen, ein Recht, von dem Preussen und
Bayern in den viel kritisierten Auslieferungsverträgen mit Russland vom Jahre
1885 Gebrauch gemacht haben. 6. Der norddeutsche Bund hat mit Nord-
amerika die Übertragung des amerikanisch-preussischen Vertrages vom Jahre
1852 auf den Bund vereinbart. Württemberg war schon durch Verordnung
vom 2. März 1854 (Regierungsblatt für das Königreich Württemberg 1854,
5. 31) diesem Vertrage beigetreten. Bayern und Baden stehen noch heute
in Bezug auf die Auslieferung in selbständigen Vertragsbeziehungen zu den
Vereinigten Staaten. Bayerischer Vertrag vom 12. September 1853, Regierungs-
blatt 1854, S. 1089; badischer Vertrag vom 30. Januar 1857, badisches Re-
gierungsblatt von 1857, S. 154. Im Jahre 1875 wurde eine amtliche Ausgabe
,,Deutscher Auslieferungsverträge" (Berlin 1875) veröffentlicht. Dieselbe ist
§ 84. Die Auslieferungsverträge insbesondere. 61
durch die in den Jahren 1876, 1877, 1878 und 1880 abgeschlossenen Ver-
träge überholt worden. Vergl. jetzt die oben citicrten Sammlungen. Der
neuesten Zeit gehört der Vertrag an, den der Kaiser im Namen des Reichs
für die deutschen Schutzgebiete mit dem Kongostaate abgeschlossen hat.
Vertrag vom 25. Juli 1890, RGBl. 1891, S. 91.^) 7. Während im preussisch-
norddeutschen Vertrage mit den Vereinigten Staaten nur 7 Verbrechen und
Verbrechensgruppen als Anlass der Auslieferung vorgesehen sind, enthält der
deutsche Vertrag mit dem Kongostaate, wie die Verträge mit Belgien,
Luxemburg, Spanien und Uruguay 34 Verbrechensgruppen. Der mit
(Irossbritannien abgeschlossene Vertrag betriflft 18, der Vertrag mit Bra-
silien 19, der mit der Schweiz 23 Verbrechensgruppen. In den neueren
Verträgen, namentlich in denen mit Italien, Belgien, Luxemburg, Spanien,
Uruguay und dem Kongostaate, aber auch in der Hauptsache in denen
mit der Schweiz, mit Schweden-Norwegen und mit Brasilien sind über-
einstimmende Rechtsgedanken, grösstenteils in wörtlich gleicher Fassung, zum
Ausdruck gebracht. Es ist uns hier Gelegenheit gegeben, das Werden von
Gewohnheitsrecht zu beobachten. Die beste und mehrfach schon angeregte
Regelung durch einen internationalen Welt- Auslieferungsvertrag wird in nächster
Zeit wohl an der in massgebenden Regierungskreisen noch vorhandenen Ver-
schiedenheit der politischen und rechtlichen Empfindungen und Urteile scheitern.
Sollte freilich die mit Sprengstoffen arbeitende Anarchie noch mehr als es bis
Jetzt geschehen, die Völker bedrohen, so düi'fte die Not der Zeiten rasch zum
Abschlüsse eines, wenn auch beschränkten Welt-Auslieferungsvertrages führen,
dessen Inhalt und Inhaltsausprägung dann freilich der Gefahr der Über-
hastung ausgesetzt ist, einer Gefahr, die bei rechtzeitiger Inangrifftiahme des
Werkes vermieden würde. Im Ganzen lässt sich eine auf Verstärkung dc»s
Strafl'echtsschutzes abzielende Richtung in den Ausliefenmgsverträgen nicht
verkennen, eine Richtung, die allerdings durch die Stellung eingedämmt wor-
den sein dürfte, welche einzelne Staaten zu solchen Verbrechen mid Vergehen
zu nehmen scheinen, die in Gewaltthätigkeiten und Ausbrüchen der Leiden-
schaft ohne Verletzung eines andern bestehen. Das Fehlen eines Verbrechens
oder einer Verbrechensgruppe in einem Auslieferungsvertrage hat übrigens
zuweilen auch darin seinen Grund, dass dieses Verbrechen oder diese Gruppe
in einem weiteren Verbrechensbegriffe des fraglichen Landes enthalten ist.
Unter „murder" z. B. im Vertrage mit Grossbritannien ist auch der Kinds-
mord begriffen, der in den andern Verträgen selbständig genannt ist. Vielfach
ist Bedrohung durch die Gesetze der beiden Staaten ausdrücklich zur Be-
dingung der Auslieferung gemacht. Das ist namentlich zumeist bezüglich des
Versuches stipuliert. 8. In den Verträgen mit den Vereinigten Staaten,
mit Grossbritannien und mit Schweden-Norwegen ist die Auslieferung
wegen Versuches nur bei einzelnen Handlungen vorgesehen. Die Schuldfonn
der Teilnahme ist mit Ausnahme des amerikanischen Vertrages überall neben
derjenigen der Thäterschaft ausdrücklich genannt. Grossbritannien hat
die Bedingung der Strafbarkeit in den beiden Ländern beigefügt. 9, Alle
Verträge, bis auf den des deutschen Reichs mit dem Kongostaate nehmen
die AusliefeiTing wegen politischer Verbrechen aus. Dieser Begriff ist aber
keineswegs ein so sicherer, dass durch dessen Gebrauch die Ausnahme eine
feste Begrenzung erhalten hätte. Man wird dazu rechnen dürfen: „alle
vorsätzlichen, gegen Bestand und Sicherheit des Staates, sowie gegen das
Staatsoberhaupt und die politischen Rechte der Staatsbürger gerichteten Ver-
brechen." V. Liszt, Lehrbuch § 20, S. 114. (Im deutscheu Reich: Hoch-
*) Für das Reich selbst gilt dieser Vertrag nicht. Art. 17.
62 Deutsches Reich. — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Reiches.
1.
Nordamerika.
22. Februar 1868.
BQBl. S. 228.
2.
Itolien.
31. Oktober 1871
BQBI. S. 446.
3.
Groeebritannien.
14. Mai 1872.
BGBl. & 229.
Schweiz.
24. Januar
1874.
BGBL S. 113.
Mord und Totschlag
Kindsmord . . .
Abtreibung . . .
Aussetzung . . .
Schwere Misshandlung
Freiheitsberaubung d. Privatpersonen
Freiheitsberaubung durch Beamte
Mausfriedensbruch
Landfriedensbruch
Kindesunterschiebung , Unterdrück-
ung, Verwechslung
Kinderraub
Menschenraub
Entführung Minderjähriger . . .
Nötigung
Bedrohung
Notzucht
Unzucht mit Gewalt oder Bedrohung
Unzucht mit Kindern
Kuppelei
Gewohnheitsmässige, gewerbsmässige
Kuppelei
Bigamie
Diebstahl
Unterschlagung
Raub . . . .
Erpressung
Unterschlagung U.Erpressung im Amte
Betrug
Untreue
Sachhehlerei
Sachbeschädigung (einfache) . . .
Qualifizierte Sachbeschädigung . .
Meineid (im Civilprozess)
Falsches Zeugnis, Gutachten. Falsch-
heit des Dolmetschers
Verleitung zum Meineide
Urkundenfälschung
Vernichtung u. Beseitigung v. Urkund.
Stempelfälschung u. dergl
Münzfälschung
Fälschung von Wertpapieren . . .
Bankerutt und betrügliche Benachtei-
ligung einer Konkursmasse . . .
Vorsätzliche Brandstiftung ....
Zerstörung von Eisenbahnen, Dampf-
maschinen, Telegraphenleitungen .
I
Gefährdung des Eisenbahnbetriebes . I
Angriffe a.Personen a.Bord ein. Schiffes j
Zerstörung, Sinkenmachen, Stranden- i
machen eines Seeschiffes . . . .|
Meuterei auf einem Seeschiffe . . .!
Bestechung ,
Art. I.
(marder)
Art. I.
(auch Seeranb)
Art. I.
(Amts-
anterschlagnng)
Art. I.
Art. I.
Art. I.
Art. I.
1
2
3
10
6
6
1,2
(murder) 1
2
(insofern
manalanghter)
(TOn Menschen
ftberhanpt)
8
11
10
(▼on Menschen
überhaupt)
9
9
7
11
(schwerer oder
aber 1000 Fr.)
12
11
11
21
(ftberlOOOFr.) 12
5, 12
5
14
15
6
8
14
15
16
17
18
19
13
20
24
24
23
23
22
3
4
7
13
17
16
18
1
2
3
10
6
6
4
4
5
9
7
11
12
11
11
21
13
14
15
16
17
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23
23
22
§ 34. Die Anslieferungsvertrflge insbesondere.
63
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
Bdgien.
24. D*Mmb*r
1874. RGBl.
1875, S. 78.
Lnxembarg.
9. IC&re 1876.
RGBl. 8. 228.
Schwaden-
Norwagen.
19. Januar 1878.
RGBl. S. 110.
Spanien.
2. Mai 1878.
RGBl. S. 218.
1
Brasilien.
17. September
1877. RGBL
1878. S. 298.
Umgnay.
12. Febmar 1880.
RGBL 1888,
S. 287.
Deutsches Reich f.
Schatzgebiete mit
Kongostaai
25.JnIil890. RGBl.
1801, 8. 91.
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
2
2
2
2
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3
3
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15
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(hUfloeePertonen)
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14 Jahre)
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(ancli von KanUen
und dergleichsn)
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30
30
64 Deutsches Heich. — Die Spezialstrafgesetzgebung des deutschen Reiches.
verrat, Landesverrat, Beleidigung des Landesherm und von Bundesfürsten,
sowie der Mitglieder der regierenden Familien und des Regenten, feindliche
Handlungen gegen befreundete Staaten, Verbrechen und Vergehen in Bezug
auf die Ausübung staatsbürgerlicher Rechte.) Es lässt sich aber nicht ver-
kennen, dass manche dieser Verbrechen im einzelnen Falle mit der Politik
nichts zu thun haben, und dass umgekehrt manches andere Delikt, z. B. ein
Angriff auf den leitenden Staatsmann, einen eminent politischen Charakter
haben kann. Im belgischen Verti'age und allen folgenden (Luxemburg,
Schweden-Norwegen, Spanien, Brasilien, Uruguay) ist der Ausnahme
der politischen Verbrechen die einschränkende sogenannte Attentatsklausel bei-
gefügt. „Der Angriff gegen das Oberhaupt einer fremden Regierung oder
gegen Mitglieder seiner Familie soll weder als politisches Vergehen, noch als
mit einem solchen in Zusammenhang stehend angesehen werden, wenn dieser
Angriff den Thatbestand des Totschlages, Mordes oder Giftmordes^) bildet."")
10. Die vorstehende Tabelle soll eine Übersicht über die Verbrechen gewähren,
bezüglich welcher dem deutschen Reiche, bezw. dem norddeutschen Bunde
(und Wüi"ttemberg) imd von diesen vice versa die Auslieferung zugesagt ist.
Die Zahlen beziehen sich auf die Nummern, unter welchen sich die Delikts-
gruppen in den einzelnen Verträgen befinden. Im Interesse der Übersicht
und der Raumersparnis sind die Deliktsgruppen nicht so vollständig wie in
den Verträgen selbst bezeichnet; auch sind nicht alle Einzelheiten, auf die
Gewicht gelegt wird, bemerkt. Die Tabelle hat den Zweck der Anregung
und Orientierung; für den praktischen Gebrauch setzt sie selbstverständlich
die Benutzung des Vertrages selbst voraus. Es bedarf übrigens kaum der
Ei'wähnung, dass die Staaten sich nicht darauf beschränken, in den stipulierten
Fällen auszuliefern. In diesen Fällen besteht eine vertragsmässig bestimmte,
völkerrechtlich wii'ksame Verpflichtung. Auch darüber hinaus pflegen die
Staaten auf besonderes Ersuchen die Auslieferung zu bewilligen, wenn weder
ein Landesgesetz im Wege steht, noch sonstige Bedenken im konkreten Falle
obwalten. Amerika hat den Diebstahl nicht genannt, das gegenteilige Zeichen
in der Tabelle bei Hetzer dürfte auf einem Missverständnisse beruhen — ,
trotzdem wird Amerika die Auslieferung von Einbrechern kaum je versagen,
wie auch kein deutscher Staat sich weigern wird, auf Requisition der zuständigen
New- Yorker Behörde, den aus § 530 des New- Yorker Strafgesetzbuchs vom 26. Juli
1881 wegen grossen Diebstahls ersten Grades reklamierten Amerikaner auszu-
liefern. !!• Schliesslich ist noch zu erwähnen, dass auch in anderen Verträgen
des deutschen Reichs sich einzelne Verabredungen in Betreff der Auslieferung,
besonders von Schiffsdeserteuren befinden. Handels- u. s. w. Vertrag mit
Portugal vom 2. März 1872, RGBl. S. 254 Art. 18. Freundschafts- u. s.w.
Vertrag mit Mexiko vom 5. Dezember 1882, RGBl. 1883, S. 247 Art. 21;
Handels- imd Freundschafts-Vertrag mit Korea vom 26. November 1883,
RGBl. 1884, S. 221 Art. III, No. 9; Freundschafts- u. s. w, Vertrag mit der
südafrikanischen Republik vom 22. Januar 1885, RGBl. 1886, S. 209
Art. 31; Freundschafts- u. s. w. Vertrag mit Zanzibar vom 20. Juni 1885,
RGBl. 1886, S. 261 Art. XV. Generalakte der Brüsseler Antisklaverei-Kon-
ferenz vom 2. Juli 1890, RGBl. 1892, S. 605, Art. V, Abs. 3 a. E. Ein Aus-
lieferungsvertrag mit Serbien ist durch die vorläufige Vereinbarung zwischen
dem deutschen Reiche und Serbien in dem Konsularvertrage vom 6. Januar
^) Giftmord fehlt im Vertrag mit Brasilien; das Fehlen dürfte ohne praktische
Bedeutung sein.
*) Da sich im Vertrage mit dem Kongostaate die Ausnahme der politischen
Vergehen nicht befindet, so war auch die exceptio exceptionis in Betreff des Königs-
mordes darin nicht nötig.
^ 85. Die Bestimmungen des Bundes- und Reichsrechtes über Begnadigung. 65
1883, Art. XXV, Abs. 3 RGBl. S. 70, verabredet worden, bis zu dessen In-
krafttreten dem deutschen Reich unter dem Vorbehalte der Gegenseitigkeit
die Rechte der meistbegünstigten Nation in Bezug auf Auslieferung ein-
geräumt wurden. 12« Auf die Auslieferung von Militär-Deserteuren zwischen
dem deutschen Reich und Österreich bezieht sich die noch, beziehungsweise
wieder, in Geltung stehende Kartell -Konvention, welche von der deutschen
Bundesversammlung am 10. Februar 1831 angenonunen wurde; preuss. Ges.-S.
1831, S. 41, und die Kartell-Konvention zwischen der königlich preussischen
Regierung einer- und der königlich dänischen Regierung andererseits vom
25. Dezember 1821. Preuss. Ges.-S. 1822, S. 33. Vergl. die Militärgesetze
des deutschen Reichs. II. Abschnitt XI. Neue Bearbeitung, Berlin 1890,
S. 189 ff.
§ 35. Die Bestimmangen des Bundes- und Reichsrechtes In Betreff der
Begnadigung. ^)
Grundsätzlich ist die Ausübung des Begnadigungsrechtes vom Reichs-
reehte nicht geordnet. Es bestimmt sich namentlich nach dem Landesstaats-
rechte, ob und inwieweit die Hemmung der Strafklage und die Niederschlagung
eines eröffneten Strafverfahrens vor der Rechtskraft des Urteiles (Abolition)
zulässig sind. ^) Insoweit Reichsgerichte in erster Instanz urteilen, ist Abolition
ausgeschlossen. Das Reichsrecht kennt diese Einrichtung nicht. Die Begna-
digung im engeren Sinne, d. h. der gänzliche oder teilweise Erlass einer
rechtskräftig erkannten Strafe richtet sich gleichfalls nach dem Landesstaats-
reehte, insofern die Strafe in erster Instanz von dem Gerichte eines Bundes-
staates erkannt wurde. Die Strafprozessordnung verlangt nur, dass Todes-
urteile dem Staatsoberhaupte vorgelegt werden und lässt sie erst dann voll-
strecken, wenn das Staatsoberhaupt EntSchliessung hat ergehen lassen, von
dem Begnadigungsrechte keinen Gebrauch machen zu wollen. Strafprozess-
ordnung § 485. Artikel 18 des Zollvereinsvertrages vom 8. Juii 1867,
BGBl. S. 102, beliess das Begnadigungsrecht in Zollstrafsachen jedem Ver-
einsstaate. Durch die Anerkennung der Kaiserlichen Staatsgewalt in Elsass-
Lothringen — Gesetz vom 9. Juni 1871, RGBl. S. 212, § 3 — ist
auch das Begnadigungsrecht des Kaisers für Elsass- Lothringen anerkannt.
Das Gesetz vom 4. Juli 1879, RGBl. S. 165, regelt die Übertragung
landesherrlicher Befugnisse auf den Statthalter von Elsass-Lothringen und auf
Grund dieses Gesetzes sind die Kaiserlichen Verordnungen vom 23. Juli 1879
(S. 282), 23. September 1885 (S. 273), 15. März 1888 (S. 130) und 20. Juni
1888 (S. 189) ergangen, welche den Statthalter ermächtigen, Geldstrafen,
welche durch richterliches Urteil oder im Verwaltungswege rechtskräftig er-
kannt sind, zu erlassen und Rehabilitation zu gewähren. Die Strafprozess-
ordnung vom 1. Februar 1877, § 484, tiberträgt dem Kaiser das Begnadi-
gmigsrecht in Sachen, in denen das Reichsgericht in erster Instanz geurteilt
hat. Das Konsulargerichtsgcsetz vom 10. Juli 1879, RGBl. S. 197, § 42,
giebt dem Kaiser die Begnadigungsgewalt in Strafsachen, in welchen der
Konsul oder das Konsulargericht in erster Instanz erkannt hat.'*) Für die
^) Binding, Handbuch, I, § 166—169, S. 860. — H. Meyer, Lehrbuch (4. Aufl.
1888), § 46, S. 890. — v. Liszt, Lehrbuch 1892, § 77, S. 293. — Laband, Staats-
recht des deutschen Reichs (2. Aufl. 1890), Bd. 2, § 91, S. 479.
'^ Vergl. H. Seuffert in v. Stengels Wörterbuch des Verwaltungsrechts
Bd. 1, S. 148 und 149.
^) Dazu Verordnung, betreifend die Konsulargerichtsbarkeit in Samoa, vom
29. Oktober 1890, RGBl. S. 189, § 1 No. 3 (Einschränkung der Konsulargerichtsbarkeit).
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I. 5
66 Deutsches Reich. — Das Starafrecht der Beamten und die Disziplinarstrafgewalt.
Schutzgebiete vergl. Gesetz vom 17. April 1886 und 15./19. März 1888, RGBl.
1888, S. 75, § 2. — Hinsichtlich der Bestätigung kriegsgerichtlicher Er-
kenntnisse vergl. preuss. Mil. -Straf gerichtsordnung vom 3. April 1845, §§ 150
bis 153, Allerhöchste Kabinettsordre vom 1. Juni 1867, Armee- VBl. S. 55; Aller-
höchste Kabinetteordre vom 11. April 1868, Armee- VBl. S. 100; Mil.-Strafgerichts-
ordnung§§ 162—175, 205, 206, 267; und hinsichtlieh der Bestätigung der im Be-
lagerungszustande gefällten Todesurteile preuss. Gesetz vom 4. Juni 1851,
GS. S. 451, § 13 No. 6 und unten § 42.
V. Das besondere StrafrecM der Beamten nnd die Disziplinar-
strafgewalt/)
§ 36.
I. Das Strafgesetzbuch enthält im 28. Abschnitte des 2. Teiles, sowie in
mehreren ausserhalb desselben befindlichen Paragraphen Strafdrohungen gegen
Beamte und Strafdrohungen wegen Verbrechen und Vergehen im Amte (SchöflFen-
amt, Geschworenenamt). Fahrlässige Tötung und Körperverletzung unter
Ausserachtlassung der durch das Amt gebotenen besonderen Aufmerksamkeit,
§§ 222 Abs. 2, 230 Abs. 2; vorsätzliche Körperverletzung im Amte, § 340;
Unzucht mit Personen, welche der Amtsgewalt unterworfen sind, § 174
No. 2 und 3; Nötigung und Hausfriedensbruch unter Amtsmissbrauch, §§339,
342; Amtsunterschlagung, §§ 350, 351; übermässige und unbefugte Gebühren-
erhebung, §§ 352, 353; Amtserpressung, §339 Abs. 2 mit §253; Teilnahme
an verbotenen Verbindungen, § 128 Abs. 2, § 129 Abs. 2; Störung des Gottes-
dienstes unter Amtsmissbrauch, § 339 mit § 167; desgl. Verhinderung der
Teilnahme an einer gesetzgebenden Versammlung, § 339 mit § 106; desgl.
Wahlbeeinflussuug, § 339 mit § 107; Bestechlichkeit, §§ 332, 334 (§ 335);
Rechtsbeugung, § 336 ; Missbrauch der Untersuchungs- imd Strafgewalt, §§ 343
bis 345 ; gesetzwidrige Nichtverfolgung und Nichtbestrafung, § 346 ; Entweichen-
lassen eines Gefangenen, §347; falsche Beurkundung, §§348, 349; Verletzung'
des Dienstgeheimnisses, Ungehorsam und falsche Berichterstattung der Beamten
des Auswärtigen Amtes des Reiches, § 353a; Verletzung des Post- und Tele-
graphengcheimnisses, §§354, 355; bewusste Mitwirkung eines Personenstands-
beamten bei Eingehung einer Doppelehe, § 338, vergl. auch oben § 17; Ver-
leitung der Untergebenen und Konnivenz der Aufsichts- und Kontrollbeamteu,
§ 357. Die Wahrung des Berufsgeheimnisses ist gegenüber Rechtsanwälten,
Advokaten, Ärzten, Wundärzten, Hebammen, Apothekern und den Gehülfen
dieser Personen unter Strafschutz gestellt, StGB. § 300. Vergl. auch Unfall-
versicheiTingsgesetz vom 6. Juli 1884, §§ 107 und 108 und Invaliditäts- und
Alters Versicherungsgesetz vom 22. Juni 1889, §§ 152, 153, woselbst auf die
Schwatzhaftigkeit unter gewissen Umständen Gefängnis bis zu 5 Jahren mit
Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte und Geldstrafe bis zu 3000 Mark
angedroht ist. Eine allgemeine Strafdrohung gegen die Verletzung des Amts-
geheimnisses findet sich dagegen in dem Reichsstrafrechte nicht und nach
*) Laband, Staatsrecht, 2. Aufl. (1890), Bd. 1, § 48, S. 462. — Harseim in
V. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, S. 266. — Hänel, deutsches
Staatsrecht, Bd. 1 (1892), § 76, S. 455. — Sevdel, baver. Staatsrecht, Bd. 3, 2. Abt.,
München 1887, S. 478. — H. Meyer, Lehrbuch, 4. Aufl. 1888, § 2 lit. C, S. 9. — Bin-
ding, Grundriss, 4. Aufl. 1890, §87 No.6, S. 153 (3. Aufl. 1884, §88, S. 83). — v. Liszt,
Lehrbuch, 1892, §§ 176, 177, S. 592. — H. Seuffert in v. Stengel, Wörterbuch des
Verwaltungsrechts, Bd. 1, S. 47.
§ 36. Das Strafrecht der Beamten und die Disziplinarstrafgewalt. 67
Artikel 2 der Reicbsverfassung und § 2 des Einführungsgesetzes zum Straf-
gesetzbuche wäre auch die Landesgesetzgebung nicht befugt, eine öffentliche
Strafe gegen die Verletzung des Amtsgeheimnisses anzudrohen. Vergl. unten § 43.
II. Eine wesentliche Ergänzung findet das besondere Beamtenstrafrecht
in dem Disziplinarstrafrechte. Wohl wird von hervorragenden Schriftstellern
in Deutschland die Meinung vertreten, dass die öffentliche Strafe und die
Disziplinarstrafe wesensverschiedene Dinge seien. So insbesondere von Bin-
ding, V. Liszt, Laband, Hänel. Die Verschiedenheit der Behandlung der
als Amtsverbrechen oder Amtsvergehen strafbaren Handlung und des Diszi-
plinarvergehens, besondere aber die Nichtkonsumtion der Disziplinarstrafe
durch die öffentliche Strafe und umgekehrt sprechen für diese Wesensver-
schiedenheit. In der deutschen Gesetzgebung ist diese aber nicht überall
anerkannt worden; vergl. namentlich das AUgem. preuss. Landrecht von 1794,
Teil 2, Titel 20, §§ 323—508, namentlich §§ 352, 363, und neuestens: bayer.
Ausf.-Ges. vom 18. August 1879 zur Strafprozess-0. für das deutsche Reich
(unten § 44 No. 4) Abschnitt 6, sowie namentlich das Einf.-Ges. zum deutschen
Mil.-StGB. (unten § 41) § 3. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Disziplinar-
strafe vielfach Funktionen der öffentlichen Strafe erfüllt, wie die öffentliche
Strafe, insofern sie die Amtsunfähigkeit mit sich bringt, oder insofern der
Amtsverlust und die Amtsunfähigkeit mit ihr verbunden werden, die Thätig-
keit der epurierenden Disziplin vorweg nimmt. Ordnung und Reinheit des
Amtes von störenden Elementen sind nicht die letzten Zwecke der Disziplinar-
strafe. Mittelbar verfolgt die Disziplinarstrafe den Schutz derjenigen Interessen,
welche das Amt zu wahren und zu pflegen hat. Solcher Interessenschutz ist aber
nach der hier vertretenen Ansicht auch das Ziel und die Rechtfertigung der
öffentlichen Strafe. Richtunggebend für die deutsche Beamtengesetzgebung
überhaupt, wie für die Ausprägung des Disziplinarstrafrechtes insbesondere,
war die preussische Gesetzgebung am Anfange der fünfziger Jahre, nämlich
das Gesetz vom 7. Mai 1851, betr. die Dienstvergehen der Richter und die
unfreiwillige Versetzung derselben auf eine andere Stelle und in den Ruhe-
stand; GS. 1851, S. 218; besonders aber das Gesetz vom 21. Juli 1852, betr.
die Dienstvergehen der nicht richterlichen Beamten u. s. w., GS. 1852, S. 465.
Dieser Gesetzgebung haben sich mehrere Gesetze anderer Bundesstaaten (Elsass-
Lothringen, Württemberg, Baden, Königreich Sachsen, Hessen) angeschlossen;
namentlich aber ist die Gesetzgebung des deutschen Reichs dem preussischen
Vorbilde gefolgt. Das Gesetz, betr. die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten
vom 31. März 1873, RGBl. S. 61, erklärt die Verletzung der den Reichs-
beamten obliegenden Pflichten als Dienstvergehen und bedroht dieselben mit
Disziplinarstrafen; § 72. Die Pflichten bestehen nach § 10 in der der Ver-
fassung und den Gesetzen entsprechenden gewissenhaften Wahrnehmung des
übertragenen Amtes und in einem würdigen, vom Berufe erforderten Ver-
balten in und ausser dem Amte. Die Disziplinarstrafen bestehen in Ordnungs-
strafen und in Entfernung aus dem Amte (Strafversetzung und Dienstentlassung).
Die Ordnungsstrafen (Warnung, Verweis, Geldstrafe) und die Strafversetzung
dienen der bessernden oder korrektiven, die Dienstentlassung der epurierenden
Disziplin. Gesetz §§ 73 — 75. Nach der grösseren oder geringeren Erheblich-
keit des Dienstvergehens und mit Rücksicht auf die gesamte Führung des
Angeschuldigten ist zu ermessen, welche Strafe anzuwenden sei. Gesetz § 76.
Die Verhängung von Ordnungsstrafen erfolgt durch die Dienstvorgesetzten,
nachdem dem Beamten Gelegenheit zur Verantwortung gegeben war, und
unter dem Vorbehalte einer im Instanzenzuge sich bewegenden Beschwerde.
Der Entfernung aus dem Amte (Strafversetzung und Dienstentlassung) muss
ein förmliches, prozessual ausgestaltetes Disziplinarverfahren vorausgehen.
gg Densches Reich. — Das Strafrecht der Beamten und die Disziplinarstrafgewalt.
Gesetz §§ 82 — 84. Für die Mitglieder des Reiclisgerichts, des Bundesamtes
für das Heimatwesen, des verstärkten Reichseisenbahnamtes, des Patentamtes,
der Reichsrayonkommission und des Reichsversicherungsamtes gelten besondere
Bestimmungen, ebenso für die richterlichen Militärjustizbeamten. In der
bayerischen Gesetzgebung treten die Beziehungen der öffentlichen und der
Disziplinarstrafe besonders stark hervor. Das bayer. Einführungsgesetz zum
Strafgesetzbuche vom 26. Dezember 1871 und jetzt das Ausführungsgesetz vom
18. August 1879 enthalten im VI. Abschnitte Artikel 103 — 110 Disziplinar-
strafbestimmungen, welche ähnlich wie das Strafgesetzbuch eine Reihe von
Thatbeständen aus dem Leben der Beamten unter Strafen stellen. Es sind Geld-
strafen bis zu 300, 600, 900 und 1500 Mark angedroht, auch Entziehimg des
Amtes. Die Behandlung und Aburteilung dieser Disziplinarsachen erfolgt durch
die (ordentlichen) Landgerichte nach Massgabe des Gerichts Verfassungsgesetzes
und der Strafprozessordnung. Die rechtliche Behandlung der Disziplinarsachen
unterscheidet sich von der anderer Strafsachen besonders dadurch, dass die Öffent-
lichkeit ausgeschlossen ist, dass gegen die erstergangenen Urteile das Rechts-
mittel der Berufung, dagegen keine Revision stattfindet, und dass im Gesetz
und in dem verurteilenden Erkenntnis die Strafen das Beiwort „Disziplinar"
haben. Man vergleiche:
Reichsstrafgesetzbuch § 266: Bayer. Ges. 18. August 1879, Art. 107:
Wegen Untreue werden mit Gefäng- Notare oder Gerichtsvollzieher, wel-
nis, Reben welchem auf Verlust der bür- che bei den ihnen in ihrer dienstlichen
gerlichen Ehrenrechte erkannt werden Eigenschaft anvertrauten Angelegen-
kann, bestraft: 1. Vormünder, Kura- heiten wissentlich zum Nachteil ihrer
toren, Güterpfleger u. s. w., wenn sie Auftraggeber handeln, werden mit Geld
absichtlich zum Nachteil der ihrer Auf- bis zu 1500 Mark disziplinar bestraft,
sieht anvertrauten Personen oder Sachen Art. 108: In den Fällen der Art. 103
handeln. Vergl. Hülfskassengesetz vom bis 107 kann zugleich auf diszipli-
1. April 1884, § 34; Unfallversiche- näre Einziehung des Amtes erkannt
rungsgesetz vom 6. Juli 1884, § 26; werden.
Invaliditäts- und Altersversicherungs-
gesetz vom 22. Juni 1889, § 59; Han-
delsgesetzbuch Art. 249; Genossen-
schaftsgesetz vom 1. Mai 1889, § 140.
Es dürfte schwer sein, einen begrifflichen Unterschied zwischen dem
obigen Vergehen des Güterpflegei*s und dem obigen Disziplinarvergehen des
Notars ausfindig zu machen. Bezüglich der Richter in Bayern kommt jetzt
das Disziplinargesetz vom 26. März 1881 in Betracht.
Für Rechtsanwälte ist die deutsche „Rechtsanwaltsordnung" vom
I.Juli 1878, RGBl. S. 177 massgebend.^) Der Rechtsanwalt ist verpflichtet,
seine Berufsthätigkeit gewissenhaft auszuüben und durch sein Verhalten in
Ausübung des Berufes sowie ausserhalb desselben sich der Achtung würdig
zu zeigen, die sein Beruf erfordert. Gesetz § 28 ; vergl. über die Pflichten im
einzelnen §§ 29 — 40, besonders § 31. Der pflichtvergessene Rechtsanwalt
verwirkt die ehrengerichtliche Bestrafung. § 62. Wamimg, Verweis, Geld-
strafe bis zu 3000 M. mit oder ohne Verweis, Ausschliessung von der Rechts-
anwaltschaft. § 63; vergl. dazu § 5 No. 2, § 6 No. 3, § 21 No. 3 (Folgen der
Ausschliessung, des Verweises und einer Geldstrafe von mehr als 160 M.)
Über die Verblendung der Geldstrafen bestimmt § 97. — Bezüglich der Ärzte
vergl. Gewerbe- 0. § 53, RGBl. 1883 S. 195 (Zurücknahme der Approbation).
^) Laband, Staatsrecht des deutschen Reichs. 2. Aufl. 1890. §88 Bd. 2, S. 417,
besonders S. 428.
Das MilitÄrstraf recht. ■— 1. Geschichte des Militärstrafgesetzbuches. — § 37. 69
VI. Das MüitärstrafrechtO
1. Oeschichte des XilitArstrafjB^efletsbiiclies.
§ 37.
Schon die deutschen Volksrechte des frühen Mittelalters und die fränki-
schen Königsgesetze enthielten Bestimmungen über die Mannszucht und über
militärische Vergehen. Neben der Androhung strenger Strafen gegen Fahnen-
flucht (herisliz) und andere militärische Verbrechen macht sich in diesen Ge-
setzen der auch sonst in deutschen Rechtsquellen zuweilen durchbrechende
Humor geltend. Ein Kapitulare Karl des Grossen vom Jahre 811 bestimmte,
ut in hoste nemo parem suum vel quemlibet alterum hominem bibere roget.
Et quicunque in exercitu ebrius inventus fuerit, ita excommunicetur, ut in
bibendo sola aqua utatur, quousque male fecisse cognoscat. Eine besondere
Gerichtsbarkeit über die Krieger bestand aber nicht; der König und seine
Vertreter waren zugleich die Führer im Kriege und die ordentlichen Friedens-
obrigkeiten. *) Das änderte sich mit dem Aufkommen des Söldnerdienstes und
der stehenden Heere. Die Kriegsgerichte lösten sich von den ordentlichen
Gerichten ab, die Kriegsleute wurden denselben in all ihren bürgerlichen An-
gelegenheiten und in Strafsachen unterworfen. Das materielle Strafrecht für
die Kriegsleute beruhte auch im späten Mittelalter auf den allgemeinen Rechts-
quellen, ausserdem aber auf Kriegsartikeln und Gewohnheiten, deren Inhalt
durch das eigenartige Berufsleben der Kriegsleute und durch das Bedürfnis
strenger Mannszucht bestimmt war. Immerhin war auch die Behandlung der
gemeinen Verbrechen mit Rücksicht auf ihre besondere Beziehung zur Manns-
zucht und zur militärischen Unterordnung vielfach eine eigenartige. Diese
Absonderung der militärischen Gerichtsbarkeit und des Militärstrafrechts wurde
durch die militärischen Spezialvorschriften des eindringenden römischen Rechts
noch besonders begünstigt. Vergl. L. 2 Cod. Theod. de jurisd. 2, 1 und L. 18
pr. Cod. Just, de re milit. 12, 35 (36). Bei dieser Sonderstellung der Militär-
personen in Hinsicht auf Gerichtsverfassung, Strafrecht und Strafverfahren
blieb es seitdem bis auf den heutigen Tag. Es fehlte allerdings nicht an
Versuchen, die Exemtion der Militärpersonen auf rein militärische und durch
den Militärdienst besonders qualifizierte Verbrechen zu beschränken; so schon
im Anfang des Jahrhunderts bei Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit in Civil-
sachen durch den preussischen Kanzler von Schrötter. Scharnhorst ver-
anlasste die Ablehnung des Antrages.*) Vergl. auch die deutschen Grund-
rechte von 1849, § 35 (Roth und Merck, Quellensammlung zum deutschen
öffentlichen Recht seit 1848. 2. Bd. 1852, S. 122). Im selben Sinne hatte im
Jahre 1865 die bayerische Abgeordnetenkammer mit 113 gegen 4 Stimmen
einen Antrag an die Krone beschlossen.^) Allein es ist auf absehbare Zeit im
deutschen Reiche nicht daran zu denken, dass die seit vielen Jahrhunderten
*) Wetzeil, System des ordentlichen Civilprozesses. 3. Aufl. Leipzig 1878.
§ 37, S. 446. — E. D'angelmaier in Goltdammers Archiv, Bd. 32 (1884), S. 449. —
Heck er, Lehrbuch des deutschen MiHtärstrafrechts. Stuttgart 1887. Einleitung. —
Binding, Handbuch, I, §§ 20—24, S. 100. — v. Liszt, Lehrbuch (1892), § 201, S. 685.
— Koppmann, Das Militärstrafgesetzbuch für das deutsche Reich nebst dem Ein-
führungsgesetz. Mit Kommentar. 2. Aufl. Nördlingen 1885. Einleitung, S. I.
*^j Vergl. Brunn er, Deutsche Rechtsgeschichte (Bindings Handbuch, 2. Abtl.
1. Teil, 2. Bd.), 2. Bd., § 60, S. 11 f.
*) Dangelmaier, a. a. 0. S. 455.
*) Stenographischer Bericht der Kammer der Abgeordneten 1865, Bd. 2 No. 45
(Sitzung vom 2. Juni 1865), S. 348.
70 Deutsches Reich. — Das Militärstrafrecht.
festgehaltene Sonderstellung des Militärs in Bezug auf die Strafgesetzgebung
und auf die Strafrechtspflege im wesentlichen eine Änderung erfahren wird.
Massgebend wird bleiben diejenige Anschauung, welche in einem im Jahre
1^48 gedruckten, aber nicht veröffentlichten, Buche zum Ausdruck gebracht
ist, das keinen Geringeren als den damaligen Prinzen von Preussen imd
späteren Kaiser Wilhelm I. zum Verfasser hat. In den „Bemerkungen zum
Entwurf der Wehrverfassung des deutschen Reiches, Dezember 1848" sagt der
spätere Kaiser zu Artikel XII, Disziplin und Rechtspflege, S. 92: „ — so müssen
wir bei dem Grundsatze stehen bleiben, dass den Militärgerichten in Krieg
und Frieden die volle Strafgewalt erhalten bleibe, wenn man nicht einen der
festesten Grundsteine aus dem Heerwesen verlieren will."
Die Kriegsartikel für die Landsknechte von Maximilian I. (1508) mid
die Reiterbestallung für die Reiterei, unter Maximilian II. auf dem Reichstage
zu Speier 1570 gegeben, bildeten mit den Kriegsartikeln Gustav Adolphs vom
Jahre 1621, welche vom Grossen Kurfürsten für Kurbrandenburg eingeführt
wurden, die hauptsächliche Grundlage des preussischen Militärstrafrechts. *) Zur
Kodifikation des Militärstrafrechts kam es erst im 19. Jahrhundert.
Nach Artikel 61 der Verfassung des norddeutschen Bundes und darauf
nach Artikel 61 der Reichs Verfassung sollte im ganzen Bunde, beziehungsweise
im ganzen Reiche die gesamte preussische Militärgesetzgebung ungesäumt ein-
geführt werden, namentlich das preussische Militärstrafgesetzbuch vom 3. April
1845 und die preussische Militärstrafgerichtsordnung vom 3. April 1845, sowie
die Verordnung über die Ehrengerichte vom 20. Juli 1845. Das ist zunächst
für den norddeutschen Bund durch die Verordnung des Königs von Preussen
vom 29. Dezember 1867, BGBl. S. 185, geschehen. Nur das Königreich Sachsen
behielt sein, dem preussischen nachgebildetes Militärstrafgesetzbuch vom 4. No-
vember 1867. Im Grossherzogtum Hessen, südlich des Mains, trat das
preussische Militärstrafgesetzbuch schon mit der Bundesverfassmig in Kraft;*)
in Baden wurde es durch Kaiserliche Verordnung vom 24. November 1871,
RGBl. S. 401, eingeführt. In Bayern wm-de das preussische Militärstrafgesetz-
buch auf Grund des Bündnisvertrages vom 23. November 1870 (BGBl. 1871,
S. 9), in Württemberg auf Grund der Militärkonvention vom 21/25. November
1870, BGBl. 1870, S. 658, nicht eingeführt. Nach Gründung des Reichs
galten vier Militärstrafgesetzbücher in demselben, nämlich: 1. das württem-
bergische vom 20. Juli 1818; 2« das preussische vom 3. April 1845; 3. das
sächsische vom 4. November 1867 und 4. das bayerische vom 29. April 1869.
Diese Gesetzbücher waren nicht bloss unter sich in vielen Punkten verschieden,
sondern sie harmonierten auch nicht in den allgemeinen massgebenden Grund-
sätzen mit dem nunmehr einheitlich gewordenen Civilstrafrechte. Eine Aus-
gleichung war geboten, „wenn das Militärstrafrecht nicht hinter den Anforde-
rungen der Wissenschaft und denjenigen Anforderungen, die an eine gute
Rechtspflege zu machen sind, zurückbleiben, nicht der Gefahr der Isolierung
und damit der Erstarrung preisgegeben werden sollte". Die im Kriege unter
einheitlichem Oberbefehle stehende Armee musste schon im Frieden dem näm-
lichen Gesetze unterworfen werden. Ein wichtiges politisches Element für die
Stärkung des Reichs war darin zu finden, dass die ganze aus verschiedenen
Kontingenten zusammengesetzte deutsche Armee im Frieden wie im Kriege
unter ein und dasselbe Gesetz kam. Speziell „das preussische Militärstraf-
gesetzbuch war in einer Zeit entstanden, in der die Bedürfnisse, welche der
Krieg an ein Militärstrafgesetzbuch zu stellen hat, zu sehr in Vergessenheit
*) Dangelmaier, a. a. 0. S. 454 und 455.
-) Bin ding, Handbuch, I, S. 101.
§ 37. ■— 1. Geschichte des Müitärstrafgesetzbuches. 71
geraten waren. Wohlberatene Stimmen haben darum nicht mit Unrecht ge-
sagt, das preussische Militärstrafgesetzbuch reiche aus für den Frieden, sei
aber unzulänglich für den Krieg".
Schon bei der Beratung des Civilstrafgesetzbuches wurde im nord-
deutschen Reichstage unter dem Beifalle des Kriegsministers Grafen Dr. von
Roon der Antrag „wegen baldmöglichster Vorlage über eine Revision der
Militärstrafgesetzgebung" angenommen. Ein vom preussischen Generalauditeur
Fleck auf der Basis der preussischen Gesetzgebung und unter Berücksich-
tigung des bayerischen Militärstrafgesetzbuches ausgearbeiteter Entwurf (I)
wurde darauf einer aus Offizieren und Militärjuristen zusammengesetzten Kom-
mission unterbreitet. Aus den viermonatlichen Beratungen dieser Kommission
ging der Entwurf II hervor, welcher mit wenigen Änderungen vom Bundes-
rate angenommen und am 8. April 1872 dem Reichstage vorgelegt wurde
(Entwurf III). Beigegeben waren ein aus 3 Paragraphen bestehender Entwurf
eines Einführungsgesetzes, sowie Motive, welche von dem Geheimen Justizrate
Keller und dem preussischen Stadtrichter Dr. R üb o, der erstere Mitglied, der
letztere einer der Schriftführer der Kommission, ausgearbeitet waren. Der
ganze Entwurf wurde im Reichstage einer Kommission von 21 Mitgliedern
zur Vorberatung überwiesen. Vorsitzender dieser Kommission war der Ab-
geordnete Feldmarschall Graf von Moltke, dessen Stellvertreter der spätere
Präsident des Reichstages von Forckenbeck. Unter den Mitgliedern der
Kommission befanden sich die Abgeordneten Gneis t, Windhorst, Schwarze,
Lasker und Lamey. Der letztere fungierte als Berichterstatter im Plenum
des Reichstages. In 26 Sitzungen unterzog die Kommission den Entwurf einer
zweimaligen Lesung. Scharfe Gegensätze kamen dabei zum Ausdrucke. Die-
selben bezogen sich namentlich auf das Projekt, die Strafarten bezüglich der
Militärpersonen auch hinsichtlich der nicht militärischen Delikte besonders aus-
zugestalten, auf die prinzipiell verschiedene Straf behandlung der Offiziere,
Unteroffiziere und Gemeinen, sowie die Bevorzugung der Militärpersonen vor
den Civilpersonen, femer auf die weitgehende Heischung des blinden Gehor-
sams*) und auf die Ausgestaltung des Arrestes. Nach einer Mitteilung im
Plenum des Reichstages (Sten. Ber. S. 810) erklärten die verbündeten Regie-
rungen, dass die von der Kommission in der ersten Lesung hinsichtlich des
Arrestes gefassten Beschlüsse imannehrabare seien, dass das Gesetz bei dem
Festhalten dieser Beschlüsse scheitern müsse, und zwar um deswillen, weil
man der Ansicht sei, dass mit diesen Bestimmungen die Disziplin in der Armee
nicht aufrecht erhalten werden könne. Auch in anderen Beziehungen gab der
Bundesrat nach der ersten Lesung in der Kommission seine Meinung kund.
Am 7. Juni 1872 kam es zur zweiten, am 8. Juni zur dritten Lesung im
Plenum. Die Rede des Abgeordneten Grafen von Moltke am 7. Juni ist so
gedankenreich und bewegt sich so sehr in dem Kreise der Ideeen, welche die
heutigen Reformbestrebungen auf dem Gebiete des Strafrechts erfüllen, dass es
am Platze sein dürfte, die Rede hier ihrem Hauptinhalte nach wiederzugeben.*)
Moltke widersprach dem Versuche, die Arreststrafen wesentlich zu mildem.
„Ich glaube, dass eine allzugrosse Abminderung der Strenge der Strafen
nur die Zahl ihrer Anwendungen vermehren wird. Wenn wir ein Gesetz für die
^) Nach § 58 des Entwurfes sollte der Untergebene straflos bleiben, wenn er
durch Ausführung eines Befehles in Dienstsachen eine mit Strafe bedrohte Handlung
begangen und den Befehl nicht überschritten hat. Der befehlende Vorgesetzte sollte
als Thäter betrachtet werden. Eine Ausnahme war nur bei Handlungen gegen die
militärische Treue anerkannt. Vergl. dagegen jetzt Mil.-StGB. § 47.
-) Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichstages,
I. Legislaturperiode, III. Session 1872, Bd. 2, S. 814.
72 Deutsches Reich. — Das Militärstraf recht.
Armee geben woUen, . . so dürfen wir uns nicht ausschliesslich auf den bürgerlichen,
auf den juristischen oder ärztlichen Standpunkt stellen, wir müssen uns schon auf
den militärischen stellen. Autorität von oben und Gehorsam von unten; mit einem
Worte, Disziplin ist die ganze Seele der Armee. Die Disziplin macht die Armee erst
zu dem, was sie sein soll, und eine Armee ohne Disziplin ist auf alle Fälle eine kost-
spielige, für den Krieg eine nicht ausreichende und im Frieden eine gefahrvolle In-
stitution. . . Die Strafen sind es lange nicht allein, mit denen wir die Disziplin auf-
recht erhalten. Es gehört dazu die ganze Erziehung des Mannes Wir können
aber die Strafen dennoch nicht entbehren Sie werden zugeben, dass es einer
ungemein starken Autorität bedarf, um Tausende von Menschen zu bestimmen, unter
den schwierigsten Verhältnissen, unter Leiden und Entbehrungen, Gesundheit und
Leben an die Ausführung eines gegebenen Befehles zu setzen. Eine solche Autorität
. . . kann nur erwachsen und kann nur fortbestehen unter schützenden Verhältnissen.
Es muss der Unteroffizier dem Soldaten gegenüber eine bevorzugte Stellung haben,
und es muss der Offizier beiden gegenüber eine Prärogative geniessen. Darin liegt
. . . allerdings die . . . hervorgehobene Ungleichheit vor dem Gesetze. Es ist aber
nicht sowohl eine Bevorzugung des Offiziers, als eine Bevorzugung des Vorgesetzten,
und ich bemerke dabei, dass in der ganzen Armee Jedermann heute Vorgesetzter und
morgen Untergebener sein kann. Der General an der Spitze eines Korps ist in dem
Augenblick der Gehorchende, wo er in Berührung mit einem noch höher gestellten
General kommt, und ebenso kann der einfache Soldat Vorgesetzter werden, sobald
der Dienst ihn dazu beruft. Jeder Wachtposten, jeder Gefreite, der eine Patrouille
führt, hat Gehorsam zu fordern. — Wir bedürfen . . . die strengen Strafen nicht
gegen die grosse Masse unserer Leute, die durch Belehrung, Ermahnung, Rüge,
höchstens leichte Disziplinarstrafen unschwer zu leiten sind, allein . . wir haben es
zum Teile auch mit ganz schlechten Subjekten zu thun. Wenn alles unter die Waffen
tritt, so treten natürlich die schlechten Subjekte, die ja in jeder Nation vorhanden
sind, auch unter die Wafi'en Den moralischen Zustand der Rekruten
kann die Aushebungskommission nicht untersuchen. Wir bekommen also auch Leute,
die vielleicht Kandidaten des Zuchthauses sind, wenn sie nicht durch eine strenge
militärische Erziehung noch vor diesem Unglücke bewahrt werden .... — Es haben
bedeutende Abminderungen der Strafen stattgefunden, namentlich Verkürzungen bei dem
strengen Arreste um das volle Dritt eil der bisherigen Dauer. Wir haben uns damit
durchaus einverstanden erklärt. Vollkommen im militärischen Interesse liegen kurze,
aber strenge Strafen, — mit kurzen und leichten Strafen aber können wir nicht fertig
werden. Es ist das harte Lager bezeichnet als eine Art Grausamkeit. Meine Herren,
wir verurteilen alle unsere Leute täglich zu diesem harten Lager, so oft sie auf die
Wache ziehen, nur mit der Verschärfung, welche bei dem Arreste hinwegfällt, dass
der Mann alle vier Stunden herausgerufen wird, um dann zwei Stunden bei Wind
und Wetter Posten zu stehen. Ein hartes, aber trocknes und gegen Wind und Wetter
geschütztes Lager . . ist eine unglaubliche Wohlthat gegen ein Bivouac auf dem
Schnee oder einem nassen Sturzacker, wie es unsere Leute ja viele Nächte hindurch
haben ertragen müssen. Wie gerne wäre der Soldat oder selbst ein Offizier aus einem
solchen Bivouac in ein ähnliches Lokal geschlüpft. Wenn Sie dem widerspenstigen,
faulen Mann die Matratze mit in das Arrestlokal geben, und wenn Sie ihm seine ge-
wohnte Nahrung nur jeden dritten Tag entziehen, so faulenzt er seinen Arrest ab,
er schläft und freut sich, dass seine Kameraden für ihn auf Wache ziehen müssen
und dass er nicht zu exerzieren braucht .... Wir kommen mit solchen Strafen
nicht aus. Bedenken Sie, dass die strengen Strafen nicht gerichtet sind gegen den
ordentlichen, propem Soldaten, wie Sie ihn auf der Strasse oder dem Exerzierplatz
sehen, sondern gegen die wenigen schlechten Subjekte."
Mit „sehr grosser Majorität" wurde der modifizierte Entwurf nebst den
drei Paragraphen des Einführungsgesetzes in der Schlussabstimmung am
8. Juni 1872 angenommen und vom Bundesrate am Tage darauf (9. Juni)
sanktioniert. Am 20. Juni vollzog Kaiser Wilhelm I. das Gesetzbuch. Am
25. Juni 1872 wurde es als „Militärstrafgesetzbuch für das deutsche Reich"
vom 20. Juni 1872 in der Nunmier 18 des Reichsgesetzblattes S. 173 publiziert.
Ins Leben trat das Gesetzbuch am 1. Oktober 1872. Einf.-Ges. zum Mil.-StGB.
§ 1, RGBl. S. 173. Für Elsass-Lothringen , wo die Reichs Verfassung erst am
1. Januar 1874 in Wirksamkeit trat, bestimmte ein Kaiserliches Gesetz vom
S.Juli 1872 (GBl. für Elsass-Lothr. S. 473) die Geltung des Militärstrafgesetzbuches
gleichfalls für die Zeit vom 1. Oktober 1872 an.
§ 88. — 2. Inhalt des Militärstrafgesetzbuches. Einleitende Bestimmungen. 73
St Ber Inhalt des Militftmtrafjg— tobnche«.^)
§ 38. Yorbemerkangen and die einleitenden Bestimmungen.
I. 1. Das Militärstrafgesetzbuch ist nicht bloss ein Strafgesetzbuch für
Militärpersonen. Vielmehr unterstehen zahlreichen Bestimmungen desselben
unter gewissen Voraussetzungen auch Civilpersonen. S. unten § 40 III. 2. Das
Militärstrafgesetzbuch enthält zum Teil ein besonderes Strafrecht für Militär-
personen im Frieden, zum Teil ist es Kriegsrecht; s. unten II, No. 14, 15.
3. Das Militärstrafgesetzbuch stellt zum Teil Handlungen unter besondere
Straf drohung, die schon nach allgemeinem Rechte strafbar sind, zum Teil
pönalisiert es Handlungen, welche nach allgemeinem Rechte nicht Verfolgbar
wären. Beide Kategorieen zusammen bilden die militärischen Verbrechen und
Vergehen. Wo dagegen die Berücksichtigung des Dienstverhältnisses lediglich
der ordentlichen Strafzumessung überlassen ist, da erscheint die betreffende
Handlung nicht als militärisches Delikt, wenn auch dieselbe ausser dem
Bruch des allgemeinen Rechts die Verletzung einer besondem Dienstpflicht
enthält.*) Der militärstrafrechtliche Charakter wird selbst dann abgelehnt,
wenn in Gemäss heit des § 55 des Militärstrafgesetzbuches bei einer allgemein
strafrechtlichen That nur eine Straferhöhung einzutreten hat, nicht im speziellen
Teile des Militärstrafgesetzbuches eine besondere Strafe angedroht ist.*) 4. Das
Militärstrafgesetzbuch zerfällt wie das Civilstrafgesetzbuch in „Einleitende
Bestimmungen" (§§ 1 — 13) und zwei Teile, von denen der erste (§§ 14 — 55)
„von der Bestrafung im allgemeinen**, der zweite (§§ 56 — 166) von den
einzelnen Verbrechen und deren Bestrafung handelt. Der Inhalt des aus drei
Paragraphen bestehenden Einführungsgesetzes zum Militärstrafgesetzbuch ist
an geeigneter Stelle besprochen.^)
II. Die einleitenden Bestimmungen. !• Ähnlich wie im Civilstrafgesetz-
buche wird durch § 1 des Militärstrafgesetzbuches die Gruppierung der mili-
tärischen Delikte nach dem Maximum der angedrohten Strafe vorgenommen.
Das Militärstrafgesetzbuch kennt aber nur Verbrechen und Vergehen und be-
zeichnet als militärisches Verbrechen eine Handlung, die im Militärstrafgesetz-
buche mit dem Tode, mit Zuchthaus oder mit Gefängnis oder Festungshaft
von mehr als fünf Jahren bedroht ist, während die im Gesetzbuche angedrohten
Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren die That als militärisches Vergehen er-
scheinen lassen. Das Gefängnis ist also, anders als nach dem Civilstrafgesetz-
buche, sowohl ordentliche Verbrechens- wie Vergehensstrafe. Eine weitgehende
Ergänzung finden die Strafdrohungen des Militärstrafgesetzbuches durch die
Handhabung der militärischen Disziplin. Vergl. unten § 41. 2. Die all-
*) Heck er, Lehrbuch des deutschen Militärstrafrechts. Stuttgart 1887. — Fleck,
Militärstrafgesetzbuch für das deutsche Reich nebst den seit Publikation desselben
ergangenen, auf die militärische Rechtspflege im preussischen Heere und in der kaiserl.
Marine sich beziehenden Gesetzen, Verordnungen, Erlassen und allgemeinen Ver-
fügungen. 2. Aufl. Berlin 1881. 2. Teil. Fortgesetzt von C. Keller. Berlin 1880. —
Keller, Militärstrafgesetzbuch für das deutsche Reich unter Berücksichtigung der
Motive und Reichstagsverhandlungen erläutert. 2. Aufl. Berlin 1878. — Heck er. Das
Militärstrafgesetzbuch für das deutsche Reich nebst dem Einführungsgesetz erläutert.
Berlin 1877. — Koppmann, Das MiHtärstrafgesetzbuch für das deutsche Reich nebst
dem Einführungsgesetze. Mit Kommentar herausgegeben. 2. Aufl. 1885. — Solms,
Straf recht und Strafprozess für Heer und Marine des deutschen Reichs. 3. Aufl.
Berlin 1892. Vergl. auch die Litteraturangaben in Heckers Lehrbuch, S. 315 imd
316. — v. Liszt, Lehrbuch (1892), §1^201, 202, S, 685.
*) Koppmann, a. 0. Bemerkung 28 zu § 1, S. 27.
*) Kopp mann, a. O., S. 28 und 29. Vergl. auch die Bemerkung bezüglich
der §1^ 56, 136 und 145. Vergl. aber imten § 39 a. E. S. 79.
*) Vergl. § 37 a. E., diesen Paragraph II, No. 9 und 10 und unten § 41 No. 1.
74 Deutsches Reich. — Das Militärstrafreeht.
gemeinen Bestimmungen des Civilstrafgesetzbuches werden für niilitärische
Verbrechen und Vergehen als „entsprechend'' anwendbar erklärt. § 2. Dies
versteht sich unter der Voraussetzung, dass nicht der erste Teil des Militär-
strafgesetzbuches abweichende Bestimmungen aufgestellt hat. Durch die §§ 7,
15, 29, 47, 49, 55, 127 erfährt das Civilstrafgesetzbuch in Bezug auf Militär-
personen erhebliche Abänderungen. 3. Der § 3 bestimmt entgegen dem Ent-
würfe, dass Handlungen der Militärpersonen, welche nicht militärische Ver-
brechen oder Vergehen sind, nach den allgemeinen Strafgesetzen zu beurteilen
seien. Das gilt namentlich auch von den Zweikämpfen der Offiziere, insoweit
nicht die §§ 112 und 113 des Militärstrafgesetzbuches in Frage kommen.
Vergl. dazu die Einleitung zu den kaiserlichen Verordnungen über die Ehren-
gerichte der Offiziere im preussischen Heere und in der kaiserlichen Marine
vom 2. Mai 1874 und 2. November 1875.*) 4. Nach § 4 der Einleitung
sind Militärpersonen:*) die Personen des Soldatenstandes und die Militär-
beamten, welche zum Heer oder zur Marine gehören. Unter Heer ist das
deutsche Heer, unter Marine die kaiserliche Marine zu verstehen. 5, Mit
Rücksicht auf die Verschiedenheit der Strafbehandlung der Angehörigen des
Heeres ist in einem Anhange zum Militärstrafgesetzbuch (RGBl. S. 204) ein Rang-
verzeichnis der zum deutschen Heere und zur kaiserlichen Marine gehörenden
Militärpersonen aufgestellt, auf welches § 5 des Gesetzbuchs verweist.'*) 6, Die
Personen des Beurlaubtenstandes unterliegen nach § 6 dem Militärstrafgesetz-
buch in der Zeit ihres Dienstes; ausserdem sind die §§ 68, 69, 113(89 — 112),
126 (114—125), ferner die §§ 10 No. 2 und 42 auf sie anwendbar. Hin-
sichtlich der Zugehörigkeit zum Beurlaubtenstande vergl. Reichsmilitärgesetz
vom 2. Mai 1874 (RGBl. S. 45, § 56). 7. Für solche Offiziere ä la suite,
die nicht zum Soldatenstande gehören, regelt § 2 Abs. 3 des Einf.-Ges. zum
Mil.-StGB. die Unterstellung unter das Militärs traf recht. 8. InbetreflF der mit
Pension verabschiedeten Offiziere vergl. jetzt Gesetz vom 3. Mai 1890 § 1,
RGBl. S. 63. Dazu Laband, Staatsrecht II, S. 697. 9. Hinsichtlich der
Landgendarmen macht § 2 des Einf.-Ges. zum Mil.-StGB. einen Vorbehalt
zu Gunsten des Landesstrafrechts. In Preussen sowie in den anderen
Bundesländern (auch Elsass- Lothringen), wo die preussische Militärgesetz-
gebung gilt, nicht in Bayern, sind die Landgendarmen Personen des Sol-
datenstandes und unterstehen als solche dem Reichsmilitärstrafgesetzbuch;
ausserdem aber auch den §§48 Abs. 2 und 188, Teil I des preuss. Mil.-
StGB., welche durch § 2, Abs. 2 des Einf.-Ges. zum Mil.-StGB. aufrecht
erhalten sind. In Bayern sind die Landgendarmen nicht Personen des
Soldatenstandes; sie waren aber dem bayerischen Mil.-StGB. vom 29. April
1869 in Gemässheit des Art. 7 des Einf.-Ges. zu diesem Gesetzbuche unter-
worfen, und dieses ist nach § 2 Abs. 2 des Einf.-Ges. zum Reichs-Mil.-StGB.
in der modifizierten Gestalt, welche ihm das bayer. Ges. vom 28. April 1872
gegeben hat, noch heutigen Tages auf die Gemeinen und Unteroffiziere der
bayerischen Landgendarmen anwendbar.*) 10. Der Vorbehalt des § 2 Abs. 2
*) So] ms. Strafrecht und Straf prozess für Heer und Marine des deutschen Reichs.
3. Aufl. S. 535.
*) Vergl. dazu Hecker in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts
Bd. 2, S. 125.
') Hinsichtlich der zur Disposition gestellten Offiziere vergl. Heck er in von
Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 2, S. 128; dagegen Laband,
Staatsrecht (1890), Bd. 2, S. 694, besonders Note 6.
*) Die bayerischen Gendarmerie- Offiziere sind als abkommandierte Offiziere des
Heeres Personen des Soldatenstandes. Vergl. über das Vorstehende Koppmann,
Kommentar (2. Aufl.), S. 2 0". — Merkwürdig ist die Gerichtsbarkeit hinsichtlich der
bayerischen Landgendarmen. In Ansehung der militärischen Verbrechen und Ver-
§ 38. — 2. Inhalt des Militärstrafgesetzbuches. Einleitende Bestimmungen. 75
des Einf.-Ges. zum Mil.-StGB. in BetreflF der Fahnenflüchtigen ist wesentlich
prozessualer Art. Vergl. darüber Koppmann a. 0., S. 6 und Solms
a. 0. S. 6. !!• Aus dem Heere oder der Marine entfernte Personen
(s. unten § 39 I a. E), sowie Offiziere, welche des Dienstes oder im ehren-
gerichtlichen Verfahren mit schlichtem Abschied entlassen sind, unterstehen
dem Militärstrafrechte in keiner Weise. Den Diensttitel können solche
Offiziere auf Grund einer späteren Aberkennung der bürgerlichen Ehren-
rechte in Gemässheit des § 33 des Civil-StGB. verlieren. 12. Durch § 7
des Mil.-StGB. wird für Militärpersonen im Auslande die Verfolgbarkeit gegen-
über dem § 4 des Civil-StGB. erweitert. Strafbare Handlungen derselben
sind wie die im Inlande verübten zu bestrafen, wenn sich die Militärpersonen
bei Vornahme der Handlungen im Auslande bei den Truppen oder sonst in
dienstlicher Stellung befanden. 13, Nach § 8 sollen militärische Verbrechen
und Vergehen, welche gegen Militärpersonen verbündeter Staaten in gemein-
schaftlichen Dienstverhältnissen (gleichviel wo) begangen werden, im Falle
der Gegenseitigkeitsverbürgung ebenso bestraft werden, als wenn sie gegen
deutsche Militärpersonen begangen wären. Vergl. Mil.-StGB. § 161 sowie
unten § 40 III, No. 5. 14. Der zweite Teil des Militärstrafgesetzbuches stellt
eine Anzahl von Vorschriften für Handlungen im Felde auf. Diese Vor-
schriften werden als Kriegsgesetze bezeichnet; und in den §§ 9 und 10 werden
die Zeiten und die Personen bestimmt, für welche die Kriegsgesetze gelten.
(Die Zeit des mobilen Zustandes,*) des Kriegszustandes — unten § 42; Truppen-
teile während der Zustände des Aufruhrs, der Meuterei oder eines kriegerischen
Unternehmens, welche unter die Kriegsgesetze gestellt sind, desgleichen
Kriegsgefangene.) 15. Nach § 11 des (Gesetzbuches ist eine Truppe „als vor dem
Feinde befindlich" (vergl. z. B. Mil.-StGB. §§ 73, 108, 141 Abs. 2, 3) zu be-
trachten, wenn in Gewärtigung eines Zusammentrefl'ens mit dem Feinde der
Sicherheitsdienst gegen denselben begonnen hat. 16, In § 12 wird der Be-
gi'iff der „versammelten" Mannschaft dahin festgestellt, dass darunter ausser
dem Vorgesetzten und dem Beteiligten noch drei andere zu militärischem
Dienste versammelte Personen des Soldatenstands gegenwärtig gewesen sind.
17, Der Rückfall ist zum Teil abweichend vom Civilstrafgesetzbuche (vergl.
oben § 9, S. 25) behandelt. Er ist anzunehmen, wenn der Thäter wegen
desselben militärischen Verbrechens oder Vergehens, wie das in Frage stehende,
durch ein deutsches Gericht verurteilt und bestraft worden ist. Mil.-StGB.
§ 13; vergl. Abs. 2 und 3 daselbst. Bei Unteroffizieren und Soldaten kann
im wiederholten Rückfalle auf Versetzung in die zweite Klasse des Soldaten-
standes, beziehungsweise auf Degradation erkannt werden, Mil.-StGB. § 37
Abs. 2 No. 1 und § 40 Abs. 2 No. 2, bei Offizieren auf Entfernung aus dem
Heere, beziehungsweise auf Dienstentlassung. Mil.-StGB. § 31 Abs. 3 und
§ 34 Abs. 2 No. 2. Bei Missbrauch der Dienstgewalt kann schon im ersten
Rückfalle auf Dienstentlassung oder Degradation erkannt werden, § 114 Abs. 2,
bei Misshandlung Untergebener muss im wiederholten Rückfalle neben Ge-
fängnis oder Festungshaft Dienstentlassung oder Degradation ausgesprochen
werden, § 122, Abs. 2. Bei der Fahnenflucht begründet der wiederholte
Rückfall an Stelle der für die erste Begehung und den ersten Rückfall an-
gehen unterstehen sie den Militär-Strafgerichten, im übrigen den (bürgerlichen) ordent-
lichen Strafgerichten.
*) Der „mobile Zustand^ wird vom Kaiser, — für das bayerische Kontingent auf
Veranlassung des Kaisers vom König von Bayern angeordnet. Vergl. Koppmann
a. O. S. 51. In der Marine gilt als mobiler Zustand der Kriegszustand eines Schift'es.
Und im Kriegszustände ist schon jedes Schiff der Marine zu betrachten, welches
aussei'halb der heimischen Gewässer allein fährt. Mil.-StGB. § 164.
76 Deutsches Reich. — Das Militärstraf recht.
gedrohten Vergehensstrafen Zuchthaus von 5 — 10 Jahren (§ 70); die Fahnen-
flucht im Felde wird schon bei dem ersten Rückfalle mit Zuchthaus von
5 — 15 Jahren, und wenn die frühere Fahnenflucht im Felde begangen war,
mit dem Tode bestraft (§ 71). Rückfall im weiteren Sinne liegt vor, wenn
jemand ein militärisches Delikt begeht, der wegen irgend eines solchen schon
einmal mit Freiheitsstrafe bestraft worden ist. Das Gesetzbuch nennt das
nicht Rückfall, aber es behandelt das neue Delikt insofern als Rückfall, als
strenger Arrest gegen den wiederholt Straffälligen auch ohne besondere An-
drohung verhängt werden darf. Mil.-StCirB. § 22 Abs. 3. Vergl. auch die
Disziplinarstrafordnung für das Heer vom 31. Oktober 1872 (unten § 41) § 3, C 4.
§ 39. Der erste Teil des Mllltfirstrafgesetzbnches.
Der erste Teil zerfällt in fünf Abschnitte. I. Der erste Abschnitt handelt
von den Strafen gegen Personen des Soldatenstandes. Insoweit gemeine, d. h.
nach den allgemeinen Gesetzen zu bestrafende Delikte in Frage stehen, sind
die Strafen des Civilstrafgesetzbuches zu verhängen. Die Strafen wegen mili-
tärischer Verbrechen und Vergehen gegen Personen des Soldatenstandes sind
die Todesstrafe, Freiheitsstrafen und Ehrenstrafen. Geldstrafe ist für militärische
Delikte nicht angedroht; und wo die allgemeinen Strafgesetze Geldstrafe und
Freiheitsstrafe wahlweise androhen, darf auf Geldstrafe nicht erkannt werden,
wenn durch die strafbare Handlung zugleich eine militärische Dienstpflicht
verletzt worden ist. Mil.-StGB. § 29. — 1. Die Todesstrafe ist durch Er-
schiessen zu vollstrecken, wenn sie wegen eines militärischen Verbrechens er-
kannt wird. Sie ist in 15 Paragraphen (58, 60, 63, 71, 72, 73, 84, 95, 97,
107, 108, 132, 133, 141, 159) und zwar nur wegen Verbrechen im Felde an-
gedroht. Die Todesstrafe wird im Felde, auch wenn sie wegen nicht militäii-
scher Verbrechen erkannt wird, durch Erschiessen vollzogen. § 14. — 2. Die
Zuchthausstrafe hat das Militärstrafgesetzbuch mit dem Civilstrafgesetzbuch
gemein. Vergl. oben § 9 I, No. 2, S. 18. Ist Zuchthaus verwirkt, so geht
die Vollstreckung auf die bürgerlichen Behörden über. Mil.-StGB. § 15,
Abs. 3. — 3« Ausserdem sind Gefängnis, Festungshaft und Arrest die Frei-
heitsstrafen für militärische Delikte. Dieselben sind mehrfach abweichend
vom Civilstrafgesetzbuch ausgestaltet. Gefängnis und Festungshaft kommen
vor als lebenslängliche und als zeitige. Die Lebenslänglichkeit ist in man-
chen Fällen (§63, No. 2 und 3 mit Schlusssatz, §95, Abs. 2, §97, Abs. 3,
§ 141, Abs. 2) Mittelstufe zwischen Todes- und zeitiger Freiheitsstrafe, in zwei
Fällen (§§ 93, 100) ist Lebenslänglichkeit die Strafsteigerung gegenüber
zeitiger Freiheitsstrafe. Bei zeitigem Gefängnis und zeitiger Festungshaft
beträgt das Maximum 15 Jahre, das Minimum 6 Wochen und 1 Tag. Inner-
halb dieser Grenzen kommen noch Maxima von 10, 5, 3, 2 Jahren, 1 Jahr
und 6 Monaten, Minima von 10, 5, 3, 2 Jahren, 1 Jahr, 6 und 3 Monaten
vor. 4, Der Arrest bewegt sich in den Minimalgrenzen von 1 Tag, 1 Woche,
14 Tagen, 3 Wochen und Maximalgrenzen von 4 und 6 Wochen. Der Arrest
zerfällt in Stubenarrest, gelinden, mittleren und strengen Arrest. (Der Höchst-
betrag des letztern ist 4 Wochen, § 24). Der Stubenarrest findet nur gegen
Offiziere und diesen im Range gleich stehende Beamte statt; der gelinde
Arrest ist Strafe gegen Unteroffiziere und Gemeine, der mittlere Arrest
ist nur Strafe gegen Unteroffiziere ohne Portepee (Sergeanten und Unter-
offiziere i. e. S.) und gegen Gemeine; der strenge Arrest nur Strafe gegen
Gemeine (§ 20; vergl. § 44). Der Stubenarrest wird in der Wohnung des
Verurteilten verbüsst. Der Verurteilte darf während der Strafzeit seine Woh-
nung nicht verlassen, auch Besuche nicht annehmen. Gegen Hauptleute,
§ 39. — 2. Inhalt des Militärstrafgesetzbnches. Sein erster Teil. 77
Kittmeister und Subaltemoffiziere kann auf geschärften Stubenarrest er-
kannt werden, der in einem besondern Offlzierarrestzimmer zu vollziehen
ist (§ 23). Die andern Arrestarten werden in Einzelhaft verbüsst (§ 24).
Bei dem mittleren Arrest erhält der Verurteilte eine harte Lagerstätte und als
Nahrung Wasser und Brot; diese Schärfungen fallen in den ersten 12 Tagen
je am vierten, dann je am dritten Tage weg (§ 25). Der strenge Arrest wird
in einer dunkeln Arrestzelle, im übrigen wie der mittlere, jedoch mit dem
Untei*schiede vollstreckt, dass die Schärf ung mit der harten Lagerstätte und
der Beschränkung auf Wasser und Brot schon nach den ersten acht Tagen je
am dritten Tage wegfallen (§ 26). Es wäre dringend zu wünschen, dass
solche Schärfungen auch für Strafen gegen Civilpei*sonen unter gewissen Vor-
aussetzungen möglich gemacht würden.*) Die §§27 und 28 sehen die Mög-
lichkeit von Abweichungen bei der Vollstreckung von Arreststrafen wegen der
Körperbeschaffenheit des Verurteilten und für die Zeit des Krieges beziehungs-
weise für die Zeit der Indienststellung eines Kriegsschiffes vor. Ist Freiheits-
strafe als solche mit einem Minimum von mehr als 6 Wochen angedroht, so
kann nach Wahl des Gerichts auf Gefängnis oder Festungshaft erkannt werden.
Ist kein Minimum bestimmt, oder bewegt sich das Minimum unter 6 Wochen
und 1 Tage, so stehen Gefängnis, Festungshaft und Arrest zur Wahl des Ge-
richtes (§§ 16 und 21). Ist Arrest ausdrücklich oder in der allgemeinen An-
kündigung von „Freiheitsstrafe" angedroht, so kann auf jede der nach dem
Militärrange des Thäters statthaften Arten des Arrestes erkannt werden. Ist
die angedrohte Arrestart nach dem Range des Thäters ausgeschlossen, so ist
auf die nächstfolgende dem Range nach statthafte Arrestart zu erkennen.
Strenger Arrest ist nur in den Fällen zulässig, wo er ausdrücklich angedroht
ist, und im militärischen Rückfalle (§ 22), Siehe oben § 38 II, No. 17.
Auf die Vollstreckung der Freiheitsstrafen gegen Militärpersonen bezieht
sich § 15. Vergl. dazu die Mil.-Straf-VoUstreckungsvorschrift vom 9. Februar
1888 und die Allerhöchste Kab.-O. vom 22. Januar 1889 über die Strafvoll-
streckung an Bord.
Die besonderen Ehrenstrafen gegen Personen des Soldatenstandes sind:
a) allen Klassen gegenüber die Entfernung aus dem Heere oder der Marine
(§ 30, Z. 1), vergl. darüber Mil. StGB. §§ 31—33; b) gegen Offiziere die
Diententlassung (§ 30, Z. 2), vergl. §§ 34 — 36; c) gegen Unteroffiziere und
Gemeine die Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes (§ 30, Z. 3),
vergl. §§ 37—39, vergl. auch Reichs-Mil.-Ges. vom 2. Mai 1874, RGBl. S. 46,
§ 50, wonach Einjährig-Freiwillige, welche in die zweite Klasse des Soldaten-
Standes versetzt werden, diese ihre Eigenschaft und den Anspruch auf Ent-
lassung nach einjähriger Dienstzeit verlieren; d) gegen Unteroffiziere die De-
gradation (§ 30, Z. 4), vergl. §§ 39 — 41. — Bezüglich der Ehrenstrafen gegen
Beurlaubte vergl. Mil.-StGB. § 42.
II. Der zweite Abschnitt (§§ 43 und 44) regelt den Amtsverlust und
den Arrest bei Militärbeamten, § 45 bezieht die Bestimmungen der §§ 14 und
15 (Vollzug der Strafen) auf Militärbeamte.
III. Im dritten Abschnitt erklärt § 46 militärische Ehrenstrafen neben
einer Versuchsstrafe für zulässig, gleichviel ob sie neben der Vollendungs-
strafe zulässig oder geboten sind, während nach § 45 des bürgerlichen Straf-
gesetzbuchs die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte neben der Versuchs-
strafe geboten ist, wenn dies bei der Vollendung der Fall.
IV. Von fundamentaler Bedeutung ist der vierte Abschnitt mit dem
§ 47. Entgegen dem § 58 des Entwurfes proklamiert § 47 des Gesetzes die
») S. oben § 12, S. 29.
78 Deutsches Reich. — Das Militärstraf recht.
selbständige Haftung des Untergebenen für die von ihm begangenen militäri-
schen und bürgerlichen Verbrechen und Vergehen trotz des Befehles des Vor-
gesetzten. Allerdings stellt der erste Absatz des § 47 anscheinend das gegen-
teilige Prinzip auf, insofern er den befehlenden Vorgesetzten für die Aus-
führung eines Befehls in Dienstsachen allein verantwortlich macht, wenn
dadurch ein Strafgesetz verletzt wird. Aber sofort wird der gehorchende
Untergebene der Strafe des Teilnehmers (Civil-StGB. §§ 47 ff.) unterworfen,
wenn er den Befehl überschritten hat, sowie, wenn ihm bekannt gewesen, dass
der Befehl des Vorgesetzten eine Handlung betraf, welche ein bürgerliches
oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckte. Teilweise trifft hier das
Militäretrafgesetzbuch mit der wohl richtigen, in der deutschen Strafrechtspraxis
und überwiegend in der Doktrin nicht anerkannten Ansicht zusammen, dass ent-
schuldbare Normenunkenntnis die Rechtswidrigkeit und damit die Strafbarkeit einer
Handlung ausschliesse. Ja das Militärstrafgesetzbuch §47 geht noch weiter, indem
es schon die Unkenntnis der Verbrechens- und Vergehensqualität einer Handlung,
also die Unkenntnis einer bestimmten Strafbarkeit derselben entschuldigen
lässt. Aber bei Gegebensein dieses Strafbarkeitsbewusstseins spricht es die
eigene Verantwortlichkeit des gehorchenden Untergebenen aus und verwirft
damit die sogenannte Theorie vom blinden Gehorsam in militärischen Dingen.
Hält der Untergebene die anbefohlene That nur für eine Übertretung (Civil-
StGB. § 1 und oben § 8), so handelt er ohne eigene Verantwortung.
Nach Erlassung des Militärstrafgesetzbuches wurde angenommen, dass
eine Teilnahme an rein militärischen Delikten seitens einer Civilperson nur
insoweit strafbar sei, als das allgemeine Strafrecht Bestimmungen dafür ent-
hält, z. B. StGB. § 112, § 142 Abs. 2, § 370 No. 3. Vergl. Koppmann,
Kommentar Bem. 9 zum vierten Abschnitt S. 162 ff. ; vergl. sodann namentlich
das preussische Mil.-StGB. Teil I, § 1. Die neuere Praxis nimmt ohne
zureichende Gründe das Gegenteil an. Vergl. Entscheidungen des Reichsgerichts
in Strafsachen Bd. 6, S. 9.
V. Der fünfte Abschnitt des Militärstrafgesetzbuches ist wie der vierte des
Civilstrafgesetzbuches den Gründen gewidmet, welche die Strafe ausschliessen,
mildern oder erhöhen. Die Bestimmungen des Civilstrafgesetzbuches werden
teils ergänzt, teils modifiziert. § 48 spricht den schon nach allgemeinen straf-
rechtlichen Gesichtspunkten sich ergebenden, im Civilstrafgesetzbuch nicht be-
sonders enthaltenen, Gedanken aus, dass der Thäter sich nicht auf abweichende
Vorstellungen seines Gewissens oder seiner Religion berufen dürfe. In § 49,
Abs. 1 gelangt der Satz zum Ausdi^iick, dass die Verletzung einer Dienst-
pflicht aus Furcht vor Gefahr ebenso zu bestrafen sei, wie die Verletzung der
Dienstpflicht aus „Vorsatz". Die Fassung des Gedankens ist unvollkommen,
denn auch die Dienstverletzung aus Furcht kann vorsätzlich begangen sein;
der Gedanke ist klar: der Soldat im Dienste darf sich gegenüber einer Dienst-
verletzung nicht auf Gefahr berufen, Notstand entschuldigt ihn nicht. — Selbst-
verschuldete Trunkenheit bildet bei strafbaren Handlungen gegen die Pflichten
der militärischen Unterordnung sowie bei allen in Ausübung des Dienstes be-
gangenen strafbaren Handlungen keinen Strafmilderungsgrund (§ 49 Abs. 2).
Auch der Jugend ist bei Bestrafung militärischer Verbrechen und Vergehen
die nach dem Civil-StGB. § 57 (s. oben § 9, S. 24) vorgesehene Milderung
versagt (§ öO). Die Antragseinrichtung greift in Bezug auf militärische De-
likte nicht Platz (§ öl). Der fünfte Abschnitt trifft noch Bestimmungen über
die Verjährung bei Arreststrafen (§ 52), über Straferhöhung (§§ 53 und 55)
und über Zusammentreffen von Freiheitsstrafen (§ 54). Straferhöhend wirkt
es, wenn Vorgesetzte mit Untergebenen eine strafbare Handlung verüben,
wenn solche Handlungen unter Missbrauch der Waffen oder der dienstlichen Be-
§ 40. — 2. Der Inhalt des Militärstrafgesetzbuches. Sein zweiter Teil. 79
fugnisse oder im Dienste begangen werden, und wenn mehrere unter Zusammen-
rottung oder vor einer Mepschenmenge eine strafbare Handlung gemeinschaft-
lich ausführen (§ 55). Dieser Paragraph gilt als der „difficilste'^ des ganzen
Militärstrafgesetzbuches (Koppmann, 1. Auflage, S. 185). Namentlich ist
streitig geworden, ob sich der Paragraph auch auf nichtmilitärische Delikte
beziehe, eine Frage, welche nach dem Wortlaute des Paragraphen wohl zu
bejahen ist, so dass das Civilstrafgesetzbuch für Militärpersonen dadurch eine
wesentliche Schärf ung erfahren hat.^)
§ 40. Der zweite Teil des Hllltärstrafgesetzbuches.
Derselbe gliedert sich in vier Titel, von denen der erste in elf Abschnitte
zerfällt. Die Titeleinteilung entspricht den verschiedenen Personenkategorieen,
auf welche sich das Militärstrafgesetzbuch bezieht.
I. Der erste Titel enthält das besondere Strafrecht gegen die Personen
des Soldatenstandes und betrifft Delikte im „Felde" und im Frieden. Die
Materien der elf Abschnitte sind folgende: 1. Hochverrat, Landesverrat, Kriegs-
verrat, §§ 56 — 61. Der Landesverrat einer Person des Soldatenstandes im
Felde ist stets Kriegsverrat, der mit Zuchthaus nicht unter 10 Jahren, lebens-
länglichem Zuchthaus und in schwereren Fällen (§ 58) mit dem Tode bestraft
wird. Die Unterlassung rechtzeitiger Anzeige von dem Vorhaben eines Bjriegs-
verrats, über welches jemand glaubhafte Kenntnis bekommen hat, wird mit
der Strafe der Mitthäterschaft belegt, § 60. Umgekehrt begründet die recht-
zeitige Anzeige von einem bevorstehenden Kriegsverrat für den Beteiligten
Straflosigkeit, § 61. 2. Der zweite Abschnitt, §§ 62, 63, handelt von der Ge-
fährdung der Kriegsmacht im Felde. 3. Der dritte Abschnitt, §§ 64 — 80, be-
droht die unerlaubte Entfernung und die Fahnenflucht. Im § 80 Abs. 2 findet
sich aber auch eine Strafdrohung gegen den Offizier, der während des Stuben-
arrestes verbotswidrig Besuche annimmt (s. oben § 39 I, 4). 4. Selbstbeschä-
digung und Vorschützung von Gebrechen, §§ 81—83. 5. Feigheit, §§ 84—88.
Charakteristisch und sehr verständig § 88: „Hat der Thäter in den Fällen
der §§ 85 und 86 nach der That hervorragende Beweise von Mut abgelegt,
so kann die Strafe unter den Mindestbetrag der angedrohten Freiheitsstrafe
ermässigt und in den Fällen der §§ 85 und 87 von der Bestrafung gänzlich
abgesehen werden.*) 6. Strafbare Handlungen gegen die Pflichten der mili-
tärischen Unterordnung, §§89 — 113.*) 7. Missbrauch der Dienstgewalt, §§114
bis 126. 8. Widerrechtliche Handlungen im Felde gegen Personen oder Eigen-
tum, §§ 127 — 136. 9. Andere widerrechtliche Handlungen gegen das Eigen-
tum, §§ 137, 138. (Vorsätzliche und widerrechtliche Beschädigung, Zerstörung,
Preisgebung von Dienstgegenständen; Diebstahl und Unterschlagung im Dienste,
unter Verletzung eines militärischen Dienstverhältnisses, gegen Vorgesetzte,
Kameraden und Quartierwirte oder deren Angehörige.) 10. Verletzung von
Dienstpflichten bei Ausführung besonderer Dienstverrichtungen, §§ 139 — 145.
(Verursachung eines Nachteiles durch Pflichtverletzung vor dem Feinde [Mil.-StCxB.
*) Vergl. Roppmann, 2. Aufl., S. 212 flf. — Hecker, Lehrbuch des deutschen
Militärstraf rechts. Stuttgart 1887. S. llOf.
-) Die Behauptungen Bindings (Die Ehre und ihre Verletzbarkeit, Leipzig 1892
S. 19 und 20), das Recht führe stets getrennt Buch über Ehre und Unehre, rechne nie
das eine Konto geffen das andere auf, das Recht verwerfe „entschieden die ganze
Theorie von der Unehre tilgenden Kraft des Mutschatzes", — diese Behauptungen
dürften gegenüber dem § 88 des Mil.-StGB. der Einschränkung bedürfen. Auch das
Reichsbeamtengesetz (oben § 36 II) § 76 streift bei der disziplinaren Behandlung von
Dienstvergehen die Abwägung von Schuld und Verdienst.
») Zu § 95 Abs. 1 vergl. die Berichtigung RGBl. 1873, S. 138.
80 Deutsches Reich. — Das Militärstrafrecht.
§ 11], z. B. durch Trunkenheit, Einschlafen, wird mit dem Tode, in minder
schweren Fällen mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder mit lebens-
länglicher Freiheitsstrafe bestraft, § 141) 11. Der 11. Abschnitt „sonstige
Handlungen gegen die militärische Ordnung", §§ 146 — lö2, hält Nachlese und
bedroht verschiedenartige Verstösse gegen die militärische Ordnung, Verlassen
der Wache oder des Platzes ; Nachlässigkeiten in Bezug auf die Beaufsichtigung
Untergebener, obliegende Meldungen oder Verfolgung strafbarer Handlungen;
Körperverletzung oder Tötung durch Unvorsichtigkeit im Gebrauche von
Waffen oder Munition; widerrechtlicher Gebrauch der Waffe oder Aufforderung
dazu; Verheiratung ohne dienstliche Genehmigung (die früher eintretende Un-
gültigkeit der Ehe ist beseitigt, § 150 Abs. 2); Trunkenheit im Dienste; Be-
schwerden wider besseres Wissen, wiederholte leichtfertige Beschwerdeführung
sowie Beschwerdeführung unter Abweichung vom Dienstwege.
II. Der zweite Titel, § 153 und 154, enthält Strafdrohungen gegen mili-
tärische Verbrechen und Vergehen der Militärbeamten. Für diese gelten nur
die im 1. — 3., 6. und 8. Abschnitt des ersten Titels aufgestellten Strafdrohungen,
und auch diese nur unter der Voraussetzung, dass solche Handlungen im
Felde begangen werden. Wegen anderer Handlungen, und im Frieden
überhaupt, werden Militärbeamte nach dem allgemeinen Beamtenstrafrechte
(vergl. namentlich Civil-StGB. Abschnitt 28, §§331 — 358) beurteüt (MiL-
StGB. § 154).
III. Auch der dritte Titel, §§ 155 — 161, hat es nur mit Handlungen im
Felde zu thun. Er unterwirft 1. alle Personen, welche sich während eines
Krieges in irgend einem Dienst- oder Vertragsverhältnisse bei dem krieg-
führenden Heere befinden, oder sonst sich bei demselben aufhalten oder ihm
folgen, den Bestimmungen des Militärstrafgesetzbuches, insbesondere den Kriegs-
gesetzen, § 155. Als solche Personen erscheinen namentlich: die Angehörigen
der freiwilligen Krankenpflege. Marketender, Fuhrleute, dann Berichterstatter
von Zeitungen, Maler, Zeichner und Photographen. 2. Ausländische Offiziere,
welche zu dem kriegführenden Heere zugelassen sind, werden, vorbehaltlieh
anderer Bestimmungen des Kaisers, wie Deutsche behandelt, § 157. 3. Die
§§158 und 159 beziehen sich auf Kriegsgefangene. 4. Im § 160 werden die
§§ 57 — 59 und 134 des Militärstrafgesetzbuches auf Ausländer und Deutsche
für anwendbar erklärt, welche sich eines Kriegsverrates oder der Beraubung
hülf loser Personen auf dem Kriegsschauplatze schuldig machen. 5. Im § 161
wird für den Fall der Besetzung eines ausländischen Gebietes durch deutsche
Tnippen die vom § 4 des Civil-StGB. gelassene Lücke teilweise ausgefüllt.
Handlungen gegen deutsche Truppen oder deren Angehörige, sowie gegen
eine auf Kaiserliche Anordnung eingesetzte Behörde werden, gleichviel ob
der Thäter Deutscher oder Ausländer ist, ebenso bestraft, als wenn sie im
Bundesgebiete begangen wären. Vergl. dagegen oben § 8 No. 3, S. 17. Vergl.
auch noch Civil-StGB. § 91, welcher Ausländer dem Kriegsgebrauche imter-
wirft, wenn sie eine der im §§ 87, 89 oder 90 des Civil-StGB. vorgesehenen
Handlungen begehen.
IV. Der vierte Titel, §§ 162—166, enthält Zusatzbestimmungen für die
Marine; und zwar enthalten die §§ 162 — 165 begriffsentwickelnde Sätze, § 166
stellt den Militärpersonen alle Angestellten eines Kriegsschiffes in Bezug auf die
Militärstrafgesetze gleich und unterwirft andere am Bord eines Kriegsschiffes
dienstlich eingeschiffte Personen den Kriegsgesetzen für die Zeit des Kriegs-
zustandes.
§41. — 3. Die Ergänzung des Militärstrafrechts durch die Disziplin. 81
a Die Ergftnnng des ICilitftnitnifirechtfl durch die DÜNdplin.^)
§ 41.
1. Füi" militärische Verhältnisse lässt sich der im § 36, II, besprochene
(Jegensatz von Strafrecht und Disziplin wohl am wenigsten aufrt^cht erhalten.
Bezüglich des militärischen Dienstes gehen Strafrecht und Disziplin auch praktisch
ineinander über. Das Einführungsgesetz zum Miltärstrafgesetzbuche § 3 gestattet
in zahlreichen Fällen, an die Stelle der Aburteilung durch die Militärgerichte und
nach dem Militärstrafgesetzbuche die Ahndung im Disziplinarwege ti'eten zu
lassen. Nur darf bloss Freiheitsstrafe, und zwar gelinder und Stubenarrest
bis zu 4, mittlerer Arrest bis zu 3 Wochen, strenger Arrest bis zu 14 Tagen
verhängt werden. Die Fälle sind Urlaubsüberschreitung (§ 64), leichte Ach-
tungsverletzung (§ 89 Abs. 1), wissentliche Unwahrheit in dienstlichen An-
gelegenheiten (§ 90), der leichtere Fall der Beleidigung eines Vorgesetzten
oder im Dienstrange höher Stehenden (§ 91 Abs. 1); umgekehrt Beleidigung
oder vorschriftswidrige Behandlung eines Untergebenen (§ 121), Ungehorsam
gegen einen Dienstbefehl (§ 92). (Durch diesen Paragraph einfer- und § 47
No. 2 andererseits kann ein Untergebener leicht in Rechtsnot geraten.) Hierher
gehören femer die vorsätzliche und rechtswidrige Beschädigung, Zerstörung
und Preisgebung eines Dienstgegenstandes (§137), die leichteren Fälle schuld-
hafter Dienstvernachlässigung und Eigenmächtigkeit, namentlich Verlassen des
Postens, der Wache, des Platzes (§§ 141 Abs. 2, 146), Dienstunfähigkeit durch
Trunkenheit (§ 151, vergl. §49 Abs. 2), ferner das Borgen von Geld und die
Annahme von Geschenken vom Untergebenen ohne Vorwissen des gemein-
schaftlichen Vorgesetzten (§ 114 mit Einf. -Ges. zum Mil.-StGB., §3 No. 2j.
2« Auch abgesehen von der Disziplinarbehandlung der vorstehenden Fälle des
öffentlichen Strafrechts giebt die militärische Disziplinargewalt den Vorgesetzten
weitgehende Befugnisse zur Aufrechthaltung der militärischen Zucht, der Ord-
nung und derjenigen Dienstesvorschriften, für welche die Militärgesetze keine
Straf bestimmun gen enthalten. (Einfacher, förmlicher und strenger Verweis,
Stubenarrest bis zu 14 Tagen gegen Offiziere; ebensolcher Verweis, Auferlegung
gewisser Dienstverrichtungen ausser der Reihe, z. B. Strafwachen, Kasernen-,
Quartier- oder gelinder Arrest bis zu 4 Wochen, mittlerer Arrest bis zu 3 Wochen
gegen Unteroffiziere; die Auferlegung gewisser Dienstverrichtungen ausser der
Reihe, z. B. Strafexerzieren u. s. w., Entziehung der freien Verfügung über
die Löhnung, die Auferlegung früherer Rückkehr in Kaserne oder Quartier,
Arrest in verschiedenen Graden bis zu 4, 3, 2 Wochen gegen Gemeine mit
Einschluss der Obergefreiten und Gefreiten, sowie die Entfernung der beiden
letzteren von der Charge; die Einstellung in die Arbeiterabteilung gegen
Gemeine der zweiten Klasse des Soldatenstandes nach fruchtloser Anwendung
der vorstehend erwähnten Strafen.) Vergl. die Disziplinarstrafordnung für
das Heer vom 31. Oktober 1872, Armeeverordnungsblatt 1872, S. 330, §§ 1—3,
sowie die gleichlautende bayerische Disziplinarstrafordnung vom 12. Dezember
1872. Vergl. auch die Disziplinarstrafordnung für die kaiserliche Marine vom
4. Juni 1891, Marine-VBl. 1891 S. 116, deren erster Teil, betr. die Disziplinar-
bestrafung am Lande mit der für das Heer gegebenen Ordnung, auch in der
neuen Fassung, grösstenteils übereinstimmt. Der zweite Teil, betr. die Be-
strafung an Bord in Dienst gestellter Schiffe und Fahrzeuge, ordnet den Arrest
entsprechend den Verhältnissen an Bord und kennt ausserdem mehrere mit der
*) Vergl. die Citate oben bei § 36 S. 66. Ausserdem Heck er in v. Stengel,
Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2, S. 106 und die S. 109 daselbst citierte Lit-
teratur; namentlich Hecker im Gerichtssaal, Bd. «Sl (1879), S. 481.
Strafgesetzgebnng der Gegenwart. I. 6
82 Deutsches Reich. — Das Militärstrafrecht.
Schiffahrt zusammenhängende Strafen, so das Stehen an Deck während der
Freizeit bis zu 6 Stunden, jedoch nicht über 2 Stunden an einem Tage mit
oder ohne Hängematte, Entern über den Topp bis zu dreimal in angemessenen
Zeiträumen, je nach Grösse des Schiffes. 3. Für die Offiziere im preussisch<*n
Heere und in der kaiserlichen Marine kommen ausserdem die Verordnungen
über die Ehrengerichte vom 2. Mai 1874 und vom 2. November 1875 in Be-
tracht. Vergl. So 1ms (3. Aufl. 1892) S. 535 und S. 602; vergl. auch S. 632
die Verordnung vom 16. Juni 1891 bezüglich der deutschen Offiziere der
Kaiserl. Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika.
4. Da« Btrafrecht im sogenannteii Kriegsnstanda (BelagenmgwiiurtuLd«
Standrecht.)')
§ 42.
I. Die schützende Kraft der Strafe kommt ausser im Kriege da am rück-
sichtslosesten zum Ausdrucke, wo die politischen oder sozialen Grundlagen
des Gemeinwesens in Unruhe geraten sind oder schon erschüttert wurden.
Bei den innerstaatlichen Kämpfen um die politische Macht und um die Aus-
nutzung der Güterwelt haben Schwert und Pulver und Blei nicht bloss auf
der Wahlstatt und auf der Barrikade, sondern auch im Gerichtsring eine Rolle
gespielt. Die Vernichtung des überwältigten Brechers der bestehenden Rechts-
ordnung erschien nicht bloss zum Schutz gegen ihn selbst, sondern auch zur
Abschreckung anderer als ein Gebot der Selbsterhaltung. Ausserordentliches
Recht und Gericht tritt in solchen Fällen an die Stelle der für die Zeiten
friedlichen und ruhigen Zusammenlebens berechneten Einrichtungen. Es ist
der Kriegs- oder Belagerungszustand. Im deutschen Reiche ist das Recht des
Kriegszustandes noch kein einheitliches und allseitig definitives.
II. Nach Artikel 68 der Reichsverfassung kann der Kaiser,*) wenn die
öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiete bedroht ist, einen jeden Teil des-
selben in Kriegszustand erklären. Bis zum Erlass eines die Voraussetzungen,
die Form der Verkündigung und die Wirkungen einer solchen Erklärung
regelnden Reichsgesetzes gelten dafür die Vorschriften des preussischen Ge-
setzes vom 4. Juni 1851 (GS. 1851, S. 451 ff.).^) Mit der Erklärung des
Kriegszustandes wird ein ausserordentliches Strafverordnungsrecht*) begründet,
die vollziehende Gewalt geht auf den Militärbefehlshaber über, die Zuständig-
keit der ordentlichen Gerichte kann für gewisse Verbrechen ausgeschlossen und
ausserordentlichen Gerichten übertragen werden. (Vergl. auch (fCr.Verf.G. § 16.)
Die §§ 8 und 9 des (prcuss.) Gesetzes enthalten teils Strafschärfungen (Todes-
strafe an Stelle von Freiheitsstrafe), teils Strafdrohungen für sonst straflose
Thatbestände. Dem kommandierenden General ist in Bezug auf Todesurteile
ein Bestätigungsrecht übertragen. Eine Ergänzung und teilweise eine Ände-
^) Laband, Staatsrecht (2. Aufl. 1890), 2. Bd., 2. Abtl., § 95, S. 537. — Seydel
in V. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 1, S. 158. — Hänel, Staats-
recht, § 73, Bd. 1 (1892), S. 432,
*) Dem preussischen Gesetze, nach welchem die Erklärung vom Staatsministerium
auszugehen hatte und in dringenden Fällen vorbehaltlich der Bestätigung seitens des
Ministeriums durch den obersten Militärbefehlshaber erfolgen konnte, ist durch Art. 68
der Reichs Verfassung derogiert. Die am 28. März 1885 für ein paar preussische Ge-
bietsteile erfolgte Verhängung des Belagerungszustandes durch den obersten Militär-
befehlshaber Hess sich nach dem bestehenden Rechte nicht rechtfertigen. Vergl. dar-
über Hänel, Staatsrecht, S. 443, Note 19 a. E.
8) Für Elsass-Lothringen vergl. jetzt Gesetz vom 30. Mai 1892, RGBl. S. 667, be-
treffend die Vorbereitung des Kriegszustandes.
*) Vergl. oben § 14, II, S. 35.
§ 42. — 4. Das Strafrecht im sogenannten Kriegszustande. 83
rung fand das zum Bundes- und später zum Reichsgesetze erklärte preussische
Gesetz durch den § 4 des Einführungsgesetzes zum Civilstrafgesetzbuch. Dar-
nach sind bis zum Erlasse eines Reichsgesetzes über den Kriegszustand die
in den §§ 81, 88, 90, 307, 311, 312, 315, 322, 323, 324 des Civilstrafgesetz-
buches vorgesehenen Verbrechen, insoweit sie mit lebenslänglichem Zuchthaus
bedroht sind, mit dem Tode zu bestrafen, wenn sie in einem Teile des Bundes-
gebietes begangen werden, welchen der Kaiser in ELriegszustand erklärt hat.
Durch das Militärstrafgesetzbuch ist die Wirksamkeit dieser Bestimmung für
Militärpersonen weggefallen, insoweit die §§ 88 und 90 des Civilstrafgesetz-
buches in Frage stehen, weil die daselbst bedrohten Thatbestände auch in den
§§57 und 58 Ziff. 1 des Militärstrafgesetzbuches vorgesehen, diese Paragraphen
Kriegsgesetze sind, und nach § 9 Ziff. 2 des Militärstrafgesetzbuches die Kriegs-
gesetze für Militärpersonen im „Kriegszustande" Geltung haben. Die Resolutiv-
bedingung, welche der § 4 des Einführungsgesetzes zum Civilstrafgesetzbuche
sich selbst gesetzt hat, ist sonach insoweit eingetreten. Im übrigen gilt der
§ 4 für Militärpersonen während des Kriegszustandes noch fort. Für Civil-
personen ist er während des Kriegszustandes überhaupt noch in Geltung.
Seine ursprüngliche Anwendbarkeit auf den Krieg selbst hat dagegen § 4
durch das Inkrafttreten des Militärstrafgesetzbuches in Bezug auf Civil- wie
auf Militärpersonen verloren. Auch Nichtmilitärs sind jetzt auf dem Kriegs-
schauplatze dem Militärstrafgesetzbuche, besonders den Kriegsgesetzen, unter-
worfen. Vergl. Mil.-StGB. §§ 155, 156, 160. Dieses Ergebnis der in Frage
kommenden Bestimmungen ist in mehreren Beziehungen streitig. Vergl. 01s-
hausen, Kommentar zu § 4, 3. und 4. Aufl. S. 19 — 21, Hecker, Lehrbuch
§ 6, S. 43—45.
III. Für Bayern gelten in Gemässheit des Versailler Vertrages und der
Reichsverfassung die vorstehenden Bestimmungen nicht. ^) Dort gelten noch
die Artikel 441 — 451 des bayer. Strafgesetzbuches von 1813, Teil II, welche
durch Artikel 3 Ziff. 12 des bayer. Ausführungsgesetzes vom 18. August 1879
zur deutschen Strafprozessordnung (vergl. unten § 44 No. 4) modifiziert
wurden. In Bayern wird übrigens zwischen dem „Standrecht" und dem
„militärischen Belagerungszustand" unterschieden. Das Standrecht darf bei
dem Überhandnehmen von hochverräterischen Unternehmungen, von staats-
bürgerlichen Verbrechen (jetzt Reichs-StGB. § 105), von Aufruhr, Auflauf
und Landfriedensbruch, von Mord, Raub und Brandstiftung angeordnet
werden, wenn durch die Handhabung des ordentlichen Strafrechts die Ruhe
oder öffentliche Sicherheit nicht wieder hergestellt werden kann. Siehe über
die Handhabung dieser, im Vergleiche zum preussischen Gesetze erheblich
schärferen Massregeln, hinsichtlich der Einrichtungen in der bayerischen
Rheinpfalz und hinsichtlich des militärischen Belagerungszustandes Seydel
in V. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, S. 160. Vergl.
auch das bayer. Ges. vom 18. August 1879 (zur Reichs - StPO.) Artikel 6.
(Strafdrohungen gegen Übertretung der bei drohendem oder ausgebrochenem
Kriege erlassenen Verordnungen.)
*) Versailler Vertrag vom 23. November 1870, HI, § 5, RGBl. 1871, S. 19; Reichs-
Verf., Schlussbestimmung zu Abschnitt XI, RGBl. 1871 S. 82. — Vergl. Reichsgesetz
vom 22. April 1871, RGBl. S. 87 § 7 Abs. 2; Ger.Verf.G. § 16.
6*
84 Deutsches Reich. — Die Landesstrafgesetzgebung.
Vn. Die Landesstrafgesetzgebimg.
§ 43. Das Verhältnis zwischen Landes- und Reichsrecht. ^)
I. Das deutsche Reich hat, wie im § 13 dargelegt, mit geringen Aus-
nahmen die verfassungsmässig anerkannte Macht, auf allen Gebieten des
menschlichen Verkehrs den Strafrechtsschutz selbst zu ordnen. Mit gutem
(irunde hat das Reich von dieser Rechtsmacht keinen erschöpfenden Gebrauch
gemacht, (rross genug war nach der Jahrhundertc* andauernden Partikulari-
sierung die Aufgabe, diejenigen Strafrechtssätze reichsrechtlich zu kodifizieren,
(leren Inhalt traditionell den Inhalt der Landesstrafgesetzbücher bildete. So-
dann war viel neuer Rechtsstoff zu bewältigen, welcher der einheitlichen Rege-
lung dringend bedurfte. Vergl. oben § 13. Das nahm die Thätigkeit der
arbeitskräftigen Reichsgesetzgebung vollauf in Anspruch; auf nicht wenigen
( Jebieten musste die Reichsgesetzgebung zunächst Zurückhaltung üben. Ausser-
dem giebt es zahlreiche Beziehungen des Menschen zum Menschen und des
Älenschen zur Sachenwelt, welche dui'ch die Beschaffenheit des Bodens, auf
dem die Menschen leben, besonders aber durch den geschichtlichen Werde-
gang, in dem sich die Menschen einer Gemeinschaft bewegt haben, verschieden
rechtlich ausgestaltet wurden; vei'schieden in politisch selbständigen Staats-
wesen, die später zu einem Einheits- oder Bundesstaate geeint wurden, ver-
schieden in den Provinzen, Bezirken und Kommunen desselben einheitlichen
Staatswesens. Können die grossen Grundgedanken des Rechts nui' auf dem
Aveiten Boden nationaler und internationaler Ausprägung gedeihen und sich
entwickeln, so nmss sich der Schutz für natürlich oder historisch individuelle
Rechtsnormen auch individuell entwickeln können. Alle grösseren Staatswesen
haben deshalb neben der gemeinsamen eine provinzielle oder noch mehr be-
grenzte Rechtsbildung gelten lassen. Sehr wohl kann Veranlassung sein, die-
selbe Handlung im Gebiete der nämlichen Rechtsgemeinschaft mit schwerer
und mit leichter Strafe, je nach den örtlichen Verhältnissen, zu bedrohen.
Man denke *in den Waldfrevel in der Ebene und an den Waldfrevel im Bann-
walde unterhalb der Stirnmoräne eines Gletschers! Im Einheitsstaate führt
die (icltung der regional begrenzten Rechtssätze auf den ermächtigenden Willen
des grösseren Staatswesens zurück. Auch innerhalb des deutschen Reiches
giebt es zahlreiche, auf grössere oder kleinere Gebiete beschränkte Straf-
drohungen, die das Reichsrecht aufgestellt hat, während das Landes-, Provin-
zial- oder Ortsrecht den Normeninhalt begrenzte. S. oben § 14, II. Aber es
giebt auch sehr zahlreiche Beziehungen der Menschen, um deren rechtliche
und strafrechtliche Ausgestaltung das Reich sich gar nicht kümmerte. Nicht
leiten auf diesen Gebieten die Gliedstaaten ihre Gesetzgebungsgewalt vom
Reiche ab; diese Gewalt ist vielmehr eine historisch selbständig entwickelte
und vom Reiche bis jetzt unberührte. Est ist das Landesstrafrecht, das
neben dem Reichsstrafrecht in den deutschen Landen gilt, nicht ebenbürtig
dem Reichsstrafrechte in Hinsicht auf die Wichtigkeit der geschützten Lcbens-
*) Heinze, Staatsrechtliche und strafrechtliche Erörterungen zu dem amtlichen
Entwurf eines Strafgesetzbuches für den norddeutschen Bund. Leipzig 1870. — Heinze,
Das Verhältnis des Keichsstraf rechts zu dem Landesstrafrecht mit besonderer Berück-
sichtigung der durch das norddeutsche Strafgesetzbuch veranlassten Landesgesetze.
Leipzig 1871. — Bin ding. Der Antagonismus zwischen dem deutschen Strafgesetzbuch
und dem Entwurf des badischen Einführungsgesetzes dazu. Freiburg i. Br 1871. —
Binding, Handbuch I, § 60—70, S. 270—331. — v. Liszt, Lehrbuch (1892) § 16, S. 95.
— Laband, Staatsrecht (2. Aufl. 1890), Bd. 1, § 59, S. 614. — Hänel, Staatsrecht des
deutschen Reiches (1892), Bd. 1, § 77—79, S. 460.
§ 43. Das Verhältnis zwischen Landes- und Reichsrecht. 85
guter und die Schwere der Strafmittel, mit denen es wirken kann; an Zahl
der Strafrechtsdrohungen und an Häufigkeit ihrer Anwendung aber das Reichs-
recht überbietend. Die Zahl der im Königreiche Bayern rechtskräftig ge-
wordenen Verurteilungen wegen Verbrechen und Vergehen gegen Reichsgesetze
(mit Ausschluss der Vorschriften über die Erhebung öffentlicher Abgaben und
Gefälle) betrug im Jahre 1888 49 736. Die Zahl der im nämlichen Jahre nur
in Forstrügesachen nach der bayerischen (iesetzgebung verurteilten Personen
betrug 102877.^)
II. Vorbehaltlich der nachher zu erwähnenden Scliranken haben die
Kinzelstaaten des deutschen Reiches nach wie vor Gründung des Reiches die
Macht, Strafgesetze zu erlassen, insoweit das Reich weder selbst Strafdrohungen
aufgestellt, noch seinen Willen zu erkennen gegeben hat, dass ein Benehmen
straflos sein soll. Ältere Landesgesetze, welche mit dem Reichsrechte nicht
kollidieren, sind erhalten geblieben. Das Prinzip ist nach der Reichsverfassung
Artikel 2 einfach; es ist das gegenteilige, wie das von der schwachen Reichs-
gewalt im Jahre 1532 in der „Vorrede" zur Carolina zum Ausdruck gebrachte.
(S. oben § 1, S. 4.) Das Reichsrecht geht jetzt dem Landesrechte vor; wo
das Reiehsrecht nicht Platz gegriffen hat, kann das Landesrecht walten. In
der Ausführung aber ist die Grenzziehung zwischen Reichs- und Landesstraf-
recht vielfach schwierig und in der Rechtslehre wie in der Rechtspflege streitig.
Schon manches Urteil wurde von den höchsten Gerichten aufgehoben, weil es
auf einem von diesen für unzulässig gehaltenen Satze des Landesrechts beruhte.
Die Schwierigkeit ist nicht gemindert, sondern vermehrt worden durch eine
Wendung im § 2 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch vom 31. Mai
1870, durch welche die Gesetzgebung über die Schwierigkeit hinwegzukommen
trachtete. Es handelte sich zunächst um das Verhältnis des neuen Gesetz-
buches zu dem bei seinem Erscheinen schon vorhandenen Strafrechte des
norddeutschen Bundes und der Gliedstaaten desselben; also um die Frage
nach dem Verhältnisse von neuem zu altem Rechte. Die während der Vor-
bereitung des Gesetzbuches vorhandene Absicht, die sämtlichen Landesstraf-
gesetzbücher formal aufzuheben, wurde fallen gelassen, namentlich um nicht
Vorschriften zu beseitigen, welche das Strafgesetzbuch unberührt lassen wollte,
die aber in einzelnen Strafgesetzbüchern enthalten waren. Man vertraute
darauf, dass die Landesgesetzgebungen ehie Revision veranstalten und das
mit dem Reichsrecht unverträgliche Gesetzesmaterial beseitigen würden. Man
beschränkte sich im Bundesrats -Entwürfe und im Gesetze auf die Wen-
dung: „Mit diesem Tage (1. Januar 1871) tritt das Bundes- und Landes-
strafrecht, insoweit dasselbe Materien betrifft, welche Gegenstand des Straf-
gesetzbuches für den norddeutschen Bund sind, ausser Kraft.'* Theorie und
Praxis haben diesen Rechtsgedanken nicht bloss in Hinsicht auf das zeit-
liche Verhältnis des neuen Bundesrechtes zum älteren Bundes- und Landesrecht
als Direktive genommen, sie glaubten darin vielmehr auch eine Kundgabe des
massgebenden Reichswillens in Bezug auf die Grenzen des Bundes- imd des
Landesstrafrechts überhaupt erblicken zu müssen. Und es lässt sieh nicht
bestreiten, dass die Zurückdrängung des vorhandenen Landesstrafrechtes durch
das junge Bundesstrafrecht eine Kraftbethätigung des Bundes gegenüber dem
Landesrechte überhaupt war. Man kann im § 2 des Einführimgsgesetzes zum
Strafgesetzbuch eine Konkretisierung des in der Bundesverfassung Artikel 2
zum allgemeinen Ausdruck gebrachten Willens der Superiorität des Bundes
erblicken. Aber man muss nicht davon ausgehen, dass der der französisclien
^) Ergebnisse der Civil- und Strafrechtspflege u. s. w. des Königreichs Bayern.
München, Christian Kaiser. Jahrgang 1889, S. 78; Jahrgang 1^88, S. 76.
86 Deutsches Reich. — Die Landesstrafgesetz^ebung.
Rechtssprache entlehnte Ausdruck „Materie" ein neues und wertvolles Element
für das Judicium finium regundorum zwischen Bundes- und Landesstrafrecht
gebracht habe. Der Ausdruck „Materie" gehört vielmehr zu derjenigen, deren
die Menschen sich zu bedienen pflegen, wenn sie einen Gedanken kund geben
wollen, dessen Tragweite sie nicht nach allen Richtungen hin erwogen haben.
Es führt nicht zum Ziele, wenn man zuerst kanonhaft den Ausdruck „Materie"
bestimmt und dann nach der dem Gesetze unterstellten Bedeutung des Be-
griffes die Lösung für die einzelne Zweifelsfrage zu gewinnen sucht. „Materie"
kann eine Mehrheit von Thatbeständen und eine Mehrheit von Gesetzen be-
deuten, welche ein gemeinsames Merkmal besitzen. Dieses Merkmal kann in
der Gleichheit oder Ähnlichkeit des bedrohten, beziehungsweise beschützten
Rechtsgutes bestehen; das einigende Merkmal kann aber auch die Gleichartig-
keit des Bedürfnisses sein, das zum Motive von äusserlich verschiedenen Ver-
brechen wird; oder man kann zu einer Materie Handlungen aus verschiedenen
Motiven aber mit gleicher Begehungserscheinung stellen. Die herkömmliche
Zusammenfassung einer Mehrheit von Handlungen mit ähnlicher Richtung und
Begehungsform in einem Gesetzesabschnitte kann diese Handlungen und die
darauf bezüglichen Gesetze als eine „Materie" erscheinen lassen. Es ist ledig-
lich eine spezielle Interpretationsfrage, ob die Reichsgesetzgebung durch ihr
Schweigen in Betreff eines konkreten Thatbestandes eine Straf losigkeitserklärung
hat zum Ausdruck bringen oder ob sie die strafrechtliche Behandlung des
Thatbestandes unberührt lassen, daher dem Landesrechte überlassen wollte.
Man nimmt z. B. an, dass die Unwahrheiten vor Gerichten und sonstigen Be-
hörden eine Materie seien, mit welcher sich der 9. Abschnitt des 2. Teiles
des Strafgesetzbuches erschöpfend und das Landesrecht ausschliessend be-
schäftigen wollte, dass dagegen der Begriff des strafbaren Eigennutzes keine
vom 25. Abschnitt erschöpfend und ausschliessend behandelte Materie sei.
Vergl. oben § 10 S. 27.
III. Das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch hat sich nicht auf die
Kundgabe des allgemeinen Rechtsgedankens beschränkt, dass das Strafgesetz-
buch das ältere Bundes- und Landesstrafrecht beseitige, soweit dieses mit dem
Strafgesetzbuche nicht zu vereinigen ist, sondern es hat im Absatz 2 des § 2
eine Anzahl von Gebieten bezeichnet, auf welchen das ältere Bundes- und
Landesstrafrecht jedenfalls in Kraft bleiben sollte. Die Aufzählung ist exem-
plifikativ, nicht enumerativ gemeint; es giebt ausser den genannten auch noch
zahlreiche andere Gebiete, auf die sich das Reichsrecht nicht bezieht, auf
denen daher die Landesgesetzgebung in Geltung blieb und zu neuer Satzung
übergehen kann. Die Bestimmung des genannten zweiten Absatzes hat aber
noch eine, über die Exemplifikation hinausreichende, Bedeutung. Auf den
erwähnten Gebieten ist das sonstige Verhältnis zwischen Bundes- (Reichs-)
und Landesrecht in sein Gegenteil verkehrt. Das Landesrecht darf auf diesen
Gebieten mit dem Reichsrecht kollidierende Vorschriften aufstellen. Das
Reichsrecht will hier nur herrschen, insoweit nicht das Landesrecht ab-
weichende Bestimmungen aufgestellt hat; das Reichsrecht ist hier subsidiäre
Quelle und verhält sich zum Landesrechte wie das alte gemeine Recht zum
Landesrechte.^) Die Gebiete, auf denen das Einführungsgesetz gegenüber dem
besonderen Bundes- (Reichs-) und Landesrechte Zurückhaltung übte, waren
die Vorschriften über strafbare Verletzungen der Presspolizei-, Post-, Steuer-,
») Die Frage ist sehr bestritten. Vergl. RG.-E. Bd. 4, S. 51; Binding, Hand-
buch, I, § 78, S. 344; dagegen v. Liszt, Lehrbuch, § 16, Note 3 (1892), S. 98. Beson-
ders prägnant tritt dieses Verhältnis z. B in t» 6 des preuss. Feld- und Forstpolizeiges.
vom 1. April 1880 (unten t» 46 No. 15) entgegen. Vergl. auch Art. III des baver. Ges.
vom 8. Dezember 1889 betr. den Malzaufschlag. Baver. GVBl. S. 586.
§ 48. Das Verhältnis zwischen Landes- und Reichsrecht. 87
Zoll-, Fischerei-, Jagd-, Forst- und Feldpolizeigesetze, die Vorschriften über
Missbrauch des Vereins- und Versammlungsrechts und über den Holz- (Forst-)
Diebstahl. Hinsichtlich der Zoll- und einzelner Steuergesetze gab es bei dem
Inkrafttreten des Strafgesetzbuches schon einige Straf bestimmungen des Bundes,
vergl. oben § 28, die erhalten blieben, insoweit sie nicht durch neueres
Reichsrecht geändert sind. In Bezug auf die Presspolizei, das Postwesen,
mehrere Steuern und Abgaben, sowie einzelne Gebiete der Fischerei hat
die spätere Reichsgesetzgebung zahlreiche Strafbestimmungen aufgestellt und
insoweit das nach dem EinführungBgesetz zum Strafgesetzbuch erhalten
gebliebene Gebiet der Landesstrafgesetzgebung eingeschränkt.*) Soweit das
aber nicht der Fall, namentlich bezüglich des Landessteuerwesens, der Fischerei-,
Jagd-, Forst- und Feldpolizei, des Vereins- und Versammlungswesens und des
Holz- (Forst-) Diebstahls gelten nach wie vor bis zum etwaigen Erlass eines
Reichsgesetzes die landesrechtlichen Strafbestimmungen, und zwar mit Aus-
schluss der Bestimmungen des Reichsrechtes, welche auf diese Thatbestände
anwendbar wären. Die falsche, unter Handgelübde an Eidesstatt abgegebene
Steuererklärung wird weder als Verletzung der eidesstattlichen Versicherung
nach § 156 des Strafgesetzbuches, noch als Betrug nach § 263 des Straf-
gesetzbuches gestraft, Entsch. des RG. XIV S. 294, XXII No. 34, wenn das
betreflFende Landesstrafrecht Spezialbestimmungen darüber enthält, sollten auch
die fraglichen Thatbestände die Merkmale der §§ 156 oder 263 des Straf-
gesetzbuches erfüllen. -) Der dritte Absatz des § 2 des Einführungsgesetzes
zum Strafgesetzbuche, welcher sich auf die Bestrafung des Bankbruchs von
Nichtk^lufleuten bezog, ist durch die deutsche Konkursordnung gegenstandslos
geworden.
IV. Auf den der Landesgesetzgebung überlassen gebliebenen (Jebieten
konnten nicht bloss die bestehenden Gesetze in Geltung bleiben, die Landes-
gesetzgebung hatte und hat fortwährend die Macht zu neuer Thätigkeit. Sie
kann auf diesen Gebieten nicht bloss die Thatbestände nach ihrem Ermessen
begrenzen, die Strafen, vorbehaltlich der unter V erwähnten Schranken, nach
Art und Mass bestimmen, sowie besondere Umstände als Gründe der Straf-
erhöhung oder Minderung ausprägen: die Landesgesetzgebung hat vielmehr
auf ihren Gebieten auch die Macht, hinsichtlich der allgemeinen Voraus-
setzungen der Strafbarkeit Vorschriften aufzustellen, die vom Reichsrechte
abweichen. In der Doktrin ist die Frage im einzelnen nicht unbestritten.
Unter Anerkennung der (iültigk(ät der betreffenden Bestimmungen durch die
höchsten Gerichte (Oberlandesgerichte und Reichsgericht) sind aber mehrere
Landesgesetzo zu solchen Abweichungen von den Grundsätzen des gemeinen
Reichsrechts gelangt; namentlich in Hhisicht auf die Straf barkeit des Versuches
und der Hülfeleistuug. '*) Insoweit aber das besondere Landesstrafrecht über
M Hinsichtlich des Vereins- und Versammlungsrechtes verffl. oben § 27 II.
■) Das preuss. Gesetz, betr. die Erbschaftssteuer vom 30. Mai 1873, GS. S. 329,
*^ 42 Abs. 2 schliesst die Anwendung seiner Strafbestimmungen aus, wenn die Täuschung
der Steuerbehörde mittelst l^rkundenfälschung oder eidesstattlicher Versicherung unter-
nommen ist und wegen dieser Vergehen Bestrafung eintritt. Dadurch ist das Regel-
verhÄltnis zwischen Reichs- und Landesrecht wieder hergestellt.
"I Verffl. das preuss. Forstdiebstahlsgesetz vom 15. April 1878, GS. S. 222, § 4,
das preuss. Feld- und Forstpolizeigesetz vom 1. April 1880, GS. S. 230, § 78. Vergl.
ferner preuss. Gesetz über die Bestrafung unbefugter Aneignung von Mineralien
vom 26. März 1856, GS. S. 203, § 2 Abs. 2; preuss. Gesetz, betr. die unbefugte An-
eignung von Bernstein vom 22. Februar 1867, GS. S. 272, Art. I, Abs. 2. Das
preussische Forstdiebstahlsgesetz § 10 schliesst die im § 57 des RStGB. für die
Jugend vorgesehene Strafermässigung aus; ebenso das Feld- und Forstpolizeigesetz
§ 4. Vergl. sodann bayer. Forstgesetz vom 28. März 1852 (unten § 46 No. 15)
88 Deutsches Reich. — Die Landesstrafgesetzgebung*.
die allgemeinen Bedingungen der Strafbarkeit keine Vorschriften enthält,
kommen die Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches auch auf dem Gebiete
des Landesstrafrechts zur Anwendung, das sonach in gewissem Sinne der
Mittelpunkt der Landes- wie der Reichsstrafgesetzgebung ist. *) Ja das Reichs-
strafgesetzbuch bildet die Ergänzung der vor seinem Erscheinen erlassenen
Landesstrafgesetze selbst in denjenigen Beziehungen, in welchen diese Gesetze
auf das bei ihrer Erlassung geltende Landesstrafgesetzbuch ausdrücklich ver-
wiesen. Dieses Gesetzbuch ist insoweit, auch wenn es von der Landes-
ausführungsgesetzgebung nicht aufgehoben wurde — s. den folgenden Para-
graphen — , wegzudenken, und die Ergänzung ist aus dem Reichsstrafgesetz-
buche zu entnehmen. Einf.-Ges. zum StGB. § 3.
V. In einigen Beziehungen hat das Reichsrecht, namentlich das Ein-
führungsgesetz zum Strafgesetzbuch, Normativbestimmungen aufgestellt, die
für die Landesstrafgesetzgebung absolut massgebend sind.^) Ein widersprechender
Satz des Landesrechts würde keine Gültigkeit haben. !• Seit der Geltung des
Reichsstrafgesetzbuches — 1. Januar 1871, beziehungsweise 1. Januar 1872
— darf in Anwendung von landesgesetzlichen Straf bestimmungen auf keine
anderen Strafarten erkannt werden, als auf diejenigen, welche im Reichs-
strafgesetzbuche enthalten sind. Ältere Landesgesetze, welche andere Straf-
arten ankündigten, z. B. Arbeitshaus als Hauptstrafe, waren und sind, auch
wenn die darin geschützten Normen fortbestehen, nicht mehr anwendbar, wenn
nicht die Landesausführungsgesetzgebung für den Ersatz der unzidässig ge-
wordenen Strafen durch Strafen des Strafgesetzbuches gesorgt hat. Die vor-
stehende Bestimmung ist nicht bloss eine Direktive für die Landesgesetzgebmig,
sondern sie ist eine unmittelbar praktische Norm für die deutschen Gerichte.
Eine Surrogierung unzulässiger Landessti'afen durch die Sti'afen des Reichs-
strafgesetzbuches seitens der Gerichte, was einzelne Schriftsteller für zulässig
gehalten haben, würde mit dem § 2 des Strafgesetzbuches in Widerspruch
stehen. Unbedenklich jedoch dürfte die Ersetzung von kleinen, innerhalb
6 Wocjien sich bewegenden, Gefängnis- durch entsprechende Haftstrafen sein,
so z. B. der Gefängnisstrafe der preussischen Gesindeordnung vom 8. November
1810 (§ 51). Und wenn in Landesgesetzeu anstatt der Gefängnis- oder Geld-
strafe Forst- oder Gemeinde- Arbeit angedroht oder nachgelassen ist, so behält
es hierbei sein Bewenden. Einf.-Ges. zum StGB., § 6, Abs. 2. Durch §6
ist die Vermögenskonfiskation als solche ausgeschlossen. Auch die körperliche
Züchtigung ist ein vom § 6 nicht anerkanntes, daher verworfenes Mittel der
Strafrechtspflege. Die deutsche Seemannsordnung (§ 79) verbietet die körper-
liche Züchtigung auch als Diszii)linarmittel zur Aufrechthaltung der Ordnung
auf Schiffen. Ebenso findet sich dieses Verbot in Landesgesetzen und Ver-
ordnungen, welche sich auf die Behandlung der Sträflinge in Gefängnissen
beziehen. Bayer. Ges. vom 26. Dezember 1871, beti*. die Einführung des
StGB, in Bayern, Art. 36, Abs. 2, desgleichen bayer. Ausf.-Ges. vom
18. August 1879 zur Reichs-Strafprozessordnung, Art. 27, Abs. 2; preussisches
Art. 56; bayer. Ausführungsgesetz vom 18. August 1879 (unten § 44 No. 4) Art. 5,
welcher das Maximum der Übertretungsstrafe höher als im Reichsrechte bestimmt;
ebenso bayer. Berggesetz vom 20. März 1869, Art. 206; bayer. Malzaufschlaggesetz
in der Fassung des Gesetzes vom 8. Dezember 1889, GVBl. S. 600. Art. 65, UmM'and-
lung einer Übertretungsgeldstrafe in Freiheitsstrafe bis zu 3 Monaten. Dazu bayer;
Ges. vom 18. August 1879 Art. 5; s. unter V.
*) Vergl. namentheh das bayer. Ausführungsgesetz vom 18. August 1879 zur
Reichs -Strafprozess-Ordn. Art. 4, ferner das baver. Malzaufschlaggesetz vom 8. De-
zember 1889 Art. 49.
') Vergl. Olshausen, Kommentar. 4. Aufl. 1892. S.37. Einleitende Bestinunungen,
Bemerkung 2 c.
§ 4fS. Das Verhältnis »wischen Landes- und Reichsrecht. 89
Gefängnisreglement vom 16. März 1881 ('§ 55 Schlusssatz). In den preussi-
schen Zuchthäusern, im Königreich Sachsen, in Mecklenburg, Schwarz-
hurg-Rudolstadt, Hamburg und Lübeck hält man die Anwendung der körper-
lichen Züchtigung als Disziplinannittel noch für zulässig.^) An dieser Stelle
mag es genügen, die Frage aufzuwerfen, ob dieser Zulassung angesichts
des § 6 des Einführungs- Gesetzes noch Wirksamkeit beigelegt werden darf.
Der Stock und die Rute haben genau denselben Effekt, ob sie auf Grund des
Strafgesetzbuches oder auf Grund eines Gefängnisreglements appliziert werden;
die bedenkliche Wirkung dieses Mittels wird dadurch nicht gemildert, dass es
als „Disziplinannittel" zur Anwendung gebracht wird. Es wird sich also
fragen, ob man durch die Beifügung des Wortes „disziplinar" über den
zweifellosen Negativwillen des Reichsrechts hinwegzukommen berechtigt ist.
Mit der Bezeichnung einer Massnahme als polizeilicher oder als Ver-
waltungsmassregel setzt sich die Rechtfertigung landesrechtlicher Bestimmungen,
welche strafähnliche Mittel androhen, mit dem § 6 zuweilen auseinander. So
hat man es in dem auf Beachtung der reichsrechtlichen Schranken sorgfältig
bedachten Bayern trotz des § 6 des Einführungs-Gesetzes für zulässig gehalten,
mit gewissen Verurteilungen aus dem bayerischen Malzaufschlag -(Bier-
besteuerungs-) Gesetze die zeitliche Entziehung der Befugnis zum Malzbrechen
zu verbinden, weil dies keine (eigentliche Strafe, sondern eine polizeiliche
Massregel sei. Vergl. überdies Reichs-Gew.-O. § 143, Abs. 2. Auch beztlg-
lich der in privatrechtlichen Bestimmungen und in Verwaltungsgesetzen vielfach
vorkommenden „Verwirkungen** von Vermögenswerten und Befugnissen beruhigt
man sich gegenüber dem § 6 unter der Motivierung, dass solche Verwirkungen
keine Strafen seien. Es bedarf noch eingehender Untersuchungen über das
Verhältnis der polizeilichen Massregel und der sogenannten Verwirkung zum
Strafbegriff, um mit Sicherheit über die reichsrechtliche Zulässigkeit der landes-
rechtlichen Polizeimassregeln und Vei*wirkungen urteilen zu können.*) Nament-
lich ist die Zulässigkeit der von der Judikatur mehrfach als fortgeltend an-
erkannten fiskalischen Erbschaftsentreissungen keine ausgemachte Sache. '^)
Besonders bestritten ist das Verhältnis des Reichsrechts zu den „eigentlichen"
Privatstrafen.*)
Bei der Fülle der hier in Bc^tracht kommenden Fragen und des darauf
bezüglichen Quellenmaterials, sowie gegenüber den zahlreichen, zum Teil sehr
umfangreichen Untersuchungen und Erörterungen über diese Fragen kann hier
nicht in eine neue Erörterung eingetreten werden. Dagegen mag es statthaft und
angemessen sein, die Ergebnisse der Prüfung zu verzeichnen. Es muss dabei zum
Teil auf den § 2 des Eiuführungsgesetzes zum Strafgesetzbuche» zurückgegriffen
werden, a) Auf den Unterschied von Privat«trafe und Verwirkung lässt sich
*) V. Jagemann in dem durch ihn und v. Holtzendorff herausgegebenen Hand-
buch des Gefängniswesens. Hamburg 1888. Bd. 2, S. 94.
«) Vergl. Bin ding, Handbuch, I, § 70, S. 326.
*J Vergl. H. Seuffert in v. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts
Bd. 1, S. 311.
*) Vergl. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts i^ 326, Note 4 und '»,
7. Aufl. 1891. Bd. 2, S. 222; vergl. auch § 123 Note 4a, Bd. 1, S. 350 und § 472 Note
7a und 8, Bd. 2, S. 701. — Binding, Handbuch, § 65, III, Bd. 1, S. 304, Note 27. —
V. Liszt, Lehrbuch (1892), § 17, S. 101. — Mandry, Der civilrechtliche Inhalt der
Reichsgesetze, § 22, 3. Aufl. S. 220. — v. Iheriug, Rechtsschutz gegen injuriöse
Rechts verl et zimgen in den Jahrbüchern für die Dogmati k des heutigen römischen
und deutschen Privatrechtes. Bd. 23 (1885), S. 155—338 (auch in den gesammelten
Aufsätzen Bd. 3, Jena 1886, S. 233—443). — Dernburg, preuss. Privatrecht, Bd 1,
§ 125, Anmerkimg 2. — Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. Weimar 187S.
S. 33— 40. — Ernst Landsberg, Injuria und Beleidigimg. Berlin 1886, S. 97 fl'.
90 Deutsches Reich. — Die Landesstrafgesetzgebung'.
die Lösung der Frage aus dem vorerwähnten Grunde nicht abstellen.') b) Die
(iepflogenheiten der deutschen Strafgesetzgebung führen zu der Annahme,
dass das deutsche Strafgesetzbuch mit seinem Einführungsgesetz nur die
grundlegenden und wichtigeren Bestandteile des öffentlichen Straf rechts
behandeln wollte,*) und dass die Einrichtung der Privatstrafe, wie sie in dem
vorhandenen Rechte ausgebildet war, abseits von den Gegenständen prin-
zipieller Regelung lag. Es ist namentlich anzunehmen, dass das Einführungs-
gesetz zum Strafgesetzbuch und speziell dessen § 2 auf die Einrichtung der
Privatstrafen sich nicht bezieht, insoweit diese auf Privatgenugthuung abzielen.
Nicht das Fehlen des Strafcharaktere führt zu dieser Annahme, sondern das
Fehlen des öffentlichen, d. h. Interessen des Publikums berührenden Charakters
der Privatstrafe.*) c) Aus dem gleichen Grunde kann auch aus § 6 des Ein-
führungsgesetzes keine unmittelbare Liösung der auf die Privatstrafen bezüglichen
Fragen gewonnen werden. Die Willensäusserung jedoch, welche im § 6 des
Einführungsgesetzes enthalten ist, lässt ersehen, dass die Gesetzgebung, wenn
ihr die Frage der Privatstrafen unterbreitet worden wäre, die auf Abbitte,
Widerruf und Ehrenerklärung gerichteten Privatstrafen als mit den herrschenden
Anschauungen unverträglich abgelehnt haben würde. Diese Mittel sind zweifel-
los zur Erreichung öffentlicher Zwecke ausgeschlossen; sie erscheinen im
Dienste der Privatgenugthuung noch weniger als zulässig. Insoweit aber die
Privatstrafen auf vermögensrechtliche Leistungen des Schuldigen, namentlich
auf Geldzahlungen gerichtet sind, steht ihnen § 6 des Einführungsgesetzes
nicht im Wege, weil für den Straffälligen das Wesen der Strafe nicht alteriert
wird, wenn die von ihm zu bezahlende Summe dem Verletzten anstatt der
Staatskasse zufliesst. Die auf Geldzahlung gerichtete Privatstrafe ist eines von
den im § 6 genannten Straf mittcln. So hat auch das prenssische Forstdieb-
stahlsgesetz vom 15. April 1878 anstandslos aus der früheren Gesetzgebung
die Bestimmimg aufgenommen, dass die wegen Forstfrevels zu bezahlende
Geldstrafe ausser der Entschädigung dem Beschädigten zuzuwenden sei. S. unten
§ 46, No. 15. Wegen ihres Inhaltes steht der Anwendung der Privatstrafe,
insoweit sie auf Geldzahlung gerichtet ist, die Strafgesetzgebung des Reiches
nicht im Wege. Die Ehescheidungsstrafen können im Gebiete des gemeinen,
wie des preussischen und französischen Rechts auch heutzutage noch neben
der öffentlichen Strafe des Ehebruchs geheischt werden.*) d) Die Prüfung der
andern Fälle der Privatstrafe und der darauf bezüglichen und anwendbaren
Bestinmiungen veranlasst aber allerdings zu der Annahme, dass die Mehrzahl
derselben als beseitigt anzusehen ist, zum Teil schon nach dem altem Landes-,
zum Teil nach dem Reichsstrafrechte. Insoweit nämlich die Privatstrafen als die un-
vollkommenere Form des Schutzes des Publikums gegen weitere Störung des
Rechtsbrechers erscheinen, insoweit sie vorzugsweise die publica utilitas ver-
folgen — L. 42, § 1 D. de procur. 3, 3, L. 1, §4 D.'depos. 16, 3 — sind
die Privatstrafen schon durch ältere Strafgesetze beseitigt, welche auf die von
*} Man bezeichnet z. B. die Folgen der eigeumächtigen Selbsthülfe als Verwir-
kung. Diese Bezeichnung trifft aber zum mindesten dann nicht zu, wenn der Nichtr
eigentümer die fremde Sache, die er für eine eigene gehalten und eigenmächtig an
sich genommen hat, zurückgeben und ausserdem wegen der Selbsthülfe den Wert
der Sache bezahlen muss. Übrigens lässt sich gerade für diesen Fall der Privatstrafe
ziemlich sicher eine derogatorische Praxis nachweisen. Vergl. Entscheidungen des
Reichsgerichts in Civilsachen Bd. 11, S. 244, Bd. 18 No. 43.
*) Vergl. auch Entscheidungen des Reichsgerichts in Civilsachen Bd. 23, S. 321,
Zeile 17 von unten.
*) Vergl. S. Brie in den Verhandlungen des deutsclien Jiiristentages. XX. Jahr-
gang, Bd. 2, S. 235 f., namentlich S. 243 f.
*) Vergl. Brie a. ().
§ 43. Das Verhältnis zwischen Landes- und Heicbsrecht. 91
der Privatstrafe betroffenen Thatbestände öffentliche Strafen androhten.*) Jeden-
falls würde eine, einen solchen Thatbestand betreffende Bestimmung des
Reichsrechtes in Gemässheit des § 2 des Einführungsgesetzos die Privatstraf-
klage ausschliessen. Es ist anzunehmen, dass die moderne Strafgesetzgebung
neben dem vollkommeneren Schutze des Publikums, den sie bot, nicht auch
noch den unvollkommeneren der Privatstrafe gewähren wollte. Das gilt nament-
lich von der actio furti, der actio vi bonorum raptorum, soweit diese auf mehr
als die Entschädigung geht, von dem Strafzusatze der lex Aquiiia und für
die schwereren Fälle der actio injuriarum aestimatoria, sowie für die Folgen
der widerrechtlichen Selbsthülfe .^) Bei Beleidigung(*n im Sinne des Strafgesetz-
buches und bei Körperverletzungen ist die aestimatoria heutzutage jeden-
falls nach § 11 des Einführungsgesetzes zur deutschon Strafprozessordnung
ausgeschlossen, welcher die Verfolgung dieser Delikte ausdrücklich nui' auf
dem von der Strafprozessordnung vorgezeichneten Wege, nämlich mittels der
öffentlichen Klage des Staatsanwalt<»8 oder mit der, gleichfalls auf öffentliche
Strafe abzielenden Privatklage des Verletzten zulässt.^) Insoweit aber, ab-
ges(!hen von diesen Fällen, die Privatstraf klage nach den Intentionen der in
Betracht kommenden Rechts bildung die bequemere Form für einen Entschädi-
gungsanspruch ist oder eine Privatgenugthuung für Verletzung idealer Rechts-
güter gewähren soll, und keine partikularrechtliche Beseitigung nachzuweisen
ist, düi'fte ihr heutiger Gebrauch nicht zu ])eanstanden sein. Im Gebiete des
gemeinen Rechts wird man sie z. B. gewähren müssen dem Arzte, bei dem
mutwillig die Nachtglocke gezogen wird, um ihn im Schlafe zu stören; man
wird sie dem Dichter nicht versagen, dessen an eine Zeitungsredaktion zur
Veröffentlichung geschicktes (reistesprodukt mit einer Widmung an eine dem
Dichter fremde Person abgedruckt wird. — Durch die Aufstellung des Antrags-
erfordemisses kann zum Ausdruck gebracht sein, dass die Strafgesetzgebung
in der fraglichen That, wie z. B. bei dem einfachen Hausfriedensbruche haupt-
sächlich und zunächst eine Verletzung von Privatinteressen erblickte. Hat in
einem solchen Falle der Verletzte die dreimonatliche Antragsfrist verstreichen
lassen, so dass die öffentliche Klage ausgeschlossen ist, so wird der actio in-
juriarum aestimatoria weder L. 6 D. de in^jur. 47, 10 noch § 2 des Einf.-Ges.
zum StGB, entgegen gehalten werden können. Es wäre wünschenswert, dass
die deutsche Gesetzgebung angesichts der Unsicherheit des bestehenden R(»chts
und dessen Lücken sich zu einer ausdrücklichen Regelung entschlösse.
2. Eine Nonnativbestimmung enthält § 5 des Einf.-Ges. zum StGB.
Darnach ist der Kreis der Straf mittel, mit welchen die Landesgesetzgebung
auf den ihr verbliebenen Gebieten wirken darf, seit der Geltung des Straf-
gesetzbuches sehr eingeschränkt. Die Androhung der drtistischer wirkenden
Mittel hat die Reichsgesetzgebung sich selbst vorbehalten. Das Landesrecht
d^^rf seit dem 1. Januar 1871 und 1872 selbstverständlich keine Straf art ver-
hängen, die das Strafgesetzbuch nicht kennt; es darf aber auch von den
^) Das spätere römische Recht gab die Wahl zwischen actio und crimen, Privat-
stratklage und Kriminalanklage extra ordinem; und mehrfach Ündet sich der Gedanke
ausgesprochen, dass durch den Gebrauch der einen die andere Klage ausgeschlossen
werde. L. 57 (56) § 1 D. de furtis 47, 2; L. 6 D. de injur. 47, 10. Vergl. dagegen L. 9,
§ 5 D. de publicanis: „Quod illicite publice privatimque exactum est (vergl. deutsches
StGB. *$ 853), cum altero tanto passis iiijuriam exsolvitur. per vim vero extortum
(StGB. §889, Abs. 2) cum poena tripli restituitur: amplius extra ordinem plectantur:
alterum enim utilitas privatorum alterum rigor publicae disciplinae postulat.''
2) Vergl. oben S. 90, Note 1 a. E.
') Auf eine utilis Aquiliae actio (L. 18 pr. D. ad leg. Aq. 9, 2) mit Beweis-
erleichterung nach § 2H0 der deutschen Civil -rrozess- Ordnung bezieht sich diese
P'.inschrftnkung selbstverständlich nicht.
92 Deutsches Reich. — Die Landesstrafgcsetzgebnng.
Mitteln des Strafgesetzbuches nur androhen: Gefängnis bis zu 2 Jahren,
Haft, Geldstrafe (uneingeschränkt), Einziehung einzelner Gegenstände und Ent-
ziehung öffentlicher Ämter. Die Todesstrafe, das Zuchthaus, Gefängnis über
2 Jahre, Festungshaft, die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, die
Amterunfähigkeit, die Polizeiaufsicht, sowie die Nachhaft im Arbeitshause
stehen der Landesgesetzgebung nicht mehr zur Vorfügung. Man nimmt an^
dass ältere Strafgesetze, auch wenn sie härtere, aber dem Reichsrechte be-
kannte Strafen androhen, z. B. die preussische Verordnung vom S.Juli 1844,
betr. die Bestrafung des Handels mit Negersklaven (Ges.-S. 1844, S. 399, § 3)
noch Gültigkeit haben; freilich mit Einschränkung der Strafdrohungen auf
die nach dem Reichsrechte zulässigen Masse.
Als Normativbestimmungen sind ferner zu erachten: 3. die Vorschrift de&
§ 7 des Strafgesetzbuches, dass eine im Auslande vollzogene Strafe auf die im In-
lande zu erkennende in Anrechnung zu bringen ist, wenn wegen derselben
Handlung im Gebiete des deutschen Reiches abermals eine Verurteilung er-
folgt. 4, Das Auslieferungsverbot des § 9. 5. Der Ausschluss der Verfolgung
der Landtagsmitglieder wegen ihrer Abstimmungen und der in Ausübung ihres
Berufes gethanen Äusserungen durch § 11 des StGB, und 6. das Privilegium
der Presse nach § 12 des StGB.
Die Bestrafung der Erben als solcher wegen der vom Erblasser be-
gangenen Delikte widerstreitet dem Geiste des Reichsstrafrechts, das die Voll-
streckung einer Geldstrafe in den Nachlass nur unter der Voraussetzung zu-
lässt, dass das Urteil bei Lebzeiten des Verurteilten rechtskräftig geworden
ist. StGB. § 30. Das Landesrecht wäre trotzdem nicht gehindert, auf seinem
Gebiete die Bestrafung der Erben, z. B. wegen Steuerdefraudationen des Erb-
lassers, vorzuschreiben. Solche Vorschriften finden sich in derwürttembergischeu
Steuergesetzgebung.^) Das Reichsgericht hat denselben aber die Anwendbar-
keit versagt. Es fehle „eine prozessuale Form, welche die Anwendung dieser
materiellen Anordnung ermöglichen würde". Die Strafprozessordnung setze
„einen lebenden Beschuldigten voraus"; gegen einen Verstorbenen oder gegen
einen Nachlass, eine Sachgesamtheit, könne nicht verfahren werden. Das
sogenannte objektive Strafverfahren (St-PO. §§ 477 — 479) komme hier nicht
in Frage. Das verurteilende Erkenntnis des Untorgorichts wurde aufgehoben
und das Strafverfahren als unzulässig eingestellt.*)
s^ 44. Die Landes-EInführungs^esetze zum Strafgesetzbnche. ^)
In 55 ^ ^^^^ Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuche wurde zur Ab-
schneidung jedes Zweifels die Befugnis der Landesgesetzgebungen anerkannt,
t?bergangsbestimmungen zu treffen, um die in Kraft bleibenden Landesstraf-
gesetze mit den Vorschriften des Strafgesetzbuches in Übereinstimmung zu
bringen. Der Gesetzgebung der einzelnen Staaten wurde es anheimgegeben,
die Konkordanz der Landes- mit der Bundesgesetzgebung herzustellen. —
*) Württembergisches Gesetz vom 19. September 1852, betr. die Steuer vom
Kapital-, Renten-, Dienst- und Berufseinkommen, Art. 11 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 2,
württembergisches Gesetz vom 15. Juni 1853, betr. die Besteuerung des Einkommens
von Kapitalien u. s. w. für die Zwecke der Amtskörperschaften und Gemeinden, Art. 5.
-) Entscheidung des Reichsgerichts in Strafsachen Bd. 18, No. 3, S. 14, besonders
S. 20—23.
'*) Heinz e. Das Verhältnis des Reichsstrafrechts zu dem Landesstrafrecht. Leipzig
1871, besonder sS. 4— 19. Das bedeutendste, das bayerische vom 26. Dezember 1871, war
zur Zeit, als Heinze's Buch erschien, noch nicht erfassen. — Rüdorf f, Strafgesetzbuch
für das deutsche Reich. Mit Kommentar. 2. Aufl. Berlin 1877, S. 61—70, 4. Aufl. Berlin
\X92, S. 49. — Bin ding, Handbuch, I, § 19, S. 97.
§ 44. Die Landes-Einfühnuigsgcsetze zum Strafgesetzbiiche. 93
!• Preussen und Waldeck (s. oben § 2, S. 7 a. E.) glaubten es ihren Gerichtiin
überlassen zu können, über die Einwirkungen des neuen Bundesrechtes auf
den Bestand ihres Landesstrafrechtes von Fall zu Fall zu entscheiden. In
Preussen ergingen nur eine Verfügung des Ministers des Innern und dos
Justizministers vom 21. Januar 1871, Justiz-Min.-Bl. S. 35, betr. die vor-
läufige Entlassung (deutsches StGB. §§ 23 — 26), sowie eine Instruktion des
Ministers des Innern vom 21. April 1871, Justiz-Min.-Bl. S. 126, in Betreff
der Polizeiaufsicht. \) 2. Einige Staaten erliessen Übergangsgesetze, beziehungs-
weise Verordnungen, ohne indessen über die Fortgeltung der vorhandenen
Strafgesetzbücher Bestimmung zu treffen. Dahin gehören das Königreich
Sachsen, die beiden Mecklenburg, Sachsen -Meiningen, Altenburg, Sachsen-
Koburg-Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Reussä. L..
Reuss j. L., Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck und Elsass-Lothringen. 3. In
zehn Staaten (Bayern, Württemberg, Baden, Hessen, Sachsen-Weimar, Olden-
burg, Braunschweig, Anhalt, Hamburg und Bremen) wurden dagegen die vor-
handenen Strafgesetzbücher, in Bremen das noch geltende gemeine Recht,
ganz oder unter einzelnen Vorbehalten aufgehoben. 4. Die sorgfältigste und
anerkannt mustergültige Revision des Bestandes an Strafgesetzen wurde in
Bayern^) vollzogen und zwar durch das Gesetz vom 26. Dezember 1871, den
Vollzug der Einführung des Strafgesetzbuches für das deutsche Reich in Bayern
betreffend, bayer. Gesetzbl. 1871 und 1872, No. 4, S. 81. Ein grosses Verdienst
an diesem mühsamen und Staats- wie strafrechtlich interessanten (jesetze hat "
der damalige Appellationsgerichtsrat im Justizministerium Dr. Julius Staudinger.
Das Gesetz vom 26. Dezember 1871 ist fonnell bald überholt worden. An-
lässlich der Einführung der auf das Prozessrecht sich beziehenden Reichs-
justizgesetzgebung der Jahre 1877 — 1879 kam es in Bayern wie in den
andern Ländern des deutschen Reiches zu einer Ausführungsgesetzgebung.
Und in dem Gesetze zur Ausführung der Reichs- Strafprozessordnung vom
18. August 1879 nahm die bayerische Gesetzgebung neuerdings Anlass, eine
Revision im Bestände ihres Strafrechts zu veranstalten. Bei dieser Gelegenheit
wurde auch das vorher erwähnte bayerische Einführungsgesetz zum Reichs-
strafgesetzbuche vom 26. Dezember 1871 wieder aufgehoben. Trotz dieser
Aufhebung ist das Gesetz vom 26. Dezember 1871 noch immer für Bayern
von Bedeutung und für jede Übergangsgesetzgebung ein mustergültiges Vorbild,
da es durch Ausserkraftsetzung der bayerischen Gesetzbücher und Gesetze,
die vor dem Reichsstrafgesetzbuche galten, in wohlgelungener Weise das
Judicium finium regundoruni zwischen Reichs- und Landesrecht gezogen hat.
„Vom 1. Januar 1872 an — bestimmte dieses Gesetz — gelten im Königreiche
Bayern neben den Straf bestimmungen der Reichsgesetze, sowie der in Bayern
verkündeten Zollvereinsgesetze (vergl. oben § 28 I, S. 52), von den noch in
Kraft stehenden Bestimmungen des Landesstrafrechts fernerhin nur mehr die-
jenigen, welche in dem gegenwärtigen Gesetze oder in dem Polizeistrafgesetz-
buche'^) für Bayern enthalten oder als fortbestehend bezeichnet sind. Alle
übrigen Bestimmungen des bayerischen Landesstrafrechts, welche nicht bereits
durch die am 1. Januar 1872 zur Einführung kommenden Reichsgesetze auf-
gehoben werden, treten von demselben Tage an kraft des gegenwärtigen Ge-
setzes ausser Geltung." Das ältere Landesstrafrecht, das nicht ausdrücklich
aufrecht erhalten wurde, trat also auf alle Fälle ausser Kraft. War es den
*) Die allgemeine Verfügung des Justizministers vom 28. Dezember 1870 betraf
die Zuständigkeit in Strafsachen.
*) Auch die Gesetzgiabung von Anhalt hat sorgfältige Revision gehalten, vergl.
Gesetz vom 30. Dezember 1870, Bd. 5 der GS. S. 1675.
3) Vergl. unten § 45, II.
94 Deutsches Reich. — Die Landesstrafgesetzgebnng.
Gerichten zweifelhaft, ob das Landesrecht s^on durch das Keichsrecht in Ge-
mässheit des § 2 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch ausser Wirk-
samkeit gesetzt wurde, so wirkte als Reserveaufhebung der bayerische Artikel 1
des Gesetzes vom 26. Dezember 1871. Um keinen Zweifel hinsichtlich der
wichtigeren strafgesetzlichen Bestimmungen zu lassen , bezeichnete sodann
Artikel 2 des bayerischen Gesetzes in 24 Nummern Gesetzbücher und Gesetze,
die aufgehoben sein sollen, darunter das bayerische Strafgesetzbuch und
Polizeistrafgesetzbuch vom 10. November 1861. Artikel 3 des bayerischen
Gesetzes vom 26. Dezember 1871 bezeichnete umgekehrt das zerstreut vor-
kommende Landesstrafrecht, welches ausser dem Reichsrechte, dem neu
redigierten Polizeistrafgesetzbuche und den in diesem Gesetze selbst enthaltenen
Spezialstraf bestimmungen noch in Geltung bleiben sollte. Es wäre zu wünschen,
dass die deutschen Bundesstaaten von Zeit zu Zeit solche legislatorische Re-
visionen über den Bestand ihres Strafrechts veranstalteten. Das Verlangen,
dass jeder die Strafgesetze seines Landes kennen müsse, erscheint sonst als
eine gar zu grosse Zumutung! Eine Zusammenstellung der in den deutschen
Bundesstaaten bei Gelegenheit der Einführung des Strafgesetzbuches erlassenen
Einführungs- und Übergangsgesetze findet sich in den zwei ersten Auflagen
des Kommentars zum Strafgesetzbuch von Rüdorff, in der zweiten, Berlin
1877, S. 63 — 70. Vergl. auch die in der Note zur Paragraphenüberschrift
erwähnte Schrift von Heinze, S. 4 — 20.
§ 45. Die Art der Quellen des deutschen Landesstrafrechts.^)
I. In allen Bundesstaaten finden sich einzelne vollständige Strafgesetze,
d. h. Gesetze, welche, wie in der Regel das Strafgesetzbuch, Norm und Straf-
drohung in einem Gedankengange verbinden. Abgesehen davon sind die
staatsrechtlichen Vorschriften und Gepflogenheiten in Bezug auf die Technik
der Strafrechtssatzung verschieden. In Bayern, Württemberg und Baden
hält man in Übereinstimmung mit dem französischen Rechte an dem Prinzip
des Blankettstrafgesetzes fest. S. oben S. 34 § 14, II. Dem gegenüber stellt Ar-
tikel 8 der preussischen Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 das Prinzip
auf: „Strafen können nur in Gemässheit des Gesetzes angedroht oder verhängt
werden". Die preussische Verfassung macht die Verbindlichkeit einer Straf-
drohung zwar auch von einer gesetzlichen Bestimmung abhängig; aber die
preussische Verfassung ermöglicht eine gesetzliche Delegation nicht bloss zur
Normenbildimg, sondern auch zur Strafdrohung. Durch das Gesetz kann der
König oder ein Regierungs- oder Verwaltungsorgan ermächtigt sein, Strafver-
ordnungen zu erlassen. Der König hat in Preussen nur ein sogenanntes Not-
verordnungsrecht nach Artikel 63 der Verf.-Urk. Wenn die Aufrechthaltung
der öffentlichen Sicherheit, oder die Beseitigung eines ungewöhnlichen Not-
standes es dringend erfordert, können, insofern die Kammern nicht versammelt
sind, unter Verantwortlichkeit des gesamten Staatsministeriums, Verordnungen,
die der Verfassung nicht zuwiderlaufen, mit Gesetzeskraft erlassen werden.
Dieselben sind aber den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt zur Ge-
nehmigung sofort vorzulegen. Dieses Notverordnungsrecht begreift auch das
*) Grundlegend: Ros in, Das Polizei verordnungsrecht in Preussen. Verwaltungs-
rechtlich entwickelt und dargestellt. Breslau 1882. Derselbe in v. Stengel, Wörter-
buch des Verwaltungsrechts Bd. 2, S. 273 (Polizeistraf recht) und S. 279 (Poüzeiver-
ordnung). Zu berücksichtigen namentlich die bei beiden Artikeln enthaltenen
Litteraturan gaben, sowie die im Texte des ersten Artikels und am Ende des zweiten
enthaltenen Quellenangaben. — Rotering, Polizei-Übertretungen imd Polizeiver-
ordnungsrecht. Berlin 1888.
§ 45. Die Art der Quellen des deutschen Landesstrafrechts. 05
Recht zu Strafverordnungen, die sich selbstverständlich jetzt in den vom Reichs-
reehte gezogenen Grenzen halten müssen. S. oben § 43. Artikel 9 des baye-
rischen Polizeistrafgesetzbuches vom 26. Dezember 1871 regelt das Notverord-
nungsrecht des Königs noch genauer und begrenzt das Recht der Strafandrohung
auf 50 Thaler und 30 Tage Haft. Das preussische Gesetz über die Polizei-
verwaltung vom 11. März 1850, GS. S. 265, ermächtigt in § 5 die mit der
örtlichen Polizeiveinvaltung beauftragten Behörden, nach Beratung mit dem
Gemeindevorstande ortspolizeiliche für den Umfang der Gemeinde gültige Vor-
schriften zu erlassen und gegen die Nichtbefolgung derselben Geldstrafen bis
zum Betrage von 3 Thalern == 9 Mark anzudrohen. Mit Zustimmung der
Bezirksregierung konnte die Strafandrohung bis zu 10 Thalem = 30 Mark
gehen. Zu den Gegenständen der polizeilichen Vorschriften gehören nach § 6
des genannten Gesetzes: a) der Schutz der Personen und des Eigentums;
b) Ordnung, Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs auf öffentlichen Strassen,
Wegen und Plätzen, Brücken, Ufern und Gewässern ; c) der Marktverkehr und
das öffentliche Feilhalten von Nahrungsmitteln ; d) Ordnung und Gesetzlichkeit
bei dem öffentlichen Zusammensein einer grösseren Anzahl von Personen;
e) das öffentliche Interesse in Bezug auf die Aufhahme und Beherbergung von
Fremden; die Wein-, Bier- und Kaffeewirtschaften und sonstigen Einrichtungen
zur Verabreichung von Speisen und Getränken; f) Sorge für Leben und Ge-
sundheit; g) Fürsorge gegen Feuersgefahr bei Bauausführungen, sowie gegen
gemeinschädliche und gemeingefährliche Handlungen , Unternehmungen und
Ereignisse überhaupt; h) Schutz der Felder, Wiesen, Weiden, Wälder, Baum-
pilanzungen, Weinberge u. s. w. ; i) alles andere was im besonderen Interesse
der Gemeinden (Amtsbezirke, Kreise) und ihrer Angehörigen polizeilich ge-
ordnet werden muss. Die letzte Einräumung ist so allgemein gehalten, dass
wohl alle öffentlichen Angelegenheiten des Bezirkes, soweit dieselben nicht
wie das Bergwesen, Forst- und Jagdverhältnisse speziell geordnet sind, darunter
begriffen werden können. Jetzt ist das Polizeiverordnungsrecht in Preussen
zum Teil im Anschluss an den mitgeteilten § 6 durch das Gesetz über die
allgemeine Landesverwaltung vom 30. Juli 1883, GS. S. 195 ff*, geordnet.
Nach diesem Gesetze, § 136, sind die Minister befugt, innerhalb ihres Ressorts
für den ganzen Umfang der Monarchie oder für einzelne Teile derselben Vor-
schriften zu erlassen und die Nichtbefolgung mit Geldstrafe bis zu 100 Mark
zu bedrohen, soweit die Gesetze ausdrücklich auf den Erlass besonderer poli-
zeilicher Vorschriften durch die Central behörden verweisen. Die §§ 137 — 145
regeln die Befugnis der Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Landräte und
Ortspolizeibehörden zur Erlassung und Ausserkraftsetzung von Polizeistraf-
verordnungen. Den Ober- und den Regierungspräsidenten ist Strafandrohungs-
gewalt bis zu 60 Mark, den Landräten und Ortspolizeibehörden bis zu 30 Mark
eingeräumt.^) Das preussische Verwaltungsgesetz beteiligt übrigens wie das
Gesetz vom Jahre 1850 an dem Strafverordnungsrechte die Vertretungen der
Bevölkerung. Der Oberpräsident hat die Zustimmung des Provinzialrates, der
Regienmgspräsident die des Bezirksausschusses einzuholen. Die Strafverord-
nungen des Landrates sind abhängig von der Zustimmung des Kreisaussclmsses,
ortspolizeiliche Vorschriften, soweit sie nicht zum Gebiete der Sicherheitspolizei
gehören, bedürfen in Städten der Zustimmung des Gemeindevorstandes, even-
tuell des Bezirksausschusses. Die Systeme der Blankettstrafgesetzgebung und
der Delegation zur Strafverordnung sind in den betreffenden Ländern nicht
*) Dazu Gesetz, betr. die Bestrafung der Schulversäumnisse im Gebiete der
Schulordnung für die Elementarschulen der Provinz Preussen u. s. w. vom 6. Mai
1886, GS. S 144, § 2; femer Gesetz vom 12. Juni 1889, GS. S. 129 (Erweiterung des
Verordnungsrechts des Polizeipräsidenten zu Berlin).
96 Deutsches Reich. — Die Landesstrafgesetzgebung.
ausnahmslos festgehalten. Die bayerischen Gemeindeordnungen vom 29. April
1869 (für die Landesteile rechts des Rheines und für die Pfalz) ermächtigen
die Gemeinden, ortspolizeiliche Vorschriften zui' Kontrolle und Sicherung ört-
licher Gefälle zu erlassen und in denselben die Gefährdung der Gefälle durch
Zuwiderhandlung gegen derartige Vorschriften mit Geldstrafe bis zu 10 Gulden,
die rechtswidrigem Entziehung oder Verkürzung der Gefälle mit Geldstrafen bis
zu 25 Gulden, beziehungsweise bis zum zehnfachen und im Rückfalle bis zum
zwanzigfachen Betrage des entzogenen Gefälles zu bedrohen. Umgekehrt ver-
folgt das preussische Berggesetz vom 24. Juni 1865, GS. S. 705, das System
des Blankettstrafgesetzes. Der § 208 normiert selbst die Sti'afen in Bezug
auf die von den Bergbehörden bereits erlassenen, sowie die von den Ober-
bergämteni auf (^rund des § 197 noch zu erlassenden Polizei Verordnungen.
{Geldbusse bis zu 50 Thalem.) Das preussische Gesetz vom 24. Juni 1892,
GS. S. 131, betr. die Abänderung einzelner Bestimmungen des allgemeinen
Berggesetzes vom 24. Juni 1865 hält an diesem Standpunkte fest, erhöht aber
die Strafdrohung des § 208 auf Geldstrafe bis zu 300 Mark, eventuell Haft,
und stellt in den §§ 207 a — 207 e w^eit über die Masse der bisherigen Berg-
gesetzgebung hinausgehende, auf den Arbeiterschutz abzielende Strafbestim-
mungen auf. Auch das preussische Gesetz, betr. die Errichtung öffentlicher,
ausschliesslich zu benutzender Schlachthäuser vom 18. März 1868, GS. S. 277,
§ 14, hat den Weg der Blankettstrafgesetzgebung eingeschlagen. Vergl. femer
preussisches Fischereigesetz vom 30. Mai 1874, GS. S. 197, § 50 No. 7. Hin-
sichtlich des Rechtes der Straf Verfügungsgewalt, als Machtmittel zur Durch-
setzung des Amtswillens im einzelnen Falle — s. oben § 31 — vergl. nament-
lich das preussische Verwaltungsgesetz § 132 und das bayer. Pol.-StGB. vom
26. Dezember 1871, Art. 21, 22. Der preussische Regierungspräsident hat die
Macht, Geldstrafe bis zu 300 Mark und eventuell Haft bis zu 4 Wochen
anzudrohen.
II. Noch eine andere Verschiedenheit in der Beschaffenheit des Landes-
strafrechts ist zu erwähnen. Eni Teil der deutschen Staaten hat das Polizei-
strafrecht in besonderen Polizeistrafgesetzbüchern kodifiziert. Bayerisches
Pol.-StGB. vom 26. Dezember 1871, württembergisches Pol.-StGB. vom 2. Ok-
tober 1839, mit Abänderungen vom 27. Dezember 1871, badisches Pol.-StGB.
vom 31. Oktober 1863; hessisches Pol.-StGB. vom 2. November 1847, wieder
eingeführt 30. Oktober 1855, dazu Gesetz vom 10. Oktober 1871, vergl. No. 35,
S. 393 des hessischen Regierungsblattes von 1871, anhält -dessauisches Pol.-
StGB. vom 29. März 1855" (für Bernburg I.Juli 1864).*) Preussen dagegen,
Sachsen, wie überhaupt die Mehrzahl der deutschen Staaten besitzt solche
Kodifikationen des Polizeistrafrechts nicht. Der dritte Teil des preussischen
Strafgesetzbuches konnte als ein Stück Polizeistrafrecht gelten, welches sogar
im 1. Titel allgemeine, auf Übertretungen beschränkte Bestimmungen enthielt,
während die Titel 2 — 4 Spezialbestimmungen aufstellten. Zu den Übertretungen
gehörten freilich tiuch die einfache Beleidigung, der einfache Hausfriedens-
bruch, die P^ntwendung. Noch weniger als im Reichsstrafgesetzbuch war dem-
nach im preussischen Strafgesetzbuche eine Scheidung von Rechts- und Polizei-
verbrechen nach irgend einem CJesichtspunkte unternommen. So wenig wie
das Reichsstrafgesetzbuch hatte der 3. Teil des preussischen Strafgesetzbuches
die Absicht, das Polizeistrafrecht zu erschöpfen.
Von den Gesetzgebungen, welche das Polizeistrafrecht kodifizierten, bietet
die bayerische ein besonderes Interesse; nicht bloss weil Bayern der grösste
^) Auch das Königreich Hannover hatte ein Polizeistrafgesetzbuch, das aber
durch die preussische Gesetzgebung grösstenteils verdrängt wurde.
§ 45. Die Art der Quellen des deutschen Landesstrafrechts. 97
der kodifizierenden Staaten ist, sondern auch wegen der eigenartigen Ent-
stehungsgeschichte. Die Geschichte des bayerischen Polizeistrafgesetzbuches
ist ein interessanter Ausschnitt der deutschen Staats- und Rechtsgeschichte des
19. Jahrhunderts. Der Abschluss dieses Gesetzbuches bedeutet den Sieg des
Rechtsstaats-Gedankens über den des Polizeistaates. ^)
Aus den Reichspolizeiordnungen glaubten die deutschen Landesherren in
den früheren Jahrhunderten so Recht wie Pflicht abzuleiten, ohne Mitwirkung
ihrer Stände in Polizeisachen einseitig im Verordnungswege verbindliche An-
ordnungen zu erlassen. Die Verhängung von Strafen aber auf Grund dieser An-
ordnungen gehörte namentlich in Bayern mit Ausnahme der Defraudationen
an Mautgefällen, Aufschlags- und Accissachen bis in dieses Jahrhundert zu
den Aufgaben der ordentlichen Gerichte. Das änderte sich in den ersten
Dezennien dieses Jahrhunderts. Die Polizei trat in den Vordergrund, sie er-
langte judizielle®) und Rechtsbildungsgewalt, namentlich das Strafverordnungs-
recht. Das bayerische Stmfgesetzbuch von 1813 (s. oben § 2, S. 5) bezog
sich nur auf Verbrechen und Vergehen, die Polizeiübertretungen, imter denen
sich auch zahlreiche geringere Verletzungen befanden, sollten in einem beson-
deren Gesetzbuche behandelt werden. Der im Jahre 1822 veröffentlichte Ent-
wurf eines Strafgesetzbuches (für Bayern) enthielt in den 356 Artikeln des
zweiten Teiles den Versuch einer solchen Kodifikation. Auch die Entwürfe
von 1827 und 1831 bezogen sich auf die Übertretungen. Nur einzelne Ge-
setze kamen indessen während der nächsten vier Dezennien auf dem Gebiete
der polizeilichen und verwaltenden Staatsthätigkeit in Bayern zum Abschlüsse.
Die ersten Jahre nach der Bewegung von 1848 und 1849 namentlich brachten
auf wichtigen Gebieten z. B. in BetreflF der Versammlungen und Vereine, der
Presse, der Jagd, der Wasserbenutzung und des Uferschutzes, des Forstwesens,
der Feuerversichei'ung eine gesetzliche Ordnung, sowie die Verweisung von
Übertretungen auf diesen Gebieten an die ordentlichen Gerichte. In der baye-
rischen Pfalz galt das oben berührte System des französischen Rechtes. Im Jahre
1851 gelangte zum erstenmale der Entwurf eines besonderen Polizeistraf-
gesetzbuches an den bayerischen Landtag, wurde aber wieder zurückgezogen,
um 1855 durch einen Entwurf ersetzt zu werden, der eine gesetzliche Rück-
bildung der seit 1848 gemachten Errungenschaften auf dem Gebiete der
Strafgesetzgebung bedeutet hätte, wenn das Projekt, wie es glücklicherweise
nicht der Fall war, zum Gesetze erhoben worden wäre. Körperliche Züchtigung
war in der Praxis der bayerischen Landgerichte alten Stils (Mischgebilde von
Polizei und Justiz) kein ungewöhnliches Mittel der Strafrechtspflege. Noch
im Sommer 1858 musste ich, unmutig und widerstrebend, Beschlüsse entwerfen,
durch welche vagierenden Handwerksburschen, die nichts Böses weiter ver-
brochen hatten, als dass sie sich beim Betteln hatten betreten lassen, eine
Anzahl Streiche verordnet wui'de. Und mehr wie ein Protokoll wurde mir in
die Feder diktiert, das mit der Feststellung der Anerkennung ausserehelicher
Vaterschaft, Festsetzung der Kindbettkosten und Alimente begann und mit
einem polizeilichen Beschlüsse endigte, durch welchen dem glücklichen Vater
ob des verbotenen Geschlechtsverkehres eine Tracht von Rutenhieben zudiktiert
^) Vergl. Edel, Das Polizeistrafgesetzbuch für das Königreich Bayern vom
10. November 1861 erläutert. Erlangen 1862.
*) Auf Grund reichsrechtlicher Anerkennung (Einf.-Ges. zur StPO. §6 No. 3
und StPO. §§ 453 ff.) und darnach auf Grund der Landesgesetzgebung sind auch
heutzutage zum teil deutsche Polizei- und Verwaltungsbehörden zur Straffestsetzung
berechtigt, aber diese Festsetzung ist eine vorläufige, der Betroffene kann auf gericht-
liche Entscheidung antragen. Vergl. namentlich das preuss. Gesetz, betr. den Erlass
polizeilieber Strafverfügungen wegen Übertretungen vom 23. April 1883, GS. S. 65.
Strafgesetzgebnng der Gegenwart. I. 7
98 Deutsches Reich. — Die Landesstrafg'esetzgebung.
wurde. Würden diejenigen, welche am Ende des 19. Jahrhunderts für die
Wiedereinführung des Stockes oder der Prügelmaschine plädieren, die Gelegen-
heit gehabt haben, die verhängnisvollen Wirkungen dieser Mittel der „ver-
geltenden Gerechtigkeit" zu beobachten, so würden sie wohl abstehen, diesen
Mitteln noch femer das Wort zu reden.*) Der bayerische Entwurf von 1822
wusste nichts von körperlicher Züchtigung; der Entwurf von 1855 wollte die
thatsächlich geübte und dem Gesetzbuche von 1813 bekannte Strafe zur er-
neuten gesetzlichen Anerkennung bringen. Ein heftiger Kampf ist während
mehrerer Jahre über die projektierten Mittel der Staatskunst zwischen dem
reaktionären Ministerium und der sehr gemässigt liberalen zweiten Kammer
geführt worden. Nicht bloss das Polizeistrafgesetzbuch, sondern auch das
gleichzeitig dem Landtage vorgelegte Strafgesetzbuch war neben anderen
Fragen der Gegenstand des Streites, der sich im September 1858 bis zur Auf-
lösung der Kammer der Abgeordneten zuspitzte. Es erfolgte die Wiederwahl
aller massgebenden Abgeordneten. „Die dem gesetzlich verbürgten F'ortschritt
getreue Kammermehrheit nahm verstärkt ihre Sitze wieder ein." König Max IL,
dessen Wahlspruch „Freiheit und Gesetzmässigkeit" war, hat sich nach schwerem
Kampfe die Nachgiebigkeit gegenüber dem Willen des Landes abgerungen.
Das unbeliebte Ministerium Avurde entlassen, und als dann im folgenden Jahre
die Entwürfe des Strafgesetzbuches und des Polizeistrafgesetzbuches, wesent-
lich geändert, abermals an den Landtag gelangten, wurde in rascher P^olge
das lang geplante Gesetzgebungswerk zum Abschluss gebracht (10. November
1861). Mit diesem Abschlüsse hat sich die bayerische Polizeistrafgesetzgebung
auf den oben, I S. 94 geschilderten Standpunkt gestellt. Bei Gelegenheit der
Einführung des Keichsstrafgesetzbuches ist das bayerische Polizeistrafgesetz-
buch von 1861 einer Revision unterzogen und durch das Polizeistrafgesetz-
buch vom 26. Dezember 1871 ersetzt worden. Diese Revision bestand aber
nicht bloss in einer Anpassung des bayerischen Polizeistrafgesetzbuches an
das Reichsstrafgesetzbuch, vielmehr 'wairde durch diese Revision der Charakter
der bayerischen Polizeistrafgesetzgebung verändert, worauf im nächsten Para-
graph zurückzukommen ist. Die körperliche Züchtigung ist seit dem 1. Juli
1862 (Geltung der bayerischen Strafgesetzgebung) auch als Disziplinarmittel
in allen Strafanstalten ausgeschlossen.-)
§ 46. Der Inhalt des Landesstrafrechts.
Vergl. bezüglich Preussens die zu IV bei § 13 S. 30 und 31 angeführten Samm-
lungen von Hellweg und Arndt, sowie von Borchert.
Reger, Die in Bayern geltende allgemeine Polizeistrafgesetzgebung. Ans-
bach 1880. — Allfeld, Sammlung der neben dem Strafgesetzbuch und dem Militär-
Strafgesetzbuch für das deutsche Reich in Bayern geltenden Reichs- und Landes-
gesetze strafrechtlichen Inhalts. Mit Anmerkungen. 2. Aufl. Hildburghausen. München
1887. — Edel, Das Polizeistrafgesetzbuch für das Königreich Bayern vom 26. Dezember
1871 erläutert. Erlangen 1872. (Auch die Erläuterung zum Gesetzbuche von 1861
ist fortwährend beachtenswert.) — Riedel, Das Polizeistrafgesetzbuch für Bayern vom
10. Dezember 1871. Mit systematischer Einschaltung der bezüglichen Bestimmungen
des Reichsstrafgesetzbuches. 4. Aufl. v. Proebst. Nördlingen 1889. — Staudinger,
Das Polizeistrafgesetzbuch für das Königreich Bayern. 2. Aufl. Nördlingen 1885.
Paul von Mangoldt, Das im Königreiche Sachsen neben den Strafgesetz-
büchern geltende Reichs- und Landesstrafrecht. Für den Handgebrauch zusammen-
gestellt. Mit Sachregister. 2 Bde. Leipzig 1886. — Die Justizgesetze für das König-
reich Sachsen. Enthaltend die das Privat- und Strafrecht betreffenden Reichs- und
Landesgesetze, sowie die damit in Verbindimg stehenden Verordnungen. Mit Inhalts-
*) Vergl. auch Eckert im Handbuch des Gefängniswesens. Hamburg 1888.
Bd. 2, S. 95, Note 13 a. E.
'') Vergl. oben «^ 43 V, No. 1, S. 88.
§ 46. Der Inhalt des Landesstrafrechts. 99
Verzeichnis und Sachregister. Neue Folge, 12. Bd. 1886. 13. Bd. 1888. 14. Bd. 1889.
2. Abteil. 1890. 15. Bd. 1891. 16. Bd. 1892.
Schicker, Das Polizeistraf recht und Polizeistrafverfahren im Königreich
Württemberg. 2 Teile. 2. Aufl. Stuttgart 1887.
G. Schlusser, Das badische Polizeistrafrecht; enthaltend das badische Polizei-
Strafgesetzbuch, den allgemeinen Teil und Abschnitt XXIX des besonderen Teiles
des Reichs-Strafgesetzbuches, sowie die sonstigen einschlagenden Gesetzesbestimmungen
nebst den zu deren Vollzug erlassenen Verordnungen und Erläuterungen. Tauber-
bischofsheim 1888. (Als neue Bearbeitung des II. Teiles des Bingner Lisenlohrschen
badischen Strafrechts herausgegeben.)
C. Goesch und A. v. Düring, Mecklenburg-Schwerinsches Landesstraf-
recht. Die in dem Grossherzogtum Mecklenburg - Schwerin in Geltung befindlichen
landesrechtlichen Verordnungen strafrechtlichen Inhalts zusammengestellt und er-
läutert. Auch mit dem Titel: Mecklenburgsches Landesstrafrecht u. s. w. Ausgabe
für Schwerin. Schwerin 1887. Dasselbe: Ausgabe für Mecklenburg-Strelitz (ein-
schliesslich des Fürstentums Lübeck).
Sammlung der in Elsass-Lothringen geltenden Gesetze. Herausgegeben in
Verbindung mit anderen reichsländischen Juristen von Althoff, Förtsch, Harseim,
Keller und Leoni. Strassburg 1880 — 1886. — Förtsch und Leoni, Sammlung der
in Elsass -Lothringen in Geltung gebliebenen französischen Strafgesetze. 2 Teile
1875 und 1876.
Der Inhalt des Landesstrafrechts deckt sich mit keiner der bekannten
Kategorieen des strafbaren Unrechts. Das Landesstrafrecht bezieht sich auf
Rechts- wie Polizeiverbrechen; es betrifft Verletzungen, Gefährdungen und
reinen Ungehorsam. Das fortgeltende ältere Landesstrafrecht operiert noch
mit schweren Verbrechensstrafen. ^) Die Polizeistrafgesetzbücher allerdings
beschränken sich zumeist auf die Bedrohung von reinem Ungehorsam und
der nicht schweren Rechtsgütergefährdungen. Namentlich die bayerische Straf-
gesetzgebung des Jahres 1861 hatte die leichtesten Verletzungen als „Über-
tretungen" an geeigneter Stelle im Strafgesetzbuche eingereiht, im Polizeistraf-
gesetzbuche dagegen nur Gefährdungen und den polizeilichen Ungehorsam
behandelt. Dies ermöglichte auch eine eigenartige Behandlung der Gefährdungen
und des Ungehorsams in den allgemeinen Materien. Der allgemeine Teil des
bayerischen Polizeistrafgesetzbuches von 1861 enthielt solche Vorschriften, nament-
lich in Hinsicht auf den Versuch (Art. 17), auf die Haftbarkeit von Familien-
häuptern, Dienst-, Lehrherren u. dergl. für die von den Untergebenen be-
gangenen Übertretungen (Art. 18), in Bezug auf die Fahrlässigkeit (Art. 19) u. a.
Die hessische Strafgesetzgebung der vierziger Jahre war zu einer ähnlichen
Scheidung gelangt. Im württembergischen und badischen Polizeistrafgesetzbuch
war dagegen eine verschiedene Behandlung der Rechts- und Polizeiverbrechen
nicht durchgeführt. Während nun Hessen an der besonderen Behandlung
der von seinem Polizeistrafgesetzbuch bedrohten Handlungen und Unter-
lassungen festhielt, hat die bayerische Gesetzgebung des Jahres 1871 den bis
dahin festgehaltenen Unterschied von Rechts- und Polizeiverbrechen im An-
schlüsse an die Reichsgesetzgebung fallen lassen und die auf eine eigenartige
Behandlung der Polizeiverbrechen abzielenden Bestimmungen des allgemeinen
Teiles des bayerischen Polizeistrafgesetzbuches gestrichen.^) — Die Darstellung
des Landesstrafrechts folgt zunächst am besten der Stoffanordnung, welche
einem der vorhandenen Polizeistrafgesetzbücher zu Grunde gelegt ist. Und
in dieser Beziehung dürfte es angezeigt sein, von der bayerischen Gesetz-
gebung auszugehen, welche die jüngste ist, und wie oben erwähnt, zweimal
in kurzer Frist (1871 und 1879) Umschau gehalten hat, das Landesstrafrecht
') Die preussische Verordnung vom 8. Juli 1844, betreffend die Bestrafung des
Handels mit Negersklaven , GS. S. §99 , welche langjährige Zuchthausstrafen androht
(vergl. oben § 48, V, No. 2), wird als noch zu Recht bestehend angesehen.
*) Vergl. Rosin in V. Stengel, Wörterbuch des Verwaltungsrechts Bd. 2, S. 277f.
7*
100 Deutsches Reich. — Die Landesstrafgesetzgebung.
in Einklang mit dem Reichsstrafrechtc zu bringen suchte und — abgesehen
von einigen nicht ganz unzweifelhaften Punkten — in Einklang gebracht hat.
Bei der Beschränkung des Riauraes und der Zeit, welche dem Verfasser gegeben
war, konnte es sich nur um Hervorhebung der wichtigeren Beziehungen und
solcher Einzelheiten handeln, in welchen besondere strafrechtliche Gedanken
zum Ausdruck kommen. Ausser der bayerischen Landesstrafgesetzgebung
ist auch die preussische mehrfach zur Berücksichtigung gelangt. Manche landes-
rechtliche Spezialität ist schon in einem früheren Zusammenhange berührt
worden. 1. Das bayerische Polizeistrafgesetzbuch vom 26. Dezember 1871
in der Fassung, die es durch das bayerische Ausführungsgesetz vom 1 8. August
1879 zur Reichsstrafprozessordnung erhielt, regelt in der ersten Abteilung,
Art. 1 — 15, das Anordnungs- (Verordnungs-) Recht in dem oben, § 45 S. 94,
besprochenen Sinne. Die zweite Abteilung, Art. 16 — 22, enthält unter der
Überschrift „Vollzugsmassregeln und vorläufige Einschreitung" die Rechts-
satzung in Bezug auf polizeiliche Massnahmen im einzelnen Fall, einschliess-
lich der dabei in Betracht kommenden Ungehorsamsstrafen. 2, Die Übei'schrift
des ersten Hauptstückes der dritten Abteilung des bayerischen Polizeistraf-
gesetzbuches „Übertretungen in Bezug auf einzelne Staatseinrichtungen und
öffentliche Vei'pflichtungen" lässt den Inhalt des Hauptstückes kaum erraten.
Es werden da bedroht: unerlaubter Verkehr mit Gefangenen, Unterlassung vor-
geschriebener Anzeigen in Bezug auf Verehelichungen, Entbindungen und
Todesfälle (selbstverständlich soweit nicht § 68 des Personenstandsgesetzes
Platz greift), Veränderung des Geschlechtsnamens, widerrechtliche Anwendung
der Livree der königlichen Hof dienerschaft , Störung der Nothülfe, Zuwider-
handlung gegen Ortsvenveisungen (soweit nicht StGB. § 361 No. 1 anwendbar
ist), vergl. dazu namentlich Reichsgesetz, betr. den Orden der Gesellschaft Jesu
vom 4. Juli 1872, S. 253. Strafbar ist nach dem bayerischen Polizeistrafgesetz-
buch Artikel 29 die Versäumung von Diensten in Bezug auf Sicherheitswachen
und Erhaltung der Wege. 3. Eine weitere Gruppe von Strafdrohungen betrifft
die Übertretung der Vorschriften in Bezug auf öffentliche Ruhe, Ordnung und
Sicherheit, namentlich Eri'egung öffentlicher Unruhe und Besorgnis (die cris
s6ditieux gehören hierher), Gestattung des Wirtshausbesuches gegenüber aus-
geschlossenen Pereonen, unbefugte Veranstaltung von öffentlichen oder die
Nachbarschaft belästigenden Lustbarkeiten, Unterhaltungen, Schaustellungen,
Artikel 32^:-36; verbotswidrige Ankündigungen, Maueranschläge, unbefugte Be-
seitigung u. dergl. von Anschlägen, Versäumung der Wohnungsräumung trotz
unstreitiger Pflicht imd polizeilicher Aufforderung, Tragen verbotener Waffen,
soweit nicht Strafgesetzbuch § 367, Ziff. 9 Platz greift, unbefugte Aufnahme
von Pflegekindern (Art. 41), widerrechtliche Zurückhaltung verirrter Kinder
oder hülf loser Personen ohne Anzeige bei der Obrigkeit (Art. 42), Versäumung
der Anzeige des Verdachtes eines gewaltsamen Todes seitens der Totenbeschauer,
der Leichenbesorger und sezierenden Ärzte (Art. 43), Zuwiderhandeln gegen die
bei Volksfesten und sonstigen ausserge wohnlichen Ansammlungen von Menschen
bekannt gemachten polizeilichen Anordnungen, soweit nicht § 366 Ziff. 10 des
Keichsstrafgesetzbuches Anwendung findet. 4, Übertretungen in Bezug auf
Reisen und Fremdenpolizei. 5. Strafbestimmungen in Bezug auf die Sitten-
polizei, unerlaubte Sammlungen, Gaukelei, Glücksspiele. Vergl. preuss. Gesetz,
betr. das Spiel in ausserpreussischen Lottenen vom 29. Juli 1885, GS. S. 317;
preuss. Gesetz, betr. das Verbot des Privathandels mit Staatslotterielosen vom
18. August 1891, GS. S. 353. Besonders bemerkenswert ist der durch das
bayer. Gesetz vom 20. März 1882 (bayer. GVBl. S. 105) in das Polizeistraf-
gesetzbuch eingestellte Art. 50a: „Personen, welche durch fortgesetztes häus-
liches Zusammenleben in ausscrchelicher Geschlechtsverbindmig zu öffentlichem
§ 46. Der Inhalt des Landesstrafrechts. 101
Ärgernisse Veranlassung geben, werden an Geld bis zu 45 Mark oder mit Haft
bis zu 8 Tagen, im Wiederholungsfalle an Geld bis zu 150 Mark oder mit Haft
bestraft und sind durch die Polizeibehörde von einander zu trennen." Die
bayerische Praxis trägt kein Bedenken, diese Bestimmung über die ötrafbarkeit
des iCbnkubinates anzuwenden; vergl. Sammlung von Entscheidungen des
kgl. Oberlandesgorichts München in Gegenständen des Strafrechts und Straf-
prozesses, Bd. 2 (1884) S. 341, 513, 529, 538, Bd. 3 (1886) S. 43, 238. Vergl.
dazu Harburger in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. 4
S. 499. Es lässt sich aber das Bedenken geltend machen, dass § 183 des Reichs-
strafgesetzbuches die Ärgerniserregung durch unzüchtige Handlungen erwogen
und in gewisser Begrenzung mit Strafe bedroht hat. Dadurch wird di(» Befugnis
der Landesgesetzgebung fraglich, solche Ärgerniserregung auch noch in anderer
Begrenzmig zu bedrohen. Art. 55 giebt der Polizei die Befugnis, Ärgernis
erregende Betrunkene aus der Öffentlichkeit zu entfernen, und wenn dieselben
störend werden, bis auf 24 Stunden in Gewahrsam zu nehmen. Wer binnen
Jahresfrist zum dritten- oder öfterenmale in einer störenden Weise betroffen
wird, ist mit Haft bis zu 14 Tagen zu bestrafen. 6. Übertretungen in Bezug
auf religiöse Einrichtungen, Erziehung und Bildung. 7, Übertretungen in Bezug
auf polizeiliche Vorschriften zum Schutze von Leben und Gesundheit. (Er-
gänzung des Reichs-StGB. § 367); vergl. bayer. Pol.-StGB. Art. 66: „Wer an
einem ansteckenden Übel leidet und mit Verheimlichung desselben sich als
Dienstbote, Amme, Geselle, Gewerbsgehülfe, Lehrling oder Fabrikarbeiter ver-
dingt, desgleichen, wer im Dienste von einem solchen übel befallen wird und
solches der Dienstherrschaft, dem Meister oder dem Fabrikherm verheimlicht,
wird mit Haft bis zu 8 Tagen oder an Geld bis zu 45 Mark l)e8traft. Die
Befugnis der Polizeibehörde, die erforderlichen Massregeln wegen Absondening
und Heilung solcher Personen zu treffen, bleibt vorbehalten." Dazu Verord-
nung vom 22. Juli 1891, GVBl. S. 229, welche auf Grund des Art. 72 des
Polizeistrafgesetzbuches ergangen ist und die Verpflichtung der Medizinal-
personen zur Anzeige von ansteckenden Krankheiten betrifft. 8. Strafdrohungen
sind femer aufgestellt in Bezug auf die Strassenreinlichkeits- und W^asser-
polizei. . Namentlich die Erhaltung der Kunststrassen, die Benutzmig des
Wassers, der Uferschutz, Wasserstau und Vorflut, sowie das Deichwesen stehen
unter dem Strafschutze. 9. Zahlreiche Bestimmungen ergänzen die Reichs-
gesetzgebung in Bezug auf das Gewerbewesen; z. B. Art. 144 des bayer.
Pol.-StGB.: Bäcker, Brot- und Mehlhändler, schankberechtigte Brauer, Bier-
wirte, Metzger und andere zum Feilbieten von Fleisch berechtigte Personen
imterliegen einer Geldstrafe bis zu 45 Mark, wenn sie ohne genügenden Ent-
schuldigungsgnind, so lange ihre Vorräte reichen, einem Käufer die Abgabe
ihrer Verkaufsgegenstände gegen Zahlung verweigeni. Bäcker, Metzger, Müller
und Bierwirte, welche den Betrieb ihres Gewerbes ohne genügende Entschul-
digung einstellen, ohne solches wenigstens 14 Tage zuvor der Ortspolizei-
behörde angezeigt zu haben, werden an Geld bis zu 90 Mark bestraft.^)
10. Die Überwachung der Dampfkessel (Reichs-Gew.-O. §§24, 147 Nr. 2), 11. das
Brandversicherungswesen, 12. die Baupolizei und 13. das Dienstboten wesen
haben zu Strafbestimmungen Anlass gegeben. Vergl. z. B. preuss. Gesinde-
ordnung vom 8. November 1810, GS. S. 101, §§ 51, 77 (bedeutsam in Bezug
auf §§ 185 und 223 des StGB, und 414 der StPO.), 168; 174, 176 (Ausstellung
wahrheitswidriger Zeugnisse). Preuss. Gesetz, betr. die Verletzungen der
Dienstpflichten des Gesindes und der ländlichen Arbeiter vom 24. April 1854,
*) Vergl. Lexis in v. Stengels Wörterbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 2,
S. 400 (Schankgewerbe).
102 Deutsches Reich. — Die Land esstraf gesetzgebung.
GS. S. 214, §§1—5; §3 bedroht die Streikes des Gesindes, der Schiflfeknechte,
Dienstleute und der im § 2 erwähnten Handarbeiter mit Gefängnis bis zu
1 Jahre. Hinsichtlich der Schiffsknechte durch § 152 der Gewerbeordnung
ausser Anwendung gesetzt; im übrigen noch in Geltung. Preuss. Gesetz für
die Provinz Hessen -Nassau mit Ausschluss der ehemals bayerischen Gebiets-
teile, betr. die Verletzung der Dienstpflichten des Gesindes vom 27. Juni
1886, GS. S. 173, §§ 1 und 2. 14. Auch die Landwirtschaft und das Fischerei-
wesen sind des Strafschutzes teilhaftig geworden. Zunächst sind die §§ 370
No. 4 und 296a des Strafgesetzbuches massgebend; s. oben § 19. Für Preussen
namentlich kommt das unter No. 16 näher erörterte Feld- und Forstpolizei-
gesetz vom 1. April 1880, sowie das Fischereigesetz vom 30. Mai 1874, GS.
S. 197, §§ 49—52 in Betracht;^) für Bayern das Pol.-StGB. Art. 111, Abs. 2
bis 124, 126, dann die Körordnung (betr. die Pferdezucht) vom 29. März 1881,
GVBl. S. 166, Art. 5 und das Gesetz, die Haltung von Zuchtstieren betr.,
vom 5. April 1888, GVBl. S. 235, Art. 13. 15. Einen der wichtigsten und
umfangreichsten Bestandteile des Landesstrafrechtes bildet das ForststrafVecht.
Das Keichsstrafgesetzbuch enthält in den §§ 117 — 119 scharfe Strafdrohungen
gegen denjenigen, der einem Forstbeamten, einem Waldeigentümer, einem Forst-
berechtigten oder einem von diesen bestellten Aufseher in der rechtmässigen
Ausübung seines Amtes oder Rechtes durch Gewalt oder durch Bedrohung
mit Gewalt Widerstand leistet oder auch nur eine dieser Personen während
der Ausübung ihres Amtes oder Rechtes thätlich, d. h. animo hostili, angreift.
Die geringste durch den Widerstand oder Angriff, wenn auch unabsichtlich,
verursachte Körperverletzung bringt dem Thäter, wenn nicht mildernde Um-
stände angenommen werden, Zuchthaus bis zu 10 Jahren ein. Und wenn die
That von mehreren gemeinschaftlich begangen worden ist, so kann die Strafe
um die Hälfte erhöht werden, das Gefängnis allerdings nur bis zu 5 Jahren, das
Zuchthaus aber bis zu 15 Jahren. Im übrigen ist der P^orststrafschutz der Landes-
gesetzgebung überlassen, welche denn auch teils in den Forstgesetzen, teils in
besonderen, auf die Bestrafung der Forstdelikte abzielenden Gesetzen zahlreiche
Strafdrohungen aufgestellt hat. Das bayerische Forstgesetz vom 28. März
1852, modifiziert durch das Einf.-Ges. zum St(iB. vom 26. Dezember 1871*)
und dann durch das Ausführungsgesetz vom 18. August 1879 zur Reichs-Straf-
prozessordnung, enthält in der vierten Abteilung das Forststrafrecht, welches
sowohl die Forstpolizeiübertretungen, als auch die Forstfrevel begreift. Die
ersteren sind Verstösse gegen die Forstordnung, begangen vom Waldeigentümer
oder dessen Personal, die letzteren sind Entwendungen, Beschädigungen,
Zuwiderhandlungen gegen die Forstordnung und andere Gefährden, welche in
fremdem Walde begangen werden (Art. 48 und 49 des Forstgesetzes). Die
allgemeinen Bestimmungen Art. 48 — 74 enthalten in mehreren Beziehungen
vom gemeinen Reichsrechte abweichendes Recht. So namentlich Art. 56,
welcher für den Gehülfen die volle Thäterschaftsstrafe bestimmt. Merkwürdig
ist Abs. 3 dieses Artikels. Damach werden mehrere zur nämlichen Familie
gehörige Personen'^) (auch Dienstboten, Zöglinge, Gesellen und Gehülfen sind
darunter begriffen), welche bei der Begehung eines mit Geldstrafe bedrohten
Frevels einen Handschlitten, einen Schiebkarren oder einen zweiräderigen
*) Vergl. besonders Staudinger in v. Stengels Wörterbuch des Verwaltungs-
rechts, Bd. 1, S. 408 und das S. 420 daselbst enthaltene Quellen Verzeichnis.
*-} Für die bayerische Rheinpfalz gilt ein besonderesForstgesetz vom28.Dezcmberl83 1 ,
modifiziert durch das im Text erwähnte Ausführungsgesetz. 23.März^46
'^) Im pfälzischen Forststrafgesetze Art. 8 ist diese Bestimmimg auf 2 oder 3
Personen derselben Familie beschränkt.
§ 46. Der Inhalt des Landesstrafrechts. 103
Karren gemeinschaftlich fortbewegen, miteinander, jedoch samtverbindiich, in
die treffende Geldstrafe verurteilt. In dem Urteile ist auszusprechen, gegen
welchen oder welche Frevler die Umwandlung der Geldstrafe in Haftstrafe
einzutreten hat, wenn die Geldstrafe nicht beigetrieben werden kann. — Der
Rückfall gilt in Forststrafsachen allgemein als Schärfungsgrund ; Art. 59 (58),
No. 12. Sehr verständig ist der Notstand im Walde behandelt. Art. 61 (60).
Wert- und Schadensersatz muss für die Wegnahme oder Beschädigung von
Forstprodukten geleistet werden, wenn jemand durch einen Unfall im Walde
dazu veranlasst wurde; mit der Strafe muss aber der im Notstande Handelnde
verschont werden, vorausgesetzt, dass er innerhalb 24 Stunden geeignete An-
zeige macht. Art. 69 (68) erklärt Angehörige, Vormünder, Kuratoren, Pfleger,
Dienstherrschaften, Lehrmeister, Gewerbsleute und Geschäftsgeber unter ge-
wissen Voraussetzungen als civilverantwortlich für Geldstrafe, Wert- und
Schadensersatz, wenn sie nicht beweisen, dass sie ausser Stande waren, den
Frevel zu verhindern. Die genannten Personen haften nach Art. 70 (69) auch
für die in ihrem eigenen Walde von Angehörigen oder Untergebenen vei'tibten
Forstpolizeiübertretungen, wenn sie nicht beweisen, dass die Übertretung ohne
ihr Voi-wissen begangen worden ist. — Nimmt in einem Bezirke die Ver-
übung von Forstfreveln durch Entwendung überhand, so kann durch könig-
liche Verordnung für den Frevelbezirk wie für die Verkaufsbezirke der Ver-
kauf von Walderzeugnissen von Einholung eines Ursprungszeugnisses abhängig
gemacht M'^erden, in welchem Falle der Verkauf ohne dieses Zeugnis strafbar
ist. Art. 106 (105), 107 (106).^) Für Preussen kommt das Gesetz be-
treffend Schutzwaldungen und Waldgenossenschaften vom 6. Juli 1875, GS.
S. 416, §53, in Betracht; femer das Gesetz, betreffend den Fürstdiebstahl vom
15. April 1878, S. 222. § 1 begi-enzt den Thatbestand des Forstdiebstahls
durch Aufzählung der Objekte: 1. Holz, welches noch nicht vom Stamme
oder vom Boden getrennt ist; 2. Holz, welches durch Zufall abgebrochen
oder umgeworfen und mit dessen Zurichtung der Anfang noch nicht ge-
macht ist; 3. Späne, Abraum (zufällige Abfälle), Borke, insofern dieselben
noch nicht in einer umschlossenen Holzablage sich belinden, oder noch nicht
geworben oder eingesammelt sind; 4. Andere Walderzeugnisse (Beispiele),
insofern dieselben noch nicht geworben oder eingesammelt sind. Das Ein-
sammeln von Kräutern, Beeren und Pilzen ist nicht Forstdiebstahl, sondern
unterliegt forstpolizeilichen Bestimmungen. Das Gesetz stuft die Strafen nach
folgenden Gesichtspunkten ab. Der einfache Forstdiebstahl und der Forst-
diebstahl unter gewissen erschwerenden Umständen werden mit dem fünf-
fachen, bezw. zehnfachen Werte des Entwendeten, jedoch nicht unter 1, bezw.
2 Mark bestraft. Vereuch und Teilnahme werden mit der vollen Strafe be-
straft. § 4. Für Begünstigung und Hehlerei ist der fünffache Betrag festgesetzt.
§ 5. Schwerer Forstdiebstahl (Geldstrafe und nach Ermessen des Gerichts
Gefängnis bis zu 6 Monaten) wird angenommen: a) im Falle gemeinschaftlicher
Verübung durch drei oder mehr Personen; b) wenn der Forstdiebstahl zum
Zweck der Veräusserung des Entwendeten oder der daraus hergestellten Gegen-
stände erfolgte; c) im Falle gewerbs- oder gewohnheitsmässiger Forsthehlerei.
§ 6. Für den ersten Rückfall ist die Geldstrafe auf das Zehnfache festgesetzt
und im dritten und ferneren Rückfall ist neben der Geldstrafe auf Gefängnis
bis zu 2 Jahren zu erkennen. Bei geringeren Beträgen Milderung möglich.
Nur preussische Vorstrafen kommen in Betracht; die Rückfalls Verjährung be-
^) Durch königl. Verordnung vom 2. Oktober 1887, GVBl. S. 611, wurde von
dieser Ermächtigung gegenüber einigen oberfrärikischen Bezirken Gebrauch gemacht,
woselbst die Forstfrevel durch Entwendung von Christbäumchen in ausserordentlicher
Weise überhand genommen hatten. Im September 1892 erneuert!
104 Deutsches Reich. — Die Landesstrafgesetzgebung.
trägt zwei Jahre. §§ 7 und 8. Die von § 57 des Strafgesetzbuchs in Betreff
der Jugendlichen vorgesehene Strafmilderung ist nach § 10 des Gesetzes aus-
geschlossen. Vergl. auch preussisches Feld- und Forstpolizeigesetz §4. §11
statuiert ähnlich wie der bayerische Artikel 69 (68) eine eventuelle Haftbar-
keit gewisser Personen für Geldstrafe. Wertersatz und Kosten. Eigenartige
Bestimmungen enthalten die §§12 und 14. Nach dem ersteren sind diese
Personen nicht bloss civil-, sondern auch strafrechtlich (für die Geldstrafe) un-
mittelbar haftbar, wenn der Thäter noch nicht 12 Jahre alt, oder zwar 12 aber
noch nicht 1 8 Jahre alt war und im letzten Falle wegen Mangels an Einsicht«
sowie wenn der Thäter aus § 51 des Strafgesetzbuches — Mangel der freien
Willensbestimnmng — freigesprochen werden muss. Die Haftbarkeit wird in
den Fällen des § 11, auch des § 12 für den Dritten nur dann ausgeschlossen, wenn
bewiesen wird, dass die That ohne sein Wissen verübt worden ist, oder dass
er sie nicht verhindern konnte. Fälle der Strafrechtspräsumtion. Vergl. auch
preuss. Feld- und Forstpolizeigesetz, §5. Nach § 14 kann der zu einer Geld-
strafe Verurteilte, der dieselbe zu bezahlen ausser Stande ist, statt ins Gefängnis
geschickt zu werden, für die Dauer der ihn treffenden Strafzeit zu Forst- und
Gemeindearbeiten, welche seinen Fähigkeiten und Verhältnissen angemessen
sind, angehalten werden. (Vergl. Einf.-G. zum StGB. § 6 Abs. 2.) Die näheren
Bestimmungen wegen der zu leistenden Arbeiten werden mit Rücksicht auf
die Lohn- und sonstigen örtlichen Verhältnisse vom Regierungspräsidenten
in Gemeinschaft mit dem Oberstaatsanwälte erlassen. Dieselben sind er-
mächtigt, in der Weise Tagewerke zu bestimmen, dass der Verurteilte durch
angestrengten Fleiss früher abkommen, daher noch für sich und die Seinigen
arbeiten kann. § 13 des Gesetzes bezieht sich auf die Umwandlung der
Geld- in Gefängnisstrafe; § 15 regelt die Einziehung mehrfach abweichend
vom allgemeinen Reichsrechte, verbietet namentlich die Einziehung von
Tieren und anderen zur WegschaflPung des Entwendeten dienenden (Gegen-
ständen. Ganz eigentümlich ist die Vorschrift des § 17, wonach frisch
geföntes, nicht forstmässig zugerichtetes Holz, ohne dass auf eine Haupt-
strafe erkannt zu werden brauchte, der Einziehung unterliegt, wenn das
Holz bei jemandem gefunden wird, der in den letzten 2 Jahren nach
dem Forstdiebstahlsgesetze verurteilt worden ist und der sich über den
redlichen Erwerb des Holzes nicht ausweisen kann. Im § 18 ist eine vom
Reichsrechte abweichende Bestimmung über die Verjährung der Strafverfolgung
enthalten. Eine starke Abweichung vom Reichsrechte, ^) >vie überhaupt von
der Regel des modernen Strafrechts enthält § 34. Die auf Grund des Forst-
diebstahlsgesetzes erkannten Geldstrafen fliessen, mit einer die Zusatzstrafe im
Rückfalle (§ 8) betreffenden Ausnahme, dem Beschädigten zu. — Dieser braucht
sie nicht einmal selbst einziehen zu lassen, der Staat zieht sie ein und bringt
sie dann dem Beschädigten. Und weist der Beschädigte im Falle der Nicht-
einziehbarkeit der Geldstrafe rechtzeitig geeignete Arbeitsleistungen (§ 14)
nach, welche der Verurteilte für ihn machen könnte, so soll dieser von der
Behörde zu solcher Arbeit angehalten werden. Das Gesetz hat mit dieser,
dem preussischen Rechte allerdings schon früher bekannten, Einrichtung den
Boden der römischen Privatstrafe wieder betreten, nui* mit dem Unterschiede,
dass der Staat dem Beschädigten die Gefälligkeit erweist, die Strafe zu heischen
und beizutreiben. Nur wenn eine Gemeinde beschädigt ist und der Verurteilte
zu derselben gehört, kann der Amtsrichter die Beitreibung der Geldstrafe mit
den Kosten und der Entschädigung der Gemeindebehörde auftragen. Die dem
*) Die Bestimmung in § 146 Abs. 2 mit § 116 der Gewerbeordnung kann als eine
solche Abweichung nicht erachtet werden.
§ 46. Der Inhalt des Landesstrafrechts. 105
Beschädigten zufallende Geldstrafe erfüllt nicht etwa eine Entschädigungs-
funktion; das Amtsgericht hat vielmehr ausser der Geldstrafe auch die Ver-
pflichtung zum Wertersatze auszusprechen, so dass der Beschädigte Wertersatz
und Geldstrafe erhält, vorausgesetzt, dass der Schuldige zahlungsfähig ist.
Vergl. § 9 des Gesetzes. Die Ei'satzarbeit (§ 34, Abs. 2) kann nur für die
Strafe, nicht für die Entschädigung gefordert werden. — In diesen Zusammen-
hang gehört 16. das preussische Feld- und Forstpolizeigesetz vom 1. April
1880, GS. S. 230. Die §§ 1 — 8 dieses Gesetzes enthalten allgemeine, zum Teil an
das Forstdiebstahlsgesetz sich anschliessende Bestimmungen , das letztere
namentlich in Betreff der Jugendlichen und in Betreff der Civil- und Straf-
verantwortlichkeit Dritter. § 1 verweist zur Ergänzung auf das Strafgesetzbuch;
§ 2 stellt Schärfungsgründe, darunter auch den Rückfall auf. § 3 begrenzt
den Rückfall abweichend vom gemeinen Reichsrechte, zum Teil auch vom
Forstdiebstahlsgesetze. (Rechtskräftige Verurteilung in Preussen durch Gericht
oder polizeiliche Strafverfügung während der vorausgegangenen zwei Jahre
wegen einer nach demselben Paragraphen des Gesetzes, beziehungsweise nach
derselben Paragraphennummer strafbaren Handlung — im Falle der Ent-
wendung Vorbestrafung wegen Entwendung, Verauch einer solchen, Teilnahme
daran, Begünstigung und Hehlerei in Bezug darauf.) Sehr wichtig ist die
Begrenzung, die sich das Gesetz gegenüber dem gemeinen Reichsrechte giebt;
§ 6. Entwendungen, Begünstigungen und Hehlerei in Bezug auf Entwendungen,
rechtswidrig und vorsätzlich begangene Beschädigungen (§ 303 des StC^B.) und
Begünstigung in Bezug auf solche unterliegen nur dann dem Gesetze, wenn
der Wert des Entwendeten oder der angerichtete Schaden 10 Mark nicht
übersteigt. Ist das der Fall, so sind die Entwendungen und Beschädigungen
nach dem Reichsrechte zu beurteilen. Vergl. oben § 43 IV, S. 87. Diese
Wertberücksichtigung ist ein Zurückkommen auf einen Gesichtspunkt, den das
deutsche Strafgesetzbuch glücklich überwunden hatte. Schon im Gerichts-
verfassungsgesetze ist wieder dem Werte bei Entfremdungen imd Beschädigungen
Bedeutung beigelegt worden. Vergl. Ger. -Verf. -Ges. § 27. Nun führt die
Landesgesetzgebung, nicht zum Vorteil der Rechtsentwickelung, das Moment
der Schadenshöhe auch wieder in das materielle Strafrecht ein. Kein
Grund ist vorhanden, die Wegnahme von Rosen aus einem umschlossenen
Garten mittelst Einsteigens bloss mit Geldstrafe von 5 — 150 Mark oder mit
Haft bis zu 6 Wochen zu bestrafen, wenn die Rosen zu 10 Mark gewertet
werden (Feld- und Forstpolizei- Gesetz § 19, No. 3); während die Strafe 1 bis
10 Jahre Zuchthaus, bei Annahme mildernder Umstände Gefängnis von 3 Mo-
naten bis zu 5 Jahren beträgt, wenn die Rosen etwas höher taxiert werden
(StGB. § 243, Z. 2)! Viel verständiger verordnete die preussische Feldpolizei-
Ordnung vom 1. November 1847, abgeändert durch Gesetz vom 13. April 1856,
GS. S. 205, dass der „unbedeutende Wert" oder die „geringe Quantität"
der weggenommenen Bodenerzeugnisse die Wegnahme als Entwendung er-
scheinen lasse, dass aber gewinnsüchtige Absicht dieselbe wieder zum Dieb-
stahl mache, ^) ebenso wie ein Feld- oder Garten-Frevel zur gemeinen Sach-
beschädigung werde, wenn derselbe aus Rache oder Bosheit verübt wird. Cit.
Ges. § 42, Z. 2, § 45. Der § 6 des preuss. Feld- und Forstpolizei-Gesetzes er-
scheint der Feidpolizei-Ordnung von 1847/56 gegenüber als eine legis refor-
matio in pejus I — Die Beihülfe zu einer Entwendung oder Beschädigung, die
Begünstigung in Bezug auf dieselben, sowie die Hehlerei in Bezug auf eine
Entwendung sind strafbar, auch wenn die Hauptthat nur eine Übertretung ist
(gegen StGB. §§ 49 und 257), und sie sind strafbar wie die Hauptthat. Das
*) Vergl. auch oben das preuss. Forstdiebstahlsgesetz § 6.
\
106 Deutsches Reich. — Die Landesstrafgesetzgebnng.
Gleiche gilt vom Versuch der EntwendoBg (Gres. §§ 7, 8). Die §§ 9 — 15, 17 — 47,
51 enthalten Spezialstrafbestimmangen, von denen besonders die auf den Not-
stand bezügliche bemerkenswert ist. § 16 des Gesetzes hat privatrechtliche
Bedeutung, er giebt der Dienstherrschaft eines wegen Weidefrevels rechtskräftig
verurteilten Hirten das Recht, denselben innerhalb 14 Tagen von der rechts-
kräftigen Verurteilung an ohne vorgängige Kündigung zu entlassen. Titel 2
des Gesetzes, §§53—61 betrifft das Verfahren, Titel 3, §§ 62—66 die Feld-
und Forsthüter, Titel 4, §§ 67 — 88 Schadensersatz und Pfändung. Strafrechtlich
bedeutsam für die Frage der Rechtswidrigkeit ist der das Pfandungsrecht des
Beschädigten anerkennende § 77. Titel 5, §§ 89 — 97 Übergangs- und Schluss-
bestimmungen. Vergl. noch preuss. Ges. über gemeinschaftliche Holzungen
vom 14. März 1881, GS. S. 261, § 9. — 17. Die §§ 117—119 des Strafgesetz-
buches gewähren den Jagdbeamten, den Jagdberechtig^en, so\*ie den von diesen
bestellten Aufsehern denselben Strafschutz, wie den Forstbeamten u. s. w.
S. No. 15. Auf die Verletzung eines fremden Jagdrechtes beziehen sich die
§§ 292—295 des Strafgesetzbuchs; § 368 No. 10 enthält eine jagdpolizeüiche
Bestimmung (unbefugtes ambulari cum instrumentis venatoriis). Im übrigen
ist der Jagdschutz, besonders sofern derselbe sich auf die Schonung des Wildes
bezieht, dem Landesrechte überlassen. Preuss. Jagdpolizeiges. vom 7. März
1850, GS. S. 165, §§ 16— 20, 28, 29; Preuss. Ges. über die Schonzeiten des
Wüdes vom 26. Februar 1870, GS. S. 120, §§ 5, 7; § 6 Abs. 2, 3 (Abs. 1 durch
das Reichsvogelschutzgesetz vom 22. März 1888, oben § 20, No. 1, S. 42 ersetzt).
Bayer. Ges., betr. die Ausübung der Jagd vom 30. März 1850, GBl. 1850/51,
S. 117, Art. 23 (Vei^stösse gegen die Jagdordnung). 18. Das Berggesetz für
das Königreich Bayern vom 20. März 1869, GBl. 1866/69, S. 673 giebt im
Art. 199 den Bergbehörden für den Vollzug des Berggesetzes die sonst den
Polizeibehörden zustehende Befugnis zur Anwendung von Zwangsmitteln und
Androhung und Verhängung von Ungehorsamsstrafen. Art. 206 erklärt die
Übertretung des Gesetzes, sowie der in demselben vorgesehenen Verordnungen
und oberpolizeilichen Vorschriften als Übertretungen, obgleich die Straf-
drohungen das Mass der reichsgesetzlichen Übertretungsstrafen zum Teil über-
schreiten. Die Strafdrohungen sind in den Art. 208 — 213 enthalten. Nach
Art. 214 soll in den Fällen der Art. 208, 209, 211 und 212 die Bergpolizei-
übertretung auch nach dem allgemeinen Strafrechte verfolgt werden, wenn
die That nach ihrem Erfolge unter ein Strafgesetz fällt. Diese Bestimmung
dürfte jetzt nur mehr dann anwendbar sein, wenn der Erfolg durch ein an
die Bergpolizeiübertretung zwar sich anschliessendes, aber doch selbständiges
Thun (StCfB. § 74) verui-sacht \^'urde; andernfalls dürfte § 73 des Strafgesetz-
buches der Doppelbestrafung im Wege stehen.*) Vergl. jetzt auch die Straf-
bestimmungen in der kaiserlichen Verordnung, betr. das Bergwesen im süd-
westafrikanischen Schutzgebiet vom 15. August 1889, RGBl. S. 179, §§ 52 u. 53.
Inbetreff des Bergstrafrechts in Preussen vergl. oben § 45 I, S. 96; femer
Gesetz über die Bestrafung unbefugter Gewinnung von Mineralien vom
26. März 1856, GS. S. 203, §§ 1—4; Gesetz, betr. die Bestrafung der un-
befugten Aneignung von Bernstein u.s.w. vom 22. Februar 1867, GS. S. 272,
Art. I— IV.
Von den auf den Schutz des Staatseinkommens abzielenden Landes-
strafbestimmungen ist von besonderem Interesse das bayerische Gesetz über
den Malzaufschlag in der Fassung des Gesetzes vom 8. Dezember 1889, GVBl.
S. 600, Art. 2: „Unter Malz wird alles künstlich zum Keimen gebrachte Getreide
^) Auch dem Reichsgerichte scheint die Kumulieriing der Strafen in Fällen
dieser Art nicht unbedenklich zu sein; vergl. Entsch. X, S. 393 Zeile 4 v. u.
§ 46. Der Inhalt des Landesstrafrechts. 107
verstanden."*) Art. 7: „Es ist verboten, zur Bereitung von Bier statt Malzes
(Dörr- oder Luftmalzes) StoflPe irgend welcher Art als Zusatz oder Ersatz, oder
ungemälztes Getreide für sich, sowie mit ungemälztem Getreide gemischtes Malz
zu verwenden. Zur Erzeugung von Braunbier darf nur aus Gerste bereitetes
Malz verwendet werden." Die Abteilung II dieses Gesetzes enthält ein Bierstraf-
gesetzbuch mit allgemeinem (Titel 1) und besonderem Teil (Titel 2). Straf-
rechtlich interessant sind namentlich die folgenden Bestimmungen. Art. 50:
Dife Vorschriften des Gesetzes über strafbare Handlungen finden auch An-
wendung auf strafbare Unterlassungen. (Dem Art. 5 des bayer. StGB, von
1861 nachgebildet.) Nach Art. 51 finden die Bestimmungen des Gesetzes
gleichmässig auf vorsätzliche wie auf fahrlässig begangene Handlungen An-
wendung; bei Anstiftern und Gehülfen ist aber die Absicht, das (iefäll zu
verkürzen oder zu gefährden, Bedingung der Strafbarkeit. Die in einem auf-
schlagpflichtigen Betriebe oder bei dem Betriebe einer Malzmühle verwendeten
Personen sind nur strafbar, wenn sie gegen ein ausdrückliches Verbot des
Betriebsberechtigten oder gegen besondere Aufträge desselben gehandelt haben.
In diesem Falle haftet der Betriebsberechtigte nicht; in allen andern Fällen
haftet dieser allein. Art. 52, Abs. 1. Der Abs. 3 dieses Artikels enthält
eine strafrechtliche Merkwürdigkeit. Ist eine Malzmühle im Besitze einer
politischen Gemeinde, so haftet, nicht etwa subsidiär, sondern primär als das
strafrechtlich verantwortliche Subjekt — die Gemeindekasse. Die Gemeinde
wird angeklagt.^) Erachtet man die Genossenschaft für eine wirkliche Person
und nicht bloss für eine zu praktischen Zwecken und dann in der Voi'stellung
und Ausdrucksweise erfolgende Zusammenfassung einer Anzahl leibhaftigem*
Menschen, so wird man an solchen Bestimmungen nichts Auffälliges finden.
Vergl. Gierke, Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung.
Berlin 1887, S. 771 — 784. Dem deutschen Strafrechte ist aber die Vorstellung
der Bestrafung juristischer Personen keine geläufige und gewohnte. Die Körper-
schaft an sich ist als willenloses Wesen nicht fähig, eine unerlaubte Handlung
zu begehen.*) — Art. 53 des bayerischen Malzaufschlaggesetzes behandelt die
auch in Reichsgesetzen (s. oben § 28 II S. 54 a. E., S. 55) mehrfach vor-
kommende Übertragung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Die schriftliche
Zustimmung des Oberaufschlagamtes hat die Wirkung, dass die volle straf-
rechtliche Verantwortlichkeit von dem Betriebsberechtigten auf den Pächter
oder Geschäftsführer übergeht. Art. 57 stellt als allgemeinen Strafmilderungs-
grund auf: die erhebliche Minderung der Fähigkeit der Selbstbestimmung oder
der zur Erkenntnis der Strafbarkeit nötigen Urteilskraft. Auch die Ab-
teilung III, betr. den Lokal-Malzaufschlag, enthält Straf bestimmungen. Vergl.
ferner bayer. Pol.-StGB. Art. 136, Verkauf von geschwefeltem Hopfen betr.
Art. 69 des Malzaufschlaggesetzes bedroht die missbräuchliche Benutzung des
Einschreibbuches; Art. 77 des Gesetzes schränkt auf Gnind der Ermäch-
^) Vergl. dazu das Erkenntnis des Reichs -Gerichts in Entsch. Bd. 7 No. 94,
das sich auf den übereinstimmenden Art. 7 des bayerischen Gesetzes vom 16. Mai
1868 über den Malzaufschlag bezieht.
*) Auch § 33 des preussischen Gesetzes über das Mobiliar-Feuer-Versicherungs-
wesen vom 8. Mai 1837 bedroht Versicherungsgesellschaften unter gewissen Voraus-
setzungen mit Strafe. Die Bestimmung im § 17 des Reichskrankenversicherungsgesetzes
(siehe oben § 25, II, No. 1) wird als Strafdrohung gegen Gemeinden aufgefasst (?).
V. Woedtke, Krankenversicherungsgesetz, 4. Aufl. Berlin 1892, Register S. 292 unter
„Strafe". Das Bedenken, welches in der Reichsgerichtsentscheidung Bd. 18 No. 3
(oben § 43, a. E. S. 92) in Bezug auf den Strafprozess gegen die Erben eines Schuldigen
erhoben wurde, dürfte auch bei einer Anklage gegen Gemeinden u. s. w. zutreflFen.
'^) Motive zu dem Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche
Reich. Bd. 1. Allgemeiner Teil. Amtliche Ausgabe. Berlin und Leipzig 1888. S. 103.
108 Deutsches Reich. — Die Landesstrafgesetzgebung'.
tigung in § 2 des Einf.-Ges. zum StGB, die Anwendbarkeit der allgemeinen
Bestimmung über den Betrug — StGB. § 263 — ein. „Wer im Inlande er-
zeugtes Bier zum Zweck der Rückvergütung des Malzaufschlags zur Ausfuhr
anmeldet, während in den Gefässen, welche angeblich das Bier enthalten
sollen, kein Bier oder solches in geringerer, als in der angemeldeten Menge
sich befindet, oder wer einen höhern als den durch die Verordnung bestimmten
Rückvergütungssatz beansprucht, ist auf den zehnfachen Betrag der Rück-
vergütung, welche er sich widerrechtlich zu verschaffen sucht, zu bestrafen."
Ausserdem Ersatz. Eigenartige Rückfallsstrafe, Art. 79.
Auch die sonstigen, auf Gewinnung von Staats- und Kommunaleinkommen
abzielenden Gesetze^) stellen die von ihnen ausgeprägten Handlungs- und
Leistungspflichten unter den Strafschutz, dessen Umfang und Rücksichtslosigkeit
vielfach nicht im richtigen Verhältnisse zu dem konkreten Verschulden stehen
dürften. Die Nichtberücksichtigung der Rechtsunkenntnis führt im Finanz-
strafrechte zu besonders abstossenden Resultaten. Die Behauptung dürfte
kaum zu gewagt sein, dass die grundsätzliche Zurückweisung des sogenannten
Irrtums über das Strafgesetz neuerdings eine besondere Anregung und Be-
lebung von Seiten des Finanzstraf rechts erhalten hat.-) Das preussische Erb-
schaftssteuergesetz vom 30. Mai 1873, in der Fassung des Gesetzes vom 24. Mai
1891, GS. S. 78, operiert in dem für die hohenzollernschen Lande und Lauen-
burg abgeänderten § 46 mit dem Gedanken einer Inhaberstrafe. Die Strafe
kann gegen jeden Inhaber einer Urkunde verfolgt werden, auf welcher sich
kein Vermerk über die Entrichtung der Steuer findet, vorbehaltlich des Rück-
griffs gegen den Aussteller. Bemerkenswert ist die Einräumung eines Straf-
milderungsrechtes an die Regierungsbehörden^) im preussischen Einkommensteuer-
gesetz vom 24. Juni 1891, GS. S. 175 und im preussischen GcAverbesteuergesetz
vom 24. Juni 1891, GS. S. 205 ; strafrechtlich besonders bemerkenswert sind sodann
die Strafbestimmungen gegen die bei der Steuerveranlagung beteiligten Personen
wegen Verletzung des Berufsgeheimnisses. Nach § 69 des Einkommensteuergesetzes
findet die Verfolgung nur auf Antrag der Regierung oder des betroffenen
Steuerpflichtigen statt. Nach §72, Abs. 2 des Gewerbesteuergesetzes tritt die
Strafverfolgung nur auf Antrag ein und muss stattfinden, insofern der durch
die Verletzung des Geheimnisses betroffene Steuerpflichtige dieselbe unter Dar-
legung des Sachverhalts beansprucht und nicht Rücksichten öffentlichen
Wohles entgegenstehen. Für die Stellung des Antrages gegen Vorsitzende
und Mitglieder der Steuerausschüsse der Klasse I und gegen deren Stell-
vertreter ist der Finanzminister, im übrigen die Bezirksregierung zuständig.
Die preussische Gesetzgebung dürfte sich durch diese Bestimmung mit dem § 11
des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz in Widerspruch gesetzt
haben. Das Reichsrecht will, wenigstens grundsätzlich nicht, dass Erwägungen
des öffentlichen Wohles für die Frage der Strafverfolgung massgebend sind; die
Ausnahmen hat es selbst bestimmt. Die preussische Gesetzgebung kann auf
ihrem Gebiete die Strafverfolgung von Stellung eines Antrages des Verletzten
abhängig machen; das preussische Recht darf aber nicht durch Übertragung
der Antragstellung auf die vorgesetzten Behörden der Beschuldigten die vom
*) So namentlich Gesetze über Grund- und Gebäudesteuer, Einkommen-, Kapital-
renten-, Gewerbesteuer, Besteuerung des Gewerbebetriebes im Umherziehen (Wander-
gewerbebetrieb j, Hundesteuer, Erbschaftssteuer, Gebührengesetze, Stempelgesetze u. s.w.
-) Eine seltene Ausnahme z. B. im bayer. Gesetze über das Gebührenwesen
vom 18. August 1879, GVBl. S. 903, Art. 270,' wo dem Rechtsirrtum Rechnung ge-
tragen ist.
^) Wer auf gerichtliche Entscheidung anträgt, begiebt sich der Aussicht auf
Strafmilderung durch die Verwaltungsbehörden.
§ 47. Litteratur und Praxis. 109
Reichsrechte abgelehnte administrative Erwägung über die ZweQkmässigkeit
einer Strafverfolgung wieder einführen. Die Gültigkeit der Bestimmung des
§ 72 Abs. 2 des Gewerbesteuergesetzes dürfte zu beanstanden sein.
Anhang.
§ 47.
Litteratur und Prazü.
Hinsichtlich der Litteratur des deutschen Strafrechts wird vor allem auf die
Zusammenstellung verwiesen, welche Binding in dem Grundriss des Gemeinen
deutschen Straf rechts, 4. verbesserte Auflage, Leipzig 1890, S. 43—51, gegeben hat.
I. Bis in die Mitte des laufenden Jahrhunderts unternahm es die deutsche
Rechtswissenschaft, das Strafrecht auf dem Boden der alten gemeinrechtlichen Quellen
darzustellen. 1. Für die Auffassung und Darstellung des deutschen Strafrechts am
Ende des vorigen Jahrhunderts mag besonders in Betracht kommen : Johann Christian
Edlen von Quistorps Grundsätze des deutschen peinlichen Rechts. (Oft aufgelegt.)
6. Aufl. 2 Teile. Deutschland 1796. 2. Auf durchaus anderem Boden steht schon:
Karl von Grolman, Grundsätze der Kriminalrechtswissenschaft, zuerst Giessen
1798. 4. Aufl. Giessen 1825. — Anselm v. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in
Deutschland gültigen peinlichen Rechts. 1. Aufl. Giessen 1801; bis zur 11. (1882)
noch von Feuerbach selbst besorgt; nach dessen Tod (29. Mai 1838) noch dreimal,
zuletzt 1847 in 14. Aufl. von Mittermai er herausgegeben. — C. G. Wächter, Lehr-
buch des Römisch-Teutschen Strafrechts. Grundriss mit vortrefflichen Quellen- und
Litteraturangaben, sowie grösseren und kleineren Erörterungen. 2 Teile. Stuttgart
1825, 1826. — Ed. Henke, Handbuch des Kriminalrechts und der Kriminalpolitik. 4 Teile.
Berlin 1828 — 1888 (1. Allgemeiner Teil, 2., 3. Spezieller Teil, 4. Kriminalprozess.) —
A. W. Heffter, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts mit Rücksicht auf
ältere und neuere Landesrechte zuerst 1833; 6. Aufl. Braunschweig 1857. — Klein-
schrod, Systematische Entwickelung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten des
peinlichen Rechtes. Dritte Ausgabe, 3 Teile. Erlangen 1805. — Feuerbach, Revision
der Grundsätze und Grundbegriffe des gesamten peinlichen Rechts. 2 Bde. Erfurt
und Chemnitz 1799/1800.
II. H. Luden, Handbuch des teutschen gemeinen und partikularen Straf rechts.
1. und einziger Band. Jena 1842. — R. Köstlin, Neue Revision der Grundbegrifl'e
des Kriminalrechts. Tübingen 1845. — C. Reinhold Köstlin, System des deutschen
Strafrechts. 1. Abteilung. Allgemeiner Teil. Tübingen 1855 (unvollendet). — A. F.
Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechts. 1. Aufl. Leipzig 1857. (Jetzt in 16. Aufl.
unten III No. 1). — G. Geib, Lehrbuch des deutschen Strafrechts. Leipzig 1861 und
1862. 1. Bd. Geschichte. 2. Bd. System: Allgemeine Lehren. (Vortrefflich brauchbares
Buch mit reichen Quellenangaben und Quellenauszügen; leider unvollendet.)
III. Litteratur des heutigen Reichsstrafrechts: 1. Handbuch des deutschen
Strafrechts in Einzelbeiträgen, herausgegeben von Fr. vonHoltzendorf, 3 Bde.
Berlin 1871 — 1874. Alphabetisches Sachregister 1874. Ergänzimgsband 1877. —
Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht systematisch dargestellt. Bonn 18S1
bis 1887. 2 Bde., der 2. in 2 Abteilungen. — von Bar, Handbuch des deutschen Straf-
rechts. 1 Bd. Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorieen.
Berlin 1882. — Binding, Handbuch des Strafrechts. 1. Bd. Leipzig 1885 (7. Abt.,
1. Teil, 1. Bd. des systematischen Handbuches der deutschen Rechtswissenschaft.) —
Schütze, Lehrbuch des deutschen Straf rechts auf Grund des RStGB. 2. Aufl.
Leipzig 1874, (Anhang von Wanick und Villnow 1877.) — H. Meyer, Lehrbuch des
deutschen Strafrechts. 4. Aufl. Erlangen 1888. — A. Merkel, Lehrbuch des deutschen
Strafrechts. Stuttgart 1889. — von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts.
5. Aufl. Berlin 1892. — Berner, Lehrbuch des deutschen Strafrechts. 16. Aufl.
Leipzig 1891. — Geyer, Grundriss zu Vorlesungen über gemeines deutsches Straf-
recht. 2 Hälften. München 1884, 1885. — R. Löning, Grundriss zu Vorlesungen
über deutsches Strafrecht. Frankfurt a/M. 1885. 2. Kommentare: Strafgesetzbuch
für das deutsche Reich. Mit Kommentar von Dr. Hans Rüdorff, 4. mit besonderer
Berücksichtigung der Praxis des Reichsgerichts neubearbeitete Auflage, herausgegeben
von M. Stenglein. Berlin 1892. — J. Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch
für das deutsche Reich. 4. Aufl. Berlin 1892. — Oppenhoff, Das Strafgesetz-
110 Deutsches Reich. — Litteratur und Praxis.
buch für das deutsche Reich u. s. w. 12. Aufl. Berlin 1891. — von Schwarze, Kom-
mentar zum Strafgesetzbuch für das deutsche Reich. 5. Aufl. Leipzig 1884. — Rubo,
Kommentar über das Strafgesetzbuch für das deutsche Reich. Berlin 1879.
IV. Hinsichtlich des besonderen Reichsstrafrechts und des Militärstraf rechts
wird auf die zu den betreffenden Paragraphen angegebene Litteratur verwiesen.
V. Abhandlungen: Luden, Abhandlungen aus dem gemeinen teutschen Straf-
rechte. 2 Bde. Göttingen 1836 und 1840. — H. Seeger, Abhandlungen aus dem
Strafrechte. 2 Bde. Tübingen 1858 und 1862. — R. Köstlin, Abhandlungen aus
dem Strafrechte, nach dem Tode des Verfassers herausgegeben von Th. Gessler,
Tübingen 1858. — A. Merkel, Kriminalistische Abhandlungen. I. Zur Lehre von den
Grundeinteilungen des Unrechtes und seiner Rechtsfolgen. Leipzig 1867. IL Die
Lehre vom strafbaren Betrüge. 1. Abteil. Die Ent Wickelung des Thatbestandes.
Leipzig 1877. — Otto, Aphorismen zu dem allgemeinen Teile des Strafgesetzbuches
für das deutsche Reich. Leipzig 1873. — A. Geyer, Kleinere Schriften strafrecht-
lichen Inhaltes, herausgegeben von Harburger. München 1889.
Binding, Die Normen und ihre Übertretung, eine Untersuchung über die
rechtmässige Handlung und die Arten des Delikts. 1 Bd. 1. Abt. Normen und
Strafgesetze. Leipzig 1872; 2. Bd. Schuld und Vorsatz. Mit einem Register über
beide Bände. Leipzig 1877. 2. Aufl. 1. Bd. Normen und Strafgesetze. Leipzig 1890.
VI. Zeitschriften: Archiv des Kriminalrechts. Halle 1799—1807; Neues Archiv.
Halle 1816 — 1833; Archiv des Kriminal - Rechtes , Neue Folge. Halle 1834—1857. —
Der Gerichtssaal. Erlangen 1849 ff. Neue Folge 1872 ff.; erscheint weiter. — Holtzen-
dorff, Allgemeine deutsche Strafrechtszeitung. 13 Bde. Leipzig 1861 ff. Seit 1874
mit dem „Gerichtssaal" verbunden. — Goltdammer, Archiv für gemeines deutsches
und preussisches Strafrecht. 1871 ff. Als Bd. 19 des Archivs für preussisches Straf-
recht fortgesetzt; erscheint weiter. — Stenglein, Zeitschrift für Gerichtspraxis und
Rechtswissenschaft in Deutschland. (Neue Folge der Zeitschrift u. s. w. in Bayern.)
8 Bde. 1872—1879. — Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, zuerst her-
ausgegeben von Dochow und v. Liszt, jetzt von v. Liszt, v. Lilienthal und
Ben necke; erscheint weiter. — Magazin für das deutsche Recht der Gegenwart,
herausgegeben von Bödiker, 1 Bd. Hannover 1881. — Zeitschrift für Internationales
Privat- und Strafrecht mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsfhüle, begründet
und herausgegeben von F. Böhm. Bd. 1. 1891; erscheint weiter.
VII. Entscheidungen des Reichs-Ober-Handels-Gerichts. 25 Bde. Erlangen 1871
bis 1880. — Entscheidungen des Reichsgerichts, herausgegeben von den Mitgliedern
des Gerichtshofes; Entscheidungen in Strafsachen. Seit 1880. (Dezember 1892: 22 Bde.,
1 Heft. General-Register zum 1.— 12. Bde. Leipzig 1885, zum 13. — 20. Bde. Leipzig
1890.) — Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts in Strafsachen, herausgegeben
von den Mitgliedern der Reichsanwaltschaft. München und Leipzig seit 1879. 10 Bde.
Vom 19. Bde. der Entscheidungen des Reichsgerichts an mit diesen vereinigt. —
Repertorium zu den Erkenntnissen des Reichsgerichts in Strafsachen, zugleich als
Register der Rechtsprechung und der Entscheidungen, herausgegeben von Zuerl.
München und Leipzig. 3 Bde. 1882, 1885, 1889.
VIII. Die Bearbeitungen des Straf rechts in den einzelnen Bundesstaaten vor
dem Strafgesetzbuche für das deutsche Reich gehen zunächst von dem in dem Lande
des Verfassers geltenden Landesstrafrechte (vergl. oben § 2) aus, greifen aber mehr
oder weniger auf das alte gemeine Recht und auf die Strafgesetzgebung anderer
Länder über. Seit der Einführung des Reichsstrafgesetzbuches bezieht sich der Inhalt
der zunächst für die einzelnen Länder bestimmten Urteilssammlungen und Zeitschriften
teils auf das Reichsstrafrecht, teils und zwar vorzugsweise auf das spezielle Landes-
strafrecht. Mit Rücksicht auf die Bedeutung, welche die Landesstrafgesetzbücher für
den Inhalt und die Ausgestaltung des Reichsstrafgesetzbuches gehabt haben — siehe
oben § 4 S. 10 — ist auch die wichtigere Litteratur in Bezug auf diese Landesstraf-
gesetzbücher erwähnt. Die Litteraturnachweise sind dann aber für das einzelne Land
bis auf die heutige Zeit fortgesetzt. Hinsichtlich der in den einzelnen Ländern vor-
handenen Sammlungen der besonderen Landesstratgesetze wird auf die Zusammen-
stellung vor § 46 verwiesen.
1. a) Goltdammer, Materialien zum Strafgesetzbuche für die preussischen
Staaten, aus den amtlichen Quellen nach den Paragraphen des Gesetzbuches zu-
sammengCaStellt und in einem Kommentar erläutert. Berlin 1851 und 1852. Unent-
behrlich für die Erkenntnis des preussischen und mittelbar des deutschen Straf-
rechts. — Hä Ischner, Das preussische Strafrecht. 3 Teile. Bonn 1855, 1858, 1868.
1. Teil: Geschichte des brandenburgisch-preussischen Strafrechts. 2. Teil: Allgemeiner
Teil des Systems. 3. Teil: Erster Abschnitt des besonderen Teiles des Systems. Un-
vollendet; meistens System Teil 1 und 2 citiert. — Berner, Grundsätze des preussi-
schen Strafrechts. Leipzig 1861. — Oppenhoff , Das Strafgesetzbuch für die preussi-
^5 47. Litteratur und Praxis. Hl
scheu Staaten. 5. Ausgabe. Berlin 1867. — Goltdammer, Archiv des preussischen
Strafrechts. Berlin von 1853 — 1870 (Fortsetzung' oben VI !). — Entscheidungen des Ge-
heimen Obertribunals. 83 Bde. Berlin 1837—1879. — Oppenhoff, Die Rechtsprechung
des königl. Obertribunals in Strafsachen. 20 Bde. Berlin 1861—1879. Jetzt: Jahrbuch
des Kammergerichts in Strafsachen von Johow und Küntzel. Berlin seit 1881. — Bei-
träge zur Erläuterung des preussischen Rechts durch Theorie und Praxis. Unter
Mitwirkung mit praktischen Juristen herausgegeben von J. A. Gruchot. Hamm,
später Berlin 1857 — 1871. Dann Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts, in
besonderer Beziehung auf das preussische Recht. 1872 — 1876; von 1877 an heraus-
gegeben von Rassow und Küntzel. Mit Registern. Erscheint weiter.
b) Archiv für das Civil- und Kriminal -Recht der königl. preussischen Rhein-
provinzen. Köln seit 1821, erscheint weiter.
c) Leonhardt, Kommentar über das Kriminalgesetzbuch für das Königreich
Hannover. 2 Bde. Hannover 1846 und 1851. — Magazin für hannoversches Recht.
Göttingen, später Hannover 1851—1859. Neues Magazin. Hannover 1860—1869. —
Zeitschrift für das hannoversche Recht. Hannover 1869—1878.
d) Heusser, Systematisches Handbuch des kurhessischen Straf- und Polizei-
Rechts mit Einschluss der noch gültigen Strafbestimmungen des älteren Fuldaer,
Hanauer, Mainzer, Isenburger und Schaumburger Rechts und der Praxis des Ober-
appellationsgerichts. Cassel 1853. — Strippelmann, Neue Sammlung bemerkens-
werter Entscheidungen des Oberappellationsgerichts zu Cassel. Cassel 1842 — 1852.
Heusser, Bemerkenswerte Entscheidungen des Kriminalsenates des Oberappellations-
gerichts zu Cassel. Cassel 1845—1852. — Heusser, Annalen der Justizpflege und
Verwaltung. Cassel seit 1854.
e) C. von Schirach, Handbuch des Schleswig-Holsteinischen Kriminalrechts
und -Prozesses mit einem Vorworte und einigen Anmerkungen von N. Falck. 2 Bde.
Altona 1828 und 1829.
2. Anmerkungen zum Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern. Nach den
Protokollen des königl. geh. Riites. 3 Bde. München 1813, 1814; s. oben § 2 S. 6. —
Kommentar zum Strafgesetzbuch vom 10. November 1861 von C. Fr. von Dollmann,
nach dessen Ableben von Art. 76 an fortgesetzt von C. Risch. 2 Abteilungen. Erlangen
1868—1870. — C. Hocheder, Das Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern vom
10. November 1861. Kommentar. l.Bd. Allgemeiner Teil. München 1862. — M. Steng-
lein, Kommentar über das Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern (1861). 2 Teile.
München 1861, 1862. — M. Stenglein. Das StGB, für das Königreich Bayern vom
10. November 1861. München 1869. — Sitzungsberichte der bayerischen Strafgerichte,
herausgegeben von der Redaktion der Blätter für Rechtsan wen düng. 5 Bde. mit Re-
gister. Erlangen 1850—1854. — Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege des König-
reichs Bayern. Mit Allerhöchster Genehmigung unter Aufsicht und Mitwirkung des
königl. Justizministeriums herausgegeben. 13 Bde. Erlangen 1854—1867. — Sammlung
w^ichtiger Entscheidungen des königl. baverischen Kassationshofes (Fortsetzung der
Zeitschrift). Erlangen 1868—1870 und Register-Band zugleich über Bd. 11—18 der Zeit-
schrift. — Sammlung von Entscheidungen des obersten Gerichtshofes für Bayern in
Gegenständen des Strafrechts und Strafprozesses. 9 Bde. 1872—1880. — Sammlung von
Entscheidungen des königl. Oberlandesgerichts München in Gegenständen des Straf-
rechts und Strafprozesses. 1. Bd. München 1882, erscheint weiten — Blätter für Rechts-
anwendung zunächst in Bayern, zuerst herausgegeben von Johann Adam Seuffert
und Christian Carl Glück. l.Bd. 1836; erscheint weiter. — M. Stenglein, Zeit-
schrift für Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft. Bd. 1—10. München 1862—1871.
Neue Folge siehe oben S. 110, VI.
3. Krug, Kommentar zu dem Strafgesetzbuch für das Königreich Sachsen
vom 11. August 1855. 4 Abteil. Leipzig 1855. 2. Aufl. 2 Abteil. Leipzig 1861. —
V. Wächter, Das Königl. Sächsische und das Thüringische Strafrecht. Ein Handbuch.
Einleitung und allgemeiner Teil. Stuttgart 1857. Ein Meisterwerk, von dem nur zu
bedauern ist, dass es nicht fortgesetzt wurde; auch der allgemeine Teil ist leider
nicht vollendet. — Schwarze, Das königl. sächsische revidierte Strafgesetzbuch vom
1. Oktober 1868. — Das königl. sächsische Gesetz vom 11. August 1855, die Beschädigung
von F^isenbahnen und Telegraphen betreflTend. — Das Gesetz vom 11. August 1855,
Die Forst- und Feld- Diebstähle betr. Mit Erläuterungen. Leipzig 1868. — Jahr-
bücher für sächsisches Strafrecht. Herausgegeben von v. Watzdorf und Siebdrat.
Zwickau 1839. Neue Jahrbücher für sächsisches Strafrecht. Leipzig 1857—1881. 25 Bde.
— Annalen des königl. sächsischen Oberappellationsgerichts zu Dresden. Leipzig von
1860 an, 8 Bde. Neue Folge 1866—1873. 10 Bde. 2. Folge 6 Bde. Leipzig 1874—1879.
— Annalen des königl. sächsischen Oberlandesgerichts zu Dresden. Leipzig seit 1880.
— Zeitschrift für Rechtspflege und Verwaltung zunächst für das Königreich Sachsen.
Leipzig 1838. 3 Bde. Neue Folge von 1841 au.
112 Deutsches Reich. — Litteratur uud Praxis.
4. Hufnagel, Das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg. 2 Bde.
Stuttgart 1>*40 und 1W2, 3. Bd. 184o (Präjudizien, Berichtigungen. Znsatze». — Huf-
nagel, Das Strafgesetzbuch für das Königreich Württemberg mit erläuternden
Anmerkungen, vornehmlich aus der Praxis der Gerichte. — Sarwey, Monatschrift
für württ^mbergische Justizpflege. 1837—1856. — Kübel und Sarwey, Württem-
bergi.^hes Archiv für Recht und Rechtsverwaltung. Stuttgart 1S5T—1*<>^. — Gerichts-
blatt, herausgegeben von Kübel. Stuttgart 1857— 1><*<2. — Jahrbücher der württem-
bergischen Rechtspflege. Tübingen von 18'<7 an.
5. W. Thilo, Die Straf gesetzgebung des Grossherzogtums Baden nebst dem
Gesetz über die Gerichtsverfassung mit den Motiven der Regierung und den Resul-
taten der Stände Verhandlungen im Zusammenhange dargestellt. Karlsruhe 1845. 1 Abt.
Strafgesetzbuch von 1845. — Puchelt, Das Strafgesetzbuch für das Grossherzogtum
Baden nebst Abänderungen und Ergänzungen mit Erläuterungen. Mannheim 1><B8.
— Annalen der grossherzoglich badischen Gerichte. In Verbindung mit anderen
Rechtsgelehrten des Grossherzogtums herausgegeben von Bekk und anderen. Karls-
ruhe 1833; später Mannheim; jetzt unter Mitwirkung der Vorstände und Mitglieder
des grossherzoglichen Oberlandesgerichts und anderen herausgegeben.
6. Breidenbach, Kommentar über das grossherzoglich hessische Strafgesetz-
buch (vom 18. Oktober 1841 1 und die damit in Verbindung stehenden Gesetze und
Verordnungen nach authentischen Quellen, mit besonderer Berücksichtigung der
Gesetzgebungswerke anderer Staaten, namentlich des Königreichs Württemberg und
des Grossherzogtums Baden. Darmstadt. Erster Band, 1. Abt. 1842, 2. Abt. 1844 (nur
den allgemeinen Teil enthaltend). Sammlung der Entscheidungen des grossherzoglich
hessischen Kassationshofes in Civil- und Strafsachen vom Jal^e 1842 an (auch ältere
Urteile enthaltend^ bis 1878.
7. Mecklenburgische Zeitschrift für Rechtspflege und Rechtswissenschaft,
herausgegeben von Budde, Moeller (Blanck) und Birkmeyer seit 1881.
8. Archiv für die Praxis des gesamten im Grossherzogtum Oldenburg gelten-
den Rechts. Oldenburg 1844 — 1869. — Zeitschrift für Verwaltung und Rechtspflege
im Grossherzogtum Oldenburg. Fortsetzung der vorigen und einer auf das öffent-
liche Recht sich beziehenden Sammlung. Oldenburg von 1874 an.
9. Das Kriminal-Gesetz-Buch für das Herzogtum Braunschweig. Nebst den
Motiven der herzoglichen Landesregierung und Erläuterungen aus den ständischen
Verhandlungen. Braunschweig 1840. — Zeitschrift für Rechtspflege im Herzogtum
Braunschweig, herausgegeben von Gotthard und Koch später auch Dedekind.
Braunschweig seit 1854. — Sammlung der vom Kassationshofe des Herzogtums Braun-
schweig entschiedenen Strafrechtfälle. Wolfenbüttel 1853—1860.
10. Blätter für Rechtspflege in Thüringen und Anhalt, von Bd. 21 an mit
dem Zusatz: unter Berücksichtigung der Reichsgesetzgebung und der juristischen
Litteratur. Seit 1854.
11. Sammlung der Entscheidungen des Oberappellationsgerichtes der 4 freien
Städte Deutsehlands zu Lübeck. Herausgegeben von Kierulff. Hamburg
1866—1874.
12. Juristische Zeitschrift für das Reichsland Elsass-Lothringen. Strassburg
und Mannheim 1876—1881. Mannheim 1882 fl". — Kayser, Cbereicht des Sonderstraf-
rechts von Elsass-Lothringen in Holtzendorffs Handbuch. Ergänzungen. Berlin
1877. S. 639-744.
n.
ÖSTERREICH-UNGARN.
1. Österreich.
Von Dr. Karl Hiller,
Regierungsrat und ord. Professor der Rechte
ai» der Universität Czernowitz.
2. Ungarn.
Von Dr. Julins v. Wlassics,
ord. Professor der Rechte an der Universität
Budapest.
Ötrafgesetzgebung der Gegenwart. [.
s
Übersicht
1« Österreich«
1. Die geschichtlichen Grundlagen des österreichischen Strafrechts. § 1. Die Con-
stitutio criminalis Theresiana von 1768. § 2. Das Josephinische Strafgesetz
von 1787. § 3. Das westgalizische Strafgesetz von 1796. § 4. Das Strafgesetz
von 1803.
II. Die gesetzlichen Grundlagen des geltenden Rechts. § 5. Die Revision des Straf-
gesetzes von 1803 und das Strafgesetz von 1852. § 6. Das Strafgesetz von 18o2
in seinen Grundzügen. § 7. Die einzelnen Verbrechen, Vergehen und Über-
tretungen.
III. § 8. Das Strafgesetz für Bosnien und die Herzegowina.
IV. § 9. Die übrigen Gesetze strafrechtlichen Inhaltes.
V. § 10. Litteratur des österreichischen Strafrechts.
VI. § 11. Die Reform der Strafgesetzgebung und die Entwürfe seit 1861.
2« Ung:arn.
1. Die kodifikatorischen Bestrebungen. § 1. Ihre Vorgeschichte. § 2. Die neueste
Epoche der Kodifikation.
II. Das geltende Recht. *? 3. Die ungarischen Strafgesetze und ihre Einteilung.
§ 4. Einführung der ungarischen Strafgesetzbücher. §. 5. Allgemeine Charak-
teristik der Strafgesetzbücher. § 6. Spezielle Charakterisierung des Straf-
gesetzbuchs über Übertretungen. § 7. Räumliches und persönliches Geltungs-
gebiet der Strafgesetzbücher. § 8. Modifikationen des Strafgesetzbuches über
Verbrechen und Vergehen.
III. § 9. Strafrechtliche Sondergesetze.
IV. § 10. Kommentare, Monographieen, Sammlungen von Gesetzen und Entscheidungen.
V. §11. Das Strafrecht von Kroatien-Slavonien.
1. Österreich.
I. Die geschichtlicheii Grnindlagen des österreichischen Strafrechts.
§ 1. Die Constitutlo erimlnalls Theresiana von 1768.
Die Grundlage des heute geltenden österreichischen Strafrechts bildet
das Strafgesetzbuch vom 27. Mai 18o2, welches in seinen Hauptzügen wie in der
Fassung und dem legislativen Ausdruck vieler Begrififöbestimmungen noch auf
Kaiser Joseph's IL „Allgemeines Gesetz über Verbrechen und deren Bestrafung"
vom 13. Januar 1787 zurückweist. Mit diesem Gesetzbuche, einem typischen
Werke der Aufklärungsperiode des 18. Jahrhunderts, verliess die österreichische
Gesetzgebung auch in mancher Beziehung materiell den Boden des gemeinen
deutschen Rechtes, aus welchem bis dahin die P^inzelgesetzgebung der öster-
reichischen Erblande, wie die in der Absicht ihrer Unifizierung erlassene
Constitutio criminalis Theresiana von 1768 erwachsen war und ihre beste
Lebenskraft geschöpft hatte, und wandelte nun, völlig abgeschieden von der
deutschen Gesetzgebung, auch bis in die Mitte unseres Jahrhunderts fast
ausser Kontakt mit der deutschen Strafrechtswissenschaft, ihre eigenen Wege.
Formell war allerdings schon durch die am 31. Dezember 1768 publizierte
Constitutio criminalis Theresiana („oder der Römisch -kaiserl. zu Hungarn
und Böheim usw. Königl. Apostol. Majestät Maria Theresia, Erzherzogin
zu Österreich usw., peinliche Gerichtsordnung"), die bis dahin, wie allent-
halben im Reiche, anerkannte subsidiäre Geltung des gemeinen Rechtes,
insbesondere der Carolina, auch auf dem Gebiete der österreichischen Erb-
lande beseitigt und an die Stelle der bis dahin in den einzelnen Ländern
geltenden Landes- und Halsgerichtsordnungen und der neben ihnen noch be-
stehenden Satzungen und Gewohnheiten ein in seiner Gesetzeskraft auch nur
auf diese Erblande beschränkter gemeinsamer Strafkodex gesetzt worden.
Ihrem Inhalte nach war aber die Theresiana ein genaues Abbild des gemeinen
deutschen Strafrechts ihrer Zeit, ja eine — erst neuestens gerechter gewür-
digte — zumeist gelungene Durchbildung der gemeinrechtlichen Wissenschaft
jener Periode, welche damals, nachdem Carpzow's Autorität schon seit
Dezennien zu verblassen begann, vorwiegend von J. S. F. Böhmer beherrscht
und geführt wurde. Die kurz zuvor durch Beccaria (1764), Voltaire und
andere allenthalben, in ÖsteiTeich namentlich durch Sonnenfels entfesselte
Bewegung gegen die in der Strafrechtspflege herrschenden Missständc (ins-
besondere gegen die grausamen Lebens- und Leibesstrafen) konnte den kon-
servativen Sinn der übrigens schon seit 1752 (mit dem ausdrücklichen Auf-
trage: „kein neues, sondern nur ein gleiches Recht für die Erblande zu
schaffen") arbeitenden Gesetzeskommission in keiner Weise beeinflussen. Trotz-
dem ist es ein schwerer Irrtum, die Theresianische Kodifikation ihrem inneren
8*
116 Österreich. — Die g-eschicht liehen Gmndlag'eii des österreichischen Strafrechts.
Werte nach auf gleiche Linie mit dem Codex juris Bavarici eriminalis von
1751 zu stellen, ein Irrtum, der so lange währte, als man die erstere weder
in Österreich selbst noch ausserhalb desselben gehörig würdigte.
Beiden Gesetzen — und darin sind sie denkwürdig und massgebend für
die ganze Entwickelung des deutschen und österreichischen Strafrechts ge-
blieben — ist gemeinsam das Heraustreten aus dem Verbände des gemeinen
deutschen Rechtes. Wie durch den Codex Bavaricus von 1751 für das Kur-
fürstentum Bayern, so wurde 1768 durch die Theresiana auf dem Gebiete der
österreichischen Erblande das gemeine Recht auch als subsidiäres Recht völlig
aufgehoben und fortan nur das neue Gesetz als alleinige Grundlage der Straf-
rechtsordnung erklärt.
Dazu kommt noch für die Theresiana der nicht minder bedeutungsvolle
Umstand, dass ihr als Hauptaufgabe gesetzt war, die Land- und Halsgerichts-
ordnungen der einzelnen Erblande zu kombinieren und an ihre Stelle ein
denselben gemeinsames, auf fester gesetzlicher Basis stehendes Strafrecht zu setzen.
Wurde so der Partikularismus im eignen Körper der Erblande überwunden ^ so
war aber auch mit der formellen Absage vom gemeinen Rechte dem damit
eigentlich erst geschaffenen österreichischen Strafrechte für die Zu-
kunft der Charakter des partikulären gegenüber jenem (gemeinen Rechte) entzogen
und das für die Erblande nunmehr einheitliche Recht als ein jetzt losgetrennter
Zweig des alten gemeinrechtlichen Stammes selbständig neben diesen gestellt.
Damit war das \'erhältnis des gemeinen deutschen zum österreichischen Straf-
recht für alle Folgezeit besiegelt und dieses seiner ganz isolierten Fortbildung
anheimgegeben. Die meisten und selbst die hervorragendsten österreichischen
kriminalistischen Schriftsteller bis gegen 1860 hielten auch getreu und fast
ängstlich an diesem Abschluss nach aussen fest, nahmen eine von der gemein-
rechtlichen Doktrin, der Gesetzgebung und Praxis der übrigen Staaten ge-
schiedene Richtung ein und konnten so von jener weder Einfluss noch Förde-
rung empfangen. Dass übrigens das österreichische Recht auch fernerhin
genug Berührungspunkte mit der gemeinrechtlichen Strafrechtswissenschaft
gehabt hätte, beweist der Inhalt der Theresianischen Halsgerichtsordnung und
ihrer positivrechtlichen Grundlagen, d. i. der Land- und lialsgerichtsordnungen
der österreichischen Erblande, insbesondere der Landgerichtsordnung Fer-
dinands UI. von 1656 für Österreich unter der Enns und der peinlichen Hals-
gerichtsordnung Joseph I. von 1707 für Böhmen, Mähren und Schlesien, welche
fast ausschliesslich die quellenmässige Basis der Theresiana bilden. Die Fer-
dinandea von 1656 schliesst sich vielfach zum Teile wörtlich an die Carolina
an, in Härte und Grausamkeit der Lebens- und Leibesstrafen sie noch über-
bietend, und bestätigt ausserdem „die Anordnungen der gemeinen Rechte"
ausdrücklich als ergänzendes Recht (Art. 99); ebenso die Josephina von 1707
(Art. II, § 3, femer Art. XIX, § 46), welche noch besonders betont, dass „die
Richter in Kaiser Karl V. peinlicher Gerichtsordnung wohlerfahrene Leute
seien". — Wollte nun aber die Theresiana das in den Erblanden geltende
Recht zu einer einheitlichen Kodifikation zusammenfassen, so musste in die-
selbe, wenn das subsidiär geltende gemeine Recht in Zukunft ausgeschlossen
sein sollte, auch dasjenige Material aufgenommen werden, welches bis dahin
das Supplement der österreichischen Partikularrechte gebildet hatte. So ist
es gekommen, dass die Theresianische Halsgerichtsordnung mehr als irgend
eine Kodifikation des 18. Jahrhunderts den Stempel des bis zum Zeitpunkte
ihrer Publikation bestandenen gemeinen Rechtes, wie es namentlich durch die
herrschende gemeinrechtliche Doktrin dieser Epoche gebildet war, nur mit den
eben überall vorhandenen partikulären Modifikationen an sich trägt, ebenso
wie der Codex eriminalis Bavaricus die gemeinreclitliche Doktrin und Praxis
§ 2. Das Josephinische Strafgesetz von 17^7. 117
auf Gmnd ihrer partikulären Durchbildung bis 1751 in Bayern darstellt.
Dadurch sind beide Kodifikationen nicht nur für das selbständige Landesrecht,
das sie schufen, sondern auch für die Geschichte des gemeinen Rechtes von
grossem Werte und für dessen Verständnis von nicht zu unterschätzender Be-
deutung. Zu beklagen war dabei nur, dass hiermit für Österreich (ebenso wie
1751 für Bayern) ein Standpunkt der gemeinrechtlichen Doktrin und Praxis
fixiert wurde, über den man in dem grössten Teile des übrigen Deutschland
gerade im Hinweggehen war, ganz abgesehen von dem Missstande der vollen
Losreissung dieser grossen Gebiete aus dem gemeinrechtlichen Verbände.
Trotzdem hat die verbreitete Meinung, dass die Theresiana keinen Fort-
schritt, sondern in vielfacher Beziehung einen Rückschritt im Vergleiche zur
Carolina bedeute, nur ihre Richtigkeit betreffs des grausamen Strafensystems.
In manchen treiflichen, mit Sorgfalt redigierten Bestimmungen tritt entschieden
eine schon durchschimmernde mildere Gesittung und eine geläuterte Rechts-
anschauung hervor. Diese vereinzelten Lichtpunkte überwuchert freilich die
Weitläufigkeit und Ungeschicklichkeit der gesamten legislativen Arbeit und
ausser dem Terrorismus des Strafensystems auch noch die Beibehaltung mancher
damals schon vielfach in desuetudinem gekommenen Verbrechen , wie z. B.
Hexerei und Zauberei, ebenso aber auch, was uns hier zunächst nicht angeht,
die Beibehaltung der Folter für den Strafprozess. Zum erstenmale kommt in
diesem Gesetzbuche das richterliche Milderungsrecht zur legislativen Erwähnung,
ja es ist das ausserordentliche Milderungsrecht der (ierichte in der öster-
reichischen Gesetzgebung zum erstenmale statuiert und seitdem zum Segen der
späteren Rechtssprechung auch Rechtens geblieben. Um gegenüber der Aus-
schliessung der subsidiären Geltung des gemeinen Rechtes doch die Aus-
füllung etwaiger Lücken des positiven Rechtes zu ermöglichen, ist die Ana-
logie als rechtliche Grundlage der Bestrafung, also auch was die Strafbarkeit
im Gesetze nicht enthaltener Verbrechen betrifft, zugelassen.
§ 2. Das Josephinisclie Strafgesetz von 17S7.
Der Gedanke der Rechtseinheit für die Erblande wurde indes kurze Zeit
nach Publikation der Theresiana schon im Jahre 1787 von Kaiser Joseph IL
in der ihm eigenen energischen und durchdringend reformatorischen Weise
erfasst und in dem in diesem Jahre erlassenen allgemeinen Strafgesetze über
Verbrechen und deren Bestrafung mit der ausgesprochenen Geltung für das
ganze Reich (in Ungarn und seinen Nebenländem, sowie in Siebenbürgen
konnte es jedoch nie Geltung erlangen) realisiert. Wie schon eingangs hervor-
gehoben, ist mit diesem Gesetzbuche dem österreichischen Strafrecht sein
spezifischer Charakter für die ganze Folgezeit aufgeprägt worden, wenngleich
auch der Grundtypus dieses dem Rationalismus der Aufklärungszeit en^
sprossenen Gesetzes deutlich den Zusammenhang erkennen lässt, welchen es
mit den geläuterten Anschauungen sowohl der seit der Theresiana fort-
geschrittenen gemeinrechtlichen Doktrin, als auch mit manchen Hauptzügen
der damals allerdings noch in voller Gährung begriffenen kriminalpolitischen
Strömung aufweist. Schon die bekannte Resolution der Kaiserin Maria Theresia
vom 2. Januar 1776, welche die Folter aufliebt, insbesondere aber die Re-
solution vom 17. Februar 1777 sprach bereits das Programm der ins Werk
zu setzenden Strafreform aus. (Die übrigen Strafnovellen Maria Theresias
und Joseph's IL sind minder bedeutend.) Die Grundzüge derselben bestanden
in der Konstruktion von Ersatzstrafen für die Todesstrafe, welche diese an
Abschreckung noch überbieten sollten und in neuen für das spätere materielle
Fortkommen der Sträflinge nutzbringenden Arbeitsstrafen. Das Gesetzbuch
118 Österreich. — Die geschichtlichen Grundlagen des österreichischen Strafrechts.
selbst unterscheidet sich von seinen Vorgängern formell schon dadui'ch, dass
es zum erstenmale das materielle Strafrecht allein umfasste, während der
Prozess einem eigenen Gesetze (der Kriminalgerichtsordnung von 1788) über-
lassen bleibt. Aber noch in viel höherem Grade steht das Josephinische
Gesetzbuch materiell im schärfsten Gegensatze zur Theresiana. Als seine
Hauptziele bezeichnet das Gesetz selbst: der strafenden Gerechtigkeit durch
ein allgemeines Gesetz eine bestimmte Richtung zu geben, bei Verwaltung
desselben alle Willkür zu entfernen, zwischen Kriminal- und politischen Ver-
brechen und Strafen das billige Ermessen zu bestimmen und die letzteren
^nach einem Verhältnis zu bestimmen", damit ihr Eindruck nicht bloss vorüber-
gehend sein möge. In der That war die Sonderung des kriminellen und
polizeilichen Unrechtes, wie sie in dem Gesetzbuche mit der Unterscheidung
von Kriminalverbrechen und politischen Verbrechen hervortritt, für die damalige
Zeit und für das gesamte künftige österreichische Strafrecht von grund-
legender Bedeutung. Nicht als ob damit für diese in der Theorie heute noch
schwankende Frage zur damaligen Zeit viel geleistet worden wäre (war
doch unter den politischen Verbrechen eine Menge von Fällen rein kriminellen
Unrechtes); das Verdienst bestand vielmehr darin, wirklich die schweren alten
„peinlichen Fälle" von den leichteren Delikten zu scheiden, wobei letztere
allerdings den politischen Behörden, d. h. den Polizeibehörden zur Bestrafung
zugewiesen wurden. Um aber bei der Ausübung der Strafjustiz alle Willkür
zu beseitigen, wurde jede richterliche Strafausmessung, die sich an die indivi-
duellen Umstände des Straffalles anpassen könnte, für unzulässig erklärt und
in schroffer Übertreibung jenes an sich richtigen Bestrebens die buchstäbliche
Auslegung und Anwendung des neuen Gesetzes dui'ch das Gericht der erstc^n
Instanz zur absoluten Vorschrift erhoben. Charakteristisch für dieses Gesetz
ist der gänzliche Ausschluss der Todesstrafe (für das ordentliche Verfahren)
und die Ersetzung derselben durch ein System der grausamsten und härtesüm
Freiheits-, Leibes- und Arbeitsstrafen. Die Bestrafung nach Analogie wurde
gesetzlich verboten und der von da ab im österreichischen Strafrecht wie in
der modernen Kriminalgesetzgebung allgemein geltende Satz aufgestellt, dass
nur diejenigen Handlungen bestraft werden dürfen, welche das Gesetz aus-
drücklich als strafbar erklärt. Die kurze und knappe Sprache des Gesetzes,
welche freilich wieder in vielen mangelhaften Begriffsbestimmungen ihre Kehr-
seite fand, stellte das Josephinische Gesetz nicht nur in entschiedenen Gegen-
satz zu der Breitspurigkeit und Weitläufigkeit der Theresiana, sondern bildete
auch so den Ausgangspunkt einer neuen österreichischen Kodifikation, welche
in Form und Fassung für das östen'eichische Strafrecht massgebend ge-
blieben ist.
Das Gesetzbuch zerfällt in zwei Teile. Der erste handelt von Kriminal-
verbrechen und Ki'iminalstrafen und enthält in Kap. 1, 2 und 7 die allgemeinen
Bestimmungen, in Kap. 3 — 6 die einzelnen Kriminalverbrechen. Desgleichen
umfasst der zweite Teil , von den politischen Verbrechen und politischen
Strafen handelnd, in Kap. 1 und 2 die allgemeinen Bestimmungen, in Kap. 3 — 5
die einzelnen politischen Verbrechen (Polizeidelikte).
Wie schon erwähnt, war übrigens die ganze Einteilung in Kriminal- und
politische Verbrechen — an sich immerhin ein nennenswerter Fortschritt —
doch in ihrer grundsätzlichen Durchführung nichts weniger als gelungen, da
eine Reihe von wirkliches Kriminalunrecht enthaltenden Delikten, so z. B.
kleinere Diebstähle und Betrügereien , Falschspielen , Ehrverletzungen , alle
kulposen Delikte u. a. m. als solche Polizeidelikte angesehen und der Judikatur
der Polizeibehörden („politischen Behörden") zugewiesen wurden. Als Kriminal-
verbrechen wurden nach der damals herrsclienden Doktrin „die unmittel-
§ 2. Das Josephinische Strafrecht von 1787. 119
baren schweren Rechtsverletzungen" angesehen, daher die Überweisung aller
leichteren Kriminalfälle in das Gebiet der Polizeidelikte erklärlich wird. Eine
richtigere Sonderung zwischen Kriminal- und Polizeidelikten, wie sie insbe-
sondere aus den Werken von Justi und Sonnenfels, beziehungsweise selbst
aus älteren einheimischen Polizeiordnungen hätte gewonnen werden können,
bleibt erst der späteren Kodiflkationsarbeit und dem Strafgesetz von 1803
vorbehalten, obwohl, wie später zu zeigen ist, auch unter dessen „schweren
Polizeiübertretungen" Fälle wirklichen Kriminalunrechtes vielfach enthalten sind.
Was nun insbesondere das Strafensystem des Josephinischen Ges(»tz-
buches anlangt, so ist demselben charakteristisch die Aufhebung der Todes-
strafe für das ordentliche Verfahren. Der Grund derselben ist jedoch nicht
die von der damaligen kriminalpolitischen Strömung propagi(»rte Meinung ihrer
prinzipiellen ünzulässigkeit, sondern nach Joseph *s II. Überzeugung der Mangel
wirklicher Abschreckungsfähigkeit derselben; vielmehr sollte eine erhöhte Ab-
schreckung in den schweren und grausamen Freiheitsstrafen versucht werden,
welche sich in ihrem Vollzuge mehr als wirkliche Leibesstrafen erweisen. So
ist es also unbestrittene Thatsache, dass Joseph II. die Todesstrafe gerade aus
dem Gesichtspunkte der Abschreckungstheorie selbst abgeschaflFt hat, während
dessen Bruder (und Nachfolger in der Kaiserwürde) Grossherzog Leopold von
Toskana sie ein Jahr zuvor im Sinne der Zeitströmung aus dem Gesichtspunkte
der Besserungstheorie beseitigt hatte.
Die Kriminalstrafen waren folgende : Anschmiedung, Gefängnis mit öffent-
licher Arbeit oder Gefängnis allein, Stock-, Karpatsch- und Rutenstreiche,
Ausstellung auf der Schandbühne. Das Gefängnis war entweder zeitliches
(1. Grad von 1 — 5 Jahren, 2. Grad von 5 — 8 Jahren) oder anhaltendes
(1. Grad von 8 — 12 Jahren, 2. Grad von 12 — 15 Jahren), oder langwieriges
(1. Grad von 15 — 30 Jahren, 2. Grad von 30 selbst bis zu 100 Jahren).
Bei langwieriger Gefängnisstrafe 2. Grades konnte auf Brandmarkung durch
Einschröpfung des Galgenzeichens auf beide Wangen erkannt werden. Dazu
kam noch die durch unmittelbare Erlasse Kaiser Joseph's II. in den Jahren
1783 und 1784 eingeführte und durch § 188 der Kriminalgerichtsordnung von
1788 definitiv angeordnete Strafe des Schiffziehens auf der Donau und ihren
Nebenflüssen in Ungarn. Diese im Strafgesetz von 1787 nirgends erwähnte,
bei Verurteilung zu hartem Gefängnis und zu öffentlicher Arbeit zulässige
Massregel hatte den Charakter einer Surrogat- oder Ersatzstrafe gegenüber
den genannten Strafarten. Erst Kaiser Leopold II. hob mit Hofdekret vom
19. Juli 1790 im Hinblick auf die entsetzliche Wirkung dieser neuen Strafart
(von den zum Schiffziehen seit 1784 bestimmten Sträflingen waren fast zwei
Drittel gestorben) dieselbe auf, nachdem wiederholte dringende Vorstellungen
der obersten Justizhofstelle bei Josei)h II. dessen entschiedenes Beharren auf
dieser Massregel nicht zu ändern vermochten. Es ist nicht zu läugnen, dass,
auch abgesehen von der Strafe des Schiffziehens, die Freiheitsstrafen selbst
mit einem gewissen Raffinement zu schwersten Lciibesstrafen gestaltet, so den
Mittelpunkt des Strafensystems einnahmen. (Zur Charakterisierung derselben
genügt, dass z. B. bei der Anschmiedung der Verbrecher dermassen enge im
Kerker angekettet werden soll, dass ihm nur zur unentbehrlichsten Bewegung
des Körpers Raum gelassen wird, und überdies noch jährliche in publico voll-
ziehbare körperliche Züchtigung „zum öffentlichen Beispiele" mit dieser Strafe
verbunden ist.) Bei dem schwersten Gefängnis ist der Verbrecher mit einem
um die Mitte des Körpers gezogenen eisernen Ringe Tag und Nacht an den
ihm angewiesenen Orte zu befestigen. Auch können, wenn die ihm auferlegte
Arbeit es zulässt, schwere Eisen angelegt werden.
Die Strafen der politischen Verbrechen sind Züchtigung mit Schlägen,
120 Osterreich. — Die geschichtlichen Grundlagen des österreichischen Strafrechts.
Ausstellung auf der Schandbühne, Arrest, öffentliche Arbeit in Eisen, Ab-
Schaffung aus einem bestimmten Orte. Geldstrafe ist nur für das Verbrechen
des Falschspielens angedroht, im übrigen ausgeschlossen.
Wägt man nach dieser Skizze des Inhalts des Gesetzbuches seine
Vorzüge und Fehler gegeneinander ab, so treten die ersteren vor allem
hervor in der dem Geiste der modernen Gesetzgebung entsprechenden Be-
schränkung des richterlichen Ermessens, was die Auswahl der Strafmittel und das
Strafmass betriffit, femer in der, in der That humanen, Behandlung der Ehren-
strafen und Ehrenfolgen, welche mit der geschehenen Strafverbüssung bezw.
mit der Begnadigung des Verbrechers gleichfalls ihr Ende finden sollen. Ins-
besondere aber ist es das Verbot der Vermehrung der Straf fälle per analogiam,
welches das Gesetzbuch — wie bereits hervorgehoben wurde — mit einem Schlage
auf die Höhe der modernen Anschauung erhebt, im Gegensatze zum bisherigen
Rechte. Im legislativen Ausdruck und in der Form bleibt das Josephinische
Gesetzbuch immer ein Ijervorragendes Beispiel der Kürze, Einfachheit und Gemein-
fasslichkeit der Kodifikation des 18. Jahrhunderts und hierin liegt gerade einer
der gewaltigsten Fortschritte desselben gegen die Theresiana, wodurch es
sozusagen sprunghaft von der steifen, weitläufigen und bureaukratischen Manier
der letzteren sich emanzipierend, als ein Werk von einfacher Klarheit er-
scheint. Dass die Knappheit der Fassung manchmal freilich auf Kosten der
Begriffsbestimmungen ging, ist schon oben berührt worden. Ein Vorzug aber,
den man sonst selten zu Gunsten des Gesetzbuches hervorgehoben findet,
muss besonders betont werden. Durch den Codex criminalis Bavaricus von
1751 wurde für Kur-Bayern ein Standpunkt der gemeinrechtlichen Doktrin
und Praxis fixiert, der damals schon in vieler Beziehung als ein überwundener
gelten konnte. Dasselbe war durch die Theresiana geschehen. Während aber
Bayern bis zum Jahre 1813 mit seinem veralteten Strafrechte sich durchhelfen
musste, war gerade durch das Josephinische Gesetzbuch der in vielen Be-
ziehungen dem Geiste der Zeit widersprechende Gehalt der Theresianischen
Bestimmungen derogiert und der Weiterbildung des östeiTcichischen Strafrechts
im modernen Sinne Bahn gebrochen.
Die Schattenseiten des Gesetzbuches, insbesondere was das Stmfensystem
betriffst, dürften schon bei der Mitteilung seines Inhaltes vor Augen getreten
sein. Besonders kann in dieser Richtung noch betont werden, dass in mancher
Hinsicht an Stelle des religiösen Standpunktes der älteren (lesetzgebung in
dem Josephinischen Gesetzbuche ein ängstlich polizeilicher tritt. So >vird z. B.
die Gotteslästerung nicht mehr als solche bestraft, sondern der Lästernde nur
als Wahnwitziger behandelt, bis man seiner Besserung sicher ist. Aber gleich-
wohl wird noch Verleitung zum Abfalle vom christlichen Glauben, Ver-
leugnung der Religion usw. als politisches Verbrechen bestraft. Die Irr-
lehren werden vom Polizeistaate insofern gefürchtet, als sie Änderungen des
herrschenden Zustandes herbeiführen können. Ein Missstand ist femer, dass
die Deliktsbegriffe, wie sie in den österreichischen Halsgerichtsordnungen und
der Theresiana im Einklänge mit der gemeinrechtlichen Doktrin doch in ihren
Hauptumrissen feststanden, unklarer, ja oft bis zur Unkenntlichkeit verzogen
und namentlich einzelne Delikte in den sonderbarsten, ihrem Begriffe selbst
widersprechenden Zusammenstellungen behandelt werden, wobei häufig Zu-
fälligkeiten der Begehungsart in viel höherem Grade als das Objekt des De-
liktes, das Rechtsgut selbst, in Betracht kommen. Der oben unter den Vor-
zügen erwähnten festen Regulierung des Verhältnisses des Richters zum Straf-
gesetze entspricht aber auch dessen völlige Fesselung hinsichtlich der Straf-
ausmessung und die totale Ausschliessung jedes richterlichen Milderungsrechts.
^ 3. Das westgali zische Strafgesetz von 1796. 121
§ 3. Das westgallzisehe Strafgesetz von 1796.
Schon unter Kaiser Leopold II. (1790 — 1792) veranlassten die bald nach
dem Inkrafttreten fühlbar gewordenen Härten des Josephinischen Gesetzbuches
eine Reihe von Strafmilderungen. So hob das Hofdekret vom 7. Mai 1790
die öflFentliche Züchtigung mit Schlägen, die Brandmarkung, die Strafe der
Anschmiedung (und des Schiffsziehens, s. o. S. 119) auf, während die Stockstreiche
als solche nicht abgeschafft wurden und auch als Disziplinarstrafe verhängt
werden konnten. Auch bezüglich der Gefängnisse selbst, der Arbeit und der
Verköstigung der Gefangenen wurden humanere Bestimmungen erlassen. Die
Anhaltung in Eisen und Banden sollte derart ausgeführt werden, dass die
Verbrecher sich frei bewegen und im Kerker herumgehen konnten. Des-
gleichen wurde noch unter der kurzen Regierungszeit dieses Kaisers die Ver-
fassung des Entwurfes eines neuen Strafgesetzes verfügt, welches allerdings
erst unter seinem Nachfolger Franz II. vollendet und besonderen Kommissionen,
welche zu diesem Zwecke eigens in den einzelnen Kronländem berufen waren,
zur Begutachtung übergeben wurde. Es kam nun zunächst diesem Entwürfe
sehr zu statten, dass er mit Patent vom 17. Juni 1796 als Strafgesetz für
Westgalizien, das eben damals erst mit Österreich vereinigt war und die Ein-
führung einer strafrechtlichen Ordnung innerhalb seines Gebietes dringend er-
heischte, sofort gesetzliche Kraft erlangte. Es konnte damit für das künftige
Gesetzbuch eine Art probeweiser Einführung und Bewährung auf einem kleineren
Gebiete ermöglicht und das Resultat dieser einstweiligen Geltung für die
spätere Kodifikation selbst nutzbar gemacht werden.
Zuvor aber wurde durch das Patent vom 2. Januar 1795 die Grundlage
des Strafensystems des Josephinischen Gesetzbuches noch wesentlich geändert,
indem die in jenem Gesetzbuche aufgehobene Todesstrafe für politische Ver-
brechen wieder eingeführt wurde. Es wurden nämlich die im Josephinischen
Gesetzbuche §§ 41 — 48 als Majestätsbeleidigung und Landesverrat definierten
Verbrechen im Wege des genannten Patentes in den Begriff des „Hochverrates"
zusammengezogen und gingen in dieser Fassung auch in die spätere öster-
reichische Strafgesetzgebung über.
Das westgallzisehe Strafgesetzbuch nimmt innerhalb der Entwicklungs-
geschichte der österreichischen Strafgesetzgebung immerhin eine so eigentüm-
liche Stellung ein, dass es, wenn auch im Vergleiche zum Josephinischen und
zum Strafgesetzbuche von 1803 nur eine mehr lokale und ephemere Er-
scheinung, doch besondere Würdigung verdient. Es zerfällt nämlich, ähnlich
wie das spätere Strafgesetz von 1803, in zwei Teile, den ersten „Von Ver-
brechen und Strafen" und den zweiten „Von dem rechtlichen Verfahren über
Verbrechen". Das ganze Gesetzbuch umfasst 568 Paragraphen. Der erste Teil
enthält in den 28 Hauptstücken zunächst (und zwar 1., 2. und 25. — 28.
Hauptstück) die allgemeinen Bestimmungen, dann die verschiedenen Gattungen
der Verbrechen, an der Spitze den Hochverrat, ganz im Sinne und Wortlaute?
des Patentes vom 2. Januar 1795, und dann die einzelnen Verbrechen in
einer dem späteren Strafgesetze von 1803 analogen Reihenfolge. Bemerkens-
wert ist hier schon in der äusseren Erscheinung der grössere Umfang des
gesetzlichen Materiales, hier 28 Hauptstücke und 232 Paragraphen im Ver-
hältnisse zu 7 Kapiteln und 184 Paragraphen für den gleichen Stoff im Jo-
sephinischen Gesetzbuche. Jedenfalls wollte man zwischen der Weitläufigkeit
und Kasuistik der Theresiana und der allzugrossen Knappheit des Josephi-
nischen Gesetzbuches eine gewisse Mitte halten, wenngleich nicht zu leugnen
ist, dass im grossen und ganzen an der Grundlage des letzteren Gesetzes-
werkes festgehalten werden sollte.
122 Osterreich. — Die g^eschichtlichen Gmndlagen des österreichischen Strafrechts.
Charakteristisch ist dem westgalizischenStrafgesetzbuehe die Unterscheidung
in „Kriminal- und Civilverbrechen"*, unter welch letzteren weder die politischen
Verbrechen des Josephinischen, noch die „schweren Polizeiübertretungen** des
Gesetzbuches von 1803 zu verstehen waren. Auch die „Civil verbrechen" sind
wirkliche Verbrechen nach der Distinktion des Gesetzgebers selbst, von den
„Kriniinalverbrechen" nur dadurch unterschieden, das« sie den „Ruh- und
»Sicherheitsstand im gemeinen Wesen" weniger verletzen als letztere und des-
halb geringer bestraft wurden.
Diese legislativ jedenfalls überflüssige und für eine praktische Anwendung
ganz illusorische Einteilung wurde mit Recht in das Gesetzbuch von 1803
nicht aufgenommen. Die Todesstrafe ist im Gesetzbuche nicht nur für Hoch-
verrat, sondern auch für gewisse Arten des Mordes (Meuchelmord oder be-
stellter Mord, den Eltern- oder Gatten- und Raubmord) eingeführt. Eine Aus-
dehnung auf andere Verbrechen, wie in dem Gesetzbuche von 1803, hatte die
Todesstrafe noch nicht gefunden; es war eben das Strafgesetzbuch von 1796
nur eine Etappe in der fortschreitenden Wiedereinführung der Todesstrafe in
die österreichische Gesetzgebung. Die Strafdrohungen sind jedoch im übrigen
wesentlich milder als im Josephinischen Gesetzbuche. Die Grundeinteilung in
schwersten, harten und gelinden Kerker blieb aufrecht, jedoch war der Voll-
zug gegenüber dem Josephinischen Gesetzbuche wesentlich humaner gestaltet.
Als Verschärfung der Kerkerstrafe war Anhaltung zu öffentlicher Arbeit, Aus-
stellung auf der Schandbühne, Züchtigung mit Stock- oder Rutenstreichen und
Fasten festgesetzt. Vermögenskonfiskation wird auch beim Hochverrat als
unzulässig erklärt. Im ganzen sind die Begriffsbestimmungen der Verbrechen
gegenüber dem Josephinischen Gesetzbuche klarer und sorgfältiger gefasst.
Was jedoch dem westgalizischen Gesetzbuche einen besonderen Vorzug giebt,
ist das wieder anerkannte Recht der richterlichen Strafausmessung, die Rück-
sichtnahme auf erschwerende oder mildernde Umstände und die Befreiung
der richterlichen Gewalt von dem Zwange der buchstabenmässigen Recht-
sprechung. Auch die dem Josephinischen Strafgesetze fehlende Verjährung
der Verbrechen war in das Gesetz wieder aufgenommen. Die Materie über
die Polizeidelikte („politische Verbrechen") wurde dagegen in das west-
galizische Strafgesetzbuch nicht aufgenommen.
§ 4. Das Strafgesetz von 1803.
Nachdem endlich die Vorarbeiten für das projektierte allgemeine Gesetz-
buch abgeschlossen, die Erfahrungen, welche man mit der Einführung des
westgalizischen Strafgesetzes gemacht hatte, sowie die Gutachten der über
dasselbe einvernommenen Länder-Kommissionen verwertet waren, wurde gleich-
zeitig auch der Entwurf für ein Strafgesetz, betreffend die schweren Polizei-
übertretungen, der Beratung unterzogen, mit dem bisherigen die Verbrechen
betreffenden Entwürfe (dessen versuchsweise Emanation das westgalizische Ge-
setzbuch war) vereint, mit kaiserlichem Patent vom 3. September 1803 als
„Strafgesetz über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen" für die „ge-
samten deutschen Erblande" eingeführt und dessen Wirksamkeit auch noch
auf die später mit Österreich vereinigten Länder, im Jahre 1850 auch auf
Siebenbürgen, ausgedehnt, wo überdies kurz zuvor schon für einzelne Teile
dieses Landes durch Verordnung des Civil- und Militärgouvemeurs das Straf-
gesetzbuch von 1803 eingeführt ward. In Krakau war, bevor noch diese
Stadt (1846) mit Österreich vereinigt wurde, das Gesetzbuch von 1803 rezipiert
worden, desgleichen im Fürstentum Lichtenstein mit fürstlicher Resolution vom
18. Februar 1812. Demgemäss hatte dtis Strafgesetz von 1803 in der ganzen
§ 4. Das Strafgesetz von ISOH. 123
Monarchie mit Ausnahme von Ungarn und dessen Nebenländern gt^setzliche
Geltung.
Das Gesetzbuch zerfiel in zwei Teile, deren erster wie das Avestgalizisclie
Strafgesetz in 2 Abschnitten und 557 Paragraphen die Verbrechen und deren
Strafen sowie das bezügliche Strafverfahren regelte, während der zweiti* Teil
ebenfalls in zwei Abschnitten und 459 Paragraphen die schweren Polizei-
übertretungen, das zu ihnen gehörige Straf ensysteni und Verfahren behandelte.
In strafrechtlicher Beziehung zeigt der erste Teil im Vergleich mit dem früher
als westgalizisches Strafgesetz publizierten Entwürfe manche wesentliche Unter-
schiede, wenn auch die stoffliche Einteilung in beiden Gesetzen die gleiche
ist, nur mit der einen Modifikation, dass die Bestimmungen über erschwerende
und mildernde Umstände unter die ersten Hauptstücke (3. — 5. Hauptstück) ge-
stellt sind, während sie im westgalizischen Strafgesetze das 25. — 27. Haupt-
stück bilden.
Das Gesetzbuch selbst weist, verglichen mit der Kodifikation dieser
Epoche, unleugbare und nicht unbedeutende Vorzüge auf. Es ist das erste
Gesetz — und dies ist meines Erachtens nirgends gebührend hergehoben
worden — welches F'euerbach*s Theorie des psychologischen Zwanges zu
Grunde legt, ohne jedoch wie das Werk Feuerbachs, das bayerische Straf-
gesetzbuch von 1813, das System bis in seine äussersten Konsequenzen ein-
seitig zu treiben. Das Prinzip selbst wird im 10. Absätze des Kundmachungs-
patents ausdrücklich mit den Worten anerkannt: „Der Schuldige soll kein
grösseres Übel leiden, als zur Hintanhaltung der Verbrechen angedroht und
vollzogen werden muss." Insbesondere sind es die Vorschriften über die
Straf ausmessung, über Erschwerungs- und Milderungsumstände , welche be-
weisen, wie hoch der Gesetzgeber über der damals die gesamte Wissenschaft
und Gesetzgebungskunst beheiTSchenden Theorie des psychischen Zwanges
stand, von welchem er eben nur eine auch heute noch teilweise als richtig
erkannte Seite annahm. Im übrigen durchweht das ganze Gesetzbuch ein
Geist der Humanität und Gerechtigkeit, der sich nicht nur darin zeigt, dass
die Folgen der Strafen, so wenig als immer möglich ist, auf die schuldlosen
Angehörigen des Verbrechers wirken sollen, sondern namentlich darin, dass
der Richter überall da, wo es einen gegen den Schuldigen zu verhängenden
Nachteil betrifft, strenge an das Gesetz gebunden ist und sich niemals über
dasselbe hinwegsetzen kann, während er andererseits durch ein mit ausdrück-
licher Gesetzes Vorschrift statuiertes weitgehendes ausserordentliches Milderungs-
recht den vollsten Spielraum hat, die Strafe im konkreten Falle der indivi-
duellen Grösse der Schuld anzupassen trotz des Wortlautes der den Normaltall
treffenden relativ hohen Straf drohung. Die österreichische Praxis hat denn
auch seit dieser Zeit von diesem ausserordentlichen Milderungsrechte stets
vollen Gebrauch gemacht und damit der Judikatur einen Zug der Milde auf-
geprägt, der angesichts der auf die einzelnen Delikte angedrohten relativ
hohen Strafen im ersten Augenblicke frappieren kann. Jedenfalls ist, wie
Herbst richtig hervorhebt, das österreichische Strafrecht durch die Art seiner
Anordnung, und zwar nicht gegen das Gesetz, sondern nach dessen eigener
Anleitung und Weisung, zu einem der mildesten unter den überhaupt be-
stehenden geworden.
Zu den gerechten und humanen Bestimmungen des Gesetzes gehört auch,
dass anschliessend an das westgalizische Strafgesetz die Verjährung (wenn
auch nur die der Strafverfolgung) wieder aufgenommen ist, die Einziehung
der Güter gänzlich abgeschaff't wird und abgesehen von dem eben erwähnten
ausserordentlichen Milderungsrechte noch den Gerichtshöfen die Befugnis er-
teilt wird, die Strafart mit Rücksicht auf die schuldlose Familie des Verbrechers
124 Osterreich. — Die geschichtlichen Grundlagen des österreichischen Strafrechts.
abzuändern. Desgleichen erhält das internationale Strafrecht seine gehörige
Berücksichtigung unter den allgemeinen Bestimmungen des Gesetzbuches. Die
Einteilung in Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen entspricht im ganzen
der Grundidee des Josephinischen Strafgesetzes und seiner Einteilung in
Kriminalverbrechen und politische Verbrechen.
Zwischen beiden Graden der strafbaren Handlungen sucht der (Gesetz-
geber selbst in der Einleitung („von den Gegenständen dieses Strafgesetzes")
eine möglichst scharfe Grenzlinie zu ziehen, indem er von dem allgemeinen
Begriffe der gesetzwidrigen Handlung ausgeht. Die Gesetzgebung wird zu
grösserer Strenge gegen diejenigen gesetzwidrigen Handhmgen aufgefordert,
welche der Sicherheit im Gemeinwesen zunächst und in einem höheren Grade
nachteilig sind; dies seien eben die Verbrechen und schweren Polizeiüber-
tretungen, von welchen erstere gesetzwidrige Handlungen und Unterlassungen
sind, „bei welchen die Absicht eigens auf dasjenige gerichtet ist, was die Sicher-
heit im Gemeinwesen verletzt und welche die Grösse der Verletzung oder
die gefährlichere Beschaffenheit der Umstände zur kriminellen Behandlung
eignet", während letztere („schwere Polizeiübertretungen") entweder absicht-
liche Verletzungen sind, welche aber nach Beschaffenheit des Gegenstandes,
der Person des Thäters oder der Umstände zu einer kriminellen Behandhmg
sich nicht eignen, oder solche Fälle, wo ohne eine auf ein Verbrechen ge-
richtete Absicht etwas, was durch die Gesetze, um Verbrechen zuvorzukommen
oder grosse Nachteile abzuwenden, zu thun verboten ist, gethan oder etwas,
was zu diesem Ende geboten ist, unterlassen wii'd, und endlich noch wegen
des „allgemeinen Einflusses der Sittlichkeit auf die Verhinderung der Ver-
brechen, auch solche Handlungen, welche die öffentliche Sittlichkeit stören."
Dazu kommt dann noch der bereits im Josephinischen Gesetzbuche zuerst mit
Entschiedenheit aufgestellte Satz, dass nur dasjenige als Verbrechen oder
schwere Polizeiübertretung behandelt werden dürfe, was in diesem Gesetz-
buche ausdrücklich als solches bezeichnet sei, während die Bestrafung anderer
(in gesetzlichen oder verordnungsmässigen Bestimmungen ausserhalb dieses
Gesetzbuches enthaltenen) Übertretungen den dazu bestimmten Behörden nach
den darüber vorhandenen Vorschriften vorbehalten bleibt. Bezüglich des
Strafensystems erklärt der Gesetzgeber selbst, dass überwiegende Gründe ihm
die Notwendigkeit auferlegt haben, die Todesstrafe für einige Gattungen der
Verbrechen auch ausser dem Standrechte wieder herzustellen. Sie sei aber
auch nur auf die Verbrechen eingeschränkt worden, die mit voller Überlegung
ausgeführt, bezw. für die öffentliche und private Sicherheit höchst gefährlich
sind. Ausser dem bereits durch das Patent vom 2. Januar 1795 mit Todes-
strafe bedrohten Hochverrat, welches Verbrechen gleichfalls im Gesetzbuche
von 1803 als das erste mit Todesstrafe bedrohte Verbrechen angeführt wird,
sind noch folgende Verbrechen mit dem Tode bedroht: Vollbrachter Mord
und räuberischer Totschlag, sowie die gefährlichsten Fälle der Fälschung von
Kreditpapieren und Münzen und die Brandlegung. Auch hier ist die milde
Praxis in Anwendung des österreichischen Strafgesetzes bemerkenswert, indem
bis zum Jahre 1848 von 1304 Todesurteilen nur 448 zur Vollziehung kamen,
während in 856 Fällen Begnadigung eintrat. Wegen HochveiTates und Kredit-
papierverfälschung wui'den überhaupt nur 2 bezw. 3 Todesurteile und seit
1808 wegen Kreditpapierverfälschung kein Todesurteil mehr vollzogen.
Desgleichen weist das Gesetzbuch von 1803 eine beträchtliche Herab-
setzung der Strafdrohungen bezüglich der minder gefährlichen Verbrechen auf.
Der Textierung des Gesetzes kann immerhin Klarheit und Einfachheit nach-
gerühmt werden; einzelne Begriffsbestimmungen zeichnen sich namentlich im
Verhältnisse zu den bisherigen Gesetzen durch Deutlichkeit und Präzision in
«i 4. Das Strafgesetz von 1803. 125
der Fassung aus. Insbesondere was den allgemeinen Teil des Gesetzbuches
anlangt, kann dessen Textierung wohl nicht besser als mit den Worten Berners
beurteilt werden : „Die gesetzlichen Bestinmiungen auf diesem Gebiete sind mit
einer so weisen Zurückhaltung abgefasst, dabei so weich und elastisch und
der Natur der Sache sich anschliessend, dass der Doktrin ein willkommener
Spielraum der Entwicklung und Fortbildung blieb, den sie dann auch in
einer sehr anerkennenswerten Weise benutzt hat." Gerade dadurch zeichnet
sich das österreichische Gesetz von 1803 vorteilhaft von manchen späteren
deutschen Gesetzbüchern aus; dagegen sind wiederum manche Begriffs-
bestimmungen des besonderen Teiles ebenso mangelhaft und der erforderlich (»n
Bestimmtheit entbehrend geblieben, wie im Josephinischen Gesetzbuch. Die
Unterecheidung zwischen Kriminal- und Civilverbrechen des westgalizischen
Gesetzbuches ist nattlrlich in Wegfall gekommen, während mehrere in letzterem
Gesetze als Civilverbrechen bezeichnete Delikte unter die schweren Polizei-
übertretungen gestellt wurden. Gingen das Strafensystem Hesse sich jedoch
noch Manches einwenden, insbesondere was den Fortbestand der körperlichen
Züchtigung, der Brandmarkung und öfiTentlichen Ausstellung anlangt.
Ein weiteres Eingehen auf die materiellen Bestimmungen des Gesc^tzes
und das Strafensystem insbesondere kann an dieser Stelle vermieden werden,
da das geltende österreichische Strafgesetzbuch von 1852 nur eine revidierte
Ausgabe dieses Gesetzbuches ist und die alsbald folgende Erörterung des gel-
tenden Rechtes doch die Bestimmungen des Strafgesetzbuches von 1803, auch
wo sie modifiziert wurden, nicht umgehen kann. Schliesslich muss noch unter
den Vorzügen des Gesetzbuches mit hervorgehoben werden sein Festhalten an
den früher bereits anerkannten Grundzügen des Josephinischen Strafgesetzes.
Damit ist dem österreichischen Strafrechte jene feste Kontinuität und Selbst-
ständigkeit gewahrt worden, welche auch noch das heute geltende Recht kenn-
zeichnet. So erscheint das Strafgesetz von 1803 trotz seiner teilweise harten
Strafsatzungen immerhin als eine reife Frucht der Strafrechtsdoktrin jener
Zeit, wobei nicht genug bedauert werden kann, dass dasselbe bei den legis-
latorischen Versuchen, die seit den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in
Deutschland und anderen Ländern gemacht worden sind, namentlich im Gegen-
satze zum bayerischen Strafgesetzbuche von 1813, nicht diejenige Beachtung
gefunden hat, die es vermöge der glücklichen Einfachheit und vorherrschenden
Klarheit seiner Textierung, femer mit Rücksicht auf die für die damalige Zeit
sehr anerkennenswerte Mässigung bezüglich der Androhung der Todesstrafe,
den freieren Spielraum für das richterliche Ermessen, die im ganzen be-
friedigende Begrenzung des Strafgebietes und der Grundsätze über das Straf-
mass usw. in hohem Grade verdient.
Aber wie Österreich seit damals in seiner Rechtsentwicklung, in der
Einrichtung des juristischen Studiums und in der wissenschaftlichen Bearbeitung
seines Rechtes sich von dem gemeinrechtlichen Stamme abschloss, so wurde
sein Recht auch von dieser Seite gewissermassen zur Wiedervergeltung ignoriert.
Damit war natürlich auch für diese» Epoche (bis 1850) jede zeitgemässe Revision
des Gesetzbuches etwa im Anschlüsse an die Fortschritte der deutschen Straf-
rechtswissenschaft von vornherein undenkbar. Dieser Umstand im Zusammen-
halte mit den unleugbaren Vorzügen des Gesetzbuches lässt es erklärlich er-
scheinen, dass dasselbe mehrere Dezennien hindurch ohne wesentliche Ände-
rungen in Geltung blieb, ja ohne dass einzelne Mängel, welche die Grundlage
des Werkes getroffen hätten, stärker fühlbar wurden. Die Verbesserungen,
welche durch einzelne Novellen in den ersten Dezennien unscTes Jahrhunderts
vorgenommen wurden, betreffen namentlich die Milderung einzelner Härten
des Gesetzes, insbesondere die Abschaffung der Galeerenstrafe (1819) und der
126 Österreich. — Die geschichtlichen Grundlagen des österreichischen Strafrechts.
Strafe des schwersten Kerkers (1833), die Modifizierung der Bestimmungen
betreffs der Verpflegung und Lagerstätte der Sträflinge im humaneren Sinne,
die Entscheidung mancher zweifelhaften Fragen, endlich noch die nachträgliche
Verpönung von strafwürdigen Handlungc^n, welche im Strafgesetze selbst über-
gangen waren, und die Einreihung ders(»lbeu unter die Verbrechen, bezw.
unter die schweren Polizeiübertretungen. Im ganzen aber blieb der Grund-
typus des Gesetzbuches unverändert vom Jahre 1803 bis zum Jahre 1848, und
so ist das heutige österreichische Sti'afgesetzbuch von 1852 (seinem Wesen
nach nur eine revidierte Ausgabe des Strafgesetzbuches von 1803) seiner
Grundlage und Geltung nach das älteste unter den bestehenden Strafgesetzen.
Immerhin kann es nicht mit Stillschweigen übergangen werden, dass sich die
Hofkommission in Justizsachen schon seit dem Jahre 1820 mit Vorarbeiten der
Revision beschäftigte. Das Resultat dieser Arbeiten waren jedoch nur jene
erwähnten Novellen, Abänderungen und Zusätze zum alten Gesetze.
Charakteristisch für den Konservatismus der Gesetzgebung vor 1848 ist
es jedenfalls, dass selbst wiederholte Anfragen der Gerichte mit Hinweis auf
die im Gesetz buche festgesetzten Grundsätze erledigt oder nach mehr als
20 Jahre sich hinziehenden Verhandlungen (z. B. über das Verhältnis Ungarns
zu Österreich in strafrechtlicher Beziehung - seit 1819 ein Gegenstand fort-
gesetzter Verhandlungen) beschlossen wurde, die Sache auf sich beruhen zu
lassen. Ja fast unglaublich klingt es, dass selbst die ginindsätzlichen Ent-
scheidungen der obersten Justizstelle zumeist unbekannt blieben, während wir
heute gerade in deren Veröffentlichung eine ständig fliessende Quelle des prak-
tischen ötrafrechts erblicken.
So war es wesentlich die Interpretation des Gesetzes, welche die fast
ausschliessliche Arbeit mehrerer Generationen österreichischer Juristen bildete,
wobei es unvermeidlich war, dass solch eine einseitige exegetische Richtung
bald auf die Abwege eines kleinlichen Buchstabendienstes geriet und jeden-
falls die Klagen mancher hervorragenden deutschen Kriminalisten (wie Henke,
Abegg, Rosshirt u. a.) über die Stockung der Strafrechtswissenschaft in
Österreich nicht unbegründet erscheinen. Immerhin wurden jedoch von Seite
der deutschen kriminalistischen Schriftsteller die Verdienste und Vorzüge der
österreichischen Strafrechtslitteratur gerecht und richtig gewürdigt, insbesondere
was die Verbindung der Theorie und Praxis, die taktvolle Anwendung des
Strafgesetzes und eine weitgehende Individualisierung bei der Handhabung
des Milderungsrechts betrifft; und Zachariä fand sich noch 1853 veranlasst
zu bemerken, die Leistungen der östeiTeichischen Gesetzgebungsarbeiten, die
Mässigung im Gebrauche der zu scharfen Strafen bei Staats- und Religions-
verbrechen u. a. m. seien nicht vollkommen gewürdigt worden. Insbesondere
war es das tiusserordentliche richterliche Milderungsrecht, welches, wenn auch
von einzelnen Kriminalisten wie z. B. Köstlin unrichtig aufgefasst, dagegen von
anderen, wie Mittermaier ausdrücklich anerkannt und gebilligt, bei den legisla-
torischen Arbeiten der partikularen deutschen Strafgesetzgebung seit dem 3. Dezen-
nium unseres Jahrhunderts vielfach als Muster zur Nachahmung, sei es in den
Entwürfen selbst, sei es bei der parlamentarischen Beratung aufgestellt wurde.
Litteratur zur Geschichte der österreichischen Strafgesetzgebung :
Wahlberg, Gesammelte kleinere Schriften H, S. 86 ff., Hoff., 16:3 ff., III, S. 1 ff.,
18 ff., 115 ff. — V. Domin -Petrushevecz, Neuere österreichische Rechtsgeschichte,
1869. — V. Maasburg, Zur Entstehungsgeschichte der Theresianischen Halsgerichts-
ordnung usw. 1880. — Derselbe, die Strafe des Schiffziehens in Österreich, 1890.
— Berner, Die Strafgesetzgebnng in Deutschland von 1751 bis zur Gegenwart. 1867.
— C. G. v. Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere gemeines deutsches
Strafrecht 1844, und die geschichtliche Darstellung in der Einleitung zu den (unten citier-
ten) Kommentaren von Herbst, v. Hye, Frühwald und dem Lehrbuche von Janka.
§ 5. Die Revision des Strafgesetzes von 1808 und das Strafgesetz von 1852. 127
n. Die gesetzlichen Grundlagen des geltenden Rechts.
§ 5. Die Keylslon des Strafgesetzes you 1803 and das Strafgesetz Yon 1853.
Die Stabilität des Gesetzbuches von 1803 schien so fest gegründet, dass
selbst nach den Erschütterungen, welche das Jahr 1848 mit sich brachte, das
geltende Gesetzbuch vorerst nicht in seinem Bestände bedroht wurde und die
Hauptforderungen sich nur auf die Reform des Strafprozesses bezogen. Immerhin
aber brachte die bewegte Zeit doch auch für das materielle Strafrecht manche
längst wünschenswerte Veränderungen. So verfügte eine Allerhöchste Ent-
schliessung vom 22. Mai 1848 die Aufhebung der öffentlichen Ausstellung, der
Brandmarkung und der köi'perlichen Züchtigung und das gleichz(iitig mit der
Strafprozessordnung (welche nebenbei bemerkt den refonnierten Strafprozess
im Sinne der damaligen Postulate einführte — im Ganzen eine gelungene Nach-
bildung der thüringischen StPO.) publizierte kaiserliche Patent vom 17. Januar
1850, gewöhnlich Strafmilderungspatent genannt, wirksam für alle Kronländer,
in welchen das Strafgesetzbuch von 1803 in Rechtskraft stand, enthielt noch
umfassendere Milderungen des geltenden Strafrechtes nebst Beseitigung mancher
als verwerflich erkannten Bestimmungen, so z. B. der Bestrafung des Selbst-
mordes und der Zensurübertretungen.
Eret im Jahre 1849 wurde offiziell die Notwendigkeit der Schöpfung eines
neuen Strafgesetzbuches anerkannt. In einem an den Kaiser gerichteten Vor-
trage vom 24. August 1850 erklärte Justizminister von Schmerling es für not-
wendig, die Ausarbeitung eines ganz neuen Strafgesetzbuches in Angriff nehmen
zu lassen, welches den Anforderungen der Wissenschaft entsprechen, ebensowohl
die veränderte politische Gestaltung, als auch die heutigen Bildungs- und Ge-
sittungsstufen der verschiedenen Völker des Kaisertumes ins Auge fassen und
zugleich darauf berechnet sein sollte, allen diesen Völkern ein gemeinsames
neues Strafgesetz zu sichern. Die Verwirklichung dieses grossen so tief in
alle sozialen und politischen Verhältnisse des gesamten Staates eingreifenden
Gesetzeswerkes müsse aber dem Zusammenwirken der verfassungsmässigen
Organe der Gesetzgebung vorbehalten bleiben. Allerdings machte die reaktio-
näre Strömung der folgenden Jahre das Zustandekommen eines neuen Straf-
gesetzbuches auf konstitutionellem Wege unmöglich. Indessen hatte jedoch der
Ministerrat im Jahre 1850 insbesondere bezüglich derjenigen Länder, in welchen
bisher das Gesetzbuch von 1803 nicht galt, eine Refonn des Strafrechtes mit
provisorischer Geltung für nötig befunden und deshalb beantragt, dass das
bisherige Strafgesetz mit Aufnahme aller durch spätere Novellen verfügten
Abänderungen in allen jenen Kronländern, wo es bisher gegolten, in erneuter
authentischer Ausgabe, in den übrigen Kronländem aber provisorisch als
neues Strafgesetz kundgemacht werden möge. Freilich verhehlte man sich
nicht, dass es misslich erecheine, ein Strafgesetz noch aus dem Anfange unseres
Jahrhunderts, das selbst einer Reform bedürfe, und welchem die Fortschritte
der Wissenschaft und die reichen Erfahrungen von fast einem halben Jahr-
hundert fremd seien, jetzt noch neu einzuführen. Dennoch glaubte man aber
annehmen zu dürfen, dass es für diejenigen Länder, wo es bisher nicht ge-
golten, im Vergleiche mit ihren bisherigen höchst traurigen Rechtszuständen
auch ohne wesentliche Umgestaltung doch noch eine wünschenswerte Refonn
und ein bedeutender Fortschritt sei, und dass zur ersten Einführung einer
neuen Kodifikation des Strafrechts in diesen Ländern sich sogar ein ganz neu
zu verfassendes Strafgesetzbuch weniger eigne als ein älteres, dessen Gerechtig-
128 (>sterreich. — Die gesetzlichen Grandlagen des geltenden Rechts.
keit, Milde und Weisheit in den leitenden Grundsätzen und Hauptbestimmungen
sich schon in der Erfahrung Ton fünf Dezennien bewährt habe. So wollte
man sich vorläufig darauf beschränken, in dem ursprünglichen Gesetzestexte
nur jene Abänderungen vorzunehmen, welche bereits durch spätere rechts-
gültige Bestimmmigen eingeführt seien und welche sich nach den Erfahrungen
der Praxis als unabweislich darstellten. Aus diesem Plane ging der unter
Schmerling verfasste Entwurf des revidierten Strafgesetzes von 1850 hervor,
der mit dem 1. März 1851 Gesetzeskraft erhalten sollte. Dazu kam es jedoch
nicht. Vielmehr bildete dieser Entwurf des revidierten Strafgesetzes die Grund-
lage einer vermehrten und revidierten Ausgabe des Strafgesetzes von 1803,
welche am 27. Mai 1852 als ^allgemeines österreichisches Strafgesetz" in allen
Ländern des Eaiserstaates mit Ausnahme der Militärgreuze publiziert wurde.
Damit war der ursprüngliche Plan einer umfassenden neuen Strafgesetzgebung
vertagt, nicht ohne dass namhafte österreichische Kriminalisten, wie von Hye,
Passy, Jul. Glaser, aber auch deutsche Kriminalisten wie Zachariä u. a.,
dieser Vertagung zustimmten und die überwiegenden Vorteile lediglich emer
Revision des alten Gesetzbuches, das sich in die Praxis eingelebt hatte, mit
besonderer Rücksicht auf die herzustellende Rechts- und Gesetzeseinheit in
der gesamten Monarchie betonten.
In dem Kundmachungspatent (kaiserliches Patent vom 27. Mai 1852) wird
das Strafgesetzbuch als eine neue Ausgabe des Strafgesetzes von 1803 be-
zeichnet mit Einschaltung der durch spätere Gesetze verfügten Abänderungen
und mit Aufnahme mehrerer neuer Bestimmungen.
Zugleich wird unter Bezugnahme auf die mit der kaiserlichen Ent-
schliessung vom 31. Dezember 1851 festgesetzten Grundlagen für die organische
Gesetzgebung des Reiches verfügt, dass das Strafgesetz für den ganzen Um-
fang des Reiches in Wirksamkeit gesetzt werde und zwar vom 1. September
1852 angefangen, sowohl in jenen Kronländem, in welchen bisher das Straf-
gesetzbuch von 1803 in Rechtskraft stand, als auch in den Königreichen
Ungarn, Kroatien, Slavonien mit dem kroatischen Küstenlande, dem Gross-
fürstentum Siebenbürgen, der Woiwodschaft Serbien, dem Temeser Banate
und dem Grossherzogtxmi Krakau, wodurch zugleich alle Gesetze, Verord-
nimgen und Gewohnheiten, welche in irgend einem Teile des Reiches in Be-
ziehung auf die Gegenstände dieses Strafgesetzes bisher bestanden haben, mit
alleiniger Ausnahme der für das k. k. Militär und für die Militärgrenzgebiete
bestehenden besonderen Strafgesetze von eben jenem Tage ausser Geltung
gesetzt werden (Einleitung und Art. I des Kundmachungspatentes).
In Ungarn trat jedoch zufolge der sanktionierten Judex-Curial-Beschlüsse vom
Jahre 1861 das Strafgesetz von 1852 wieder ausser Wirksamkeit, blieb jedoch in
Kroatien und Slavonien — und zwar bis heute — weiter bestehen, desgleichen in
Siebenbürgen, wo es jedoch durch das neue ungarische Strafgesetzbuch von 1878, in
Geltung seit IS^^U, ausser Kratt trat. Im Fürstentum Lichtenstein ist das österreichische
Strafgesetz von 1852 (an Stelle des 1812 eingeführten Strafgesetzes von 1803) durch
fürstliche Resolution vom 7. November 1859 in Geltung mit dem 1. Januar 1860
getreten.
Unter Hin weglassung der das Strafverfahren betreffenden Bestimmungen
des alten Gesetzbuches zerfällt nunmehr das Strafgesetz von 1852 in zwei
Teile, deren erster von den Verbrechen, deren zweiter von den Vergehen und
Übertretungen handelt. Der erste Teil umfasst 27, der zweite 14 Hauptstücke,
welche zusammen 532 durchlaufende Paragraphen enthalten, von welchem 232
dem ersten, 300 dem zweiten Teile angehören.
Zugleich mit dem Strafgesetzbuche wurde mit einem weiteren kaiserl.
Patent vom 27. Mai 1852 für sämtliche Kronländer des Reiches mit Ausnahme
§ 5. Die Revision des Strafgesetzes von 1803 und das Strafgesetz von 1852. 129
des Militärgrenzgebietes eine neue Pressordnung erlassen, welche gleichfalls
mit dem 1. September 1852 in Wirksamkeit trat und das Gesetz gegen den
Missbrauch der Presse vom 13. März 1849 ausser Geltung setzte.
Fasst man zunächst die Hauptunterschiede des revidierten Strafgesetzes
vom 3. September 1803 im allgemeinen ins Auge, so ergeben sich (nach
V. Ilyes Zusammenstellung) folgende Hauptpunkte:
1. In den Text des neuen Strafgesetzes sind alle seit der Geltung des
Gesetzes von 1803 — 1852 erflossenen Nachtragsgesetze, Ergänzungen, Erläute-
rungen und Belehrungen, sei es, dass sie von dem Gesetzgeber selbst oder
nm* von Behörden ausgegangen sind, insoweit dieselben als mit dem Geiste
des ursprünglichen Gesetzes vereinbar und auch den Verhältnissen der Gegen-
wart noch angemessen erkannt worden sind, aufgenommen.
ä. Das gegenwärtige Strafgesetz soll in Beziehungen auf die darin er-
wähnten als Verbrechen, Vergehen und Übertretungen erklärten strafbaren
Handlungen auch dann zur Richtschnur dienen, Avenn dieselben durch Druck-
schriften begangen werden.
3. Unter den allgemeinen B(»stimmungen des Strafgesetzes enthält die
revidierte Ausgabe von 1852 mehrfache neue Vorschriften, so über die Not-
wehr (§ 2 lit. g), misslungene Verleitung zu Verbrechen (§ 9), ferner die Ein-
führung mehrerer neuer Strafarten und Strafverschärfungen (§§ 21 — 24, 248,
255 — 258), wesentliche Milderungen im Vollzuge der Kerkerstrafe (§16 luid
18), Aufhebung der Zulässigkeit der Verschärfung der lebenslangen Kerker-
strafe (§ 50).
4. Ebenso wurden neue Verbrechensbegriffe zwischen die einzelnen Gat-
tungen und Arten der Verbrechen des alten Gesetzbuches eingeschoben, so
§§64, 65, 76—80, 85 lit. c und 87, 98 lit. a, 174 1, 175 1b und Ild, 176 1.
5. Aber auch an den Begriffsbestimmungen der Delikte selbst wurden
grundsätzliche und wesentliche Abänderungen vorgenommen. So sind die
BegriflFe: Hochverrat, Majestätsbeleidigung, Störung der öffentlichen Ruhe, Not-
zucht, Schändung und andere schwere Unzuchtsfälle, schwere körperliche
Beschädigung, Vergehen und Übertretungen gegen die Sicherheit der Ehre
gänzlich umgearbeitet und neugestaltet, sowie an zahlreichen anderen Begriffs-
bestimmungen von Verbrechen bezw. Vergehen und Übertretungen Abände-
rungen vorgenommen (vergl. die Zusammenstellung bei v. Hye, das öster-
reichische Strafgesetz S. 14 — 15).
6. Besonders zahlreich sind die Abänderungen an den bisherigen Straf-
drohungen für die einzelnen Delikte , sowohl was Milderungen als Ver-
schärfungen der bisherigen Strafbestimmungen betrifft. Hierher gehört vor
allem die Einschränkung der mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen.
7. Endlich ist in vielen Paragraphen der revidierten Ausgabe der Text
des früheren Gesetzes schärfer und bestimmter präzisiert oder in stilistischer
Beziehung verbessert worden, ohne dass dadurch eine Sinnesänderung in dem
bisherigen Gesetze herbeigeführt werden, vielmehr nur damit der früher häufig
zweifelhaft gewesene Sinn des Gesetzes genauer und zwar regelmässig in
der Art und Bedeutung bestimmt werden sollte , welche von der ♦vorherrschen-
den Interpretation der Doktrin und Praxis auch bisher schon dem bestehenden
Gesetze untergelegt worden war.
Insbesondere erscheinen hier als die wichtigsten materiellen Änderungen
diejenigen, wodurch an die Stelle von absoluten Strafsätzen des alten Gesetzes
nunmehr eine relative Strafdrohung für zahlreiche Vergehen und Übertretungen
tritt; hiermit wird das im Prinzip für das gesamte Gesetz anerkannte System der
relativen Strafsätze fast ausnahmslos durchgeführt wird. Gleichwohl lässt sich
nicht leugnen, dass trotz des Bestrebens, die Textierung des neuen Gesetzes
Strafgesetzgebuiig der Gegenwart. I. 9
• •
130 (Österreich. — Die gesetzlichen Grundlagen des geltenden Rechts.
gegenüber der des alten zu verbessern, gerade die wegen ihrer Knappheit und
Klarheit geschätzte Sprache des Gesetzes von 1803 durch manche minder
genaue, teils verschwommene, teils allzu kasuistische Fassung abhanden ge-
kommen ist, abgesehen von höchst eigentümlichen und gesehraubten Er-
findungen technischer Ausdrücke, wie „Teilnehmung** im Gegensatze zur Teil-
nahme, u. a.
§ 6. Das Strafgesetz von 1852 In seinen OrundzQgen.
Die in der heutigen Gesetzgebung als „allgemeine Bestimmungen ** be-
zeichneten, die Delikte und ihre Bestrafung überhaupt betreflTenden Vorschriften
sind im Gesetzbuche von 1852 in den Hauptstücken 1 — 5 und 21 des ersten
Teiles, was die Verbrechen betrifft, ferner in den Hauptstücken 1 — 3 und 14
des zweiten Teiles, was die Vergehen und Übertretungen betrifft, enthalten.
Die Hauptstücke 6 — 26 des ersten Teiles, 4 — 13 des zweiten Teiles enthalten
die Bestimmungen über die einzelnen Verbrechen, bezw. Vergehen und Über-
tretungen. In den allgemeinen Bestimmungen des Gesetzbuches von 1852
tritt der Zusammenhang mit der früheren österreichischen Gesetzgebung deut-
lich und unverkennbar vor. Dies zeigt sich insbesondere hinsichtlich der Be-
stimmungen über den dolus („bösen Vorsatz"), die Ausschliessungsgründe der
Zurechnung, den Versuch, die Mitschuld und Teilnahme, die Konkurrenz, das
Strafensystem und die Strafaufhebungsgründe („Erlöschung der Strafen").
Hierin ist ein Unterschied nur insofern zu bemerken, dass einzelne Materien,
wie böser Vorsatz, Versuch, Mitschuld, Konkurrenz in ihrer begrifflichen
Fixierung bis auf das Josephinische Gesetzbuch von 1787 zurückweisen,
während das Strafensystem des gegenwärtigen Gesetzbuches lediglich dem des
Gesetzbuches von 1803, bezw. dessen zuvor als westgalizisches Strafgesetzbuch
publiziertem Entwürfe folgt. Die Grundeinteilung der strafbaren Handlungen
dagegen in Verbrechen, Vergehen und Übertretungen, welche dem gegen-
wärtigen Gesetzbuche zu Grunde liegt, führt zunächst auf die Einteilung des
Gesetzbuches von 1803 in Verbrechen, und schwere Polizeiübertretungen als
ihre Grundlage zurück, welche allerdings wiederum an die Einteilung des
Josephinischen Gesetzbuches in Kriminalverbrechen und politische Verbrechen
sich anlehnt. Mit der gleichlautenden Dreiteilung der strafbaren Handlungen
der modernen Strafgesetzgebung (preuss. StGB, von 1851, bayerisches StGB.
von 1861, deutsches RStGB., österreichische Strafgesetz -Entwürfe von 1871
bis 1891), welche dem auf die Strafsätze der einzelnen Delikte gebauten
System des Code p6nal folgt, hat die Einteilung des österreichischen Gesetz-
buches jedoch nichts als die Wortbezeichnung gemein. Die Erklärung der
Gesamteinteilung kann deshalb nur aus dem Gesetzbuche von 1803 entnommen
werden. Dasselbe hatte, wie oben hervorgehoben, eine Einleitung, „von den
Gegenständen dieses Strafgesetzes" an die Spitze gestellt, in welcher die den
Gesetzgeber bei der Pönalisierung der einzelnen Handlungen und bei ihrer
Einreihung unter die beiden Hauptarten: Verbrechen und schwere* Polizei-
übertretungen bestimmenden Grundsätze ausgeführt werden. Obwohl diese
Einleitung aus formellen legislatorischen Gründen in das gegenwärtige Gesetz-
buch nicht mehr aufgenommen wurde, sind die dort angeführten Grundsätze
gleichwohl auch für das Gesetzbuch von 1852, was insbesondere die Einteilung
der strafbaren Handlungen betrifft, immer noch von massgebender Bedeutung
und vollkommen im Einklänge mit der Unterscheidung der Verbrechen einer-
seits, der Vergehen und Übertretungen andererseits, wie sie dem gegen-
wärtigen Gesetzbuche zu Grunde liegt. Vergleicht man die Definition des
Gesetzbuches von 1803 mit den im Strafgesetze von 1852 als Verbrechen be-
§ 6. Das Strafgesetz von 1852 in seinen Grundzügen. 131
zeichneten Handlungen, so ergiebt sich, dass die in derselben angeführten Merk-
male auch auf die Verbrechen des gegenwärtigen Gesetzbuches vollkommen
passen. So sagt der von der Einteilung der einzelnen Verbrechen handelnde
§ 56 des gegenwärtigen Gesetzbuches ausdrücklich, dass die Verbrechen ent-
weder „die gemeinschaftliche Sicherheit" angreifen, oder „die Sicherheit ein-
zelner Menschen an ihren Rechten verletzen". Das Erfordernis der Absicht-
lichkeit ist in dem im § 1 aufgestellten Grundsatze: „zu einem Verbrechen
wird böser Vorsatz erfordert" enthalten. Dass auch das in jener Deünition
enthaltene Merkmal „der Grösse der Verletzung oder der gefährlicheren Be-
schaffenheit der Umstände" im gegenwärtigen Strafgesetze für die Unter-
scheidung der Verbrechen von den anderen Arten der strafbaren Handlungen
hervortritt, ist namentlich dadurch begründet, dass nur solche vorsätzliche
Rechtsverletzungen und Rechtsgefährdungen, bei denen dieses Erfordernis vor-
liegt, als Verbrechen bezeichnet werden, während der Mangel desselben Hand-
lungen gleicher Art nur als Vergehen und Übertretungen erscheinen lässt, wie
dies insbesondere bei den Delikten gegen das Vermögen, gegen die körper-
liche Integrität und die Ehre hervortritt. Die Begriffsbestimmung der Ver-
gehen und Übertretungen ist gleichfalls der oben angeführten Einleitung
des Strafgesetzes von 1803 zu entnehmen, aus welcher sich drei Arten der-
selben ergeben: 1. Unmittelbare und vorsätzliche Verletzungen der Rechtsord-
nung, welchen die nach dem Gesetze zur Qualifikation als Verbrechen erforder-
liche Grösse der Verletzung oder Gefahr fehlt. 2. Die kulposen Delikte und
8. die reinen Ungehorsams- oder Polizei delikte. Die letzteren hebt § 238 des
Strafgesetzbuches von 1852 besonders hervor durch die Bestimmung, dass der-
artige normwidrige Handlungen oder Unterlassungen Vergehen oder Übertretungen
sind, „obgleich weder eine böse Absicht dabei mit unterlaufen, noch Schaden
oder Nachteil daraus erfolgt ist". Der Unterscheidung der schweren Polizei-
übeitretungen des früheren Gesetzbuches in Vergehen und Übertretungen liegt
jedoch nicht ein wesentlicher begrifflicher Unterschied zu Grunde; sie
ist auch für das materielle Strafrecht von untergeordnetem Werte, da nament-
lich für beide Arten die gleichen allgemeinen Grundsätze betreffs der Zurech-
nung der Strafen, Strafausmessung, Erlöschung der Strafen usw. gelten.
Die Unterscheidung hat vielmehr nur in Bezug auf das Strafverfahren und
die Zuständigkeit der Gerichte eine Bedeutung, indem die Vergehen in
dieser Hinsicht den Verbrechen gleichgestellt, die Übertretungen dagegen den
Einzelgerichten (Bezirksgerichten) zur Verhandlung und Entscheidung zu-
gewiesen sind.
Wie die Einteilung der strafbaren Handlungen, so weisen auch die all-
gemeinen Bestimmmigen des Gesetzbuches von 1852 über bösen Vorsatz, Ver-
such und Mitschuld auf die frühere österreichische Gesetzgebung, speziell auf
das Josephinische Gesetzbuch von 1787 als ihre Grundlage zurücjc. Der § 1
des Gesetzbuches bezeichnet den bösen Vorsatz als notwendiges Erfordernis
eines Verbrechens. „Böser Vorsatz aber — heisst es dann weiter — fällt
nicht nur dann zur Schuld, wenn vor oder bei der Unternehmung oder Unter-
lassung das Übel, welches mit dem Verbrechen verbunden ist, geradezu be-
dacht und beschlossen, sondern auch, wenn aus einer anderen bösen Absicht
etwas unternommen oder unterlassen worden, woraus das Übel, welches da-
durch entstanden ist, gemeiniglich erfolgt oder doch leicht erfolgen kann."
In den Worten „vor oder bei der Unternehmung usw." ist, wie die öster-
reichische Doktrin annimmt, eine Hinweisung auf die Unterscheidung des Vor-
satzes in dolus praemeditatus und Impetus enthalten, während durch die
Worte „geradezu bedacht und beschlossen" und die Gegenüberstellung des
zweiten Satzes „sondern auch wenn aus einer anderen bösen Absicht usw."
9*
132 Österreich. — Die «resetzlichen Grundlageu des geltenden Rechts.
die clrr ältoivu Doktrin eigene Unti^rschoidung von dolus directus und indirectus
gemacht wird.
Di^'se in das heutige Strafrecht und in die moderne Strafgesetzgebung
wie eine Ruine aus fast verschollenen alten Kämpfen hineinragende Bestim-
mung niuss sowohl wegen dieser Sonderstellung als auch wegen der zahl-
reichen Kontroversen, zu denen sie den österreichischen Kriminalisten Anlass
gab, näher gewürdigt werden.
Einige Schriftsteller nämlich, wie Jenull („Östern^ichisches Kriminal-
recht**, § 1, lU) wollen hierin nicht die gesetzliche Fixiening des dolus in-
directus, sondern eine praesumtio doli, andrTc dagegen, wie Herbst (^Hand-
buch des österreichischen Strafrechtes", Bd. I, Note 9 bis 12 zu § li, v. Hye
(„das österreichische Strafgc^setz" , S. 147), Kitka (im Archiv des Kriminal-
recht(»s, 1835, S. 240) lediglich eine Beweisregel erk(»nnen, während Rulf und
(ilaser (in Haimerls „Magazin für Rechts- und Staatswissenschaft", Bd. IX,
S. 315 ff. und Bd. XI, S. 305 ff.), ebenso Geyer (Erörterungen, S. 21 ff.) hierin
eine gesetzliche Anerkennung des dolus indirectus finden, wenn sie auch
dessen Verwerflichkeit vom Standpunkte der Theorie ausdrücklich zugeben.
Diese letztere Ansicht ist jedenfalls die richtige. Denn ein Blick auf die
Entstehungsgeschichte des § 1 und seinen Zusammenhang mit der älteren öster-
reichischen Gesetzgebung ergiebt in der That, dass schon die Theresiana
(anschliessend an einige offenbar unter dem Einflüsse des Carpzowschen dolus
indirectus stehende Bestimmungen der Landgerichtsordnung Ferdinands III.
von 1656) in Art. 3, § 1 und Art. 83, §>$ 3 und 13 den dolus indirectus der da-
maligen Doktrin, wie er zuletzt durch die Nettelblatt-Glänzersche Dissertation
von 1756 formuliert war, aufgenommen hatte, freilich nicht ohne die ver-
mutete eventuelle Einwilligimg in den ursi)rünglich nicht beabsichtigten Erfolg,
wie, sie kurz darauf J. S. F. Böhmer und später Püttmann hierzu ausdrück-
lich forderte, mit darunter zu beziehen. Von hier aus ging dann der dolus
indirectus, wenn auch unter Ausschluss des bis dahin unter ihn einbezogenen
dolus eventualis in etwas geläuterter Gestalt und genauerer Fassung in das
Josei)hinische StG. und aus diesem in das westgalizische und in das StG.
von 1803 über, dessen § 1 im Gesetzbuche von 1852 unverändert blieb.
Damit ist die Annahme derjenigen, welche in dieser Stelle eine Beweisregel,
bezw. eine praesumtio doli finden wollen (ohne übrigens zu bedenken, dass
ja das (Gebilde des dolus indirectus in seinem Ausgangsi)unkte und seiner
ganzen Entwickelung nichts anderes als eine derartige Fiktion war) jedenfalls
nachdrücklich widerlegt. Jedoch bedeutet der im Schlusssatze des § 1 ent-
haltene dolus indirectus (wie die Wortfassung ergiebt, unter Ausschluss des
dolus eventualis, der vielmehr unter die Worte des ei'sten Absatzes des § 1
„geradezu bedacht und beschlossen" subsumiert werden müsste) nur einen
Teil der früher mit der Bezeichnung dolus indirectus verbundenen Vorstellung
und zwar die Fälle, bei welchen ein nicht beabsichtigter Erfolg durch eine in
anderer böser Absicht unternommene Handlung wirklich herbeigeführt wird.
Diese Handlung muss aber so geartet sein, dass aus ihr Jener Erfolg ge-
meiniglich entsteht oder doch leicht entstehen kann", für den Thäter also der
bewirkte, nicht beabsichtigte Erfolg jedenfalls voraussehbar war. Übrigens
genügt ein solcher dolus indirectus nur zum Thatbestande jener Verbrechen,
bei welchen dies im Gesetze deutlich und insbesondere ereichtlich gemacht
ist. Dies sind namentlich Totschlag und schw^ere körperliche Beschädigung,
{5§ 140 und 152. (Diese Ansicht wird insbesondere von Glaser und Geyer ver-
treten und begründet.)
Im S 2 des Gesetzbuches werden unter der Rubrik „Gründe, die den
bösen Vorsatz ausschliessen", Ausschliessungsgründe der Zurechnung des
§ 6. Das Strafgesetz von 1852 in seinen Grundzügen. 133
Verbrechens aufgezählt und zwar zunächst lit. a — e solche Zustände, welche das
Bewusstsein und damit die Zurechnung ausschliessen , („wenn der Thäter des
Gebrauchs der Vernunft ganz beraubt ist; wenn die That bei abwechselnder
Sinnenverwirrung zur Zeit, da die Verrückung dauerte, oder in einer ohne
Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung — bemerkens-
wert ist der weitere Begriff Berauschung, nicht Trunkenheit — oder einer
anderen Sinnesverwirrung, in welcher der Thäter sich seiner Handlung nicht
bewusst war, begangen worden"). In letzterer Beziehung besitzt das öster-
reichische Gesetzbuch im § 236 und § 523 die neuestens auch zur Aufnahme
in die deutsche Gesetzgebung empfohlene Bestimmung, dass bei Handlungen,
die als Verbrechen, weil im Zustande der Trunkenheit verübt, nicht zugerech-
net werden können, die Trunkenheit selbst als Übertretung bestraft wird
(ebenso §524: Vornahme gefährlicher Arbeiten durch Trunkene).
Lit. d des § 2 behandelt im Zusammenhalte mit den §§ 237 und 269 die Frage
der Straf Unmündigkeit. Das österreichische Strafgesetzbuch nimmt hier im Ver-
gleich mit der heutigen (Tcsetzgebung einen gesonderten Standpunkt ein, wenn
auch wesentlich auf dem Boden des gemeinen Rechtes stehend, und unterscheidet:
1. Das Alter der Kindheit bis zum vollendeten zehnten Jahre. Alle
während dieser Periode verübten strafbaren Handlungen können überhaupt
nicht zugerechnet werden und unterstehen lediglich der häuslichen Züchtigung.
2. Das Alter der Unmündigkeit erstreckt sich vom angehenden elften
bis zum vollendeten vierzehnten Lebensjahre. Handlungen, die nur wegen
Unmündigkeit des Thäters nicht als Verbrechen zugerechnet werden können,
sind als Übertretungen zu strafen. Dagegen unterstehen Vergehen und Über-
tretungen der Unmündigen lediglich der häuslichen Züchtigung, eventuell auch
der Ahndung und Vorkehrung der Sicherheitsbehörden.
3. Erst mit dem vollendeten vierzehnten Jahre beginnt die Mündigkeit
und damit die volle strafrechtliche Verantwortlichkeit. Gleichwohl ist noch
das Alter vom vierzehnten bis zum zwanzigsten Jahre ein Strafmilderungs-
umstand (§ 46 lit. a und § 264 lit. a), und nach § 52 auch ein Ausschliessungs-
grund der Todesstrafe und der lebenslänglichen Kerkerstrafe, an deren Stelle
schwerer Kerker zwischen zehn und zwanzig Jahren tritt.
In lit. e wird der „Irrtum, der ein Verbrechen in der Handlung nicht
erkennen Hess" (Thatirrtum), als Ausschliessungsgrund der Zurechnung erklärt,
während im § 3 die Berufung auf den Rechtsirrtum in Bezug auf das Straf-
gesetz für unzulässig erklärt wird. („Mit der Unwissenheit des gegenwärtigen
Gesetzes über Verbrechen kann sich niemand entschuldigen.") Dieselbe Be-
stimmung enthält § 233 betreffs der Vergehen und Übertretungen.
In lit. f wird die Zurechnung zum Verbrechen ausgeschlossen, wenn das
Übel aus „Zufall, Nachlässigkeit oder Unwissenheit der Folgen der Handlung
entstanden ist". Selbstverständlich ist hierdurch in letzteren beiden Fällen die
Zurechnung eines kulposen Deliktes nicht ausgeschlossen.
Lit. g spricht von dem „unwiderstehlichen Zwang", wobei physischer
und psychologischer Zwang nicht unterschieden werden. Unter diese Be-
stimmung fallen auch die im Notstand begangenen Handlungen, da das (xesetz-
buch hierüber eine eigene Vorschrift nicht enthält. Zugleich ist auch in lit. g
die Notwehr unter die Gründe, welche „den bösen Vorsatz aufheben", gestellt,
während das Strafgesetz von 1803 dieselbe nur im Anschlüsse an die Ver-
brechen des Mordes und Totschlages anfühi'te: der BegriflF der Notwehr ist
jedoch nur auf rechtswidrige Angriffe, gegen Leben, Freiheit oder Vermögen
beschränkt. Der Notwehr ist die Überschreitung der Grenzen derselben „aus
Bestürzung, Furcht oder Schrecken" gleichgestellt, welche jedoch „nacli Be-
schaffenheit der Umstände" als kulposes Delikt bestraft werden kann.
134 Österreich. — Die gesetzlichen Grundlagen des geltenden Rechts.
Was den Versuch, die Mitschuld und Teilnahme betrifft, so giebt das
Gesetz §§ 5, 6 und 8 keine erschöpfende und schulmässige Definition, sondern
nur Fingerzeige und Abgrenzungen, welche der Doktrin den entsprechenden
Spielraum zur Entwickelung und Fortbildung lassen, den sie auch in einer
anerkennenswerten Weise benützt hat. Indessen wird schon „der Versuch
einer Übelthat für das Verbrechen" erklärt und weiter nur der Anfangspunkt
der Strafbarkeit markiert, indem „eine zur wirklichen Ausübung führende
Handlung" unternommen sein muss, und als weiteres Erfordernis aufgestellt
wird, dass „die Vollbringung des Verbrechens aber nur wegen Unvermögen-
heit, wegen Dazwischenkunft eines fremden Hindernisses oder durch Zufall
unterblieben sei". In der Gleichstellung des Versuches mit dem vollendeten
Verbrechen weicht das österreichische Strafgesetzbuch von den Grundsätzen
des gemeinen deutschen Kriminalrechtes und der neueren deutschen Straf-
gesetzgebung ab. Jedoch ist hierin nicht so sehr eine Annahme des Grund-
satzes des französischen Code des d61its et des peines vom 3. ßrumaire
des J. IV und des Gesetzes vom 22. Prairial des J. IV — wie es das
preussische Strafgesetzbuch von 1851 und das bayerische Strafgesetzbuch von
1861 mit Beziehung auf den Code pönal von 1810 gethan haben — zu er-
blicken, da vielmehr schon die ältere österreichische Strafgesetzgebung, von
der Theresiana (Art. 13, §4) angefangen, den Versuch rücksichtlich der Be-
strafung prinzipiell dem vollendeten Verbrechen gleichsteUt, aber mit ausdrück-
licher Zulassung einer Strafmilderung; und dies ist auch der Standpunkt des
Gesetzbuches von 1852 (§47, lit. a). Überdies werden bei einzelnen Verbrechen,
insbesondere bei den mit absoluter Strafe bedrohten, eigene mildere Straf-
drohungen für den Versuch aufgestellt, so z. B. beim Mord (§ 138), sowie ab-
gesehen davon in einzelnen Fällen der Versuch als besonderer Milderungs-
grund erklärt und ein geringeres Strafmass für denselben bestimmt wird, so
z. B. bei der Verfälschung von Kreditpapieren (§§110, 113 und 115); Ab-
treibung der Leibesfrucht (§ 145) u. a. m.
Als Mitschuld am Verbrechen werden Anstiftung und Hülfeleistung der
Thäterschaft gleichgestellt und als „Teilnehmer" derjenige erklärt, der „nur
vorläufig sich mit dem Thäter über die nach vollbrachter That ihm zu
leistende Hülfe und Beistand und über einen Anteil am Gewinne und Vorteil
einverstanden hat". Dagegen ist der ohne vorläufiges Einverständnis nach
begangenem Verbrechen dem Thäter geleistete Beistand und das nachträgliche
Gewinn- und Vorteilziehen aus dem Verbrechen als delictum sui generis er-
klärt und im besonderen Teile des Gesetzbuches als Vorschubleistung, bezw.
bei Diebstahl, Veruntreuung und Raub mit der der österreichischen Termino-
logie eigentümlichen Bezeichnung „Teilnehmung" normiert. Mitschuldige und
Teilnehmer sind dem Thäter rücksichtlich der Bestrafung prinzipiell gleich-
gestellt; jedoch macht das Gesetzbuch auch hiervon bei den einzelnen Delikten
Ausnahmen, indem es rücksichtlich entfernterer Mitschuldiger (Gehilfen) und
Teilnehmer geringere Strafsätze aufstellt. Der Ausdruck „Teilnahme" be-
zeichnet also nicht wie in der Terminologie der gemeinrechtlichen Doktrin
und d(ir ncuieron Strafgesetzgebung alle Arten der dolosen Beteiligung meh-
rerer an einem Delikte, sondern nur eine Art derselben, und zwar eine
Modalität der intellektuellen Beihülfe, so dass also nacJi dem österreichischen
Gesetzbuche erst der Umfang b(»ider Begriffe: „Mitschuld" und „Teilnahme"
zusammengenommen dem sonst in der Wissenschaft und Gesetzgebung all-
gemein üblichen Begriffe der „Teilnahme" entspricht.
Im § 9 wird dii^ versuchte Verleitung zu Verbrechen (im Gegensatze zu
der früheren österreichischen Strafgesetzgebung, die diese Bestimmung nicht
kannte) als strafbar erklärt und ist dieselbe mit derjenigen Strafe zu belegen.
§ 6. Das Strafgesetz von 1852 in seinen Gnindzügen. 135
welche für den Versuch des betreffenden Verbrechens zu verhängen wäre.
Dieses ist wohl der älteste Vorläufer des berüchtigten Duchesne-Paragraphen
des neuen belgischen und deutschen Strafrechtes. Durch die Bestimmung des
§ 239 finden die die Mitschuld und Teilnahme, sowie den Versuch betreffenden
Bestimmungen der §§ 5 — 11 auch auf Vergehen und Übertretungen Anwendung.
Besondere Würdigung fordern auch die die Zurechnung der durch
Druckschriften begangenen Delikte betreffenden Vorschriften des Gesetzbuches
von 1852 und des Pressgesetzes. § 7 bestimmt, dass der Verfasser, Über-
setzer, Herausgeber, Verleger oder Betriebsbesorger, Buchhändler, Drucker,
bei periodisclien Druckschriften auch der verantwortliche Redakteur, wie
überhaupt alle Personen, die bei der Drucklegung oder Verbreitung der straf-
baren Druckschrift mitgewirkt haben, desselben Verbrechens schuldig sind,
wenn die allgemeinen Bestimmungen der §§ 1, 5, 6, 8, 9 — 11 auf sie in An-
wendung kommen. Das in dieser Anordnung enthaltene Prinzip wurde jedoch
in bedenklicher Weise ergänzt durch den § 34 ff. der Pressordnung vom
27. Mai 1852, welche die Haftung „wegen Vernachlässigung der pflichtmässigen
Aufmerksamkeit und Obsorge" in die österreichische Pressgesetzgebung ein-
führen; Verfasser, Übersetzer, Herausgeber, Redakteure, Verleger, Drucker,
Vertriebsbesorger, Verschleisser und Verbreiter haften „gleichzeitig"; mit
Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren wird kumulativ Geldstrafe oder Kautions-
verfall angedroht. Das Pressgesetz vom 17. Dezember 1862 enthält zwar Be-
schränkungen der Haftung für Vernachlässigung pfiicl^tmässiger Obsorge und
Aufmerksamkeit, aber das dieses Pressgesetz teilweise abändernde Gesetz vom
15. Oktober 1868 hielt im Prinzipe an dieser Fahrlässigkeits- oder Ordnungs-
strafe fest, wenn es auch im Art. III die Verantwortlichkeit des Verfassers
und Herausgebers wegen Vernachlässigung der pflichtgemässen Obsorge und
Aufmerksamkeit beseitigte durch die Bestimmung, dass Redakteure, Verleger,
Drucker und Verbreiter, wenn sie auch wegen des mangelnden Nachweises
der bösen Absicht nach allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen nicht ver-
urteilt werden können, doch wegen Vernachlässigung derjenigen Obsorge und
Aufmerksamkeit zur Verantwortung gezogen werden, deren Anwendung ihre
besondere Berufsstellung ihnen zur Pflicht macht. Diese Bestimmungen werden
noch durch die Normierung des sogenannten objektiven Verfahrens ergänzt.
Es wurde nämlich durch das gleichzeitig mit dem Pressgesetze vom 17. De-
zember 1862 erlassene Gesetz über das Strafverfahren in Presssachen be-
stimmt, dass der Staatsanwalt, auch wenn er gegen keine bestimmte Person
eine Anklage erhebt, im öffentlichen Interesse begehren kann, dass das Gericht
erkenne, ob der Inhalt einer im Aus- oder Inlande erschienenen Druckschrift
ein Verbrechen oder Vergehen begründet. Hierüber erkennt das Pressgericht
in nichtöffentlicher Sitzung nach Anhörung des Staatsanwaltes, ohne dass hier-
durch dem etwa später gegen eine Person einzuleitenden Strafverfahren vor-
gegriffen wird. Gegen dieses Erkenntnis stand jedem Beteiligten die Be-
rufung offen.
Das Gesetz vom 15. Oktober 1868 suchte die Nachteile der in nicht-
öffentlicher Sitzung ohne Anhörung des Gegenteiles ergehenden Entscheidungen
durch die Einführung eines besonderen Rechtsmittels zu paralysieren, indem
jeder Beteiligte gegen das Verbot binnen 8 Tagen nach der Kundmachung
desselben Einspruch erheben kann, über welchen das Pressgericht in öffent-
licher Sitzung nach Anhörung des Staatsanwaltes und des Einspruch Er-
hebenden zu entscheiden hat. Gegen diese Entscheidung stehen dann weiter
die gegen Endurteile eingeräumten Rechtsmittel offen. Diese Bestimmungen
gingen grösstenteils in die Strafprozessordnung vom 23. Mai 1873 (§§ 493 und
494) über. Die wichtigsten Abänderungen bestanden darin, dass die Zulässig-
13(j Österreich. — Die gesetzlichen Grundlagen des geltenden Rechts.
keit der objektiven Verfolgung auch auf Übertretungen ausgedehnt und
gegen das Erkenntnis über den Einspruch eine Beschwerde nach § 494 zu-
gelassen wurde.
Das im § 7 des Strafgesetzbuches über die Zurechnung der durch den
Inhalt einer Druckschrift begangenen Delikte aufgestellte Prinzip wird jedoch
durch den § 10 wieder eingeschränkt, wonach bei Verbrechen (und nach der
ausdehnenden Vorschrift des § 239 auch bei Vergehen und Übertretungen),
die durch Druckschriften begangen werden, die Strafbarkeit für den Verfasser,
Übersetzer, Herausgeber, Redakteur und Verleger schon mit der Übergabe
des zu vervielfältigenden Werkes zur Drucklegung, für die übrigen Mitschul-
digen aber mit dem Anfange ihrer Mitwirkung beginnt. Viel richtiger und
den allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen entsprechend war die Bestimmung
des Pressgesetzes vom 13. März 1849 (§ 34), welche bestimmte, dass die in den
§§ 23 — 35 angeführten Übertretungen den Strafbestimmungen dieses Patentes
unterliegen, wenn die Hinausgabe oder Versendung der sträflichen Druck-
schriften begonnen hat, während § 10 des Gesetzbuches auf einer bedenklichen
Vermischung des polizeilichen mit dem strafrechtlichen Gesichtspunkte beruht.
Was die den Geltungsbereich des Strafgesetzes rücksichtlich des Ortes
und der Person betreffenden Bestimmungen anlangt, so steht das Gesetzbuch
von 1852 hierin auf dem durch das Territorialitätsprinzip erweiterten Per-
sonalitätsprinzip und anerkennt überdies auch einige wichtige Konsequenzen
des Weltstrafrechtsprinzipes.
Demnach sind alle im Inlande begangenen Delikte und zwar Verbrechen,
Vergehen und Übertretungen (§§ 37 und 234) der Strafgewalt des österreichi-
schen Staates unterworfen, ohne Unterschied, ob sie von einem Inländer oder
von einem Ausländer begangen sind ; auch Verbrechen der Inländer, wenn sie
im Auslande begangen worden sind, werden bedingungslos bestraft. Dagegen
sind im Auslande begangene Vergehen und Übertretungen der Inländer, wenn
sie nicht im Auslande bereits bestraft oder nachgesetien worden sind, ohne
Rücksicht auf die Gesetze des Landes, wo sie begangen wurden, nach dem
Strafgesetzbuche von 1852 zu behandeln. Kraft ausdrücklicher gesetzlicher
Vorschrift ist aber jede Auslieferung des Inländers an das Ausland, ebenso
der Vollzug der Urteile ausländischer Strafbehörden im Inlande unter allen
Umständen unzulässig (§§ 36 und 235 des StGB.). Dagegen ist, im Falle der
Schuldige bereits im Auslande bestraft worden ist, die erlittene Strafe in die
nach dem österreichischen Gesetze zu verhängende einzurechnen. Bezüglich
der von Ausländem im Auslande begangenen Delikte sind zu unterscheiden
das Verbrechen des Hochverrates in Beziehung auf den österreichischen Staat
und das Verbrechen der Verfälschung öffentlicher Kreditpapiere oder Münzen
einerseits und die übrigen Verbrechen andererseits. Wegen der erstgenannten
ist der Ausländer nach § 38 gleich einem Eingeborenen nach österreichischem
Gesetze zu behandeln (Realprinzip), während andere Verbrechen, von Aus-
ländern im Auslande begangen, nur unter der Voraussetzung, dass die Aus-
lieferung des Schuldigen an die Behörde des Thatortes nicht durchführbar ist,
bestraft werden (Konsequenz des Weltstrafrechtsprinzips). Letzterenfalls ist
jedoch das Recht des Thatortes anzuwenden, wenn die Behandlung nach dem-
selben gelinder ausfällt als nach dem österreichischen Gesetze (§§39 und 40).
Dagegen werden von Ausländem im Auslande begangene Vergehen und Über-
tretungen gar nicht bestraft (§ 234). § 41 verweist im übrigen, soweit es sich
um Ausländer handelt, auf die über die gegenseitige Auslieferung von Ver-
brechern mit auswärtigen Staaten bestehenden besonderen Verträge.
Für das Strafensystem des Gesetzbuches von 1852 ist die Unterscheidung
von Verbrechensstrafen einerseits, Strafen der Vergehen und Übertretungen
§ 6. Das Strafgesetz von ISo'i in seinen Grundzü^^en. 137
andererseits massgebend, wozu bei jeder Kategorie die Unterscheidung von
Haupt- und Nebenstrafen tritt. Die Hauptstrafen der Verbrechen sind die
Todesstrafe (durch den Strang vollzogen) und die Kerkerstrafe. Die Todes-
strafe ist im Gesetzbuche von 1852 in folgenden fünf Fällen angedroht: Hoch-
verrat nach § 59, lit. a und b, öflfentliche Gewaltthätigkeit in den Fällen der
§§ 86 und 87 (boshafte Eigentumsbeschädigung, wenn diese den Tod eines
Menschen zur Folge hatte und mit derselben Voraussetzung boshafte Hand-
lungen und Unterlassungen unter besonders gefährlichen Verhältnissen), voll-
brachter Mord und Bestellung zum Morde (§ 136), unmittelbai'e Mitwirkung zu
räuberischem Totschlag (§ 141), Brandlegung im Falle des § 167, lit. a (wenn
dadurch ein Mensch getötet wurde oder w^enn der Brand durch besondere auf
Verheerung gerichtete Zusammenrottung bewirkt wurde). Hierzu kommt noch
der Fall des § 4 des Gesetzes vom 27. Mai 1885 gegen den gemeinschädlichen
(Tcbrauch von Sprengstoffen (wenn vorsätzlich durch Anwendung von Spreng-
stoffen Gefahr für Eigentum, Gesundheit oder Leben eines anderen herbei-
geführt und dadurch der Tod eines Menschen verursacht wird). Im Falle des
Standrechtes kann die Todesstrafe erkannt werden bei den Verbrechen des
Aufruhrs, Mordes, Raubes, der Brandlegung und boshaften Eigentumsbeschä-
digung (StPO. von 1873, § 429 ff.) und bei den Vergehen gegen die Pest-
anstalten (Patent vom 21. Mai 1805, § 12 und Verordnung vom 10. November
1833, § 12). Femer kann in den Fällen des Strafgesetzbuches § 67 (Aus-
spähung), § 92 (unbefugte Werbung), § 222 (Verleitung zur Verletzung mili-
tärischer Dienstpflicht usw.), wenn diese Verbrechen nach dem Gesetze vom
20. Mai 1869 im Kriegsfalle der Militärgerichtsbarkeit unterstellt werden, unter
bestimmten Voraussetzungen Todesstrafe erkannt werden.
Die Kerkerstrafe ist nach einem doppelten Massstabe abgestuft, nämlich
nach ihrer Strenge, d. h. nach ihrer Intensität oder ihrer Stärke und nach
ihrer Dauer. Nach der Strenge kennt das Gesetzbuch von 1852 nur noch
zwei Grade: Kerker ohde Zusatz oder schlechthin Kerker und schwerer Ker-
ker (§ 14). Im Strafgesetzbuche von 1803 war noch eine dritte Stufe, der
schwerste Kerker, beigefügt. Die Kerkerstrafe ist eine Freiheitsstrafe, ver-
bunden mit Arbeitszwang. Beim schweren Kerker soll nach Vorschrift des
§ 16 der Verurteilte mit Eisen an den Füssen angehalten werden; diese Be-
stimmung ist jedoch durch das Gesetz vom 15. November 1867, § 3 beseitigt.
Die Gerichte haben statt dessen auf Beifügung einer oder mehrerer der gesetz-
lich zulässigen Verschärfungsarten der Kerkerstrafe zu erkennen. Die Fesselung
der Gefangenen ist nur noch als Disziplinarstrafe zulässig. Immerhin ist
durch die Abschaffung der Kette beim schweren Kerker die durch das Straf-
gesetz begi'ündete äussere Unterscheidung von schwerem und einfachem Kerker
fast gänzlich verwischt worden, zumal dieselbe nach aussen hin überhaupt
nicht scharf genug hervortritt. Ausserdem bestimmt noch § 16, dass dem zu
schwerem Kerker Verurteilten eine Unterredung mit Leuten, die nicht un-
mittelbar auf seine Verwahrung Bezug haben, nur in ganz besonderen und
wichtigen Fällen gestattet wird. Der zu dem ersten Grade der Kerkei-strafe
(Kerker ohne Zusatz) Verurteilte soll nach § 15 ohne Eisen, jedoch enge ver-
wahrt und in der Verpflegung so gehalten werden, wie es die Einrichtung
der für solche Sträflinge bestimmten Strafanstalten nach den darüber be-
stehenden oder noch zu erlassenden Vorschriften mit sich bringt. Mit der
Kerkerstrafe ist stets die Anhaltung zur Arbeit verbunden, jeder Sträfling
muss daher diejenige Arbeit verrichten, welche die Einrichtung d(?r Straf-
anstalten mit sich bringt. Bei der Verteilung dieser Arbeit soll auf den Grad
der Kerkerstrafe, die bisherige Beschäftigungsweise und die Bildungsstufe der
Sträflinge thunlichste Rücksicht genommen werden (^ 18j.
138 Osterreich. — Die gesetzlichen Grundlagen des geltenden Rechts.
lu Bezug auf die Dauer teilt das Gesetz die Kerkerstrafe in lebens-
länglichen und zeitlichen Kerker ein. Die längste Dauer beträgt 20 Jahre,
die kürzeste Dauer in der Regel 6 Monate (§ 17). Auf Grund des ausser-
ordentlichen Milderungsrechtes kann auch unter das Minimum von 6 Monaten
herabgegangen werden (§ 54), desgleichen im Wege der Veränderung der
Strafe aus Humanitätsrücksichten für die schuldlose Familie des Verurteilten (§55).
Die Strafsätze selbst sind folgendermassen abgestuft: von 6 Monaten bis
zu 1 Jahre, von 1 Jahre bis 5 Jahre, von 5 bis 10 Jahre, von 10 bis 20
Jahre. Die Strafzeit und jede andere Rechtswirkung des Strafurteils beginnt
mit dem Zeitpunkte der Kundmachung des rechtskräftigen Strafurteiles (§ 17.
Ausnahmen hiervon: StPO. von 1873, §§ 294, 398, 400, 401, 466).
Die Strafen der Vergehen und Übertretungen sind: Geldstrafe, Verfall
von Waren, Feilschaften oder Geräten, Verlust von Rechten oder Befugnissen,
Arrest, körperliche Züchtigung, Abschaffung aus einem Orte, aus einem Kron-
lande oder aus sämtlichen Kronländern des österreichischen Kaisei*staates.
Was zunächst die Arreststrafe, als die am häufigsten angedrohte Hauptstrafe,
betrifft, so ist auch diese sowohl nach der Schwere als nach der Dauer ab-
gestuft. In ersterer Beziehung unterscheidet man Arrest ohne Zusatz, d. i.
Verschliessung in einem Gefangenhause ohne Eisen, wobei dem Verurteilten,
wenn er sich den Unterhalt aus eigenen Mitteln oder durch Unterstützung
der Seinigen zu verschaffen fähig ist, die Wahl seiner Beschäftigung über-
lassen bleibt (§ 244) — und strengen Arrest, in welchem der Verurteilte in
Beziehung auf die Verpflegung und Arbeit so gehalten wird, wie es die Ein-
richtung der für solche Sträflinge bestimmten Strafanstalten nach den dar-
über bestehenden oder noch zu erlassenden Vorschriften mit sich bringt.
Auch wird ihm, wie dem zu einfachem Kerker Verurteilten, eine Zusammen-
kunft mit anderen Personen nur in Gegenwart des Gefangenenwärters, sowie
keine Unterredung in einer dem letzteren unverständlichen Sprache gestattet
(§ 245). Ausserdem kennt das Strafgesetzbuch im § 246 auch noch den Haus-
arrest entweder gegen blosses Angeloben, sich nicht zu entfernen oder mit
Aufstellung einer Wache. Nach § 262 soll Hausarrest verhängt werden, wenn
der zu Bestrafende von unbescholtenem Rufe ist und durch Entfernung von
seiner Wohnung seinem Amte, seinem Geschäfte oder seiner Erwerbung ob-
zuliegen ausser Stande ist. Doch wird von dieser Strafart in der Praxis
kaum mehr (xebrauch gemacht. Strafbare Handlungen Unmündiger, welche
sonst als Verbrechen zu qualitizieren wären, werden nach § 270 mit Ver-
schliessung an einem abgesonderten Verwahrungsorte bestraft. Der Dauer nach
kann Arrest in minimo zu 24 Stunden, in maximo zu 6 Monaten verhängt
werden, doch kann auch unter das Minimum herabgegangen werden, wenn
nach § 260 eine Umänderung oder nach § 266 eine ausserordentliche Milderung
der Strafe eintritt. Auch das Maximum der Arreststrafe kann nach besonderen
gesetzlichen Bestimmungen bis zu 1, 2 oder 3 Jahren erhöht werden.
Die Abschaffung (Ausweisung), obgleich unter den Hauptstrafen für Ver-
gehen und Übertretungen angeführt, tritt doch insofern nur als Nebenstrafe
auf, als sie nie für sich allein, sondern immer nur in Verbindung mit anderen
Strafen erkannt wird, doch darf dies nur in denjenigen Fällen geschehen, wo
sie ausdrücklich angedroht ist. Die Abschaffung aus einem Orte oder einem
Kronlande findet statt entweder auf eine bestimmte oder nach Beschaffenheit
der strafbaren Handlung und der Umstände auch auf unbestimmte Zeit. Auf
Abschaffung aus sämtlichen Kronländern des österreichischen Kaisei*staates
kann nur gegen Ausländer erkannt werden (§ 249). Rückkehr eines Ab-
geschafften bildet nach §§ 323 und 324 eine Übertretung.
In den §§ 19 und 253 stellt das Gesetzbuch von 1852, auch hierin dem
§ 6. Das Strafgesetz von 1852 in seinen Grundzügen. 139
Strafgesetze von 1803 folgend, Verschärfungen der Kerkersti-afe und der Arrest-
strafe auf, jedoch sind diese Verschärfungen nur bei der zeitlichen, nicht aber
bei der lebenslänglichen Kerkerstrafe, ebensowenig wie bei der Todesstrafe,
zulässig (§ 50). Die einzelnen Verschärfungen sind: Fasten, Anweisung eines
harten Lagers, Anhaltung in Einzelhaft, einsame Absperrung in dunkler Zelle,
ferner noch bei Kerkerstrafen speziell Landesverweisung, bei Arreststrafen
Auferlegung schwererer Arbeit. Die im Gesetzbuche gleichfalls als Ver-
schärfung der Kerkerstrafe bezw. als Haupt- oder Stellvertretungsstrafe der
Arreststrafe angeführte körperliche Züchtigung wurde durch das Gesetz vom
15. November 1867 (§ 1 und 2) unbedingt und ausnahmslos abgeschafft und
damit die bezüglichen Bestimmungen des Gesetzbuches von 1852 aufgehoben.
Zugleich ist die körperliche Züchtigung hieraiit auch als Diszipllnai^strafe in
den Strafanstalten aufgehoben. Der Regel nach ist die Verschärfung der
Freiheitsstrafe dem richterlichen »Ermessen überlassen. Nur in einigen Fällen
ist dieselbe ausdrücklich durch das Gesetz vorgeschrieben (so §§ 146, 155, 194).
Unter allen Umständen muss — wie bereits oben bemerkt wurde — bei
Verurteilung zu schwerem Kerker als Ersatz für die weggefallene Kettenstrafe
auf Beifügung einer oder mehrerer der gesetzlich zulässigen Verechärfungs-
arten der Kerkerstrafe erkannt werden (§ 3 des citierten G.).
Was den Vollzug der Freiheitsstrafe anlangt, so ist derselbe teils gesetz-
lich, teils im Verordnungswege geregelt. Neben dem System der Gemein-
schaftshaft besteht auch auf Grund des Gesetzes vom 1. April 1872 Einzelhaft.
Doch überwiegt noch das erstere, da, trotzdem seit den letzten Jahrzehnten
Zellenbauten errichtet wurden, die vorhandenen Räumlichkeiten zur voll-
ständigen Durchführung der Einzelhaft im Sinne des citierten Gesetzes noch
nicht ausreichen. Auf Grund dieses Gesetzes sollen zeitliche Kerkerstrafen
und Arreststrafen unter Umständen ganz, ausserdem teilweise und zwar wäh-
rend des ersten Teiles in Einzelhaft, d. h. in unausgesetzter Absonderung von
anderen Gefangenen, vollzogen werden, wobei die Einzelhaft mindestens durch
8 Monate und nicht über 3 Jahre dauern soll; sie hat zu entfallen, wenn be-
sondere Rücksichten auf den leiblichen und geistigen Zustand des Gefangenen
entgegenstehen. Bei Berechnung der Dauer der Strafzeit gelten, nachdem der
Sträfling mindestens 3 Monate in Einzelhaft zugebracht hat, je 2 vollständig
in Einzelhaft zugebrachte Tage als 3 Tage. Das System der Gemeinschaft
wird mit Anhaltung der Sträflinge in Gruppen von 6 — 30 zu gemeinsamer
Arbeit, wobei auch dem Klassifikationssystem (drei, bezw. zwei Disziplinar-
klassen) Rechnung getragen ist, und dieselben die übrige Zeit des Tages
und der Nacht gemeinsam gehalten werden, durchgeführt. Ausser den täg-
lichen Verrichtungen werden die Sträflinge teils zu Handlanger-, teils zu
Gewerbearbeilen, nach bestimmter Vorschrift auch ausser dem Hause ver-
wendet. Bei der Verteilung dieser Arbeiten soll auf den Grad der Kerker-
strafe, die bisherige Beschäftigung und die Bildungsstufe der Sträflinge thun-
lichst Rücksicht genommen werden. Freiheitsstrafen bis zu einem Jahre
werden in den Gerichtsgefängnissen verbüsst, Freiheitsstrafen über 1 Jahr in
den 22 Strafanstalten, von welchen 16 für männliche und 6 für weibliche
Gefangene bestimmt sind. Strafanstalten, welche ausschliesslich der Voll-
ziehung der Einzelhaft dienen, giebt es in Österreich nicht, es haben viel-
mehr die im übrigen nach dem System der Gemeinschaftshaft eingerichteten
Anstalten zu Stein, Karthaus, Karlau, Pilsen, Prag und Marburg besondere
Flügelbauten, welche für den Vollzug der Einzelhaft eingerichtet sind. Zum
Vollzuge der als Verschärfung der Kerker und Arreststrafe dienenden Einzel-
haft bestehen jedoch in den zum Vollzuge der Gemeinschaft bestimmten An-
stalten besonders eingerichtete Zellen.
■ •
140 Österreich. — Die g-esetzlichen Grundlagen des geltenden Rechts.
Unter den Vermögensstrafen des österreichischen Gesetzbuches tritt vor
allem die Geldstrafe als Hauptstrafe hervor, daneben auch der Verlust von
Rechten und Befugnissen und zwar regelmässig mit dem Charakter der Ver-
mögensstrafe (Ausnahme § 415: Aberkennung der elterlichen Gewalt). Die
Einziehung einzelner Vermögensgegenstände kommt nur als Nebenstrafe vor.
Die Geldstrafe als Hauptstrafe bei Vergehen und Übertretungen ist, was ihre
Höhe betrifft, zwar nicht in maximo und minimo im allgemeinen bestimmt,
doch kommt sie regelmässig nur in einer Höhe von 5 — 500 Gulden vor. Aus-
nahmsweise kann sie auch niedriger und höher bemessen werden. Die Geld-
sti'al'e verfällt dem Armenfond des Ortes, wo die strafbare Handlung begangen
worden ist (§ 241), und geht nach der Bestimmung der Justizministerial -Ver-
ordnung vom 9. April 1859 auch auf die Erben des Verurteilten über, wenn
er nach eingetretener Rechtskraft des Urteiles gestorben ist.
Das österreichische Gesetzbuch kennt auch noch die Strafe des Verweises,
wenn derselbe auch in den allgemeinen Bestimmungen über die Strafen der
Vergehen und Übertretungen nicht genannt ist. Zulässig ist derselbe in drei
Fällen (§ 414 Misshandlung der Kinder durch ihre Eltern, § 417 Misshandlung
der Mündel von selten der Vormünder, § 419 Misshandlung unter Ehegatten).
Die Nebenstrafen des Gesetzbuches von 1852 zerfallen in Nebenstrafen
an der Ehre, der Freiheit und dem Vermögen.
Was zunächst die Ehrenstrafen betriift, so verbindet das Gesetzbuch teils
mit der Verurteilung wegen Verbrechen bestimmte Ehrenfolgen (§ 26 und 27),
teils verweist es bezüglich der mit der Verurteilung wegen Verbrechen, Ver-
gehen und Übertretungen verbundenen Folgen auf die bestehenden civilrecht-
liehen, politischen und kirchlichen Vorschriften (§26 und 268 des StGB.). Durch
das Gesetz vom 15. November 1867 haben jedoch die auf die Ehrenstrafe be-
züglichen Bestimmungen des Strafgesetzes von 1852 tiefgreifende Änderungen
erfahren. So wurde vor allem durch § 5 dieses Gesetzes jede bis dahin als
Folge strafgerichtlicher Verurteilung eintretende Beschränkung der bürger-
lichen Handlungsfähigkeit des Venirteilten beseitigt und demzufolge die im
S 27, lit. b des Gesetzbuches von 1852 enthaltene Anordnung sowie die hier-
auf bezüglichen Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches
(§§ 61, 574 und 868) ausser Kraft gesetzt, bezw. abgeändert (so die §§ 191, 254
und 281 des allgemeinen bürgerlichen GB.). Ferner soll nach der Bestimmung
des 8 6 des citierten Gesetzes der nach dem Strafgesetze von 1852 oder anderen
gesetzlichen Vorschriften mit einer Verurteilung zu einer Strafe verbundene
Verlust des Adels, der Orden und Ehrenzeichen, der öffentlichen Titel, akademi-
schen (irade und Würden, der Staats- oder anderen öflTentlichen Landes- oder
Gemeindeämter und Dienste, der Advokatur, des Notariats, der öffentlichen
Agentie oder der Part ei Vertretung vor öffentlichen Behörden, der Mitglied-
schaft bei Gemeindevertretungen oder anderer zur Besorgung öffentlicher An-
gelegenheiten berufenen Vertretungen und der Pensionen, Provisionen, Er-
ziehungsbeiträge oder sonstigen Bezüge nur mehr bei Verurteilung zur Strafe
wegen eines Verbrechens oder wegen der Übertretungen des Diebstahles, der
Veruntreuung, der Teilnehmung an denselben und des Betruges (StG. §§ 460,
461, 463 und 464) eintreten und die Unfähigkeit zur Erlangung der vor-
erwähnten Vorzüge und Berechtigungen bei Verurteilung zur Strafe wegen
eines der in Abs. 2 dieses Paragraphen bestimmten Verbrechen für die Zu-
kunft mit dem Ende der Strafe aufhören (es sind dies vorwiegend politische
und aus politischen Motiven begangene Delikte, femer die Verbrechen nach
§143 Satz 2, § 157 Satz 2, Zweikampf, das Verbrechen der Vorschubleistung
mit Bezug auf diese Delikte und das Verbrechen nach § 220). Dagegen haben
die übrigen nachteiligen Folgen, welche noch ausser den Haupt- und den
§ 6. Das Strafgesetz von 1852 in seinen Grundzügen. 141
Nebenstrafen und ausser dem durch das Pressgesetz vom 17. Dezember 18f>2
festgesetzten Kautionsverfall mit strafrechtlichen Erkenntnissen schon aus dem
Strafgesetze oder kraft anderer gesetzlichen Vorschriften verbunden sind, in-
sofern dieselben daher nicht insbesondere vom Richter zu verhängen sind, für
die Zukunft bei den eben aufgezählten Verbrechen, sowie bei Vergehen und
Übertretungen ausser den genannten (§ 460 ff.) gar nicht mehr einzutreten.
Bei Verurteilung zur Strafe wegen anderer als der in dem zweiten Absätze
dieses Paragraphen bezeichneten Verbrechen hören die Unfähigkeit zur Er-
langung der im ersten Absätze dieses Paragraphen erwähnten Vorzüge und
Berechtigungen, sowie die übrigen im zweiten Absätze dieses Paragraphen ge-
dachten nachteiligen Folgen mit dem Ablauf von zehn Jahren, wenn der
Schuldige zu einer wenigstens fünfjährigen Kerkerstrafe verurteilt wurde und
ausserdem mit dem Ablaufe von fünf Jahren; bei Verurteilung wegen der
oben angeführten Übertretungen (§460 ff.) jedoch mit dem Ablaufe von drei
Jahren nach dem Ende der Strafe auf (§ 6, Abs. 3 und 4 des citierten G.).
Zu den Nebenstrafen an der Freiheit gehört die bereits oben erörterte
Ausweisung (Abschaffung), femer die Zulässigkeit der Stellung des Verurteilten
unter Polizeiaufsicht (StG. § 22, Abs. 2 und G. vom 10. Mai 1873, §§ 4 und 11),
endlich die Zulässigkeit der Anhaltung in einer Zwangsarbeitsanstalt nach dem
Gesetze vom 24. Mai 1885.
Unter die Nebenstrafen am Vermögen fällt vor allem die Einziehung'
spezieller Vermögensgegenstände nach § 240 lit. b und § 241 des Strafgesetzes.
Hierher gehört auch der nach §§ 104 und 105 des Strafgesetzes (passive und
aktive Bestechung) eintretende Verfall des erhaltenen, angetragenen oder
wirklich gegebenen Geschenktes oder dessen Wertes. Ebenso kann auch der
Verlust von Rechten und B(?fugnis8en nach § 240 lit. c und § 242 gegen graduierte
oder andere ein Amt oder eine Beschäftigung unter öffentlicher Beglaubigung
ausübende Personen, gegen solche, die ein Handwerk oder Gewerbe als
Bürger oder unter erhaltener obrigkeitlicher Bewilligung betreiben, und zwar
auf bestimmte Zeit oder beständig als Nebenstrafe verhängt werden. (StG. §§30
und 268, Pressgesetz von 1862, § 3 Abs. 6 a — b.) Diese Entziehung ist in allen
Fällen, wo das Gesetz nicht eine besondere Bestimmung oder Beschränkung
beifügt, als beständig zu verstehen. (Ministerial-Verordnung vom 29. Mai 1854.)
Endlich erschehien auch Geldstrafen als Nebenstrafen, wenn sie nicht selbst-
ständig, sondern in Verbindung mit einer anderen Strafe kumulativ verhängt
werden. Hierher zählt namentlich der im § 221 normierte Fall der Bestrafung
des Verbrechens der Verhehlung oder sonstigen Begünstigung eines Deserteurs,
wo neben Kerkerstrafe noch die Zahlung von 100 fl. an die Kriegskasse an-
geordnet ist. (Ob diese Leistung übrigens den Charakter einer wirklichen
Geldstrafe hat, ist bestritten.)
Zu den Nebenstrafen am Vermögen gehört auch der im § 35 des Press-
gesetzes angeordnete Verfall der Kaution bei Verurteilung wegen eines durch den
Inhalt einer Druckschrift begangenen Verbrechens oder Vergehens, desgleichen
das Verbot der Weiterverbreitung der Druckschrift und das damit fakultativ
zu verbindende Erkenntnis auf Vernichtung der für strafbar erklärten Druck-
schrift und auf Zerstörung des Satzes, der Platten usw. (§§ 36 und 37). — Im
übrigen verweist § 268 des Strafgesetzes bezüglich der weiteren Folgen der
Verurteilung wegen eines Vergehens oder einer Übertretung auf die beson-
deren Gesetze, politischen und kirchlichen Vorschriften.
Die Strafausmessung wird in den Hauptstücken III — V normiert. Unter
der Bezeichnung: „Erschwerungs- und Milderungsumstände" werden die Straf-
erhöhungs- und Minderungsgründe, also die eigentlichen Strafzumessungsgründe
^usammengefasst , denn ihre Wirkung erstreckt sich nicht über den Straf-
142 Österreich. — Die gesetzlichen Grundlagen des geltenden Hechts.
rahmen hinaus, sodass wegen Vorhandenseins derselben weder die Quantität
noch die Qualität der gesetzlichen Strafdrohung verändert werden kann
(§§ 48 — 53, 265). Dagegen sind bei den einzelnen Delikten häufig Er-
schwerungs- resp. Milderungsgründe angeführt, deren Vorhandensein den Straf-
satz verändert. Diese werden von der Doktrin als „besondere" im Gegensatz
zu den ersteren als „allgemeinen" Erschwerungs- bezw. Milderungsgründe be-
zeichnet. Das Gesetzbuch zählt die Erschwerungs- und Milderungsumstände
in den §§ 43—47 für die Verbrechen, §§ 263—264 für die Vergehen und Über-
tretungen auf; jedoch ist diese Aufzählung nur eine exemplifikative. (Der in
§45 hervorgehobene Umstand: Hintergehung des Richters während der Unter-
suchung durch Erdichtung falscher Umstände — ist mit der Stellung des An-
geklagten im heutigen Strafprozesse, insbesondere nach der österreichischen
StPO. von 1873, unvereinbar.) Die Milderungsgründe werden bei Verbrechen
eingeteilt in solche, die aus der Beschaffenheit des Thäters, und solche, die
aus der Beschaffenheit der That hervorgehen (§§ 46 und 47). Unter jene ist,
eigentümlich genug, auch die unverschuldet erlittene Untersuchungshaft ge-
stellt. Von besonderem Interesse ist das im §54 ^desgleichen § 266 für Ver-
gehen und Übertretungen) normierte ausserordentliche Milderungsrecht, wonach
bei Verbrechen, bei welchen die Strafzeit nicht über 5 Jahre bestimmt ist,
sowohl der Kerker in einen geringeren Grad verändert, als auch die gesetz-
liche Dauer selbst unter 6 Monate verkürzt werden kann, falls mehrere und
zwar solche Milderungsgründe zusammentreffen, welche mit Grund die Besse-
rung des Verbrechers erwarten lassen. Unter der gleichen Voraussetzung ist
im § 55 eine Veränderung der Strafe zulässig, „mit Rücksicht auf die schuld-
lose Familie des Verbrechers", und kann die Straf dauer auch in diesem Falle
unter 6 Monate verkürzt werden, jedoch nur in der Weise, dass die längere
Dauer der Kerkerstrafe durch eine oder mehrere der im § 19 aufgezählten
Verschärfungen ersetzt werde. Diese Bestimmungen werden noch ergänzt
durch das in der Strafprozessordnung von 1873, §§ 338 und 410 den Gerichts-
höfen eingeräumte weitgehende Milderungsrecht. Auch bei Vergehen und
Übertretungen sind von der im übrigen als Regel aufgestellten Unzulässigkeit
der Strafverwandlung gleichwohl bei Geldstrafe und Arrest Ausnahmen gemacht
mit Rücksicht auf das Vermögen und den Nahrungsbetrieb des Sträflings und
seiner Familie (§§ 260 imd 261).
In der Behandlung der Konkurrenz der Delikte tritt wie bei den übrigen
allgemeinen Bestimmungen der Zusammenhang mit der älteren österreichischen
Gesetzgebung, speziell mit dem Josephinischen Gesetzbuche und der Theresiana
deutlich hervor. Auch das Strafgesetz von 1803 hatte sich nicht nur dem
Strafprinzip, welches die ältere Gesetzgebung für die Konkurrenz anerkannt
hatte, angeschlossen, sondern auch in anerkennenswerter Weise die gerade
damals neu auftauchenden und von da ab bis in die neuere Zeit viel
umstrittenen „Arten" und „Einteilungen" der Konkurrenz in ein- und mehr-
thätige, gleichartige und ungleichartige usw. beiseite gelassen, und dem Straf-
gesetze von 1803 folgte hierin mit Recht das Strafgesetz von 1852, welches
nur unter den Erschwerungsumständen der §§ 44 und 263 die letztere Kategorie
— gleich- und ungleichartige — (übrigens in § 263 lit. a auch die „Fortsetzung
der strafbaren Handlung durch längere Zeit", aber eigentümlicher Weise nur
bei Vergehen und (Übertretungen , nicht auch in § 44 bei Verbrechen) er-
wähnt. Auch der neueste Strafgesetzentwurf von 1891 kennt, nebenbei be-
merkt, im Anschluss an das bisher geltende Recht und gegen die früheren Ent-
würfe, keine Arten der Konkurrenz mehr und statuiert für die Bestrafung
derselben als Regel die Absorption. Dieses Prinzip soll nach §§ 34, 35 und
267 des Gesetzbuches von 1852 im Falle der Konkurrenz mehrerer Verbrechen
§ 6. Das Strafgesetz von 1852 in seinen Grundzügeu. 143
bezw. mehrerer Verbrechen mit Vergehen oder Übertretungen oder mehrerer
Vergehen und Übertretungen untereinander gelten, indem die Bestrafung
nach jenem Delikte, auf welches die schärfere Strafe gesetzt ist, jedoch mit
Bedacht auf die übrigen Delikte einzutreten hat. Es ist also der Strafsatz
für das schwerste der konkurrierenden Delikte zu Grunde zu legen, innerhalb
desselben aber mit Rücksicht auf die übrigen die Strafe strenger zu bemessen.
Hierin ist jedoch nicht, wie vielfach hervorgehoben wird, die Verwirklichung
des sogenannten vermittelnden oder Strafversch&rfungsprinzipes, welches die
Möglichkeit eines Hinausgehens über das Maximum der schwersten Strafe ver-
langt, zu finden, sondern lediglich eine Sanktion des Absorptionsprinzipes, da
ja auch bei diesem, soweit es der relative Strafsatz zulässt, ein höheres Straf-
mass, eventuell bis zum Maximum zulässig ist, welches allerdings durch den
Beisatz in den §§34 und 267: ,Jedoch mit Bedacht auf die übrigen (Delikte)"
hier dem Richter besonders nahe gelegt wird. Nicht eigens berücksichtigt ist
im Gesetzbuche der Fall, wenn Todesstrafe oder lebenslängliche Kerkerstrafe
mit anderen Strafen konkurrieren, wo naturgemäss Absorption eintreten muss,
während für den Fall des Zusammentreffens einer Geldstrafe (bezw. einer
anderen Vermögensstrafe nach § 240 lit. b. und c) mit anderweiten Strafen aus-
drücklich die Kumulation derselben angeordnet ist (§§ 35 und 267, Abs. 2).
Die Hauptstücke XXVII des ersten Teiles und XIV des zweiten Teiles
handeln von der Erlöschung der Verbrechen, bezw. der Vergehen und Über-
tretungen und ihrer Strafen. Als Gründe dieser Erlöschung sind der Tod des
Schuldigen, die Vollstreckung der Strafe, die Nachsicht derselben (Begnadigung)
und die Verjährung aufgezählt. Das österreichische Strafgesetzbuch kennt
indessen nur eine Verjährung der Strafverfolgung, nicht aber eine Verjährung
der Strafvollstreckung. Die die Verjährung betreffenden Bestimmungen des
Strafgesetzbuches von 1803 sind im ganzen unverändert in das Gesetzbuch
von 1852 übergegangen, demzufolge auch sowohl die eigentümlichen Bedin-
gungen, an welche die Verjährung geknüpft ist (dass der Verbrecher keinen
Nutzen mehr von dem Verbrechen in den Händen haben darf; nach seinen
Kräften Wiedererstattung geleistet hat, soweit es die Natur des Verbrechens
zugiebt; sich nicht geflüchtet und während der Verjährungsfrist kein weiteres
Verbrechen begangen hat), sich in dem Gesetzbuche von 1852 wiederfinden,
als auch die Unverjährbarkeit der mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen aus-
gesprochen ist, welche Bestimmung jedoch dadurch modifiziert ist, dass nach
Ablauf eines Zeitraumes von 20 Jahren nur auf schweren Kerker zwischen
10 und 20 Jahren erkannt werden kann.
Die Antragsdelikte, im Strafgesetze von 1852 der älteren legislativen
Auffassung gemäss noch auf zehn Fälle beschränkt, werden in § 530 behandelt,
dessen ganze Fassung und Ausdrucksweise nicht gerade als Muster gesetz-
geberischer Klarheit und Übersichtlichkeit in einer so wichtigen Materie gelten
kann. Die Frist zur Antragstellung ist sechs Wochen von der Zeit an, wo
dem Verletzten die strafbare Handlung bekannt wurde, falls inzwischen die-
selbe nicht durch Verjährung erloschen ist. Der Widerruf ist zulässig bis
zur Kundmachung des Urteiles; die Verfolgung der Antragsdelikte findet
(nach der österreichischen StPO. von 1873, § 46) lediglich im Wege der Privat-
anklage statt — daher „Privatdelikte" genannt, während die Bezeichnung
„Antragsdelikte" offiziell nicht vorkommt. Durch die prozessualen Bestim-
mungen erhalten übrigens die unzureichenden Details des § 530 des Strafgesetzes
erst ihre notwendige Ergänzung.
144 Osterreich. — Die gesetzlichen Grundlagen des geltenden Rechts.
§ 7. Die einzelnen Verbrechen, Vergehen und Übertretungen.
Das VI. Hauptstück des ersten Teiles enthält eine Übersicht der nun im
Gesetzbuch folgenden einzelnen Verbrechen; ebenso wie das vierte Hauptstück
des zweiten Teiles eine Übersicht über die verschiedenen Gattungen der Ver-
gehen und Übertretungen aufstellt. Die im § 56 aus dem Strafgesetz von 1803
entnommene Einteilung der Verbrechen stützt sich im wesentlichen auf die
alte (übrigens längst als nicht erschöpfend erkannte) Einteilung von öffentlichen
und Privatverbrechen. „Die Verbrechen greifen entweder die gemeinschaftliche
Sicherheit unmittelbar in dem Bande des Staates, in den öffentlichen Vor-
kehrungen, oder dem öffentlichen Zutrauen an, oder sie verletzen die Sicher-
heit einzelner Menschen an der Person, dem Vermögen, der Freiheit oder
anderen Rechten."
Die Vergehen und Übertretungen werden unterschieden in strafbare
Handlungen gegen die öffentliche Sicherheit, gegen die Sicherheit einzelner
Menschen und gegen die öffentliche Sittlichkeit (§§ 275 — 277). Die einzelnen
Verbrechen, überdies noch im § 57 des Strafgesetzes aufgezählt, werden im
VII. — XXVI. Hauptstück des ersten Teiles, die einzelnen Vergehen und Über-
tretungen im V. — XIII. Hauptstück des zweiten Teiles behandelt.
An der Spitze der Verbrechen steht der Hochverrat, welcher auch den
Begriff des Landesverrates mitumfasst und in Handlungen besteht, welche
auf die Verletzung der Integrität des Kaisers, auf die gewaltsame Veränderung
der Regierungsform, auf die Losreissung eines Teiles von dem einheitlichen
Staatsverbande, auf die Herbeiführung oder Vergrösserung einer Gefahr des
Staates von aussen oder einer Empörung oder eines Bürgerkrieges im Innern
abzielen. Nach der Fassung der gesetzlichen Bestimmungen sind nicht nur jede
Versuchshandlung, sondern auch alle bezüglichen Vorbereitungshandlungen als
das vollendete Verbrechen erklärt. Durch die vorsätzliche Unterlassung der Ver-
hinderung und vorsätzliche Unterlassung der Anzeige wird Mitschuld am Hoch-
verrat begründet, wogegen thätige Reue durch rechtzeitige Anzeige Straflosig-
keit bewirkt. Das Verbrechen der Majestätsbeleidigung besteht in der Ver-
letzung der Ehrfurcht gegen den Kaiser, (weiterer Begriff als die Beleidigung
an sich), gleichviel ob sie durch die im Gesetze beispielsweise namhaft gemachten
oder durch andere Äusserungen begangen wird, (Thätlichkeiten fallen unter
den Begriff des Hochverrats); derselben ist die Beleidigung der Mitglieder des
kaiserlichen Hauses gleichgestellt, jedoch nur mit einfacher Kerkerstrafe, die
Majestätsbeleidigung mit schwerem Kerker bedroht. Gewissermassen einen
Ergänzungsthatbestand zum Begriffe des Hochverrates und der Majestätsbelei-
digung bildet das dem österreichischen Rechte in dieser Gestaltung eigene
Verbrechen der Störung der öffentlichen Ruhe f§ 65), dessen sich schuldig
macht: wer öffentlich oder vor mehreren Leuten oder in Druckwerken, ver-
breiteten Schriften oder bildlichen Darstellungen
a) zur Verachtung oder zum Hasse wider die Person des Kaisers, wider
den einheitlichen Staatsverband des Kaisertums, wider die Regierungsform
oder Staatsverwaltung (desgleichen auch nach Art. II des Gesetzes vom 17. De-
zember 1862 wider die Verfassung des Reiches) aufzureizen sucht, oder
b) zum Ungehoi-sam, zur Auf lehnung oder zum Widerstände gegen Gesetze,
Verordnungen, Erkenntnisse oder Verfügungen der Gerichte oder anderer
öffentlicher Behörden, oder zur Verweigenmg von Steuern oder für öffentliche
Zwecke angeordneten Abgaben auffordert oder zu verleiten sucht;
c) wer Verbindungen zu stiften oder andere zur Teilnahme an solchen zu ver-
leiten sucht, oder selbst in was immer für einer Weise daran teilnimmt, die sich
einen der unter lit. a und b bezeichneten straf baren Zwecke zur Aufgabe setzen.
• «
§ 7. Die einzelnen Verbreclien, Vergehen und Tbertretungen. 145
Nach § 66 Abs. 2 maciit sich desselben Verbrechens schuldig, wer eine
dieser Handlungen gegen einen anderen fremden Staat oder gegen dessen
Oberhaupt unternimmt, insofern von dessen Gesetzen oder durch besondere
Verträge die Gegenseitigkeit verbürgt und im Kaisertum Österreich gesetzlich
kundgemacht ist.
Begrifflich verwandt mit dem Verbrechen des § 65 sind die Vergehen
der Aufwiegelung und der Gutheissung von ungesetzlichen Handlungen usw.
nach §§ 303 und 305 ; ferner sind als strafbare Friedens Verletzungen hierher
zu zählen die Vergehen nach Art. VI, VII und VIII des Gesetzes vom 17. De-
zember 1862, ferner die Vergehen bezw. Übertretungen nach §§285 — 299,
301, 302, 308, 309, 310, 315 und 316. (Da die im zweiten Teile des Gesetz-
buches normierten Vergehen und Übertretungen teils nur als niedere Grade
von bei höherer Qualifikation als Verbrechen erscheinenden Handlungen —
Verletzungs- und Gefährdungsdelikte — , teils lediglich als reine Ungehorsams-
oder Polizeidelikte sich darstellen, werden nur erstere bei den ihnen verwandten
Verbrechen gleich mit angeführt).
Im § 67 ist als Verbrechen gegen die Kriegsmacht des Staates Aus-
spähung (Spionerie) oder anderes Einverständnis mit dem Feinde normiert.
Andere Verbrechen gegen die Kriegsmacht des Staates, wie die unbefugte
Werbung § 92 und Verhehlung oder sonstige Begünstigung eines Deserteurs,
sowie Verleitung eines Soldaten zur Verletzung der Dienstpflicht und Hülfe-
leistung zu militärischen Verbrechen (§§ 220 und 222) werden, erstere als
Fall der öffentlichen Gewaltthätigkeit, letztere als Fall der Vorschubleistung
behandelt.
Zu den Delikten gegen die Kriegsmacht des Staates gehören femer: das
Vergehen nach Art. IX des Gesetzes vom 17. Dezember 1862, Mitteilung über
militärische Operationen usw. und die Selbstverstümmelung, um sich dem
Militärstande zu entziehen, nach dem Strafgesetzbuch §§ 409 und 410, bezw.
nach dem an deren Stelle getretenen, noch weitere hierher gehörige Delikte
betreffenden §§ 41 ff. des Wehrgesetzes vom 11. April 1889.
Im VIII. Hauptstück folgen die Verbrechen des Aufstandes (Zusammen-
rottung zum gewaltsamen Widerstände gegen die Obrigkeit) und des Aufruhrs
(Zusammenrottung, bei welcher es trotz obrigkeitlicher Abmahnung durch die
Vereinigung gewaltsamer Mittel soweit kommt, dass zur Wiederherstellung
von Ruhe und Ordnung ausserordentliche Gewalt angewendet werden muss):
hierzu das Vergehen des Auflaufes nach §§ 279 ff.
Im IX. Hauptstück werden unter der Kollektivbezeichnung „öffentliche
Gewaltthätigkeit'' dreizehn Verbrechen zusammengefasst, ohne dass es möglich
wäre, ein Merkmal anzugeben, welches allen diesen Verbrechen untereinander
derart gemeinsam wäre, dass dadurch ein wesentlicher Unterschied der unter
dieser Rubrik zusammengefassten Verbrechen gegenüber anderen begründet
werden könnte. Denn gerade das einzige gemeinsame Merkmal, das der eigen-
mächtigen Gewalt, gewährt ein solches Kriterium nicht, weil es sich auch bei
vielen anderen Verbrechen findet. Die Erklärung dieser Zusammenfassung des
österreichischen Strafgesetzes, welches an Stelle eines gemeinsamen Begriffes
nur eine Rubrik setzt, ist deshalb nur aus der geschichtlichen Entwickelung
möglich. So wird schon von der Theresiana im Art. 73 ein sehr weiter Begriff
der „öffentlichen Gewalt'' im Anschlüsse an die gemeinrechtliche Auffassung
des crimen vis aufgestellt und sind hier nur „jene Gewaltthätigkeiten" normiert,
„wovon anderwärts in dieser Ordnung nichts vorkommt und wo wieder alle-
mal die peinliche Verfahrung anzustrengen ist." Im § 2 — 11 dieses Artikels
werden alsdann zehn Fälle der öffentlichen Gewalt angeführt. Dagegen kennt
das Josephinische Strafgesetz nur zwei Fälle der öffentlichen Gewalt, nämlich
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I. 10
146 Österreich. — Die gesetzlichen Grundlagen des geltenden Rechts.
in § 54 gewaltsamen Einfall in fremdes Gebiet, Haus und Wohnung und Wider-
setzung gegen obrigkeitliche Personen in Amtssachen (§ 56). Andere in der
späteren Gesetzgebung unter jene Kollektiv- Rubrik gestellte Straffälle, nämlicli
Menschenraub, Entführung und unbefugte Gefangenhaltung sind ganz korrekt
unter die Verbrechen gegen die Freiheit gestellt, wogegen im Strafgesetz von
1803 die beiden Fälle der öffentlichen Gewalt des Joscphinischen Gesetzbuches
mit den letzteren drei Fällen und „anderen boshaften Beschädigungen fremden
Eigentums" unter der gemeinsamen Rubrik der öffentlichen Gewaltthätigkeit
zusammengestellt und ausserdem noch einige durch Nachtragsgesetze als Ver-
brechen erklärte Handlungen diesem Hauptstücke eingereiht sind, welche dann
im Strafgesetz von 1852 gleichfalls in demselben beibehalten und noch durch
zwei weitere Fälle (den ersten und zweiten) vermehrt sind. Diese sämtlich
sind folgende:
a) öffentliche Gewaltthätigkeit durch gewaltsames Handeln gegen eine
von der Regierung zur Verhandlung öffentlicher Angelegenheiten berufene Ver-
sammlung, ein Gericht oder eine andere öffentliche Behörde (§§ 76 und 77);
b) durch gewaltsames Handeln gegen gesetzlich anerkannte Körperschaften
oder gegen Versammlungen, die unter Mitwirkung oder Aufsicht einer öffent-
lichen Behörde gehalten werden (§§ 78 — 80):
c) durch gewaltsame Handanlegung oder gefährliche Drohung gegen
obrigkeitliche Personen in Amtssachen (Widersetzung) §§ 81 — 82 und die Über-
tretung nach §§312 und 314;
d) durch gewaltsamen Einfall in fremdes unbewegliches Gut (§§83 — 84);
ej durch boshafte Beschädigung fremden Eigentums (§§ 85 — 86 , hierzu
die Übertretung nach § 468j ;
f) durch boshafte Beschädigungen oder Unterlassungen unter besonders
gefährlichen Verhältnissen (insbesondere beim Eisenbahnbetrieb §§ 87 und 88,
hierzu die Übertretungen nach den §§317 — 319);
g) durch boshafte Beschädigungen oder Störungen am Staatstelegra-
phen (§ 89);
h) durch Menschenraub (§§90 — 91; §92 behandelt den Fall der unbe-
fugten Werbung, s. o.);
i) durch unbefugte Einschränkung der pei'sönlichen Freiheit eines Men-
schen (§§93—94);
k) durch Behandlung eines Menschen als Sklaven (§95);
1) durch Entführung (§§96—97);
ra) durch Erpressung (§§ 98);
n) durch gefährliche Drohung (§§ 99 und 100).
Das X. Hauptstück handelt vom Missbrauch der Amtsgewalt in §§ 101
bis 103 und von der aktiven und passiven Bestechung. („Geschenkannahme
in Amtssachen" und „Verleitung zum Missbrauch der Amtsgewalt", hierzu die
Übertretungen nach §§ 331—333.)
Im XI. und XII. Hauptstücke ist die Verfälschung öffentlicher Kredit-
papiere und die Münzverfälschung normiert, mit besonders detaillierten Be-
stimmungen, was die Mitschuld und Teilnahme, sowie den Versuch dieser Ver-
brechen betrifft (§§ 106—121).
Im XIII. Hauptstück werden unter der Rubrik „Religionsstörung":
Gotteslästerung, Störung der Religionsübung, entehrende Misshandlung an
den zum Gottesdienste gewidmeten Gerätschaften usw. als Verbrechen erklärt
{§§ 122—124).
Durch Art. 7 des Gesetzes vom 25. Mai 1868 sind die Bestimmungen des
§122 1it. c und d (Vedeitung eines Christen zum Abfalle vom Christentum
und der Versuch der Verbreitung einer der christlichen Religion widerstreben-
§ 7. Die einzelnen Verbrechen, Vergehen und Übertretungen. 147
den Irrlehre) aufgehoben. Hierher gehören auch noch die Übertretungen nach
§§ 403 und 406.
Das XIV. Hauptstück handelt von der Notzucht, Schändung und anderen
schweren Unzuchtsfällen. Der mitOewalt, Drohung oder arglistiger Betäubung
der Sinne ausgeübten Notzucht (§§ 128 und 126) wird im § 127 der an einer
schon zuvor im Zustande der Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindlichen, oder
noch nicht 14 Jahre alten PYauensperson unternommene aussereheliche Bei-
schlaf gleichgestellt. Als Schändung sind im § 128 unzüchtige Handlungen
an einem Knaben oder Mädchen unter 14 Jahren oder an einer im Zustande
der Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindlichen Person zum Verbrechen erklärt.
Als Unzucht wider die Natur wird im § 129 die Unzucht mit Tieren oder mit
Personen desselben Geschlechts — also auch unter Frauenspersonen — be-
zeichnet. Als Verbrechen der Blutschande wird im § 131 der Beischlaf zwischen
Aszendenten und Deszendenten erklärt, während Unzucht zwischen anderen
Verwandten und Verschwägerten nach § 501 nur als Übertretung bezeichnet
wird. § 132 bestraft die Verführung, wodurch jemand eine seiner Aufsicht
oder Erziehung oder seinem Unterrichte anvertraute Person zur Begehung
oder Duldung einer unzüchtigen Handlung verleitet (hierzu die Übertretungen
nach §§ 504 — 506) und erklärt die Kuppelei, wofern dadurch eine unschuldige
Person verführt wurde oder wenn sich Eltern, Vormünder, Lehrer derselben
gegen ihre Kinder, Mündel oder die ihnen zur Erziehung oder zum Unterrichte
anvertrauten Personen schuldig machen als Verbrechen, während sie im übrigen
in verschiedenen Abstufungen nach § 511 — 515 nur als Übertretung strafbar
ist. Desgleichen ist nur als Übertretung strafbar der Ehebruch nach SJJ 502
und 503; femer gehören hierher die Übertretungen nach §§509 — 510 und 516.
Im XV. — XIX. Hauptstück werden die Verbrechen wider Leib und
Leben normiert und zwar Mord und Totschlag, Abtreibung der Leibesfrucht, Weg-
legung eines Kindes (Kindesaussetzung), Verbrechen der schweren körperlichen
Beschädigung (Körperverletzung) und Zweikampf. Die Begriffe von Mord
und Totschlag, wie sie das österreichische Gesetzbuch aufstellt, weisen eine
tiefgehende Verschiedenheit von den bezüglichen Bestimmungen des gemeinen
Rechts und der neueren Gesetzgebung auf, indem nicht die Unterscheidung
zwischen überlegter und vorbedachter Tötung einerseits und Tötung ohne
Überlegung, bezw. im Affekt andererseits zu Grunde gelegt ist, sondern als
Mord (§ 134) jede mit der Absicht zu töten (einerlei ob mit Vorbedacht oder
nur im Affekte) unternommene Handlung, aus welcher der Tod eines Menschen
erfolgte, erklärt ist, während als Totschlag die Handlung erscheint, wodurch
ein Mensch ums Leben kommt, welcher jedoch nicht die Absicht zu töten,
sondern eine „andere feindselige Absicht" zu Grunde liegt (§ 140). Auch hier
ist die Erklärung dieses dem österreichischen Rechte eigentümlichen Stand-
punktes nur der geschichtlichen Entwickelung zu entnehmen.
Die Theresiana nennt im Art. 83 § 3 die widerrechtliche Tötung über-
haupt Totschlag, wobei es nicht darauf ankommt, „dass der Fürsatz jemanden
umzubringen, einige Zeit vor dem Angriffe und vor der Thathandlung vor-
hergegangen sei oder dass der Totschläger den Tod des Entleibten vorbedächt-
lich und eigens gewollet habe. Denn wenn auch die Entleibung von ungefähr,
aus Zorn oder Gähheit entstände, so ist es schon genug an dem, dass der
Entleiber entweder mit tödlichen Waffen oder sonst was gegen seinen Gegner
boshaft und gefährlicher Weise unternommen habe, woraus gemeiniglich der
Tod erfolgt oder doch leicht erfolgen kann." „Diese boshaften Totschläge"
— heisst es nun weiter § 4 — „sind nicht einerlei, sondern selbe sind ent-
weder nur einfache und sogenannt gemeine Totschläge, wobei kein vorbedachter
Fürsatz und Vorentschluss unterwaltet, oder es sind wegen der dabei fürgehend
10*
148 Österreich. — Die gesetzlichen Grundlagen des geltenden Rechts.
allzugi'ossen Bosheit (Strassenraub , bestellter Mord, Verwandtenmord etc.) be-
sonders geartete und schwerere Ertötungsfälle, welcherwegen auch ein Unter-
schied in der geringeren oder schwereren Bestrafung nötig ist." Wenn auch
hier das Wort „Mord" nur zur Bezeichnung von objektiv qualifizierten ein-
zelnen Gattungen des Verbrechens gebraucht wird, so ist dennoch auch hier
die in der Carolina Art. 137 schon gemachte Hauptunterscheidung zwischen
„fürsetzlichen mutwilligen Mörder" und „Totschlag aus Gähheit und Zorn",
wenn auch nicht so bestimmt wie dort zu Grunde gelegt und das Schwert als
die ordentliche Strafe „des gemeinen Totschlages", welche Strafe aber nach
Umständen zu verschärfen oder zu vermindern sei, bezeichnet (§11). Im
§12 ist sodann unter den „erschwerenden Umständen", welche die Verschärfung
der Todesstrafe bedingen, aufgeführt: „erstlich durch den leichtfertig und bos-
haften, lang vorgefassten Fürsatz der Ermordung".
Im Josephinisclien Strafgesetz tritt hinsichtlich der Benennung insofern
ein Umschwung ein, als nunmehr jede verbrecherische Tötung als Mord be-
zeichnet wird, welchem jedoch genau derselbe BegriflFsumfang mit dem Tot-
schlage der Theresiana gegeben Avird. (Derselbe umfasst die vorsätzliche Tötung
mit direktem oder indirektem Vorsatz.) Ganz im Geiste der Theresiana, welche
für den gemeinen Totschlag f ohne Vorbedacht) die gelindere Strafe des Schwertes
androht, im Gegensatze zu den verschärften Todesstrafen bei Tötung mit Vor-
bedacht, ist auch im § 95 des Josephinischen Gesetzbuches ausdrücklich aus-
gesprochen, dass wegen „Zorn, Übereilung und Gähe" nach Umständen in
solchen Fällen die Strafe gemildert werden kann, wofür die in verschiedenen
Abstufungen angedrohten Freiheitsstrafen genug Spielraum geben. — Das
westgalizische Strafgesetz schliesst sich auch in diesem Punkte an die Grund-
lagen des Josephinischen Gesetzes an und giebt dem BegriflTe des Mordes den-
selben Umfang wie dort. Die Begriffsbestimmungen des § 110 („Wer in
der Absicht einen Menschen zu beschädigen, auf solche Art handelt, dass
daraus der Tod desselben erfolgt, der macht sich des Kriminalverbrechens
des Mordes schuldig") umfasst zwar, noch immer neben der vorsätzlichen
Tötung mit und ohne Vorbedacht auch den Totschlag des heutigen österreichi-
schen Rechts, doch macht sich in der Strafabstufung die Unterscheidung fühl-
bar, indem gegenüber allen übrigen Arten des Mordes (Meuchelmord, Bestellung
zum Morde, gemeiner, aber „mit dem Entschlüsse zu töten" verübter Mord usw.),
welche mit Todesstrafe, lebenslangem schwersten Kerker usw. bedroht sind,
harter Kerker von 5 — 10 Jahren angedroht ist, „wenn ohne die Absicht zu
töten, doch vorsätzlich eine Wunde zugefügt worden, die für sich tötlich ist
und den Tod verursacht hat". Dagegen geschieht von der Strafmilderung im
Falle der vorsätzlichen Tötung aus Zorn und Gähheit keine Erwähnung mehr.
Damit war der Übergang zum geltenden Rechte gemacht und zunächst auch
der Standpunkt des sich an das westgalizische Strafgesetzbuch anschliessenden
Strafgesetzes von 1803 vorgezeichnet, welches von dem Mord als der in der
Absicht zu töten unternommenen Handlung ohne weitere Rücksicht auf die
Art des dolus den Totschlag scheidet, als die nicht in der Absicht zu töten
aber mit einer „anderen feindseligen Absicht" unternommene Handlimg, aus
welcher der Tod erfolgte. Diese Bestimmungen sind ihrem wesentlichen In-
halte nach in das Strafgesetzbuch von 1852 übergegangen — doch wurde in
§ 134 (Mord) noch ein Zusatz aufgenommen, auf Grund dessen bei diesem
Verbrechen nicht nur der error in persona, sondern auch die aberratio ictus
als vollendetes Verbrechen des Mordes gestraft werden muss. («Wer gegen
einen Menschen in der Absicht, ihn zu töten, auf eine solche Art handelt, dass
daraus dessen oder eines anderen Menschen Tod erfolgt, macht sich des Ver-
brechens des Mordes schuldig.") Weiter werden im § 135 Arten des Mordes
w r ^r^«-- w--^
§ 7. Die einzelnen Verbrechen, Vergehen und Übertretungen. 149
unterschieden und zwar Meuchelmord, Raubmord, bestellter Mord und gemeiner
Mord, wozu noch in den von der Bestrafung der Mitschuldigen oder Teilnehmer
und des Versuches handelnden §§ 137 und 138 der Verwandtenmord kommt.
Die Strafe des Mordes ist der Tod für den Thäter, den Anstifter („Besteller")
und den unmittelbar Mitwirkenden, während für entferntere Mitschuldige oder
Teilnehmerin § 137 und § 138 für den Versuch Kerkerstrafe in verschiedenem
Ausmasse angedroht ist. Auch die Strafe des Totschlages und seiner qualifi-
zierten Unterarten (räuberischer Totschlag, Verwandtentotschlag) bildet Kerker
in verschiedenen Abstufungen. Die kulpose Tötung wird als „Vergehen gegen
die Sicherheit des Lebens" in § 335 normiert. § 139 behandelt den Kindes-
mord, dessen Subjekt sowohl die eheliche wie die uneheliche Mutter sein
kann (das Strafmass ist jedoch in beiden Fällen verschieden). Im § 143 wird
die Tötung bei einer Schlägerei oder bei einer gegen eine oder mehrere Per-
sonen unternommenen Misshandlung dem Totschlage bezw. der schweren kör-
perlichen Beschädigung gleichgestellt. (Die analoge Bestimmung bezüglich der
Körperverletzung s. § 157.)
Die §§ 152 — 157 (XVIIL Hauptstück) handeln von dem Verbrechen der
„schweren körperlichen Beschädigung". Während die meisten Straf-
gesetze, so das deutsche Reichsstrafgesetzbuch (ebenso wie die österreichischen
Strafgesetz-Entwürfe seit 1874) von der leichtesten Fonn der Körperverletzung
als begrifflicher Grundlage ausgehen und darauf die weiteren schweren Arten
bauen, nimmt das österreichische Gesetzbuch in § 152 eine mittelschwere Art
als Normalfall des Verbrechens an, welcher die qualifizierten Unterarten in den
§§ 155 und 156 aufsteigend folgen, während die zu diesem Deliktsbegriffe
gehörigen Ühertretimgen in §§335 — 337 (kulpose Körperbeschädigung), sowie in
§411 (vorsätzliche leichtere Körperbeschädigung usw.) und im §431 normiert
sind. Das Verbrechen des §152 bildet bezüglich des zu seinem Willensmomente
vorausgesetzten dolus indirectus gewissermassen das Supplement des Totschlags-
begriffs nach § 140, indem es alle mit animus nocendi („feindseliger Absieht'*)
ausgeführten Handlungen ohne tödlichen aber mit einem gewissen schädigen-
den Erfolg (Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit von mindestens 20tägiger
Dauer, Geisteszerrüttung oder sonstige schwere Verletzung) umfasst. Die vor-
sätzliche Körperbeschädigung des §153 gegen die leiblichen Eltern des Thäters
oder gegen öffentliche Beamte, Geistliche, Zeugen oder Sachverständige während
der Ausübung ihres Berufes oder mit Beziehung auf dieselbe, wenn auch die
Beschädigung nicht die im § 152 vorausgesetzte Beschaffenheit hat, erscheint
als besondere Art der Körperbeschädigung, welche sowohl in subjektiver wie
in objektiver Hinsicht von den im § 152 geforderten Merkmal(Mi verschieden
ist. Denn es genügt in ersterer Beziehung ein direkter, wenn auch unbestimmter
auf Beschädigung gerichteter Vorsatz, und nach der objektiven Seite eine
Verletzung irgend welcher Art ohne die im § 152 vorausgesetzte Qualifikation.
Dagegen liegt die qualifizierte Unterart der schweren Körperbeschädigung
nach § 155 lit. a vor, wenn der Vorsatz nachweisbar direkt auf Herbeiführung
der im § 152 erwähnten schweren Folgen gerichtet ist, was insbesondere bei
ein<'r auch an sich leichten, aber „mit einem solchen Werkzeuge und auf
solche Art unternommenen Verletzung, womit gemeiniglich eine Lebensgefahr
verbunden ist", immer angenommen werden soll. Während die mit dolus
indirectus begangenen Verbrechen schon ihrer Natur nach einen Versuch nicht
zulassen, ist natürlich bei dieser Begehungsart ein Versuch möglich, was
überdies noch im Gesetze besonders ausgesprochen ist. Indessen hat der
Gesetzgeber das Vorhandensein eines solchen direkten Vorsatzes bei den übrigen
qualifizierten Unterarten nach § 155 lit. b — c und § 156 lit. a — e nicht weiter
hervorgehoben, wie er dies rücksichtlich der im § 155 lit. a thut. Wenn daher
150 Osterreich. — Die gesetzlichen Grundlag'en des geltenden Rechts.
einer dieser schweren Erfolge beabsichtigt und eingetreten ist, so kann dies
nur als erschwerender Umstand bei der Strafausmessung berücksichtigt werden.
In seiner Stellung im Gesetzbuch tritt das Verbrechen der Brandlegung
nicht so sehr als gemeingefährliches Verbrechen, sondern mehr unter dem Ge-
sichtspunkte eines gegen die Vermögenssphäre gerichteten Deliktes hervor, da es
(XX. Hauptstück §§166 — 170) zwischen die Verbrechen gegen Leib und Leben
und die nun folgenden Vermögensverbrechen gestellt ist. Das Strafgesetzbuch
betrachtet als Brandlegung schon das Unternehmen einer Handlung, aus welcher
„nach dem Anschlage des Thäters an fremdem Eigentum eine Feuersbrunst
entstehen soll", wenngleich das Feuer nicht ausgebrochen ist oder keinen
Schaden verursacht hat. Mit dieser Begriffsbestimmung wird allerdings schon
ein gewisses Versuchsstadium als das vollendete Delikt erklärt, während gemein-
rechtlich und in der neueren Gesetzgebung (das deutsche RStGB. und die
österreichischen Entwürfe seit 1874 fordern wirkliche Inbrandsetzung) zumeist
die Vollendung erst durch das wirkliche Ausbrechen des Feuers bedingt ist.
Der wirkliche Ausbruch des Feuere und die verursachte erhebliche Be-
schädigung ist neben sonstigen besonderen Erschwerungsumständen in der
Fixierung der Strafmasse (schwerer Kerker von 1 — 5, 5 — 10, 10—20 Jahren
und lebenslänglicher schwerer Kerker) berücksichtigt (§ 167 lit. b — g). Dagegen
ist im Falle, dass das Feuer ausgebrochen und dadurch ein Mensch, da es vom
Brandleger vorhergesehen werden konnte, getötet wird, und bei Brandlegung
durch besondere auf Verheerungen gerichtete Zusammenrottung Todesstrafe
angedroht (§ 167 lit. a). § 168 handelt von der Straflosigkeit wegen thätiger
Reue, § 169 von der Brandlegung an eigner Sache und § 170 von einem Falle
des Versicherungsbetruges und einem anderen Betrugsfalle durch Brandlegung.
Ein Delikt der fahrlässigen Brandstiftung kennt "das österreichische Strafgesetz
nicht. Ergänzend kommen hier etwa noch in Betracht die Ungehorsams-Delikte
der § 434 AT., insbesondere die §§ 458 und 459 des Strafgesetzes.
Das XXL Hauptstück §§ 171—189 handelt von dem Diebstahl, der Ver-
untreuung und der ,,Teilnehmung'' am Diebstahle oder der Veruntreuung
(Hehlerei). Das Gesetzbuch erklärt als Diebstahl die Entziehung einer fremden
beweglichen Sache aus eines anderen Besitz ohne dessen Einwilligung um
eigenen Vorteiles willen und qualifiziert ihn als Verbrechen entweder aus dem
Betrage (§ 173), wenn der Betrag oder der Wert der gestohlenen Sache mehr
als 25 (rulden ausmacht (wobei es keinen Unterschied macht, ob dieser Betrag
aus einem oder mehreren gleichzeitigen oder wiederholten Angriffen hervorgeht,
ob er einem oder mehreren Eigentümern entwendet, ob der Diebstahl an einem
oder verschiedenen Gegenständen verübt ist), oder aus der Beschaffenheit der
That (§ 174), aus der Eigenschaft der gestohlenen Sache (§ 175) oder aus der
Eigenschaft des Thäters (§176). Ferner enthält §179 noch besondere Er-
schwerungsumstände (Betrag über 300 Gulden, Verübung mit besonderer Ver-
wegenheit, Gewalt oder Arglist, Gewaltanwendung seitens des Diebes bei der
Betretung und Gewohnheitsdiebstahl), welche einen Strafsatz von fünf bis zehn
Jahren schweren Kerkers bedingen, während als Normalstrafe schwerer Kerker
von sechs Monaten bis zu einem Jahre, bei erschwerenden Umständen von
einem bis fünf Jahren angedroht ist (§ 178). Auch die Veruntreuung wird
entweder aus der Beschaffenheit der That (Amtsveruntreuung) oder durch den
höheren Betrag (mehr als 50 Gulden) zu einem Verbrechen (§§181 — 183). Den
weiteren Begriff* der Unterschlagung kennt das österreichische Recht nicht.
Als Teilnehniung am Diebstahle oder an der Veruntreuung (Hehlerei) ist im
§ 185 das Verhehlen, Ansichbringen oder Verhandeln einer gestohlenen oder
veruntreuten Sache erklärt. § 187 lässt Straflosigkeit des Diebstahles und der
Veruntreuung wegen thätiger Reue zu.
§ 7. Die einzelnen Verbrechen, Vergehen und Übertretungen. 151
Diebstähle und Veruntreuungen und die Teilnebmung an denselben,
welche nach diesem Hauptstück nicht als Verbrechen qualifiziert erscheinen,
sind nach §§ 460 — 466 als Übertretungen strafbar. Im Anschlüsse hieran wird
im § 467 das Vergehen gegen das litterarische und artistische Eigentum
normiert.
Das XXn. Hauptstück (§§190—196) handelt vom Raube, weicher als
Gewaltanwendung oder Drohung gegen eine Person bezeichnet wird, zu dem
Zwecke unternommen, um sich ihrer oder sonst einer beweglichen Sache zu
bemächtigen. Demnach ist schon mit der Gewaltanwendung bezw. Bedrohung
das Verbrechen vollendet ( Straf satz 5—10 Jahre schwerer Kerker).
Besondere Erschwerungsumstände: Drohung in Gesellschaft eines oder
mehrerer Raubgenossen oder mit mörderischen Waffen, bezw. wenn das Gut
auf die Bedrohung wirklich geraubt worden, sowie gewaltthätige Handanlegung,
wenn auch der Raub nicht vollbracht worden, Strafsatz: schwerer Kerker
10 — 20 Jahre; im Falle der mit gewaltthätiger Handanlegung unternommenen
gelungenen Beraubung: schwerer Kerker von 10 — 20 Jahren mit Verschärfung.
Bei Verursachung schwerer körperlicher Beschädigung des Beraubten oder bei
Versetzung desselben in einen qualvollen Zustand ist lebenslänglicher schwerer
Kerker angedroht. Der § 196 behandelt die Teilnehmung am Raube (Hehlerei
mit Bezug auf geraubte Sachen).
Unter den mannigfaltigen Anschauungen, welche rücksichtlich des Be-
trugsbegriffes in Wissenschaft und Gesetzgebung hervortreten, huldigt das
österreichische Gesetzbuch (XXIII. Hauptstück §§ 197 — 205) im Gegensatze
zur modernen Gesetzgebung, welche den Eintritt eines Verraögensschadens
beim Getäuschten verlangt, jener Ansicht, welche das Wesen des Betruges
in dei: Irreführung, in der Täuschung selbst, bezw. in der Benützung des
Irrtumes eines anderen erblickt, ohne die Zufügung eines Schadens zu fordern.
Darauf muss vielmehr nur die über das Thatmoment hinausgehende Absicht
gerichtet sein. Übrigens ist nach der richtigen in der österreichischen Doktrin
und Praxis auch am meisten vertretenen Ansicht zur Vollendung des Betruges
die wirklich gelungene Irreführung bezw. die gelungene Benützung des Irr-
tumes des anderen erforderlich. Die gemeinrechtliche Unterscheidung von
Betrug und Fälschung ist jedoch dem österreichischen Gesetzbuch unbekannt.
Nur die Verfälschung öffentlicher Kreditspapiere und die Münzverfälschung
sind als delicta sui generis hervorgehoben. Alle übrigen Arten der Fälschung
sind unter den Betrugsbegriff gestellt, ja selbst Meineid und falsches Zeugnis
sind mit unter den Betrugsbegriff gezogen. Auch der Betrug wird entweder
aus der Beschaffenheit der That oder aus dem Betrage des Schadens zum
Verbrechen. Unter die ersteren Betrugsfälle (§ 199) gehören ausser dem er-
wähnten Meineid und falschem Zeugnis noch betrügerische Amtsanmassung, Mass-
und Gewichtsverfälschung, Verfälschung öffentlicher Urkunden, Stempel, Siegel
usw., betrügerische Versetzung oder Wegräumung von Grenzsteinen und be-
trügerische Crida, (fahrlässige Crida ist Vergehen nach § 486). Der höhere
Betrag macht den Betrug zum Verbrechen, wenn der wirklich verursachte
oder auch nur beabsichtigte Schaden sich höher als auf 25 Gulden beläuft. Im
§ 201 werden zwar einige Hauptarten von Betrügereien angegeben, jedoch
zuvor im allgemeinen bemerkt, dass sich die Arten des Betruges wegen ihrer
zu grossen Mannigfaltigkeit nicht alle im Gesetze aufzählen lassen. Die
folgende nur exemplifikative Aufzählung enthält unter anderen besonders die
Verfälschung von Privaturkunden, Fundverheimlichung, Anwendung falscher
Würfel, falscher Karten beim Spiel usw.
Von der Bestrafung handeln die §§ 202 — 204 unter Aufstellung verschie-
dener Strafsätze von 6 Monaten bis 1 Jahr, und 1 — 5 Jahren Kerker, bei be-
• ■ _
152 Osterreich. — Das Strafgesetz für Bosnien und Herzegowina.
sonderen Erschwerungsumständen schwerer Kerker von 5—10 Jahren und
insbesondere, wenn der Meineid einen sehr wichtigen Schaden verursacht hat
bis zu 20 Jahren, nach Umständen auch lebenslanger, schwerer Kerker.
(Hierzu die Übertretung nach § 461.)
Hauptstück XXIV §§205—208: Doppelehe, (die übrigen Delikte gegen
die Eheordnung sind Übertretungen nach §§ 502 — 503, 507 — 508). Hauptstück
XXV, §§ 209 — 210 Verleumdung (falsche Anschuldigung). Die Delikte gegen
die Ehre sind im XII. Hauptstück des zweiten Teiles unter der Rubrik: „Ver-
gehen und Übertretungen gegen die Sicherheit der Ehre" §§ 487 — 499 detailliert
behandelt, wo von „Ehrenbeleidigung" in verschiedenen Arten, §§ 487 — 491,
öffentliche Beschimpfungen oder Misshandlungen, § 496, und in den §§ 497 — 499
einige verwandte Fälle (wie Aufdeckung der Geheimnisse der Kranken durch
Ärzte usw.) unterschieden werden. Hierher gehört auch noch das Vergehen,
nach Art. V des Gesetzes vom 17. Dezember 1862, der durch Druckschriften
begangenen Beleidigung von Militärpersonen oder Seelsorgern in Bezug auf
deren Berufshandlungen.
Das XXVI. Hauptstück handelt von der Vorschubleistung (§§ 211—222),
worunter boshafte Nichtverhinderung von Verbrechen (§ 212), Verhehlung (§ 214,
d. h. Verheimlichung der zur Entdeckung des Thäters dienenden Anzeigungen
gegenüber der Obrigkeit, bezw. Verbergung des Verbrechers usw.), Vorschub-
leistung durch Hülfe zum Entweichen eines wegen Verbrechens Verhafteten
(§ 217), und in den §§ 220 und 222 das schon an anderer Stelle genannte
Verbrechen (Verhehlung oder Begünstigung von Deserteuren, Verleitung eines
Soldaten zur Verletzung militärischer Dienstpflicht und Hilfeleistung zu mili-
tärischen Verbrechen) behandelt wird.
m.
§ 8. Das Strafgesetz für Bosnien und Herzegowina.
Für Bosnien und Herzegowina wurde im Jahre 1880 mit Einfühmng der
österreichischen Gesetzgebung auch ein Strafgesetzbuch publiziert (amtliche
Ausgabe, Wien 1881, Hof- und Staatsdruckerei). Merkwürdigerweise ist die
Jahreszahl aus der undatierten Einführungsverordnung — „1. September d. J."
heisst es daselbst — nicht zu ersehen. Dasselbe ist seinem System und Inhalte
nach eine Nachbildung des österreichischen Militär-Strafgesetzbuches (s. unten)
mit Hinweglassung der besonderen Militärverbrechen und Militärvergehen, und
kennt wie dieses nur eine Zweiteilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen
und Vergehen (unter letztere Fälle gehören auch die meisten der im GB. von
1852 als Übertretungen erklärten Handlungen). Das Strafensystem ist dem
des Strafgesetzbuches von 1852 konform. „Die allgemeinen Bestimmungen
über Verbrechen und Vergehen" sind in vorteilhaftem Gegensatze zu der vom
Strafgesetz von 1852 festgehaltenen Trennung gemeinschaftlich im ersten Teile
behandelt, sonst wesentlich mit jenen gleichlautend, ebenso die meisten Be-
griffsbestimmungen der einzelnen Delikte des zweiten Teiles. (Ausnahmen ins-
besondere beim Hochverrat, mit Bezug auf die besondere staatsrechtliche
Stellung der beiden Länder zur Österreich-ungarischen Monarchie — und bei
dem Verbrechen der zweifachen Ehe mit Rücksicht auf die besonderen Ver-
hältnisse der Mohamedaner.)
§ 9. Die übrigen Gesetze strafrechtlichen Inhaltes. 153
IV.
§ 9. Die flbrlgen Gfesetze strafrechtlichen Inhaltes.
Von grösseren neben dem Strafgesetz von 1852 geltenden Kodifikationen
strafrechtlichen Inhaltes sind vor allem zu nennen:
1. Das Gefällsstrafgesetzbuch vom 11. Juli 183ö, umfassend das ge*
samte Zoll- und Steuerstrafrecht usw. und das gefäUsrichterliche Verfahren.
2. Das Militär-Strafgesetzbuch vom 15. Januar 1855.
Bis zum Jahre 1855 entbehrte die österreichische Militär-Strafgesetzgebung
einer umfassenden Kodifikation. Das bis dahin geltende Recht beruhte auf
der Constitutio criminalis Theresiana von 1768, den an die Stelle der Kriegs-
artikel Maria Theresias von 1769 tretenden Kriegsartikeln vom Jahre 1803
für die Marine und von 1808 für die Armee, sowie mehreren zerstreut erflossenen
Gesetzen und Verordnungen, wozu auch die Satzungen für die Mannschaft des
Gestüts Wesens, für die Militärverpflegshandwerker u^w. kamen. Natürlich musste
der zerfahrene Zustand des materiellen Militär-Strafrechts dem Militärrichter
seine Jurisdiktion ungemein erschweren und konnte eine gerechte Urteilsfällung
häufig kaum ermöglichen, zumal mit Ausnahme der Fälle, wo Todesstrafe an-
gedroht war, auch die Strafbestimmungen selbst viel zu wünschen übrig
Hessen.
Mit dem Erscheinen des Strafgesetzes von 1803 trat auch die Notwendig-
keit einer Ordnung des Militär-Strafrechts dringend hervor. Doch dauerte es
noch geraume Zeit, bis wenigstens die Reform desselben unternommen wurde.
Dies geschah mit allerhöchstem Handschreiben vom 19. Juni 1837, welches
den Militärappellationsrat Bergmayer mit der Ausarbeitung des Entwurfes eines
neuen Militär- Strafgesetzes und dem hierüber zu führenden Referate betraute
nebst der ausdrücklichen Bestimmung, „dass bei gemeinen Verbrechen und
Vergehen an die Anordnungen des geltenden (Civil-)Strafge8etzes von 1803 sich
zu halten sei, insofern nicht die Eigentümlichkeiten des Militärstandes Ab-
weichungen erfordern'*. Nach fünf Jahren legte Bergmayer im Jahre 1842
den Entwurf vor, doch erhielt derselbe die kaiserliche Sanktion nicht.
Erst nach den politischen Stürmen der Jahre 1848 und 1849 ordnete
Kaiser Franz Joseph I. mit allerhöchster Entschliessung vom 29. September
1850 die Revision der auf den materiellen Teil des Militär-Strafgesetzes Bezug
nehmenden Vorarbeiten und namentlich des erwähnten von Bergmayr ver-
fassten Entwurfes an. In der hierzu eingesetzten Kommission, deren Referent
wieder Bergmayr war, wurde der Entwurf sorgfältig beraten, desgleichen seitens
des Kriegsministeriums eingehend geprüft und erhielt (nach weiterer Begut-
achtung seiner allgemeinen Bestimmungen, und derjenigen über die gemeinen
Verbrechen und Vergehen durch den Ministerrat und Reichsrat, bezüglich der
militärischen Delikte durch eine aus Generälen unter Beiziehung des General-
auditors zusammengesetzte Kommission) die allerhöchste Sanktion am 15. Januar
1855 als ,, Militärstrafgesetz über Verbrechen und Vergehen für das Kaisertum
Österreich '^
Die Systematik des Gesetzbuches ist folgende:
I. Teil: Die allgemeinen Bestimmungen über Verbrechen und Vergehen
und deren Bestrafung, §S 1 — 141; II. Teil: Die Militärverbrechen, Militärver-
geheu und deren Bestrafung, §§142—303; 111. Teil: Die Verbrechen wider
die Kriegsmacht des Staates und deren Bestrafung, §§304 — ^331; IV. Teil:
Die anderen Verbrechen (gemeine Verbrechen) und deren Bestrafung, §§ 332
bis 525; V.Teil: Die gemeinen Vergehen und deren Bestrafung, §§526 — 799.
• «
154 Osterreich. — Die übrigen Gesetze strafrechtlichen Inhaltes.
Das Geltungsgebiet des Militär -Strafgesetzes hinsichtlich der Personen
regelt das Kundmachungspatent Art. III — IV.
Die allgemeinen und die die gemeinen Verbrechen und Vergehen betreffenden
Bestimmungen schliessen sich wesentlich an das Strafgesetz von 1852 an, nur
mit den durch die Rücksicht auf die militärischen Verhältnisse erforderlichen
Modifikationen. Dabei tritt im allgemeinen Teile (I) vor allem die korrekte
Verbindung der allgemeinen Bestimmungen über Zurechnung, Versuch, Mit-
schuld und Teilnahme, Konkurrenz, internationales Strafrecht, Erlöschungs-
gründe der Strafbarkeit, was Verbrechen und Vergehen anlangt, vorteilhaft
hervor gegen die auch im Gesetzbuch von 1852 beibehaltene aus dem älteren
Eechte seit dem Josephinischen Gesetzbuch überlieferte Trennung. Insbesondere
ist im Militär-Strafgesetz § 5, desgleichen wie in dem oben erwähnten Straf-
gesetz für Bosnien und Herzegowina eine Darstellung der Gründe gegeben,
welche die Zurechnung der Vergehen ausschliessen, während nach dem gelten-
den Strafgesetz von 1852 die Frage nach dem Einflüsse der die Zurechnung
ausschliessenden Gründe (inklusive Irrtum und Zwang), desgleichen auch der
Notwehr bei Vergehen und Übertretungen angesichts des Mangels einer bezüg-
lichen Bestimmung durchaus ungelöst ist und nur im Wege der Analogie ent-
schieden werden kann.
Auch die Zweiteilung in Verbrechen und Vergehen ist ein Fortschritt
gegenüber dem Gesetzbuch von 1852 insofern, als beim Fehlen jeglichen
Kriteriums materiellrechtlicher Natur die Scheidung in Vergehen und Über-
tretungen dort nur aus prozessualen Gründen erfolgte, wozu angesichts der
Organisation des Militärstrafverfahrens ein Bedürfnis nicht vorlag. Dass die
Erlöschungsgründe der Strafbarkeit mit in den allgemeinen Teil aufgenommen
und nicht mehr an den Schluss des Gesetzbuches nach Darstellung der ein-
zelnen Delikte verwiesen sind, ist gleichfalls ein Vorzug dieses Gesetzes im
Vergleiche zum Strafgesetz von 1852. Zu den gemeinen Verbrechen und Ver-
gehen rechnet das Militär-Strafgesetz nicht nur die als solche im IV. und V.
Teile bezeichneten Delikte, sondern auch (Art. II des Kundmachungspatents)
die Verbrechen wider die Kriegsmacht des Staates im III. Teile, (es sind dies
nur weitere Bestimmungen betr. die im Civil-StG. von 1852 enthaltenen gleich-
namigen Verbrechen).
Der zweite die militärischen Delikte behandelnde Teil ist im Vergleiche
mit den bisherigen Kriegsartikeln inhaltlich und in der Fassung neu gearbeitet.
Hierbei ist besonders beachtenswert, dass diese militärischen Delikte insofern
gemeinsam behandelt werden, als Verbrechen und Vergehen nach ihrer inneren
Verwandtschaft zusammengestellt in diesem Teile ihre Normierung finden,
während die gemeinen Verbrechen und Vergehen, wie ersichtlich, in zwei be-
sonderen Teilen getrennt zur Darstellung kommen. Die Aufnahme der letzteren
ist übrigens charakteristisch für das österreichische Militär-Strafgesetz im Ver-
gleiche zu der Gesetzgebung anderer Staaten, welche, wie z. B. das Deutsche
Reich und Italien, lediglich ein besonderes Strafgesetzbuch für die militärischen
Delikte besitzen und die Geltung der allgemeinen Strafgesetze auch für Militär-
personen, was die von diesen begangenen gemeinen Delikte betrifft, anerkennen.
3. Ausser diesen grösseren Kodifikationen ist aber noch ein reiches straf-
rechtliches Material in einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Gesetzen ent
halten, welches danach unterschieden werden kann, dass einige derselben das
Strafgesetz von 1852 abändern, d. h. einzelne Vorschriften desselben aufheben
oder modifizieren, andere dagegen Zusätze zu demselben enthalten und das
Gebiet des strafbaren Unrechts durch neue Strafdrohungen gegen bisher straf-
lose Handlungen erweitern.
Hiervon wurden die Gesetze ersterer Art bereits an der betreffenden
§ 9. Die übrigen Gesetze strafrechtlichen Inhaltes. 155
Stelle bei Darstellung der Grundzüge des Gesetzbuches von 1852 angeführt
und erörtert, so namentlich das Gesetz vom 15. November 1867 und das Press-
gesetz vom 17. Dezember 1862.
Aus der zweiten Gruppe von Gesetzen wurde das als Zusatzgesetz (so-
genannte Straf gesetznovelle) erscheinende Gesetz vom 17. Dezember 1862, was
die in demselben neu aufgestellten DeliktsbegriflFe betrifft, gleichfalls bei den
verwandten Delikten gegen die öffentliche Ordnung mit angeführt, desgleichen
das Wehrgesetz vom 11. April 1889 und das den Strafvollzug betreffende
Gesetz vom 1. April 1872 über die Einzelhaft. Es erübrigt also nur noch
die Aufzählung derjenigen Gesetze, welche neben anderen Bestimmungen straf-
rechtliche Vorschriften enthalten, neue Deliktsbegriffe feststellen oder den Straf-
vollzug betreffen. Diese sind (nach der amtlichen Ausgabe im Reichsgesetz-
blatt citiert):
Das die Pestvergehen betreffende Patent vom 21. Mai 1805 (Z. 731 Justiz-
Gesetz-Sammlung).
Das Patent vom 18. Januar 1818 betreffend das Verbot meuchelmörderische
Waffen zu führen und zu halten (für Südtirol).
Das Patent vom 19. Oktober 1846 (Z. 992 Justiz-GS., zum Schutze des
litterarischen und artistischen Eigentums).
Das allgemeine Reglement für die Seesanitätsverwaltung vom 13. De-
zember 1851 (Z. 41 RGBl.) betreffend die Einschleppung der Pest oder des
gelben Fiebers zur See.
Das kaiserliche Patent vom 24. Oktober 1852 (Z. 223 RGBl.) betreffend
die Erzeugung, den Verkehr und den Besitz von Waffen und Munitionsgegen-
ständen, dann das Waffentragen (Waffenpatent).
Das Gesetz vom 27. Oktober 1862 (Z. 87 RGBl.) zum Schutze der persön-
lichen Freiheit.
Das Gesetz vom 27. Oktober 1862 (Z. 88 R(;B1.) zum Schutze des
Hausrechts.
Das Gesetz vom 25. Juli 1867 (Z. 101 RGBl.) betreffend die Minister-
verantwortlichkeit.
Das Gesetz vom 15. November 1867 fZ. 134 RGBl.) über das Vereinsrecht.
Das Gesetz vom 15. November 1867 (Z. 135 RGBl.) über das Versamm-
lungsrecht.
Das Gesetz vom 5. Mai 1869 (Z. 66 RGBl.) betreffend die Suspension
der Staatsgrundgesetze.
Das Gesetz vom 6. April 1870 (Z. 42 RGBl.) zum Schutze des Brief-
uud StJhriftengeheimnisses.
Das Gesetz vom 7. April 1870 (Z. 43 RGBl.) über das Koalitionsrecht.
Das Gesetz vom 9. April 1873 (Z. 70 RGBl.) über Erwerbs- und Wirt-
schaftsgenossenschaften.
Das Gesetz vom 10. Mai 1873 (Z. 108 RGBl.) wider Arbeitsscheue und
Landstreicher.
Das Gesetz vom 19. Juli 1877 (Z. 67 RGBl.) die Hintanhaltung der
Trunkenheit betreffend für Galizien und die Bukowina. (Ein Entwm'f betreffend
die Hintanhaltung der Trunkenheit mit projektierter Gültigkeit für alle im
Reichsrate vertretenen Länder erlangte nicht Gesetzeskraft.)
Das Gesetz vom 19. Juli 1879 (Z. 108 RGBl.) betreffend die Desinfektion
bei Viehtransporten.
Das Gesetz vom 29. Februar 1880 (Z. 35 RGBl.) betreffend die Abwehr
und Tilgung ansteckender Tierkrankheiten.
Das Gesetz vom 29. Februar 1880 (Z. 37 RGBl.) betreffend die Abwehr
und Tilgung der Rinderpest usw.
15G Osterreich. — Litteratur des österreichischen Strafrechts.
Das Gesetz vom 28. Mai 1881 (Z. 47 RGBl.) betreffend Abhülfe gegen
unredliche Vorgänge bei Kreditgeschäften (Wuchergesetz).
Das Gesetz vom 25. Mai 1883 (Z. 78 RGBl.) über strafrechtliche Be-
stimmungen gegen Vereitelung von Zwangsvollstreckungen.
Das Gesetz vom 17. Juni 1883 (Z. 187 RGBl.) über die Gewerbeinspektoren.
Das Gesetz vom 24. Mai 1885 (Z. 89 RGBl.) enthaltend strafrechtliche
Bestimmungen betreffend die Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits-
und Besserungsanstalten.
Das Gesetz vom 27. Mai 1885 (Z. 134 RGBl.) gegen den gemeinschädlichen
Gebrauch von Sprengstoffen.
Das Gesetz vom 21. Mai 1887 (Z. 51 RGBl.) betreffend die Verlängerung
des Privilegiums der österreichisch-ungarischen Bank; und
Das Gesetz vom 30. Mai 1888 (Z. 41 RGBl.) betreffend strafrechtliche
Bestimmungen in Betreff der Sicherung der Unterseekabel.
Under den „anderen" — d. h. nicht im Strafgesetzbuch enthaltenen —
Gesetzesübertretungen, von welchen Art. V des Kundmachungspatents zum
Strafgesetz von 1852 spricht, sind in erster Linie die in zahlreichen Gesetzen
und Verordnungen allgemeiner, provinzieller und — was letztere betrifft —
auch lokaler Natur normierten, von den politischen (Polizei-)Behörden nach
der Ministerial -Verordnung vom 20. September 1857 abzuurteilenden Über-
tretungen zu verstehen im Gegensatze zu den im Strafgesetz von 1852 ent-
haltenen und anderen in besonderen Gesetzen und Verordnungen eigens be-
zeichneten Ü])ertretungen , welche zur Judikatur der Bezirks( Einzel-)gcrichte
gehören.
V.
§ 10. Litteratur des Ssterrelehichen Straf rechts.
Aus der älteren Litteratur (vor dem Gesetzbuch von 1(S08) sind zu nennen:
J. L. Banniza, delineatio juris criminalis secundum coiistitutionem Carolinam
ae Therosianani. 2 Bde. 1778.
Sonnleithner, Anmerkungen- zum Kriminalgesetzbuch Josephs II. 1787.
de Luca, Leitfaden in das Josephinische Gesetz über Verbrechen und deren
Bestrafung 1789.
Die ältere das Strafgesetzbuch von 1803 betreffende Litteratur ist auch für
dessen revidierte Ausgabe von 1852 noch immer von nicht zu unterschätzender Be-
deutung und kann in vielfacher Hinsicht auch heute nicht als antiquiert betrachtet
werden. Dies gilt vor allem von dem wissenschaftlich hochstehenden Kommentar:
„Das österreichische Kriminalrecht nach seinen Gründen und seinem Geiste dargestellt
von Sebastian Jenull". 1. Teil 1808 (2. umgearbeitete und vermehrte Auflage 1820),
2. Teil 1809 (der 8. und 4. Teil umfasst die strafprozessualen Abschnitte des GB. von
1803); ein neuer unveränderter Abdruck des ganzen Werkes erschien 1887.
Kudler, Erklärungen des ersten Abschnittes des Strafgesetzes über schwere
Polizeiübertretungen mit Vorwort und Anhang von Dr. Hye, 6. Auflage 1850 (1. Aufl. 1825).
Mancher, Das österreichische Strafgesetz über Verbrechen samt den auf das-
selbe sich beziehenden Gesetzen und Verordnungen, systematisch bearbeitet als Hülfs-
huch beim Studium desselhen 1847 (eine Sammlung der teils nachträglich zum StGB,
von 1808 erschienenen, teils mittelbar auf dasselbe sich beziehenden Gesetze und
Verordnungen); desg-leichen von Lützenau, Handbuch der Gesetze und Verordnungen,
welche sich auf den zweiten Teil des Strafgesetzlmches beziehen, 1846 und:
Waser, Das Strafgesetz über Verbrechen nebst den dazu gehörigen Verordnungen.
Wien 1889.
Die monographische Litteratur zum Strafgesetz von 1808, (Abhandlungen, Auf-
sätze, Mitteilungen von Kechtsfällen usw.), sind zum grössten Teile in den älteren
österreichischen juristischen Zeitschriften enthalten, diese sind:
^Zeitschrift für Österreichische Hechtsgelehrsamkeit und politische Gesetzes-
kimde** 1825—1849 (von 1846—1849 unter dem Titel: „Österreichische Zeitschrift für
Rechts- und Staatswissenschaff*), jMhrlich in drei Bilnden.
§ 10. Litteratur des österreichischen Strafrechts. 15'
Der „Jurist" 1839—1848 erschienen, juristische Zeitschrift in 19 Bänden.
„Themis", Sammlung' von KechtsfHllen, Abhandlungen aus dem Privat- und
Strafrecht usw. Heft 1-— 11 (1835 — 37, 1841—44), herausgegeben von Wessely.
Materialien für Gesetzeskunde und Rechtspflege in den österreichischen Erb-
staaten, herausgegeben von Pratobevera, 8 Bände, lb<15 — 1824.
„Jährliche Heiträge zur Gesetzeskunde und Rechtswissenschaft in den öster-
reichischen Erbstaaten**, herausgegeben von Zeiller, IV Bände. Wien 1806 — 1809.
Visini, Beiträge zur Kriminalrechtswissenschaft mit besonderer Rücksicht auf
das österreichische Kriminalrecht. Wien 1839 — 1843, 4 Bände.
Von selbständig erschienenen grösseren Monographieen sind zu nennen:
Kitka, Über das Zusammen treffen mehrerer Schuldigten bei einem Verbrechen
und deren Strafbarkeit, Wien 1840 und von demselben Autor: „Abhandlungen aus
dem Gebiete des Strafrechts" 1847.
Eine Sammlung von Rechtsfällen erschien 1837 unter dem Titel „Rechtsfälle
aus dem Civil- und Kriminalrecht^ von Joseph Tausch. Eine übersichtliche Zusammen-
stellung der gesamten Litteratur und soweit sie den Teil des Gesetzbuches über
Verbrechen betrifft mit auszugsweise Angabe des Inhaltes der einzelnen Abhand-
lungen usw. findet sich bei Maucher, „Darstellung der Quellen und der Litteratur
der österreichischen Strafgesetzgebung mit Rücksicht auf die deutsche Strafreclits-
wissenschaft und Gesetzgebung**, 1849. Den Litteraturnachweis bezüglich des zweiten
Teiles des Gesetzbuches enthält der bereits angegebene Kommentar von Kudler.
Die das geltende österreichische Strafrecht auf Grundlage des Gesetzbuches von
1X.V2 behandelnde Litteratur ist eine vorwiegend kommentatorische.
Grössere systematische Bearbeitungen hat das österreichische Strafrecht bis in
die neuere Zeit nicht gefunden. Erst im Jahre 1884 erschien in der Handbibliothek
des österreichischen Rechts (Prag, Tempsky) ein 368 Seiten umfassendes Lehrbuch
unter dem Titel: „Das österreichische Strafrecht von Dr. Carl Janka" (zweite Auflage
durchgesehen und ergänzt von Dr. Friedrich Rulf). Ferner erschien im Jahre 1891
unter dem Titel: „Das österreichische Strafrecht mit Berücksichtigung des Entwurfes
und des deutschen „Reichsstrafgesetzbudies" ein Bruchstück eines (von rückwäi'ts
begonnenen) Systems von Dr. August Finger (enthaltend die Verbrechen gegen Leib
und Leben und gegen die Freiheit). Die Kommentare sind folgende:
Herbst, Handbucli des österreichischen Strafrechts mit Rücksicht auf die Be-
dürfnisse des Studiums und der Anwendung bearbeitet (1. Bd., 7. Aufl. 1882, 2. Bd.,
5. Aufl. 1880).
von Hye, Das österreichische Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und l.'ber-
tretungen (unvollendet, nur bis zu § 75 des GB. reichend).
Frühwald, Handbuch des österreichischen Strafgesetzes über Verbrechen, Ver-
gehen und Übertretungen, 3. Aufl. 18'*>5.
Ferner von demselben Verfasser, Die Fortbildung des österreicliischen mate-
riellen Strafrechts durch Gesetzgebung, Litteratur und Praxis in den letzten zehn
Jahren, 1865. (Ergänzungen zu dem ersteren Werke.)
Die monographische Litteratur zum (iesetzbuch von 1852 ist zum grössten Teil
in den juristischen Zeitschriften enthalten. Von selbständig erschienenen Monographieen
sind zu nennen:
Glaser, Abhandlungen aus dem österreichischen Strafrecht, 1858.
Geyer, Erörterungen über den allgemeinen Thatbestand der Verbrechen nach
österreichischem Rechte. 1862.
Ferner eine Sammlung mehrerer in Zeitschriften erschienenen Abhandlungen
von Glaser unter dem Titel: „Kleine Schriften über Strafrecht und Strafprozess,
2. Aufl. 1883. Desgleichen von Wahlberg, Gesammelte kleinere Schriften und Bruch-
stücke über Strafrecht, Strafprozess- und Gefängniskunde usw., 3 Bände 1875— 1SS2.
Das Pressrecht insbesondere betreffend sind hervorzuheben:
Lienbacher, Historisch -genetische Erläuterungen des österreichischen Press-
gesetzes 1863, und von demselben: Praktische Erläuterungen des österreichischen
Presagesetzes, 1868. Lentner, Die Grundlagen des Pressstrafrechts, 1873. Jaques,
Grundlagen der Pressgesetzgebung, 1874. v. Liszt, Lehrbuch des österreichischen
Pressrechts, 1878.
Zeitschriften: Allgemeine österreichische Gerichtszeitung von Nowak (seit ls,")0
erscheinend). Magazin für Rechts- und .Staatswissenschaft (seit 1S50 jährlich in zwei
Bänden), seit 1858 unter dem Titel: „Osterreichische Vierteljahrsschrift für Rechts-
und Staatswissenschaff^ , herausgegeben von Haimerl und Passy (9 Bände). Zeit-
schrift für Gesetzeskunde und Rechtsi)flege zunächst in Ungarn, Kroatien usw.,
herausgegeben von Petruska, später von Slavicek 1855—1860. „Gerichtshalle'^, her
ausgegeben von Pisko seit 1S57. „Juristische Blätter", begründet von Dr. Burian
158 Österreich. — Die Reform der Strafffesetzgebunff und die Entwürfe seit 1861.
und Dr. Johanny; jetzige Redaktion: Dr. Robert Schindler und Dr. Edmund Benedikt
seit 1872. „Österreichisches Centralblatt für juristische Praxis**, redigiert von Geller
1883 — 1889. „Allgemeine Juristenzeitung", redigiert von Breitenstein seit 1876. Juristi-
sche Vierteljahrsschrift, Organ des deutschen Juristenvereins in Prag. Redaktion:
Dr. Dominik Uilmann, Dr. Frankl und Dr. Aug. Finger. Grünhuts Zeitschrift für das
Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart seit 1874.
Von Präjudikatensammlungen sind zu nennen:
Peitler, Systematische Sammlung von 326 auf das materielle Strafrecht sich be-
ziehenden Entscheidungen des k. k. obersten Gerichts- und Kassationshofes aus den
Jahren 1850—1852, mit mehr als 1000 Strafrechtsfällen, 1853.
Herbst, Die grundsätzlichen Entscheidungen des k. k. obersten Gerichtshofes
über zweifelhafte Fragen des allgemeinen österreichischen Strafrechts, 3. Aufl. Wien
1858, mit Nachtragsheft 1860.
Adler, Krall und von Walther, Sammlung strafrechtlicher Entscheidungen des
k. k. obersten Gerichts- und Kassationshofes, auf Veranstaltung von Dr. Julius Glaser
herausgegeben 1875.
Plenarbeschlüsse und Entscheidungen des k. k. obersten Gerichts- und Kassa-
tionshofes veröflFentlicht von der Redaktion der allgemeinen österreichischen Gerichts-
zeitung, 1876—1891 (XI Bde.).
Eine Sammlung von Strafrechtsfällen ohne Entscheidungen zum akademischen
Gebrauche usw., herausgegeben von Rulf, 1874.
Gesetzesausgaben. Die gebräuchlichste und beste Textausgabe des Strafgesetz-
buches von 1852 ist die bei Manz, Wien, in zahlreichen Auflagen erschienene, seit
1884 (17. Aufl. 1892) von Gramer besorgt, mit Entscheidungen des Kassationshofes und
vielen die Zusatz- und Abänderungsgesetze betreffenden Noten. Die bezüglichen Ge-
setze sind überdies im Anhange abgedruckt. Ferner die von der k. k. Hof- und
Staatsdruckerei in Wien veranstaltete Handausgabe der österreichischen Gesetze und
Verordnungen, Heft 52 (1877); endlich Geller, Allgemeines Strafgesetz und besondere
Strafgesetze nebst Pressgesetz und einschlägigen Novellen mit Erläuterungen aus der
Rechtssprechung von 1850-1^^88 und einer Einleitung. Dritte Auflage 1889.
Bezüglich des Gefälls-Strafgesetzbuches von 1835 ist zu erwähnen: Die Ausgabe
von Bldnski 1H81 und der Kommentar von Eglauer, 1889.
Litteratur betreffend das Militär-Strafgesetz: Die Ausgabe von Damianitsch
mit den bezüglichen Verordnungen und kurzen Erläuterungen, 3. Aufl. 1863, und von
demselben ein Kommentar zu diesem Gesetze unter dem Titel: „Das Militär-Straf-
gesetzbuch über Verbrechen und Vergehen vom 15. Januar 1855, erläutert von usw.
1855'*, zweite vermehrte Auflage 1861; (vergl. daselbst auch die älteren Quellen des
österreichischen Militär-Strafrechts bis zur Theresiana und die ältere Litteratur. Ein-
leitung S. IX— X); ferner von demselben Verfasser: „Studien über das MilitÄrstraf-
recht usw. mit vorzugsweiser Berücksichtigung des österreichischen Militär-Strafgesetz-
buches yom Jahre 1855 (1862 erschienen). Dangelmaier, Grenzen des Militär-Straf-
rechts (Osterreichische Militär-Zeitschrift 1883) und von demselben: Militärverbrechen
und Vergehen nach österreichischem Recht, 1884. Weisl, Das Heeresstrafrecht , All-
gemeiner Teil 1892 (vergl. dort noch weitere Litteraturnachweise, S. 70 — 71). Ferner
Textausgabe des Mil.-StGB's von Skala 1891.
VI.
§11. Sie Reform der Strafgesetzgebung und die EntwQrfe seit 1861.
That^ächlich erfreuen sich — wie bisher gezeigt wurde — die Grund-
zügc und zahlreiche Begriffsbestimmungen des geltenden österreichischen
Strafrechtes eines mehr als hundertjährigen Bestandes, da sie ihre Genesis von
1787 (Josephinisches StG.) nicht verleugnen. Schon dieser Umstand würde
genügen, die Notwendigkeit und den dringenden, immer wieder hervor-
brechenden Wunsch einer Reform der österreichischen Strafgesetzgebong be-
greiflich zu finden. Gesteigert wurde aber noch die Agitation in dieser Rich-
tung durch den fortwährend (in den fünfziger und sechziger Jahren) erhaltenen
Missmut über die oktroyierte Gesetzgebung von 1852 und 1853 und die wenig
glückliche Art ihrer Fortbildung in der reaktionären Zeit bis 1860. Erst mit
§11. Die Reform der Strafgesetzgebung und die Entwürfe seit 1861. 159
der Wiedererweckung des österreichischen Verfassungslebens konnte hier
Wandel geschaffen werden und wirklich kam seit 1861 das Reformwerk
einigermassen in Fluss. Freilich boten die Anfänge hierzu sofort wieder wenig
Anlass zur Befriedigung. Erschwert war die Arbeit dadurch, dass man die
Reform von zwei einander eigentlich ausschliessenden Richtungen her in An-
griff nehmen wollte; Abänderung bezw. Beseitigung der dringendsten Miss-
stände des geltenden Rechtes im Wege einer Novelle zum Gesetzbuche von
1852 einerseits, andererseits die Ausarbeitung ein<»8 umfassenden Entwurfes
eines neuen Strafgesetzes. — Auf letztere bezog sich der mit kaiserlicher
EntSchliessung vom 16. Februar 1861 dem damaligen Sektionschef von Hye
gegebene Auftrag, während in ersterer Beziehung ein besonderer Auftrag des
Justizministers Hein (zur Ausarbeitung einer Novelle zum geltenden Straf-
gesetze) folgte. Gleichzeitig damit ging aber eine andere Aktion. Es war
nämlich nach den vom Justizminister Pratobevera veranlassten Beratungen über
die dringendsten Abänderungen der strafgesetzlichen Bestimmungen (betreffend
die politischen und Pressdelikte sowie die Ehrenfolgen der strafgeriehtlichen
Verurteilung) und einer sehr wenig gelungenen Behandlung dieses Entwurfes
durch den Staatsrat, endlich nach schweren Kämpfen und Debatten des jungen
Parlamentes doch erreicht worden, das Pressgesetz vom 17. Dezember 1862
(einschliesslich des wieder obsolet gewordenen (iesetzes über das Pressstraf-
verfahren) und ein Ergänzungsgesetz zum Strafgesetze von 1852 von gleichem
Datum (enthaltend einige früher erörterte Delikte politischer Natur und gegen
die öffentliche Ordnung) zu stände zu bringen.
Obwohl im Jahre 1862 das Abgeordnetenhaus gleichfalls die Vorlage
eines neuen allgemeinen Strafgesetzes für Beginn der nächsten Sessionspewode
entschieden urgiert hatte (desgleichen die Vorlage eines neuen Polizeistraf-
gesetzes), verstrich doch noch geraume Zeit bis zur Erfüllung dieses ent-
schieden kundgegebenen Wunsches der Volksvertretung. Zunächst legte im
März 1 863 von Hye dem erhaltenen Auftrage entsprechend den Entwurf eines
Abänderungsstatutes zum Strafgesetze von 1852 und kürze Zeit darauf den
Entwurf eines allgemeinen Strafgesetzes der Regierung vor. Doch auch in
der seit 1864 begonnenen Beratung dieser Entwürfe durch eine aus den an-
gesehensten Vertretern der österreichischen Praxis und Theorie zusammen-
gesetzte „Justizministerialkommission" zeigte sich fort und fort das Schwanken
der RegieiTing, ob die Reform in der einen oder anderen Richtung zunächst
zu beginnen sei, indem bald das Abänderungsstatut, bald der Strafgesetz-
entwurf zur Beratung gezogen wurde. Die Sistierung der Reichsverfassung
(1865) hatte zur Folge, dass Männer wie Berger und Waser, die Professoren
Glaser und Wahlberg aus der Kommission ausschieden.
Immerhin muss, was die prinzipiellen Ausgangspunkte der geplanten
Reform betrifft, auch heute noch rühmend hervorgehoben werden, dass die
von V. Hye vorzüglich redigierten Motive des Strafgesetzentwurfes ausdrück-
lich betonten: Das neue österreichische Strafgesetz solle nicht nur kein hin-
derndes, sondern vielmehr ein förderndes Element werden, um endlich die
Zustandebringung auch einer gemeinsamen Strafgesetzgebung für ganz Deutsch-
land anzubahnen, welcher Gedanke später auch unter den nach Auflösung des
deutschen Bundes geänderten Verhältnissen in den Motiven der Regierungs-
vorlage von 1867 noch stärkeren Ausdruck fand in dem Satze: Österreichs
Gesetzgebung könne sich niemals ungestraft deutschem Geiste, deutscher Bil-
dung, deutscher Wissenschaft verschliessen.
Zu dem vom Abgeordnetenhause 1862 gleichfalls verlangten Entwürfe
eines Polizeistrafgesetzes kam es indessen nicht. Dagegen wurde am 19. Juli
1867 im Abgeordneten hause abermals eine Novelle zum Strafgesetze als
160 Osterreich. — Die Reform der Strafgesetzgebung* und die Entwürfe seit 1861.
Regierungsvorlage eingebracht (im Hinblicke darauf, dass das neue Straf-
gesetz nicht so bald zu stände kommen werde und doch einige der brennendsten
Fragen im Wege einer Novelle rascher zu lösen seien). Dieser im Zusammen-
hange mit dem von v. Hye 1863 ausgearbeiteten Abänderungstatute stehende
Entwurf erhielt Gesetzeskraft unter v. Hve als Justizraiu ister am 15. November
1867 und betrifft — wie früher erörtert — ausser der Aufhebung der Ketten-
strafe und der körperlichen Züchtigung insbesondere die Neuregelung der
Ehrenfolgen usw.
Der im Abgeordnetenhause am 27. Juni 1867 endlich vorgelegte Entwurf
eines Strafgesetzes war das Ergebnis der Beratungen der Justizkommission
von 1864 — 1866. Über diesen Entwurf sollten auf Wunsch der Regierung
noch vor dessen Vorlage zunächst Beurteilungen von kompetenter Seite in
Praxis und Fachwissenschaft eingeholt und bei der nochmaligen Revision be-
rücksichtigt werden. Gleichwohl wurden die zahlreich eingegangenen Gut-
achten seitens ereter Autoritäten, wie Berner, Mittermaier, von Schwarze, von
Holtzendorff, Osenbrtiggen, Merkel u. a., seitens der Regierung nicht mehr
benützt und von Justizminister Komers der Entwurf unverändert im Abgeord-
netenhause eingebracht. Die trübselige Geschichte dieses und der folgenden
Entwürfe lässt sich nun weiter folgenderraassen skizzieren:
Der Bericht des Strafgesetzausschusses über den Entwurf wurde am
20. März 1868 erstattet. Hierauf erfolgte Vertagung des Reichsrates, Auf-
lösung des Abgeordnetenhauses, Zurückziehung der Regierungsvorlage durch
Justizminister Dr. Herbst. Weiteren Beratungen über den letzten Bericht des
Ausschusses vom 21. Februar 1870 machte gleichfalls wieder die Vertagung
und später erfolgte Auflösung des Abgeordnetenhauses ein jähes Ende.
Mit der Übernahme des Justizministeriums durch Dr. Julius Glaser wurde
die Reformarbeit abermals neu belebt und als Prinzip derselben der möglichst
nahe Anschluss an das deutsche Reichsstrafgesetzbuch ausgesprochen. Nach
fast dreijähriger Arbeit wurde dieser Entwurf (mit Motiven über den all-
gemeinen Teil) am 7. November 1874 von der Regierung dem Abgeordneten-
hause vorgelegt, von dem hierzu gewählten Ausschusse in den Jahren 1875
und 1876 beraten und mit Bericht vom 5. September 1877 (zugleich mit einem
inzwischen neu eingebrachten Entwürfe eines Einführungsgesetzes) dem Hause
vorgelegt, kam jedoch bis zum Ablauf der Wahlperiode im Jahre 1879 nicht
mehr zur Beratung.
Dieses unausgesetzte Missgeschick der Entwürfe seit länger als einem
Dezennium scheint indes die parlamentarischen Kreise für die Reformarbeit
eine Zeitlang gleichgültig gemacht zu haben, denn ein im Jahre 1881 durch
den damaligen Leiter des Justizministeriums Dr. Prazak abermals eingebrachter,
mit der Regierungsvorlage von 1874 unter Berücksichtigung der Ausschuss-
beratungen wesentlich übereinstimmender, Entwurf wurde im Ausschusse nicht
einmal vollständig durchberaten. — So währte es fast acht Jahre, bis endlich
am 11. April 1889 durch Justizminister Graf Schönborn wiederum der Entwurf
eines Strafgesetzes dem Reichsrate vorgelegt wurde, dessen Inhalt als auf
Grundlage des Entwurfes von 1874 stehend und die Arbeiten der Ausschüsse
seit damals berücksichtigend charakterisiert werden kann. Der zur Beratung
der Vorlage eingesetzte Ausschuss legte nach eifrigen und sehr rasch be-
triebenen Beratungen schon mit Ende des Jahres 1889 seinen Bericht dem
Abgeordnetenhause vor, jedoch — merkwürdiges Schicksal, zum drittenmale!
— abermals Auflösung des Abgeordnetenhauses und zwar diesmal vor Ablauf
der gesetzlichen Sitzungsperiode am 23. Januar 1891, noch bevor zu einer Be-
ratung des Entwurfes geschritten werden konnte.
Dem im Frühjahre 1891 neugewählten und alsbald zu den Verband-
§11. Die Reform der Strafgesetzgebung und die Entwürfe seit 1861. 161
lungen einberufenen Reichsrate wurde vom Justizminister Graf Schönbom der
jüngste (seit 1867 fünfte) Entwui'f eines Strafgesetzes vorgelegt und der Aus-
schussberatung überwiesen, welche im Frühjahr 1893 zu Ende geführt sein wird.
Dies ist der gegenwärtige Stand der bis jetzt wahre Sisyphusarbeit ge-
bliebenen Entwürfe eines künftigen österreichischen Strafgesetzbuches. In-
dessen ist trotz der durch diese bitteren Erfahrungen bisher nicht gerade
sanguinischen Hoffnungen auf das Inkrafttreten eines neuen österreichischen
Strafgesetzes in nächster Zukunft — wenn auch nicht mit absoluter Sicherheit
im Hinblick auf das Schicksal aller bisherigen Entwürfe — so doch mit grosser
Wahrscheinlichkeit zu rechnen, da der gegenwärtige Justizminister die Reform-
arbeit mit dankenswerter Energie nicht nur in Angriff genommen, sondern
beständig im Auge behält und — was von nicht zu unterschätzender Bedeutung
ist — die Stimmung der massgebenden politischen Parteien dem Zustande-
kommen eines neuen Strafgesetzbuches günstig zu sein scheint.
Wie dringend notwendig letzteres ist, ergiebt ein Blick auf die dar-
gelegten Grundzüge des gegenwärtig geltenden Gesetzbuches, namentlich wenn
man dessen Anwendbarkeit in der Schwurgerichtspraxis in Betracht zieht.
Es ist ein nicht genug zu rühmendes Zeugnis für die Tüchtigkeit und den
feinen juristischen Takt des österreichischen Richterstandes, dass ihm eine
Fragestellung an die Geschworenen bei vielen Verbrechen auf Grund des
Gesetzbuches von 1852 überhaupt gelingt — man denke nur z. B. an die
unter den allgemeinen Betrugsbegriff subsumierten heterogenen Verbrechens-
fälle, an Definitionen, wie Hochverrat, Störung der öffentlichen Ruhe usw.,
welche in manchen Fällen für die Fragestellung enorme Schwierigkeiten bieten.
Dies alles im Vereine mit den Mängeln des veralteten, der modernen Straf-
gesetzgebung heute fast isoliert gegenüberstehenden, Gesetzbuches sind wohl
hinreichende Gründe, um der Hoffnung auf endlichen Abschluss der dreissig-
jährigen Reformarbeit baldige Erfüllung zu wünschen!
Der Charakteristik des Entwurfes selbst ist nach dem für diesen Band
eng begrenzten Programme kein Raum gegeben, sie ist auch wohl um des-
willen nicht unbedingt geboten, als die Grundzüge und die Systematik der
Entwürfe seit 1874 sich thatsächlich enge an das deutsche Reichsstrafgesetzbuch
anschliessen. Gleichwohl sind nicht nur durch die Regierungsvorlagen, sondern
auch durch die Ausschussberatungen viele Traditionen der österreichischen
Rechtsentwickelung auch dem künftigen Strafrechte erhalten, die Fortschritte
der Wissenschaft in den letzten Dezennien sowie manche Postulate der neuesten,
durch die internationale kriminalistische Vereinigung repräsentierten, krimi-
nalpolitischen Strömung, insbesondere was den Strafvollzug betrifft, berück-
sichtigt, namentlich auch das noch immer viel umstrittene Institut der bedingten
Verurteilung (richtiger des Aufschubes des Strafvollzuges) in einer im allgemeinen
wohl zu billigenden Einschränkung aufgenommen.
StrafgesetzgebuDg der Gegenwart. 1 1
2. Ungarn.
I. Die kodifikatorischen Bestrebungen.
§ 1. Ihre Vorgeschichte.
1. Die ungarische Strafgesetzgebung hat, von wenigen Abweichungen
abgesehen, die gleichen Entwickelungsstufen durchgemacht, wie die der anderen
europäischen Staaten. In der Zeit, da das Kompositionensystem der Typus der
europäischen Strafrechte war, war es auch der unseres Strafrechtes. Der
Übergang vom Kompositionensystem zu dem Abschreckungssystem fand bei uns
ebenso statt, wie in den übrigen europäischen Staaten. Schliesslich folgte
hierauf bei uns, ebenso wie anderswo, die Entwickelungsstufe, in welcher die
modern-humanistischen Prinzipien zur Geltung gelangten.
Der Einfluss der Rechtsansichten, die bei den grösseren europäischen
Völkern herrschten, könnte bei uns von Epoche zu Epoche nachgewiesen
werden. Die ungarische Nation war stets den Strömungen der Zeit unter-
worfen und suchte die Garantie ihrer Individualität nie in einer Isolierung
vor den kulturellen Bestrebungen der civilisierten Welt. Sie vermochte auch
die Ansprüche ihrer nationalen Individualität stets mit den Einwirkungen der
westeuropäischen Civilisation zu versöhnen.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Gesetze unserer ersten Könige
unter dem Einflüsse des kanonischen und fränkischen Rechts standen. Die
Gesetze Stephans des Heiligen (997 — 1038) und Ladislaus des Heiligen
(1077 — 1095) stehen auf keiner geringeren Entwickelungsstufe, als die frän-
kischen Kapitularien und das kanonische Strafrecht, welches zu jener Zeit in
der ganzen civilisierten Welt Gültigkeit hatte.
Es gab sogar einige unter unseren ersten Königen, die ihrem Zeitalter
auch in Bezug auf die Strafgesetzgebung weit vorausgeeilt waren.
Unter der Regierung des Königs Koloman (1095 — 1114), dem die Ge-
schichte wegen seiner wissenschaftlichen Neigungen den Beinamen Bticher-
Koloman gab, wurde kein einziges Gesetz geschafften, in welchem die Todes-
strafe verhängt wurde. Derselbe Koloman verbot die Verbrennung der Hexen
mit der Motivierung, dass es keine solchen gebe. Er setzte der Benützung des
glühenden Eisens und des heissen Wassers Schranken, indem er deren An-
wendung den bischöflichen Residenzen und einigen Propsteien anvertraute.
Die berühmte goldene Bulle des Königs Andreas des Zweiten (1222), welche
die magna Charta der ungarischen Verfassung ist, verbot die Verhaftung von
Edelleuten vor dem richterlichen Uneilsspruch. Seit der Zeit des Königs Bela
des Vierten (1235 — 1270) fängt die Anwendung des glühenden Eisens als
Beweismittel zu verschwinden an. Diese Thatsachen beweisen zur Genüge, dass
die ungarischen Gesetze um nichts grausamer waren, als die der übrigen Staaten.
§ 1. Vorgeschichte der kodiflkatorischeu Bestrebungen. 163
Seit Wladislav dem Zweiten wurden die Gesetze infolge des Bauern-
aufstandes, dessen Bekämpfung ausserordentliche Mittel erheischte, strenger.
Die Gesetze, welche nach der Schlacht von Mohäcs entstanden sind, tragen
auch den Stempel kriegerischer Zustände an sich. Infolge des unaufhörlichen
Kriegszustandes, in welchem Ungarn fast zwei Jahrhunderte lang sich befand
als einziger Schutz Europas gegen die türkische Invasion, konnte von einer
ruhigen Entwickelung des Strafrechtes keine Rede sein. Die durch die Re-
formation hervorgerufenen Religionsstreitigkeiten, welche Verbitterung der Ge-
müter, Schonungslosigkeit und Intoleranz mit sich brachten, blieben auch auf
die Strafgesetzgebung nicht ohne Einfluss. Die Gesetze dieses Zeitalters ver-
hängen über die Häretiker qualifizierte Todesstrafe. Dies ist aber eine Er-
scheinung, welche nicht nur in Ungarn, sondern auch im übrigen Europa
konstatiert werden kann, und welche in Westeuropa in den Schrecknissen der
Inquisition noch entsetzlicher auftritt als in den ungarländischen Verfolgungen
der Häretiker.
Ungarn musste, ausser dem Kampfe mit der Türkei, auch gegen Öster-
reich einen Kampf bestehen, und zwar einen Kampf um seine staatliche Un-
abhängigkeit und die Integrität seiner Verfassung. Solche Zeiten sind der
systematischen Arbeit der Gesetzgebung nicht günstig, und du die antiquierten
Gesetze, das Tripartitum Verboczys und die städtischen Rechte, weder ge-
nügend waren, noch durch neue gesetzgeberische Arbeiten ersetzt wurden,
übernahm in Ungarn der Richter die Rolle des Gesetzgebers. Der Geist der
Zeiten überflügelte die veralteten Bestimmungen des corpus juris und das
„prudens judicis arbitrium" wurde die herrschende Rechtsquelle. Das rich-
terliche Recht war natürlich bemüssigt, sein Augenmerk auf den Rechtsschatz
der vorgeschritteneren Nationen zu richten. Die italienischen Universitäten
wurden, wie durch neueste Forschungen ans Tageslicht gebracht ist, durch viele
Ungarn besucht. Wir begegnen im ungarischen Gewohnheitsrechte deutlichen
Spuren der italienischen Kechtsquellen. Dies ist am besten aus den ungarischen
Rechtsbüchem des 17. Jahrhunderts ersichtlich, welche mit dem eingestandenen
Zwecke der Beschreibung des ungarischen Gewohnheitsrechtes geschrieben
wurden, und in welchen mehrere Ansichten und Lehren der italienischen Ju-
risten enthalten sind. Den meisten Einfluss auf das ungarische Gewohnheits-
strafrecht übte aber doch die durch Ferdinand den Dritten im Jahre 1656
herausgegebene niederösteiTeichische Landgerichtsordnung (Forma processus
judiciarii criminalis seu praxis criminalisj. Dieses Werk wurde 1687 in Tymau
durch den Kardinal Kolonics in lateinischer Sprache herausgegeben und 169()
durch Szentivanyi der Ausgabe der ungarischen Gesetzsammlung beigefügt.
Der Reichstag vom Jahre 1728 — 29 untersuchte dieses Werk, verlieh ihm aber
keine Gesetzeskraft. Nichtsdestoweniger übte es auch fürderhin und zwar bis
zum Ende des 18. Jahrhunderts einen herrschenden Einfluss auf die Gerichts-
praxis aus. Ausserdem hatte Carpzows Werk einen grossen Einfluss auf die
Entwickelung der ungarischen Judikatur und zwar so, dass selbst strafgericht-
liche Urteile sich auf die practica nova beriefen.
2. Der Gedanke, dass ein heimisches Strafgesetzbuch geschaffen werden
müsse, entstand am Ende des 17. Jahrhunderts. Kardinal Kolonics verfasste
mit einigen Genossen im Jahre 1689 einen gross angelegten „Landes- Organi-
sations-Entwurf", in welchem die Schaffung eines Strafgesetzbuches empfohlen
wurde. Infolge dieser Bewegung entsandte der Reichstag im Jahre 1715 eine
Kommission (de emendatione legum et celebratione judiciorum). Diese Kom-
mission hat auf Grund des erhaltenen Auftrags auch die Schaffung eines Straf-
gesetzbuches in den Kreis ihrer Beratungen gezogen.
Der Entwurf dieser Kommission wurde auf dem Reichstage von 1723
11*
1(54 Ungarn. — Die kodifikatorischen Bestrebungen.
verhandelt, aber nicht entsprechend gefunden. Da aber die Reform allgemein
für dringend erachtet wurde, erliess Karl der Dritte am 11. Mai 1726 eine Ver-
ordnung an die Jurisdiktionen, in welcher diese aufgefordert werden, bis zum
Zusammentritt des Reichstages einen Strafgesetzentwurf auszuarbeiten. Wir
wissen auch, dass der darauffolgende Reichstag, auf Grund der Vorarbeiten
der Jurisdiktionen, einen Strafgesetzentwurf zu stände brachte, dass aber
dieser Entwurf nie zur Verhandlung gelangte. Die öffentliche Meinung liess
sich durch diese Verzögerung nicht ermüden, und die auf die Kodifikation des
Strafrechtes gerichteten Bestrebungen erhielten sich dauernd auf der Ober-
fläche. Ein im 18. Jahrhundert verfasstes Werk (tripartitum juris hungarici
tyrocinium, Szegedy 1734) hofft, dass Ungarn in kurzer Zeit ein selbständiges
Strafgesetzbuch haben wird. (Sperandum aliunde regis regnique auctoritate intra
annos non multos praxim criminalem regni propriam legibus conformem elabo-
ratum iri.) Diese kurze Zeit hat mehr als anderthalb Jahrhunderte gedauert.
3. Die Königin Maria Theresia, die dem Aufblühen Ungarns in allem
ein reges Interesse widmete, erliess am 11. Juli 1752 eine Verordnung, in
welcher die Ausarbeitung des Strafgesetzbuches angeordnet wird. Mit dem
Vollzuge dieser Verordnung wurde durch die königliche Statthalterei eine
separate Kommission betraut. Die Arbeiten dieser Kommission wurden durch
das Inslebentreten des Josephinischen allgemeinen Strafgesetzbuches gegen-
standslos gemacht. Der geniale Joseph der Zweite, dessen Regierung in die
Zeit fällt, wo das Wirken der Beccaria und Filangieri die Schaffung systema-
tischer und humanitärer Strafgesetzbücher ermöglichte, wollte auch für Ungarn
ein diesen Anforderungen entsprechendes Strafgesetzbuch schaffen. Er ver-
fehlte aber den richtigen Weg. Er wollte das Strafgesetz , welches übrigens
auf dem Niveau der hohen Ideeen seines Zeitalters stand und die Todesstrafe
im gewöhnlichen Strafverfahren abgeschafft hatte, mittels kaiserlicher Verord-
nung ins Leben treten lassen. Ungarn aber, welches vor allem seine ver-
fassungsmässigen Rechte, die zur Schaffung eines Strafgesetzes die Mitwirkung
des Reichstags fordern, gewahrt wissen wollte, verweigerte die Anerkennung
und Befolgung dieser königlichen Verordnung ebenso wie die der anderen
Verordnungen Josephs des Zweiten. Faktisch war wohl das Josephinische
Strafgesetzbuch in den Jahren 1787 — 90 in Geltung, ohne aber auf die Rechts-
ansichten der ungarischen Gerichte, welche den Josephinischen Verfassungs-
widrigkeiten durchwegs feindlich gesinnt waren, einen nennenswerten Einfluss
auszuüben. Dieses Strafgesetzbuch, resp. die kaiserliche Verordnung, wurde
übrigens bereits im Jahre 1791 gesetzlich ausser Kraft gesetzt.
4. Nach Herstellung der Verfassung unter der Regierung Leopold des
Zweiten sah der Reichstag ein, dass die Gerichtszustände unhaltbar waren.
Der Reichstag von 1791 erklärte die Schaffung eines systematischen Straf-
gesetzes für dringend. Die neuen Ideeen forderten ihr Recht. Es gab zwar
eine Partei, die den freiheitlichen Ideeen nur aus dem Grunde feindlich gegen-
überstand, weil sie die Ideeen Josephs IL waren, die Mehrheit des Reichstages war
ihnen aber ergeben. Der Gesetz- Artikel LXVII, 1791, entsandte eine Landes-Justiz-
Kommission zur Ausarbeitung eines systematischen Strafgesetzbuches (elaboratio
codicis criminalis). Die Kommission entsprach ihrer Aufgabe und zwar in der
Weise, dass ihre Arbeit (codex de delictis eorumque poenis pro tribunalibus regni
hungarici part. eidem annex. Pest 1807) als auf der Höhe ihrer Zeit stehend be-
X zeichnet werden kann. Der Entwurf schliesst sich dem System, der Einteilung
und der Behandlungsweise ganz nach der damals herrschenden typischen ver-
nunftrechtlichen Richtimg an. Die humanistischen Bestrebimgen des Zeitalters
gelangen in ihm zum Ausdruck, und er kann den Vergleich mit allen damaligen
Gesetzbüchern Europas bestehen. Diese hervorragende Arbeit kam aber nicht
§ 1. Vorgeschichte der kodifikatorischen Bestrebungen. 165
zur Verhandlung, da die politischen Zustände, welche durch die französische
Revolution hervorgerufen wurden, alle Aufinerksamkeit für sich in Anspruch
nahmen.
5. Die kodifikatorischen Bestrebungen ruhten hierauf bis zur Schaffung
des Gesetz-Artikel VIII , 1827. Dieses Gesetz entsandte wieder eine Kom-
mission mit der Aufgabe, den Entwurf von 1791 zu überprüfen. Die Kom-
mission hat aber, anstatt ihr Augenmerk auf die Reformideeen zu richten, die
Lösung ihrer Aufgabe darin gesucht, dass sie aus den antiquierten ungarischen
Rechtsgrundsätzen und aus dem österreichischen Strafgesetzbuche von 1803
ein Konglomerat zu machen versuchte. Diese Bestrebungen mussten natürlich
fehlschlagen, da der Charakter des ausgearbeiteten Entwurfes durchwegs reak-
tionär war. Es ist auch gar nicht zu beklagen, dass dieser Entwurf, der, mit
dem Entwurf von 1791 verglichen, einen entschiedenen Rückschritt bedeutet,
keine Gesetzeskraft erlangt hat.
6. Wieder dreizehn Jahre waren vergangen, bis sich der Reichstag wieder
mit der Fi'age der Strafrechtsreform beschäftigte. Der Ausgangspunkt der
neuen Bewegung war die Frage der Gefängnisreform. Das allgemeine Interesse
für die Gefängnisfrage wurde durch zwei grosse Staatsmänner, durch den
Baron Joseph Eötvös und Berthold Szemere in der Weise wachgerufen, das«
der Gesetz -Artikel V, 1840, wieder eine Kommission niedersetzte, welche
mit der Ausarbeitimg eines Straf- und Verbesserungssystems der Gefängnisse
betraut wurde. Nur als Anfang hierzu erwähnt das Gesetz, dass von der
Kommission auch eine Verbesserung des Strafgesetzentwurfes vom Jahre 1827
ge^vünscht werde. Die Kommission bestand aus den hervorragendsten Mit-
gliedern des Reichstages, von welchen es genügen wird, einige Namen, wie
Franz Deäk, Georg Majläth, Baron Nikolaus Vay, Graf Georg Apponyi, Baron
Joseph Eötvös und Franz Pulszky zu nennen. Der Referent der Kommission
war ^er grösste Historiker und einer der grössten Publizisten Ungarns, La-
dislaus Szalay.
Die Kommission erklärte das auf Grund der Abschreckungstheorie und
der Standesunterschiede verfasste österreichische Strafgesetzbuch vom Jahre 1803
und den diesem nachgebildeten ungarischen Entwurf von 1827 für unbrauch-
bar. Sie musste einen neuen Entwurf ausarbeiten. Hierzu entschloss sie sich
um so leichter, als ein auf die Rechtsgleichheit basiertes Strafgesetzbach auch
als wirkungsvolles Mittel zur Bekämpfung der Standesunterschiede der unga-
rischen Verfassung betrachtet wurde. Übrigens war die Kodifikation und die
Strafrechtswissenschaft im Auslande schon so weit vorgeschritten, dass man
eine Kodifikation auch kaum anders als auf Grund der modernen Ideeen in
Angriff nehmen konnte.
Die Kommission zerfiel in drei Subkommissionen. Den Mittelpunkt der
strafrechtlichen Subkommission bildete Franz Deäk. Die Kommission arbeitete
in kaum anderthalb Jahren den Entwurf eines Strafgesetzes samt Polizeigesetz,
eines Strafverfahrens samt Polizeiverfahren und eines Gefängnissystems aus.
Der Entwurf des Strafgesetzes, von dem hier allein die Rede sein kann, ist,
wie wir es mit der grössten Objektivität erklären können, eine legislatorische
Arbeit ersten Ranges, welche auch nach den Äusserungen ausländischer Auto-
ritäten selbst dem civilisiertesten Staate Westeuropas zur Zierde gereichen
würde. Der Entwm'f fusst auf den Ideeen des modernen Fortschrittes. Er
enthält sogar mehrere solche Prinzipien, die noch heute als ein Ziel der
europäischen Gesetzgebungen betrachtet werden. Seine humanistische Richtung
äussert sich in der Abschaffung der Todesstrafe und der infamierenden Strafen,
und in der Abschaffung der Strafminima. Das Gefängnissystem wurde darin
auf Grund des Einzelhaftsystems organisiert. Der Entwurf errang sich die
166 UngariJ. — Die kodifikatorischen BestrebuDgen.
Anerkennung der europäischen Presse und wurde durch Mittermaier, die erste
Autorität jener Epoche, mit Begeisterung aufgenommen. Mittermaier stand
überdies in reger Korrespondenz mit mehreren Mitgliedern der Subkommission.
Der Reichstag von 1843 — 44 machte sich mit Eifer an die Verhandlung
des Entwurfes. Da aber zwischen dem Unter- und dem Oberhause des Reichs-
tages betreffs der Grundprinzipien des Entwurfes sich Meinungsverschieden-
heiten kundgaben, zogen sich die Verhandlungen in die Länge, und erlangte
der Entwurf bis zum Schluss des Reichstages keine Gesetzeskraft.
?• Der Reichstag von 1847 — 48 wäre berufen gewesen, den Entwurf
weiter zu verhandeln. Franz Deäk, der Justizminister der ersten ungarischen
verantwortlichen Regierung, hielt es für eine seiner hauptsächlichsten Pflichten,
die Idee des Strafgesetzbuches zu verwirklichen, wurde aber hieran durch
den dazwischengekommenen Freiheitskampf gehindert.
Nach Beendigung des Freiheitskampfes betrachtete die zur Herrschaft
gelangte Regierung Ungarns tausendjährige Verfassungsrechte als erloschen
und wollte Ungarn in die einheitliche österreichische Monarchie einverleiben.
Unter anderen Gesetzen wurde in Ungarn das österreichische Strafgesetz vom
27. Mai 1852 publiziert, welches aber nur bis zum Jahre 1860 geltend blieb.
Nachdem nämlich das Oktoberdiplom vom Jahre 1860 die ungarische Verfassung
teilweise wieder hergestellt hatte, wurde unter dem Präsidium des Judex Curiae
Graf (reorg Apponyi am 23. Januar 1861 eine Kommission einberufen, welche
die ,,provisorischen Gerichtsnormen" festzustellen die Aufgabe hatte. Durch
diese Kommission wurde das frühere ungarische Strafrecht, bezw. die straf-
rechtliche Praxis mit wenigen durch die veränderten Verhältnisse nötig ge-
wordenen Kodifikationen wieder hergestellt.
Diese auf so morschen Grundlagen stehende strafrechtliche Praxis hatte
nur deshalb keine grösseren Übel hervorgerufen, weil die Richter sich nicht
an die veralteten Gesetze hielten. Es war eine ungarische Tradition, dass der
Richter sich zur Verbesserung der schlechten Gesetze berechtigt fiLhlte. Natür-
lich war in diesem Zustande jede Gleichförmigkeit und Folgerichtigkeit in der
Judikatur ausgeschlossen. Die Notwendigkeit der Kodifikation wurde dringend.
Gleich nach der gänzlichen Wiederherstellung der ungarischen Verfassung stellte
sich der zweite verantwortliche Justizminister des Landes, der hochherzige
Balthazar Horvdth, die Aufgabe, den Strafgesetzentwurf vom Jahre 1843 um-
zuarbeiten. p]s 'wairden zwei Arbeiten fertiggestellt, aber keine wurde geeignet
gefunden, dem Reichstage vorgelegt zu werden.
Schliesslich wurde die Idee laut, dass ein neuer und selbständiger Straf-
gesetzentwurf verfertigt werden sollte, in welchem die neueren Errungen-
schaften der Wissenschaft, das ungarische Gewohnheitsrecht und die speziellen
Anforderungen der Nation in Betracht zu ziehen wären.
§ 2. Die neueste Epoche der Kodifikation.
Es zeugt von der grossen Menschenkenntnis des Justizministers Balthazar
HorvAth, dass er mit der Abfassung eines Strafgesetzentwurfes den damaligen
Ministerialrat und späteren Staatssekretär und Kurialsenatspräßidenten Karl
Csemegi betraut hat. Der ausserordentliche Fleiss, das scharfe kritische Ur-
teil, der weite Gesichtskreis und die staatsmännische Einsicht dieses hervor-
rag(»nden Gelehrten bildeten die beste Garantie für den Erfolg des Unter-
nehmens. Eine bessere Wahl hätte kaum getroffen werden können.
Der Anfang der kodifikatorischen Arbeit ging etwas langsam von statten,
da Karl Csemegi durch die nötig gewordene AT)fassung des Gerichtsorganisa-
tionsgesotzes und der provisorischen Strafprozessordnung daran gehindert ^>nirde.
§ 2. Die neueste Epoche der Kodifikation 167
Der Justizminister Stefan Bittö, der Nachfolger Balthazar Horväths, hielt
den durch seinen Vorgänger erteilten Auftrag aufrecht. Karl Csemegi beendigte
die erste Abfassung des Entwurfes im August 1872. Diesen Entwurf arbeitete er
aber im nächsten Jahre um und versah ihn mit einer gross angelegten Moti-
vierung, welche an und für sich als ein wissenschaftliches Werk gelten kann.
Das war übrigens in Ungarn nötig, da die Motivierung auch eine Lücke in
Ungarns damals unentwickelter wissenschaftlicher Litteratur ausfüllen musste.
Die Arbeit ist im Sommer des Jahres 1874 erschienen und wurde durch
den inzwischen Justizminister gewordenen üniversitätsprofessor Theodor Pauler
dem Abgeordnetenhause vorgelegt. Wegen der kurz hierauf eingetretenen Auf-
lösung des Reichstages konnte aber dieser Entwurf nicht zur Verhandlung kommen.
Zu dieser Zeit erschien in Österreich der Glasersche Entwurf, der viel
wertvolles Material enthielt, und mit dem sich Ungarns öffentliche Meinung
neben dem Csemegischen Entwürfe stark beschäftigte. Infolgedessen war es
Karl Csemegi selbst, der im Jahre 1875 die Revision seines Entwurfes beantragte,
womit der damalige Justizminister B61a Perczel ihn betraute.
Der revidierte Entwurf wurde samt der Motivierung des speziellen Teiles
bald fertig und im August 1875 durch den Justizminister einer aus hervor-
ragenden praktischen Juristen bestehenden Kommission unterbreitet, welche
ihn in acht Sitzungen besonders aus dem Gesichtspunkte der bestehenden
ungarischen Verhältnisse prüfte.
Am 5. November 1875 wurde der Entwurf dem Abgeordnetenhause imter-
breitct und hier an die Justizkommission überwiesen. Diese verhandelte den
Entwurf sowohl hinsichtlich der allgemeinen Prinzipien, wie auch der einzelnen
Bestimmungen in 59 Sitzungen und unterbreitete ihren Bericht dem Abgeord-
netenhause am 15. September 1877.
Die Verhandlung im Plenum des Hauses nahm am 22. November ihren
Anfang. Sie wurde durch eine gross angelegte Rede des inzwischen wieder
Üniversitätsprofessor gewordenen Theodor Pauler eröffnet und blieb bis zum
Schluss auf einem hohen Niveau. Besonders bemerkenswert sind die klassischen
Reden des Kodifikators selbst. Das Ergebnis der Verhandlung war die An-
nahme des Entwurfes mit einigen durch die Justizkonmiission beantragten
Modifikationen, die teils auf die Textierung, teils auch auf einige Prinzipien
Bezug hatten.
Hierauf wurde der Entwurf dem Oberhause zugesandt, welches ihn am
18. Februar 1878 in Verhandlung zog, in fünf Sitzungen verhandelte und mit
Beantragung einiger nicht unwichtiger Modifikationen an das Abgeordneten-
haus zurückleitete. Das Abgeordnetenhaus verhandelte diese Modifikationen
am 27. März, nahm einige derselben an, blieb aber in Betreff der übrigen auf
seinem früheren Standpunkte. In der hierauf folgenden neuerlichen Verhand-
lung des Oberhauses trat dieses den Anträgen des Abgeordnetenhauses im
allgemeinen bei, hielt aber seinen früheren Standpunkt in Bezug auf einen
einzigen Punkt aufrecht. Die Differenz wurde endlich durch das Abgeordneten-
haus gänzlich gehoben, indem es in seiner Sitzung vom 8. April den Stand-
punkt des Oberhauses acceptierte. Der Gesetzentwurf wurde am 27. Mai mit
der königlichen Sanktion versehen und als Gesetz- Artikel V vom Jahre 1878
unter dem Titel „Das ungarische Strafgesetzbuch über Verbrechen und Ver-
gehen'* am 29. Mai in beiden Häusern des Reichstages publiziert.
Endlich haben also die hundertjährigen Bestrebungen und Kämpfe zum
Ziele geführt. Um dieses Ergebnis hat sich Karl Csemegi nicht nur als
Koditikator verdient gemacht, sondern auch als Staatssekretär und Parlaments-
mitglied, indem er als solches den Strafgesetzentwurf mit ausserordentlicher
Zähigkeit und Energie auf der Tagesordnung des Parlaments erhielt.
168 Ungarn. — Das geltende Recht.
n. Das geltende Recht.
§ 3. Die ungarischen Strafgesetze und ihre Einteilung.
1. Wir haben einen Kodex (GA. V, 1878) über die Verbrechen und
Vergehen und einen anderen (GA. LX, 1879) über die Übertretungen.
Die Delikte werden also, gemäss dein Dreiteilungssystem, in Verbrechen, Ver-
gehen und Übertretungen eingeteilt, während der Entwurf' von 1843 das Zwei-
teilungssystem (Verbrechen und Übertretungen) befolgte.
Da es zwischen Verbrechen und Vergehen keinen qualitativen Unter-
schied giebt, ist es der quantitative Unterschied, auf Grund dessen die Teilung
in zwei Gruppen vollzogen wird. Die Einteilung basiert auf dem System der
„distinctio ex poena". Wie diese Einteilung durchgeführt wird, werden wir
unten beim Strafensystem hervorheben. Wir müssen aber schon hier bemerken,
dass nur dolose Handlungen ein Verbreclien bilden können und dass diese
Regel auch in Bezug auf die Vergehen gilt, insoweit die speziellen Be-
stimmungen des Gesetzes nicht fahrlässige Handlungen als Vergehen erklären.
Das ungarische Strafgesetzbuch über Verbrechen und Vergehen zählt
486 Paragraphen. Hiervon zählt der allgemeine Teil 125 und der spezielle
Teil 361 Paragraphen. Jeder Teil besteht aus selbständigen Abschnitten. Im
allgemeinen Teil giebt es 9 Abschnitte, im speziellen 43. Der allgemeine Teil
enthält alle die allgemeinen Bestimmungen, welche auf dem Gebiete des
ganzen Strafgesetzes giltig sind, insofern die speziellen Bestimmungen dem
nicht widerstreiten, und diejenigen, welche die Grundlage oder die Ergänzung
der einzelnen speziellen Bestimmungen bilden.
Bei der Bestimmung der Aufeinanderfolge der Abschnitte wurden die-
jenigen rein doktrinären Gesichtspunkte, welche die Übersichtlichkeit hindern
und disparate Delikte nebeneinander stellen, vermieden. Ebenso wurde aber
die Systemlosigkeit vermieden. Die sechsfache Einteilung des code penal und
der ihm ähnlichen Gesetze (I.Bücher, IL Titel, III. Kapitel, IV. Abschnitte,
V. Artikel, VI. Paragraphen) wurde nicht acceptiert.
Im allgemeinen Teile, welcher den Titel „Allgemeine Bestimmungen"
führt, sind die Paragraphen folgendermassen eingeteilt:
I. Abschnitt. Einleitende Verfügungen. §§ 1 — 4. II. Abschnitt. Wirksamkeit
dieses Gesetzes hinsichtlich des Gebietes und der Personen. §§ 5 — 19. III. Ab-
schnitt. Strafen. §§ 20—64. IV. Abschnitt. Der Versuch. §§ 65—68. V. Ab-
schnitt. Teilnahme. §§ 69 — 74. VI. Abschnitt. Vorsatz oder Fahrlässigkeit.
§ 75. VII. Abschnitt. Gründe, welche die Strafe ausschliessen oder mildern.
76 — 94. VIII. Abschnitt. ZusanunentreflFen mehrerer strafbarer Handlungen.
95 — 104. IX. Abschnitt. Gründe, welche die Strafverfolgung und die Straf-
voUstreckung ausschliessen (Tod, Begnadigung, Verjährung, Antragsdelikte)
§§ 105—125.
Der zweite oder spezielle Teil enthält die einzelnen Verbrechen und
Vergehen und ihre Bestrafung. In erster Reihe handelt er von den Verbrechen
und Vergehen gegen den Staat, die staatlichen Institutionen und den Staats-
kredit. Hiemach folgen die Verbrechen und Vergehen gegen Privatpersonen
und zwar gegen die Ehre, das Leben, den Körper, die Gesundheit, die persön-
liche Freiheit, das Recht des Individuums und endlich gegen das Vermögen.
Am Ende stehen die gemeingefährlichen Verbrechen und Vergehen.
Die Paragraphen des zweiten Teiles, welcher die Aufschrift führt: „Die
einzelnen Verbrechen und Vergehen und ihre Bestrafung", wurden wie folgt
eingeteilt:
§ 3. Die iiiig'ai'ischen Strafgesetze und ihre Einteilung. 169
1. Abschnitt. Hochven-at. §§ 126—138. 11. Abschnitt. Thätlichkeiten
gegen den König und gegen Mitglieder des königlichen Hauses. Beleidigung
des Königs. §§139—141. III. Abschnitt. Staatsverrat. §§142—151. IV. Ab-
schnitt. Aufstand. §§ 152 — 162. V. Abschnitt. Gewaltthätigkeit gegen Be-
hörden, gegen Mitglieder des Keichstages und gegen behördliche Organe.
§^ 163 — 170. VI. Abschnitt. Aufreizung gegen die Verfassung, die Gesetze,
die Behörden oder die behördlichen Organe. §§171—174. VII. Abschnitt, Ge-
waltthätigkeit gegen Privatpersonen. §§ 175 — 177. VIII. Abschnitt. Ver-
brechen und Vergehen gegen das Wahlrecht. §§ 178 — 189. IX. Abschnitt.
Verbrechen und Vergehen gegen die freie Religionsübung. §§ 190 — 192. X. Ab-
schnitt. Verletzung der persönlichen Freiheit, des Hausrechtes, des Brief- und
Depeschengeheininisses durch öffentliche Beamte. §§193 — 202. XI. Abschnitt.
Geldverfälschung. §§ 203—212. XII. Abschnitt. Falsche Aussage und Mehi-
eid. §§213 — 226. XIII. Abschnitt. Falsche Anschuldigung. §§227—231.
XIV. Abschnitt. Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit. §§ 232 — 250.
XV. Abschnitt. Zweifache Ehe. §§ 251—253. XVI. Abschnitt. Verbrechen
und Vergehen in Beziehung auf den Familienstand. §§ 25^ — 257. XVII. Ab-
schnitt. Verleumdung und Ehrenbeleidigung. §§ 258 — 277. XVIII. Abschnitt.
Verbrechen und Vergehen wider das Leben. §§ 278 — 292. XIX. Abschnitt.
Zweikampf. §§293—300. XX. Abschnitt. Köi-perverletzung. §§301—313.
XXI. Abschnitt. Verbrechen und Vergehen wider den öffentlichen Gesund-
heitsstand. §§ 314 — 316. XXII. Abschnitt. Verletzung der persönlichen Frei-
heit durch Privatpersonen. §§ 317 — 326. XXIII. Abschnitt. Verletzung des
Brief- und Depeschengeheimnisses durch Privatpersonen. § 327. XXIV. Ab-
schnitt. Verletzung fremder Geheimnisse. §§ 328—329. XXV. Abschnitt.
Hausfriedensbruch durch Privatpersonen. §§ 330 — 332. XXVI. Abschnitt.
Diebstalü. §§ 333—343. XXVII. Abschnitt. Raub und Erpressung. §§ 344
bis 354. XXVni. Abschnitt. Unterschlagung, Verletzung der behördlichen
Sperre und Untreue. §§ 355—364. XXIX. Abschnitt. Widerrechtliche An-
eignung. §§ 365—369. XXX. Abschnitt. Hehlerei und Begünstigung. §§ 370
bis 378. XXXI. Abschnitt. Betrug. §§ 379—390. XXXII. Abschnitt. Ur-
kundenfälschung. §§ 391—407. XXXIII. Abschnitt. Ausstellung und Be-
nützung falscher ärztlicher und Gemeinde-Zeugnisse. §§ 408 — 411. XXXIV.
Abschnitt. Stempel Verfälschung. §§ 412—413. XXXV. Abschnitt. Betrüge-
rischer und schuldbarer Bankerutt. §§ 414 — 417. XXXVI. Abschnitt. Sach-
beschädigung. §§418—421. XXXVII. Abschnitt. Brandstiftung. §§422—428.
XXXVIII. Abschnitt. Herbeiführung einer Überschwemmung. §§ 429—433.
XXXIX. Abschnitt. Beschädigung von Eisenbahnen, Schiffen und Telegraphen
und andere gemeingefährliche Handlungen. §§ 434 — 446. XL. Abschnitt. Be-
freiung von Gefangenen. §§447 — 448. XLI. Abschnitt. Verbrechen und Ver-
gehen gegen die bewaffnete Macht. §§ 449 — 460. XLII. Abschnitt. Verbrechen
und Vergehen im Amte und Missbrauch der Advokatenstellung. §§ 461 — 484.
XLIII. Abschnitt. Schlussbestimmungen. §§ 485 — 486.
2. Die zweite Hauptrechtsquelle neben dem Gesetzbuch über Verbrechen
imd Vergehen (GA. V, 1878) ist das „Gesetzbuch über Übertretungen"
(GA. XL, 1879). Der Entwurf dieses Gesetzes ist ebenfalls das Werk
Karl Csemegis. Der Entwurf wurde im Jahre 1878 dem Reichstage unter-
breitet, wurde aber nur im Justizausschusse verhandelt, da der Reichstag auf-
gelöst wurde, bevor es zur Plenarverhandlung kam. Im Herbste des Jahres
1878 wurde der Entwurf' dem neuen Reichstage in der Fassung unterbreitet,
in welcher er durch den Justizausschuss des früheren Reichstages angenommen
worden war. Das Abgeordnetenhaus verhandelte ihn vom 24. bis 28. Mai
1879, das Oberhaus am 7. Juni desselben Jahres. Das Oberhaus beantragte
170 UngSLTn. — Das gleitende Recht.
nur eine einzige Veränderung des Gesetzes (im § 30), welchem Antrage das
Abgeordnetenhaus zustimmte. Hiemach wurde der Entwurf am 11. Juni mit
der allerhöchsten Sanktion versehen und als Gesetz-Artikel XL vom Jahre 1879
unter dem Titel „Ungarisches Strafgesetzbuch über Übertretungen" am 14. Juni
in beiden Häusern des Reichstages publiziert.
Dieses Gesetz enthält 145 Paragraphen und ist in zwei Teile eingeteilt.
Der erste mit dem Titel ,,Allgemeine Bestimmungen" enthält 32 Paragraphen,
der zweite mit dem Titel „Von den Arten der Übertretungen und deren Be-
strafung" enthält die übrigen Paragraphen und ist ausserdem in 11 Abschnitte
eingeteilt. Die Titel der Abschnitte sind die folgenden:
I. Abschnitt. Die Übertretungen gegen den Staat. §§ 33 — 38. II. Ab-
schnitt. Übertretungen gegen die Behörde und die öffentliche Ruhe. §§ 39 — 50.
III. Abschnitt. Übertretungen gegen die Religion und deren freie Ausübmig.
§§ 51 — 54. IV. Abschnitt. Übertretungen bezüglich der Fälschung von Geld
und Wertpapieren. §§ 55 — 59. V. Abschnitt. Übertretungen gegen den Fa-
milienstand. § 60. VI. Abschnitt. Übertretungen gegen die öffentliche Sicher-
heit. §§ 61 — 73. VII. Abschnitt. Übertretungen gegen die öffentliche Ruhe
und öffentliche Moral. §§ 74 — 86. VIII. Abschnitt. Übertretungen durch
Glücksspiele. §§ 87 — 91. IX. Abschnitt. Übertretungen gegen die Gesundheit
und körperliche Sicherheit. §§ 92 — 125. X. Abschnitt. Übertretungen gegen
das Eigentum. §§126—143. XI. Abschnitt. Schlussbestimmungen. §§144—145.
§ 4. Einftihrang der ungarischen Strafgesetzbücher.
In den beiden ungarischen Gesetzbüchern wurde ausgesprochen, dass
betreffs des Inslebentretens sowie der Übergangsbestimmungen dieser Gesetze
ein spezielles Einführungsgesetz verfügen werde.
Mit der Abfassung dieses Gesetzentwurfes betraute der Justizminister
Pauler den Abgeordneten und heutigen Staatssekretär im Justizministerium
Stefan Teleszky. Der Entwurf wurde nach einer Ausschussberatung als Regie-
rungsentwurf am 22. Januar 1880 dem Abgeordnetenhause vorgelegt. Der Be-
richt des Justizausschusses, in welchem der etwas modifizierte Entwurf zur
Annahme empfohlen wurde, wurde am 5. März dem Abgeordnetenhause vor-
gelegt. Der Entwurf' wurde im Abgeordnetenhause am 28. und 29. März
verliandelt und zwecks neuerlicher Textierung einiger Paragraphen an den
Justizausschuss zurückgeleitet. Der Ausschuss erstattete am 8. Mai den zweiten
Bericht, worauf der Entwurf vom Abgeordnetenhause und später auch vom
Oberhause (Magnatentafel) angenommen wurde. Der Entwurf* wurde am 15. Juni
mit der königlichen Sanktion versehen und am 21. in beiden Häusern des
Reichstages als Gesetz- Artikel XXXVII vom Jahre 1880 unter dem Titel „Über
die Einführung der ungarischen Strafgesetzbücher" publiziert. Das Gesetz,
welches aus 49 Paragraphen besteht, bestimmt, dass die beiden ungarischen
Strafgesetzbücher am 1. September 1880 in Wirksamkeit treten.
§ 5. Allgemeine Charakteristik der Strafgesetzbileher.
1. Bei der Ausarbeitung des Strafgesetzentwurfes wurden alle Quellen,
welche beim damaligen Stande der Wissenschaft und mit Bezug auf die Ver-
hältnisse unseres Landes massgebend waren, gewissenhaft benutzt. Der Ein-
fluss des deutschen Reichsstrafgesetzbuches, der belgischen und Züricher Straf-
gesetze, sowie auch der italienischen und der Glaserschen (österreichischen)
Strafgesetzentwürfe auf unser Strafgesetzbuch kann zweifellos festgestellt wer-
den. Der Autor des Entwurfes beherrschte den ganzen Stoff der deutschen,
§ 5. Allgemeine Charakteristik der Strafgesetzbücher. 171
französischen und italienischen Strafrechtswissenschaft und zog bei seiner
Arbeit alle Ergebnisse der wissenschaftlichen Kritik in Betracht. Die Arbeit
war mit gi'osseu Schwierigkeiten verbunden, da die Kontinuität der Entwick
lung fehlte. Die Gerichtspraxis, weiche sich unter dem Einflüsse des öster-
reichischen Strafgesetzes entwickelt hatte, war voll von Irrtümern. Überlebte
Lehren wurden als Wahrheiten verkündet. Es war unmöglich, ein neues Straf-
gesetzbuch auf diese Praxis zu gründen. Diese musste eher ausgerottet werden.
Die Litteratur hatte in jener Zeit noch keinen solchen Aufschwung genommen,
dass sie als Vorläuferin der grossen Refonn hätte gelten können. Die in der
Praxis herrschenden Prinzipien des österreichischen Strafgesetzbuches verlockten
nicht zu wissenschaftlicher Verarbeitung. Den litterarischen Arbeiten, welche
produziert wurden, fehlte die modern positive Grundlage, und es herrschte in
der Litteratur die vernunftrechtliche Richtung vor. Es fehlte also das Binde-
glied zwischen dei Litteratur und dem neuen Strafgesetze; und wenn wir
dieses und die oben dargestellten geschichtlichen Momente in Betracht ziehen,
muss es uns klar werden, dass das ungarische Strafgesetz nicht wie das deutsche
oder italienische, welchen partikuläre Gesetze und (»ine blühende Litteratur
vorausgingen, auf geschichtlicher Grundlage stehen konnte.
Es giebt in Ungarn viele, die dem Strafgesetzbuche den Vorwurf machen,
dass es nicht wenigstens einige Prinzipien des Entwurfes von 1843 übernahm.
Man beruft sich hierauf insbesondere deshalb, weil sich in der Praxis die
Minima des Strafgesetzes (bei Zuchthaus 2 Jahre, bei Kerker 6 Monate) als
zu hoch erwiesen haben, und da man dieser Unzukömmliehkeit hätte aus-
weichen können, wenn man das hier in Betracht kommende Prinzip des vr-
wähnten Entwurfes, welcher bei keiner Strafe ein Minimum vorschreibt, über-
nommen hätte.
Hiennit gehen wir über zur Charakterisierung des Systems und der Rich-
tung des Strafgesetzbuches.
2» Das Grundprinzip des ungarischen Strafgesetzbuches ist dasselbe ver-
einigte Prinzip der Gerechtigkeit und Nützlichkeit, welches die Grundlage
aller civilisierten Strafgesetze bildet. Das ganze System und alle Bestim-
mungen des ungarischen Strafgesetzes sind von dieser Vereinigungstheorie
durchdrungen. Das Nützlichkeitsprinzip kommt besonders bei den Fragen
der Entlassung auf Widerruf, der Begnadigung, der Verjährung, des Rück-
trittes vom Versuche usw. zum Vorschein. Das ungarische Strafgesetz hält
sich sowohl von der Theorie der absoluten Gerechtigkeit, als von der des
rollen Utilitarismus ferne, und es gelingt ihm, die beiden Gesichtspunkte glück-
lich zu vereinigen.
3. Die ungarischen Strafgesetzbücher (GA. V, 1878, über Verbrechen
und Vergehen und GA. XL, 1879, über Übertretungen) enthalten nicht
sämtliche Rechtsobjekte, welche unter dem strafrechtlichen Schutze des Staates
stehen. Das Bestreben der Theoretiker, alle strafrechtlichen Institutionen in
ein einzelnes Gesetzbuch zusammen zu fassen, konnte bei uns ebensowenig
durchdringen, wie anderswo. Die gi'osse Zahl der unten aufgezählten speziellen
Gesetze zeigt, dass bereits bei der SchaflFung des Einführungstjfesetzes mehrere
strafrechtliche Bestimmungen anderer Gesetze aufrecht erhalt(^n und dass seit-
dem viele neue Gesetze solcher Art geschaffen werden nmssten.
Hier muss zugleich hervorgehoben werden, dass das Strafgesetzbuch sich
auch auf die im Wege der Presse begangenen Verbrechen und Vergehen er-
streckt. Das Strafgesetzbuch bestimmt die strafbaren Handlungen und ihre
Strafen, und der GA. XVHI, 1848, ist hinsichtlich dieser Handlungen und
Strafen ausser Kraft gesetzt. Hinsichtlich des Verfahrens, der Presspolizei,
der stufen weisen Verantwortlichkeit ist das Pressgesetz noch immer in Kraft.
172 Ungarn. — Das g-elteude Recht.
4. Das Strafen System des Gesetzes bestrebt sich, die Ansprüche der
HuüiAnität mit denen der Gerechtigkeit und der nötigen Strenge in Einklang
zu bririgen.
Die Todesstrafe erscheint im Gegensatz zu dem Entwuif vom Jahre
1843 aufrecht erhalten, wird aber nur im Falle des Mordes und der voraätz-
lichen Tötung des Königs angewendet.
Der Schwerpunkt der Strafen liegt in den Freiheitsstrafen. Das Straf-
gesetzbuch über Verbrechen und Vergehen kennt vier Arten der Freiheits-
strafen: Zuchthaus, Staatsgefängnis (honesta custodia), Kerker, Gefängnis.
Die schwersten Verbrechen unterliegen der lebenslänglichen Zuchthaus-
strafe. Die längste Dauer der zeitigen Freiheitsstrafen ist 15 Jahre. Ent-
scheidend für dieses Maximum waren die bei Abfassung des norddeutschen
Strafgesetzes gepflogenen Untersuchungen, welche zur Folge hatten, dass das
deutsche Reichsstrafgesetzbuch und das Züricher Strafgesetzbuch dasselbe
Maximum acceptierten.
Die Zuchthausstrafe kann also lebenslänglich oder zeitig sein. Ihre
kürzeste Dauer beti'ägt 2 Jahre.
Die längste Dauer des Staatsgefängnisses beträgt 15 Jahre, die kürzeste
einen Tag.
Die längste Dauer des Kerkers beträgst 10 Jahre, die kürzeste 6 Monate.
Die Gefängnisstrafe kann bis zu 5 Jahren verhängt werden, ihre kürzeste
Dauer beträgt einen Tag.
Die Todesstrafe, Zuchthaus- und Kerkerstrafen werden ausschliesslich auf
Verbrechen, die Gefängnisstrafe ausschliesslich auf Vergehen angewendet.
Das Staatsgefängnis ist unter 5 Jahren auf Vergehen, sonst auf Verbrechen
anzuwenden.
Ob das Delikt ein Verbrechen oder ein Vergehen bildet, wird nicht
durch das im speziellen Teile des Gesetzes festgestellte Strafausmass, sondern
durch die im konkreten Falle durch das Gericht bemessene Strafe bestimmt.
Dies ist im Gesetze nicht ganz klar ausgesprochen, und es erwähnt das Gesetz
auch nicht, ob das im Wege der Korrektionalisation als Vergehen qualifizierte
Delikt dieselben rechtlichen Folgen nach sich zieht als das Delikt, welches
gesetzlich als Vergehen qualifiziert wird. Die hierbei Ausschlag gebenden
Paragraphen des Strafgesetzes (insbesondere § 20) werden aber heute aus-
nahmslos in dem Sinne ausgelegt, dass für die Qualifikation des Deliktes die
in concreto richterlich bemessene Strafe entscheidend ist.
5. Die Strafrahmen. Das Gesetz bestimmt hinsichtlich jeden Deliktes
das Maximum und das Minimum der StriUe. Wo im speziellen Teile das Mini-
mum nicht einyähnt wird, fällt es mit dem im allgemeinen Teile bestinmiten
Minimum der fraglichen Strafart zusammen. Das System des Gesetzes ist also
der relativ bestimmte Strafrahmen, während der Entwurf vom Jahre 1843,
der die Minima nicht kannte, das System der relativ unbestimmten Strafrahmen
befolgte. Die Rahmen der zeitigen Freiheitsstrafen, welche im speziellen Teile
des Strafgesetzes enthalten sind, sind die folgenden. Zuchthaus: 10 — 15,5 — 10
und 10 Jahre (Minimum 2 Jahre), 3 — 5, 5 und 3 Jahre (2 — 3 Jahre). Kerker-
strafe: 2 — 5, l-t-5 und 5 Jahre (Minimum 6 Monate), 1 — 3, 3, 2 und 1 Jahr.
Staatsgefängnisstrafe: 10 — 15, 5 — 10, 2 — 5, 1 — 5, 5, 1 — 3, 3 Jahre, 6 Monate bis
2 Jahre, 2 Jahre, 1 Jahr, 6 Monate. Gefängnis: 2 — 5, 5, 1 — 3 Jahre, 6 Mo-
nate bis 3 Jahre, 3 Jahre, 2 Jahre, 3 Monate bis 1 Jahr, 1 Jahr, 6, 3 imd 1
Monate, 8 Tage.
Hieraus ist ersichtlich, dass es im Gesetze bei der Bestimmung der kon-
kreten Maxima und Minima mehrere Unterstufen giebt.
6. Strafausmass. Ausserordentliche mildernde Umstände. Die
§ 5. Allgemeine Charakteristik der Strafgesetzbücher. 173
Regel bei Bemessung der Strafe ist die, dass wenn weder mildernde, noch
erschwerende Umstände überwiegen, die zwischen dem Maximum und Minimum
liegende mittlere Dauer bemessen wird. Die mittlere Dauer beträgt z. B. in
dem Falle, wenn 5 Jahre Zuchthaus das Maximum bildet, S^/^ Jahre (da das
Minimum des Zuchthauses 2 Jahre beträgt).
Das Gesetz zieht ausserdem die ausserordentlichen mildernden Umstände
in Betracht. Das System, welches hier befolgt wird, ist nicht die Aufstellung
zweier Strafrahmen, von welchen einer für die normalen, und der andere
für die ausserordentlich leichten Fälle Geltung hat. Im ungarischen Straf-
gesetze wird anstatt der Qualität der Strafen im allgemeinen Teile (§ 92) das
Prinzip der Strafmilderung für ausserordentlich leichte Pralle ausgesprochen
und die Grenze dieser Strafmilderung festgesetzt. Die Milderung der Strafen
hat auch für die Verbrechen, welche mit dem Tode oder mit lebenslänglicher
Zuchthausstrafe» geahndet werden, Geltung, ist aber insofern eingeschränkt,
als an Stelle der Todesstrafe auf keine geringere als 15jährige Zuchthaus-
strafe, und an Stelle der lebenslänglichen Zuchthausstrafe auf keine geringere
als 10jährige Zuchthausstrafe erkannt werden darf. Sonst, wenn die mildern-
den Umstände so schwerwiegend oder so zahlreich sind, dass selbst das auf
die Handlung angedrohte niedrigste Strafausmass un verhältnismässig schwer wäre,
so kann innerhalb derselben Strafart auf das niedrigste gesetzliche Mass er-
kannt werden; sollte auch dies zu strenge sein, dann kann an die Stelle der
zeitigen Zuchthausstrafe Kerker, an Stelle der Kerkerstrafe Gefängnis, an
Stelle des Gefängnisses Geldstrafe bis zum niedrigsten Ausmasse der jeweiligen
Straf art treten.
Hieraus folgt auch, dass, wenn auf Grund dieser Bestimmungen die
Strafe im konkreten Falle korrigiert und anstatt des Kerkers auf Gefängnis
erkannt wird, zugleich die im (iesetze als Verbrechen qualifizierte Handlung
im Urteil als Vergehen qualifiziert wird, da die erkannte Strafe eine Strafe
für Vergehen bildet.
7. Gefängnissystem. Das Gefängnissystem ist abweichend vom Einzel-
system des Entwurfes von 1843 auf das Progressivsystem basiert. Dieses
enthält die Stufen der Einzelhaft, der gemeinsamen Arbeit, der Zwischen-
anstalt und der Entlassung auf Widerruf, welche während des Vollzuges der
Strafe stufenweise aufeinander folgen. Die Institution der Entlassung auf
Widerruf, welche weiter unten noch erörtert werden wird, hat sich gut be-
währt, und die öffentliche Meinung fordert sogar die Entwicklung dieser In-
stitution. Es muss noch hervorgehoben werden, dass das Gesetz nur die
allgemeinen Prinzipien der Vollstreckung der einzelnen Strafarten enthält und
sich in die Einzelheiten nicht einlässt. Es wird das Wesen der Strafarten
festgestellt, woraus sozusagen die Menge der zu erleidenden Strafe ersichtlich
und die relativen Zwecke des Gesetzes und die Bestimmungen, welche das
Gesetz zur Erreichung dieser Zwecke für entsprechend hält, erkenntlich sind.
Aus diesem Standpunkte muss der Inhalt der einschlägigen Bestimmungen des
Gesetzes, welche sich auf das Strafensystem bezichen, beti'achtet und beurteilt
werden. Die Einzelheiten sind in ministeriellen Verordnungen geregelt.
8. Geldstrafe. Die Geldstrafe wird als selbständige Strafe ausschliess-
lich bei Vergehen angewendet und zwar laut dem speziellen Teile des Gesetzes
nur im Falle der §§ 261, 366 und 443 in der Höhe von 1—500, 1—1000
und 100 — 1000 Gulden. Ausserdem wird die Geldstrafe als selbständige Strafe
angewendet, wenn die Gefängnisstrafe auf Grund ausserordentlicher mildern-
der Umstände in (J eidstrafe umgewandelt wird. Die Geldstrafe kann im
Nichtzahlungsfalle nicht mit Arbeit abgedient werden, sondern wird in Gefäng-
nis umgewandelt. Dies ist von grossem Nachteile, da hierdurch die Geldstrafe
174 Ungarn. — Das geltende Recht.
für den armen Mann diesen Charakter verliert und in der Praxis zur Gefängnis-
strafe wird.
9. Nebenstrafen. Als Nebenstrafen gelten, abgesehen von der Einziehung
der zur Verübung des Deliktes dienenden Gegenstände, der Ausweisung fremder
Verbrecher, der Untersagung der Ausübung eines Berufes und der Geldstrafe
als Nebenstrafe, der Amtsverlust und die zeitweilige Entziehung der politischen
Rechte. Die zeitlebens dauernden Rechtsfolgen des Verbrechens sind aus dem
System ausgeschlossen. Das Prinzip „non poena sed factum infamat" ist
durchgeführt. Die oben erwähnten Nebenstrafen werden bei Vergehen bis
zu einer dreijährigen, bei Verbrechen bis zu einer zehnjährigen Dauer im
Urteil bemessen, können aber nur bei deiyenigen Delikten angewandt werden,
bei welchen die Anwendung im speziellen Teile des Gesetzes vorgeschrieben
ist. Der Richter hat sogar in diesen Fällen das Recht, falls die erkannte Frei-
heitsstrafe ein sechsmonatliches Gefängnis oder Staatsgefängnis nicht übersteigt,
von der Verhängung der Nebenstrafen Umgang zu nehmen.
10. Antragsdelikte. Die Regel des ungarischen Strafgesetzbuches ist die
Verfolgung der Delikte durch den Staat, bezw. durch den öffentlichen Ankläger.
Es giebt aber im ungarischen ebenso wie in den übrigen europäischen Straf-
gesetzbüchern mehrere Delikte, welche nur auf Antrag des Verletzten verfolgt
werden können. Solche Handlungen giebt es 24 und zwar: Leichtere Art
der falschen Anschuldigung (§ 229), Notzucht (§§ 232, 238), gewaltsame Un-
zucht (§§ 233, 238), Schändung (§§ 236, 238), Blutschande (§ 244), Beischlaf
zwischen Geschwistern (§ 244), Unzucht (§ 245), Ehebruch (§ 246), Verbrechen
gegen den Familienstand (§ 255), Verleumdung (§§ 258—260, 268), Ehren-
beleidigung (§§ 261—262, 268), leichte Körperverletzung (§ 301, 312), Kindes-
raub (§§ 317—320, 322), Entführung einer Frauensperson (§§ 321—322), Ver-
letzung des Briefgeheimnisses (§ 327), Verletzung fremder Geheimnisse (§ 328),
Hausfriedeusbruch (§332), Diebstahl von Verwandten und Angestellten (§§342
bis 343), Unterschlagung (§ 358), Vergehen der Untreue (§ 361), Widerrecht-
liche Aneignung (§ 369), Betrug (§§ 380 bis 390), Fälschung der Industrie-
schutzmarke (§413, welchem aber seither die §§23—30 des GA. II, 1890,
substituiert worden sind), Sachbeschädigung (§§418, 420, 421), und zwei
Übertretungen (§§ 126 — 127 des StGB, über Übertretungen). Der Antrag
muss binnen drei Monaten gestellt, und kann, insoweit das Gesetz keine Aus-
nahme macht, zurückgezogen werden.
11. Über den Rückfall hat das Strafgesetzbuch keine allgemeinen Be-
stimmungen und bestimmt einzeln die Handlungen, hinsichtlich welcher der
Rückfall eine höhere Strafe zur Folge hat, womit auch der Ausschluss d(»r
Entlassung auf Widerruf verbunden ist. Diese Handlungen sind Diebstahl,
Raub, Erpressung, Unterschlagung, Hehlerei und Betrug.
12. Das Begnadigungsrecht, und zwar sowohl die Einstellung des Ver-
fahrens als auch die Gnade im eigentlichen Sinne, wurde als ein essentielles
Recht der Staatssouveränität in das System des Gesetzes aufgenommen, im
einzelnen aber nicht geregelt. Hingegen ist die Verjährung als Ausschliessungs-
grund sowohl der Strafvollstreckung, als auch der Strafverfolgung in allen
Einzelheiten geregelt; dabei ist zu bemerken, dass die Dauer der Verjähning
durch die Höhe der im konkreten Falle bemessenen Strafe bestimmt wird.
13. Wenn wir zum Schlüsse noch erwähnen, dass die Hauptrichtung des
Gesetzes durch die Prinzipien der sogenannten objektiven Theorie bestimmt
werden, und dass dies insbesondere auf dem Gebiete des Versuchs und der
Teilnahme zum Ausdruck gelangt und auch in der Judikatur vorherrscht,
haben wir den Grundcharakter und die Hauptgrundsätze des ganzen ungari-
schen Strafgesetzes dargelegt.
§ 7. Räumliches und persönliches Geltungsgebiet der Strafgesetzbücher. 175
§. 6. Spezielle Charakterislerimg des Strafgesetz bnehes Aber Übertretungen.
Die Rechtsquelle für das Gebiet der Übertretungen bilden ausser dem
Gesetz auch die Ministerialverordnungen und die Statuten des Munizipiums
und der Städte. Diese können aber nur die Verletzung irgend eines polizei-
lichen Verbotes oder einer polizeilichen Verfügung als Übertretung quali-
fizieren. Die allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches über Verbrechen
und Vergehen sind, inwiefern das (iesetz über Übertretungen nicht etwas
anderes festsetzt, auch in Fällen von Übertretungen anzuwenden (§ 12). Wegen
einer im Auslande begangenen Übertretung kann eine Besti*afung nicht Platz
greifen (§ 13). Wegen einer Übertretung kann keine Auslieferung bewilligt
werden (§ 14). Die Strafe wegen einer Übertretung kann zweimonatlichen
Arrest und Geldbusse von 300 (»ulden nicht übersteigen, wenn im Gesetze;
fünfzehntägigen Arrest und eine Geldbusse von 100 (Julden, wenn in einer
Ministerial Verordnung; fünftägigen Arrest und 50 Gulden Geldbusse, wenn
in einem Munizipalstatute ; dreitägigen Arrest und 20 Gulden Geldbusse, wenn
in einem städtischen Statute irgend eine Handlung als Übertretung erklärt
wird (§ 16). Die kürzeste Dauer des Arrestes ist drei Stunden; der kleinste
Betrag der Geldstrafe 50 Kreuzer (S 17)- Wenn die mildenulen Umstände
überwiegen, kann statt Arrest auf Geldstrafe erkannt werdcm (^ 21). Der
Versuch einer Übertretung wird nicht bestraft (§ 2()). Die Übertretung ist
auch dann zu bestrafen, wenn sie aus Unachtsamkeit verübt wurde, ausge-
nommen, wenn das Gesetz, die Verordnung oder das Statut bloss die absicht-
liche Verübung der Übertretung zu bestrafen anordnet (§ 28). Das Recht zur
Einleitung des Strafverfahrens verjälirt, inwiefern ein besonderes Gesetz nicht
das Gegenteilige verfügt, innerhalb sechs Monaten, die bemessene Strafe inner-
halb eines Jahres.
§ 7. Bäumliches nnd persönliches Geltungsgebiet der Strafgesetzbttclier.
Die Wirksamkeit beider Strafgesetze erstreckt sich auf das ganze Ge-
biet des ungarischen Staates mit Ausnahme von Kroatien und Slavonieu,
wo die Schaffung der Strafgesetze in den Reehtskreis der autonomen Gesetz-
gebung gehört. Das Prinzip ist das der Territorialität, welches aber mit dem
universellen Prinzip der Weltrechtspflege und der Personalität kombiniert er-
scheint. Vom Standpunkte des ungarischen Strafgesetzes können wir viererlei
Gebiete unterscheiden. 1, Jenes (Jebiet der ungarischen Staaten, über welches
die Strafgesetzgebung ohne Ausnahme durch den ungarischen Reichstag aus-
geübt wird, also Ungarn, die Landesteile über den Königssteg und Fiume.
2. Jenes Gebiet des ungarischen Staates, welches hinsichtlich der Strafgesetz-
gebung Autonomie besitzt, also Kroatien und Slavonieu oder wie es laut
ungarischem öffentlichem Recht korrekter ausgedrückt wird, die kroatisch-
slavonisch-dalmatischen Länder. 3. Die cislaithanischen Teile der Monarchie,
also die im österreichischen Reichsrate vertretenen Länder und 4, das übrige
Ausland.
Hinsichtlich der Personen sind die folgenden Unterscheidungen von Be-
lang: 1. Ungarische Staatsangehörige, worunter auch die Kroaten und Sla-
vonen zu verstehen sind, 2. die Ausländer, 3, die Angehörigen des anderen
Staates der Monarchie, welche in der Regel wohl als Ausländer betrachtet
werden, aber doch einigermassen eine Ausnahmestellung einnehmen. Z. B.
kann ein solcher nur seinem Heimatsstaate ausgeliefert werden (§ 17j und wird
auf solche in einigen Fällen des Staatsverrates (§ 142, 144) das ungarische
Strafgesetzbuch angewendet, während auf die übrigen Ausländer die Regeln
des internationalen Rechts zur Anwendung konmien.
17(5 Ungarn. — Strafrechtliche Sondergesetze.
Laut den Grundregeln des öffentlichen Rechts sind den Strafgesetzen
nicht unterworfen: 1. Der König (Tripartitum, 11. 5. 39). 2. Die Mitglieder
des Eeichstages hinsichtlich ihrer Äusserungen im Reichstage, in den Aus-
schüssen und in den Delegationen. Hinsichtlich der übrigen sti'afbaren Hand-
lungen der Reichstagsmitglieder findet die gerichtliche Verfolgung nur nach
Einholung der Einwilligung des betreffenden Hauses statt. 3. Laut den Regeln
des Völkerrechts sind dem Strafgesetzbuche jene Personen nicht unterworfen, die
das Recht der Exterritorialität besitzen.
Die im aktiven Heeresdienst stehenden Personen sind dem Militäi-straf-
gesetzbuche unterworfen (Österr. Mil.-StGB. v. 15. Januar 1855).
§ 8. Modifikationen des Strafgesetzbuches Aber Verbrechen und Yergeheu.
Das Strafgesetzbuch wird durch viele spezielle Gesetze ergänzt, von
denen weiter unten die Rede sein wird. Hier wollen wir nur jene Gesetze
aufzählen, welche den GA. V v. J. 1878 modifizieren, und dessen Bestimmungen
ausser Kraft setzen. Diese sind die folgenden:
1. § 27 des Strafgesetzbuches, welcher von der Verwendung der Geld-
strafen handelt, wird durch zwei Gesetze modifiziert, und zwar zuerst dui'ch den
GA. XX V. J. 1884 und dann durch den GA. VHI v. J. 1887. Nach dem
letzten Gesetz werden die aus Geldstrafen einfliessenden Gelder zur Unter-
stützung entlassener armer Sträflinge, zur Erhaltung von Besserungsanstalten
und zur Errichtung von Gefängnissen verwendet (abgeändert durch GA. XXVII
V. J. 1892).
2. Die §§ 449 — 51 des Strafgesetzbuches wurden durch die §§ 45, 47 — 49
des GA. VI V. J. 1889 über die Wehrkraft ausser Kraft gesetzt.
3. Der § 413 des Strafgesetzbuches wurde durch die Bestimmungen des
Markenschutzgesetzes (GA. II v. J. 1890, Kap. III) ausser Kraft gesetzt.
4« § 452 des Strafgesetzbuches, welcher vom Ungehorsam gegen den
militärischen Einberufungsbefehl handelt, wurde durch die §§ 1 — 9 des GA. XXI
V. J. 1890 ausser Knift gesetzt.
m.
§ 9. Strafrechtliche Sondergesetze.^j
Die beiden Strafgesetzbücher, deren System oben vorgelegt wurde, bilden
die Hauptquelle des ungarischen materiellen Strafrechtes. Sie werden aber
durch zahlreiche andere Gesetze ergänzt, welche ebenfalls auf das materielle
Strafrecht bezügliche Bestimmungen enthalten, bezw. welche Handlungen als
Delikte qualifizieren. Bereits das Einführungsgesetz (GA. XXXVII v. J. 1880)
enthält wichtige strafrechtliche Bestimmimgen über die Delikte, welche von
Sträflingen während der Verbüssung der Strafe begangen werden (§§ 35 — 37).
In demselben Gesetze werden auch die strafrechtlichen Bestimmungen mehrerer
früherer Gesetze aufrecht erhalten (§§ 4 — 8).
Und zwar verfügt das Einführungsgesetz, dass ausser den Gesetzen,
welche in den §§ 5 — 8 des Einführungsgesetzes als in Kraft bleibend auf-
gezählt werden, auch noch alle diejenigen Gesetze in Kraft bleiben, die von
solchen Delikten handeln, welche nicht den Gegenstand der Strafgesetzbücher
bilden. Ausserdem werden auch alle diejenigen früheren Strafbestimmungen
^) An der Zusammenstellung der Spezialgesetze, Litteratur usw. hat Sigmund
Reichard mitgearbeitet.
Gesetzliche Bestimmungen über Verbrechen und Vergehen. 177
aufrecht erhalten, welche Gegenstand des Verwaltungsstrafverfahrens bilden,
und endlich diejenigen, die, obwohl durch die Gerichte ausgesprochen, doch
als Disziplinar- oder Ordnungsstrafen zu betrachten sind.
Seit dem Inslebentreten des Einführungsgesetzes wurden mehrere Gesetze
geschaffen, welche an den citierten Paragraphen des Einführungsgesetzes
Änderungen vornehmen, und es wurden auch zahlreiche neue Delikte, teils
Verbrechen und Vergehen, teils (und zumeist) Übertretungen statuiert. Um
also ein vollständiges Bild von den Rechtsquellen des ungarischen Strafrechtes
zu gewinnen, müssen wir alle die Gesetze aufzählen, welche ausser den beiden
Strafgesetzbüchern strafgesetzliche Bestimmungen enthalten, und welche, wie
schon erwähnt, t<dls aus der Zeit vor, teils aus der Zeit nach der Schaffung d(»r
beiden Strafgesetzbücher stammen. Bei Betrachtung dieser Gesetze werden wir
finden, dass die Verbrechen und Vergehen, durch welche das System des
Strafgesetzbuches ergänzt erscheint, von nicht grosser Bedeutung sind, und dass
das Strafgesetzbuch trotz dieser Ergänzungen in Bezug auf Verbrechen und
Vergehen noch immer als der weitaus wichtigste Hauptbestandteil unseres
Strafrechts zu betrachten ist. Die straft*echtlichen Bestimmungen hingegen,
welche neue Übertretungen feststellen, sind so zahlreich und wichtig, dass
wir in Bezug auf diese dem Strafgesetzbuche über Übertretungen diese domi-
nierende Stellung im Strafsysteme nicht zuerkennen dürfen.^)
A. Gesetzliche Bestimmungen über Verbrechen und Vergehen.
Wir wollen die Gesetze, die ausser dem Strafgesetzbuchc Verbrechen
und Vergehen statuieren, nicht der zeitlichen Reihenfolge nach aufzählen,
sondern der Übersichtlichkeit halber dem System des Strafgesetzbuches anreihen.
In dieser Reihenfolge betrachtet sind die gesetzlichen Bestimmungen, welche
ausser dem Strafgesetzbuche Verbrechen und Vergehen statuieren und n(*.ben
diesem in Gültigkeit sind, die folgenden:
1. Die §§ 32—36 des GA. III v. J. 1848 (in Wirksamkeit erhalten durch
den 55 6 des Einf.G.). Diese handeln von den Verbrechen der Minister in
Ausübung ihres Amtes. Das Gesetz bestimmt, dass die Minister in diesem
Falle durch das Abgeordnetenhaus in Anklagezustand versetzt werden und
dass das Urteil durch das Oberhaus gefällt wird. Es bildet eine Eigentüm-
lichkeit dieses Gesetzes, dass die Strafen der verbrecherischen Handlungen
nicht festgestellt sind und dass das Gesetz nur das Prinzip ausspricht, dass
die Strafe im Verhältnis zu der Grösse des Verbrechens zu bemessen sei.
Das Gesetz bestimmt auch, dass der verurteilte Minister nur im Falle einer
allgemeinen Amnestie begnadigt werden kann.
2. Der § 10 des GA.LIII v. J. 1868 (aufrecht erhalten im § 5 des Einf.G.)
reiht sich an die Verfügungen des XVI. Abschnittes des Strafgesetzbuches über
die Verbrechen und Vergehen, welcher von den Delikten in Bezug auf den
Familienstand handelt. Der GA. LIII v. J. 1868 handelt von der Gleich-
berechtigung der recipierten Konfessionen und der § 10 dieses Gesetzes quali-
fiziert die Unterlassung des Geistlichen, begangen durch die Verschweigung
eines Ehehindernisses, als Vergehen, welches mit Gefängnis bis zu 6 Monaten
bestraft wird.
3. Der GA. XXV v. J. 1883 über den Wucher und die schädlichen Kredit-
geschäfte reiht sich an die Abschnitte XXVI — XXXI des Strafgesetzbuches
über die Verbrechen und Vergehen, welche über die Delikte gegen das Ver-
*) Wir bemerken, dass wir nur die bis zum Schlüsse des Jahres 1891 geschaffenen
Gesetze in Betracht gezogen haben.
Strafgesetzgebnng der Gegenwart. I. 12
178 Ungarn. — Strafrechtliche Sondergesetze.
mögen handeln. Das Gesetz qualifiziert den Wucher als Vergehen und statuiert
noch das Ausnützen des Ehrenwortes bei Kreditgeschäften als eine Übertretung.
Dasselbe Gesetz regelt den Wirtshauskredit in der Weise, dass Wirtshaus-
kreditforderungen von über acht Gulden nicht klagbar sind und dass die
Umgehung dieser Bestimmung in Form von Scheingeschäften als Übertretung
qualifiziert wird.
4. Der GA. XLI v. J. 1891 über den strafrechtlichen Schutz der Grenz-
und Triangulierungszeichen reiht sich an den § 407 (Abschn. XXII) des Straf-
gesetzbuches, welcher das Vergehen der Grenzverrückung statuiert, und quali-
fiziert mehrere einzelne Handlungen, durch welche die Landesgrenzzeichen
vernichtet oder beschädigt werden, als Vergehen.
5. Die §§ 265—266 des GA. XVII v. J. 1881 (Konkursgesetz) können
an den XXXV. Abschnitt des Strafgesetzbuches über betrügerischen und schuld-
baren Bankrott angereiht werden. Die Paragraphen qualifizieren das An-
melden erdichteter Forderungen im Konkursverfahren und die Bestechung
einzelner Gläubiger bei der Fassung von Beschlüssen im Konkurs als Vergehen.
6. Der GA. XII v. J. 1888 betr. die Feststellung strafgesetzlicher Be-
stimmungen in Bezug auf die Sicherung der Untereeekabel, reiht sich an
den XXXIX. Abschnitt des Strafgesetzbuches (Beschädigung von Eisenbahnen
usw.) an und qualifiziert die vorsätzliche Beschädigung eines Unterseekabels
als Verbrechen. Ausserdem werden im Gesetze mehrere Übertretungen das
Unterseekabel betr. statuiert.
Dies sind die Gesetze, welche ausser dem GA.V v.J. 1878 Verbrechen
und Vergehen statuieren. Es ist noch zu bemerken , dass der GA. XLI v. J.
1891 (über Grenzzeichenschutz) die Verfügung trifi't, dass die Bestimmungen
des allgemeinen Teiles des Strafgesetzbuches auch in Bezug auf die gegen
dieses Gesetz verstossenden Vergehen in Anwendung zu bringen seien. Diese
oder ähnliche Bestimmungen fehlen in den übrigen citierten Gesetzen gänzlich,
und die eventuell in dieser Hinsicht auftauchenden Fragen werden eret in
der Gerichtspraxis zu entscheiden sein.
B. Bestimmungen über Ordnungsstrafen.
Wie schon oben erwähnt, wurden im Einführungsgesetze auch diejenigen
Strafbestimmungen in Wirksamkeit erhalten, welche sogenannte Ordnungsstrafen
enthalten. Es giebt nämlich im ungarischen Rechtssysteme melirere Fälle, in
welchen Strafen verhängt werden, ohne dass die bestrafte That als Verbrechen,
Vergehen oder Übertretung qualifiziert werden könnte. Diese Strafen sind
mitunter recht empfindlich und müssen, trotzdem sie keine eigentlichen straf-
rechtlichen Strafen sind, in Betracht gezogen werden, wenn man ein voll-
ständiges Bild des ungarischen Strafensystems gewinnen will. Sie werden da-
durch charakterisiert, dass die Strafe nicht durch das Strafgericht und im
Wege des Strafverfahrens, sondern durch das Civilgericht und im Wege des
Civilverfahrens ausgesprochen wird. Natürlich haben für diese Handlungen
und Strafen die Bestimmungen des allgemeinen Teiles des Strafgesetzbuches
keine Gültigkeit.
Die hierher gehörenden Strafbestimmungen sind folgende:
1. Der § 122 des Konkursgesetzes (GA. XVII v. J. 1881) bestimmt,
dass gegen den Gemeinschuldner, wenn er das Verzeichnis seines Aktiv- und
Passivstandes nicht vorlegt, oder dessen eidliche Bekräftigung verweigert oder
sich den Aufträgen des Gerichtes widersetzt, die Haft bis zu 2 Monaten ver-
fügt werden kann. Die Haft wird durch das Konkursgericht im Konkurs-
verfahren ausgesprochen.
Gesetzliche Bestimmungen, welche Übertretungen statuieren. 179
2. Laut §§ 218—221 und § 246 des Handelsgesetzes (GA. XXXVII
V. J. 1875) werden die Direktoren und Gründer einer Aktiengesellschaft resp.
Genossenschaft, welche gegen einige wichtigere und zum Schutze des Publi-
kums und der Aktionäre dienende Bestimmungen des Gesetzes Verstössen, mit
einer dreimonatlichen Gefängnisstrafe, in leichteren Fällen mit einer Geldstrafe
von 1000 Gulden bestraft Die Strafen werden durch das Handelsgericht im
Wege des Handelsgerichtsverfahrens ausgesprochen.
3. Unter dieselbe Beurteilung fallen die Straf bestimmungen des GA. XVI
V. J. 1884 über das Autorrecht. Im § 19 dieses Gesetzes wird die unbefugte
Aneignung des Autorrechtes mit 1000 Gulden Geldbusse gestraft, welche, im
Falle sie nicht einzutreiben ist, in Gefängnisstrafe umgewandelt wird. Das
Gesetz nimmt aber auch hier, wie in den obigen Fällen, von der Qualifikation
als Delikt Umgang und überweist die Ausmessung der Strafe der Wirksamkeit
des Civilgerichtes.
C. Gesetzliche Bestimmungen, welche Übertretungen statuieren.
Wir gehen nun zur Darstellung derjenigen Gesetze über, welche ausser
dem GA. XL v. J. 1879 Übertretungen statuieren. Diese sind, wie schon
erwähnt, sehr zahlreich, und es würde nicht gut gehen, sie an die ein-
zelnen Abschnitte des Strafgesetzbuches anzureihen. Wir werden sie also in
einem selbständigen und möglichst übersichtlichen System darzustellen ver-
suchen.
Die hierher gehörenden Übertretungen sind folgende:
1. Übertretungen der Bestimmungen des Gesetzes über die Abgeordneten-
wahlen (§§ 93—94 und 103—106 des GA. XXXIII v. J. 1874). Übertretungen
bei der Zusammenstellung der Wählerlisten und Übertretungen gegen die
öffentliche Ordnung bei Vornahme der Wahlen.
2. Übertretungen der Bestimmungen des Wehrgesetzes (§§ 35, 44, 48
\md 50 des GA. VI v. J. 1889). Versäumen der Meldung, Versäumen des
Erscheinens bei der Stellung, listige Umtriebe zur Erlangung einer Begünstigung
und verbotene Eheschliessung.
3. Übertretungen gegen Polizeiverordnungen in der Hauptstadt. Der § 8
des GA. XXI v. J. 1881 (über die Budapester hauptstädtische Polizei) be-
stimmt, dass in solchen Fällen, bezüglich welcher weder ein Gesetz, noch eine
Verordnung, noch ein Munizipalstatut eine Verfügung enthält und in welchen
für die Sicherheit oder das Eigentum eine unmittelbare Gefahr entstehen
könnte, die Polizei berechtigt ist, provisorische Verordnungen zu erlassen und
auf deren Übertretung eine Geldstrafe bis zu 50 Gulden zu setzen.
Es ist zu bemerken, dass das Gesetz hier nicht den im Codex accep-
tierten terminus technicus der Übertretung (kihägäs) benützt, sondern einen
anderen Ausdruck (äthägäs), was etwa ein „Verstössen gegen das Gesetz" be-
deutet. Diese Qualifikation wird in den Gesetzen öfters bei Bezeichnung von
leichteren Übertretungen und von Übertretungen gegen die Finauzgcsetze ge-
braucht, ohne dass sie sonst auf einen strafrechtlichen Unterschied zwischen
den beiden Qualifikationen hinweisen würde.
4. Übertretungen der Bestimmungen des GA. XXVIII v. J. 1879 über die
Errichtung eines polizeilichen Meldungsamtes in der Hauptstadt Budapest.
5. Übertretungen der Bestimmungen des GA. I v. J. 1890 über die
öflFentlichen Strassen und Mauten (§§ 104 — 145). Dieses Gesetz qualifiziert
die Übertretungen gegen die Sicherheit des Verkehrs auf den öflentlichen
Strassen, die Übertretungen gegen die Integrität des Strassenkörpers , gegen
die Erhaltung der öflFentlichen Strassen, gegen die Bestimmungen betr. die
12*
180 Ungarn. — Strafrechtliche Sondergesetze.
Bewilligung von neuen öffentlichen Strassen und endlich die Übertretungen der
Bestimmungen der Konzessionsurkunde.
6. Übertretungen gegen die Gesetze, die öflfentliche Gesundheitspflege
betr. Und zwar werden solche qualifiziert im GA. XIV v. J. 1876 über die
Regelung des öffentlichen Sanitätswesens, dann im 6A. XIV v. J. 1891
über die Unterstützung im Krankheitsfalle der in Gewerbe und Fabrikarbeiten
Beschäftigten, und endlich im GA. XXII v. J. 1887, welcher mit Modi-
fizierung der diesbezüglichen Bestimmungen des vorerwähnten Gesetzes über
das öffentliche Sanitätswesen den Schutzimpfzwang regelt. Hierher gehören auch
die Übertretungen, welche im GA. VII v. J. 1888 über die Regelung des
Veterinärwesens qualifiziert sind und hieran reihen sich auch die Übertretungen,
welche in dem GA. XVII. v. J. 1883 über die gegen die Ausbreitung der
Phylloxera vastatrix zu ergreifenden Schutzmassregeln und im GA. XXV v. J.
1885 über den Schutz der Seidenzucht qualifiziert sind.
7. Übertretungen betr. den Volksschulunterricht und das Kinderbewahr-
wesen. Solche werden qualifiziert im GA. XXXVIII v. J. 1868 in Sachen des
Volksschulunterrichtes und im GA. XV v. J. 1891 über das Kinderbe wahr-
wesen, welche bestimmen, dass, im Falle die Kinder nicht in die Volksschule
bezw. in die Kinderbewahranstalt geschickt werden, die Eltern und Vormünder
mit einer Geldstrafe zu strafen sind. Hierher gehört auch die Bestimmung
des GA. XXVIII v. J. 1876 über die Volksschulbehörden, wonach der Gebrauch
eines durch die Staatsregierung verbotenen Lehrbuches oder Lehrmittels in
den Volksschulen als Übertretung qualifiziert wird.
8, Übertretungen der Bestimmungen des GA. XXXIX v. J. 1881 über die
Erhaltung der Kunstdenkmäler.
9, Übertretungen, welche im Interesse der verschiedenen Zweige der
Volkswirtschaft statuiert wurden, und zwar gehören hierher:
a) Die Übertretungen gegen die verschiedenen Zweige der Urproduktion,
qualifiziert im GA. IX v. J. 1840 über die Feldpolizei, im GA. XXXI v. J.
1879 (Forstgesetz), im GA. XX v. J. 1883 (Jagdgesetz), im GA. XXIII v.J.
1885 über das Wasserrecht und im GA. XIX v. J. 1888 über die Fischerei.
ß) Zu den Übertretungen gegen die einzelnen Zweige der Volkswirtschaft
gehört ferner die grosse Gruppe der Übertretungen, welche im Interesse des
Gewerbebetriebes im allgemeinen oder hinsichtlich einzelner Zweige qualifiziert
wurden. Hierher, und zwar unter diejenigen, die im Interesse des Gewerbe-
betriebes im allgemeinen statuiert wurden, gehören a) die Übertretungen,
qualifiziert im GA. XVII. v.J. 1884, über das Gewerbegesetz; b) imGA. XUI
v. J. 1876 über die Regelung des Dienstbotenverhältnisses; c) im GA. XIII v.
J. 1891 über die Sonntagsruhe bei gewerblichen Arbeiten; d) im GA. XVIII
V. J. 1883 über die Benützung der Landeswappen durch Private und Unter-
nehmungen und e) im GA. VIII v. J. 1874 über die Einführung des Meter-
masses (wo die Benützung der alten Masse als Übertretung qualifiziert wird).
Die Gesetze, welche hinsichtlich einzelner Gewerbezweige Übertretungen
qualifizieren, sind die folgenden: a) Der GA. XVIII v. J. 1848 (Pressgesetz),
in welchem bestimmt wird, dass das Erscheinen von Blättern politischen In-
haltes ohne Kaution und das Drucken eines jeden Druckwerkes ohne Bezeich-
nung der Druckerei eine Übertretung bildet (§§ 30 — 44 des Gesetzes). Die
Wirksamkeit dieses Gesetzes erstreckt sich nicht auf das frühere Siebenbürgen
und hier sind die — übrigens in merito analogen — Bestimmungen des
kaiserlichen Patentes vom Jahre 1852 in Wirksamkeit; b) der GA. XV v. J.
1875 über die Regeln der Bezeichnung des Feingehaltes der Gold- und Silber-
waren; c) der GA. XXXVIII v. J. 1881 über die Auswanderungsagenturen;
d) der GA. XXXI v. J. 1888 über Telegraphen, Telephon- und andere eJek-
Übertretungen gegen die Steuergesetze. 181
trische Einrichtungen; e) der GA. XII v.J. 1888 betr. die Feststellung straf-
gesetzlicher Bestimmungen in Bezug auf die Sicherung der Unterseekabel,
welcher ausser dem oben schon erwähnten Verbrechen auch mehrere Über-
tretungen qualifiziert; f) der GA. XXXIV v. J. 1891 über die obligatorische
Untersuchung der Handschiessgewehre ; g) der GA. XIV v. J. 1881 über das
Faustpfandleihgeschäft; h) der GA. XXV v.J. 1883 über den Wucher und die
schädlichen Kreditgeschäfte , welcher ausser dem schon oben dargestellten
Vergehen auch Übertretungen hinsichtlich der verbotenen Art der Sicherstellung
der Kreditgeschäfte und hinsichtlich des Wirtshauskredites qualifiziert; i) der
GA. XXXI V. J. 1883 über das Ratenbriefgeschäft.
An diese Gesetze reiht sich noch die Bestimmung des § 39 des GA. XXXIV
V. J. 1874 über die Winkelschreiberei an.
D. Übertretungen gegen die Steuergesetze.
Ein besonderes System der Übertretungen bilden im ungarischen Straf-
recht die Übertretungen gegen die Steuergesetze. Die allgemeinen Regeln
sind nicht im Strafgesetzbuche über Übertretungen, sondern im GA. XLIV v.
J. 1883 über die Manipulation der öffentlichen Steuern enthalten. Diese sind
die folgenden: Als Grundprinzip dient, dass, insoweit keine spezielle Verfügung
existiert, die Strafe für jede Verkürzung des Ärars ein- bis achtmal soviel
beträgt, als die Summe, mit welcher das Ärar geschädigt wurde. Ist diese
Summe nicht bekannt, so beträgt die Geldstrafe 1 bis 500 Gulden (§ 100).
Die Geldstrafe wird, wenn sie nicht einzutreiben ist, in Arrest- oder Gefängnis-
strafe umgewandelt (§ 108). Die Untersuchung wird durch die Finanzbehördeu
geführt, und diese haben das Recht, im Falle mildernder Umstände, die Unter-
suchung einzustellen.
Wenn die Untersuchung nicht eingestellt wird, werden die Akten an
den Gerichtshof übersendet, welcher das Urteil nicht als Strafgerichtshof,
sondern als der mit der Finanzgerichtsbarkeit bekleidete Gerichtshof fällt (§ 104).
Das Gesetz bestimmt noch, dass im Falle sogenannter „kleinerer Übertretungen",
bei welchen nämlich eine Absicht der Verkürzung des Ärars nicht vorhanden
ist, eine Geldbusse von 1 bis 50 Gulden ausgemessen wird. Die Ausmessung
dieser Geldbusse fällt in die Kompetenz der Finanzbehörden, und diese CJeld-
busse kann nicht in Freiheitsstrafe umgewandelt werden. Der allgemeine Teil
des Strafgesetzbuches über Übertretungen hat für die Übertretungen gegen
die Steuergesetze keine Gültigkeit. Es giebt in mehreren der Steuerübertretungs-
gesetze eine Verfügung, wonach Unternehmer und Kaufleute für die Geld-
strafen ihrer Angehörigen und Bediensteten auch in dem Falle haftbar sind,
wenn sie nicht als Anstifter oder Helfer gelten können. Es giebt auch eine
Bestimmung, wonach diejenigen, welche Übertrctungsfälle anzeigen oder er-
greifen, den dritten Teil bezw. die Hälfte des hereingebrachten Strafbetrages
als Belohnung erhalten.
Ausser diesen allgemeinen Vorschriften giebt es «eine grosse Anzahl von
Steuergesetzen, welche spezielle Übertretungen hinsichtlich spezieller Steuern
feststellen und hinsichtlich einiger auch spezielle Verfügungen betr. das Straf-
verfahren feststellen. Diese gelten insbesondere in Bezug auf die Gesetze
über die indirekten Steuern, die Stempel und Gebühren. In diesen Gesetzen
fällt insbesondere die Ausmessung sehr hoher Strafen auf, welche in einzelnen
Gesetzen das Hundertfache und sogar das Tausendfache der Summe erreichen
können, um welche das Ärar geschädigt wurde. Die Gesetze über die direkten
Steuern machen im allgemeinen keine Ausnahmen von den Regeln des oben
citierten Gesetzes.
182 Ungarn. — Litteratur, Sammlungen von Gesetzen und Entscheidungen.
Die Steuergesetze, welche besondere Verfügungen betreflPs der Über-
tretungen enthalten, sind die folgenden: a) GA. XXVIl v.J. 1880 über die
Militärtaxe; b) GA. XXVI v. J. 1881 über die Stempel und Gebühren. In
diesem Gesetze sind einige Übertretungen mit einer Geldbusse bedroht, welche
das Fünfzigfache der Schädigungssumme ausmacht, c) GA. XXVIl v. J. 1881
über den Spielkartenstempel; d) GA. XVIII v. J. 1882 über den Zoll und die
Steuer von Mineralöl; e) GA. X v. J. 1883 über die Steuerfreiheit der Tage-
löhner; f) GA. XXIII V. J. 1883 über die Gewehrsteuer und Jagdsteuer;
g) GA. XIV V. J. 1887 über die Eisenbahn- und DampfschiflFahrts-Transport-
steuer; h) GA. XL VII v. J. 1887 über Wein-, Fleisch-, Zucker- und Bierkonsum-
steuer; i) GA.XLIV v.J. 1887 über das Tabakgefälle; k) GA.XXIII v. J. 1888
betr. die Zuckerbesteuerung. In diesem Gesetze sind Geldstrafen bis
zur Höhe von 5000 und 10000 Gulden ausgemessen. 1) GA. XXIV v. J. 1888
betreffend den Zoll von gebrannten geistigen Flüssigkeiten und die Besteuerung
des Branntweins. In diesem Gesetze sind Geldstrafen bis zum sechzehnfachen
Betrage der verkürzten Konsumabgabe und Geldstrafen bis zur Höhe von
5000 Gulden ausgesetzt, m) GA. XXXV v. J. 1888 über das staatliche Schank-
gefäUe und n) GA. IX v. J. 1889 über den Verkehr in Prämien- Anlehens-
Obligationen und Promessen, welcher die bereits oben erwähnten Übertretungen
als Gefällsübertretungen qualifiziert.
IV.
§ 10. litteratur, Sammlangen von Gesetzen und Entecheidungen.
Den wichtigsten Kommentar für die ungarischen Strafgesetzbücher bildet die
ministerielle Motivierung derselben, von der Feder des Rodifikators, deren wissen-
schaftlicher Wert oben schon gewürdigt wurde. Sie ist unter den Druckschriften des
ungarischen Abgeordnetenhauses erschienen.
Eine vollständige Sammlung der ganzen auf das Strafgesetzbuch über Ver-
brechen und Vergehen bezüglichen Materie ist in dem Werke von Tobias Low
„Materialiensammlung des ungarischen Strafgesetzbuches^^) enthalten, in welchem
Werke ausser der ministeriellen Motivierung auch die Verhandlungen der beiden
Häuser des Reichstages und der Ausschussbericht enthalten sind. Der Strafgesetzent-
wurf vom Jahre 184B ist in einer Ausgabe im Jahre 1860 erschienen.*)
Den voUständi&^sten Kommentar der beiden ungarischen Strafgesetzbücher bildet
das Werk des Karl Tu^s v. Edvi,^) welches das Strafgesetzbuch über Verbrechen und
Vergehen in drei Bänden und das Strafgesetzbuch über Übertretungen in einem
Bande kommentiert. Ein anderer Kommentar ist das Werk des Budapester Universi-
tätsprofessors Aladär Schnierer.*)
Die Lehrbücher der Universitätsprofessoren Aladär Schnferer,*) Gustav Kautz,^)
Rudolf Werner,') Alexander Körösi*) und Simon Horovitz') behandeln die Strafgesetz-
bücher teils systematisch, teils kommen tarmässig.
*) Low, T., A magyar büntetötörv^nykönyo a büntettekröl ^s v6ts6gekröl (1878,
V. t. cz.) 6s teljes anyagyäjtem6nye. 2 kötet. 1885.
«) Az 1843. ki büntetötörv6nyjavaslat. 1860.
') Edvi 1116b, K., A büntettekröl, y6ts6gekr6l 6s kihÄgÄsokrol szolö ^ büntetotör-
v6nyek magyarÄzata.
*) Schnierer, A., A büntettekröl es v6ts6gekröl szöl6 magyar büntetotÖrv6ny
(1878. V. t.-cz.) magyarÄzata. 2. kiad. 1885.
*) Schnierer, A., A büntetojog Ältalänos tanai az 1878. V. es 1879. XL. t.-cz.
alapjÄn. 2. kiad. 1888.
^) Kautz, 6., A magyar büntetojog tankönvve. Különös tekintettel a gvakorlati
61et ig6nveire. 1881.
') Werner, R., A büntettek, vets^gek 6s kihägAsok. A magyar büntetotörvenv-
könyv (1878. V. 6s 1879. XL. t.-cz.) szerint. 1882.
*) Korösi, S., A magyar büntetojog tankönyve. (A „Büntetojogtan") 2. tejj.
Ätdolg. kiad. I. k. 1—2. füzet. Az anyagi büntetojog ältalÄnos r6sze. 1881.
•) Horovitz, S., A magyar büntetojog rendszeres tan-6s k6zi konyve. AltalAnos r68z.
Litteratur, Sammlungen von Gesetzen und Entscheidungen. 183
Das frühere ungarische Strafrecht, wie es vor den beiden Strafgesetzbüchern
in Kraft war, ist in den Werken von Paul Szlemenics*) und Theodor Pauler*) ent-
halten. Das militärische Strafrecht wird im Werke des Koloman Pap*) behandelt.
Monographieen : Eugen Balogh, Die Lehre von den dauernden und fortgesetzten
Verbrechen?) Die Antragsdelikte.*) — Isidor Baumgarten, Die Lehre des Versuchs")
und die Lehre von der Identität der That.') — Ladislaus Fayer, Die Reform unseres
Strafrechts.*) — Karl Ill^;8 v. Edvi, Die Konkurrenz®) und Über die Urkundenfälschung.**^)
— Sigmund Keichard, Über das Strafmilderungsrecht des Richters.") — Joseph Sz^kely,
Über die Gefällsübertretungen.*-) — Lorenz Töth, Über Ursachen und Verhütung des
Rückfalls.**) — Julius Wlassics, Die Lehre vom Versuch und der vollbrachten Hand-
lung, Über die Teilnahme**) und Über die Geldstrafe.**)
Ein grosser Teil der Monographieen ist in den Abhandlungen des ungarischen
.Juristen Vereins (herausgegeben durch den Verein selbst***) erschienen. Diese sind die
folgenden: Faustin Heil, Natiiralismus im Strafrechte.*') Eugen Balogh, Das Delictum
collectivum usw.**) Moriz Kelemen, Straf- und Gefängnissystem des ungarischen Straf-
gesetzbuches.*") Dasselbe von Franz Szekely.^) Karl lÜ^s v. Edvi, Die Reform der
Freiheitsstrafe.**) Sigmund Reichard, Die bedingte Verurteilung.**) Dasselbe von Isidor
Baumgarten,*^) Ladislaus Bodor^) und Ludwig Gruber.**) Ladislaus Fayer, Die Re-
form unseres Straf- und Gefängnissystems.**) Julius Bonts, Die Revision des Mili-
tärstrafrechts.*') Alfred.. Doleschall, Die Entschädigung unschuldig Verurteilter ***)
und Sigmund Reichard, Über das anthropologische Strafrecht.**)
Die ungarischen Gesetze erscheinen in der vom königl. ungarischen Ministerium
des Innern herausgegebenen amtlichen „Landesgesetzsammlung** ,**) welche unter
*) Szlemenics, P., Magyar fenyito tÖrv6ny. Függelekkel: Büntetojogi kalauz
szotÄr alakban. 5. kiad. 1872.
*) Pauler, T., Büntetojogtan. 2 kötet. 3. kiad. 1872.
*) Pap, K., A katonai büntetö 6s fegvelmi fenvitöjog kezikönyve. 2. javitott
kiad&s. 1888.
*) Balogh, J., A folytonos 6s folytatolagos büncselekv^nyek tana. 1885.
*) — A sertett f61 jogköre a büntetojogban. I.
•) Baumgarten, I., A kiserlet tana. 1885.
') — A tett azonossägÄnak kerd6s6hez. 1889.
") Fayer, L., Büntet6si rendszerünk reform ja. 1889.
*) 1116s, K., A bünhalmazat, különös tekintettel a magyar b. t.-könyv 95. §-Ära
s a csalds 6s okirathamisltAs eseteire. 1887.
*®) — Az okirathamisitAs büntethet6s6g6nek hatÄrai. 1886.
**) Reichard, Zs., A birö büntet6senyhit6si jojga. 1890.
**) Sz6kely, J., A jöved6ki kihÄgäsok büntetojogtana. 1881.
*') Töth, L., A visseaes6s okairol 6s ovszereirol. 1889.
**) Wlassics, Gy., A bünkis6rlet 6s bev6gzett bünc8elekm6ny. I. kötet: A tettesseg
es r6szess6g tana. 1885. II. kötet: Abünkis6rlet 6s bev6gzettbüncselekm6ny tana. 1887.
**) — A p6nzbüntet6s jogi term68zete 68 a magyar büntetötörv6ny 53 szakasza. 1882.
**) Magyar JogAszegyleti ertekez6sek. Budapest. Franklin -TÄrsulat Könyvn-
yomdÄja.
*') Naturalismus a büntetojogban. Irta Dr. Heil Fausztin.^
*^) A delictum collectivum 6s a szok&sszerü 6s üzletszeru büncselekm6nyek tana.
Irta Dr. Balogh Jenö.
**) A magyar bünteto törv6nykönyv büntet6si 6s börtönrendszere. Irta Dr.
Kelemen M6r.
*®) A magyar bünteto törv6nykönyv büntet6si 6s börtönrendszer6nek jelenlegi
v6grehajtÄsa 6s ennek eddigi eredm6nyei. Irta Dr. Sz6kely Ferencz.
**) A szabadsä.gbüntet6s reformja. Irta Dr. 11168 Kiroly.
**) A felt6teles elit616s. Irta Dr. Reichard Zsigmond.
*') A felt6teles elit616sr61. Irta Dr. Baumgarten Izidor.
**) A felt6teles iteletekröl. Bodor Ldszlö.
^) A felt6teles elit616s. Irta Dr. Gruber Lajos.
**) Büntet6si 68 börtönrendszerünk reformja. Dr. Fayer Laszlo.
*') A katonai büntetötörv6nykönyv 6s eljärAs revisiojÄnak k6rd6s6nez. Irta
Dr. Bonts Gyula.
**) Az Artatlanul vizsgAlati fogsägba helyezettek 68 Ärtatlanul elit61tek kirta-
lanitÄsÄröl. Irta Dr. Doleschall Alfr6d.
*®) Az anthropologikus büntetöjogröl. Irta Dr. Reichard Zsigmond.
^) Orszagos törv6nytÄr (Corpus juris) Kiadja a m. kir. Belügyminiszterium.
Budapest, Nagel Otto bizomänya.
184 Ungarn. — Das Strafrecht von Kroatien-Slavonien.
diesem Titel auch in einer amtlichen deutschen Ausgabe erscheint.^) Ausserdem
giebt es mehrere private Gesetzessammlungen.'-)
Die gerichtlichen Entscheidungen erscheinen in keiner amtlichen Ausgabe,
doch giebt es mehrere private Sammlungen derselben. Die wichtigste ist das so-
genannte „Archiv der Entscheidungen",^) welche, herausgegeben durch die Redaktion
des juristischen Blattes „JogtudomAnyi Közlöny", seit dem Jahre 1870 jährlich in
mehreren Bänden erscheint und die ganze Materie der Entscheidungen enthält. Bis-
her (Ende des Jahres 1891) sind 57 Bände erschienen.
Eine systematische Zusammenstellung der obergerichtlichen Entscheidungen
fibt die als „Wegweiser 66 zu diesem Archiv erschienene Sammlung der prinzipieUen
eile der obergerichtlichen Entscheidungen*) und das unter dem Titel: „Prinzipielle
Entscheidungen unserer Obergerichte" in zwei Bänden erschienene Werk von Dr.
Desider Markus.*^)
Ausserdem werden Entscheidungen in allen juristischen Blättern veröffentlicht.*)
Die Plenarentscheidungen der königl. Curie werden durch Peter Nemeth^ ge-
sammelt und herausgegeben.
Das Werk des Vincenz Cserna giebt eine systematische Zusammenstellung der
obergerichtlichen Entscheidungen strafrechtlichen Inhalts®) in drei Bänden und nach
den Paragraphen der Strafgesetzbücher geordnet.
V.
§ 11. Das Strafrecht von Eroatien-SlaYonieu.
Kroatien und Slavonien bilden eine staatliche Gemeinschaft mit Ungarn*.)
Dieses Gemeinschaftlichkeitsprinzip ist in dem ungarischen GA. XXX v. J. 1868
und im entsprechenden kroatisch-slavonischen GA. I v. J. 1868 festgestellt.
Diese Gesetze bestimmen, dass Elroatien- Slavonien hinsichtlich mehrerer im
Gesetze aufgezählter Angelegenheiten mit Ungarn gemeinschaftliche Gesetz-
gebung hat. (Hinsichtlich der im Gesetze nicht aufgezählten Angelegenheiten
ist die kroatisch- slavonische Gesetzgebung autonom).
Das Strafrecht gehört zu den autonomen Angelegenheiten von Kroatien-
Slavonien und wird also durch die autonomen Gesetze bestimmt. Das im
Lande gültige Strafrecht ist im Strafgesetzbuclie über Verbrechen, Vergehen
und Übertretungen vom 27. Mai 1852 kodifiziert. — Dieses Strafgesetzbuch ist
mit dem in Österreich geltenden Strafgesetzbuche identisch und seine Gültig-
keit findet darin ihre Erklärung, dass Kroatien im Jahre 1852 als integrierender
Bestandteil des Kaisertums Österreich galt. Zu dieser Zeit wurde das Straf-
gesetzbuch ins Leben gerufen und auch in der durch das vorerwähnte Gesetz
V. J. 1868 geschafiPenen staatsrechtlichen Ordnung beibehalten. Es wurden
^) Landesgesetzsammlung für das Jahr .... Herausgegeben vom königl.
ungarischen Ministerium des Innern. Budapest. In Kommission bei Otto Nagel.
*) Karl KAth, Leo R6vai, Robert Lampel.
*) Döntv6nyt&r. Kiadja a Jogtudomänyi Közlöny szerkesztös6ge. Budapest 1891.
*) Därday, "A felsobirösAgok gyakorlata, Budapest 1891. Franklin Tärsulat.
^) Felsobirösägaink elvi hatärozatai. K6szitette Dr. Markus Dezso. Budapest
1891. Grill KAroly.
®) JogtudomÄnyi közlöny, Magyar Igazsdgügy, Büntetö Jog Tara, Jogi Szemte,
A Jog, Ügyvedek Lapja.
') A kir. Curia teljesülesi megdllapoddsai. Budapest, Eggenberger.
*) Cserna, V., A büntetö törvenykönyv a kihäpAsokrol. 1879. XL. t.-cz. 2. jav.
kiad. 1881. — A magyar büntetö törv6nykönyv a buntettekröl es vötsegekröl. 187?<.
V. t.-cz. 2. jav. kiad. 1881. — Az 1880. XXXVII. t.-cz. a magvar büntetö törv6ny-
könyvek (1878. V. 6s 1879. XL. t.-cz.) eletbel^ptet^^seröl. 2. jav.' kiad. 1881.
") Der staatsrechtlich richtige Ausdruck für Kroatien-Slavonien ist Kroatien-
Slavonien-Dalmatien. Dieser Ausdruck weist darauf hin, dass das Königreich Dal-
matien früher zur ungarischen Krone gehörte und dass, trotzdem es jetzt thatsächiich
zu Österreich gehört, die Rechte der ungarischen Krone nicht aufgegeben wurden.
§11. Das Strafrecht von Kroatien-Slavonien. 185
auch seit jener Zeit nur wenig Gesetze geschaffen, welche dieses Strafgesetz-
buch verändern.
Da unsere Leser das österreichische Strafgesetzbuch an anderer Stelle
dieses Werkes ausführlich behandelt finden, ist es unnötig, dasselbe hier zu
charakterisieren. Im Folgenden zählen wir nur die seit dem Jahre 1868 ge-
schaffenen Gesetze auf, welche die Bestimmungen des Strafgesetzbuches er-
gänzen oder abändeni. Diese sind folgende: 1. Der GA. XIV. v. J. 1870,
welcher das Verbrechen des Hochverrates in Bezug auf den Staatsverband
zwischen Kroatien-Slavonien und Ungarn qualifiziert. 2. Das Gesetz vom
20. Oktober 1872, mit welchem die Strafe der körperlichen Züchtigung ab-
geschafft wird. 3. Das Gesetz vom 22. April 1875, in welchem die bedingte
Beurlaubung der verurteilten Sträflinge angeordnet wird. Und zwar kann der
bedingte Urlaub erteilt werden nach Verbüssung der Hälfte der Strafzeit,
wenn es sich um einen das erste Mal, und nach Verbüssung von dreiviertel
Teil der Strafzeit, wenn es sich um einen das zweite Mal wegen Verbrechens
verurteilten Sträfling handelt. 4. Das Gesetz vom 17. Mai 1875 über die Auf-
hebung der Kettenstrafe, worin auch ausgesprochen wird, dass die Fesselung
der Gefangenen nur im Disziplinarwege und bei besonders widei'spenstigem
Benehmen stattfinden darf. 5, Das Gesetz vom 29. Dezember 1886, welches
einige Bestimmungen des Strafgesetzes, die auf den Diebstahl, auf die Ver-
untreuung und auf die Betrügerei Bezug haben, abändert und ergänzt.
6. Endlich das Gesetz vom 10. Juni 1890 über die Folgen der Strafurteile mid
der Strafen. Dieses Gesetz regelt den Amtsverlust und die Amtsunfähigkeit
im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung und bestimmt, in welcher Zeit die
gesetzlichen Folgen der strafrechtlichen Verurteilungen in Bezug auf die ein-
zelnen Delikte aufhören, es bestimmt endlich, dass jeder Verurteilte das Recht
hat, beim Gericht die Ausfertigung eines Zeugnisses darüber zu verlangen,
dass die Dauer des Amtsverlustes und die Folgen der Delikte aufgehört haben.
Ausserdem sind noch strafrechtliche Bestimmungen enthalten in folgenden
Gesetzen: 1, Gesetz vom 10. Januar 1874, welches die Verantwortlichkeit des
Banus imd der Abteilungsvorstände der Landesregierung regelt, und welches
ausspricht, dass der Banus, sein Stellvertreter und die Abteilmigsvorstände
für ihre Amtshandlungen durch den Landtag zur Verantwortung gezogen
werden können. Der Regnicolar-Gerichtshof, der über die Anklage, die durch
den Landtag erhoben wird, entscheidet, besteht aus einigen Richtern und
Präsidenten der höheren Gerichtshöfe und aus zwölf vom Landtage mit Aus-
schluss der eigenen Mitglieder gewählten Staatsbürgern. Der Gerichtshof
kann nur die Strafe der Dienstentlassung oder die der Amtsentsetzung (welche
die Unfähigkeit zur Wiederanstellung im Staatsdienste nach sich zieht) aus-
sprechen. Liegt auch eine solche Handlung vor, welche eine Übertretung
gegen das Strafgesetz bildet, so sind für die Entscheidung die ordentlichen
Gerichte kompetent. 2. Das Gesetz vom 14. Januar 1875 über das Versamm-
lungsrecht, welches die Verletzung der auf die Versammlungen bezüglichen
Bestimmungen als Übertretungen qualifiziert. 3. Das (jresetz vom 17. Mai 1875
über den Gebrauch der Presse, welches im dritten Hauptstück „über die
strafbaren Handlungen, begangen durch den Inhalt von Druckschriften", han-
delt. Dieses Gesetz spricht als oberstes Prinzip aus, dass die Pressvergehen,
sowie auch die Strafbarkeit der mitwirkenden Personen nach den Prinzipien
des Strafgesetzbuches zu beurteilen sind, dass aber der Redakteur und wenn
derselbe nicht zu finden ist, der Verleger, und in letzter Linie auch der
Drucker für die Versäumung der pfiichtgeraässen Aufmerksamkeit zur Ver-
antwortung gezogen werden kann. Das Gesetz steht übrigens auf gleichen
Grundlagen wie das österreichische Pressgesetz. 4. Gesetz vom 4. Juni 1888.
186 Ungarn. — Da« Strafrecht von Kroatien-Slavonien.
in welchem die Straf bestimmungen zum Schutze der Unterseekabel festgesetzt
werden. 5. Das Gesetz vom 27. August 1888, in welchem das Veterinärwesen
in den Königreichen Kroatien und Slavonien geordnet wird. 6. Gesetz vom
2. Dezember 1889, in welchem die Straf bestimmungen für Vergehen gegen
das Wehrgesetz bestimmt werden. 7. Gesetz vom 11. Dezember 1890, in
welchem die Strafbestimmungen für Verleitung zum Ungehorsam gegen Militär-
Einberufungsbefehle festgesetzt werden.
Das Militärstrafgesetzbuch für Kroatien-Slavonien ist das östeiTeichische
Militärstrafgesetzbuch.
Die Gewerbegesetzgebung und die Steuergesetzgebung für Kroatien-
Slavonien bildet eine mit Ungarn gemeinsame Angelegenheit, die auf die
Übertretungen bezüglichen Bestimmungen sind also dieselben wie die oben
bezüglich Ungarns aufgezählten.
Die kroatischen Landesgesetze sind ausser der amtlichen kroatischen Aus-
gabe^) auch in einer deutschen Übersetzung in 3 Bänden erschienen unter dem
Titel: „Gesetz- Artikel des Landtages der Königreiche Kroatien, Slavonien und
Dalmatien". Der erste Band enthält die Gesetze von 1868 — 1870,^) der zweite
Band die von 1872—1876,^) der dritte von 1876— 1886.*) Weitere Bände sind
bisher nicht erschienen.
Die gerichtlichen Entscheidungen werden amtlich nicht gesammelt; es
erscheinen aber solche in der juristischen Zeitschrift „Mjesecnik".
Das Strafgesetz und die späteren Gesetze wurden durch Stephan Kranjcic
kroatisch herausgegeben.*)
^) Sbornik zakonah i naredabah va^anih za Kraljevinu Hrvatsku 1 Slavoiiiju
u Zagrebu.
*) Agram, Schnellpressendruck von Jul. Huhn, 1871.
*) Agram, Druckerei der Narodne Novine, 1877.
*) Agram, Druckerei der Narodne Novine, 1887.
''*) Agram, Buchhandlung L. Hartmann, Kugli und Deutsch, 1890.
m.
DIE NIEDERLANDE.
Von
Dr. Q. A. van Hamel,
Professor in ArnKterdam.
» ■
(Übersetzung von Dr. Georg Cruseii in Hannover.)
M
Übersicht
I. Das Mutterland.
§ 1. Das niederländische Strafgesetzbuch vom 3. März 1881. Seine Geschichte.
§ 2. Die allgemeinen Grundzüge des geltenden Straf rechts.
§ 3. Die einzelnen strafbaren Handlungen.
§ 4. Das nicht auf dem Strafgesetzbuch beruhende Straf recht.
§ 5. Gesetzesausgaben, Litteratur, Rechtsprechung.
II.
§ 6. Das Strafrecht der Kolonieen (Niederländisch-Indien, Surinam, Cura^ao)
L Das Mutterland.
§ 1. Das Strafgesetzbuch rom 3. MSrz 1881. Seine €feschichte.
Das zur Zeit geltende Strafgesetzbuch des Königreichs der Niederlande
hat den Titel: „Wetboek van Strafrecht". Es wurde beschlossen durch
Gesetz vom 3. März 1881, Gesetzsammlung (Staatsblad) No. 35,^) ist aber erst
infolge eines besonderen Gesetzes (vom 15. April 1886, Staatsblad No. 64)
über das Inkrafttreten des Strafgesetzbuches, und zwar am 1. September 1886,
in Kraft getreten. — Es ist zweimal, jedoch nur unwesentlich, abgeändert:
1. Durch eine auf mehrere Artikel sich erstreckende Änderung, noch
vor seinem Inkrafttreten, durch Gesetz vom 15. Januar 1886 (Staatsblad No. 6),
das allgemein als „Novella" bezeichnet wird;
2. bezüglich eines einzigen Artikels über die Verjährung durch Gesetz
vom 31. Dezember 1887 (Staatsblad No. 265).
Übersicht über die frühere Gesetzgebung. Die wechselnden po-
litischen Schicksale des Landes haben auf die Gesetzgebung überhaupt, ins-
besondere aber auf die Strafgesetzgebung, bedeutenden Einfluss gehabt.
Das Fehlen einer engeren politischen Verbindung zwischen den Provinzen,
welche jetzt das Königreich der Niederlande bilden, hat Jahrhunderte lang
das Zustandekommen einer einheitlichen, das ganze Land umfassenden Kodi-
fikation verhindert. Im 16., 17. und 18., ja sogar noch im Anfange des
19. Jahrhunderts beruhte die Strafrechtspflege nur zum Teil auf schriftlichen,
von den Provinzen oder Städten ausgehenden Verordnungen, der Hauptsache
nach aber auf allgemeinem oder lokalem Gewohnheitsrecht, dem das römische
Recht und die Werke der grossen italienischen, deutschen, französischen und
niederländischen Kriminalisten ergänzend zur Seite traten.
Wenn auch sofort nach der Herstellung der politischen Einheit gegen
Ende des 18. Jahrhunderts (i. J. 1796) durch Einsetzung von Gesetzgebungs-
kommissionen der erste Schritt zur Kodifikation des Privat- und Strafrechts
gethan wurde, so scheiterte doch zunächst die Ausarbeitung eines Gesetzbuches.
Erst etwa 10 Jahre später (1809) erhielt das Land, welches seit 1806
unter König Louis Bonaparte das Königreich Holland bildete, sein erstes
Strafgesetzbuch (Crimineel Wetboek voor het Koningryk Holland), das, auf
nationaler Grundlage aufgebaut, zweifellos für die damalige Zeit ein muster-
haftes Gesetz war. Wenn die Niederlande in der Lage gewesen wären, das-
selbe zu behalten und weiter zu entwickeln, so hätten sie sich seit Anfang
dieses Jahrhunderts eines ihrer nationalen Eigenart entsprechenden Strafrechts
erfreuen können. Zu erwähnen ist, dass schon das Gesetzbuch von 1809 drei
wichtige, im geltenden Strafgesetzbuch wiederkehrende Züge aufweist: das
*) Die gesetzgebende Gewalt übt der König in Verbindung mit den beiden
Kammern der Generalstaaten aus.
190 I^ic Niederlande. — Das Mutterland.
Fehlen des französischen Systems der Dreiteilung der Straf thaten, die Behand-
lung des strafrechtlichen Verschuldens (Vorsatz, Fahrlässigkeit) und die Frei-
heit des richterlichen Ermessens in Beziehung auf die Feststellung des Straf-
masses.
Indes hatte die Annexion der Niederlande durch das französische Kaiser-
reich (1810) die Ersetzung des nationalen Strafgesetzbuches durch den fran-
zösischen Code p6nal (1811) zur Folge. Nach der Restauration unter dem
Prinzen von Oranien (1813) wurde zunächst „bis auf weiteres" das französische
Recht in Geltung belassen, jedoch unter Abänderung verschiedener Bestim-
mungen über das Strafensystem und die mildernden Umstände. Während
aber 1838 die französischen Gesetzbücher auf dem Gebiete des bürgerlichen
und des Handelsrechts wie des Civil- und Strafprozesses durch nationale Kodi-
fikationen ersetzt wurden, waren die auf das gleiche Ziel gerichteten Be-
strebungen im Gebiete des materiellen Strafrechts nicht von Erfolg begleitet.
In der Zeit von 1827 bis 1859 scheiterten mehrere Versuche, dem Lande
ein wahrhaft niederländisches Strafgesetzbuch zu geben, an den allgemeinen
politischen Verhältnissen und an der mangelnden Entschlossenheit, sich füi*
ein bestimmtes Strafensystem zu entscheiden. Man musste sich daher wohl
oder übel darein fügen, das fremdländische Recht beizubehalten, dessen fran-
zösischer Text, obwohl eine amtliche holländische Übersetzung bestand, gesetz-
licl\^ die Grundlage der Interpretation blieb. Indes wurden, um es wenigstens
einigermassen den Anschauungen und Gewohnheiten des Volkes, den Fort-
schritten der Strafrechtswissenschaft und den Bedürfnissen des modernen
Lebens anzupassen, mehrere abändernde Gesetze, vor allem i. J. 1854, geschaffen,
die sich auf verschiedene Materien beziehen und teils grössere, teils geringere
Tragweite haben. Ausserdem wurden neben dem Strafgesetzbuch, um dessen
Lücken auszufüllen, mehrere Spezialgesetze strafrechtlichen Inhalts erlassen.
Zu bemerken ist, dass unter der Herrschaft dieses französisch-holländischen
Rechts der Gesetzgeber im Jahre 1870 die Todesstrafe abgeschafft hat, ab-
gesehen von wenigen besonderen Fällen des Militärstrafrechts, für welche sie
bestehen blieb.
Die Geschichte des geltenden Strafgesetzbuches. In demselben
Jahre (1870) wurde durch königliche Verordnung eine Staatskommission (Staats-
commissie) zur Ausarbeitung eines Strafgesetzbuchs eingesetzt. Mitglieder der-
selben waren: Dr. de Wal, damals Professor an der Universität Leiden, ein
Strafrechtslehrer von umfassenden Kenntnissen, der jedoch bald dieses Amt
niederlegte und 1892 hochbetagt gestorben ist (Präsident); Dr. Frangois, Ober-
landesgerichtsrat, der jedoch mit Rücksicht auf seine dienstliche Thätigkeit
seine Stellung bald wieder aufgab und ersetzt wurde durch Dr. Loke, eben-
falls Oberlandesgerichtsrat, hervorragender Magistrat (f 1878); Dr. A. A. de
Pinto, Schriftführer der Kommission, damals Abteilungschef im Justizministerium,
jetzt Rat im Kassationshofe (Hooge Raad), der unermüdliche Nestor der hol-
ländischen Kriminalisten; M. Pols, damals Militär- Auditeur, später General-
staatsanwalt am obersten Militärgericht, seit 1878 Professor des Strafrechts
an der Universität Utrecht, allgemein bekannt als Vertreter der Regierung
bei verschiedenen Gefängnis -Kongressen; Dr. Modderman, damals Professor
des Strafrechts in Amsterdam, dann in Leiden, von 1879 bis 1882 Justiz-
minister, als welcher er 1881 den Strafgesetzentwurf in beiden Kammern mit
grossem Geschick verteidigte (f 1885); endlich Jonkheer Dr. Beelaerts van
Blockland, damals Bureauvoratand im Justizministerium, später Mitglied der
zweiten Kammer, als zweiter Schriftführer.
Im Mai 1875 überreichte die Kommission dem Könige den vollständigen
Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches sowie der Einführungsgesetze; ihre
§ 1. Das Strafgesetzbuch vom 3. März 1881. Seine (beschichte. 191
Arbeit ist die Grundlage aller späteren geblieben, ja, man kann sagen, trotz
wichtiger Einschränkungen und Änderungen, geltendes Recht geworden.
Die vorgenommenen Beschränkungen sind vorzugsweise auf den Justiz-
minister H. J. Smidt zurückzuführen, der bezüglich des Umfangs der Kodi-
fizierung die entgegengesetzte Ansicht vertrat, wie die Kommission. Letztere
war davon ausgegangen, dass die gesamten strafrechtlichen Bestimmungen
aller Nebengesetze, ohne Rücksicht auf den sonstigen Inhalt derselben, in das
Strafgesetzbuch aufzunehmen seien. Nach Ansicht der Kommission ergab sich
diese Konsequenz mit Notwendigkeit aus dem Begriffe der Kodifikation. Dem-
gemäss hatte sie eine bedeutende Anzahl „Übertretungen" in ihren Entwurf
aufgenommen. Der Minister dagegen war von der Notwendigkeit dieser Mass-
regel keineswegs überzeugt, hielt es vielmehr vom Standpunkte der gesetz-
geberischen Technik für praktischer, den Bestimmungen der Spezialgesetze
auch gleichzeitig deren strafrechtliche Sanktion hinzuzufügen. Es schied daher
über 70 Artikel aus, venninderte so ihre Zahl von 602 auf 530 und legte
dann den Entwurf, der als „Erster Regierungsentwurf" (Oorspronkelijk Regee-
rings-Ontwerp) bezeichnet wird, zunächst 1878 dem Staatsrat, dann nach Vor-
nahme einiger unwesentlicher Änderungen auf Vorschlag desselben, im Februar
1879 der zweiten Kammer der Generalstaaten vor.
Hier wurde der Entwui*f in den Abteilungen nach Anweisung einer par-
lamentarischen Kommission (der sogenannten Berichterstatter-Kommission) ge-
prüft; letztere bestand aus den fünf Mitgliedern: Godefroi, Patijn, van der Kaay,
de Savomin Lohmann und des Amerie van der Hoeven.
Während dieser Beratungen trat infolge einer Ministerkrisis Professor
Modderman, eines der Mitglieder der Staatskommission, an die Spitze des
Justizministeriums; mit ihm beriet seitdem die Berichterstatter-Kommission
mündlich und schriftlich. Ein und dasselbe parlamentarische Aktenstück
enthält den Kommissionsbericht und die Antwort des Ministers, welcher dieser
einen abgeänderten Entwurf beigegeben hat; letzterer wird als „abgeänderter
Regierungsentwurf von 1880^* (Gewyzigd Regeerings-Ontwerp) citiert. Dieser
Entwurf enthielt weitere Abkürzungen und Änderungen (z. B. Erhöhung des
Höchstmasses der in Einzelhaft zu verbüssenden Gefängnisstrafe von 3 auf
5 Jahre, Herabsetzung der Mindestdauer der Freiheitsstrafe von 6 Tagen
auf 1 Tag).
Nachdem die zweite Kammer den Entwurf in den öffentlichen Sitzungen
vom 25. Oktober bis zum 9. November 1880 beraten hatte, wurde er mit
mehreren, teils geringfügigen, teils erheblichen Änderungen mit bedeutender
Mehrheit (58 gegen 10 Stimmen) angenommen. Da die erste Kammer nicht
die Befugnis hat, ein ihr zur Beschlussfassung vorgelegtes Gesetz abzuändern
und das Strafgesetzbuch eine einheitliche Gesetzesvorlage bildete, die entweder
angenommen oder verworfen werden musste, so entschloss sich die Kammer,
ihre Zustimmung zu geben, obwohl erhebliche Bedenken laut geworden waren.
Einen Hauptstein des Anstosses bildete die, einem übertriebenen Doktrinaris-
mus zu verdankende, Straflosigkeit der Landstreicherei. So förderte die erste
Kammer zwar das Zustandekommen des Strafgesetzbuches, Hess sich aber vom
Minister die Zusage der Einbringung eines abändernden Gesetzes noch vor
dem Inkrafttreten geben.
Einführung des Strafgesetzbuches. Die Bestimmung des Tages, mit
welchem das Gesetz Geltung erlangen sollte, war einem späteren besonderen
Gesetze vorbehalten. Die Notwendigkeit dieser Massregel ergab sich nicht nur
aus dem der ersten Kammer gegebenen Versprechen, sondern noch mehr aus der
engen Beziehung, die zwischen dem materiellen Strafrecht einerseits und dem
Strafprozess, verschiedenen Bestimmungen anderer Gesetze und zahlreichen
192 Die Niederlande. — Das Mutterland.
Nebeugesetzen andererseits bestand, sowie aus der Notwendigkeit, füi* die ein-
heitliche Durchführung des Strafensystems vorbereitende Massregeln zu treffen.
Vielleicht wäre die sofortige Einführung des Gesetzes möglich gewesen, wenn
man versucht hätte, seine Grandsätze, so gut es ging, im Rahmen des gelten-
den Verfahrens durchzuführen; aber mit Recht zog man vor, zu warten, bis
dui'ch Abänderung der anderen Gesetze und durch Bereitstellung der erforder-
lichen Zellengefängnisse die uneingeschränkte Wirksamkeit des Strafgesetz-
buches gesichert war.
Diese viel Zeit und Mühe erfordernden Vorarbeiten wurden noch unter
dem Justizminister Modderman begonnen, aber erst unter seinem Nachfolger,
Baron du Four van Bellinchave, vollendet. Endlich konnte der Geltungsbeginn
des Gesetzes selbst und der Nebengesetze auf den 1. September 1886 fest-
gesetzt werden.
Diese Gesetze und Verordnungen, welche den Zubehör des Strafgesetz-
buches bilden, mit Rücksicht auf dieses erlassen und gleichzeitig in Kraft
getreten sind, kann man folgendermassen einteilen:
I. Das Gesetz betr. die Abänderung einiger Artikel des Strafgesetz-
buches (Novella) vom 15. Januar 1886; Staatsblad No. 6. — Die Modifikationen
bieten im ganzen nur geringes Interesse; hervorgehoben sei nur, dass die
Landstreicherei als Übertretung bestraft wird (Art. 432, StGB.), und die Be-
strafung des Ehebruchs nach deutschem Muster von der vorgängigen Auf-
lösung der Ehe oder Trennung von Tisch und Bett durch Richterspruch ab-
hängig gemacht ist. (Art. 241, StGB.)
II. Die Massregeln betr. das Strafensystem: a) Gesetz über die Gefängnis-
anstalten (Gestichterwet) vom 3. Januar 1884, Staatsblad No. 3, abgeändert
durch Gesetz vom 28. August 1886, Staatsblad No. 130, und später noch in
verschiedenen Punkten; b) Gesetz, enthaltend die Grundsätze über die Voll-
streckung der Freiheitsstrafen vom 14. April 1886, Staatsblad No. 62 (Wet tot
vaststelling der beginselen van het gevangeniswezen) ; c) Königliche Ver-
ordnung, enthaltend die allgemeinen Vorschriften über das Gefängnis wesen,
vom 31. August 1886, Staatsblad No. 159 (in unwesentlichen Punkten später
wiederholt abgeändert); d) die durch königliche Verordnung erlassenen be-
sonderen Reglements für jede einzelne Anstalt.
III. Gesetz über die Ausführung der Art. 38 und 39 des Strafgesetzbuches
vom 15. Januar 1886, Staatsblad No. 7 (enthält Vorschriften über das besondere
Verfahren gegen jugendliche Verbrecher unter 10 Jahren).
IV. Die Gesetze betr. die Abändening der Gerichtsverfassung (vom
26. April 1884, Staatsblad No. 92) imd der Strafprozessordnung (vom 15. Januar
1886, Staatsblad Nö. 5).
V. Die Gesetze, welche einzelne geringfügige, vorzugsweise terminologische
Änderungen im bürgerlichen Gesetzbuch, im Handelsgesetzbuch und in der
Civilprozessordnung zum Gegenstande haben (vom 20. April 1884, Staatsblad
No. 93, 94, 95, auch Art. 8 des Gesetzes betr. das Inkrafttreten des Straf-
gesetzbuches).
VI. Das Gesetz betr. das Inkrafttreten des Strafgesetzbuches vom 15. April
1886, Staatsblad No. 64. Dieses sorgfältig ausgearbeitete Gesetz, der Schluss-
stein im Bau des neuen Systems, dient einem vierfachen Zwecke; es sollte
1. das Inkrafttreten des Strafgesetzbuches anordnen und den Zeitpunkt des-
selben bestimmen; 2. klar und deutlich von den älteren und neueren Gesetzen
diejenigen bezeichnen, welche neben dem Strafgesetzbuche Gesetzeskraft be-
halten und diejenigen, welche abgeschafft werden sollten; 3. die Einheit und
Übereinstimmung im Strafensystem herstellen zwischen dem Strafgesetzbuche
einerseits und andererseits den übrigen Gesetzen, Verordnungen, provinzialen und
§ 2. Die allgemeinen Grundzüge des geltenden Straf rechts. 193
lokalen Heglements, die neben demselben in Geltung bleiben oder in Krat^
treten sollten; 4, Übergangsbestimmungen auf Grund des Art. 1 des Straf-
gesetzbuches treffen.
VII. Endlich ist zu nennen: das Gesetz vom 15. April 1886 über die
Abänderung des Konsulargesetzes von 1871 (Staatsblad No. 63), durch welches
dieses mit dem Strafgesetzbuche in Übereinstimmung gebracht wird.
§ 2. Die allgemeinen Grnndzttge des geltenden Strafreclits.
Das geltende holländische Strafgesetzbuch ist ein durchaus selbständiges
Werk; den Gedanken, lediglich eine verbesserte Ausgabe des damals gel-
tenden französischen Code pönal zu schaffen, hatte die Kommission von
vornherein von der Hand gewiesen. Ein derartiges Unternehmen wäre auch
sowohl aus nationalen wie aus wissenschaftlichen Gründen aussichtslos ge-
wesen. Ebensowenig wollte sich aber die Kommission auf eine Nachprüfung
der früheren, in der Zeit von 1839 bis 1847 ausgearbeiteten Entwürfe be-
schränken, dazu waren die Fortschritte zu gross, welche Wissenschaft und
Praxis seit jener Zeit gemacht hatten. Trotzdem hat aber die Kommission
die bedeutenden Muster, welche ihre grossen Vorgänger in Holland, Frank-
reich, Belgien und Deutschland geschaffen hatten, keineswegs unbenutzt ge-
lassen. Ohne eines der geltenden Strafgesetzbücher direkt nachzuahmen, hat
der holländische Gesetzgeber ihnen mehr als eine seiner Vorschriften ent-
nommen.
Von dem nationalen Charakter einer Kodifikation im strengsten Sinne
des Wortes kann man heutzutage überhaupt kaum noch sprechen. Dazu sind
die sozialen Bedürfnisse und die wissenschaftlichen Anschauungen der ver-
schiedenen Länder, welche fast die gleichen Stadien modemer Civilisation
durchlaufen haben, einander zu ähnlich. Immer aber wird es neben diesen
gleichartigen Erscheinungen Züge nationaler Eigenart geben, die sich ent-
weder aus der geschichtlichen Entwickelung der Einrichtungen des Landes
oder aus dem eigentümlichen Charakter seiner Bewohner erklären.
Eines der Grundprinzipien des holländischen Strafgesetzbuches ist die
ihm eigentümliche Einteilung der strafbaren Handlungen. Die Dreiteilung
des französischen Systems in crimes, d61its und contraventions ist aufgegeben
und durch die Zweiteilung in „misdryven" und „overtredingen" ersetzt. Ohne
sich dem Vorwurfe der Ungenauigkeit allzusehr auszusetzen, kann man sagen :
Die erste Gruppe umfasst die „crimes" und „d61its" des französischen, die
„Verbrechen" und „Vergehen" des deutschen Rechts; und die Gruppe der
„overtredingen" unterscheidet sich nicht wesentlich von den „contraventions
de police" und den „Übertretungen". Jedoch ist dieser Vergleich nur im
grossen und ganzen richtig, da der Gesetzgeber die Grenzlinie zwischen
beiden Gruppen nicht nach dem Masse oder der Art der Strafe, sondern nach
einer theoretischen Antithese — strafbare Handlungen gegen natürliches Recht
(Rechtsdelikte) und Handlungen, deren Strafbarkeit erst durch ausdrückliche
Vorschrift des Gesetzgebers begründet wird (Gesetzesdelikte) — gezogen hat.
Die Richtigkeit dieses Gegensatzes und seine Anwendung ist indessen sehr
bestritten. — In dieser Arbeit werden wir das Wort „misdryven" in der
Regel mit „Verbrechen" übersetzen, sowie dies auch geschehen ist in der
Dochow-Teichmannschen Übersetzung (Zeitschrift für die gesamte Strafrechts-
wissenschaft Bd. I. Beilage).
Dieser Einteilung der strafbaren Handlungen entsprechen: 1. Die Ein-
teilung des Strafgesetzbuches in drei Bücher: 1. Allgemeiner Teil; II. die
„misdryven" (Verbrechen); III. die „overtredingen" (Übertretungen). 2. Die
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I. 13
194 I^ie Niederlande. — Das Mutterland.
Bestimmungen über die Zuständigkeit der Gericlite und das Strafverfaliren. —
Schwurgerichte haben in Holland nur während der zwei- bis drevj&hrigen
französischen Herrschaft f 1810 — 1813) bestanden. Sie sind nach der Restanration
sofort beseitigt worden und haben sich seitdem niemals im Lande bedeutender
Sympathieen erfreut. Später, während der Greltung des Code p^nal (bis 1886),
hatte man für die Dreiteilung der Strafthaten ein derselben angepasstes,
innerlich wertloses Zuständigkeitssystem gebildet. Mit Einführung des neuen
Strafgesetzbuches ist es wesentlich vereinfacht und besteht in folgendem: die
Aburteilung der „overtredingen" geschieht in erster Instanz durch den Kanton-
richter (Amtsrichter), in zweiter durch das Landgericht ( Arrondissementsrecht-
bank); über die „misdryven", die schwersten Verbrechen darunter mitbegriflFen,
entscheidet in erster Instanz das Landgericht in der Besetzung mit drei
Richtern, in der Berufungsinstanz das Appellationsgericht (Oberlandesgericht):
Kassationshof ist der „Hooge Raad". — Besondere Strafgerichte giebt es
nicht, dieselben Gerichte entscheiden in Civil- und in Strafsachen.
Das Strafensystem (Buch I, Titel 2) ist sehr einfach und bildet das
natürliche Ergebnis der in Holland seit 1813 an dem französischen Strafen-
system vorgenommenen Reformen. — Bei der Abschaffung der Todesstrafe
hat es sein Bewenden gehabt; ein in der Zweiten Kammer eingebrachter An-
trag auf ihre Wiedereinführung wurde mit bedeutender Mehrheit abgelehnt.
— Die Verbannung ist nicht zulässig; ganz abgesehen von anderen Gründen,
die gegen diese kostspielige und nur für eine beschränkte Anzahl von Ver-
brechern anwendbare Strafart sprechen, musste der Gesetzgeber schon deshalb
von ihrer Einführung absehen, weil es an einem geeigneten Deportationsorte
in den Kolonieen fehlte. — Das niederländische Strafrecht kennt femer weder
Zwangsarbeit und Zuchthaus noch Festungshaft. Es giebt nui* drei Haupt-
strafarten: Gefängnis (gevangenis) , einfache Freiheitsentziehung oder Haft
(hechtenis) und Geldstrafe (geldboete).
Die Gefängnisstrafe ist die wichtigste Freiheitsstrafe; sie wird ganz all-
gemein angewendet, sowohl bei schweren wie bei leichten Delikten mit Aus-
nahme gewisser nicht vorsätzlich begangener Vergehen und der Übertretungen.
— Die schwerste Strafe ist lebenslängliches Gefängnis; das Höchstmass der
auf bestimmte Zeit erkannten Gefängnisstrafe beträgt im allgemeinen 15, in
einigen besonderen Fällen 20 Jahre, das Mindestmass 1 Tag. Die besonderep
Höchstmasse, die in verschiedenen Straf bestimmungen angedroht werden, sind :
15j 12, 9, 6, 4, 3 Jahre, 1 Jahr, einige Monate, ja sogar einige Wochen. —
Die Einzelhaft, mit der seit 1851 unter allmählicher Erhöhung der Höchst-
dauer ununterbrochen Versuche angestellt sind, ist für Gefängnisstrafen mit
einer Höchstdauer von nicht mehr als 5 Jahren vorgeschrieben, bei Strafen
von längerer Dauer nur für die ersten 5 Jahre. Nach Ablauf dieser Zeit
kann der Justizminister dem Gefangenen das Verbleiben in der Einzelhaft
gestatten (Art. 4), im allgemeinen tritt jedoch mit diesem Zeitpunkte gemein-
schaftliche Haft mit Klassifikation ein (Art. 13); die Klassifizierung der ge-
meinsam zu verwahrenden Sträflinge erfolgt nach ihrer Vergangenheit, ihrer
bisherigen Führung, der Art der Strafthat, dem Alter, der körperlichen und
geistigen Entwickelung und der Dauer der Strafe. Während der Nacht werden
die Gefangenen vollkommen getrennt (Alkoven-System). Die auf Lebenszeit
verurteilten Gefangenen kommen mit den anderen nicht in Berührung. Für
die weiblichen Gefangenen sind teils besondere Anstalten, teils innerhalb der
gemeinsamen Anstalten abgetrennte Flügel vorhanden. Nach Art. 12 ist die
Einzelhaft ausgeschlossen für Kinder unter 14 Jahren, für Personen über
60 Jahren, falls sie nicht darauf antragen, und für solche, bei denen sie nach
ärztlicher Ansicht gesundheitsschädlich wirken würde. Für die zu Gefängnis
§ 2. Die allgemeinen Grundztigpe des geltenden Strafrechts. 195
Verurteilten gilt Arbeitszwang (Art. 14). — Die bedingte Entlassung kann der
Justizminister für solche Verurteilte anordnen, die drei Vierteile ihrer Straf-
zeit, mindestens aber 3 Jahre, verbüsst haben (Art. 16 — 17).
Die einfache Freiheitsentziehung (Haft, hechtenis) ist die Strafe für nicht
vorsätzlich begangene Vergehen, bei denen sie meist wahlweise neben Ge-
fängnis angedroht wird, und für Übertretungen. Ihr Höchstmass beträgt
1 Jahr, in einzelnen besonderen Fällen 1 Jahr und 4 Monate. Sie wird in
Gemeinschaftshaft vollstreckt, falls nicht der Verurteilte die Einzelhaft wünscht.
Die Sträflinge sind nicht zu bestimmten Arbeiten verpflichtet, sondern können
sich nach Belieben beschäftigen; nur wenn sie sich völlig dem Müssiggange
ergeben, zwingt die Verwaltung sie zur Arbeit. Über den Arbeitsverdienst
können sie frei verfügen (Art. 18 — 20).
Die Geldstrafe (Geldbusse) wird vom Gesetze gegen Verbrechen und
Übertretungen angedroht, teils allein, teils wahlweise neben einer der beiden
Freiheitsstrafen, niemals aber kumulativ mit diesen. An Stelle der zwei Mo-
nate nach Rechtskraft des Urteils noch nicht bezahlten Geldstrafe tritt hülfs-
weise Freiheitsentziehung (Art. 23), deren Charakter durchaus dem der Haft
(hechtenis) entspricht. Ihre Dauer wird durch den Richter für den Fall der
Zahlungsunfähigkeit des Verurteilten nach dem vom Gesetze allgemein vor-
geschriebenen Umwandlungsmassstab im voraus bestimmt, das Höchstmass
beträgt 6, in besonderen Fällen 8 Monate.
Nicht auf dem Strafgesetzbuche, sondern auf dem Gesetze über die all-
gemeinen Grundzüge des Gefängniswesens (Art. 8) beruht die Vorschrift, dass
jeder zu einer Freiheitsstrafe irgendwelcher Art einschliesslich der hülfsweisen
Haft Verurteilte während der ersten beiden Tage der Einsperrung nur Wasser
und trockenes Brot erhält.
Das Strafgesetzbuch kennt keine entehrenden Strafen, wohl aber vier
Arten von Nebenstrafen (9, 28 ff.): die Einziehung einzelner Gegenstände, den
Ausschluss von der Ausübung gewisser politischer Rechte oder gewisser Be-
rufsarten, die öffentliche Bekanntmachung des Urteils und die zeitweilige
Unterbringung in ein Arbeitshaus. Auf alle diese Strafen darf nur in den
vom Gesetze ausdrücklich vorgesehenen Fällen erkannt werden, auf die letz-
tere nur gegen die wegen Betteins oder Landstreicherei Verurteilten und
gegen rückfällige, bereits mehr als dreimal wegen öffentlicher Trunkenheit
verurteilte Trunkenbolde. Diese Arbeitshäuser — teilweise Ackerbaukolonieen
— befinden sich : für die Männer in den drei Anstalten von Veenhuisen (in
der Provinz Drenche) und in Hoom; für die Frauen in Ögstgeest bei Leiden.
Endlich sei noch erwähnt, dass jugendliche Verbrecher unter 10 Jahren
und solche von 10 — 16 Jahren, die ohne Unterscheidungsvermögen gehandelt
haben, in eine Erziehungsanstalt untergebracht werden können, jedoch höchstens
bis zum vollendeten 18. Lebensjahre (Art. 38, 39). Diese Anstalten befinden
sich: für die Knaben in Alkmoor und in Doetinchem (Kreuzberg), der Bau
einer dritten Anstalt in Avercest ist beschlossen; für die Mädchen in Montfoort.
Ein sehr charakteristischer Zug des holländischen Strafgesetzbuches ist
die bedeutende Freiheit des richterlichen Ermessens bei der Auswahl der
Strafe. Die Verurteilung zu einer Nebenstrafe sowie die Unterbringung eines
jugendlichen Verbrechers in eine Erziehungsanstalt ist niemals obligatorisch,
sondern dem Ermessen des Richters überlassen.
Die Verurteilung zu den Hauptstrafen ist in allen Fällen obligatorisch —
das System der bedingten Verurteilung ist dem holländischen Recht fremd — ;
bezüglich des Strafmasses — der Dauer der Gefängnis- oder Haftstrafe, des
Betrages der Geldbusse — ist jedoch der Richter nur durch ein für jede
Strafthat besonders bestimmtes Höchstmass beschränkt. Besondere Mindest-
13*
196 I^iß Niederlande. — Das Mutterland.
masse für die einzelnen Delikte kennt das Gesetz nicht; es gilt für alle das
gemeinsame Mindestmass von einem Tage für Gefängnis- und Haftstrafe, von
60 Cents oder einem halben Gulden füi* die Geldbusse. Dieses Prinzip war
nicht von vornherein in Aussicht genommen; die Kommission hatte vielmehr
für einzelne schwere Verbrechen, die unteren Strafgrenzen erhöht, und erst
infolge späterer Erwägungen kam man mehr und mehr zu dem jetzigen
System. Es hat ein, wenn auch nicht ganz ähnliches, Vorbild im Strafgesetz-
buche von 1809 und ist das Ergebnis der kläglichen Erfahrungen, die man
während der Geltung des französischen Code mit der erkünstelten Einrichtung
der „mildernden Umstände" gemacht hatte. Der in ihnen liegende Formalismus
hatte schliesslich dahin geführt, dass der Richter nicht mehr nach den Um-
ständen des Falles die Strafe ausmass, sondern nach mildernden Umständen
suchte, um die von ihm für angemessen gehaltene Strafe zu begründen.
Gerade dieses System drückt zweifellos dem Strafgesetzbuche den Stempel
nationaler Eigenart auf; es beruht auf einem weitgehenden Vertrauen in die
Unparteilichkeit des Richterstandes, das durch die bisherige Praxis, welche
nicht einmal Klagen geschweige denn Missbräuche zu Tage gefördert hat, in
vollem Umfange gerechtfertigt ist.
Dem Umstände, dass die Mitglieder der Staatskommission zu den hervor-
ragendsten Vertretern der Strafrechtswissenschaft gehörten, verdankt das
Strafgesetzbuch das ihm eigene wissenschaftliche Gepräge. Dieses findet seinen
Ausdruck in erster Linie in der Genauigkeit, mit welcher die Bestimmungen
des allgemeinen Teiles (Buch I) abgefasst wurden, die von der deutschen
Strafrechtswissenschaft dieses Jahrhunderts vorzugsweise beeinflusst sind. Der
wissenschaftliche Wert des Gesetzes liegt aber ferner in der genauen BegrifFs-
bestünmung der einzelnen strafbaren Handlungen und der im allgemeinen
sehr sorgfältigen Hervorhebung der Art des erforderten „Vorsatzes". Das
Erfordernis des „Bewusstseins der Rechtswidrigkeit" („des rechtswidrigen Vor-
satzes") ist von den Verfassern des geltenden Strafgesetzbuches im Anschluss
an das von 1809 ausdrücklich verworfen worden.
In Übereinstimmung mit der herkömmlichen Ansicht wird der Rückfall
als erschwerender Umstand betrachtet, der den Richter berechtigt, auf die
schwerste zulässige Strafe zu erkennen. Rückfall liegt nach dem Gesetze nur
vor, wenn dieselbe Deliktsart (Buch II, Titel 31) bezw. dieselbe Übertretung
wiederholt begangen ist.
Der Versuch (Art. 45) wird mit einer geringeren Strafe wie das vollendete
Verbrechen bestraft, das Höchstmass wird um ein Drittel erniedrigt. Im all-
gemeinen ist der Versuch bei „misdrljven" strafbar; die ausgenommenen
Verbrechen sind ausdrücklich bezeichnet. Bei Übertretungen ist der Versuch
straflos.
Die Bestimmungen über Teilnahme (Art. 47 — 52) sind prinzipiell denen
des deutschen Gesetzbuches ähnlich. Jedoch kennt das holländische Gesetz-
buch den Duchesne-Paragraphen (§ 49 a des RStGB.) nicht. Die Beihülfe ist bei
Übertretungen straflos.
In den Fällen von concursus realis kennt das Gesetzbuch für Verbrechen
das System einer gemässigten Kumulation, d. h. mit Herabsetzung des Gesamt-
betrages der verwirkten Einzelstrafen; für Übertretungen kennt es die ein-
fache Kumulation.
Kinder unter 10 Jahren dürfen nicht bestraft werden; zwischen 10 und
16 Jahren werden sie nur dann bestraft, wenn sie mit Unterscheidungs-
vermögen gehandelt haben; für diejenigen, welche ohne Unterscheidungs-
vermögen gehandelt haben, kann der Richter die Aufnahme in eine von den
obenbezeichneten Erziehungsanstalten anordnen (Art. 38, 39).
§ 8. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 197
Die Zurechnungsfähigkeit wird ausdrücklich ausgeschlossen bei krank-
hafter Störung oder mangelhafter Entwickelung der Geistesthätigkeit (Art. 37).
Die Unzurechnungsfähigkeit bei Bewusstlosigkeit war in den Entwürfen er-
wähnt; diese Erwähnung wurde aber bei der Beratung gestrichen.
Als allgemeine Rechtfertigungsgründe sind erwähnt: Übermacht (nach
dem französischen Code pönal); Notwehr, sogar deren Überschreitung unter
der Wirkung von heftigen Gemtitserregungen (nach dem deutschen RStGB.);
die Bestimmung des Gesetzes oder Gesetzeskraft besitzender Anordnungen;
der Befehl einer dazu befugten Behörde (Art. 40 — 43).
Als allgemeinen Strafmilderungsginind, welcher das Höchstmass erniedrigt,
kennt das Gesetzbuch bloss das Lebensalter zwischen 10 und 16 Jahren
(Art. 39). Als allgemeinen Strafschärfungsgrund kennt das Gesetzbuch bloss
die amtliche Stellung des Verbrechers (s. nachher bei den Amtsverbrechen).
Das Gesetzbuch kennt nur wenig Antragsdelikte.
§ 3. Die einzelnen strafbaren Handlungen.
Buch II handelt über Verbrechen („mißdryven). Es enthält XXXI Ab-
schnitte (Titel). — T. I. Verbrechen gegen die (innere und äussere) Sicherheit
des Staates. Hier wird das Unternehmen (der Versuch) wider das Leben oder
die Freiheit des Staatsoberhauptes, wider die Integrität des Staatsgebietes oder
wider die Verfassung bestraft wie das vollendete Verbrechen. — T. II. Ver-
brechen gegen die königliche Würde; unter andern Majestätsbeleidigung, mit Ge-
fängnis bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe bis zu 300 Gulden bestraft. — T. III. Ver-
brechen gegen das Staatsoberhaupt oder die Vertreter befreundeter Staaten. —
T. IV. Verbrechen in Beziehung auf die Ausübung staatsbürgerlicher Pflichten
und Rechte; insbesondere Bestimmungen enthaltend zum Schutz der freien und
ehrlichen Ausübung des Wahlrechts. — T. V. Verbrechen gegen die öffent-
liche Ordnung; ein Abschnitt, der, wie im deutschen Gesetzbuch, eine Anzahl
sehr verschiedener Verbrechen enthält, wie die öflFentliche Aufforderung zu
strafbaren Handlungen, die Nichtanzeige von Komplotten und des Vorhabens
von einzelnen schwereren Verbrechen zur Zeit, als der Begehung jener Ver-
brechen noch vorgebeugt werden konnte, den Hausfriedensbruch, ein Ver-
brechen, das in dieser Allgemeinheit im französisch-holländischen Rechte un-
bekannt war. — T. VI. Zweikampf. — T. VII. Verbrechen gegen die öflfentliche
Sicherheit von Personen oder Sachen ; unter andern Brandstiftung, die Verursachung
von Explosion oder Überschwemmung mit Gemeingefahr für Sachen oder Lebens-
gefahr; die Verursachung von Gefahr für den Verkehr mit Dampf kraft auf
einem Schienenwege; in diesem Abschnitt wird neben der vorsätzlichen Form
von jedem dieser Verbrechen auch die fahrlässige bestraft; weiter wird die
Strafe bei fast allen diesen Verbrechen geschärft, wenn der Tod eines Menschen
dadurch verursacht worden ist. — T. VIII. Verbrechen gegen die öffentliche
Obrigkeit; unter andern Widerstand, ein Verbrechen, wozu auch in diesem Gesetze
die rechtmässige Amtsausübung gefordert wird; die falsche Anzeige eines
Verbrechens an die Obrigkeit; und die anderen Delikte, welche in allen Gesetz-
büchern hierher gerechnet werden. — T. IX. Meineid; ein Abschnitt, der nur
einen Paragraphen enthält, mit einer sehr genauen Fassung, um alle Unter-
arten darin zu begreifen; und ohne jede befreiende Bestimmung zu g^nsten
desjenigen, welcher seine Angabe widerruft oder des Zeugen, welcher, wenn
er die Wahrheit sagen würde, zu seinem Nachteile oder dem eines Verwandten
ausgesagt hätte. — T. X. Mtinzverbrechen. — T. XL Fälschung von Stempeln
und Marken. — T. XII. Urkundenfälschung. Hier hat das Gesetzbuch das
System der französischen Doktrin, welche die Benachteilungsabsicht fordert,
198 I^Je Niederlande. — Das Mutterland.
verlassen; es unterscheidet die folgenden Bestandteile : die fälschliche Anfertigung
oder Verfälschung, die Art der Urkunde, welche ein Recht, eine Verpflichtung
oder eine Schuldbefreiung begründen kann, oder welche dazu bestimmt ist,
als Beweismittel zu dienen, die betrügerische Absicht, die Möglichkeit der Be-
nachteiligung. — T. XIII. Verbrechen gegen den Personenstand; ein Abschnitt,
,der unter andern jedes vorsätzliche Unsichennachen der Abstammung enthält,
und Doppelehe. — T. XIV. Verbrechen gegen die Sittlichkeit; unter andern un-
züchtige Handlungen mit Kindern bis zu 16 Jahren; weiter Unzucht von Eltern,
Lehrern, Dienstherren, Vorstehern in Anstalten, Beamten u. a. mit ihren Pflegebe-
fohlenen, ihrer Gewalt untei-worfenen oder ihrer Aufsicht anvertrauten Personen
(Art. 249); Kuppelei in Bezug auf Minderjährige entweder durch deren
Eltern oder Vormünder, oder durch einen anderen, aber in diesen Fällen
entweder aus Gewinnsucht oder gewerbsmässig begangen; in diesem Abschnitt
findet sich auch ein Paragraph gegen Tierquälerei. — T. XV. Verlassung Hülfs-
bedürftiger. — T. XVI. Beleidigung. Dieser Abschnitt umfasst: mündliche
und schriftliche Schmähung, d. h. die beleidigende Beschuldigung mit einer be-
stinmiten Handlung in dem offenbaren* Zweck, sie bekannt zu machen; Ver-
leumdung, d. h. Schmähung, wobei die Beschuldigung eine unwahre und wider
besseres Wissen begangene war, in den seltenen Fällen, wo der Beweis der
Wahrheit zugelassen ist; die einfache Beleidigung; Beleidigung gegen Beamte
in Beziehung auf ihre rechtmässige Berufsausübung (wobei die gewöhnlichen
Strafen um ein Drittel erhöht werden können); die verleumderische Anklage;
die Beschimpfung Verstorbener; die Verbreitung von beleidigenden Schriften
oder Abbildungen. Schmähung wird nicht angenommen, wenn der Thäter
augenscheinlich im allgemeinen Nutzen oder in notwendiger Verteidigung ge-
handelt hat. Der Beweis der Wahrheit, welcher für eine Verfolgung wegen
Verleumdung notwendig ist, wird nur zugelassen, wenn davon die Kede ist,
dass die Handlung wegen einer von den genannten Ursachen straflos bleiben
sollte oder wenn die Beschuldigung gegen einen Beamten in Beziehung auf
seine Berufsausübung gerichtet wurde (Art. 263); die Beschränkung ist in
das Gesetzbuch eingeführt durch einen Antrag in der zweiten Kammer und
schränkt die Wirkung des Verleumdungsparagraphen erheblich ein. Das Ver-
breiten ist nur dann zu bestrafen, wenn der Verbreiter in der Absicht ge-
handelt hat, den beleidigenden Inhalt bekannt zu machen oder die Kenntnis zu
erweitern. — T. XVII. Offenbarung von Geheimnissen. — T. XVIII. Verbrechen
gegen die persönliche Freiheit. Dieser Abschnitt bestraft unter andern den
Sklavenhandel oder die Teilnahme daran, die Entziehung von Minderjährigen, die
Entführung einer Frauensperson in der Absicht, sich ihres Besitzes in oder ausser
der Ehe zu versichern; die rechtswidrige Freiheitsberaubung, die Nötigung, die
Bedrohung. — T. XIX. Verbrechen gegen das Leben. Das Gesetz unter-
scheidet vorsätzlichen Totschlag, Totschlag in Verbindung mit einer anderen
strafbaren Handlung, Mord (Totschlag mit Vorbedacht); nur die beiden letzt-
genannten Verbrechen können mit Gefängnis auf Lebenszeit bestraft werden;
Totschlag oder Mord eines neugeborenen Kindes durch die Mutter unter dem
Einfluss der Furcht vor Entdeckung ihrer Entbindung; Totschlag auf das aus-
drückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten; Anstiftung zu oder Hülfe
bei Selbstmord; Abtreibung. — T. XX. Misshandlung. Das Gesetzbuch unter-
scheidet dieses Verbrechen in seiner einfachen Form oder als vorsätzliche
schwere Köi'perverletzung, mit oder ohne Vorbedacht, mit oder ohne nicht
gewollte schwerere Folgen (Tod oder schwere Körperverletzung). — T. XXI.
Fahrlässige Tötung und Körperverletzung. Das Gesetzbuch fordert erhebliehe
Schuld. — T. XXII. Diebstahl und Feldfrevel. Der Begriff des Diebstahls ist
nicht verschieden von dem in anderen Gesetzbüchern: Diebstahl zwischen von
§ 4. Das nicht auf dem Strafgesetzbuch beruhende Strafrecht. 199
Tisch und Bett oder Gütern geschiedenen Ehegatten oder zwischen Verwandten
in grader Linie oder im zweiten Grade der Seitenlinie ist Antragsdelikt; der
nicht von Tisch und Bett oder von Gütern geschiedene Ehegatte, der bei
Diebstahl zum Nachteil des anderen Thäter oder Teilnehmer ist, wird nicht
verfolgt. — T. XXIII. Erpressung. — T. XXIV. Unterschlagung. Die vor-
sätzliche und widerrechtliche Zueignung einer einem anderen gehörenden Sache,
welche der Thäter anders als durch ein Verbrechen in seinem Gewahrsam hat,
wird als Unterschlagung qualifiziert. — T. XXV. Betrug. Unter diesem Namen
enthält dieser Abschnitt den typischen Betrug (escroquerie), begangen durch
Annahme eines falschen Namens, oder einer falschen Eigenschaft, durch listige
Kmistgriffe oder durch Vorspiegelung von Thatsachen, und weiter eine ganze
Reihe spezieller Betrugsformen. — T. XXVI. Benachteiligung von Gläubigern
oder Interessenten. Dieser Abschnitt handelt von Bankrott und verwandten
Verbrechen und von der Entziehung der eigenen Sache zum Nachteil derjenigen,
die an derselben ein Pfandrecht, Zurückbehaltungsrecht, Niessbrauchs- oder
Gebrauchsrecht hat. — T. XXVII. Zerstörung und Beschädigung von Sachen.
Diese Handlungen werden nur bestraft, insoweit sie vorsätzlich begangen
werden; aber das Abänderungsgesetz (Novella) hat eine Ausnahme eingeführt
und auch die fahrlässige Sachbeschädigung bestraft, wenn es bestimmte Werke
betriflTt, die dem allgemeinen Nutzen dienen. — T. XXVIII. Amtsverbrechen.
Dieser Abschnitt, der verschiedene spezielle Amtsverbrechen enthält, muss in
Beziehung zu Art. 44 (Buch I) gebracht werden, der im allgemeinen die Strafen
gegen den Beamten erschwert, welcher, indem er ein gemeines Verbrechen begeht,
eine seiner speziellen Pflichten verletzt oder seine Stellung missbraucht. —
T. XXIX. Schiflfahrtsverbrechen , darunter Seeräuberei, sowie auch unerlaubtem
Kaperei, d. h. begangen von einem Niederländer ohne Zustimmung der Staats-
regierung. — T. XXX. Begünstigung. Dieser Abschnitt handelt von Hehlerei
und betrachtet als solche Kauf, Eintauschung, die Inbesitznahme . als Pfand
oder Geschenk und das Verbergen aus Gewinnsucht; auch wird derjenige, der
vorsätzlich aus dem Ertrage der Sache Vorteil zieht, wie der Hehler bestraft.
— T. XXXI. Verschiedenen Titeln gemeinsame Bestimmungen über Rückfall.
(Dieser Gegenstand ist oben schon behandelt worden.)
Das III. Buch handelt von den Übertretungen und enthält IX Abschnitte:
T. I. Übertretungen, betr. die allgemeine Sicherheit von Personen und Sachen.
— T. II. Übertretungen, betr. die öffentliche Ordnung, worunter öflFentliche
Bettelei und Landstreicherei. — T. III. Übertretungen, betr. die öflFentliche
Obrigkeit. — T. IV. Übertretungen, betr. den Personenstand. — T. V. Über-
tretungen, betr. Hülfsbedürftige. Dieser Abschnitt besteht aus einem einzigen
Paragraphen, worin derjenige bestraft wird, der als Zeuge augenblicklicher
Lebensgefahr eines anderen es unterlässt, diesem die Hülfe zu leisten oder zu
verschaflFen, welche er, ohne Gefahr für sich selbst oder andere vernünftiger-
weise befürchten zu müssen, ihm leisten oder verschaflFen kann, wenn der Tod
des Hülfebedürftigen eintritt. — T. VI. Übertretungen, betr. die Sittlichkeit. —
T. VII. Übertretungen, betr. die Feldpolizei. — T. VIII. Amtsübertretungen. —
T. IX. SchiflFahrtsübertretungen.
§ 4. Das nicht auf dem Strafgesetzbuch beruhende Strafreeht.
Mit der Einführung des Strafgesetzbuches wurde eine Umgestaltung des
gesamten Strafrechts vorgenommen. Die Niederlande lebten in einem Labyrinth
alter, zum Teil noch aus der Zeit der französischen Annexion stammender
Gesetze. Wenn man aber auch mit Recht davon Abstand nahm, nicht nur
das eigentliche Strafrecht im engeren Sinne, sondern auch sämtliche Straf-
200 I^ie Niederlande. — Das Mutterland.
bestimmuiigen der anderen Gesetze in einer einheitlichen Kodifikation unter-
zubringen, so bildet doch das Einfühnmgsgesetz zum Strafgesetzbuch (vom
15. April 1886, Staatsblad No. 64) den Schlussstein im Bau des gesamten nicht
kodifizierten Strafrechts. Zunächst sind durch dasselbe alle Strafgesetze und
alle Vorschriften strafrechtlichen Inhalts der am 1. März 1886 geltenden Gresetze
ausser Kraft gesetzt, soweit nicht ihre fernere Geltung im Einführungsgesetze
ausdrücklich angeordnet ist. Über die später erlassenen Gesetze geben die
seit dem 1. März 1886 erschienenen Nummern des „Staatsblad'^ klare Auskunft.
Femer hat aber das EinfOhrungsgesetz die volle tTbereinstimmung der Grund-
sätze des kodifizierten und des nicht kodifizierten StrafVechts dadurch her-
gestellt, dass es das letztere in mehreren Punkten abänderte; die Modifikationen
beziehen sich teils auf die Landesgesetze, teils auf Provinzial- und Gemeinde-
verordnungen.
Von den wichtigsten Gesetzen des nicht kodifizierten Strafrechts seien
hier die folgenden erwähnt: 1, aus dem Gebiete des internationalen Rechts:
a) das Auslieferungsgesetz vom 6. April 1875, Staatsblad No. 66; b) das Gesetz,
betr. die Ausführung des internationalen Vertrages über die Fischerei in der
Nordsee vom 7. Dezember 1883, Staatsblad No. 202; c) das Gesetz, betr. die
Ausführung des internationalen Vertrages zum Schutz der unterseeischen Kabel
vom 15. April 1886, Staatsblad No. 65, revidiert am 4. Juli 1887, Staatsblad
No. 109; d) das Gesetz, betr. die Ausführung des Vertrages über die Lachs-
fischerei im Rhein vom 14. April 1886, Staatsblad No. 61; e) das Gesetz, betr.
die Ausführung des internationalen Vertrages über den Verkauf alkoholhaltiger
Getränke an Fischer in der Nordsee mit Ausschluss der Binnengewässer, vom
15. April 1891, Staatsblad No. 84.
2. Aus dem Gebiete des öffentlichen niederländischen Rechts: a) das Staats-
grundgesetz oder die Verfassung des Königreichs von 1848, revidiert 1887:
b) das Gesetz über die Provinzialverfassung vom 6. Juli 1850, Staatsblad No. 39:
c) die Gemeindeordnung vom 29. Juni 1851, Staatsblad No. 85; d) das Gesetz
über die Kirchenaufsicht vom 10. September 1853, Staatsblad No. 102; e) das
Gesetz über das Vereins- und Versammlungsrecht vom 22. April 1855, Staats-
blad No. 32; f) das Gesetz über die Kooperativ-Genossenscliaften vom 17. No-
vember 1876, Staatsblad No. 227.
3. Über das Landesverteidigungswesen: a) das Gesetz über die Bürger-
wehr (schutterij) vom 11. April 1827, Staatsblad No. 17; b) das Gesetz über
die Miliz vom 19. August 1861, Staatsblad No. 72.
4. Über das öffentliche Gesundheitswesen: a) die Gesetze über die Aus-
übung des ärztlichen und pharmazeutischen Berufs vom 1. Juni 1865, Staats-
blad No. 60, 61; b) das Gesetz, betr. die epidemischen Krankheiten vom
4. Dezember 1872, Staatblad No. 134 (revidiert 1874 und 1877); c) das Gesetz,
betr. die Massregeln zur Verhinderung der Tollwut vom 5. Juni 1875, Staats-
blad No. 110; d) das Quarantänegesetz vom 28. März 1877, Staatsblad No. 35:
e) das Gesetz über die Behandlung der Geisteskranken vom 27. April 1884.
Staatsblad No. 96; f) das Veterinär-Polizeigesetz vom 20. Juli 1870, Staatsblad
No. 131 (modifiziert 1875, 1878 und 1880j.
5. Aus dem Gebiete der Gewerbegesetzgebung: a) das Jagd- und Fischerei-
gesetz vom 13. Juni 1857, Staatsblad No. 57; b) das Hochseefischereigesetz vom
21. Juni 1881, Staatsblad No. 76 (abgeändert 1884); c) das Gesetz über die
Beförderung von Auswanderern vom 1. Juni 1861, Staatsblad No. 53 (ab-
geändert 1869j; d) das Eisenbahngesetz vom 9. April 1875 — Staatsblad No. 67
— und vom 28. Oktober 1889 — Staatsblad No. 140; e) das Gesetz über die
Einrichtung gefährlicher Fabrikanlagen vom 2. Juni 1875, Staatablad No. 95;
f) das Gesetz über die Beförderung von Giften und giftigen Substanzen vom
§ 4. Das nicht auf dem Strafgesetzbuch beruhende Strafrecht. 201
d8. Juni 1876, Staatsblad No. 150; g) das Gesetz über die Beförderung und
den Verkauf von Sprengstoffen vom 20. April 1884, Staatsblad No. 81; h) das
Gesetz über die Dampfmaschinen vom 28. Mai 1869, Staatsblad No. 97; i) das
Gesetz über Masse und Gewichte vom 7. April 1869, Staatsblad No. 57; j) das
Gesetz über den Verkauf alkoholhaltiger Getränke vom 28. Juni 1881, Staats-
blad No. 97 (abgeändert 1884 und 1885); k) das Gesetz zur Verhinderung der
Überanstrengung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern vom 5. Mai 1889,
Staatsblad No. 48; 1) das Gesetz über das Urheberrecht vom 28. Juni 1881, Staats-
blad No. 124; m) das Gesetz über die Aufrechterhaltung der Disziplin an Bord der
zur Handelsmarine gehörigen Fahrzeuge vom 7. Mai 1856, Staatsblad No. 32.
6. Aus dem Gebiete des Unterrichts: a) das Gesetz über das höhere Unter-
richtswesen vom 28. April 1876, Staatsblad No. 102; b) das Gesetz über das
mittlere Unterrichtswesen vom 2. Mai 1863, Staatsblad No. 50 (abgeändert
1876 und 1879); c) das Gesetz über den Unterricht der untersten Stufe vom
17. August 1878, Staatsblad No. 127 (abgeändert 1882, 1884, 1889).
7. Ein besonderes Pressgesetz giebt es nicht und damit auch keinerlei
Präventivmassregeln auf diesem Gebiete. Die strafrechtliche Verantwortlich-
keit für die durch die Presse begangenen strafbaren Handlungen bestimmt
sich für die Thäter nach den allgemeinen Grundsätzen, für den Herausgeber
und Drucker nach den sehr liberalen Vorschriften der Art. 53, 54, 418 — 420
des Strafgesetzbuches.
8. Das Zollstrafrecht ist nicht kodifiziert; es findet sich zerstreut in
den verschiedenen Zoll- und Steuergesetzen, von denen in strafrechtlicher Be-
ziehung das allgemeine Zoll- und Accise-Gesetz vom 26. August 1822 (Staats-
blad No. 38) das wichtigste ist. Eine vollständige Aufzählung enthält das
weiter unten zu erwähnende Werk van Hamels Bd. I, S. 105 fl'. — Durch Art. 7
des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch ist das Zollstrafrecht mit seinen
besonderen Vorschriften, von geringen Änderungen abgesehen, ausdrücklich
in Geltung belassen. Ebenso ist der dem Steuers traf recht eigentümliche Ginind-
satz, dass die festgesetzten Geldstrafen durch den Tod des davon Betroff'enen
nicht hinfällig, sondern in den Nachlass vollstreckt werden, durch die Art. 410 fl".
der Strafprozessordnung aufrecht erhalten.
9. Ebenso ist für das Militärstrafrecht als Spezialrecht durcli Art. 9 des
ei'wähnten Einführungsgesetzes ausdrücklich die fernere Gültigkeit angeordnet.
Die einschlägigen Gesetze stammen aus älterer Zeit: das Strafgesetzbuch für
das See-Heer beruht auf dem Gesetz vom 20. Juli 1814 (Staatsblad No. 85),
das Sti'afgesetzbuch für die Landarmee auf dem Gesetz vom 15. März 1815
(Staatsblad No. 26). Beide Gesetzbücher beschäftigen sich nur mit den so-
genannten reinen und gemischten Militärdelikten; die von Militärpersonen be-
gangenen Strafthaten gemeinen Rechts werden vom Militärrichter nach den
allgemeinen Strafgesetzen abgeurteilt. Neben diesen beiden Strafgesetzbüchern
giebt es zwei Disziplinargesetze für Marine und Landheer von den gleichen
Daten. — Indessen sind das veraltete Strafensystem und einige andere Mängel
der vorbezeichneten vier Gesetzbücher im Jahre 1879 durch die Gesetze vom
14. November (Staatsblad No. 191 — 194) einer Korrektur unterzogen. Trotz
dieser teilweisen Abänderung ist eine vollständige Revision dringend erforder-
lich. Es hat auch bereits der mit der Vornahme derselben betraute Hen^
H. van der Hoeven, Professor an der Universität Leiden, den Entwurf eines
Militärstrafrechts ausgearbeitet, der, nach gehöriger Nachprüfung durch den
Verfasser in Verbindung mit einer militärischen Kommission, schon der zweiten
Kammer vorgelegt worden ist. Die Revision erstreckt sich auch auf die Dis-
ziplinargesetze und die völlig veralteten Gesetze über das Verfahren vor den
Kriegsgerichten und dem obersten Militärgericht.
202 I^ie Niederlande. — Das Strafrecht der Kolonieen.
§ 5. Gresetzesansgaben, Litteratur, Rechtsprechung. *
1. Ausgaben des Strafgesetzbuches. — Amtliche Ausgabe, den Haag 1886 (van
Weelden & Mingelen). — Bureau-Ausgabe: M. S. Pols, De Wetboeken van Straf-
oordering en strafrecht met toelichtende aantreckelingen (1886). — Taschen- Ausgabe:
J. A. Fruin, De Nederlandsche Wetboeken (die fünf kodifizierten Gesetze), 2. Aufl.
besorgt von M. S. Pols (1888) und in demselben Format eine Ausgabe, die nur das
Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung enthält. — Französische Übersetzung
des Strafgesetzbuches von Dr. J. W. Wintgens; deutsche Übersetzung in der „Zeit-
schrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft", Bd. I Beilage.
2. Litteratur über die Geschichte des Strafgesetzbuches. — Entwurf der Staats-
kommission mit Motiven; amtliche Ausgabe in 4® (gedruckt in der Staatsdruckerei );
Oktav- Ausgabe bei Gebr. Belinfante, den Haag 1879 (vergrifFen). — Über die Regie-
rungsentwürfe, die Motive, die Gutachten des Staatsrats, sowie die parlamentarischen
Verhandlungen und Berichte vgl. vor allen die vollständige systematische Bearbeitung
von H. J. Smidt: „Geschiedenis van het Wetboek van Strafrecht" (Geschichte des
Strafgesetzbuchs), Bd. I— V (2. Aufl. 1890 ff.); die Bände I, II und III behandeln das
Strafgesetzbuch, Band IV und V die Nebengesetze. An dem fünften Bande und der
gesamten zweiten Auflage haben zwei Söhne des Verfassers, E. A. Smidt und J. W.
Smidt, mitgearbeitet.*) — Ausserdem existiert eine (nicht systematische) Ausgabe der
Aktenstücke und Verhandlungsberichte (Gebr. Belinfante, 1879—1886). — H. L. Isra(Ms,
Het Wetboek van Strafrecht vergeleken met de verschillende ontwerpen en met aan-
wijzing der officieele stukken (vergleichende Textausgabe der verschiedenen Ent-
würfe) 1883.
3. Kommentare und Abhandlungen: Polenaar und Heemskerk, Het Wetboek
van Strafrecht in doorloopende aantekeningen verklaard, 1881 — 1889, Kommentar. —
G. A. van Hamel, Inleiding tot de Studie van het Nederlandsche Strafrecht I (theore-
tische und systematische Darstellung der holländischen Strafrechtslehre, noch unvoll-
endet 1889 f.). — 0. L. van Swinderen, Het hedendagsche Strafrecht in Nederlande
en het buitenland (theoretische Abhandlung); allgemeiner Teil, 2 Bde. (1889V — B. E.
Ascher und D. Simons, Het nieuwe Wetboek van Strafrecht (vergleichende Textaus-
gabe des französischen und des holländischen Strafgesetzbuchs, 1886).
4« Sammlungen von Entscheidungen: Weekblad van het Recht (eine sehr ver-
breitete Sammlung). — De Nederlandsche Rechtspraak, eine vom Greffier des obersten
Gerichtshofes herausgegebene Sammlung von Entscheidungen dieses Gerichts. — Van
den Honert, Verzameling van arresten van den Hoogen Raad; vgl. besonders die
Abteilung: Strafrecht und Straf prozess.
5, Zeitschriften. — Tijdschrift voor Strafrecht (Zeitschrift für Strafrecht), her-
ausgegeben von den Straf rechtslehren der vier Universitäten (Leiden, E. J. Brill); sie
enthält: a) Originaldissertationen; b) eine nach den Artikeln des Strafgesetzbuches,
der Strafprozessordnung und der Nebengesetze geordnete jährliche Übersicht über
Litteratur und Rechtsprechung auf dem Gebiete des holländischen Strafrechts; c) in
jeder Lieferung eine von Petit, Universitätsbibliothekar zu Leiden, redigierte inter-
nationale Überschau über Erscheinungen aus dem Gebiete des Strafrechts. — Dem-
nächst erscheint unter dem Titel: „Het Wetboek van Strafrecht met aantekeningen",
eine von den Herausgebern der vorerwähnten Zeitschrift verfasste svstematische
Übersicht der über das Strafgesetzbuch während der ersten sechs Jahre seiner Gel-
tung erschienenen Rechtsprechung und Litteratur. — Auch die anderen juristischen
Zeitschriften: Themis und Rechtsgeleerd Magazijn, bringen strafrechtliche Abhand-
lungen.
n.
§ 6. Das Strafrecht der Kolonieen.
I. Niederländisch-Indien (Nederlandsch Indie ). In dieser bedeutenden
Kolonie galten auf dem Gebiete des Strafrechts lange Zeit altes Gewohnheits-
recht und lokale Verordnungen. Jetzt sind nachstehende Gesetze in Kxaft.
Für die Europäer: a) Das Strafgesetzbuch für Europäer, eingeführt durch
königliche Verordnung am 10. Februar 1866, Gesetzsammlung für Indien
M Der Verfasser H. .1. Smidt ist zur Zeit wieder Justizminister.
§ 6. Das Strafrecht der Kolonieen. 203
No. 213 — 215; der Entwurf derselben von einer hierzu ernannten Kommission
auf Grund des französischen Code p6nal und seiner nachträglichen Abände-
rungen, also des damals im Mutterlande geltenden holländisch-französischen
Rechts ausgearbeitet. — Eine Ausgabe des Gesetzes mit Motiven ist 1866 von
A. A. de Pinto, damaligem Sekretär der erwähnten Kommission, veröffentlicht.
— b) Das durch Verfügung des General-Gouverneurs vom 15. Juni 1873 er-
lassene allgemeine Polizeireglement für Europäer, das die Straf bestimmungen
für Übertretungen enthält. Eine Ausgabe des Reglements mit Motiven hat
de Kinderen, ehemaliges Mitglied des Grossen Rats für Indien, der die Redaktion
desselben besorgt hatte, veröflFentlicht (2. Aufl. 1890). — Für die Eingeborenen:
a) Das Strafgesetzbuch für Eingeborene, eingeführt durch Verordnung des General-
gouvemeurs am 6. Mai 1872, auf Grund des für Europäer geltenden Straf-
gesetzbuches verfasst, jedoch mit einigen Abänderungen, insbesondere mit
anderem Strafensystem, b) Das allgemeine Polizeireglement für Eingeborene,
zu derselben Zeit wie das für Europäer bestimmte erlassen und ebenfalls von
de Kinderen herausgegeben.
Augenblicklich wird an der Herstellung des Entwurfs eines neuen Straf-
gesetzbuches für Europäer gearbeitet. Die hierzu eingesetzte Kommission be-
steht aus den früheren indischen Magistraten de Pauly (Vorsitzender) und
L. Hovy, sowie den holländischen Kriminalisten A. A. de Pinto, D. J. Mom Visch
und G. A. van Hamel, endlich dem ehemaligen javanischen Richter J. Lion
(Sekretär). Der Entwurf ist 1891 veröffentlicht (den Haag, Gebr. Belinfante)
und liegt gegenwärtig den indischen Behörden zur Begutachtung vor.
Über das geltende Recht sind zu vergleichen : a) Eine von J. Lion, ehe-
maligem Richter in Java, veranstaltete Sammlung, enthaltend die in Nieder-
ländisch-Indien geltenden Gesetzbüclier und einzelne Gesetze, sowie die wichtig-
sten besonderen Verordnungen; b) eine von de Reitz und Bousquet besorgte,
nur das Grundgesetz und die Gesetzbücher umfassende Sammlung; c) W. de
Gelder, Ret Strafrecht in Nederlandsch-Indie, 2 Bände 1886. — Die Zeitschrift:
Indisch Weekblad van het Recht.
IL Die westindischen Kolonieen sind 1. das Festland von Surinam,
2. die Insel Cura9ao mit Dependenzen. Beide bilden getrennte Regierungsbezirke
mit verschiedenen Staatsgrundgesetzen und besonderem, von der Königin er-
nannten Gouverneur; an der Gesetzgebung haben die Eingeborenen der Kolonial-
Staaten einen gewissen Anteil. Seit dem 1. Mai 1869 haben beide Gebiete
ihr besonderes Strafgesetzbuch; dieselben sind vom König am 4. September
1868 erlassen und auf Grund des damals im Mutterlande geltenden französisch-
holländischen Rechts ausgearbeitet. Nach Massgabe der Grundgesetze sind
diese Gesetze später in einzelnen Punkten durch Verordnungen der kolonialen
Regierung abgeändert. Von der Ausarbeitung neuer Strafgesetzbücher für
diese beiden Kolonieen auf Grund des neuen holländischen Strafgesetzbuches
ist bisher noch nicht die Rede gewesen.
IV.
DIE SKANDINAVISCHEN LÄNDER.
1. Dänemark. 2. Norwegen.
Von Ey-vjnd Olrik von Dr. B. Oetz,
in Kopenhagen. Oberreirbsanwall in Kristianin.
(Übersetzung von Dr. Ernst Rosenfeld in Hnlle S.)
3. Schweden.
Von Dr. Wilh. Uppström,
Hiirndshöfding in Stockholm.
•1
Übersicht
1. Dänemark.
I. Das Mutterland. § 1. Das StGB, als Grundlage des Strafrechts. § 2. Zur Ge-
schichte des dänischen StGB. § 3. System und Hauptgrundsätze des StGB.
§ 4. Abänderungen des StGB. Kritik. § 5. Bestimmungen ergänzender Natur
im StGB. § 6. Die Strafdrohungen ausserhalb des StGB.
II. § 7 Nebenländer und Kolonieen. (Die F8er0er, Island, Grönland, westindische
Besitzungen.)
III. § 8. Litteratur. Rechtsprechung. Gesetzsammlungen.
2. Norwegen.
I. Allgemeiner Teil. § 1. Quellen. § 2. Litteratur. § 3. Herrschaftsgebiet des nor-
wegischen Strafrechts. § 4. Das Strafensvstem. § 5. Versuch, Teilnahme, Weg-
fall der Strafe. § 6. Pressdelikte.
II. Besonderer Teil. § 7. Die einzelnen strafbaren Handlungen.
3. Schweden.
I. § 1. Quellen. Gesetzes-Texte. Litteratur.
II. Geschichtliche Vorbemerkungen. § 2. Charakter des älteren Rechts. § 3. Reform-
bestrebungen.
III. Die geltende Gesetzgebung. §4. Das Strafgesetz vom 16. Februar 1864. §5. Spätere
Abänderungen. § 6. Nebengesetze strafrechtlichen Inhalts.
IV. Die allgemeinen strafrechtlichen Bestimmungen. § 7. Geltungsgebiet. § 8. Strafen.
§ 9. Zurechnungsfähigkeit. Strafmilderung. § 10. Strafausschliessungs- und Straf-
aufhebungsgründe. §11. Strafschärfung. § 12. ZusammentrefiTen von Verbrechen.
§ 13. Teilnahme. § 14. Versuch. § 15. Vorsatz. Fahrlässigkeit.
V, § 16. Die einzelnen strafbaren Handlungen.
1. Dänemark.
I. Das Mutterland.
§ 1. Das StGB, als Grandlage des Strafrechts.
I. Bei einer Darstellung des gegenwärtigen Zustandes der dänischen Straf-
gesetzgebung knüpft das Interesse sich in überwiegendem Grade an das Straf-
gesetzbuch vom 10. Februar 1866. Obgleich dies durchaus als ein systema-
tisches Gesetz bezeichnet werden kann, das auf den für solche in neuerer
Zeit allgemein durchgeführten Grundsätzen ruht, so hat das Gesetzbuch doch
(wie es auch anderwärts der Fall gewesen ist) niemals das ganze Gebiet der
strafbaren Handlungen decken wollen. Das Gesetzbuch giebt selbst sein Ge-
biet an, indem es sich bezeichnet als „Allgemeines bürgerliches Straf-
gesetzbuch" (Almindelig borgerlig Straf felov). Kraft der damit ge-
gebenen Beschränkung auf die allgemeinen strafbaren Rechtsverletzungen in
civüen Beziehungen fallen aus dem Gebiet des Gesetzbuches heraus: 1. die
militärische Strafgesetzgebung; 2. die bürgerliche Strafgesetzgebung für be-
sondere Rechtsverhältnisse. — In der ersteren Hinsicht erhält das Straf-
gesetzbuch seine notwendige Ergänzung durch das Strafgesetzbuch für die
Armee ( Straff elov for Krigsmagten) vom 7. Mai 1881. In der zweiten Be-
ziehung wird diese Ergänzung dargestellt teils durch die ganze Polizei-Gesetz-
gebung, die ausser eigentlich präventiven Gesetzen auch alle Strafbestimmungen
für die Verletzung der aus allgemeinen Zweckmässigkeits- und Nützlichkeits-
erwägungen abgeleiteten Pflichten umfasst (die vom Gesetz gezogenen Schranken
bleiben im Übrigen etwas vag), — teils durch die Strafbestimmungen für die
Verletzung gewisser aus den Bedürfnissen der Staatsverwaltung sich ergebender
Pflichten, — teils endlich durch Strafbestimmungen für Pflichtverletzungen in
ganz besonderen persönlichen Rechtsverhältnissen.
II. Ist also das Gebiet für die rechtswidrigen Handlungen, deren Straf-
barkeit auf einem ausserhalb des allgemeinen Strafgesetzbuches liegenden
Rechtsgrunde beruht, an und für sich nicht unansehnlich, so hat es doch
nur eine relativ geringere Bedeutung. Die militärische Strafgesetzgebung
beschränkt sich im wesentlichen auf die Ahndung der besonderen aus dem
militärischen Verhältnis fiiessenden Pflichtverletzungen, während andere straf-
bare Handlungen nach dem bürgerlichen Gesetz gestraft werden, unter Um-
ständen mit Beachtung der mit Rücksicht auf gewisse besondere militärische
Strafarten bestimmten Strafveränderungen. Während die militärische Straf-
gesetzgebung auf diese Weise eigentlich nur „besondere" Verbrechen umfasst,
kommt sie insoweit dazu, eine etwas ähnliche Stellung einzunehmen, wie die
übrigen Strafbestimmungen für Übertretungen von Pflichten, die ihren Grund
in besonderen Rechtsverhältnissen haben. Diese können in der Regel keinen
Anspruch auf irgend ein allgemeines Interesse vom strafrechtlichen Gesichts-
punkt aus machen und insoweit dies doch der Fall sein sollte, sind sie
sogar teilweise ins Strafgesetzbuch aufgenommen (vgl. namentlich StGB.
208 Dänemark. -— Das Mutterland.
Kap. XIII : über Verbrechen im Amt) , obwohl ja hiermit das Gesetz an und
für sich über den im Titel angegebenen Rahmen hinausgeht. Gleiche Er-
wägungen treffen auch für die übrigen, ausserhalb des Strafgesetzbuchs
liegenden strafbaren Handlungen zu. Verschiedene von diesen knüpfen sich
an Bestimmungen von mehr oder weniger örtlichem Interesse (Polizei- und
Gesundheitsvorschriften), und auch sonst bieten mit wenig Ausnahmen die be-
treffenden Gesetze niemals in strafrechtlicher Hinsicht ein wesentliches Interesse
dar. Vielmehr knüpft sich das Interesse hier gemeiniglich an die Rechts-
regöln selbst, für deren Übertretung die betreffenden Strafbestimmungen zur
Anwendung kommen, so dass diese Strafandrohungen in den meisten Fällen
reine Accessorien zu jenen rechtsanordnenden Regeln bilden. Selbst abgesehen
hiervon müsste endlich bereits das ausgedehnte Gebiet der ausserhalb des
allgemeinen Strafgesetzbuches liegenden Strafbestimmungen es mit sich bringen,
dass man sich bei dem einzelnen Punkte auf die einfache Straffestsetzung
beschränkt, ohne sich im übrigen auf eigentlich strafrechtliche Fragen einzu-
lassen. Unter solchen Umständen muss das allgemeine Strafgesetzbuch eine
ausserordentliche Bedeutung auch ausserhalb seines eigentlichen Gebietes be-
kommen, namentlich findet sich lediglich hier eine zusammenhängende und
einigermassen erschöpfende Behandlung aller in den allgemeinen Teil des
Strafrechts gehöriger Fragen, deren Klärung eine für die Rechtsanwendung
im Einzelfall notwendige Voraussetzung ist. Obgleich das dänische Strafgesetz-
buch nicht, wie z. B. das norwegische, seinem allgemeinen Teil eine für das
ganze Gebiet der strafbaren Handlungen gemeinsame Geltung beigelegt hat,
so muss doch seinen Grundsätzen nahezu eine Hegemonie zukommen: die
Physiognomie des geltenden dänischen Strafrechts ist in allen ihren wesent-
lichen Zügen durch dieses Gesetzbuch bestimmt, weswegen auch seine land-
läufige Bezeichnung als „das" Strafgesetzbuch vollkommen korrekt ist.
§ 2. Znr €^eschichte des dänischen St€^B.
I. Zur Darstellung einiger Hauptzüge des Strafgesetzbuches giebt den besten
Einblick in seinen ganzen Geist und Charakter eine Betrachtung seiner Ent-
stehung und seines Verhältnisses zum älteren Recht. Die Ausarbeitung des
Strafgesetzbuches, das nach Annahme durch den Reichstag die königliche Be-
stätigung am 10. Februar 1866 erhielt, verdanken wir zwei Kommissionen:
eine 1850 eingesetzte Kommission verfasste einen vorläufigen Entwurf, der
einer neuen 1859 eingesetzten Kommission als Grundlage für den endgültigen
Entwurf diente. Die Bestrebungen, ein neues und vollständiges Strafgesetz-
buch zu Stande zu bringen, gehen indessen in Wirklichkeit bedeutend weiter
zeitlich zurück. Nachdem für das ganze Land durch Christians V. dänisches
Gesetzbuch (Danske Lov) von 1683 Rechtseinheit geschaffen war, beruhte
das Strafrecht im wesentlichen auf dem VI. Buch dieses Gesetzes: „Über
Missethaten^ (Gm Misgeeminger). War nun die angeführte Gesetzesarbeit auch
für ihre Zeit höchst achtungswert, so musste sie doch namentlich im straf-
rechtlichen Teil bald dem Einfluss der Zeit unterliegen. Indessen wurde doch
ungefähr ein Jahrhundert lang an dem angeführten Fundament des Strafrechts
in keinerlei bedeutendem Grade gerüttelt, und auch die gegen Schluss des
achtzehnten Jahrhunderts erlassenen Gesetze, namentlich das übrigens ver-
dienstvolle Gesetz über den Diebstahl vom 20. Februar 1789, waren nicht im
Stande, eine durchgreifende Umgestaltung zu schaffen.
II. Vielmehr machte sich bei Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts,
als überhaupt ein bisher unbekanntes Interesse für das Strafirecht erwachte
und gleichzeitig an mehreren Orten epochemachende systematische Gesetze
§ 2. Zur Geschichte des dänischen StGB. 209
entstanden, auch hier das Bedürfnis geltend, ein neues vollständiges Straf-
gesetzbuch unter Verwirklichung der neuen Gedanken der Zeit zu stände
zu bringen. Eine solche Kodifikation des Strafrechts fand zwar nicht statt,
aber die durchgreifende Erneuerung, die in jener Zeit, von Anders Sand0e
0r8ted ausgehend, die ganze dänische Rechtswissenschaft durchzog, trug ihre
guten Früchte auch im Gebiete der 'Strafgesetzgebung. Auf die Initiative
dieses „Vaters der dänischen Rechtswissenschaft" hin und in Übereinstimmung
mit den von ihm ausgearbeiteten, ausftlhrlichen Entwürfen, kamen zwischen
1833 und 1841 vier Gesetze, jedes an sich ausserordentlich bedeutungsvoll
zu Stande: das Gesetz vom 4. Oktober 1833 über Verbrechen gegen körper-
liche Unversehrtheit und Freiheit; das Gesetz vom 11. April 1840 über Dieb-
stahl, Betrug, Fälschung und damit verwandte Verbrechen; das Gesetz vom
15. April 1840 über Meineid; nebst dem Gesetz vom 26. März 1841 über
Brandstiftung. Diese Gesetze unterzogen nicht bloss die besonderen, höclist
wichtigen Verbrechenarten, auf die sie sich zunächst beziehen, einer um-
fassenden und erschöpfenden Behandlung, wobei man namentlich auch die
Strafen mit der modernen Auffassung der betreflPenden Verbrechen mehr in
Einklang zu bringen suchte, sondern sie brachten zugleich das dänische Straf-
recht im ganzen auf die Höhe der wissenschaftlichen Anforderungen. Die in
jenen Gesetzen zum Ausdruck kommenden strafrechtlichen Grundanschauungen
übten bei dem damaligen lückenhaften Zustand der Strafgesetzgebung einen
ausserordentlichen Einfluss auch ausserhalb des eigenen Gebietes der betreffen-
den Gesetze aus und schufen zugleich eine wichtige Grundlage für die Ab-
fassung eines neuen vollständigen Strafgesetzbuches.
ni. Der Mangel an einem solchen musste trotz der sehr bedeutenden Fort-
schritte fortdauernd lebhaft empfunden werden. Die Autorität der Rechtspflege
konnte unter den bestehenden Verhältnissen nur leiden. Nicht bloss waren die
Strafsatzungen der angeführten Gesetze durchgehends von weitgetriebener
Strenge, sondern daneben war man auch auf verschiedenen Gebieten durch
die nicht mehr passenden Strafbestimmungen des älteren Rechts derartig ge-
hemmt, dass man zum teil es aufgab, gewisse Verbrechensarten zum Gegen-
stande einer Anklage zu machen, zum teil auch eine Anwendung von der
Begnadiguijgsbefugnis machte, die alle vernünftigen Grenzen überschritt und
überhaupt nur durch die gebietende Notwendigkeit sich rechtfertigen Hess,
ein für das allgemeine Rechtsgefühl allzu schreiendes Missverhältnis zwischen
Strafe und Missethat zu beseitigen. Das Strafgesetzbuch musste sich zu einem
bestimmten Bruch mit dem älteren Recht überall da entschliessen, wo jenes
veraltet oder unnötig hart war. Andererseits kam man dabei nicht dazu,
tabula rasa zu machen, denn es durfte selbstverständlich nicht die Aufgabe
sein, alles von sich zu weisen, was das geltende Recht von wii'klich Brauch-
barem enthielt. Infolgedessen konnte man auf verschiedenen der Ge-
danken, die durch die besprochenen systematischen Gesetze bereits der
dänischen Strafgesetzgebung einverleibt worden waren, mit Glück weiter bauen
und baute auch in der That weiter. Diese Gesetze bekommen damit eine
wesentliche Bedeutung als Quelle für das Strafgesetzbuch, ohne indessen eine
ausschliessliche Rolle zu spielen. Die Motive tragen an vielen Punkten die
Spuren davon, welche Bedeutung auch die Zusammenstellung mit fremdem
Recht bei der Abfassung des Gesetzbuches gehabt hat. Namentlich sieht man,
dass auf das norwegische Gesetzbuch von 1842 und auf das preussische von
1851 Rücksicht genommen ist. Zu einem näheren Verständnis des Gesetz-
buches geben übrigens die ausführlichen Motive zu beiden Entwürfen eine
wertvolle Anleitung.
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I 14
210 Dänemark. — Das Mutterland.
§ 3. System und HauptgrnndsBtze des St&B.
I. Dänemark hat im Anschluss an die übrigen skandinavischen Länder die
Zweiteilung des Strafgesetzbuches in einen allgemeinen und besonderen Teil
aufgegeben. In Übereinstimmung damit ist die Kapitel- und Paragraphenreihe
für das ganze Gesetzbuch gemeinschaftlich durchgeführt. Die Bestimmungen,
die gewöhnlich den allgemeinen Teil bilden, nehmen indessen auch in der
Systematik des Gesetzbuches im wesentlichen einen zusammenhängenden Platz
ein; sie umfassen die §§ 1 — 70 (Kap. 1 — 8), woran sich die am Schluss des
Gesetzbuches angefügten §§ 298 — 311 (Kap. 31 — 32) anschliessen. Die hier
behandelten Gegenstände verteilen sich in folgender Weise auf die einzelnen
Kapitel, wobei jedoch hervorzuheben ist, dass die Kapitelüberschriften weder
hier noch bei den besonderen Bestimmungen des Gesetzbuches immer den
Inhalt des Kapitels erschöpfend angeben. Kap. 1. Einleitende Bestimmungen
(§ 1. Analogie, §§ 2 — 8. Wirkungskreis des Gesetzes in Bezug auf den Ort und
den Thäter des Verbrechens); Kap. 2. Über die Strafen (§§ 9—34); Kap. 3.
Über Zureclmungsfähigkeit, Notwehr und Notstand (§§ 35 — 43); Kap. 4. Ver-
such (§§ 44—46); Kap. 5. Über Teihiahme am Verbrechen (§§ 47—56); Kap. 6.
Über die Ausmessung der Strafe und ihre Herabsetzung in gewissen Fällen, sowie
über die Wiederholung des Verbrechens (§§57 — 61); Kap. 7. Über Zusammen-
treffen von Verbrechen und über Strafveränderung in gewissen Fällen (§§62 — 65);
Kap. 8. Über Verjährung der Strafschuld (§§ 66—70); Kap. 31. Über Anklage
der Verbrechen, Vorbeugungszwang, Schadenersatz u. a. (§§ 298 — 304); Kap. 32.
Über das Inkrafttreten des Gesetzbuches, Übergangsbestimmungen, sowie Auf-
hebung älterer Bestimmungen (§§ 305 — 311).
Eine Eigentümlichkeit des Gesetzbuches, die auch in systematischer Hin-
sicht Bedeutung hat, ist ferner, dass es keine Bestimmung enthält, die z. B.
dem deutschen Reichsstrafgesetzbuch § 1, oder dem code penal Artikel 1 ent-
spricht. Die überhaupt durchgehends in den nichtskandinavischen Ländern
adoptierte Dreiteilung der strafbaren Handlungen (Verbrechen, Vergehen, Ober-
tretungen) ist formell und praktisch im dänischen Strafgesetzbuch ohne Be-
deutung.
II. Im besonderen Teil sind die verwandten Verbrechen in gemeinsame
Kapitel zusammengefasst, ohne dass irgend eine weitere Klassifizierung statt-
findet. Übrigens ist es dem Gesetzbuche kaum unbedingt geglückt, überall
gerade den Kernpunkt der beti'effenden Verbrechensgruppe zu treffen. Kap. 9 — 14
behandeln im ganzen die Verbrechen gegen die politische Gemeinschaft, nament-
lich gegen die äussere Sicherheit und Selbständigkeit des Staates, gegen die
Staatsverfassung, gegen den König, die königliche Familie, die gesetzgebenden
Versammlungen usw., Verbrechen gegen die öffentliche Obrigkeit und Ordnung,
sowie endlich Meineid und damit verwandte Verbrechen, deren Platz haupt-
sächlich durch die Absicht bestimmt ist, sie in die Nähe der im folgenden be-
handelten Verbrechen gegen die Religion (Kap. 15) und gegen die Sittlichkeit
(Kap. 16) zu bringen. Die wichtigen Kap. 17 und 18 betreffen Verbrechen
gegen Leben, Leib oder Gesundlieit des Einzelnen, und Kap. 19 über das
Duell lässt sich hieran anschliessen. Kap. 20 behandelt die Freiheitsberaubung-,
Kap. 21 die Beleidigung, Kap. 22 die falsche Anschuldigung. Sodann folgen
in Kap. 23—26 Diebstahl (Tyveri og Ran^)) und Hehlerei, Räuberei (R0veri)
und Erpressung, unredliches Verfahren mit Fundgut usw., sowie Betrug. Ferner
*) Anmerkung des Übersetzers: Ran (Raub) unterscheidet sich gemäss der
älteren germanischen und nordischen Auffassung als offene Wegnahme aus fremder
Gewehr von der Tyveri als der heimlichen Wegnahme (vgl. Hagerup, Formucsind-
§ 3. System und Hauptgrundsätze des StGB. 211
in Kap. 27 Falschmünzerei, Urkundenfälschung und andere Fälschungen.
Kap. 28 Brandstiftung, Kap. 29 gewisse andere gemeingefährliche Verbrechen.
Kap. 30 behandelt endlich die Unbrauchbarmachung oder Beschädigung Grem-
den Eigentums, sowie die Tierquälerei. — Durchgehends ist die Fassung des
Gesetzes klar und km*z und sein System wenig verwickelt, sodass man sich
leicht darin zurecht findet.
III. Bei der Charakteristik des Strafgesetzbuches gilt, was von jeder
Arbeit gilt: wie jedes Werk durch die bei seiner Anfertigung vorliegenden
Voraussetzungen eine bestimmte Prägung erhält, so wird auch dieses Gesetz-
buch in wesentlichem Orade gekennzeichnet durch seine gegebenen Voraus-
setzungen: den durch das ältere Eecht geschaffenen Rechtszustand und di<*
Mängel, die dieser sehr handgreiflich hervortreten Hess. Die Auffassung des
Gesetzes muss sich also nach der Aufgabe richten, die ihm bei seiner Ent-
stehung gesetzt war.
Das äussere Merkmal des älteren Rechtszustandes war zuerst und vor
allem seine Unvollständigkeit und der Mangel an Zusammenhang. Indem das
Strafgesetzbuch innerhalb des ganzen grossen und wichtigen Gebietes allgemeiner
bürgerlicher Rechtsverletzungen eine wirklich systematische Behandlung durch-
führte, hat es hier in der That in entscheidender Weise Abhülfe geschaffen,
was bereits aus der oben gegebenen Übersicht über seinen Inhalt hervorgeht.
Andererseits ist es doch verständlich, wenn man in einem einzelnen Punkt,
wo die meisten neueren Gesetzbücher eine fortgeschrittenere Stellungnahme
vorgezogen haben, sich etwas zurückgehalten hat. Als man von einem teil-
weise verworrenen und jedenfalls ganz unvollständigen Konglomerat älterer
Bestimmungen abging, das nicht selten sogar an und für sich fem liegende
Analogieen und in Verbindung damit Verurteilung zu arbiträren Strafen hervor-
rufen musste, hat man in nicht unberechtigtem Misstrauen in seine Fähigkeit
wirklich den ganzen überwältigenden Stoff zu erschöpfen, es nicht gewagt,
jede Analogie auszuschliessen. Vielmehr, in § 1 des Strafgesetzbuches, der
Strafe zulässt, wenn ein Verhältnis, ohne gleichw^ohl unter einen Strafparagraphen
zu passen, doch mit einer im Gesetzbuche als Verbrechen bezeichneten Hand-
lung völlig in eine Klasse gestellt werden muss, ist man bei einer Beschränkung
der Analogie stehen geblieben, welche deren bedenkliche Konsequenzen im
wesentlichen beseitigt und gleichzeitig das Gesetzbuch in einer Weise ergänzt,
wie sie durch seine Fassung in mehreren Punkten (z. B. bei der mehr kasuistischen
Behandlung der Betrugsfälle) an und für sich wünschenswert gemacht ward.
Auch hat diese Bestinmiung in der Praxis, ohne besondere Ungelegenheiten
mit sich zu führen, eine freilich eingeschränkte Bedeutung bekommen.^)
Neben dem Fortschritt, der schon formell in der Beseitigung der Unvoll-
ständigkeit des älteren Rechtes besteht, hatte das Strafgesetzbuch noch wich-
tigere Aufgaben in materieller Beziehung. Ausschlaggebende Grundanschauung
musste sein, dasa man alle seine Bestimmungen von einem humanen Geist
durchdringen Hesse, und zwar nicht bloss in der Weise, dass das Gesetzbucli
für das allgemeine Rechtsgefühl ein zuverlässiger Ausdruck und in gegen-
o^reb, 1891 S. 5). Von der R0veri (Räuberei) grenzt den Ran das Merkmal erheb-
licherer Gewalt ab. Vgl. norwegisches StGB. (1842) Kap. 19 § 1, (1889) Kap. 19 § 3i.
Schwedisches StGB. Kap. 20 § 4 b.
*) Die citierte Bestimmung, die sowohl die sog. Rechtsanalogie wie die unvoll-
ständige Gesetzanalogie ausschliesst, betrifft unmittelbar nur eine analoge Erweiterung
der Zahl strafbarer Handlungen; aber sie muss unzweifelhaft auch Anwendung
finden mit Bezug auf die Strafbefreiungsgründe, und ebenso muss die gleiche be-
schränkte Anwendung der Analogie auch als berechtigt angesehen werden in Be-
ziehung auf die straferniedrigenden und straferhöhenden Umstände. In der Praxis
wird z. B. auch StGB. § 58 analog angewendet.
14*
212 Dänemark. — Das Mutterland.
seitiger Befruchtung auch eine Richtschnur wurde, sondern namentlich auch
in der Weise, dass alle durch die fortschreitende Gesellschaftsentwickelung
gewonnenen und durch die Wissenschaft vertieften Resultate mit aufgenommen
wurden. Man muss auch sagen, dass diese Hauptaufgabe des Gesetzbuches,
deren bereits die zuerst eingesetzte Kommission sich bewusst war, und deren
Verwirklichung der spätere Entwurf noch kräftiger zustrebte, im grossen und
ganzen in zufriedenstellender Weise gelöst worden ist. Wie das Gesetzbuch
es aufgegeben hat, eine Mehrzahl von Handlungen zu strafen, deren Strafbar-
keit nicht mit den neueren Vorstellungen über die Grenzen der Rechtsordnung
sich vereinigen Hess, so hat es auch innerhalb des fortdauernd als strafrechtlich
erkannten Gebietes sich ganz und gar von dem frei gemacht, was an die Über-
treibungen früherer Zeiten erinnern konnte, ohne indessen jene Interessen zu
vernachlässigen, auf die sich jederzeit die Berechtigung und Notwendigkeit
einer energischen Repression gründet.
IV, Die humanen aber nirgends zwecklos „verbrecherfreundlichen" Tenden-
zen des Gesetzbuches zeigen sich in der Wahl der Strafarten. Die besonderen
Ehrenstrafen sind fortgefallen imd körperliche Züchtigung findet sich nur in
Form von Rutenstrafe (Ris), für Knaben bis zu 15, für Mädchen bis zu 12 Jahren,
und Stockschlägen (Rottingslag) für männliche Jugendliche zwischen 15 und
18 Jahren, (vgl. § 29, wo die letztgenannte ihrem Quantum nach stark ein-
geschränkte Strafe von der Erklärung des Arztes, dass der Verurteilte sie
aushalten könne, abhängig gemacht wird). Ferner sind die erschwerenden
Formen der Todesstrafe abgeschafft und ist die Anwendung der Todesstrafe
überhaupt ziemlich auf ein Minimum eingeschränkt; nur bei überlegtem Totschlag,
wo sie sich als einzige Strafe findet (§ 190), hat sie eine praktische Bedeutung
für die Rechtsanwendung behalten. ') Der verschärften Freiheitsstrafe (Gefängnis
bei Wasser und Brot von 2 — 30 Tagen, § 20) hat das Gesetz eine Grundlage ge-
geben, die die Praxis in weitem Umfang ausgenutzt hat. Meistens sind doch die
milderen Formen der Gefängnisstrafe (Gefängnis bei gewöhnlicher Gefangenen-
kost von 2 Tagen bis zu 6 Monaten und einfaches Gefängnis von 2 Tagen bis zu
2 Jahren, vgl. §§ 18 — 19) daneben zur Wahl gestellt. Auch sind sichernde Be-
stimmungen getroffen mit Rücksicht auf die Abbüssung der Strafe mit Zvdschen-
fristen und über ihre Verwandlang in Gefängnis bei gewöhnlicher Gefangenen-
kost je nach dem Alter des Betreffenden (unter 18 oder über 60 Jahren),
seinem Gesundheitszustande usw. (§§ 21 — 23). Über die beiden Arten der Straf-
arbeit, die das Strafgesetzbuch kennt — Besserungshausarbeit (8 Monate bis
6 Jahre) und Zuchthausarbeit (2 — 16 Jahre oder lebenslänglich) vgl. § 11 —
hat das Gesetz Bestimmungen getroffen, um sich dessen zu versichern, dass
eine jede der beiden Arten gerade auf die Verbrecher angewendet werde, für
die sie als dienlich angesehen werden muss (§ 14), während es für die Einzel-
heiten der Verbüssung mit einem Hinweis auf die Vorschriften, durch die bereits
früher eine Reform der Strafarbeit nach neueren Grundsätzen eingeleitet
worden war (Königliche Resolution vom 25. Juni 1842), sich begnügt hat. Das
Strafgesetzbuch hebt lediglich von neuem die Hauptregel für Besserungshaus-
arbeit hervor: sie soll in Einzelhaft verbüsst werden, in der der Gefangene
sich Tag und Nacht aufhält. In Verbindung hiermit sind Bestimmungen über
die Abkürzung dieser Strafe nach einer bestimmten Skala getroffen, wonach das
Höchstmass des Einzelzellengefängnisscs 3^2 Jahre beträgt (§§ 13 und 15). Das
Detail beruht auf besonderen Anstaltsreglements, während die Vollstreckung
der Zuchthausarbeit und der Besserungshausarbeit in den Ausnahmefällen, wo
diese Freiheitsstrafen nicht in der Zelle verbüsst werden, nach Erlassung des
*) Doch sind seit 1866 nur vier Todesurteile vollstreckt worden.
§ 3. System und Hauptgrundsätze des StGB. 213
Strafgesetzbuches allgemein geregelt sind durch die königl. Verordnung vom
13. Februar 1873, die für alle in Gemeinschaftshaft verbüsste Strafarbeit ein
vollständiges Progressivsystem entsprechend den Anforderungen der modernen
Gefängniswissenschaft durchgeführt hat.
V. Das Streben, nach allen Seiten gerecht zu werden, sodass weder eine
energische Rechtshandhabung unmöglich wird, noch die Forderungen der
Humanität vernachlässigt werden, zeigt sich namentlich in der Lehre von der
Straffestsetzung. Die Strafrahmen sind durchgehends so weit, dass sie be-
rechtigten Ansprüchen beider Rücksichten genügen können und für die Be-
messung innerhalb des gegebenen Rahmens hat das Gesetzbuch (ausser der
tVüher genannten Bestimmung in § 14 über die Wahl der Strafarten) solche
leitende Regeln aufgestellt, die sowohl subjektiven wie objektiven Rücksichten
in ungezwungener Weise Einfluss gestatten (§§ 57 — 59). Daran schliesst sich
eine Bestimmung über Herabsetzung der Strafe bei der sogenannten thätigen
Reue (§ 60)^). Es wird femer einer lange dauernden Untersuchungshaft, sofern
sie nicht dem eigenen Verhalten des Schuldigen zuzuschreiben ist, eine weite
Bedeutung beigelegt, sodass sie bei geringeren Vergehen sogar an Stelle der
Strafe treten kann (§ 58)-).
Der besondere Teil des Gesetzbuches weist imganzen die gleichen
charakteristischen Züge auf, doch sind hier einige Ungleichheiten in der
Behandlung zu spüren. Bei den Fälschungen, bei der Brandstiftung und
anderen gemeingefährlichen Verbrechen ist das Strafgesetzbuch und auch
die Praxis im ganzen ziemlich hellhörig gegenüber den Anforderungen
eines ausgiebigen Schutzes der Gesellschaft, und dasselbe kann man auch teil-
weise beim Diebstahl und bei der Hehlerei sagen; vgl. so die allein hier
geltenden besonderen Bestimmungen für den Rückfall §§ 230 — 232, sowie die
an und für sich anerkennenswerte Regel, dass die Strafe für scliweren Dieb-
stahl (§ 229) niemals unter Strafarbeit herunter gehqn kann (Mindestmass
8 Monate). Dagegen sind die Bestimmungen über Betrug (Kap. 26), die über-
haupt kaum eine zufriedenstellende Behandlung erfahren haben, durchgehends
zu milde, offenbar weil unleugbar hier sehr leicht liegende Fälle vorkommen
können. Darunter leidet aber oft genug die energische Repression gegenüber
den häufigen Fällen rutinierten Schwindels, namentlich in der Form einer
frechen Ausnützung der Leichtgläubigkeit. Femer ist stark zu betonen, dass
mehrere der Bestimmungen über Gewaltthätigkeit (Kap. 18), namentlich soweit
sie den häufigen brutalen Überfall ahnungsloser Leute betreffen, und über Be-
leidigung (Kap. 21), glimpflicher als wünschenswert sind. Einige Schuld trifft
dabei auch die Praxis, die insbesondere auf dem letztgenannten Gebiete wenig
geneigt gewesen ist, die Bestimmungen des Gesetzes energisch zu handhaben.
VI. Aber auch auf vielen anderen und verschiedenartigen Gebieten treten
die angeführten allgemeinen Tendenzen des Gesetzbuches zu Tage. Eine
einzelne Konsequenz ist insbesondere, dass die Wirkungen des Rückfalls, so-
weit solche überhaupt erwähnt werden, auf den Fall eingeschränkt sind, dass
das frühere Verbrechen nach vollendetem 18. Jahre verübt worden ist, und
dass nicht ein Zeitraum von 10 Jahren seit der Verbüssung der Strafe ver-
strichen ist (§ 61); die Beschränkung auf inländische Urteile ist schon durch
die überhaupt obwaltende nationale Exklusivität gegeben. In gleichem
^) Daneben finden sich in einzelnen speziellen Paragraphen weitergehende
Regeln, vgl. imten S. 219.
*) Ist der Betreffende unverschuldet der Untersuchungshaft unterworfen gewesen,
so hat er das Recht, durch Urteil Erstattung seines Interesses zu fordern. (Gesetz
vom 5. April 1888.)
214 Dänemark. — Das Mutterland.
Lichte muss man auch die Bestimmungen des folgenden Kapitels über das
ZusammentrefPen von Verbrechen betrachten; denn es wird hier ein sehr ge-
mässigtes Kumulationsprinzip festgesetzt, von dem jedoch in einzelnen Fällen
eines sehr ungleichen Verhältnisses zwischen den Verbrechen zu Gunsten einer
vollständigen Absorption der Strafe für das geringere Vergehen abgewichen
wird. Gleichfalls durch die allgemeine Tendenz des Gesetzes bestimmt sind
die wichtigen Regeln über die Beschränkung der vollen strafrechtlichen Ver-
antwortlichkeit auf das vollendete 18. Jahr; die grundsätzliche, vom Gesichts-
punkte der Gegenwart indessen kaum bestimmt genug durchgeführte An-
erkennung einer Einschränkung der Strafgewalt gegenüber Kindern (§§35 — 37);
femer der in § 39 gutgeheissene Begriff der geminderten ZurechnungsfUhigkeit
und die hiervon abhängige Strafherabsetzung. Endlich tritt auch die an-
geführte Tendenz direkt oder mittelbar in einer Reihe spezieller Bestimmungen
des Gesetzbuches zu Tage, insbesondere auch in einer weitgehenden Rücksicht
auf gewisse besondere, dieses oder jenes Verbrechen begleitende Umstände.
In dieser Verbindung können auch einige Bestimmungen aus dem allgemeinen
Teil genannt werden, so z. B. die Regeln über die Überschreitung der Not-
wehr (§ 40).
VII. Wenn das Gesetzbuch so auf verschiedenen Gebieten mit glücklichem
Takt eine Ordnung durchgeführt hat, die im ganzen mit den auch innerhalb
der Rechtshandhabung geltenden humanen Anschauungen übereinstimmt, so
beruht das zu einem Teile auf der Stütze, die der wissenschaftliche Fort-
schritt, der beständig eine notwendige Voraussetzung für den Fortschritt der
Gesetzgebung bildet, in verschiedenen Punkten ihr geben konnte. In dieser
Beziehung ist die Aufgabe natürlich besonders erleichtert gewesen da, wo die
Wissenschaft durch die Vertiefung jener Anschauungen imstande gewesen ist,
gewisse bestinmite Fundamentalsätze mit sozusagen allgemein anerkannter Gültig- ,
keit hinzustellen. Mit voller Klarheit tritt deswegen z. B. im § 306 die direkte
Anerkennung des Grundsatzes hervor, dass ein strafmilderndes Gesetz rück-
wirkende Kraft hat, während die Sache sich sogleich schwieriger stellt, wo es
sich, wie z. B. in § 307, der die Berührungen zwischen dem Strafgesetzbuche und
dem älteren Rechte im Falle eines wiederholten Verbrechens betrifft, darum dreht,
aus jenem Grundsatze auf einem verwickeiteren Gebiete weitere Folgesätze her-
zuleiten. Bei der Frage nach der Bedeutung des Ortes und des Thäters für
die Anwendung des Gesetzes hat man auch dem Grundgedanken nachgestrebt,
sich an wissenschaftlich und völkerrechtlich feststehende Maximen zu halten;
dadurch hat man auch auf diesem schwierigen Gebiete jedenfalls teilweise eine
prinzipielle und zweckmässige Begrenzung des Wirkungskreises des Gesetz-
buches erlangt, wenn auch in der näheren Ausführung verschiedenes ein-
zuwenden sein mag. Unter Abweisung einer so allgemeinen und umfassenden,
aber deswegen auch unhaltbaren Regel, wie sie z. B. Kap. 1 § 1 im norwegischen
Strafgesetzbuche giebt, hat das dänische Strafgesetzbuch (§ 2) das natürliche
Territorialitätsprinzip aufgestellt, und im Anschluss daran hat § 3 zufolge der
landläufigen Fiktion, die das Schiff als schwimmenden Gebietsteil auffasst, die
Anwendung des Gesetzbuches auf Verbrechen, die an Bord eines dänischen
Fahrzeuges begangen sind, bestimmt, doch mit einer völkerrechtlich nicht
notwendigen Ausnahme, wenn sich das Fahrzeug auf fremdem Seegebiet be-
findet. Nach den §§ 4 und 5 werden die Verbrechen eines dänischen Unter-
thans im Auslande nur dann als Übertretungen des dänischen Strafgesetz-
buches aufgefasst, wenn damit eine Umgehung eines in Dänemark geltenden
Verbotsgesetzes beabsichtigt wurde oder wenn durch das Verbrechen das
Treu- und Gehorsamsverhältnis des Unterthans oder gewisse besondere öffent-
liche oder privatreehtliche Verpflichtungen verletzt wurden. Daneben enthält
§ 4. Fortsetzung. Abänderungen des StGB. Kritik. 215
indessen § 6 eine Ermächtigung der obersten Anklagebehörde, auch andere
Verbrechen zu verfolgen, die von dänischen ünterthanen im Auslande be-
gangen werden; doch werden diese nicht als Übertretungen des dänischen
Gesetzbuches aufgefasst, was indessen nicht mit solcher Klarheit hervortritt,
wie z. B. in den entsprechenden Bestimmungen des deutschen Reichsstrafgesetz-
buches. So ist das Erfordernis, dass das betreffende Verhalten nach dem
fremden Recht strafbar sein muss, nicht hervorgehoben,^) und sodann hat
man auch, der Natur der Sache zuwider, in § 7 (über den Einfluss einer im
Auslande verbüssten Strafe, wenn die gleiche Handlung (iegenstand einer
Anklage in Dänemark ist) keine Rücksicht auf den Gegensatz zwischen den
§§ 2 — 5 und § 6 genommen.*)
§ 4. Fortsetzung. Abänderaugen des StGB. Kritik.
I. Das Gesetzbuch hat aber keineswegs nur dadurch, dass es eine Stütze
in den durch wissenschaftliche Erörterungen mehr oder weniger festgestellten
Sätzen suchte, auf vielen Punkten eine glückliche Lösung mehrerer bedeutungs-
voller, aber an und für sich kombinierter Probleme des neueren Strafrechts
geben können. Dies ist in der That nur eine einzelne Seite der ganzen im besten
Sinne praktischen Art und Weise des Vorgehens, der man bei Erlassung des
Gesetzbuches gefolgt ist. Für alle oben genannten Gebiete, sowie überhaupt
für die SchafPnng eines rationellen, dem Bedürfnisse des praktischen Lebens
sich eng anschliessenden Strafgesetzbuches, musste es von ausserordentlicher
Bedeutung sein, dass das Gesetz — zu einer Zeit, wo die Strafrechtstheorieen
noch eine bedeutende Rolle spielten und wo man nicht ganz selten bei der
Lösung der einzelnen strafrechtlichen Fragen die einmal angenommene Theorie
als Prüfstein benutzte, — in keinem Punkte sich durch die Auskunft hat
zufrieden stellen lassen, die man bei Benutzung eines solchen Prokrustesbettes
erhalten konnte, ohne dass doch deshalb der allgemeine Hauptgesichtspunkt
des Gesetzes (nämlich die Auffassung der Strafe als einer Forderung der
Gerechtigkeit, bei deren Erfüllung man zugleich einen Schutz für die Gesell-
schaft herstellt) sich eigentlich verflüchtigt hat. In dieser Beziehung weist
das Gesetz deutlich zurück auf F. C. Bomemann (f 1861), der sowohl direkt
als Kommissionsmitglied, wie mittelbar durch seine geistreichen Universitäts-
vorlesungen über Strafrecht, einen sehr wesentlichen Einfluss auf die ganze
Richtung des Gesetzbuches ausgeübt hat. Der Sinn für die Fmiktionen des
praktischen Rechtslebens, mit dem sich bei ihm die rechtsphilosophische Spe-
kulation paarte, wusste es zu verhindern, dass man sich einseitig in eine
einzelne bestimmte Theorie verbohrte, besonders in die sonst prinzipiell zu-
nächst liegende absolute; das hätte unter anderem, um nur ein einzelnes Bei-
spiel statt aller anzuführen, leicht zu Konflikten führen können mit einer an
und für sich so natürlichen Sache, wie der Rücksicht auf die subjektiven
^) Diesem Ubelstand wird indessen etwas abgeholfen teils durch die interna-
tional wesentlich gleiche Auffassung einer Reihe von Verbrechen, teils durch die
Möglichkeit, die angeführte Rücksicht für die Erhebung der Anklage den Ausschlag
geben zu lassen.
*) Was die Frage nach der ganzen oder teilweisen Befreiung gewisser Personen
von Strafbarkeit betrifft, so enthält das Gesetzbuch nur einen Vorbehalt entsprechend
den allgemeinen Regeln des Völkerrechts (§ 8), während die in staatsrechtlichen Rück-
sichten begründeten Ausnahmen (der König und bis zu einem gewissen Grade die
Volksvertreter) auf Bestimmungen im Grundgesetz vom 28. Juni 1866 § 12 und § .^7
beruhen.
216 Dänemark. — Das Mutterland.
Voraussetzungen des Verbrechens, die das Gesetzbuch kraft seiner ganzen
angeführten Tendenz im allgemeinen wie im besonderen Teile mehrfach nimmt.
n. Die feste Grundlage, die das Gesetzbuch sich auf die angeführte Weise
geschaffen hat, ist sicherlich auch eine wesentlich mitwirkende Ureache dabei
gewesen, dass es über ein Viertel Jahrhundert in Kraft geblieben ist, ohne
tiefer greifende Veränderung und ohne dass man sagen kann, dass eine
durchgreifende Revision heute auf dem Programm stände. Die vorgenommenen
Änderungen sind, wie angeführt, nur wenig und unbedeutend. Ein Gesetz
vom 25. Februar 1871 hat, zum Teil veranlasst dm^ch die Verordnung über
die Führung der Regentschaft im Falle der Unmündigkeit, Krankheit oder
Abwesenheit des Königs (Gesetz vom 11. Februar 1871), den §§ 95 — 97 des
Strafgesetzbuches (betr. Verbrechen gegen die gesetzgebenden Versammlungen
oder deren Mitglieder als solche, gegen denjenigen oder diejenigen, die unter
den genannten Umständen die Regierung führen, gegen das Reichsgericht oder
Höchstgericht) eine andere Fassung gegeben. Femer hat das Münzgesetz vom
23. Mai 1873 § 14 in natürlicher Konsequenz der Münzverträge mit Schweden
und Norwegen die §§ 264 — 266 des Strafgesetzbuches so abgeändert, dass der
Nachmachung oder Verfälschung von Münzen dieser Länder gleiche Bedeutung
wie der Nachraachung dänischer Münzen beigelegt wird. Des weiteren ist durch
das Gesetz vom 10. April 1874 (No. 47) § 4 eine von der Praxis stark be-
nutzte Ermächtigung geschaffen worden, bei Übertretung von § 180 des Straf-
gesetzbuches (Verbot gewerbsmässiger Unzucht gegen polizeiliche Vorschrift)
an Stelle der Gefängnisstrafe zu Arbeit in einer Zwangsarbeitsanstalt zu ver-
urteilen, einer Strafart, die das Strafgesetzbuch sonst nicht kennt, während
sie durch das Gesetz vom 3. März 1860 für Landstreicherei und Betteln ein-
geführt ist. Endlich hat das Gesetz vom 9. April 1891 (No. 136) § 5 a. E.
das Maximum der im StGB. § 290 (letzter Absatz), festgesetzten Strafe erhöht.
Vorschläge zu einzelnen anderen Änderungen im Gesetzbuche sind vereinzelt
gemacht worden, darunter einer betr. Intramuranhinrichtung mittels Fallbeils
(Fald0xe) an Stelle der öffentlichen mit dem Beil (StGB. § 10); aber sie sind
nicht durchgeführt worden.^)
III. Es ist indessen klar, dass das Strafgesetzbuch nach Verlauf von mehr
als 25 Jahren nicht mehr in gleichem Grade befriedigen kann wie bei seiner
Erlassung. Nach dem regen Leben, das in der Gegenwart sich auf dem Ge-
biete des Strafrechts abspielt, lässt es sich ziemlich voraussehen, dass bei
einer demnächst zu erwartenden Revision des Strafgesetzbuches der Gesetz-
geber es nicht wird unterlassen können, zu den grossen Fragen, die die
moderne Forschung in die erste Reihe geschoben hat, Stellung zu nehmen.
Das Interesse wird sich dann nicht nur an Abänderungen einzelner Straf-
bestimmungen knüpfen, — wohl namentlich in Kap. 16 (Sittlichkeitsverbrechen),
Kap. 18 (Gewaltthätigkeit und Körperverletzung) und Kap. 21 (Beleidigung), —
sondern daneben namentlich auch an einige allgemeine und höchst aktuelle
Probleme, darunter namentlich die Fragen nach den Verbrechen der Kinder
und der Jugendlichen, nach der Anwendung des bedingten Strafurteils und
in Verbindung damit nach anderen möglichen Mitteln zur Einschränkung der
ganz kurzen Freiheitsstrafe, deren Bedenklichkeit durch die für diese Stral-
art fehlende Arbeitspflicht erhöht wird, wenn dieser Cbelstand auch durch
^) Ein durch vorläufiges Gesetz vom 2. November 1885 gegebener „Zusatz^ zum
Strafgesetzbuch, der, unter bewegten politischen Verhältnissen und zum Teil nach
ausländischem Muster erlassen, vornehmlich einei-seits gewisse Fälle entfernterer An-
stiftung zum Verbrechen treffen wollte, andererseits dem deutschen Reichsstrafgesetz*
buch §§ 130 und 131 genau entsprechende Bestimmungen enthielt, ist durch vorläufiges
Gesetz vom 19. Jimi 1888 wieder aufgehoben worden.
§ 4. Abänderungen des StGB. Kritik. 217
die in anderer Richtung verschärfte Form des Gefängnisses bei Wasser und
Brot wieder etwas gehoben wird. Femer ist hier zu nennen die Frage nach
besonderen auf anderer, teilweise breiterer Basis gehaltenen Massregeln gegen
den RückfaU, — alles Fragen, die insgesamt nur Teile des grossen allgemeinen
Problems bilden, mit dem vornehmlich sich das Strafrecht der neueren Zeit
beschäftigt, nämlich des Problems, wie weit es möglicb sei, auf Grundlage
einer innerlicheren Auffassung und eines besseren Verständnisses der nähereu
Voraussetzungen des Verbrechens in subjektiver Hinsicht diesen Verhältnissen
und Voraussetzungen einen weitergehenden Einfluss beizulegen. Auf mehreren
der Gebiete, wo man jedenfalls das angeführte Problem streift, hat das Straf-
gesetzbuch Bestimmungen, mit denen man sich kaum auf die Dauer wird be-
freunden können. Was besonders die Frage nach den strafbaren Handlungen
der Kinder anbetrifft, so hat das Strafgesetzbuch, ohne dass ihm hier gerade
ein Vorwurf gemacht werden kann, die eigentliche Straffrage kaum in ge-
nügend enger Verbindung mit der jetzt so stark vorgedrängten Frage nach
anderen Mitteln, auf junge Verbrecher einzuwirken und sich gegen sie zu
sichern, betrachtet. Nach § 36 des Strafgesetzbuches ist das Kind mit dem
vollendeten 10. Jahre strafbar, wenn man nach der Beschaffenheit des Ver-
brechens oder nach seiner Verstandesentwickelung und Erziehung annehmen muss,
dass es die Strafbarkeit seiner Handlung eingesehen hat und das Verbrechen
nicht ganz unbedeutend ist.^) Nach der Strafe, die am öftesten in körper-
licher Züchtigung (Rutenstrafe) besteht, andere vorbeugende Mittel anzuwenden,
dazu giebt das Gesetz kein Recht. Die Gestattung solcher Mittel ist auf die
Fälle beschränkt, in denen in Gemässheit der Ermächtigung, die der Paragraph
der obersten Anklagebehörde beilegt, die Straffrage gegenstandslos wird. Was
vor der Hand auf diesem Gebiete ausgerichtet wird, geschieht im wesentlichen
durch freiwillige Unterbringung verwahrloster oder verdorbener Kinder in
Privatanstalten, deren unser Land mehrere vorzügliche besitzt, und die auch
der Staat in der Regel unterstützt. Nach vollendetem 15. Lebensjahre ist
das Kind immer strafbar, nur findet, im Gegensatze zum älteren Recht, bei
Verbrechen, die vor vollendetem 18. Jahre begangen sind, eine Herabsetzung
bis zur Hälfte der sonst gesetzlichen Strafe statt (§37). Ob die sonstigen
Bestimmungen des Gesetzes über die Zurechnungsfähigkeit ganz unangetastet
werden bleiben können, ist kaum sicher. Besonders wird wohl die Frage;
aufgeworfen werden, ob wissenschaftliche Bedenken zur Verwerfung des in
§ 39 des Gesetzbuches anerkannten Begriffs der verminderten Zurechnungs-
fähigkeit zu führen vermögen. Es wird sich femer fragen, wie die Zustände
der Zurechnungsunfähigkeit im näheren Anschluss an die Auffassung der
neueren Wissenschaft von den psychophysischen Abnormitäten zu formulieren
sind. Das Strafgesetzbuch, dessen Fassung übrigens nirgends als besonders
unglücklich bezeichnet werden kann, hatte in seiner Entstehungszeit dazu
keine Veranlassung. Gegenüber dem rutinierten Verbrechertum hat das Ge-
setz bei Diebstahl und Hehlerei (Kap. 23) besonders verschärfte Rückfalls-
strafen eingeführt, die unter Umständen sogar bis zu lebenslänglicher Straf-
arbeit ansteigen können (§§ 230—232, vergl. § 238 ff.), während das Gewöhn-
liche sonst ist, dass die Wiederholung lediglich innerhalb des gewöhnlichen
Strafrahmens schärfend wirkt, sodass sie höchstens als ein Umstand erwähnt
wird, der bei Strafschärfung besonders in Betracht kommt. Aber hiermit
wird man sich kaum genügen lassen können, wenn die Frage der Gewohn-
*) Einzelne besondere Bestimmungen im Gesetzbuch jgestatten unbedingte Straf-
freiheit für Kinder unter 15 Jahren, so § 56 (nachfolgende Teilnahme) und § 109 (Vor-
beugungspflicht gegen Verbrechen usw.).
218 Dänemark. — Das Mutterland.
heits- und der unverbesserlichen Verbrecher erst unabweisbar dem Gesetzgeber
zur Entscheidung vorliegt.
Unter den Strafarten müsste auch die Geldstrafe eine Reform durch-
machen, denn das Gesetz hat zwar in § 59 ausgesprochen, dass bei ihrer
Festsetzung auf die Vermögensverhältnisse des Schuldigen Rücksicht zu nehmen
sei, aber das Höchstmass der Strafe beträgt 4000 Kronen, und falls die Geld-
strafe nicht bezahlt wird, tritt an ihre Stelle eine im Urteil selbst festgesetzte
einfache Gefängnisstrafe (§ 30).^) Sodann kann hervorgehoben werden, dass
es möglich und zweckmässig wäre, die Bestimmungen über die Teilnahme
(Kap. ö) zu ändern, die in ihrer gegenwärtigen Fassung komplizierter als not-
wendig und daher auch nicht immer hinlänglich klar und begründet sind,
wie z. B. der hier eingeführte Begriff des Hauptthäters (Hovedmand) gegen-
über dem, der Beistand leistet. Desgleichen müsste die Versuchslehre einer
erneuten Untersuchung unterzogen werden, namentlich mit Rücksicht darauf,
wo der strafbare Versuch beginnt, indem § 45 Strafbarkeit für jede Handlung
einführt, die „darauf abzielt, die Vollendung eines Verbrechens zu befördern
oder herbeizuführen", — eine Regel, die jedenfalls kaum mit einem akkusa-
torischen Prinzip im Strafprozess zusammenpassen wird.
IV. Um den Standpunkt des Gesetzes überhaupt zu beleuchten, wird es
noch dienlich sein hervorzuheben, dass das Gesetzbuch in der Regel nur das vor-
sätzliche Verbrechen straft, sodass die Fahrlässigkeit überhaupt nur infolge
ausdrücklicher Festsetzung für jeden einzelnen Fall strafbar ist (§ 43). Eine
solche Festsetzung findet sich nur auf Gebieten, wo die Strafbarkeit der Fahr-
lässigkeit mit allgemein angenommenen Grundsätzen übereinstimmt, so bei
Totschlag (§ 198), Körperverletzungen schwerster Art (§ 207), Brandstiftung
{§ 284), gewissen in hohem Grade gemeingefährlichen Verbrechen usw.*)
Daneben kann hervorgehoben werden, dass das Gesetz in einzelnen Be-
stimmungen (§ 160 über Bigamie; § 181 Unzucht von Personen, die mit an-
steckenden Geschlechtskrankheiten behaftet sind und §267 über Verausgabung
falschen Geldes) sich einer Ausdrucksweise bedient hat, die, ohne dass der
(Tcsetzgeber sich das vielleicht hinlänglich klar gemacht hat, Fälle der Fahr-
lässigkeit mit in die betreffende Strafbestimmung hineingezogen hat. Endlich
hat das Gesetzbuch auch im § 188 (vgl. § 204) die Strafbarkeit über das voi^
sätzliche Verbrechen hinaus erstreckt. Aber diese Bestimmungen stehen im
Zusammenhang mit dem ganzen Kap. 18, dessen Unterscheidungen innerhalb
der Körperverletzungen nach der jetzt allgemeinen Annahme eine Abstufung
nach der Folge des rechtswidrigen Angriffes enthalten, sodass die §§188 und
204 relativ die höchste und nächsthöchste Abstufung bezeichnen, die indessen
hier an gewisse subjektive Bedingungen angeknüpft ist (mindestens eine grobe
Fahrlässigkeit), während die allgemeine Forderung des Gesetzbuches, nämlich,
dass Vorsatz vorliege, sonst für das ganze Kapitel durchgreift, wenn der Vor-
satz auch bloss vorliegt mit Rücksicht auf eine Körperverletzung leichtester Art.
§ 5. Bestimmungen ergänzender Natur im StGrB.
I. Das dänische Strafgesetzbuch hat, ebensowenig wie andere systematische
Strafgesetzbücher, sich streng und ausschliesslich an solche Bestimmungen
^) Ausserhalb des Strafgesetzbuches wird die nicht gezahlte Geldstrafe ebenfalls
in Gefängnisstrafe umgewandelt, aber nach einer bestimmten ein für alle Mal ge-
gebenen Skala (Gesetz vom 16. Februar 1866). — Das einfache Gefängnis kann auf
Antrag in Gefängnis bei Wasser und Brot umgewandelt werden, wovon 1 Tag gleich
6 Tagen des einfachen Gefäng-nisses gerechnet wird (§ 30).
•) Hier ein Verzeichnis der Paragraphen des StGB., die die Fahrlässigkeit
strafen: §<j 129, 130, 182, 148, 149, 198, 207, 262, 268, 284, 289—292, 295.
§ 5. Bestimmungen ergänzender Natur im StGB. 219
gehalten, die sieh unmittelbar auf die Handhabung der Strafe beziehen, son-
dern hat daneben auch gleichsam accessorisch einzelne andersartige Bestim-
mungen aufgenommen. Hier sind zu nennen die Sicherheitsmassregeln, die
gegenüber Kindern (§ 36, vgl. § 36) und von den Gerichtshöfen gegenüber
Wahnsinnigen (§ 38), sowie im Falle gewisser Drohungen (§ 299) getroffen
werden können; ferner die im § 300 dem Verbrecher auferlegte allgemeine
Pflicht der Schadenserstattung; sowie die Bestimmung in §34 über Einziehung;
weiter die Bestimmungen in den §§ 301 — 303 über Erstattung der Heilungs-
kosten und des Erwerbsverlustes, über die Vergütung für Schmerzen, „Un-
gemach, Gebrechen und Entstellung", für den Verlust des Versorgers und für
die Zerstörung der Lebensstellung und der Erwerbsverhältnisse des Verletzten.
Sodann ist zu nennen der in § 304 im Falle der Gewaltthätigkeit oder groben
Beleidigung gegen Verwandte aufsteigender Linie bedingt eingeführte Verlust
des Erbrechtes, der ebensowenig wie die im § 218 festgesetzte Mortifikation
von Im'urien als Strafe aufgefasst werden kann. Endlich bestimmt § 16: wenn
Ausländer, die in den letzten 5 Jahren keinen festen Aufenthalt in dem däni-
schen Staate gehabt haben, zu einer Strafe verurteilt werden, so kann —
unter Umständen soll — gegen sie zugleich auf Landesverweisung (Rückkehr
ist unter Strafe gestellt) erkannt werden.
Dass das Gesetz über seinen Rahmen hhiausgeht, kann eigentlich nicht
gesagt werden, wenn es die Regeln für die Anklage aufnimmt, insoweit diese
nämlich als Strafbarkeitsbedingungen aufgefasst werden können. Namentlich
muss man jedenfalls in den Fällen, wo die Anklage in einer von der Haupt-
regel des Gesetzes abweichenden Weise beschränkt ist, von einer besonderen
Bedingung der Strafverfolgung reden. Die Anklage ist im allgemeinen eine
öffentliche (§ 298), doch wegen einzelner Vergehungen muss von den betreffen-
den Privaten Privatklage angestrengt werden, so namentlich wegen Beleidigung
und leichter Körperverletzung (Gewaltthätigkeit), und alsdann in den Formen
des Civilprozesses.^) Bei einzelnen anderen Verbrechen ist sodann die öffent-
liche Anklage durch den Antrag des Verletzten bedingt, so namentlich im
Falle des Ehebruchs, bei gewissen Sittlichkeitsvergehen gegenüber noch nicht
voll entwickelten Personen, bei ganz unbedeutenden Diebstählen, bei Gebrauchs-
anmassung, sowie in gewissen Betrugsfällen.*)
Einen an und für sich natürlichen Platz innerhalb des Rahmens des
Strafgesetzbuches nehmen endlich die Bestimmungen ein, die bei gewissen
besonderen Bedingungen den Wegfall der Anklage oder der Strafe verfügen.
Es handelt sich hier um besondere Strafaufhebungsgründe. Hier können an-
geführt werden namentlich teils die Bestimmungen, die, im Gegensatz zur
allgemeinen Regel des § 60, den Handlungen, die die schädlichen Folgen des
Verbrechens abwehren oder wieder gut machen, eine solche Bedeutung bei-
legen, — vgl. § 146 (Widerruf einer unbeeidigten falschen Aussage), § 166
und 175 (Eingehung der Ehe), §242 (Zurücklief erung) , §§ 136, 254 und 284
(Erstattung), §295 (Anzeige), — teils auch die Bestimmungen über Verjährung.
Eine solche wird indessen nur wegen der geringen Strafbarkeit des Vergehens
(nach Umständen in Verbindung damit, dass der Private es unterlässt, die
*) Bestimmungen über die Privatklage sind in folgenden Paragraphen enthalten:
§§ 116, 200, 212, vgl. §§ 210 und 211, 228, vgl. §§ 215—222, 226. Bei den ausserhalb
des Strafgesetzbuches fallenden Vergehen, die Verletzungen besonderer Pflichten ent-
halten, ist die Anklage öfters dem Privaten überlassen.
*) Bedingte öflFentliche Anklage findet im ganzen statt nach den §§ 159, 174,
175, 235, 236, 254, 278. Ausserdem ist die Anklage der in §§82 und 83 behan-
delten Verbrechen davon abhängig, dass das Verlangen darnach von der betreffenden
Regierung oder dem betrefl'enden Gesandten ausgesprochen M'ird (§ 84).
220 Dänemark. — Das Mutterland.
Privatklage zu erheben oder den Strafantrag zu stellen, §§ 66 und 67), oder
wegen der Jugend des Verbrechers (§§ 68 — 69) zugelassen. Ausser in diesen
Fällen ist nur die oberste Anklagebehörde berechtigt, die Anklage fallen zu
lassen, wenn seit der Begehung des Verbrechens 10 Jahre verstrichen sind (§ 70).
II. Während das Strafgesetzbuch so einerseits sein eigentliches, strafrecht-
liches Gebiet ergänzt, weist es umgekehrt für gewisse wirklich strafrechtliche
Fragen auf eine ausserhalb liegende Ergänzung hin. Die Strafvollstreckung
(vgl. §§13 und 17) beruht nicht bloss in Einzelheiten, sondern auch in ent-
scheidenden Hauptpunkten auf besonderen Bestimmungen, in erster Linie aut
der früher genannten Königlichen Verordnung vom 13. Februar 1873, die den
Abschluss der durch Königliche Resolution vom 25. Juni 1842 eingeleiteten Reform
der Strafanstalten bildet. Im Anschluss an die Verordnung von 1873, die alle
in Gemeinschaftshaft verbüsste Strafarbeit behandelt, und mit Hinweis auf
den Vorbehalt in § 13 des Gesetzbuches hat ein Circular vom 20. Oktober
1875 die Regeln dafür aufgestellt, in welchen besonderen Fällen auch Besserungs-
hausarbeit auf diese sonst für Zuchthausarbeit normierte Weise verbüsst
werden soll. Was die Gefängnisstrafe angeht, so beruht ihre Regelung auf
der Königlichen Resolution vom 22. Dezember 1841 und dem detaillierten
Reglement vom 7. Mai 1846.^) Auch für die Verbrechen der Strafgefangenen
in der Strafanstalt enthält das Strafgesetzbuch Verweisungen auf die hierüber
anderen Ortes gegebenen Regeln (vgl. §§ 65 und 111). Diese finden sich im
Gesetz vom 3. Dezember 1850, soweit es die Anwendung disziplinarer Straf-
gewalt in den Strafanstalten betrifft, während das ältere Plakat vom 31. August
1813 fortdauernd für die in Strafanstalten begangenen gröberen Verbrechen gilt.
§ 6. Die Strafdrohimgen ausserhalb des Strafgesetzbuches.
I. Von den Gesetzen, die an die oben (S. 207,) genannten ausserhalb
des allgemeinen bürgerlichen Strafgesetzbuches liegenden Verbrechensarten
anknüpfen, ist das umfassendste das Strafgesetzbuch für das Heer vom
7. Mai 1881.^) Sein Charakter als der eines „besonderen" Gesetzes entspringt
daraus, dass es im Gegensatz zu den älteren für das Heer geltenden „Kriegs-
artikelbriefen" nur militärische Verbrechen behandelt, d. h. solche, die eine
Verletzung der aus dem militärischen Verhältnis entspringenden Pflichten ent-
halten. Soweit von Handlungen die Rede ist, die an und für sich ein all-
gemeines bürgerliches Verbrechen darstellen, geschieht dies nur, um den be-
sonderen Einfluss der darin mit enthaltenen Verletzungen besonderer militärischer
Pflichten hervorzuheben. Infolgedessen stehen die Gesetzesbestimmungen durch-
gehends in so enger Verbindung mit den besonderen Anforderungen des Dis-
ziplinarverhältnisses, dass sie meist kein allgemeines Interesse haben.
Mit Rücksicht auf besondere militärische Strafen ist hervorzuheben, dass
die Gefängnisstrafe in mehreren Richtungen in einer Weise verschärft werden
kann, wie sie das bürgerliche Strafrecht nicht kennt (so Dunkelarrest, Arrest
in Fesselung, hartes Gefängnis bei Wasser und Brot). Jedoch sucht man mit
Rücksicht auf die strengeren Formen durchgehends ähnliche Kautelen für die
Fähigkeit des Betreffenden, die Strafe zu ertragen, wie sie die bürgerliche
Gesetzgebung kennt. Andererseits finden sich auch besonders milde Formen
^) Mit Rücksicht auf die Vollstreckung der Todesstrafe wird es im Gesetz vom
1(). Dezember 1840 zur Bedingung gemacht, dass die Sache in oberster Instanz ver-
handelt, und dass dem König Vortrag darüber gehalten worden ist.
') Eine deutsche L^bersetzung findet sich in der Zeitschrift für die gesamte
Strafrechtswissenschaft, Bd. II. Beilage.
§ 6. Die Strafdrohungen ausserhalb des Strafgesetzbuches. 221
des Gefängnisses (so Haus- und Wachtarrest). Körperliche Züchtigung ist
unbekannt.
Unter den Bestimmungen, die den Hinweis des Militärstrafgesetzbuches
(§ 46) auf den allgemeinen Teil des bürgerlichen Strafgesetzbuches modifizieren,
ist insbesondere zu erwähnen, dass selbstverschuldete Trunkenheit nicht die An-
wendung der gesetzlichen Strafe für Übertretung von Dienstpfiichten ausschliesst
(§ 50). Femer hat das Gesetz sowohl durch Festsetzung einer Reihe besonders
erschwerender Umstände, wie umgekehrt mit Rücksicht auf den Befehl des Vor-
gesetzten usw. Bestimmungen getroffen, die in ungezwungener Weise den
Anforderungen des militärischen Dienstes Rechnung tragen. Über die An-
wendung der Disziplinarstrafbefugnis beim Heer ist Bestimmung getroffen durch
eine Reihe Königlicher Verordnungen vom 20. Juni 1881, vgl. Verordnung vom
13. August 1886.
n. Von den Gesetzen, die im Strafgesetzbuch nicht enthaltene bürgerliche
Verbrechen betreffen, bieten einzelne einiges Interesse in strafirechtlicher Hin-
sicht. Es sind das Bestimmungen, die an und für sich geeignet gewesen
wären, vom Strafgesetzbtrch mit umfasst zu werden. Bei der Abscheidung
haben natüi'lich einzelne Willkürlichkeiten nicht vermieden werden können,
teils wegen des flüssigen Charakters der angewendeten Unterecheidungsmerk-
male (Verbrechen in allgemeinen und in besonderen bürgerlichen Verhältnissen),
teils weil mehr oder weniger zufällige Umstände mitspielen.
In dieser Verbindung kann genannt werden die Bestimmung im Kon-
kursgesetz vom 26. März 1872 § 148, die eine natürliche Ergänzung zu
StGB. § 262 enthält (über betrügerischen Bankerutt usw.), auf dessen Straf-
satzungen es auch hinweist. Von grosser praktischer Bedeutung ist sodann
das Gesetz vom 3. März 1860, über die Bestrafung der Landstreicherei
und des Betteins, im grossen und ganzen eine glückliche Bekämpfung dieser
ganz gewiss geringeren, aber sehr oft gewerbsmässig begangenen und ihrer
Natur nach öfters in naher Verbindung zu dem Verbrechertum auf anderen
Gebieten stehenden Vergehungen. Namentlich bezeichnet die durch das Gesetz
eingeführte Strafe der Arbeit in einer Zwangsarbeitsanstalt einen an und für
sich glücklichen Griff, wenn man auch das Höchstmass der Strafe (180 oder
90 Tage) etwas höher hätte wünschen können.
Im Einklang mit dem, was auch in den meisten anderen Ländern der
Fall ist, nehmen die Pressvergehen eine Sonderstellung ein. Das beruht
jedoch nicht auf den zur Anwendung kommenden Strafbestimmungen; denn
diese sind die des allgemeinen Strafgesetzbuches, nachdem das Strafgesetz
die früheren Bestimmungen des Pressgesetzes hierüber aufgehoben hat: die
Sonderstellung äussert sich in speziellen Regeln über die Verantwortlichkeit
für Druckschriften, die teils auf dem Gedanken beruhen, den Interessen, denen
die Presse in so hohem Grade dient, nicht hindernd in den Weg zu treten,
teils auf der Absicht, gegenüber der Gefahr, die von der Presse ausgeht,
die Möglichkeit einer Durchführung der Rechtssatzungen zu sichern. Während
bereits das Grundgesetz (vom 5. Juni 1849 § 91, revidiertes Grundgesetz vom
28. Juli 1866 § 86) die Zensur und alle anderen Präventivmassregeln verboten
hat, enthält das Pressgesetz vom 3. Januar 1851 im Anschluss an die auch
anderen Ortes angenommenen Grundsätze nähere Bestimmungen über die Ver-
antwortlichkeit für Druckschriften usw., also namentlich mit vollständiger Ab-
weichung von der allgemeinen Teilnahmelehre. Der leitende Grundsatz ist,
dass unbedingt nur eine Person verantwortlich gemacht wird, indem jeder
einzelne in der Reihe derer, die sich eventuell zu verantworten haben, da-
durch frei wird, dass die Bedingungen vorliegen, um einen der voraufgehen-
den zur Verantwortung zu ziehen. Verantwortlich ist erstens der Verfasser
222 Dänemark. — Das Mutterland.
insoweit er seinen Namen angegeben hat, und daneben entweder zur Zeit, als
die Schrift erschien, seinen Wohnsitz im Keiche hatte, oder zur Zeit, als die
Sache anhängig wurde, innerhalb des Gebietes der Staatsgewalt sich befand.
Genügt er diesen Bedingungen nicht, so geht die Verantwortlichkeit unter den
gleichen Bedingungen über auf den Herausgeber, sodann auf den Verleger
(Kommissionshändler), endlich auf den Drucker, der deshalb immer auf der
Druckschrift angegeben werden soll. Daneben hat man jedoch in der Praxis
für Tages- und Wochenblätter beständig die Verantwortlichkeit des Redakteurs
festgehalten. Aus Anlass der hierdurch herbeigeführten Missbräuche hat ein vor-
läufiges Gesetz vom 13. August 1886 Bestimmungen getroffen, die namentlich das
Unwesen der Strohmänner zu verhindern beabsichtigen. Im Pressgesetz finden
sich im übrigen Bestimmungen für den Fall, dass die Angabe des Namens
des Druckers und der Druckstätte fehlt oder unrichtig ist, oder dass die Ab-
gabe eines Exemplars an die Polizei versäumt wird, ferner auch für den Fall,
dass ein Blatt, das einen persönlichen Angriff enthält, trotz Verlangens es
unterlässt, eine Mitteilung über die Anhängigmachung dieser Sache und seiner
Zeit über den Ausfall aufzunehmen. Ebenso finden sich besondere Bestim-
mungen über die Anklagebehörden, sowie über die Strafverfolgung fremder
in das Reich eingeführter Druckschriften.
III. Die übrigen Gesetze, die Straf bestimmungen für ausserhalb des Straf-
gesetzbuches fallende Übertretungen enthalten, bieten schlechthin kein beson-
deres strafrechtliches Interesse. So alle die Gesetze, die die Verletzung ge-
wisser auf der Staatsverwaltung beruhender Pflichten betreffen, vgl. die ver-
schiedenen Steuergesetze, darunter auch Zoll- und Stempelgesetze, ferner das
Wehrpflichtgesetz vom 6. März 1869 u. a.
Im übrigen werden als „besondere" strafbare Handlungen Vergehen
von sehr verschiedener Art zusammengefasst. Erstlich können die eigentlichen
Polizeivergehen, Übertretungen von Präventivgesetzen angeführt werden.
In dieser Beziehung kommen namentlich die lokalen Polizei- und Gesundheits-
verordnungen, die Hafenreglements usw. in Betracht mit ihrer Menge von Be-
stimmungen über Verkehr, Ordnung, Reinlichkeit u. dergl. Die Grund-
lage der Polizeiverordnungen sind die Gesetze vom 11. Februar 1863 und vom
4. Februar 1871, in denen auch einzelne Regeln von allgemeinerem Interesse
enthalten sind.
Ausserdem finden sich in einer Reihe spezieller Gesetze Strafbestim-
mungen, die an eine für gewisse Verhältnisse normierte Ordnung (die den
eigentlichen Inhalt jener speziellen Gesetze ausmacht) als Ergänzung sich
anschliessen. Die meisten hierher gehörigen Bestimmungen sollen übrigens
unmittelbar auf vorbeugende Massregeln hinauslaufen, so die Gesetze über
das Gesundheits- und Polizeiwesen im weiteren Sinne, z. B. die verschiedenen
Gesetze, die Ausbreitung von Ansteckungen verhindern oder beseitigen wollen
(Gesetz vom 10. April 1874 über Massregeln, um der Ausbreitung ansteckender
Geschlechtskrankheiten vorzubeugen; G. vom 2. Juli 1880 über Massregeln
gegen die Einführung ansteckender Krankheiten in das Reich; G. vom 30. März
1892 über Massregeln gegen die Ausbreitung solcher Seuchen). — Mit fort-
schreitender EntWickelung ist man geneigt, immer mehr Gebiete unter Prä-
ventivmassregeln zu stellen, vergl. z. B. Gesetz vom 12. April 1889 über Mass-
regeln zur Vorbeugung von Unglücksfällen bei Maschinen; Gesetz vom 9. April
1891 über Untersuchung der Lebensmittel. Von einem präventiven Gesichts-
punkte müssen auch die verschiedenen Brandpolizeigesetze (2. März 1861,
15. Mai 1868, 21. März 1873 und einzelne spätere Zusätze) und zum Teil die
Baugesetze (12. April 1889 u. a.) betrachtet werden. Unter verschiedenen anderen
Bestimmungen, die jede in ihrer besonderen Richtung auf den Schutz der
§ 6. Die Straf drohungen ausserhalb des Strafgesetzbuches. 223
Gesamtheit ausgehen, können genannt werden: die Bestimmungen über die
Quacksalberei (G. vom 3. März 1854; vgl. G. vom 5. September 1794), ferner
das Gesetz vom 15. Mai 1875 über Fremdenpolizei usw. Verschiedene Polizei-
verordnungen gehen nicht sowohl auf Abwehr einer besonderen Gefahr aus,
als auf den Schutz des einzelnen unter gewöhnlichen Verhältnissen, z. B.
das allgemeine Gesetz über Mark- und Wegfrieden vom 25. März 1872 , vgl.
Gesetz vom 12. April 1889 über Strafe und Erstattung für den von Hunden
verursachten Schaden. Einzelne Polizeivorschriften beruhen wieder auf anderen
Rücksichten, so auf rein humanen das Gesetz vom 23. Mai 1873 über die
Fabrikarbeit von Kindern und jugendlichen Personen, auf religiösen das Gesetz
vom 1. April 1891 über die öflTentliche Ruhe an Feiertagen der Landeskirche.
Daneben giebt es eine Menge Gesetze, die innerhalb des ganzen allgemeinen
Erwerbslebens eine gewisse Ordnung festsetzen, jedes auf seinem speziellen
(tebiet, und die hieran Straf bestimmungen für die Übertretmig der festgesetzten
Ordnimg anknüpfen. Hier ist das Gesetz vom 29. Dezember 1857 über den Hand-
werks- und Fabriksbetrieb sowie über Handel und Gastwirtschaft zu erwähnen
(die Straf bestimmungen finden sich in Abschnitt VII) nebst den im Gesetz vom
23. Mai 1873 enthaltenen Abänderungen und Zusätzen. Femer das Gesetz vom
25. März 1892 über das Seefischereigewerbe. Auch finden sich über die Land-
wirtschaft zahlreiche Bestimmungen, die im allgemeinen Interesse verschiedene
Einschränkungen auferlegen, so hinsichtlich der Vertragsfreiheit bei Übertragung
von Land zum Anbau, hinsichtlich der Zerstückelungsfreiheit usw. Vom gleichen
Gesichtspunkte müssen auch die Schonzeitbestimmungen im Jagdgesetz vom
1. April 1871 und Fisch ereigesetz vom 5. April 1888 angesehen werden. Un-
mittelbar den Schutz der bestehenden Landwirtschaft haben solche Be-
stimmungen im Auge, wie die im Gesetz vom 1. April 1891 über die Fabrikation
der Margarine enthaltenen.
IV. Eine andere Reihe von Bestimmungen beabsichtigt den Schutz gegen-
über der Ausnutzung des Leichtsinns, der bedrängten Lage u. dergl. Indessen
hat das dänische Strafrecht keine den modernen Wuchergesetzen entsprechenden
Bestimmungen aufzuweisen,*) vielmehr begnügt es sich durchgehends mit dem
unter Umständen anwendbaren Betrugsparagraphen. Die älteren Be'stimmungen
über den Wucher haben, nachdem das Gesetz vom 6. April 1855 den früher
beschränkten Zinsfuss frei gegeben hat (ausgenommen für Darlehn gegen
Pfand in festes Eigentum), nur für diesen Ausnahmefall Bedeutung. Die
Strafe ist nach dem Gesetz von 1855 Einziehung des Kapitals und eine Geld-
strafe bis zum 24 fachen Betrage des ungesetzlichen gezogenen Vorteils. Der
Wucherbegriff setzt nämlich voraus, dass der ungesetzlich ausbedungene
Vorteil gezogen ist, sodass also der Versuch des Wuchers straflos ist. In
dieser Verbindung können auch die Strafbestimmungen angeführt werden für
Übertretung der Verordnungen, die für die Miete von Gesinden und Seeleuten
eingeführt sind (Gesetze vom 1. April 1891 und 12. April 1892) sowie für ver-
schiedene Beschäftigungen, deren Ausüber zum Publikum in seiner Allgemein-
heit in Beziehung treten oder ihm ihre Dienste darbieten; so das Gesetz vom
21. Juni 1867 über Pfandleiher und daran sich schliessende Regulative, die
Bestimmungen über die Auswanderungsagenten usw. im Gesetz vom 1. Mai 1868
mit einem späteren Zusätze vom 25. März 1872.
V. Die bisher genannten Bestimmungen betreffen Zuwiderhandlungen
gegen mehr oder minder allgemeine Anforderungen; daneben giebt es noch eine
Reihe Vergehungen, die die Gerechtsamen des Einzelnen, insbesondere soweit
^) Ein Gesetzentwurf dieser Art lag dem Reichstage im Jahre 1887 vor, ist aber
nicht Gesetz geworden.
224 Dänemark. — Nebenländer und Kolonieen.
sie an das Erwerbsleben anknüpfen, verletzen. Von Bedeutung sind hier die
Verletzungen des Urheberrechts (Verfasserrechts u.a.; Gesetze vom 29. De-
zember 1857, 31. März 1864 u.a.). Von anderen Gebieten ist zu nennen
der EingiiflF in die Patentrechte (vgl. die früher angeführte Gewerbeordnung
vom 29. Dezember 1857 §94), die Alleinberechtigung auf Warenzeichen (G. vom
2. Juli 1880), femer auf Jagd (G. vom 1. April 1871) und auf Fischerei (G. vom
5. April 1888).
VI. Diese Bestimmungen bilden einen Übergang zu der Gruppe von
Strafbestimmungen für die Pflichtverletzungen in besonderen Bechts Verhältnissen
der Bürger untereinander. Übrigens knüpft sich bei diesen Bestimmungen
das Hauptinteresse nicht an die strafrechtliche Seite, auf die es uns hier allein
ankommt. Von hierher gehörigen Gesetzen mag angeführt werden das Gesetz
vom 10. Mai 1854 mit Straf bestimmungen für die Übertretungen der Pflichten
im Gesindeverhältnis. Ähnliche Bestimmungen für das Lehrlingsver-
hältnis finden sich im Gesetz vom 30. März 1889. Mit Rücksicht auf die
Dienstverhältnisse zur See gilt das Seegesetz vom 1. April 1892. Auch für die
Übertretungen der Pflichten in besonderen öffentlich-rechtlichen Verhältnissen
findet sich eine Reihe Bestimmungen. Vom Militärstrafgesetzbuch, das an und
für sich hierher gehört, ist bereits gesprochen. Daneben können alle eigent-
lichen Amtsverbrechen genannt werden, von denen indessen das Straf-
gesetzbuch einen grossen Teil aufgenommen hat.^) Endlich können in dieser
Verbindung auch eine Reihe Disziplinarvergehen angeführt werden; soweit sie
Strafgefangene betreffen, sind die entsprechenden Straf bestimmungen bereits
früher genannt. Mit Rücksicht auf die der Fürsorge des Armenwesens unter-
worfenen Personen kommen die Bestimmungen im Armengesetz vom 9. April
1891 § 41 zur Anwendung.
n.
§ 7. NebenlBnder und Kolonieen.
Wie die dänischen Gesetze überhaupt für die FserOer gelten, insoweit
keine besondere Ausnahme gemacht ist, so finden auch durchgehends die Straf-
gesetze des Königreiches, darunter namentlich das allgemeine bürgerliche,
hier Anwendung. Island hat dagegen zu einem grossen Teil seine besondere
Gesetzgebung, aber ihre Bedeutung ist auf strafrechtlichem Gebiete im wesent-
lichen doch nur formell, indem das allgemeine bürgerliche Strafgesetzbuch
für Island vom 25. Juni 1869 in allen Hauptsachen vollkommen mit dem von 1866
übereinstimmt. Für Grönland, wo die besonderen Verhältnisse sowohl eine
Durchführung der Bestimmungen des allgemeinen Strafgesetzbuches, wie auch
eine in gewöhnlicher Weise geordnete Rechtspflege unmöglich machen, ent-
halten die vorläufigen Bestimmungen über die Vorsteherschaften in Grönland
vom 31. Januar 1872 neben den Regeln über die Rechtspfiege auch die für
die Eingeborenen geltenden Straf bestimmungen. Für die dänischen Besitzungen
in Westindien gilt noch das im Königreiche vor dem Strafgesetz von 1866
geltende Recht. Euer haben also die früher angeführten vier systematischen
Gesetze von 1833, 1840 imd 1841 noch praktische Bedeutung.
*) Das bereits im Grundgesetz angekündigte Gesetz über die Ministerveraut-
wortlichkeit ist niemals erlassen worden.
§ 8. Litteratur, Rechtsprechung, Gesetzsammlungen. 225
HL
§ 8. Litteratur, Rechtsprechung, Oesetzsammlungen.
I. Infolge des in allen wesentlichen Punkten bestimmenden Einflusses, den das
allgemeine bürgerliche Strafgesetzbuch auf das ganze dänische Strafrecht ausübt,
stehen auch in der strafrechtlichen Litteratur die an dieses Gesetzbuch sich an-
schliessenden Werke im Vordergrunde des Interesses. In ganz eigentlichem Sinne
ist das der Fall einerseits mit den bereits erwähnten Motiven zum Strafgesetzbuch,
andererseits mit einzelnen sogleich nach dem Zustandekommen des Gesetzes er-
schienenen Arbeiten, so namentlich E. Jürgensen, Anleitung zum Verständnisse der
Grundsätze des Strafgesetzbuches (Kopenhagen 1866), ferner Schi0rring, Beitrag zur
Erläuterung des neuen Strafgesetzbuches (Tidsskrift for Retsvaesen, Zeitschrift für
Rechtswesen, 1866), vgl. ferner verschiedene Abhandlungen in der Ugeskrift for Rets-
vaesen (Wochenschrift für Rechtswesen) 1867. Von weitaus grösserer Bedeutung ist
jedoch die geistvolle systematische Bearbeitung des dänischen Strafrechts, die wir der
Hand des gegenwärtigen Kultusministers Goos verdanken. Sie hat die Litteratur um
ein gewiss noch nicht vollendetes, aber in seinem architektonischen Aufbau muster-
haftes und in der Durchführung der Gedanken ebenso scharfsinniges wie gründliches
Werke bereichert. Bisher ist erschienen: I. Einleitung in das dänische Strafrecht
(Kopenhagen 1875), II. Über das Verbrechen (Kopenhagen 1878),*) sowie Vorlesungen
über des dänischen Strafrechts speziellen Teil (Kopenhagen 1887). Daneben hat Goos
im 5. Heft der nordischen Rechtsencyklopädie (1882) eine kürzer gefasste vergleichende
Darstellung des allgemeinen Teils der drei nordischen Strafrechte gegeben, die uns
als vorläufige Ergänzung von des Verfassers Hauptwerk auf den Gebieten dient, die
in jenem noch nicht ihre endgültige Bearbeitung gefunden haben. In seinen Vor-
lesungen über die allgemeine Kechtslehre (I. IL, 1885 — 1892) hat derselbe Verfasser
im Abschnitt über die Rechtsanwendung (Kap. 6) eine von seltener Klarheit und
Konsequenz zeugende Darstellung einiger Grundfragen des Strafrechts geliefert.
Endlich hat er auch in verschiedenen kleineren Arbeiten seine hervorragende krimi-
nalistische Begabung an den Tag gelegt, so besonders in einer vortrefflichen Abhand-
lung über die internationale kriminalistische Vereinigung (Tidsskrift for Fsengels-
v*sen, Zeitschrift für Gefängniswesen 1890), sowie er auch als Mitarbeiter, des
V. Holtzendorff-Jagemannschen Handbuches für Gefängniswesen, ferner durch Über-
sichten in ausländischen Fachblättern und auf andere Weise zu ausgebreiteter Kennt-
nis des dänischen Strafrechts beigetragen hat.
Von den Arbeiten anderer Verfasser sind einige grössere Monographieen zu
erwähnen, so Jul. Lassen, Voraussetzungen des strafbaren Versuches (Kopenhagen
1879); Gram, die strafrechtliche Bedeutung des Motivs (Kopenhagen 1889) und Schau,
Begründung und Zweck der Strafe (Kopenhagen 1889); femer mehrere kleinere
Abhandlungen, besonders von N. Lassen^) in den späteren Jahrgängen der Ugeskrift
for , Retsvaesen (Wochenschrift für Rechtswesen); sodann von gerichtsmedizinischer
Seite nicht wenige Arbeiten von Tryde,^) Pontoppidan*) u. a. In der seit 1888 er-
scheinenden Nordisk Tidsskrift for Retsvidenskab (Nordische Zeitschrift für Rechts-
wissenschaft) sind auch wertvolle strafrechtliche Arbeiten zu finden.
IL Bezüglich der Rechtsanwendung ist auf die Urteilssammlungen zu verweisen;
für die Zeit nach dem Strafgesetzbuch besonders auf die Ugeskrift for Retsvaesen
(seit 1867) und die H0iesteretstidende (Höchstegerichtszeitung , seit 1857). Eine nütz-
liche Anleitung enthält Ipsen und Scharling, Systematische Übersicht über die Urteile
^) Die Darstellung desselben ist jedoch im vorliegenden Band noch nicht zu
Ende geführt.
-) So: Über Urkundenfälschung. Über StGB. § 123 (Ugeskrift usw. 1879). Über
Erpressung (a. 0. 1883). Über nachfolgende Teilnahme (a. O. 1886) u. a.
^) Die Rechtsstellung des Geisteskranken (Kopenhagen 1865); die Zurechnungs-
fähigkeit vom Standpunkte des Gerichtsarztes (ebenda 1867). Über den sogenannten
moralischen Irrsinn (Zeitschrift für Gefängniswesen 1880), vgl. Lykke, Beitrag zur
Lehre von der Moral insanity (Kopenhagen 1879).
*) Die Anwendung der verminderten Zurechnungsfähigkeit (Ugeskrift usw. 1880).
Die Verwandtschaft zwischen Verbrechen und Geisteskrankheit (Nord. med. Arch.
1882). Die Grade der Zurechnungsfahigkeit (Schwed. Zeitschr. für Gesetzgebung
1882). Vier psychiatrische Vorträge (Kopenhagen 1891). Psychiatrische Vorlesungen
und Studien (Kopenhagen 1892) u. a.
8trafgj?setzgebung der Gegenwart. I. 1,5
226 Dänemark. — Litterat ur, Rechtsprechung, Gesetzsammlungen.
des Höchsten Gerichts in Strafsachen 1857—1874 (Kopenhagen 1876) und 1875—1884
(Kopenhagen 1885).
III. Auf dem Gebiet der Gefängnis Wissenschaft ist namentlich die tüchtige Arbeit
von F. Bruun hervorzuheben: Über die Vollstreckung der Strafarbeit (Kopenhagen
1867); femer mögen die offiziellen Berichte über den Zustand der Strafanstalten an-
geführt werden. In der seit 1878 erscheinenden Nordisk Tidsskrift for Fsengselsva^sen
(Nordische Zeitschrift für Gefängniswesen) haben die Interessen der Gefängniswisseu-
schaft ein eigenes Organ erhalten.
IV. Mit dem Strafgesetzbuch von 1866 hat indessen die ältere Litteratur keineswegs
alles Interesse verloren. Die Anwendung des geltenden Rechts selbst setzt beständige
wissenschaftliche Untersuchungen voraus, für die man sich nicht selten auch bei
älteren Schriftstellern mit Vorteil Rats erholen kann. Dies gilt besonders von 0rsted
und Bomemann, deren Arbeiten in der That einen Gedankenreichtum von bleibender
Bedeutung für alle Zeit in sich enthalten. Daneben haben Bomemanns Arbeiten die
fanz besondere Bedeutung, mehr als irgend etwas anderes zur Vorbereitung des
trafgesetzbuches von 1866 beigetragen zu haben. Seine „Vorlesungen über Straf-
recht" sind in Bd. 3 und 4 seiner nach seinem Tode herausgegebenen Gesammelten
Schriften erschienen. Von 0rsteds epochemachenden Arbeiten sind namentlich die
Einleitung in das dänische und norwegische Kriminalrecht (Archiv für Rechtswissen-
schaft, III— V, 1826—1828), sowie ausführliche Monographieen über fast alle wichtigeren
Verbrechensarten hervorzuheben. Auch mag an den von Howitz mit seiner Ab-
handlung: Über Wahnsinn und Zurechnung (Juristische Zeitschrift VIII, 1824) er-
öffneten Streit erinnert werden, an dem 0r8ted, Sibbem und Brandes teilnahmen. Von
jüngeren strafrechtlichen Schriftstellern, deren Arbeiten jedoch vor dem Strafgesetz-
buch liegen, ist zu nennen: Algreen-Ussing, Gasse, Schönberg, Nyholm u. a.*)
V. Über die verschiedenen Gesetzsammlungen sei noch bemerkt, dass seit 1871
eine offizielle Gesetzes- und Ministerial-Zeitung erscheint, während man für die Zeit
vor 1871 auf private Sammlungen angewiesen ist, von denen die von Schon be-
gonnene, von Ussing fortgesetzte die vollständigste und allgemein benutzte ist
(40 Bände, 1670—1870); sie wird übrigens beständig fortgesetzt. Daneben giebt es
eine kleinere Gesetzsammlung, herausgegeben von Klein, später ergänzt und fort-
gesetzt von Damkjaer und Kretz. Für detailliertere und speziellere administrative Be-
stimmxmgen kann auf die Reskriptsammlungen verwiesen werden (die grosse von
Fogtmann, fortgesetzt von Ussing; eine kleine in 2 Bänden von Linde, Schi0rring
und Ussing). Für die Zeit nach 1871 tritt im ganzen an deren Stelle die Ministerial-
tidende (Ministerialzeitung).
*) Erschöpfende Li tteraturan gaben findet man bei Aagesen, Verzeichnis der
Rechtssammlungen, Rechtslitteratur u. a. in Dänemark, Norwegen und Schweden
(Kopenhagen 1876), nebst späteren Zusätzen (nur für Dänemark) von Secher in
Ugeskrift for Retsvsesen 1884 und 1889.
2. Norwegen.
I. Allgemeiner Teil.
§ 1. Quellen.
Das noch geltende Hauptgesetz ist das allgemeine StG. von 1842,
welches wesentlich nach den Mustern deutscher StG. und namentlich des han-
noveranischen StG.-Entw. von 1826 ausgearbeitet worden ist. Es sind jedoch im
Laufe der Zeit in verschiedenen Teilen desselben bedeutende Änderungen vor-
genommen worden. Durch G. v. 1866 und 1874 wurde eine Reihe von Straf-
milderungen eingeführt, unter andern auch die unbedingte Androhung der
Todesstrafe prinzipiell aufgegeben, und neben dieselbe beinahe überall alter-
nativ lebenslängliche Strafarbeit gestellt. Noch viel durchgreifender sind
aber die in den Jahren 1889 und 1890 vorgenommenen Neuerungen, durch
welche die ganzen von Totschlag, Körperverletzung, Beleidigung, Betrug,
und Fälschung handelnden Kap. umgeschaflFen sind und auch diejenigen des
Diebstahls, des Raubes und der Freiheitsentziehung grössere Änderungen er-
fahren haben. Der allgemeine Teil des StG. v. 1842 ist dagegen noch in allen
seinen Hauptzügen gültig und insbesondere ist das Strafensystem noch das-
selbe, obwohl, was den Strafvollzug betriflFt, durch eine Reihe von Massregeln,
namentlich durch die Schaffung neuer, guter Gefängnisse, viele Besserungen
errungen sind, unter denen vor allem die Durchführung der Einzelhaft beinahe
aller zu weniger als dreijähriger Freiheitsstrafe Verurteilten erwähnt werden
muss. Es wird aber jetzt ein Entw. eines ganz neuen allgemeinen StG. von
einer Kommission ausgearbeitet, durch welchen auch die Prinzipien des all-
gemeinen Teiles einer durchgehenden Revision unterzogen werden sollen.
Neben dem allgemeinen StG. bestehen noch verschiedene andere G.,
die für das StR. von grosser Bedeutung sind, und zwar: 1. das Mil.-StGB. v.
23. März 1866; 2. das Seegesetz v. 24. März 1860, dessen Kap. 10 vonVerbr.
in Dienstverhältnissen zur See handelt; 3. das G. die Verantwortlichkeit der
Minister betr. v. 7. Juli 1828; 4. das Zollgesetz v. 20. September 1845, Kap. 8.
Dagegen besitzt Norwegen kein allgemeines Polizei-StGB. Die grosse
Zahl von Strafbestimmungen polizeilicher Art, die natürlich hier wie anderswo
vorhanden sind, finden sich teils in den verschiedenen G. zerstreut, welche
die betreffenden Materien behandeln, so in Steuer-, Gewerbe-, Patent-, Fischerei-,
Branntwein-, Bau-, Brau- und Postgesetzen, im G. betr. das Urheberrecht, im
G. betr. die Schonzeit des Wildes, in der StPO., in Gesinde-Ordnungen usw.;
teils in alten Polizei -Vdgn. einzelner Städte oder in örtlichen Statuten, die
von den verschiedenen Gemeindevertretungen angenommen und vom König
bestätigt sind.
15*
•
228 Norwegen. — Allgemeiner Teil.
Was die Bettelei und das Vagabundentum betrifft, so finden sich die sich
darauf beziehenden Bestimmungen in den Armengesetzen. Einige Vorschriften
eigentlich polizeilicher Natur enthält auch das allgemeine StG. selbst, während
auf der anderen Seite auch Strafdrohungen existieren, die richtiger im all-
gemeinen StG. ihren Platz hätten, die aber in besonderen Gesetzen gegeben
sind. So enthält z. B. das G. v. 1854, den Eisenbahnbetrieb betr., die Straf-
bestimmungen wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Zerstörung oder Gefähr-
dung der Eisenbahnen. Von strafbarem Wucher handelt ein besonderes G.
vom 29. Juni 1888.
Durch § 96 der norwegischen Verfassung ist der Satz : Nulla poena sine
lege gewährleistet. Zwar hat sich die Praxis nicht immer der analogen An-
wendung der Strafbestimmungen enthalten. Dadurch ist Indessen eine Ver-
fassungsbestimmung unzweifelhaften Inhaltes nicht aufgehoben.
§ 2. Litteratur.
Lasson, Haandbog i Kriminalretten (Handbuch des StR.) I. bis IIT. Bd., 1848 bis
1851 nebst Supplement 1858 und Sämling af Bidrag til Strafferetten (Sammlung von
strafrechtlichen Beiträgen) 1871 — 1872. — Schweigaard, Kommentar over den norske
Kriminallov (Kommentar des norwegischen Strafgesetzes) I., II. Bd., 1. Ausg. 1844 bis
1846, 3. 1882. — Getz, Om den saakaldte Delagtighed i Forbrydelser (Von der so-
fenannten Teilnahme an Verbr.) in Norsk Retstidende 1876, S. 1 — 64. — Bachke, Om
orbrydelsers Sammenstöd (Von der Verbrechensmehrheit) in „Ugeskrift for Lovkvn-
dighed" 1862/63. — Hagerup, Om Formuesindgreb og Dokumentforbrydelser (von
Eigentumsverbrechen und Urkundenfälschung) in „Norsk Retstidende" 1891. — Brandt,
ForelaBsninger over den Norske Retshistorie (Vorlesungen über die norwegische Rechts-
geschichte II, 4. Abschnitt, Verbr. und Strafen) 1883. — Getz, Udkast til Den alm.
borgerlige Strafelovs, forste Del (Entwurf des allgemeinen Teils des allgemeinen bür-
gerlichen Strafgesetzes) nebst Motiven 1887. — Getz, Udkast til Lov om sapdelig for-
komne og van, vyrdede Borns Behandling (Entwurf eines Gesetzes über die Behand-
lung sittlich verwahrloster und gemisshandelter Kinder) nebst Motiven 1892, — v. Liszt,
Kritik af det norske Strafflovudkast (Kritik des norwegischen StG.-Entw.) in „Tidsskrift
for Retsvidenskaben" 1889. „Forslag til Lov indeholdende Forandringer i Lov ang.
Forbrvdelser af 20 Aug. 1842 med Motiver*", von der Straf gesetzkommission ausge-
arbeitet, 1888.
Gesetzesausgaben: Mejlaender, Den norske StraflPlov (Das norwegische StG.) etc.
1889. — Faerden, Lov af 28. juli 1890 indeholdende Forandringer i Lov om Forbry-
delser etc. 1890.
Die bedeutenderen strafrechtlichen Entscheidungen des norwegischen Höchsten
Gerichtes sind in „Norsk Retstidende** aufgenommen. Es fehlt dagegen leider, nach-
dem i. J. 1890 die Schwurgerichte eingeführt wurden, noch eine Veröffentlichung der
interessanteren, vor diesen stattgefundenen Verhandlungen.
§ 3. Herrschaftsgebiet des norw. StR.
Das norw. StR. findet Anwendung auf alle auf norw. Territorium
(darunter auf norw. Schiffen) vorgenommenen Handlungen, insofern dem Han-
delnden nicht des Recht der Exterritorialität gebührt. Wegen im Auslande
vorgenommener Handlungen findet es Anwendung, wenn entweder der Thäter
ein Norweger ist oder wenn durch sie der norw. Staat oder ein Norweger
verletzt worden ist und der König die Verfolgung beschliesst. Hierbei muss
bemerkt werden, dass jedoch vielen Strafbestimmungen ein so weiter Wirkungs-
kreis nicht beigelegt werden kann, weil sie überhaupt nur für das norw. Terri-
torium gegeben sind, so die meisten Polizeiverbote. Auch wird in vielen Fällen
eine im Auslande vorgenommene Handlung deswegen nach norw. Rechte nicht
als ein Verbr. angesehen werden können, weil sie nach den G. des Handlungs-
ortes überhaupt keine Rechtswidrigkeit enthält. Wie weit aber dieser Gesichts-
punkt entscheidend ist, unterliegt grossen Zweifeln; und gewiss ist auf der
anderen Seite, dass, wenn Strafe überhaupt angewendet werden kann, das
§ 4. Das Strafensystem. 229
norw. StG. durchaus zur Anwendung kommt, ohne jegliche Rücksicht darauf,
ob etwa nach dem StG. des Ortes die Strafe gelinder oder vielleicht verjährt
oder aus anderen Gründen weggefallen ist. Eine erfolgte ausländische Be-
strafung schliesst jedoch die nochmalige inländische Verfolgung unbedingt aus.
§ 4. Das Strafensystem.
Die Todesstrafe steht noch im GB., ist aber in den letzten 16 Jahren
nicht zur Anwendung gekommen. Die Vollstreckung geschieht durch Intra-
muran-Hinrichtung.
Von den Freiheitsstrafen kennt das G. zwei Hauptarten: Strafarbeit
und Gefängnisstrafe.
Die Dauer der Strafarbeit ist entweder lebenslänglich oder von 6 Mo-
naten bis zu 15 (ausnahmsweise 18) Jahren. Männer zwischen 18 und 50 Jahren,
die zu höchstens dreyähriger Strafarbeit verurteilt und nicht auf derselben
Weise nach ihrem 25. Jahre vorbestraft sind, verbüssen die Strafe in Einzelhaft.
Alle Weiber und die übrigen zu Strafarbeit verurteilten Männer kommen in
Gemeinschaftshaft, doch mit Absonderung während der Nacht.
Die Gefängnisstrafe ist entweder Gef. mit Wasser und Brot von 4 bis
zu 30 Tagen oder mit gewöhnlicher Gefängniskost von 16 bis zu 120 Tagen
oder sog. Arrest, d. h. einfache Freiheitsentziehung von 32 bis zu 240 Tagen.
Arbeitszwang findet in keinem Falle statt; es soll aber, soweit möglich, den
Gefangenen Gelegenheit gegeben werden, sich zu beschäftigen.
Die Geldstrafe kann nach dem StG. von 8 Kronen bis zu 800 Kronen
bemessen werden, nach anderen Gesetzen teilweise auch niedriger und höher.
Bei der Feststellung des Betrages soll auf die Vermögensverhältnisse des Schuldigen
Rücksicht genommen werden, eine Vorschrift, die aber des engen gesetzlichen
Strafmasses wegen nur unvollkommen durchgeführt werden kann. In den
Spezialgesetzen giebt es auch viele Fälle, wo der Betrag entweder absolut
oder im Verhältnis zum Entwendeten oder in ähnlicher Weise bestimmt ist.
Statt der Geldstrafe tritt, wenn der Verurteilte nicht bezahlt und sie nicht
ohne seine Verarmung eingetrieben werden kann, Gef. bis zu denselben Zeit-
grenzen ein, welche für die Gefängnisstrafe selbst gelten.
Die Geldstrafe ist für die Polizeiübertretungen fast die einzige und folglich
die allergewöhnlichste Strafe, wobei jedoch zu bemerken ist, dass sie ungefähr
eben so oft in Gefängnisstrafe umgewandelt werden muss, wie sie durch Ent-
richtung des festgesetzten Betrages abgemacht wird. Für die kleineren der
eigentlichen Verbr. (Verg. im Sinne des deutschen StG.) ist Gef. mit Wasser
und Brot die häufigste Strafe, so z. B. für den einfachen Diebstahl. Die Arrest-
strafe wird dagegen beinahe nie angewendet, und das Gef. mit gewöhnlicher
Gefängniskost im allgemeinen nur gegen jugendliche und andere Personen,
welche die Kostschmälerung nicht ohne Gefahr ertragen können, verhängt.
Eine besondere Strafe für öffentliche Beamte ist die Dienstentlassung,
mit welcher die Erklärung der Unwürdigkeit, in Zukunft ein öffentliches Amt
zu bekleiden, verbunden werden kann. Diese Strafart kommt nicht nur wegen
Dienstvergehen zur Anwendung, sondern vertritt auch bei den gewöhnlichen
Strafthaten oft die Geld- oder die Gefängnisstrafe.
Kinder unter 10 Jahren können nicht bestraft werden. Knaben zwischen
10 und 15 Jahren werden gewöhnlich mit Rutenstreichen oder mit Gef. von
8 bis zu 60 Tagen gestraft. Wegen der schwersten Verbr. kann auch Straf-
arbeit bis zu 9 Jahren angewendet werden. In leichteren Fällen kann an
Stelle der körperlichen Züchtigung oder der Gefängnisstrafe ein Verweis treten.
Auch kann der Richter statt derselben Strafen die Unterbringung in eine
230 Norwegen. — Allgemeiner Teil.
Zwangserziehuiigsanstalt anordnen, wo der Knabe bis zum 18. Lebensjahre
behalten werden kann. Voraussetzung aller dieser Massregeln ist immer, dass
mit Unterscheidungsvermögen gehandelt worden ist. Im entgegengesetzten
Falle kann das Gericht weder Strafe verhängen, noch Zwangserziehung vor-
schreiben ; es kann aber die Schulbehörde und die Armenverwaltung in vielen
Fällen sowohl für die Erziehung dieser wie der sonstigen verwalirlosten Jugend
Sorge tragen. Gegen Mädchen kann nur dann körperliche Züchtigung An-
wendung finden, wenn sie noch nicht das zwölfte Lebensjahr zurückgelegt
haben. Sonst ^t für sie nach dem G. dasselbe wie für die Knaben. In
Wirklichkeit wird indessen die Rute beinahe nie gegen Mädchen angewendet
und ihre Unterbringung in Erziehungsanstalten verbietet sich von selbst, weil
es keine Anstalten giebt, welche Mädchen aufnehmen.
Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren können nicht zur Todesstrafe ver-
urteilt werden, und es finden auch sonst für sie einige Strafermässigungen statt.
Im Entw. des neuen StG. sind in Beziehung auf die jugendlichen Verbrecher
durchgreifende Änderungen vorgeschlagen. Wie in Schweden und Finnland
soll die Altersgrenze der Strafunmündigkeit regelmässig bis zum 15. Jahre
zurückgeschoben und die Strafe, was die jüngeren betriffst, durch Erziehungs-
massregeln ersetzt werden.
Eine besondere Strafart für Bettelei ist die Zwangsarbeit, die in diesem
Falle von 2 Monaten bis zu 1 Jahre verhängt werden kann. Sonst konmit die-
selbe nicht als Strafe, sondern als Polizeimassregel gegen Vagabunden und
Müssiggänger zui* Anwendung. Zwangsarbeitsanstalten sind aber bisher nicht
vom Staate errichtet worden, sondern es ist den Gemeinden anheimgestellt,
solche zu schaffen. Wo keine vorhanden sind, tritt Gefängnisstrafe an Stelle
der Zwangsarbeit.
Auch die Einziehung besteht teils als Strafe, teils als Sicherheitsmass-
regel. Alles was durch eine strafbare Handlung erworben ist, sowie alles,
was zu einer solchen bestimmt gewesen ist, kann eingezogen werden.
Die Polizeiaufsicht ist in Norwegen unbekannt. Der Verlust der
staatsbürgerlichen Rechte ist nicht Strafe, sondern eine ipso jure ein-
tretende Folge der meisten Verbr., gegen die jedoch nach einiger Zeit reha-
bilitiert werden kann.
Das G. betr. die Verantwortlichkeit der Minister kennt eine besondere
Art Gefängnisstrafe, die Festungshaft; und verschiedene besondere Arten,
die jedoch hier nicht näher erwähnt werden können, kommen auch nach dem
Mil.-StGB. zur Anwendung.
Was die Strafzumessung betrifft, so hat das Gericht im allgemeinen
eine grosse Freiheit. Die Entwickelung hat entschieden die Richtung ver-
folgt, das Strafmass mehr und mehr zu erweitern, und es ist jetzt Qichts
Ungewöhnliches, dass das Gericht die Wahl hat zwischen Geldstrafe, die mit
8 Kronen anfängt, Gef. und Strafarbeit bis zu 3 Jahren, oder zwischen Straf-
arbeit vom 6 Monaten und von 9, ja 12 Jahren. Regel ist es aber, dass die
Strafen nicht hoch bemessen werden, sondern sich viel näher dem Mindest-
ais dem Höchstmasse halten. Sind in dem Gesetzesparagraphen nur zwei
Strafarten genannt, so ist der Richter insofern gebunden, als er, wenn nicht
besondere Umstände vorhanden sind, die erstgenannte Strafart zu wählen hat.
§ 5. Versuch, Teilnahme, Wegfall der Strafe, Antrag.
Der Versuch eines Verbr. ist in der Regel strafbar, soll aber gelinder
gestraft werden als das vollendete Verbr. selbst.
Bezüglich der Teilnahme ist das System des G. dasselbe wie das-
§ 5. Versuch, Teilnahme, Wegfall der Strafe, Antrag. 231
jenige der meisten deutschen G. Der Anstifter wird gestraft wie der Thäter
selbst. Derjenige, der Beihülfe vor der That geleistet hat, kann auch wie der
Thäter gestraft werden, es kann aber auch seine Strafe viel milder bemessen
werden. Eltern und andere Vorgesetzte, die unter ihi*er Aufsicht stehende
Personen nicht, wenn möglich, von der Begehung strafbarer Handlungen ab-
gehalten haben, können auch bestraft werden. Hehlerei und Begünstigung
werden als nachfolgende Beihülfe aufgefasst. Für die nächsten Angehörigen
des Schuldigen ist die Förderung seiner Entweichung nicht strafbar. Auch
können die Mitglieder seiner Familie nicht zur Verantwortung gezogen werden,
weil unentbelu'liche Gegenstände, die sie von ihm erhalten haben, durch
strafbare Handlungen erworben worden sind.
Das Vorhandensein eines Notstandes, der von Strafe befreit, erkennt
das G. ausdrücklich nur dann an, wenn es notwendig ist, einem anderen Ver-
mögensschaden zuzufügen, um des Thäters oder eines anderen Leben oder
Gesundheit aus einer gegenwärtigen Gefahr zu retten. Sonst wird der im
Notstande handelnde nur wegen Unzurechnungsfähigkeit Straffreiheit bean-
spruchen können. Dagegen hat das Recht der Notwehr vor dem norw. G.
unbedingte Anerkennung gefunden. Freilich haben sich in der gerichtlichen
Praxis Bestrebungen bemerkbar gemacht, dies Recht einzuengen; den bestimmten
Ausdrücken des G. gegenüber kann jedoch diesen Versuchen einer einengenden
Auslegung keine Bedeutung beigemessen werden. Sind die Grenzen der
rechten Notwehr überschritten, so kann von Strafe abgesehen werden, wenn
der Thäter in Bestürzung gehandelt hat. Darf nach dem Ermessen des Ge-
richtes Straffreiheit nicht eintreten, so kann doch dieser Umstand bewirken,
dass die Handlung nur als fahrlässig zugerechnet wird.
Das Institut der Verjährung hat in dem geltenden norw. Rechte keine
durchgängige Aufnahme gefunden. Die Verfolgung von Verbr., die nur mit
Gef. oder einer noch niedrigeren Strafe bedroht sind, verjährt in zwei Jahren.
Kann Strafarbeit bis zu 3 Jahren alternativ mit Gef. angewendet werden, so
verjährt die Verfolgung, wenn 5 Jahre abgelaufen sind. Hat der Schuldige
abermals ein ebenso grosses Verbr. begangen, so wird im letzten Falle die
Verjährung dadurch unterbrochen, ja selbst eine vollendete Verjährung wieder
aufgehoben. Hat sich der Schuldige durch eine unerlaubte Handlung der
Verfolgung entzogen, so findet nur ausnahmsweise Verjährung statt und die
Frist derselben beträgt dann 10 Jahre. Ist auf Gefängnisstrafe, Geldstrafe, Rute
oder Einziehung erkannt, die Strafe aber nicht vollstreckt, so wird auch die
Vollstreckung nach 10 Jahren durch Verjährung ausgeschlossen. Die Press-
vergehen verjähren in einem Jahre nach der VeröflTentlichung, die kleineren,
rein militärischen ebenso in einem Jahre, und nach anderen Spezialgesetzen
verjähren verschiedene Übertretungen in noch kürzerer Zeit. Sonst ist sowohl
die Verfolgung wie die Strafe unverjährbar. Es ist aber der Staatsanwalt-
schaft eine diskretionäre Befugnis gegeben, die Verfolgung zu unterlassen,
wenn entweder eine sehr lange Zeit verflossen ist oder andere besondere Gründe
dafür sprechen. Gegen Ejnder braucht überhaupt Verfolgung wegen kleinerer
Verbr. nicht einzutreten, wenn Unterbringung in eine Anstalt oder eine ge-
eignete Familie administrativ erfolgen kann.
Gegen alle Strafen kann der König Begnadigung erteilen.
In vielen Fällen hängt die öffentliche Verfolgung von der Stellung eines
Antrages seitens des Verletzten ab. So bei Beleidigungen, leichteren Körper-
verletzungen, Betrug, Unterschlagung, Diebstahl unter nahen Angehörigen,
Freiheitsentziehungen, Notzucht und damit verwandten Verbr. Einige straf-
bare Handlungen sind auch überhaupt nicht Gegenstand öffentlicher Verfolgung.
So z. B. die unerlaubte Selbsthülfe, einfache Beleidigungen und beleidigende
232 Norwegen. — Besonderer Teil.
Behauptungen, die nicht wieder besseres Wissen geschehen sind, und ver-
schiedene unerlaubte Benutzungen der Sachen anderer. Sowohl das Recht
den Antrag zu stellen, wie das Recht selbst zu verfolgen, verjährt in einem
Jahre, nachdem der Verletzte von der strafbaren Handlung Kenntnis erlangt
hat. Ein gestellter Antrag kann gültig wieder zurückgenommen werden, wenn
der Schuldige noch nicht in Anklagestand versetzt ist. Dagegen kann der
Antrag nicht in der Art geteilt werden, dass er gegen einige der Schuldigen
mit Ausschliessung anderer gerichtet wird. Auf das Recht, den Antrag zu
stellen, kann gültig verzichtet werden.
§ 6. PressdeUkte.
Besondere Pressdelikte kennt das norw. Recht beinahe gamicht. Was
sonst öffentlich gethan oder gesagt werden darf, ist auch in einer Druckschrift
erlaubt. Dagegen hat die Benutzung des Druckes eine andere, sehr weitgehende
Folge, was die Verantwortlichkeit für die auf solchem Wege begangenen Verbr.
betrifft. Der Regel nach haftet nämlich nur der Verfasser, und selbst der
Redakteur einer Zeitung kann ^nicht wegen der durch diese begangene Be-
leidigungen , Sittlichkeitsverbrechen , Aufforderungen zum Hochverrat usw.
gestraft werden, wenn bewiesen werden kann, dass der strafbare Inhalt
von einem andern heiTührt. Kann dies dagegen nicht bewiesen oder doch
dem Verfasser die volle Verantwortlichkeit nicht zugemutet werden, so haftet
in erster Reihe der Herausgeber oder Verleger, dann der Drucker und
zuletzt der Verbreiter, als ob sie die Verfasser wären. Nachdem gericht-
liche Verfolgung eingeleitet ist, kommen einem jeden gegenüber, der sich
weiterhin mit der Verbreitung der Druckschrift befasst, die allgemeinen Regeln
zur Anwendung. Ebenso ist z. B. der Redakteur verantwortlich, wenn er nicht
allein Herausgeber ist, sondern auch zur Abfassung des strafbaren Inhaltes
angestiftet hat.
n. Besonderer Teil.
§ 7. Die einzelnen strafbaren Handinngen.
Die einzelnen Verbr. werden in dem allgemeinen StG. in 17 Kap. be-
handelt. Im folgenden wird die Ordnung des G. im wesentlichen bewahrt,
und nur insoweit sollen einige Änderungen vorgenommen werden, als dies not-
wendig erscheint, um das Zusammengehörige nicht zu trennen. Natürlich können
hier nicht alle Strafbestimmungen des StG. besprochen werden. Andererseits
befinden sich auch ausserhalb dieses G. einige wichtige Bestimmungen oder
Gruppen von Bestimmungen, die deswegen in der Darstellung am geeigneten
Orte erwähnt werden müssen.
I. Verbr. gegen den Staat und die Staatsgewalt. Hochverrat
gegen die vereinigten Königreiche wird mit Todesstrafe oder Strafarbeit von
mindestens 12 Jahren bestraft. Ein norwegischer oder schwedischer Unterthan,
der einen Ejrieg gegen die vereinigten Königreiche vorsätzlich verursacht, oder
selbst Waffen gegen sie trägt oder dem Feinde Hülfe leistet, wird mit Todes-
strafe oder lebenslänglicher Strafarbeit bestraft. Ebenso wird ein jeder be-
straft, der dem Feind die Dienste eines Spions leistet. Andere Untreue gegen
den Staat oder Offenbarung wichtiger Staatsgeheimnisse kann mit Strafarbeit
bis auf Lebenszeit bestraft werden.
Jede Gewaltthätigkeit gegen den König ist mit lebenslänglicher Straf-
§ 7. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 233
arbeit oder Todesstrafe bedroht. Beleidigungen gegen ihn, die Königin und
den Kronprinzen werden mit Gef. oder Strafarbeit bis zu 3 Jahren bestraft.
Vernachlässigung der der königlichen Familie schuldigen Ehrerbietung ist mit
Gef. oder Geldstrafe bedroht. Gewalt gegen das Storthing, den Staatsrat und
das höchste Gericht wird wenigstens mit Strafarbeit von 9 Jahren bestraft,
Drohung gegen dieselben mit Strafarbeit von 3 bis 6 Jahren. Wer in einer
Druckschrift vorsätzlich und offenbar dem Königtum» der Volksvertretung oder
dem höchsten Gerichte Geringschätzung bezeigt, wird mit Gef. oder Geldstrafe
geahndet.
Gewalt gegen einen Beamten, um ihn zur Vornahme oder Unterlassung
einer Amtshandlung zu zwingen, kann mit Gef. oder Strafarbeit bis zu 3 Jahren
bestraft werden; ebenso gewaltsame Widerspenstigkeit. Doch kann Geldstrafe
in minder schweren Fällen und besonders, wenn der Beamte durch unrichtiges
Auftreten selbst zu dem Verg. Anlass gegeben hat, angewendet werden. Mit
Geldstrafe oder Gef. wird derjenige bestraft, der einem Beamten seine Beihtilfe
weigert, wenn gegen ihn Gewalt verübt wird und die Hülfe ohne Gefahr für
Leib und Leben hätte geleistet werden können.
Wenn sich eine Menschenmenge öffentlich zusammenrottet, um mit ver-
einigten Kräften gegen die öffentliche Gewalt oder gegen Personen oder Sachen
Verbr. zu begehen, so werden die Anstifter und Rädelsführer mit Gef. oder Straf-
arbeit bis zu 3 Jahren gestraft, die anderen dagegen straflos gelassen, wenn
sie auf Aufforderung des zuständigen Beamten sich ruhig entfernen. Im ent-
gegengesetzten Falle werden die ersten mit Strafarbeit bis zu 6 Jahren, die
letzten mit Gef. oder Strafarbeit bis zu 3 Jahren bestraft. Finden Gewalt-
thätigkeiten statt, so kann die Strafe bis zu 9 Jahren und, wenn Raub oder
Totschlag verübt worden ist, bis zur Todesstrafe erhöht werden.
Wer bei öffentlichen Wahlen seine Stimme verkauft oder Stimmen kauft
oder durch Drohungen und dergl. sich Einfluss zu verschaffen sucht oder sich
selbst seine Stimme giebt, wird mit Geldstrafe oder Gef. gestraft.
Wer einen Gefangenen rechtswidrig befreit, kann mit Gef. oder Straf-
arbeit bis zu 3 Jahren bestraft werden. Wer sonst einen Schuldigen der Strafe
zu entziehen sucht, wird mit Geldstrafe oder Gef., ganz ausnahmsweise mit
Strafarbeit, gestraft. Die nächsten Angehörigen sind im letzeren Falle straffrei.
Die unterlassene Anzeige drohender Verbr., von welchen man Kenntnis
erlangt hat, ist mit Geldstrafe oder Gef. zu strafen, wenn es sich um Hoch-
verrat, Landesverrat, Totschlag oder Brandstiftung handelt, und wenn die
Anzeige hätte geschehen können, ohne einen nahen Angehörigen der Verfolgung
auszusetzen.
Die Aufforderung zum Ungehorsam gegen die G. ist, wenn sie nicht den /
Charakter einer Anstiftung trägt, im allgemeinen nicht strafbar. Ausnahme
ündet statt, wenn sie erfolgt in einer Versammlung, in welcher das G. kund-
gemacht wird, wenn zum Hochverrat, Landesverrat oder Aufruhr öffentlich
aufgefordert wird oder wenn die Aufforderung selbst als ein Verbr. gegen die
Sittlichkeit angesehen werden kann.
Die Selbsthülfe ist in der Regel strafbar. Die Strafe ist jedoch nur Geld-
strafe und die Verfolgung ist dem Verletzten überlassen.
Die Teilnahme an geheimen Gesellschaften oder Vereinen mit gesetz-
widrigen Zwecken, sowie die Anreizung der verschiedenen Klassen der
Bevölkerung gegen einander und die Angriffe gegen die obrigkeitlichen Anord-
nungen und dergl. mittelst Behauptung erdichteter oder entstellter Thatsachen
sind nicht strafbar.
II. Urkundenfälschung. Wer in rechtswidriger Absicht eine falsche oder
verfälschte Privaturkunde als echt und unverfälscht benutzt, wird mit Gef.
234 Norwegen. — Besonderer Teil.
oder Strafarbeit bis zu 6 Jahren, oder wenn in gewinnsüchtiger Absicht
gehandelt ist, bis zu 9 Jahren bestraft. Die Verfertigung einer falschen oder die
Verfälschung einer echten Urkunde in rechtswidriger Absicht ist, auch wenn
noch keine Benutzung versucht worden ist, mit Strafe belegt. Als Urkunde
wird jeder Gegenstand angesehen, der als dazu bestimmt hervortritt, zum
Beweis für Rechtsverhältnisse oder für Umstände von rechtlicher Bedeutung zu
dienen. Als falsch wird auch die Urkunde angesehen, welche im Namen einer
fingierten Person ausgestellt ist. Ebenso die von einem Unberechtigten aus-
gefüllten Blankette. Wer in rechtswidriger Absicht seine Unterschrift leugnet
oder Urkunden vernichtet, wer ein zur Bezeichnung einer Grenze oder dergl.
bestimmtes Merkmal wegnimmt oder fälschlich setzt, wird mit Gef. oder Straf-
arbeit bis zu 6 Jahren bestraft. Die eines Vorteils wegen abgegebene lügen-
hafte schriftliche Bescheinigung ist strafbar. Ebenso die Benutzung einer für
eine andere Person ausgestellte Bescheinigung. Wer bewirkt, dass in öffentliche
Urkunden oder Bücher, die dazu bestimmt sind Beweis abzugeben, falsche
Bekundungen aufgenommen werden, oder sich solcher bedient, wird mit Geld-
strafe, Gef. oder Strafarbeit bis zu 6 Jahren gestraft. Die Verfälschung oder
falsche Ausfertigung öffentlicher Urkunden kann nach den Umständen mit
Strafarbeit bis zu 12 Jahren gestraft werden. Ob die Urkunde eine inländische
oder ausländische ist, macht keinen Unterschied.
Münzverbrechen können mit Strafarbeit bis zu 15 Jahren bestraft
werden; auch hier wird zwischen In- und Ausland nicht unterschieden. Die
unberechtigte Herstellung von Stempeln, Formen und dergl. Mitteln zur Ver-
fertigung falscher Urkunden, Münzen oder geldvertretenden Wertzeichen ist;
auch wenn keine verbrecherische Absicht damit verbunden war, mit Strafe
bedroht.
III. Falsche Anzeige gegen besseres Wissen wird mit Gef. oder Straf-
arbeit bis zu 6 Jahren bestraft. Ist auf Grund der Anzeige eine Verurteilung
wegen eines schwereren Verbr. erfolgt, so kann die Strafarbeit bis zu lebens-
länglicher Freiheitsstrafe erhöht werden. Ebenso zu strafen ist derjenige,
welcher auf irgend eine Weise zu bewirken versucht, dass ein Unschuldiger
verurteilt wird. Aus grober Fahrlässigkeit erfolgte unrichtige Anzeige kann
mit Geldstrafe oder Gef. geahndet werden.
Das Verbr. des Meineides wird mit Straf arbeit von 6 Monaten bis zu
12 Jahren bestraft. Wenn der Meineid abgelegt ist, um die Veiiirteilung eines
Unschuldigen zu bewirken, so kann auf geringere Strafe als dreyährige Straf-
arbeit nicht erkannt werden; die höchste Strafe ist lebenslängliche Strafarbeit
oder, wenn infolge des Meineides Todesstrafe vollzogen worden ist, dieselbe
Strafe. Die höchste Strafe ist Strafarbeit von 3 Jahren, wenn der Schuldige
seine Aussage zurückgenommen hat, ehe eine Verfolgung gegen ihn eingeleitet
und ehe ein Schaden angerichtet worden ist, oder wenn der Meineid deswegen
abgelegt worden ist, um eine Anklage gegen sich selbst oder einen der näch-
sten Angehörigen zu vermeiden.
Fahrlässiger Meineid wird mit Gef. oder Geldstrafe bestraft. Auch die
falsche unbeeidigte Aussage ist strafbar, wenn sie vor einem Gerichte oder einem
Notar, oder in Fällen, wo der Schuldige verpflichtet war sich zu erklären, vor
einer anderen Behörde abgegeben worden ist. Wird die Aussage rechtzeitig
zurückgenonmien oder ist sie geschehen, um eine Anzeige gegen sich selbst
oder einen nahen Angehörigen zu vermeiden, so tritt Straflosigkeit ein.
IV. Verbr. gegen das Leben. Der Totschlag wird mit Strafarbeit
von 9 Jahren bis zu lebenslänglicher Strafarbeit bestraft. Der überlegte Tot-
schlag wird als Mord mit lebenslänglicher Strafarbeit oder Todesstrafe bestraft.
Die Anstiftung sowie die Beihülfe zum Selbstmord ist ebensowenig strafbar
§ 7. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 235
wie der Selbstmord selbst. Der Totschlag aus Mitleid oder auf Verlangen wird
ganz wie ein anderer Totschlag bestraft. Über das Duell enthält jetzt das
StGB, keine besonderen Bestimmungen. Die Mutter, die während der Geburt
oder binnen 24 Stunden nachher ihr uneheliches Kind tötet, wird mit Straf-
arbeit von 3 bis zu 9 Jahren, im Rückfalle mit Strafarbeit bis zu 15 Jahren
bestraft. Hat die Mutter eines unehelichen Kindes sich vorsätzlich bei der
Niederkunft in eine hülflose Lage versetzt, oder hat sie es unterlassen
die nötige Hülfe herbeizurufen, so wird sie, wenn das Kind tot ist und eine
andere Todesursache nicht bewiesen werden kann, mit Gef. oder Strafarbeit
bis zu 6 Jahren bestraft.*) Die fahrlässige Tötung wird mit Gef. oder Straf-
arbeit bis zu 3 Jahren bestraft.
Die Schwangere, die ihre Leibesfrucht abtreibt, wird mit Gef. oder Straf-
arbeit bis zu 6 Jahren gestraft. Wer sich mit Einwilligung der Schwangeren
der Abtreibung schuldig macht, wird mit Strafarbeit bis zu 6 Jahren, und
wenn er ohne ihre Einwilligung gehandelt hat, mit Strafarbeit bis zu 1 5 Jahren
oder mit lebenslänglicher Strafarbeit gestraft.
Wer den Leichnam eines Gestorbenen oder Totgeborenen heimlich oder
rechtswidrig vernichtet oder heimlich^) beiseite bringt, oder wer sich weigert,
der Obrigkeit anzuzeigen, wo ein Kind, das er unter seiner Obhut hatte, sich
befindet, wird mit Gef. oder Geldstrafe bestraft. Diese Bestimmung beabsich-
tigt hauptsächlich, der Beiseiteschaffung unehelicher neugeborener Kinder, wo-
durch der Beweis eines möglicherweise vorliegenden Totschlages vereitelt wird,
entgegenzuwirken.
Strafbar ist die Unterlassung, einem in Lebensgefahr Geratenen zu Hülfe
zu kommen, sowie ein gegen das Leben gerichtetes Verbr. anzuzeigen, wenn
dies ohne Gefahr und ohne einen nahen Angehörigen anzugeben, hätte ge-
schehen können.
V. Körperverletzungen. Die einfache Körperverletzung wird mit Geld-
strafe, Gef. öder Strafarbeit bis zu 3 Jahren bestraft. Ist die körperliche
Schädigung absichtlich verursacht, so kann Strafarbeit bis zu 6 Jahren, und
wenn die Schädigung eine bedeutende gewesen ist, bis zu 15 Jahren angewendet
werden. Lebenslängliche Strafarbeit kann verhängt werden, wenn bedeutende
Schmerzen zugefügt worden sind oder das Verbr. durch Gift verübt worden
ist. Wird eine Körperverletzung oder eine Beleidigung mit einer Körper-
verletzung erwidert, so kann Straffreiheit eintreten. Hat sonst der Verletzte
durch ungebührliches Betragen zur Körperverletzung Anlass gegeben, so wird
das Strafmass herabgesetzt.
Das rechtswidrige Versetzen in hülflose Lage sowohl, als das rechts-
widrige Verlassen in solcher Lage wird, wenn augenscheinliche Gefahr für
Leib und Leben vorhanden war, mit Strafarbeit bis zu 9 Jahren und im Falle
eines tötlichen Ausganges als vorsätzliche Tötung bestraft. War die Gefahr
eine geringere, so kann Strafarbeit bis zu 3, und wenn eine schwere Körper-
verletzung verursacht worden ist, bis zu 9 Jahren angewendet werden.
Mit Geldstrafe, Gef. oder Strafarbeit bis zu 3 Jahren wird derjenige be-
straft, der durch Vernachlässigung, übertriebene Züchtigung öder auf andere
Weise einen unter seiner Obhut stehenden und wegen Jugend, ELrankheit oder
*) Es muss bemerkt werden, dass diese Strafbestimmung, deren Strafmass so-
wohl in sich selbst wie im Verhältnisse zur Strafe des wirklichen Kindesmordes ganz
unverhältnismässig ist, 1889 in das StG. aufgenommen wurde, sich aber in verschie-
denen Beziehungen von dem Entw. der Kommission unterscheidet. So war auch die
Unterlassung der Herbeirufung von Hülfe von derselben nicht besonders erwähnt.
-) Das rechtswidrige Beiseitebringen ist nicht nach dieser Bestimmung zu strafen,
wenn es nicht heimlich erfolgt ist.
236 Norwegen. — Besonderer Teil.
aus anderen Gründen hülflosen Menschen niisshandelt. Für sittliche Verwahr-
losang droht das G. dagegen nur insofern ^^trafe, als die Eltern und Vor-
gesetzten für die deswegen begangenen strafbaren Handlungen verantwortlich
werden können «s. S. 231 unter Teilnahme». Ebenso sind sie strafbar, wenn
sie die Kinder die Schule versäumen lassen.
Fahrlässige Körperverletzung kann mit Gef. oder Geldstrafe gestraft werden.
VI. Verbrechen gegen die Freiheit. Rechtswidrige Freiheitsberaubung
wird mit Gef. oder Strafarbeit bis zu 3 Jahren gestraft. Hat aber dieselbe
mehr als einen Monat gedauert oder ist dadurch ungewöhnliches Leiden, eine
schwere Körperverletzung oder der Tod des Verletzten verursacht worden, so
kann Strafarbeit bis zu 15 Jahren angewendet werden. Besondere Bestimmungen,
welche aber jetzt beinahe aller praktischen Bedeutung entbehren, enth< das
StG. über den Sklavenhandel.
Unter diesem Titel wird auch behandelt die rechtswidrige Entführung
von Kindern oder Minderjährigen, selbst wenn sie mit ihrem Willen geschieht.
Die gewöhnliche Strafe ist Gef. oder Strafarbeit bis zu 3 Jahren. Sucht der
Schuldige die Entführten zur Unzucht anzuhalten oder verbringt er sie ins
Ausland, so tritt bedeutend erhöhte Strafe ein.
Wer durch Gewalt, Drohung mit einer rechtswidrigen Handlung, mit
Anzeige eines Verbrechens oder mit einer beleidigenden Behauptung jemanden
nötigt, etwas zu thun, zu dulden oder zu unterlassen, wird mit Gef. oder Straf-
arbeit bis zu 6 Jahren, bei mildernden Umständen mit Geldstrafe bestraft.
Die Drohung selbst ist strafbar, wenn mit emem Verbr. gedroht wird, das mit
Strafarbeit gestraft werden kann. Neben Strafe kann in ernsteren Fällen auch
auf Friedensbürgschaft erkannt werden, an deren Stelle, wenn sie nicht ge-
leistet wird, Sicherheitshaft tritt.
VIL Beleidigung. Wer es bewirkt oder zu bewirken sucht, dass eine
Behauptung Glauben findet, die geeignet ist, dem guten Namen und Leumund
eines anderen zu schaden oder ihn dem Hasse, der Geringschätzung oder dem
Verluste des für seine Stellung oder seinen Unterhalt nötigen Zutrauens aus-
zusetzen, wird mit Geldstrafe oder Gef. oder, wenn wider besseres Wissen ge-
handelt ist, auch mit Strafarbeit bis zu 3 Jahren bestraft.
Nicht strafbar ist die Behauptung, wenn ihre Wahrheit oder wenn Umstände
bewiesen sind, die dazu berechtigten, sie für wahr zu halten. Nicht strafbar
ist sie auch (insofern nicht grobe Fahrlässigkeit vorliegt), wenn der Betreffende
v<iq>flichtet gewesen ist, zu reden oder in berechtigter Wahrnehmung eigener
od<?r fremder Interessen gehandelt hat.
Worte oder Handlungen, die Geringschätzung kundgeben oder die Ehr-
barkeit verletzen, können ebenfalls als beleidigend mit Geldstrafe oder Gef. ge-
ahndet werden. Und wahre Behauptungen, die in dieser Eigenschaft als Be-
leidigung nicht gestraft werden können, sind doch als Ausdruck einer uner-
laubten Geringschätzung zu strafen, wenn sie wegen ihrer Form oder wegen
der sonstigen Umstände als ungebührlich erachtet werden müssen. Auch die
Verletzung des Friedens des Privatlebens dadurch, dass ohne beweisbaren
triftigen Grund von persönlichen oder häuslichen Verhältnissen öffentliche Mit-
teilung gemacht wird, ist mit Geldstrafe oder Gef. zu strafen.
Wenn jemand wegen Beleidigung verurteilt wird, so kann das Urteil die
Veröffentlichung desselben auf Kosten des Verurteilten anordnen. Öffentliche
Zeitungen, die die Beleidigung aufgenommen haben, können verpflichtet werden,
auch das Urteil abzudrucken.
Nach dem Tode wird die Ehre noch 10 Jahre hindurch geschützt. So-
wohl in diesem Falle, wie wenn die Beleidigten nach der Beleidigung ver-
storben sind, ohne in Beziehung auf die Verfolgung derselben Beschluss ge-
§ 7. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 237
fasst zu haben, können die Ehegatten, die Eltern, Kinder und Geschwister der
Beleidigten die Klage erheben.
Straflos kann die Beleidigung gelassen werden, wenn der Beleidigte selbst
durch ungebührliches Betragen zu derselben Anlass gegeben hat oder wenn
sie mit einer Beleidigung oder Körperverletzung erwidert worden ist.
VIII. Sittlichkeitsverbrechen. Während der einfache aussereheliche
Beischlaf nicht mehr strafbar ist, wird sowohl der Mann, welcher drei ver-
schiedene Mädchen geschwängert hat, als auch das Mädchen, die sich von drei
verschiedenen Männern hat schwängern lassen, mit Gefängnis und im Eückfall
sogar mit Strafarbeit gestraft. Ebenso ist das Konkubinat strafbar, und es
fordert hier die Praxis sogar keinen Beweis des fleischlichen Verkehrs, wenn
die Betreffenden im übrigen wie Eheleute zusammenleben.
Die gewerbsmässige Unzucht ist mit Strafe bedroht. In den grösseren
Städten hat jedoch die Rücksicht auf die venerischen Krankheiten die Ver-
waltung bewogen, eine regelmässige gesundheitliche Kontrolle einzuführen,
womit die unbedingte Verfolgung unvereinbar gewesen wäre. In der Haupt-
stadt ist sie aber seit einigen Jahren wieder aufgehoben, ohne dass jedoch
das StG. wieder gegen die Prostitution zur Anwendung gebracht worden ist.
Es werden solche Prostituierte, welche ein besonders anstössiges Betragen
zeigen, von der Polizei als Müssiggänger in die Zwangsarbeitsanstalten
versetzt.
Öffentliche Häuser sind auch im StG. verboten, und dies Verbot wird jetzt
durchgeführt, während sie früher oft thatsächlich toleriert wurden. Strafbar
ist ferner die gewinnsüchtige Verführung Unbescholtener zu unzüchtigem Ge-
Averbe, dagegen nicht die einfache Förderung der Prostitution.
Die Verführung macht nie den ausserehelichen Beischlaf zu einem straf-
baren ; selbst der Vorspiegelung einer Trauung ist nicht im G. gedacht. Straf-
bar ist dagegen alle Unzucht mit wahnsinnigen sowie mit Mädchen unter fünf-
zehn Jahren. Es mag auch bemerkt werden, dass ein Art. des alten G. von
1687 noch gültig ist, wonach die Verführung der Jugend zu Ärgernis er-
regendem Betragen gestraft werden kann, ein Artikel, dessen Tragweite schwer
zu bestimmen ist.
Wird eine für Leben oder Gesundheit gefährliche Drohung oder Gewalt
angewendet, um den Beischlaf zu erreichen, so wird der Schuldige wegen Not-
zucht mit Strafarbeit bis zu 12 Jahren gestraft. Ist das Weib um das Leben
gekommen, so kann sogar Todesstrafe verhängt werden. Sind minder gefähr-
liche Drohungen angewendet, so kommen die allgemeinen Bestimmungen über
Verbr. gegen die Freiheit zur Anwendung. Unzucht mit einer bewusstiosen
Frauensperson wird, wenn der Thäter selbst die Bewusstlosigkeit hervorgerufen
hat, wie Notzucht, sonst aber milder bestraft. Die Entführung einer Minderjährigen
selbst mit ihrem Willen, um sie zur Unzucht oder zur Ehe zu bringen, ist
strafbar. Ebenso die Entführung einer Verheirateten.
Bigamie wird mit Strafarbeit bis zu 9 Jahren bestraft. Die eheliche
Untreue ist am Mann sowohl als an der Frau mit Gef. zu strafen. Gegen
den nicht verheirateten Mitschuldigen kann Geldstrafe verhängt werden. Die
Verfolgung tritt von Amtswegen ein, wenn die Ehe des Verbr. wegen aufgelöst
worden ist, sonst aber nur auf Antrag des Verletzten.
Als Blutschande werden gestraft der aussereheliche Beischlaf und die
Heirat zwischen Ascendenten und Descendenten und ebenso nahen Verschwägerten,
sowie unter Geschwistern. Auch die aussereheliche Verschwägerung kommt
in Betracht; es sind aber für diesen Fall die Strafen bedeutend ermässigt.
Personen, die nicht ohne Dispensation in Ehe miteinander eintreten dürfen
(z. B. Neffe und Tante, Schwager und frühere Frau eines Bruders), werden
238 Xorweg-en. — Besonderer Teil.
mit Geldstrafe geahndet, wenn sie aosserehelichen Verkehr haben oder ohne
Erlaubnis sieh heiraten.
Wegen der besonderen Pflichtverletzung ist strafbar: der aussereheliche
Beischlaf mit einem Pflegekinde oder Mündel oder mit einem Mädchen, das
dem Schuldigen zum Unterricht oder zur Erziehung anvertraut ist; femer der
Beischlaf seitens der Vorgesetzten in Strafanstalten, Armenhäusern und dergl.
mit Frauen, die daselbst unter ihrer Aufsicht stehen. Eltern, Vormünder,
Lcfhrer usw., die ihre Kinder oder die ihnen sonst Anvertrauten, und Ehe-
männer, die ihre Frauen zu einem unsittlichen Leben anhalten, können, wenn
es des Vorteils wegen geschieht, mit Strafarbeit bis zu 9, sonst aber bis zu
6 Jahren bestraft werden.
An Geistlichen ist auch die einfache Unzucht mit Dienstentlassung zu be-
strafen. Inwieweit die Schwängeinmg unter Eheversprechen der Geschwängerten
das Becht giebt, die Heirat zu verlangen, ist nicht unzweifelhaft. Allerdings
ist derjenige, der unter solchem Versprechen ein Mädchen schwängert, ohne
sie auf ihr Verlangen zu heiraten, zu Gefängnis oder Geldstrafe zu verurteilen,
wenn er, als der Beischlaf vollzogen wurde, über 21 Jahre alt war, und die
Weigerung ohne triftige Gründe stattfindet, oder er selbst vorsätzlich die
Hindernisse hervorgerufen hat. Waren solche schon, als der Beischlaf statt-
fand, vorhanden, so kann Strafarbeit verhängt werden.
Ein anstössiges, Ärgernis erregendes Betragen ist im allgemeinen nur
nach den Polizei Vorschriften der einzelnen Gemeinden strafbar. Da als Unzucht
im Sinne des G. nur der wirkliche Beischlaf und der Versuch desselben an-
gesehen wird, muss dies um so mehr als eine bedauerliche Lücke empfunden
werden. Der Veröffentlichung unsittlicher Bücher, Büder, sowie Aufführung
von Schauspielen und anderen öffentlichen Vorstellimgen oder Vorträgen unsitt-
licher Art ist dagegen im StG. gedacht. Als Verletzung der Sittlichkeit wird
es nach einem im J. 1891 gegebenen G. auch angesehen, wenn jemand öffent-
lich zur Anwendung präventiver Mittel bei dem Beischlafe auffordert oder über
die Benutzung derselben Auskunft giebt.
Die widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts
sowie von Menschen mit Tieren ist strafbar.
Die durch Unzucht erfolgte Ansteckung eines anderen mit einer venerischen
Krankheit wird mit Gef. oder mit Strafarbeit bis zu 3 Jahren bedroht.
Die Verhöhnung der heiligen Schrift sowie der Sakramente und des
Glaubensbekenntnisses der Staatskirche ist in allen Fällen strafbar, die Ver-
höhnung anderer Glaubensbekenntnisse dagegen nur, wenn dadurch unter den
Anhängern derselben Ärgernis hervorgerufen worden ist.
Die Tierquälerei ist strafbar, wenn Haustiere Gegenstand derselben sind.
Strafbar ist es auch für Schankwirte tmd dergl., Kindern (unter 15 Jahren)
oder Betrunkenen geistige Getränke zu verkaufen oder ihre Kunden soviel
geniessen zu lassen, dass sie betrunken werden, sowie — nach den meisten
Polizeivorschriften der Städte — sich öffentlich in einem Zustande der Betrunken-
heit zu zeigen. Auch in verschiedenen anderen besonderen Fällen, wie im
>lilitär- oder Schiffsdienste und dergl.*, ist die Betrunkenheit strafbar, ohne
dass hier darauf näher eingegangen werden kann, ebenso wenig wie auf alle
anderen rein polizeilichen Vorschriften, den Verkehr mit geistigen Getränken
betr., deren Übertretung mit Strafe bedroht ist. Der Trunkenheit sowie dem
Müssiggange ergebene Personen, die deswegen ausser stände sind, sich
selbst oder ihre Familien zu ernähren, können von der Polizei für einige
Monate in Zwangsarbeit untergebracht oder gerichtlich zu Gefängnis ver-
urteilt werden.
Bei Strafe verboten sind die Lotterie, sowie der Verkauf von Losen und
§ 7. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 239
die Glücksspiele, nicht dagegen die allgemeinen Spiele, deren Betrieb in den
Schankstuben aber von der Polizei untersagt werden kann.
Von der Bettelei ist schon früher das Notwendige gesagt.
Um der allgemeinen Unsitte des Bauernstandes/ dass die Jünglinge nachts
in die Schlafzimmer der Mädchen eindringen und sich um sie bewerben,
entgegenzuwirken, ist derjenige, der sich auf Aufforderung der Frauensperson
oder der Herrschaft nicht entfernt, wegen Nachtläuferei mit einer Geldstrafe
zu ahnden.
IX. Unterschlagung und Diebstahl. Wer in der Absicht, sich oder
anderen einen unberechtigten Vermögensvorteil zu verschaflPen, sich einen Gegen-
stand zueignet, der ganz oder teilweise einem anderen gehört, wird wegen
Unterschlagung mit Geldstrafe, Gef. oder Strafarbeit bis zu 3 Jahren bestraft.
Straflosigkeit kann eintreten, wenn gefundene Sachen von unbedeutendem Wert
zugeeignet worden sind. Wer einen Gegenstand, der ganz oder teilweise einem
anderen gehört, in der Absicht wegnimmt, um sich oder anderen durch diese
Zueignung einen unberechtigten Vermögensvorteil zu verschaffen, wird wegen
einfachen Diebstahls mit Gef. oder Strafarbeit bis zu 3 Jahren, unter besonders
mildernden Umständen aber mit Geldstrafe bestraft.
Ist der Diebstahl mittelst Einbruchs, Einsteigens oder Einschleichens zur
Nachtzeit geschehen oder sind Haustiere auf dem Felde, Gegenstände in der
Kirche oder aus der öffentlichen Post gestohlen oder ist der Diebstahl während
einer Feuersbrunst oder eines anderen Notstandes oder in gewaltsamer Weise
oder auch unter einigen anderen Umständen erfolgt, so wird der Schuldigie
wegen schweren Diebstahls mit Gef. oder Strafarbeit bis zu 9 Jahren bestraft.
Der Diebstahl im wiederholten Eückfalle kann mit Straf arbeit bis zu 15 Jahren
bestraft werden.
Strafbar mit Gef. ist die in diebischer Absicht erfolgte Verfertigung von
Dietrichen oder falschen Schlüsseln.
X.Wegen Eaubes wird derjenige bestraft, der durch Misshandlung oder
durch eine solche Gewalt, dass Furcht vor Misshandlungen entsteht, oder durch
Verursachung von Bewusstlosigkeit oder durch Drohungen, welche unmittelbar
Gefahr für Leib oder Leben enthalten, in der Absicht sich oder einem anderen
einen unberechtigten Vermögensvorteil zu verschaffen, jemanden dazu nötigt,
etwas zu thun, zu dulden oder zu unterlassen. Die Anwendung von Gewalt
macht mithin nicht den Thäter zum Räuber. Liegt nicht Misshandlung oder
Furcht vor einer solchen vor, so muss er wegen schweren Diebstahls oder Verbr.
gegen die lYeiheit gestraft werden. Auf der anderen Seite umfasst der Raub
nach norwegischem Rechte auch die sogenannte räuberische Erpressung, während
sonst die Erpressung als Angriff gegen die Freiheit zu bestrafen ist. Die
Strafe des Raubes ist Straf arbeit von 3 bis zu 12, unter erschwerenden Umstän-
den bis zu 15 Jahren, und wenn der Beraubte um das Leben gekommen ist,
so kann lebenslängliche Strafarbeit oder Todesstrafe angewendet werden.
XI. Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen unberechtigten
Vermögensvorteil zu verschaffen, einem anderen Vermögensverlust dadurch
verursacht, dass er durch falsche Vorspiegelungen oder Unterdrückung wahrer
Thatsachen oder anderes täuschendes Benehmen bei jemandem einen Irrtum
erregt oder unterhält, wird wegen Betruges mit Geldstrafe, Gef. oder Straf-
arbeit bis zu 3 Jahren bestraft.
Unter erschwerenden Umständen kann Strafarbeit bis zu 6 Jahren, und
wenn der Betrug in Beziehung auf Lieferung für die Heeresmacht in Kriegs-
zeiten erfolgt ist, oder Gefahr für Leib und Leben verursacht hat, bis zu
9 Jahren angewendet werden. Ist bedeutender Schaden eingetreten, so kann
bis zu lebenslänglicher Strafarbeit erkannt werden. Ist das Verbr. in Aus-
240 Norwegen. — Besonderer Teil.
Übung eines Gewerbes geschehen, so kann die Fortsetzung desselben unter-
sagt werden.
Da das 6. nicht angenommen hat, dass die Erschleichung von Kredit
unbedingt als Betrug aufzufassen ist, so hat es desselben besonders gedacht,
und wenn durch solche Vorspiegelungen Kredit erreicht und dadurch Schaden
verursacht worden ist, diese Handlung mit Geldstrafe oder Gef. bedroht.
Die Steuerdefraudationen und dergl. werden im allgemeinen nach den
besonderen Bestimmungen der betreflTenden G. bestraft. Die Strafe ist nur
ganz ausnahmsweise Gef. oder Strafarbeit, gewöhnlich Geldstrafe oder Ein-
ziehung.
Die Untreue wird mit Gef. oder Strafarbeit bis zu 6 Jahren gestraft.
Gewinnsüchtige Absicht ist nicht erforderlich; es ist die Absicht, zu schaden
oder sich oder einem anderen einen unberechtigten Vorteil irgend welcher Art
zu verschaffen, hinreichend.
Xn. Benachteiligung der Gläubiger. Mit Geldstrafe, Gef. oder
Strafarbeit bis zu 3 Jahren wird der Eigentümer eines verpfändeten oder
anderweitig zur Sicherheit dienenden Gegenstandes bestraft, wenn er denselben
rechtswidrig dem Gläubiger entzieht. Dasselbe gilt in Bezug auf denjenigen,
der im Interesse des Eigentümers oder mit dessen Einwilligung solche Hand-
lungen vornimmt.
Hat ein Schuldner, in der Absicht sich oder anderen einen unberechtigten
Gewinn zu verschaffen, durch Schenkung, Verkauf unter dem Werte, Beiseite-
schaffung oder auf andere Weise sein Eigentum den Gläubigern zu entziehen
versucht oder hat er in dieser Absicht falsche Verpflichtungen angegeben oder
anerkannt, so wird er mit Gef. oder Strafarbeit bis zu 6 Jahren bestraft.
Unter besonders mildernden Umständen kann jedoch auch Geldstrafe an-
gewendet werden.
Mit Gef. oder Strafarbeit bis zu 3 Jahren, unter besonders mildernden
Umständen mit Geldstrafe, wird der Schuldner gestraft, der in der Absicht,
einen Gläubiger zu begünstigen, demselben eine Befriedigung oder Sicherung
gewährt hat, die er nicht zu der Zeit oder in der Art beanspruchen konnte.
Mit Geldstrafe, Gef. oder Strafarbeit bis zu 3 Jahren wird der Konkurs-
schuldner gestraft, der durch Verschwendung, gewagte Unternehmungen, welche
ausserhalb seines Geschäftskreises liegen oder im Missverhältnis zu seinem
Vermögen stehen, durch anderes besonders leichtsinniges Betragen oder durch in
hohem Grade unordentliche Geschäftsführung seinen Gläubigem bedeutende
Verluste verursacht hat. Ebenso wird der Konkursschuldner bestraft, der,
obgleich er eingesehen haben musste, dass er seine Gläubiger nicht befriedigen
konnte, durch neue Darlehen, Verkauf unter dem Werte, oder dadurch, dass
er einzelne Gläubiger nicht gehindert hat, Befriedigung oder Sicherung zu er-
langen (z. B. durch Exekution), die Lage der Konkursmasse bedeutend ver-
schlechtert hat. Verfälschung der Bücher und dergl. wird mit Gef. oder Straf-
arbeit bis zu 3 Jahren bestraft. Unterlassung der Führung der angeordneten
Bücher oder gesetzwidrige Führung derselben wird mit Gef. oder Geldstrafe
gestraft.
XIII. Eine bedeutend herabgesetzte Strafe findet Anwendung, wenn durch
einen Diebstahl, eine Unterschlagung oder einen Betrug Ess- oder Trink-
waren, welche auf der Stelle verzehrt werden, oder solche Waren oder
Brennholz von höchstens einer Krone Wert zugeeignet worden sind, indem
dann Geldstrafe die gewöhnliche Strafe ist. Noch gelinder gestraft wird die
in Wäldern imd ungebauten Feldern stattgefundene Aneignung von Gras,
Stein, Lehm, Erde, Laub, dürren Zweigen usw. Ganz straflos ist es in der
Regel, auf nicht eingehegten Orten Nüsse, welche auf der Stelle verzehrt
§ 7. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 241
werden, oder wilde Beeren und Blumen zu pflücken^ Dagegen wird der eigent-
liche Holzdiebstahl ganz wie ein anderer Diebstahl betrachtet.
XIV. Die Hehlerei ist im G. eigentlich als nachfolgende Teilnahme auf-
gefasst, was jedoch nur dann zutreffend ist, wenn durch sie dem Thäter wirk-
lich Hülfe geleistet worden ist. Ganz unabhängig davon wird indessen der-
jenige bestraft, der, um sich oder anderen einen unberechtigten Gewinn zu
verschaffen, einen Gegenstand kauft oder sonst an sich bringt, der von einem
anderen durch Diebstahl, .Raub oder Unterschlagung erworben worden ist, oder
der bei dessen Verbrauche odei Verkaufe mitwirkt. Nicht strafbar ist es da-
gegen, etwas von dem durch den Verkauf der gestohlenen Gegenstände er-
worbenen Gelde und dergl. an sich zu bringen oder zu empfangen.
XV. Gemeingefährliche Verbr. Die absichtliche Ausbreitung von
gefährlichen, ansteckenden Krankheiten unter Menschen wird mit Strafarbeit
von 12 bis 15 Jahren, und wenn ein Mensch infolgedessen um das Leben ge-
kommen ist, mit lebenslänglicher Strafarbeit oder mit dem Tode gestraft. Die
absichtliche Ausbreitung von Viehseuchen wird mit S]brafarbeit von 3 bis zu
9 Jahren betraft. Die Verletzung von Absperrungsmassregeln gegen das Aus-
land (Quarantaine) wird, wenn keine Ansteckung erfolgt, mit Geldstrafe oder
Gef. gestraft, im entgegengesetzten Falle dagegen mit Strafarbeit von 6 Monaten
bis zu 6 Jahren. Fahrlässige Ausbreitung von Viehseuchen ist mit Geldstrafe
belegt. Ebenso oder mit Gef. werden Übertretungen der verschiedenen vom G.
oder der von den Behörden gegen die ansteckenden Krankheiten vorgeschrie-
benen Massregeln gestraft. Unbefugte Ausübung des ärztlichen Berufes wird
mit Geldstrafe oder Gef., unter erschwerenden Umständen mit Straf arbeit bis
zu 3 Jahren bestraft.
Wer in der Absicht, die Gesundheit anderer zu schädigen, Waren oder
andere gewöhnliche Verbrauchsmittel vergiftet, wird mit mindestens 12jähriger
Strafarbeit bestraft. Ist die Vergiftung unvorsätzlich geschehen, so wird der
Thäter doch mit Gef. oder Strafarbeit bis zu 3 Jahren bestraft, wenn er nicht
versucht hat, den möglichen Schaden abzuwenden. Die Vergiftung von Futter
und dergl., um damit anderen Schaden zuzufügen, ist mit Strafarbeit bis zu
6 Jahren zu strafen. Ist dadurch der Tod eines Menschen oder eine bedeutende
Körperverletzung verursacht, so kann Strafarbeit bis zu 15 Jahren angewendet
werden. Auch hier ist die unterlassene Abwendung strafbar. Wie schon er-
wähnt, ist es beim Betrüge ein sehr erschwerender Umstand, wenn Waren mit
Stoffen verfälscht werden, die der Gesundheit schädlich sind. *
Liegt weder ein Betrug, noch eine Vergiftung in der Absicht zu schaden oder
ein wirklich eingetretener Schaden vor, so wird die Vergiftung oder die gesund-
heitsgefährliche Verfälschung von Nahrungsmitteln und dergl. nur mit Geld-
strafe (als Übertretung der gesundheitspolizeilichen Vorschriften) geahndet.
Wer ein Haus, ein Schiff oder eine andere Räumlichkeit, in der Menschen
sich gewöhnlich oder wie er weiss aufhalten, oder Gegenstände, die den ge-
nannten Räumlichkeiten so nahe liegen, dass das Feuer sich leicht von diesen
zu jenen verbreiten kann, in Brand setzt, wird wegen Mordbrandes mit Straf-
arbeit von 9 bis zu 15 Jahren oder auf Lebenszeit bestraft. Auch in anderen
Fällen wird die Brandstiftung, wenn entweder fremdes Eigentum oder eigenes
in betrügerischer Absicht in Brand gesetzt worden ist, sehr strenge bestraft.
Dagegen hat das G. noch nicht besonders der Verwendung von Sprengstoffen
gedacht, die nur als Beschädigung gestraft wird.
Die fahrlässige Verursachung eines Brandes kann in besonders schweren
Fällen mit Strafarbeit bis zu 3 Jahren bestraft werden.
Wer vorsätzlich die Strandung oder das Sinken eines Schiffes bewirkt
und dadurch Gefahr für das Leben anderer herbeiführt, wird mit Strafarbeit
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I. 16
242 Norwegen. — Besonderer Teil.
von 9 bis 12 Jahren bestraft. Das Zerstören von Feuerzeichen nnd dergl. in
der Absicht Schiffbruch zu verursachen, kann mit Strafarbeit bis zu 15 Jahren
bestraft werden.
Die Herbeiführung einer Überschwemmung wird mit Strafarbeit von 9 bis
zu 15 Jahren gestraft.
Zerstörung oder Gefährdung der Eisenbahnen und des Eisenbahnbetriebes
ist in einem besonderen 6. behandelt.
Im ganzen sind die gemeingefährlichen Verbr. im geltenden Rechte wenig
befriedigend behandelt. Grosse Lücken, bisweilen übertriebene Härte und
durch nichts gerechtfertigte Widersprüche, Inkonsequenzen sind die hervor-
tretenden Züge.
XVI. Sachbeschädigung wird mit Geldstrafe, Gef. und in besonders
schweren Fällen mit Strafarbeit bis zu 3 Jahren bestraft.
Unbefugte Benutzrmg und unberechtigte Besitzergreiftmg ft'emder Sachen
ist auch strafbar.
Verschiedene unbefugte Nutzungen von Grundstücken sind im G. mit
Geldstrafe, ausnahmsweise mit Gef. bedroht. Jagd und Fischerei, durch welche
die Rechte des Grundeigentümers verletzt werden, können mit Geldstrafe bis
zu 200 Kronen bestraft werden. Ungefähr auf dieselbe Weise werden Ver-
letzungen der zur Schonung des Wildes oder zur Aufrechterhaltung der Ord-
nung bei den Hochseefischereien gegebenen Vorschriften gestraft.
Hausfriedensbruch ist im allgemeinen mit Geldstrafe zu strafen. Wegen
thätlicher Widerspenstigkeit gegen den Besitzer, oder wenn sich jemand nachts
oder durch eine nicht zum Eingang bestinmite Offhung heimlich eingeschlichen
hat, kann aber Gef. angewendet werden. Wer öffentliche Verhandlungen, den
Gottesdienst, den Schulunterricht und dergl. durch unberechtigtes Eindringen
oder ungebührliches Benehmen stört, wird mit Greldstrafe oder Gef., und wenn
dieselben dadurch absichtlich verhindert werden, auch mit Strafarbeit bis zu
3 Jahren bestraft.
Die Verletzung fremder Geheimnisse ist strafbar, wenn sie durch
Eröffnung verschlossener Briefe und dergl. geschieht; sonst nur, wenn sie sich
als Untreue oder Beleidigung darstellt, oder wenn dadurch eine Amtspflicht
verletzt worden ist, oder wenn es sich um Staatsgeheimnisse handelt.
Mit Geldstrafe oder Gef. wird derjenige bestraft, der, nachdem er für
Waren oder Arbeit Vorschuss empfangen hat, ohne den Vorschuss zurück-
zugeben, sich ausser stände setzt oder es unterlässt, seine Verpflichtung zu
entrichten.
Wegen Wuchers kann mit Geldstrafe oder Gef. derjenige bestraft werden,
der die Notlage, den Leichtsinn, die Verstandesschwäche oder die Unerfahren-
heit eines anderen dazu benutzt, um für Darlehen oder Stundung einer Geld-
forderung sich Vermögensvorteile zu verschaffen oder versprechen zu lassen,
welche in auffälligem Missverhältnis zu der Leistung stehen.
Die Verletzung der litterarischen Eigentums- sowie der Patentrechte
und der Firma- und Muster rechte ist in besonderen Gesetzen behandelt.
Die Strafe ist Geldstrafe.
XVII. Verbr. gegen den Personenstand. Wer einem anderen den ihm
gebührenden Familienstand zu entziehen oder sich selbst oder einem anderen
einen falschen Familienstand zuzuwenden sucht, wird mit Geldstrafe, Gef. oder
Strafarbeit bis zu 6 Jahren bestraft. Hat derjenige, der mit einem anderen
eine Ehe geschlossen hat, diesem eine ansteckende Krankheit verschwiegen,
und wird deswegen die Ehe aufgehoben, so ist er mit Gef. oder Strafarbeit
bis zu 3 Jahren zu bestrafen. Mit Straf arbeit von 3 bis zu 6 Jahren wird
derjenige bestraft, welcher sonst Umstände verschwiegen hat, wegen welcher
§ 7. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 243
die Ehe ungültig ist, oder etwas fälschlich vorgespiegelt hat, das den anderen
Ehegatten zur Auflösung der Ehe berechtigt.
XVIII. Verbr. im Amte. Nach dem Mil.-StG. kann ein Offizier zur
Dienstentlassung verurteilt werden, wenn er durch Trunksucht oder anderes
schlechtes oder unanständiges Benehmen sich der Achtung unwürdig gemacht
hat, welche er zufolge seiner Stellung besitzen sollte. Was dagegen die
anderen öflPentlichen Beamten betriflPt, so fehlen in unserem Rechte entsprechende
Bestimmungen beinahe ganz, was um so bedenklicher ist, als die meisten
höheren Staatsbeamten nicht von der Regierung ohne Urteil verabschiedet
werden können. Auch sind die meisten Amtsverbr. an und für sich selbst
Verbr., obwohl in der Regel mit einer gelinderen Strafe bedroht, als wenn sie
im Amte vorgenommen werden. Von grosser Bedeutung ist indessen die Be-
stimmung, wonach eine besonders grobe oder oft wiederholte Versäumnis oder
Nachlässigkeit, sowie ein grosser Unverstand mit Geldstrafe oder Dienstentlassung
bestraft werden kann.
XIX. Die meisten straf baren Handlungen in Bezug auf das Schiffahrts-
wesen sind im Seegesetze behandelt. Einzelne sind aber auch im Musterungs-
gesetze, Konsulatgesetze, in den G. über die Dampfschiffahrt und die Be-
förderung von Auswanderern, im Lotsengesetzc und im Zollgesetze zu finden.
Da jetzt ein neues Seegesetz angenommen werden dürfe, kann um so weniger
davon die Rede sein, dieses Thema näher zu erörtern.
Was andere Dienstverhältnisse betrifft, mag erwähnt werden, dass Gesinde,
welches den angenommenen Dienst nicht antritt oder ihn rechtswidrig verlässt,
mit Geldstrafe oder Gef. zu strafen ist. Die unbefugte Entlassung des Gesindes
seitens der Herrschaft wird mit Geldstrafe geahndet.
16*
3. Schweden.
I.
§ 1. Quellen. Oesetzes- Texte. litteratur.
StraflFlag (StG.) vom 16. Februar 1864; Kongl. förordning om nva Strafflageiis
införande m. m. vom 16. Februar 1864 (Eiuf.G.); Strafflag för Krigsmagten (Mil.-StG.)
vom 7. Oktober 1881; Kongl. förordn. om införande af den nya Strafflagen för Krigs-
magten m. m. vom 7. Oktober 1881 ; Disciplin-stadga för Krigsmagten (Disziplin-Statu-
ten) vom 7. Oktober 1881. — Lag.om straff för embetsbrott af prest m. m. (Priester-
liches StG.) vom 8. März 1889. — Über das Pressgesetz, das GB. v. 1734 und die Neben-
gesetze s. u. § 6. — Texte amtlich veröffentlicht in dem, unter fortlaufenden Nummern
für jedes Jahr, erscheinenden GBl. „Svensk Författningssamling". — Pri vat- Ausgaben :
Svalander, StraflFlagen och promulgationsförordningen, Carlstad 1866. Loi pönale
donnde 1864, Trad. Stockholm 1866. Das allgemeine StG. nach dem jetzigen Wortlaut
nebst Bemerkungen und Präjudikaten, sowie das Priesterliche StG: s. Uppström,
Sveriges Rikes Lag IX. Aufl., Stockholm 1893. S. 152—234, 844—848; Hemming, Straff-
lagen med deruti senast vid 1890 ärs riksdag antagna ändringar etc. Stockholm 1890.
— WaÜensteen, Lagsamling för Krigsdomstolarne, Stockholm 1892. — Entwürfe und
Gutachten: Förslag (Vorschlag) tili allmän Criminallag, Stockhohn 1832; Förslag tili
Straff balk, Stockholm 1844; „Om lagcommitteens förslag tili allmän Criminallag**; —
Gutachten der juristischen Fakultät (Boethius, Rabenius) und der Professoren der
Philosophie (Grubbe, Atterbom) — in Skandia Tidskrift för vetenskap och konst I, 1833,
S. 1—136; — Hofrättens öfv. Skane och Blekinge und Utlätande jemte anmärkningar
i anledning af Lagkomitens förslag tili allm. Criminallag, Kristianstad 1838; — Svea
Hofrätts und Utlätande öf ver Lagkomitens förslag tili allm. Criminallag, Stockholm 1839 ;
— Göta Hofrätts und Utlätande öfver Lagkomitens förslag tili allm. Criminallag, Stock-
holm 1839; — Högsta Domstolens Protokoll vid granskning af förslaget tili allm. Cri-
minallag, Stockholm 1840; — Konffl. Proposition om antagande af en ny strafflag d.
23 September 1862, No. 37; — Dellden, Anmärkningar vid Lag Committ6ens förslag tili
allm. Criminallag, i Schmidts Jurid. Arkiv III, S. 161; — Nya lagberedningens förslag
tili Lag ang. ändring i vissa delar af strafflagen, Stockholm 1888; Kongl. Prop. med
förslag tili lag ang. ändring i vissa delar af Strafflagen etc. d. 14. Februar 1890, No. 21 ;
vgl. Olivecrona, Über die im Jahre 1890 vorgenommenen Änderungen des schwedi-
schen StGB. V. 1864, in Böhms Zeitschrift für Intern. Privat- und Strafrecht 1891. —
Kommentar: Carlen, Kommentar öfver strafflagen, Stockholm 1866. — Abhand-
lungen: Kronprinz Oscar, Om straff och straffanstalter, Stockholm 1840. (Deutsch:
Über Strafen und Strafanstalten, Übersetzt von A. v. Treskow, Leipzig 1841); — Alm-
qvist, Ang. olika satt för verkställighet af frihetsstraff, Stockholm 1877; Derselbe,
Resume historique de la r^forme penitentiaire en Su^de depuis le commencement du
XIX sifecle, Stockholm 1884. — Annerstedt, Om straffmätning, Upsala 1869 (in Upsala
Univ. Ärsskrift); — Ask, Ansvarighet för tryckfrihetsbrott, Lund 1890; — Assarsson,
Svenska straffrättens allmänna dei, Lund 1877; — Grubbe, Om den borgerliga straff-
maktens grund och väsende, in Skandia II 1834; — Hagströmer, Om Frihetsstraffen,
in Upsala Univ. Ärskrift 1875; Derselbe, Om rätten tili nödvärn; s. Forhandl. paa d.
IV Nord. Jurist-m0de 1881, Kj0benhavn 1882; — Hammarskjöld, Om falsk angifvelse och
ärekränkning, Upsala 1875; — Hasselroth, Om frihetsstraffen och deras verkställighet,
Stockholm 1876; — Humbla, De crimine falsi, Lund 1843; — Derselbe, De legibus
penalibus indefinitis, Lund 1849; — Derselbe, Om obestämta strafflagar, Lund 1850;
— Derselbe, Om straflTlagens användande vid sammanträffandet af brott. Lund 1851 ;
§ 2. Charakter des JÜteren Rechts. 245
— Derselbe, Inledning tili läran om stöld och snatterl, Lnnd 1862; — Lindblad, Om
mord och drap. Upsala 1832; — Natunann, Om Kriminallag'stiftningen i Sverlge
efter 1809; s. Naumann: Tidskrift för lagstiftning, lagskipning- och förvaltning 1864
—1867, 1869—1871; — Nehrmann, (Ehrenstrale) , Inledning tili den Svenska jiiris-
prndentlam Criminalem, Lund 1756; — Nordling, Om Straflmedium; s. Naumann: Tid-
skrift, 1864, S. 567; 1865 S. 785; — Nordström, Svjenska SamhäUsförfattningens Historia,
II, S. 227—384; Helsingfors 1840; — Nybleeus, Om Statens straflfrätt, III. Aufl., Lund
1879; — Olivecrona, Om dödsstraffet, fl. Aufl., Stockholm 1891; — Derselbe, Om or-
sakerna tili äterfall tili brott och om medlen att minska dessa orsakers skadliga ver-
kan, Stockholm 1872; Derselbe, Des causes de la r^cidive (trad.), Stockholm 1873;
Derselbe, Om de kännetecken, som karakterislra tjufnadsbrott, Upsala 1846; — Rydin,
H. L., Om yttranderätt och tryckfrihet, Upsala 1859; — Derselbe, Om Konimgens rätt
att göra nad, Upsala Univ. Ärsskrift 1861; — Rydin, K., Om KonkursfÖrbrytelser,
Upsala 1888; — Stjernhöök, De jure Sveorum et Gothorum vetusto, Stockholm 1672;
— Wykander, Om preskription i brottmäl, Lund 1878; — Winroth, Rättshistoriska
föreläsningar i straffrätt, Lund 1889. — Vgl. Goos, den Nordiske Strafferet, in Nordisk
Retsencyclopsedi, Kj0benhavn 1882. — P reJudikate, s. Naumann: Tidskrift för lags-
tiftning, lagskipning och förvaltning, I— XXV, Stockholm 1864—1888, mit Register zum
Jahrgang 1864 — 1886 ausgearbeitet von Leuhusen; Holm, Nj'tt juridiskt Arkiv, Jahrg.
1874 — 1893, nebst Register I. und II. — Während des Drucks erschienen: Anteil,
Sveriges Rikes Strafflagar jamte rättshistorisk inledning, Lund 1892.
n. Geschichtliche VorbemerkimgeiL
§ 2. Charakter des Slteren Rechts,
Das älteste schwedische Strafrecht, soweit wir aus den mittelalterlichen
Rechtsquellen — hauptsächlich den Landschafts-, Landes- und Stadtrechten ^)
— uns ein Bild davon machen können, zeigt ein Nebeneinanderbestehen des
älteren Herkommens der Sippe und der allmählich sich geltend machenden
Grundsätze einer neu aufkeimenden Gesellschaftsordnung. Die Rache des
Verletzten, bezw. seiner Sippegenossen, ist noch nicht beseitigt, erscheint aber
insofern geregelt, als der Verletzte, bezw. der Klageinhabejf, die Wahl hatte,
entweder Sühnegeld als Genugthuung des kriminellen Unrechts und Ersatz
des bürgerlichen Schadens anzunehmen oder die Friedloserklärung des Übel-
thäters zu beanspruchen, wobei mitunter der Verletzte durch Tötung des auf
frischer That ErgriflFenen dem Urteile zuvorkommen konnte. In Ermangelung
der Entrichtung des Sühnegeldes musste der Verbrecher seine Schuld mit dem
Körper oder mit Arbeit entgelten. Nach und nach fängt auch der Staat an,
in gewissen Fällen die Verfolgung der Missethäter als unerlässliche Obliegen-
heit zu fordern, wobei er selbst einen Anteil des Sühnegeldes beansprucht,
sowie die Vollstreckung übernimmt. Die Strafen waren anfänglich Todes-,
Körper- und Geldstrafen. Die Freiheitsstrafen wurden später durch das kircli-
liche Recht eingeführt. An der Hand des kräftigeren Eingreifens des Staates
in Bezug auf die Verfolgung des Verbr. bildete sich aber statt des alten Übel-
standes eine neue nicht weniger unwürdige Barbarei aus. Der Einfluss der
Mosaischen Talion, sowie die abergläubische Vorstellung von der Notwendig-
keit den gegen das Gesamtwesen durch das Verbr. erregten göttlichen Zorn
abzuwehren und das Volk vermittelst der unausgesetzten Thätigkeit des obrig-
keitlichen Schwertes vom Verbr. abzuschrecken, führten allmählich zur An-
wendung grausamer Strafen, sowie zu einer haarsträubenden Vollstreckung.
Auf solchen Voraussetzungen waren die Abschnitte über Verbr. und
Strafen (Missgemings — och Straflfbalkame) des sonst mit Recht gepriesenen
GB. V. 1734 gebaut. Dies G. droht meistens absolut bestimmte Strafen, und
*) S. das Gesamt-Werk: Schlyter, Sveriges GamlaLagar, Stockholm-Lund 1827—77.
246 Schweden — Geschichtliche Vorbemerkangen.
zwar in 69 Fällen einfache oder qnalifizierte Lebensstrafe, woran sich Raten-
strafe, Wasser* und Brotstrafe (anf höchstens 28 Tage), Verbannung, Ehren-
strafen, Geldstrafe, Gefängnis, sowie Festungs- oder Strafarbeit in bnntem
Gemenge ansctüiessen.
§ 3. Beformbestrebimgeii.
Die Aufklärung bewirkte eine Milderung der strafrechtlichen Anschauungen,
die vorzugsweise in der unter persönlicher Mitwirkung des Königs Gustaf III.,
zu Stande gekonunenen Verordnung vom 20. Januar 1779, durch die unter
anderm die Todes- und Ehrenstrafen in mehreren Fällen durch geringere
Strafen ersetzt wurden, hervortritt. Die qualifizierten Todesstrafen wurden
erst durch die königl. Verordnungen vom 30. Mai 1835 (Radbrechen) imd vom
10. Juni 1841 beseitigt. Aber schon am 14. Februar 1811 wurde auf Verlangen
der Beichsstände ein Ausschuss (Gesetzkomitee) mit der Ausarbeitung eines
reformierten StG. beauftragt.
Der Entw. dieses Ausschusses, welcher auch den vollständigen Entn\
eines bürgerlichen GB. ausarbeitete, erschien erst im J. 1832. Er zeigt deut-
lich den Einfluss der damals in Deutschland (Bayern, Hannover) und Osterreich
vorhandenen StG. und G^setzentw. Als allgemeine Hauptstrafen waren auf-
genommen: Todesstrafe, Strafarbeit in fünf Graden, Gefängnis, Geldstrafe.
Das System der relativ-bestimmten Strafdrohungen wurde befürwortet. In Be-
zug auf die Vollstreckung der Freiheitsstrafen schloss sich der Ausschuss an
das Aubumsche System an.
Welcher Strafrechtstheoric der Ausschuss huldigte, ist nirgends deutlieh
ausgesprochen. Jedenfalls ist er kein Anhänger der absoluten Theorieen. Der
Zweck der Straf drohungen sei, dem Verbr. vorzubeugen. Die Gesellschaft
sollte aber auch für die Besserung solcher Delinquenten, die nach ausgestan-
dener Strafe in die Gesellschaft wieder einträten, wirken.
Nachdem über diesen Entwurf Bemerkungen und Gutachten von Justiz-
behörden, Profesaipren der Rechtswissenschaft und der Philosophie, sowie von
anderen Rechtsgelehrten abgegeben waren, wurde er einer anderen Kommission
(Lagberedningen), deren Entwurf 1844 erschien, überwiesen. Diese neue gesetz-
beratende Kommission war eine prinzipielle Anhängerin des Philadelphischen
Systems (Begründung S. 4). Von Freiheitsstrafen nahm sie nur eine Art —
Gefängnis in sieben Graden — an. Zweck der Strafe sei die Abhaltung von
Verbr.; jedoch sei, wenn möglich, bei der Vollstreckung auch die Besserung
des Verbrechers zu berücksichtigen. Die Absicht ernster Bestrafung nebst der
Möglichkeit der Besserung des Bestraften sei am besten durch das Philadel-
phische System zu erreichen.
Trotz eines teilweisen Erfolges beim Reichstage 1844 wurde der Entw.
vom nächsten Reichstage verworfen. Die Regierung schlug daher zunächst
die Bahn der teilweisen Reformen ein. Als Ergebnisse dieser Bestrebungen
sind zu bezeichnen die königlichen Verordnungen vom 4. Mai 1855, betr.
1. die Beseitigung der Rutenstrafe und der Kirchenbusse; 2. der Strafen wegen
Diebstahl, Entwendung (Snatteri) und Raub; die vom 7. September 1858 (Fäl-
schung, Betrug); die vom 29. Januar 1861 (Mord, Totschlag, Körperverletzung),
sowie die vom 21. Dezember 1857 über Vollstreckung von Freiheitsstrafen in
der Einzelhaft, nach welcher Strafarbeit auf höchstens zwei Jahre, in der Zelle
jedoch mit Abzug von einem Viertel der drei Monate überschiessenden Zeit,
abzubüssen sei.^) In der Begründung der letzterwähnten Vdg. wird ausgesprochen,
dass die Strafe nicht nur ernst genug sein soll, um vom Verbr. abzuhalten.
^) Die längste Dauer der Zellenhaft war also 1 Jahr, 6 Monate, 28 Tage.
§ 4. Das Strafgesetz vom 16. Februar 1864. 247
sondern auch die Besserung des Verbrechers oder wenigstens seine Rettung
vor weiterer VerhÄrtung zu erstreben habe.
In den Vdg^ y. 1855, 1858, 1861 war das System der relativ bestimmten
Strafdrohungen oder das in Schweden gewöhnlich so genannte Latituden-
System angenommen. Die Ergebnisse der neuen Bestimmungen in dieser
Hinsicht fielen im ganzen so günstig aus, dass die öffentliche Meinung für die
Annahme des Systems in seinem vollen Umfange reif war, als die Regierung
im J. 1862 den damaligen Reichsständen den schliesslichen , im Justizdeparte-
ment ausgearbeiteten Entw. eines neuen StG. unterbreitete. Die Vorlage wurde
mit einigen Änderungen angenommen und nebst einer Einführungsverordnung,
welche ausser Übergangsbestimmungen noch Vorschriften über Verhaftung,
Haussuchung, Leichenschau, nebst einigen privatrechtlichen Bestimmungen (in
§16, Abschn. 2—6) aus dem G. v. 1734 enthielt, am 16. Februar 1864 pro-
mulgiert.
m Die geltende Gesetzgebnng.
§ 4. Das S^trafgesetz rom 16. Februar 1864.
Das neue StG. wird in der Regierungsvorlage (königl. Prop. vom 23. Sep-
tember 1862, No. 37) als auf die oben erwähnten Vdg. v. 1855, 1858 und 1861
nebst dem Entw. v. 1844 gebaut angegeben. Als seine wichtigste Eigentüm-
lichkeit wird am meisten das schon erwähnte „Latituden-System" hervorgehoben.
Das G. schreibt mit wenigen Ausnahmen alternative Strafen vor. Für das
Ausmass der Strafe nach dem Vorhandensein erschwerender oder mildernder
Umstände ist meistens ein sehr weiter Spielraum innerhalb der Grenzen eines
Höchst' und eines Mindestbetrages zugelassen. Ausgeschlossen aus dem G.
sind allgemeine Strafzumessungsregeln; dergleichen gab es aber in Kap. 6 der
Entw. V. 1832 und 1844. Sehr zurückhaltend mit doktrinären Bestimmungen
und Definitionen, hat der Gesetzgeber auch allgemeine Vorschriften über Ver-
such (Entw. V. 1832, 1844, Kap. 3), Fahrlässigkeit u. dgl. vermieden. Die
ziemlich knappe Begründung der Vorlage enthält ebensowenig wie die der
Entw. eine kritische Analyse der Vorschriften und giebt wenig Anleitung zur
Lösung von Streitfragen oder zur Förderung einer einheitlichen Rechtssprechung.
Das G. ist in 25 Kap. eingeteilt, von welchen Kap. I — V den allgemeinen
Teil des StR. behandeln, Kap. VI. Regeln über Entschädigung, Kap. VII— XXV
die einzelnen strafbaren Handlungen enthalten, und zwar Kap. VII Religions-
verbr., Kap. VIII — X Staatsverbr., Kap. XI — XXIV hauptsächlich Verbr. von
einzelnen gegen einzelne, und Kap. XXV Amtsverbr. Ausgeschlossen sind mit
einigen Ausnahmen die Polizeiübertretungen.
Weder dem Inhalte nach noch in sprachlicher Hinsicht ist das G. streng
wissenschaftlich gehalten, mitunter sogar kasuistisch und lückenhaft. Statt
technischer Terminologie werden manchmal weniger bestimmte Ausdrücke der
Alltagssprache, oder sogar veraltete, nicht gemeinverständliche Redensarten und
Fremdwörter angewendet. Bestimmungen, die nach dem ausdrücklichen Inhalt
des G. nur eine bedingte Geltung haben, sind wie oft sonst in den betreffenden
Hauptparagraphen ganz kategorisch gegeben, ohne eine Andeutung der später
irgendwo folgenden Beschränkung. Die Dreiteilung der strafbaren Handlung
ist im StG. nicht adoptiert.*) Die allgemeine Bezeichnung der strafbaren
^) Nach der für die Rechtsstatistik angenommenen Terminologie unterscheidet man
1. crimes (gröfre brott), wenn die Handlung mit Todesstrafe oder Straf arbeit bedroht ist,
jedoch unter dem Vorbehalt, dass, insofern auch Geldstrafe hilfsweise angedroht ist
248 Schweden. — Die geltende Gesetzgebung.
Handlang ist brott (Bruch) oder flirbrytelse (Verbr.). In den Verwaltungs-,
Polizei' und dergleichen Vdg. sind kleinere Delikte oft mit förseelae (Versehen),
förbrytelse, öfverträdelse, lagöfverträdelse (Gesetzübertretung) bezeichnet. (Eönigl.
Vdg. vom 24. Oktober 1885, §§ 16, 21, vom 31. Dezember 1891, § 38 u. a.).
Die nach dem G. strafbaren Handlungen sind speziell angegeben. Der
Grundsatz: „nulla poena sine lege" ist nicht ausdrücklich ausgesprochen, aber
in der Rechtsprechung ausnahmslos angenonmien. Die im G. bestimmten
Strafen — Todesstrafe, Strafarbeit, Gef., Geldstrafe — sind, mit Ausnahme für
gewisse Beleidigungen und Verbr. im Amte, nicht übertrieben streng. Die
Todesstrafe ist in der Regel alternativ angedroht. Nur ftir den von einem
Sträfling auf Lebenszeit begangenen „Totschlag" ist sie, sofern keine mildernden
umstände vorliegen, bindend vorgeschrieben. Die Frage, ob sich im StG. eine
gewisse Straftheorie geltend gemacht hat, muss m. £. aufs Entschiedenste ver-
neint werden. Hagströmer (Freiheitsstrafen, S. 186) findet wohl, dass alle
Vorkommnisse auf dem Gebiete des positiven StR. sich ungezwungen aus der
Präventionstheorie ableiten lassen, welche, wenn auch unbewusst, für den
Gesetzgeber leitend und massgebend gewesen sein sollte, während möglicher-
weise auch andere Theorieen, wie die Vergeltungs-, Abschreckungs- und Besse-
rungstheorie mit Rücksicht auf die sekundären Zwecke der Strafe sich gel-
tend gemacht haben; er giebt aber selbst zu, dass, wenn man auf die in den
Begründungen der Entw. vorkommenden Äusserungen, worin alle denkbaren
Strafzwecke hervorgehoben sind, Rücksicht nimmt, der Standpunkt des Gesetz-
gebers als ein ziemlich arbiträrer und eklektischer bezeichnet werden muss.
Nach Annerscedt (Strafzumessung, S. 68j gilt als doppelter Strafzweck, im G.
sowie in den Entw., Abschreckung und Besserung, wenn auch in einigen
Punkten der Einfluss der absoluten Theorieen gespürt wird. Im ganzen solle
aber, in Bezug auf die Strafzumessung, mit dem Geiste des G. die Präventions-
theorie (Grolmann), mit der man die des schwedischen Denkers BostrOm (gest.
in Upsala 1866) hat gleichstellen wollen, übereinstimmen. Ich kann für meinen
Teil diesen Ansichten nicht beipflichten. Ohne Einfluss auf den Gesetzgeber
sind freilich die schwedischen Denker und Rechtslehrer aus dem Anfange dieses
Jahrhunderts, die der Vergeltungstheorie entweder rein (wie Biberg), oder mit
Annahme von Nebenzwecken, — Besserung, Abschreckung — (wie Grubbe),
huldigten, nicht gewesen« Ganz fremd kann er auch nicht der von Boström
und seinen Schülern (Nyblseus, Sahlin u. a.) an den schwedischen Universitäten
vorgetragenen absolut-idealistischen Theorie geblieben sein. Zu einer organi-
schen Verwertung dieser oder irgend einer anderen Theorie ist der Gesetz-
geber jedoch nicht gelangt. Dass z. B. (wie nach Boström) die Strafe ein Aus-
fluss des unbedingten Rechts wie der unbedingten Pflicht des Staates sich
selbst zu schützen sei, war niemals Gegenstand der politischen Analyse.
Meistens war es wohl dagegen anerkannt, dass die Art und das Mass der
Strafe nach dem Grade der Intensität oder der Gefähiiichkeit des verbreche-
rischen Willens zu bestimmen sei. Dass aber dem Verbrecher in erster Linie
die Lust zu weiteren Rechtsverletzungen zu benehmen ist, wobei jedoch der
Staat, der als Ausüber der Strafgewalt nur auf die Sinnlichkeit wirkt, nicht
über die politische Besserung des Verbrechers hinauszielt, oder, wenn der
verbrecherische Wille als unabänderlich, d. h. unverbesserlich, anzusehen ist,
dem Verbrecher die Fähigkeit zu weiteren Rechtsverletzungen, absolut durch
die Handlung nur, wenn auf Strafarbeit oder Gef. erkannt wird, als crime anzusehen
ist; 2. d61its (ringare brott), die strafbaren Handlungen, die mit strengerer Strafe als
Geldstrafe von 100 Kronen bedroht, aber nicht als crimes zu betrachten sind, und
3. contraventions förseelser, die mit einer nicht 100 Kronen übersteigenden Geldstrafe
bedroht sind.
§ 5. Spätere Abänderungen des StGB. 249
Hinrichtung oder relativ durch lebenslängliche Einsperrung (Unschädlich-
machung), zu entziehen ist, das gehörte, soweit ersichtlich, nie zu den klaren
Grund- und Leitgedanken des Gesetzgebers. Die spätere Gesetzgebung, sowie
die ganze StrafVechtspflege erscheinen auch nicht vorzugsweise von dem Geiste
des erhabenen Denkers getragen.
In dieser Beziehung darf aber mit dem Gesetzgeber nicht gerechtet
werden. Wenn dieser sich einer der damaligen Straf'rechtstheorieen zu eng
angeschlossen hätte, dann wäre vielleicht das G. den realen Verhältnissen
weniger zweckdienlich ausgefallen. Auf alle Fälle bezeichnet das StG. v. 1864,
etwaiger vorhandener Mängel ungeachtet, einen gewaltigen Fortschritt über
den Standpunkt des 18. Jahrhunderts hinaus.
§ 5. SpStere AbSndernngen des StG^B,
Die Änderungen, welche das StG. seit 1864 erlitten hat, sind zum
grössten Teil mildernd. In gewissen Fällen sind auch strengere Strafen, bezw.
solche wegen Handlungen, die vorher straflos waren, vorgeschrieben. Die in
Frage kommenden G. sind:
1. Königl.Vdg.vom24.Mail872, betr. Kap. XVIII, §5 (Unzucht zwischen
Verschwägerten) ;i) 2, Königl. Vdg. vom 19. Juli 1872, betr. Kap. XX, § 11
(Milderung der Rückfallsstrafe wegen Diebstahl); 3. Königl. Vdg. vom 31. Ok-
tober 1873, betr. Kap. II, § 19 (nähere Bestimmungen bezw. Verlängerung der
Dauer des Verlustes bürgerlichen Vertrauens); 4, Königl. Vdg. vom 16. Juni
1875; betr. Kap. XX, §§ 1, 2, 16, Kap. XXIV, §§ 3, 4 (Waldfrevel und Holz-
diebstahl in gewissen Fällen als Diebstahl zu beurteilen — unklare Vorschrift);
5. Königl. Vdg. vom 10. August 1877, betr. Kap. II, § 2 (Intramuran-Hinrich-
tung); 6. Königl. Vdg. vom 6. August 1881, Zusatz zu Kap. XIX, §21 (Gemein-
gefährliche Verbr. gegen private Eisenbahnen, Kanäle u. dgl. gerichtet);
7. Königl. Vdg. vom 6. Oktober 1882, betr. Kap. XXIII, §§4—7 (Strafen für
Mitglieder des Verwaltungsrates beim Bankerutt einer Aktiengesellschaft);
8. G. vom 16. Mai 1884, betr. Kap. II, §§ 6, 10—13; Kap. IV, § 7; Einf.G. § 11
(Aufhebung der Wasser- und Brotstrafe); 9. G. vom 28. Oktober 1887, betr.
Kap. VII, §§1,2 (Milderung der Strafe wegen Gotteslästerung und Verspottung
des Gottesdienstes; neue Bestimmung der Kennzeichen der Gotteslästerung,
die viele Streitfragen veranlasst hat) und betr. Kap. X, §§1, 3, 11, 14 — 18
(Milderung der Strafen wegen Körperverletzung und Beleidigung gegen Beamte
und wegen Befreiung Gefangener; Schärfung der Straten wegen Aufforderung
zum Aufruhr; Straf bestimmung wegen gewisser öffentlicher oder schriftlicher
Aufforderungen zur Gewalt gegen Person oder Eigentum) ; 10. G. vom 7. Juni
1889 (Zusatz zu Kap. X, § 14; Strafe wegen gewisser Verleitungen zu Un-
gehorsam gegen Gesetz und Behörden); 11, 6. vom 20. Juni 1890, betr. Ände-
rungen gewisser Teile des StG., hauptsächlich eine Revision der Straf-
bestimmungen nebst dadurch veranlassten Änderungen, — worüber Olivecrona
in Böhms Zeitschrift für internationales Privat- und StR. eingehend berichtet
hat, — enthaltend nämlich:
a) Sachliche Änderungen. I. Im allgemeinen Teil, betr. 1. den Ver-
lust des bürgerlichen Vertrauens, Kap. II, § 19; III, § 13; s. auch Kap. VIII,
§ 30; Kap. XII, § 21 ; Kap. XIV, § 46; Kap. XV, § 25; Kap. XVI, § 16; Kap. XIX,
§ 22; Kap. XX, § 14; Kap. XXI, § 10; Kap. XXII, § 22; Kap. XXIII, §§1, 2;
3. Voraussetzungen des Rückfalls, Kap. IV, §11; 3. junge Delinquenten, Kap.V,
§§ 2—4; 4. Notwehr, Kap. V, §§ 7—10; 5. Verjährung, Kap.V, § 14. — II. In
*) Folge einer Änderung des Eherechts; Giftermäls Balk, Kap. 2, §§ 5, 6.
250 Schweden. — Die geltende Gesetzgebung.
Bezug auf die Strafrahmen: L Milderung (bisweilen bei besonders mildernden
UmstAnden) wegen Migestätsbeleidig^ng, Kap. IX, § 5; Fälschung, Kap. XU,
§§1—5, 7, 12, 14, 16, 17; Kap. XXV, §12 (auch SchÄrfung); Kindestötung,
Abtreibung, Aussetzung von Kindern, Kap. XIV, §§ 22—26, 32; Brandstiftung
und andere gemeingeiUhrliche Verbr., Kap. XIX, §§ 1 — 4, 9; Diebstahl, Raub,
Kap. XX (gänzlich umgearbeitet); Kap. XXI, §§ 1—3, 9; 2. Schärfung der
Strafen wegen gewisser Körperverletzungen, Gebrauch von tötlichen WaflTen,
Kap. XIV, §§ 12, 15, 37; Kap. XI, §§7, 8; Abtreibung der Leibesfrucht von
andern als der Mutter; Gewalt gegen schwangere Weiber, Kap. XIV, §§27,
29; Tierquälerei, Kap. XVIII, §16; Versuch zur Bewirkung des Sinkens eines
Schiffes u.dgl., Kap. XIX, §9; Betrügerei, Unterschlagung, Untreue gegen
Auftraggeber u. dgl., Kap. XXII, §§1, 6, 11, 13, 14, 16, 18; Vertauschung von
Kindern, Kap. XXII, §9; Verletzung des Briefgeheinmisses, Kap. XXII, §10.
— ni. Neue Straf bestimmungen: Wegen Störung privater Andachtsübungen,
Kap. XI, §§ 1 — 3; Hausfriedensbruch durch Steinwurf, Lärm u. dgl., Kap. XI,
§12; Fälschung von Marken, Stempeln fremder Staaten, Kap. XII, §§10, 18;
Versuch der Brandstiftung, Kap. XIX, §5; gemeingefährliche Verbr. begangen
durch Anwendung von Pulver oder Sprengstoffen, Kap. XIX, §6; Beschädigung
von Telephonanlagen, Kap. XIX, §§13, 14, 21. — IV. Betr. das Klagerecht,
Kap. XXn, § 21.
b) Formelle Änderungen. Kap. IV, §§2, 8 — 10 (concursus delictorum);
Kap.V, §6; Kap. XI, §§5, 6; Kap. XVIII, §7; Kap. XIX, §§2—5; Kap. XX,
§4Abs. 1, §5 Abs. 2, §8; Kap. XXII, §16; Kap. XXIK, §6; Kap. XXV,
§11. Der frühere Wortlaut wurde schliesslich beibehalten in Kap. XXIII, §7.
Kap. XXII, §16 des alten G. (vgl. G. betr. Warenmarken vom 6. Juli 1884,
§§12, 15) wurde fortgelassen. — In Übereinstinmiung mit den Änderungen
des aUgemeinen StG. wurden auch die §§58, 113, 114, 116, 121—123, 126
des Mil.-StG. geändert.
12. G. vom 14. Oktober 1892, betr. den geänderten Wortlaut von Kap. XXni,
§ 7 des StG., wodurch das Klagerecht des öffentlichen Anklägers bei Bankerutt
erweitert wird. 13. Schliesslich kommt hier in Betracht das G. vom 29. Juli 1892,
betr. Vollstreckung von Strafarbeit und Gef . in Einzelhaft, in welchem unter anderm
vorgeschrieben ist, dass Strafarbeit bis zu 4 Jahren wenn möglich in Einzel-
haft verbüsst werden soll, wobei von der Strafzeit ein Viertel (= höchstens
1 Jahr) abgezogen wird. Wenn Strafarbeit auf gewisse Zeit, über 4 Jahre
oder auf Lebenszeit, auferlegt ist, wird der Sträfling während der ersten
3 Jahre in Einzelhaft gehalten. Ein Drittel dieser Zeit (= 1 Jahr) wird im
ersten Falle von der übrigen Strafzeit abgezogen.
§ 6. Nebengesetze strafrechtlichen Inhalts.
Weiter zu beachtende G. strafrechtlichen Inhalts sind: L Das Pressgesetz
(TryckMhetsförordning) vom 16. Juli 1812, nebst späteren Änderungen, zuletzt
V. 1888;^) 2. das Mil.-StG. und Disziplinar-Statuten vom 7. Oktober 1881 nebst
späteren Änderungen, zuletzt vom 20. Juni 1890;^) 3. priesterliches StG. vom
8. März 1889;*) 4» 6. betr. die Verantwortlichkeit der Minister vom 10. Februar
1810;*) d. G. vom 12. September 1868 betr. die Verantwortlichkeit der Depu-
^) Text nebst Erläuterungen s. Sveriges Grundlagar, 2. Aufl., herausgegeben
V. Uppström.
-) Wallensten Lagsamling för Krigsdomstolame, Stockholm 1890. Deutsche Über-
setzung in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. II, Beilage 2.
«) Uppström, Sveriges Rikes Lag IX. Aufl., Stockholm 1893, S. 844—847.
*) Uppström, Sveriges Grundlagar S. 91—95.
§ 6. Nebengesetze strafrechtlichen Inhalts. 251
tierten des Reichstags, in der Reichsschalden-Yerwaltang und der Reichsbank
nebst Nebenstellen.^)
Strafrechtliche Bestimmungen (hauptsächlich über geringere Geldstrafen,
Bussen) in den noch geltenden bürgerlichen Abteilungen des GB. v. 1734 sind
enthalten in: Giftermäls-Balk (Ehe), Kap. HI, §§1, 3—7; Kap. VI, §§3, 4;
Kap. VII, §§1, 3; Kap. XII, §§1, 3; Kap. XIU, § 2; — Ärfda-Balk (Erb-
schaften) Kap. IX, §5; Kap. XXm, § 6. — Jorda-Balk (Liegenschaften),
Kap. XI, §3; Kap. XVI, §§ 4, 7 ; Byggninga-Balk (Bauen, Landeskultur), Kap. II,
§§ 2, 3; Kap. VI, § 1; Kap. IX, § 5; Kap. X, § 8; Kap. XI, §§ 2—4; Kap. XIII,
§§5, 6; Kap. XIV, §3; Kap. XV, §§1—4; Kap. XXn, §§5, 8; Kap. XXIV,
§§1, 7; Kap. XXVI, §6; Kap. XXVII, §§2, 4, 10. — Handels-Balk (Handel),
Kap.I, §§2. 3, 6, 8, 10; Kap. III, §§3, 5; Kap. IX, §6; Kap. XVIII, §§2,
3, 4. — Rätteg&ngs-Balk (Prozess), Kap. II, §§1, 3, 6; Kap. VI, §5; Kap. IX,
§§ 1-4; Kap. XII, § 2; Kap. XIII, § 2; Kap. XIV, §§ 2, 3, 6, 6, 8; Kap. XV,
§§14—16; Kap. XVI, §§1, 2, 5; Kap. XVII, §3; Kap. XIX, §§1, 2; Kap. XX,
§1; Kap.XXn, §2; Kap. XXIV, §§5, 10; Kap. XXVII, §§2, 5, 8; Kap. XXVIII,
§§1, 2; Kap. XXIX, §§1—3; Kap. XXX, §§10, 11, 14, 16, 18—22; Kap.
XXXI, §§ 2, 3.
Bestimmiugen strafrechtlichen Inhalts sind auch in verschiedenen Gesetzen und
Verordnungen administrativer, ökonomischer und polizeilicher Natur.enthalten. Zu nen-
nen sind: Privileg für die Apotheker-SozietÄt, 28. Juni 1688; Privileg für das CoUegium
Medicum, 30. Oktober 1688, Art. XIV; Statuten betr. Kontrollstempelung, 7. Dezember
1752; Eönigl. Forstordn., I.August 1805, §55, 56; GrundKCsetz-Regierungsform, 6. Juni
1809, §110; Successionsordn. , «6. September 1810, §§4, 5, 8; Dienstboten-Statuten,
28. November 1833, §§ 17, 28, 24, 25—28, 38, 37, 42, 45, 46; Königl. Brief, 29. November
1839, betr. Bekämpfung der Trunksucht in Lappland; Vdg. gegen Trunksucht, 16. No-
vember 1841, §6; Königl. Vdg., 13. Mai 1846, betr. unerlaubte AnschafTung von Brannt-
wein für Gefangene; Königl. Erlass, 16. April 1847, betr. die Einatmung von Äther;
Fischerei-Statuten, 29. Juni 1852, Kap. 5; Königl. Regl., 29. September 1853, betr. die
Schutzpockenimpfung; Königl. Regl. für Hebammen, 28. November 1856, Kap. 5; Königl.
Vdg., 1. Oktober 1858, betr. Fabrikation und Verkauf von Pulver; Königl. Cirkular,
28. Mai 1859, betr. Strafe wegen unerlaubten Betretens von Eisenbahnen; Königl. Er-
lass, 26. Oktober 1860, betr. Postbeförderung auf Eisenbahnen usw.; Ordnung für die
Ausübung des Feldscher- Gewerbes, 18. Januar 1861 und für die des Zahnarzt -Ge-
werbes, 18. Juni 1861; Konkursordn., 18. September 1862, § 138; Gewerbeordnung, 18. Juni
1864, §§ 18—23; Jagd-Statuten, 21. Oktober 1864, §§ 21—28; Grundstücksauseinander-
setzungs-G., 9. November 1866, §137; G. betr. das künstlerische Eigentum, 3. Mai 1867,
§ 5; Königl. Vdg., 29. November 1867, betr. die Schonung und Aufbewahrung der Alter-
tumsdenkmäler, §7, §8 Abs. 3; Stadtordnung 24. März 1868, §§ 1—18,25,28; Königl. Vdg.,
4. Juni 1868, über Musterung von Seeleuten, §§16 — 21; Königl. Vdg., 4. Juni 1868,
betr. Pässe und Nationalitätsurkunden, § 8 Abschn. 2, § 10, § 11 Abschn. 7; Königl.
Vdg., 11. Dezember 1868, betr. religiöse Zusammenkünfte; Königl. Vdg., 21. Oktober
1869, betr. Fabrikation von Dynamit usw.; Königl. Vdg., 21. Oktober 1869, betr. die
Beförderung von Pulver uud anderen Sprengstoffen auf Eisenbahnen, § 11; Königl
Vdg., 16. November 1869, betr. Strafe wegen Häresie; Königl. Vdg., 18. Februar 1870.
betr. Fabrikation von Streichhölzern; Königl. Vdg., 31. Oktober 1873, betr. die Bekenner
fremden Glaubens und deren ReUgionsübung, § 18; Stadt. Bau-Ordn., 8. Mai 1874, § 2,
Abs. 3, §§ 45, 46; Stadt. Feuer-Ordn., 8. Juli 1874, § 2 Abs. 3, §§ 15, 16; Reichs-Gesund-
heits-Ordn., 25. September 1874, §§ 22, 29, 39, 40; Königl. Erlass, 11. Dezember 1874,
betr. Besichtigung von privaten Eisenbahnen, §6; Königl. Vdg., 19. März 1875, betr.
ansteckende Krankheiten, §§ 17, 18; Zwei königl. Vdgn., 26. November 1875, betr. Ver-
kauf und Transport von Petroleum und dergl.; Gift-Ordn,, 7, Januar 1876, §§ 21—30,
35, 87; Königl. Vdg., 8. Dezember 1876, betr. Handel mit Äther und geistigen Arznei-
mitteln; Königl. Erlass, 1. Juni 1877, betr. die Hundesteuer; G. über das Titterarische
Eigentum, 10. August 1877; ZoU-Ordn., 2. November 1877; Köniffl.Vdg., 31. Mai 1878,
betr. die Beförderung von Reisenden durch Mietspferde, § 56; Königl. Erlass, 8. No-
vember 1878, betr. Strafe wegen unerlaubten Betretens von Eisenbahnen oder Bahn-
höfen; Königl. Vdg., 22. November 1878, betr. den Befehl auf Handelsschiffen, §§13
bis 18; Königl. Vdg., 30. Mai 1879, betr. Massregeln gegen die Einführung der Pest,
*) iJppström, Sveriges Grundlagar S. 91—95.
252 Schweden. — Die allgemeinen Btrafrechtlichen Bestimmungen.
§§21, 22; Königl.Vdg., 12. November 1880, über Schiffsvermessung; König!. Vdg.,
30. Dezember 1880, über Deichschleiisen; Flössungs-Ordn., 30. Dezember 1880, §21;
Königl.Vdg., 15. Februar 1881, über das Lootsenwesen ; Königl.Vdg., 6. Aug^t 1881,
betr. Verlosungen; Königl.Vdg., 8. November 1881, betr. Arbeit von Minderjährigen, §§ 17,
18, 19; Königl.Vdg., 16. Juni 1882, betr. die Besteuerung von Rübenzucker; Notariatsordn.,
H. Oktober 1882, § 11; G. betr. Strafe wegen Ausbleibens des Beklagten, 6, Oktober 1882;
Königl. Erlass, 15. Dezember 1882, betr. Jagd auf Wallfische ; Königl.Vdg., 2. November
1883, betr. Geisteskranke; Königl.Vdg., T.Dezember 1888, betr. Sportelgebühren, § 21;
Bergwerks-Ordn., 16. Mai 1884, Kap. 6; Königl. Patent-Ordnung, 16. Mai 1884, §22; Königl.
Vdg., 4. Juni 1884, betr. die Beförderung von Auswanderern, §§ 56—59; G. betr. Schutz
für Warenmarken, 5. Juli 1884, § 12; Königl. Erlass, 7. November 1884, betr. das Pfand-
leihgeschÄft; Königl. Erlass, 22. November 1884, betr. Platzanschaffung, §§ 11, 12;
Königl. Erlass, 20. Februar 1885, betr. norweg. Warenmarken; Wehr-G., 5. Juni 1885^
Art. VlII; Königl. Erlass, 26. Juni 1885, betr. fremde Patente und Warenmarken;
Königl Erlass, 11. September 1885, betr. unterseeische Kabel, § 8; Königl.Vdg., 9. Ok-
tober, über Mass und Gewicht, Art. 10; Königl. Vdg., 24. Oktober 1885, betr. Ausschank
von Wein, Malzgetränken usw., §§12—18, 21; G. betr. Steinkohlengruben, 28. Mai 1886»
Zwei königl. Erlasse, 22. Oktober 1886, betr. in- und ausländische Versicherungsan"
stalten; Königl.Vdg., 11. Februar 1887, betr. Geburtsmeldungen; G. betr. Handels"
register, Firma und Prokura, 13. Juli 1887, §23; Ordn., 13. Juli 1887, betr. die Heil-
gymnastik; Königl.Vdg., 13. Juli 1887, über Branntweinfabrikation, Art. IV; Königl-
Vdg., 23. September 1887, betr. Tierseuchen, §33; Königl.Vdg., 19. März 1888. betr-
Verhütung der Abholzung junger Bäume; Königl.Vdg., 9. November 1888, betr. Ver-
bot gegen Einfuhr von Waren mit unrichtiger Ursprungsbezeichnung; Königl. Erlass,
21. Dezember 1888, betr. die Postbeförderung; G. betr. Schutz gegen Gefahr im Ge-
werbebetrieb, 10. Mai 1889, §§7—9; Köniffl.Vdg., 11. Oktober 1889, betr. Fabrikation
und Verkauf von Margarine, §§ 12—15; Königl. Vdg. betr. Stempelgebühren, 5. Sep-
tember 1890, Art. VI; Seegesetz, 12. Juni 1891, Kap. 12; G. betr. Seefund, 12. Juni 1891;
Königl.Vdg., 10. Juli 1891, betr. Verbot gegen Nachtbandel von Kindern, §4; G. betr.
die öffentlichen Landwege, 23. Oktober 1891, Kap. VII; Königl.Vdg., 27. November 1891,
betr. Pässe und Nationalitätsurkunden, §§2, 3; Königl.Vdg., 27. November 1891, betr.
Registrierung schwedischer Schiffe, §§22—27; Königl.Vdg., 31. Dezember 1891, betr.
Verkauf geistiger Getränke, §§ 38—49; Königl. Erlass, 31. Dezember 1891, betr. Muste-
rung von Seeleuten § 17; Königl.Vdg., 3. Juni 1892, betr. die Einkommensteuer, § 19:
Königl. Erlass, 7. Oktober 1892, betr. die Besteuerung von Spielkarten; Königl. Vdg.,
2. Dezember 1892, betr. besondere Steuerabgaben, § 4.
IV. Die allgemeinen strafreclitlichen Bestünmungen.
§ 7. Geltungsgebiet«
I. Räumliches Herrschaftsgebiet (Kap. I). Massgebend in dieser
Hinsicht ist teils der Ort des Verbr., teils die Staatsangehörigkeit des Ver-
brechers. Wegen aller in Schweden oder auf einem schwedischen Schifife
ausserhalb der Landesgrenzen begangenen strafbaren Handlungen ist der Ver-
brecher ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit nach dem schwedischen
6. zu bestrafen. Dasselbe gilt bezflglich schwedischer Unterthanen wegen der
auf ausländischem Boden gegen den schwedischen Staat oder einen schwedi-
schen Unterthan begangenen strafbaren Handlungen; betreffs eines Ausländers
aber nur, wenn die schwedische Staatsregierung die Klage anordnet. Schwe-
dische Unterthanen können ausserdem wegen anderer, im Auslande begangener
strafbarer Handlungen nach dem Befehl der Regierung angeklagt werden
(Kap. !,§§!, 2).
Die Bestrafung wegen der im Auslande begangenen strafbaren Hand-
lungen ist — mit Ausnahme für Priester in Fällen, wo der priesterliche Ruf
befleckt oder preisgegeben wird — ausgeschlossen, wenn der Thäter schon
im Auslande bestraft worden ist. Jedoch kann der Richter den Verlust des
§ 8. Die Strafen (Kap. II). 253
bürgerlichen Vertrauens oder die Unwürdigkeit zum staatlichen Dienste aus-
sprechen (Kap. I, §3; Kap. 11, §21; priesterliches StG., §8, Abschn. 2).
Dem StG. nicht unterworfen sind: a) der König (das Grundgesetz
Regierungsform §3); b) Gesandtschaften ausländischer Mächte nebst ihren wirk-
lichen Dienern (Königl. Brief vom 10. Februar 1769).
Norwegischen, bez. russischen Unterthanen gegenüber gilt mit Gegenseitigkeit
für Schweden, dass der Delinquent, welcher, nachdem er in dem fremden Lande
eine strafbare Handlung begangen hat, in sein eigenes Land zurückkehrt, entweder,
in Beziehung auf Kussland, daheim verurteilt oder, Norwegen gegenüber, von
derProvinzialregierung ausgeliefert, bezw. vor das zuständige Gericht des fremden
Landes vorgeladen wird (Kap. I, § 5 ; königl. Vdg. vom 1 .Juni 1819; königl . Erlass vom
5. Dezember 1821). Nach dem Mil.-StG., § 7, werden Verbr. gegen Kriegsleute
eines verbündeten Staates wie solche gegen die schwedische Kriegsmacht bestraft.
Die Auslieferung ist nur durch Verträge gemäss den französischen
Grundsätzen geregelt. — S. die Verträge mit: den Vereinigten Staaten von
Nordamerika vom 14. Januar 1893, schwed. Verfass.- Samml. 1893, No. 21; Bel-
gien vom 26. April 1870, No. 37, und vom 6. November 1877, No. 39; Deutsch-
land vom 19. Januar 1878, No. 19; Frankreich vom 4. Juni 1869, No. 72;
Grossbritannien vom 26. Juni 1873, No. 60; Italien vom 20. September 1866,
No. 73 und vom 28. Mai 1878, No. 15; Luxemburg vom 21. Juli 1883,
Jahrg. 1884, No. 8; Holland vom 11. März 1879, No. 38; Portugal vom 17. De-
zember 1863, Jahrg. 1864, No. 44; Spanien vom 15. Mai 1885, No47; Öster-
reich vom 2. Juni 1868, No. 54. Ausgenommen sind schwedische Staatsbürger
und in der Regel politische Verbrecher. Nach den Verträgen aber mit Deutsch-
land, Frankreich, Belgien, Holland, Luxemburg und Spanien sind gewisse An-
griffe auf das Leben des Oberhaupts einer fremden Regierung oder seiner
Familienmitglieder nicht als politische Verbr. anzusehen.
IL Zeitliches Herrschaftsgebiet. Strafrechtliche Bestimmungen treten
in Wirksamkeit an dem im G. angegebenen Tage, oder, wenn ein solcher nicht
festgestellt ist, an dem nach dem Beginne der Verlesung des G. in der Ge-
meindekirche folgenden Tage. Bei Verschiedenheit der StG. zur Zeit der be-
gangenen Handlung und zur Zeit ihrer Aburteilung ist das mildeste G. anzu-
wenden. Einf.G. zum StG. vom 16. Februar 1864, §§ 1, 5, 6 Abschn. 3; Einf.G.
zum Mil.-StG. vom 7. Oktober 1881, § 4; königl. Cirk. vom 2. April 1833.
§ 8. Die Strafen (Kap. II).
!• Allgemeine Hauptstrafen sind: Todesstrafe, Strafarbeit, Gef. (ohne
Arbeitspflicht) und Geldstrafe (§ 1), welche zusammen 64 regelmässige und 19
besondere Strafrahmen ergeben. Körperliche Züchtigung für Kinder (Kap. V, § 1)
wird nicht als Strafe betrachtet.
Besondere Strafen für Amtsdelikte sind: dauernde oder zeitweise
Enthebung von dem bekleideten Amte^) oder der sonstigen öffentlichen An-
stellung, mitunter mit anderen Strafen verbunden (Kap. XXV, §§ 9 — 11, 14,
15; priesterl. StG. §12); —Disziplinarstrafen (Mil.-StG. vom 7. Oktober 1881,
§§ 16, 80, 81; Disziplinarstatuten vom 7. Oktober 1881, § 24); — Warnung, für
Priester (priesterl. StG. vom 8. März 1889, §§ 8, 9); — administrative Rüge nach
verschiedenen Beamteninstruktionen.
2. Nebenstrafen und Nebenfolgen sind: a) Verlust des bürgerlichen
Vertrauens (Kap. II, §§19, 21; Kap. III, §13; Kap. IV, §§1, 11; Kap. V, §§2, 3),
*) Wenn der Betreffende das Amt nicht mehr bekleidet, tritt hohe Geldstrafe
oder Gef. auf höchstens 6 Monate ein, eventuell nebst Unwürdigkeit zum staatlichen
Dienste und Nebenstrafen (Kap. II § 17, XV § 1, XXV § 21).
254 Schweden. — Die allgemeinen strafrechtlichen Bestimmungen.
nach besonderen Bestimmungen,^) entweder für immer, — bei Todesstrafe,
lebenslänglicher Strafarbeit, Meineid nach Kap. XIII, §§1,2, — oder auf ge-
wisse Zeit, von dem Tage der Rechtskraft des Urteils bis zum Ablaufe von
mindestens einem, höchstens zehn Jahren von der Freilassung nach verbüsster
Strafe gerechnet.^) So lange der Verlust des bürgerlichen Vertrauens dauert,
tritt Ausschliessung von den bekleideten Ämtern (Stellen), sowie von allen Ge-
rechtsamen und Vorteilen ein, zu deren Genuss guter Ruf (frejd) erforderlich
ist. b) Dunkle Zelle , Zusatzstrafe nach Kap. IV, § 1 2 für den Sträfling auf
Lebenszeit, der ein Verbr., welches nicht Todesstrafe nach sich zieht, verübt hat.
c) Besondere Nebenstrafen für Beamte : Aberkennung der Fähigkeit zur Bekleidung
öffentlicher Ämter (Unwürdigkeit zum staatlichen Dienste), bezw. dergleichen
Anstellungen oder einer bestimmten Anstellung, Kap. II, §§15 — 17; Kap. XXV,
§15. Mit dem Verlust des bürgerlichen Vertrauens ist immer Verlust des Amtes
bezw. der öffentlichen Anstellung verbunden (vgl. Mil.-StG. §27; priesterl. StG.
§ 7).*) Über Verlust königlicher Orden s. königl. Brief vom 19. Juli 1806,
königl. Cirkular vom 20. Januar 1837. d) Einziehung, e) Beschlagnahme.
f) Unschädlichmachung von Platten, Formen usw. g) Ausscheidung, G. betr. litter.
Eigentum vom 10. August 1877, § 15. h) Entschädigung für die Bekanntmachung
eines verurteilenden Erkenntnisses, StG. XVI, § 14. i) Verlust der Befugnis zum
Gewerbebetrieb; Kap. XXII, § 14; G. betr. Verkauf von Branntwein vom
31. Dezember 1891, § 39.
3. Die Todesstrafe ist durch Enthaupten auf dem Gefängnishof zu voll-
strecken (Kap. II, § 2 der Vdg. vom 10. August 1877); nach Mil.-StG. § 10 auch
durch Erschiessen; die Vollstreckung erfordert die besondere Vorschrift der
Staatsregierung oder, bei standgerichtlichem Urteil, die des höchsten Befehls-
habers des Platzes (Mil.-StG. §11); sie wird durch Krankheit oder Schwanger-
schaft bis auf weiteres gehemmt (Kap. II, § 3).
4. Die Freiheitsstrafen: Kap. II, §§5 — 7. Die Strafarbeit ist eine
lebenslängliche oder zeitige. Der Höchstbetrag der zeitigen ist 10 Jahre, bei
Kumulation 12 Jahre; der Mindestbetrag 2 Monate. Der Höchstbetrag der Ge-
fängnisstrafe ist 2 Jahre, bei Kumulation 4 Jahre; der Mindestbetrag 1 Monat.
Die Bemessung der Freiheitsstrafen erfolgt ausnahmslos nach vollen Monaten;
die Bemessung nach Tagen ist jedoch nicht gesetzlich ausgeschlossen. Die
Freiheitsstrafen werden in einer centralen Strafanstalt oder in einem Zellen-
gefängnis (nach dem Mil.-StG. § 13, vgl. Disziplinarstatut §§ 29 — 32 auch im
Militär-Gef.) nach Massgabe besonderer Vorschriften*) vollstreckt. Weder be-
dingte Entlassung noch progressive Vollstreckung findet statt. Der zur Straf-
arbeit Verurteilte wird, soweit möglich, mit Arbeit *"*) beschäftigt. Die Art der
Arbeit ist nicht gesetzlich bestimmt (in den centralen Strafanstalten oft Fabriks-
arbeit; nie Feld- oder Strassenarbeit). Die Beschaffung der Arbeit liegt dem
Gefängnisvorsteher ob. — Bezüglich der Arbeitsprämien s. königl. Reglement
vom 24. Oktober 1890. Die Gefängnisstrafe wird in Einzelhaft ohne Arbeits-
zwang verbüsst. Als ausschliessliche Umwandlungsstrafe ist sie mit Arbeitspflicht
verbunden. Als Folge von Bettelei, Landstreicherei u. dgl. kann Zwangsarbeit,
die nicht als Strafe zu erachten ist, in besonderen Arbeitsanstalten auferlegt
werden (G. vom 12. Juni 1885 über Behandlung von Landstreichern, § 5; Armen-
») Wird nicht auferlegt wegen der in Kap. VIT, IX, X, XI, XVII und XXIV er-
wähnten Delikte. — *) In Bezug auf etwa vorkommende Kumulation der Hauptstrafen
könnte der Wille des G. treffender ausgedrückt sein. — ^) Über die Entlassung aus dem
Dienste wegen eines mit Strafarbeit oder schwererer Strafe bedrohten ausseramtlichen
Verbrechens s. Kap. XXV §20; Mil.-StG. §§28, 120. — *i S. G. v. 29. Juli 1892 (oben §5 a.E.). —
*) Im Jahre 1889 kamen bei den centralen Strafanstalten 22'^'^ gehinderte Tagewerke vor,
17^/o Arbeit für die Anstalt, 61"/y remunerierte Arbeit. Bei den Zellengefängnissen fehlte
Arbeit für 9,2« o-
^
§ 8. Die Strafen (Kap. 11). 255
pflegegesetz vom 9. Juni 1871, §§ 40 — 41). Die Zwangsarbeit ist durch voraus-
gehende fruchtlose Warnung bedingt.
5. Geldstrafe. Der Mindestbetrag nach dem StO. ist 5 Kronen (Riks-
daler).^) Der Höchstbetrag darf im allgemeinen 500 Kr. nicht überschreiten
(Kap.II,§8). In besonderen Fallen beträgt er bis 1000 Kr. (Kap.IX, §§5,8; Kap.X,
§§2, 16; Kap. XVI, §10; Kap. XXIV, §3) bezw. für Beamte den Betrag eines
Jahresgehaltes (Kap. XXV, §21; Mil.-StG. §123); nach Verwaltungs- und
Folizeigesetzen höher, z. B. nach Branntweinfabrikations-G. vom 13. Juli 1887,
§ 25, bis 5000 Kr. Zuweilen ist die Geldstrafe als ein Zwei- oder Mehrfaches
oder als Quote eines Wertes zu berechnen (StG. Kap. XXII, §§19, 20; Konk.-
Odg. vom 18. September 1862, §133; ZoU-Odg. vom 2. November 1877, §138).
Nach dem Pressgesetz § 4, Abs. 7 wird die im allgemeinen bestimmte Geld-
strafe in Bezug auf den verantwortlichen Redakteur auf das Doppelte erhöht.
Bei der Umwandlung ist jedoch nur der einfache Betrag zu berechnen.
In den privatrechtlichen Abteilungen des GB. v. 1734 kommen Geld-
strafen von sehr verschiedenen Grössen vor. Giftermäls Balk, Kap. VI, §3,
^I^Q des Vermögens; Byggninga Balk, Kap. XI, §3: der Lohn des Hirten wegen
Versäumnis beim Weiden; Kap. XIII, §5: ^4 ^^^ Strafe wegen Holzschiagens;
Kap. XIV, §3: der Jahreslohn; Handels Balk, Kap. IX, §6: ^/^^^ des Kapitals,
bei Wucher; Rättegängs-Balk, Kap. XXIV, §10: 5— 10— 20 Daler*) oder mehr
nach den Umständen (vgl Kap. XXX, § 10) wegen unberufenen Antrages auf
Urteilserklärung; sonst 1, 2, 3, 5, 6, 10, 15, 20, 25, 30, 40, 50, 100, 500
Daler. — Ganz geringfügige Geldstrafen s. Rättegängs-Balk, Kap. IX, § 2,
8 öre Sübermünze; Byggninga Balk, Kap. XHI, § 6, 6 marker; Kap. XXVII,
§§ 2, 4 (1, 2, 4, 6, 8 öre), vgl. Jorda Balk, Kap. XVI, § 4.
Die Geldstrafe wird nach dem StG. zu der Staatskasse eingezogen. Nach
den Nebengesetzen fällt sie Gemeinden, öffentlichen Einrichtungen, Armen-
verwaltungen, dem öffentlichen Ankläger und dem Angeber zu. Nach Rätte-
gängs Balk, Kap. XXX, § 23, vgl. königl. Ordre vom 25. September 1799, dem
Lazarette; nach Giftermäls Balk, Kap. III, §1, Kap. VI, §3; Ärfda Balk.
Kap.IX, §5; Handels Balk, Kap.IX, §6; Rättegängs Balk, Kap. II, §3,
Kap.IX, §5, den Armen; nach Jorda Balk, Kap. XVI, §7, dem Grundbesitzer
oder seinem Rechtsinhaber; nach Byggninga Balk, Kap. XXVI, § 6, den Bau-
pflichtigen. — Verteilung zwischen der Krone und dem öffentlichen Ankläger
ist vorgeschrieben im Fischerei-Statut, §42; im Jagd-Statut, §25; zwischen der
Polizei und der Stadt, in der Städte-Ordnung vom 24. März 1868, § 28, usw.
Nach den privatrechtlichen Abt. des GB. v. 1734 ist zu verzeichnen:
Dreiteilung zwischen dem König (der Staatskasse), dem Gerichtssprengel
und dem Klaginhaber, Rättegängs Balk, Kap. XXXII, § 1 ; Zweiteilung zwischen
dem König und dem öffentlichen Ankläger, Rättegängs Balk, Kap. XXXII, § 2 ;
zwischen dem König und dem Gerichtssprengel, Giftermäls Balk, Kap. 3, § 4.
Bei Uneinbringlichkeit der Geldstrafe tritt an deren Stelle (nach Kap. II,
§§ 10 — 13, gemäss dem Wortlaut des G. vom 16. Mai 1884) Gefängnisstrafe von
3 bis zu 60 Tagen (fVüher bei Wasser und Brot), welche in den gewöhnlichen
Gef. — nach dem Mil.-StG. in gewissen Fällen auch im Militär-Gef. — ab-
gebüsst wird. Der Gefangene ist zur Arbeit verpflichtet. War neben der
Geldstrafe auf Strafarbeit erkannt, so ist die an deren Stelle tretende Gefäng-
nisstrafe in Strafarbeit mit Abzug der Hälfte der Gefängnisstrafe umzuwandeln.
(Kap. IV, §§ 5 — 7). Wenn auf Todesstrafe oder lebenslängliche Strafarbeit er-
*) Eine Krone oder 100 öre = 1 Mark 12,5 Pfg. deutscher Währung.
'-) 1 Daler Silber-Münze (//« Krone) = 4 mark oder 32 öre S.M.; (1 öre S.M. = 1,56
des jetzigen öre).
i
>
25t> Schweden. — Die allgemeinen strafrechtlichen Bestimmungen.
kannt war oder zeitige Strafarbeit nicht mehr kumuliert werden kann, so ist
die uneinbringliche Geldstrafe als durch die übrige auferlegte Strafe verbüsst
anzusehen.
6. Busse. Obwohl aus den eigentlichen StG.^) ausgeschlossen, ist sie
nicht ganz aus der schwedischen Gesetzgebung verschwunden. S. Giftermäls
Balk, Kap. XII, § 1 : ein Drittel des Vermögensanteiles, wenn ein Witwer (oder
eine Witwe) in eine neue Ehe eintritt, ohne den Kindern des Verstorbenen ihre
Erbschaft zu verabfolgen ; Giftermäls Balk, Kap.UI, §7; Kap. XIII, §1; Jorda
Balk, Kap. XVI, § 7 ; Byggninga Balk, Kap. XXVI, § 6 ; Ärfda Balk, Kap. IX,
§§5, 7, bei versäumter, bezw. betrügerischer Inventarauftiahme; Handels Balk.
Kap. III, § 5, bei unterlassener Entrichtung der zu zahlenden Auswanderungs-
Abgabe, Kap. IX, § 6 : die Zinsen bei Wucher. Nach der Konkursordnung
vom 18. September 1862, § 133, kann der Gläubiger, der sich des strafbaren
Eigennutzes schuldig gemacht hat, verurteilt werden, die Hälfte des Wertes
des Vorenthaltenen an die Konkursmasse zu büssen.
7. Strafmass, Durchschnittsstrafe, Strafmedium. Absolut be-
stimmte Strafen kommen ausnahmsweise bei gewissen Amtsdelikten vor (StG.,
Kap. XXV, §§1, 4, 5, 8, 9, 13, 16, 19; Mü.-StG. §§ 123, 125; Nebengesetze).
Wenn ein auf Lebenszeit verurteilter Sträfling sich des Totschlages schuldig
macht, tritt Todesstrafe ein, sofern nicht mildernde Umstände vorliegen. Sonst
hat der Richter die Wahl, entweder innerhalb derselben Strafart zwischen
einem Mindest- und einem Höehstbetrag, oder zwischen zwei oder mehreren
Strafarten, jede in der Hegel begrenzt durch Mindes^ und Höchstmass, oder
zwischen einer absolut und einer relativ bestimmten Strafe. Zuweilen ist es
dem richterlichen Ermessen überlassen, ob neben der Hauptstrafe eine Neben-
strafe einzutreten hat (StG., Kap. V, §3; Kap. XXV, §§3, 16; vgl. Mil.-StG.
§§ 27, 28).
In den Entw. (1832, Kap. VI, §3; 1844, Kap. VI, § 6) war vorgeschrieben,
dass bei Androhung alternativer Strafarten ohne Angabe irgend eines Grundes
für ihre Anwendung die an erster Stelle genannte in Anwendung zu bringen
sei, wenn sie die schwerere ist, insofern nicht mildernde Umstände überwiegen :
und unter der entgegengesetzten Voraussetzung, wenn sie die mildere ist. Der
Gesetzausschuss des Reichstages v. 1862 — 1863 ist dagegen der Ansicht, dass
die erstgenannte Strafart stets vorzugsweise anzuwenden sei, verwirft aber
entschieden die Theorie von einem sogenannten Strafmedium, d. h. einem dem
Verbr. in gewöhnlichen Fällen, bei Abwesenheit erschwerender sowie mildernder
Umstände entsprechenden Strafmasse. Diese Normalstrafe, welche nach der
Theorie etwa halbwegs zwischen dem arithmetischen Mittel und dem Mindest-
mass des Strafrahmens — jedoch mit einem Zuschlag zu dem auf diesem
Wege gefundenen Strafmasse bei ZusammentreflFen mehrerer erschwerender
Umstände, und im entgegengesetzten Falle nach einem Abzug — aufzusuchen
sein sollte,^) hat indessen mehrere Vertreter gefunden; vor anderen Nordling,
in Naumanns Zeitschrift 1864, S. 567; 1865, S. 785; Annerstedt, Straffmätning,
S. 57 — 58; Gegner war: CarKm, Kommentar, S. 21; unbestimmt: Fröman,
Justitieombudsmannens Embetsberättelser 1862, 1864, 1865. — Vgl. Winroth,
Föreläsninger, S. 102; Goos, Nordiske Strafferet, S. 239—240.
*) S. über Entschädigung Kap. VI.
*) Die Aufgabe gehört wohl eigentlich zu den unlösbaren, sowie das Strafmedium
zu den rein abstrakten Konsequenzen des heiklen Versuches, eine Gleichung zwischen
Schuld und Strafe zu finden.
§ 10. Strafausschliessungs- und Strafaufhebungsgründe. 257
§ 9. ZurechnungsfShi^keit. Strafinflndigkeit.
Die diesbezüglichen Bestimmungen werden im Kap. V (Mil.-StG. § 30) in
Verbindung mit den Regeln über Notwehr, Verjährung, Strafmilderung u. dgl.,
unter der gemeinschaftlichen Überschrift: „von besonderen, die Strafbarkeit
ausschliessenden, mildernden und aufhebenden Gründen *S behandelt. Straf-
mündigkeit tritt in der Regel mit dem vollendeten fünfzehnten Jahre ein (§1);
bei Verbr., die mit Todesstrafe oder Strafarbeit von mehr als 2 Jahren be-
droht sind, sogar mit vollendetem vierzehnten Jahre (§ 2), sofern der Thäter
bei Begehung des Verbr. die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der Handlung
erforderliche Einsicht (Unterscheidungsvermögen) hatte. Die regelmässigen
Strafrahmen erleiden jedoch eine Herabsetzung. Auch wird auf Verlust des
bilrgerlichen Vertrauens nicht erkannt.
Zurechnungsunfähigkeit wird angenommen: a) bei Strafunmün-
digkeit. Diese ist grundsätzlich mit Straflosigkeit verbunden. Der Richter
kann aber entweder auf körperliche Züchtigung zu Hause durch die Eltern
oder sonstige gesetzliche Vertreter, oder die Überführung in eine öffentliche
Erziehungsanstalt,^) wenn Gelegenheit dazu vorhanden ist, verfügen; b) bei
fehlender geistiger Gesundheit. Hierher gehören: !• Wahnsinnige und
diejenigen, welchen der Gebrauch des Verstandes durch Krankheit oder Alters-
schwäche entzogen ist (§ 5, Abs. 1). Nach dem königl. Brief vom 9. März 1826
soll für eine die Gesellschaft sichernde Unterbringung der Geisteskranken*)
gesorgt werden. 2. Die ohne eigene Schuld in eine, das Bewusstsein aus-
schliessende , Geistesstörung Geratenen (§ 5, Abs. 2). In diesen unter a, b,
1, 2 bezeichneten Fällen tritt Straflosigkeit ein.
Andere Arten unvollkommener Geistesreife oder geistiger Gesundheit ver-
anlassen nur Strafmilderung; und zwar: !• Jugendliches Alter vom vollendeten
15. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Für Delinquenten dieser Altersstufe
ist statt Todesstrafe und lebenslänglicher Straf arbeit von 6 bis zu 10 Jahren
Strafarbeit vorgeschrieben. Zeitige Strafarbeit kann bis zur Hälfte der sonst
augedrohten Strafzeit, jedoch nicht unter 2 Monate verkürzt werden. Ob auf
Verlust des bürgerlichen Vertrauens erkannt werden soll, unterliegt nach der
Strafgesetznovelle vom 20. Juni 1890 der richterlichen Prüfung (§ 3). Ein vor
vollendetem 18. Jahre begangenes Verbr. wird in Bezug auf Rückfall nicht
angerechnet (§ 4). — 2. Geringere Geistesstörung (Trübung des Seelenlebens,
Überspanntheit). Das G. (Kap. V, § 6) bestimmt, dass, wenn derjenige, welcher
„eine verbrecherische That" begangen hat, durch Körper- oder Geisteskrankheit,
Altersschwäche oder andere' unverschuldete Verwirrung des vollständigen Ver-
standesgebraucbes entbehrte, obwohl er nicht als straflos (nach § 5) anzusehen
ist, statt der Todesstrafe auf Strafarbeit von 6 bis 10 Jahren zu erkennen sei.
Andere Strafen können nach Umständen unter diejenige Strafe, welche im all-
gemeinen auf die That folgen sollte, herabgesetzt werden.
§ 10. Strafausschllessungs- und Strafaufhebungsgründe.
Notwehr (Kap. V, §§ 7— -11, vgl. für gewisse Fälle Mil.-StG. § 36, Ab-
schnitt 1, 2) ist nach dem schwedischen StR. teils ein Strafmilderungsgrund,
teils ein Strafausschliessungsgrund. Die Lehre von der Notwehr ist nach dem
*) Als solche sind zu nennen: Die Ackerbaukolonie Hall in Södertöm, Stora
Raby bei Malmö und 19 andere; vgl. Guillaume, Congres penitentiaire international
h Stockholm, Stockholm 1879.
*) Auch bei der nach begangener That eintretenden Geisteskrankheit. In diesem
Falle kann aber gegen den Genesenen gerichtliche Verfolgung stattfinden.
Strafgesetzgebang der Gegenwart. I. 17
258 Schweden. — Die allgemeinen strafrechtlichen Bestimmnngren.
G. vom 20. Juni 1890 bis ins Einzelne, aber bei alledem unbefriedigend und
kasuistisch geregelt. — Notwehr ist im allgemeinen berechtigt, ^wenn jemand
mit Gewalt oder Drohung, die eine dringende Gefahr herbeigeführt hat, an-
gegriffen wird" (§ 7, Abs. 1;. Besondere Fälle, wo Notwehr oder Anwendmig
„der erforderlichen Gewalt** erlaubt ist, — z. B. bei Einbruch, nächtlichem
Eindringen, Widerstand gegen den rechtmässigen Eigentümer oder Besitzer,
angefangenem oder unmittelbar bevorstehendem Angriffe gegen Person und
Eigentum usw., — sind in § 7, Abs. 2, §§ 8. 10 angegeben.
Strafbare Überschreitung der Notwehr liegt vor, wenn die Gewalt g^rösser
war, als die Not erforderte, oder wenn sie in offenbarem Missverhältnis zu dem
zu befttrchtenden Schaden stand. Die Überschreitung ist nicht strafbar, „wenn
die Umstände derart waren, dass der Betreffende sich schwerlich besinnen
konnte". Sonst hat der Richter zu prüfen, ob und wie weit die Strafe herunter-
gesetzt werden möge. Über Nothülfe gelten dieselben Kegeln (§ 11).
Ein allgemeiner Strafausschliessungsgrund ist der unbeabsichtigte Zufall
(Väda). Das G. (Kap. V, § 12) bestimmt diesbezüglich, dass niemand wegen
eines Ereignisses, welches „mehr dem Zufall als der Fahrlässigkeit^ zuzuschreiben
ist, bestraft werden solle.
Besondere Strafausschliessungsgründe s. Kap. in, §11, Kap. Vm,
§ 22 (Angehörigkeit, bei Begünstigung oder unterlassener Anzeige eines Hoch-
verrates); Kap. X, §7, Kap. XV, §21 (die Zustimmung der Genötigten bei
Nötigung zur Heirat); Kap. XVIII, § 9; Kap. XXII, § 21, Abs. 3; Kap. XXDI, § 6.
Strafaufhebungsgründe (Kap. V, §§ 13—18) sind: 1. Der Tod des
Delinquenten. Auferlegte Geldstrafe wird, wenn Pfändung von Geld oder
Mobilien schon stattgefunden hat, eingetrieben. Nebenfolgen, wie Unschäd-
lichmachung von Formen, Platten u. dgl. sind nicht ausgeschlossen.
2. Verjährung, a) Verfolgungsverjährung (Kap. V, §§ 14, 18) tritt ein:
in zwei Jahren, wenn die strafbare Handlung nicht mit härterer Strafe als
Gefängnis bedroht ist; in fünf Jahren, wenn der regelmässige Höchstbetrag
der Strafe (d. h. wenn keine besonders erschwerenden Umstände vorhanden
sind) Strafarbeit von zwei Jahren ist. Eine besondere Verjährungsfrist von
nur 6 Monaten ist bei Notzucht (Kap. XV, §§ 12 — 16) vorgeschrieben. Amts-
delikte, die nur mit Geldstrafe bedroht sind, verjähren in zwei Jahren; andere
Amtsdelikte, wenn sie fahrlässig begangen sind, in fünf Jahren (§ 18). Be-
sondere Fristberechnung s. Stempel- Vdg. vom 5. September 1890, § 48. Nach
dem priesterlichen StG., § 11 Abs. 1, beträgt die Verjährungsfrist bei gewissen
Verbr. fünf Jahre. Nach dem Mil.-StG., § 38, sind in Bezug auf Verjährung
die Disziplinarstrafen den Geldstrafen des aligemeinen StG. gleichgestellt. Die
Verjährungsfristen werden in der Regel von dem Tage der begangenen That,
diesen Tag ausgeschlossen, bezw. des vollendeten Verbr. (z. B. Konkursdelikte,
Kap. XXIII; aber nicht bei mehrfachem Diebstahl, s. Erkenntnis des obersten
Gerichtshofes vom 3. Juli 1890) berechnet; bei den in Kap. XV, §§ 18, 21, ge-
nannten Fällen (Entführung, Nötigung zur Heirat), von dem Tage der Rechts-
kraft des die Ehe für ungültig erklärenden Urteils; nach dem Mil.-StG. § 39
bezüglich des bei einer Generalmusterung angemeldeten Delikts eines Vor-
gesetzten gegen Untergebene vom Tage der Musterung. — Unterbrechung der
Verjährung erfolgt durch Verhaftung oder durch Behändigung der Klage. Bei
Unterbrechung des Strafverfahrens ohne Verschulden des Delinquenten beginnt
eine neue Verjährungsfrist, § 16.
b) Vollstreckungsverjährung (§ 17) tritt bei solchen Strafen ein, die
höchstens 2 Jahre Strafarbeit betragen. Die Frist beträgt nach dem allgemeinen
StG. 10 Jahre, nach § 11 Abs. 3 des priesterlichen StG. 5 Jahre, vom Tage des
Urteils berechnet.
§ 12. Verbrechenseinheit — Verbrechensmehrheit. 259
3. Begnadigung, welche vom Könige nach einem vom obersten Ge-
richtshofe erstatteten Gutachten im Staatsrate erteilt wird. (Grundgesetz
Regierungsform, § 26).
§ 11. StrafsehSrfbng. BflckfaU.
Allgemeine Strafschärfungsgründe sind im G. nicht angegeben. Bei ge-
wissen Verbr., so bei unerlaubtem Verkauf von Gift, Notzucht, Brandstiftung,
gemeingefährlichen Verbr., Sachbeschädigung, Raub usw. (StG. Kap. XIV,
§§21, 28. 30-32, 38; Kap. XV, §§12—15; Kap. XVIII, §7; Kap. XIX, §§ 1,
3, 4, 7, 8, 10, 11, 18, 20; Kap. XXI, §8; Kap. XXII, § 3), wird als besonderer
Strafschärfungsgrund der Eintritt eines schweren Erfolges (Tod, Gesuüdheits-
gefahr, schwerer körperlicher Schaden) berücksichtigt; bei Körperverletzung:
grobe Fahrlässigkeit, Kap. XIV, §9; Gebrauch einer Waffe, Kap. XIV, §15;
nahe Verwandtschaft (Kap. XIV, §§35 — 37; diese auch bei Beleidigung, Kap.
XVI, §12); bei Amtsverbrechen: gewinnsüchtige Absicht, Kap. XXV, §§9 — 10.
Auch werden neue Verbrechensarten mit eigenen Strafrahmen infolge von Straf-
schärfungsgründen gebildet; beispielsweise sei auf Einbruchs- und andere qua-
lifizierte Diebstähle verwiesen (Kap. XX, §§ 3, 4). Über strafschärfende Um-
stände im allgemeinen s. Kap. XX, § 1, Kap. XXII, § 20; über mildernde Um-
stände, Kap. XII, §§ 12- -14; Kap. XIV, §§ 22, 29; Kap. XV, § 9; Kap. XX, §§ 1, 4.
Der Rückfall in dasselbe Verbr. ^) wird als Strafschärfungsgrund bei
folgenden Delikten verwendet: Diebstahl, Entwendung (schwedisch Snatteri) und
Raub . (Kap. XX, §§6, 7; Kap. XXI, §3; Mil.-StG. §§30, 121); Fahnenflucht
(Mil.-StG. §62); Unterschlagung oder Beschädigung von Waffen, Monturstüeken
usw. (Mil.-StG. § 112); unerlaubte Anwerbung zu einer anderen Truppe, Verleiten
dazu (Mil.-StG. § 142); unerlaubter Verkauf von Wein, Malz- und geistigen
Getränken (königl. Vdg. vom 24. Oktober 1885, § 12; vom 31. Dezember 1891,
§ 38; vgl. Vdg. vom 1. Oktober 1858 und vom 26. November 1875, betr. Verkauf
von Pulver, Petroleum u. dgl). Die Rückfallsschärfung tritt nur ein bei gänz-
licher Verbüssung der früheren wegen desselben Verbr.^) im Inlande zuerkannten
Strafe (Kap. IV, § 11; Einf.G. zum Mil.-StG. vom 7. Oktober 1881, § 6). Wenn
die Strafe im Gnadenwege erlassen wird, gilt sie als verbüsst.
Rückfallsverjährung tritt nach 10 Jahren von der Verbüssung, bezw. dem
Erlass der früheren Strafe ein, sofern nicht der Delinquent während dieses
Zeitraumes ein mit Verlust des bürgerlichen Vertrauens bedrohtes Verbr. be-
gangen hat, oder wegen eines solchen früher verübten Verbr. bestraft
worden ist.
§ 12. Yerbrechenseinhelt — Verbrechensmehrheit.
Das IV. Kap. des StG. mit der Überschrift „vom Zusammentreffen von De-
likten und von der Verbindung oder Veränderung von Strafen, sowie vom
Rückfall" enthält in den drei ersten Paragraphen die Regeln über: 1. sogenannte
ideale Konkurrenz (Verbrechenseinheit, § 1); 2 a) reale Konkurrenz (Verbrechens-
mehrheit, § 2) und b) sogenanntes „fortgesetztes Verbr." (§ 3). Besondere Regeln
S.Kap. XXV, §18. Mü.-StG. §31. Gemäss dem priesterlichen StG. §10,
Abschnitt 1 gilt betr. aller nach diesem G. strafbaren Handlungen das Ab-
sorptionsprinzip . ,
1. Ideale Konkurrenz (§1). Der Ausdruck kommt im G. ebensowenig
wie etwa Handlungseinheit oder Verbrechenseinheit vor. In der Begründung
^) Das schwedische StR. kennt nur die sogen, „recidive sp^'ciale".
*) Verbüsste Strafe wegen Raubes (bezw. Versuch dazu) oder wegen Einbruchs
wird der wegen Diebstahls verbüssten Strafe gleichgestellt.
17*
260 Schweden. — Die allgemeinen strafrechtlichen Bestimmungen.
des Entw. v. 1844 wird angedeutet, dass in dem diesbezüglichen Paragi'aph
des Entw. (Kap. VI, § 11) vom „concursus formalis" die Eede sei.
Das G. sowie der Entw. unterscheidet hier freilich zwei Fälle: !• „wenn
eine Handlung mehrere Verbr. enthält" — welcher Ausdruck nicht notwendig
dieselbe Bedeutung hat, wie ,.wenn durch einen Akt mehrere verbrecherische
Erfolge herbeigeführt worden sind" — ; 2. wenn „eine HandluDg ein in ver-
schiedenen Hinsichten mit ungleichen Strafen bedrohtes Verbr. enthält", —
was wohl bedeuten kann, „wenn eine Handlung einen den Thatbestand meh-
rerer Verbr. bildenden, d. h. unter verschiedene Straf bestimmungen fallenden
Erfolg gehabt hat (Gesetzes-Konkurrenz). Was aber nach der Ansicht des
Gesetzgebers genau unter 1. fällt, ist von ihm nicht näher angegeben. Betr.
den Fall 2. ist in der Begründung des Entw. v. 1844 ein Beispiel angeführt,
welches indessen das gegenseitige Verhältnis beider Fälle keineswegs genügend
erklärt. Es solle aber ein Fall der sogenannten Partialkonkurrenz damit ge-
troffen werden.^) In beiden Fällen wird, nach dem Absoi*ptionsprinzip , nur
eine Hauptstrafe auferlegt, und zwar die strengste, wenn die in Frage kom-
menden Strafen ungleich sind. Ausnahmen: Bei Konkurrenz eines im Kap. XXV,
§§ 16, 17 erwähnten Amtsdeliktes mit anderen Delikten gilt gemäss Kap. XXV,
§ 18, das Kumulationsprinzip. So auch nach dem Mil. StG. § 145, wenn mili-
tärische Amts- oder Dienstverbr. andere Verbr. einschliessen.-) Die Vergehung,
wegen welcher keine besondere Strafe auferlegt wird, ist als ein Strafmehrungs-
grund zu erachten. Amtsentziehung und Nebenstrafen (Kap. II, §§15, 17, 20)
werden dagegen, dem Kumulationsgrundsatz gemäss, auferlegt, wenn nur eins
der konkurrierenden Verbr. damit bedroht ist.
Nach Mü.-StG. §31, Abs. 2 ist bei Konkurrenz zwischen Kap. X, §§ 1,
2, 5 des allgemeinen StG. und Mil.-StG. Kap. VII (Verbr. gegen die militärische
Gehorsamspflicht u. dgl.) nur das Mil.-StG. in Anwendung zu bringen. Bei
Konkurrenz zwischen Disziplinarstrafen und den in anderen G. angedrohten
Geldstrafen wird in den in § 31 vorgesehenen Fällen nur die Disziplinarstrafe
auferlegt.
2. Realkonkurrenz (§§ 2, 3). 1. „Wenn mehrere strafbare Hand-
lungen nicht in dem Zusammenhange zu einander stehen, dass sie die Fort-
setzung desselben Verbr. ausmachen , sondern jede für sich als selbständiges
Delikt aufzufassen ist" (d. h. den Thatbestand mehrerer Verbr., z. B. eines Dieb-
stahls, eines Betrugs, einer Körperverletzung, enthalten), gilt nach § 2 der
Kumulationsgrundsatz. Der Richter bestimmt für jede der verbrecherischen
Handlungen die ihr entsprechende Einzelstrafe, muss aber darauf achten, dass
die Freiheitsstrafen die in § 5 angegebenen Grenzen (s. o. § 8 , 7) nicht
überschreiten und, wenn die Strafen nicht gleichzeitig vollstreckt werden
können oder dürfen (S§ 4, 6, 7), die infolge dessen dem G. gemäss erforder-
lichen Bestimmungen mitteilen. 2, Wenn mehrere Handlungen eine Fortsetzung
desselben Deliktes bilden (§ 3), ist bei der Bestimmung der Strafe die Hand-
lungsmehrheit als Straf mehrungsgrund (erschwerender Umstand) zu betrachten.
In diesem Falle wird auf eine Gesamtstrafe erkannt.^) Ein Vergleich mit dem
W^ortlaute des § 2 veranlasst zu der Annahme, dass die strafbaren Handlungen,
um ein fortgesetztes Verbr. nach § 3 zu bilden, in irgend einem Zusammen-
0 Z. B. Körperverletzung gegen Beamte des Amtes wegen (Kap. X, § 1), wobei
die „körperliche \ erletzung" bisweilen mit schwererer, bisweilen mit leichterer Strafe
als das „Verbrechen gegen die Staatsgewalt** bedroht ist.
*) Betr. das priest. StG. s. § 12.
*) Bei Fortsetzung des unerlaubten Verkaufes von Branntwein, Bier und dergl.
nach der Klageerhebung findet besondere Bestrafung in Bezug auf iede behändigte
Klage statt. Königl. Vdg. vom 24. Oktober 1885, §21, und vom 81. Dezember 1891, § 46.
§ 12. Verbrechenseinheit — Verbrechensmehrheit. 201
hange stehen müssen. Näher ist die umstrittene Frage gesetzgeberischerseits
nicht erklärt. Meistens wird zugestanden, dass ein jeder der mehreren Akte
den Thatbestand desselben*) Verbr. erfüllen muss. Die Annahme eines fort-
gesetzten Verbr. gilt meistens als ausgeschlossen, wenn die mehreren Akte
gegen verschiedene Personen gerichtet sind. Gemäss besonderer Vorschrift des
Kap. XX, § 9, sind jedoch die zu verschiedenen Zeiten und Orten begangenen
Diebstähle, die gleichzeitig verfolgt werden, als fortgesetztes Verbr. anzusehen.
Mehrere Entwendungen (Snatterier) werden als ein fortgesetztes Delikt be-
trachtet, wenn der Gesamtwert nicht mehr als 15 Kronen beträgt. Wenn er
aber diesen Betrag überschreitet, sind die Entwendungen als ein Diebstahl zu
beurteilen. — Die Anwendung der Regeln von der Realkonkurrenz nach § 2
findet nicht nur bei gleichzeitiger Aburteilung mehrerer Verbr. statt, sondern
auch L „wenn jemand erst, nachdem er durch rechtskräftiges Urteil zur Strafe
wegen eines oder mehrerer Verbr. verurteilt worden ist, — es sei die Strafe
schon verbüsst oder nicht, — wegen einer schon vor dieser Verurteilung be-
gangenen strafbaren Handlung angeklagt und überwiesen wird" (§ 8). In
diesem Falle wird die Gesamtstrafe so bestimmt, als ob der Thäter wegen
sämtlicher Verbr. gleichzeitig verfolgt worden wäre. Von der neuen Gesamt-
strafe wird die schon verbüsste Strafe, bezw. der verbüsste Teil der früher
zuerkannten Strafe abgerechnet; 2, „wenn jemand nach einer rechtskräftigen
Verurteilung, aber vor der schliesslichen Verbüssung der Strafe, ein neues
Verbr. begeht" (§ 9). In diesem Falle wird die neue Strafe mit der vorher
auferlegten, oder mit dem bei der Begehung des neuen Verbr. noch nicht
verbüssten Teile derselben zusammengelegt. Von der Gesamtstrafe wird ab-
gerechnet, was nach der Begehung des neuen Verbr. von der ersten Strafe
verbüsst sein kann.
Wenn mehrere Straferkenntnisse gleichzeitig zur Vollstreckung kommen,
so sind die auferlegten Strafen auf eine Gesamtstrafe zurückzuführen, sofern
die Vollstreckung der einzelnen Strafen gegen die angeführten Regeln, — die
keine Anwendung finden, wo nur Geldstrafen in Frage sind, — streiten
würde (§ 10).
Durch die Vorschrift des G. ist die Anwendung des Kumulationsprinzipes
insofern beschränkt, dass 1. die „Todesstrafe" Freiheits- und Geldstrafen ab-
sorbiert, nicht aber besondere Strafen und Nebenstrafen (§ 4 Abschn. 1); 2. mit
lebenslänglicher Strafarbeit weder eine andere Freiheitsstrafe noch Geldstrafe
verbunden werden dürfen (§ 4 Abschn. 2). Nach der allgemeinen Ansicht ist
in diesem Falle die Geldstrafe als verbüsst oder, nach der Ausdrucksweise
des Entw. v. 1844 (Kap. VI, § 16) als verfallen anzusehen.'^)
Bei Vereinigung mehrerer zeitiger Freiheitsstrafen darf die Gesamtstrafe
die Dauer der schwersten unter den verwirkten Strafen, oder wenn die Dauer
der einzelnen Strafen eine gleiche ist, diese Dauer nicht mit mehr als 2 Jahren
übersteigen (§ 5). Triift Gefängnisstrafe mit Strafarbeit zusammen, so wird
jene in Strafarbeit umgewandelt, wobei die Hälfte der Dauer des Gefängnisses
abgerechnet wird (§ 6).
*) Betrug gegen Gläubiger durch Beiseiteschafifung von Vermögensstücken,
Bankerott usw. und darauf folgenden falschen Offenbarungseid ist von der Mehrheit
des obersten Gerichtshofes bis jetzt immer nach § 2, d. h. nicht als fortgesetztes Ver-
brechen beurteilt worden. Erkenntnis vom 6. und 80. September 1887, in Naumann,
Zeitschrift von 1888, S. 49, ;)3. Vgl. Carl6n, Kommentar S. 65—68; Winroth, Föreläsn.
S. 114; Justitie-Ombudsmannens Embets-Berättelse 1885, S. 27.
-) Carlen, Kommentar, 8. 78: „Mit Todesstrafe oder lebenslänglicher Strafarbeit
darf keine andere allgemeine Strafe voreinigt werden." — Über lebenslängliche Straf-
arbeit im Verein mit dunkler Zelle iKap. IV, § 12), s. o. § x.
2Ö2 Schweden. — Die allgemeinen strafrechtlichen Bestimmungen,
Geldstrafen können unbeschränkt gehäuft werden.
Anrechnung erlittener Untersuchungshaft auf die verwirkte Strafe ist
weder in der schwedischen Gesetzgebung erwähnt, noch in der Praxis als zu-
gelassen erachtet. Über die im Auslande begangenen, dort schon bestraften
Delikte s. o. § 7, I.
§ 13. Teilnahme.
Die allgemeine Lehre von der Teilnahme, wozu vom Gesetzgeber, ausser
Anstiftung, Beihülfe und un eigentlicher Teilnahme, auch Begünstigung und
Hehlerei gerechnet worden sind, wird im Kap. III behandelt. Besondere Straf-
bestiramungen wegen Teilnahme s. Kap. VIII, §§ 2, 3, 8, 22, 26 (Verrat u. dgl.);
Kap. X, §§ 7—9, 11, 13, 14; Kap. XIV, §§ 7, 8, 14, 27, 41 (Tötung, Körper-
verletzung, Abtreibung, Zweikampf); Kap. XV, §2 (Sklavenhandel); Kap. XVIII,
§ 14 (Glücksspiel); Kap. XX, §§ 10, 12, 13 (Diebstahl, Anfertigung oder Au-
schaflfung von Dietrichen für andere mit Kenntnis der Absieht zu stehlen);
Kap. XXI, §9 (Raub); Mil.-StG. §41 (Überlauf); §§64, 66, 67 (Fahnenflucht);
§77 (Aufruhr); §79 (Auflauf); §§81—82 (unerlaubte Zusammenkunft).
Der Anstifter (§ 1) wird bestraft, als ob er Thäter wäre, d. h. wegen
der vollendeten That, bezw. wegen Versuches, wenn die Handlung nicht zur
Vollendung gekommen war, sofern nämlich der Versuch strafbar ist. Hat der
Anstifter rechtzeitig den Thäter an dem Vorhaben zu hindern gesucht, so wird
er als Beihelfer (socius minus principalis) bestraft. Die Anstiftung ist als qua-
lifiziert zu erachten, wenn der Angestiftete minderjährig oder dem Anstifter
zu Gehorsam verpflichtet ist.
Aufforderung zum Aufruhr vor einer Volkssammlung oder durch Schrift,
die der Schuldige verbreitet oder verbreiten lässt, wird mit Gef. bestraft,
auch wenn die Aufforderung keine strafbare Wirkung hatte (Kap. X, § 11,
nach dem G. vom 28. Oktober 1887). Auf dieselbe Weise geschehene Auf-
forderung zur Gewaltthätigkeit gegen Personen oder Eigentum oder zu einem
anderen Verbr., sowie Verleitung zu Ungehorsam gegen G. oder öflPentliche
Behörden, wird, wenn die Aufforderung (Verleitung) mit keiner besonderen
Strafe bedroht ist, mit Geldstrafe oder Gef. bestraft (Kap. X, § 14, nach dem
G. vom 7. Juni 1889). Wenn die Aufforderung zu einem Verbr. geführt hat,
wird sie als Anstiftung bestraft.
Der Rädelsführer wird in Kap. X, §§ 7—9 gedacht.
Wegen Teilnahme an unerlaubter Anwerbung stellt Mil.-StG. § 142 Abs. 3,
besondere Strafrahmen auf.
Der Hauptgehülfe, d.h. nach dem Wortlaut des §3 „der, welcher bei
Begehung der strafbaren Handlung einem anderen mit Rat und That hilft,
sodass die Übelthat dadurch geschieht", wird so wie der Thäter bestraft. Wer
in geringerem Grade die strafbare Handlung, vor oder bei deren Begehung,
durch Rat und That befördert hat (socius minus principalis), wird in der Regel,
gemäss der Vorschrift des § 4 nach Massgabe seiner Mitwirkung, jedoch weniger
als der Thäter bestraft; bei Diebstahl aber, gemäss Kap. XX, § 10, wie der Thäter.
Komplott (§§ 5, 6). Ein jeder, welcher an der Verabredung teilgenommen
hat, ist, wenn er beim Verbr. anwesend war, oder vor, bezw. bei der Ausübung
der That das Verbr. befördert oder nachträglich dem Thäter geholfen hat, als
Thäter zu bestrafen. Hat er sich nicht in dieser Weise beteiligt, so wird er
wegen Beihülfe nach § 4 (socius minus principalis) bestraft, sofern er nicht
als Anstifter nach § 1 zu strafen ist. Einen besonderen Strafrahmen wegen
Komplottes zu Raub bestimmen Kap. XXI, §2 und Mil.-StG. §118. Über den
Einfluss persönlicher Verhältnisse auf die Strafbarkeit der Anstiftung oder der
Beihülfe giebt das G. keine Regeln. — Uneigentliche Beihülfe (§§ 7—8).
§ 15. Vorsatz und Fahrlässigkeit. 263
Wenn Eltern, Adoptiveltern, Erzieher oder der Vormund es unterlassen, ein
Verbr. des unter ihrer Aufsicht Stehenden zu verhindern oder zu offenbaren,
sofern dies ohne Anzeige geschehen kann, so wird der Schuldige als socius
minus principalis nach Massgabe des § 4 bestraft, über uneigentliche Bei-
hiüfe s. auch Mil.-StG. § 78.
Bei Begünstigung und Hehlerei unterscheidet das G. zwei Arten:
a) wenn der Begünstiger bezw. Hehler von dem Verbr. Kenntnis gehabt hat
(§9); b) wenn ihm nur Verdachtsgründe vorgelegen haben (§10). Im letzteren
Falle tritt nur Geldstrafe ein, in dem vorgenannten (§ 9) auch Gef. von höch-
stens 6 Monaten, oder bei gewissen schwereren Fällen Strafarbeit bis zu
2 Jahren. Wenn der Begünstigte Diebstahl, Entwendung oder Raub verübt
hat, so wird der Begünstiger oder Hehler nach Kap. XX, §12 und Kap. XXI,
§ 9, wegen Diebstahls bezw. Entwendung bestraft. Die von einem Angehörigen
gewährte Begünstigung nach § 10 ist straflos (§ 11).
§ 14. Der Versuch,
über welchen allgemeine Bestimmungen im StG. nicht vorkommen, wird nur
in besonders erwähnten Fällen — Kap. VIII, §§1, 5, 6, 7, 10 (Verrat); Kap.X,
§17 (Gefangenen-Befreiung); Kap. XIV, §§2, 18, 23 (Mord, Vergiftung, Kindes-
tötung); Kap. XV, § 14 (Notzucht); Kap. XIX, §§ 5, 6, 7 (Mordbrand, Attentat
durch Sprengstoffe, Bewirken von Strandung u.dgl.); Kap. XXI, §§ 1 — 3, 5 — 7
(Raub) — bestraft, sofern die Vollendung des Verbr. nur durch Umstände, die
vom Willen des Verbrechers unabhängig waren , verhindei-t wurde , und zwar
in der Eegel nach herabgesetztem Strafrahmen. Ausnahmen: Kap. VIII, § 1;
Kap. XIV, § 18; Kap. XXI, §§ 3, 6—8; vgl. Mil.-StG. § 41, Abs. 2, §§ &7, 105,
121, 136.
In gewissen Fällen bildet der Versuch, bezw. die Vorbereitung, den That-
bestand eines besonderen Verbr.; so nach Kap. VIII, §§2, 8 (Verabredung
eines hochverräterischen Unternehmens) ; Kap. XII, §§ 7, 12, 16, 18 (Anbringen
falscher Marken an Urkunden u. dgl., Verfertigung von Stempeln, Nachahmung
von Münzen); Kap. XIV, §§15, 18 Abs. 2, § 39 (Gebrauch von tötlichen Waffen,
Bereitung von Gift, Her ausf ordenin g zum Zweikampf); Kap. XV, §§4, 14, 17,
18 (Ausrüstung von Sklavenschiffen, Gewalt oder Entführung in unzüchtiger
Absicht); Kap. XX, § 13 (Anfertigung oder Anschaffung von Dietrichen); Mil.-
StG. §42 (Versuch zum Überlauf); §§117, 118 (Gewaltthätiger Angriff in der
nicht ausgeführten Absicht, Kriegsbedürfnisse sich anzueignen, — Zusammen-
rottung zu demselben nicht ausgeführten Zwecke).
§ 15. Vorsatz und Fahrlässigkeit.
1. Vorsatz (Uppsät). Gemäss der noch massgebenden Begründung des
Entw. V. 1832 wird zwischen dem mit Überlegung und dem nicht mit Über-
legung geff&sten Vorsatz unterschieden. Für den Ausdruck „mit Überlegung"
(StG. Kap. XIV, §§1, 4, 10, 11, 23, 29) wird der archaistische Leihausdruck
„med berädt mod" , mit beratenem Mut, gebraucht. Vgl. Abschnitt vom
Verbr. (Missgemingsbalk) im GB. v. 1734, Kap. XX, §§ 1, 13: ,,med (af)
berädde mode",^) Kap. 14, §1: „stadgadt mod"). Der Gegensatz wird mit
„hastigt mod",-j Hastmut (StG. Kap. XIV, §§3, 5, 10, 11, 29, vgl. Missgeni.
Brtlk, Kap. XVIII, § 6, bräd skilnad-^) Impetus), bezeichnet.
*) Vgl. Skane-Lag, AdditV: 3, 4 variant.
'-) Christoffers Lands-Lag, Tingmala Balk, Kap. 43, Add. H.2.
^) Magnus Erikssons Lands-Lag, Edsöris Balk Kap. 18: Saramal med Vilia Kap. 16
§ 1; Magii. E. Stads-Lag, Edsöris Balk Kap. 12, 14; Christoffers Lands-Lag, FAs. Balk
Kap. 13, 17.
264 Schweden. — Die allgemeinen strafrechtlichen Bestimmungen.
2. Fahrlässigkeit (einfache, grobe) wird nui* in besonders bestimmten
FäUen bestraft; so Kap. XIV, §9 (fahrlässige Tötung); Kap. XIV, §§17, 43
(Körpei-verletzung, vgl. Mü.-StG. §§88, 89); Kap. XIX, § 21 (gemeingefährliche
Delikte; vgl. Mil.-StG. § 107).
§ 16. Die einzelnen strafbaren Handlungen.
(Kap. VII— XXV, vgl. Kap. III, §§ 9—10.)
a) Gegen die körperliche Unversehrtheit, Kap. XIV (Von Mord,
Totschlag und anderer Köq)er\'erletzung) ; Mord, §1; Mordversuch, §2; Tot-
schlag, §§3—5; fahrlässige Tötung, §9; Körperverletzung, Gefährdung von
Leib und Leben, §§10—17, 36—37, 42, 44, 45; Kiudestötung, §§22—25
(Selbstmord, Tötung auf Verlangen sind nicht erwähnt); Aussetzung, §§30 — 34;
Vergiftung, §§18—21; Abtreibung, §§26—29; Raufliandel, §§7—8; Zweikampf,
§§ 38—41.
b) Gegen die Ehre. Kap. XVI. Falsche Anschuldigung, §§ 1 — 6; Be-
leidigung, §§ 7 — 15. Verleumdung Verstorbener nicht berücksichtigt.
c) Gegen die persönliche Freiheit. Kap. XV, §§ 1—11; 20—23:
Sklavenhandel, §§ 1 — 4; Menschenraub, §§5 — 7; Kinderraub, §8; Freiheits-
beraubung, §§9 — 10; Erzwingung eines Geständnisses, §11; Entführung der
Frau eines anderen mit ihrer Einwilligung, §20; Nötigung zur Heirat, §21;
Nötigung im allgemeinen, § 22; Drohung, § 23.
d) Gegen geschlechtliche Freiheit und sittliches Gefühl, Kap.XV,
§§ 12—19; Kaj). XVIII; Entführung, Kap. XV, §§ 17—19; Nötigung zur
Unzucht, Kap. XV, §§ 12 — 16; Unzucht mit Minderjährigen (unter 12 — 15 Jahren)
oder Geisteskranken, Kap. XVIII, §§7, 8; Unzucht mit Verletzung eines Ab-
hängigkeitsverhältnisses, Kap. XVIII, § 6; Kuppelei, Kap. XVIII, §§11, 12;
Blutschande, Kap. XVIII, §§ 1—5; Widernatürliche Unzucht, Kap. XVIII, § 10:
Erregung öffentlichen Ärgernisses, Verbreitung unzüchtiger Schriften, Kap. XVI II,
§13; Ti-unksucht, Kap. XVllI, § 15; Tierquälerei, Kap. XVIII, § 16.
e) Gegen Religion und kirchliche Ordnung, Kap. VII (königl. Vdg.
vom 11. Dezember 1868, vom 16. November 1869). (iotleslästerung, Kap. Vll,
§ 1; Verspottung des Gottesdienstes, Kap. VII, § 2; Sonntagsarbeit (theokratisch),
Kap. VII, §3; Gewaltthätigkeit während eines Gottesdienstes, Kap. XI, § 1,
vgl. §7; anderweitige Störung eines Gottesdienstes u.dgl., Kap. XI, §§2, 3;
vgl. §7; Störung des Gräberfriedens, Kap. XI, §4.
f) An Personenstand und Ehe, Kap. XXII, §§7—9 (vgl. §2 Abs. 4);
Kaj). XVII; Unterschiebung und Verwechselung eines Kindes, Kap. XXII,
§9; Eheerschleichung, Kap. XXII, §§7—8; Ehebruch, Kap. XVII, §§1—3;
mehrfache Ehe, Kaj). XVII, §§ 4—6.
g) Gegen verschiedene immaterielle Eechtsgüter. Hausfriedensbruch,
Kap. XI, §§10—14; Störung des Gerichtsfriedens, Kap. XI, §§ 5-«8. S. auch
beie); Mil.-StG. Kai).IX, §§113—116, 119 -121; ruhestörender Lärm, Schnell-
fahren, Kap. XI, §15; Verletzung des Briefgeheimnisses, Kap. XXII, §10;
Treulosigkeit eines Anwaltes, Kap. XXII, § 14.
h) Gegen das Vermögen. 1. Kap. XX, Diebstahl, Einbruch, Anfer-
tigung von Dietrichen; Entwendung (schwed. snatteri), wenn der Wert des
Gestohlenen nicht 15 Kronen übersteigt und die That nicht durch Einbruch,
nächtliches Eindringen, Führen von Waffen und dergl. nach § 4 qualifiziert
ist. Unterschlagung in demselben Wert gegen Personen, in deren Lohn
und Kost der Thäter sich befindet, und dergl. wird als qualifizierte Entwen-
dung (§3) angesehen. — 2. Hehlerei, Kap. III, §§9—10, vgl. Kap. XX, §12.
XIX, § 9 = Diebstahl, bezw. snatteri, s. o. § 12. Über Holzdiebstahl s. o. § 5,
§ 16. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 265
— 3. Raub, Kap. XXI; Mil.-StG. Kap. IX, §§117 bis 118, 119 bis 121. —
4. Erpressung, Kap. XXI, § 5. — 5. Verschiedene Arten von Unterschlag-
ungen, Kap. XXII, §§11, 14; Mil.-StG. §112; von einem Ehegatten gegen
den anderen u. dgl. (schwed. bodrägt), Kap. XXII, § 20; Fund- und Schatz-
verhehlung, Kap. XXII, § 19. — 6. Furtum usus, Kap. XXII, § 12; Mil.-StG.
§ 111. — 7, Furtum possessionis, Kap. X, § 20. — 8, Sachbeschädigung, gemein-
geföhrliche Verbr. und Verg., Kap. XIX; Mil.-StG. Kap. IX, §§107-112; Un-
vorsichtigkeit mit dem Feuer, Byggn. Balk Kap. XXIV. — 9. Jagd-, Fisch -
und Forstfrevel, Abgraben, Abpflügen, Haidebrand, Roden, Entrinden u. dgl.,
Kap. XXIV, 8. auch Byggningabalk. — 10, Konkurs verbr., Kaj). XXIII; vgl.
Konkurs-Odg. vom 18. Sej)tember 1862, Kap. 8, § 133 (deutsche Konkursordnung,
§213) Eigennutz des Gläubigers). — 11. Betrug, Untreue, WarenfUlschung.
Kap. XXII (vom Betrug und anderer Unehrlichkeit), §§ 1 — 5, 13, 14, 15, 17;
Glücksspiel, Kap. XVIII, § 14.
i) Gegen uneigentliche Rechtsgüter. Fälschung (von Urkunden.
Münzen usw.), Kap. XII; Gebrauch von gefälschten Schuldscheinen, Testamenten
u. dgl. oder von gewissen Urkunden, welche für andere Personen angefertigt
sind. Kap. XXII, §§ 16, 18.
k) Gegen das Gemeinwesen. 1. Verrat und Gefährdung der Sicherheit
des Staates, Kap. Vlll; Mil.-StG. Kap. 4 (auch Feigheit, Gemeinschaft mit dem
Feinde), Kap. 5 Fahnenflucht, Überlaufen u. dgl. — 2. M«yestätsbeleidigung,
Verbr. gegen Reichsregierung und Reichstag, Kap. IX. — 3. Widerstand gegen
die Staatsgewalt, strafbare Aufforderungen, Missachtung der Autorität der
Staatsgewalt usw., Kap. X, Mil.-StG. Kap. 6, §7,9; Wahl- und Stimmverhinde-
rung, Kauf und Verkauf von Wahlstimmen, Kap. X, §16; Siegel-, Arrestbruch,
Kap. X, §21; Amtsanmassung, Kap. XXII, §6; Wegnahme von Bekanntmach-
ungen, Kap. X, § 19. — 4. Meineid, Kap. XIII.
l) Verbr. und Verg. im Amte, Kap. XXV; priesterl. StG. vom 8. März
1889; Mil.-StG. Kap. 10. —Kap. 8 des Mil.-StG. handelt von Kriegsbeut<^ und
Missbrauch der Waffenmacht, Kap. 11 von Disziplinsachen.
m) Pressdelikte (Druckfreiheits-Vdg. vom 16. Juli 1812 mit späteren
Änderungen): 1. durch den Inhalt einer gedruckten Schrift (§ 3). Dies Delikt
ist in der Regel nach dem allgemeinen StG. zu strafen. Die Schuldfrage
wird von Geschworenen beurteilt. Besondere Straf bestimmungen s. § 3 Abs. 2
und 12 (Verleugnung Gottes, eines jenseitigen Lebens oder der reinen evange-
lischen Lehre; Aufforderung zu in- oder ausländischer Lotterie; unwahre und
verkehrte Darstellungen zur Täuschung oder Verleitung des Publikums);
t. gegen Ordnungsvorschriften (§1 Abs. 5, 8, 9, 10, 11; § 4 Abs. 2);M
3. gegen die Anonymität (§ 1 Abs. 6, 8); 4, gegen die Vorschriften über Ver-
öffentlichung von Urkunden (§ 2 Abs. 4, Alinea 1 — 8); 5. Veröffentlichung^
von Privatbriefen (§ 2 Abs. 4, Alinea 3); 6. Verkauf von sequestrierten
Schriften (§ 4 Abs. 9).
^ Versäumnis der Meldung der Druckerei, der Angabe des Namens des Buch-
druckers, des Druckortes, oder der Jahreszahl, der Einlieferung von Pflicht- und Kon-
trollexemplaren, Herausgabe einer periodischen Schrift ohne einen vom Justiz-
minister erteilten Erlaubnisschein (alle diese unter dem Ressort des Justizministers),
betrü«:eri8cher Titel (Gerichtssache).
V.
DER RUSSISCHE STAAT.
1. Das russische Kaisertum.
vou Dr. Jwan Foinitzki,
Professor de» Strafrechts a. d. Universität, (ieneraladvokat am Kassations-Seuate in St. Petersburg.
2. Das Grossfürstentum Finnland.
Von Dr. Jaakko Forsmann,
Professor des Strafrechtä in Helsingforä.
M
Übersicht.
1. Russland.
I. Geschichtlicher Überblick des russischen Strafrechts. § 1. Die Zeit der Teilfürsteii-
tümer und Volksversammlungen. § 2. Die Moskauer Periode, 16. und 17. Jahr-
hundert. § 3. Die Petersburger Periode, erste Hälfte (bis zum Grafen Sporanski,
1826i. § 4. Die Petersburger Periode, zweite Hälfte.
II. Das geltende russische Strafrecht. § 5. Die Quellen, ihr Geltungsgebiet, ihre
wissenschaftliche Behandlung. § 6. Der allgemeine Thatbestand des Verbrechens.
§ 7. Die Strafen des geltenden russischen Rechts. § 8. Der besondere Teil de^
russischen Strafrechts. § 9. Gerichtsverfassung und Verfahren.
2. Finnland.
I. Einleitung. § 1. Die ältere Geschichte des finnUtndischen Rechts. § 2. Die Ent-
stehungsgeschichte des SGBs. von 1HS9.
II. Das StGB, von 1889. § 3. Der allgemeine Teil. ^5 4. Die einzelnen strafljaren
Handlungen.
III. § 5. Die strafrechtlichen Bestimmungen ausserhalb des StGBs.
IV. § 6. Die Rechtsprechung.
1. Das russische Kaisertum.
I. Geschichtlicher Überblick des russischen Strafrechts.
Litteratur: Ewers, Das älteste Recht der Russen, Dorpat 1826. Reutz, Ver-
such über die geschichtliche Ausbildung der russischen Staats- und Rechtsverfassung,
1829. Iwanishew, Das Wehrgeld für Mord, 1839. Tobien, Die Blutrache, 1840. Nje-
wolin, Die äussere Gesichte der Gesetzgebung in Russland, 1840. Kalatshow, Eine
Untersuchung' über die russ. Prawda, 1846. Derselbe, Über die Bedeutung der Korm-
tshaja, 1850. Pogodin, Über die Verträge der russ. Fürsten mit den Griechen, 1846.
Depp, Über die Strafen in Russland vor dem Zaren Alexen Michäilowitsh, 1849. Bog-
danowski, Die Entwicklung der Ideeen über Verbrechen und Strafe im russ. Recht
vor Peter d. Gr., 1857. Lange, Untersuchung über das StR. der russ. Prawda, 1860.
Tshebishew-Dmitrijew% Das Verbrechen im russ. Recht vor Peter d. Gr., 1862. Nek-
liudow, Zusätze zu Berners Lehrbuch, 1865. Die Lehrbücher des russ. Rechts von
Leontowitsh 1869, Samokwassow 1878, Bjeljajew 1879, Sergej ewitsh 1883. Wladimirski-
Budanow, Chrestomathie der Quellen der Geschichte des russ. Rechts, 1872—76. Stroew
und Kalaidowitsh, der Sud6bnik vom J. 1497, zum ersten Mal herausgegeben, 1819.
Tatishew, Der Sudebnik vom J. 1550, zum ersten Mal herausgegeben, 1762. Stroew,
Historisch-juristische Forschung über das Ulozhenije,M 1833. Moroshkin, Rede über
das Ulozh6n\je, 1839. Linowski, Erforschung der Prinzipien des Kriminalrechts in
dem Ulozhenije des Zaren Alex6i MichAilowitsb, 1847. Njewolin, Kritik über Linowski,
Bd. VI der Werke. Kolossowski, Die Zurechnung von Mord und Totschlag nach der
Ulozhenije, 1859. Die Werke über die Supplement-Artikel von Wlassijew, Tshebishew-
Dmitrijew und Kistjakowski. Utin, Über die Ehrverletzungen nach russ. Recht, 1888.
Sergejewski, Die Strafe im 17. Jahrhundert, 1888. — Rosenheim, Geschichte der militär-
gerichtlichen Behörden bis zum Tode Peter L, 1878. Bobrowski, Der Ursprung der
Mil.-Art. Journal des Civil- und Strafrechts, 1881, No. 3. Derselbe, Das Mil.-Recht in
Russland zur Zeit Peter I., 1883. Filippow, Über die Strafe nach der Gesetzgebung
Peter L, 1891. Wostokow, Die Entw. eines StGB. 1754 und 1756, St. Petersburg 1882.
Sammlung der historischen Gesellschaft, 1869. L. A. v. Jakob (Sohn), Kriminalkodex
für das russ. Reich, von der kaiserl. Gesetzgebungskommission entworfen und nach
erfolgter Genehmigung der gesetzgebenden Abteilung des Reichsrates zum Druck
befördert. Übersetzt. Halle, 1818. Neues Archiv des Kriminalrechts, 1819, S. 43, 59.
L. H. V. Jakob, Entw. eines Kriminal-GB. für das russ. Reich, mit Anmerkungen über
die bestehenden russ. Kriminalgesetze. Nebst einem Anhange, welcher enthält: kri-
tische Bemerkungen über den von der Gesetzgebungskommission zu St. Petersburg
herausgegebenen Kriminalkodex. Halle 1818. — Baron Korff, Das Leben des Grafen
Speranski, 1862. Dimitrijew, Speranski und seine Staatsthätigkeit. Russisches Archiv
1868, No. 10.
§ L Die Zeit der TeilfDrstentfimer and Yolksyersaminluiigen.
I. Die erste Periode des russischen StR. (10. — 15. Jahrhundert), die Zeit
der Teilfürstentümer (udjelü) und Volksvei*sammlungen (wetshej, ist charak-
terisiert durch das Überwiegen des privaten, persönlichen Momentes über das
allgemeine, staatliche. Li staatsrechtlicher Hinsicht sehen die Fürsten ihre
Gebiete als Privateigentum an; in strafrechtlicher steht die Idee der persön-
') z = s in niaison, zh = j in Journal.
270 Das russische Kaisertum. — Geschichtlicher Überblick des russischen StR.
liehen Beleidigung, der Verletzung des einzelnen Privatinteresses im Vorder-
grunde. Die Strafe ist durch die Rache, die Funktion des Gerichts durch die
Verfolgung des Thäters und seiner Sippe durch den einzelnen und seine Sippe*
ersetzt. „Und es erhob sich ein Geschlecht wider das andere" (i wsta rod
na rod) — schreibt der Annalist Nestor.
U. Quellen: 1. Die Verträge Olegs und Igors mit den Griechen über
Auslieferungspflichten (911, 945). Mörder und Diebe werden, auf der That
ertappt, mit dem Tode; wenn sie entflohen sind, mit Vermögensverlust be-
straft; Vermögenslose werden dem Beleidigten übergeben. Für Körperverletzung
sind 5 Liter Silber zu zahlen; der Unvermögende büsst seine Kleidung ein
und muss den Paupertätseid leisten. Bei Marterung ist das Dreifache zu ent-
richten. In dieser ältesten Zeit war die Blutrache für Mord moralische Pflicht,
aber Privat-, keine Staatsangelegenheit. Dem Entflohenen gegenüber wurde
unter dem Einfluss der Zeit das Gefühl der Beleidigung milder: es stellt sich
die Geldbusse ein. Die erste Reaktion gegen dieses System zu Gunsten eines
publizistischen Charakters der Strafe wird von der Sage auf den von griechi-
schen Mönchen beratenen Wladimir d. Heil, zurückgeführt. 2. Die Russkaja
Prawda, angeblich von Grossfürst Jaroslaw (f 1054) herrührend, in der That
Privatsammlung aus Einzelentscheidungen und aus den Übungen der ver-
schiedensten Teile Russlands. 3. Gerichtsurkunden und Freibriefe von rein
partikulärem Charakter; so von der Düna 1397, von Pskow 1397 — 1467, Now-
gorod 1471. 4. Die Kormtshaja, tralatizische, ins Kirchenslavische übersetzte
Sammlung der Grundsätze des griechischen Kirchenrechts. 5. Die Verträge
der Fürsten untereinander, z. B. der von Nowgorod 1195 mit den Deutschen.
III. Die Prawda enthält bereits Andeutungen über Scheidung vorsätz-
licher und unvorsätzlicher Schuld. Den Versuch als solchen kennt sie nicht;
doch wird z. B. Entblössen des Schwertes als selbständiges Verbrechen der
Beleidigung bestraft. Betr. den privatrechtlichen Charakter des StR. ist ein
Unterschied zwischen den Redaktionen der Prawda. In den älteren herrscht
die Blutrache ausschliesslich, die jüngeren berichten die Abschafiimg der Blut-
rache durch die Söhne Jaroslaws. Damit ist das volle Kompositionensystem
eiTeicht. Die Geldstihnen sind zweierlei Art : zu Gunsten des Fürsten — wira
und prodazha, und zu Gunsten des Beleidigten — golownojö, urök; daneben
stand die Prozesskostenpflicht. Abstufung der Bussen nach der gesellschaft-
lichen Stellung des Beleidigten.
IV. Unter den Strafen ist seiner Natui* nach sehr streitig der Potök;
nach richtiger Ansicht stellt er keine bestimmte Strafart dar, sondern bedeutet
die Auslieferung des Schuldigen an den Fürsten oder die Volksmenge, die
mit ihm nach Belieben verfahren konnten. Auch die Bezeichnung Opäla (Un-
gnade) wird gebraucht. Der Potök wird wohl mit der sacratio des römischen
und der Friedlosigkeit des deutschen Rechts zusammengestellt; vielleicht hat
er auch seinen Ursprung im germanischen Recht (Vermittelung der Waräger).
Der Potök trifll; den Schuldigen und seine Familie bei Raubmord, gewinn-
süchtigem Mord aus einem Hinterhalt, Pferdediebstahl, Brandstiftung an Haus
oder Scheune. Andere Rechtsquellen haben hier Todesstrafe, die auch mehr-
fach auf Kirchenraub, auf dem dritten Diebstahl, auch auf Hochverrat steht.
Leibes- und Ehrenstrafen sind unbekannt.
V. Die Anzahl der Verbr. ist in den älteren Redaktionen der Prawda
verschwindend klein. Auch später wurden nur Verbr. gegen die Person
(Beleidigung ist hier gewissermassen clausula generalis) und das Vermögen
(Wert ohne Einfluss. Rolle des Pferdes: weit strengere Strafe des Pferde-
diebstahls; das Reiten, das Töten fremden Pferdes sind strafbar) behandelt.
Unter den letzteren figurieren Grenzsteinverrückung und dolose Ableugnung
§ 2. Die Moskauer Periode, 16. und 17. Jahrhundert. 271
einer Geldschuld. Über eine Reihe Delikte des kirchlichen Rechts sind Vdgn.
Wladimirs und Jaroslaws von zweifelhafter Echtheit vorhanden.
VII. Neben Überbleibseln von Selbsthülfe (Niederstossen des ertappten Diebes,
Mörders, Ehebrechers) weist das Verfahren als Mittel der Streiterledigung den
gerichtlichen Zweikampf auf. Die Paktion der Parteien beherrscht den Pro-
zess. Nur in den wichtigsten Sachen besteht eine ausserordentliche Prozess-
form, die den Ausgangspunkt für den russischen nationalen Instruktionsprozess
bildet. Beweismittel sind hier: Geständnis, gerichtlicher Zweikampf (in der
Prawda nicht erwähnt, seine Existenz für das 13. Jahrhundert nicht zweifel-
haft, auch unter Weibern zugelassen), Beweiseid, Reinigungseid, Gottesurteil,
Gehörzeugen (juratores, mit Lange den germanischen Eideshelfem gleich-
zustellen), Augenzeugen, Urkunden, Augenschein. Die Prawda kennt ausser-
dem die Umfrage (izwod), das successive Ausfragen einer Reihe von Personen
(z. B. Besitznachfolger).
§ 2. Die Moskauer Perlode, 16. und 17. Jahrhundert.
I. Zwei mächtige Faktoren haben eine neue Zeit heraufgeftihrt. Das
mongolische Joch, erst vor kurzem abgeworfen, in seinen Einflüssen tief ins
Leben des Volkes gedrungen, hat neue, bis zu dieser Zeit unbekannte Straf-
massregeln (die körperlichen Strafen) und neue Vorstellungen über das Wesen
des Unerlaubten mit sich geführt. Das Verbrechen erscheint lediglich als
Verletzung eines höheren Willens. Diese formelle Auffassung führt zwar zum
Teil auch auf die byzantinische Geistlichkeit zurück, aber den nachhaltigsten
Einfluss hat die Weltanschauung der Mongolen gehabt, nach der alles dem
Chan gehört und sogar jede Privatrechtsverletzung nichts als Verletzung des
Willens des Chan ist. Unterstützt wird die Entwickelung durch den zweiten
Faktor: Die Centralisation der Gewalt im Moskauer Fürstentum.
II. Quellen: 1. Der Kodex Iwan III., 1497, der grossfürstliche Sude bnik,
abgefasst auf Grund von Ukasen, der Praxis, der Prawda, der Bücher Mosis
und der Pskower Gerichtsurkunde. 2. Der Sud<3bnik des Zaren, nämlich
Iwan IV. des Schrecklichen, 1550, vollständiger, systematischer gearbeitet, nach
Artikeln eingeteilt. 3. Das Hauptdenkmal ist das GB. des Zaren Alcx^i
MichAilowitsh, 1648, das (Sobörnoje) Ulozhönye. Seine hauptsächlich in den
130 Art. der Kap. 21 und 22 enthaltenen Strafsatzungen sind, — ein Produkt
der imruhigen Zeit vor dem Aufkommen der Romanows, — von besonderer
Strenge gegen die Verletzer öffentlicher Ordnung. „Altertümlich wie Moskau,
patriarchalisch wie das russische Volk, Gefahr drohend wie des Zaren Grimm"
— nennt Moroshkin das Ulozh6nije. Es war bis 1832 geltendes Recht und
ist grösstenteils in den Swod (s. u.) aufgenommen. 4. Sonstige Denkmäler,
teilweise Quellen der schon erwähnten, sind zahlreiche Ergänzungsukase , das
Statutenbuch des Kriminalgerichts (Prikäz für Räuberprozesse), die Gübnaja
Gramöta (Instruktion an die Distriktsältesten und Geschworenen über die Haupt-
grundsätze des Kriminal-Rechts und -Prozesses), das Stoglaw, städtische Gesetze.
Daneben ist das im Rechtsbewusstsein der Zeit nur schwach durch das Gesetz
paralysierte Gewohnheitsrecht zu beachten.
III. Der Verbrechensbegriff hebt sich allmählich von dem civilen Unrecht
ab, neben die Accusatio tritt die Inquisitio. 1. Entweder als gesellschaftliche,
ausgeübt durch die von den Gemeinden erwählten Distriktsältesten und Ge-
schworenen, besonders in Räuber-, Diebstahls- und Mordprozessen. Charakte-
ristisch ist, dass als gefährlich nicht die That, sondern der Thäter erschien, —
erster praktischer Versuch, die Verbrecher nach dem persönlichen Zustand des
verbrecherischen Willens zu sondeni. Das Schicksal des notorischen Böse-
272 Das russische Kaisertum. — Geschichtlicher Überblick des rassischen StR.
wichts ist ein von Grund aus anderes, als das des bisher Unbescholtenen. Es
folgt daraus die Beachtung des Rückfalls, dessen Bestrafung aber immer
milder wird : Der I. Sudebnik bestraft jeden zweiten Diebstahl mit dem Tode,
der II. Sud6bnik nur ausnahmsweise, das Ulozhönye nur den dritten Diebstahl
und zweiten Raub. 2. Oder als staatliche da, wo es sich um die Interessen
der fürstlichen und kaiserlichen (Tcwalt handelt (Embryo des finsteren Inqui-
sitionsprozesses der Rasprawa).
In der Beweislehre sind die Ordalien bis auf das Los (nach dem Ulozhe-
nije in Sachen unter 1 Rubel Wert) verschwunden: dtis Eideshelferinstitut ist
gleich der Leumundsumfrage in der Accusatio im Zeugenbeweis aufgegangen.
Andere vorerst mit dem Leumund im Inquisitionsprozess. Im Ealle des guten
Leumunds gUt die Majorität gleich Einstimmigkeit: Resultat ist Freilassung
unter Bürgschaft der Nachbarn. Im Falle des bösen Leumunds tritt bei Ein-
stimmigkeit volle, bei Majorität nur Gefängnisstrafe als Sicherungsmassregel
ein. Das Zutrauen zu diesem Beweismittel schwindet im Laufe des 17. Jahr-
hunderts, es wird allmählich zum Aussagen über Thatsachen, zu Massenzeugen-
aussagen reduziert. Dem bösen Leumund folgte Folterung, deren Anwendung
sich mit dem Schwinden der Umfrage erweiterte.
IV. Die culpa wird bald mit Vorsatz, bald mit Zufall zusiimmengeworfen.
Berauschung schliesst den Vorsatz aus. Die Notwehr ist in weitestem Umfange
anerkannt, jedoch wird sofortige Anzeige iin den dichter verlangt; der Not-
stand ist kasuistisch behandelt. TVillensäusserung, Versuch und Vollendung
werden unterschieden ; bei Verbrechen g€*gen die Pei"son des Herrschers werden
alle gleich bestraft mit dem Tode (wie noch heute); der Versuch ist öfters
delictum sui generis (Entblössen des Schwertes im Herrscherhaus mit Abhauen
der Hand bestraft). Die ,,Gesellschafter" des Verbrechens sind gleichfalls
strafbar; darunter auch die Begünstigung, worunter viele Unterlassungen fallen,
bei politischen Verbrechen auch Nichtanzeige (so heute noch).
V. Privater Charakter der Strafe kommt nur vereinzelt vor (Beleidigung,
Vermögensbeschädigung j. Zweck der Strafe ist Abschreckung — „damit es
dem anderen nicht gelüste, auf dieselbe Weise zu handeln'* — und Sicherung der
Gesellschaft vor der Person des Verbrechers. Neben den absolut bestimmten
Strafen stehen die absolut unbestimmten („wie es der Zar befehlen wird");
relativ bestimmte Strafen sind unbekannt.
Hauptstrafen sind: L Die Todesstrafe, etwa in 60 Art. des Ulozh<:»nije, in
erschwerten Formen als Verbrennen. Eingiessen flüssigen Metalles in den Hals,
Erhängen vor dem feindlichen Heer, Vergraben; die Praxis kennt auch Rädern,
Vierteilen u. a. Häufig ist in Sonderukasen die Todesstrafe für ganz formelle
Verbrechen verhängt; z. B. Nichterfüllung der Regeln für das Löschen von
Bränden. 2. Körperstrafen, mit der Todesstrafe zusammen das Centrum des
Strafensystems, in etwa 160 Art. des Ulozhenije. Sie sind, wie die Namen der
Werkzeuge zeigen, tatarischen Ursprungs und zerfallen in vei'stümmelnde und
Schmerz zufügende. Die Prügelwerkzeuge zu ,, einfacher'* oder „schonungs-
loser'* Züchtigung sind Knute (gewöhnlich als Marktstrafe bezeichnet) und die
Batogi (Stöcke, mit denen geschlagen wird, „wie Kürschner die Felle aus-
klopfen"). Verschiedene Brandmarkungen dienen zu leichterer Erkennbarkeit
der Rezidivisten. 3. Als Freiheitsstrafe kennt, neben dem Gefängnis (das
auch anderen Zwecken dient), das Ulozhenye die aus dem Jahre 1582 datie-
rende Verschickung (Verbannung, ssülka) in 9 von der Praxis sehr vermehrten
Fällen. Urspiünglich ist sie bald Ächtung, bald ein Gnadenakt (bei Kriegs-
gefangenen), bald Sicherheitsmassregel (gegen die ganze Bevölkerung einer
aufständischen Gegend), bald Verwaltungsmassregel (wenn in einer Ortschaft
gewisse Handwerker u. a. nötig waren). Bald nach dem Ulozhenije gewinnt
§ 3. Die Petersburger Periode. Erste Hälfte. 273
durch zwei Gruppen neuer Gesetze die Deportation die kulturelle Bedeutung
einer 1. die Anwendung der Todesstrafe einschränkenden und 2. die Körper-
verstümmelungen aufhebenden Massregel. Die Übelthäter werden nach Sibi-
rien verschickt ins Gefängnis, in die Städte, wo ihnen Handel oder ein Hand-
werk, in den Staatsdienst, wo ihnen Landbau oder ein Civil-, Militär-, Kirchen-
amt angewiesen wird. Überhaupt war es die Devise der Moskauer Verbannung,
den Deportierten einen bestimmten Stand und Beschäftigung je nach dem In-
dividuum zu geben. Unhaltbar ist die Meinung, die Verschickung habe damals
kolonisatorische Zwecke verfolgt; wohl aber ging sie mit einer grossartigen
freien Kolonisation Hand in Hand. Eine besondere Politik für die Verbannung
als Strafe kannte man ebenso wenig, alle Ansiedler in Sibirien wurden nach
gleichen Verwaltungsprinzipien behandelt. 4, Die Vermögenseinziehung ist
mehrfach Nebenstrafe. Die Geldpön kommt als Ehrenbusse und Entschädigung
vor (Eintreibung durch Geisselung auf dem Markt bis zur Zahlung), doch
auch als staatliche Strafe. 5. Sonst werden erwähnt: schimpfliche Abbitte,
Verlust einzelner Rechte, des Ranges usw., öffentliche Kirchenbusse.
Die Rauheit des Systems ist notwendiger Ausfluss der wissenschaftlichen
Prinziplosigkeit und der sozialen Wirren. Auf Linderung wirken zwei Ideeen
hin: das Bestreben, den Bestraften praktisch auszunützen — und das im Volk
tief eingewurzelte Gnadengefühl (an hohen Festtagen obligatorische Begnadi-
gung derer, für die gebeten wird). 1654 wurde die Todesstrafe für den Ge-
ständigen, 1655 für den Wahnsinnigen aufgehoben. 1672 wurde das Ein-
giessen geschmolzenen Metalles, 1689 das Vergraben abgeschafft, doch sind
bis 1740 Fälle vorgekommen.
VI. Der besondere Teil ist beträchtlich erweitert. Die Einteilung in
notorische Bösewichte und bisher Unbescholtene übt ihren Einfluss auch auf
die Systematik — bei dem einen ist ein Civilunrecht, was bei dem anderen
Raub ist. Hinzugekommen sind namentlich Verbrechen gegen den Staat und
die öffentliche Ordnung, und die sorgfältig behandelten Religionsverbrechen,
die wie noch heute das GB. eröffnen. Gotteslästerung und gewaltsame Be-
kehrung zu nicht christlichem Glauben werden mit Verbrennen, Störung der
Liturgie mit einfacher Todesstrafe, des übrigen Gottesdienstes mit schwerer
Leibesstrafe belegt. Unter den Tötungen sind mannigfache Qualifizierungen:
Ascendentenmord — Tod „ohne jede Schonung"; Tötung des Ehemannes —
Vergraben; Tötung des unehelich geborenen Kindes von selten der Mutter
und ihrer Helfer — Hinrichtung ohne Verschonung, ^auf dass andere Leute
solches sich merken und von diesem unrechtlichen, schamlosen Verhalten ab-
lassen und der Hurerei sich enthalten". Erleichtert ist die Tötung der Ehefrau;
Tötung der (ehelichen) Kinder durch die Eltern wird mit Gefängnis bis zu
1 Jahr und Kirchenbusse belegt (geändert 1716). Fahrlässige Tötung ist straflos.
Von den Körperverletzungen werden nur die schwereren neben der Komposi-
tion mit öffentlicher Strafe belegt. Bei der Beleidigung kann man die Ansicht
nicht los werden, dass die Ehre nicht sowohl ein individuelles persönliches
Gut, als ein Attribut der staatsdienstlichen Stellung und der ganzen Familie
ist. Die Vermögensverbrechen werden nicht nach dem Wert der Sache, son-
dern nach dem Hang des Thäters zum Verbr. eingeteilt. Die ganze Schwere
staatlicher Repression fällt auf das professionelle Gaunertum.
§3. Die Petersburger Periode.. Erste Hftlfte.
(Bis zum Grafen Speranski, 1826.)
I. Dieser Zeit ist eigentümlich das Bestreben, alles Westeuropäische sich
anzueignen, alles, was die westliche Civilisation bieten konnte und was bisher
als etwas Verbotenes, den guten Sitten Zuwideres dem Russen unzugänglich
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I. 13
274 ^c^s rassische Kaisertum. — Geschichtlicher Überblick des russischen StR.
war, aufzunehmen und Wurzel fassen zu lassen. Im StR. haben freilich die
historisch entwickelten Grundsätze ihre Geltung nicht verloren; mehr die Form
als der Inhalt hat sich geändert.
II. Quellen. Ausser zahlreichen Sonder- Vdgn. !• Mil.-Ordnung Peters des
Grossen, 1716, mit den sogenannten Mii.-Artikeln von grösster Bedeutung (Be-
mühung einer Übersetzung und Einführung des schwedischen und sächsischen
StR.). 2. „Kurze Schilderung des Militärprozesses" (in Mil.-Odg. enthalten, durch-
aus Wiederholung des zur Zeit in Deutschland geltenden Inquisitionsprozesses,
auch von den gemeinen Gerichten angewendet). 3. Katharina der Zweiten
Instruktion zur Ausarbeitung eines neuen allgemeinen GB., 1767 — glänzende,
mit Talent und Gewandtheit verfasste, Auseinandersetzung der Ideeen Montes-
quieus und Beccarias; praktisch allerdings ohne Resultate geblieben. 4. Alex-
anders I. Feldordnung, 1812, Gesetz über den Bankerutt, 1800.
III. Das Bedürfnis, den in übergrossen Massen separater Gesetze ver-
teilten Stoff zu kodifizieren, veranlasste mehrfache Versuche der Regierung.
Es wurden schon von Peter dem Grossen ein spezieller Rat und später zwei Kom-
missionen eingesetzt, desgleichen von Peter II., Elisabeth (die Kommission hinter-
liess 2 Bde. kompilatorischer Natur über Gericht und StR.) und Katharina II.
(füi* die Kommission war die berühmte Instruktion bestimmt). Die 1808 von
Alexander I. eingesetzte Kommission verfasste unter Vorsitz des Grafen Spe-
ranski 1813 einen Entw. nach französischem Muster und 1818 einen zweiten
nach der von Professor Ludwig Jakob in Charkow dem Feuerbaclischen StGB,
von 1813 nachgebildeten Vorlage.
IV. In der Fassung des Verbrechensbegriffes herrscht die formelle Rich-
tung noch vor (unbedeutende Übertretungen werden mit übertrieben harten
Strafen belegt) bis zur Instruktion von 1767, die eine ein öffentliches oder
privates Gut verletzende Handlung verlangte. Das bisher so beachtete sub-
jektive Moment wird abgeschwächt und schwindet mit dem Leumundsverfahren.
Die Mil.-Odg. unterscheidet Fahrlässigkeit und Zufall und versucht Arten des Vor-
satzes zu definieren, z. B. Prämeditation. Zurechnung: Wahnsinnige werden
sehr leicht oder gamicht bestraft; Kinder sind von den Eltern mit Ruten zu
strafen. Betrunkenheit, in der Armee an sich straffällig , wirkt straf erhöhend
(zum Teil bis jetzt). Provokation ist Milderungsgrund. Der Begriff der Not-
wehr ist bedeutend enger gefasst (der Gegner muss bewaffhet sein; es muss
ihm vergebens zugeredet worden sein usw.). Neben Vollendung und Versuch,
der in beendeten und nicht beendeten geteilt wird, steht Vorbereitung und
blosse Vorsatzäusserung. Bei Wiederholung ist die Straferhöhung nicht mehr
so unverhältnismässig: eret den vierten Diebstahl straft die Mil.-Odg, mit
dem Tode.
V. Neue Strafarten sind von Westen herübergetragen: Zwangsarbeit,
Galeeren (Peter I.); Arbeits- und Zuchthäuser (Katharina U.); Einrekrutierung.
neue Leibesstrafen (Spitzruten, Peitsche, Katze), Ehrenstrafen. Die Strafen
werden härter; Todesstrafe kennt man in 110 Fällen. Dennoch sind sie ver-
hältnismässig gelinder als im Westen, was neben dem Prinzip der Gnade seine
Erklärung darin findet, dass schon frühe das Bestreben, aus dem Verbrecher
Nutzen zu ziehen, Einfiuss geübt hat. Daher die interessante Erscheinung der
Abmessung der Strafgrösse nach den Kräften des Verurteilten. Das führte
dazu, dass zur Erfüllung einer und derselben Pflicht verschiedene Kategorieen
von Verbrechern verm'teilt und sogar mit NichtVerbrechern zur gleichen Arbeit
verwendet wurden. Von hier war nur noch ein Schritt zur Besserungsidee
(Anpassung des Verbrechers an das Gemeinwesen), der von Katharina II.
theoretisch in der Instruktion von 1767, praktisch in den Arbeits-, Zucht- und
KoiTcktionshäuseni gemacht wurde (1775 für Vagabunden und Übelbcrüch-
§ 3. Die Petersburger Periode. Erste Hälfte. 275
tigte; 1783 für Diebe, Räuber, Betrüger; 1787 Entw. einer allgemeinen Ge-
fängnisordnung).
Daneben wirkte weiter die Idee der Gnade, besonders ausgeprägt in
den Erlassen Elisabeth II. von 1753, 1754 über Aufhebung der Todesstrafe.
Nachdem schon 1742 für unter 17 Jahre Alte die Todesstrafe abgeschafft war,
wurden 1744 und 1753 die Gerichte angewiesen, nie vor kaiserlicher Bestätigung
ein Todesurteil zu vollziehen. Seitdem blieb faktisch die Todesstrafe ohne
Anwendung; die Gefängnisse waren mit zum Tode veinirteilten, die Entscheidung
ihres Schicksals von der Kaiserin erwartenden Verbrechern überfüllt* Auf
eine Anfrage des Senates, was mit ihnen zu geschehen habe, erging der UkAz
von 1754. Danach sollen die Diebe zu schwerer Arbeit verschickt werden;
statt der Todesstrafe sollen sie mit Knuten grausam bestraft, ihnen die Nasen-
flügel ausgerissen und sie mit dem Worte ,,Dieb" gestempelt werden. Da ein
verheissener späterer Ukas nicht erschien, so war damit die Todesstrafe de
jure völlig abgeschafft (de facto freilich während der Geltung der „grausamen
Knutenstrafe" nicht). Sie wurde wieder eingeführt durch die Gesetze über
Organisation der Sondergerichte für Staatsverbrechen, durch die Feldordnmig
von 1812, für Militär -Verbrechen , durch die Quarantäne-Ordnung, 1832, für
Quarantäne -Verbrechen. Von Leibesstrafen wurden 1771 die Batögi, 1800
und 1817 die grausame Knutenstrafe und das Ausreissen der Nasenflügel
abgeschafft. 1785 wurden Adlige, Ehrenbürger, Kaufleute der 1. und
2. Gilde, 1798 Siebzigjährige und Geistliche und deren Familien von der
Knutenstrafe befreit, an deren gänzliche Abschaff*ung man 1813 dachte,
die man aber doch beibehielt, weil man fürchtete, dass im Volke dadurch
die Überzeugung von der Straflosigkeit der Verbrechen hervorgerufen werden
würde.
Auf rationelle Organisation der Gefängnisse wirkten Howard und seine
Anhänger, die Gebrüder Winnig, ein, auf deren Initiative auch die Gründung
der Gesellschaft für das Gefängnispatronat (allerdings erst in der zweiten
Hälfte dieser Periode) zurückzuführen ist.
VI. Unter den mit dem Tode bestraften politischen Verbrechen steht
auch jede ungeeignete Kritisierung der Thätigkeit und der Pläne des Zaren.
Zum erstenmale werden harte Strafen gegen falsche Anschuldigung angedroht.
Dem deutschen Recht entlehnt ist die Bestrafung des Selbstmordes und des
Zweikampfes, ebenso seit der Mil.-Odg. die Unterscheidung des grossen und
kleinen Diebstahls (Grenze 20 Rubel).
VII. Der Inquisitionsprozess hat seine volle Entwickelung genommen;
legale Beweistheorie und absolutio ab instantia sind eingeführt. Mündlichkeit
und Verteidigung im StP. sind kategorisch verboten. Nur voller Beweis genügt
zur Verurteilung, während partieller (d. h. Indizien-) Beweis einen Verdacht be-
gründet, von dem man in kleineren Sachen sich durch Reinigungseid befreien
kann. In wichtigen Sachen bietet der Verdacht Anlass zur Folterung. Erst
in der Instruktion von 1767 wird erklärt, dass mehrere Indizien zui* vollen
Überzeugung führen können; zugleich wird ein energischer Protest gegen die
Folter ausgesprochen. In den heimlichen Ukasen 1774 und 1781 wird dieser
Protest wiederholt und den Gouverneuren bekannt gemacht, dass die Folter
nicht mehr angewendet werden darf. Dessen ungeachtet setzte die Praxis
ihren Gebrauch fort, und erst durch Ukäz Alexander I. von 1801 wurde die
Folter ganz beseitigt, indem der Richter höherer Instanz angewiesen wurde,
den Angeschuldigten in der Revision zu befragen, ob er bei der Vernehmung
zu bestimmten Antworten genötigt worden sei.
18
276 ^&s russische Kaisertnm. — Geschichtlicher Überblick des russischen StR.
§ 4. Die Petersburger Periode. Zweite HSlfte.
Die Entwickelung des StR. in der neuesten Zeit ist mit dem Namen der
Urheber zweier aufeinander folgender StGB, des 19. Jahrhunderts eng ver-
bunden; dem des Grafen Speranski — Schöpfen des Swod Zakönow (1. Aus-
gabe 1832) und dem des Grafen Bludow — Verfassers des GB. über Strafen
(Ulozh^nye o nakazto\jach, I.Ausgabe 1845). In letzter Zeit waren von Ein-
fluss für die StG. die Redaktionskommissionen der Gerichtsordnungen des
Jahres 1864 und des GB. über Vergehen und Strafen, die von den Friedens-
richtern verhängt wurden; und die Kommission, die mit der Ausarbeitung des
Entw. eines neuen StGB, zur Zeit beschäftigt ist.
I. Der Graf Speranski hat sich einen weiten Ruhm als Gesetzgeber und
Verwaltungsbeamter erworben. Seine administrative Thätigkeit war haupt-
sächlich Sibirien gewidmet und hatte die Regelung der Deportation nach Si-
birien zum Gegenstand; seine gesetzgeberische Thätigkeit datiert v. 1808
(s. o.). Speranski schwärmte damals für den Rationalismus tmd stand ganz
im Banne der französischen Vorbilder. Dies machte ihn auch verdächtig, und
er verlor das Vertrauen Alexanders I. So endete die erste Periode seiner
gesetzgeberischen Thätigkeit. Den Übergang zu der zweiten bildete 1822 die
Ausarbeitung eines Statuts für die Deportation und die „Etappen" (Ordnung
für die Beförderung der zur Verbannung nach Sibirien verurteilten Verbrecher).
Dabei konnte Speranski die Kenntnis der Verhältnisse benutzen, die er in
Sibirien an Ort und Stelle gesammelt hatte. Als er wieder mit der Aufgabe
betraut wurde, ein allgemeines System des öffentlichen wie des Privatrechts
zu entwerfen, ging er mit völlig anderen Anschauungen an die Arbeit. Der
Gedanke, etwas Neues zu schaffen, wurde ganz verlassen. Statt dessen be-
schloss er, nur das, was zur Zeit in Geltung war, in einem System darzulegen,
— eine kolossale Arbeit, da es nötig war, mehr als 30000 verschiedene Ukase
durchzusehen. Zu diesem Zwecke wurden von Speranski zwei Arbeiten unter-
nommen: eine „vollständige Sammlung der Gesetze" (Pölnoje SobrAnye Zakönow),
die seit dem Jahre 1649 erlassen worden waren, und der Swod Zakönow
(= Sammlung der geltenden Gesetze). Die erstere enthält in chronologischer
Ordnung, von dem GB. des Zaren Alex6i MichAilowitsh, 1648, an, Verordnungen
und Befehle der Kaiser, und wird bis jetzt fortgesetzt; es sind bereits 150
Bände in 4® erschienen. Diese Ausgabe wurde bei der Ausarbeitung des Swod
Zakönow zu Grunde gelegt; dieser bildet einen Auszug aus den nicht ab-
geänderten und zur Zeit gültigen Verordnungen von aligemeiner Bedeutung.
Die erste Ausgabe des Swod erschien 1832 in 15 Bänden, deren letzten die
Strafgesetze bilden, als Schutznormen, welche die ganze Rechtsordnung zu
schützen berufen sind.
Der 15. Bd. des Swod beginnt mit dem allgemeinen Teil des StR.;
dann folgen, in besonderen Kapiteln, die Bestimmungen über einzelne Verbr.
und Verg., im Anfange die Verbr. gegen die Verwaltung und den Staat, und
am Schlüsse die gegen das Vermögen. Den zweiten Teil des StG. bildet die
StPO. Der Swod ist bis jetzt die Grundlage des geltenden Rechts. Diese
kolossale Arbeit, die systematische Zusammenfassung eines ungeheuer grossen
Materials, das bisher kaum jemandem bekannt und fast ganz unzugänglich
war, wurde von Speranski meisterhaft durchgeführt. Der ersten Ausgabe des
Swod Zakönow folgte die zweite, ergänzt und verhältnismässig umgeändert
1842, die dritte 1857, die vierte 1876, und endlich die fünfte (die letzten zwei
Ausgaben umfassen nur einige Bände des Swod) 1886. Diese letzte ist jetzt
g(»ltondes Recht. Die Verordnungen und Gesetze, die in dem Zeitraum zwisclien
§ 4. Die Petersburger Periode. Zweite Hälfte. 277
je zwei Ausgaben erlassen werden, werden gewöhnlich in „Ergänzungen zum
Swod Zakönow'^ zusammengefasst und herausgegeben.
II. Als eine Im wesentlichen geschichtliche Sammlung ist der Swod Za-
könow nicht frei von schwerwiegenden Fehlem, die auch in seinem strafrecht-
lichen Teil nur zu sehr bemerkbar sind. Die Quelle, aus welcher der Vei^
fasser schöpfte, führte unvermeidlich zu einer kasuistischen Redaktion und
damit zur Unvollständigkeit. Das Streben, alle nicht ausdrücklich beseitigten
Bestimmungen auft'echt zu erhalten, machte eine leitende Idee unmöglich; die
Anschauungen verschiedener Epochen stehen als gleichberechtigt neben ein-
ander. Als Beispiel mag das Strafensystem des Swod dienen. Dieses enthielt:
!• Die Todesstrafe, die in den drei oben erwähnten Fällen verhängt wird,
also eine ausserordentliche Strafe bildet. 2. Leibesstrafen, die mit Knute,
Peitsche, Spitzruten, Ruten oder Gerten, Stricken usw. vollzogen wurde; als
leichtere Form Einsperrung bei Wasser und Brot; bei den schwersten Strafen
trat Brandmarkung hinzu. 3. Zwangsarbeit, wobei zwischen harter Arbeit
(KAtorga) in den Festungen, Häfen, Staatsanstalten und Fabriken, in den
sogenannten Arrestantenabteilungen, in den Korrektions- und Arbeitshäusern,
Arbeiten bei Privatpersonen, Stadtarbeiten usw. unterschieden wurde. Der
Dauer nach unterschied man lebenslängliche und zeitliche Zwangsarbeit.
4. Die Deportation, die a) in der Verbannung nach Sibirien mit harter Zwangs-
arbeit (Kätorga); b) in der Zwangsansiedelung in Sibirien mit oder ohne Verbot
des Fortzuges, auf Lebensdauer oder zeitlich; c) in der Verbannung zum Auf-
enthalt in bestimmten entfernten Städten, Dörfern oder anderen Ortschaften
bestand. Hierher gehört auch die Ausweisung aus dem Reiche und die Aus-
weisung aus den Hauptstädten (Moskau und St. Petersburg). Alle Arten der
Verbannung waren lebenslängliche Strafen. 5. Einstellung in das Heer, ent-
weder ohne Anspruch auf Beförderung (statt der Zwangsansiedelung in Sibi-
rien), oder mit diesem Ansprüche. 6. Freiheitsstrafen, die, verhältnismässig
selten verhängt, in Gefängnisstrafe, Arrest oder Stellung unter eine besondere
Wärter- oder Polizeiaufsicht bestanden; diese Strafen waren von kurzer Dauer.
7. Einziehung und Geldstrafen. 8. Kirchliche Bussen und endlich 9, Diszipli-
narstrafen ftlr die im Amte begangenen Vergehen. Die schwersten Arten der
Strafen werden immer mit lebenslänglicher Entziehung der Rechte, nämlich
des Standesrechtes, der öflPentlichen und bei lebenslänglichen Strafen sogar
aller bürgerlichen, Vermögens- und Familienrechte verbunden.
Es ist also hier von einem einheitlichen Strafensystem keine Rede; der
Swod ist im Gegenteil bestrebt, jede einzelne Strafart in ein ganzes System
zu verwandeln, und sie in mehrere leichtere und härtere Stufen gemäss ihrer
Ausbildung in der betreffenden geschichtlichen Periode einzuteilen. Dieselbe
Buntheit ist bezüglich der Form der Strafdrohungen zu bemerken. Neben
einer absolut unbestimmten findet man auch absolut und relativ bestimmte
Strafdrohungen wiederum je nach der Zeit, der das betreffende Gesetz an-
gehört. Die Schwere der zu verhängenden Strafe stimmt sehr oft nicht mit
der Grösse der Schuld überein. Die prozessualen Bestimmungen des Swod
stellen den Inquisitionsprozess dar, wie ihn die Gesetze Peters des Grossen
normiert hatten; selbstverständlich sind die Gesetze Katharina II. und Alex-
anders I. berücksichtigt.
III. Diese Fehler des Swod Zakönow bestimmten die Regierung, die
(Grundlagen des gesamten StR. einer Revision zu unterziehen. Diese Aufgabe
wurde vom Kaiser Nikolaus I. dem damaligen Chef der II. Abteilung der
kaiserlichen Kanzlei (jetzt Kodiflkationsabteilung des Staatsrates), Grafen
Bludow übertragen. Die Reform des Strafverfahrens wurde bis in das Jahr
1864 verschoben und schon von anderen Personen vollzogen. Wirksamer
278 ^As rassische Kaisertum. — Geschichtlicher U^berblick des mssischen StR.
waren die Arbeiten an der Reform des materiellen StR., die 1845 znr Aus-
gabe eines neuen StGB, führten, das den Titel eines „GB. (Ulozhenjje) über
Kapital- und Korrektionsstrafen " trägt. Schon nach diesem Titel sollte es^
keine einfache kodifizierte Sammlung der aufrecht erhaltenen Gesetze sein,
sondern eine rationell unternommene Revision des positiven StR. auf Grund
wissenschaftlicher Behandlung. In der That war man bei der Ausarbeitung
bestrebt, das einheimische gesetzliche Material in Verbindung mit der west-
europäischen gesetzgeberischen Praxis kritisch zu behandeln, was das (tB. v.
1845 günstig von dem Swod des J. 1832 unterscheidet. Die Bestimmungen
des allgemeinen Teils sind vollständiger; das Strafensystem nicht so bunt
zusammengewürfelt, und auf das Verhältnis zwischen Strafe und Schuld, wie
auf eine richtigere Abstufung der Strafen, wurde möglichst Rücksicht ge-
nommen. In das russische Recht sind durch das GB. mehrere Grundsätze
der westeuropäischen Jurisprudenz hineingetragen worden. Vergebens wäre
es jedoch, in ihm ein einheitliches, das ganze Werk durchdringendes Prinzip,
eine grundlegende und einheitliche Idee zu suchen. Das GB. entspricht bei
weitem nicht den grossen Erwartungen seines Schöpfers, da es in Wirklich-
keit nur eine mechanische Verbindung des zur Zeit geltenden einheimischen
Rechts, eines Produktes verschiedener Geschichtsperioden, mit einigen neueren
Grundsätzen bildet. Die Verfasser waren von einem allzu berechtigten Miss-
trauen gegenüber den Gerichten, die in einem wirklich traurigen Zustande
sich befanden, beseelt und daher bestrebt, die richterliche Thätigkeit bei Be-
urteilung der einzelnen Verbr. möglichst eingehend zu reglementieren. So
wurde das StR. in einem StGB, normiert, das aussergewöhnlieh umfangreich ^)
war und das kein harmonisches Ganze, sondern ein künstliches Agglomerat
von Grundsätzen und Ideeen verschiedener Epochen und sogar verschie-
dener Völker darstellte, ein Agglomerat, wie es nur eine büreaukratisch
geordnete Kanzlei ohne wissenschaftliche Kenntnisse und Überzeugungen
schaffen konnte.
In der 3. Ausgabe des Swod Zakönow v. 1857 wurde das GB. v. 1845
als der 1. Teil des 15. Bds. diesem einverleibt, der 2. Teil, die StPO., i^-urde
fast ohne Änderungen herausgegeben. Später als^ die reformierte Prozess-
gesetzgebung in den Gerichtsordnungen v. J. 1864 ihren Ausdruck gefunden
hatte, erachtete man ein kurz gefasstes, auch für nicht juristisch gebildete
Richter verständliches und anwendbares StGB, für notwendig, das nur jene
Bestimmungen über Verg. und Übertretungen umfassen sollte, die zur Jurisdiktion
der Friedensrichter (diese werden von den autonomen Landes- und Stadtverwal-
tungen gewählt und brauchen nicht Juristen zu sein) gehören. Mit der Kund-
machung dieses „GB. über Strafen, die von den Friedensrichtern zu verhängen
sind", entstand die Notwendigkeit, das allgemeine StGB, zu revidieren, um
aus ihm alle diejenigen Bestimmungen auszuscheiden, die in das GB. für
Friedensrichter aufgenommen waren, was auch 1866 geschehen ist. Dabei
wurden die Gesetze v. J. 1863 (über die Abschaffung der Leibesstrafen und
Ilrrichtung von Zwangserziehungsanstalten für jugendliche Verbrecher) berück-
sichtigt. Mehrere spätere Gesetze haben vieles in dem StGB, geändert und
diese Ergänzungen und Abänderungen wurden in die „Ergänzungen zum Swod
Zakönow" aufgenommen. Die letzte, jetzt gültige Ausgabe des StGB, ist die
T. J. 1885.
») Im Swod (Ausgabe 1842) sind dem StR. SKI Art. gewidmet; das GB. v. 184o
enthielt 2224 Art., 1857 wurde die Zahl auf 2304 erhöht. Eine talentvolle kritische
Beleuchtung des StGB, von 1845 giebt Prof. Tagantsew in seinem Aufsatze: Das
Ulozhenije über die Strafen, Charakteristik und Beurteilung.
§ 4. Die Petersburger Periode. Zweite HÄlfte. 279
Von den nach 1866 erlassenen Gesetzen sind, als die wichtigsten, folgende zu
beachten: 1871 G. über die Bestrafung des Mordes; 1874 G. über Aufruhr und ge-
heime verbotene Verbindungen; 1876 über die Einführung des allgemeinen StGBs. in
Polen; 1881 Abschaffung der Öffentlichkeit der Hinrichtung; 1882 über den Verkehr
mit Sprengstoffen ; in demselben Jahre über einige qualifizierte Formen des Diebstahls ;
1883, 1884 und 1889 Gesetze über das Vergehen der Sektierer („Raskolniki"), welche
die frühere Gesetzgebung wesentlich mildern; das G. vom J. 1884, das die Reklusions-
und Arbeitshäuser durch die Gefängnisstrafe ersetzt; 1885 die gänzliche Abschaffung
einiger körperlicher Strafen auch für die nichtprivilegierten Klassen der Bevölkerung;
1885 G. über Regelung der harten Zwangsarbeit (KAtorga); 1886 G. über die Verhält-
nisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitern in den Fabriken und über landwirtschaft-
liche Arbeiter; allgemeines Statut der russischen Eisenbahnen; 18S8 Forstschutz-G. ; 1889
•G. über die Reform der Gerichtsverfassung und Prozessordnung in den Ostseepro-
vinzen; 1890 Eisenbahndienstordnung und G. über die Arbeit der Minderjährigen in
den Fabriken; 1891 über Margarinhandel; 1892 über Verjähning des Rückfalls und
Bestrafung zusammentreffender Verbrechen; G. über Bestrafung der Spionage in
Friedenszeiten und endlich G. vom 18. Juni 1892 über die Bestrafung wucherischer
Rechtsgeschäfte beim Getreidehandel.
IV. Wie schon erwähnt, war Grafen Bludow auch die Aufgabe zu Teil
geworden, den Entw. einer StPO. auszuarbeiten. Nach dem Erlasse des StGB,
wurde zu diesem Zwecke eine besondere Kommission unter seinem Vorsitze
eingesetzt, deren Arbeiten sich längere Zeit hinzogen. Inzwischen waren seit
der Thronbesteigung des Kaisers Alexander II. so wichtige Veränderungen in
dem sozialen und rechtlichen Leben der Nation eingetreten — so die Be-
freiung der Leibeigenen (1861), die Abschaffung der Leibesstrafen (1863), die
Reform der Landesverwaltung (Zemstwo) — , dass der von der Kommission teil-
weise ausgearbeitete und an den Staatsrat gebrachte Entwurf den neu ge-
schaffenen Verhältnissen nicht mehr entsprechen konnte. Diese erheischten
einen radikalen Bruch mit dem veralteten Inquisitionsprozesse. Die Regierung
zögerte auch nicht, einen neuen Weg zu betreten; 1862 wurden die Grund-
sätze der bevorstehenden grossen Justizreform Allerhöchst bestätigt, und am
20. November 1864 erhielt Russland neue Prozessordnungen, die aus vier be-
sonderen Teilen bestehen: 1. Gerichtsverfassung; 2. Civilprozessordnung und
Notariatsordnung; 3. StPO. und 4. das erwähnte GB. für Friedensrichter. Diese
Reform ist auf das Zutrauen zu dem Volke aufgebaut und ruft in den Frie-
densrichtern und Schwurgerichten das altrussische Prinzip der Richterwahl
und der Gewissensgerichte wieder ins Leben. Die Gerichtsverfassung hat die
Grundsätze der Trennung der richterlichen von der administrativen und gesetz-
geberischen Gewalt und der richterlichen Unabsetzbarkeit aufgenommen, die
Teilnahme des Volkselenients in Form der Geschworenen eingeführt, die Zahl
der Instanzen, die zu unendlichen Verschleppungen führte, beschränkt. Schrift-
lichkeit und Heimlichkeit sind durch Mündlichkeit und Öffentlichkeit, die ge-
setzliche Beweistheorie ist durch die freie Beweis Würdigung ersetzt; statt der
Revision von Amtswegen ist das Prinzip der Parteidisposition bei Anfechtung
der Urteile aufgenommen, endlich ist ein Kassationsgericht (innerhalb des dirigie-
renden Senats) geschaffen und die absolutio ab instantia völlig beseitigt.
Die Urheber der Reform berücksichtigten zwar besonders das englische
und französische Recht; aber sie verstanden es, sich die Selbständigkeit des
Urteils zu wahren, sodass die von ihnen ausgearbeiteten Gesetze ein durch-
aus nationales Werk bilden, nicht nur eine einfache Nachahmung der aus-
ländischen Beispiele. Mit lebhafter Beft'iedigung begrüsste die öffentliche
Meinung die Reform, die von dem Vertrauen in den geschichtlich entwickelten
Rechtssinn des russischen Volkes beseelt war. Aber die Reform- und Be-
freiungsideeen der sechziger Jahre riefen unvermeidlich Ausschreitungen her-
vor; und die Regierung sah sich genötigt, ihnen physische Gewalt entgegen-
zusetzen. Damit beginnt die Reaktion gegen die grossen Prinzipien der Justiz-
280 I^^tö russische Kaisertum. — Geschichtlicher Überblick des russischen StK.
reform: allmählich wird die Zuständigkeit der Schwurgerichte geschmälert,
die Zahl der Sondergerichte für politische Sachen vermehrt; immer schärfer
wird der Kampf gegen die Richterwahl durch die Landes- und Stadtverwal-
tungen, sowie gegen die gewählten Friedensrichter. Demgemäss wird auch
die Bekämpfung der reaktionären Richtung seitens der Oppositionspartei schärfer:
sie geht in direkte verbrecherische AngriflFe über und endigt mit dem un-
geheueren Verbrechen vom 1. März 1881. Damit gewinnt die Reaktion neue
Kraft; sie mündet aus in das Gesetz von 1889, welches die gewählten Friedens-
richter beseitigt, die richterliche Gewalt mit der administrativen vermengt,
die erstere sogar der zweiten unterwirft; die Unabsetzbarkeit der Richter war
schon früher, im J. 1885, erschüttert worden.
Trotzdem haben die Gerichts- und Prozessordnungen vom 20. November
1864 bleibende Bedeutung für das inissische Rechtsleben ; sie haben das Rechts-
bewusstsein gehoben und dem Volke die Möglichkeit gegeben, einen Blick in
die Epoche des Rechtsstaates zu werfen. Unter ihrem Einflüsse füllten sich
die Auditorien der juridischen Fakultäten, erschienen juristische Zeitschriften;
juristische Vereine, die früher Russland ganz unbekannt waren, werden ins
Leben gerufen, und die Idee der Gesetzlichkeit, die früher der öffentlichen
Meinung fremd war, fasst tiefe Wurzeln in dem öffentlichen Bewusstsein. Unter
dem Einflüsse der allgemeinen Justizreform wird auch die Reform des Pro-
zesses für Heer und Flotte durchgeführt.
V. Indessen machte sich gleich nach Erlass der reformierten PO., noch
zur Zeit Alexander II., das Bedürfnis einer Revision des StGB, ffthlbar, vor
allem des Strafen Systems. Die Leibesstrafen wurden abgeschafil; femer musste
die Deportation nach Sibirien umgestaltet werden, da es sich herausstellte,
dass die Staatsfabriken und anderen Anstalten, wo die schweren Verbrecher
beschäftigt wurden, mit grossen Kosten für den Fiskus verbunden waren, und
die Zwangsarbeit selbst sich nicht rentierte. Es musste also zu ihrer allmäh-
lichen Abschaffung geschritten werden: die Praxis zeigte die ungeheuren
Schwierigkeiten, mit denen zweckmässige Verwaltung und Aufsicht über die
Bevölkerung der Deportierten verbunden sind. Die Zahl der Deportierten war
immer grösser geworden. *) Alles dieses führte unvermeidlich zu dem Ergeb-
*) Nach Anutshin (Über den Prozentsatz der nach Sibirien Verbannten, St. Peters-
burg 1873) sind seit 1827 bis 1847, also binnen 20 Jahren, 159 755 Personen de-
portiert worden, im Jahre also im Durchschnitte 7000. Die von Speranski geschaffene
Organisation der Deportation war nur auf eine Zahl von 2500 berechnet. Unter der
angeführten Zahl 159755 waren 79846 gerichtlich Verurteilte und 79909 auf administra-
tivem Wege Verschickte. Nach den amtlichen Angaben des Ministeriums des Innern,
die aber einer wissenschaftlichen Kritik noch nicht unterworfen worden sind (vgl.
Tagantsew, Vorlesungen IV, S. 1296), drückt sich die Zahl der Deportierten aller Art
in folgenden Zahlen aus:
Allgemeine
Darchschuitt
Allgemeine
Zahl.
Durchschnitt
In den Jahren :
Zahl.
ffir 1 Jahr.
In den Jahren:
fftr 1 Jahr.
1807 1813
14245
2035
1849—1853
37820
5566
1814—1818
12371
2476
1854—1858
37307
7461
1819 1828
22848
4570
1859 1863
42094
8419
1824—1828
35219
11044
1864—1868
60589
12118
1829 18;^3
36703
7341
1869 1873
73448
14690
1834—1888
41154
8231
1874 1878
91921
18384
1839-1843
38349
7670
1879 1883
86156
17231
1844—1848
31285
6257
1884—1886
51299
17256
18C
)7 1886
722299 9028
In der letzten Periode (1884—1886) auf je 100 nach Sibirien Verbannte : gericht
lieh Verurteilte 32,20, im administrativen Wege Verbannte 28,00, Mitglieder der Fa-
milien der Verbannten, die ihnen freiwillig folgten, 32,80.
Das geltende russische StR. 281
nlsse, dass die Gefängnisstrafe der Mittelpunkt des Strafensystems werden
musste. Die russischen Gefängnisse aber waren in einem bei weitem nicht
befHedigenden Zustande; sie schlössen jede Organisation der Gefängnisarbeit
und sogar eine regelmässige Verteilung der Gefängnisbevölkerung in ver-
schiedene abgesonderte Verbrecherkategorieen aus; traurige Gesundheitszustände,
mangelhafte Bauten, völliger Mangel an vorgebildeten AufseheiTi und Beamten
machten die russischen Gefängnisse, wie die Regierung es selbst anerkannt hat,
statt zu Strafanstalten zu Schulen des Lasters.
Die Lage der Gesetzgebung hinderte die Verbesserung der Gefängnisse
im Verwaltungswege, da das Gesetz viele Arten der Gefängnisstrafe kannte,
die zwar geschichtlich sich ausgebildet hatten (Korrektions-, Reklusions- und
Arbeitshäuser, Gefängnisse und Arresthäuser) und durch besondere Verord-
nungen geregelt waren, aber in Wirklichkeit keine Unterschiede aufwiesen.
Daher wurden in den 70er Jahren drei aufeinander folgende Kommissionen
eingesetzt (unter dem Vorsitze des Grafen SoUogub, des Senators Frisch und
des Mitgliedes des Staatsrates (xrott), um ein neues Strafensystem zu entwerfen
und besonders die Gefängnisstrafe zu normieren. Die Arbeiten der letzten
Kommission führten zum G. v. 1879, das die centrale Gefängnisadministration
eingerichtet hat und allgemeine Grundsätze eines neuen vereinfachten Strafen-
systems enthält, die Deportation nach Sibirien ohne Zwangsarbeit nur als eine
besondere Strafart (für einige Verbr. gegen die Religion, für politische Verg.,
Duell usw.) auft*echt hält und die Gefängnisstrafe zum Mittelpunkte des Systems
macht. Bald nachher, im J. 1880, wurde ein besonderer Ausschuss unter
dem Vorsitze des Justizministers (damals Wirkl. Geheimer Rat Nabokow, zur
Zeit Wirkl. Geheimer Rat Manassein) und des Chefs der Kodifikationsabteilung
(damals Fürst Urussow, zur Zeit Senator Frisch) mit dem Auftrage eingesetzt,
den Entw. eines neuen StGB, auf Grund der einheimischen und der ausländi-
schen Gesetzgebung und der wissenschaftlichen Grundsätze auszuarbeiten.
Diese Kommission bildete einen Redaktionsausschuss unter dem Vorsitze des
Senators Frisch. Die wichtigsten und jetzt schon vollendeten Arbeiten dieses
Ausschusses sind dem juristischen europäischen Publikum, dank den verdienst-
vollen Bemühungen des Professors Gretener in Bern, hinlänglich bekannt. Zur
Zeit sehen die Arbeiten ihrem Ende entgegen. Mehrere von diesem Ausschusse
ausgearbeitete Grundsätze, sind jetzt geltendes Recht geworden, so die Gesetze
von 1882 über den schweren Diebstahl, 1884 und 1885 über die Abschaffung
der Arbeits- und Reklusionshäuser sowie die völlige Abschaffung der Leibes-
strafen, 1884 über die Bestrafungen der Amtsunterschlagungen, 1892 über
Bestrafung der Spionage, 1892 über Bestrafung der konkurrierenden Verbrechen
und des Rückfalls. Unter der Leitung des Ausschusses werden jetzt Gesetze
über Wucher, Nahrungsmittelfälschung usw. ausgearbeitet.
n. Das geltende russische Strafrecht.
LUteratur: Spassowitsh, Lehrbuch des Strafrechts, 1860. Berners Lehrbuch
in der Übersetzung von Nek\judow (mit Anmerkungen über das russische Recht),
1S67. Nekljudow, Handbuch für Friedensrichter, 2. Ausg. 1872; derselbe, Handbuch
des besonderen Teiles des StR., 1872—1881. Tagantsew, Kursus des StR. 1874—1880;
derselbe, Vorlesungen über das russ. StR., 1887 — 1892. Kistjakowski, Elementar-Lehr-
buch des StR. 2. Ausg., 1884. Lochwitski, Das russ. StR., 1867. Sergejewski, Das russ.
StR., 2. Ausg. 1890. Wjadimirow, Kursus des StR., 18H8. Budsinski, Grundsätze des
StR., 1870; derselbe. Über einzelne Verbrechen, 1887. Tshebüshew-Dmitrijew, Das
russ. Strafprozessrecht, 1875. Slutshewski, Kursus des Strafprozesses, 1890— 1H92.
Tallberg, Kursus des Strafprozesses, 1890. Foinitski, Die Lehre von der Strafe, 18S9;
derselbe, Kursus des Strafprozesses, 1885; derselbe. Besonderer Teil des StR., 1890.
282 I^As russische Kaisertum. — Das geltende russische StR.
^ 5. Die Quellen, ihr Gl^eltungsgebiet, ihre wissenschaftliehe Behandlung.
L Die Quellen des materiellen StR. bilden*. 1« Das StGB, in seiner jetzt
p:eltenden Ausgabe v. 1885, und 2. das GB. über Strafen, die von den Friedens-
richtern verhängt werden, in der Ausgabe desselben Jahres. Diese Gesetzbücher
sind in Geltung für das ganze Reich ; eine Ausnahme bildet das Grossfursten-
tum Finnland, wo der schwedische Codex v. 1754 bisher in Geltung war und
jetzt durch ein besonderes StGB., das 1889 sanktioniert, nachher aber von der
Regierung wegen seiner separatistischen Neigung zurückgehalten worden ist,
ersetzt werden wird. Dieses GB. muss als russisches Sondergesetz betrachtet
werden , obschon es seinem Inhalte nach nichts Gemeinsames mit dem
russischen Rechte hat (vgl. unten S. 313 ff.).
Ausserdem giebt es keine StGe. mit besonderer örtlicher Geltung. Wohl
giebt es aber in Russland StGe. mit besonderer Geltimg bezüglich der Personen,
die jedoch alle an die allgemeinen Gesetzbücher anknüpfen und ihre Grund-
sätze zur Voraussetzung haben. Es sind die folgenden: !• Das StGB, für Heer
und Flotte; erste Ausgabe 1875, letzte 1879. 2, Die geistliche Konsistorien-
ordnung v.J. 1841, jetzt gültige Ausgabe v. J. 1883; sowie die Ordnungen
der nicht orthodoxen Konfessionen, in denen Bestimmungen über Verg. der
Geistlichen wie auch der Laien betr. Religion und kirchliche Organisation
aufgenommen sind. 3« Die Gerichtsordnung für Bauern v. 1839 und das (t.
über Gemeindegerichte v. 1889, die manche Übertretungen von Personen des
bäuerlichen Standes mit Strafen belegen. 4. Das Deportationsreglement, in
dem Bestimmungen über Bestrafung der von den Deportierten begangenen
Verbr. enthalten sind. 5. Besonderes Recht gilt in denjenigen Orten, die im
kleinen oder grossen Belagerungszustand sich befinden. Hier ist es nämlich
durch G. v. 1881 dem Minister des Innern, den General-Gouverneuren, Grou-
vemeuren und Staatspräfekten anheimgegeben, einige Strafsachen den sonst
zuständigen Gerichten zu entziehen, sie dem Militärgerichte zu überweisen und
sie auch nach den Militärgesetzen zu beurteilen; ferner bindende Verordnungen
zum Zwecke der Sicherung der öffentlichen Ordnung und der Staatsintegrität
zu erlassen und kraft eigener Gewalt ohne gerichtliches Urteil Gefängnisstrafe
bis zu drei Monaten oder Geldstrafe bis zu 500 Rubel zu verhängen.
Viel buntscheckiger sind die strafprozessuale^ Quellen, besonders nach
den Gesetzen des J. 1889, die das einheitliche Gebäude der Prozessordnungen
V. 1864 wesentlich erschüttert haben. Hier mangelt es an Einheitlichkeit auch
in den allgemeinen Quellen. Es gelten nämlich 1. die Gerichtsordnungen vom
20. November 1864 in der Ausgabe v. 1885. 2. Für den grössten Teil der
Provinzen sind die Friedensgerichte, die von den Gerichtsordnungen geschaffen
sind, beseitigt und statt ihrer gerichtlich -administrative Institute durch das G.
V. 1889 ins Leben gerufen. 3. Die prozessualen Bestimmungen des 2. Teils des
15. Bd. des Swod Zakonow, die den alten luquisitionsprozess, obwohl in einer
unter dem Einflüsse der reformierten Prozesse verbesserten Form, normieren.
4. Endlich haben wir besondere prozessuale Gesetze für einzelne Provinzen und
Personenklassen. Die besonderen örtlichen Prozessgesetze enthalten fast die-
selben Bestimmungen wie die Gerichtsordnungen, mit dem Unterschiede, dass
ihnen die Schwurgerichte fremd geblieben und dass einige Modifikationen in
der Organisation der Friedensgerichte bestimmt sind. So das G. v. 1866 für
den Kaukasus, v. 1875 für Polen, v. 1889 für die Ostseeprovinzen, *) und eine
•«
*) Über die frühere patrimoniale Inquisitionsprozessordnung s. Bunge, Geschicht-
liches des Gerichtswesens und (Gerichtsverfahrens in Liv-, Est- und Kurland, RevaK
1871; RemduU Die deutschon Gerichte in den Ostseeprovinzen (Juridischer Bote. 1-^*^7
No. 10 und 11).
§ 5. Die Quellen, ihr Geltungsgebiet, ihre wissenschaftliche Behandlung. 283
ganze Reihe von Gesetzen für die westlichen, nördlichen und südlichen Pro-
vinzen. Andererseits gelten auch neuere Gesetze, welche noch das alte pro-
zessuale Recht in verbesserter Form enthalten, so z. B. das G. v. 25. Februar
1885 über die Gerichtsorganisation in Sibirien. Besondere persönliche Pro-
zessgesetze sind: a) die Militär- und Flottegerichtsordnung in der Ausgabe des
J. 1885; b) die schon erwähnte Gerichtsordnung für Bauern mit den Verände-
rungen von 1889; und c) die ebenfalls erwähnten geistlichen Konsistorien-
ordnungen und die Ordnungen der nicht orthodoxen Konfessionen (Bd. XI des
Swod Zakönow).
Die Gewohnheit gilt als Reehtsquelle bei den Gerichten für einige Völker-
schaften des Ostens und Südostens des Reiches, wie auch in Bagatellsachen,
in welchen die Gemeinderichter zuständig sind; übrigens hat das G. v. J.
1889 die letzteren den sogenannten Landesvorstehem (z^mskye natshAlniki)
unterworfen, was gewiss eine Schmälerung der Geltung des Gewohnheitsrechtes
zur Folge haben wird.
II. Was die Gerichtspraxis betrifft, so konnte sie bis zu den Gerichts-
ordnungen vom 20. November nicht einmal als eine ergänzende Rechtsquelle
dienen, da die gerichtliche Gewalt von der gesetzgeberischen nicht getrennt
war und letztere manchmal, besonders in den Fällen einer Lücke in dem G.
und bei Zweifel der Gerichtsinstanzen, einzelne Sachen zu beurteilen hatte.
Die Verhältnisse haben sich völlig geändert seit der Einführung der Gerichts-
ordnungen vom 20. November; die Judikatur in der Form von Sammlungen
der gerichtlichen Entsch., besonders des Kassationssenates, hat wichtige Be-
deutung als subsidiäre Rechtsquelle bekommen^) und übt Einfluss auf die wei-
tere Praxis, teilweise sogar auf die gesetzgeberische Thätigkeit. Dieser Einfluss
ist übrigens nicht zu überschätzen, da er nur sporadisch wirkt, was seine Ur-
sache in dem Mangel einer selbständigen wissenschaftlichen Bearbeitung des
Rechts hat. Der grösste Teil der russischen juridischen Litteratur trägt einen
kommentatorischen Charakter. Theoretische Erörterungen bieten bis zur neuesten
Zeit fast ausschliesslich die obligatorischen wissenschaftlichen Dissertationen,
die von den Aspiranten der gelehrten Universitätsgrade eingereicht werden
müssen. Die Hauptrichtungen in der russischen Strafrechtslitteratur sind: die
kommentatorische (Nekljudow und Lochwitski); die historische (Tshebüshew-
Dmitryew und Sergejewitsh) ; die abstrakt- dogmatische (Spassowitsh) ; die so-
genannte positiv-dogmatische (Sergejewski, der Binding folgt); die kritisch-dog-
matische (Kistjakowski und Tagantsew); die anthropologisch-historische (Kowa-
lewski); die anthropologisch-medizinische (Drill). Mehrere Schriftsteller zählen
sich zu den Anhängern der vergleichenden dogmatischen Richtung (so beson-
ders Budsinski); eigentlich aber giebt es noch keine solche auf russischem
Boden, da sie sich ausschliesslich in der Anführung der einschlagenden Be-
stimmungen verschiedener Gesetzgebungen erschöpft und weit entfernt ist von
einer philosophisch-dogmatischen Erklärung der inneren Natur verschiedener
Rechtsinstitute. Es muss jedoch bemerkt werden, dass, indem wir von ver-
schiedenen Richtungen in der russischen Litteratur sprechen, diese nicht etwa
als Schulen im Sinne der westeuropäischen Litteratur aufzufassen sind; bis
jetzt haben wir noch keine solchen Schulen, welche Gedankentradition und
gemeinschaftliche Arbeit zur Voraussetzung haben. Der Individualismus, der
dem Slaventum so eigen ist, macht sich auch in dieser Beziehung fühlbar.
*) Auszüge aus den Kassationsentscheidungen in der Form von einzelnen Thesen
bilden einen besonderen Zweig der juridischen Litteratur. Die besten Ausgaben sind:
Tagantsew, Das Strafgesetzbuch; Bjelow, Popow und Sheglowitow, Die Strafprozess-
ordnungen.
284 I^AS russische Kaisertum. — Das j!;^eltende russische StR.
in. Nach rassischem Rechte erhält ein StG. seine Wirkung von der Zeit
seiner Publizierung an; es wirkt also immer das O. der Zeit der Aburteilung,
nur mildere G. der Begehungszeit werden trotz dem Erlasse eines neuen,
härteren Gesetzes angewendet. Dieser Grundsatz ist von dem Einf.-G. zu dem
StGB. V. J. 1845 legalisiert worden. Dem Umfange nach wird die Wirkung
der russischen StG. durch die Prinzipien der Territorialität und Personalität
sowie durch das Schutzprinzip bestinmit. Nach dem ersteren sind dem StG.
alleVerbr., die von Inländern oder Ausländem begangen werden, unterworfen:
eine Ausnahme bilden nur diejenigen Personen, die das Recht der Exterri-
torialität geniessen. Andrerseits sind dem russischen Recht auch die von
russischen Unterthanen in der TiLrkei, in Persien, China und Japan begangenen
Handlungen xmterworfen. Nach dem Personalitätprinzip unterliegen dem russi-
schen StG. russische Unterthanen, die im Auslande verbrecherische Handlungen
begehen; nur wird, wenn sie gegen den ausländischen Staat oder ausländische
Unterthanen gerichtet sind und wenn das ausländische Gesetz milder ist,
letzteres angewendet. Endlich nach dem Schutzprinzip werden Handlungen
der Ausländer, wenn auch im Auslande begangen, nach russischem StG. be-
urteilt, wenn das Verbr. gegen das russische Reich oder gegen russische Unter-
thanen gerichtet ist. Die Auslieferung der Verbrecher wird nicht im StGB,
normiert, sondern durch besondere Verträge und durch das Prinzip der Re-
prozität. Regel ist, dass russische Unterthanen nicht ausgeliefert werden.
§ 6. Der allgemeine Thatbestand des Yerbreehens.
I. In der russischen Gesetzgebung wird kein Unterschied zwischen Zu-
rechnxmg und Zurechnungsfähigkeit gemacht; wohl aber werden beide Begriffe
in der Litteratur unterschieden. Das StGB, spricht nur von Ursachen, die die
Zurechnung zur Schuld beseitigen. Hierher gehören: Zufall, Minderjährigkeit.
Bewusstlosigkeit und Anfälle von Geistesstörung, die mit vollem Verlust der
Sinne und des Bewusstseins verbunden sind; Irrtum, Zwang, endlich Notwehr
(Art. 192). Die Aufzählung der Gründe der Zurechnungsunfähigkeit im all-
gemeinen Teil des StGB, wird durch andere, von denen im besonderen Teil
anlässlich einzelner Thatbestände gesprochen wird, ergänzt. Hierher gehören:
die vom G. erlaubte Verletzung fremder Rechte, verbindlicher Befehl des Vor-
gesetzten, Einwilligung des Verletzten und endlich in einigen einzelnen Fällen
Aufgebung des verbrecherischen Verhaltens (z. B. bei Abfall von der Ortho-
doxie) und Anzeige (z. B. bei Münzfälschung). Die Litteratur rubriziert diese
mannigfaltigen Gründe wissenschaftlich und unterscheidet: Gründe der Zu-
rechnungsunfähigkeit; Wegfall des Schutzes des verletzten Objekts — Aus-
schliessung der Zurechnung im Einzelfall; excuses legales.
Gründe der Zurechnungsunfähigkeit. !• Das jugendliche Alter. ^) Die
Bestimmungen über diese Materie gehen teils auf ein in den Swod Za-
könow aufgenommenes G. v. 1765, teils auf die vom StGB. v. 1845 kritiklos
gleichfalls angenommenen Sätze des Entw. v. 1813 zurück. Die Strafbar-
keit ist bis zum 10. Lebensjahre gänzlich ausgeschlossen: für die in diesem
Alter begangenen Verbrechen findet Auslieferung an die Eltern zur häus-
lichen Besserung statt. Die nächste Altersstufe ist die vom 10. bis zum 14.
Lebensjahre: Strafe ist ausgeschlossen, wenn der Angeschuldigte ohne Erkennt-
nisvermögen gehandelt hat; im entgegengesetzten Falle werden entweder die
*) Vgl. Tagantsew, Erörterungen über die Verantwortlichkeit der jugendlichen
Verbrecher, 1871. Bogdonowski, ßie jugendlichen Verbrecher, 1872. Kistjakowski,
Über das jugendliche Alter, 1881.
§ 6. Der allgemeine Thatbestand des Verbrechens. 285
allgemeinen Strafen in vermindertem Masse verhängt (es kann sogar Depor-
tation mit Zwangsansiedelung und Entziehung aller Rechte bestimmt werden),
oder es werden spezielle Massregeln, wie z. B. Zwangserziehung in einem
Kloster, Gefängnisstrafe, Ausliefermig an die Eltern zum Zwecke der Besserung,
und seit dem J. 1866 Zwangserziehung in einer Besserungsanstalt für jugend-
liche Verbrecher angewendet. Dasselbe gilt von den Minderjährigen bis zum
17. Lebensjahre im Falle der Verneinung der Erkenntnisfrage. Für das Alter
von dem 14. bis zum 21. J. (vom 14. bis zum 17. im Falle der Bejahung
der Erkenntnisfrage) werden die allgemeinen Strafen angewendet, wenn auch
in vermindertem Masse. Die vollständige strafrechtliche Verantwortlichkeit
tritt mit dem 21. J. ein. 2. Neben dem Kindesalter wird von dem StGB, die
angeborene oder im frühen Kindesalter erworbene Taubstummheit als Grund
der Zurechnungsunfähigkeit angeführt, mit der Bedingung aber, dass der Be-
treffende keine moralische Erziehung genossen hat (Art. 98). 3, Von den
anomalen psychischen Zuständen kennt das G. als Gründe der Zurechnungs-
unfähigkeit den angeborenen Blödsinn, chronische Geistesstörung, die Bewusst-
losigkeit infolge von Krankheit, dementia senilis und Mondsüchtigkeit (Art. 95
bis 97). Diese Aufzählung wird von der Wissenschaft für mizulänglich erklärt
und vervollständigt. 4. Über die Trunkenheit enthält das StGB, eine be-
sondere Bestimmung, wonach diese im allgemeinen nicht auf die Verantwort-
lichkeit wirkt. Sie wird als ein Strafschärfungsgrund angesehen, wenn der
Schuldige sich in den Zustand der Trunkenheit absichtlich zum Zwecke der
Vergehung des Verbr. versetzt hat (actio libera in causa).
Die Verletzung verliert ihren widerrechtlichen Charakter; 1. im
Falle gesetzlichen Gebots, z. B. Tötung oder Körperverletzung seitens eines
Forstbeamten infolge des thätlichen Widerstandes, wenn keine anderen Mittel
den Widerstand zu bekämpfen zu Gebote standen (Art. 1471). 2. Erfüllung
eines verbindlichen Befehls des Vorgesetzten; in der Regel muss dieser ein
gesetzmässiger sein ; die Verletzung aber, die in Erfüllung eines ungesetzlichen
Befehls, wenn auch einer gesetzlichen Obrigkeit, begangen worden ist, führt
zur Bestrafung des Befehlenden, wie des Gehorchenden (Art. 403). Eine Aus-
nahme gilt nur für Befehle der militärischen Vorgesetzten, die für die Unter-
gebenen unbedingt verbindlich sind. 3« Die Einwilligung und der Verzicht
auf das Recht seitens des Verletzten werden vom G. direkt nicht erwähnt;
aber aus einigen Bestimmungen, wie z. B. über Ehrenkränkungen und leichte
Körperverletzungen, ist zu entnehmen, dass das Gesetz sie als GiUnde der
Ausschliessung der Widerrechtlichkeit anerkennt. In dieser Auffassung herrscht
vollständige Übereinstimmung in Rechtsprechimg und Litteratur. 4. Notwehr^)
ist erlaubt a) im Falle der Unmöglichkeit, den Schutz der örtlichen Obrigkeit
anzurufen; b) wenn sie zur Abwehr eines widerrechtlichen Angriffes dient, der
eine Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit des AngegriflTenen bietet;
femer eines Angriffes auf die Frauenehre, oder auf das Hausrecht. Angriffe
auf das Vermögen, wenn nicht mit Gefahr für die Person oder Einbruch ver-
bunden, berechtigen nicht zur Notwehr, ausser, wenn der Angreifer Wider-
stand gegen seine Festnahme leistet. Die Notwehr ist in den angegebenen
Fällen auch zum Schutz eines fremden Rechts gestattet, c) Wer in Notwehr
eine Verletzung begeht, muss unverzüglich die Nachbarn und bei der ersten
Möglichkeit die Polizei in Kenntnis setzen, d) Die Zufügung einer Verletzung,
nachdem die Gefahr bereits beseitigt ist, wird als Überschreitung der Notwehr
betrachtet, und je nach den Folgen, aber in viel geringerem Masse, bestraft,
(Art. 101, 103). Neben der Notwehr steht 5, der Notstand, der nach Art. 100
') Vgl. Poletajew, Über die Notwehr, 1863; Koni, Die Notwehr, 1866.
286 I^A8 russische Kaisertum. — Das geltende nissische StR.
des StGB, die Bestraftmg beseitigt, aber nnr dann, wenn das Begangene zur
Abwehr einer Gefahr für das Leben notwendig war nnd zur Zeit der Be-
gehang keine andern Mittel zur Erhaltung des Lebens Torhanden waren.
Es muss bemerkt werden, dass Mittellosigkeit und Arbeitsunfähigkeit nur straf-
mildernd wirken (Art. 134, 1663, 1674).
U. Die Schuldlehre war in dem „Swod Zakönow" des Grafen Spe-
ranski einfach, wenn auch nicht vollständig entwickelt; in dem StGB. v. 184.^
ist sie überflüssig kompliziert und wenig Terständlich. Es werden nämlich
vorsätzliche xmd xmvorsätzliche Verbr. und Verg. unterschieden. !• Dolus prae-
meditatns und dolus repentinus. Prämeditation ist vorhanden, wenn die Ab-
sicht, die Handlung zu begehen, zeitlich vor der Begehung selbst gefasst
worden ist; sie setzt also einen gewissen Zeitraum zwischen dem Entstehen
der verbrecherischen Absicht und ihrer Verwirklichung voraus. Die zweite Art
des Vorsatzes ist dann vorhanden, wenn die Fassung der Absicht mit der Be-
gehung zeitlich zusammenfällt. Interessant ist es, dass die Begehung eines
Verbr. zum drittenmale, wenn auch ohne Prämeditation, als in prämeditiertem
Vorsatze begangen bestraft wird. Die inneren Motive der Thätigkeit werden
im allgemeinen nicht berücksichtigt; freilich erhalten sie eine wesentliche Be-
deutung bei Beurteilung einzelner Verbr., wie z. B. der Irritationszustand, die
Provokation u. dgl. In einigen Fällen des besonderen Teiles des StGB, wird
dem Vorsatze der Leichtsinn, als eine geringere Art desselben, entgegen-
gesetzt, i. Das StGB, unterscheidet femer direkten oder indirekten Dolus.
Im allgemeinen Teile wird nur der Fall der Coincidenz beider Arten erwähnt
und die Straf barkeit nach der schwereren Art des Dolus oder nach den Kegeln
über die Konkurrenz der Verbr. bestimmt. Im besonderen Teile begegnet
man einigen Bestimmungen über Verbr., die im indiiekten Vorsatze begangen
sind; die Strafbarkeit ist im Verhältnisse zu der Bestrafung derselben Hand-
lungen, wenn in direktem Vorsatze, begangen, so gering, dass die Vermutung
berechtigt ist, das StGB, behandle diese Art des Dolus eigentlich als die
schwerere Art der Fahrlässigkeit. Diese Vermutung wird dadurch verstärkt,
dass sie im G. (Art. 108) durch die Vorhersehbarkeit des verbrecherischen
Erfolges bei mangelnder Absicht ihn hervorzurufen charakterisiert wird. In
der Doktrin wird allgemein die von Professor Tagantsew befürwortete Ein-
teilung des Dolus in zwei Arten, nämlich in dolus directus und in verbreche-
rische Gleichgültigkeit gebilligt. Letztere Form wird wiederum von der
luxuria als der schwersten Art der Fahrlässigkeit xmterschieden , die sich als
Voraussicht der Möglichkeit des Erfolges verbunden mit der Hoffnung, ihn zu
vermeiden, charakterisiert. Es muss aber bemerkt werden, dass diese Form
des Dolus die Möglichkeit des strafbaren Versuches gänzlich ausschliesst;
daher stossen die Verfasser des neuen Entwurfes bei der Konstruktion des in
diesem Sinne gefassten Dolus eventualis auf manche Schwierigkeiten, und der
Redaktionsausschuss sah sich genötigt, den Versuch bei dieser Form des Vor-
satzes für straflos zu erklären, was doch den besten Beweis liefert, dass sie
eigentlich nichts anderes als eine Art der Fahrlässigkeit sei. Der Begriff der
Fahrlässigkeit ist im G. noch immer ganz unklar erfasst und wird sogar mit
dem Zufalle vermengt. Das StGB, rechnet nämlich zu der schwersten Form
der Culpa diejenige Fahrlässigkeit, die mit der Verletzung einer amtlichen
oder professionellen Pflicht zu besonderer Behutsamkeit verbunden ist; und
zu der leichteren Form den Fall, wenn der Thäter zu der fahrlässigen Ver-
letzung durch besonderen Eifer bei der Erfüllung seiner Pflicht hingerissen
war (was freilich die Bedeutung des ersteren Satzes ganz vernichtet), und
wenn die schädlichen Folgen der Handlung schwer vorausgesehen werden
konnten. Dazu fügt das StGB, hinzu (Art. 110): „Wenn aber die fahrlässige
§ 6. Der allgemeine Thatbestand des Verbrechens. 287
Handlang, die eine Verletzung verursacht hat, durch Umstände gerechtfertigt
wird, die die Möglichkeit der Erwartung und der Vermutung dieser Folgen
völlig ausschlössen, so wird dem Schuldigen nur ein passender Verweis er-
teilt/' Die Unmöglichkeit aber, die Folgen einer Handlung vorauszusehen,
charakterisiert, dem StGB, nach, den straflosen Zufall (Art. 6 und 93). Es mag
hinzugefügt werden, dass nur einige vom 6. bestimmte Verbr. die Strafbarkeit
der Fahrlässigkeit zulassen.^) Gewöhnlich wird vom G. ausser der Strafe noch
kirchliche Busse auferlegt, die „zur Beruhigung des Gewissens des Schuldigen"
auch bei zufälligen Verletzungen bestimmt wird. Die Verantwortlichkeit für
dolose, wie auch kulpose Schuld hat zur Voraussetzung das Vorhandensein
des Willens und der Voraussicht oder wenigstens der Voraussicht des bevor-
stehenden verbrecherischen Erfolges und verschwindet selbstverständlich bei
der Abwesenheit dieser Bedingungen. Dies ist der Fall 1. bei Zufälligkeit
der Handlung oder des eingetretenen Erfolges; t. bei Irrtum oder Unwissen-
heit. Der Rechtsirrtum (error juris), sowie die Unkenntnis des G. (ignorantia
legis) beseitigen nicht die Zurechnung. Sie entfällt nur bei error facti. End-
lich 3« bei Zwang, von dem das geltende G. nur anlässlich des Notstandes
spricht. In dieser engen Fassung ist die Straflosigkeit freilich nur auf psychi-
schen Zwang beschränkt. Was den physischen Zwang betriflFt, so schliesst er
jedenfalls die Verantwortlichkeit aus, da bei ihm von einer Willensbestimmung
keine Rede sein kann. Der Strafe verfällt der Zwingende, nicht der Ge-
zwungene. In air diesen Fällen wird kirchliche Busse „zur Beruhigung des
Gewissens'* vorgeschrieben, wenn durch die Handlung der Tod eines Menschen
verursacht worden ist.
III. Stufen der Verwirklichung des verbrecherischen Entschlusses sind
nach der russischen Gesetzgebung: Äusserung des Vorsatzes, Vorberei-
tung, Versuch und Vollendung.^) Charakteristisch für das russische Recht
ist die Erwähnung der ersten beiden Stufen im G. ; dies hat darin seine Er-
klärung, dass bei einigen, namentlich bei politischen Verbr., auch die blosse
Äusserung des Vorsatzes, um so mehr die Vorbereitung, strafbar ist. Die
Äusserung des Vorsatzes wird vom G. bestimmt als die mündliche, schrift-
liche oder konkludente Äusserung der Absicht, ein Verbr. zu begehen. Dahin
gehören: Drohungen, Prahlerei und Antrag. Die Vorbereitung wird als Auf-
suchung oder Anschaffung der Mittel zur Begehung eines Verbr. und bei der
Brandstiftung auch als Anpassung derselben, definiert. Ausser den politischen
Verbr., deren Vorbereitung mit der Strafe der Vollendung bedroht ist, werden
mit geminderten Strafen die Vorbereitung zum Morde und zur qualifizierten
Brandstiftung belegt. Versuch wird vom G. diejenige Thätigkeit genannt,
mit der die Verwirklichung des bösen Vorsatzes begonnen oder befördert wird,
sodass diese Stufe die gesamte Thätigkeit vom Anfange der Handlung bis
zum Eintritt des Erfolges umfasst. Es wird der beendigte und der nicht
beendigte Versuch unterschieden. Letzterer liegt vor, wenn von dem Thäter
alles gethan worden ist, was seiner Meinung nach zur Herbeiführung des Er-
folges notwendig war; dieser Begriff entspricht also vollkommen dem Begriffe
des df^^lit manqu6 mit dem Unterschiede, dass der russische Begriff (durch das
M Diese Regel des StGB, hat das GB. für Friedensrichter verworfen. Letzteres
giebt den Richtern die Befugnis, jede fahrlässige Handlung, für welche im Gesetze
keine besondere Strafe bestimmt ist, mit dem Verweise zu belegen; übrigens hat die
Praxis, den Anweisungen der Litteratur folgend, diese Bestimmung so ausgelegt, dass
sie nur bei den Thatbeständen angewendet werden kann, die überhaupt fahrlässige
Begehung zulassen.
-) Eine gründliche Behandlung des Versuches enthalten die Arbeiten von Tshebü-
shew-DmJtrijew 1866, Orlow 1868, Kolokolow 1884.
288 ^As russische Kaisertum. — Das geltende russische StR.
6. V. 1865 eingeführt) von dem subjektiven Gesichtspunkte ausgeht. Der nicht
beendigte Versuch zerfällt wieder in zwei Arten: in den ftreiwillig aufgegebenen
und den von äusseren Umständen gehinderten. Der erstere ist hinsichtlich
der Strafbarkeit der Vorbereitung gleichgestellt, der zweit« unterliegt der
Strafe des vollendeten Verbr. in vermindertem Masse. Die Strafe wird auch
im Falle des beendigten Versuches vermindert; wenn aber der Thäter infolge
von äusserster Unwissenheit oder von Aberglauben absolut untaugliche Mittel
zur Herbeiführung des verbrecherischen Erfolges gebraucht hat, so wird er
nur für die Äusserung des Vorsatzes bestraft. Die angeführten Stufen des
verbrecherischen Vorhabens sind nur bei vorsätzlichen Handlungen möglich.
IV. Die Lehre von der Teilnahme^) am Verbr, ist in dem geltenden
Rechte weit ausgedehnt und kompliziert ausgestaltet. Es kennt nämlich Teil-
nahme ohne vorangegangene Verabredung, Komplott und Bande, und in jeder
dieser Arten wird zwischen dem Hauptthäter und den physischen wie intellek-
tuellen Gehülfen unterschieden. Die Teilnehmer an einem Verbr. zerfallen in
eine grosse Zahl von Kategorieen, die sich durch ganz geringe Merkmale be-
stimmen. Die Verfasser des GB. haben alles, was die deutschen Strafgesetz-
bücher der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts bezüglich der Teilnahme ent-
halten, zusammengebracht. Die Teilnahme am Verbr. wird nur im Falle der
Vollendung oder des Versuches mit Strafe belegt; das freiwillige Aufgeben
der verbrecherischen Absicht seitens der Teilnehmer beseitigt jede Strafe.
Das Aufgeben des Vorhabens seitens einzelner Teilnehmer schliesst aber nur
dann die Strafe aus, wenn sie rechtzeitig Anzeige gemacht und dadurch die
Begehung des Verbr. beseitigt haben. Die Strafbarkeit der Teilnehmer bei-
stimmt sich nach der Art der Teilnahme; die volle Strafe ftlr das vollendete
Verbr., mit der die Mitthäter belegt werden, wird abgestuft und vermindert
für die übrigen Kategorieen der Teilnehmer (das deutsche System im G^en-
satze zu dem französischen). Zu der Teilnahme gehört auch die Hehlerei,
die Begünstigung im engeren Sinne und die Nichtanzeige. Die Hehlerei um-
fasst die Hehlerei der durch das Verbr. erlangten Gegenstände, die Verdeckung
der Spuren des Verbr. und endlich die Verhehlung des Verbrechers vor der
Justiz. Begünstigung im engern Sinne heisst die Zulassung des Verbr. trotz
der Möglichkeit, es zu verhindern. Die Nichtanzeige zerfällt in die Nicht-
anzeige eines bevorstehenden und in die eines schon begangenen Verbr. Die
erstere wird wie die nicht notwendige Beihülfe bestraft. Die Nichtanzeige
eines schon begangei^n Verbr. wird in einigen Fällen als delictum sui generis
mit Strafe belegt. Nahe Verwandte des Verbrechers werden von der Strafe
für die Nichtanzeige und ftlr die Verhehlung der Person des Verbrechers be-
freit, oder sie werden nur in geringem Masse bestraft. Dieses Privileg gilt
nicht bezüglich der politischen Verbr.
V. Besondere Bestimmxmgen sind der Konkurrenz mehrerer Verbr.
und dem Rückfall gewidmet.^) Erstere bedeutet nach dem russischen Rechte
die Begehung mehrerer Verbr. vor der Aburteilung irgend eines von ihnen;
Rückfall die Begehung eines neuen Verbr. nach einer erlittenen Strafe. Das
G.v. 1892 hat dazu noch eine Zwischenform hinzugefügt, nämlich die Begehung
eines weiteren Verbr., nachdem das frühere abgeurteilt ist, aber noch vor Voll-
ziehung der bestimmten Strafe.^)
*) Monographische Bearbeitung der Lehre von der Teilnahme liefern: Zhirjajew,
1850; Shaikewitsh im Journal des Justizministeriums, 1865; Tagantsew, Kursus III,
1880; Kolokolow, 1881. Vgl. auch Foinitski im Juristischen Boten" 1891.
-) Tagantsew, Über die Wiederholung der Verbrechen, 1866.
*) Dieses Gesetz hat die Divergenz, die zwischen dem StGB, und dem GB. für
Friedensrichter bestand, beseitigt. Übrigens galten auch vor dem v. G. 1892 besondere
§ 7. Die Strafen des geltenden russischen Rechts. 289
Die Strafe wird bei Konkurrenz nach dem Prinzipe der Absorption be-
stimmt, wenn verschiedene Straf arten für die begangenen Verbr. angedroht
sind; nach dem Prinzipe der juristischen Kumulation, d. h. Schärfang der här-
teren der verwirkten Strafen, wenn für die begangenen Verbr. dieselben Straf-
arten angedroht sind. Nur bei Geldstrafen für fiskalische Übertretungen
werden die Strafen einfach kumuliert. Die Wiederholung eines Verbr. derselben
Art bildet einen Straf erhöhungsgrund; nur in einigen, vom G. besonders be-
stimmten Fällen, hat sie die Bedeutung eines Umstandes, der das neue Verbr.
als eine andere Verbrechensart qualifiziert. Das G. v. 1892 führt die Ver-
jährung des Kückfalls ein. Letztere wird mittels der von dem Ministerium
der Justiz geführten und periodisch publizierten Listen der Verbr. festgestellt.
§7. Die Strafen des geltenden rassischen Rechts.^)
I. Die Verfasser des StGB, hatten es sich, wie sie selbst erklärten, zur
Aufgabe gemacht, „die bestehenden Strafarten in ein geordnetes System zu
bringen". Dies ist ihnen aber nicht vollständig gelungen; das System des
StGB, ist doch sehr kompliziert. Es kennt aDgemeine, besondere, ausschliess-
liche und ausserordentliche Strafarten; ihrem gegenseitigen Verhältnisse nach
werden sie in Haupt- und Ergänzungsstrafen geteilt. Die allgemeinen Haupt-
strafen zerfallen ihrer Schwere nach in Kapital- und Korrektionsstrafen. Nach
der Idee des Grafen Bludow sollten die Kapitalstrafen nur gegen den ver-
härteten, unverbesserlichen Verbrecher verwendet werden und die vollständige
Ausstossung des Verbrechers aus dem Gemeinwesen herbeiführen; daher werden
sie auch durch die voUständige Entziehung aller bürgerlichen Rechte ergänzt.
Die Korrektionsstrafen sollten nur gegen Verbrecher, die noch die Möglichkeit
der Besserung bieten, verhängt werden.
II. Arten der Kapitalstrafen sind: !• Die Todesstrafe, mit der, nach
dem Entw. des Grafen Bludow, politische Verbr. und Vatermord bedroht sind;
bei der Beratung des Entw. wurde die Todesstrafe nur für politische Verbr.
beibehalten; 2. die Deportation nach Sibirien mit harter Zwangsarbeit (Kätorga),
die von lebenslänglicher oder zeitiger Dauer ist; nach Ablauf der Zwangs-
arbeitszeit wird der Verurteilte auf immer in Sibirien angesiedelt; 3. Deporta-
tion mit lebenslänglicher Zwangsansiedelung in Sibirien. Nach dem GB. v,
1845 waren diese Straf arten bis zum J. 1863 für Verurteilte, die den nicht
privilegierten Klassen der Bevölkerung angehören, mit Leibesstrafe (Züchtigung
mit Prügeln) verbunden.
Die Korrekt ionsstrafen sind nicht mit der vollständigen Entziehung
aller bürgerlichen Rechte verbunden; bei der Anwendung der schwersten
Arten dieser Kategorieen werden nur einige Standes- und Ehrenrechte auf
Lebenszeit entzogen. Die schwersten Korrektionsstrafen zerfallen in zwei
parallel laufende Systeme. Das eine für die sogenannten privilegierten, das
andere für die nicht privilegierten Klassen. Dies erklärt sich dadurch, dass
bis 1863 die härteren Korrektionsstrafen immer Leibesstrafe für die Nicht-
privilegierten mit sich führten. Zu den Privilegierten gehören Adelige, Geist-
liche und Ehrenbürger. Die Korrektionsstrafen stufen sich in folgender Weise
ab: !• Korrektionelle Arrestantenabteilungen (von 1^/^ bis 4 Jahren). In diesen
ist die Arbeit für die Gefangenen obligatorisch. Privilegierte unterliegen statt
dieser Strafart der einfachen (aber auch lebenslänglichen) Deportation nach
Bestimmungen über die Bestrafung von Verbrechen, die von den Deportierten vor
Ablauf der Strafzeit begangen wurden.
^) Maximowitsh, Über die Strafen nach den Gesetzen in Russland, 1858.
Strafgesetzgehttng der Gegenwart. 1. 19
290 ^^s russische Kaisertum. — Das geltende russische StR.
Sibirien. Die Verurteilung zu dieser Strafart führt den lebenslänglichen Verlust
der Standes- und Ehrenrechte herbei. 2. Arbeitshäuser und für Privilegierte
Deportation nach den entfernten Provinzen des europäischen Russlands. Die
Arbeitshäuser sind von Katharina II. errichtet worden; alle Bemühungen der
Regierung, sie zweckmässig zu organisieren und in genügender Zahl, abgeson-
dert von den Gefängnissen, zu errichten, waren erfolglos, daher wurden sii^
im J. 1884 völlig abgeschafft und durch Gefängnis von 2 Monaten bis zu
2 Jahren ersetzt. Dasselbe gilt 3« von den Zuchthäusern, die ebenfalls durch
Gefängnisstrafe bis zu 2 Jahren ersetzt sind. — Es folgen als die leichteren
Korrektionsstrafarten, verbunden mit Verlust bloss der politischen Ehrenrechte,
für Privilegierte und Nichtprivilegierte: 4. Festungshaft in der Dauer von
4 Wochen bis zu 4 Jahren, nur in einigen Fällen auch länger. Diese Straf-
art wird für Verbr., die nichts Ehrloses enthalten, wie z. B. das Duell u. dgl.,
angewendet. 5« Gefängnis in der Dauer von 2 Monaten bis zu 1 Jahr und
4 Monaten. Privilegierte, gegen die diese Strafe wegen begangener ehrloser
Verbr. (Diebstahl, Betrug, Unterschlagung) erkannt worden ist, werden ausser-
dem zum lebenslänglichen Verlust der Standesrechte verurteilt. 6. Haft in
der Dauer von 1 Tage bis zu 3 Monaten. 7. Geldstrafe. 8. Verweis, der in
drei verschiedene Arten zerfällt.
Jede dieser Kapital- und Korrektionsstrafen wird in Grade geteilt, sodass
sämtliche Strafarten, in eine Reihe geordnet, eine Leiter bilden; bei der Straf-
erhöhung und Strafminderung hat der Richter von einer Stufe dieser Leiter
auf die andere auf- oder abzusteigen, und so auch, mit einigen Beschränkungen,
von einer Strafart auf die andere. Ausserhalb dieser Leiter steht nur die Festungs-
haft, die überhaupt nur in ganz besonderen Fällen von Gesetzen angedroht ist.
Im ganzen enthält diese Leiter zehn Strafarten, die in 32 Grade zerfallen.
Die Ergänzungsstrafen, die neben Hauptstrafen verhängt werden,
sind: Rechtsaberkennung, Veröffentlichung des Urteils, Verbot des Aufenthaltes
in den Hauptstädten, Polizeiaufsicht und kirchliche Busse.
III. Besondere Strafen werden nur für amtliche Verbr. der Beamten
angewandt und bestehen in Ausschliessung aus dem Dienste, Dienstentlassung.
Abrechnimg von der Dienstzeit, Gehaltminderung, Verweise und Ermahnung.
IV. Als ausschliessliche gelten diejenigen Straffolgen, die in das allgemeine
System nicht aufgenommen xmd daher in dem allgemeinen Teile des StGB.
nicht erwähnt sind, die aber in ziemlich häufigen Fällen im besonderen Teile
angewendet werden. So haben die wegen Vatermordes zur lebenslänglichen
Zwangsarbeit (Kätorga) in Sibirien Verurteilten nicht das Recht, für gutes
Verhalten in die Abteilung der privilegierten Sträflinge (sie besteht aus den
sich bessernden Verbrechern) überzugehen und nach Ablauf von 20 Jahren be-
freit zu werden (Art. 1449). Selbstmörder werden nicht nach dem kirchlichen
Ritus begraben, und ihre testamentarischen Verfügungen sind von Rechtswegen
ungültig (Art. 1479). Blutschande unter Verwandten gerader Linie wird mit
Einzelhaft im Kloster auf die Dauer von 6^/^ Jahren und lebenslänglicher Ein-
sperrung in einem Kloster mit Arbeit und Busse, dasselbe Verbr. unter Verwand-
ten anderer Linien mit der Einsperrung in einem Kloster mit harter Arbeit be-
straft. (Art. 1593 — 1594). Einige Arten von Religions verbr., wie z. B. Eintritt in
die Sekte der Altgläubigen, werden mit Zwangsansiedelung auf dem Kaukasus
bestraft. Eine besondere praktische Bedeutung dieser ausschliesslichen Strafen
besteht darin, dass es für den Richter unmöglich ist, bei Milderuug oder Er-
höhung der Strafe zu den allgemeinen Strafarten überzugehen.
Als ausserordentliche Strafe gilt die Einziehung des gesamten Ver-
mögens, die für das Verbr. des Hochverrats auf Grund eines besonderen Aller-
höchsten Befehls bestimmt wii*d (Art. 255).
§ 7. Die Strafen des geltenden russischen Rechts. 291
V. So viel von dem zerstückelten und komplizierten Strafensystem des
StGB. V. 1845, das durch die Bestimmungen der anderen geltenden Strafgesetze
noch verwickelter wird. Die angeführten Strafmassregeln bilden nur den Kreis
der Strafen, die von den Gerichten verhängt werden; ausserdem aber giebt
es eine Fülle von ziemlich harten Strafmassregeln, die ohne vorläufige Gerichts-
entscheidang bloss auf administrativem Wege zuerkannt werden, sei es von
Verwaltungsorganen, sei es von den Bauerngemeinden, die eine Art Disziplinar-
gewalt über ihre Mitglieder besitzen. Der Kreis dieser administrativen Mass-
regeln ist besonders gross bezüglich der Provinzen, in welchen der grössere
oder kleinere Belagerungszustand auf Grund des G. v. 1881 erklärt ist; ausser
dem schon erwähnten Rechte der Zuweisung von Strafsachen an die Militär-
gerichte und ausser dem Rechte, verbindliche Verordnungen mit Androhung von
Freiheitsstrafen (GefUngnis) bis zu 3 Monaten und Geldstrafe bis zu 500 Rubel
zu erlassen, ist der Administration das Recht gegeben, beliebige Personen
auszuweisen, Handels- und Industrieanstalten zu schliessen, Zeitungen ein-
zustellen usw. In den anderen Provinzen kann von den Verwaltungsbehörden
ohne gerichtliche Entscheidung Verbannung nach Sibirien bis zu 5 Jahren, Einzel-
haft bis zu 4 Jahren, Aiisweisung aus den Hauptstädten und Polizeiaufsicht
bestimmt werden. Die Bauemgemeinden haben das Recht, ihre verdächtigen
Mit^^lieder zum Zwecke der Besserung zur Gemeindearbeit zu verwenden,
ihnen Haft und Geldstrafen aufzuerlegen und endlich „der Administration aus-
zuliefern", was eigentlich Zwangsansiedelung des Betreffenden samt seiner Fa-
milie auf Lebensdauer nach Sibirien bedeutet.
VI. Die Strafzumessung. Im StGB, werden alle Formen der Straf-
sanktion gebraucht. Der absolut unbestimmten Sanktion, einem Überbleibsel
der Moskowitischen Periode, begegnet man sehr selten; am häufigsten wird
vom St(}B. die relativ bestimmte Form gebraucht. Die Schranken des richter-
lichen Ermessens sind aber ziemlich eng gefasst, da das Gericht bei der Straf-
zumessung in den Grenzen eines bestimmten Grades derselben Strafart bleiben
muss. Die Strafgrade aber sind ziemlich eng und bieten sehr selten ein
günstigeres Verhältnis zwischen dem Minimum und Maximum als 1 : 2. Dabei
muss bemerkt werden, dass das G. nur gesetzliche Strafmilderungs- und Straf-
erhöhungsgründe kennt ^) und die Aufzählung derselben im G. als eine er-
schöpfende zu betrachten ist; deshalb ist sie auch sehr kompliziert. Das G.
unterscheidet: Straferhöhungsgründe einerseits, Strafmilderungs- und Straf-
minderungsgründe andererseits; die Strafschärfungsgründe und Straftninderungs-
gründe geben die Möglichkeit der Wahl innerhalb des gegebenen Grades der
Strafart, sodass das Gericht weder das Minimum noch das Maximum über-
schreiten kann. Als solche Gründe werden vom G. die grössere und geringere
Intensität des Vorsatzes, die verbrecherische Energie, die Brutalität der Hand-
lung, die Grösse des zugefügten Schadens usw. angeführt (Art. 129). Die
Straferhöhungsgründe, die eigentlich das einfache Verbr. in ein qualifiziertes
umwandeln, werden nur anlässlich einzelner Verbrechensarten im besonderen
Teile des StGB, aufgezählt. Bei ihrem Vorliegen wird die Strafe nicht nur
dem Grade, sondern auch der Art nach erhöht; hierher gehören Einbruch
beim Diebstahl, Wiederholung des Verbr., Wert der entwendeten Sache u. dgl.
Als Strafmilderungsgründe kennt das G.: Reue, Provokation, Leichtsinn, Not,
Bemühungen zur Abwendung der schädlichen Folgen der Handlung (Art. 134).
Die Strafmilderungsgründe, die die Strafe auch in der Art, jedoch immer
innerhalb der vom G. bestimmten Grenzen, mildeni können, sind teils gesetz-
V) Im GB. für die Friedensrichter ist die Aufzählung der Milderungs- und
Schärfungsgründe nur eine beispielsweise und für die Richter nicht bindend.
19*
292 Das russische Kaisertam. — Das geltende russische StR.
liehe, wie z. B. Minderjährigkeit, Untersnchongshaft u. dgl., teils bestehen sie,
seit der Geltung der Gerichtsordnungen v. 1864, aus den von den Geschworenen
zuerkannten Milderungsgründen; in letzterem Falle ist das Gericht befugt, die
Strafe bis auf zwei Grade zu mildem; eine fernere Milderung kann, falls das
Gericht sie durch besondere Umstände geboten erachtet, nur im Wege der
(4nade auf Vdg. des Kaisers durch den Justizminister stattfinden.
VII. Gründe der Ausschliessung der Strafverfolgung und Strafverhän-
gung sind nach dem StGB.: 1. der Tod des Verbrechers, der auch die Geld-
strafe beseitigt, i. Die Befriedigung des Verletzten, die auch nach dem Be-
ginne des Strafvollzuges erfolgen kann und 3. die Verjährung. Das russische
StR. kennt keine ürteilsverjährung. Die Verfolgungsverjährung aber ist in
die Gesetzgebung von Katharina II. 1775 durch einen UkAz eingeführt, der
für alle Verbr. die civilrechtliche zehnjährige Verjährungsfrist anordnet. Aber
noch vor diesem G. wurde die Verjährung durch Gewohnheit anerkannt. Im
geltenden Rechte hat der Verlauf der Zeit eine zweifache Bedeutung, die
eines Strafmilderungsgrundes, wie z. B. bei den Verbr. des Hochverrats und
Vatermordes, wo die Todes- und lebenslängliche Zwangsarbeitsstrafe durch
die Zwangsansiedelungsstrafe in Sibirien ersetzt wird, wenn seit der Begehung
des Verbr. 20 Jahre verflossen sind ; und die eines Strafausschliessungsgrundes
bei allen anderen Verbr. Die Verjährungsfrist schwankt je nach der Schwere
der angedrohten Strafe, manchmal auch der Art des Verbr., von einem halben
Jahre bis zu 10 Jahren. Die Verjährung ist unabhängig von dem Verhalten
des Verbrechers während der Verjährungsfrist. 4, Die Begnadigung, entweder
in der Form einer allgemeinen Amnestie, laut eines speziellen Allerhöchsten
Manifestes, oder in der Form einer besonderen Begnadigung, die in der Be-
freiung von der Strafverfolgung (Abolitio) oder in der Befreiung von der
Strafe nach dem Urteil bestehen kann; in letzterem Falle kann die Begnadi-
gung eine völlige oder teilweise sein, vor dem Beginne der Vollziehung oder
nach demselben geschehen. Die letztere Art der Begnadigung wird in Russ-
land verhältnismässig selten angewendet. 5. Das Institut der bedingten Ent-
lassung ist dem russischen Rechte bis zum heutigen Tage unbekannt; nur für
die auf Grund des G. v. 1866 in Besserungs-Kolonieen oder -Anstalten unter-
gebrachten jugendlichen Verbrecher kann die vorläufige Entlassung stattfinden.
Ersetzung einer Strafart durch die andere findet statt bei thatsächlicher
oder rechtlicher Unmöglichkeit, die im Urteil bestimmte Strafe zu vollziehen.
Thatsächliche Unmöglichkeit ist vorhanden, wenn der zu einer Geldstrafe Ver-
urteilte zahlungsunfähig ist, in welchem Falle Arrest oder Verwendung zu
öffentlichen Arbeiten eintritt ; ferner wenn im gegebenen Orte die Vollziehung
der Strafe in den Korrektionsabteilungen oder in einer Festung unmöglich
ist, in welchem Falle Gefängnisstrafe eintritt. Die rechtliche Ersetzung be-
steht in der auf Allerhöchsten Befehl eintretenden Ersetzung der Todesstrafe
durch den politischen Tod, d. h. durch die Aberkennung aller bürgerlichen
Rechte und die Deportation nach Sibirien mit Zwangsarbeit ; in der Ersetzung
der Deportation mit Zwangsarbeit durch Deportation mit Ansiedelung für Ver-
urteilte, die das 70. Lebensjahr überschritten haben; für Frauen und über-
haupt zur Arbeit Unfähige in der Ersetzung der Detention in den Korrektions-
abteilungen durch Gefängnisstrafe auf dieselbe Dauer; für Ausländer in der
Ersetzung der Verbannung in entfernte Provinzen des europäischen Russlands
durch Gef. und Ausweisung aus dem Reiche (oder wenn der ausländische
Staat den AusgcAviesenen nicht aufnimmt, Polizeiaufsicht). Für Verurteilte der
nicht privilegierten Stände kann Arrest statt öffentlicher Arbeiten angewendet
w(»rden. Hinzuzufügen ist, dass die öffentliche Ausstellung auf dem Schafotte
abgeschafft ist.
§ 7. Die Strafen des geltenden russischen Kechts. 293
VIII. Gehen wir jetzt zur Besprechung einzelner Straf arten über. Die
Todesstrafe wird ohne jede Schärf ung durch Erhängen, für Militärverbr.
durch Erschiessen vollzogen; seit 1881 ist die Hinrichtung intramuran. Mit
Todesstrafe sind bedroht: !• der Hochverrat, der mehrere Thatbestände uni-
fasst, nämlich: Verbr. gegen Leben, Gesundheit, Freilieit oder Ehre (ausser
Injurien, die nicht in Anwesenheit des Kaisers geschehen, wie auch Ma-
jestätsbeleidigung durch Schriften und Abbildungen) des Kaisers und der Mit-
glieder des kaiserlichen Hauses, der Versuch, den regierenden Kaiser vom
Throne zu stürzen, die souveränen Rechte zu beschränken, Gewalt gegen
Schildwachen, die die Person des Kaisers oder sonstiger Mitglieder des kaiser-
lichen Hauses schützen. Aufstand, d. h. Bildung eines Komplottes, Eintritt in
ein Komplott, das die Regierungsform oder die Regierung im ganzen Reiche
oder in einem einzelnen Teile desselben oder die Thronfolge zu ändern zum
Zwecke hat, Landesverrat (Art. 241—244, 244, 249, 253, 254). Diese Verbr.
sind sogar in den entferntesten Stufen der Verwirklichung als vollendet mit
der Todesstrafe belegt, derselben Strafe unterliegen die Teilnehmer, sogar die
Begünstiger; in der Praxis werden zur Todesstrafe auch Minderjährige ver-
urteilt. Vom J. 1866 — 1869 sind wegen Hochverrates 70 Personen zum Tode
verurteilt und 40 hingerichtet worden. 2, Für einige Quarantäneverbr. , aber
nur zur Zeit einer Pestepidemie. 3. Für Kriegsverbr. , die nach den G. der
Kriegszeit abgeurteilt werden. Für gemeine Verbr. dagegen, auch für die
schwersten Arten, wird die Todesstrafe vom G. nicht bestimmt. Hier ist sie,
wie bereits erwähnt, durch die Ukäze der Kaiserin Elisabeth von 1742, 1744,
1753, 1754 abgeschafft worden. Aber auch später wurden verschiedene G.
erlassen, die die Anwendung der Todesstrafe für gemeine Verbr. in einzelnen
Teilen des Reiches, besonders in depjenigen, die nach der Kaiserin Elisabeth
einverleibt worden sind, beseitigen, z. B. im J. 1794 für Litauen, 1801 für
Grusien, 1804 für MingreUen, 1811 für Gurien, 1826 für Finnland. Seither
ist die Todesstrafe für gemeine Verbr. nicht wieder hergestellt worden.^) Seit
dem G. von 1881 über den Belagerungszustand ist die Möglichkeit gegeben
worden, gemeine Verbr. in besonders wichtigen Fällen, wenn es nämlich die
Sicherung der Staatsordnung erheischt, mit dem Tode zu bestrafen, indem die
Generalgouvemeure die Aburteilung solcher Fälle den Kriegsgerichten über-
weisen können. Es sind auch manche Fälle bekannt, dass Verbr. der Detinierten
gegen die Gefängnisadministration durch Allerhöchsten Befehl den Kriegs-
ministem zugewiesen wurden.
Die zweite Stelle im Strafensystem nimmt die Deportation ein. Sie zer-
fällt in drei Arten: die Deportation mit Zwangsarbeit (Kätorga), die Depor-
tation mit Zwangsansiedelung in Sibirien und die einfache Deportation. Die
ersten zwei Arten gehören zu den Kapitalstrafen und sind mit dem Verluste
aller bürgerlichen Rechte verbunden. Die letzte steht an der Spitze der Kor-
rektionsstrafen, ihr unterliegen Personen der privilegierten Stände. Die ein-
fache Deportation besteht in der Verbannung nach Sibirien, die statt Detention
in Korrektionsabteilungen, zu welcher Nichtprivilegierte verurteilt werden, aus-
gesprochen wird, oder aus Verbannung nach entfernten Provinzen des euro-
päischen Russlands, an Stelle der Gefängnisstrafe für Nichtprivilegierte.
Die Deportation mit Zwangsarbeit hat sich geschichtlich aus zwei ver-
schiedenen Strafarten entwickelt: der Deportation und der Zwangsarbeit. Die
harte Zwangsarbeit, die sogenannte „Kätorga", entsprach vollständig den Ga-
^) Eine Ausnahme bildet die kurze Periode von 1834—1837, als die Todesstrafe
auf Grund geheimer Reskripte an die General-Gouverneure in Sibirien für gewisse
Verbrechen der Deportierten erlaubt war. Vgl. Foinitski, Die Lehre von der Strafe,
S. 288.
294 I^as russische Kaisertum. — Das geltende russische StR.
leren des alten französischen Strafensystems. Zum erstenmale ist die Eatorga
oder Galerenstrafe 1688 erwähnt, nachher wurde diese Benennung für die Hafen-
arbeiten und überhaupt alle extramuranen Arbeiten, für welche zur Zeit Peters
des Grossen nicht nur Verbrecher, sondern alle zur Disposition des Staates gestellten
Personen verwendet wurden, gebraucht. Zur Zeit Elisabeths bedeutete Kätorga
die Minenarbeit in Daurien, die laut des Ukäzes v.J. 1754 statt der Todes-
strafe angewendet wurde. Das Bedürfnis des Staats nach Arbeiterhänden rief
noch andere Arten der Zwangsarbeit hervor, so Festungs- und Fabrikarbeiten.
Es entstand ein ganzes System von Zwangsarbeiten, die verschiedene Straf-
arten bildeten. Die Deportiertenordnung v. J. 1822 und das StGB. v. J. 1845
änderten diesen Zustand Insoweit, dass sämtliche Arten der Zwangsarbeit als
eine Strafart, die der Todesstrafe im Systeme unmittelbar folgt, betrachtet
und dass sie je nach der Dauer und der Art der Arbeit in verschiedenen
Stufen verteilt werden. Die geschichtlich ausgebildete Unterscheidung der Minen-,
Festungs- und Fabriks-Zwangsarbeit wird in der neueren Zeit beseitigt. Zuerst
verschwand die Fabrikszwangsarbeit, da der Mangel an Arbeitern immer ge-
ringer wurde, und die Fabriken selbst aus dem Betriebe des Staates in den
der Privatuntemehmung übergingen. Ebenso hat die Festungsarbeit aufgehört.
Es bleiben nur die Minenarbeiten der Deportierten, die auch am Vorabende
ihres Verschwindens stehen, da die Minen Privateigentum des kaiserlichen
Hauses sind und dessen Verwaltung die Zwangsarbeit der Deportierten nicht
für vorteilhaft findet. In den 70er Jahren war die Kätorga ganz desorganisiert;
daher wurden an verschiedenen Punkten des europäischen Teiles des Reiches
sogenannte Centralkätorgagefängnisse errichtet, in denen die zur Deportation
mit Zwangsarbeit Verurteilten in gemeinsamer Detention ohne Arbeit und imter
einem sehr strengen Regime ihre Strafzeit verbrachten. Die Resultate waren
sehr bedauerliche, die Mortalität stieg in diesen Gef. bis auf 25 ^/^ jährlich.
Dies hatte zur Folge, dass einerseits die Verbrecher nach der Insel Sachalin
transportiert und dort zu landwirtschaftlichen und Kohlenminenarbeiten ver-
wendet wurden, xmd andererseits die Überzeugung sich befestigte, dass die
Zwangsarbeit nicht als kostenlose Arbeit für die Bedürfnisse des Staates zu
betrachten sei, sondern ein selbständiges Strafmittel bilde, das für den Staat
mit Kosten verbunden ist. Im jetzigen Rechte wird die KÄtorga nicht mehr
nach der Art der Arbeit, sondern nach ihrer Dauer in sieben Stufen geteilt:
die mindeste Dauer beträgt 4 Jahre, das Höchstmass ist lebenslängliche Dauer;
die Verurteilten werden zuerst in die Kategorie der Geprüften versetzt und
nach einiger Zeit, wenn sie sich gut verhalten, in die Kategorie der Gebesserten
überführt; hier ist das Regime etwas milder und die Strafdauer kann ftlr die
in dieser Kategorie Befindlichen verkürzt werden. Die zur lebenslänglichen
KAtorga Verurteilten bleiben 20 Jahre in der Arbeit; die wegen Vatermordes
Verurteilten werden von der Arbeit nur im Falle der gänzlichen Arbeits-
unfähigkeit befreit. Nach dem Ablaufe der Arbeitszeit werden die Deportierten
an bestimmten Punkten Sibiriens angesiedelt; Vatermörder bleiben auch dann
im Gef. — Die Deportation mit Zwangsansiedelung, die die nächste Strafart
bildet, zerfällt in zwei Stufen: Deportation nach ganz entfernten und Deportation
nach weniger entfernten Gegenden Sibiriens. Die Regierung erprobte ver-
schiedene Systeme der Ansiedelung; so bildete man neue Dörfer, die von De-
portierten bevölkert wurden, Häuser wurden für sie gebaut und das nötige
Inventar geschaffen, was selbstverständlich mit grossen Kosten verbunden war.
Die Angesiedelten verliessen aber bald ihre neue Heimat; daher und um die
Deportierten durch Schaffung von Familien in den angewiesenen Orten fest-
zuhalten, verteilte man sie in verschiedene Familien der Einwohner, denen
man dafür Prämien aussetzte. Dieses System ist jetzt ganz aufgegeben; ebenso
§ 7. Die Strafen des geltenden russischen Rechts. 295
ist das noch in der moskowitischen Periode nnd im G. v. 1806 normierte
System der Unterstützung der Deportierten in landwirtschaftlicher Einrichtung
ausser Gebrauch gekommen. Gegenwärtig werden die Deportierten verschiedenen
Gemeinden zugeschrieben, die sie mit Boden versehen und eine Art von vor-
mundschaftlicher Aufsicht ausüben. Zum selbstberechtigten Mitglied der Ge-
meinde wird der Deportierte erst nach Ablauf von 10 Jahren. Die Gemeinden
schenken gewöhnlich den Deportierten wenig Zutrauen und behandeln sie ziem-
lich stiefmütterlich; daher laufen die Angesiedelten fort, vergrössem die ohne-
dies schon grosse Zahl der Vagabunden, verfallen in das professionelle Ver-
brechertum, terrorisieren die Umgegend und kehren zu ihren Gemeinden erst
dann zurück, wenn sie körperlich ganz herabgekommen und zum Vagabunden-
leben ganz unfähig sind; sie fallen dann der Gemeinde zur grossen Last. Wie
die Erfahrung lehrt, richtet sich nur ^/.>^/o ^^^ Angesiedelten ein. Als
Ursache dieser traurigen Erfolge der Zwangsansiedelung sind folgende Um-
stände zu betrachten: 1* Mangel an Frauen, und daher die Familienlosigkeit
der Deportierten; der Prozentsatz der Frauen unter den De])ortierten, die frei-
willig folgenden mit eingerechnet, übersteigt nicht 14*^/^, auch ist der grösste
Teil derselben, dank ihrem ftüheren verbrecherischen Lebenswandel, kaum zur
Bildung einer festen Familie fähig. Die ansässigen Frauen, die überhaupt
einen kleinen Bestandteil der Bevölkerung bilden, sind sehr wenig geneigt,
sich mit einem Deportierten zu verheiraten. Es kann jetzt auch nicht mehr
die von Peter I. angeordnete Massregel getroffen werden, dass Weiber für die
Deportierten bei den nomadischen Völkerschaften Sibiriens gekauft werden.
2. Eine erfolgreiche Ansiedelung setzt den Besitz von irgend welchem Ver-
mögen bei den Angesiedelten voraus; in Wirklichkeit aber kommen die De-
portierten nach Sibirien mit einem Vermögen, das durchschnittlich den Wert
von drei Rubeln nicht übersteigt. 3. Ein grosses Hindernis der Entwickelung
eines gesunden bürgerlichen Lebens bei den Deportierten bildet ihre Recht-
losigkeit, die das Resultat der Rechtsentziehung ist. 4. Das grösste Übel ist
der hohe Prozentsatz der Kranken und Arbeitsunfähigen unter den Depor-
tierten, der manchmal 42 ^/^ beträgt. Dieser Umstand ist dadurch bedingt,
dass nach Sibirien Personen jedes Alters und jedes Gesundheitszustandes depor-
tiert werden, dass die Deportierten fast den ganzen langen Weg zu Fuss in
der Etappenordnung zurücklegen, dass die klimatischen Verhältnisse Sibiriens
von denen des europäischen Russlands ganz verschieden sind, und endlich,
dass zur Deportation Personen mit einer verbrecherischen und lasterhaften
Vergangenheit, die einen üblen Einfluss auf ihren körperlichen Zustand übt,
verurteilt werden. Dabei ist auch noch zu bemerken, dass die Deportation
mit grossen Kosten verbunden ist und dass sie die gesunde Entwickelung
Sibiriens hemmt. Wie wir gesehen, hat die Erfahrung;, die Russland mit der
Deportation im Laufe von Jahrhunderten gemacht hat, nur die dunkeln Seiten
(lieser Strafart bezeugt, und wie verlockend auch die Idee der Verwendung
der Deportation als eines Strafmittels sein mag, so muss man doch auf Grund
der russischen Praxis zu der Überzeugung ihrer Schädlichkeit notwendig
gelangen.^)
^) Gegen diese Ansicht spricht sich Tagautsew aus, der Anhänger der Depor-
tation als eines Strafmittels ist, und der glaubt, dass „wir auf Grund der russischen
Erfahrungen nicht zum Schlüsse kommen können, dass die Deportation als Strafmittel
nicht anwendbar sei; nur dies sei zu konstatieren, dass in der gegenwärtigen Organi-
sation die Deportation unzweckmässig ist und eine wesentliche Reform fordert." Aber
um zu einer zweckmässigen Organisation zu kommen, hat Russland mehr als drei
Jahrhunderte Zeit gehabt, und doch mangelt es an einer solchen bis jetzt; ja Tagan-
tsew selbst weist keine Periode unserer Geschichte auf — und kann es auch nicht
296 I^&s russische Kaisertum. ~ Das gelteude russische StR.
Die Skala der Korrektionsstrafen beginnt mit der einfachen Deportation
für privilegierte Klassen der Bevölkerung. Die Nichtprivilegierten unterliegen
statt der Deportation der Detention in den Korrektionsabteilungen (biß zu
4^9 Jahren). Die einfache Deportation besteht in der Ausweisung aus dem
Aufenthaltsorte des Verurteilten und der Einweisung in einen bestimmten Ort,
sei es in Sibirien, sei es in einer der entfernten Provinzen des europäischen
Eusslands, mit dem Verbote, während einer Dauer bis zu 12 Jahren denselben
zu verlassen. Die Deportation erw^artet in nächster Zukunft eine gründliche
Reform. Der Entw. eines neuen StGB, beseitigt die einfache Deportation und
behält nur die Deportation mit Zwangsansiedelung in Sibirien, und das nur
als eine besondere Straf art für einige Gewissensverbr., bei. Die harten Arbeits-
strafen werden nach dem Entw. nicht in Sibirien vollzogen; erst nach dem
Ablaufe der Strafzeit sollen die Verurteilten nach Sibirien transportiert werden.
Mit diesem Entw., wenn er G. wird, wird ein fernerer Schritt zur Beschränkung
der Deportation gemacht werden, die schon mit der Deportiertenordnung von
1822 beginnt. Aber dabei wird man gewiss nicht stehen bleiben; die Durch-
führung der sibirischen Eisenbahn wird den Augenblick der völligen Ab-
schaffung der Deportation und der Befreiung Sibiriens von der Verbrecher-
bevölkerung des ganzen Russlands nur näher rücken.^)
Die Freiheitsentziehung als Strafinittel wird jetzt bloss in drei Arten ge-
teilt: 1. Detention in den Korrektionsabteilungen ; 8. Gefängnisstrafe; und 3. Haft
von kurzer Dauer. Als eine besondere Strafe steht neben dieser die Festungs-
haft. In den Korrektionsabteilungen werden nur Männer der nichtprivilegierten
Stände angehalten. Die Korrektioushäuser erscheinen zuerst am Ende des
zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts und waren bestimmt für Sträflinge, die
unter Militärregime für Arbeiten ausserhalb der Anstalt verwendet waren; jetzt
werden die Detinierten innerhalb der Anstalt beschäftigt und die Hausordnung
ist etwas milder als vorher. 1890 befanden sich im ganzen Reiche 32 Kor-
rektionsabteilungen mit einer durchschnittlichen täglichen Bevölkerung von
11 156 Mann; jährlich werden zur Detention in diesen Anstalten bis zu 10 000
Verbrecher verurteilt. Die Sträflinge werden Tag und Nacht in gemeinsamer
Haft gehalten; die besten Sträflinge werden nach Ablauf von 2 Jahren in die
Kategorie der Gebesserten versetzt und gemessen manche Begünstigungen; hier
werden 10 Monate für ein Jahr angerechnet. Bei schlechtem Verhalten können
sie aus dieser Kategorie ausgeschlossen werden. Vor dem Ablauf der Straf-
zeit wird bei der Gemeinde, zu welcher der Sträfling gehört, angefragt, ob
sie nacli der Befreiung den Entlassenen unter ihre Aufsicht zu nehmen geneigt
ist; bei günstiger Antwort wird der Entlassene der Gemeinde ausgeliefert, im
entgegengesetzten Falle, der mit ganz seltenen Ausnahmen in Wirklichkeit
immer eintrifiPt, wird der Entlassene in Sibirien, namentlich in den Gouverne-
ments Tobolsk oder Tomsk auf administrativem Wege angesiedelt. — Die
Gefängnisstrafe, in der Dauer von 2 Monaten bis zu 2 Jahren, wird der Dauer
nach in 9 Stufen geteilt und je nach dem Eintritt oder Nichteintritt der Rechts-
entziehung unterschieden. In der Regel wird gemeinsame Haft angewendet;
das G. V. 1887 giebt aber der Gefängnisverwaltung das Recht, die Einzelhaft
auf die Dauer von höchstens 1^2 Jahren anzuwenden, wobei für das erste Jahr
3 Tage gleich 4, später 2 Tage gleich 3 Tagen gerechnet werden. Seit dem
G. V. 1886 ist die Arbeit in den Gef. innerhalb oder ausserhalb der Anstalt
thun — , in welcher die Deportation in irgend welchem Masse zweckmässig organi-
siert gewesen wäre.
*) Über die Deportation und Kolonisation Sibiriens vgl. Jadrientsew, Sibirien
als eine Kolonie, 1882; derselbe, Die russische Gemeinde in Gefängnissen und Ver-
bannung, 1872. Maxlniow, Sibirien und die Kdtorga, 1867.
§ 7. Die Strafen des geltenden russischen Rechts.
297
obligatorisch; einen Teil des Arbeitslohnes, nämlich ^/^q, bekommt der Sträfling,
^I^Q kommen dem Fiskus und die übrigen ^/j^ der Anstalt zu. Die letztere
Summe wird zur Instandhaltyng der Werkzeuge, zur Belohnung der für die
Bedürfhisse des Gef. beschäftigten Sträflinge verwendet, und der Rest der Ge-
fängnisverwaltung überlassen.
Die leichteste Art der Freiheitsentziehung endlich ist die einfache Haft,
in der Dauer von 3 Tagen bis zu 3 Monaten; der Dauer nach wird sie in
4 Stufen geteilt. Sie besteht in einfacher Freiheitsentziehung ohne obligatorische
Arbeit; die Verhafteten haben das Recht, ihre eigene Kleidung zu benutzen
und auf eigene Kosten sich zu nähren.
Um einen Begriff von der Zahl der Gefängnisbevölkerung aller Kategorieen
in Russland zu geben, mag die folgende Tabelle, die amtliche Angaben über
diese Zahl im Jahre 1890 enthält, angeführt werden.
■
Oesan
ntzahl
inter
0
>3
Franen
i^
Dan
^4H
Sa
Es waren:
i
dg
Yerarteilte
anf be-
stimmte Zeit
Deportierte
Freiwillig d
Deportierte
Folgende
Am 1. Januar 1890 . . .
Während des Jahres
1890 angekommen . .
Während desselben Jah-
res entlassen
Am 1. Januar 1892 ge-
blieben
68,820
454,853
455,416
68,257
7,555
68,402
68,571
7,386
73,781
55,291
20,832
109,776
123,325
43,049
53,659
59,663
4,638
244,726
244,162
4,692
6,006
5,879
752
35,307
35,659
1,656
75,6
43 1)
Die Durchschnittszahl für den Tag, die freiwillig folgenden nicht mit
gerechnet, ist 74,415, daninter 65,987 Männer und 7,428 Frauen: die Zahl
der Kranken ist im Durchschnitte für den Tag 4,393, also 6^/^, die Durch-
schnittszahl der Gefängnissträflinge ist 33,967 (29,719 Männer, 4,248 Frauen);
die der Gefangenen in den Korrektionsabteilungen 6,960 und die der Häftlinge
441. Dazu kommen etwa 10,500 Deponierte, die in den Strafanstalten auf
der Insel Sachalin detiniert werden.
Die Entziehung der Rechte ist dem russischen Rechte bis Peter dem
Grossen unbekannt. Dieser entnahm 1716 dem deutschen Rechte eine besondere
Strafart, die öffentliche, durch den Strafvollzieher geraachte Erklärung, dass der
Verurteilte ein Schelm sei, was den Verlust jedes Zutrauens, des Eides und
der Zeugnisfähigkeit, den Verlust des Schutzes der Gesetze und der Gerichte zur
Folge hatte; der Verurteilte war also vogelfrei, es war verboten, mit ihm in
Berührung zu kommen, nur seine Tötung wurde mit Strafe belegt. Derselbe
Kaiser führte das Anathema ein, das in der vollständigen Exkommunikation
nicht nur aus der Kirche, sondern auch aus der bürgerlichen Gesellschaft be-
stand. Diese Exkommunikation wurde der politische Tod genannt. Später
wurde der politische Tod, laut dem obenerwähnten G. der Kaiserin Elisabeth
v. 1753, statt der Todesstrafe angewendet und führte die lebenslängliche De-
portation, Leibesstrafen, Ausreissung der Nasenflügel mit sich. Im Swod
Zakonow und nachher im StGB. v. 1845 findet sich ein ziemlich kompliziertes
*) Ausser (7,268 Männern und 1,505 Frauen) in den Gefängnissen Polens.
298 Das russische Kaisertum. — Das geltende russische StR.
System der Rechtsentziehung; es wird unterschieden 1. der Verlust einiger
Rechte und Privilegien; 8. der Verlust aller besonderen Standesrechte und
Privilegien; und 3. der Verlust aller bürgerliclien Rechte. Alle diese Arten
sind lebenslänglich und treten als notwendige Folge der ausgesprociieneu
Strafen ein. Ausserdem kennt die russische Gesetzgebung 4. den Verlust von
bestimmten professionellen Rechten, z. B. des Rechtes der ärztlichen Praxis, des
Rechtes eine Apotheke zu verwalten, industrielle Anstalten zu betreiben, sich
mit dem Handel zu beschäftigen usw. Hierher gehört auch der Verlust des
Rechtes, in einem bestimmten Orte sich aufzuhalten, minderjährige Lehrlinge
im Handwerke zu benutzen usw. Dieser Verlust ist entweder lebenslänglich
oder von einer bestimmten Dauer. Der Verlust einzelner Rechte bedeutet die
Unfähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, den Verlust des passiven und
aktiven Wahlrechtes; der Verurteilte behält aber seine Standesrechte und alle
Privilegien und Auszeichnungen, die er im Staatsdienste bis zur Verurteilung
erworben hat (ausser den Geistlichen, die ihre Qualität einbüssen). Diese Strafe
besteht hauptsächlich nur in Entziehung der amtlichen Rechte. Der Verlust
aller besonderen Rechte umfasst ausser den erwähnten Rechten die privilegierten
Standesrechte und alle Auszeichnungen ; also Verlust des Adels, der Ehrentitel ;
des Rechtes, in den Kaufmannstand aufgenommen zu werden usw., femer des
Rechtes auf Beschäftigungen, die mit öffentlichem Vertrauen verbunden sind
(als Vormund gewählt zu werden, Anwalt zu sein, Zeugnis in Civilsachen al>-
zulegen usw.). Der Verlust aller bürgerlichen Rechte umfasst ausser den bei
den ersten zwei Arten erwähnten 1. den Verlust der Vermögensrechte; in den
Besitz des Vermögens des Verurteilten treten seine Erben wie im Falle des
Todes; der Verurteilte kann selber nicht Erbe sein und er wird in der Erb-
schaft von seinen Erben repräsentiert. Das 6. enthält keine Bestimmungen
über das Recht, Vermögen zu erwerben; nur in der Deportiertenordnung finden
sich manche Bestimmungen darüber. Der Verurteilte kann nämlich Mobilien
besitzen, (es wird sogar amtliche Rechnung über die von den Deportierten
mitgenommenen Gelder geführt). Immobilien können nur die zu der Kategorie
der Gebesserten gehörenden Sträflinge erwerben, es wird ihnen gestattet,
Bodenparzellen und Häuser in der Nachbarschaft der Strafanstalten durch die
sogenannte „Expedition der Deportierten" zu kaufen. Die angesiedelten De-
portierten können selbständig in ihrem Wohnungsort Immobilien erwerben;
nach ihrem Tode erben nur diejenigen Verwandten, die selbst in Sibirien
wohnhaft sind, bei dem Nichtvorhandensein solcher fällt das Vermögen an
den sogenannten „Fonds für Unterhaltung der arbeitsunfähigen Deportierten".
Nach Ablauf von 10 Jahren hat der Deportierte das Recht, in den Bauern-
stand aufgenommen zu werden, imd damit erhält er auch alle Vermögensrechte
ohne jede Einschränkung. 2. Den Verlust der Familienrechte, a) Die früher
geschlossene Ehe wird auf Wunsch des nicht verurteilten Ehegatten gelöst,
wenn keine konfessionellen Hindemisse vorhanden sind; nicht aber kann die
Ehe auf Wunsch des Verurteilten selbst gelöst werden. Die zur Kätorga Ver-
urteilten haben nicht das Recht, eine Ehe zu schliessen, bis sie in die Kategorie
der (lebesserten eintreten; in der Praxis aber, da die Familienbildung füi*
die Deportierten höchst wünschenswert ist, wird die frühere Ehe, wenn der
nicht verurteilte Ehegatte nach Sibirien nicht gefolgt ist, gelöst und neue Ehe-
schliessung gestattet, b) Verlust der Elternrechte über die Kinder, die vor
der Verurteilung geboren sind, aber nur wenn die Kinder dem verurteilten
Vater oder der Mutter nicht nach Sibirien folgen, was bei Minderjährigkeit
der Kinder von dem nicht verurteilten Ehegatten abhängt. Endlich c) die
Lösung aller Verwandtschaftsbande, was für die Erbschaft und Vormundschaft
von Bedeutung ist. Wie wir sehen, ist auch diese Art der Rechtsentziehung von
§ 8. Der besondere Teil des nissischen StR. 299
dem sogenannten bürgerlichen Tode weit entfernt; auch ist ihre Lebensläng-
lichkeit nur bedingt und ebensowenig absolut wie die lebenslängliche Kätorga
selbst.
Die übrigen Strafarten des Strafensystems sind die Geldstrafe und der
Verweis. Die erstere wird in der Regel als eine selbständige Strafe an-
gewendet, nur ausnahmsweise ist sie Ergänzungsstrafe; bei Zahlungsunfähigkeit
wird sie durch Haft oder Verwendung zu öffentlichen Arbeiten ersetzt. Die
Höhe der Summe wird vom G. festgesetzt, nur in einigen Fällen wird sie als
Zweifaches, Dreifaches des Wertes des zugefügten Schadens bestimmt (Forst-
diebstahl, Zollvergehen usw.). Gewöhnlich steigt die Summe nicht über
300 Rubel, eine Ausnahme bilden die fiskalischen Übertretungen.
IX. Das Strafensystem des Entw. ruht auf dem G. v. 1879 und ist
wesentlich vereinfacht. Allgemeine Strafarten sind Todesstrafe, KAtorga mit
nachfolgender Deportation, Korrektionshaus, Gef., Haft und Geldstrafe; be-
sondere Strafmittel, Deportation, Festungshaft und Vei-weis für Minderjährige.
Die Rechtsentziehung besteht in der Aberkennung der Standes-, Amts- und
Ehrenrechte; die Entziehung der Vermögens- und Familien-Rechte wird be-
seitigt, es treten aber im Interesse der Familie des Verurteilten manche Be-
schränkungen in der Ausübung von Vermögens- oder Familienrechten seitens
des zu einer lebenslänglichen Strafe Verurteilten durch die bürgerliche Ciesetz-
gebung ein.
§ 8. Der besondere Teil des russischen StR.^)
I. Das ganze StGB, ist in 12 Abschnitte geteilt, von denen der erste den
allgemeinen Bestimmungen gewidmet ist; die übrigen 11 Abschnitte enthalten
Bestimmungen über einzelne Verbrechensarten, nämlich : Abschnitt II Verbr.
gegen die Religion; III gegen den Staat; IV gegen die öffentliche Ordnung;
V Amtsverbrechen; VI gegen Steuer- und Staatspflicht-Ordnungen; VII gegen
den Fiskus; VIII wider die öffentliche Wohlfahrt und Polizei; IX gegen die
Standesrechte; X gegen Leben, Gesundheit und Ehre der Privatpersonen;
XI gegen Familienrechte und XII gegen das Vermögen. Die Verfasser des
StGB wurden zur Annahme dieses Systems durch zwei Umstände bestimmt.
Eretens wünschten sie in dem StGB., das den Schutz der allgemeinen Normen
verwirklichen soll, dem System zu folgen, das in der Gesetzgebung überhaupt,
d. h. im „Swod Zakonow" durchgeführt ist; einzelne Abteilungen des StGB,
sollen den einzelnen Bänden des Swod entsprechen; zweitens berücksichtigen
die Verfasser auch die innere Natur, die Richtung der strafbaren Handlungen.
Jeder Abschnitt ist in Kap. geteilt; die Kap. in Teile und Paragraphen; alle Abt.,
Kap., Teile und Paragraphen sind betitelt. Im ganzen enthalten die XI Ab-
schnitte des besonderen Teils des StGB 75 Kap., 88 Teile und 45 §§, also im
ganzen 219 verschiedene Titel. Da die Kodifikation der Verbr. auf den Cha-
rakter der, durch die strafrechtlichen Bestimmungen zu sichernden, Normen
und Rechte, aber nicht auf die juristische Natur der Begriffe gegründet ist,
so sind Bestimmungen, die sich auf einen und denselben Begriff beziehen, an
verschiedenen Orten des StGB zu finden. So sind z. B. die Verbrechen der
^) Litteratur: Lochwitski, Kursus 1867; Nekljudow, Handbuch des besonderen
Teils, 1872—1876; Budsinski, Über einzelne Verbrechensarten, 1878; Foinitski, Der
besondere Teil des Strafrechts, 1890; Tagantsew, Verbrechen gegen das Leben; Du-
chowskoj, Die Verleumdung; Bjelogritz-Kotljarewski, Religionsverbrechen; derselbe.
Der Diebstahl; Tallberg, Die gewaltsame Entwendung fremden Vermögens; Foinitski.
Der Betrug; Essipow, Die Beschädigung von Vermögen durch Feuer; Sokolski, Über-
tretung der Fiskalbestimmungen.
300 ^&s rassische Kaisertum. — Das geltende russische StR.
Urkundenfälschung oder die Bestimmungen über den Diebstahl im ganzen
StGB, zerstreut. Selbstverständlich ist diese Zerreissung des begrifflich Ein-
heitlichen mit grossen Schwierigkeiten für die Praxis verbunden. Viel ein-
facher ist die von dem 6B. für die Friedensrichter angenommene Einteilung.
Es besteht aus 30 Kap., von denen das erste den allgemeinen Bestimmungen
und die übrigen den Bestimmungen über einzelne Verg. gewidmet sind. Bei
der Systematisierung der einzelnen Vergehensarten hat auch hier das System
des StGB, seinen Einfiuss geübt, da jenes GB. durch Aussonderung der leich-
teren Verg. aus dem StGB, sich gebildet hat.
II. Die Strafbestimmungen überVerbr. gegen die Religion haben zum
Zweck den Schutz der Gegenstände religiöser Achtung und besonders der
herrschenden staatlichen Religion, der Orthodoxie. Die manchmal recht hart
verpönten Handlungen umfassen einen ziemlich weiten Kreis, indem ausser der
Gotteslästerung (Strafe: Deportation mit Kätorga bis zu 20 Jahren) einen ziem-
lich wichtigen Platz das Bekehren und der Abfall vom wahren Glauben, nicht
nur in eine nicht christliche, sondern auch in eine andere christliche Kon-
fession, einnimmt. Streng bestraft ist auch die Teilnahme an verbotenen Sekten,
nicht vergessen die Nichterfüllung von religiösen Geboten. Eine besondere
Erwähnung findet hier der Diebstahl von geweihten Gegenständen aus christ-
lichen Kirchen. Zu den Religionsverbrechen rechnet das StGB, auch den so-
genannten Totenraub (d. h. das öffnen der Gräber und die Beraubung dt*r
Leichen) und den Meineid. Intoleranz, Kontrolle über das Gewissen und end-
lich harte Strafen charakterisieren diese Abt. des StGB., eine direkte Erbschaft
des Ulozh6n\je von 1648, sodass die Praxis sich genötigt sieht, die Bestim-
mungen dieser Abt. milde anzuwenden.
III. Die Verbrechen gegen den Staat zerfallen in Handlungen gegen
den obersten Träger der Staatsgewalt, so gegen Leben oder Gesundheit des
Kaisers oder der Mitglieder des Kaiserlichen Hauses, gegen ihre Freiheit,
Handlungen, die den Sturz des regierenden Kaisers zum Zwecke haben, Maje-
stätsbeleidigungen, die einen weiten Umfang haben und mit harten Strafen
belegt sind. Bestraft werden auch diejenigen, in deren Anwesenheit die be-
leidigende Äusserung gemacht worden ist und die dies nicht verhindert haben.
Femer in Handlungen gegen die gesetzliche Gewalt und gegen die Integrität
des Staates, so Aufstand, Hochverrat, Verbr. gegen fremde Staaten und ihre
Repräsentanten usw. Wie wir schon oben Gelegenheit hatten zu bemerken,
ist hier die Todesstrafe, besonders bei den wichtigeren Verbr., nicht sparsam
angedroht.
IV. Die Abt. gegen die öffentliche Ordnung enthält Bestimmungen
über den Widerstand gegen die Organe des Staates und den Ungehorsam
gegen gesetzliche Anordnungen ; es werden dabei Widerstand mit Gewaltthätig-
keit, bewaffneter imd einfacher Aufruhr unterschieden ; femer Beamtenbeleidigung
und Anstiftung zum Ungehorsam (mündlich und durch Schriften). Zu dieser
Kategorie sind auch Anmassung der Gewalt, Fälschung öffentlicher Urkunden
und Siegel, Entwendung von Dokumenten aus behördlichen RHumen, Erbrechen
der Gef. und Befreiung der Gefangenen zu rechnen. Die Selbstbefreiung wird
ebenfalls bestraft, ebenso die Bildung von verbotenen Verbindungen und die
Beteiligung daran, und endlich das unerlaubte Verlassen des Vaterlandes,
welches erst dann bestraft werden kann, wenn der im Auslande befindliche
Unterthan, trotz der Aufforderung zurückzukehren, nicht zurückkommt; der
Schuldige wird lebenslänglich vom Staate verbannt und büsst alle seine büi^er-
lichen Hechte ein. Es ist dabei zu bemerken, dass seit der Abänderung des
Kontumazialverfahrens in Strafsachen die Anwendung dieser Strafe praktisch
unmöglich geworden ist.
§ 8. Der besondere Teil des russischen StR. 301
V. Die Abt., die den Amtsverbrechen gewidmet ist, ist eine der um-
fangreichsten; sie enthält 277 Art., die nicht nur Verbr. und Verg., sondern
auch die unbedeutendsten Disziplinarübertretungen umfassen, so dass sie ein
selbständiges Disziplinargesetzbuch bilden könnten.
VI. Unter den Verbr. und Verg. wider die Steuer- und Staats-
pflichten sind besonders die Verbr. gegen die Wehrpflicht, nämlich die
Fahnenflucht und die Begünstigung der Desertierten, das Abweichen von der
Erfüllung der Wehrpflicht, die Selbstverstümmelung zu erwähnen.
VII. In die Kategorie der Verbr. gegen Fiskus und Staatseinkom-
men gehören die Münzverbrechen und die Verfälschung von Staatspapieren,
die Übertretung der Bestimmungen über Staatsgefälle, die in besonderen Ord-
nungen normiert sind, besonders die Zoll- und Forstvergehen. Diese Abt. ent-
hält 283 Art. und bestimmt harte Strafen für Fiskaldefraudationen. Die ge-
bräuchlichste Strafe ist hier Geldstrafe, deren Höhe durch das duplum, triplum
usw. bestimmt ist.
VIII. Die umfangreichste Abt. des StGB., die achte (673 Art., nämlich von
Art. 831 bis 1404), enthält Bestimmungen über Verg. und Übertretungen gegen
die öffentliche Sicherheit, Wohlfahrt und Ruhe (gegen die Sicherungs-
und Wohlfahrts-Polizei): 1» Sanitätsverbrechen, so Verletzung der Quarantäne-
ordnung (bei einer Pestepidemie mit dem Tode bestraft), Verletzung der Be-
stimmungen über ansteckende und epidemische Krankheiten, über die Siche-
rung der Unschädlichkeit der Nahrungsmittel und des Wassers, über Handel,
Aufbewahrung und Gebrauch von Gift, Verletzung der Arzte- und Apotheken-
Ordnungen. 2, Verletzung der Bestimmungen über die Sicherung der Volks-
verpflegung, nämlich der Vdg. über die Unterhaltung der Vorratsmagazine,
Steigerung der Lebensmittelpreise, Ausrottung von essbarem Wild usw. 3. Störung
der öffentlichen Ruhe durch die Bildung von Banden zur Begehung von Verbr.
und gewerbsmässige Hehlerei, Verbreitung von alarmierenden Gerüchten, Ver-
kündigung von Wundem, Zauberei, Bekehrung von einer nichtchristlichen
Konfession zu einer andern auch nichtchristlichen durch Betrug; unbegründete
Klagen bei den Gerichten, falsche Anzeige, falsches Zeugnis, Anstiftung zur
ungesetzlichen Auswanderung und unerlaubte Auswanderung selbst, Verletzung
der Bestimmungen über Passkarten, Anfertigung und Gebrauch von gefälschten
Legitimationsscheinen und endlich Landstreicherei, die bis jetzt ein gi^osses
soziales Übel bildet. Heutzutage rekrutiert sich die grosse Zahl der Land-
streicher aus den entflohenen Deportierten, die dank dem Mangel an Aufsicht
nach dem europäischen Russland zurückkehren und hier als Leute ohne Namen
verbrecherischen Wandel führen. „Brodjäga" (Landstreicher) wird derjenige
genannt, der keinen Legitimationsschein besitzt und seine Abstammung nicht
nachweisen kann; dieser Begriff weicht von dem des westeuropäischen Land-
streichers insoweit ab, als er auch Personen, die einen redlichen Erwerb haben,
umfasst, wenn sie ihre Legitimation nicht aufweisen können. Die Brodjägi
unterliegen einer besonderen Strafe, nämlich der Einsperrung in die Korrek-
tionsabteilungen, und der Deportation, gewöhnlich nach Sachalin, nach vor-
ausgegangener Rutenstrafe. Sie werden nicht von den Schwurgerichten ab-
geurteilt. Zu derselben Kategorie zählt die gewerbsmässige Bettelei, wenn sie
nicht die Folge von körperlichen Gebrechen ist. In dieser Abt. flndet sich
auch die Verletzung der G. über Fabrikation und Aufbewahrung von Pulver
und seit dem J. 1882 von Sprengstoff'en ; verbotene Spiele und Lotterieen, Ver-
letzung der G. über Lombarden. 4, Verbr. und Verg. wider die öff'entliche
Sittlichkeit; Konkubinat, das mit kirchlicher Busse belegt wird; Sodomie und
widernatürliche Sünde (Dei)ortation, und wenn mit Gewaltthätigkeit gegen den
Verletzten verbunden, KAtorga); Kuppelei durch die Eltern den Kindern, oder
302 I^as russische Kaisertum. — Das geltende russische StR.
den Ehemann der Frau, oder den Vormund dem Mündel gegenüber; Ver-
führung Minderjähriger; Druck und Verbreitung von unzüchtigen Schriften,
öflFentliche unzüchtige Reden. 5. Verletzung der Bestimmungen über die Presse ;
hier finden sich Verg. der Zensoren und Verg. wider die Zensur (1865 refor
miert); hier haben auch die Bestimmungen über Verleumdung und Beleidigung
in Drucksachen ihren Platz (Art. 1039, 1040). 6. Unerlaubte Errichtung von
Schulen und Übertretung der G. über Privatlehrer. 7. Verletzung der Vdgn.
über die äussere Polizei. 8. Übertretung der Bauordnung. 9. Übertretung
der G. zur Sicherung gegen Brand. 10. Übertretungen der Wegeordnung und
Eisenbahnbeschädigung. 11. Übertretungen der Post- und Telegraphen-Ordnung,
unter anderem Postunterschlagung und Telegraphenbeschädigung. 12. Ver-
letzung der G. über den Kredit; hier sind die Verfälschung von Papieren der
öffentlichen und Privat-Banken , Urkundenfälschung bei Bankoperationen, un-
gesetzliche Ausgabe von Privat geldzeichen, Verletzung des Geschäftsgeheim-
nisses von selten der Bankbeamten, Wechsel Verfälschung, Insolvenz erwähnt.
13. Verletzung der Handels- und Börse-Ordnungen, der Bestimmungen über
Aktiengesellschaften usw. 14. Übertretungen der G. über Fabriken und andere
Industrieen, über Patente und Markenschutz, Verletzung des Handelsgeheim-
nisses, Arbeiterstrikes , Arbeitseinstellung von selten der Arbeiter oder der
Arbeitgeber. Endlich Übertretungen der Gewerbeverordnungen, die noch auf
der ziemlich erschütterten Gildenorganisation beruhen. Über diese Abt. des»
StGB, kann man sich nicht anders aussprechen, als dass sie im ganzen eine
kleinliche, völlig veraltete Reglementierung der ökonomischen Verhältnisse
bildet; daher bleiben auch alle diese G. jetzt in den veränderten Verhältnissen
des gesamten Volkslebens ohne Anwendung.
IX. Die nächste Abt., Verbr. wider die G. über Standesrechte ent-
hält Thatbestände, die in drei Kategorieen geteilt werden können: 1. Ent-
ziehung fremder Standesrechte (durch Verheimlichung, Verfälschung oder Unter-
drückung von Standesurkunden und ebenso durch Raub und Umtausch von
Kindern); hierher gehört auch der Verkauf in die Sklaverei und der Neger-
handel (mit Kätorga bestraft). 2. Anmassung von Standesrechten oder eines
Ranges, die dem Schuldigen nicht zukommen. Hier wird auch der Fall er-
wähnt, wenn jemand sich als Mitglied des kaiserlichen Hauses ausgiebt.
8. Verbr. der Beamten, welche Standesurkunden anfertigen oder die überhau))t
zur Regelung standesrechtlicher Verhältnisse zuständig sind. Merkwürdiger-
weise finden sich in derselben Abt. auch Verbr. wider G. , die die Ausübung
der Standesrechte normieren, wie z. B. Versammlungen der Adeligen usw.
Besonders erwähnt sind Verbr. wider Bestimmungen über die Volkszählung,
die seit dem J. 1857 jedoch nicht stattgefunden hat.
X. Mehr Interesse bietet die Abt. über Verbr. und Verg. gegen Leben,
Gesundheit, Freiheit und Ehre von Privatpersonen (Art. 1449 — 1548L
1. Vorerst wird die Tötung vorgesehen. Es wird unterschieden vorsätz-
liche und fahrlässige Tötung; erstere zerfällt in drei Arten: die prämeditierte,
die vorsätzlich ohne Überlegung und die im Affekte begangene Tötung. Die
mit Überlegung begangene Tötung wird mit harter Zwangsarbeit in Sibirien
bis zu 20 Jahren bestraft; die vorsätzliche mit Zwangsarbeit bis zu 15 Jahren,
und die im Affekte begangene mit Zwangsarbeit bis zu 12 Jahren oder mit
Zwangsansiedelung in Sibirien ohne Zwangsarbeit. Der Begriff der Überlegung
wird im G. durch das äussere Moment der Zeit bestimmt und ist mit dem
Begriffe des zeitlich der That vorausgehenden Vorsatzes identisch. Das G.
kennt folgende qualifizierte Arten der Tötung, die mit lebenslänglicher Kfttorga
bedroht sind : die vorsätzliche Tötung der Eltern, wiederholte überlegte Tötung,
nachdem der Thäter schon für die früher begangenen bestraft war; überlegte
§ 8. Der besondere Teil des russischen StH. 308
Tötung eines Ehegatten, von Grosseltem, Enkeln und überhaupt Anverwandten
in gerader auf- oder absteigender Linie, des leiblichen Bruders oder der
Schwester, des Oheims oder der Tante, eines Vorgesetzten, Herrn (Über-
bleibsel der Leibeigenschaft!) oder Dienstherm, sowie der Mitglieder seiner
Familie, die mit ihm zusammen lebten, oder endlich eines Wohlthäters des
Schuldigen, dem letzterer seine Erziehung oder Erhaltung zu verdanken hatte;
die überlegte vorsätzliche Tötung einer Schwangeren; femer die mit Überlegung
begangene Tötung, wenn sie durch gemeingefährliche Mittel ausgeführt worden
ist, oder mit besonderer Marterung des Getöteten verbunden war; Tötung aus
einem Hinterhalte, aus gewinnsüchtigen Motiven und die Tötung durch Ver-
giftung. Als qualifiziert ist auch jede vorsätzliche Tötung zu betrachten (und
mit Kätorga bis zu 20 Jahren zu bestrafen), die zum Zwecke der Begehung
eines anderen gewaltsamen Verbr. unternommen wird. Als privilegierte Tötungs-
arten werden bestraft: der Kindesmord, d. h. die aus Scham oder Furcht ent-
springende Tötung eines unehelichen Kindes seitens der Mutter bei oder unmittelbar
nach der Geburt (Verbannung nach Sibirien), Tötung einer Missgeburt ;^) Tötung
der Leibesfrucht, oder, wie es vom G. konstruiert wird, die Fruchtabtreibung.
Es wird die Abtreibung ohne Einwilligung der Schwangeren und die mit Ein-
willigung der letzteren begangene unterschieden. Die erstere wird mit KÄtorga
bis zu 6 Jahren bestraft, welche Strafe erhöht wird, wenn die Abtreibung der
Frucht mit üblen Folgen fiLr die Gesundheit der Schwangeren verbunden ist;
dagegen wird die Abtreibung, die mit Einwilligung der Schwangeren unter-
nommen wird, nur mit Zwangseinsiedelung bestraft. Der Strafe unterliegt auch
die Schwangere selbst. Als eine besondere privilegierte Art der Tötung er-
wähnt das G. (Art. 1467) die Tötung, die in Überschreitung der Notwehr be-
gangen wird; sie wird mit Gef. bis zu 8 Monaten und Kirchenbusse bestraft.
Nicht nur der Versuch der Tötung, sondern auch die blosse Vorbereitung wird
bestraft, freilich (Art. 1457) viel milder, nämlich mit Gef. bis zu 1 Jahr und
4 Monaten. Neben der Tötung mit dolus directus kennt das G. die mit indirektem
dolus begangene Tötung (Art. 1458), unter welcher die Vornahme von solchen
gesetzwidrigen Handlungen zu verstehen ist, die, wie der Schuldige weiss und
voraussieht, eine andere Person notwendig einer Gefahr aussetzen, und die er
dessen ungeachtet ausführt, wenn dadurch eine Person um das Leben ge-
kommen ist (Kätorga von 8 bis 1 2 Jahren). Die fahrlässige Tötung wird vom
G. ebenfalls in Arten geteilt. Die schwerere ist die, wenn die Tötung die
unerwartete Folge einer vorsätzlichen, widerrechtlichen Handlung ist, die aber
ohne Absicht der Tötung ausgeführt wurde (Art. 1464). Davon ist zu unter-
scheiden die Verstümmelung oder die Beschädigung der Gesundheit, die ob-
wohl ohne Absicht der Tötung unternommen, die Erwartung des Todes recht-
fertigte (Art. 1484, 1488, 1490). Zur fahrlässigen Tötung gehört die Tötung
im Raufhandel, der ohne tötliche Absicht begonnen ist.^j
Mit Strafen werden belegt entweder alle Teilnehmer an einem Raufhandel,
in dem jemandem der Tod oder eine Körperverletzung zugefügt worden ist,
M Der Art. 1469 des StGB., der von der Tötung einer Missgeburt spricht, hat
seinen Ursprung in zwei UkAzen Peters L, welche Anzeige bei der Obrigkeit anordnen,
zum Zwecke der Bildung eines Museums, und welche die Tötung einer Missgeburt,
welche menschliche Seele besitzt, als Menschentötung betrachten.
*) Der Raufhandel und die mit ihm notwendig verbundene Tötung sogar mehrerer
Personen war eine erlaubte Beschäftigung in den älteren Zeiten und bildete eine
Art von begünstigten Turnieren, die selbst von den Zaren gebilligt wurden. Der be-
rühmte Dichter Lermontow gab eine poetische Schilderung solcher Raufhändel in
seinem Gedicht „vom Kaufmann Kalaschnikow". Das allgemeine Verbot von Herbei-
führung von Raufhändeln ist in dem Art. 38 des GB. für Friedensrichter ausge-
sprochen worden.
304 I^as russische Kaisertnin. — Das g^elteade rassische StR.
wenn es unbekannt geblieben ist, wer eigentlich der Urheber der den Erfolg
verursachenden Verletzung war; oder nur deren Urheber, wenn diese bekannt
sind. Hier finden wir also ein seltsames Überbleibsel der im älteren Rechte
häufig vorkommenden Gruppenverantwortlichkeit, bei der Schuldige und
Unschuldige gleichmässig der Strafe unterliegen und deren Eintritt von pro-
zessualen Ergebnissen (Ausfindung der wirklich Schuldigen) abhängig ist.
Femer unterscheidet das StGB., je nachdem der Tod der Elrfolg einer an sich
unerlaubten oder einer an sich erlaubten Handlung ist. Besonders erwähn^
wird die Straflosigkeit der Tötung, die im Znstande der Unzurechnungsfähig,
keit oder unter solchen Umständen begangen wird, die die Gesetzwidrigkeit
beseitigen (Notwehr, Erftillung einer Pflicht seitens der Forst-, Quarantäne,
aufseher usw.). Das G. kennt nicht den Fall der straflosen Tötung des £^e.
gatten, der bei ehelicher Untreue ertappt wird, aber die schwurgerichtliche
Praxis ist in dieser Beziehung ziemlich nachsichtig.
3. Im russischen Rechte hat sich bis jetzt die Strafbarkeit des Selbst-
mordes erhalten. Straffällig ist der Thäter selbst, aber auch jeder Dritte, der
ihm bei der Ausführung behülflich war. Die testamentarischen Verfügungen
des Selbstmörders, der im Zustande der Zureehnungsfähigkeit sich das Lieben
genommen hat, werden als ungültig erklärt, und die Leiche, wenn der Be-
treffende christlichen Glaubens war, darf nicht mit dem übUchen Ritus beerdigt
werden. Der Versuch des Selbstmordes ist nur für Christen mit kirchlicher
Busse bedroht. Die Anstifter zum Selbstmorde und diejenigen, die die Mittel
zum Selbstmorde verschafit haben, werden als Teilnehmer an vorsätzlicher
Tötung beurteilt. Diese Bestimmung giebt der Praxis genügenden Anlass, die
Tötung eines EinwiUigenden , über die keine direkte Bestimmung im G. vor-
handen ist, zu bestrafen. Endlich werden die Eltern, Vormünder und Vor-
gesetzten, die jemanden durch schlechte Behandlung zum Selbstmorde getrieben
haben, mit Gef. und kirchlicher Busse bestraft.
3» Die Straf bestimmungen über die Körperverletzung sind sehr verwickelt.
Das 6. unterscheidet mehrere Thatbestände und definiert sie nach verschiedenen
Merkmalen, namentlich nach der Art der Verletzung, nach deren Grösse, nach
dem Erfolg für die Gresundheit des Verletzten und endlich nach dem subjektiven
Momente. So werden erwähnt Zufügung von Verletzungen, Verstünunelung,
Wunden, Misshandlung, Quälungen, Gesundheitsbeschädig^ng und Verursachung
von Geistesstörung. Der Schwere nach werden unterschieden schwere Körper-
verletzungen, die eine Gefahr für das Leben bieten, schwere aber nicht ge-
fährliche, und leichte Körperverletzungen. Freilich ist diese Einteilung nicht
folgerichtig für alle Arten der Körperverletzung durchgeführt. Nach den
Folgen wird besonders die Körperverletzung mit tödlichem Erfolge erwähnt.
Endlich werden in jeder Art vorsätzliche und fahrlässige, manchmal auch mit
Überlegung begangene Körperverletzungen unterschieden. Es muss bemerkt
werden, dass zu den Injurien nicht nur leichte, sondern auch schwere, für
das Leben nicht gefährliche Verletzungen gezählt werden. Dem russischen
Rechte ist der allgemeine Begriff der Nötigung, im Sinne des deutschen StGB,
fremd; es kennt nur einige Arten derselben, Nötigung zur Auslieferung von
(jegenständen, zur Ehe usw.
4. Die Bestimmungen über den Zweikampf sind ziemlich sorgfältig;
mit Strafe sind belegt die Herausforderung an sich, die Aufforderung zum
Zweikampfe, die Übergabe der Herausforderung, die Anreizung zum Zwei-
kampfe und endlich der vollendete Zweikampf, unabhängig von seinen
Folgen. Es wird zwischen dem regelrechten und dem regelwidrigen Zwei-
kampfe unterschieden. Der erstere, obwohl nach den Folgen qualifiziert,
wird immer mit Festungsstrafe belegt. Die Sekundanten werden nur dann
§ 8. Der besondere Teil des russischen StR. 305
bestraft, wenn sie sich keine Mühe gegeben haben, den Streit auf fried-
lichem Wege zu erledigen. Der regelwidrige Zweikampf hat drei Formen,
den Zweikampf mit der Bedingung, den Kampf bis zum Tode eines Duellanten
fortzusetzen, den Zweikampf ohne Sekundanten und den Verrat seitens eines
der Kämpfer. Die ersten zwei Arten werden mit Deportation mit Zwangs-
ansiedelung bestraft, wenn der Zweikampf zu tödlichem Erfolg oder zur Zu-
fügung von tödlichen Wunden geführt hat. Der Verrat bei Zweikampf wird
als verräterischer Mord oder als überlegte Körperverletzung betrachtet; der-
selben Strafe, wie der Verräter, unterliegen seine Sekundanten, die wissentlich
beim Kampfe behülflich waren.
5, Als selbständige Verbr. durch Unterlassung werden vom russischen
Rechte das Verlassen einer in Gefahr befindlichen Person und die Nicht-
leistung von Hülfe einem Umkommenden gegenüber (Art. 1513 flF.) mit
Strafe belegt. Das Verlassen bei drohender Gefahr (selbstverständlich wenn
es nicht im Notstande geschieht) wird unabhängig von den Folgen bestraft.
Ist dasselbe aus der Absicht entsprungen, einen Menschen das Leben ein-
büssen zu lassen, so wird es als vorsätzliche Tötung betrachtet, und wenn
der Schuldige, obschon ohne Vorsatz eine Tötung zu begehen, immerhin
aber wissentlich einen anderen in eine solche Lage verlockt oder bringt,
in der dessen Leben aller Wahrscheinlichkeit nach der Gefahr ausgesetzt
werden musstc, so wird er wegen Tötung mit indirektem Dolus bestraft.
Wegen Verlassens einer in Gefahr befindlichen Person werden bestraft:
a) diejenigen, die ein eigenes oder fremdes Kind unter 7 Jahren in einer ge-
fährlichen Lage verlassen (das Verlassen eines unehelichen Neugeborenen seitens
der Mutter wird als eine Art des Kindesmordes in Art. 1460 besonders er-
wähnt); b) Eltern, Vormünder oder Personen, die kraft G. oder Vertrages ver-
pflichtet sind, Sorge für einen Unmündigen, Kranken oder überhaupt Kraft-
losen oder Geisteskranken zu tragen; c) diejenigen, die dem Verlassenen als
Führer oder Reisegefährten gedient haben; d) derjenige, der zufällig bei einem
Zweikampfe sich befand, die Möglichkeit hatte, die Kämpfer zu versöhnen und
dies unterliess. Zu den Merkmalen des Verbr. ist nicht notwendig, dass der
Tod des Verlassenen wirklich eintrete, es genügt, wenn festgestellt wird,
dass derselbe eintreten konnte. Die Strafen sind milder als die für Tötung,
und den Richtern ist ein grösserer Spielraum tür die Strafzumessung gegeben.
Die Rettung des Umkommenden betrachtet das russische StG. als Pflicht jedes
Bürgers, daher werden diejenigen, die zufällig jemanden in einer Gefahr
finden, die Möglichkeit ihn zu retten haben, und dies dennoch unterlassen, mit
kirchlicher Busse belegt, wenn die Rettung des Nächsten ohne Gefahr für
das eigene Leben möglich war. Mit Strafe belegt werden Ärzte, Geburts-
helfer, Hebammen, die trotz Auff'orderung ihre Hülfe einem Kranken nicht
gewähren. Die Eigentümer einer Weinstube, die einen bis zur Bewusstlosigkeit
Betrunkenen ohne Aufsicht verlassen, werden ebenfalls bestraft.
6. Das Kap. „von Kränkungen der Ehre" zerfällt in drei Unterabteilungen:
a) Verbr. wider die Ehre und Keuschheit der Frauen; b) direkte persönliche Be-
leidigungen usw., Verleumdung und Verbreitung von für die Ehre kränkenden
Schriften, Abbildungen oder Gerüchten. Die erste Abt. enthält Vorschriften über
Notzucht, Entführung, Verführung durch das Versprechen der Ehe usw. Sie ent-
hält eine Straf bestimmung über Verletzung des weiblichen Schamgefühls durch
schamlose Handlungen (attentats ä la pudeur). Beleidigung und Verleumdung
sind in dem GB. für Friedensrichter vorgesehen, neben der thätlichen Beleidi-
gung von Eltern und der Verleumdung durch Druckschriften und Papiere,
die einer Behörde oder Beamten übeireicht werden. Seit dem G. über die
Presse v. J. 1866 kennt das russische Recht die sogenannte Diffamation, d. h.
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I. 20
306 Das russische Kaisertum. — Das geltende russische StR.
die Behauptung einer die Ehre des Verletzten vermindernden Handlung, bei
deren Verfolgung die exceptio veritatis ausgeschlossen ist. Das Institut der
Privatbusse für Iiyurien ist dem russischen Recht unbekannt; zwar kann bei
Ehrenkränkungen eine Civüklage erhoben und Befriedigung verlangt werden,
aber auch dies ist in der Praxis nicht mehr anwendbar.
?• Von den Verbr. gegen die Freiheit kennt das russische Recht die gewaltsame
widerrechtliche Freiheitsberaubung, die je nach der Dauer, dem Mittel, den Folgen
für die Gesundheit des Verletzten bestraft wird; härter bestraf t wird die Beraubung
der Freiheit von Verwandten und Wohlthätem. Die Einsperrung von gesunden
Menschen in einem Irrenhause, von Frauen in Bordellen ist nicht besonders erwähnt.
8. Das letzte Kap. der Abt. über Verbr. gegen die Person bilden die
Bestimmungen über Drohungen. Ihre einfacheren Arten sind in dem GB. füi'
Friedensrichter vorgesehen; hier werden nur schwere Drohungen erwähnt,
nämlich Bedrohungen mit gewaltsamen Handlungen und Brandlegung; quali-
fizierte Drohungen, wenn sie gegen einen Vorgesetzten, Wohlthäter oder Ver-
wandten aufsteigender Linie gerichtet sind, Drohung um zu einer widerrecht-
lichen Handlung zu nötigen, endlich Drohung mit der Nötigung, sich ver-
mögensrechtlich verbindlich zu machen oder Sachen auszuliefern. Indessen
kennt unser StGB, keine Bestimmung über die Straffälligkeit der Erpressung
(chantage) und die Praxis sah sich genötigt, diese, obwohl in juristisch in-
konsequenter Weise, als Betrug zu beurteilen. Einen allgemeinen Begriff der
Nötigung kennt das russische Recht nicht.
XI. Die Verbr. wider die Familienrechte umfassen: 1. Verg. und
Verbr. wider die Ehe, unter denen verschiedene Thatbestände vom G. be-
griffen werden und sogar solche, die eigentlich wider die elterliche Grewalt
gerichtet sind, wie z. B. die Eheschliessung gegen den Willen der Eltern oder
Vormünder, besonders wenn sie durch Entführung vermittelt wird. Hierher
gehören auch Nötigung zu Eheschliessimg, Täuschung über die Person bei der
Schliessung einer Ehe; Bigamie, die dann strafbar ist, wenn die Schuldigen
zu einer Konfession gehören, die sie verbietet; f^eschliessung unter Verwandten
und Verschwägerten in verbotenen (weit gefassten) Graden, unter Personen,
die das vom G. bestimmte Alter (18 Jahre für Männer und 15 für Frauen)
nicht erreicht haben usw. In allen diesen Fällen werden ausser den Haupt-
personen noch die Zeugen und die Geistlichen, die die Ehe einsegneten, be-
sti*aft. Da die Ehe als ein religiöser Akt betrachtet wird, so ist sehr häufig
die Strafbarkeit oder Straflosigkeit einer Handlung von der Zugehörigkeit der
Schuldigen zu einer bestimmten Konfession abhängig. Unter derselben Rubrik
werden Entführung verheirateter Frauenzimmer, Missbrauch der ehelichen Ge-
walt, wie z. B. grausame Behandlung der Frau oder grausames Benehmen
gegen den Mann, und endlich der Ehebruch erwähnt. Letzterer ist für beide
Ehegatten gleich strafbar; der verletzte Ehegatte kann entweder vor den kirch-
lichen Gerichten KUage erheben und die Scheidung erwirken oder Strafantrag
stellen, nicht aber diese beiden Mittel zusammen benützen. Der schuldige
Ehegatte wird mit Einsperrung in einem Kloster oder (jef. bis zu 8 Monaten,
sein Mitschuldiger, wenn er nicht in einem Eheverbande steht, mit Gef. bis zu
3 Monaten oder Haft bestraft. 2. Missbrauch der elterlichen Gewalt (Nötigung
eine Ehe zu schliessen, ins Kloster einzutreten, Verbr. zu begehen, Unter-
schlagung des Vermögens der Kinder usw.) und Verbr. der Kinder wider ihre
Eltern, so Misshandlung, hartnäckiger Ungehorsam (bestraft auf Verlangen
der Eltern mit Gef. bis zu 3 Monaten). 3. Verbr. wider das Verwandtschafts-
band (eigentlich nur die Blutschande). 4. Missbrauch der den Vormündern
und Kuratoren zustehenden Gewalt, der dieselben Thatbestände umfasst, die
unter 2. erwähnt sind.
§ 8. Der besondere Teil des russischen StR. 307
XII. Der letzte Titel des StGB., wie auch das letzte Kap. des GB. für
Friedensrichter, sind den Verbr. und Verg. wider Vermögensrechte der
Privatpersonen gewidmet. Diese Bestimmungen zeigen mehr als die
übrigen den Einfluss späterer geschichtlicher Perioden und besonders der
Gesetzgebung Katharinas II. Es mangelt hier nicht an einem System; das
Kap. beginnt mit Bestimmungen über gesetzwidrige gewaltsame Besitzentwen-
dung von unbeweglichem Eigentum, Verrückung oder Zerstörung von Grenz-
zeichen; dann folgen Bestimmungen über widerrechtliche Nutzung, wohin auch
der Forstdiebstahl gehört. Den nächsten Platz nehmen ein die Bestimmungen
über Zerstörung fremden Eigentums durch Brandstiftung, Sprengung, Über-
schwemmung und durch andere Mittel. Das russische Recht kennt nicht den
Begriff gemeingefährlicher Handlungen an sich, und auch die Litteratur ver-
hält sich zu demselben negativ. Den Schluss bilden Bestimmungen über Ent-
wendung von fremdem Eigentum, Raub (in zwei Formen), Diebstahl imd Betrug.
Diese Einteilung ist das Ergebnis eines geschichtlichen Entwickelungsprozesses,
der aber hier nicht näher erörtert werden kann.
Der Raub stellt sich im russischen StR. dar als die gewinnsüchtige
Entwendung von fremden beweglichen Sachen durch Anwendung von Gewalt
an der Person des Verletzten, durch offenen Angriff mit Waffen, Drohungen oder
Handlungen, die eine Gefahr für das Leben, Gesundheit oder Freiheit des
Angegriffenen bieten. Dieser Thatbestand unterscheidet sich von dem Raube
in der zweiten, milderen Form (grabjözh) nur durch die Intensität der Gewalt.
Endlich der einfache Raub (grabjözh zweiten Grades) besteht in der offenen
Entwendung von Sachen ohne Gewalt und unterscheidet sich von dem Diebstahl
nur dadurch, dass dieser Heimlichkeit der Entwendung verlangt. Der Betrug
charakterisiert sich als Entwendung mittels Täuschung. Jede von den er-
wähnten Arten der Vermögensverbrechen zerfällt in privilegierte oder quali-
fizierte Unterarten. So z. B. zerfällt der Diebstahl in einfachen, schweren
und qualifizierten Diebstahl. Letzterer liegt vor, wenn der Wert des Ent-
wendeten 300 Rubel übersteigt, wenn er durch mehrere Teilnehmer an einer
Bande oder durch Einbruch begangen wird. Dem Diebstahl mit Einbruch
stehen gleich der Diebstahl aus einem bewachten Staats- oder öffentlichen
Gebäude, der Diebstahl, der von Bedienten aus dem Hause, in dem sie an-
gestellt sind, durch Einführung von fremden Leuten, oder der auf einer
öffentlichen Strasse oder durch einen Bewaffneten begangen wird; der ge-
werbsmässige Pferdediebstahl (der eine wahre Plage für manche Provinzen
ist), die Entwendung von Urkunden, der Diebstahl im zweiten Rückfall, end-
lich der Diebstahl seitens der privilegierten Stände (Adelsleuten, Geistlichen
und Ehrenbürgern). Mehrere Bestimmungen über einzelne Diebstahlsfälle
sind in verschiedenen Abt. des StGB, enthalten; so ist der Diebstahl von
geweihten Sachen aus einer Kirche bei den Religionsverbrechen erwähnt;
die Entwendung von Urkunden aus amtlichem Gewahrsam bei den Amts-
verbrechen und den Verbr. gegen den Staat usw. Endlich folgen Verbr. und
Verg., die in der Eigentumsaneignung bestehen, nämlich Unterschlagung und
Verheimlichung von fremdem Eigentum. Hierher gehört die Aneignung von
fremden Immobilien durch Fälschung oder Täuschung, und die Unterschlagung
von anvertrauten beweglichen Sachen, sowie der im deutschen Rechte sogenannte
Funddiebstahl. Die Unterschlagung ist qualifiziert, wenn der Wert des Unter-
schlagenen 300 Rubel übersteigt, oder wenn sie im Rückfall begangen ist.
Sie ist privilegiert, wenn sie Folge des Leichtsinnes des Schuldigen ist und
dieser sich freiwillig zum Ersätze verbindlich macht (der wirkliche Ersatz ist
nicht notwendig, es genügt, wenn bei Aburteilung der Angeklagte sich bereit
erklärt, den Wert späterhin zu ersetzen). Bei Amtsunterschlagung ist nur der
20*
308 öas russische Kaisertum. — Das geltende russische StR.
schon geschehene Ersatz als Milderungsgrund anzusehen. Bei Beurteilung des
Funddiebstahls kommt der Umstand in Betracht, ob dem Angeklagten der
Eigentümer der gefundenen Sache bekannt war oder nicht imd ob dieser die
Sache von ihm forderte. Überhaupt verhält sich das G. dem Funddiebstahl
gegenüber ziemlich nachsichtig, und daher bleibt seine Bestrafung ohne wesent-
lichen Einfluss. Zu dieser Kategorie von Verg. gehören auch die Aneignung
von Autorrechten, die Verletzung des litterarischen oder künstlerischen Eigen-
tums, Nachdruck und Plagiat; die Verletzimg des Patentrechtes, sowie Verg.
wider den Markenschutz sind an einem anderen Orte, wie früher erwähnt, vom
StGB, erörtert.
Die letzte Gruppe der Vermögensverbrechen bilden Verbr. bei einigen
Arten von Verträgen; nämlich: 1. Nötigung zum Abschluss von Verträgen
und Fälschung der Vertragsurkimden ; 2. Verbr. bezüglich einiger spezieller
Vertragsarten; so Verkauf von fremdem oder schon früher verkauftem, aber
noch nicht kreditiertem, oder von hypotheciertem Eigentum (unter Verheim-
lichung dieses Umstandes); Verkauf von gestohlenen oder durch andere Verbr.
erworbenen Sachen; Verpfändung von fremden Sachen, Missbrauch einer er-
teilten Vollmacht usw.
Es muss erwähnt werden, dass trotz der Fülle von Straf bestimmungen
oder vielmehr infolge derselben wie auch infolge der kasuistischen Art der
Fassung, ausser der schon oben bemerkten Abwesenheit einer Bestimmung^
über Erpressung (chantage) auch eine Bestimmung über Missbrauch des Ver-
trauens (Untreue) fehlt. Zwar befinden sich im russischen Rechte einzelne
Fälle, die hierher gehören (wie z.B. bezüglich der Beamten, Anwälte usw.),
aber es mangelt an einer allgemeinen Bestimmung.
§ 9. Gerichtsverfassung und Verfahren.
I. Die Gerichtsverfassung ist in Hussland bei weitem nicht einheitlich für
das ganze Reich geordnet. Die Reform v. J. 1864 ist allmählich in verschie-
denen Provinzen eingeführt worden, aber mehrere Provinzen (Sibirien und
östliche Gouvernements) sehen noch immer der Einführung der reformierten
Gerichte entgegen. Und noch ehe das Werk des Jahres 1864 in territorialer
Beziehung abgeschlossen war, hat es in dem G. des J. 1889 wesentliche Um-
gestaltungen erfahren. Auch dieses gilt nicht für ganz Russland, und somit
ist zu unterscheiden: 1, Gerichtsverfassung nach den Gerichtsordnungen v. J.
1864, in den Provinzen, in welche sie eingeführt worden und die v. 6. 1889
noch nicht betroffen sind. 2, Gerichtsverfassung nach den G.-Ordnungen v.
1864, aber umgestaltet durch das G. v. 1889. 3. Die nicht reformierte Gerichts-
verfassung. In den Provinzen, wo die Gerichtsverfassung v. J. 1864 in vollem
Umfange noch in Kraft steht, ist die Justiz völlig von der Verwaltung ge-
trennt und unabhängig; sie ist einheitlich, da alle Zweige unter der oberen Aul-
sicht des Kassationssenats stehen. Letzterer bildet die höchste Kassations-
instanz für die allgemeinen und die Friedensgerichte, von denen die ersteren
aus angestellten und unabsetzbaren Staatsrichtern, die letzteren aus periodisch
alle 3 Jahre gewählten Richtern bestehen. Jeder dieser zwei Zweige der Jasti2
übt seine Gerichtsbarkeit selbständig aus und besteht aus zwei Instanzen, der
ersten und der Appellationsinstanz; die allgemeine Justiz aus dem Bezirks-
gerichte und dem Appellhofe (der auch als Anklagekammer funktioniert); die
Friedensjustiz aus dem Friedensrichter und der Session der sämtlichen Friedens-
richter des Bezirks, mit einem gewählten ständigen Vorsitzenden und einem
ständig funktionierenden Mitgliede. Das Nebeneinanderbestehen dieser beiden
Gerichtsorganisationen erinnert an die englische Einrichtung; eine Annäherung
^ 9. Gerichtsverfassung und Verfahren. 309
an die französische Organisation wird dadurch gegeben, dass die Bezirksgerichte
mit oder ohne Beteiligung der Geschworenen funktionieren, sodass sie etwa
zwei besondere Institutionen bilden und die erste Instanz also durch 3 Gerichte
repräsentiert wird, den Friedensrichter, das Bezirksgericht ohne Geschworene
und das Bezirksgericht mit Geschworenen (Schwurgericht). An die französische
Organisation erinnert auch das einheitliche Kassationsgericht.
Die Zuständigkeit der Friedensrichter ist grösser als in EYankreich (ihnen
sind Verg., die mit Gefängnisstrafe bis zu l^/g Jahren, Haft bis zu 3 Monaten
und Geldstrafe bis zu 300 Rubeln belegt sind, zugewiesen); die Kompetenz
des Bezirksgerichtes ohne Geschworene ist onger umgrenzt. Die Geschworenen-
bank wird mit Personen besetzt, die aus mehreren, aufeinander folgenden
Listen entnommen werden, im Vergleich zu dem westeuro[)äischen Verfahren
mit dem Unterschiede, dass für die Aufstellung der Listen immer dasselbe
ziemlich grosse Gebiet verwendet wird, nämlich ein Bezirk (Ujozd), ein Teil
des Gouvernements, der manchmal grösser ist als ein ganzes französisches
Departement.
Das Richterelement in den Schwurgerichten ist durch 3 Richter des Be-
zirksgerichtes repräsentiert, mag die Sitzung am Sitze des Gerichts oder in
einer andern Stadt des Bezirkes abgehalten werden; die Richter werden nicht
wie in Frankreich für einzelne Sitzungsperioden bestimmt, sondern sind ein-
mal für allemal kraft Gesetzes bezeichnet.
Die Voruntersuchung wird von besonders dazu bestimmten Untersuchungs-
richtern geführt. Die Staatsanwaltschaft ist streng hierarchisch organisiert,
sie hat an der Spitze den Minister der Justiz als General-Prokurator, und be-
steht aus dem Ober-Prokurator und dessen Gehülfen bei dem Kassations-
senate, den Prokuratoren und deren Gehülfen bei den Appellhöfen und
den Prokuratoren und deren Gehülfen bei den Bezirksgerichten. Die Friedens-
gerichte haben keine besondere Staatsanwaltschaft, in den Sessionen der Friedens-
richter, also in der Appellationsinstanz fungiert (nicht als Ankläger, vielmehr
als beisitzender beratender Richter) einer der Gehülfen des Prokurators bei
dem Bezirksgerichte. Die Anklage vor dem Friedensrichter liegt in den Hän-
den der Polizeiorgane und der Verletzten.
IL In vielen Provinzen gelten jetzt di(^ Gerichtsordnungen v. J. 1864 nicht
in ihrer früheren Form, sondern in der durch G. v. 1889 herbeigeführten Um-
gestaltung, welche die allgemeinen Gerichte gar nicht betroffen hat, dafür
aber die Friedensrichter, mit Ausnahme der sogenannten Ehrenfriedensrichter,^)
gänzlich beseitigt und durch von dem Ministerium des Innern angestellte und
das Recht der Unversetzbarkeit nicht geniessende Beamten und Behörden er-
setzt, die in ihrer richterlichen Thätigkeit unter der Aufsicht des Ministeriums
der Justiz wie auch des Innern stehen. Die erste Instanz bilden für das
flache Land — Landeskreis — Hauptmänner (Zemskij utshastkowoj Natshal-
nik), die aus den adeligen Grundeigentümern des Kreises vom Minister des
Innern ernannt werden und gänzlich unter dessen Aufsicht stehen; für Städte
die Stadtricliter, die von dem Minister der Justiz angestellt werden. Die Zu-
ständigkeit dieser Richter wie auch der Zemskije Natshalniki ist eine geringere
als die der Friedensrichter; für Sachen, die ihre Kompetenz übersteigen, für
die aber auch die Bezirksgerichte nicht zuständig sind, ist eine neue Institu-
tion geschaffen : das Kreismitglied des Bezirksgerichts, d. h. eines von den Mit-
^) Einem an die englischen justices of the peace erinnernde Institution; die
Ehrenfriedensrichter fungieren nicht beständig als Richter, sie sind Stellvertreter der
Friedensrichter und nehmen an den Sessionen der Friedensrichter Teil; manchmal
Averden sie zur Besetzung der Richterbank in den Schwurgerichten (aber nicht mehr
als je einer) zugezogen.
310 L)as russische Kaisertum. — Das geltende rassische StR.
gliedern des Bezirksgerichtes, das für die Funktionen eines Richters im Kreise
bestimmt wird, in der Kreisstadt residiert und unter Aufsicht des Justizministe-
riums und des Kassationssenates steht, während als Appellationsinstanz für
seine Urteile das Bezirksgericht fungiert. Als Appellationsinstanz für die
Z^mskije Natshälniki und Stadtrichter fungieren die Versammlungen der B^reis-
hauptmänner (unter dem Vorsitze der Adelsvorsteher) und als Kassationsinstanz
eine Behörde, die in der Provinzialhauptstadt ihren Sitz und den Gouver-
neur der Provinz zum. Vorsitzenden hat. Das Justizelement ist in den letzt-
genannten Instanzen in ganz untergeordneter Weise vertreten. Sie stehen in
keiner Verbindung mit dem Kassationssenate und sind überhaupt nur zum
Teil Justizorgane. Als Staatsanwälte fungieren die Prokuratoren des Bezirks-
gerichtes. — Die Zemskije Natshälniki, die Kreisversammlungen und die Pro-
vinzialbehörden bilden ein Gemisch von administrativen und richterlichen Or-
ganen, und von Trennung dieser Gewalten ist selbstverständlich hier keine
Spur zu finden.
In den Provinzen, in welchen nicht reformierte Gerichte noch bestehen,
ist die Justiz in den niedem Instanzen völlig mit der Administration ver-
mischt; es funktionieren Kreisgerichte, Kriminalgerichtshöfe und das 5. De-
partement des Senates. Die Verwaltungsorgane üben Kontrolle über die Thätig-
keit der Gerichte und bestätigen die gefällten Urteile.
III. Was die besonderen Gerichtsorganisationen betriflFt, ist zu nennen die
Gerichtsverfassung in den Ostseeprovinzen, in Polen und im Kaukasus, wo die Ge-
richtsverfassung vom Jahre 1864, aber ohne Schwurgerichte, gilt. Die Friedens-
gerichte sind anders organisiert. In Polen urteilen, neben den in den Städten
angestellten Friedensrichtern, auf dem platten Lande sogenannte Gminen-
gerichte, die aus einem unter Kontrolle der Regierung gewähltem Gminenrichter
(Gmine = Gemeinde) und zwei Beisitzern, etwa in der Art der deutschen SchöflFen,
bestehen, nur werden sie auf eine Zeit von 6 Monaten gewählt. Die Appel-
lationsinstanz bildet die Versammlung der Friedens- und Gminen-Richter.
Im Kaukasus werden die Friedensrichter von dem Justizminister angestellt;
sie funktionieren auch als Untersuchungsrichter, und können durch besondere
angestellte Gehülfen ersetzt werden. Als Appellationsinstanz gilt das Bezirks-
gericht, während der Appellationshof in Tiflis als Kassationsgericht für Urteile
der Friedensrichter funktioniert.
rv. Besondere Gerichte für bestimmte Personenkreise sind: !• Die Militär-
gerichte, die in Friedenszeiten aus Regimentsgerichten, Bezirksgerichten und
dem oberen Hauptkriegsgerichte bestehen. Es sind kollegiale Behörden die
aus teils ständigen doch nicht unabsetzbaren, teils temporär funktionierenden
Richtern bestehen. In ihrer Thätigkeit sind sie völlig dem Kriegsministerium
unterworfen. Zur Kriegszeit wird die Justiz durch die Feldgerichte und Haupt-
feldgerichte repräsentiert. 2. Bauern- oder Gemeindegerichte, die ganz unab-
hängig von den allgemeinen Gerichten bestehen.*) Sie bestehen aus 5 kollegial
ftmktionierenden, von der Gemeinde gewählten Richtern; Jährlich wird die
Wahl erneuert. Die Übung des Richteramtes wird meistens von dem Bauer
als eine schwere Staatspflicht betrachtet, da nur einzelne Gemeinden die Richter
honorieren. Dort wo das G. v. J. 1889 noch nicht in Geltung ist, können die
Urteile dieser Gerichte der (völlig administrativen) Behörde filr Bauemsachen
zur Revision übertragen werden; dort, wo das erwähnte G. schon in Geltung
steht, sind diese Gerichte der Aufsicht der Kreishauptmänner (Zemkye Natsh^niki)
unterworfen. 3. Kirchengerichte als besondere Institution existieren nicht,
*) In Polen jedoch giebt es keine besondern Gemeindegerichte für Bauern, da das
Genieindegericht für alle Personenkreise, die der Gemeinde angehören, zuständig ist.
§ 10. Die Fortentwickelung. 311
ihre Funktionen werden durch kirchliche Verwaltungsorgane, durch die Epi-
skope oder Konsistorien und den heiligen Synod für die orthodoxe Kirche,
und andere kirchliche Behörden der nichtorthodoxen Konfessionen ausgeübt.
Letztere stehen unter der Kontrolle und Aufsicht des Ministeriums des Innern.
V. Was das Verfahren selbst betrifft, so ist das frühere Inquisitionsverfahren
durch das Verhandlungsverfahren, das auf den Grundsätzen der Münd-
lichkeit, Unmittelbarkeit, Öffentlichkeit, der Parteiverfügung, bczw. der An-
fechtung beruht und durch die Gerichtsordnungen vom 20. November 1864
geregelt ist, ersetzt. Wie schon erwähnt, folgen die Verfasser derselben
den besten Prozessordnungen des Westens; manche Institute sind sogar in
liberalerer Weise organisiert als dort. Mangel an Raum hindert uns näher
auf das Verfahren einzugehen.
Die russische Gesetzgebung ist zur Zeit In fortwährender Thätigkeit, die
überhaupt in Russland viel leichter hervorzurufen und zu verwirklichen ist,
als irgendwo im Westen. Fast alle Kanzleien der zentralen Behörden sind
ununterbrochen mit der Ausarbeitung von neuen Gesetzentwürfen beschäftigt.
Ausserdem besteht in Russland eine besondere Behörde mit dem Range
etwa eines Ministeriums, die nur mit Ausarbeitung von neuen Gesetzen
und Inkorporierung der neu erlassenen in die betreffenden Teile des Swod
Zakönow und seiner Ergänzungen beschäftigt ist. Diese Behörde ist die
sogenannte Kodifikationsabteilung des Reichsrates (früher II. Abteilung der
Kanzlei Seiner Majestät des Kaisers). Natürlich übt sie durch die Eintragung
eines neuen G. in das System des gesammten Rechts, seine Verteilung in
die verschiedenen Teile der Gesetzbücher, die häufig eine redaktionelle Um-
wandlung zum Zwecke der Vermeidung von Widersprüchen fordert (was mit
Allerhöchster Genehmigung geschieht), einen grossen Einfluss auf Gestalt
und Inhalt der neu erlassenen G. aus und die Thätigkeit dieser Behörde muss
als eine gesetzgeberische betrachtet werden. Das Ergebnis ist die äusserst
rasche Umänderung des geltenden Rechts. Wir besitzen jetzt eine grosse Zahl
von Novellen, die das materielle und besonders das formelle StR. betreffen,
deren Natur und wahre Bedeutung nicht immer leicht zu bestimmen ist und
die die gesunde Entwicklung der Praxis sehr hemmen, da diese mit Wider-
sprüchen, Folgewidrigkeiten und dergl. zu kämpfen hat. Es ist ihr auch
die Möglichkeit nicht gegeben, aus den Motiven der neuen Gesetze die
nötige Aufklärung zu schöpfen, da sie ohne Motive publiziert werden.
Die Leichtigkeit, mit der bei der Schaffung von neuen G., bei Abschaflfnng
bestehender Institute, Schaffung neuer Organe und Behörden vorgegangen wird,
wird begreiflich, wenn man in Betracht zieht, dass dabei die öffentliche Mei-
nung der Bevölkerung keinen Anteil nimmt, dass diese durch das Ermessen
und die Einsicht einzelner Persönlichkeiten, die gerade an der Spitze des be-
treffenden Verwaltungszweiges stehen, völlig ersetzt wird. Dies führt unver-
meidlich dazu, das Bewusstsein von der Festigkeit des bestehenden G. abzu-
schwächen und ist selbstverständlich für die Autorität des G. äusserst wenig
günstig; für die Autorität desselben nicht nur bei der Bevölkerung, sondern
auch bei der Administration, die bei der bestehenden Regierungsform nur
durch die Autorität des G. in den Schranken der Rechtsordnung gehalten und
vom Übergang zur Willkür abgehalten werden kann. Man könnte noch einiger-
massen die fortwährenden Änderungen der G. billigen, wenn sie immer die
für die Strafgesetzgebung einzig massgebenden Interessen der Gerechtigkeit
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2. Das Grossfürstentum Finnland.
L Einleitung.
§ 1. Die ältere Cresehlehte des tiimländlscheii Rechts.
Es ist dem Leser bekannt, dass das Grossfürstentum Finnland, mit Russ-
land vereinigt, seine eigene Verfassung und eine besondere, von der russischen
völlig verschiedene Gesetzgebung besitzt. Es ist hier nicht am Platze, auf
eine Darstellung der staatsrechtlichen Stellung Finnlands einzugehen. Hier
mag nur erwähnt werden, dass die gegenwärtige politische Stellung Finnlands
datiert von dem im J. 1809 abgehaltenen Landtage zu Borgo, wohin Kaiser
Alexander!., nachdem das schwedisch - finnische Heer nach einem tapferen
Widerstände besiegt und über die Grenzen des Landes zurückgedrängt worden,
die gesetzlichen Vertreter des finnischen Volkes, die Stände Finnlands, zusammen-
berufen hatte. Hier wurde dem Kaiser als Grossfürsten Finnlands gehuldigt,
nachdem er, der selbst anwesend war, in einer den versammelten Ständen in
der Domkirche von Borgo vorgelesenen schriftlichen Versicherung die Gesetze
und Verfassung des Landes vorher feierlich bestätigt und bekräftigt hatte. ^)
Bis zur Vereinigung mit Russland machte Finnland einen Teil des
schwedischen Reiches aus, seitdem das Land in den Jahren 1157 bis 1323
von den Schweden durch verschiedene Kreuz- und Eroberungszüge allmählich
in Besitz genommen worden war. Die Einverleibung Finnlands in Schweden
wurde durchgeführt, ehe die alten Rechtssitten und Rechtsgewohnheiten der
finnischen Nation, oder richtiger der verschiedenen Stämme des Volkes, die
feste Form des geschriebenen Gesetzes anzunehmen vermochten. Die Folge
davon war, dass die Finnen, die Hauptbevölkerung Finnlands, keine solchen
Denkmäler des Rechts hinterliessen , aus welchen man in Betreff ihrer ältesten
Rechtsverhältnisse bestimmte und genaue Folgerungen ziehen könnte.
Indessen konnten die Finnen nach dem ersten schwedischen Eroberungs-
zuge (1157) eine geraume Zeit ziemlich ungestört nach ihren heimischen
Rechtsgewohnheiten leben. Erst im 14. Jahrhundert fing schwedisches Recht
und Gemeinwesen an, sich in Finnland mit grösserem Erfolg einzubürgern.
Dass diese sozusagen geistige Eroberung sich ohne nennenswerte Schwierig-
keiten vollziehen konnte, ist aus folgendem Umstände erklärlich.
^) Über die Staatsverfassung und die staatliche Stellung Finnlands s. unter an-
dern: Mechelin, L., Das Staatsrecht des Grossfürstentums Finnland (als Anhang zu Prof.
Engehnanns Arbeit: Das Staatsrecht des russischen Reichs, aus Marquardsens Hand-
buch des öffentlichen Rechts), Freiburg i. B. 1889; Mechelin, L., Precis du droit public
du Grand-duche de Finlande, Helsingfors 1886; Danielson, J. R., Finnlands Vereinigimg
mit dem russischen Reich. Übersetzung der 2. Aufl. des schwedischen Originals. Hel-
singfors 1891-, Hermanson, R. F., Finnlands statsrätliga ställning. Helsingfors 1892.
314 I*** ra«»^i>che Raiscrtnoi. — I>as SiR. Finuiands.
Die alte schwedische Gesellschaft hatte eine demokratische Grondlage.
Das in dem grössten Teile des übrijren Enropa herrschende Feudalwesen hatte
niemals im schwedischen Boden Wurzel scblag-en können. Schwedische Rechts-
ordntmg konnte daher an die bei den Finnen bestehenden volkstümlicheD.
einfachen BechtsTcrhältnisse leicht anknüpfen. Eine Folge davon war. dass
das schwedische Recht und die schwedische Gesellschaftsordnimg bei dem
finnischen Volke, obgleich dies seine Nationalität and Sprache nebst seinen
alten Sitten imd Gebräuchen, wenigstens in der Hauptmasse der BeTolkenm^.
beibehielt, im Laufe der Jahrhunderte heimisch wurde. Das finnische Volk
wurde in politischer Beziehung mit dem schwedischen gleichberechtigt. Auf
den schwedischen Reichstagen sassen die finnischen Volksvertreter mit den-
jenigen aus Schweden 2nisammen und nahmen an der gemeinsamen Gesetz-
gebungsarbeit teil. Dies Verhältnis dauerte bis zur Vereinigung Finnlands
mit dem russischen Reiche.' i
Das positive Recht Finnlands ist daher aus derselben Wurzel wie das
schwedische erwachsen, weshalb die Rechtsgeschichte der beiden Länder, bis
die politische Scheidung jedem eine ven^chiedene Entwickelungsbahn zuwies,
gemeinsam verlief.
Wir können daher in betreff der älteren historischen Entwicklung des
finnischen StR. den Leser auf die Darstellung der schwedischen Rechtsent-
wicklung hinweisen.
Nach Finnlands Vereinigung mit dem russischen Reiche trat aber eine
längere Stagnation in der Entwicklung der kriminalrechtlichen. wie der übrigen
Gesetzgebung, ein. Nach dem Landtag zu Borgo verstrichen mehr als 50 Jahre,
ehe ein neuer Landtag zusammenberufen wurde. Eine unvermeidliche Folge
davon war, dass jede gesetzgeberische Thätigkeit, die der Verfassung des
Landes gemäss das Mitwirken der Volksvertretimg erheischte, ins Stocken
geriet. Die kriminelle Gesetzgebung Finnlands blieb somit jahrzehntelang von
den gewaltigen Fortschritten, die die Doktrin und die Gesetzgebung anderer
Länder während dieser Zeit auf dem Gebiete des StR. gemacht, fast un-
berührt.
§ 2. Die Entstehimgsgesehiehte des StGB. t. 1SS9.
Im J. 18H3 brach für Finnland dadurch die Dämmenmg eines neuen
Tages an , dass Kaiser Alexander IL , dessen Name bei dem finnischen Volke
in dankbarem Andenken lebt, die Stände des Landes wieder zimi Landtage
zusammenberief und damit die alte Verfassung des Landes zu neuem Leben
und zu neuer Entwicklung erweckte. Eine von den dringenden Fragen, die
in erster Linie die Aufmerksamkeit sowohl der Regierung als der Volks-
vertretung auf sich zogen, war die nach einer Reform der veralteten StGgebung.
Schon auf dem soeben erwähnten Landtage, der vom 15. September 1863 bis
zum 15. April 1864 dauerte, wurde eine kaiserliche Proposition wegen der all-
gemeinen Grundsätze, nach denen ein neues StCiB. ausgearbeitet werden sollte,
den Ständen vorgelegt. Regienmg und Volksvertretung waren darin einver-
standen, dass eine durchgreifende Reform der ganzen StGgebung vorzunehmen
wäre und zwar nach den für die moderne Doktrin und die neueren StG.
massgebenden Prinzipien. Behufs Ausarbeitung eines Entw. zum neuen StG.
wurde von der Regierung im J. 1865 ein Komitee niedergesetzt, das aber,
weil die Mitglieder anfangs mit anderen Gresetzgehungsarbeiten beschäftigt
waren und überdies ihre Staatsämter zu versehen hatten, erst im J. 1875 seinen
*j Koskinen. Y., Finnische Ge.^chichte von den frühesten Zeiten bis auf die
Gegenwart, l'bersetzung ans dem Finnischen. Leipzig ls74.
§ 2. Die Entstehungsgeschichte des StGB. v. 1889. 315
Entw. fertig stellte. Der Entw. enthielt ausser dem StG. eine Vdg. betr. die
Vollstreckung der Strafen und ebenso eine Vdg. betr. die Einführung des StG.
und was in Bezug darauf zu beobachten ist. In der That hatte es mit der
Ausarbeitung des Entw. keine besondere Eile, weil eine durchgreifende Reform
des Gefängniswesens des Landes eine notwendige Bedingung für das Inkraft-
treten des G. war. Seitdem verschiedene juristische Behörden über den Entw.
eingeforderte Gutachten ^) abgegeben hatten und derselbe auch Gegenstand der
Kritik von selten einzelner Juristen*) geworden war, was jedoch nur in sehr
beschränktem Masse hatte geschehen können, weil der Entw. nur in den beiden
Landessprachen, der finnischen und schwedischen, veröfifentlicht worden und
somit dem grossen Kreise der ausländischen Fachmänner nur in sehr begrenztem
Masse zugänglich war — kam man zur Einsicht, dass der Entw., obgleich
eine Frucht gründlicher Gelehi-samkeit, um den Anforderungen des praktischen
Rechtslebens entsprechen zu können, doch einer Revision bedürftig war.
Zur Umarbeitung des Entw. wurde daher ein zweites ^omitee nieder-
gesetzt, das im J. 1884 einen neuen Entw. einreichte. Obgleich dieser sich
in betreflF der strafrechtlichen Prinzipien dem ersten anschloss, kann er doch
als ein selbständiges Werk betrachtet werden. Auch dieser zweite Entw. er-
schien nur in den beiden Landessprachen.
Indessen waren zwanzig Jahre vergangen, ohne dass man über Entwürfe
noch hinausgekommen wäre. Als die Vorarbeiten zum neuen StG. in Angriff
genommen wurden, musste es jedem einleuchten, dass eine geraume Zeit ver-
streichen würde, ehe das neu auszuarbeitende G. zur Anwendung gelangen
könnte. Es schien aber nicht angängig, die alte StGgebung mit ihrem ver-
alteten Strafensystem, wie es im GB. v. 1734 vorlag, bis dahin unverändert bei-
zubehalten. Man suchte den dringendsten Missverhältnissen durch verschiedene
G. provisorischer Art abzuhelfen. Als Früchte der Thätigkeit des Landtages
V. 1863 — 1864 mögen hier vier Strafrechtsnovellen, jede vom 26. November
1866 erwähnt werden: eine betr. Körperverletzung und un vorsätzliche Tötung,
eine betr. falsche Anschuldigung und Ehi'verletzung, eine betr. Kindesmord
und eine betr. Vollstreckung der tYeiheitsstrafcn. Auf dem folgenden Landtag
im J. 1867 wurde von den Ständen ein Gesetzentwurf angenommen, dessen
Zweckes war, bis zum Inkrafttreten des neuen StGB, das alte Strafensystem durch
ein anderes provisorisch zu ersetzen, das wenigstens in irgend welchem Masse
den Gegensatz zwischen dem Buchstaben des G. und dem allgemeinen Rechts-
bewusstsein auszugleichen geeignet wäre. Dieser Entw. wurde auch von der
Regierung bestätigt, die Promulgation aber wegen des noch mangelhaften Zu-
standes der Gefängnisse aufgeschoben. Da inzwischen der Aufschub so lange
dauerte, dass man das Inkrafttreten des neuen StGB, mit Sicherheit erwarten
zu können glaubte, so ist das in Rede stehende provisorische G. niemals zur
Beobachtung promulgiert worden.^)
Wir kommen auf die Vorarbeit für das neue StGB, zurück. Nachdem
der Entw. v. J. 1884 von selten der Regierung noch eine Revision erfahren
^) Diese Gutachten wurden, in einem Heft zusammengestellt, unter dem Titel:
Underdäniga utlätanden öfver förslagen tili strafflag för Storfurstendömet Finland
och tvä dermed gemenskap ägande förordningar, Helsingfors 1880, veröffentlicht.
*) Unter diesen sind zu erwähnen: Hagströmer, J., Granskning af förslaget
tili strafflag för Storfurstendömet Finland, Upsala 1879 und Forsman, J., Muistutuk-
sia alamaiseen rikoslain ehdotukseen, jonka on valmistanut eräs sitä varten asetettti
komitea, Helsingfors 1878, als Anhang zum 13. Jahrgang der Zeitschrift des juristischen
Vereins (Tidskrift utgiven af Juridiska Föreningen i Finland).
'J Eine Übersicht über die Entwicklung der finnischen StGgebung infolge
der Landtage 1863—1864 und 1867 ist im 6. Jahrgange der Zeitschrift des juristischen
Vereins von G. Ehrström gegeben.
316 I^as russische Kaisertum. — Das StK. Finnlands.
hatte, wurde derselbe auf dem Landtage im J. 1885 den Ständen vorgelegt,
aber leider zu spät, als dass die Frage auf diesem Landtage zum Austrag
hätte gebracht werden können. Auf dem nächstfolgenden Landtage im J. 1888
wurde der Entw. den Ständen wieder überreicht, von diesen mit wenigen
Abänderungen genehmigt, von dem Monarchen bestätigt und mit Datum vom
19. Dezember 1889 promulgiert. Das neue G. nebst den dazu gehörenden
zwei G., der Vdg. betr. die Vollstreckung der Strafen und derjenigen betr.
die Einführung des StG. und was in Bezug darauf zu beobachten ist, sollte
vom 1. Januar 1891 zur Anwendung kommen.^) Zuvor aber erschien ein
kaiserlicher Erlass vom 13. Dezember 1890, durch welchen „zur Beseitigung
der durch die am 1. Januar 1891 erfolgende Einführung des neuen StG. nebst
den dazu gehörenden Vdgn. erwachsenden Ungelegenheiten und Schwierigkeiten"
das Inkrafttreten des G. solange sistiert wurde, bis der Beschluss der am
20. Januar 1891 zusammentretenden Stände, betr. die in Vorschlag gebrachten,
„von der Notwendigkeit gebotenen" Veränderungen des G., von dem Kaiser
und Grossfürsten genehmigt und bestätigt werden könnte.
Diese als nötig erachteten, in einer Regierungsproposition den Ständen
vorgelegten Veränderungen betrafen beinahe ausschliesslich das erste Kap.
(von denjenigen, die finnischem StG. unterworfen sind) und die Kap. vom
Hochverrat, Landesverrat und Majestäts verbrechen. Die Anderungsvorschläge
schienen von der Meinung hervorgerufen zu sein, dass einige Satzungen des
neuen schon sanktionierten G. die nahe Vereinigung Finnlands mit Russland
und die Interessen der Reichseinheit nicht genügend berücksichtigt hätten.
Indessen wurde die Regierungsvorlage von den Ständen mit einigen gering-
fügigen Abänderungen angenommen. Die Sanktionierung des Beschlusses der
Stände ist jedoch nicht erfolgt, vielmehr eine neue Regierungsvorlage für 1894
zu erwarten. Dennoch dürfte, da die streitigen Punkte nur Einzelnheiten be-
treffen, die hier nicht zu berühren sind, dem Zwecke dieses Aufsatzes am besten
entsprochen werden, wenn der von den Ständen genehmigte Gesetzentwurf der
vorliegenden Übersicht zu Grunde gelegt werden wird. Es dürfte keine allzu
kühne Antizipation sein, wenn wir hier den Entw. schon als G- bezeichnen.
n. Das StGB. V. 1889.
§ 3. Der allgemeine TeU.
Das neue StG., bei dessen Ausarbeitung in erster Linie das schwedische
StGB. V. J 1864 und das deutsche v. J. 1871 berücksichtigt worden sind, ist in
44 Kap. eingeteilt, von denen die neun ersten den allgemeinen Teil des StR.
umfassen und die folgenden von den Verbrechensarten und ihren Strafen
handeln. In die vier letzten Kap. des StG. sind die wichtigsten Polizeiüber-
tretungen aufgenommen. Eine der französischen und deutschen Dreiteilung
entsprechende Abstufung der kriminellen Rechtsverletzungen hat, als dem
*) Das StG. nebst den dazu gehörenden Vdg. ist ausser in der amtlichen GS.
Finnlands (finnisch: Suomen Suuriruhtinanmaan Asetuskokoelma, schwedisch: Stor-
furstendömet Finlands Författningssamling) in einer im Verlage von G. W. Edlund ver-
anstalteten Handausgabe mit Register (1889) herausgegeben. — Ebenso sind eine
französische und eine deutsche Übersetzung des G. erschienen, die französische unter
dem Titel: Code penal de Finlande du 19 Decembre 1889 traduit de Toriginal su^dois
par Ludovic Beauchet, Professeur ä la Faculte de Droit de Nancy 1890, die deutsche,
bewerkstelligt von Johannes Öhquist in Helsingfors, als Beilage zum elften Band der
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Die französische Übersetzung
umfasst nur das Hauptgesetz, die deutsche daneben auch die Vollstreckungsverordnung.
§ 3. Der all«:emeine Teil des StGB. v. 1889. 317
finnischen Rechtswesen fremd, in dem G. nicht Aufnahme gefunden. Alle
kriminellen Rechtsverletzungen, mögen sie schwererer oder geringerer Art sein,
sind mit der Benennung: Verbr. (schwedisch brott, finnisch rikos) bezeichnet.
Wir werden die der Rechtsvergleichung in erster Reihe Stoff darbietenden
Bestimmungen des G. kurz berühren. Zuerst einige Worte über das Strafen-
system.
Als allgemeine Strafarten sind in das G. aufgenommen: Todesstrafe,
Zuchthaus, Gef. und Geldstrafe; als besondere Strafen für Beamte: Amtsent-
setzung und Entfernung von Ausübung des Dienstes. Daneben sind im 6.
mehrere Nebenstrafen angedroht. Von diesen sind die wichtigsten: Verlust
der bürgerlichen Ehrenrechte und für Beamte Unfähigkeit zur Bekleidung
öffentlicher Ämter.
Die Todesstrafe, die, obgleich in der alten Gesetzgebung des Landes
sehr häufig angedroht, durch ein Edikt von Kaiser Nikolaus im J. 1826 ausser
Anwendung gesetzt worden ist, ist in dem neuen G. für folgende Verbr. bei-
behalten worden: a) Mord oder vorsätzlicher Totschlag an dem Kaiser und Gross-
fürsten sowie Versuch solcher Tötungen; b) Thätlichkeit gegen den Kaiser und
Grossfürsten (alternativ mit lebenslänglichem oder zeitigem Zuchthaus); c) Mord
oder vorsätzlicher Totschlag an der Kaiserin, dem Thronfolger oder einem
anderen Mitglied des kaiserlichen Hauses; d) Mord an dem Oberhaupt eines
befreundeten Staates; und e) gewöhnlicher Mord (alternativ mit lebensläng-
lichem Zuchthaus).
In betreff der Vollstreckung der Todesstrafe ist (Vollstreckungsverordnung
1:4, 5) angeordnet, dass die Hinrichtung intramuran sein und vermittelst
Enthauptung vollzogen werden soll.
Die Zuchthausstrafe ist entweder eine lebenslängliche oder eine zeitige.
Der Höchstbetrag der zeitigen Zuchthausstrafe ist 12 Jahre, ausser wenn bei
Zusammentreffen von Verbr. auf eine Gesamtstrafe zu erkennen ist. In diesem
Fall kann das Maximum 15 Jahre erreichen. Der Mindestbetrag der Zucht-
hausstrafe ist 6 Monate.
Die Gefängnisstrafe ist eine zeitige. Ihr Höchstbetrag ist überhaupt
4 Jahre. Bei Zusammentreffen ist es jedoch gestattet, auf höchstens 6 Jahre zu
erkennen. Ausserdem wurde im StG. in seiner ursprünglichen Gestalt für
einige Fälle, die der Art waren, dass zu ihrer Abbüssung die Zuchthausstrafe
nicht angezeigt war, welche jedoch eine längere Freiheitsentziehung zu er-
heischen schienen, eine Gefängnisstrafe von längerer Dauer (gewissermassen
eine Art von custodia honesta) angeordnet. Diese Fälle sind jedoch in der
von den Ständen (1891) genehmigten Straf rech tsnovelle auf zwei (betr. den
Zweikampf, 23 : 1) zurückgeführt worden. — Das Verhältnis des Zuchthauses
zum Gef. in Bezug auf die Strafzeit entspricht der Proportion von '^j^ zu ^j^.
Die Vollstreckung der Freiheitsstrafen ist in den Kap. 2 — 4 der VoU-
streckungs-Vdg. den Prinzipien des Progressivsystems gemäss geordnet. Die
bedingte Entlassung ist sowohl für die Zuchthäusler als für die Gefängnis-
sträflinge eingeführt worden. Sie kann nur unter der Voraussetzung zur An-
wendung gelangen, dass der Sträfling zu einer mindestens dreijährigen Frei-
heitsstrafe verurteilt worden ist, und dass er drei Viertel derselben oder, wenn
er lebenslänglichem Zuchthaus unterworfen ist, mindestens 12 Jahre von der
Strafzeit abgebüsst hat (V^ollstreckungs-Vdg. 2 : 13).
Was insbesondere die Zuchthausstrafe anbelangt, so mag hier hervor-
gehoben werden, dass sie in verschiedenen Anstalten für Männer und für
Frauen zu vollstrecken ist, dass die Sträflinge, die zur Zwangsarbeit für den
Staat anzuhalten sind, in drei Klassen: die Zwangs-, Lehr- und Prüfungs-
klasse, eingeteilt sind, falls nicht bei der Verbüssung von längeren Freiheit«-
318 I^a« russische Kaisertum. — Das StR. Finnlands.
strafen eine grössere Anzahl von Lehrklassen als nötig erachtet würde; dass
jeder Sträfling im Beginn der Strafzeit der Zwangsklasse zuzuzählen ist; dass
die Versetzung des Sträflings aus dieser in die Lehrklasse und nachher in
eine höhere Klasse auf Grund der ihm g(3mäss seiner Führung zu erteilenden
Zeugnisse erfolgen soll.
In betreff der Behandlung der Sträflinge in den verschiedenen Klassen
sind einige den Strafvollzug charakterisierende Umstände zu erwähnen.
Die zur Zwangsklasse zählenden Sträflinge sollen nach ihrer Einlieferung
Tag und Nacht nach Ermessen der Zuchthausdirektion, jedoch nicht weniger
als vier Monate, in Einzelhaft gehalten werden. Wenn jedoch der Sträfling
nicht ohne Nachteil für seine Gesundheit den beständigen Aufenthalt in Einzel-
haft verträgt oder aus anderen Gründen nicht in einer Zelle gehalten werden
kann, ist es der Zuchthausdirektion frei gestellt, ihm zu gestatten, dass er
unter beständiger Aufsicht in Gemeinschaft mit anderen Sträflingen arbeiten
darf, wobei jedoch, soweit möglich, die Nächte und längere Freistunden in
der Zelle zugebracht werden müssen. Hat ein Sträfling das achtzehnte Lebens-
jahr nicht vollendet, so steht es der Direktion frei, die Dauer seines Auf-
enthalts in der Einzelhaft zu bestimmen. In keinem Fall aber darf ein solcher
in Gemeinschaft mit älteren Gefangenen aus der Zwangsklasse gehalten werden.
In der Lehrklasse sind die Sträflinge unter beständiger Aufsicht zu ge-
meinsamer Strafarbeit anzuhalten. Nur ausnahmsweise ist Einzelhaft anzu-
ordnen. Die Nächte und längere Freistunden aber sind, wenn irgend an-
gängig, in der Zelle zuzubringen. ,
In der Prüfungsklasse soll in ähnlicher Weise gemeinschaftliche Zwangs-
arbeit verrichtet und die Nacht nach Ermessen des Vorstehers in gemeinsamen
Schlafräumen oder etwa freien Zellen zugebracht werden. In sonstiger Be-
ziehung hat man gesucht, so gut die Verhältnisse es gestatten, aus dieser
Prüfungsklasse nach dem Muster des irischen intermediate prison eine Über-
gangsanstalt auszubilden (Vollstreckungs-Vdg. 3 : 11^).
Auch die Insassen des Gef. sind gleich den Zuchthäuslern dem Arbeits-
zwang unterworfen, erstere aber sind, berechtigt, ihre Arbeit selbst zu wählen
und sie, nach dem Wortlaute des G., für eigene Rechnung zu verrichten, vor-
ausgesetzt, dass sie mit der Anstalt vereinbar ist und mit eigenen oder den
Werkzeugen der Anstalt ausgeführt werden kann. Doch werden auch in die-
sem Falle zwei Drittel des Preises, der durch den Verkauf des Verfertigten
erzielt wird, nach Abzug des Wertes der Zuthaten, für Rechnung des Staates
(oder der Stadt oder des Gerichtssprengeis) zurückbehalten. Kann der Sträf-
ling jedoch keine solche Arbeit angeben, so soll er gleich den Zuchthäuslern
überhaupt für Rechnung des Staates arbeiten.
Die Gefängnisgefangenen sind mindestens in zwei den Klassen des Zucht-
hauses entsprechende Abt. verteilt. Den schädlichen Wirkungen der kurz-
zeitigen Freiheitsstrafen ist man dadurch wirksam entgegengetreten, dass man
bei dem Vollzug der Gefängnisstrafe der Einzelhaft eine sehr ausgedehnte
Anwendung eingeräumt hat. Es ist nämlich verordnet, dass jeder Gefängnis-
sträfling, wenn möglich, zu Beginn der Strafzeit in Einzelhaft gehalten werden
solle. Im Verhältnis zur Strafzeit des Gefangenen kann die Zeit der Einzel-
haft nach Ermessen der Gefängnisdirektion bis zu 12 Monaten und wichtiger
Gründe wegen noch länger ausgedehnt werden, wenn nicht die Gesundheit
des Gefangenen ein Hindernis entgegenstellt. Verschiedene Vorkehrungen sind
hier wie im Zuchthause in Bezug auf die in Gemein schaftshaft gehaltenen
Sträflinge getroffen, um dem schädlichen Einflüsse der schlechteren Elemente
der Gefängnisbevölkerung vorzubeugen. So ist bestimmt, dass die zur niedrig-
sten Abt. zählenden Sträflinge, die das achtzehnte Lebensjahr nicht vollendet
t? 3. Der allgemeine Teil des StGB. v. 1889. 319
haben, mit älteren Gefangenen derselben Abt. nicht zusammengebracht werden
dürfen.
Über die Einzelhaft bei dem Vollzug der Zuchthaus- und Gefängnisstrafe
mag noch erwähnt werden, dass, wenn ein Zuchthaus- oder Gefängnissträfling
selbst darum bittet, Tag und Nacht in Einzelhaft zubringen zu dürfen, es vom
Ermessen des Vorstehers abhängt, ihm dies zu erlauben (Vollstreckungs-Vdg.
3:9; 4:7). Ebenso ist in betreff der Gefängnissträflinge überhaupt verordnet,
dass, wenn dringliche Veranlassung vorhanden ist, einen Gefangenen, der
sonst in Gemeinschaft mit anderen Gefangenen gehalten werden sollte, von
diesen zu trennen, er, wenn irgend thunlich, der Einzelhaft zu unter-
werfen ist.
Die Geldstrafe ist für die leichtesten Rechtsverletzungen angedroht.
Häufig kommt sie auch neben der Gefängnisstrafe wahlweise angedroht vor.
Der Höchstbetrag der Geldstrafe ist 1000 finnische Mark (= Francs) und der
Mindestbetrag 3 Mark. In einigen Fällen — der Verbrechenskonkurrenz nicht
zu gedenken — ist jedoch ein höherer Betrag vorgeschrieben, z. B. bei dem
Wucher (38 : 10"; ferner 2 : 9; 10 : 5; 43 : 1, 3). Nicht beizutreibende Geld-
strafen werden in Gef. umgewandelt. Für diese Umwandlung hat der finnische
Gesetzgeber nicht einen relativen Massstab der Art, wie z. B. im deutschen
StGB. § 29, aufgestellt, sondern einen festen Geldbetrag für jeden Gefängnistag
angeordnet. Der Höchstbetrag dieser hülfsweisen Freiheitsstrafe ist 90 und
der Mindestbetrag 4 Tage (2 : 5). In betreff des Vollzugs dieser Umwandlungs-
strafe ist in der Vollstreckungsverordnung (4 : 5) festgestellt, dass die dieselbe
abbüssenden Gefangenen von anderen Sträflingen getrennt zu halten sind.
Wenn dies jedoch nicht thunlich ist, so sind sie, soweit möglich, mit solchen
Sträflingen zusammenzuhalten, die unbedingte Gefängnisstrafe in einer höheren
Abteilung abbüssen (Vollstreckungs-Vdg. 4 : 5).
Was die Beitreibung der Geldstrafe anbelangt, so ist im finnischen Recht
der Grundsatz von altersher geltend, dass, wenn der zur Geldstrafe Verurteilte
nicht den ganzen Betrag zu zahlen vermag, die ganze Summe in die hülfs-
weise Strafe umzuwandeln ist, ohne dass eine teilweise Abzahlung Platz
greifen kann.
Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte hat zur Folge die Verwir-
kung der Rechte, deren Genuss durch guten Leumund bedingt ist. Diese
Nebenstrafe ist eine zeitige und zwar mit einem Mindestbetrag von einem
Jahre und einem Höchstbetrage von 15 Jahren. Nur in dem Falle, dass das
den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte nach sich ziehende Verbr. mit Todes-
strafe oder lebenslänglichem Zuchthaus bedroht ist, ist diese Nebenstrafe auch
Jahre eine lebenslängliche.
Die Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter ist eine zei-
tige, indem sie ebenfalls nicht unter einem Jahre und nicht über fünfzehn
dauern kann.
Das finnische G. hat, wie die modernen StG. überhaupt, für die straf-
zumessende Thätigkeit des Richters einen sehr ausgedehnten Spielraum gewährt.
Dies tritt, ausser in der relativen Bestimmtheit der Strafgebote, indem ent-
weder eine Strafart mit einem Höchst- und Mindestbetrag festgestellt worden
ist oder mehrere absolut oder relativ bestimmte Strafarten im Strafgebote
Aufnahme gefunden haben, vorzugsweise in der Anordnung hervor, dass in
mehreren Fällen neben den Regel -Strafrahmen in Bezug auf besonders mil-
dernde oder erschwerende Umstände besondere Strafrahmen festgestellt worden
sind. Bisweilen veranlassen die besonders erschwerenden Umstände keine
Feststellung von besonderen Strafrahmen, sondern nur einen verstärkenden
Zusatz zur Hauptstrafe (38 : 2*; 40 : 6^). Zu den Fällen der mildernden und
320 Das russische Kaisertum. — Das StR. Finnlands.
erschwerenden Umstände zählen wir nicht diejenigen, wo der Gesetzgeber
durch ausdrückliches Hervorheben eines Umstandes von mildernder oder er-
schwerender Art eine mildere oder strengere Strafe begründet (z. B. 16 : 10*;
17 : 1*; 22 : 8- usw.), auch nicht diejenigen, wo der Gesetzgeber angedeutet
hat, dass irgend ein Umstand bei der Strafzumessung als erschwerender, d. h.
die Strafe innerhalb des Strafrahmens erhöhender angesehen werden soll (7 : 2;
14 : 1*; 21 : 13^; 40 : 22; 41 : 8). Es verdient auch erwähnt zu werden, dass
der Gesetzgeber eine besondere Strafbestimmung häufig begründet durch
Zusammenstellung von einem gewissen angegebenen Strafschärfungs- oder
Milderungsgrund mit besonders mildernden und erschwerenden Umständen
überhaupt (z. B. 21 : 2*; 25 : 9; 29 : 1^ 33 : 1^ 36 : 5 usw.).
In betreff der Personen, die das für die Zurechnungsfähigkeit und die
kriminelle Verantwortlichkeit erforderliche Alter erreicht haben, macht das
G. folgende Unterschiede: ein Kind, welches das fünfzehnte Lebensjahr noch
nicht vollendet hat, ist nicht strafrechtlich verantwortlich. Doch kann das
Gericht nach Umständen verordnen, dass ein Kind, welches das siebente Lebens-
jahr vollendet hat, in einer öffentlichen Erziehungsanstalt untergebracht oder
von den Eltern oder von einem anderen, in dessen Obhut und Gehorsam es
steht, zu Hause erweislich gezüchtigt werden soll. Würden die Eltern oder
der Pfleger des Kindes die ihnen obliegende Züchtigung unterlassen, so hat
die vollziehende Behörde dafür Sorge zu tragen.
In der öffentlichen Erziehungsanstalt kann das Kind, so lange die der
Anstalt vorgesetzte Behörde solches für es erforderlich erachtet, behalten
werden; jedoch nicht über das vollendete achtzehnte Lebensjahr hinaus, es
wäre denn, dass der gesetzliche Vertreter des Kindes ein längeres Verweilen
in der Anstalt gutheisst, in welchem Falle dieses bis zum vollendeten zwanzigsten
Lebensjahre ausgedehnt werden kann. Das Unterbringen in einer Erziehungs-
anstalt ist jedoch nicht nach dem Wortlaut zu verstehen; denn nach der Ver-
fügung der Vollstreckungsverordnuug (6 : 1) soll ein der Erziehungsanstalt
überlassenes Kind, soweit es möglich ist, von der Anstalt an eine geeignete
Privatfamilie übergeben werden, um dort unter der Aufsicht der Anstalt er-
zogen zu werden, falls es nicht mit Rücksicht auf Alter, Verdorbenheit oder
andere Umstände besser in der Anstalt zu erziehen ist. Die näheren Bestim-
mungen über diese Erziehungsanstalten sind besonderen Verordnungen vor-
behalten.
Jugendliche Verbrecher zwischen dem fünfzehnten und achtzehnten Lebens-
jahr werden einer im G. näher dargelegten ausgedehnten Strafermässigung
teilhaft. Nach denselben Gründen wird die Strafe ermässigt auch für diejenigen,
denen, obgleich sie nicht für unzurechnungsfähig angesehen werden können,
der volle Gebrauch des Verstandes mangelt (3 : 4), ebenso bei der
Überschreitung der Notwehr, bei Notstand, Versuch und Beihülfe.
Die Strafermässigung, die denjenigen zu teil wird, welchen der volle
Gebrauch des Verstandes abgeht, ist auf die Trunkenheit oder eine andere ähn-
liche, vom Thäter selbst verschuldete Geistesverwirrung nicht dermassen erstreckt
worden, dass dieser Zustand für sich allein als Grund zu der Strafmindemng
gelten könnte (3 : 4*-).
Hier mag nebenher bemerkt werden, dass das StG. (43: 6) eine Geld-
strafe für denjenigen verfügt, der auf „öffentlichen Wegen, Strassen oder an
andern öffentlichen Orten oder bei öffentlichen Verrichtungen oder Versamm-
lungen betrunken auftritt und dadurch Ärgernis giebrt". Die Strafe ist be-
trächtlich verschärft für einen Beamten, der sich in der Ausübung des Amtes
der in Rede stehenden Übertretung schuldig macht. Diese Bestimmungen sind
eine Modifikation der diese Frage betreffenden Satzungen der älteren Gesetz-
§ 3. Der allgemeine Teil des StGB. v. 1889. 321
gebungi nach welchen die Tnmkenheit, auch wenn sie nicht öffentlich zum Vor-
schein gekommen ist, mit Strafe belegt ist und dieser Zustand in betreff der
in demselben begangenen Verbr. keinen Entschuldigungsgrund abgeben kann.
Die vom Notstand veranlasste Straffreiheit ist nach der Auffassung des
Gesetzgebers ersichtlich nicht in einem Notrecht, sondern vielmehr in der Ent-
schuldbarkeit einer in sqlchem Zustande begangenen strafbaren Handlung
begründet. Es ist demgemäss verordnet (3: 10), dass, wenn jemand, um seine
eigene oder eines anderen Person oder Eigentum aus gegenwärtiger Ge-
fahr zu retten, eine strafbare Handlung, ohne welche die Rettung nicht möglich
war, begangen hat, das Gericht entscheiden muss, ob ihm völlige Straffreiheit
zu Gute kommen soll, oder ob er eine volle oder verminderte Strafe nach
Massgabe der den jungen Verbrechern zukommenden Strafermässigung ver-
wirkt habe.
In betreff der Teilnahme liegt der Unterschied von Thäterschaft und
Beihülfe in der Beschaffenheit der Handlung. Die Handlung des Thäters ist
eine Ausführungshandlung, die Handlung des Gehülfen aber eine solche, durch
welche während oder vor der Ausführung der Handlung dem Thäter mit Rat
oder That oder durch Ermunterung derselben Vorschub geleistet wird (6: 3).
Der Versuch der Anstiftung ist, der in der Doktrin immer herrschenden Lehre
gemäss, straflos gelassen worden. Man hat aber in Finnland ebensowenig
wie in Deutschland der Notwendigkeit entgehen können, den Anforderungen
des praktischen Rechtslebens in dieser Beziehung Rechnung zu tragen. So
ist in 16: 8 — den Paragraphen 85, 110 und 111 des deutschen StGB, ent-
sprechend — auch die erfolglose öffentliche Aufforderung zum Verbr., sei es,
dass sie in einer Volksversammlung oder durch eine verbreitete oder öffent-
lich angeschlagene oder ausgestellte Schrift oder Darstellung geschehen ist,
mit Strafe belegt. Als die Strafbarkeit erhöhend ist der Fall besonders her-
vorgehoben, dass das Verbr. Hochverrat oder Landesverrat ist. Mit beson-
derer Strafe ist eine auf die angegebene Weise bewerkstelligte Aufforderung zum
Ungehorsam gegen das G. oder gesetzliche Vorschriften bedroht. Ebenso ist
in 17: 6, gleichwie in §159 des deutschen GB., gegen die erfolglose Anstiftung
zum Meineid Strafe angedroht.^)
Was den Rückfall betrifft, so ist von altersher im finnischen Recht der
Grundsatz geltend gewesen, dass für einen in strafrechtlicher Beziehung rele-
vanten Rückfall das vollständige Verbüsstsein des früheren Verbrechens notwendig
ist. Die durch den Rückfall bedingte höhere Strafbarkeit ist vom Gesetzgeber
auf Eigentumsverbrechen beschränkt. Hierbei hat er nicht streng auf die enge
Verwandtschaft des neuen Verbrechens mit dem früheren gehalten. So wird
z. B. ein Einbruch, dem eine Erpressung vorgegangen, als Einbruch im Rück-
fall bestraft. Auch die sogenannte Rückfallsverjährung ist von dem finnischen
Gesetzgeber aufgenommen, indem in 6: 2 festgestellt ist, dass, falls 10 Jahre
vergangen sind, seit die Strafe des früheren Verbrechens verbüsst war, dem
Rückfall keine strafschärfende Wirkung mehr beizulegen ist.*)
Im Kapitel vom Zusammentreffen der Verbr. hat der Gesetzgeber
den alten Unterschied von idealer und realer Konkurrenz beibehalten. Bei
jener kommt das Absorptionsprinzip und bei dieser ein zwischen den Absorp-
*) Forsman, J.: Grunderna för läran cm delagtighet i brott (Die Qründe der
Lehre von der Teilnahme), Helsingfors 1879, enthält eine Darstellung der auf die
Teilnahme sich beziehenden Bestimmungen des älteren schwedisch-finnischen Rechts.
*) Aufschlüsse über die den Rückfall betreffenden Bestimmungen des älteren
schwedisch-finnischen Rechts giebt die akademische Dissertation von K. F. Lagus: Om
äterfäll i brott, senare delen (Über den Rückfall in Verbr., zweite Hälfte), Helsing-
fors 1856.
Straf^esetz^ebnng der Gegenwart. I. 21
322 I^ÄS russische Kaisertum. — Das StR. Finnlands.
tions- und KumuIatioDsprinzipien stehendes mittleres Prinzip zur Anwendung.
Bei dem Zusammentreffen von mehreren Geldstrafen ist jedoch das im alten
Recht geltende Kumulationsprinzip beibehalten worden. Bei der idealen Kon-
kurrenz soll dasjenige von den auf die betreffenden Verbr. sich beziehenden
Gesetzen zur Anwendung kommen, das dem Richter den weitesten Raum für Aus-
messung der strengsten Strafe gewährt, ohne dass dabei die Strenge der Strafe der
Art nach allein massgebend sein darf. Daher vertritt das Gef. im Vergleich mit
der Zuchthausstrafe die strengere Strafe, wenn die in einem Gesetzgebot an-
gedrohte Gefängnisstrafe in Bezug auf die Strafzeit in grösserem Masse als
im Verhältnis von 4 zu 3 die in einem anderen G. festgesetzte Zuchthausstrafe
übersteigt. In diesem Falle ist das Gef. mit Abzug eines Viertels in Zucht-
haus umzuwandeln. Diese Umwandlung braucht jedoch nicht notwendig Platz
zu grellen, wenn das andere G. neben der Zuchthausstrafe eine gelindere
Strafart androht. — Dem realen Zusammentreffen ist im finnischen G. ein
weitrer Raum als z. B. in dem deutschen StGB. (§ 79) gewährt worden. So liegt
nach 7: 9 ein reales Zusammentreffen auch in dem Falle vor, dass von etwa
zwei Verbr., die vor der Aburteilung eines von beiden begangen worden sind,
die Strafe für das eine schon verbüsst ist, ehe das andere zur Aburteilung
gelangt. Auch in den Fällen, dass jemand, nachdem er für ein oder mehrere
Verbr. zur Strafe verurteilt worden, aber bevor er die Strafe ganz verbüsst,
von neuem ein Verbr. begangen, kommen die bei dem realen Zusammentreffen
geltenden Regeln für die Strafausmessung, jedoch mit einer nicht unerheblichen
Modifikation, zur Anwendung, indem dem Richter gestattet ist, den Höchst-
betrag, welchen die betreffende Freiheitsstrafe beim Zusammentreffen der Verbr.
erreichen kann, um eine gewisse Zeit zu überschreiten. Diese Zeit beträgt
bei der Zuchthausstrafe höchstens 5 und bei der Gefängnisstrafe höchstens
2 Jahre.
Hier ist auch zu bemerken, dass, wenn bei dem realen Zusammentreffen
die Einzelstrafen ungleichartig sind, behufs der Bildung einer Gesamtstrafe
eine Umwandlung in die der Art nach strengste — natürlich die Todesstrafe
und die lebenslängliche Zuchthausstrafe ausgenommen — stattfinden soll. Die
Umwandlung einer Geldstrafe in Zuchthaus ist so zu bewerkstelligen, dass die
Geldstrafe nach dem im G. angegebenen Massstabe zuerst in Gef. umgesetzt
wird und die GefUngnisstrafe darauf mit Abzug eines Viertels in Zuchthans
umgewandelt wird.
Für die Verfolgung der Antragsverbrechen, ^) deren das G. eine grosse
Anzahl enthält, ist eine Präklusivfrist von einem Jahre, von dem Tage an
berechnet, wo der Antragsberechtigte Kenntnis vom Verbr. erhielt, aufgestellt
worden. Der Antragsberechtigte (der „Klaginhaber") ist berechtigt, einen
gestellten Antrag zurückzunehmen, bevor die Sache zur Behandlung des Ge-
richts gekommen ist, oder eine von ihm selbst in Gang gebrachte Strafver-
folgung fallen zu lassen, bevor das Gericht erster Instanz sein Urteil abge-
geben. Wird ein Antragsverbr. vom gesetzlichen Vertreter gegen den begangen.
*) Unter diesen mag hier erwähnt werden: die Verleitung zu einem Ehevertrag
(18: 1); der Ehebruch (19: 8); eine gelindere Art von Misshandlung nebst einer durch
FahrläSvSigkeit verursachten Körperverletzung (21: 14); der Hausfriedensbruch, die un-
gesetzliche Haussuchung und das Einschlagen von Fenstern, das Hineinwerfen von
Steinen oder anderen Gegenständen in das Zimmer, Haus oder Fahrzeug eines anderen
oder das mit Waffen geschehende Hineinschiessen in solche Räumlichkeiten (24: 5);
die Notzucht nebst anderen Angriffen gegen die Freiheit und Keuschheit einer Frauens-
person und die Nötigung und Bedrohung mit einem Verbr. (25: 14); die Ehrver-
letzungen (27: 8); die Entwendung von gemeinschaftlichem Gut (30: 2^; die Sachbe-
schädigung, durch welche nur ein Privatrecht verletzt worden ist (85 : 4) ; die Untreue
und der strafbare Eigennutz (3S : 9) usw.
§ 4. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 323
dem der Gebrauch des Verstandes mangelt oder der das mündige Alter nicht
erreicht hat, so darf eine Strafverfolgung vom öffentlichen Ankläger ohne
einen besonderen Antrag eingeleitet werden.')
Die zu dem allgemeinen Teil des StR. gehörenden Kap. werden mit einem
Kap. über den Schadensersatz in Kriminalsachen abgeschlossen. Die Aufnahme
von Bestimmungen über den Schadensersatz in das StGB, hat ihren Grund in
der engen, in der alten bisher geltenden Strafgesetzgebung zwischen der
Strafe und dem Schadensersatz obwaltenden Verwandtschaft, infolgedessen in den
alten Satzungen neben den Strafbestimmungen häufig auch über den Schadens-
ersatz verordnet ist, ferner auch in der hierauf bezüglichen Mangelhaftigkeit
der bürgerlichen Gesetzgebung. Auch ist zu merken, dass die in Rede stehende
Anordnung sich dem einheimischen Strafprozesse anschliesst, indem die Klage
der verletzten Partei um Schadensersatz in den meisten Fällen zugleich mit
der Strafklage geführt wird.
§ 4. Die einzelnen strafbaren Handlungen.
Die die besonderen Verbr. umfassenden Kap. werden mit einem Kap.
über die Religionsverbrechen eingeleitet. An der Spitze derselben steht
die Gotteslästerung. Hieran schliesst sich die Beschimpfung des heiligen Wor-
tes Gottes oder der Lehre, der Sakramente oder der Gebräuche einer in Finn-
land anerkannten , gestatteten oder geduldeten Religionsgesellschaft. Dem-
nächst sind die Kultusstörungen, die vom Gesetzgeber gleichmässig auf alle im
Lande anerkannten, gestatteten oder geduldeten Religionsgesollschaften bezogen
sind, mit Strafe bedroht. Auch unbefugte Proselyt^nmacherei ist gleichmässig
mit Strafe belegt, wenn sie sich auf irgend eine von den im Lände anerkannten,
gestatteten oder geduldeten Religionsgesellschaften bezieht. Das Kap. wird
mit einer Strafbestimmung für denjenigen abgeschlossen, welcher seinen Diener
oder ein anderes Mitglied seines Hausgesindes daran verhindert, den Gottesdienst
zu besuchen, so dass er selten oder niemals dc^mselben beiwohnen kann. —
Im 41. Kap. sind Strafbestimmungen gegen verschiedene Übertretmigen der
für die Hauptkonfession des Landes, die evangelisch-lutherische Gemeinde,
festgestellten kirchlichen Ordnung eingeführt worden. Daneben ist in demselben
Kap. die Sabbatsentheiligung in Strafe genommen. Diese Übertretung besteht
darin, dass jemand zur Sabbatszeit — der Zeit zwischen 6 Uhr morgens mid
6 Uhr abends an Sonntagen und kirchlichen Feiertagen — ohne zwingende
Notwendigkeit Arbeit verrichtet oder Geschäft oder Gewerbe treibt. Wenn ein
Verbr. zur Sabbatszeit verübt wird, so ist dieser Umstand als ein erschweren-
der in Betracht zu ziehen.
Die delicta carnis (Kap. 20) anlangend ist zu merken, dass im finnischen
G. auch der einfache Beischlaf zwischen unverheirateten Personen und zwar
unter dem Namen des heimlichen Beilagers (schwedisch: lönskaläge, finnisch:
salavuoteus) mit Strafe von höchstens 40 Mark finnisch (= Francs) für den
Mann und 20 Mark für die Frau, belegt ist. Mehrere Arten von qualifiziertem
Beischlaf sind ausserdem mit höheren Strafen bedroht. Der einfache Bei-
schlaf und die leichteren Arten des qualifizierten Beischlafs sind straffrei, weim
die betreff'enden Personen die Ehe miteinander eingehen.
In betreff" der Tötungsverbrechen ist das neue 0. von der alten
Gesetzgebung erheblich abgewichen. In dieser wurde unter den Begriff des
*) über die Antragsverbr. und die darauf sich beziehenden Bestimmungen in
dem älteren schwedisch-finnischen Recht können Aufschlüsse aus der akademischen
Dissertation J. Grotenfelts: Om malsägarebrottets begrepp enligt finsk rätt (Über den
Begriff des Antragsverbr. nach finnischem Recht), Helsingfors 1H87, entnommen werden.
21*
324 I^as russische Kaisertum. — Das StR. Finnlands.
Totschlages jede rechtswidrige Handlung und Unterlassung, die den Tod eines
Menschen verursacht, untergeordnet. Der vorsätzliche Totschlag (schwedisch:
viljadrip) im GB. v. J. 1734 umfasst nicht nur die Fälle von Tötung, in denen
der Thäter beabsichtigt, einen anderen ums Leben zu bringen, sondern auch
solche, in denen die Absicht auf Zufügung eines körperlichen Schmerzes oder
einer körperlichen Verletzung gerichtet ist, woraus nachher in einem Jahr der
Tod erfolgt. Durch das die Tötung betreffende G. vom 26. November 1866,
welches auch die unvorsätzlichen Tötungen behandelt, erhielt der Begriff
des vorsätzlichen Totschlags eine dermassen enge Fassung, dass seitdem als
vorsätzlicher Totschlag nur eine solche Tötung, wobei der Eintritt des Todes
beabsichtigt war, betrachtet wurde. Der Mord aber war nach der alten Gesetz-
gebung ein qualifizierter vorsätzlicher Totschlag und zwar in der Beziehung,
dass derselbe hinterlistig und heimlich ausgeführt wurde. — In dem neuen
G. sind Mord und Totschlag in der Weise von einander unterschieden, dass
der Mord eine vorsätzliche mit Vorbedacht ausgeführte Tötung, und der vor-
sätzliche Totschlag ebenfalls eine gewollte, aber hastigen Muts begangene
Tötung in sich schliesst. Übrigens sind unter den Begriff von Totschlag dem
weiteren Sinne der alten Gesetzgebung gemäss nicht nur eine durch vorsätz-
liche Misshandlung verursachte unvorsätzliche Tötung (21 : 4), sondern auch
die durch Fahrlässigkeit oder Unachtsamkeit verschuldete Herbeiführung des
Todes eines anderen untergeordnet (21 : 10). Als Milderungsgrund nicht nur
bei Totschlag, sondern auch bei der durch vorsätzliche Misshandlung herbei-
geführten Tötung gilt der Umstand, dass der Totschläger ohne eigene Schuld
durch eine schwere Beleidigung oder besondere Gewaltsamkeit des Getöteten
zum Zorne gereizt war. Bei der durch vorsätzliche Misshandlung verursachten
Tötung ist als Milderungsgrund der Fall aufgenommen, dass der Tod oder
eine schwere Körperverletzung als wahrscheinliche Wirkung der Misshandlung
nicht erwartet werden konnte.
Die Misshandlung, ausschliesslich des Falles, wo der Tod eine Folge
der Misshandlung ist, ist vom Gesetzgeber in Bezug auf ihre Wirkung in drei
Kategorieen eingeteilt worden. 1. Misshandlung, die eine schwere Körper-
verletzung verursacht: Verlust der Sprache, des Gesichtes oder des Gehörs,
eine schwere Verkrüppelung oder einen anderen schweren körperlichen Fehler,
eine dauernde Schädigung der Gesundheit oder lebensgefährliche Krank-
heit (21 : 5); 3. eine solche, deren Folge eine gelindere als die zur ersten
Kategorie gehörende Beschädigung, körperlicher Fehler oder Krankheit ist
(21 : 11) und 3. eine solche, die nur einen geringen oder gar keinen Schaden
verursacht (21 : 12).
Die Kindesaussetzung (22:8), die darin besteht, dass eine in unehe-
lichem Beischlafe schwanger gewordene Frau ihr neugeborenes Kind in irgend
einer Weise aufgiebt oder in hülfloser Lage lässt, ist als ein dem Kindesmorde
verwandtes Verbr. aus der unter den Verbr. wider die Freiheit (25 Kap.) er-
wähnten Rechtsverletzung ausgeschieden, welche in der Aussetzung eines hülf-
losen Kindes oder anderer dergleichen hülfsbedürftiger Personen oder in der
Versetzung in eine hülflose Lage oder in dem Verlassen einer anderen Person
in einer solchen Lage besteht, die fortzuschaffen, zu begleiten oder zu hüten
man verpflichtet ist oder übernommen hat (25 : 3).
Die Ehrverletzungen (27 Kap.) sind Verleumdung (schwed. smädelse)
und Beleidigung (schwed. förolämpning). Verleumdung liegt vor, wenn jemand
einem anderen ein bestimmtes Verbr. oder eine gewisse Art Verbr. oder eine
andere derartige Handlung aufbürdet, die diesen verächtlich zu machen oder
in seinem Gewerbe oder Fortkommen zu schädigen geeignet ist, oder auch
über ihn erdichtete oder unwahre Gerüchte verbreitet. Die Verleumdung ist
§ 4. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 325
zweierlei Art: eine solche, die wider besseres Wissen und eine solche, die
nicht wider besseres Wissen geschieht. Für alle beide Arten sind strengere
Strafbestimmungen für den Fall gegeben, dass die Verleumdung öffentlich oder
durch eine von dem Schuldigen oder durch seine Fürsorge verbreitete Druck-
oder andere Schrift oder bildliche Darstellung begangen ist.
In betreff des Diebstahls (Kap. 28) ist der in der schwedisch-finnischen
Gesetzgebung von altersher gemachte Unterschied zwischen Entwendungen von
grösserem und solchen von minderem Betrag zu merken. Jene, die Entwen-
dungen von Eigentum im Wert von mehr als 20 Mark (-= Francs) umfassen,
werden als Diebstahl bezeichnet, diesen aber, zu denen Eigentumsentwendungen
im Wert von 20 Mark oder weniger gehören, ist die Benennung: Mauserei
(schwed. snatteri, finnisch näpistely), beigelegt. Die Mauserei ist mit weit
niederer Strafe als der Diebstahl bedroht. Jene wird — wenn sie nicht unter
besonders erschwerenden Umständen begangen worden ist — mit Geldstrafe
gesühnt, während dieser Gef. und unter besonders erschwerenden Umständen
Zuchthaus nach sich zieht. Der Diebstahl hat den Verlust der bürgerlichen
Ehrenrechte zur Folge, während diese Nebenstrafe mit der Mauserei nicht
verknüpft ist. Diese der Mauserei zuerkannte Strafmilderung ist jedoch bei
den qualifizierten Eigentumsentwendungen, deren eine gi'osse Menge aus der
alten Gesetzgebung herübergenommen worden sind, ausgeschlossen.
Als- ein dem Diebstahl gegenüber selbständiges Delikt ist in Überein-
stimmung mit der alten Gesetzgebung der Einbruch (28 : 3) aufgestellt worden.
Dieser liegt vor, wenn jemand in der Absicht zu stehlen in einen Hof, ein
Haus, Fahrzeug oder in verschlossenen Gewahrsam einbricht oder durch
Dietriche, Nachschlüssel oder andere List sich dorthin Eingang oder Öffhung
verschafft oder auch durch Gewalt oder List mit Schloss, Siegel oder ähnlichem
Verschluss versehene Schränke, Kisten, Schreine oder andere Behältnisse, ohne
dieselben wegzubringen, öflPhet. Ein Diebstahl mit Einbruch wird aber als
qualifizierter Diebstahl angesehen, während dieser Fall in der alten Gesetz-
gebung als ein Zusammentreffen von Diebstahl und Einbruch erachtet wurde.
Unter den Eigentumsdelikten verdient noch die Entwendung von ge-
meinschaftlichem Gut (schwed. bodrägt) hervorgehoben zu werden (30. Kap.).
Sie liegt vor, wenn Ehegatten von einander oder Kinder von Eltern oder Pflege-
kinder von Pflegeeltern oder Teilhaber einer Erbmasse oder andere, die an
einer gemeinsamen Masse oder Gesellschaft teilnehmen, aus der Masse oder
dem Vereinsgut etwas entwenden.
Dem gegenwärtigen flnnischen und schwedischen Recht gewissermassen
eigentümlich ist das als rechtswidrige Bodenbenutzung (schwed. äverkan)
(33. Kap.) zu bezeichnende Delikt. (Vgl. das deutsche StG. § 370 \ *). Im GB.
v.J. 1734 und in späteren Vdgn. ist das in Rede stehende Delikt als eine un-
befugte Benutzung des in Wald und Boden bestehenden Grundeigentums eines
anderen aufgeführt. Die rechtswidrige Bodenbenutzung ist daher ein sehr
weiter Begriff, der eigentlich mehrere, der Art nach verschiedene, Delikte um-
fasst. So wird der gesetzwidrigen Bodenbenutzung zugezählt nicht nur die an
fremdem Grund und Boden verübte Beschädigung, unbefugtes Bauen und teil-
weises Einnehmen desselben, sondern auch diebische Entwendung von Gegen-
ständen, die zur Substanz des Bodens gehören oder Erzeugnisse desselben
ausmachen, ohne dass bei der Hervorbringung der fraglichen Erzeugnisse die
menschliche Arbeit eine nennenswerte Rolle gespielt hat. Aber ausserdem wer-
den derartige Rechtsverletzungen, wenn sie von Miteigentümern zum Nach-
teil anderer Mitinteressenten am gemeinschaftlichen Grundstück oder von dem
berechtigten Besitzer, wie von Pächtern, Käthnem usw., an dem von ihnen
innegehabten Grundstücke zum Schaden des Eigentümers verübt werden, als
326 Das rassische Kaisertum. — Das StR. Finnlands.
rechtswidrige Bodenbenatzung betrachtet. Die mehrmals laut gewordene An-
sicht, es sollte der Waldfrevel, wenn er mit diebischer Entwendung von Wald-
produkten verbunden ist, als Diebstahl erachtet werden, hat gegen die im
Volke tief wurzelnde Auffassung nicht durchdringen können. Auch das neue
StG. hat dieser Auffassung, die ebenso im geltenden Waldgesetz vom 3. Sep-
tember 1886 zum Vorschein kommt, Rechnung tragen müssen, indem auch hier
das Fällen von Bäumen, in der Absicht sich oder einem anderen dieselben
anzueignen, als rechtswidrige Bodenbenutzung betrachtet worden ist.
Hinsichtlich der alten Gesetzgebung hat der Thatbestand des Wuchers
(38 : 10) im neuen StG. eine Erweiterung erfahren, die den Anforderungen des
praktischen Lebens entgegenkommt. Nach diesem ist des Wuchers schuldig
nicht nur derjenige, der für ein Darlehn, für welches nur bestimmte jährliche
Zinsen genommen werden dürfen, einen höheren als den vom G. gestatteten
Zinsfuss nimmt oder sich versprechen lässt, sondern auch derjenige, der bei
einem anderen Darlehn oder im Falle der Stundung einer Geldforderung, unter
Ausbeutung der Notlage, der Unerfahrenheit oder des Leichtsinns eines anderen
über den üblichen Zinsfuss sich Vermögensvorteile, die in auffälligem Miss-
verhältnis zu der Leistung stehen, versprechen oder gewähren lässt. Der ge-
werbs- oder gewohnheitsmässige Wucher ist mit einer besonderen strengeren
Strafe belegt.
In demselben Kap. (demjenigen von Untreue und strafbarem Eigennutz),
wie der Wucher, haben zwei auf Steuerdefraudationen bezügliche Delikte
Aufnahme gefunden. Diese liegen vor: a) wenn jemand durch eine unwahre
Angabe oder anderen Trug dem Staat oder einer Gemeinde Zollgebühren oder
andere Steuern oder allgemeine Abgaben entzieht oder zu entziehen versucht
und b) wenn jemand Waren, deren Ein- oder Ausfuhr verboten ist, ins Land
einführt oder einzuführen versucht, oder aus dem Lande ausführt oder aus-
zuführen versucht. Einzelsatzungen über die Zolldelikte sind in einer an das
Zollgesetz vom 30. Dezember 1887 sich anschliessenden Vdg. von demselben
Tage zu finden.
Die geltende Konkursordnung ist vom 9. November 1868. In dem
allgemeinen StGB. (Kap. 39) haben jedoch die auf den Bankerutt bezüglichen
Straf bestimmungen in hauptsächlicher Übereinstimmung mit der Konkursordnung
Aufnahme gefunden. Das StG. unterscheidet zwischen betrüglichem , unred-
lichem und fahrlässigem oder leichtsinnigem Bankerutt, die jedweder im G.
näher charakterisiert sind.
m. Die strafrechtlichen Bestimmuiigen ausserhalb des StGB.
Militärstrafgesetzbuch. Das Mil.-StG. Finnlands (StG. für das fin-
nische Militär nebst Ordnungsstatut) ist vom 16. Juli 1886. Nachdem die all-
gemeine Wehrpflicht durch ein von den Ständen auf dem Landtage im J. 1877
angenommenes und nachher promulgiertes G. vom 27. Dezember 1878 in Finn-
land eingeführt worden war, wurde eine durchgreifende Revision des früheren
finnischen Mil.-StG. vom 9. April 1877 in Angriff; genommen. Als Frucht dieser
Arbeit wurde ein Entw. zum neuen Mil.-StG. den Ständen vorgelegt, von diesen
auf den Landtagen 1882 und 1885 behandelt und schliesslich mit einigen von
den Ständen vorgenommenen Abänderungen zum G. erhoben. Dies G., welches
auch das militärische Strafprozessrecht enthält, ist in 25 Kap. mit 218 Para-
graphen eingeteilt. An das G. schliesst sich ein Ordnungstatut an, enthaltend
§ 5. Die strafrechtlichen Bestimmungen ausserhalb des StGB. 327
Vorschriften über die disziplinarischen Bestrafungen und andere Bestimmungen
zur Aufrechthaltung der militärischen Ordnung. Die im Mil.-StG. vorgesehenen
Strafen sind: I.Todesstrafe; 2. Zuchthaus; 3. Gef.; 4. Amtsentsetzung; 5. Ent-
fernung vom Dienste; 6. Geldstrafe und 7. Ordnungsstrafe. Die letztgenannte
kann von einem zuständigen Vorgesetzten verhängt werden, ohne dass ein
Gerichtsurteil nötig ist. Zur Ausfertigung des Ordnungsstatuts ist die Regierung
allein zuständig. Das Wehrpflichtsgesetz vom 27. Dezember 1878 enthält da-
neben Straf bestimmungen gegen diejenigen, die sich der Erfüllung der Wehr-
pflicht entziehen oder zu entziehen suchen.^)
Pressgesetzgebung. Das Hauptgesetz, durch welches die Pressver-
hältnisse in Finnland geordnet sind, ist die im administrativen Wege erschienene
Vdg. vom 31. Mai 1867. Diese Vdg. dürfte dadurch genügend charakterisiert
sein, dass nach derselben die vorläufige Censur, wenn auch nicht dem Namen
nach, so jedoch in der That geltend ist. Nach § 34 ist der Buchdrucker, ehe
eine Schrift aus der Buchdruckerei herausgegeben werden darf, verpflichtet,
jene dem Pressanwalt (censor librorum) zuzustellen. Wenn der Pressanwalt
in Bezug auf den Inhalt der Schrift das Erscheinen derselben als zulässig er-
achtet, zeichnet er daran das Wort: vorgezeigt, nebst seiner Namensunterschrift.
Erst nachdem diese Genehmigung erfolgt ist, ist die Verbreitung der Schrift
gestattet. Diese Approbation seitens des Pressanwalts schliesst jedoch die
strafrechtliche Verfolgung der Schrift nicht aus, wenn nachher dazu Anlass ge-
funden wird (§ 41). Auf eine Darstellung der gegen die periodische Presse
in der Vdg. gestatteten Massregeln und der späteren, die Pressverfassung
V. 1867 verändernden und ergänzenden obrigkeitlichen Erlasse, besonders der
Vdg. vom 18. Juni 1891, durch welche die periodische Presse der Willkür
des Generalgouvemeurs des Landes ganz und gar überlassen worden ist, kann
als jedes juristischen Interesses ermangelnd verzichtet werden.
In betreff der Gewerbe- und Fabriksgesetzgebung ist als Hauptgesetz die
Gewerbeordnung vom 31. März 1879 in erster Linie zu merken. Dies G.
hat zur Grundlage die Gewerbefreiheit. Es enthält verschiedene den Schutz
der gewerblichen Arbeiter und die Beschränkung der Verwendung von Minder-
jährigen in Fabriken und Gewerben bezweckende Bestimmungen. Diese waren
jedoch bei weitem nicht genügend. Infolgedessen wurde ein G. vom 15. April
1889, betr. Schutz für die gewerblichen Arbeiter, erlassen. Dies G. enthält
genaue Bestimmungen über die Überwachung der hygienischen Verhältnisse in
Gewerben und Fabriken und die zur Verhütung von Unglücksfällen in den-
selben zu ergreifenden Massregeln und besonders über die Verwendung von
minderjährigen Personen als gewerbliche Arbeiter. Zur Überwachung der
Beobachtung der Vorschriften des G. sind besondere sogenannte Gewerbe-
inspektoren angestellt worden.
Unter den übrigen strafrechtliche Bestimmungen enthaltenden G. mögen
hier folgende noch hervorgehoben werden: die Landtagsordnung vom 15. April
1869, das Seegesetz vom 9. Juni 1873, die Vdg. über das Recht der Schrift-
steller und Künstler an den Erzeugnissen ihrer Thätigkeit vom 15. März 1880,
die Vdg. über den Verkauf und Ausschank von Malzgetränken vom 2. April
1883, die Vdg. über die Vagabunden und ihre Behandlung vom 2. April 1883,
die Vdg. über die Bedingungen für Zubereitung und Destillierung von Branntwein
vom 9. Juni 1892, die Vdg. von demselben Tage über die Bedingungen für Verkauf,
Transportierung und Niederlage von Branntwein und anderen gebrannten oder
*) Eine Handausgabe, das Mil.-StGB. nebst dem Ordnungsstatut und das Wehr-
pflichtgesetz und die dazu gehörenden Vdgn. enthaltend und mit ^Erläuterungen ver-
sehen, ist von Richard Idestam und K. W. Sulin herausgegeben, Abo 1886.
:^2^ Das nL^^lscLe Kab^rmni- — Das S4IL Finniandic
destüLierten Sprit^^rtränken. Die behufs der Vt-riiänm^ des Missbrnachs der
jfeistigen Getränke in den früheren Vdgn- eing^eschl^gene restringierende Rich-
tung, ist in den gegenwärtigen Vdgn. noch entschiedener werfolgt worden.
Schliesslich ist zu erwähneiL das die strairecbtiichen Beziehungen zwischen
Rossland nnd Finnland hauptsächlich durch eine Ydg. Tom 2. Juni 1826, betr.
die von Finnländem in Russland und von Russen in Finnland begangenen
Verbr., geordnet worden sind. Diese Vdg. wurde neuerdings einer vorbereitenden
Revision von einer gemischten Konunis^oa. bestehend aus römischen und finni-
schen Delegierten, unterworfen ohne dass jedoch irgend eine daraus herrorge-
gangene legislatorische Massregel n«jch zum Vorschein gekommen ist.
IV.
§
6. Reehtspre^m^.
Id die Recht<pret-huDg des Landes bietet die seit dem Jahre l^i erscheinende
Zeitschrift des finnischen juristischen Vereins Tidskrift utgifven af Juridiska fore-
ningen i Finland) einen Einblick dar. iodem die genannte ZeitschriA Gerichtsent-
hcheidnngen in wichtigeren Jnstizsachen enthält .
VL
DIE BALKANSTAATEN.
1. Bulgarien. 2. Griechenland.
Von Dr. M. St ScMschmanov, von Dr. Konstantin A. Kypriades,
Richter am obersten Kaasationsliof in Sofia. Advokat in Athen.
3. Montenegro.
Von Dr. Karl Dickel,
Amtsrichter in Berlin nnd Lehrer an der Forstakademie in Eherswalde.
4 Rumänien. 5. Serbien.
Von P. TL Missir, von Dr. Uilenko J. Wesnitsch
ProftM« » d.r j,ri.tUch.. F.k»ltat i» J»..y. ^^^ J)j. JoSefOWltSCh
(Cbersetznng von Dr. Georg Cnuea in Hannover). in Belgrad.
Übersicht
!• Bulgarien.
§ 1. Die Strafgesetzbücher und der Entwurf von 1888. § 2. Naclitrags- und Er-
^änzungsgesetze.
erl
2. Griechenland.
§ 1. Das StGB. V. 1834. § 2. Neuere Strafgesetze. § 3. Litteratur.
3. Montenegro.
§ 1. Litteratur. § 2. Geschichtliches. § 3. Die allgemeinen Lehren. § 4. Die ein-
zelnen strafbaren Handlungen.
4. Rumänien.
§ 1. Geschichtlicher Überblick. § 2. Allgemeine Grundzüge. § 3. Der besondere Teil
des StGB. § 4. Strafrechtliche Nebengesetze.
5. Serbien.
§ 1. Die Vorgeschichte des geltenden Rechts. § 2. Das StGB, vom 27. März 1860.
§ 3. Nachtragsgesetze. § 4. Strafrechtliche Nebengesetze. § 5. Das Strafverfahren.
§ 6. Litteratur und Rechtsprechung.
1. Bulgarien.
§ 1. Die StGBaeher und der Entwurf von 1888.
Bulgarien besitzt bislang — 1893 — kein eigencjs StGB, für Verbr. und
Verg., sondern bloss ein kurzes — 139 Paragraphen umfassendes — "G. über
kleinere Verg. bezw. Übertretungen oder, wie der Titel des (i. lautet, „über
die Strafen, welche die Friedensrichter verhängen können**. Dieses
G., welches am 3. Juni 1880 sanktioniert wurde, ist ein getreuer Auszug des
entsprechenden russischen StG., auf dessen Darstellung (oben S. 278) verwiesen
werden kann. Dasselbe ist der Fall mit dem bulgarischen Mil. -StG. v. 17. De-
zember 1887, weiches ebenfalls dem russischen Recht entnommen ist und von
diesem im allgemeinen und wesentlichen nicht abweicht.')
Das eigentliche und gegenwärtig in Bulgarien Gesetzeskraft besitzende
StG. für Verbr. und Verg. ist das türkische StGB. v. 28. Zilhidzr 1274 nach
mohammedanischer Zeitrechnung (1857) mit den Ergänzungen v. 18.Djemaziul-
ewel und 19. Rebjul-Akhir 1284 und 4. Muharem 1286 (1864—1865).
Dieses StG. ist auch nach der Befreiung Bulgariens mit sehr wenigen —
unten angegeben — Änderungen in Kraft geblieben. Eine amtliche bulgarische
Übersetzung dieses StGB, ist im J. 1867 in Rustschuk erschienen. Sie ist von
Iwan P. Tsheraptsiew verfasst und von den damaligen türkischen Würden-
trägem geprüft.*) Ausser dieser Übersetzung existieren noch andere, so von
Stoi'l D. Popow V. J. 1879, zur Ausgabe autorisiert von dem damaligen russi-
schen Gouverneur zu Tniowo, dann von Peretz und Iwan Chr. Geshow v. J. 1881,
und noch andere mehrere; jedoch wird zur Auslegung des richtigen Gesetz-
textes die von der türkischen Regierung autorisierte französische Ausgabe des
ottomanischen StG. von Aristarchi Bey (Gregoire); veröffentlicht von Demeter
Nicolaides zu Konstantinopel, 1874) mit Vorliebe von Richtern und Advokaten
*) Das bulgarische Mil.-StG. enthält im besonderen Teile bloss die eigentlichen
Militärverbr. und -Verg., daher wendet auch das Militärgericht bei Verbr. und Verg.
allgemeinen Charakters das ottomanische StG. bezw. das GB. über die Übertretungen
an. Zu diesem Behufe ist dem Mil.-StG. eine Tabelle beigefügt, welche die Militär-
strafen bestimmt, die den im ottomanischen StG. oder im GB. über die Übertretungen
vorgesehenen Strafen entsprechen und nach dieser Tabelle umzuwandeln sind. Die.s-
bezüglich unterscheidet die Tabelle zwei Kategorieen, nämlich: Offiziere und Militär-
ärzte und niedere Chargen. Z. B. Dunkelarrest von 1—3 Jahren, wird bei der ersten
Kategorie (Offiziere und Militärärzte) in Hauptwachtarrest von 6 Monaten bis 1 Jahr
und mit Beschränkung der Amtsrechte, bei der zweiten Kategorie aber in Ein-
teilung in die Straf(I)iszlpIinar)- Kompanie durch alle vier Stufen mit oder ohne
Einzelhaft umgewandelt.
-) Neuestens hat der nämliche Autor eine zweite wesentlich verbesserte und
mit den betreffenden bulgarischen Gesetzen ergänzte Ausgabe in Rustschuk 1892 er-
scheinen lassen.
332 Die Balkanstaaten — Bulgarien.
benützt. Eine noch neuere französische Ausgabe (1883) existiert von G. Makridi
(Code p6nal ottoman, 6dit6 avec l'autorisation du Ministt^re de Tinstruction
publique. Constantinople, Typographie et Lithographie du Journal „La Tur-
quie", 1883).
Da die Vorschriften des türkischen StG. — welches übrigens zum grössten
Teile eine Nachbildung des französischen Code penal ist — in mehrfacher
Hinsicht mit dem Charakter und der Gesittung des bulgarischen Volkes nicht
im Einklang stehen und ausserdem sehr viele dem gegenwärtigen Stande der
Strafrechtswissenschaft widcreprechende Bestimmungen enthalten, so war schon
seit der Schaffung des bulgarischen Fürstentums der Gedanke wach geworden,
ein eigenes bulgarisches StGB., welches sich den modernen europäischen St.G.en
würdig anreihen könnte, auszuarbeiten. Diese Idee hatte im J. 1888 der damalige
rührige und als hervorragender Jurist und Staatsmann rühmlichst bekannte
Justizminister Dr. Stojlow auf Grund des holländischen und des ungarischen
StGB, verwirklicht. Er legte seinen Entw. der Deputiertenkammer vor; hier
aber wurden bei Beratung dieses so wichtigen Entw. solche nicht zur Sache
gehörigen Erwägungen eingeflochten und eine solche Haltung eingenommen,
dass der Justizminister sich veranlasst sah, den Entw. alsbald wieder zurück-
zuziehen.
In Bezug auf die eigentliche bulgarische Litteratui* des StR. ist ebenfalls
nur sehr wenig zu berichten. Sie beschränkt sich, abgesehen von einer er-
läuternden Ausgabe des G. über die kleineren Verg. und Übertretungen von
Mintow, bloss auf einige Abhandlungen, welche in der Sofia'er juristischen
Monatsschrift „Juriditshesko Spisanlje" erschienen sind. Darunter verdienen
besonders hervorgehoben zu werden die Abhandlungen des Kassationsrates
Wasil Marinow „Über den Versuch (conatus delinquendi)", „über die Auslief e-
iTing der Verbrecher", „über die gesetzliche Notwehr in der Theorie und den
positiven Gesetzgebungen" und „über die Erneuerung von Strafprozessen",
erschienen im I. und II. Jahrgange (1888 und 1889) der genannten juristischen
Zeitschrift.
§ 2. Nachtrags- und ErgSnKangsgesetze.
Die eigentlichen Änderungen, welche die bulgarische Legislative an dem
ottomanischen StGB, vorgenommen hat, beschränken sich auf drei Gesetze: eines
V. 4. Mai 1883 über die strafbaren Handlungen gegen die Person des Fürsten,
das andere v. 17. Januar 1885, betr. die Art und Weise, nach welcher die Verg.
der leichten oder nicht beabsichtigten körperlichen Verletzung, der Schändung
bezw. Päderastie, der Entführung, der Ehrenbeleidigung und der Enthüllung
von Geheimnissen durch Ärzte, Chirurgen, Apotheker, Hebammen u. dgl.
(§§ 178, 179 samt Zusatz, 183, 197, 198 samt Zusatz, 200 samt Zusatz, 214,
215 und die Zusätze — additions — zu den §§201 und 206 des ottomanischen
StGB.) zu verfolgen sind; endlich das dritte v. 11. Juli 1886 über die straf-
baren Handlungen gegen die Nationalversammlung oder deren Mitglieder.
Das erstgenannte G. — über die strafbaren Handlungen gegen die Person
des Fürsten — bestimmt die Todesstrafe^) sowohl für den vorausbedachten
und absichtlichen Fürstenmord, als auch für den Versuch des Fürstenmordes
(§ 1). Für vorbereitende Handlungen, welche die Ermordung des Fürsten zum
^) Die Todesstrafe wird in Bulgarien im geschlossenen Räume (GefÄngnishof)
in Gegenwart geladener oder mit Bewilligung des Staatsanwaltes zugelassener Per-
sonen, durch den Strang vollzogen. Unmittelbar vor der Hinrichtung wird über
den Kopf des zu Justifizierenden ein Sack aus Segeltuch geworfen und darüber die
Schlinge befestigt.
§ 2. Nachtrags- und Ergänzung'sgesetze. 333
Zwecke haben, verhängt das G. (§ 2) eine schwere Kerker-, d. h. Kettenstrafe ^)
von 3 — 10 Jahren. — Ist eine auf diesen Zweck gerichtete Verschwörung zu
Stande gekommen, so werden alle Teilnehmer mit der nämlichen Strafe von
5 — 15 Jahren bestraft (§3). Wird die Absicht, den Fürsten zu töten, münd-
lich, schriftlich oder auf andere Weise verlautbart, so verfallen die Schuldigen
der Strafe des dunklen Kerkers von 1 — 3 Jahren (§ 4). Für die durch Wort,
Schrift oder auf andere Weise erfolgende Aufreizung des Volkes zum Un-
gehorsam gegen die Fürstengewalt oder zur Vertreibung oder Tötung des
Fürsten, ist eine Kerkerstrafe von 1 — 8 Jahren bestimmt (§ 5). Endlich unter-
liegen alle Gewaltthätigkeiten gegen die Person des Fürsten, welche ihn körper-
lich zu verletzen oder zu beleidigen oder seiner Freiheit zu berauben be-
zwecken, sowie der Versuch dieser Handlungen einer schweren Kerker-
(Ketten-)Strafe von 5 — 15 Jahren (§ 6). In allen genannten Fällen (ausgenommen
selbstverständlich den ersten Fall, wo Todesstrafe angewendet wird) zieht die
Strafe auch den Verlust der politischen und bürgerlichen Rechte während eines
Zeitraumes von 1 bis zu 5 Jahren nach sich (§ 10). Die Strafe der persön-
lichen Beleidigung des Fürsten durch Wort, Schrift u. dgl. ist dunkler Kerker
von 2 — 5 Jahren (§ 7). Geschieht die Beleidigung in Abwesenheit des Fürsten
auf öffentlichen Plätzen, in Versammlungen oder in Gegenwart mehrerer Per-
sonen, so unterliegen die Schuldigen der nämlichen Strafe (dunklem Kerker)
von 3 Monaten bis zu 2 Jahren; wird jedoch erwiesen, dass sich der Angeklagte
nicht im nüchternen Zustande befunden hat, so beträgt die Strafe 1 bis 6 Mo-
nate (§ 8). Für Verleumdung des Fürsten durch Wort oder Schrift ist die
Strafe des dunklen Kerkers von 3 Monaten bis zu 3 Jahren bestimmt (§ 9).
Das G. V. 17. Januar 1885, betr. die straf gerichtliche Verfolgung der
in den §§ 178, 179 Zusatz, 183, 197, 198 Zusatz, 200 Zusatz, 201 Zusatz,
206 Zusatz, 214 und 215 des ottomanischen StGB, vorgesehenen Verg., be-
stimmt, dass diese Verg. bloss auf Antrag des Beschädigten bezw. deren Eltern,
Vormünder und Ehegatten (wenn die Beschädigte eine verheiratete Frauens-
person ist) verfolgt werden können; das bereits begonnene Verfahren ist ein-
zusteDen, wenn sich der Beschädigte mit dem Angeklagten verglichen hat oder
wenn in den Fällen der §§ 198, 200 und 206 (Zusätze), der Angeklagte die
beschädigte Person heiratet. Eine Ausnahme findet jedoch statt, wenn in den
Fällen der §§ 197, 198, 200 und Zusatz zu 206 die beschädigte Frauensperson
verheiratet ist, in welchem Falle das bereits begonnene Verfahren nicht mehr
eingestellt werden kann.
Das dritte G., v. 11. Juli 1886, ist eine Ergänzung zu § 58 des otto-
nianischen StGB, und verfügt die Strafe des schweren Kerkers in Ketten von
mindestens 3 Jahren für den, der allein oder im Einverständnis mit anderen
Gewaltthätigkeiten oder gefährliche Drohungen gegen die Nationalversammlung,
deren Kommissionen oder Mitglieder in der Absicht unternimmt, dieselben
in der Ausübung ihrer Pflichten zu hindern oder ihre Immunität in irgend
welcher Art zu verletzen.
Als Ergänzung des, wie oben erwähnt, auch als bulgarisches StG. an-
zusehenden ottomanischen StGB, sind die Straf bestimmungen des Pressgesetzes
V. 16. Dezember 1886 und das G. über die Verbr. und Verg. gegen die Sicher-
heit der Eisenbahnverbindungen v. 30. November 1889 zu betrachten. Hieran
reihen sich noch die Strafbestimmungen des bulgarischen Wahlgesetzes v.
8. Januar 1890.
Das bulgarische Pressgesetz ist dem französischen Recht entnommen,
daher sind auch die Straf bestimmun gen diesem gemäss. Für die schwereren
*) Die Anlegung der Ketten ist selten. Neue Gefängnis-Odg. in Vorbereitung.
334 l^ie Balkanstaaten. — Bulgarien.
Press vergehen (gegen den Staat oder gegen die Gewalt und Unverletzliehkeit
des Fürsten) sind Kerkerstrafen von 1 — 5 Jahren vorgesehen; für die minder
schweren (Aufreizung zur Begehung von Verbr. und zur Beleidigung oder
Verleumdung des Fürsten) sind ähnliche Strafen von 3 Monaten bis zu 3 Jahren
bestimmt. Für Verbreitung lügenhafter Gerüchte ist bloss eine Geldstrafe von
10 — 300 Frcs. bestimmt; für Ehrenbeleidigung und Verleumdung privater
Personen aber werden Geldstrafen von 1 — 1000 Frcs., zugleich mit Kerker-
strafen von 15 Tagen bis 1 Jahr angewendet. In allen übrigen Fällen ist das
Minimum der Kerkerstrafe 1 Monat, das Maximum 2 Jahre.
Eine zweite Ergänzung zum StG. ist das oben erwähnte G. über die
Verbr. und Verg. gegen die Sicherheit der Eisenbahnverbindungen. Dieses
umfasst bloss drei Paragraphen, deren zwei ersteren die eigentlichen Verbr. und
Verg. gegen die Sicherheit der Eisenbahnverbindungen enthalten und dem
deutschen StGB, entnonmien sind. Die Strafen sind im schwersten Falle, wenn
infolge absichtlicher Zerstörung der Schienen der Zug entgleist und dadurch
Menschenleben zum Opfer gefallen sind, Tod durch den Strang; wenn nur
körperliche Verletzungen vorgekommen sind, schwerer Kerker (in Ketten) von
mindestens 10 Jahren; in den übrigen Fällen schwerer Kerker bis zu 10 Jahren.
— In den leichteren Fällen, wenn bloss eine Gefahr für das Leben der im
Zuge befindlichen Personen herbeigeführt wurde, sind Kerkerstrafen bis zu
2 oder 1 Jahre vorgesehen, je nachdem infolge des Unfalles jemand sein
Leben verloren hat oder nicht. — Endlich beruft sich das genannte G. bezüg-
lich des Angriffes und Widerstandes gegen das Eisenbahnpersonal auf die Vor-
schriften der §§ 113—114 des ottomanischen StGB. (Geldstrafe von 1— 3 Gold-
medschidschije und Arreststrafen von 1 Woche bis 1 Monat und 6 Monaten bis
2 Jahren, je nach der Kategorie der strafbaren Handlung).
Endlich ist zur Vervollständigung der Übersicht noch jener Strafbestim-
mungen Erwähnung zu thun, welche in dem bulgarischen Wahlgesetze und in
den Finanzgesetzen vorgesehen sind.
Die Straf bestimmungen des Wahlgesetzes umfassen 24 Paragraphen (§§ 72 bis
96). Sie zerfallen in vier Kategorieen, nämlich: a) in kumulativ zu bemessende
Strafen, d. h. Arrest und Geldstrafe, und zwar Arrest von 1 Monat bis zu 5 Jahren
und Geldstrafe von 100 bis zu 5000 Frcs. (in 13 Fällen); b) in- alternative, u. z.
Arrest oder Geldstrafen und zwar Arrest von 1 Woche bis 1 Jahr oder Geld-
strafe von 100 bis 1000 Frcs. (in fünf Fällen) ; c) in einfache Arreststrafen von
15 Tagen bis 3 Jahren (in drei Fällen) und d) in einfache Geldstrafen von 50 bis
600 Ffcs. (in zwei Fällen). In einem Falle, und zwar, wenn ein Staats- oder
Gemeindebeamter die ihm vom Wahlgesetze auferlegten Pflichten zu erfüllen
sich weigert, verfügt das G. (§ 72) ausser der alternativen Geldstrafe von
100 bis 1000 Frcs. oder Arrest von 2 Monaten bis 1 Jahr, auch Amts verlost
für 3 Jahre. — Ebenso bestimmt das G. (§93), dass, wenn die nach §§86
und 90 (fälschliche Eintragung in die Wählerliste und unbefugte Requirierung
der bewaffneten Macht) Schuldigen Staats- oder Gemeindebeamte oder Mit-
glieder des Wahlbureaus sind, die Strafe zu verdoppeln sei. Endlich sind alle
diese Wahlvergehen von Amtswegen oder auf Anzeige des Wahlbureaus oder
eines Wählers zu verfolgen, verjähren aber, wenn innerhalb eines Monates,
vom Wahltage gerechnet, keine Anzeige erfolgt (§ 95).
Zum Schlüsse sind noch die Strafbestimmungen der Finanzgesetze zu
erwähnen. Hierher gehören: das Zollgesetz, das PAtent-(Einkommen8teuer-)
Gesetz, das G. über Mass und Gewicht, das Forstgesetz, das Stempelgesetz,
das Tabakgesetz und das Bergwerksgesetz.
Die Straf bestimmungen des Zollgesetzes v. 8. Januar 1885 (§§ 242 — 253)
beziehen sich auf die Fälle des Zollschmuggels (Konterbande), insofern sie
§ 2. Nachtrags- und Ergänzungsgesetze. 335
nicht unter das allgemeine StG. gehören. Die Strafe des Schmuggels solcher
Gegenstände, welche zollfrei sind, ist der Höhe des Zolles gleich, welcher
zu entrichten wäre, wenn der betreffende Gegenstand nicht zollfrei wäre. In
allen anderen unter das Zollgesetz gehörigen Fällen einfacher Konterbande ist
die Strafe: Arrest von 5 Tagen bis 1 Monat, wenn der Schmuggel von nicht
mehr als 3 Personen ausgeführt wiu*de; waren mehr als 3 Personen zu einer
Schmugglerbande vereint, so ist die Strafe Arrest von 1 Monat bis zu 1 Jahr.
Die geschnmggelte Ware wird konfisziert. Sowohl die unmittelbaren, als auch
die mittelbaren Teilnehmer unterliegen der nämlichen Strafe. — Die Ver-
folgimg dieser Übertretungen verjährt in einem Jahre.
Für Übertretungen des Patent- (Einkommensteuer-) G. v. 31. Januar 1885,
bestimmt das G. eine Geldstrafe in der Höhe des Betrages, welcher von dem
nicht gehörig oder nicht rechtzeitig angemeldeten Gewerbe, Handel bezw.
Einkommen zu entrichten gewesen wäre.
Ebenso bestimmt auch das G. über die Masse und Gewichte v. 18. De-
zember 1888 (§§ 45 — 50) für Übertretungen des G., nebst Konfiskation der
unrichtigen Masszeichen, Geldstrafen von 1 bis 150 Frcs. und im Nicht-
einbringungsfalle (§ 6 des G. für Übertretungen) Arrest von 3 Tagen bis zu
3 Monaten. — Bei Wiederholung der Übertretung wird die Strafe verdoppelt.
Das Forstgesetz v. 16. Dezember 1889 (§§ 44 — 55) bestimmt für Über-
tretungen dieses G. Geldstrafen von 5 bis zu 500 Frcs. Die Verfolgung ver-
jährt in 6 Monaten.
Ebenso sind auch im Tabakgesetze v. 15. Dezember 1890 (§§55 — 75) für
Übertretungen des G. (Verheimlichung von Tabakmengen bei der behörd-
lichen Aufnahme wegen der Tabaksteuer; Fabrikation, Kauf und Verkauf von
Tabak ohne behördliche Erlaubnis, heimliche Tabakpflanzung usw.) Geldstrafen
von 5 bis zu 500 Frcs. und ausserdem in den meisten Fällen Bezahlung des
einfachen, doppelten oder dreifachen Wertes der Banderoigebühr und Kon-
fiskation des Tabaks und der Rchneidinstrumente vorgesehen. Bei Nichtein-
bringlichkeit der Geldstrafe wird entsprechende Arreststrafe angewendet, diese
darf jedoch die Dauer von 6 Monaten nicht tibersteigen (§81).
Die Strafbestimmungen des Stempelgesetzes v. 15. Dezember 1890 (§§ 34
bis 43) zerfallen in fünf Kategorieen: a) einfache Geldstrafen von 5 bis
100 Frcs. (Fälle der NichtVernichtung der Stempelmarken durch Beamte oder
Privatpersonen); b) Prozentualstrafen zu 3^/^ oder 10^/q (bei stempellosen Do-
kumenten oder wenn nicht hinreichende Stempelmarken verwendet worden
sind, ebenso wenn ungestempelte Lose verkauft werden) ; c) multiplizierte Geld-
strafen, das Dreifache des entfallenden Stempels (wenn behördliche Personen
Dokumente oder Eingaben ohne Stempel annehmen oder ausfertigen); d) alter-
native Androhung von Arrest (1 Woche bis zu 6 Monaten) oder Geldstrafe (25
bis 1000 Frcs.), bei Verkauf gebrauchter Stempelmarken und Benutzung solcher
Marken; und e) schwere Kerkerstrafe in Ketten von 3 bis zu 15 Jahren für
Fälschung von Stempelmarken und Stempelbogen.
Endlich bestimmt das Bergwerksgesetz v. 15. Dezember 1891 (§§ 68 — 70)
Geldstrafen von 20—300 Frcs.
1
2. Griechenland.
§ 1. Das StOB. T. 1834.
Vor dem Jahre 1821, als Oriechenland sich noch unter dem türkischen
Joch befand, übten die türkischen Oerichte die Strafgewalt, indem sie den
türkischen Strafkodex zur Anwendung brachten. Auch die griechische Kirche
benützte manchmal ihre Macht zur Bestrafung von Verg., die sie nach den
Bestimmungen der byzantinischen Kaiser oder nach dem in den verschiedenen
Orten geltenden Gewohnheitsrechte verfolgte. Die gewöhnlichen Strafen waren
Verbannung, Geldentschädigungen, der Bann.^)
Nachdem aber Griechenland seinen Freiheitskrieg gegen die Türken er-
klärt hatte, wurde sofort ein eigenes StGB, notwendig, zumal da das Land
sich in einer sehr unruhigen Lage befand.
Am 1. April 1823 wurde von der in Astros II. einberufenen National-
versammlung eine aus neun Personen bestehende Kommission ernannt, welche
ein aus 82 Artikeln bestehendes StG. unter dem Titel: ,*A7idr^kOfÄa xtav kyxkri-
fÄaxix(bv xfjq devregag xwv *EXkr\v(ov E'&vixfjg 2vveksvoe(o^* abfasste.^) Dasselbe
wurde im J. 1824, unter der Präsidentschaft von Georg Kunduriotis ver-
öffentlicht.
Das ganze G. war, wie es auch bei den damaligen Verhältnissen im
Lande nicht anders möglich war, gänzlich misslungen. Die politischen Zu-
stände waren keineswegs geordnete, die wissenschaftlichen Kenntnisse waren
zur Verfassung eines solchen Werkes unzureichend, und überdies drängte alles
der unsicheren und aufgeregten Stimmung halber nach einem StGB. Obwohl
die Kommission den französischen Code p^nal als Vorbild gehabt hatte, hat
sie doch den allgemeinen Teil und viele bedeutende Strafbestimmungen weg-
gelassen; und so fühlte sich G. v. Maurer zu der so treffenden Äusserung ver-
anlasst: „Das Ganze ist ein wahres Meisterstück im negativen Sinn."^)
Ein solches StG. konnte natürlich keinen langen Bestand haben. Schon
Johann Kapodistria, Präsident des neuen griechischen Staates, hatte den Ent-
schluss gefasst,^) ein neues StGB, abfassen zu lassen. Leider aber hat der
frühe Tod des berühmten und hochbegabten Staatsmannes und Patrioten diesen
Plan vereitelt.
In diesem Zustande befand sich die StGgebung an dem Tage, als der
junge König Otto und die Regentschaft aus Bayern nach Griechenland kamen.
*) K. N. Kcoajrj. 'Eg/irfveia tov kv 'EXkadi laxvovrog Iloivtxov N6/iov. Tofiog A! — fi<V 1.
2. ixdoaig Bf 1892.
^) Mdfxovxa. Ta xaxa xrjv 'Ävayewrioiv tfjg 'EXXdSog. TofÄog B! 2eXig 32, 81, 83. Toftog I!
ZsXlg 73, 81.
'^) Georg Ludw. v. Maurer. Das griechische Volk. Erster Bd. § 227.
*) Mdfiovxa. Ta xaia x^v 'Avayswtjoiv xyg 'EXXdöog. Touog JA! 2eXig 511.
§ 2. Neuere Strafgesetze. 337
Das StGB. V. J. 1824, zwei neue von Kapodistria erlassene G.,') ferner einige
strenge von der Kegentschaft durch Dekret vom 9./ 21. Februar 1833 zur
Wahrung der öffentlichen Sicherheit provisorisch festgesetzte Strafdrohungen,
bildeten in jenen Tagen die griechische StGgebung.')
Endlich am 18./30. Dezember 1833 wurde das heute noch geltende StG.,^)
durch welches alle bis dahin bestehenden BtG. abgeschafft waren, von der
Regentschaft best&tigt. Am 10. Januar 1834 wurde der Text in griechischer
und deutscher Sprache als Beilage in No. 3 des Regierungsblattes vom 10. Ja-
nuar 1834 veröffentlicht und trat am 19. April/ 1. Mai in Elraft.
Das StG. wurde besonders auf Grund des bayrischen StGB, von 1813
imd der bayrischen Entw. von 1822, 1827 und 1831 ausgearbeitet.^)
Georg V. Maurer sagt in seinem Werke „Das griechische Volk" : „Eine
Hauptrücksicht bei Entwerfung dieses StGB, war grösstmögliche Milde und
Vollständigkeit. Und ich glaube nicht zu irren, wenn ich das griechische
StGB, für das vollständigste und mildeste unter allen bis jetzt vorhandenen
StGgebungen erkläre."
Das G. zerfällt in drei Bücher. Das erste behandelt die allgemeinen
Bestimmungen, das zweite die Verbr. und Verg. und das dritte die Polizei-
übertretungen.
Verfasser dieses StG. ist hauptsächlich Georg v. Maurer, Mitglied der
Regentschaft. Überhaupt hat der durch und durch gelehrte Mann und be-
geisterte Philhellene den Grundstein zu der Gesetzgebung Griechenlands ge-
legt. Das neue Griechenland wird Jahrhunderte hindurch sein Andenken
dankbar zu bewahren wissen!
§ 2. Neuere Strafgesetze.
Vdg. vom 10. Juli 1836 betr. den Waldfrevel. G. vom 23. November
1837 über die Beleidigung im allgemeinen und über die Presse. G. vom 1. März
1841 betr. das Verbot des Sklavenhandels. G. vom 30. März 1845 über Un-
treue des Schiffers und Seeraub. G. vom 9. Juni 1848 betr. die Entwendung
und Tötung von Tieren. Auch G. vom 27. April 1867. G. vom 27. Juni
1850 betr. Änderungen des G. über die Beleidigung. G. vom 19. Mai 1860
über die Militärstrafgesetzgebung. G. vom 5. August 1861 über die Marine-
strafgesetzgebung. G. vom 10. August 1861 betr. die Inbrandsteckung der
Wälder. Dekret vom 31. Oktober 1862 über die Abschaffung des bürgerlichen
Todes. G. vom 4. Juni 1882 betr. das Verbot der Fischerei unter Anwendung
von Dynamit. G. vom 12. April 1883 betr. die strafbaren Handlungen gegen
die Sicherheit der Eisenbahnen. G. vom 5. April 1884 betr. die Sicherheit
und Polizeiaufsicht der Eisenbahnen. G. von 1885 betr. die strafbaren Hand-
lungen gegen die Sicherheit der unterseeischen Telegraphenkabcl. G. vom
28. Mai 1887 betr. Veränderungen der Militärstrafgesetzgebung.
Alle diese G. sind in die beste und gebräuchlichste Ausgabe der griechi-
schen Gesetzgebung mit der Rechtsprechung des Areopags (Kassationsgerichtes)
von Th. N. Phlogaitis in Athen aufgenommen. (Ol Atxaorixol No/uoi r7]g'EU.ddog
juetä Ttjg ax€tixfjg Nofiokoyiag xoX 'Ageiov Ildyov. !Ev Ad'Yivaig.)
*) Über die Falschmünzer (17. 29. Februar 1830) und ein Pressgesetz (14./26.
April 1831).
«) G. v. Maurer. Das griechische Volk. Bd. 2 S. 80.
») Art. 705—707.^
*) K. N. Küxnfj. 'Eginijveia tov h 'EXXddi hxvovrog Iloivtxov Nofiov, Tofi» A! 2sX. 5 — 7,
Stnfgesetzg^ebung der Gegenwart. I 22
338 l^ie Balkanstaaten. — Griechenland.
§ 3, Litteratur des ^iechlschen 8tR.
A, K. Mtxa^d, Zvartj^ia lov Uoivixov Aixalov. Tofiog A\ 1867. Tofiog B\ l^SöS. Ev
'A^cug. (A. K. Metaxa. System des StR. Bd. I, 1867, Bd. II, 1868. Athen.) — N. I.
ZoQuioXov 2vaTTjfm tfjg h 'EXXddt laxvovarig JUotvixrjg Nofio^eaCag. Tofiog AI 1868. Tofiog B!
1868. Tofiog n 1870. Ev A^vaig, (N. I. Saripolos. System der in Griechenland gelten-
den StGgebun^. Bd. I, 1868, Bd. II, 1868, Bd. III, 1870. Athen.) — N, F. KagatCd, Ai-
xaoTixfj TiQoxuxij hti rfjg noivixfjg Aixovo/Uag xai tov noivixov No/aov t^g *EXka6og, Met' kjii-
^ecoQijaecog x^g noivixrjg NofAoXoylag. — Tofiog AsvrsQog = Uoivixog Ndfiog. A:&fjvai, 1870. (N. G.
Karatza. Gerichtlich praktische Anwendung des Strafverfahrens und des StGB.
Mit Berücksichtigung der Rechtssprechung des Kassationsgerichtes in Strafsachen. —
Bd. II. Das StGB. Athen. 1870.) [Für ausübende Juristen nützlich.] — K. N. Ktoarrj.
'Egfirfveia tov svEXldSi iaxvovxog üoivixov Nofiov. Tofiog A! exöooig B! 1892. Tofiog B! 1877.
Tofiog n 1879. Ev 'A^vaig. (C. N. Kosti. Erläuterungen des in Griechenland gelten-
den StR. Bd. I, Aufl. 2, 1892. Bd. II, 1877. Bd. III, 1879. In Athen.) Wohl das beste
der bis jetzt erschienenen Handbücher.
Von strafrechtlichen Monographieen sind zu nennen: A. Papadiamantopxilos,
Ilegl vjioTQOJt^g (über den Rückfall) 1881. — Derselbe, 'O vjivcouafiog xai ^ Sixcuoavvrj (über
Hypnotismus) 1891. — St. Valvis, üegi xaxaXoyiafwv xfjg Ttga^ecog t^g Hetf-^igag h tfj aixia
(actiones liberae in causa) 1890. — Norres, üegl avQQotjg ddixtjfidjo>v (Verbrechenskon-
kurrenz). — Iliopolos, IleQi dbixYifiaxog xcu notvfjg (Verbr. und Strafe) 1890. —
Sammlungen von strafrechtlichen Entscheidungen enthalten die Zeit-
schriften : 'H 'Etprjfjisgig xfjg 'EU.rjvixijg xcu FaXlixtlg NoftoXoylag : ixoido/iiyij vjto 2, K. Mxala-
vov, AtxrjYOQov. T6/iog lA! Ev 'Adifycug. (Zeitschrift über die griechische und fran-
zösische Rechtsprechung. Herausgegeben vom Advokaten S. K. Balano. Bd. XI. In
Athen.) — 'H ßifiig: ixdidofiivri vno xwv dSeX<p(bv S, xai II, AyyeXonovXcov *A&avdx(ov, Aixtf-
yoQcov. Tofiog F! Ev 'A^vaig. (Themis: Herausgegeben von den Brüdern Th. und P.
Angelopulos Athanatos, Advokaten. Bd. III. In Athen.) — 'H Nia ßifitgi ixdid, imo
Tq, Mavxaqpovvrj, Aixrfyoßov. Tofwg lA! Ev 'A^rfvaig, [Neue Themis, herausgegeben von
Tr. Mantaphuni, Advokat. Bd. XI. In Athen.] — Die amtliche Ausgabe der Straf-
rechtsprechung des Kassationsgerichtes.
3. Montenegro.
§ 1. litteratnr.
Popovic, Recht und Gericht in Montenegro, Agram 1877. Gopcevic, Montene-
gi-o und die Montenegriner, Leipzig 1877, S. 67 -74, 82, 104. Dareste, iltudes d'histoire
du droit, Paris 1889. Über Blutrache: Demeliö, Le droit coutumier des Slaves m6ri-
dionaux d'apr^s les recherches de M. Bogisiö (Collectio consuetudinum juris apud
Slavos meridionales etiam nunc vigentium, in serbischer Sprache; Agram 1874),
Paris 1876, S. 150 ff. Kohler, Shakespeare vor dem Forum der Jurisprudenz, 1883,
S. 135 ff. Miklosich, Die Blutrache bei den Slaven, Wien 1887. Milenko R.Wesnitsch,
Die Blutrache bei den Südslaven, Zeitschr. für vergleichende Rechtswissenschaft Bd. 8
S. 433 ff., besonders S. 463 ff., B. 9 S. 46 ff. Für die Älbanesen kommt noch in Betracht:
Gopceviö in Petermanns Mitteilungen Bd. 26 S. 407, 416; derselbe, Oberalbanien und
seine Liga S. 322 ff.
§ 2. OescUchtUches.
Im Volksbewusstsein der Äontenegriner ist die Blutrache erhalten und
wird noch geübt; es ist dies begreiflich bei einem von Unabhängigkeitssinn
und stark entwickeltem Pflichtbewusstsein belebten, in allen Lebensauffassungen
äusserst konservativen, alten, ritterlichen, erst seit einem Menschenalter in euro-
päische Kultur eintretenden Gebirgsvolke mit vollständig erhaltener Geschlechter-
verfassung. Es findet aber Blutsühne statt; Blutpreis wird von einigen Stämmen,
vom Standpunkte der Entschädigung für eine entzogene Arbeitskraft, ange-
nommen. — Quelle des StR.: das erste G. ist von Wladika Peter I. , 1796
(16 Art.), 1803 (17 Art.); diese 33 Art., Zakonik (= Gesetzbuch) genannt, han-
deln von folgenden Verbr.: Verrat, Tötung, Körperverletzung, Störung der
öffentlichen Ruhe, Beamtenbeleidigung, Sachbeschädigung, Entführung, Miss-
brauch der Amtsgewalt, Bestechung, Diebstahl und Raub, Begünstigung. —
1855 hat Fürst Danüo I. ein neues GB. (95 Art.) veröffentlicht (in deutscher
Übersetzung bei Manz in Wien, 1859, — in französischer in Delarue, Le Mon-
tenegro, Paris, 1862). Auch dieses G. enthält fast nur StR.; einige Bestim-
mungen aber sind nie zur Anwendung gekommen, fast alle anderen sind durch
das Gewohnheitsrecht abgeändert bezw. beseitigt worden. Das Gewohnheits-
recht gilt noch heute als die dem G. gleichberechtigte Quelle und beherrscht
die Rechtsbildung. Es ist der Mangel des sonst vortrefflichen Buches von
Popovic, dass es dasG. v. 1855 als geltendes Recht darstellt ; vgl. Dickel, Über
das neue bürgerliche GB. für Montenegro, Marburg (Hessen) 1889, ins Fran-
zösische übersetzt von J. Brissaud, Paris 1891, mit Anmerkungen des Über-
22*
340 Die Balkanstaaten. — Montenegro.
Setzers über Litterator und Blutrache. Das Recht Montenegros ist urwüchsig
und national; die Einführung der Freiheitsstrafe ist erst allmählich gelungen,
die Durchführung der Prügelstrafe bei Diebstahl erst seit 1855 (noch 1845
scheiterte der Versuch). Das neue GB. v. 1888, verfasst von V. Bogisic, ent-
hält nur Vermögensrecht. Von neueren 6. kommt für StR. in Betracht das
dem österreichischen Recht nachgebildete G. über Post- und Telegraphen wesen.
Inwieweit etwa die Zirkular-Instruktionen, welche zeitweise vom Senate an die
Gerichte gesendet wurden, strafrechtliche Bestinmiungen , enthalten, ist nicht
bekannt.
§ 3. Die allgemeinen Lehren.^)
1. In der serbischen Volkssprache giebt es keine Bezeichnung für „Straf-
that" ; es findet sich nur der Gattungsbegriff zlodjin = Cbelthat. Man unter-
scheidet schwere und leichte. — 2. Die StG. gelten seit Erstarkung der Central-
gewalt unter Danilo I. für alle Staatsbürger, Montenegriner, Türken, Albanesen:
auch für Ausländer während ihres Aufenthalts in Montenegro. — Für die im
Auslande begangenen Straf thaten wird nur der Montenegriner (und zwar nur
nach montenegrinischem Recht) bestraft (§§ 24 — 26). Der in Montenegro
Schutz suchende Ausländer ist nach dem Gelöbnis des heiligen Peter frei (§ 91).
— 3. Strafarten: a) Das G. nennt folgende Hauptstrafen: Todesstrafe, meist
vollstreckt durch Pulver und Blei, bei entehrenden Verbr. durch den Strang;
Frauen wurden früher gesteinigt (so noch in diesem Jahrhundert bei Keusch-
heitsfehlem, hier warfen die eigenen Eltern die ersten Steine); jetzt tritt bei
Frauen lebenslängliche Freiheitsstrafe an Stelle der Todesstrafe. Freiheits-
strafe (ohne Zwangsarbeit), zeitig (Höchst- und Mindestbetrag gesetzlich nicht
festgesetzt) und lebenslänglich; bei letzterer tritt nach 10 bis 15 Jahren meist
Begnadigung ein. Gef. sind in Cetinje und Germozur. Dort gilt die Strafe
als leichter, hier als schwerer; die in Cetinje Eingeschlossenen arbeiten meist,
z. B. bei Strassenbauten , als Boten, und erhalten dann einen geringen Lohn;
es kann Verschärfung der Freiheitsstrafe bei „Wasser und Brot" eintreten.
Ehrloserklärung als Strafe für gewissenlose Richter (neben der Amtsentsetzung)
und für Feigheit vor dem Feinde. Landesverweisung für Bigamie, Entführung
(§ 69), die fliehende Ehebrecherin (§ 72). WaflFenabnahme bei Feigheit (§ 18).
Geldstrafe ist die häufigste Strafart (früher erhielt der Richter einen Teil, jetzt
fliesst sie vollständig in die öfl'entliche Kasse ) ; wird die Strafsumme (auch von
Familie und Brastvo) nicht bezahlt, so tritt Freiheitsstrafe ein. Prügelstrafe
nur bei Diebstahl (diese Strafart hat bewirkt, dass Diebstahl fast gamicht mehr
vorkommt). — b) Nebenstrafen: Amtsentsetzung (§§ 7, 8, 12); Einziehung des
Vermögens mid einzelner Vermögensstücke, auch im sogenannten objektiven
Strafverfahren (§§ 9, 28, 69); Verbot der Wiederverheiratung (§ 77, Diebstahl
der Frau gegen den Mann im zweiten Rückfalle).
4. Als Strafschärfungsgrund kommt der Rückfall vor. — 5. Über den
Versuch giebt es keine geschriebenen Regeln, er wird meist bestraft und zwar
milder als die vollendete That. — 6. Der Gehülfe wird milder bestraft als
der Thäter. Scharfe Unterscheidungen sind nicht gegeben. — Der Anstifter
wird bestraft je nach Schwere der That, zu der er anstiftete, und nach dem
Masse seines Einflusses. — 7. Strafausschliessungsgründe : Notwehr ist erlaubt,
Überschreitung derselben wird milde bestraft. Wer ein Delikt in der Trunken-
heit verübt , soll nach § 93 mit der Hälfte der angedrohten Strafe belegt
*) Die im folgenden ohne Zusatz angeführten Paragraphen sind Bestimmungen
des G. V. 18V).
§ 4. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 341
werden, es sei denn, dass er aus Hass handelte. (Trunkenbolde kommen nicht
vor; sie würden der allgemeinen Verachtung anheimfallen.) Einfluss des
Alters: Man setzt bei der Bestrafung überall die erforderliche Einsicht voraus
und nimmt an, dass sich dieselbe erst mit dem 15. bis 17. Lebensjahr ent-
wickelt. Der jugendliche Thäter wird, wenn er verurteilt wird, stets milder
behandelt. Erziehungs- und Besserungsanstalten giebt es nicht. Geisteskranke
kommen fast gamicht vor. — 8. Eine Norm über Verjährung der Verfolgung
und Vollstreckung fehlt, so viel bekannt ist.
§ 4. Die einzelnen strafbaren Handinngen.
1. Hochverrat. Wer die Person oder die Würde des Fürsten verletzen
sollte, wird wie ein Mörder bestraft (Art. 3, 4). 2. Landesverrat. Wer sich
mit dem Feinde zu einem Montenegro schädlichen Untemebmen verabredet,
ferner der Wojwode, welcher bei einer dem Lande drohenden Gefahr nicht
sofort seine Leute zu den Waffen ruft, wird mit dem Tode bestraft (Alt. 16, 19).
3. Aufruhr. Der Eädelsführer wird, wenn Blutvergiessen aus dem Aufruhr
entsteht, mit dem Tode bestraft, sonst wie die Teilnehmer des Aufruhrs mit
Geldstrafe (Art. 16, 94). 4. Tötung, a) Vorsätzliche: ist mit dem Tode be-
droht (Art. 27), auch die Kindestötung (Art. 74). (Wenn ein Montenegriner
mit dem Fusse gestossen oder mit dem Pfeifenrohre geschlagen und dadurch
verwundet wird, im Zorne darüber den Thäter sofort innerhalb der ersten
Stunde tötet, so bleibt er straflos, Art. 34, 35). — b) Bei fahrlässiger Tötung
soll der Streit möglichst friedlich beigelegt werden (Art. 37). 5. Körperverletzung.
h) Vorsätzliche: bei Verwundung mit Schiessgewehr oder Messer ist Freiheits-
strafe oder Geldstrafe zu verhängen; hat der Thäter die Verwundung mit
Waffe oder Stock verübt, um da als Held zu gelten, wo keine Notwendigkeit
einer Heldenthat besteht, so ist die Geldstrafe zu verdoppeln ; wird Hand oder
Fuss verstümmelt, so beträgt die Geldstrafe 100 Thaler, wird der Kopf ver-
letzt oder ein Auge ausgeschlagen, 60 Thaler; Verwundung durch Stossen
mit dem Fusse oder Schlagen mit dem Pfeifenrohr ist mit 50 Dukaten bedroht
(Art. 31 — 34). b) Fahrlässige: Verstümmelung eines Fusses oder einer Hand
(50 Thaler), Verletzung des Kopfes oder eines Auges (30 Thaler) (Art. 33).
H. Beleidigung, a) üble Nachrede: Wenn der Thäter nicht den Beweis der
Wahrheit führt, so ist er mit der Strafe zu belegen, welche den Verletzten
getroffen hätte, wenn er schuldig befunden worden wäre (Art. 87). b) Bei
Beamtenbeleidigung tritt Geldstrafe ein (Art. 14: 10 Thaler; bei Beleidigung
eines Beamten gegen einen Montenegriner 20 Thaler, Art. 15). 7, Zweikampf
war nach Art. 40 erlaubt ohne Sekundanten. Wer sekundiert, zahlt 100 Thaler
Geldstrafe ; jetzt ist der Zweikampf mit arbiträrer Strafe bedroht. 8. Ehebruch
ist mit Geldstrafe von 130 Thaler und Gef. bis 6 Monaten bei Wasser und
Brot bedroht (Art. 71). 9, Bei Diebstahl tritt Prügelstrafe ein (Diebstahl an
Waffen: 100, an Pferden, Füllen, Rindern, Bienenkörben: 50, bei anderen
Sachen: 20 Stockstreiche). Nach Art. 78 soll beim dritten Falle Todesstrafe
eintreten. Diebstahl der Frau gegen den Mann wird in den beiden ersten
Fällen mit Freiheitsstrafe, im dritten Falle mit körperlicher Züchtigung und
Ehescheidung bestraft. — Bei Diebstahl an den dem Gottesdienste gewidmeten
Sachen und an Landesmunition tritt Todesstrafe ein. — Der auf frischer That
ertappte Dieb darf erschossen werden; wer aber einen Unschuldigen tötet, ist
als Mörder verantwortlich (Art. 77 — 82). 10. Sachbeschädigung, a) Vorsätz-
liche Brandstiftung: Todesstrafe (Art. 41); b) wer vorsätzlich ein fremdes Tier
tötet, wer Feldfrüchte oder Heu in Weinbergen oder Gärten, wer Gebäude
oder Pflanzschulen oder irgend eine Sache beschädigt, muss 10 Thaler bezahlen
342 ^^ Balkanstaaien- — Montenegro.
(Alt, 42, 83». IL Begünstigimg. Widerstand gegen die Staatsgewalt. Land-
friedensbnieh. Der Begünstiger wird mit der Strafe belegt, mit welcher die
That des Begünstigten bedroht ist, der Begünstiger des Mörders also mit der
Todesstrafe. Wer zum Zweck der Begünstigung gegen einen Beamten zn den
Waffen greift, darf auf der Stelle erschossen werden. — Als Begünstiger wird
anch derjenige behandelt, welcher einen Verräter oder einen Mörder nicht an-
zeigt oder nicht verfolgt oder nicht festnimmt, wenn er dazu in der Lage ist
CArt. 20 — 22, 17, 29 •. 12. Verbr. im Amte, a) Vorsätzliche Rechtsbengong
eines Richters: Amt»entsetznng, lebenslänglicher Ehrrerlnst nnd Geldstrafe:
h) bei Bestechimg dieselbe Strafe: c) wer Unrohe nnd Uneinigkeit anter den
Richtern stiftet, wird seines Amtes entsetzt; ebenso derjenige, welcher ungehorsam
imd in Erfüllung seiner Amtspflichten nachlässig ist: d» wer Straf- oder Steuer-
gelder unterschlägt, wird entsetzt und muss den fünffachen Betrag der unter-
schlagenen Summe als Strafe bezahlen < Art. 7, 8, 12, 63, 66). 13. Bestechimg.
Wer in einer Prozesssache einem Richter ein Geschenk giebt oder verspricht,
ist in dem Prozesse ohne weiteres für sachfäUig zu erklären nnd wird für
jeden angebotenen oder gegebenen Dukaten mit 1 Woche Cef. bestraft; das
Geschenk wird eingezogen (Art. 9). 14. Frauenraub, Entführung und Kindes-
raub sind im Art. 69 mit Landesverweisung und Gütereinziehung bedroht. —
1^. Die im 6B. Danilos unter Strafe gestellten Unsitten (Abschneiden des
Haares und Zerkratzen des Gesichts zum Zeichen der Traner, übermässiges
Feiern, Erscheinen vor Gericht mit einem Steine am Halse) kommen nicht
mehr vor. Überhaupt konmien fast nur Körperverletzung und Totschlag beim
Streit im Zorne vor.
4. ßmnänien.
§ 1. eescUchOlcher Überblick.
Das Jahr des Erlasses des gegenwärtig in Rumänien geltenden StGB. —
1864 — bezeichnet zugleich den Eintritt eines für die politische Entwicklung
des Landes ausserordentlich wichtigen Ereignisses.
In diesem Jahre erfolgte nämlich, dank der einseitigen Initiative des
Fürsten Cusa, die Abänderung der von den Signatarmächten des Pariser Ver-
trages auf Grund der Vereinbarung vom 19. August 1858 eingeführten Re-
präsentativ-Verfassung durch ein autonomes Statut.
Obgleich dieser autonome Akt noch in demselben Jahre vom Lande
durch ein Plebiscit bestätigt wurde, hat er in der rumänischen Geschichte die
Bezeichnung „Staatsstreich vom 2. Mai" behalten.
In dem Datum der Verkündigung des StGB, ist dessen Geschichte nahezu
vollständig enthalten. In dem Bestreben, sich vor dem rumänischen Volk und
dem gesamten Europa der übernommenen Verantwortung gewachsen zu zeigen,
hat die ßegierung des Fürsten Cusa es erreicht, noch in demselben Jahre
nicht nur zahlreiche wichtige wirtschaftliche Reformen durchzuführen, sondern
auch dem Lande eine vollständige Civil- und StGgebung zu geben.
Die so entstandene Gesetzgebung trägt die deutlichen Spuren der Über-
stürzung, mit welcher sie geschaflTen wurde. Es ist nicht zu verwundem, dass
der Staatsrat bei der Eile, mit der er die ihm aufgetragenen Arbeiten er-
ledigen musste, die geschichtliche Vergangenheit der rumänischen Gesetzgebung
geopfert und sich auf eine Kompilation der westeuropäischen Gesetzgebungen,
und zwar unter enger Anlehnung an die französischen Gesetzbücher, be-
schränkt hat.
Was die StGgebung anbetriflPt, so hat der Staatsrat zwar den französischen
Code p^nal als Grundlage genommen, für verschiedene Materien aber auch
das preussische StGB, benutzt. Das StGB, wurde unter dem 30. Oktober 1864
verkündet und hat 1874 einige unwesentliche Abänderungen erfahren, deren
Hauptbedeutung darin besteht, dass gewisse Handlungen, die früher, als Verbr.,
von den Schwurgerichten abgeurteilt wurden, in die Kategorie der Verg. ge-
setzt sind.
Eine Strafrechtslitteratur besitzt Rumänien bislang nicht; die erschienenen
Werke bestehen ausschliesslich in praktischen Kommentaren und Sammlungen
von Entsch. (Vgl. besonders: J. S. Condeescu, Das rumänische StGB., erklärt
und mit Anmerkungen versehen, Bukarest 1883, und Georg N. Fratostiteano,
Das StGB, mit der rumänischen Rechtsprechung in Anmerkungen, Bukarest
1891.) Diese Erscheinung darf wohl zum grössten Teil darauf zurückgeführt
werden, dass diejenigen, denen die Anwendung des StGB, obliegt, in der Lage
sind, die Litteratur der seine Quelle bildenden Gesetzgebungen unmittelbar
344 1^6 Balkanstaaten. — Ramäiiien.
zn benatzen, nnd daher ein dringendes Bedürfnis nach einer mmänischen
Speziallitterator bisher nicht fühlbar geworden ist.
§ 2. Allgememe tirnndzfige.
h Das allgemeine Bestreben des mmänischen Gesetzgebers geht auf
Milderung der Bestimmungen des französischen Code p^nal; der durchweg
strenge Zug des preussischen StGB., welches für die Ei^änzung verschiedener
Bestinmiungen des ersteren als Muster gedient hat, ist daher ohne Einflnss
geblieben. Diese Milde ei^ebt sich auf den ersten Blick aus der Aufzählung
der Strafen und wird durch die Abschaffung der Todesstrafe zur Genüge illu-
striert. Der Gesetzgeber hat den Versuch gewagt, die Sicherheit der Gesell-
schaft auch ohne diese Strafe aufrecht zu erhalten, und die Zahlenreihen der
Kriminalstatistik ergeben nicht, dass er misslungen ist. Der im ganzen gut-
artige Charakter der Bevölkerung hat zum Gelingen des Experiments zweifel-
los wesentlich beigetragen. Im Mil.-StGB. jedoch war die Todesstrafe nicht,
zu entbehren.
Das rumänische G. macht ferner keinen Gebrauch von der Deportation,
der Aufenthaltsbeschränkung und, im Anschluss an das französische G. von
1848, der öffentlichen Ausstellung der zu Zwangsarbeit oder Zuchthaus Ver-
urteilten. Die Schuldhaft (contrainte par corps) zur Beitreibung von Geld-
strafen oder Ersatzforderungen ist unzulässig; im Falle festgestellter Zahlungs-
unfähigkeit des Verurteilten wird die Geldstrafe in Gef. umgewandelt; für je
5 Francs wird ein Tag substituiert, die Höchstdauer der Freiheitsstrafe beträgt
ein Jahr. Eine Besonderheit des Strafensystems besteht darin, dass die Festungs-
haft in den Klöstern verbüsst wird; zur Zeit des Erlasses des G. waren näm-
lich Festungen nicht vorhanden, oder vielmehr richtiger die vorhandenen voll-
kommen verfallen. — Auf dem Grundsatz der Milde beruht auch die Ab-
schaffung der Stellung unter Polizeiaufsicht als Repressivmassregel (vgl. Art.
7—34).
t. Den gleichen Zug der Milde atmen die Bestimmungen über den Ver-
such. An Stelle des französischen Systems (gleiche Strafe für vereuchtes und
vollendetes Delikt) verwendet der Gesetzgeber hier, und zwar unter Ausdehnung
auf alle Fälle, eine Bestimmung, welche das preussische StGB, nur für die mit
Todesstrafe und lebenslänglicher Zwangsarbeit bedrohten Verbrechen kennt.
Die für das versuchte Delikt angedrohte Strafe ist nämlich um einen Grad
milder als die für das vollendete aufgestellte; im Falle des misslungenen De-
likts (delit manc|uej muss der Richter auf die geringste zulässige Strafe er-
kennen (Art. 38). Wie im französischen und preussischen Recht wird der
Versuch eines Verg. nur in den Fällen bestraft, in welchen das G. dieses aus-
drücklich bestimmt (Art. 39).
3. Für den Fall der Realkonkurrenz mehrerer Strafthaten weicht das
rumänische G., seiner allgemeinen Neigung entsprechend, von dem System des
preussischen StGB. (§§ 55 und 56) ab und befolgt die milderen Grundsätze
des französischen Rechts (Absorption der Strafen, Code d'instruction crim.
Art. 365). Demgemäss ist zu erkennen: die verwirkte schwerste Strafart im
Falle des Zusammentreffens von verschiedenartigen Delikten, die mit verschie-
denen Strafarten bedroht sind; die der Dauer nach schwerste verwirkte
Einzelstrafe, wenn gleichartige mid mit gleicher Strafart bedrohte Delikte kon-
kurrieren.
4. Bezüglich des Rückfalls unterscheidet das G., ob die neue Strafthat
begangen wird nach oder während der Verbüssung der für die frühere er-
kannten Strafe. Im ersteren Falle erhöht sich, wie im französischen Recht,
§ 2. Allgemeine Grund züge. 345
die Strafe nm einen Grad, oder es wird das Höchstmass der Strafe, eventuell
sogar der aufs doppelte erhöhten Strafe angedroht, je nachdem es sich handelt:
um zwei Verbr. (Art. 41), oder um ein Verbr. und ein Verg. (Art. 42), oder
endlich um zwei Verg. (Art. 43). Tritt der Rückfall während der Verbüssung
der eraten Strafe ein, so ist das Höchstmass der schwersten Strafe anzuwenden,
wenigstens dann, wenn die zweite Strafthat mit einer schwereren Strafe bedroht
ist als die erste. Ist jedoch das erste Delikt das mit der schwereren Strafe
bedrohte, so findet eine Absorption der Strafen statt mit der Massgabe, dass
derjenige Teil der zuletzt erkannten Strafe, welcher der Dauer nach die zuerst
erkannte übersteigt, mit dieser letzteren kumuliert wird (Art. 44). Der Rück-
fall bewirkt keine Strafschärfung, wenn er sich später als 10 Jahre nach Ver-
büssung der früheren Strafe ereignet (Art. 45).
5. Die dem französischen Code p^nal entlehnten Bestimmungen über
Teilnahme wurden 1874 durch Vorschriften vei-voUständigt, die dem belgischen
Recht entnommen sind und, wie wir sehen werden, mit den Bestrebungen des
rumänischen Gesetzgebers von 1864 in offenem Widerspruche stehen.
So fügt das G. auf Grund dieser Zusätze zu den in Art. 60 des franzö-
sischen Code p6nal aufgeführten Mitteln der Anstiftung (Geschenke, Versprechen,
Drohungen usw.) noch die dem belgischen Code p^nal (Art. 66 ff.) entnommenen
Mittel: öffentliche Reden, Plakate, Handlungen, Schriften, Drucksachen, Zeich-
nungen, Stiche, sinnbildliche Darstellungen usw. hinzu. Im Anschluss an das
belgische Recht straft der rumänische Gesetzgeber nicht nur den eigentlichen
Anstifter, imd zwar diesen gleich dem Thäter, sondern auch denjenigen, welcher
durch eines der soeben erwähnten Mittel erfolglos zur Begehung einer straf-
baren Handlung auffordert, und zwar mit Geldstrafe und Gef. von drei Mo-
naten bis zu zwei Jahren. Andererseits mildert das rumänische G., und zwar
wiederum im Anschluss an den belgischen Code p^nal, die Strafbestimmungen
für den Teilnehmer am Verbr.; derselbe wird nur dann gleich dem Haupt-
thäter gestraft, wenn ohne seine Mitwirkung das Delikt nicht hätte begangen
werden können (Art. 51); in allen anderen Fällen ist die Strafe des Gehülfen
einen Grad geringer als die des Hauptthäters, und zwar ist sie auszumessen
lediglich nach der Beschaffenheit der Handlung, zu welcher Beihülfe ge-
leistet ist, so jedoch, dass eine Verschärfung aus Gründen, welche ausser-
halb der Person oder der Thätigkeit des Gehülfen liegen, ausgeschlossen
ist (Art. 48.)
Dem Beispiele der von ihm benutzten ausländischen Quellen folgend be-
straft das rumänische StGB, als Teilnahme auch dieser ähnliche Handlungen. So
wird mit Strafe bedroht: wer wissentlich an der Vorbereitung oder der Aus-
führung einer Strafthat teilnimmt und wer dem Thäter wissentlich Mittel und
Werkzeuge zur Ausführung des Delikts verschafft (Art. 50, Abs. 1 und 2).
Den Gehülfen gleich werden femer gestraft diejenigen, welche sich zur Ver-
heimlichung von Sachen, die mittels einer strafbaren Handlung erlangt sind,
verabredet haben (Art. 56), ferner wer Personen, die Raub oder Gewaltthätig-
keiten gegen das Eigentum, die persönliche Sicherheit, den öffentlichen Frieden
oder die Sicherheit des Staates begehen, der Strafe entzieht, indem er ihnen
wissentlich und gewohnheitsmässig Unterkunft gewährt (Art. 52 des rumänischen,
61 des französischen StGB). Durch die Novelle von 1874 ist, im Anschluss
an das belgische »StGB., auf dem Gebiete der Press- Verbr. und -Verg. die
Strafe des Teilnehmers ausgedehnt auf alle diejenigen, welche bei der Her-
stellung, Verbreitung oder Ausstellung des Presserzeugnisses (Schriftwerk,
Zeichnung, Druck usw.) mitgewirkt haben, ohne Namen und Wohnung des Ver-
fasser, Herausgebers oder Verlegers richtig anzugeben; sie können sich je-
doch von jeder Verantwortlichkeit befreien, wenn sie den Nnmen des Verfassers,
436 I^i^ Balkanstaateu. — Rumänien.
Herausgebers, Verlegers oder wenigstens de^'enigen nennen, der ihnen die
Schriften, Dmcksachen, Zeichnungen, Stiche übergeben hat (Art. 50 Abe. 3).
Trotz der theoretischen Inkonseqnenz, zn deren Begehung der Gesetz-
geber durch das Beispiel der von ihm als Quellen benutzten ausländischen
Gesetzgebungen sich hat verleiten lassen, ist er nicht soweit gegangen, den
Sachhehler auch dann als Gehülfen zu bestrafen, wenn eine Verabredung über
die Hehlerei weder vor noch während der Begehung des Delikts stattgefunden
hat. Abweichend vom französischen Recht bildet in diesem Falle die Hehlerei
keine Art der Beihülfe, sondern ein selbständiges Delikt mit selbständigem
Strafrahmen (Art. 53 und 54), obgleich sie das G., jedenfalls versehentlich,
unter der Rubrik „Teilnahme" mit aufführt.
6. Bei den Gründen, welche die Strafbarkeit ausschliessen oder ver-
mindern, finden wir, von unwesentlichen Änderungen abgesehen, die franzö-
sischen Bestimmungen wieder. Zunächst stellt das rumänische G. für den
Fall der NichtVerantwortlichkeit des Thäters, abgesehen von dem der Geistes-
krankheit, eine Formel auf, die viel allgemeiner ist als der enge Begriff der
„contrainte"" des französischen Rechts. In der That sind die Fälle des phy-
sischen und psychischen Zwanges keineswegs die einzigen, in welchen die
Verantwortlichkeit des Handelnden ausgeschlossen ist, und es ist deshalb rich-
tiger, zu sagen, dass sie durch jede Ursache aufgehoben wird, welche den
Thäter des freien Gebrauches seiner Vernunft beraubt. Um nun aber zu ver-
hüten, dass durch diese allgemeine Fassung auch die im Zustande der selbstver-
schuldeten Trunkenheit begangenen Delikte für straffrei erklärt würden, macht
das G. den einschränkenden Zusatz, dass der Verlust des freien Gebrauchs der
Vernunft einen ausserhalb des Willens des Thäters liegenden Grund haben
muss (Art. 57).
Dass der Gesetzgeber zur Bezeichnung des Geisteszustandes eines unzu-
rechnungsfähigen Thätera, abgesehen vom Falle der Greisteskrankheit, auf die
Wiedergabe der französischen Definition der „contrainte" verzichtet hat, ist
meines Erachtens dem Einfluss des preussischen Textes (§ 40) zuzuschreiben.
Jedoch hat der rumänische vor diesem den Vorzug, die schwierige Frage der
Willensfreiheit unberührt zu lassen und sich auf die Stellung der weit leichter
zu lösenden Frage zu beschränken: ist die Beeinflussung des Thäters eine
derartige gewesen, dass sie ihn des Gebrauchs seiner Vernunft beraubte?
Diese Fonnuliei*ung des Prinzips hat den Vorzug, alle in einem anomalen
oder krankhaften Zustande begangenen Handlungen zu umfassen, sodass der
Richter auf Grund des G. in der Lage ist, in jedem derartigen Falle die Zu-
rechnungsfähigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit des Thäters zu prüfen. Sie
begreift selbstverständlich die im Zustande des Somnambulismus, auf Suggestion
und im Zustande nicht vorsätzlich herbeigeführter sinnloser Trunkenheit be-
gangenen Delikte. Andererseits lässt sich, genau genommen, die Vorschrift
in dieser Fassung nicht wohl anwenden auf den Fall der erzwungenen Hand-
lung (contrainte). Denn wenn man auch mit Recht sagen kann: wer über-
legener Gewalt oder psychischem Zwange weicht, ist nicht verantwortlich,
weil er nicht nach der Entscheidung seiner eigenen Vernunft handelt — so
ist doch dabei zu beachten, dass derselbe nicht immer des Gebrauchs seiner
Vernunft beraubt ist. Im Gegenteil: oft ist er sich vollkommen klar darüber,
dass er dem ihm drohenden Übel nur dadurch entgehen kann, dass er der
Gewalt oder dem psychischen Drucke nachgiebt — er tiberlegt also. Man
muss daher zugeben, dass die rumänische Definition der Unzurechnungsfähig-
keit nach dieser Richtung zu eng ist.
Die sich aus der Fassung des Art. 57 des rumänischen StGB, ergebenden
Übelstände treten nicht ein im Falle einer gesetzlich vorgeschriebenen und
§ 2. Allgemeine Grundzüge. 34'
von der rechtmässigen Obrigkeit angeordneten Tötung, Verwundung und
Körperverletzung; diese erklärt das G. in einem besonderen Art. (255, ent-
sprechend dem ft'anzösischen Art. 327) für straflos. Abgesehen von diesem
Falle ist der passive Gehorsam eines Beamten kein Strafausschliessungsgrund,
wenn nicht die Wirkung des erteilten Befehls eine derart unwiderstehliche
gewesen ist, dass sie den Thäter des Gebrauchs seiner Vernunft beraubt hat,
und von der Bestrafung wird nur in den (weiter unten zu erwähnenden) Fällen
abgesehen, in denen das 6. derartige Delikte ausdrücklich für straflos erklärt.
Streng genommen ündet der Art. 57 ferner keine Anwendung auf den
Fall der Notwehr, falls nicht auch hier Furcht und Schrecken eine Störung
der Intelligenz herbeigeführt haben. Der Gesetzgeber hat deshalb für diesen
Strafausschliessungsgrund eine besondere Bestimmung getroffen, und zwar im
Art. 58 unter Anwendung des vom preussischen StGB. (§ 41) vertretenen Prin-
zips, jedoch mit der dem französischen Recht entlehnten Beschränkung des
Verteidigungsrechts auf den Fall des Angriffs gegen eine Person. Die Not-
wehr ist daher unzulässig: als Verteidigung gegen einen Angriff auf Ver-
mögensrechte, falls darin nicht gleichzeitig ein Angriff auf die Person liegt,
und (was sich besonders aus dem dem französischen Art. 329 entsprechenden
Art. 257 ergiebt) als Verteidigung eines unbewohnten Hauses oder Raumes.
In Bezug auf Anwendung des Art. 58 ist noch zu bemerken, dass nicht
nur Tötung und Körperverletzung, sondern jedes zur Abwendung eines gegen
die Person gerichteten Angriffs erforderliche Verbr. oder Verg. einen Fall
strafloser Notwehr bildet (französischer Art. 328, rumänischer 256).
Ebenso wie diese Fälle der Straflosigkeit behandelt das rumänische G.
die von Kindern unter acht Jahren begangenen Delikte.
Bezüglich der allgemeinen Grundsätze darüber, in welchen Fällen Weg-
fall oder Milderung der Strafe eintritt, obgleich vom Richter das Verschulden
des Thäters festgestellt ist, herrscht völlige Übereinstimmung zwischen den
rumänischen und den französischen Vorschriften. Beide Strafgesetzbücher
kennen drei Strafausschliessungs- bezw. Milderungsgrtinde :
a) Jugendliches Alter des Thäters. Nach französischem Recht (Art.
66 — 69) bleibt der noch nicht 16 Jahre alte Thäter straflos, wenn festgestellt
wird, dass er ohne Unterscheidungsvermögen (discemement) gehandelt hat;
er wird milder bestraft, wenn er dieses besessen hat; in allen Fällen, auch
für Verbr., erfolgt die Aburteilung durch die Strafkammern (tribunaux cor-
rectionnels). Unsere Gesetzgebung hat dieses System für die Delinquenten von
8 — 15, teilweise auch für die von 15 — 20 Jahren angenommen. Für die sonst
mit Zwangsarbeit bedrohten Verbr. ist bei Jugendlichen auf Gef. von 3 bis
15 Jahren zu erkennen; in allen übrigen Fällen beträgt die Strafe zwischen
einem Dritteil und der Hälfte des für Erwachsene vorgesehenen Strafmasses
(Art. 62—65).
b) Die vom G. ausdrücklich vorgesehenen Fälle. Auf diese bezieht
sich der im allgemeinen Teil enthaltene Art. 65 des französischen Code penal :
„Straflosigkeit oder Strafmilderung wegen eines Verbr. oder Verg. darf nui'
in depjenigen Fällen eintreten, in welchen das G. den Ausschluss oder die
Milderung der Strafe ausdrücklich zulässt." Die hierhergehörigen zahlreichen
Fälle des französischen Rechts sind in das rumänische StGB, vollzählig über-
gegangen. So bleiben straflos: der Teilnehmer an einem Komplott, der das-
selbe vor der Ausführung anzeigt oder die Entdeckung der Mitschuldigen er-
leichtert (Art. 92); ein Beamter, der auf Befehl eines Vorgesetzten ein Delikt
gegen die persönliche Freiheit oder die Verfassung begeht (Art. 99), oder aus
demselben Grunde sich der bewaflftieten Macht bedient, um die Ausführung
von G. oder richterlichen und obrigkeitlichen Verfügungen zu verhindern
'44*^ \n*r BaIkaii=i4iÄ:*-n. — RTiii:-«n:en.
«Art. 151* . Jedoch ma» in diesen Fällen fest^^e^telli werden, d-ass die aos-
geführten Befehle Ton Personen ausgingen, denen der Thä:»fr dienstlichen Ge-
horsam schuldig war. Femer bleibt straflos: der Bebell, der ach freiwillig
onterwirft. unter gewLsä^rn Voraussetzungen Art. 174 : der Falschmünzer, der
vor Ausgabe des falschen Geldes sein Verbr. entdeckt Art. 116 : wer nahe
Verwandte nach Begehung eines Delikts bei sich aufnimmt und verbirgt
«Art. 197 : wer einen Diebstahl gegen Angehörige begeht Art. 3«»^* . Ander»*
Fälle teilweiser Strafaufbebung behandeln die Art. 2ä«>, 274, 276. 2dl. 2b2.
C; Die mildernden Imstiinde im eigentlichen Sinne, deren Anwendung
zu Gunsten des Angeklagten dem freien richterlichen Ermessen überiassen ist.
In dieser Beziehung enthält der allgemeine Teil des rumänischen SttiB. -.Art, 60 ■
die Vorsschrift des Art, 463 des französischen Ojde, mit geringen, auf der Ver-
schiedenartigkeit der beiden G. beruhenden. Abweichungen.
^ 3. Der besondere Teil 4es StGB.
Der zweite, besondere Teil hat die Reihenfolge und Einteilung des fran-
zösischen Code in jeder Beziehung beibehalten, enthält jedoch ausserdem eine
Reihe vervollständigender, dem preussischen ^^lGB. entnommener Bestimmungen.
Eine genaue Untersuchung, in welchem Masse dieses letztere von dem rumä-
nischen Gesetzgeber benutzt worden ist, würde den Rahmen dieser gedrängten
Abhandlung überschreiten: ich muss mich deshalb darauf beschränken, einige
bes^^nders wichtige Punkte hervorzuheben, bei deren praktischer Anwendimg
in Rimiänien di«' Zweckmässigkeit der Einwirkung preussischer Bestimmungen
hervorgetreten ist. Es kommen hier vor allem in Betracht: die Bestimmung
des § 241 df^ preussischen StGB, über den Betrug «wiedergegeben im roma-
nischen Art. 332 1, die Vorschrift des §246 über die Verantwortlichkeit der
Vormünder, Kuratoren, Pfleger usw.. welche absichtlich zum Nachteil der
ihnen anvertrauten Personen oder Sachen handeln ( rtmiänischer Art. 330», end-
lich die Bestimmung des >$ 215 des preussischen StGB, über den Diebstahl,
mit welcher die Gerichte täglich bei Anwendung des Art. 306 — 316 des roma-
nischen StGB, zu thun haben.
Die im J. 1«74 vorgenommenen Abänderungen verschiedener Art. des
Sti^rB. hatten sich in einer zehnjährigen Praxis als notwendig herausgestellt.
Es wiu-den einerseits die Strafen in mehreren Fällen verschärft, andererseits
wurde die Aburteilung verschiedener Delikte den (Jeschworenen entzogen tmd
den Strafkammern (tribunaux correctionnels i zugeteilt, da die Elrfahnmg ge-
lehrt hatte, dass die ersteren nicht die genügenden Garantieen ffir eine sach-
gemässe Rechtsprechung boten und sich der Schwere der ihrer Zuständigkeit
unterstehenden Strafthaten nicht immer bewusst geworden waren.
Die bereits erwähnte humane Tendenz des Gesetzgebers v. 1864 hatte
eine allgemeine Reduzierung in der Stufenfolge der Freiheitsstrafen veranlasst;
so bewegt sich die Gefängnisstrafe für einfache Polizeiübertretungen zwischen
1 und 5 Tagen, für Verg. zwischen 6 Tagen und 2 Jahren; die gelindeste
Strafe für Verbr. beträgt 3 Jahre Zuchthaus. Als nun 1874 eine Anzahl von
Verbr., die bis dahin mit Zuchthaus nicht unter 3 Jahren bedroht waren, zu
Verg. erklärt wurden, sah sich der Gesetzgeber veranlasst, die Strafrahmen
des französischen Rechts zu adoptieren. Seitdem beträgt die für Verg. an-
gedrohte Gefängnisstrafe 15 Tage bis zu 5 Jahren imd das Mindestmass der
Zuchthausstrafe 5 Jahre.
Die Durchführung dieses Grundsatzes machte zwei Arten von Änderungen
im Gesetzestext unumgänglich: einerseits mussten bei allen mit dem Höchst-
§ 3. Der besondere Teil des StGB. 349
masse bedrohten Verg., bei welchen der Gesetzgeber eine Erweiterung des
StratVahmens nach oben nicht beabsichtigte, zum Ausdruck gebracht werden,
dass nur auf Gef. bis zu 2 Jahren erkannt werden dürfe — andererseits musste
für die nunmehr in Verg. umgewandelten Verbr. an Stelle der Zuchthausstrafe
Gef. bis zu 5 Jahren angedroht werden. — Diese letztere, für die Tendenz der
Novelle charakteristische Änderung verdient eine eingehende Besprechung.
Zunächst wird die Anfertigung und der wissentliche Gebrauch falscher Stem-
pel, Abzeichen und amtlicher Siegel anstatt, wie vorher, mit Zuchthaus, nur
noch mit Vergehensstrafe bedroht (Art. 118, 119, 120). Ebenso verhält es
sich mit den Delikten der wissentlichen Benutzung falscher öffentlicher Urkunden
und Banknoten (Art. 126), der Unterschlagung und Erpressung seitens eines
öffentlichen Beamten (Art. 140 und 141), der Bestechung (Art. 145), der Körper-
verletzung und des thätlichen Angriffs gegen Beamte bei Ausübung ihres
Amtes (Art. 186, 187), des Bruches amtlicher Siegel (Art. 200), der Unter-
schlagung und Vernichtung von Urkunden, die sich in den öffentlichen Archiven
und Verwahrungsstellen befinden (Art. 204, 205), der Sittlichkeitsverletzung
(Alt. 263, 264), der Bigamie (Art. 271), des falschen Zeugnisses (Art. 287), des
schweren Diebstahls (Art. 310), des betrügerischen Bankerutts (Art. 343, 344,
348), der Vernichtung von Akten einer Behörde oder von Banknoten (Art. 367).
Abgesehen von den soeben aufgezählten Änderungen hat der Gesetzgeber
v. 1874 den Versucli gemacht, verschiedene ihm unvollständig erscheinende
Bestimmungen zu vervollständigen. Sie seien hier kurz erwähnt. Zunächst
kommt in Betracht der Text des von der öffentlichen Beleidigung des Herr-
schers, seiner Gemahlin und seiner Kinder handelnden Art. 77. Die Novelle
dehnt diesen Schutz auf alle Personen aus, welche mit der regierenden Fa-
milie bis zum dritten Grade verwandt oder verschwägert sind; mit gleicher
Strafe wird bedroht, wer durch öffentliche Reden, Anheftung von Plakaten,
Drucksachen, Schriften, Zeichnungen, Stichen, durch sinnbildliche Darstellungen
usw. das Ansehen des Landesherm, die Unverletzlichkeit seiner Person oder
die seiner Dynastie verfassungsmässig zugesicherten Rechte angreift, endlich
wer den Landesherrn wegen einer Massregel angreift, für welche nicht er,
sondern die Regierung ausschliesslich verantwortlich ist. Auch der von den
strafbaren Wahlbeeinflussungen handelnde Art. 97 wurde in mehreren Punkten
abgeändert und ausserdem später durch das 1884 erlassene Wahlgesetz ver-
vollständigt.
Der Verfälschung und fälschlichen Anfertigung inländischer öffentlicher
Obligationen und Banknoten wurde die Verfälschung und fälschliche Anferti-
gung der von ausländischen G. zugelassenen, sowie der Gebrauch solcher
gleichgestellt. Den Bestimmungen über die Beleidigungen und Gewaltthätig-
keiten gegen Behörden ist der Text des Art. 181 hinzugefügt, nach welchem
als Verg. bestraft werden : die öffentliche Aufforderung zum Ungehorsam gegen
Gesetze oder Behörden oder zur Verspottung der Religion, die öffentliche
Aufforderung zur Begehung strafbarer Handlungen, die Eröffnung einer Sub-
skription zur Aufbringung der wegen einer strafbaren Handlung erkannten
Geldstrafe, endlich die Reproduktion von Reden, Schriften, Zeichnungen oder
sinnbildlichen Darstellungen, welche durch richterliches Urteil verboten sind.
Die einfachen Körperverletzungen waren in dem ursprünglichen Text des
Art. 238 als Verg. behandelt; der Gesetzgeber v. 1874 unterscheidet, je nach-
dem sie in einer Schankwirtschaft, auf einer Messe oder einem Markte, oder
an irgend einem anderen Orte begangen sind: im ersteren Falle werden sie
als einfache Polizeiübertretungen, im zweiten jedoch auch ferner als Verg. be-
straft. Hier sei gleich erwähnt, dass durch das G. v. 1879 über die Organi-
sation der Friedensgerichte auch diese letztere Gruppe von Körperverletzungen,
350 ^ic Balkanstaaten. — Rumänien.
trotz ihrer Vergehensnatnr, den Friedensrichtern zu Aburteilung in ei*ster Instanz
überwiesen ist.
Der Text des Art. 294, betr. die Verleumdung, wurde vervollständigt
durch eine dem Art. 367 des französischen Code v. 1810 entnommene Auf-
zählung der Mittel, durch welche die verleumderischen Behauptungen zum
Ausdruck gebracht werden können; übrigens nimmt das G. auf diese Auf-
zählung in verschiedenen anderen Art. Bezug.
Endlich hat die Novelle v. 1874 in Art. 193 ein neues Delikt gescha£Pen
unter der Bezeichnung: Verweigerung der Erfüllung einer gesetzlichen Ver-
pflichtung. Auf Grund dieser Vorschrift werden mit Geldstrafe für jeden Tag
der Verzögerung bestraft: die verantwortlichen Herausgeber und Verleger von
Zeitungen, welche sich weigern, die gesetzlich zulässigen Antworten der in
ihrem Blatte unmittelbar oder mittelbar angegriffenen Personen, die Verurtei-
lungen von Personen, welche vermittelst des betreffenden Blattes ein Press-
delikt begangen haben, oder endlich die amtlichen Mitteilungen, welche zur
Widerlegung einer durch das betreffende Blatt verbreiteten irrigen Nachricht
bestimmt sind, zum Abdruck zu bringen.
Diese Straf bestimmung bildet eine derjenigen Massregeln, welche die
Novelle v. 1874 in Bezug auf die Presse getroffen hat. Die ebenfalls hierher
gehörige Vorschrift des Art. 50 über die Teilnahme haben wir bereits erwähnt;
eine weitere Bestimmung, und zwar bezüglich des Rückfalls, enthält Art. 43,
nach welchem deijenige, welcher sich eines Pressverbrechens oder Pressvergehens
schuldig macht, nur dann als rückfällig angesehen wird, wenn die von ihm
friiher erlittene Verurteilung wegen eines politischen oder eines Pressdelikts
erfolgt ist. Übrigens belässt der Art. 398 des StGB, die Strafbestimmungen
des Pressgesetzes vom 1. April 1862 in Kraft. Dieses G. enthält die ausdrück-
liche Anerkennung des litterarischen und künstlerischen Eigentumsrechts und
die Grundsätze über Art und Umfang der Pressfreiheit, die Straf bestinmiungen
zum Schutze des freien Gebrauchs des ersteren und die Präventivmassregeln
gegen die letztere. Es zählt ausserdem alle strafbaren Handlungen auf, die
mittelst der Presse begangen werden können ; sie sind fast alle im StGB, noch-
mals aufgeführt.
Trotz der allgemeinen Bestimmung des Art. 398 des StGB, finden die
zur Durchführung der Präventivmassregeln erlassenen Strafandrohungen des
Pressgesetzes v. 1862 keine Anwendung mehr. Durch die rumänische Ver-
fassung (v. 1866 und 1884) sind diese Massregeln und damit auch die auf sie
bezüglichen Strafbestimmungen abgeschafft.
Da jedes Werk veröffentlicht werden darf, ohne dass es einer vorher-
gehenden vorläufigen Genehmigung oder Kautionsstellung bedarf, so werden
die früheren Strafvorschriften für diejenigen, welche sich diesen Massregeln
entziehen, von selbst gegenstandslos.
Abgesehen von den im StGB, behandelten Verbr., Verg. und Über-
tretungen finden sich, im gesamten Gebiete der rumänischen Gesetzgebung
zerstreut, Handlungen und Unterlassungen, welche der Gesetzgeber mit Strafe
bedroht hat, um die Durchführung seiner Anordnungen zu sichern. Die in
diesen Spezialgesetzen erwähnten Delikte sind zum Teil mit härterer Strafe
bedroht, als die Verbr. des StGB.; so droht das Militärjustizgesetz in ver-
schiedenen Fällen die Todesstrafe an.
Die Durchführung der Vorschriften des materiellen StR. regelt die nach
französischem Muster verfasste, noch im J. 1864 erlassene StPO. Für einzelne
besondere Arten des Strafverfahrens bestehen besondere Gesetze.
§ 3. Der besondere Teil des StGB. 351
§ 4. Strafrechtliche Nebengesetze.
Neben dem StGB, und der StPO., welche das allgemeine (bürgerliche)
Recht enthalten, sind folgende Sondergesetze zu erwähnen:
1. Das Militärjustizgesetz vom 24. Mai 1881, eine getreue Nachahmung des
französischen G. vom 9. Juni 1857, das für die Aburteilung sowohl der von
Militärpersonen begangenen gemeinrechtlichen Delikte als auch der besonderen
militärischen Delikte die Zuständigkeit besonderer Gerichte begründet.
2. Das Marinejustizgesetz vom 6. Juni 1884. Obwohl auf der Grundlage
des Militärjustizgesetzes beruhend, weist es doch gegenüber dem französischen
G. einige Unterschiede auf.
3. Das Forstgesetz vom 24. Juni 1881 regelt das Forstwesen und droht
für Übertretungen Geldstrafen an, die im Falle der Zahlungsunfähigkeit des
Verurteilten in Gef. von 5 Tagen bis zu 3 Monaten umgewandelt werden
können.
4. Die G., welche sich auf die Übertretungen der Zoll- und Steuergesetze
beziehen und diese mit Geldstrafen belegen, die im Falle der Zahlungsunfähig-
keit in Gef. verwandelt werden. E^s kommen vor allen in Betracht:
a) Das allgemeine Zoll gesetz vom 15. Juni 1874; es bedroht gewisse Fälle
des Schmuggels sogar mit Gef.
b) Das G. betr. das Tabakmonopol usw. vom 6. Februar 1872.
c) Das G. über die Besteuerung alkoholhaltiger Getränke vom 14. Fe-
bruar 1882.
d) Das G. über die Stempel- und Eintragungsgebühren vom 31. Juli 1881.
Das Verfahren bei den in diesen G. erwähnten Übertretungen ist ein be-
sonderes: in erster Instanz entscheidet die Steuerbehörde, gegen deren Er-
kenntnis der Antrag auf richterliche Entscheidung zulässig ist.
Alle in Rumänien von 1864 bis 1885 in Bezug auf Justizwesen und
Recht erlassenen G. sind in der Sammlung abgedruckt, welche bis 1882 von
B. Boerescu und seit 1882 von C. Boerescu und C. Vlahuti herausgegeben wird.
5. Serbien.
J; 1. Die Vorgesehiehte des sreltenden Reehts.
Das gegenwärtig im Königreich Serbien geltende StR. bemht im vresent-
liehen auf dem G. vom 27. März 1850. Eine Eontinnität zwischen der modernen
Rechtsentwickelnng nnd der mittelalterlich serbischen Gesetzgebung, wie sie
ihren Ansdmck im GB. des Kaisers Duschan gefanden hat, ist nicht vor-
handen. Wenn dies vom rein nationalen Gcäichtspoukte ans zn bedaoem sein
mag, indem das Daschan'sche Gesetzes werk nicht bloss wegen der für seine
Zeit (14. Jahrhandertl hohen Bildimgs- and Kaltarstofe. die es bei der serbi-
schen Nation voranssetzt, sondern anch wegen seiner vergleichsweise bedentenden
Selbständigkeit und Unberöhrtheit von fremden Einflüssen, sowie schliesslich
wegen der darin sich ausprägenden juristischen Folgerichtigkeit imd Gesetzes-
kunst eins der glänzendsten Geistesdenkmäler aus dem serbischen Mittelalter
ist: so lässt sich doch das jähe Abreissen des Fadens organischer Entwickelang
im vorliegenden Falle durch den Gang der politischen Ereignisse vollkommen
erklären. Nach gewaltigen Stürmen im Innern, die den serbischen Staat bis
in seine Grundvesten erschütterten, brach wie eine Sturmflut die osmanische
Invasion über die Balkanländer herein, die noch vorgefundene Gesetzlichkeit
und Gesittung bis auf unbedeutende Trümmer hinwegspülend, die Balkanslaven
zur „Raja'* erniedrigend, über welche während fünfhundertjähriger Knecht-
schaft statt des G. türkische Willkür waltete, hier und da gemildert durch
Ortsgebräuche ( welche jedoch nicht schriftlich fixiert wurden ). Als im Beginn
dieses Jahrhunderts revolutionäre Stösse die Balkanhalbinsel zu erschüttern
begannen und die Serben — als die ersten unter den Balkanvölkem — in
die Kämpfe um ihre Unabhängigkeit und Befreiung vom Türken joche eintraten:
da waren alle lebendigen Kräfte der Nation so ausschliesslich mit dieser fQr
das Land ungeheuren Aufgabe beschäftigt, dass an den Ausbau einer modernen
Gesetzgebung und Administration in den ersten Jahrzehnten füglich nicht ge-
dacht werden konnte. Erst als das junge Staatswesen nach aussen hin einiger-
massen gefestigt war, begann man allmählich — im Laufe der vierziger Jahre
— strafrechtliche Materien im Wege von Spezialgesetzen zu regeln. Als die
wichtigsten unter diesen Spezialgesetzen, welche recht eigentlich als Vorläufer
einer kodifizierten StGgebung in Serbien zu betrachten sind, wären zu er-
wähnen: das G. betr. die Bestrafung von Aufruhr und Empönmg vom 22. Ok-
tober 1843; G. betr. Diebst«hl und Raub vom 26. Mai 1847; G. wider das Hei-
dukenunwesen vom 13. April 1850; Strafnormen betr. Polizeivergehen und
Übertretungen vom 27. Mai 1850; (J. über Umwandlung der Strafe des Spiess-
rutenlaufens in Zuchthäusern vom 6. Mai 1859.
Als endlich ausgangs der fünfziger Jahre das Bedürfnis unabweislich
ward, dem (damaligen) Fürstentume Serbien ein einheitliches bis ins Einzelne
§ 2. Das StGB, vom 27. März 1860. 353
planmässig ausgearbeitetes StGB, zu geben, konnte die Aufgabe des Gesetz-
gebers, bei den damals gärenden Zuständen im Lande und inmitten der poli-
tischen Wirren, nicht sowohl diese sein: ein möglichst origineUes Gesetzgebungs-
werk zu Stande zu bringen, welches auf der Höhe der Zeit stehend, doch
gleichzeitig ein spezifisch serbisches Gepräge trtlge: ein Problem, welches
einen ungleich höheren Aufwand an Arbeitskraft und juridischer Kunst erfordert
hätte, als man damals daran zu wenden gewillt und wohl auch im stände war
— sondern es galt vielmehr, unter Anlehnung an eins der bewährten modernen
StGB, den dringendsten Anforderungen des veränderten Kulturzustandes in
Serbien durch eine Adaptation zu genügen.
Die Wahl fiel auf das preussische StGB. v. 1851, welches ein wohl-
verdientes Ansehen im Auslande genoss und zugleich den Vorzug hatte, damals
eine der modernsten Arbeiten auf diesem Felde zu sein. Dieses StGB, (nebst
einzelnen Vorschriften des badensischen StGB., welche später durch Novellen
eingeführt wurden und wovon weiter unten die Rede sein soll) wurde in allen
wesentlichen Bestimmungen dem serbischen StGB. — welches am 27. März 1860
promulgiert wurde — zu Grunde gelegt. Da das preussische StGB, als be-
kannt vorausgesetzt werden darf, so ist das serbische StGB, hier hauptsächlich
insoweit ins Auge zu fassen, als es charakteristische Abweichungen von
seinem Vorbilde — hervorgerufen a) durch die relativ niedrigere Kulturstufe
des Landes, b) den Charakter der fast ausschliesslich Ackerbau und Viehzucht
treibenden Bevölkerung und c) gewisse historische Entwickelungszustände, die
den Balkanländern spezifisch sind (Heiduckenunwesen, Klephten u. dgl.) —
aufzuweisen hat.
§ 2. Das StaB. Tom 27. MBrz 1860.
Solche Abweichungen machen sich besonders nach folgenden Richtungen
hin geltend:
L In Hinsicht der Strafmittel:
a) Die Prügelstrafe ist im StGB. v. 1860 noch beibehalten. Allerdings
können zu derselben nur „Vagabunden, Tagelöhner, Diebe und solche Indi-
viduen, deren Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ihre Angehörigen in eine
Notlage versetzen würde", verurteilt werden. Jedoch formell aufgehoben ward
die Prügelstrafe erst durch die Novelle vom 11. Dezember 1873 (als ihren
Zweck verfehlend und durch das serbische Mil.-StGB., welches sie nicht mehr
kennt, antiquiert). In derselben Novelle wird die Art ihrer Umwandlung in
eine Freiheits- oder Geldstrafe für alle die Fälle, in denen das bisherige StG.
die körperliche Züchtigung vorschrieb, bestimmt.
b) Auch die Verbannung behauptet noch ihren Platz als Strafe im System
des StGB. V. 1860. Ihre endgültige Aufhebung ist erst durch Art. 14 der ser-
bischen Verfassung vom 22. Dezember 1888 erfolgt. Dieser besagt: „Kein
serbischer Bürger darf des Landes verwiesen werden. Die Beschränkung oder
das Verbot des Aufenthaltes serbischer Bürger an einem bestimmten Orte
(Intemierung) ist nur in den durch das G. ausdrücklich vorgesehenen Fällen
zulässig."
c) Neben Zuchthaus und Gefängnisstrafe besteht auch im serbischen
StGB, als custodia honesta eine Art Festungshaft (genannt zatotsch^nje), jedoch
mit der Besonderheit, dass sie bezüglich ihres Mindest- wie Höchstbetrages
(§§ 14, 15) sowie des bei ihrer Umwandlung in eine andere Freiheitsstrafe zu
Grunde zu legenden Masses (§21) der Zuchthausstrafe vollständig gleichsteht.
Beamte und Geistliche sind statt zu Zuchthaus regelmässig zu dieser Strafe
zu verurteilen, ausser in Fällen, in denen festgestellt wird, dass die straf-
Strafgesetzgebnng der Ge^^enwart. I. 28
354 IHe Balkanstaaten. — Serbien.
bar befundene Handlung einer besonders ehrlosen G^esinnang entsprangen
ist (§ 24).
d ) Die Strafe der Haft als besondere, vom Cef. nnterschiedene Hanptstrafe
kennt das StGB. ▼. 1860 nicht.
e) Die Todesstrafe wird, nicht wie im prenssischen StGB, durch Ent-
hauptung, sondern durch Erschiessen vollstreckt.
f ) Lebenslängliche Freiheitsstrafen kennt das serbische StGB, nicht. Der
Höchstbetrag der Zuchthausstrafe und Festungshaft ist 20 Jahre, ihr Mindest-
betrag 1 Jahr (§§ 14, Ib), Der Mindestbetrag der Geftagnisstrafe ist 30 Tage
(§ 20j. Der Mindestbetrag der Geldstrafe ist 1 Thaler (eine gegenwärtig ideelle
Münze, weiche fünf Francs [Dinanen] gleichgerechnet wird), somit ein erheb-
lich höherer Wert als der dem prenssischen StGB, zu Grunde gelegte Mindest-
betrag der Geldstrafe, wenn m^in die Zeit der Publikation des serbischen
StGB, und die damals in Serbien herrschenden Wertverhältnisse in Be-
tracht zieht.
g) Was die Xebenstrafen betrifft, so kennt das G. t. 1860 die Zulässig-
keit der Stellung unter Polizeiaufsicht nicht. Durch die Novelle vom 20. März
1863 ist sie als Nebenstrafe eingeführt worden, im wesentlichen mit denselben
Wirkungen, wie im prenssischen bezw. deutschen StGB. Hinsichtlich ihrer
Dauer setzt § 37a fest dass ihr Mindestbetrag 1 Jahr, ihr Höchstbetrag 5 Jahre
zu betragen hat, bis auf bestimmte, gesetzlich vorgesehene Fälle, wo auf zehn-
jährige Dauer der Polizeiaufsicht erkannt werden konnte. Aber auch diese
Fälle sind in neuester Zeit (durch G. vom 29. März 1891) aufgehoben worden.
h) Die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte endlich hat im all-
gemeinen dieselben Wirkungen, wie im preussisch-deutschen StGB., mit der
Besonderheit jedoch, dass die Unfähigkeit, öffentliche Ämter, Würden, Titel.
Orden und Ehrenzeichen zu erlangen usw., höchstens für die Dauer von 5 Jahren
aberkannt werden kann.
II. Bezüglich des allgemeinen Teils des serbischen StGB, ist noch als
charakteristisch zu erwähnen:
a) Der § 51 statuiert eine Anzeigepflicht für Kapitalverbrechen, deren
ünterlassuDg mit Gef. bis zu 5 Jahren bestraft wird.
b) § 57 setzt die Grenzen der Zurechnungsfähigkeit nach dem Alter in fol-
gender Weise fest: 1. Periode der absoluten Unzurechnungsfähigkeit bis zu
7 Jahren ; 2* Periode der bedingten Zurechnnügsfähigkeit, je nachdem das Be-
wusstsein der Strafbarkeit als vorhanden angenommen wird oder nicht, bis zu
14 Jahren; 3. Periode, wo das Bewusstsein der Straf barkeit als vorhanden an-
genommen wird, gleichwohl aber mildernde Umstände von Rechtswegen in
Betracht kommen, bis zu 21 Jahren. Mit dem vollendeten 21. Leben^ahre
tritt die volle strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit ein.
III. Bezüglich des besonderen Teils des StGB, sind als besonders
kennzeichnend für die Anschauungen des serbischen Gesetzgebers die Bestim-
mungen über Diebstahl und Raub bezw. Heiduckenunwesen hier ausführlicher
zu besprechen.
a) Was die Diebstahlsbestimmungen betrifft, so lehnte sich die ursprüng-
liche Fassung des StGB. (1860) ziemlich eng an das preussische Vorbild an.
Aber im I^aufe der Jahre sehen wir den Gesetzgeber mit immer strengeren
Strafen in dieser Materie vorgehen, gleichzeitig unter Aufstellung verschiedener
Kategorieen je nach dem Werte des gestohlenen Objekts.
Besonders scharf tritt dies beim Feld- und Viehdiebstahle einerseits, sowie
beim Rückfalle andererseits hervor.
So bestimmte im ursprünglichen Texte des StGB. § 222 Abs. 3: Wer
landwirtschaftliche Geräte auf dem Felde, Vieh auf dem Felde oder der Weide,
§ 2. Das StGB, vom 27. März 1860. 355
Leinewand von der Bleiche, gesammelte Früchte vom Felde oder überhaupt
Gegenstände, welche im Vertrauen auf' die öffentliche Sicherheit ohne Wächter
auf iireiem Felde belassen werden, stiehlt, ist mit Gef. nicht unter 3 Monaten
und Ehrverlust zu bestrafen, und kann mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft
werden.
Hingegen bestimmt die Novelle vom 10. Januar 1879: „Wer landwirt-
schaftliche Geräte oder Viehstände, wo immer dieselben sich befinden mögen,
stiehlt, wird, wenn der Wert der gestohlenen Objekte 200 Piaster = 40 Francs
übersteigt, mit Zuchthaus von 2 bis zu 5 Jahren bestraft. Diese Diebstähle
sind ohne weiteres zu den schweren Diebstählen zu rechnen und unterliegen
der Kompetenz der Schwurgerichte."
Äusserst streng und, verglichen mit den strafgesetzlichen Bestimmungen
anderer europäischer Länder, geradezu exorbitant, erscheinen die Bestimmungen
über den Diebstahl im Rückfalle. Die Novelle vom 30. März 1863 lautet: „Der-
jenige, welcher drei oder mehrere schwere Diebstähle, oder ausser zwei oder
mehreren einfachen noch zwei schwere Diebstähle begeht, ist mit dem Tode
zu bestrafen. Die gleiche Strafe trifft denjenigen, welcher einen schweren
Diebstahl begeht, nach vorgängiger zweimaliger Verurteilung wegen einfachen
Diebstahles oder einmaliger Verurteilung wegen schweren Diebstahls.
Indessen ist der Gesetzgeber nicht so weit gegangen, diese drakonischen
Bestimmungen auf Diebstähle von Landwirtschaftsgeräten oder Vieh, im Rück-
falle oder bei Konkurrenz auszudehnen. Er nimmt diese Fälle ausdrück-
lich aus.
Die Aufstellung verschiedener Kategorieen mit bestimmtem Minimal- und
Maximalstrafmasse, je nachdem das Diebstahlsobjekt unter oder über 200 Piaster
(40 Frcs.) oder unter oder über 10 Piaster (2 Frcs.) beträgt, ist durch die
Novelle vom 17. Juni 1861 erfolgt, wie derartige Kategorieen analog auch bei
Unterschlagung, Betrug und Brandstiftung durch die Novelle vom 21. März 1863
eingeführt worden sind.
Andererseits möge jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass der Gesetzgeber
den (einfachen) Diebstahl straflos lässt, wenn der Thäter, bevor er entdeckt
oder ergriffen worden ist, das gestohlene Gut dem Bestohlenen zurückerstattet
oder ihn sonst voll entschädigt.
b) Vollends schwer verständlich müssen die Bestimmungen des serbischen
StGB, über das Heiduckenunwesen demjenigen erscheinen, welchem ihre
geschichtlichen Voraussetzungen nicht klargelegt sind. Die Erscheinung der
Heiducken ist als eine Reaktion, eine Art lebendiger Protest gegen die Türken-
herrschaft und ihre Willkür aufzufassen, analog den Klephten im modernen
Griechenland. Wer die Rache der Türken fürchtend oder wegen erlittener
Unbill selbst auf Rache gegen sie sinnend oder schliesslich überhaupt ausser
Stande, ihren despotischen Druck länger zu ertragen, sich in die Berge flüch-
tete, um sein Leben zu schützen oder auf eigene Faust sich Gerechtigkeit zu
verschaffen, erhielt den Beinamen eines „Heiducken", eine Bezeichnung, welche
von Hause aus keineswegs ehrenrührig war, indem das Volk in den Heiducken
nicht sowohl „Räuber" als „Helden" erblickte, die einer tyrannischen Über-
macht gegenüber kühn mit der Waffe in der Hand das Recht des kleinen
Mannes vertreten, eine Art natürlicher Beschützer der geknechteten Raja:
„Viele," sagt Wuk S. Kanerdjic, einer der besten Kenner serbischer Verhält-
nisse, „ergeben sich dem Heiduckentume, nicht sowohl in verbrecherischer Ab-
sicht, um zu plündern und zu morden, sondern um ihr Leben zu retten oder
sich an jemand zu rächen oder in Freiheit zu leben; aber wenn nun schon
einer (insbesondere von den einfachen Leuten) vom grossen Haufen sich los-
sagt, so liegt die Gefahr nahe, dass er allmählich auf Abwege gerät und
23*
356 I^ie Balkanstaaten. — Serbien.
schlechte Streiche zu begehen anfangt. Gleichwohl kann man auch heute
noch einem Heiducken keinen grösseren Schimpf zufügen, als wenn man ihn
einen „Dieb" oder „Frauenschänder" (przihabe) nennt. Ein echter Heiducke
wird nie einen Menschen morden, der ihm kein Leides zugefügt hat, ausser
wenn ihn ein Freund oder Helfershelfer (jatak) dazu aufstachelt. Es scheint
ihm eine Schande, einem Armen etwas zu rauben, ausser etwa schöne Waffen ;
aber Kaufleuten auf dem Wege aufzulauern und in die Häuser reicher Leute
einbrechen, dünkt ihm keine Schande."
Mit dem allmählichen Erstarken der serbischen Staatsgewalt und dem Ver-
schwinden der Türkengefahr einerseits, dem Eindringen modemer Anschauungen
über Raubwesen und Wegelagerer andererseits, wurde natürlicherweise der
Daseinsberechtigung der Heiducken immer mehr der Boden entzogen. An Stelle
des Helden trat der Charakter des Räubers immer stärker in den Vordergrund,
wobei jedoch immer noch ein blasser Abglanz des alten Heldenschimmers in
den Augen des Volkes die Gestalten dieser Heiducken umwob, sie zu einem
Gegenstande besonderer Berücksichtigung für den serbischen Gesetzgeber
machend. Dieser musste es aus Gründen legislativer Politik für geratener
halten, dem Heiducken eine goldene Brücke zu bauen und ihm den Rückzug
in eine bürgerliche Existenz auf alle Weise zu erleichtem, als durch aus-
schliesslich terroristische Massregeln ihn zum äussersten Widerstände aufzureizen
und so die Gefahr, die der Gesellschaft von diesen kühnen Raubgesellen und
ihren zahlreichen überall im Lande zerstreuten Helfershelfern drohte, noch zu
vergrössem.
Daher bestimmt § 244 des StGB.: „Wer zu den Heiducken übergeht, ist
zwar von Rechtswegen mit Gef. bis zu 5 Jahren nebst Verlust der bürgerlichen
Ehrenrechte zu bestrafen. Wenn er jedoch, ohne noch eine That von Heiducken-
willkür verübt zu haben, freiwillig von diesem Treiben absteht und der Be-
hörde sich ausliefert, so ist er mit jeder Strafe zu verschonen.
Steht er ab, zwar noch ohne ein Delikt als Heiducke begangen zu haben,
jedoch erst nach vorgängiger Aufforderung seitens der Behörden, und stellt er
sich der Behörde auf Gnade und Ungnade, so wird er mit Gef. bis zu 6 Mo-
naten bestraft." §245: „Der Heiducke, welcher als solcher ein Verbr. begeht,
ist mit dem Tode zu bestrafen; wenn er ein Verg. begeht, mit Zuchthaus von
10 bis zu 20 Jahren. — Wenn ein Heiducke nach begangenem Verbr. sich
aus eigenem Antriebe der Behörde stellt, so ist er mit Zuchthaus bis zu 15 Jah-
ren zu bestrafen; nach verübtem Verg. mit Gef. bis zu 5 Jahren und Ehr-
verlust. Stellt er sich nach verübtem Verbr., jedoch erst infolge Aufforderung
der Obrigkeit, so ist er mit Zuchthaus bis zu 20 Jahren zu bestrafen, nach ver-
übtem Verg. mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren."
Endlich bestinmit § 250 bezüglich der Helfershelfer QaXak) der Heiducken:
„Wer Heiducken an die Hand geht, um sie der behördlichen Verfolgimg zu
entziehen oder um ihnen die Vorteile ihrer strafbaren Handlung zu sichern,
wird mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren bestraft. Betreibt er die Beihülfe gewohn-
heits- oder gewerbsmässig, so wird er mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren bestraft."
§ 3. Nachtragsgesetze.
Zum StGB, vom 27. März 1860 sind, wie bereits im Vorstehenden mehr-
fach erwähnt, zahlreiche Novellen erschienen, von welchen die wichtigsten die
G. vom 17. Juni 1861, vom 20. März 1863, vom 15. Juni 1863 und vom 11. De-
zember 1873 sind. Diese Novellen, welche zum Teil der badischen Gesetz-
gebung entlehnt, bezw. nachgebildet sind, tragen sämtlich den Charakter einer
fortschreitenden Annäherung der serbischen Landesgesetze an die modernen
§ 5. Das Strafverfahren. 357
europäischen Gesetzgebungen. Durch die erstgenannten G. sind insbesondere,
abgesehen von der Einführung der Zulässigkeit der Stellung unter polizeiliche
Axifsicht als Nebenstrafe, und der Modifikation der Bestimmungen über Ver-
such und Konkurrenz, die Kap. über Hochverrat, Landesverrat und Beleidigung
des Landesfürsten gründlich umgestaltet worden. (Wenn diese Delikte durch
die Presse begangen werden, so ist das G. vom 24. Oktober 1870 massgebend.)
Des Ferneren ist durch diese Novellen sowie durch diejenigen vom 23. Oktober
1871 und 10. Januar 1876 das Kap. Widerstand gegen die Staatsgewalt erheb-
lich modifiziert worden. Das G. vom 11. Dezember 1873 endlich ist besonders
wichtig wegen der durch dasselbe bewirkten Aufhebung der Prügelstrafe.
§ 4. Strafrechtliche Nebengesetze.
Von Spezialgesetzen, welche strafrechtliche Bestimmungen enthalten, sind
hervorzuheben:
a) Das serbische Mil.-StGB. vom 28. April 1864, ergänzt und umgestaltet
durch die Novellen vom 17. Juni 1876 und 12. bezw. 23. August 1876.
b) Die Konkursordnung vom 17. März 1861, welche, unabhängig vom
Kap. XXVI des StGB, über Bankerutt, in den Art. 130, 131 Straf bestimmungen
wider den Cridar enthält.
c) Das G. über die Presse vom Januar 1890. Dasselbe beruht im wesent-
lichen auf Art. 22 der Verfassung vom 24. Dezember 1888, welcher neue Grund-
lagen für das Presswesen geschafi^en hat, indem er die Präventivzensur aufhob,
von dem Erläge einer Kaution befreite, und die Beschlagnahme nur in den
Fällen von Beleidigung des Landesherm und seines Hauses sowie fi'emder
Landesfürsten und ihrer Häuser und im Falle der Aufreizung zur Empörung
zuliess. Verantwortlich für einen strafbaren Artikel ist in erster Reihe der
Verfasser. Wenn derselbe unbekannt oder nicht in Serbien ansässig oder nicht
haftbar ist, so fällt die Verantwortlichkeit auf den Redakteur, Drucker oder
Verbreiter.
d) Bezüglich des Eisenbahnwesens sind strafgesetzliche Bestimmungen
eingeführt worden durch das Sondergesetz vom 30. Juni 1882.
e) Das G. betr. die Organisation der Zollbehörden vom 12. Dezember 1863
enthält im § 119 Straf bestimmungen wider den Schmuggel; hierzu Novelle vom
14. Dezember 1867.
Strafgesetzliche Bestimmungen enthalten femer die Rechtsanwaltsordnung,
die Gesindeordnung usw.
Ein besonderes Wuchergesetz existiert in Serbien nicht.
§ 5. Das Strafverfahren.
Schliesslich sei hier noch mit wenigen Worten die serbische StPO. vom
16. Juni 1865 in ihren Hauptzügen skizziert. Diese lehnt sich durchweg an
das österreichische Muster (StPO. v. 1853) an , und baut sich im wesentlichen
auf dem Inquisitionsprinzip auf, wiewohl im einzelnen viele Bestimmungen dem
Anklageprinzip entlehnt sind.
So liegt
a) die Untersuchung aller strafbaren Handlungen ausschliesslich und von
Amtswegen den polizeilichen und richterlichen Behörden ob (§§ 4, 5, 151,198,
208, 209), und nur bei der Hauptverhandlung ist insofern ein Zugeständnis
gemacht worden, als hier ein Richter, in Vertretung der Staatsanwaltschaft,
die Anklage erhebt. Seine Funktion ist jedoch keine vom Gerichtshofe ge-
sonderte. Er ist im wesentlichen Gerichtsreferent.
358 I^^ Balkanstaaten. — St^rbien.
b) Nicht bloss die Vorerhebungen, sondern die ganze Vonmtersneliong
liegt in den Händen der Polizei. Hier ist jedoch dnrch die Veifassnng vom
24. Dezember 1888 eine einschneidende Änderung getroffen worden, indem die
bisherigen Funktionen der Polizei auf eine mit richterlicher Qualität ausgestat-
tete, selbständig fungierende üntersuchungskommission (genannt istrasus suedya)
übertragen wurde. Liegt hinreichendes Belastungsmaterial vor, so wird die
Strafsache der kompetenten Gerichtsbehörde abgetreten, welche alsdann als
eine An Anklagekammer fungiert und nötigenfaUs Ergänzung der Untersuchung
bezw. Untersuchungshaft des Inkulpaten verfugt.
c) Zulassung der Mündlichkeit, jedoch nur für die Hauptverhandlung.
d) Zulassung der Öffentlichkeit, jedoch ebenfalls nur für die Hauptver-
handlung (vgl. indessen Art. 153 der mehrcitierten Verfassung).
e) Zulassung der Verteidigung, anfangs nur in beschränktem Masse für
Mlndeijähnge, Abwesende, Kranke, der Landessprache Unkundige, Frauen,
dann durch 6. vom 25. Mai 1868 erweitert, und schliesslich durch Art. 154 der
Verfassung auf alle wegen eines Verbr. oder Veig. Angeklagten (vom Momente
der eröffneten Voruntersuchung ab) erweitert, so zwar, dass diese einen Ver-
teidiger haben müssen, während alle einen Verteidiger haben können.
f) Einführung des Schwurgerichts, jedoch nur für Raub, schweren Dieb-
stahl und Brandstiftung.
§ 6. Litteratnr und Rechtspreehung.
Eine Sammlung strafrechtlicher Entscheidungen des obersten Gerichtshofes
existiert in Serbien nicht, doch werden diese publiziert in den juristischen Zeit-
schriften, gegenwärtig in dem von Dr. Wesnitsch herausgegebenen „Pravnik" (der
Jurist). Von Kommentaren zum StGB, sei derjenige vom Staatsrate Zenitsch (aus den
sechziger Jahren) erwähnt; von systematischen Darstellungen diejenigen von Awa-
kumo witsch ge^^'enwärtig serbischem Minister. Dieselbe ist unter dem Titel „Theorie
des Strafrechts** von 1882 — 1884 erschienen, aber noch nicht beendigt. Den Straf-
prozesH hat Radowitsch (1870) bearbeitet.
vn.
DIE SCHWEIZ.
1. Die deutsche Schweiz
(einschliesslich, der Bizndesgesetzgebung),
Von Dr. A. Teichmann,
ord. Profeflsor der Beeilte in Basel.
2. Die französische Schweiz.
Von Dr. A. Gautier,
ord. Professor der Bechte in Genf.
(Übersetzimg von Dr. €^rg Cmsen in Hannover.)
3. Das 8trafrecht des Kantons Tessin.
Von Stefano Gbbnzzi,
AdTokat in BeUinzona.
(Übersetzung von Dr. Georg Crnsen in Hannover.)
Übersicht
1. Die deutoche Schweiz (einschliesslich der Bundess^esetm^ebmi^).
I. Einleitung. Quellen und Litteratur. § 1. Kodifiziertes und nicht kodifiziertes
Recht. § 2. Bundesstrafrecht und Kantonalstrafrecht. § 3. Litteratur.
II. Erste Abteilung. Eidgenössisches (Bundes-)Strafrecht. § 4. Das Helvetische pein-
liche Gesetzbuch. § 5. Die Periode des Staatenbundes 1803—1848. § 6. Die
Straf gesetzgebung des Bundes seit 1848.
III. Zweite Abteilung. § 7. Die Kantonalstrafgesetzgebung. 1. Aargau. 2. St. Gallen.
3. Basel-Stadt und Basel-Land. 4. Luzem. 5. Schaflfhausen. 6. Zürich. 7. Thur-
gau. 8. Graubänden. 9. Solothum. 10. Appenzell a Rh. 11. Unterwaiden o W.
12. Bern. 13. Glarus. 14. Schwyz. 15. Zug.
2« Die franz5si8che Sch^ireix«
I. Die Quellen. § 1. Kanton Waadt. § 2. Kanton Wallis. § 3. Kanton Freiburg.
§ 4. Kanton Genf. § 5. Kanton Neuenburg.
IL Die Grundzüge des Strafrechts der französischen Schweiz. § 6. Giebt es ein
besonderes französisch-schweizerisches Strafrecht? § 7. Die allgemeinen Lehren.
§ 8. Die einzelnen strafbaren Handlungen.
3. Der Kanton Tessin.
I. Einleitung. § 1. Übersicht über die Litteratur. § 2. Geschichtliche Vorbemer-
kungen.
II. Der allgemeine Teil des Strafgesetzbuches. § 3. Das Strafgesetz. § 4. Die straf-
bare Handlung. § 5. Die Strafen. § 6. Endigung der Strafverfolgung und der
Strafvollstreckung.
III. § 7. Die einzelnen strafbaren Handlungen und ihre Bestrafung.
IV. § 8. Strafrechtliche Nebengesetze.
1. Das Strafrecht der deutschen Schweiz
(einschliesslich der BimdesgesetzgehuDg).
I. Einleitimg. Quellen und Litteratur.
Auch in der Schweiz wird der Satz als richtig anzusehen sein, dass
„Gesetz und Richteramt dem Volke sein Recht schafft". (O. Btilow, Gesetz und
Richteramt, Leipzig 1885.) Nur ist hier jedenfalls der Einiluss des letzteren
grösser, als anderwärts, wo es als zweckmässig erscheinen kann, das von oben
herab eingesetzte, unabhängige, rechtsgelehrte Richtertum an scharf formulierte
Bestimmungen des Gesetzes zu binden und eine Kontrolle in dieser Beziehung
mittels der Formen eines fein ausgebildeten Rechtsmittelsystems zu gewähren.
Demgegenüber weist von vornherein die Gesetzgebung der Schweiz kraft der
für die Aufstellung derselben massgebenden Faktoren eine andere Form auf,
welche dem Ermessen des Laienrichtertums, das mehr oder minder, direkt
oder indirekt, aus Volkswahlen hervorgeht, rücksichtlich Annahme der Straf-
würdigkeit einer Handlung weiteren Spielraum einräumt. Nicht überall ist
der Satz „nuUa poena sine lege" in der Verfassung oder in dem Straf- oder
Strafprozess-Gesetz ausdrücklich ausgesprochen, vielfach nur stillschweigend
vorausgesetzt oder als geltend angenommen, auch dann nicht immer ohne ge-
wisse Einschränkungen. Selbst aber wo ersteres der Fall, liegt nicht selten in
der Form des Strafgesetzes selbst der Grund, dass die Rechtsprechung der
in dieser Richtung angerufenen höheren Gerichte nur in ganz eklatanten
Fällen die Verletzung jenes Grundsatzes durch einen Richterspruch anerkennen
oder die Unvereinbarkeit der fraglichen Straf bestimmung mit jenem Grund-
satze aussprechen kann.
§ 1. Kodifiziertes und nicht kodifiziertes Recht.
Wie in vielen anderen Staaten ist gleichfalls das Strafrecht der Schweiz,
nach nur sehr kurzer Periode des Einheitsstaates, erst allmählich seit Beginn
dieses Jahrhunderts in 22 Kantonen, sowie für die wichtigsten Interessen des
Bundes in modern-systematischer Form kodifiziert worden. Anlass hierzu gab
die durch die Ideeen der Aufklärungszeit geweckte und dann durch die
idealen Bestrebungen der Helvetik in weiterem Umfange gestärkte Überzeugung
von der Notwendigkeit grosser Reformen auf allen Gebieten des staatlichen
Lebens, verbunden mit einem in immer weitere Kreise eindringenden Ver-
ständnisse für die Anforderungen der angebrochenen neuen Zeit, welche nach
Zusammenbruch alles Alten und überlebten sowie Fortfall fremder Beeinflussung
oder Bedrohung eine Regeneration der Eidgenossenschaft aus eigener Kraft
3^32 I'** 5iß- der deaiscben Schweiz. — Einl^firang'. Qnelien and Lineramr.
al- e^5tre>>eIli^we^tes Ziel ei>c-h».-!nen li»rs»- X*x-h in viel höhtfrem Ibisse als
für manches andere befriedigender ansgestalieie GebM mnsste nun da eine
den »ehr versehied^-nartigen Lebensformen d»-r Bevöikemng in den einzelnen
.Schweizer Territorien an gepauste Kodifikation der die Strafrechtspfl^e im
w*-it^r»ten Sinne normierenden Sätze wünschenswert sein. Diese Erkenntnis
machte feich zuerst hauptsächlich in d^-n leitenden, gebildeteren Kreisen geltend.
während das Volk in Äussening Ton Wünschen vor der Hand noch sehr
massToll vorging und nur für einzelne Neuerungen ein grösseres Interesse an
den Tag l«-gte. dann erst allmählich mit Ausdauer die firringung der An-
erk«-nnung von Frei hei isrecht^-n d*-s Individuums und (Gleichheit Aller vor dem
Gf-s^'tze sich zum Zir-le setzte. Namentlich musste man sich überzt-ugen. dass
ohne Trennung der richterlichen G^-walt von Gesetzgebung und Verwaltung
ein Fortschritt unmöglich und an St«'lJe namenlos zersplitterter Gerichts-
barkeiten eine einfachere Gerichtsorganisation als Grundlage §ur ein öffent-
liches Veri'ahren mit Anklagebehörde und Verteidigung notwendig sei. Eben-
sowenig konnte man verkennen, dass grössere Klarheit und Bestimmtheit des
Gesetzes, wie sie in den Kodifikationsarbeiten benachbarter grösserer Staaten
mehr und mehr erzielt wurde, ganz einleuchtende Vorzüge aufwiese, sodass
ein starres Festhalten an dem chaotischen Gewirr einer nach Inhalt wie Form
gleich mangelhaften Gesetzgebung oder aber an schrankenlosem EIrmessen des
Richters fortan unthunllch imd verwerflich sei. Nur Kurzsichtigkeit konnte
dem Volke hier ond da noch länger eine bessere imd tiefere Bildung vor-
enthalten wollen, während Aufgeklärtere es mit Recht ihres Amtes erachteten,
das Volk über das Wesen von Recht und Staat, Rechte und Pflichten des
Bürgers und des Richters usw. aufzuklären. Nach und nach forderte dann
auch das Volk Anteil an der Leitung des Staates und nahm den Kampf auf
gegen Verfassimgen, welche der Verklausulierung in Art. 7 des Bundesvertrages
vom 7. August 1815 entsprachen, nicht aber dem einfachen Satze des Art, 3
der Mediationsverfassung vom 19. Homung 1803, Kap. 20: „Es giebt in der
Schweiz keine Unterthanenlande mehr. Alle Privilegien, die Wohnort und
Abst^immung gaben, sowie die einzelner Personen und Familien, sind auf-
gehoben."* Jetzt forderte man Beseitigung der lästigsten Beschränkungen der
Presse, freies Niederlassungsrecht, Handels- und Gewerbefreiheit, Vereinsrecht,
Beschränkung der Todesstrafe. Milderung anderer schwerer Strafen unter
FaUenlassen wenig kostspieliger, aber auch wenig nutzender, wenn nicht sogar
schädlicher Strafformen, bei denen man sich lediglich des Delinquenten so
schnell als möglich zu entledigen trachtete; endlich auch gr<)ssere staatliche
Fürsorge in präventiver Beziehung, wo lediglich repressive Massregeln nicht
ausreichen konnten. Philanthropische Bestrebungen zimi Zwecke der Rettung
und Besserung der verwahrlosten Jugend lenkten die Aufmerksamkeit auf die
grossen Mängel des damaligen Gefangniswesens und führten zur Einsicht, dass
ohne grosse Opfer in dieser Richtung jede Strafrechtsreform von vornherein
undurchführbar sein müsse. Diese und ähnliche Gründe bewogen also die
seit der Mediationsverfassung „souveränen" Kantone, je nach Gunst der 2ieit-
verhältnisse bald früher, bald später, auch auf strafrechtlichem Gebiete Kodi-
fikationsarbeiten in AngriflT zu nehmen. Gewiss konnte der Erlass eines Straf-
gesetzbuches als eine der wesentlichsten Bethätig^ngen der Staatsgewalt gelten.
Doch wäre es wohl irrig, wollte man hierin allein den Antrieb zu den aller-
dings mit ganz besonderem Eifer seitens der Kantone gepflegten Strafgesetz-
gebungsarbeiten sehen. Bei einem überblick über die hier entfaltete reiche
und ausgedehnte Thätigkeit wird man sich dem Eindruck nicht verschliessen
können, dass wirkliches, lebendiges Interesse für Würde und Wohlfahrt des
Staates den Ausschlag gab und einige Kantone immer wieder von neuem
§ 1. Kodifiziertes und nicht kodifiziertes Recht. 363
nach inzwischen gesammelten Erfahrungen weitere Verbesserungen einzuführen
veranlasste. Hierbei war man nun allerdings, da das Strafrecht wenigstens
in der deutschen Schweiz niemals eine wissenschaftliche Bearbeitimg und Fort-
bUdung gefunden hatte, zumeist auf fremdes Vorbild angewiesen. Die Blicke
der Redaktoren richteten sich hier fast naturgemäss nach dem Lande, von
dem man schon bisher sehr starke Impulse empfangen hatte und wo gerade
das Strafrecht von jeher einer besonderen Pflege sich erfreute. Und dies um
so mehr, als gerade in diesem Jahrhundert in Deutschland die Strafrechts-
wissenschaft sich auf das Glänzendste entfaltete. Von Gesetzgebungswerken
fanden zuerst das österreichische Gesetzbuch über Verbrechen von 1803 und
dann das noch einflussreichere bayerische von 1813 treffliche Verwertung,
später die Gesetze von Hannover, Baden und Preussen, in neuester Zeit das
deutsche Reichsstrafgesetzbuch selbst auch ausserhalb des Gebietes der deut-
schen Schweiz grösste Beachtung. Die bei dieser Anlehnung an fremdes
Recht zu überwindenden Schwierigkeiten waren nicht gering. Um sie richtig
zu würdigen, fehlt uns noch oft der richtige Massstab. Nüchterne Verständig-
keit und volle Hingabe an die grosse Aufgabe trugen wesentlich zu dem Ge-
lingen mancher dieser Arbeiten bei. Abgesehen von den grossen Verschieden-
heiten in staatsrechtlicher Beziehung handelte es sich in der Schweiz um
Schaffung von einfachen, kurzen, praktisch abgefassten Strafgesetzbüchern
ohne philosophischen und doktrinellen Ballast. Es sollten dieselben dem
Volke verständlich und durch Laienrichter durchführbar sein. Eigenartige,
und dem Volke lieb gewordene und vom Rechtsbewusstsein festgehaltene
Institutionen, wo immer solche bestanden, waren möglichst festzuhalten und
fortzuentwickeln. Nicht immer ist man in dieser Hinsicht glücklich gewesen.
Manches der Erhaltung nicht Unweite wurde dem nur scheinbar Besseren
geopfert, öfters unzweckmässig in kleinlicher Änderungssucht von dem ander-
wärts Geltenden abgegangen, wo solche Originalität sehr unangebracht war —
oder aber in Vereinfachung und Zusammenziehung so weit gegangen, dass
darin eine klare und feste Regelung kaum mehr zu sehen war. Von Schweizern
selbst wurde eine Zeitlang die geringe Selbständigkeit beklagt, die man bei
einzelnen Gesetzgebungsarbeiten beobachten konnte, während doch damals,
noch mehr als heute, die einzelnen Stände eine vollkommen ausgeprägte
Sondernatur zeigten. Manches hat sich freilich später gebessert, wie denn
zweifellos die Gesetzbücher von Appenzell A.-Rh., Schwyz und Glarus landes-
eigentümliche Werke von unerreichter Einfachheit darstellen. Ist dies nicht
in weiterem Umfange gelungen, so liegt der Grund gewiss weniger in dem
Willen und Verständnis der mit solchen Arbeiten betrauten Personen, als in
allgemeinen Verhältnissen. Denn auch die Schweiz konnte sich nicht auf die
Dauer dem Nivellierungsprozesse entziehen, der mehr und mehr die straf-
rechtlichen Institutionen der einzelnen Völker einander ähnlich gestaltet und
dem Eindringen kosmopolitischer Gesichtspunkte Vorschub leistet. Diesem
Momente ist es wohl auch zuzuschreiben, dass die unzweifelhaft vorhandenen
Spuren eines nationalen Gepräges der Schweizer Strafgesetzgebung keine
rechte Entfaltung gewinnen konnten. Vom patriotischen Standpunkte aus mag
dieses Bekenntnis dem Einzelnen recht schwer fallen und es ist deshalb l)ei
echten Patrioten auch nicht zu verwundem, wenn sie hierzu sich nicht ver-
stehen wollen, wobei ganz gern anzuerkennen ist, dass einzelne Fragen noch
nicht genügend aufgeklärt sind, weil überhaupt über den Zustand der Straf-
rechtspflege in den einzelnen Kantonen mangels geeigneter Veröffentlichungen
sich nur schwer ein völlig zutreffendes Urteil gewinnen lässt. Übrigens
machten sich in neuerer Zeit auch besondere Schwierigkeiten geltend, da
neben die ursprünglich allein über das Geschick eines Entwurfes entscheidenden
364 I^as StR. der deutschen Schweiz. — Einleitung. Quellen und Litteratur.
gesetzgebenden Behörden von der Mitte dieses Jahrhunderts an noch in einer
stetig steigenden Zahl von Kantonen eine Volksabstimmung trat, welche Be-
schränkmigen auferlegte, mit denen man anderwärts nicht zu rechnen hatte.
Mehr und mehr drängten sich die kantonalen Kodifikationen, gelegentlich bei
Änderungen der Gerichtsverfassung oder des Verfahrens sowie durch einzelne
Gelegenheitsgesetze durchbrochen und den jeweiligen Zeitströmungen Rechnung
tragend. Hatte die deutsche Partikulargesetzgebung bis 1870 allmählich
einige 20 Gesetzbücher geschaffen, so traten im gleichen Zeiträume in der
Schweiz nach und nach einige 40 Gesetzbücher, einander in Geltungskraft
ablösend, auf imd gelten auch zur Zeit noch neben zwei Gesetzen des Bundes
in 22 Kantonen 22 verschiedene Strafgesetze (vom Polizeistrafrecht ganz al)-
gesehen). Wohl konnten die Strafgesetze der grösseren deutschen Staaten
wissenschaftliche Bearbeiter finden; das war dagegen schon aus Gründen des
oftmals geringen Herrschaftskreises bei Schweizer Gesetzen meist von vorn-
herein ausgeschlossen. Die mit einer solchen Rechtszersplitterung verbundenen
grossen Nachteile mussten sich, während auf vielen anderen Gebieten Rechts-
einheit erzielt wurde, immer mehr als jeden Fortschritt, namentlich auch auf
dem Gebiete des Strafv^ollzuges, hemmend erweisen.
Ganz ähnlich wie in Deutschland Mitte 1870 nur drei Gebiete (die beiden
Mecklenbui'g, Lippe-Schaumburg und Bremen) kodifikationslos waren, so sind
trotz einiger Versuche in dieser Richtung auch drei Gebiete der Schweiz (die
beiden Halbkantone Appenzell I.-Rh. und Nidwaiden, sowie Uri) bisher ohne
Kodifikation geblieben. Letztgenannter Kanton scheint allerdings einer solchen
zur Zeit nicht abgeneigt zu sein. Von den Vätern ererbter Freiheitssinn sträubt
sich hier in engem Kreise, wo das Rechtsbewusstsein des Volkes sich ganz
unmittelbar zur Geltung bringen kann, gegen jede, wie man meint, künstliche
Massregelung durch mehr oder minder gelehrte Gesetzesparagraphen. In
vollem Vertrauen überlässt man den Richtern als Männern des Volkes die
Rechtsprechung, sei es mit oder ohne Anhalt an ältere modernisierte oder im
heutigen Sinne anzuwendende Quellen, und anerkennt dieselben auch willig
als Schöpfer des Rechts.
§ 2. Bundesstrafrecht und Eantonalstrafrecht.
Neben die Scheidung in kodifiziertes und nicht kodifiziertes Recht tritt
die weitere in Bundesstrafrecht und Kantonalstrafrecht. Es entspricht dies
dem Wesen des Bundesstaates als der jetzigen Staatsform der Eidgenossen-
schaft seit der Bundesverfassung vom 12. September 1848. Denn selbst der
Einheitsstaat kann wenigstens auf strafrechtlichem Gebiete nicht nur gemein-
sames, einheitliches Recht haben, sondern muss daneben in Rücksicht auf
manche durch örtliche Bedingungen eigentümlich gestaltete Verhältnisse, welche
eine sachgemässe Ordnung nur durch partikulare Rechtssätze empfangen
können, nicht gemeinsames anerkennen, mag er nun selbst durch seine Gesetz-
gebung Gesetze mit Geltung nur für einen Teil des Staatsgebietes erlassen
oder durch Übertragung der Gesetzgebungsbefugnis an Behörden, Selbst-
vei'waltungskörper oder Körperschaften hierfür sorgen. Im Bundesstaate ist
eine solche Verschiedenheit des Rechts noch in viel höherem Masse bedeutungs-
voll und zweckmässig. Allerdings kann diese Kompetenzregulierung zwischen
(tesamtstaat und Gliedstaaten eine sehr verschiedene sein, wie dies die Er-
fahrung bestätigt.^) Die Bezeichnung „Bundesstaat" ist ja eben — wie neuestens
M Vgl. Trieps, Das deutsche Reich und die deutschen Bundesstaaten in ihren
rechtlichen Beziehungen. Berlin 1890; Westerkamp, Staatenbund und Bundesstaat.
Leipzig 1892.
§ 2. Bundesstrafrecht und Kantonalstrafrecht. 365
namentlich Hänel, Deutsches Staatsrecht, Leipzig 1892, Bd. I, 8.200 gezeigt
hat — nur ein Ausdruck „für den Thatbestand, den die politischen Einrich-
tungen Nordamerikas (seit 1787), der Schweiz (seit 1848) und Deutschlands
(seit 1867) aufweisen: planmässige Verteiliuig politischer Aufgaben zwischen
einer zentralen und einer Reihe dezentralisierter Organisationen — Ausrüstung
der Zentralgewalt und der dezentralisierten Gewalten mit gleichartigen Rechts-
und Machtmitteln zur Durchführung der einem jeden Teile gestellten Auf-
gaben — Willensbildung der zentralen Organisation unt^r dem doppelten Ein-
flüsse sowohl der Einzelstaaten als auch der Staatsbürger". Der Begriff des
Bundesstaates ist eben kein unabänderlicher, der Modifikation unzugänglicher,
sondern „eine Zusammenfassung der wesentlichen Merkmale, welche das
positive Recht dieser drei Staatenverbindungen als ihnen gemeinsame ergiebt".
Eingehend und zutreffend hat Hänel dargestellt, wie verschieden diese drei
Verfassungen den Wirkungskreis der Zentralgewalt und der Bundesglieder
festgestellt haben. So bestrebte sich die Unionsverfassung Nordamerikas, den
Grundsatz des Gleichgewichtes auf beide Staatswesen in reiner, rücksichtsloser
Durchführung anzuwenden, wonach kein Einzelstaat rechtlich verpflichtet ist,
zur Durchführung der der Union obliegenden Aufgaben seine Organisation,
seine Gesetzgebung oder Vollziehung bereit zu stellen, ohne Abhängigkeit
seiner Organe von denen der Union und ohne ihm drohendes Exekutionsrecht
der Union. Die Verfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft hat dagegen
trotz ihres Art. 2 und Art. 3 (welcher die kantonale „Souveränität" als Regel
proklamiert) die Wechselbeziehungen beider Teile nirgends grundsätzlich for-
muliert, wohl aber in bunter Mannigfaltigkeit die konkurrierenden Zuständig-
keiten derselben bestimmt, von der Voraussetzung ausgehend, dass die Kan-
tono zur Mitwirkung berufen sind, auch einem Exekutionsrechte unterliegen.
So hat der Bund nach jetziger Verfassung bald Gesetzgebung und Vollziehung
(Post, Telegraphie und Telephonie; Zollwesen, Pulverregal und Alkoholmonopol ;
Münzwesen), bald Gesetzgebung und Aufsicht oder Oberaufsicht (Militär-,
Mass- und Gewichtswesen; Wasserbau- und Forstpolizei im Hochgebirge) ; bald
Gesetzgebung und eine gewisse Rechtsprechung (bürgerliches Recht, Urheber-
recht, Patentrecht; Betreibungsverfahren und Konkursrecht; Auslieferung) oder
aber Gesetzgebung schlechthin (Bau und Betrieb von Eisenbahnen), bezw. nur
Erteilung von Direktiven (Press- und Vereinswesen; Kultus-, Handels- und
Gewerbefreiheit; Strafarten). Bei diesem Gesetzgebuugsprozess und bei Ver-
fassungsänderungen steht den Kantonen ein Mitwirkungsrecht zu, während für
die Gesetzgebung des deutschen Reiches innerhalb der Kompetenz desselben
den Einzelstaa^ten , ausserhalb ihrer Stellung im Bundesrate, ein solches nicht
gewährt ist (S. 244). Unendlich beschränkter als in Deutschland ist die eid-
genössische Kompetenz zu Regelung des Strafrechts ausgefallen. Es handelte
sich bei Schaffung einer bundesstaatlichen Organisation überhaupt in erster
Linie um Gewinnung eines Bundesgerichts und Strafrechtspflege desselben mit
Geschworenen. Natürlich konnte dieser kostspielige und schwerfallige Apparat
nur für einen ganz kleinen Kreis von Fällen in Aussicht genommen werden;
nur für solche, in denen die höchsten Interessen des Bundesstaates in Frage
standen. Die nähere Ausführung dieses Punktes überliess man — da auch
der Abschluss des Verfassungswerkes drängte — der späteren Bundesgesetz-
gebung. Sorgfältig hütete man sich hierbei vor jeglichem Eingriff in die kan-
tonale Souveränität, soweit nicht der zu schaffende Bund notwendigerweise
eine eigene Kompetenz zum Schutze seiner Institutionen beanspruchen durfte.
Zuerst schritt man, als die wichtigsten durch die Verfassung gebotenen Ge-
setze erlassen waren, zur Uniflkation der Militärstrafgesetzgebung. Einzelne,
zum Teil weit zurückreichende Versuche einheitlicher Regelung für die Truppen-
366 . Das StR. der deutschen Schweiz. — Einleitung. Quellen und Litteratur.
körper des Inlandes oder die in auswärtigem Dienste boten eine erwünschte
Grundlage für eine den stetig wachsenden Forderungen der Zeit entsprechende
Reform; hier war man auch in der Hauptsache einer Zentralisation in der
kräftigeren Hand des Bundes von vornherein nicht abgeneigt, sodass schon
1851 ein Straf-, Gerichtfiorganisations- und Prozessgesetz erlassen werden
konnte. Bei Inangriffnahme des gemeinen Strafgesetzbuches musste man sich
an die verfassungsmässigen Schranken (Art. 104 und 107 b der BV. von 1848)
halten und ging nur stillschweigend (gestützt auf Art. 106) etwas über jenen
Kreis hinaus, ohne hierbei auf Opposition zu stossen. Man errang 1853, was
damals irgend möglich war und musste sich mit dem Bewusstsein begnügen,
ein in vielen Beziehungen vorbildliches Gesetz geschaffen zu haben. Einzelne
Versuche der Ergänzung und Erweiterung des Bundesgesetzes über das Bundes-
strafrecht, sowie der Ausdehnung der Bundeskompetenz auf das Strafrecht im
weiteren Umfange sind bisher gescheitert; doch ist seit den letzten Jahren die
Wünschbarkeit einer eidgenössischen umfassenden Strafgesetzgebung in weiten
Kreisen erkannt, erfreulicherweise selbst seitens einzelner Kantone jedes
weitere legislative Vorgehen angesichts der schon begonnenen Vorarbeiten für
ein eidgenössisches Strafgesetzbuch vor der Hand eingestellt. — Eine grössere
Thätigkeit konnte der Bund nur da entfalten, wo es sich um die Fürsoi^
für die Befriedigung allgemeiner Interessen, gemäss den immer höheren Kultur-
aufgaben des modernen Staates, handelte. Sonst aber waren und blieben die
Kantone, lediglich durch einzelne Direktiven der Bundesverfassung beschränkt,
allein zur Regelung in strafrechtlicher Beziehung zuständig und haben denn
auch von dieser Befugnis den ausgedehntesten Gebrauch gemacht.
§ 3. Litteratur.
A. 8 traf recht. Erst in neuerer Zeit ist die Litteratur des Strafrechts der
deutschen Schweiz etwas umfangreicher geworden. Lange Zeit hat die Schweizer
Strafgesetzgebung eine eingehendere Berücksichtigung lediglich bei Mittermaier ge-
funden, der namentlich im „Archiv für Kriminalrecht^ mit grossem Interesse die Ent-
wicklung derselben verfolgte und öfters sich lobend über manche Vorzüge dieser
Arbeiten gegenüber ähnlichen deutschen aussprach. Dann hat von Schweizer Ge-
lehrten besonders Johannes Schnell (1812 — 1889)^) als Hauptbegründer der „Zeitschrift
für schweizerisches Recht ^, Basel 1852 ff., neben Herausgabe älterer Rechtsquellen mit
grosser Mühewaltung die kantonale Rechtsgesetzgebung gesammelt und über Ent-
würfe wie Gesetze, Litteratur und Organismus der kantonalen Gesetzgebungen als
scharfer Kritiker berichtet. Ebenso hat Osenbrüggen (1807—1879)*) mit liebevoller
Versenkung in das Detail der älteren Quellen durch seine bekannten rechtshistorischen
und kleinere dem neueren Rechte gewidmete Arbeiten zu besserer Kenntnis der
Schweizer Zustände beigetragen, auch A. v. Orelli (1827—1892^) mehrfach die Institu-
tionen der Schweiz beleuchtet und speziell Fortschritte im Gefängniswesen angebahnt.
Eine Darstellung des Strafrechts mehrerer Kantone versuchte zuerst Constantin
Siegwart-MüUer in dem Werke: „Das Strafrecht der Kantone Uri, Schwyz, Unter-
waiden, Giarus, Zug und Appenzell", St. Gallen 1833, wobei er die Mängel desselben
zu zeigen und die Strafrechtspflege dieser demokratischen Kantone der Zeit näher
zu bringen beabsichtigte. Lange nach ihm veröffentlichte Temme (1798—1881),*) der
schon früher auf die Schweiz mannigfach hingewiesen hatte, das erste und bisher
einzige „Lehrbuch des schweizerischen Strafrechts nach den Strafgesetzbüchern der
Schweiz". Aarau 1855. XV, 684 Seiten.
*) Nekrolog von Andreas Heusler in der Zeitschr. für Schweiz. Recht, XXXI, 1—8.
■') Vgl. Gerichtssaal, Bd. XXXI 321 — 326; Krit. Vierteljahresschrift , Bd. XXII,
321-326.
*) Nekrologe von Rivier in der Revue de droit international 1892, p. 104 — 108;
von Zürcher in der Zeitschr. für Schweizer Strafrecht, Bd. V 84—87; von A. Heusler in
der Zeitschr. für Schweizerisches Recht, XXXII, 305—308.
*) Vgl. Erinnerungen von J. D. H. Temme herausgegeben von Stephan Bom^
.Leipzig 1H83.
§ 3. Litteratur. 367
Als entschiedener Feind der Zentralisation und Kodifikation war Temme bestrebt,
auf das Rechtsbewnsstsein des Volkes als die eigentliche Quelle des Rechts zurück-
zugehen. Er brachte aber nur das Recht von 11 Kantonen mit wesentlich deutschem
Recht, sowie ganz kurz das Bundesstrafrecht (ausschliesslich des Militärstrafrechtsj
zur Darstellung. Leider fand dieses für seine Zeit höchst verdienstliche Werk trotz
grosser Änderungen der Strafgesetzgebung keine neue Bearbeitung. Das rasch an-
wachsende Material der Kantonalrechte schreckte mehr und mehr vor einer zusammen-
fassenden Behandlung ab. Einheitsbestrebungen aber fanden nur sehr allmählich
einige Befürworter. Neben dem stetig steigenden Interesse der rechtsvergleichenden
Forschung an Kenntnis auch der Schweizer Rechtszustände kamen neue Anregungen
mancherlei -^rt von zwei Vereinen, denen auch auf strafrechtlichem Gebiete grosses
Verdienst zuzuschreiben ist. P^s waren dies einerseits der 1861 gegründete „Schweizer
Juristenverein", der auch strafrechtliche Themata zur Erörterung brachte;^) anderer-
seits der 1867 entstandene „Schweizerische Verein für Straf- und Gefängniswesen**,
der weitere Kreise zur Förderung seiner Bestrebungen anregte und Berichterstattungen
über die Fortschritte auf diesen Gebieten, wie auch über die Entwicklung des kan-
tonalen Rechts bei seinen Versammlungen einführte.') Mehr und mehr fanden die
Arbeiten von Strafanstaltsdirektoren der Schweiz (Kühne, Hürbin, Dr. Guillaume u. a.)
auch im Auslande wohlverdiente Anerkennung. Schon lange in engen Beziehungen
mit Schweizer Fachmännern gab sodann v. Holtzendorff in seinem „Handbuch des
deutschen Strafrechts'*, Bd. I, Berlin 1871, S. 145—152 eine Übersicht über die Straf-
gesetzgebung der Schweiz und folgte ihm speziell in längerer Ausführung über das
Gefängniswesen v. Jagemann in dem mit v. Holtzendorff herausgegebenen „Handbuch
des Gefrtngniswesens", Bd. I, Hamburg 1888, S. 206-222. Endlich wagte Stooss die
Herausgabe einer allen Strafrechtsdisziplinen gewidmeten „Zeitschrift für Schweizer
Strafrecht", Bern 1888 if. (französisch als „Revue pönale suisse" bezeichnet), die ver-
möge vielseitiger Mitwirkung aus allen Kantonen schnell über alle wichtigeren Vor-
gänge zu berichten in der Lage war und zu gedeihlicher Pflege einer wirklich
schweizerischen Straf rechts Wissenschaft kräftige Anregung gab. Bald darauf erschien
nach jahrelangen Vorarbeiten das in geschichtlicher Beziehung weit zurückgreifende
und die einzelnen Strafgesetzbücher von ihrem Entstehen bis auf die jüngste Zeit
herab verfolgende Werk von H. Pfenninger, „Das Strafrecht der Schweiz". Berlin
1890, XXVIII, 889 Seiten. Es ermöglichte die Übersicht über die unendliche Fülle
des vorhandenen Gesetzgebungsmaterials und verband damit beachtenswerte Er-
örterungen über Form und Inhalt eines nunmehr in Aussicht genommenen gemein-
samen Strafgesetzbuches. Mit diesen Vorarbeiten wurde vom hohen Bundesrate Stooss
betraut. Als notwendige Grundlage zu weiterer Arbeit veröffentlichte derselbe zu-
erst eine textgetreue, nach Materien geordnete Zusammenstellung des wichtigsten
Inhaltes aller Strafgesetzbücher der Schweiz: „Die schweizerischen Strafgesetzbücher
zur Vergleichung zusammengestellt und im Auftrage des Bundesrates herausgegeben"
(Les Codes ponaux suisses. Ranges par ordre de matiferes et publi^s ä la demande
du conseil federal). Basel und Genf (Bale et Geneve) 1890 — XXXI, 867 Seiten, welcher
Arbeit sich sehr bald als weiterer Band anschloss: „Grundzüge des schweizerischen
Strafrechts". Erster Band 1S92. Basel und Genf. X, 470 Seiten. Zweiter Band im Druck.
Dieses Werk giebt eine genaue Übersicht über die kantonalen Strafgesetzbücher
wie die Litteratur des Schweizer Strafrechts, eine Darstellung des Bundesstrafrechts
in seinen verschiedenen Zweigen, eine besonders eingehende (auf Ermittelungen an
Ort und Stelle gestützte; Schilderung der Rechtspflege in den Kantonen ohne Kodi-
fikation, endlich eine rechtsvergleichende Besprechung der Materien des allgemeinen
Teils der Gesetzbücher mit besonderer Berücksichtigung der Regelung des Gefängnis-
wesens und sonstiger damit in Verbindung stehender Einrichtungen. In letzterer Be-
ziehung fanden namentlich die neuesten Erhebungen über die Raumverhältnisse der
Strafanstalten und die Bewegung der Gefängnisbevölkerung usw. Verwertung, die
seit Übertritt von Dr. Guillaume an die Spitze des eidgenössischen statistischen Bu-
reaus im Hinblick auf eine höchst wünschbare Kriminalstatistik der Schweiz mit
grösstem Eifer gepflegt werden.
Für Monographieen, einzelne Abhandlungen, früher erschienene und jetzt noch
*) Vgl. den Bericht von Prof. A. Zeerleder: Der Schweizer Juristen verein. Über-
sicht seiner Thätigkeit in den ersten 25 Jahren 1861—1886. Basel, C. Detloffs Buch-
handlung, 1887.
*) Bisher 17 Versammlungen. Die Vereinshefte erschienen an verschiedenen
Orten, in den letzten Jahren zu Aarau (Sauerländer). Jüngst hat sich dem Verein die
interkantonale Vereinigung der schweizerischen Schutzaufsichtsvereine auch für die
Versammlungen angeschlossen.
368 I^as StR. der deutschen Schweiz. — Eidgenössisches (Bundes-) StR.
erscheinende Zeitschriften muss hier auf die genauen Angaben S. 17 ff. der „Grund-
züge* von Stooss verwiesen werden; für wichtigere Rechtsfäile auf die Angaben von
Pfenninger bei den einzelnen Gesetzbüchern und — was die letzten Jahre betrifft —
auf die „Zeitschrift für Schweizer Strafrecht". Dazu noch die Notiz, dass eine er-
weiterte Ausgabe der ^^Bibliographie pönale et p6nitentiaire suisse" Lenzbourg 188')
(^ Actes du congr^s p^^nit. intemat. de Rome, II 127—167) zur 25jährigen Feier des
Schweizer Vereins für Straf- und Gefängniswesen für 1893 vorbereitet wird. — Eine
amtliche Sammlung der Entscheidungen des Schweizer Bundesgerichts (Arröts du
tribunal fedi»ral suisse) erscheint in Lausanne seit 1876.
B. Neueres Staatsrecht der Schweiz: Blumer, Handbuch ^des Schweiz.
Bundesstaatsrechts, 2 Bde., Schaffhausen 1863, 1864; 2. Aufl. von Dr. J. Morel, SchafF-
hausen und Basel 1877— 18S7 in 3 Bänden; 3. Aufl. Basel 1891 ff". — Rüttimann, Das
nordamerikanische Bundesstaatsrecht verglichen mit den politischen Einrichtungen der
Schweiz, 2 Teile, Zürich 1867, 1872, 1876. — A. v. Orelli, Das Staatsrecht der Schweiz.
Eidgenossenschaft (in Marquardsens Handbuch des öffentlichen Rechts, 4. Bd., 1. Halbbd.,
2. Abtl., Freiburg i. B. 1885. — Kaiser (Die Bundesverfassung) in Wirth, Allgemeine
Beschreibung und Statistik der Schweiz, Tl. Bd., Zürich 1873. — Strickler (Bundesver-
fassungen) im Suppl. zum Volkswirtschafts-Lexikon der Schweiz von A. Forrer, Bern
1891, S. 79— 104. — Strickler, Verfassungsbüchlein, 2. Aufl., Bern 1891. — Contuzzi,
II diritto pubblico della confederazione svizzera, Venezia 1889. — Adams et Cunning-
ham, La confed^ration suisse, pr6face de L. Ruchonnet, B&le, Geneve, Lyon 1891. —
Vincent, State and Federal Government in Switzerland, Baltimore 1891. — A. Bushnell
Hart, Introduction to the study of federal govemment, Boston 1891. — Boyd Win-
chester, The Swiss Republic, Philadelphia 1891. — Wichtig für die Praxis der "Bundes-
behörden: UUmer, Die staatsrechtliche Praxis der Schweiz. Bundesbehörden, Bd. I
(1848-1860), Zürich 1862, Bd. II (1848-1863), Zürich 1866; französisch von Dr. E. Borel,
NeuschÄtel 1864, 1867. — Schweizerisches Bundesrecht. Staatsrechtliche und verwaltungs-
rechtliche Praxis des Bundesrates und der Bundesversammlung seit dem 29. Mai 1874.
Im Auftrage des schweizerischen Bundesrates dargestellt von Prof. Dr. L. R. v. Salis,
bisher 3 Bde., Bern 1891 — 1892. Französisch von Generalprokurator Dr. E. Borel (Le
droit f^'ideral suisse, I. Berne 1892); italienisch von Staatsrat Dr. Colombi.
C. Bundesgesetzgebung. Die „Amtliche Sammlung der Bundesgesetze xxnd
Verordnungen der schweizerischen Eidgenossenschaft^ erschien für die Jahre \S4i<
bis 1874 zu Bern, Stämpflische Buchdruckerei, in 11 Bänden;^) eine Neue Folge für
1874—1888 ebenda in 10 Bänden; seit 1889 eine Neue Folge II. Serie (unter Fallen-
lassen dieser Bezeichnung wird der I. Band derselben gewöhnlich als N. F. Bd. XI,
der folgende als Bd. XII bezeichnet). Die entsprechende französische Ausgabe ist
der „Recueil officieP, die italienische „Raccolta officiale**. Offizieller, entscheidender
Gesetzestext ist aber nur der deutsche (vgl. v. Salis, I 415 ff.). — Das gewöhnliche
Publikationsorgan des Bundes ist: Schweizerisches Bundesblatt, Bern. Stämpflische
Buchdruckerei, Jahrgang 1848 ff. (auch in französischer Ausgabe).
Eine sehr gewissenhafte und höchst praktische Arbeit ist: Die schweizerische
Bundesgesetzgebung. Nach Materien geordnete Sammlung der Gesetze, Beschlüsse,
Verordnungen und Staats vertrage der schweizerischen Eidgenossenschaft, sowie der
Konkordate mit Anmerkungen von Dr. jur. et lic. P. Wolf, 2 Bde. Basel 1890, 1891.
n. Erste Abteilnng. Eidgenössisches (Bundes-) Strafrecht.
§ 4. Das Helretische peinliche Glesetzbueh.
Während der kurzen Periode der Hclvctik (1798—1803) hat die Eid-
genossenschaft in ihrem damaligen Bestände der 13 alten Orte (Stände) ein-
heitliches 8trafrecht (für die schwereren Verbrechen) besessen, das freilich in
jenen Zeitläuften wohl nicht überall zur Anwendung gebracht worden sein mag.
Unter französischem Einflüsse wurde sie zufolge Proklamation der zu Aarau
versammelten Abgeordneten sämtlicher Kantone vom 12. April 1798 plötzlich
zu einem Einheitsstaat — zur „Röpublique une et indivisible". Einheit des
^) Der erste Band (erschienen 1849, 2. Aufl. 1850) ist betitelt: „Offizielle Samm-
hing ..." (im nachfolgenden mit O. S. bezeichnet). Als Abkürzung wird „A. S.** ge-
braucht.
§ 4. Das Helvetische peinliche GB. 369
Civil- und Strafrechts, einschliesslich des Prozesses, musste unter den damaligen
Verhältnissen, als fast selbstverständliche Folge der Staatseinheit, höchst wünscb-
bar erscheinen, wenn auch dieser Punkt in der ersten helvetischen Verfassung
nicht ausdrücklich berührt wurde. Erst die folgenden Verfassungen, besonders
die zweite vom 12. Mai 1802, erwähnen dieses Punktes, allerdings für das
ausserhalb des Strafrechts und Strafprozesses liegende Gebiet in einschränkendem
Sinne.^) Jedenfalls schien zur Stütze der neuen Staatsgewalt vor allem eine
zeitgemässe Strafgesetzgebuug dringend notwendig. Erwünschten Aufschluss
über die Einzelheiten der hierauf bezüglichen Arbeiten und Vorgänge geben
uns jetzt die im IV. Bande der grossen, von Dr. Johann Strickler*) bearbeiteten
„Amtlichen Sammlung der Akten aus der Zeit der Helvetischen Republik'*
(Bd. I — III. Bern 1886 — 1889) nächstens zur Veröffentlichung kommenden
Materialien. Es dürfte nicht ohne Interesse sein, einiges aus denselben hier
mitzuteilen.
Schon am 27. April 1798 wurde eine Kommission für die Materien der
Strafgerichtsbarkeit bestellt, eine allgemeine Anregung vom Direktorium in
der Botschaft vom 4. Oktober gegeben (Bd. III, No. 8, S. 71, 72) und am
10. November erneuert. Es handelte sich um Organisation, Prozess und Straf-
gesetz. Ein erstes, von B. F. Kuhn verfasstes Gutachten der Grossratskommission
„über die Grundideeen einer neuen Einrichtung des Kriminalgerichtswesens"
wurde am 24. Januar 1799 vorgelegt (Bd. IV, 415 — 429). Dasselbe ist separat
in kl. 8® (47 Seiten), auch französisch (51 Seiten), veröffentlicht worden. Am
25. März folgte die Vorlage eines Gutachtens, das einen nur wenig veränderten
Auszug des französischen Gesetzbuches (code p^nal du 25 septembre — 6 octobre
1791) enthielt. Bei den Beratungen erklärte Secretan (Referent), „ein ganz
neues Gesetzbuch zu entwerfen und in beiden Räten nach sorgfältiger Behand-
lung anzunehmen, würde jahrelange Arbeit erfordern, und da man gegenwärtig
noch in den verschiedenen Teilen Helvetiens die schrecklichsten Kriminal-
gesetzbücher befolgen sollte, so sei es selbst der Menschlichkeit eben so sehr
als der Klugheit und dem Bedürfnis des Vaterlandes gemäss, dieses auf wahre
Grundsätze gebaute System ohne Aufschub und ohne weitere Beratung im
Vertrauen auf die Vortrefflichkeit des ti*anzösischen Gesetzbuches auch für
Helvetien anzunehmen". Escher, einverstanden hinsichtlich des dringenden
Bedürfnisses, wünschte Beratung und sprach sich namentlich gegen Todesstrafe
und Landesverweisung aus. Carrard hielt das Gesetzbuch für allen bekannt,
für das menschlichste unter allen und auf die neuesten Grundsätze der Philo-
sophie gegründet, daher ohne weiteres annehmbar. Escher bestritt, dass das
Gesetzbuch so bekannt sei und wünschte auch wegen der im Entwurf vor-
geschlagenen Änderungen Beratung — was auch beschlossen wurde. — In der
Sitzung vom 27. März hielt Escher eine grosse Rede gegen die Todesstrafe und
erachtete das Schweizer Volk für würdig, allein und selbständig mit Abschaffung
derselben vorzugehen. Dagegen trat namentlich Huber für dieselbe ein, zumal
sie weniger grausam sei, als das Schiffziehen Josephs II., forderte aber wegen
zu häufiger Androhung derselben, wie auch der 20jährigen Kettenstrafe, Rück-
weisung an die Kommission. Secretan meinte, dass Abschaffung der Todes-
strafe im gegenwärtigen Augenblicke gefährlich sei. Nachdem am 30. März
noch einige Redner für die Todesstrafe eingetreten, wurde der Entwurf an-
*) C. Halty, Öffentliche Vorlesungen über die Helvetik, Bern 1878, S. 616 ff.
^) Für gefällige Zusendung der betr. DruckJ^ogen bin ich demselben zu Dank
verpflichtet. — Dieser IV. Band ist inzwischen erschienen.
Vorschläge und Motive für die Vereinheitlichung des Rechts enthält die neueste
Schrift von Oberrichter G. Wolf in Zürich : Rechtswirrwarr und Rechtseinheit oder das
jetzige und das zukünftige schweizerische Recht. Zürich 1892.
Sirafgesetzgebung der Gegenwart. I. 24
370 t)as StR. der deutschen Schweiz. — Eidgenössisches (Bundes-) StR.
genommen, jedoch eine Einleitung zu demselben gewünscht. Diese gab am
1. April Secretan, indem er ausführte: Das Bedürfnis einer besseren Gesetz-
gebung lasse sich nirgends so lebhaft fühlen, als in Rücksicht der peinlichen
Gesetzgebung. Noch sei das karolinische „Abscheu erweckende Gesetz" nicht
gesetzlich abgeschafft und „die Gesetzbücher der Tyrannen beherrschten freie
Männer". Die Gleichförmigkeit der Anstalten der Schweiz mit denen der
grossen Republik gebe von vornherein dem französischen Gesetz einen sehr
natürlichen Vorzug; derselbe werde aber auch weiter gerechtfertigt, da sich
die Kommission überzeugte, dass die „Sammlung von einfachen und deutlichen
Gesetzen die Strenge der Gerechtigkeit mit der der Menschheit schuldigen
Achtung vereinige". Nirgends sei darin die Todesstrafe verschwenderisch an-
gebracht; überall zwischen Verbrechen und Strafen ein richtiges Verhältnis
beobachtet, sodass zur Anpassung in der Schweiz nur sehr geringe Verände-
rungen notwendig gewesen seien. — Der Entwurf wurde hierauf g^tgeheissen.
Am 11. April kam derselbe zur Vorlage im Senate, der denselben an eine
Kommission wies. Nach Bereinigung einiger Redaktionsversehen durch die
Grossratskommission am 29. April von neuem vorgelegt, wurde der Entwurf
ohne grosse Debatte in der weiteren Sitzimg vom 3. Mai angenommen.
Das hiernach zu Luzern am 1. April 1799 vom Grossen Rat beschlossene,
am 4. Mai vom Senat bestätigte „Helvetische peinliche Gesetzbuch" (code p6nal)
wurde am 8. Mai von dem Präsidenten des vollziehenden Direktoriums, Peter
Ochs, dem Minister der Justiz und Polizei F. B. Meyer von Schauensee (Luzern)
zum Druck und Mitteilung an die Tiibunalien der Republik zugestellt. Der
Druck verzögerte sich, sodass ein Dekret vom 4. Juni auf Beschleunigung
dringen musste.
Der französische (damals im „Bulletin des loix" II, 542—589 veröffentlichte) Text
ist jetzt in sorgfältiger Revision in der Amtlichen Sammlung, Bd. IV, 393—414 mit-
geteilt; der deutsche offizielle Text damaliger Zeit steht im „Tageblatt der Gesetze
und Dekrete der gesetzgebenden Räte der Helvetischen Republik". Bern 1798, ge-
druckt in der Nationalbuchdruckerei, 2. Heft, S. 569—621. Eine Separatausgabe in 4^
ohne Ort und J. umfasst 38 Seiten; eine des französischen Textes (A Lausanne, de l'im-
primerie d'Henri Vincent) 28 Seiten; eine mit italienischem Text in S^ (Lugano, presso
Rossi 1 ottobre 1800 mit Dekreten vom 28. I. 1800 und 28. II. 1800) 40 Seiten. — Der
deutsche Text (der in einer Nacht abgefasst sein soll) ist vielfach fehlerhaft und
mangelhaft, immerhin weniger mangelhaft als die in Strassburg bei, F. G. Levrault,
des niederrheinischen Departements Buchdrucker, ohne J. erschienene Obersetzung der
Loi du 25 septembre 1791. — Dagegen sind als gute Ausgaben des Helvetischen pein-
lichen GB. zu nennen: 1. Peinliches Gesetzbuch der helvetischen einen und unteil-
baren Republik mit XVIII Supplementen, wie es im Kanton Bern noch in Anwendung
ist. Genau nach dem Originaltext aufs neue gedruckt und vermehrt durch das
Kindermords-, Hochverrats- und Diebstahlsgesetz. Bern 1838. Druck und Verlag von
Chr. Fischer. — 2. Helvetisches peinliches Gesetzbuch mit den dasselbe in einzelnen
Paragraphen und ganzen Titeln aufhebenden, modifizierenden und ergänzenden
späteren Gesetzen für die Republik Bern. 1839 bei C. Langlois in Burgdorf.
Eine Vergleichung des Textes mit dem des französischen Vorbildes*)
ergiebt, dass nur geringfügige, durch die Schweizer Verhältnisse gebotene
Veränderungen daran vorgenommen wurden, natürlich auch einige Weg-
lassungen. Neu ist die durchlaufende Numerierung der Paragraphen („articles**),
die in Frankreich erst im Code des delits et des peines du 3 brumaire an IV
sich findet. Das Gesetz schliesst eigentlich mit den auf 2 Alinea beschränkten
Übergangsbestimmungen hinter § 209. Nun folgt ein Zusatztitel („titre addi-
*) Eine eingehendere Besprechung des Gesetzbuches bei Correvon, Avant-projet
de Code p6nal, Lausanne 1879, p. 60—64 (auch in den Actes du congres pdnitentiaire
international de Rome, tome II 1. partie, Rome 1888, p. 652—659). — Pfenninger, 142
bis 156. — Stooss, Grundzüge 2—6.
§ 4. Das Helvetische peinliche GB. 371
tionner*) über die Gleichheit der Strafen („sur ]*6galite des peines") mit 4 Pa-
ragraphen. Bisher scheint der Ursprung derselben nicht erkannt worden zu
sein. Es sind dieselben nämlich wörtlich der loi du 21 jan vier 1790^) ent-
nommen.
Schon vorher (12. Mai 1798) war die Folter, soweit sie noch bestand, in
ganz Helvetien abgeschafft worden. Ein Gesetz vom 19. Oktober 1798 unter-
sagte die Konfiskation des Vermögens von Selbstmördern und ein weiteres
vom 19. Februar 1799 hob alle Strafen der früheren Kantonsregierungen wegen
religiöser, sektiererischer Meinungen auf.^ Diese Milde zeichnet auch das
Gesetzbuch in einzelnen Punkten aus. So soll namentlich die Todesstrafe,
welche freilich sehr erklärlich bei Verbrechen gegen die äussere und innere
Sicherheit des Staates und manchen Verbrechen gegen die Verfassung an-
gedroht ist, ohne jede Marter durch Enthauptung vollzogen werden. Bisher
herkömmliche Strafmittel, wie Galgen, Brandmarkung und Staupenschlag, sind
abgeschafft. Die Freiheitsstrafen sind nicht lebenslänglich; Kettenstrafe , aus-
geschlossen gegenüber weiblichen Personen, im Maximum auf 24 Jahre be-
schränkt. Zwangsarbeit ist mit Ketten- und Zuchthausstrafe verbunden. Den
zu Stockhaus (ohne Ketten an einem heitern Ort) und den zu Einsperrung
Verurteilten steht mit gewissen Beschränkungen die Wahl der Arbeit frei und
wird bei Entlassung ein Teil des Arbeitsertrages zugestellt. Mildere Behand-
lung erfahren Personen über 75 Jahre, wie andererseits solche unter 16 Jahren,
die für untorscheidungsfähig („discernement" !) erklärt wurden. Neben Straf-
verfolgungsverjährung wird auch Verjährung der Strafvollstreckung anerkannt,'*)
dagegen Begnadigung übergangen.*) Hart dagegen sind die Ehrenfolgen der
Freiheitsstrafen, ungerecht die bald grosse Milde, bald übergrosse Strenge der
absoluten Straf drohungen. Übrigens wurden diese Härten sehr bald beseitigt.
Das Dekret vom 27. Januar 1800 erklärte die Strafen des Gesetzbuches bloss
für Maxima; gestattete bei mildernden Umständen an Stelle der Todesstrafe
einährige Kettenstrafe, in allen anderen Fällen Herabsetzung auf ein Viertel
der gesetzlichen Strafe und schrieb bestimmte Angabe der Milderungsgründe
im Urteil vor. Ebenso liess ein Gesetz vom 6. Mai 1800 die öffentliche Schau-
stellung des §28 (doch nur auf 1 Stunde), ausgenommen überhaupt Frauens-
personen, nur gegen solche zu, die zu 10 oder mehr Jahren Kettenstrafe oder
zur Verbannung verurteilt waren, verband dieselbe auch nicht mehr mit der
bürgerlichen Entsetzung und brachte Pranger nur bei Rückfall und gegen
Fremde zur Anwendung. Charakteristisch für die damaligen Gefängniszustände
kann man (mit Pfenninger, S. 155) das Gesetz vom 16. Hornung 1801 nennen,
das neben näherer Bestimmung von Strafen gegen entwichene Verbrecher,
denen, die keinen Entweichungsversuch wagten, für jedes Jahr Freiheitsstrafe
1 Monat in Abzug bringt. Demgegenüber hielt ein Gesetz vom 11. Brach-
monat 1801 „in Erwägung der Notwendigkeit, den Ackerbau, Tuch- und Vieh-
handel als Quellen des Nationalwohlstandes auf kräftigere Weise zu beschützen",
*) Vgl. Sagnier,- Code criminel de la republique fran^aise, 2. ed. A Paria an VII,
p. 217, 218. — Code judiciaire, 2. 6d. Paris 1793, tome II, p. 11, 47 ff.
^) Vgl. E. Herzog, Über Religionsfreiheit in der helvetischen Republik, Bern 1884.
*) Die Ansicht von L. Meyer-Knonau, Bemerkungen über die Gebrechen des
helvetischen Kriminalwesens, Zürich 1802, S. 36: „es solle damit wohl nur gesagt sein,
dass die ausgesprochene Strafe nicht ohne Revision angewandt werden könne'', ist
nicht richtig.
'*) Der Code p6nal de 1791, I. partie titre VII art. 13 verwirft alle Formen des
Straferlasses bei Schwurgerichtsfällen. Diese Bestimmung steht mit Verwerfung der
lebenslänglichen Strafen und den absoluten Strafdrohungen im Einklang. Vgl. Gar-
raud, Traite th6orique et pratique du droit penal francjais I (1888) p. 91, 92.
24*
372 I^as !StR. der deutschen Schweiz. — Eidgenössisches (Bundes-) StR.
Schärfungen für angezeigt, sodass z. B. bei Angriffen mit Mordgewehr und
beim dritten Rückfalle Todesstrafe eintreten soll.
Mehr und mehr anerkennt man heutzutage, wo eine gerechtere Würdi-
gung auch des französischen Vorbildes Platz gegriffen hat, dass das Gesetz-
buch, wie kein anderes der damaligen Zeit, geeignet war, den Übergang vom
alten Recht zu vermitteln und eine gesunde Fortbildung anzubahnen. In
einzelnen Kantonen ist es noch längere Zeit, allerdings durch Novellengesetz-
gebung hier und da durchbrochen oder mit nur subsidiärer Kraft in Greltung
geblieben. So in Luzem bis 1827, in Thurgau bis 1841, in der Waadt bis
1843, in Solothum bis 1859, in Bern bis 1866. Anderwärts stiess es auf
stärkeren Widerstand. Namentlich galt es einzelnen, wie z. B. dem bei Gesetz-
gebungsarbeiten beteiligten Züricher L. Moyer-Knonau,\) in vielen Beziehungen
als zu wenig streng und bei den damaligen Zuständen der Gefängnislokalitäten
als undurchführbar. Zu einer Ergänzung des Gesetzes für die geringeren
Vergehen ist es nicht gekommen, sodass die Kantone hier und da durch eigene
Gesetze (W'aadt 1805, Luzemer Polizeigesetze von 1806, 1815', 1817), durch
Inkraftsetzung alter Ordnungen und Gerichtssatzungen (Bemer G. vom 27. Juni
1803 u.a.), durch Bestimmungen in Straf- oder Civilprozessordnungen usw.
sorgen mussten.
§ 5. Die Periode des Staatenbundes 1803—1848.
Die Mediationsverfassung vom 19. Februar 1803 machte dem Einheitsstaat
ein Ende. Die Schweiz wurde durch Hinzutritt der 6 neuen Kantone St. Gallen,
Graubünden, Aargau, Thurgau, Tessin und Waadt ein Staatenbund von nun-
mehr 19 in ihrer Souveränität wichtigen Beschränkungen unterworfenen Kan-
tonen. Nur im Wege der Konkordate konnte es zu mehr oder minder ein-
heitlichen Regelungen kommen. In strafrechtlicher Beziehung sind erwähnens-
wert die Konkordate betr.
1. Ausschreibimg, Verfolgung, Festsetzung und Auslieferung von Ver-
brechern oder Beschuldigten; die diesfälligen Kosten; die Verhöre und p]vokation
von Zeugen in Kriminalfällen und die Restitution gestohlener Effekten vom
8. Juni 1809, bestätigt den 8. Juli 1818 (noch geltend in Art. 19, 20 neben dem
Bundesgesetz vom 24. Juli 1852), wodurch der Grundsatz der Auslieferung von
Verbrechern von Regierung zu Regierung zu voller Anerkennung gelangte,
während Art. 8 der Mediationsakte nur gesagt hatte , dass kein Kanton einem
von der Justizpflege eines anderen Verurteilten oder gesetzlich Verfolgten Zu-
flucht gestatten dürfe;
^2. gegenseitige Stellung von Fehlbaren in Polizeifällen vom 7. Juni 1810,
bestätigt 9. Juli 1818, erläutert 1840;
3. Polizeiverfügungen gegen Gauner, Landstreicher und gefährliches (Se-
sindel vom 17. Juni 1812, bestätigt 9. Juli 1818 (Art. 4 nimmt sogar Straf-
kolonieen und Konkordatszuchthäuser in Aussicht!).*)
Über die weitere Periode des Staatenbundes (von dem am 7. August 1815
von den Gesandten der nunmehr 22 Kantone beschworenen Bundesvertrage
bis zur Bundesverfassung von 1848) ist nur wenig zu berichten. Längere Zeit
*) Die oben S. 371 Anm. 3 citierte, sehr lesenswerte Schrift desselben ist her-
vorgerufen durch die Zuschrift des Departements der Justiz vom 7. Juni 1802 an alle
Behörden, ihre gesammelten Erfahrungen und Bemerkungen über das gesamte Kri-
minalwesen der neuen Regierung behufs legislatorischer Arbeiten mitzuteilen. VgL
über den Verfasser: L. Meyer v. Knouau, Lebenserinnerungen 1769 — 1841. Heraus-
gegeben von Gerold Meyer v. Knonau, 1S83.
^) Abgedruckt bei Wolf, die Schweiz. Bundesgesetzgebung Bd. I, 1890, S. 321ff.
§ 6. Die StGgebung des Bundes seit 184H. 373
bildeten Massregeln gegen die sich freier regende Presse, wie sie von den
verschiedensten Seiten gefordert worden, ein stets wiederkehrendes Traktandum.
Schon am 16. Mai 1815 hatte die Tagsatznng beschlossen, die Stände auf-
zufordern, die bei ihnen gedruckten öffentlichen Blätter einer strengen Zensur
zu unterwerfen. Bald mehrten sich die Klagen, sodass sich die Tagsatzung
1819 zur nachdrücklichsten Einladung veranlasst sah, solche Verfügungen zu
treffen, dass in Druckschriften, Flugblättern oder Zeitungen keinerlei Be>
schimpfung oder beleidigende Aufsätze weder gegen das eine noch das andere
der beiden Glaubensbekenntnisse abgedruckt und verbreitet werden. Unter
dem Drucke des Auslandes erging dann 1823 ein weiteres Konklusum: „E^
ergehe an die Stände die nachdrückliche Einladung, die erforderlichen und
genügenden Massregeln zu ergreifen:
1. dass in den Zeitungen, Tagesblättem, Flugschriften und Zeitschriften
bei Berührung auswärtiger Angelegenheiten alles dasjenige sorgfältig aus-
gewichen werde, was die schuldige Achtung gegen befreundete Mächte ver-
letzen oder denselben Veranlassung zu begründeten Beschwerden geben könnte ;
2. dass bei diesen Vorkehren nicht allein auf Bestrafung von Wider-
handlungen, sondern vornehmlich auf Verhütung derselben hingezielt werde."
Von Jahr zu Jahr erneuert, wurde dieses Konklusum erst 1829 fallen
gelassen. Mehrere Kantone leisteten solchen Einladungen Folge, teils durch
einzelne Artikel der kantonalen Strafgesetzbücher, teils durch eigene Press-
gesetze. ^)
Auch auf einem anderen Gebiete, dem des Flüchtlingswesens, konnte die
Schweiz gegenüber dem immer bedrohlicheren Drängen des Auslandes nichts
anderes thun, als nachgeben. So kam es 11. August 1836 zu dem bekannten
Fremdenkonklusum, durch das die Wegweisung ruhestörerischer Fremder unter
die Oberaufsicht und Leitung des Vorortes, bezw. der Tagsatzung, gestellt
wurde.*) Diesem Beschlüsse kann endlich der vom 20. März 1845 angereiht
werden, der die Bildung und das Auftreten bewaftYieter Freikorps ohne Zu-
stimmung oder Mitwirkung der Kantonsregierungen von Bundeswegen verbot
und die eidgenössischen Stände zur Ergreifung der geeigneten Massregeln
gegen dieselben einlud.
§ 6. Die Strafgesetzgebimg des Bundes seit 1848.
Nach Niederwerfung des Sonderbundes schwebte noch einmal eine Zeit-
lang fremde Intervention über dem Haupte der Eidgenossenschaft. Diese
Intervention der sogenannten Vermittelungskonferenz konnte allerdings weder
vollendete Thatsachen rückgängig machen, noch das Selbstbestimmungsrecht
der Schweiz erschüttern. Noch glaubten die Abgeordneten von Österreich,
Preussen und Frankreich über die kleine Schweiz zu Grericht sitzen zu können.
Doch schlug der Ausbruch der Februarrevolution 1848 jeden Gedanken an
weitere Massnahmen nieder. Die Schweiz war, nachdem sie die geplante Ein-
mischung mit ebenso grosser Gründlichkeit als Entschiedenheit zurückgewiesen,
sich selbst überlassen und hatte nunmehr freie Hand, ihre inneren Angelegen-
heiten zu ordnen. Mehr und mehr klärten sich die Ansichten über das, was
notwendig, wünschlfar und erreichbar wäre. Mit Recht führte der Entwurf
einer Bundesverfassung aus, dass der Kautonalismus zu tiefe Wurzeln, hundert-
jährige Gewohnheiten zu viel Macht hätten, um die Umgestaltung in einen
Einheitsstaat zu gestatten. „Ein Föderativsystem, welches die beiden Ele-
*) Als litterarische Arbeit dieser Zeit sei erwähnt L. Frey, Entw. zu einem re-
publikanischen StGB. Bern 1835.
') Feddersen, Geschichte der Schweiz. Regeneration, Zürich 1867, S. 228 ff., 401 ff.
374 Das StR. der deutschen Schweiz. — Eidgenössisches (Bundes-) StR.
mente, welche nun einmal in der Schweiz vorhanden sind, nämlich das nationale
oder gemeinsame und das kantonale oder besondere, achtet; welches jedem
dieser Elemente giebt, was ihm im Interesse des Ganzen und seiner Teile ge-
hört; welches sie verschmilzt, vereinigt; welches die Glieder dem Ganzen,
das Kantonale dem Nationalen unterordnet, indem sonst keine Eidgenossen-
schaft möglich wäre und die Kantone in ihrer Vereinzelung zu Grunde gehen
müssten — das ist's, was die jetzige Schweiz bedarf und das ist der Grund-
gedanke des ganzen Entwurfs." Man entschied sich für das Zweikammer-
system, verwarf die Wahl des Bundesrates durch das Volk, indem man die-
selbe vielmehr der vereinigten Bundesversanmilung (National- und Ständerat)
übertrug und gewährte dem Bunde ein reiches Mass von Kompetenzen, das
den neuen Bundesstaat zu einem lebensfähigen Organismus machte. Freilich
musste man sich auf einzelnen Gebieten bescheiden, namentlich auf dem hier
in Frage stehenden. Der Antrag der Gesandtschaft von Solothum auf Uni-
fikation des Strafrechts, dem sich auch die von Bern und Freiburg geneigt
zeigten, fand bei den übrigen keinen Anklang. Am 12. September 1848^)
wurde die von lö^/^ Ständen und der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung
gebilligte Bundesverfassung als angenommen erklärt. Sie entsprach den da-
maligen Bedürfnissen und enthielt einen glücklichen Kompromiss zwischen
dem Föderalismus im Innern und der notwendigen Zentralisation nach aussen.
Aus ihr ging die jetzige Verfassung vom 29. Mai 1874*) hervor, die bis zu
diesem Augenblicke schon mannigfache Änderungen in Einzelheiten erfahren
hat und möglicherweise noch durchgreifenderen entgegengeht. Die Bundes-
verfassung vom 12. Herbstmonat 1848 (Offizielle Sammlung I, 1 — 35) bestimmte in
Art. 94: „Zur Ausübung der Rechtspflege, soweit dieselbe in den Bereich
des Bundes föllt, wird ein Bundesgericht aufgestellt. Für Beurteilung von
Straffällen werden Schwurgerichte (Jury) gebildet."
Art. 103: „Die Mitwirkung des Bundesgerichts bei Beurteilung von
Straffällen wird durch die Bundesgesetzgebung bestimmt, welche über Vei>
Setzung in Anklagezustand, über Bildung des Assisen- und Kassationsgerichts
das Nähere festsetzen wird."
Art. 104: „Das Assisengericht mit Zuziehung von Geschworenen,*) welche
über die Thatfrage absprechen, urteilt:
a) in Fällen, wo von einer Bundesbehörde die von ihr ernannten Beamten
zur strafrechtlichen Beurteilung überwiesen werden;
b) über Fälle von Hochverrat gegen die Eidgenossenschaft, vonAufVuhr
und Gewaltthat gegen die Bundesbehörden;
c) über Verbrechen und Vergehen gegen das Völkerrecht;
d) über politische Verbrechen und Vergehen, die Ursache oder Folge
derjenigen Unruhen sind, durch welche eine bewaffnete eidgenössische Inter-
vention veranlasst worden ist.
Der Bundesversammlung steht das Recht zu, hinsichtlich solcher Ver-
brechen und Vergehen Amnestie oder Begnadigung auszusprechen."
Art. 106: „Es bleibt der Bundesgesetzgebung ^) überlassen, ausser den in
den Art. 101, 104 und 105 bezeichneten Gegenständen auch noch andere Fälle
in die Kompetenz des Bundesgerichtes zu legen." ^
Art. 107: „Die Bundesgesetzgebung wird das Nähere bestimmen:
^) Amtliche Ausgaben der Bundesverfassung (in 3 Sprachen) und der zur Zeit in
Kraft stehenden Kantonsverfassungen erschienen Bern 1864, sodann 1880, zuletzt 1891.
-) A. S. n. F. I, 1—41, auch separat. Eine kommentierte Ausgabe gab Mann
(Schweiz.,Buudesgesetze mit Erläuterungen I) Bern, 1888, heraus.
^) Über das Verhältnis dieser Art. 104 und 106 vgl. Dr. Hafner in der Zeitschr.
für Schweizer Strafrecht 1, 250, Leo Weber (ebenda 370).
§ 6. Die StGgebung des Bundes seit 1848. 375
a) über Aufstellung eines Staatsanwaltes;
b) über die Verbrechen und Vergehen, welche in die Kompetenz des
Bundesgerichtes fallen, und über die Strafgesetze, welche anzuwenden sind;
c) über das Verfahren, welches mündlich und öffentlich sein soll;
d) über die Gerichtskosten /^
Es handelt sich hier, wie man sieht, um Regelung der Bundesstraf-
gerichtsbarkeit. Die in Art. 104 erwähnten Fälle gehören ausschliesslich zur
Kompetenz des Bundesgerichts; andere können demselben (106) übertragen
werden. Die Strafgesetzgebungsgewalt wird nur in Art. 107b gestreift, und
zwar in Zusammenhalt mit Art. 106 sehr unklar. Es scheint, wie Stooss,
Grundzüge S. 39, ausführt, die Vorstellung obgewaltet zu haben, dass die
Bundesstrafgesetzgebungsgewalt Folge der Bundesstrafgerichtsbarkeit sei und
sein solle.
Die durch die Bestimmungen der Bundesverfassung veranlassten gesetz-
geberischen Arbeiten führten zu folgenden, hier interessierenden Bundes-
gesetzen:
la. B6. über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 5. Brachmonat
1849 (O. S. I, 65—86, Wolff, I, 392 ff.), das in Art. 49, No. 1, 2, 3 den Inhalt
der Art. 104 und 106 wiedergab und in No. 4 hinzufügte, dass durch die
Gesetzgebung eines Kantons im Einverständnisse mit der Bundesversammlung
noch andere Kompetenzen dem Assisengerichte übertragen werden könnten
(wovon kein Gebrauch gemacht wurde).
Dieses Gesetz ist (im Zusammenhange mit der neuen Bundesverfassung)
ersetzt durch
Ib. BG. über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 27. Brach-
monat 1874 (A. S. n. F. I, 136—156, Wolf, I, 380 ff.). Art. 32 und 33 ent-
sprechen dem Art. 49 des zuvor genannten, bezw. Art. 112 (alt 104) der BV.
unter Berücksichtigung des inzwischen erlassenen Bundesstrafgesetzes vom
4. Hornung 1853. — Ein neues G. wird voraussichtlich 1893 erlassen werden.
2. BG. über die Bundesstrafrechtspflege vom 27. August 1851 (A. S. H,
743 ff., Wolf, I, 412 ff'.). — Das eigentliche, noch geltende Strafprozessgesetz
des Bundes.
3 a. BG. über den Geschäftskreis und die Besoldung des Generalanwaltes
vom 20. Christmonat 1850 (A. S. II, 167 ff.). Dasselbe wurde aufgehoben er-
klärt in Art. 64 No. 2 des Gesetzes ad 1 b. Doch wurde diese Beamtung von
neuem eingerichtet im
3b. BG. über die Bundesanwaltschaft vom 28. Juni 1889 (A. S. n. F. X,
243, Wolf, II, 1132). Vgl. Zeitschr. für Schweizer Strafrecht II, 395—398, III,
276, 277.
4. BG. über das Verfahren bei Übertretungen fiskalischer und polizei-
licher Bundesgesetze vom 30. Brachmonat 1849 (0. S. I, 87—96, Wolf, I, 433).
— Es handelt sich hier um Übertretungen der BG. über Zölle, Posten,
Pulver, Münzen, Mass und Gewicht usw. Allein es wurden keine Bestimmungen
über Übertretung des Münzregals erlassen; vielmehr verblieb Münzfälschung
und Münzbetrug unter dem gemeinen Strafi-echte der Kantone, indem man
bei dem Entwürfe des Bundesstrafgesetzes geltend machte, dass die kantonalen
Strafgesetze genügend hierfür sorgten. Andererseits ist Art. 10 der Mass- und
Gewichtsordnung vom 23. Christmonat 1851 (A. S. III, 84 ff.) durch Bundes-
beschluss vom 18. Heumonat 1856 (A. S. V, 345 ff., Wolf, I, 709) aufgehoben
worden. Dagegen gelten jetzt die Straf bestimmungen der Art. 14 — 17 des
neuen BG. über Mass und Gewicht vom 3. Heumonat 1875 (A. S. n. F. I, 752 ff.,
Wolf I, 709). Vgl. Leo Weber in der Zeitschr. für Schweizer Strafrecht,
I, 378 ff.
376 Das StR. der deutschen Schweiz. — Eidgenössisches (Bundes-) StR.
5. BG. über die Verantwortlichkeit der eidgenössischen Behörden und
Beamten vom 9. Dezember 1850 (A. S. H, 149 ff., Wolf, I, 29 ff.). Das Gesetz
weist in Art. 6 und 8 auf nähere Bestimmungen in dem (zu erlassenden)
eidgenössischen Strafgesetz hin.
6. BG. über die politischen und polizeilichen Garantieen zu Gunsten der
Eidgenossenschaft vom 23. Dezember 1851 (A. S. III, 33 ff., Wolf, I, 27 ff.).
Vgl. Blumer, Bundesstaatsrecht II, 75 ff. (Blumer-Morel, 2. Aufl., III, 201 ff.).
7. BG. über die Auslieferung von Verbrechern oder Angeschuldigten vom
24. Jidi 1852 (A. S. III, 161 ff., Wolf, I, 429 ff.). Dasselbe ist erlassen gemäss
Art. 55 der BV. von 1848, in welchem gesagt wurde: „Die Ausliefenmg kann
jedoch für politische Vergehen und für Pressvergehen nicht verbindlich ge-
macht werden." Wichtig die Bestimmung des Abs. 2 des Art. 1 : „Die Aus-
lieferung von Personen, die in einem Kanton verbürgert oder niedergelassen
sind, kann jedoch verweigert werden, wenn der Kanton sich verpflichtet, die-
selben nach seinen Gesetzen beurteilen und bestrafen oder eine bereits über
sie verhängte Strafe vollziehen zu lassen." — Hierzu trat BG. vom 24. Heu-
monat 1867 und BG. vom 2. Homungl872 mit kleinen Abänderungen (A. S. IX,
86 ff., X, 672; Wolf, I, 432). Näheres bei Schauberg in der Zeitschr. für
Schweizerisches Recht, XVI, 117— 220. — Pfenninger, 326 ff. — Blumer-Morel,
3. Aufl. I, 291 ff. — Colombi in der Zeitschr. für Schweizerisches Recht,
n. F. VI, 453 ff.
Auch kam im Jahre 1851 ein BG. über die Strafrechtspflege für die eid-
genössischen Truppen zu stände, das in seinem materiellen allgemeinen Teile
das Vorbild des allgemeinen Teils des im Jahre 1853 erlassenen BG. über das
Bundesstrafrecht darstellt.
A. Bnndesgesetz Aber die Strafreelitspflege fOr die eidpeA^ssischen Truppen
Tom 27. Angrnst 1851.
A. S. II, 606—741. — Recueil officiel II, 598—733. — Raecolta officiale II, 598
bis 783, auch Separatausgaben. Eine Textberichtigung in Art. 182 lit. e des italienischen
Textes erfolgte durch Bundesratsbeschluss vom 16. Dezember 1887 (A. S. n. F. X, 433,
Wolf, II, 276).
Die Kompetenz zu Erlass dieses Gesetzes lag begründet in Art. 20 der
BV. von 1848, bezw. Art. 102 der Militärorganisation vom 8. Mai 1850. Es
umfasst drei Bücher, deren erstes die strafrechtlichen Bestimmungen un^asst,
Avährend das zweite die Organisation der Rechtspflege und das dritte das Ver-
fahren betrifft. Das erste Buch ist ein vollständiges Militärstrafgesetzbuch mit
zwei Teilen. Der erste Teil, dem ein Einleitungstitel (Art. 1 — 3) vorausgeschickt
ist, zerfällt in Abschnitt I (Allgemeine Bestimmungen , Art. 4 — 40) und Ab-
schnitt II (Von den verschiedenen Arten der Verbrechen im besonderen,
Art. 41 — 165 in 13 Titeln). Der zweite Teil handelt von Disziplin- oder Ord-
nungsfehlem (Art. 166—197), dem ein Anhangstitel (Art. 198 — 203) folgt, mit
Bestinmiungen über die Kompetenz in Civilsachen. Das Gesetz geht in den
Art. 1 — 3 rücksichtlich Unterstellung von Nichtmilitärs unter die Militärstraf-
gerichtsbarkeit und Militärstrafgesetze weiter als ähnliche Gesetze anderer
Länder (vgl. Blumer-Morel, 2. Aufl., 11, 349). Es droht: 1. Todesstrafe. 2. Zucht-
haus von 1 — 30 Jahren, ausnahmsweise lebenslänglich (Art. 125). S. Gefängnis
bis zu 6 Jahren. 4« Landesverweisung.. 5. Kassation. 6. Entsetzung. 7. Ver-
lust des Aktivbürgerrechts. Die Bestimmungen des allgemeinen Teils kehren
mit geringfügigen Änderungen im Bundesstrafgesetze von 1853 (unten B) wieder;
nur wird hier Rückfall (in Art. 32, lit. d) ausdrücklich als allgemeiner .,Er-
schwerungsgrund" bezeichnet und in Art. 35 dieser „Schärfungsgrund" beson-
ders behandelt, andererseits bei Personen unter 16 Jahren in Art. 33, lit. c
§ 6. Die StGgebung des Bundes seit 1848. ,377
Minderung der Strafbarkeit angenommen. Milder sind die Bestimmungen des
Militärstrafgesetzes als die des gemeinen, insofern bei gemeinen Verbrechen
(d. h. den abgesehen von dem militärischen Verhältnisse des Thäters im btirger-
Ijchen Leben mit Strafe bedrohten Handlungen, wie Mord, Raub, Diebstahl,
Betrug usw.) die Strafklage nach Art. 38 bei den mit dem Tode oder mit
lebenslänglichem Zuchthaus bedrohten in 10 Jahren, bei sonst mit Zuchthaus
belegten in 5 Jahren und in allen anderen Fällen in 2 Jahren verjährt, bei
rein militärischen innerhalb eines Jahres nach Auflösung des Korps, zu welchem
der Thäter gehörte. Als gemeine Verbrechen werden aber aufgeführt: Titel VI
die Tötung (Mord, Totschlag, Totschlag aus Fahrlässigkeit, in Raufhändeln,
Duell) ; Tit. VII Körperverletzungen und Gewaltthätigkeit gegen Personen
(Notzucht, Schändung, Menschenraub und Entführung, widerrechtliches Gefangen-
halten, Verletzung des Hausrechts); Tit. VIII Brandstiftung, Verheerungen,
Verwüstungen und Eigentums beschädigungen; Tit. IX Diebstahl, Raub, Er-
pressung und Plünderung; Tit. X Veruntreuung, Betrug und falsches Zeugnis ;
Tit. XI Ehrverletzungen; Tit. XII Religionsstörung; Tit. XIII Drohungen.
Als Mängel des 'Gesetzes erkannte man sehr bald den engen Anschluss
an die Gesetzgebung der Jahre 1836 und 1837,^) die ihrerseits wieder auf
Arbeiten der Jahre 1806 — 1817, d. h. auf Strafgesetzen für die Schweizer-
truppen in fremden Diensten beruhte;-) die völlige Vermischung militäri-
scher und gemeiner Verbrechen, sowie solcher Verbrechen, die nur im aktiven
Dienste oder Kriege vorkommen, mit denen des Instruktionsdienstes oft in
einem und demselben Artikel; die Berechnung des Verfahrens als Ganzes be-
trachtet auf den aktiven Dienst, womit die Neuerung des nunmehr eingeführten
Geschworenengerichts in scharfem Kontrast stand; endlich die sehr hohen
Minimalstrafen einzelner im Instruktionsdienste häufig vorkommender Verbrechen,
während umgekehrt sehr schwere, wie Verrat im Kriege gegen die Eid-
genossenschaft, mit einer relativ sehr grossen Milde behandelt, manche gar
nicht bedroht oder mangelhaft bestimmt waren. So schlug schon eine am
21. Juli 1863 im Ständerat gestellte (aber abgelehnte) Motion Herabsetzung
der Minimalstrafansätze für die kriegsgerichtliche Behandlung der Straffalle,
dagegen Erhöhung der Disziplinarstrafkompetenz der Oberkommandanten, der
eidgenössischen und kantonalen Militärbehörden zur Ermöglichung der diszi-
plinaren Bestrafung von minder bedeutenden Vergehen gegen das Eigentum
vor (Blumer-Morel , 2. Aufl., II, 351). Revisionsarbeiten wurden aber erst
nach 1874 (hauptsächlich auch der neuen Militärorganisation vom 13. November
1874)^) unternommen. Der im Jahre 1878 von Professor Hilty ausgearbeitete
Entwurf wollte ein ganz kurzes Gesetz (von 80 Artikel) aufstellen. Dieses
System fand jedoch bei der Kommission im Oktober 1879 keinen Beifall; man
wünschte ein Gesetzbuch nach bisheriger Art und Weise. Demzufolge ver-
fasste der Redaktor einen zweiten Entwurf, Bern 1881, mit 140 Artikeln und
Anhang,*) der 1884 seine Schlussredaktion erhielt und vom Bundesrat mit
Botschaft vom 30. Mai 1884 (Bbl. 1884, III, 197 ff.) der Bundesversamm-
*) Diese wird in der Botschaft des Bundesrates vom 2. Juni 1851 (BBl. 1851, 1,
633 fF.) als „von den ausgezeichnetsten Juristen der Schweiz verfasst" hezeichnet.
-) Über die älteren Kriegsrechte, die französische Übersetzung der Carolina usw. :
Zürcher, im Referat über die Wünschbarkeit eines gemeinsamen Schweiz. Strafrechts,
Frauenfeld 1882; Hilty, Vorlesungen über die Helvetik, Bern 1878, S. 622, 623; Hilty,
Grundzüge eines Militärgesetzbuches für die Schweiz. Eidgenossenschaft, Bern 1876,
2. Aufl. 1878; Schneider, Zur Geschichte der militärischen Rechtspflege in der züriche-
rischen Zeitschrift für Gerichtspraxis und Rechtswissenschaft Bd. II, 1875.
*) Herausgegeben mit historischer Einleitung und Erläuterungen von Mann
(Bd. 2 der Sammlung Schweiz. Gesetze), Bern 1890, S. 204 ff.
*) Vgl. Hilty in der Zeitschr. für die gesamte StR.- Wissenschaft II, 808 ff.
378- I^as StR. der deutschen Schweiz. — Eidgenössisches (Bundes-) StR.
lang vorgelegt wurde. Die Beratungen darüber im Stände- und Nationalrat
führten dahin, dass man im Juni 1886 Oberst Müller den Auftrag erteilte,
über die Militärgerichtsorganisation und das Militärstrafverfahren einen Ent-
wurf auf Grund eines schematisierten Antrages einzureichen. Der von dem-
selben schon Ende Juli 1886 vorgelegte Entwurf fand die Billigung der Kom-
mission; doch erkannte man, dass die Annahme desselben eine Umarbeitung
auch des materielleti Strafrechts notwendig mache (Beschluss vom 3. Februar
1887). Die auf materielles Strafrecht, Disziplinarstrafordnung und IMegs-
artikel bezügliche Arbeit schien aber noch geraume Zeit in Anspruch zu
nehmen, sodass man sich für Zurückziehung der Vorlage vom 30. Mai 1884
und Vorlegung eines auf die Militärstrafgerichtsordnung beschränkten Gesetz-
entwurfes entschied. Am 10. April 1888 wurde derselbe mit Botschaft der
Bundesversammlung vorgelegt und von derselben am 28. Juni 1889 mit einigen
Änderungen angenommen.^) Diese Militärstrafgerichtsordnung trat 1. Januar
1890 in Kraft. Inzwischen ist eine Disziplinarstrafordnung ausgearbeitet.*)
Weitere Arbeiten sind dagegen verschoben, bis über ein bürgerliches, in Aus-
sicht genommenes Bundesstrafgesetzbuch entschieden sein wird. — Durch die
genannte Militärstrafgerichtsordnung sind die oben erwähnten Art. 1 — 3 des
BG. von 1851 durch neue Bestimmungen ersetzt, ebenso Art. 36, 37 aufgehoben.
Das 2. und 3. Buch (Art. 204 — 449) sind fortgefallen; ebenso die Zusatzbe-
stimmungen des Bundesratsbeschlusses vom 10. Juli 1854 (A. S. IV, 225 ff.).
Dubs (Referent über das Gesetz im Nationalrate), das neue schweizerische Militär-
strafrecht (im „Gerichtssaal« IV 2, Erlangen 1852, S. 149 ff., 305 ff.) — K.G.König,
Grundzüge eines eidgenössischen Militärstrafrechts, Bern 1872. — Stooss, Bemer-
kungen zu dem Entwürfe eines schweizerischen Militärstrafgesetzbuches. Tötung und
Körper verletzunff, Bern 1885; in seiner Zeitschr. I, 261; in „Grundzüge" S. 52 — 55. —
Gretener, Zum Entwürfe eines Militärstrafgesetzbuches für die Schweiz. Eidgenossen-
schaft, Bern 1886. — Hilty, Das eidgenössische Militärstrafrecht. (^Politisches Jahr-
buch der Schweiz. Eidgenossenschaft** IV, 747 ff.) — Pfenninger 614 ff.
B. Bundesgesetz über das Bandesstrafreclit der sehwehserlschen Eidgenosaenseluift
Tom 4. Homung 1853.
A. S. III, 404—429; Separatausgabe, Bern 1853; Wolf, 1, 371—379. Code pönal
fM6ral du 4 fevrier 1853 (Recueil officiel III, 335—359). Codice penale federale del
4 febbrajo 1853 (Raccolta officiale III, 335—359).
Die Vorarbeiten zu diesem Bundesstrafgesetzbuch hatten schon 1849 be-
gonnen, zogen sich aber wegen anderweiter Beschäftigung des Experten in
die Länge. Dem schliesslich zugezogenen Redaktor konnte die far die Aus-
arbeitung eines solchen Gesetzes wünschbare Müsse nicht mehr gewährt werden.
Ein erster, nicht veröffentlichter Entwurf wurde im Jahre 1852 dem Bundes-
rate vorgelegt und von diesem bis zum 1. Juli 1852 durchberaten. Der ans
dieser Beratung hervorgegangene Entwurf von 81 Paragraphen (BBl. 1852 U,
539—580) wurde in der Botschaft vom 1. Juli 1852 (S. 581—593) kurz be-
leuchtet, sehr treffend in dem von Dubs redigierten Berichte der Kommission
des Nationalrates (ebenda 1853 I, 1 — 21) kritisiert und kam im Anfange des
Jahres 1853 zur Beratung in der Bundesversammlung. Mit einigen Änderungen
wurde er vom Nationalrate am 3. Februar 1853 und vom Ständerate am folgen-
den Tage angenommen, sodann vom Bundesrate am 6. April 1853 als Gresetz
mit Gesetzeskraft vom 1. Mai 1853 veröffentlicht.
1) Vgl. Stooss in der Zeitschr. für Schweizer Strafrecht I, 261—303. Der Text in
der A. S. n. F. XI, 273 ff.; Wolf, II, 277 ff.
«) Vgl. Stooss in der Zeitschr. für Schweizer Strafrecht V, 885 ff.
§ 6. Die StGgebung des Bundes seit 1848. 379
Das Gesetz sagt in der Eingangsformel nur: ^Dle Bandesversammlnng
der schweizerischen Eidgenossenschaft, nach Einsicht des Vorschlages des
Bnndesrates, beschliesst". Es handelte sich um die Ausführung des Art. 107 b
der BV. von 1848, d. h. um Strafbestimmungen zum Schutze bundesstaatlicher
Interessen und Einrichtungen, für welche man ^^Emanzipation von der Kantonal-
gesetzgebung" anstrebte. Hieraus erklärt sich der allerdings minime Umfang
dieses Gesetzbuches , das in seinem I. Abschnitt (Allgemeine Bestimmungen)
mit 7 Titeln nur 35 Artikel, im II. Abschnitt (Von den verschiedenen Verbrechen
im besonderen) mit gleichfalls 7 Titeln weitere 37 Artikel enthält, worauf im
Anhangstitel (Art. 73 — 77) Kompetenzbestimmungen folgen, endlich im Art. 78
die Vollziehungsklausel.
Der allgemeine Teil ist mit geringen Änderungen in den Art. 2 — 35
übereinstimmend mit Art. 4 — 35, 38 und 39 des Militärstrafgesetzes (oben S. 376).
Unter Weglassung der Todesstrafe werden als Freiheitsstrafen gedroht: 1. Zucht-
haus (das stets mit Verlust des Aktivbürgerrechts für eine vom Richter zu
bestimmende Frist verbunden ist) von 1 — 30 Jahren, nur ausnahmsweise nach
Art. 36, 37, 62* lebenslänglich und 2« Gefängnis bis zu 6 Jahren, womit Amts-
entsetzung wie Verlust des Aktivbürgerrechts nach richterlichem Ermessen ver-
bunden werden kann, während es nicht gestattet ist, „den Verlust der Freiheit
durch andere übel zu erschweren". Immerhin dürfen die Bundesassisen bei
Aburteilung gemeiner, in die Kantonalkompetenz fallender Verbrechen nach
dem Kantonalrechte alle Strafbefugnisse (die Ausfällung der Todesstrafe in-
begriffen) ausüben, sollen aber unter keinen Umständen körperliche Züchtigung,
Brandmarkung oder öffentliche Ausstellung aussprechen, vielmehr statt dessen
eine verhältnismässige Freiheitsstrafe verhängen (Art. 9 Abs. 2, Art. 76). Mit
Amtsentsetzung soll Unfähigkeit zur Bekleidung eines öffentliclien Amtes oder
einer Anstellung für eine durch das Urteil zu bestimmende Zeit von 2 — 10 Jahren
verbunden sein und Verlust des Aktivbürgerrechts darin bestehen, dass der
mit dieser Strafe Belegte unfähig wird, das ihm nach der Verfassung oder
den Gesetzen des Bundes oder eines Kantons zustehende Stimm- und Wahl-
recht auszuüben oder ein öffentliches Amt zu bekleiden. Die längste Dauer
letzterer Strafe kann sich bei Zuchthaus bis auf Lebenszeit erstrecken, bei
Gefängnis dagegen, über diese Strafe hinaus, nicht über 10 Jahre (Art. 6, 7).
Im Übrigen kennt das Gesetz noch Landesverweisung und Geldbusse. Erstere
Strafe soll Schweizerbürgem gegenüber nie auf länger als 10 Jahre, niemals
gegenüber rückfälligen oder gefährlichen Verbrechern ausgesprochen werden,
stets nur in Verbindung mit einer Freiheitsstrafe oder Amtsentsetzung und
dann, wenn Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, dass der zu Verurteilende im
Stande sei, ausser Landes sich auf eine rechtliche Weise durchzubringen. Es
verwendet hiermit der Bund ein den Kantonen später (BV. von 1874, Art. 44)
entzogenes Strafmittel. — Geldbusse (Geldstrafe) andrerseits wird bis zu Frs.
10000 angedroht. Hierüber sagt die Botschaft, dass man sich hierfür an das
Vorbild der soviel als möglich zu Rate gezogenen Bundesgesetze von Nord-
amerika gehalten habe, welche neben der Freiheitsstrafe immer auch eine
Geldbusse und zwar neben lOjährigem Gefängnis eine solche von 10000 Dollars
androhen. Angesichts der grossen Verschiedenheit der Verhältnisse in jenem
Lande und derer in der Schweiz hat man diese Begründung vielfach als nicht
zutreffend erklärt. Bei Ausfällung solcher Geldbussen soll für den Fall, dass
dieselben nicht innerhalb 3 Monaten erhältlich sind, oder bei Zahlungsunfähig-
keit Umwandlung in Gefängnisstrafe (für je 5 Frs. Busse 1 Tag) ausgesprochen
werden.
Rücksichtlich des Herrschaffcskreises geht das Gesetz in Art. 1 von dem
Territorialprinzip nur in wenigen Fällen (Abs. 2: Art. 36 — 40, 45, 61 und 65)
380 I^a-s StR. der deutschen Schweiz. — Eidgenössisches (Bundes-) StR.
zu beschränkter Anerkennung des Realprinzips tiber^) und giebt schon hier
rücksichtlich Abgrenzung der bundesrechtlichen Kompetenz gegenüber kanto-
naler zu Auslegungsschwierigkeiten Anlass. Jedenfalls, zeichnet sich das Gesetz
durch Milde aus. Abgesehen von schweren Fällen des Landesverrates (Art.
36, 37) mangeln Minima bei den Strafdrohungen; Maxima kommen nur selten
vor, öfters werden mehrere Strafarten zur Wahl gestellt, sodass das richter-
liche Ermessen weiten Spielraum hat. Fahrlässigkeit wird gleichfalls nur aus-
nahmsweise (Art. 57, 67 b) bestraft. — Als Versuch eines Verbrechens gilt es,
wenn jemand, in der Absicht dasselbe zu begehen, eine äussere Handlung vor-
genommen hat, welche wenigstens schon als ein Anfang der Ausführung der
beabsichtigten Übertretung anzusehen ist. Die Strafe hierfür besteht höchstens
in der Hälfte der auf das vollendete Verbrechen gesetzten Strafe, sofern diese
teilbar ist. Nähere Anweisung für den Richter giebt Art. 16, — Strafbar
werden alle Teilnehmer eines Verbrechens erklärt, d. h. Urheber, Gehülfen
und Begünstiger. Die Strafe der Gehülfen ist gewöhnlich zwischen */^ — V*
der ürheberstrafe zu bemessen; die der Begünstiger soll höchstens die Hälfte
der auf die That gesetzten Strafe betragen. — Nicht bestraft werden diejenigen,
welche in einem Zustande, in dem sie ohne ihr Verschulden der Urteilskraft
oder der Willensfreiheit beraubt waren, gebandelt haben. Dahin gehören ins-
besondere Raserei, Wahnsinn und dergleichen (Art. 27). Art. 28 betrifft den
Befehl, Art. 29 gerechte Notwehr, um sein oder seines Nebenmenschen Leib,
Leben, Eigentum oder Freiheit zu schützen. Bei Kindern zwischen 12 — 16
Jahren tritt Bestrafung nur bei Vorhandensein der zur Unterscheidung der
Strafbarkeit der Handlung erforderlichen Urteilskraft ein (Art. 30). — Unter
den Fällen, in denen der Richter innerhalb der gesetzlichen Grenzen die Strafe
erhöhen soll (Art. 31), begegnet auch der Rückfall in der Fassung der lit. d:
,Je öfter der Schuldige wegen aus gleicher rechtswidriger Neigung entsprungener
Verbrechen bestraft worden ist". Selbstverschuldete Trunkenheit gilt in der
Regel nicht als Milderungsgrund (Art. 32 lit. b), wohl dagegen Jugend (Art.
30, 32 lit. c). Ohne Erwähnung der Real- und Idealkonkurrenz verfügt Art. 33
ganz einfach: „Wenn mehrere noch nicht bestrafte Übertretungen desgleichen
Thäters so zur Untersuchung kommen, dass darüber in einem und demselben
Urteile zu erkennen ist, so soll die Strafe des schwersten dieser Verbrechen
angewendet, die übrigen aber als besondere Schärfungsgründe berücksichtigt
werden". — Verjährung wird sowohl für die Strafverfolgung wie die Straf-
vollstreckung anerkannt. Die Frist beträgt dort bei den mit Zuchthaus be-
drohten Verbrechen 15 bezw. 10 Jahre, sonst 3 Jahre; hier dagegen bei lebens-
länglicher Zuchthausstrafe 30 Jahre, sonst zwischen 5 — 25 Jahren, wobei die
Dauer der erkannten und noch nicht erstandenen Strafe in Betracht fällt
(Art. 35 lit. b). Eigentümlich ist, dass bei Betrug, Fälschung und Unter-
schlagung die Strafklage erst von dem Tage der Entdeckung an veijähren
soll. — Von Begnadigung wird nur in Art. 74 und zwar dahin gesprochen,
dass das Begnadigungsrecht hinsichtlich der in diesem Gesetze vorgesehenen
Verbrechen, auch wenn sie zur Untersuchung und Beurteilung an die Kan-
tonalbehörden gewiesen werden, der Bundesversammlung zustehen soll (was
aber auf alle Bundesstrafsachen, wie Stooss, Grundzüge 461, sagt, Anwendung
finden muss). Im Übrigen ist über Begnadigung und Rehabilitation in Art.
169— 182 des BG. über die Bundesstrafrechtspflege vom 27. August 1851 Be-
stimmung getroffen.
Der zweite Abschnitt (besondere Teil) behandelt in auffälliger Reihen-
folge in Tit. I Verbrechen gegen die äussere Sicherheit und Ruhe der Eid-
*) Vgl. Pervers in der Zeitschr. für Schweizer Strafrecht IV, 830.
§ 6. Die StGgebung des Bundes seit IMs. 381
genossenschaft — d. h. militärischen wie diplomatischen Landesverrat, auch
völkerrechtswidrige Handlungen.^) — Tit. II Verbrechen gegen fremde Staaten.
— Tit. ni Verbrechen gegen die verfassungsmässige Ordnung und die innerem
Sicherheit. Die hier für einen Bundesstaat zu lösende Frage war besonders
dadurch erschwert, dass die BV. Art. 5 eine Garantie des Gebietes der
Kantone, ihrer Souveränität, der Verfassungen (sofern deren Gewährleistung
nachgesucht und erteilt war), der Freiheit, Rechte des Volkes und der
verfassungsmässigen Kechte der Bürger enthält, andrerseits auf das Inter-
ventionsrecht des Bundes bei Unruhen Kücksicht zu nehmen war. Hier konnte
das Resultat natürlich kein einfaches sein (vgl. Temme, Lehrbuch 350 ff.).
Gerade auf diesem Gebiete handelte es sich um wesentliche Beschränkungen,
der kantonalen Strafgesetzgebungsgewalt, was leider in vielen kantonalen Ge-
setzen nicht genügend beachtet wurde, sodass darin teils überflüssige, teils
sogar ungültige Bestimmungen begegnen. Im Auslande musste es beifällig
anerkannt werden, dass schon damals die Schweiz ihren internationalen Ver-
pflichtungen bei politischen Angriffen gegen fi*emde Staaten nach Kräften nach-
zukommen trachtete; mochte auch z.B. der Ausdruck in Art. 41: „wer ein
fremdes Gebiet verletzt oder eine andere völkerrechtliche Handlung begeht"
sehr unbestimmt gefasst sein. Grosse Anfechtung erfuhren aber namentlich
die Art. 42 — 44 (öffentliche Beschimpfung eines ft*emden Volkes oder seines
Souveräns oder einer fremden Regierung usw.) in der Schweiz, da man hier
den Druck des Auslandes zu spüren vermeinte (was auch durch die Ausfüh-
rungen in der Botschaft des Bundesrats nicht geändert wurde). Die Verfolgung
wird allerdings in Art. 42 davon abhängig gemacht, dass der Eidgenossenschaft
„Gegenrecht gehalten wird". Wie es sich hiermit verhalte, wurde in dem
Fall Schill (verhandelt vor den eidgenössischen Assisen zu Basel am 18/19. Juni
1888) eingehend erörtert.^) Auch ein anderer Artikel (in Tit. III, Art. 52) hat
mehrfach die weitesten Kreise beschäftigt und wird auch bei ferneren Ver-
handlungen dies von neuem thun. Derselbe sagt:
„Wenn eine der in den Art. 45 — 50 bezeichneten Handlungen gegen eine
durch den Bund garantierte Kantonalverfassung oder gegen eine Behörde oder
einen Beamten eines Kantons gerichtet wird, oder auf Wahlen, Abstimmungen
und dergl. sich bezieht, so finden die benannten Artikel analoge Anwendung,
sofern die betreffenden Handlungen Ursache oder Folge von Unruhen sind,
durch welche eine bewaffnete eidgenössische Intervention veranlasst worden ist".
In der Erkenntnis, dass es noch andere politische Verbrechen geben
könne, als die in jenen Art. 45 — 50 genannten, für welche der Art. 104 d
der BV. einen unparteiischen Richter im Bundesassisengerichte gewähren
wollte, wurde 1865 vom Ständerate beschlossen, es sei der Bundesrat einzu-
laden, zu prüfen, ob und wie eine Revision dieser Bestimmungen vorzunehmen
sei. Der Vorschlag des Bundesrats, es solle das Bundesgericht in den Fällen
jenes Art. 104 d kantonales Strafrecht zur Anwendung bringen, wurde abgelehnt
und die Vorlage zu nochmaliger Prüfung zurückgewiesen. Doch Hess man
die Sache auf sich beruhen. Erst die bekannten Stabiovorgänge vom 24. Ok-
tober 1876 gaben wieder Anlass zur Aufnahme der Arbeiten. Infolge des
Stabioprozesses^) stellte Ständerat Brosi am 19. Juni 1880 eine vom Stände-
rat am 28. Juni 1880 erheblich erklärte Motion, worin der Bundesrat ein-
geladen wurde, den eidgenössischen Räten Bericht und Antrag zu hinterbringen
über Revision des Bundesstrafrecht« im Sinne einer Erweiterung des Begriffes
^) Vgl. Lammasch in der Zeitschr. für die gesamte StR.-Wissenschaft III, 404.
«) Vgl. Zeitschr. für Schweizer Strafrecht I, 304—306, 314—320.
") Vgl. Atti del processo di Stabio, Bellinzona 1880; Scartazzini, Der Stabio-
Prozess, Zürich 1880; Der Stabio-Prozess im „Neuen Pitaval" n. F. XVI, Leipzig 1881.
382 I^as StR. der deutschen Schweiz. — Eidgenössisches (Bundes-) StR.
der politischen Verbrechen und Vergehen, welche in die Kompetenz der
Bundesassisen faUen. Nach Vorlage eines Entwurfes einigte sich zwar am
19. Dezember 1883 die Bundesversammlung, indem sie, gestützt auf Art. 114
der neuen BV. (entsprechend Art. 106 der früheren) einen Zusatzartikel
14: bis annahm, demzufolge dem Bundesrate zustehen sollte, das Bundesgericht
mit Untersuchung und Aburteilung von Verbrechen zu betrauen, auch wenn
diese nicht im Bundesstrafrechte vorgesehen seien, falls infolge politischer
Aufregung das Vertrauen in die Unabhängigkeit oder Unbefangenheit kan-
tonaler Gerichte in Bezug auf eine ihrer Beurteilung unterstellte, auf ein Ver-
brechen gerichtete Strafklage als beeinträchtigt angesehen werden muss. Der
zufolge Ergreifung des Referendums der Volksabstimmung unterstellte Bundes-
beschluss wurde aber am 11. Mai 1884 vom Volke verworfen.^)
In Tit. IV sind die eigentlichen Amtsverbrechen-) der Bundesbeamten
aufgenommen: absichtliche Verletzung der Amtspflicht, Überschreitung oder
Missbrauch der Amtsgewalt, Bestechlichkeit, schwere Vernachlässigung der
Geschäfte; Unterschlagung von Briefen und Paketen durch Postangestellte,
Verletzung des Post- und Telegraphengeheimnisses. Es folgen dann (gestützt
auf Art. 106 der BV. von 1848), in systematischer Stellung sehr anfechtbar,
in Tit. V Verbrechen gegen Bundesbeamte und in Tit. VI (Art. 61 — 68) ver-
mischte Bestimmungen, nämlich Delikte an Bundesurkunden; falsches Zeugnis
vor einer Bundesbehörde; Übertretung einer durch eine Bundesbehörde ver-
fügten Landesverweisung; Hülfeleistung gegenüber einem ausgewiesenen Frem-
den; verbotene Werbung (aufgehoben durch BG. betr. die Werbung usw. vom
30. Juli 1859); Verletzung und Gefährdung des Telegraphenbetriebes; Beschä-
digung und Gefährdung von Post- und Eisenbahnzügen.
Im letzten Tit. VII wird die pressrechtliche Verantwortlichkeit im Sinne
des „Systeme par cascades" geregelt; im übrigen hat der Bund das ihm in
der BV. von 1848 Art. 45 (neu Art. 55) eingeräumte Recht, Strafbestimmungen
gegen Missbrauch der Presse, der gegen die Eidgenossenschaft und ihre Be-
hörden gerichtet ist, zu treffen, nicht ausgeübt.
Auf die Kompetenzbestimmungen der Art. 73 — 76, welche in ihrem Ver-
hältnis zu damals bestehenden und später hinzugetretenen anderweiten Bestim-
mungen der Auslegung Schwierigkeit bieten, hier einzugehen, ist nicht möglich.
Die Umgestaltung des Bundesgerichts zu einem ständigen Gerichtshofe durch
die Gesetzgebung von 1874 und eine lange Reihe von Bundesnebengesetzen
mit prozessualen Normen hat die Abgrenzung der Bundesstrafgerichtsbarkeit
gegenüber den kantonalen zu einer höchst verwickelten, unklaren und un-
befriedigenden gemacht, in welcher Beziehung nur durch eine Revision di'S
Bundesstrafrechts und der Bundesstrafrechtspflege in weitem Umfange abge-
holfen werden kann. Seit mehreren Jahren ist man hiermit beschäftigt*) und
gerade jüngst ein neuester Entwurf zur Organisation der Bundesrechtspflege
durchberaten wurden. Der Erlass des neuen Gesetzes steht binnen kurzem
bevor. Anders liegt es mit der jüngst unternommenen, für den Augenblick
notwendigsten Ergänzung des Bundesstrafrechts. Denn die Lückenhaftigkeit
desselben, gegenüber den Anforderungen neuester Zeit, ist allerdings mehr
und mehr erkannt und offen zugestanden worden. So erklärte namentlich der
Vorsteher des eidgenössischen Justizdepartements, Bundesrat Dr. Ruchonnet, in
») Näheres bei v. Sali«, I, 81 ff.
-) Über Disziplinarvergehen (Art. 77 d) vgl. Blumer- Morel, 2. Aufl., I, 544, 563;
II, 391; III, 215.
*) Vgl. die Ausführungen von Dr. Hafner und Dr. Leo Weber in der Zeitschr. für
Schweizer Strafrecht I, 228—260, 361—389. Der neueste Entwurf ist im Bundesblatt
1892, II, 273—458 mitgeteilt.
§ 6. Die StGgebung des Bundes seit 1848. :^83
Beantwortung der Motion Forrer am 8. März 1888 (Zeitschr. für Schweizer
Strafrecht, I, 208):
„Ce Code est surann^. U ne connait pas les d^lits politiques des temps
„pr6sent8. II ne connait ni les anarchistes/) ni la dynamite, ni Tespionnage
„politique. Dans un autre ordre d*id6es ce code n'a aucune disposition pour
„prot^ger la monnaie,^) non plus que les timbres-poste. II nous laisse d^sarmes
„dans bien des cas oü nos rapports intemationaux sont en jeu/'
Man schritt deshalb, natürlich nicht ohne Rücksicht auf die jetzt geplante
Entwerfung eines einheitlichen eidgenössischen Strafgesetzbuches, vor der Hand
zum Entwurf einer Novelle. Die aus den Kommissionsberatungen hervor-
gegangene Arbeit — über welche Stooss in der Zeitschrift III, 160 ff. und in
seinen Grundzügen S. 44/45 berichtete — ist aber zur Zeit noch nicht zur Be-
ratung in den Räten gekommen.
Das Bundesstraftrechtsgesetz besteht also vorläufig — abgesehen von einer
Abänderung des Art. 26 durch das neue Obligationenrecht (Art. 60, 88) und
andrerseits Ersetzung des Art. 65 durch das BG. betr. die Werbung vom
30. Juli 1859 — unverändert in Kraft. Eine der Hauptstreitf^agen, welche
jetzt mehr und mehr die Praxis und Doktrin beschäftigt, betrifft die Frage,
welche Bedeutung den Sätzen desselben im allgemeinen Teil zuzuschreiben sei.
Die Nebengesetzgebung des Bundes hat nicht immer in solchen Fragen be-
sondere Verfügung getroffen ; wo dieselbe nun z. B. über Verjährung schweigt,
ist kontrovers geworden, ob die Lücke durch Anwendung der Bestimmungen
des Bundesstrafgesetzes oder etwa der kantonalen Gesetzgebung oder vielleicht
sogar nach freiem richterlichen Ermessen auszufüllen sei. Gewiss dürfte die
namentlich von Stooss, Grundzüge S. 49 und Zeitschr. V, 159, vertretene Ansicht,
dass nur ersteres zulässig sei, dem Zwecke des Gesetzes allein entsprechen.
In einem der Räte freilich ist erst jüngst bei Beratung des neuen Fischerei-
gesetzes eine Anschauung zu Tage getreten, die dem Kantonalrechte auf Kosten
des Bundesrechts Anwendbarkeit zusprechen möchte (Leo Weber in Zeitschr.
für Schweizer Strafrecht I, 389; II, 269).
Eine wissenschaftliche Bearbeitung hat das Gesetz leider nicht gefunden; aus-
führlichere Besprechung widmeten demselben aber in neuester Zeit Stooss im Gerichts-
saal Bd. XL (1888), 121—129 („Grundzüge" 41—43); Pfenninger, 346—360; Blumer-
Morel, 2. Aufl., III, 195—205. Interessante Rechtsfälle in der Zeitschr. für Schweizer
Strafrecht; namentlich neueste in Bd. V, 88 ff. — Vgl. auch v. Salis, I, 74 ff. 383; III,
835—379.
Einen nicht zu unterschätzenden Erfolg erzielte man dagegen jüngst auf
dem Gebiete des Auslieferungswesens. Hier schien bei stets wachsender Zahl
der von der Schweiz mit anderen Staaten geschlossenen Auslieferungsverträge
oder Vereinbarungen, namentlich zu Beseitigung gewisser Differenzen zwischen
der Centralbehörde und den Kantonsregierungen, ein die Kompetenz genau
regelndes und die Beurteilung seitens des Bundesgerichts als Staatsgerichts-'
hofes dem Umfange nach erweiterndes Auslieferungsgesetz, wie solches einige
andere Staaten besitzen, notwendig. Der von Prof. Dr. Alphons Rivier, Schweiz.
Generalkonsul in Brüssel, abgefasste Entwurf wurde von der hierzu ernannten
Kommission in der Sitzung zu Bern vom 14 — 23. April 1890 durchberaten
und der Bundesversammlung mit Botschaft des Bundesrates vom 9. Juni 1890
(BBl. III, 316 — 369) vorgelegt. Der hier und da bei den Beratungen ab-
geänderten Vorlage trat der Nationalrat am 21., der Ständerat am 22. Januar
0 Vgl. die Schrift des Bundesanwalts Ed. Müller, Bericht über die Untersuchung
betr. die anarchistischen Umtriebe in der Schweiz, Bern 1885.
•-) Bericht des Justizdepartements im Bundesblatt 1883, II, 839 über den Genfer
Prozcss wegen Anfertigung ägyptischer Münzen.
384 I^as Stß- der deutschen Schweiz. — Eidgenössische» (Bundes-) StR.
1892 bei. Das hiermit zu Stande gekommene Bundesgesetz betr. die Aus-
lieferung gegenüber dem Auslande vom 22. Januar 1892 (BBl. 1892, I, 402
bis 416) ist (nachdem nur eine nicht genügende Zahl von Referendumsbegehren
eingelaufen) nunmehr in Kraft erklärt worden (A. S. n. F. XII, 870 ff.). Hier-
nach kann der Bundesrat, mit oder ausnahmsweise ohne Vorbehalt des Gegen-
rechts, unter den in diesem Gesetze aufgestellten Voraussetzungen jeden Frem-
den ausliefern, der durch die zuständigen Gerichtsbehörden des ersuchenden
Staates verfolgt, in Untersuchung gezogen oder in Anklagezustand versetzt
oder vemrteüt ist und auf dem Gebiete der Eidgenossenschaft betroffen wird:
ebenso innerhalb der Grenzen dieses Gesetzes seinerseits Gegenrecht zusichern
wie Auslieferungsverträge schliessen, auch bei Bestehen eines solchen Ver-
trages mit oder ohne Vorbehalt des Gegenrechts auch wegen einer darin nicht
vorgesehenen Handlung, sofern Auslieferung nach dem gegenwärtigen Gesetze
statthaft ist, letztere gewähren oder Gegenrecht zusichern (Art. 1). — Kein
Schweizerbürger darf (Art. 2) an einen fremden Staat ausgeliefert werden;
vielmehr erteilt der Bundesrat dem verfolgenden Staate auf dessen Ersuchen
oder bei Ablehnung des Begehrens die Zusicherung, dass der Verfolgte in der
Schweiz nach dem im Gebiete des zuständigen Gerichtes geltenden Rechte
beurteilt und gegebenen Falles bestraft werden wird, wofern der ersuchende
Staat erklärt, dass der Schweizerbürger nach Verbüssung der in der Schweiz
gegen ihn verhängten Strafe auf seinem Gebiete nicht nochmals wegen des-
selben Verbrechens verfolgt und auch ein von seinen Gerichten gegen ihn
ausgefälltes Strafurteil nicht vollzogen werden wird. Wird diese Zusicherung
erteilt, so ist der Niederlassungskanton (bezw. Heimatskanton) verpflichtet,
gegen denselben vorzugehen, wie wenn die strafbare Handlung im Gebiete
des Kantons begangen wäre. — Art. 3 enthält die lange Liste der Auslieferungs-
delikte, während Art. 4 die Auslieferung auch gestattet, wenn Nichterwähnung
einer Handlung im Strafgesetze des Zufluchtskantons lediglich Folge äusserer
Verhältnisse, wie z. B. der Verschiedenheit der geographischen Lage beider
Länder, ist. — Nach Art. 9 erfolgt die Auslieferung nur unter der Bedingung,
dass der Auszuliefernde nicht vor ein Ausnahmegericht gestellt werden darf.
Art. 10 schliesst die Auslieferung wegen politischer Verbrechen und Vergehen
aus, gestattet sie jedoch, obgleich der Thäter einen politischen Beweggrund
oder Zweck vorschützt,*) wenn die Handlung vorwiegend den Charakter eines
gemeinen Verbrechens oder Vergehens hat, worüber das Bundesgericht nach
freiem Ermessen entscheidet.*) — Der Bundesrat bewilligt sofort die Aus-
lieferung, wenn der Verhaftete in dieselbe eingewilligt hat, kein gesetzliches
Hindernis entgegensteht oder gegen die Auslieferung nur Einwendungen er-
hoben werden, welche sich nicht auf das Gesetz, den Staatsvertrag oder eine
Gegenrechtserklärung stützen. Im Falle sonstigen Einspruches entscheidet das
Bundesgericht (Art. 23). — Nach Art. 30 kann der Bundesrat im Einverständ-
nisse aller Beteiligten gestatten, dass eine im Auslande verhängte Gefängnis-
strafe in einer inländischen Verhaftsanstalt erstanden werde und trägt derselbe
(Art. 31 ) die Kosten der von seinen Behörden angeordneten Auslieferungen
an auswärtige Staaten. — Der bisher die Stellung des Bundesgerichts und des
Bundesrats normierende Art. 58 des BG. über die Bundesrechtspflege vom
27. Juni 1874 (in Ersetzung des früheren vom 5. Juni 1849) wird im letzten
*) Der französische Text: ^Elle pourra etre accord^e alors meme que le coupable
alleguerait un inotif ou un but politique . . .^ giebt diesen Sinn vielleicht nicht ganz
unzweideutig wieder.
-) Vgl. Rolin in Revue de droit international XXIV, 1892, p. 25; Bernev ebenda
p. 212—223. Vgl. auch Hiltv in seinem Jahrbuch VII 96—138, 593; Archiv für öffent-
liches Recht VII 565—578. *
§ 6. Die StGgebung des Bundes seit 1848. 385
Artikel des Gesetzes (33) aufgehoben. Eine Aufzählung der bestehenden Aus-
lieferungsverträge und Abreden giebt Tabelle II der genannten Botschaft vom
9. Juni 1890. Näheres bei v. Salis, III, 414 flf.
C. Bnndesstraft-eehtllche Nebenipesetze.
Während im Bundesgesetze über das Bundesstrafrecht nach der Auf-
stellung von Stooss in seinen Grundzügen S. 50 die Bundesinteressen ihren
Schutz gefunden haben, nämlich: I. Der Bundesstaat als solcher und im
völkerrechtlichen Verkehr, daneben auch der fremde Staat (Art. 36 — 44);
II. Die Bundesgewalt und ihre Organe (Art. 45 — 51, 59, 60); III. Die
Bundesverwaltung a) im allgemeinen (Art. 53 bis 58); b) die Bundesrechts-
pflege (Art. 61 — 63); c) Verkehrswesen (Art. 66 — 68), — hat der Bund
natürlich auf den verschiedensten Gebieten von der ihm durch die Ver-
fassung ausdrücklich oder stillschweigend gewährten Gesetzgebungskompetenz
mannigfach Gebrauch gemacht und hierbei sich auch zu strafrechtlichen
Bestimmungen veranlasst gesehen. Über die Grenzen der Bundes- und der
Kantonalsouveränität kann allerdings Streit entstehen, um so mehr, als
jedenfalls für das Strafrecht letztere die Regel bildet. Solche Kompetenz-
streitigkeiten sollten nach der BV. von 1848, Alt. 74, Ziff. 17 und Art. 80
durch die Bundesversammlung entschieden werden; die neue BV. von 1874,
Art. 113, lässt das Bundesgericht entscheiden, doch sind ,fdie von der Bundes-
versammlung erlassenen Gesetze und allgemein verbindlichen Beschlüsse,
sowie die von ihr genehmigten Staatsverträge für das Bundesgericht mass-
gebend." Im Gegensatze zur nordamerikanischen Unions Verfassung, welche
die Gerichte der Union auch über die Verfassungsmässigkeit der Gesetze
entscheiden lässt, ^) liegt es hiemach allerdings in der Hand der Bun-
desversammlung, ihre Kompetenzen allmählich weiter auszudehnen, wogegen
den Betroffenen nur einige Schutzmittel (fakultatives Referendum, Revisions-
modus)'') gewährt sind. Grosser Mässigung in centralisierendem Vorgehen
und Achtung kantonaler Selbständigkeit ist es zuzuschreiben, dass es
nicht öfter zu grösseren Konflikten zwischen Bund und Kantonen gekommen
ist und man sich jeweilig überzeugte, dass die bundesstaatlichen Einrichtungen
nach den Bedürftiissen der Zeit einer fortschreitenden Veränderung unterliegen
müssen. Strafrechtliche Bestimmungen sind nun in folgenden Bundesgesetzen
enthalten, geordnet nach Materien:
I. Civilstand und Heimatlosigkeit.
1. BG. die Heimatlosigkeit betr. v. 3. Dezember 1850 (A. S. II, 138 ff.)
Art. 18 (Vaganten); 19 (BG. v. 24. JuU 1867).
Wolf, I, 153. — Gebhardt,») 25—26. — Blumer-Morel, 2. Aufl., II, 221 ff. — v. Salis,
J, 477 ff.
2. BG. betr. Feststellung und Beurkundung des Civilstandes und die Ehe
V. 24. Christmonat 1874 (A. S. n. F. I, 506 ff.) Art. 59.
Wolf, I, 158 ff. — Gebhardt, So—SS. — Pfenninger, 587. — Blumer-Morel. 2. Aufl.,
III, 217.
U. Obligationenrecht. Urheberrecht. Schuldbetreibung.
1. BG. über das Obligationenrecht v. 14. Brachmonat 1881 (A. S. n. F.
*) Vgl über die Bundesrechtspflege in den Vereinigten Staaten Prof. G. Vogt
in der Zeitschr. für Schweizerisches Recht XXXI, 566 — 586; Westerkamp, Staatenbund
und Bundesstaat, S. 827.
*) Der 3. Abschnitt der BV. von 1874 (Art. 118—121) ist jetzt abgeändert und
erweitert zu Art. 118—123, in Kraft seit 29. Juli 1891. Vgl. Westerkamp a. O. 414 ff.
') Gebhardt, Sammlung der eidgenössischen Straf- und Strafprozessgesetze.
Luzern 1889.
Btrafgesetzgebnng der Gegenwart. I. 25
386 Das StR. der deutschen Schweiz. — Eidgenössisches (Bundes-) StR.
V, 635 ff.), Art. 864 (Ordnungsbusse wegen Nichteintragung in das Handels-
register). Nach Art. 880 bleiben Strafbestimmungen betr. Führung von Ge-
schäftsbüchern und Aufbewahrung derselben der Kantonalgesetzgebung vor-
behalten. Vgl. auch Art. 50—60, 69.
Amtl. Ausgabe (deutsch, französisch, italienisch) Bern 1882. — Kommentar von
Schneider & Fick. Grössere unter Benutzung der Praxis bearbeitete Ausgabe. Zürich
1891—93. — Haberstich, Handbuch des Schweiz. Obligationenrechts, Zürich 1884—1887.
— Textausgabe mit Anmerkungen v. Dr. H. Hafner, Zürich 1892. — Virgile Rössel,
Manuel du droit f^d^ral des obTigations, Lausanne 1892.
2> BG. betr. das Urheberrecht an Werken der Litteratur und Kunst v.
23. April 1883 (A. S. n. F. VH, 261 ff.) Art. 13 ff.
Wolf, I, 259 ff. — Gebhardt, 67—72. — Blumer-Morel, 2. Aufl., III, 498 ff. — A. v.
Orelli, Das Schweiz. Bundesgesetz betr. das Urheberrecht an Werken der Litteratur
und Kunst unter Berücksichtigimg der bezüglichen Staats vertrage, Zürich 1884. —
H. Rüfehacht, Das litterarische und künstlerische Urheberrecht in der Schweiz mit
besonderer Rücksicht auf die bestehenden Staats vertrage. Diss. Bern 1892. — Meili,
Die Schweiz. Gerichtspraxis über das litterarische, künstlerische und industrielle Eigen-
tum, I. Zürich 1890. — Niesper- Meyer, Der Schutz industriellen Eigentums in der
Schweiz und im deutschen Reich, Zürich 1892.
3. BG. betr. den Schutz der Fabrik- und Handelsmarken, der Herkunfts-
bezeichnungen von Waren und der gewerblichen Auszeichnungen v. 26. Sep-
tember 1890 (A. S. n. F. XII, 1 ff.) Art. 24—34.
Meili, Die Schweiz. Gesetzgebung über den Schutz der Erfindungen, Marken,
Muster und Modelle. Textausgabe, Zürich 1890, S. 9 ff. — Meili, Das Marken strafrecht,
Bern 1888. — Blumer-Morel, 2. Aufl., III, 508 ff. über das frühere BG. v. 19. Dezember
1879 (A. S. n. F. V, 35. Wolf, I, 765).
4. GB. betr. die Erfln dungspatente v. 29. Juni 1888 (A. S. n. F. X, 764 ff.)
Art. 25 ff.
Wolf, I, 276. — Gebhardt, 101—103. — Meili, Die Schweiz. Gesetzgebung . . .,
Zürich 1890, S. 21 ff. — Meili, Die Prinzipien des Schweiz. Patentgesetzes, Zürich 189Ü.
— Pfenninger, 602. — Simon, Der Patentschutz, Bern 1891.
5. BO. betr. die gewerblichen Muster und Modelle v. 21. Dezember 1888
(A. S. n. F. XI, 73 ff.) Art. 20 ff.
Wolf. II, 1122. — Gebhardt. 179—181. — Meili, Die Schweiz. Gesetzgebung . .
Zürich 1890, S. 55 ff. — Pfenninger, 603. — Zeitschr. für schweizer Strafrecht II, 268.
6. BG. über Schuldbetreibung und Konkurs v. 11. April 1889 (A. S. n. F.
XI, 529 ff.) enthält in Art. 91, 96, 163, 164, 222, 229, 232 Strafandrohungen,
verfügt in Art. 25 No.3, dass die Kantone die zur Vollziehung eri'orderlichen Straf-
bestimmungen festzustellen haben; in Art. 26, dass sie ebenso, unter Vorbehalt
bundesrechtlicher Bestimmungen über die politischen Rechte der Schweizer-
bürger (Art. 66 der BV.), die öffentlich rechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfän-
dung und des Konkurses feststellen können. Das Konkursstrafrecht der Kantone
wird nicht berührt. Das Gesetz ist auch in Romanisch erschienen.
Amtliche Ausgabe, Bern, Stärapfli 1890. — Kommentar von Dr. Leo Weber und
Dr. A. Brüstlein, Bern 1892, franz. von Brüstlein und Rambert, Lausanne 1892. —
Taschenausgabe von Dr. H. Hafner, Zürich 1892. — Zürcher in der Zeitschr. für
Schweizer Strafrecht II, 293—343. — F. Zeerleder (ebenda IV, 401).
IIL Gewerbepolizei.
1. BG. betr. die Arbeit in den Fabriken vom 23. März 1877 (A. S. n. F.
III, 241 ff.) Art. 19.
Wolf, I, 291. — Gebhardt, 48. — Pfenninger, 588. — Blumer-Morel^ 2. Aufl. II,
273 ff. — Das BG. vom 23. März 1877 kommentiert, Bern 1888.
2. BG. betr. die Ausdehnung der Haftpflicht und die Ergänzung des BG.
vom 25. Juni 1881, vom 26. April 1887 (A. S. n. F. X, 165 ff.) Art. 8.
Wolf, I, 295. — Gebhardt, 91. — Pfenninger, 601. — Zeerleder, Die Schweiz.
Haftpflichtgesetzgebung, Bern 1888.
3. BG. betr. die Fabrikation und den Verkauf von Zündhölzchen vom
22. Juni 1882, nebst Reglement vom 17. Oktober 1882, Art. 11 (A. S. n. F.
VI, 499 ff.). Ein neues Gesetz in Vorbereitung.
§ 6. Die StGgebung des Bundes seit 1848. 387
Wolf, I, 299. — Gebhardt, 64—67. — v. Salis, I, 414. — Dr. Leo Weber in der
Zeitßchr. für Schweizer Strafrecht III, 277.
4a. B6. betr. Eontrollierung und Garantie des Feingehalts der Gold- and
Silberwaren vom 23. Christmonat 1880 (A. S. n. F. V, 363 ff.) Art. 6, 7, 9, 10
nebst Zusätzen vom 21. Christmonat 1886 (A. S. n. F. X, 45).
Wolf, I, 302, 305. — Gebhardt, 59—62. — v. Saus, I, 25. — Pfenninger, 594.
4b. BG. über den Handel mit Gold- und Silberabfällen vom 17. Juni
1886 (A. S. n. F. IX, 266 ff.) Art. 6.
Wolf, I, 317. — Gebhardt, 77.
5. BG. über die Ausgabe und Einlösung von Banknoten vom 8. März
1881 (A. 8. n. F. V, 400 ff.) Art. 47—60.
Wolf, I, 326. — Gebhardt, 62—64. — Pfenninger, 595. — Blumer-Morel , 2. Aufl.
III, 208. — V. Salis, IIT, 220.
6. BG. über den Geschäftsbetrieb von Au8W^^nderung8-Agenturen vom
22. März 1888 (A. S. n. F. X, 652 ff.) Art. 18— 20, nebst Vollziehungsverord-
nung vom 10. Juli 1888, Art. 35 Abs. 2.
Wolf, I, 358. — Gebhardt, 92—101. — Pfenninger, 601. — Zeitschr. für Schweizer
Strafrecht, II, 265.
7. BG. betreffend Beaufsichtigung von Privatunternehmungen im Gebiete
des Versicherungswesens vom 25. Juni 1885 (A. S. n. F. VIII, 171 ff.), Art. 10,
11, nebst Regulativ betr. Staatsgebühr vom 29. Oktober 1886, Art. 8.
Wolf, I, 366, 368. — Gebhardt, 74—76. — Pfenninger, 599. — v. Waldkirch, die
Staatsaufsicht über die privaten Versicherungsunternehmungen nach Bundesgesetz
vom 25. Juni 1885, Zürich 1892.
8. BG. betr. die Patenttaxen der Handelsreisenden vom 24. Juni 1892
Art. 8 und Bundesratsbeschluss vom 1. November 1892 (A. S. n. F. XIII, 43 ff.).
Hiltv, Politisches Jahrbuch der schweizerischen Eidgenossenschaft, VII 601.
IV. Forstwesen. Vogelschutz.
la. BG. betr. die eidgenössische Oberaufsicht über die Forstpolizei im
Hochgebirge vom 24. März 1876 (A. S. n. F. H, 353 ff.) Art. 27, 29.
Wolf, I, 776. -^ Gebhardt, 44—47. — Blumer-Morel, 2. Aufl., II, 198 ff. — Pfen-
ninger, 588.
Ib. BG. betr. die Wasserbaupolizei im Hochgebirge vom 22. Brachmonat
1877 (A. S. n. F. HI, 193 ff.) Art. 13.
Wolf, I, 906. — Gebhardt, 49. — Blumer-Morel, 2. Aufl., II, 205 ff. — Pfen-
ninger, 588.
2. BG. über Jagd und Vogelschutz vom 17. Herbstmonat 1875 (A. S. n.
F. II, 39 ff.) Art. 5, 21, 22.
Wolf, I, 784. — Gebhardt, 40. — Blumer-Morel, 2. Aufl., II, 301 ff. — Pfenninger, 588.
3. BG. betr. die Fischerei vom 21. Dezember 1888 (A. 8. n. F. XI, 62 ff.)
Art. 31—33.
Wolf, I, 797. — Gebhardt, 181—190. — Zeitschr. für Schweizer Strafrecht II, 268.
V. Gesundheitswesen.
1. BG. über polizeiliche Massregeln gegen Viehseuchen vom 8. Homung
1872 (A. S. X, 1029 ff.) Art. 26, 36, 37; Zusatzbestimmung vom 19. Heumonat
1873 (A. S. XI, 211 ff.) Art. 2.
Vollziehungsverordnung vom 14. Oktober 1887 (A. S. n. F. X, 305 ff.)
Art. 31, 103.
Wolf, I, 747 ff. — Gebhardt, 30—36. — Blumer-Morel, 2. Aufl., ü, 265 ff.
2. BG. betr. Massnahmen gegen gemeingefährliche Epidemieen vom 2. Juli
1886 (A. S. n. F. IX, 277 ff.) Art. 9. — Vdg. betr. Leichentransport vom 6. Ok
tober 1891 (A. S. n. F. XIl/339) Art. 22.
Wolf, I, 898. — Gebhardt, 79—82. — Pfenninger, 600. — v. Salis, I, 5.
3. Vollziehungsreglement betr. Vorkehrungen gegen die Reblaus vom
29. Januar 1886 (A. S. n. F. IX, 3 ff.) Art. 27.
Wolf, I, 740. — v. Salis, I, 13—16. — Blumer-Morel, 2. Aufl., III, 568 ff.
VI. Finanzwesen.
25*
388 I^as StR. der deutschen Schweiz. — Eidgenössisches (Bundes-) StR.
1. BG. über das Zollwesen vom 27. August 1851 (A. S. 11, 535 ff.) Art.
50 — 57. — Ein neues Gesetz in Vorbereitung.
Wolf, I, 442 ff. — V. Salis, III, 88 ff. — Gebhardt, 26—29. — Blumer-Morel, 2. Aufl.,
II, 379 ff.
2a. BG. über das Postregale vom 2. Juni 1849 (0. S. I, 98 ff.) Art. 6, 9, 11.
Wolf, I, 502. — Gebhardt, 23. — v. Salis, III, 178 ff. — Ein neues Gesetz in Vor-
bereitung.
2b. BG. betr. die Posttaxen vom 26. Juni 1884 (A. S. n. F. VII. 584 ff.)
Art. 21. 36. — Nachtragsgesetz vom 24. Juni 1890 (A. S. n. F. XI, 720ff.) —
Revision einiger Bestimmungen vom 17. Juni 1891 (A. S. n. F. XII, 350ff.) —
Transportordnung vom 7. Oktober 1884 (A. S. n. F. VII, 619 ff.) Art. 15^ 16*.
— Vdg. des Bundesrats über Konzessionierung von Unternehmungen für den
Transport von Personen und deren Gepäck mit Fuhrwerken vom 26. Mai 1891,
Art. 11 (A. S. n. F. XII, 118).
Wolf, I, 525 ff. — Gebhardt, 23-2:., 72. — Blumer-Morel, 2. Aufl., I, 536 ff.
3. BG. über das Pulverregale vom 30. April 1849 (O. S. I, 165 ff.) Art 6.
Wolf, I, 956. — Gebhardt, 22. — Blumer-Morel, 2. Aufl., II, 392 ff.
4. BG. betr. gebrannte Wasser vom 23. Dezember 1886 (A. S. n. F. X, 60 ff.)
Art. 14 — 17, 19. Bundesratsbeschluss betr. Denaturieren des Alkohols vom
2. September 1887 (A. S. n. F. X, 135). Reglement vom 24. Juli 1888 (A. S.
n. F. X, 742): neues vom 11. Juli 1890 (A. S. n. F. XI, 626 ff.).
Wolf, I, 968 ff. II, 1153. — Gebhardt, 82—91. — v. Salis, III, 194 ff. — Zeitschr.
für Schweizer StR. IV, 404.
VII. Verkehrswesen.
1. BG. betr. die Verbindlichkeit zur Abtretung von Privatrechten vom
1. Mai 1850 (0. S. I, 319 ff*.) Art. 9.
Wolf, I, 896. — Gebhardt, 25. — Blumer-Morel, 2. Aufl., II, 162 ff.
2 a. BG. über den Bau und Betrieb der Eisenbahnen vom 23. Christmonat
1872 (A. S. XI, 1 ff.) Art. 34.
Wolf, I, 588. — Blumer-Morel, 2. Aufl., II, 36 ff. — v. Salis, I, 44 ff. — HürUmann,
Die eidgenössische Eisenbahngesetzgebung mit Angabe der Quellen für die Kenntnis
der darauf bezüglichen Praxis der Btmdesbehörden bis Ende 1885, Zürich 1887.
2b. BG. betr. Handhabung der Bahnpolizei vom 18. Homung 1878 (A.
S. n. F. III, 422 ff.) Art. 8, 9.
Wolf, I, 608. — Gebhardt, 49—53. — Blumer-Morel, 2. Aufl., II, 106 ff. — Pfen-
ninger, 589.
2c. HG. betr. die Arbeitszeit beim Betriebe der Eisenbahnen und anderer
Transportanstalten vom 27. Juni 1890 (A. S. n. F. XI. 713) Art. 7.
F. Zeerleder in der Zeitschr. für Schweizer Strafrecht, IV, 402.
3. BG. über die Organisation der Postverwaltung v. 25. Mai 1849 (O. S.
I, 104 ff.) Art. 14, 15. (W^olf, I, 129.)
4 a. BG. über die Organisation der Telegraphen Verwaltung vom 20. Christ-
monat 1854 (A. S. V, Iff.) Art. 16, 17. (Wolf, I, 135.)
Verordnung üVer die Disziplinarstrafen der Telegraphenbeamten und Be-
diensteten vom 22. Januar 1855 (ebenda V, 66 ff.) Art. 1, 4. (Wolf, I, 566,
Gebhardt, 29.)
4b. BG. über den telegraphisehen Verkehr im Innern der Schweiz vom
22. Brachmonat 1877 (A. 8. n. F. III, 161 ff.) Art. 4, aufgehoben durch Verord-
nung vom 30. Juli 1886.
5 a. BG. betr. die Erstellung von Telegraphen- und Telephonlinien vom
26. Juni 1889 (A. S. n. F. XI, 251) Art. 9, 11.
5b. BG. betr. das Telephonwesen vom 27. Juni 1889 (ebenda XI, 256)
Art. 19 Abs. 2.
Wolf, II, 1137 ff. — Meili, Das Telephonrecht, Leipzig 1885. — Meili, Das Recht
der modernen Verkehrs- und Transportanstalten, Leipzig 1888. — Leo Weber in der
Zeitschr. für Schweizer Strafrecht, III, 275. — v. Salis, III, 189 ff.
§ 6. Die StGgebung des Bundes seit 1848. 389
]>• Die BnndesYerfasnang in ihrem EinUnss auf das kantonale Strafreoht«
Die Bundesverfassung von 1848, wie die jetzige von 1874, enthält melir-
fach Bestimmungen, welche auf das kantonale Strafrecht Einfluss üben. Es
handelt sich hier um folgende Punkte:
a) Verbot der Todesstrafe. Politische Todesurteile (wie das im Tessin
an Advokat Nessi vollzogene und das in Luzem gegen Dr. Robert Steiger
ausgefällte, wegen Befreiung aus dem Kerker nicht zur Vollstreckung ge-
langte) und wohl auch der Vorgang Frankreichs bestimmten dazu, in die
BV, von 1848 Art. 54 mit dem Satz aufzunehmen: „Wegen politischer Vergehen
darf kein Todesurteil gefällt werden." Diese Bestimmung wurde auf gemeine
Verbrechen in Art. 65 der BV. von 1874 erweitert, indem gesagt wurde:
„Die Todesstrafe ist abgeschafft. Die Bestimmungen des Militärstrafgesetzes
bleiben jedoch in Kriegszeiten vorbehalten".
Die Abschaffung dieses Verbotes wurde in mehreren Petitionen aus ver-
schiedenen Kantonen gefordert, als Ende der 70er Jahre mehrere schwere
Verbrechen in weiten Kreisen grosse Beunruhigung hervorgerufen hatten.
Ständerat Freuler von Schaffhausen brachte 2. Dezember 1878 die Motion ein,
den Art. 65 aufzuheben und den ftüheren Rechtszustand wieder herzustellen.
Von beiden Räten wurde dieselbe 17. Dezember 1878 erheblich erklärt und
dem Bundesrate zur Begutachtung überwiesen. Letzterer beantragte in seiner
Botschaft vom 7. März 1879 (BBl. 1879, I, 281—301) auf die Motion
und die Petitionen nicht einzutreten. Doch beschloss die Bundesversammlung
dem entgegen die Revision des Artikels. Der auf die frühere Bestimmung
zurückgehende, durch Bundesbeschluss vom 28. März 1879 vorgelegte Revi-
sionsartikel fand Annahme bei der Bundesversammlung und Gutheissung in
der Abstimmung des Volkes und der Stände vom 18. Mai 1879. Es sprachen
sich dafür 200485 (gegen 181 588) Stimmberechtigte, sowie eine Mehrheit von
13 Ständen und 4 halben Ständen (gegen 6 Stände und 2 halbe) aus. Mit
dem darauf erlassenen Bundesbeschluss vom 20. Brachmonat 1879 wurden die
«
Kantone nunmehr wieder zur Androhung der Todesstrafe, ausgenommen wegen
politischer Vergehen, berechtigt. Hiervon machten Gebrauch:
1. Appenzell I.-Rh. durch Beschluss der Landsgemeinde vom 25. April
1880. 2. Obwalden durch Gesetz vom 25. April 1880. 3. Uri durch Lands-
gemeindebeschluss vom 2. Mai 1880. 4. Schwyz im Kriminalstrafgesetz vom
20. Mai 1881. 5. Zug durch Gesetz betr. Abänderung des Strafgesetzes vom
1. Juni 1882. 6. St. Gallen durch Gesetz vom 2. Dezember 1882. 7. Luzem
durch Gesetz vom 6. März 1883. 8. Wallis durch Gesetz vom 24. November 1883.
Fast wäre zu diesen Kantonen auch noch Zürich getreten. Denn es
sprachen sich bei der Volksabstimmung vom 27. Mai 1883 für die Todesstrafe
28 394, gegen dieselbe nur 25254 aus. Die hierauf dem Volke gemachte
Gesetzvorlage wurde aber abgelehnt. — Eine neue Bewegung zeigt sich jetzt
(März 1893) im Kanton Schaffhausen. Der grosse Rat erklärte sich (13. März
1893) dem Initiativbegehren nach Wiedereinführung der Todesstrafe (mit 33
gegen 31 Stimmen) günstig.
Vor dem 29. Mai 1874 war die Todesstrafe abgeschafft im Kanton Frei-
burg, der hierin vorangegangen war (nach der Verfassung von 1848, Art. 8,
bezw. Strafgesetzbuch von 1849 bis I.Januar 1874 als Datum des Inkrafttretens
des neuen StGB.); in Neuenburg (Loi du 13 juin 1854, code pönal du
19janvier 1856); in Zürich (Verfassung von 1869, Art. 5, StGB, von 1871) —
in Genf (Loi du 24 mai 1871); in Basel-Stadt, das im J. 1819 die letzte
Hinrichtung vollstreckte, angebahnt durch die Gesetze vom 11. Oktober 1849
und 1. Februar 1869 im St(;B. vom 17. Juni 1872), sowie in Basel-Land (StGB,
vom 3. Februar 1873); im Tessin (Grossratsbeschluss vom 3. Mai 1871, codice
390 ^^^ S^K* <l^r deutschen Schweiz. — Eidgenössisches (Bundes-) StR.
penale 3 febbrajo 1873j. Im Kanton Solothom hatte der Kantonsrat bei Be-
ratung des neuen StOB. am 19. Mai 1873 mit 70 gegen 11 Stimmen die Ab-
schaffung beschlossen; das StGB, wurde aber erst 12. Juli 1874 in der Volks-
abstimmung angenommen. Die letzten Hinrichtungen waren 1867 (in Luzem),
1868 (in Waadt) erfolgt, sodass man trotz vorstehend genannter Gresetze, an-
gesichts der namentlich in Luzem zu beobachtenden Begnadigungspraxis, die
Todesstrafe für de facto beseitigt erachten konnte; bis am 18. März 1892
nach Ablehnung des Begnadigungsgesuches von Gatti in Luzem von neuem
eine Hinrichtung vollzogen wurde.
Stooss, Systematische Zusanmienstellung lOs— 111; Grundzüge 56—58, 285 — 30.S
und in seiner Zeitschr. II, 453 — 455. — Dr. Plazid Mever v. Schauensee in der Zeitschr.
für Schweizer Strafrecht IH, 196, V, 68—71, 221—229. — Repond, ebenda HI, 47. —
Dr. Thumeysen, ebenda IV, 184. — Soldan et Decoppet, ebenda V, 163—201. — Hilty
in seinem Jahrbuch VIT, 414. — v. Salis, I, 383. — Blumer-Morel, 3. Aufl., I, 574.
h) Körperstrafe. Wohl aus Anlass der Bestrafung eines Schriftsetzers
Ryniker im Kanton Uri wegen Gotteslästerung und Religionsbeschimpfung mit
20 Rutenstreichen wurde durch Nationalrat Eytel bei den Beratungen tiber
die neue Bundesverfassung im Jahre 1871 beantragt, auch körperliche Strafen
zu untersagen. Dieser Antrag wurde angenommen, sodass jetzt Art. 65 als
drittes Alinea den Satz enthält: „Körperliche Strafen sind untersagt". Leider
bleibt ungewiss, was der Sinn dieses Satzes sei, ob damit „körperliche
Züchtigung" nur als Straftnittel verboten werde, oder auch als Disziplinar-
mittel; ob damit die in einzelnen Gesetzen gedrohte Kettenstrafe getroffen
werde? Blumer-Morel, 3. Aufl., I, 575, erwähnt allerdings Staupbesen, Pranger
und Brandmarkung. Letztere beide sind aber — wie Stooss in seinen Grund-
zügen 59 bemerkt — doch ihrem Wesen nach Ehrenstrafen. ^)
c) Landesverweisung. Während Art. 43 der BV. von 1848 nur ver-
fügte: „Kein Kanton darf einen Bürger des Bürgerrechtes verlustig er-
klären'", bestimmt Art. 44 der jetzigen Verfassung: „Kein Kanton darf einen
Kantonsbürger aus seinem Gebiete verbannen oder ihn des Bürgerrechtes ver-
lustig erklären". Gestützt auf Art. 60, welcher vorschreibt, dass sämtliche
Kantone verpflichtet sind, alle Hchweizerbürger in der Gesetzgebung sowohl
als im gerichtlichen Verfahren den Bürgern des eigenen Kantons gleich zu
halten, hat das Bundesgericht sich mehrfach dahin ausgesprochen, dass kein
Kanton „einen Schweizerbürger" aus seinem Gebiete (natürlich auch nicht
aus irgend einem Teile desselben) verweisen dürfe (Entsch. des Bundesgerichts
I 75 ff'. 263, XII, 512).
Hilty, Über die Landesverweisung nach eidgenöss. Recht (in den Verhandlungen
des Schweiz. Vereins für Straf- und Gefängniswesen in Luzem vom 4., 5. Juni 1876,
Luzem 1877, S. 68 fl"., auch in der Zeitschr. für Schweiz. Rechtspflege und Gesetzgebung
Bd. II (Zürich 1876), S. 605—634). — Langhard, Das Recht der politischen Fremden-
ausweisimg mit besonderer Berücksichtigimg der Schweiz, Leipzig 1891, S. 49 fr. —
A. Cbantre, Du sejour et de Texpulsion des ^trangers, Geneve 1891, p. 7 — 15. — Blumer-
Morel, 3. Aufl., I, 575 fr. — Stooss, Grundzüge 60—65. — v. Salis, I, No. 345, S. 495; II,
325. — Pfenninger, 319, 548, 549.
d) Bestrafung wegen Glaubensansichten in irgend welcher Art ist
in Abs. 2 des Art. 49 der jetzigen BV. von 1874 verboten. Eine ausgedehnte
Rechtsprechung des Bundesgerichts ist über diesen die Glaubens- und Gewissens-
freiheit im weitesten Umfange garantierenden Art. 49 und den folgenden (50)
ergangen.
*j In seinem Kommentar zur BV. von 1874 bemerkt Mann S. 180, dass der dem
Ständerat am 19. Dezember 1873 vorliegende Text auch noch die Worte enthielt „und
lebenslängliche Ehrenstrafen*^. Hierüber scheint nicht abgestimmt worden zu sein.
In der Vorlage an das Volk fehlen dieselben. Sie müssen also gestrichen worden sein,
was allerdings die Kommission beantragt hatte.
§ 6. Die StGgebung des Bundes seit 1848. 391
Hierüber und über Rekursentscheide des Bundesrates vgl. Langhard, Die
Glaubens- und Kultusfreiheit nach schweizerischem Bundesrecht, Bern 1888, S. 55 ff.
— Blumer -Morel, 3. Aufl., I, 425. — Stooss, Grundzüge, 65—68. — v. Salis, II, 289,
432.1) — Bundesblatt 1886, I, 63. — Pfenninger, 562, 649. — v. Sali», Die Religions-
freiheit in der Praxis, Bern 1892. — Stooss in seiner Zeitschr. V, 515. — Alb. Maechler,
Das Begräbniswesen nach schweizerischem Bundesrecht. Berner Diss., Herisau 1892.
e) Schuldverhaft. Derselbe ist in Art. 59 der jetzigen BV. abgeschaflFt.
Durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts ist festgestellt, dass ein Ver-
haft als Exekutionsmittel zur Eintreibung von Forderungen, ebenso bei
Kosten- und Schadensersatz unzulässig sei. Dagegen sind die Kantone be-
rechtigt, die Umwandlung von Geldstrafen in Freiheitsstrafe vorzusehen.
Pfenninger, 550, 582. — Stooss, Grundzüge 411. — Blumer-Morel, 3. Aufl., I, 580.
f) Pressfreiheit. Schon Art. 45 der BV. von 1848 erklärte: „Die Press-
freiheit ist gewährleistet. Über den Missbrauch derselben trifft die Kantonal-
gesetzgebung die erforderlichen Bestimmungen, welche jedoch der Genehmigung
des Bundesrates bedürfen." Art. 55 der neuen BV. ist gleichlautend. Es
war Sache der Judikatur, festzustellen, was unter „Pressfreiheit" und „Miss-
brauch" zu verstehen sei, auch was die Folge der Nichtvorlegung solcher Be-
stimmungen seitens der Kantone sei. Eine völlig befriedigende Lösung dieser
Fragen ist bisher nicht erzielt.
Blumer-Morel, 3. Aufl., I, 492—510. — Stooss, Grundzüge 207—212. — Herm.
Huber, Der Begriff der Pressfreiheit nach schweizerischem Rechte, Bern 1891. — Pfen-
ninger, 834, 576. — Paccaud, Du regime de la presse en Europe et aux Etats-Unis,
Lausanne 1887.
g) Vereinsfreiheit. Art. 46 der früheren und Art. 56 der neuen BV. ent-
halten die Bestimmung: „Die Bürger haben das Recht, Vereine zu bilden,
sofern solche weder in ihrem Zweck, noch in den dafür bestimmten Mitteln
rechtswidrig oder staatsgefährlich sind. Über den Missbrauch dieses Rechtes
trifft die Kantonalgesetzgebung die erforderlichen Bestimmungen." Garantiert
scheint hiermit das Vereinsrecht nur den Schweizerbürgern, keineswegs Fremden.
Hierin können die kantonalen Verfassungen, wie auch bezüglich des Versamm-
lungsrechts, weiter gehen. Jedenfalls hat aber die BV. die Absicht, gegenüber
Vereinen grössere Beschränkungen als gegenüber der Presse zu gestatten, indem
sie von vornherein gewisse Vereine ausschliesst, deren Bestehen und Wirken
als unvereinbar mit der Staatsordnung erscheint.
Blumer-Morel, 3. Aufl., I, 511 ff. — v. Orelli, Staatsrecht S. 72, 78. — Pfenninger,
335, 579. — V. Orelli, Les droits des 6trangers en Suisse (Revue de droit international
XIV, 473—489).
h) Gleichheit vor dem Gesetz. Der Satz des Art. 4 der BV.: „Alle
Schweizer sind vor dem Gesetze gleich", wie der oben erwähnte des Art, 60
(alt 48), wonach sämtliche Kantone verpflichtet sind, alle Schweizer Bürger in
der Gesetzgebung sowohl als im gerichtlichen Verfahren den Bürgern des
eigenen Kantons gleich zu halten, wird namentlich oft in. Rekurssachen in
Bezug genommen. Eine Verletzung kann darin liegen, dass dem vielfach
in dieser oder jener Form aufgestellten Satze „keine Strafe ohne Strafgesetz"
zuwider gehandelt wird.
Hierüber namentlich: Stooss, Grundzüge, 129 — 135. — Guggenheim in der Zeit-
schr. für Schweizer Strafrecht I, 306 ff. — Pfenninger, 318, 336, 572 ff.
*) Über diesen Basler Fall vgl. die Schrift: Der Basler Religionsprozess vom
Jahre 1884/85. Bern 1886 und Dr. E. Thurnevsen in der Zeitschr. für Schweizer Straf-
recht IV, 215 Anm.
392 I^as StR. der deutschen Schweiz. — Zweite Abteilung.
m. Zweite Abteilung.
§ 7. Die Eantonalstrafgesetzgebung.
In dem Eahmen dieses Werkes kann nur eine kurze Darstellung der
gesetzgeberischen Thätigkeit der Kantone gegeben werden. Eine eingehendere
Charakterisierung der einzelnen Gesetzbücher giebt Pfenninger, in kurzer Fassung
auch Zürcher in seinem Referate über die Wünschbarkeit eines gemeinsamen
schweizerischen Strafrechts (Verhandlungen des schweizerischen Vereins für
Straf- und Qef ängniswesen, XII. Versamml., Frauenfeld 1882, S. 85 ff., auch
separat), eine chronologische Aufzählung Stooss in seinen Grundzügen, S. 8
bis 13. Für die nachfolgend^ übersieht wurde der Zeitpunkt der ersten Kodi-
fikation als massgebend erachtet.
1. Kanton Aargau.
Eben erst in die Eidgenossenschaft eingetreten, erliess dieser Kanton
schon 1804 im Anschluss an das österreichische Gesetz von 1803 das erste
aller kantonalen Strafgesetzbücher. Datiert vom 19. Christmonat 1804, publi-
ziert durch den kleinen Rat des Kantons am 26. desselben Monats, ti'at dieses
185 Paragraphen umfassende Gesetzbuch am 1. März 1805 in Kraft:
Kanton-Aargauisches Gesetzbuch über Kriminal-Verbrechen. Aarau 1805.
Gedruckt in der obrigkeitlichen Buchdruckerey. — GS. von 1826, Bd. I,
220—269.
Dasselbe wurde ersetzt durch
Peinliches Straf-Gesetz für den Kanton Aargau vom 11. Hornung 1857, in
Kraft getreten am 1. Mai 1857. GS. Bd. IV, 521 — 555, auch separat ohne
Ort und J.
Von den 174 Paragraphen entfallen 59 auf den allgemeinen Teil; im
speziellen Teile werden die einzelnen Verbrechen zwanglos in 34 Titeln auf-
geführt. Charakteristisch die übertriebene Einfachheit des Strafensystems und
Enge des richterlichen Ermessens. Ein Abändenmgsgesetz wurde am 19. Hor-
nung 1868 (ebenda Bd. VI, 334 — 336) gleichzeitig mit einem Zuchtpolizeigesetz
vom 19. Hornung 1868 (Bd. VI, 322—332) erlassen, das sehr wenig präzise
Begriffsbestimmungen und unbestimmte Strafdrohungen enthält. Ein Ergänzungs-
gesetz betr. die Strafrechtspflege vom 7. Juli 1886 (GS. n. F.II, 191 — 196) hat
den Rechtszustand sehr unklar gemacht, sodass jetzt eine Revision im Werke
ist (Stooss, Grundzüge S. 137). Eine Textausgabe bietet: G. L. Stierli, Zucht-
polizeigesetz und peinliches Strafgesetz für den Kanton Aargau mit den Ab-
änderungen, Aarau 1887. — Ein von Oberrichter Jakob Heuberger verfasster
Entwurf mit 505 Paragraphen erschien vor Kurzem (Brugg 1892).
Ein Wuchergesetz wurde am 26. September 1887 erlassen (GS. n. F. II,
385 — 386. — Stooss, Systematische Zusammenstellung 830). — Das Einf.G. vom
17. März 1891 zum BG. vom 11. April 1889^) enthält in den §§ 40—54 Straf-
bestimmungen, wie solche auch begegnen im Gesetz über den Bezug von Ver-
mögens- und Erwerbssteuern zu Staatszwecken vom 11. März 1865, §§ 27 — 29,
im Gesetz über die Verwendung der Gemeindegüter und Gemeindesteuern vom
30. November 1866, §§48, 49 (vgl. Schanz, Die Steuern der Schweiz, Bd.V
(1890), S. 5, 13).
*) Hiermit ist im nachfolgenden stets das BG. über Schuldbetreibung und Kon-
kurs vom 11. April 1?^89 gemeint.
§ 7. Die Kantonalstrafgesetzgebung. 393
Pfenninger, 176—180, 891—400. — Guggenheim, Der Grundsatz „nuUa poena
sine lege" im aargauischen Strafrecht (Zeitschr. für Schweizer Strafrecht I, 306 ff.). —
Stooss, Grundzüge 180 ff., 137. — Merz, Aargauische Strafrechtsquelleu (in der Zeit-
schr. für Schweizer Strafrecht V, 72-88, .506-514).
2. Kanton St. Gallen.
Schon 18U7 orliess dieser Kanton ein 225 Paragraphen umfassendes Straf-
gesetzbuch über Verbrechen vom 14. Mai 1807. St. Gallen, gedruckt bei Zolli-
kofer und Züblin, sowie ein 194 Artikel enthaltendes Strafgesetz wider geringe
Verletzungen und wider Übertretung allgemeiner Polizeiverordnungen vom
10. Dezember 1808 (StGB. 2. Teil über Vergehen. St. Gallen, gedruckt bei
Zollikofer und Züblin), das noch jetzt in einzelnen Paragraphen gilt.
An die Stelle des ersteren trat
Strafgesetzbuch (erster Teil) über Verbrechen vom 25. Juni 1819, in Kraft
getreten 1. Weinmonat 1819 (mit 222 Artikeln), St. Gallen, gedruckt bei Zolli-
kofer und Züblin (GS. St. Gallen 1842, Bd. I, 779—832);
ersetzt durch
Strafgesetzbuch über Verbrechen und Vergehen vom 4. April 1857, in Kraft
getreten am 11. Juni 1857 mit 217 Artikeln (ebenda Bd. V (1868), 154—218),
dieses wiederum ersetzt durch
Strafgesetz über Verbrechen und Vergehen vom 25. November 1885, in
Kraft getreten am 4. Januar 1886, in Anwendung seit 1. Mai 1886 (GS. n. F.
V. 1 — 88; separat: St. Gallen, Druck der Zollikoferschen Buchdruckerei, 1886),
ergänzt durch ein Nachtragsgesetz vom 21. November 1889 betr. die Verjährung
(Zeitschr. für Schweizer Strafrecht, III, 297—298) und eines vom 29. Juni
1891 betr. jugendliche Verbrecher (ebenda V, 447 ff.).
Dieses Gesetz mit 207 Artikeln scheidet Verbrechen, Vergehen und Über-
tretungen und kennt demzufolge als Kriminalstrafen: 1. Todesstrafe, wieder-
eingeführt durch Gesetz vom 2. Dezember 1882 (GS. n. F. IV, 80 ff.) und
2. Zuchthausstrafe; als Korrektionalstrafen 11 Formen, darunter Arbeitshaus
von 3 Monaten bis 6 Jahren. Gefängnis von 1 Tag bis 2 Jahren, Unter-
bringung in eine Besserungsanstalt auf 1 — 4 Jahre. Die Übertretungen trifft
„polizeiliche Abwandlung". Ganz besonders häufig wird von Geldstrafe
Verwendung gemacht. Der besondere Teil behandelt Verbrechen und Vergehen:
A. gegen Vermögen und öffentliche Treue. B. gegen die Ehre. C. gegen die
persönliche Freiheit. D. gegen Gesundheit und Leben. E. gegen die öffent-
liche Ordnung, die Sicherheit und den Bestand des Staates. F. gegen den
konfessionellen Frieden. G. gegen die Sittlichkeit. H. gegen besondere Fa-
milienpfiichten. Art. 193 — 199 betrifft Pressvergehen.
Wuchergesetz vom 21. Mai 1884 (Stooss, Systematische Zusammenstellung,
841— 842). — Einf.G. zum BG. vom 11. April 1889 vom S.März 1891, Art. 50—78
(wodurch Art. 84 lit. b c bis 87 des StG. aufgehoben werden). — G. über das
Steuerwesen vom 24. Hornimg 1832, Art. 15 (vgl. Schanz, Steuern der Schweiz,
Bd.V, 306).
Pfenuinger, 180—190, 400—409, 658—662. — Zeitschr. für die gesamte StR.-
Wissenschaft Vi, 726 bis 729.
3a. Kanton Basel (Basel-Stadt).
Dieser Kanton war fortwährend bestrebt, seine Strafgesetzgebung auf
Grund gemachter Erfahrungen zu verbessern. Nach langen Vorarbeiten erliess
er das in seinem materiellen Teile (160 Paragraphen) höchst einfache
Kriminalgesetzbuch. Erster Teil: Über Verbrechen und deren Bestrafung
vom 3. April 1821, in Kraft getreten am I.August 1821 (GS. Bd.V, 147, 148),
394 Das StR. der deutschen Schweiz. — Zweite Abteilung.
ersetzt durch das Kriminalgesetzbuch für den Kanton Basel -Stadtteil vom
18. Mai 1835, in Kraft getreten am I.August 1835 (ebenda Bd. VIII, 423 bis
503), letzteres ersetzt durch das Kriminalgesetzbuch vom 1. August 1846. Erster
Teil: Über Verbrechen und derselben Bestrafung mit 168 Paragraphen (ebenda
Bd. XI, 219—296).
Andererseits wurde ein Gresetz über die korrektionelle Gerichtsbarkeit
vom 6. Weinmonat 1824 (GS. Bd. VI, 73—107) durch das korrektionelle Gesetz
vom I.August 1846 (Erster Teil: Von Vergehen und deren Bestrafting) ersetzt
(ebenda Bd. XI, 367 — 401). Separatnusgaben dieser Gesetze erschienen je-
weilig bei Schweighauser.
Unter strenger Scheidung von Verbrechen und Polizeiübertretungen in
besonderen Gesetzen wurden erlassen die jetzt geltenden Gesetzbücher:
1. Strafgesetz für den Kanton Basel-Stadt, beschlossen vom Grossen Rate
den 17. Juni 1872, in Kraft getreten am I.Januar 1873, mit sehr kurz gehal-
tenen 178 Paragraphen, wesentlich im Anschluss an das deutsche Strafgesetz-
buch (GS. Bd. XVIII, 1—68).
2. Polizeistrafgesetz vom 23. September 1872, gleichfalls am I.Januar 1873
in Kraft getreten, mit 165 Paragraphen (ebenda XVIII, 69 — 142), in welchem
-. — wie Stooss, Grundzüge 168, anerkennt — das Wesen des Polizeiunrechts
tiefer erfasst ist, als in anderen schweizerischen Strafgesetzen.
Amtliche Ausgabe: Straf gesetzgebung für den Kanton Basel-Stadt (Juni
und September 1872), Basel, Schweighauserische Buchdruckerei 1872. — Eine
neuere Ausgabe (ohne amtlichen Charakter): Gesetze betr. die Strafrechts-
pflege für den Kanton Basel-Stadt. Basel. Benno Schwabe, Verlagsbuch-
handlung. 1887.
Wuchergesetz vom 9. April 1883 (§§ 152 a, b, c, d des 8tG.). — Press-
recht: Strafprozessordnung vom 5. Mai 1862, §§163 — 165 (Stooss, Systematische
Zusammenstellung, 838). — Einf.G. zum BG. vom 11. April 1889, vom 22. Juni
1891, §§31 — 34 (mit Zusätzen zu beiden Strafgesetzbüchern und anderer
Textierung des § 54 des StG.). — Gesetz betr. die direkten Steuern vom
31. Mai 1880 mit Abänderungen vom 31. März 1887, § 34 (§ 45 des PoL-StG.
in neuer Fassung); Gesetz betr. die Besteuerung der anonymen Erwerbsgesell-
schaften vom 14. Oktober 1889, §6 (vgl. Schanz, Die Steuern der Schweiz,
Bd.V, 48- -50).
Pfenninger, 203—207, 251—262, 646—652. — Dr. E. Thurneysen, Die Strafrechts-
pflege des Kantons Basel (Zeitschr. für Schweizer Strafrecht IV, 165 — 230). — Zeitschr.
für Schweizerisches Recht XIX, 85, 86. — Regierungsrat Dr. E. Brenner, Entwicklung
des Gefängnis- und Straf wesens in Basel (Verhandlungen des schweizerischen Vereins
für Straf- und Gefängniswesen, XVII. Versammlung, II. Heft, Aarau 1892. S. 25—81).
3b. Kanton Basel-Landschaft.
Das Basler Kriminalgesetzbuch vom 3. April 1821 und das Basler kor-
rektionelle Gesetz vom 6. Weinmonat 1824, wie auch das Basler Müderungs-
gesetz vom 2. August 1825, wurden unter Vorbehalt baldiger Revision (welche
aber nicht zu stände kam) von Basel-Landschaft nach seiner Trennung von
Basel-Stadtteil beibehalten. Einzelne Paragraphen des Gesetzes von 1824
gelten nach dem Einführungsgesetz zum neuen Strafgesetze vom 10. März 1873
auch jetzt noch. Dieses neue Strafgesetz, bei ganz geringen Änderungen
mit dem neuen Strafgesetze für Basel-Stadt vom 17. Juni 1872 gleichlautend,
wurde vom Landrate am 3. Februar 1873 beschlossen, in der Volksabstimmung
vom 11. Mai 1873 angenommen und trat am I.Juni 1873 in Kraft (Amtsblatt
1873, S. 139— 198, 287—295; GS. IX, 683—752). Ausgabe: Kanton Basel-
Landschaft. Gesetze und Erlasse betr. Strafrecht und Strafrechtspflege. Liestal,
Buchdruckerei von A. Brodbeck, 1889.
§ 7. Die Kantonalstrafgesetzgebung. 395
Straf bestimmungen enthält das Einf.G. zum B6. vom 11. April 1889, vom
31. August 1891, §§43 — 51. — Ebenso das G. über Vermögens-, P>w«rbs-
und Einkommensbesteuerung vom 11. August 1856, §12 und das Abänderungs-
gesetz vom 16. November 1858, §8 (vgl. Schanz, Die Steuern der Schweiz,
Bd. V, 32, 33). — Wucher: G. über die korrektioneile Gerichtsbarkeit vom
6. Oktober 1824, § 50.
Pfenninger, 256/7. — Zeitschr. für schweizerisches Recht XIX, sfJ.
4. Kanton Luzern.
Hauptsächlich nach dem Vorbilde des Basler Gesetzes von 1821 erliess
dieser Kanton sein Eoiminalstrafgesetz vom 18. Homung 1827 mit 176 Para-
graphen, in Kraft getreten 1. Heumonat 1827 und auch ein Polizeistrafgesetz vom
18. Homung 1827 mit 68 Paragraphen (3. GS. Bd. V [1827], 1-75, 133—158)
und ersetzte dieselben durch das
Kriminalstrafgesetzbuch vom 12. März 1836, in Kraft getreten 16. März
1836, mit 281 Paragraphen und das Polizeistrafgesetz vom 23. März 1836, in
Kraft getreten 1. Maimonat 1836, mit 167 Paragraphen (4. GS., Bd.IV' [1836],
1 — 104, 105 — 160) und diese wieder unter dem Eindrucke von Volkspctitionen,
welche eine Verschärfung der Strafgesetzgebung, Anwendung von Köi-per-
strafen und Ausdehnung der Todesstrafe verlangten, durch
Kriminalstrafgesetz vom 29. Wintermonat 1860, in Kraft getreten 28. Ja-
nuar 1861, mit 257 Paragraphen und Polizeistrafgesetz vom 6. Brachmonat
1861, in Kraft getreten 11. Augustmonat 1861 mit 176 Paragraphen. Amtliche
Ausgabe ohne Ort und J. — fünfte GS. Bd. HI (1861), 325—392, 487—538.
Ausgaben mit erläuternden Anmerkungen von Kasimir Pfyflfer, Luzern 1861
und Luzern 1862.
Nach dem Urteile von Pfenninger (491) fiel man hierbei zurück auf den
alten doktrinellen Standpunkt und folgte deutschen Mustern auch in regierungs-
polizeilichen Delikten, wie in der harten Strafe der Amts- und Privat-
ehrverletzung.— Revision geplant (Zeitschr. für Schweizer StR. VI, 112flr.).
Die Todesstrafe wurde wieder eingeführt durch Gesetz vom 6. März 1883.
Wucher: Bürgerliches GB., §§595—600; Polizeistrafgesetz von 1861,
§§109— 111; (t. betr. den gewerbsmässigen Betrieb von Kasso-, Abtretungs-,
Darleihens- und Wechselgeschäften vom 4. März 1880 (Stooss, Systematische
Zusammenstellung 832 — 834). — Pressrecht: G. über die Freiheit der Presse
vom 31. Christraonat 1848 (Stooss, ebenda 845). — Einf.G. zum BG. vom 11. April
1889, vom Mai 1891, § 21. — Steuergesetz vom 18. Herbstmonat 1867, § 38
(vgl. Schanz, Die Steuern der Schweiz, Bd. V, 206/7).
Pfenninger, 207—211, 268—270, 441—450. — Dr. Plazid Mever v. Schauensee,
Luzerns Strafgesetzgebung (Zeitschr. für Schweizer Strafrecht III, S8— 93, 195—202, V,
498—505); die Todesstrafe (ebenda V, 68— 71); Wuchergesetzgebung (ebenda IV, 80—84).
— J. Zimmermann, Über bedingte Freilassunff (ebenda III, 208—2061 — X. Gretener,
Über schwere Körperverletzung (ebenda II, 899 — 408), über Päderastie in der Zeitschr.
des bernischen Juristen Vereins XXII, 108 ff. — Dr. Sigrist, Sammlung grundsätzlicher
Entscheide und Maximen des Obergerichts, Bd. I, Luzern 1882.
5. Kanton Schaffhausen.
Dem Basler Entwurf von 1833 folgte dieser Kanton in seinem ersten
175 Paragraphen umfassenden Strafgesetz, das am 22. Februar 1834 auf Probe
von 4 Jahren als Leitfaden in Kraft trat (Gesetzliche Bestimmungen III. Abt.
1833, S. 160—208) und dem Basler Gesetz von 1824 in dem 93 Paragraphen
enthaltenden Zuchtpolizeigesetz vom 25. Februar 1842, das am 1. Mai 1842 in
Kraft trat. Offizielle GS., Schaffh. 1846, S'. 645—669.
Später behandelte man Verbrechen und Vergehen ungetn^nnt in dem sehr
396 I^as StR. der deutschen Schweiz. — Zweite Abteilung.
kasuistischen und doktrinell gehaltenen Strafgesetz für den Kanton Schaff-
hausen, gegeben in den Sitzungen des Grossen Rates vom 22. Dezember 1858
und 23. März 1859, in Kraft getreten mit 3. April 1859 (267 Paragraphen).
Offizielle GS. n. F. in. Bd., Schaffh. 1861, S. 65—172. Jetzt wesentlich geändert
durch Novelle vom 9. November 1891 (Amtsblatt No. 52 vom 29. Dezember 1891),
vgl. Stooss, Grundzüge 14 — 16 und Zeitschr. für Schweizer Strafrecht V, 466
bis 471.
Pressrecht: StG. § 204 (Stooss, Syst. Zus. 845). — Wucher: StG. § 230
(Stooss, Systematische Zusammenstellung 832). — Einf.G. zum BG. vom 11. April
1889, vom 8. Juni 1891, Art. 32 — 39. — Steuergesetz vom 29. September 1879
und Vollziehungsverordnung vom 20. Mai 1885, Art. 133, 134 (vgl. Schanz, Die
Steuern der Schweiz, Bd. V, 275).
Pfenninger, 257, 415—424. — Zeitschr. für Schweizerisches Recht IX, 161 ff. —
Stokar, Verbrechen und Strafe in Schaffhausen vom Mittelalter bis in die Neuzeit
(Zeitschr. für Schweizer Strafrecht V, 309—384).
6. Kanton Zürich.
Nach langen Vorarbeiten wurde der durch Kürze, Einfachheit, Schärfe
der Begriffe und Milde ausgezeichnete Entwurf von Oberrichter Ulrich an-
genommen und erhoben zum
Strafgesetzbuch für den Kanton Zürich. Von den Verbrechen und deren
Bestrafung vom 24. Herbstmonat 1835, in Kraft getreten 1. Januar 1836 (273 Pa-
ragraphen), Zürich 1835. OffizieUe GS. Bd. IV, 43—148.
An die Stelle desselben trat das von Dr. Rudolf Benz entworfene Straf-
gesetzbuch fttr den Kanton Zürich, beschlossen vom Kantonsrate am 24. Oktober
1870, vom Volke angenommen am 8. Januar 1871, in Kraft vom I.Februar
1871. Es umfasst 227 Paragraphen und ist verbunden mit einem (von A. v.
Orelli bearbeiteten) Gesetze über den Vollzug der Freiheitsstrafen in der Kan-
tonalstrafanstalt (18 Paragraphen). Ofüzielle GS. Bd. XV, 392—475.
Besprechungen des Entwurfes veröffentlichten: Glaser, Bemerkungen. Wien
1X67; V. Holtzendorff in der Allgemeinen Deutschen Strafrechts-Zeitung 1866, Spalte
46»5ff., 542 ff.; über das Gesetz: A. v. Orelli in der Allgemeinen Deutschen Strafrechts-
Zeitung 1871, S. 281—300. — Schnell in der Zeitschr. für Schweiz. Recht XVIII, 105 ff.
— Pfenninger 238—251, 637 — 646. — 0. Kronauer, Die Sittlichkeitsvergehen nach
Zürcher Strafrecht (Zeitschr. für Schweizer Strafrecht V, 202—216). — Einen Kommen-
tar schrieb Dr. Rudolf Benz, Zürich 1871, in. .2. Aufl. herausgegeben von Dr. Emil Zür-
cher, Zürich 1886. Ferner erschien die Übersetzung: II codice penale zurighese,
versione italiana, preceduta da un' introduzioue critica dell' avv. Emilio Brusa, con
note del medesimo e del Prof. Francesco Carrara, Venezia 1873.
Wuchergesetz vom 27. Mai 1883 (§ 181 a, b, c des StGB.; Stooss, Syste-
matische Zusammenstellung 837, 838. — Zürcher in der Zeitschr. für Schweizer
Straft-echt, III, 207—209). Pressrecht: §§ 222—227 des StGB. — Einf.G. zum
BG. vom 11. April 1889 vom 11. Mai 1891, §§103—117 (mit Änderungen und
Einschiebungen im StGB.). — G. betr. die Vermögens-, Einkommen- und Aktiv-
bürgersteuer vom 24. April 1870, §§38, 39 (vgl. Schanz, Die Steuern der
Schweiz, Bd. V, 428—429).
7. Kanton Thurgau.
Das von diesem Kantone unter dem 15. Juni 1841 erlassene, am 1. Oktober
1841 in Kraft getretene »
Strafgesetzbuch für den Kanton Thurgau, Frauenfeld 1841 (385 Para-
graphen), Kantonsblatt Bd. IV, 81 — 181, war dem badischen Entwurf nach-
gebildet und wurde wesentlich verbessert im
Strafgesetz für den Kanton Thurgau vom 10. Februar 1868, in Kraft ge-
treten 13. Mai 1868 (287 Paragraphen). Ausgabe ohne Ort; und J. — GS. Bd. V,
281—337.
§ 7. Die Kantonalstrafgesetzgebung. 397
Eigentümlich die Systematik des besonderen Teils. Ausgehend von den
Tötungen behandelt das Gesetz dann die Vermögensdelikte, aber auch Mein-
eid und Münzverbrechen, sodann nach Berührung der Ehrverletzung die poli-
tischen Delikte, Selbsthülfe und Zweikampf, endlich Heligionsdelikte und schliess-
lich Amtsdelikte.
Wuchergesetz vom 24. April 1887 (neue GS. Bd. V, 387. — Stooss, Systcv
matische Zusammenstellung 830). — Pressrecht: §§ 231 — 233 des StG. (Stooss,
a. O. 843/4). — Einf.G. zum BG. vom 11. April 1889 vom 3. Mai 1891,
§§ 52—77 (unter Aufhebung der §§ 162—164 des StGB.). — G. betr. den Bezug
einer allgemeinen Vermögens- und Einkommensteuer vom 6. März 1849 mit den
1866 vorgenommenen Änderungen, § 41 (vgl. Schanz, Die Steuern der Schweiz,
Bd.V, 355).
Pfenninger, 270—280, 476—482. — Grundsätzliche Entscheidungen des Ober-
gerichts sowie der Rekurskommission und Kriminalkammer, Frauenfeld 1880.
8. Kanton Graubünden.
Aus einem Entwürfe von 1825 ging ein neuer von 1829 mit 133 Paragraphen
hervor, der nach Gesetz vom 9. August 1838 der Rechtsprechung zu Grunde lag,
bis ein dritter von 1850 vom Volke genehmigt wurde, promulgiert als
Strafgesetzbuch für den Kanton Graubün^en mit Abschied vom 8. Juli
1851, gleichzeitig in Kraft getreten (208 Paragraphen). Amtliche GS. II. Bd.
Chur 1864, S. 1 — 62. Diese erscheint auch in italienischer Übersetzung.
Der allgemeine Teil, der den überwiegenden Einfluss deutscher Gesetz-
bücher zeigt, ist sehr weitschweifig. Minimalgrenzen fehlen bei den Straf-
drohungen des besonderen Teiles. — Dazu trat, als Polizeistrafgesetz, das Gesetz
über Ausscheidung der Polizeivergehen von den kriminellen, sowie über das
bei Aburteilung der ersteren einzuhaltende Verfahren, mit Abschied vom
26. Juli 1873 (GS. IV, 327—337).
Pressrecht: G. wider den Missbrauch der Pressfreiheit vom 13. Juli 1839
(Amtliche GS. II. Bd. Chur 1864, S. 66 — 70), dazu StGB. § 203, Pol.-G.
§§ 37 — 41. — G. gegen betrügerische, mutwillige und fahrlässige Falliten und
Akkorditen vom 1. Januar 1854, beibehalten in den Straf bestimmungen der
Ausführungsbestimmungen zum BG. vom 11. April 1889 vom 27. Mai 1891,
§§38—46. — Steuergesetz vom 28. August 1881, §§29, 30 (vgl. Schanz, Die
Steuern der Schweiz, Bd. V, 194).
Pfenninger, 371—379. — Zeitschr. für Schweizerisches Recht XIX, 88. — Rechts-
quellen des Kanton Graubünden, herausgegeben von Wagner und v. Salis, Basel
18S7— 92.
9. Kanton Solothurn.
Nachdem die Hoffnungen auf ein mehrere Kantone umfassendes oder
sogar ein eidgenössisches Strafgesetzbuch gescheitert waren, unternahm man
eine die vielen seit Anfang des Jahrhunderts erlassenen Novellen beseitigende
Kodifikation in dem geschickt abgefassten
Strafgesetzbuch vom 3. Juni 1859, in Kraft getreten I.August 1859, mit
191 Paragraphen (57 für Verbrechen, 55 für Vergehen). Amtliche Sammlung
LIV, 101—154.
Behufs Erleichterung der Schaffung einer Strafrechtseinheit schloss man
sich dem Zürcher Strafgesetzbuch von 1871 an in dem neuen Strafgesetzbuch
vom 21. Mai 1873, vom Volke am 12. Juli 1874 angenommen, in Kraft getreten
am 18. Juli 1874, mit 197 Paragraphen. Amtl. Ausgabe, Solothurn. Druck von
J. Gassmann Sohn, 1874.
Im Zusammenhang mit weiteren Änderungen des Verfahrens wurde sodann
im Anschlüsse an das deutsche StGB, erlassen
398 ^^as StR. der deutschen Schweiz. -— Zweite Abteilung.
Strafgesetzbuch für den Kanton Solothurn vom 29. August 1885, vom
Volke am 25. Oktober 1885 angenommen, in Kraft mit I.Juli 1886 (195 Para-
graphen). Ausgabe: 8olothum, Druck der Zepfelschen Buchdruckerei 1886.
Wucher: Gesetz über den Betrieb von Geld- und Betreibungsgeschäffcen
vom 25. Februar 1879 (Amtl. Sammig. Bd. LVIII, 181, Stooss, a. O. 841).
— Pressrecht: §§ 182—187 des StGB. (Stooss, a. O. 851). — Einf.G. zum
BG. vom 11. April 1889 vom 27. Mai 1891, Art. 5, 6. — G. betr. Organisation des
Gemeindewesens vom 8. Oktober 1875 mit Novelle vom 10. Juli 1880, § 82 (vgl.
Schanz, Die Steuern der Schweiz, Bd. V, 299).
Pfenninger, 424—433, 652—658.— Zeitschr. für Schweizerisches Recht XXI, 254 ff.,
XXVll, 475 ff. — Zeitschr. des bernischen Juristen Vereins XXI, 497. — Gerichtssaal 1886
(XXXVIII), 396, 397. — Verhandlungen des schweizerischen Vereins für Straf- und
Gefängnis wesen, X. Versammlung, Solothurn 1880 (Beilage I, Vortrag von Ständerat
A. Brosi).
10. Kanton Appenzell Ausser-Rhoden.
Kin echter Repräsentant eigentümlichen und volkstümlichen Rechts ist
das durch Einfachheit und Konsequenz, Verwertung gleichzeitiger Wissenschaft
und Gesetzgebung sich auszeichnende
Strafgesetzbuch der Landsgemeinde vom 16. Oktober 1859 mit 145 Artikel
(Gesetzbuch für Appenzell A,^Rh., Herisau 1864, I, 26 — 88) revidiert im Straf-
gesetzbuch der Landsgemeinde vom 28. April 1878, (Gesetzbuch für Appenzell
A.-Rh., Herisau 1883, S. 86 -162). — Ausgabe ohne Ort und J.
Das Gesetz nennt Verbrechen die mit Zuchthaus, Vergehen die mit Ge-
fängnis bedrohten Handlungen, während Übertretungen (Polizeivergehen) nur
mit Haft, Arbeitsstrafe oder Geldbusse belegt werden. Zuchthaus kann bis
auf Lebenszeit, Gefängnisstrafe bis auf 2 Jahre, Haft (Bussenumwandlung aus-
genommen) bis auf 4 Wochen verhängt werden. Im ganzen sind 15 Straf-
mittel aufgeführt. Der besondere Teil handelt in den §§ 56 — 134 von Ver-
brechen und Vergehen, dann im Anhang § 135 von Wucher, § 136 Lotterie,
§ 137 Spiel; sodann §§ 138 — 170 von Übertretungen; endlich sind eidgenös-
sische Vorschriften angeschlossen. Press vergehen sind in §§ 33 — 35 behandelt.
— Vollziehungsgesetz der Landsgemeinde vom 26. April 1891 zum BG. vom
11. April 1889, §§47—51. — G. über das Steuerwesen vom 30. August 1835
und 24. April 1836, §5 (vgl. Schanz, Die Steuern der Schweiz, Bd. V, 25).
Pfenninger,433— 441,676-678. — Zeitschr.für Schweizerisches RechtXXII, 142—145.
11. Kanton Unterwaiden ob dem Wald (Obwalden).
Nicht die gleichen Vorzüge wie das GB. von Appenzell A.-Rh. weist die
Gesetzgebung dieses Kantons auf in dem Kriminalstrafgesetz, beschlossen vom
dreifachen Rate den 20. Weinmonat 1864, in Kraft getreten I.Juli 1865 (116 Art.)
und dem Polizeistrafgesetz, beschlossen vom Kantonsrate den 20. April 1870,
in Kraft getreten I.Mai 1870 (152 Art.). Sammlung der Gesetze. Bd. II, 447 bis
501, ni, 269 — 327. — Amtl. Ausgabe des Kriminalstrafgesetzes. Samen 1864,
Druck von Baumann.
Charakteristisch die ausführlichen Bestimmungen über Ehrverletzung und
die strengen zum Schutze von Religion und Sitte. Die Todesstrafe wurde
durch Gesetz vom 25. April 1880 wieder eingeführt „in Erwägung, dass sie
hinsichtlich der allerschwersten Verbrechen eine gerechte Strafe ist, in den
weitaus meisten Ländern zu Recht besteht, dass übrigens das Strafverfahren
gegen zu rasche Ausfällung der Todesstrafe besondere Bestimmungen vorsieht
und dass überhin dem Kantonsrate das Recht der Strafumwandlung zusteht^
(GS. IV, 405).
Pressrecht: Polizeistrafgesetz § 68 (Stooss, a. 0. 486). — Wucher:
§ 7. Die Kantoiialstrafgesetzgebung. 399
Hypothekargesetz vom 20. Hornung 1868, §§13, 18, 19, 23, 24; Polizeistraf-
gesetz §§ 93, 94 (StooBS, a. 0. 834 — 836). — Vollziehungsverordnung vom
21.Mail891, Art. 57 — 82 zum BG. vom 11. April 1889. — Steuergesetz vom
3. März 1870, Art. 36; Polizeistrafgesetz, Art. 41 (vgl. Schanz, Die Steuern der
Schweiz, Bd.V, 260).
Pfenninger, 450—459. -— Zeitschr. für Schweizerisches Recht XIII, 153 ff., XVIII,
118, 119.
12. Kanton Bern.
Nach langer ruhmloser Periode der EntT^-llrfe — wie Stooss in den ein-
leitenden geschichtlichen Bemerkungen zu seiner Ausgabe sagt — kam es
endlich zum
Strafgesetzbuch für den Kanton Bern vom 30. Januar 1866, in Kraft ge-
treten 1. Januar 1867 (258 Art.). Amtl. Ausgabe: Bern, gedruckt bei J. A. Wein-
gart. - - Textausgabe mit Anmerkungen von C. Stooss, Bern 1885. — Fran-
zösischer Text für den Jura in der „Collection des lois pönales du canton de
Beme, publiee par J. Feune, avocat." Del^mont. imprimerie L6on Feune, Als,
1867, p. 3 — 69. — Kohler, Sammlung von kantonal - bemischen und eid-
genössischen strafrechtlichen Bestimmungen, Bern 1886.
Pf<mninger (461) bezeichnet das eine Dreiteilung der Delikte aufweisende
Gesetz als „mit (jeschick redigiert, kurz gefasst, eine eigentümliche Verbindung
französischen und deutschen Rechts, mit manchen Reminiscenzen an die alte
Gerichts- und Ehegerichtsordnung, zuweilen auch versetzt mit einem Rest aus
der gemeinrechtlichen Doktrin".
Wichtigere spätere gesetzgeberische Erlasse sind:
1. Erklärung betr. Ersetzung der Todesstrafe durch lebenslängliche Zucht-
hausstrafe imd Aufhebung der Verweisungsstrafe vom 30. Wintermonat 1874
(Gesetze, Dekrete und Verordnungen, n. F. XIII, 254).
2. (iesetz betr. einige Abänderungen des Verfahrens in Strafsachen und
des Strafgesetzbuches vom 2. Mai 1880 (ebenda XIX, 60—64).
3. Gesetz betr. den Gewerbebetrieb der Gelddarleiher, Darlehnsvermittler,
Pfandleiher und Trödler, sowie betr. den Wucher vom 26. Hornung 1888
(ebenda XXVII, 20—37, Zeitschr. für Schweizer Strafrecht, I, 174—181).
4. (Jcsetz betr. den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln und
Gebrauchsgegenständen sowie Abänderung der Art. 232 und 233 des StGB,
vom 26. Hornung 1888 (ebenda XXVII, 38—48, Zeitschr. für Schweizer Straf-
recht, I, 181—185).
Das Pressrecht ist in Art. 240—247 des StGB, geregelt. — Einf.G. zum
BG. vom 11. April 1889 vom 18. Oktober 1891, §§44—57 (unter Aufliebung der
Art. 224—230 des StGB.). — G. über die Vermögenssteuer vom 15. März 1856
mit Modifikation vom 26. Juni 1857, §39; G. über die Einkommensteuer vom
18. März 1865, § 35; G. über das Steuerwesen in den Gemeinden vom 2. Sep-
tember 1867, §14 f vgl. Schanz, Die Steuern der Schweiz, Bd. V, 64, 82, 89).
Pfenninger, 459—470. — Pfotenhauer, Beiträge zur Geschichte der Strafgesetz-
gebung im Kanton Bern seit fünfzig und einigen Jahren (Zeitschr. für vaterlän-
disches Recht XrV [1855], 1—18). — Zeitschr. für Schweizerisches Recht XV, 136 ff. —
Türler, Bernische Strafurteile aus dem 16. Jahrhundert (Zeitschr. für Schweizer Straf-
recht V, 217—220).
13. Kanton Glarus.
Als eines der besten Schweizer Strafgesetze gilt das von Dr. J. J. Blumör
(1819 — 1875) entworfene Strafgesetzbuch für den Kanton Glarus, erlassen von
der Landsgemeinde 1867 (138 Paragraphen).^) Amtliche GS., Glarus 1867, 2. Heft
S. 12—41; Landsbuch des Kanton Glarus, 3. Teil Glarus 1878, S. 289—327. —
*) (Dr. J. Heer), Dr. J. J. Blumer, sein Leben und Wirken, 2. Aufl. Glarus 1877.
400 I^as Stß. der deutschen Schweiz. — Zweite Abteilung.
„Strafrecht und -Prozess für den Kanton Glarus", Glarus. Buchdruckerei von
Frid. Schmid, 1878, S. 3 — 41. Jetzt ersetzt durch Strafgesetzbuch der Lands-
gemeinde vom 22. Mai 1887 (149 Paragraphen). (Amtsblatt No. 28 vom 9. Juli
1887). Nicht korrekte, aber von den Gerichten benutzte Ausgabe: „Strafrecht
und -Prozess für den Kanton Glarus". Schwanden, Buchdruckerei von D. Tschudy-
Aebly, 1887.
Wucher: § 145 des StGB. (Stooss, a. 0. 837). — Pressrecht: § 183 der StPO.
vom 22. Mai 1887 (Stooss, a. O. 502).
14. Kanton Schwyz.
Äusserst kurz, mild und volkstümlich gehalten ist das Kriminalstrafgesetz
für den Kanton Schwyz, angenommen von den Kreisgemeinden am 31. Januar
1869, in Kraft getreten am 15. Aprill 869 (115 Paragraphen). GS. des Kantons
Schwyz, Bd. VI (Schwyz 1873), 3—36. — Amtliche Ausgabe: Schwyz 1869.
Bei A. Eberle & Söhne.
Zufolge Gesetz über die Wiedereinführung der Todesstrafe vom 26. Sep-
tember 1880 und weiteren Abänderungen und Ergänzungen vom 8. Mai 1881
ist es umgeschrieben als Kriminalstrafgesetz für den Kanton Schwyz vom
20. Mai 1881, in Kraft getreten am 1. August 1881 (117 Paragraphen). Amtliche
GS. Bd. VIII (1881), 294—333. — Amtliche Ausg. Schwyz 1881, Druck von
C. Weber & Co.
Als Polizeistrafgesetz wird nach Weisung des Kantonsrates vom 22. März
1848 das (in Luzem aufgehobenene) Luzerner Polizeistrafgesetz vom 23. März
1836 (doch nicht für das Strafmass) befolgt. Vgl. Entsch. des Bundesgerichts
vom 7. Mai 1881 in Sachen Wiser (Bd. VII, 298). Ein eigenes Gesetz wird
ausgearbeitet.
Wuchergesetz vom 28. Mai 1854 (Stooss, a. 0. 840). — P^inf.G. zum
BG. vom 11. April 1889 vom 4. September 1891, §§ 73—100. — Steuergesetz vom
10. Herbstmonat 1854, § 22 (vgl. Schanz, Die Steuern der Schweiz, Bd. V, 293).
Pfenninger, 482—488, 679. — Zeitschr. für Schweizerisches Recht XXIII, 278.
15. Kanton Zug.
Nach dem Vorbilde des Züricher StGB, wurde ein kurzes Gesetz von 132
Paragraphen erlassen: Strafgesetz für den Kanton Zug, beschlossen vom Kan-
tonsrate 20. Weinmonat 1876, in Kraft getreten 21. Februar 1877. GS. Bd. VI.
No. 2, S. 5 — 62. — Ausgabe ohne Ort und J.
Hierzu trat ein etwas schärfendes, auch die Todesstrafe wieder ein-
führendes Gesetz vom I.Juni 1882 (GS. Bd. VI, No. 23, S. 307—313).
Pressrecht: §§ 130 — 132 des StG. — Einf. Bestimmungen zum BG. vom
11. April 1889 vom 5. Oktober 1891, §§38—56. — G. über Bestreitung der
Staatsauslagen vom I.Juni 1876, §87 (vgl. Schanz, Die Steuern der Schweiz,
Bd.V, 449).
Pfenninger, 673—676. — Zeitschr. für Schweizerisches Recht XX, 251; XXIV, 471.
Zum Schluss sei erwähnt, dass jüngst (März 1893) seitens des eidgenössi-
schen Justiz- und Polizeidepartements eine Kommission von Fachmännern der
einzelnen Kantone (darunter die Herren Leo Weber, Hürbin, Dr. Plazid Meyer
V. Schauensee, Correvon, Gabuzzi, die Proff. Zürcher, Gretener, Favey, Gautier)
ernannt wurde, welche mit dem Redakteur des eidgenössischen Strafgesetzent-
wurfes, Herrn Prof. Dr. Carl Stooss, im April 1893 unter Vorsitz des Herrn Bundes-
rats Ruchonnet über ein in Rücksicht auf den zu verfassenden Entwurf aufgestelltes
Fragenschema beraten soll. Näheres in Zeitschr. für Schweizer StR. VI, 115 — 127.
2. Die französische Schweiz.
(Kantone Waadt, Wallis, Freiburg, &enf, Neuenbürg.)
I Die Quellen.
Allgemeine Litteratur: Pfenninger, Das StR. der Schweiz. Berlin 1890 (Biblio-
fraphie S. 1 ff.) (citier't: Pfenninger). — Stooss, Die schweizerischen Strafgesetzbücher,
asel und Genf 1890. — Stooss, Die Grundzüge des schweizer StR. I. Basel und Genf
1892. (Bibliographie S. 17 ff.) (citiert: Stooss). — Zeitschriften; M^moires et documents
pubU^s par la soci^t^ d'histoire de la Suisse romande; erscheint in unregelmässigen
Zwischenräumen in Lausanne, I. Folge 1838—1884, Bd. 1—36, IL Folge 1887—1891,
Bd. 1—3, enthält Mitteilungen über das ältere Recht, insbesondere die Gemeindever-
fassungen. — Zeitschrift für schweizerisches Recht (citiert: Z) seit 1852. Neue Folge
(Basel, Reich) seit 1882; berücksichtigt die neueren Gesetzbücher und bringt interessante
Fälle aus dem Gebiete des Kantonalrechts. Die neue Folge enthält jährliche Berichte
von Heusler über neue G. — Revue pönale suisse (citiert: R. P.) (Zeitschrift für
schweizer StR.), in deutscher und französischer Sprache herausgegeben von Stooss
unter Mitwirkung der Strafrechtslehrer der schweizer Universitäten und Akademieen,
Bern, Stämpfli, seit 1888. Centralorgan für StR., Straf^rozess, Gerichtsverfassung,
Gefängniswesen usw.; berücksichtigt auch die Rechtsprechung der Bundes- und
Kantonalgerichte und giebt alljährlich eine genaue Übersicht über neue G. auf
dem Gebiete des Bundes- und Kantonalstraf rechts (vgl. I, S. 72, 174; II, S. 265;
III, S. 274; IV, S. 401). Die wichtigsten Artikel der R. P. über die StG. der französi-
schen Schweiz : Brodbeck, Die Antragsdelikte der schweizer Kantonalgesetze I, S. 475 ;
Fervers, Das sogenannte internationale StR. in der Schweiz IV, S. 271 ; Gautier, Etudes
sur les l^gislations penales de la Suisse romande: 1. R6cidive I, S. 15; 2. Prescription I,
S. 443; Picot, La tentative dans les c. p. suisses I, S. 111; Picot, Les d^lits contre les
moBurs dans les c. p. suisses II, S. 51. — Verhandlungen des schweizer Vereins für
Straf- und Gefängniswesen 1867—91 ; vgl. insbesondere die Berichte von Dr. Guillaume
(Stooss, S. 21, führt sie einzeln auf) über die Fortschritte auf dem Gebiete der StG-
Eebung und des Gefängniswesens. — Journal des Tribunaux et de la jurisprudence,
ausanne 1853—74, fortgesetzt unter dem Titel: Gazette des Tribunaux suisses
(1875—76), dann seit 1877 unter dem Namen: Journal des Tribunaux, revue de juris-
prudence, Lausanne 1877—91. — Revue judiciaire, Journal des Tribunaux suisses et
de . l^gislation, Lausanne seit 1884. — Semaine judiciaire, Journal des Tribunaux,
jurisprudence suisse et 6trang^re, Genf 1879 ff. Die beiden letztgenannten Zeit-
schriften behandeln vorzugsweise civilrechtliche Fragen.
§ 1. Kanton Waadt
Code pönal du Canton de Vaud, vom Grossen Rate beschlossen am 18. Fe-
bruar 1843, in Kraft getreten am 1. Januar 1844. Lausanne, Imprimerie
G.Bridel, 1867.
Litteratur: Mittermaier, Die StGgebung in ihrer Fortbildung etc. 1841—48.
II, S. 204. — Fehr, Le c. p. expliqu6 par lui mßme (Repertorium), Lausanne 1846 und
1867. — Temme, Lehrbuch des schweizer StR. Aarau 1855, S. 53ff. — Pfenninger,
S. 280 ff. — Stooss, passim. — Vorarbeiten: Projet de c. p. pr6sent6 par la commission
legislative 1841. — Projet de c. p. present6 par le Conseil d'Etat avec expos6 des
motifs. November 1842. — Rapport de la commission du Grand Conseil sur le projet
StrafgesetKgebang der Gegenwart. I. 26
402 I^ie französische Schweiz. — Die Quellen.
de c. p. Lausanne, Imprimerie Vincent fils 1842. — Die Verhandlungen sind abge-
druckt in dem Bulletin des Seances du Grand Conseil du Canton de Vaud. Session
d'automne 1842, S. 16 ff. — Rechtsprechung: Boven, Repertoire des arr^ts rendus
1846—77. — Vorarbeiten für die Revision: Avant-projet de c. p. present^ au
Conseil d'iitat par la commission legislative charg^e de rdviser le c. p. de 1848, pr^-
cede du r^sume des proc^s-verbaux des seances de la commission et d'une notice
sur le d6veloppement historique du droit p^nal dans le canton de Vaud. (Verfasser:
Obergerichtspräsident Gustave Correvon). Lausanne, Imprimerie Vincent 1879. —
Projet de c. p., Lausanne, Imprimerie Genton & Viret, 1882 (enthält auch die Sitzungs-
berichte der Kommission).
Einteilung. L Allgemeiner Teil, 7 Titel. 1. Einleitende Bestim-
mungen. 2. Strafen. 3. Vollendung und Versuch. 4. Thäterschaft und Teil-
nahme. 5. Umstände, welche die Strafbarkeit ausschliessen, aufheben oder
mildem usw. 6. Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen und Rück-
fall. 7. Ausschluss der Strafverfolgung und der Strafvollstreckung. — II. Be-
sonderer Teil, 11 Titel. 1. Strafbare Handlungen gegen die Sicherheit des
Staates, den öffentlichen Frieden und die öffentliche Ordnung. 2. Gegen Treu
und Glauben. 3. Sittlichkeitsdelikte. 4« Delikte gegen das Leben. 5. Körper-
verletzung. 6, Delikte gegen den Personenstand. 7. Gegen die Freiheit und
die persönliche Sicherheit. 8. Vermögensangriffe in Aneignungsabsicht. 9. Ver-
mögensdelikte, begangen durch Beschädigung oder Zerstörung. 10, Amts-
delikte. 11. Schluss- und Übergangsbestimmungen. — Gesamtzahl der Art.: 363.
Die Polizeiübertretungen behandelt das StGB, nicht.
Geschichtliches. Nach Erlass des „Acte de m^diation'^ (1803) blieb
der Code p^nal helv^tique v. 1799 zunächst bis 1843 in Geltung mit verschie-
denen aus der Revolutionszeit stammenden Abänderungen (vgl. insbesondere
das G. vom 27. Januar 1800, welches im Widerspruch mit den Grundsätzen des
Code helv6tique bestimmt, dass die Strafen des Code nur -als Maxima an-
gesehen werden sollen und der Richter sie bis auf ein Vierteil ihrer Dauer
ermässigen kann; an Stelle der Todesstrafe kann Kettenstrafe nicht unter
11 Jahren treten). Ftlr die im Code helvötique nicht erwähnten strafbaren
Handlungen waren die alten Bemer Gewohnheiten und Bestinmiungen mass-
gebend, später der Code correctionnel vom 30. Mai 1805. Die bemerkens-
wertesten Grundsätze des letzteren sind: Aufhebung der Straftnindestmasse
(ausser für Diebstahl) und die Erteilung der Erlaubnis an den Richter, eine
Strafart durch eine andere zu ersetzen. Der Code correctionnel ist in das
jetzt geltende StGB, fast vollständig aufgenommen. — Seit Beginn dieses Jahr-
hunderts erhob sich eine lebhafte Strömung gegen die übergrosse Strenge und
Starrheit des im Code helv6tique aufgestellten Strafensystems ; seit 1810 wurde
das Verlangen nach einem neuen StGB, allgemein. Preisausschreiben über
die Geschworenengerichte (1819). Zwei (nur handschriftlich vorhandene) Entw.
eines StGB, und einer StPO., der erste v. 1826 (ohne Geschworenengerichte),
der zweite v. 1827 (mit Geschworenengerichten) gingen nicht durch. Man be-
schränkte sich dann auf die Reform des Strafprozesses (G. vom 28. Januar 1836,
ersetzt durch die StPO. vom 1. Februar 1850) und einzelne Materien des StR.
(G. vom 1. Juni 1829 über den Diebstahl usw.). In der Verfassung v. 1831
wird die Revision der StGgebung und der Gerichtsverfassung in Aussicht ge-
stellt. Eine zu diesem Zwecke niedergesetzte Kommission begann ihre Thätig-
keit 1832 und legte 1841 dem Staatsrat einen (hauptsächlich von Guisan und
Secr^tan verfassten) Entw. vor. Nach Prüfung durch den Staatsrat wurde
dieser Entw. im Herbst 1842 mit guten Motiven versehen dem Grossen Rat
überreicht. Dieser tiberwies ihn einer Kommission, welche ihn in einem schrift-
lichen Bericht (Verfasser: Verrey) zur Annahme empfahl. Der Entw. wurde
dann am 18. Februar 1843 mit einigen Veränderungen angenommen; die wich-
tigsten derselben beziehen sich auf den Unterschied zwischen Zuchthaus- und
§ 1. Kanton Waadt. 403
Gefängnisstrafe und die mit einer dieser beiden Straf arten bedrohten Delikte
sowie auf den BegriflF der Fälschung (faux).
Grundzüge. Der Code p^nal du Canton de Vaud ist nach dem „StG.
für den Kanton Thurgau" v. 1841 das älteste StGB, der Schweiz. In der
Litteratur ist er mit Recht als ein, besonders unter Berücksichtigung der Zeit
seiner Entstehung, hervorragendes Werk allgemein anerkannt. Während der
langen Zeit seiner praktischen Anwendung hat er nur zu so unerheblichen
Ausstellungen Veranlassung gegeben, dass die Entw. für das neu zu schaffende
StGB, sich auf eine Modernisierung des alten unter Beibehaltung seiner wesent-
lichen Gnmdzüge beschränken. Mithin ein wahrhaft nationales, den Bedürf-
nissen der waadtländischen Bevölkerung durchaus entsprechendes GB. — Der
vorwiegende Einfluss der deutschen Wissenschaft wie der deutschen StGB, ist
unverkennbar; doch ist die Behauptung Temmes, das StGB, enthalte im wesent-
lichen deutsches Recht, in dieser absoluten Form nicht zutreffend, denn auch
der französische Einfluss ist deutlich zu spüren: richtiger sagt Pfenninger, es
bilde eine gelungene Vereinigung beider Systeme. — Milde und weiter Spiel-
raum für das richterliche Ermessen bilden die Grundzüge. Die Anwendung
der an und für sich nur in seltenen Fällen angedrohten Todesstrafe ist zahl-
reichen Einschränkungen unterworfen. Die durch den Code correctionnel ein-
geführte Neuerung ist insofern beibehalten, als Mindestmasse nur für schwere
Strafthaten festgesetzt sind. Häufig ist dem Richter unter mehreren Strafarten
die Wahl gelassen. — Allerdings müssen auch einige Vorwürfe gegen das
waadtländische StGB, erhoben werden: es ist für die Laienrichter zu kompli-
ziert und daher schwer zu handhaben, die zahlreichen Verweisungen von einem
Art. auf andere ermüden und beeinträchtigen die Übersichtlichkeit; die Unter-
scheidungen sind häufig (beispielsweise bei Rückfall, Körperverletzung, Dieb-
stahl) zu zahlreich und zu sehr ins einzelne gehend; der Höhe des durch die
Straf that verursachten materiellen Schadens (Wert, des Gegenstandes, Dauer
der Arbeitsunfähigkeit) ist ein zu weit gehender Einfluss auf die Höhe der
Strafe eingeräumt. Dagegen ist die Bezeichnung des StGB, als „Professoren-
arbeit", wenn im schlechten Sinne gemeint, unverdient, Stil und Begriffs-
bestimmungen sind von Doktrinarismus und Pedanterie vollkommen frei.
Die wichtigsten der neben dem StGB, in Kraft gebliebenen G.
sind: G. über die Presse (loi sur la presse) vom 26. Dezember 1832; G. über
die Wahlbeeinflussungen (loi sur la brigue dans les ölections) vom 18. Dezember
1832; G. über die religiöse Freiheit (loi sur la libert^ religieuse) vom 22. Ja-
nuar 1834; G. über das Verbot des Wirtshausbesuchs (loi sur l'interdiction de
la ft'^quentation des Etablissements destin^s ä la vente des boissons) vom
4. Juni 1841.
Spätere G.: G. betr. die Abänderung des Art. 311 des StGB, (loi modi-
fiant Tarticle 311 du c. p.) vom 28. Mai 1849 (ermässigt die Strafen für die
im Rückfalle begangenen Eigentumsdelikte). StPO. (Code de proc^dure pönale)
vom 1. Februar 1850 (Art. 14 und 15 derselben sind an Stelle des Art. 6 des
C. p. getreten). Vdg. betr. die Umreclmung der Geldstrafen in die neue
Währung (d6cret sur le taux de roduction des amendes en nouvelle monnaie)
vom 21. November 1850. Vdg. betr. die Anlage von Ackerbaukolonieen für
Landstreicher (döcret concernant la creation de colonies agricoles pour les
vagabonds) 1871. Vdg. betr. den Ersatz der Todesstrafe durch die lebens-
längliche Zuchthausstrafe (decret etablissant la röclusion perpötuelle en rem-
placement de la peine de mort) vom 20. Januar 1875. Die letzte Hinrichtung
im Kanton Waadt hat 1868 stattgefunden. Seitdem ist der Scharfrichter in der
Schweiz überhaupt zum erstenmale wieder in Thätigkeit getreten bei der Hin-
richtung von Gatti in Luzem am 18. März 1892. Vdg. betr. die Abänderung
26*
404 I^ie französische Schweiz. — Die Quellen.
der Art. 141 — 144 des StGB, (decret modifiant les art. 141 — 144 du c. p.) vom
21. Januai* 1875 (setzt an Stelle der Zuchthausstrafe für Bettler, Landstreicher u. a.
Unterbringung in eine Ackerbaukolonie und Wirtshausverbot). 6. über die
Organisation der Strafanstalten (loi sur Torganisation des Etablissements de
dötention) vom 17. Mai 1875 (landwirtschaftliche und gewerbliche Koloniecn.
bedingte Entlassung. Fürsorge für Entlassene usw.). G. betr. das Verbot der
Lotterieen (loi sur la prohibition des loteries) vom 5. Dezember 1876. Vdg.
über die Abänderung gewisser Eidesformeln (decret modifiant la formule de
certains serments) vom 23. Februar 1877.
Die bereits oben angedeuteten Mängel, die Abänderungen der Bundes-
gesetzgebung und vor allem die neueren Reformbestrebungen auf dem Gebiete
der gesamten Strafrechtswissenscbaft Hessen eine vollständige Revision des
C. p. V. 1843 notwendig erscheinen. Die zu diesem Behufe 1874 vom Staats-
rat ernannte Gesetzgebungskonmiission überreichte 1879 einen vorläufigen, 1882
einen endgültigen Entw. eines StGB.; beide sind von Correvon, dem zeitigen
Präsidenten des Kantonalgerichts, ausgearbeitet. Der Entw. v. 1882 enthält
368 Art und hat die Einteilung des alten C. p. beibehalten; jedoch sind im
ersten Titel des besonderen Teils zwei neue Kap. hinzugekommen, von denen
eines die Delikte gegen die Ausübung politischer Rechte, das andere Glücks-
spiele, Lotterien usw. behandelt. Die Übertretungen berücksichtigt der Entw.
nicht. Als seine Grundsätze kann man kurz folgende bezeichnen: Erweiterung
der in der Praxis vorzüglich bewährten Befugnis des Richters, an Stelle der
ursprünglich vom G. angedrohten Strafart eine andere zu setzen; Abschaffung
der Strafmindestmasse, abgesehen von wenigen besonderen Fällen, bei gleich-
zeitiger Erhöhung der Höchstmasse; Bruch mit dem System der Strafabmessung
nach dem Wert des Gegenstandes (Eigentumsdelikte) und der Dauer der Ar-
beitsunfähigkeit (Verg. gegen Leib und Leben) ; es bleibt dem fi'eien Ermessen
des Richters überlassen, inwieweit er die Folgen der That bei der Strafzumessung
berücksichtigen will. Das in der Kommission lebhaft erörterte Institut der
mildernden Umstände ist nur in zwei Fällen zugelassen: bei strafbaren Hand-
lungen, die mit lebenslänglichem Zuchthaus bedroht sind (für diese kann nach
dem Dekret vom 20. Januar 1875 bei Vorliegen mildernder Umstände auf Zucht-
haus von 15 bis 30 Jahren erkannt werden) und bei Eigentums vergehen, wenn
sie im einfachen oder wiederholten Rückfalle begangen werden (wegen der für
diese Fälle vom Entw. vorgesehenen erheblichen Mindestmasse). Die Kom-
mission ist dabei von dem Grundsatze ausgegangen, dass die Strafzumessung
im allgemeinen den Laienrichtern zu entziehen und dem Richterkollegium vor-
zubehalten sei. Der Grosse Rat hat sich mit diesem, beachtenswerte Neuerun-
gen enthaltenden Entw. noch nicht beschäftigt. Man ist jedenfalls der Ansicht,
dass die binnen kurzem zu erwartende Schaffung eines Bundesstrafgesetz-
buches die Reformarbeiten der einzelnen Kantone überflüssig machen wird.
§ 2. Kanton WalUs.
Code penal du Canton du Valais, vom Grossen Rate beschlossen am
26. Mai 1858, in Kraft getreten am 1. Januar 1859, 2. Aufl. Sion, Imprimerie
L. Schmid. 1880.
Litteratur: Pfenninger, S. 409 ff.; Stooss passim. Ein Kommentar ist nicht vor-
handen. Die ^richtigsten Entsch. werden seit einigen Jahren in dem „Rappoit an-
nuel du Tribunal superieur** abgedruckt.
Einteilung. L Allgemeiner Teil, 7 Titel, die ersten vier wie im
waadtländischen C. p., dann 5. Zusammentreffen mehrerer Straf thaten und Rück-
fall. 6. Zurechnung. 7. Erschwerende und mildernde Umstände. II. Beson-
§ 2. Kanton Wallis. 405
derer Teil, zerfällt in 2 Bücher: Erstes Buch. Von den Verbr. und Verg.
und deren Bestrafung; 11 Titel. 1. Delikte gegen die Staatsreligion. Die Titel
2 — 6 entsprechen den Titeln 1 — ö von Waadt. 7. Aussetzung. Die Titel 8 — 11
entsprechen den Titeln 6 — 9 von Waadt; von den Beamtendelikten handelt
Titel n, Kap. 8. — Zweites Buch. Die Polizeiübertretungen und ihre Bestrafung.
2 Titel: 1. Die Polizeiübertretungen. 2. Bestrafung der Übertretungen. — Ge-
samtzahl der Art.: 353.
Geschichtliches. Die ersten geschriebenen G. sind die Statuta Vallesiae
(1571) mit den sich daran schliessenden „Abscheiden". Die Rezeption der Ca-
rolina ging nicht ohne Kämpfe vor sich (vgl. H. Gay , Histoire du Valais , II,
S. 61flf., 78), aber die kaiserliche Gesetzgebung fasste allmählich Fuss und
der Kommentar von Fröhlichsburg (1710) erlangte Gesetzeskraft (Revision
des Abscheids, Art. II). Nach der Revolutionszeit erhielt Fröhlichsburg durch
ein G. vom 22. November 1804 von neuem Gesetzeskraft. Vorwalten des freien
richterlichen Ermessens; die Wissenschaft holt sich Rat aus den Schriften
Feuerbachs, sowie aus dem Gewohnheitsrecht und den Präjudizien der Nach-
barkantone. Da von dem jetzt geltenden StGB, weder Vorarbeiten noch Mo-
tive oder Sitzungsberichte vorhanden sind, so ist schwer zu sagen, wie der
Übergang vom früheren zu dem jetzt geltenden Recht sich vollzogen hat. Die
vorstehenden kurzen Bemerkungen sind dem Pfenningerschen Werke (S. 74,
83, 409) entnommen; es war nicht möglich, genauere Nachrichten über den
Ursprung des C, p. von Wallis zu erhalten.^)
Grund Züge. Der C. p. von Wallis ist eine Zusammenstellung von Be-
stimmungen, welche vorzugsweise dem C. p. von Waadt, zum Teil auch dem
französischen und Neuenburger StGB, entnonmien sind. Um wörtliche Her-
übemahme zu vermeiden, hat der Verfasser manchmal geradezu kindliche
Mittel angewendet, Umstellungen, Einschaltungen, Wortveränderungen und andre
zum Teil monströse Abänderungen, wie z. B. die Schaffung eines besonderen,
nur einen einzigen Art. enthaltenden, achten Titels im I. Buche. Die Bestim-
mungen sind zum Teil veraltet und grausam, insbesondere die des allgemeinen
Teils (Art. 26, 27, 29). Die Todesstrafe ist beibehalten, die Zuchthausstrafe
kann durch Anlegung von Ketten verschärft werden. Mit der Abschaffung
der eigentlichen Körperstrafen ist indessen der C. p. von Wallis der Bundes-
verfassung V. 1874 voraufgegangen.
Manche Bestimmungen sind naiv; das religiöse Moment ist stark betont
(Art. 101 ff.). Durchschnittlich sind aber die Strafen weniger streng, die Min-
destmasse niedriger als im C. p. von Waadt; letztere sind, selbst ftlr schwere
Delikte, wie Totschlag, Kindesmord, Diebstahl, Zweikampf, Raub, Blutschande u.a.,
teilweise völlig aufgehoben. Zu beachten ist der internationale Charakter
einiger Bestinmiungen : bei ausserhalb des Kantons begangenen Delikten wird
das ausländische G. angewendet, wenn es milder ist (Art. 14); eine im Aus-
*) Durch ein G. v. 1808 war dem Staatsrate aufgegeben, eine Kommission für
die Ausarbeitung einer StPO. (durch welche unter anderm die Folter abgeschafiPt
werden sollte) niederzusetzen. I)ie Vereinigung des Kantons mit dem französischen
Kaiserreiche und die verwickelten Verhältnisse bei der Wiederherstellung der Re-
Sublik nach dem Sturz Napoleons verzögerten «jedoch die gesetzliche Regelung dieser
[aterie. Später drängte die Reform der Civilgesetzgebung die des StR. in den
Hintergrund. Aber was der Gesetzgeber versäumte, gelang dem Gewohnheitsrecht:
die öffentliche Meinung verurteilte die Prügelstrafe und die Strafe der Brandmarkung
ebenso wie die Androhung der Todesstrafe wegen Diebstahls. Die Gerichte kamen
von der Anwendung des Fröhlichsburgschen Kommentars ab und legten ihren Ur-
teilen teils die allgemeinen Rechtslehren, teils neuere Kodifikationen zu Grunde.
Der Strafprozess wurde 1848 kodifiziert; Verfasser des Entw. der StPO. und des
StGB, ist Dr. Cropt, Professor in Sion. (Mitteilung des Herrn Dr. Loretan, Gerichts-
präsident zu Leuk-Lou^che.)
406 I^ie französische Schweiz. — Die Quellen.
lande erfolgte Verurteilung genügt zur Begründung des Rückfalls (Art. 79).
Die praktische Anwendung des Code durch die wallisischen Gerichte scheint
sehr streng zu sein.
Spätere G. G. vom 24. Mai 1876 betr. die Abänderung des Art. 20 des
C. p. (loi modifiant Tarticle 20 du c. p.), G. vom 23. Mai 1879 (erlassen auf
Grund des Art. 49 der Bundesverfassung) betr. die Eidesformel (loi concemant
la formule du serment), G. vom 24. November 1883 betr. die Wiedereinführung
der Todesstrafe und die Abänderung einiger Art. des StGB, und der StPO.
(loi r^tablissant la peine de mort et modifiant quelques articles du c. p. et du
Code de proc^dure pönale). (Wallis ist der einzige Kanton der französischen
Schweiz, welcher von der durch Abänderung des Art. 65 der Bundesverfassung
den Kantonen verliehenen Befugnis zur Wiedereinführung der Todesstrafe Ge-
brauch gemacht hat. VoUzogen ist sie jedoch seitdem noch nicht wieder; die
letzte Hinrichtung hat 1842 stattgefunden). G. vom 30. November 1887 gegen
den Wucher (loi concernant la röpression de Tusure et modifiant Tart. 314
du c. p.).
§ 3. Kanton Freibnrg.
Code p^nal du Canton de Fribourg, vom Grossen Rat beschlossen in der
Februar- und Maisitzung 1868, in Kraft getreten am 1. Januar 1874. Freiburg,
Imprimerie L. Fragni^re, 1873.
Litteratur: Bis zum C. p. v. 1849 vgl. Pfenninger, S. 370. — über das geltende
Recht 8. Pfenninger, S. 662; Stooss passim; H. Schaller, Discours d ouverture sur T^tat
du droit p^nal et du Systeme penitentiaire dans le Canton de Fribourg in den „Ver-
handlungen des Vereins für Straf- und Gefängniswesen^ 1888, S. 11; J. Repond, Les
sources du droit p^nal fribourgeois. R. P. III, S. 46. — Vgl. auch Z. XIä, S. 83. —
Der Entw. des C. p. ist ohne Angabe des Druckorts und der Jahreszahl gedruckt. —
Das „Bulletin officiel des S^ances du Grand Conseil'' 1868, S. 10 ff., enthält die Ver-
handlungen.
Die Einteilung des StGB, ist sehr charakteristisch, es behandelt nach
einander getrennt Verbr., Verg. und Übertretungen, vier Bücher: Buch I. All-
gemeiner Teil, 10 Titel. 1. Einleitende Bestimmungen. 2. Strafen. S.Vor-
satz, Überlegung und Fahrlässigkeit. 4. Versuch. 5. Thäterschaft und Teil-
nahme. 6. Gründe, welche die Strafbarkeit vermindern oder ausschliessen.
7. Zusammentreffen mehrerer Strafthaten und Rückfall. 8. Verjährung der
Strafverfolgung und der Strafvollstreckung. 9. Rehabilitierung. 10. Begnadi-
gung. — Buch II. Besonderer Teil, 12. Titel: 1. Verbr. gegen die Sicher-
heit des Staates. 2. Aufruhr usw. 3. Verbr. gegen die Religion. 4. Verbr.
gegen Personen. 5. Verbr. gegen die Freiheit und Sicherheit der Personen.
6. Verbr. gegen den Personenstand. 7. Verbr. gegen Treu und Glauben.
8. Sittlichkeitsverbrechen. 9. Angriffe auf Sachen, um sie zu zerstören oder
zu beschädigen. 10. Angriffe auf Sachen, um sie sich anzueignen. 11. Betrug.
12. Verbr. begangen in Ausübung eines öffentlichen Amtes. — Buch III. Vei^.
11 Titel: 1. Allgemeine Bestimmungen. 2. Verg. gegen den Staat. 3. Verg.
gegen die Religion. 4. Verg. gegen Treu imd Glauben. 5. Verg. gegen Leben
und Sicherheit der Personen. 6. Sittlichkeitsvergehen. 7. Landstreicherei und
Bettel. 8. Vergehen gegen die Ehre. 9. Eigentumsvergehen. 10. Sachbeschä-
digung. 11. Beamtenvergehen. — Buch IV. Übertretungen. 2 Titel: 1. All-
gemeine Bestimmungen. 2. Die einzelnen Übertretungen. — Von der Anwen-
dung des allgemeinen Teils handeln Art. 295, 456 ff. Die Einteilung innerhalb
der Titel ist wenig systematisch. — Die Gesamtzahl der Art. — 464 — ist
die höchste in den Schweizer StGB, überhaupt vorkommende.
Geschichtliches. Der von Anfang an durchaus deutsche Grundzug
des Freiburger Rechts hat der Karolina die Wege geebnet. Die kaiserliche
§ 3. Kanton Freiburg. 407
Gesetzgebung blieb bis zum Eriass des Code helv^tique in Kraft; später, nach
dem Acte de m^diation, schaffte ein G. vom 28. Juni 1803 die während der
Revolution erlassenen G. wieder ab und stellte die Karolina wieder her; die
Anwendung der Folter, deren völlige Aufhebung erst durch die Verfassung
V. 1830 erfolgte, wurde gleichzeitig eingeschränkt. Bereits 1808 hatte T. Barras,
Mitglied des Tribunal d'appel, einen Strafgesetzbuchsentwurf vorgelegt, den
Pfenninger (S. 361) analysiert. Ein Beschluss vom 21. Mai 1832 verordnete
die Ausarbeitung eines StGB, und einer StPO., „da die Karolina den Einrich-
tungen der jetzigen Zeit nicht mehr entspreche" (!). Ein Entw. der StPO.
wurde 1840 veröffentlicht, 1850 jedoch durch einen neuen ersetzt. Mehrere
Entw. eines StGB. (v. 1844 und 1846) gelangten nicht zur Annahme. Im
J. 1848 Wechsel in der politischen Richtung der herrschenden Parteien und
— zum erstenmale in der Schweiz — Abschaffung der Todesstrafe. Dann im
Mai 1849 Annahme eines aus 509 Art. bestehenden 0. p., dessen im ganzen
sehr milde Bestimmungen den StGB, der Kantone Waadt, Luzern, Zürich und
Basel, sowie dem französischen C. p. entnommen sind. Er kennt weder die
Todesstrafe noch die körperliche Züchtigung; charakteristisch ist die aus-
schliessliche Androhung der Verbannung für die Verbr. gegen den Staat. Die
Einteilung in drei getrennte Abschnitte für Verbr., Verg. und Übertretungen
findet sich hier zum erstenmale; sie reisst Zusammengehöriges auseinander und
erschwert das Nachschlagen. Eine ausführliche Analyse und Würdigung findet
sich bei Pfenninger, S. 362. — Der Code von 1849 hat bis zum Inkrafttreten
des jetzigen gegolten. Der Entw. des letzteren ist durch die Beratungen im
Grossen Rat nur in wenigen nebensächlichen Punkten abgeändert; lebhafter
Streit entstand nur über die Frage der Todesstrafe.
Grundzüge. Das vom Kantonalrichter Fracheboud verfasste Freiburger
StGB. V. 1873 ist mit Recht Gegenstand lebhafter Angriffe gewesen; es atmet
politischen und wissenschaftlichen Rückschritt, wie schon die Wiedereinführung
der Todesstrafe beweist. Repond (s. o. S. 49) tadelt die Strafandrohung gegen
eine Reihe von Handlungen (welche er meint, sagt er nicht), die in anderen
Gesetzgebungen straflos seien, und rügt die übertriebene Strenge verschiedener
Straf bestimmungen (Art. 205, 411). Während der alte Code fast gar keine
Minima hatte, setzt der neue solche fast immer fest. Die Fassung ist oft dok-
trinär und pedantisch, viele überflüssige Definitionen (z. B. Vollendung, un-
taugliches Delikt) erwecken den Anschein, als habe der Verfasser sie aus alten
Lehrbüchern geschöpft. Die Einteilung in drei getrennte Abschnitte mit allen,
besonders bei der Anwendung des allgemeinen Teils hervortretenden Mängeln
ist beibehalten. Bezüglich der Vorbilder und der Richtung im allgemeinen ist
zu bemerken, dass das StGB, für den norddeutschen Bund in ausgedehntem
Masse benutzt und mit Bestimmungen des französischen C. p. (zum Teil recht
flüchtig) verarbeitet ist. (Vgl. Art. 228 und 259, „escroquerie" und „fraude".)
Repond spricht den wenigen dem Freiburger C. p. eigentümlichen Bestimmungen
die Existenzberechtigung ab.
Die wichtigsten neben dem C. p. in Geltung gebliebenen G.: G.vom
28. Mai 1850 über die Gesundheitspolizei (loi sur la police de sant6). G. betr.
die Distriktsgefängnisse vom 31. Januar 1852 (loi sur le regime des prisons
de district).. Pressgesetz (loi sur la presse) vom 3. Mai 1854. Forstgesetz (code
forestier) vom 18. Dezember 1858. Wahlgesetz (loi 61ectorale) vom22. Mai 1861.
G. über das Armenwesen (loi sur le paup^risme) vom 17. November 1869.
Spätere G.: G. vom 19. August 1874 betr. die Abschaffung der Todes-
strafe (loi sur Tabolition de la peine de mort [letzte Hinrichtung 1832]). G.
vom 13. Mai 1875 über die Bestrafung des Betruges in leichteren Fällen (loi
fixant une peine pouf le d^lit d 'escroquerie, lorsqu'il revöt le caractäre cor-
408 I^ie französische Schweiz. — Die Quellen.
rectionnel) zur Vervollständlgniig des Art. 229. G. vom 27. August 1875 über
die Geldstrafen und Gerichtskosten (loi concemant les amendes et frais de
justice) zur Abänderung der Art. 26, 28, 303, 455). G. vom 15. November 1875
betr. die Abänderung des Art. 346 des C. p. (Beschimpfung von Kirchen, Re-
ligionsgesellschaften usw.). G. vom 20. November 1877 über die Gef. (loi sur
les p^nitenciers; führt die Möglichkeit eines bedingten Erlasses von einem
Zehnteil der erkannten Strafe ein). G. vom 28. September 1888 über die Her-
bergen (loi sur les auberges). — Über einzelne dieser G. vgl. Z. XXVn S. 482
und XXIX S. 557.
§ 4. Kanton €lenfl
Code p^nal du Canton de Gen^ve, vom Grossen Rat beschlossen am
21. Oktober 1874, in Kraft getreten am 30. Oktober 1874. (Jenf, Imprimerie
Jarrys, 1874.
Litteratur. Über das ältere Recht: M6moires et documents publi^s par la So-
ciety d'histolre et d'arch^ologie de Gen^ve, erscheinen in unregelmässigen Zwischen-
räumen; I. Folge (80) Bd. I— XX, Genf 1841—88-, H. Folge {^) Bd. I— fu, Genf 1882
bis 1888-, Ausgabe in 4®, Bd. I und II, Genf 1870—92. — Ant. Flammer, Lois pönales,
dlnstruction criminelle et de police du Canton de Genöve (mit einer geschichtlichen
Einleitung), Genf 1862. — Alb. Dunant, Notice sur la lögislation pönale du Canton de
Genfeve. R. P. III, S. 178. — Pfenninger, S. 72, 97, 190. — Über das geltende StGB.:
Gutachten von Dunant in dem „Memorial des S^ances du Grand Conseil 1873/74*^ II,
S. 1415; die Verhandlungen finden sich daselbst Bd. 11 und III. — Pfennineer, S. 670.
— Stooss passim. Vgl. auch Z. XXI, S. 266. — J. Homung, La r^vision du C. p. de
1810. Genf 1873. Derselbe, Le nouveau C. p. in der Revue de droit international
1875. — Bret und Le Fort, Repertoire des r^glements adopt^s par le Conseil d'£tat
de 1876 k 1887. Genf 1888. — Ein Kommentar ist nicht vorhanden. — Die „Semaine
judiciaire" veröffentlicht die wichtigsten Entsch. des Kassationshofes (Cour de Cas-
sation cantonale).
Einteilung. Nach französischem Muster sind Verbr. und Verg. zusammen
behandelt und nur die Übertretungen abgetrennt. Drei Bücher. BuchL: All-
gemeiner Teil, 7 Titel: 1. Von den strafbaren Handlungen im allgemeinen.
2. Versuch. 3. Strafen. 4. Kreis der strafbaren Personen. 5. Gründe, welche
die Strafbarkeit ausschliessen oder vermindern. 6. Strafaufhebung und Straf-
verjährung. 7. Bedeutung einiger im Code vorkommenden Ausdrücke. —
Buch n. Verbr., Verg. und ihre Bestrafung, 9 Titel: 1. Verbr. und Verg. gegen
die Sicherheit des Staates. 2. Gegen die durch die Verfassung gewährleisteten
Rechte. 3. Gegen öffentliche Treu und Glauben. 4. Verbr. und Verg. gegen
die öffentliche Ordnung, begangen von Beamten. 5. Dieselben, begangen von
Privatpersonen. 6. Verbr. xmd Verg. gegen den öffentlichen Frieden und die
öffentliche Sicherheit. 7. Gegen die Personen. 8. Gegen das Eigentum. 9. Die
verschiedenen Arten des Betruges. — Buch III. Übertretungen und ihre Be-
strafung. — Gesamtzahl der Art.: 388.
Geschichtliches. Die Zeit bis zur französischen Revolution wird charak-
terisiert durch die Rechtsprechung des „Petit Conseil" (ex^cutif) und die will-
kürliche Festsetzung der Strafen. Strenge, auf Calvins Einfluss zurückzufüh-
rende Praxis auf dem Gebiete der Sittlichkeits- und Religionsdelikte. Reform-
versuch durch den Code genevois v. 1791. Im J. 1792 Revolution in Genf.
Die Verfassung V. 1794 trennt Justiz und Verwaltung und führt Schwurgerichte
sowie die Öffentlichkeit und Mflndlichkeit des Verfahrens ein. Nach der fran-
zösischen Eroberung v. 1798 wurde das G. vom 3 Brumaire des J. IV, später der
C. d*instr. crim. und C. p. in Genf eingeführt. Wiederherstellung der Republik
(1814) und Vereinigung mit der Schweiz. Der Code v. 1810 blieb bis 1874
in Kraft, aber mit einschneidenden Abänderungen. Die G. vom 6. Januar 1815
und 6. Februar 1816 beliessen die französischen GB. in Geltung, jedoch unter
Änderung folgender Punkte: Aufhebung der Laiengerichte, Beschränkung der
§ 4. Kanton Genf. 409
Todesstrafe, Einführung des Hausarrestes (nach Muster des C. genevois v. 1791),
Abschaffung der Yermögenskonfiskation und der Strafmindestmasse unter Bei-
behaltung der Höchstmasse des C. p. — Entw. eines völlig revidierten StGB,
auf ähnlicher Grundlage v. 1821 und 1829 (iltienne Dumont). Gefängnisreform
seit 1822. Die Laiengerichte wurden im Prinzip wieder eingeführt durch ein
G. vom 8. Januar 1831 ,dann durch die Verfassung v. 1841. Inzwischen (1838)
scheiterte der Entw. eines revidierten GerVerfG. und einer StPO. Das wich-
tige G. vom 12. Januar 1844 führte die Jury für Verbr. und die mildernden
Umstände ersten und zweiten Grades (circonstances att^nuantes et tr^ att^-
nuantes) ein und stellte die Mindestmasse wieder her, mit Ausnahme jedoch
des Falls des Vorhandenseins mildernder Umstände zweiten Grades. Die seit
etwa 20 Jahren bereits nicht mehr angewendeten Strafen der Brandmarkung
und des Prangers wurden abgeschafft. Ein nur im Manuskript vorhandener
Entw. eines StGB. (Rigaud, Gramer, Duval) ging im Strudel der politischen
Wirren des J. 1846 unter. Verfassung v. 1847. Ein G. vom 4. März 1848
dehnte die Einrichtung der Schwurgerichte auf das Verfahren vor den Tri-
bunaux correctionnels aus und schaffte die Mindestmasse für die zur Zuständig-
keit derselben gehörigen Sachen ab. Durch G. vom 10. Dezember 1848 wurde
dem Grossen Rat das Recht der Begnadigung verliehen. Ein G.v. 1849 garan-
tierte die persönliche Freiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung. Im
J. 1856 wurde der bürgerliche Tod durch G. aufgehoben. (Über das Ver-
hältnis des C. p. zu diesen späteren G. vgl. Flammer a. 0. S. 333.) Endlich
Abschaffung der Todesstrafe durch G. vom 24. Mai 1871 (letzte Hinrichtung 1862).
Im J. 1873 beantragte Dunant bei dem Grossen Rat die Revision der gesamten
StGgebung, da die zu strengen Bestimmungen der französischen G. den Be-
dürfnissen der Zeit nicht mehr entsprächen und auf die Rechtsprechung einen
verderblichen Einfluss ausübten. Einsetzung einer Kommission von 7, später
9 Mitgliedern (Berichterstatter und Verfasser des Entw. : Dunant). Von August
bis Oktober 1874 wurde der Entw. im Grossen Rat artikelweise diskutiert; be-
dauerlicher Einfluss politischer Meinungsverschiedenheiten; eine Unmenge von
teils unüberlegten, teils den Grundgedanken des G. widersprechenden Ab-
änderungsanträgen (so auf Wiederherstellung der vom Entw. aufgegebenen
mildernden Umstände zweiten Grades — circonstances trös att^nuantes — in
zweiter Lesimg).
Der Grundcharakter des G. ist grosse Milde; die anscheinend oft
hohen Minima sind durch die Einführung der mildernden Umstände zweiten
Grades thatsächlich wieder aufgehoben und gestatten eine sehr milde Praxis.
Eine sehr geistreiche, aber der nationalen Eigentümlichkeit völlig entbehrende
Kompilation von Bestimmungen des französischen Rechts, die durch Anleihen
aus den modernen Gesetzgebungen gemildert und verbessert sind (vgl. die
Bestimmungen über EJndesmord). Die meisten Begriffsbestimmungen sind aus
dem Code v. 1810 wörtlich herübergenommen.
Die wichtigsten neben dem Code in Geltung gebliebenen G.: G.
vom 27. Februar 1829 betr. gefährliche Anlagen (loi sur les constructions dan-
gereuses). G. vom 5. Februar 1838 betr. die Unterbringung und Überwachung
der Geisteskranken (loi sur le placement et la surveillance des ali6n6s). G.
vom 28. Febmar 1840 über die Gefängnisverwaltung (loi sur Tadministration
des prisons). G. vom 23. April 1849 über die persönliche Freiheit und die Un-
verletzlichkeit der Wohnung (loi sur la libertö individuelle et Tinviolabilit^ du
domicile). G. vom 7. November 1849 über die Verantwortlichkeit des Staatsrats
(loi sur la responsabilit^ du Conseil d'^tat).
Spätere G.: G. vom 12. Juni 1875 über die Begnadigung (loi sur la
gr&ce). G. vom 15. Juni 1878 und 21. Oktober 1881 über Wahlbetrug (lois sur
410 I^ie französische Schweiz. — Die Quellen.
les fraudes ^lectorales). 6. vom 7. April 1883 über den Weinverkanf (loi sur
la vente des vins). StPO. (e. d'instr. pönale) vom 25. Oktober 1884. (Be-
stimmungen über die Aufhebimg anderer G.: Art. 7.) — G. vom 29. Januar
1887 über die zur Nachahmimg von Banknoten und Wertpapieren bestimmten
Drucksachen (loi pönale relative aux imprimös de papier tendant ä imiter des
billets de banque ou valeurs fiduciaires). 6. vom 19. März 1888 betr. die
Stellung einer Frage über den Geisteszustand des Angeklagten an die Ge-
schworenen (loi permettant de poser au jury la question d'alienation mentale)
(in Anlass des Falls Lombardi erlassen). G. vom 26. September 1888 betr. die
Verg. und Übertretungen gegen die öffentliche Sittlichkeit (loi concemant les
dölits et contraventions contre la morale publique). G. vom 1. Oktober 1890
und 28. März 1891 betr. Abänderung der StPO. (loi modifiant le c. d'instr. crim.;
das erste dieser G. ordnet die Beteiligung des Vorsitzenden Richters an der
Beratung der Geschworenen über die Schuldfrage und umgekehrt der Ge-
schworenen an der Beratung des Gerichtshofes über die Strafzumessung an,
schafft die mildernden Umstände zweiten Grades — circonstances ti'ös atte-
nuantes — für die zur Zuständigkeit des Tribunal correctionnel gehörigen
Delikte ab und bestimmt, dass bei Vorhandensein mildernder Umstände die
Strafmindestmasse ausser Kraft treten). G. vom 20. Mai 1891 über die väter-
liche Gewalt (loi sur la puissance paternelle). Vereinbarung vom 3. November
1891 zwischen den Kantonen Aargau, Neuenburg und Genf betr. die Einrich-
tung einer Strafkolonie für jugendliche Gefangene im Schlosse Aarburg. G.
vom 30. März 1892 betr. die verwahrlosten Kinder (loi sur Tenfance abandonnce).
Ein vom Staatsrat Richard verfasster Entw. eines G. über die bedingte Ver-
urteilung wird gegenwärtig im Grossen Kate diskutiert; die Aufnahme ist
durchaus günstig. (Vgl. R. F. V, S. 17). Dieser Entw., wesentlich umgestaltet
durch den mit seiner Prüfung beauftragten Ausschuss, wurde in zweiter Lesung
von dem Grossen Rate in der Sitzung vom 22. Juni 1892 angenommen; die
endgültige Annahme in dritter Lesung erscheint als sicher. Elndlich beabsich-
tigt der Staatsrat einen Gesetzentwurf betr. die Abänderung der Art. 48 ff.
(Einfluss des Lebensalters auf die Zurechnung) und 278 (Sittlichkeitsdelikte
gegen Kinder ohne Anwendung von Gewalt) des C. p. v. 1874. Über einzelne
dieser G. vgl. Z. XXI, S. 275, XXII, S. 153, XXIX, S. 454 und 458, sowie
R. P. n, S. 344 und 536, III, 441, IV, 425.
§ 5. Kanton Neuenburg.
Code p6nal de la R6publique et Canton de Neuchätel, vom Grossen Rate
beschlossen am 12. Februar 1891, in Kraft getreten am 1. Juli 1891. Chaux
de Fonds, Imprimerie du National Suisse 1891.
Litteratur. Über das ältere Recht: Matile, De rautorit^ du droit romain, de la
coutume de Bourgogne et de la Caroline dans la prineipaut^ de Neuchätel 1838. —
Matile, Histoire des institutions judiciaires et legislatives deNeuch&tel 1838. — Guillaume,
Esquisse historique du d^veloppement de la l^gislation pönale et du Systeme des prisons
dans le Canton de Neuchätel. Verhandlungen des schweizer Vereins für Straf- und
GefÄngniswesen. Neuch&tel 1872. S. 1. — Pfenninger, S. 76, 84, 379. — Über den C. p.
V. 1855: Pfenninger, S. 381, mit Verzeichnis der darüber vorhandenen Litteratur (S. 390).
— Über das geltende StGB.: Correvon, De TAvant-projet de C. p. pour le Canton de
Neuchätel, R. P. II, S. 139. — Avant-projet de C. p. September 1888. Chaux de Fonds,
Imprimerie du National Suisse. 1888. — Projet de c. p. (März 1889). Chaux de Fonds,
Imprimerie du National Suisse. Die vorzüglichen Vorarbeiten zu demselben sind
unter dem Titel: „Bulletin concernant le C. p.'^ als Auszug aus dem Memorial du Grand
Conseil (Bd. 51) erschienen (Societe d'imprimerie de Cemier 1891); das Werk enthält:
1. Antrag vom 6. März 1884 betr. Revision des C. p. 2. Entw. (Verfasser Staatsrat
Comaz). 8. Motive (von demselben). 4. Generaldiskussion mit Beschluss auf Zurück-
verweisung au die Gesetzgebungskommission. 5. Kommissionsbericfat (vom Nationahrat
§ 5. Kanton Neuenbürg. 411
Jeanhenry) und Abänderungsvorschläge. 6. Diskussion, Annahme des Entw. und
Schlussanträge. — Vgl. Stooss passim.
Die Einteilung ist der des C. p. Ton Genf ähnlich, jedoch ist die Unter-
scheidung zwischen Verbr. und Verg. fallen gelassen. Drei Bücher: Buch I.
Allgemeine Bestimmungen, 10 Titel: 1. Einleitung. 2. Strafen. 3. Be-
dingte Freilassung. 4. Versuch. 5. Thäterschaft, Teilnahme und Begünstigung.
6. Vorsatz und Fahrlässigkeit, Umstände, welche die Strafbarkeit ausschliessen,
aufheben oder vermindern. 7. Konkurrenz. 8. Rückfall. 9. Ausschluss der
Strafverfolgung und der Strafvollstreckung. 10. Von der Verfolgung der
strafbaren Handlungen. Buch II: Die Delikte und ihre Bestrafung,
11 Titel. 1. Politische Delikte. 2. Delikte in Bezug auf die Verwaltung und
die Ausübung öffentlicher Ämter. 3. Delikte gegen die Justizverwaltung.
4. Delikte gegen den öffentlichen Frieden und die öffentliche Ordnung. 5. De-
likte gegen Treu und Glauben. 6. Delikte gegen die öffentliche Sicherheit.
7. Sittlichkeitsdelikte. 8. Delikte gegen die Person. 9. und 10. wie Titel 8
und 9. des C. p. von Waadt. 11. Pressdelikte. Buch III: Polizeiübertretungen
und ihre Bestrafung. — Gesamtzahl der Art.: 448.
Geschichtliches. Die Frage nach der Geltung der Karolina wurde
bis 1848 in Neuenburg wiederholt lebhaft erörtert, so am 5. Juni 1848 auch
im Grossen Rate gelegentlich eines Antrags auf Abschaffung der kaiserlichen
Gesetzgebung. Nach einer sehr verworrenen Debatte, welche die verschiedensten
Ansichten zu Tage förderte, wurde beschlossen, sie in Zukunft nicht mehr an-
zuwenden. Als geschichtliche Kontroverse ist dieselbe Frage bei Gelegenheit
der Diskussion über den jetzigen Code erörtert. (Bulletin S. 673). Die grösste
Wahrscheinlichkeit hat die Ansicht Matiles (der auch Comaz und Jeanhenry
folgen) für sich, dass die Karolina, ohne jemals förmliche Gesetzeskraft er-
langt zu haben, doch die Grundlage des StR., das gemeine Recht, gebildet
hat, auf welches die Gerichte in zweifelhaften Fällen zurückgingen. Mehrere
Spezialgesetze gingen der allgemeinen Revision voraus, so das wichtige G. vom
8. Juni 1854 über die Abschaffung der Todesstrafe (letzte Hinrichtung: 1834).
Das am I.Januar 1862 in Kraft getretene StGB, vom 21. Dezember 1856 ist
durch das jetzige aufgehoben. Von allen Schweizer StGB, schloss es sich am
engsten an das französische Recht an und bildete eine mildere Wiederholung
des C. p. fran9ais v. 1810 (Verfasser: Piaget). Die demselben von Pfenninger
gespendeten Lobeserhebungen sind übertrieben; auf Kosten der Vollständigkeit
kurz zu sein, ist kein Verdienst. Richtiger bezeichnet es Comaz als ein über-
eiltes, unselbständiges Werk ohne nationales — man kann hinzufügen: und
originales — Gepräge. Die irrtümliche Auffassung des französischen C. p. über
Versuch und Teilnahme ist, wenn auch in abgeschwächter Form, beibehalten.
Im ganzen ist das G., das weder Todesstrafe noch körperliche Züchtigung
kennt, sehr milde. Über spätere Abänderungen desselben vgl. Pfenninger,
5. 390 und Stooss , Die schweizerischen StGB. , S. XXIII. — Die Vorarbeiten
zum jetzigen C. p. sind bereits oben erwähnt. Die Art und Weise, in welcher
über den Entw. diskutiert wurde, verdient eine lobende Erwähnung; man kam
demselben mit Achtung entgegen, unterliess es, noch in der letzten Minute
Abänderungsanträge einzubringen und beschränkte sich darauf, die von der
Kommission vorgeschlagenen wohlüberlegten Änderungen anzunehmen.
Grundzüge. Es ist das jüngste der Schweizer StGB, und steht auf der
Höhe modemer Wissenschaft, deren reformatorische Gedanken es glücklich
verwertet. Die veraltete Unterscheidung zwischen Verbr. und Verg. ist ab-
geschafft, die Trennung der Verbrecher in G^wohnheits- und Gelegenheits-
verbrecher ist teilweise durchgeführt in den Bestimmungen über Rückfall
(Art. 96), gewohnheitsmässigen Diebstahl (399), polizeiliche Überwachung der
412 I^ie französische Schweiz. — Die Grundzüge des StR. der französischen Schweiz.
Rückfälligen (38) einerseits, andererseits über bedingte Entlassung (43), Schutz-
fürsorge für Entlassene (38, 81) und vor allem in den Bestimmungen der
Art. 86 (Straflosigkeit der geringen Eigentumsdelikte, wenn Schadensersatz ge-
leistet ist) und 400 ff. (Aussetzung der Verurteilung bei dem ersten Eigentums-
delikt). Kinder können ohne vorhergehende richterliche Verurteilung fest-
gehalten werden. Besserung des Verurteilten wird in erster Linie erstrebt;
er wird vor der Bekanntschaft mit Gef. zu bewahren gesucht durch Ausdeh-
nung der dem Vermögen angepassten und ratenweise zahlbaren Geldstrafe
(27) und der Civilhaft ohne entehrenden Charakter; die an Stelle der Geld-
strafe im Falle der Nichtzahlung tretende Freiheitsstrafe kann in Zwangsarbeit
ohne Einsperrung umgewandelt werden (28). Einzelne Bestimmungen des c. p.
tragen einen internationalen Charakter; eine im Auslande erfolgte Verurteilung
wird berücksichtigt bei der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte (37),
und der Statuierung des Rückfalls (96); vgl. auch Art. 20 und 91. Das Streben
nach möglichster Humanität ist unverkennbar (Art. 21, 25, 29). Häufig kann
der Richter zwischen mehreren Strafarten wähleft. Mindestmasse sind nur für
sehr schwere Delikte festgesetzt, die Höchstmasse erscheinen oft zu niedrig.
Zu tadeln ist die Länge des C. p. ; er ist mit zahlreichen rein doktrinären Be-
stimmungen beschwert, die eigentlich in eine wissenschaftliche Abhandlung
hineingehören (Art. 1, 51, 59, 69, 95, 112, 232 u. a.). Andere Artikel stehen
nicht am richtigen Orte (76, 86). Endlich bildet die, allerdings ausserordent-
liche, Bestimmung des Art. 16 Z. 3 (Verschärfung der lebenslänglichen Ein-
sperrung durch Anlegung von Ketten im Falle eines neuen Delikts) einen
dunklen Punkt im C. p. Über die Frage, ob die Kettenstrafe (als Körper-
strafe?) verfassungswidrig ist, vgl. Stooss, S. 59.
Ein wichtiges vom C. p. nicht aufgehobenes G. ist das vom 23. März
1889 über die staatliche Hülfe und Fürsorge für die verwahrloste Jugend (loi
sur Tassistance publique et la protection de l'enfance malheureuse). R. P. III,
S. 295.
n. Die Gnmdzttge des StR. der französischen Schweiz.
§ 6. Glebt es ein besonderes franzOslseh-schwelzerlsclies StB.t
Von nationalen Grundsätzen im engsten Sinne des Wortes kann hier nicht
die Rede sein; die Schweizer Kriminalisten streiten über das Vorhandensein
eines eigenen schweizerischen StR., diejenigen, welche es verneinen, dürften
Recht haben (Stooss, S. 7). Es wäre jedenfalls unvorsichtig, dem Einflüsse der
Rassenverschiedenheit einen besonderen Wert beimessen und die Existenz eines
ausgeprägten, von dem der Kantone deutscher Zunge verschiedenen ft*anzösisch-
schweizerischen StR. behaupten zu wollen. Zur Rechtfertigung einer derartigen
Behauptung müsste man zunächst das fortdauernde Vorhandensein einer Stammes-
verwandtschaft, eines gemeinsamen Ursprungs, übereinstimmender Grund-
anschauungen, kurz eines der gesamten französischen Schweiz gemeinsamen
Gewohnheitsrechts nachgewiesen haben. Ein Blick auf die politische Geschichte
zeigt die Haltlosigkeit dieser Hypothese für die Vergangenheit. Der Begriff
der französischen Schweiz ist ein völlig willktirlicher und künstlicher; die Ele-
mente, aus denen sie besteht, sind so verschieden, dass sie nichts weniger
als eine Nation bilden. Die einzelnen Kantone — das erst seit kaum einem
Jahrhundert unabhängige Waadtland, das später zur Republik umgewandelte
Bistum Wallis, Freiburg, einer der ältesten Kantone des Bundes, die alte Re-
publik Genf und das Fürstentum Neuenburg — haben eine zu verschieden-
§ 7. Die allgemeinen Lehren. 413
artige geschichtliche Vergangenheit, als dass sich ein Stamm gemeinsamer Über-
lieferungen^ hätte bilden können. Und trotz der Zusammenfassxmg zu einem
einheitlichen politischen Bunde tiberwiegen auch in der Gegenwart noch die-
jenigen Elemente, welche eine Trennung der künstlich zusammengewürfelten,
vom Auslande nicht einmal durch natürliche geographische Grenzen getrennten
Stämme bedeuten. Die Verschiedenheit der Interessen (Stadt und Land, In-
dustrie und Ackerbau), des Klimas und der Lebensweise (Ebene und Berg-
land), der Kultur und beinahe sogar der Civilisation, der sehr schroflFe Gegen-
satz der Konfessionen, ja selbst der Sprache, ist zu gross. Jahrhunderte ge-
meinsamen Lebens würden erforderlich sein, um eine Verschmelzung dieser
erst kürzlich vereinigten Elemente zu bewirken. Alle diese Momente haben
die Entstehung eines der französischen Schweiz gemeinsamen Nationalgeistes,
dessen Spiegelbild unsere Gesetzgebungen wiedergeben könnten, verhindert
und machen sie noch heute unmöglich. In sämtlichen geltenden GB.
der ö*anzösichen Schweiz herrscht deshalb auch unumschränkt ein kosmo-
politischer Eklektizismus. Im StR. nimmt jeder Kanton das Gute, wo er es
findet; die unvermeidlichen Ähnlichkeiten erklären sich ganz einfach durch
die Herübernahme von Bestimmungen aus den ältesten StGB, in die modernen
oder durch die Benutzung einer gemeinsamen ausländischen Quelle. Von
letzterer hat nur der französische C. p. auf alle Gesetzgebungen der französi-
schen Schweiz einen gleichmässigen Einfluss gehabt, aber auch dieser äussert
sich, je nach den einzelnen Kantonen, in sehr verschiedener Stärke und in
den verschiedenartigsten Punkten. Der einzige in der Geschichte des StR.
der französischen Schweiz zu entdeckende gemeinsame Zug ist der, dass keiner
der Kantone nach Erlangung der Unabhängigkeit sofort zum Erlass einer
neuen Gesetzgebung geschritten ist, sondern dass das geltende Recht (Karolina,
Code helv6tique oder C. p. fran9ais) noch während eines längeren Zeitraums
Geltung behalten hat. Doch beruht der späte Eintritt der Kodifikation auf
zufälligen, für jeden Kanton verschiedenen Gründen.
Man muss daher nicht nur auf jede geschichtliche, sondern auch auf
jede wissenschaftliche Gruppierung verzichten. Denn um eine Einheitlichkeit
wenn nicht der Gesetzgebung, so doch wenigstens der Theorie herzustellen,
hätte es einer französisch-schweizerischen Wissenschaft bedurft — eine solche
giebt es aber nicht. Die alten Kriminalisten, wie Quisard, Seigneux, Matile,
deren Namen noch heute mit Stolz genannt werden, lenkten ihren Blick kaum
über die Grenzen ihres Kantons hinaus und diese Art des Partikularismus
hat sich bis zum heutigen Tage erhalten. Wie dürftig unsere Litteratur ist,
ergiebt sich aus der oben gemachten Zusammenstellung. Der Mangel an ge-
meinsamer wissenschaftlicher Arbeit hat nicht nur eine noch grössere Isolierung
der Kantone zur Folge gehabt, sondern erschwert auch eine Vergleichung der
StGB, ungemein. Kommentare sind nicht vorhanden; man ist daher auf die
Benutzung des Textes und zuweilen der Vorarbeiten angewiesen. Ein ver-
gleichendes Studium sämtlicher einzelner Bestimmungen eines G. ist erforder-
lich, um die demselben zu Grunde liegenden allgemeinen Grundsätze zu ent-
decken. Die Resultate dieser Forschungen, welche übrigens auf Vollständigkeit
keinen Anspruch machen, seien in folgendem kurz wiedergegeben.
§ 7. Die allgemeinen Lehren.
Allgemeine Einteilung. Der Einfluss des französischen Rechts fehlt
hier: unsere StGB, behandeln den allgemeinen Teil in einem einzigen Ab-
schnitt, dann den besonderen Teil in einer Reihe nach Zahl und Inhalt ahn-
414 I>ie französische Schweiz. — Die Grundzüge des StR. der französischen Schweiz,
lieber Titel. Freiburg mit seiner bereits besprochenen Einteilung in drei Bücher
steht vereinzelt da.
Einteilung der strafbaren Handlungen. Die aus Frankreich stam-
mende, den früheren drei Arten der Gerichte entsprechende Dreiteilung (C. p.
fran9ais 1) findet sich in Freiburg (2) und Genf (l), hat in letzterem jedoch nur die
Bedeutung einer in Ermangelung von etwas Besserem beibehaltenen Bezeichnung.
— Waadt (1) und Neuenburg (1) machen keinen Unterschied zwischen Verbr.
und Verg. — Wallis (2) bestimmt, dass das Verg. im Falle eines hohen Grades
von Verschulden Verbr. genannt wird, ohne dass jedoch diese Unterscheidung
in den späteren Art. des Code praktisch verwendet wird. — Ausser dem C. p.
von Waadt regeln sämtliche Codes am Schluss die Übertretungen.
Strafen. Der Begriff der peinlichen und beschimpfenden Strafe (peine
afflictive et infamante, C. neuchätelois v. 1856, Art. 1) ist überall aufgegeben.
Die Todesstrafe ist nur in Wallis vorhanden. Von Freiheitsstrafen kennen alle
Codes wenigstens zwei Arten: Zuchthaus und Gef. Für Waadt (15, 16) ist
die Verwendung beider Arten charakteristisch: beide haben ein sehr bedeu-
tendes Höchstmass und ein Mindestmass von 1 Tag. Man hat also zwei Straf-
arten von gleicher Dauer, aber verschiedenem Charakter geschaffen; Zucht-
haus wird angedroht bei Delikten, die als Ausfluss einer niedrigen Gesinnung
erscheinen, Gef. bei solchen, die auf einer momentanen Verirrung des Willens
beruhen. (Bericht von Verrey, S. 37.) In den anderen Kantonen ist bei
Zuchthaus das Minimum höher als bei Gef. Neuenburg (23) verwendet in
ausgedehntem Umfange die Civilhaft als Custodia honesta für leichte, nicht
aus niedriger Gesinnung hervorgehende Delikte wie Zweikampf, politische De-
likte u. a. Die Bestimmungen über Verschärfung der Zuchthausstrafe durch
Anlegung von Ketten (Wallis 25 ff., Neuenburg 16) bilden einen empörenden
Anachronismus. Wallis kennt sogar noch die öffentliche Schaustellung als
Strafe, die jedoch nicht mehr angewendet wird. Die Strafvollstreckung ist in
mancher Beziehung unvollkommen; Personen, die zu Strafen verschiedener Art
verurteilt sind, werden zusammen eingesperrt und gleichmässig behandelt.
(Stooss S. 303 ff., 334 ff.). Die Kantone Waadt (G. vom 17. Mai 1875), Freiburg
(G. vom 20. November 1877; Repond a. a. 0., S. 48) und Neuenburg (43 ff.)
kennen die bedingte Entlassung. Arbeitshäuser für Landstreicher, Arbeits-
scheue u. a. giebt es im Kanton Neuenburg (maison de travail et de correction
zu Devens) und Waadt (Kolonieen in Payerne und Orbe). Die auf dem Lande
sehr wirksame Strafe des Wirtshaus Verbotes kennen Waadt 30, Freiburg 309
und Neuenburg 41. Der Verweis ist beibehalten von Waadt 31 (Entw. 35),
Freiburg 310 und Neuenburg 8; der Entw. über die bedingte Verurteilung will
ihn auch in Genf einführen. — Neuenburg 27 ff. kennt Geldstrafe bis zu
15 000 Frcs. und enthält ausgezeichnete Bestimmungen über die Art der Be-
zahlung. Alle StGB, ausser Genf lassen die Verwandlung der nicht bezahlten
Strafe in Freiheitsstrafe zu. Im Kanton Waadt kann (nach G. vom 17. Mai
1875, Art. 7) letztere durch öffentliche Arbeit abgewendet werden.
Nebenstrafen. Die aus Frankreich stammende polizeiliche Überwachung
ist beibehalten in Wallis 29 (die Ausführung ist für den Verurteilten lästig, im
Falle des Ungehorsams wird im Verwaltungswege Arrest angeordnet), Freiburg
11, 32 und Neuenburg 8, 38 (insbesondere für Rückfällige). — Die Aberken-
nung der bürgerlichen Ehrenrechte mit ihren seltsamen, der französischen
„degradation civique" entlehnten Bestimmungen (Verlust der Fähigkeit, als
Zeuge vernommen zu werden, Waffen zu tragen usw.) ist als gesetzliche Folge
der Verurteilung zu schwerer Strafe in alle StGB, übergegangen; eine Ausnahme
macht Genf 10, 11, wo es glücklicherweise dem Richter freigestellt ist, ob und
eventuell welche einzelnen Rechte er aberkennen will.
§ 7. Die allgemeinen Lehren. 415
Kichterliches Ermessen. Nur Wallis 96 ff bestimmt im einzelnen die
erschwerenden und mildernden Umstände, welche der Richter berücksichtigen muss.
Umfassende Befugnisse des Richters: 1. Durch die (im waadtländischen Entw.
völlig durchgeführte) Aufhebung der Mindestmasse. Im Grunde genommen
führt sie zur Einführung der unbestimmten Strafandrohungen, denn die gleichen
Gründe sprechen auch für Aufhebung der (übrigens im waadtländischen Entw.
erhöhten) Straftnaxima. Die Aufhebung der Minima ist teilweise in Waadt,
Wallis und Freiburg, nahezu vollständig in Neuenburg durchgeführt. In Genf
(c. d'instr. crim. 338 und 381) haben die mildernden Umstände ersten Grades
(Verfahren vor der Cour correctionelle) und zweiten Grades (Verfahren vor
der Cour d'assises) die gleiche Wirkung. 2* Durch die Befugnis des Rich-
ters, zwischen mehreren Strafarten zu wählen. Waadt 28, 49, 56, 57, 59,
121, 133, 246, 248, 251, 301, 302 u. s. w. lässt häufig die Wahl zwischen
Zuchthaus, Gef. und Geldstrafe, gestattet auch in einzelnen Fällen sogar völ-
lige Straflosigkeit. (Man beachte die sehr interessante Bestimmung des waadt-
ländischen Entw. 56, wo für die Verurteilten von 14 bis 18 J. die Strafe aus-
gemessen werden kann zwischen einem Verweis und der vollen Deliktstrafe mit
der Unterbringung in eine Strafkolonie als Übergangsstrafe.) Die Bestimmungen
von Waadt sind von Wallis und Freiburg an verschiedenen Stellen adoptiert.
Neuenburg (73, 230 u. a.) gestattet zuweilen die Wahl zwischen Zuchthaus,
Gef. und Civilhaft. Genf, dem richterlichen Ermessen weniger Spielraum ge-
während, lässt die Wahl nur selten, und dann nur zwischen Gef. und Geld-
strafe zu (auf Geldstrafe allein wird sehr selten erkannt). — Charakteristisch
ist die Bestimmung von Waadt 270, nach welcher ein erster unbedeutender
Diebstahl nur mit Verweis bestraft werden kann, sie findet sich auch in Wallis
301 (Polizeistrafe) und Freiburg 421. Vgl. auch Neuenburg 400, wo die be-
dingte Verurteilung unter gewissen Voraussetzungen zugelassen wird. —
Das französische System der nicht näher bestimmten mildernden Umstände
kommt (ausser in Genf) noch vor in Waadt 61 und Freiburg 67 für die mit
lebenslänglicher Strafe bedrohten Delikte, umgekehrt in Neuenburg 441 für
Übertretungen.
Zurechnungsfähigkeit. Alle StGB, haben den klassischen Begriff
der Zurechnungsfähigkeit beibehalten und bezeichnen die Zustände, welche sie
ausschliessen bezw. die Eigenschaften, welche vorhanden sein müssen, wenn
dieselbe als vorhanden angenommen werden soll. Vgl. Waadt 51, Freiburg 56,
Wallis 85, Genf 52 und Neuenburg 70. Freiburg behauptet sogar ausdrück-
lich die Existenz der Willensfreiheit, und die Motive von Neuenburg sagen zur
Widerlegung der italienischen Schule, das StR. setze begrifflich die Existenz
zweier inneren Thatsachen voraus: die des Sittengesetzes und der Fähigkeit,
dasselbe frei zu befolgen. Bemerkenswert sind Wallis 86 und Neuenburg 70
Abs. 2, die, im Widerspruch mit der französischen Auffassung der Zurechnuogs-
fähigkeit als eines unteilbaren Ganzen, eine geminderte Zurechnungsfähigkeit
kennen. Andrerseits ist der französische Begriff der „unwiderstehlichen
Gewalt" (force irrösistible) (C. p. frang. 64) in alle GB. und den waadt-
ländischen Entw. fast wörtlich übergegangen. (Vgl. jedoch Freiburg 56 b.)
Über das Verhältnis dieses Begriffes zu dem „Notstand" des deutschen Rechts
vgl. Stooss S. 260. — Unter den Umständen, welche die Zurechnungsfähigkeit
beeinflussen, steht das Alter in erster Linie. Alle GB. (anders C. p. fran-
gais) kennen eine Altersstufe, während welcher das Kind nicht verurteilt werden
kann (besser Freiburg 60, welches die strafrechtliche Verfolgung verbietet).
Andrerseits hat leider auch die abscheuliche französische Einrichtung der Frage
nach dem Unterscheidungsvermögen (question du discemement) überall Eingang
gefunden (der waadtländische Entw. hat sie aufgegeben). Der Gipfelpunkt
416 I^ie französische Schweiz. — Die Grundzüge des StR. der französischen Schweiz.
des Unsinns ist erreicht, wenn die (jeschworenen die Frage entscheiden sollen.
Der einzig massgebende Gesichtspunkt muss sein: Braucht das Kind eine
weitere Erziehung zum Zwecke der Besserung? (Stooss S. 189). Dieser mo-
dernen Auffassung entsprechend gestattet Neuenburg 83, ein verwahrlostes
Kind auch ohne richterliches Urteil einzusperren. Die schwierige Frage, ob
man zwischen der Periode der Strafunmündigkeit und der der vollen Straf-
mündigkeit eine Zwischenstufe schaffen soll, ist in bejahendem Sinne be-
antwortet von Wallis 92, Freiburg 63 und Neuenburg 84 (von den beiden
letzteren jedoch nur für die mit lebenslänglichem Zuchthaus bedrohten De-
likte). Die anderen stellen, wie das fi-anzösische Recht, die Jugendlichen
den Erwachsenen gleich.
Notwehr wird überall als völliger Strafausschliessungsgrund betrachtet
anders C. p. ftran9ais328; jedoch stösst Wallis den in Art. 95 aufgestellten Grund-
satz durch Nachahmung der französischen Bestimmungen bei Mord — Art. 228,
229 — wieder um). Die zu enge Definition des C. p. fran9ais von 1810 als
„Verteidigung der eigenen oder einer fremden Person** findet sich nur in
Genf 55, jedoch mit Hinzusetzung der sehr anfechtbaren, dem C. p. fran9ais
329 entnommenen Bestimmungen No. 1 und 2. Die anderen Gesetzbücher
lassen die Notwehr auch zu gegen Angriff auf den Hausfrieden und das
Eigentum, aber mit der Beschränkung, dass obrigkeitlicher Schutz nicht hat
erlangt werden können oder dass die angewandten Mittel im Verhältnis zu
der vorhandenen Gefahr stehen. Waadt 57 (ähnlich Wallis 95 und Freiburg
66), Neuenburg 73. Excess der Notwehr ist ein mildernder Umstand. Be-
sondere Bestimmungen über den Notstand hat nur Freiburg 59 (eine ver-
altete Vorschrift über den Diebstahl an Nahrungsmitteln, dem „Stehlen in
echter Hungersnot" der Karolina Art. 166, nachgebildet) und Neuen bürg 74
(geht weiter als das deutsche RStGB. §§ 52, 54 insofern, als ein verwandt-
schaftliches Verhältnis zwischen dem Thäter und der im Notstand befindlichen
Person nicht verlangt wird).
Versuch. Waadt 35, Wallis 56, Freiburg 38, Genf 5 enthalten die
Definition des C. p. frangais mit einigen Veränderungen. Neuenburg 52 nähert
sich dem deutschen und italienischen StGB. (43 bezw. 58). Alle bestrafen
den Versuch milder als das vollendete Delikt. Das fehlgeschlagene Verbr.
erwähnen Wallis 54, Freiburg 36 und Neuenburg 57.
Teilnahme. Das französische Recht ist hier fast ohne Einfluss geblieben,
überall wird der Anstifter gleich dem Thäter bestraft (anders C. p. fran9ais 60).
Die erfolglos versuchte Anstiftung ist straflos nach Waadt 42 (nachgeahmt
von Wallis 65 und Freiburg 45) und Neuenburg 60. Wenig klar in dieser
Beziehung ist Genf 43 Z. 2 und 3. Vgl. C. p. fran9ais 60, und die unver-
ständliche, dem Art. 65 widersprechende Vorschrift von Wallis Art. 66 § 2. —
Art. über das Komplott (dem C. p. fran9ais 89 entnommen) finden sich in
Waadt 47, 48, Wallis 71, 72, Freiburg 52, 53, aber diese Art. haben nur den
Wert einer theoretischen Definition und wären für die Praxis völlig zu ent-
behren (Stooss S. 227), da die Teilnehmer am Komplott nicht, wie in Frank-
reich, mit schwererer Strafe bedroht sind; ausserdem ist das Komplott nur in
dem Falle strafbar, dass das geplante Verbr. wirklich begangen ist (die ent-
gegenstehende Bestinmiung von Freiburg 52 § 2 erscheint unanwendbar) und die
nicht angenommene Aufforderung ist immer straflos. Wallis 64, 67 (eine
mildere Fassung von C. p. fran9ais 62) betrachtet die Sachhehlerei als Be-
günstigung.
Rückfall. Das französische System der Annahme des Rückfalls bei
Begehung verschiedener Delikte hat nur Genf 34 ff. angenommen und zwar mit
Verbesserungen und mit Ausschluss der Übertretungen (§ 388). Die andern
§ 8. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 417
Gesetzbücher fordern wiederholte Begehung derselben Strafthat. Waadt 68,
Freiburg 74 und Neuenburg 97 zählen dieselben einzeln auf. Wallis 79 defi-
niert den Begriff des Rückfalls überhaupt nicht und nimmt denselben auch
bei Begehung von Übertretungen verschiedener Art an (352). Überall giebt es
eine sog. „Rückfallsverjährung". — In völlig richtiger Würdigung der inter-
nationalen Bedeutung des gewohnheitsmässigen Verbrechertums legen Wallis 79
und Neuenburg 96 der im Auslande erfolgten Verurteilung für die Statuie-
rung des Rückfalls dieselbe Wirkung bei, wie der im Inlande erfolgten.
Waadt 142, 311 (abgeändert durch G. vom 28. Mai 1849 und Vdg. vom
21. Januar 1875) und Neuenburg 398 suchen die Gesellschaft gegen Vaga-
bunden und Rückfällige durch Erhöhung der Strafminima bei einigen Eigen-
tumsdelikten zu verteidigen. Der waadtländische Entw. (279, 286, 291, 341)
droht für den zweiten und dritten Rückfall 3 bezw. 7 Jahre Zuchthaus als
niedrigste Strafe an.
Konkurrenz. Nach Genf 39 (eine Nachahmung des französischen Rechts)
wird bei dem Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen nur auf die
für die schwerste derselben verwirkte Strafe erkannt. Die anderen Strafgesetz-
bücher lassen die Erhöhung derselben fakultativ zu. Eine praktische Neuerung
ist die Bestimmung von Neuenburg 91, wonach der Staatsrat für die Fälle,
dass mehrere strafbare Handlimgen gleicher Art in verschiedenen Kantonen
begangen werden, Verträge abschliessen kann dahingehend, dass nur ein
Strafverfahren in einem dieser Kantone stattfindet.
§ 8. Die einzelnen strafbaren Handlungen.
Strafbare Handlungen gegen den Staat. Bezüglich der gegen die
äussere Sicherheit desselben gerichteten verweisen Genf 85, Wallis 103 und
Neuenburg 113, 114 mit Recht auf das Bundesrecht. Die hier leider unter
französischem Einflüsse stehenden StGB, von Waadt 89 ff. und Freiburg 102
enthalten besondere Bestimmungen, deren Anwendbarkeit jedoch mindestens
zweifelhaft ist (Stooss S. 50). Waadt 95 ff. = C. p. fran9ais 75 ff. nut etwas
milderen Strafen; diese unglücklichen Art. sind mit sehr fadenscheinigen Argu-
menten auch im waadtländischen Entw. beibehalten (vgl. Rapport S. 47).
Unter den Delikten gegen die innere Sicherheit werden die gegen die Ver-
fassung mit Recht besonders betont. Alle GB. ausser Genf verwenden den
so vieldeutigen französischen Begriff des „attentat^. Eine andere Nachahmung
des französischen Rechts enthalten Waadt 107, Wallis 106 und Neuenburg 116,
wo, entgegen den allgemeinen Grundsätzen über den Versuch, die vorbereiten-
den Handlungen zu Delikten gegen die innere Sicherheit des Staats mit Strafe
bedroht werden. Nur Freiburg 106 lässt den Teilnehmer, welcher Anzeige
macht, straflos (C. p. fran9ai8 108). Die Nichterstattung der Anzeige ist nir-
gends mit Strafe bedroht.
Religionsdelikte. Hier zeigen sich charakteristische Unterschiede zwi-
schen katholischen und protestantischen Kantonen: die ersten schützen die
Religion selbst, die letzteren nur den Frieden der Religionsgesellschaften.
Wallis 101, 102 macht aus diesen Delikten den Kardinalpunkt des be-
sonderen Teils; schwere Strafen, auch gegen Gotteslästerung und Kirchenraub.
Freiburg 119, 120, 346 ff. bestraft die Entweihung von Hostien oder zum
Gottesdienst bestimmten Gefässen, Gotteslästerung, Anmassung des Rechts, die
Sakramente auszuteilen (über die Verfassungsmässigkeit dieser Strafandrohungen
und die Abänderung des Art. 346 durch das G. vom 16. November 1875
vgl. Stooss S. 65). Waadt 133 und Genf 107 schützen nur die Ausübung
des Kultus; Neuenburg 183, 184 bestraft auch Angriffe gegen Kultusgegen-
Strafgesetzgebnug der Gegenwart. I. 27
418 ^ic französische Schweiz. — Die Gnindzäge des StR. der französischen Schweiz.
stände. Eine interessante Bestimmung enthält Nenenborg 185, wonach die
bei Kindern nnter 16 Jahren gegen den Willen des Familienoberhaupts nnter-
nommene Proselytenmaeherei, jedoch nnr anf Antrag, bestraft wird (gegen die
Heilsarmee and ähnliches). Das Vorbild zn diesem Artikel findet sich im waadt-
ländischen Entw. 135, der auch den Bekehnmgsversuch bezüglich einer Ehe-
frau erwähnt (vgl. Rapport S. 56). — Die strengen Bestimmungen des C. p.
ft'an^ais 199 ff. gegen die Geistlichkeit haben in der Schweiz keine Anftiahme
gefunden. Genf 169 behandelt einen Spezialfall.
Sittlichkeitsdelikte. Hier bestehen einschneidende Gegensätze zwi-
schen den anderen Kantonen und Genf, dessen gegenwärtige Milde besonders
auffällig ist, wenn man die Geschichte des Strafrechts in der alten Stadt Cal-
vins betrachtet. Genf 277 ff., noch milder als der G. p. ft'angais, lässt den
Ehebruch straflos (der Bericht sagt, eine Bestrafong des Ehebruchs bedeute
lediglich eine Herabwürdigung der Ehe und die Herbeiführung eines überflüs-
sigen Skandals; die einzige Massregel sei die Elhescheidung, übrigens seien
Klagen sehr selten) und bedroht nur Notzucht, gewaltsame Vornahme
unzüchtiger Handlungen und Bigamie mit Strafe, überall sonst wird der-
Ehebruch an beiden Teilen (anders C. p. fran9ai8 337, 339) mit Strafe be-
droht. Freiburg droht gegen den doppelseitigen Ehebruch in Art. 398 das
höchste zulässige Strafmass, gegen den qualifizierten Ehebruch aber in Art. 400
unbegreiflicherweise eine geringere Strafe an, als gegen den einfachen. Frei-
burg 129 und Wallis 225 bestrafen den Totschlag milder, wenn er von den
Eltern begangen ist, die ihre Kinder bei Ehebruch oder Unzucht in flagranti
betroffen haben. Blutschande und widernatürliche Unzucht werden von Frei-
burg 401 und Neuenburg 281, 282 bestraft, wenn öffentlich ein Ärgemiss
gegeben ist, Blutschande allein auch ohne diese Voraussetzung von Wallis 202.
— Nach Waadt 197, Wallis 198 und Freiburg 395 ist die einfache Prostitu-
tion strafbar, nach Neuenburg 291 und dem waadtländischen Entw. 207 nur,
wenn eine Aufforderung auf öffentlicher Strasse oder Übertretung der Regle-
ments stattgefunden hat (ähnlich Reglement vom 12. August 1881 für Grenf).
Notzucht und Vornahme unzüchtiger Handlungen werden , ausser im Falle
gleiclizeitiger schwerer Körperverletzung oder öffentlichen Ärgernisses, nur auf
Antrag bestraft: Waadt 202, Wallis 206, Freiburg 197 und Neuenburg 275,
280 ff. Wallis 196 bestraft sogar die Unterhaltung eines unerlaubten Verkehrs,
wenn dadurch öffentliches Ärgernis gegeben wird (vgl. Waadt 343, 344 und
Wallis 134, Unzucht, begangen von Beamten) und Freiburg 402, die heim-
liche Niederkunft einer Unverehelichten. Die Verführung wird bestraft: nach
Waadt 205 und Freiburg 397 von Personen beiderlei Geschlechts bis zu
18 Jahren, jedoch nur bei dem Vorliegen eines Autoritätsverhältnisses zwischen
dem Verführer und seinem Opfer; nach Neuenburg 269 nur von Mädchen
unter 16 Jahren und ohne Altersgrenze nach Wallis 199. — Die Verletzung
der Sittlichkeit durch unzüchtige Reden wird mit Strafe bedroht von Waadt 195,
Wallis 196, Freiburg 394 (sehr unbestimmt) und Neuenburg 288 (anders
Genf 212).
Die beiden letztbehandelten Gruppen von strafbaren Handlungen werden
von den einzelnen Kantonen nach so durchaus verschiedenartigen Gesichts-
punkten behandelt, dass sie jedem Versuch einer Einigung auf strafrechtlichem
Gebiete erhebliche Schwierigkeiten bereiten würden.
Über die (im Waadt und Freiburg) sehr zahlreichen Antragsdelikte
vgl. Brodbeck, R. P. I, S. 475. — Über die Bestrafung der Pressvergehen
siehe Stooss S. 207.
Endlich sei erwähnt, dass der Einfluss des französischen Rechts
sich noch bei folgenden Delikten bemerkbar macht:
§ 8. Die einzelnen strafbaren Handlungen. 419
1. Die Begriffe der „diffamation" (Schmähung) und der „iiyure" (Be-
leidigung) Bind überall aufgenommen; Wallis 275 fügt zweckloserweise den der
„calomnie" (Verleumdung) hinzu.
2. Das Gleiche gilt von Mord und Totschlag, nur dass Waadt 211,
212 daraus zwei Arten desselben Delikts macht. Die Bestimmung des C. p.
il'an9ais 304, wonach der Totschlag, welcher dazu dienen soll, eine andere
Strafthat vorzubereiten oder zu verheimlichen, dem Morde gleich erachtet wird,
findet sich auch in Wallis 222 und Genf 253.
3. Der Begriff des Elternmordes (parricide, C. p. frangais 299) ist in
Genf 254 und Wallis 217 tibergegangen; nach letzterem liegt bei Tötung der
Adoptiveltern nur einfacher Mord vor. Neuenburg 297 sagt ganz allgemein
„der Mord an einem Ascendenten". Waadt 212 stellt den Ascendenten die
Descendenten, Ehegatten und Brüder, sowie Beamte in Ausübung ihres Amtes,
Freiburg 126 ausser diesen auch die Geistlichen in Ausübung ihres Amtes
gleich.
4. Das französische G. erwähnt bekanntlich den Zweikampf nicht
und die Rechtsprechung der Cour de Cassation ist in dieser Beziehung
sehr streng. Allerdings tritt eine strafrechtliche Verfolgung wohl nur ein
im Falle des Todes eines der Beteiligten oder wenn vorsätzliche Überschrei-
tung der herkömmlichen Regeln vorliegt. Dieses Stillschweigen der Gesetz-
gebung ist nur von Genf nachgeahmt, wo eine Bestrafung des Duells sich
niemals als notwendig erwiesen hat. Wallis 244 und Freiburg 382 bedrohen
sogar den im Auslande veranstalteten Zweikampf, Freiburg 381 auch die
Zeugen mit Strafe.
5. Die Statuierung eines schweren Falls der Körperverletzung,
wenn die Arbeitsunfähigkeit des Verletzten von langer Dauer gewesen ist,
findet sich überall ausser im waadtländischen Entw. 239 ff. und Neuenburg
314 ff., wo hauptsächlich die Art der Beibringung der Verletzung berück-
sichtigt wird.
6. Der von C. p. fran9ais 321 ff. zu eng gefasste Begriff der Provo-
kation des Thäters seitens des Verletzten als Straf ausschliessungsgrund für
ersteren ist nicht ohne Einfluss gewesen auf Genf 57, wo selbst schwere Be-
leidigung nur eine leichte Körperverletzung entschuldigt. Wallis 225 und
Neuenburg 296 und 320 erweitern glücklicherweise den Begriff und fassen
auch Beleidigungen als Provokation auf.
7. Endlich haben alle GB. die drei Hauptgruppen der Eigentums-
delikte beibehalten; alle ausser Genf haben auch den deutschen Begriff des
Raubes (brigandage) aufgenommen. Die Definition des Diebstahls (C. p. frangais
379) ist beibehalten von Genf 316 und Neuenburg 360; Waadt 269 macht Zusätze
und Freiburg 230 ist noch weitschweifiger als die waadtländische Definition.
Wallis 288 benutzt die letztere und die französische Definition. Genf 361 und
Neuenburg 385 haben die Begriffsbestimmung des „abus de confiance" (Ver-
trauensmissbrauch) des C. p. fran9ais 408 aufgenommen; sie ist sehr weitläufig
und gefährlich insofern, als sie die Deliktsfälle einzeln aufzählt; Wallis 308
verallgemeinert sie daher mit Recht. Waadt 283 und Freiburg 247 definieren
selbständig. Die entsetzliche Definition des Betruges (escroquerie , C. p. fran-
9ais 405) hat wörtlich Aufnahme gefunden m Neuenburg 389 und (mit einem
verallgemeinerjiden Zusätze) auch Genf 364. Waadt 282 kürzt die ermüdende
Aufzählung des C. p. fran9ais ab. Wallis 306 und Freiburg 228 sind aus
Waadt herübergenommen. Freiburg kennt ausserdem noch den völlig zweck-
losen allgemeinen Begriff der „fraude** (Betrug).
27*
420 I^ie französische Schweiz. — Die Grundzüge des Stß. der französischen Schweiz.
Fassen wir das Resultat der vorstehenden Untersuchungen kurz zusam-
men, so können wir sagen, dass — abgesehen von dem Einfluss und der
mehr oder weniger geschickten Nachahmung des französischen Rechts — unter
den geltenden StGB, der französischen Schweiz keine engere Verwandtschaft
besteht, als .unter denen anderer Länder, die auf gleicher Kulturstufe stehen,
im tlbrigen aber sich völlig ft'emd sind. Wenn man aber durchaus die Kodi-
fikationen, deren Grundzüge wir in obigem angedeutet haben, nach Ähnlich-
keit und Ursprung klassifizieren will, so könnte man, jedoch ohne Anspruch
auf wissenschaftliche Genauigkeit, folgendermassen einteilen: 1. Gruppe des
waadtländischen Rechts, enthaltend ausser dem Code Vaudois die sich an
diesen anlehnenden StGB, von Wallis und Freiburg. — 2. Gruppe des fran-
zösischen Rechts, die durch den Code de Genfeve gebildet wird. — 3. Gruppe
des modernen Rechts: das neue Neuenburger StGB.
3. Kanton Tessin.
L Einleitung.
§ 1. Übersicht Aber die Lltteratur.
Codice penale della Bepubblica e Cantone del Ticino, Lugano, Francesco Vela-
dini & Co., 1816. — Progetto di Codice penale per il Cantone Ticino vom Advokaten
Carlo Battaglini, November 1868, Lugano, Tipografia e Litografia Cantonale. — Pro-
getto di Codice penale per il Cantone Ticino colla relazione della Commissione go-
vemativa, Bellinzona, Tipografia e Litografia Cantonale. 1870. — Emilio Brusa, Studi
8ui progetti di Codice penale ticinese, Bellinzona, Tipografia Cantonale, 1871. —
Carrara, Sulprogetto del Codice penale ticinese. Opuscoli vol. II, 4. edizione, Prato 1888,
p. 518 sq. — F. Chicherio, Progetto di regolamento organico per il penitenziere cantonale
preceduto da un memoriale di giustificazione dei suoi principii fondamentali, Bellinzona,
Tipografia cantonale, 1872. — Derselbe: Sistemi penitenziari in Italia e in Svizzera, Be-
lazione del direttore del penitenziere cantonale al Consiglio di Stato colF aggfiunta
di due relazioni dei Signori Aw. Carlo Olgiati e Architetto Defilippis, Bellinzona,
Tipografia cantonale, 1872. — Derselbe: Belazione accompagnante un progetto di
legge per la riduzione delle pene da scontarsi nel penitenziere cantonale, Bellinzona,
Tipografia di Carlo Colombi, 1872. — Derselbe: Aper<ju historique du droit pönal et
des procödures pönales dans le Canton du Tessin et statistique de son mouvement
penitentiaire dans la Periode de 1873 k 1891, Bellinzona, Eredi Carlo Colombi 1892. —
Codice penale per il Cantone Ticino, amtliche Ausgabe, Bellinzona, Tipografia e Lito-
frafia Cantonale 1873. — Raccolta officiale delle leggi e degli atti esecutivi della
epubblica e Cantone del Ticino dal 1803 al 1891. — Nuova Kaccolta generale delle
leggi e dei decreti del Cantone Ticino dal 1803 all 1886 in vigore e degli atti piü
importanti del diritto pubblico svizzero, 4 Bände, Bellinzona, Tipografia Cantonale
1886—1887. — Processi verbali del Gran Consiglio della Bepubblica e Cantone del
Ticino 1831—1891. — Karl Stooss: Die schweizerischen StGB, zur Vergleichung zu-
sammengestellt, Basel und Genf, Georg, 1890. — Derselbe: Die Grundzüge des
schweizerischen StR. im Auftrage des Bundesrates vergleichend dargestellt, Basel und
Genf, Georg, 1892. — Sammlung von Entsch.: Repertorio di gurisprudenza patria;
dieselbe erschien von 1866 bis 1878 (13 Bände) unter Leitung des Advokaten Gio.
Battista Meschini (f 1878); seit 1881 erscheint eine Neue Folge unter Leitung von Dr.
Luigi Colombi, Staatsrat und Direktor im Justizdepartement und Stefano Gabuzzi,
Anwalt in Bellinzona (Bellinzona, Eredi Carlo Colombi, bislang 12 Bände).
§ 2. Cresehlchtllehe Torbemerkungeii.
Das erste StGB, für den Kanton Tessin wurde am 1. Juli 1816 erlassen
und ist am 1. Januar 1817 in Kraft getreten. Abgesehen von der kurzen er-
regten Periode der helvetischen Republik (1799 — 1803) war bis zu dieser Zeit
das tessinische StR. enthalten in den Statuten der verschiedenen Bezirke,
welche die bis zum J. 1799 unter der Herrschaft der Schweizer Kantone ge-
bliebenen acht Ämter bildeten.
Das StGB, von 1816 zeichnete sich durch grosse Strenge aus. Es unter-
schied zwei Arten von Strafen: schwere (kriminelle) und leichte (korrektioneile).
422 Kanton Tessin. — Einleitung.
Die schwerste Strafe war die Todesstrafe, die in 13 Artikeln angedroht wurde
und zwar gegen folgende Verbr.: gegen die Sicherheit des Staates (Art. 101
bis 104), gegen die Verfassung (Art. 110 und 111), gegen die Bechtspflege
(Art. 121, 122 und 135), gegen das Leben (Art. 250, 252 und 264) und gegen
das Eigentum (Art. 338). Die ihr der Schwere nach am nächsten stehenden
Strafen waren lebenslängliche Kettenstrafe und zeitige Zwangsarbeit. Das
StGB, hat im Laufe der Zeit mehrere Veränderungen erlitten. Ein 6. vom
20. Januar 1851 schaffte die Todesstrafe und alle entehrenden Strafen (mit
Ausnahme des Verlustes der bfirgerlichen Ehrenrechte) für Delikte ausschliess-
lich politischer Natur ab, für welche es eine besondere Strafe, die Einsperrung,
androhte; die Bestimmung über die Art der Verbüssung dieser Strafe war
einem späteren G. vorbehalten, das jedoch niemals erlassen ist.
In der Sitzung vom Monat Mai 1863 beschloss der grosse Rat die Aus-
arbeitung eines neuen StGB. Den Anstoss hierzu hatte die lebhafte, gegen
das Fortbestehen der Todesstrafe gerichtete Bewegung gegeben. Drei tessinische
Advokaten: Carlo Battaglini in Lugano (f 1886), Carlo Olgiati in Bellinzona
(f 1888) und Vittore Scazziga in Locamo (f 1891) wurden mit der Ausarbei-
tung beauftragt. Der erstere fertigte einen vorläufigen Entw. an und über-
reichte denselben im J. 1868 dem Staatsrat. Der von der gesamten Kom-
mission verfasste Entw. wurde im J. 1870 fertig gestellt und am 23. Januar
1873 vom grossen Bat zum G. erhoben. Gleichzeitig wurde das alte Zucht-
haus in Bellinzona geschlossen und eine neue Gefängnisanstalt in Lugano er-
öffnet. Der Entw. des StGB, war von dem hervorragenden Rechtslehrer an
der Universität Pisa, F. Carrara, einer Durchsicht unterzogen und mit wert-
vollen Bemerkungen versehen worden, die auf die endgültige Fassung einen
bedeutenden Einfluss gehabt haben. Das G. trat am 1. Juli 1873 in Kraft
und gilt noch heute.
Es enthält einen einleitenden Titel und drei Bücher. Ersterer behandelt
in neun Art. das StG. und seine räumliche und zeitliche Anwendung. Das
erste Buch enthält den allgemeinen Teil des StR.; es zerfallt in sieben Titel,
welche behandeln: die Strafen; die Gründe, welche die Strafbarkeit aus-
schliessen oder vermindern; das versuchte und das fehlgeschlagene Delikt;
die Beteiligung mehrerer bei Begehung einer strafbaren Handlung; das Zu-
sammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen; den Rückfall; die Verjährung
der Strafverfolgung und die Strafvollstreckung. Das zweite Buch handelt von
der Bestrafung der einzelnen Verbr. und Verg., das dritte von den Über-
tretungen.
Zum Zweck der Abänderung des StGB, sind zwei G. ergangen: das G.
vom 28. Januar 1886 über die Freiheit der katholischen Kirche und die Ver-
waltung der Kirchengüter und das G. vom 11. April 1889 betr. die Anwen-
dung des Bundesgesetzes über die Bestrafung des Schuldenmachens und des
Bankerutts im Kanton Tessin. Ersteres schaffte alle auf den Missbrauch der
Amtsgewalt seitens eines Geistlichen bei Ausübung des Berufs bezüglichen
Bestimmungen des StGB, von 1873 ab. Letzteres hob die auf die Bestrafung
des Bankerutts als eines handelsrechtlichen Delikts betreffenden Art. 231 bis
232 des StGB. auf.
Es sei bemerkt, dass das StGB, das G. vom 13. Juni 1834 über die
Presse (Nuova Raccolta, Bd. 1 S. 113) nicht aufgehoben hat. Dieses behandelt
die mittelst der Presse begangenen Verg. gegen die Religion, gegen die g^ten
Sitten und gegen die Obrigkeit. Verantwortlich ist in erster Linie der Ver-
fasser; ist derselbe unbekannt oder nicht der Rechtsprechung der Eumtonal*
gerichte unterworfen, so trifft den Herausgeber und in Ermangelung eines
solchen den Drucker die Verantwortlichkeit. Verfasser, Herausgeber und
§ 3. Das Strafgesetzbuch. 423
Drucker haften für die Bezalilung der Kosten des Verfahrens, der erkannten
Geldstrafe und des Schadensersatzes in allen Fällen solidarisch.
n. Der allgemeine Teil des StGB.
§ 3. Das Strafgesetzbach.
Der erste Art. des G. bestimmt, dass eine strafrechtliche Verfolgung nur
stattfindet wegen solcher Thatbestände, die vom StGB, als Verbr., Verg. oder
Übertretung bezeichnet sind; diese Fassung ist nicht genau. Es giebt mehrere
besondere 6., welche, unabhängig von den zur Zuständigkeit der Bundesgesetz-
gebung gehörigen und im Art. 8 des StGB, aufgeführten Thatbeständen, ge-
wisse Handlungen mit Strafe bedrohen. Der Art. 1 sollte lediglich den Grund-
satz: nullum crimen, nulla poena sine lege poenali aussprechen. Derselbe
gelangt in korrekterer Fassung zum Ausdruck in dem ersten Art. der StPO.
vom 8. Dezember 1855, wefcher besagt, dass eine Strafe nur von dem zu
ihrer Anordnung zuständigen Beamten auf Grund ausdrücklicher gesetzlicher
Vorschrift und unter Beachtung der vorgeschriebenen Förmlichkeiten verhängt
werden darf.
Das G. spricht den Grundsatz aus, dass ein StG. niemals zum Nachteil
des Angeklagten rückwirkende Kraft haben kann, wohl aber zum Vorteil des-
selben derart, dass die Wirkungen einer bereits ergangenen Verurteilung von
Rechts wegen aufhören, wenn ein späteres G. die Handlung, wegen welcher
sie erfolgte, für straflos erklärt. Die Strafen, deren Vollstreckung bereits be-
gonnen hat, und die Wirkungen früher ergangener Verurteilungen werden
nach Massgabe des neuen G. ermässigt oder gemildert (Art. 8). Auf dem-
selben Prinzip beruht die Bestimmung des Art. 87, dass bei Verschiedenheit
der G. zur Zeit der Begehung imd der Aburteilung der That das dem An-
geklagten günstigere G. anzuwenden ist.
Bezüglich des räumlichen Geltungsgebietes des StGB, bestimmt der Art. 2,
dass dasselbe Anwendung findet auf alle im Gebiet des Kantons Tessin be-
gangenen strafbaren Handlungen. Von der Anwendung auf die ausserhalb
dieses Gebietes begangenen Delikte handeln die Art. 3 — 6. Damach ist ein
Einheimischer oder Fremder, der ausserhalb des Kantons ein Delikt gegen
die Sicherheit desselben begeht, oder sich der Fälschung eines Staatssiegels
oder eines öfi'entlichen Kantonal-Kreditpapieres schuldig macht, nach tessini-
schem Recht zu bestrafen, einerlei ob wegen dieser That bereits im Auslande
eine Verurteilung erfolgt ist oder nicht. Jedoch ist im ersteren Falle die im
Auslande bereits verbüsste Strafe auf die von den tessinischen Gerichten zu
verhängende anzurechnen. Ein tessinischer Staatsangehöriger, der im Aus-
lande einen Mord, einen Kindesmord, eine vorsätzliche Brandstiftung, eine
Erpressung, einen Raub, einen schweren Diebstahl an einem Objekt von mehr
als 1000 Lire, eine Notzucht oder eine Entführung begeht, wird im Kanton
Tessin nach inländischem Recht bestraft, wenn im Auslande ein Strafverfahren
nicht stattfand, oder wenn der Schuldige sich der Aburteilung oder dem Straf-
vollzuge im Auslande entzogen hat. Begeht ein Tessiner im Auslande ein
anderes» weniger schweres Verbr. oder Verg., so findet im Kanton ein Straf-
verfahi'en und eine Bestrafung nur statt auf Antrag des Verletzten oder auf
Verlangen der Regierung desjenigen Landes, in welchem die strafbare Hand-
lung begangen ist, oder welchem der Verletzte angehört. Unter den gleichen
Voraussetzungen findet ein Verfahren nach einheimischem Recht gegen einen
Ausländer statt, der im Auslande zum Nachteil eines Tessiners ein Verbr. oder
424 Kanton Tessin. — Der allgemeine Teil des StGB.
Verg. begangen hat, und sich im Gebiete des Kantons betreffen lässt, voraus-
gesetzt, dass wegen desselben entweder die Auslieferung nicht zulässig ist,
oder die Annahme des Auszuliefernden von der Regierung des Landes, in
welchem die That begangen wurde, verweigert wird. Für die ersten beiden
Fälle schreibt das G. nicht vor, dass der Thäter sich im Gebiet des Kantons
betreflFen lassen muss. Diese Voraussetzung ist vielmehr nur wesentlich in
dem letzteren Falle, wo es sich um die von einem Ausländer im Auslande
begangenen Delikte handelt. In den von den Art. 4 und 5 des StGB, vor-
gesehenen Fällen muss der tessinische Richter das dem Angeklagten günstigste
G. anwenden. Ist die That von den G. des Landes, in welchem sie begangen
wurde, nicht mit Strafe bedroht, so findet auch im Gebiet des Kantons ein
Strafverfahren nicht statt. Ebenso ist es, wenn nach den G. des Begehungs-
ortes der erforderliche Antrag nicht rechtzeitig gestellt oder die Strafverfolgung
verjährt ist. In allen diesen Fällen verjährt die Strafverfolgung in der Hälfte
der für die im Gebiete des Kantons begangenen Delikte vorgeschriebenen Ver-
jährungsfrist.
§ 4. Die strafbare Handlung.
1. Einteilung der Delikte. Das StGB, behält die auf der verschie-
denen Schwere der angedrohten Strafen beruhende Dreiteilung des fran-
zösischen C. p. V. 1810 bei. Diese war von praktischer Bedeutung zur Zeit,
wo nur die Aburteilung der Verbr. den Schwurgerichten zustand. Sie ist
heute praktisch wertlos, da das Strafverfahren wegen Verbr. und Verg, ein
einheitliches ist. Die Schwurgerichte wurden im Kanton Tessin durch die
Verfassung vom 10. Februar 1883 aufgehoben. Die Aburteilung der Über-
tretungen geschieht nach dem G. vom 8. Februar 1873 durch die Friedens-
richter. Als Übertretungen gelten auch einige geringfügige vorsätzliche Verg.,
wie einfache Diebstähle und Unterschlagungen, wenn das Objekt unter 5 Lire
ist. Trotz der theoretischen Unterscheidung von Verbr. und Verg. behandelt
das G. sie gemeinschaftlich und nach denselben Gesichtspunkten.
2. Zurechnung. Nach Art. 46 ist die Zurechnung ausgeschlossen, wenn
der Thäter sich bei Begehung der That im Zustande der Bewusstlosigkeit oder
unter dem Einfluss eines unwiderstehlichen physischen oder moralischen Zwangs
befand. Das G. fügt ausdrücklich hinzu, dass Unkenntnis des G. die Zu-
rechnung nicht ausschliesst. Der Art. 47 handelt von der Verminderung der
Zurechnungsfähigkeit und gestattet dem Richter, bei der Ausmessung der Strafe
um ein, zwei oder drei Grade herabzugehen, wenn durch die im vorhergehen-
den Art. angegebenen Umstände die Zurechnungsfähigkeit zwar nicht voll-
ständig ausgeschlossen, aber doch mehr oder weniger vermindert war. Das
G. giebt besondere Vorschriften über die Behandlung der Trunkenheit, den
Einfluss des Lebensalters und der Taubstummheit. Es unterscheidet vollständige
Trunkenheit und solche Trunkenheit, welche eine vollständige Bewusstlosigkeit
des Thäters nicht zur Folge gehabt hat. Das Vorhandensein der vollständigen
Trunkenheit schliesst den Vorsatz aus, lässt aber die Annahme einer Fahr-
lässigkeit bestehen. Auch die letztere ist ausgeschlossen, wenn die Trunken-
heit eine unverschuldete oder zufällige war. Die teilweise Trunkenheit mindert
die Strafe um einen Grad, wenn sie nicht in der Absicht herbeigeführt ist,
während des trunkenen Zustandes das Delikt zu begehen. Das StGB, unter-
scheidet fünf Altersstufen, Die volle Strafmündigkeit tritt mit dem vollendeten
20. Lebensjahre ein; wer noch nicht zehn Jahre alt ist, kann strafrechtlich
nicht zur Verantwortung gezogen werden. Ist der Thäter 10, aber noch nicht
14 Jahre alt, so ist zu prüfen, ob er mit der Einsicht in die Strafbarkeit seiner
Handlungsweise gehandelt hat. Ist dies der Fall, so wird die für das Verbr.
§ 4. Die strafbare Handlung. 425
angedrohte Strafe um zwei oder drei Grade ennässigt. Anderenfalls ordnet
der Bichter'die Unterbringung zur Zwangserziehung auf Kosten der Familie
oder Gemeinde an. Für einen Thäter im Alter von 14 bis zu 18 Jahren
werden die Strafen um ein oder zwei Grade, und für einen solchen von 18
bis zu 20 Jahren um einen Grad ermässigt. Ein Taubstummer kann vor voll-
endetem 14. Lebensjahre nicht straft-echtlich verfolgt werden. Vom 14. bis
zum 18. Lebensjahre ist auch bei ihm zu prüfen, ob er die Einsicht in die
Strafbarkeit seiner That besessen hat, und das Verfahren ist dasselbe wie
gegen einen Mindeijährigen von 10 bis zu 14 Jahren. Die Frage nach der
Einsicht in die Strafbarkeit muss auch für den über 18 Jahre alten taub-
stummen Angeklagten geprüft und in allen Fällen die Strafe um ein oder zwei
Grade ermässigt werden.
Die Anwendung eines allgemeinen Grundsatzes über die Zurechnung ent-
hält der Art. 108, welcher bestimmt, dass ein Untergebener straflos bleibt,
wenn er nachweist, dass er die That lediglich in Ausführung eines ausdrück-
lichen Befehls seines Vorgesetzten und ohne Einverständnis mit diesem be-
gangen hat.
3. Versuch. Das G. unterscheidet Versuch imd fehlgeschlagenes Delikt
(delltto mancato, Art. 54 — 57). Wegen eines fehlgeschlagenen Delikts wird
bestraft, wer in der Absicht ein Delikt zu begehen, alles gethan hat, was zu
dessen Ausführung erforderlich war, so dass die Nichtvollendung lediglich auf
zufälligen und vom Willen des Thäters unabhängigen Umständen beruht. Des
Versuchs macht sich schuldig, wer durch Handlungen, welche einen Anfang
der Ausführung der That bilden und geeignet sind, die Vollendung zu be-
wirken, seine unmittelbare Absicht bekundet hat, das Delikt zu begehen,
jedoch durch zufällige und von seinem Willen unabhängige Umstände verhindert
worden ist, alle diejenigen ferneren Handlungen vorzunehmen, welche nötig
gewesen wären, um das Delikt zu vollenden. Entsteht ein Zweifel, welches
von mehreren Delikten versucht ist, oder welche von mehreren schädigenden
Wirkungen herbeigeführt werden sollte, so wird angenommen, dass die Ab-
sicht des Thäters auf die Begehung des leichteren Delikts und die Herbei-
führung des geringeren Schadens gerichtet war (Art. 55). Der freiwillige
Rücktritt vom Versuch macht diesen straflos. Bildet jedoch die bereits
vorgenommene Ausführungshandlung den Thatbestand eines Delikts, so wird
der Thäter wegen dieses bestraft. Die Strafe des fehlgeschlagenen Delikts ist
einen Grad niedriger als die für das vollendete angedrohte, die Strafe des
Versuchs zwei bis drei Grade, je nachdem die That der Vollendung mehr oder
weniger entgegengeführt war.
4. Beteiligung mehrerer bei Begehung einer strafbaren Hand-
lung. Das G. unterscheidet Thäter und Teilnehmer (Art. 59 und 60). Thäter
ist 1. wer die den Thatbestand des Delikts bildende Handlung unmittelbar
selbst vornimmt; 2. wer unmittelbar und thatsächlich bei der Ausführung
mitgewirkt hat; 3. wer einen anderen durch Auftrag, Geschenke, Versprechungen,
Drohungen, Missbrauch des Ansehens oder der Amtsgewalt zur Begehung der
That bestimmt hat. Teilnehmer ist 1, wer vorsätzlich die Begehung der That
veranlasst, oder dem Thäter zur Begehung Ratschläge erteilt, oder sich mit dem
Thäter oder seinen Gehülfen über den nach Begehung der That zur Sicherung
der Vorteile aus der That oder der Straflosigkeit des Thäters von ihm zu ge-
währenden Beistand ins Einvernehmen gesetzt hat; 2. wer dem Thäter Waffen,
Werkzeuge oder irgend ein anderes bei der That benutztes Mittel in Kenntnis
seiner Bestimmung verschafft hat; 3. wer zu Handlungen, welche die Ausführung
der That vorbereiten oder erleichtem sollten, wissentlich Beistand geleistet
hat. Persönliche Eigenschaften und Umstände, welche die Strafbarkeit des
426 Kanton Tessin. — Der allgemeine Teil des StGB.
Thäters ausschliessen, erhöhen oder vermindern, haben auf die Bestrafung des
Gehülfen keinen Einfluss (Art. 61); besondere umstände, welche in der That
selbst liegen, nur insoweit, als der Handelnde sie kannte oder kennen, bezw.
vojhersehen musste (Art. 62). Die Strafe des Teilnehmers ist 1 — 3 Grade
niedriger als die des Thäters. Der Teilnehmer wird jedoch gleich dem Thäter
bestraft, wenn die That ohne seine Mitwirkung nicht begangen worden wäre
(Art. 63).
Die Begünstigung bildet nicht einen Fall der Teilnahme, sondern ein
selbständiges Delikt gegen die Justizverwaltung (Art. 171 — 174).
5. Die Strafbarkeit der Handlung. In keinem Falle überlässt das
G. die Erhebung der Anklage einer Privatperson. Nach Art. 3 der StPO.
steht die Erhebung der Strafklage, welche stets eine öffentliche Klage ist, nur
der Anklagebehörde zu. Indessen ist diese Erhebung in zahlreichen Fällen
von dem Antrage des Verletzten abhängig, so bei den Ehrverletzungen (Art. 355),
der leichten Körperverletzung (Art. 313), der Entführung (Art. 260), der Not-
zucht (Art. 256), der Misshandlung seitens eines Familienangehörigen oder Ehe-
gatten (Art. 333), dem Hausfriedensbruch (Art. 342), Diebstahl, Vertrauens-
missbrauch, Betrug und Aneignung gefundener Gegenstände zwischen gesetz-
lich geschiedenen Ehegatten, Geschwistern und Verschwägerten bis zum zweiten
Grade, wenn diese nicht zusammen leben (Art. 367, 383, 386 und 393),
Betrug, Wucher und Aneignung gefundener Gegenstände in minder schweren
FäUen (Art. 380, 381 § 1, 388, 391 § 3), Offenbarung von Privatgeheimnissen
(Art. 358), Verletzung des Briefgeheimnisses (Art. 343) und Verfälschung von
Urkunden (Art. 220). In mehreren Fällen bleiben an und für sich straf-
bare Handlungen straflos, wenn der Thäter und die Person, zu deren
Gunsten das Delikt begangen war, oder der Thäter und der Verletzte mit-
einander verwandt sind. Hierher gehören Begünstigungen und Handlungen,
welche den Zweck haben, die Spuren eines begangenen Delikts zu verwischen
zu Gunsten des Aszendenten, Deszendenten, Bruders, der Schwester, des
Schwagers, Onkelfe, Neffen, Schwiegervaters, Schwiegersohnes oder Ehegatten
des Hehlers (Art. 176). Ebenso wird das zu Gunsten eines Angeklagten ab-
gegebene falsche Zeugnis nicht bestraft, wenn der Zeuge mit diesem in einem
Grade verwandt ist, der ihn von der eidlichen Vernehmung ausschliesst
(Art. 187 des StGB, und Art 185 der StPO.). Das falsche Zeugnis wird femer
nicht bestraft, wenn der Zeuge durch Angabe der Wahrheit sich selbst oder
seinen Ehegatten, seine Aszendenten oder Deszendenten, Geschwister, Onkel,
Neffen oder Verschwägerte bis zum zweiten Grade der Gefahr einer Straf-
verfolgung ausgesetzt haben würde (Art. 187 § 2). Diebstahl, und zwar der
leichte wie der schwere, Vertrauensmissbrauch, Betrug und Aneignung gefun-
dener Gegenstände werden nicht bestraft, wenn sie begangen sind zwischen
gesetzlich nicht geschiedenen Eheleuten, zwischen Geschwistern und Ver-
schwägerten zweiten Grades, welche in häuslicher Gemeinschaft leben, sowie
zwischen Aszendenten, Deszendenten, in gerade Linie Verschwägerten und
Adoptiveltern und Adoptivkindern (Art. 367, 383, 389 und 392).
In anderen Fällen bewirkt die Reaie des Thäters den Eintritt der Straf-
losigkeit. So bleibt straflos a) wer, nachdem er an einem Aufruhr oder einem
Aufstand teilgenommen hat, auf Aufforderung der Obrigkeit sich entfernt oder
sich jeder weiteren Beteilig^ung enthält (Art. 96); b) der Verleumder, der vor
der richterlichen Vernehmung des Verleumdeten oder vor Vornahme einer Ver-
haftung oder Haussuchung freiwillig die Verleumdung zurücknimmt (Art. 181,
§2); c) der Zeuge, Sachverständige oder Dolmetscher, welcher nach Abgabe
eines falschen Zeugnisses dieses widerruft zu einer Zeit, wo der Widerruf für
die Rechtspflege noch von Bedeutung und das Verfahren noch nicht geschlossen
5. Die Strafen. 427
ist (Art. 188) ; d) wer den in einem Civilprozess geschworenen falsclien Eid
vor Abgabe einer Entscheidung widerruft (Art. 190): e) wer nach Fälschung
einer Privaturkunde auf die an ihn ergangene richterliche Aufforderung er-
klärt, das6 Ä von derselben keinen Gebrauch machen werde (Art. 220); f)wer
nach Begehung eines leichten Diebstahls, eines Vertrauensmissbrauchs, Betrugs
oder der Aneignung eines gefundenen Gegenstandes innerhalb 24 Stunden nach
der Begehung, und bevor die That bekannt geworden ist, den entwendeten
Gegenstand zurückgiebt und dem Verletzten vollen Schadenersatz leistet (Art. 364,
383, 389 und 392); g) wer, nachdem er einem anderen bei der von diesem
beabsichtigten Begehung des Selbstmordes Beistand geleistet hat, seine That
bereut und ihn rechtzeitig an der Ausführung seines Vorhabens verhindert
(Art. 301),
Die Strafbarkeit einer Handlung ist endlich ausgeschlossen im Fall der
Notwehr. Das StGB, handelt von dieser in dem Titel über die Verg. gegen
das Leben und die Person. Nach Art. 293 wird die vorsätzliche Tötung nicht
bestraft, wenn sie begangen wurde: a) in der unmittelbaren Notwendigkeit
der rechtmässigen Verteidigung der eigenen oder einer fremden Person, sowie
der eigenen oder fremden Geschlechtsehre; b) in der unmittelbaren Notwendig-
keit der rechtmässigen Verteidigung des Eigentums gegen gewaltsamen Dieb-
stahl, Plünderung oder Beschädigung; c) bei dem Widerstand gegen die Ver-
anstalter eines Diebstahls mittels Einbruchs oder Einsteigens, der Brandstiftung
an einem bewohnten Gebäude oder dessen Nebengebäuden, wenn die That zur
Nachtzeit geschah, oder es sich um ein einsam liegendes Haus handelte und
gerechtfertigte Besorgnis für die Sicherheit der sich dort befindenden Personen
vorhanden war. Die Überschreitung der Notwehr bewirkt eine bedeutende
Ermässigung der Strafe und ist straflos, wenn sie auf besonderen Umstände
der Zeit, des Ortes, der Art des Angriffs oder des Angegriffenen beruhte oder
der Thäter in Furcht oder Bestürzung handelte.
§ 5. Die Strafen.
1. Freiheitsstrafen. Die schwerste vom G. angedrohte Strafe ist Zucht-
haus auf Lebenszeit. Sie wird im Kantonalzuchthause verbüsst; der Verurteilte
wird 3 Jahre lang in Einzelhaft gehalten und ist zu vollständigem Stillschweigen
und zur Arbeit verpflichtet. Nach Ablauf dieser Zeit wird er nach und nach
zur gemeinsamen Arbeit mit anderen Sträflingen zugelassen, jedoch nachts von
ihnen getrennt und hat Stillschweigen zu bewahren. Personen über 70 Jahre
werden nur 2 Jahre lang in Einzelhaft gehalten. Die ebenfalls für Verbr. ange-
drohte zeitige Zuchthausstrafe zerfällt in 5 Grade und schwankt zwischen 4 und
24 Jahren. Sie wird ebenfalls im Kantonalzuchthause verbüsst; der Verurteilte
ist zum Schweigen verpflichtet, wird während der Nacht isoliert und am Tage
zu gemeinsamer Arbeit verwendet. Die Dauer der Einzelhaft beträgt 8 Monate
bis zu 1 Jahr. •
Die zu Gef, Verurteilten verbüssen ihre Strafe in derselben Anstalt wie
die zu Zuchthaus Verurteilten, sind jedoch von diesen räumlich getrennt und
durch die Kleidung unterschieden. Sie werden während der Nacht isoliert
und am Tage mit anderen Gefangenen gemeinschaftlich unter Verbot jeder
Unterhaltung beschäftigt. Der zu Gef. Verurteilte kann sich eine der in der
Anstalt zugelassenen Arbeiten auswählen; auch er wird, und zwar für die Zeit
von 1 bis zu 6 Monaten , in Einzelhaft gehalten. Die Gefängnisstrafe zerfällt
in 5 Grade, deren erster eine Straf dauer von 3 Tagen bis zu 3 Monaten und
deren fünfter eine solche von 3 bis zu 4 Jahren umfasst. Aus besonderen
Gründen kann der Richter im Urteil anordnen, dass der zu Gef. ersten Grades
428 Kanton Tessin. — Der allgemeine Teil des StGB.
Verurteilte seine Strafe in dem Gef. desjenigen Bezirks verbüssen soll, in
welchem das Urteil ergangen ist. Beträgt die Strafe nnr Gef. auf die Dauer
von 3 Tagen, so kann der Richter dem Verurteilten gestatten, sie in seiner
Wohnung unter Aufsicht der Obrigkeit zu verbüssen.
Der zu zeitigem Zuchthaus oder Gef. auf die Dauer von mehr als 1 Jahr
Verurteilte, welcher mindestens drei Vierteile der Strafe verbüsst und sich
während dieser Zeit tadellos geführt hat, kann auf Widerruf entlassen werden,
bleibt jedoch der unmittelbaren besonderen Aufsicht des GefUngnisleiters unter-
stellt. Für die Entscheidung der Frage, ob der Sträfling sich gut geführt
hat, und ob die bedingte Entlassung erfolgen oder wegen schlechter Führung
des Entlassenen zurückgenommen werden soll, ist die der Gefängnisverwaltung
vorgesetzte Strafvollzugskommission zuständig. Diese besteht aus dem mit der
Leitung des Justizwesens beauftragten Staatsrat, dem Präsidenten des Appellations-
gerichts und dem Staatsanwalt. Sie muss ihre Entscheidung, gegen welche
sowohl der Verurteilte, als auch die Strafvollstreckungsbehörde auf Ent-
scheidung des Appellationsgcrichts antragen können, mit Gründen versehen.
Füi* politische Delikte (Art. 88 — 91) droht das StGB, eine besondere Strafe
der Einsperrung (prigionia) an, die zwischen 1 und 20 Jahren schwankt und
in 5 Grade zerfällt. Nach Art. 23 ist diese Strafe in einem Staatsgefängnis
zu verbüssen, in welchem der Verurteilte während der gesamten Strafdauer
einzusperren ist; er darf jedoch sich selbst kleiden, auf eigene Rechnung be-
köstigen, arbeiten oder sich anderweitig beschäftigen und Besuche empfangen;
angewendet ist die Strafe bis heute noch nicht.
Die für Übertretungen angedrohte Haftstrafe (arresto) wird in einem
Distrikts-Gefängnisse verbüsst und beträgt mindestens einen Tag und höchstens
sieben Tage.
2. Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und Unfähigkeit der
Ausübung einzelner Rechte. Die Verurteilung zu lebenslänglichem oder
zeitigem Zuchthaus hat den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte für die
Dauer der erkannten Strafe von Rechts wegen zur Folge. In den vom G. be-
sonders vorgesehenen Fällen kann der Verlust auch für die Zeit nach der
Verbüssung der zeitigen Zuchthausstrafe, sowie bei einer Verurteilung zu
Gef. von gewisser Dauer nach Verbüssung dieser letzteren Strafe eintreten.
Der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte hat zur Folge: 1. den Verlust aller
vom Verurteilten bekleideten öffentlichen Ämter, sowie den Ausschluss von der
Erlangung solcher; 2. den Verlust aller staatsbürgerlichen und politischen
Rechte; 3. den Ausschluss von der Ausübung des Amtes als Anwalt oder
Notar; 4. die Unfähigkeit, Vormund anderer Kinder als der eigenen zu sein;
5. die Unfähigkeit, einen anderen mit Ausnahme seiner Ehefrau oder seiner
Kinder gerichtlich oder aussergerichtlich zu vertreten oder als Beistand auf-
zutreten; 6. die Unfähigkeit, Testamentsvollstrecker zu sein; 7. die Unfähig-
keit, als Zeuge oder Sachverständiger gerichtlich vernommen zu werden oder
Zeuge bei der Aufnahme von Urkunden zu sein (Art. 31).
Die Strafe des Ausschlusses von der Ausübung einzelner Rechte besteht
in dem Ausschluss des Verurteilten von der Ausübung staatsbürgerlicher oder
politischer Rechte, von der Bekleidung öffentlicher Ämter, von der Ausübung
einer bestimmten öffentlichen Funktion oder eines Gewerbes, einer Beschäftigung
oder einer Kunst. Die Strafe zerfällt ihrer Dauer nach in vier Grade: der
1. Grad umfasst den Ausschluss auf die Dauer von 1 Monat bis zu 1 Jahr,
der 4. auf die Dauer von 6 bis zu 10 Jahren. Diese Strafe findet nur als
Nebenstrafe neben anderen Strafmitteln Anwendung.
3. Geldstrafe. Das G. kennt zwei Geldstrafen: die multa fürVerg., die
ammenda für Übertretungen. Erstere zerfällt in acht Grade, von denen der
§ 5, Die Strafen. 429
erste die Beträge von 2 — 25 Lire und der achte die von 350 — 5000 Lire um-
fasst. Sie wird allein oder in Verbindung mit anderen Strafen angedroht.
Die letztere zerfällt in zwei Grade und schwankt zwischen 2 — 50 Lire.
Ist der Verurteilte zahlungsunfähig, so wird die multa in Gef. verwan-
delt und zwar tritt 1 Tag an die Stelle von je 5 Lire, jedoch beträgt die
Höchstdauer der Gefängnisstrafe 3 Monate (Art. 30). Ist auf multa neben
Zuchthaus oder Gef. erkannt, so wird, wenn sie nicht beizutreiben ist, die
Freiheitsstrafe verlängert, indem 1 Tag Zuchthaus für je 15 Lire und 1 Tag
Gefängnis für je 10 Lire eintritt. Die Verlängerung darf jedoch die Dauer
von 3 Monaten nicht überschreiten (Art. 31).
4. Abstufung und Ausmessung der Strafen. Die Strafzumessung
geschieht nach Graden. Der Richter hat die Strafe nach den im G. be-
stimmten Graden unter Berücksichtigung der Schwere der That, der Inten-
sität, des verbrecherischen Willens, des entstandenen Schadens und der her-
beigeführten Gefahr zuzumessen. Liegt ein mildernder Umstand vor, so ist
höchstens auf die Hälfte des im allgemeinen angedrohten Grades zuerkennen;
liegen zwei mildernde Umstände vor, so tritt eine Ermässigung um einen
Grad ein. Trifft ein mildernder Umstand mit einem erschwerenden Umstand
zusammen, so gleichen sie sich aus. Mildernde Umstände liegen vor: 1. wenn
der Thäter sich früher gut geführt hat; 2. wenn er aus Not gehandelt hat;
3. wenn er ft'eiwillig und unmittelbar nach Begehung der That den Schaden
ersetzt hat; 4. wenn er sich freiwillig der Obrigkeit stellt und seine That
eingesteht (Art. 53).
Die erlittene Untersuchungshaft kann auf die erkannte Strafe ganz oder
teilweise angerechnet werden, sodass 1 Tag Zuchthaus oder Gef., 2 Tage
des Ausschlusses von der Ausübung irgend welcher Rechte und 5 Lire Geld-
strafe gleich einem Tage Untersuchungshaft gerechnet werden (Art. 33).
Der Rückfall bildet einen Strafschärfungsgrund. Er liegt nur vor, wenn
der Verurteilte wegen einer gleichartigen That bereits früher verurteilt war;
als gleichartig gelten diejenigen strafbaren Handlungen, welche vom G. in einem
und demselben Titel behandelt werden (Art. 69). Bei der Feststellung des
Rückfalls werden nicht berücksichtigt: das von einem ausländischen Gerichte
oder dem Gerichte eines andern schweizerischen Kantons erlassene Urteil; die
Verurteilimg auf Grund einer einfachen Nachlässigkeit; die Verurteilung zu
einer leichteren Strafe als 6 Monate Gef., wenn die für das neue Delikt an-
gedrohte Strafe Zuchthaus ist (Art. 70). Rückfall liegt nicht vor, wenn wegen
des früheren Delikts Amnestie erfolgt war oder seit Beendigung der wegen
desselben erkannten Strafe mindestens 10 Jahre verflossen waren. Für die
Verschärfung der Strafe unterscheidet das G., ob das neue Delikt während,
nach oder vor der Verbüssung der früheren Strafe begangen ist. Der zu
lebenslänglichem Zuchthaus Verurteilte, welcher während Verbüssung dieser
Strafe ein neues Delikt begeht, wird mit Einzelhaft auf die Dauer eines Jahres
wenn es sich um eine mit Gef. bedrohte That, und auf die Dauer von 5 Jahren
wenn es sich um eine mit Zuchthaus bedrohte That handelt, bestraft. In allen
anderen Fällen wird die im allgemeinen angedrohte Strafe um einen Grad
erhöht, wenn der Rückfällige die frühere Strafe vollständig verbüsst hatte.
Das zulässige Höchstmass des betreffenden Grades wird angewendet, wenn
die neue That während der Verbüssung der ersten Strafe begangen wird;
hatte die Vollstreckung noch nicht begonnen, so ist die Verurteilung zu der
niedrigsten Strafe des betreffenden Grades ausgeschlossen (Art. 72).
Einen andei*n Strafschärfungsgrund bildet das Zusammentreffen mehrerer
strafbaren Handlungen. Wer durch ein und dieselbe Handlung mehrere StG.
verletzt, wird nach der die schwerste Strafe androhenden Bestimmung bestraft
430 Kanton Tessin. — Der allgemeine Teil des StGB.
(Art. 64). Bei dem ZusammentrefPen mehrerer selbständiger, strafbarer Hand-
lungen befolgt das StGB, im allgemeinen das Kumulations-Prinzip, indem die
durch das schwerste Delikt verwirkte Strafe nach Verhältnis der durch das
weniger schwerere verwirkten verschärft wird (Art. 65 — 67).
5. Die Wirkung der Verurteilung. Der zu lebenslänglichem Zucht-
haus Verurteilte verliert die Befugnis zur Verwaltung seines Vermögens und
die väterliche Gewalt über seine Kinder; er wird wie ein durch gerichtliche
Entsch. für abwesend Erklärter behandelt. Der zu zeitiger Zuchthausstrafe
Verurteilte geht der Vermögens -Verwaltung und der väterlichen Gewalt über
seine Kinder für die Dauer der Straf verbüssung verlustig; er erhält gleich
einem Handlungs-Unfähigen einen Vormund. Mehrere Personen, die wegen
einer gemeinschaftlich begangenen Handlung verurteilt werden, haften soli-
darisch für Strafe, Schadensersatz und Kosten. Reicht das Vermögen eines !
sowohl zu Geldstrafe und Kosten, sowie zu Schadensersatz Verurteilten '
nicht zur Deckung beider Ansprüche aus, so geht die Befriedigung wegen
des letzteren Anspruchs der wegen des ersteren vor (Art. 36). Der Art. 39
stellt die gesetzliche Vermutung auf, dass jede von dem Verurteilten nach
Begehung der That vorgenommene entgeltliche oder unentgeltliche Veräusse-
rung oder von ihm übemonmiene Verpflichtung in der Absicht geschehen
bezw. übernommen ist, den Staat oder den Verletzten zu schädigen. — Im
Urteil ist die Einziehung des Gegenstandes der That, sowie der bei ihrer
Begehung benutzten oder für die Begehung bestimmten Gegenstände anzu-
ordnen, wenn diese dem Verurteilten gehören.
In gewissen Fällen ist die Stellung des Verurteilten unter Aufsicht der
Kantonal- oder Ortsbehörde auf die Dauer von höchstens 2 Jahren nach Ver-
büssung der Strafe zulässig (Art. 22).
§ 6. Endfgniig der Strafverfolgung und der StrafVolIstreeknng.
Das Recht zur Strafverfolgung erlischt 1. durch den Tod des Schuldigen,
2. durch Amnestie, 3. durch Verzeihung seitens des Verletzten in den Fällen,
in welchen die Strafverfolgufig nur auf Antrag eintritt, 4. durch Verjährung
(Art. 73). Nach Art. 75 ist die Verzeihung des Beschädigten wirkungslos,
wenn der Angeklagte ihre Annahme verweigert; durch Amnestie erlischt das
Recht zur Strafverfolgung nur bei den ohne Antrag zu verfolgenden Delikten.
Die Verjährungsfristen betragen 20, 15, 10, 5 und 3 Jahre, je nach der Art
und dem Umfange der angedrohten Strafe und unter Berücksichtigung aller
Umstände, welche auf die Strafzumessung Einfluss haben. Eine singulare Be-
stimmung enthält der Art. 78, der anordnet, dass die Verjährung ruht, solange
eine strafrechtliche Untersuchung wegen der That schwebt. Wenn jedoch
innerhalb der Zeit von 5 Jahren nach Beginn des Verfahrens oder nach Er-
lass des Einstellungs-Beschlusses eine Verurteilung nicht erfolgt ist, so ist die
Strafklage verjährt. Hat also ein Verfahren stattgefunden und sogar zur Er-
hebung der Anklage geführt, so ist die Fortsetzung desselben unzulässig, wenn
nicht binnen 5 Jahren endgültige Verurteilung erfolgt. Man hat durch diese
Bestimmung verhindern wollen, dass die Behörden einen Bürger längere Zeit
mit der Möglichkeit einer strafrechtlichen Verfolgung bedrohen können. Nach
Art. 102 beträgt die Verjährungsfrist für die bei einer Wahl oder gelegentlich
einer Wahlversammlung begangenen betrügerischen Handlungen 6 Monate, be-
ginnend vom Augenblick des Abschlusses des Versammlungs-Protokolls (Art,
97 — 101). Besondere Verjährungsfristen gelten für die strafrechtliche Ver-
folgung der Ehrverletzungen. Sie betragen nach Art. 357: 1 Jahr für dieVer-
§ 8. Strafrechtliche Nebengesetze. 431
leumdung und 3 Monate ftlr die Beleidigung. Die Strafverfolgung wegen einer
Übertretung veijährt in 2 Monaten (Art. 438).
Die erkannte Strafe erlischt: 1. durch Vollstreckung; 2. durch den Tod
de« Verurteilten; 3. durch Amnestie oder Begnadigpung; 4. durch Verzeihung
seitens des Verletzten in dem vom G. besonders erwähnten Falle; 5. durch
Verjährung (Art. 79). Der Tod des Verurteilten schliesst die Zwangsvollstreckung
wegen einer Geldstrafe in den Nachlass nicht aus, wenn das Urteil zu Leb-
zeiten des Verurteilten rechtskräftig geworden ist. Die Verzeihung seitens des
Verletzten bewirkt das Erlöschen der Strafe in den in den Art. 221, 261 und
273 vorgesehenen Fällen. Die Verführung bleibt straflos, wenn der Verführer
die Verführte heiratet; das gleiche gilt bei der Entführung. Die einem des
Ehebruchs schuldigen Ehegatten seitens des unschuldigen Teils gewährte Ver-
zeihung bewirkt Straflosigkeit für den ersteren und seinen Mitschuldigen. Un-
verjährbar ist Zuchthausstrafe auf Lebenszeit und auf die Dauer von mehr als
12 Jahren. Die Veijährungsfristen für die übrigen Strafen betragen 30, 26,
20, 15 und 10 Jahre, je nach Art und Mass der Strafe. Mit der Hauptstrafe
verjährt auch die ausgesprochene Unfähigkeit zur Ausübung bürgerlicher oder
anderer Rechte.
m.
§ 7. Die einzelnen strafbaren Handlungen und Ihre Bestrafking.
Wir müssen uns hier darauf beschränken, die Einteilung der strafbaren
Handlungen im G. wiederzugeben. Sie beruht auf der Verschiedenheit der
Rechtsgüter, gegen welche der strafbare Angriff gerichtet ist. Das G. be-
handelt sie in 13 Titeln, welche folgende Überschriften haben:
I. Strafbare Handlungen gegen die Verfassung und die innere Sicherheit
des Staates. II. Strafbare Handlungen gegen die Ausübung politischer Rechte,
in. Strafbare Handlungen gegen die verfassungsmässig zugesicherten Rechte
und die öffentliche Verwaltung. IV. Strafbare Handlungen von Privatpersonen
gegen die öffentliche Verwaltung und gegen öffentliche Beamte. V. Strafbare
Handlungen gegen die Justizverwaltung. VI. Strafbare Handlungen gegen die
öffentliche Ordnung. VII. Strafbare Handlungen gegen Treue und Glauben.
VIII. Strafbare Handlungen gegen Handel und Gewerbe. IX. Sittlichkeits-
Delikte und strafbare Handlungen gegen die Familienordnung. X. Strafbare
Handlungen gegen das Leben und die Person. XI. Strafbare Handlungen
gegen die persönliche Freiheit. XII. Ehi-verletzungen. XIII. Strafbare Hand-
lungen gegen das Eigentum.
Das dritte Buch des Strafgesetzbuches beschäftigt sich mit den Über-
tretungen und behandelt in verschiedenen Kap. das verbotene Waffentragen,
Betteln und Landstreichen, Verletzung sozialer Pflichten, unsittliche Hand-
lungen, Verstösse gegen die öffentliche Gesundheit und die öffentliche Sittlich-
keit, endlich Übertretungen gegen das Eigentum.
IV.
§ 8. StrafrechtUehe Nebengesetze.
Weitere Thatbestände sind in anderen G. mit Strafe bedroht, welche
teils von den Verwaltungs-Behörden, teils von den Gerichten zu verhängen
ist. Zu erwähnen sind: Die Gemeindeordnung vom 15. Juni 1854, Kap. 5 und
432 Kanton Tessin. — Strafrechtliche Nebengesetze.
11 (Nuova Raccolta I, 458); der 5. Titel des G. vom 9. Juni 1853 über die
Frenlden-Polizei (N. R. I, 385 j; das G. vom 5. Mai 1875 betr. die staatliche
Cberwachung explodierender und 'feuergefährlicher Stoffe (N. R. I, 428); das
G. über das Gesundheitswesen vom 26. November 1888 (amtliches GBL 1889,
S. 149); das Reglement vom 11. Juni 1844 über die Ausübung des Notariats
(N. R. I, 293); die G. und Reglements vom 28. November 1840, 4. Mai 1870,
13. Februar 1878 und 1. Juni 1880 über die Fors^ und Wald-Polizei (N. R.
II, 300, 315 ff.). Femer seien hier kurz erwähnt die G. aus dem Gebiete der
Steuerverwaltung: über das Stempelwesen vom 27. November 1858 (N. R. II,
477), über die Spielkarten vom 6. Dezember 1853 (daselbst 484), über die
Taxen für Handel und Gewerbe und den Gewerbebetrieb im Umherziehen
vom I.Dezember 1875 und 21. November 1879 (N. R. n, 515 und 525 ff.).
Auch auf dem Gebiete der Wahlgesetzgebung, auf welchem in der letzten
Zeit im Kanton eine lebhafte Thätigkeit entfaltet ist, giebt es Strafvorschriften
fürVerg. und Übertretungen. Man vgl. das G. vom 3. Dezember 1888, welches
für die Volkswahlen die Benutzung amtlicher Hüllen zum Verschluss der Wahl-
zettel vorschreibt, die G. vom 1. Dezember 1890 und 24. November 1891,
welche für die Wahlen zum grossen Rat und zur konstituierenden Versamm-
lung das System der proportionellen Abstimmung einführen. Diese G. bedrohen
mit Geldstrafe bis zu 200 Lire die Gemeinde- oder Wahl -Vorstände, welche die
ihnen zur Herbeiführung der ordnungsgemässen Wahl und Abstimmung auf-
erlegten Pflichten nicht erftillen.
vm.
1. Frankreich.
Von Albert Biviöre,
Ehemaligem Richter, Erstem Schriftführer der ^Sociät^
giindrale des prisons" in Paris.
(Übersetinng von Dr. Georg Cratea in HannoTer.)
2. Belgien. 3. Luxemburg.
Von Adolf Prins, von Viktor Berg,
Oeueralinspektor der Geflngnisse, Professor des Straf- Advokat in Laxembarg.
rechts in Brüssel.
(Übersetzang von Dr. Georg Cnuea in Hannover.) (Übersetzung von Dr. Georg Cruea in Hannover.)
4. Monaco.
Von Dr. Georg Grasen
in Hannover
nnd
Edmond Tnrrel,
Generaladvokat nnd Staatsrat in Monaco.
Strafgesetzgebnng der Gegenwart. I. 28
Übersicht
1. Frankreich.
I. Die allgemeinen Grundsätze des StR. § 1. Einleitung. § 2. Die strafbare Hand-
lung. § 3. Das Subjekt des Verbrechens. § 4. Die Strafen.
II. Der besondere Teil des StR. § 5. Das StR. des StGB. § 6. Das StR. der Spezial-
gesetze.
III. § 7. Das StR. der französischen Kolonieen.
2. Belgien.
I. Der Code p6nal. § 1. Geschichtliches. § 2. Der Code p^nal von 1867. § 8. All-
gemeine Grundsätze. § 4. Einteilung der strafbaren Handlungen. § 5. Die Strafen-
II. § 6. Die übrigen Gesetze strafrechtlichen Inhalts.
3. Liuxembnrg:.
4. Monaco.
1. Frankreich.
L Die allgemeinen Grundsätze des Strafrechts.')
§ 1. Einleitung.
Das französische StGB, stammt aus dem J. 1810.
Als Qaelle haben ihm die beiden Rechtssysteme gedient, die nach der
Eroberung Galliens durch die Barbaren auf gallischem Boden Geltung hatten.
Das gallo-romanische Recht unterschied sich wesentlich von dem germanischen,
und es bedurfte des Einflusses von vierzehn Jahrhunderten, um beide mit ein-
ander zu verschmelzen. Dies geschah durch die Einwirkung des Christentums
und des kanonischen Rechts. Die Grundlagen der Rechtseinheit Frankreichs
legte Ludwig XIV. mit Hülfe der bedeutenden Arbeiten der Juristen des
16. Jahrhunderts durch seine allgemeinen Ordonnanzen (ordonnance criminelle
von 1670). Die Krönung des Gebäudes blieb jedoch der Revolution vor-
behalten, die durch sorgfältige Bearbeitung der ihr überlieferten Grundideeen
ein lebenskräftiges Rechtssystem schuf, dessen internationaler Charakter^ es
einer grossen Anzahl fremder Länder ermöglichte, das ft'anzösische Recht zu
dem ihrigen zu machen.
Indes erreichte auch die Revolution dieses Ziel nur allmählich. Zunächst
mussten die philosophischen Gedanken des 18. Jahrhunderts für die Entwickelung
des Rechts nutzbar gemacht werden. Erst dann gelang die Kodifikation, deren
Ergebnis der Code pönal vom 6. Oktober 1791 (ergänzt durch das G. vom
22. Juni 1791) ist, der in Frankreich bis zum Jahre 1810 in Kraft blieb.
Der C. p. beruht auf 4er Nützlichkeits-Theorie, deren hervorragendster
Vertreter Bentham^) war, und deren Grundsätze sich durch die Formel aus-
drücken lassen: „Die Strafe wird gerechtfertigt durch ihre Zweckmässigkeit
oder richtiger: durch ihre Notwendigkeit."
*) Von den umfassenden Darstellungen des französischen StR. sind zu erwähnen:
A. Blanche, :fetudes pratiques sur le code p6nal (7 Bde. ^. Paris 1871—1872; 2. Aufl.
von Dutruc 1888—90). Boitard, Lebens de droit criminel (13. Aufl. v. Villey, Paris 1890),
Chauveau und Faustin Helle, Theorie du Code p6nal (6 Bde. 8«. Paris 1873; 6. Aufl.
von Villey 1887 flf.). Dalloz, Code p6nal annot6 (4». Paris 1882) und Repertoire g6n6ral.
R. Garraud, Traite du droit p^nal fran^ais (im Erscheinen begriflPen; Paris, Larose,
1888); dieses letztere Werk ist vor allen zu empfehlen und von mir bei der Ausarbei-
tung dieser Abhandlung vorzugsweise benutzt. — Von Zeitschriften sind zu erwähnen:
Journal de droit criminel, Bulletin des arr^ts de la Cour de Cassation, R^vue p^ni-
tentiaire (Organ der Soci6t6 g6n6rale des Prisons).
*) Seine Anschauungen über StR. und Gefäneniswesen genossen in Frankreich
ein solches Ansehen, dass der Konvent ihm den Titel eines französischen Bürgers
verlieh.
28*
436 Frankreich. — Die allgemeinen GrondBätze des StR.
Dagegen beruhen die seit 1832 vorgenommenen Reformen anf dem in Frank*
reich hauptsächlich durch Rossi entwickelten Eklektizismus. Die Gerechtig-
keit bildet den Grund des Rechts zu strafen, die Zweckmässigkeit bestimmt
das Mass seiner Anwendung.
Die Strafbestimmungen des C. p. waren keineswegs musterhaft. Die Drei-
teOung der strafbaren Handlungen hatte, weil ihr eine Dreiteilung der Ge-
fängnisanstalten nicht entsprach, mehr den Wert einer theoretischen Spielerei
als eine besondere praktische Bedeutung. Die Strafdrohungen waren zum Teil
übermässig hart. Inunerhin bildete das GB. in seiner damaligen Fassung einen
gewaltigen Fortschritt gegenüber der früheren Gesetzgebung.
Heute jedoch, nach Verlauf fast eines Jahrhunderts, ist es, trotz der
grossen Reformen der Jahre 1832 und 1863 und der wiederholten, vor allem
in den Jahren 1850, 1854, 1874, 1885 und 1891 vorgenommenen Abänderungen,
weit davon entfernt auf strafrechtlichem Gebiete den ihm zur Zeit seines Er-
lasses zukommenden Rang einzunehmen. Verschiedene Länder wie Spanien,
Belgien, Luxemburg, Holland und Italien, die ihm einst die Grundzüge für
ihre Gesetze entlehnt hatten, haben ihre StGB, von Grund aus umgestaltet und
können uns jetzt als Muster dienen.
Die Regierung hat sich der Erkenntnis dieser Sachlage nicht verschlossen
und bereits 1887 im Justiz-Ministerium eine Kommission zur Vorbereitung einer
Reform der gesamten StGgebung eingesetzt. Diese hat unter dem Vorsitz
von Ribot 2 Jahre lang fleissig gearbeitet und den Entw. der 112 ersten Art.,
d. h. des gesamten allgemeinen Teils fertiggestellt.^) Am 30. Juni 1892 wurde
sie neu zusammengesetzt und in vier Abteilungen geteilt, von denen je eine
die Delikte gegen den Staat, die Delikte gegen die Person, die Delikte gegen
das Eigentum und die Sonderstrafgesetze bearbeiten wird. Die baldige Be-
endigung der Arbeiten steht zu erwarten.
In der folgenden Abhandlung werde ich, soviel als möglich, die Reihen-
folge des StGB, beibehalten.
§ 2. Die strafbare Handlung.
Begriff. Die wesentlichen Bestandteile der strafbaren Handlung, deren
Deünition das GB. unterlässt, sind: 1. eine Handlung oder Unterlassung, welche
2. vom Gesetz verboten, 3. mit Strafe bedroht und 4. dem Thäter in vollem Um-
fange zur Schuld zuzurechnen ist. Hieraus folgt bereits, dass die strafbare Hand-
lung wie die Strafe vom G. ausdrücklich vorgesehen sein muss und dass die
Bestrafung im Namen des Staates geschieht.
Das GB. teilt die strafbaren Handlungen ein: in Verbr. (crimes), Verg.
(d^lits) und Übertretungen (contraventioos), je nachdem sie bedroht sind: mit
beschimpfenden oder entehrenden Strafen (peines afflictives ou diffamantes),
oder mit korrektioneilen Strafen (peines correctionnelles) oder mit Polizeistrafen
(peines de police) (Art. 1). Diese Dreiteilung ist der Gegenstand heftiger An-
griffe gewesen und in den StGB. Hollands und Italiens, die früher dem
französischen System folgten, aufgegeben. Sie hat den nicht zu unterschätzen-
den Vorzug der Klarheit und praktischen Brauchbarkeit.
Ich habe bereits erwähnt, dass eine strafbare Handlung nur vorliegt und
eine Strafe nur verhängt werden kann, wenn das G. es ausdrücklich anordnet.
Rückwirkende Kraft. Das G. muss ausserdem bereits erlassen sein
zur Zeit, wo die strafbare Handlung begangen wurde (Art. 4).
*) Der Entw. ist abgedruckt in den Mitteilungen der Internationalen krimi-
nalistischen Vereinigimg Bd. IV Heft 4.
§ 2. Die strafbare Handlung. 437
Unter dem Ausdruck Gesetz (loi) sind zu verstehen: 1. die von der gesetz-
gebenden Gewalt erlassenen Gesetze im engeren Sinne; 2. dieVdgn. des Staats-
oberhauptes (d6crets), der Minister (arretös), des Polizei-Präsidenten (ordonnances)
und der Gemeinde -Vorsteher (arretös).
Räumliches Geltungsgebiet. Das G. findet auf alle innerhalb des
französischen Staatsgebiets sich aufhaltenden Personen — Franzosen und Aus-
länder — Anwendung (Art. 3 des Code civil). Dem G. nicht unterworfen sind
nur 1. das Staatsoberhaupt, welches nur wegen Hochverrats zur Verantwortung
gezogen werden kann, und die Volksvertreter für die in Ausübung ihres Be-
rufes gemachten Äusserungen oder Abstimmungen; 2. die diplomatischen Ver-
treter fremder Länder.
Jedoch findet wegen eines Verbr. oder Verg. ein Strafverfahren nicht
statt, wenn der Angeklagte nachweist, dass er wegen desselben bereits im
Auslande rechtskräftig abgeurteilt ist (Art. 5 des C. d'instr. crim.). Unser GB.
ist in dieser Beziehung weniger kühn als das neue italienische StGB., welches
davon ausgeht, dass der Grundsatz „non bis in idem" nur innerhalb der Landes-
grenzen Geltung hat. Ein Ausländer kann wegen einer im Auslande begangenen
Handlung nur bestraft werden, wenn dieselbe gegen die Sicherheit des Staates
oder den öffentlichen Kredit gerichtet war (Art. 7 a. 0.). Bedauerlicherweise
trifft unser StGB, keinerlei Bestinmiung für den nicht seltenen Fall, dass ein
Ausländer, der im Auslande ein schweres Verbr. begangen hat, lediglich des-
halb der Bestrafung entgeht, weil es ihm gelingt, in ein anderes Land zu
entfliehen. Alle von einem Franzosen im Auslande begangenen Delikte werden
ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit des Verletzten bestraft (Art. 5 a. 0.).
Die von einem Franzosen im Auslande begangene That wird in Frank-
reich nur bestraft, wenn sie von den Gesetzen des Begehungsortes mit Strafe be-
droht ist; dass dies der Fall ist, hat die Staatsanwaltschaft nachzuweisen.
Die im Auslande gegen einen Franzosen oder einen Ausländer begangene
strafbare Handlung wird nur auf Verlangen der Staatsanwaltschaft und auf
Antrag des Verletzten oder amtliches Verlangen der Regierung des Landes, in
welchem sie begangen wurde, betraft (Art.«^ a. 0.).
Die von einem Franzosen im Auslande begangene Übertretung* wird nur
bestraft, wenn sie gegen die Bestimmungen der Forst-, Feld-, Fischerei-, Zoll-
oder Steuergesetze gerichtet war, im Gebiete eines benachbarten Landes be-
gangen wurde und die Gegenseitigkeit gesetzlich und thatsächlich feststeht.
Wie man sieht, huldigt das GB. dem Prinzip der Intemationalität des StR.
zwar nicht in dem Umfange wie das italienische StGB., berücksichtigt es je-
doch seit 1866 in reichem Masse und steht etwa auf dem Standpunkt des so-
genannten gemischten Systems, welches der fortschreitenden Verständigung
der einzelnen Staaten über die Anwendung der wichtigsten strafrechtlichen
Grundsätze am meisten förderlich ist.
Diese Grundsätze haben auch in dem neuen Entw. Aufnahme gefunden.
Ausweisungs-Befugnis. Das G. vom 3. Dezember 1849 ermächtigt
die Regierung, Ausländer, deren Führung oder Vergangenheit sie gefährlich
erscheinen oder befürchten lässt, dass sie gefährlich werden, aus dem Staats-
gebiete auszuweisen.
Auslieferung. Die Auslieferung ist nur bei Ausländem zulässig; ein
französischer Staatsangehöriger wird niemals ausgeliefert.^)
Die Auslieferung erfolgt nur für schwere Delikte nicht politischer Natur,
*) Indessen mildert der bereits erwähnte Art. 5 des C. d'instr. crim. die Unzu-
träglichkeiten, welche sich bei konsequenter Anwendung dieses Grundsatzes in der
Praxis ergeben würden.
438 Frankreich. — Die allgemeinen Grundsätze des StR.
welche im einzelnen, je nach dem Inhalt der hierüber geschlossenen Verträge
verschieden sind. Sie erfolgt wie in den meisten europäischen Ländern durch
Vermittelung des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten oder des Justiz-
ministers.^)
Ist die Auslieferung einmal erfolgt, so darf der Richter die Anwesenheit
des Angeklagten nicht dazu benutzen, um ihn für eine That zur Verantwortung
zu ziehen, wegen welcher die Auslieferung nicht erfolgt ist.
Ausführung des Verbr. Die psychischen Elemente der strafbaren
Handlung werde ich in einem besonderen Paragraphen behandeln und mich
hier lediglich mit der materiellen Ausführung (Vorbereitung, Versuch und Voll-
endung) des Delikts beschäftigen.
Vorbereitende Handlungen sind straflos, ebenso wie der Gedanke an ein
Verbr. oder die Fassung des Entschlusses, es zu begehen.^)
Sobald jedoch ein Anfang der Ausführung gemacht ist, liegt ein Ver-
such vor, wenn der Erfolg nur durch Umstände, die von dem Willen des
Thäters unabhängig sind, vereitelt wurde. Der Versuch umfasst also das ver-
suchte, das fehlgeschlagene und das unmögliche Verbr. Letzteres wird nie-
mals bestraft. Die beiden ersteren werden vom GB. in ein und derselben Be-
stimmung behandelt und bezüglich der Strafbarkeit als dem vollendeten Delikt
gleichwertig betrachtet (Art. 2). Diese Gleichstellung (von der es einzelne Aus-
nahmen, insbesondere für Abtreibung imd Abgabe falscher Zeugnisse giebt)
steht mit den Grundprinzipien des Rechts in Widerspruch und wird von den
meisten modernen Gesetzgebungen missbilligt. Auch in dem Entw. hat sie
keine Aufnahme gefunden.
Ebenfalls eine Übertreibung, jedoch nach entgegengesetzter Richtung, ent-
hält der Art. 3, nach welchem das versuchte und das fehlgeschlagene Verg.
nur bestraft wird, wenn das GB. dies ausdrücklich anordnet.
Der Versuch einer Übertretung wird niemals bestraft.
§ 3. Das Subjekt des Yerbreeliens.
Mehrheit der Subjekte: Die Unterscheidung zwischen Thäter und
Mitthäter einerseits und Gehülfen andererseits findet sich in den Art. 59 und 60.
Das GB. bezeichnet, ohne den Anstifter besonders hervorzuheben, als
Thäter oder Mitthäter diejenigen, welche die den Thatbestand des Delikts
bildenden Handlungen physisch vorgenommen, als Teilnehmer diejenigen,
welche in anderer Weise als durch eine unmittelbare körperliche Ausführungs-
handlung sich an der Begehung eines Delikts beteiligt haben.
Dem Gebrauch der in französischer Sprache abgefassten Gesetze ent-
sprechend, zählen die Art. 60 — 62 die Fälle der Teilnahme erschöpfend auf,
während die Gesetze deutscher Zunge übereinstimmend als Teilnehmer ganz
allgemein jeden betrachten, der durch Rat oder That bei der Begehung der
strafbaren Handlung behülflich gewesen ist. Das G. kennt sechs Fälle der
Teilnahme: Anstiftung, Erteilung von Rat, Lieferung von Waffen oder Werk-
zeugen, thätliche Unterstützung, Personenhehlerei, Sachhehlerei.
Der Teilnehmer wird gleich dem Thäter bestraft, wenn nicht das GB.
ausdrücklich etwas anderes anordnet. Die Härte dieser offenbar übertriebenen
*) Die Nationalversammlung hatte am 19. Februar 1791 angeordnet, dass die Aus-
lieferung von einer richterlichen Entsch. abhängig zu machen sei. Diese auch von
den StGB. Belgiens, Hollands und Italiens eingeführte Garantie findet sich ebenfalls
in dem vom Senat am 4. April 1879 angenommenen Entw.
*) Eine Ausnahme hiervon gilt nur für die gegen das Staatsoberhaupt gerichtete
Verschwörung (Art. 89).
§ 3. Das Subjekt des Verbrechens. 489
und den meisten ausländischen Gesetzgebungen unbekannten Gleichstellung
wird in der Praxis durch weitgehende Zubilligung mildernder Umstände ab-
geschwächt. Der neue Entw. hat sie beibehalten.
1. Oründe, welche eine Änderung der Zurechnung herbeiführen.
Straf ausschliessungs- und Strafmilderungsgründe. Umstände,
durch welche das Unterscheidungsvermögen und die freie Willensbestimmung,
und damit die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausgeschlossen wird, sind nach
den Art. 64 und 66 — 72: Geisteskrankheit, jugendliches Alter und Zwang.
Die gefährlichen Theorieen der positivistischen Schule über den Atavismus sind
in keiner Weise berücksichtigt. Die Überzeugung von der Existenz der
WiUensfreiheit bildet, ohne dass sie irgendwo einen besonderen gesetzlichen
Ausdruck gefunden hätte, eines der unabänderlichen Grundprinzipien unserer
Gesetzgebung.
Geisteskrankheit. Neuere Gesetzgebungen vermeiden es, die Krank-
heiten, durch welche die Zurechnungsfähigkeit ausgeschlossen wird, einzeln zu
bezeichnen. So spricht das holländische StGB, von „unvollständiger Entwicke-
lung oder krankhafter Störung der Geisteskräfte", das italienische StGB, von
,, Geistesschwäche**. Andere, wie das englische Recht, geben genaue Vor-
schriften darüber, wie der Richter die Geisteskrankheit erkennen soll. Die
französische Gesetzgebung hat ein gemischtes System; sie vermeidet eine Defi-
nition, benützt jedoch den Fachausdruck „d^mence**. Liegt dieselbe vor, so
ist nach Art. 64 das Vorhandensein jeder strafbaren Handlung ausgeschlossen.
Das Gericht muss daher, geeignetenfalls im Vorverfahren, einen Ein-
stellungsbeschluss erlassen. Eine Gefahr für die menschliche Gesellschaft ent-
steht hieraus nicht, da ein G. betr. die Geisteskranken vom J. 1838 den Ver-
waltungsbehörden gestattet, Personen, deren geistige Erkrankung eine Gefahr
für die öffentliche Ordnung oder die Sicherheit anderer Personen befürchten
lässt, von Amts wegen in geeigneter Weise unterzubringen. Dieses G. enthält
jedoch keinerlei besondere Bestimmungen für geisteskranke Verbrecher und ist
wegen dieser Lücke in den letzten Jahren von der einen Seite ebenso heftig ange-
griffen, wie von der anderen energisch verteidigt worden. Nach Ansicht der einen
empfiehlt es sich nicht, besondere Anstalten nach Art der in England, Holland,
Italien, Deutschland und den Vereinigten Staaten bestehenden zu schaffen. In
der That müssen die in unseren Strafanstalten zu Gaillon, La Sant6 und Mont-
pellier im Verwaltungswege geschaffenen besonderen Abteilungen für geistes-
krank gewordene Verurteilte genügen; Geisteskranke, die nicht verurteilt sind,
sind lediglich als Elranke zu behandeln und auf die übrigen Irrenanstalten zu
verteilen. Nach Ansicht der anderen darf unbescholtenen Geisteskranken
nicht die Gesellschaft Verurteilter aufgenötigt werden, welche wegen geistiger
Störung aus den Strafanstalten entfernt wurden. Dieser letzten Ansicht hat
sich, wie der Senat, so auch der Ausschuss der Kammer angeschlossen. Aber
er verlangt, wie der vom Senat bereits angenommene Entw., besondere An-
stalten nur für solche Personen, welche zu einer Verbrechensstrafe oder zu
einer mehr als einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden sind.
Zum Schluss sei darauf aufmerksam gemacht, dass das GB. 1. ein Zwischen-
stadium zwischen geistiger Gesundheit und Geisteskrankheit, wie es das italieni-
sche StGB, annimmt, nicht kennt und 2. der Geisteskrankheit ähnliche Zu-
stände, wie Taubstummheit, Somnambulismus und Hypnotismus, Trunkenheit
nicht besonders erwähnt. In dem zweiten Falle muss der Richter nach all-
gemeinen Grundsätzen entscheiden, ob der Thäter mit oder ohne Bewusstsein
gehandelt hat.
440 Frankreich. — Die allgemeinen Grundsätze des StR.
Jugendliches Alter. Der Beginn der vollen Strafmündigkeit wird
auf das vollendete 16. Lebensjahr festgesetzt. Im Gegensatz zu allen übrigen
Gesetzgebungen mit Ausnahme der türkischen und belgischen (welch letztere
jedoch zur Zeit damit umgeht, den Beginn der Strafmündigkeit auf das voll-
endete 10. Lebensjahr gesetzlich festzustellen) kennt das Gesetz kein Lebens-
alter, in welchem jede strafrechtliche Verfolgung ausgeschlossen ist; es hat
die Entscheidung dieser Frage dem vernünftigen richterlichen Ermessen * über-
lassen. Ministerial-Verfügungen aus den J. 1855 und besonders 1876 haben
darauf aufmerksam gemacht, dass es angezeigt wäre, Kinder unter 7 oder 8
Jahren überhaupt nicht strafrechtlich zu verfolgen. Thatsächlich scheint das
Fehlen einer besonderen gesetzlichen Bestimmung zu schweren Missbräuchen
keinen Anlass gegeben zu haben, wenigstens befanden sich nach Ausweis der
letzten Gefängnisstatistik unter 5713 jugendlichen Gefangenen, die auf Grund
der Art. 66 und 67 verurteilt waren, nur 1 Prozent im Alter unter 6 Jahren
und 11 Prozent im Alter von 8 bis zu 10 Jahren. In der Soci6t6 G6n6rale
des Prisons hat dieses Thema in den Sitzungen von Januar bis April 1892 zu
sehr leidenschaftlichen Debatten Veranlassung gegeben. Die Mehrheit erkannte
die Schwierigkeit der Bestimmung einer unteren Altersgrenze an; trotzdem
hat der Entw. sie auf das vollendete 10. Lebensjahr festgesetzt.
Bei Angeklagten unter 16 Jahren muss also der Richter stets unter-
suchen, ob dieselben im Besitz des Unterscheidungsvermögens gewesen sind.
Steht fest, dass ein Kind ohne Unterscheidungs vermögen gehandelt hat,
so wird es freigesprochen, jedoch nach den Umständen des Falls seinen Eltern,
anderen Personen (einer anderen anständigen Familie oder einer Wohlthätig-
keits- Anstalt)^) oder einer Besserungs- Anstalt überwiesen (Art. 66).
Der Angeklagte wird alsdann in einer der staatlichen oder vom Staate
genehmigten*) Besserungs-Anstalten während der im Urteil bestimmten, jedoch
höchstens 20 Jahre betragenden, Zeit untergebracht.
Die Anstalts-Verwaltung hat jederzeit das Recht, den Zögling auf Wider-
ruf zu entlassen (G. von 1850).
Steht fest, dass der jugendliche Angeklagte im Besitz des Unterschei-
dungsvermögens gewesen ist, so wird die Strafe gemildert. Sie beträgt bei
Verbr. Gef. bis zu 20 Jahren,*) bei Verg. die Hälfte derjenigen Strafe, welche
den Angeklagten hätte treffen können, wenn er das 16. Lebensjahr bereits
vollendet hätte (Art. 67).*)
*) Nach dem G. vom 24. Juli 1889 wird die Unterbringung in eine Besserungs-
anstalt häufig dadurch vermieden, dass bereits durch den Untersuchungsrichter die
väterliche Gewalt über den Angeklagten dauernd oder zeitweilig für erloschen er-
klärt und derselbe infolgedessen in dem letzteren Falle unmittelbar ohne mündliche
Hauptverhandlung dem Fürsorge verein überwiesen werden kann.
*) Staatliche Anstalten bestehen in: Les Douaires, St. Hilaire, St. ^Maurice, Val
dTfevre (landwirtschaftlicher Betrieb), Aniane (Gewerbebetrieb), Belle-lle (Landwirt-
schaft und Seefahrt), sowie die fünf besonderen Abteilungen in den Anstalten zu
Nantes, Ronen, Dijon, Lyon und Villeneuve-sur-Lot, in denen die zu mehr als zwei-
jähriger Strafe Verurteilten und widerspenstige Sträflinge der anderen Anstalten
untergebracht werden. Von den Privatanstalten sind zu erwähnen: die von Mettray,
Frasnes le ChAteau, Limoges, St. Ilan, Sainte Foy und La Jommeli^re.
^ Zuständig zur Aburteilung sind die Strafkammern (tribunaux correctionnels),
wenn nicht gleichzeitig Grossjährige wegen Beteiligung an der That mit angeklagt
sind und diese letztere weder mit dem Tode, noch mit lebenslänglicher Zwangsarbeit,
mit Deportation oder Festungshaft bedroht ist (Art. 68).
*) Die gesetzlichen Bestimmungen über die Vollziehung der Gefängnisstrafe an
Minderjährigen sind sehr unvollkommen. Die zu weniger als 6 Monaten Verurteüten
bleiben in den Arresthäusem und Gef. des Departements, die zu einer Strafe von
6 Monaten bis zu 2 Jahren Verurteilten werden in die Straf- und Besserungsanstalt
geschickt und dort mit den freigesprochenen Jugendlichen zusammen verwahrt, die
§ 3. Das Subjekt des Verbrechens. 44 1
Diese Bestimmangen sind in doppelter Hinsicht anfechtbar.
Ein Jugendlicher, der beispielsweise im Alter von 15 Jahren einen Mord
x)der einen Totschlag begeht, muss stets mit 35 Jahren in Freiheit gesetzt
werden.
Bedauerlich und gefährlich ist es, dass gegen einen, zu einer Gefäng-
nisstrafe von häufig nur kurzer Dauer verurteilten Jugendlichen nicht auf
Unterbringung in eine Erziehungs-Anstalt bis zum vollendeten 20. Lebensjahre
erkannt werden kann.
Es dürfte sich sogar empfeJilen, diese Altersgrenze auf das vollendete
21. Lebensjahr festzusetzen, um den unmittelbaren Übergang des Verurteilten
aus der Anstalts-Disziplin in .die mUitärische zu ermöglichen.^)
Die Bestimmungen des Entw. in dieser letzteren Beziehung verdienen
vollkommene Billigung.
Zwang. Eine strafbare Handlung liegt nicht vor, wenn der Verurteilte
unter dem Einfluss eines unwiderstehlichen körperlichen oder physischen
Zwanges gebandelt hat (Art. 64).
Das Gleiche gilt, wenn ein Rechtfertigungsgrund (Cause de justiflcation)
vorliegt.
Notwehr und gesetzliche Vorschrift sind die einzigen Rechtfer-
tigungsgründe, die eine allgemeine Bedeutung haben.
„Eine strafbare Handlung liegt nicht vor, wenn eine Tötung oder Körper-
verletzung durch die unmittelbare Notwendigkeit der rechtmässigen Vertei-
digung der eigenen oder einer fremden Person geboten war** (Art. 328 C. p.).
Erforderlich ist, dass der Angriff 1. gefährlich ist, d. h. den Angegriffenen
unmittelbar mit der Zufügung eines nicht wieder gutzumachenden Übels be-
droht; 2. rechtswidrig ist, d. h. nicht von einem Polizeibeamten in der recht-
mässigen Ausübung seines Amtes ausgeht. Die Verteidigung muss gegen eine
unvorhergesehene, unmittelbare, nicht anders zu beseitigende Gefahr gerichtet
sein. Sie ist nicht gerechtfertigt bei einem Angriff gegen das Eigentum.
„Eine strafbare Handlung liegt nicht vor, wenn eine Tötung oder Körper-
verletzung durch gesetzliche Vorschrift angeordnet oder von der rechtmässigen
Obrigkeit befohlen war" (Art. 327 C. p.).
Beide Rechtfertigungsgründe, sowohl der letztere wie der im vorher-
gehenden Absatz erwähnte, sind zu verallgemeinem, denn sie finden nicht nur
auf die ausdrücklich angegebenen Fälle, sondern auch auf den Fall der Ver-
haftung, der Gefangenhaltung, des Hausfriedensbruchs usw. Anwendung.
Die Strafmilderungsgründe zerfallen in Entschuldigungsgründe
(excuses) und mildernde Umstände (circonstances attönuantes), je nachdem
sie vom Gesetz ausdrücklich vorgesehen oder erst vom Richter im Urteil fest-
gestellt werden.
Die ersteren bewirken teils völlige Straflosigkeit (excuses •absolutoires),
teils nur Strafmilderung (excuses att^nuantes) und sind entweder allgemeine
oder besondere, je nachdem sie auf eine Gruppe von Delikten oder nur auf
einzelne strafbare Handlungen Anwendung finden.
Das G. kennt nur zwei allgemeine Gründe der Strafmilderung : Jugend-
liches Alter unter 16 Jahren (die hierauf bezüglichen Vorschriften der Art. 67
und 69 habe ich bereits oben erwähnt) und Provokation (provocation).
zu mehr als 2 Jahren Verurteilten werden in besondere Strafanstalten geschickt (G.
V. 1850).
^) Ich möchte bei dieser Gelegenheit auf die unschätzbaren Dienste hinweisen,
welche der jugendlichen Verbrecherwelt durch die „Soci6t6 de protection des engag^s
volontaires elev^s sous la tuteile administrative" geleistet sind.
442 Frankreich. — Die allgemeinen Grundsätze des StR.
Provokation entschuldigt bei den gegen Leib und Leben gerichteten
Delikten: Totschlag, Körperverletzung mit tödlichem Ausgang (homicide
volontaire), vorsätzlicher Körperverletzung und Kastration (Art. 321 — 326).
Eine Ausnahme hiervon macht jedoch der Aszendenten-Totschlag und der
von einem Ehegatten gegen den anderen verübte Totschlag.
Die Provokation bewirkt jedoch nur in folgenden vier Fällen Straflosig-
keit: bei schwerer Körperverletzung, schwerer Scham Verletzung, auf frischer
That betroffenem Ehebruch und Hausfriedensbruch mittels Einsteigens oder
Einbruchs am hellen Tage. In allen anderen Fällen bildet die vorausgegangene
Reizung des Thäters seitens des Verletzten nicht einen gesetzlichen Entschul-
digungsgrund, sondern nur einen mildernden Umstand.
Die Zahl der EntscbuldigungsgriLnde, welche völlige Straflosigkeit be-
wirken, ist sehr erheblich. Der Grund der Wirkung beruht teils in den per-
sönlichen Beziehungen zwischen Thäter und Opfer (Art. 114, 190, 248, 280),
teils in dem Umstände, dass der zugefügte Schaden ersetzt ist (Art. 247, 357),
teils in Diensten, welche der Schuldige der menschlichen Gesellschaft geleistet
hat (Art. 100, 108, 138, 144, 213, 285) usw.
Mildernde Umstände. Sie sind unbeschränkt imd nicht näher zu be-
stimmen. Seit 1832 ist bei Verg. und Übertretungen der Befugnis des Rich-
ters, mildernde Umstände als vorhanden anzunehmen, nahezu keine Schranke
gesetzt. Er kann selbst beim Rückfall auf die geringste zulässige Cber-
tretungsstrafe von 1 Frank heruntergehen, während andererseits bei Verbr.
dem richterlichen Ermessen enge Grenzen gezogen sind (Art. 463).
Mildernde Umstände können bei allen strafbaren Handlungen einschliess-
lich der Militär-Delikte, jedoch mit Ausnahme der in den Spezialgesetzen vor-
gesehenen Strafthaten zugebilligt werden.
Sie bewirken Strafmilderung und zwar bei Verbr. (von gewissen Be-
schränkungen abgesehen) mindestens um einen Grad und möglicherweise um
zwei Grade, bei Verg. ohne gesetzliche Beschränkung, ebenso bei Übertretungen,
wo sie sogar beim Rückfall zulässig sind (Art. 483).
Besondere Milderungsgründe. Besondere körperliche Eigenschaften
des Verurteilten, namentlich weibliches Geschlecht und hohes Alter, können
eine Modifikation der Strafe herbeiführen (Art. 65).
2. Strafschärfungsgründe.
Erschwerende Umstände. Es würde ein Zurückgehen auf das von
der Revolution gemissbilligte System der willkürlichen Strafzumessung be-
deuten, wenn man dem Richter gestatten wollte, das gesetzlich festgesetzte
Höchstmass der Strafe zu überschreiten, falls er das Vorliegen besonders
schwerer Umstände feststellt. Dagegen bestimmt das GB. von vornherein ge-
wisse Umstände, welche teils bei allen, teils bei einzelnen strafbaren Hand-
lungen eine Strafschärfung bewirken.
Diese Umstände sind zum Teil gesetzlich besonders vorgesehen und
bestimmt und bewirken die notwendige Zuerkennung einer härteren als der
regelmässigen Strafe; bei Verbr. ^rd ihr Vorhandensein von den Geschworenen
festgestellt.
Bei einem andern Teil ist ihre Feststellung dem Richter überlassen;
erschwerende Umstände dieser Art haben jedoch nur zur Folge, dass der
Richter auf das Höchstmass der Strafe erkennen darf. Ihr Vorhandensein wird
durch den Gerichtshof festgestellt.
Die gesetzlichen erschwerenden Umstände sind entweder besondere oder
allgemeine; unter diesen letzteren versteht dasGB.: die Beamten- oder Qffizier-
eigenschaft des Thäters (Art. 198) und den Rückfall.
§ 8. Das Subjekt des Verbrechens. 443
Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen. In über-
triebener Reaktion gegen die verkehrte Auslegung der römischen Bestimmungen
unter der HerrBcbaft des älteren Rechts wendet das G. das absolute Absorptions-
prinzip an: „Die schwerere Strafe geht in der leichteren auf" (Art. 365 C.
d'instr. crim.).
Der Gnmdsatz der Nichtkumulierung ist ein allgemeiner und findet auf
alle Verbr. und Verg. (nicht aber auf Übertretungen) Anwendung, einerlei ob
sie im StGB, oder in besonderen Gesetzen vorgesehen sind, abgesehen von den
in diesen Gesetzen ausdrücklich gemachten Ausnahmen.
Das Prinzip der Nichtkumulierung der Strafen findet derart Anwendung,
dass man von der im StGB, gegebenen Aufzählung der Strafen nach ihrer
Schwere ausgeht. Es findet auf alle Strafen einschliesslich der Geldstrafe
Anwendung.
Der Rückfall ist allgemeiner Schärfangsgrund, d. h. bewirkt stets eine
Strafschärfung ohne Rücksicht auf die Natur des früheren wie des später
begangenen Delikts; er wirkt zeitlich unbeschränkt, d. h. die Strafschärfung
tritt ein ohne Rücksicht auf den Zeitraum, welcher zwischen der ersten und
der späteren Verurteilung liegt.
Zum Vorliegen des Rückfalls ist erforderlich, 1. dass von einem fran-
zösischen Gericht bereits früher ein rechtskräftiges, auf Strafe lautendes Urteil
ergangen war, 2. dass die zweite strafbare Handlung von der ersten unab-
hängig war.
Die Begehung eines Verbr. nach zuvoriger VerÜbung ebenfalls eines Verbr.
verpflichtet den Richter grundsätzlich, die einen Grad höhere Strafe aus-
zusprechen, bewirkt jedoch nicht, dass an Stelle einer zeitigen eine lebens-
längliche Strafe tritt. In diesem Falle wird lediglich die erstere auf das
Doppelte des Höchstmasses erhöht. Auch wird nicht leicht von einer politischen
zu einer gemeinen Strafe übergegangen (Art. 56).
Die Begehung eines Verg. nach früherer VerÜbung eines Verbr. hat Ver-
urteilung zum Höchstmasse zur Folge, und dieses kann verdoppelt sowie mit
Aufenthaltsbeschränkung verbunden werden. Doch muss die erste Verurteilung
mehr als ein Jahr betragen, und sie darf nicht 5 Jahre übersteigen (Art. 57).
Die Begehung eines Verbr. nach früherer Ausführung eines Verg. bewirkt
keine besondere Strafschärfung, weil der Gesetzgeber davon ausgeht, dass in
diesem Falle die erste Bestrafung zu milde gewesen ist.
Für den Rückfall durch Begehung eines Verg. nach früherer Ausführung
eines solchen giebt es besondere Bestimmungen erst seit dem G. v. 26. März 1891,
welches den Zweck hat, die wiederholte Begehung leichter Delikte zu unter-
drücken (Art. 58). Übrigens ist dieser sogenannte leichte Rückfall (petite
r6cidive) bereits in dem G. v. 1855 über die Verbannung erwähnt, über welches
ich hier noch einige Bemerkungen einschalten muss.
Verbannung (rel6gation). Sie ist zulässig für Inländer und Ausländer
männlichen und weiblichen Geschlechts, jedoch ausgeschlossen bei Personen,
die zur Zeit der Beendigung der Strafe, welche die Verbannung zur Folge
haben würde, über 60 oder unter 21 Jahre alt sein würden (Art. 8 des G. v. 1885).
— Das G. stellt eine gesetzliche Vermutung für das Vorhandensein der Un-
verbesserlichkeit auf, wenn gegen eine Person innerhalb des Zeitraumes von
10 Jahren nachstehende Verurteilungen ergangen sind: 1. zwei Verurteilungen
zu Zwangsarbeit oder Zuchthaus; 2. drei Verurteilungen, von denen eine auf
Zwangsarbeit oder Zuchthaus und zwei aufGef. von mehr als 3 Monaten lauten;
3. vier Verurteilungen zu Gefängnis über 3 Monate; 4. sieben Verurteilungen
wegen bestimmter Delikte (Art. 4 des G.). Diese Bestimmungen lassen er-
kennen, dass das G. den dreifachen Zweck verfolgte, 1. die schweren Ver-
444 Frankreich. — Die allgemeinen Grundsätze des StR.
brecher, deren Zahl bereits durch die gegen sie gerichteten Bestimmungen
des G, V. 1854 erheblich vermindert war, 2. die rückfälligen leichten Ver-
brecher, 3. die Bettler und Landstreicher, diese Hauptstütze der Verbrecher-
welt, zu treffen. Ich werde auf diese wichtigen Gegenstände später zurück-
kommen.
§ 4. Die Strafen.
Das GB. zählt in den Art. 6 — 11 und 464 die verschiedenen Strafarten
auf Tind teilt sie in drei EJassen: 1. Verbrechensstrafen (peines en mati^re
criminelle), die entweder beschimpfend und entehrend oder nur entehrend sind,
2. Vergehensstrafen (peines en mati^re correctionnelle), 3. Übertretungsstrafen
(peines de police).
Die beschimpfenden und entehrenden Strafen sind: 1. die Todesstrafe,
2. Zwangsarbeit auf Lebenszeit, 3. Deportation in einen befestigten Platz, 4. ein-
fache Deportation, 5. zeitige Zwangsarbeit, 6. Festungshaft (d^tention), 7. Zucht-
haus (r^clusion), 8. Ausschluss von der Ausübung gewisser Hechte (interdiction
legale), 9. die Unfähigkeit, unentgeltlich unter Lebenden oder von Todes wegen
zu erwerben oder zu verfügen, 10. die Anweisung eines Wohnsitzes nach
Endigung der Strafe.
Die nur entehrenden Strafen sind: 1. Aufenthaltsbeschränkung (banisse-
ment), 2. Verlust der btlrgerlichen Ehrenrechte (d6gradation civique).
Deportation, Festungshaft, Aufenthaltsbeschränkung und Verlust der bürger-
lichen Ehrenrechte bilden das System der politischen Strafen.
Vergehensstrafen sind: 1. Gef. von 6 Tagen bis zu 5 Jahren, 2. zeitweiliger
Ausschluss von der Ausübung gewisser staatsbürgerlicher und bürgerlicher
Rechte oder Familienbefugnisse, 3. Geldstrafe.
Übertretungsstrafen sind: 1. Gef. von 1 bis zu 5 Tagen, 2. Geldstrafe,
3. Einziehung einzelner Gegenstände.
Diese letztere Strafe, sowie die Veröffentlichung gewisser Verurteilungen
findet auch bei Verbr. und Verg. Anwendung.
Ausserdem sind zwei bei Verbr. und Verg. anwendbare, durch besonderes
G. vom J. 1885 geregelte Strafen zu erwähnen: 1. das Aufenthaltsverbot,
(interdiction de s6jour), 2. die Relegation.
Zu bemerken ist, dass 1. der Ausschluss von der Ausübung gewisser
Rechte, 2. die Unfähigkeit zu verfügen oder zu erwerben, 3. die Anweisung
eines bestimmten Wohnsitzes, 4. die Veröffentlichung eines Urteils, 5. gewisse
besondere Unfähigkeiten stets Nebenstrafen sind; — während 1. der Verlust
der bürgerlichen Ehrenrechte, 2. das Aufenthaltsverbot bald Haupt-, bald
Nebenstrafen sind.
Todesstrafe».
Die Todesstrafe wird durch Enthaupten vollstreckt (Art. 12). Die Be-
rechtigung dieses Strafmittels ist in Frankreich, wie in fast allen Ländern,
heftig bestritten worden; indessen bilden die Abolitionisten mehr eine Ver-
einig^ung von glänzenden Rednern als eine grosse Schar. Bei der Erörterung
dieser Frage in der allgemeinen Versammlung der Soci6t6 G6n6rale des Pri-
sons im Jahre 1887 fand auch die Beibehaltung dieser Strafe eine grosse
Anzahl von eifrigen Verteidigern. Die entsetzlichen Verbr., welche von Ver-
worfenen jedes Lebensalters mit unerhörter Frechheit in den letzten Jahren
begangen sind, dürften nicht dazu gedient haben, die Zahl der Gegner dieses
Strafmittels zu vermehren.*)
*) Es mag an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, mit welcher, oft als
Schwäche getadelten Grossmut das Staatsoberhaupt selbst bei den verabscheuung^-
würdigsten Verbr. von seinem Begnadigungsrechte Gebrauch macht.
§ 4. Die Strafen. 445
Anders steht es mit der Frage der Öffentlichkeit der Hinrichtung. Das
Ärgernis, welches durch verschiedene berüchtigte Hinrichtungen gegeben ist,
hat in verschiedenen Kreisen den Wunsch hervorgerufen, die Öffentlichkeit
derselben, wenn nicht vollständig zu beseitigen, so doch jedenfalls erheblich
einzuschränken und zum System der Intramuran-Hinrichtungen überzugehen.
Auch das Parlament hat sich bereits im Jahre 1887 mit dieser Frage be-
schäftigt. Indessen hat die Schwierigkeit, Zahl und Art der erforderlichen
Zeugen näher zu bestimmen, bislang eine befriedigende Lösung verhindert.
Verweifliing aus dem Vaterlaade al« BtraAuitteL
Zwangsarbeit (Travaux forc6s). Die Strafe der Zwangsarbeit wird
seit dem G. von 1854 in Guyana und seit der Verordnung von 1863 auch
in Neu-Caledonien verbüsst. Ihre Anwendung ist nur für männliche Verurteilte
vorgeschrieben und für sie nur zulässig, wenn sie noch nicht 60 Jahre alt sind.
Die Verurteilten werden mit sehr harten Kolonisations- und anderen im
öffentlichen Interesse liegenden Arbeiten beschäftigt.
Die zu einer Strafe von weniger als acht Jahren Verurteilten müssen
nach Verbüssung derselben in der Kolonie während einer der Strafdauer gleich-
kommenden Zeit sich aufhalten. Die zu mehr als acht Jahren Verurteilten
bleiben lebenslänglich dort.
Ein Verurteilter, dessen gute Führung, Arbeitsleistung und erkennbare
Reue eine besondere Berücksichtigung angezeigt erscheinen lassen, kann 1. die
Erlaubnis bekommen, für die Einwohner der Kolonie oder die Gemeindever-
waltungen zu arbeiten; 2. Land angewiesen erhalten mit der Ermächtigung,
es auf seine eigene Rechnung zu bebauen. — Diese letztere Erlaubnis wird
jedoch erst nach Verbüssung der Strafe endgültig.
Ein solcher Gefangener kann femer 1. die völlige oder teilweise Aus-
übung der ihm infolge seiner Verurteilung verloren gegangenen Rechte, sowie
2. die Befugnis zur Verwaltung seines Vermögens oder eines Teils desselben,
sowie andere Vergünstigungen erlangen.
Einem Sträfling, der nach Verbüssung seiner Strafe in der Kolonie bleibt,
kann Land zur Bebauung auf Widerruf oder endgültig angewiesen werden.
Es ist allgemein bekannt, dass die Art der Vollstreckung dieser Strafe
von den verschiedensten Seiten mit Recht getadelt ist.
Die Arbeit in den Kolonieen war so wenig anstrengend und intensiv, die
Disziplin so locker, die Verpflegung so gut, dass sich in den Zuchthäusern
des Mutterlandes die Legende gebildet hatte, Caledonien sei ein Eldorado, und
es empfehle sich daher mehr, ein schweres mit Zwangsarbeit bedrohtes Verbr.
als eine nur mit Zuchthaus bedrohte That zu begehen. Es kam vor, dass
Gefangene ihre Wärter ermordeten, um zur Deportation nach den Straf kolonieen
verurteilt zu werden. Im Jahre 1880 sah sich das Parlament genötigt, ein
besonderes G. zur Unterdrückung der innerhalb der Gefängnisanstalten be-
gangenen Verbr. zu erlassen.^)
Die Kosten der Überführung nach den Kolonieen und die Unterhaltungs-
kosten derselben sind sehr beträchtlich, die positiven Ergebnisse dagegen in
Bezug auf Anlage von Landstrassen, Häfen und Urbarmachung von Land
ausserordentlich gering. Die oben erwähnten Straferleichterungen wurden mit
beklagenswertem Leichtsinn gänzlich unwürdigen Sträflingen gewährt. Hunderte
von Individuen, die kaum in der Kolonie angekommen waren und noch keinerlei
*) Am 2. März 1889 hat der Senat einem G.-Entw. seine Zustimmung erteilt,
welcher anordnet, dass im Falle der Umwandlung der Todesstrafe in Zwangsarbeit
zunächst eine sechsjährige Einzelhaft in Frankreich zu verbüssen ist.
446 Frankreich. — Die allgemeinen Grundsätze des StR.
Gelegenheit gehabt hatten, Beweise ihrer Bessemng zu geben, erhielten anf
einmal die Erlaubnis, bei Privatpersonen zu arbeiten.
Das vollständige Zusammenleben der Sträflinge bei Tag und Nacht hatte
eine völlige Demoralisation zur Folge.
Es ist daher keine Übertreibung, wenn man sagt, dass von den Grond-
erfordernissen eines jeden Strafmittels: Strafübel, gutes Beispiel und Bessemng
— bei der Zwangsarbeit auch nicht ein einziges zu entdecken war.
Durch neuere Vdgn. ist der Strafvollzug vollständig abgeändert und einem
Teil der vorerwähnten Übelstände abgeholfen worden.
Besonders die Vdg. vom 4. September 1891 über die Disziplinar-Mass-
regeln hat die Zwangsgewalt des Beamtenpersonals erheblich verstärkt und
eine wirksame und unmittelbare Vollstreckung der verhängten Disziplinar
Strafen gesichert; die Unverbesserlichen werden von den anderen getrennt
und In besonderen Räumen untergebracht. Die Gefangenen werden nach dem
Grade ihres Fortschritts in der Besserung in drei Klassen geteilt, von denen
die der untersten Klasse zu den schwersten Arbeiten verwendet werden; die
Dauer und die Intensität der Arbeit sind vermehrt, die Lässigen werden auf
Wasser und Brot gesetzt oder mit Entziehung oder Einschränkung ihres
Arbeitsverdienst-Anteils bestraft usw.
Die Vdg. vom 16. September 1891 regelt die Anweisung von Land und
beschränkt die Zulässigkeit derselben, sowie die Überlassung der Sträflinge an
die Gemeinde- Verwaltungen zur Leistung von Arbeiten; diese letztere wird
jedoch zugelassen zu Gunsten der Kolonieen ohne Strafcharakter.
Andere Vdgn. beziehen sich auf die Anzahl und die Voraussetzungen für
die Erteilung der besonderen Vergünstigungen, die Lage der entlassenen Sträf-
linge, die Bestrafung von Fluchtversuchen, die Verteilung der Verurteilten anf
die beiden Strafkolonieen nach der Dauer ihrer Strafe und den Inspektions-
Dienst, der früher dauernd war, jetzt aber nur zeitweilig funktioniert usw.
Deportation. Nach dem G. vom 8. Juni 1850 giebt es zwei Arten
der Deportation; beide erfolgen auf Lebenszeit, sind beschimpfend und ent-
ehrend und unterscheiden sich nur durch die Art der Vollstreckung.
Die zur Deportation in einen befestigten Platz (d^portation dans une
enceinte fortifl6e) Verurteilten haben nach dem Wortlaut des G. v. 1872 Freiheit
der Bewegung, soweit diese mit der Notwendigkeit ihrer Überwachung und der
Aufrechterhaltung der Ordnung vereinbar ist.
Die zu einfacher Deportation (d^portation simple) Verurteilten erfi:^uen
sich einer noch weiter gehenden Freiheit und sind in dieser lediglich durch
die gegen Fluchtversuche und Unordnung getroffenen Massregeln beschränkt.
Zur Aufnahme der zu der ersteren Strafe Verurteilten dient die Halb-
insel Ducos in Neu-Caledonien; für die zu der letzteren Verurteilten die zu
dieser Kolonie gehörende Insel Pins.
Die Verurteilten haben das Kecht zum vollständigen Müssiggang, es ist
nicht gestattet, sie zur Arbeit zu zwingen. Die Abschaffung dieser Strafart
ist dringend zu empfehlen, vor allem aus dem Grunde, weil doch infolge der
von Zeit zu Zeit regelmässig sich wiederholenden allgemeinen Gnadenakte die
politischen Verbrecher immer wieder in die Hauptstadt zurückkehren. Die
Strafe ist daher nicht nur kostspielig, sondern auch in der That kurzzeitig
und bildet eine erhebliche Erschwerung der Vollstreckung der Zwangsarbeit
und der Relegation in Neu-Caledonien.
Der Entw. des StGB, erwähnt sie nicht mehr.
Relegation. Diese Straf art mag an dieser Stelle erwähnt werden,
weil sie durch die Art ihrer Vollstreckung mit den beiden vorhergenannten
eng zusammenhängt, obgleich sie eigentlich keine Verbrechensstrafe ist.
§ 4. Die Strafen. 447
Thatsächlich ist der Unterschied in der Behandlung der „Relegierten'*')
von der der „Deportierten" ein rein theoretischer.*)
Beide Arten von Sträflingen werden entweder nach Guyana oder Neu-
Caledonien geschaflPt, sind zu Kolonisations- Arbeiten verpflichtet, können zur
Arbeit bei fl'eien Bauern zugelassen, mit Land versehen oder in den Besitz
des ihnen verloren gegangenen ganz oder teilweise wieder eingesetzt werden usw.
Der einzige praktische Unterschied besteht darin, dass den Relegierten
in Haute-Maron6e in Guyana und auf der Insel Pins in Caledonien besondere
Landstriche angewiesen werden.
Bei welchen Klassen von Personen die Relegation zulässig ist, habe ich
bereits oben erwähnt. Ich will hier auf den sonderbaren Charakter dieser
Strafart nicht näher eingehen. Sie macht eine Nebenstrafe zu einer dauern-
den und in den Kolonieen zu verbüssenden Hauptstrafe, während die eigent-
liche Hauptstrafe nur auf Zeit erkannt und in Frankreich verbüsst wird; der
nach Verbüssung der letzteren freigelassene Verurteilte wird auf diese Weise
einem zur Zwangsarbeit Verurteilten gleichgestellt.
Nach dem G. v. 188ö ist die Relegation entweder kollektiv oder
individuell. Im ersteren Falle unterscheidet sich die Behandlung des Ver-
urteilten nicht von der eines anderen Transportierten. Im letzteren Falle hat
der Verurteilte verhältnismässig viele Freiheit, und seine Stellung ist annähernd
die eines Deportierten. Er ist lediglich aus dem Vaterlande ausgewiesen unter
Anweisung eines bestimmten Wohnsitzes, der nicht immer eine Strafkolonie zu
sein braucht. Er untersteht den Vorschriften des gemeinen bürgerlichen Rechts
und der ordentlichen Gerichtsbarkeit.
Um des Vorteils der individuellen Einzel-Relegation teilhaftig zu werden,
braucht der Verurteilte nur entweder nachzuweisen, dass er fähig ist, sich
selbst zu unterhalten, oder geeignet ist, eine Landanweisung oder die Erlaubnis
zu bekommen, einen Arbeitsvertrag für Rechnung des Staates, einer Kolonie
oder emer Privatperson abzuschliessen.
Es leuchtet ein, dass diese Art der Strafverbüssung dem Grundbegrifi'e
der Gleichheit der Strafe für alle Verurteilten widerspricht. Der Besitz von
Geldmitteln, die vielleicht aus einem früheren Diebstahl herrflhren, genügt, um
den Verurteilten in den Stand zu setzen, auf ein Leben Anspruch zu machen^
das im Vergleich zu dem eines zur Kollektiv-Relegation Verurteilten para-
diesisch genannt werden kann. Als einzigen Entschuldigungsgrund für die
haarsträubende Ungerechtigkeit dieser Strafart kann man anführen, dass Rele-
gierte, die sich im Besitz dieser Mittel befinden, nur selten vorkommen.
FrmhMtMtrafinL
Es giebt vier Strafarten, deren Vollzug durch Einsperrung auf dem Kon-
tinent erfolgt: Festungshaft, Zuchthaus, Gefängnis, Haft.
Festungshaft (d^tention). Die Festungshaft hat für das Gebiet der
politischen Strafen die Bedeutung, welche das Zuchthaus für die gemeinen
beansprucht, unterscheidet sich von diesen jedoch durch die Dauer, die Art der
Vollziehung und den Vollstreckungsort (Art. 20).
Die mindeste Dauer der Festungshaft ist 6, die höchste 20 Jahre, wäh-
rend die höchste zulässige Zuchthausstrafe 10 Jahre beträgt. Infolge der Art
') Von den zur Einzelrelegation Verurteilten, die die Ausnahme bilden, ist hier
keine Rede.
*) Die Relegation hat den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und den Aus-
schluss von der Ausübung gewisser Rechte, sowie die Unfähigkeit zu verfügen und
zu erwerben, nicht von Rechts wegen zur Folge. In der Regel jedoch sind diese
Folgen bereits auf Grund früherer Verurteilungen des Relegierten eingetreten.
448 Frankreich. — Die allg'emeinen Grundsätze des StR.
der Vollziehnng ist die Festungshaft weniger schwer als Zuchthaus, denn der
Verurteilte ist nicht zur Arbeit verpflichtet und darf mit dritten Personen frei
verkehren. Die Vollstreckung geschieht nicht in einem Zuchthaus, sondern in
einer Festung.
Zuchthaus (r6clusion). Die Verurteilung zu Zuchthaus hat den Verlust
der bürgerlichen Ehrenrechte und den Ausschluss von der Ausübung gewisser
Rechte und Befugnisse von Rechts wegen zur Folge. In der Verbrecherwelt
gilt diese Strafe für die allerschwerste. Der harte Arbeitszwang, die geringe
Vergütung der Arbeit, das absolute Verbot der Unterhaltung, die Eintönigkeit
dieses Lebens zwischen hohen Mauern und engen Anstaltshöfen, dessen ein-
zige Abwechslung besteht in dem Übergang vom Schlafisaal zum Arbeitsraum,
vom Arbeitsraum zum Speisesaal und von diesem zum Gefängnishof, in wel-
chem die Sträflinge abgemessenen Schrittes „im Gänsemarsch" spazieren gehen,
— alles dieses übt auf die Verbrecher eine äusserst abschreckende Wir-
kung aus.
In allen Zuchthäusern werden gewerbliche Arbeiten in grossem Mass-
stabe ausgeführt, teils im Auftrage des Staates wie in Melun, Fontevrault,
Gaillon, Clairvaux, Loos, Beaulieu u. a., teils im Auftrage von Privatunter-
nehmern, wie beispielsweise in Poissy, Albertville und Embrun.
Der zu Zuchthaus Verurteilte hat nur auf Vio ^^^ Ertrages seiner Arbeit
Anspruch, von welchem ihm jedoch nur die Hälfte zu freier Verfügung über-
lassen wird; die andere Hälfte dient zur Bildung eines Kapitals, das ihm bei
seiner Entlassung ausgehändigt wird.
Der grösste Teil unserer Zuchthäuser ist jetzt nach dem Auburnschen
System eingerichtet; die Gefangenen befinden sich den Tag über gemeinschaft-
lich in Werkstätte, Speisesaal, Spazierhof, Kirche und Schule, werden aber
des Nachts in Schlafzellen (dortoirs) getrennt (Melun).
Der Vollständigkeit wegen sei erwähnt, dass in den drei Strafkolonieen
zu Castelluccio und Chiavari auf der Insel Corsica und Bermagia in der Pro-
vinz Algier die Zuchthausstrafe im Freien voUstreckt wird. Diesen Anstalten
werden jedoch fast ausschliesslich arabische Sträflinge zugeteilt. Der Ertrag
ihrer Beschäftigung (Wein- und Getreidebau, Forstarbeiten usw.) bleibt zwar
hinter den berechtigten Erwartungen zurück, ist jedoch nicht unbeträchtlich.
Gefängnis (emprisonnement correctionnel). Die Gefängnisstrafe wird,
je nach ihrer Dauer, in verschiedenartigen Anstalten vollstreckt.
Die Vollstreckung von Strafen bis zu 1 Jahr und 1 Tag einschliesslich
erfolgt in den Arresthäusem , Gerichtsgefängnissen und Arbeits-Anstalten der
Departements, die also zur Aufnahme der vorläufig Festgenommenen, der
Untersuchungsgefangenen und der zu Strafen bis zu der oben erwähnten Dauer
Verurteilten bestimmt sind. Zu diesen kommen noch jugendliche Verurteilte,
deren Strafdauer weniger als 6 Monate beträgt, sowie die wegen Schulden
gegen den Staat Verhafteten und die weiter unten zu erwähnenden zu Haft-
strafe Verurteilten.
Die Gefängnisstrafen, deren Dauer mehr als 1 Jahr und 1 Tag beträgt,
werden in den grossen Centralanstalten verbüsst. Diese gehören dem Staat und
haben dieselben Reglements wie die Zuchthäuser, mit denen sie häufig in ein
und demselben Gebäude untergebracht sind. Ohne auf Einzelheiten näher
einzugehen, muss ich doch, darauf hinweisen, dass die immer noch nicht be-
seitigte Zusammenbringung von Zuchthäuslern und Gefängnis-Gefangenen, die
Überfüllung der Anstalten, deren Gebäude (alte Klöster und Schlösser usw.)
häufig für ganz andere Zwecke erbaut worden sind, sowie die in einem Teile
derselben herrschende Gemeinschaftlichkeit nicht nur bei Tage, sondern auch
bei Nacht eine durchgreifende Reform dringend erforderlich machen.
§ 4. Die Strafen. 449
Ganz anders steht es mit der Verbüssnng der kurzzeitigen Gefängnis-
strafen. Sie werden nach dem G. v. 1875 in vollständiger Einzelhaft bei Tag
nnd Nacht verbüsst; die Sträflinge kommen miteinander überhaupt nicht in
Berührung, machen ihre Spaziergänge in getrennten Spazierhöfen und wohnen
dem Unterricht wie dem Gottesdienst in geschlossenen Verschlagen bei, die
nur nach der Seite des Lehrers oder Geistlichen geöffnet sind. Dagegen ist
es ihnen gestattet, in ihren Zellen den Besuch solcher Personen zu erhalten,
von denen man einen besonders günstigen Einfluss erwartet, wie des Direktors,
des Anstalt-Personals, des Armenvorstehers, Arztes, Lehrers, der Mitglieder der
Fürsorge -Vereine, des Werkmeisters usw. Die Verbüssung einer Strafe in dieser
Weise hat die Verkürzung der Strafdauer um ^/^ von Rechts wegen zur Folge.
Diese Massregel rechtfertigt sich durch die grössere Strenge und die bedeu-
tendere erziehliche Wirkung dieser Verbüssungsweise. Sie findet jedoch nur
auf Strafen über 3 Monate Anwendung.
Auf Antrag können auch die zu Gef. über 1 Jahr Verurteilten ihre
Strafe in dieser Weise verbüssen.
Leider hat die durch dieses 6. angeordnete Umwandlung der Gefängnis-
Anstalten infolge der Gleichgültigkeit der Departements in allen auf das Ge-
fängniswesen bezüglichen Fragen bislang nur geringe Fortschritte gemacht.
Von 382 Departemental-Gefängnissen sind bis jetzt nur 23 nach den Vor-
schriften des G. V. 1875 umgebaut und neu organisiert; allerdings darf dabei
nicht verschwiegen werden, dass von 26 815 überhaupt erforderlichen Zellen
auf diese 23 die Zahl von 4072 entfallen. Auch ist im Januar 1893 ein G.
angenommen worden, dass den Zweck verfolgt, diese Reform zu beschleunigen.
Die Überwachung der Ausführung der Reform geschieht durch eine be-
sondere Gef^ngniis-Kommission, zu deren Mitgliedern solche Personen ernannt
werden, die sich mit dem Gefängniswesen besonders beschäftigt haben. Die
Arbeit der Gefangenen wird, abgesehen von den Gefängnissen weniger Departe-
ments, an Unternehmer vergeben. Der besonders für die in Einzelhaft ge-
haltenen Sträflinge durchaus erforderliche Arbeitszwang ist jedoch keineswegs
vollständig durchgeführt. Die vorzugsweise betriebenen Beschäftigungen sind:
Schuhmacherei, Korbmacherei, Schneiderei, Anfertigung von Bürsten, Spielzeug,
künstlichen Blumen usw. Der Gefangene kann sich seine Beschäftigung selbst
wählen. Da jedoch die Zahl der Industrieen nur gering ist, so ist diese Be-
fugnis meist eine rein theoretische. Die Gefangenen erhalten von dem Elrtrage
ihrer Arbeit */jq, jedoch vermindert sich dieser Anteil um ^/^^ für jede voraus-
gegangene anderweite Verurteilung, beträgt indes mindestens ^/^q. Über die
Hälfte des Verdienst- Anteils kann der Gefangene frei verfügen, die andere
Hälfte dient zur Bildung eines Kapitals, welches ihm bei seiner Entlassung
ausgehändigt wird.
An der Spitze der Verwaltung steht, je nach der Grösse der Anstalt,
ein Direktor oder ein Oberaufseher, dessen Aufsicht das übrige Anstalts-Personal
untergeordnet ist. Dieses besteht für weibliche Gefangene zum Teil aus Ordens-
schwestern. Die Oberaufseher unterstehen der dienstlichen Aufsicht des Direk-
tors des Gefängnis-Bezirks, von denen es in Frankreich und Algier zusammen
35 giebt. Die Vorgesetzten der Direktoren sind die General -Inspektoren,
welche direkt an den Minister des Innern Bericht erstatten. Eine Art von
Aufsicht wird ausser durch die von der StPO. (Art. 611 — 613) dem Präfekten,
Unterpräfekten und anderen Beamten zur Pflicht gemachten Besuche durch
die infolge einer Vdg. v. 1819 eingesetzten besonderen Kommissionen aus-
geübt, von denen noch weiter unten die Rede sein wird.
Haft (emprisonnement de simple police). Ich habe bereits erwähnt, dass
diese Strafe in den Arresthäusern der Departements verbüsst wird und zwar,
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I. 29
450 Frankreich. — Die allgemeinen Grundsätze des StR.
wenn die Anstalt noch nicht in ein ZicUengefängnis umgewandelt ist, in einem
besonderen Teile derselben. Die Vollstreckong kann jedoch auch in den
kleinen Bezirks- oder Orts-GefUngnissen erfolgen; Arbeitszwang herrscht nicht.
Preiheitgbegchrftn¥iingiin.
Für die Aufhebung oder Beschränkung des Rechts zum beliebigen
Aufenthaltswechsel durch Ausweisung aus dem bisherigen Wohnort oder An-
weisung eines bestimmten Wohnsitzes kennt das G. drei Formen:
1. Verbannung (bannissement). Diese Strafart findet seit 1863 nur
noch auf leichte politische Delikte Anwendung und besteht in einer besonde-
ren Art der Ausweisung auf die Dauer von 5 bis zu 10 Jahren. Betritt der
Verurteilte, dem Ausweisungsbefehl zuwider, das französische Gebiet, so wird
der noch nicht verbüsste Rest seiner Strafe, der in diesem Falle auf die dop-
pelte Dauer erhöht werden kann, in Festungshaft umgewandelt. (Art. 32 und 33.)
— Die Strafe wird selten angewendet und ist von geringer Bedeutung; sie
wirkt ungleichmässig je nach der Person des Verurteilten, entbehrt jeder
bessernden Wirkung und gefährdet die guten Beziehungen Frankreichs zu
anderen Ländern — alles Eigenschaften, die ihre Abschaffung wünschenswert
erscheinen lassen.
2. Aufenthaltsverbot (interdiction de s^jour). Diese Strafe ist infolge
eines G. v. J. 1885 an die Stelle der Stellung unter Polizeiaufsicht getreten,
deren grosse Unzuträglichkeiten schon längst zu lebhaften Klagen Veranlas-
sung gegeben hatten, ohne dass es den zahlreichen gesetzgeberischen Ver-
suchen gelungen wäre, diese zu beseitigen.
Die Verwaltungsbehörde hat das Recht, dem zu dieser Strafe Verurteil-
ten nach Verbüssung seiner Hauptstrafe bestimmte Bezirke zu bezeichnen,
deren Betreten ihm verboten ist. Der Aufenthalt in gewissen Orten (nach
allgemeiner Vorschrift Lyon, Marseille, Bordeaux, dem Seine-D6partement, dem
Departement de la Seine et Oise u. a. m.) ist allen diesen Verurteilten unter-
sagt; ausserdem können ihnen durch besondere Vorschrift auch noch andere
Gegenden verschlossen werden.
Obwohl das Aufenthaltsverbot seiner Natur nach weniger zur Bestrafang
begangener, als zur Verhütung zukünftiger Delikte geeignet ist, wird es doch
als Strafmittel betrachtet und bildet bald eine Haupt-, bald eine Nebenstrafe.
Die Dauer des Verbots beträgt höchstens 20 Jahre. Die Übertretung der
durch dasselbe auferlegten Verpflichtungen wird mit Gefängnis bestraft.
3. Besondere Aufenthaltsbeschränkungen (interdiction de certains
s^jours). Neben dem allgemeinen Aufenthaltsverbot kennt die französische
Gesetzgebung noch gewisse besondere Beschränkungen der Aufenthalts- und
Bewegungsfreiheit. Beispiele: Art. 229 des StGB, und Art. 635 der StPO.
Verliist von Rechten und Befhgnüisen.
Der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (degradation civique)
bewirkt den Verlust aller politischen, gewisser staatsbürgerlicher Rechte und
einzelner familienrechtlicher Befugnisse. Er ist unteilbar und dauernd, seine
Wirkungen können nur infolge einer Amnestie oder einer Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand (rehabilitation) erlöschen (Art. 34).
Diese Strafe ist ihrem Wesen nach äusserst ungerecht und bedarf dringend
der von der Revisionskommission für sie beabsichtigten Änderungen.
Ausschluss von der Ausübung gewisser staatsbürgerlicher,
privatrechtlicher und familienrechtlicher Befugnisse. Bei der Ab-
urteilung gewisser Verg. kann der Richter auf eine Strafe erkennen, die in
dem völligen oder teilweisen Verlust gewisser Rechte besteht und mit dem
§ 4. Die Strafen. 451
Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte nahe verwandt ißt, sich von diesem aber
dadurch unterscheidet, dass sie weniger schwer ist und nur auf Zeit verhängt
wird. Der Art. 42 erwähnt acht Gruppen von Befugnissen, welche durch das
Urteil entzogen werden können.
Die civilrechtliche Handlungsunfähigkeit (interdiction legale) bildet
die von Rechts wegen eintretende Folge gewisser Verurteilungen. Die unklare
Fassung der auf sie bezüglichen Art. 29 — 31 hat zu zahlreichen Kontroversen
Veranlassung gegeben. Sie dient dem doppelten Zwecke, einerseits die Wirk-
samkeit der Hauptstrafe dadurch zu erhöhen, dass dem Verurteilten die Ver-
waltung seines Vermögens entzogen, andrerseits die Interessen desselben da-
durch zu wahren, dass ihm ein Vormund bestellt wird. Ihre Wirkung erlischt
gleichzeitig mit der Beendigung der Hauptstrafe.
Rechtsbeschränkungen an Stelle des bürgerlichen Todes. Das
G. V. 1854, durch welches die Strafe des bürgerlichen Todes abgeschaflt wurde,
ersetzt diese durch 1. den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (d^gradation
civique), 2. die civilrechtliche HandlungsunfUhigkeit (interdiction 16gale), 3. die
Unfähigkeit, unentgeltliche Verfügungen zu treffen oder durch solche etwas zu
erwerben, wozu noch die Nichtigkeit eines etwa MLher gemachten Testamentes
hinzukommt. Jede Verurteilung zu einer lebenslänglichen Strafe hat alle vor-
stehend erwähnten Rechtsbeschränkungen, die Verurteilung zu einer entehren-
den, aber nicht lebenslänglichen Strafe nur die xmter 1. und 2. erwähnten
zur Folge.
Die auf besonderen G. beruhenden Rechtsbeschränkungen. Hier
sind zu erwähnen: 1. der in den Wahlgesetzen vorgesehene Verlust gewisser
Rechte; 2. gewisse Beschränkungen, die eine Folge des Verlustes der bürger-
lichen Ehrenrechte bilden und vom Richter in einigen Fällen neben den in
Art. 42 ausgesprochenen Folgen im Urteil ausdrücklich auferlegt werden können.
VermögeiuMtnifeii.
Geldstrafe. Sie ist die einzige Strafe, welche bei richtiger Ausmessung
alle Verurteilten gerecht und gleichmässig trifft; ohne die Freiheit des Schuldigen
zu beeinträchtigen und ohne die den Freiheitsstrafen anhaftende ungünstige morali-
sche Wirkung auszuüben, bildet sie eine Einnahmequelle für den Staatsschatz.
Bentham hat sie „die Strafe par excellence^, genannt und es ist bedauerlich, dass
der französische Gesetzgeber sie nicht in einer grösseren Zahl von Fällen an
die Stelle der verschwenderisch angedrohten Gefängnisstrafe gesetzt hat. Der
Grund für diese Thatsache liegt in der Schwierigkeit der Einziehung der Geld-
strafe. Die Mehrzahl der Verurteilten gehört der besitzlosen Klasse an; ihre
Zahlungsunfähigkeit hat meistens zur Folge, dass an Stelle der nicht beizu-
treibenden Geldstrafe schliesslich doch die Freiheitsstrafe tritt, wenn nicht
etwa gar durch Verschulden der Vollstreckungsbehörden auch dieses unter-
bleibt und damit die Wirkung des Urteils völlig illusorisch wird. Gerade
dieser letztere Umstand trägt nicht wenig dazu bei, dass die Gerichte immer
seltener auf Geldstrafe erkennen.
Von verschiedenen Seiten wird die Verallgemeinerung der Bestimmung
des Art. 210 des Forstgesetzes (Code forestier) befürwortet, der die Umwand-
lung einer nicht einziehbaren Geldstrafe in Arbeitsleistung gestattet.
Einziehung. Die Vermögenskonfiskation ist durch die Charte von 1814
endgtQtig aufgehoben; gegenwärtig ist nur noch die Einziehung einzelner
Gegenstände zulässig, die mit der strafbaren Handlung — als Gegenstand,
Mittel oder Produkt derselben — in irgend welcher Beziehung stehen (Art. 11,
464 und 470).
Im Prinzip wird der Staat Eigentümer der eingezogenen Sache; in ein-
29*
452 Frankreich. — Die allgemeinen Grundsätze des StR.
zelnen Fällen jedoch wird dieselbe einer öffentlichen Anstalt (z. B. einem
Erankenhause) oder dem Verletzten als Schadensersatz überlassen. In gewissen
Fällen wird auch im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit, Gesnndlieit oder
Sicherheit die Vemichtiing des eingezogenen Gegenstandes angeordnet.
Die Einziehung ist also bald ein reines Strafmittel, bald eine polizeiliche
Massregel, deren Anwendung aber den gerichtlichen Behörden überlassen ist,
bald ein Weg zur Erfüllung der dem Schuldigen obliegenden Schadensersatz-
verbindlichkeit.
Entehrende Strafen.
Die im älteren Recht so häufige Strafe der öffentlichen Abbitte (amende
honorable) wird nur noch in zwei Fällen (Art. 226 und 227) angedroht.
Dagegen wird von der Strafe der Veröffentlichung des Urteils ein um-
fassender Gebrauch gemacht.
Verspliiedene Bestimmungen,
Die Verurteilung zu den vom G. angedrohten Strafen hat auf die Schadens-
ersatzverbindlichkeit des Schuldigen keinerlei Einfluss. Die im Urteil aufer-
legte Verpflichtung zur Leistung von Schadensersatz, zur Herausgabe von
Sachen und zur Tragung der Kosten kann durch die Anwendung von Zwangs-
haft (contrainte par corps) verwirklicht werden (Art. 51 und 52). Mehrere
Angeklagte haften hierfür solidarisch (Art. 55).
Die Dauer einer erkannten zeitigen Freiheitsstrafe wird berechnet von
dem Tage, an welchem der Verurteilte auf Grund des rechtskräftigen Urteils
in Haft genommen ist. War er bereits vorher in Haft, so wird diese Zeit
von Eechts wegen auf die erkannte Strafe angerechnet, wenn nicht der Richter
das Gegenteil anordnet (Art. 23 und 24 der StPO. in der durch G. vom 15. No-
vember 1892 hergestellten Fassung).
Bezüglich der unschuldig Verurteilten ist zu erwähnen, dass die Kammer
am 7. April 1892 einem G. ihre Zustimmung erteilt hat, das die Fälle der
Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Verbr. und Verg. vermehrt und Be-
stimmung über die Entschädigung der zu Unrecht Verurteilten trifft (Art. 443
bis 446 der StPO.). Zur Zeit liegt das G. dem Senate vor, der es zunächst
dem Staatsrate zur Begutachtung überwiesen hat.
Vorbengnngs- nnd SchntsfUrsorge-KaBsregeln.
Bedingte Verurteilung. Unsere Gesetzgebung kennt eine Reihe von
Massregeln, die den Zweck haben, denjenigen, der nur einmal vom rechten
Wege abgewichen ist, vor weiteren Fehltritten zu bewahren und ihm die Wieder-
begründung einer ehrlichen Existenz zu ermöglichen.
An Stelle des im älteren Recht vorkommenden Verweises (bläme judiciaire)
und der Verwarnung (ammonizione) des neuen italienischen StGB, verwendet
der französische Gesetzgeber die eindrucksvollere bedingte Verurteilung, deren
Vorbild er in England (Probation of first offenders Act), Amerika und vor
allem Belgien (G. vom 31. Mai 1888) vorfand.') Das G. vom 26. März 1891
verleiht dem Richter die Befugnis, die Strafvollstreckung bei der ersten Ver-
urteilung auszusetzen; nach fünf Jahren erlöschen sämtliche Wirkungen der
Verurteilung (la condamnation est consid^röe comme non avenue, art. 1).
Bedingte Entlassung. Schutzfürsorge. Rehabilitation. Die durch
ein G. vom 14. August 1885 eingeführte bedingte Entlassung bildet die Be-
^) Es ist nur gerecht zu bemerken, dass Belgien den Hauptteil seines G. dem
Entw. von B6renger entlehnt hat, welcher bereits auf den Tisch des Senates nieder-
gelegt war.
§ 5. Das StB. des StGB. 453
lohnung deijenigen Gefangenen, deren Führung und Fleiss auf ernstliche Besse-
rung schliessen lassen (Art. 1). Sie ist nur bei solchen zulässig, die zu einer
mindestens sechsmonatigen Strafe verurteilt sind und von dieser die Hälfte
verbüsst haben. Sie findet auch bei solchen Strafen Anwendung, welche Ver-
bannung (r616gation) zur Folge haben (Art. 2).
Zur Vervollständigung der Einrichtungen dieses G. dienen die Bestim-
mungen desselben über die Sorge für vorläufig entlassene Gefangene (Art, 7
und 8).
Dasselbe G. führt erhebliche Vereinfachungen ftlr die bei der Rehabili-
tation vorgeschriebenen Formen ein (Art. 10). Letztere vernichtet jede Wirkung
des Urteils einschliesslich der auf Grund desselben erfolgten Eintragungen in
die Strafregister; sie bildet heute eine richterliche Handlung.
Erltack«!! d«r Strafklaffe und d#r Straük
Der Tod des Schuldigen bringt die Straf klage zum Erlöschen und hindert
die Vollstreckung der rechtskräftig erkannten körperlichen Strafen; ftlr die
Vermögensstrafen bestehen Ausnahmen.
Begnadigung und Amnestie. Die Begnadigung besteht in dem völligen
oder teilweisen Erlass der Strafe.
Die Amnestie beseitigt auch die in der Vergangenheit liegenden Folgen
des Urteils; sie wird durch G. erlassen (Art, 3 der Verfassung vom 2ö. Februar
1875). Der Gesetzgeber hat von diesem Recht wiederholt, insbesondere 1878,
1879, 1880 und 1881, Gebrauch gemacht.
Verjährung. Die Verjährung hat Berührungspunkte mit der Amnestie,
insofern sie das Erlöschen der Strafklage bewirkt, und mit der Begnadigung,
insofern sie die Strafvollstreckung hindert. Die Verjährungsfrist der öflFent-
lichen Klage beträgt zehn Jahre bei Verbr., drei Jahre bei Verg. und ein Jahr
bei Übertretungen (Art. 637, 638 und 640 StPO.). Die Fiisten sind grund-
sätzlich dieselben bei der Privatklage. Beide werden durch Untersuchungs-
und Verfolgungshandlungen unterbrochen.
Die rechtskräftig erkannte Strafe verjährt in 20, 5 und 2 Jahren (Art.
635, 636 und 639 der StPO.).
n. Der besondere Teil des Strafrechts.
§ 5. Das Strafrecht des Strafgesetzbuchs.
Das GB. teilt die Verbr. und Verg. ein in : I. Verbr. und Verg. gegen den
Staat; II. Verbr. und Verg. gegen Privatpersonen.
Der Titel I zerfällt in drei Kap. : I. Verbr. und Verg. gegen die (äussere
und innere) Sicherheit des Staates; II. gegen die Verfassung; III. gegen den
öflFentlichen Frieden (Fälschungsdelikte, Amtsdelikte — forfaiture — , strafbare
Handlungen der Geistlichkeit, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Vereinigungen
von Verbrechern [Landstreicherei und Bettelei], unerlaubte Vereine und Ver-
sammlungen) (Art. 75 — 294).
Der Titel II enthält zwei Kap. : I. Verbr. und Verg. gegen die Person
(Tötungsdelikte, Körperverletzung , Sittlichkeitsdelikte, strafbare Handlungen
gegen die Freiheit, die Justizverwaltung usw.) ; II. Verbr. und Verg, gegen das
Eigentum (Diebstahl, Bankerutt, Betrug, Sachbeschädigung usw.) (Art. 295
bis 463).
Die Übertretungen zerfallen nach dem Strafmass in di'ei Klassen (Art.
464—483).
454 Frankreich. — Der besondere Teil des Strafrechts.
Der beschränkte Raum dieser Abhandlung gestattet mir nicht, auf alle
einzelnen Delikte näher einzugehen; es würde dieses auch zum Teil deshalb
überflüssig sein, weil andere auf der unsrigen beruhende Gesetzgebungen die
Bestimmungen des StGB, erheblich verbessert haben. Ich beschränke mich
daher auf eine kurze Betrachtung der am häufigsten vorkommenden strafbaren
Handlungen und auf die Hervorhebung derjenigen Materien, deren Regelung
durch Spezialgesetze erfolgt ist oder hätte erfolgen sollen.
In Titel I Kap. I ist nur zu erwähnen, dass die auf den Schutz der Per-
son des Kaisers und seiner Familie bezüglichen Art. 86, 87 (in der Mitte) und
90 durch den 1870 erfolgten Wechsel der Regierungsform thatsächlich ausser
Wirksamkeit gesetzt sind. Der Angriff auf das Leben des Präsidenten der
Republik und seiner Angehörigen ist kein politisches Delikt; die Auslieferung
wegen desselben ist daher zulässig.
Das IL Kap. handelt von den Verbr. und Verg. gegen die freie Ausübung
der politischen Rechte, insbesondere des Wahlrechts (Art. 109 — 113), und von
den Eingriffen in die Freiheit seitens der öffentlichen Beamten (abgesehen von
dem Falle, dass diese lediglich den Befehl eines Vorgesetzten ausführen),
der Minister, Richter und Gefangenaufseher (Art. 114 — 122). Der richterliche
Beamte, welcher eine zur Zuständigkeit der Verwaltungsbeamten gehörige Hand-
lung, und umgekehrt der Verwaltungsbeamte, welcher eine zur Kompetenz des
Richters gehörige Handlung vornimmt, wird mit Verlust der bürgerlichen Ehren-
rechte bestraft. In welchen Fällen und unter welchen Formen die Präfekten
den Kompetenzkonflikt erheben dürfen, wird in der Vdg. vom 1. Juni 1828
bestimmt.
Kap. HI. Zu den Fälschungsdelikten gehören: Münzfälschung, Nachahmung
von Staatssiegeln, Banknoten usw., von öffentlichen und Privaturkunden, Pässen,
Jagdscheinen u. a. m. (Art. 132 — 165). Die vom G. nicht genügend hervor-
gehobenen wesentlichen Bestandteile der Fälschung — 1. falsche Thatsache,
2. Beschädigungsabsicht, 3. Möglichkeit einer Beschädigung — sind erst von
der Wissenschaft aufgedeckt worden.
Alle von öffentlichen Beamten in Ausübung ihres Amtes begangenen straf-
baren Handlungen ziehen den Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte nach sich
(Art. 166 und 167). Hierher gehören: Veruntreuungen durch Kassenbeamte
(Art. 169), Gebührenüberhebung (concussion, Art. 174), die eigennützige Be-
teiligung an Geschäften seitens eines Beamten, der die Aufsicht über diese zu
führen hat (Art. 175), Annahme von Geschenken und Bestechung (comiption,
Art. 177 — 183), Missbrauch der Amtsgewalt zum Nachteil einer Privatperson
oder des Staates (Art. 184 — 191), unbefugte Amtsausübung seitens einer noch
nicht in das Amt eingeführten oder aus demselben entfernten Person (Art.
196 und 197).
Geistliche können die öffentliche Ordnung stören, indem sie: 1. eine Ehe-
schliessung vor der standesamtlichen Trauung vornehmen; 2. in der Predigt
oder in einem Hirtenbriefe Massregeln der Obrigkeit einer abfälligen Kritik
unterziehen; 3. mit einer fremden Macht einen Schriftwechsel über religiöse
Gegenstände unterhalten (Art. 199 — 208).
Als Widerstand, Ungehorsam und andere Vergehungen gegen die öffent-
liche Obrigkeit (Art. 209 — 264) werden betrachtet: 1. der mit oder ohne Waffen,
von einzelnen oder von einer Menschenmenge verübte Widerstand gegen Polizei-
beamte (G. vom 9. Juni 1848); 2. Beleidigung und Verübung von Thätlichkeiten
gegen öffentliche Beamte in Bezug auf die Ausübung ihres Amtes (outrages
ou violences envers les döpositaires de Tautoritö); 3. Verweigerung eines ge-
setzmässig geschuldeten Dienstes (bezieht sich auf Polizeikommandanten und
Geschworene); 4. Entweichen von Gefangenen; 5. Siegelbruch und Entwendung
§ 5. Das StR. des StGB. 455
von Akten ans einer öffentlichen Verwahrangsstelle; 6. Beschädigung von öffent-
lichen Kunstgegenständen (Denkmälern, Standbildern usw.); 7. unbefugte Bei-
legung eines Titels oder einer Amtseigenschaft, unbefugtes Tragen von Uni-
formen und Ehrenzeichen; 8. Beeinträchtigung der Kultusft'eiheit. Als unter
die letztere Kategorie fallend wird bestraft: a) die Störung der Feier religiöser
Feste und des Gottesdienstes, b) Beschimpfung der Geistlichen und der zum
Gottesdienst bestimmten Gegenstände (Art. 260 — 264).
Die organisierte Verbindung von Verbrechern ist strafbar; die Rädels-
führer werden mit zeitiger Zwangsarbeit, die übrigen Beteiligten mit Zucht-
haus bestraft (Art. 265—268).
Zum Thatbestande der Landstreicherei genügt es, dass jemand keinen
festen Wohnsitz, keine Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und keinen
bestimmten Beruf hat. (Nach Art. 4 des G. v. 27. Mai 1885 sind Bauernfänger
[bonneteurs] und Zuhälter [souteneurs] den Landstreichern auch dann gleich-
zustellen, wenn sie einen festen Wohnsitz haben.) Die Landstreicherei wird
mit Gefängnis von 3 — 6 Monaten und Aufenthaltsbeschränkung (interdiction
de söjour) bestraft. Kinder unter 16 Jahren dürfen nicht zu Gefängnis ver-
urteilt werden, der Kassationshof hat aber in einer Entscheidung vom 30. Juni
1892 ausgesprochen, dass die Strafe der Aufenthaltsbeschränkung gegen sie
zur Anwendung gebracht werden kann. Diese Auffassung widerspricht den
allgemeinen Rechtsgrundsätzen und ist sowohl in der Litteratur wie von den
Schutzfürsorge- Vereinen auf das schärfste angegriffen.
Ausländische Landstreicher werden ausgewiesen; französische Staats-
angehörige können auf Verlangen der Gemeinde, welcher sie angehören, oder
einer Privatperson, die für sie Bürgschaft leistet, mit Genehmigung der Regie-
rung auf freien Fuss gesetzt werden (Art. 269 — 273).
Die Bettelei ist nur strafbar, wenn sie an einem Orte geschieht, an
welchem ein Arbeitshaus (d6pöt de mendicit6) besteht (Art. 274); diese sind
zur Bekämpfung der Bettelei durch eine Vdg. vom 5. Juli 1808 ins Leben ge-
rufen, erfüllen aber nur zum Teil ihren Zweck, sodass die Gerichte oft, um
eine Strafe aussprechen zu können, ihr Nichtvorhandensein ignorieren müssen.
Wo nämlich ein Arbeitshaus nicht existiert, ist die Bettelei nur strafbar, wenn
sie gewohnheitsmässig und von einer arbeitsfähigen Person begangen wird;
die Strafe beträgt nur Gef. von 1—3 Monaten (Art. 275). Die Bettelei im Falle
des Art. 274 wird mit Gef. von 3 — 6 Monaten bestraft^ nach Verbüssung der
Strafe ist der Verurteilte dem Arbeitshause zuzuführen. Diese willkürliche
Verlängerung der Strafzeit, deren Vollstreckung den Präfekten übertragen ist,
bildet den Gegenstand heftiger Angriffe und hat so wenig günstige Resultate
gehabt, dass der „Conseil supörieur de l'Assistance publique" bereits die Be-
fürwortung ihrer Abschaffting in Erwägung gezogen hat. Sie ist jedoch im
Entw. des StGB., allerdings unter Einführung der erforderlichen richterlichen
Garantieen, beibehalten worden.
Von den unerlaubten Vereinigungen und Versammlungen handeln die
Art. 291—294, die durch die G. vom 10. April 1834 und 6. Juni 1868 eine Vervoll-
ständigung erfahren haben. Die Frage, ob die Art. 291 und 292 auf die
geistlichen Orden Anwendung finden, hat im J. 1880 eine heftige Polemik
hervorgerufen, deren Entscheidung, anstatt durch den Erlass der berühmten
Ausweisungsbefehle für diese Orden, besser durch die Gerichte erfolgt wäre.
Von dem zweiten Titel enthält das von den Delikten gegen diePerson
handelnde erste Kapitel sieben Abschnitte.
Der erste beschäftigt sich mit Mord und Totschlag; das Bestehen eines
verwandtschaftlichen Verhältnisses zwischen dem Thäter und dem Opfer bildet
mit Recht einen Straferschwerungsgrund (Art. 295 — 308). Zu bedauern ist.
456 Frankreich. — Der besondere Teil des Strafrechts.
dass nicht an dieser Stelle — ähnlich wie im neuen italienischen StGB. — die
unerlaubte Selbsthülfe mit Strafe bedroht ist. Keine gesetzliche Vorschrift,
sagt Lacointa sehr richtig, ist, wenn sie von den Gerichten streng gehandhabt
wird, so sehr geeignet, auf ein ft*eies Volk erziehlich zu wirken. Folgerichtig
hätte dann auch der Zweikampf, und selbst die erfolglose Herausforderung zu
demselben, unter Strafe gestellt werden müssen. Die Anstrengungen der
Wissenschaft, durch eine gezwungene Auslegung des Art. 302, den Zweikampf
zu einer strafbaren Handlung zu stempeln, sind nicht im stände, dem immer
mehr überhandnehmenden Duellunwesen Einhalt zu thun. Der Zweikampf ist
nicht nur eine Übertretung göttlicher Gebote, sondern bildet auch einen Ein-
griff in die dem Staate vorbehaltenen Funktionen und wird auch als solcher
in fast allen Staaten mit Recht bestraft. Am 2. Juli 1892 hat die Kammer
die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes gegen diese barbarische Sitte in Er-
wägung gezogen. — Das vorstehend Gesagte gilt auch bezüglich der Beihülfe
zum Selbstmord, den das italienische StGB, streng bestraft, das unsrige da-
gegen straflos lässt.
Der zweite Abschnitt handelt von der Körperverletzung (Art. 309 — 318).
Den „Schlägen und Verwundungen" (coups et blessures) werden die übrigen
Fälle der Körperverletzung gleichgestellt; für die leichten Körperverletzungen
gelten noch d[ie Bestimmungen des Art 8 No. 8 des GB. vom Brumaire des
Jahres IV; die vorsätzlichen gegen einen Aszendenten, die mit Vorbedacht und
die von einer aufrührerischen Menge verübten werden mit verschärfter Strafe
belegt. — Die Abtreibung wird streng geahndet; jedoch dürfte es sich
empfehlen, den wegen derselben verurteilten Ärzten, Apothekern und Heb-
ammen die fernere Ausübung ihres Berufes zu untersagen (Art. 317).
Die im dritten Abschnitte stehenden Art. 319 und 320 über die fahrläs-
sigen Tötungs- und Verletzungsdelikte gelangen bei Unglücksfällen auf der
Jagd, im Transportwesen, im Bergbau usw. fast täglich zur Anwendung. —
Die in Art, 321 — 329 aufgeführten Entschuldigungsgründe sind bereits oben
erwähnt.
Die Sittlichkeitsdelikte (Abschnitt 4) werden mit verschärfter Strafe be-
leget, wenn sie gegen Kinder unter 13 Jahren, oder von Aszendenten oder
anderen Respektspersonen begangen werden (Art. 330 — 333). Die Kunstgriffe,
welche die menschliche Verderbtheit unter Benutzung der wissenschaftlichen
Entdeckungen neuerdings zur Anwendung bringt, fallen nicht unter das G.,
und eine Ergänzung desselben in dieser Beziehung — etwa nach dem Vor-
bilde des italienischen und des holländischen StGB. — ist dringend zu empfehlen.
Die Verleitung zur Ausschweifung wird mit besonderen Strafen belegt, wenn sie
von selten eines Aszendenten geschieht (Art. 335 und G. vom 24. Juli 1889, Art. 1).
Die Blutschande ist nicht strafbar, selbst wenn durch sie öffentliches Ärgernis
erregt ist. Der Ehebruch wird nur auf Verlangen des beleidigten Ehegatten
bestraft, und zwar an dem Ehemanne nur, wenn dieser eine Konkubine in der
ehelichen Wohnung unterhalten hat; da dieser Fall nur äusserst selten vor-
kommt, bleibt der Ehebruch des Ehemannes fast immer ungesühnt (Art. 336
und 339).
Die Vorschrift, dass eine Bestrafung des Ehebruchs nur auf Antrag des
Verletzten eintritt, ist durchaus zu billigen; dagegen würde es sehr bedenk-
lich sein, auch bei den in den vorhergehenden Artikeln behandelten Sittlich-
keitsdelikten die Einleitung des Strafverfahrens von einem Antrage abhängig
zu machen; zweifellos würden dann viele schwere Verbr. unbestraft bleiben.
— In vielen anderen Fällen ist dagegen eine weitere Ausdehnung des Antrags-
erfordernisses zu empfehlen.
Der sechste Abschnitt beschützt das Kind gegen die Gefahren, welche
§ 5. Das StR. des StGB. 457
seinem Leben, seinem Personenstande und seiner Sittlichkeit drohen. Zu be-
merken ist, dass eine Person, die es nnterlässt, ein von ihr aufgefundenes
Kind der Polizei abzuliefern, nur bestraft wird, wenn das Kind ein neu-
geborenes ist. Der französische Oesetzgeber sollte sich die fürsorgliche Be-
stimmung des italienischen Rechts zum Muster nehmen, nach welcher diese
pflichtwidrige Unterlassung selbst dann bestraft wird, wenn sie einem sechs-
jährigen Kinde oder einem hülflosen Erwachsenen gegenüber begangen wird.
— Die Strafe der Entführung ist schwerer oder leichter, je nach dem Alter
des Entführers und der Entführten und je nachdem letztere eingewilligt hatte
oder nicht (Art. 364 — 356). Der Entführer wird nur auf Antrag bestraft,
wenn er die Entführte geheiratet hat (Art. 357).
Der siebente Abschnitt besteht aus zwei Paragraphen. Der erste bedroht
das falsche Zeugnis, und zwar auch das in einer Zivilsache abgegebene, mit
Strafe (Art. 361 — 366). Zu bedauern ist das Fehlen einer Strafbestimmung
für die erdichtete Anzeige einer strafbaren Handlung; diese Lücke zwingt die
Gerichte, diese als Beleidigung derjenigen Behörde, bei der sie angebracht ist,
anzusehen.
Der zweite Paragraph beschäftigt sich mit der wissentlich falschen An-
schuldigung einer bestimmten Person; zu vermissen ist eine Strafermässigung
für den Fall der Zurücknahme der Anschuldigung (Art. 373). — Der Verrat
von Geheimnissen durch Anwälte, Ärzte und andere Vertrauenspersonen wird
mit Gef. von 1 — 6 Monaten bestraft; diese können ihre Aussage über solche
Punkte verweigern.
Das von den Delikten gegen das Eigentum handelnde Kapitel enthält
nur drei Abschnitte: 1. Diebstahl; 2. Bankerutt und andere betrügerische
Handlungen; 3. Sachbeschädigung.
Das Thatbestandsmerkmal , welches den Diebstahl von Betrug und Un-
treue (abus de confiance) unterscheidet, besteht in der heimlichen Wegnahme
der Sache im Gegensatz zu dem „sich geben lassen^' und „sich aneignen^'.
Diebstahl unter Ehegatten ist nicht strafbar (Art. 380); der unter gewissen, in
den Art. 381 — 399 aufgeführten Umständen begangene Diebstahl ist ein Verbr.
Erpressung, Pfandbruch (d^toumement d'objets saisis), Entwendung (larcin)
und die Entwendung von Nahrungsmitteln werden in den Art. 400 und 401
erwähnt.
Der zweite Abschnitt bezieht sich auf: Bankerutt (einfachen und betrü-
gerischen); Betrug (escroquerie); Untreue (abus de confiance, Art. 406 — 409);
Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über Spielhäuser und Verlosungen
(G. vom 21. Mai 1836), sowie über Pfandleihanstalten (G. vom 24. Juni 1851);
Beeinträchtigung der Freiheit der öflPentlichen Versteigerungen; Eingriffe in
die Freiheit der Arbeit usw. (Art. 414 — 429); Verzögerungen und Betrügereien
seitens der Lieferanten (Art. 423, 424, 430—433); Brandstiftung und Zerstö-
rung von öffentlichen oder Privatgebäuden (Art. 95, 434 — 438; verschärft durch
das Dynamitgesetz vom 3. April 1892); Vernichtung von Registern, Lebensmitteln,
Emtevorräten , landwirtschaftlichen Geräten und Tieren usw. (Art. 439 — 462).
Zahlreiche Delikte, welche der Vervollkommnung der Technik ihr Entstehen
verdanken, so vor allem auf dem Gebiete der Nahrungsmittelfälschung, der
Verwendung explodierender, narkotischer oder aus anderen Gründen gefähr-
licher Stoffe, des Transportwesens, des Seeraubs, des Handels, des Versiche-
rungswesens, des Emissionswesens usw. sind vom Gesetze nicht berücksichtigt.
Bezüglich der Übertretungen wäre zu wünschen, dass die systematische
Einteilung nach Deliktsgruppen auch auf sie Anwendung gefunden hätte.
Die Art. 471 — 483 enthalten eine genaue Aufzählung von Bestimmungen
zur Durchführung der Vorschriften über Strassenpolizei, Fuhrwesen, Gasthäuser,
458 Frankreich. — Der besondere Teil des Strafrechts.
Bewachung von Geisteskranken und wilden Tieren, über den Schutz der
EmtevorrÄte und des beweglichen Eigentums, über die Verweigerung von
Hülfeleistung bei Unglücksfällen, verbotenes Waffentragen, Benutzung falscher
Masse und Gewichte usw.
Zu ihrer Vervollständigung sind mehrere spätere Gesetze ergangen, so das
G. über die Trunkenheit; abgesehen von wenigen Punkten, bezüglich deren
die Nachahmung von Vorschriften fremder StGB, zu empfehlen wäre, bilden
sie einen genügenden Schutz gegen alle Handlungen, welche irgendwie geeignet
sind, die öffentliche Ruhe und Ordnung zu stören.
§ 6. Das StB« der Spezialgesetze«
Das StGB. V. 1810 konnte nicht alle strafbaren Handlungen vorsehen,
welche die fortschreitende Entwickelung der menschlichen Gesellschaft täglich
neu entstehen lässt. Ein Teil derselben ist ihm nachträglich eingefügt, ein
noch grösserer Teil aber in Spezialgesetzen behandelt worden.
Zu diesen gehören zunächst die umfangreichen Spezialgesetze, wie die
Militärgesetze, das Forstgesetz, ausserdem die kleineren G. mit strafi'echtlichen
Bestinmiungen, wie die G. über Feld- und Forstpolizei, Presse, Kinderschutz usw.
Das Militärjustizgesetz für das Landheer ist am 9. Juni 1857, das für
die Marine am 4. Juni 1858 erlassen. Militärgerichte sind: 1. der Kriegsrat (con-
seil de guerre); 2. der Revisionsrat (conseil de r^vision). In bestimmten Fällen
werden bei den einzelnen Heeresteilen besondere Gerichte (Pr6v6t6s) gebildet.
— Alle aktiven Militärpersonen, einerlei ob sie sich bei der Truppe befinden
oder beurlaubt sind, unterstehen für Verbr. und Verg. jeder Art der Zuständig-
keit der Kriegsgerichte. — ßind mehrere Thäter oder Teilnehmer vorhanden,
von denen einige der Kompetenz der Civilgerichte unterliegen, so werden alle
Angeklagten von diesen abgeurteilt; die Strafvollstreckung erfolgt jedoch be-
züglich der Militärpersonen durch die Militärbehörde. Die Verbrechensstrafen
sind dieselben wie im bürgerlichen StR. (Art. 185, C. p. Art. 7 und 8), nur dass
an Stelle des Verlustes der bürgerlichen Ehrenrechte der Verlust der militäri-
schen Grade (dögradation militaire) tritt. Die Todesstrafe wird durch Erschiessen
vollstreckt. Vergehensstrafen sind: Verlust des Ranges (destitution), Zwangs-
arbeit (travaux publics), Gef. und Geldstrafe. — Die Art. 204 — 266 zählen die
einzelnen Delikte und die für sie angedrohten Strafen auf. — Zu erwähnen
sind auch die Strafbestimmungen des G. vom 15. Juli 1889 über die Rekru-
tierung des Heeres, und des G. gegen die Spionage vom 18. April 1886.
Das Forstgesetz (Code forestier) stammt aus dem Jahre 1827. Es regelt
die Ausübung der Forstpolizei zum Schutze und zur Erhaltung der Gehölze
und Wälder, die Strafverfolgung der innerhalb derselben begangenen Delikte
durch die Forstverwaltung, sowie die Art und die Vollstreckung der wegen
derselben zu erkennenden Strafen (Geld und Gef.).
Unser Feldgesetz (Code rural) ist bruchstückweise erlassen; es besteht
aus den G.: vom 6. Oktober 1791 über die ländlichen Gebräuche und die
Feldpolizei (vgl. G. vom 21. Juli 1881); vom 3. Mai 1844 über die Jagd (dessen
Bestimmungen, besonders soweit sie sich auf den Verkauf von Wild während
der Schonzeit beziehen, gegen wärtig revidiert werden) ; vom 31. Mai 1865 über
den Fischfang; vom 20. August 1881 über die Feldwege und deren Benutzung;
vom 9. April 1889 über die Haustiere; vom 9. Juli 1889 über das Triftrecht
(parcours), die Weinlese, das Mieten von Dienstboten usw.
Seit Erlass des G. vom 29. Juli 1881, durch das zahlreiche auf Pressdelikte
sich beziehende Gesetze abgeschafft sind, besitzt Frankreich ein vollständiges
Pressgesetz. Die Bestimmungen desselben über Druckereien und Buchhandel,
§ 6. Das StR. der Spezialgesetze. 459
Herausgabe von periodischen Druckschriften, Anschlag^wesen, Kolportage und
Verkauf, Bestrafung der mittels der Presse begangenen oder hervorgerufenen
strafbaren Handlungen gegen den Staat, gegen Private und gegen auswärtige
Staatsoberhäupter oder Gresandte, über Straffreiheit von parlamentlichen oder
gerichtlichen Referaten, über den Elreis der verantwortlichen Personen — sind
äusserst liberal. Den Druckern oder Herausgebern werden keinerlei Präventiv-
massregeln auferlegt. Die Verletzung der Vorschriften wird teils durch die
Schwurgerichte, teils durch die Strafkammern (tribunaux correctionnels), teils
durch die Polizeigerichte (tribunaux de police) abgeurteilt.
Unter den eigentlichen Spezialgesetzen verdienen die zum Schutze
der Kinder erlassenen an erster Stelle erwähnt zu werden. Das G. vom
24. Juli 1889 ergänzt die völlig ungenügenden Bestunmungen des Code civil
und des G. p. über den Missbrauch der väterlichen Gewalt; dieser hat, je
nach der Schwere des Falls, den Verlust der väterlichen oder vormundschaft-
lichen Gewalt von Rechts wegen oder auf Grund besonderer Anordnung zur
Folge. Das G. hätte andrerseits es nicht unterlassen sollen, den Eltern ge-
eignete Mittel an die Hand zu geben, um gegen das ungebührliche Verhalten ihrer
Kinder einzuschreiten; die durch die Art. 375 — 383 des Code civil zugelassenen
Strafmittel (Haft bis zu 6 Wochen) sind völlig ungenügend und unwirksam. —
Die G. vom 23. Dezember 1874 über den Schutz und die Ernährung der Eänder
im frühesten Lebensalter, vom 2. November 1892 über die Beschäftigung
von Kindern und minderjährigen Mädchen in der Industrie, und vom 7. De-
zember 1874 (Art. 2) über den Gewerbebetrieb im umherziehen, gewähren,
bei energischer Handhabung, dem Leben, der Gesundheit und der Sittlichkeit
der Jugend einen grossen Teil des derselben sonst fehlenden Schutzes. —
Ein G.-Entw. über die unterstützungsbedürftigen Kinder (enfants assist^s) wird
vorbereitet.
Dem Schutze der Sittlichkeit und der Gesundheit der Erwachsenen dient
zunächst das G. zur Bekämpfung der Trunksucht vom 23. Januar 1873. Die
weisen Bestimmungen desselben werden leider einerseits nicht energisch genug
gehandhabt, andrerseits dadurch völlig illusorisch gemacht, dass seit dem G.
vom 17. Juli 1880 die Errichtung von Schankstellen völlig frei und nur von
einer Anzeige bei der Behörde abhängig ist. — Dem gleichen Zwecke dienen
die Gesetze undVdgn. über ungesunde Wohnungen (25. Mai 1864), ungesunde
Werkstätten usw.
Zum Schutze der erwachsenen Arbeiter in den Fabriken, sowie über
Arbeiterversicherungswesen werden gegenwärtig G.-Entw. ausgearbeitet; indes
ist, bei den ungeheueren Schwierigkeiten, welche die Lösung der mit diesen
umfassenden Materien zusammenhängenden Fragen durch den Staat bietet,
kaum anzunehmen, dass dieselben in absehbarer Zeit zur Annahme gelangen
werden. — Beztlglich der Handhabung der Gesundheitspolizei an den Land-
imd Wassergrenzen gilt das G. vom 3. März 1822, welches gegen Zuwider-
handlungen teils Todesstrafe, teils mildere Strafen androht, zu denen Geldstrafe
von 200 — 20000 Frcs. hinzutreten können. Vgl. das G. über die Veterinär-
polizei vom 21. Juli 1881.
Die öffentliche Sicherheit wird geschützt durch dieG.: über das Ver-
einswesen (10. April 1834), über die Klubs (21. Juni 1851), über die Abhaltung
von öffentlichen Versammlungen (9. Juni 1868), über die Vereinigungen (coa-
litions) (25. Mai 1864), über öflFentiiche Ansammlungen (ist bereits oben bei
Art. 213 erwähnt), über internationale Verbindungen (14. März 1872) usw.
Die Solidität des Handels und des öffentlichen Kredits wird, soweit
die Ausgabe und der Vertrieb von Aktien, die Verteilung fingierter Dividenden
und die Gründung von Handelsgesellschaften in Frage kommt, sichergestellt
460 Frankreich. — Das Strafrecht der französischen Kolonieen.
durch die Art. 13 — 16, 45, 66 und 61 des G. über die Handelsgesellschaften
vom 24. Juli 1867. — Eine Abänderung dieses G. sowie des Art. 241 des
StGB, über Wetten und Börsenspiel ist seit längerer Zeit beabsichtigt.
Das geistige Eigentum an litterarischen Werken und an Werken der
bildenden Kunst, sowie das Recht auf ausschliessliche Ausnutzung von Patenten,
Fabrikmarken usw. wird — ausser durch die Art. 425 — 429 des StGB. —
zu Gunsten von Inländern und Ausländem geschützt durch die Verordnungen
vom 24. Juli« 1793 und 28. März 1852, welche den Nachdruck mit Geldstrafe
bedrohen; durch das Patentgesetz (loi sur les brevets d'invention) vom 5. Juli
1844 (Art. 40 — 49), und das G. über die Fabrik- und Handelsmarken vom
23. Juni 1857 (Art 7—15).
Die Sicherheit der Eisenbahntransporte wird geschützt durch das G.
vom 15. Juli 1845 über die Bahnpolizei; die Aufsicht liegt in den Händen
besonderer Kommissare (G. vom 27. Februar 1850).
Die Verletzung des Brief- und Telegrammgeheimnisses wird durch G.
mit Strafe bedroht, welche den völlig ungenügenden Art. 187 des StGB, ergänzen.
Endlich ist noch die Steuer- und Zollgesetzgebung zu erwähnen,
die zahlreiche Strafandrohungen enthält. Das G. vom 22. Frimaire des Jahres VII
(Art. 33 — 40) droht gegen die Hinterziehung von gewissen Eintragsgebühren
Geldstrafen an, die in der Regel in einem Vielfachen des hinterzogenen Be-
trages bestehen; es wird ergänzt durch die G. vom 23. August 1871 und vom
21. Juni 1875, die den Zollbeamten die Vornahme von Untersuchungshandlungen
zur Feststellung des Thatbestandes gestatten. Das G. vom 23. August 1871
modifiziert die friiher erlassenen Stempelgesetze, insbesondere das G. vom
13. Brumaire des Jahres VII (Art. 26 — 30). Die Einziehung der direkten Steuern
wird gesichert durch die G. vom 12. November 1808 und vom 28. Pluvlöse
des Jahres VUI (Art. 4), die der indirekten Steuern sowie der verschiedenen
Taxen durch die Gesetze, durch welche sie eingeführt sind. Während die
gegen die letzteren verübten Delikte von den ordentlichen Strafgerichten ab-
geurteilt werden, gehört die Rechtsprechung über die bei den direkten Steuern
vorgekommenen Unregelmässigkeiten zur Zuständigkeit der Verwaltungs-
behörden.
Der Wucher ist nur strafbar, wenn er gewohnheitsmässig betrieben
wird. Der Zinsfuss bei Darlehen ist für die Handelsgewerbe nicht beschränkt;
im übrigen darf er nicht mehr als 5®/q jährlich betragen. Der gesetzliche
Zinsfuss beträgt bei Handelssachen 6, bei anderen Sachen 5^/^ (G. v. 19. De-
zember 1850 und 12. Januar 1886).
m. Das Strafrecht der französischen Kolonieen.
§ 7.
Das in Frankreich geltende Strafrecht ist zum grössten Teil auch auf
die französischen Kolonieen ausgedehnt. Eine Aufzählung der gesetzgeberischen
Akte, durch welche die Strafgesetze in denselben veröffentlicht sind, enthält:
Sauvel, Les codes criminell des Etablissements fran9ais de Tlnde, Paris 1884.
Die wenigen vorhandenen besonderen Bestimmungen hier aufzuzählen,
verbietet der beschränkte Raum. Bezüglich Algiers verweise ich auf zwei
Werke von Jacquey: De l'application des lois fran^aises en Algc^rie, 1883,
und von Albert Desjardins: De Tapplication des lois criminelles en Alg^rie
et dans les colonies (Revue critique, 1886).
2. Belgien.
I. Der Code pönal/)
§ 1. C^esehlchtUches.
Nachdem Belgien anfangs unter der Herrschaft der Lex Salica gestanden
hatte, galt im Mittelalter lokales StR., wie es in den Keuren oder Gemeinde-
Satzungen enthalten war. Von der Zeit Karls V. bis zum 18. Jahrhundert wur-
den strafrechtliche Bestimmungen erlassen in „Edikten^* und „ Ordonnanzen '^
Verfügungen des Herrschers, die nach besonderer Verkündigung in jeder Provinz
im ganzen Lande Geltung hatten. Nach der Zeit Karls V. und Philipps H. ver-
suchten Maria Theresia und Joseph II. einzelne Teile der StGgebung zu re-
formieren. Doch gelang bis zur französischen Eevolution eine Kodüizierung
des StR. in Belgien ebensowenig wie in den übrigen europäischen Staaten.
Nur das Strafprozessrecht wurde kodifiziert. Die strafrechtlichen Bestimmungen
hatten daher ihren gewohnheitsrechtlichen und damit durchaus nationalen
Charakter bewahrt, bis sie im Strudel der Revolution verschwanden und neuen
Gesetzen fremden Ursprungs Platz machten. Als am Ende des J. 1792 die bel-
gischen Provinzen von der französischen Armee besetzt und durch Dekret vom
9. Vendömiaire des J. IV (1. Oktober 1795) mit Frankreich vereinigt wurden,
gelangten alle seit 1789 erlassenen Gesetze und mit ihnen der von der kon-
stituierenden Nationalversammlung angenommene C. p. von 1791 auch in Belgien
unmittelbar zur Einführung.
Bis 18 lö blieben die Geschicke des Landes an die Frankreichs gekettet;
die napoleonische Gesetzgebung wurde auch hier eingeführt, und wie in allen
dem französischen Kaiserreiche angehörigen Ländern von Rom bis Hamburg
trat auch in Belgien der berühmte C. p. von 1810 in Kraft. Bei der Teilung
des Kaiserreichs wurde Belgien mit Holland zu dem Königreich der Nieder-
lande vereinigt, dessen Regierung die Strafmasse herabsetzte, die Vermögens-
konfiskation abschaffte, im übrigen aber die wesentlichen Bestimmungen des C.
von 1810 nicht antastete.
Nachdem Belgien 1830 endlich die Unabhängigkeit erlangt und der
Nationalkongress die Notwendigkeit einer nationalen Gesetzgebung anerkannt
*) J. J. Haus, Principes g6n6raux du droit p^nal beige. 2 Bde. 3. Aufl. Gent
1874. Patria Belgica, Encyclop^die nationale par von Bemmel Bd. II, S. 619. Nypels,
Le droit p^nal. 3 Bde. Brüssel, Christophe Bruylant, 1873. — Nypels, Le code penal
beige interpr6t6. 3 Bde. Brüssel, Christophe Bruylant, 1867. — Nypels, Legislation
criminelle de la Belgique ou Commentaire et Compl^ment du code p6nal beige. 4 Bde.
Brüssel, Christophe Bruylant, 1872. — Thiry, Cours de Droit crimlnel. 1 Bd. Lüttich,
Desoer, 1892. — Prins, Criminalit6 et Repression. 1 Bd. Brüssel, Muquardt, 1886.
462 Belgien. — Der Code pönal.
hatte, ordnete die Verfassnng von 1831 die Revision der GB. an. Durch
die Verfassung selbst wurde ausserdem gleichzeitig die AbschafPting der Strafe
des bürgerlichen Todes neu verfügt, die der VermOgenskonfiskation dagegen
aufrecht erhalten.
Die Vorarbeiten für das StGB, begannen 1834 mit der Ausarbeitung
eines Revisionsplanes durch eine Spezialkommission. Im Jahre 1848 wurde
durch königliche Vdg. zur Ausführung weiterer Vorarbeiten eine neue
Kommission (der unter anderen Haus und Nypels als Mitglieder angehörten)
niedergesetzt; dieselbelegte den Kammern alsbald den ersten Teil ihres Werkes
vor. Nachdem Belgien 56 Jahre lang unter der Herrschaft des französischen
C. p. gestanden hatte, wurde am 15. Oktober 1867 der jetzt geltende C. p.
ein Werk achtzehnjähriger Arbeit und Thätigkeit, publiziert.
§ 2. Der Code p^^nal ron 1867.
Die theoretische Grundlage des C. p. v. 1867 und die Anschauungen, von
denen seine Verfasser ausgingen, sind den im Code v. 1810 herrschenden dia-
metral entgegengesetzt. Die Verfasser des letzteren gehörten zu der unter
Benthams Einflüsse stehenden Schule, welche in der Notwendigkeit der Strafe
deren einzige Rechtfertigung sahen. „C'est la n6cessit6 de la peine qui la
rend legitime", sagte Target. Diese Theorie von der Notwendigkeit der Strafe
gefiel dem despotischen Sinne Napoleons, der auch dem StGB, den Stempel
seines Geistes aufprägte. Indem er den Kriminalisten die Abschreckung als
Hauptzweck der Strafe empfahl, verleitete er sie zu einer übertriebenen Ver-
schärfung der Strafmittel. Handlungen, welche an und für sich zum Teil
überhaupt keine Strafe verdienten, werden als Verbr. und Verg. charakteri-
siert; der Versuch wird stets mit gleichem Masse gemessen wie das vollendete
Delikt, die Beihülfe der Mitthäterschaft gleichgestellt; die nicht selten durch
Verstümmelung verschärfte Todesstrafe wird in erschreckendem Umfange an-
gedroht. Der Code v. 1810 kennt noch körperliche und entehrende Strafen,
den bürgerlichen Tod, die Vermögenskonfiskation, die Brandmarkung, den
Pranger, die Stellung unter Polizeiaufsicht. Häufig finden sich die verschieden-
artigsten Fälle in einem Paragraphen behandelt, sodass man Rossi beistimmen
muss, wenn er sagt: „der Verfasser des Code v. 1810 bedroht mit einer ge-
wissen Gleichgültigkeit eine Unmasse von Handlungen mit Strafe". That-
bestände, die miteinander keinerlei Ähnlichkeit haben, werden unter einen
zu engen Begriff zusammengefasst, die Schwere der Strafen steht in empören-
dem Missverhältnis zu der der Strafthaten, das System der erschwerenden
Umstände ist schwerfällig.
Auf diese Missstände wurde von der Strafrechtswissenschaft zur Zeit der
Ausarbeitung des neuen StGB, nachdrücklich hingewiesen; man betonte, dass
der Code v. 1810 nicht dem Geiste des Fortschritts, sondern dem des Rück-
schritts seine Entstehung verdanke; jedenfalls müsse die neu zu schaffende
StGgebung mit den seit dem Erlass der Kodifikationen des Kaiserreichs in
Europa entstandenen Reformen wie mit den Ideeen modemer Civilisation in
Einklang gebracht werden.
In diesem Sinne wurde der Code v. 1867 ausgearbeitet. Die Recht-
fertigung der Strafe wird nicht in ihrer Notwendigkeit, sondern in ihrer Ge-
rechtigkeit gefunden — nicht mehr Benthams, sondern Rossis Schüler sind für
dieses Grundprinzip des GB. massgebend gewesen. Die Überzeugung von
der Nützlichkeit der Strafe ist ebenfalls von Einfiuss, dient aber nicht dazu,
das Recht zu strafen zu begründen, sondern lediglich dazu, die Anwendung
desselben auf das notwendige Mass zu beschränken. Dem Gesetzgeber v, 1867
§ 8. Allgemeine Grundsätze. 463
ißt die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung der Hauptzweck der Strafe.
Die menschliche Gesellschaft straft nicht mehr ausschliesslich um abzuschrecken ;
gewiss soll die Strafe auch zur Warnung dienen, sie soll aber vor allem bessern
und den Schuldigen auf den Weg des Guten zurückführen. Man kann das
Grundprinzip des Code v. 1867 kurz bezeichnen als: Reaktion gegen das
Verbr. in den Grenzen der Notwendigkeit und Gerechtigkeit, in der Hoffnung
auf Besserung des Verurteilten. Von diesen Anschauungen Hessen sich die
Verfasser bei der Ausarbeitung sowohl des allgemeinen wie des besonderen
Teils leiten.
§ 3. Allgemeine Ctnmdsltze.
Im aUgemeinen Teile (Art. 1 — 100) ist das Bestreben nach Milderung an
den Bestimmungen über den Versuch zu erkennen; die Strafe desselben ist
diejenige, welche der Schwere nach auf die für das vollendete Verbr. fest-
gesetzte unmittelbar folgt (Art. 52). Auch der Gehülfe wird milder bestraft
als der Mitthäter. — In Bezug auf den Rückfall hatte der Code v. 1810 dra-
konische Vorschriften und zwang den Richter, stets eine schwerere Strafart
anzuwenden; das belgische StGB, verfällt dem entgegengesetzten Extrem, leitet
aus dem Rückfall lediglich die Vermutung für einen höheren Grad des Ver-
schuldens her und stellt es in allen Fällen in das Ermessen des Richters, ob
er das Strafmass erhöhen will oder nicht. Wenn er es erhöht, so bezieht sich
die Erhöhung nur auf die Dauer, nicht auch auf die Art der Strafe, da der
Rückfall die Art der Strafthat nicht verändert (Art. 54 und 19). — Andrer-
seits kennt der Gesetzgeber ein vollständiges und sehr weitgehendes System
mildernder Umstände, die nicht nur bei allen Verbr. und Verg., sondern sogar
bei Übertretungen zugebilligt werden können. Bei Verbr. hat die Zubilligung
stets eine Modifikation der Normalstrafe, nämlich die Herabsetzung um min-
destens einen Grad, zur Folge; bei Verg. kann der Richter die Strafe bis zum
Mindestmass der Polizeistrafen, bei Übertretungen bis zu Geldstrafe von 1 Frc.
ermässigen. Selbst einem Rückfälligen kann der Gerichtshof mildernde
Umstände zubilligen und damit die Strafe herabsetzen. — Wie man sieht, ist
der Grundsatz der Milde bis zur äussersten Grenze des Zulässigen durch-
geführt; zur Strenge ist der Richter gesetzlich nicht gezwungen, seiner Milde
und Menschlichkeit sind dagegen keinerlei Schranken gesetzt.
Die Behandlung der Fälle des Zusammentreffens mehrerer strafbarer
Handlungen (Art 58 ff.) will die zu harte Wirkung des Prinzips der Kumu-
lierung der Strafen abschwächen, ohne in die übertriebene Nachsicht des Ab-
sorptionsprinzips zu verfallen.
Der Code enthält nichts über die Frage der Verantwortlichkeit. Der
Gesetzgeber hat eine Definition des Begriffs der Zurechnungsfähigkeit nicht
für erforderlich erachtet und den Ausbau dieses wesentlichen Teils der Straf-
rechtslehre der Wissenschaft und Praxis überlassen. Übrigens hatte das Pro-
blem der Verantwortlichkeit zu der Zeit, wo die Art. des Code v. 1867 in den
gesetzgebenden Körperschaften beraten wurden, noch nicht diejenige hohe
Bedeutung, welche es heute beansprucht. Die Verfasser des Code und vor
allen ihr hervorragendes geistiges Oberhaupt, Haus, sahen in dem Verbrecher
lediglich den abstrakten Typus des hinreichend intelligenten und willensfähigen
Normalmenschen; dass die Beurteilung des Willens und des Unterscheidungs-
vermögens Änderungen unterliegen und Schwierigkeiten verursachen könnte,
kam ihnen nicht in den Sinn, sie beschränkten sich deshalb darauf, negativ
diejenigen Umstände gesetzlich zu fixieren, bei deren Vorhandensein die Zu-
rechnung ausgeschlossen ist. Diese letzteren sind: Geisteskrankheit und Zwang
464 Belgien. — Der Code p6nal.
(Art. 71), femer, vorausgesetzt, dass der Richter das Vorhandensein des ünter-
scheidungsvermögens verneint, Taubstummheit und Alter unter 16 Jahren (Art.
72 und 76). Es sei darauf hingewiesen, dass das GB. eine Altersstufe, in
welcher jede Strafverfolgung unzulässig ist, nicht kennt.^)
Das System der Ausschliessungsgründe für die Strafzumessung ist un-
vollständig; Theorie und Praxis haben sich daher genötigt gesehen, dasselbe
unter Zurückgehen auf allgemeine Grundsätze zu ergänzen.
Neben den Gründen, welche die Zurechnung ausschliessen, kennt das
G. auch solche, welche sie vermindern und damit eine Strafmilderung bewirken.
Dieses sind: jugendliches Alter und Taubstummheit, wenn der Richter das
Vorhandensein des Unterscheidungsvermögens feststellt (Art. 73 und 76), ausser-
dem bei Körperverletzung und bei den Tötungsdelikten der Umstand, dass der
Thäter entweder von dem Verletzten durch schwere widerrechtliche Gewalt-
thätigkeiten zum Zorne gereizt ist oder ihn beim Ehebruch auf frischer That-
betroflfen hat (Art. 411 ff.).
§ 4. Einteilung der strafbaren Handinngen.
Bezüglich der Einteilung der strafbaren Handlungen befolgt auch der
Code V. 1867 das System der Dreiteilung der Delikte in Verbr., Verg. und Über-
tretungen je nach der für eine Handljing angedrohten Strafart (peine crimi-
nelle, peine correctionnelle , peine de police). Dem gegen diese Einteilung
erhobenen Vorwurf der Willkürlichkeit haben die Verfasser des Gesetzes ent-
gegengehalten, dass dieselbe durchaus folgerichtig und gerecht sei, da ja die
Schwere der Strafe von der Schwere der That abhängig sei. Bei der Ten-
denz der Gegenwart, unter den Strafmitteln die Freiheitsstrafe besonders zu
betonen und so durch Schaffung einer nur der Dauer nach verschiedenen
Straffolge dem Strafensystem einen immer mehr einheitlichen Charakter zu
verleihen, würde wohl die einfachere Einteilung der Delikte in schwere und
leichte den Vorzug verdienen; der Gesetzgeber ist jedoch dieser Frage nicht
näher getreten.
Bei der weiteren Einteilung der Verbr. und Verg. in Deliktgruppen
ist der Gegenstand, auf welchen sich der strafbare Angriff richtet, mass-
gebend. Dementsprechend kennt der Code 9 Gruppen von Verbr. und Verg.:
gegen die Sicherheit des Staates, gegen die von der Verfassung gewährleisteten
Rechte, gegen Treu und Glauben, Angriffe gegen die öffentliche Ordnung von
Seiten eines Beamten, ebensolche von selten eines Privatmannes, Delikte gegen
die öffentliche Sicherheit, gegen die Ordnung des Familienlebens, gegen die
öffentliche Sittlichkeit, Verletzung von Personen und Sachbeschädigung. Die
Übertretungen sind nach der Höhe des Strafmasses in 4 Klassen eingeteilt.
Diese Einteilung ist eine summarische und hauptsächlich der Übersichtlichkeit
wegen vorgenommen; eine vollkommen genaue Einteilung der strafbaren Hand-
lungen dürfte überhaupt unmöglich sein. Immerhin hat der Gesetzgeber durch
Schaffung von Unterabteilungen innerhalb der einzelnen Gruppen und durch
Aufstellung eines der Spezialisierung der Strafthaten entsprechend spezialisierten
Strafensystems auch in dieser Beziehung eine massvolle Reaktion gegen das
Verbr. gesichert.
§ 5. Die Strafen.
Über das Strafensystem des Code möge folgendes bemerkt werden.
Verbrechensstrafen sind: Die Todesstrafe, die jedoch seit einer langen
^) Der G.-Entw. über den Kinderschutz füllt diese Lücke aus und setzt das
zehnte Lebensjahr als Grenze für die Zulässigkeit der Strafverfolgung fest.
§ 5. Die Strafen. 465
Reihe von Jahren in Belgien stets umgewandelt wird, sodass Hinrichtungen
thatsächlich nicht mehr stattfinden; Zwangsarbeit auf Zeit oder lebenslänglich;
Einsperrung auf Zeit oder lebenslänglich (ftlr politische Delikte); Zuchthaus
von 6 bis 10 Jahren.
Vergehens- und Übertretungsstrafe ist Gefängnis (emprisonnement),
welches als „emprisonnement correctionnel" eine Dauer von mindestens 8 Tagen
und höchstens 5 Jahren, als „emprisonnement de police'^ eine solche von
mindestens 1 Tage und höchstens 7 Tagen hat.
Die Aberkennung gewisser politischer und bürgerlicher Ehrenrechte findet
sich als Strafe für Verbr. und Verg. angedroht, Geldstrafe und Einziehung
einzelner Gegenstände bei allen Deliktsarten.
Wegen einer Übertretung kann auf Geldstrafe von 1 bis 25 Frcs. er-
kannt wei'den; die geringste Summe bei Verbr. und Verg. ist 26 Frcs., die
höchste in einigen Artikeln vorkommende 10 000 Frcs. Eine Betrachtung der
einschlägigen Artikel des C. p. ergiebt, dass der Gesetzgeber den Bestimmungen
über die Geldstrafe die nötige Beweglichkeit und Anpassung an die Lebens-
verhältnisse gegeben hat. In der Praxis freilich hat man sich dieses nicht zu
nutze gemacht, vielmehr leidet die Handhabung der Geldstrafe in Belgien an
den gleichen Mängeln wie in den übrigen Ländern: die Verurteilten gehören
fast immer der besitzlosen Klasse an, die Strafe ist daher in den meisten
Fällen nicht beizutreiben und muss in Freiheitsstrafe umgewandelt werden.
Ausgehend von dem Grundsatz, dass die Strafe innerhalb der Grenzen
des Notwendigen bleiben muss und die Besserung des Schuldigen stets zu
erstreben ist, hat der Gesetzgeber v. 1867 die Brandmarkung, den Pranger,
die körperlichen und die entehrenden Strafen abgeschafft, indem er richtig
erkannt hat, dass alle diese Bestimmungen des älteren Rechts nicht nur unprak-
tisch, sondern auch gefährlich sind.
Ebenso wird von der Verbannung und der Landesverweisung, als der
bessernden Wirkung der Strafe widersprechend, kein Gebrauch gemacht. Da
im J. 1867 eine Aussicht auf Erwerbung von Eolonieen für Belgien nicht
bestand, so sind auch Deportation und Relegation nicht angedroht.
Da die Todesstrafe durch die Ausübung des Begnadigungsrechts that-
sächlich abgeschafft ist und die Geldstrafe nur eine nebensächliche Rolle spielt,
so beruht das gesamte belgische Strafensystem auf der Gefängnisstrafe, die
damit den Beruf hat, die drei vom Gesetzgeber erstrebten wesentlichen Wir-
kungen der Strafe — Züchtigung, Abschreckung und Besserung — in sich zu
vereinigen. Um diese zu erreichen, hat man als Modus der Strafvollstreckung
die Einzelhaft gewählt, die im G. vom 4. März 1870 vorgeschrieben wird. Die
Folge davon ist, dass die klassische Unterscheidung der Freiheitsstrafen in
Zwangsarbeit, Zuchthaus und' Gef. ihre wesentliche Bedeutung eingebüsst hat
und lediglich auf dem Papiere steht. Da das Zellensystem eine grosse Gleich-
mässigkeit in der Behandlung der Gefangenen mit sich bringt, so unterscheiden
sich die Strafarten nur noch durch ihre Dauer und gewisse Bestimmungen
über die Höhe des den Sträflingen zu belassenden Arbeitsverdienstanteils.
Die zu lebenslänglicher oder langjähriger Einsperrung Verurteilten dürfen
ohne ihre Einwilligung nicht länger als 10 Jahre in Einzelhaft gehalten
werden. Da femer die Einzelhaft als die schwerere Strafe gegenüber der ge-
meinsamen Haft betrachtet wird, so bestimmt das G. v. 1870, dass die Dauer
der in Einzelhaft verbüssten Strafen nach einem im G. aufgestellten Mass-
stabe verkürzt werden soll; die Kürzung ist um so grösser, je länger die
Dauer der zu verbüssenden Strafe ist. Diese auf alle Freiheitsstrafen von
mehr als 1 Monat Gef. Anwendung findende milde Bestimmung bedeutet eine
Abschwächung der Reaktion gegen das Verbr., vor allem bei leichteren Straf-
Strafgesetzgebiing der Gegenwart. I. 30
466 Belgien. — Die übrigen Gesetze straA-echtlichen Inhalts.
thaten. Denn wenn man aacb eine Strafv^erkflrznng bei langer Dauer der
Einzelhaft für erforderlich erachten mag, so ist doch nicht einzusehen, wes-
halb es notwendig oder anch nur zweckmässig ist, die Daner der kurzzeitigen
Freiheitsstrafen noch weiter zu vermindern. Diese Verkürzung ist um so
weniger gerechtfertigt, als der Strafrichter sich darauf beschränkt, die vom G-.
vorgeschriebene Strafe anzuwenden ohne Kücksicht auf die etwa im Verwal-
tungswege vorzunehmende Reduzierung; die Folge ist, dass der Verurteilte die
ihm von Kechts wegen durch den Richter zudiktierte Strafe thatsächlich nicht
erleidet.
Die vorstehenden Ausführungen über das belgische Strafensystem müssen
der Vollständigkeit wegen ergänzt werden durch Erwähnung des O. vom 31. Mai
1888 über die bedingte Verurteilung und die bedingte Freilassung (loi 6tablis-
sant la lib6ration conditionneUe et les condamnations conditionnelles dans le
Systeme p^nal).
Dieses G. schafft ein neues Strafinittel, die bedingte Verurteilung zu
Gunsten solcher Verurteilten, die noch keine Bestrafung erlitten haben und
deren Strafe nicht mehr als 6 Monate Gefängnis beträgt. Es schafft femer
eine neue StrafvoUstreckungsart, die bedingte Entlassung, zu Gunsten solcher
Gefangenen, die sich einer besonderen Berücksichtigung würdig erzeigen und
eine Strafe von mindestens 9 Monaten zu verbüssen haben. ^)
Man darf behaupten, dass der Code v. 1867 in Beziehung auf die
Befolgung humaner Grundsätze einen wesentlichen Fortschritt gegenüber dem
V. 1810 bedeutet. Er atmet den menschenf^reundlichen Geist seiner Zeit, das
Abschreckungsprinzip findet in den Strafmitteln keinen Ausdruck mehr, wo-
gegen der Schwerpunkt in den Besserungszweck verlegt wird. Andererseits
ist er wohl, ohne der widerspenstigen Natur gewisser Verbrecher genügend
Rechnung zu tragen, auf dem Wege der Milde zu weit gegangen.
Zwei neue, von den Kammern noch nicht beratene Gesetzentwürfe wollen
diesen Mangel beseitigen. Ein Entw. vom 5. Juli 1889 über die Anwendung
der Einzelhaft hebt die in dem G. v. 1870 zu Gunsten der in Einzelhaft ge-
haltenen Sträflinge vorgesehene Verkürzung der Strafdaaer auf. Ein anderer
Entw. vom 15. April 1890 will die Mängel beseitigen, welche dem Code in Bezug
auf die Behandlung der Rückfälligen anhaften, und enthält ein System fort-
schreitender Strafschärfung entsprechend der Zahl der vom Verurteilten be-
reits erlittenen Vorstrafen.
n. Die übrigen Gesetze strafrechtliclien Inlialts.
§6.
Der Code v. 1867 regelt nicht die Gesamtheit der strafrechtlichen Materien,
es giebt neben ihm andere G. strafrechtlichen Inhalts: das Mil.-GB. (C. mili-
taire), das Feldgesetz (C. rural), das Forstgesetz (C. forestier) und eine Reihe
anderer Spezialgesetze, deren strafrechtliche Bestimmungen in den Rahmen
des StGB, keine Aufnahme gefunden haben, weil sie sich teils auf besondere
Materien, teils auf besondere Klassen der Bevölkerung, teils auf Gegenstände
veränderlicher Natur beziehen. —
Das Militärstrafgesetzbuch (C. p. militaire) ist vom 17. Mai 1870. — Die
Militärpersonen sind, wie alle anderiBu Bürger, zunächst den Vorschriften des
') Prins, La loi sur la lib^ration conditionneUe et les condamnations condition-
nelles. Brüssel, Muquardt, 1888.
§ 6. Die übrigen Gesetze strafrechtlichen Inhalts. 467
Ck)de V. 1867 unterworfen; in ihrer Eigenschaft als Personen des Soldatenstandes
unterstehen sie jedoch besonderen strafrechtlichen Bestimmangen, welche im
Mil.-StGB. enthalten sind. Da diese durchaus exzeptioneller Natur sind und
lediglich in den Bedürfnissen der militärischen Disziplin ihre Rechtfertigung
finden, so müssen sie sich in den engsten Grenzen halten und die Abweichungen
von den gewöhnlichen StG. auf das geringste zulässige Mass beschränken.
Demgemäss enthält der C. p. militaire nur 58 Artikel. Er behandelt
vor allem Verrat, Spionage, Kapitulation, Verlassen des Postens, Beleidigung
von Vorgesetzten, Ungehorsam im Dienst und Revolte, Gewaltthätigkeiten und
Beschimpfungen, Desertion, endlich Unterschlagung, Diebstahl und Verkauf von
Dienstgegenständen.
Militärstrafen sind: Tod durch die Waffe, Einreihung in eine Strafkom-
panie, Degradation xmd Dienstentlassung. —
Das Feldgesetz vom 7. Oktober 1886, Art. 86—92, bedroht eine Reihe
von feldpolizeilichen Übertretungen mit Polizeistrafe von 1 Fr. Geldstrafe bis
zu 7 Tagen Gefängnis.
Endlich enthält das Forstgesetz vom 19. Oktober 1854 Bestimmungen
über die Verg. und Übertretungen, welche in den der Forstverwaltung unter-
stehenden Wäldern und Forsten verübt werden. Dieselben werden mit Geld-
strafen und in gewissen Fällen mit Gef. bedroht; die Strafverfolgung ist Auf-
gabe der Forstverwaltung. Die Flussfischerei, für die bislang noch der
Titel XXXI der französischen „Ordonnance des eaux et forto^' v. 1669 und
das G. vom 14. Flor6al des J. X massgebend war, wird jetzt durch das G. über
Flussfischerei (loi sur le pßche fluviale) vom 19. Januar 1883 geregelt, durch
welches die Aufsicht über die Flüsse ebenfalls^ der Forstverwaltung zu-
gewiesen wird.
Von den eigentlichen Spezialgesetzen ist das vom 27. November 1891
über die Unterdrückung der Landstreicherei und der Bettelei (loi sur la
r6pression du vagabondage et de la mendicit6) wegen seiner hervorragend
sozialen Bedeutung und seines Einflusses auf die Kriminalität überhaupt eines
der wichtigsten. Zum Zwecke der wirksameren Unterdrückung der erwähnten
Delikte organisiert das G. Asylhäuser, Freischulen und Korrektionsanstalten
unter der Bezeichnung „d6p6ts de mendicitö", in denen Bettler, Landstreicher
und Dirnenbeschützer auf die Dauer von höchstens 7 Jahren untergebracht
werden können.
Andererseits betont das G. den jugendlichen (noch nicht 16 Jahre alten)
Verbrechern gegenüber weniger die Bßstrafung als die Schutzfürsorge, welche
es in den Art. 2 b E. vollkommen systematisch organisiert.
Kinder, denen nur leichte Delikte zur Last fallen (und solche bilden
unter den zur Aburteilung gelangenden die grosse Mehrzahl) können nun nicht
mehr zu Gefängnis verurteilt werden. Der Friedensrichter kann sie entweder
freisprechen oder der Regierung überweisen.
Kinder, welche wegen einer schwereren Strafthat von einem Tribunal
correctionnel zu Gef. verurteilt werden, dürfen nach Verbüssung der Strafe
der Regierung für die Zeit bis zum Eintritt ihrer Volljährigkeit überwiesen
werden.
Die Regierung bringt die ihr überwiesenen Kinder in den staatlichen
Freischulen unter; nach einer Beobachtungszeit von 6 Monaten kann sie die-
selben einem öflTentlichen oder privaten Unterrichts- oder Wohlthätigkeitsinstitut
übergeben oder sie auch zu Landwirten oder Handwerkern in die Lehre
schicken.
Dieses G. bekämpft das Verbrechertum in seiner Wurzel, nämlich der
verwahrlosten und infolgedessen dem Verbrechen verfallenden Jugend* seine
30*
468 Belgien. — Die übrigen Gesetze strafrechtlichen Inhalts.
Bestimmungen bedeuten einen hervorragenden Fortschritt, der darin liegt, dass
das Kind so lange wie möglich vor der Bekanntschaft mit dem Gtet'. behütet
und so gleichzeitig die Zukunft des Kindes wie das Interesse der Gesellschaft
gewahrt wird.
Von den übrigen Spezialgesetzen sind die folgenden zu erwähnen:
!• Das G. vom 20. Dezember 1852 betr. die Bestrafung von Beleidigungen
gegen die Spitzen auswärtiger Regierungen (loi relative ä la r^pression des
offenses envers les chefs des gouvemements 6trangers) und das G. vom
12. März 1858 über die Verbr. und Verg. gegen die internationalen Beziehungen
des Landes (loi sur les crimes et les d^lits qui portent atteinte aux relations
internationales).
Beide G. gehören dem Gebiete des Völkerrechts an und sind unmittelbar
zurückzuführen auf das Prinzip der Neutralität des Landes. Der Umstand,
dass das belgische Gebiet den politischen Flüchtlingen offensteht, bringt die
Gefahr für das Land mit sich, ein Zufluchtsort für Verschwörer zu werden.
Die für Belgien bei dieser Sachlage den übrigen Nationen gegenüber be-
stehenden Verpflichtungen werden durch die G. v. 1852 und 1858 geregelt.
2, Das G. vom 7. Juli 1875 beruht auf derselben Erwägung; es enthält
Strafandrohungen gegen die Aufforderung und das Angebot zur Begehung ge-
wisser Verbr. und die Annahme derartiger Angebote. Es verdankt seine Ent-
stehung dem Umstände, dass 1873 ein Kupferschmied aus Seraing dem Erz-
bischof von Paris brieflich das Anerbieten machte, gegen eine Belohnung von
60000 Frcs. den Fürsten Bismarck zu ermorden. Der Erzbischof sandte den
Brief an die belgische Regierung, die jedoch ausser stände war, eine Ver-
urteilung des Schuldigen herbeizuführen, weil seine That nach richtiger Auf-
fassung unter keine Bestimmung der Strafgesetze fiel. Um diese Lücke aus-
zufüllen, wurde auf Betreiben der Regierung das G. v. 1876 erlassen.
3, Das G. vpm 15. Oktober 1881 über die Aufbewahrung, den Ver-
kauf und den Transport von Schiesspulver, Dynamit und anderen Spreng-
stoffen (loi sur les d6p6ts, döbits et transports de la poudre ä tirer, de la
dynamite et de toutes autres substances explosives) bedroht die Nichtbefolgung
der erlassenen reglementarischen Vorschriften mit Gef. von 16 Tagen bis zu
2 Jahren und mit Geldstrafe von 100 — 1000 Frcs. Wenn die verbotswidrige
Handlung den Tod eines Menschen zur Folge gehabt hat, kann auf Gef. bis
zu 5 Jahren erkannt werden. Eine königliche Vdg. vom 1. Dezember 1891
enthält eine Zusammenstellung von Ausführungsvorschriften für dieses Gesetz.
4. Das G. vom 26. Dezember 1881 bestraft die Aufstellung unrichtiger
Bilanzen und Geschäftsübersichten von Handelsgesellschaften. Im Sinne dieses
G. existiert eine Bilanz von dem Augenblicke an, wo sie den Aktionären oder
Gesellschaftern zur Kenntnisnahme vorgelegt ist. Wer von einer gefälschten
Bilanz usw. Gebrauch macht, wird gleich den\jenigen bestraft, der sie fälschlich
angefertigt hat. Als Strafe wird angedroht: Zuchthaus und Geldstrafe von
26 bis 2000 Frcs.
5. Das Jagdgesetz (loi sur la chasse) vom 28. Februar 1882 will einen
dreifachen Zweck besser erreichen, als es vordem möglich war: die Bestrafung
des Wilddiebstahls, den Schutz der Forstschutzbeamten und die Erhaltung des
Wildstandes. Den Kammern waren zahlreiche Petitionen zugegangen, in wel-
chen um energische Massnahmen gegen die in fortwährender Zunahme begrif-
fenen Wilddiebstähle und die dieser Erscheinung zu Grunde liegenden Ursachen
gebeten wurde. Der Hauptam'eiz für die Wilddiebe bestand in der Leichtig-
keit, die Früchte ihrer Verbr. zu verkaufen und die niedrigen Strafen, die
im Falle ihrer Verurteilung über sie verhängt wurden. Diesen Ubelständen
sucht das erwähnte G. abzuhelfen.
§ 6. Die übrigen Gesetze strafrechtlichen Inhalts. 469
6. Das Gesetz gegen die Trunksucht (loi sur Tivresse publique) vom
August 1887 bildet den ersten Schritt der Gesetzgebung auf dem Wege de9
Kampfes gegen den Alkoholismus. Das G. bestraft als Verg.: die Trunken-
heit, insofern sie öffentlich wahrgenommen wird; die Verabreichung von Spi
rituosen an offenbar Betrunkene oder solche Personen unter 16 Jahren, die
sich nicht unter der Aufsicht eines Erwachsenen befinden, seitens der Schank-
wirte und Kaufleute; die Aufforderung zu einer Trinkwette oder die Annahme
einer solchen, wenn der Austrag derselben Trunkenheit zur Folge gehabt hat;
das Peilbieten und Verkaufen von Spirituosen ausserhalb der Caf6s, Schenken
oder Verkaufsstellen, Auch der Verkauf von Getränken und Genussmitteln
in solchen Häusern, in denen gewerbsmässig Unzucht getrieben wird, ist mit
Strafe bedroht.
Übertretung dieser Vorschriften wird mit Geldstrafe und Gef. bestraft;
für den Rückfall . sind bei jedem einzelnen Delikt besondere Verschärfungen
vorgesehen. Es kann auch auf Verbot des Betriebes der Schankwirtschaft er-
kannt werden.
7. G. über die Fresse. Der Art. 18 der belgischen Verfassung beschäf-
tigt sich mit der Presse, stellt den Grundsatz der Freiheit derselben auf, ver-
bietet die Censur und die Forderung einer Kaution und ordnet, entgegen den
aUgemeinen Regeln von der Teilnahme, an, dass, wenn der Verfasser einer
Schrift bekannt und in Belgien wohnhaft ist, weder der Drucker noch der
Verbreiter strafrechtlich verfolgt werden dürfen.
Die übrigen auf die Presse bezüglichen Bestimmungen enthalten: die
Vdg. über die Presse vom 20. Juli 1831, das G. vom 6. April 1847 und den
Art. 384 des C. p. v. 1867.
Das Eigentümliche der belgischen Pressgesetzgebung liegt darin, dass sie
eine reine Strafgesetzgebung ist; die Anwendung von Präventivmassregeln ist
gänzlich untersagt, und die Obrigkeit schreitet nur ein, um bereits begangene
Delikte zu bestrafen.
Der Begriff des Pressdelikts ist gesetzlich nicht fesjtgestellt. Wissenschaft
und Praxis nehmen ein solches dann als vorliegend an, wenn eine mittels der
Presse begangene, nach gemeinem Recht strafbare Handlung eine missbräuch-
liehe Gedankenkundgebung enthält. Die Geschworenen haben daher die der
That zu Grunde liegende Verschuldung zu prüfen; eine objektiv rechtswidrige,
jedoch ohne Vorsatz begangene Handlung bildet kein Pressdelikt. — So ge-
hören zu denselben namentlich: der böswillige Angriff auf die verbindliche
Kraft der Gesetze und die Aufforderung zum Ungehorsam gegen dieselben;
der böswillige Angriff gegen die verfassungsmässigen Rechte des Königs,
gegen die Unverletzlichkeit seiner Person, gegen die Rechte des königlichen
Hauses, gegen die Rechte oder die Autorität der Kammern; der böswillige
Angriff auf die Ehre einer Person ; die Aufreizung zum Zweikampf — voraus-
gesetzt, dass alle diese Handlungen mittels der Presse vorgenommen werden.
Bemerkt sei, dass die Verfassung unter „Presse** die typographische, autogra-
phische und lithographische Presse, sowie den Bilder- und Schriftdruck versteht.
8. Die Gewerbegesetzgebung ist in Belgien noch im Entstehen be-
griffen. Von den bereits erlassenen G. sind folgende zu erwähnen:
a) Das G. vom 21. Oktober 1887 über die Auszahlung des Arbeits-
lohnes (loi sur la r^glementation du payement des salaires aux ouvriers).
Dieses G. schreibt vor, dass die Arbeitslöhne in Metallgeld oder Papier-
geld mit Zwangskurs bezahlt werden müssen, und zwar diejenigen, welche
5 Frcs. täglich nicht übersteigen, mindestens zweimal monatlich; es untersagt
die Auszahlung in Schankwirtschaften, Destillationen, Verkaufsstellen von
geistigen Getränken oder den an derartige Lokale anstossenden Räumlicli-
470 Belgien. — Die übrigen Gesetze strafrechtlichen Inhalts.
keiten und verbietet femer den Arbeitgebern den Abschloss von Verträgen,
durch welche sich die Arbeiter der ft*eien Verfügung über ihren Lohn begeben.
Zuwiderbandlungen werden mit Geldstrafe von 60 bis 2000 Frcs. bedroht.
b) Das G. vom 22. Dezember 1889 über die Beschäftigung von Frauen,
jugendlichen Arbeitern und Kindern in gewerblichen Betrieben (loi sur le tra-
vail des femmes, des adolescents et des enfants dans les Etablissements in-
dustriels).
Dieses G. untersagt die Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren, die
Verwendung von Mädchen und Frauen unter 21 Jahren zu unterirdischen
Arbeiten in Gruben, Bergwerken und Steinbrüchen, femer unter gewissen
Umständen die Beschäftigung von Kindern, jugendlichen Arbeitern, sowie Mäd-
chen und Frauen unter 21 Jahren mit Arbeiten, welche gefährlich sind oder
offenbar ihre Kräfte übersteigen.
Leiter industrieller Betriebe, Aufseher usw., die das G. wissentlich über-
treten, werden mit Geldstrafe bis zu 1000 Frcs. bedroht. Auf Grund der
Art. 269 — 274 des C. p. werden diejenigen, welche der gesetzlich organisier-
ten Überwachung Hindemisse in den Weg stellen, mit (Gefängnis bestraft.
9« Steuergesetzgebung. Das wichtigste G. ist das vom 26. August
1822; es bildet die Grundlage aller späteren auf Verwaltung der direkten
und indirekten Steuern bezüglichen Gesetze. Obgleich die Bestimmungen
desselben ursprünglich nur für die Zölle und Verbrauchsabgaben erlassen
waren, sind sie doch zum Teil später auch auf einige Arten der direkten
Steuern ausgedehnt. — Zahlreiche Abänderungen, welche das G. später er-
litten hat, Ausführungsbestimmungen und auf dasselbe bezügliche Spezial-
gesetze erschweren das Studium ungemein. Für die hier in Betracht kom-
mende Materie genügt es, zu eitleren: das G. vom 6. April 1843 über die
Bestrafung der Defraudationen (loi sur la r^pression de la fraude) und das
G. vom 6. August 1849 über die Behandlung der Transit- Waren (loi sur les
marchandises en transit).
Das G. vom 26. August 1822 enthält in Kap. XX Art. 205—232 Be-
stimmungen über die Strafen im allgemeinen: Beschlagnahme, Einziehung,
Gef. und Schliessung von Fabriken, Hüttenwerken und Werkstätten.
Durch die Art. 18 — 36 des G. v. 1843 über die Bestrafung der Defrau-
dationen wird eine grosse Anzahl von Bestimmungen des G. vom 26. August
1822 teils abgeändert, teils aufgehoben. Das erstere schliesst sich eng an
das letztere an und bildet mit ihm gewissermassen ein einheitliches Ganzes.
Das G. wurde seiner Zeit mit Rücksicht darauf erlassen, dass die erfolgte
Erhöhung der Abgaben einen starken Anreiz zur Steuerhinterziehung bildete.
Seitdem hat die Regierung durch ein Reglement vom 27. Februar 1852 und
verschiedene Verordnungen einige Erleichterungen auf dem Gebiete des Steuer-
wesens zu Gunsten von Handel und Industrie eintreten lassen. Das G. v. 1849
über den Transitverkehr (modifiziert durch die G. vom 3. März 1851, 1. Mai
1858 und 27. Mai 1861) enthält im Kap. V ein Strafensystem, nach wel-
chem es die Übertretungen des G. mit Geldstrafen bedroht.
Wenn mildernde umstände vorliegen und anzunehmen ist, dass die Ge-
setzesübertretung nicht in betrügerischer Absicht, sondern aus Nachlässigkeit
oder Versehen begangen ist, kann die Verwaltung sich mit dem Thäter in
Güte einigen (Art. 229 des G. v. 1822).^)
Es giebt in Belgien kein besonderes StG. gegen den Bankerutt. Die
*) Vgl. über die belgische Steuergesetzgebung den Kommentar zu dem G. vom
26. August 1822 von H. P. Adam. Brüssel, Ad. Wahlen & Co., 1837. Code de contri-
butions directes, douanes et accises. Imprimerie Guyot, 1871.
§6. Die übrigen Gesetze strafrechtlichen Inhalts. 471
KonkursordnoDg vom 18. April 1851 (loi sur les faillites, banqueroutes et
sursis) bestimmt die Begriffe des eiDfachen nnd des betrügerischen Bankerutts
und giebt in den Art. 573 — 578 an, wann die eine oder andere Art vorliegt.
Die Strafbestimmungen gegen den einfachen und den betrügerischen Banke-
rutt, sowie gewisse betrügerische Manipulationen innerhalb eines Konkursver-
fahrens, enthalten die Art. 489 und 490 des C. p.
Der Wucher als besonderes Delikt ist dem belgischen Recht fk*emd: die
Gewährung von Darlehn zu einem höheren als dem gesetzlichen Zinsfusse wird
lediglich dann, und zwar als Yertrauensmissbrauch (abus de confiance) bestraft,
wenn der Darlehnsgeber gewohnheitsmässlg handelt und die Leidenschaften
und Schwächen des Darlehnsnehmers ausbeutet. Dieses ist der Inhalt des
Art. 494 des C. p. — Abgesehen von diesem Falle herrscht völlige Freiheit
der Gewährung von Darlehen. Ein G. vom 5. Mai 1865 spricht aus, dass
der vertragsmässige Zinsfoss von den Vertragschliessenden beliebig hoch fest-
gesetzt werden kann.
3. Luxemburg.
Die StOgebung des Grossherzogtums Luxemburg darf auf Origmalität
keinen Anspruch erheben: das Hauptstrafgesetz bildet, abgesehen von gering-
fügigen Abänderungen, eine wörtliche Wiederholung des belgischen StGB. v.
1867, die Strafhebengesetze sind meistens der Gesetzgebung der Nachbar-
länder entlehnt.
Nach der Lostrennung von Frankreich hatte Luxemburg zunächst die
französische Gesetzgebung beibehalten. Indes hatte schon vor der Annahme
der belgischen StGgebung das französische System erhebliche Abänderungen
erfahren. Wie in anderen Ländern, in welche das französische StGB. Eingang
gefunden hatte, war auch in Luxemburg der Gesetzgeber bestrebt gewesen,
die dem Repressionssystem des Kaiserreichs innewohnenden ausserordentlichen
Härten zu mildem und durch Einführung der von der fortschreitenden (Zivili-
sation und der Entwicklung gewisser Institutionen des öffentlichen Lebens ge-
forderten Bestimmungen zu modifizieren.
So war durch G. vom 9. September 1814 und königliche Vdg. vom
20. Januar 1815 den Gerichten gestattet, im Falle des Vorliegens mildernder
Umstände die Strafmasse bei Zuchthaus und Zwangsarbeit herabzusetzen.
Durch königliche Vdg. vom 31. Dezember 1841 und die G. vom 9. Dezember
1861 und 10. Januar 1863 war diese Befugnis nach und nach auf alle Strafarten
ausgedehnt worden. (Memorial du Grand-Duch6 de Luxembourg, Jahrg. 1862
I S. 126; Jahrg. 1863 I S. 25.) Jetzt gilt bezüglich dieser Materie das G.
vom 18. Juni 1879, welches den Gerichten ganz allgemein die BeftLgnis bei-
legt, mildernde Umstände zu berücksichtigen (Pasinomie luxembourgeoise,
Luxemburg, bei Bück).
Das Grundgesetz (loi fondamentale) v. 1815 hatte die Strafe der Ver-
mögenseinziehung aufgehoben; die Verfassung vom 17. Oktober 1868, welche
die Wiedereinführung der Konfiskation für die Zukunft als unstatthaft erklärt,
schafit ausserdem die Todesstrafe für politische Delikte, den bürgerlichen Tod
und die Brandmarkung (fiötrissure) ab. (Art. 17 und 18,) (Ruppert: Organi-
sation politique, judiciaire et administrative du Grand-Duchö de Luxembourg,
Luxemburg bei Bück.)
Schon vor der allgemeinen Reform des StR. hatten die G. vom 25. No-
vember 1854 betr. die Körperverletzungen, Sittlichkeitsdelikte und den Arrest-
bruch (loi sur les coups et blessures, sur Tattentat aux moBurs et sur Tenl^ve-
ment et la destruction d'objets saisis) und vom 18. Dezember 1855 über
die Tötimgsdelikte (loi sur Tinfanticide et Thomicide) Verbesserungen ein-
geführt, welche den Forderungen der Theorie und der Praxis entsprachen.
Ausser einigen weniger bedeutenden G. sind hier femer zu erwähnen
die G. über die Eisenbahnpolizei (sur la police des chemins de fer) vom
Luxemburg. 473
17. Dezember 1859; über die Zuständigkeit der Polizeigerichte (sur la compö-
tence des tribunaux de police) vom 20. Januar 1863; über die Presse (sur la
presse) vom 20. Juli 1869; über die Wahlen (sur les ^lections) vom 28. Mai
1879 (vgl. Pasinomie luxembourgeoise zu den betreffenden Daten).
Die meisten Bestimmungen dieser Spezialgesetze sind mit Abänderungen
und im allgemeinen milderen Strafrahmen aufgenommen in den am 18. Juni
1879 veröffentlichten C. p. luxembourgeois.
Die in demselben vorkommenden Abweichungen von dem Texte des
belgischen StGB, zerfallen in drei Arten:
L solche, welche lediglich eine Textverbesserung, nicht aber eine Ab-
änderung der Bestimmung enthalten;
8. solche, die den Zweck haben, eine Bestimmung den besonderen Ein-
richtungen (z. B. des Gefängniswesens) Luxemburgs anzupassen;
3. solche, die materielle Änderungen herbeiführen.
In der (bei Bück erschienenen) amtlichen Ausgabe sind diese Abände-
rungen kenntlich gemacht, indem Abänderungen und Zusätze zu den ent-
sprechenden belgischen Paragraphen, sowl^ völlig neue Bestimmungen mit
Kursivschrift gedruckt sind.
Die wesentlichsten Änderungen beziehen sich auf die Behandlung der zu
Zuchthaus und Zwangsarbeit Verurteilten (Art. 14), die Bestimmungen über
das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen (59 — 62), bedingte Frei-
lassung (100), Aufforderungen und Angebote zur Begehung gewisser Verbr.
(331), Totschlag, begangen um die Verübung einer Notzucht zu erleichtem
oder sich die Straflosigkeit für dieselbe zu sichern (376), Zweikampf (426 und
432), Chantage (besondere Art der Erpressung) (470), Verheimlichung des
Leichnams eines Neugeborenen (340), Schamverletzung (373), Kindesmord
(419), Delikte gegen gesetzlich bestehende Körperschaften (448) und Arrest-
bruch (607).
Diese teils durch die Erfahrung als zweckmässig erkannten, teils durch
die besonderen Verhältnisse des Landes bedingten Neuerungen atmen den-
selben Geist der Milde und Gerechtigkeit wie das Werk des belgischen Gesetz-
gebers von 1867. Sie sind Gegenstand eingehender Erörterungen in den
juristischen Körperschaften und dem Staatsrat gewesen, dessen Äusserungen
abgedruckt sind in dem Compte rendu des s^ances de la chambre des döput^s
du Grand-Duch6 de Luxembourg, Session extraordinaire du 19 — 20 juillet 1876
et Session legislative de 1876 ä 1876 (9. November 1876 — 21. Juni 1876,
Schriftstücke und Anlagen). Nypels, Professor des StR. an der Universität
Lüttich, war von der luxemburgischen Begierung beauftragt, die in der Praxis
zum Vorschein gekommenen Lücken und Mängel des belgischen StGB, zu be-
zeichnen und Abänderungsvorschläge zu machen. Seine, vom Gesetzgeber im
weitesten Umfange berücksichtigten Bemerkungen sind in dem erwähnten
Compte rendu a. 0. enthalten.
Diese vorbereitenden Studien mit den darüber stattgehabten Debatten
der luxemburgischen Deputiertenkammer (Compte rendu, sessions legislatives de
1876—1877 und 1878—1879) finden ihre natürliche Ergänzung in den Kom-
missionsvorarbeiten und den Sitzungsberichten der belgischen Kammern.
Die Entsch. der luxemburger Gerichte werden in der „Pasicrisie luxem-
bourgeoise" (bei Bück erscheinend) abgedruckt; für das Studium von Spezial-
frsLgen ist die Berücksichtigung der belgischen Litteratur und Rechtsprechung
unumgänglich.
Vor und nach dem C. von 1879 ist eine grosse Anzahl von Spezial-
gesetzen strafrechtlichen Inhalts erlassen, welche am Ende der offiziellen
Ausgabe des C. (Ausg. v. 1879, S. XXXVII flF.) vollzählig aufgeführt sind.
474 Luxemburg.
Bezüglich des Wortlauts ihrer Bestimmungen und die Verweise auf die Vor-
arbeiten gentigt der Hinweis auf die Pasinomie luxembourgeoise, wo auch die
nach dem 19. Juni 1879 erlassenen Spezialgesetze angegeben sind.
Der geringe Umfang der speziell luxemburgischen StR.-Litteratur erklärt
sich zur Genüge aus der Abhängigkeit seiner Gesetzgebung von der der
Nachbarländer. Erwähnt seien: Eyschen, Le droit public du Grand-Duch6 de
Luxembourg (Preiburg i. B., Mohr, 1890). Speyer, Das Polizeigericht. Luxem-
burg 1880, bei Schroell. Keucker, Le code de la pßche. Luxemburg 1888,
bei Bück. Ulveling, Les 6trangers dans le Luxembourg. Paris 1890, bei
Arth. BouBseau.
4. Monaco.
Bibliographie. Amtliche Textausgabe des Code p^nal vom 17. Dezember
1874. Monaco, Imprimerie du Journal, 1875.
Eine besondere Litteratur für das StR. von Monaco dürfte nicht vorhanden sein,
ist auch, wegen der völligen Abhängigkeit desselben von der französischen Gesetz-
gebung und Wissenschaf t, entbehrlich. Fortlaufende Berichte über die in Monaco er-
lassenen G. (Ordonnances souveraines) enthält das von der „Soci^tö de l^gislation
compar^e^ zu Paris herausgegebene „Annuaire de l^gislation ^trang6re^. Mitteilungen
strafrechtlichen Inhalts finden sich in Bd. VII (1877) S. 485, XU (1882) S. 729, XIII
[1883) S. 489, XV (1885) S. 356, XVI (1886) S. 445—447, XVII (1887) S. 542, XVIII (1888)
S. 582, XIX (1889) S. 489, XX (1890) S. 462. Diese sind, mit Ausnahme des ersten von
M. Georges Louis herrührenden, sämtlich von Dr. Christian Daguin, Advokaten an
der „Cour d'Appel'* in Paris verfasst und bei der Ausarbeitung der folgenden kurzen
Skizze benutzt.
I. Einleitung. Das selbständige Fürstentum Monaco (Flächeninhalt von
15 Quadratkilometer und etwa 12000 ansässige Einwohner) wurde von Frank-
reich, unter dessen Schutzherrschaft es bereits seit der Zeit Ludwig des XIII.
gestanden hatte, im J. 1792 annektiert, erhielt durch den Pariser Frieden
(1814) die Selbständigkeit wieder und wurde durch den zweiten Pariser Frieden
vom 20. November 1815 dem Protektorat des Königreichs Sardinien unterstellt.
Infolge einer Unruhe in dem Fürstentume liess Karl Albert von Sardinien
1848 von den drei Städten desselben zwei (Mentone und Roccabruna) besetzen
und mit Sardinien vereinigen, zu dem sie gehörten, bis sie im J. 1860 gleich-
zeitig mit der Grafschaft Nizza von Frankreich einverleibt wurden.
Die wichtigste Grundlage der staatsrechtlichen Verhältnisse bildet die
am 9. November 1865 mit Frankreich abgeschlossene „Convention relative ä
Tunion douani^re et aux rapports de voisinage". Wichtige Zweige der Verwal-
tung werden durch französische Beamte versehen; so die Erhebung der Zölle,
Post- und Telegraphenwesen, Münzprägung. Abgesehen von diesen freiwillig
vorgenommenen Beschränkungen ist der regierende Fürst im Vollbesitze der Sou-
veränetät. Die Gesetze werden vom Staatsrate, der lediglich beratende Stimme
hat, ausgearbeitet, vom Fürsten unter Gegenzeichnung des Staatssekretärs er-
lassen und vom „Tribunal supörieur" in das Gesetzesregister eingetragen. Der
Staatsrat, dessen Organisation vom J. 1857 datiert, besteht aus fünf Mitgliedern;
der Vorsitzende führt den Titel Gouverneur g^n^ral und ist der erste Beamte
des Landes; die anderen Mitglieder werden vom Fürsten aus den rechtskun-
digen Einwohnern des Fürstentums ernannt.
Die Gerichtsverfabsung des Landes ist einfach. In erster Instanz ent-
scheidet der Friedensrichter (juge de paix); das Obergericht (Tribunal sup6rieur),
dessen Verhältnisse durch eine Ordonnance vom 10. Juni 1859 (abgeändert am
476 Monaco.
31. Januar 1883) geregelt sind, entscheidet in letzter Instanz über die Bemfongen
gegen die Erkenntnisse des Friedensrichters, sowie in erster und letzter Instanz
in den die Zoständigkeit desselben überschreitenden Sachen. Das Obergericht
besteht ans dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und drei Mitgliedern. Schwur-
gerichte sind in Monaco unbekannt; bei der Abnrteilnng vonVerbr. wirken
ansser drei rechtsgelehrten Mitgliedern des Obergerichts drei aus dem G^meinde-
rat von Monaco genommene Laienrichter mit.
Wie es bei der Lage nnd den Verwaltmigsverhältnissen des Landes na-
türlich ist, steht auch die Gesetzgebung von Monaco, zwar nicht formell-staats-
rechtlich, aber doch inhaltlich in einem vollständigen Abhängigkeitsverhältnis zu
Frankreich. In der Zeit von 1792 — 1815 war die Gültigkeit der französischen
Gesetze auf Monaco ausgedehnt. Nach Wiedererlangung der Selbständigkeit
wurde eine Gesetzgebungskommission eingesetzt, um die französischen Ge-
setze auf ihre Brauchbarkeit für Monaco zu prüfen. Gegenwärtig besitzt das
Land eine grosse Anzahl eigener Gesetze, von denen auf strafrechtlichem
Gebiete die StPO. (C. dlnstr. crim.) vom 31. Dezember 1873 und das StGB,
die wichtigsten sind.
IL Das StGB, vom 19. Dezember 1874 und sein Verhältnis zum
französischen Code p^nal von 1810. Das gegenwärtig in Monaco geltende
StGB, ist vom regierenden Fürsten Karl auf Vorschlag der Gesetzgebungs-
kommission und nach Anhörung des Staatsrats am 18. Dezember 1874 erlassen
und am 1. Januar 1875 in Kraft getreten. Es ist, abgesehen von wenigen,
später zu erwähnenden Einzelheiten, eine fast wörtliche Wiederholung des
jhranzösischen C. p. von 1810 in der Gestalt, die dieser zur Zeit der Ausarbei-
tung des GB. hatte. Die vorhandenen Abweichungen erklären sich teils — wie
die einfachere Gestaltung des Strafensystems — aus den räumlichen Verhält-
nissen des Fürstentums, teils — wie die Aufnahme civilrechtlicher oder press-
rechtlicher Vorschriften (Art. 67, 266 — 273) in das StGB. — aus einer anderen
Auffassung über die gesetzgeberische Technik. Unterschiede, die auf eine
abweichende Auffassung der Grundprinzipien des StR. zurückzuführen wären,
sind nicht nachweisbar. Im übrigen finden sich redaktionelle Änderungen
einzelner Art. und geringe Abweichungen in den Strafandrohungen, sowie in
der systematischen Anordnung, von denen besonders die letzteren nicht immer
als Verbesserungen des Originals bezeichnet werden können. Immerhin hat
aber das GB. vor dem französischen C. p., der in seiner heutigen Gestalt nur
noch den an allen Ecken und Enden mit Ergänzungs- und Abänderungsgesetzen
aller Art bis zur Unkenntlichkeit entstellten Rumpf eines einstmals glänzenden
G^setzgebungswerkes bildet, den nicht zu unterschätzenden Vorzug der grösseren
Übersichtlichkeit und praktischen Brauchbarkeit.
Das GB. (abgekürzt: Mon.) enthält 485 Art. und zerfällt in vier Bücher.
Ich verweise für die Analyse desselben im allgemeinen auf den in diesem Bände
enthaltenen Aufsatz Albert Rivi^res über das StR. der französischen Republik
und beschränke mich im folgenden auf die Hervorhebung derjenigen Punkte,
in denen es von dem französischen StGB, (abgekürzt: C. p. fir.) abweicht, je-
doch unter Ausserachtlassung aller lediglich die Fassung oder das Straftnass
berührenden Unterschiede.
Buch I. Einleitende Bestimmungen. Art. 1 — 4 (Einteilung der Straf-
thaten, Versuch, nullxmi crimen sine lege) = C. p. fr. Art. 1 — 4. Die Anord-
nung des Art. 5 des letzteren, dass die Bestimmungen des StGB, auf Militär-
delikte keine Anwendung finden, fehlt bei Monaco.
Einziger Titel: Strafensystem (Des peines en matiöre criminelle, cor-
rectionnelle et de police); enthält die Art. 5 — 55, die im wesentlichen den
Art. 6 — 58 und, soweit sie sich auf Übertretungsstrafen beziehen, den Art.
Monaco. 477
464 — 466 des C. p. fr. entsprechen. Jedoch hat Monaco den Vorzug eines
einfacheren Strafensystems und kennt weder die Verbannung in der Form
der „d6portation^' noch die Haft (d6tention). Die Todesstrafe ist beibehalten,
und wird in folgenden Fällen angedroht: Angriff auf das Leben oder die
Person des Fürsten, Art. 76; auf das Leben der Mitglieder der fürstlichen
Familie, Art. 77; Mord, Art. 281, 287; Aszendententotschlag, Art. 284, 287;
Kindesmord, Art. 286, 287; Vergiftung, Art. 286, 287; für gewisse schwere
Fälle des Totschlags, Art. 289; Brandstiftung in mehreren Fällen, Art. 441,
442 und Wasserverunreinigung, wenn dieselbe den Tod eines Menschen ver-
ursacht hat, Art. 470. — Die für Frankreich erst durch ein G. v. 1885 durch
eine andere Strafe (interdiction de s^jour) ersetzte Stellung unter Polizeiaufsicht
(renvoi sous la surveillance speciale de la haute police) ist in das StGB, von
Monaco übergegangen (Art. 10, 41 — 44). — Die in Monaco zu Gef., Zuchthaus
und Zwangsarbeit verurteilten Personen verbüssen ihre Strafe in französischen
Anstalten (Art. 21 des Abkommens von 1865).
Buch II (Überschrift: Des personnes punissables, excusables
ou responsables, pour crimes ou pour d61its) zerfällt in drei Kap. und
enthält die Art. 56 — 69, die den Art. 59 — 74 des C. p. fr. entsprechen, ab-
gesehen von folgenden Punkten. Nach Art. 57 Abs. 4 wird als Teilnehmer
an einem Verbr. und Verg. auch angesehen, wer zur Begehung desselben
in irgend einer Weise öffentlich mit Erfolg aufgefordert hat. Der Art. 67
statxuert eine sehr weitgehende Schadensersatzverbindlichkeit für solche Per-
sonen, die zwar bei der Begehung des Delikts nicht beteiligt sind, aber zu
dem Thäter in einem nahen persönlichen Verhältnis stehen (Eltern, Vormünder,
Lehrherren, Schiffskommandanten usw.). Der Gastwirt, der eine Person länger
als 24 Stunden beherbergt, haftet, wenn diese während dieser Zeit ein Delikt
begeht, dem Beschädigten, wenn er es unterlassen hat, den Namen des ersteren
in seine Bt^cher einzutragen (Mon. Art. 68, C. p. fr. Art. 73).
Buch in. Die einzelnen Verbr. und Verg. (Des crimes et d^lits et
de leur punition); Art. 70 — 471; zwei Titel.
Erster Titel. Strafbare Handlungen gegen den Staat (Crimes et d^lits
contre la chose publique); Art. 70 — 279; drei Kap. — Kap. I. Verbr. und
Verg. gegen die Sicherheit des Staates; vier Abschnitte. — 1. Abschn. Delikte
gegen die äussere Sicherheit des Staates; Art. 70 — 75 = Art. 75, 77, 78, 80,
82, 85 C. p. fr.; jedoch wird das Waffentragen gegen das Fürstentum und
der Landesverrat nicht, wie in Prankreich, mit dem Tode, sondern mit lebens-
länglicher Zwangsarbelt bedroht. — 2. Abschnitt. Anschläge gegen das Staats-
oberhaupt und dessen Angehörige; Art. 76 — 86 entsprechen im wesentlichen
den Art. 86 — 90 des C. p. fr.; der Art. 87 enthält eine dem französischen
Bechte. fremde Strafandrohung gegen die Beschimpfung von Abzeichen der
Obrigkeit und das Tragen gewisser Abzeichen. — 3. Abschnitt. Strafbare
Handlungen gegen die innere Ruhe und Ordnung des Staates (Des crimes
tendant ä troubler Tlfitat par la guerre civile, Tillögal emploi de la force
arm6e, la d^vastation et le pillage); Art. 88 — 94 = Art. 91 — 100 C. p. ff. —
4. Abschnitt. Anzeige und Nichtanzeige geplanter Angriffe auf die Sicherheit
des Staates; einziger Art. 95 = Art. 108 C. p. fr. — Kap. II. Angriffe gegen
die Freiheit (Attentats k la libert6) Art. 96—100 = C. p. fr. Art. 114, 117,
119 — 121. — Kap. III. Verbr. und Verg. gegen den öffentlichen Frieden
(Crimes et dölits contre la paix publique). 1. Abschnitt. Fälschungsdelikte
(Du faux); die Art. 101 — 129 entsprechen mit geringen Abweichungen den
Art. 132 — 164 des C. p. fr.; jedoch enthält das StGB, von Monaco keine Be-
stimmungen, die den Art. 155 — 158 des C. p. fr., und umgekehrt letztere
keine Vorschriften, die den Art. 107 und 126 von Monaco entsprechen. —
478 Monaco.
2. Abschnitt. Strafbare Handlungen öffentlicher Beamten im Amte (De la for-
faitnre et des crimes et d^lits des fonctionnaires publica dans Texercice de
leurs fonctions); Art. 130— X60 = C. p. fr. Art. 166—175, 177—181, 184—186,
188—198; die Art. 176, 182, 183 des letzteren fehlen bei Monaco; Art. 187
C. p. fr. (Verletzung des Briefgeheimnisses) = Monaco Art. 410. ünbegreif-
licherweise wird in diesem Abschnitt sowohl vom C. p. fr. (Art. 184 am Ende)
als auch von Monaco (Art. 157) der von einer Privatperson begangene Haus-
friedensbruch behandelt. — 3. Abschnitt. Störungen der öffentlichen Ord-
nung durch Geistliche in Ausübung ihres Amtes (Des troubles apport6s k
Tordre public pas des ministres des cultes dans Texercice de leur minist^re);
Art. 161—168 = C. p. fr. Art. 199-^206. — 4. Abschnitt. Auflauf, Wider-
stand, Ungehorsam und andere Verstösse gegen die Obrigkeit (Attroupements,
r6sistance, d^sob^issance et autres manquements envers Tautoritä publique);
die Art. 169 — 174 über Auflauf fehlen im C. p. fr., entsprechen aber dem
französischen Spezialgesetze vom 9. Juni 1848; Art. 175 — 218 = C. p. fr.
Art. 209—216, 218—226, 228—234, 236—246, 247—257; die Art. 217 (auf-
gehoben), 227, 235, 246 des C. p. fr. fehlen bei Monaco; die Art. 219—230
behandeln Delikte gegen Eisenbahnen und Telegraphen, die in Frankreich
durch besondere 6. (bezüglich der Eisenbahnen: G. vom 15. Juli 1845) ge-
regelt sind und daher im C. p. fehlen; Monaco Art. 231, 232, 234—240 = C. p.
fr. Art. 258 — 264; Monaco Art. 233 verbietet das Tragen von Maskeraden-
anzügen, Anzügen ausserhalb der zugelassenen Zeit, sowie das Tragen von
religiösen und weltlichen Amtstrachten als solchen überhaupt. — 5. Abschnitt.
Verbindungen von Verbrechern, Landstreicherei, Bettelei, Trunkenheit; Art.
241—254 = C. p. fr. Art. 265—272, 274, 276—281; die Art. 255—258 be-
zwecken die Bekämpfung der öffentlich zu Tage tretenden Trunkenheit; dem
gleichen Zwecke dient das französische Spezialgesetz vom 23. Januar 1873.
— 6. Abschnitt. Delikte, welche begangen werden durch Verteilung von
Schriften, Bildern oder Druckwerken, die den Namen des Verfassers, Druckers
oder Zeichners nicht enthalten; die Art. 259 — 264 entsprechen den (jetzt auf-
gehobenen) Art. 283 — 289 des C. p. fr.; die Art. 265—273 enthalten erheb-
liche Erweiterungen der früheren französischen Bestimmungen; vgl. über diesen
Abschnitt und das Verhältnis desselben zum französischen Pressgesetze vom
29. Juli 1881 den Aufsatz von Daguin im Annuaire des l^gislations ^trang^res
Bd. XIX. S. 493 Anm. 1. — 7. Abschnitt. Unerlaubte Vereine und Versamm-
lungen; Art. 274—279 = C. p. fr. Art. 291—294 in der durch die G. vom
10. April 1834 und 6. Juni 1868 hergestellten Fassung.
Zweiter Titel. Verbr. und Verg. gegen Privatpersonen Art. 280 — 471.
Zwei Kap. — Kap. I. Verbr. und Verg. gegen die Person; 7 Abschnitte. —
1. Abschnitt. Tötungsdelikte und Bedrohung; Art. 280 — 295 = C. p. fr.
Art. 295 — 308 mit unwesentlichen Abweichungen. — 2. Abschnitt. Vorsätz-
liche Körperverletzung und die anderen vorsätzlichen Delikte gegen die Per-
son; Art. 296—306 = C. p. fr. Art. 309—318 und Art 101. Die Art. 307—313
von Monaco enthalten Strafandrohangen gegen den Zweikampf, der nach fran-
zösischem Recht straflos ist oder wenigstens nur durch eine erkünstelte und
sehr anfechtbare Auslegung des Gesetzes zu einer strafbaren Handlung gestem-
pelt werden kann; die von Monaco angedrohten Strafen sind nicht milde; die
Herausforderung zum Zweikampf ist nicht strafbar; nur der Zweikampf selbst,
d. h. das Zusammentreffen zweier, von Zeugen begleiteter, bewaffneter Per-
sonen auf Grund zuvoriger Vereinbarung und die Anwendung von Waffen,
wird bestraft: wenn keine Verwundung erfolgt ist: mit Gef. von 1 — 3 Monaten,
wenn eine Verwimdung erfolgt ist, je nach den Folgen, mit Gef. von 3 Mo-
naten bis zu 3 Jahren, wenn der Tod eingetreten ist, mit Gef. von 2 — 5
Monaco. 479
Jahren. Zeugen werden als Teilnehmer bestraft, Arzte sind straffrei. Von
den übrigen fünf Abschnitten dieses Kap. entsprechen die Art. 314 — 365 (mit
Ausnahme der unbedeutende Zusätze enthaltenden Art. 334 und 335) den
Art. 319 — 366 des C. p. ftr.; die Art. 366 — 376 von Monaco handeln von der
Beleidigung; von den entsprechenden Art. 367 — 378 des C. p. fr. sind nur
noch Art. 373, 376 und 378 in Kraft. — Kap. 11. Verbr. und Verg. gegen
das Eigentum; drei Abschnitte. Art. 377—407 = C. p. fr. Art. 379—409.
— Die Art. 408 — 416 enthalten Bestimmungen über die Verletzimg des Brief-
geheimnisses und andere Delikte in Bezug auf das Brief^ostwesen; für Frank-
reich ist diese Materie, abgesehen von der ungenügenden Vorschrift des Art.
187 C. p. (== Monaco Art. 410) durch Spezialgesetze geregelt. — Die Art.
417 — 425 von Monaco über die Zuwiderhandltmgen gegen die Bestimmungen
betr. die Glücksspiele, Verlosungen, sowie die Pfandleihanstalten und das Dar-
lehnswesen, sind erheblich ausführlicher als die den gleichen Gegenstand be-
handelnden Art. 410 und 411 der C. p. fr. Erwähnt sei, dass jeder, der ohne
Erlaubnis der Regierung Spielhäuser einrichtet oder Lotterieen veranstaltet,
mit Gef. von 2 bis 6 Monaten und Geld von 100 bis 6000 Frcs. bestraft wird
(Art. 417). Als Wucher (Art. 424) gilt die Gewährung eines Darlehns zu einem
Zinsfusse von mehr als 6®/^ jährlich; nur der gewohnheitsmässige Wucher ist
strafbar (Art. 425); abweichend die französischen G. v. 1850 und 1886. Die
Art. 426—436 = C. p. fr. Art. 412—424; die Art. 437—440 von Monaco (betr.
den Verkehr mit Nahrungsmitteln und Arzneien) fehlen im C. p. fr.; die den
Art. 425 — 429 des letzteren entsprechenden Strafandrohungen gegen unbefug-
ten Nachdruck enthält die für Monaco am 27. Februar 1889 erlassene „Ordon-
nance souveraine sur la protection des oeuvres artistiques et litt^raires^ in
Art. 17 — 26. — Monaco Art. 441 — 469 (mit Ausnahme des Art. 454, welcher
die Beschädigung der für das Land besonders wichtigen Oliven-, Orangen-
und Citronenbäume mit schärferer Strafe bedroht) entsprechen den Art. 434 — 461
des C. p. fr.; Art. 470 enthält eine Bestimmung gegen Wasserverunreinigung.
— Monaco Art. 471 = C. p. fr. Art. 463.
Buch IV. Übertretungen. (Contraventions de police.) Sie zerfallen
in drei Klassen, je nachdem sie mit Geldstrafe von 1 — 5, von 6 — 10 und von 1 1 — 15
Frcs. bedroht sind. Der Inhalt der Art. 464 — 470 C. p. fr., welcher von den
Übertretungsstrafen handelt, ist von Monaco schon im ersten Buche erledigt;
im übrigen entsprechen die Art. 472—484 von Monaco den Art. 471 — 483 des
C. p. fr. — Der letzte Art. von Monaco (485) hebt alle dem StGB, wider-
sprechenden G. auf.
III. Die übrigen G. strafrechtlichen Inhalts. Ausser dem StGB,
enthalten die nachstehend aufgeführten, in Monaco gültigen Gesetze Bestim-
mungen strafrechtlichen Inhalts.
1. Die StPO. (C. d'instr. crim.) vom 31. Dezember 1873 (amtliche Text-
ausgabe Nice, Cauvin & Co., 1874) enthält in Art. 14 — 22 die von den meisten
Gesetzgebern zu den materiell-rechtlichen Bestimmungen gerechneten Grund-
sätze des „internationalen StR." Das G. steht auf dem Boden des Territoria-
litätsprinzips; im Auslande begangene Delikte werden nur in besonderen Fällen
bestraft, — Nach Art. 22 erfolgt die wechselseitige Auslieferung von Ver-
brechern nach Massgabe der Auslieferungsverträge; solche sind abgeschlossen
mit: Italien am 26. Mai 1866, Belgien am 29. Juni 1874 (vervollständigt durch
Erklärung vom 30. Dezember '1881), Frankreich am 8. Juli 1876, Holland
am 10. August 1876, Spanien am 3. April 1882, Russland am 5. September
1883, der Schweiz am 10. Dezember 1885, Österreich am 22. Februar 1886,
England am 17. Dezember 1891. Genaue Angaben über den Inhalt der Ver-
^ träge finden sich im Annuaire des legislations ^trangferes von Bd. XII an.
4?J} MfjoMco.
Jji*: Art. 7«>. 355, 358 und 444 der StPO. sfnd spaier d:zrch eme Ordon-
luu^ee Tom 16. Aogoät IhS^ abgeändert.
& Das franzdnsche G. xom 3. Mlrz 1S22 über di^ GesuzMÜheit^polizei
'loi reUufre ik la poliee saniuüre '•. d€:sseii Emfühmsg in Moiiae»:* bereits in der
Conrentkrii TC»n 9. Xorember l>^65 in Aussicht genommen war, ist durch
Verfügungen des G^raTemeor g^eral Tom 21. Jani und 4. Juli 1890 that-
fachlich in Ktslü gesetzL
%m G. vom 29. Aprü 1828 über die Ejntragmigsgebühren und den Stem-
pel ioi «IT renreg;istrement et le dmbre-: die Art. 73 — 75, 77, »9 nnd W des-
selben ftind abgeändert durch das Stempelgesetz vom 23. August 1S87 lOrdon
nance «ur les timbres mobile»'.
4. Vdg. Tom 4.1fai 1853 Art. 6 und Vd^. vom 2. Oktober ISSO Art. 3 mit
Strafbestimmungen betr. die städtische PolizeL
j». Ydg, Tom 16. Januar 1863 betr. den Orden des heiligen Karl: Art.
18 — 21. 25 — 28 enthalten die Strafdrohungen.
C« Die bereits mehrfach erwähnte, mit Frankreich abgeschlossene .Con-
Tention relative ä Tunion douani^re et aux rapports de voisinage* vom 9. No-
vember 1865 enthält in Art. 13 und 21 Bestimmungen über die Vo'busBung der
in Monaco verhängten Freiheitsstrafen in französischen Anstalten.
7« Vd^. vom 6. Juni 1867 fiber die allgemeine PolizeL
8. Vdg. vom 2, Oktober 1880 und Vdg. vom 30. Juli 1883 über Vornahme
von Sprengungen und den Verkehr mit explodierenden Stoffen.
9« Notariatsordnung (Ordonnance sur le notariati vom 4. Mära 1886:
Titel lU: Strafbestimmungen.
10« Vdg. Die öffentlichen Versteigerungen ('Ordonnance sur les ventes publi-
ques aux ench^resj vom 7. April 1887; Strafbestimmung Art. 18.
IL Nachdrucks -Vdg. i Ordonnance souveraine sur la protection des
Oeuvres artistiques et Utt^rairesj vom 27. Februar 1889; Strafbestimmungen
Titel m, Art. 17—26.
12« Vdg. vom 18. März 1891 betr. die Anwendung der zaia Schutze des
elektrischen Telegraphen und des Briefgeheimnisses erlassenen Strafdrohungen
auf das Telephon.
m. Vdg. vom 24. Juni 1892. betr. Abänderungen des Art. 471 C. p.
14. Vdg. vom 8. September 1892 betr. die Unterdrückung gewisser an
Briefmarken und im Postdienste begangenen Betrugereien.
IS« Vdg. vom 6. Februar 1893, Art. 5 und 6 mit Strafdrohungen g^en
Übertretungen gesundheitspolizeilicher Anordnungen.
K.
DIE IBERISCHE HALBINSEL,
1. Spanien. 2. Portugal.
Von Dr. Ernst Rosenfeld von J. J. Tavares de Medeiros,
In Halle a/S. Adrokat in Lissabon.
Übersetzung von Dr. fieorg Cmsea in Hannorer.)
Strafgesetzgebnng der Gegenwart. 81
Übersicht
1. Spanien«
I. Die geschichtliche Entwicklung' des spanischen StR. § 1. Das StR. auf vorwiegend
westgotischer Grundlage. § 2. Die Siete Partidas. § 3. Das gemein -spanische
StR. § 4. Das neunzehnte Jahrhundert.
IL Das geltende spanische StGB. § 5. Der allgemeine Teil, ^insbesondere das Ver-
brechen. § 6. Das Strafensystem. § 7. Die Verbrechen gegen die Gesamtheit.
§ 8. Die Verbrechen gegen die Einzelnen. § 9. Die Übertretungen.
III. Das Spezialstrafrecht. § 10. Press- und VereinsStR. § 11. Schutz des geistigen
Eigentums. § 12. Das VerkehrsStR. § 13. Das ZollStR. § 14. Gesetze aligemeinen
BoiizeilichcTi Oh&r&ktPTS
^as Militärstrafrecht. § 15. StR. für das Landheer. § 16. Das StR. für die Marine
V. Das StR. der Kolonieen. § 17. Die afrikanischen Besitzungen. § 18. Die west-
indischen Besitzungen. § 19. Die Philippinen.
2« Portugal«
I. Ursprung und geschichtliche Entwicklung des portugiesischen StR § 1. Die
ältere Geschichte des StR. § 2. Die Entstehungsgeschichte des geltenden StGB.
IL § 3. Litteratur-Übersicht.
III. Das StGB, vom 16. September 1886. § 4. Allgemeiner Teil. § 5. Der besondere
Teil des StGB.
1. Spaniea
L Die geschiclitliche Entwicklnng des spanischen StR.
Litteratnr. Mabtinez Mabina, Ensayo hist6rico-critico sobre la antigna legis-
lacion . . de Leon y Castilla, especialmente sobre . . las Siete Partidas (Madrid, 1. ed.
1808, 8. ed. 1845). Prieto, Historia del Derecho real de Espafia. Madrid 1821 (1. ed.
1738). Manbesa t Sanchez, Historia legal de Espafla, desde la dominaciön goda hasta
nuestros dias. Madrid 1841—43. Sempere, Historia del Derecho espafiol continaada
hasta nuestros dlas. 3. ed. Madrid 1846 (fortgesetzte Ausgabe von Moreko, Madrid
1847). Marques de Pibal, Lecciones sobre la historia del gobiemo y legislaciön de
Espana, prontmciadas en el Ateneo de Madrid en los afios de 1841 y 1^2. Madrid
1880. Antequbra, Historia de la legislaciön espafiola, desde los tiempos mÄs remotos
hasta nuestros dias. 2. ed. Madrid 1884. (1. ed. 1849, nuevamente escrita 1874). Mubo
Mabtinez, Recopilaciön histörico-critica de la legislaciön de EspaSa desde que 68ta en
el siglo IV se constituyö en naciön independiente hasta nuestros dias. Ilusti'ada con
los retratos de los reyes autores de los respectivos Cödi&^os. 2 Bde. Madrid, Gomez
1881. HiNOjosA, Historia general del Derecho espaSol. Bd. I. 1887. Ferreibo Laoo y
Cabbbbas y Mabtinez, La legislaci6n penal especial. Obra que comprende la Historia
de la Legislacion penal de Espana con todas los leyes y disposiciones asi comunes
come especiales. Madrid, Campuzano. Bd. I, I.Lieferung. 1887. Pacheco, El Cödigo
penal. Introducciön (S. 1 — 63); 6. ed. Madrid 1888. v. Bbaüchitsch, Geschichte des
spanischen Rechts. Berlin 1852. du Bots, Histoire du droit criminel de rEspa&^e.
Paris 1870. — Los Cödioos espanolbs concordados y anotados. 12 Bde. 2. ed. Madrid,
1872—73. Juan de la Regueba Valdblomab, Colecciön general de Cödigos antiguos y
inodemos de Espafia. (Extractos) Barcelona 1845—48. Munoz t Rouebo, Colecciön de
fueros municipales y cartas pueblas de los reinos de Castilla, Leon, Corona de Aragon
y Navarra. Bd. I. Madrid 1847. Marcelo Martinez Alcübilla, Codigos antiguos de
Espana. 2 Bde. Madrid 1885. — Fuebo Juzgo en latin y castellano cotejado con las
m^s antiguos y preciosos cödices por la Real Academia Espafiola. Madrid 1815.
Brttnneb, Deutsche Rechtsgeschichte. Leipzig 1887. Bd. I, S. 320, 402. v. Saviont, Ge-
schichte des römischen Rechts im Mittelalter. Bd. II, § 25. Bluhmb, Zur Textkritik des
Westgotenrechts 1872 (Beilage : Pariser Fragmente). Gaudenzi, Un* antica compilazione
di diritto Romano e Visigoto con alcuni frammenti delle leggi di Eurico. 1886. —
(Gonzalez), Colecciön de c^dulas etc. concemientes & las Provincias Vascon^adas.
Madrid 1829—30 und Colecciön de privilegios etc. de la Corona de Castilla. Madrid
1830—33. 6 Bde. Legislacion Foral de Espana. Madrid, Nufiez, 1887 ff. (Cabtblls y
DE BAssoLS-Cataluna; Bebges - Aragon ; Castejou- Navarra; Manba- Mallorca; Lecanda-
Vizcaya). Llobente. Noticias histöricas de las tres Provincias Vascongadas. 5 Bde.
Madrid 1806 — 1808. öobaluce, Fueros de Guipiizcoa. Madrid 1866. Ilabbegui y Lapusb-
TA, Fuero general de Navarra. Pamplona 1869. Repbesentaoiön de los vascongados
y navarros residentes en Madrid, pidiendo la conservaciön de los fueros de sus pro-
vincias. Madrid 1839. Calatbava, La aboliciön de los fueros vasco-navarros. Madrid
1876. Oliveb, Historia del Derecho en Cataluna, Mallorca y Valencia. Cödigo de las
costumbres de Tortosa. 4 Bde. Madrid 1876 — 1881. RuANO,"Fuero de Salamanca, 1870.
— D. Jgnacio Jordan de Asse y del Rio y D. Mi^el de Manuel y Rodbiguez, El Fuero
viejo de Castilla, sacado y comprobado con el ejemplar de la misma obra que existe
en la Real Biblloteca de esta corte y con otros manuscritos. Con notas histöricas y
legales. Madrid 1771. Neue Ausgabe mit discurso preliminar von Pidal, Madrid 1847.
31*
484 Spanien. — Die geschichtliche Entwicklung.
Opuscttlos legales del Rey Don Alfonso el Sabio, publicados por la Real Academia de
la Historia. 2 Bde. Madrid 1836. Las Siete Pabtidas, herausgegeben von Diaz Montalvo,
I.Ausgabe 1491; von Gregorio Lopez (mit Glosse), I.Ausgabe 1555; von der Academia
de la Historia, 1. Ausgabe 1807. Llamas y Molina, Comentario critico, juridico, literal
k las leyes de Toro. Madrid, 1. ed. 1827, 5. ed. 1876. Pacheco, Comentario histörico-
critico y juridico k las leyes de Toro. Madrid 1862 (fortgesetzt 1876 von Gonzalez
y Serrano). Novisdca Recopilaci6n de las leyes de Espana, dividida en 12 libros en que
se reforma la recopilacion publicada por el Sr. D. Felipe II. en el aSo 1567, reimpresa
ültimamente en el de 1775, y se incorporan las pragmÄticas etc. expedidas hasta el
de 1804, mandado formar por el Sr. D. Carlos IV. Madnd 1805—7. 6 Bde. Mabtinez
Marina, Juicio critico de la Novisima Recopilacion. Madrid 1820. Coleccion de de-
cretos y ördenes (de las Cortes 1810—23). 10 Bde. Madrid 1820—28. Coleccion de de-
cretosy ördenes. Serien: 1814—23, 1824—36, 1837—45, 1846—56, 1856-79. Zusammen
123 Bde. — Labdizabal y Ubibe, Discurso sobre las penas, contraido a las leyes cri-
minales de Espana, para facilitar su reforma. Madrid, 1. ed. 1782, 2. ed. 1828. Pcoa
Y Abaujo, Diccionario cronol6g^co penal de toda la legislaciön espaSola. Santiago
1842. — CÖDioo PENAL espanol decretado por las Cortes en 8 de Junio, sancionado
por el Rey y mandado promulgar en 9 de Julio de 1822. Madrid 1822. Discüsiön del
proyecto en las Cortes extraordinarias de 1821, und Vabiacionbs que . . . propone la
Comision etc. Zusammen 4 Bde. Madrid 1822. Pboyecto de Codigo criminal presen-
tado por una Comision nombrada por el Gobierno de S. M. 1834. Febnandez de la
Hoz, Codigo criminal redactado con arreglo 4 la legislaciön vigente. 1843. Pboyecto
de Codigo penal de 1847. Barcelona 1847. Codigo penal vom 19. März 1848 imd
21. /22. September 1848. Amtliche Ausgabe. Madrid 1848. Cödioo penal de Espana
vom 30. «Juni 1850. Ediciön olicial reformada, Madrid 1850. 2. ed. 1863. Codigo penal
befobmado, mandado publicar provisionalmente, en virtud de autorizaciön concedida
al Gobierno por la ley de 17 de Junio de 1870. Ediciön oficial, Madrid 1870.
§ 1. Das StB. auf Torwlegend westgotischer Arnndlage.
I. „Aus den Wäldern Germaniens und den Steppen Skythiens" ist den
Bewohnern der iberischen Halbinsel gleich den übrigen römischen Provinzial-
bevölkerungen das wichtigste Ferment zur Bildung einer eigenen Nation, eigen-
artigen Kultur- und Rechtslebens gekommen. Der ohne Zweifel höchst assimi-
lationsfähige Westgotenstamm trug freilich in der ersten Zeit seiner Herrschaft
die strenge Scheidung der Sieger und Besiegten in der als Personalitätsprinzip
bekannten Weise in die älteste spanische Gesetzgebung hinein. Hierher gehören
die Bruchstücke von Eurichs (466 — 484) Gesetzen (Pariser Fragmente), die von
Gaudenzi entdeckte Kompilation aus der Provence, das Breviarium Alariehs H.
(484 — 507), ein grosser Teil der unsicher begrenzten Leges antiquae, die in
Cördoba verfassten formulae Wisigothicae. Nach dem wenig fruchtbaren ersten
Drittel des 7. Jahrhunderts jedoch tritt ein Umschwung in der Gesetzgebung
ein, der durch Rekkar eds I. (586 — 601) Übertritt zur katholischen BJrche in
die Wege geleitet war und in dem von Chindasuinth (641 — 652) vorbereiteten,
von Rekkessuinth (649 — 672) in der Zeit seiner Alleinherrschaft durchgeführten
Reformwerk der Lex Wisigothorum seinen Abschluss findet. Charakteristisch
ist die systematische Durcharbeitung des gesamten Rechtsgebietes, allerdings
in unselbständiger Anlehnung an die römischen Vorbilder, und das Aufgeben
der Sonderung der Goten von den Römern. Seit 642 wendet sich der Gesetz-
geber an alle seine Unterthanen gleichmässig. Das Ehehindemis nationaler
Abstammung ist beseitigt, die Anwendung römischer Rechtsquellen (damit auch
des Breviarii) wird verboten, der Preis des neuen GB. auf 6 solidi festgesetzt
Das bereits von Rekkessuinth • nochmals völlig umgearbeitete GB. macht bis
zum Ende des westgotischen Königtums noch mindestens eine Neuredaktion
und verschiedene Erweiterungen durch (Erwigiana 682. Lex Wisigothorum
Vulgata). Seine jüngste Form, in der es die Maurenherrschaft überdauert hat,
ist die für Cördoba 1229 unter Fernando HI. el Santo von Kastilien angefer-
tigte altkastilianische Übersetzung: das berühmte FueroJuzgo, Forum Judi-
cum der Spanier.
§ 1. Das StR. auf vorwiegend westgotischer Grundlage. 485
II. Dem StR. ist ein verhältnismässig grosser Teil des Fuero Juzgo ge-
widmet: ausser 4 Büchern (6. — 9.) ziemlich ganz das 12. und Partieen des 2.
und 3. Die behandelten Materien sind: falsches Zeugnis;. Frauenraub, Ehe-
bruch, Hurerei, verbotene Ehen, Päderastie, Sodomie; Zauberei, Wahrsagerei,
Abtreibung, Wunden und Schläge, Tötung; Diebstahl,^) Menschenraub, Gefan-
genenbefreiung und ungerechtes Richten, Urkundenfälschung, Falschmünzen;
Gewalt, Brandstiftung, Schäden in Feld und Forst, an Vieh und durch Vieh,
Schaden durch Bienen, Diebstahl an Bienen; Aufnahme und Unterstützung ent*
flohener Sklaven, Befreiung von Sklaven und Hülfe zur Selbstbefreiung, Fahnen-
flucht (nebst verschiedenen Ansätzen zu einem Militärstrafrecht), Missachtung
kirchlichen Asylrechts; Ketzer- und Judenverfolgung, *) Ehrenbeleidigung. Die
Grundsätze, die der Gesetzgeber bisweilen ausspricht, wie Gleichheit aller vor
dem Gesetz, — Persönlichkeit der Strafe, die mit dem Schuldigen sterben soll, —
Kürze und Unzweideutigkeit der Vorschriften — haben ebensowenig, wie die
dürftigen Rudimente des allgemeinen Teils, über den konkreten Fall hinaus
das Ganze zu durchdringen vermocht, wenn auch die treffende und sichere
Formulierung öfters überrascht. Im Gegensatz zu dem Prinzip stösst man
fortwährend auf Ausartungen der römischen Unterschiede in der Behandlung
der nobiliores und humiliores: hier als ome de mejor guisa, de grand guisa,
poderoso und als ome de menor guisa, de vil guisa bezeichnet. Noch bevor-
rechteter sind einigemale der Hofmann und der Adaling (fijodalgo). Am
schlimmsten ist der Sklave dran. Im allgemeinen ist das Verhältnis dies, dass
der Höherstehende mehr oder alleine zahlt, während der Niedere mehr Prügel
oder bloss Prügel (azotes) erhält. Dies nebst der Umwandlung unbeitreib-
licher Geld- in Prügelstrafe nach ziemlich festen Sätzen ist für ein weites Ge-
biet der Bestimmungen charakteristisch. Im Widerstreit mit dem proklamierten
Grundsatz ist femer die Ausdrucksweise sehr weitschweifig, und Antinomieen
wimmeln. Als einigermassen durchgeführt kann man allenfalls das wiederholt
in mannigfachen Wendungen (etwa motiviert mit der Häufigkeit des Verbr.,
wie bei der Abtreibung) aufgestellte Prinzip der Abschreckung ansehen. Dem
Geist der Zeit entsprechend, finden sich häufig Todes- und Leibesstrafen (Ab-
hauen einer Hand, eines Daumens, Entmannung, besonders oft Brandmarkung).
Eigentümlich ist die Hingabe des Verbrechers in die Willkür des Verletzten
(oder seiner Verwandten oder des Königs), der ihn nur nicht töten darf, öfters
bei Unbeitreiblichkeit der Geldbusse, bisweilen ablösbar durch Komposition.
Die Idee der Talion zeigt sich in einer Reihe von Bestimmungen deutlich,
und zwar teils identischer Talion (bei falscher Anschuldigung, Zauberei!, Ver-
stümmelungen und Freiheitsberaubungen,*) Verwandtenmord, ungerechtem Todes-
urteil), teils analoger Talion (z.B. bei Päderastie, Gefangenenbefreiung, Un-
vermögen, den gehehlten Räuber zu gesteilen). Sehr zahlreich sind, wie er-
wähnt, die Fälle der Prügelstrafe und die Vermögensstrafen, in bestimmten
Summen oder als Mehrfaches (2-, 4-, 6-, 7-, 9-, 11-faches) eines Wertes, Be-
trages oder einer Sache angedroht, femer in Einziehung des ganzen Vermögens
oder bestimmter Sachen (z. B. Karren und Ochsen bei Forstdiebstahl) bestehend.
Strafen an Ehren und Rechten, Testier- und Zeugnisfähigkeit sind häufig.
*) Hier eine Reihe von Bestimmungen, die auf Sicherung der Rechtspflege durch
allgemeine Rechtshülfepflicht hinauslaufen (7, 2, 20 ff., auch 7, 4).
*) Die ersten Judengesetze rühren von König Sisibut (612—620) her, eine erste
Petition der Juden von Toledo an König Rekkessuinth v. J. 654.
^) Bei vorgewandter Unkenntnis oder Unzulänglichkeit des Rechts sogar darüber
hinausschiessend 6, 4, 5 : „Die ganze Gefahr und die ganze Verunehrung und die
ganze Qual und den ganzen Schaden, den er dem andern zufügte, erleide er an
seinem Leib und ausserdem empfange er 100 Hiebe und werde entstellend gebrand-
markt als Schande für alle Zeiten."
486 Spanien. — Die geschichtliche Entwicklnn^.
Das Urtefl über das Faero Jnzgo lautet sehr verschieden. Deutsche
Schriftsteller nennen es ein Merkmal gesetzgeberischer ünnUbd^keit, der Sprache
nach von endlosem Schwnlst, dem Inhalt nach in greisenhafter Abhängigkeit
von rtaiischem Mnster nnd imter antüchtigem kirchlichem Etnflnase. Spanier
wieder rühmen das Fnero Jnzgo als nnvei^leichlieh hoch über den sonstigen
gesetzgeberischen Schöpfungen des 7. Jahrhunderts stehend, als ebenbürtig den Ge-
setzen Boms, in einigem an humanem Geist ihnen überlegen; seine Denkweise wird
exakt, sein Ausdruck klar genannt. Beide Urtefle sind übertrieben: in vielen
Pimkten lässt germanischer Einfluss sich nachweisen (in den Garantieen bei der
Foltenmg 6, 1, 2. 3.; in der Tarifienmg der Wunden und der einzelnen Glie-
der 6, 4, 1. 3.; in den Vieh- und Nutzpflanzentarifen 7, 2, 11. 8, 3 — 5; in
den Wergeidstarifen der einzelnen Lebensalter 8, 4, 16), — dass er nicht hin-
gereicht hat, um für den Zweck einer umfassenden systematischen Gesetz-
gebimg das durchgearbeitetere Römerrecht zu überwinden, wer wollte das ver-
wunderlich finden? Ebenso ist ohne weiteres zuzugeben, dass es oft schwer
hält, aus frömmelnder Salbaderei den Kern einer Vorschrift herauszufinden;
aber gelegentlich laufen auch feine, jedes Gesetzgebers würdige Aussprüche
unter. Besonders hoch zu veranschlagen ist der durch die Westgotensatzimgen
sieh ziehende Anklang an moderne staatsrechtliche Auffassung. Die Strafe ist
kein Paktieren der Eünzelnen, von Sippenfeindschaft und Blutrache ist im Fuero
Jnzgo keine Spur. Hier redet der König eines in straffer Einheit zusammen-
gehaltenen Landes zu seinen ünterthanen: das Bild wird nicht durch das
Streben mächtiger, anmasslich dem Herrscher sich gleich stellender Grosser
(neos hombres, Qjosdalgo) gestört. Damit war ein Grundstein zu wahrem
staatlichem StR. gelegt, und mit Recht kann Pacheco das Fuero Jnzgo „un
verdadero cödigo" — „ein wirkliches Gresetzbuch" nennen.
III. Das ändert sich gründlich in der Folgezeit. Nach dem Sturze der
westgotischen Monarchie und der Entstehung vieler kleiner Königreiche im
Norden Spaniens brechen in der Zeit der Partikulargesetze, der lokalen Fueros,
alle bisher unterdrückten Äusserungen germanischen Individualitätsgefühls her-
vor und der Kampf gegen sie überdauert weit das Mittelalter. Zwar wird
die Einheitlichkeit der spamschen Nation in der Hinsicht nie in Frage gestellt,
dass man auf den Unterschied zwischen Goten und Römern zurückkäme, —
vielmehr ist die Verschmelzung eine durchgreifende und endgültige; aber
mächtig regt sich das Personalitätsprinzip wieder gegenüber Juden und Mauren
und in jedem der neuen Einzelstaaten und Fuerogebiete gegen alle nicht Ein-
heimischen. Die Monarchie wird wieder wesentlich zu dem Stande altgermani-
schen Heerkönigtums herabgedrückt; unter dem Adel (den infanzones, ricos
hombres, fijosdalgo, caballeros), ist der König nur der erste, oft in seiner
freien rechtlichen Beweglichkeit beschränkteste ; ihm sagen gleich den übrigen
Standesgenossen die herrschsüchtigen Grossen Fehde an. Gerichtliche Zwei-
kämpfe und Gottesurteile, Sippenfeindschaft und Abkauf der Bache durch
Zahlung des geteilten, ein- oder mehrfachen Wergeides kennzeichnen die Straf-
rechtsquellen. Nimmt man hinzu, dass jeder grosse Lehnsmann zxmi Selbst-
herrscher seines Territoriums, jede Stadt zur Militärrepublik sich auszubilden
bestrebt ist; dass alle diese Jahrhunderte eine einzige Schlacht gegen die
sarazenische Fremdherrschaft darstellen, — so ist das unübersehbare Chaos
kapriziöser Vorschriften verständlich, in dem „das StR. eine Lotterie und das
Verfahren ein Kampfspiel oder eine lächerliche Versuchung des Himmels"
wird. (Pacheco.)
Deuten wir nun kurz für die Hauptteile des heutigen Spaniens die Etappen
der EntWickelung an, und zwar für die ausserkastilianischen Länder auch über
die hier zunächst behandelte Periode hinaus.
§ 1. Das StR. auf vorwiegend westgotischer Grundlage. 487
Das früheste Zeugnis für den oligarchischen, dem Königtum feindseligen
Geist legt das meist tendenziös bis in die Zeiten von Pelagius und Inigo Arista
hinaufgerückte Fuero von Sobrarbe (in der Landessprache um 1030) ab, das
den Ausgangspunkt der Entwickelung für Aragonien und Navarra bildet, wo-
bei von letzterem wieder die baskischen Provinzen nicht zu trennen sind. Jn
Aragonien, wo der Gegensatz zwischen Königtum und Adel am schärfsten war
und zu wiederholten Demütigungen des ersteren führte, bis seit 1348 die Mon-
archie zu erstarken anfing, wurde die erste G8. von Jakob I. auf den Cortes
von Huesca 1247 veranstaltet. Das dem StB. gewidmete Buch 8 der Obser-
vancias wird um 1400 von Martin Didad d'Aux neu kompiliert. Der starr-
sinnige Unabhftngigkeitsgeist, vor dem sogar noch Philipp II. in der Affaire
Perez zurückweichen musste, wurde erst von Philipp V. gebrochen, der nach
einem verunglückten Aufstande den Aragoniern ihre Fueros und Privilegien
nahm und sie völlig unter kastilisches Recht stellte (1707). — Länger, und
am längsten unter allen spanischen Provinzen, hielt das Sonderrecht sich in
Navarra und den Baskenbezirken, in der sogenannten Espafia foral. Navarra,
an das Fuero von Sobrarbe sich anlehnend und seit 1076 bestimmter unter
aragonischem Einfiuss, erhielt eine erste Sammlung seiner Leyes y Fueros 1237
in dem Codex dlplomaticus Theobaldsl., dessen Besserung 1330 Philipp d'Evreux
unternahm, bis im zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts ein Fuero reducido
(Redaktoren: Pasquier und Otalora) zu stände kam, das durch die Neusamm-
lungen V. 1735 und 1815 ergänzt wurde. Die Baskenländer, deren unabhän-
gige Sonderstellung Llorente sich ohne grossen Erfolg bemüht hat, als erst
ziemlich modemer Zeit angehörig zu erweisen, finden den Abschluss der Ent-
wicklung in Biscaya mit dem GB. v, 1452, reformiert 1527, und der vollen
Durchführung einheitlicher Gesetzgebung 1632; in Guipüzcoa mit der Fuero-
sammlimg von Tolosa 1375, umredigiert 1463, vermehrt 1526 und 1583 und
der neuen Kompilation v. 1692 (1696); in Alava, das Kastilien am nächsten
stand und teilweise dem Fuero Real (S. 489 ff.) unterlag, mit dem GB. v. 1463,
feierlich bestätigt 1483 (1488). Erst das 19. Jahrhundert sah das Ende der
stolzen Espafia foral, die in den letzten Resten sogar noch dem gegenwärtigen
StGB, trotzen konnte. Der den Karlistenkrieg v. 1839 im wesentlichen be-
endende Vertrag von Vergara raubte den Navarresen und Basken ihre Sonder-
rechte grossenteils, — der Karlistenfeldzug von 1875/76, in dem ihr Land den
Herd des Aufstandes bildete, nahm sie ihnen vollends (G. vom 19. Juli 1876
und 7. Mai 1877). — Zur Krone Aragonien gehören femer Katalonien (Usatici
Barcinonenses 1068, mit bewusster Ablehnung des Fuero Juzgo), die Balearen
(Fuero von Mallorca, 1230 unter Jakob L, ausgezeichnet durch die Beseitigung
des gerichtlichen Zweikampfes) und Valencia (Fueros oder Fürs von Valencia,
am stärksten unter römischem Einfiuss). Diese Sonderrechte sind mit den
aragonischen untergegangen.
Weit wichtiger für die Rechtsentwicklung sind die Länder der Krone
Kastilien, teils durch das etwa doppelt so grosse Areal, teils weil hier der
Gedanke der Rechtseinheit am zähesten festgehalten und immer wieder in
Gesetzgebungswerken, die mit der Prätension der Allgemeingültigkeit auf-
traten, durchzuführen versucht wurde. Die Entwicklimg von Leon und Ka-
stilien ist dabei, abgesehen von der Vereinig^ungszeit 1037 — 1157, etwas ge-
trennt, bis das Jahr 1230 die Verbindung zu einer unlöslichen machte. Für
ersteres (und Asturien, Galicien, Portugal) ist der Ausgangspunkt Alfonso V.
von Leon, der 1003 das Fuero Juzgo bestätigt und 1020 das Fuero Leonös er-
lässt. In Kastilien bestätigt Alfonso VI. (el Viego) 1076 das auf Ferdinand
Gonzalez (um 923) zurückgeführte Fuero von Sepijiveda und stellt in dem 1085
wiedereroberten Toledo die kastilischen Christen unter das Fuero Juzgo —
488 Spanien. — Die geschichtliche Entwicklung.
andere Bevölkenrngsklassen haben ihre besonderen Fneros. Mit der Zeit wurde
das Verleihen von Sonderrechten an die wiedereroberten oder nengegrtindeten
Städte — etwa in Leon an Salamanca, Zamora, Bono Bnrgo de Caldelas, Ca-
ceres; in Eastilien an Bnrgos (nm lOdO), Madrid, Talavera (1118), Escalona,
Lara (1130), Baeza, Cuenea (1177), Santander (1190) — zum förmlichen
System, in dem der Gedanke der Einheitlichkeit dadurch festgehalten wurde,
dass man entweder durch gleichlautende Verleihungen ein GB. zu verallge-
meinem suchte (so Alfonso VII. el Emperador sein Fuero general), oder dass
man die Berufung nach Toledo vor das westgotische Forum gehen Hess.
Namentlich der erste Weg ist deijenige, den auch noch Alfonso X. zur Durch-
fährung seiner Reformwerke (S. 490, 496) einschlagen musste. Seit Fernando ni.
el Santo (1217 — 1252) bedient die Gesetzgebung sich der Vulgärsprache statt
der lateinischen.
IV. Während der grösseren Hälfte des Mittelalters herrschte infolge der
geschilderten Verhältnisse im spanischen StR. die äusserste Uneinigkeit and
Zerrissenheit, und zwischen gleichzeitigen oder benachbarten Satzungen be-
standen die schreiendsten Dissonanzen. Einerseits ausgesuchte Grausamkeit,
andererseits nachsichtigste Milde. Die Mörder werden in Escalona gehängt,
in Toledo gesteinigt, in Cuenea lebendig begraben; in Logrono und in Saha-
gun haben sie 500 solid! zu zahlen, in N^'era zahlt der Mörder eines Edel-
manns 250, eines unedlen 100, eines Mauren 12^/, solidi, d. h. in letzterem
Falle soviel wie bei Tötung eines Esels. In N^'era bezeichnen übrigens diese
Summen das f^edum, wie denn dieses Fuero nur die Beziehungen des Mon-
archen zu den Gemeindegliedem regelt, während Wergeid und Busse deren
innerer Vereinbarung überlassen ist. Mannigfach sind verstünmielnde Strafen :
in Cuenea schneidet man dem Badedieb die Ohren ab, in Soria bricht man
dem Fälscher die Zähne aus; dem, der seinen Pflegevater schlägt, hackt man
in Fuentes die Faust ab, der auf dem Ehebruch ertappten Frau schlitzt man
in Plasencia die Nasenlöcher auf. Man wütet geradezu mit Strafdrohungen
gegen den, der die Rechtsverfassung zu brechen unternimmt; doch es sieht
mehr nach einem Schreckgespenst aus, wenn das Fuero Leon6s von solchem
Verbrecher sagt: Evulsis oculls, fracta manu, pede et cervice, fusis intestinis,
percussus lepra una cum gladio anathematis in aetema damnatione cum dia-
bolo et angelis ejus luat. Fast unverständlich sind uns femer die Strafen
der Insolvenz: häufig genug ist Hungertod dem angedroht, der seine Geld-
strafe nicht zahlt.
Die Ungleichheit wird durch die thatsächlich sehr oft eintretende Straf-
losigkeit ungeheuer gesteigert. Teils begiebt sich der Verbrecher in den Schutz
eines Rico-hombre, der in seinen antimonarchischen Bestrebungen sich auf die
Abenteurer und Verbrecher recht eigentlich stützte; teils stellt ihn, wie den
Mörder in Leon, eine Frist von 9 Tagen, während deren er nicht ergriffen
wurde, gegen die staatliche Reaktion, oder das Asylrecht auch gegen die
Blutrache sicher. Dazu kommt die gewaltige Einschränkung des StR. durch
die Privatvereinbarungen und die, freilich immer häufiger vom Staat genau
geregelten, Privatfehden (rieptos y desafios, das Vorfordem und Ausheischen).
Gerichtliche Zweikämpfe und Ordalien beherrschen vielfach die Beweislehre;
in Aragonien ist das römische Verfahren (die pesquisa, inquisitio) für den
Regelfall verboten. Mit der krassesten Ungleichheit werden die Stammes- oder
Gemeindefremden behandelt: in Sepülveda wird für die Tötung eines Auswär-
tigen nur */g der Busse entrichtet. Der Vernichtungskrieg gegen Juden und
Mauren setzt sich bis ins 18. Jahrhundert fort.
Das Urteil, dass die Jahrhunderte nach dem Fuero Juzgo einen jähen
Rückschritt bedeuten, ist einleuchtend und allgemein; ^nicht einmal mehr von
§ 1. Das StR. auf vorwiegend westgotischer Grundlage. 489
gesundem Instinkt, geschweige von wissenschaftlichen Ideeen, sind die Gesetz-
geber geleitet" — so etwa drückt sich Pacheco aus. Von der neu erwachen-
den Barbarei ist auch die Blutrache wieder heraufgeführt und zersetzt vollends
jede soziale Ordnung.
Y. Nominell ist dabei das Fuero Juzgo die gemeinsame Gesetzgebung
Spaniens geblieben, wie das für Eastilien aus dem Gesagten hervorgeht und
auch für Aragonien und Navarra bis zum 13. Jahrhundert ziemlich ausgemacht
ist. Nachdem aber die Entwickelung des Nationalcharakters durch das stür-
mische Hervorbrechen altgermanischer Vorstellungen eine ganz andere Rich-
tung genommen hatte, musste die Unzulänglichkeit der Lex Wisigothorum sich
herausstellen, und die dem erstarkten Nationalgefühl entgegenkommende Ober-
setzung ins Altkastilianische musste dieses Schicksal sogar beschleunigen. Um
so befremdender muss es anmuten, dass zu einer Zeit, wo die gleich zu be-
sprechenden neuen G^meinrechte sich bereits unverrückbar festgesetzt hatten,
wo sogar die Siete Partidas bereits zu anerkannter Geltung durchgedrungen
waren, noch immer ohne jeden Zweifel auch das Fuero Juzgo in der Praxis
angezogen wurde. Ja noch mehr, es überlebte die Nueva Recopilaciön (1567)
und deren letzte Auflage (1775) und galt in thesi noch in unserm Jahrhun-
dert; denn eine Cödula Karls lU. v. 1778 weist das Hofgericht in Granada
an, im Vorzug vor den Siete Partidas das Fuero Juzgo anzuwenden, da ihm
niemals derogiert sei. Diese Erscheinung ist m. E. nur aus dem Fehlen fester
staatsrechtlicher Begriffe, insbesondere des der Gesetzeskraft, zu erklären;
einen solchen Rechtszustand, in dem der Satz: lex posterior derogat priori,
nicht existiert, in dem über die gleiche Materie die yerschiedensten Gesetze
nebeneinander bestehen, für den Richter zu alternativer Auswahl, vermögen
wir uns freilich kaum vorzustellen. Der einzig richtige Ausweg war daher
der des Ordenamiento de AlcalÄ von 1348 (1. 1 tit. 28), bei der Festsetzung
des Rangverhältnisses zwischen den gemeinen Gesetzgebungen und den ört-
lichen Sonderrechten das Fuero Juzgo in der Masse der letzteren ohne £lr-
wähnung verschwinden imd ihr Schicksal teilen zu lassen; denn formell war
es einfach zum Sonderrecht von Cördoba geworden.
VI. Die Könige des 12. Jahrhunderts, trotzdem sie gegen die Banden der
Räuber und der Aufrührer gelegentlich mit äusserster Grausamkeit zu Felde zogen,
sie sotten und schunden, verbrannten und von Türmen stürzten, trugen im
Kampfe mit dem ungeheuer angewachsenen Verbrechertum nennenswerte Er-
folge nicht davon. Erst nachdem die Siege Ferdinands III. die feste terri-
toriale Grundlage eines grossen Reiches geschaffen hatten, konnte sein Sohn
Alfonso X.^) an dessen inneren Ausbau gehen, durch die Gesetzgebungswerke,
die dem vielwissenden Herrscher den Beinamen des Weisen (el Sabio) ein-
brachten. Auf seinem Wirken ruht die weitere Rechtsentwicklung Kastiliens
imd damit Spaniens.
Sein erstes Unternehmen war, das Recht seines Reiches, das neben den
Fu^ros grösstenteils auf Einzelentscheidungen (fazafias) und Willküren (alve-
drios) ruhte, in einem einheitlichen, der Hauptsache nach dem bisherigen
Rechtszustande sich anschliessenden GB. zusammenzufassen: dies GB. ist das
1255 abgeschlossene Fuero Real (Forum regale),*) dessen Veröffentlichung in
der schon angedeuteten Weise durch Verleihung als Munizipalrecht an einzelne
^) Er selbst nennt sich „Alonso el Nono^, indem der nur Le6n beherrschende
Alfonso IX. (1188—1230) nicht mitgezählt wird. Bekanntlich war er während des
Interregnums eine Zeit lang deutscher Kaiser.
') Andere Namen sind: Fuero de las Leyes, Libro de los Concejos de Castiella,
Fuero de Libro, Fuero de Castilla, Flores de las Leyes. Da es auf wesentlich west-
gotischer Grundlage ruht, so gehört es in unsern § 1.
490 Spanien. — Die geschichtliche Entwicklung.
Stadtobrigkeiten (Concejos) erfolgte, so in den J. 1255 — 61 an Aguilar de
Campö, Sab^gun, Soda, Burgos, Yalladolid, Escalona. Doch scheint es auch
an einer feierlichen Promulgation nicht gefehlt zu haben, und wir müssen bis
1270 das Fuero Real als im ganzen Reiche Alfons X., also in Castilla, Toledo,
Leon, Galicia, Sevilla, Gördoba, Murcia, Jaen, Badojoz, Baeza und Algarbe,
in Kraft stehend betrachten. In gewissem Betracht nennt Pacheco mit Recht
das Fuero Real ein unglückliches GB.; es steht dem weltberühmten sieben-
teiligen GB. Alfons X., den Siete Partidas, zeitlich zu nahe, als dass nicht für
die geschichtliche Betrachtung sein bescheideneres Verdienst verdunkelt werden
müsste. Die Mitwelt dachte anders. Sie fand im Fuero Real ein ihren
Sitten und Gewohnheiten, ihrem Streben und Sehnen entgegenkommendes GB.,
das auf volles Verständnis stiess und warmblütige Empfindungen (der Freund-
schaft oder des Hasses) auslöste. Die auf tiefer Forschung und immenser
Gelehrsamkeit beruhenden Siete Partidas, in denen der König die Linien eines
Rechts der Zukunft vorzeichnete, blieben der damaligen Zeit fremd, ihnen
wurde nur ein mit Verachtung untermischter stumpfer Widerstand entgegen-
gesetzt.
Das Fuero Real ist in allen gedruckten Ausgaben von Erläuterungen zu
einzelnen seiner Bestimmungen, den 252 „Gesetzen des Gerichtsbrauches"
(Leyes del Estilo oder Declaraciones de las leyes del Fuero Real) begleitet.
Es sind dies oft sichtlich an konkrete Einzelfälle sich anlehnende Rechts-
sprüche aus der Praxis. Die Leyes del Estilo, die sich hohen Ansehens in
der Wissenschaft und bei den Gerichten erfreuten, auch in der Novlsima
Recopilaciön berücksichtigt sind, rühren also von keinem König und keinen
Gortes her, insbesondere nicht von Alfonso X. Vielmehr stammen sie aus
etwas späterer Zeit, wie aus der Benutzung und Anführung römischen^) und
kanonischen Rechts, der Siete Partidas und des Speculum judiciale des
Durantis erhellt.
VII. Das StR. ist in Buch IV enthalten (doch vgl. passim I, 2—7. II, 3. 8.
III, 1. 8. 10.), dessen StofTanordnung gänzlich systemlos ist. Am meisten an-
gedroht sind Todesstrafen (bisweilen mit Bezeichnung der Art: Feuer, Hängen;
bei verräterischem und Meuchelmord mit Schleifung zur Richtstatt) und Geld-
strafen (Tarif für Verletzungen in IV, 5, 3,*) für Schmähungen in IV, 3, 2,*)
allenfalls Verbannung. Der Zahlungsunfähige wird, was auch als Hauptstrafe
oft vorkommt, in die Verfügungsgewalt oder Sklaverei des Verletzten oder
des Königs übergeben; doch kommt auch contrainte par corps mit Begren-
zung auf 1 Jahr vor. Verstümmelnde Strafen sind bei einzelnen Delikten an-
gedroht, so Augenausstechen (dem begnadigten HochveiTäter I, 2, 1); Hand-
abhauen, (bei Urkundenfälschung dm*ch einen Notar IV, 12, 1; s. II, 3, 3; femer
beim ersten grossen Diebstahl, wenn der Dieb den neunfachen Wert nicht
erstatten kann IV, 5, 6; hier auch) Ohrenabschneiden ; Entmannung (neben
Hängen bei Sodomiterei IV, 9, 2); Zähneausbrechen (dem falschen Zeugen
IV, 12, 3); Brandmarkung (dem Geistlichen, der das Siegel des Königs fälscht
IV, 12, 2). Sehr charakteristisch für den Abstand vom Fuero Juzgo einerseits
und für die den Sonderrechten kraftvoll entgegentretende Monarchie andrer-
*) So wird in 1. 57 Estilo beim Raufhandel der Paragraph Sed si plures servum
(1. 11 § 2) D. ad legem Aquiliam (9, 2) citiert.
*) Höchstmass bei Realkonkurrenz ist das volle Wergeid von 500 solidi, das
auch bei allen fahrlässigen Tötungen in IV, 17 angedroht ist. Von diesen Summen
fallen '/g an den König, '^/g an den Verletzten oder seine Erben.
*j Dazu 1. 83 Estilo. Fallen in einem Zank mehrere Schimpfworte, so tritt nur
die Strafe des schwerstgeahndeten ein. Auch Aufrechnung findet statt. Vgl. 1. 11
Leyes Nuevas.
§ 1. Das StR. auf rorwiegend westgotischer Grundlage. 491
seits, ist IV, 21 : De los rieptos y desaflos. Ausgehend von dem unter Alfons VII.
el Emperador in N^'era 1128 abgeschlossenen Freundschafts- und Treuebund
der F\josdalgo, wird eine von der Überzeugung des Gottesgnadentums der
Monarchie getragene Regelung der Fehdeansagung, des Treubruchs (alevosfa),
des Verfahiens darüber vor dem König und des etwaigen als Gottesurteil auf-
gefassten Zweikampfs gegeben.^)
Die Sprache des GB. ist wenig knapper als die des Fuero Juzgo; fast
nie erspart uns der Gesetzgeber seine, oft religiöser Überzeugung entlehnten
Gründe. Das harte Urteil 8emperes, der das GB. konfuse nennt, halte ich
nicht für ungerecht. Ein Verdienst des Fuero Beal soll nicht unerwähnt
bleiben: die ersten Anfänge eines Offizialverfahrens. Bei offenkundigen Ver-
brechen hat der Alkalde ohne Anklage einzuschreiten; auch sonst kann er
oder der König eine abgebrochene Untersuchung weiterführen (IV, 20, 8. 10).
VIII. Die Edelleute von Kastilien und Burgos widersetzten sich energisch
dem Fuero Beal und verlangten auch weiterhin nach ihrem „alten'^ GB., ihren
Rechtssprüchen und Willküren zu leben, den Königen gegenüber in stolzer
Koordination. Dieses Fuero „Viejo^* (auch Fuero de los F\josdalgo, de las
fazafias, de alvedrio bezeichnet) geht nach sagenhafter Überlieferung — die
Karls V. (I.) Zeitgenosse Espinosa und nach ihm andere Gelehrte aufrecht
erhielten — auf ein Fuero general des Comes Castüiae Don Sancho Garcia
(t 1035) zurück und soll von Ferdinand I. 1050 in Goyanca bestätigt sein.
Diese Ansicht wurde auf missverstandene Wendungen in einigen Sonderrechten
und auf den Beinamen Sanchos „de los buenos fueros^^ (mit den guten Rechten),
der sich indess auf die Privilegienverleihung an eroberte Grenzstädte bezieht,
gestützt, ist aber seit Marina als widerlegt anzusehen. Vielmehr sind die
Quellen des Fuero Viejo verschiedene Ordnungen, insbesondere die von N^jera
(1128), und Gewohnheitsrecht, Urteilssprüche; seine Abfassung fällt in die Zeit
Alfonsos Vin. (1188 — 1214), trotz dessen Veto es in Wirksamkeit gesetzt
wurde. Alfonso X. el Sabio wollte es durch das Fuero Real abschaffen, doch
der Adel zwang ihn 1270 und 1272 mit Waffen in der Hand, in Burgos und
Kastilien den alten Zustand fortbestehen zu lassen. Die uns bekannte Redak-
tion ist die. von Pedro IV, el Cruel 1356 vorgenommene Umarbeitung, deren
Geltung man trotz einiger Zweifel für die Folgezeit bis zu einem nicht recht
zu präzisierenden Verschwinden annehmen muss.
Der grösste Teil des Inhalts ist staatsrechtlich und giebt ein getreues
Bild des turbulenten Adels im Verhältnis zum Suverän, zu den Genossen und
den Vasallen im 13. und 14. Jahrhundert. Das Buch II enthält das StR.:
doch auch hier hat alles mehr oder minder den Zweck, Rechte und Pflichten
der Fijosdalgo zu verdeutlichen. Scharf hebt sich dabei eine ältere, die Unab-
hängigkeit der Grossen begünstigende Schicht gegen jüngere auf Vermehrung
der königlichen Macht, insbesondere Richtergewalt, gerichtete Bestimmungen
ab. Der ersteren gehören die interessanten, an nordische Rechte gemahnen-
den Vorschriften über den vogelfreien Verbrecher an und die alten Urteile
mit vollem Thatbestand über Talion bei schwerer Körperverletzung (I, 5, 14)
und über die Bestrafung der Notzucht (II, 2, 2. 3). Die unheilbaren Antino-
mieen, der Mangel an Einheitlichkeit musste es dem Fuero Viejo unmöglich
machen, sich lange als Ganzes in Kraft zu erhalten; doch ist es bis zum Aus-
gange des 15. Jahrhunderts noch wiederholt bestätigt worden.
*) Du Boys, S. 196, drückt sich dahin aus, es sei dieser Gegenstand im Fuero
Real behandelt „comme une esp^ce de proc^dure barbare, d^bris d'un autre ftge^.
492 Spanien. — Die geschichtliche Entwicklung.
§ 2. Die Slete Partidas.
I. Unmittelbar nach dem Abschlüsse des Fuero Real, das Alfonso el
Sabio später noch durch 27 Gesetze und 17 Mandate und Responsen, die
Leyes Nuevas, ergänzte, begab er sich an das grosse Hauptwerk seines Lebens.
War schon seit Beginn des 13. Jahrhunderts durch die Begründung der Uni-
versitäten Palencia (1209) und Salamanca (1222) ein internationalerer Zug in
das spanische Geistesleben hineingekommen, so musste es unter einem Herr-
scher, der jedem Wissenschaftszweige Interesse entgegentrug und in, wie es
scheint, auch interkonfessioneller Vorurteilslosigkeit Gelehrten jedes Schlages
eine Freistatt bot, natürlich erscheinen, wenn man auch in das Rechtsleben
die Fortschritte der römischen und kanonischen Jurisprudenz hineinbrachte.
E& kam hinzu, dass dies bei dem Kampfe zwischen Fueros particulares, Fuero
Viejo und Fuero Real politisch ein neutrales Gebiet war, das mit seinem
universellen Anstrich den Stoff für eine einheitliche Gesetzgebung zu gewähren
versprach. Endlich handelte Alfonso in Verfolg der Wünsche und Vorarbeiten
seines Vaters, der, die Unzulänglichkeit des Fuero Juzgo erkennend, den
Plan eines siebenteiligen GB. in dem Entw. gebliebenen Septenario auszuführen
begonnen hatte.^) Auf dieser Grundlage entstanden in den Jahren 1256 — 1265
(20. August) die Siete Partidas, die demnach als gesetzgeberische Festlegung
der Resultate damaliger römischrechtlicher Wissenschaft einen Bruch mit der
westgotischen Vergangenheit und die bedeutendste Wendung der spanischen
Strafrechtsentwicklung darstellen.
Während früher heftiger Streit darüber herrschte, ob der König selbst
die Partidas geschrieben oder doch einheitlich redigiert habe, erscheint es
uns heute als selbstverständlich, dass er seinen Tribonian und Theophilus
hatte. Als Mitarbeiter haben wir etwa anzusehen: den Erzieher des Königs,
Doktor Jacome Ruiz (Micer Jacobo de las leyes), Verfasser einer Summa
legum; den Archidiakon von Zamora, Fernando Martinez, der als Gesandter zu
Gregor X. ging; imd den Maestre Roldan, der 1276 zur Bekämpfung der
Spielwut die strengen, sehr kasuistisch gehaltenen, aber bald in Vergessenheit
geratenen Verordnungen wider die Spielhäuser (Ordenanzas de las Tafurerias,
44 Gesetze) verfasste.
Die 7 (in tituli und leges zerfallenden) Teile enthalten der Reihe nach:
Kirchenrecht; Staatsverfassung; Rechtsverfassung, Verfahren und Sachenrecht ;
Ehe-, Familien- und Statusrecht; Obligationenrecht; Erbrecht; Strafrecht. Doch
sind von strafrechtlichem Interesse auch andere Titel, so I, 9 (Exkommuni-
kation), I, 11 (Asyle), I, 18 (Sacrilegium), 11, 13 — 19 (Treuepflichten gegenüber
dem König, seiner Familie, seinen Beamten usw.), II, 28 (Strafrecht im Kriege),
III, 7 (gerichtliche Vorladungen), III, 27 (Urteilsvollstreckung), IV, 3 (heimliche
Ehen), und einzelne Gesetze, so III, 11, 26 — 29. 16, 42 (Meineid) und V, 5, 22
(Verkauf von Waffen an Ungläubige).
II. Die Siete Partidas dürften das früheste GB. sein, das einen unver-
kennbaren Ansatz zur Ausbildung eines allgemeinen Teils des StR. zeigt
(tit. VII, 31. Von den Strafen)^). Natürlich sind aber noch sehr viele Fragen,
^) Den ersten Entw. der Siete Partidas erblickt die Academia de la Historia
und mit ihr verschiedene Autoren in den unvollständigen fünf Büchern des Esp^culo.
Marina setzte den Esp^culo sogar zeitlich vor das Fuero Real. Angesichts der Wider-
sinnigkeiten, zu denen diese Ansicht führt, und angesichts der Beschaffenheit der
einzigen Handschrift kann ein Zweifel nicht bestehen, dass wir es hier mit einer für
die Praxis bestimmten Privatarbeit aus der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts zu thun
haben.
^) Die folgenden Anführungen aus diesem Titel, sowie aus VII, 1 (von den An-
klagen) beziehen sich also auf das ganze Gebiet strafbarer Handlungen.
§ 2. Die Siete Partidas. 493
namentlich Rechtswidrigkeit, Schuld, Teilnahme, teils nur angedeutet, teils
rein kasuistisch, insbesondere bei Behandlung der Tötungen (VII, 8) ge-
regelt.
1. Die Verbr. — gelegentlich in der Einleitung zu P. VII ohne erhellende
Absicht einer Definition beschrieben als „böse Thaten, begangen zum Behagen
des einen Teils und zum Schaden und Verunehrung des andern" — werden
in VII, 31,3 äusserlich nach dem Mittel der Ausführung gruppiert. Wichtiger
ist jedoch die verschiedentlich vorschwebende Absonderung der schwersten Ver-
brechensfälle (Hochverrat, Mord, Frauenraub und Notzucht) von minder schweren.
Zurechenbarkeit der That wird verlangt und daher jede Anklageerhebung
gegen Wahnsinnige, Rasende und Blödsinnige ausgeschlossen (VII, 1, 9; doch
Haftung der schlecht überwachenden Verwandten wegen Kulpa, vgl. heutiges
StR.); ebenso gegen Kinder unter 10*/^ Jahren allgemein, gegen solche unter
14 Jahren bei Verbr., die auf luxuria („Üppigkeit") zurückzuführen sind (und
bei Sodomiterei VII, 21, 2); Alter unter 17 Jahren wirkt immer als Strafmin-
derungsgrund (VII, 31, 8). Noch das heutige StR. unterscheidet drei Stufen
jugendlichen Alters. Trunkenheit ist kasuistisch behandelt; bei Majestäts-
beleidigung befreit sie von Strafe, bei Tötung tritt die sonst für fahrlässige
Tötungen verwendete Strafe ein. — Subjektiv muss mit Vorsatz gehandelt
sein (VII, 31, 3: a sabiendas con mala intencion — seien ter cum mala inten-
tione), wobei unbestimmter Vorsatz zu genügen scheint (arg. VII, 17, 5: straflos
ist das Zusammenliegen mit einem Weib, das verheiratet ist, wenn man dies
nicht weiss, sich auch keine Gedanken darüber macht, dass sie es sei). Die
Fahrlässigkeit ist nicht als allgemeiner Begriff aufgestellt; bei den Tötungen
sind Einzelfälle erörtert und durch gleiche Strafe verbunden. Die Definitionen
yon dolus und culpa (VII, 33, 11) beziehen sich nur auf das Civilrecht. Der
Vollendung steht der Versuch gleich. VII, 31, 2 bemüht sich, an Beispielen
die Grenze zwischen dem blossen bösen Gedanken (mal pensamiento) und dem
Anfang der Verwirklichung (comenzar ä meter en obra) zu ziehen. Nur bei
minder schweren Verbr. wirkt Rücktritt straf befreiend (kasuistisch vgl. VII, 2, 5
Anzeige des Mitschuldigen bei Staatsverschwörung). Die Teilnahme ist nirgend
im Zusammenhang behandelt; doch werden wiederholt neben den Hauptthätem
(fazedores) die Auftrag- oder Ratgebenden, Beihelfenden, Einverstandenen,
Hehler mit gleicher Strafe bedroht, vgl. auch die „Regel der alten Weisen"
in VII, 34, 19, und unten S. 506 Anm. Bemerkenswert ist bei Diebstahl die Rück-
sichtnahme auf den ursächlichen Zusammenhang (VII, 14, 18: nur so viel büsse
er doppelt, als durch seine Hülfe gestohlen ist und nicht mehr). — Einige
Male zeigen sich Wirkungen der Verjährung: der 5 Jahre lang nicht verfolgte
Dieb kann nicht mehr zum Tode verurteilt werden (VII, 14, 18); bei Ehebruch
muss binnen 5 Jahren Anklage erhoben werden, bei gewaltsamem binnen 30
(Vn, 17, 4); die Busse bei Raub verjährt in einem annus utilis (VII, 13, 3).
2. In der Strafe werden zwei Elemente unterschieden: ein emendierendes,
dem Verletzten ein Gut zuführendes — Busse (pecho), und ein eigentlich
pönales, dem Thäter ein Übel zufügendes — Züchtigung (escarmiento). VII, 31, 4
stellt eine wenig gelungene Stufenleiter der Strafen nach ihrer relativen Schwere
auf. Das Strafensystem ist sehr umfänglich. Etwa gleich häufig werden Ver-
mögensstrafen und Lebensstrafen angedroht sein, je in über 40 Fällen. Bei
der Todesstrafe ist meist die Art nicht näher bezeichnet. Etwa je 30 Male
werden Leibesstrafen (Verstümmelung, Brandmarkung, Prügel) und Freiheits-
strafen angedroht. Letztere sind meist Verbannung, lebenslänglich und zeit-
lich; selten lebenslängliche Ketten- und Eisen- oder Arbeitsstrafe in den
Werkstätten des Königs, letztere auch zeitlich. Für Teilnahme am Sakrament
der Ketzer ist alternativ Einsperrung im Gefängnis bis zur Besserung und
494 Spanien. — Die gpeschichtliche Entwicklung.
Bekehrung angedroht (VII, 26, 2), während sonst der Grundsatz der l. 8 § 9
Dig. de poenis 48, 19 festgehalten wird (carcer ad continendos homines, non ad
puniendos haberi debet — vgl. P. VII, 29, 11. 31, 4). Strafe an Ehren und
Rechten sind wie noch heute häufig (eigenartig ist die Mindergeltung, menos
valere, der Grundlage nach Satisfaktionsunfähigkeit) (tit. VU, 5). Daneben stehen
vielfach absolut unbestimmte und seltener relativ bestimmte Straf drohungen;
doch auch bezüglich der andern hat der Richter eine gewisse Freiheit, sodass
sich schon eine Strafzumessungslehre entwickeln musste, deren Grundzüge,
wie heute, im allgemeinen Teil (VII, 31, 8) behandelt sind. Der richterlichen
Freiheit in Auswahl der Strafart und des Vollstreckungsmodus — ein dem
heutigen spanischen StR. völlig entgegengesetztes Prinzip — setzt nur VII, 31, 6
Schranken: es werden gewisse Strafmittel absolut verboten, die aber der Gesetz-
geber selbst bisweilen androht (vgl., dazu 1. 8 § 1. 1. 25 § 1 Dig. 48, 19).
in. Von den beiden Elementen der Strafe wird kriminal-politisch bereits
das erstere, die Busse (gelegentlich charakterisiert durch die Rachefunktion,
venganza), als etwas dem staatlichen Ahndungsrecht Fremdes empfunden; das
Wesen der Strafe liegt im escarmiento, dessen Zweck der Gesetzgeber in
doppeltem sieht (tit. VII, 1): 1. porque los fazedores resciban la pena que
merescen, damit die Verbrecher die Strafe empfangen, die sie verdienen;
2. porque los otros que lo oyeren ayan miedo oder se espanten oder sc guarden
despues de fazer atales cosas, damit die andern, die es hören, Furcht haben,
oder: sich entsetzen, oder: sich fortan hüten, solche Dinge zu thun (also
Generalprävention). Der Schwerpunkt liegt dabei in ersterem: es erscheint
mit der rechten Gerechtigkeit, der justicia derecha (tit. II, 28) unvereinbar,
dass ein Verbrecher imgestraft bleibe. Den Massstab giebt unverkennbar der
gelegentlich bis zur Talion sich steigernde Gedanke der Wiedervergeltung ab.
In der Regel wird Strafe nie ohne Schuld verhängt, und die grössere Zähig-
keit der bösen Gesinnung ist Grund zur strengeren Bestrafung des Rückfalls.
Bisweilen wirkt aber auch der schwere Erfolg qualifizierend (z. B. VII, 10, 8).
Strafe ohne Schuld trifft die Söhne des Hochverräters (VII, 2, 2 unter Modi-
fikationen gleich der Lex quisquis, c. 6 Cod. 9, 8). Die staatliche Natur des
StR. ist nicht immer gewahrt, bei Strafen an Hals und Hand gilt Privatver-
einbarung (avenencia VII, 1, 22: guisada cosa es e derecha que todo ome pueda
redemir su sangre — es ist ziemlich einem jeglichen, dass er sein Blut erlösen
mag)^); bei Ehebruch wirkt die Verzeihung des Ehemannes straftilgend, bei
Grabschändung haben die Verwandten die Wahl zwischen peinlicher Anklage
und Busse (pecho).
IV. Die Tötungen behandelt Tit. 8. 1. Er teilt sie ein (1. 1) in a) Un-
gerechte Tötungen (tortizeramente), ohne Unterschied der Person des Verletzten
bestraft am fidalgo mit lebenslänglicher Verbannung (deportatio in insulam),
am humilior mit dem Tod (2. 15). Hervorgehoben sind die Unterlassung der
Sklaven, ihrem Herrn zu helfen ; der fälschlich auf eine Kapitalstrafe erkennende
Richter und der falsche Zeuge in solchem Prozess ; der Gehülfe, der dem Mörder
(oder Selbstmörder) die Waffen liefert (16. 11. 10). Erschwerte Fälle sind
Tötung mit traiciön oder aleve (15: nach spanischem Gewohnheitsrecht, fuero
de Espafia, vgl. V, stets Todesstrafe — Keim des heutigen gemeinspanischen
Assassinats) ; Verwandtenmord (12: culeus, ebenso für den helfenden Extraneus,
ebenso für Vorbereitungshandlungen zum Giftmord am Vater), Giftmord (7: der
Giftkäufer und -Verkäufer werden mit dem Tode bestraft; bei Vollendung dam-
natio ad bestias, vgl. 1. 3 § 5 Dig. 48, 8). b) Gerechtfertigte Tötungen. Haupt-
fall Notwehr (tomando sobre si, 2 : non ha de esperar que el otro le fiera pri-
') Deutscher Klagspiegel bei Stintzing, Populäre Litteratur, S. 401.
§ 2. Die Siete Partidas. 495
meramente — ist auch mit seiner Gegenwehr bis er geschlagen wird zu warten
nit schuldig). Erlaubt ist femer die Tötung der Gattin, Tochter, Schwester,
die auf unehelichem Beischlaf betro£fen wird; des bewaffneten nächtlichen
Diebes; des der Festnahme sich widersetzenden Deserteurs; des nächtlichen
Brandstifters, des für famosus (ladron conoscido), des Käubers auf offenem
Weg. Straflos ist die Entmannung zu Heilzwecken (13.). c) Zufällige Tötungen.
An sich straflos, doch muss der Urheber des Todes einen Reinigungseid leisten,
auch mit boni homines beweisen, dass er gegen den Getöteten keine Feind-
schaft hegte. Vermag er eines nicht, so ist er wegen des möglichen Verdachtes
nach dem arbitrium judicis zu strafen (4.). Hierher zieht das GB. auch die
kulposen Tötungen, die kasuistisch im Anschluss an Digestenbeispiele (so 1.
si putator 31 D. ad legem Aquiliam 9, 2) abgehandelt sind. Der Baumputzer, der
den Wamungsruf unterlässt; der Reiter, der nicht in der Bahn bleibt; der
Schlafwandler, der die andern von seiner üblen Gewohnheit nicht benach-
richtigt; der Trunkene; der unwissende Arzt und Chirurg; der Vater, Seilor
oder Lehrmeister, der das Züchtigungsrecht überschreitet — sie alle werden,
wenn sie einen Menschen ums Leben bringen, auf fünf Jahre nach einer Insel
verbannt.*) Dem Chirurg, der bewusst einen Eunstfehler begeht; dem Apo-
theker, der ohne ärztlichen Auftrag gefährliche Arzeneien verabfolgt, ist der
Tod angedroht (5. 6. 9). 2. Gewisse gefährliche Handlungen sind gleichgestellt
a) den vorsätzlichen Tötungen : Abtreibung der „schon lebenden" Frucht, Ent-
mannung, Verabfolg^ng einer Waffe an einen Selbstmörder (8. 13. 10); b) den
kulposen: Abtreibung der „noch nicht lebenden" Frucht; Unterlassung der
Warnung des Vaters, gegen den ein Bruder einen Mordplan hegt (8. 12).
V. Zwei für die spanische Strafrechtsentwicklung höchst wichtige Be-
griffe sind traiciön und aleve — Verräterei und Treulosigkeit. Die letztere
als Bruch des zwischen den Fidalgos bestehenden Treuebundes ist bereits oben
erwähnt (S. 491), ihre schwersten Formen werden als traiciön bezeichnet. Par-
tida VII, 2, 1 zählt 14 Arten von Verräterei auf — Hinarbeiten auf den Tod
oder die Entthronung des Königs, Verbtlndung mit den Feinden zum Kriege,
Abfall und Anreizung zum Aufstande usw. — und schliesst mit den Worten:
„Und allgemein sagen wir, wenn eines der vorbezeichneten Vergehen begangen
wird gegen den König oder seine Herrschaft oder wider das gemeine Wohl
des Landes, so heisst das traiciön im eigentlichen Sinne, und wenn es gegen
andere Menschen verübt wird, so heisst es aleve, nach spanischem Gewohn-
heitsrecht." Die traiciön musste danach, namentlich da sie als Übersetzung
des Ausdrucks laesae majestatis crimen verwandt wird und ihrem Begriff auch
die Verletzung aller im Verfassungsrechte aufgezählten Treuepflichten wider
den König unterstellt wird (II, 13 — 19), in den Begriff der Staatsverbrechen,
des Hoch- und Landesverrats sich auflösen. Die heute sogenannte alevosia
dagegen wird zu einer allgemein erschwerenden Art der Ausführung eines
Delikts — ursprünglich das Handeln gegen die Person des im Gefühl der
Rechtssicherheit sorglosen Anderen ohne Fehdeansagung, dann überhaupt alles
durch Feigheit und Hinterlist gekennzeichnete Handeln, heute nach der Legal-
definition (spanisches StGB. 10 Z. 2) bei Verbrechen gegen die Person die Anwen-
dung von Mitteln, Arten und Weisen der Ausführung, die unmittelbar und
besonders darauf hinauslaufen, die Ausführung ohne Risiko für die Person des
Thäters, wie es aus einer etwaigen Verteidigung des Angegriffenen folgen
könnte, zu sichern. Die Praxis rechnet hierher insbesondere auch das Handeln
gegen einen Blinden, einen Greis oder ein Kind. Es ist für die auf spanischer
Grundlage ruhenden StR. eigentümlich, dass die mit alevosia ausgeführte Tötung
*) Dem Arzt wird auch die Befugnis zu praktizieren entzogen.
496 Spanien. — Die geschichtliche Entwicklung.
allein oder mit andern Erschwerungen den Mordbegrifif (asesinato) konstituiert
(spanisches StGB. Art. 418 Z 1. vgL oben IV).
VI. Suchen wir ohne weiteres Eingehen auf Einzelheiten ein zusammen-
fassendes Urteil über das StR. der Siete Partidas zu gewinnen, so wird man
wohl sagen dürfen, dass dieses 6B. in dem Masse wie kein anderes Spanien
auf die Höhe der wissenschaftlichen Anschauungen der Zeit hob. Auch
Mabina stimmt dahin ein, dass man hier die Kraft; und das Mark finde, dessen
die meisten Gesetzgebungswerke dieser Zeit und der folgenden Jahrhunderte
ermangeln. Sempebe hat den nicht ganz zu entkräftenden Einwand, dass in
dem GB. ein zu starker Ultramontanismus herrsche und dass dem Dekretalen-
recht zu viel Raum gegeben werde. Es mag richtig sein, dass gerade diese
Tendenz für Spanien in den folgenden Zeiten verhängnisvoll wurde, — für
Alfons X. hatte sie nur einen augenblicklichen politischen Wert, um im Streit
um die deutsche Kaiserkrone den Papst auf seine Seite zu ziehen. Jedenfalls
kann die Würdigung der strafrechtlichen Seite hierdurch nicht gestört werden,
indem nur die Vorschriften über Juden, Mauren und Ketzer dem kanonischen
Recht angepasst sind. Pacheoo, der überhaupt die 7. Partida weit geringer
bewertet als die anderen, hat mannigfache, zum Teil auf handgreifliche Mis-
verständnisse zurückgehende Einwendungen; vornehmlich scheint er die Straf-
bestimmungen zu hart zu finden. Indessen wird dies durch die Notwendig-
keit energischer Bekämpfung des mächtig angewachsenen Verbrechertums voll-
auf gerechtfertigt. Du Boys vermisst in der Sprache die Präzision xmd Knapp-
heit; es sei mehr Lehrbuch als Gesetz. Ich vermag in letzterem kaum einen Tadel
zu sehen: die Ausführungen ruhen meist auf einer fein durchdachten Disposition,
die den Überblick erleichtert; der nie (wie im Fuero Juzgo und Real) in kon-
fuse Redereien ausartende, sondern stets wissenschaftliche Ton bringt sofort
die ratio legis dem Verständnis nahe. Bei der Vorbildung des Gros damaliger
Richter dürfte darin ein Vorzug liegen. Trotz aller Einschränkungen gilt eben,
was schliesslich auch Pacheco zugiebt: „Hätten Alfonso und seine Mitarbeiter
eine ebenso gute StGgebung geschafi'en, wie sie eine bürgerliche schufen, so
wären sie nicht nur grosse Gesetzgeber und bedeutende Männer gewesen,
sondern wir hätten ein mysteriöses Wunderwerk, ein nicht zu entzifferndes
Phänomen vor uns."
§ 3. Das gemein -spanische StR.
I. Als Alfonso el Sabio 1284 starb, galten die Siete Partidas noch nicht
als Gesetz. Eine Publikation würde sie in unlöslichen Widerspruch zum Puero Real
gestellt haben, dessen Geltung unbedingt vorgeschrieben war. Wenn sich trotz-
dem das Ordenamiento de AlcalÄ dahin ausdrückt, Alfonso X. hätte die Par-
tidas einzuhalten befohlen (mandö ordenar), so zielt dies nur darauf, dass der
König an einige Städte Abschriften verteilen und seinen Richtern das GB. als
Anweisung zum Rechtsprechen zukommen liess. Dieser gewissermassen theo-
retische Wert steigerte sich in der Folgezeit, ohne dass die nächsten Könige
den Weg zur Vereinheitlichung energischer beschritten hätten. Jetzt beginnen
die sechs Jahrhunderte der gesetzbuchlosen Zeit: es werden mehr oder weniger
umfangreiche Ordnungen (Ordenamientos), aus Einzelbestimmungen bestehend,
erlassen, und ab und zu werden die unendlich vielen Spezialgesetze in der
Mosaikarbeit von Sammlungen (Recopilaciones) zusammengefasst. Somit reiht
sich an die westgotisch-nationale und an die römisch-wissenschaftliche Epoche
eine chaotische Epoche, in der die Gesetzgebung von Fall zu Fall entscheidet,
völlig unter der Herrschaft des Augenblicks Gesetze erlässt und des einheit-
lichen Grundgedankens entbehrt.
§ 3. Das gemein -spanische StR. 497
II. Wenn, man bezweifeln zu müsBen geglaubt hat, ob die Partidas über-
haupt gegolten haben, d. h. Gesetz gewesen sind, so erbringt den bündigen Gegen-
beweis die erste der erwähnten Ordnungen, das 1348 von den durch 17 Städte
beschickten Gortes erlassene, später unzählige Male bestätigte Ordenamiento
de Alcalä. Die Quellen dieses GB. Alfonsos XI. (el Justiciero) sind die Gortes
von Villa-Real, die Ordnung von N^era, z. T. die Partidas, femer die Ord-
nungen von Valladolid 1325 und Segovla 1347. Inhaltlich macht das G. den
missglückten Versuch, zwischen den Fueros und den Siete Partidas einen Mittel*
weg zu finden: der Widerstreit zwischen der Partikulargesetzgebung und dem
monarchischen Gemeinrecht bleibt bestehen. Von strafrechtlichem Interesse
sind die Titel 20 (Amtsdelikte des Richters, Gefangenwächters usw.), 21 (Ehe-
bruch und Hurerei), 22 (Tötung), 23 (Wucher), 30 (Wegnahme und Zerstörung
fremder Schlösser und Häuser), 31 (Pflichten des Vasallen gegen den König),
32 (Zusammenrottung; femer traiciön und rieptos, beides wörtlich aus den
Partidas). Der Tit. 22 stellt gegenüber dem Gewohnheitsrecht einiger Orte
fest, 1. dass die asechanza (ausgespähte, mit gedungenen Helfern verübte
Tötung — noch jetzt manchen südromanischen GB. eigentümlich) als er-
schwerter Fall, auch wenn es bloss zu Schlägen gekommen, 2. dass der Tot-
schlag im Raufhandel (pelea) mit dem Tode zu bestrafen sei.
Die grosse Bedeutung des Ordenamiento liegt auf der formellen Seite, in
der sogenannten ley de prelaciön (Vorzugsgesetz, 1. 1 tit. 28), wodurch den Siete
Partidas Gesetzeskraft verliehen wurde. 1. Danach sollen in erster Linie die
(wenigen) Bestimmungen des Ordenamiento selber gelten; wo sie nicht zu-
reichen, kommen die Fueros zur Anwendung, mit Ausnahme derer, a) die der
König etwa bessert oder ändert, b) die gegen Gott, c) die gegen die Vernunft
Verstössen» In dritter Linie stehen die Siete Partidas, denen hier mit vollem
Bewusstsein und ausdrücklich zum ersten Mal Gesetzeskraft verliehen wird;
die verhältnismässige Länge der betreffenden Ausführungen zeigt, wie sehr
dem König dies am Herzen lag. Sie haben zu gelten in allem, worin sie
nicht dem Ordenamiento und den Fueros widersprechen; d. h. also, subsidiär
galt das römische Recht, wie es 1265 kodifiziert wurde. 2. Wo die Fidalgos
nebst ihren Vasallen nach einem Fuero de albedrio (dem Fuero Viejo) sich
richten, soll es dabei bleiben. In den rieptos und desafios soll es nach der
Gewohnheit gehalten werden, wie sie massgebend in Tit. 32 des Ordenamiento
festgestellt ist. 3. Alle nötigen Auslegungen, Erläuterungen, Besserungen, Er-
gänzungen der G., jede Lösung von Widersprüchen innerhalb eines G. sind
vom König einzuholen.
ni. Begreiflicher Weise herrschte trotzdem bald wieder Wirrnis, nament^
lieh da in dem folgenden Jahrhundert an die StGgebung neue Aufgaben heran-
traten. Es waren Einführirngsverbote (von Wein aus Aragonien, Navarra,
Portugal) und Ausfuhrverbote (von Pferden, Gold, Silber) mit Strafsanktionen
zu versehen, und vor allem war eine energische Bekämpfung des überhand
nehmenden Bettler- und Landstreicherwesens (rufflanes, gleich den italienischen
bravi im Sold von Caballeros) von nöten. Bereits 1433 verlangten die Gortes
von Madrid von König Johann II. eine Sammlung der geltenden G. unter
Ausscheidung der überflüssigen und Sonderung der provisorischen von den
bleibenden. Diese Bitte wurde 1458 unter Heinrich IV. wiederholt. Aber erst
unter Isabellas Regierung, als durch ihre Vermählung mit Ferdinand II. von
Aragonien ganz Spanien vereint war, dachte man an Abhülfe. Alfonso Diaz
de Montalvo, leider damals schon ein überalter Mann (geboren 1405), wurde 1480
mit der Zusammenstellung beauftragt und legte 1483 eine Sammlung von 1163 G.
in 115 Titeln und 8 Büchern vor, die die königliche Genehmigung fand. Dies
sind die Ordenanzas Reales de Castilla, auch als Ordenamiento Real oder Ordena-
Strafgesetzgebnng der Gegenwart. I. 32
498 Spanien. — Die geschichtliche Entwicklung.
miento de Montalvo bezeichnet, gedruckt zuerst 1485 in Huete. Sie enthalten
die Hauptsätze des Fuero Real, das Ordenamiento de Alcalä und die geltenden
späteren G., Ordnungen und Pragmatiken, vielfach übrigens wörtliche Wieder-
gaben aus den Siete Partidas; das StE. ist in den 19 Titeln des 8. Buches
enthalten, Montalvo vollendete sein Lebenswerk durch Veranstaltung der
ersten gedruckten Ausgabe der Siete Partidas (Sevilla 1491), zu denen er
ebenso wie zum Fuero Real einen Kommentar schrieb. Seine Arbeit bildete
bis 1567 das Haupthülfsbuch der Gerichte, obwohl sie alle Fehler der späteren
Recopilaciones teilte.
IV. Zur Aufklärung einiger Dunkelheiten im Ordenamiento de Montalvo
erbaten sich 1502 die Cortes von Toledo ein GB. Die von Isabella dem
Dr. Paläcios Rubios anvertraute sorgfältige Revision hatte die 83 Leyes de Toro
(Leges Taurinae), publiziert 1505 auf den in Toro abgehaltenen Cortes, zum
Ergebnisse. Dieses hochbertihmte und sehr oft, von Gomez bis auf Pacheco,
kommentierte GB. ist fast ausschliesslich civilrechtlichen Inhalts und berührt
das StR. nur in leyes 80 — 83 über Ehebruch und falsches Zeugnis. Wichtig
ist ley 1, worin die ley de prelaciön wiederholt und dahin ergänzt (und ver-
schlechtert) wird, dass in erster Linie neben dem Ordenamiento de Alcalä und
dem gegenwärtigen G. alle Ordnungen und Pragmatiken der bisherigen und
künftigen Könige gelten sollen.
V. Es folgten wieder 60 Jahre des Stillstandes der Gesetzgebung. Trotz-
dem Isabella {f 1504) in ihrem Testamente die Notwendigkeit eines kurzen
und möglichst vollständigen GB. betont hatte, trotzdem fortwährend die Peti-
tionen der Städte sich erneuerten (1532, 1548, 1552, 1560, 1563), trotzdem das
ganze Sehnen der Zeit nach einem grossen, nationalen, alle früheren ab-
schaffenden GB. ging, — konnte Karl I., der zur gleichen Zeit in Deutschland
auf stets wiederholte Petitionen hin die Peinliche Halsgerichtsordnung erlassen
hatte, für seine Spanier keine Hülfe finden. Und als Philipp 11. endlich 1667
zu einer Sammlung schritt, griff man doch wieder auf die fehlerhafte Methode
Montalvos zurück und benutzte einfach dessen Werk und die ähnlichen
Arbeiten von Juan Ramirez 1503 und Miguel de Eguia 1528. Das Kesultat
war eine grosse Enttäuschung: es war kein neues Kleid, sondern man hatte
wieder die alten Flicken, nur buntscheckiger, weniger übersichtlich, unbrauch-
barer aneinander gesetzt. Das war die Nueva Recopilaciön, die in den
folgenden Jahrhunderten wiederholt neu herausgegeben wurde, zuletzt 1775.
Das StR. ist in Buch VIII enthalten, wo Tit. 23 von den Tötungen handelt,
auf die, um ein Urteil doch in etwas zu ermöglichen, ein Blick geworfen
werden soll. Grundlage sind wieder, wie schon bei Montalvo, die Bestimmungen
des Fuero Real (IV, 17) über entschuldigte und zufällige Tötungen, über Mord
mit traiciön oder aleve, über Raufhandel. Andere G. qualifizieren Tötung
am Hof des Königs (Entblössen des Schwertes wird mit Abhauen der Hand
gestraft), Tötung mittels Brandstiftung, mit Pfeilen, beim Raub, mittels Feuer-
waffen. Bei allen letzteren Arten tritt ein fiskalischer Zug hervor: ausnahmslos
wird die Einziehung des halben Vermögens (oder eines Drittels) für die könig-
liche Kammer angeordnet.
Die schärfste Kritik an den oft untereinander, oft innerlich widerspruchs-
vollen G. der Nueva Recopilaciön hat Marina (im Juicio Gritico) geübt: „Ver-
kannt ist das eigentümliche Verdienst der Partidas. Statt dem zu folgen,
was an ihnen der Bewunderung so wert ist, dem schönen System und der
feinen Methode, — haben die Gesetzgeber den Stil der ältesten Kompilationen
wieder aufgenommen, die successiv und durch Anhäufung gebildet waren.
In einem solchen Agglomerat, in dem unendlichen Wust alter und neuer G.
nach Plan, Ordnung, Methode zu suchen, das wäre das gleiche, als wollte
§ 4. Das neunzehnte Jahrhundert. 499
man an den ärmlichen Käthen eines Dorfes die Gesetze der Architektur dar*
legen."
VI. Erst nach 2^/^ Jahrhunderten nahm die Gesetzgebung wieder einen
Anlauf. Karl IV. beauftragte 1798 D. Juan de la Reguera Valdelomar mit
der Abfassung eines Gß. Dem tüchtigen Kritiker des Bestehenden gelang die
Schaffung eines Werkes für die Zukunft nicht. Die mit Spannung erwartete
Novisima Recopilaciön v. 1805 war lediglich eine erweiterte und womöglich
verschlechterte Nueva. Das noch kapriziöser in 12 Bücher eingeteilte Werk
enthält in den 42 Titeln des letzten StB. und Strafprozesse Die wichtigsten
Änderungen des Strafensystems — Aufkommen der G aleren- und anderer
Freiheitsstrafen — gehören noch dem Zeitalter Philipps n. an. Marina, der
mit dem bereits angeführten schonungslosen Urteil auch gegen die Novisima
Recopilaciön auftrat, wurde deswegen gerichtlich verfolgt. (Sein Buch Juicio
critico erschien 1820.) Zur Novisima Recopilaciön erschien noch ein Suple-
mento 1808.
YIL Dies auch in sämtliche spanische Kolonieen eingeführte, somit gemein-
spanische StR., das im Mutterland (mit der kurzen Unterbrechung v. 1822 bis
1823) bis 1848 galt, kann in seiner ganzen tollen Disharmonie, in der es —
ein Stück sich überlebt habenden Mittelalters — zu dem Geist des 19. Jahr-
hunderts stand, nicht besser charakterisiert werden, als mit den berühmten,
von jedem Schriftsteller über spanisches StR. angeführten Sätzen Paohbcos:
„Alle Abgeschmacktheiten, alle Grausamkeiten, die unserer StG gebung seit
sechs Jahrhunderten anhafteten, sie alle sind in ihrer ganzen Roheit bis in
unser Jahrhundert gelangt. Die Folter nur ist von den Cortes 1812 und vom
König Ferdinand 1817 abgeschaf^; worden. Mit der Vermögenskonfiskation
indessen räumten nur jene auf.^) Die Auspeitschung (los azotes), die Brand-
markung, die Verstümmelung standen auch femer in Kraft, und wir alle
haben die erste dieser drei Strafen vollziehen sehen; wenn die anderen beiden
nicht angewendet wurden (was ich nicht weiss), so war das eine Wirkung der
ungebundenen Willkür der Richter, dieses seltsamen Dogmas unserer neueren
StGB. Die Todesstrafe traf diejenigen, die in irgend einem Teile des König-
reiches ö Schafe oder den Wert einer Peseta (= 1 frc.) in Madrid raubten;
und in diesem Punkte stand die Androhung nicht nur in den Gesetzen, sondern
man führte auch bis vor wenigen Jahren diese Gesetze mit drakonischer Strenge
aus. Die Sodomie und die Ketzerei waren gleichfalls todeswürdige Verbr.,
und die Scheiterhaufen der Inquisition entflammten sich mehr als einmal für
Hexen und für judaisierende Sektierer."
§ 4. Das neunzehnte Jahrhundert
•-• —- —
I. Mit mächtigerer Sehnsucht als je und mit einer durch die Zeitereig-
nisse der französischen Revolution und der erschütternden Kämpfe im Innern
gesteigerten Spannkraft ging man seit Beginn des 19. Jahrhunderts daran, aus
der chaotischen Epoche sich loszuringen. Während aus früherer Zeit nur der
Strafgesetzentwurf des Ministers Marques de la Casefiada (1752 unter Ferdi-
nand VI.) bekannt ist, ruhte jetzt das Kodifikationsbestreben nicht mehr. Hätte
Jos6 Bonaparte (6. Juni 1808 bis 11. Dezember 1813) länger in Spanien regiert,
so würde er seinen Plan, die französischen G. hier einzuführen, sicher ver-
wirklicht haben. Immerhin gab, wie es ja nicht anders sein konnte, Napo-
leons Code p6nal das Hauptvorbild ab für das während der ersten kon-
stitutionellen Periode von den Cortes erlassene StGB. Entworfen von dem
*) d. h. also, nach 1823 bestand sie wieder im StR. fort, vgl. § 4, I.
32*
500 Spanien. — Die geschichtliche Entwicklung.
früheren Jostizminister Calatrava, wurde es in wenigen Monaten durchberaten
und trat am 9. Juli 1822 in Kraft. Seine Dauer war nur ^j^ Jahre. Die Reak-
tion Ferdinands VII. beseitigte alle Cortesbeschlüsse vom 7. März 1820 bis zum
1. Oktober 1823.
n. EinTitulo preliminar (13 Kap., §§1—187) stellt den allgemeinen Teil
dar, in dem sich auch Anklagerecht, Kontumazialverfahren, Begnadigung und
Entschädigung Unschuldiger finden (Kap. 7. 8. 10. 12.). In vielem Wesent-
lichen sind schon die Züge des heutigen spanischen StR. sichtlich. Zweiteilung
der strafbaren Handlungen in delitos (mit malicia) und culpas (ohne malicia).
Versuch und Vorbereitung bleiben trotz Aufnahme der französischen Fassung
ungetrennt; Entschlussfassung und -äusserung sind straflos, die aus letzterer
hervorgehobenen „Verbindung" und „Vorschlag" (conjuraciön und proposiciön)
sind im besonderen Teile einigemale unter Strafe gestellt Rücktritt macht
den Versuch als solchen straflos. Über Thäter (autores), Teilnehmer (cöm-
plices), Helfer und Förderer (auxiliadores y fautores). Verheimlicher und Heh-
ler (receptadores y encubridores) sind sehr komplizierte Bestimmungen vor-
handen, die überall in eine kasuistische Aufzählung hinauslaufen, ohne dass
in einer Definition das diesen Fällen Gemeinsame zum Begriff zusammengefasst
würde; — wie diese Sucht, nie die Begriffsmerkmale zu geben, sondern durch
eine vermeintlich lückenlose Aufzählung den Umfang des Begriffes zu er-
schöpfen, überhaupt dem GB. v. 1822 eigentümlich ist. Zurechnung ist aus-
geschlossen bei völlig unwiderstehlichem Zwang, bei Kindern unter 7 Jahren,
bei Jugendlichen ohne discernimiento unter 17 Jahren, und während der Zeit
nicht voller Geisteskräfte (Trunkenheit nicht). Verjährung ist nur für die
Verfolgping zugelassen und wird durch ein neues Verbr. unterbrochen.
Das Strafensystem unterscheidet 11 Arten körperlicher, 13 unkörperlicher
und 2 von Vermögensstrafen. Zur Strafausmessung (Strafmehrungs- und -min-
derungsgründe, §§ 106, 107) dient eine künstliche Arithmetik, bei der die un-
teilbaren Strafen übergrossen Dauern teilbarer gleich gesetzt werden. Das Resultat
der Bestimmungen über die drei Grade jeder Strafe lässt sich unter Zusammen -
Ziehung des Inhaltes mehrerer Art. am kürzesten folgendermassen ausdrücken :
sind die beiden Grenzen des Strafrahmens a und b (a <[ b) , so ist der Straf-
/ N ^ ^ ^. 6a + b , . , 3a 4- 2b
rahmen des ersten (untersten) Grades a bis -^ — , des mittleren ^
3a-f4b ^ ^
bis , des obersten Grades 4 b bis b. Ein Einsetzen von Zahlen er-
b
giebt, dass bei verschieden weiten Deliktsstrafrahmen die Gradstrafrahmen bald
sich berühren, bald ineinander übergreifen, bald auseinander klaffen. Noch
komplizierter wird das durch die herabgesetzten Strafrahmen für Versuch
(i— i); ^ür Teilnahme (i— 1), Förderung (i— |), Hehlerei (1— i), und durch
die hiermit sich wieder kreuzenden Herabsetzungen für Jugendliche mit dis-
cernimiento {{ — i) und für nicht völlig unwiderstehlichen Zwang (^ — |). —
Über Rückfall imd teilweisen Erlass der noch nicht ganz verbüssten Strafe
wegen guter Führung finden sich bemerkenswerte Bestimmungen (Kap. 5. 9.).
in. Das gleiche Übermass von Distinktionen ohne das Vermögen begriff-
licher fester Fassung beherrscht den besonderen Teil (Teil I: Verbr. gegen die
Gesellschaft, 9 Titel, §§188—604; Teil II: Verbr. gegen die Einzelnen, 3 Titel,
§§ 605 — 816). Ein besonders einleuchtendes Beispiel dafür ist die Behand-
lung der Verbr. gegen die innere Sicherheit des Staates, wo Rebellion und
Sedition in je drei Klassen, daneben Tumult, Auflauf, Parteiungen und son-
stiger Widerstand gegen die Staatsgewalt in einfach unübersehbarer und prak-
tisch doch nicht auseinander zu haltender Weise unterschieden werden. So-
wohl dieses Herzählen von immer neuen Alternativen und die Besorgnis, durch
§ 4. DiEts neunzehnte Jahrhundert. 501
irgend einen abstrakteren Ausdrack eine etwas weitere Auslegung zu gestatten,
als namentlich die Behandlung der Strafzumessungslehre beweisen, dass der
Gesetzgeber, durchaus im Geiste des Aufklärungszeitalters, darauf ausging,
dem Richter des Rechts (juez de derecho) jedwede Willkür abzuschneiden.
Ähnliche Graduationen und Abstufongen der Strafe (escalas graduales, escala-
miento) charakterisieren übrigens auch das heutige System, in dem sogar die
Würdigung der erschwerenden und mildernden Umstände dem Riditer noch
einschneidender beschränkt ist. Dem StGB. v. 1822 kann man den Vorwurf
nicht ersparen, dass seine Satzungen zu sehr vom grünen Tische aus diktiert
sind; zudem erweckt es den bestimmten Eindruck, dass es mit äusserster Hast
gearbeitet worden ist. Es würde sich darum bei längerem Bestehen trotz
seiner zum Teil grossen Milde kaum als brauchbar erwiesen haben.
IV. Auch der Reaktion, die wieder mit dem alten Elend der Novisima
Recopilaciön weiter wirtschaftete, konnte die Notwendigkeit eines StGB, nicht
verborgen bleiben. Ferdinand VIT. beauftragte 1829 eine Kommission mit Ab-
fassung eines Entw., der erst nach des Königs Tode 1834 den Cortes vorgelegt
wurde, und den Pachbco mit den Worten „gearbeitet von der absoluten
Monarchie für die absolute Monarchie" kennzeichnet. Ein zweiter, von einer
anderen Kommission im J. 1839/40 abgeschlossener, durch knappe Fassung
sich auszeichnender Entw. ist nicht zur Beratung in den gesetzgebenden
Körperschaften gelangt. Da setzte endlich im J. 1843 die provisorische Regie-
rung von Barcelona auf Initiative von Joaquin Lopez eine Kommission unter
dessen Vorsitz ein, der die berühmtesten Rechtslehrer Spaniens angehörten, —
so Cortina, Garcia Goyena, Bravo Murillo, Castro y Orozco, Pacheco, Perez
y Hemandez, Ortiz de Ziifiiga. Leider besitzen wir weder ihre Sitzungs-
protokolle, noch die Kammerdebatten, da man offizielle Tachygraphen nicht
hatte. Das Ergebnis war das StGB. v. 1848, am 19. März von der Königin
Isabella U. publiziert, in Kraft seit dem 1. Juli, und in einigem berichtigt
durch die königliche Vdg. vom 21. und 22. September. Das GB. (494 Art.)
behandelt den allgemeinen Teil (Buch I) in 6 Titeln (Art. 1 — 127), den beson-
deren nach der Zweiteilung in Verbr. (delitos) und Übertretungen (faltas) in
Buch II (Titel I—VllI, Verbr. gegen die Gesamtheit, Art. 1—322; Titel IX— JLV,
Verbr, gegen die Einzelnen, Art. 323 — 467) imd Buch III (2 Klassen von Über-
tretungen, Art. 468 — 479 und 480 — 494). Seine Quellen sind ausser dem GB.
V. 1822 und dem gemeinspanischen StR., insbesondere den Siete Partidas, der
französische C. p. (wohl nur in wenigem), nach Pachecos Mitteilung vor allem
das StGB, von Brasilien (1830) und von Neapel (1819), die namentlich für die
Formulierung vieler Rechtsgedanken schlechthin massgebend waren. Die Re-
gierung hatte sich im Einf.G. Art. 2 einen Besserungsvorschlag auf Grund der
zu sammelnden Erfahrungen binnen 3 Jahren vorbehalten und schon durch
königliche Vdg. vom 30. Juni 1850 wurde eine Revision als ediciön reformada
verkündet (eine 2. amtliche Ausgabe erfolgte 1863). Das GB. umfasste nun-
mehr 506 Art.: Buchl wie bisher; Buch II, Titel I— VIII wi€f> bisher; Titel IX
bis XV, Art. 323—480; Buch III, Art. 481—505 und Schlussbestimmung. In
dieser Gestalt blieb es 20 Jahre lang und rief eine grosse Litteratur hervor,
die für die Jetztzeit keineswegs das Interesse verloren hat, da das heutige
StGB, nur eine abermalige, allerdings genauere Umarbeitung des v. 1850 ist.
Insbesondere ist der berühmteste der Kommentare, der von Joaquin Fran-
cisco Pacheco, noch heute unentbehrliche Grundlage für die Praxis und das
Studium des StGB.
V. Der Gedanke einer neuen Umarbeitung wurde durch die politischen
Wechselfälle des Herbstes 1868 heraufgeführt. Wie seit Anfang des Jahrhun-
derts jede Verfassungsänderung Umformungen auf dem Rechtsgebiete und h -
502 Spanien. — Das geltende Spanische StGB.
sonders im StR. nach sich zog, so erschien anch jetzt in Anlehnung an die
demokratisch -progressistische Verfassong vom 1. (6.) Juni 1869 ein EIntw. zur
Reform des StGB., ansgearbeitet vom Jostizminister Montero Rios. Durch 6.
vom 17. Jonl 1870 wurde von den konstituierenden Cortes dessen vorläufige
Beobachtung angeordnet und der somit geschaffene Cödigo penal reformado
wurde am 30. August vom Regenten Serrano publiziert. Die Durchberatung
und Veröffentlichung war aber mit solcher Hast geschehen, dass das GB. viele
Flüchtigkeits-, Druck- und Redaktionsfehler enthielt. Noch kurz ehe König
Amadeus am 2. Januar 1871 in Madrid eintraf, wurde daher durch Vdg. des
Regenten vom 1. Januar 1871 der Justizminister beauftragt, eine neue Ausgabe
des Cödigo zu veranstalten, die die in der Vdg. des Näheren aufgezählten
Verbesserungen enthielt Den Cortes ist trotz eines dahin gehenden Ver-
sprechens der definitiv festgestellte Text nicht mehr zur Beratung mitgeteilt
worden. Ein späteres Abänderungsgesetz vom 17. Juli 1876 betraf unwichtige
Punkte.^) Dies ist die heutige Gestalt des spanischen StGB. (Buch I: All-
gemeiner Teil, Art. 1—135; Buch 11: Verbr., Art. 136— 583: Buch HE: Über-
tretungen, Art. 584 — 626.)
VI. An der weiteren Vervollkommnung des spanischen StR. wird eifrig
fortgearbeitet, und in der ersten Hälfte des verfiossenen Jahrzehnts brachte,
wie in Italien, fast jeder Justizminister einen neuen Entw. ein. Am 17. Juni
1880 legte Bugallal den Cortes den ersten derartigen Entw. vor und erneuerte
ihn am 31. Januar 1881; dann folgte Manuel Alonso Martinez mit seinem Entw.
vom 11. April 1882; endlich Francisco Silvela am 29. Dezember 1884 (Proyecto
de Cödigo penal, gedruckt 1885, Madrid, Garcia). Einen anderen Weg
schlug 1886 wieder der genannte Alonso Martinez ein; er brachte am 19. No-
vember den Entw. eines G. betr. die Grundlagen der Reform des StGB. tLey
estableciendo bases para la reforma del Cödigo penal) in 10 Art. im Senat
ein. Dort wurde der Entw. auf 15 Art. gebracht und ging so dem Kongresse
am 28. Februar 1887 zu.*) Dasselbe Projekt tauchte auch noch in den Sitzungs-
perioden 1887.88 und 1888/89 auf, ist aber seitdem — wie es scheint — wieder
ganz von der Tagesordnung verschwunden. Sollte über kurz oder lang die
Frage nach der Reform des StGB, in Spanien akut werden, so wird man wohl
in erster Linie auf den Entw. Silvela zurückgreifen. Er steht fast durch-
gängig mit dem geltenden GB. auf gleichem Boden, und vielfach disponiert
er das Bestehende nur besser und formuliert es klarer. Vieles, insbesondere
das Straff nsystem und die Bemessung, ist vereinfacht, jedoch ohne Aufgabe
des Prinzipes. Die bedeutendsten Neuerungen finden sich in der Teilnahme-
lehre, und bei der Regelung der Verantwortlichkeit von Körperschaften (s. u.).
n. Das geltende spanische StGB.
Litteratui^ Empfehlenswerteste Ausgabe Medixa und Mailvxon. Leyes penales
de Espana (in der Biblioteca manual de Derecho espanol , 2. ed. Madrid 1S91. Abklla,
Los codi^os espanoles vigentes en la Peninsula y Ultramar. Madrid IS90. Marti, Cod.
p. de l'^To. reformado segün las disposiciones legales promulgadas hasta el dia y
ampliado con un apendice. 9. ed. Valencia 1?<>9. Die von der Redaktion der Zeit-
schrift El Toxs^rLTOB de los Ayuntamientos y de los Juzgados Municipales (Ratgeher der
Gemeinderäte und Munizipalgerichtshöfe i fast jährlich veranstalteten Ausgaben. 12. ed.
Madrid l'^V^o. Von älteren Werken sind noch heute unentbehrlich und werden immer
*) In § ßU'^ wurden die Übertretungen des Betretens fremder Grundstücke etwas
abgeändert, und ferner wurde § ^0»P kleinster Diebstahl. Mundraub, Holzdiebstahl)
ans den Übertretungen unter die Verbr. nach $ 5:^1* versetzt. In § ^30 ist das Citat
des we«rorefaHenen § 6u6* fälschlich stehen geblieben.
-• In dieser Gestalt hat ihn S. Mayer, Gerichtssaal Bd. 40 S. 272, besprochen.
§ 5. Der allgemeine Teil| insbesondere das Verbrechen. 503
wieder aufgelegt: Pacheco, Estudios de Derecho penal. Lecciones pronunciadas en
el Ateneo de Madrid en 1839 y 1840. Madrid, 1. ed. 1842, 5. ed. 1887, und Pacheco,
£1 Cödigo penal concordado v comentado. Madrid 3 Bde. 1. ed. 1848, 6. ed. 1888
(letztere Bd. III — V der im Verlag von Tello herausgegebenen Obras Juridicas de
Pacheco). Dazu der das Werk für den heutigen Richter unmittelbar brauchbar
machende Anhang von Gonzalez t Serrano: Ap^ndice a los comentarios del Cödigo
ßenal de Pacheco, ö sea El Nuevo C6digo, comentadas las adiciones que contiene.
[adrid, Jubera. 1. ed. 1870, 4. ed. 1889. Sonst sind von Werken über das StGB. 1850
zu nennen: Castro y Orozco und Ortiz de Zuniga, C6digo penal explicado para la
comün inteligencia y föcil aplicaciön de sus disposiciones. Granada 184S. Vizmanos
und Alvarbz MARTÜnsz, Comentarios al nuevo Cödigo penal. 2. ed. Madrid 1848. 2 Bde.
VicENTE Y Caravantes, Cödigo penal reformado, comentado novisimamente. Madrid
1851. AüRioLEs MoNTERO, Instituciones del Derecho penal espafiol, escritas con arreglo
al nuevo Cödigo. Madrid 1849 (auch in. der Biblioteca de Jurisprudencia y Legislacion).
Saavedra mid Colmenareb, Gran cuadro sinöptico del Derecho penal de Espana. Ma-
drid 1848. Castillo- Valero, Observaciones criticas sobre el Cödigo penal de Espa&a.
Madrid 1860. Hernandbz de la Rua, Cödigo penal, con notas y observaciones. Madrid
1863. Rada y Drloado, Cödigo penal con formularios y un diccionario del Cödigo.
Madrid 1867. — Über das StGB. 1871 sind folgende Werke zu nennen: Hauptdar-
stellung Luis SiLVELA, El Derecho penal estudiado en principios y en la legislacion
vigente en Espana. 2 Bde. Madrid 1874, 1879. Hauptkommentar Viada y Vilaseca,
Cödigo penal usw., concordado y comentado para su mejor inteligencia y fäcil apli-
caciön, con una multitud de ejemplos y cuestiones prÄcticas extractadas de la juris-
grudencia del Tribunal Supremo en materia de casaciön criminal. 4 Bde. 1. ed.
arcelona, Granada 1874, 1876. 4. ed. Madrid 1890. Sodann Ramön Ramiro Rueda,
Elementos de Derecho penal con arreglo al programa de esta asignatura en la Uni-
versidad de Santiago. 2. ed. Santiago 1889 (seinen Zuhörern gewidmetes Lehrbuch).
Groizard y Gomez de LA Serna, El Cödigo penal de 1870 concordado y comentado.
3 Bde. Burgos 1870—1883. AzcütIa, La ley penal. Estudios prä,cticos sobre la inter-
pretaciön, inteligencia y aplicaciön del Cödigo de 1870, en su relaciön con los de
1848 y 1850, con nuestras antiguas ley es patrias y con las principales legislaciones
extranjeras. Madrid 1876. Varela, Derecho penal espanol. Madrid 1878. Crespo,
Exposiciön del Derecho penal espanol segün los principios de la filosofia y los proyec-
tos presentados & las Cortes para su reforma. Madrid 1886. Läget- Valdeson, Thöorie
du Cödigo penal espafiol compar^e avec la lögislation f^an<;aise. 2. ed. Paris 1881. —
Sammlung von Entsch. in der Jurisprudencia criminal, Colecciön completa de las sen-
tencias dictadas por el Tribunal Supremo eii los recursos de casaciön y competencias
en materia criminal, desde la instalaciön de sus Salas segunda y tercera en 1870.
Herausgegeben in der Biblioteca juridica de la Revista general von Pantoja. Bd. 1
bis 37, Madrid 1871 — 88 u. if. Martinez Alcubilla, Diccionario de la jurisprudencia
penal de Espana. Anhang zu dem alle paar Jahre herausgegebenen Diccionario de
la Administraciön espanola. Von sonstigen Zeitschriften ist zu erwähnen die Revista
General de Legislacion y Jurisprudencia, begründet von Jos6 Reus y Garcia, jetzt
herausgegeben von Manresa y Navarro. Bd. 1—81. Madrid 1853 — 1892. Boletin de
la Revista general. Periödico oficial del ilustre Colegio de Abogados de Madrid.
Bd. 74 ff., Madrid 1885 ff. Revista de Antropolooia Crdonal, begründet von Taladriz.
Bd. I, Madrid 1888. 7- Die Monographieenlitteratur ist, ausser der über Gefängnis-
wissenschaft und über die Todesstrafe, sehr geringfügig; zu erwähnen sind die folgen-
den über die Übertretungen (Buch III. des StGB.), über Duelle, Selbstmord und Staats-
verbrechen: MiRETE, Tratado general sobre faltas. Alicante 1848. Montaut y Trigüeros,
Delitos y faltos, ö sea estudio sistemÄtico del libro III del Cödigo penal, con la juris-
prudencia del Tribunal Supremo en materia de faltas. Madrid 1879. Pastor, Los
desafios, su origen etc. Madrid 1840. Alvarez Martinez, Ensayo histörico-filosöfico-legal
sobre el duelo. Madrid 1847. Alvarez Arenas, Cuestiones ülosöfico-politico- legales
sobre los delitos del suicidio y del duelo. Madrid 1859. Sierra Valenzüela, Duelos,
rieptos y desafios. Madrid 1878. Prax, El suicidio, consideraciones filosöficas. Madrid
1875. RivERA Deloado, El criterio legal de los delitos politicos. Madrid 1873.
§ 5. Der allgemeine Teil, Insbesondere das Yerbrechen.
I. GB. Art. 1 teilt die strafbaren Handlungen in Verbr. und Übertretungen
(delitos und faltas), und dieser Zweiteilung entspricht durchaus der besondere
Teil, wo die Verbr. in Buch II, die Übertretungen in Buch III abgehandelt werden.
Trotzdem stellt GB. Art. 6 eine — nach der unwissenschaftlichen Definition
504 Spanien. — Das geltende spanische StGB.
durch die Strafen dem französischen Recht entlehnte — Dreiteilung auf, indem
die Verbr. in schwere nnd weniger schwere gespalten werden. Angewendet
ist diese Unterteilnng nnr in 6B. Art 8 Z. 1, Abs. 2. 3: gegen den Geistes-
kranken, der ein delito grave begangen hat, mnss auf Unterbringung in eine
Irrenanstalt erkannt werden; — in GB. Art. 74, wo eine besondere Art von
Hehlern im Fall eines delito grave mit lebenslänglicher, sonst aber mit zeit-
licher spezieller Amtsunfähigkeit bedroht ist; und in GB. Art 581, wo sie zur
Strafabstufung innerhalb der Fahrlässigkeit dient. Im übrigen hat die angeb-
liche Dreiteilung keinen Wert, auch keinen prozessualen; mit Becht nennt sie
daher Pacheco überflüssig: dass es Abstufungen in der Schwere der Straf-
thaten gebe, sei ja leicht einzusehen, man könne aber ebensogut tausend
ELategorieen machen. In der That Hessen sich mit dem gleichen Recht auch
die Übertretungen in 2 Klassen teilen; denn bei Übertretungen gegen die
Person und das Eigentum ist auch die fehlgeschlagene Übertretung (falta
finstrada) strafbar, bei den übrigen nicht (Art. 5). Als wäre das GB. sich
seines Versteckspiels bewusst, sagt es in Art. 6 mit einer von den Kommen-
tatoren wohl bemerkten Ausdrucksweise: Übertretungen sind die und die
Handlungen, dagegen: als schwere (weniger schwere) Verbr. werden die und
die angesehen, — gleichsam einen geringeren Grad der Wirklichkeit be-
zeichnend. Zu beachten ist auch die feine Abstufung, wonach die schweren
Verbr. durch affliktive Strafen geahndet, die weniger schweren Verbr. durch
korrektioneile zurückgedrängt werden, während für die Übertretungen dasG.
leichte Strafen anzeigt. Nach Pacheco soll darin ein Hinweis auf die Straf-
zwecke der Vergeltung, — der Besserung, — der Mahnung liegen. — (Den
gleichen Zwitterstandpunkt, wie das GB., nimmt auch der Entw. Silvela ein).
n. Die Definition der strafbaren Handlungen in Art. 1 geht nur auf vor-
sätzliche Handlungen und Unterlassungen, — das G. redet von willentlich,
voluntario. Diese Fassung bezieht sich auf die Absicht (intenciön) oder, wie
sich die Schriftsteller mit Vorliebe ausdrücken (auch der Entw. Silvela thut
es) auf die Boshaftigkeit (malicia). Diese synonymen Bezeichnungen wendet
auch die Sprache des G. öfters an; desgleichen entscheidet der Höchste Ge-
richtshof^) in diesem Sinne. Für den Fall, dass die Absicht nicht voll be-
wiesen ist, aber auch das Gegenteil nicht feststeht, enthält GB. Art. 1 § 2 eine
Präsumtion für das Vorliegen der Absicht. Es ist unstreitig, dass diese Prä-
sumtion durch Gegenbeweis entkräftet werden kann. Wenn sich das vorge-
setzte und das ausgeführte Übel nicht decken, so sind zu beachten einerseits
GB. Art. 1 § 3 : „Wer willentlich ein Verbr. oder eine Übertretung begeht, verfällt
in strafrechtliche Verantwortlichkeit, auch wenn das ausgeführte Übel von dem vor-
gesetzten verschieden war" nebst den Strafanwendungsvorschriften Art 65: ist
das ausgeführte Übel das schwerer strafbare, so tritt die Strafe des vorgesetzten im
höchsten Grade ein; ist das vorgesetzte Übel das schwerer strafbare, so tritt die
Strafe des ausgeführten im höchsten Grade ein, es liege denn in den AusftLhrungs-
handlungen der schwerer strafbare Versuch oder die Fehlschlagung des vor-
gesetzten Übels, alsdann ist der höchste Grad der Versuchs-(Fehlschlagungs-)
strafe anzuwenden; — und andererseits GB. Art. 9, Z. 3: „Ein mildernder
Umstand ist der, dass der Thäter nicht die Absicht hatte^ ein Übel von so
grosser Schwere zu verursachen, wie das, welches er herbeiführte." Im GB.
von 1850 bezog sich Art. 1 § 3 (entsprechend den in romanischen GBB. öfter
*) Der Höchste Gerichtshof (Tribunal Suprepio) ist gemäss dem GerVerfG. (Ley
orgänica del Poder judicial) Art. 279 fr. zuständig, und zwar für Revisionen und
Nichtigkeitsrekurse ; in letzteren, soweit Verletzungen des materiellen StR. in Betracht
kommen, der zweite Senat (Sala segunda).
§ 5. Der allgemeine Teil, insbesondere das Verbrechen. 505
bei den Tötungsdelikten vorkommenden Bestimmungen) nur auf den Fall, wo
das Übel eine von der Person, die zu verletzen man vorhat, verschiedene
Person trifft; Art. 9, Z. 3 sprach 'davon, dass der Thäter nicht das „ganze
Übel" zu verursachen beabsichtigte; die Bestimmungen des heutigen Art. 65
fehlten. Durch die heutige Fassung ist das bereits tttlher vorhandene Dilemma
offensichtlich geworden; die Lösung ist gegen Pacheco und den sich wider-
sprechenden Oroizard mit Rueda darin zu finden, dass in Art. 9, Z. 3 zwar
das verwirklichte Übel in seinem schädigenden Umfang über das gewollte
hinausschiesst, aber ohne den Charakter der Strafthat zu ändern (es bleibt der
selbe Art. anzuwenden); während in dem andern Fall der äusseren Er-
scheinung nach ein völlig anderes, selbständiges Verbr. zu stände gekommen
ist.^) Gerade dieses unterscheidende Moment ist in der heutigen Fassung des
Art. 9 etwas verwischt, während in Art. 1 die neuere, über den error in per-,
söna und die davon nicht getrennte aberratio ictus hinaus erweiterte Aus-
drucksweise wohl zu billigen ist (dagegen Serrano).
Der Definition nach fallen nicht-willentliche, ohne malicia begangene
Handlungen nicht unter den Begriff der Verbr. und Übertretungen. Dem ent-
sprechend giebt es über die Fahrlässigkeit keine allgemeinen Bestimmungen;
sind fahrlässige Handlungen strafbar, so wären sie etwa als Quasidelikt zu be-
zeichnen, wie es manche südromanischen StGB. auch, thun (Chile 490). Das
spanische StGB, stellt im Einklang damit an den Schluss des II. Buches den
Tit. von der „verwegenen Unvorsichtigkeit" (imprudencia temeraria, Art. 581),
auf den im allgemeinen Teil Art. 8, Z. 8 und Art. 86 hinleiten. ^) Unterschieden
ist die „verwegene" von der „einfachen" Unvorsichtigkeit oder Nachlässigkeit
(simple imprudencia ö negligencia). Im erstem Falle wird die That, die bei
unterlaufender malicia ein delito grave darstellen würde, mit 4 — 6 Monaten
härteren Arrestes, 6 Monaten bis zu 4 Jahren 2 Monaten korrektioneilen Ge-
fängnisses gestraft; würde die That ein delito menos grave darstellen, so tritt
1 — 4 Monat härterer Arrest ein; doch darf nicht härter als bei vorhandener
Absicht gestraft werden. Im zweiten Fall wird die That, wenn dabei ein
Zuwiderhandeln gegen Vorschriften (infi*acciön de los Keglamentos) stattge-
funden hat, mit 2 — 6 Monaten härteren Arrestes, sonst aber (als falta in
Buch III) mit Geldstrafe und Verweis (Art. 605, Z. 3) geahndet. (Vgl. noch
Eisenbahn-G. vom 23. November 1877, Art. 21. 22; StGB. Art. 20.*) 366.*) 619.®)
Der Entw. Silvela stellt die Fahrlässigkeit in den allgemeinen Teil, ohne die
Auffassung der fahrlässigen Handlungen als Quasidelikte aufzugeben.
III. GB. Art. 3 unterscheidet nach Vorgang des StGB, von Neapel zwischen
Vollendung (delito consumado), Fehlschlagung (delito frustrado) und Versuch
(tentativa) des Verbr. ; wozu in Art. 4 noch die Verbindung (conspiraciön) und
der Vorschlag (proposiciön) treten, vgl. StGB. 1822. An den Fassungen der
^) Der Entw. Silvela umgeht die Lösung: er überlässt dem Richter die Wahl
zwischen Art. 9 Z. 3 (Entw. Art. 33 Z. 3) und Art. 1. 65 (Entw. Art. 14. 89).
') Art. 8 Z. 8: „Straflos ist, wer bei Ausführung einer erlaubten Handlung mit
der erforderlichen Sorgfalt, durch reinen Zufall ein Übel verursacht, ohne Kulpa, noch
Absicht es zu verursachen. '^ Liegen nicht alle Kequisite dieses Art. vor, so verweist
Art. 85 auf Art. 581.
') Schankwirte usw., in deren Lokalen ein Verbr. begangen wird, haften civil-
rechtlich subsidiär, falls von ihrer Seite oder von der ihrer Angestellten eine Zuwider-
handlung gegen Polizei Vorschriften untergelaufen ist.
*) Der aus Nachlässigkeit oder unentschuldbarer Unwissenheit offensichtlich un-
gerecht urteilende Richter wird mit spezieller Amtsimfähigkeit von 10 — 12 Jahren
oder lebenslänglich bestraft.
^) Clausula generalis für Vermögensschädigungen, auch fahrlässige einschliessend,
8- u. S. 526.
506 Spanien. — Das g-ettende spanische SiGB.
FehlschlagüDg and des Versachs ist riel hemmgearbeitet worden: nach den heu-
tigen Worten des 6B. liegt die erstere vor, „wenn der Schuldige alle AnsfOhnings-
handlangen vornimmt, die als Ergebnis das Verbr. hätten hervorbringen müssen
(deberian prodaeiri imd es trotzdem nicht hervorbringen aas Ursachen, die
vom Willen des Handelnden unabhängig sind". Der Versuch wird dahin be-
schrieben, dass „der Schuldige den Anfang der Ausführung des Yerbr. un-
mittelbar durch äussere Thaten setzt und dass er wegen eines Grundes oder
Ereignisses, das nicht sein eigenes und fireiwilliges Abstehen ist, nicht sämt-
liche Ausführungshandlungen vornimmt, die das Verbrechen hervorbringen
müssten (debieran)''. Die Praxis bezieht sowohl untauglichen Versuch als un-
taugliche Fehlschlagung unter Art. 3 ein; dagegen wendet sich der Entw.
Silvela, indem er schon in die Definition das Moment der Tauglichkeit auf-
nimmt. Bei der Fehlschlagung CArt. 20 f verlangt er, dass „die Handlungen
ihrer Natur nach zur Hervorbringung des Erfolges hätten ausreichend sein
können**; beim Versuch (Art. 21. Z. 1) müssen die äusseren Akte „zur Hervor-
bringung des Erfolges notwendig" gewesen sein. Daneben aber stellt er die-
jenige Fehlschlagung, bei der die vom Thäter für notwendig gehaltenen Hand-
lungen ihrer Natur nach unwirksam waren, als zweite Gattung des Versuchs
(sie! Art. 21, Z. 2, natürlich nur in Rücksicht auf die Straffolgen) auf, während
der absolut untaugliche Versuch (tentativa) straflos bleibt. Dieser bewusst
unlogischen Gestaltung dürfte die des StGB, noch vorzuziehen sein. StGB.
Art. 66, 67 ordnen an, dass die Strafe für Fehlschlagung um 1, für Versuch
imi 2 Stufen geringer sei, als die für Vollendung. Abweichungen hiervon
finden sich im besonderen Teil (Art. 137: Landesverrat im Kriege — gleiche
Strafbarkeit mit der Vollendung; Art 158. 163: Mord des Königs und des
Thronfolgers — gleiche oder geringere Strafbarkeit; Art. 519: Raubmord —
besonderer Strafrahmen, höher als nach Art. 66. 67; Art. 422: Mord — Mög-
lichkeit noch geringerer Bestrafung als nach Art. 66. 67). Verbindung und Vor-
schlag stehen nur kraft ausdrücklicher Bestimmungen unter einer in diesen an-
gegebenen Strafe (Art. 139: Landesverrat; Art. 158. 163: Mord des Königs und
des Thronfolgers; Art 249. 254: Rebellion und Sedition). Ebenso Silvela, nur
dass er Entw. Art. 93 die Strafe allgemein relativ bestimmt. — Vorbereitungs-
handlungen sind z. B. bei Urkundenfälschung, Art. 326 — 329, unter Strafe
gestellt.
Die an einer Strafthat Beteiligten zerfallen — unter Vereinfachung der
Unterscheidungen im StGB. v. 1822 und im Anschluss an die alte gemein-
spanische Auffassung*) — in Urheber (autores), Teilnehmer (cömplices) und
Begünstiger (^encubridoresj. (Art. 1 1 , bei Übertretungen ist Begünstigung straflos).
Urheber (Art 13) ist 1« wer unmittelbaren Anteil an der Ausführung nimmt;
2. wer andere zur Ausführung direkt zwingt oder anleitet; $• wer bei der
Ausführung mitwirkt durch eine Handlung, ohne die sich das Verbr. nicht
verwirklicht haben würde (Beispiele aus der Praxis: Schmierestehen; Wehrlos-
machen des zu Tötenden). Teilnehmer (Art. 15) ist, wer sonst durch vorher-
gehende oder gleichzeitige Handlungen bei der Ausführung mitwirkt (In der
Praxis wird das Erfordernis eines besondem Gehülfendolus aufgestellt.) Be-
günstiger (Art. 16) ist, wer mit Kenntnis der Vollbringung des Verbr. und
ohne daran beteiligt zu sein, hinterher nach der Ausführung 1« entweder sich
die Vorteile des Verbr. nutzbar macht oder den Thätem dazu verhilft, sie
sich nutzbar zu machen; 2. oder den Gegenstand, die Hervorbringungen oder
Mittel des Verbr. verbirgt oder vernichtet, um eine Entdeckung zu verhindern ;
*) Die sich auf die ,, Regel der alten Weisen" in Partida VII, 34, 19 berufen
konnte, wonach Mlssethäter, Ratgeber und Verheimlicher gleiche Strafe empfangen.
§ 5. Der allgemeine Teil, insbesondere das Verbrechen. 507
3. oder den Schuldigen beherbergt, verbirgt oder seine Flucht fördert, falls
(a) der Hehler dabei sich eines Missbrauchs öffentlicher Amtsgewalt schuldig
macht, oder (b) der ThÄter Landesverrat, Königsmord, Verwandtenmord, Assassi-
nat begangen hat oder sonst ein bekannter Gewohnheitsverbrecher ist ; 4. oder
wer als Famillenhaupt den Gerichtsbehörden den nächtlichen Eintritt in seine
Wohnräume, um den darin befindlichen Thäter festzunehmen, verweigert.
Begünstigung der Angehörigen ist, mit Ausnahme des Falles 1, straflos (Art. 17).
Für die Begünstiger unter 3 a droht Art* 74 eine bestimmte Strafe an (s. ob.
S. 504); im übrigen stehen die Teilnehmer um 1^), die Begünstiger um 2 Stufen
unter der Strafe des Urhebers des betr. vollendeten, fehlgeschlagenen oder
versuchten Verbrechens, sodass sich daraus 5 verschiedene Stufen der Be-
strafung ergeben. (Art. 68 — 73.) Die Teilnehmer an der Übertretung werden
mit dem niedrigsten Grad der Urheberstrafe belegt. — Der Entw. Silvela
stellt die Begünstigung in den besonderen Teil und ist ausserdem (Entw. Art. 26,
Z. 3 u. Art. 90) so gefasst, dass versuchte Anstiftung auch strafbar ist und
dass die thätige Reue des Anstifters seine Strafbarkeit beseitigt. Ausserdem
trifft Entw. Art. 25 Bestimmungen über die Bestrafung von Körperschaften.
IV. Die Strafausschliessungsgrtinde sind in Art. 8 geregelt, dessen Ziffern
ich folge. Zunächst kommt der Gesichtspunkt mangelnder geistiger Fähig-
keiten in Betracht. 1. Der Blödsinnige und der Geisteskranke; ausgenommen
das lucidum intervallum. Im Fall eines delito grave muss Unterbringung ins
Irrenhaus erfolgen, aus dem der Thäter nur mit vorgängiger Genehmigung
desselben Gerichtshofs entlassen wird; im Fall eines delito menos grave kann
das Gericht den Geisteskranken seiner Familie überlassen, wenn diese ge-
nügende Garantieen für Bewachung bietet. Weder Taubstummheit noch Schlaf-
wandel fällt hierunter; die Schriftsteller betrachten in letzterem Falle die Ver-
brechensdefinition des Art. 1 als unzutreffend, weil es an einer willentlichen
Handlung fehle. Obwohl ferner die Trunkenheit nur mildernder Umstand ist
(s. u.), so wird höchster, sinnloser Bausch doch gleichfalls von den Kommen-
tatoren hierhergezogen, nötigenfalls wieder unter Berufung auf Art. 1.^) (Die
Behandlung der geisteskranken Sträflinge regelt StGB. Art. 101 und Königl.
Vdg. V. 13. Januar 1864). 2. Alter unter 9 Jahren. 9. Alter zwischen 9 und
15 Jahren, wenn es am Unterscheidungsvermögen (discemimiento) fehlte. Der
Jugendliche wird alsdann seiner Familie mit der Verpflichtung zur Über-
wachung und Erziehung übergeben, oder (wenn es an geeigneten Persönlich-
keiten fehlt) in ein Waisen- und Findelhaus verbracht. Lag discemimiento
vor, so wird nach Art. 86 eine mindestens um zwei Stufen niedere Strafe
angewendet. Höheres Alter macht unbedingt strafbar, doch ist Alter unter
18 Jahren Strafmilderungsgrund, und es ist stets die. nächstniedere Strafe an-
zuwenden (Art. 9 Z. 2, 86 § 2). Nicht mehr die Zurechnungsfähigkeit, wohl
aber die Kechtswidrigkeit^ schliessen die folgenden aus den Gesichtspunkten
der Notwehr und des Notstandes zu erklärenden Umstände aus. 4. Ver-
teidigung der eigenen Person und Rechte, wenn vorliegt a) ein widerrecht-
licher Angriff, b) vernünftige Notwendigkeit des zu seiner Hinderung oder
*) Ausnahme in Art. 465 für gewisse Personen bei Sittlichkeitsverbrechen.
*-) Entw. Silvela Art. 31 Z. 3 schiebt hier den Geisteszustand, in dem der Thäter
des Bewusstseins seiner Handlungen gänzlich beraubt ist, als gleichfalls Zurechnungs-
unfähigkeit begründend ein. Bei der nicht absichtlich herbeigeführten Trunkenheit
kommt Silvela interessanter Weise auf den Standpunkt der Siete Partldas zurück,
indem er die Bestrafung der begangenen Handlungen als imprudencia dem klugen
Ermessen des Richters anheimstellt.
') Dieser verschiedenen Bedeutung ist im Entw. Silvela durch Verweisung in
verschiedene Art. (Art. 31: falta de imputabilidad ; Art. 32: justificaciön) Rechnung
getragen.
508 Spanien. — Das g^ehende spanische StGB.
Abwehr angewendeten Mittels, ei keine ausreichende Provokation Ton seilen
dessen, der sich verteidigt, i» Verteidigung der Person oder Hechte von
Angehörigen^^ ) wenn 4 a) und h) vorliegt und ci der Handelnde an der Pro-
vokation keinen Teil genommen hat. §. Verteidigung der Person oder Rechte
eines Fremden, wenn 4 a i und b; vorliegt und c) der Verteidigende nicht aus
Rache, Gehässigkeit oder sonst widerrechtlichen Motiven handelt. ?• Ver-
ursachung eines Schadens an fremdem Eigentum, um ein drohendes Übel zu
vermeiden, a) wenn Realität d« h. nächste Greifbarkeit (Pacheco) des zu ver-
meidenden Cbels vorliegt: h) wenn das zu vermeidende Übel grosser ist. als
das zur Vermeidung verursachte; c) wenn es kein anderes thunliches und
minderschädliches Mittel zur Verhinderung giebt. 8. Zufall, oben betrachtet
(S. 505 Anm. 2); dem Gesetzgeber scheint er dem Notstand ähnlich zu gelten.
9« Nötigung durch unwiderstehlichen Zwang. 10« Unüberwindliche Furcht vor
einem gleichen oder grosseren Übel. Endlich befreit Rechtspflicht von Strafbar-
keit: 11« Erfüllung einer Pflicht oder gesetzmässige Ausübung eines Rechtes,
Dienstes oder Amtes. 12. Geschuldeter Gehorsam. 13. Unterlassung, weil man
durch eine auf dem Gesetz beruhende oder durch eine unüberwindliche Ursache
gehindert ist. — Im allgemeinen weicht der Entw. Silvela nicht ab; nur ist
Punkt 8 in die Schuldlehre gestellt (Entw. Art. 18; und Punkt 9 xmd 10
werden als Ausschlussgründe der Zurechnungsfähigkeit angesehen (Elntw. Art. 31
Z. 6. 7). Überschreitung der Notwehr aus Schreck und Bestürzung ist gleich-
gestellt (Entw. Art. 32 Z. 1 § 2).
V. In Kap. III und IV, Art. 9 und 10, zählt das O. die mildernden und
erschwerenden Umstände auf, letztere erschöpfend, erstere unter Zulassung
analoger Ausdehnung auf gleichgeartete Fälle (Art. 9, Z. 8 — von der Praxis
des Höchsten Gerichtshofes sehr eng ausgelegt; im StGB 1850 waren auch die
erschwerenden Umstände analoger Ausdehnung fähig). Mildernde Umstände:
L Die Umstände des Art. 8, wenn nicht alle zur Ausschliessung der Verantr
wortlichkeit in dem betreffenden Fall notwendigen Erfordernisse vorliegen. Die
Auslegung ist sehr streitig; man trennt nach Pacheco die Umstände des Art. 8
in 3 Gruppen: a) solche, die aus einem einzigen, strikt beweisbaren Faktum
bestehen, das entweder vorliegt oder nicht, wobei es ein Drittes nicht giebt —
lediglich Z. 2; h) solche, die zwar dem Ausdrucke nach einfach sind, aber
doch nicht aus einem materiellen, greifbaren Faktum, sondern aus einem morali-
schen (ideellen), das der Verstand von vielen Richtungen her würdigen muss, weil es
verschiedene Grundlagen hat, bestehen, also doch zusammengesetzt, kompliziert
sind — Z. 1, 3, 9, 10, 11, 12, 13; c) solche, deren umständliche Erfordernisse das
G. einzeln aufzählt — Z. 4 — 8. Es ist klar, dass Art. 9 Z. 1 bei Gruppe a aus-
geschlossen, bei Gruppe c zugelassen ist; das Kampfobjekt ist Gruppe b. Die
Kommentatoren behaupten durchweg, diese strafausschliessenden Umstände
könnten sämtlich, wie sie sich ausdrücken, „in mildernde degenerieren", —
die Praxis leugnet dies ebenso bestimmt. Eine Mittelstellung nimmt Rueda
ein, er betrachtet jenes „Degenerieren" als möglich bei Z. 10, 11, 12 und Z. 13,
so weit sie von Hinderung durch eine auf dem G. beruhende Ursache redet;
als ausgeschlossen in den sonstigen Fällen. Denselben Standpunkt hat der
P^ntw. Silvela Art. 33 Z. 1, der die Frage legislatorisch löst.*) Damit ist ins-
besondere die geminderte Zurechnungsfähigkeit (für die Fälle, in denen man
von Geisteskrankheit noch nicht sprechen kann) verneint, wie das früher schon
*) Gatte, eheliche, uneheliche und adoptive Aszendenten, Deszendenten und
Geschwister, die in diesen Graden Verschwägerten, sonstige Verwandte bis zum
vierten Grad.
-) Nur ist Z. 13 ^= Entw. Art. 32 Z. 5 nicht zerrissen.
§ 5. Der allgemeine Teil, insbesondere das Verbrechen. 509
im Kommentar von Alvarez Martinez geschah. 2. Alter unter 18 Jahren, und
3. schwereres tTbel, als beabsichtigt — schon S.504f. besprochen. 4. Adäquate Pro-
vokation oder Drohung. 5. Rache im unmittelbaren Anschluss an eine schwere
Verletzung des Thftters oder seiner Angehörigen. 6* Trunkenheit, es sei denn
diese gewohnheitsmässig (habitual) oder folge erst dem verbrecherischen Ent-
schluss (also actiones liberae in causa). Oewohnheitsmässige Trunkenheit wirkt
mithin weder strajf!niindemd noch strafausschliessend — doch s. o. S. 507 zu
Art. 8 Z. 1; was unter ihr zu verstehen sei, darüber schwieg das StGB. 1848,
das StGB. 1871 überlässt es dem richterlichen Ermessen, während das StGB.
1850 eine der denkbar unglücklichsten Definitionen gab.^) 7. Affekt.
Erschwerende Umstände sind unter andern 8. alevosia (s. o. S. 495),
3* Gedungensein, 4. Anwendung von Gift oder gemeingefährlichen Mitteln (vgl.
13), 6. überlegte, unnütze Vermehrung des schädigenden Erfolges. Femer 7.
bewusster Vorbedacht (premeditaciön conocida), nach der Rechtsprechung des
Höchsten Gerichtshofes mit der Überlegung nicht zusammenfallend, 9. Missbrauch
der Überlegenheit, 10. Missbrauch des Vertrauens^ 18. Rückfall (reincidencia)
d. h. frühere rechtskräftige Verurteilung wegen eines in dem gleichen Tit. des
StGB, enthaltenen Verbr. Ist in demselben früheren Urteil über zwei selbst-
ständige Verbr. gleicher Art erkannt, so liegt nach dem Höchsten Gerichtshof
doppelter Rückfall vor (s. u. S. 524 zu Art. 533 Z. 3). 21. Einsteigen d. h. Ein-
treten auf einem nicht dazu bestimmten Wege. 23. Beschäftigungslosigkeit
(ser vago el culpable). Unter den erschwerenden Umständen sind zwei kleine
Gruppen hervorzuheben: a) solche, die das Gericht nach Beschaffenheit der
That und des Thäters als erschwerend ansehen kann, nicht muss — Z. 15:
Ausführung bei Nacht oder im freien Feld (en despoblado), *) oder im freien
Feld und in Bande (en cuadrilla — gelegentlich beim Raub Art. 518 als
Zusammenwirken von mehr als drei bewaffneten Missethätem definiert), diese
Umstände müssen nach der Praxis ausdrücklich vom Thäter aufgesucht sein;
Z. 17: frühere Verbüssung einer Strafe wegen eines ebenso oder schwerer be-
straften Verbr., oder zwei oder mehrerer gelinder bestraften Verbr. (sogenannte
reiteraciön; reincidencia wird als reiteraciön especifica bezeichnet), b) Solche,
die das Gericht nach Beschaffenheit der That auch als mildernde Umstände
ansehen kann, die der Entw. Silvela Art. 35 als circunstancias mixtas zusammen-
fasst: Z. 1 dass der Verletzte ein Angehöriger des Thäters ist; Z. 5 Benutzung
der Presse, Lithographie, Photographie u. dgl. — Noch sind zwei Art. aus der
Strafanwendungslehre herzuziehen, die der Entw. Silvela richtig einreiht, nämlich
Art. 79: die einen Verbrechensbegriff konstitxderenden oder ihm inhärenten
Umstände gönnen nie erschwerend wirken; und Art. 80: in einem persönlichen
Grunde beruhende strafändemde Umstände sind nur denjenigen Urhebern,
Teilnehmern und Begünstigem zuzurechnen, bei denen sie vorliegen; in der
Art der Ausführung beruhende allen, denen sie bewusst sind. Da sich Art. 80
nicht auf den Fall der einen neuen Verbrechensbegriff konstituierenden Um-
stände bezieht, so ist dieser streitig und in widersprechenden Entsch. ist der
Extraneus beim Verwandtenmord als Begünstiger aus Art. 417 (parricidio), als
Miturheber aus Art. 419 (homicidio) bestraft worden.
*) „Für gewohnheitsmässig gilt eine Thatsache, wenn sie drei- oder mehrmal mit
mindestens 24 Stunden Zwischenzeit zwischen der einen und der andern Handlung
ausgeführt wird." Ganz richtig deduziert Pacheco daraus, dass ein Gewohnheits-
säufer ist, wer dreimal in seinem Leben einen Rausch gehabt hat, dagegen nicht,
wer sich alle Tage zweimal betrinkt.
«) Das ursprüngliche StGB. 1870 hatte nur diese Worte, die Vdg. 1871 fügte
die folgenden hinzu. Ob die Worte „oder im freien Feld** zweimal stehen sollten,
war sehr streitig, — früher vier Entsch. dagegen, jetzt vier dafür.
510 SpanieiL — Das gehende spanische StGB.
VI. Ausser mehreren bereits erwähnten Bestimmungen fiber Fälle der
Gesetzeskonknrrenz handeln die Art. 88 — 90 von der Verbrechenseinheit nnd
-Mehrheit. Wegen mehrerer Verbr. oder Cbertretimgen werden aJle Strafen
ToUstreckt, die schwersten znerst; die Strafdaner darf den dreifachen Betrag
der erkannten höchsten Strafe nnd jedenfalls 40 Jahre nicht übersteigen.
Stellt eine einzige That zwei oder mehrere Verbr. dar, oder ist das eine
Verbr. notwendiges Mittel znr Aasführang des andern, so wird nnr die Strafe
des schwerst bedrohten in ihrem höchsten Grad angewendet. (Vgl. StGB. Art.
188. 273. 279. 423. 503 und dazu KöoigL Vdg. v. 22. April 1889. 501 § 3. 516,
Z. 1—4. 519. 530 § 3. 579 § 2 u. 3. 585 und 276 und dazu KönigL Vdg. v. 22. Sep-
tember 1848, Art. 5, unten S. 518: Ley de Enjoiciamiento Criminal v. 14. Sep-
tember 1882 = StPO., Art. 733. 912 Z. 3; anders G. v. 30. Juni 1887 Art. 10 § 4).
VU« Das spanische StGB, enthält ausführliche Bestimmungen über die
civilrechtliche Verantwortlichkeit für Verbr. und Übertretungen, die über die
strafrechtliche weit hinausgeht und z. B. auch die Z. 1, 2, 3, 7, 10 Art. 8
rstrafausschliessungsgründe) umfasst. Die haftenden Personen bestimmt Art.
18—21, den Umfang der Haftung Art. 121—128 (vgl. Art. 24 § 2, Art. 135).
VUI. Der Bruch der Strafe (el quebrantamiento de la condena), d. h. das
Unternehmen, sich der Strafrollstreckung zu entziehen, und die Begehung
neuer Verbr. vor beendeter Strafvollstreckung bilden seit Alters ein besonderes
Kapitel in den spanischen Strafrechten. Im ersteren Fall werden Freiheit
entziehende Strafen erhöht, Freiheit beschränkende in Freiheit entziehende
verwandelt, den Rechte entziehenden Strafen wird eine Geldstrafe hinzugefügt.
Im letzteren, der Bealkonknrrenz nahe stehenden Falle wird das neue Verbr.
besonders schwer gestraft. (Tit. V, Art. 129 — 131.)
IX. Das staatliche StR. erlischt durch Tod, Verbüssung, Amnestie, Be-
gnadig^ung, Verzeihung des Verletzten bei Antragsdelikten und Veij&hrung,
die sich in Verbr.- Verjährung und Strafverjährung teilt Letztere wird unter
anderm durch Aufenthalt in einem Land, mit dem keine Auslieferungsverträge
bestehen, und durch ein neues Verbr. unterbrochen (Tit. VI, Art. 132 — 135).
X. Über das zeitliche Geltungsgebiet der Strafrechtssätze vgl. Art 22.
23. 2. Das G. findet nur auf die nach seinem Inkrafttreten begangenen Hand-
lungen Anwendung; das mildere G. hat rückwirkende Kraft, auch für den
seine Strafe schon Verbüssenden. Fällt eine strafwürdige Handlung nicht
unter das G., oder ist eine Strafe übertrieben streng, so hat das Grericht der
Regierung motivierten Bericht zu erstatten. Die Analogie ist also ausgeschlossen;
ausnahmsweise ist sie für einige Fälle zugelassen oder notwendig, vgl. Art. 9
Z. 3, 10 Z. 5, 76 Z. 5, 98. — Über das räumliche Geltungsgebiet bestimmt
GerVerfG. TLey orgänica del Poder judicial v. 15. September 1870) Art. 333—346.
— Über das persönliche vgl. Constituciön v. 30. Juni 1876 Art. 48 (KOnig),
Art. 46, 47 f Senatoren und Abgeordnete); GerVerfG. Art. 334 (auswärtige
Staatfthäupter, Gesandte usw.). Das sachliche Geltungsgebiet berühren StGB.
Art. 7 und 626. Marine-StGB. Art. 3.
§ 6. Das Strafensystem.
I. An der Spitze der 30 Strafmittel umfassenden Klassifikation des Art. 26
Bteht die Todesstrafe, angedroht, und zwar stets alternativ mit schwerer Frei-
hf'itsstrafe, in 14 Fällen,*) vollzogen mittels der Würgschraube (garrote) gemäss
*) Art. 136, 137 (schwerster Landesverrat in Vollendung, Fehlschlagung und
Versuch;, 138 (einfacherer Landesverrat), 156 (Piraterie), 153, 157, 158, 163 (Mord des
Königs und des Thronfolgers in Vollendung, Fehlschlagung und Versuch), 184 Z. 1. 2,
§ 6. Das Strafensystem. 511
Art. 102—105. Im Fall der Begnadigung (vgl. G. vom 18. Juni 1870 über die
Ausübung des Begnadigungsrechts) tritt die gesetzliche Nebenstrafe lebens-
länglicher absoluter Amtsunfähigkeit ein (Art. 53).
II. Freiheitentziehungsstrafen. Mit den Freiheitsstrafen überhaupt treibt
das spanische 8tB. einen förmlichen Luxus, wenn man auch sagen muss, dass
oft an sich gleiche, nur in der Dauer verschiedene Strafen anders benannt
sind, oder dass hinter der Verschiedenheit des Namens nur eine nicht allzu
grosse Verschiedenheit der Vollzugsart steckt. Hierin liegen die Elemente der
vom Entw. Silvela versuchten Vereinfachung des Strafensystems. Von unten
aufsteigend bilden die Freiheitentziehungsstrafen folgende Stufenleiter: 1 — 30
Tage arresto menor (einfacher Arrest); 1 Monat 1 Tag bis 6 Monate arresto
mayor (schärferer Arrest); 6 Monate 1 Tag bis 6 Jahre prisiön correccional
und presidio correccional (korrektionelles Qef. und korrektioneile Festungs-
haft); 6 Jahre 1 Tag bis 12 Jahre prisiön mayor und presidio mayor (schweres
Gef. und schwere Festungshaft); 12 Jahre 1 Tag bis 20 Jahre reclusiön tem^
poral imd cadena temporal (zeitliches Zuchthaus und zeitliche Kettenstrafe);
endlich reclusiön perpetua und cadena perpetua (lebenslängliches Zuchthaus
und lebenslängliche Kettenstrafe). Jede der zeitlichen Strafen zerfällt zu Straf-
abmessungszwecken (vgl. oben StGB. 1822, S. 500) in 3 Grade (grado mlnimo,
medio und mäximo, deren Grenzen wir im folgenden mit den noch den je niederen
Graden angehörenden Zahlen bezeichnen (Art. 97): 1 — 10 — 20 — 30 Tage; 1 — 2
— 4 — 6 Monate; 6 Monate bis 2 Jahre 4 Monate bis 4 Jahre 2 Monate bis
6 Jahre; 6—8 — 10—12 Jahre; 12 Jahre bis 14 Jahre 8 Monate bis 17 Jahre
4 Monate bis 20 Jahre. Auch bei den lebenslänglichen Strafen ist in gewissem
Sinne eine Graduation erreicht, indem im allgemeinen nach 30 Jahren Begna-
digung eintritt, ausgenommen den Fall der Unwürdigkeit (Art. 29 § 1), der
Strafheraufsetzung (Art. 94 Z. 1) und des quebrantamiento (Art. 129 Z. 1 § 2). —
1. Kettenstrafe ist harte mühevolle Arbeit (trabajos duros y penosos) für den
Staat, wobei der Sträfling eine vom Gürtel nach dem Fuss führende Kette
trägt. 2. Zuchthaus ist Zwangsarbeit (trabajo forzoso) für den Staat inner-
halb der Strafanstalt. Verbüsst werden Kettenstrafe und lebenslängliches,
nach ministerieller Anordnung auch zeitliches, Zuchthaus in Ceuta, ^Melilla,
Alhucemas, Pefiön de la Gomera und auf den Islas Chafarinas; sonst zeit-
liches Zuchthaus in Cartagena, Santofia, San Miguel de los Reyes de Valencia
und Tari'agona. Bei Alter über 60 Jahren wird die Kettenstrafe in einer An-
stalt für schwere Festungshaft (Burgos, Chinchilla usw.) verbüsst. Bei Weibern
tritt statt Kettenstrafe stets Zuchthaus ein.' Vgl. über dies alles und über
Verbüssung bei Alter über 70 Jahre, Blindheit, Gicht, chronischer Krankheit
StGB. Art. 96, 106—110. Königliche Vdg. vom 13. Januar 1864, 13. Dezember
1886 und 11. August 1888, Art. 1, 2, 5, 7. Nebenstrafe ist bei der lebens-
länglichen Kettenstrafe a) die Degradation: wenn ein öffentlicher Beamter die
That unter Missbrauch seines Amtes begangen hat, so reisst ihm der Büttel
öffentlich auf feierlichen Befehl des Gerichtsvorsitzenden seine Uniform, In-
signien und Ehrenzeichen ab (Art. 54, 120). Femer b) Kechtsverlust (inter-
dicciön civil), d. h. der Thäter büsst seine väterliche Gewalt, Vormundschaft,
Pflegschaft, Teilnahme am Familienräte usw. ein (Art. 43). Lebenslängliche
absolute Amtsunfähigkeit bleibt auch nach der Begnadigung. Nebenstrafe bei
zeitlicher Kettenstrafe ist bürgerlicher Rechtsverlust und lebenslängliche ab-
244, 245 (Hochverrat und Rebellion an den Anführern und in schweren Fällen auch
an Unteranführern). 361 (der wissentlich ungerechte Richter wird mit der an dem Un-
schuldigen wirklich vollzogenen Strafe bedroht). 417 (Verwandtenmord). 418 (Assas-
sinat). 516 Z. 1 (Raubmord). Vgl. Vdg. v. 21. Januar 1874 Art. 1, und S. 518 § 7, III 2.
512 Spanien. — Das geltende spanische StGB.
8olute Amtsanfähigkeit; bei lebenslänglichem Zuchthaus nur letzteres; bei zeit-
lichem Zuchthaus ebensolange zeitliche absolute Amtsunfähigkeit (Art. 54, 55,
57, 60). 3. Festungshaft (presidio) ist mit Arbeitszwang in der Strafanstalt
verbunden, der Arbeitsertrag kommt teilweise den Sträflingen zu Gute. 4, Gef.
ist nur teilweise mit Arbeitszwang verbunden. Die Verbüssung aller Festungs-
haft und des schweren Gef. geschieht in den besonderen Anstalten in Burgos,
Chinchilla, Granada, Ocana, Puerto de Santa Maria, San Augustin de Valencia,
Valladolid und Zaragoza; das korrektionelle Gef. ist im Bezirk des erkennenden
Gerichts (cärcel de la Audiencia) zu verbüssen, unter Abtrennung von den
Untersuchungsgefangenen, eventuell in der nächsten passenden allgemeinen
Strafanstalt. Bei Weibern tritt statt Festungshaft Gef. ein. Vgl. StGB. Art. 96,
113—115, königliche Vdg. vom 11. August 1888, Art. 3 und vom 15. April 1886.
Nebenstrafen: bei schwerer Festungshaft ebensolange zeitliche absolute Amts-
unfähigkeit, bei korrektioneller Amtsenthebung, bei Gef. Amtsenthebung für
die Zeit der Verurteilung (Art. 58, 59, 62). Die Scheidung zwischen schwerer
und korrektioneller Festungshaft bezw. Gef. läuft, wie man sieht, nur auf eine
Verschiedenheit der Dauer hinaus; dies zeigt wieder die Künstlichkeit der
Dreiteilung der strafbaren Handlungen, da die schweren Freiheitsstrafen als
penas aflictivas die delitos graves, die korrektionellen die delitos menos graves
charakterisieren. 5. Schärferer Arrest ist wie Gef. mit teilweisem Arbeits-
zwang verbunden und wird in dem dazu bestinmiten öfiPentlichen Gebäude des
Hauptortes des Amtsbezirkes (partido) verbüsst; Nebenstrafe: Amtsenthebung
für die Dauer der Verurteilung. Einfacher Arrest ist blosse Freiheitsentziehung
und wird je nach Anordnung des Urteils im Gemeindehause, einem anderen
öffentlichen Gebäude oder als Hausarrest verbüsst; er ist nur Übertretungs-
strafe. Vgl. Art. 118, 119, 62, 26.
in. Freiheitbeschränkungsstrafen sind, sogleich mit Bezeichnung der
3 Grade wie oben: 6 Monate bis 2 Jahre 4 Monate bis 4 Jahre 2 Monate bis
6 Jahre Aufenthaltsverbot (destierro); 6 — 8 — 10 — 12 Jahre Verschickung
(confinamiento); 12 Jahre bis 14 Jahre 8 Monate bis 17 Jahre 4 Monate bis
20 Jahre Landesverweisung (extranamiento) und Verbannung (relegaciön);
endlich lebenslängliche Landesverweisung und lebenslängliche Verbannung mit
oder ohne Begnadigung nach 30 Jahren. 1. Verbannung ist freie Beschäftigung
in den überseeischen Landen (Ultramar) innerhalb eines angewiesenen Bezirkes
unter Aufsicht der Behörde. 2. Landesverweisung ist Austreibung aus dem
spanischen Staatsgebiet. Nebenstrafen sind die gleichen wie bei den ent-
sprechenden Zuchthausstrafen (ia-t. 111, 112, 56, 60). 3. Verschickung ist
Überführung zu freiem Aufenthalt (wenn der Verurteilte will, zu Militärdienst)
nach den Balearen oder den Kanarischen Inseln unter möglichster Rücksicht-
nahme auf Beruf und Lebensweise des Verurteilten. Nebenstrafe ist absolute
Amtsunfähigkeit für die Dauer der Verurteilung (Art. 116 §1 — 3, 61). 4. Auf-
enthaltsverbot ist das Verbot, bestimmte Ortschaften und ihren Umkreis, dessen
Radius im Urteil zwischen 25 und 250 km festzusetzen ist, zu betreten
(Art. 116 § 4).
IV. Strafen an Rechten sind nach der Gradfolge: 1 Monat bis 2 — 4 — 6
Jahre Enthebung (suspensiön); 6 — 8 — 10 — 12 Jahre spezielle und absolute
Unfähigkeit (inhabilitaciön) ; endlich lebenslängliche Unfähigkeit. Wo diese
Strafen gesetzlich als Nebenstrafen erscheinen, ist bereits gesagt; für ihre
Dauer gilt dann das dort Bemerkte (Art. 28 § 1, 30). 1. Inhabilitaciön ab-
soluta perpetua umfasst a) Verlust aller öffentlichen Ehren, Ämter und Stel-
lungen, mögen sie auch auf Volkswahl beruhen; b) Unfähigkeit, solche wieder
zu erlangen; c) Verlust des passiven und aktiven Wahlrechts; d) Verlust jedes
Ruhegehaltes, Wartegeldes u. dgl. 2« Inhabilitaciön absoluta temporal umfasst
§ 6. Das Straf ensvstem. 513
a bis c; b und c nur für die bestimmte Zeit. 3. Inhabilitaciön especial per-
petua und 4« temporal, sowie 5, Suspension (Enthebung) zerfallen in solche
a) für öflTentliche Ämter, b) für aktives und passives Wahlrecht, c) für ein
bestimmtes Gewerbe oder einen bestimmten Beruf. Ihrem Inhalte nach sind
diese Strafen von selbst klar. Alle Rechtsstrafen lassen bei Personen geist-
lichen Standes die von der Kirche herrührenden Ehren, Ämter und Rechte
unberührt. Vgl. Art. 32—42, und über die Rehabilitation Art. 45, 46.
V. Sonstige Strafarten sind: 1. Verweis (reprensiön), in der Gerichtssitzung
erteilt, und zwar entweder als öffentlicher oder als privater, d. h. unter Aus-
schluss der Öffentlichkeit (Art. 117). Ersterer ist bei zwei Verbr. öffentlichen
Ärgernisses (Art. 455, 456) ausdrücklich angedroht und stellt in den Straf-
skalen (s. u. VI) gegenüber dem destierro die „pena inferior" (nächstniedere
Strafe) dar; letzterer ist nur Übertretungsstrafe (Art. 689, 596, 599, 603, 605).
Wo Verweis ausdrücklich angedroht wird, geschieht es kumulativ. 2. Geld-
strafe, bis zu 125 Pesetas (frcs.) Übertretungsstrafe; über 2500 pesetas gilt sie
als pena aflictiva (Art. 27). Bei der Strafausmessung sind die Richter nicht
sowohl an erschwerende und mildernde Umstände gebunden, als an die Berück-
sichtigung des Vermögens und der Leistungsfähigkeit des Schuldigen (Art. 84).
Sie gilt als unterste Strafe sämtlicher Strafskalen (Art. 93 § 1). Muss sie selber
um einen oder mehrere Grade erhöht oder erniedrigt werden, so geschieht
das durch Heraufsetzung des Maximums um ^/^ und Herabsetzung des Mini-
mums um ^/^, auch wenn der Betrag nicht fest, sondern proportional aus-
gedrückt ist (Art. 95). Liegen dem Schuldigen mehrere Geldverpflichtungen
ob, so folgen sie sich in dieser Reihe: a) Schadensersatz, b) Schadloshaltung
des Staates für den Betrag an Stempelpapier und sonstige Aufwendungen,
c) Kosten des Privatklägers, d) übrige Prozess- einschliesslich Verteidigungs-
kosten, e) Geldstrafe. Ist der Schuldige zahlungsunfähig, so tritt wegen der
Geldverbindlichkeiten unter a, c, e subsidiäre Schuldhaft ein, nämlich bei
solchen Freiheitsstrafen, die nicht über korrektionelle Festungshaft hinaus-
gehen, Erhöhung um 1 Tag für je 5 pesetas, doch höchstens um ^/g und nicht
über 1 Jahr; bei Verweis, Geldstrafe oder Bürgschaft Haft (detenciön) im
Amtsbezirksgefängnis, für je 5 pesetas 1 Tag, bei Verbr. höchstens 6 Monate,
bei Übertretungen höchstens 15 Tage (vgl. Art. 49 — 52, 624). 3. Bürgschaft
(cauciön, in Art. 92 cauciön de conducta) legt dem Bestraften die Pflicht auf,
einen sicheren Bürgen zu stellen, der dafür eintritt, dass der Bestrafte das
Übel, um dessen Verhütung es sich dreht, nicht ausführen werde, und sich
anderenfalls zur Zahlung einer Summe verpflichtet. Erfüllt der Bestrafte
diese seine Pflicht nicht, so tritt destierro (Aufenthaltsverbot) ein. Höhe und
Dauer der Bürgschaft bestimmt das Gericht (Art. 44, 29 § 9). Die Bürgschaft
ist in Art. 509 für alle Fälle der Bedrohung fakultativ zugelassen; ausserdem
ist sie in den Strafskalen pena inferior gegenüber dem öff'entlichen Verweis
(Art. 92). — Als Nebenstrafen nennt Art. 26 neben der schon behandelten
degradaciön und interdicciön civil 4« den Verlust oder die Einziehung der
Werkzeuge des Verbr. und der durch das Verbr. hervorgebrachten Gegen-
stände. Art. 63 ordnet diese Einziehung bei jedem Verbr. an, wenn die Werk-
zeuge und Gegenstände nicht Unbeteiligten gehören. Für Übertretungen gelten
Art. 622, 623. 5. Die Kostenzahlung gilt als Nebenstrafe. (Art. 28 § 2, 47, 48.)
Art. 25 hebt hervor, dass als Strafen nicht anzusehen sind a) Präventiv-
haft und Untersuchungsgefängnis, b) Enthebung von Dienst und Amt während
des Verfahrens oder zu Untersuchungszwecken, c) Geldstrafen und sonstige
Zurechtweisungen (correcciones), die im Verwaltungs- oder Disziplinarwege von
Vorgesetzten verhängt werden, d) Rechtsverlust und Schadensersatz nach bür-
gerlichen Gesetzen.
Strafgesetzgebnng der Gegenwart. I. 33
514 Spanien. — Das geltende spanische StGB.
Damit ist das eigentliche Strafensystem mit seinen 26 Haupt- und 4 Neben-
strafen erschöpft. Es sei noch betr. die VoUstrecknng hervorgehoben, dass
das spanische StGB, üb^r Einzelhaft keine Bestimmungen trifft und dass es
die vorläufige Entlassung nicht kennt. Wir gehen nunmehr zu den höchst
charakteristischen Regeln über die Strafausmessnng und die Graduation der
Strafen über.
VI. Wenn der Richter bei der Strafausmessung angewiesen wird, für
gewisse Fälle die nächstniedere oder nächsthöhere Strafe (pena inferior oder
superior) zu wählen, oder, was gleichbedeutend ist: die Strafe um einen oder
mehrere Grade (grados, besser: Stufen) zu erniedrigen oder zu erhöhen, so
braucht er zu diesem Zwecke offenbar eine Stufenfolge (Escalamiento) der
Strafen, an die er sich halten kann. Es sind daher die Strafen in 6 ver-
schiedene Stufenleitern (escalas graduales) eingereiht, auf denen der Richter,
wenn er die pena inferior oder superior ermitteln soll, von der dem betreffenden
Delikt angedrohten Strafe, die als Stufe in einer Stufenleiter vorkommt, aus-
geht und nun um eine Stufe herab- oder heraufsteigt. Mehrfach ist eine Stufe
mehreren Stufenleitern gemeinsam, alsdann hält sich der Richter an diejenige
Stufenleiter, deren Stufen in dem betreffenden Abschnitt, Titel oder Kap. am
häufigsten vorkommen.
Für die PYeiheitentziehungsstrafen bestehen zwei Stufenleitern, die von
der Todesstrafe zum schärferen Arrest führen, einerseits auf dem Wege über
lebenslängliche und zeitliche Kettenstrafe, schwere und korrektionelle Festungs-
haft (presidio), andererseits auf dem Wege über lebenslängliches und zeitliches
Zuchthaus (reclusiön), schweres und korrektionelles Gef. Die Freiheitbeschrän-
kungsstrafen haben ebenfalls zwei Stufenleitern, die eine anhebend mit lebens-
länglicher und zeitlicher Verbannung (relegaciön) , die andere anhebend mit
lebenslänglicher und zeitlicher Landesverweisung (extranamiento), beide fort-
fahrend mit Verschickung (confinamiento), Aufenthaltsverbot (destierro), öffent-
lichem Verweis, Bürgschaft. Die zwei Stufenleitern der Strafen an Rechten
sind einerseits die absoluten, andererseits die speziellen mit der gemeinsamen
untersten Stufe: Enthebung (suspensiön). Die unterste Stufe aller sechs Stufen-
leitern ist die Geldstrafe ; wie zu verfahren ist, wenn noch niedriger gegangen
werden soll, ist bereits gesagt (s. o. S. 513). Beim Aufsteigen finden einige
Abweichungen von den Stufenleitern statt, einmal bei der Geldstrafe, wie schon
oben bemerkt; sodann wenn über die Stufenleiter nach oben hinaus oder zur
Todesstrafe geschritten werden müsste. Man steigt dann auf: von lebensläng-
licher Landesverweisung zu lebenslänglicher Verbannung, von dieser zu lebens-
länglichem Zuchthaus, von diesem und von lebenslänglicher Kettenstrafe und
lebenslänglicher Unfähigkeit zu denselben Strafen, wobei dann aber erst nach
40 Jahren die Begnadigungsmöglichkeit des Art. 29 eintritt.
Wie bei der Erörterung der einzelnen Strafmittel hervorgehoben wurde,
zerfällt jede der nach der Dauer sich berechnenden Strafen (penas divisibles,
teilbare Strafen) in einen grado minimo, medio und mäximo; jede derartige
Stufe jeder Stufenleiter hat also drei verschiedene Grade. Dies bringt die
Möglichkeit der Androhung gewissermassen gebrochener Stufen und der Auf-
stellung gebrochener Stufenleitern mit sich, z. B. ist gewöhnlicher Diebstahl
über 2500 pesetas mit presidio correccional im grado medio und mäximo be-
droht (Art. 531 Z. 1, d. h. also korrektioneile Festungshaft von 2 Jahren 4 Mo-
naten 1 Tag bis zu 6 Jahren), gewöhnlicher Diebstahl zwischen 500 und
2500 pesetas mit presidio correccional im grado minimo und medio (Art. 531
Z. 2, d. h. also korrektioneile Festungshaft von 6 Monaten 1 Tag bis 4 Jahre
2 Monate). Das Aufsteigen und Absteigen erfolgt hier zu den nächst sich
anschliessenden Graden derselben Stufe oder zu den benachbarten Graden der
§ 6. Das Strafensystem. 515
nächst sich anschliessenden Stufe. Die pena inferior oder saperior setzt sich
dabei aus ebensoviel Graden dieser Stufen zusammen, als die Ausgangsstufe
Grade umfasste.^) Sind also die angeführten Diebstahlsstrafen in schwereren
Fällen nach Art. 533 um eine Stufe zu erhöhen, so treten ein: presidio mayor
im grado minimo und medio (d. h. schwere Festungshaft von 6 — 10 Jahren),
— bezw. presidio correccional im grado mäxirao bis zu presidio mayor im
grado minimo (d. h. korrektioneile Festungshaft von 4 Jahren 2 Monaten 1 Tag
bis zu 8 Jahren schwerer Festungshaft). Muss man für den Teilnehmer (com-
plice) Herabsetzung vomehmen, so treten ein : arresto mayor im grado mäximo
bis zu presidio correccional im grado minimo (d. h. schärferer Arrest von
4 Monaten 1 Tag bis zu 2 Jahren 4 Monaten korrektioneller Festungshaft),
— bezw. arresto mayor im grado medio und mäximo (d. h. schärferer Arrest
von 2 Monaten 1 Tag bis zu 6 Monaten). — Zu der aus drei Graden be-
stehenden Strafe : prisiön mayor im grado medio bis zu reclusiön temporal im
grado minimo (z. B. Art. 246 bloss Gehorchende bei Rebellion in schwereren
Fällen) ist die pena inferior: prisiön correccional im grado medio bis zu prisiön
mayor im grado minimo ; die pena superior: reclusiön temporal im grado medio
bis zu reclusiön perpetua usw. — Vgl. Art. 92 — 98, 68, 76, 77.
Vn. Wir haben oben bei Betrachtung der Erscheinungsformen eines
Verbr. und der Formen der Beteiligung an einem Verbr. (S. 607) gesehen,
dass zum Ausdruck der verschiedenen Schwere der Verantwortlichkeit ftlnf
Stufen der Strafe nötig sind. ') Diesem Zwecke dienen die Stufen der Escalas
graduales und diejenigen auszurechnenden Stufen, die wir oben als „gebrochene^
bezeichnet haben. Innerhalb jeder solchen Stufe richtet sich dann die Strafe
nach den erschwerenden und mildernden Umständen, und diesem Zwecke dienen
die drei Grade, die jede Stufe hat. 1. Ftlr die Abstufungen der That und des
Thäters kommen noch folgende Regeln in Betracht: a) Von mehreren alter-
nativen Ausgangsstrafen ist immer die unterste massgebend für die Bestimmung
der pena inferior, b) Besteht die Ausgangsstrafe aus einer oder mehreren
unteilbaren und dem grado mäximo einer teilbaren Strafe, so wird die pena
inferior gebildet durch den grado medio und minimo dieser teilbaren und den
grado mäximo der nächst niederen. Die übrigen Regeln sind bereits in die
Darstellung eingeflochten. Vgl. Art. 64 — 77. 2. Für die Würdigung der er-
schwerenden und mildernden Umstände ist zu beachteü : a) Bei einer einzigen
unteilbaren Strafe ist eine solche ausgeschlossen; bei der Geldstrafe ist das
Gericht in der Würdigung frei (o. S. 513). b) Von zwei unteilbaren Strafen
ist bei einem erschwerenden Umstand, oder wenn bei vernünftiger Kompen-
sation die erschwerenden Umstände überwiegen, die schwerere,'') sonst die
leichtere zu verhängen, c) Alle übrigen Strafen (Stufen) müssen je 3 Grade
haben; eventuell, falls sie weniger Grade umfassen, werden sie rechnungs-
mässig in 3 gleiche Zeitabschnitte aufgeteilt. Für die beiden oben angeführten
^) Zwar spricht das StGB, diesen Grundsatz nicht aus, er folgt aber aus Art.
76 Z. 4 und 5 in Verbindung mit der Rechtsprechung des Höchsten Gerichtshofes
(Urteil des II. Senats vom 30. November 1876.)
^) 1« Autor del delito consumado — Urheber bei Vollendung. 2« Autor del delito
frustrado, imd complice del delito consumado — Urheber bei Fehlschlagung, Teil-
nehmer bei Vollendung. 3« Autor de la tentativa, com^ice del delito frustrado und
encubridor del delito consumado — Urheber bei Versuch, Teilnehmer bei Fehlschlagung,
Begünstiger bei Vollendung. 4« Complice de la tentativa und encubridor del delito
frustrado — Teilnehmer bei Versuch, Begünstigung bei Fehlschlagung. 5. Encubridor
de la tentativa — Begünstiger bei Versuch.
*) Ist dies Todes-, lebenslängliche Ketten- oder Zuchthausstrafe, so erfordern
StPO. Art. 145, 153 drei hierfür sich aussprechende Stimmen. Die Praxis sieht den
Art. 81 § 1 Z. 1 StGB, als durch diese Bestimmungen modifiziert an.
33*
516 Spanien. — Das geltende spanische StGB.
Diebstahlsstrafen ergeben sich also beispielsweise die folgenden Grade: 2 Jahre
4 Monate 1 Tag bis 3 Jahre 6 Monate 20 Tage bis 4 Jahre 9 Monate 10 Tage
bis 6 Jahre korrektionelle Festungshaft einerseits nnd 6 Monate 1 Tag bis
1 Jahr 8 Monate 20 Tage bis 2 Jahre 11 Monate 10 Tage bis 4 Jahre 2 Mo-
nate korrektionelle Festungshaft andererseits, d) Für die Anwendung dieser
3 Grade giebt es 7 Regeln: J. Weder erschwerende noch mildernde Umstände
— grado medio. 11. Ein mildernder Umstand — grado minimo. m. Ein
erschwerender Umstand — grado mäximo. JT. Zusammentreffen von mil-
dernden und erschwerenden Umständen — Kompensation nach vernünftigem
Ermessen, wobei nicht alle Umstände als gleichwertig anzusetzen sind —
Bestimmung nach dem Überwiegenden. V. Mehrere und erheblichere mil-
dernde Umstände — Übergang zur pena inferior, deren Grad nach freiem
Ermessen zu bestimmen. VI. Mehrere erschwerende Umstände — immer
nur grado mäximo. VII. Abmessung der Quantität innerhalb des grado
in erster Linie nach Zahl und Wesenheit der strafändernden Umstände, in
zweiter Linie nach der Schwere des Erfolges, e) Falls zur Begründung eines
strafausschliessenden Umstandes nur die kleinere Anzahl der Erfordernisse
fehlt (Art. 8,9 Z. 1 — o. S. 508), so ist die Strafe um 1 — 2 Stufen
herabzusetzen, nach freiem Ermessen des Gerichts. Vgl. zu diesem allen
Art. 78—87.
Wir schliessen damit die Darstellung des spanischen Strafensystems und
der Lehre von seiner Anwendung. Die Ausführlichkeit war bei diesem charakte-
ristischsten Punkte unentbehrliche Vorbedingung für das Verständnis der süd-
romanischen Strafensysteme überhaupt. Nur das eine sei noch bemerkt, dass
wir „Stufen" und „Grade" streng auseinander gehalten haben, dass aber das
spanische StGB, für beides den Ausdruck „grado" verwendet.
§ 7. Die Yerbreehen gegen die Gesamtlieit
I. Von den 15 Tit. des 2. Buches lassen sich die ersten sieben als Verbr.
gegen die Gesamtheit zusammenfassen. Tit. I handelt von den Verbr. gegen
die äussere Sicherheit des Staates. Kap. !• Landesverrat (traiciön, Art. 136 — 143,
vgl. 0. S. 495, 506, 510 Anm. 1). Schwerste Fälle sind: die Kriegserklärung durch
eine auswärtige Macht herbeizuführen, den Feind ins Land zu geleiten, ihm Plätze,
Schiffe, Munition in die Hände zu spielen; Verleitung spanischer Truppen zum
Feinde tiberzugehen, Kriegswerbung in Spanien für eine auswärtige Macht
gegen Spanien. Nächst schwer bestraft wird es, im feindlichen Heer Dienste
zu thun, den Feind mit Waffen und Munition zu versehen oder sonst zu fördern,
ihm Festungspläne zu überliefern, die Versorgung der spanischen Truppen mit
Waffen u. a. zu hindern. Pena inferior tritt für den Ausländer ein, und wenn
das Verbr. sich gegen eine mit Spanien im Krieg verbündete Macht richtet.
Eine kleine Gruppe stellen die Verbr. der Staatsminister dar, die der Ver-
fassung zuwider Gebietsabtretungen, Einmarsch fremder Truppen, Abschluss
von Allianz- oder Subsidienverträgen geschehen lassen. Kap. 2. betrifft Hand-
lungen, die den Frieden und die Unabhängigkeit des Staates gefährden: Ver-
kttndigung oder Ausführung von päpstlichen Bullen oder Anordnungen fremder
Regierungen, geringere Fälle des Landesverrats, besonders Korrespondenz mit
dem feindlichen Land in Kriegszeiten (Art. 144 — 152). Kap. 3. behandelt die
Verbr. gegen das Völkerrecht (Tötung fremder Staatsoberhäupter, sonstige
Attentate gegen sie, Missachtung ihrer Immunität). Voraussetzung dieser exzep-
tionellen Stellung ist gesetzlich verbürgte Gegenseitigkeit (Art. 153, 154).
Kap. 4. schliesst hieran die Piraterie (Art. 155, 156).
II. Gegen den inneren Bestand des Staates und seiner Rechtsordnung
§ 7. Die Verbr. gegen die Gesamtheit. 517
richten sich die Verbr. der Tit. II (gegen die Verfassung) und III (gegen die
öffentliche Ordnung). 1. Tit. II, Kap. 1, Art. 157—188 M^'estätsverbr., Verbr.
gegen die Cortes, das Ministerium, die Regierungsform. Hierher gehören vor allem
Tötung des Königs (Art. 157) und des Thronfolgers oder Regenten (Art. 163 s. o.
S. 506, 510Anm. 1); sodann Freiheitsberaubung, schwere und minder schwere
Nötigung und Körperverletzung, Beleidigung und Bedrohung in An- oder Ab-
wesenheit, Hausfriedensbruch — wenn diese Verbr. sich gegen den König
richten; je pena inferior, wenn sie sich gegen Thronfolger oder Regent richten.
Die Antastung der Rechte der Cortes zur Einsetzung einer Regentschaft wird
an den Mitgliedern der königlichen Familie, den Ministem, Behörden, Beamten
mit relegaciön temporal im grado mäximo bis zu relegaciön perpetua gestraft.
Verbannung trifft die Minister, wenn der König gewisse verfassungsmässige
Pflichten nicht erfüllt. Art. 167 — 177 sichern das Hausrecht der Cortes und
die Sicherheit jedes Mitgliedes gegen Beleidigung, Bedrohung, Nötigung oder
Gefangenhaltung zuwider der Verfassung. Einen ähnlichen Schutz geniesst der
Ministerrat und seine Mitglieder. Die Verbr. gegen die Regierungform zer-
fallen in 3 Gruppen, deren oberste und wichtigste (Art. 181) das unmittelbare
Unternehmen umfasst, mit ungesetzlichen Mitteln die Staatsverfassung der kon-
stitutionellen Monarchie zu ändern, die Cortes, den König, den Regenten ihrer
verfassungsmässigen Rechte zu berauben, die Thronfolge zu ändern, den provi-
sorischen Regenten an Übernahme dieses Amtes zu hindern. Diese Verbr.
können in 2 Formen verübt werden, durch Erhebung mit Waffen und in
offener Feindseligkeit, oder ohne solche Erhebung. Bei der ersten Form
werden unterschieden (Art. 184) Anführer (principales autores), Unteranführer
(los que ejercieren un mando subaltemo) und bloss Gehorchende (meros eje-
cutores). Für die beiden letzten Arten der Teilnehmer giebt es wieder leichtere
und schwerere Fälle (wenn ein Kampf mit der Regierungsmacht, Eigentums-
schäden, schwere Misshandlungen, Unterbrechungen der Telegraphen- und
Eisenbahnstrecken stattgefunden haben, wenn Kontributionen eingetrieben oder
öffentliche Gelder ihrem Zweck entfremdet sind). 2, Tit. U. Kap. 2, Abschnitt
1 und 2, Art. 189 — 235, Verbr. in Bezug auf die Ausübung der von der Ver-
fassung gewährleisteten individuellen Rechte. — wenn von Privaten begangen,
Abschnitt 1 (Missbräuche des Versammlungsrechtes vgl. G. vom 15. Juni 1880,
und des Vereinsrechtes vgl. G. vom 30. Juni 1887; s. u. § 10, II); — wenn von
Beamten begangen, Abschnitt 2 (ausserordentlich ausführlich). 3. Tit. II, Kap. 2,
Abschnitt 3, Art. 236 — 241, Verbr.. betr. die freie Ausübung eines Glaubens-
bekenntnisses. Vgl. königl. Vdg. vom 23. Oktober 1876 über die religiöse
Duldung, wonach in Gemässheit des Art. 11 § 3 der Verfassung jede mani-
festaciön publica eines von der katholischen Staatsreligion abweichenden Kultus
verboten bleibt. 4. Tit. III, Kap. 1—3, Art. 243 — 262: Rebellion und Sedition.
Beide sind noch durchaus kasuistisch behandelt, wie im GB. v. 1822, nur dass
die Fülle der Unterscheidungen nicht mehr so gross ist. Der Rebellion machen
sich diejenigen schuldig, die sich öffentlich und in erklärter Feindseligkeit
wider die Regierung erheben, um den König oder Regenten abzusetzen, der
Freiheit zu berauben oder zu etwas zu nötigen; um die Abhaltung der Cortes-
wahlen im ganzen Königreich zu hindern; um die Kammern aufzulösen, an
der Beratung zu hindern oder ihnen einen Beschluss abzupressen; um die
Rechte der Cortes zur Einsetzung einer Regentschaft zu verletzen; um einen
Teil des Reiches oder einen Truppenteil dem Gehorsam gegen die oberste
Regierung zu entziehen; um in ähnlicher Weise die Rechte der Minister an-
zutasten. Der Sedition machen sich diejenigen schuldig, die sich öffentlich
und tumultuarisch erheben, um mit Gewalt oder auf ungesetzlichem Wege die
Verkündung oder Ausführung der Gesetze, oder die freie Abhaltung der Volks-
518 Spanien. — Das geltende spanische SiGB.
wählen in einer Provinz, einem Wahlbezirk oder -kreis za hindern; nm desgl.
eine Behörde an der freien Ansübnng Ihrer Befugnisse oder an der Erfollnng
ihrer administrativen and richterlichen Obliegenheiten zn hindern; nm desgl.
einen Akt des Hasses oder der Rache an der Person oder dem Eigentum einer
Behörde oder ihrer Angestellten oder mit einem politischen Zwecke an Privaten
zu begehen n. a. Strafabstnfnngen ergeben sich aus der Unterscheidung von
Anführern, Unteranführem und bloss Gehorchenden, und bisweilen in Anlehnung
an die Bestimmungen über Hochverrat. Die Verwaltungsbehörde hat, ausser
wenn die Aufständischen Feuer legen, an sie 2 Aufforderungen ( intimaciones)
zur Auflösung zu erlassen; gehorchen sie, so treten bedeutende Straf-
ermässigungen, z. T. Straffreiheit ein. Wenn die Urheber eines in einem
Aufstand begangenen gewöhnlichen Verbr. nicht zu ermitteln sind, so haften
die Anführer der Bebellion oder Sedition als Urheber. 5. Tit. in, Elap. 4
bedroht unter dem Namen atentado die gewaltsamen Angriffe gegen eine Behörde
(ohne öffentliche Erhebung), Widerstand und Ungehorsam gegen die Staats-
gewalt; Kap. 5 unter dem Namen desacato die Verleumdungen, Schmähungen,
Beleidigungen (darunter auch Herausforderung zum Zweikampf) gegen einen
Minister oder eine Behörde bei Gelegenheit ihrer Amtsausübung (Strafabstufung
nach Anwesenheit oder Abwesenheit des Geschmähten); die gleichen Hand-
lungen eines Beamten gegen seinen Vorgesetzten; Kap. 6 sonstige Störungen
der öffentlichen Ordnung (desördenes püblicos) z. B. Ruhestörung in der
Gerichtssitzung, cris s^ditieux (gritos provocativos), Gefangenenbefreiung, Ver-
kehrsstörung auf Eisenbahnen oder Telegraphenlinien (vgl. das flisenbahn-
polizeigesetz vom 23. November 1877; das Kabelgesetz vom 12. Januar 1887),
Beschädigung öffentlicher Monumente. Kap. 7 enthält erhöhte Strafdrohungen
gegen die Angestellten einer Behörde, die sich die Verbr. der Kap. 4 — 6 zu
schulden kommen lassen, und gegen die Geistlichen, die zu solchen Verbr.
aufreizen. Vgl. zu diesem allem Art. 263 — 279. Zu Art. 276 (Beschädigung
von Monumenten) vgl. die gleichartige Übertretung in Art. 585 und über das
Verhältnis beider königl. Vdg. vom 22. September 1848 betr. die Auslegung
des StGB-, Art. 5: die Gerichte haben je nach dem Ergebnisse einer Erwägung
der Ausdehnung und des Erfolges der Strafthat vorzugehen.
III. Für die eben behandelten Verbr. sind zwei Gesetze von Wichtigkeit.
1. G. V. 15. Februar 1873 über die politischen Verbr. Als solche sind anzusehen
die Verbr. der Tit. I, Kap. 1—3, Tit. II, Kap. 1, Kap. 2, Abschnitt 1 und 3, Ab-
schnitt 2 nur in wenigen Art., Tit. III, Kap. 1 — 3; Kap. 4 u. 5, wenn mit Rück-
sicht auf den Charakter der Behörde oder der Amtshandlung das Verbr. als
politisches angesehen werden kann. Femer alle Verbr. des StGB., wenn sie
durch die Presse begangen werden, es trete denn Verfolgung auf Antrag der
Partei ein ; und die mit politischen Verbr. in Konnex stehenden Verbr., deren
Bcischaffenheit, Tendenz, Gegenstand und Beziehung zum Hauptdelikt zu würdigen
jedoch dem Gericht anheimgestellt ist, besonders die Entziehung öffentlicher Kapi
tauen, die Eintreibung von Waffen, Munition, Pferden, Unterbrechung der Eisen-
bahn- und Telegraphenlinien, Aufhaltung der Korrespondenz und sonstige, die
ein natürliches und häufiges Mittel zur Vorbereitung, Verwirklichung oder Be-
förderung des Verbr. der Rebellion sind. Die Untersuchungshaft und das Gef.
wegen politischer Verbr. ist in gesonderten Räumen zu verbüssen, die von denen
für gewöhnliche Verbrecher absolut getrennt sind; die Verwaltungs-, Militär- und
Gerichtsbehörden, die hiergegen Verstössen, werden wegen des Amtsverbr. der
Freiheitsberaubung (Art. 210—214 StGB.) bestraft. 2. Vdg. vom 21. Januar
1874 über Verbr. gegen die öffentliche Ordnung. Als solche gelten und werden
mit dem Tode oder den in Tit. III, • Kap. 1 und 2 vorgesehenen sonstigen Strafen
geahndet: das Ausheben der Eisenbahnschienen, die Abschneidung des Weges
§ 7. Die Verbr. gegen die Gesamtheit. 519
auf irgend welche Weise, die Zerstörung von Brücken, der bewaffnete Angriff
auf Züge, die Zerstörung oder Verschlechterung der Eisenbahnbaumaterialien
und die übrigen Schäden an Eisenbahnen, die der Sicherheit der Reisenden
oder Güter Nachteil bringen können. Über das Verfahren bestimmt Art. 2,
vgl. G. vom 23. April 1870.
IV. Tit. IV behandelt die Fälschungen, und zwar in Kap. 1 Fälschung
der Namensunterschrift, des Namenssiegels des Königs, des Regenten, der
Minister, auswärtiger Staatshäupter (Strafabstutung nach Gebrauch innerhalb
oder ausserhalb Spaniens), des Staatssiegels, eines auswärtigen Staatssiegels,
der Siegel und Stempel verschiedener Behörden, industrieller und Handels-
Unternehmungen u. a. Der blosse Gebrauch der verfälschten Unterschrift usw.
wird meist eine Stufe niedriger gestraft (Art. 280—293). Kap. 2. Münzfälschung
und Münzbeschneidung (cerceuar) mit Strafabstufung danach, ob die Münze
Kurs im Lande hat oder nicht, aus Gold und Silber oder Kupfer geprägt ist,
von gleichem oder geringerem Wert ist, wie die echte. Wer in gutem Glauben
falsche Münze eingenommen hat und sie nach Erkenntnis der Unechtheit ausgiebt,
wird bei Beträgen über 125 pesetas mit einer Geldstrafe in 2 — 3fachem Betrage
der Münze bestraft. (Bei Beträgen unter 125 pesetas liegt nur die Übertretung
des Art. 592 Z. 2: 1 — 10 Tage Arrest oder 6 — 50 pesetas Geldstrafe, vor).
Art. 294 — 302. Kap. 3. Fälschung von Bankbilleten , Kreditpapieren, Stempel-
papier, Telegraphensiegeln, Postmarken und sonstigen vom Staat verausgabten
Gebührenmarken. Art. 303 — 313. Kap. 4. Fälschung öffentlicher, amtlicher,
kaufmännischer Urkunden (Strafabstufung nach der Person des Thäters: Be-
amter, Geistlicher, Privater; bei blosser Benutzung 2 Stufen niedriger, vgl.
hierzu das Wahlgesetz vom 26. Juni 1890, Art. 85 ff.), telegraphischer Depeschen,
privater Urkunden, von Aufenthaltskarten und Zeugnissen. Art. 314 — 325.
Kap. 5: Zu Kap. 1 — 4 bedroht Art. 326 — 329 gewisse Vorbereitungshandlungen,
Art. 330 bestimmt, dass die Geldstrafe das 2 — 3 fache des wirklichen oder
erhofften Gewinnes zu betragen habe, wenn nicht eine höhere angedroht sei.
Kap. 6 umfasst a) Verheimlichung des Vermögens und des Gewerbes, um den
Einkommen- oder Gewerbesteuern zu entgehen (Art. 331; vgl. über das Ver-
fahren und über kleinere Übertretungen die Instruktion vom 12. Mai 1888);
b) falsches Zeugnis (Strafabstufung, ob Civil- oder Kriminalsache, ob in letzterer
gleichgültig oder für oder gegen den Angeklagten, endlich 9 Unterscheidungen
nach den erzielten Verurteilungen und je nachdem die Strafe angetreten ist
oder nicht) und Gutachten (hier ist immer der grado mäximo anzuwenden),
geringere Abweichungen von der Wahrheit dabei, Produzierung falscher Zeugen
oder Urkunden (Art. 332 — 339); c) falsche Anschuldigung bei Gericht: es muss
wegen des angedichteten Verbr. ein Einstellungsbeschluss vorliegen — Straf-
abstufung danach, ob ein delito grave, menos grave oder eine falta angedichtet
wurde (Art. 340, 341). Kap. 7 behandelt Anmassung von Funktionen, Eigen-
schaften, Titeln; unberechtigten Gebrauch von Namen, Uniformen, Abzeichen,
Dekorationen (Art. 342—348).
V. Tit. V behandelt Zuwiderhandlungen gegen die G. über Beerdigungen,
Grabschändung (gegen das Rechtsgut der Pietät, respeto debido ä la memoria
de los muertos) — Kap. 1, Art. 349, 350; Verbr. gegen den öffentlichen Gesund-
heitszustand — Kap. 2, Art. 351 — 357. Tit. VI redet von Zufalls- und Hasard-
spielen, Lotterieen, Verlosungen, Würfelspielen — Art. 358 — 360.
VI. Tit. VII, Art. 361—416 umfasst in 13 Kap. das Beamtenstrafrecht.
Den Begriff des Beamten bestimmt Art. 416: jeder, der durch unmittelbare An-
ordnung des Gesetzes oder durch Volkswahl, oder durch Ernennung von Seiten
der zuständigen Behörde an der Ausübung öffentlicher Amtsverrichtungen (fun-
ciones püblicas) teilnimmt. Die einzelnen Gegenstände sind: Amtsuntreue
520 Spanien. — Das geltende spanische StGB.
(prevaricaciön), ungetreue Bewachung der Gefangenen, ungetreue Bewahrung
von Urkunden, Verletzung von Geheimnissen, Ungehorsam und Rechtshülfe-
verweigerung, voreilige und verlängerte Amtsausübung und -Nichtausübung
(abandono), Anmassung von Befugnissen und Titeln, Sittlichkeitsvergehungen,
Bestechung (cohecho), Veruntreuung öffentlicher Gelder, Betrügereien und un-
gesetzliche Erhebungen, verbotene Beschäftigungen. Beamtendelikte sind auch
sonst, wie teilweise erwähnt, im Buch II, Tit. I — VI verstreut. Auch in Neben-
gesetzen kommen mehrfach Amtsdelikte vor, vgl. königl. Verfügung vom
5. Dezember 1862 über Rechtshülfegesuche und Revisionsschriften, Art. 3, 4;
G. vom 15. Februar 1873 über die politischen Verbr., Art. 4; Ordnung vom
18. Oktober 1887 über Sicherheits- und Wachtmannschaften (Cuerpos de Seguri-
dad y Vigiiancia) Art. 54 ff., 120 ff.; Instruktion vom 12. Mai 1888 über das
Verfahren gegen die Schuldner der Finanz Verwaltung, Art. 81 Z. 3 — 6; Wahl-
gesetz vom 26. Juni 1890, Art. 88, 90, 98 u. a. Das Disziplinarstraftecht findet
sich für richterliche Beamte und Advokaten in der Ley orgä,nica del poder
judicial (GerVerfG. vom 15. September 1870) Art. 731—762; vgl. Ordnung vom
17. April 1890 über das justizministerielle Verwaltungsverfahren, Art. 117 bis
127. Im übrigen ist zu vgl. für Notare G. vom 28. Mai 1862, Art. 41—44; für
Verwaltungsbeamte G. vom 2. Oktober 1877 (Gemeindeordnung — Organizaciön
de los ayuntamientos), Art. 182 ff., 203 und G. vom 29. August 1882 (über die
Provinzialverwaltung) Art. 130ff.; für Gefängnisbeamte königl. Vdg. vom 16. März
1891, Art. 43ff.
§ 8. Die Yerbreeheii gegen die Einzelnen.
I. Verbr. gegen die Person — Tit. VIII, Art. 417—447. 1. Die Tötungen.
Erschwerte Fälle sind a) Verwandtentötung (parricidio), d. h. des (ehelichen
oder unehelichen) Vaters, der Mutter, des Sohnes, sonstiger Verwandter auf-
oder absteigender Linie, des Gatten — Art. 417, Strafe: cadena perpetua bis
Todesstrafe, vgl. o. S. 509 über Behandlung des Extraneus; b) Mord (asesinato
vgl. S. 494, 495, 506), d. h. Tötung mit alevosia, für einen Preis oder eine ver-
sprochene Belohnung, mittels Überschwenmiung, Brandstiftung oder Giftes,
mit bewusstem Vorbedacht (s. o. S. 509), in der Wut (ensanamiento) unter
überlegter und unmenschlicher Vermehrung der Schmerzen des Opfers —
Art. 418, Strafe: cadena temporal im grado mäximo bis Todesstrafe; c) Raub-
mord s. Art. 516 Z. 1. Gewöhnlicher B^all: Totschlag (homicidio) — Art. 419,
Strafe: reclusiön temporal. Für die Fälle der Art. 417 — 419 können die an
sich auf Fehlschlagung und Versuch stehenden Strafen um eine Stufe herab-
gesetzt werden — Art. 422. Mildere Fälle sind a) Kindestötung (infanticidio),
sie muss geschehen, um die Schande (deshonra, in andern spanischen Gesetz-
gebungen häufig fragilidad) zu verdecken, das Kind darf noch nicht 3 Tage
alt sein; privilegiert sind die Mutter und in geringerem Grade deren Eltern
— Art. 424 ; b) der GehüJfe des Selbstmörders, in geringerem Masse, wenn er
selbst die Ausführungshandlung vornimmt — Art. 421; c) der Gatte, der seine
Frau beim Ehebruch überrascht und sie oder den Ehebrecher tötet; desgleichen
der Vater, der seine noch nicht 23jährige Tochter mit ihrem Verführer in
seinem Hause überrascht — sofern jene Personen die Unzucht nicht angeregt
oder erleichtert haben — Art. 438, Strafe destierro. 2. Das Abschiessen einer
Feuerwaffe gegen eine Person steht, wenn darin nicht Fehlschlagung oder
Versuch des parricidio, asesinato oder homicidio oder ein anderes Verbrechen
liegt, unter einer besondem Strafe — Art. 423. In der Anwendung dieses
Artikels und in der Abgrenzung seines Gebietes gegen den versuchten Tot-
schlag ist die Rechtsprechung des Höchsten Gerichtshofes sehr kasuistisch und
§ 8. Die Verbrechen gegen die Einzelnen. 521
widerspruchsvoll. In einer ganzen Reihe von Fällen sind wiederholte Drohungen
längere Zeit oder unmittelbar vor dem Abfeuern oder während dessen oder wieder-
holte Schüsse nicht als genügendes Anzeichen dafür erachtet worden, dass die
Willensrichtung auf Tötung ging. Ehe der Höchste Gerichtshof sich ent-
schliesst, von Art. 423 abzusehen, müssen meistens schon Umstände vorliegen,
die den asesinato konstituierien. Bewusstsein der Richtung gegen eine be-
stimmte Person wird verlangt, sonst liegt nur die Übertretung des Art. 687
vor. 3. Abtreibung. Art. 425 — 428. Besondere Strafdrohungen gegen Arzt
und Apotheker. 4« Körperverletzungen. Schwerste Fälle a) Entmannung —
Art. 429, Strafe: cadena temporal bis cadena perpetua; b) absichtliche (de
proposito) Verstümmelung — Art. 430, Strafe: reclusiön temporal; c) beim
Raube die schweren Verletzungen des Art. 431, Z. 1 und 2 — Art. 516 Z. 2
und 3, Strafe cadena temporal im grado medio bis zu cadena perpetua, und
cadena temporal; d) bei der Freiheitsberaubung schwere Körperverletzung —
Art. 496, Z. 3, Strafe reclusiön temporal. Schwere Verletzungen (lesiones
graves) sind vier nach dem Erfolg unterschiedene Fälle: a) Blödsinn, Impotenz,
Blindheit, b) Verlust eines Auges, eines wichtigen Gliedes, dauernde ünfUhigheit
zu der bisher betriebenen Arbeit, c) Entstellung, Verlust eines minder wich-
tigen Gliedes, Arbeitsunfähigkeit über 90 Tage (Berechnung a momento ad
momentum), d) Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit über 30 Tage (Art. 431 , Z. 1 — 4).
Die Strafen sind bedeutend höher, wenn die Umstände des parricidio oder ase-
sinato vorliegen. Überschreitung des Züchtigungsrechts von selten des Vaters
gegenüber dem Sohn gehört nicht hierher. Die Verletzung kann auch mittels
Giftbeibringung oder Benutzung der Leichtgläubigkeit oder Geistesschwach-
heit des Verletzten geschehen. Privilegiert ist wieder der Fall der Ertappung
auf Unzucht (Strafe destierro). Vgl. Art. 431, 432, 438. Minder schwere Ver-
letzungen (lesiones menos graves) liegen vor, wenn die Arbeitsunfähigkeit
8 — 30 Tage betrug oder ärztliche Behandlung von dieser Dauer nötig war.
Die Strafen sind höher a) bei offenbar beleidigender Absicht oder unter be-
schimpfenden Umständen, b) wenn Aszendenten, Vormünder, Lehrherren oder
obrigkeitliche Personen verletzt wurden. (Art. 433, 434.) Straflosigkeit tritt
im Fall des Art. 438 (Ertappung auf Unzucht) ein. Eigenartig gestaltet ist
der Fall der Verstümmelung und Selbstverstümmelung, um sich dem Militär-
dienst zu entziehen (Art. 436). Leichte Verletzungen gehören zu den Über-
tretungen : a) Verursachung einer Arbeitsunfähigkeit oder ärztlichen Behand-
lung von 1 — 7 Tagen — Art. 602; b) Verletzung ohne Arbeitsunfähigkeit oder
Notwendigkeit ärztlicher Behandlung — Art. 603 Z. 1, vgl. Z. 2; c) Schlagen
und Misshandeln ohne äussere Verletzung — Art. 604, Z. 1. 5. Raufhandel
(rifia tumultuaria). Ist der Tod erfolgt, ohne dass man den Urheber kennt,
so haften diejenigen, die lesiones graves beigebracht haben, mit prisiön mayor;
sind auch diese nicht bekannt, so werden alle, die Gewaltthätigkeiten an der
Person des Erschlagenen begangen haben, mit prisiön correccional im grado
medio und mäximo bestraft. Diesen letzteren Personen ist für den Fall, dass
schwere Verletzungen erfolgt sind und man deren Urheber nicht kennt, die
den Verletzungen entsprechende Strafe um eine Stufe erniedrigt angedroht.
Art. 420. 435 und die Übertretungen 603 Z. 12. 6. Zweikampf, Art. 439—447;
vgl. ob. Art. 268.
U. Sittlichkeitsverbr. — Tit. IX, Art. 448—466. 1. Ehebruch begeht die
Frau, die mit einem Dritten den Beischlaf vollzieht; der Mann nur, wenn er
eine Kebse im Ehehause oder zu öffentlichem Ärgernis ausserhalb dessen hat.
Die Klage muss vom Ehegatten ausgehen, der auch die Strafe erlassen kann;
das Schicksal des schuldigen Ehegatten wird von dem mitschuldigen Dritten
geteilt. 2. Notzucht, d. h. Beischlaf mit einem Weib oder widernatürliche
522 Spanien. — Das geltende spanische StGB.
Unzucht mit irgend einer Person, wenn sie a) dnreh Gewalt oder Binschüch-
tening erzwungen sind, b) mit Geisteskranken oder Willenlosen, c) mit Per-
sonen anter 12 Jahren geschehen. Z» Erregong öffentlichen Ärgernisses,
darunter auch Abschluss einer Civllehe, wenn die frühere kirchliche noch un-
gelöst ist. 4. Unzucht a) einer obrigkeitlichen Person, eines Priesters, Vor-
mundes u. a. oder b) einer andern Person unter Anwendung von List, mit
einem Mädchen von 12 — 23 Jahren; Unzucht mit der Schwester oder Deszen-
dentin ; gewohnheitsmässige oder unter Missbrauch des Ansehens vorgenonmiene
Verkuppelung Mindeijähriger. 5« Entführung (rapto).
ni. Verbr. gegen die Ehre — Tit. X, Art. 467— 482. Es ist unter-
schieden Verleumdung (calumnia) d. h. falsche Anschuldigung eines Verbr.,
wegen dessen amtlich eingeschritten werden muss, — und Beleidigung (iijuria)
d. h. jede zur Verunehrung, Diskreditierung oder Verächtlichmachung einer
andern Person vorgebrachte Äusserung oder vorgenommene Handlung. Straf-
abstufung nach schweren (z. B. falsche Anschuldigung wegen eines Verbr.,
das nicht Offizialdelikt ist u. a.) und leichten Beleidigniugen, bei letzteren sind
die nichtöffentlichen Übertretimgen (s. Art. 605 Z. 1). Wahrheitsbeweis ist nur
bei Verleumdung zugelassen.
IV. Verbr. gegen den Personenstand, Kindesunterschiebung, Schliessung
ungesetzlicher Ehen — Tit. XI, Art. 483—494.
V. Verbr. gegen die Freiheit und Rechtssicherheit — Tit. XII, Art. 495 — 514.
1« Einsperrung eines andern, gewöhnlicher Fall, Art. 495. Strafe prisiön mayor;
wer das Gef. hergiebt, steht gleich. Bedeutend milder bei Freilassung binnen
3 Tagen, wenn noch nicht gerichtlich eingeschritten ist. Schwere Fälle (Strafe
reclusiön temporal): a) Dauer der Einsperrung über 20 Tage, b) unter An-
massung obrigkeitlicher Gewalt, c) wenn dem Eingesperrten schwere Körper-
verletzungen beigebracht sind, oder er mit dem Tode bedroht worden ist.
Am leichtesten ist vorläufige Festnahme eines andern gestraft. (Art. 497.)
8. Entführung (sustracciön) Minderjähriger, mit cadena temporal gestraft. Die-
selbe Strafe trifft dei\jenigen, dem die Person eines Mindeijährigen anvertraut
war, und der ihn seinen Eltern oder Vormündern nicht zurückliefert, auch
über sein Verschwinden keine genügende Erklärung zu geben vermag. Wesent-
lich milder gestraft wird, wer einen über 7 Jahre alten Minderjährigen ver-
leitet, das Haus der ihn überwachenden Personen zu verlassen. 3. Eindes-
aussetzung (abandono de niüo, Art. 501); Objekt ein Kind unter 7 Jahren; er-
höhte Strafe, wenn eine Lebensgefährdung oder der Tod des Kindes erfolgt
ist. 4. Wer einen Menschen widerrechtlich eingesperrt, oder einen unter
7 Jahre alten Menschen entführt hat und über seinen Aufenthaltsort keine
Rechenschaft giebt, auch nicht glaubhaft macht, dass er ihn freigelassen hat;
desgl. wer ein Kind unter 7 Jahren verlässt und nicht glaubhaft macht, dass
er es ohne Begehung eines weiteren Verbr. in verlassener Lage zurückliess,
wird nach Art. 503 mit cadena temporal im grado mäximo bis zu cadena
perpetua gestraft. 5. Hausfriedensbruch, Art. 504 — 506. 6. Bedrohung und
Nötigung (amenaza und coacciön) in mehrfachen Abstufungen, Art. 507 — 511.
Die leichtesten Fälle sind Übertretungen (Art. 604 Z. 2 — 5). 7. Enthüllung
fremder Geheimnisse. Unter Strafe gestellt ist das Ansichbringen fremder
Papiere, um die Geheimnisse eines andern zu entdecken (ausgenommen der
Gattin, des Sohnes, des Mündels); erhöhte Strafe bei Verbreitung dieser Ge-
heimnisse. Etwas schwerer ist der Fall, wo der Verwalter, Angestellte oder
Zögling die Geheimnisse seines Prinzipals verbreitet; am schwersten gestraft
wird die Verbreitung von Geschäftsgeheimnissen durch die Angestellten des
betreffenden industriellen Unternehmens. (Art. 512 — 514.)
VI. Die Verbr. gegen das Eigentum behandelt Tit. XIII in 9 Kap.,
§ 8. Die Verbrechen gegen die Einzelnen. 523
Art. 515 — 580. 1. An der Spitze steht der Raub (robo), Art. 515 — 529. Ihn
begeht (Art. 515), wer in gewinnsüchtiger Absicht sich einer fremden beweg-
lichen Sache mit Gewalt (violencia) oder Drohungen (intimidaciön) gegen die
Person oder mit Gewalt (fuerza) an Sachen bemächtigt. Gleichgestellt (Art. 520)
ist der Fall, wenn jemand zu betrügerischen Zwecken einen Andern mit Ge-
walt oder Drohung nötigt, eine öffentliche Schrift oder eine Urkunde zu unter-
zeichnen, zu überlassen oder auszuhändigen. Schwerste Fälle des Raubes mit
Gewalt oder Drohung gegen Personen sind, a) wenn aus Veranlassung oder
bei Gelegenheit des Raubes ein Totschlag begangen wird (o. S. 520, cadena
perpetua bis Todesstrafe, für Versuch und Fehlschlagung cadena temporal im
grado mäximo bis zu cadena perpetua); b) wenn der Raub von absichtlich
begangenen Gewaltthätigkeiten oder Verstümmelungen begleitet war, oder
wenn bei Gelegenheit oder aus Veranlassung des Raubes eine der Verletzungen
des Art. 431, Z. 1 (Blödsinn, Impotenz, Blindheit) verursacht worden ist, oder
wenn der Beraubte zur Erlangung eines Lösegeldes (bajo rescate) oder über
1 Tag gefangen gehalten worden ist — Strafe: cadena temporal im grado
medio bis zu cadena perpetua; c) wenn aus Veranlassung oder bei Gelegen-
heit des Raubes eine der Verletzungen des Art. 431 Z. 2 (Verlust eines Auges
oder wichtigen Gliedes oder Unfähigkeit zu der bisher verrichteten Arbeit)
verursacht worden ist — Strafe: cadena temporal; d) wenn die angewendete
Gewalt oder Drohung von offenbar unnötiger Schwere war, oder wenn einer
der Thäter einer für den Raub nicht verantwortlichen Person eine der Ver-
letzungen des Art. 431 , Z. 3 u. 4 (Entstellung, Verlust eines weniger wichtigen
Gliedes, Arbeitsunfähigkeit über 90 oder über 30 Tage) beigebracht hat —
Strafe: presidio mayor im grado medio bis zu cadena temporal im grado
mfnimo; e) die übrigen Fälle der Gewalt oder Drohung gegen Personen —
Strafe: presidio correccional bis zu presidio mayor im grado medio. Eine
zweite Gruppe schwerer Fälle bildet der Raub in einem Wohnhause (Definition
Art. 523 § 1) oder öffentlichen oder zum Gottesdienst bestimmten Gebäude,
wenn die Thäter in das Wohnhaus, das Gebäude oder eine ihrer Pertinenzen
(Definition Art. 523 § 2, 3) gelangt sind a) mittels escalamiento (S. 509 Art. 9
Z. 21), b) mittels Durchbrechens von Wand, Boden oder Decke, Auf brechens von
Thüren oder Fenstern, c) unter Anwendung von falschen Schlüsseln (Definition
Art. 529), Dietrichen oder ähnlichen Werkzeugen, d) unter Erbrechen von
Thüren, Schränken, Kästen oder anderen verschlossenen oder versiegelten Be-
hältnissen, oder unter ihrer Wegnahme, um sie draussen gewaltsam zu öffnen,
e) unter angenommenem Namen oder dem Schein einer obrigkeitlichen Person.
Bei dieser zweiten Gruppe tritt presidio mayor im grado medio bis zu cadena
temporal im grado minimo ein, wenn Waffen mitgeführt wurden oder der Wert des
Geraubten 500 pesetas überstieg; um eine Stufe niedere Strafe, wenn eine der bei-
den Bedingungen fehlte; um 2 Stufen niedere, wenn beide fehlten; waren die ge-
raubten Gegenstände zum Gottesdienst bestimmt, so ist je der grado mäximo
der betreffenden Stufen anzuwenden. Der grado mäximo ist femer in allen
Fällen der zweiten Gruppe und in denen der ersten Gruppe unter c bis e zu
verhängen, wenn der Raub im freien Felde (en despoblado) und in Bande
(en cuadrilla, Definition Art. 518 §2: mehr als drei bewaffnete Übelthäter) be-
gangen wird. Der Bandenführer haftet in den Fällen der ersten Gruppe auch
bei nur teilweiser Bewaffnung der Bande mit der pena superior. Die bei einem
derartigen Raub anwesenden Missethäter werden als Urheber der begangenen
körperlichen Angriffe bestraft, wenn sie nicht nachweislich diese zu hindern
versuchten; aus der gewöhnlichen Zusammengehörigkeit mit einer Bande wird
Anwesenheit präsumiert (Art. 518 § 2, 3). Über die etwaige Zuständigkeit der
Militärgerichte vgl. den nach verschiedenen Urteilen des Höchsten Gerichts-
524 Spanien. — Das geltende spanische StGB.
hofes noch gültigen (?) Art. 8 der Vdg. der Cortes vom 17. April 1821. Mil-
dere Fälle sind zunächst in ganz bedeutendem Masse die der zweiten Gruppe,
wenn der Raub in einer Pertinenz jener Gebäude unter Übersteigung einer
Aussenmauer ausgeführt ist und sich auf die Entwendung von Halmfrüchten in der
Gestalt von Nahrungsmitteln, Früchten oder Holz im Werte von höchstens 25 pesetas
beschränkt hat. Femer die nicht unter die zweite Gruppe fallenden Raube, bei
denen die Mittel a bis d der zweiten Gruppe angewendet sind; erste Straf drohung:
presidio correccional im grado medio und mäximo für Raub über 500 pesetas,
pena inferior für solchen von 25 — 500 pesetas; zweite Straf drohung: arresto
mayor im grado medio und mäximo für Raub unter 25 pesetas, pena inferior,
wenn Nahrungsmittel, Früchte, Holz geraubt werden. In allen milderen Fällen
tritt für den zweiten und ferneren Rückfall pena superior ein (Art. 527). —
Endlich stellt Art. 528 einige Vorbereitungshandlungen (Besitz und Anfertigung
von Dietrichen u. a.) unter Strafe. 2, Diebstahl (Art. 530 — 533) begeht,
a) wer in gewinnsüchtiger Absicht, ohne Gewalt oder Drohung gegen Person
und ohne Gewalt an Sachen, eine fremde bewegliche Sache ohne* den Willen
ihres Eigentümers wegnimmt; b) wer in gewinnsüchtiger Absicht sich eine ge-
fundene Sache, deren Eigentümer er kennt, aneignet; c) wer den Ertrag oder
den Gegenstand einer von ihm begangenen Sachbeschädigung entzieht oder
ausnutzt (dieser Fall ist sehr kasuistisch geregelt, es fallen nicht hierher die
Übertretungen der Art. 607 Z. 1—3, 608 Z. 1, 610 Z. 1, 611, 613, 617 §2,
618; dagegen vgl. Art. 50 des Jagdgesetzes vom 10. Januar 1879), Strafabstufung
nach dem Wert des Gestohlenen: über 2500 pesetas, 500 — 2500 pesetas, 100
bis 500 pesetas, 10 — 100 pesetas, unter 10 pesetas; dem letzteren Falle steht
Diebstahl von Nahrungsmitteln, Früchten oder Holz unter 20 pesetas gleich.^)
Art. 532 regelt Fälle gewaltsamen oder unbefugten Eindringens in fremde
Grundstücke Jagens oder Fischens halber. Art. 533 setzt die Strafen um eine
Stufe herauf für den Diebstahl a) gottesdienstlicher Gegenstände oder aus
gottesdienstlichen Gebäuden, b) des Bediensteten oder unter grobem Ver-
trauensbruch, c) im zweiten oder ferneren Rückfall. 3. Besitzanmassung un-
beweglicher Sachen oder Rechte unter Gewalt oder Drohung gegen die Person
stellt das Delikt der usurpaciön dar (Kap. 3). Hierher ist auch die Grenz-
steinverrückung gezogen (Art. 535). 4. Betrügereien (defraudaciones), Art. 536
bis 554, zerfallen in (Abschnitt 1) Exekutionsvereitelung, Bankerutt (quiebra)
und strafbare Zahlungsunfähigkeit (Strafabstufung, jenachdem ob nach den
Bestimmungen des Handelsgesetzbuches Art. 888 — 890 der Konkursschuldner
als in insolvencia fraudulenta oder in insolvencia culpable verfallen erklärt
wird) — Art. 536 — 546, und in (Abschnitt 2) Betrug und andere Gaunereien
(estafas y otros engafios), worunter auch Veräusserung oder Verpfändung
einer fremden Sache, Entziehung der eigenen Sache aus dem Besitz des Be-
rechtigten, Abschluss eines Schein Vertrages zum Schaden Dritter, Ausbeutung
Minderjähriger gebracht sind — Art. 547 — 554. 5. Kap. 5 umfasst die Machen-
schaften, durch die der Preis von Gegenständen geändert werden soll: Ab-
haltung vom Mitbieten bei Versteigerungen, missbräuchliche Bildung von Preis-
ringen, Aussprengung falscher Gerüchte usw. — Art. 555 — 558. 6. Art. 559
und 560 handeln von Verbr. der Pfandleiher (prestamistas). ?• Die gemein-
gefährlichen Verbr. anderer StGB, sind etwa durch Art. 561 — 574 repräsentiert.
Die Brandstiftung wird in den verschiedensten Abstufungen (von cadena perpetua
bis zu arresto mayor im gradio medio) geahndet, je nach der Art des Objekts
und der Grösse des angerichteten Schadens. Die Gefahr der Weiterverbreitung
0 Vgl. über das falsche Citat des Art. 601 Z. 1 und über den kleinsten Dieb-
stahl und den Mundraub o. S. 502 Anm. 1.
§ 9. Die Übertretungen. 525
wirkt straferhöhend. Mit gleichen Strafen ist bedroht die Herbeiftihining anderer
Unglücksfälle (estragos): Untergang oder Strandung eines Schiffes, Über-
schwemmung, Explosion, Zugentgleisung, Signalverstellung, Zerstörung tele-
graphischer Leitungen u. a. (Art. 572 vgl. oben S. 518/519). Brandstiftung an
der eigenen Sache steht unter Strafe, wenn sie geschieht, um absiclitlich einen
Dritten zu schädigen, oder wenn eine solche Schädigung eingetreten ist, oder
wenn ein Gebäude in einer Ortschaft angezündet wird. Kap. 8. behandelt die
Sachbeschädigungen (daiios), deren Begriff (Art. 575) eine Art clausula gene-
ralis zu den sonstigen Vermögensverbrechen bildet. Art. 575 — 579. Die leich-
testen Fälle sind Übertretungen, vgl. Art. 585, 616, 619. 9. Art. 580 bestimmt
den Ausschluss der Strafbarkeit bei Diebstählen, Betrügereien und Sach-
beschädigungen, die vorgenommen werden zwischen Ehegatten,^) Verwandten
und Verschwägerten auf- und absteigender Linie, zusammenlebenden Brüdern
und Schwägern. Weder die civile Verantwortlichkeit, noch die strafrechtliche
eines Extraneus werden hierdurch berührt.
VII. Tit. XrV, Art. 581 von der imprudencia temeraria (Fahrlässigkeit)
ist bereits oben S. 505 behandelt. Titel XV s. u. S. 528, § 10, 16.
§ 9. Die Übertretungen.
I. Von den Bestimmungen des allgemeinen Teiles werden für Buch III
einige abgeändert (Titel V, Art. 620 — 625). So ist in der Strafzumessung das
Gericht nicht an die sonstigen komplizierten Vorschriften gebunden, sondern
würdigt den Fall nach freiem Ermessen (vgl. oben S. 515). Auf die Teil-
nehmer (cömplices) Ündet die Strafe der Urheber (autores) im grado minimo
Anwendung. Die Begünstiger (encubridores) sind, wie oben S. 506 gesagt,
straflos. Die Nebenstrafe der Einziehung ist nicht so bindend, wie in Art. 63
(S. 513) für Verbr., vorgeschrieben; sondern auf die in Art. 622 genannten
Gegenstände beschränkt und auch hier fakultativ. Bei Unfähigkeit, die Geld-
strafe zu zahlen und sonstigen Geld Verbindlichkeiten aus einer Übertretung
gegen einen Dritten zu genügen, tritt für je 5 pesetas ein Tag Arrest ein. In
künftigen Polizei-Vdgn. dürfen keine höheren Strafen, als die des III. Buches
angedroht sein. Vgl. hierzu die Gemeindeordnung (Organizaciön de los Ayun-
tamientos), G. vom 2. Oktober 1877, Art. 77 (je nach Grösse des Ortes dürfen
nur Strafen bis zu 50, 25, 15 pesetas ortspolizeilich angedroht werden). Art 72
§ 2, secundo. Art. 74 Z. 1.
II. Unter den einzelnen Übertretungen sind gemäss Art. 5 § 2 als die
schwereren die gegen Rechtsgüter der einzelnen gerichteten anzusehen, da bei
ihnen auch die Fehlschlagung strafbar ist (s. o. S. 504). 1. Titel III, Art. 602
bis 605 umfasst Übertretungen gegen die Person. Art. 602, 603 Z. 1, 2, 12,
604 Z. 1, 2—5, 605 Z. 1 und 3 sind bereits oben zu Art. 431, 435, 474, 507 ff.,
581 angeführt. Art. 603 Z. 2 — 8 " bestraft verschiedene Übertretungen ehelicher
und von Familien-, Vormunds- und Mündelpflichten. Arrest von 5 — 15 Tagen
und Verweis erhalten nach Art. 603 Z. 9 diejenigen, die ein Kind unter 7 Jah-
ren in verlassener und sein Leben gefährdender Lage antreffen und es nicht
der Behörde oder seiner Familie übergeben; nach Art. 603 Z. 11 diejenigen,
die auf freiem Felde einer Person, die sie geschlagen oder in Gefahr um-
zukommen antreffen, nicht zu Hülfe eilen, wenn sie es ohne eigenen Nachteil
thun könnten. Ähnlich ist der Fall des Art. 605 Z. 2: diejenigen, die trotz
Ersuchens anderer es unterlassen, diesen zur Vermeidung eines grösseren Übels
*) Auch wenn der andere bereits verstorben ist, aber noch kein Dritter die
Sachen in Besitz hat.
526 Spanien. — Das Spezial8traA*echt.
die erbetene Hülfe zu gewähren, obwohl ihnen daraus kein Nachteil erwachsen
konnte, werden mit Geldstrafe von 5 — 25 pesetas und Verweis gestraft, i. Tit. IV,
Art. 606 — 619 behandelt die Übertretungen gegen das Eigentum, auch bereits
teilweise erwähnt. Der komplementäre Charakter des Übertretungsstrafrechts
zeigt sich hier besonders deutlich. Mit Strafe bedroht werden die in Buch II
nicht einzureihenden Fälle von Hausfriedensbruch, Betreten fremder Grund-
stücke (insbesondere Jagens und Fischens halber, Art. 608, 609), Sachbeschä-
digung (insbesondere durch Vieh, das auf iVemden Grundstücken Schaden an-
richtet, Art. 611— 613 — zum Teil sehr kleine Geldstrafen für das Stück Vieh
herab bis zu ^/^ und ^/g peseta), Brandstiftung und Baumschaden. Art. 606
straft mit arresto menor diejenigen, die um Vorteils oder Gewinnes willen pro-
phezeien und wahrsagen oder in ähnlicher Weise die Leichtgläubigkeit des
Publikums missbrauchen. Art. 619 behandelt die fahrlässige Vermögens-
schädigung (s.o. S. 505 Anm. 5, 525; Strafe: V« — Vi ^^ verursachten ab-
schätzbaren Schadens, sonst 5 — 75 pesetas).
III. Titel 1, Kap. 1 umfasst die Pressübertretungen (Zuwiderhandlungen
gegen Ordnungsvorschriften des Pressgesetzes — Art. 584, s. u. § 10); Kap. 2
die Übertretungen gegen die öffentliche Ordnung, wovon Art. 587 schon be-
handelt ist (S. 521, §8, 12), während die übrigen leichtere Beschädigungen von
Denkmälern und Gemälden,^) leichtere Störungen des Gottesdienstes, des öffent-
lichen Anstandes, der Gerichtssitzungen u. a.; ferner die Verheimlichung der
Personalien vor der Behörde (Art. 590), die Ausübung eines Gewerbes, den
Mummenschanz, das Waffentragen ohne bestimmte Erlaubnis ahnden. Titel U
behandelt viele kleine Übertretungen gegen die allgemeinen Interessen und
gegen ortspolizeiliche Vorschriften allgemein vorbeugenden Charakters, z. B.
kleine Münzdelikte (so Art. 592 Z. 2, oben S. 519, § 7, IV 2), Verstösse gegen das
richtige Mass und Gewicht, gegen die Unverfälschtheit der Lebensmittel, gegen
Verbot von Hazardspielen u. a. — Art. 592 — 601.
m. Das Spezialstrafrecht^
Litteratur. Colecciön Leqislativa de EspaSa. (Amtliche GS.) Madrid, Imprenta
de Ministerio de Gracia y Justicia. Bis 1891 144 Bde. Ausgaben: am empfehlens-
wertesten die oben citierten Leyes penales de Espana v. Medina und Maba^ön, Madrid
1891 : Ap6ndice que conti ene las Leyes, Reales decretos, Reales Orden es, Reglamentos
y Circulares de aplicaci6n mas frecuenta en los Tribunales ordinarios. Sodann Com-
piLAciÖN de disposiciones penales no comprendidas en el C6digo penal, herausgegeben
von der Redaktion der Zeitschrift: El Consultor de los Ayuntamientos etc. Madrid
1884. Bravo, Legislaciön penal especial. Madrid, Nünez. 3 Bde. und Anhang, 1884,
1887. — Über spezielle Gegenstände: Presse — Leyes de Imprenta, Rextniön y Asocia-
cioN vigentes en la Peninsula, anotadas, con la jurisprudencia y disposiciones dicta-
das para la mejor inteligen cia de sus preceptos h'asta 1><92. Herausgegeben von der
Redaktion der Revista de los Tribunales. Madrid, Göngora. 2 ed., 1892. Bergwerke —
Freixa y Raba8Ö, Legislaciön de Minas. 2. ed. Madrid 1892. Sanchez de Ocana, La
Legislaciön minera. Madrid 1892. Eisenbahnen — Colecciön legislativa de ferro-
carriles, herausgegeben von der Leitung der 1856 gegründeten Zeitschrift: Gaceta
de los cÄminos de hierro. Madrid 1891/92. Molto, Legislaciön de ferrocarriles. Madrid
1891. Steuern und Gebühren — Ordenanzas generales de la renta de aduanas, Bd. I
= Bd. 90 der bei Nünez in Madrid erscheinenden Biblioteca judicial. Agüt y Fernan-
dez, Legislaciön del impuesto de timbre usw., concordada con la antigua renta del
sello del Estado y anotada con los cödigos de comercio y penal. Madrid 1882. Forst-
*) Art. 585 vgl. oben zu Art. 276.
*) Im folgenden ist Ley durch G., Decreto durch Vdg., Orden durch Verfügung,
Reglamento durch Odg., Ordenanzas durch Vorschrift wiedergegeben.
§ 10. Press- und Vereinsstrafrecht. 527
und Jagdrecht — Diaz Rocafüll, Legislaciön forestal. Madrid 1881. Abslla, Manual
del Derecho de Caza. Madrid 1883 (mit geschichtlichem Abriss). Ramos, Legislacion
de Montes. 1888. Bkavo, Legislacion de Montes. Madrid, NüSez, 1892.
§ 10. Press- und Yerelnsstrafrecht.
I. Art. 13 der spanischen Verfassung bestimmt: „Jeder Spanier hat das
Recht, seine Ansichten und Meinungen ft*ei zu äussern, sei es in Worten, sei
es durch die Schrift, indem er sich der Presse oder eines andern ähnlichen
Verfahrens bedient, ohne einer vorgängigen Censur unterworfen zu sein."
1« Die Ausübung dieses Rechtes regelt das Pressgesetz vom 26. Juli 1883, das
unter Druckwerk (Art. 1) versteht ,Jede Äusserung eines Gedankens auf dem
Wege der Druckerpresse, Lithographie, Photographie oder eines andern mecha-
nischen Verfahrens, das zur Wiedergabe von Worten, Zeichen und Bildern auf
Papier, Leinwand oder einem beliebigen andern Stoffe dient." Die Druckwerke
zerfallen in Bücher (über 200 S.), Broschüren, Flugblätter (höchstens 8 S.),
Zettel und Zeitschriften (periödicos) ; bei den letzteren darf der zwischen dem
Erscheinen zweier Folgen liegende Zeitraum nicht 30 Tage überschreiten (Art. 3
§ 5 , — anders die Definition der Zeitschrift im Sinne der Odg. betr. das
geistige Eigentum vom 3. September 1880, Art. 16).
Für jede Art von Druckwerk sind zur . Veröffentlichung verschiedene Er-
fordernisse aufgestellt (Abgabe von 3 oder mehr Exemplaren an bestimmte
Behörden, Ausstellung von schriftlichen Erklärungen u. a.); insbesondere für
die periodischen Zeitschriften in Bezug auf die Gründung, die Ausgabe jeder
Nummer, die Einstellung des Erscheinens (wenn der Vertreter zum Verlust
bürgerlicher und politischer Rechte verurteilt ist) — Art. 4 — 13. 2. Verg.
gegen diese Vorschriften sind teils Verbr. nach Art. 203 : — für publicaciones
clandestinas, heimliche Veröffentlichungen (s. Art. 18 Pressgesetz, d. h. solche
ohne [oder mit falscher] Angabe der Druckerei; — Flugblätter, Zettel und Zeit-
schriften, bei denen die Veröffentlichungserfbrdemisse nicht beachtet sind; —
einzustellende Zeitschriften, die weiter erscheinen) haften Urheber, Direktoren usw.
In ihrer gleich zu erörternden Reihenfolge; für unterlassene Meldung des
Namens des Direktors*) und eventuell des Herausgebere einer periodischen
Zeitschrift haften deren Direktoren usw. Die Zuwiderhandlungen gegen die
übrigen Ordnungsvorschriften des Pressgesetzes werden nach StGB. Art. 584
als Übertretung bestraft; der Erlass dieser „correcciones" erfolgt im Ver-
waltungswege, wogegen es Berufung auf den Rechtsweg giebt. Verjährung
tritt in 8 Tagen ein. Pressgesetz Art. 19. 3. Art. 14 — 16 regeln die Verpflich-
tung zur Aufnahme von Erklärungen oder Berichtigungen solcher Personen,
die sich durch eine Veröffentlichung verletzt fühlen. Die Ausübung des Rechts
dieser Personen und das an eine Verweigerung der Aufnahme sich anknüpfende
Verfahren sind genau geregelt, und ftlr unberechtigte Weigerung ist eine Geld-
strafe von 300 pesetas angedroht. 4. Die Verantwortung für Pressdelikte ist
abweichend von den sonstigen Vorschriften geregelt. Nach StGB. Art. 12 haften
nur die Urheber, also nicht die Teilnehmer und Begünstiger. Urheber ist
(Art. 14 StGB.) in erster Linie der wirkliche Verfasser, er sei denn a) nicht
bekannt, oder b) nicht in Spanien wohnhaft, oder c) von strafrechtlicher Ver-
antwortlichkeit gemäss Art. 8 StGB. (s. o. S. 507) frei; in dessen Ermangelung
in zweiter Linie die Direktoren (Verleger) unter gleichen Voraussetzungen; in
dritter Linie ebenso die Herausgeber, in letzter die Drucker, d. h. Leiter der
Druckanstalt. Nach der StPO. Art. 816 — 823 kann ein in früherer Linie Haftender
*) Oder beim Wechsel in der Direktion des neuen Direktors (RechtsprechungV
528 Spanien. — Das Spezialstrafrecht.
noch im Laafe des Verfahrens statt des ursprünglichen Beschuldigten belangt
werden; doch kann anf einen in ft*üherer Linie Haftenden nicht mehr znrück-
gegriffen werden, wenn ein ihm Nachstehender rechtskräftig verurteilt ist
(Art. 821, 820 § 2). Über sofortige Beschlagnahme nnd denmächstige Ein-
ziehung aller Exemplare and des Satzes s. StPO. Art. 816, 822, vgl. StGB.
Art. 63. 5. Wie wir früher sahen (o. S. 509), stellt die Begehung eines Verbr.
Termittels der Presse einen gemischten umstand dar, den die Gerichte als
mildernd oder als erschwerend ansehen können. Es ist durchaus im Sinne
des G. , wenn der höchste Gerichtshof diesen Umstand bei Beleidigungen nie-
mals als mildernden ansieht; denn gerade die Begehung durch die Presse ist
es, die die leichten Beleidigungen aus Übertretungen zu Verbr. macht (Art. 605
Z. 1, 474. Genugthuung durch Urteilseinrückung Art. 479). Auch die Ver-
öffentlichung nicht beleidigender Thatsachen aus dem Privatleben ist unter
Umständen strafbar, Art. 584, Z. 2. 6. Wird durch die Presse zur Begehung
eines Verbr. aufgefordert, so tritt dessen Strafe, herabgesetzt um eine Stufe,
ein, wenn die Aufforderung Erfolg hatte; sonst wird sie um zwei Stufen herab-
gesetzt — Art. 583, 582. Die Ärgernis erregende Darstellung der öffentlichen
Moral zuwiderlaufender Lehren wird nach Art 457 mit Geldstrafe von 125 bis
1250 pesetas gestraft. Bloss Übercretrmgen sind die Aufforderung zum Un-
gehorsam gegen Gesetz und Obrigkeit, die Verteidigung eines Verbr., die Ver-
letzung der Moral, der guten Sitten und des öffentlichen Anstandes — Art.
584 Z. 4 (25 — 125 pesetas Greldstrafe). 7. Über Benutzung der Presse durch
Justizbeamte und Offiziere und die etwa darin liegenden Amtsdelikte s. Ley
orgänica (GerVerfG.) Art. 734 Z. 9 und Cödigo de Justicia militar (Mil.-GB.,
unten § 15) Art. 329 Z. 4. Über die Stellung der Pressvergehen unter den
I>olitischen Delikten s. o. § 7, lU 1.
II. Art. 13 der Verfassung garantiert femer allen Spaniern das Recht,
sich friedlich zu versammeln und sich für die Zwecke des menschlichen Lebens
in Vereinen zusammenzuschliessen. 1. Als Voraussetzungen der Ausübung des
Versammlungsrechtes bestimmt das G. vom 15. Juni 1880 nur die 24 Stunden
vorher erfolgende schriftliche Anzeige an die Obrigkeit, bei Versammlungen
anf Strassen und Plätzen deren schriftliche Erlaubnis. Die Obrigkeit kann
den Versammlungen beiwohnen und sie in den Fällen des Art. 5 auflösen.
Als nicht friedliche Versammlungen gelten (StGB. Art. 189) die unter Verstoss
gegen nicht bloss provisorische Polizeiverordnungen zusammengetretenen, die
nächtlichen, die zum grösseren Teil bewaffneten und die, in denen eines der
Verbr. des StGB. Buch II, Titel III (s. o. § 7, 11 4, 5) geplant oder ausgeführt
wird. Vgl. die Strafbestimmungen StGB. Art. 189 — 197, und Übertretungen
wider die Anzeigepflicht Art. 597 Z. 1. Sonst verbotene Versammlungen sind
die im Vorhof des Gebäudes der tagenden Cortes (StGB. Art. 168. 169) und
die zu hochverräterischen Unternehmungen in Beziehung stehenden (StGB. Art.
182, 186, 188). Den Vorschriften des Versammlungsgesetzes unterliegen nach
seinem Art. 7 nicht: die katholischen Prozessionen, die Versammlungen der
katholischen und sonst tolerierter Religionsgesellschaften (vgl. königl. Verfügung
über die religiöse Duldung vom 23. Oktober 1876 und oben § 7, II 3), die
von behördlich genehmigten Vereinen und Untemehmimgen , die zu Zwecken
des Theaters und der Schaustellung erfolgenden, doch sind hier die Bestim-
mungen der Vdg. vom 2. August 1886 betr. die Schaustellungspolizei und des
Art. 597 Z. 1 StGB, zu beachten. — Für richterliche Beamte vgl. Ley orgänica
Art. 7 Z. 5. 2. Das Vereinsrecht ist enthalten im G. vom 30. Juni 1887.
S. Art. 10 über die Strafbefugnis der Provinzialbehörden. Verbr. wider dieses
Recht Art. 198 — 201. Unerlaubte Vereine sind a) solche, die ihrem Objekt
oder den Umständen nach der öffentlichen Moral zuwiderlaufen; b) solche, die
§ 12. Verkehrsstrafrecht. 529
zum Gegenstand die Begehung eines Verbr. haben. Die Rechtsprechung des
Höchsten Gerichtshofes sieht als nicht unter Art. 13 der Veifassung fallend
solche Vereine an, die die Anarchie oder den Kollektivismus predigen, da dies
nach natürlichen Gesetzen mit den Zwecken des menschlichen Lebens unver-
träglich sei. — Die Verbr., die öffentliche Beamte durch Missachtung des Ver-
eins- und Versammlungsrechts begehen, s. in Art. 229 — 235 StGB.
§ 11. Schutz des geistigen Eigentums.
I. Von dem geistigen Eigentum an wissenschaftlichen, litterarischen und
künstlerischen Werken handelt das G. vom 10. Januar 1879 nebst der dazu
ergangenen Odg. vom 3. September 1880. Über diesen Gegenstand ist femer
der (oben S. 49 unter Deutschland) behandelte Vertrag (Convenio) vom 9. Sep-
tember 1886 geschlossen, betr. die Errichtung eines internationalen Verbandes
zum Schutze künstlerischer und schriftstellerischer Werke, in Kraft getreten
am 5. Dezember 1887 — ; an ihm sind ausser Spanien nebst Kolonieen be-
teiligt Belgien, Deutschland, Frankreich nebst Kolonieen, Grossbritannien und
Irland nebst Kolonieen, Haiti, Italien, Liberia, Schweiz, Tunis. Ober den
gleichen Gegenstand sind noch die besonderen Verträge mit Belgien vom
26. Juni 1880, Frankreich vom 16. Juni 1880, Grossbritannien vom 11. August
1880, Italien vom 28. Juni 1880, Portugal vom 9. August 1880 vorhanden,
und mit Kolumbia ist der Vertrag vom 28. November 1885, in Geltung seit
1. Januar 1887, geschlossen. — Die Verletzung der geistigen Eigentumsrechte
anderer (defraudaciön de la propiedad intelectual) ist mit Strafen bedroht nach
Art 45—49, G. vom 10. Januar 1879; Art. 52, 53, Vdg. vom 3. September 1880
unter Hinweis auf den Art. 552 StGB.
II. Den Schutz des geistigen Eigentums an gewerblichen Erfindungen
(propiedad industrial) bezweckt das Patent -G. vom 30. Juli 1878. Die An-
massung eines Patentes (usurpaciön) wird nach Art. 49 — 52 mit Geldstrafe von
200—2000, im Rückfalle 2001—4000 pesetas, an den Teilnehmern mit Geld-
strafe von 50 — 200, im Rückfall 201 — 2000 pesetas gestraft. Fälschung von
Patenten unterliegt dem StGB., Buch II. Titel IV, Kap. 1 — s. o. § 7, IV 1.
Diese Bestimmungen finden gemäss dem Internationalen Vertrage vom 20. März
1883 betr. Schutz des gewerblichen Eigentums auch Anwendung auf die ünter-
thanen von Belgien, Frankreich, Guatemala, Italien, Niederlande, Portugal,
Salvador, Schweiz, Serbien; nach späteren Beitrittserklärungen auch auf die
von Grossbritannien, Tunis und Ecuador.
in. Der Schutz der Fabrikmarken ist geregelt in der Königl. Vdg. vom
20. November 1850 pnd Art. 291—293 StGB.
§ 12. Yerkehrsstrafreeht.
I. In Erfüllung des Internationalen Kabel Vertrages vom 14. März 1884
(oben S. 42/43 unter Deutschland), in Spanien verkündet am 19. Mai 1888, in
Kraft getreten am 1. Mai 1888, ist das G. vom 12. Januar 1887 über den
Schutz unterseeischer Kabel ergangen. Der Bruch oder die Verschlechterung
eines solchen Kabels mit Willen oder aus verschuldeter Nachlässigkeit (des-
cuido culpable), sodass der telegraphische Verkehr ganz oder teilweise xmter-
brochen oder gestört wird, wird nach Art. 3 mit prisiön correccional im grado
medio und mäximo gestraft; ausgenommen den Fall des Notstandes für das
Leben und für die Sicherheit eines Schifl^es, falls die nötigen Vorkehrungsmass-
regeln gegen das Zerreissen oder die Verschlechterung des Kabels getroffen
waren; sind in solchem Fall, um die Beschädigung des Kabels zu vermeiden,
Strafgesetzgebnng der Gegenwart. I. 34
530 Spanien. — Das SpeaUbt rafrecht.
Anker, Xetze oder andere Fischereigeräte zurückgelassen worden, so haltet
der Kabeleigentümer nach Art. 6 für Schadensersatz. Anch schon für Be-
wegungen nsw. eines Schiffes, die der UnTersehrtheit des Kabels gefährlich
werden können, haftet der Führer des Schiffes mit Geldstrafe (Art. 7». Sind
jene Operationen boshafter Weise ( maliciosamente ; vorgenommen« so wird das
als das fehlgeschlagene Verbr. des Art. 3 angesehen; die Boshaitigkeit wird
beim zweiten Rückfall ohne Zolässigkeit eines Gegenbeweises präsumiert.
Ordnungsstrafen für den Fall, dass das ein Kabel legende oder ausbessernde
Fahrzeug nicht die Torgeschriebenen Signale giebt, oder dass andere Fahr-
zeuge diese Signale nicht beachten und tou ihnen 1 Seemeile, tou den Kabel-
bojen V4 Seemeile entfernt bleiben, finden sich in Art. 4. Zuständigkeit der
Marinegericbte, Art. 11.
II. Für die Verbr. gegen Eisenbahnen ist L grundlegend das Eisenbahn-
polizeigesetz vom 23. November 1877: Art. 16 Zerstörung des Schienenwegs
oder Bereitung von Hindernissen, Bewirken einer Entgleisung; Art. 17 subsi-
diäre Haftung der Anführer bei einer Rebeilion oder Sedition, s. o. § 7, H 4,
m 2 zu StGB. Art. 243, 250 und Vdg. vom 21. Januar 1874, An. 1. Bei
Idealkonkurrenz (mit Totschlag, Körperverletzung u. a.) ist die schwerere
Strafe im grado mAximo zu verhängen (Art. 19). Widerstand gegen Bahn-
beamte wird nach StGB. 263 als atentado gestraft (Art. 23); Drohung mit dem
Verbr. der Art. 16 und 17 nach StGB. Art. 507, jedoch im grado mäximo,
oder im grado minimo der nächsthöheren Stufe. Art. 21 behandelt die fahrlässigen
Delikte (vgl. StGB. Art. 581;, Art. 24 die Übertretungen. Vgl. noch Art. 572
StGB, unter den gemeingefährlichen Verbr. S« Nähere Ausführung giebt die
Vdg. vom 8. September 1878 über die Eisenbahnpolizei, s. Art. 184, 180 und
über das Verfahren Art. 160 — 168. 3. Zum örtlichen Geltungsgebiet ist zu
vgl. Vdg. vom 2. Oktober 1885 über die Eisenbahnen zwischen Spanien und
Portugal.
§ 13. Das Zollstrafreeht.
I. Die Grundlage bildet die königl.Vdg. vom 20. Juni 1852 über Konter-
bande und De^audation, deren Art. 17 — 35 für das StR. besonders wichtig
sind. Die wichtigste Erläuterung bilden die Zollvorschriften (Ordenanzas de
Aduanas; vom 19. November 1884, die in Art. 246 — 265 das Cbertretungs-
StR. in Zollsacben sehr ausführlich und kasuistisch, häufig unter Androhung
absoluter Geldstrafen regeln. Vgl. ausserdem königl. Vdg. vom 16. März 1886,
und Vdg. vom 5. Mai 1886 über die Staatsanwaltschaften, Art. 59.
IL Die Zolldelikte zerfallen in Konterbande, Defraudation und konnexe
Delikte. 1. Die Fälle der Konterbande werden in den 13 Ziffern des Art. 18
aufgezählt; sie betreffen der Hauptsache' nach Herstellung und Verkauf von
in Regie genommenen Gegenständen, flinfuhr solcher, deren Import, Ausfuhr
solcher, deren Export verboten ist, nebst Vorbereitungshandlungen u. a. Strafe
ist Einziehung (comiso) der in Art. 24 aufgezählten Waren, Maschinen, Trans-
portmittel usw., und nach Art. 25 Geldstrafe in Höhe des drei- bis sechsfachen
Wertes des Gegenstandes der Konterbande. 2« Art. 19, Z. 1 — 11 umfasst die
Defraudation, die im wesentlichen Hinterziehung des Eingangs- oder Verbrauchs*
Zolles und allgemein solche Verletzung von Verwaltungsvorschriften darstellt,
deren offenbare Tendenz es ist, die Zahlung gesetzlich zu entrichtender Ge-
bühren zu umgehen oder zu verringern. Strafe ist nach Art. 26 in den meisten
Fällen die Einziehung des Gegenstandes der Defraudation tmd nach Art. 27
Geldstrafe im zwei- bis vierfachen Betrage der hinterzogenen Steuer. 3, Die
konnexen Delikte (Beamtenbestechung, Widerstand gegen Beamte, um eine
Konterbande oder Defraudation durchzusetzen u. a.) zählt Art 17 und 20 auf;
§ 15. Das StR. für das Landbeer. 531
sie werden nach den gewöhnlichen Gesetzen abgeurteilt (Art. 31). 4« Die Art.
21 — 23 enthalten eine Abweichung vom allgemeinen Teil des StGB., indem
sie die erschwerenden und mildernden Umstände, die in Sachen der Konter-
bande und Deft*audation zu gelten haben, aufzählen und in deren Würdigung
dem Richter fjreiere Hand lassen. 5« Für Geldstrafen haften Eltern und Ehe-
gatten — Art. 34, 36. Uneinbringliche Geldstrafen werden in prisiön correc-
cional von höchstens 2 Jahren verwandelt — Art. 28. Liegt der erschwerende
Umstand des Art. 22 Z. 4 (bewaffnete Geleitung der Konterbande) oder dritter
Rückfall vor, so tiitt neben den schon erwähnten Strafen 7 Monate bis 3 Jahre
presidio correccional ein — Art. 29, 36.
§ 14. G^esetze allgemeinen poUzeillehen Charakters.
<*
I. G. vom 23. April 1870 über die öffentliche Ordnung (Belagerungs- und
Kriegszustand, Aufhebung der verfassungsmässigen Garantieen). Vdg. vom
10. August 1876 betr. die Führung von Waffen.
II. Apotheken- Odg. vom 18. April 1860. — Königl. Verfügung vom 31. De-
zember 1887 betr. die Fleischläden. StGB. Art. 356. Königl. Verfügung vom
28. Juli 1887 betr. alkoholische Getränke. — Königl. Verfügung vom 27. No-
vember 1858 betr. die Gasthäuser. StGB. Art. 600 Z. 1.
m. Vdg. vom 13. Mai 1857 betr. öffentliche Fuhrwerke. G. vom 13. Juni
1879 über das Wasserrecht. Königl. Vdg. vom 8. Mai 1884, das Fo^s^StGB.
(Legislaciön penal de Montes) darstellend.
IV. Jagd-G. vom 10. Januar 1879 (strafrechtlich insbesondere Art. 44 bis
54) vgl. StGB. Art. 532, 608 Z. 1 und 3, 615 Z. 2. — Vdg. vom 3. Juni 1834,
Titel V ff., Art. 36 ff. über die Fischerei (strafrechtlich vgl. Art. 53—55), vgl.
auch hier die genannten Art. des StGB., und zu Art. 53 der Vdg. StGB. Art.
576 Z. 3. S. femer über die Küstenfischerei zwischen Spanien und Portugal
Odg. vom 2. Oktober 1885 und über den Fischfang in der Bidasoa die Ver-
träge mit Frankreich vom 18. Februar 1886 und 20. September 1888.
IV. Das Militärstrafreclit
Litteratur: Handausgaben von Msdina und Mabanöm, Legislaciön penal de
Guerra y Marina (in der Biblioteca manual de Derecho penal). Madrid, Teile, 1891.
Bacabdi, Diccionario de legislaciön militar, ö sea Repertorio general y completo de
legislaciön militar. 4 Bde. Barcelona 1887. — SÄnchez Ocana, Cödigo de Justicia
militar, anotado y coucordado con la legislaciön anterior. Madrid 1890. Benito t In-
FANTE, Cödigo de Justicia militar. Madrid 1891. — Cödigo penal de la Marina de
Guerra, con algunas notas y concordancias con los Cödigos penal comün y para el
ej breite. (Herausgegeben von der Redacciön de la Revista de los Tribunales.) Ma-
drid 1888. RoHEBo Y VniLANüovA, Cödigo penal de la Marina de guerra, con comen-
tario y citas del Tribunal Supremo. Madrid 1888.
§ 15. Das StR. für das Landheer.
I. Auf das Mil.-StGB. vom 1. Januar 1885 ist das umfassende 6B. der
Militärgerichtsbarkeit vom 27. September 1890 (Cödigo de Justicia Militar) ge-
folgt, das in 3 Abteilungen (Tratados) zerfällt»: 1. Organisation und Amtsgewalt
der Militärgerichte. 2. Strafgesetze. 3. Militärprozessordnung. Nur die zweite
Abteilung mit ihren 11 Titeln, Art. 171 — 339, interessiert uns hier.
n. Titel I — IV stellen den allgemeinen Teil dar, in dem meistens auf
die Bestimmungen des Civil-StGB. verwiesen ist. Doch ist zu bemerken 1. Den
34*
532 Spanien. — Das Militärstrafrecht.
im 6. mit Strafe bedrohten Handlungen stehen die in Erlassen (bandos) eines
General-en-Chef oder Gouverneurs eines belagerten oder blockierten Platzes
bezeichneten gleich (Art. 171 § 2). 2. In der Würdigung der Strafzumessungs-
gründe ist das Gericht frei. Art. 172, 173. 8. Trunkenheit ist nie ein mil-
dernder Umstand, Art. 173 § 2. 4. Autoritätsmissbrauch bei augenblicklicher
Erwiderung einer Insubordination kann mildernder Umstand sein. (Herab-
setzung der Strafe um 1 — 2 Stufen). 5. Mord, Totschlag, Körperverletzung,
Raub, Diebstahl, Betrug, die im allgemeinen unter dem Civil-StGB. stehen,
müssen, wenn eine Beziehung zum Dienst vorhanden ist, mit der angedrohten
Strafe im grMo mäximo oder mit einer um 1 — 2 Stufen erhöhten belegt
werden ; beim Raub steht die Fehlschlagung dann der Vollendung gleich ; Not-
zucht wird um 1 — 2 Stufen höher gestraft; Unterschlagungen öffentlicher
Gelder und Fälschungen immer so, als seien sie von einem Beamten verübt,
und im grado mäximo. Art. 175. 6. Desertion verjährt mit dem 50* Lebens-
jahr oder Unfähigkeit zum Militärdienst. Art. 217.
III. Das Strafensystem (Titel II, Art. 176—215) unterscheidet Strafen, penas,
und Zurechtweisungen, correcciones. Erstere zerfallen in militärische Strafen
und gemeine Strafen, dazu Nebenstrafen. Militärische Strafen sind: I.Todes-
strafe. 2. Lebenslängliches militärisches Zuchthaus (ist in 30 Jahren verbüsst),
3. Zeitliches militärisches Zuchthaus. 4. Schweres Militärgefängnis. 5. Dienst-
entlassung. 6. Korrektionelles Militärgefängnis von 3 — 6 Jahren. 7. Ent-
hebtmg vom aktiven Dienst. 8. Korrektionelles Militärgefängnis bis zu 3 Jahren.
Nebenstrafen sind: militärische Degradation, zeitliche Dienstenthebung (wobei
die Stelle anderweit besetzt wird — Suspension de empleo; oder nicht —
deposiciön de empleo), Überweisung an eine Diszipliniertenabteilung, Aus-
stossung aus dem Heere.
IV. Titel V— IX ist der besondere Teü für Verbr., Art. 222—306. Tit- V
enthält Verbr. gegen die Sicherheit des Vaterlandes: Landesverrat, Spionage,
Verbr. gegen das Völkerrecht, Verheerung und Plünderung. Tit. VI umfasst
die Verbr. gegen die Sicherheit des Staates und des Heeres: Rebellion, Sedi-
tion, Insulte gegen Schildwachen , Posten und bewaffnete Macht. Die Verbr.
gegen die militärische Disziplin sind in Titel VII zu finden : Insulte gegen
Vorgesetzte, Ungehorsam, Autoritätsmissbrauch, Anmassung einer Charge.
Titel Vni bezeichnet seinen Inhalt: Verlassung des Dienstes, Pflichtvernach-
lässigung, Weigerung der Hülfe, Verletzung der Pflichten des Postens, Ver-
letzung der Residenzpflicht, Desertion in mehrfachen Abstufungen und Teil-
nahmehandlungen daran, Selbstherbeiführung der Unbrauchbarkeit zum Dienst,
Verbr. gegen die militärische Ehre — als „Verbr. gegen die Zwecke und
Mittel der Thätigkeit des Heeres". Titel IX. spricht von Verbr. gegen die
Interessen des Heeres (Betrug, Lebensmittelverfälschung).
V. Titel XI, Art. 310— 339, entspricht dem 3. Buch des Civil-StGB., er
enthält die Übertretungen, deren Ahndungen als con'ecciones bezeichnet werden.
Es werden faltas graves und leves unterschieden; correcciones für erstere
sind beim Offizier: Suspension de empleo von 2 Monaten bis 1 Jahr, Arrest
von 2 — 6 Monaten; beim Gemeinen: Versetzung zur Diszipliniertenabteilung
auf 1 — 6 Jahre, Dienstverlängerung (recargo en el servicio) auf 2 Monate bis
4 Jahre, Arrest von 2 — 6 Monaten. Correcciones der faltas leves sind beim
Offizier: Hausarrest bis zu 8 Tagen, Kasernenarrest von 15 Tagen bis zu
2 Monaten, Warnung, Verweis; beim Gemeinen: Deposiciön de empleo, Arrest
in 3 Abstufungen bis zu 8, bis zu 15 Tagen, bis zu 2 Monaten, Nachexerzieren.
Der mehrmalige Rückfall in dieselbe Übertretung macht sie zum Verbrechen,
s. hierüber Titel X, Art. 307—309.
§17. Die afrikanischen Besitzungen. 533
§ 16. Das StBN. fttr die Marine.
Es existiert ein eigenes StGB. v. 24. August 1888 für die Marine, in Kraft
getreten am 1. Januar 1889 (343 Art.). Gleich dem Civil-StGB. ist es in
3 Bücher geteilt, enthält wenig Verweisungen auf jenes, reproduziert auch
kurz die gemeinen Verbr. und lässt in vielem, namentlich im Strafensystem,
eine unverkennbare Anlehnung an den Entw. Silvela beobachten, wie ein
Blick auf das System der Graduation der Freiheitsstrafen zeigen mag. Die
14 Grade sind (Art. 36): Zuchthaus (reclusiön), lebenslänglich, zeitlich von
17— 20 Jahren, von 14 — 17 Jahren, von 12—14 Jahren, Festung (presidio)
von 10 — 12 Jahren, von 8 — 10 Jahren, von 6—8 Jahren, Gef. (prisiön) von
4 — 6 Jahren, von 2 — 4 Jahren, von V« — 2 Jahren, Arrest von 4 — 6 Monaten,
von 2—4 Monaten, von 1 — 2 Monaten, von 1—30 Tagen. Die Stoffanordnung
ist im allgemeinen die des Civü-StGB. Zu Buch III (Übertr.-StR.) ist die Ein-
teilung in 2 Titel zu bemerken, je nachdem die Übertretungen vor einem Dis-
ziplinargerichtshof abgeurteilt werden müssen oder im Aufsichtswege erledigt
werden können (Art. 317—325, 326 — 332). Die Ahndungen für die ersteren
sind als penas, Strafen, die für die letzteren als correcciones, Zurechtweisungen,
bezeichnet. Zum Verfahren vgl. ausser dem GB. der Militärgerichtsbarkeit
vom 27. September 1890 die Vdg. v. 30. November 1892 und die zu ihrer Aus-
führung erlassene, von besonderen Verfahrensarten, insbesondere vom sum-
marischen Verf'ahren handelnde Instruktion vom 4. Juni 1873 (138 Art.). Vgl.
endlich GerVerfG. für das Oberste Kriegs- und Marinegericht (Reglamento
orgÄnico del Consejo Supremo de Guerra y Marina) vom 17. Dezember 1890.
Y. Das StR. der Eolonieen.
Litteratur. Cacho Nborste, Institute criminal teörico-pr&ctico. Habana 1838.
VALD]ft8, Diccionario de Legislacion y Jurisprudencia criminal en que se comprenden
todas las disposiciones que rigen en la isla de Cuba. Habana 1858. REcopn.Aci6N
de leyes de los reines ae las Indias (auf Carlos' II. Befehl veranstaltete Sammlung)
2. ed. 1756. 5. ed. (cerregida per la Sala de Indias del Tribunal Supremo). Madrid 1841.
RoDRiQüEz San Pbdbo, Legislacion Ultramarina cencordada y anetada. 16 Bde. Madrid
1865—69. — Ausgaben der StGB.: für Westindien Cödigo penal para las islas de Cuba
V Puerto Rice. Madrid, Centre editerial de Gongera, 1886 und Ap6ndices, 1887, ent-
haltend Nebengesetze. Für die Philippinen: Bbavo, Cödigo penal vigente en las islas
Filipinas, mit Anmerkungen und Rechtsprechung. Madrid (Nunez, Biblieteca judicial)
1887. Die in Habana erscheinende ven Ramen J. Cakbonell t Rüiz herausgegebene
Revista General de Derecho (Bd. XIII abgeschlessen mit 1892) bringt auch strafrecht-
liche Aufsätze und Entsch. des höchsten Gerichtshefes in Strafsachen.
§ 17. Die afrikanischen Besitzungen.
Die bereits früher (S. 511) als Verbüssungsort der Ketten- und Zucht-
hausstrafe genannten Presidios in Marokko, nebst den gleichfalls dort er-
wähnten Islas Chafarinas, und ebenso die als Verbüssungsort für die Ver-
schickung (confinamiento, S. 512 j bezeichneten Kanarischen Inseln gehören
administrativ zum Hauptlande und unterstehen also dem StGB. v. 1871. Die
übrigen afrikanischen Besitzungen: Fernando Pöo, Annobon, Corisco, Elobey
und das Kap San Juan bilden zwar ein eigenes Generalkapitanat Guinea, doch
giebt es kein besonderes StGB, für sie. Die dort ansässigen Spanier unter-
stehen also jedenfalls dem StGB. v. 1871; wie es mit den Eingeborenen ge-
halten wird, ist nicht zu ermitteln gewesen.
534 Spanien. — Das StR. der Rolonieen
§ 18. Die westindischen Besitzungen.
Für das Generalkapitanat Habana, umfassend die Insel Kuba nnd die
Isla de PinoB, und das Generalkapitanat Puerto-Rlco, umfassend die Insel
Puerto-Rico nebst Cnlebra, Culebrita und Vieques, ist durch königliche Vdg.
vom 21. Mai 1879 ein StGB, erlassen worden, das grösstenteils wörtlich mit
dem spanischen StGB, übereinstinmit. Die auf die Presse bezüglichen Art. sind
fortgeblieben; unter den Nebenstrafen figuriert, wie im spanischen StGB. v. 1850,
die polizeiliche Aufsicht (Art. 24, 42). Im besonderen Teil sind die Verbr. gegen
die Cortes und die Verbr. der Beamten gegen die verfassungsmässig garantierten
Rechte leicht abgeändert und ein wenig vereinfacht; stärker umgearbeitet sind
die Religionsdelikte. In dem Kap. von Schliessung ungesetzlicher Ehen ist ein
Art. eingefügt (Art. 493). Ganz neu waren die Bestimmungen der Art. 415, 417,
429 § ult., 430, 448, 454, 460, 461, 464, 465 §2. 539—544, die sich sämtlich
auf die von Sklaven begangenen Verbr. bezogen. Doch war in Puerto-Rico
die Sklaverei schon durch G. vom 22. März 1873 aufgehoben und in Kuba ist
dies durch G. vom 13. Februar 1880 geschehen. Der letzte Rest, das Patronats-
Verhältnis, ist durch königl. Vdg. vom 8. Oktober 1886 beseitigt worden.
§ 19. Die PliUippinen.
Die Spanien gehörigen Inselgruppen der Südsee (Generalkapitanat Manila)
stehen unter dem Cödigo penal de las Islas Filipinas. Durch die königliche
Vdg. vom 4. September 1884 und 17. Dezember 1886 ist das spanische StGB,
dort mit sehr geringen Modifikationen eingeführt worden.
Füi* die beiden zuletzt genannten StGB., die sogenannten Cödigos penales
de Ultramar, muss bemerkt werden, dass in ihnen die Höhen der Geldstrafen
gegenüber dem spanischen StGB, durchweg 2^/, — 3 Mal so gross sind. Es
stimmt dies überein mit dem Prinzip des Art. 99 des alten StGB. v. 1822: in
Ultramar sollen alle angedrohten Geldstrafen, soweit sie nicht relativ aus-
gedrückt sind, verdoppelt werden.
2. Portugal.
L Ursprung und geschichfliclie Entwicklung des portugiesischen StR.
§ 1. Die altere aeschlehte des StIL
Der Ursprung des portugiesischen StR. reicht bis in die Zeit vor der
Entstehung des Königreichs Portugal zurück. Als dieses im 11. Jahrhundert
aus dem Gebiet des alten Lusitanien und einem Teil des Königreichs Leon
entstand, zu welchem später die Trümmer des Mauren-Reiches hinzukamen,
galten in seinem Gebiete die Lex Yisigothorum und die Sammlung von Konzils-
beschlüssen, welche die Grundlage des in Portugal, Galicien und (nach dem
Beschluss des Konzils von Coyanca v. 1060) auch in Asturien geltenden Fuero
de Leon bildeten. Die StG. bildeten damals den wichtigsten Teil der Gesetz-
gebung; die Strafen waren Geldstrafen oder konnten wenigstens durch solche
ersetzt werden. Diese Gesetzgebung erfuhr eine bedeutende Verbreitung durch die
„Foraes", Gesetze, welche nach dem Muster des Fuero de Leon von den Königen
und Herren für ihre Städte erlassen wurden. — Allmählich jedoch schritt man
zur Anwendung von Körperstrafen, Tod und Verstümmelung, die zweifellos
auf das unter der Herrschaft der westgotischen Gesetze nahezu verschwundene
Gefühl der Privatrache zurückzuführen sind. Dem Wiedererscheinen dieser
Straftnittel ist wohl hauptsächlich das Bedürfnis nach den von den Königen
Alphons IV. und Peter I. in ihren G. v. 1364 und 1385 zugesicherten Gnaden-
und Asyl-Briefen zuzuschreiben. Der König Johann I. bereitete eine vollständige
Reform der geltenden Gesetze vor, die jedoch erst unter der Herrschaft seines
Grosssohnes Alphons V. im J. 1446 abgeschlossen wurde und in den „alphonsi-
schen Ordonnanzen'^ ihren Ausdruck fand. Obgleich diese Ordonnanzen auf
den Beschlüssen der Cortes und den Sitten und Gewohnheiten des Landes be-
ruhten, verleugneten sie doch nicht den Einfluss des römisch -kanonischen
Rechts, das von Tag zu Tag erhöhte Bedeutung gewann, seitdem es auf der
Universität Coimbra gelehrt wurde. Die Einteilung des Stoffes ist bei dem
neuen G. dieselbe gewesen, wie bei den Dekretalen, aus denen mehrere Be-
stimmungen herübergenommen wurden. Die Grundprinzipien waren: Ab-
schreckung und Rache; das wahre Ziel der StGgebung, die Unterdrückung
desVerbr. und die gerechte Ausmessung der Strafe nach Verhältnis der That,
fand keinerlei Berücksichtigung. Von den grausamen Strafen wurde eine aus-
gedehnte Anwendung gemacht.
Tod, Verstümmelung, Verbrennung, Brandmarkung und Prügelstrafe wur-
den für die geringsten Verg., ja selbst für Sünden angedroht, andererseits
machte man, den Ideeen des Feudal-Staates entsprechend, bei der Bestrafung
einen Unterschied zwischen Adligen und Nichtadligen. Erst unter dem König
Emanuel im J. 1521 fand eine Abänderung der alphonsischen Ordonnanzen statt,
536 Die iberische Halbinsel. — Portugal.
die jedoch die Einteilung des Stoffes, das Strafensystem und die Grundprin-
zipien desselben unangetastet liess. — Im J. 1603 erschienen die philippi-
nischen Ordonnanzen; auf denselben Quellen beruhend, haben sie dieselben
Fehler. Die Definitionen der strafbaren Handlung sind ungenau. Die Begriffe
„Delikt" und „Sünde" werden nicht auseinandergehalten. Die Begriflfebestim-
niung des Verbrechens der Ma^iestätsbeleidigung ist ebenso vage, wie in der
Konstitution von Arcadius und Honorius. Das Strafensystem ist barbarisch,
grausame Todesarten, Prügelstrafe, Handabhauen, alle Arten der Folter sind
zulässig. Die Ehrlosigkeit erstreckt sich nicht nur auf den Thäter selbst, sondern
auch auf seine Verwandten. Kurz, diese Ordonnanzen fügten zu den Fehlem
ihrer Vorgängerinnen noch die Auswüchse des täglich wachsenden Despotismus
und die Schrecken des von Johann ITI. eingeführten Inquisitions- Gerichts hinzu.
Das System der Folter wurde später durch andere Gesetze, wie die vom 6. De-
zember 1612 und vom 31. März 1742, durch Einführung der Brandmarkung
auf den Rücken und der Wippe vervollständigt.
Indes fanden die philosophische Bewegung des 18. Jahrhunderts und die
in Frankreich, Österreich, Bayern und Preussen vorgenommenen strafrechtlichen
Reformen auch in Portugal ein Echo. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen
beauftragte die Königin Maria am 22. März 1783 den Gelehrten Dr. Paschoal
Jos6 de Mello Freire, Professor an der Universität, mit der Ausarbeitung von
Gesetzen über das öffentliche Recht und das StR. Aber auch die von diesem her-
vorragenden Rechtsgelehrten nach 5 Jahren vorgelegten Entwürfe vermochten
dem zähen Widerstände, den bereits ihre Vorgänger gefanden hatten, nicht
Stand zu halten. Man verzichtete auf eine umfassende Verbesserung und be-
schränkte sich darauf, durch die Dekrete vom 12. Dezember 1801 imd 11. Januar
1802 den Richtern die Befagnis zu geben, bei schweren Delikten die Todes-
strafe durch die Galeerenstrafe zu ersetzen.
§ 2. Die Entstehungsgeschichte des geltenden StOB.
Die Verfassung v. 1822 stellte auch die Grundzüge für ein neues StGB,
fest. Da sie aber nur vorübergehend in Geltung war, so blieb es dem Grund-
gesetz V. 1826 vorbehalten, eine vollständige Reform der StGgebung herbei-
zuführen. Dasselbe nahm die Schaffung eines auf der Grundlage der Gerechtig-
keit und der Gleichheit beruhenden StGB, in Aussicht und ordnete die sofortige
Abschafi\ing der Prügelstrafe, der Folter, der Brandmarkung, sowie aller grau-
samen und entehrenden Strafen an. Es stellte den Grundsatz auf, dass die
Strafe nur die Person des Verbrechers treffen und weder die Vermögensein-
ziehung, noch die Ehrlosigkeit der Verwandten des Schuldigen nach sich ziehen
sollte. Demselben G. verdankt das Land auch die Gewissensfreiheit und die
Freiheit des Gedankenausdrucks durch Wort und Schrift sowie die Garantie
gegen willkürliche Verhaftung (habeas-corpus-Acte). Die letztere beruht auf
der Bestimmung, dass niemand, falls er nicht auf frischer That betroffen wird,
oder eines schweren Verbr. verdächtig ist, verhaftet werden darf, ohne dass
ihm mitgeteilt wird, welcher That man ihn beschuldigt, und ohne dass ein
schriftlicher Haftbefehl des Richters vorliegt. — Indes verzögerten die bald
darauf eintretenden, durch den Sieg des konstitutionellen Systems im J. 1832
abgeschlossenen politischen Ereignisse und die sich hieran anschliessenden un^
unterbrochenen inneren Wirren die Kodifikation bis zum J. 1851. Erst am
10. Dezember dieses Jahres erlangte das erste portugiesische StGB., ein Werk
der durch Verfügung vom 10. Januar 1845 eingesetzten Kommission von Rechts-
gelehrten, Gesetzeskraft. — Seine Quellen waren das französische und spanische,
in gewissen Punkten auch das brasilianische, neapolitanische und österreichische
§ 3. Litteratur-Übersicht. 537
StGB., das belgische G. über den Zweikampf, einige Bestimmungen des römischen
Rechts und der nationalen Gewohnheiten, endlich die Werke von Rossi, Chau-
veau und Faustin H61ie. — Das 6. vom 14. Juni 1884 ist lediglich eine teil-
weise Umarbeitung des G- v. 1852 und beschränkt sich darauf, die Bestim-
mungen desselben mit dem durch das G. vom I.Juli 1867 eingeführten System
der Zellengefängnisse in Einklang zu bringen. Zu diesem Zwecke schaffte es
die Todesstrafe und alle lebenslänglichen Freiheitsstrafen ab und änderte einige
Bestimmungen über die zeitigen Freiheitsstrafen, über die strafrechtliche Ver-
antwortlichkeit im allgemeinen und einzelne Verbr. im besonderen. — Ähnliche
Änderungen enthält auch das jetzt geltende StGB, vom 16. September 1886.
Es zerfällt in zwei Bücher: das erste enthält die allgemeinen Regeln über
strafbare Handlungen, die strafrechtliche Verantwortlichkeit» die Strafen, ihre
Wirkung, Zumessung und Vollziehung, endlich Übergangsbestimmungen; das
zweite Buch behandelt die einzelnen Deliktsarten, nämlich die Delikte gegen
die Staatsregierung und den Missbrauch der religiösen Funktionen, die Delikte
gegen die Sicherheit des Staates, gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung,
gegen die Person und gegen das Eigentum.
Aus der gleichen Übergangsperiode stammt auch das Militärjustizgesetz
vom 9. April 1875. Es zerfällt in vier Teile: strafbare Handlungen und Strafen,
Gerichtsverfassung, Zuständigkeit, Verfahren. Das erste Buch behandelt das
eigentliche Mll.-StR. Es enthält allgemeine Vorschriften und Bestimmungen
über die Verbr. gegen die Sicherheit des Staates, gegen die militärische Ehre
und den militärischen Mut, gegen die öffentliche Ordnung und die Armee, über
die bei Ausübung einer militärischen Funktion begangenen strafbaren Hand-
Ixmgen, über die Verbr. gegen die Sicherheit der Person und die Verbr. gegen
das Eigentum. Dies ist gegenwärtig der Stand der Gesetzgebung auf straf-
rechtlichem Gebiete in Portugal. Von den portugiesischen Eolonieen haben
einzelne kein besonderes StR. Die Gerichtsverfassung ist mannigfaltig, Schwur-
gerichte und Zellengefängnisse giebt es nicht. Im übrigen sind die Strafen
dieselben wie im Mutterlande. Zu bemerken ist, dass die Deportation nur
nach Afrika geschieht, wo die Verurteilten der Aufsicht der Gouverneure unter-
stellt sind.
n. Litteratur-Übersicht
§3.
Das erste klassische Werk über das portugiesische StR. sind die Institutiones
juris criminalis Lusitani des berühmten Professors Dr. Paschoal Josö de Melle
Freire; in lateinischer Sprache verfasst und anfangs in Lissabon, später im J. 1815
in Coimbra erschienen (184 Seiten), wurden sie seit diesem Jahre die Grundlage der
an der dortigen Rechtsfakultät gehaltenen Vorlesungen. Auf dem römischen Kecht,
den Ordonnanzen und der ausländischen Litteratur beruhend, war dieses Werk seiner
Zeit mustergültig; heute hat es jedoch nur noch einen geschichtlichen Wert. — Zu
derselben Zeit erschien die systematische Abhandlung des Gelehrten Joaquim Jos6
Caetano Pereira e Sousa, Anwalt am Supplik ationshofe zu Lissabon über die Verbr.
und ihre Bestrafungen nach dem geltenden Recht (Lissabon, 8. Aufl. 1830. 8^ 888
Seiten). Ebenfalls auf den Ordonnanzen und der späteren Gesetzgebung beruhend,
verrät dieses Werk eine umfassende Kenntnis der auswärtigen Gesetzgebung und
Litteratur und ist noch heute seines geschichtlichen Wertes wegen sehr geschätzt. —
Ferner sind zu erwähnen: die Vorlesungen über Strafrecht des Dr. Basilio Alberto
de Sousa Pinto, Professors, dann Rektors der Universität Coimbra (Coimbra 1863,
1 Bd. in 8®, 454 Seiten). Sie bilden die Fortsetzung der Institutiones juris criminalis
und enthalten eine Erklärung des StGB. v. 1852. Sie behandeln nach einer hervor-
ragenden geschichtlichen Einleitung im ersten Buch die strafbaren Handluu&^en, ihre
Urheber und deren Bestrafung im allgemeinen, im zweiten Buche einige Verbr. im
besonderen. — Als Kommentar zum StGB. v. 1852 ist der von Anwalt Dr. Levy
538 ^ie iberische Halbinsel. — Portugal.
Maria Jordao zu erwähnen (Lissabon 1854, 4 Bde. in 8^ mit je 300 Seiten). Nach
einer ausgezeichneten geschichtlichen Einleitung erklärt der Verfasser die einzelnen
Art. des StGB., dessen Text uad Quellen er anführt. — Ein sowohl als Kommentar
zum StGB., wie als geschichtliche und rechtsvergleichende Abhandlung äusserst wert-
volles Werk ist die Theorie des portugiesischen StR. in ihrer Anwendung auf das
portugiesische StGB, unter Berücksichtigung der auswärtigen älteren und modernen
Gesetzgebung von A. J. da Silva Ferrao, Rat am höchsten Gerichtshofe (Lissabon
1856, 8 Bde. in gr. 8*^, jeder zu über 300 Seiten). — Femer ist zu erwähnen der im J.
1864 von Ferreira de Lima und Levy Maria Jordao veröffentlichte, auch im
Auslande bekannte Entw. eines StGB. Die diesem vorangeschickte Einleitung (1 Bd.
in 8®, 255 Seiten) verrät umfassende wissenschaftliche und praktische Kenntnisse. Der
Entw. selbst (1 Bd., 200 Seiten) enthält einen einleitenden Titel und drei Bücher mit
510 Artikeln.
Für die Rechtssprechung der verschiedenen Gerichtshöfe giebt es
keine einheitliche Sammlung, sie finden sich vielmehr in verschiedenen juristischen
Zeitschriften zerstreut. Besonders wichtig ist die Sammlung von Entsch. des höchsten
Gerichtshofes aus allen zur Zuständigkeit dieses Gerichts gehörenden Gebieten. Zu
erwähnen ist hier ausserdem die Ausgabe des StGB mit Anmerkungen von Dr. Hen-
ri ques Secco, ehemaligem Professor an der Universität Coimbra (Coimbra 1881,
1, Bd. in 8®, 340 Seiten), in welcher eine grosse Menge von Entsch. angeführt werden.
Über die Motive zu den verschiedenen G. strafrechtlichen Inhalts vgl. man die im
Staatsanzeiger abgedruckten Ministerialberichte und parlamentarischen Verhandlungen.
m. Das StGB, vom 16. September 1886.
§ 4. Allgemeiner Teil.
Das die allgemeinen Bestimmungen enthaltende erste Buch zerfällt in vier
Titel: 1. von den Verbr. und ihren Urhebern im allgemeinen; 2. von den Strafen
und ihren Wirkungen; 3. von der Strafzumessung und dem Strafvollzuge;
4. Übergangsbestimmungen.
1. Einleitende Bestimmungen. Die ersten Art. des ersten Titels geben
die Definition der BegrifiTe: Verbr., Verg. und Übertretung. Verbr. oderVerg.
ist jede vorsätzliche und vom G. mit Strafe bedrohte Handlung, Übertretung
jede vorsätzliche strafbare, jedoch lediglich durch Verletzung oder Nichtbeach-
tung polizeilicher Sicherheits- und Ordnungsvorachriften begangene That. Die
fahrlässige Begehung von Übertretungen wird immer, die eines Verbr. oder
Verg. nur dann bestraft, wenn sie die Verletzung einer Pflicht enthält, oder
die Strafbarkeit vom G. ausdrücklich ausgesprochen ist. Der Grundsatz nullum
crimen, nulla poena sine lege gilt auch im portugiesischen StR.
Rückwirkende Kraft hat ein StG. nur dann, wenn es die Straflosigkeit
einer nach früherem Recht strafbaren Handlung oder die mildere Bestrafung
einer nach früherem Recht mit schwerer Strafe bedrohten That anordnet, oder
ganz allgemein, wenn es Bestimmungen enthält, die dem Angeklagten gün-
stiger sind, ohne dass jedoch die Rechte Dritter hierunter leiden dürfen.
Der Beginn der Strafmündigkeit fällt mit dem der civilrecbtlichen Qross-
jährigkeit zusammen und tritt für beide Geschlechter mit dem vollendeten
21. Lebensjahre ein (Kap. 1, Art. 1 — 7).
Mil.-Verbr. und Mil.-Verg. ist jedes Delikt gegen das Militäijustizgesetz
(Militäijustizgesetz Art. 1).
2. Die strafbaren Handlungen im allgemeinen. Das G. be-
straft das vollendete, das fehlgeschlagene und das versuchte Delikt (Art. 8).
Die Strafandrohungen gelten jedoch, ausser wo das G. es besonders vor-
schreibt, nur für die vollendeten Delikte (Art. 9). Ein fehlgeschlagenes Verbr.
§ 4. Allgemeiner Teil. 589
liegt vor, wenn der Thäter vorsätzlich alle Ausführungshandlungen vorge-
nommen hat, die die Vollendung der strafbaren Handlung zur Folge gehabt
haben würden, wenn nicht Umstände, die von seinem Willen unabhängig
waren, dieselbe gehindert hätten (Art. 10). Strafbarer Versuch liegt vor,
wenn der Thäter 1. vorsätzlich gehandelt; 2. den Anfang der Ausführung von
Handlungen, welche die Vollendung des Delikts hätten nach sich ziehen
müssen, gemacht hat; 3. in der Ausführung unterbrochen ist durch Umstände,
welche — abgesehen von dem Fall des Alt. 13 — von seinem Willen unab-
hängig waren; 4. wenn das vollendete Delikt mit „schwerer Strafe" („pena
maior") bedroht ist. Der Versuch eines nur mit korrektioneller Strafe („pena
correccional") bedrohten Vergehens ist nur in den vom G. besonders vor-
gesehenen Fällen strafbar (Art. 11). In den Fällen, in denen weder Ver-
such noch Vorbereitungs-Handlungen zu einem Delikt als solche für strafbar
erklärt sind, werden diese nur dann bestraft, wenn sie an und für sich
eine nach allgemeinen Grundsätzen als Verbr., Verg. oder Übertretung straf-
bare Handlung bilden (Art. 12 und 14). — In den Fällen, in welchen das
G. das versuchte Delikt dem vollendeten bezüglich der Strafbarkeit gleich-
stellt, ist letzteres strafbar, auch wenn der Thäter freiwillig von der Vollen-
dung zurücktrat (Art. 13).
Verbr. sind nur diejenigen Handlungen, welche von dem StGB., von
anderen StG. oder von der Militär-Strafgesetzgebung als solche bezeichnet
sind (Art* 16). Militärverbr. sind diejenigen Handlungen, welche unmittelbar
gegen die Disziplin des Heeres und der Marine gerichtet sind, und welche
das Militärgesetz als Verletzungen der militärischen Pflicht bezeichnet und be-
straft, ohne Unterschied, ob sie von Militärpersonen oder von anderen zur
Armee oder Marine gehörigen Personen begangen werden. Die von den letz-
teren Klassen begangenen Delikte des gemeinen Rechts werden nach dem
bürgerlichen StGB, geahndet, obgleich die Aburteilung über sie den Militär-
Gerichten zusteht (Art. 16; Militärjustizgesetz Art. 2 und 8).
Abgesehen von besonders erwähnten Fällen ändert das StGB, nichts an
den Bestimmungen der Civilgesetze , nach welchen die Begehung oder Unter-
lassung gewisser Handlungen den völligen oder teilweisen Verlust gewisser
Befugnisse oder die Verpflichtung zum Schadenersatz zur Folge hat, sowie an
den Bestimmungen, nach welchen in gewissen Fällen wegen einer Handlung
nur der Weg der Civilklage beschritten werden darf (Art. 17). Die analoge
Anwendung der Bestimmungen des StGB, ist ausgeschlossen; weder aus dem
Gesichtspunkte der Gleichheit des Motivs noch der Argumentation a maiori ad
minus darf ein Thatbestand, welcher nicht unter die Bestimmungen des StGB,
fällt, zu einem Delikt gestempelt werden (Art. 18). — (Die Art. 8 — 18 bilden
das Kap. II.)
3. Die Urheber der strafbaren Handlung. Die Urheber des Verbr.
sind entweder Thäter oder Gehülfen oder Begünstiger (encobridores).
Thäter ist 1. wer das Delikt selbst begeht oder an der Begehung
unmittelbaren Anteil nimmt; 2. wer durch physische Gewalt, Drohung, Miss-
brauch des Ansehens oder des Amtes einen anderen zur Begehung zwingt,
einerlei, ob der Zwang ein unwiderstehlicher war oder nicht; 3. wer durch
Vertrag, Geschenke, Versprechen, Auftrag, Bitten oder irgend welche betrüge-
rische Mittel einen anderen zur Begehung bestimmt; 4. wer durch Erteilung
von Rat oder AuflPorderung einen anderen zur Begehung antreibt, wenn ohne
diese Thätigkeit das Delikt nicht begangen sein würde; 5. wer unmittelbar
dazu beiträgt, die Ausführung eines Delikts zu erleichtern oder vorzubereiten,
wenn ohne diese Thätigkeit die strafbare Handlung nicht begangen sein
540 ^iß iberische Halbinsel. — Portugal.
würde. — Der Widerruf des erteilten Auftrages wird als „besonders mildern-
der Umstand" betrachtet, wenn er vor dem Beginn der Ausführung, als „mil-
dernder Umstand", wenn er nach Beginn der Ausführung erfolgte (Art. 19
und 20).
Der Thäter, welcher den Auftrag zu einem Delikt erteilt oder zur Be-
gehung desselben angestiftet hat, wird auch als Thäter betrachtet: 1. bezüg-
lich der zur Durchführung des Delikts notwendigen Handlungen, selbst wenn
diese nicht Ausführungshandlungen sind; 2. bezüglich der Überschreitung
des Auftrages, welcher sich die mit der Ausführung beauftragte Person schul-
dig macht, wenn diese Überschreitung als wahrscheinliche Folge des Auftrages
oder der Anstiftung vorhergesehen werden konnte (Art. 21).
Ge hülfe ist 1. wer, ohne unter die Bestinmiung des Art. 20 zu fallen,
einen anderen durch Rat oder Zureden unmittelbar zur Begehung eines Delikts
veranlasst; 2. wer unmittelbar dazu beiträgt, die Ausführung einer strafbaren
Handlung zu erleichtem oder vorzubereiten, wenn diese auch ohne diese
Thätigkeit begangen wäre (Art. 22).
Begünstiger ist 1. wer die Spuren der That verdunkelt oder vernichtet,
um die Strafverfolgung zu erschweren oder unmöglich zu machen; 2. wer die
Beweismittel der That, die bei derselben benutzten Werkzeuge und den Gegen-
stand einer solchen verbirgt, um die Straflosigkeit des Thäters herbeizuführen;
3. wer bei Vornahme einer ihm vermöge seines Gewerbes, seiner Beschäf-
tigung, seines Berufs oder seines Amtes obliegenden, auf eine strafbare Hand-
lung Bezug habenden Untersuchung Thatsachen unterdrückt oder verändert,
um dem Schuldigen einen Dienst zu erweisen; 4. wer durch Kauf, Verpfän-
dung, Schenkung oder auf irgend eine andere Weise die Früchte der That an
sich bringt oder dem Schuldigen deren Aneignung erleichtert; 6. wer dem
Thäter Unterkommen gewährt, oder seine Flucht begünstigt, um ihn der Be-
strafung zu entziehen. Der Ehegatte, die Aszendenten und Deszendenten, so-
wie Seitenverwandte und Verschwägerte des Thäters bis zum dritten Grade
bleiben straflos, wenn sie eine der unter 1, 2 und 5 des Art. 23 aufgeführten
Handlungen begehen.
Wo es an einem Thäter fehlt, ist auch das Vorhandensein eines Begünstigers
oder Gehülfen ausgeschlossen. Die Bestrafung des Thäters ist jedoch von der
der anderen Personen, welche bei der Begehung der That als Grehülfen oder
Hehler mitwirkten, unabhängig, und ebenso umgekehrt (Art. 24).
Die in Bezug auf eine Übertretung gewährte Teilnahme oder Hehlerei
bleibt straflos (Art. 25). (Die Art. 14— /25 bilden das Kap. lU.)
4. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit. Die sich mit der
strafrechtlichen Verantwortlichkeit beschäftigenden Art. 26 — 53 enthalten ausser
einigen allgemeinen Bestimmungen die Aufzählung der erschwerenden und
mildernden Umstände, sowie der Fälle, in welchen die Verantwortlichkeit aus-
geschlossen ist.
Strafrechtliche Verantwortlichkeit ist die Verpflichtung, das der Gesell-
schaft zugefügte Übel durch Erleiden der vom G. angedrohten und von dem
zuständigen Gerichte verhängten Strafe zu sühnen. Sie trifft ausschliesslich die
Person des Thäters i. w. S. (Art. 26 — 28). Sie wird nicht ausgeschlossen durch Un-
kenntnis des Gesetzes, Irrtum über die Strafbarkeit der That, die Person des
Verletzten oder den Gegenstand der Verletzung, die Überzeugung von der Er-
laubtheit des erstrebten Zweckes oder der bestimmenden Motive, die Einwil-
ligung des Verletzten (abgesehen von den im G. ausdrücklich bestimmten
Fällen), die Absicht, ein anderes oder weniger schweres Delikt zu begehen.
Weder Gesetzesunkenntnis noch Irrtum über die Strafbarkeit der That bilden
je einen mildernden Umstand. Der Irrtum über die Person des Verletzten
§ 4. Allgemeiner Teil. 541
macht je nach den Umständen des Falles die That mehr oder weniger straf-
bar (Art. 29).
Die Verantwortlichkeit und damit die Strafe ist grösser oder geringer, je
nach den besonderen persönlichen Eigenschaften des Thäters, abgesehen von
dem Fall der Begehung einer Übertretung, bei welchem lediglich der inner-
halb 6 Monaten erfolgte Rückfall einen Strafschärfungsgrund bildet (Art. 30 — 33
und 36).
Ein erschwerender Umstand liegt vor, wenn die That begangen ist
mit Überlegung; — infolge von Geschenken oder Versprechungen; — auf
Grund der Weigerung des Verletzten, eine dem Gesetze oder der Moral wider-»
sprechende Handlung vorzunehmen oder zu dulden; — in der Absicht, ein
anderes Verbr. auszuführen; — im Anschluss an Beleidigungen, Drohungen
oder einen ausdrücklichen Befehl von selten des Schuldigen; — nachdem
ein erster Versuch gescheitert ist; — mit mehreren Personen gemeinschaft-
lich nach zu voriger Verabredung; — aus dem Hinterhalt, mittels Überfalls,
Missbrauchs der Gewalt oder des Vertrauens, oder auf irgend eine betrü-
gerische Weise; — mittels Einsteigens, Einbruchs oder falscher Schlüssel; —
mittels Gift, Überschwemmung, Brandstiftung, Entgleisung, Verursachung eines
Schiffsbruchs oder verbotener Waffen; — in dem Hause des Verletzten oder
in dem des Thäters, ohne dass in dem letzteren FaUe eine Provokation seitens
des Angegriffenen stattgefunden hat; — in einer Kirche, einem Gerichts-
gebäude oder einem öffentlichen Gebäude; — auf einer Landstrasse oder an
einem verlassenen Orte; — zur Nachtzeit, falls nicht die Strafbarkeit der That
eine höhere ist, wenn sie unter Erregung öffentlichen Ärgernisses begangen
wird; — öffentlich, wenn dieser Umstand die Schwere der That zu erhöhen ge-
eignet ist; — im Ungehorsam gegen einen in der Ausübung seines Amtes befind-
lichen öffentlichen Beamten ; — bei Gelegenheit eines Unglücksfalls oder eines
öffentlichen Notstandes; — unter Anwendung von grausamen Mitteln, Plünde-
rung oder Zerstörung, die zur Ausführung der That nicht erforderlich waren;
— durch einen öffentlichen Beamten unter Benutzung seiner amtlichen Eigen-
schaft; — unter Ausserachtlassung einer dem Thäter besonders obliegenden
Verpflichtung, das Delikt nicht zu begehen, es zu verhindern oder an seiner
Unterdrückung mitzuwirken; — gegen einen Aszendenten, Deszendenten, Ehe-
gatten, Verwandten oder Verschwägerten bis zum zweiten Grade, Lehrer,
Schüler, Vormund oder Mündel, Dienstherm oder Dienstboten und ganz all-
gemein gegen einen Vorgesetzten oder einen Untergebenen; — von einer dem
Opfer durch Alter, Geschlecht oder mitgebrachte Waffen offenbar überlegenen
Person; — unter Ausserachtlassung der dem Alter, dem weiblichen Geschlecht
oder der Gebrechlichkeit des Angegriffenen geschuldeten Rücksicht. — Ein er-
schwerender Umstand liegt femer vor, wenn das Delikt, abgesehen von
seiner unmittelbaren Folge, noch weitere Nachteile für den Verletzten zur
Folge hat; — wenn die Folge der That dem Angegriffenen Schande bringt; —
wenn Rückfall, Aufeinanderfolge oder Zusammentreffen mehrerer Strafthaten
vorliegt. Diese erschwerenden Umstände erhöhen die Strafbarkeit des Schul-
digen nur insoweit, als dieser sie gekannt hat oder hätte kennen bezw. voraus-
sehen müssen; sie bleiben als solche ausser Berücksichtigung, wenn sie nach
Vorschrift des G. zum Thatbestande des begangenen Delikts gehören (Art. 34,
32 und 40).
Rückfall liegt vor, wenn der Thäter nach rechtskräftiger Verurteilung
wegen eines Verbr. ein zweites derselben Art innerhalb des Zeitraums von
8 Jahren nach der ersten Verurteilung begeht, mag auch die wegen des ersten
gegen ihn erkannte Strafe verjährt oder erlassen sein. Jedoch liegt Rückfall
nicht vor, wenn der Erlass die Folge einer Amnestie war, wenn nur eines der
542 I^i© iberische Halbinsel. — Portugal.
beiden Delikte vorsätzlich begangen war, wenn eines derselben unter das Mili-
tärgesetz fällt oder eine der Verurteilungen von einem ausländischen Gericht
ergangen war. Andererseits wird Rückfall angenommen» wenn der Verurteilte
an der einen That als Thäter, an der anderen etwa als Gehülfe beteiligt war,
und wenn auch eine der beiden strafbaren Handlungen nicht zur Vollendung
gelangte (Art. 35).
Wenn zwei strafbare Handlungen derselben Art in einem Zwischenraum
von mehr als 8 Jahren begangen werden, oder wenn ein Thäter mehrere
Delikte verschiedener Art selbst innerhalb der Zeit von 8 Jahren begeht, so
liegt Aufeinanderfolge von Delikten vor (Art. 37).
Das G. spricht von dem Zusammentreffen mehrerer strafbarer Hand-
lungen, wenn der Thäter bei ein und derselben Gelegenheit mehrere Delikte,
oder nach Begehung eines Delikts ein anderes begeht, bevor er wegen des
ersteren rechtskräftig verurteilt ist. Der Umstand, dass eine That von ver-
schiedenen rechtlichen Gesichtspunkten aus strafbar ist, ist nicht geeignet,
ein Zusammentreffen strafbarer Handlungen als vorliegend erscheinen zu lassen
(Art. 38).
Mildernde Umstände sind die nachstehenden: 1. fHLhere gute Füh-
rung; 2. gute Dienste, welche der Thäter der menschlichen Gesellschaft ge-
leistet hat; 3. Lebensalter unter 14, 18 oder 21, sowie über 70 Jahre;
4. voraufgegangene Reizung durch den Verletzten; 5. die Absicht, einen Nach-
teil von sich abzuwenden oder nur einen geringeren Schaden, als eingetreten
ist, zuzufügen; 6. unvoUkommene Kenntnis des durch die That unmittelbar
verursachten Schadens; 7. physischer Zwang, dessen Überwindung möglich
gewesen wäre; 8. mangelnde Voraussicht oder unvollkommene Kenntnis der
Folgen des Delikts; 9. freiwilliges Geständnis des Verbr.; 10. freiwilliger Er-
satz des verursachten Schadens; 11. Befehl oder Rat eines Aszendenten, Vor-
mundes, Lehrers oder Hausvorstandes, wenn der Thäter ein noch unter Gewalt
stehender Minderjähriger ist; 12. Befehl eines kirchlichen Oberen, falls der-
selbe nicht die That straflos macht; 13. persönliche Beleidigung des Thäters,
seines Ehegatten, sowie eines nahen Verwandten oder Verschwägerten; 14. plötz-
liche Aufwallung in gerechtem Zorn; 15. unüberwindliche Furcht; 16. Wider-
stand gegen den Befehl eines kirchlichen Oberen, wenn der Thäter demsel-
ben keinen Gehorsam schuldig war, imd wenn die Ausführung des Befehls
ein schwereres Verbr. gebildet haben würde; 17. Überschreitung der Not-
wehr; 18. freiwillige Gestellung bei einer Behörde; 19. der Umstand, dass der
Schaden nur gering oder leicht wieder gut zu machen ist; 20. wahrheits-
gemässe und zur Erleichterung der Strafverfolgung dienende Namhaftmachung
der Mitschuldigen oder Auslieferung der bei der That benutzten Werkzeuge
mid des Gegenstandes des Verbr.; 21. Trunkenheit, wenn sie entweder nicht
vollständig und vom Thäter nicht vorherzusehen war, einerlei, ob sie der
Fassung des verbrecherischen Entschlusses vorherging oder nachfolgte; oder
wenn sie nicht vollständig war und vom Thäter, jedoch ohne verbrecherische
Absicht, selbst verschuldet war aber der Fassung des Entschlusses vorherging;
oder endlich vollständig und vom Thäter, jedoch ohne verbrecherische Ab-
sicht und nach Fassung des Entschlusses, selbst verschuldet war; 22. alle die
vom G. besonders als mildernd bezeichneten Umstände; 23. ganz allgemein
alle der That vorhergehenden, sie begleitenden oder ihr nachfolgenden Um-
stände, die geeignet sind, die Schuld des Thäters, die That oder ihre Wir-
kung in milderndem Lichte erscheinen zu lassen (Art. 39). — Solche Um-
stände, welche nach der Vorschrift des Gesetzes zum Thatbestand eines
Delikts gehören, können nicht als mildernde Umstände in Betracht gezogen
werden. —
§ 4. Allgemeiner Teil. 543
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit istauBgeschlossen 1. bei mangeln-
der Zurecbnongsfähigkeit des Thäters; 2. wenn die That entschuldbar ist
(Art. 41). Absolut unzurechnungsfähig sind Personen unter 10 Jahren und
Geisteskranke, welche keine lichten Zwischenräume haben (Art. 42). Ferner
sind unzurechnungsfähig 1. die Minderjährigen von 10 bis zu 14 Jahren,
welche bei Begehung der That das Unterscheidungsvermögen nicht besessen
haben; 2. die Geisteskranken, die, obwohl sie zuweilen lichte Zwischenräume
haben, doch bei der Begehung der That sich in dem Zustande der Umnach-
tung befanden; 3. diejenigen, welche im Augenblick der Begehung der That
aus irgend einem, von ihrem Willen unabhängigen Grunde vorübergehend des
freien Gebrauchs ihrer geistigen Fähigkeiten beraubt waren; eine Nachlässig-
keit oder eine Unterlassung wird immer als ein von dem Willen des Thäters
abhängiger Umstand angesehen (Art. 43).
Die That ist entschuldbar, wenn sie begangen ist 1. unter dem Ein-
fluss einer unwiderstehlichen physischen Gewalt; 2. unter dem Einfluss einer
unüberwindlichen Furcht vor einem gegenwärtig oder unmittelbar drohenden
Übel, welches mindestens ebenso schwer oder schwerer ist als das dem Ver-
letzten zugefügte; 3. auf Grund des einem rechtsmässigen Vorgesetzten ge-
setzlich geschuldeten Gehorsams, wenn nicht der Befehl durch die Handlung
selbst oder die Art ihrer Ausführung überschritten ist; 4. auf Grund gesetz-
licher Vorschriften in Ausübung eines Rechts oder in Erfüllung einer Verbind-
lichkeit, falls der Thäter die erforderliche Vorsicht angewendet hat, oder die
That sich als das Ergebnis rein zufälliger Umstände darstellt; 5. im Zustande
der Notwehr. Eine That ist femer entschuldbar, wenn ihre Strafbarkeit ledig-
lich auf solchen, dem Verletzten oder der Handlung eigentümlichen Umstän-
den beruhte, welche der Thäter weder kannte, noch kennen musste, und end-
lich ganz allgemein, wenn der Thäter weder vorsätzlich noch fahrlässig
gehandelt hat (Art. 44).
Damit eine unter dem Einfluss der Furcht begangene Handlung ent-
schuldbar ist, ist erforderlich: thatsächliches Vorhandensein des gefürchteten
Übels, Unmöglichkeit, die Obrigkeit um Schutz anzugehen oder von dem
Recht der Notwehr Gebrauch zu machen, oder ein anderes, eine weniger
schwere Verletzung verursachendes Mittel anzuwenden, Wahrscheinlichkeit der
Wirksamkeit des angewendeten Mittels (Art. 45).
Das Vorliegen des Falles der Notwehr ist an drei Vorbedingungen ge-
knüpft: 1. bereits ausgeführter oder drohender, vom Thäter nicht durch Pro-
vokation, Beleidigung oder Begehung einer strafbaren Handlung veranlasster,
ungesetzlicher Angriff seitens des Verletzten; 2. Unmöglichkeit, den Schutz
der Staatsgewalt in Anspruch zu nehmen; 3. Notwendigkeit, sich des ange-
wendeten Mittels zu bedienen, um den Angriff zu verhindern oder aufzuhalten
(Art. 46).
Das G. bestimmt die Fälle, in welchen die unzurechnungsfähigen Geistesr
kranken und Minderjährigen ihren Familien übergeben oder in Irrenanstalten
bezw. Korrektionshäusem untergebracht werden sollen (Art. 47 — 49).
Die durch den Thäter selbst herbeigeführte vorübergehende Beraubung
des freien Gebrauchs der Vernunft einschliesslich der vollständigen, selbst
verschuldeten Trunkenheit im Augenblick der Begehung der That hebt die
strafrechtliche Verantwortlichkeit keineswegs auf, selbst wenn diese Zustände
nicht in der Absicht hervorgerufen sind, während derselben das Delikt zu
begehen. Indessen bilden sie einen mildernden Umstand besonderer Art in
folgenden beiden Fällen: 1. wenn die Beraubung des freien Gebrauchs der
Vernunft oder die vollständige Trunkenheit vom Thäter nicht vorhergesehen
werden konnte, einerlei, ob sie der Fassung des verbrecherischen Entschlusses
544 I^i© iberische Halbinsel. — Portugal.
vorausging oder nachfolgte; 2. wenn dieselbe ohne verbrecherische Absicht
verursacht ist und der Fassung des Entschlusses vorausging (Art. 50). Der
Ausschluss der strafrechtlichen Verantwortlichkeit hat nicht den der civilrecht-
lichen zur Folge, wenn das G. eine solche statuiert (Art. 51).
5. Das räumliche Geltungsgebiet der portugiesischen Straf-
gesetzgebung. Falls nicht besondere internationale Verträge entgegenstehen,
finden die portugiesischen Strafgesetze Anwendung: 1. auf alle im Gebiete des
Königreichs oder seiner Kolonieen begangenen strafbaren Handlungen, ohne
Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit des Thäters, falls es sich nicht um ein
Verg. handelt, das in einem portugiesischen Hafen oder Gewässer an Bord
eines ausländischen Kriegsschiffes oder Handelsschiffes begangen ist, wenn in
diesem letzteren Falle die That nur die Schiffsbesatzung angeht, und die
öffentliche Ruhe im Hafen nicht gestört ist; 2. auf die an Bord eines portu-
giesischen Schiffes auf hoher See oder die an Bord eines in einem fremden
Hafen vor Anker liegenden portugiesischen Kriegs- oder Handelsschiffes be-
gangenen strafbaren Handlungen, wenn die That nur die Schiffsbesatzung an-
geht und eine Störung der öffentlichen Ruhe im Hafen nicht eingetreten ist;
3. auf die von einem Portugiesen im Auslande begangenen Handlungen,
welche sich gegen die innere oder äussere Sicherheit des portugiesischen
Staates richten, einschliesslich der Nachmachung öffentlicher Siegel, portugie-
sischer Münzen oder Kreditpapiere, Noten der Nationalbank oder der gesetz-
lich zur Ausgabe von Banknoten autorisierten Banken, falls nicht der Schul-
dige bereits von den Gerichten des Landes, in welchem die That begangen
wurde, abgeurteilt ist; 4. auf diejenigen Ausländer, welche im Auslände eines
der vorstehend erwähnten Delikte begehen, wenn sie sich auf portugiesischem
Gebiet betreffen lassen oder ihre Auslieferung erfolgt; 5. auf jedes von einem
Portugiesen im Auslande begangene Verbr. oder Verg., wenn a) der Thäter
in Portugal verhaftet wird, b) die That .durch die G. des Begehungsortes als
Verbr. oder Verg. mit Strafe bedroht ist, c) der Schuldige nicht bereits durch
die G. dieses Landes abgeurteilt ist. Wenn in diesem letzteren Falle die That
nur mit leichter (korrektioneller) Strafe bedroht ist, darf die Staatsanwaltschaft
die Strafverfolgung nur auf Antrag des Verletzten oder auf ausdrückliches
amtliches Verlangen des Landes, in welchem die That begangen ist, vorneh-
men. Wenn in den Fällen No. 3 und 5 der im Lande des Begehungsorts
bereits verurteilte Thäter der Strafverbüssung sich ganz oder teilweise ent-
zieht, so kann gegen ihn vor den portugiesischen Gerichten ein neues Straf-
verfahren stattfinden (Art. 53).
6. Die Strafen und ihre Wirkung. Die Strafen zerfallen in schwere
(penas maiores), leichte (penas correccionaes) und besondere (penas especiaes),
diese letzteren finden nur auf öffentliche Beamte Anwendung.
Schwere Strafen sind die im G. v. 1. Juli 1867 erwähnten, nämlich:
Einschliessung in Einzelhaft (prisäo maior cellular) auf die Dauer von 8 Jahren
mit nachfolgender Deportation (degredo) für 20 Jahre, von denen nach richter-
lichem Ermessen bis zu 2 Jahren an dem Deportationsorte im Gefängnis ver-
büsst werden können ; Einschliessung in Einzelhaft auf die Dauer von 8 Jahren
mit nachfolgender 12 jähriger Deportation; Einschliessung für 6 Jahre mit
10 jähriger Deportation; 4jährige Einschliessung mit 8 jähriger Deportation;
Einschliessimg auf die Dauer von 2 bis zu 8 Jahren (Art. 54 — 56).
Die Einschliessung in Einzelhaft hat zur Folge: 1. vollständige Trennung
von anderen Gefangenen bei Tag und Nacht; 2. die Verpflichtung zur Arbeit
innerhalb der Zelle für alle Verurteilten, mit Ausnahme derjenigen, die wegen
ihres hohen Alters oder ihrer Gesundheit hierzu ausser stände sind; die Ge-
fangenen dürfen Besuche seitens ihrer Verwandten, Freunde, der Mitglieder
§ 4. Allgemeiner Teil. 545
der Schutzvereine und anderen sich ihrer Belehrung oder Besserung widmenden
Personen empfangen. Indessen wird dieser Verkehr mit anderen Personen
als den Oefängnisbeamten, den Lehrern und Anstaltsgeistlichen nur als aus-
nahmsweise Vergünstigung gestattet. — Der Arbeitsverdienst der Gefangenen
wird in vier gleiche Teile geteilt, von denen ein Viertel der Staatskasse zufällt,
ein Viertel zur Entschädigung des Verletzten, falls eine solche angebracht ist,
ein anderes Viertel für die Frau und die Rinder des Gefangenen verwendet
wird, während das letzte Viertel zur Bildung eines Kapitals dient, das dem
Sträfling bei seiner Entlassung ausgehändigt wird. Das zweite und dritte
Viertel fliesst der Staatskasse zu, wenn es zu dem Zwecke, zu welchem es
bestimmt ist, nicht verwendet wird (G. v. 1. Juli 1867, Art. 20 — 23). Solange
die beabsichtigte Gefängnisreform nicht durchgeführt ist, muss der Richter im
Urteil angeben, welche Strafe der Verurteilte als Ersatz für die im G. eigen^
lieh angedrohte zu verbüssen hat (Art. 129). Nach Art. 57 sind die Ersatz-
strafen folgende: 28jährige Verbannung mit 8 — lOjähriger Einsperrung am
Deportationsorte; Deportation auf die Dauer von 25, 20 und 15 Jahren, schwere
zeitige Gefängnisstrafe (prisäo maior temporaria); zeitige Verbannung (degredo
temporario); Ausweisung a^s dem Staatsgebiet auf bestimmte oder unbestimmte
Zeit; Ausschliessung von der Ausübung politischer Rechte auf die Dauer von
15—20 Jahren.
Korrektionelle Strafen sind: 1. Gef. (prisäo correccional); 2. Auf-
enthaltsbeschränkung oder Eingrenzung (desterro); 3. zeitweiliger Ausschluss
von der Ausübung politischer Rechte; 4. Geldstrafe (multa); 5. Verweis
(reprensäo). Die Gefängnisstrafe wird in den Bezirksgefängnissen verbüsst.
Der Gefangene wird von anderen Gefangenen vollständig getrennt gehalten,
und ist, wenn er für die Benutzung und seinen Unterhalt während der Straf-
dauer bezahlt, zur Arbeit nicht verpflichtet; soweit die Arbeit für ihn freiwillig
ist, kommt ihr Ertrag ihm zu gute. Die Dauer der Gefängnisstrafe beträgt
höchstens 2 Jahre (Art. 64 und G. v. 1867, Art. 33 AT.).
Die Strafe der Aufenthaltsbeschränkung (Eingrenzung) verpflichtet den
Verurteilten, innerhalb eines im Urteil bezeichneten, von dem Bezirk, in welchem
die That begangen ist, verschiedenen Bezirkes sich aufzuhalten oder den Bezirk
auf die Dauer von höchstens 3 Jahren zu verlassen. (Art. 65.)
Der zu einer Geldstrafe Verurteilte hat dem Staat einen der Höhe seines
Einkommens entsprechenden 3 Jahreseinnahmen nicht übersteigenden, im Urteil
bestimmten Betrag zu zahlen. Die Höhe der Strafe beträgt, abgesehen von
den Fällen, in welchen die Strafandrohung des Gesetzes auf eine bestimmte
Summe lautet, für jeden Tag mindestens 100 Reis (= — r Franken = 0,45 Mark)
2000
und höchstens 2000 Reis (=---- Franken = 9,07 Mark). (Art. 67.)
loü
Der Verweis wird in öfi'entlicher Gerichtssitzung erteilt (Art. 68).
Die auf die öffentlichen Beamten Anwendung findenden besonderen Strafen
sind die Amtsentsetzung, die zeitweilige Enthebung vom Amt und die Rüge
(Art. 59).
Das Militärjustizgesetz droht folgende Strafen an: 1. die Todesstrafe, die
jedoch thatsächlich nicht mehr vollzogen wird; 2. Zwangsarbeit; 3. schwere
EinSchliessung in Einzelhaft; 4. Verbannung in eine Kolonie (degredo); 5. Ver-
lust der militärischen Würde; 6. Dienstentlassung; 7. Festungshaft; 8. mili-
tärische Deportation, d. h. die Versetzung in eine überseeische Provinz;
9. Militärarrest (Art. 9 ff.).
Die Wirkung der Strafen (Art. 74 — 83). — Jede Verurteilung hat die
Einziehung der bei der strafbaren Handlung benutzten Werkzeuge zur Folge,
Strafgesetzgebiing der Gegenwart. I. 35
546 I^ie iberische Halbinsel. — Portugal.
ohne dass der Verletzte oder ein Dritter das Recht hat, sich diese zusprechen
zu lassen. Der Verurteilte ist ausserdem verpflichtet, 1. dem Beschädigten die
ihm genommenen Gegenstände oder ihren Wert zu ersetzen; 2. ihm auf Ver-
langen Schadenersatz zu leisten; 3. die Prozesskosten und die Kosten des
Entschädigungsverfahrens zu tragen (Art. 75 und 76). — Jede Verurteilung zu
einer „schweren Strafe" hat ausserdem zur Folge 1. den Verlust aller von
dem Verurteilten bekleideten öflPentlichen Ämter, Stellungen, der ihm verliehenen
Titel, Adelsprädikate, Orden und Auszeichnungen; 2. die zeitige Unfähigkeit
zu wählen oder gewählt zu werden; 3. die Unfähigkeit, Vormund, Pfleger,
Sachwalter oder Mitglied eines Familienrats zu sein (Art. 76 — 78).
Die Verurteilung zu einer leichten Strafe bringt diese Folgen nur für die
Zeit der Strafdauer mit sich (Art. 77 und 78).
Die Wirkung der Strafen tritt von Hechts wegen ein (Art. 83).
7. Strafzumessung und Strafvollzug (Titel III, Art. 84 — 128).
a) Strafzumessung im allgemeinen. Ohne besondere gesetzliche
Vorschrift kann eine Strafe weder verhängt noch durch eine andere ersetzt
werden. — Die in den No. 2, 3 und 4 der Art. 55 und 57 erwähnten Strafen
kann der Richter nur unter den dort angegebenen Bedingungen verhängen,
ohne befugt zu sein, ihre Dauer zu erhöhen oder zu ermässigen. Dasselbe
gilt von den unter No. 1 der Art. 55 und 57 erwähnten Strafen; jedoch kann
der Richter in diesen Fällen mit Rücksicht auf den Charakter der That, selbst
wenn besonders erschwerende Umstände nicht vorliegen, in dem Urteil aus-
sprechen, dass der Verurteilte in dem Deportationsorte für die Dauer von
2 bis zu 10 Jahren einzusperren ist. Wenn die schweren Freiheits- und Depor-
tationsstrafen die Dauer von 3 Jahren nicht überschreiten, ist der Verurteilte
nicht verpflichtet zu arbeiten, vorausgesetzt, dass er in der Lage ist, seinen
Unterhalt selbst zu bestreiten. — Was die Ersetzung der schweren Einzelhaft
durch andere Freiheitsstrafen betrifll;, so wird die Dauer der ersteren gleich */,
der Dauer der letzteren gerechnet. Schwere Einzelhaft gilt gleich '/jq bis zu */,
der zeitigen Deportation von gleicher Dauer. Wenn die Geldstrafe neben der
umzuwandelnden Strafe anwendbar ist, so kann auf sie auch im Falle der
Umwandlung erkannt werden. — Wenn eine sich nicht im Besitz der bürger-
lichen Ehrenrechte befindende Person ein mit dem Verlust oder dem zeitweiligen
Ausschluss von der Ausübung dieser Rechte bedrohtes Delikt begeht, so tritt
an Stelle dieser Strafe leichtes Gefängnis von 20 Tagen bei der ersten und
von höchstens 1 Jahr bei der zweiten Begehung (Art. 84 — 90).
b) Strafzumessung bei erschwerenden oder mildernden Um-
ständen. — Liegen erschwerende Umstände vor, so kann die schwerste zu-
lässige Strafe bis zu Einzelhaft au/ die Dauer von 10 an Stelle von 8 Jahren
erhöht werden. Liegen mildernde Umstände vor, so können die leichten
Strafen bis auf eine dem Stägigen Einkommen entsprechende Geldstrafe er-
mässigt werden (Art. 91 — 99).
c) Strafzumessung bei Rückfall, Aufeinanderfolge und Zu-
sammentreffen von Delikten, Teilnahme, fehlgeschlagenem Delikte
und Versuch. — Der Rückfall bewirkt für die schweren Strafen, dass an
Stelle der Verbannung teilweise Gefängnis tritt. Ist die Verbannung im Einzel-
falle nicht angedroht, oder ist sie die einzig angedrohte Strafe, so muss der
Richter mindestens auf ^/g der höchsten zulässigen Strafe beim ersten Rückfall
und auf das höchste Mass bei jedem späteren Rückfall erkennen (Art. 100). Bei
der Aufeinanderfolge von strafbaren Handlungen wird die schwerste Strafe
angewendet, welche von dem Gesetz für dasjenige Delikt angedroht wird,
wegen dessen der Thäter bereits rechtskräftig verurteilt ist (Art. 101). Wenn
es sich um das Zusammentreff'en zweier mit derselben Strafe bedrohten Delikte
§ 4. Allgemeiner Teil. 547
handelt, so ist anf die um einen Grad schwerere Strafe, und wenn es eine
solche nicht giebt, mindestens auf die Hälfte der zulässigen schwersten Strafe
zn erkennen. Sind beide Thaten mit Strafen verschiedener Art bedroht, so
wird die schwerste Strafart, und zwar unter Verschärfung, angewendet. Mehrere
verwirkte Geldstrafen werden stets zusammengezählt (Art. 102). — Im Falle
der Teilnahme wird der Gehtilfe, welcher bei dem vollendeten Delikt mitgewirkt
hat, bestraft wie der Thäter eines fehlgeschlagenen; der Gehülfe, welcher bei
einer fehlgeschlagenen Strafthat beteiligt war, wie der Urheber eines Versuchs;
der Gehülfe, der bei einem versuchten Delikt mitwirkte, wie der Thäter des-
selben, jedoch unter Anwendung der geringsten zulässigen Strafe. — Die für
das fehlgeschlagene Verbrechen zu verhängende Strafe ist im allgemeinen
einen Grad niedriger als die für das vollendete angedrohte; die für das ver-
suchte Verbrechen zu erkennende ist gleich der für ein fehlgeschlagenes ver-
wirkten, wenn bei letzterem mildernde Umstände vorliegen (Art. 103 — 106).
d) Strafzumessung in einzelnen besonderen Fällen. Die Strafe
des Begünstigers richtet sich nach der des Thäters. Sie besteht in leichtem Gef.,
wenn der Thäter eine schwere Strafe verwirkt hat, in leichtem Q^f. von
3 Monaten oder mehr, wenn der Thäter selbst leichtes Gef. verwirkt hat
(Art. 106).
Gegen den noch nicht 21 Jahre alten Verbrecher kann auf keine schwerere
Strafe als Einzelhaft auf die Dauer von 6 Jahren mit Deportation auf die
Dauer von 10 Jahren oder auf 20jährige Deportation erkannt werden. Ist er
noch nicht 18 Jahr alt, so ist das Höchstmass der zulässigen Strafe Einzelhaft
von 2 — 8 Jahren oder schweres Gef. oder zeitige Deportation; wenn er das
14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat und die Bestimmungen der Art. 55
und 57 auf seine That keine Anwendung finden, so kann er nicht schwerer
bestraft werden, als mit Einzelhaft auf die Dauer von 4 Jahren oder zeitigem
schweren Gef. oder zeitiger Deportation. Ist die That an und für sich bereits
nur mit einer dieser Strafen bedroht, so wird sie für den Minderjährigen auf
das zulässige Mindestmass ermässigt oder in leichtes Gef. umgewandelt (Art. 108
und 109). Ist die strafbare Handlung nur fahrlässig begangen oder liegt einer
der Fälle des Art. 50 vor, so kann nur auf leichtes Gef. mit entsprechender
Geldstrafe erkannt werden.
e) Der Strafvollzug. — Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe an
einer schwangeren Frauensperson ist nur zulässig, wenn sie in leichtem Gef.
besteht und darf nicht bis über den Zeitraum von 1 Monat nach erfolgter
Niederkunft ausgedehnt werden (Art. 113). Wird eine strafbare Handlung
während der Vollstreckung der wegen einer früheren That erkannten Strafe
begangen, so wird die wegen dieser verwirkte Strafe mit der ersten gleich-
zeitig oder nach Verbüssung derselben vollstreckt, wenn dies ausführbar ist,
andernfalls wird die schwerste Strafe verschärft (Art. 115). —
Die Verpflichtung zur Zahlung einer Geldstrafe geht auf die Erben des
Verurteilten über, wenn das Urteil zur Zeit des Todes des letzteren bereits
rechtskräftig war (Art. 122). Ist eine Geldstrafe uneinziehbar, so tritt an ihre
Stelle Gef., und zwar 1 Tag für je 500 Eeis.
Alle Strafen mit Ausnahme der Geldstrafen sind lediglich gegen die
Person des Schuldigen gerichtet; sie können weder zur Kompensation ver-
wendet, noch zum Gegenstand eines Vergleichs gemacht werden (Art. 123 u. 124).
f) Der Untergang der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. —
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit erlischt 1. durch den Tod des Schuldigen
(abgesehen von der für Geldstrafen bestehenden Ausnahme); 2. durch Ver-
jährung; 3. durch Amnestie; 4. durch Verzeihung seitens des Verletzten in den
vom Gesetz zugelassenen Fällen. Die Verjährungsfrist beträgt 15 Jahre für
35*
548 ^i^ iberische Halbinsel. — Portugal.
die mit einer schweren Strafe, 5 Jahre für die mit einer leichten Strafe be-
drohten Delikte, 1 Jahr für diejenigen Polizeidelikte, für deren Aburteilung
der Richter gesetzlich zuständig ist. —
Die Veijfthrungszeit rechtskräftig erkannter Strafen beträgt 20 Jahre für
schwere, 10 Jahre für leichte und 1 Jahr für die wegen einer Übertretung
erkannten Strafen. — Die Verzeihung des Verletzten hat nur Einfluss, wenn
sie vor Stellung eines Strafantrags oder vor Eröffnung des Strafverfahrens
gewährt wird, falls nicht das G. etwas anderes bestimmt (Art. 125).
Die Strafen endigen durch ihre Verbüssung, durch königliche Begnadigung
(perdäo real) und durch Rehabilitation (Art. 126). In dem letzteren Falle wird
dem unschuldig Verurteilten auf seinen Antrag in einem seine Unschuld aus-
sprechenden Rehabilitationsurteil eine Entschädigung für den durch die erlittene
Strafe verursachten Schaden zuerkannt, abgesehen jedoch von dem Fall der
Verurteilung zu einer einfachen Geldstrafe, in welchem lediglich die Zurück-
erstattung des gezahlten Betrages erfolgt.
Der Schadensersatz und die Zurückzahlung sind von der Staatskasse zu
bewirken Das Rehabilitationsurteil wird an drei aufeinanderfolgenden Tagen
im Staatsanzeiger (Diario do Govemo) veröff'entlicht und an die Tafel des
Gerichts, welches das erste Urteil gesprochen hatte, sowie des Gerichts, in
dessen Bezirk der Verurteilte seinen Wohnsitz hat, angeheftet (Art. 126).
Der Umfang der aus einer strafbaren Handlung entspringenden civll-
rechtlichen Verantwortlichkeit wird durch die Vorschriften der Art. 2367 ff. des
Civilgesetzbuchs bestimmt (Art. 127).
Der freigesprochene Angeklagte hat keinerlei Prozesskosten zu tragen;
von dem Verurteilten werden sie erst eingezogen, wenn das Urteil rechts-
kräftig geworden ist (Art. 128).
g) Übergangsbestimmungen. — In diesen wird angeordnet, dass
der Richter bis zur vollständigen Durchführung des oben erwähnten Gefängnis-
systems im Urteil sowohl die vom G. angedrohten, wie die an ihre Stelle
tretenden Freiheitsstrafen anzugeben hat (Art. 129).
§ 5. Der besondere Teil des St&B.
Das in 7 Titel zerfallende zweite Buch beschäftigt sich mit den verschiedenen
Verbrechen und Vergehen, nämlich: den Verbrechen gegen die Staatsreligion
und dem Missbrauch kirchlicher Ämter; den Verbrechen gegen die Sicherheit
des Staates; gegen die öffentliche Ruhe und Sicherheit; gegen die Person;
gegen das Eigentum. Die letzten beiden Titel des Buchs enthalten Bestimmungen
über die öffentliche Aufforderung zur Begehung einer strafbaren Handlung und
die Polizei-Übertretungen.
Titel I.
!• Verbrechen gegen die Staatsreligion. — Der Mangel an Achtung
gegenüber dem apostolischen, römisch-katholischen Glaubensbekenntnis, der
durch öffentliche Beleidigung, durch Handlungen, Schriften, durch Verbreitung
von Irrlehren oder durch Vornahme einer einem anderen Kultus angehörenden
Ceremonie geäussert wird, wird mit leichtem Gef. auf die Dauer von 1 bis zu
2 Jahren und einer dem Einkommen von 3 Monaten bis zu 3 Jahren ent-
sprechenden Geldstrafe geahndet. Ist der Thäter ein Ausländer, so kann er
für die Zeit bis zu 12 Jahren aus dem Königreich ausgewiesen werden. Ist
die That begangen ohne die Absicht, die katholische Religion zu schmähen
oder jemand zu einem anderen Bekenntnis zu bekehren, so besteht die Strafe
in einem Verweis, neben welchem auf Gef. von 3 bis zu 15 Tagen erkannt
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 549
werden kann. Die Beschimpfang des heiligen Abendmahls, sowie gewaltsame
Handlungen, welche vorgenommen sind, um die freie Religionsübung zu ver-
hindern, werden mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren oder schwerem Gef.
bestraft (Art. 130 und 131).
Die Beleidigung eines Geistlichen während der Ausübung seiner kirch-
lichen Funktionen wird ebenso bestraft, wie die gleiche, gegen einen öflFent-
lichen Beamten gerichtete Handlung (Art. 132). Gewalt und Drohungen, um
einen Geistlichen an der Ausübung seines Amtes zu verhindern, werden mit
Gef. von höchstens 6 Monaten bestraft, falls sie nicht nach allgemeinen Grund-
sätzen eine schwerere Strafe nach sich ziehen (Art. 131). Die unbefugte Vor-
nahme einer gottesdienstlichen Handlung wird mit schwerer Einzelhaft von 2
bis zu 8 Jahren oder zeitiger Verbannung bedroht (Art. 134).
Der öffentliche Abfall von dem katholischen Glaubensbekenntnis zieht
den Ausschluss von der Ausübung politischer Rechte auf die Dauer von
20 Jahren, und wenn der Schuldige ein Geistlicher ist, auf unbestimmte Zeit
nach sich. Die Wirkung hört auf, wenn der Thäter zum katholischen Glaubens-
bekenntnis zurückkehrt (Art. 135).
2. Strafbarer Missbrauch des geistlichen Amtes. Ein Geistlicher,
der seine Amtsgewalt in einer vom G. verbotenen Weise missbraucht, wird
mit leichtem Gef. und einer dem Einkommen von 1 Monat bis zu 3 Monaten
entsprechenden Geldstrafe belegt. Die Verletzung des Beichtgeheimnisses oder
die Verleitung einer Beichtenden in unmoralischer Absicht zieht schwere
Einzelhaft für die Dauer von 4 Jahren mit darauf folgender 8jähriger Depor-
tation oder 15jährige Deportation nach sich. Die Vornahme der Eheschliessung
ohne Beachtung der vorgeschriebenen gesetzlichen Fönnlichkeiten wird mit
leichtem Gef. von 1 bis zu 2 Jahren und einer dem Einkommen von 1 Monat
bis zu 3 Jahren entsprechenden Geldbusse bestraft (Art. 136). Die Beleidigung
einer öffentlichen Behörde, das tadelnde Urteil über die Amtshandlung einer
solchen, über Massnahmen der Regierung oder die geltenden Gesetze, die
Leugnung oder Anzweiflung der der Krone in kirchenrechtlicher Beziehung
zustehenden Befugnisse, sowie die Aufreizung zu einer strafbaren Handlung
mittels der Predigt oder der Veröffentlichung von Schriften sind mit Gef. von
1 bis zu 2 Jahren und einer dem Einkommen von 3 Monaten bis zu 3 Jahren
entsprechenden Geldstrafe bedroht (Art. 137). Die unterlassene Ausführung
von Urteilen der Civilgerichte, die Befolgung päpstlicher Bullen oder Breven,
welche das gesetzliche Placet nicht erhalten haben, werden mit einer dem
Einkommen von 1 bis zu 3 Jahren entsprechenden Geldstrafe geahndet, wenn
nicht erschwerende Umstände vorliegen (Art. 138). Die Ausübung kirchlicher
Funktionen trotz erfolgter Suspendierung vom Amte, die Verweigerung der
Sakramente oder einer kirchlichen Amtshandlung ohne gesetzlichen Grund wird
mit Gef. auf die Dauer von 2 bis zu 3 Jahren bestraft (Art. 139). Wer trotz
gesetzlichen Verbots in eine erlaubte Religionsgemeinschaft aufgenommen wird,
oder wer eine solche Aufhahme bewirkt oder bei derselben mitwirkt, wird mit
einer dem Einkommen von 1 Monat bis zu 1 Jahr entsprechenden Geldstrafe
belegt (Art. 140).
Titel U.
3. Verbrechen gegen die äussere Sicherheit des Staates. Jeder
Portugiese, der gegen sein Vaterland die Waffen trägt, wird zu schwerer
Einzelhaft auf die Dauer von 8 Jahren mit nachfolgender 20jähriger Deportation
und nach richterlichem Ermessen mit Einsperrung in dem Deportationsorte für
die Dauer von 2 Jahren oder an Stelle dieser Strafen mit Deportation für
28 Jahre und 8 — lOjähriger Einsperrung im Deportationsorte bestraft. Wenn
550 I^iß iberische Halbinsel. — Portugal.
der Schuldige, bevor die Kriegserklärung erfolgte, mit Genehmigung der por-
tugiesischen Regierung im Dienste der fremden Regierung stand, so wird die
Strafe auf 6jÄjirige Einzelhaft mit nachfolgender 10 jähriger Deportation fest-
gesetzt (Art. 141).^)
Der Portugiese, der sich mit einer fk*emden Macht in Verbindung setzt,
um sie zu bewegen, Portugal den Krieg zu erklären, oder ihr zu diesem Zwecke
falsche Thatsachen vorspiegelt oder vorzuspiegeln versucht, wird mit Einzelhaft
auf die Dauer von 6 Jahren mit nachfolgender 10 jähriger Deportation, wenn
der Krieg infolge seiner Handlungsweise ausgebrochen ist, und mit 4 jähriger
Einzelhaft und nachfolgender 8 jähriger Deportation im entgegengesetzten Falle
bestraft (Art. 142). — Der Portugiese, welcher einer feindlichen Macht bei der
Ausführung feindseliger Handlungen gegen Portugal behülflich ist, wird mit
6jähriger Einzelhaft und nachfolgender lOjähriger Deportation bestraft.
Ist der Thäter eines der vorerwähnten Verbr. ein Minister oder ein zur
Vornahme diplomatischer Verhandlungen mit der fremden Macht beauftragter
Beamter, so wird die That mit Sjähriger Einzelhaft mit nachfolgender 20jähriger
Deportation und zwei- oder mehrjähriger Einsperrung am Deportationsorte nach
richterlichem Ermessen belegt, vorausgesetzt, dass es zu feindseligen Hand-
lungen gekommen ist (Art. 143). Die Verschwörung gegen die äussere Sicher-
heit des Staates wird mit 4jähriger Einzelhaft und nachfolgender Sjähriger
Deportation, wenn der Anfang zur Ausführung gemacht ist, und mit 2- bis zu
Sjähriger Einzelhaft nebst nachfolgender zeitiger Deportation im entgegen-
gesetzten Falle bestraft (Art. 144). — Jeder Portugiese, der mit dem Ange-
hörigen eines feindlichen Landes einen durch G. oder obrigkeitliche Vorschrift
verbotenen Briefwechsel unterhält und diesem, ohne gegen die Vorschrift des
Art. 143 zu Verstössen, Nachrichten mitteilt, welche dem portugiesischen Staat
schaden oder dem feindlichen Staat nützen können, wird mit Gef. von 6 Monaten
bis zu 2 Jahren bestraft. Ist weder für Portugal ein Schaden, noch für den
feindlichen Staat ein Nutzen eingetreten, so beträgt das Höchstmass der Strafe
6 Monate Gef. und eine dem einmonatlichen Einkommen entsprechende Geldstrafe
(Art 145). Der Portugiese, der zu einer feindlichen Nation übergeht, ohne
sich jedoch an dem Kriege gegen sein Vaterland zu beteiligen, wird mit
leichtem Gef. von 1 bis zu 2 Jahren und mit einer dem Einkommen von 1 Monat
bis zu 1 Jahre entsprechenden Geldstrafe belegt (Art. 146). Der Portugiese,
der, während er mit oder ohne Erlaubnis seiner Regierung im Dienste einer
feindlichen Regierung steht, nach Ausbruch eines Krieges mit Portugal in
seiner Stellung verbleibt, wird aus dem Lande ausgewiesen (Art. 147).
Wer durch Mittel, welche seitens der Regierung nicht genehmigt sind,
den Staat veranlasst, einen Krieg zu erklären oder Repressalien von selten
einer fremden Macht hervorruft, verwirkt schwere Einzelhaft von 2 bis zu
S Jahren, wenn der Krieg ausgebrochen ist oder die Repressalien erfolgt sind,
leichtes Gef. von 1 bis zu 2 Jahren, wenn dies nicht der Fall ist (Art. 148).
Ein Portugiese, der den Spion einer feindlichen Macht in Kenntnis dieser
Eigenschaft bei sich aufnimmt, wird mit schwerer Einzelhaft von 6 Jahren und
nachfolgender lOjähriger Deportation bestraft. Dieselbe Strafe trifft den
Fremden, der, während er in portugiesischen Staatsdiensten steht, eines der in
den vorerwähnten Art. (149 und 150) aufgeführten Verbr. begeht. Ein Fremder,
der während seines Aufenthalts im Königreich Portugal eines der in den
Art. 143, 145 und 149 erwähnten Delikte begeht, wird, von den im G. be-
*) Wenn in dem folgenden von mehreren Freiheitsstrafen nebeneinander die
Rede ist, so ist, falls nicht das Gegenteil ausdrücklich gesagt wird, stets anzimehmen,
dass dieselben wahlweise angedroht sind.
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 551
sonders erwähnten Fällen abgesehen, zu der einen Grad niedrigeren Strafe
verurteilt (Art. 151). — Soldaten und die ihnen gleichgestellten Personen
werden mit dem Tode und zuvoriger Degradation bestraft (Militärjustizgesetz,
Art. 47—49).^)
4. Verbrechen gegen die Interessen des portugiesischen Staates
in seiner Beziehung zu auswärtigen Mächten. Wer als amtlicher Ver-
treter der portugiesischen Regierung bei einer ft*emden Macht von seiner
Vollmacht zum Nachteil seines Staates Gebrauch macht und die Würde, die
Interessen oder die Stellung der portugiesischen Nation verletzt > oder ohne
Genehmigung seiner Regierung Verträge abschliesst, verwirkt Einzelhaft von
2 bis zu 8 Jahren. Gleiche Strafe triflPt denjenigen, welcher einer befreundeten
oder neutralen Macht von einer beabsichtigten Unternehmung oder Unterhand-
lung, deren Geheimhaltung erforderlich war, Mitteilung macht oder derselben
Pläne von Verteidigungsmitteln ausliefert (Art. 152 und 153).
Jeder Portugiese, der sich im Auslande naturalisieren lässt, oder ohne
Genehmigung seiner Regierung von einer fremden Macht ein Amt oder eine
Auszeichnung annimmt, wird mit 20jährigem Ausschluss von der Ausübung
der politischen Rechte bestraft. Leichtes Gef. verwirkt, wer bei der Haudels-
oder Kriegsmarine einer fremden Macht in Dienst tritt (Art. 155). Die An-
werbung oder Besoldung von Mannschaften, die für ausländische Kriegsdienste
bestimmt sind, sowie die Ansammlung von Waffen, Fahrzeugen oder Munition
zu diesem Zwecke wird mit dem Höchstmass der leichten Gefängnisstrafe und
mit Geldstrafe bedroht (Art. 156). — Mit Amtsentsetzung oder zeitweiliger
Amtsenthebung oder leichtem Gef. in Verbindung mit einer einem Einkommen
von höchstens 6 Monaten entsprechenden Geldstrafe wird der diplomatische
Vertreter des portugiesischen Staates bestraft, welcher die ihm gesetzlich ob-
liegende Fürsorge für die in dem Staate seines Aufenthaltsorts wohnenden
Portugiesen ausser acht lässt (Art. 157). — Die ungesetzliche Ausübung eines
Amtes, dessen Dauer abgelaufen war, oder die Verweigerung seiner ferneren
Ausübung vor Erledigung der Amtsgeschäfte seitens eines diplomatischen Ver-
treters wird neben der auf diese Handlungsweise für alle Beamten gesetzten
Strafe mit Ausschluss von der Ausübung der politischen Rechte auf die Dauer
von 20 Jahren bestraft (Art. 158). — Die Beleidigung eines in Portugal sich
aufhaltenden ft'emden Staatsoberhauptes, oder eines auswärtigen Diplomaten
oder seiner Angehörigen, die Verletzung seiner Wohnung oder der ihm nach
völkerrechtlichen Grundsätzen zustehenden Vorrechte, der Angriff auf die
persönliche Sicherheit von Geiseln, Parlementären oder mit einem Geleitbrief
versehenen Personen wird mit dem Höchstmass der für das betr. Delikt all-
gemein angedrohten Strafe belegt (Art. 159). Die einem fremden Staatsober-
haupte zugefügte öffentliche, durch Worte, Schrift oder öffentliche Anheftung
von Zeichnungen begangene Beleidigung wird mit leichtem Gef. von höchstens
6 Monaten und einer einem Einkommen von höchstens 1 Monat entsprechenden
Geldstrafe belegt (Art. 160). Wenn ein Portugiese, der mit Erlaubnis der
portugiesischen Regierung ein fremdes Schiff befehligt, in Friedenszeiten einem
portugiesischen Fahrzeuge Schaden zufügt, wird er mit Einzelhaft auf die
Dauer von 2 bis zu 8 Jahren, und wenn er ohne Erlaubnis befehligte, mit
6 jährigem Gef. nebst nachfolgender Deportation und dem Höchstmass der
Geldstrafe bestraft (Art. 161). — Der Seeraub und das Beutemachen für Rech
nung eines fremden Staatsoberhauptes wird mit Sjährigem Gef. und Geldstrafe
^) Vgl. die Art. 43—49 des Militär Justizgesetzes, welche die Bestimmungen über
Todesstrafe mit zuvoriger Degradation und lebenslängliches Gef., sowie die Art 56
bis 75, welche die Vorschriften über die Verbrechen der Feigheit und der Desertion
enthalten.
552 r>ie iberische Halbinsel. — Portugral.
belegt. Ist dabei der Tod eines Menschen verursacht, so tritt Versch&rfong
der Strafe ein (Art. 162).
5. Verbrechen gegen die innere Sicherheit des Staates.
a) Angriff auf den König und seine Familie und Beleidigung
derselben. Der Anschlag auf das Leben des Königs oder seines unmittel-
baren Thronfolgers wird mit 8jähriger Einzelhaft und nachfolgender 20jähriger
Deportation nebst Einsperrung am Deportationsorte nach richterlichem Ermessen
bestraft. — Der versuchte Anschlag wird dem vollendeten gleich erachtet.
Handelt es sich um einen Regenten, so wird der vollendete Mord oder der
fehlgeschlagene Mordversuch mit derselben Strafe belegt, als wenn er gegen
den König gerichtet gewesen wäre, die Strafe des Versuchs beträgt jedoch
höchstens 6 Jahre Einzelhaft mit 10 jähriger Deportation (Art. 163). Der ein-
fache Entschluss, eines dieser Verbr. zu begehen, mit darauf folgenden vor-
bereitenden Handlungen wird mit Einzelhaft von 2 bis zu 10 Jahren bestraft
(Art. 164); die Verabredung zu dem gleichen Zweck mit 4 Jahren derselben
Strafe und nachfolgender 8 jähriger Deportation, wenn es zu vorbereitenden
Handlungen gekommen ist, mit 2- bis zu Sjährigem 6ef., wenn dies nicht der
Fall ist. War dieses Verbr. gegen ein Mitglied der königlichen Familie ge-
richtet, so tritt Einzelhaft von 8 Jahren mit 20jähriger Deportation und Ein-
sperrung am Deportationsorte ein (Art. 166).
Jeder mit Grewalt verübte Angriff auf die Person des regierenden Königs,
der Königin oder des unmittelbaren Thronfolgers hat Einzelhaft für die Dauer
von 6 Jahren mit nachfolgender lOjähriger Deportation zur Folge. Richtete
er sich gegen ein Mitglied der königlichen Familie oder einen Regenten, so
tritt 4jährige Einzelhaft mit nachfolgender 8jähriger Deportation ein (Art. 167).
— Der bei einer der vorbezeichneten Personen begangene Hausftriedensbruch
wird mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren bestraft; Beleidigungen und be-
leidigende Handlungen, welche unmittelbar gegen sie gerichtet sind, mit leichtem
Gef. und Geldstrafe; der einfache Mangel an Ehrerbietung mit Gef. bis zu
1 Monat (Art. 168). Die öffentliche Majestätsbeleidigung kann mit 6monat-
lichem, leichtem G^f. und einer dem Einkommen eines Monats entsprechenden
Geldstrafe belegt werden; die Beieidig^ung der anderen vorerwähnten Personen
nur mit 6 Monaten Gef. Der Beweis der Wahrheit der behaupteten Thatsachen
ist unzulässig (Art. 169). Man vgl. in dieser Beziehung die Art. 407 ff. des
StGB., das G. vom 17. Mai 1866, die mit Gesetzeskraft ausgestattete Vdg. vom
29. März 1890 und das G. v. 7. August 1890 über die Freiheit der Presse,
in denen neben leichtem Gef. Geldstrafe von 30000 bis zu 500000 Reis
(=— — Franken = ungefähr 136,05 Mark) und zeitweiliges oder dauerades
löü
Verbot des Weitererscheinens oder der Weiterverbreitung der Druckschrift
angedroht wird. Für die Bezahlung dieser Geldstrafe haftet das Druckerei-
Inventar; ist die Bestrafung des Tbäters nicht ausführbar, so haften die
Herausgeber.
b) Rebellion. Wer es unternimmt, die Regierungsform oder die Thron-
folge zu verändern, den König oder den Regenten abzusetzen, oder gefangen
zu nehmen, wird mit Gef. auf die Dauer von 6 Jahren mit nachfolgender
lOjähriger Deportation bestraft. Gleiche Strafe trifft denjenigen, der es unter-
nimmt, die Einheit des Staates zu zerstören, einen Bürgerkrieg oder einen
Aufstand gegen die königliche Gewalt oder das Ministerium zu erregen, oder
einen Angriff auf die Freiheit der Versammlung und der Beratung der gesetz-
gebenden Kammern zu machen. Die Verabredung zu den gleichen Zwecken
wird mit der im Art. 144 erwähnten Strafe bedroht (Art. 170, 171 und 172).
Wer bei einem Aufstande oder in einer Menschenmenge, die sich in der Ab-
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 553
eicht eines der vorbezeichneten Verbr. zu begeben zusammengerottet hat, die
Führung übernimmt, femer, wer in der gleichen Absicht zum Aufruhr auf-
wiegelt, hat 6jährige Einzelhaft mit nachfolgender 8 jähriger Deportation
zu gewärtigen, die anderen hierbei beteiligten Personen vierjährige Einzel-
haft mit Sjähriger Deportation (Art. 173 und 174). Wer von den bei einem
Aufhihr Beteiligten freiwillig den Haufen der Aufrührer verlässt, bleibt
straflos. War er aber Anführer oder Anstifter zum Aufruhr, so wird die
Strafe auf leichtes Gef. ermässigt (Art. 175). Ein Straferlass ist fem er den
Thätem eines der in den Art. 144, 165, 172 und 174 behandelten Delikte zu-
gesichert, welche vor Bekanntwerden der Thäter oder vor Einleitung eines
Strafverfahrens der Obrigkeit die Namen der ersteren angeben.
Titel m.
6. Strafbare Versammlungen, Aufruhr und Auflauf.
a) Allgemeine Bestimmungen. Die Veranstalter einer jeden ungesetz-
lichen Versammlung werden mit der gegen den Ungehorsam angedrohten
Strafe belegt, ebenso diejenigen, welche der Aufforderung zum Auseinander-
gehen nicht Folge leisten, vorausgesetzt, dass nicht ein schwereres Verbr. vor-
liegt (Art. 177). Unter bewaffneter Versammlung versteht das G. eine Ver-
sammlung, in der wenigstens zwei Personen Waffen offen tragen. In diesem
Falle sind alle diejenigen Personen strafbar, die Waffen getragen haben, selbst
wenn dieselben verborgen waren, vorausgesetzt, dass sie dieselben nicht nur
zufällig oder zum Gebrauch des täglichen Lebens oder ohne böse Absicht bei
sich führten (Art. 178).
b) Aufruhr. Aufruhr und die Zusammenrottung, welche ohne Verübung
eines Angriffs auf die innere Sicherheit des Staates unter Vornahme von Ge-
waltthätigkeiten. Drohungen, Beleidigungen oder des Versuchs, in ein öffent-
liches Gebäude oder den Dienstraum eines Beamten einzudringen erfolgt, 1. um
die Ausführung eines Gesetzes oder einer gesetzmässigen obrigkeitlichen Vor-
schrift zu verhindern, oder 2. um eine gesetzgebende Körperschaft, einen Ge-
meinde-Vorstand oder einen Beamten zur Vornahme einer Amtshandlung zu
zwingen, ihn an der Vornahme zu hindern oder bei derselben zu stören, oder
3. um die Erfüllung irgend einer Verpflichtung zu verhindern, oder 4. um
gegen einen Beamten oder das Mitglied einer gesetzgebenden Körperschaft
einen Racheakt oder eine gehässige Handlung vorzunehmen — wird mit leichtem
Gref. bis zu 1 Jahre, wenn der Aufruhr nicht unter Anwendung von Waffen
stattfand, mit Einzelhaft im entgegengesetzten Falle bestraft. Ist es weder
zur Vomahme von Gewalthandlungen noch zu Drohungen oder Beleidigungen
gekommen, so beträgt das Höchstmass 6 Monate, hat aber der Aufruhr seinen
Zweck erreicht, so wird die Strafe erhöht und schwanke zwischen 2 und 8
Jahren Einzelhaft. Die Verabredung zum Zwecke des Aufruhrs bewirkt leichtes
Gef. von höchstens 3 Monaten in Verbindung von Geldstrafe, wenn der Auf-
ruhr nicht stattgefunden hat, im entgegengesetzten Falle bildet das Stattfinden
des Aufruhrs einen erschwerenden Umstand (Art. 179).
c) Landfriedensbruch (assuada). Die Zusammenrottung an einem
öffentlichen Orte in der Absicht, gegen eine Privatperson einen Racheakt oder
eine gehässige Handlung vorzunehmen, oder dieselbe in der Ausübung ihrer
Privatrechte zu stören, oder in der Absicht, eine strafbare Handlung zu be-
gehen, wird mit leichtem Gef. bis zu 6 Monaten bestraft, wenn die Versamm-
lung bewaffnet war, aber ein Anfang der Ausführung nicht stattgefunden hat;
war die Versammlung nicht bewaffnet, so wird das Höchstmass auf 3 Monate
erniedrigt. Die Verabredung zu dem gleichen Zweck verwirkt Gef. von hoch-
554 I^ic iberische HalbinseL — PortugaL
stens 3 Monaten, jedoch nnr. wenn es znm Beginn der Zosammenrottnng oder
ii^end einer vorbereitenden Handlang gekommen ist (Art. 180».*)
7« Beleidigung öffentlicher Beamten. Die einem Minister, einem
Staatsrat, einem Mitgliede der gesetzgebende Körperschaften, einem Gerichts-
oder VerwaltnngS'Beamten, einem Mitgliede der Staatsanwaltschaft, einem
öffentlichen Lehrer oder Mitglied einer öffentlichen Prüfongs-Kommission« einem
Geschworenen oder einem Polizei-Befehlshaber in Aosflbnng Ihres Amtes oder
in Bezog aof dieselbe durch Worte, Drohungen oder andere Schm&hungen
unmittelbar zugefügte Beleidigung wird mit leichtem Gef. von höchstens 1 Jahre
bestraft. Geschah die Beleidigung nicht öffentlich, so beträgt das Höchstmass
nur 6 Monate. Ist der Beleidigende ein öffentlicher Beamter und der Belei-
digte sein dienstlicher Vorgesetzter, so wird das Höchstmass von 1 Jahr auf-
recht erhalten und ausserdem auf Geldstrafe erkannt, selbst wenn die Belei-
digung nicht öffentlich erfolgte. Die gleiche Strafe wird angedroht für die in
der öffentlichen Sitzung einer g^esetzgebenden Körperschaft dieser Körperschaft
selbst, einem ihrer Mitglieder oder einem Staatsminister, einerlei, ob die letzt-
genannten Personen anwesend waren oder nicht, femer in öffentlicher Gerichts-
sitzung dem Gerichte selbst oder einem seiner Mitglieder, auch wenn es ab-
wesend war, zugefügte Beleidigung (Art. 181). Das Höchstmass beträgt drei
Monate, wenn ein Polizei- oder Yollstreckungs-Beamter, em Zeuge oder ein
Sachverständiger bei der Ausübung seiner Funktionen beleidigt ist (Art. 182).
8. Gewalthandlungen gegen öffentliche Beamte. Die einer der im
Art. 181 bezeichneten Personen unter den dort angegebenen Voraussetzungen
zugefügte thatsächliche Beleidigung wird mit leichtem Gef. von 1 Jahr und
Geldstrafe geahndet. Erfolgte eine Drohung mit bewaffneter Hand oder unter
Ansammlung von mehr als 3 Personen in der Absicht, den Bedrohten unmittelbar
anzugreifen, so tritt leichtes Gef. in Verbindung mit Geldstrafe ein. — Hat
die Gewalnhätigkeit Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit des Angegriffenen im
Sinne des Art. 360 No. 1 und 4 zur Folge gehabt, so wird die Strafe auf
Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren erhöht. Die Strafe der No. 5 des erwähnten
Art., und zwar in verschärfter Form, tritt ein, wenn die Verletzung oder der
Verlust eines Gliedes oder eines Organs verursacht ist (Art. 183). Werden
dieselben Handlungen von einer der im Art. 182 erwähnten Person begangen,
so treten die im Art. 359 ff. erwähnten Strafen und zwar in verschärfter Form
ein (Art. 184). — Das Ausstossen von beleidigenden Rufen gegen die im Art. 181
erwähnten Personen wird mit 6monatlichem Gef. bestraft. Wer bei einer
öffentlichen Feierlichkeit oder an einem öffentlichen Orte die Ordnung stört
oder daselbst Rufe ausstösst, welche der Sicherheit des Staates oder der öffent-
lichen Ordnung gefährlich sind, wird mit 3monatlichem leichtem Gef. be-
straft. Wer an einem öffentlichen Orte in trunkenem Zustande betroffen
wird, macht sich einer Übertretung schuldig und wird beim erstenmale
mit einer dem Arbeitsverdienst von 8 Tagen gleichkommenden Geldstrafe,
beim ersten Rückfall mit lOtägigem Gef. , beim zweiten Rückfall mit 14tägigem
Gef. und jedes folgende Mal mit einer dem Arbeitsverdienst eines Monats
gleichkommenden Geldstrafe belegt. Wer die auf obrigkeitliche Anordnung
angelegten Siegel oder angehefteten Anschläge entfernt oder zerreisst, wird
mit leichtem Gef. von 3 Monaten bestraft. Waren die verletzten Siegel an
Gegenstände angelegt, die einer eines schweren Verbr. beschuldigten Person
angehörten, so tritt die höchste zulässige leichte Gefängnisstrafe ein (Art. 185).
*) Vgl. die Art. 76—83 des Militärjustizgesetzes über militärische Revolte, Un-
gehorsam im Dienst und Aufstand. Die Strafen schwanken zwischen der Todesstrafe
für die Anstifter, Gef. von 5 bis zu 10 Jahren für die anderen Schuldigen und ver-
schärfter Dienstentlassung für Offiziere.
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 555
9, Widerstand gegen die Staatsgewalt. Wer durch Gewalt oder
Drohung einem öffentlichen Beamten oder einer von einem solchen beauftrag-
ten Person in der Ausübung des Amtes zum Zwecke der Vollstreckung eines
G. oder der Vollziehung eines Auftrages Widerstand leistet, verwirkt 1. leichtes
Gef. und eine dem Arbeitsertrage von höchstens 2 Jahren gleichkommende
Geldstrafe, wenn der Widerstand von Erfolg war, mit bewaflPneter Hand oder
von mehr als 2 Personen ausgeführt wurde; 2. Gef. auf die Dauer von
2 Jahren und Geldstrafe in Höhe des monatlichen Arbeitsertrages, wenn die
Thäter nicht bewaffnet und weniger als 3 Personen waren; 3. Gef. auf die
Dauer von 1 Jahre in allen anderen Fällen. Die Vorschriften über das Zu-
sammentreffen von strafbaren Handlungen werden durch diese Bestimmungen
nicht berührt (Art. 186). Jede gewaltsame Handlung, die in der Absicht vor-
genommen wird, einen Beamten zur Vornahme einer Amtshandlung, zu der er
nicht verpflichtet ist, zu zwingen, wird, wenn sie von Erfolg gewesen ist, mit
der gegen den Widerstand angedrohten Strafe belegt (Art. 187).
10« Ungehorsam. Wer sich weigert, eine im öffentlichen Interesse
liegende Handlung vorzunehmen, zu welcher er seitens des zuständigen Be-
amten mit Recht aufgefordert ist, oder den berechtigten Anordnungen eines
öffentlichen Beamten oder der von einem solchen beauftragten Person zu ge-
horchen, wird mit leichtem Gef. von höchstens bis zu 3 Monaten bestraft.
Der qualifizierte Ungehorsam wird mit leichtem Gef. von 6 Monaten in Ver-
bindung mit Geldstrafe belegt. Hierunter versteht das G. die oben erwähnte
Weigerung, wenn die Dienstleistung verlangt ist im Falle eines auf frischer
That entdeckten Delikts, der Entweichung eines Gefangenen, eines Auflaufs,
eines Schiffbruchs, einer Feuersbrunst usw. (Art. 188), oder wenn sie ausging
von einem Geschworenen, einem Zeugen, einem Sachverständigen, einem Dol-
metscher, einem Vormund oder dem Mitglied eines Familienrats (Art. 189).
11. Entweichen von Gefangenen. Wer einen Gefangenen aus der
Gewalt der ihn bewachenden Personen durch Gewalt oder Drohungen gegen
dieselben befreit oder zu befreien sucht, wird mit der gegen den Widerstand
gegen die Staatsgewalt angedrohten Strafe belegt. Sind betrügerische Mittel
angewendet, so kann die Strafe bis zu einjährigem leichten Gef, erhöht werden
(Art. 190). Der Gefangene, der vor seiner rechtskräftigen Aburteilung ent-
weicht, wird nach Massgabe der Gefängnis-Reglements disziplinarisch bestraft;
war er bereits verurteilt, so bildet diese Thatsache einen erschwerenden Um-
stand (Art. 191). Wer einen Gefangenen, mit dessen Aufsicht er beauftragt
ist, entweichen lässt, oder die Entweichung erleichtert, wird mit schwerer
Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren besti*aft, wenn der Gefangene mindestens zu
schwerem zeitigem Gef. verurteilt war. Andernfalls kann die Strafe bis zum
Höchstmass der leichten Gefängnisstrafe ermässigt werden (Art. 192). Jede,
auch die geringste Nachlässigkeit des Aufsehers wird mit Gef. von 1 Monat bis
zu 1 Jahre oder von 14 Tagen bis zu 6 Monaten bestraft, je nachdem der eine
oder der andere Fall des Art. 192 vorliegt. Die Strafe endigt mit der Wieder-
festnahme des Entwichenen, falls derselbe nicht im Zustande der Freiheit ein
mit Gef. bedrohtes Delikt begangen hat (Art. 193). Hat die Flucht mittels
Ausbrechens, Aussteigens, Anwendung falscher Schlüssel oder Gewalt statt-
gefunden, so trifft den Aufseher schwere Einzelhaft von 4 Jahren mit nach-
folgender 8jähriger Deportation oder Gef. von 2 bis zu 8 Jahren je nach
den Umständen des Falls. Die gleiche Strafe von 2 bis zu 8 Jahren trifft
deiyenigen, der, ohne Beamter zu sein, die Flucht veranlasst oder begünstigt, selbst
wenn er sich darauf beschränkt hat, die Waffen oder Instrumente dazu zu be-
schaffen, vorausgesetzt, dass in letzterem Falle die Entweichung thatsächlich
geglückt ist; war dies nicht der Fall, so tritt nur leichtes Gef. ein. Aszenden-
556 Die iberische Halbinsel. — Portugal.
ten, Deszendenten, Ehegatten, Geschwister oder Verschwägerte zweiten Grades
des Gefangenen werden nur bestraft, wenn der Entwichene von seinen Waffen
oder Werkzeugen gegen eine Person Gebrauch gemacht hat (Art. 194). —
Abgesehen von den Fällen des Art. 193 werden die Schuldigen für eine im
Urteil bestimmte Zeit unter Polizeiaufsicht gestellt (Art. 195).
Die während der Verbüssung einer Strafe bewerkstelligte Flucht ver-
längert die Dauer der ersteren um die doppelte Zeit der Entweichung, voraus-
gesetzt, dass diese Verlängerung die Hälfte der erkannten Strafe nicht über-
schreitet (Art. 196).
12. Begünstigung von Verbrechern. Wer eine zu einer schweren
Strafe verurteilte Person direkt oder indirekt begünstigt, wird mit Gef. bis zu
2 Jahren und einer den Umständen des Falls angemessenen Geldstrafe belegt,
wenn er von der Verurteilung Kenntnis hatte. — Handelte es sich um einen
Angeklagten, so tritt Ermässigung der Strafe bis zu Gef. von 1 Monat ein,
oder es wird nur auf Geldstrafe erkannt. — Diese Straf bestimmung gilt nicht
für die im Art. 194 erwähnten Verwandten und Verschwägerten (Art. 197).
Wer vorsätzlich und gewohnheitsmässig Verbrecher bei sich aufnimmt, wird
bestraft, als wenn er sich an der von dem Verbrecher verübten strafbaren Hand-
lung als Gehülfe beteiligt hätte (Art. 198).
13. Verbr. gegen die Ausübung politischer Rechte. Wer eine
Wahlversammlung an der Ausübung ihrer gesetzlichen Befugnisse mit Gewalt
verhindert, wird, wenn er Thäter ist, mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren,
wenn er nicht Thäter ist, mit leichtem Gef. von 6 Monaten bis zu 2 Jahren
und Ausschluss von der Ausübung politischer Rechte auf die Dauer von
ö Jahren (Art. 199) bestraft. Mit Gef. von 3 Monaten bis zu 2 Jahren in Verbin-
dung mit Ausschluss von der Ausübung politischer Rechte für 5 Jahre wird
bestraft, wer diese Handlungen mit Gewalt oder Drohungen gegen eine Privat-
person begeht (Art. 200). Die Verabredung zu diesem Zwecke wird gleich
dem Verbr. des Auftnihrs bestraft (Art. 201). Die Beleidigung, welche dem
Vorsitzenden oder den Mitgliedern eines Wahlvorstandes während der Wahl-
handlung zugefügt wird, wird wie die Beleidigung des Mitgliedes einer
gesetzgebenden Körperschaft bestraft (Art. 202). Die im Verlauf einer Wahl-
handlung entdeckte Betrügerei in Bezug auf die Wahllisten oder die Abstim-
mung, sowie die Wegnahme oder die Hinzufügung einer Liste oder die
Verfälschung des Wahlergebnisses wird mit Ausschluss von der Ausübung
politischer Rechte auf die Dauer von 20 Jahren und Gef. von 1 Jahre bestraft,
wenn der Thäter Mitglied des Wahlvorstandes, mit 5jährigem Ausschluss
von der Ausübung politischer Rechte und Gef. bis zu 1 Jahre, wenn der Thäter
eine andere Person war (Art. 203). Der Stimmenkauf und der Stimmenverkauf
wird mit lOjährlgem Ausschluss von der Ausübung politischer Rechte und
einer dem doppelten Betrage der bezahlten Summe entsprechenden Geldbusse
bestraft (Art. 204). Die Bestrafung anderer Verg. ähnlicher Art erfolgt nach
Massgabe der Wahlgesetze (Art. 206).
14. Verfälschung von Metallgeld, Banknoten und Staatsschuld-
scheinen. Wer Gold- oder Silbermünzen, die im Königreich Portugal einen
gesetzlichen Kurs haben, nachmacht, in Umlauf setzt, benutzt oder zum Ver-
kauf ausbietet, wird mit Einzelhaft von 8 Jahren und nachfolgender 12jähriger
Deportation bestraft. Die gleiche Strafe trifft denjenigen, der dem Fälscher
oder seinem Ge hülfen bei der Inumlaufsetzung Beistand leistet. Dieselbe Strafe
verwirkt femer, wer Noten der Nationalbank, sowie Schuldscheine oder Obli-
gationen der Staatsschuld nachmacht. Hat lediglich die Anfertigung stat^
gefunden, so wird die Strafe auf 4 Jahre ermässigt (Art. 206). Wer ohne Ver-
abredung mit dem Fälscher die nachgemachten Gegenstände in Verkehr bringt
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 557
oder zum Verkauf ausbietet, wird mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren be-
straft (Art. 207). Derselben Strafe unterliegt: 1. wer ohne gesetzliche Ge-
nehmigung Gold- oder Silbermünzen, deren Wert den offiziellen Münzen ent-
spricht, anfertigt, in Verkehr bringt oder zum Verkauf ausbietet; 2. wer Münzen
als vollgültig in Verkehr bringt oder verkauft, die er entweder selbst auf
irgend eine Art verringert hat, oder von denen er weiss, dass ein anderer,
mit ihm im Einverständnis Handelnder sie verringert hat. Die einfache Ver-
ringerung, ohne dass die Münzen in Verkehr gebracht oder verkauft werden,
ist mit leichtem Gef. bedroht, ebenso die Vornahme der vorerwähnten Hand-
lungen, wenn kein Einverständnis vorliegt (Art. 208). Wer falsche Münzen in
Verkehr bringt, wissend, dass sie falsch sind, wird mit einer Geldstrafe belegt,
deren Betrag sich nach seinem Einkommen richtet, mindestens dem Einkommen
von 14 Tagen, höchstens einem solchen von 1 Jahre gleichkommt, jedoch nie-
mals weniger als das Doppelte der in Verkehr gebrachten Münzen beträgt
(Art. 209). — Die gleichen Strafen finden auf denjenigen Anwendung, der
falsche Münzen in das Königreich einführt. — Wer Werkzeuge, die ausschliess-
lich zur Nachahmung von Metallgeld, Banknoten oder Papiergeld bestimmt
sind, anfertigt, in das Inland einführt, zum Verkauf ausbietet, verkauft, einem
andern verschafft, oder bei sich verwahrt, wird mit Einzelhaft von 2 bis zu
8 Jahren bestraft. Die Strafe beträgt nur leichtes Gef. und Geldstrafe , wenn
die Instrumente zwar nicht ausschliesslich zur Nachahmung bestimmt waren,
die Regierung jedoch ihre Anfertigung nicht gestattet hatte (Art. 210). Die
vorerwähnten Strafen werden um einen oder mehrere Grade ermässigt, wenn
es sich um Münzen aus anderm Metall als Gold oder Silber, oder um aus-
ländische Münzen, die im Königreich keinen gesetzlichen Kurs haben, handelt
(Art. 211 und 212). — Die Thäter der in den vorerwähnten Art. aufgezählten
strafbaren Handlungen bleiben straflos, wenn sie vor Vollendung des Verbr.
und vor Beginn einer Strafverfolgung wegen derselben der Obrigkeit von dem
Verbr. und den Personen der Thäter Kenntnis geben; jedoch kann der Richter
sie trotzdem für eine von ihm zu bestimmende Zeit unter Polizeiaufsicht stellen.
Der Käufer wird in allen Fällen als Gehülfe des Verkäufers bestraft (Art. 213).
— Die Weigerung, eine mit Zwangskurs versehene Münze in Zahlung zu nehmen,
wird mit einer Geldstrafe belegt, welche dem neunfachen Werte der zurück-
gewiesenen Münze entspricht.
15. Urkundenfälschung. Die Nachahmung eines Ghecks oder eines
andern in den vorstehenden Art. nicht erwähnten Wertpapieres, dessen Aus-
gabe gesetzlich zulässig ist, sowie das Inumlaufsetzen oder die Einführung einer
solchen Nachahmung in das Gebiet des Königreichs wird mit Einzelhaft von
4 Jahren und nachfolgender 8jähriger Deportation bestraft. Die Strafe wird
auf Gef. von 2 bis zu 8 Jahren ermässigt, wenn die Ausgabe des verfälschten
Wertpapieres nur im Auslande zulässig war. Bestand zwischen dem Verfälscher
und demjenigen, welcher das Inumlaufsetzen vornahm, kein Einverständnis,
so findet ebenfalls eine Strafermässigung statt. Die Strafe besteht dann lediglich
in leichtem Gef. und Geldstrafe (Art. 215). Mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren
wird bestraft, wer zum Nachteil des Staates oder einer Privatperson 1. auf
einer öffentlichen Urkunde oder einer Urkunde, welcher die Beweiskraft einer
solchen zukommt, Verfügungen, Schuldverschreibungen oder Quittungen vor-
nimmt; 2. unter eine solche Urkunde eine falsche Unterschrift setzt, oder auf
einer solchen Urkunde eine Vertauschung von Namen vornimmt; 3. falsche
Behauptungen über die Wahrheit einer Thatsache aufstellt, welche die vorer-
wähnten Urkunden authentisch beweisen sollen, oder deren Wahrheit zu ihrer
Gültigkeit erforderlich ist; 4. auf einer solchen Urkunde nach Abschluss der-
selben einen Zusatz oder eine Veränderung vornimmt, in der Absicht, ihren
558 I^iö iberische Halbinsel. -— Portugal.
Inhalt und ihre Bedeutung zu verändern ; 6. derartige Urkunden fälschlich
anfertigt.
Die gleichen Bestimmungen gelten auch für Wechsel oder andere Inhaber-
papiere, wenn der Schuldige ein öflPentlicher Beamter ist und in Ausübung
seines Amtes handelt. — Liegt eine einfache Nachlässigkeit vor, so wird der
Schuldige mit leichtem Gef., und wenn er öffentlicher Beamter ist ausserdem
mit Geldstrafe belegt (Art. 216 — 218).
Jede andere Fälschung, sowie der Missbrauch einer Blankounterschrift
wird mit leichtem Gef. und Geldstrafe belegt (Art. 219 und 220). — Als Ge-
hülfe wird bestraft, wer bei der Aufnahme einer öffentlichen oder Privaturkunde,
von deren falschem Inhalt er Kenntnis hat, als Zeuge mitwirkt (Art. 221).
Wer von einer falschen Urkunde dadurch Gebrauch macht, dass er sie wissent-
lich in ein öffentliches Register eintragen oder in demselben löschen lässt,
wird bestraft, als ob er die Fälschung selbst begangen hätte (Art. 222). —
Die vorstehenden Regeln erleiden folgende Ausnahmen: Mit leichtem Gef. und
Geldstrafe wird bestraft 1. jeder Arzt und jede andere gesetzlich zur Ausstel-
lung von Attesten über Krankheiten oder Verwundungen befugte Person, die
eine falsche Bescheinigung ausstellt, um jemand von öffentlichen Dienstleistungen
zu befreien; 2. wer falsche Zeugnisse dieser Art anfertigt; 3. wer im Namen
eines öffentlichen Beamten eine Bescheinigung ausstellt, in welcher zu Gunsten
der darin bezeichneten Person unwahre Thatsachen bescheinigt oder die Be-
scheinigung des betreffenden öffentlichen Beamten abgeändert werden; 4. der
öffentliche Beamte, welcher falsche Bescheinigungen ausstellt, abgesehen von
der ihn nach Art. 218 treffenden Verantwortung; 5. wer falsche Zeugnisse,
wissend, dass sie falsch sind, benutzt; 6. der Beamte oder die Privatperson,
welche eine telegraphische Depesche unterschiebt, verfälscht oder von einer
solchen, wissend, dass sie falsch ist, Gebrauch macht. Jede Fälschung eines
Zeugnisses und das Gebrauchmachen von einem solchen seitens einer anderen
Person als der in den vorstehenden Art. erwähnten wird mit leichtem Gef. von
höchstens 3 Monaten und Geldstrafe bedroht (Art. 224). — Die Verabfolgung
eines falschen Passes zu dem Zwecke, jemand der gesetzlichen Aufsicht der
Obrigkeit zu entziehen, wird mit 2jährigem Gef. und der Entlassung des
schuldigen Beamten bestraft. Liegt eine einfache Vernachlässigung vor, so
tritt Geldstrafe, welche dem Einkommen von 1 Monat bis zu 1 Jahr entspricht,
ein (Art. 225). — Wer sich einen falschen Namen beilegt, eine falsche Pass-
karte anfertigt, eine echte verändert, oder von einer so verfälschten bezw.
veränderten Passkarte Gebrauch macht, wird mit Gef. von 2 Monaten bis zu
2 Jahren bestraft. — Zeugen werden als Teilnehmer bestraft (Art. 226). —
Als militärisches Verbr. wird die Urkundenfälschung mit zeitiger Zwangsarbeit
oder Gef. nicht unter 2 Jahren bestraft. Die Ausstellung eines falschen Zeug-
nisses seitens eines Militärarztes zieht Gef. von 1 bis zu 3 Jahren nach sich
(Militärjustizgesetz, Art. 85 und 86).
16. Verfälschung von öffentlichen Siegeln, Marken und Stem-
peln. Die fälschliche Anfertigung öffentlicher Siegel, Marken oder Stempel,
sowie ihre Einführung in das portugiesische Gebiet, oder ihre Benutzung wird
mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren bestraft (Art. 228). Die gleiche Straf-
bestimmung gilt für Briefmarken und ganz allgemein für diejenigen stempel-
pflichtigen Gegenstände, für welche der Staat ein Monopol besitzt (Art. 229).
Die Benutzung falscher Siegel oder Stempel, welche bestimmt sind, die
Siegel oder Stempel solcher öffentlicher Konirollbeamten oder anderer Beamten
nachzuahmen, deren Zeugnisse öffentlichen Glauben besitzen, wird mit G^f.
von 1 bis zu 6 Monaten bestraft. Entstammen die mit dem falschen Abdruck
versehenen Gegenstände einer Fabrik oder einer Handlung, so tritt Strafe von
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 559
1 bis zu 3 Monaten ein. Ausserdem ist der Schuldige zur Entschädigung des
beschädigten Teiles verpflichtet. Mit derselben Strafe wird bedroht, wer Gegen-
stände unter erdichteter Fabrikmarke oder unter der Marke einer andern
Fabrik als derjenigen, in welcher die Gegenstände hergestellt sind, zum Ver-
kauf ausbietet oder in Verkehr bringt. Femer wer von Marken, Fahrkarten
oder Transportscheinen, die bereits benutzt sind, den Entwertungsstempel ent-
fernt und dieselben nochmals benutzt. Die Fälschung der Nummer, des Datums
oder des Wertes einer Eintrittskarte für öffentliche Vergnügungen oder Ver-
anstaltungen, sowie von Lotterielosen, das Gebrauchmachen oder das Verkaufen
von derartigen Gegenständen wird mit leichtem Gef. bestraft (Art. 230). Straf-
los bleibt, wer einen derartig verfälschten Gegenstand benutzt, ohne von der
Fälschung Kenntnis zu haben. Wird einer der erwähnten Gegenstände zwar
verfälscht, aber nicht benutzt, oder wird durch die erfolgte Benutzung ein
Schaden nicht verursacht, so gilt dies als mildernder Umstand. Im Urteil ist
die Einziehung der bei der strafbaren Handlung benutzten Werkzeuge, sowie
der verfälschten Gegenstände zu Gunsten des Verletzten anzuordnen (Art. 232).^)
17. Unbefugte Führung eines Namens, Titels oder Abzeichens.
Mit Gef. von 15 Tagen bis zu 6 Monaten wird bestraft, wer in der Absicht,
sich der Überwachung der Obrigkeit zu entziehen, oder dem Staat oder einer
Privatperson Schaden zuzufügen, sich unbefugter Weise eines falschen Namens
bedient (Art. 233). Die unbefugte Annahme eines andern Namens unter Um-
gehung der gesetzlichen Förmlichkeiten, jedoch ohne das Vorhandensein der
vorerwähnten Absicht, wird mit einer dem Arbeitsertrage eines Monats gleich-
kommenden Geldstrafe belegt; ausserdem ist gegebenen Falls der Verletzte zu
entschädigen (Art, 234). Das unbefugte Tragen einer Uniform oder eines
Ordens ist mit 6monatlichem Gef. und einer dem Einkommen eines Monats
entsprechenden Geldstrafe bedroht (Art. 235). Die unbefugte Anmassung eines
öffentlichen Amtes, sowie der Stellung eines Lehrers oder Sachverständigen
zieht Gef. von 1 bis zu 2 Jahren und Geldstrafe nach sich (Art. 236). Die
gleiche Strafe trifft denjenigen, der unbefugter Weise sich ein Adelsprädikat
oder ein ihm nicht zustehendes Wappen beilegt (Art. 237).*)
18* Falsches Zeugnis und falsche Erklärungen vor einer Be-
hörde. Das in einer Civil- oder Strafsache über wesentliche Punkte des Ver-
fahrens abgegebene falsche Zeugnis wird mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren
oder derjenigen Strafe belegt, zu welcher der Angeklagte verurteilt ist, wenn
diese letztere schwerer ist als 8jährige Einzelhaft. Das in einer Vorunter-
suchung abgegebene falsche Zeugnis wird mit der unmittelbar niedrigeren
Strafe bedroht (Art. 238). — Der Thäter bleibt straflos, wenn er vor dem
Abschluss des Verfahrens oder der Voruntersuchung seine Aussage widerruft
(Art. 239). — Hat eine Verleitung zur Abgabe des falschen Zeugnisses statt-
gefunden, so treffen den Verleiter dieselben Strafen und zwar in verschärfter
Form (Art. 240). — Dieselbe Strafe wird angedroht gegen die Verletzung des
Sachverständigen-Eides. Jede andere eidlich oder uneidlich abgegebene falsche
Aussage zieht den Ausschluss von der Ausübung der politischen Rechte und
Gef. bis zu 6 Monaten nach sich (Art. 242). Die Ausschliessung kann jedoch
auf die Dauer von 20 Jahren erkannt werden, wenn die falsche Angabe in
der Verletzung eines Parteieides bestand (Art. 243). — Die in böswilliger Ab-
*) Vgl. die Art. 88 und 89 des Militärjustizgesetzes, welche die Verfälschung von
Siegeln und Stempeln mit zeitiger Zwangsarbeit und die Benutzung echter Stempel
oder Siegel zum Nachteil des Staates mit Degradation bedrohen.
*) Vgl. Art. 90 des Militärjustizgesetzes, nach welchem das unbefugte Tragen
von Uniformen, militärischen Abzeichen oder Orden mit Gef. von 3 Monaten bis zu
2 Jahren bestraft wird.
560 Die iberische Halbinsel. — Portugal.
sieht erstattete, wissentlich falsche Anzeige wird mit Gef. von 2 bis zn 8 Jahren
bestraft, abgesehen von dem Fall, wo die That, wegen welcher Anzeige erstattet
wurde, nur mit leichtem Gef. bedroht war (Art. 244). Jede anderweitige ver-
leumderische Eingabe gegen einen andern zieht Gef. von 1 Monat bis zu 1 Jahre
und Ausschluss von der Ausübung der politischen Rechte für den Zeitraum
von 5 Jahren nach sich (Art. 245).
19. Übertretung der Vorschriften über die Beerdigungen, Ver-
letzung von Gräbern und Verbr. gegen die öffentliche Gesundheit.
Die Übertretung der über das Beerdigungswesen erlassenen G. und Vdgn.
wird mit leichtem Gef. bedroht. Die gleiche Strafe in Verbindung mit Geld-
strafe trifft den Arzt, der ohne rechtswidrige Absicht den Tod einer noch am
Leben befindlichen Person bescheinigt (Art. 246). Die Verletzung von Gräbern
oder Grabstätten und ähnliche Handlungen ziehen leichtes Gef. und Geldstrafe
nach sich. Hat eine thatsächliche Beschädigung nicht stattgefunden, so wird
nur auf Geldstrafe erkannt. Ist die Handlung derartig, dass sie, an einer
lebenden Person begangen, den Thatbestand eines Delikts gegen das Scham-
gefühl oder der Notzucht darstellen würde (vgl. Art. 393), so wird die Strafe
erhöht und zwar auf Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren (Art. 247). Das Feil-
bieten und Verkaufen von Gift oder Abtreibungsmitteln ohne obrigkeitliche
Erlaubnis und ohne Befolgung der gesetzlichen Förmlichkeiten wird mit Gef.
auf die Dauer von 3 Monaten und entsprechender Geldstrafe belegt (Art. 248).
Der Apotheker, der Medikamente vertauscht oder verändert, verwirkt Gefängnis-
strafe von 1 Monat (Art. 249). — Ein Arzt, der im Falle dringender Not oder
nach Aufforderung seitens eines Beamten seine Dienste verweigert, wird mit
Gef. von 2 Monaten bis zu 1 Jahre bestraft (Art. 250). — Die Verfälschung
und der Verkauf von Nahrungs- oder Genussmitteln wird mit Gef. von 2 Mo-
naten bis zu 2 Jahren bestraft (Art. 251). Ausserdem ist die Befolgung der
im Interesse der Gesundheitspolizei erlassenen Vorschriften vorgeschrieben
(Art. 252).^)
iOm Verbotene Waffen, verbotene Jagd und verbotener Fisch-
fang. Wer Maschinen, die geeignet sind, eine Explosion hervorzurufen und
den Tod von Personen oder die Zerstörung von Gebäuden herbeizuführen,
anfertigt, verkauft, liefert oder bei sich verwahrt, wird mit Einzelhaft auf die
Dauer von 4 Jahren und nachfolgender Sjähriger Deportation bestraft. Wer
blanke Waff'en oder Feuerwaffen ohne obrigkeitliche Erlaubnis anfertigt, ein-
führt, verkauft, liefert oder in Verwahrung nimmt, verwirkt leichtes Gef. von
6 Monaten und Geldstrafe. Die einfache Aufbewahrung derartiger Gegenstände
wird mit einer dem Arbeitsertrage von 1 Woche bis zu 1 Monat entsprechen-
den Geldstrafe bedroht, falls es sich nicht um Kunst- oder Schmuckgegen-
stände handelt. In allen Fällen werden dieWaff'en konfisziert (Art. 253). Die
Ausübung der Jagd während der Schonzeit, sowie die unerlaubte Ausübung
derselben innerhalb eines abgeschlossenen Besitztums wird mit 1 Monat Gef.
und Geldstrafe belegt (Art. 254). — Dieselben Straf bestimmungen gelten für
den unberechtigten Fischfang (Art. 255).
21. Landstreicherei, Bettelei und Vereinigung von Verbrechern.
^) Vgl. die Vdg. vom 21. August 1890, welche auf Grund der früheren Vdm.
vom 30. Dezember 1868 und 4. Oktober 1889 Bestimmungen zur Verhütung der Ein-
schleppung der Cholera giebt. Sie bedroht mit Geldstrafe von 10000—20000 Reis
denjenigen, der die gesundheitspolizeiliche Grenze zur Zeit der Grenzsperre durch-
bricht, oder einem andern bei der Durchbrechung behülflich ist; der Gegenstände,
deren Unbrauchbarmachung oder Desinfektion vorgeschrieben ist, verheimlicht, ver-
kauft, kauft oder bei ihrer Verheimlichung mitwirkt, unbeschadet jedoch der Vor-
schriften der Art. 318 und 321 des StGB.
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 561
Wer ohne festen Wohnsitz, sowie ohne Subsistenzmittel oder Gewerbe betroffen
wird, ist, wenn er nicht nachweisen kann, dass er ohne sein Verschulden in
diesen Zustand geraten ist, für einen Landstreicher zu erklären und mit leichtem
Gef. bis zu 6 Monaten zu bestrafen, ausserdem während einer bestimmten Zeit
der Regierung zur Verfügung zu stellen, die ihm Arbeit verschafft (Art. 256).
Die Strafe endigt mit der Hinterlegung eines Pfandes oder dem Angebot einer
Bürgschaft, jedoch behält die Regierung das Recht, dem Landstreicher einen
Aufenthaltsort anzuweisen. Die heimliche Entfernung aus diesem zieht die
Verbüssung des Restes der Strafe nach sich (Art. 257). Der Landstreicher,
der ohne Grund in eine Wohnung oder in ein befriedetes Besitztum eindringt,
oder sich in Verkleidung oder im Besitz von Gegenständen im Wert von mehr
als 10000 Reis, deren rechtmässigen Erwerb er nicht nachweisen kann, be-
treffen lässt, wird mit Gef. von 1 bis zu 2 Jahren bestraft, und, wenn er Por-
tugiese ist, der Regierung überwiesen, wenn er Ausländer ist, ausgewiesen
(Art. 258 und 259). — Wer, obwohl er imstande ist, sich seinen Unterhalt
selbst zu verschaffen, bettelt, wird als Landstreicher, wer sich krank stellt,
wer unter Drohungen oder Beleidigungen, oder gemeinschaftlich mit mehreren
bettelt, mit Gef. von 2 Monaten bis zu 2 Jahren bestraft. Hierher gehören
jedoch nicht die Fälle, in welchen Blinde oder Krüppel, die sich nicht allein
bewegen können, mit ihren Angehörigen gemeinschaftlich betteln (Art. 260 — 262).
— Die Mitglieder von vertragsmässig oder auf andere Weise gebildeten Ver-
einigungen, die zum Zwecke der Begehung von Verbr. geschlossen sind, werden
mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren, die Anführer und Anstifter mit schwererer
Strafe belegt. Wer einer solchen Vereinigung vorsätzlich Waffen oder Unter-
kunft gewährt, wird als Gehülfe bestraft (Art. 263).
22. Spiel, Lotterieen, Börsenspiel und strafbare Handlungen
der Eigentümer von Pfandleihanstalten. Wer aus dem Spiel seine Haupt-
beschäftigung und seine Haupteinnahmequelle macht, wird als Landstreicher
bestraft. Wer sich an einem Hazardspiel beteiligt, verwirkt das erste Mal
einen Verweis, die folgenden Male Geldstrafe im Betrage des Arbeitsverdienstes
von 14 Tagen bis zu 1 Monat. Wer mit einem Minderjährigen spielt oder
einen solchen zum Spiel, zu lasterhaften Gewohnheiten oder zum Ungehorsam
gegen seine Eltern oder Vormünder verführt, wird mit Gef, von 1 bis zu
6 Monaten und Geldstrafe belegt. Wer die Leitung und Verwaltung von Glücks-
spielen innehat, ohne aus denselben sein stehendes Gewerbe zu machen, ver-
wirkt Gef. von 2 Monaten bis zu 1 Jahre nebst entsprechender Geldstrafe.
Die bei dem Spiel benutzten Gegenstände und Möbel werden eingezogen und
fallen zur Hälfte dem Staate, zur Hälfte demjenigen zu, der die Einziehung
bewirkt. Das G. bedroht femer denjenigen mit Strafe, der durch Anwendung
von Gewalt oder Drohungen jemanden zur Teilnahme am Spiel zwingt, und
stellt denjenigen, der sich durch betrügerische Mittel den Gewinn beim Spiel
sichert, auf eine Stufe mit dem Dieb (Art. 264 — 269). — Unbeschadet der Be-
stimmungen des G. vom 28. Juli 1885 ist jede Lotterie verboten; die bei einer
solchen thätigen Veranstalter, Unternehmer oder Agenten verwirken eine dem
Einkommen von 1 bis zu 10 Monaten entsprechende Geldstrafe und die Ein-
ziehung der Lose (Art. 270). Geringere Strafe trifft denjenigen, welcher Lose
verkauft oder den Verkauf derselben erleichtert (Art 271 und 272). — Wer
Obligationen einheimischer oder fremder Anleihen, ähnlicher Institute oder
Aktiengesellschaften zu liefern oder zu kaufen verspricht, ohne im Augenblick
des Vertragsabschlusses oder der Lieferung im Besitz derselben zu sein, wird
mit Gef. von 6 Monaten und der höchsten zulässigen Geldstrafe bedroht. Der
Käufer, der in Kenntnis dieser Umstände gehandelt hat, verwirkt die Hälfte
dieser Strafe (Art. 273). — Vorsteher von Pfandleih-Instituten, die nicht
Strafgesetzgebang der Gegenwart. I. 36
562 Die iberische Halbinsel. — Portugal.
polizeilich konzessioniert sind oder keine regelmässige Bachfühning haben,
werden mit Gef. bis zn 3 Monaten und Geldstrafe belegt (Art. 274).
23. Monopol und Schmuggel. Ein Verkäufer von Waren, die zum
Unterhalt des täglichen Lebens notwendig sind, wird mit einer dem Einkommen
von 1 bis zu 6 Monaten entsprechenden Geldstrafe belegt, wenn er die in
seinem Besitz befindlichen Waren verbirgt oder zu verkaufen weigert. Wer
allein oder durch Verabredung mit mehreren durch betrügerische Mittel den
Preis von Waren herabdrückt, um die Konkurrenten zu schädigen, wird mit
einer dem Einkommen von 3 Monaten entsprechenden Geldstrafe belegt (Art.
276). Die Verabredung von Arbeitgebern zum Zwecke unzulässiger Herab-
drttckung der Arbeitslöhne, sowie die Vereinigung von Arbeitern zur Herbei-
führung einer Arbeitseinstellung oder einer Lohnerhöhung wird mit Gef. bis
zu 6 Monaten und Geldstrafe von 5000 — 200000 Reis bedroht. In beiden
Fällen muss es jedoch zum Anfang der Ausführung der erwähnten Handlungen
gekommen sein. Wer dabei als Anführer thätig gewesen ist, oder Gewalt und
Drohungen angewendet hat, verwirkt Gefängnisstrafe auf die Dauer von 1 bis
zu 2 Jahren und Stellung unter Polizeiaufsicht (Art. 277).
Der Schmuggel wird mit einer Geldstrafe von 1 Million Reis und Gef.
bis zu 1 Jahr bestraft. Ausserdem trifft den Thäter die im Civilgesetzbuch
angedrohte Ersatzpflicht. — Die bei der Zahlung der gesetzlichen ZöUe und
Gebrauchsabgaben verübte Hinterziehung wird mit einer Geldstrafe belegt,
deren Höbe zwischen dem doppelten und dem fünffachen Werte der hinter-
zogenen Beti*äge schwankt (G. vom 31. März 1885 und Vdg. No. V vom 17. Sep-
tember 1885).
24. Strafbare Vereinigungen. Jede unerlaubte Vereinigung von mehr
als 20 Personen wird aufgelöst; die Mitglieder werden, je nach der Art ihrer
Beteiligung, mit leichten Strafen belegt (Art. 282). Die Genehmigung wird
nicht erteilt für Vereine, deren Mitglieder sich verpflichten, den Zweck und
die Verfassung derselben vor der Obrigkeit geheimzuhalten. Die Vorsteher
verwirken Gef. von 2 Monaten bis zu 2 Jahren, die Mitglieder die Hälfte dieser
Strafen. Dieselben bleiben aber straflos, wenn sie der Obrigkeit von dem
Zweck des Vereins freiwillig Anzeige machen (Art. 283).
25. Verbr. öffentlicher Beamten bei Ausübung ihres Amtes.
a) Prävarikation. Der Richter, welcher aus Abneigung oder Vorliebe für
eine Partei eine ungerechte endgültige Entscheidung trifft, wird mit Ausschluss
von der Ausübung der politischen Rechte auf die Dauer von 5 Jahren bestraft.
Handelte es sich um die Verurteilung zu einer Strafe, so trifft ihn ausserdem
Einzelhaft auf die Dauer von 2 bis zu 8 Jahren, andernfalls die höchste zu-
lässige Geldstrafe. War die Entscheidung keine endgültige, so tritt nur Aus-
schluss von der Ausübung der politischen Rechte ein. Dieselben Strafen treffen
den Richter, der in einem schwebenden Prozesse einer Partei einen Rat erteilt,
sowie jeden andern öffentlichen Beamten, der eine ihm zur amtlichen Er-
ledigung überwiesene Angelegenheit ungerecht entscheidet (Art. 284). — Die
Justizverweigerung zieht den Ausschluss von der Ausübung der politischen
Rechte nach sich (Art. 286). — Die betrügerische oder wissentlich falsche Be-
richterstattung eines Beamten an einen Vorgesetzten wird mit Amtsentsetzung
und Gef. von 6 Monaten bestraft. Amtsentsetzung trifft ebenfalls den Beamten,
der seine Pflichten dadurch vernachlässigt, dass er vorsätzlich einen Verbrecher
nicht verfolgt, oder es unterlässt, alle ihm zu Gebote stehenden Mittel anzu-
wenden, um die Ausführung eines Verbr. zu verhindern (Art. 285 und 287).
Der Staatsanwalt, der gegen jemand eine Anklage erhebt, wissend, dass die
von ihm angegebenen Beweismittel falsch sind, wird wegen P'älschung bestraft,
wenn falsche Urkunden die Grundlage der Anklage bilden, in allen übrigen
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 568
Fällen mit Amtsentsetzung und 6ef. auf die Dauer von 6 Monaten. Mit zeit-
weiliger Amtsenthebung und der einem Einkommen von 3 Monaten bis zu
2 Jahren entsprechenden Geldstrafe wird belegt: 1. der Anwalt oder Sachwalter,
der das Dienstgeheimnis verletzt; 2. der gegen Entgelt oder unentgeltlich fun-
gierende Bevollmächtigte, welcher der Gegenpartei einen Rat giebt, oder von
derselben Vorteile annimmt; 3. ein Mitglied der Staatsanwaltschaft, welches
sich der gleichen Handlung schuldig macht (Art. 289). — Mit leichtem Gef.
und Geldstrafe, abgesehen von der wegen Beleidigung oder Verleumdung ver-
wirkten Strafe, wird belegt: 1. wer ein Geheimnis verrät, von welchem er bei
Ausübung seines Gewerbes Kenntnis erhalten hat; 2. wer eine Urkunde oder
die Abschrift einer solchen veröffentlicht, wenn die Veröffentlichung nur mit
Erlaubnis desjenigen erfolgen durfte, der ihm die Urkunde anvertraut hatte
(Art. 290).
b) Missbrauch der Amtsgewalt. Mit Gef. von 3 Monaten bis zu
1 Jahre und Geldstrafe, je nach den Umständen des Falls, wird bestraft:
1. der öffentliche Beamte, der, ohne dazu befugt zu sein, eine Verhaftung
vornimmt oder vornehmen lässt; 2. wer von der Befugnis zur Vornahme einer
Verhaftung einen ungesetzlichen Gebrauch macht; 3. wer einen Gefangenen,
zu dessen Ehtlassung er verpflichtet ist, im Gef. behält, sowie, wer in Wider-
spruch mit den gesetzlichen Vorschriften die Verheimlichung oder die Ver-
längerung der Haft eines Gefangenen anordnet; 4. der Richter, der sich weigert,
einem gefangenen Augeklagten von der Anklageschrift, sowie von dem Namen
des Anklägers und der Zeugen Kenntnis zu geben (Art. 291). Mit Ausschluss
von der Ausübung der politischen Rechte und, je nach den Umständen des
Falls, mit Geldstrafe wird bedroht: 1. der öffentliche Beamte, der ohne Be-
achtung der gesetzlichen Förmlichkeiten eine Verhaftolg vornimmt oder vor-
nehmen lässt; 2. wer einen anderen ausserhalb des Gefängnisses oder des vor-
geschriebenen Verwahrungsortes selbst gefangen hält oder die Gefangenhaltung
anordnet; B. der zuständige Beamte, der sich weigert, die Strafvollzugs -Be-
scheinigung zu erteilen; 4. der zur gerichtlichen oder zur Verwaltungs-Polizei
gehörige Beamte, der es unterlässt, eine von ihm eigenmächtig vorgenommene
Verhaftung zur Kenntnis der vorgesetzten Behörde zu bringen; 5. jeder mit
der Beaufsichtigung von Gefangenen beauftragte Beamte, der einen solchen
ohne schriftlichen Aufnahmebefehl aufnimmt (Art. 292). Mit Gef. bis zu 6
Monaten wird der Gefangenaufseher bestraft, der gegen seine Gefangenen sich
einer ungesetzlichen Härte schuldig macht (Art. 293). Der öffentliche Beamte,
der seine Amtsgewalt missbraucht, um in die Wohnung eines Bürgers ohne
dessen Erlaubnis oder ohne Beobachtung der gesetzlichen Förmlichkeiten oder
der gesetzlichen Voraussetzungen einzudringen, wird mit Gef. von 6 Monaten und
Geldstrafe belegt (Art. 294). Der Postbeamte, der einen Brief unterschlägt
oder öflftiet, oder zu einer dieser Handlungen behiilflich ist, verwirkt leichtes
Gef. und Geldstrafe (Art. 295). Mit Ausschluss von der Ausübung der politi-
schen Rechte auf die Dauer von höchstens 5 Jahren wird der Beamte be-
straft, der seine Amtsgewalt missbraucht, um einen Bürger in der Ausübung
dieser Rechte zu beeinträchtigen (Art. 296). Der Beamte, welcher berechtigt
ist, die Hülfeleistung der bewaffneten Macht in Anspruch zu nehmen oder an-
zuordnen, wird mit Gef. auf die Dauer von 1 Jahre und Geldstrafe bedroht,
wenn er von dieser Befugnis Gebrauch macht, um die Ausführung eines
Gesetzes oder einer obrigkeitlichen Anordnung zu verhindern. Die Strafe
wird auf Einzelhaft für die Dauer von 2 bis zu 8 Jahren erhöht, wenn
er seinen Zweck erreicht (Art. 297). Er bleibt straflos, wenn er nach-
weist, dass er lediglich auf Befehl seines Vorgesetzten gehandelt hat (Art.
298), Wer bei der Ausführung eines rechtmässigen dienstlichen Auftrages
36*
664 I^ie iberische Halbinsel. — Portugal.
unnötige Gewaltmassregeln anwendet, verwirkt Gef. bis zu sechs Monaten
(Art. 299).*)
Die Verabredung zwischen öffentlichen Beamten oder Behörden zu dem
Zwecke, die Ausführung von G. oder Beschlüssen zu verhindern, wird mit
Amtsentsetzung und 6monatlichem Gef. bestraft (Art. 300).
c) Ausschreitungen bei Ausübung des Amtes und Ungehorsam.
Mit Amtsentsetzung und Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren wird bestraft:
1. der öffentliche Beamte, der sich in die Thätigkeit der gesetzgebenden
Körperschaften einmischt, um die Wirksamkeit eines G. zu hindern; 2. der
Richter, welcher eine zur Zuständigkeit der Verwaltungs-Behörden gehörige
Verfügung erlässt, oder die Vollziehung von rechtmässigen Verfügungen dieser
Behörden verbietet; 3. der Beamte, welcher sich des im Art. 291 No. 1 vor-
gesehenen Verbr. gegen ein Mitglied der gesetzgebenden Gewalt oder eine im
Auftrage derselben handelnde Person schuldig macht; 4. der Beauftragte einer
Verwaltungs-Behörde, der die Ausübung der richterlichen Gewalt verhindert
oder zu beeinträchtigen sucht (Art. 301). Mit Amtsentsetzung und einer dem
Einkommen von 2 Jahren entsprechenden Geldstrafe wird belegt 1. der Rich-
ter, der nach Erhebung des Kompetenz-Konfliktes zwischen dem Gericht und
einer Verwaltungs-Behörde fortführt, sein Amt auszuüben ; 2. der Verwaltungs-
beamte, welcher Funktionen ausübt, deren Ausübung nur dem Richter zusteht
(Art. 302). Der öffentliche Civil- oder Militär-Beamte, der ohne genügenden
Grund die Ausführung eines ihm von der zuständigen Behörde aufgetragenen
Dienstes verweigert, verwirkt Gef. von 2 Monaten bis zu 1 Jahre und Ent-
setzung vom Amt (Art. 304). Wer die Übernahme eines Amtes, zu welchem
er im öffentlichen Wahlverfahren erwählt ist, ohne Dispens seitens der zu-
ständigen Behörde verweigert, wird mit einer Geldstrafe von 10000 — 100000
Reis und 2jährigem Ausschluss von der Ausübung der politischen Rechte
belegt (Art. 305).
d) Unbefugte Ausübung eines Amtes. Die Ausübung eines
öffentlichen Amtes ohne zuvorige Ableistung des Diensteides wird mit Geld-
strafe von 2000 — 10000 Reis bedroht (Art. 306). Wer ein Amt ausübt, nach-
dem er dasselbe niedergelegt hat, oder von demselben enthoben ist, verwirkt
Gef. von 1 bis zu 2 Jahren, neben der Strafe der Fälschung, falls eine solche
begangen ist. Das Gleiche gilt von militärischen Funktionen, falls nicht hier
besondere Gesetze Anwendung finden (Art. 307). — Das unbefugte Verlassen
eines Amtes wird mit Ausschluss von der Ausübung der politischen Rechte
bestraft (Art. 308). — Die Bestrafung der Desertion richtet sich nach den
Vorschriften des Mil.-StGB. Die gleiche Strafe trifft denjenigen, der einen
Soldaten zur Desertion verführt oder veranlasst, wenn die Verleitung Erfolg
gehabt hat, andernfalls tritt die für versuchte Desertion angedrohte Strafe ein
(Art. 309). —
e) Siegelbruch und Entwendung von Aktenstücken. Der öffent-
liche Beamte, welcher Siegel unbefugter Weise ablöst, die auf in seiner Ver-
wahrung befindliche Gegenstände gelegt sind, verwirkt Einzelhaft von 2 bis zu
8 Jahren, bezw. 4jährige Einzelhaft mit nachfolgender 8jähriger Deportation,
wenn gleichzeitig ein Diebstahl vorliegt. Ist der Thäter kein öffentlicher Be-
amter, so tritt an Stelle dieser Strafen leichtes Gef. und Einzelhaft auf die
Dauer von 2 bis zu 8 Jahren (Art. 310). — Einzelhaft wird ferner angedroht
gegen die Entwendung von Urkunden und Aktenstücken, abgesehen von dem
Fall einfacher Nachlässigkeit, in welchem Amtsenthebung auf die Dauer von
^) Vgl. die Art. 98 und 99 des Militärjustizgesetzes, welche für dieses Verbr.
Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 2 Jahren und von 3 bis zu 5 Jahren androhen.
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 565
höchstens 6 Monaten eintritt (Art. 311). Ist die Entwendung oder die Ver-
nichtung von einem öflFentlichen Beamten bewirkt, welchem die Urkunden oder
Aktenstücke anvertraut waren, so wird derselbe, wenn er vorsätzlich gehan-
delt und einer Privatperson oder dem Staat Schaden zugefügt hat, mit Einzel-
haft auf die Dauer von 2 bis zu 8 Jahren bestraft (Art. 312).
f) Amtsunterschlagüng und Bestechung. Der öffentliche Beamte,
der Geld, Schuldverschreibungen oder bewegliche Gegenstände, mit deren
Bewachung er beauftragt war, unterschlägt oder die Unterschlagung derselben
zulässt, wird mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren bestraft, wenn der Wert
der unterschlagenen Gegenstände 600000 Reis oder mindestens den dritten
Teil der von ihm in einem Male oder im Laufe eines Monats empfangenen
Summe übersteigt. Daneben ist in allen Fällen auf eine dem Einkommen
von 1 bis zu 2 Jahren entsprechende Geldstrafe zu erkennen. Handelte es
sich um Gegenstände von geringerem Wert, oder wurde die That unter an-
deren Umständen begangen (z. B. wenn es sich um die Unterschlagung einer
zu früh gezahlten Summe oder eines in Pfand gegebenen Gegenstandes, oder
um die vorschriftswidrige Verwendung öffentlicher Gelder handelt), so wird
die Strafe auf 6monatliche Amtsenthebung in Verbindung mit Geldstrafe
in Höhe von 60 000 Reis ermässigt (Art 313). — Der öflFentliche Beamte, der
Drohungen oder Gewalt anwendet, um einen anderen zu zwingen, ihm Geld
zu geben oder gewisse Dienste zu leisten, wird mit 8jähriger Einzelhaft und
nachfolgender 12j ähriger Deportation bestraft. Jedoch kann, je nach den
Umständen des Falles, die Strafe auf leichtes Gef. ermässigt werden (Art. 314).
— Geldstrafe in Höhe des Einkommens von 1 bis zu 3 Jahren triflPt den
öffentlichen Beamten, der ohne gesetzliche Befugnis willkürlich Steuern erhebt
oder einen Teil der erhobenen Steuern nicht in die Staatskasse abführt. Die
gleiche Strafe trifft einen solchen, wenn er, mit der Eintreibung von Steuern
oder anderen Leistungen zu Gunsten des Staates oder einer öffentlichen Be-
hörde beauftragt, wissentlich mehr als zulässig oder eine überhaupt nicht ge-
schuldete Steuer oder Leistung eintreibt. Die Vorgesetzten desselben verwir-
ken eine dem Einkommen von 1 bis zu 2 Jahren entsprechende Geldstrafe;
verwendet der Schuldige die so vereinnahmten Gelder zu seinem Vorteil, so
findet auf ihn die Bestimmung des Art. 313 Anwendung (Art. 315). — Der
öffentliche Beamte, der in rechtswidriger Absicht ohne Erlaubnis Vergütungen
annimmt, auf deren Empfang er keinen Anspruch hat, wird mit Entlassung
aus dem Amt oder Ausschluss von der Ausübung der politischen Rechte und
einer dem Einkommen von 1 Monat bis zu 3 Jahren entsprechenden Geldstrafe
belegt, selbst wenn die Gewährung freiwillig geschehen ist, vorausgesetzt, dass
nicht ein Fall der Bestechung vorliegt (Art 316). — Gef. von 2 Jahren und
Geldstrafe trifft den öffentlichen Beamten, der in einer Angelegenheit, deren
Erledigung, Verwaltung, Kontrolle oder Beaufsichtigung ihm zusteht, oder bei
einer Zahlung oder einer Liquidation, mit deren Vornahme er beauftragt ist,
direkt oder indirekt Vorteile für sich erwirkt. Das Gleiche gilt für Vor-
gesetzte, Depositare, Sachverständige, Schiedsrichter, Verteiler, Vormünder,
Pfleger und Testamentsvollstrecker (Art. 317).
g) Bestechung (peita, suborno und corrup9äo). Jeder Beamte, der
für Vornahme einer Amtshandlung Geschenke oder Vorteile annimmt, wird
mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren und einer dem Einkommen eines Jahres
entsprechenden Geldstrafe belegt, wenn die Amtshandlung eine rechtmässige
war und zur Ausführung gelangt ist; mit Ausschluss von der Ausübung poli-
tischer Rechte und Geldstrafe, wenn die Handlung nicht ausgeführt wurde.
War die Handlung strafbar, so tritt die für diese ausgesetzte Strafe ein. War
sie gesetzmässig, und gehört sie zu den Amtshandlungen des Handelnden, so
566 ^i^ iberische Halbinsel. — Portugal.
wird dieser mit Ausschluss von der Ausübung aller politischen Rechte fär
1 Jahr und Geldstrafe belegt.
Das Gleiche gilt von demjenigen, der sich in derselben Absicht ein öffentliches
Amt anmasst, sowie von den Sachverständigen, Schiedsrichtern und den an-
deren in Art. 317 aufgeführten Personen, die ausserdem mit dem Ausschluss
vom Amt und von der Ausübung politischer Rechte bestraft werden (Art. 318
und 322). — Ein Richter oder ein Geschworener, der sich bestechen lässt,
verwirkt Einzelhaft auf die Dauer von 4 Jahren und 8jährige Deportation;
der Bestechende wird mit einer Geldstrafe in Höhe von 1 Million Reis belegt
(Art. 319). Den bestochenen Richter oder den Geschworenen trifft die von
ihnen erkannte Strafe, wenn die Bestechung die schärfere Bestrafung eines
Angeklagten zur Folge gehabt hat (Art. 321). Die vorerwähnten Strafen
finden auf den Bestechenden Anwendung, abgesehen von dem Fall, wo er
Thäter oder Gehülfe des abzuurteilenden Verbr. oder Ehegatte, Aszendent, Deszen-
dent, Bruder, Schwester oder im zweiten Grade Verschwägerter des Thäters
oder Gehülfen ist (Art. 321). Die von dem Bestechenden dem Bestochenen
gegebenen Gegenstände sind zu Gunsten des Staates einzuziehen (Art. 323).^)
h) Allgemeine Bestimmungen. Als Gehülfe des öffentlichen Beamten
wird deijenige betrachtet, der in Kenntnis des von seinem Untergebenen be-
gangenen Verbr. es unterlässt, die nötigen Schritte zu thun, um die Bestra-
fung desselben herbeizuführen (Art. 324). Als öffentlicher Beamter gilt derjenige,
welcher öffentliche Funktionen irgend welcher Art ausübt, oder an der Aus-
übung von solchen beteiligt ist, ohne Rücksicht darauf, ob er durch Gesetz, Wahl
oder Ernennung seitens des Königs oder der zuständigen Obrigkeit hierzu
berufen ist (Art. 327).
Titel IV.
26« Verbr. gegen die individuelle Freiheit.
a) Gewaltthätigkeit (violenciiis). Wer eine Person in Sklaverei bringt,
wird mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren und Geldstrafe bestraft (Art. 328).
Wer unbefugterweise Gewalt anwendet, um jemand zur Vornahme oder Unter-
lassung einer Handlung zu zwingen, wird mit Gef. von 1 Monat bis zu 1 Jahre
und Geldstrafe bestraft (Art. 329).
b) Einfache Freiheits-Beraubung (carcere privado). Wer ungesetz-
licherweise eine Person für die Zeit von 24 Stunden ihrer Freiheit beraubt oder
berauben lässt, wird mit Gef. von 1 Monat bis zu 1 Jahr bestraft. Die Freiheits-
Beraubung für die Dauer von weniger als 24 Stunden wird als Gewaltthätigkeit
bestraft; die Strafe wird erhöht, wenn die Freiheits-Beraubung längere Zeit dauert
und beträgt 2 bis 8 Jahre Einzelhaft und Geldstrafe, wenn sie 24 Tage übersteigt
(Art. 330). — Die Strafe beträgt 2 bis 8 Jahre Einzelhaft in allen Fällen, wo
der Thäter sich amtliche Befugnisse beigelegt oder mit Tod, Marterung oder
Gewaltmassregeln gedroht hat (Art. 331). Die Strafe beträgt 8 Jahre Einzel-
haft mit nachfolgender 12 jähriger Deportation, wenn der Schuldige nicht
nachweist, dass er sein Opfer in Freiheit gesetzt hat, oder sich weigert, den
Aufenthaltsort desselben anzugeben. — Jede ungesetzliche Einsperrung wird
mit Gef. von 3 Tagen bis zu 1 Monat bestraft (Art. 332 — 335).
27. Verbr. gegen den Personenstand.
a) Anmassung eines falschen Personenstandes; Eingehung einer
*) Dieselben Verbr. werden, wenn von Militärpersonen begangen, mit Degrada-
tion bestraft, jedoch unbeschadet der den begangenen Verbr. entsprechenden ver-
wirkten schwereren Strafen der zeitigen Zwangsarbeit und der Gefängnisstrafe in
Gemässheit der Art. 820, 316 und 317 des bürgerlichen StGB. (Militärjustizgesetz, Art.
91—97.)
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 567
Scheinehe und einer ungesetzlichen Ehe. Wer betrügerischerweise sich
den Personenstand eines anderen anmasst, sowie wer, um die Rechte eines
Dritten zu schädigen, den Abschluss einer Ehe vorspiegelt oder eine ungesetz-
liche Ehe eingeht, wird mit Gef. von 2 bis zu 8 Jahren bestraft (Art. 336). Die-
selbe Strafe trifft depjenigen, der eine zweite Ehe eingeht, bevor die erste
gelöst ist (Art. 337). Der zweite Ehegatte wird als Teilnehmer bestraft, wenn
er von dem Bestehen der ersten Ehe des Schuldigen Kenntnis hatte (Art. 338).
b) Kindesunterschiebung. Wer ein Kind für ein anderes oder wer einer
Frau, die überhaupt nicht niedergekommen ist, ein Kind unterschiebt, wird
bestraft: und zwar die Frau und ihr Ehegatte, wenn dieser von der Unter-
schiebung Kenntnis gehabt und in sie eingewilligt hat, mit Einzelhaft von 2
bis zu 8 Jahren; andere dabei beteiligte Personen nach den Regeln über
Thäterschaft und Teilnahme, je nach den Umständen des Falls. — Das Gleiche
gilt von der Abgabe falscher Erklärungen bezüglich der Vaterschaft, der Ge-
burt oder des Ablebens eines Kindes, welche in der Absicht abgegeben werden,
einem anderen Schaden zuzufügen (Art. 340 und 341).
c) Entführung von Minderjährigen. Wer mittels Betruges oder
Gewalt ein noch nicht 7 Jahre altes Kind entführt oder entführen lässt, wird
mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren bestraft (Art, 342). — Dieselbe Strafe
verwirkt, wer ein noch nicht 7 Jahre altes Kind verborgen hält oder von
seinem Aufenthaltsort entfernt (Art. 344). — Die Entführung einer mindeijäh-
rigen Person unter 17 Jahren wird mit leichtem Gefängnis bestraft (Art. 343).
Mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren wird belegt, wer eine bereits 7 Jahre,
aber noch nicht 18 Jahre alte Person verbirgt oder an einen andern Ort bringt.
Die Strafe wird auf 8jährige Einzelhaft mit nachfolgender 12jähriger Depor-
tation erhöht, wenn der Schuldige nicht den Aufenthaltsort des Minder-
jährigen angiebt. Wer eine minderjährige Person, mit deren Beaufsichtigung
er beauftragt ist, demjenigen, der die Zurückgabe verlangen kann, nicht zu-
rückgiebt, oder die Abwesenheit des Minderjährigen nicht genügend erklärt,
wird mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren bestraft (Art. 344 No. 1 — 3).
d) Kindesaussetzung. Wer ein noch nicht 7 Jahre altes Kind an
einem andern Ort, als der zur Aufnahme von solchen bestimmten öffientlichon An-
stalt aussetzt oder verlässt, verwirkt leichtes Gef. und Geldstrafe; das Ver-
lassen eines Kindes an einem einsamen Orte wird mit Gef. von 2 bis zu
8 Jahren bestraft. Wird die That von dem ehelichen Vater oder der ehelichen
Mutter oder dem Vormund des Kindes begangen, so tritt ausserdem Geldstrafe
hinzu. Hat die Aussetzung eine schwere Körperverletzung oder den Tod des
Opfers verursacht, so wird der Thäter mit Gef. auf die Dauer von 8 Jahren
bestraft (Art. 345).
Wer ein neugeborenes, oder ein an einem einsamen Ort verlassenes, noch
nicht 7 Jahre altes Kind findet, ist bei Vermeidung einer Gefängnisstrafe von
1 bis zu 2 Jahren verpflichtet, es der nächsten Polizei-Behörde zuzuführen
(Art. 346). Mit Gef. von 1 Monat bis zu 1 Jahre und Geldstrafe wird bestraft,
wer ein noch nicht 7 Jahre altes Kind, mit dessen Ernährung und Erziehung
er beauftragt ist, unbefugterweise einem Findelhause übergiebt (Art. 347).
Eltern, die ein Eind einem solchen Findelhause übergeben, obgleich sie in
der Lage sind, es selbst aufzuziehen, werden mit Geldstrafe bis zum Betrage
des Einkommens von 1 Jahre bestraft (Art. 348).
28. Tötung und Vergiftung.
Die vorsätzliche Tötung wird mit Einzelhaft auf die Dauer von 8 Jahren
und nachfolgender 12jähriger Deportation bedroht (Art. 349). Die Zuftigung
von Körperverletzungen in Tötungsabsicht wird, wenn dieselbe den Tod nicht
zur Folge hat, oder wenn der Tod infolge einer andern zufällig hinzugetrete-
568 I^ie iberische Halbinsel. — Portugal.
nen Ursache erfolgte, gleich einem versuchten oder fehlgeschlagenen Totschlage
bestraft (Art. 350). Die Strafe beträgt 8jährige Einzelhaft nebst nachfol-
gender 20jähriger Deportation mit Einsperrung am Verbannungsorte, je nach
richterlichem Ermessen: wenn die That begangen wurde mit Vorbedacht,
unter Martern oder grausamen Handlungen; um die Ausführung eines andern
Verbr. zu erleichtem oder dessen Straflosigkeit zu sichern; wenn derselben
eine andere , mit Gefängnis von mehr als 2 Jahren bedrohte strafbare Hand-
lung vorausging oder folgte; diese beiden letzteren Bestimmungen beziehen
sich jedoch nicht auf die Verbr. gegen die Sicherheit des Staates (Art. 351).
Vorbedacht liegt vor, wenn der Plan, das Verbr. zu begehen, mindestens 24
Stunden vor der Ausführung gefasst wurde (Art. 352).^) — Die Vergiftung
wird ebenso bestraft wie der Totschlag. Sie ist der Angriff auf das Leben
eines andern, welcher mittelst Substanzen geschieht, die geeignet sind, den
Tod des Verletzten in kürzerer oder längerer Zeit herbeizuführen, einerlei,
auf welche Weise sie beigebracht wird, und welche Folgen sie hat (Art. 353).
— Wer dem Thäter bei einem Totschlag behülflich ist, wird mit leichtem
Gef. bestraft, wenn er nicht als Werkzeug zur unmittelbaren Ausführung des
Verbr. gedient hat. In diesem Falle hat er 4jährige Einzelhaft mit nach-
folgender 8jähriger Deportation verwirkt (Art. 354).
29. Erschwerung der Tötung mit Rücksicht auf die Person des
Getöteten. Die Tötung, welche an dem Vater oder der Mütter ohne Unter-
schied, ob die Abstammung eine eheliche oder aussereheliche ist, sowie femer
an einem Aszendenten begangen wird, wird mit 8jähriger Einzelhaft nebst
nachfolgender 20jähriger Deportation und, nach richterlichem Ermessen, Ein-
sperrung am Verbannungsorte auf die Dauer von 2 Jahren bestraft. Wurde
die Handlung ohne Vorbedacht begangen, oder war der Thäter durch das
Opfer gereizt, so liegen mildernde Umstände vor; handelte aber der Thäter
mit Vorbedacht, so werden keinerlei mildernde Umstände berücksichtigt. Der
Versuch dieses Verbr. ist mit sechsjähriger Einzelhaft und nachfolgender
Sjähriger Deportation bedroht (Art. 355). — Wer ein noch nicht 8 Tage altes
Kind tötet, wird mit Einzelhaft von 8 Jahren und nachfolgender 20jähriger
Deportation bestraft. Die Strafe beträgt 2 bis 8 Jahre Einzelhaft, wenn
die That von der Mutter des Kindes, um ihre eigene Ehre, oder von dem
Vater der Mutter, um die Ehre seiner Tochter zu retten, begangen wird
(Art. 356).
30. Abtreibung. Die Anwendung von Gewalt oder anderen Mitteln,
um eine Fehlgeburt mit oder ohne Einwilligung der schwangeren Person zu
bewirken, wird mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren bestraft (Art. 358).
.Gleiche Strafe trifft die Frau, die zur Abtreibung ihre Einwilligung giebt,
oder diese selbst vornimmt. Wurde das Verbr. begangen, um die Ehre der
Schwangeren zu retten, so wird es mit leichtem Gef. bestraft. Gleiche Strafe
trifft den Arzt oder Apotheker, der zur Ausführung des Verbr. behülflich ist.
31. Körperverletzung und Misshandlung. Die vorsätzliche Miss-
hatidlung wird mit Gef. bis zu 3 Monaten bestraft (Art. 359). Hat sie eine
Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit des Verletzten zur Folge gehabt, so kann
die Strafe bis auf die Dauer von 6 Monaten erhöht werden, je nach der Dauer
der Krankheit oder der Arbeitsunfähigkeit. Sie wird bis zu 8 Jahren Einzel-
haft erhöht, wenn die Handlung eine Verstümmelung, Entstellung, den Verlust
eines Gliedes oder Organs, des Gebrauchs der Vernunft, den dauernden Ver-
^) Nach dem Art. 101 des Militärjustizgesetzes wird der von einer Militärperson
gegen die Person, bei welcher sie im Quartier liegt, begangene Totschlag mit Todes-
strafe und Degradation bedroht.
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 569
lust der Arbeitsfähigkeit oder den Tod des Verletzten zur Folge gehabt hat.
In dem letzteren Falle ist Voraussetzung, dass die Handlung nicht in Tötungs-
absicht begangen wurde (Art. 360 und 361).^) Trat der Tod infolge eines
zufälligen Elreignisses und nicht infolge der erlittenen Misshandlung ein, so
findet eine Strafverschärfung nicht statt (Art. 362). — Der Gebrauch von
Feuer- oder Schusswaffen, ohne dass ein Mordversuch vorliegt oder eine Ver-
wundung oder Beschädigung stattgefunden hat, wird mit Gef. bis zu 6 Monaten
bestraft. Die Drohung mit diesen Waffen, sowie Drohungen, die von mehre-
ren gemeinschaftlich in der Absicht, einen unmittelbaren Schaden zuzufügen,
ausgestossen sind, werden mit Gef. auf die Dauer von 3 Monaten bestraft
(Art. 363). — Das Gleiche gilt für diejenigen, welche anderen vorsätzlich und
in der Absicht, Schaden zuzufügen, Stoffe liefern, die zwar nicht geeignet
sind, den Tod einer Person herbeizuführen, aber doch eine Gesundheits-
beschädigung zur Folge haben können (Art. 364). — Ist der Verletzte der
Vater, die Mutter oder ein ehelicher Aszendent des Thäters, so erleiden die
angedi*ohten Strafen folgende Veränderungen: an Stelle von 3monatlichem
Gef. tritt Gef. auf die Dauer eines Jahres, an Stelle des leichten Gef. tritt
Gef. von 2 bis zu 8 Jahren; schwankte die Strafe zwischen 2 und 8 Jahren,
so tritt verschärftes Gef. ein, in allen schwereren Fällen endlich wird auf ver-
schärftes Gef. von 2 bis zu 8 Jahren erkannt (Art. 365). — Die Kastration
wird mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren bestraft. Hat sie den Tod des
Verletzten binnen 40 Tagen zur Folge gehabt, so tritt 8jähriges Gef. mit
nachfolgender 12jähriger Deportation ein (Art. 366). Wer sich selbst ver-
stümmelt, um dem Militärdienst zu entgehen, wird mit Gef. von 3 Monaten
bis zu 1 Jahre bestraft. Das Gleiche gilt von dem Arzt, Wundarzt und Apo-
theker, welcher sich an der Handlung beteiligt (Art. 367). Wer den Leich-
nam des Opfers verbirgt, wird mit Gef. von 3 Monaten bis zu 2 Jahren be-
straft (Art. 389).
32. Fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung. • Die
durch Unerfahrenheit, Nachlässigkeit, Ungeschicklichkeit oder Nichtbeachtung
einer Vorschrift herbeigeführte Tötung wird mit Gef. auf die Dauer von
1 Monat bis zu 2 Jahren und Geldstrafe bedroht (Art. 368). Die unter den
gleichen Umständen herbeigeführte Körperverletzung oder Misshandlung wird
mit Gef. von 3 Tagen bis zu 6 Monaten bestraft (Art. 369).
S3* Besondere mildernde Umstände bei fahrlässiger Tötung,
bei Körperverletzung und Misshandlung. War eine dieser Hand-
limgen ohne Vorbedacht oder nachdem der Thäter den Verletzten durch Ge-
walthandlungen gereizt hatte, begangen, so wird die ursprünglich angedrohte
8jährige Einzelhaft mit nachfolgender Deportation auf leichtes Gef. von 1 biß
zu 2 Jahren und Geldstrafe ermässigt; an Stelle der zeitigen Einzelhaft tritt
Gef. von 6 Monaten bis zu 2 Jahren; die Dauer der leichten Gefängnisstrafe
kaim auf den Zeitraum von 3 Tagen bis zu 6 Monaten herabgesetzt werden.
Die gleiche Strafmilderung tritt ein, wenn diese Delikte begangen sind, um
einen am hellen Tage beabsichtigten Einbruch in ein bewohntes Haus oder
dessen Nebengebäude zu verhindern (Art. 371). Der Ehegatte, der seine Ehe-
frau beim Ehebruch auf frischer That überrascht und sie nebst ihrem Mit-
schuldigen oder einen von beiden tötet oder gewaltsam angreift, wird, wenn
er ihre Verurteilung auf Grund des Art. 404 hätte herbeiführen können, mit
Ausschluss aus der Gemeinde-Versammlung (comarca) auf die Dauer von
*) Die von einer Militärperson verübten, von schweren Folgen nicht begleiteten
Misshandlungen werden mit Gef. von 3 Monaten bis zu 2 Jahren bestraft, wenn der
Verletzte eine Militärperson, und von 8 Monaten bis zu 20 Jahren, wenn er der Vor-
gesetzte des Thäters ist (Militärjustizgesetz, Art. 100 und 102 — 105).
570 I^ie iberische Halbinsel. — Portugal.
6 Monaten bestraft. Das Gleiche gilt für die von der Ehefrau vorgenommene
Tötung, wenn der Ehemann mit einer öffentlichen Dirne in der ehelichen
Wohnung Ehebruch getrieben hatte, ferner für die Eltern bezüglich ihrer noch
nicht 21 Jahre alten Töchter und deren Verführer, falls sie nicht selbst die
Verführung begünstigt haben (Art. 373). Die für die Kastration angedrohte
Strafe kann nur gemildert werden, wenn der Verletzte sich der Vornahme
unzüchtiger Handlungen mit Gewalt schuldig gemacht hatte. — Zu beachten
ist, dass wörtliche Beleidigungen, Schmähungen oder Drohungen, welche nicht
die im Art. 366 gestellten Bedingungen erfüllen, nicht als Provokation im
Sinne des Art. 370 anzusehen sind. Andererseits bezieht sich aber dieser
Artikel nicht auf den Aszendenten-Totschlag; in beiden Fällen finden die Vor-
schriften des allgemeinen Teils Anwendung.
34. Besondere Rechtfertigungsgründe bei Tötungen, Körper-
verletzungen und anderen gewaltsamen Handlungen. Nach den Vor-
schriften der Art. 43 — 46 liegt eine strafbare Handlung nicht vor, wenn die
Tötung, Körperverletzung oder Gewalthandlung unter einem der in Art. 41
aufgeführten umstände vorgenommen ist. Zu den im Art. 44 No. 6 erwähnten
Fällen gehört auch die Verhinderung eines zur Nachtzeit oder mittels Ein-
steigens oder Einbruchs in ein bewohntes Haus oder dessen Nebengebäude
versuchten Diebstahls, sowie die Verteidigung gegen einen Dieb oder den-
jenigen, der mit Gewalt eine Sachbeschädigung begeht (Art. 376 — 377). Die
Verteidigung wird jedoch nach den Umständen des Falls mit leichtem Gef.
oder der Verpflichtung zu civilrechtlichem Schadensersatz bedroht, wenn sie
das zulässige Mass überschreitet (Art. 378).
35. Bedrohung und Hausfriedensbruch. Wer mündlich oder schrift-
lich einen andern mit oder ohne Hinzufügung einer Bedingung mit der
Begehung eines Verbr. bedroht, wird mit leichtem Gef. bis zu 3 Monaten und
Geldstrafe bis zum Betrag des Einkommens eines Monats bestraft. — Geschieht
die »Bedrohung in der Absicht, den Bedrohten zur Vornahme oder Unterlas-
sung einer Handlung, zu deren Vornahme oder Unterlassung er gesetzlich
nicht verpflichtet ist, zu zwingen, so tritt Gef. bis zu 2 Monaten ein (Art. 379).
Wer, abgesehen von den im G. vorgesehenen Fällen, in die Wohnung eines
andern ohne dessen Einwillig^ung eindringt, wird mit Gef. bis zu 6 Monaten
bestraft. Wird die That unter Drohungen oder Thätlichkeiten , mittelst Ein-
steigens, Einbruchs oder Anwendung falscher Schlüssel begangen, so tritt
leichtes Gef. ein; der Versuch ist strafbar. Wer unter den gleichen Voraus-
setzungen sich weigert, die Wohnung eines andern zu verlassen, verwirkt Gef.
auf die Dauer von 3 Monaten, wenn er keine Gewalt anwendet, von 6 Monaten
im entgegengesetzten Falle (Art. 380).
36. Zweikampf. Die Herausforderung zum Zweikampf wird mit Qef.
von 1 bis zu 3 Monaten und mit Geldstrafe bis zum Betrag des Einkommens
eines Monats bestraft (Art. 381). Gleich der Herausforderung wird bestraft
die öffentliche Verspottung eines andern aus dem Grunde, weil derselbe sich
geweigert hat, eine Herausforderung zum Zweikampf anzunehmen (Art. 382).
Wer einen andern antreibt, eine Herausforderung anzunehmen oder durch
Zufügung einer Beleidigung eine solche hervorruft, wird mit Gef. von 1 Monat
bis zu 1 Jahre und Geldstrafe bedroht (Art. 383). Wer bei einem Zweikampf
von der Waffe Gebrauch macht, ohne dass es zum Blutvergiessen kommt,
verwirkt Gefängnisstrafe von 2 Monaten bis zu 1 Jahre und Geldstrafe (Art. 384).
Wer seinen Gegner im Zweikampf tötet, wird mit Gef. von 1 bis zu 2 Jahren
und der höchsten zulässigen Geldstrafe belegt; hat der Zweikampf die Arbeits-
unfähigkeit oder eine länger als 20 Tage dauernde Erankheit, sowie den
Verlust eines Gliedes oder eines Organs für den Verletzten zur Folge, so
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 571
beträgt die Strafe Gef. von 6 Monaten bis zu 2 Jahren und entsprechende
Geldstrafe; wegen anderer Verwundungen wird Gef. und Geldstrafe im
Betrage des Einkommens von 3 bis zu 18 Monaten angedroht (Art. 385). Die
Zeugen werden, wenn sie nicht als Thäter oder Teilnehmer anzusehen sind,
mit Gef. auf die Dauer von 6 Monaten und einer dem Einkommen bis zu
1 Monat entsprechenden Geldstrafe belegt (Art. 386). Die gegen Tötung und
Körperverletzung angedrohten Strafen finden Anwendung, wenn der Zweikampf
ohne Zeugen stattgefunden hat, oder einer der Kämpfenden sich betrügerischer
Mittel bedient, oder die hergebrachten Regeln überschritten hat, sowie auf
deije^^gr^i^t ^^^ in gewinnsüchtiger Absicht zum Zweikampf herausgefordert
oder zur Annahme der Herausforderung angetrieben hat (Art. 387).
Ist der Schuldige ein öffentlicher Beamter, so kann gegen ihn auf Amts-
entsetzung erkannt werden (Art. 388).
37. Sittlichkeitsdelikte.
a) Verletzung der Sittlichkeit und Erregung öffentlichen Ärger-
nisses durch unzüchtige Handlungen. Die Erregung öffentlichen Ärger-
nisses durch Vornahme unzüchtiger Handlungen wird, wenn die That durch
öffentliche Reden begangen wird, mit Gef. auf die Dauer von 3 Monaten und
einer dem Einkommen bis zu 1 Monat entsprechenden Geldstrafe, wenn sie
durch Veröffentlichung von Schriften oder Zeichnungen begangen wird oder
in unzüchtigen Handlungen ohne Verletzung einer einzelnen Person besteht,
mit Gef. von 6 Monaten und Geldstrafe in Höhe eines einmonatlichen Ein-
kommens belegt (Art. 420 und 390).
b) Vornahme unzüchtiger Handlungen und Notzucht. Die ge-
waltsame Vornahme unzüchtiger Handlungen an einer Frauensperson wird mit
leichtem Gef. bestraft. Die gleiche Strafe findet Anwendung, wenn die That
ohne Gewalt, jedoch an einer noch nicht 12 Jahre alten Person begangen ist
(Art. 391). Die Verführung einer bereits 12, aber noch nicht 18 Jahre alten
Jungfrau zum Beischlaf wird mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren bestraft,
ebenso die Erzwingung des Beischlafs mit einer Frauensperson ohne Rücksicht
auf deren Alter, wenn die That mit Gewalt unter schweren Drohungen oder
Anwendung betrügerischer Mittel begangen wurde, oder das Opfer des Ge-
brauchs seiner Vernunft beraubt war. Die einfache Notzüchtigung einer noch
nicht 12 Jahre alten Frauensperson wird mit Gef. auf die Dauer von 4 Jahren
und nachfolgender 8jähriger Deportation bestraft (Art. 393, 394). Die unter
den in den vorerwähnten Artikeln bezeichneten Umständen begangene Ent-
führung in unsittlicher Absicht wird als Vornahme unzüchtiger Handlungen
mit Gewalt bestraft, wenn die Vollziehung des Beischlafs nicht stattgefunden
hat, andernfalls bildet die Entführung einen erschwerenden Umstand; ist das
Opfer noch nicht 12 Jahre alt, so wird stets angenommen, dass die Entführung
gewaltsam stattgefunden hat (Art. 395). Die Entführung einer bereits 12, aber
noch nicht 18 Jahre alten Jungfrau mit deren Einwilligung bildet einen er-
schwerenden Umstand des Verbr. der Notzucht, wenn die Vollziehung des
Beischlafs stattgefunden hat, und wird wie Entführung mit nachfolgender Ver-
führung bestraft; andernfalls tritt Gef. bis zu 1 Jahre ein (Art. 396 und 397).
Die vorerwähnten Strafen werden durch die unmittelbar höheren Strafen er-
setzt: 1. wenn der Thäter ein Aszendent oder ein Bruder des Opfers, 2. wenn
er dessen Vormund, Pfleger, Lehrer oder Geistlicher, 3. wenn er dessen Haus-
genosse oder Verwandter ist, oder auf dasselbe durch seinen Beruf einen be-
sonderen Einfiuss hatte, 4. wenn er auf das Opfer eine syphilitische oder
venerische . Krankheit überträgt (Art. 398), — Die Verfolgung dieser Delikte
tritt ohne Antrag des Verletzten nur ein 1. wenn das Opfer noch nicht 12 Jahre
alt ist, 2. wenn die bei Begehung der That angewendeten Gewalthandlungen
572 Die iberische Halbinsel. — Portugal.
als Verbr. strafbar sind, 3. wenn sich das Opfer in Not befand (Art. 399). —
Wer eine Jungfrau verführt oder genotzüchtigt hat, muss sie heiraten oder
ihr eine angemessene Aussteuer geben (Art. 400).
c) Ehebruch. Der Ehebruch der Frau wird mit Einzelhaft von 2 bis
zu 8 Jahren bestraft. Die gleiche Strafe trifft den Mitschuldigen, wenn er
wusste, dass die Schuldige verheiratet war; derselbe ist ausserdem dem hinter-
gangenen Ehemann zum Schadensersatz verpflichtet; der Beweis der Schuld
kann nur durch BetreflPen auf frischer That oder durch Briefe und andere
Schriftstücke geführt werden. Die Strafverfolgung findet nur auf Antrag des
verletzten Ehegatten statt, derselbe muss gegen beide Schuldigen gerichtet
sein. Der Antrag bleibt wirkungslos, und das Verfahren wird einstT^eilen ein-
gestellt, wenn der Ehemann seiner Frau oder ihrem Mitschuldigen verzeiht,
oder sich mit seiner Frau aussöhnt (Art. 401 und 402). Das Civilurteil, welches
die auf den Ehebruch gestützte Klage abweist, hat auch die Beendigung des
Strafverfahrens zur Folge; lautet es jedoch auf Ehescheidung, so wird das
Strafverfahren fortgesetzt (Art. 403). Der Ehemann, der in der gemeinsamen
ehelichen Wohnung eine Beischläferin unterhält, wird mit einer dem Einkommen
von 3 Monaten bis zu 3 Jahren entsprechenden Geldstrafe belegt; die Straf-
verfolgung findet nur auf Antrag der Ehefrau und xmter den Voraussetzungen
der Art. 401 — 403 statt. Der Ehemann ist nicht berechtigt, gegen seine Ehe-
frau Strafantrag zu stellen, wenn er selbst des Ehebruchs überführt wird, oder
seine Frau zur Führung eines unsittlichen Lebenswandels veranlasst hat (Art. 404).
d) Kuppelei (lenocinio). Der Aszendent, der, um die Leidenschaften
eines andern zu befriedigen, die Prostitution oder die Verführung seiner Des-
zendentin begünstigt oder erleichtert, wird mit Gef. von 1 bis zu 2 Jahren,
Geldstrafe und Ausschluss von der Ausübung der politischen Rechte auf die
Dauer von 12 Jahren bestraft; ist der Schuldige der Ehegatte des Opfers, so
verwirkt er neben dem Ausschluss von der Ausübung der politischen Rechte
die zeitweilige Verweisung aus seinem Aufenthaltsorte und eine dem Einkonmien
von 3 Monaten bis zu 3 Jahren entsprechende Geldstrafe; die Strafe wird gleich-
falls erhöht, wenn der Thäter der Vormund oder Erzieher der verkuppelten
Person ist (Art. 405). — Wer den unsittlichen Lebenswandel oder die Ver-
führung mindeijähriger Personen unter 21 Jahren gewohnheitsmässig begünstigt
oder erleichtert, wird mit Gef. von 3 Monaten bis zu 1 Jahre, Geldstrafe und
Ausschluss von der Ausübung politischer Rechte auf die Dauer v'on 5 Jahren
bestraft (Art. 406).
38, Verbreitung falscher Thatsachen, Verleumdung und Be-
leidigung. — Pressdelikte. Die öffentliche, mündliche oder schriftliche
Verbreitung beleidigender Thatsachen, als welche auch schon die einfache
Weitererzählung einer für den Betroffenen ehrenrührigen Behauptung angesehen
wird, ist mit Gef. auf die Dauer von 4 Monaten und einer dem Einkommen
von 1 Monat entsprechenden Geldstrafe bedroht (Art. 407). Der Beweis der
Wahrheit der behaupteten Thatsachen wird nur zugelassen, wenn es sich um Be-
hauptungen handelt, welche gegen einen öffentlichen Beamten gerichtet sind und
sich auf die Ausübung seines Amtes beziehen, oder wenn sie ^gegen eine Privat-
person gerichtet sind, die wegen einer strafbaren Handlung unter Anklage
gestellt, aber noch nicht rechtskräftig verurteilt ist (Art. 408). Die öffentliche
Beleidigung zieht Gef. auf die Dauer von 2 Monaten und Geldstrafe bis zum
Betrage eines Monatseinkommens nach sich; der Beweis der Wahrheit der be-
haupteten Thatsachen ist unzulässig (Art. 410). Die Beleidigung der gesetz-
gebenden Kammer wird mit Gef. bis zu 6 Monaten bestraft (Art. 411). War
die Beleidigung nicht öffentlich, so beträgt das Mindestmass der Strafe 2 Mo-
nate (Art. 412). Öffentliche Thätlichkeit in Beleidigungsabsicht wird mit der
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 573
erschwerten Strafe der Verbreitung falscher Thatsachen bedroht, falls nicht
nach allgemeinen Regeln eine schwerere Strafe verwirkt ist (Art. 413). Die
Beleidigung eines ehelichen Aszendenten oder Deszendenten hat stets die Ver-
urteilung zur höchsten zulässigen Strafe zur Folge (Art. 415). Die Strafver-
folgung tritt nur auf Antrag des Beleidigten ein, wenn nicht das Delikt in
Gegenwart eines öffentlichen Beamten, eines in Ausübung seiner Funktionen
befindlichen Geistlichen oder in einem zum öffentlichen Dienst oder zum Gottes-
dienst bestimmten Gebäude oder im königlichen Schlosse begangen wurde
(Art. 416). Richtete sich die Beleidigung gegen das Andenken eines Veratorbenen,
so sind die Aszendenten, Deszendenten, der Ehegatte, sowie die Erben zur
Stellung des Antrages berechtigt (Art. 417). Bittet der Thäter den Beleidigten
in öffentlicher Gerichtssitzung um Verzeihung, so bleibt er straflos, wenn
Letzterer sich damit einverstanden erklärt (Art. 418). Die in einer vor Gericht
gehaltenen Rede oder durch Vorlage von Schriften verleumderischen oder be-
leidigenden Inhalts vor Gericht begangene Beleidigung zieht für den Anwalt
oder Sachwalter, welcher sich derselben schuldig gemacht hat, die Amtsent-
hebung auf die Dauer bis zu 6 Monaten nach sich; das Gericht ist befugt, die
Unterdrückung der beleidigenden Abschnitte anzuordnen (Art. 419).
Die Pressfreiheit wird geregelt durch das G. vom 17. Mai 1866, die
Vdg. vom 29. März 1890 und das G. vom 12. August 1890. Zur Herausgabe
einer Zeitung bedarf es keiner besonderen obrigkeitlichen Erlaubnis; es genügt,
diiss der Herausgeber eine Woche vor Beginn der Veröffentlichung der Ver-
waltungsbehörde und der Staatsanwaltschaft nachweist, dass er im Besitze der
bürgerlichen Ehrenrechte ist, und seinen Wohnsitz in dem Bezirk hat, in
welchem die Veröffentlichung stattfinden soll. Die Verantwortlichkeit für den
Inhalt einer Druckschrift trifft der Reihe nach: den Verfasser, den Herausgeber,
den Eigentümer des zur Herstellung verwendeten Materials, den Verkäufer und
denjenigen, der die Druckschrift öffentlich anheftet oder aushängt. Der Eigen-
tümer des Materials haftet stets für die verwirkten Geldstrafen. Der Heraus-
geber ist verpflichtet, das wegen des Inhalts der Druckschrift ergangene Straf-
urteil zu veröffentlichen und kann mit der zeitigen oder dauernden Unter-
drückung der Druckschrift bestraft werden.
Versammlungen, die zum öffentlichen Gedankenaustausch bestimmt sind,
müssen von der Polizei 24 Stunden vor Beginn genehmigt werden; die Polizei
kann verlangen, dass die Einberufer die Verantwortlichkeit für die erfolgende
Störung der öffentlichen Ordnung übernehmen und Sicherheit für die etwa zu
erkennenden Geldstrafen hinterlegen; jedoch bleibt trotz dieser Massregeln
der Polizei das Recht, die Versammlung aufzulösen, wenn Unordnung entsteht.
Theatralische Veranstaltungen können untersagt werden, wenn sie die
öffentliche Sittlichkeit gefährden oder Beleidigungen gegen Behörden oder
Privatpersonen enthalten. Den Verfassern der aufgeführten Stücke ist jedoch
gestattet, sich durch Unterwerfung unter eine vorherige Censur vor dem Auf-
führungsverbot zu sichern.
Titel V.
39. Diebstahl und unbefugte Inbesitznahme von Grundstücken.
Die strafbare Entwendung von beweglichen Sachen (furto) wird, je nach dem
Wert des gestohlenen Gegenstandes, mit Gef. auf die Dauer von 6 Monaten
und Geldstrafe, mit 2jährigem Gef. und einer dem Einkommen von 6 Monaten
entsprechenden Geldstrafe, mit Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren und einer dem
Einkommen von 1 Jahre entsprechenden Geldstrafe bedroht; der Versuch ist
strafbar. — Gleiche Strafen treffen den Eigentümer, welcher in betrügerischer
Absicht eine durch Vertrag oder Richterspruch ihm gehörige, den Gegenstand
574 ^e iberische Halbinsel. — PoitngaL
einer VerpHindiing oder eines Deposinuns bildende bewegliche Sache sich an-
eignet oder zerstört (Art 422). Wer eine fremde Sache findet, hat die für
den Diebstahl angedrohten Strafen, jedoch in gemilderter Form verwirkt, wenn
er in betrügerischer Absicht es nnterU&sst, diese dem Eigentümer zurück-
zugeben^ oder die gesetzlich vorgeschriebenen Schritte za thnn, am denselben
von der Anffindimg in Kenntnis zn setzen (Art. 423). Der Diebstahl oder die
Zerstdrong von Prozessakten, Registern oder Urkunden wird mit Einzelhaft
von 2 bis za 8 Jahren nnd Geldstrafe belegt; der Umstand, dass diese Gegen-
stände an einem öffentlichen Verwahrongsorte niedei^elegt, oder for einen
solchen bestimmt waren, wirkt erschwerend. Dienstboten, welche ihrer Dienst-
herrschaft gehörige oder in dem von ihnen bewohnten Hanse befindliche, einem
Dritten gehörige Gegenstände entwenden; Lohndiener and Arbeiter jeder Art,
die am Orte der That regelmässig beschäftigt sind; Gastwirte and ihre Aaf-
traggeber, Schiffer, Führer von Fahrwerken oder ihre Aaftraggeber, welche
eine ihnen anvertraate Sache stehlen, werden, je nach dem Wert des gestohlenen
Gegenstandes mit Gref. anf die Daaer von 6 Monaten and Geldstrafe, mit Gef.
aaf die Daaer von 2 Jahren and einer dem Einkommen von 6 Monaten ent-
sprechenden Geldstrafe oder mit Einzelhaft von 2 bis za 8 Jahren and Greld-
strafe belegt (Art. 424 and 425). Schwerer Diebstahl liegt vor: 1. wenn der
Thäter Waffen bei sich führte; 2. wenn die That begangen warde an einem
einsamen Orte oder zur Nachtzeit; oder 3. wenn der Diebstahl begangen wurde
von zwei oder mehr Personen; oder 4. in einem bewohnten oder zam Bewohnen
bestimmten Gebäade, in einem öffentlichen oder zam Gottesdienst bestimmten
Gebäade oder aaf einem Kirchhofe; 5. wenn Gegenstände während des Trans-
ports aaf einer öffentlichen Strasse gestohlen warden; 6. wenn der Thäter sich
den Titel eines öffentlichen Beamten beigelegt oder die Uniform eines solchen
angelegt hatte; 7. wenn der Diebstahl mittelst Einsteigens, Erbrechens von
Behältnissen oder Anwendang falscher Schlüssel in einem anbewohnten Ge-
bäade begangen warde (Art. 426).*)
Die im Art. 426 erwähnten Umstände führen die Verschärfung der Strafe
herbei, lassen jedoch die Wirkang der anderen erschwerenden Umstände an-
berührt (Art. 429). — Bei allen Diebstählen findet, wenn der Thäter nicht
Gewohnheitsverbrecher ist, die Strafverfolgung nur auf Antrag des Bestohlenen
statt, wenn der Wert des entwendeten Gegenstandes anter 500 Reis beträgt;
das Gleiche gilt von der Entwendang von Früchten zum alsbaldigen Verbrauch,
die mit der Strafe des Verweises bedroht ist (Mundraub). Wer ein fremdes
Grundstück betritt, um noch nicht abgeerntete Früchte za entwenden, ver-
wirkt Gef. bis zu 6 Tagen, wenn der Verletzte Bestrafung beantragt. Indessen
tritt in diesen beiden letzteren Fällen leichte Gefängnisstrafe ein, wenn der
*) Als falscher Schlüssel gilt nicht nur der nachgemachte oder nachgeahmte,
sondern auch der rechte Schlüssel, der durch Zufall oder infolge einer List sich nicht
in Händen des Eigentümers befindet, femer ein Dietrich oder jedes andere zur Er-
öffnung eines Schlosses geeignete Instrument. — Erbrechen von Behältnissen wird auch
dann als vorliegend angenommen, wenn der erbrochene Gegenstand erst ausserhalb
des Ortes, an welchem er sich befand, geöfinet oder erbrochen ist (Art. 442). — Wer
sich im Besitz von Dietrichen oder anderen zur Eröffnung von Schlössern geeigneten
Instrumenten betreffen lässt, wird mit Gef. von 8 Monaten und einer dem Einkommen
von 1 Monat entsprechenden Geldstrafe belegt; der Gebrauch dieser Instrumente in
der Absicht Schaden zuzufügen zieht leichtes Gef. auf die Dauer von 1 Jahr und
Geldstrafe bis zum Betrage des Einkommens eines Monats nach sich; die Anfertigung
derartiger Instrumente, sowie die Nachmachung und Unbrauchbarmachung von Schlüs-
seln wird mit leichtem Gef. nicht unter 1 Jahr und Geldstrafe bis zum Betrage des
Einkommens von 6 Monaten bestraft; die letztere Strafe wird bis zum Höchstmass
der leichten Gefängnisstrafe erhöht, wenn der Schuldige Schlosser von Beruf ist (Art.
443 und 444).
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 575
Thäter gewohnheitsmässiger Dieb ist (Art. 430). Der unter Ehegatten, sowie
der von einem Aszendenten zum Nachteil seines Deszendenten verübte Dieb-
stahl bleibt straflos. Ist der Bestohlene der Aszendent, Bruder, Schwager,
Schwiegersohn, Schwiegervater, Vormund oder Dienstherr des Thäters, so findet die
Strafverfolgung nur auf Antrag statt, dessen Zurücknahme zulässig ist (Art. 431).
— Gewaltsame Handlungen xmd Drohungen (roubo) bilden erschwerende Um-
stände. — War das Haus, in welches der Thäter mittelst Einbruchs, Einsteigens
oder falscher Schlüssel eingedrungen ist, zur Zeit der Ausführung des Dieb-
stahls bewohnt, so wird der Diebstahl zugleich als Vornahme gewaltsamer
Handlungen gegen die betreffende Person angesehen (Art. 432).
Trifft ein vollendeter oder versuchter Diebstahl mit einer Tötung zusam-
men, so beträgt die Strafe Einzelhaft auf die Dauer von 8 Jahren mit nach-
folgender 20jähriger Deportation und Einsperrung am Verbannungsorte (Art.
433); trifft Diebstahl mit Freiheitsberaubung, Notzucht oder einer der im Art.
361 aufgeführten Gewalthandlungen zusammen, so beträgt die Strafe 6jährige
Einzelhaft mit nachfolgender lOjähriger Deportation. — Mit Einzelhaft nicht
unter 5 Jahren und 4 Monaten wird der Diebstahl bestraft, wenn er an einem
einsamen Orte von mehreren bewaffneten Personen begangen ist, und die von
diesen dem Bestohlenen zug-efügten Gewalthandlungen eine Verwundung, Be-
schädigung oder irgend welches Schmerzgefühl für denselben zur Folge ge,
habt haben. Der unter gleichen Umständen versuchte Diebstahl wird bestraft-
als wenn ein vollendeter Diebstahl mit mildernden Umständen vorläge (Art.
434). Die Strafe beträgt Einzelhaft von 2 bis zu 8 Jahren, wenn der Dieb-
stahl an einem verlassenen Orte durch eine bewaffnete Person begangen ist,
oder wenn derselbe zwar von zwei oder mehr Personen begangen ist, aber
nicht den Thatbestand des Art. 434 erfüllt (Art. 435). — Derjenige, welcher
die Mittbäter vereinigt oder verleitet, ihnen Instruktionen erteilt oder die Aus-
führung der That geleitet hat, wird mit einer Strafe belegt, die, je nach den
Umständen des Falls, zwischen Gef. von 5 Jahren und 4 Monaten und Einzel-
haft von 8 Jahren mit nachfolgender 20jähriger Deportation mit oder ohne
Einsperrung am Verbannungsorie schwankt (Art. 436). Strafmilderung tritt ein,
wenn der Thäter der Gläubiger des Bestohlenen war, und die That begangen
hat, um seine Forderung einzutreiben (Art. 439). Wer mittels Gewalt oder
Drohungen einen andern zur Unterzeichnung eines Schuldscheines oder einer
Quittung zwingt, wird mit der Strafe des gewaltsamen Diebstahls (roubo) be-
legt (Art. 440). — Der Diebstahl von zum Gottesdienst bestimmten Gegen-
ständen aus einem dem gleichen Zwecke dienenden Gebäude während der
Vornahme einer gottesdienstlichen Handlung zieht Erhöhung der Strafe auf
das Höchstmass nach sich (Art. 441).
Wer mittels Gewalt oder Drohungen ein Grundstück, an welchem er
ungerechtfertigter Weise ein Eigentums-, Gebrauchs- oder Besitzrecht zu haben
behauptet, in Besitz nimmt, wird mit leichtem Gef. bestraft (Art. 445). — Die
Entfernung, Versetzung oder Unkenntlichmachung von Grenzzeichen ohne ge-
richtliche Erlaubnis und Einwilligung des Eigentümers wird mit Gef. von
1 Monat bis zu 1 Jahre und entsprechender Geldstrafe belegt (Art. 446).^)
40. Bankerutt, Benachteiligung von Gläubigern und Betrug
(burla). Der betrügerische Bankerutt im Sinne des Handelsgesetzbuches wird
mit Einzelhaft auf die Dauer von 4 Jahren nebst nachfolgender 8jähriger
Deportation bestraft; der einfache, sowie der durch Fahrlässigkeit herbei-
geführte zieht leichtes Gef. nach sich; die gleiche Strafe trifft den Teilnehmer
(Art. 447 und 448). — Der Nichtkaufmann , welcher seine Zahlungen einstellt
i) Vgl. Militärjustizgesetz, Art. 108—118.
576 I^ie iberische Halbinsel. — Portugal.
und Vermögensstücke in betrügerischer Absicht verheimlicht oder veräussert,
wird mit Gef. von 3 Monaten bis zu 2 Jahren bestraft (Art. 449). — Mit leich-
tem Gef. nicht unter 6 Monate mit oder ohne Geldstrafe und Ausschluss von
der Ausübung der politischen Rechte auf die Dauer von 2 Jahren wird
bestraft: 1. wer eine Sache, als deren Eigentümer er sich ausgiebt, veräussert,
vermietet oder verpfändet; 2. wer eine bewegliche oder unbewegliche Sache
an zwei verschiedene Personen verkauft; 3. wer einen Gegenstand für zwei
Forderungen gleichzeitig verpfändet, wissend, dass der Wert desselben nicht
ausreicht, um beide Forderungen zu decken; 4. wer eine verpfändete Sache
in betrügerischer Absicht als pfandfrei veräussert (Art. 450). Gleich einem
Diebe wird, je nach dem Werte des Gegenstandes oder des entstandenen Scha-
dens, bestraft, wer sich Geld, Schuldverschreibungen oder bewegliche Gegen-
stände aushändigen lässt 1. unter Angabe eines falschen Namens oder Bei-
legung einer falschen Eigenschaft, 2. auf Grund gefälschter Urkunden, 3. unter
betrügerischer Vorspiegelung eines nicht vorhandenen Unternehmens oder des
nichtvorhandenen Besitzes von Vermögensstücken oder Forderungen oder unter
Benutzung der Hoffnung auf einen zukünftigen möglichen Gewinn (Art. 451).
— Wer sich zur Abwickelung eines Geschäfts einen Gegenstand oder ein
Versprechen geben lässt unter der Vorspiegelung^ er habe Kredit oder mittel-
baren oder unmittelbaren Einfluss bei einer Behörde, oder er müsse einem
öffentlichen Beamten eine Belohnung zukommen lassen, wird mit dem zuläs-
sigen Höchstmass der leichten Gefängnisstrafe und einer dem Einkommen bis
zu 1 Jahr entsprechenden Geldstrafe belegt, abgesehen von der wegen Belei-
digung etwa verwirkten Strafe (Art. 452).
41, Vertrauensmissbrauch, Vorspiegelung falscher Thatsachen
und andere betrügerische Handlungen. Mit der Diebstahlsstrafe wird
belegt, wer Geld, Schuldverschreibungen oder bewegliche Sachen, welche ihm
in Verwahrung, zur Miete, in Kommission, zur Verwaltung, leihweise oder zu
irgend einem andern bestimmten Zwecke mit der Verpflichtung zur Rückgabe,
sei es der Sachen selbst oder ihres Wertes, gegeben sind, unterschlägt oder
für sich verwendet (Art. 453). — Wer unter Benutzung der Notlage oder der
Leidenschaften eines unter Gewalt stehenden Minderjährigen oder entmündigten
Verschwenders einen solchen veranlasst, eine Verpfändung von Geld oder
beweglichen Gegenständen vorzunehmen, oder mittels irgend eines anderen
Scheinvertrages mündliche oder schriftliche Verbindlichkeiten einzugehen oder
einem Dritten Rechte irgend welcher Art zu übertragen, wird mit leichtem
Gef. und Geldstrafe belegt (Art. 454). — Die Vorspiegelung falscher That-
sachen zum Nachteil eines Dritten oder des Staates wird mit Gef. von 1 Monat
bis zu 2 Jahren und Geldstrafe von 50 000 — 300 000 Reis , welche von allen
dabei Beteiligten gemeinschaftlich zu tragen ist, bestraft (Art. 455). Gef. von
1 Monat bis zu 1 Jahre und Geldstrafe verwirkt 1. wer einen Käufer über die
Beschaffenheit der ihm verkauften Ware täuscht; 2. wer Waren oder Nah-
rungs- und Genussmittel verkauft, die in der Absicht, ihr Gewicht oder ihren
Umfang zu vermehren, verfälscht oder nachgemacht sind, selbst wenn sie
nicht gesundheitsschädlich sind; 3. wer in der gleichen Absicht falsches Mass
oder falsche Gewichte anwendet. — Die Strafe wird verschärft, wenn der
Thäter ein Juwelier ist. — Die einfache Führung falscher Gewichte oder
Masse wird mit Geldstrafe von 1000—5000 Reis bedroht; falsch sind alle
Gewichte und Masse, die nicht ausdrücklich gesetzlich zugelassen sind
(Art. 456). Der in Widerspruch mit den über das Eigentumsrecht an litte-
rarischen oder künstlerischen Werken erlassenen Gesetzen oder Bestimmungen vor-
genommene Nachdruck oder die Nachahmung von solchen wird mit Geldstrafe
von 30 000 — 300 000 Reis bedroht und zieht den Verlust der nachgedruckten
§ 5. Der besondere Teil des StGB. 577
bezw. nachgeahmten Werke, sowie der zur Herstellung benutzten Maschinen
usw. nach sich. Die gleiche Bestimmung greift Platz, wenn ein in Portugal
verfertigtes, im Auslande nachgedrucktes oder nachgeahmtes Werk in das
Gebiet des Königreichs eingeführt ist. Die Ausstellung eines derartigen Wer-
kes zum Verkauf wird mit Geldstrafe von 10000 — 100000 Reis bedroht.
Die gleiche Strafe findet auf die ungesetzliche Aufführung eines dramatischen
oder musikalischen Werkes Anwendung (Art. 458). Die betrügerische Ver-
letzung der Rechte eines Erfinders wird mit Geldstrafe von 50 000 — 300 000
Reis und Verlust der zur Herstellung benutzten Instrumente bedroht (Art. 459).
— In allen diesen Fällen werden die eingezogenen Gegenstände dem Ver-
letzten als Entschädigung ausgeliefert, ohne dass dies jedoch auf die Civil-
klage Einfluss hat (Art. 460).
42. Verletzung von Geheimnissen. Wer in böswilliger Absicht einen
ihm nicht gehörigen Brief oder ein anderes verschlossenes Schriftstück öflFhet,
wird mit 1 Jahr Gef. und einer Geldstrafe bis zum Betrage des Einkommens
von 3 Monaten bestraft, wenn er vom Inhalt der Schriftstücke Kenntnis genom-
men und denselben weiu^r verbreitet hat; mit Gef. bis zu 6 Monaten, wenn
er ihn nicht weiter verbreitet, mit Gef. bis zu 3 Monaten, wenn er vom Inhalt
keine Kenntnis genommen hat. Diese S traf bestimmun g findet jedoch keine
Anwendung auf Ehemänner, Eltern und Vormünder bezüglich der für ihre
Ehefrauen, Kinder oder Mündel bestimmten Briefe. Andererseits wird die
Strafe erhöht, wenn der Schuldige der Dienstbote oder Verwalter des Ver-
letzten ist, oder wenn es sich um Schriftstücke einer Verwaltungsbehörde oder
eines Gerichts handelt (Art. 461). — Jede in einem Geschäft oder einer Fabrik
als Direktor angestellte oder als Arbeiter beschäftigte Person, welche zum
Nachteil des Eigentümers Betriebs- oder Fabrikgeheimnisse veröfl'entlicht, ver-
wirkt Gef. von 3 Monaten bis zu 2 Jahren und Geldstrafe (Art. 462).
43. Brandstiftung und Sachbeschädigung. Mit Einzelhaft von
8 Jahren und nachfolgender Deportation von 12 Jahren wird bestraft, wer
vorsätzlich ganz oder teilweise in Brand setzt oder zerstört: 1. ein Fabrik-
gebäude oder ein dem Staate gehöriges Gebäude oder Bauwerk; 2. ein bewohntes
Gebäude; 3. ein gesetzlich zur Versammlung der Bürger bestimmtes Gebäude;
4. ein zum Bewohnen bestimmtes und in bewohnter Gegend belogenes Gebäude;
als Ort, der zum Bewohnen bestimmt ist, werden auch die Wagen eines in
Bewegung befindlichen oder zum Abfahren bereiten Eisenbahnzuges angesehen,
selbst wenn einzelne Wagen des Zuges leer sind (Art. 463). Die Strafe beträgt
4jährige Einzelhaft mit nachfolgender Sjähriger Deportation, wenn der Gegen-
stand der That ist: 1. ein Schiff, ein Magazin oder irgend ein zum Bewohnen
bestimmtes Gebäude; 2. Getreide- Vorräte, Waldungen, Gehölz oder Weinberge
(Art. 464). Hat die Brandstiftung den Tod einer Person herbeigeführt, die
sich im Augenblick der Begehung der That am Orte derselben befand, so
beträgt die Strafe Einzelhaft auf die Dauer von 8 Jahren mit nachfolgender
20jähriger Deportation mit oder ohne Einsperrung am Verbannungsorte (Art. 466).
War der Thäter der Eigentümer des in Brand gesetzten Gegenstandes, so
wird er, wenn es sich um ein bewohntes Gebäude handelt, nach Art. 463,
andernfalls, vorausgesetzt, dass er die Absicht gehabt hat, einen andern zu
schädigen, nach Art. 464 bestraft. Wurde die That begangen, um die Schadens-
ersatzpfiicht eines Dritten zu begründen oder einen andern eines ihm zustehen-
den Rechtes zu berauben, so tritt Gef. von 1 bis zu 2 Jahren und entsprechende
Geldstrafe ein (Art. 468). Abgesehen von den in den Art. 463 und 469 vor-
gesehenen Fällen wird im allgemeinen die vorsätzliche Brandstiftung mit den
für die Sachbeschädigung unter erschwerenden Umständen angedrohten Strafen
belegt (Art. 470). Die vorstehenden Bestimmungen finden auch Anwendung
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I. 37
578 I^ie iberische Halbinsel. — Portugal.
auf das Versinkenlassen von Schiffen, die Herbeiführung einer Strandung,
sowie der Explosion einer Mine oder einer Dampfmaschine (Art. 471).
Die ohne böswillige Absicht begangene Brandstiftung wii'd, wenn sie
einen Schaden verursacht hat, mit einer dem Einkommen eines Monats ent-
sprechenden Geldstrafe belegt, vorausgesetzt, dass sie auf der Nichtbeachtung
einer reglementarischen Vorschrift beruht (Art. 482).
Die durch Zerstörung eines Grebäudes verübte Sachbeschädigung wird mit
Strafe bedroht, die je nach der Höhe des verursachten Schadens zwischen Gef.
auf die Dauer von 3 Monaten und einer dem Einkommen von 2 Wochen ent-
sprechenden Geldstrafe einerseits und leichtem Gef. auf die Dauer von 2 Jahren
und einer dem Einkommen von 6 Monaten entsprechenden Geldstrafe anderer-
seits schwankt. — Übersteigt der verursachte Schaden nicht die Sunmie von
500 Reis, so tritt die Strafverfolgung nur auf Antrag des Verletzten ein.
Wer vorsätzlich eine Eisenbahnlinie beschädigt, oder einen Eisenbahn-
transport gefährdet, wird mit Einzelhaft auf die Dauer von 2 bis zu 8 Jahren,
und wenn die That den Tod eines Menschen zur Folge gehabt hat, auf die
Dauer von 8 Jahren mit nachfolgender 20jähriger Deportation mit oder ohne
Einsperrung am Verbannungsorte bestraft; ist infolge der That eine Körper-
verletzung oder Krankheit (Art. 360 und 361) eingetreten, so wird die Strafe
entsprechend abgeändert. Das StGB, bestraft femer die Zerstörung von
Telegraphen- und Telephon-Anlagen, sowie die Widersetzung gegen die
Anbringung von solchen (Art. 472). — Die Zerstörung oder Beschädigung
eines Denkmals oder eines andern zum öffentlichen Schmuck dienenden Gegen-
standes wird mit Gef. von 2 Monaten bis zu 2 Jahren und entsprechender
Geldstrafe bedroht (Art. 474). Die Zerstörung von Emtevorräten, Weinbergen,
Pflanzungen, Schonungen, Saaten wird, wenn sie vorsätzlich und mit Gewalt
oder unter Erregung von Lärm oder mittels schädlicher Substanzen begangen ist,
mit Einzelhaft auf die Dauer von 2 bis zu 8 Jahren bestraft (Art. 478). Die vor-
sätzliche Tötung oder Beschädigung eines einem andern gehörigen Haustieres wird
mit Gef. von 1 Monat bis zu 1 Jahre oder entsprechender Geldstrafe belegt (Art.
479 und 480). Jede in vorstehendem noch nicht erwähnte, zum Nachteil eines
andern begangene Sachbeschädigung wird mit Gef. auf die Dauer von 6 Monaten
und der höchsten zulässigen Geldstrafe, und, wenn keine erschwerenden Umstände
vorliegen, nur mit einer dem Einkommen eines Monats entsprechenden Geldstrafe
belegt, wenn der Beschädigte Strafantrag stellt und nicht eine Überti*etung vor^
liegt (Art. 481).
Titel VI.
44. öffentliche Aufforderung zur Begehung einer strafbaren
Handlung. Wer durch öffentliche Reden oder öffentliche Verbreitung von
Schriften oder in irgend einer anderen Weise öffentlich zur Begehung einer
bestimmten strafbaren Handlung auffordert, wird, wenn die Aufforderung ohne
Erfolg geblieben ist, mit Gef. von 3 Monaten bis zu 3 Jahren und Geldstrafe,
und, wenn sie Erfolg gehabt hat, mit der für den Gehülfen des begangenen
Verbr. angedrohten Strafe belegt (Art. 483).
Titel VII.
Übertretungen. In Beziehung auf die Übertretungen gelten die Gesetze
und Vdgn. der Vervvaltungs- und Polizei-Behörden, welche das StGB, in Geltung
gelassen hat. Die Vdgn. können, wenn nicht das G. ausdrücklich das Gegenteil
bestimmt, keine höherere Strafe als Gef. von 1 Monat und Geldstrafe von 20000
Reis androhen. Die Einziehung der im Augenblick der Begehung der Über-
tretung beschlagnahmten Gegenstände und Werkzeuge kann nur in den vom
G. besonders vorgesehenen Fällen angeordnet werden (Art. 484 — 486).
X.
DIE ITALIENISCHE HALBINSEL,
Von Dr. Bemardino Alimena,
Professor an der Uniyersit&t Neapel.
(Überßetznng von Dr. Georg Crnsen in Hannover.)
37
Übersicht
1* Italien nebst Kolonieen«
L Einleitung. % 1. Die geschichtlichen und wissenschaftlichen Grundlagen der Ge-
setzgebung. § 2. Die Herstellung der Einheit anf dem Gebiete des StR. im 1
Jahre 1><*<9. l
IL Das beute geltende Recht. § 3. Der allgemeine Teil des StGB. § 4. Der beson- ,
dere Teil des StGB. § 5. Das Strafverfahren. § 6. Die Delikte des Handels-
gesetzbuches. § 7. Die in Spezialgesetzen behandelten Delikte. § d. Das Milit&r-
strafrecht.
in. § 9. Das StR. der Kolonieen.
IV. § 10. Litteratur-Cbersicht.
2« San Marino«
1. Italien nebst Kolonieen.
I. Einleitnng.
§ 1. Die geschichtlichen nnd wissenschaftlichen O^rundlagen der St&gebung.
Man hat Italien das klassische Land des StR. genannt: es liess im Mittel-
alter die strafrechtliche Praxis aufblühen und wurde im 18. Jahrhundert, als
eine einheitliche Gesetzgebung durch die Verworrenheit seiner politischen Ver-
hältnisse unmöglich gemacht war und der Schatz überlieferter Wissenschaft
nur in den Universitäten eine Zufluchtsstätte fand, der Nährboden für die kühnen
Ideeen, denen die veralteten StGesetze bald Platz machen mussten. Mit der fran-
zösischen Revolution, die, ohne sich vom römischen Recht loszulösen, die An-
schauungen des Italieners Cesare Beccaria verwirklichte, sind diese neuen Ge-
danken gross geworden. Als daher die französischen Gesetzbücher durch die
Erfolge der französischen Waffen in allen Ländern Europas Geltimg erlangten,
fanden sie in Italien den Boden wieder, dem sie entstammten. Der juristische
Sinn des italienischen Volkes erwachte nach langem Schlummer und führte
zu neuen gesetzgeberischen Thaten.
So entstehen im Anfange dieses Jahrhunderts in Norditalien die Pro-
getti di codice penale e di codice di procedura penale per il Regno italico
V. 1807 und in Süditalien das beachtenswerte StG. v. 1808. Diese G. machen
der trotz ihrer Jugend auf rechtlichem Gebiete bereits hervorragenden Nation
wie ihren Verfassern, den damals viel gelesenen Schriftstellern Romagnosi,
Renazzi, Cremani, Nani und Lauria, alle Ehre.
Nach dem Sturz der französischen Herrschaft erblühte neues gesetz-
geberisches Leben in den italienischen Kleinstaaten, wo neben wenigen vom
alten despotischen Geiste beherrschten Gesetzen eine Reihe anderer entstand, in
denen die grossen Gedanken der Revolution verarbeitet waren.
In Sardinien begegnen wir seit 1837 gesetzgeberischen Bestrebungen,
die zur SchaflPung des Codice di procedura criminale per gli stati sardi v. 1847
führten. Dieses GB., das dem französischen Recht gegenüber wesentliche Ver-
besserungen enthält, bildet einen Triumph der internationalen Rechtsauffassung,
denn es bestraft auch die von Inländern im Auslande, und zwar auch gegen
Ausländer, begangenen Delikte. Es enthält eingehende Vorschriften über Thäter-
schaft und Teilnahme, ZusammentreflFen mehrerer strafbarer Handlungen,
Falschmünzerei, Zweikampf und die Fälle der Straflosigkeit des Parricidiums
und der Vergiftung.
In Toscana stand die Gesetzgebung auf einer hohen Stufe; die Wirk-
samkeit der noch in Kraft befindlichen G. v. 1786 wurde durch die im J. 1838
erfolgte Reform der Gerichtsverfassung noch gehoben.
582 Italien nebst Kolonieen. — Einleitung.
Das StGB, für Parma vom J. 1820 führte wichtige Verbesserungen ein,
beispielsweise durch die Bestimmungen über Thäterschaft und Teilnahme, sowie
über den Zweikampf.
Den Höhepunkt dieser stetig fortschreitenden Bewegung bildet die nea-
politanische Gesetzgebung v. 1819; durch sie wurden der entehrende
Charakter der Strafen beseitigt, der bürgerliche Tod abgeschafft, die Begriffe
von Mord und Totschlag, die Bedeutung der Ehre beim Kindesmord, der
Unterschied zwischen strafrechtlichem Betrüge und civilrechtlicher Übervor-
teilung verfeinert. Das StGB, ist ein glänzendes Denkmal italienischer Wissen-
schaft und Praxis.
Die Gesetzgebung Roms unter Papst Gregor XVI. war die einzige, die
an dem allgemeinen Fortschritt nicht teilnahm und ihre veralteten Prinzipien,
insbesondere den Inquisitionsprozess, vor jedem modernen Luftzuge ängstlich
hütete.
Die in dieser Zeit geschaffenen italienischen Gesetzgebungen verdanken
ihren Gehalt teils den französischen Kodifikationen v. 1808 und 1810, teils den
modernen Ideeen, die damals die juristische Welt bewegten. Daraus erklärt
sich der auf allen Gebieten, mit Ausnahme der politischen und der gegen die
Religion gerichteten Delikte, bemerkbare Fortschritt. Er zeigt sich in der
Berücksichtigung schwieriger Fragen, wie z. B.: der Verantwortlichkeit der
Kinder (hier finden sich Anklänge an das römische Recht), der Lehre vom
Versuch, von den Strafausschliessungsgründen mit besonderer Berücksichtigung
der voraufgegangenen Reizung durch den Verletzten. Das Strafverfahren wurde
nach französischem Muster abgeändert und verbessert; die Schwurgerichte fanden
jedoch keine Aufnahme.
Wissenschaft und Praxis, vor allem die Rechtsprechung des neapolitani-
schen und des florentiner Gerichtshofes beeilten sich, mit den Fortschritten der
Gesetzgebung gleichen Schritt zu halten. Die Wissenschaft feierte Triumphe,
die durch die Namen Rossi, Baroli, De Giorgi, später durch Mamiani, Mancini,
Nicolini und andere hervorragende Schriftsteller bezeichnet werden.
Seit jener Zeit bilden die Königreiche Sardinien, Toscana und Neapel
den Mittelpunkt aller Reformbestrebungen auf wissenschaftlichem und gesetz-
geberischem Gebiete.
Bei der Darstellung des itÄlienischen StR. sind folgende Perioden zu
unterscheiden. I. Periode: das StR. der italienischen Einzelstaaten bis. zur
Einigung des Landes im J. 1860; IL Periode: das StR. bis zum Abschluss der
neuen Gesetzgebung; III. Periode: das geltende StGB. v. 1889.
Unsere Betrachtung führt uns zuerst zu Piemont, der Wiege der
italienischen Unabhängigkeit, das zunächst die Freiheit erlangte durch die
vom König Karl Albert verliehene Verfassung von 1848, die noch heute das
(irundgesetz des geeinigten Italiens bildet. Eine von der Regierung eingesetzte
Kommission nahm Vorarbeiten für die Revision des StGB, in Angriff, ein ziemlich
liberales Pressgesetz wurde am 26. Mai 1848 erlassen, durch das gleichzeitig
für die Aburteilung der mittelst der Presse begangenen strafbaren Handlungen
Geschworenengerichte eingesetzt wurden; durch G. vom 20. Juni 1859 wurden
die für die letzteren geltenden Vorschriften verbessert, gleichzeitig auch die
Erweiterung ihrer Zuständigkeit auf die Aburteilung anderer Delikte vor-
geschlagen. Diesen gesetzgeberischen Akten folgten Reformen auf dem Gebiete
des Gefängniswesens imd die Schaffung einer Kriminalstatistik. Das Land
beherbergte damals eine Monge tüchtiger Juristen, die teils, wie Sclopis, Vegezzi,
Onnis, Poletti, Landesangehörige waren, teils, wie Mancini, Zuppetta und Pisa-
nelli, der Apostel der Schwurgerichte, Neapel verlassen hatten, um in Piemont
eine Zufluchtsstätte vor der bourbonischen Gewaltherrschaft zu suchen.
§ 1. Die geschichtlichen und wissenschaftlichen Grundlagen der StGgebung. 583
Für Toscana wurde im J. 1853 ein StGB, erlassen, die Frucht sorg-
fältigen juristischen Nachdenkens und eingehenden Studiums der GB. Deutsch-
lands und Frankreichs. Über dasselbe erschienen Abhandlungen von Carmignani,
Puccioni, Mori und Buonfanti. Das StGB, macht Gebrauch von der Todesstrafe,
die bereits frtlher durch Vdg. vom 11. Oktober 1847 abgeschafft gewesen, jedoch
durch ein G. v. 1852 wieder eingeführt war. Im Gegensatz zum sardischen
StGB, verzichtet es auf die Dreiteilung der strafbaren Handlungen in Verbr.,
Verg. und Übertretungen, behandelt vielmehr nur die ersteren beiden Gruppen
unter der Gesamtbezeichnung „delitti" und überlässt die Regelung der Über-
tretungen, wie auch manche neuere Gesetzgebungen, einem besonderen G.
Die bereits bei Gelegenheit des sardischen StGB, erwähnten Fortschritte auf
dem Gebiete des internationalen StR. und der Lehre von der Zurechnung sind
glücklich verwertet, das Strafensystem verbessert. Im übrigen sind bemerkens-
wert: die Behandlung von Thäterschaft und Teilnahme, die Begriffsbestim-
mung des fortgesetzten Delikts, die Beschränkung des Rückfalls auf die wieder-
holte Begehung ein- und desselben Delikts oder gleichartiger Delikte, die
Abschaffung der Einsperrung als Präventivmassregel. Die Strafandrohungen
sind im ganzen milde, selbst gegen politische Delikte, und verraten scharfes
Durchdenken der in Frage kommenden Begriffe; man vgl. beispielsweise die
Bestimmungen über die Beschimpfung des Andenkens Verstorbener, Falsch-
münzerei, Mord und Totschlag, Körperverletzung, Beihülfe zum Selbstmord,
Kindesmord, die Eigentumsdelikte. An das StGB, schliesst sich, wie bereits
erwähnt, ein besonderes Reglement betr. die Übertretungen an.
Die übrigen italienischen Staaten haben derartige gesetzgeberische Thaten
nicht aufzuweisen. In der Lombardei und Venedig galt nicht italienisches,
sondern österreichisches Recht und zwar zunächst das StGB. v. 1803, später
das V. 1852.
Modena veröffentlichte 1855 ein StGB., das jedoch auf irgendwelche
Bedeutung keinen Anspruch erheben kann.
In Neapel verschwanden die Errungenschaften des StGB. v. 1819 in den
Wogen der politischen Reaktion.
Wenn aber auch die politischen Verhältnisse der gesetzgeberischen Thätig-
keit hinderlich waren, so schritt doch die Wissenschaft, die vor den Verfolgungen
seitens der Regierungen in den Universitäten eine sichere Zufluchtsstätte fand,
unaufhaltsam vorwärts. So finden wir auf juristischem Gebiete in ganz Italien
zerstreut, eine Reihe glänzender Namen: in der Lombardei und Venedig:
Tolomei und Ambrosoli; in Mittelitalien: Giuliani; in Neapel: Nicolini, Ro-
berti, UUoa.
Auch das StGB, der Insel Malta v. 1854 gehört in gewisser Weise hier-
her, da es zum Teil die Resultate italienischer Forschung verwertet.
Die Wirkung modemer Anschauungen, zunächst auf politischem Gebiete
bemerkbar, äusserte auch auf die Gesetzgebung ihren Einfluss.
Die Revolution brach aus, Italien erhob sich unter Führung Karl Alberts
und sah voll stolzer Hoffnung auf Viktor Emanuel als seinen zukünftigen
König. Piemont erhielt 1859 zwei neue GB., die, im Vergleich zu ihren Vor-
gängern, dem früheren StGB, und der früheren StPO., bedeutende Vorzüge
aufwiesen. Die Fortschritte auf dem Gebiete des materiellen StR. zeigen sich
vor allem in der Abschaffung der öffentlichen Abbitte und des Prangers, sowie
in den Bestimmungen über die Delikte gegen Religion, Landesherm und Staat.
Auch die Vorschriften über Falschmünzerei, Sittlichkeitsdelikte und Zweikampf
enthalten manches Neue ; im ganzen sind jedoch die Strafandrohungen der älteren
StGB, unverändert geblieben.
Die StPO. ist nicht viel mehr als eine Übersetzung der französischen
584 Italien nebst Kolonieen. — Einleitung.
V. 1808 mit allen ihren Mängeln. Immerhin verschaffte sie einer wichtigen
Nenemng in Italien Eingang: den Schwnrgericfaten. Noch« in demselben Jahre
wurde mit der Einführung des Mil.-StGB. und des GerVerfG. die Justizreform
zum Abschluss gebracht.
Im J. 1860 wurde der Sieg der Revolution entschieden, König und Volk
hatten ihr Ziel erreicht, die Freiheit und Einigkeit Italiens, der sehnsüchtige
Wunsch Dantes und Macchiavellis war verwirklicht. Mit Jubel sah die Be-
völkerung die verhassten Dynastieen verschwinden. Da mit ihnen auch ihre
Gesetze untergingen, so hatte die politische Einheit bald den Wunsch nach ein-
heitlicher Gesetzgebung zur Folge.
In Norditalien und in einem Teile von Mittelitalien schritt man zur
Einführung der sardischen G., des StGB, und der StPO. v, 1859; Toscana
und Süditalien jedoch widersetzten sich derselben, Toscana, weil es sich
nicht zur Wiederzulassung der bereits durch die Vdg. v. 1860 abgeschafften
Todesstrafe entschliessen konnte, Süditalien, weil es auf die Errungenschaften
der neapolitanischen G. V. 1819 nicht verzichten wollte. Während also in Nord-
italien sardisches Recht galt, behielt Toscana sein StGB. v. 1853; Süditalien
Hess das sardische StGB, durch eine besondere Eonmiission abändern und
führte es mit diesen Modifikationen durch Dekret vom 17. Februar 1861 ein.
Im Jahre 1862 wurde die sardische StPO. fast in ganz Italien, mit Aus-
nahme von Toscana, eingeführt.
Nur Rom hatte noch immer keinerlei Gemeinschaft mit dem neuerstan-
denen Italien!
Im neuen Reiche herrschte auf dem Gebiete des Rechts eine reiche,
fruchtbringende Thätigkeit. Ganz besonders wichtig für die Entstehung eines
einheitlichen Rechts war das J. 1865, in dessen Verlauf derErlass des bürger-
lichen GB., des Handelsgesetzbuches (das 1882 durch ein neues ersetzt wurde),
des G. über die Handelsmarine, des GerVerfG., der Civüprozessordnung und
der StPO. fällt; die letztere gelangte in ganz Italien, auch in Toscana, zur
Annahme und enthielt als wichtigen Fortschritt gegenüber der französischen
StPO. die Öffentlichkeit des Strafverfahrens.
Als Rom 1870 Hauptstadt Italiens wurde, musste das Regolamento gre-
goriano v. 1832 den nunmehr eingeführten sardischen Gesetzen weichen. Damit
war, abgesehen von der fortdauernden Geltung der drei verschiedenen StGB, und
einiger unwichtiger G. die Einheitlichkeit auch auf dem Gebiete der Grcsetzgebung
hergestellt. Den Haupthindemngsgrund für die Schaffung eines einheitlichen
StR. bildete die Todesstrafe, die in Piemont und Neapel zahlreiche Anhänger
hatte, während man sie in Florenz verabscheute. An diesem Punkte, über
den eine Einigung nicht zu erzielen war, scheiterten alle Anstrengungen der
Regierung, des Parlaments und der Wissenschaft.
Von der letzteren wurde indes dieses Zwischen Stadium keineswegs unbenutzt
gelassen. Der alte juristische Geist des italienischen Volkes war durch das
frisch pulsierende politische Leben und die eben errungene Freiheit zu neuem
Leben erweckt und der lebhafte Wunsch, der politischen Einheit auch die völlige
Einheit der Gesetzgebung folgen zu lassen, führte zu der Ausarbeitung zahl-
reicher Entw. eines StGB., die wertvolle Vorarbeiten für das jetzt geltende
G. bildeten. Von Beccaria ausgehend entstand eine neue, die sogenannte
„klassische Schule" des StR., als deren hervorragendste Vertreter Mancini,
Pessina, Carrara, Tolomei, Lucchini, Canonico, Bnisa, Ellero, Nocito, Faranda,
Buccellati zu nennen sind. Ihre Bedeutung liegt in dem Studium des Ver-
brechens vom juristisch-logischen Standpunkte aus, während sie sich mit der
Person des Verbrechers erst in zweiter Linie, ja man kann fast sagen, über-
haupt nicht beschäftigt hat.
§ 2. Die Herstellung der Einheit auf dem Gebiete des StR. im J. 1889. 585
Gleichzeitig sind auch auf dem Gebiete der Kriminalstatistik und des
Gefängniswesens bedeutsame Fortschritte zu verzeichnen, die in erster Beziehung
vor allem auf Bodio, den Generaldirektor des statistischen Amtes, in letzterer
Beziehung auf Beltrani-Scalia, den Generaldirektor des Gefängniswesens, zu-
rückzuführen sind.
Der klassischen Schule folgte bald die „positivistische" oder „anthro-
pologische", deren Entstehen und Aufblühen durch die Namen Lombroso,
Garofalo und Ferri bezeichnet wird. Sie lässt das StR. in der Kriminal-
Soziologie aufgehen, studiert den Verbrecher vom biologischen Standpunkte
aus und betrachtet das Verbr. vorzugsweise als soziale Erscheinung.
Aus den Kämpfen zwischen diesen beiden Schulen ging eine neue Rich-
tung hervor, die, empirisch in ihrer Methode, kritisch in ihrem inneren Wesen,
ein Aufgehen des StR. in der Kriminalsoziologie nicht anerkennt. Sie geht
davon aus, dass der Verbrecher zwar eine Anzahl besonderer somatischer
Kennzeichen aufweist, dass diese aber keineswegs typisch sind; sie würdigt
die Bedeutung des Verbrechens als einer vorzugsweisen sozialen Erscheinung,
ohne im übrigen die komplizierte Natur desselben zu verkennen und sieht in
der Strafe eines von den Mitteln der Sozial-Hygiene.
Zu den Begründern und Anhängern dieser Schule gehören in Italien:
ausser mir, Colajanni, Poletti, Vaccaro, Camevale, Impallomeni und teilweise
auch Morselli; in Deutschland: v. Liszt; in Frankreich : Tarde und Lacassagne;
in Russland: Drill und Foinitski.
Ihre kritischen Bestrebungen haben eine wichtige Unterstützung erhalten
durch die Begründung der „Internationalen kriminalistischen Vereinigung"
(Union internationale de droit pönal. 1889).^)
§ 2. Die HersteUung der Einheit auf dem GeMete des StB. im J. 1889.
Wir haben soeben gesehen, auf welcher wissenschaftlichen und geschicht-
lichen Grundlage das italienische StR. ruht. Die Herstellung der Einheit auf
diesem Gebiete geschah erst 1889 durch den Siegelbewahrer Zanardelli, der
eine systematische Bearbeitung der ihm von seinen Vorgängern hinterlassenen
Entw. vornahm.
Zwei Fragen haben wir zunUchst zu beantworten: war die einheitliche
Kodifikation zweckmässig? und: welche Schule durfte den Anspruch erheben,
ihr den Stempel ihres Geistes aufzudrücken?
Die erste Frage sollte eigentlich kaum einer Beantwortung bedürfen. Da
in allen anderen Ländern der Fortschritt der Wissenschaft in der Schaffung
neuer StGB, beredten Ausdruck gefunden hatte, so durfte Italien nicht zurück-
stehen. Andrerseits war durch die Herstellung der politischen Einheit die Ein-
heit des Rechts zu einem notwenigen Erfordernis geworden, dessen Verwirk-
lichung 30 Jahre lang nahezu einstimmig gewünscht wurde. Und doch muss
auf diese Frage eingegangen werden, weil die anthropologische Schule sie,
unter Berufung auf das Beispiel der Schweiz, in der ebenfalls jeder Kanton
sein besonderes StGB, besitzt, verneint hat. Sie behauptet, Italien sei wohl
„einig aber nicht einheitlich" und stellt statistische Berechnungen und Über-
sichten auf, aus denen die Verschiedenheit der einzelnen Landesteile in Bezug
auf das Lebensalter der Einwohner, auf Eheschliessung, Stand, Gewerbe und
^) über die Geschichte des neueren italienischen StR. vgl. Pessina, Dei progressi
del diritto penale in Italia nel secolo XIX, in den Opuscoli di diritto penale, Neapel
1874. Über die „terza ßcuola" Rosenfeld in den Mitteilungen der Internationalen
kriminalistischen Vereinigung IV, 1.
586 Italien nebst Kolonieen. — Einleitung.
die Begehung der strafbaren Handlungen hervorgehen soll.*) Der Vollständig-
keit wegen muss ich hinzufügen, dass auch Carrara sich gegen die Kodifikation
ausgesprochen hat. Wahrscheinlich war aber dieser Widerstand lediglich der
Ausdruck der Besorgnis, den Scharfrichter wieder in Toscana seines Amtes
walten zu sehen ;^) wenigstens spricht hierfiLr der Umstand, dass er kurz vor
seinem Tode in einem oflFenen Briefe sich als Anhänger der Einheitsbestrebungen
bekannte. Ihr einziger Gegner ist nunmehr die anthropologische Schule, auf
deren Standpunkt kurz einzugehen ist.
Nach der Ansicht Lombrosos und seiner Schüler hätte der italienische
Gesetzgeber nicht etwa die drei vorhandenen StGB, bestehen lassen, sondern
neunundsechzig neue, nämlich eines für jeden Regierungsbezirk, ausarbeiten
müssen. Der Hinweis auf die Schweiz beweist für jene Behauptung nichts,
denn die Schweiz ist ein Konglomerat verschiedener Volksstämme mit vier
verschiedenen Sprachen — Deutsch, Französisch, Italienisch, Rhäto-Romanisch
— , während Italien eine einheitliche Bevölkerung mit nur einer Sprache hat.
Andrerseits findet sich der von Lombroso und Rossi für Italien behauptete
„Regionalismuß", das Bestehen gewisser Verschiedenheiten bei den Bevölkerungen
der verschiedenen Landesteile, auch in allen anderen Ländern und genau das-
selbe gilt für die ungleichmässige Anteilnahme der verschiedenen Bevölkerungen
an der Begehung strafbarer Handlungen. Auch in den anderen Ländern hat
die Verschiedenheit der Beschäftigung, des Alters, des Familienstandes auf Zahl
und Art der Verbr. erheblichen Einfluss, und wer behauptet, dass diese Er-
scheinung eine für Italien spezifische sei, beweist damit nur, dass er die Unter-
suchungen von Mayr*s über die Sterblichkeit und die Berufsarten in Bayern,
die von Quetelet über die Moralstatistik in Frankreich und die von Guerrj»"
über die gleichen Verhältnisse hi England nicht kennt. In allen Ländern der
Welt finden wir Bezirke, deren Kriminalität besonders gross ist, Städte die
eine aussergewöhnlich geringe Zahl von Verbr. aufweisen, Gegenden, in denen
die Ziffer der Delikte gegen die Person, der Eigentums vergehen oder der Sitt-
lichkeitsdelikte eine besondere Höhe erreicht, Städte in denen die Anzahl der
Analphabeten auffallend gross, andere, in denen sie auiffallend niedrig ist.
Wenn also die Überzeugung Lombrosos von der Existenz des Regionalismus
in Italien auf diesen statistischen Verschiedenheiten beruht, so sollte man meinen,
Lombroso müsse dieselbe auch für Frankreich und Deutschland annehmen.
Sind doch die Verschiedenheiten zwischen Sizilien und der Lombardei nicht
grösser als die zwischen dem Departement de la Seine und dem Departement
de la Creuse, zwischen Ostpreussen und Schleswig-Holstein. Ja, man hat sogar
behauptet, dass in London die Kriminalität nach den Stadtteilen verschieden
sei. In jedem Lande und zu jeder Zeit finden wir eine „regionalis tische"
Litteratm' von der Ilias und der Aeneide bis auf die Romane Daudet's,
Es ist also völlig ungerechtfertigt, von diesen Verschiedenheiten als einer
besonderen Eigentümlichkeit Italiens sprechen zu wollen. Höchstens könnte
man vom pessimistischen Standpunkte aus sagen, dass der Regionalismus, wenn
er auch überall vorkommt, doch in Italien als Folge der unseligen politischen
Vergangenheit des Landes besonders fühlbar ist. Aber wenn man auch Lom-
broso mit seiner Behauptung, dass Italien zwar ein geeinigtes, aber kein ein-
heitliches Land ist, Recht geben will, muss man dann nicht gerade diese Ein-
heitlichkeit herbeizuführen suchen, indem man die natürliche Anpassung durch
*) Lombroso, Troppo presto, Turin IH^S. — Ferri, Sociologia criminale S. 334.
Turin 1892.
-) Cari'ara, Lineamenti di pratica legislativa penale XXIV. Turin 1882.
§ 2. Die Herstellung der Einheit auf dem Gebiete des StR. im J. 1889. 587
die künstliche unterstützt? ^) Der Gesetzgeber kann und soll das Land einigen
und die wichtigsten Mittel hierzu sind der Unterricht in der gemeinsamen
Landessprache — das siegreiche Volk zwingt daher stets das besiegte, seine
Sprache anzunehmen — und die Gemeinsamkeit der Gesetzgebung.
Ich will durchaus nicht leugnen, dass Spezialgesetze für jeden Bezirk,
für jede Stadt, ja vielleicht für jede Strasse den gegebenen Verhältnissen sich
besser anpassen würden als eine gemeinsame Gesetzgebung für das ganze Land
es vermag; indes, eine derartige Möglichkeit kann man wohl theoretisch er-
örtern, aber nicht in der Praxis ausführen, denn die örtlichen Verschieden-
heiten beschränken sich nicht auf das Gebiet des StR., sondern erstrecken sich
auf das gesamte Rechtsleben, ja auf die Ginindlagen des Volkslebens. Wir
wären dann genötigt, eine Unzahl von Gesetzen zu schaffen, die einen baldigen
Zerfall der politischen Einheit unfehlbar zur Folge haben müsste. Gewiss
müssen bei einer einheitlichen Gesetzgebung die Wünsche einzelner Gemeinden
wie einzelner Personen dem allgemeinen Interesse geopfert werden; aber
dennoch ist sie unentbehrlich, denn sie bildet die notwendige Ergänzung der
politischen Einheit. So kann z. B. die Verfassung für die verschiedenen Be-
zirke des Staates einen verschiedenen Wert haben; sie kann für einige, auf
hoher Kulturstufe stehende zu reaktionär, für andere, in der Entwicklung
zurückgebliebene zu liberal sein.*) Jede Provinz muss daher Opfer bringen:
die Einheit des Vaterlandes ist ein Gut, das teuer erkauft werden muss. Die
Aufgabe des Strafrichters ist, die hierdurch entstehenden Härten weniger fühl-
bar zu machen. Jedenfalls muss man den ersten Schritt einmal thun, und
hierzu ist es nie „zu früh".
Ich wende mich nunmehr zur Erörtening der zweiten Frage: „Bedeutet
das neue StGB, einen Fortschritt?" und beantworte sie mit „ja", denn es ist
immer besser, ein StGB, zu haben, als di'ei.
Unser StGB, hat das Geschick gehabt, von den einen zu hoch erhoben
und von den anderen zu tief herabgesetzt zu werden. Es bildet weder das
Ideal eines gesetzgeberischen Werkes, noch ist es — wie die anthropologische
Schule und einzelne Klassiker zu wiederholen nicht müde werden — , eine
Sammlung von Dummheiten. Die anthropologische Schule hatte auf ein nach
ihren Grundsätzen gearbeitetes GB. gehofft. Wer mit mir, wie ich bereits auf
dem pariser Kongresse für Kriminalanthropologie ausgeführt habe, der Ansicht
ist, dass der Gesetzgeber, „auf bleiernen Sandalen fortschreitend", nur die-
jenigen Ideeen praktisch verwerten darf, deren Richtigkeit in der Theorie
nicht mehr bestritten wird, kann über die UnerfüUbarkeit dieser Forderung
nicht im Zweifel sein.
Vergegenwärtigen wir uns den Stand der Wissenschaft am Vorabend des
Erlasses des neuen StGB. Zu dem heftigen Kampfe zwischen der klassischen
und der anthropologischen Schule erschien eine neue vermittelnde Richtung,
die ihren Schwerpunkt in die Kritik verlegte. Gleichzeitig erfolgte eine all-
gemeine Verjüngung auf gesetzgeberischem Gebiete, die sich von Russland
bis Portugal, von der argentinischen Republik bis Japan erstreckte und auf
der Verschmelzung des überlieferten Stoffes mit modernen Ideeen beruhte.
So bildet auch das italienische StGB., wie alle Gesetze der Übergangszeit, trotz
^) Alimena, La legislation comparee dans ses rapports avec ranthropologie,
Tethnographie et l'histoire in den Archives de ranthropologie criminelle et des sciences
pönales V.
*) Vgl. über diese Frage Ch. Comte, Traite de legislation, Brüssel 1837. — Pi y
Margoll, Lesnationalit^s 1879; Donnat, La politique experimentale, Paris 1885; Bagehot,
Lois scientifiques du developpemeut des nations, Paris 1885; Bordier, La vie des so-
ci6tes, Paris 1887.
588 Italien nebst Kolonieen. — Das heute geltende Recht.
seiner völlig juristischen Grundlage, zum Teil einen Kompromiss zwischen Altem
und Neuen, zwischen Veraltetem und VerfHihtem. Die Kriminalanthropologen
haben es als „eklektisch^' getadelt, ohne zu bedenken, dass der Eklektizismus
durch die Umstände geboten war. Das StGB, ist für die anthropologischen
Heissspome zu veraltet, für einige klassische Juristen zu modern; aber um
es gerecht zu beurteilen, darf man sich nicht auf einen einseitigen Schul-
standpunkt stellen.
n. Das heute geltende Recht.
§ 3. Der allgemeine Teil des StOB.
Das italienische StGB, verzichtet auf die dem französischen Rechte ent-
lehnte Einteilung der strafbaren Handlungen in crimes, d^lits und contra-
ventions und unterscheidet lediglich Verg. (delitti) und Übertretungen (con-
travvenzioni). — Das Problem der „Zweiteilung" oder „Dreiteilung" hat während
der Beratung des Entw. zu lebhaften Debatten geführt, die meines Erachtens
zu der geringen Bedeutung dieser Frage in keinem Verhältnis stehen.
Das StGB, enthält drei Bücher: das erste handelt von den strafbaren
Handlungen und den Strafen im allgemeinen, das zweite von den Vergehen
und ihrer Bestrafung, das dritte von den Übertretungen. Es stimmt in dieser
Beziehung mit dem belgischen, spanischen, holländischen, portugiesischen und
genfer StGB, und dem österreichischen Entw. überein, während es sich von
denen der Kantone Zürich, Waadt und Basel, die die Übertretungen in einem
besonderen G. behandeln, unterscheidet.
Das GB. enthält 498 Art., etwa 200 weniger als das aus 692 Art. bestehende
sardo-neapolitanische StGB., und nähert sich in dem Bestreben nach Bjiapp-
heit des Ausdrucks und Vermeidung unnötiger Definitionen der in den deut-
schen GB. befolgten Methode. Es versucht, die „natürlichen Delikte" von den
Handlungen zu scheiden, die nur nach positiver gesetzlicher Vorschrift straf-
bar sind, ebenso die aus gemeinen Motiven von den aus edlen Beweggründen
hervorgegangenen.
Das erste Buch zerfällt in neun Titel: I. von der Anwendung der
StG. (Art. 1—10); II. von den Strafen (Art. 11—30); IIL von der Wirkung
und der Vollstreckung der Strafurteile (Art. 31 — 4i3); IV. von der Zurech-
nung und den Gründen, welche die Strafbarkeit ausschliessen oder vermin-
dern (Art. 44 — 60); V. vom Versuch (Art. 61 und 62); VI. von der Beteiligung
mehrerer an der Begehung einer strafbaren Handlung (Art. 63 — 66); VII. von
dem Zusammentreffen mehrerer strafbaren Handlungen und mehrerer Bestra-
fungen (Art. 67—69); VIII. vom Rückfall (Art. 80—84): IX. von der Verjährung
der Strafverfolgung und der Strafvollstreckung (Art. 85 — 103).
Der erste Art. enthält den Grundsatz: nullum crimen sine lege, der
zweite die Vorschrift, dass im Falle der Verschiedenheit der Gesetze zur Zeit der
Begehung und der Aburteilung der That das mildere Gesetz anzuwenden ist.
Die Zuständigkeit der italienischen Gerichte erstreckt sich auf
alle in Italien und auf alle von Italienern begangenen Delikte, auch wenn
wegen der letzteren bereits im Auslande eine Verurteilung erfolgt ist, voraus-
gesetzt, dass wegen derselben ein erneutes Verfahren vor italienischen Gerich-
ten stattfindet. Die Vorschriften über die Bestrafung der von Ausländem im
Auslande begangenen strafbaren Handlungen gegen den italienischen Staat
entsprechen den vom Internationalen Institut für Völkerrecht gebilligten Grund-
sätzen. Die Formel über die Feststellung der Auslieferungspflicht ist so
allgemein gehalten, dass man sagen kann: die Auslieferung ist die Regel, die
§ 3. Der allgemeine Teil des StGB. 589
Nichtansliefening die Ausnahme. Nicht zulässig ist die erstere in Bezug auf
italienische Staatsangehörige und politische Verbrecher.
Die zur Anwendung kommenden Strafen sind folgende:
!• Für Verg. (delitti): schweres Zuchthaus (ergastolo), zeitliche Zucht-
hausstrafe (reclusione) , Gefängnis (detenzione) , Beschränkung des Aufenthalts
auf einen bestimmten Bezirk durch obrigkeitliche Anordnung — Eingrenzung
— (confino), Ausschluss von der Bekleidung öffentlicher Ämter (interdizione
dei pubblici uffici), Geldstrafe von 10 bis 10 000 Lire (multa).
2. Für Übertretungen: Haft (arresto), Geldstrafe von einer bis 2000 Lire
(ammenda), Ausschluss von der Ausübung eines Gewerbes oder eines Berufs
(sospensione deir esercizio d'una professione e arte).
Als Nebenstrafe findet sich die Stellung unter Polizeiaufsicht (vigilanza
della publica sicurezza), als Straf ersatzmittel der richterliche Verweis (ripren-
sione giudiziale).^) Der Verfasser hatte auch die Einführung der bedingten
Verurteilung in Vorschlag gebracht, jedoch ohne Erfolg.-).
Das Strafensystem ist einfach und übersichtlich. Die grosse Gefahr, die
in der Aufstellung einer komplizierten Auswahl von Strafmitteln liegt, mit
denen die Praxis meist nicht viel anzufangen weiss, hat der Gesetzgeber
glücklich vermieden.
Die Todesstrafe, thatsächlich zur Zeit des Erlasses des StGB, bereits
nicht mehr in Anwendung, ist nun auch von Rechts wegen abgeschafft. Auf
Grund der gemachten Erfahrungen erfolgte die Abschaffung ohne Diskussion
und für alle Delikte, selbst für den Königsmord. Die an ihre Stelle getretene
Strafe des ergastolo besteht in lebenslänglicher Zwangsarbeit mit Einzelhaft
während der ersten sieben Jahre der Strafverbüssung. Um zu verhindern,
dass im Falle des Vorliegens mildernder Umstände bei den mit dieser Strafe
bedrohten Delikten eine zu milde Praxis Platz greift, bestimmt das GB, dass
dann auf die ausserordentliche Strafe von BOjährigem Zuchthaus erkannt
werden soll. Selbstverständlich ist die bedingte Entlassung nicht zulässig;
nach Ablauf der Strafzeit wird der Entlassene unter polizeiliche Aufsicht
gestellt. Um den zu lebenslänglicher Einsperrung Verurteilten Gelegenheit
zur Besserung zu geben, werden sie nach siebenjähriger Einzelhaft mit anderen
Sträflingen gemeinsam beschäftigt, jedoch mit der Verpflichtung vollständigen
Stillschweigens und strenger Trennung während der Nacht. Bei unangemessenem
Verhalten des Gefangenen wird ihm diese Vergünstigung im Disziplinarwege
entzogen.
Die nach irländischem Muster (mit Progressivsystem) geregelte Verbüssung
der Zuchthausstrafe (reclusione), sowie die der Gefängnisstrafe (detenzione)
erfolgt in Einzelhaft. Arbeit ist obligatorisch, die bedingte Entlassung zulässig.
Die Freiheit des richterlichen Ermessens bei der Auswahl der Strafart
hat dadurch eine erhebliche Einschränkung erfahren, dass der Gesetzgeber
diese, je nach den Beweggründen der That, im voraus bestimmt hat. Die
Berücksichtigung der Motive, welche zur Begehung der That geführt haben,
findet sich ausserdem noch in den StGB, von Russland (Art. 129 No. 3), Zürich
(§ 126), Brasilien (Art. 16 No. 4), nur für politische Delikte auch in dem von
Tessin (Art. 24). Sehr weitgehende Bestimmungen enthalten das deutsche
StGB. (§ 20) und der österreichische Entw. (§ 14). Die vom italienischen
Gesetzgeber befolgte Methode hat vielleicht keine unmittelbar in die Augen
^) Alimena, La riprensione giudlziale e la sospensione della pena in der Rivista
penale, Bd. XXVII.
^) Alimena, Le projet du nouveau Code p^nal Italien. Paris-Lyon 1888 und in
den Archives de rAnthropologie criminelle et des sciences pönales, Bd. III.
J
590 Italien nebst Kolonieen. — Das heute geltende Recht.
fallenden Vorteile, immerhin aber bildet sie den ersten entscheidenden Schritt
auf dem von der modernen Wissenschaft angebahnten Wege zur Anpassung
der Strafe an die Individualität des Thäters und an den Charakter seiner That.
Der Verweis ist im italienischen Becht keine eigentliche Strafe ffir bestinunte
Delikte, wie im russischen, spanischen und portugiesischen StGB., sondern ein
Strafersatzmittel, von dem in einigen Fällen Gebrauch gemacht wird, um die
Gefahren kurzzeitiger Freiheitsstrafen abzuwenden.
Die Strafen sind nicht in Grade eingeteilt, sondern das 6B. bestimmt für
jedes Delikt ein Höchst- und ein ^lindestmass; die Strafrahmen sind genügend
weit, um die ausreichende Berücksichtigung der Verschiedenheit aller unter
einen Deliktsbegriff fallenden Handlungen zu ermöglichen.
Im Falle der Beleidigung einer Person oder einer Familie kann der
Richter dem Beleidigten eine Entschädigung (Art. 38; zuerkennen, die der
„Busse" des deutschen StGB. r§§ 186 — 188, 231; entspricht. Bei dieser Gelegen-
heit will ich mein Bedauern nicht unterdrücken, dass die Gesetzgeber noch
immer ein Mindestmass der Freiheitsstrafen bis zu 3 Tagen herunter zulassen
— als ob nicht längst feststände, dass die kurzzeitigen Freiheitsentziehungen
nicht nur nichts nützen, sondern sogar schaden, indem sie die Zunahme der
sogenannten „kleinen Kriminalität" (petite criminalit^j befördern. Neben der
Zwangsarbeit ohne Einsperrung wäre hier ein geeignetes Gebiet für die aus-
gedehntere Anwendung der Privatstrafe.*;
Ich komme jetzt zu dem alten und doch ewig neuen Problem der Zu-
rechnung.*)
Für Verg. gilt, falls nicht das GB. das Gegenteil bestinmit, die Regel,
dass jemand wegen eines solchen nur dann strafbar ist, wenn er die dasselbe
bildende That gewollt hat. Bei Übertretungen braucht die Absicht des Thäters,
dass er eine rechtswidrige That begehen wollte, nicht besonders bewiesen zu
werden (Art. 45;.
Der Thäter bleibt straflos, wenn er zur Zeit der Begehung der Hand-
lung sich in einem solchen krankhaften Geisteszustände befand, dass ihm
dadurch das „Bewusstsein oder die Freiheit seiner Handlung" genommen
war: eine unglückliche Bestimmung, die leicht dazu führen kann, der
Willkür Thor und Thür zu öffnen. Steht doch nicht einmal fest, was unter
„coscienza" zu verstehen ist! Das Wort hat, wie das französische „con-
science", die doppelte Bedeutung „Bewusstsein" tmd „Gewissen". Die deutsche
Sprache, die für die beiden verschiedenen Begriffe auch zwei verschiedene
Bezeichnungen hat, ist daher gegenüber dem Italienischen und Französischen
im Vorteil. In welchem Sinne ist nun „coscienza" hier zu verstehen? Bedeutet
es ganz allgemein „Bewusstsein"? Es dürfte nur wenig Geisteskranke geben,
die desselben vollständig beraubt sind; der Wahnsinnige, der einen anderen
mit dem Dolche durchbohrt, kann sehr wohl das „Bewusstsein" seiner Hand-
lungsweise haben; demnach würde eine grosse Anzahl Geisteskranker von
Rechts wegen zu verurteilen sein. Oder bedeutet es „Gewissen"? Dann hätte
der Gesetzgeber sich wohl deutlicher ausgedrückt. Aber angenommen, es sei
dem so — ist der Gesetzgeber dann völlig sicher, dass der nicht- geistes-
kranke Verbrecher ein normales Gewissen hat?
Meiner Ansicht nach führt jede zu ausführliche Bestimmung zu prak-
*) Den gleichen Vorschlag habe ich bereits dem internationalen Kongress für
Gefängniswesen zu St. Petersburg (1890) und dem intemationaleu Kongress für Kri-
minalanthropologie zu Brüssel (1.S92) unterbreitet.
*j Über die Lösung dieser Frage, sowie der mit ihr zusammenhängenden Pro-
bleme in den verschiedenen Gesetzgebungen vgl. mein Werk: I limiti e i modificatori
deil'imputabilitä. Turin 1893.
§ 3. Der allgemeine Teil des StGB. 591
tischen ü beiständen und ist deshalb zu verwerfen; es empfiehlt sich, nach
dem Beispiele Belgiens, Spaniens, Portugals, auch Hollands, lediglich zu sagen :
die Zurechnung ist ausgeschlossen, wenn der Angeklagte zur Zeit der Begehung
der That sich im Zustande einer Geisteskrankheit oder krankhaften Störung
seiner Geistesthätigkeit befand.
Die Unterbringung des verbrecherischen Geisteskranken in eine Irren-
anstalt ist zulässig, aber — was sehr zu bedauern ist — nicht vorgeschrieben
(Art. 46).-
Wenn die oben erwähnten Zustände krankhafter Geistesthätigkeit nicht
derartig sind, dass sie die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Thäters völlig
ausschliessen, aber doch die That in milderem Lichte erscheinen lassen, so
tritt verhältnismässige Strafminderung ein (Art. 47).
Eine an und für sich strafbare Handlung ist straflos, wenn ihre Begehung
auf gesetzlicher Vorschrift oder Befehl der zuständigen Obrigkeit beruht, oder
wenn sie begangen ist im Zustande der Notwehr oder des Notstandes (Art. 49).
Wenn hierbei aber die Schranken der Gesetzesvorschrift, des Befehls oder der
notwendigen Verteidigung überschritten sind, so tritt lediglich Strafminderung
ein (Art. 50). Der Entw. ordnete an, dass eine Bestrafung nicht eintreten
sollte, wenn die Überschreitung auf Furcht zurückzuführen sei; diese Bestim-
mung ist jedoch in das StGB, nicht aufgenommen worden.
Strafminderung tritt femer ein, wenn die That in der Aufregung des
Zornes oder des übermächtigen Schmerzes über eine unverschuldete Beleidigung
begangen ist; der Grad der Minderung ist verschieden, je nachdem es sich
um eine leichte oder um eine schwere Beleidigung handelt (Art. 51). Als der
Entw. des StGB, noch nicht zum Gesetz erhoben war, habe ich darauf aufmerk-
sam gemacht, dass, nachdem der Begriff der „unwiderstehlichen Gewalt"
(force irresistible) im StGB, nicht mehr verwendet wird, die Wirkungen des
gerechten Schmerzes und des Zornes verschieden zu behandeln seien, da das
GB. dem verschiedenartigen ethischen Werte beider Empfindungen Rechnung
tragen müsse. Der Umstand, dass diese Warnung unbeachtet gelassen ist,
führt häufig zu einer sehr gezwungenen Auslegung des GB.
Die Trunkenheit ist bald Strafausschliessungs-, bald Strafminderungs-
grund, bald keines von beiden (Art. 48j.
Besondere Vorschriften sind für die Taubstummen erlassen (Art. 57 und 58).
Leider ist als Beginn der vollen Strafmündigkeit die Vollendung des
einundzwanzigsten Lebensjahres beibehalten worden, während der Entw. die-
selbe vom vollendeten achtzehnten Jahre an eintreten lassen wollte. Die Zeit
bis zur Strafmündigkeit zerfällt in zwei Perioden: in der ersten wird niemals
gestraft, in der zweiten nur dann, wenn der Thäter das Unterscheidungsver-
mögen besessen hat (Art. 53, 54, 55, 56).
Endlich kennt das StGB, auch die Einrichtung der „mildernden Umstände"
im allgemeinen (Art. 59).
Wie man sieht, behandelt das GB. die bislang erwähnten Strafausschlies-
sungs- und Minderungsgründe im allgemeinen Teil. Es giebt aber auch Aus-
nahmen von diesem Prinzip.
Unter den Begriff der Notwehr fällt nicht die Verteidigung des Eigen-
tums, die in dem von den Totschlagsdelikten handelnden Art. 376 erwähnt
wird. Das GB. statuiert femer zwei besondere Strafminderungsgründe : 1. für
den Totschlag, der im Augenblicke der Ertappung bei Ehebruch oder ausser-
ehelichem Beischlaf seitens des Ehegatten oder eines nahen Verwandten
begangen wird (Art. 377); 2. für die Teilnehmer an einer gemeinschaftlichen
Tötung oder Köi-perverletzung, wenn der eigentliche Urheber derselben unbe-
kannt ist (Art. 378).
592 Italien nebst Kolonieen. — Das heute geltende Recht.
Fernere Strafmindeningsgründe bei besonderen Delikten sind: die voraus-
gegangene schwere Kränkung oder Schmähung bei dem Zweikampf (Art. 240)
und der Beleidigung (Art. 397); die Absicht, die eigene Ehre oder die einer
nahen Verwandten zu retten, bei der Abtreibung (Art. 385), der Unterschie-
bung eines Kindes und der Unterdrückung des Personenstandes eines solchen
(Art. 363); die vor Einleitung des Strafverfahrens erfolgte Entschädigung des
durch die strafbare Handlung Verletzten (Art. 432) und die Geringfügigkeit
des Objektes (Art. 431) bei den Eigentumsdelikten; der geringe Grad der
Gefahr und die thätige Reue bei gemeingefährlichen Verbr. (Art. 330); die
freiwillige Gestellung des Gefangenen, der sich selbst befreit hat (Art. 232);
der Umstand, dass eine Fälschung in der Absicht begangen ist, Beweismittel
für eine wahre Thatsache zu beschaffen (Art. 282); der Widerruf bei der Ver-
leumdung (Art. 212, 213); bei dem Widerstand gegen die Staatsgewalt: der
Umstand, dass der Thäter in der Absicht handelt, sich oder einen nahen Ver-
wandten der Verhaftung zu entziehen (Art. 190, 191), und andres mehr. Das
GB. lässt ferner straflos: die Angriffe auf einen öffentlichen Beamten, wenn
dieser zu der Handlung dadurch Veranlassung gegeben hat, dass er durch
unerlaubte Handlungen die Grenzen seiner Amtsbefugnisse überschritt (Art. 199);
Sittlichkeitsdelikte, wenn vor der Aburteilung der Thäter die Verletzte heiratet
(Art. 352); den Meineid und das falsche Zeugnis in gewissen Fällen (Art. 215 und
216); die Zeugen, die bemüht gewesen sind, den Zweikampf zu verhindern
(Art. 241).
Mit dem Versuch beschäftigt sich das StGB, nur, insofern es sich um
den Versuch eines Verg. handelt; der Versuch einer Übertretung ist straflos.
Das GB. hat die Unterscheidung zwischen versuchtem und fehlgeschlagenem
Verg. (delitto tentato — mancato) beibehalten. In beiden Fällen muss jedoch
die Vollendung der That aus Gründen unterblieben sein, die von dem Willen
des Handelnden unabhängig sind; andernfalls — wenn der Thäter fi*eiwillig
die Vollendung der That aufgegeben hat — wird er nicht wegen eines ver-
suchten, sondern, insoweit der zur Ausführung gelangte Teil der That ein
selbständiges Delikt bildet, wegen dieses vollendeten Delikts bestraft (Art. 61).
Mit Recht hat der Gesetzgeber an Stelle der veralteten Formulierung des Ver-
suchs als der „kundgegebenen Absicht, das Delikt zu begehen", die Definition
desselben als „Anfang der Ausführung" gesetzt; diese ist genauer und ent-
spricht dem deutschen und französischen Recht (commencement d'ex^cution).
Im Gegensatz zu den StGB, von Deutschland (§ 43), Ungarn (§ 65) und
Holland (§45), die die Kontroverse über den „unmöglichen Versuch" nicht
entschieden haben, sowie zum griechischen StGB., das ihn ausdrücklich für
strafbar erklärt (Art. 53), lässt das G. denjenigen Versuch straflos, der wegen
des angewandten Mittels nicht zur Vollendung führen kann. Diese Bestim-
mung, die auch in den letzten englischen Entw. (sec. 32) Aufnahme gefunden
hat, entspricht den überlieferten Anschauungen der italienischen Wissenschaft.
Rückhaltloses Lob verdienen die Grundsätze, welche das StGB, über
Thäterschaft und Teilnahme aufstellt (Art. 63). Sie beruhen auf einer
doppelten Unterscheidung: einmal zwischen Thätem und Mitthätem einerseits
und Gehülfen andererseits, zweitens zwischen solchen besonderen Umständen,
die in der Person des Handelnden, und solchen, die in der Sache liegen.
Bei dem Zusammentreffen mehrerer strafbaren Handlungen tritt
eine Erhöhung der verwirkten Strafe ein (Art. 67 AT.).
Das GB. kennt zwei Arten des Rückfalls: den Rückfall durch Begehung
von Delikten der gleichen Gattung und den Rückfall durch wiederholte
Begehung ein und desselben Delikts. Im ersteren Falle darf nicht auf das
Mindestmass der angedrohten Strafe erkannt werden, im letzteren hängt der
§ 4. Der besondere Teil des StGB. 593
Grad der Strafschärfung davon ab, ob einmaliger oder wiederholter Rückfall
vorliegt (Art. 80 flF.).
Der Schlnss des ersten Baches beschäftigt sich mit dem Erlöschen der
Strafklage und der Aufhebung der Strafvollstreckung; sie werden
bewirkt durch den Tod des Schuldigen, königliche Begnadigung, Verjährung,
Rehabilitation, Verzeihung des Verletzten, freiwillige Zahlung bei geringen,
nur mit Geldstrafe bedrohten Übertretungen (Art. 85 flf.). Hier ist auf eine
wichtige Neuerung hinzuweisen. Im sardo-neapolitanischen StGB, herrschte
infolge ungenauer Redaktion Unklarheit darüber, ob die Verjährungszeit zu
berechnen sei nach der für das begangene Delikt in abstracto angedrohten
oder nach der in concreto, unter Berücksichtigung aller begleitenden Umstände,
angemessenen Strafe. Das neue StGB, hat sich für die zweite Alternative
entschieden.
§ 4. Der besondere Teil den StGB.
Das zweite Buch ist folgendermassen eingeteilt:
I. Verg. gegen die Sicherheit des Staates (Art 104 — 138); II. Verg.
gegen die Freiheit (Art. 139 — 167); III. Verg. gegen die öffentliche Verwal-
tung (Art. 168 — 209); IV. Verg. gegen die Justizverwaltung (Art. 210 — 245);
V. Verg. gegen die öffentliche Ordnung (Art. 246 — 255); VI. Verg. gegen
die öffentliche Treue (Art. 256—299); VII. Gemeingefährliche Verg. (Art. 300
bis 330); VIII. Verg. gegen die gute Sitte und dieFrtmilienordnung(Art.331— 363);
IX. Verg. gegen die Person (Art. 364 — 401); X. Verg. gegen das Eigentum
(Art. 402—433).
In der sorgfältigen, auf wissenschaftlicher Methode beruhenden Anord-
nung der strafbaren Handlungen übertrifft das neue StGB. Beine Vorgänger
bei weitem.
Die Delikte gegen die innere und die äussere Sicherheit des Staates
werden nicht getrennt, sondern beide im ersten Titel behandelt. Die Straf-
bestimmungen gegen den Streik, den manche StGB, als handelsrechtliches
Verg. betrachten, finden sich in dem Titel „Verg. gegen die Freiheit", und
zwar in dem Kapitel, das von der Freiheit der Arbeit handelt. Die Bedrohung,
die fVüher als Delikt gegen die öffentliche Ruhe angesehen wurde, findet jetzt
ihren Platz unter den Verg. gegen die individuelle Freiheit, ebenso wie die
Freiheitsberaubung und die Nötigung. Die gänzlich unhaltbare Auffassung der
strafbaren Handlungen gegen Gräber als Verstösse gegen die Vorschriften
über die Beerdigungen ist aufgegeben; sie werden unter den Religionsdelikten
erwähnt. Die fälschliche Vorspiegelimg einer strafbaren Handlung, Verleum-
dung, falsches Zeugnis, Zweikampf sind Verg. gegen die Justizverwaltung.
Brandstiftung und Verursachung einer Überschwemmung (früher als Eigen-
tumsdelikte betrachtet), Nahrungsmittelvergehen und schwere Delikte gegen
die Eisenbahnen gelten als gemeingefährliche Verg.
Der erste Titel — Verg. gegen die Sicherheit des Staates — enthält:
Verg. gegen das Vaterland, d. h. Angriffe auf die nationale Einheit und
Unabhängigkeit, feindselige Handlungen gegen den Staat, Verrat von Staats-
geheimnissen, Festungs-, Arsenal- und Schiflfsplänen, Untreue bei dem Abschluss
von Staatsgeschäften mit fremden Regierungen, Spionage, die Herbeiführung
einer Kriegsgefahr für den Staat, die Annahme von Auszeichnungen, Pensionen
oder anderen Vorteilen von einem mit Italien im Kriege befindlichen Staate;
femer die Verg. gegen die Staatsgewalten, nämlich: Angriffe aut* den König,
die Königin, den Kronprinzen, den Regenten, strafbare Handlungen gegen die
Verfassung und das Parlament, Aufruhr, Anraassung eines öffentlichen Amtes;
endlich die Verg. gegen auswärtige Staaten und die Oberhäupter und Reprä-
Strafgesetzgebang der Gegenwart. I. 38
594 Italien nebst Kolonieen. — Das heute geltende Recht.
sentanten derselben. Gewisse, gegen verbündete Staaten begangene Delikte
werden ebenso bestraft, als wenn sie gegen Italien begangen wären.
Alle diese Delikte werden mit 6ef. bestraft, wenn ein politisches, mit
Zaebthans, wenn ein gemeines Motiv vorliegt.
Za den straf baren Handlungen gegen die Freiheit zählt das StGB.: die
Delikte gegen die politische Freiheit; die Delikte gegen die Koltasfreiheit; die
Delikte gegen die individuelle Freiheit; die Delikte gegen die ünverletzlich-
keit der Wohnung; die Verletzungen des Briefgeheimnisses; die Delikte gegen
die Freiheit der Arbeit.
Bei den in diesem Titel behandelten Strafthaten finden sich verschärfte
Strafandrohungen gegen Staatsbeamte, weil diese besonders leicht in die Lage
kommen, die individuelle Freiheit anzugreifen. Der Streik und die Vereini-
gung von Arbeitern zur Erzielung von Lohnerhöhungen und anderen Vor-
teilen werden nicht als solche bestraft, sondern nur dann, wenn die Streiken-
den Gewalt oder Drohungen anwenden, um die anderen an der Fortsetzung
oder Aufnahme der Ai*beit zu hindern.
Bei den Verbr. gegen die öffentliche Verwaltung kann sowohl eine
Privatperson als ein öffentlicher Beamter der Thäter sein. Zu dieser Gruppe
gehören: Unterschlagung und Entwendung im Amte, sowie alle sonstigen Über-
griffe der öffentlichen Beamten, Bestechung, Erpressung, Missbrauch der Amts-
gewalt seitens eines Beamten oder Religionsdieners, Anmassung öffentlicher
Funktionen, Titel oder Auszeichnungen, Widerstand gegen die Staatsgewalt,
Beamtenbeleidigung, Verletzung von Siegeln und Entwendungen aus öffent-
lichen Verwahrungsstellen. — Besondere Beachtung verdienen die Strafbestim-
mungen gegen die Religionsdiener. Es lag keineswegs in der Absicht des
Gesetzgebers, die Gewissensfreiheit anzutasten oder die freie Meinungsäusse-
rung zu unterdrücken, aber er wollte eine Handhabe schaffen, um diejenigen
Priester der verdienten Strafe zu unterwerfen, die unter Missbrauch ihres
amtlichen und moralischen Einflusses das Gesetz verletzen und das Volk zur Miss-
achtung der Staatseinrichtungen, zur Vernachlässigung ihrer Pflichten gegen
Familie und Vaterland aufhetzen. Jeder Staat, der sich nicht selbst dem
Untergange weihen will, hat das Recht und die Pflicht der Selbstverteidigung
gegen diejenigen, die ihn unter dem Deckmantel der Religion zu vernichten
suchen. Der Vorwurf, den man dem GB. daraus gemacht hat, dass es nicht die
Religionsdiener den übrigen Staatsbürgern gleichgestellt, sondern für sie beson-
ders scharfe Strafandrohungen geschaffen hat, ist nicht schwer zu entkräften.
Werden nicht auch andere Klassen von Personen wegen eines Delikts um so
härter gestraft, je grösser für sie die Versuchung ist, es zu begehen? so der
Aszendent wegen Notzucht an der Deszendentin, der öffentliche Beamte wegen
eines Verbr. gegen die persönliche Freiheit, die Hebanune wegen Abtreibung,
der Notar wegen Urkundenfälschung? Man darf nicht vergessen, dass der
Geistliche vermöge seines Standes, des Ansehens, den ihm sein geistliches Amt
verleiht, einen besonders grossen Einfluss hat und dass in Italien weltliche
und geistliche Macht einen beständigen erbitterten Kampf miteinander führen.
Selbst Belgien, in welchem die klerikale Partei meist die Regierungspartei ist,
hat besondere Straf Vorschriften gegen die Religionsdiener, und zwar viel
härtere als Italien.
Auffallend schwer wird der Widerstand gegen die Staatsgewalt bestraft.
Öffentlicher Beamter ist jeder, der ein öffentliches Amt, sei es auch nur zeit-
weilig und unentgeltlich, versieht. Jedoch wird bei der Beamtenbeleidigung
die Strafe verschieden bemessen, je nachdem sie gegen einen Polizei-
bediensteten oder einen anderen öffentlichen Beamten gerichtet war. Streitig
ist, ob der Widerstand straflos bleibt, wenn er durch ungesetzliches Verhalten
^
§ 4. Der besondere Teil des StGB. 595
des angegriffenen Beamten hervorgerufen wurde. In der Litteratur sind zwei
Ansichten vertreten; nach der einen hat der Unterthan blindlings zu gehorchen
und ist nicht befugt, die Gesetzmässigkeit der Handlungsweise des Beamten
zu prüfen; nach der anderen wird der Beamte nur in der rechtmässigen Aus-
übung seines Amtes geschützt und verliert diesen Schutz, sobald er seine
Befugnisse überschreitet. Zweifellos ist die erstere Ansicht eines freien Landes
unwürdig. Das GB. stellt nicht die Person des Beamten, sondern die Ausübung
des Amtes unter besonderen Schutz. Wenn also der Beamte vom Wege des
Gesetzes abweicht, so handelt er nicht mehr in Ausübung seines Amtes und
verwirkt den besonderen gesetzlichen Schutz. £s ist nicht zu bezweifeln,
dass diese Au£fas8ung die des GB. ist.
Die Verg. gegen die Justizverwaltung umfassen: die Weigerung,
gesetzliche Pflichten zu erfüllen ; die fälschliche Vorspiegelung einer strafbaren
Handlung; die falsche Anschuldigung; die falsche Aussage vor Gericht, wozu
auch die Verleitung eines Zeugen oder Sachverständigen zu falscher Aussage
sowie die falsche Ableistung eines Parteieides im Civil verfahren gehören; die
Untreue der Sachwalter; die Begünstigung; Entweichung eines Gefangenen und
Ungehorsam gegen das Strafurteil; unerlaubte Selbsthülfe; Zweikampf.
Das GB. bestraft die Herausforderung zum Zweikampf, auch wenn sie
nicht angenommen wird, und in allen Fällen denjenigen, der Veranlassung zur
Herausforderung gegeben hat. Die Zeugen sind strafbar, wenn sie nicht ernst-
lich bemüht gewesen sind, den Kampf zu verhindern. Wer beim Zweikampf
von den Waffen Gebrauch macht, wird bestraft, auch wenn er dem Gegner
keine Verletzung beibringt. Sehr wichtig und beachtenswert sind die Straf-
androhungen gegen den, welcher einen anderen öffentlich beleidigt oder der
öffentlichen Verachtung aussetzt, weil er eine Herausforderung nicht angenom-
men hat, sowie gegen den, welcher die Thatsache der Ablehnung der Forde-
rung öffentlich verbreitet, oder unter Androhung oder Bezeugung von Ver-
achtung oder in der Absicht, Geld oder andere Vorteile zu erlangen, einen
anderen herausfordert. Die Bestrafung einer beim Zweikampf erfolgten Tötung
oder Körperverletzung geschieht nach den für diese Delikte erlassenen beson-
deren Vorschriften.
Unter den Verg. gegen die öffentliche Ordnung finden wir die
Aufforderung zur Begehung einer strafbaren Handlung, die Verbindung zur
Begehung von solchen, die Aufreizung zum Bürgerkrieg, die Bildung von
bewaffneten Banden und öffentliche Einschüchterung.
Als Verg. gegen die öffentliche Treue führt das GB. auf: die Fäl-
schung von Münzen und öffentlichen Kreditpapieren; von Siegeln, öffentlichen
Stempeln und Abdrücken derselben; die Fälschung von öffentlichen und Pri-
vat-Urkunden; von Pässen, Erlaubnisscheinen, Beglaubigungen, Zeugnissen und
Erklärungen; Betrügereien im Handel, bei der Industrie und bei Versteigerungen.
Bei der Fälschung von Privaturkunden finden wir eine wichtige Neuerung,
die eingehende Diskussionen hervorgerufen hat. Früher pfiegte der Unter-
suchungsrichter auf Grund einer Bestimmung der neapolitanischen Gesetz-
gebung dem Angeklagten die Frage vorzulegen, ob er die Absicht gehabt
habe, sich der als verfälscht angesehenen Urkunde zu bedienen. Verneinte
der Angeklagte die Frage, so war damit das Verfahren zu Ende und er
wurde freigesprochen. Nach dem neuen StGB, ist dieses Fragesystem hin-
fällig, weil das Verbr. mit dem Vorzeigen der Urkunde vollendet ist. Die
Erklärung des rechtskundigen Angeklagten, er habe nicht die Absicht gehabt,
von der Urkunde Gebrauch zu machen, nützt ihm daher ebensowenig, wie
dem Dieb die Beteuerung, er sei willens gewesen, die gestohlene Sache dem
Eigentümer zurückzubringen.
38*
596 Italien nebst Kolonieen. — Das heute Gleitende Kecht.
Der siebent«» Tit(»l enthält: Brandstiftung, Verursachung einer Über-
schwemmung, Sinkenlassen von Schiffen und die anderen gemeingefährlichen
Verg.; die Verg. gepren die Sicherheit der Beförderungs- oder Verkehrs-
mittel; die Verg. gegen die öffentliche Gesundheit und Ernährung.
Der Staat soll die Verg. gegen die gute Sitte und die Familien-
ordnung bestrafen, aber er muss sich vor Übertreibungen auf diesem Gebiete
hüten und darf nicht soweit gehen, dass seine Vorschriften gefährlicher werden
als die Handlungen, für die sie erlassen sind und die jungen Mädchen einer
gesetzlichen Tugendaufsicht unterstellt werden.
Die Sittlichkeitsdelikte werden deshalb auch, abgesehen von den Fällen,
in denen ein öffentliches Ärgernis gegeben ist und einigen besonders schweren
Thaten, nur auf Antrag der verletzten Person bestraft. Das GB. unterscheidet:
geschlechtliche Vergewaltigung, Schändung Minderjähriger und Verletzung des
Sittlichkeitsgefühls; Entführung Minderjähriger; Kuppelei; Ehebruch; Bigamie;
Kindesunterschiebung imd Unterdrückung des Personenstandes.
Ich komme nunmehr zu den Verg. gegen die Person.
Als solche finden wir zunächst: vorsätzliche Tötung, Körperverletzung
mit tötlichem Ausgange, Beihülfe zum Seibscmord, Kindesmord und fahrlässige
Tötung.
Der Totschlag (vorsätzliche Tötung ohne Vorbedacht) wird mit Zuchthaus
von 18 — 21 Jahren bestraft; mildere Strafe tritt ein, wenn der Tod nicht ohne
die Mitwirkung vorher bestehender, dem Thäter unbekannter Bedingungen
oder später hinzugekommener und von seinem Handeln unabhängiger Ursachen
eingetreten wäre. Die vorher bestehenden, dem Thäter bekannten besonderen
Bedingungen lässt das GB. mit Recht unberücksichtigt, denn indem der Thäter
sie kannte, benutzte er sie bei seiner That und machte sie damit zu einem
Faktor seines verbrecherischen Vorsatzes. Nach einer, jetzt aufgegebenen,
Theorie der älteren italienischen Strafrechtsdoktrin wurde fVüher ein Totschlag
in allen Fällen als vorliegend angenommen, wenn die dem Opfer zugefügten
Verletzungen binnen 40 Tagen den Tod herbeiführten, jedoch trat Strafhiilderung
ein in allen Fällen, in denen der tötliche Ausgang nicht voraussehbar gewesen
war. Dagegen geht das StGB, davon aus, dass in allen Fällen, in denen der
Vorsatz des Thäters lediglich darauf gerichtet war, den anderen zu verletzen,
selbst wenn später der Tod eintrat, nur ein — allerdings besonders straf-
würdiger — Fall der Körperverletzung vorliegt. Diese Auffassung verdient
entschieden den Vorzug vor dem alten Dogma der Gleichheit von Totschlag
und Körperverletzung mit tötlichem Ausgange, denn wenn auch der Erfolg in
beiden Fällen der gleiche ist, so besteht doch zwischen dem Vorsatz des Thäters
in dem einen und dem anderen Falle eine grundlegende Verschiedenheit. Die
Absicht zu töten ist eine andere, als die Absicht zu verletzen. Deshalb ist
auch die zeitliche Beschränkung von 40 Tagen aufgegeben; denn wenn der
Thäter einmal den Tötungswillen hatte, so bleibt es sich gleich, ob der Tod
früher oder später eintritt, ebenso wie umgekehrt die ursprüngliche Verletzungs-
absicht durch den später eintretenden Tod nicht nachträglich in Tötungsabsicht
umgewandelt wird.
Das GB. zählt mehrere schwere Fälle der Tötung auf (omicidi aggravati),
die mit Zuchthaus von 22 — 24 Jahren bestraft werden; hierhin gehört die
Tötung, welche verübt wird an dem Ehegatten, dem Bruder, der Schwester,
dem Adoptivvater, der Adoptivmutter, dem Adoptivsöhne, oder einem in ge-
rader Linie Verschwägerten; femer die Tötung begangen an einem Mitgliede
des Parlaments oder einem öffentlichen Beamten aus Anlass ihrer Funktionen;
endlich die Tötung vermittels giftiger Substanzen. Die schwersten Arten der
Tötung (omicidi ciualificati) werden mit lebenslänglichem schwerem Zuchthaus
§ 4. Der besondere Teil des StGB. 597
(ergastolo) bedroht; zu ihnen rechnet das 6B.: die Tötung, welche begangen
wird an dem Vater, der Mutter und einem Aszendenten oder Deszendenten,
und zwar auch im Falle der unehelichen Verwandtschaft, wenn diese gesetz-
lich anerkannt oder erklärt ist; die Tötung mit Vorbedacht; die aus brutaler
Ruchlosigkeit oder mit schwerer Grausamkeit (brutale malvagitA) begangene
Tötung; femer die mittels eines gemeingefährlichen Delikts (Brandstiftung,
Überechwemmung usw.) begangene; endlich die Tötung, welche den Zweck
hat, die Vollziehung einer geplanten anderen strafbaren Handlung vorzube-
reiten oder zu erleichtem oder aber nach Begehung einer solchen die Spuren
der That zu verwischen, bezw. den Gewinn in Sicherheit zu bringen.
Was unter „Vorbedacht" (Überlegung) zu verstehen ist, überlässt der
Gesetzgeber, dem Beispiele fast aller anderen Länder folgend, der Auslegung.
Eine Definition dieses Begriffes fehlt auch in dem alten toskanischen StGB,
und in den geltenden StGB, von Spanien, San Marino, Genf, Freiburg, Wallis,
Bern, Waadtland, Graubünden, Glarus, Appenzell, Aargau, Thurgau, Basel-
Land, Basel-Stadt, Zug, Luzern, St. Gallen, Schwyz, Solothum, Zürich, Belgien,
Luxemburg, Holland, Schweden, Norwegen, Finnland, Dänemark, Deutschland,
Österreich, Ungarn, Bosnien, Herzegovina, Griechenland, Russland, sowie in
einigen StGB. Süd- und Centralamerikas.
Auch England, Malta, Indien, die englischen Teile von Amerika, die Ver-
einigten Staaten von Nordamerika definieren den Unterschied von Mord und
Totschlag (murder — manslaughter) nicht besonders.
Diejenigen, welche unserem StGB, aus der Weglassung dieser Begriffs-
bestimmung einen Vorwurf gemacht haben, können sich nur auf die StGB,
von Frankreich, Portugal, der Türkei, das ehemalige sardo- neapolitanische
StGB, und einige andere weniger wichtige berufen.
Dem Wesen der „Überlegung" bei den Tötungsdelikten muss ich noch
eine kurze Betrachtung widmen. Meines Erachtens ist nicht zu bezweifeln,
dass der charakteristische Unterschied zwischen „Mord" und „Totschlag" in«
den Beweggründen zu suchen ist; ich habe daher auf Grund eingehender
kritischer Betrachtung der für und gegen die Berücksichtigung der „Über-
legung" vorgebrachten Gründe einen neuen rechtlichen Begriff derselben auf-
gestellt. Nach meiner Ansicht ist sie die bei kaltem Blute und bei voller
geistiger Klarheit erfolgte Entwicklung der Gedanken des Thäters, welche
zur Fassung des verbrecherischen Entschlusses führt und diesen wie den
Charakter des Thäters als einen ganz besonders boshaften und der Rechts-
ordnung feindlichen erscheinen lässt.^)
Meine in dieser Beziehung angestellten Untersuchungen sind nicht ohne
Einfiuss auf die entsprechenden Vorschriften des GB. geblieben.®)
Nicht zu billigen ist, dass das GB. für die mit Überlegung ausgeführte
Tötung nur eine unveränderliche Strafe kennt.
Die mittels hinterlistigen Auflauerns begangenen Tötungen hat das GB.
aus den Fällen des eigentlichen „Mordes" ausgeschieden, weil sie nicht immer
mit Überlegung ausgeführt werden.
Der Kindesmord ist nicht mehr, wie im alten StGB., ein Mord im tech-
nischen Sinne, sondern eine gewöhnliche Tötung, die ihr charakteristisches
Gepräge durch das ihr zu Grunde liegende Motiv der Ehrenrettung erhält.
Dieses Motiv, das in vielen anderen StGB, lediglich einen Strafmilderangs-
^) Alimena, La premeditazioue in rapporto alla psicologia, al diritto, alla legis-
lazione comparata. Turin 1887.
2) Relazione officiale CXXXIX. — Luccbini in der Rivista penale: Bullettino
bibliogi-afico (Sez. II. p. 787, p. 370) Vol. XVII, 1, III.
59S Italien nebst Kolonieen. — Das heute g'eltende Recht.
gnmd for die Kindestömng bildet, ist im italienischen Recht Thatbeä-rands-
merkmaJ: — eine sehr wichtige Bestirnnrnng!
Das StGB, bestraft die Beihülfe zum Selbstmord- Verschiedene Schrift-
steller hanen die Straflosigkeit derselben befärwortet; mit Unrecht. Allerdings
soll das Gesetz die Beweggründe einer That berücksichtigen: wer den Selbst-
mord eines geliebten Wesens unterstützt ans aufrichtigem, tiefem Mitgefühl
mit ihm. nm es vor schwerem Unglück oder tiefer Schande zu bewahren, wird
auf Entschuldigung seiner That rechnen können. Die Geschichte ist reich an
Beispielen einer solchen Handlungsweise: ich erinnere an die Gräfin Batthyani,
die ihrem Gatten ein Messer zusteckte, mit dem er sich im Gef. den Tod gab.
an den Oberst Combes, der seinem in der Schlacht tötlich verwrmdeten Kame-
raden den Gnadenstoss beibrachte: an Olga Protafow, die ihre Freundin Vera
Gerebsow durch den Tod vor einem elenden Leben bewahrte; an den Vater,
von dem Coletia berichtet, dass er seinem wegen eines politischen Verbr. zum
Tode verurteilten Sohne Gift verschaflTle. Aber man vergesse nicht, dass alle
diese Fälle, wie auch diejenigen, in denen Liebende sich gegenseitig den Tod
geben Tlxonte, die Nero tötete, um ihn vor der Wut des Pöbels zu retten,
Arria, die ihrem Gemahl Paetus mit den Worten y,non dolef den Dolch reicht,
mit dem sie sich durchbohrt hat» Ausnahmen sind, aus welchen der Gesetz-
geber keine allgemeinen Schlüsse ziehen darf.
Nachdem in Art. 371 die Strafbarkeit der fahrlässigen Töttmg geregelt
ist, wendet sich das GB. zu der Körperverletzung. Die Strafbarkeit ist ver-
schieden nach den Folgen der Verletzung.
In den den Tötungsdelikten imd den Körperverletzungen gemeinschaft-
lichen Vorschriften wird unter andern die Straflosigkeit einer Tötung aus-
gesprochen, die an einem Urheber gewisser Eigentumsdelikte begangen wird.
Die Bestimmung bildet die Ergänzung des Art. über die Notwehr, der ohne
sie zu bedenklichen praktischen Konsequenzen führen müsste.
Der Abtreibung, der Aussetzung von Kindern und anderen hülflosen
Personen, sowie dem Missbrauch des Züchtigungsrechts sind besondere Kap.
gewidmet.
Es ist ein besonderes Verdienst des StGB., dass es, wie gegen den Zwei-
kampf, so auch gegen Verleumdung und Beleidigung schwere Strafen androht
und die Begehung dieser Delikte durch die Presse in keiner Weise vor der
auf anderem Wege erfolgten bevorzugt. Wenn schwere Beleidigungen mit
wenigen Tagen Gef. gesühnt werden können, so ist es keinWimder, dass der
Beleidigte sich mit Waffengewalt selbst die Genugthuung zu verschaffen sucht,
die ihm das Gesetz versagt. Wer den Zweikampf unterdrücken will, muss des-
halb auch auf eine energische Bestrafung der Beleidigung Bedacht nehmen.
Auch die Verleumdung oder Beleidigung eines Verstorbenen ist strafbar
(Art. 400;.
Straflos bleibt, wer durch persönliche Vergewaltigung zur Beleidig^ung
hingerissen wurde; war der Beleidigte die bestimmende und ungerechtfertigte
Ursache der Handlung, so wird die Strafe ermässigt. Bei wechselseitigen Be-
leidigungen kann der Richter eine oder beide Parteien für straffrei erklären.
Die „exceptio" veritatis"* wird im allgemeinen nicht zugelassen; ausnahmsweise
kann der Beweis der Wahrheit angetreten werden, wenn es sich um Belei-
digung eines öffentlichen Beamten in Bezug auf sein Amt handelt, wenn wegen
der der beleidigten Person beigemessenen Handlung ein Strafverfahren schwebt
oder eingeleitet wird, endlich wenn der Beleidigte ausdrücklich verlangt,
dass die Beurteilung sich auch auf Feststellung der Wahrheit oder Unwahr-
heit der behaupteten Handlung erstreckt.
Den Schlusff d<,*s zweiten Buches bilden die Verg. gegen das Eigen-
§ 4. Der besondere Teil des StGB. 599
tum. Sie umfassen: Diebstahl, Raub (rapina), Erpressung, Betrug, Vertrauens-
missbrauch (abus de confiance) und Unterschlagung, Hehlerei, unrechtmässige
Besitznahme und Sachbeschädigung. Die Strafbestimmungen über Bankerutt,
von denen später die Rede sein wird, enthält das Handelsgesetzbuch.
Der Diebstahl kann ein einfacher sein oder unter erschwerenden Um-
ständen begangen werden. Letztere sind nach ihrer Schwere in zwei Klassen
eingeteilt. Als Diebstahl gilt auch die expilatio hereditatis, die Wegnahme
von Sachen aus einer noch nicht angetretenen oder verteilten Erbschaft oder
von Sachen, die im Miteigentume des Thäters und anderer Personen stehen.
Der mittels Gewalt oder Drohungen verübte Diebstahl (Raub) wird streng ge-
ahndet. Sehr klar sind die Bestimmungen über die Erpressung. Unter den
BegriflT des Betrugs fallen viele Handlungen, die früher straflos waren, so die
Ausbeutung der Leidenschaften oder der Unerfahrenheit Minderjähriger und
die Verleitung zur Auswanderung unter Vorspiegelung falscher Thatsachen.
Nach älterem italienischen Recht lag ein schwerer Diebstahl vor, sobald
der Wert der gestohlenen Sache eine bestimmte Grenze erreichte. Wenn dem-
nach zwei Personen einen Diebstahl verübten, so konnte ihre Strafe bedeutende
Verschiedenheiten aufweisen, falls der eine in dem von ihm geöffneten Koffer
50, der andere 51 Lire gefunden hatte. Ein schlauer, im StGB, wohl bewan-
derter Verbr. hatte es also in der Hand, seine Strafe erheblich zu vermindern,
indem er auf die Mitnahme dieser einen Lire verzichtete. Das neue StGB,
hat von dieser unpraktischen Vorschrift abgesehen und bestimmt, dass bei
allen Eigentumsdelikten die Strafe um die Hälfte bezw. ein Drittel ermässigt
werden kann, wenn der Wert des Objekts gering oder sehr gering ist, und
umgekehrt um die Hälfte erhöht werden kann, wenn der Wert sehr gross ist.
Die Strafminderung ist unzulässig, wenn der Diebstahl im Rückfall, sowie mit
Gewalt oder Drohungen begangen ist. Eine Ermässigung der Strafe findet
femer auch statt, wenn der Thäter vor jedem gerichtlichen Verfahren die
unrechtmässig erworbene Sache oder deren Wert dem Beschädigten erstattet.
Das dritte Buch des StGB, behandelt die Übertretungen, Handlungen,
die an imd für sich nicht auf verbrecherischer Gesinnung zu beruhen brauchen,
deren Bestrafung vielmehr lediglich aus Gründen der gesellschaftlichen Ord-
nung und der Zweckmässigkeit erfolgt.
Das Buch enthält vier Titel:
I. Übertretungen gegen die öffentliche Ordnung (Art. 434 — 459); IL Über-
tretungen gegen die öffentliche Sicherheit (Art. 460 — 483); HI. Übertretungen
gegen die öffentliche Sittlichkeit (Art. 484 — 491); IV. Übertretungen gegen den
öffentlichen Schutz des Eigentums (Art. 492—498).
Der erste Titel behandelt: Verweigerung des Gehorsams gegen die
Obrigkeit; Unterlassung der Berichterstattung durch Ärzte und ihnen gleich-
gestellte Personen; Übertretungen in Bezug auf das Münz wesen; Übertretungen
betr. die Ausübung des Buchdruckereigewerbes, die Verbreitung von Druck-
werken und den Anschlag; Übertretungen betr. die Schauspiele und die öffent-
lichen Anstalten und Betriebe; Anwerbungen ohne Erlaubnis der Obrigkeit;
Bettelei; Störung der öffentlichen Ruhe und des Privatfriedens; Missbrauch
fremder Leichtgläubigkeit.
Der zweite Titel enthält: Übertretungen betr. den Waffengebrauch und
den Verkehr mit Sprengstoffen; Einsturz und Unterlassen der Ausbesserung
von Gebäuden; Übertretungen betreffend die Signale und Apparate des öffent-
lichen Dienstes; Werfen und gefährliches Hinstellen von Gegenständen; Unter-
lassen der Bewachung geisteskranker Personen; Unterlassen der Bewachung
oder schlechte Leitung von Tieren oder Gefährten; endlich andere gemein-
gefährliche Übertretungen.
600 Italien nebst Kolonieen. — Das heute geltende Recht.
Der dritte Titel behandelt: Glücksspiel; Trunkenheit; Verletzung des
öffentlichen Anstandes; Tierquälerei.
Den Inhalt des vierten Titels bilden: Ungerechtfertigter Besitz von
Gegenständen; unvorsichtiger Abschluss von Handels- und Pfandgeschäften;
unerlaubter Verkauf von Schlüsseln und Dietrichen, sowie unerlaubte Öffnung
von Schlössern; Benutzung unrichtiger Masse und Gewichte.
Ich habe versucht, in Vorstehendem eine kurze Skizze des italienischen
StGB, zu geben. Es ist, wie ich bereits erwähnte, von den einen über Ver-
dienst gelobt; von anderen mit Unrecht getadelt worden. Jedenfalls wird man,
wenn man es als Ganzes betrachtet, sagen müssen: es ist ein würdiges Monu-
ment italienischen Geistes.
§ 5. Das Strafverfahren.
Unsere StPO. beruht zum Teil auf dem französischen Code d'instruction
criminelle. Das Verfahren ist im ersten Stadium inquisitorisch, im zweiten
akkusatorisch.
Nur die Anklagebehörde, die durch die Staatsanwaltschaften vertreten
wird, ist berechtigt, eine strafbare Handlung zu verfolgen und zwar auch in
den Fällen, in denen der Antrag des Verletzten erforderlich ist.
Der Urteilsfällung geht ein „EröffYiungsbeschluss" voraus. Dieser wird
von der beschliessenden Strafkammer erlassen, die bei den Landgerichten
(I. Instanz) die Bezeichnung „Camera di-consiglio", bei den Oberlandesgerichten
(Berufungsgerichten) die Bezeichnung „sezione d'accusa" führt. Das italieni-
sche Verfahren hat einen grossen Vorzug vor dem ft'anzösischen. Während
in letzterem die Voruntersuchung bis zum Erlass des Eröffnungsbeschlusses
geheim ist und der Angeklagte lediglich das Recht hat, schriftliche Eingaben
zu machen, wird in Italien das Verfahren kontradiktorisch mit dem Antrage
des Staatsanwalts auf Eröffnung des Verfahrens. Wenn der Angeklagte sich
bestimmten gesetzlichen Bedingungen unterwirft, hat er von diesem Augen-
blicke an das Recht der Akteneinsicht und Verteidigung. Indes ist zu erwähnen,
dass für Bagatellsachen auch ein abgekürztes Verfahren ohne Eröffnungs-
beschluss zulässig ist.
Zur Ausübung der Strafgerichtsbarkeit sind in Italien folgende Personen
berufen: 1. der Prätor (pretore, Friedensrichter); 2. die Strafkammer, die auch
über die Berufung gegen den Ausspruch des Prätors erkennt; 3. das Ober-
landesgericht (Appellationsgericht); 4. das Schwurgericht; endlich 5. der Kassa-
tionshof, dessen Sitz in Rom ist. Da, wie man sieht, unser Strafverfahren nicht
auf der Höhe modemer Wissenschaft und Praxis steht, ' so ist seit dem „Ko-
ordinationsdekret" vom I.Dezember 1889 vielfach von einer organischen Reform
desselben die Rede.
Der italienische Juristentag hat in seiner zu Florenz im J. 1891 ab-
gehaltenen Sitzung den Wünschen der italienischen Richter, Professoren, An-
wälte und Regierungsbearaten in einem Beschlüsse Ausdruck verliehen. Es
wurden als wünschenswert bezeichnet: auf Vorschlag Cassutos: eine Ausdeh-
nung der Öffentlichkeit der Voruntersuchung; aUf meine Anregung hin: die
Abschaffung der eröffnenden Strafkammern bei den Landgerichten und Ober-
landesgerichten, sowie des Eröffnungsbeschlusses und Ersetzung desselben durch
den „Einspruch" des österreichischen Rechts; auf Antrag von De Notter: die
Beteiligung des durch die That Verletzten am Strafverfahren; auf Vorschlag
Garofalos: die ausreichende Entschädigung der Opfer einer strafbaren Hand-
lung und der unschuldig Verurteilten; auf Antrag von Codacci-Pisanalli: die
Zulassung der actio popularis für gewisse Delikte.
§ 7. Die in Spezialgesetzen behandelten Delikte. 601
Wie man sieht, existiert auf dem Gebiete des Strafverfahrens in Italien
eine lebhafte Bewegung, die bald zum Elrlasse einer neuen, auf der Höhe der
modernen italienischen Wissenschaft stehenden StPO. führen wird.
§ 6. Die Delikte des Handelsgesetzbuches.
Das Handelsgesetzbuch enthält die Bestimmungen über diejenigen Delikte,
welche vorzugsweise mit der Ausübung des Handelsgewerbes zusammenhängen.
Sie zerfallen in drei Gruppen:
1. Die bei der Errichtimg von Handelsgesellschaften begangenen Delikte
(Fälschungen, Abschluss von Scheingeschäften usw.). 8. Die unterlassene Da-
tierung, die Falschdatierung und der Mangel genügender Deckung in Metallgeld
beim Chekverkehr. 3. Bankerutt und andere Konkursvergehen.
Nach italienischem Recht wird, sobald der Konkurs eröffnet ist, seitens
der Staatsanwaltschaft das Strafverfahren eingeleitet, um zu ermitteln, ob eine
strafbare Handlung vorliegt. In der Litteratur ist die Ansicht vertreten, dass
ein solches auch zulässig ist ohne Vorliegen einer Konkurserklärung; ich halte
sie jedoch für irrtümlich, auch ist sie von anderen Schriftsteilem lebhaft
bekämpft.
Bei den Konkursdelikten sind zuuntei*scheiden: L der einfache Bankerutt
(Nachlässigkeiten in der Buchführung usw. ohne betrügerische Absicht); 2. der
betrügerische Bankerutt; 3. strafbare Handlungen, die bei Gelegenheit eines
Konkurses, nicht von dem Gemeinschuldner, sondern von dritten Personen —
Hehlern, Verwaltern usw. — begangen werden.
Selbstverständlich sind ftlr die Aburteilung dieser Delikte die Straf-
gerichte zuständig.
§ 7. Die In Spezialgesetzen behandelten Delikte.
Ausser dem StGB, giebt es zahlreiche Nebengesetze strafrechtlichen In-
halts, von denen das Pressgesetz vom 26. März 1848 und das G. über die
öffentliche Sicherheit vom 30. Juni 1889 die wichtigsten sind.
Das Pressgesetz enthält nachstehende Kap.: 1. Allgemeine Bestim-
mungen; 2. Öffentliche Aufforderung zur Begehung von strafbaren Handlungen;
3. Verg. gegen die Staatsreligion, gegen andere Kulte und die öffentliche Sitt-
lichkeit; 4. öffentliche Beleidigung des Königs; 5. Öffentliche Beleidigung des
Parlaments und fremder Regierungen; 6. Öffentliche Beleidigung, Verleumdung
und Verbreitung von Schmähschriften; 7. Besondere Bestimmungen; 8. Perio-
dische Druckschriften; 9, Zeichnungen, Steindrucke und andere sinnbildliche
Darstellungen. 10. Zuständigkeit und Verfahren.
Als das G. erlassen wurde, hatte es noch mehrere Art. über das Verfahren
und die Zuständigkeit der Schwurgerichte, die jedoch nach Einführung der
letzteren für alle schwereren Delikte und der einheitlichen Gestaltung des
Verfahrens überflüssig geworden sind.
Das G. über die öffentliche Sicherheit enthält vier Titel: I. Bestim-
mungen betr. die öffentliche Ordnung und die öffentliche Unversehrtheit.
Sie beziehen sich auf öffentliche Versammlungen, religiöse Ceremonien ausser-
halb der Gotteshäuser, kirchliche und bürgerliche Aufzüge, Waffenansamm-
lungen, Verhütung von Unglücksfällen, Aufsicht über unsaubere und gefährliche
Gewerbe. — II. Bestimmungen über Theater und andere Aufführungen; öffent-
liche Betriebe, Schankwirtschaften, Herbergen, Druckereien, öffentliche Agen-
turen; Gewerbe, die im Umherziehen betrieben werden; Arbeiter, Dienstboten
und Direktoren von Etablissements. — III. Bestimmungen, die sich gegen ge-
602 Italien nebst Kolonieen. — Das heute geltende Recht.
fährliche Klassen der Bevölkerung richten: Bettler, Landstreicher, entlassene
Sträflinge, auszuweisende Ausländer. Hier begegnen wir der Vermahnung
(ammonizione), die nicht mit dem Verweise zu verwechseln ist, der bereits
oben erwähnten Stellung unter Polizeiaufsicht und dem Zwangswohnsitz (domi-
cilio coatto), der jedoch mit der Eingrenzung nicht identisch ist. — IV. Schluss-
und Übergangsbestimmungen.
Neben diesen beiden Gesetzen giebt es eine grosse Anzahl von Spezial-
gesetzen mit Bestimmungen strafrechtlichen Inhalts. Da ihre vollständige Auf-
zählung nicht möglich ist, so beschränke ich mich darauf, die wichtigsten
derselben zu erwähnen.
Vorschriften strafrechtlichen Inhalts finden sich in den G. und Vdgn.,
die sich beziehen auf: kohlensäurehaltige Wasser (Vdg. vom 25. September
1870, No. 5902); Forsten (6. vom 20. Juni 1877, No. 3917); Erteüung von
Konzessionen seitens der Regierung (6. vom 13. September 1874, No. 2086);
Gebrauchsabgaben (G. vom 3. Juli 1864, No. 1827); Zölle (Vdg. vom 7. Sep-
tember 1862); Auswanderung (G. vom 30. Dezember 1888, No. 5866, dritte
Serie); Bierfabrikation (Vdg. vom 19. November 1874, zweite Serie); Reblaus
(Phylloxera) (G. vom 31. Juli 1881, No. 380, dritte Serie); Verbot des Umher-
ziehens von Kindern (G. vom 21. Dezember 1873, No. 1733, zweite Serie); obli-
gatorischen Elementarunterricht (G. vom 15. Juli 1877, No. 396, zweite Serie);
Beschäftigung jugendlicher Arbeiter (G. vom 11. Februar 1886, No. 3657, dritte
Serie); Lotto und Lotterieen (Vdg. vom 21. November 1880, No. 5744, zweite
Serie); Münzwesen (G. vom 24. August 1862, No. 788); Fischerei (G. vom 4. März
1877, No. 3706, zweite Serie); Masse und Gewichte (G. vom 23. August 1890,
No. 7088, dritte Serie); Schiesspulver (G. vom 5. Juni 1869, No. 5111); Post-
wesen (G. vom 5. Mai 1862, No. 604); Salz- und Tabak-Regal (G. vom 15. Juni
1865, No. 2397); militärische Requisitionen von Wagen und Pferden (G. vom
30. Juni 1889, No. 6168, dritte Serie); Anbau von Reis (G. vom 12. Juni 1866,
No. 2967); Schiß's- Gesundheitspolizei (G. vom 31. Juli 1859, No. 3544); öffent-
liches Gesundheitswesen (G. vom 22. Dezember 1888, No. 5849, dritte Serie);
Alkohol (G. vom 12. Oktober 1883, No. 1640, dritte Serie); öffentliche Arbeiten
(G. vom 20. März 1865, No. 2848); Bergwerke (G. vom 20. November 1859);
Jagd (G. vom 13. September 1874) und viele andere.
Einzelne Straf bestimmun gen enthalten auch: G. betr. die politischen
Wahlen vom 24. September 1882; G. betr. die Kommunal- und Provinzial-
wahlen vom 10. Februar 1889; G. über das Konsulatswesen vom 28. Januar
1866; G. über das Urheberrecht vom 25. Juni 1865 und 10. August 1875,
das G. über das gewerbliche Eigentum vom 30. Oktober 1859 und 31. Januar
1864; G. über die Fabrikmarken vom 30. August 1868 und G. über die Handels-
marine vom 24. Oktober 1877.*)
§ 8. Das HUUtarstrafrecht
Auf dem Gebiete des Militärstrafrechts gelten: das StGB, für das Land-
heer vom J. 1870 und das StGB, für die Marine vom J. 1869.
Jedes derselben zerfällt in zwei Teüe, von denen der erste von den
strafbaren Handlungen und deren Bestrafung, der zweite von dem Strafver-
fähren im Frieden und im Kriege handelt. In beiden GB. zerfallen die Strafen
^) Alle auf diese Spezialgesetze bezüglichen Kommentare und Abhandlungen
zu eitleren, ist unmöglich. Dieselben sind vollständig abgedruckt in der mehrbändigen
Sammlung: »Le leggi speciali'*, herausgegeben von der Unione tipografico-editrice
torinese.
§ 10. Litteratur-Übersicht. 603
in solche, welche den Verlust der Zugehörigkeit zum Soldatenstande wegen
Unwürdigkeit des Bestraften zur Folge hat, und solche, mit denen diese Wir-
kung nicht verbunden ist. Zu ersteren gehören: die Todesstrafe, wenn sie
durch Schuss in den Rücken vollstreckt wird, lebenslängliche und zeitige
Zwangsarbeit, Zuchthaus, Degradierung, Verlust der militärischen Würde. Zu
letzteren werden gerechnet: die Todesstrafe, wenn sie durch Schuss in die
Brust vollzogen wird, militärische Einschliessung, Militärgefängnis, Entlassung,
Verlust des Hanges, die zeitweilige Suspendierung vom Dienst.^)
Zur Zeit ist eine Kommission mit dem Studium der Reform des Militär-
strafrechts beschäftigt. Zu bemerken ist, dass die Todesstrafe trotz ihrer Ab-
schaffung für das Civilstrafrecht bestehen bleiben wird.
m.
§ 9. Das StB. der Kolonleen.
Die Regiening hat in den afrikanischen Kolonieen") das italienische Civil-
und die Mü.-StGB. eingeführt.
Durch eine königl. Vdg. vom 13. Mai 1886 ist der Sklavenhandel be-
züglich der Strafbarkeit dem Raube gleichgestellt (grassazione, rapina).^)
Nach den Vdgn. vom 1. Januar und 3. April 1890 entscheidet in Mas-
sauah das Militärgericht über alle Militärdelikte und die schwereren, das Civil-
strafgericht über die leichteren von Civilpersonen begangenen Verbr., der Vor-
sitzende des letzteren über alle Übertretungen.
In Asmara ist ein besonderes Gericht eingesetzt, das die von Civil-
personen begangenen schweren Delikte auf Grund des Mil.-StGB., die übrigen
Delikte auf Grund der Gesetze und Gebräuche des Landes aburteilt. In den
letzteren Fällen befragt nach äthiopischer Sitte der Gerichtsvorsitzende vor
Abgabe einer Entscheidung die der Gesetze und Sitten des Landes kundigen
Häuptlinge, angesehene Personen und Priester um ihre Ansicht.
Die am häufigsten verhängten Strafen sind Einsperrung mit Arbeitszwang,
Geldstrafe und Verbannung; einige Male ist auch der Tod durch Erschiessen
zur Anwendung gebracht. Die Prügelstrafe, auf die anfangs erkannt wurde,
ist jetzt abgeschafft.
Auch in Keren existiert ein eigenes Gericht.
Eine von der Regierung eingesetzte Kommission hat in Anregung gebracht,
den Militärgerichten die Jurisdiktion über einen Teil der von Civilpersonen
begangenen Verbr. zu nehmen und dieselbe ausschliesslich den Civilstrafgerichten
zu übertragen.*)
IV.
§ 10. Litteratur-Übersicht.
I. Vorarbeiten zum StGB. Progetto di codice penale presentato dal Ministro
di Grazia e Giustizia e dei Culti (Zanardelli). Rom 1887. — Relazione ministeriale sul
^) Über das Militärstrafrecht vgl. die von dem Militäranwalt Mel veröffentlichten
Sammlungen.
*) Eritrea (Massauah, Assab und das Protektorat über die Somaliküste).
^) Memoria sull' ordinamento politico-amministrativo e sulle condizioni economiche
di Massaua presentata del ministro degli affari esteri (Di Robilant). Rom 1886.
*) Relazione generale politica e ammin i st rativa della commissione reale d'in-
chiesta suU' Eritrea diretta a S. E. il Ministro degli affari esteri (Gazetta ufficiale del
Regno dltalia 1891).
604 Italien nebst Kolonieen. — Litterat ur-Übersicht.
libro primo. Rom 1887. — Relazione ministeriale sul libro secondo e snl libro terzo.
Rom 1887. — Relazione alla camera dei depatati (Villa). Rom 1888. — Relazione al
senato (Pessina, Canonico, Costa, Pnccioni). Rom 1888. — Discussioni alla Camera dei
Deputati (vom 26. Mai bis 9. Juni 1888). — Discnssioni al Senato ivom 8. bis 17. No-
vember 1888). — Proposte, voti ed osservazioni delle commissioni Parlamentär! , dei
singoli deputati e senatori e dei cultori della scienza (im Druck). — Verbau della
commissione. Rom 1889. — Progetto dei Codice penale con le modificazioni della
sottocommissione e della commissione di revisione. Rom 1889. — Progetto delle dis-
posizioni per lattuazione dei Codice penale. Rom 1890. — Verbau della commissione.
Rom 1890. — Relazione dei Ministro a S. Maestä. Rom 1889. — Die "vorstehend an-
geführten Ausgaben sind die amtlichen; ausserdem sind die Vorarbeiten aber auch
von der Unione tipografico-editrice torinese herausgegeben.
II. Übersetzungen. Das italienische StGB, ist übersetzt: in das Französische
von Lacointa (C. p. dltalie, traduit, annote et preced6 d'une introduction. Paris 1890);
von Sarraute (Le C. p. pour le royaume d'Italie, traduit, annote et prccedö d'une in-
troduction. Paris 1890); endlich von Turrel (C. p. italien, Paris 1890); ins Deutsche
von Stephan (StGB, für das Königreich Italien. Berlin 1890) und Teichmann (Das
italienische StGB, vom 30. Juni 1889 nebst dem G. über die öffentliche Sicherheit vom
30. Juni 1889. Berlin 1890 im X. Bde. der „Zeitschrift für die gesamte Strafrechts-
wissenschaft".
III. Kritiken des Entw. Alimena, Le projet du nouveau C. p. Italien. Paris
1888. — Appunti al nuovo codice penale (mit Beiträgen von Lombroso, Garofalo u.a.).
Turin 1889. — Brusa, Sul sistema penale dei nuovo progetto di codice in der „Rivista
italiana per le scienze giuridiche" B. VII. — Benoist, Les principes economiques et le
nouveau C. p. italien, Journal des ^conomistes 1888. — Barzilai, II nuovo codice pe-
nale in der „Rivista di discipline carcerarie** 1888/89. — Benedikt, Der neue^taUenische
StG.-Entw. Wien 1888. — Bennati, Brevi osservazioni sul progetto dei nuovo codice
!)enale. Pontremoli 1888. — Buccellati, Progetto di codice penale pel Regno dltalia
Akten des „Istituto Lombardo**, zweite Folge, Bd. XXXI). — von Buri, Bemerkungen
zum Entw. des StGB, (dem Minister handschriftlich überreicht und der Bibliothek des
Justizministeriums einverleibt). — Castorf, Prolezione ad un corso sui progetti dei
codice penale. Padua 1889. — Carcani, II duello e il codice penale in der „Rivista
militare^ 18H8. — Cavagnari, Sul libro primo dei progetto di codice penale italiano.
Sayona 1888. — Conti, 1 minorenni delinquenti e il progetto Zanardelli in „Filangieri",
XIII. Jahrgang. — Cogliolo, II prossimo codice penale. Florenz 1889. — Delogu, Pro-
getto di codice penale per il regno d'Italia in der „Antologia giuridica*, II. Jahrgang.
— De Pedys, Osservazioni medico-legali sul nuovo codice penale. Rom 1888. — Fiore,
Considerazioni suir efficacia extraterritoriale della sentenza penale straniera nel pro-
getto di codice penale in dem „Monitore des tribunali^ 1888. — Garofalo, Contro la
corrente. Neapel 1888. — Garbasso, Delle contravenzioni in der „Legge", Bd. XXVIIL
— Gelli, Responsabilitä penale dei duellanti. Florenz 1888. — Giannelia, Del secondo
progetto Zanardelli in der „Gazzetta dei tribunali di Trieste 1888. — von Holtzen-
dorff. Die Strafandrohungen im neuesten italienischen StG.-Entw. im „Gerichtssaal",
Bd. V, 1888. — Lacointa, Le dernier projet de C. p. Italien. Paris 1888. — v. Liszt,
Der italienische StG.-Entw. Marburg 1888. — Lombroso, Troppo presto, Turin 1888.
— Lucchini, Critici di fantasia in der „Rivista penale", Bd. äaVII. — Majno, II pro-
getto Zanardelli in dem „Monitore dei tribunali" 1888. — Mayer, Der Entw. eines
StG. für das Königreich Italien. Berlin 1888. — Orestano, Progetto di codice penale j
in dem „Circolo giuridico", Jahrgang XX. — Porto, Progetto dei codice penale. Rom j
1888. — Pugliese, 11 nuovo codice penale italiano. Trani 1888. — Semmola, Un quesito
intomo alla retroattivitA dei nuovo codice penale. Neapel 1888. — Seuffert, Mitteilungen
aus dem Entw. eines StGB, für Italien. Breslau 1888. — Stoppato, Presunzioni inique
nelle contravenzioni. Venedig 1888. — Tamassia, II progetto dei codice penale pre-
sentato da Zanardelli (Akten des „Istituto veneto", Bd. VI). — Tedeschi, II presente e
Tawenire nell'opera legislativa della codificazione dTtalia. Turin 1888. — Tolomei,
Sui progetti di codice penale commune a tutto il regno (Akten des „Istituto veneto*,
Bd. VI). — Tolomei, Suü odierna questione degli abusi dei ministri dei culti nell'
esercizio delle loro funzioni. Padua 1888. — Tuozzi, Le prime impressioni dei Pro-
getto di codice penale. Neapel 1888. — Torres Campos, El nuevo proyecto de cödigo
penal italiano (Revista de los tribunales, Bd. XVII). — Wahlberg, Die StGgebung für
das Königreich Italien. Wien 1888. — Zucker in der „Zeitschrift für das Privat- und
öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. XV.
IV. Kommentare, Abhandlungen, Monographieen. Arabia, I principi
dei diritto penale applicati al codice italiano. Neapel 1891. — Alimena, La premedi-
tazione in rapporto alla psicologia, al diritto, alla legislazione comparata. Turin 1887.
— Derselbe, I limiti e i modificatori dell' imputabilitl. Turin 1893. — Bozzo, II codice
§ 10. Litteratur-Übersicht. 605
penale italiano e la sua genesi. Rom 1891. — Curcio, Osservazioni storiche, statistiche,
giuridiche intomo al codice penale italiano. Neapel 1890. — Crivellari, II codice
penale per il regno d'Italia interpretato. Turin 1889—90. — Completo trattato teorico
e pratico di diritto penale secondo il codice unico del Regno d'Italia pubblicato da
Cogliolo con la coUaborazione di avvocati e professori. Mailand 1888—91. — Fioretti,
II nuovo codice penale italiano annotato. Neapel 1889. — Derselbe, La legitima difesa.
Neapel 1885. — Giustiniani. Tavole delle referenze degli articoii dei codici sardo
e toscano col codice penale per il regno dltalia. Turin 1889. — Impallomeni, II
codice penale italiano illustrato. Florenz 1890. — Derselbe, I caratteri dei mo-
yenti neir omicidio premeditato. Rom 1888. — Lombardi, II codice penale per il
regno d'Italia. Syrakus 1889—90. — Lozzi, Liberia e giustizia secondo il nuovo
codice penale e la scuola positiva. Turin 1890. — Masucci, II codice penale italiano.
Neapel 1891. — Majno, Commento al codice penale italiano. Verona 1890. — Masse,
Le Code p^ual Italien. Besan^on 1890. — Mel, II nuovo codice penale italiano con
le disposizione transitorie e di coordinamento. Rom 1889. — Norcen, II codice
penale per il Regno d'Italia. Arcona 1890. — Nicola, Das neue italienische StGB.
(Revue pönale suisse 1890). — Olivecrona, Om Zanardelli förslag tili ny Strafflag
för Ronungariket Italien och om de deri upptagna Straff. Kristiania-Stockholm.
1890. — Pessina, II nuovo codice penale italiano. Mailand 1890. — Perrone-Ferrante,
Del nesso casuale e della sua imputazione. Palermo 1888. — Puglia, Manuale di di-
ritto penale secondo il nuovo codice penale italiano. Neapel 1890. — Peratoner, Dei
delitti contro la libertA. Catania 1H91. — Pincherli, II codice penale italiano anno-
tato. Turin 1889—90. — Precone, Dei reati contro il buon costume. Mailand 1892. —
Paoli, Le nouveau code penal Italien et son Systeme p^nal (La France judiciaire 1890).
— Setti, Deir imputabilitÄ secondo gli art. 44, 45, 46, 47, 48 del codice penale italiano.
Turin 1892. — Stephan, Das neue italienische StGB. (PreuÄsische Jahrbücher 1890). —
Scarlata, La imputabilitä e le cause che la escludono o la diminiscono. Messina 1891.
— Speciale, II codice penale per il Regno dltalia. Studio dei progetti comparati. Rom
1889—90. — Travaglia, II nuovo codice penale italiano. Rom 18?<9. — Tuozzi, Corso
di diritto penale secondo il nuovo codice dltalia. Neapel 1890.
V. Litteratur über die Delikte des Handelsgesetzbuchs. Abgesehen
von den Spezialwerken über Handels- und Konkursrecht sind hier zu erwähnen:
Alfani, Bancarotta in „Digesto italiano'^. — Carfora, Del reato di bancarotta nel
vigente diritto italiano. Neapel 1887. — Casorati, Della Bancarotta (Rivista penale,
Bd. XVIR — Fioretti, Le disposizloni penali del codice di commercio. Neapel 1891. —
Lemmo, Dei reati in materia di fallimento. Neapel 1890.
VI. Rechtsprechung. Entsch. werden in fast allen juristischen Zeitschriften
abgedruckt. Solche sind: Annali di giurisprudenza italiana. — II foro italiano. —
Rivista penale. — Giurisprudenza italiana. — La corte suprema di Roma. — La legge.
— La cassazione unica. — Giurisprudenza penale. — II foro penale. — Temi veneta.
— La giustizia. — La pratica legale. — Annuario di diritto penale. — La scuola
positiva.
Es giebt auch Handbücher der Rechtsprechung in Strafsachen. Ich erwähne:
Coen, Mauale di giurisprudenza sul codice penale italiano, Livorno 1891 und Angio-
lini, II Massimario penale della cassazione italiana.
2. San Marino.
Die frühere StGgebung der Eepnblik San Marino war enthalten in den
Leges statntae Beipnblicae Saneti Marini.^)
Znpetta, Professor an der Universität Neapel, wnrde von den ^regieren-
den Kapitänen" mit der Ausarbeitung eines StGB, betrant. Der Entw. wnrde
1859 veröffentlicht, von Giuliani revidiert nnd 1865 znm G. erhoben. Das-
selbe hat nicht die Form eines GB., sondern, wie von Pessina and anderen
Schriftstellern mit Recht hervorgehoben ist, die einer wissenschaftlichen Ab-
handlung; es ist, wie ich hinzufügen muss, in vielen Punkten zu doktrinär.
Es zerfällt in zwei Teile.
Der erste behandelt das StG., die Strafe und die Strafe im allgemeinen
und ist folgendermassen eingeteilt:
Erstes Buch: von den StG. im allgemeinen (Art. 1 — 12^; zweites Buch:
von den strafbaren Handlungen im allgemeinen (Art. 13 — 140); drittes Buch:
von den Strafen im allgemeinen (Art. 141 — 190).
Den Anfang des G. bilden Bestimmungen, man kann fast sagen, Aus-
einandersetzungen über die Grenzen des richterlichen Ermessens, die Bestim-
mung des Begriffs der strafbaren Handlung, die Bestandteile derselben und
andere Begriffe, deren Entwicklung die meisten StGB, der allgemeinen Bechts-
lehre überlassen.
Die strafbaren Handlungen werden eingeteilt in Verbr. (nüsfatti), Verg.
(delitti) und Übertretungen (contrawenzioni).
Die Verbr. zerfallen ihrer Schwere nach in sieben Klassen.
Das G. berücksichtigt: Geisteskrankheit, verminderte Zurechnungsfähig-
keit, die Verschiedenheit der Altersstufen, den rechtlichen und thatsächlichen
Irrtum, den unwiderstehlichen physischen und psychischen Zwang.
Der Versuch umfasst, auf Grund überlieferter italienischer Auffassung,
das versuchte und das fehlgeschlagene Delikt.
Die Einrichtung der mildernden Umstände im allgemeinen ist dem G.
unbekannt, jedoch finden sich im einzelnen zahlreiche mildernde und er-
schwerende Umstände.
Rückfall lieg^ nur vor, wenn dasselbe Delikt mehrfach begangen ist und
hat eine der Zahl der Wiederholungen entsprechende Erhöhung der Strafe bis
zu zwei Graden zur Folge.
Beachtenswert ist die in dem Titel über Thäterschaft und Teilnahme ent-
haltene Bestimmung über die „korrespektive Mitthäterschaft", die dann vor-
liegt, wenn mehrere Personen sich an der Begehung einer strafbaren Handlung
beteiligt haben, deren Hauptthäter unbekannt ist. Der Begriff ist dem älteren
neapolitanischen Recht entlehnt.
Die Veijähmng einer in Abwesenheit des Angeklagten erkannten Strafe
wird als Verjährung der Strafverfolgung, nicht der Strafvollstreckung aufgefasst.
*) Delfico, Memoire storiche della repubblica di San Marino. Florenz 1842—44
Brizzi, Quadro storico-statistico della senerissima repubblica di San Marino. Florenz 1842.
Fanti, De la U'gislation penale de la Republique de Saint-Marin. Imola 1878. — Zupetta,
Teste del progetto del codice penale di San Marino. Napoli 1867.
San Marino. 607
Die Strafen sind in Grade eingeteilt und sind teils Haupt-, teils Neben-
strafen.
Hauptstrafen sind: Zwangsarbeit auf Lebenszeit (lavori pubblici a vita)
und auf bestimmte Zeit (lavori pubblici a tempo), lebenslängliches Gef. (pri-
gione a vita) und Gef. auf bestimmte Zeit (prigione a tempo), der Ausschluss
von der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte (interdizione) und Geldstrafe
(multa) von 5 — 500 Lire.
Nebenstrafen sind: die Aufenthaltsbeschränkung (bando) und die acces-
sorische Geldstrafe.
Die Strafe der Zwangsarbeit ist in sieben, die Gefängnisstrafe in zwölf
Grade eingeteilt.
Welche Straf art anzuwenden ist, richtet sich nach den Beweggründen
der That; das niedrige Motiv wird als straferschwerender Umstand betrachtet.
Der zweite Teil enthält drei Bücher. Erstes Buch: Von den Verbr.
Erste Klasse: Verbr. gegen die Sicherheit des Staates (Art. 191 — 217); zweite
Klasse: Verbr. gegen die gesellschaftliche Ordnung (Art. 218 — 405); dritte
Klasse: Verbr. gegen die Familienordnung (Art. 406 — 445); vierte Klasse:
Verbr. gegen die einzelnen Personen (Art. 446 — 538). — Zweites Buch: Von
den Vergehen. Erster Titel: Die Verg., für sich allein betrachtet (Art. 539 bis
542); zweiter Titel: Zusammentreffen von Verbr. und Verg. (Art. 543 — 548).
— Drittes Buch: Von den Übertretungen (Art. 549 — 551).
Zu den Verbr. gegen die Sicherheit des Staates, die im allgemeinen mit
Gef. und Geldstrafe bedroht sind, gehören sowohl die gegen die äussere, als
die gegen die innere Sicherheit des Staates.
Zu der zweiten Verbrechensklasse gehören : Beteiligung am Bürgerkriege,
Massenmord, Plünderung, Verwüstung; die Verbr. gegen die Verwaltung der
Republik seitens eines Beamten oder einer Privatperson; die Verbr. gegen die
Justizverwaltung; die Verbr. gegen die Religion und die von Religlonsdienem
gegen die Regierung begangenen Verbr. ; die Sittlichkeitsverbrechen; die Verbr.
gegen die öffentliche Gesundheit; die Verbr. gegen die von der Obrigkeit in
Bezug auf den Kauf und Verkauf von Getreide und Früchten erlassenen Be-
stimmungen; die Verbr. gegen den Handel und die Freiheit der öffentlichen
Versteigerungen; die Fälschungsverbrechen; die Verbr. gegen das öffentliche
Finanzwesen; Betrug; gemeingefährliche Verbr.; Anmassung des öffentlichen
Ansehens; Verletzung der gesellschaftlichen Solidarität.
Unter den Verbr. gegen die Familienordnung finden wir: Verbr. gegen
die Ehe; Verbr. gegen die Familienehre; Entführung; Verbr. gegen den Per-
sonenstand; Abtreibung, Kindestötung und Aussetzung eines neugeborenen
Kindes.
Zu der letzten Klasse von Verbr. gehören: Verbr. gegen das Leben;
Verbr. gegen die körperliche Unversehrtheit der Personen (ein besonderer Ab-
schnitt behandelt die Fälle, in denen sie straflos bleiben oder milder bestraft
werden); Verbr. gegen die persönliche Freiheit; Beleidigung, Verleumdung und
Verbreitung von Schmähschriften; Verbr. gegen das Eigentum, begangen in
gewinnsüchtiger Absicht; Verbr. gegen das Eigentum, begangen in gewinn-
süchtiger Absicht.
Als Verg. bezeichnet das StGB, von San Marino nur die aus Fahrlässig-
keit begangenen strafbaren Handlungen. Ihre Bestrafung ist verschieden, je
nachdem sie allein oder in Verbindung mit Verbr. begangen sind.
Die Übertretungen sind in 47 Gruppen eingeteilt. Das G. hebt aus-
drücklich hervor, dass der Nachweis der vorsätzlichen Begehung oder der
gesetzwidrigen Absicht des Thäters zu ihrer Bestrafung nicht erforderlich ist.
XI.
GROSSBRITANNIEN.
1. England und Irland.
2. Schottland.
Von
Dr. Ernst Schuster,
Barrister-at-Laif in London.
Strafgesetzgebnng der Gegenwart. I. 39
f bersicht
1. Bng^Uuid mid Irland.
I. Einleitung. § 1. Geschichtlicher Cberblict § 2. Die Quellen und die Litteratnr
des geltenden Stit § 3. Gmndsätze über die Einleitung des Strafverfahrens.
§ 4. Ränmliches Geltungsgebiet des englischen StR, und Rechtshülfe. § 5. Per-
sönliches Geltnngsgebiet. Besonderes und ansnahmsweises StR,
n. Allgemeiner Teil. § 6. a) Das Verbrechen, i. Einteilung der Verbrechen: 1. nach
ihrer Gattung ftreason, felonies, misdenieanors>; 2. nach der Art ihrer Verfolgung
findictable offences und summarisches Verfahren!, ii Das Verbrechen als rechts-
widrige Handlung. — Ausschluss der Rechtswidrigkeit: 1. im allgemeinen; 2. bei
Handlungen unter dem Einflüsse der Gefahr «Notwehr, Notstand, Nötigung«; 3. in
anderen Fällen, in. Das Verbrechen als schuldhafte Handlung. 1. Zurechnungs-
fähigkeit. 2. Schuld. 3. Vorsatz. 4. Irrtum. 5. Fahrlässigkeit, iv. Strafaus-
schliessungsgriinde. 1. Wegfall der Strafe. 2. Prozess Voraussetzungen. 3. Be-
gnadigung. V. Der Versuch, vi. Aufforderung dncitement) und Komplott (Con-
spiracy). vii. Thäterschaft und Teilnahme. Tili. Handlungseinheit und Ver-
brechensmehrheit. 1. Im allgemeinen. 2. Die juristische Handlungseinheit. 3. Das
Kollektivdelikt. 4. Der Rückfall. 5. Die Realkonkurrenz. § 7. b) Die Strafen.
1. Arten. 1. Hauptstrafen. 2. Nebenstrafen, ii. Fälle der Strafmilderung, iii. Richter-
liches Ermessen bei der Strafbestimmung.
III. Besonderer Teil. § 8. a) Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter der Ge-
samtheit: I. Gegen den Staat. 1. Hochverrat. 2. Staatsfeindliche Verabredungen
und Verschwörungen. 3. Persönliche Angriffe gegen den Souverän. 4. Staats-
feindliche Äusserungen, ii. Gegen den öffentlichen Frieden: 1. Öffentliche Zu-
sammenrottungen (unlawful assemblies, routs, riotsj. 2. Streit; unbefugtes Führen
von Waffen. 3. Unbefugte militärische Übungen, in. Gegen die Autorität der
Staaisgewalt. 1. Widerstand gegen Beamte. 2. Entweichung und Befreiung von
Gefangenen, iy. Gegen den Gang der Staatsverwaltung. 1. Amtsdelikte. 2. Straf-
bare Handlungen gegen die Rechtspflege. 3. Gegen das öffentliche Wahl- und
Stimmrecht. 4. Gegen die Zollgesetze, v. Gegen das Vereins- und Pressrecht-
VI. Gegen die Religion, vii. Gegen die Sittlichkeit, viii. Gegen die polizeilichen
Vorschriften zum Schutze der Gesundheit, der öffentlichen Wohlfahrt und des
öffentlichen Anstands. § 9. b) Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter des
Einzelnen, i. Gegen die körperliche Unversehrtheit. 1. Tötung. 2. Körper-
verletzung und Angriffe gegen die Person tassault). 3. Gefährdung von Leib
und Leben, ii. Gegen immaterielle Rechtsgüter. 1. Ge^en die Ehre (libel).
2. Gegen die persönliche Freiheit. 3. Gegen die geschlechtliche Freiheit. 4. Gegen
die Familienrechte. 5. Hausfriedensbruch. 6. Bedrohung, in. Gegen Individual-
rechte. IV. Gegen das Vermögen. A. Gegen Sachenrechte: 1. Diebstahl, Unter-
schlagung usw. (Larceny und Embezzlenient). 2. Raub. 3. Sachbeschädigung.
B. Gegen Okkupationsrechte. C. Gegen Forderungsrechte: L Vertragsbruch.
2. Bankbruch usw. D. Gegen das Vermögen überhaupt. 1. Betrug. 2. Er-
pressung. 3. Missbrauch der Unerfahrenheit und Jugend. 4. Sachhehlerei.
V. Durch das Mittel des Angriffs gekennzeichnete Delikte: 1. Entfesselung ge-
fährlicher Naturkräfte (Brandstiftung, Überschwemmung, Missbrauch von Spreng-
stoffen). 2. Störung des Eisenbahn-, Schiffahrts- und Telegraphen Verkehrs. 3. Ein-
bruch (Housebreaking und Burglarj). 4. Warenfälschung ö. Urkundenfälschung.
6. Münzdelikte.
2. Schottland.
I. Einleitung. § 1. Quellen und Litteratnr. § 2. Übersicht über die mit dem eng-
lischen StR. gemeinsamen Bestimmungen. § 3. Grundsätze über die Einleitung
des Strafverfahrens.
II. § 4. Allgemeiner Teil.
III. Besonderer Teil. § 5. a) Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter der Ge-
samtheit. § 6. b; Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter des Einzelnen.
L England und Irland.
L Einleitung.
§ 1. eeschlchtlieher Überblick.
I. Vornormannische Zeit. Die angelsächsischen G. enthalten nur dürftige
Angaben über Strafrechtspflege. ^) Die Privatfehde herrschte noch zur Zeit der
Eroberung vielfach vor, war jedoch eingeschränkt durch die Bestimmungen über
die verschiedenen Gebiete und Zeiten, in welchen und zu welchen Frieden ge-
halten werden musste (Königsfriede, grundherrlicher Friede, Bischofsfriede).
Gegen diese Friedensstörungen wandte sich die Strafrechtspflege, indem sie
dem Verletzten oder seiner Sippe Entschädigung (wer bei Tötungen, bot bei
sonstigen Verletzungen) zuerkannte, aber auch den Schuldigen mit dem Verlust
des Lebens oder eines Gliedes oder wenigstens einer Busse (wite) an den König
bestrafte. Die Klage wurde im Volksgericht gehört, auf Antrag des Verletzten
oder eines Verwandten oder auch auf Antrag der Zehnschaft (Tithing), welcher
der Friedensstörer angehörte. Der oberste Beamte der Grafschaft (shir-gerefa
= sheriflf) führte den Vorsitz bei den Verhandlungen (daher der Name SheriflTs
Tourn). Der Beklagte konnte sich dui'ch Reinigungseid oder Gottesurteil ver-
teidigen. Daneben bestand das Recht des „infangthief**, welches den Grund-
herren gestattete, die auf ihrem Gebiete ergriffenen Räuber mit dem Tode zu
bestrafen.
IL Zeitraum von der normannischen Eroberung (1066) bis zur
Zeit Bractons (etwa 1240). Wilhelm der Eroberer setzte an die Stelle der
Privatfehde das Duell, das in der Folge bei Privatklagen (appeals) angewandt
wurde; bei der öff'entlichen Klage blieb das Gottesurteil vorläufig bestehen,
aber der Reinigungseid wurde abgeschaff't. Die unter den normannischen Königen
wachsende Macht der königlichen Centralgewalt machte sich bald auch in der
Rechtspflege fühlbar, namentlich seit Henry IL die Richter des Obergerichts-
hofes (Curia Regis) auf die Rundreisen (itinera) sandte, die noch heute ein
charakteristisches Merkmal des englischen Gerichtswesens bilden. Die schwereren
Strafsachen kamen nunmehr nicht mehr bei dem SheriflTs tourn, sondern nur vor
den reisenden Richtern zu Verhandlung, und die betreffenden Klagen wurden,
weil der besonderen Gerichtsbarkeit der Krone unterstehend, Placita coronae
— Pleas of the Crown genannt. ^) Eine andere normannische Einrichtung wurde
nun ebenfalls für die Rechtspflege verwertet. Es waren dies die sogenannten
*) Vgl. Sir F. PoUock: Anglo-Saxon Law, English Hlstorical Review, April 1893.
*) Die hauptsächlichen älteren Werke über englisches StR. führen daher den
Titel: Pleas of the Crown.
39*
612 England und Irland. — Einleitung.
Inquests, d. h. Untersuchungen über thatsächliche Verhältnisse durch die Ver-
nehmung angesehener Personen an Ort und SteUe. Solche Untersuchungen
waren nunmehr in jeder Grafschaft über die daselbst begangenen Verbr. ab-
zuhalten und aus den zu diesem Zwecke gebildeten Kommissionen entwickelte
sich das System der Anklagejuries (grand juries), welche in der Folge statt der
Gemeinden die öffentliche Strafklage einleiteten. Allmählich wurde auch die
Urteilsfindung von der eidlichen Aussage angesehener, mit den örtlichen Ver-
hältnissen vertrauter Leute abhängig gemacht, denen später der Befund über
die Thatfragen ganz überlassen wurde, und welche sich somit zur Urteil^'ury
(petty jur^^) entwickelten. Nachdem durch das lateranensische Konzil die Gottes-
urteile beseitigt waren, blieben nur zwei Arten der Beweisfülirung: das all-
mählich ganz an Bedeutung verlierende Duell und der Beweis durch das Volk
(per patriam) — d. h. durch die Jury. Zu der Zeit Henryks IL ist wahr-
scheinlich das Werk des Ranulphus Glanvilla: Tractatus de Legibus et CJon-
suetudinibus Regni Angliae entstanden, das auch ein kurzes Kapitel über die
vor den königlichen Richtern zu verhandelnden Strafsachen hat. Es werden
in demselben folgende Verbr. aufgezählt: 1. laesa majestas (mors regis vel
seditio regni vel exercitus), 2. occultatio inventi thesauri, 3. homicidium, das
in zwei Unterabteilungen zerfällt: die heimliche Tötung — die als murdrum^)
bezeichnet wird — und das einfache homicidium, 4. incendium, 5. roberia (Raub),
6. raptus (Notzucht) — wobei bemerkt wird, dass der Thäter sich nur mit
Genehmigung des Königs und der Eltern durch Ehelichung der Geschändeten
der Strafe entziehen kann, 7. falsum — unter welcher Kategorie aufgezählt
werden: Urkundenfälschung, Falschmünzerei und Fälschung von Massen und
Gewichten. Die Fälschung von öffentlichen Urkunden war als laesa majestas
zu bestrafen. Die Bemerkung, dass über Diebstahl und andere Verbr., die zur
Zuständigkeit des Sheriff gehören, eine weitere Erörterung nicht am Platze sei,
da dieselbe nach den Gebräuchen der einzelnen Grafschaften abgeurteilt werden,
deutet darauf hin, dass erst durch die Rundreisen der Richter ein einheitliches
StR. in England entstanden ist.
IIL Zeitraum von Bracton^) (etwa 1240) bis zur Veröffentlichung
von Coke's Third Institute (etwa 1620). Der unter Henry IIL schrei-
bende Bracton ist der erste Schriftsteller, der ausführliche Angaben über
StR. hat. Dieselben finden sich im dritten Buch seines Werkes: De Legi-
bus et Consuetudinibus Angliae unter dem Titel „de Corona" und enthalten
auch genaueres über die Strafen. Mit Todesstrafe wird Hochverrat (laesa
majestas) bestraft, wozu bereits damals Vorbereitungshandlungen gerechnet
werden („si quis ausu temerario machinatus sit mortem domini regis ....
licet id quod in voluntate habuerit non perduxerit ad effectura etc.**), und
wobei der Gehülfe ebenso wie der Hauptthäter bestraft wird. Zur laesa
majestas wird auch die Fälschung öffentlicher Urkunden und die Falschmünzerei
gerechnet. Die Unterscheidung zwischen homicidium und murdrum ist die-
selbe 'vvie bei Glanvilla; beide Verbr. sind mit dem Tode strafbar. Körper-
verletzung (plaga) wird entweder mit dem Tode oder mit lebenslänglicher
^) Murdrum ist der Name des Strafgeldes, welches der Bezirk zu zahlen hatte,
wenn nicht nachgewiesen wurde, dass der Getötete ein Angelsachse war — das soge-
nannte „presentment of Englishry". Die besondere Hervorhebung der heimlichen
Tötung und ihre Bezeichnung mit dem Namen des Strafgeldes hängt wohl mit der
Erinnerung an dieses Verfahren zusammen.
*) Über die Zeit zwischen Glanvilla und Bracton geben interessante Aufschlüsse
die von Maitland veröffentlichten Berichte über Gerichtsverhandlungen in der Graf-
schaft Gloucester aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts: Pleas of the Crown of the
County of Gloucester.
§ 1. Geschichtlicher Überblick. 613
VerbannuDg bestraft; als schwere Körperverletzung gilt die Verstümmelung
(mahemium — englisch: maim). Raub (roberia) ist je nach Umständen mit Todes-
strafe oder mit dem Verlust eines Gliedes bedroht, böswillige Brandstiftung^)
(iniqua conbustio) mit dem Tode, Notzucht — wenn zugleich Deflorieining —
mit Kastration und dem Verlust der Augen („oculos amittat propter aspectum
decoris et testiculos quia calorem stupri induxerunt"), andernfalls mit einer
leichteren körperlichen Strafe,*) Diebstahl je nach dem Werte des Objekts,
mit dem Tode, Verbannung oder auch nur mit Prügelstrafe.') Die Tötung des
nächtlichen Diebes ist dem Verletzten gestattet, „si parccre ei sine periculo
suo non poterit", womit die Grundlage zu der späteren Lehre von der Not-
wehr gelegt wird. Die schweren Verbr. (feloniae) d. h. solche Verbr., die mit
dem Tode, der Verstümmelung oder Freiheitsstrafe bedroht sind, müssen vor
die königlichen Richter gebracht werden; für die anderen, welche als trans-
gressiones bezeichnet werden, ist der SherifF zuständig. Als Bracton schrieb,
beruhte noch das ganze StR. auf Gewohnheitsrecht und Gerichtspraxis, doch
beginnt bald nach ihm das Eingreifen der Gesetzgebung. Unter den in den
beiden folgenden Jahrhunderten erlassenen Gesetzen, die noch heute teilweise
in Kraft sind, sind hauptsächlich zu erwähnen: der im J. 1351 erlassene
Statute of Treasons — 25 Ed. III st. 5 cap. 2 — , der die von Bracton ge-
gebene Definition des Hochverrats als Grundlage benutzt; femer G. gegen
Personenhehlerei (3 Ed. I cap. 9), gegen Verbreitung falscher politischer Nach-
richten (3 Ed. I cap. 34), gegen Verabredung zu strafrechtlicher Verfolgung
unschuldiger Personen (33 Ed. I — Statute de conspiratoribus), gegen die Ent-
weichung aus Gefängnissen (23 Ed. I de frangentibus prisonara) und gegen
Hausfriedensbruch (forcible entry 5 Ric. II st. 1 cap. 7). Der erste Schritt
auf der Bahn, welcher zu der jetzt geltenden Definition des Mords geführt hat,
ist eine im J. 1389 erlassene Erklärung Richard's II., welche verspricht, das
Begnadigungsrecht im Falle der Tötung in gewissen Fällen, unter welchen
„malice prepense" besonders genannt wird, nicht mehr auszuüben. Im J. 1400
wird das erste G. gegen Ketzerei erlassen.
Auch in die Organisation der strafrechtlichen Gerichtshöfe gi'ifiF die Gesetz-
gebung des 14. Jahrhunderts ein. Durch das Gesetz 34 Ed. III cap, 1 wurden
die Friedensrichter — unbesoldete, vom König für die Zwecke der Friedens-
bewahrung aus den Grundbesitzern der Grafschaft gewählte Beamte — er-
mächtigt, in ihren Vlertcljahrssitzungen (Quarter Sessions) Strafklagen zu hören,
wenn es sich um leichtere Verbr. handelte und damit die noch heute für die
Strafrechtspfiege hauptsächlich thätigen Courts of Quarter Sessions geschaften.
Der SheriflTs Toum wurde in der Folge allmählich beseitigt.
Die strengen Strafen, welche zu Bractons Zeit noch bestanden, wurden
im 14. Jahrhundert wesentlich gemildert durch das sogenannte „benefit of
clergy**. Zu Bractons Zeit war dasselbe nur ein Vorrecht der Geistlichkeit,
und bestand darin, dass strafrechtlich verfolgte Mitglieder dieses Standes die
Verweisung des Verfahrens an den geistlichen Gerichtshof beanspruchen konnten.
Durch ein G. vom J. 1351 — 25 Ed. III stat. 6 — wurde dieses Privileg auf
alle clerici — geistliche und weltliche — ausgedehnt und eine wohlwollende
*) „Incendia fortuita vel negligentia facta . . . non sie puniuntur, quia civiliter
agitur contra tales." Noch heute ist fahrlässige Brandstiftung nach englischem Recht
nicht strafbar.
'^) Früher sei in allen Fällen Todesstrafe verhängt worden, aber „modernis tem-
poribus" sei dies gemildert worden.
^) Die Definition von furtum ist „contrectatio rei alienae fraudulenta cum animo
furandi invito illo domino cujus res illa fuerit". Die Ähnlichkeit und zugleich der
Unterschied gegenüber der bekannten Definition in 1. 1 § 3 D. 47 : 2 ist interessant.
614 England und Irland. — Einleitung.
Interpretation führte schliesslich dahin, dass alle Leute, welche lesen und
schreiben konnten,^) die Eechtswohlthat genossen; nur Frauen, die zu keinem
religiösen Orden gehörten, und „Bigami" waren ausgeschlossen. Das Privileg
auch der wirklichen Geistlichen wurde später darauf eingeschränkt, dass nur
die Bestimmung der Strafe nach erfolgter Verurteilung an den geistlichen
Gerichtshof verwiesen werden konnte; dieselbe war ganz dem Ermessen des
Bischofs anheimgestellt: er konnte den Schuldigen auf Lebenszeit in sein Gef.
einsperren oder ihn mit einer Vermahnung entlassen.
Die EntWickelung des StR. in der zweiten Hälfte des 15. und im 16. Jahr-
hundert besteht hauptsächlich in einer Einschränkung des benefit of dergy.
Zunächst wurde 1488 durch ein G. (4 Henry VII cap. 13) bestimmt, dass Laien
nur einmal von der Rechtswohlthat Gebrauch machen komiten und zur besseren
Kontrollierung bei der ersten Inanspruchnahme derselben am Daumen zu
brandmarken seien. Bei Hochverrat war das benefit of clergy nie anwendbar,
und durch eine Reihe von G. unter Heinrich VII, Heinrich VIII, Edward VI
und Elizabeth wurde auch Personen, welche wegen Mordes, Einbruchs, Raubes,
gewisser Arten des Diebstahls und Notzucht verurteilt wurden, die Rechts-
wohlthat entzogen. Die G., welche das Privileg im Falle des Mords entziehen,
bilden einen weiteren Schritt in der Entwickelung des heutigen Begriffe des
Mords; nur bei „wilfully prepensed murders" soll die Rechtswohlthat entzogen
werden.*)
Demnach zerfallen am Ende des 16. Jahrhunderts die Verbr. in „felonies
without benefit of clergy", „clergyable felonies" und „misdemeanors". Die
ersteren sind mit dem Tode strafbar, die zweiten nach Belieben des Bischofs,
die dritten mit geringeren Strafen.
Unter den strafrechtlichen G. des 15. und 16. Jahrhunderts sind femer
zu erwähnen: ^ie gegen Beamtenbestechung (11 Henry IV; Coke Third Li-
stitute cap. 68), gegen Entführung (3 Henry VII cap. 2; Coke cap. 12), gegen
widernatürliche Unzucht (25 Henry VIII cap. 6; 5 Elizabeth cap. 17; Coke cap. 10)
und gegen Meineid (5 Elizabeth cap. 9; Coke cap. 74) gerichteten Bestimmungen.
Die von Coke noch berücksichtigte Gesetzgebung des 17. Jahrhunderts um-
fasst ein G., welches Bigamie (1 Jac. cap. 11) und eines, welches das Ausgehen
von Personen, die Pestbeulen haben, mit Strafe bedroht (1 Jac. cap. 31; Coke
cap. 28). Als nach gemeinem Recht straf bare Verbr. erwähnt Coke Verleumdung
(cap. 76) und die als unlawful assemblies und riots (vgl. unten § 8 II 1) bezeichneten
Störungen der öffentlichen Ordnung (Coke cap. 79). Eigentümlich ist das be-
reits bei Britton und dem Mirror of justices als felony gekennzeichnete Verbr. des
Exports von Silber (Coke cap. 35). Eine weitere Entwickelung des StR., die
vor Coke stattgefunden haben muss, wird durch die Anerkennung des Rück-
falls als straf bestimmenden Moments gekennzeichnet; so wird z. B. Fälschung
im Rückfalle als ganz gesondertes Verbr. behandelt (Coke cap. 71, 75). über
Thäterachaft und Teilnahme hatten sich ebenfalls allgemeine Grundsätze aus-
gebildet (Coke cap. 64). Auf dem Gebiete der strafrechtlichen Litteratur
während dieses Zeitraumes sind zu erwähnen : Staunforde, Pleas of the Crown
(etwa 1550) und Lambarda, Eirenarcha Friedensrichter (1579).
IV. Zeitraum von der Veröffentlichung von Coke's Third In-
stitute (etwa 1620) bis auf die neueste Zeit. Die Gesetzgebung schreitet
auch im 17. und 18. Jahrhundert in derselben planlosen Weise weiter wie
früher; neue G. gegen strafbare Handlungen werden erlassen, wenn durch
*) Auch hiermit wurde es später nicht sehr genau genommen. Es genügte das
Lesen der Worte „Miserere mei Dens" vgl. Stephen, General View S. 35.
*) Das erste dieser G. wurde im J. 1496 erlassen (12 Henry VII cap. 7).
§ 1. Geschichtlicher Überblick. 615
irgend einen bemerkenswerten Vorfall eine Lücke zum Vorschein kommt oder
politische Vorgänge die Abänderung besonderer Bestimmungen herbeiführen.
Das oben unter III erwähnte G. gegen Ketzerei, das unter Henry VIII. wesent-
lich abgeändert, von Edward VI. aufgehoben, aber von Mary wieder ein-
geführt worden war, wurde von Elisabeth endgültig aufgehoben, aber die
bereits im 14. Jahrhundert aufgestellte Fiktion, nach welcher Ketzerei nach
gemeinem Recht mit Verbrennung zu bestrafen war, wurde noch im 17. Jahr-
hundert auiVechterhalten, und es fanden auf Grund derselben unter James I.
Ketzerverbrennungen statt. Im J. 1677 wurde sie durch das G. 29 Gar. 2
cap. 9 endgültig beseitigt.
Das beneflt of clergy wurde einer weitern Reihe von Arten des Dieb-
stahls durch unter Charles II., William III., Anna und George II. erlassene G.
entzogen, sodass schliesslich jeder Diebstahl, wenn es sich nicht um ganz un-
bedeutende Objekte handelte, mit dem Tode strafbar war. Dabei blieben
gewisse dem Diebstahl verwandte Verbr. ganz straflos, so z. B. die Unter-
schlagung durch Vertrauenspersonen, gegen welche erst im J. 1812 ein G.
erlassen wurde, nachdem ein Börsenmakler einen Sir Thomas Plumer um
£ 22000 benachteiligt hatte (52 Geo. III cap. 63).
Die harte Bestrafung der Felonies, welchen das beneflt of clergy ent-
zogen war, wurde allmählich wieder gemildert. Schon im 17. Jahrhundert
bildete sich die Gewohnheit aus, die zum Tode Verurteilten unter der Be-
dingung der Deportation nach den Kolonieen zu begnadigen.*) Ein im J. 1768
erlassenes G. (8 Geo. III cap. 15) ermächtigte sodann die Assisenrichter in den
Provinzen, gegen Verurteilte, die vom beneflt of clergy ausgeschlossen waren,
die Strafe der Deportation statt der Todesstrafe zu verhängen; bei den in
London Verurteilten hingegen konnte dasselbe Resultat weiter nur auf dem
Gnadenwege erreicht werden. Die Strafe der Deportation wurde inzwischen
auch in neueren G. von vornherein als Strafe bestimmt.
Die Reformbestrebungen, welche am Ende des letzten und am Anfange
dieses Jahrhunderts auf allen Gebieten sich geltend machten, ergriffen auch
das StR. In den Jahren 1826 — 1832 wurden eine Reihe von G. erlassen,
die unter dem Namen Sir Robert Peel's Acts bekannt sind, und welche die
veralteten Teile des StR. zum grossen Teil beseitigten und die zahlreichen G.
über Diebstahl, Verbr. gegen die Person, Fälschung und Falschmünzerei in je
ein G. zusammenfassten. Im J. 1827 wurde auch das Institut des beneflt of
clergy gesetzlich (7 und 8 George IV cap. 28) beseitigt.
Die Deportationsstrafe wurde einer Reihe von Umwandlungen unterworfen,
die schliesslich im J. 1857 zur Abschaffung dieser Strafe und zur Substitution
der schon früher teilweise angewandten Zuchthausstrafe führte.*)
Unmittelbar nach Erlass der erwähnten, von Sir Robert Peel's Ministerium
veranlassten Gesetzgebung traten verschiedene Kommissionen hintereinander
zusammen, um weitere Reformen zu beraten. Das Resultat dieser Beratungen
sind die fünf zusammenfassenden als Consolidation Acts bezeichneten G. vom
J. 1861, von welchen 24 u. 25Vict. cap. 96 den Diebstahl (mit Einschluss von
Unterschlagung, Raub, Untreue usw.), cap. 97 die Sachbeschädigung, cap. 98
die Fälschung, cap. 99 die Falschmünzerei, cap. 100 Verbr. gegen die Person
(Mord, Körperverletzung, Notzucht, Verbr. gegen die Sittlichkeit, Verleum-
dung usw.) behandelt.
*) Die Gewohnheit wird gesetzlich anerkannt durch 31 Car. II cap. 2 §§ 13 und 14.
■) Näheres hierüber bei Aschrott, Strafensystem und Gefängniswesen in Eng-
land, S. 39—50; über die parallel gehende Ent Wickelung des Gefängnis wesens a. a. 0.
S. 77-91.
616 England nnd Irland. — Einleitung-.
Im J. 1878 wurde auf Anregung Ton Sir James Stephen der Yersneh
gemacht, das ganze StR. zu kodifizieren. Der Ton diesem — dem bedeutendsten
aller englischen Kriminalisten — anf der Grandlage seines Digest verfasste
Entwurf wurde von einer Kommission geprüft nnd in etwas veränderter Gestalt
1879 dem Parlamente vorgelegt, wurde aber, da sich keine der politischen
Parteien für eine Reform interessierte, die sich nicht in leicht verständlichen
Schlagworten zusammenfassen iiess, zu den Akten gelegt.
Welcher Augiasstall durch Annahme des Entwurfs gereinigt worden wäre,
geht daraus hervor, dass, obwohl durch die Gesetzgebung Peel's und durch
die fünf Gesetze v. 1861 schon eine erhebliche Beseitigung von Wust be-
wirkt war, nach Annahme des Entw. 83 G. ganz oder teilweise aufgehoben
worden wären.
Unter den seither erlassenen G. ist ia erster Linie zu nennen: die Sum*
mary Jurisdiction Act v. 1879, welche die Zuständigkeit der Friedensrichter
und Polizeirichter ausdehnt Cvgl. unten § 3), die Criminal Law Amendment
Act V. 1885, welche die Bestimmungen über Sittlichkeitsverbrechen wesentlich
verschärft, und die Probation of First OfFenders Act v. 1887, femer die Penal
Servitude Act v. 1891, welche das Minimum der Zuchthausstrafe von 5 auf
3 Jahre reduziert.
Eine Kodifikationsarbeit erscheint jetzt aussichtsloser als vor 14 Jahren.
Weitere Reformen werden in der Beseitigung veralteter Bestimmungen und
der Ausfüllung von Lücken bestehen, vielleicht auch in der Einschränkung
des jetzt noch sehr weitgehenden Ermessens der Richter in Bezug auf die
Strafbestimmung. Eine verbessernde Thätigkeit auf der Grundlage durch-
dachter und einheitlicher Grundsätze ist nicht zu erwarten, da England zwar
eine strafrechtliche Litteratur, aber keine strafrechtliche Wissenschaft hat.
§ 2. Die Qnellen und die Litteratur des geltenden StS.
I. Die Quellen. Das geltende StR. beruht teilweise auf dem gemeinen
Rechte (Common Law), teilweise auf Gesetz (Statute Law). Das gemeine Recht
ist Gewohnheitsrecht, das in den Präjudizien der Gerichte niedergelegt ist,
oder Recht, das nach Analogie geltender Bestimmungen vom Richter neu ge-
schafi'en wird. Die gesetzgebende Befugnis des Richters darf selbstverständlich
nur mit grosser Vorsicht ausgeübt werden, wird aber auch in Bezug auf das
StR. anerkannt.*) Auf dem gemeinen Rechte beruhen noch heute die Definitionen
der meisten schweren Verbr. (wie z. B. von Mord, Diebstahl usw.), femer auch
einzelne Straf bestimmungen (z. B. jede Urkundenfälschung, die nicht besonders
in der Forgery Act erwähnt ist, ist nach gemeinem Recht mit Gef. bis zu
zwei Jahren strafbar). Die meisten Strafbestinunungen und ein grosser Teil
der Definitionen der Delikte beruhen aber jetzt auf Gesetzen, unter welchen
die oben f§ 1 IV) erwähnten fünf Consolidation Acts aus dem J. 1861 die her-
vorragendste Bedeutung haben. *) In Bezug auf die Anwendung dieser Rechts-
quellen nach Ort und Zeit ist noch folgendes zu bemerken. Das gemeine
englische Recht gilt in England und Irland; Schottland hat sein eigenes ge-
*j Vgl. die bei Stephen, Digest S. 108 citierte Äusserung eines Richters in der
Entsch. in Sachen Miliar v. Tavlor (4 Burr. 2312) und die am selben Orte citierte
Billigung dieser Äusserung in der Entsch. in Sachen Jefferys v. Boosey, 4 House of
Lords Gases 936.
-) Dieselben werden nach der Short Titles Act v. 1892 in Zukunft bezeichnet
als Larceny Act 1861; Malicious Damage Act 1861; Forgery Act 1861; Coinage Offences
Act 1861; Offences against the Person Act 1861. In dieser Darstellung werden die
folgenden Abkürzungen angewandt: L. A.; M. D. A.; F. A.; C. A.; O. P. A.
§ 2. Die Quellen und die Litteratur des geltenden StR. 617
meines Recht. Die meisten in Kraft stehenden Gesetze sind auch für Irland in
Kraft und eine grosse Anzahl derselben auch in Schottland. Die nachfolgende
Darstellung giebt das englische Recht; eine Darstellung des irischen Rechts
ist nicht nötig, da dasselbe fast ganz mit dem englischen StR. übereinstimmt.
(Über das schottische StR. vgl. unten: 2. Schottland.)
Ein G., das nicht ausdrücklich bestimmt, an welchem Tage es in Kraft
tritt, tritt an dem Tage in Kraft, an welchem es die königliche Genehmigung er-
hält (33 Geo. III cap. 13). Englische G. werden sehr oft auf eine bestimmte
Zeit erlassen und später auf bestimmte oder unbestimmte Zeit erneuert.^)
II. Die Litteratur. Die Litteratur hat auf strafrechtlichem Gebiete
eine grössere Bedeutung als auf vielen anderen Gebieten, indem einige Bücher
eine derartige Autorität erworben haben, dass Citate aus denselben als Beleg
für die Geltung eines gemeinrechtlichen Satzes von den Gerichten gebilligt
werden. Derartige Bücher sind das bereits citierte Third Institute von Coke;
ferner Hale*s Pleas of the Crown (1694) und Hawkins' Pleas of the Crown
(1716). Viel citiert wird ebenfalls Foster Report of Proceedings &c. To
which are added Discourses upon a few branches of the Crown Law (1762).
[Diese Discourses beziehen sich auf Hochverrat, Tötung und Beihülfe bei
Kapitalverbrechen.] Blackstone's bekannte Commentaries on the Law of Eng-
land (erschienen 1765 — 1769), die auch das StR. behandeln, haben ebenfalls
noch immer ein ziemliches Ansehen, ebenso East, Pleas of the Crown, 2 Bde.
(1803). Unter neueren Büchern über das geltende StR. ist das ausführlichste
Russell On Crimes and Misdemeanors, drei starke Bände, 5. Aufl. 1877. Das-
selbe ist ein für den Praktiker unentbehrliches Hülfsmittel, aber wie die meisten
ähnlichen englischen Werke eine ziemlich systemlose Zusammenstellung von
Gesetzen und Präjudizien. Das hervorragendste strafrechtliche Werk ist Sir James
F. Stephen: Digest of the Criminal Law (in der Folge nur unter der Bezeich-
nung Stephen citiert), 4. Aufl. 1887, welches namentlich durch die relative^)
Prägnanz und absolute Zuverlässigkeit seiner Definitionen sich vor allen anderen
Werken auszeichnet und auch eine vollkommen genügende Zusammenstellung
von Präjudizien enthält (dieselben werden als Beispiele — Illustrations — für
die einzelnen Sätze verwertet). Dieses Buch geniesst eine besondere Autorität,
weil der Verfasser als Richter am Obergerichtshof eine grosse strafrechtliche
Erfahrung hatte, und weil es auch dem von demselben Verfasser redigierten
oben § 1 IV enyähnten Entw. zu einem englischen StGB, (in der Folge als
„Entw." citiert) zur Grundlage gedient hat. Desselben Verfassers General View
of the Criminal Law, 2. Aufl. 1890, erleichtert das Verständnis des Digest,
giebt aber an und für sich keine genügende Übersicht über das englische
StR. Von den für Studenten bestimmten Büchern ist das ausführlichste: Harris,
Principles of the Criminal Jjaw, 6. Aufl. 1892, entspricht aber nicht den An-
forderungen, welche deutsche Leser an ein Lehrbuch zu stellen gewohnt sind
und darf auch in Bezug auf die Zuverlässigkeit seiner Angaben nur mit Vor-
sicht gebraucht werden. Die hauptsächlichen Präjudizien stellt zusammen
Warburton: Leading Cases in the Criminal Law [Founded on Shirley's Lea-
ding Cases] 1892, jedoch ist diese Sammlung nicht empfehlenswert, da sie
weder in den Geist der Entsch. einzudringen weiss, noch den Versuch macht,
dieselben systematisch zu ordnen. Die Geschichte des StR. behandelt Stephen 's
History of the Criminal Law of England, 3 Bde. 1883; femer, im Zusammen-
hang mit der wirtschaftlichen und kulturellen Entwickelung, Pike: History of
*) In derartigen Fällen wird in dieser Darstellung nur das ursprüngliche
G. citiert.
*) Bei der kasuistischen Natur des Rechts ist mehr nicht zu erwarten.
618 England und Irland. — Einleitung'.
Crime in England, 2 Bde. 1873 — 1876. Über die Philosophie des StR. han-
delt: Jeremy Bentham: The Rationale of Ponishments.
Die strafrechtlichen Präjudizien sind in einer Reihe von Sammlungen zu-
sammengestellt, die hier nicht aufgezählt werden können. Von den noch fort-
laufenden Sammlungen sind zu erwähnen: die autorisierten Law Reports (be-
ginnend im J. 1866j, die anfangs die strafrechtlichen Fälle getrennt unter der
Rubrik: Crown Cases Reserved, später mit anderen Entsch. zusammen unter
der Rubrik Queen's Beuch und Queen's Bench Division geben ;^) femer Cox
Criminal Cases (beginnend 1843); und die Berichte über Strafsachen in den
Wochenschriften: Law Journal und Justice of the Peace. Eine Zusammen-
stellung des wesentlichen Inhalts (in knapper Form) der strafrechtlichen Entsch.
von 1756—1883 giebt Mews: Criminal Digest 1884. Eine vortreffliche Über-
sicht über den Inhalt der strafrechtlichen Gesetze (bis 1889 inkl.) giebt das
von der englischen Regierung veröffentlichte Werk: Chronological Table and
Index of the Statutes 1890 unter der Rubrik Criminal Law.
Strafrechtliche Monographieen sind nicht sehr zahlreich; zu erwähnen
sind: Aschrott, Strafensystem und Gefängniswesen in England (eine in jeder
Beziehung vorzügliche Arbeit) 1887; Wright, Criminal Conspiracies ; Pollock
and Wright, Possession in the Common Law (die dritte von Wright — jetzt
Richter des Obergerichtshofes — bearbeitete Abteilung behandelt die Besitz-
theorie im Zusammenhang mit dem Diebstahl und ähnlichen Delikten). Odgers,
The Law of Libel and Slander, 2. Aufl. mit Supplement 1890, behandelt neben
der civilrechtlichen auch die strafrechtliche Seite des Gegenstandes, welcher
die Verbreitung strafbarer schriftlicher Äusserungen a) gegen den Staat,
b) gegen die Religion, c) gegen die Sittlichkeit, d) gegen den guten Ruf von
Einzelpersonen umfasst, und demnach auch die Behandlung der Pressdelikte
erörtert. Das Buch ist sehr reichhaltig und durchaus zuverlässig.
§ 3. Grundsätze Aber die Elnleltimg des Strafverfahrens.
I. Einleitung der Strafverfolgung. Eine Darstellung des englischen
StR. ist nicht verständlich ohne eine Erwähnung dieser Grundsätze. Dieselben
lassen sich kurz dahin zusammenfassen, dass zur Einleitung des Strafverfahrens
in der Regel niemand verpflichtet und jedermann berechtigt ist, gleichviel ob
er der Verletzte ist oder nicht, dass aber die böswillige Einleitung des Straf-
verfahrens (malicious prosecution) dem Angeklagten ein Recht auf Schadens-
ersatz giebt. Der sogenannte Director of Public Prosecutions übernimmt die
Verfolgung im Namen der Regierung in besonders schweren Fällen, und
meistens wird dieselbe durch die Polizei eingeleitet; aber wenn dies nicht ge-
schieht, kann sich niemand beschweren, da derjenige, welcher geneigt sein
würde Beschwerde zu führen, ja selbst in der Lage wäre als Prosecutor auf-
zutreten.*) Es ist diesem Umstände zuzuschreiben, dass eine Reihe von straf-
rechtlichen Bestinmiungen noch zu Recht bestehen, die gar keine praktische
Bedeutung mehr haben. Da bei einer Verletzung derartiger Bestimmungen
niemand verpflichtet ist, einzuschreiten, bleibt eine solche regelmässig un-
bestraft und auf diese Weise sind die meisten Personen in Unkenntnis über
die fortdauernde Gültigkeit der betr. Rechtsregel; niemand hat deshalb Ver-
^) Wenn bei einem Citat die Sammlung nicht besonders genannt ist, handelt es
sich stets um diese Law Reports.
') Der Prosecutor ist nicht der Kläger, denn die Klage wird stets im Namen
der Krone geführt; er ist vielmehr die Person, auf deren Veranlassung das Verfahren
eingeleitet wird.
§ 4. Räumliches Geltungsgebiet des englischen StR. und Rechtshülfe. 619
anlassung, sich für ihre Beseitigung durch die Gesetzgebung zu interessieren
(Beispiele derartiger obsoleter Bestimmungen finden sich unten § 8 lY 2, unter
c und § 8 V 1).
n. Summarisches Verfahren und Indictment. Es giebt verschie-
dene Arten der Strafverfolgung, unter welchen jedoch nur die hier dargestellte
regelmässig vorkommt, es ist dies das Verfahren, das mit einer Verhandlung
vor einem oder mehreren Friedensrichtern^) (bezw. in den Städten, die besoldete
Polizeirichter — stipendiary magistrates — haben, vor einem solchen) anfängt.
Bei leichten Verg. können die Beamten (bezw. der Beamte), vor welchen diese
Verhandlung geführt wird, die Sache summarisch aburteilen, bei schweren
Fällen ist sie an den höheren Gerichtshof (Quarter Sessions oder Assisengericht,
bezw. für London und Umkreis: Central Criminal Court) zu verweisen und
daselbst durch Klageschrift (indictment) einzuleiten. Delikte, bei welchen diese
Verweisung einzutreten hat, werden als indictable offences bezeichnet und bei
einer Verhandlung auf Grund eines indictment haben stets zwölf Geschworene
über die Schuldf^age zu entscheiden (zur Verurteilung ist Einstimmigkeit er-
forderlich). Auf Grund der Summary Jurisdiction Act 1879 können gewisse
Delikte, die an und für sich indictable oflFences sind, unter gewissen Voraus-
setzungen summarisch behandelt werden, wenn dies der Gerichtshof, vor welchem
die erste Verhandlung geführt wird, für zweckmässig hält. Es kann dies ge-
schehen: 1. im Falle von Kindern von 7 — 12 Jahren, wenn es sich nicht um
ein Tötungsdelikt handelt und der Vater oder Vormund keinen Einspruch er-
hebt (S. J. A. 1879 §10); 2. im Falle von Kindern von 12— 16 Jahren, wenn
es sich um gewisse Delikte (Diebstahl ohne Anwendung von Gewalt, Unter-
schlagung, Sachhehlerei usw.) handelt und der Angeklagte es wünscht (daselbst
§11); 3. im Falle von Personen im Alter von über 16 Jahren, wenn es sich
um die unter 2. erwähnten Delikte handelt und der Angeklagte seine Schuld
bekennt, oder wenn es sich um gewisse leichtere Diebstahlsdelikte handelt
und der Angeklagte die summarische Verhandlung wünscht. In beiden Fällen
müssen noch gewisse andere Voraussetzungen zutreflTen (daselbst §§ 12 — 14).
In der folgenden Darstellung wird die Bezeichnung „summarisches Ver-
fahren" in allen Fällen beigefügt, wo summarisches Verfahren an und für sich
eintreten muss; wo sich diese Angabe nicht findet, wird daher das Verfahren
durch indictment stets angewandt, wenn nicht auf Grund der oben erwähnten
Bestimmungen das summarische Verfahren eintritt.
§ 4. BAumliches Oeltangsgebiet des englischen StB. und Bechtshftlfe.
I. Räumliches Geltungsgebiet. Das Territorialitätsprinzip ist im all-
gemeinen für das englische StR. massgebend, d. h. nur in England und Wales
(nicht in Schottland oder Irland) begangene Verbr. sind der Regel nach in
England strafbar. Gewisse Verbr. werden indessen ohne Rücksicht auf den
Ort der That in England bestraft, insofern sie von einem britischen Unterthan
(d. h. einem Unterthan des englischen Souveräns, also auch von jemand, der
Staatsbürger einer englischen Kolonie ist) begangen werden. Es sind dies
Hochverrat, Hehlerei im Falle von Hochverrat, die Tötungsdelikte, Bigamie,
gewisse Vorbereitungshandlungen zu dem widerrechtlichen Gebrauch von Spreng-
stoffen usw.*) (35 Henry VIII cap. 2; Offences against the Person Act §§9 und
27; und vgl. unten §9 VI), ferner alle Verbr., welche von einem britischen
*) Das Amt wird in der Regel von Laien bekleidet und ist ein Ehrenamt.
*) Die Bestimmungen über Seeraub und Sklavenhandel bleiben in dieser Dar-
stellung überhaupt unberücksichtigt.
620 . England und Irland. — Einleitung.
Unterthan auf einem britischen Schiff oder auf einem nichtbritischen Schiffe,
zu dessen Mannschaft er nicht gehört, begangen werden (Merchant Shippin^
Act 1867 §11), und ebenso Verbr. gegen die Person und gegen das Vermögen,
welche von dem Schiffer oder einem Mitgliede der Mannschaft eines britischen
Schiffs während seiner Zugehörigkeit zu diesem Schiffe oder spätestens drei
Monate später begangen werden (Merchant Shipping Act 1854 § 267).
Ferner sind alle Verbr., die nicht felonies sind (vgl. §611) und von
einem königlichen Staatsbeamten in einer englischen Kolonie begangen werden,
in England strafbar (11 William III cap. 12; 42 Geo. III cap. 85 § 1 und vgl.
die Entsch. in Sachen R. v. Shawe 5, Maule and Selwyn 403).
Endlich sind alle von britischen europäischen ünterthanen in Indien be-
gangenen Verbr. in England strafbar (13 Geo III cap. 63 § 39, vgl. Stephen,
Digest of the Law of Criminal Procedure art. 7).
II. Rechtshülfe. 1. Anderen Teilen des britischen Reichs gegen-
über. Auf Grund der Fugitive Offenders Act sind Flüchtlinge, die in einem
anderen Teile des britischen Reiches eines Verbr. angeschuldigt sind, das zu
den „indictable offences" (bezw. einer analogen Klasse) (vgl. unten § 6 I 2)
gehört und mit einer Maximalstrafe von mindestens 1 Jahr Gef. und Zwangs-
arbeit bedroht ist, an den betreffenden Staat auf Verlangen auszuliefern, wenn
die Wahrscheinlichkeit der Schuld dem zuständigen englischen Beamten glaub-
haft gemacht wii'd.
Wenn das Verfahren gegen den Ausgelieferten nicht binnen 6 Monaten
nach seiner Ankunft eröffuet wird, oder wenn derselbe freigesprochen wird, so
kann er auf Staatskosten nach England zurückgesandt werden, wenn dies
der zuständige Beamte für angemessen hält (Fug. Off. Act 1881 §§ 2, 9, 8).
2. Auswärtigen Staaten gegenüber. Die Auslieferung von Ver-
brechern an fremde Staaten wird geregelt durch die Extradition Acts von
1870 und 1873. Diese G. ermächtigen die englische Regierung in allen Fällen,
in welchen dahin gehende Verträge mit anderen Staaten abgeschlossen sind,
durch königliche Vdg. (Order in Council) die Bestimmung zu treffen, dass flüchtige
Angeklagte an die betreffenden Staaten wegen gewisser Verbr. auszuliefern
sind. Die Auslieferung ist jedoch in allen Fällen untersagt, in welchen a) es
sich um politische Delikte handelt,^) b) es nicht durch die G. des betreffenden
Staates bezw. durch Vertrag ausgeschlossen ist, dass der ausgelieferte Flücht-
ling wegen eines anderen Verbr. als des Verbr., wegen dessen seine Auslieferung
beansprucht wurde, in Untersuchung gebracht wird; c) der verlangte Flücht-
ling in England eine Strafe wegen eines anderen Verbr. abzubüssen hat. Ex-
tradition Act 1870 § 3 (1 — 3). Die Auslieferung kann erfolgen wegen folgen-
der Verbr.: Tötungsdelikte, Münzdelikte, Fälschungsdelikte, Delikte, welche auf
Grund der Larceny Act (vgl. unten § 9 IV A 1) „indictables offences" sind, Not-
zucht, Entführung und Menschenraub, Einbruch, Brandstiftung, Raub, Erpressung,
Seeraub usw. Meineid, Delikte gegen das Konkursrecht (vgl. unten § 9 IV C 2).
(Extradition Act 1870, erster Anhang und Extr. Act 1873 § 8.)
Auslieferungsverträge bestehen mit folgenden Staaten: Österreich-Ungarn,
Belgien, Brasilien, Kolumbia, Dänemark, Ecuador, Frankreich, Deutsches Reich,
Guatemala, Haiti, Honduras, Italien, Luxemburg, Mexiko, Niederlande, Oraiye
Freistaat, Portugal, Russland, Salvador, Spanien, Schweden und Norwegen,
Schweiz, Tonga, Transvaal, Tunis, Vereinigte Staaten von Nord -Amerika,
Uruguay.
^) Die Frage, unter welchen Umständen ein Mord ein politisches Delikt ist,
wurde im Fall des Tessiners Castioni — (1891) 1 Queen's Bench 149 — , der bei den
Unruhen im September 1890 den Staatsrat Rossi getötet haben soll, eingehend erörtert.
Die Auslieferung wurde verweigert.
§ 5. Persöuliches Geltungsgebiet. Besonderes und ausnahmsweises StR. 621
§ 5. PerAOnllches Gfeltungsgeblet. Besonderes und ausnahmsweises StR.
1. Persönliche Befreiungen. Von der Herrschaft des StR. sind be-
freit: a) der Souverän, /8) die diplomatischen Vertreter auswärtiger Staaten und
ihre Familien und Gefolge.*)
II. Besonderes StR. 1) Militärstrafrecht. Dasselbe beruht auf der
Regulation of the Forces Act 1881, femer auf der Army Act 1881 und den
darauf folgenden jährlichen Army Acts. Das Verhältnis des Militärstrafrechts
zum gemeinen StR. wird durch § 162 des zuerst genannten G. dahin bestimmt,
dass 1. wenn jemand vor den ordentlichen Gerichten wegen eines Delikts ver-
urteilt wird, wegen dessen er bereits nach Militärstraf^echt verurteilt ist, die
auf Grund des letzteren Urteils bereits vcrbüsste Strafe bei der Straf bemessung
zu berücksichtigen ist; II. dass, abgesehen von der unter I. erwähnten Be-
stimmung, Offiziere und Soldaten den Bestimmungen des gemeinen StR. ebenso
wie andere Personen unterworfen sind und III. dass, wenn jemand, der dem
Militärstrafrecht unterworfen ist, wegen eines strafrechtlichen Delikts bereits
von den ordentlichen Gerichten freigesprochen oder verurteilt worden ist, ein
Verfahren nach Militärstrafrecht wegen desselben Delikts zu unterbleiben hat.
2. StR. für die Flotte. Dasselbe beruht auf der Naval Discipline Act
V. 1866 und der Naval Discipline Act v. 1884; § 101 des erstgenannten G. be-
stimmt, dass die Gerichtsbarkeit der ordentlichen Gerichte durch dasselbe in
keiner Weise beeinträchtigt sei.
3. Kirchliches StR. Die geistlichen Gerichtshöfe haben wenigstens
theoretisch die Befugnis, auch Laien für Delikte, welche nach ordentlichem
Recht nicht strafbar sind (z. B. Incest, vgl. unten § 8 VII 4) zu bestrafen, ihre
Hauptthätigkeit richtet sich aber gegen Geistliche und zwar nicht nur in Bezug
auf die Verletzung ihrer direkten Amtspflichten, sondern auch in Bezug auf
strafrechtliche Delikte,') unsittlichen Lebenswandel usw. Dabei steht ihnen
ausser den kirchlichen Zwangsmitteln auch die Befugnis zu, unter gewissen
Umständen Freiheitsstrafen zu verhängen. Auf die quasi-strafrechtliche Gerichts-
barkeit gegen Geistliche bezieht sich die Clergy Discipline Act v. 1892.
4. Strafrechtliche Sonderbestimmungen für die Universitäten
Oxford und Cambridge. Dieselben erstrecken sich nicht nur auf die Studenten
(in Bezug auf Verletzungen der akademischen Vorschriften), sondern teilweise
auch auf solche Personen, von welchen ein schlechter Einfluss auf die Studenten
ausgeübt wird.
Die Universität Cambridge hat durch ihre akademischen Polizeibeamten
(Proctors) Umschau zu halten „de . . . publicis mulieribus, pronubis, vagabondis
et aliis personis de malo suspectis" und kann dieselben auf unbestimmte Zeit
in ein als „Spinning House" bezeichnetes Gef. einsperren. Derartige Fälle
sind in neuer und neuester Zeit vorgekommen und von den höheren Gerichten
anerkannt worden. Kemp v. Neville, 10 Common Bench. New Series 523; Ex
parte Hopkins, 17 Cox Criminal Gases 444.
In Oxford besteht keine ähnliche Bestimmung, doch sind daselbst Pro-
stituierte als solche (auch wenn sie keine nach gemeinem StR. strafbare Hand-
lung begangen haben) von den ordentlichen Gerichten zu bestrafen 6 Geo. IV
cap. 97 § 3.
III. Ausnahmsweises StR., wie z. B. die Erklärung des Belagerungs-
^) 7 Anne cap. 12 § 2. Sowohl die Dienerschaft als das Gesandtschaftspersonal
ist befreit; auch unbesoldete Attaches {Parkinson v. Potter, 16 Queen's Bench Division
152) und selbst britische Unterthanen, die als Beamte einer auswärtigen Gesandtschaft
oder Botschaft fungieren (Macartney v. Garbutt, 24 Queen's Bench Division 368).
^) Dieselben unterstehen selbstverständlich auch den ordentlichen Gerichten.
622 EngUnd und Iriand. — Alig^meiner TeiL
zustande«, kommt in England nicht vor.^> Die jetzt aufgehobene Crimes Act
T. 1887 hatte für Irland dem Vertreter der Regit^rungsgewalt Lord-Lieutenant)
die Befognis gegeben, die Bezirke, in welchen er dies für nöthig befindet, zil
^proklamieren", was eine Reihe von Veränderungen im Strafverfahren zur
Folge hatte, und auch eine besondere Behandlung Tcrbcaener Vereine ge-
stanet, aber eine Veränderung des materiellen StR. konnte auch dort imter
keinen Umständen eintreten.
n. Allgemeiner Teil
§ 6. a) Das Verfcreehen.
L Einteilung der Verbr. 1. nach ihrer Gattung itreason, felonies
und misdemeanors ). Die Verbr. zerfallen in drei Klassen: Treason. felonies
und misdemeanors. Als treason werden nur die durch den Statute of Treasons
und die sich an denselben anschliessenden Bestimmungen mit Strafe bedrohten
Delikte bezeichnet *j 'vgl. §811»; als felonies meistens nur schwere Verbr.. als
misdemeanors alle nicht zu den beiden erstgenannten Klassen gehörenden straf-
baren Handlungen. Dem Begriffe nach können misdemeanors von felonies nicht
imterschieden werden, sondern nur nach den Folgen und zwar:
a) In Bezug auf die Strafe: die Maximalstrafe für felonies ist in der Regel
Zuchthaus, für misdemeanors in der Regel Gef. mit oder ohne Zwangsarbeit,
doch ist dies nicht immer der Fall, es giebt eine ziemliche Anzahl von misde-
meanors die mit Zuchthaus strafbar sind, und eine allerdings geringe Anzahl
von felonies, die nur mit Gef. strafbar sind.*;
Vor 1870 fiel das Vermögen eines wegen treason oder felony Verurteilten
der Krone anheim. Diese Folge wurde durch das G. 33 und 34 Vict. cap. 23 be-
seitigt und statt dessen bestimmt, dass eine wegen felony zu Zuchthans oder Gef.
mit Zwangsarbeit, oder Gef. über 1 Jahr verurteilte Person alle Ämter und
Pensionen verliert und dass alle wegen treason oder felony Verurteilten zur
Zahlung der Kosten und einer Busse im Maximalbetrag von £ 100 verurteilt
werden können (33 und 34 Vict. cap. 23 §§ 1—4).*)
b^ In Bezug auf die Voruntersuchung: bei Klagen wegen treason und
felony kann: a) eine Verhaftung auf den blossen Verdacht hin und ohne Ver-
haftungsbefehl vorgenommen werden; h) der Beamte, vor welchem die erste
Verhandlung stattfindet (vgl. oben §3i, die Entlassung aus der Haft gegen
Bürgschaft verweigern (bei misdemeanors ist der Angeklagte berechtigt, gegen
genügende Bürgschaft freigelassen zu werden).
c) in Bezug auf die Beurteilung der Beihülfe, Begünstigung usw.; vgl.
unten unter VII und § 8 IV 2.
2. Nach der Art ihrer Verfolgung. (Indictable oflTences und sum-
marisch zu behandelnde Delikte.) Die Delikte, die von dem ersten Richter,
falls Verdachtgründe vorliegen, an den höheren Gerichtshof verwiesen werden
müssen (wenn nicht einer der FäUe der Sunmiary Jurisdiction Act gegeben
ist, vgl. § 3 II), heissen „indictable offences" im Gegensatz zu den Delikten, über
>) Vgl. Dicey, Law of the Constitution S. 296 ff.
*; Einige derselben sind zugleich als felonies strafbar (nach 11 Vict. cap. 12) imd
werden mit dem Ausdruck treason felony bezeichnet.
*) In der im besonderen Teile dieser Darstellung folgenden Erörterung der ein-
zelnen Delikte findet sich in allen Fällen, wo die Regel nicht zutrifft, hinter der An'>
gäbe über die Strafe die Bemerkung Jedoch misd.*^ oder Jedoch felony^.
*) Ü^ber die anderen Folgen der Zuchthausstrafe vgl. § 7 I 1.
§ 6. Das Verbrechen. 623
welche regelmässigsummarisch verhandelt werden kann.*) Der Entw. (vgl. § 1 IV)
behandelte nur die indictable offences und wollte den Unterschied zwischen
felonies und misdemeanors beseitigen, wodurch es indessen nötig wurde, in
jedem einzelnen Falle, wenn es sich um eine felony handelte, bei der Straf-
bestimmung auch die oben erwähnten Folgen in Bezug auf die Vorunter-
suchung zu erwähnen.
IL Das Verbr. als rechtswidrige Handlung. 1. Der Ausschluss
der Eechtswidrigkeit im allgemeinen. Das englische Wort für rechts-
widrig ist unlawful. Die Zufügung des Adverbs „unlawfully" in einem G. hat
nicht die Bedeutung, dass der Thäter das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit
haben muss. Das Wort findet sich z. B. in den fünf Consolidation Acts fast
in allen Fällen, in welchen der Ausschluss der Rechtswidrigkeit nicht über-
haupt undenkbar ist.^ Es muss im einzelnen Falle nach dem Zusammenhang
und nach den Präjudizien erwogen werden, ob das Wort nicht ohne Bedeutung
ist oder ob es nicht eine andere Bedeutung als widerrechtlich hat. Das Wort
kann manchmal auch die Bedeutung von „schuldhaft 'S oder eine kombinierte
Bedeutung haben, wie z.B. in der Wendung „unlawful homicide", wo es sowohl
Rechtswidrigkeit als gewisse Arten der Schuld in sich begreift (vgl. unten
§ 9 II 1).
Die Voraussetzungen, unter welchen die Rechtswidrigkeit nach englischem
Recht ausgeschlossen ist, sind teilweise allgemeiner Natur, teilweise beziehen
sie sich nur auf besondere Delikte. Es kann deshalb auch über die Wirkung
und die Grenzen des Ausschlusses keine allgemeine Regel aufgestellt werden.
2. Ausschluss der Rechtswidrigkeit bei Handlungen unter dem
Einflüsse der Gefahr, a) Notwehr (Self-Defence). a) Im allgemeinen.
Die Notwehr im Sinne des deutschen StR. wird vom englischen Recht nicht
in ihrer ganzen Ausdehnung anerkannt, nur gegen gewaltsame Angriffe ist
Notwehr gestattet und nur gegen solche gewaltsame Angriffe, welche entweder
die Natur einer felony haben, oder sich direkt gegen die Person des die Not-
wehr gebrauchenden richten (und auch dann nur unter bestimmten Voraus-
setzungen). Auch ist Bestürzung, Furcht oder Schrecken keineswegs in allen
Fällen eine Rechtfertigung der Überschreitung der Notwehr. — ß) Tötung
und schwere Körperverletzung im Falle der Notwehr. Nicht straf-
bar ist die vorsätzliche Tötung oder Körperverletzung in folgenden Fällen:
I. wenn dieselbe zur Verhinderung einer felony erfolgt, deren Thäter der
Person, welche ihn tötet oder körperlich verletzt, Grund zur Annahme
giebt, er beabsichtige sein Ziel unter Anwendung von Gewalt zu errreichen
und wenn der Zweck, der die Tötung oder Körperverletzung veranlasst, auf
andere Weise nicht erreicht werden kann (Stephen art. 199, Entw. §54);
II. wenn dieselbe zur Verhinderung eines gewaltsamen Angriffs gegen die
Person desjenigen, der den Angreifenden tötet oder körperlich verletzt, erfolgt.
Das subjektive Ermessen genügt in diesem Falle, um festzustellen, wie weit
die Verteidigung gehen darf, insofern dasselbe in gutem Glauben und in ver-
^) In der nachfolgenden Erörterung der Delikte im besonderen Teil wird bei
den Delikten, die nicht indictable off. sind, stets bei der Strafbestimmung die Angabe:
summ. Verf. beigefügt.
'^) Immer trifft dies nicht zu: das Wort fehlt manchmal in Fällen, wo der Aus-
schluss der Rechtswidrigkeit wohl denkbar ist, z. B. O. P. A. § 36 (Gewaltsame Ver-
hinderunff eines Geistlichen bei einer gottesdienstlichen Handlung — es ist denkbar,
dass ein Vorgesetzter dies unter gewissen Umständen für notwendig hält); andrer-
seits steht es in manchen Fällen da, wo der Ausschluss der Rechtswidrigkeit ganz
undenkbar ist, z. B. O. P. A. § 32 (Vorsätzliche Gefährdung des Eisenbahnbetriebes in
der Absicht die Sicherheit einer Person zu gefährden).
624 England und Irland. — Allgemeiner Teil.
ständiger Weise ausgeübt wird, und insofern die folgenden Regeln beobachtet
werden: A. Wenn derAngriflF so geartet ist, dass der Tod oder eine schwere
Körperverletzung in offenbarer Weise den Angegriffenen unmittelbar bedroht,
darf derselbe den Angreifer ohne weiteres töten oder verwunden. B. Wenn
jemand in seinem eigenen Hause angegriffen wird, darf er sich ohne weiteres
verteidigen und einen der Heftigkeit des Angriffs entsprechenden Grad von
Gewalt anwenden. C. Wenn der Angriff als Widerstand gegen eine recht-
mässige Ausübung von Gewalt erfolgt (z. B. als Widerstand gegen die Not-
wehr), so darf nicht nur der unmittelbar nötige, sondern auch der für die
Erreichung des ursprünglichen Zweckes nötige Grad von Gewalt angewandt
werden (Stephen art. 200 [a und b], Entw. § 55 [bedeutend vereinfacht]).
— y) Andere Formen der Notwehr. Gewalt, die nicht die Form vor-
sätzlicher Tötung oder schwerer Körperverletzung annimmt, darf allen wider-
rechtlichen Angriffen gegen die Person des Angegriffenen entgegengesetzt
werden (Stephen art. 200 [c]).
b) Notstand (Necessity). Dieser Begriff wird anerkannt, ist aber nie
scharf definiert worden. Stephen sagt folgendes (art. 32): „Eine Handlung,
die an und für sich ein Verbr. wäre, mag in einigen Fällen entschuldigt
werden, wenn der Angeklagte nachweisen kann, dass sie geschah, um Folgen
zu vermeiden, welche dem Thäter oder einer unter seiner Obhut stehenden
Person ein unvermeidliches und nicht wieder gut zu machendes Übel zugefügt
hätten (also nicht ausschliesslich Gefährdung von Leib und Leben), dass die
Ausdehnung der That der Notwendigkeit des Falls entsprach, und endlich,
dass das durch die That bewirkte Übel nicht ausser Verhältnis zu dem ver-
miedenen Übel stand. Die Tragweite dieses Grundsatzes ist nicht festgestellt.
Er geht nicht weit genug, um die That schiffbrüchiger Matrosen zu en^
schuldigen, welche einen Schiffsjungen töten, um sein Fleisch zu essen." Das
am Schlüsse des Artikels stehende Beispiel ist in dem bekannten sogenannten
Mignonette-Case (R. v. Dudley und Stephens, 14 Queen's Bench Division 273)
vor die Gerichte gekommen^) und in dem obigen Sinne entschieden worden.
c) Nötigung (Compulsion) a) im allgemeinen. Die Nötigung, welche
die Rechtswidrigkeit nach englischem Recht allgemein ausschliesst, erstreckt
sich über ein weit engeres Gebiet als die Nötigung des RStGB. Art. 52, indem
sie von zwei Voraussetzungen abhängig ist. I. Es muss gegenwärtige Gefahr
des Todes oder einer schweren Verwundung des Genötigten (nicht eines
Angehörigen) vorliegen. II. Es muss sich um ein von mehreren Personen
begangenes Delikt handeln, und die Beteiligung darf nur so weit gehen, dass
im Falle der Abwesenheit der Nötigung Beihülfe, nicht aber Mitthäterschaft
vorhanden gewesen wäre (Stephen art. 31). — ß) Bei der Beteiligung
an staatsfeindlichen und anderen widerrechtlichen Verschwör-
ungen. In diesem Falle ist die Nötigung durch Gewalt oder Drohungen
ein Entschuldigungsgrund, wenn der Genötigte spätestens 14 Tage nach
Leistung des Eides usw. (bezw. im Falle der Verhinderung 14 Tage nach
Wegfall der Verhinderung) Anzeige macht (vgl. unten § 8 I 2). Es muss
also eine Kombination von Nötigung und thätiger Reue vorliegen. — y) Fin-
gierte Nötigung der Ehefrau. Auf Grund einer Rechtsfiktion wird
angenommen, dass eine Ehefrau in der Gegenwart ihres Ehemannes, wenn
es sich um die Begehung gewisser Delikte (namentlich Diebstahl, Unter-
schlagung, Sachhehlerei, Falschmünzerei usw.) handelt, stets sich in der Lage
^) Vgl. Herbert Stephen: Homieide bv Necessity, Law Quarterly Review, Bd. I
S. 51, vgl. auch Simonson: Der Mignonette-f all in England. Zeitschr. für die gesamte
Strafrechtswissenschaft V 367.
§ 6. Das Verbrechen. ^ 625
der Nötigung befindet, und eine Ehefrau kann daher unter solchen Umständen
nicht verurteilt werden, wenn nicht der Nachweis geliefert wird, dass sie that-
sächlich nicht gezwungen handelte (Stephen art. 30; der Entw. §23, letzter
Absatz, wollte die Fiktion beseitigen).
3. Ausschluss der Rechtswidrigkeit in anderen Fällen, a) Aus-
übung eines öffentlichen Amts und Vornahme gesetzlich vorge-
schriebener Handlungen. Vorsätzliche Tötung und Körperverletzung ist
nicht strafbar in folgenden Fällen: a) Gesetzmässige Vollstreckung
einer von einem zuständigen Gerichtshof verhängten Strafe (Stephen
art. 197). — ß) Verhinderung von treason oder felonies bezw. Er-
greifung der Thäter insofern der Zweck nicht durch andere Mittel erreicht
werden kann (Stephen art. 199). — y) Vollstreckung eines Verhaftungs-
befehls durch Polizeibeamte gegen Personen, welche wegen treason oder
felony in Anklagezustand sind, insofern der Zweck nicht durch andere Mittel
erreicht werden kann (Stephen art. 199). — d) Unterdrtlckung gewalt-
thätiger Zusammenrottungen (vgl. § 8 II 1), insofern andere Mittel nicht
genügen, durch Soldaten, Polizeibearate oder andere Personen (vgl. die in
der Anmerkung^) im Auszug wiedergegebene Äusserung des Oberrichters
Tindal bei seiner Anrede an die Geschworenen in Bristol, vor welchen die
Vorgänge bei den Unruhen im J. 1832 verhandelt wurden, citiert in der
Entsch. in Sachen Phillips v. Eyre, Law Reports 6 Queen's Bench auf S. 15).
b) Chirurgische Operationen. Bei denselben ist die Rechtswidrigkeit
der Tötung oder Körperverletzung ausgeschlossen (insofern sachverständige
Sorgfalt angewandt wird): a) Wenn der Operierte (bezw. im Falle von
Kindern, welche noch nicht imstande sind, sich ein selbständiges Urteil zu
bilden, der Gewalthaber) seine Genehmigung erteilt. — ß) Wenn der Operierte
sich in einem Gesundheitszustande befindet, welcher die Erteilung der Ge-
nehmigung unmöglich macht (Stephen art. 200).
c) Einwilligung des Verletzten. Dieselbe schliesst die Rechtswidrigkeit
stets aus, wenn nicht einer der folgenden Fälle vorliegt: I. Die Einwilligung
zur Tötung oder zu einer lebensgefährlichen Körperverletzung, ausser im
Fall einer chirurgischen Operation (vgl. § 9 I 1). II. Die Einwilligung zum
Verlust eines Sinnes oder eines zum Kampfe brauchbaren Gliedes oder eines
Gliedes, dessen Verlust dauernde Körperschwäche zur Folge hat, ausser im
Falle einer chirurgischen Operation. (Stephen art. 204.) III. Die Einwil-
ligung jugendlicher Personen (d. h. von Personen unter 13 Jahren) zu unzüch-
tigen Handlungen. (43 und 44 Vict. cap. 45 § 2.) IV. Die Einwilligung von
Mädchen unter 16 Jahren zum ausserehelichen Beischlaf. (Crim. Law Am. Act
§§ 3 und 4.)
d) Erlaubte Selbsthülfe. Eine allgemeine Regel hierüber kann nicht
aufgestellt werden. Die einzige Bestimmung, welche durch die Präjudizien
festgestellt scheint, ist die, dass jemand, der ein fremdes Tier, das sich auf
seinem Grundstücke befindet, tötet oder verwundet, eine widerrechtliche Hand-
*) „Die Hilfe, welche Leute gewähren, die unter den Anordnungen der Obrig-
keit und in Übereinstimmung mit derselben handeln, ist wirksamer für den gewünschten
Zweck als die grössten Bemühungen getrennter und zerstreuter Individuen, so wohl
gemeint sie auch sein mögen; aber wenn die Notwendigkeit der Lage unmittelbares
Handeln erheischt und es nicht möglich ist, den Rat oder die Genehmigung der Obrig-
keit einzuholen, so ist es die Pflicht jedes Unterthans, allein und auf eigene Verant-
wortlichkeit bei der Unterdrückung gewaltthätiger Zusammenrottungen mitzuwirken,
und jeder Unterthan kann sich darauf verlassen, dass, was er in gutem Glauben
zur Erreichung dieses Zweckes thut, vom gemeinen Recht unterstützt und gerecht-
fertigt wird."
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I. 40
62Ö Kurland und IrUnd. — Allgemeiner TeiL
luncr nicht begeht (Daniel v. Janes, 2 Common Pleas Division 351; Smith v.
Williams — 26. Oktober 1892. Justice of the Peace S. 840).
III. Das Verbr. als schuldhafte Handlung. 1. Zurechnungsfähig-
keit. SL) In Hinsicht auf die Natur des Subjekts. Em strafinechtliches
Verfahren gegen juristische Personen ist nach englischem Recht zulässig.*)
Dasselbe konmit Indessen nur in Fällen zur Anwendung, in welchen durch
positive Gesetzesbestimmung die Form der Strafklage zur Erzwingung gewisser,
im öffentlichen Interesse gebotener Handlungen (z. B. die Erbauung einer
Brücke oder Strassej aus Zweckmässigkeitsrücksichten eingeführt wurde. Da
eine juristische Person nur durch Vertreter handeln kann und die Schuld des
Vertreters dem Vertretenen nach englischem Recht regelmässig nicht im-
putiert werden kann, ist eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der juristi-
schen Person nur in den Ausnahmsfallen möglich, in welchen auch das schuld-
lose Delikt bestraft wird (vgl. unter 2).
h) In Hinsicht auf das Alter des Subjekts. Die strafrechtliche
Zurechnungsfähigkeit beginnt nach Vollendung des siebenten Leben^'ahres;
bei Kindern im Alter von 7 — 14 Jahren muss der Theorie nach der Nachweis
beigebracht werden, dass sie die erforderliche geistige Keife haben, um Recht
und Unrecht unterscheiden zu können. In der Praxis wird dies aber bei
Kindern im Alter von über 10 Jahren regelmässig olme weiteren Nachweis
angenommen.-; Eine eigentümliche Bestimmung besteht über das Delikt der
Notzucht, indem eine praesumtio juris et de jure dafür besteht, dass ein Knabe,
der das 14. Lebensjahr nicht vollendet hat, zur Begehung dieses Verbrechens
physisch unfähig ist.
c) In Hinsicht auf die geistige Gesundheit des Subjekts. Nicht
zurechnungsfähig ist, wer I. infolge von Geistesschwäche, D. infolge von Geistes-
krankheit nicht fähig ist: 1. die wahre Natur der That zu erkennen oder
2. zu wissen, dass die That wider das Strafrecht oder das Sittengesetz ver-
stösst, oder 3. freie Willensbestimmung auszuüben (mit Ausnahme des Falls,
in welchem der Thäter die fehlende Selbstbeherrschung selbst herbeigeführt
hat) — Stephen art. 27.
Demnach genügt der Mangel intellektueller Erkenntnis zur Befreiung
auch in den Fällen, in welchen die freie Willensbestinmiung nicht gehemmt ist.
Die Trunkenheit ist kein Entschuldigungsgrund, kann aber unter Um-
ständen in Betracht kommen, wenn der Thatbestand eines Delikts eine bestimmte
Absicht oder eine bestimmte Kenntnis in sich begreift (Stephen art. 29).
Der Nachweis der Unzurechnungsfähigkeit wegen Geisteskrankheit bewirkt
übrigens nicht notwendigerweise die Freilassung. Wenn durch das Beweis-
verfahren festgestellt wird, dass der Angeklagte zur Zeit der in Frage stehenden
Handlung oder Unterlassung in einer Weise geisteskrank war, welche seine
strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit nach den oben aufgestellten Grundsätzen
ausschloss, „so haben die Geschworenen, wenn dieselben der Ansicht sind,
dass derselbe der Handlung oder Unterlassung, welche Gegenstand der Klage
ist, schuldig, aber zur Zeit der Handlung oder Unterlassung in der erwähnten
Weise geisteskrank war", ein entsprechendes Verdikt abzugeben. Das Resultat
eines derartigen Verdikts ist Einsperrung in einem der besonders für geistes-
kranke Verbrecher eingerichteten Irrenhäuser auf unbestimmte Zeit, d. h. bis
der Staatssekretär die Freilassung (bedingt oder unbedingt) oder die Ent-
^) Vgl. die Entsch. in Sachen R. v. Birmingham and Gloucester Railway Com-
pany (1842) 3 Queen'8 Bench Reports 223.
*) Stephen, General View S. 68. Über das besondere Verfahren bei jugendlichen
Personen vgl. oben § 3 (2) und unten § 7 II 2.
§ 6. Das Verbrechen. 627
femung nach einem gewöhnlichen Irrenhause anordnet (Trial of Lunatics
Act 1883 §2; Criminal Lunatics Act 1884 §5).
2. Die Schuld, a) Im allgemeinen. Eine aus neuer Zeit (1889)
herrührende richterliche Äusserung giebt Aufschluss über diesen Gegenstand.
Dieselbe lautet: ,,Die allgemeine Eechtsregel ist, dass jemand nicht strafrecht-
lich verurteilt und bestraft werden kann, wenn nicht nachgewiesen werden
kann, dass Schuld (guilty mind)^) vorhanden war. Wenn auch die Gesetz-
gebung bestimmen kann .... dass strafrechtliche Verantwortlichkeit für gewisse
Handlungen auch ohne Schuld bestehen kann, so ist es doch in jedem einzelnen
Falle Sache des Klägers, nachzuweisen, dass die betreffende Bestimmung that-
sächlich diese Bedeutung hatte" (Chisholm v. Doulton Law Reports 22 Queen 's
Bench Division auf S. 739).')
Demnach ist der Regel nach das schuldlose Verbrechen nicht strafbar.
Die angeblichen Ausnahmen lassen sich in drei Klassen unterscheiden: I. Ge-
wisse polizeiliche Vorschriften werden ohne Rücksicht auf Schuld auf dem
Wege der Strafklage erzwungen — auch gegen Korporationen, vgl. oben unter III.
II. In gewissen Fällen wird die Schuld präsumiert; meistens ist die Rechts-
vermutung eine praesumtio juris (wiez. B. bei dem Besitz von Werkzeugen, die
für Falschmünzerei geeignet sind, oder von SprengstoflPen — vgl. § 9 V 6 und
§ 9 V 1), und dann liegt selbstverständlich keine Ausnahme der Regel vor. Etwas
schwieriger gestaltet sich die Sache bei unwiderleglichen Präsumtionen, beson-
ders, wenn sie das Gesetz nach seinem Wortlaut nicht als Präsumtionen
behandelt. Der Hauptfall ist die Strafbarkeit des Beischlafs mit einem nicht
dreizehiyährigen Mädchen (vgl. unten § 9 II 3). Bei der Erwägung dieses
Falls ist zu berücksichtigen, dass auch der Beischlaf mit nicht 16jährigen
Mädchen strafbar ist, wenn auch in diesem Falle ein entschuldbarer Irrtum
entschuldigt. Der Gesetzgeber konnte daher wohl annehmen, dass der Thäter
des zuerst erwähnten Delikts wenigstens die Möglichkeit des zweiten berück-
sichtigen muss und dass daher mindestens Fahrlässigkeit in allen Fällen vor-
handen sein wird. III. In gewissen Fällen haftet scheinbar der Vertretene
für die Schuld des Vertreters. Der Hauptfall kommt vor bei den Bestim-
mungen über die Verantwortlichkeit für die Verbreitung staatsfeindlicher,
gotteslästerlicher, unzüchtiger und verleumderischer Darstellungen (vgl. unten
§ 9 II 1). Aber auch hier handelt es sich nur um eine Präsumtion. Auf den
ersten Blick entsteht allerdings die Schwierigkeit, dass die Schuld, deren
Abwesenheit der Vertretene nachweisen muss, sich meistens nur als Fahr-
lässigkeit konstruieren lässt, während das G. anscheinend nur den Vorsatz
bestrafen will.*) Es ist hier nicht nötig, den Versuch zu machen, diese
scheinbare Antinomie zu erklären, da ja festgestellt ist, dass der Vertretene
sich durch Beweis der Nicht-Schuld von seiner Verantwortlichkeit befreien
kann, und somit auch sein Delikt nur als schuldhafte Handlung bestraft wird.
Dass der allgemeinen Regel nach der Vertretene nicht strafrechtlich für die
Schuld des Vertreters haftet, wird in der oben citierten Entscheidung: Chisholm
V. Doulton ausdrücklich festgestellt.
Die Ausnahmen II und III fallen somit weg, und da die Ausnahmen,
die unter I erwähnt sind, nur ein kleines Gebiet umfassen, kann der Satz
^) Das Wort ist an und für sich zweideutig, aber dem Zusammenhang nach
kann kein Zweifel darüber sein, dass Schuld im weiteren Sinne gemeint war; denn
es handelte sich um eine Strafklage wegen Fahrlässigkeit, und es erfolgte Frei-
sprechung, weil eine schuldhafte Fahrlässigkeit nicht nachgewiesen war.
'^) Vgl. auch die Entsch. in Sachen R. v. Tolson 23 Queen's Bench Division
168 (1889).
') Die Unterscheidung, welche das deutsche Pressgesetz in dieser Beziehung
aufstellt (§ 20 und § 21), existiert im englischen Recht nicht.
40*
628 England und Irland. — Allgemeiner Teil.
aufgestellt werden: dass fast in allen Fällen nur die schuldhafte Handlung
oder Unterlassung strafbar ist.
b) Die schuldhafte Unterlassung. Scbuldhafte Unterlassungen sind
in einer Reihe von Fällen strafbar, z. B. bei den Tötungsdelikten (vgl.
unten § 9 II 1), bei der Gefährdung der Gesundheit von Pflegebefohlenen
(vgl. unten § 9 II 2), bei der bereits oben erwähntön Haftung für strafbare
Äusserungen eines Vertreters (d. h. für die Unterlassung der Warnung oder
Aufsicht). Es sind dies lauter einzelne Fälle, in welchen gesetzliche Be-
stimmungen oder Präjudizien eine strafrechtlich erzwingbare Pflicht zu Hand-
lungen unter gewissen Voraussetzungen festgestellt haben.
c) Der Vorsatz. Der Mangel einer einheitlichen Terminologie erschwert
die Begriffsbestimmung hier ebenso wie bei der Widerrechtlichkeit (vgl. oben
unter III). Das Wort, das hauptsächlich für Vorsatz angewandt wird, ist ,,ma-
lice"; das entsprechende Adverb ist „maliciously". Die Definition dieses Begriffes,
welche ursprünglich von Lord Blackbum formuliert und später auch von
anderen Richtern anerkannt wurde, lautet: „Jemand handelt maliciously,
wenn er wissentlich (wilfully) etwas thut, von dem er weiss, dass es die
Pei-son oder das Vermögen eines anderen schädigen wird" (vgl. R. v. Martin,
8 Queen's Bench Division 54). Die malice des englischen Rechts ist daher die
Vorstellung der durch ein Thun bezw. Nicht-Thun entstehenden Wirkung.
In dem erwähnten Sinne wird das Wort malice in den Consolidation Acts
meistens angewandt. Es giebt indessen eine Anzahl von Fällen, bei welchen
dasselbe eine andere Bedeutung angenommen hat. Namentlich ist dies der
Fall in Bezug auf die malice aforethought, welche das murder im Unterschied
zum manslaughter kennzeichnet, und die malice, welche bei der Verbreitung
verleumderischer schriftlicher oder bildlicher Darstellungen in Betracht kommt.
In beiden Fällen ist neben dem Vorsatz eine gewisse Absicht entweder nach-
zuweisen oder aus gewissen konkreten Umständen zu folgern, ehe malice fest-
gestellt werden kann. Der Vorsatz wird auch häufig durch andere Wen-
dungen, als das Wort malice wiedergegeben, namentlich bei Delikten gegen
das Vermögen, wo die Bezeichnungen „fraudulently", „falsely and deceitfully"
häufig nichts anderes als vorsätzlich bezeichnen. Auch die Ausdrücke „wilfully"
und „feloniously" kommen vor.
Bei vielen Delikten wird eine bestimmte Absicht oder eine bestimmte
Kenntnis als Teil des Thatbestandes ausdrücklich erwähnt. Wo dies geschieht,
wird ein Wort für vorsätzlich — weil selbstverständlich — oft weggelassen,
häufig aber auch hinzugefügt, ohne den Sinn zu ändern.
Das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit ist, wenn dies nicht aus dem
Wortlaut einer gesetzlichen Bestimmung mit Klarheit hervorgeht, nicht ein
Element des Vorsatzes. Ein Ausländer, der in England den Gegner im Duell
tötet, ist z. B. wegen Mordes zum Tode zu verurteilen, obwohl nach dem Recht
seiner Heimat, dessen allgemeine Geltung er irrtümlich annimmt, die Tötung
im Zweikampf nicht als Mord anzusehen ist. (Exp. Barronet, 1 Ellis and
Blackburn 1. Vgl. auch Stephen art. 33 und Entw. § 24.)
d) Der Irrtum. Wie wir oben gesehen haben (unter 1) ist in der Regel
nur das schuldhafte Verbr. mit Strafe bedroht. In den Ausnahmefällen, in
welchen ein strafrechtliches Verfahren *iuch ohne Rücksicht auf Schuld ein-
tritt, ist selbstverständlich der Irrtum unerheblich. Ebenso da, wo auf Grund
einer praesumtio juris et de jure eine Handlung unter gewissen objektiven
Voraussetzungen als schuldhaft angesehen wird (wie z. B. der Beischlaf mit
nicht 13jährigcm Mädchen). In allen anderen Fällen muss selbstverständlich
der Irrtum über einen wesentlichen Teil einer Handlung für die strafrechtliche
Beurteilung derselben erheblich sein.
§ 6. Das Verbrechen. 629
Die Frage ist im J, 1889 vor die Gerichte gekommen imd in der Entsch.
in Sachen K. v. Tolson eingehend erörtert worden (23 Queen's Bench Division
S. 168). Es wurde in dieser Entsch. erkannt, dass eine Frau, die zur zweiten
Ehe schreitet, indem sie in gutem Glauben und unter dem Einflüsse subjektiv
berechtigter Gründe ihren ersten Mann irrtümlich für tot hält, nicht wegen
Doppelehe verurteilt werden kann. Unter den Motivierungen zeichnet sich
namentlich die des Richters Cave durch Klarheit aus. Er sagt: „Nach ge-
meinem Recht ist ein ehrlicher und subjektiv berechtigter Glaube an das Vor-
handensein gewisser Thatsachen, deren wirkliches Vorhandensein die That,
welche der Gegenstand der Klage ist, zur erlaubten Handlung gemacht hätte,
ein genügender Entschuldigungsgrund ... So viel ich weiss, ist nie behauptet
worden, dass solche Entschuldigungsgründe nicht auch bei den durch Gesetz
definierten Delikten in gleicher Weise anwendbar sind, wenn sie nicht ausdrück-
lich oder durch notwendige Folgerung ausgeschlossen sind."
Eis ist Sache der Interpretation, festzustellen, ob im gegebenen Falle eine
gesetzliche Bestimmung den erwähnten Entschuldigungsgrund ausschliesst ; eine
Prüfung der Gesetze und Prä^judizien ergiebt, dass dies nur in Fällen geschieht,
die zu den oben erwähnten Gattungen (Polizeidelikte und gesetzliche Prä-
sumtionen in Fällen, wo nach der Lage der Dinge fast stets Schuld vorhanden
sein muss) gehören.
Die einzige gerichtliche Entsch., die in dieser Beziehung einige Schwierig-
keit verursacht, ist die in Sachen R. v. Bishop (5 Q. B. D. 259), durch welche
jemand, der Geisteskranke der gesetzlichen Bestimmung zuwider bei sich auf-
nahm, verurteilt wurde, obgleich er in gutem Glauben dieselben nicht für
geisteskrank hielt. Dieser Fall ist in gewisser Beziehung dem des Beischlafs
mit jugendlichen Personen ähnlich. Wie dort die unverkennbare Jugend den
Thäter zur Vorsicht mahnen muss, so müssen sich hier auch gewisse Symptome
gezeigt haben, die auf einen gestörten geistigen Zustand hindeuteten. Das
Recht schreibt in derartigen Fällen summa diligentia vor und von diesem
Standpunkt ist bei denselben ein entschuldbarer Irrtum kaum möglich.
e) Die Fahrlässigkeit. Es ist bereits oben (unter 1) erwähnt worden,
dass unter gewissen Voraussetzungen infolge einer gesetzlichen Präsumtion
die Fahrlässigkeit ebenso wie der Vorsatz bestraft wird; ausserdem giebt
es noch eine Anzahl von Fällen, in welchen ausdrücklich fahrlässige Delikte
mit Strafe bedroht sind.
Es gehört hierher: 1. fahrlässige Tötung (vgl. § 9 I 1), 2. fahrlässige
Gefährdung des Eisenbahnverkehrs (vgl. § 9 V 2), 3. fahrlässiges Verhalten
bei der Entweichung von Gefangenen (vgl. § 8 III 3), 4. fahrlässige Körper-
verletzung in gewissen Ausnahmsfällen (vgl. § 9 I 2).
Der fahrlässige Meineid, die fahrlässige Brandstiftung und die fahrlässigen
Delikte, welche RStGB. Art. 326 und 329 Abs. 2 erwähnt sind, werden nach
englischem Recht nicht bestraft.
IV. Strafausschliessungsgründe. 1. Wegfall der Strafe. Ebenso
wie im deutschen Recht, kommen auch im englischen Bestimmungen vor, nach
welchen die Strafbarkeit einer Handlung von äusseren aus der That selbst
sich nicht ergebenden Umständen abhängig ist. Beispielsweise sind zu nennen :
die Regel, nach welcher Tötungsdelikte als solche nur bestraft werden, wenn
der Tod des Verletzten spätestens ein Jahr und einen Tag nach erfolgter That
eintritt; ferner die Bestimmung, welche eine Reihe von Handlungen strafbar
macht, wenn mindestens vier Monate später der Konkurs des Thäters eintritt
(vgl. unten § 9 IV C. 2).
2. Prozessvoraussetzungen, a) Im allgemeinen. Wie aus der
oben gegebenen Darstellung über die Einleitung des Verfahrens erhellt, bc-
630 England und Irland. — Allgemeiner Teil.
steht ein Unterschied zwischen Antragsverbrechen und anderen Verbr. nicht im
englischen Recht. Das einzige Delikt, das nur auf Grund einer Anzeige des
Verletzten vor die Gerichte kommen kann, ist der Angriff gegen die Person
(assault, vgl. § 9 I 2); andrerseits kann, wie es scheint, eine Straf klage gegen
Eltern wegen Vernachlässigung ihrer Kinder (vgl. § 9 I 2) nur von der Armen-
behörde veranlasst werden (Poor Law Amendment Act 1868 § 37), und eine
Strafklage wegen eines Pressdelikts ist nur unter richterlicher Genehmigung
zulässig (vgl. unten § 8 V 2). Ferner kann in allen Phallen der erste Anwalt
der Krone (Attomey General) durch ein sogenanntes „NoUe prosequi" die
Einstellung des Verfahrens herbeiführen, doch wird dieses Verfahren in der
Praxis fast gar nicht angewandt. — b) Die Verjährung. Das englische StR.
hat weder eine Vollstreckungsverjährung, noch in der Regel eine Klagenver-
jährung. Die letztere ist in Bezug auf einzelne Delikte gesetzlich eingeführt;
eine einheitliche Frist besteht dabei nicht.
3. Die Begnadigung kann stets eintreten. Dieselbe ist ganz dem Er-
messen des Staatssekretärs für das Innere anheimgestellt.
V. Der Versuch. Derselbe wird von Stephen art. 49 definiert als „eine
Handlung, welche in der Absicht erfolgt, ein Delikt zu begehen, und welche
zu einer Reihe von Handlungen gehört, deren ununterbrochene Vollendung das
erwähnte Delikt vollenden würde". Der Punkt, an welchem diese Reihe be-
ginnt, kann nicht näher bestimmt werden; derselbe hängt vielmehr von den
besonderen Umständen des einzelnen Falles ab.
Wenn der Versuch nicht im einzelnen Falle mit einer besonderen Strafe
bedroht ist, so ist er als misdemeanor mit Gef. zu bestrafen (Stephen art 50).
Die Anschauungen über den Versuch am untauglichen Objekt und über den
Versuch mit untauglichen Mitteln haben sich in den letzten Jahren wesentlich
geändert. Das früher massgebende Präjudiz (R. v. CoUins, Leigh and Cave 471)
muss jetzt als aufgehoben und die Strafbarkeit des Versuchs am untauglichen
Objekt als festgestellt betrachtet werden (Reg. v. Ring 66 Law Times 300,
vgl. auch R. V. Brown, 24 Queen's Bench Division 357). Ebenso ist die Autorität
der Entsch. in Sachen R. v. Lewis, 9 Carrington and Payne 523, welche den
Versuch, eine untaugliche Flinte abzufeuern, für straflos erklärt durch die
Äusserung des Hauptoberrichters Lord Coleridge bei Gelegenheit der Entsch.
in Sachen R. v. Duckworth (1892), 2 Queen's Bench 83, wesentlich erschüttert
worden, und demnach wird voraussichtlich auch die Strafbarkeit des Versuchs
mit untauglichen Mitteln anerkannt werden, sobald sich eine Gelegenheit findet.
Der Entw. wollte bereits bestimmen, dass jedermann, der im Glauben,
dass bestimmte Umstände vorliegen, etwas thut oder unterlässt, was, wenn die
betreffenden Umstände wirklicli vorliegen würden, als Versuch ein Delikt zu
begehen behandelt werden würde, des Versuchs dieses Delikt zu begehen auch
dann für schuldig zu befinden ist, wenn infolge der Abwesenheit der erwähnten
Umstände zur Zeit der erwähnten Handlung oder Unterlassung, die Begehung
des erwähnten Delikts in der beabsichtigten Weise unmöglich ist.
VI. Aufforderung (incitement) und Komplott (conspiracy), d. h.
die Verabredung, ein Verbr. gemeinschaftlich zu begehen, sind selbständige
Verbr., die auch dann strafbar sind, wenn überhaupt kein anderes Verbr.
begangen wird. Beide sind in Abwesenheit anderer Bestimmungen als nüs-
demeanors mit Gef, strafbar. Die Verabredung ist in gewissen Fällen auch
strafbar, wenn die Handlung, welche der Gegenstand der Verabredung ist,
kein strafrechtliches Delikt ist, sondern nur unsittliche oder gemeinschädlicbe
Ziele verfolgt oder auch nur zu einem civilrechtlichen Anspruch ex delicto
Anlass giebt. Namentlich ist als misdemeanor strafbar: I. die Verabredung,
welche zum Zwecke hat, eine weibliche Person zum ausserehelichen Beischlaf
§ 6. Das Verbrechen. 631
zu bestimmen (Stephen art. 174); II. die Verabredmig zu Handlungen, welche
die Schädigung der Gesamtheit oder eines Einzelnen durch hinterlistige, aber
nicht mit Strafe bedrohte Mittel bezwecken (Stephen art. 336); III. jede Ver-
abredung zu einem civilrechtlichen Delikt oder wenigstens zu einem solchen
civilrechtlichen Delikt, welches auch öffentliche Interessen bedroht (z. B. die
Verabredung aller Pächter in einem Bezirk, die Zahlung der Pacht zu unter-
lassen).*) Verabredungen von Arbeitern zu Ausständen sind (infolge der Con-
spiracy and Protection of Property Act v. 1875, welche bestimmt, dass Ver-
abredungen zu Handlungen, welche das Verhältnis zwischen Arbeitern und
Arbeitgebern betreffen und an und für sich nicht strafbar sind, nicht als straf-
bare Conspiracies zu bestrafen seien), von dieser Kegel ausgeschlossen.
Anlass zu Kontroversen haben auch die Verabredungen zur Hemmung
des freien Geschäftsbetriebes (in restraint of trade) gegeben (dahin gehört die
sogenannte concurrence d^loyale); doch hat die Entsch. des House of Lords
in Sachen Mogul Steamshlp Company v. Mc. Greger (1892) Appeal Gases 25
den Grundsatz aufgestellt, dass dieselben an und für sich nicht widerrechtlich
sind und damit den Gegenstand nach dieser Seite erledigt.
Die Bedenken gegen die Strafbarkeit von Verabredungen zu an und für
sich nicht strafbaren Handlungen, die ohnehin schon schwerwiegend sind,
werden durch die Unsicherheit, mit welcher der Gegenstand von der gericht-
lichen Praxis behandelt wird, noch erheblich erhöht, und es ist wohl anzu-
nehmen, dass die Gesetzgebung bald eingreifen wird.
Die Beteiligung einer grösseren Anzahl von Personen bildet bei verschie-
denen Delikten einen Teil des Thatbestands; so z.B. bei dem schweren Fall
der Zusammenrottung (riot — vgl. § 8 II 1); bei der Vereinigung zum Zwecke
des Schmuggels (vgl. § 8 IV 4) bei dem nächtlichen bewaffneten Betreten eines
Grundstücks zum Zwecke des Wilddiebstahls (vgl. § 9 IV B) usw.
VII. Thäterschaft und Teilnahme. Anstifter und Gehülfen werden
genau in derselben Weise bestraft wie die Hauptthäter (principal) und im
Falle von treason und misdemeanors auch als Hauptthäter bezeichnet. Bei
felonies nennt man den Anstifter: „accessory before the fact"^) und den Ge-
hülfen: „principal of the second degree". Früher konnten bei einer felony
der Anstifter und der Gehülfe erst nach der Verurteilung des Hauptthäters in
Anklagezustand versetzt werden, doch ist diese Unterscheidung durch das G.
11 und 12 Vict. cap. 46 § 1 beseitigt worden und die Behandlung bei felonies
ist jetzt genau dieselbe wie bei anderen Delikten.
Vin. Handlungseinheit und Verbrechensmehrheit. 1. Im All-
gemeinen. Eine Erörterung dieses Gegenstandes wird wesentlich erschwert
durch die verschiedenartigen gesetzlichen Einzelbestimmungen und ebenso durch
die überaus technischen Eegeln des Strafverfahrens. Es lassen sich indessen
einige Hauptgrundsätze aufstellen, namentlich auf Grund der ausführlichen
Urteilsbegründung bei der Entsch. in Sachen R. v. Miles (1890), 24 Queen's
Bench Division 423, welche auch die früheren Präjudizien eingehend bespricht.
Demnach kann durch eine Handlung nur ein Verbr. begangen werden, auch
wenn dieselbe Handlung mehrere StG. verletzt (vgl. Wemyss v. Hopkins Law
Reports, 10 Queen's Bench 378, R. v. Elrington, 1 Best and Smith 688). Es
*) Die Strafbarkeit der unter III. erwähnten Art der Verabredung wird vielfach
feleugnet. Dieselbe ist namentlich mit Rücksicht auf die irischen Verhältnisse zur
prache gekommen. Vgl. die Kontroverse zwischen Digbv und Butcher in der Law
Quarterly Review (VI, 129 fF.; 247 ff.; 363 ff.). Vgl. ferner Wright, Law of Criminal
Conspiracies 1873.
*) „Accessory after the fact** ist die Bezeichnung für den Hehler (vgl. unten
§ 8 IV 2).
632 England und Irland. — Allgemeiner Teil.
muss dabei aber berücksichtigt werden, dass, wenn der Thatbestand eines
Delikts aus einer Reihe von Handlungen besteht und eine dieser Handlungen
an und für sich den Thatbestand eines anderen Delikts bildet, die Handlung,
welche im Zusammenhang mit anderen Handlungen eine verbrecherische That
ist, auch für sich allein diese Qualität hat. So gehört zu dem Thatbestand
der als Mord bestraften Handlungen und ebenso zu dem Thatbestand der Not-
zucht regelmässig eine Handlung, welche auch allein als widerrechtlicher An-
griff (Assault vgl. § 9 I 2) strafbar ist, und jemand, der wegen eines solchen
Angriffs bereits bestraft oder freigesprochen ist, kann wegen des schwereren
Delikts von neuem zur Verantwortlichkeit gezogen werden (R. v. Morris, 1 Crown
Cases Reserved S. 90).
2. Die juristische Handlungseinheit. Das fortgesetzte Verbr. wird
vom englischen Recht nicht als einheitliches Verbr. anerkannt, jede einzelne
Handlung ist stets besonders strafbar.
Wenn z. B. jemand, um ein gewisses Vermögensobjekt sich anzueignen,
bei verschiedenen Gelegenheiten dieselbe Thatsache meineidlich aussagt, ist
er für jeden einzelnen Meineid besonders strafbar (Castro v. R., 6 Appeal Cases
229 — Entsch. des House of Lords).
Als fortdauerndes Verbr. wird es z. B. angesehen, wenn jemand an einer
Hauptgasröhre eine Röhre anbringt, die sich stets neu füllen muss, wenn der
widerrechtlich angebrachten Röhre Gas entnonmien wird (R. v. Firth, 1 Crown
Cases Reserved 172). Der Diebstahl wird nach positiver Rechtsbestimmung
als fortdauerndes Verbr. angesehen, so lange die gestohlenen Gegenstände
im faktischen oder juristischen Besitze des Diebes bleiben*) (Larceny Act
§114 (1), vgl. auch R. v. Rogers, 1 Crown Cases Reserved 136).
3. Das Eollektivdelikt. Dasselbe kommt in verschiedenen Formen vor:
a) Als gewerbsmässiges Verbr. kann das Halten unordentlicher Häuser
(vgl. § 8 VIII 4) bezeichnet werden.
bj Als gewohnheitsmässige Delikte werden verschiedene der Landstreicherei
beigeordnete Handlungen bestraft, wenn sie regelmässig vorkommen (vgl § 8
VIII 9). Hierher gehört auch die eigentümliche Steigerung in der Bezeichnung der
Personen, welche derartige Delikte begehen, wenn dieselben öfters vorkommen.
Jemand, der im ersten Fall als „idle and disorderly person" bestraft wird,
erhält im Rückfall die Benennung: „rogue and vagabond" und die entsprechende
Strafe, und wird im zweiten Rückfall als „incorrigible rogue" bezeichnet und
bestraft.
Als besonders gegen gewohnheitsmässige Verbrecher gerichtet müssen die
Bestimmungen der Prevention of Crime Act 1871 angesehen werden, welche
anordnen, dass alle Personen, die zweimal wegen felony und gewisser anderer
Delikte bestraft worden sind, auf 7 Jahre unter polizeiliche Aufsicht gestellt
werden können, und dieselben femer mit eii\jährigem Gef. und Zwangsarbeit
bedrohen, wenn sie spätestens 7 Jahre nach der letzten Verurteilung: 1. ihren
Lebensunterhalt anscheinend auf unehrliche Weise erwarben; 2. bei ihrer Er-
greifung einen falschen Namen angaben; 3. unter Umständen angetroffen
werden, welche die Absicht, ein Verbr. zu begehen, wahrscheinlich erscheinen
lassen; 4. in einem geschlossenen Räume angetroffen werden, ohne sich über
die Rechtmässigkeit ihres Aufenthalts ausweisen zu können. Prev. of Crime
Act §§ 7, 8 und 20. Vgl. auch Penal Serv. Act 1891 § 6.
Ebenso gehört hierher die Bestimmung, nach welcher bei einer zweiten
*) Die praktische Bedeutung dieser Bestimmung besteht in der Zuständigkeit
des Gerichts am Ort, wo die gestohlene Sache sich befindet, so lange sie im Besitze
des Diebes bleibt.
§ 7. Die Strafen. 633
Verurteilung wegen felony in allen Fällen eine lebenslängliche Zuchtbausstrafe
verhängt werden kann (7 und 8 Geo. IV cap. 28 § 11).
4. Der Rückfall. Für denselben sind in den einzelnen Fällen vielfach
besondere Strafen bestimmt, namentlich bei den diebstahlähnlichen Delikten
und der Sachbeschädigung; häufig kommt es auch vor, dass dasselbe Delikt
im ersten Fall als misdemeanor und im ersten und zweiten Rückfall als felony
behandelt wird. Eine Rückiallverjährung kennt das englische Recht nicht
(vgl. z. B. § 9 IV A 1 und A 3).
5. Die Realkonkurrenz. Nach geltendem Recht^) kann für jedes ein-
zelne Delikt eine besondere Strafe verhängt werden. Eine Milderung der
Strafenhäufung (wie nach RStGB. Art. 74—79) existiert nur für den Fall sum-
marischer Verurteilung wegen „assault", vgl. § 9 I 2, in welcher die Gesamt-
strafe 6 Monate Gef. nicht überschreiten darf (S. J. A. 1879 § 18).
In anderen Fällen kann der Richter indessen nach seinem Ermessen be-
stimmen, dass die Strafen nicht nacheinander, sondern gleichzeitig zu verbüssen
sind, was thatsächlich einer Strafmilderung gleichkommt. (Der Gegenstand
wurde bei Gelegenheit des berühmten Prozesses gegen Wilkes erörtert, siehe
19 State Trials 1132—1133).
§ 7. b) Die Strafen.»)
I. Arten der Strafen. 1. Hauptstrafen, a) Die Todesstrafe. Die-
selbe wird vollstreckt durch Hängen und zwar seit 1868 (Capital Punishment
Act 1868) innerhalb der Mauern des Gefängnisses.*) Mit dem Tode ist straf-
bar das als murder bezeichnete Tötungsdelikt (das ein weit umfassenderes
Gebiet in sich begreift als der Mord des deutschen StR., vgl. unten § 9 I 1),
der Hochverrat und die vorsätzliche Inbrandsetzung von Kriegsschiffen (vgl.
§ 8 I 1).
b) Die Zuchthausstrafe. In Bezug auf die Vollstreckung dieser Strafe
sind noch vier Gesetze (16 und 17 Vict. cap. 99 ; 20 und 21 Vict. cap. 3 ; 27 und 28
Vict. cap. 47 ; 54 und 65 Vict. cap. 69) ganz oder teilweise in Kraft, welche
unter der Bezeichnung „The Penal Servitude Acts 1853 to 1891" zusammen-
gefasst werden ; femer beziehen sich auf dieselbe die Prevention of Crime Acts
V. 1871 und 1879 und teilweise auch die unten unter c citierten Prison Acts.
Das Minimum der Zuchthausstrafe ist seit 1891 auf 3 Jahre herabgesetzt
worden. Nach Ablauf einer gewissen Zeit kann die bedingte Entlassung der
Sträflinge erfolgen. Es hängt von dem Betragen des einzelnen Sträflings ab,
wann dieser Zeitpunkt eintritt. Im günstigsten Falle kann bei männlichen
Sträflingen etwa ^/^, bei weiblichen etwa ^/g der Strafzeit in Abzug kommen.
Bei den zu lebenslänglichem Zuchthaus Verurteilten entscheidet der Staatssekretär
auf Grund eines nach einer Verbüssung von 20 Jahren auszustellenden Berichts,
was in Bezug auf die weitere Behandlung zu geschehen hat.^)
Die Verurteilung zur Zuchthausstrafe hat (ausser im Falle der Begnadigung)
den Verlust aller Ämter und aller Ansprüche auf Pension usw. und femer die
Entmündigung und die Ernennung eines Pflegers zur Folge (33 und 34 Victoria
cap. 23 § 2).
*) Die früher bestehende anderweitige Bestimmung in Bezug auf felonies ist
durch 7 und 8 George IV cap. 28 § 10 beseitigt.
') Vgl. Aschrott, Strafensystem und Gefängniswesen in England.
*) Das G. 42 und 43 Vict. cap. 1 § 1 enthält weitere Bestimmungen über die Voll-
streckung der Todesstrafe, die indessen keine wesentliche Änderung bewirken.
*) Vgl. Aschrott a. 0. S. 287 ff.
634 England und Irland. — Allgemeiner Teil.
Bei einer Verurteilung wegen felony treten auch die weiteren in § 6 I 1
erwähnten Folgen ein. Zuchthausstrafe kann fast bei allen schweren Verbr.
verhängt werden.
c) Gefängnisstrafe, a) Im allgemeinen. Auf diese Strafe beziehen
sich sieben unter der Bezeichnung „The Prison Acts 1865 to 1886" zusammen-
gefasste Gesetze.^) Die Dauer der Gefängnisstrafe übersteigt nur in Ausnahmsfällen
2 Jahre. Es kann in einer Anzahl von Fällen Einzelhaft bei dieser Strafe ver-
hängt werden, da aber durch die Prison Act 1865 § 17 bestimmt ist, dass für
die Trennung der Gefangenen allgemeine Vorkehrungen zu treffen sind, kommt
eine Verhängung der Einzelhaft nicht mehr vor (Stephen art. 5*). Es giebt
drei Arten der Gefängnisstrafe, die einzeln zu erörtern sind.
ß) Gefängnisstrafe mit Zwangsarbeit. Bei gewissen Delikten muss
mit der Gefängnisstrafe auch Zwangsarbeit angeordnet werden (z. B. bei der
Verurteilung wegen des Haltens eines unordentlichen Hauses [Bordell, Spiel-
haus usw.] — vgl. § 8 VIII 4 — , bei gewissen mit der Landstreicherei zusammen
hängenden Delikten usw.). In den meisten Fällen ist jedoch die Anwendung
dieser Strafverschärfung dem Ermessen des Richters überlassen, und in einigen
kann sie überhaupt nicht verhängt werden (z. B. bei dem einfachen Falle der
Verbreitung verleumderischer Darstellungen vgl. § 9 II 1).
Es giebt eine harte und eine leichtere Art der Zwangsarbeit; welche Art
zu verhängen ist, hängt in jedem Falle teilweise von allgemeinen Regeln, teil-
weise von dem Ermessen der Gefängnisbehörde ab. Das richterliche Urteil
kann hierüber nichts bestimmen.
Eine Verurteilung zu mehr als einjähriger Zwangsarbeit hat dieselbe Wir-
kung in Bezug auf den Verlust von Ämtern usw. wie die Verurteilung zu
Zuchthausstrafe.
y) Gefängnisstrafe ohne Zwangsarbeit in gewöhnlichen Fällen.
Auch die ohne Hinzufügung von Zwangsarbeit verurteilten Gefangenen sind
zu beschäftigen, können aber wegen Vernachlässigung der Arbeit nur durch
Ändeiningen in der Kost bestraft werden (Prisons Act 1865, Anhang I, 38).
S) Gemilderte Gefängnisstrafe (as a misdemeanant of the first divi-
sion). In allen Fällen, in welchen nicht Zwangsarbeit unbedingt vorgeschrieben
ist, kann die Einsperrung eines zur Gefängnisstrafe Verurteilten als misdemeanant
of the first division angeordnet w^erden. Eine in dieser Art verurteilte Person
ist nicht als Verbrecher zu behandeln, sondern den in Schuldhaft^) befindlichen
Personen gleichzustellen. Sie darf ihre eigenen Möbel benutzen und sich selbst
verköstigen, jedoch unter gewissen von der Gefängnisbehörde zu bestimmenden
Einschränkungen.
d) Geldstrafe und Busse. In einer grossen Anzahl von Fällen darf
statt einer Freiheitsstrafe oder neben einer Freiheitsstrafe auf Geldstrafe er-
kannt werden. Der BegriflT der Geldstrafe ist von dem der Busse nicht scharf'
getrennt, so ist z. B. bei einer Verletzung des Urheberrechts an Schriftwerken
ein Teil der Strafe dem Eigentümer des Urheberrechts auszuzahlen.^)
Über die im Fall einer Verurteilung wegen felony zu zahlende Busse
"Vgl, oben § 6 I 1. Ausserdem kommen vielfach Einzelbestimmungen vor.
Über die Umwandlung der Geldstrafen in Freiheitsstrafen besteht keine all-
gemein giltige Regel.
2. Nebenstrafen, a) Unterbringung in eine Besserungsanstalt
^) 28und29Vict. cap. 126; 29 und 30 Vict. cap. 100; 31 und 32 Vict. cap. 21; 40
und 41 Vict. cap. 21; 41 und 42 Vict. cap. 63; 47 und 48 Vict. cap. 51; 49 und 50 Vict.
cap. 9.
^) Die Schuldhaft kommt jetzt nur in besonderen Ausnahmefällen vor.
») 5 und 6 Vict. cap. 45 § 17.
§ 7. Die Strafen. 635
auf eine Dauer von 2 — 6 Jahren kann im Falle von jugendlichen Verurteilten
als Nebenstrafe angeordnet werden, wenn dieselben das 16. Lebensjahr nicht
vollendet haben und zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 10 Tagen vei>
urteilt werden (Reformatory Schools Act 1866 § 14). Bei guter Aufführung
kann der Leiter der Anstalt den Jugendlichen auch vor Ablauf der Zeit als
Lehrling unterbringen oder seine Auswanderung veranlassen und hat in dieser
Beziehung dieselben Rechte wie die Eltern (Reformatory and Jndustrial School
Act 1891).
b) Stellung unter Polizeiaufsicht. Dieselbe äussert sich in einer
Anmeldungspflicht in gewissen Zeiträumen und unter gewissen Umständen.
Dieselbe kann auf einen ^Zeitraum von höchstens 7 Jahren als Nebenstrafe
verhängt werden, wenn jemand im Rückfall wegen einer felony oder einem zur
Zahl gewisser schwerer Delikte gehörenden anderen Verbr. verurteilt wird.
(Prevention of Crimes Act 1871 §§ 8 und 20; vgl. auch Penal Servitude Act
1891 §4.)
c) Verlust der Ehrenrechte. Die Verurteilung zur Zuchthausstrafe
und mehr als eiiyähriger Zwangsarbeit hat, wie bereits erwähnt, ohne weiteres
den Verlust aller öffentlichen Ämter zur Folge; eine ähnliche Folge hat auch
die Konkurseröffnung (vgl. § 9 IV C 1). Eine besonders verhängbare Strafe
dieser Art existiert im englischen Rechte nicht.
d) Körperliche Züchtigung. Es bestehen über dieselbe folgende
Regeln. I. Bei summarischer Verurteilung darf nur einmaliges Peitschen an-
geordnet werden ; bei Kindern unter 14 Jahren ist die Maximalzahl der Streiche
zwölf und es muss eine gewöhnliche Rute (birch rod) angewandt werden (25 Vict.
cap. 18); II. Bei Verurteilung auf Grund der 0. P. A., der M. D! A. und der
L. A. darf nur einmaliges nicht öffentliches Peitschen angeordnet werden. Die
Zahl der Streiche und das Instrument ist dem Ermessen des Gerichtshofs über-
lassen, welcher das Urteil fällt. Nur männliche Verurteilte, welche das
16. Lebensjahr nicht vollendet haben, sind auf Grund dieser Gesetze mit körper-
licher Züchtigung bedroht. Vgl. L. A. §119; M. D. A. §75; O. P.A. §70.
III. Bei einer Verurteilung, auf welche die (jarrotters Act 1863 anwendbar
ist (Raub vgl. § 9 IV A 2 und Knebelung usw. vgl. § 9 I 3), kann höchstens
dreimaliges Peitschen angeordnet werden; bei Kindern unter 16 Jahren ist
die Maximalzahl der Streiche bei einer Peitschung 25, bei Erwachsenen 50.
Nur männliche Gefangene sind dieser Strafe zu unterwerfen. Die Strafe darf
nach Ablauf von sechs Monaten nach der Verurteilung nicht mehr vollstreckt
werden (Garrotters Act 1863 § 1). Die unter I., IL und III. erwähnten Fälle
bilden die Hauptfälle, in welchen körperliche Züchtigung angewandt wird und
die Fälle der Garrotters Act sind die einzigen, bei welchen dieselbe bei Er-
wachsenen vorkommt (vgl. Aschrott a. 0. S. 105). Das letztere G. hat zu einer
wesentlichen Verminderung der Raubanfälle beigetragen.
e) Die Verpflichtung zu ordentlichem Lebenswandel. Eine viel-
fach statthafte Form der Nebenstrafe ist der Zwang zur Unterzeichnung einer
Urkunde, durch welche sich der Verurteilte verpflichtet, eine bestimmte Summe
zu zahlen, wenn er nicht einen ordentlichen Lebenswandel führt oder den
öffentlichen Frieden stört. Man nennt dies „to enter into recognizances to be
of good behaviour" oder „to keep the peace". Das Urteil bestimmt die Höhe
der Summe und ob die Stellung von Bürgen verlangt wird. (Über die An-
wendung solcher Urkunden bei der bedingten Verurteilung vgl. unten unter II 2).
IL Fälle der Strafmilderung. 1. Im allgemeinen. Der Begriff
der mildernden Umstände existiert im allgemeinen im englischen StR. nicht,
doch ist dies insofern ohne Bedeutung, als ohnehin die festgesetzten Strafen nur
Maximalstrafen sind.
636 England und Irland. — Besonderer Teil.
2. Jugend des Verurteilten, wenn derselbe sich der summarischen
Gerichtsbarkeit unterstellt (vgl. §3). a) Bei Kindern im Alter von 7 — 11
Jahren, ist in diesem Falle die höchste Freiheitsstrafe 1 Monat Gef., die höchste
Geldstrafe 40 Shillings, auch kann bei Knaben körperliche Züchtigung an-
geordnet werden. (Summary Jurisd. Act 1879 § 10.)
b) Bei Kindern im Alter von 12 —16 Jahren^) kann in diesem Falle
höchstens Geldstrafe bis zu £ 10 oder Gef. mit Zwangsarbeit bis zu 3 Monaten,
bei Knaben unter 14 Jahren auch körperliche Züchtigung angeordnet werden.
(Summ. Jurisd. Act 1879 § 11.)
3. Unbescholtenheit des Verurteilten (bedingte Verurteilung). Je-
mand, der wegen eines mit einer Strafe von höchstens 2 Jahren Gef. bedrohten
Verbr. verurteilt wird, kann, wenn eine frühere Strafrechtliche Verurteilung
gegen denselben nicht vorliegt, in Anbetracht seiner Unbescholtenheit oder in
Anbetracht der geringfügigen Natur des Vergehens oder in Anbetracht anderer
mildernder Umstände, nur zur Unterzeichnung einer Verpflichtungsurkunde mit
oder ohne Bürgen (vgl. oben unter I 2 e) verurteilt werden, durch welche er sich
bindet, vor dem Gerichtshof auf Aufforderung zu erscheinen und sein Urteil
entgegenzunehmen, in der Zwischenzeit aber den öffentlichen Frieden nicht zu
stören und einen ordentlichen Lebenswandel zu führen. Sobald ein eidliches
Zeugnis vorliegt, dass ein bedingt Verruteilter seiner Verpflichtung nicht nach-
gekommen ist, kann ein Verhaftungsbefehl gegen denselben ergehen (Probation
of P'irst Offenders Act 1887).
4. Unterwerfung des Angeklagten unter die summarische Ge-
richtsbarkeit. Erwachsene können, wie in § 3 erwähnt worden ist, sich in
Bezug auf einen engen Kreis von Delikten ohne weiteres der summarischen
Gerichtsbarkeit unterwerfen, in Bezug auf einen etwas weiteren Kreis nur
insofern sie ihre Schuld bekennen. Die im ersten Falle zu verhängende Maximal-
strafe ist 3 Monate Gef. und Zwangsarbeit oder Geldstrafe von £ 20, im zweiten
6 Monate Gef. und Zwangsarbeit. Summ. Jur. Act. 1879 §§ 12 und 13.
III. Richterliches Ermessen bei der Strafbestimmung. Nur in
den Fällen, wo die Todesstrafe einzutreten hat, fällt das richterliche Ermessen
weg. In allen anderen Fällen sind die angegebenen Strafen nur Maximal-
strafen, wobei folgende Grundsätze massgebend sind:
1. In allen Fällen, wo Zuchthaus verhängt werden kann, darf der Richter
statt der Zuchthausstrafe auf Gef. bis zu 2 Jahren mit oder ohne Zwangsarbeit
erkennen (Penal Servitude Act 1891 § 1 [2]).
2. Die Maximalzeit für die Gefängnisstrafe ist in der Regel zwei Jahre.
Wenn Gef. verhängt werden kann und eine Geldstrafe nicht alternativ zulässig
ist, muss die Strafe auf wenigstens einen Tag Gef. lauten.
in. Besonderer Teil.0
§ 8. strafbare Handlungen gegen die Kechtsguter der Gesamtheit.
I. Erster Abschnitt. Strafbare Handlungen gegen den Staat
^) Es kann sieh bei diesen nur um einen beschränkten Kreis von Delikten
handeln.
*) In der nachfolgenden Darstellung bedeuten die mitgeteilten Strafen die
Maximalstrafen, ein zugefügtes (P) bedeutet, dass bei männlichen Verurteilten, welche
das 16. Lebensjahr nicht vollendet haben, auch körperliche Züchtigung angeordnet
werden darf, ein zugefügtes (E), dass im Fall einer Verurteilung zu Gefängnisstrafe
Einzelhaft verhängt werden darf. Wenn die Maximalzeit der Gefängnisstrafe mehr
§ 8. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter der Gesamtheit. 637
und den Souverän. 1. Hochverrat, a) Übersicht.^) Die Grundlage der
Bestimmungen über den Hochverrat ist noch immer der 1352 erlassene Statute
of Treasons (25 Edw. III stat. 5 cap. 2), der seinerseits teilweise eine Wieder-
holung der bereits zu Bractons Zeit in Kraft stehenden Bestimmungen enthält.
Eine Reihe von Gesetzen und die extensive Interpretation der Gerichte haben
seitdem das Gebiet der als High Treason mit dem Tode strafbaren Handlungen
wesentlich erweitert. Nachdem aber ein im J. 1848 erlassenes G. (llVict.
cap. 12) gerade die Delikte, welche in der erwähnten Weise hinzugefügt worden
waren, als treasonable fclonies mit lebenslänglicher Zuchthausstrafe bedroht,
und seitdem das mildere G. stets angewandt wird, wo es möglich ist, wird
thatsächlich der Statute of Treasons nur in seiner ursprünglichen Einschrän-
kung angewandt, wenn er auch theoretisch noch immer auf die nach dem er-
wähnten G. V. 1848 strafbaren Delikte anwendbar wäre. Die nachfolgende
Aufstellung der nach dem Statute of Treasons strafbaren Handlungen nimmt
daher auf diejenigen, die in der Praxis nicht als Kapitalverbrechen behandelt
werden, keine Rücksicht.
b) Hochverrat nach dem Statute of Treasons ist nach der heutigen
Praxis a) die Veranstaltung kriegerischer und aufrührerischer Unternehmungen^)
gegen den Souverän oder das Parlament und die Verabredung zu solchen
Unternehmungen. Stephen art. 53, Entw. § 75. — ß) Die thätige Unterstützung
eines öflFentlichen Feindes. Stephen art. 54, Entw. § 75. — y) Die Kund-
gebung der Absicht, sei es durch Vorbereitungshandlungen, sei es durch die
Verbreitung geschriebener oder gedruckter Äusserungen^) — den Souverän
oder seine Gattin oder den Thronfolger zu töten oder der Freiheit za be-
rauben, und ebenso die Verabredung zu einer dieser Handlungen, insofern sie
sich auf den Souverän beziehen. — Stephen art. 51, Entw. § 75. — d) Der
aussereheliche Beischlaf mit der Gattin oder ältesten Tochter des Souveräns
oder der Gattin des Thronfolgers. Stephen art. 58, Entw. § 75.
Strafe in allen vier Fällen: Todesstrafe. Stephen art. 60, Entw. §71.
Die Anstiftung und Begünstigung wird als Mitthäterschaft bestraft (Stephen
art. 61, Entw. § 75).
Es ergiebt sich aus der obigen Aufstellung, dass High Treason sowohl
Hochverrat als Landesverrat einschliesst.
c) Treasonable fclonies nach 11 Viet. cap. 12. Hierher gehört die
Kundgebung — sei es durch Vorbereitungshandlungen, sei es durch die Ver-
breitung geschriebener oder gedruckter Äusserungen — einer der folgenden
Absichten :
1. der Absicht, den Souverän seiner Machtbefugnisse in irgend einem
Teile des britischen Reiches zu berauben;
2. der Absicht, durch kriegerische oder aufrührerische Unternehmungen
den Souverän oder das Parlament in irgend einem Teile des britischen Reichs
zur Abänderung staatlicher Einrichtungen zu veranlassen;
3. der Absicht, den Führer eines fremden Heeres zu einem Angriffe
gegen irgend einen Teil des britischen Reichs zu verleiten.
oder weniger als zwei Jahre ist, ist dieselbe ausdrücklich genannt; Cef. ohne Zeit-
ftngabe bedeutet Gef. bis zu zwei Jahren. Wenn bei Gef. Zwangsarbeit angeordnet
werden muss, so ist die Strafe nur als ., Zwangsarbeit" angeführt; wenn die Verhängung
im richterlichen Ermessen steht, als „Gef. und Zwangsarbeit", wenn Zwangsarbeit nicht
verhängt werden darf, nur als „Gef."
V) Vgl. Stephen, History 11 241-285; General View S. 87.
-) Zu solchen Unternehmungen gehört auch die Benutzung von Sprengstoffen
in staatsfeindlicher Absicht, wenn auch nur wenige Personen dabei beteiligt sind.
R. v. Gallagher 15 Cox.291.
^) Gesprochene Äusserungen gehören nicht hierher. Stephen art 57.
638 England und Irland. — Besonderer Teil.
Die Verabredung zu einem der erwähnten Unternehmen gilt als Vor-
bereitungshandlung.
Strafe: lebenslängliches Zuchthaus. Stephen art. 62, Entw. § 79.
d) Andere hochverräterische und landesverräterische Hand-
lungen: Hierher gehören eine Anzahl von Delikten, die weder als treason,
noch als treasonable felonies bezeichnet werden, nämlich: a) Die vorsätzliche
In-Brand-Setzxmg von Kriegsschiffen, Materialien zum Bau von Kriegsschiffen,
Zeughäusern oder Pulvermagazinen. Strafe: Todesstrafe. 12 Geo. III cap. 24.
Stephen art. 376, Entw. § 81. — ß) Das Abfeuern von Schiesswaffen gegen
Fahrzeuge, die zur Kriegsflotte oder Zollpolizei gehören. Strafe: lebensläng-
liches Zuchthaus. 39 und 40 Vict. cap. 36 § 193. Stephen art. 236 (f). —
y) Die Aufforderung zur Desertion oder Meuterei. Strafe: lebenslängliches
Zuchthaus (f). 37 Geo. III cap. 70 § 1 ; 7 Wül. IV und 1 Vict. cap. 91 § 1 ; Stephen
art. 63; Entw. §82. — S) Die Begünstigung von Kriegsgefangenen durch
Beihülfe zur Entweichung aus der Haft oder (wenn dieselben auf Parole frei-
gelassen sind) aus England; femer die Hülfeleistung an entwichene Kriegs-
gefangene auf der offenen See, insoweit dieselbe durch britische Unterthanen
erfolgt. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus. (52 Geo. III cap. 156, Stephen art. 149,
Entw. § 81). — e) Die Auslieferung von Plänen, Modellen und Mitteilungen,
welche Aufschluss über Festungen, Zeughäuser usw. und über irgend welche Ver-
hältnisse der Kriegsmacht geben, an andere Personen in der Absicht der Über-
gabe an einen auswärtigen Staat. — Strafe : lebenslängliches Zuchthaus. Die wider-
rechtliche Beschaffung oder widerrechtliche Übergabe derartiger Pläne oder
Mitteilungen im allgemeinen ist mit 1 Jahr Gef. und Zwangsarbeit strafbar. Die
Aufforderung zu einem hierher gehörigen Delikt ist mit derselben Strafe
bedroht, wie das Hauptdelikt. Ist der Thäter ein britischer ünterthan, so
ist er ohne Rücksicht auf den Ort der Begehung strafbar. Official Secrets
Act 1889.
2. Staatsfeindliche Verabredungen und Verschwörungen, a) Ein-
facher Fall (Seditious conspiracy). Als eine solche wird angesehen jede
Verabredung in der Absicht,^) Hass und Verachtung gegen den Souverän, das
königliche Haus, die Verfassung des Vereinigten Königreichs, das Parlament
oder die Rechtspflege zu erzeugen, oder britische Unterthanen zum Umsturz
staatlicher oder kirchlicher Einrichtungen auf ungesetzlichem Wege zu ver-
leiten. Strafe: Gef.; Stephen art. 92, Entw. §102.
b) Verschwörung. Die Abnahme und Leistung von Eiden, durch
welche sich der Schwörende verpflichtet a) zur Beteiligung bei Meuterei oder
anderen staatsfeindlichen oder den öffentlichen Frieden gefährdenden Unter-
nehmungen ; ß) zur Mitgliedschaft bei einem für die unter a) genannten Zwecke
gegründeten Vereine; y) zum Gehorsam gegen Körperschaften oder Personen,
welche nicht gesetzlich befugt sind, einen derartigen Gehorsam zu beanspruchen;
S) zur Verheimlichung hierher gehöriger Delikte.
Wenn jemand einen derartigen Eid unter Zwang geleistet hat, entgeht
er den strafrechtlichen Folgen, wenn er innerhalb 14 Tagen (oder wenn er
durch Krankheit oder Zwang verhindert war, innerhalb 14 Tagen nach Weg-
fall des Hindernisses) der zuständigen Behörde Anzeige macht. Strafe: 7 Jahre
Zuchthaus. 37 Geo. III cap. 123 §§ 1, 2 und 5. Stephen art. 184,*) Entw. § 100.
^) Diese Absicht wird als staatsfeindliche Absicht „Seditious Intention'' bezeichnet,
vgl. 60 Geo. m xmd 1 Geo. IV cap. 8 § 1.
^) Stephen giebt als Strafminimum 5 Jahre Zuchthaus, ist aber etwas zweifel-
haft über diesen Punkt. Die Penal Servitude Act 1891 § 1 (2) bestimmt indessen jetzt
allgemein, dass, wenn das G. Zuchthaus vorschreibt, stets das Urteil auch auf Gef.
mit oder ohne Zwangsarbeit lauten kann.
§ 8. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter der Gesamtheit. 639
3. Persönliche Angriffe gegen den Souverän. Hierzu gehört
a) die Abfeuerung von Waffen oder Sprengstoffen in der Nähe des Souveräns
und jeder Angriff gegen den Souverän durch Schläge oder durch das Schleudern
von Gegenständen und ebenso der Versuch einer dieser Handlungen; ferner
das blosse Zielen gegen den Souverän auch mit einer nicht geladenen Waffe,
in der Absicht, den Souverän zu verletzen oder zu erschrecken oder die
öffentliche Ruhe zu stören; — ß) die Führung von Waffen oder sonstigen
gefährlichen Gegenständen in der Nähe des Souveräns in der Absicht, die-
selben zur Verletzung oder Erschreckung des Souveräns zu benutzen. Strafe :
7 Jahre Zuchthaus (P). 5 und 6 Vict. cap. 51 §§1—2.
4. Staatsfeindliche Äusserungen. Hierher gehören: a) die Belei-
digung des Souveräns oder der königlichen Würde durch Worte oder Hand-
lungen. Strafe: Gef. Stephen art. 65;
b) die Verbreitung geschriebener oder gedruckter verleumderischer
Angaben in staatsfeindlicher Absicht (vgl. oben unter 2 a) wird als seditious
übel bezeichnet. Über die Verantwortlichkeit für die Verbreitung gelten die
gleichen Grundsätze wie bei der Verleumdung von Privatpersonen (vgl. § 9
ü 1). Mündliche Äusserungen in staatsfeindlicher Absicht (seditious words)
sind in der gleichen Weise strafbar. Strafe: Gef. Stephen art. 91, Entw.
§102;
c) die Verbreitung geschriebener oder gedruckter verleumderischer
Angaben gegen auswärtige Staatsoberhäupter und deren Vertreter ist ebenfalls
strafbar, wenn sie in der Absicht erfolgt, den Frieden und die Freundschaft
zwischen dem Vereinigten Königreich und dem von der verleumdeten Person
regierten bezw. vertretenen Lande zu stören. Strafe: Gef. Stephen art. 99,
Entw. § 104.
IL Zweiter Abschnitt. Strafbare Handlungen gegen den öffent-
lichen Frieden. 1. öffentliche Zusammenrottungen (unlawful assem-
blies, routs, riots). Strafbare Versammlungen und Zusammenrottungen stufen
sich bereits nach gemeinem Recht (vgl. Coke, 3^ Jnstitute cap. 79) in fol-
gender Weise ab:
a) Unerlaubte Zusammenrottungen (unlawful assemblies) heissen Versanmi-
lungen von mindestens drei Personen in der Absicht, entweder ein gewalt-
sames Verbr. zu begehen oder einen erlaubten Zweck durch Störung des
öffentlichen Friedens zu verfolgen. Strafe: Gef. Stephen art. 70, Entw.
§§84 und 86;
b) drohende Zusammenrottungen (routs) heissen diejenigen unerlaubten
Zusammenrottungen, welche sich zur Ausführung ihres Unternehmens bereits
in Bewegung gesetzt haben. Strafe: Gef. Stephen art. 71, Entw. §§ 85 und 87;
c) gewaltthätige Zusammenrottungen (riots) heissen diejenigen Zusammen-
rottungen, welche die Ausführung ihres Unternehmens thatsächlich begonnen
haben. Dabei ist zu unterscheiden zwischen: a) einfachem riot — Strafe:
Zwangsarbeit. 3 Geo. IV cap. 114, Stephen art. 72, Entw. § 8; — ß) qualifi-
ziertem riot, d. h. Fortsetzung der Zusammenrottung bei einer Beteiligung
von mindestens 12 Personen nach Verlesung der durch die Riot Act vor-
geschriebenen Proklamation^), bezw. die gewaltsame Verhinderung der Ver-
lesung. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus. 1 Geo. I stat. 2 cap. 5 §§ 1 — 3,
*) Diese Proklamation lautet: „Unser Souverän der König (die Königin) befiehlt
allen hier versammelten Personen auseinanderzugehen und sich friedlich in ihre
Wohnungen oder zu ihren berechtigten Geschäften zu begehen, oder die Strafe zu
gewärtigen, welche das G. aus dem ersten Regierungsjahre des Königs Georg zur
Verhinderung gewaltthätiger Zusammenrottungen verhängt. Gott erhalte den König
(die Königin)."
640 England und Irland. — Besonderer Teil.
Stephen art. 73 Entw. §§ 88 und 89; — y) riot, verbunden mit Sachbeschä-
digxing, wobei wiederum zu unterscheiden ist zwischen aa) einfacher Sach-
beschädigung. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus; ßß) Beschädigung von Maschinen
oder von öffentlichen Gebäuden. Strafe •' lebenslängliches Zuchthaus. 24 und
25 Vict. cap. 97 §§ 11 und 12, Stephen art. 74—75 Entw. 90—91.
2. Störung des öffentlichen Friedens durch Streit und Tragen
von Waffen: a) Öffentlicher Kampf zwischen zwei oder mehr Personen,
insofern er die Umgebung beunimhigt (affray). Strafe: Gef. Stephen art. 69
Entw. § 96 (jedoch mit Veränderung der Strafe).
b) Das unbefugte Tragen von Waffen, insoweit es die Umgebung beun-
ruhigt. Strafe: Gef. 2 Ed. III cap. 3, 1 Hawkins Pleas of the Crown 488—489.
c) Die Herausforderung zum Zweikampf. Strafe: Gef. Stephen art. 67
Entw. § 97 (jedoch unter Veränderung der Strafe).
d) Sogenannte prize fights, d. h. öffentliche Faustkämpfe. Dieselben
werden als widerrechtliche Angriffe (assault) bestraft,^) und die Einwilligung
der Beteiligten bleibt in anbetracht der Störung des öffentlichen Friedens un-
berücksichtigt.*)
3. Unbefugte militärische Übungen. Als unlawful assembly (vgl.
oben unter l) gilt jede Versammlung, in welcher militärische Übungen ohne
gesetzmässige Ermächtigung veranstaltet werden.
Die Beteiligung an derartigen Versammlungen ist strafbar, d. h.:
a) die Beteiligung in der Absicht, die Übungen zu leiten oder die Leitung
der Übungen. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus;
b) die anderweitige Beteiligung. Strafe: Gef. und Geldstrafe. 60 Geo. III
und 1 Geo. IV cap. 1 § 1.
III. Dritter Abschnitt. Strafbare Handlungen gegen die Auto-
rität der Staatsgewalt. 1. Widerstand gegen Beamte bei der Erfül-
lung ihrer Amtspflicht.^) Es gehört hierher:
a) Der Widerstand gegen einen Beamten, der im Begriffe ist, die durch
die Riot Act vorgeschriebene Proklamation (vgl. oben unter II l) zu verlesen.
Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (Riot Act § 5).
b) Das Abfeuern von Schiesswaffen und die Verstümmelung oder
Verwundung von Beamten bei der Erfüllung ihrer Amtspflicht im Dienste
der Zollpolizei. Strafe : lebenslängliches Zuchthaus (39 und 40 Vict. cap. 36
§ 193). Der einfache Widerstand ist nur mit Geldstrafe bedroht (da-
selbst § 187).
c) Thätlicher Angriff oder Verwundung eines Beamten bei der Erfüllung
seiner Amtspflicht in Bezug auf die Erhaltung notleidender Schiffe und gestran-
deter Waren. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus (0. P. A. § 37).
d) Verhinderung eines Geistlichen bei der Erfüllung seiner Amtspflicht
durch Drohungen oder Gewalt. Strafe: Gef. und Zwangsarbeit (0. P. A. §60).
e) Widerstand gegen einen Polizeibeamten bei Erfüllung seiner Amts-
pflicht. Strafe: Gef. und Zwangsarbeit (O. P. A. § 38).
f ) Ungehorsam gegen die pflichtmässig gegebenen Befehle von Beamten,
') Vergl. § 9 I 2.
-) Die Ansicht, dass die Gegenwart bei einem solchen Faustkampf als Anstiftung
zu bestrafen ist, wurde bei der Entsch. in Sachen R. v. Coney (8 Queen's Bench Divi-
sion 534) von vier Richtern ausgesprochen; dieselben wurden indessen von der (aus
acht Richtern bestehenden) Majorität überstimmt.
^) Wenn der Widerstand gegen einen Beamten bei der Verhaftung oder
Bewachung" eines rechtmässig in seiner Obhut befindlichen Gefangenen den Tod des-
selben zur Folge hat, ist der Thäter wegen murder (vgl. § 9 I 1) zum Tode zu ver-
urteilen.
§ 8. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter der Gesamtheit. 641
z. B. gegen die Aufforderung eines Polizeibeamten, bei der Verhaftung einer
Person Unterstützung zu leisten.*) Strafe: Gef. Stephen art. 125, Entw. § 115.
2. Entweichung und Befreiung von Gefangenen, a) Entwei-
ch ung. a) Durch gewaltsamen Ausbruch (d. h. unter Verletzung der Sach-
substanz des Gebäudes). Strafe, falls der Gefangene wegen treason oder felony
verurteilt wird:^) lebenslängliches Zuchthaus, in anderen Fällen Zwangsarbeit.
Stephen art. 153, Entw. § 132, 14 und 15 Vict. cap. 100 § 29; — ^) Im all-
gemeinen. Strafe: Zwangsarbeit. 14 und 15 Vict. cap. 100 § 29.^)
b) Vorsätzliche, gewaltsame Befreiung o) von Personen, gegen
welche wegen Mord das Hauptverfahren eröffnet oder ein Urteil erlassen ist.
Strafe: lebenslängliches Zuchthaus. 25 Geo. II cap. 37 § 9, 7 Will. IV und 1 Vict.
cap. 91; — ß) von Personen, welche sich in Untersuchungshaft befinden oder
verurteilt sind (ausser in dem unter a) erwähntem Falle): aa) wegen high
treason — Todesstrafe (Stephen art. 146); ßß) wegen felony. Strafe: 7 Jahre
Zuchthaus (Stephen art. 146 und 147; 1 und 2 Geo. 4 cap. 88 § 1); yy) wegen
misdemeanor. Strafe: Zwangarbeit (14 und 15 Vict. cap. 100 §29).
c) Begünstigung der Entweichung a) im allgemeinen. Strafe:
Zwangsarbeit (jedoch felony). 28 und 29 Vict. cap. 126 § 37; — ß) durch Be-
amte, in deren Obhut der Gefangene ist: aa) Vorsätzliche Begünstigung, wenn
der Gefangene schuldig ist: I. des Hochverrats — Todesstrafe; IL einer felony
— Strafe: 7 Jahre Zuchthaus; III. eines misdemeanor — Strafe: Zwangsarbeit.
Stephen art. 143; 14 und 15 Vict. cap. 100 § 29. ßß) Fahrlässige Begünstigung.
Strafe: Zwangsarbeit. Stephen art. 144, 14 und 15 Vict. cap. 100 § 29.
IV. Vierter Abschnitt. Strafbare Handlungen gegen den Gang
der Staatsverwaltung. 1. Amtsdelikte. Hierher gehören:
a) Missbrauch der Amtsgewalt zum Zwecke der Erpressung
oder zu einem anderweitigen Zwecke. Strafe: Gef. Stephen art. 119.
b) Betrug im Amte. Strafe: Gef. Stephen art. 121.
c) Vernachlässigung der Amtspflicht. Strafe: Gef. Stephen Art. 122.
d) Verweigerung der Annahme eines obligatorischen Ehren-
amts, wenn kein genügender Entschuldigungsgrund vorhanden ist. Strafe:
Gef. Stephen art. 123.
e) Aktive und passive Bestechung von Richtern und aktive
Bestechung von anderen Beamten. Strafe: Gef. Stephen art. 126 und 127.
f) Kauf und Verkauf von Ämtern. Strafe: Gef. und für den Käufer
Verlust des Amts und lebenslängliche Unfähigkeit, dasselbe zu bekleiden (5 und
6 Edw. VI cap. 16 § 1, 49 Geo. III cap. 126 § 1, Stephen art. 132 und 133).
g) Delikte bei der Eheschliessung a) in Bezug auf Mitglieder der
königlichen Familie: Die vorsätzliche Mitwirkung bei der Eheschliessung von
Nachkommen von George II. (mit Ausnahme der Nachkommen von Prinzessin-
nen, die sich mit ausländischen Häusern verbunden haben), ohne königliche
Genehmigung. Strafe: Gef. auf unbestimmte Zeit. 12 Geo. III cap. 11, Stephen
art. 66. — ß) In einer anglikanischen Kirche: vorsätzliche Eheschliessung
ohne Beobachtung der gesetzlichen vorgeschriebenen Bedingungen oder unter
Simulierung des geistlichen Berufs. Strafe: 14 Jahre Zuchthaus. Die Klage
verjährt in 3 Jahren. 4 Geo. IV cap. 76 § 21, Stephen art. 259. y) In einer
nicht-anglikanischen Kirche oder auf dem Standesamt: Vorsätzliche Ehe-
schliessung ohne Beobachtung der gesetzlich vorgeschriebenen Bedingungen.
1) Vgl. R. V. Sherlock, 1 Crown Gases Reserved 20 (1H66).
-) Diese Bestimmung beruht auf dem G. von Edward II. „De frangentibus pri-
sonam.^
*) In Bezug auf gewisse Gefängnisse bestehen Spezialbestimmungen, vgl.
Stephen art. 154.
Strafgesetzgebang der Gegenwart. I. 41
642 EDgland und Irland. — Besonderer Teil.
Strafe: 7 Jahre Zuchthaus; die Klage verjährt in 3 Jahren. 6 und 7 Will. IV
cap. 85 §§ 39—41, Stephen art. 260.
h) Ungehorsam eines Offiziers gegen die Anordnungen der
ordentlichen Gerichte oder der Polizei in Bezug auf die Verhaftung eines
unter seinem Befehl stehenden Soldaten wegen eines strafrechtlichen Delikts.
Strafe: Gef. Army Act 1881 §162(3).
2. Strafbare Handlungen gegen die Rechtspflege, a) Eides-
delikte a) im allgemeinen. Das englische Recht bestraft den Meineid nur,
insoweit derselbe vor einem Gerichte oder einem im Auftrage eines Gerichtes
handelnden Beamten und in gewissen Angelegenheiten vor einem im Auftrage
von Verwaltungsbehörden handelnden Beamten^) geleistet worden ist. Den
Parteieneid als solchen kennt das englische Recht nicht. Die Parteien in Civil-
prozessen sind berechtigt, als Zeugen vernommen zu werden, doch wird, das
Zeugnis in eigener Sache genau nach denselben Grundsätzen beurteilt, wie
das Zeugnis in einer fremden Sache. Als Meineid wird eine wissentlich falsche
oder in wissentlicher Unkenntnis der Wahrheit erfolgende Aussage über eine
wesentliche Thatsache, Meinung oder Annahme angesehen, welche unter An-
wendung der Eidesform oder der in gewissen Fällen für dieselbe substituierte
Form-) hl der Absicht erfolgt, den Gerichtshof bezw. die Geschworenen oder
den Beamten, vor welchem dieselbe abgegeben wird, irre zu führen (vgl.
Stephen art. 135, Entw. § 119). Ein dem Meineid verwandtes Delikt ist das
Abgeben einer falschen eidesstattlichen Erklärung. Derartige Erklärungen
sind in England bei einer Reihe von Angelegenheiten statthaft und gebräuch-
lich. Einen fahrlässigen FalscheM kennt das englische Recht nicht. Auch
wird die Thatsache, dass die Angabe der Wahrheit eine strafrechtliche Ver-
folgung nach sich ziehen konnte, in Bezug auf die Beurteilung des Meineids,
vom Gesetze nicht berücksichtigt. — ß) Arten der Eidesdelikte: aa) Vorsätz-
licher Meineid (perjury). Strafe: 7 Jahre Zuchthaus (jedoch misdemeanor).
2 Geo. II cap. 25 §2, Stephen art. 137, vgl. auch Commissioners for Gaths
Act 1889 § 7. — ßß) Anstiftung zum Meineid (Subomation of Perjury). Strafe
wie bei dem Meineid. Die Verleitung zum Meineid wäre als strafbare
Aufforderung (incitement vgl. oben § 6 VI) zu bestrafen, yy) Falsche eides-
stattliche Erklärung. Strafe: Gef. 5 und 6 Will. IV cap. 62 §21.
b) Verabredung zu falscher Anschuldigung. Die falsche Anschul-
digung an und für sich ist nicht strafbar,^) wohl aber die Verabredung zu
derselben (wie überhaupt jede Verabredung, welche die Störung der Rechts-
pflege bezweckt). Strafe Gef. und Zwangsarbeit. 14 und löVict. cap. 100
§ 29, Stephen art. 142, Entw. §§ 126—127, vgl. jedoch Wright Conspiraces S. 30.
c) Unbefugte Beteiligung bei Rechtsstreitigkeiten. Die hierher
bezüglichen Bestimmungen haben hauptsächlich historisches Interesse, indem
sie aus einer Zeit herrühren, in der mächtige Personen, welche die Lust zum
Prozessieren ermutigten, zugleich die Macht hatten den Erfolg zu beeinflussen.
Strafrechtliche Verfolgungen der hier zu erwähnenden Delikte kommen jetzt
^) Vgl. z.B. 5und6Vict. cap. 35; Stephen nennt nur den Meineid In einem
gerichtlichen Verfahren perjury, Meineid vor Verwaltungsbehörden hingegen false
swearing, doch liegt zu einer solchen Unterscheidung keine Veranlassung vor.
'^) Jemand, der bei seiner Vernehmung erklärt, dass er gegen die Leistung eines
Eides Einwendungen erhebt und dafür als Grund angiebt, dass er ohne religiösen
Glauben ist, oder dass die Leistung eines Eides nach seinem religiösen Glauben nicht
statthaft ist, darf für den Eid eine in vorgeschriebener Form abzugebende feierliche
Erklärung (nicht zu verwechseln mit der unten erwähnten eidesstattlichen Erklärung)
substituieren. Oaths Act 1888 §§ 1 und 2.
*) Strafbar ist auch die Bedrohung mit einer Anschuldigimg zum Zwecke der
Erpressung in gewissen Fällen (vgl. § 9 IV D 2).
§ 8. Strafbare Handlungen gegen die Recbtsgüter der Gesamtheit. 643
nicht mehr vor, aber die Feststellung ihres Thatbestandes ist noch immer von
Bedeutung, weil derselbe zugleich eine Civilklage auf Schadensersatz be-
gründet^) und weil Verträge, deren Inhalt ein derartiges Delikt begründen
würde, nichtig sind.
Als maintenance wird die Unterstützung eines Prozesses durch Geldbei-
träge usw. bezeichnet, an dessen Ausgang der Unterstützende kein pekuniäres
Interesse hat; als champerty (campus partitus), wenn dem Unterstützenden als
Entschädigung für seine Unterstützung eine Beteiligung an dem in dem Pro-
zesse beanspruchten Gegenstande zugesagt wird. Jemand, der gewohnheits-
mässig sich mit maintenance oder champerty befasst, wird als common bar-
rator bezeichnet. Maintenance und champerty sind als misdemeanors mit
Gef. strafbar. Stephen art. 141 und Anhang Anm. III.*)
d) Verletzung der Anzeigepflicht, Hehlerei und Begünstigung.
Eine Anzeigepflicht in Bezug auf beabsichtigte Verbr. (nach Analogie von
RStGB. Art. 139) kennt das englische Recht nicht.
Jemand, der der Begünstigung und Hehlerei im Falle einer felony schuldig
ist,*) wird als „accessory after the fact" bezeichnet, Strafe: Gef. und Zwangs-
arbelt (jedoch felony). Die Verfolgung kann auch eintreten, wenn gegen den
Thäter selbst kein Strafverfahren stattfindet (24 und 25 Vict. cap. 94 §§ 3 — 4).
Ausserdem kann aber auch Strafe wegen Unterlassung der Anzeige eintreten;
im Falle von Hochverrat heisst das Delikt misprision of treason und muss
mit lebenslänglicher Gefängnisstrafe bestraft werden. Im Falle anderer felonies
heisst dasselbe misprision of felony und ist als misdemeanor mit Gef. straf-
bar (Stephen art. 156 und 157).
Ebenfalls mit Gef. ist strafbar, wer sich gegen Entgelt verpflichtet, von
der strafrechtlichen Verfolgung einer felony abzustehen (Stephen art. 158).
e) Verschwörung zur Begehung von Verbr..*) d. h. die Abnahme
und Leistung von Eiden, durch welche der Schwörende sich verpflichtet, zur
Begehung eines mit der Todesstrafe bedrohten Verbr. oder gewisser anderer
schwerer Verbr. oder die Beihülfe zur Abnahme eines solchen Eides. Strafe:
lebenslängliches Zuchthaus.
Im Falle des Zwanges gelten dieselben Bestimmungen wie bei der Leistung
eines der unter I 2b erwähnten Eide. 52 Geo. III cap. 104.
f) Störung der Rechtspflege durch: a) strafbare Beeinflussung der
Geschworenen (als „embracery" bezeichnet). Stephen art. 28, Entw. §129(b),
— ß) Versuchte Verhinderung der Abgabe von Zeugnissen durch Überredung
oder Zwang. Stephen art. 142 (b). Entw. § 129 (a). — y) Vorsätzliche Verhin-
derung der Zustellung von Prozessschriften. Stephen art. 142. Strafe in allen
drei Fällen Gef.
In diesem Zusammenhang mag auch erwähnt werden: d) die Bedrohung
oder versuchte oder vollendete Schädigung eines Zeugen wegen seines Zeug-
nisses vor einer parlamentarischen oder königlichen Untersuchungskommission.
Strafe: Geldstrafe bis zu £ 100 oder 3 Monate Gef. (Witnesses [Public Jnquiry]
Protection Act 1892).*)
*) Vgl. z. B. Bradlaugh v. Newdegate, 11 Queen's Bench Division S. 1.
'^) Der Entw. berücksichtigt diese Delikte nicht.
*) d. h. Jemand, der den Thäter einer felony wissentlich aufnimmt oder unter-
stützt in der Absicht, denselben der Strafe zu entziehen oder seine Verhaftung ver-
hindert oder seine Entweiehung begünstigt. Die Begünstigung von selten der Ehe-
frau ist nicht strafbar. Stephen art. 45.
*) Es ist schwer, dieses Verbr. im System unterzubringen; dasselbe gehört
eigentlich nicht hierher.
*) Anlass zu dieser Bestimmung gab die Entlassung von Beamten durch eine
Eisenbahngesellschaft infolge des Zeugnisses, welches dieselben vor einer Königlichen
Untersuchungskommission über Arbeiterverhältuisse abgegeben hatten.
41*
644 Eng-land aiid Irland. — Be^ouderer TeiL
3. Strafbare Handlangen gegen das öffentliche Wahl- und
Stimmrecht, d. h. bei den Wahlen zum Parlament and zu. den Körperschaften
and Beamtenstellen der Kommanaiverwal tnng.*)
Es gehören hierher: a) Die Beeinflussang bezw. die Verhinderang der
Aasübnng des Wahlrechts darch Drohang oder Gewalt (andae inflaence). —
Comipt Practices Prevention Act 1883 § 2.
ßt Stimmenkaaf imd Verkauf ibribery and treatingt Unter »treating''
ist zu verstehen die gänzliche oder teilweise Zahlung von Speisen. Getränken
and Unterhaltungen, in der Absicht die Ausübung des Wahlrechts zu belohnen,
zu beeinflussen oder zu verhindern und ebenso die Annahme der erwähnten
Dinge imter den erwähnten Umständen iC. Pr. Pr. Act 1883 § 1"^; anter ^Bribery**
die Hingabe oder das Versprechen von Vermögensvorteilen oder von Ämtern
in der Absicht die Ausübung des Wahlrechts zu belohnen, za beeinflussen
oder zu verhindern «C. Pr. Pr. Act 1854 §§ 2 und 3; Representation of the People
Act 1875 § 49). Die Strafe für beide Delikte ist 1 Jahr Gef. und Zwangsarbeit
oder Geldstrafe bis zu £ 100. Der Verurteilte verliert ausserdem für einen
Zeitraum von 7 Jahren und unter gewissen Umständen für immer die aktive
und passive Wahlfähigkeit und die Fähigkeit zur Ausübung öffentlicher Ämter
fC. Pr. Pr. Act 1883 §§4, 5, 6, [1, 3, 4]: Municipal Corporations Act 1882
§§ 78 — 79 — vgl. auch Parliamentary Elections Act 1868 § 44).
y) Wahlfälschung d. h. aa) Fälschung von Stimmzetteln and ebenso betrüge-
rische Zerstörung von Stinmizetteln, Hingabe von Stimmzetteln an unbefugte
Personen usw. Strafe : wenn das Delikt von einem Im Wahllokal beschäftigten
Beamten begangen wird Gef. und Zwangsarbeit, in anderen Fällen 6 Monate
Gef. und Zwangsarbeit (Ballot Act 1872 § 3). — ßß) Ausübung des Wahlrechts
im Namen einer andern Person (Personation) und ebenso die Anstiftung und
Beihülfe zu diesem Delikt. Strafe: Zwangsarbeit (jedoch felony) und femer
die gleichen Folgen in Bezug auf die Wahlfähigkeit wie unter ß) erwähnt«
(C. Pr. Pr. Act 1883 §§ 3, 4, 5, 6 (2—4), BaUot Act 1872 § 24.)
d) Unregelmässigkeiten der Wahl. Ausser den erwähnten Delikten (unter
welchen die unter a) ß) und y) ßß) erwähnten mit dem Kollektivnamen „cor-
rupt practices*^ bezeichnet werden) bedroht das G. gewisse Unregelmässigkeiten,
die unter der Bezeichnung „illegal practices'^ zusammengefasst sind (nament-
lich die Verwendung grösserer als der gesetzlich festgestellten Summen für
gewisse mit den Wahlen im Zusammenhang stehende Ausgaben) mit einer
Maximalgeldstrafe von £ 100 und gewissen Folgen in Bezug auf die Wahl-
fähigkeit (C. Pr. Pr. Act 1883 §10, vgl. auch §11 und Municipal Elections
[Corrupt Practices] Act 1884 §§9—11).
4. Strafbare Handlungen gegen die Zollgesetze, a) Einfacher
Schmuggel. Strafe: Geldstrafe (nach Wahl der Behörde auf den dreifachen Wert
der eingeschmuggelten Ware oder auf £ 100 zu bemessen) und Konfiskation der
eingeschmuggelten Ware. — (Customs Consolidation Act 1876 § 186.) b) Schmuggel
in Gemeinschaft mit mindestens zwei anderen Personen. Strafe: Geldstrafe
von £ 100 bis £ 500 (Customs and Inland Revenue Act 1879 § 10). c) Die
Verleitung anderer zu gemeinschaftlichem Schmuggel. Strafe: 1 Jahr (Jef.
(Cust. Cons. Act 1876 § 189). d) Schmuggel durch bewaflftiete oder verkleidete
Personen. Strafe 3 Jahre Gef. und Zwangsarbeit (Cust. Cons. Act 1876 § 189).
V. Fünfter Abschnitt. Strafbare Handlungen gegen das Ver-
eins- und Pressrecht. 1. Gegen das Vereinsrecht, a) Unerlaubte
Vereine im allgemeinen. Als solche Vereine gelten in erster Linie Vereine,
*) Vgl. ausser den im Text citierten Gesetzen Elementar v Education Act 1870
91—92; Kl. Ed. Act \HT^ §i? 6, 8, 2:^, 24; Local Government Act 18^8 § 7:>.
§ 8. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter der Gesamtheit. 645
deren Mitglieder sich eidlieh zu der Begehung von Verbr., staatsfeindlichen
Unternehmungen, unbedingtem Gehorsam usw. (vgl. oben unter I 2 (b) und
IV 2 (e)) verpflichten mtissen; femer Vereine deren Organisation und Zusammen-
setzung den Mitgliedern teilweise oder ganz geheim bleibt oder die sonstige
geheimen Vereinigxmgen eigentümliche Einrichtungen haben, oder endlich Ver-
eine, deren Zweck es ist, die bestehenden Eigentumsverhältnisse gewaltsam zu
ändern. Strafe der Mitgliedschaft: 7 Jahre Zuchthaus; doch genügt unter
gewöhnlichen Umständen das summarische Verfahren, wobei eine Maximal-
strafe von 3 Monaten Gef. oder Geldstrafe verhängt werden kann. Die Be-
herbergung eines solchen Vereins ist im ersten Fall mit Geldstrafe bis zu
£b, im Rückfall ebenso wie die Mitgliedschaft strafbar (39Geo. III cap. 79
§§ 2, 8, 9 und 13; 57Geo. III cap. 19 §§ 25 und 28).^)
b) Jesuiten und Mönchsorden. Die Catholic Emancipation Act von
1830 (10 Geo. IV cap. 7) bedroht die Jesuiten und die Mitglieder von Mönchs-
orden, die nach dem vereinigten Königreich kommen oder im vereinigten König-
reich als Mitglieder eines solchen Ordens aufgenommen werden, mit lebens-
länglicher Verbannung, eventuell, wenn ein solcher Mönch später als 3 Monate
nach erfolgter Verbannung noch im vereinigten Königreich angetroffen wird,
mit lebenslänglichem Zuchthaus. Ein Staatssekretär, der Protestant ist, kann
jedoch einem Mönch Erlaubnis geben, nicht länger als 6 Monate im vereinigten
Königreich zu bleiben; diese Erlaubnis kann jederzeit widerrufen werden (vgl.
das erwähnte G. §§ 28 und 29, 31 und 32, 34—37).
2. Pressdelikte. Die strafrechtliche Verfolgung von Äusserungen, welche
durch die Presse verbreitet werden, kann erfolgen, wenn eine solche Äusserung
charakterisiert werden kann: a) als staatsfeindliche (vgl. oben unter I 4),
b) als gotteslästerliche (vgl. unten unter VI 1), c) als unzüchtige (vgl. unten
unter VII 3), d) als Verletzung der Ehre einer Person (vgl. § 9 II 1, wo auch
die Grundsätze über die Verantwortlichkeit erörtert werden).
Zeitungen (Newspapers), d. h. „Schriften, welche Nachrichten über öffent-
liche Vorfälle und Bemerkungen über dieselben oder auch nur Ankündigungen
bringen und in regelmässigen Zwischenräumen von höchstens 26 Tagen perio-
disch erscheinen",^) geniessen gewisse Privilegien : d.h. eine Verfolgung wegen
Äusserungen, welche sich in der unter a) und d) erwähnten Art kennzeichnen
lassen, kann gegen eine Zeitung in Bezug auf Berichte über Gerichtsverhand-
lungen überhaupt nicht, und in Bezug auf Berichte über öffentliche Versamm-
lungen und Versammlungen der mit der Lokalverwaltung betrauten Körper-
schaften oder königlicher bezw. parlamentarischer Kommissionen,'^) nur dann
eintreten, wenn eine böswillige Absicht (vgl. § 9 II 1) nachgewiesen werden
kann und wenn die Zeitung verweigert, eine Berichtigung aufzunehmen.
Ferner kann ein strafrechtliches Verfahren gegen die für die Äusserungen
in einer Zeitung verantwortlichen Personen (vgl. § 9 II 1) nur mit richterlicher
Genehmigung erfolgen (Law of Libel Am. Act 1888 §§ 3 und 4, § 8).
VI. Sechster Abschnitt. Strafbare Handungen gegen die Re-
ligion.*)
*) Vgl. auch Stephen Hist. II S. 294—296, III S. 363. Diese Bestimmungen und
ebenso die unter b) erwähnten haben augenblicklich keine praktische Bedeutung, be-
stehen aber weiter.
^ Die Definition ist enthalten in der Newspaper Libel Act v. 1881 § 1 und be-
stätigt in der Law of Libel Amendment Act 1888 § 1.
*) In Bezug auf die Verhandlungen des Parlaments vgl. § 9 II 1.
*) Die theoretische Auffassung des geltenden Hechts geht von dem Gedanken
aus, dass die anglikanische Kirche zu den Einrichtungen des Staats gehört, und dass
daher eine Befehdung derselben ein Angriff gegen die Rechtsgüter der Gesellschaft
ist. Dieser Gedanke geht aus den noch in Kraft stehenden Rechtsbestimmungen
646 England und Irland. — Besonderer Teil.
Von praktischer Bedeutung sind die Bestimmungen gegen: 1. Gottes-
lästerung, d. h. Äusserungen über Gott, Christus, die Bibel oder das angli-
kanische Gebetbuch, in der Absicht Ärgernis zu erregen, die anglikanische
Kirche zu beschimpfen oder Unsittlichkeit zu fördern. Die Verbreitung gottes-
lästerlicher Darstellungen durch Schriftwerke usw. wird als „blasphemous libel"
bezeichnet. Die Grundsätze über die Verantwortlichkeit für die Verbreitung
sind dieselben wie bei dem gewöhnlichen libel (vgl. § 9 II 1). Strafe: Gef., Stephen
art. 161, Entw. § 141.
2. Unbefugte Handlungen in Bezug auf Leichen, d. h. Unter-
lassung oder Verhinderung des Begräbnisses oder der Ausgrabung. Strafe:
Gef., Stephen art. 175 erster und zweiter Absatz, Entw. § 158.^)
Die Leichenverbrennung ist erlaubt, insofern sie in einer Weise ausgeführt
wird, welche weder für die öffentliche Gesundheit schädlich noch anstössig
ist. R. V. Price, 12 Queen's Bench Division, 247, vgl. auch Williams v. Wil-
liams, 20 Chancery Division 659 und In re Dixon (1892) Probate 386.
VII. Siebenter Abschnitt. Strafbare Handlungen gegen die
Sittlichkeit.'^) 1. Widernatürliche Unzucht (Buggery), d.h. a) Sodomie
(beischlafähnliche Handlung per anum — auch zwischen einer männlichen und
einer weiblichen Person), b) Bestialität. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus.
Die Strafe des Versuchs ist 10 Jahre Zuchthaus (jedoch misdemeanor). — O.
P. A. §§ 61 und 62, Stephen art. 169, Entw. §§ 144 und 145.
2. Unzüchtige Handlungen zwischen Personen männlichen Ge-
schlechts. — Strajfe: Gef. und Zwangsarbeit. Beihülfe, Anstiftung und Ver-
such sind mit der gleichen Strafe bedroht. C. L. A. A. § 11. — Stephen art. 169 a.
3. Unzüchtige Veröffentlichungen und Ausstellungen. Hierzu
gehört der öflFentliche Verkauf und die Feilbietung oder öffentliche Ausstellung
deutlich hervor. Dieselben gestatten sogar den geistlichen Gerichtshöfen, jedermann
„wegen Atheismus, Gotteslästerung, Ketzerei, Schisma oder irgend welcher anderen
verdammenswerten Lehre oder Meinung" (die nicht schon nach gemeinem Rechte
strafbar ist) zu sechsmonatlichem Gef. zu veruiiteilen (29 Gar. II cap. 29 ; 53 Geo. III
cap. 127 §§ 1—3, Stephen art. 162). Dass eine derartige Bestimmung heutzutage keine
praktische Bedeutung mehr hat, bedarf wohl kaum der Erwähnung und dasselbe gilt
von den Bestimmungen, welche jeden, der zu irgend einer Zeit sich zum christlichen
Glauben in England bekannt hat, mit Gef. und anderen Strafen bedroht, wenn er im
Eückfall die Wahrheit der christlichen Lehre (selbstverständlich nach der Auslegung
der anglikanischen Kirche) oder die Inspiration der Bibel bestreitet (9 Will. III
cap. 35; 53 Geo. III cap. 160; Stephen art. 163), und selbst die imgünstige Kritik des
anglikanischen Gebetbuchs mit Strafe bedrohen (1 Elizabeth cap. 2 § 3; 14 Car. II
cap. 4 § 20; Stephen art. 165). Im Text sind nur die Bestimmungen berücksichtigt,
die noch praktische Bedeutung haben. Unter denselben hat das Delikt der Gottes-
lästerung zu Kontroversen Anlass gegeben. W^ährend nach der herrschenden Meinung
die Absicht, die Gefühle der Menschheit zu verwunden oder Hass und Verachtung
gegen die anglikanische Kirche zu erzeugen oder die Förderung der Unsittlichkeit
zu dem Thatbestand dieses DeHktes gehört, ist nach Stephen's Ansicht auch eine in
würdigem wissenschaftlichem Tone gehaltene Bestreitung der rechtgläubigen christ-
lichen Lehre als Gotteslästerung strafbar, vgl. Stephen art. 161-; ebenso dessen Auf-
satz in der Fortnightly Review März 1884. Stephen's Interpretation der Präjudizien
ist wahrscheinlich richtig, aber es ist nicht denkbar, dass ein Richter in jetziger Zeit
dieselbe zur Grundlage seiner Rechtsbelehrung an die Geschworenen machen würde.
Vgl. über den ganzen Gegenstand auch Dicey, English Constitution, 2. Aufl. S. 259.
*) Die Bestimmungen über die Störung des öffentlichen Gottesdienstes (Strafe:
Geldstrafe) gehören nicht eigentlich hierher. Vgl. 52 Geo. III cap. 155 § 12, Stephen 167,
Entw. § 143.
0 Die sogenannten Sittlichkeitsdelikte zerfallen in zwei Klassen, d. h. diejenigen,
die sich als Angriff gegen die Geschlechtsehre kennzeichnen und solche, welche aus-
schliesslich deshalb bestraft werden, weil sie in schroffer Weise gegen die Anschau-
ungen der Gesellschaft in Bezug .auf die geschlechtliche Sittlichkeit Verstössen. Nur
die letzteren gehören hierher. Über die ersteren vgl. § 9 II 3.
§ 8. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgtiter der Gesamtheit. 647
von unzüchtigen Schriften, Bildwerken oder Darstellungen und femer die Ver-
breitung^) von Aufforderungen zu Handlungen, welche den allgemeinen An-
schauungen über geschlechtliche Sittlichkeit widersti'eiten, auch wenn dieselben
in gutem Glauben und in der Absicht, das öffentliche Wohl zu fördern, er-
folgen.*) Stephen art. 172, Entw. § 147. Wer anstössige Bilder usw. öffent-
lich ausstellt, kann auch auf Grund der Bestimmungen der Vagrant Act als
Strolch und Landstreicher bestraft werden, vgl. unten VIII 9. Durch ein G. v.
1889 ist die Ausstellung unzüchtiger Annoncen an Mauern, Säulen usw. mit
Geldstrafe oder Gef. und Zwangsarbeit bis zu 3 Monaten bedroht (Indecent
Advertisements Act 1889).
4. Inzest ist in den ordentlichen Gerichtshöfen nicht strafbar und aus
diesem Grunde ist die Gerichtsbarkeit der kirchlichaii Gerichtshöfe über dieses
Delikt erhalten geblieben.*) (Die aus demselben Grunde ebenfalls noch er-
haltene Gerichtsbarkeit über Ehebruch und stuprum ist seit langer Zeit nicht
mehr ausgeübt worden — vgl. Stephen History II, 8. 428.) Die Strafe ist
kirchliche Busse und im Falle des Ungehorsams 6 Monate Gef. (13 Edw. I
stat. 4 [Circumspecte agatis] und 53 Geo. III cap. 127 §§ 1 — 3.)
VIII. Achter Abschnitt. Strafbare Handlungen gegen die poli-
zeilichen Vorschriften zum Schutze der Gesundheit, der öffent-
lichen Wohlfahrt und des öffentlichen Anstands. Es gehören hierher:
1. Alle als common nuisances*) bezeichneten Handlungen (z.B. Hinder-
nisse des öffentlichen Verkehrs, ungewöhnlicher Lärm, gesundheitsschädliche
Gerüche usw.). Strafe: Gef. Stephen art. 176, 187—191, Entw. §§ 150—152.
2. Vorsätzliches Feilhalten von verdorbenen Getränken und
Ess waren. Strafe: Gef. Stephen art. 187, Entwurf § 153.'^)
3. Verletzung der Bestimmungen in Bezug auf ansteckende
Krankheiten. Eine Reihe hierher gehöriger Bestimmungen sind enthalten in
der Public Health Act 1875 §§ 120 — 130; der Infectious Diseases Notiflcation
Act 1889; der Infectious Diseases Prevention Act 1890 und der Public Health
(London) Act 1891 §§ 58—74. Die Strafen sind durchgängig Geldstrafen mit
Ausnahme des Falles, in welchem der Vermieter einer möblierten Wohnung auf
Befragen, ob innerhalb der letzten 6 Wochen jemand mit einer ansteckenden
Krankheit dieselbe bewohnt hat, eine vorsätzlich falsche Antwort giebt. In
diesem Falle kann auf Gef. bis zu einem Monat und Zwangsarbeit erkannt
werden (summarisches Verfahren). Public Health Act 1875 § 129; Public
Health (London) Act § 64.
4. Das Halten unordentlicher Häuser (disorderly houses). Es ge-
hören dahin : a) Bordelle (Common Bawdy Houses) — als solches gilt auch ein
Teil eines Hauses und selbst ein einzelnes Zimmer, das zur Prostitution ver-
wandt wird. Stephen art. 180. — b) Spielhäuser (Common Gaming Houses)
^) Über Verbreitung und Verantwortlichkeit vgl. § 9 II 1.
*) Der bekannte Politiker Bradlaugh wurde wegen einer Schrift verurteilt,
welche zur Anwendung von Präventivmitteln im ehelichen geschlechtlichen Verkehr
aufforderte, obgleich die Geschworenen die Frage, ob dies in gutem Glauben und in
der Absicht, das öfiFentliche Wohl zu fördern, geschehen sei, bejahten.
®) Stephen art. 170 (^) erwähnt ein in jüngster Zeit erfolgtes Strafverfahren im
Gerichtshof des Bischofs von Chichester, erwähnt aber nicht, ob dasselbe zu einer
Verurteilung führte.
*) Der Begriff der common nuisance (wörtlich übersetzt: gemeinschädliche Hand-
lung) ist noch weiter als der des deutschen groben Unfugs. Der Entwurf definiert
dieselbe als „eine widerrechtliche Handlung oder Unterlassung, durch welche die
Sicherheit, die Gesundheit, das Eigentum oder das Leben oder Wohlbehagen der
Gesamtheit gefährdet wird" (§ 150).
^) Auch hier und in den meisten folgenden Fällen wird das Delikt als common
nuisance bezeichnet.
648 England und Irland. — Besonderer Teil.
— als solches gilt ein Haus, das regelmässig für unerlaubte Spiele benutzt
wird. Als unerlaubtes Spiel gilt jedes Spiel, bei dem einer der Spieler (z. B.
der Bankhalter) bessere Chancen hat als die anderen. Stephen ai*t. 181, 183.
c) öffentliche Lokale für Wetten (Common Betting Houses). Stephen art. 182.
d) Nicht konzessionierte Vergnügungslokale in der Hauptstadt und ihrer un-
mittelbaren Umgebung (disorderly places of entertainment). Stephen art. 184.
Strafe in den Fällen a — d: Zwangsarbeit. 3 Geo. IV cap. 114 § 1, Entw. § 154,
vgl. auch 25 Geo. H cap. 36 § 8; 21 Geo. III cap. 49 § 2. e) Unordentliche Wirts-
häuser^) (d. h. Wirtshäuser, in welchen regelmässig verrufene Personen ver-
kehren). Strafe: Gef. Stephen art. 185.
5. Die unbefugte Veranstaltung von Lotterieen. Strafe: Gef.
Stephen art. 186; lOWül. III cap. 23 § 1; 42 Geo. III cap. 119 § 2.
6. Verletzung der Bestimmungen zum Schutze der Sonntags-
ruhe. Es gehört hierher das jetzt nicht mehr beachtete aber noch rechts-
kräftige G. V. 1781, welches einen Hausinhaber, in dessen Hause am Sonntag
Unterhaltungen oder Vorlesungen usw. stattfinden, zu welchen der Zutritt nur
gegen Entgelt gestattet ist, mit Zwangsarbeit bedroht (21 Geo. III cap. 49) und
ferner das G. v. 1677, das jede Sonntagsarbeit bei Geldstrafe verbietet (29 Chas. 2
cap. 7).^)
7. Verletzung der Bestimmungen gegen die Tierquälerei. Grau-
samkeit gegen Haustiere ist nach 12 und 13 Vict. cap. 92 mit Geldstrafe und
unter gewöhnlichen Umständen mit Busse strafbar, ebenso das Halten von
Tieren für grausame Unterhaltungen (Hahnenkämpfe usw.). Gewisse grausame
Formen des Sports sind indessen erlaubt. Die schärfsten Bestimmungen richten
sich gegen die Verwendung von Tieren zu wissenschaftlichen Untersuchungen.
Wenn dieselbe nicht in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften
erfolgt, so ist im ersten Fall Geldstrafe bis zu £ 50, im Rückfall Geldstrafe
bis zu £ 100 oder Gef. bis zu 3 Monaten zu verhängen (summarisches Ver-
fahren) — 39 und 40 Vict. cap. 77.
8. Verletzung des öffentlichen Anstandes. a) Anstössige oder
unzüchtige Handlungen an Orten, welche jedermann zugänglich sind. Strafe:
Gef. — unter gewöhnlichen Voraussetzungen mit Zwangsarbeit. — Stephen
art. 171, Entw. § 146. b) Jemand, der das unter a) erwähnte Delikt begeht,
kann, wenn dasselbe in einer Entblössung der männlichen Geschlechtsteile
besteht und in der Absicht erfolgt, eine weibliche Person zu beleidigen oder
zu belästigen, auch auf Grund der Vagrant Act (vgl. unter 9) als rogue and
vagabond bestraft werden.
9. Die Landstreicherei und ähnliche in der Vagrant Act er-
wähnte Delikte. — Eine Anzahl von Verletzungen polizeilicher Bestimmungen
wird vom englischen Eecht in der Weise zusammengefasst, dass der Thäter
entweder a) als Müssiggänger (idle and disorderly person) oder b) als Strolch
und Landstreicher (rogue and vagabond) oder c) als unverbesserlicher Strolch
(incorrigible rogue) bestraft wird. Im Falle a) ist die Maximalstrafe 1 Monat
Gef. und Zwangsarbeit; im Falle b) 3 Monate Gef. und Zwangsarbeit (in beiden
Fällen summarisches Verfahren), im Falle c) muss der Thäter bis zur Ab-
haltung der nächsten Quartalsitzungen im Gef. bleiben und kann dann bis zu
eiiyähriger Gefängnisstrafe und Zwangsarbeit verurteilt werden (5 George IV
cap. 83 §§3 — 5; Stephen art. 195). Zu den unter a) strafbaren Delikten ge-
hört die schuldhafte Inanspruchnahme der öflTentlichen Armenpflege, das ge-
^) Als strafbare Handlung gilt es auch, wenn ein Wirt ohne genügenden Grund
einen zahlungsfähigen Gast zu bedienen verweigert.
*) Eine Reibe andere G. beziehen sich auf einzelne Gewerbe.
§ 9. Strafbare Handlungen gegen die Hechtsgüter des Einzelnen. 649
wohnheitsmässige Betteln und ähnliche Delikte, zu den unter b) strafbaren die
Obdachlosigkeit und verschiedene verdächtige oder anscheinend betrügerische
Handlungen, die Ausstellung anstössiger Bilder usw., femer die Begehung
eines unter a) strafbaren Delikts im Rückfall. Als unverbesserlicher Strolch
wifd jemand angesehen, der a) ein unter b) strafbares Delikt im Rückfall be-
geht, ß) aus dem Gef. entweicht, nachd^em er wegen eines unter b) strafbaren
Delikts verhaftet worden ist, oder bei seiner Verhaftung wegen eines solchen
Delikts (dessen er später für schuldig befunden wird), dem Polizeibeamten, der
ihn verhaftet, gewaltsamen Widerstand leistet. 5 Geo. IV cap. 83 §§ 3 — 5; vgl.
auch 34 und 35 Vict. cap. 108 §§ 7 und 10; 1 und 2 Vict. cap. 38 § 2; 36 und 37
Vict. cap. 38 § 3; 34 und 35 Vict. cap. 112 § 15, Stephen art. 192—195.
§ 9. Strafbare Handlungen gegen die RecMsgflter des Einzelnen.
I. Erster Abschnitt. Strafbare Handlungen gegen die körper-
liche Unversehrtheit. 1. Die Tötung.^) a) Übersicht. Das englische
StR. bestraft nur die Tötung menschlicher Wesen als Tötung.^) Als mensch-
liches Wesen wird ein Kind erst angesehen, nachdem es vollständig von der
Mutter getrennt ist. Es ist unerheblich, ob das Kind bereits geatmet hat, oder
ob die Nabelschnur zerschnitten ist (Stephen art. 218, Entw. 166).
Die widerrechtliche Tötung ist strafbar, gleichviel ob sie direkt oder
indirekt durch eine schuldhafte Handlung oder ob sie infolge der Unterlassung
einer Handlung erfolgte, zu deren Vornahme eine rechtliche Pflicht vorhanden
war. Solche Pflichten sind nach positiver Rechtsbestimmung: 1. Die Pflicht
des Hausvaters, seinen Pflegebefohlenen die notwendigen Lebensmittel zu ge-
währen, bezw. wenn dies nicht möglich ist, bei der Behörde für Armenpflege
die nötigen Schritte einzuleiten. Stephen art. 213 — 215, Entw. §§ 159 — 161.
2. Die Pflicht des Arztes oder Chirurgen, bei lebensgefährlichen Operationen
sachverständige Geschicklichkeit und Sorgfalt anzuwenden. Stephen art. 217,
Entw. § 162. 3. Die Pflicht der Person, welche gefährliche Vorrichtungen
oder gefährliche Tiere unter seiner Obhut hat, die nötigen Vorsichtsmassregeln
anzuwenden. Stephen art. 216, Entw. § 163.
Die Strafbarkeit wird ausgeschlossen, wenn zwischen der widerrecht-
lichen und schuldhaften Handlung bezw. Unterlassung, welche den Tod ver-
ursacht, und dem Tode ein Zeitraum von mehr als einem Jahre und einem
Tage liegt.
Als schuldhafte Tötung gilt sowohl die vorsätzliche als die fahrlässige
Tötung und jede unerlaubte Handlung (auch ein civilrechtliches Delikt), welche
den Tod eines Menschen zur Folge hat;^) wenn „malice aforethought" (über-
legter Vorsatz) hinzutritt liegt murder vor; in anderen Fällen manslaughter.
„Malice aforethought" wird stets als vorhanden angenommen 1. bei vorsätz-
licher Tötung und vorsätzlicher schwerer Körperverletzung mit tödlichem Aus-
gang, wenn der Thäter nicht durch eine Misshandlung oder schwere Beleidigung
zum Zorne gereizt und hierdurch auf der Stelle zur That hingerissen wurde;
2. wenn der Tod verursacht wird durch eine Handlung, deren Absicht es war,
eine beliebige felony zu begehen, oder einem Beamten in Kenntnis seiner Eigen-
*) Stephen widmet diesem Delikte besondere Beachtung (General View 131—142,
History HI, S. 23-87, Digest art. 196—235).
•-) Die Tötung von Tieren kann je nach Umständen als Sachbeschädigung (vgl.
z. B. unten IV A 3 c) oder als Wilddiebstahl (unten IV B) bestraft werden.
**) Stephen art. 222 giebt eine kasuistische Definition der schuldhaften Tötung,
4ie aber nur deshalb nötig ist, weil die Begriffe des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit
ini englischen Recht nicht genügend festgestellt sind.
650 England and Irland. — Besonderer Teil.
Schaft bei der Verhaftung und Bewachung von Gefangenen oder der Friedens-
bewahrung gewaltsamen Widerstand zu leisten. Auch in diesen Fällen ent-
schuldigt die Reizung zum Zorne unter den oben erwähnten Umständen.^)
Stephen art. 223 — 225. *) Wenn nicht besondere Umstände vorliegen, trifft den
Thäter bei jeder Tötung die Beweislast, wenn er den Thatbestand des muräer
bestreitet. Stephen art 230.
b) Prüfung der Tötungsdelikte des englischen Rechts nach den
Kriterien des deutschen StR. Es erhellt aus den obigen Elrläuterungen,
dass das murder des englischen Rechts nach deutschem StR. je nach Um-
ständen als eines der folgenden Delikte angesehen würde: 1. Mord (RStGB.
Art. 211), 2. Totschlag (RStGB. Art. 212), (in den Fällen berechtigter Reizung,
deren Ausdehnung jedoch nicht so weit geht als die der nach Art. 213 milder
behandelten Fälle des Totschlags, läge jedoch auch nach englischem Recht
nur manslaughter vor). 3. Vorsätzliche schwere Körperverletzung mit tödlichem
Ausgang (RStGB. Art. 226). 4. Eines aus einer Reihe von Delikten*) mit der
Qualifikation des tödlichen Ausgangs (einige derselben werden, wenn diese
Qualifikation vorhanden ist, auch vom deutschen Rechte strenger beurteilt, so
z.B. Raub — RStGB. Art. 251; Notzucht daselbst Art. 178; Brandstiftung da-
selbst Art. 307 Zifi". 1 ; vorsätzliche Beschädigung von Eisenbahnanlagen daselbst
Art. 315 usw.). 5. Ein besonderer Fall des Widerstands gegen Beamte bei
Erfüllung ihrer Amtspfiicht, insofern der Tod des Beamten dadurch herbei-
geführt wird (RStGB. Art. 113, jedoch ohne Verschärfung bei herbeigeführtem
Tode — in den meisten Fällen liegt wohl vorsätzliche Körperverletzung mit
tödlichem Ausgange vor, jedoch nicht immer).
„Manslaughter" wäre eines der folgenden Delikte: 1. Totschlag (meistens
unter der Milderung des Art. 213). 2. Fahrlässige Tötung (RStGB. Art. 222) —
jedoch nur, wenn ursprünglich veranlasst durch eine unerlaubte Handlung.
3. Eines aus einer Reihe von Delikten*) mit der Qualifikation des tödlichen
Ausgangs (so z. B. Zweikampf — RStGB. Art. 206, Freiheitsentziehung daselbst
Art. 239 usw.).
c) Strafbemessung bei murder und manslaughter. a) Bei murder.
Obligatorische Strafe: Todesstrafe (O. P. A. § 1, Entw. § 178). Strafe für Ver-
such und Begünstigung: 10 Jahre Zuchthaus (E.), O. P. A. §§ 11 — 15. Der Kinds-
mord wird ebenso behandelt wie der einfache Mord. Der Selbstmord wird
insofern dem Mord gleich behandelt, als Anstifter und Gehülfe mit dem Tode
strafbar sind, *) jedoch ist der Versuch nicht als Mordversuch strafbar (R. v.
Burgess, Leigh and Cave 258), — vgl. Stephen art. 227.*) Die Einwilligung
des Getöteten ist kein Strafmilderungsgrund (auch nicht im Falle des RStGB.
Art. 216), und die Tötung des Gegners im Zweikampf wird ebenso wie jede
andere rechtswidrige Tötung behandelt (R. v. Barronet, Dearsley 51). ß) Bei
manslaughter. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.), auch Geldstrafe ist zu-
lässig. O. P. A. § 5. Die Frage, ob bei manslaughter Anstiftung denkbar ist,
ist nicht entschieden. Es könnte dies jedenfalls nur der Fall sein, wo nach
deutscher Terminologie ein Verg. mit tödlichem Ausgange vorliegt (z. B. A
*) Diese Definition giebt in veränderter Form den Inhalt der Definition von
Stephen wieder. Stephen bezweifelt neuerdings die Richtigkeit der Ansicht, dass die
Absicht, eine beliebige felony zu begehen, genügt. Vgl. General View S. 131.
*) Unter welchen Umständen eine derartige Reizung zum Zorne vorliegt, lässt
sich wiederum nur kasuistisch feststellen, vgl. die Beispiele zu Stephen art. 224 u. 22h,
•) D. h. solcher Delikte, die nach englischem Recht felonies sind.
*) D. h. solcher Delikte, die nach englischem Recht nicht felonies sind.
*) Der Entw. § 183 ermässigt die Strafe auf lebenslängliches Zuchthaus.
•) Der Versuch des Selbstmordes ist jedoch ein misdemeanor nach gemeinem
Recht und als solches mit Gef. strafbar.
§ 9. Strafbare Handliing>en gegen die Rechtsgüter des Einzelnen. 651
überredet B, dem C ein starkes Brechmittel zu geben, in der Absicht, dem C
Unbehagen zu verursachen, und C stirbt infolge der Anwendung des Mittels).
d) Vorbereitungshandlungen und Androhung, a) Aufforderung
zum Morde (auch wenn dieselbe nicht den Mord einer bestimmten Person im
Augehat).^) Strafe: 10 Jahre Zuchthaus (jedoch misd.). 0. P. A. § 4. — ^) Vei^
abredung zum Morde. Strafe 10 Jahre Zuchthaus. 0. P. A. § 4. — y) Androhung
des Mords auf schriftlichem Wege. Strafe 10 Jahre Zuchthaus (E. P.). O. P.
A. § 16.
2. Körperverletzung und Angriffe gegen die Person, a) Vor-
sätzliche Körperverletzung, a) Vorsätzliche Verwundung oder schwere
körperliche Schädigung, wenn dieselbe in der Absicht der schweren Schädigung
oder in der Absicht des Widerstandes bei einer rechtmässigen Verhaftung er-
folgt. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). 0. P. A. § 18. — ß) Vorsätz-
liche Körperverletzung, welche die Verwundung oder schwere körperliche
Schädigung des Verletzten herbeiführt. Strafe: 5 Jahre Zuchthaus (jedoch
misd.). O. P. A. § 20.
b) Körperverletzung durch Vernachlässigung der Pflicht gegen
Pflegebefohlene. — a) Vorsätzliche Vernachlässigung eines Dienstboten oder
Lehrlings von selten der Person, welche rechtlich verpflichtet ist, demselben
Nahrung, Kleidung oder Obdach zu gewähren*) oder vorsätzliche und wider-
rechtliche Körperverletzung desselben, insofern durch dieselbe Lebensgefahr
entsteht, oder die Gesundheit dauernd geschädigt oder gefährdet wird. Strafe:
5 Jahre Zuchthaus (jedoch misd.). 0. P. A. § 26. — ß) Vorsätzliche Unter-
lassung der Gewährung von Nahrung, Kleidung, Obdach und ärztlicher Hülfe
an Kinder unter 14 Jahren von selten eines der Eltern, unter dessen Obhut
das Kind steht, wenn die Gesundheit des Kindes ernstlich geschädigt oder
gefährdet wird. Strafe: 6 Monate Gef. und Zwangsarbeit (summ. Verfahren).
Bedingte Verurteilung ist in diesem Falle auch statthaft. Die Strafverfolgung
muss von der Armenbehörde eingeleitet werden. — Poor Law Amendment
Act § 37. — y) Fahrlässige Unterlassung der Gewährung von Nahrung, Kleidern,
Bettzeug und anderen notwendigen Gegenständen an junge Kinder von selten
eines der Eltern oder des Dienstherm — im Falle der Fähigkeit, diese Gegen-
stände zu gewähren — insofern die Gesundheit des Kindes geschädigt wird.
Strafe: Gef. Stephen art. 264.
c) Angriffe gegen die Person (assault und assault and battery).
a) Übersicht. Jeder Angriff mit der Absicht, wider den Willen einer Person
Gewalt gegen dieselbe auszuüben, wird als „assault" bezeichnet, und wenn
wirklich, sei es auch nur in ganz unbedeutender Weise, Gewalt ausgeübt wird,
als „assault and battery".^) ß) Einfacher Angriff (Common Assault). Das Ver-
fahren kann nur infolge einer Anzeige durch den Verletzten eingeleitet werden.
Strafe: 2 Monate Gef. und Zwangsarbeit oder Geldstrafe (summarisches Verfahren).
O.P. A. § 42. — y) Angriffe in der Absicht der Störung gewisser Gewerbetriebe,
nämlich : ad) des Kaufs, Verkaufs und Transports landwirtschaftlicher Produkte,
ßß) des Schifferei- und Fischereigewerbes. Strafe: 3 Monate Gef. und Zwangs-
arbeit (summarisches Verfahren). 0. P. A. §§39 und 40. — d) Schwerere An-
^) Der in den Klammern stehende Zusatz ist das Resultat der Entsch. in der
Klage gegen den bekannten Anarchisten Most (7 Queen's Beuch Division 244), der
bei der Ermordung des russischen Kaisers Alexander II. dieselbe als gutes Beispiel
für Anarchisten in anderen Ländern lobend erwähnte.
«) Dieses Delikt ist auch durch 38 und 39 Vict. cap. 86 § 6 für strafbar erklärt
— jedoch, mit einer viel leichtern Strafe.
') Über Angriffe gegen Beamte vgl. § 8 III 1, über unzüchtige Angriffe vgl.
unten II 3 c.
^52 Eng^lADd und IrUnd. — Besonderer Teil.
griffe: d^ h. alle ADgrifFe. die nach der Ansicht des ersten Richters als schwerere
zu beorteilen sied und femer alle AnorrifiTe gegen weibliche Personen und
Kinder: aa* bei 5nmmaris4.-her Venuteüung: Strafe: 6 Monate Gef. und Zwangs-
arbeit oder Geldstrafe. O. P. A- § 43. fjfi Bei Verurteilung vor einem höheren
Gericht: Die Verweisung an das höhere Gericht hat zn erfolgen, wenn
der erste Richter der Meinung ist, dass der Angriff mit dem Versuch, eine
felony zu begehen, verbunden war oder s-:»n5t Gründe vorliegen, die ein Ver-
fahren durch indictment wünschenswert erscheinen lassen. Strafe: 1 Jahr Gef.
und Zwangsarbeit. O. P. A- ^ 46 u. 47. Entw. §. 2(J6. — £i Angriffe in der Ab-
sicht, eine felony zu begehen, oder, eine rechtmässige Verhaftung zu verhindem.
Strafe: Gef. und Zwangsarbeit. O. P. A- § 38, Entw. § 2n5a. — C' Angriffe,
welche thatsächlich Körperverletzung herl>eifxihren. Strafe: 5 Jahre Zuchthaus
•jedoch misd.1. O. P. A. § 47. Entw. § 199.
3. Gefährdung von Leib und Leben, a» Die Aussetzung. Die
Aussetzung von Kindern unter zwei Jahren,'- in einer Weise, durch welche
ihre Gesundheit gefährdet oder thatsächlich dauernd gestört ist oder voraus-
sichtlich dauernd gestört werden wird. Strafe: 5 Jahre Zuchthaus «jedoch
misd.i. O. P. A. §27; Stephen art. 2H6, Entw. §226.
bi Die Vergiftung d. h. vorsätzliches Beibringen von Gift oder anderen
gesundheitsschädlichen Stoffen : a i mit der Absicht, die betr. Person zu schädigen
oder auch nur zu belästigen.-» Strafe: 5 Jahre Zuchthaus, jedc'ch misd.
O. P. A- §24: Stephen art. 239 h, Entw. §198. /?• In einer Weise, welche das
Leben der betr. Person gefährdet oder derselben eine schwere körperliche
Schädigung zufügt. Strafe: 10 Jahre Zuchthaus. O. P.A. §23: Stephen art. 238.
Entw. § 197.
et Die Abtreibung. Das englische Recht bestraft nicht die Abtreibung
selbst, sondern die Vorbereitungshandlungen, welche dieselbe zu bewirken be-
absichtigen, nämlich: ai Die rechtswidrige und vorsätzliche Anwendung von
gesundheit.sgefährlichen 3Iitteln oder von Instrumenten, in der Absicht eine
Fehlgeburt zu l>ewirken, gleichviel ob die weibliche Pers4:»n, bei welcher
diese Mittel oder Instrumente angewandt werden, thatsächlich schwanger ist
oder nicht. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus E.i. O. P. A. §58, Entw. §§213
und 214. ßt Die rechtswidrige Liefenmg oder Beschaffung gesundheitsgefahr-
licher Mittel oder Instrumente in Kenntnis ihrer Bestimmung als Mittel zur
Bewirkung einer Frühgeburt, gleichviel ob die weibliche Person, bei welcher
diese Mittel oder Instrumente angewandt werden sollen, thatsächlich schwanger
ist oder nicht. Strafe: 5 Jahre Zuchthaus «jedoch misd.i O. P. A. § 59,
Entw. § 215.
d) Das sogenannte „Garrottieren"* und ähnliche Delikte, d.h.
der Versuch a» jemanden durch Knebelung, Erdrosselung oder ähnliche Mittel
oder bi durch die Anwendung von Betäubungsmitteln in einen bewusstlosen
Zustand zu versetzen, in der Absicht, den Thäter oder eine andere Person in
die Lage zu setzen, ein Verbr. zu begehen id. h. eine durch indictment ver-
folgbare strafbare Handlung«. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus und im Falle
ai körperliche Züchtigung auch bei Erwachsenen. O. P. A. §§ 21 und 22. Gar-
rotters Act 1863 § 1.
ei Abfeuern von Feuerwaffen in der Absicht, jemandem eine schwere
Körperverletzung zuzufügen oder einem Beamten bei der Verhaltung oder
') L'ber die Bestimmungen bezüglich der Vernachlässigung von Kindern von
2—14 Jahren siehe oben unter b.
-; Es genü^rt z. B. die Absicht, den Geschlechtstrieb anzureizen: R. v. Wilkins,
Leigh and Cave *?0.
§ 9. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter des Einzelnen. 653
Bewachung eines Gefangenen Wideratand zu leisten. Strafe: lebenslängliches
Zuchthaus. Der Versuch ist mit der gleichen Strafe bedroht. 0. P. A. §§18
und 19, Entw. § 191a.
f) Das Stellen lebensgefährlicher Fallen (springguns, mantraps etc.),
um Eindiinglinge von einem Grundstück fern zu halten, mit Ausnahme solcher
Fallen, welche gewöhnlich für die Zerstörung schädlicher Thiere verwandt
werden und femer solcher Vorrichtungen, welche zwischen Sonnenuntergang
und Sonnenaufgang in Wohnhäusern zu deren Schutze angewendet werden. —
Strafe: 5 Jahre Zuchthaus (jedoch misd.). 0. P. A. § 31 Stephen art. 239g,
Entw. § 200.
g) Die vorsätzliche Hinderung der Errettung schiffbrüchiger
Personen. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). 0. P. A. §17; Stephen
art. 230i, Entw. § 195.
II. Zweiter Abschnitt. Strafbare Handlungen gegen immaterielle
Rechtsgüter. 1. Strafbare Handlungen gegen die Ehre, a) Über-
sicht. Die Beleidigung als solche ist nach englischem Recht nicht strafbar,
das einzige Delikt gegen die Ehre, das strafbar ist, ist die „böswillige (mali-
cious)" Verbreitung einer Verleumdung durch Schrift, Druck oder sonstige dem
Auge wahrnehmbare Kundgebungen (z. B. Bilder, Modelle usw.), welche mit
dem Ausdruck „libel"^) bezeichnet wird. Als Verleumdung ist für diesen
Zweck jede Darstellung anzusehen, welche jemanden verhasst, verdächtig
oder lächerlich zu machen geeignet ist. (Stephen art. 269, Entw. § 227.)^)
Strafbar ist die Verbreitung (publication) der Verleumdung. Als strafbare
Verbreitung gilt jede Handlung, durch welche die Darstellung, welche die
Verleumdung enthält, der verleumdeten oder einer dritten Person bekannt
gemacht wird, wenn nicht die Person, welche die Handlung bewirkt oder
veranlasst hat, nachweisen kann, dass ihr der Inhalt der Darstellung un-
bekannt war und dass sie keine Gelegenheit hatte, den Inhalt kennen zu lernen.
Handelt es sich um die Verbreitung einer Zeitung oder eines Buches, so genügt
der Nachweis, dass der Verbreiter nicht wusste und nicht wissen konnte, dass
in der Zeitung oder dem Buche eine verleumderische Darstellung möglicher-
weise enthalten sein konnte. Stephen art. 270 erster Absatz; Entw. §§ 228,
238 dritter Absatz, 239 erster Absatz.*)
Als Urheber der Verbreitung in einem Falle, wo dieselbe im regelmässigen
Verlaufe eines Gewerbebetriebes erfolgte, gilt nicht nur der Gehülfe, welcher
thatsächlich die verleumderische Darstellung verkauft oder ausgestellt hat,
sondern auch — insofern er zu einem solchen Verkaufe bezw. zu einer
solchen Ausstellung bevollmächtigt war — sein Prinzipal, wenn derselbe nicht
nachweisen kann, dass im besonderen Falle der Gehülfe zu der in Frage
stehenden Handlung nicht ermächtigt war und dass er (d. h. der Prinzipal)
die nötige Vorsicht angewandt hat — Stephen art. 270 zweiter und dritter Ab-
satz. Wenn der Eigentümer einer Zeitung die Leitung dem Redakteur über-
lässt, so muss Beweis darüber erhoben werden, ob er in einem gegebenen
Falle Ermächtigung zur Verbreitung einer verleumderischen Darstellung ge-
geben hat. Wenn nachgewiesen wird, dass der Eigentümer dem Redakteur
^) Die Verleumdung durch gesprochene Worte heisst „slander"; civilrechtlichen
Anspruch haben sowohl „slander** als „libel", eine strafrechtliche Verfolgung kann
nur in Bezug auf „libeP erfolgen.
*^) Der Entw. will auch eine Darstellung, deren Absicht es ist, denjenigen, an
den sie gerichtet ist, zu beleidigen, bestrafen. Seine Absicht war somit die Schaffung
eines neuen Delikts: der Beleidigung durch Schrift, Druck oder sonstige dem Auge
wahrnehmbare Darstellung.
^) Der Entw. ändert die Bestimmung etwas zu Gunsten der Zeitungs verkauf er
und Buchhändler.
654 England und Irland. — Besonderer Teil.
gestattet hat, VerlenmduDgen zu verbreiten, oder dass er sich der Verbreitung
von Verleumdungen durch seine Zeitung gegenüber gleichgültig verhielt, so
gilt dies als Beweis der Ermächtigung. Stephen art. 270 vierter Absatz, Entw.
§280 zweiter Absatz.
Nur die böswillige (malicious) Verbreitung einer Verleumdung ist strafbar,
aber ebenso wie die „malice aforethought" bei den Tötungsdelikten ist der
Ausdruck „malice" bei dem „libel" nur eine kurze Bezeichnung für teilweise
rein objektive Umstände.^) Die Abwesenheit der „malice" wird nämlich nur
unter folgenden Umständen angenommen: a) wenn die behaupteten Thatsachen
wahr sind und der Urheber nachweisen kann, dass ihre Verbreitung im öflFent-
lichen Interesse geboten war (Stephen art. 271, Entw. § 240), ß) wenn die
Verbreitung der Verleumdung unter Umständen erfolgte, für welche das Recht
durch spezielle Vorschriften möglichst unbeschränkte Freiheit der Äusserung
gesichert hat. Hierbei sind wieder zwei Fälle zu unterscheiden: aa) Verleum-
derische Angaben, welche unter keinen Umständen einer strafrechtlichen Ver-
folgung wegen Verleumdung unterzogen werden können: es sind dies die
im Verlaufe einer gerichtlichen Verhandlung erfolgenden Äusserungen der
Richter, Rechtsbeistände, Zeugen und Parteien (Stephen art. 276, Entw.
§ 230). ßß) Verleumderische Angaben, in Bezug auf welche eine strafrecht-
liche Verurteüung nur erfolgen kann, wenn nachgewiesen wird, dass der
Verbreiter derselben thatsächlich von einem böswilligen Motiv*) beeinflusst
war. Es gehören hierher: aacL) Mitteilungen, deren Verbreitung durch eine
gesetzliche, sittliche oder soziale Verpflichtung oder ein rechtmässiges persön-
liches Interesse veranlasst wird, wenn der Verbreiter dieselben in gutem Glauben
für wahr hält und der Inhalt derselben die der Gelegenheit angemessenen
Grenzen nicht überschreitet (Stephen art. 273, Entw. §§ 237—238). ßßß) Tadelnde
Urteile über Personen, welche Anteil am öffentlichen Leben nehmen, und über
wissenschaftliche oder künstlerische Leistungen, insofern ein solches Urteil dem
Urheber desselben aus sorgfältig erwogenen Gründen gerechtfertigt erschien
(Stephen art. 274, Entw. § 234). yyy) Berichte über Parlamentsverhandlungen
(3und4Vict. cap. 951, Stephen art. 275, Entw. §232) und Gerichtsverhand-
lungen (Stephen art. 277, Entw. § 232). (Über die besonderen Privilegien der
Zeitungen vgl. oben § 8 V 2.)
b) Besondere Fälle des libel: a) Libel in Unkenntnis der Unwahrheit
der dargestellten Thatsachen. Strafe : 1 Jahr Gef. und Geldstrafe (Libel Act
1843 § 5, Stephen art. 278 dritter Absatz, Entw. § 243). ß) Libel im Bewusst-
sein der Unwahrheit der dargestellten Thatsachen. Strafe: Gef. und Geldstrafe
(a. a. 0. § 4, Stephen art. 278 zweiter Absatz, Entw. § 242). y) Libel oder An-
drohung eines solchen in der Absicht einen Vermögensvorteil oder die Er-
nennung zu einem Amte von dem Bedrohten zu erpressen. Strafe: Gef.
(dreyährig) und Zwangsarbeit (a. a. 0. § 3, Stephen art. 278 erster Absatz,
Entw. §241.)=^)
2. Strafbare Handlungen gegen die persönliche Freiheit, a) Die
*) Das Wort malice hat in Beziehung auf die Verleumdung ein ähnliches Schick-
sal gehabt wie die „malice aforethought" bei den Tötungsdelikten (vgl. oben I 1).
Dasselbe ist nur ein kurzer Ausdruck für die Abwesenheit gewisser rein objektiver
Umstände.
*) Nach der gewöhnlichen Ausdrucksweise unterscheidet man zwischen „malice
in law", d. h. der fingierten „malice'' und „malice in fact" (auch actual malice), d. h.
der thatsächlichen Böswilligkeit, welche unter den im Texte erwähnten Umständen
nachgewiesen werden muss. Stephen und der Entwurf wenden im ersten Falle den
Ausdruck „indirect motive" an.
=*) Dieses Delikt gehört unter die Kategorie der Nötigung (vgl. unten 2) bezw.
der Erpressung (IV D 2) und wird hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
§ 9. Strafbare Handlungen gegen die Recbtsgüter des Einzelnen. 655
Nötigung, a) Die versuchte oder vollendete Nötigung durch Bedrohung mit
einem Verbr. wird nur in einem Falle bestraft, nämlich im Falle der bereits
erwähnten Bedrohung mit verleumderischen Darstellungen in der Absicht, zu
einem Amte ernannt zu werden. Strafe: Oef. (dregährig) und Zwangsarbeit.
6 und 7 Vict. cap. 96 § 3, Stephen 278, Entw. § 241.^) ß) Die versuchte oder
vollendete Nötigung zum Zwecke der Teilnahme bei Ausständen wird durch
folgende Bestimmungen betroffen.
„Wer in der Absicht, eine Person zur Unterlassung oder zur Ausführung
einer Handlung zu nötigen, welche die betr. Person berechtigt ist auszuführen
bezw. zu unterlassen, eines der folgenden Mittel anwendet, nämlich: I.Gewalt
oder Drohungen gegen die betr. Person oder ihre Angehöiigen oder Beschädigung
von Sachen, welche derselben gehören; 2. Beharrliches Nachfolgen von Ort
zu Ort; S.Verstecken von Werkzeugen, Kleidern oder anderen von der betr.
Person benutzten Gegenständen oder Hinderung im Gebrauch derartiger Gegen-
stände; 4. Auflauern vor dem Hause oder der Werkstätte, wo die betr. Person
wohnt oder arbeitet oder ihr Gewerbe betreibt oder in der Nähe; 5. Lärmen-
des Nachfolgen zusammen mit mindestens zwei anderen Personen auf öffent-
licher Strasse — wird mit Geldstrafe bis zu £ 20 oder Gef. und Zwangsarbeit
bis zu 3 Monaten bestraft." (Summarisches Verfahren oder Indictment). Con-
spiracy and Protection of Property Act 1875 § 7.
b) Die Freiheitsberaubung und Gefangenhaltung. Dieselbe kann
in allen Fällen als Angriff gegen die Person (vgl. oben §117) bestraft werden;
besonders mit Strafe bedroht sind folgende Fälle : 1. Widerrechtliche Einsper-
rung in einem Irrenhause oder in einem Privathause unter Behandlung des
Gefangenen als Geisteskranken. Strafe: Gef. (Lunacy Act 1890 §315). II. Ein-
sperrung einer weiblichen Person unter folgenden Umständen:^) a) in der Ab-
sicht, einem Manne oder Männern im allgemeinen Gelegenheit zum ausserehe-
lichen Beischlafe mit derselben zu geben; ß) in einem Bordell. Strafe: Gef.
und Zwangsarbeit. (Crim. Law Am. Act 1885 §8, Stephen art. 262 b.)
c) Der Menschenraub. Folgende Delikte gehören hierher: a) Die ge-
waltsame Wegnahme von Menschen in der Absicht, dieselben als Sklaven zu
behandeln. Strafe: 14 Jahre Zuchthaus. 5 Geo. IV cap. 113 §§ 2 und 10, Stephen
113. ß) Der Kinderraub,^) d. h. aa) die Wegnahme eines Kindes, welches das
vierzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, unter Anwendung von Gewalt
oder List; ßß) die wissentliche Aufnahme und Beherbergung eines in der er-
wähnten Art weggenommenen Kindes, in der Absicht, das Kind der Obhut der
Person, in deren Gewalt dasselbe steht, zu entziehen, oder in der Absicht,
demselben Kleidungsstücke oder andere Gegenstände wegzunehmen. Strafe:
7 Jahre Zuchthaus (P.). O. P. A. § 56, Stephen art. 263, Entw. § 222.
3. Strafbare Handlungen gegen die geschlechtliche Freiheit.
a)Die Entführung (abduction). Es gehören hierher die folgenden Delikte : a)Die
Wegnahme eines unverheirateten Mädchens, welches das sechzehnte Lebensjahr
nicht vollendet hat, aus der Obhut der Person, unter deren Gewalt dieselbe steht,
gleichviel ob mit dem Willen oder gegen den Willen der Entführten. Die
Thatsache, dass der Entführer Grund hatte anzunehmen, dass das entführte
Mädchen das Alter von 16 Jahren überschritten hatte, ist kein Entschuldigungs-
grund, hingegen fällt die Strafbarkeit der Handlung weg, wenn er nicht
*) Die Bedrohung mit Verbr. zum Zwecke der Bereicherung wird unten unter
der Rubrik Erpressung {vgl. unten IV D 2) erwähnt.
-) Als Mittel der Einsperrung wird auch die Entziehung notwendiger Kleidungs-
stücke angesehen. Eine Frauensperson, die unter diesen Umständen Kleidungsstücke
entwendet, kann weder civilrechtlich noch strafrechtlich belangt werden.
'0 Über die Entführung von Mädchen s. unten unter 3(a).
656 England und Irland. — Besonderer Teil.
wusste, dass die Entführte unter der Obhut des Gewalthabers war. O. P. A.
§ 55, Stephen art. 262, Entw. § 221. Strafe: Gef. und Zwangsarbeit, ß) Die
Wegnahme eines unverheirateten Mädchens, welches das achtzehnte Leben^'ahr
nicht überschritten hat, aus der Obhut der Person, unter deren Gewalt es
steht, in der Absicht, einem Manne oder Männern im allgemeinen Gelegen-
heit zum ausserehelichen Beischlafe mit derselben zu verschaffen, wenn der
Entführer nicht Grund hatte anzunehmen, dass die Entführte das achtzehnte
Lebensjahr überschritten hatte. Strafe: Gef. und Zwangsarbeit. Cr. Law
Am. Act § 7, Stephen art. 262 A. y) Die Wegnahme bezw. Entführung einer
weiblichen Person, welche eigenes Vermögen hat, in der Absicht der Ehe-
schliessung oder des ausserehelichen Beischlafs mit derselben in folgenden
Fällen : ad) Wenn dieselbe minderjährig ist und durch betrügerische Mittel der
Obhut der Person, unter deren Gewalt sie steht, entzogen wird, ßß) Wenn die
Wegnahme bezw. Entführung in gewinnsüchtiger Absicht erfolgt. Strafe: 14 Jahre
Zuchthaus. O. P. A. § 53, Stephen art. 261 (a, b), Entw. § 219. d) Die gewalt-
same Entführung einer weiblichen Person im allgemeinen. Strafe: 14 Jahre
Zuchthaus. O. P. A. § 54, Stephen art. 261c, Entw. § 218. e) Die Verabredung,
eine weibliche Person der Obhut ihrer Eltern zu entziehen in der Absicht, die-
selbe wider den Willen derselben zur Eingehung der Ehe zu bestimmen. Strafe:
Gef, Stephen art. 174.
b) Die Kuppelei, a) Einfache Kuppelei, aa) Die versuchte oder voll-
endete Verkuppelung unter Anwendung von Drohungen, ßß) Die Anwendung
von Betäubungsmitteln bei einer weiblichen Person in der Absicht, einem Manne
den ausserehelichen Beischlaf zu ermöglichen.^) yy) Die Verkuppelung einer
weiblichen Person, welche nicht einen offenkundigen unsittlichen Lebenswandel
führt. I. Wenn dieselbe das 21. Lebensjahr noch nicht überschritten hat (der
Versuch ist mit derselben Strafe bedroht). IL Unter Anwendung falscher Vor-
spiegelungen, dd) Die versuchte oder vollendete Verleitung einer weiblichen
Person: I. zur Prostitution; IL zum Verlassen des vereinigten Königreichs in
der Absicht, sie auswärts in einem Bordell unterzubringen; III. zum Ver-
lassen ihrer Wohnung im vereinigten Königreich (insofern dieselbe kein Bordell
ist) in der Absicht, sie in einem Bordell unterzubringen. Strafe: G^f. und
Zwangsarbeit. Cr. Law Am. A. §§ 2 und 3, Stephen art. 173. — ß) Gewährung
von Raum zur Ermöglichung des ausserehelichen Beischlafs mit jugendlichen
Pei'sonen oder wissentliche Duldung desselben durch den Inhaber*) der dazu
benutzten Wohnung: aa) im Falle von nicht dreizehnjährigen weiblichen Per-
sonen. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus. Cr. Law Am. A. §6. ßß) Im Falle
von weiblichen Personen im Alter von zwischen dreizehn und sechzehn Jahren.
Strafe: Gef. und Zwangsarbeit. Wenn der Angeklagte nachweisen kann, dass
er guten Grund hatte anzunehmen, dass die weibliche Person, um die es sich
handelt, das Alter von sechszehn Jahren überschritten hatte, so fällt die Straf-
barkeit weg. — y) Verabredung zur Kuppelei. Strafe: Gef. Stephen art. 174,
Entw. § 149.
c) Die Nötigung zur Unzucht. Es gehören hierher: a) Die Notzucht
(rape), d. h. die Nötigung einer weiblichen Person zur Duldung des ausserehe-
lichen'^) Beischlafs. Unter den Begriff der Nötigung fallen nach englischem
^) Wenn der Beischlaf thatsftchlich vollzogen wird, solange der Zustand der
Betäubung dauert, wäre der Thatbestand der Beihülfe zur Notzucht gegeben.
■^) Auch ein Vater, der seiner bei ihm wohnenden Tochter gestattet, seine
Wohnung zur Ausübung der Prostitution zu benutzen, wird von der hier erwähnten
Bestimmung betroffen. R. v. Webster, 16 Queen 's Bench Division 136.
■*) V^. Stephen art. 254'. — Stephen ist jedoch der Ansicht, dass eine gewalt-
same Erzwingung des Beischlafs von der eigenen Ehefrau unter gewöhnlichen Um-
ständen als unzüchtiger Angriff (s. unter ß) bestraft werden könnte.
§ 9. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter des Einzelnen. 657
Recht auch die Fälle, in welchem die genötigte Person in einem Zustande der
Bewusstlosigkeit oder Willenlosigkeit war. Durch positive gesetzliche Bestim-
mung ist die Erschleichung des Beischlaf^ durch Erregung der Meinung, dass
der Mann, welcher den Beischlaf verlangt, der Ehemann der missbrauchten
weiblichen Person ist, der Notzucht gleichgestellt worden.^) Strafe: lebens-
längliches Zuchthaus. 0. P. A. § 48, Cr. Law Am. Act 1885 § 4, Stephen art. 253 a,
254, 254a, 255, Entw. §§ 207, 208.*) ß) Unzüchtige Angriffe (Indecent assaults).
aa) Im allgemeinen. Der BegriflP des assault ist bereits oben (unter 1 2 c) definiert
worden, als „ein Angriff gegen eine Person mit der wirklichen oder schein-
baren Absicht, Gewalt gegen dieselbe auszuüben". Erfolgt ein solcher Angriff
in unzüchtiger Absicht, so wird er als indecent assault bezeichnet. Der Begriff
der Gewalt schliesst selbstverständlich die Einwilligung des Angegriffenen aus,
doch wird auf Grund einer zwingenden gesetzlichen Bestimmung angenommen,
dass (sowohl männliche als weibliche) Kinder unter 13 Jahren ihre Einwilligung
zu unzüchtigen Handlungen nicht fireiwDlig geben können (Indecent Assault Act
1880).^) ßß) Unzüchtige Angriffe gegen männliche Personen. Strafer 10 Jahre
Zuchthaus. 0. P. A. § 62, Stephen art. 242. yy) Unzüchtige Angriffe gegen
weibliche Personen. Strafe: Gef. und Zwangsarbeit. 0. P. A. §52, Stephen
art. 245 c, Entw. 204 a, b. y) Ausserehelicher Beischlaf mit jugendlichen und
geistesschwachen weiblichen Personen*) wird in folgenden Fällen bestraft:
aa) Beischlaf mit weiblichen noch nicht dreizehnjährigen Personen. Strafe:
lebenslängliches Zuchthaus. Cr. L. Am. Act 1885 § 4, Stephen art. 255b, Entw.
§§210 und 211 (jedoch mit Strafmilderung, wenn es sich um Personen im Alter
von 12 — 13 Jahren handelt). Der Versuch ist mit Gef. und Zwangsarbeit
strafbar. Crim. Law Am. Act § 4, Stephen art. 256(1). ßß) Beischlaf mit weib-
lichen Personen im Alter von 13 — 16 Jahren und mit geistesschwachen Per-
sonen.'^) Im ersteren Falle fällt die Strafbarkeit der Handlung weg, wenn der
Thäter guten Grund hatte anzunehmen, dass die von ihm gemissbrauchte Per-
son das Alter von 16 Jahren überschritten hatte.®) Strafe: Gef. und Zwangs-
arbeit. Crim. Law Am. Act § 5. yy) Beischlaf mit weiblichen Personen, welche
als Geisteskranke in einer Anstalt oder in einem Privathaus untergebracht
sind, wenn von einem Anstaltsbeamten oder einer Person, deren Obhut die
Kranke anvertraut ist, vollzogen. Strafe: Gef. und Zwangsarbeit. Lunacy
Act 1890 § 324. .
4. Strafbare Handlungen gegen die Familienrechte. Hierher
gehören folgende Delikte: a) Die Verletzung des Personenstandes, d. h.
a) die vorsätzliche Täuschung des Standesbeamten bei der Anzeige von Ge-
burtsfällen oder Todesfällen und die Fälschung von Bescheinigungen über den
Personenstand. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus. Births and Deaths Eegistration
Act 1874 (37 und 38 Vict. cap. 88 §40).') ß) Die vorsätzliche Entstellung bezw.
Unterdrückung erheblicher Thatsachen, über welche vor dem Standesbeamten
*) Knaben unter 14 Jahren sind durch eine praesumtlo juris et de jure von
der Strafbarkeit wegen Notzucht befreit (vgl. § 6 III b).
') Der Entw. bedroht den Versuch der Notzucht mit 7 Jahren Zuchthaus (§ 209).
Nach geltendem Recht ist keine besondere Strafe für den Versuch festgesetzt.
*) Die Anwendung von List wird in diesem Falle der Gewalt gleichgeachtet,
z. B. jemand überredet ein Mädchen unter der Vorspiegelung, er sei ein Arzt, ihm
zu gestatten, sie auszuziehen, vgl. Stephen art. 241.
*) Es ist nicht erheblich, ob die betr. Personen unbescholten sind oder nicht.
*) Wenn die geistesschwache Person überhaupt nicht imstande ist, ihre Ein-
willigung zum Beischlaf zu geben, so wäre das Delikt als Notzucht zu behandeln.
**) Bei Mädchen unter 18 Jahren ist die irrtümliche Annahme eines höheren Alters
kein Entschuidigungsgrund.
^) Über die Amtsdelikte bei der Eheschliessung vgl. § 8 IV 1.
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I. 42
658 England und Irland. — Besonderer Teil.
vor Eingehung einer Ehe eine Erklärung abzugeben ist und ebenso die Be-
anstandung einer Ehe durch eine vorsätzlich falsche Erklärung, nach welcher
die Einwilligung des Deklaranten zu der Ehe nötig ist. Strafe: 7 Jahre Zucht-
haus (jedoch misd.). 19 und 20 Vict. cap. 119 §§2 und 18.^) y) Die Fälschung
einer zum Zwecke der Eheschliessung von einem Bischof oder von einem
Standesbeamten ausgestellten Licenz (Marriage Licence) oder einer Bescheinigxmg
über eine erfolgte Eheschlicssung. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus (E.). Forgery
Act § 35, Stephen art. 361g.
b) Die Doppelehe,*) d.h. die vorsetzliche Eingehung einer neuen Ehe
durch einen Ehegatten vor Auflösung einer früheren Ehe und ebenso die
Eingehung einer Ehe durch eine unverheiratete Person mit einem Ehegatten
in Kenntnis seiner bestehenden Ehe. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus. Nach sieben-
jähriger Abwesenheit eines Ehegatten ist der andere Ehegatte nach positiver
Rechtsbestimmung berechtigt anzunehmen, dass letzterer gestorben ist, wenn
er nicht weiss, dass derselbe während der erwähnten Zeit gelebt hat (präsumiert
wird die Abwesenheit dieser Kenntnis), es fällt daher unter diesen Umständen
das Element des Vorsatzes weg und das Gleiche ist der Fall, wenn — auch vor
Ablauf der siebenjährigen Frist — der Ehegatte, der zur zweiten Ehe schritt,
aus entschuldbarem Irrtum den Tod des anderen Ehegatten annahm. 0. P. A.
§ 57, Stephen art. 257, Entw. §§ 216 und 217.^)
5. Hausfriedensbruch. Das gewaltsame Eindringen in ein Besitztum,
das sich im thatsächlichen Besitze eines anderen befindet, gleichviel ob der
Eindringende eine Recht auf den Besitz hat oder nicht, bildet den Thatbestand
eines Delikts, das als „forcible entry" bezeichnet wird. Die gewaltsame Be-
hauptung eines widerrechtlich erworbenen Besitzes wird als „forcible detainer"
bezeichnet. Strafe in beiden Fällen: Gef. Stephen art. 79, Entw. § 95.*)
6. Die Bedrohung. Nur die Bedrohung mit der Begehung einzelner
besonders hervorgehobener Delikte wird vom englischen Recht mit Strafe
bedroht.
Es gehört hierher: a) die schriftliche Androhung des Mords (d. h. der
Ermordung einer beliebigen auch dem Bedrohten unbekannten Person). Strafe:
10 Jahre Zuchthaus (E. P.). O. P. A. § 16, Stephen art. 234. b) Die schrift-
liche Androhung der Brandstiftung, sowie der Tötung oder Verstünmielung
nützlicher Tiere. Strafe: 10 Jahre Zuchthaus (E.). M. D. A. § 50, Stephen
art. 379.*^)
III. Dritter Abschnitt. Strafbare Handlungen gegen Individual-
rechte, a) Die Verletzung des Urheberrechts, a) An Schriftwerken.
Bestraft wird die Impörtation auswärtiger Nachdrucksexemplare und das vor-
sätzliche Feilhalten derselben. Strafe: Geldstrafe im Betrage von £ 10 ausser
dem doppelten Werte der importierten Nachdrucksexemplare; femer Vemich-
^) Diese Bestimmung bezieht sich nur auf solche Eheschliessungen, in Bezug
auf welche Erklärungen vor dem Standesbeamten abzugeben sind. Bei Eheschliess-
ungen, die in der englischen Kirche nach dreimaligem Aufgebot vollzogen werden,
ist eine derartige Erklärung nicht vorgeschrieben.
^) Der Ehebruch und die Delikte des StGB. § 170 sind nach englischem Recht
nicht strafbar.
') Der Entw. lässt den entschuldbaren Irrtum nicht gelten. Seit der Entsch. in
Sachen Reg. v. Tolson 23 Q. B. D. 168 muss indessen die Frage als erledigt betrachtet
werden. Vgl. oben § 6 III 2 d.
*) Es bestehen eine Reihe gesetzlicher Bestimmungen über den Gegenstand.
Das älteste noch unverändert in Kraft stehende G. wurde im J. 1381 erlassen. (5 Ric. II
stat. 2 cap. 7).
*) Die Androhung von Verleumdungen gehört teilweise in das Gebiet der
Nötigung (vgl. oben unter II 2), teilweise in das der Erpressung (vgl. unten unter IV
D 2). In das letztere Gebiet gehört auch die Bedrohung mit falscher Anschuldigung.
§ 9. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter des Einzelnen. 659
tung der letzteren. 5und6Vict. cap. 45 §17. ß) An Gemälden, Zeichnungen
und Photographieen. Bestraft wird die unbefugte Nachahmung oder Verviel-
fältigung derselben, ebenso ihre vorsätzliche Importierung oder Feilhaltung.
Strafe £ 10 Geldstrafe für jedes Exemplar und Verwirkung der betr. Exem-
plare. (25 und 26 Vict. cap. 68 §§7, 10, 11).^)
b) Die Verletzung des Markenrechts. Strafbar ist a) die wider-
rechtliche Nachahmung einer geschützten Marke oder die Entstellung einer
echten Marke und ebenso gewisse hiermit im Zusammenhang stehende Vor-
bereitungshandlungen, und ebenso die Bezeichnung von Waren oder deren Ver-
packung mit derartigen Marken, ß) Das vorsätzliche Feilhalten von widei^
rechtlich bezeichneten Waren. Strafe: 2 Jahre Gef. und Zwangsarbeit oder
Geldstrafe. (Merchandise Marks Act 1887, 50 und 51 Vict. cap. 28 §§ 2—6.)
IV. Vierter Abschnitt. Strafbare Handlungen gegen Vermögens-
rechte. A. Strafbare Handlungen gegen Sachenrechte.
1. Widerrechtliche Aneignung von Sachen ohne Anwendung von
Gewalt oder Drohungen (larceny). a) Übersicht. Kein Teil des englischen
StR. befindet sich in einem so chaotischen Zustande wie die Bestimmungen
über Diebstahl und Unterschlagung (larceny). Nach gemeinem Rechte war
larceny die Wegnahme einer fremden, beweglichen, einen selbständigen
Geldwert habenden Sache in der Absicht der rechtswidrigen Aneignung.
Unter Wegnahme verstand man Wegnahme aus dem Besitze, wobei aber
vielfach Verwirrungen infolge der inkonsequenten Anwendung des Begriffs
„Besitz" entstanden, der bald als juristischer bald als faktischer Besitz kon-
struiert wurde. Ebenso gab das Erfordernis der Beweglichkeit zu eigentüm-
lichen Unterscheidungen Anlass, so waren Urkunden über Grundstücke oder
persönliche Forderungen (z. B. Banknoten) nicht stehlbar, Urkunden über Rechte
an beweglichen Sachen wurden hingegen als bewegliche Sachen angesehen.
Das Effordernis des selbständigen Geldwerts führte ebenfalls zu Anomalieen,
indem durch Präjudizien ein für allemal festgestellt wurde, dass gewisse
Sachen (z. B. Hunde oder Katzen) keinen Geldwert haben und die Wegnahme
derselben daher auch nicht strafbar ist.
Die Strafbemessung hing davon ab, ob der Wert der gestohlenen Sache
einen Shilling überschritt oder nicht. Im letzteren Falle lag kleine larceny
vor, die mit leichten Strafen bedroht war, im ersteren die als felony mit dem
Tode bedrohte grosse larceny, deren Bestrafung indessen durch das benefit
of clergy (vgl. § 1) eine Zeitlang in unregelmässiger Weise gemildert wurde.
Die Gesetzgebung veränderte diesen Zustand allmählich- Das benefit of clergy
wurde einer Reihe von Arten des Diebstahls allmählich entzogen, eine Anzahl
von Sachen, die nach common law nicht gestohlen werden konnten, wurden
durch G. für stehlbar erklärt und damit die eigentümliche Unterscheidung
zwischen larceny at common law und larceny by Statute eingeführt, die noch
heute eine gewisse Bedeutung hat. Endlich wurden, um den eigentümlichen
Inkonsequenzen zu entgehen, welche durch die oben erwähnte VerwiiTung über
den Begriff des Besitzes sich ergeben hatten, verschiedene Handlungen durch
G. als larceny bezeichnet, welche in die ursprüngliche Definition dieses Delikts
überhaupt nicht hineinpassen. Unter diesen Umständen hat der BegriflF larceny
eine Ausdehnung angenommen, die sich ebenso wie murder und manslaughter
^) Der strafrechtliche Schutz der Werke der Skulptur ist durch die Patent,
Designs und Trade Marks Act v. 1883 aufgehoben. Die Verletzung des Urheberrechts
an dramatischen Werken und an musikalischen Bestimmungen wird vom StR. nicht
berücksichtigt. Bei den im Text erwähnten Delikten fällt die Geldstrafe teilweise
oder ganz dem Inhaber des Urheberrechts zu. Es handelt sich aber um ein rein
strafrechtliches Verfahren.
42*
660 England und Irland. — Besonderer Teil.
-— vgl. oben unter II — durch einen deutschen technischen Ausdruck nicht
wiedergeben lässt. Es müssen vielmehr in erster Linie die Handlungen auf-
gezählt werden, die als larceny gelten, in zweiter Linie muss der Begriff der
nach heutigem Rechte stehlbaren Sachen näher festgestellt werden.
b) Larceny und Embezzlement. Jemand begeht larceny I. wenn er
eine stehlbare Sache (vgl. unten unter d) in der Absicht widerrechtlicher
Aneignung auf eine der folgenden Arten in seinen Gewahrsam bringt.
a) Durch Wegnahme ohne Genehmigung des rechtmässigen Inhabers^) —
ohne Rücksicht darauf, in welchem Gewahrsam die Sache sich im Augen-
blick der Wegnahme befindet; jedoch ist die Wegnahme gefundener Sachen
nur dann als larceny strafbar, wenn der Finder zur Zeit der Wegnahme ent-
weder weiss, wer der rechtmässige Inhaber ist oder dies ohne Schwierigkeit
hätte ermitteln können. (Stephen art. 296, 302).^) ß) Durch betrügerische
Angaben, welche den rechtmässigen Inhaber veranlassen, den Gewahrsam,
aber nicht das Eigentum zu übertragen (Larceny by a false pretence,^)
vgl. Stephen art. 298 und die Entsch. in Sachen Queen v. Russett, 1892,
2 Queen's Bench 312). y) Infolge eines Irrtums des rechtmässigen Eigentümers,
welcher in dem Augenblick des in den Gewahrsamnehmens dem Diebe bekannt
ist. (Stephen art. 299.)*) — IL Wenn er eine stehlbare Sache in einer Weise
in seinen Gewahrsam bringt, welche eine Civilklage ex delicto begründen
würde und später in widerrechtlicher Weise dieselbe als Eigentümer behandelt.
Stephen art. 303. — III. Wenn er eine stehlbare Sache, die auf Grund eines
Rechtsgeschäfts in seinem Gewahrsam ist, ^) in widerrechtlicher Weise als Eigen-
tümer behandelt — jedoch nur dann, wenn es sich nicht um eine der gering-
wertigen Sachen handelt, deren Diebstahl durch summarisches Verfahren ver-
folgbar ist (vgl. unten unter e ß). Stephen art. 300. — IV. Wenn er eine
.stehlbare Sache, die er als Gehülfe oder Diener (Clerk orServant)*) des recht-
mässigen Inhabers in seinem Gewahrsam hat, in widerrechtlicher Weise als
Eigentümer behandelt. Wird die Sache von dem Gehülfen oder Diener, ehe sie
in den Besitz des rechtmässigen Inhabers gelangt ist, in widerrechtlicher
*) Rechtmässiger Inhaber giebt am besten den englischen Ausdruck owner
wieder; als owner gilt in diesem Sinne jeder, der ein besseres Recht auf den Gewahr-
sam der Sache hat, als der Wegnehmende (z. B. der Nichteigentümer dem Eigentümer
gegenüber, wenn ersterer die Sache auf Grund eines Rechtsgeschäfts in seinem Ge-
wahrsam hat). Einem Fremden gegenüber gilt jeder Inhaber als rechtmässiger In-
haber (vgl. z. B. die bekannte Entsch. in Sachen Armory v. Delamirie, 1 Smith Leading
Cases, 8. Aufl. S. 374 und Stephen art. 283).
*) Über den Funddiebstahl vgl. ferner Pollock and Wright, Possession in the
Common Law. London 1888. S. 180—187.
*) Wenn der Eigentümer durch betrügerische Angaben veranlasst wird, das
Eigentum zu übertragen, so liegt ein anderes Delikt vor (Obtaining money or goods
under false pretences — vgl. unten unter Dl.)
*) Es ist zweifelhaft, ob larceny auch vorliegt, wenn der Empfänger den Irrtum
erst später merkt. In Sachen Queen v. Ashwell (16 Queen's Bench Division 190, 1885)
waren sieben Richter der Meinung, dass Jemand, dem ein Goldstück in der irrtümlichen
Annahme übergeben wird, dasselbe sei ein Silberstück, und der dies erst später be-
merkt, dann aber das Goldstück widerrechtlich behält, wegen larcenv zu bestrafen
ist, während die anderen sieben Mitglieder des höchstinstanzlichen Strafsenats der
gegenteiligen Meinung waren.
*) Rechtsgeschäfte, auf Grund deren der Gewahrsam einer beweglichen Sache
dem Nichteigentümer übergeben wird, werden als „bailments", der den Gewahrsam
Übergebende als „bailor", die die Sache in seinem Gewahrsam Nehmende als „bailee"
bezeichnet.
*) Wer in diesem Sinne als Gehülfe und Diener anzusehen ist, kann nur durch
eine Aufzählung von einzelnen Fällen erklärt werden, für welche hier kein Raum ist,
vgl. Stephen art. 3U9.
§ 9. Strafbare Handlungen gegen die Rechts guter des Einzelnen. ßßl
Weise angeeignet, so heisst das Delikt nicht larceny, sondern embezzlement
(Stephen art. 297, 309— 311). i)
In allen Fällen ist larceny auch dann vorhanden, wenn der Dieb eine
Sache, deren Miteigentümer er war, sich angeeignet hat (31 und 32 Vict. cap.
116 § 1, Stephen art. 301).
c) Vergleichung mit dem deutschen StR. Die unter I. a) auf-
geftlhrten Handlungen würden nach deutschem Recht bestraft werden als Dieb-
stahl^) (RStGB. Art. 342), als Besitzentziehung (Art. 289) und insofern es sich
um Funddiebstahl handelt, als Unterschlagung (Art. 246); die unter I. ß) und
y) aufgeführten als Betrug (Art. 263), die unter IL, III. und IV. aufgeführten
und ebenso embezzlement als Unterschlagung (Art. 246). Die Gebrauchsan-
massung (vgl. Art. 290) ist nach englischem Recht nicht strafbar (Stephen
art. 306).
d) Begriff der stehlbare^ Sachen.*) Nach gemeinem Rechte waren
nicht stehlbar: I. Sachen, welche nur dadurch beweglich werden, dass sie
von einer unbeweglichen Sache losgelöst werden, insofern es sich um das
Wegnehmen handelt, welches in unmittelbarem Zusammenhang mit der Los-
lösung erfolgt (Stephen art. 287, Pollock and Wright S. 230). IL Urkunden,
welche sich auf Rechte an unbeweglichen Sachen oder persönliche Forderungs-
rechte beziehen (Stephen art. 288). III. Folgende Arten von lebenden Tieren:
A. Zahme Tiere, welche nicht zur Arbeit, Nahrung oder sonstigen Nutzung
verwendet werden (z. B. Hunde oder Katzen). B. Wilde Tiere. C. Niedere
Tiere im allgemeinen (Stephen art. 290, 291, Pollock and Wright 231).
IV. Herrenlose Sachen, res extra commercium (z. B. menschliche Leichname)
und Sachen, die keinen Geldwert haben (Stephen art. 292 — 299).
Die Qualität der Stehlbarkeit wurde durch G. den folgenden Sachen beigelegt:
I. a) Gegenständen, welche in Häusern baulich eingefügt sind (sogenannte
fixtures) und mit dem Boden verbundenen Gegenständen aus Metall, welche zum
Schutze und Zierrath von Gärten und öffentlichen Plätzen (mit Einschluss von
Begräbnisplätzen) bestimmt sind, ferner auch Thoren, Zäunen usw. L. A. §§31,
34, 74. ß) Bäumen und Pflanzen (teilweise nur insoweit sie den Wert von
1 Shüling überschreiten). (L. A. §§ 32—34, 36—38). IL Gewissen einzeln
aufgezählten Urkunden über Forderungsrechte und allen Urkunden über Grund-
eigentum (L. A. §§ 27 und 30). IIL Hunden und anderen Haustieren (L. A.
§§18 und 21). Larceny bei den unter I, II und III erwähnten Gegenständen
heisst Larceny by Statute.
e) Arten der Larceny. a) Einfache larceny. Larceny wird, wenn
es sich um nach gemeinem Rechte stehlbare Gegenstände handelt, stets als
felony behandelt, handelt es sich hingegen um larceny by Statute, so entscheidet
die Natur des gestohlenen Gegenstandes, ob im besonderen Falle eine felony
^) Die Unterscheidung lässt sich am besten durch folgendes Beispiel erläutern.
Ein Diener empfängt für seineu Herrn Tafelsilber und eignet sich dasselbe in rechts-
widriger Weise an; geschieht dies sofort nach Empfang, so handelt es sich um em-
bezzlement, hat er das Silber aber vorher in den Silberschrank gethan, so handelt es
sich um larceny. Vgl. auch Pollock and Wright a. 0. S. 198. Die Strafe für em-
bezzlement und larceny ist, genau dieselbe und es ist ausdrücklich bestimmt, dass eine
Klage nicht abzuweisen ist, weil ein Fall von larceny in der Klageschrift irrtümUch
als embezzlement bezeichnet ist oder umgekehrt, aber die Unterscheidung wird noch
immer aufrecht erhalten, vgl. Larceny Act §§ 67, 68, 72.
') Auch der Raub würde in die Definition hineinpassen, derselbe wird indessen
gesondert behandelt (vgl. unten unter 2).
8) Die Electric Lighting Act v. 1882, 45 und 46 Vict. cap. 56 (§ 23), behandelt den
unbefugten Gebrauch von Elektrizität als larceny, obgleich man dabei weder von
einem wegnehmen noch von einer Sache sprechen kann.
662 England und Irland. — Besonderer Teil.
oder ein milder zu behandelndes Delikt vorliegt; das Normalstrafmaximum für
larceny, die als felony bestraft wird, ist 5 Jahre Zuchthaus (Larceny Act § 4,
Penal Servitude Act 1864 §2, Penal Servitude Act 1891 § 1[1]) und das G.
bezeichnet larceny, bei welcher dieses Strafmaximum anwendbar ist, als simple
larceny. Über den Rückfall vgl. unten unter d).
ß) Milder behandelte Fälle. Eine erhebliche Strafmilderung tritt ein,
wenn die folgenden Sachen Gegenstand der larceny sind, aci) Bäume und
Pflanzen, insoweit ihr Wert den Betrag von £ 5 (und im Fall von Bäumen
und Pflanzen in Gärten und Treibhäusern von £ 1) nicht überschreitet, Zäune,
Thore usw. (L. A. § 33.) ßß) Thiere, die nach gemeinem Recht nicht stehl-
bar sind. (L. A. § 21.) Die Strafen in beiden Fällen wechseln je nach der
Natur des besonderen Gegenstandes zwischen Geldstrafe und Gef. bis zu
6 Monaten und das summarische Verfahren ist anwendbar. Über den Rück-
fall vgl. unten unter S). yy) Erze von Metallen, Kohlen und gewisse andere
Mineralien. Strafe: 2 Jahre Gef. und Zwangsarbeit (E.) (jedoch felony) L. A.
§ 38. dS) Möbel und Hausgerät in Miethäusem, wenn vom Mieter oder einem
Gliede seiner Familie entwendet, insofern der Wert £ 5 nicht überschreitet.
Strafe: Gef. und Zwangsarbeit (E. P.). L. A. § 74.
y) Schwere larceny. Die mit schwerer Strafe bedrohten Fälle der larceny
lassen sich je nach dem Grund der Erschwerung wie folgt einteilen: aa) Be-
sondere Natur des Gegenstandes: I. Urkunden über letztwillige Verfügungen.
Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). L. A. § 29. II. Pferde, Rindvieh
und Schafe. Strafe: 14 Jahre Zuchthaus (E.). L. A. §§10 und 11. HI. Möbel
und Hausgerät (auch wenn in das Haus baulich eingefügt) in Miethäusem,
wenn der Thäter der Mieter oder ein Mitglied seiner Familie ist und der Wert
£ 5 überschreitet. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus (E. P.). L. A. § 74. — ßß) Besondere
Umstände der That: I. Postdiebstahl. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.).
7 Will 4 und 1 Vict. cap. 36 §§ 27, 28. II. Diebstahl von der Person.^) Strafe:
14 Jahre Zuchthaus (E.). L. A. § 40. III. Diebstahl und Unterschlagung von
Garn und gewobenen Stoffen im Werte von über 10 Shillings während der
Fabrikation oder Zubereitung. Strafe: 14 Jahre Zuchthaus (E.). L. A. § 62.
IV. Diebstahl und Unterschlagung von Waren aus Schiffen oder von den Lan-
dungsplätzen. Strafe: 14 Jahre Zuchthaus (E.). L. A. §§63 und 64. V.Dieb-
stahl und Unterschlagung aus Wohnhäusern,*) wenn der Wert des Gegen-
standes £b überschreitet. Strafe: 14 Jahre Zuchthaus (E.). L. A. §§60 und
61. — yy) Besondere Eigenschaften des Thäters: I. Unterschlagung bezw.
Veruntreuung von Geld oder Wertpapieren durch Beamte der Bank von England
(bezw. der Bank von Irland). Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). L. A.
§ 73. II. Unterschlagung (bezw. Veruntreuung) durch Staatsbeamte und Po-
lizeibeamte utid durch Diener und Gehülfen von Geld oder anderen den-
selben bei der Ausübung ihres Amtes anvertrauten Gegenständen. Strafe:
14 Jahre Zuchthaus (E.). L. A. §§ 67 — 70. III. Unterschlagung (bezw. Ver-
untreuung) durch Bankiers, Kommissionäre, Makler, Anwälte, Kuratoren, Be-
amte von Aktiengesellschaften usw. von Geld oder anderen denselben bei der
Ausübung ihrer Berufsthätigkeit anvertrauten Objekten. Strafe: 7 Jahre Zucht-
haus (E.) — jedoch misdemeanor. L. A. §§ 76 — 85, vgl. auch Bankruptcy
Act 1890 § 27.*)
*) Über den Raub s. unten unter 2.
•) Über den Einbruch vgl. unten unter V 3. Der Diebstahl mit falschen
Schlüsseln, der bewafifnete Diebstahl und der Bandendiebstahl werden im englischen
Recht nicht besonders behandelt.
') Die technische Bezeichnung für ein derartiges Delikt ist „fraudulent breach
of trust". Dasselbe wird nicht als „larceny" oder „embezzlement'^ bezeichnet und
§ 9. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter des Einzelnen. 663
S) Diebstahl im Rückfall. Die unter /3) aufgeführten milder behandelten
Fälle sind bereits im ersten Rückfall meistens als misdemeanors durch indict-
ment zu verfolgen und mit Strafen von 6 Monaten bis zu 2 Jahren Gef. bezw.
Zwangsarbeit bedroht. Der Diebstahl von Pflanzen usw. aus Gärten oder
Miethäusem wird bereits im ersten Rückfall, der Diebstahl von Bäumen usw.
im Werte von über 1 Shilling im zweiten Rückfall als felony behandelt und
als simple larceny (vgl. oben unter a) bestraft (L. A. §§18, 19, 21, 22, 33, 34,
36, 37).
Ausserdem ist bestimmt, dass bei einer Verurteilung wegen simple larceny
das Strafmaximum zu erhöhen ist, wenn der Verurteilte bereits früher ver-
urteilt war: I. Wegen felony — auf 10 Jahre Zuchthaus (E. P.). IL Wegen
eines nach der Larceny Act als misdemeanor zu behandelnden Delikts oder
wegen zweier nach der Larceny Act, der Malicious Damage Act (Sachbeschä-
digung usw.) oder anderer (einzeln aufgezählter) summarisch verfolgbarer De-
likte — auf 7 Jahre Zuchthaus (E. P.). (L. A. §§ 7, 8, 9.)
c) Besitz von Sachen unter verdächtigen umständen. Der Besitz
oder die Feilhaltung von Gegenständen, welche zu einem gestrandeten Schiff
gehören ist strafbar, wenn der Besitzer sich darüber nicht ausweisen kann.
Summarisches Verfahren. Strafe: 6 Monate Gef. und Zwangsarbeit. L. A.
§§ 65 und 66.
2. Der Raub (Robbery). Der Raub ist nach englischem Recht eine
Abart des Diebstahls, gekennzeichnet durch die Anwendung von Gewalt oder
Drohungen, gleichviel ob dieselben sich gegen die Person, das Vermögen
oder den Ruf der beraubten Person richten. Die englische Robbery begreift
daher sowohl den Raub (RStGB. Art. 249), als die räuberische Erpressung (Art.
255) und die Erpressung (Art. 253, 254) des deutschen StR. in sich (über den
englischen Begriff der Erpressung siehe unten unter D 2), insoweit die Erpressung
den Thäter in den Besitz einer beweglichen Sache setzt.
Es ist zu unterscheiden:
a) Einfacher Raub. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus. Der Versuch ist mit
5 Jahren Zuchthaus strafbar. L. A. § 40, 45.
ß) Qualifizierter Raub, d. h. Raub: aa) durch jemanden, der Waffen führt,
ßß) unter Beteiligung mehrerer, yy) unter thatsächlicher Anwendung von Gewalt.
Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (P.). L. A. § 43, 26 und 27 Vict. cap. 44 § 1.
y) Angriff (assault vgl. oben unter I 2) in der Absicht des Raubes: aa) im
gewöhnlichen Falle. Strafe: 5 Jahre Zuchthaus (E.). L. A. §42; ßß) unter Be-
teiligung mehrerer. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (P.). L. A. § 43, 26 und
27 Vict. cap. 44 §•!, Stephen art. 296 (zweiter Absatz), 313.
3. Die Sachbeschädigung, a) Einfache Sachbeschädigung,^) d. h.
vorsätzliche und widerrechtliche Sachbeschädigung, insofern es sich nicht um
ein Delikt handelt, für welches besondere Vorschriften bestehen.
a) Wenn der Schaden mehr als £b beträgt. Strafe: Gef. und Zwangs-
arbeit. M. D. A. § 51.
ß) Wenn der Schaden weniger als £ 5 beträgt. Strafe: 2 Monate Gef.
und Zwangsarbeit oder Busse bis zu £ 5. Summarisches Verfahren. M. D. A. § 52.
b) Nächtliche Sachbeschädigung, d. h. vorsätzliche und widerrecht-
liehe Sachbeschädigung, die von 9 Uhr abends bis 6 Uhr morgens verübt wird,
insofern es sich nicht um ein Delikt handelt, für welches besondere Bestim-
würde in vielen Fällen auch nach deutschen Begriffen nicht als Unterschlagung son-
dern als Untreue (RStGB. Art. 266) behandelt werden.
^) Diejenigen Sachbeschädigungen, deren strenge Bestrafung dem Grunde zu-
zuschreiben ist, dass sie die Sicherheit des Verkehrs stören, werden unter V 2 be-
sprochen.
664 England und Irland. — Be8onderer Teil.
mnngen bestehen, wenn der Schaden mehr als £ 5 beträgt. Strafe: 5 Jahre
Zuchthaus. M. D. A. § 51.
c) Besondere Fälle der Sachbeschädigung.*) Bei allen den hier
zu erwähnenden strafbaren Handlungen gehören Vorsatz und Widerrechtlich-
keit zum Thatbestand. Es handelt sich um die folgenden Fälle:
a) Zerstöning (bezw. Beschädigung in der Absicht der Zerstörung) von
Stoffen und Maschinen, d. h. aa) von Maschinen und Werkzeugen, welche bei
der Spinnerei, Weberei, Strumpfwirkerei und ähnlichen Gewerben verwendet
werden und den Erzeugnissen dieser Gewerbe, so lange dieselben noch nicht
fertig hergestellt sind, und ebenso das gewaltsame Eindringen in die Fabrik-
räume in der Absicht der Zerstörung. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.
P.) M. D. A. § 14. ßß) Von anderen Maschinen. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus
(E. P.). M. D. A. § 15.
ß) Zerstörung bezw. Beschädigung von Bergwerken. Strafe: 7 Jahre
Zuchthaus (E. P.). M. D. A. § 28.
y) Tötung bezw. Verstümmelung oder Verwundung von Tieren, d. h.
aa) von Rindvieh und anderen im Betriebe der Landwirtschaft nützlichen Tieren
(cattle). Strafe: 14 Jahre Zuchthaus (E.). M. D. A. §40. ßß) Von anderen
stehlbaren (vgl. oben 1 d) Tieren. Strafe: 6 Monate Gef.; im Rückfall 1 Jahr
Gef. und Zwangsarbeit. M. D. A. § 41.
d) Zerstörung von Bäumen, Pflanzen und Zäunen, d. h. aa) von Hopfen,
der in Pflanzungen an Stangen wächst. Strafe: 14 Jahre Zuchthaus (E. P.).
M. D. A. § 19. ßß) Von Bäumen oder Gebüschen, insofern der Wert des Schadens
£ 5 überschreitet, oder insofern sie in einem Garten oder Park stehen und
der Wert des Schadens £ 1 überschreitet. Strafe: 5 Jahre Zuchthaus (E. P.).
M. D. A. §§ 20 und 21. Insofern der Schaden 1 Shilling überschreitet, aber den
oben erwähnten Wert nicht erreicht, ist das Strafmaximum 3 Monate Gef. und
Zwangsarbeit oder Geldstrafe (summarisches Verfahren — höhere Strafen bei
dem ersten bezw. zweiten Rückfall). M. D. A. § 22. yy) Von Pflanzen I. in
Gärten oder Treibhäusern. Strafe: 6 Monate Gef. und Zwangsarbeit oder Geld-
strafe (summarisches Verfahren). Im Rückfall wird das Delikt als felony an-
gesehen. Strafe: 5 Jahre Zuchthaus (E. P.). M. D. A. § 23. II. An anderen
Orten, insofern dieselben nützlich verwendbar sind. Strafe: 1 Monat Gef. und
Zwangsarbeit oder Geldstrafe, im Rückfall 6 Monate Zwangsarbeit. Summari-
sches Verfahren. M. D. A. §24. dd) Von Zäunen. Geldstrafe; im Rückfall
12 Monate Zwangsarbeit. Summarisches Verfahren. M. D. A. § 25.
e) Demolierung von Häusern und Losreissung baulich befestigter Gegen-
stände durch Mieter. Strafe: Gef. M. D. A. § 13.
C) Zerstörung oder Beschädigung von öffentlich ausgestellten oder in
öffentlichen Bibliotheken befindlichen Büchern und Schriftwerken, Kunstwerken
oder Denkmälern. Strafe: 6 Monate Gef. und Zwangsarbeit (P.). M. D. A. § 39.
B. Strafbare Handlungen gegen Okkupationsrechte.*) Die Be-
') Einzelne Fälle der Sachbeschädigung sind mit besonders schweren, andere
mit besonders leichten Strafen bedroht. Die Gesetzgebung über diesen Gegenstand
ist zum grossen Teil zufälligen Veranlassungen zuzuschreiben. Namentlich auffallend
ist die strenge Bestrafung der Zerstörung von Webstühlen, Strumpfwirkmaschinen usw.
Die hierauf bezügliche Bestimmung giebt in abgeänderter Form, und unter Ermässigung
der Strafe (welche die Todesstrafe war) auf lebenslängliches Zuchthaus, den Inhalt
des 1812 unter dem Einfluss der gewaltsamen Handlungen gegen die neu eingeführte
Maschinenindustrie (die sogenannten Luddite Riots) erlasseneu Gesetzes wieder.
*) Die Auffassung des Jagdrechts als eines mit dem Grundbesitz zusammen-
hängenden Occupationsrechts ist von der englischen Gesetzgebung erst seit 1881 an-
eenommen worden. Früher wurde das Jagdrecht als das Monopol einer privilegierten
Klasse angesehen. Vgl. Stephen Hist. III, 275—282.
§ 9. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter des Einzelnen. 665
Stimmungen gegen die Verletzung des Jagd- und Fischereireehts sind zu zahl-
reich, um hier alle wiedergegeben zu werden. Unter den strenger bestraften
Handlungen sind hervorzuheben.
1. Das unbefugte nächtliche Jagen von Hasen, Fasanen, Birkhühnern,
Moorhiihnem, Schwarzhühnem oder Kaninchen. Strafe im zweiten Rückfall:
7 Jahre Zuchthaus (jedoch misd.). 9 Geo. IV cap. 69 §§ 1, 12, 13.
2. Das unbefugte nächtliche Betreten eines Grundstückes in Verbindung
mit mindestens zwei anderen Personen, in der Absicht ein unter 1. bezeich-
netes Delikt zu begehen. Strafe: 14 Jahre Zuchthaus (jedoch misd.). 9 Geo. IV
cap. 69 §§ 9, 12, 13, Entw. § 94.
3. Der Angriff mit einer Waffe oder einem Stock gegen einen Jagd-
berechtigten oder Wildhüter usw., bei der Begehung eines unter 1. erwähnten
Delikts. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus (jedoch misd.). 9 Geo. IV cap. 69 § 2.
4. Das unbefugte Jagen von Rehen in einem umhegten Bezirk. Strafe:
Gef. und Zwangsarbeit (E. P.) — jedoch felony. L. A. § 13.
5. Der gewaltsame Angriff gegen einen Wildhüter usw. durch jemand,
der in der Absicht, ein unter 4. erwähntes Delikt zu begehen, ein Jagdrevier
betreten hat. Strafe: Gef. und Zwangsarbeit (E. P.), jedoch felony L. A. § 16.
6. Der unbefugte nächtliche Fischfang in der Nähe des Wohnhauses der
zur Fischerei berechtigten Person und ebenso der unbefugte Fischfang unter
denselben Umständen bei Tage, insofern er nicht durch Angeln bewirkt
wird, (in welchem Falle nur Geldstrafe verhängt werden könnte). Strafe: Gef.
L. A. § 24.
Unter den hier nicht angeführten Bestimmungen über denselben Gegen-
stand beziehen sich auf Wilddieberei L. A. §§ 14, 15, 17; auf den Fischfang
der Rest des oben citierten L. A. § 24; auf die Beschädigung von Austerlagem
L. A. § 20.
C. Strafbare Handlungen gegen Forderungsrechte. 1. Der
Vertragsbruch. Folgende Fälle sind strafbar:
a) Der vorsätzliche und böswillige Vertragsbruch in Kenntnis des Um-
standes, dass durch denselben voraussichtlich Lebensgefahr oder eine schwere
Körperverletzung entstehen wird, oder dass wertvolle Sachen durch denselben
der Zerstörung oder ernstlichem Schaden ausgesetzt werden. Wenn ein guter
Grund zur Annahme eines solchen Umstandes vorliegt, ist ein Nachweis, dass
derselbe thatsächlich der Vertragsbrüchigen Person bekannt war, nicht nötig.
Strafe: £20 Geldstrafe oder 3 Monate Gef. mit Zwangsarbeit. 38und39Vict.
cap, 86 § 5.
b) Der vorsätzliche und böswillige Vertragsbruch durch jemanden, der
bei einer öffentlichen Gasfabrik oder Wasserleitungsanstalt angestellt ist. Strafe:
wie unter a); 38 und 39 Vict. cap. 86 § 4.
c) Der Bruch des Heuervertrags, a) Von selten des Schiffers in gewissen
einzeln aufgezählten Fällen. Strafe: Gef. 17 und 18 Vict. cap. 104 §§ 206— 208.
ß) Von Seiten eines Mitglieds der Mannschaft, in gewissen einzeln aufgezählten
Fällen. Strafen: Busse und teilweise kurze Gefängnisstrafe (die längste Dauer
derselben ist 12 Wochen). 17 und 18 Vict. cap. 104 § 243.
2. Der Bankbruch und die mit demselben zusammenhängenden
Delikte, a) Der Bankbruch ist nach englischem Recht kein strafrechtlich
verfolgbares Delikt. Der Ausdruck „Bankruptcy" bedeutet „Konkursverfahren".
Unmittelbare Folge der Konkurserklärung ist die Unfähigkeit, gewisse Ämter
zu bekleiden (es gehören hierher Sitz imd Stimme im Parlament, das Friedens-
richteramt und überhaupt alle Ehrenämter bei der Kommunal Verwaltung), und
diese Unfähigkeit wird nur dann beseitigt, wenn der Gemeinschuldner seine Ent-
lastung (discharge) erwirkt und ihm zugleich vom Konkursgericht eine Be-
566 England und Irland. — Besonderer Teil.
scheinigung darüber ausgestellt wird, dass der Konkurs durch Unglücksfälle
und nicht durch sein Verschulden herbeigeführt wurde (Bankruptcy Act 1883
§§ 32—34).
b) Delikte des Gemeinschuldners. Folgende Handlungen sind straf-
bar, wenn sie in betrügerischer Absicht erfolgen. In den meisten Fällen wird
eine solche präsumiert. Die Eröffnung des Konkurses ist Bedingung der Straf-
barkeit.
a) Die Verheimlichung oder Entfernung von Vermögensstücken im Werte
von mindestens £ 10 nach Einreichung des Eröffiaungsgesuchs oder fHihestens
vier Monate vorher. Strafe: Gef. und Zwangsarbeit. Entweicht der Gemein-
schuldner aus England mit Vermögensstücken im Werte von mindestens £ 20,
so ist die Strafe die gleiche, aber das Delikt wird als felony behandelt. Debtors
Act 1869 § 11 (4, 5), § 12.
ß) Die Verheimlichung oder Entfernung von Handelsbüchern und Ur-
kunden oder die Vernichtung oder Fälschung derselben nach Einreichung
des EröflFnungsgesuches oder fHLhestens vier Monate vorher. Strafe wie bei a).
Debtors Act 1869 §§9—11.
y) Die Verheimlichung und Nichtauslieferung von Vermögensstücken,
Büchern und Urkunden an den Masseverwalter und die Hintergehung des-
selben oder der Gläubiger durch falsche Angaben oder die Unterlassung er-
heblicher Angaben. Strafe wie bei a). Debtors Act 1869 § 11 (1, 2, 3, 6, 7,
8, 12, 16).
S) Die Nichtzahlung von Waren und anderen Sachen, welche frühestens
vier Monate vor Einreichung des EröflEnungsgesuches auf Kredit gekauft worden
waren, wenn die Gewährung des Kredits durch falsche Darstellungen bewirkt
wurde.^) Strafe wie bei a). Debtors Act 1869 § 11 (13, 14).
e) Die Verpfändung oder der Verkauf unbezahlter auf Kredit gekaufter
Waren, insofern dies nicht im regelmässigen Geschäftsbetrieb und innerhalb
eines Zeitraums von vier Monaten vor Einreichung des Eröflfnungsgesuches
geschieht und insofern der Gemeinschuldner ein Kaufmann ist. Strafe wie
bei a). Debtors Act 1869 § 11 (15). Über a) — e) vgl. auch Bankruptcy Act
1890 § 26 und Bankruptcy Act 1883 § 163.
f) Die Erwirkung von Kredit im Betrage von mindestens £ 20 vor er-
folgter Entlassung und unter Verschweigung der Konkurserklärung. Eine be-
trügerische Absicht braucht in diesem Falle nicht nachgewiesen zu werden.
Strafe wie bei a). Bankruptcy Act 1883 § 31.
c) Delikte des Konkursgläubigers. Als solches gilt eine in betrüge-
rischer Absicht abgegebene, in einem wesentlichen Punkte falsche Erklärung
in Bezug auf einen Anspruch gegen die Masse. Strafe: 1 Jahr Gef. und Zwangs-
arbeit. Debtors Act 1869 § 12.
D. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen überhaupt.
1. Der Betrug. Es gehören hierher:
a) Der Erwerb von Sachen, Geld oder Rechten durch arglistige
Darstellungen oder Verschweigungen,*) insofern es sich nicht um Sachen
handelt, welche nach gemeinem Recht iy^L oben unter Aid) nicht stehlbar sind:
a) Einfacher Fall. Strafe: 5 Jahre Zuchthaus (jedoch misd.), Larceny
Act §§ 88—90, Entw. §§271 und 272, Stephen art. 329—333.
ß) Schwerer Fall. Derselbe liegt vor, wenn die falsche Darstellung darin
besteht, dass der Thäter vorgiebt, eine andere Person zu sein. Dieses Delikt
^) Über die Erwirkung einer Kreditgewährung durch Betrug im allgemeinen
vgl. unten unter Die.
') Vgl. jedoch oben unter Alb. Falsches Spiel gehört unter diese Rubrik in-
folge positiver gesetzlicher Bestimmung. 8 und 9 Yict. cap. 109 § 18.
§ 9. Strafbare Handlung^en gegen die Rechtsgüter des Einzelnen. QQJ
wird mit dem technischen Ansdnick „personation" bezeichnet und meistens im
Znsammenhang mit der Urkundenfälschung besprochen; dementsprechend wird
es auch in der Forgery Act 1861 berücksichtigt. Die falsche Darstellung ist
strafbar, auch wenn sie ihren Zweck nicht erreicht. Es gehäiPt hierher:
ad) Die erwähnte falsche Darstellung, wenn sie in der Absicht der Bereiche-
rung erfolgt. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). False Personation Act
1874 §1. ßß) Die erwähnte falsche Darstellung, wenn der Thäter vorgiebt, der
Eigentümer gewisser auf den Namen lautender Werte zu sein und auf Grund
dieser Darstellung eine Übertragung der erwähnten Werte auf einen anderen
Eigentümer bewirkt oder zu bewirken versucht, oder Dividenden einkassiert
oder einzukassieren versucht. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). Forgery
Act 1861 § 3; Forgery Act 1870 § 21, 26 und 27 Vict. cap. 73 § 111, 30 und
31 Vict. cap. 131 § 35.
b) Andere betrügerische Handlungen, a) Die Verheimlichung
von Urkunden über den Rechtstitel an Sachen in der betrügerischen
Absicht, einen Käufer bezw. Pfandgläubiger zur Genehmigung des Titels zu
veranlassen von selten des beabsichtigten Verkäufers oder Pfandschuldners
oder seines Anwalts. Eine Verfolgung kann nur mit Genehmigung des
Attomey-General veranlasst werden. Strafe: Gef. und Zwangsarbeit. 22 und
23 Vict. cap. 35 § 24.
ß) Die Verheimlichung letztwilliger Verfügungen in betrüge-
rischer Absicht. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). L. A. § 29.
y) Die betrügerische Verabredung, d.h. die Verabredung, eine Person
oder eine Anzahl von Personen zu hintergehen, selbst wenn die verabredete
Handlung nicht strafbar ist.^) Strafe: Gef. und Zwangsarbeit. Stephen art. 336.
c) Betrug gegen Gläubiger*) durch: a) Erwirkung von Kredit durch
falsche Darstellungen.
ß) Weggabe oder Verpfändung von Vermögensstücken in der Absicht,
besondere Gläubiger oder die Gesamtheit der Gläubiger zu hintergehen.
y) Die Verheimlichung von Vermögensstücken durch einen Judikatsschuldner
nach Fällung des Urteils oder frühestens zwei Monate vorher. Strafe: 1 Jahr
Gef. und Zwangsarbeit, Debtors Act 1869 § 13.
2. Die Erpressung (extortion) wird im englischen Recht nicht scharf
von der Bedrohung (vgl. oben unter II 6) unterschieden, auch wird die ver-
suchte ebenso wie die vollendete Erpressung bestraft. An dieser Stelle sind
zu erwähnen: die strafbaren Fälle der Bedrohung in gewinnsüchtiger Ab-
sicht, d. h. :
a) Die schriftliche widerrechtliche Aufforderung zur Herausgabe von Ver-
mögensgegenständen unter Anwendung von Drohungen. Strafe: lebensläng-
liches Zuchthaus (E. P.). L. A. § 44.
b) Die Bedrohung mit der Anzeige eines schweren Verbrechens') in der
Absicht von dem Bedrohten einen Vermögensanteil zu erlangen. Strafe: lebens-
längliches Zuchthaus (E. P.). L. A. § 46.
c) Die Bedrohung mit einer Verleumdung, insofern sie den Charakter
des libel (vgl. oben unter II 1) hat und in der Absicht erfolgt, von dem Be-
^) Z. B. die Verabredung, durch Verbreitung falscher Nachrichten oder durch
gemeinsame Manipulationen (z. B. fingierte Käufe) — vgl. die Entsch. in Sachen Scott
V. Brown — 1892 — 2 Queens Bench 724 — den Kurs von Börsenpapieren zu be-
einflussen.
^) Über ähnliche Delikte, die nur bei eintretendem Konkurse strafbar sind,
vgl. oben unter C 2.
') Dahin gehören alle Verbr., welche mit einer Maximalstrafe von mindestens
7 Jahren bedroht sind, femer gewisse unsittliche Angriffe.
668 England und Irland. — Besonderer Teil.
drohten einen Vermögensvorteil zu erlangen. Strafe: Gef. (3 Jahre) und Zwangs-
arbeit. 6 und 7 Vict. cap. 96 § 3. Stephen art. 278.
3. Missbrauch der Unerfahrenheit und Jugend.^) a) Die Vor-
spiegelung von Zauberkünsten, auch wenn dieselbe im besonderen Falle nicht
den Erwerb von Vermögensvorteilen bezweckt. Strafe: 1 Jahr Gef. Stephen
art. 337, 9 Geo. 2 cap. 5 § 4.
b) Die Versendung von Aufforderungen zum Wetten oder zur Annahme
von Darlehen an minderjährige Personen. Strafe: 3 Monate Gef. und Zwangs-
arbeit. (Betting and Loans [Infants] Act 1892. 55 Vict. cap. 4.)*)
4. Die Sachhehlerei. Die Empfangnahme von Sachen ist unter den
folgenden Umständen strafbar:
a) Wenn dieselben aus einem Postdiebstahl herrühren und der Empfänger
weiss, dass dieselben gestohlen und mit der Post versandt wurden oder zur
Versendung mit der Post bestimmt waren. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus.
7 Wül. IV und 1 Vict. cap. 36 § 30, Stephen art. 359.
b) Die Empfangnahme von Sachen, deren widerrechtliche Aneignung eine
felony ist (mit Ausschluss der Sachen, die Miteigentümern widerrechtlich ent-
zogen wurden), in Kenntnis der widerrechtlichen Aneignung. Strafe: 14 Jahre
Zuchthaus (E. P.). L. A. § 91.
c) Die Empfangnahme von Sachen, deren widerrechtliche Aneignung ein
misdemeanor ist, in Kenntnis der widerrechtlichen Aneignung. Strafe: 7 Jahre
Zuchthaus (E. P.) L. A. § 95.
Der gewerbsmässige Betrieb der Hehlerei (vgl. RStGB. Art 260) wird im
englischen Recht nicht mit einer besonderen Strafe bedroht, auch bestehen
über den Rückfall (vgl. a. 0. Art. 261) keine besonderen Vorschriften.
V. Fünfter Abschnitt. Die durch das Mittel des Angriffs ge-
kennzeichneten strafbaren Handlungen. 1. Entfesselung gefähr-
licher Naturkräfte, a. Die Brandstiftung (Arson). Nur die vorsätzliche
Brandstiftung ist mit Strafe bedroht. Es gehört hierher:
a) Die Inbrandsetzung von Gebäuden. aa) Einfacher Fall. Strafe:
14 Jahre Zuchthaus (E. P.). M. D. A. § 6. ßß) Schwere Fälle. Die Inbrand-
setzung von I. öffentlichen Gebäuden (mit Einschluss von Gebäuden, welche
dem Gottesdienst dienen), und von Gebäuden, die für den Betrieb der Eisen-
bahnen, der Schiffahrt oder der Hafen einrichtungen verwendet werden. 11. Von
öffentlichen Gebäuden im allgemeinen, in der Absicht, jemanden zu benach-
teiligen oder zu betrügen. III. Von Wohnhäusern, wenn mindestens ein Mensch
sich in dem in Brand gesetzten Gebäude befindet. Strafe: lebenslängliches
Zuchthaus (E. P.). M. D. A. §§ 1 — 5. Der Versuch in allen Fällen ist mit
14 Jahren Zuchthaus (E. P.) strafbar. M. D. A. §§ 7—8.
ß) Die Inbrandsetzung von Schiffen. *) Strafe: lebenslängliches Zuchthaus
(E. P.). Der Versuch ist mit 14 Jahren Zuchthaus (E. P.) strafbar. M. D. A.
§§ 42, 44.
y) Die Inbrandsetzung von Kohlenbergwerken (und überhaupt von Berg-,
werken, aus welchen Brennmaterial gewonnen wird). Strafe: lebenslängliches
^) Die Ausnutzung der Notlage ist nach englischem Recht nicht strafbar. Die
Wuchergesetze wurden 1854 aufgehoben, über die Geschichte derselben vgl. Stephen
History III, 193—199.
*) Über die Veranstaltung von Lotterieen vgl. § 8 VIII 8.
*) Als Kuriosum sei erwähnt, dass der Abschnitt, unter welchem dieses Delikt
in der „Malicious Damage Act** angeführt wird, „Injuries to Cattle and other Ani-
mals' (Beschädigung von Kindvieh usw. und anderen Tieren) überschrieben ist. Um-
gekehrt wird bei „Stephen Digest" die Verwundung von Vieh unter dem Titel: »Ar-
son etc.*' angeführt.
§ 9. Strafbare Handlungen gegen die Rechtagüter des Einzelnen. gg9
Zuchthaus (E. P.). Versuch strafbar mit 14 Jahren Zuchthaus (E. F.). M. D. A.
§§ 26 und 27.
ö) Die Inbrandsetzung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, d. h. aa) Von
Früchten auf dem Feld, Waldungen und Gebüschen. Strafe: 14 Jahre Zucht-
haus (E. E.). M. D. A. § 16. ßß) Von Vorräten von landwirtschaftlichen Er-
zeugnissen oder von Bau- und Brennmaterial. Strafe: lebenslängliches Zucht-
haus (E. P.). M. D. A. § 17. Der Vereuch in beiden Fällen ist mit 7 Jahren
Zuchthaus (E. P.) strafbar. M. D. A. § 18.
b) Die Überschwemmung, d.h. die vorsätzliche Verletzung oder Zer-
störung eines Dammes oder eines anderen Wasserbaues, wenn dadurch eine
Überschwemmung oder die Gefahr einer Überschwemmung entsteht. Strafe:
lebenslängliches Zuchthaus (E. P.). M. D. A. § 30.
c) Missbrauch von Sprengstoffen, a) Im allgemeinen. Gegen den
Missbrauch von Sprengstoffen richten sich bereitS eine Reihe älterer Bestim-
mungen, namentlich 0. P. A. §§ 28—30, (Stephen art. 236 e, f , 237), M. D A.
§§ 9, 10, 45 (Stephen art. 377 f., 378e); 0. P. A. § 64; M. D. A. §54 (Stephen
art. 382), welche indessen zum grössten Teil durch die viel weitgehendere
und strengere Explosive Substances Act v. 1883 — die wohl teilweise dem
deutschen G. v. 1884 zum Vorbilde gedient hat — überflüssig geworden sind.
Das G. wendet sich gegen die Herbeiführung von Explosionen, gewisse Vor-
bereitungshandlungen und die Beihülfe.
ß) Herbeiführung einer Explosion. Strafbar ist die widerrechtliche und
vorsätzliche Verursachung einer Explosion unter Umständen, welche es wahr-
scheinlich erscheinen lassen, dass dieselbe das Leben eines Menschen gefähr-
den oder eine schwere Sachbeschädigung zur Folge haben wird.^) Strafe:
lebenslängliches Zuchthaus. Expl. S. A. § 2.
y) Vorbereitungshandlungen. Als solche werden bestraft: aa) Alle Hand-
lungen, welche in der Absicht der Begehung des unter ß) erwähnten Delikts
bewirkt werden, und ebenso die Verabredung zu diesem Delikt.*) ßß) Die
Herstellung oder der Besitz von Sprengstoffen oder Maschinen, welche zur
Herbeiführung von Explosionen verwendet werden, in der Absicht, dieselben
zur Gefährdung von Menschenleben oder zur Verursachung schwerer Sach-
beschädigung zu benutzen. Strafe in den Fällen aa) und ßß) 20 Jahre Zucht-
haus. Exp}. Subst. Act § 3. yy) Die unter verdächtigen Umständen wahrgenom-
mene Herstellung bezw. der wissentliche Besitz von Sprengstoffen usw., wenn
ein erlaubter Zweck nicht nachgewiesen werden kann. Strafe: 14 Jahre Zucht-
haus. Expl. Subst. Act § 4.
d) Beihülfe. Dieselbe wird ebenso bestraft wie die Thäterschaft. *) Als
Beihülfe gilt auch das Geben und Sammeln von Geldbeiträgen, die Gewährung
von Räumlichkeiten und die Lieferung von Material.
2. Strafbare Handlungen, welche die Sicherheit des öffent-
lichen Verkehrs gefährden, a) Gefährdung des Verkehrs im all-
gemeinen. Es gehört hierher: a) Die widerrechtliche und vorsätzliche Zer-
störung von Brücken (gleichviel ob dieselben Wasser überschreiten oder nicht),
Viadukten und Wasserleitungen, über welchen oder unter welchen eine öffent-
liche Strasse, eine Eisenbahn oder ein Kanal geht, und ebenso ß) iede wider-
rechtliche und vorsätzliche Handlung, welche den Verkehr auf Brücken, Viadukten
*) Das durch das deutsche Sprengstoffgesetz Art. 5, dritter Absatz, mit dem Tode
bedrohte Delikt wäre nach der englischen Auffassung nach allgemeinen Grundsätzen
als Mord zu behandeln (vgl. oben unter II).
*) Wenn die Explosion in England stattfinden soll und der Thäter bezw. Gehülfe
ein britischer Unterthan ist, sind Handlungen, die hierher gehören, strafbar, auch
wenn sie im Auslande bewirkt werden.
670 Eng-land und Irland. — Besonderer Teil.
und Wasserleitungen und den darüber oder darunter führenden öffentlichen
Strassen, Eisenbahnen und Kanälen unmöglich oder gefährlich macht. Strafe:
lebenslängliches Zuchthaus (E. F.). M. D. A. § 33.
b) Gefährdung des Eisenbahnverkehrs, a) Vorsätzliche Gefährdung.
Jede vorsätzliche Handlung, welche in der Absicht erfolgt, die Sicherheit einer
Person, welche auf einer Eisenbahn reist oder sich auf derselben befindet, zu
gefährden, oder in der Absicht, eine Lokomotive oder einen Eisenbahnwagen
umzustürzen, zu hemmen oder zu beschädigen, ist strafbar. Strafe: lebens-
längliches Zuchthaus (E. P.).^) O. P. A. §§ 32 und 33, M. D. A. § 35.
ß) Fahrlässige Gefährdung. Jede fahrlässige Handlung oder Unterlassung,
durch welche die Sicherheit einer Person, welche auf einer Eisenbahn reist,
gefährdet wird, ist strafbar. Strafe: Gef. und Zwangsarbeit. O. P. A. § 34.
c) Gefährdung der Schiffahrt. a) Vorsätzliche Zerstörung, Be-
schädigung oder missbräuchliche Benutzung von Vorrichtungen, welche den
Zwecken der Schiffahrt dienen. Es gehören hierher folgende Handlungen, in-
sofern sie vorsätzlich und widerrechtlich sind : aa) Die Zerstörung von Hafen-,
Fluss- und Kanalbauten. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E. P.). M. D. A.
§ 30 (zweite Hälfte), ßß) Die Entfernung von Stützen an Deichbauten und
Dämmen am Meer und an schiffbaren Flüssen und Kanälen, yy) Der Miss-
brauch von Schleusen und ähnlichen Vorrichtungen und jede andere Störung
des Fahinvassers, in der Absicht, die Schiffahrt auf einem Flusse oder Kanal
zu hemmen oder zu verhindern. Strafe in den Fällen ßß) und yy) 7 Jahre
Zuchthaus (E. P.). M. D. A. § 31.
ß) Die vorsätzliche Zerstörung und Gefährdung von Schiffen, d. h.
aa) Die vorsätzliche und widerrechtliche Preisgabe oder Zerstörung eines
Schiffes, gleichviel ob der Bau desselben vollendet ist oder nicht, und jede vor-
sätzliche und widerrechtliche Handlung, welche die unmittelbare Zerstörung eines
Schiffes bezweckt, z. B. die Entfernung, Verhüllung oder Veränderung von
Feuerzeichen und Signalen oder die Aufstellung falscher Zeichen. Strafe:
lebenslängliches Zuchthaus. M. D. A. §§ 42, 43, 47. ßß) Die vorsätzliche und
widerrechtliche Zerstörung von Teilen von Schiffen, welche sich in einer Not-
lage befinden oder gestrandet sind oder von dem Zubehör solcher Schiffe.
Strafe: 14 Jahre Zuchthaus (E.). M. D. A. § 49. yy) Die vorsätzliche und
widerrechtliche Beschädigung vollendeter oder unvollendeter Schiffe*) in der
Absicht, dieselben zu zerstören oder für die Schiffahrt unbrauchbar zu machen,
und die versuchte oder vollendete Entfernung, Veränderung oder Zerstörung
von Boten, Bojen und anderen Gegenständen, welche als Zeichen für die Schiff-
ahrt dienen. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus (E. P.). M. D. A. §46.
d) Gefährdung des Telegraphendienstes. Die vorsätzliche und
widen'echtliche Zerstörung, Beschädigung oder Entfernung von Vorrichtungen,
die bei dem Betriebe elektrischer und magnetischer Telegraphen verwandt
werden, und die vorsätzliche und widerrechtliche Hinderung oder Störung bei
der Aufgabe, Beförderung und Ablieferung von Telegrammen. Strafe: 2 Jahre
Gef. und Zwangsarbeit, unter besonderen Umständen kann summarische Ver-
urteilung mit einem Strafmaximum von 3 Monaten Gef. und Zwangsarbeit ein-
treten. Die Maximalstrafe für den Versuch ist 3 Monate Gef. und Zwangs-
arbeit (summarisches Verfahren). M. D. A. §§37 und 38.
3. Der Einbruch (housebreaking und burglary). a) Übersicht. Das
englische Recht bestraft nicht den Einbruchsdiebstahl als solchen. Der Eün-
^) Wurde der Tod eines Menschen herbeigeführt, so wäre der Thatbestand von
Murder gegeben (vgl. oben unter II).
*) Insofern dies nicht durch Brandstiftung oder die Anwendung von Spreng-
stoffen geschieht.
§ 9. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter des Einzelnen. 671
bruch des englischen Rechts wird bestraft, ohne Rücksicht auf das Rechtsgut,
gegen welches er sich richtet, als ein besonders gefährliches Mittel zur Be-
gehung von Yerbr. im allgemeinen und findet daher an dieser Stelle seinen
richtigen Platz.
Der englische Begriff des Einbruchs ist weiter als der entsprechende Be-
griff des deutschen StR. (vgl. v. Liszt, Lehrbuch, 5. Aufl. S. 445) und umfasst
I. jedes gewaltsame widerrechtliche Eindringen in einen verschlossenen
Raum auch ohne Verletzung der Sachsubstanz; II. jedes widerrechtliche Ein-
dringen in einen umschlossenen Raum unter Anwendung von List oder Droh-
ungen, oder im Einverständnis mit einem Hausbewohner (Stephen art. 315).
Die gewaltsame Entweichung aus einem Hause (breaking out) hat ebenfalls
strafrechtliche Bedeutung und wird hier der Kürze halber als Ausbruch
bezeichnet.
b) Einfacher Fall des Einbruchs, d. h. Einbruch in ein Wohnhaus
oder ein im Hofraum eines Wohnhauses befindlichen Gebäudes, in ein zum
Gottesdienst bestimmtes Gebäude, eine Schule oder ein Geschäftslokal, in der
Absicht daselbst eine felonv^) zu begehen. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus (E.).
L. A. §§ 54, 57.
c) Nächtlicher') Einbruch in ein Wohnhaus oder Ausbruch aus dem-
selben, d. h. der nächtliche Einbruch in der Absicht, eine felony zu begehen
oder der nächtliche Ausbruch jemands, der sich in das Haus mit der Absicht,
eine felony zu begehen, begeben hatte. Beide Handlungen werden als burglary
bezeichnet. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). L. A. § 52.
d) Einbruch oder Ausbruch in Verbindung mit der Begehung
einer felony, d.h. der Einbruch in eines der unter b) aufgezählten Gebäude
in Verbindung mit der Begehung einer felony oder der Ausbruch nach Be-
gehung einer solchen. Strafe: 14 Jahre Zuchthaus (E.). L. A. §§ 50, 51. 55, 56.
e) Vorbereitungshandlungen zum Einbruch. Als solche werden
bestraft, insofern sie zur Nachtzeit*) wahrgenommen werden: I. Das Tragen
von Waffen in der Absicht des Einbruchs in ein Gebäude. II. Das Tragen
von Schlüsseln und von zum Einbruch geeigneten Werkzeugen. III. Die Un-
kenntlichmachung der Person (durch Schwärzung des Gesichts oder anderer
Mittel), in der Absicht eine felony zu begehen.
f) Die widerrechtliche Anwesenheit in einem Gebäude, in der
Absicht daselbst eine felony zu begehen. Strafe: 5 Jahre Zuchthaus (jedoch
misd.); im Rückfall oder nach vorausgegangener Verurteilung wegen einer
felony 10 Jahre Zuchthaus. L. A. §§ 58 und 59, Entw. §§ 306 und 307,
Stephen art. 320.
4. Die Warenfälschung. Das Hauptgesetz über diesen Gegenstand ist
die „Säle of Food and Drugs Act 1875" (verbessert durch die Säle of Food
and Drugs Act Amendment Act von 1879), welche bestimmt, dass die vor-
sätzliche Fälschung von Nahrungsmitteln oder Arzneimitteln in der Absicht
des Verkaufs, insofern die gefälschten Gegenstände gesundheitsschädlich wer-
den, oder insofern (im Falle von Arzneimitteln) ihre Qualität und Stärke be-
einträchtigt wird, mit Geldstrafe und im Rückfall mit 6 Monaten Gef. und
Zwangsarbeit strafbar ist (§§ 3 — 5).
Verschiedene andere Fälle der Warenfälschung werden durch dasselbe
G. mit Geldstrafe bedroht. Ausserdem giebt es eine Reihe anderer G., welche
*) In den meisten Fällen wird es sich dabei um Diebstahl handeln, jedoch sind
natürlich eine Reihe anderer Verbr. denkbar (z. B. Mord oder Notzucht).
**) D. h. zwischen 9 Uhr abends und 6 Uhr morgens. Stephen art. 315.
*) D. h. von 9 Uhr abends bis 6 Uhr morgens.
672 England und Irland. — Besonderer Teil.
die Fälschung besonderer Gegenstände mit (teilweise sehr hohen) Geldstrafen
bedrohen.^)
5. Die Urkundenfälschung^) (Forgery) und verwandte Delikte.
a) Im allgemeinen. Der Begriff der Fälschung umfasst sowohl die Fälschung
im engeren Sinne wie die Verfälschung (Stephen art. 356 f.). Auch die
Blankettausfüllung den Vorschriften des Ausstellers zuwider (StGB. Art. 269)
wird als Fälschung angesehen (R. v. Hurt, 7 Carrington and Payne 652; R. v.
Bateman, 1 Cox Criminal Gases § 186). Die Absicht zu betrügen gehört zum
Thatbestand (Stephen art. 355).
Das Gebrauchen zum Zwecke der Täuschung wird mit dem technischen
Ausdrucke to utter bezeichnet (Stephen art. 358). Während das deutsche Recht
nur das Gebrauchen gefälschter Urkunden bestraft (StGB. Art. 267, 270), be-
straft das englische Recht sowohl die Fälschung als die Gebrauchung gefälschter
Urkunden. Zum Thatbestand der Fälschung wird die Absicht des Betrugs
vorausgesetzt, zum Thatbestand des Gebrauchs gefälschter Urkunden die Kennt-
nis der Fälschung. Die Absicht des Betrugs wird präsumiert, wenn zur Zeit
der Begehung des Delikts eine Person vorhanden war, welche durch die Be-
nutzung der gefälschten Urkunde geschädigt werden konnte. Durch den Nach-
weis, dass der Fälscher Vorkehrungen traf, um die Schädigung zu verhindern,
wird die Präsumtion nicht umgestossen und ebensowenig durch den Nachweis
des Umstandes, dass der Fälscher ein Recht auf den Gegenstand hatte, dessen
Erlangung der Zweck der Fälschung war.
Die Fälschung ist ein misdemeanor nach Common Law und als solches
mit Gef. strafbar, jedoch sind die meisten Fälle durch die Forgery Act v. 1861
(24 und 25 Vict. cap. 98) und einige ergänzende G. als felonies mit weit höherer
Strafe bedroht. Da indessen einzelne Klassen von Urkunden nicht besonders
in diesen Gesetzen erwähnt sind — meistens aus rein zufälligen Ursachen —
mag es doch zuweilen nötig sein, sich auf die Common Law zu berufen.
b) Fälschung von Urkunden in betrügerischer Absicht bezw.
Gebrauch gefälschter Urkunden in Kenntnis der Fälschung, d. h.
a) Folgender öffentlicher Urkunden: aa) Eines Staatssiegels oder königlichen
Siegels. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). F. A. § 1. ßß) Von Ein-
tragungen in die Standesamtsregister oder von Abschriften aus denselben.'*)
Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). F. A. §36. y/) Von Eintragungen in
andere öffentliche und gewisse quasi-öffentliche Register und Abschriften aus
denselben. Strafe: in gewissen Fällen 14 Jahre in anderen lebenslängliches
Zuchthaus (E.). F. A. §§ 30 und 31. SS) Von Gerichtssiegeln und gericht-
lichen Urkunden und von Abschriften derselben. Die Strafen wechseln je nach
der Urkunde zwischen 14 Jahren Zuchthaus (E.), 7 Jahren Zuchthaus (E.)
und 5 Jahren Zuchthaus. F. A. §§ 27 bis 29, 32—34.*)
ß) Folgender Wertpapiere bezw. Übertragungsurkunden: aa) Von Bank-
*) Dieselben beziehen sich auf Brot, Korn und Mehl (6 und 7 William IV cap. 37
§§2, 8—13, abgeändert durch 47 und 48 Vict. cap. 43 §4 und Anhang]; auf Samen
(Adulteration of Seed Acts 1869 und 1878); auf Bier (48 und 49 Vict. cap. 51 § 8 [2]);
auf Kaffee (5 Geo. I cap. 11 § 28, 11 Geo. I cap. 30 § 9 und 39); auf Hopfen (7 Geo. II
cap. 19 §§ 2 und 3); auf Thee (11 Geo. I cap. 30 §§ 5 und 39, 4 Geo. II cap. 14 §§ 10
und 11); auf Tabak (6 und 6 Vict. cap. 93 §§ 1—4, 26 und 27 Vict. cap. 7 § 6, 30 und 31
Vict. cap. 90 § 19, 41 und 42 Vict. cap. 15 § 25 und 42 und 43 Vict. cap. 21 § 27) und auf
Butter (50 und 51 Vict. cap. 29 — Margarine Act 1887V
*) Als Urkunde (Document) ist nach der englischen Auffassung nur ein Schrift-
stück anzusehen, vgl. R. v. Closs, Dearsley and Bell S. 460, Entw. § 313.
^) Vgl. auch oben unter II 4.
*) Hierher gehört auch die Fälschung einer Urkunde über Leistung eines Eides
vor einem beauftragten Beamten. Vgl. Commissioners for Oaths Act 1889 § 8.
rr j»
§ 9. Strafbare Handlangen gegen die Rechtsgüter des Einzelnen. 673
noten. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). F. A. §12. ßß) Von englischen
und indischen Staatspapieren und Schatzscheinen und teilweise von den dazu
gehörigen Dividendenscheinen ^) und Kupons. Strafe: lebenslängliches Zucht-
haus. F. A. §§7, 8; Forgery Act 1870 § 3; 25 und 26 Vict. cap. 7 § 14; 26
und 27 Vict. cap. 73 § 13. yy) Von Obligationen (Debentures) überhaupt. Strafe:
14 Jahre Zuchthaus (E.). F. A. § 26. dd) Von Übertragungsurkunden bezw.
von Vollmachten^) zur Übertragung von auf Namen lautenden Werten, welche
in den Registern der englischen oder irischen Bank eingetragen sind oder
von auf Namen lautenden Aktien englischer Aktiengesellschaften.'^ Strafe:
lebenslängliches Zuchthaus (E.). F. A. § 2. ee) Von Konnossementen, Lager-
scheinen, Wechseln, Anweisungen und Quittungen, oder von Accepten, En-
dossements und anderen Vermerken auf denselben, welche eine Rechtswirkung
haben. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). F. A. §§ 22, 23, 25. Die un-
befugte Unterschrift als Bevollmächtigter eines anderen ist mit einer Maximal-
strafe von 14 Jahren Zuchthaus bedroht. F. A. § 24.
y) Folgender anderer Urkunden, aa) Von Urkunden über Verträge und
Schuldverschreibungen und von Cessionsurkunden über dieselben, ßß) Von
letztwilligen Verfügungen. Strafe in beiden Fällen: lebenslängliches Zuchthaus
(E.). F. A. §§ 20 und 21.
c) Vorsätzliche Benutzung gefälschter Urkunden irgend wel-
cher Art in der Absicht, auf Grund derselben Vermögensvorteile zu erlangen.
Strafe: 14 Jahre Zuchthaus (E.). F. A. 38.
d) Die Falschbeurkundung in betrügerischer Absicht.
a) In Bezug auf Eintragungen von Eigentumsrechten an bei der Bank
von England oder Irland eingetragenen öffentlichen Schuldverschreibungen.
Strafe: lebenslängliches Zuchthaus (E.). F. A. § 5.
ß) In Bezug auf Eintragungen in den Standesamtsregistern. Strafe:
lebenslängliches Zuchthaus (E.). F. A. § 36.
e) Vorbereitungshandlungen zur Fälschung von Banknoten
und Schatzscheinen. Das G. zählt eine Reihe von Handlungen, welche auf
die Anfertigung und beabsichtigte Verwertung gefälschter inländischer oder
ausländischer Banknoten oder von Schatzscheinen schliessen lassen, auf (dahin
gehört z. B. der Ankauf nicht ausgefüllter Formulare, der Besitz von geeignetem
Papier oder von Platten usw.) und bedroht dieselben mit Strafe, wenn der
Angeschuldigte die Abwesenheit der widerrechtlichen Bestimmung nicht nach-
weisen kann. Strafe bei Handlungen, die Banknoten betreflFen: 14 Jahre Zucht-
haus (E.). F. A. §§13 — 19; bei Handlungen, die Schatzscheine betreffen : 7 Jahre
Zuchthaus (E.). F. A. §§ 9—11.
6. Münzdelikte.*) a) Falschmünzerei und Münzverfälschung
durch Nachahmung:
a) Britischer Gold- und Silbermünzen.*) Strafe: lebenslängliches Zucht-
haus (E.). Coinage Act §§ 2 und 3, Entw. § 363.
^) Die Fälschung der nicht einzeln hervorgehobenen Dividendenscheine ist nicht
besonders bedroht; ein Bankbeamter, der einen solchen Schein in betrügerischer
Absicht mit einem zu grossen oder zu kleinen Betrage ausfüllt, ist mit 7 Jahren
Zuchthaus strafbar (E.). F. A. § 6.
*) Die Fälschung des Namens eines Zeugen zur Beglaubigung einer solchen
Vollmacht ist mit 7 Jahren Zuchthaus strafbar. F. A. § 4.
^) Die Fälschung von Übertragungsurkunden von auf Namen lautenden Werten,
welche anderswo eingetragen sind, und ebenso die Fälschung von Aktien, die auf
den Inhaber lauten, ist nicht mit einer besonderen Strafe bedroht und demnach nur
als misdemeanor strafbar.
*) Papiergeld ist in England nicht im Verkehr; über die Fälschung von Bank-
noten vgl. oben unter 5 b.
*) Mit britischen Münzen ist hier der Ausdruck „The Queen's Current Coin*
Stnfgefletsgebnng^ der Gegenwart. I. 43
674 England und Irland. —- Besonderer Teil.
ß) Britischer Kupfermünzen. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus (E.). C. A. § 14,
Entw. § 370 a.
y) Ausländischer Gold- und Silbermünzen. Strafe: 7 Jahre Zuchthaus (E.),
C. A. § 18, Entw. § 371 (a und b).
S) Ausländischer minderwertiger Münzen. Strafe: 1 Jahr Gef. und im
Rückfall 7 Jahre Zuchthaus (E.) (jedoch misd.). C. A. § 22, Entw. § 272.
b) Der Handel mit nachgemachteki Münzen.
a) Der thatsächliche oder angebotene Kauf oder Verkauf von nachgeahmten
britischen Münzen unter dem Nominalwerte oder der Import von nachgeahmten
Gold- und Silbermünzen in Kenntnis der Unechtheit ist strafbar, wenn die
Abwesenheit der Widerrechtlichkeit nicht nachgewiesen werden kann. Die
Strafen sind bei: aa) nachgemachten britischen Gold- und Silbermünzen: lebens-
längliches Zuchthaus (E.), ßß) nachgemachten britischen Kupfermünzen:*) 7 Jahre
Zuchthaus (E.), yy) nachgemachten auswärtigen Gold- und Silbermünzen:-)
7 Jahre Zuchthaus (E.). Coinage Act §§6, 7, 14, 19, Entw. §§364, 371.
ß) Der Export nachgemachter britischer Münzen in Kenntnis der Fäl-
schung, wenn die Abwesenheit der Widerrechtlichkeit nicht nachgewiesen
werden kann. Strafe: Gef. und Zwangsarbeit (E.). C. A. § 8, Entw. § 377.
c) Versuchte oder vollendete Inverkehrsetzung von nachge-
machten Münzen in Kenntnis der Unechtheit. Dieselbe ist straf bar bei:
a) nachgemachten britischen Gold- und Silbermünzen mit 1 Jahr Gef. und
Zwangsarbeit (E.), und wenn der Thäter innerhalb von 10 Tagen mehr als
eine Münze in Verkehr bringt mit 2 Jahren Gef. und Zwangsarbeit (E.), im
Rückfall mit lebenslänglichem Zuchthaus (E.), ß) nachgemachten britischen
Kupfermünzen mit 1 Jahr Gef. und Zwangsarbeit (E.), y) nachgemachten aus-
wärtigen Gold- und Silbermünzen mit 6 Monaten Gef. und Zwangsarbeit, im
ersten Rückfall mit Gef. und Zwangsarbeit (E.), im zweiten Rückfall mit lebens-
länglichem Zuchthaus (E.). C. A. §§ 9, 10, 12, 15, 20, 21, Entw. §§376,
378 (a, c).
Über die Straferhöhung im Falle a) wenn der Thäter eine andere nach-
gemachte Münze in seinem Besitz hat, vgl. unter da).
d) Besitz nachgemachter Münzen. Strafbar ist der Besitz von:
a) Einer nachgemachten britischen Gold- oder Silbermünze in Verbindung
mit dem unter ca) erwähnten Delikte. Strafe: 2 Jahre Gef. und Zwangsarbeit
(E.), im Rückfall lebenslängliches Zuchthaus (E.).
ß) Drei nachgemachten britischen Gold- oder Silbermünzen in Kenntnis
ihrer Unechtheit und in der Absicht, dieselben in den Verkehr zu bringen.
Strafe: 3 Jahre Zuchthaus (E.), jedoch misd., im Rückfall lebenslängliches
Zuchthaus (E.).
y) Sechs nachgemachten auswärtigen Münzen, wenn die Abwesenheit der
Widerrechtlichkeit nicht nachgewiesen werden kann. Strafe: Geldstrafe (sum-
marisches Verfahren). C. A. §§ 10—12, 23, Entw. §§ 376a, 378b.
e) Die Münzverringerung und die Entstellung von Münzen d. h.
a) Die Verringerung durch Beschneiden, Abfeilen usw. von britischen Gold-
und Silbermünzen, in der Absicht, dieselben als vollgültig in den Verkehr zu
bringen. Strafe: 14 Jahre Zuchthaus (E.). Coinage Act § 4, Entw. 368.
ß) Der widerrechtliche Besitz der durch Beschneiden usw. gewonnenen
übersetzt. Es sind hierunter zu verstehen: Münzen, die in einem beliebigen Teile des
britischen Reichs von einer königlichen Münze geprägt wurden oder gesetzliches
Zahlungsmittel sind. C. A. § 1.
*) Der Import ist in diesem Falle nicht mit Strafe bedroht.
-) Der Kauf und Verkauf ist in diesem Falle nicht mit Strafe bedroht, würde
aber als Inverkehrsetzung (vgl. unten unter c) bestraft werden.
§ 9. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter des Einzelnen. 675
Abfälle von britischen Gold- und Silbermünzen in Kenntnis ihres Ursprungs.
Strafe: 7 Jahre Zuchthaus (E.). C. A. § 5. Entw. § 369.
y) Die Entstellung britischer Münzen durch das Aufstempeln von Namen
oder Worten. Strafe: 1 Jahr Gef. und Zwangsarbeit. CA. §16, Entw. §378d.
f) Anfertigung und Vertrieb von Maschinen und Werkzeugen,
welche der Falschmünzerei dienen, d. h.:
a) Die vorsätzliche Anfertigung oder Reparierung, die Anschaffung und
Veräusserung und der Besitz von Maschinen, Werkzeugen, Stempeln, Formen
usw., welche zur Herstellung nachgemachter britischer Gold- und Silbermünzen
und auswärtiger Münzen geeignet sind, wenn die Abwesenheit der Widerrecht-
lichkeit nicht nachgewiesen werden kann. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus
(E.). C. A. § 24, Ent. § 365. Bei Maschinen usw., die zur Herstellung britischer
Kupfermünzen geeignet sind, ist die Maximalstrafe 7 Jahre Zuchthaus (E.).
C. A. § 14.
ß) Die vorsätzliche Entfernung einer der unter a) erwähnten Maschinen
und Werkzeuge oder von Münzen oder Edelmetallen aus einer der könig-
lichen Münzen, wenn die Abwesenheit der Wlderrechtlichkeit nicht nach-
gewiesen werden kann. Strafe: lebenslängliches Zuchthaus. CA. §25, Entw.
§366.
g) Der Münzbetrug, d. h. die widerrechtliche Anfertigung oder be-
trügerische In Verkehrsetzung von Münzen und Metallstücken, die britischen
Gold- oder Silbermünzen ähnlich sind, in der Absicht, dieselben statt der ent-
sprechenden britischen Gold- oder Silbermünzen zu verwerten. *) Strafe: 1 Jahr
Gef. und Zwangsarbeit (E.). C. A. § 13. Counterfeit Medal Act 1883 § 2.
h) Gemeinsame Bestimmung. Bei allen unter a) bis g) erwähnten
Delikten gilt das Verbr. als vollendet, auch wenn die angefertigte, angeschaffte
oder in den Verkehr gebrachte nachgemachte Münze oder betrügerisch benutzte
Münze sich in einem noch unvollendeten Zustande befindet. C. A. § 30.
*) Es ißt dies kein eigentliches Münzdelikt, sondern nur ein besonderer Fall
des Betrugs.
43*
2. Schottland.
L Einleitung.
§ 1. Qaellen und Lltteratur.
Das schottische Recht besteht ebenso wie das englische aus dem in den
Präjudizien niedergelegten gemeinen Recht und dem in den Gesetzen enthaltenen
Statute law, doch umfassen die gesetzlichen Bestimmungen über StR. ver-
hältnismässig nur ein kleines Gebiet und bei weitem der grösste Teil dieses
Rechtszweiges wird von dem gemeinen ungeschriebenen Recht beherrscht. Die
Gesetze bestehen aus den vor der Vereinigung mit England (1707) erlassenen
schottischen G. und den seit diesem Zeitpunkte erlassenen G. des britischen
Parlamentes. Unter letzteren befinden sich wiederum solche, die sich nur aul
Schottland beziehen, andere, die auch in einem anderen Teile oder in beiden
anderen Teilen des vereinigten Königreiches Geltung haben. Der englische
Statute of Treasons (vgl. England [und Irland] § 8 I 1) wurde durch ein kurz
nach der Vereinigung erlassenes G. (7 Anne cap. 21) auch für Schottland ein-
geführt. Die oben erwähnten zusammenfassenden G. von Sir Robert Peel
(vgl. England § 1 IV) und ebenso die Consolidation Acts v. 1861 mit Ausnahme
der Coinage Act (vgl. a. 0.) beziehen sich nicht auf Schottland und infolge
dieses Umstandes ist eine ziemlich grosse Anzahl von G., die für England und
Irland aufgehoben sind, in Schottland noch in Kraft.*) Da die Fiktion des
benefit of clergy in Schottland nie existiert hat, haben selbstverständlich die
auf diesen Gegenstand bezüglichen Bestimmungen daselbst keine Geltung, auch
die G. über die Abschaffung der Todesstrafe bezogen sich teilweise nicht auf
Schottland und daher kam es, dass vor 1887 noch die folgenden Delikte
theoretisch mit dem Tode strafbar waren: Raub, Notzucht, vorsätzliche Brand-
stiftung, gewisse Arten des Diebstahles, Incest und widernatürliche Unzucht.
Ein G. V. 1887, dessen Zweck die Reform des Strafprozesses ist, hat (durch
§ 56) diese Anomalie beseitigt und nur Mord, gewisse Arten des Mordversuches
und Hochverrat sind jetzt mit dem Tode strafbar. *)
Die schottischen Schriftsteller halten es für einen grossen Vorzug ihres
StR. vor dem englischen, dass die Richter, wenn nach ihrer Meinung eine
*) Es gehören hierher 4 George II cap. 32 und 13 Geo. III cap. 82 (Diebstahl':
1 Geo. I stat. 2 cap. 5, 52 Geo. III cap. 130 und 56 Geo. III cap. 125 (Sachbeschädigung';
2 und 3 Will. IV cap. 4 (Unterschlagung); 2 und 3 Will. IV cap. 123 (Fälschung); 21 und
22 Vict. cap. 47 (Betrug) usw.
") § 56 bestimmt kategorisch, dass nur Mord und gewisse Arten des Mordver-
suchs mit dem Tode zu strafen seien; da aber § 75 die früheren Bestimmungen über
Hochverrat als nicht beseitigt erklärt, muss die im Text gegebene Interpretation wohl
richtig sein.
§ 2. Übersicht über die mit dem englischen StR. gemeinsamen Bestimmungen. 677
strafbare Handlung vorliegt, welche das geltende Recht noch nicht berück-
sichtigt hat, ohne weiteres die ihnen gutdünkende Strafe verhängen können.
Das Hauptbeispiel ist eine Bestrafung (Deportation) wegen einer schriftlichen
Bedrohung, welche in der Mitte des 18. Jahrhunderts erfolgte (s. Hume, Com-
mentaries, Bd. I S. 12). Doch liegen auch Beispiele aus neuerer Zeit vor
(s. Macdonald, Criminal Law of Scotland S. 247). In der heutigen Praxis geht
diese Befugnis wohl schwerlich weiter, als die oben (England § 2 I) erwähnte
analoge Befugnis der englischen Richter.
II. Die Litteratur. Die Litteratur des schottischen StR. ist äusserst
dürftig. Bei weitem die grösste Autorität hat: Hume, Commentaries on the
Laws of Scotland respecting crimes;^zwei starke Quartbände; 1. Aufl. 1797.
Nur der 1. Bd. behandelt das materielle StR.^) Vor Hume war das Haupt-
werk: Mackenzie, Treatise Concerning the Laws of Scotland in matters
criminal 1678. Unter den neueren Werken sind zu erwähnen Alison, Prin-
ciples and Practice of the Criminal Law of Scotland 1832, 2 Bde. (von welchen
der erste materielles StR. behandelt) und femer das jetzt am meisten benutzte
einbändige Werk von J. H. A. Macdonald, A Practical Treatise on the Cri-
minal Law of Scotland (in der Folge nur mit dem Namen des Verfassers
zitiert) (2. Aufl. 1877; S. 1—245 behandelt das materielle StR., S. 246— 550
Gerichtsverfassung und Strafprozess), dessen Verfasser jetzt die zweithöchste
Richterstelle in Schottland (Lord Justice Clerk) inne hat. N. D. Macdonald,
A Manual of the Criminal Procedure (Scotland) Act 1887, behandelt die Ver-
änderungen, welche das erwähnte G. gebracht hat, dieselben betreflFen haupt-
sächlich nur den Strafprozess. Das hervorragendste unter den älteren Werken
über das ganze schottische Recht: Erskine, Institute of the Laws of Scot-
land hat auch einen Abschnitt über StR., der indessen jetzt nur noch histo-
risches Interesse hat. Als Nachschlagebuch für das geltende Recht ist em-
pfehlenswert das Rechtswörterbuch: Bell, Dictionary and Digest of the Law
of Scotland (letzte Aufl. 1891), bei welchen indessen ein allgemeiner übersicht-
licher Art. über StR. fehlt. Strafrechtliche Präjudizien sind in den grossen
allgemeinen Sammlungen (Court of Session Cases, Scotch Law Reporter
usw.) mitenthalten. Ausschliesslich strafrechtliche Entsch. enthalten die Samm-
lungen von Mac Laurin (1670—1770), Shaw (1848—1852) und Syme
(1826 — 1829). Die neuesten Entsch. auf dem Gebiete des StR. enthält die
Sammlung von White: Reports of Cases in the High Courts and Circuit Court
of Justiciary (1. Bd. 24. Dezember 1885 bis 20. März 1888; 2. Bd. 20. März
1888 bis 13. März 1891; 3. Bd. 5. März 1891 bis 23. Mai 1893 usw.).
§ 2. Übersicht ttber die mit dem englisehen StR. gemeinsamen
Bestimmungen.
A. Bestimmungen über Strafvollstreckung:^)
Die Gesetze über die Einführung, Dauer und Vollstreckung der Zucht-
hausstrafe (Penal Servitude Acts, vgl. England § 2 I Ib.) sind auch in Schott-
land gültig.
B. Bestimmungen über einzelne Delikte:
I. Über Delikte gegen die Rechtsgüter der/TCsamtheit. In Schott-
land sind gültig die Bestimmungen über Hochverrat nach dem Statute of
i^^: *) Das Buch wird auch in den neueren Entsch. als „höchste Autorität" auf dem
^g.' Gebiete des StR. angesehen (H. M. Advocate v. M'Donald 2 White 520; 11. August 1890).
Hume war ein Neffe des berühmten Philosophen.
'^) Die englischen Bestimmungen über Rechtshülfe — vgl. oben England § 4 II —
sind auch in Schottland giltig.
678 Schottland. — Einleitung.
Treasons und über treasonable felonies (vgl. E. u. I. § 8 I 1 b u. c) , ebenso
die Bestimmnngen über sämtliche a. O. (unter d) unter der Rubrik: „Andere
hochverräterische usw. Handlungen ^^ zusammengefasste Delikte und diejenigen
über staatsfeindliche Verschwörungen (a. 0. § 8 I 2 b) und persönliche Angriffe
gegen den Souverän (a. O. § 8 13); femer auch diejenigen über unbefugte
militärische Übungen (§ 8 II 3).
Unter den Bestimmungen über Widerstand gegen Beamte sind die in
der Riot Act enthaltenen und die zum Schutze der Zollbeamten erlassenen
(a. 0. § 8 III 1 a u. b) als auch in Schottland gültig zu erwähnen. Die Bestim-
mungen über strafbare Handlungen gegen das Wahl- und Stimmrecht (a. 0.
§8 IV 3) sind in Schottland gültig, insoweit sie sich auf Wahlen zum Parla-
ment beziehen. Auch die Bestimmungen gegen unerlaubte Vereine und Mönchs-
orden (a. 0. § 8 V 1) gelten für Schottland.
IL Über Delikte gegen die Rechtsgüter des Einzelnen. Die
englischen Bestimmungen über die folgenden Delikte sind auch für Schottland
gültig: Entführung von Mädchen unter 18 Jahren in unsittlicher Absicht (England
§ 9 13 a ß)y Kuppelei (a. 0. I 3 b), ausserehelicher Beischlaf mit Mädchen unter
16 Jahren (a. 0. I 3 c y) und Verletzung des Urheberrechts und Markenrechts
(a. O. III); die a. 0. unter IV B 1 — 3 erwähnten strafbaren Handlungen gegen
das Jagdrecht; der Vertragsbruch in den a. 0. unter IV C 1 angeführten Fällen;
die unter der Rubrik: Missbrauch der Unerfahrenheit und Jugend (a. 0. unter
IV D 3) erwähnten Delikte; der Missbrauch von Sprengstoffen, insoweit die
Bestimmungen der Exp. Subst. Act sich gegen denselben richten (vgl. a. 0.
V 1 c); die Münzdelikte (a. 0. V 6).
§ 3. Ornndsätze fiber die Einleitung des Strafverfahrens.^)
Diese Grundsätze sind wesentlich von den englischen verschieden und
nähern sich insofern mehr den auf dem Festlande geltenden, als die Staats-
anwaltschaft fast ausschliesslich die Einleitung des Strafverfahrens bewirkt.
Hauptstaatsanwälte sind der Lord Advocate und der Solicitor General. Die-
selben und ihre vier Vertreter (Advocates Depute) haben die Verfolgung
im Hauptgerichtshof (High Court of Justiciary) und den Assisengerichten
(Circuit Courts of Justiciary) einzuleiten. In den sogenannten Sheriff Courts,
welche für die meisten Strafsachen mit den Courts of Justiciary konkurrierende
Zuständigkeit haben, vertreten die Procurators Fiscal die Staatsanwaltschaft.
Der Verletzte und seine Angehörigen haben theoretisch ebenfalls das Reclit,
die Verfolgung einzuleiten, jedoch nur mit Genehmigung der Staatsanwalt-
schaft. Im Falle einer grundlosen Verweigerung der Genehmigung kann Be-
schwerde bei dem High Court eingelegt werden, doch wird das Gericht nui- unter
ganz aussergewöhnlichen Umständen eingreifen (vgl. die Entsch. in Sachen Robert-
son 2 White 468). Thatsächlich kommen Privatverfolgungen fast gar nicht in
Schottland vor. Antragsdelikte existieren im schottischen Recht nicht. Die
Unterscheidung zwischen indictable offences und summarisch verfolgbaren
Delikten ist dieselbe wie im englischen Recht (vgl. England und Irland § 3 II
und § 6 I 1), doch sind die letzteren meistens nur unbedeutende Übertretungen.
Bestimmungen, wie die in der englischen Summary Jurisdiction Act 1879 ent-
haltenen, bestehen im schottischen Rechte nicht. In der hier folgenden Dar-
stellung ist nur von indictable offences die Rede.
*) Die meisten der unter England §§ 4 u. 5 erwähnten Grundsätze über das Gel-
tungsgebiet des StR. gelten in analoger Weise auch für Schottland.
§ 4. A. Das Verbrechen. 679
n. § 4. Allgemeiner Teil.
A. Das Yerbrechen.
I. Einteilung der Verbrechen. Eine der englischen analoge Ein-
teilung in felonies und misdemeanors giebt es im schottischen Rechte nicht,
doch ist treason eine Gattung für sich. Früher waren neben treason eine An-
zahl schwerer Delikte dadurch hervorgehoben, dass eine Verfolgung wegen
derselben nur in dem High Court of Justiciary und den Circuit Courts statt-
finden konnte; jetzt sind für alle Delikte mit Ausnahme von Hochverrat, Mord
und Notzucht auch die SheriflF Courts zuständig (Criminal Procedure [Scotland]
Act 1887 §56). Jedes Verbr., das durch indictment verfolgt wird, wird
nach schottischem Gebrauch als „iiidictable crime" bezeichnet, die summarisch
verfolgbaren Delikte als „crime or oflFence punishable on summary complaint"
(C. P. [Scotland] Act 1887 § 71).
IL Ausschluss der Rechtswidrigkeit: 1. bei Handlungen unter
dem Einfluss der Gefahr.
a) Die Notwehr. Die Notwehr ist bisher in Schottland nur in solchen
Fällen Gegenstand der Erörterung gewesen, in welchen sie die Tötung eines
Menschen zur Folge hatte. Jemand ist nicht strafbar, wenn er einen Menschen
tötet: A. um sich oder einen anderen aus Lebensgefahr zu befreien; B. um
die Gefahr der Notzüchtigung von sich oder einer anderen abzuwenden ; C. um
einen Angriff gegen das Eigentum abzuwenden, der mit Gewalt oder Drohung
gegen die Person verbunden ist (Macdonald S. 142). Es ist wohl anzunehmen,
dass in den Fällen, wo Notwehr die Tötung eines Menschen statthaft macht,
auch andere unter gewöhnlichen Verhältnissen strafbare Handlungen ihre
Widerrechtlichkeit verlieren, dass z. B. jemand, der, wenn er sich in Lebens-
gefahr bezw. der Gefahr der Schändung befindet, keine widerrechtliche Hand-
lung begeht, wenn er den Thäter verwundet oder ihm seine Waffe gewaltsam
wegnimmt usw.; aber die schottischen Bücher schweigen über diesen Gegenstand.
b) Die Nötigung. Fälle derselben sind hauptsächlich bei öffentlichen
Unruhen vorgekommen, bei welchen einzelne freigesprochen wurden, weil sie
durch Gewalt zur Beteiligung genötigt worden waren. Macdonald ist indessen
der Ansicht, dass Fälle denkbar sind, in welchen auch die von einem einzelnen
ausgehende Nötigung die Widerrechtlichkeit ausschliesst, namentlich wenn die
Ehefrau oder ein Kind zu einer strafbaren Handlung genötigt werde (Mac-
donald S. 13). Der Begriff des Notstands ist dem schottischen Rechte fremd.
c) Bei der Ausübung eines öffentlichen Amtes. Tötung (und dem-
nach wohl auch Körperverletzung) ist nicht rechtswidrig in folgenden Fällen^):
a) bei der Vollstreckung eines Todes-Urteils; b) bei der Voll-
streckung eines Haftbefehls, insofern derselben gewaltsamer Widerstand
entgegengesetzt wird; c) bei der Unterdrückung gewaltthätiger Zu-
sammenrottungen durch Sicherheitsbeamte;*) d) bei der Ausführung
von Befehlen von Vorgesetzten durch Soldaten, wenn deren Ungesetz-
lichkeit nicht augenfällig ist.'^)
1) Macdonald S. 140—142.
*^) Der Grundsatz, dass auch andere Personen keine widerrechtliche Handlung
begehen, wenn sie bei der Unterdrückung solcher Zusammenrottungen thätlieh mit-
wirken, ist in Bezug auf das schottische Recht noch nicht ausgesprochen worden
(vgl. England § 6 II 3 a).
^) Im englischen Recht ist der Befehl eines Vorgesetzten theoretisch kein Ent-
schuldigungsgrund, würde indessen bei der Beurteilung der That als strafmildern-
der Umstand berücksichtigt werden.
680 Schottland. — Allgemeiner Teil.
Inwiefern die Einwilligung des Verletzten die Rechtswidrigkeit aus-
Bchliesst, ist nach dem vorliegenden Material schwer zu beurteilen. Dass die
Einwilligung von Kindern keine Bedeutung hat, wird in Bezug auf die Hand-
lungen gegen die Geschlechtsehre festgestellt.^)
III. Zurechnungsfähigkeit, Vorsatz und Fahrlässigkeit.
1. Zurechnungsfähigkeit.
a) in Bezug auf das Alter. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit
beginnt mit der Vollendung des siebenten Lebensjahres.*) Die Todesstrafe ist
vollstreckbar: bei männlichen Verbrechern nach vollendetem vierzehnten, bei weib-
lichen nach vollendetem zwölften Lebensjahre (Macdonald S. 11).
b) in Bezug auf die geistige Gesundheit. Geisteskrankheit ent-
schuldigt, insofern sie den Thäter verhindert, die Natur der That oder ihre
ünsittlichkeit oder Rechtswidrigkeit zu erkennen. Trunkenheit entschuldigt
nicht (Macdonald S. 11—13).
2. Der Vorsatz.*) Das schottische Recht präsumiert bei jeder ver-
brecherischen Handlung, dass dieselbe vorsätzlich erfolgte (Macdonald S. 2),
und ebenso wie im englischen Recht muss unter Vorsatz die Vorstellung über
die Wirkung einer Handlung oder Unterlassung verstanden werden. Wenn
A den B angreift in der Absicht, denselben gewaltsam zu berauben, oder
ihm eine schwere Körperverletzung zuzufügen, und B stirbt, so ist B des
Mords schuldig. Der allgemeine Grundsatz ist, dass, wenn das Ereignis,
welches durch die verbrecherische Handlung verursacht wurde, als Folge
dieser Handlung nicht unwahrscheinlich war, der Thäter für dasselbe straf-
rechtlich verantwortlich ist (Macdonald S. 3). Es giebt indessen eine An-
zahl von Delikten, bei welchen eine bestimmte Absicht einen Teil des That
bestandes bildet.
3. Die Fahrlässigkeit. Dieselbe wird nur selten bestraft: namentlich
bei der Tötung und Gefährdung des Verkehrs und (im Gegensatz zum englischen
Recht) im Falle der fahrlässigen Brandstiftung.
IV. Voraussetzungen der Strafbarkeit. Zu erwähnen ist hier nur
die Klagenverjährung. Eine allgemeine Klagenverjährung besteht nicht, doch
seheint es Regel zu sein, nach Ablauf von 20 Jahren vom Zeitpunkte der ^'oll-
endung der That von einer Strafverfolgung abzusehen, wenn nicht durch
„Sentence of Fugitation"*) die Flucht des Thäters seiner Zeit festgestellt 'wurde
(Macdonald S. 273). In Bezug auf einzelne Delikte besteht, ebenso wie im
englischen Recht, eine durch Sonderbestimmung festgesetzte Klagenverjährung.
V. Der Versuch. Vor 1887 bestand keine allgemeine Regel, welche
den Versuch strafbar machte, bei vielen Delikten war derselbe auf Grund
besonderer Bestimmungen in bestimmter Weise strafbar, doch musste z. B. der
Versuch des einfachen Diebstahls und des Einbruchs straflos bleiben (Macdonald
S. 76; S. 74), und es war zweifelhaft, ob der Versuch der Sachbeschädigung
strafbar sei (Macdonald S. 118). Die Criminal Procedure (Scotland) Act (1887)
bestimmt (§61), dass in der Folge der Versuch eines „indictable crime" all-
M Die Widerrechtlichkeit wird in einigen Fällen als zum Thatbestand gehörig
besonders hervorgehoben, z. B. bei der Abtreibung (Macdonald S. 152) imd der An-
wendung betäubender Mittel (Macdonald S. 173). In beiden Fällen werden die Worte
„felonious intent'' angewandt, es geht aber aus dem Zusammenhang deutlich hervor,
dass „felonious^ in dieser Anwendung mit rechtswidrig übersetzt werden muss.
') Die englische Präsumtion in Bezug auf Notzucht besteht im schottischen
StR. nicht (Macdonald S. 169).
•) Der schottische Ausdruck für vorsätzlich ist „wilfully".
*) Ein derartiges Urteil wird erlassen, wenn der Angeschuldigte bei der Haupt-
verhandlung abwesend ist; es hat die Wirkung, dass dem Angeschuldigten im Falle
seiner späteren Verhaftung die Rechtswohlthaten entzogen werden. Macdonald S. 458.
§ 4. A. Das Verbrechen. 681
gemein als „indictAble crime ^ zu bestrafen ist. Die Straf bestimmung ist dabei
dem richterlichen Ermessen tiberlassen. Die früher bestehenden besonderen
Bestimmungen sind hierdurch selbstverständlich nicht aufgehoben.
VI. Komplott und Aufforderung.
a) Komplott. Das Komplott zur Begehung einer strafbaren Handlung
ist mit Gef. oder Zuchthaus strafbar (Macdonald S. 240).
b) Die Aufforderung. Die Aufforderung ist in derselben Weise straf-
bar, wenn nicht ein Spezialgesetz eine besondere Strafe bestimmt (so z. B.
bestimmt das G. über Postdiebstahl, 7 Will IV u. 1 Vict. cap. 36, ein Maximum
von 2 J. Gef. für Aufforderung), doch erfolgt eine Klage thatsächlich nur,
wenn es sich um die Aufforderung zu einem ernstlicheren Verbr. handelt (z. B.
Mord, Brandstiftung, falsche Anschuldigung, s, Macdonald S. 241).
VII. Thäterschaft und Teilnahme. Anstiftung und Teilnahme werden
genau ebenso bestraft wie die That selbst und der Anstifter und Gehülfe
können auch in Abwesenheit des Hauptthäters verfolgt und bestraft werden
(Macdonald S. 3). *)
VIII. Juristische Handlungseinheit usw.
a) Juristische Handlungseinheit. Über diesen Gegenstand findet
sich nur sehr dürftiges Material. Die Möglichkeit eines fortgesetzten Verbr.
scheint im schottischen Rechte anerkannt zu werden (vgl. Macdonald S. 310),
doch wird dasselbe nicht von dem fortdauernden Verbr. unterschieden und
ebenso wie dieses als „crimen continuum" bezeichnet. Der Diebstahl wird
ebenso wie im englischen Recht (s. England § 6 VIII 2) als fortdauerndes
Verbr. angesehen, solange die gestohlenen Gegenstände im Besitze des Diebes
bleiben (Macdonald S. 244).
b) Kollektivdelikte. Die gewohnheitsmässige Begehung eines Verbr.
wird als strafverschärfendes Moment bei Klagen wegen Diebstahl berück-
sichtigt. Der Angeschuldigte wird in solchen Fällen als „thief by habit and
repute" bezeichnet (Macdonald S. 48 — 40). Im Falle der Hehlerei kommt die
Gewohnheitsmässigkeit nicht in Betracht (Macdonald S. 63).
c) Rückfall. Der Rückfall ist in einer grossen Anzahl von Fällen ein
strafverschärfendes Moment. Früher entstanden häufig Kontroversen darüber,
ob zwei Delikte einander soweit ähnlich sind, dass die Begehung des zweiten
als Rückfall angesehen werden kann (vgl. Macdonald S. 15). Jetzt nennt die
Criminal Procedure (Scotland) Act 1887 gewisse Gruppen von Delikten, die
sich so ähnlich sind, dass bei einer Verurteilung wegen eines derselben eine
frühere Verurteilung wegen eines der anderen aus derselben Gruppe bei der
Straf bestimmung zu berücksichtigen ist. Solche Gruppen sind:
A. Raub, Diebstahl, Sachhehlerei, Fälschung, Betrug, Einbruch in der
Absicht des Diebstahls, Angriff in der Absicht des Raubes, Unterschlagung,
nächtlicher Einbruch, Münzdelikte und ebenso der Versuch eines solchen
Deliktes (§ 63).
B. Alle Delikte, bei welchen körperliche Gewalt zum Thatbestand ge-
hört (§ 64).
C. Alle Delikte, bei welchen unzüchtiges oder unanständiges Benehmen
zum Thatbestand gehört (§ 65).
Bereits durch ein G. v. J. 1871 (33 u. 34 Vict. cap. 112 § 18) wurde be-
stimmt, dass bei der Frage, ob Rückfall vorliege, auch Verurteilungen in
*) Der Thäter wird als „actor", der Anstifter oder Gehülfe als „art and part** be-
zeichnet, daher musste die Klagschrift die Worte „actor er art and part" enthalten,
um alle Fälle zu decken, doch bestimmt das Gesetz von 1887 § 7, dass diese Worte
in der Folge unnötior sind und eine Anklage wegen eines Verbr. zugleich als eine
Anklage wegen Anstiftung oder Teilnahme anzusehen ist.
682 Schottland. — Allgemeiner Teil.
einem anderen Teile des vereinigten Königreichs zu berücksichtigen sind (vgl.
auch Crim. Proc. [Seotland] Act 1887 § 63—65).
d) Realkonkurrenz. Ebenso wie im englischen Recht (vgl. England
§ 6 VIII 5) kann für jedes einzelne Delikt eine besondere Strafe verhängt
werden. Auch in Schottland besteht keine Milderung der Strafenhäufung (vgl.
Criminal Procedure [Seotland] Act 1887 § 60).
B. Die Strafe.
Die Bestimmungen über die Strafen sind im grossen und ganzen die-
selben wie in England (vgl. England § 7). Die Todesstrafe kann in denselben
Fällen wie in England und ausserdem in gewissen Fällen des Mordversuchs
verhängt werden (10 Geo IV cap. 38; Criminal Procedure [Seotland] Act 1887
§ 56) und wird ebenso wie in England vollstreckt. Schottland eigentümlich
ist die Bestimmung, dass der Tag der Vollstreckung im Urteil erwähnt werden
muss und dass zwischen dem Datum des Urteils und dem der Vollstreckung
südlich vom Flusse Forth mindestens 15 Tage, höchstens 21 Tage, nördlich
des erwähnten Flusses mindestens 20 Tage, höchstens 27 Tage liegen müssen
bezw. dürfen (11 Geo IV u. 1 Will IV cap. 37).
In Bezug auf die Vollstreckung der Zuchthausstrafe gelten die in den
Penal Servitude Acts (vgl. England § 7 I 1 b) auch für England niedergelegten
Gnmdsätze, doch haben die in den Prevention of Crime Acts und 33 u. 34 Vict.
cap. 23 enthaltenen Bestimmungen in Bezug auf die Folgen einer Verurteilung
zur Zuclithausstrafe in Schottland keine Geltung.*) Die englischen Prison Acts (vgl.
a. O. § 7 I 1 c) beziehen sich nicht auf Schottland. Gefängnisstrafe wird mit oder
ohne Zwangsarbeit (vgl. Prisons — Seotland — Act 1877 §44) und mit oder ohne
Einzelhaft nach dem Ermessen des Richters verhängt und überschreitet nur selten die
Zeitdauer von 2 J. (Macdonald S. 16). Die Einzelhaft wird, wo sie in Gesetzen als
statthaft erklärt wird, meistens auf drei Monate i. J. beschränkt und zwar so, dass nie
mehr als ein Monat zusammen in dieser Weise verbüssi wird (Macdonald S. 17).
Geldstrafe kami der Richter auch ohne besondere gesetzliche Ermächtigung nach
gemeinem Rechte bei weniger schweren Delikten statt Freiheitsstrafe oder als Neben-
strafe zusammen mit Freiheitsstrafe verhängen (Macdonald S. 17). Körperliche
Züchtigung ist auch stellenweise statthaft, namentlich bei jugendlichen Verbrechen!.
Über die Unterbringung jugendlicher Verbrecher in Besserungsanstalten bestehen
gleiche Bestimmungen wie in England (vgl. England § 7 I 2 aj. Die Verpflich-
tung zu ordentlichem Lebenswandel in der unter England § 7 I 2 e erwähnten
Form kommt in Schottland auch vor und ist daselbst nach gemeinem Rechte
bei Friedensstörungen stets statthaft (Macdonald S. 17). Gegensätzlich zum
englischen Recht kennt das schottische den Begriff der mildernden Umstände
( pleas in mitigation). Als solche mildernde Umstände gelten Unbescholtenheit,
Jugend, Zwang des Ehegatten (bei den Delikten einer Ehefrau), Geistesschwäche,
die nicht so weit geht, dass sie die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit auf-
hebt usw. (Macdonald S. 16). Die bedingte Verurteilung nach Massgabe der
Probation of First Offenders Act 1887 ist auch in Schottland zulässig (vgl.
England § 7 II 3). Das richterliche Ermessen bei der Straf bestimmung geht
in Schottland noch weiter als in England. Bei den nach gemeinem Rechte
strafbaren indictable crimes — und ebenso bei den auf Grund eines G. straf-
baren in Ermangelung einer anderweitigen Feststellung — kann Zuchthaus-
strafe in beliebiger Ausdehnung oder Gefängnisstrafe verhängt worden.")
^) Der Verlust der Ehrenrechte kann durch ..sentence of infamy" besonders ver-
hängt werden; es geschieht dies besonders bei Verurteilungen wegen Meineid und
Bestechung.
*^i Wenn in der nachfolgenden Darstellung das Wort ,,regelmässig" dem Straf-
§ 5. A. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter der Gesamtheit. 683
m Besonderer Teil.
§ 5. A. Strafbare Handlungen gegen die RechtsgUter der Oesamthelt.
1. Strafbare Handlungen gegen den Staat. Ausser den mit dem
englischen Recht gemeinschaftlichen Grundsätzen (vgl. die Übersicht oben
§ 2 I) bestehen Strafbestimmungen gegen Majestätsbeleidignng (der schottische
Ausdruck ist leasing making — wohl eine Korruption von laesa majestas) und
gegen staatsfeindliche Unternehmungen (sedition). Beide haben heute keine
praktische Bedeutung (Macdonald S. 228 — 229).
2. Strafbare Handlungen gegen den öffentlichen Frieden.
a) öffentliche Zusammenrottungen. Die Abstufung zwischen un-
lawful assembly, rout und riot (vgl. England § 8 II 1) besteht in Schottland
nicht. Eine strafbare Zusammenrottung wird als „mobbing" oder „mobbing
and rioting" bezeichnet. Zum Thatbestand gehört die Mitwirkung mehrerer,
eine widerrechtliche Absicht und die Bedrohung des öffentlichen Friedens
(Macdonald S. 180 — 185). Strafe: Zuchthaus oder Gef. Im Falle einer Be-
teiligung von mindestens zwölf Personen nach Verlesung der durch die auch
für Schottland geltende Riot Act vorgeschriebenen Proklamation oder der
gewaltsamen Verhinderung der Verlesung und ebenso bei der Beschädigung
von Maschinen oder von öffentlichen Gebäuden kommen dieselben gesetzlichen
Strafbestimmungen wie die in den analogen Fällen in England geltenden zur
Anwendung. (Vgl. England § 8 II c). P]s hatte dies früher eine praktische
Bedeutung, da die Todesstrafe ursprünglich in der Riot Act vorgeschrieben
war. Seit Beseitigung der Todesstrafe besteht nach schottischem Recht zwischen
einfachem und qualifiziertem Riot in Bezug auf das Strafmaximum kein Unter-
schied, {ygl- Macdonald S. 185b.)
b) Sonstige Störungen des öffentlichen Friedens. Da wo eine
Friedensstörung ohne Zusammenrottung stattfindet, 8i)richt man in Schottland
von „rioting^) and breach of the peace". Strafe regelmässig Gef. oder Geld-
strafe (Macdonald S. 188).
c) Unbefugte militärische Übungen sind ebenso wie in England
(§ 8 II 3) strafbar.
3. Strafbare Handlungen gegen die Autorität der Staatsgewalt.
a) Widerstand gegen Beamte: Die unter England §8 III 1 a und b
erwähnten besonderen Bestimmungen beziehen sich auch auf Schottland. In
den anderen Fällen hängt der Widerstand gewöhnlich mit einem anderen
Delikt zusammen (gewaltsamer Angriff, Zusammenrottung, Friedensstörung usw.),
welches den eigentlichen Gegenstand der Verfolgung bildet, kann aber auch
als besonderes Delikt (Obstructing officers of law) verfolgt werden. Strafe
regelmässig Gef. (Macdonald S. 217). Die gewaltsame Verhinderung der Aus-
führung eines gerichtlichen Befehls und ebenso die gewaltsame Verhinderung
eines Steuerbeamten bei der Ausübung seiner Amtspflicht wird als „deforcement"
besonders hervorgehoben (Macdonald S. 212 — 216).
b) Entweichung und Befreiung von Gefangenen. Die Entweichung
aus einem Gef. durch gewaltsamen Ausbruch (prison breaking) und der Ein-
mass beigefügt wird, so soll damit ausgedrückt werden, dass sowohl Zuchthaiis-
als Gefängnisstrafe zulässig ist, in der Praxis aber die ange^j^ebene Strafe ver-
hängt wird.
^) Der Ausdruck riot wird demnach in Schottland in einem ganz anderen Sinne
als in England gebraucht.
684 Schottland. — Besonderer Teil.
bruch in ein solches in der Absicht, Gefangene zu befreien, sind mit Zuchthaus
oder Gef. strafbar (Macdonald S. 217 — 219).
4. Strafbare Handlungen gegen den Gang der Staatsverwaltung.
a) Amtsdelikte. Strafbar sind: Vernachlässigung der Amtspflicht (Mac-
donald S. 191), Missbrauch der Amtsgewalt (Macdonald S. 174) und Bestechung
(Macdonald S. 206). Diese Delikte scheinen nur bei untergeordneten Beamten
vorzukommen (Macdonald S. 207) und werden regelmässig nur mit Gef. bestraft.
Entsetzung vom Amte und „Infamie" kann zu gleicher Zeit verhängt werden.
b) Strafbare Handlungen gegen die Rechtspflege.
a) Eidesdelikte: Als Meineid wird bestraft eine in eidlicher (oder einer
der eidlichen gleichgestellten) Form vor einem richterlichen Beamten abgegebene
vorsätzlich falsche Erklärung über eine wesentliche Thatsache (Macdonald
S. 207 — 210). Strafe: Zuchthaus oder Gef. Die Verleitung zum Meineid
(subornation of perjury) ist in gleicher Weise strafbar und in beiden Fällen
kann „infamy" verhängt werden (Macdonald S. 211 — 212).
ß) Falsche Anschuldigung. Strafe: Zuchthaus oder Gef. (Macdonald
S. 178 — 179). Ebenso ist die Verabredung zu falscher Anschuldigung strafbar
(Macdonald S. 240).
y) Begünstigung (Personenhehlerei) ist nur im Falle des Hochverrats
(auf welchen sich, wie oben erwähnt, die englischen Bestimmungen beziehen)
als solche strafbar (Macdonald S. 11).
c) Strafbare Handlungen gegen das öffentliche Wahl- und
Stimmrecht. Die englischen (England § 8 IV 3 erwähnten) Bestimmungen
beziehen sich auch auf Schottland, insoweit sie sich auf Wahlen für das
Parlament beziehen.
d) Strafbare Handlungen gegen die Zollgesetze. Auch auf diese
sind die englischen Bestimmungen (vgl. England § 8 IV 4) anwendbar.
5. Strafbare Handlungen gegen das Vereins- und Pressrecht.
Die unter England § 8 V 1 erwähnten obsoleten Bestimmungen über unerlaubte
Vereine und Mönchsorden sind auch für Schottland anwendbar, aber auch dort
ohne praktische Bedeutung. Besondere Bestimmungen über das Pressrecht
bestehen in Schottland nicht.
6. Strafbare Handlungen gegen die Religion. Strafrechtliche
Verfolgungen wegen solcher Delikte kommen in neuerer Zeit nur vor, wenn
es sich um die Verbreitung von Schriften handelt, welche die Bibel oder die
christliche Religion beschimpfen, tadeln oder verspotten. Strafe: Gef. mit oder
ohne Geldstrafe oder auch nur Geldstrafe (Macdonald S. 203 — 204).
Die Entfernung einer Leiche aus dem Grabe ist mit Zuchthaus oder Gef.
strafbar (Macdonald S. 76).
7. Strafbare Handlungen gegen die Sittlichkeit.
a) Widernatürliche Unzucht d. h. Sodomie (im Gegensatz zum eng-
lischen Recht nur zwischen Personen männlichen Geschlechts) und Bestialität.
Strafe: Zuchthaus oder Gef. (Macdonald S. 200).
b) Unzüchtige Handlungen zwischen Personen männlichen Ge-
schlechts. Strafe: Zuchthaus oder Gef. (Macdonald S. 201).
c) Verbreitung unzüchtiger Schriften. Strafe: Zuchthaus oder Gef.
(Macdonald S. 203).
d) Ine est nach den im Leviticus (cap. 18) niedergelegten Regeln. Strafe
regelmässig lebenslängliches Zuchthaus (G. von 1567 cap. 14, 15; Macdonald
S. 198—200).
8. Strafbare Handlungen gegen die Vorschriften zum Schutze
der öffentlichen Wohlfahrt. Hierher gehört die Regel des gemeinen
Rechts, nach welcher das Halten von Spielhäusem beliebig bestraft werden
§ 6. B. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgtiter des Einzelnen. 685
kann (Macdonald S. 205). Unter der Rubrik „profanity" wird das Offenhalten
eines Ladens am Sonntag bestraft (Macdonald S. 204). Im übrigen bestehen keine
„indictables crimes", welche den unter England §8 VIII aufgezählten entsprechen.
§ 6. B. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgfiter des Einzelnen.
1. Strafbare Handlungen gegen die körperliche Unversehrtheit.
a) DieTötuug. Das schottische Recht unterscheidet zwischen murder
und culpable homicide. Murder ist die Tötung durch eine vorsätzliche Hand-
lung, gleichviel, ob der Tod eines Menschen beabsichtigt war, oder ob die
Handlung ohne Rücksicht auf die Wahrscheinlichkeit des tödlichen Ausgangs
erfolgte. Überlegung gehört nicht zum Thatbestand (Macdonald S. 123). Die
Reizung wird als strafmildernder Umstand nicht berticksichtigt, jedoch wird im
Falle eines gewaltsamen Angriffes gegen den Thäter, der geeignet ist, denselben
um sein eigenes Leben besorgt zu machen — insofern die That nicht nach den
Grundsätzen über die Notwehr (vgl. oben § 4) ganz entschuldigt wird — die
That nicht als murder, sondern als culpable homicide behandelt. (Vgl. Mac-
donald S. 127.) Als culpable homicide wird auch die fahrlässige Tötung be-
handelt (Macdonald S. 131). Die Strafe für murder ist der Tod; für culpable
homicide und ebenso für Mordversuch Zuchthaus oder Gef. (Macdonald S. 143),
doch sind gewisse Arten des Mordversuchs auf Grund des G. 10 Geo. IV
cap. 38 (bestätigt durch Criminal Procedure [Scotland] Act 1887 § 56) mit
Todesstrafe bedroht, nämlich d) das versuchte oder vollendete Abschiessen von
Feuerwaffen gegen eine Person; ß) eine der folgenden Handlungen, wenn in
der Absicht verübt, jemanden zu töten oder ihm eine schwere Körperverletzung
zuzufügen: I. Verwundung durch Stich oder Schnitt; II. Vergiftung; III. Ver-
suchte Erstickung; IV. Versuchte Erdrosselung; V. Versuchte Ertränkung;
VI. Das Aufgiessen von Schwefelsäure oder anderen ätzenden Flüssigkeiten.
b) Körperverletzung und Angriffe gegen die Person.
aa) Assault. Dieser Begriff bezeichnet bereits den Angriff, auch wenn
keine Körperverletzung stattgefunden hat (Macdonald S.153). Als erschwerende
Umstände gelten a) die Absicht der Tötung, der Notzucht oder Unzucht, der
schweren Körperverletzung, der Entführung, des Raubes, der Erpressung,
der Nötigung und der Befreiung von Gefangenen (Macdonald S. 156 — 157);
ß) die Benutzung von Feuerwaffen (auch nicht geladener) und der Angriff
durch Stich oder Schnitt und ebenso die Anwendung ätzender Flüssigkeiten
(Macdonald S. 157 — 158); y) das Herbeiführen einer schweren Körperverletzung
(Macdonald S. 158); d) die Begehung der That in Gegenwart des Souveräns,
im Gebiete einer königlichen Besitzung, in einem der höheren Gerichtshöfe
oder in der Wohnung des Angegriffenen (im Falle eines gewaltsamen Angriffs
würde im letzteren Falle hamesucken — vgl. unten — vorliegen); e) die Be-
gehung der That gegen Eltern, Kinder und Pflegebefohlenen, die Ehefrau,
eine kranke oder schwangere Person, einen Geistlichen, einen Richter, einen
anderen Beamten bei der Ausübung seiner Amtspflicht usw. Reizung durch
Worte gilt nicht als mildernder Umstand, wohl aber die Reizung durch Schläge,
insofern gewisse Grenzen eingehalten werden (Macdonald S. 154). Strafe:
Zuchthaus, Gef. oder auch nur Geldstrafe. Da die thatsächlich erfolgte Körper-
verletzung ein straferschwerender Umstand ist, werden die meisten in dsw
Gebiet der Körperverletzung gehörenden Delikte unter dieser Rubrik verfolgt.
bb) Stellionat. Dieser Ausdruck wurde unerklärlicherweise früher für
alle Realinjurien angewandt, ist aber jetzt ganz ausser Übung gekommen
(Macdonald S. 162).
cc) Beating and cursing parents. Ein G. von 1661 (cap. 20) be-
686 Schottland- — Besonderer Teil.
stimint, dass das Schlagen und Verfluchen von Eltern dnrch Personen, welche
das 16. Lebensjahr überschritten haben nnd sich nicht in einem Znstande
änsserster Reizung befinden (not distracted) mit dem Tode zu bestrafen sind.
Das öfters erwähnte G. von 1887 hat die Todesstrafe beseitigt, doch kann
noch auf die höchste Zuchthausstrafe erkannt werden (Macdonald S. 162 — 164).
ddj Hamesucken. Mit diesem Ausdrucke wird ein besonders gewalt-
samer Angriff, der in der Wohnung des Angegriffenen stattfindet, bezeichnet.
Auch dieses Delikt war bis 1887 mit dem Tode bedroht und wird jetzt regel-
mässig mit Zuchthausstrafe bestraft (Macdonald S. 164 — 167).
ee) Vernachlässigung der Pflicht gegen Pflegebefohlene. Die-
selbe ist nach gemeinem Rechte mit Zuchthaus oder Gef. strafbar (Mac-
donald S. 171). Das besonders zum Schutze von Lehrlingen erlassene G. (vgl.
England § 9 I 2b Anm. 2), dessen Maximalstrafe sechs Monate Gef. und Zwangs-
arbeit ist, gut auch für Schottland (38 u. 39 Vict. cap. 86 § 6).
c) Gefährdung von Leib und Leben.
aa) Die Aussetzung. Dieselbe ist im Gegensatz zum englischen Recht
strafbar, auch wenn die Gesundheit des Kindes thatsächlich nicht gefährdet
oder geschädigt wird. Auch besteht die Altersgrenze von zwei Jahren nicht
im schottischen Recht. Strafe: Zuchthaus oder Gef. (Macdonald S. 172 — 173).
bb) Die widerrechtliche Anwendung betäubender Stoffe. Die-
selbe ist strafbar, insofern Betäubung eintritt ohne Rücksicht auf die Absicht,
in welcher sie erfolgte. Strafe: Zuchthaus oder Gef. (Macdocald S. 173).
ccj Die Verheimlichung der Schwangerschaft. Ein besonders für
Schottland erlassenes G. (49 Geo. III cap. 14) bedroht eine weibliche Person,
welche während der ganzen Zeit der Schwangerschaft dieselbe verheimlicht,
und bei der Geburt des Kindes keine Hülfe einholt, insofern das Rind nicht
am Leben bleibt, mit einer Maximalstrafe von zwei Jahren Gef.
dd) Abtreibung. Die widerrechtliche Anwendung von Arzneimitteln
oder Instrumenten in der Absicht der Abtreibung ist mit Zuchthaus oder Gef.
strafbar (Macdonald S. 152 — 153).*)
ee) Das Abfeuern von Feuerwaffen ist mit Zuchthaus oder Gef.
strafbar, auch wenn dasselbe nicht in strafbarer Absicht erfolgte.
2. Strafbare Handlungen gegen immaterielle Rechtsgüter.-)
a) Gegen die persönliche Freiheit.
aa) Nötigung und Bedrohung. Die Bedrohung mit Mord, falscher
Anschuldigung oder schwerer Sachbeschädigung in der Absicht, eine Handlung
oder Unterlassung zu erzwingen, ist mit Zuchthaus oder Gef. strafbar (Mac-
donald S. 175 — 177). Die besondere, für den Fall der Ausstände berechnete
Bestimmung der Consp. and Prot, of Pr. Act. 1875 (vgl. England §9 11 2a)
gilt auch für Schottland.
bb) Freiheitsberaubung und Entführung. Die Wegnahme von
Kindern, welche das Alter der Pubertät nicht erreicht haben, wird als Dieb-
stahl bestraft und als plagium bezeichnet (Macdonald S. 25). Das mit Zucht-
haus oder Gef. strafbare Delikt der „abduction" umfasst: Freiheitsberaubung
und Gefangenhaltung; Entführung von Frauenspersonen — auch in der Ab-
sicht der Ehelichung und endlich die gewaltsame Entfernung von Wählern
von der Wahlurne oder von Zeugen vom Gerichtslokal (Macdonald S. 170 — 171).
Die Entführung nicht 18 jähriger Mädchen in unsittlicher Absicht ist ebenso
wie in England strafbar (vgl. England § 9 11 3).
^) Es scheint noch kein Fall vorgekommen zu sein, in welchem die Schwangere
selbst wegen Anwendung abtreibender Mittel bestraft wurde.
^) Ein Delikt, das dem englischen „libel'^ entspricht (vgl. England § 9 11 1), besteht
im schottischen StR. nicht.
§ 6. B. Strafbare Handlungen gegen die Rechtsgüter des Einzelnen. 687
b) Gegen die geschlechtliche Freiheit.
aa) Notzucht (Rape). Als solche wird behandelt die Nötigung einer
weiblichen Person zur Duldung des ausserehelichen Beischlafs und femer die
Vollziehung des Beischlafs mit einer zur Einwilligung unfähigen oder mit einer
nicht 12jährigen weiblichen Person. Strafe regelmässig mindestens 20 Jahre
Zuchthaus (Macdonald S. 166 — 169). Ebenso gehört hierher die gesetzliche
Bestimmung übor die Strafbarkeit des ausserehelichen Beischlafs mit nicht
16jährigen Mädchen (England § 9 13), welche auch für England gilt.
bb) Erschleichung des ausserehelichen Beischlafs.^) Strafe:
Zuchthaus oder Gef. (Macdonald S. 169 — 170).
cc) Unzüchtige Handlungen mit jugendlichen weiblichen Per-
sonen. Dieselben sind strafbar, insofern die betreffende weibliche Person die
geschlechtliche Reife noch nicht erreicht hat. Eine besondere Altersgrenze besteht
nicht. Als erschwerender Umstand gilt es, wenn der Thäter zu dem Kinde
in einem Autoritätsverhältnis steht. Strafe: Zuchthaus oder Gef. (Macdonald
S. 200—203).
dd) Die Kuppelei ist ebenso wie in England strafbar (England § 9 II 3).
c) Gegen die Familienrechte. Zu erwähnen ist nur die Doppelehe,
welche sowohl auf Grund eines Gesetzes (Act. 1551 cap. 19) als nach gemeinem
Rechte strafbar ist, aber regelmässig nach den Bestimmungen des gemeinen
Rechts behandelt wird.^) Der Ablauf von sieben Jahren ist kein Entschuldi-
gungsgrund. Strafe regelmässig (ief. (Macdonald S. 196 — 198).
3. Strafbare Handlungen gegen Individualrechte. Die unter
England (§ 9 III) erwähntem Bestimmungen gelten auch für Schottland.
4. Strafbare Handlungen gegen Vermögensrechte.
A. Gegen Sachenrechte.
a) Theft. Das Delikt besteht in der widerrechtlichen Wegnahme einer
beweglichen Sache aus dem Gewahrsam oder aus dem juristischen Besitze eines
anderen in der Absicht der Aneignung (Macdonald S. 1 8). Eine gewinnsüchtige
Absicht gehört nicht zum Thatbestand (Macdonald S. 24). Die Gebrauchs-
anmassung wird nicht als Diebstahl behandelt^) (Macdonald S. 22). Als
Diebstahl wird (ebenso wie nach dem englischen Recht) auch die Wegnahme
aus dem juristischen Besitze eines anderen angesehen, obgleich sich die Sache
im Gewahrsam des Diebs befindet, oder (wie im Falle des Funddiebstahls)
überhaupt nicht im Gewahrsam einer Person ist. Der schottische Diebstahl
entspricht daher teilweise dem Diebstahl, teilweise der Unterschlagung desRStGB.
Erschwerende Umstände liegen vor: a) im Falle des Einbruchs (housebreaking),
d. h. des widerrechtlichen Eindringens in einen verschlossenen Raum auch ohne
Verletzung der Sachsubstanz*) (Macdonald S. 30 — 36); ß) im Falle des öffnens
eines Schlosses („opening lockfast places"), gleichviel ob dies durch Gewalt
oder falsche Schlüssel oder durch den wirklichen Schlüssel geschieht (Mac-
*) Die Erschleichung des Beischlafs unter der täuschenden Angabe, der Thäter
sei der Ehemann, wird seit 1885 ebenso wie in England als Notzucht bestraft.
*) Viele Schwierigkeiten entstehen dadurch, dass in Schottland noch vortriden-
tinisches Eheschliessungsrecht gilt.
^) Macdonald meint jedoch, es sei Diebstahl, wenn jemand zwar die Absicht habe,
die Sache zurückzugeben, dieselbe aber in heimlicher und arglistiger Weise benutze,
z. B. wenn jemand einem Fabrikanten ein Heft, in welchem sich Notizen über ein
Fabrikationsgeheimnis befinden, wegnimmt, um das Geheimnis zu erlernen. Er meint,
da in diesem Falle das Eigentum an dem Geheimnis weggenommen werde, müsse
Diebstahl vorliegen, vergisst aber dabei, dass ein GeschO ftsgeheimnis keine beweg-
liche Sache ist. Die bewegliche Sache, d. h. das Heft, soll ex hypothesi in der Absicht
der Wiedergabe weggenommen worden sein.
*) Wenn es sich um widerrechtliches Eindringen in ein Schifl^ handelt, wird der
Ausdruck „shipbreaking* angewandt.
688 Schottland. — Besonderer Teil.
donald S. 36 — 38); y) wenn Kinder ihrer Kleider beraubt werden (Macdonald
S. 38); 6) wenn der Bestohlene durch Betäubungsmittel in einen Zustand der
Bewusstlosigkeit versetzt wird (Macdonald S. 38) ; c) wenn der Dieb ein ge-
wohnheitsmässiger Dieb ist^) (Macdonald S. 48); C) wenn der Dieb sich in
einer Vertrauensstellung befindet (Macdonald S. 51). Auch der Diebstahl ge-
wisser Gegenstände wird besonders streng bestraft, so z. B. die Entführung
von Eündem (plagium), die, wie bereits oben erwähnt, als Diebstahl behandelt
wird, und die Wegnahme von Pferden, Rindvieh oder Schafen (Macdonald S. 52).
Auf Grund einer 1889 aufgehobenen Bestimmung (18Geo. II cap. 27; 51 Geo. III
cap. 41) wurde früher ebenfalls besonders streng bestraft der Diebstahl von
Waren während ihrer Bearbeitung in Bleichwerken oder Druckereien. Der
Diebstahl von Austern und Muscheln ist mit einer Maximalstrafe von einem Jahr
Gef. bedroht (3 u. 4 Vict. cap. 74; 10 u. 11 Vict. cap. 92). Über den Post-
diebstahl gelten dieselben Bestimmungen wie im englischen Recht. Im übrigen
ist die Bestimmung der Strafe wie bei allen gemeinrechtlichen Delikten ganz
dem Ermessen des Richters überlassen.^)
b) Breach of trust and embezzlement. Mit diesem Ausdruck wird
die widerrechtliche Aneignung von Sachen bezeichnet, welche zwar im juri-
stischen Besitz des Delinquenten, aber nicht sein Eigentum sind. Da der
Begriff des juristischen Besitzes nicht genau feststeht, ist es häufig schwierig,
zu ermitteln, ob das hier in Frage stehende Delikt oder theft vorliegt. Un-
zweifelhafte Fälle des breach of trust and embezzlement sind : die widerrecht-
liche Aneignung einer Sache durch einen Verkaufskommissionär, einen Pfand-
gläubiger, einen Kurator usw. (Macdonald S. 64 — 70). Da die Strafe, ebenso
wie bei Diebstahl, ganz im Ermessen des Richters steht, und da seit 1887
eine Klage wegen theft zur Verurteilung führen kann, auch wenn nur der
Thatbestand des breach of trust and embezzlement nachgewiesen wird (und
umgekehrt) — Criminal Procedure [Scotland] Act 1887 §59 — hat die Unter-
scheidung überhaupt keine praktische Bedeutung mehr.
c) Robbery und stouthrief. Zwischen diesen beiden Delikten besteht
kein definierbarer Unterschied. Beide bezeichnen die gewaltsame Wegnahme
von Sachen. Der zuletzt genannte Ausdruck wird in neuerer Zeit selten an-
gewandt und dann nur, wenn es sich um Gewalt in grösserem Umfang handelt.
Strafe regelmässig Zuchthaus (bis 1887 theoretisch Todesstrafe) (Macdonald
S. 53—58). '
d) Sachbeschädigung. Dieselbe ist strafbar und wird als „malicious
mischief*, „wanton mischief" oder „wilful mischief" bezeichnet, wenn sie vor^
sätzlich und in böswilliger Absicht bewirkt wird. Bis 1887 war auf Grund
besonderer gesetzlicher Bestimmungen theoretisch mit dem Tode strafbar die
Tötung und Verstümmelung von Vieh und das Abschneiden von Holz oder
Korn (Acts. 1581 cap. 110 — 1587 cap. 83) und ferner die Zerstörung von
Manufakturwaren während ihrer Verarbeitung (29 Geo. 3 cap. 46), in diesen
Fällen tritt jetzt Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe ein, in anderen Fällen regel-
mässig Gef.- oder Geldstrafe. Erschwerende Umstände sind die Absicht,
Zwang gegen Brodherren auszuüben und femer einbrecherisches Eindringen
in den Raum, in welchem die Sachbeschädigung verübt wird (Macdonald
S. 116 — 119).
B. Strafbare Handlungen gegen Okkupationsrechte. Die unter
England § 9 IV. B 1 — 3 erwähnten Bestimmungen gelten auch für Schottland.
^) Der Rückfall gilt als erschwerender Umstand bei allen Delikten imd hat im
Falle des Diebstahls keine grössere Bedeutung als bei anderen Verbrechen.
*) Die Unterscheidung zwischen gewöhnlichem Diebstahl und dem früher mit
Todesstrafe bedrohtem furtum grave ist jetzt ohne praktische Bedeutung.
§ 6. B. Strafbare Handlungen gegen die Bechtogüter des Einzelnen. 689
C. Strafbare Handlungen gegen Forderungsrechte.
a) Der Vertragsbruch. Die unter England § 9 C 1 erwähnten Be-
stimmungen gelten auch für Schottland.
b) Der Bankbruch und die mit demselben zusammenhängenden
Delikte. Die unter England § 9 C 2 b und c erwähnten Delikte sind in
Schottland mit denselben Strafen wie in England bedroht (43 u. 44 Vict. cap. 44
§§13 und 14), ferner ist mit zwei Jahren Gef. und Zwangsarbeit strafbar
jemand, dessen Schulden bei der Einreichung des Eröffnungsgesuchs £200
überschreiten und der nicht mindestens drei Jahre ordentliche Handelsbücher
geführt hat (a. 0. § 13).
D. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen überhaupt.
a) Der Betrug. Derselbe wird bezeichnet als „falsehood and fraud"
oder als „falsehood, fraud and wilful imposition".^) Es gehört hierher die
Amtsanmassung, das Auftreten unter falschem Namen oder in falscher Eigen-
schaft, falsches Spiel, der Erwerb von Sachen, Geld oder Kredit durch falsche
Darstellungen oder durch betrügerische Verschweigung, die Falschbeurkundung,
die betrügerische Zerstöning von Urkunden, der Gebrauch falscher Masse und
Gewichte, die Verfälschung von Waren usw. Strafe: Zuchthaus oder Gef.
(Macdonald S. 89 — 99).
b) Die Erpressung. Die Androhung des Mords, schwerer Sach-
beschädigung, falscher Anschuldigung in der Absicht, einen Vermögensvorteil
von dem Bedrohten zu erpressen, ist mit Zuchthaus oder Gef. strafbar (Mac-
donald S, 175 — 177).
c) Missbrauch der Unerfahrenheit und Jugend. Die unter England
§ 9 IV D 3 erwähnten Bestimmungen gelten auch für Schottland.
d) Sachhehlerei. Dieses mit dem Ausdruck „reset" bezeichnete Delikt
besteht in der widerrechtlichen Empfangnahme und Verwahrung von Sachen,
wenn der Empfänger weiss, dass dieselben durch theft, robbery, breach of
trust and embezzlement oder durch Betrug erworben worden waren (Criminal
Procedure [Scotland] Act 1887 § b&y) Die Strafe ist Zuchthaus oder Gef.
(Macdonald S. 60 — 64). Gewohnheitsmässige oder gewerbsmässige Hehlerei
wird nicht mit einer höheren Strafe bedroht. Über die Hehlerei bei Post-
diebstählen gelten dieselben Bestimmungen wie in England (vgl. England § 9
IV 4 a).
5. Die durch das Mittel des Angriffs gekennzeichneten straf-
baren Handlungen.
a) Entfesselung gefährlicher Naturkräfte.
a) Brandstiftung. Die Strafe für vorsätzliche Brandstiftung (wilful
fireraising) ist regelmässig Zuchthausstrafe (vor 1887 konnte Todesstrafe ver-
hängt werden), für fahrlässige Brandstiftung kann Zuchthaus oder Gef. ver-
hängt werden.
ß) Missbrauch von Sprengstoffen. Die Bestimmungen der Explosive
Substances Act von 1883 (vgl. England § 9 V 1 c) gelten auch für Schottland.
b) Gefährdung des öffentlichen Verkehrs. Über die vorsätzliche
Gefährdung des Eisenbahnverkehrs gelten dieselben Bestimmungen wie in
England (vgl. E. u. I. § 9 V 2 b). In Schottland ist noch das durch die M.
D. A. für England aufgehobene G. (3 u. 4 Vict. cap. 97) in Kraft. In Bezug
auf die Sicherheit der Schiffahrt sind zu erwähnen die Bestimmungen des Ge-
*) Diese allgemeine Bezeichnung wird auch für die Fälschung angewandt (s.
unten unter d.)
^ Vor 1877 war die Empfangnahme von Waren nur dann als reset strafbar,
wenn dieselbe durch theft oder robbery erworben waren.
Strafgesetzgebang der Qegeawart. I. 44
690 Schottland. — Besonderer Teil
setzes (17u. 18 Vict. cap. 104 § 239), welche einen Schiffer oder Matrosen, der
durch vorsätzliche Pflichtverletzung, Vernachlässigung seiner Pflicht oder
Trunkenheit die Sicherheit eines Schiffes gefährdet, mit zweijähriger Grefängnis-
strafe bedroht, und femer di^ Bestimmung des Gesetzes (33 u. 34 Vict. cap. 110
§ 11), welche für die Aussendung eines untauglichen Seeschiffs, wenn nicht
Abwesenheit von culpa nachgewiesen werden kann, dieselbe Strafe festsetzt.
c) Der Einbruch. Der Einbruch in ein Haus in der Absicht des Dieb-
stahls ist mit Zuchthaus oder Gef. strafbar (Macdonald S. 73 — 75).
d) Die Urkundenfälschung. Dieselbe fällt unter den allgemeinen
Begriff von „falsehood, fraud and wilful imposition" (s. o. unter Betrug), wird
aber im engeren Sinne ebenso wie in England als forgery bezeichnet. Die
Benutzung der gefälschten Urkunde in betrügerischer Absicht bildet einen Teil
des Thatbestands. Strafbar ist die wissentliche Benutzung einer gefälschten
Urkunde in betrügerischer Absicht, auch wenn der Urheber der Fälschung
nicht ermittelt werden kann. Über einzelne Arten der Fälschung bestehen
besondere gesetzliche Bestimmungen, namentlich über die Fälschung von
Bonkarten und Postwertzeichen. Es sind dies die für England seither in die
Forgery Act aufgenommenen Bestimmungen (vgl. England § 9 V 5). Da indessen
forgery in Sehottland ohnehin beliebig bestraft werden kann und regelmässig
mit Zuchthaus bestraft wird, kommen die erwähnten Gesetze in Schottland
nur ganz ausnahmsweise zur Anwendung (Macdonald S. 77 — 89; 99 — 100).
Die Falschbeurkundung wird als Betrug bestraft. Besonders zu erwähnen ist
die Falschbeurkundung in den Standesamtsregistern, welche auf Grund des
Gesetzes 17 u. 18 Vict. cap. 80 § 60 mit einer Maximalstrafe von sieben Jahren
Zuchthaus bedroht ist.
e) Münzdelikte. Über dieselben gelten die Bestimmungen der Coinage
Act. (vgl. England § 9 V 6).
Nachträge.
Zu 8. 617.
Zu den für Studenten bestimmten Büchern ist hinzugekommen: Cherry,
An Outline of Criminal Law as regards OflFences against Individuals 1893.
Zu S. 651 und 8. 686.
Unter der Rubrik „Körperverletzung durch Vernachlässigung der Pflicht
gegen Pflegebefohlene^ ist hinzuzufügen: Die vorsätzliche Misshandlung oder
Vernachlässigung von Knaben im Alter von unter 14 und von Mädchen im
Alter von unter 16 Jahren von selten einer Person im Alter von über 16 Jahren,
unter deren Obhut das betreffende Kind steht, wird, wenn demselben unnötiger
körperlicher Schmerz oder eine Schädigung der Gesundheit verursacht wird,
mit einer Maximalstrafe von 2 Jahren Gef. und Zwangsarbeit bedroht. —
52 und 53 Vict. cap. 44 § 1. Die Verwendung von Kindern in den erwähnten
Altersklassen zum Betteln auf den Strassen oder zu Vorstellungen oder dem
Feilhalten von Waren auf der Strasse oder in Schanklokalen zur Nachtzeit
und die Verwendung von nicht zehnjährigen Kindern zu diesen Zwecken über-
haupt wird mit Geldstrafe, eventuell mit dreimonatlicher GetUngnisstrafe und
Zwangsarbeit bedroht — ibidem § 3.
xn.
DIE TÜRKEI
1. Die islamitischen Gerichte und die tflrkische
Gerichtsverfassnng.
Von Sawas Pascha,
ehemaligem tfirkischen Staatsminister.
(Übereetsnag von Dr. Ctoorg CnwMi in UanaoTer.)
2. Das Straf recht der Türkei,
Von Dr. L W. G. yan den Berg,
Professor des mohammedanisohen Rechts in Delft.
(Übersetzung von Dr. G«org Crmten in Hannover.)
44*
Übersicht
1. Die islamitischen Gerichte und die tftrkische Gerichtsverfassung.
I. § 1. Einleitung.
II. Geschichtliche Entwicklung der Gerichtsverfassung. § 2. Die Entstehung und
Arten der Gerichte. § 3. Die Neuordnung der türkischen Gerichtsverfassung.
III. Die heutige Gerichtsverfassung. § 4. Die Gerichte älteren Stils. § 5. Die Gerichte
neueren Stils. § 6. Besondere Gerichte für die in der Türkei sich aufhaltenden
Ausländer.
2. Das Strafrecht der Türkei.
I. Die geschichtliche Entwicklung des türkischen StR. §. 1. Der allgemeine Charakter
und die Grundlagen des mohammedanischen StR. § 2. Das strafrechtliche System
des „Multaqä^. § 3. Die Entwicklung bis zum Jahre 1858.
II. Das türkische StR. seit 1858. a) Das türkische StGB. v. 1858. 1. § 4. Der allge-
meine Teil. 2. § 5. Der besondere Teil, b) Das ausserhalb des türkischen StGB.
V. 1858 stehende StR. § 6. Die türkischen Vdgn. strafrechtlichen Inhalts, c. Schluss-
bemerkungen. § 7. Theorie und Praxis. ...^^
in. Das StR. des Vizekönigreichs Egypten. 1. § 8. Das egyptische StR. bis zum Jahre
1883. 2. § 9. Das StGB, für Eingebome von 1883. 3. § 10. Die egyptischen Ver-
ordnungen strafrechtlichen Inhalts. 4. § 11. Das StR. für gemischte Gerichtshöfe.
1. Die islamitischen Gerichte und die tOrkische
Gerichtsyerfassnng.
I EinleitTing.
§ 1.
«
Die Grundlage der islamitlBchen Gerichtsverfassung ist auf den Propheten
selbst zurückzuführen. Mohammed übte in seiner Hauptstadt Medina die richter-
liche Gewalt in eigener Person aus. Wenn die Regierungsgeschäfte seine
Anwesenheit an anderen Orten erforderlich machten, so übertrug er das
Richteramt den Weisen der Stadt, die sich dem Islam zugewendet hatten.
Nach seiner Rückkehr prüfte er die inzwischen gefällten Entscheidungen, be-
stätigte oder verwarf sie und erklärte im letzteren Falle seinen Vertretern die
Gründe, die ihn zur Abänderung veranlassten. So oft die Bedürfnisse der isla-
mitischen Gesellschaft eine Umgestaltung der Vorschriften des alten Rechts (der
Gesetze von Abraham und Moses) oder die Einführung neuer Bestimmungen nö^
wendig erscheinen Hessen, veröffentlichte er dieselben, sowie den ihm in Bezug
hierauf zu teil gewordenen Befehl Allahs. Nach mohammedanischer AufPassung
sind die vom Propheten gefäUten und die von seinen Vertretern erlassenen, von
ihm bestätigten Urteile, sowie die von ihm ausgehenden Gesetze göttlichen Ur-
sprungs, haben allgemein verbindliche Kraft und bilden einen Teil des
mohammedanischen Gesetzes.
In den neuen Teilen des Reiches wurde im Namen des Propheten durch
Beauftragte desselben Recht gesprochen. Diese Beamten waren zunächst im
Vollbesitze der Regierungsgewalt und hatten nicht nur richterliche, sondern
auch militärische und verwaltungsrechtliche Befugnisse. Indes trennte Mohanmied,
sobald es ging, die Justiz von der Verwaltung und übertrug die ausschliess-
liche Ausübung der ersteren unabhängigen, rechtskundigen Männern, die in
seinem Namen Recht sprachen. Sie galten als „Stellvertreter des Propheten"
(Sahabe) ; ihre Entscheidungen waren daher ebenfalls allgemein verbindlich und
wurden auf die Wirksamkeit der göttlichen Offenbarung selbst zurückgeführt.
Grundlage der mohammedanischen Gesetzgebung war von jeher das
Wort Gottes (Koran) und das Beispiel des Propheten (Sounnet), d. h. seine Lehre,
seine Thaten und seine stillschweigende Billigung; man kann sie als Urquellen
des mohammedanischen Rechts bezeichnen.
Die Rechtsgelehrten der drei ersten islamitischen Generationen waren
ermächtigt, jede Streitfrage zu entscheiden, bezüglich deren eine Entscheidung
weder im Koran, noch durch das Beispiel des Propheten, noch durch zwei
andere Rechtsquellen — den Spruch einer Versammlung von Rechtsgelehrten
und die Gesetzesanalogie — bereits getroffen war. In die Versammlungen
694 I^c Türkei. — 1. Die islamitiachen Gerichte und die rörkische Gerichcs^eHaaBnn^.
▼on Kec'fatsgelehrten 'idjm^i wnrden während der drei ersten moh^unmedAiiischen
Generationen alle Rechtskundigen zum Zwecke der Beratung schwieriger
Fragen berufen. Unter Gesetzesanalogie versteht man die EjitBcheidnng ein^
noch nicht entschiedenen Frage durch Anwendung eines Eechtssatzes, den man
durch rechtliche Analysierung der bereits vorhandenen Entsoheidimg einer ähn-
lichen Frage gefunden hat.
Es giebt also im ganzen vier Quellen des mohammedanischen Rechts:
1. den Koran; 2. das Beispiel des Propheten: 3. die Entscheidung der Versamm-
lungen Rechtsgelehrter: 4. die (^iesetzesanalogie.
Die unmittel l>aren Nachfolger Mohammeds, die vier rechten Khalifen,
folgten seinem Beispiel, indem sie selbst die Richtergewalt ausübten imd ausser-
halb der Reichshauptstadt die bedeutendsten Rechtsgelehrten mit ihrer Ver-
tretimg betrauten. Schwierige Rechtsfragen wurden stets dem Rate Sachver-
ständiger vorgelegt, dessen Entscheidungen hohes Ansehen genossen, weil diese
Einrichtung auf Mohammed selbst zurückzufahren war. Man kann also f&r
di^ Zeit vom Auftreten des grossen arabischen Gesetzgebers fCharii an bis
an das Ende der Periode seiner vier unmittelbaren Nachfolger sagen, dass
die mohammedanischen Gerichte eine doppelte Aufgabe hatten: eine gesetz-
geberisch-juristische, als deren Resultat die Scbafiung des aUgemeinen
mohammedanischen GB. erscheint — und eine richterliche, die in Beur-
teilung der guten und bd^en Thaten der Menschen tmd in der Entscheidung
von Prozessen besteht.
Nach den vier rechten Khalilen bemächtigten sich die Omejjaden der
Herrschaft. Mit ihnen trat eine Änderung der Gerichtsverfassung ein, indem
das Grcricht des Propheten aufhörte, das einzige zu sein.
Unter dem zweiten Abbasiden, dem- Khalifen Abu Djafer-el-Mansor, ge-
langte die Entwicklung der mohammedanischen Gerichtsverfassung zim Ab-
schluss. Die gesetzgeberische Funktion der Gerichte wurde von der richter-
lichen getrennt tmd beiden ein genau umschriebener Wirkimgskreis zugewiesen.
Die mohanmiedanische Gerichtsverfassimg hat sich bis in imsere Zeit so
erhalten, wie sie von den bedeutenden arabischen Gesetzgebern, den Verfassern
des ersten GB. (Kutubi-site) von der Zeit Abu Djafer-el-Mansurs bis zur
Regierung des berühmtesten aller von Abbas (dem Onkel Mohammeds) ab-
stammenden Khalifen, Harun al Raschid, begründet worden ist.^)
H Geschichte der islamitischen Qerichtsverfassimg.
§ 2. Entstehung und Arten der (reriehte.
Die mohammedanische (Jerichtsverfassung hat niemals wesentliche Ver-
änderungen erlitten. Auch die letzte in der Türkei erfolgte Justizrefonn hat
die von dem Propheten und den bedeutenden Juristen aus der Zeit kurz nach
der Heglra (622j geschaffenen Grundlagen unangetastet gelassen und sich
darauf beschränkt, eine neue Art von Gerichten ins Leben zu rufen, die neben
den alten wirken sollen. Auch die türkische Grerichtsverfassung beruht somit
völlig auf der Lehre Mohammeds.
Die neu eingerichteten ttirkischen Gerichte bilden allerdings ein zusammen-
hängendes Ganze, das von den Gerichten alten Stils völlig getrennt ist Nach
N Die genaue Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der mohammedani-
schen Gerichtsverfassung enthält: SavvasPacha, Theorie du droit musulman. Paris,
Marchai & Billard, Place Dauphine. 1892.
§ 2. Entstehung und Arten der Gerichte. 695
völlig modernen Gnmdsätzen zerfallen sie in drei Klassen: Gerichte erster
Instanz, Berufungsgerichte und Revisionsgerichte. Aber das Becht, welches
sie zur Anwendung bringen, ist das alte mohammedanische, wenn auch in
modernisierter Fassung. Um sich hiervon zu überzeugen, braucht man nur
einmal den Bericht zu lesen, welchen die mit der Ausarbeitung des türkischen
Civügesetzbuchs (mödj^l^) beauftragte Kommission dem Gross-Vezierat^) gelegent-
lich der Veröffentlichung der ersten acht Bücher desselben eingereicht hat.
Zu den Mitgliedern dieser Kommission gehören hervorragende türkische Juristen,
so z. B. Aladin, Sohn des bedeutenden Schriftstellers Aladin, Verfassers des
besten Lehrbuchs über türkisches Recht, und Nachfolger seines Vaters als
Professor. Auch der Vorsitzende der Kommission, Djevded Pascha, ist einer
der besten lebenden Kenner des türkischen Rechts; er ist wiederholt Justiz-
und Unterrichtsminister gewesen und in Europa durch seine geschichtlichen
Arbeiten vorteilhaft bekannt.
Dank den prozessrechtlichen Bestimmungen imd infolge gewisser Ein-
richtungen, von denen später (S. 703) die Rede sein wird, ist das Vorkommen
von Kompetenzkonflikten völlig ausgeschlossen. Die beiden Arten von Ge-
richten funktionieren ungestört jede in dem ihr angewiesenen Wirkungskreise,
ohne sich gegenseitig zu durchkreuzen. Man kann die eine Kategorie der^
selben, nämlich diejenige, welche die eigentlichen mohammedanischen Gerichte
umfasst, als Gerichte alten Stils, die andere, erst kürzlich eingeführte, als
Gerichte neuen Stils bezeichnen.
Die Gerichte alten Stils werden als heilige Gerichte bezeichnet,
weil ihre Einsetzung und das von ihnen angewendete Recht auf göttliche
Offenbarung zurückgeführt werden. Jedes derartige Gericht besteht aus zwei
Faktoren: dem Richter (Kadi) und dem Rechtsgelehrten (Mufti). Ersterer
bildet den erkennenden Teil des Gerichts; er entscheidet stets auf Grund
kontradiktorischer Verhandlung und erlässt das Urteil, sobald ihm der Rechts-
streit spruchreif zu sein scheint. Letzterer unterstützt den erkennenden Richter
in der Ausübung seines Amtes durch Aushändigung schriftlicher Rechtsgut-
achten (F^tavas) an die Parteien, welche sie dem Richter überreichen, und zwar
entweder dem Richter erster Instanz gleichzeitig mit der Stellung der Anträge,
oder aber einem Richter höherer Instanz zur Begründung von Rechtsmitteln
gegen das erste Urteil.
Zur Zeit der Abbasiden war die Moschee die Amtsstelle des Rechts-
gelehrten; hier erteilte er dem rechtsuchenden Publikum Auskunft und gab
den Parteien, die ihm Prozessfälle vortrugen, in einer schriftlichen Formel die
Entscheidung, die er für richtig hielt.
Der Richter sprach im Gerichtsgebäude Recht. Zu seiner Unterstützung
diente ein Gerichtsschreiber, der die Anträge niederschrieb, die Rechtsgut-
achten in Empfang nahm und den Thatbestand der Civil« oder Strafsache fest-
stellte, also die Akten führte. Der Richter nahm von eingegangenen Anträgen
und Gutachten Kenntnis, hörte die Parteien an, erhob die erforderlichen
Beweise und fällte dann das Urteil unter Berücksichtigung des Rechtsgut-
achtens, soweit dasselbe auf die von ihm für festgestellt erachteten Thatsachen
Anwendung fand. Meistens stimmte das Urteil mit demselben überein, der
Richter hatte jedoch volle Freiheit, anders zu entscheiden, und machte hiervon
insbesondere dann Gebrauch, wenn dem Rechtsgelehrten von den Parteien die
thatsächlichen Verhältnisse anders vorgetragen waren, als sie sich nach den
Ergebnissen der Beweisaufnahme darstellten, oder wenn er in der rechtlichen
Beurteilung des Falls eine andere' Auffassung hatte, als der Mufti.
1) Dustur (amtliches GBl.) Bd. I, S. 20.
696 ^e Türkei. — 1. Die islamitischen Gerichte und die türkische Gerichtsverfassung.
Die Einführung der Berufungsinstanz im engeren Sinne ist neueren
Datums. In älterer Zeit waren die Parteien gegen Irrtümer des ersten Richters
nur durch Zulassung der Revision geschützt. Die Einlegung derselben er-
folgte durch die Stellung eines Antrags auf Aufhebung des Urteils und be-
wirkte eine Nachprüfung desselben, die entweder zur Bestätigung oder zur
Aufhebung führte. Beruhte die letztere auf heilbaren Mängeln des Urteils, so
wurde die Sache an den Richter erster Instanz zurückverwiesen und diesem
die Beseitigung der Mängel aufgegeben. Lagen aber unheilbare Mängel vor,
so wurde das Urteil für nichtig erklärt und das Verfahren musste von neuem
beginnen.
Zur Zeit des zweiten Rhalifen aus dem Geschlechte der Abbasiden
(754 — 775) erhielt der hervorragendste der damaligen Rechtsgelehrten, Imam-
ebn-Iussuf, den Titel : Richter aller Richter. Er war der höchste rechtskundige
Beamte des Reiches und hatte die Urteile aller anderen Richter zu prüfen,
um sie zu bestätigen, abzuändern oder zu verwerfen. Ehe er zu dieser Würde
berufen wurde, war er ein Rechtsgelehrter, übte aber den Beruf eines solchen
ohne amtlichen Auftrag aus. Die Vortrefflichkeit der von ihm erteilten Aus-
künfte, von welchen man dem Herrscher berichtete, wurde die Veranlassung
zu seiner Ernennung. Das eigens für ihn geschaffene hohe Amt ist dann 1)is
heute beibehalten und bildet die Spitze des richterlichen Beamtentums.
Richter und Rechtsgelehite bilden in der islamitischen Gesellschaft eine
besondere, in Grade eingeteilte Hierarchie. Die Gerichte sind stets nur mit
einem Richter und einem Gerichtsschreiber besetzt. Die Bedeutung eines Ge-
richts hängt von dem Sitze desselben und der Anzahl der jährlich zur Abur-
teilung gelangenden Sachen ab. Die Beförderung von einem weniger wichtigen
Richterposten zu einem bedeutenderen erfolgt nach den Fähigkeiten und Kennt-
nissen der Bewerber, die von diesen durch Ablegung von Prüfungen nachzuweisen
sind. Wer sie am besten besteht, erhält damit die Anwartschaft auf Anstellung
in den grossen Städten und der Reichshauptstadt.
Die islamitischen Gerichte sind in Civil- und Handelssachen unbeschränkt,
in Strafsachen aber nur für die Aburteilung von Verbrechen zuständig. Für die
Aburteilung von Vergehen und Übertretungen wurden schon in der ältesten Zeit
der mohammedanischen Gerichtsverfassung besondere Strafkammern gebildet;
ein Vertreter der Verwaltungsbehörde führte den Vorsitz; unter den Beisitzern,
deren Zahl schwankte, befanden sich stets ein Richter und ein Rechtsgelehrter,
welche die Aufgabe hatten, die anderen Mitglieder über die in Betracht kommen-
den rechtlichen Fragen aufzuklären und so auf eine sachgemässe Urteilsfällung
hinzuwirken. Ausserdem war diesen Gerichtshöfen eine ausreichende Anzahl
von Gerichtsschreibern und Exekutivbeamten zugeteilt. Die Urteile derselben
waren meist nicht revisionsfähig, sondern gelangten unmittelbar zur Vollstreckung.
Diese Strafkammern haben mit geringen Abänderungen bis zur letzten Justiz-
reorganisation bestanden.
Die vorstehend geschilderte Gerichtsverfassung hat sich während der
Herrschaft der Abbasiden (750 — 1258) unverändert erhalten. Die Seldschuken
und die übrigen kleineren mohammedanischen Herrscherfamilien (Tevaifi moluk),
die nach dem Zerfall des seldschuklschen Reiches die Gewalt an sich rissen,
Hessen sie in vollem Umfange bestehen, sodass der gelehrte Reisende Ibni
Batuta (geb. 1302, gest. 1378) in allen Hauptstädten der kleinasiatischen
Provinzen, die damals selbständige mohammedanische Reiche bildeten, die
gleiche Besetzung der Gerichte mit einem Richter und einem Rechtsgelehrten
vorfand. Auch der Sultan Osman, der Begründer der ottomanischen Dynastie,
nahm keine Änderungen vor ; seine Nachfolger, vor allem die Sultane Mehmed II
der Eroberer und Soliman der Grosse, verbesserten die Stellung der Gerichte,
§ 8. Die Neuordnung der türkischen Gerichtsrerfassung. 697
indem sie die Stellung der Richter und Rechtsgelehrten hoben, dem juristischen
Studium ihre besondere Aufmerksamkeit zuwandten und Gesetze erliessen, die
zum Teil noch heute von Bedeutung sind.
Unter den ottomanischen Herrschern ist der höchste der Rechtsgelehiten
(Schaich-uMsl&m) der ständige persönliche Berater des Sultans und damit der
einflussreichste Minister nach dem Gross-Vezier geworden. Er ist der höchste
Justizbeamte des Reichs; auf seinen Vorschlag ernennt der Sultan Richter und
Rechtsgelehrte, setzt sie ab und befördert sie in andere Stellen. £r ist aber
gleichzeitig auch Minister für Kultus- und geistlichen Unterricht, sowie Ober-
vormund und oberster Verwalter des Vermögens aller Waisen.
§ 3. Ble Neuordnung der tflrkisehen Gerichtsverfassung.
Die Wirkung der Änderungen, welche die islamitische Gerichtsverfassung
im Laufe der Zeit erlitten hat, Hess sich zuerst im J. 1849 überblicken. Die
Entwicklung, die im J. 1880 ihren Abschluss gefunden hat, zerfällt in zwei
von einander verschiedene Perioden.
Erste Periode. Die ersten Abänderungen der türkischen Gerichtsver-
fassung sind auf den allerhöchsten Erlass von 1839 — hati-ch6rif — durch
den eine allgemeine Regierungsreiorm anegordnet wurde, zurückzuführen,
obwohl sie erst 10 Jahre später thatsächlich erfolgten. Sie bewirkten zunächst
einen Übergangszustand mit ungenügend überlegten und deshalb nicht recht
lebensfähigen Einrichtungen. Man errichtete nämlich neben den Einzelge-
richten älteren Stils (mehkeme) besondere Kammern für Handels-, Civil- und
Strafsachen, die in der Hauptstadt dem Handels- und Polizeiministerium, in
den Provinzen den obersten Provinzialbehörden unterstellt und im Gegensatz
zu ersteren „Ratskammem" genannt wurden. Sie erhielten ausgedehnte richter-
liche Befugnisse und wurden für alle drei Instanzen eingerichtet.
Handelskammern. Die erste Handelskammer wurde 1849 zu Konstan-
tinopel im Handelsministerium und als Abteilung desselben unter dem persön-
lichen Vorsitz des Ministers errichtet. Siebestand aus 14 Mitgliedern, angesehenen
Kaufleuten, und zwar 7 türkischen Unterthanen und 7 Ausländern. Stellver-
treter des Ministers in der Kammer und thatsächlicher Vorsitzender war dessen '
Staatssekretär (Muavin).
Eine weitere Vervollständigung des türkischen Justizwesens erfolgte 1858
durch die Einrichtung einer, ebenfalls dem Handelsministerium unterstellten,
Gerichtsschreiberei der Handelskammer. (Über die Zusammensetzung und den
Wirkungskreis derselben vgl. das Amtliche GBl. [Dustur] Bd. I S. 814.)
Ein Seegericht wurde in Konstantin opel im J. 1863 errichtet und 1867
durch eine Gerichtssehreiberei ergänzt (Dustur, Bd. I S. 823).
In den J. 1849 und 1850 wurden auch die Bezirkshauptstädte mit
Handelskammern versehen, deren Vorsitzende aus den angesehensten türkischen
Beamten ausgewählt wurden. Die übrigen Mitglieder, deren Anzahl sich nach
der Bedeutung des Gerichtssitzes richtete, wurden auf Vorschlag der Ver-
tretung der Kauftnannschaft von der Regierung ernannt; man nahm hierzu
angesehene und gebildete, womöglich auch rechtskundige Kauf leute ; die Hälfte
derselben waren Mohammedaner, die andere Hälfte Angehörige der ver-
schiedenen christlichen Konfessionen (griechisch-katholische, römisch-katholische,
Armenier) und Juden.
Ihre gesetzliche Bestätigung erhielt die Einrichtung der Handelskammern
1850 mit dem Erlass des Handelsgesetzbuchs (Dustur, Bd. I S. 375), ergänzt
durch einen Anhang v. J. 1860 (Dustur, Bd. I S. 445). Der Titel II dieses
letzteren Gesetzes handelt von der Einrichtung, Titel III von der Zuständigkeit der
698 I>ie Türkei. — 1. Die islamitischen Gerichte nnd die türkische GerichtSTerfmssnng.
Handelskammern. Die Handelsprossessordnnng ist ein Jahr sp&ter (am 10. Rebi-
al-evel d. J. 1278 der Hegira) erlassen.^)
Strafkammern. Im J. 1850 wurde in Konstantinopel eine Strafkammer
errichtet, die mit den bereits früher erwähnten, zur Zeit der Abbasiden be-
stehenden grosse Ähnlichkeit hatte, vom Polizeiministerinm abhängig war and
ein Organ desselben bildete. Im J. 1857 wnrde sie in drei Unterabteilungen
zerlegt. Die erste derselben erhielt die Bezeichnung: Untersuchungs-
kammer (Me^jlissi-tahqiq); sie bestand aus mehreren mohammedanischen,
christlichen und israelitischen Mitgliedern; die türkische Justiz war in der-
selben durch einen Richter (Kadi) und einen Rechtsgelehrten (Maft!) vertreten.
Diese Kammer entschied unter dem Vorsitz des Unteretaatssekretärs über die
Aburteilung von Verbrechen. Die zweite Abt., Polizeigerichtshof (Divani Zaptieh)
genannt, war in gleicher Weise zusammengesetzt, hatte einen hohen, vom
Sultan ernannten Beamten als Vorsitzenden und war erkennendes Gericht
für Vergehen. Die dritte Abt.. Polizeigericht (Medjlissi Zalitah) war ebenso
eingerichtet und für die Aburteilung der Übertretungen zuständig: nur war
der Vorsitzende, obwohl gleichfalls vom Sultan ernannt, von niedrigerem
Range.
Mit der Vornahme der erforderlichen Untersuchungshandlungen bezüglich
der bei diesen Gerichten anhängigen Sachen wurden mehrere, dem Justiz-
minister unterstehende Untersuchungsrichter beauftragt.
Die drei vorerwähnten Gerichte standen, trotz ihrer verschiedenartigen
Zuständigkeit, zu einander nicht im Verhältnis von Gerichten höherer und
niederer Instanz.
Die Spitze dieser Organisation bildete der Polizeiminister, unter dessen
dienstlicher Aufsicht die Vorsitzenden der Kammern standen. Er veranlasste
auf Verlangen der Parteien oder auch von Amts wegen eine Nachprüfung der
von dem Cbertretungs- oder dem Vergehensgerichtshof gefällten Entscheidungen
durch die Untersuchungskammer. Das Recht hierzu stand dem Minister nicht auf
Grund eines Gesetzes zu, sondern ergab sich aus seiner persönlichen Verant-
wortlichkeit für die Urteile dieser Gerichte, die erst dann als rechtskräftig
angesehen wurden, wenn sie durch ministerielle Verfügung bestätigt waren.
Natürlich erliess der Minister diese nicht eher, als^bis er sich von der Richtig-
keit und Cresetzmässigkeit des Urteils überzeugt hatte, und beauftragte die
wichtigste Kammer mit der Nachprüfung solcher Entscheidungen, die ihm in
irgend einem Punkte zweifelhaft erschienen. Die Erkenntnisse dieser Kammer
unterlagen wieder, wie später noch auszuführen sein wird, der Revision durch
den höchsten Gerichtshof des Reichs.
In den Provinzen wurde seit dem Erlass verschiedener Verordnungen
über die Zuständigkeit der Gerichte älteren Stils i. J. 1854 die Aburteilung
von Verbr. und Verg. den Provinzialverwaltungsräten übertragen, in denen
der Generalgouverneur bezw. die Gouverneure den Vorsitz führten. Obwohl
ihre eigentlichen Aufgaben auf dem Gebiete der Verwaltung lagen, entschieden
sie alle nicht vor die Handelskammern und nicht mehr vor die Gerichte älteren
Stils gehörigen Sachen, d. h. Verbr., Verg. und einige Civilprozesse. Diesem
Provinzialrate gehörten kraft ihres Amtes an: der Generalsteuerdirektor, der
oberste Beamte des Verkehrswesens, der Richter und der Rechtsgelehrte des
Gerichtes älteren Stils, der Bischof und der Rabbiner; hierzu kam noch eine
gleiche Anzahl mohammedanischer und andersgläubiger Notabein.
*) Dustur, Bd. 1 S. 780. — Eine französische Ubersetzuug dieser G. enthält das
ausgezeichnete Werk von Aristarchi Bey (ehemaligem türkischen Gesandten): „Legis-
lation Ottomane^.
§ 8. Die Neuordnung der türkischen Gerichtsverfassung. 699
Im J. 1856 erfolgte der Erlass des türkischen StGB.^) Gleichzeitig
wurden in den wichtigsten Provinzialstädten einzelne Strafgerichte (Medjlissi
4jinayat) eingesetzt, die von dem Provinzialverwaltungsrat unabhängig waren
und unter dem Vorsitz von hohen Staatswürdenträgem tagten, die hierzu
aus der Reichshauptstadt gesandt waren. Ihre Mitglieder waren teils
Muselmänner, teils Andersgläubige; sie standen unter der Dienstaufsicht der
Verwaltungsbehörden und erkannten in solchen Sachen, die ihnen durch
Verfügung des Leiters der lokalen Verwaltungsbehörde zur Entscheidung
überwiesen waren. In dem Umfange, in welchem diese Strafgerichte in
Thätigkeit traten, hörten die Verwaltungsräte auf, sich mit Strafsachen zu
befassen.
Diese erste Periode der Gerichtsverfassungsreform hatte also eine Ver-
mehrung der Arten von Gerichten zur Folge. Es bestanden nunmehr neben-
einander: 1. die Gerichte älteren Stils, 2. Handelsgerichte, 3. Strafgerichte,
4. die für gewisse Civilsachen zuständigen Verwaltungsbehörden. Um Kom-
petenzkonflikte, vor allem zwischen den drei ersten Kategorieen, zu vermeiden,
wurden jedem Gerichte diejenigen Sachen, für welche es zuständig war, durch
Überweisungsverfügung (havale) zugeteilt. Ftlr den Erlass derselben waren
die Verwaltungsbeamten zuständig, die die bei ihnen eingereichten CiWl-
und Handelssachen, sowie alle zu ihrem Amtskreis gehörigen Strafsachen
dem zuständigen Gerichte überwiesen und nötigenfalls einen ihrer Polizei-
beamten (qavas) mit der Wahrnehmung der Stelle eines Gerichtsdieners be-
auftragten.
Der höchste Gerichtshof. Die Urteile aller türkischen Gerichte sind
revisionsfähig. Über die Revision entscheidet das Reichsgericht, der höchste Ge-
richtshof (Medjlisi-valai-adliye) des türkischen Reiches. Mitglieder desselben sind:
1. die höchsten Richter und Rechtsgelehrten der Gerichte älteren Stils, 2. die
höchsten Staatswürdenträger, 3. einige hohe Militärs (Marschälle und Divisions-
generale), deren Amtssitz Konstantinopel ist. Der aus den hervorragendsten
türkischen Beamten erwählte Präsident war als solcher Mitglied des kaiserlichen
Kabinetts. Der höchste Gerichtshof war lange Jahre hindurch die wichtigste
Staatsbehörde; er entschied in letzter Instanz nicht nur über alle Rechtsan-
gelegenheiten, sondern auch über alle Fragen aus dem Gebiete der all-
gemeinen Staats- und Finanzverwaltung, ja selbst der Militär- und Militäijustiz-
verwaltung.
Der Hauptfehler der in vorstehendem geschilderten Justizverfassung lag
in der, übrigens auch den mohammedanischen Anschauungen keineswegs ent-
sprechenden, Vermengung richterlicher und administrativer Aufgaben. Die
Regierung erkannte alsbald diesen Mangel und sorgte für Abhülfe. Die
Trennung der beiden Befugnisse und der Ausschluss der Verwaltungsbehörden
von jeder Einmischung in die Rechtsprechung wurde 1866 herbeigeführt durch
ein Gesetz vom 8. Zilhidje d. J. 1284 über die Umgestaltung des höchstenGe-
richtshofes. Dieser wurde nunmehr in zwei von einander völlig getrennte Körper-
schaften: den Staatsrat und den höchsten Gerichtshof zerlegt. In der Ein-
leitung des Reglements über die Einrichtung des letzteren (Dustur, Bd. I S. 325)
wird ausdrücklich gesagt, dass jede Einwirkmig der Verwaltungsbehörden auf
die Justiz von jetzt an ausgeschlossen sein soll.
Der höchste Gerichtshof zerfällt in zwei Abteilungen, von denen die eine
Kassationshof mit einer Civil- und einer Strafkammer, die andere Berufungs-
gericht ist. Beide wirkten eine Zeit lang unter dem Vorsitz des Justizministers,
*) Dustur, Bd. I S. 537. Eine ausgezeichnete französische Übersetzung desselben
enthält das bereits erwähnte Werk von Aristarchi Bey, Bd. II S. 212.
700 ^^ Türkei. — 1. Die islamitischen Gerichte und die türkische Gerichtsverfassung'.
der hierin von zwei Vizepräsidenten unterstützt wurde. Alle anderen Gerichte,
sowohl in der Hauptstadt, als in den Provinzen, wurden ausdrücklich als
vom Reichsgericht abhängig und dem Präsidenten desselben unterstehend be-
zeichnet.
Die Civil- und Strafgerichte von Konstantinopel sind in den J. 1870 und
1871 durch ein G. vom 21 Kamazan d. J. 1288 und einen Nachtrag hierzu
vom 21. Rebi-ul-Akhir 1289 (Dustur, Bd. I S. 353 und 357) reorganisiert.
Nach Art. 2 des Reglements für den höchsten Gerichtshof ist dieser zu-
ständig zur Entscheidung aller den allgemeinen Gesetzen und Vdgn. des Reiches
unterliegenden Civil- und Strafsachen, welche 1. entweder in erster Instanz von
diesem Gerichte zu entscheiden sind, oder welche 2. nach Erledigung durch
ein Gericht erster Instanz auf dem Wege der Berufung, sei es durch die
Parteien, sei es von Amts wegen, vor dieses Gericht gebracht werden können.
Der Zuständigkeit des höchsten Gerichtshofes sind entzogen: 1. die zur Zu-
ständigkeit der Gerichte älteren Stils gehörigen Sachen; 2. diejenigen besonderen
Angelegenheiten, für welche die Zuständigkeit der Gerichte der nicht-moham-
medanischen Vereinigungen begründet ist; 3. die den Handelskammern zur
Aburteilung überwiesenen Sachen (Handelssachen).
Wenn nun auch hiermit theoretisch die Trennung von Justiz und Ver-
waltung streng durchgeführt war, so war doch thatsächlich die Einmischung
der letzteren in die Geschäfte der ersteren noch keineswegs beseitigt. Die
Handhabe hierzu bot einmal der Überweisungsbeschluss, andrerseits die Voll-
streckung der von den Gerichten erkannten Strafen, die zunächst in den Händen
der Verwaltungsbehörden blieb. Die hierin liegenden Mängel der neuen Ge-
richtsverfassung wurden beseitigt durch die Errichtung zweier besonderer Be-
hörden in Konstantinopel, von denen die eine, das Überweisungsamt (havale
djemijeti), die Verteilung der eingehenden Klagen und Anträge an die zu-
ständigen Gerichte, die andere, das Strafvollstreckungsamt (idjra djem\jeti), den
Strafvollzug zu besorgen hatte. Beide wurden fast gleichzeitig im J. 1869 ins
Leben gerufen (Dustur, Bd. I S. 343 und 349).
Auch die Verhältnisse der gerichtlichen Exekutivbeamten wurden durch
zwei Vdgn. (Dustur, Bd. I. S. 209 und 216) neu geregelt. Sie erhielten den
Titel Gerichtsdiener (hadöme), wurden in zwei Klassen eingeteilt und der
dienstlichen Aufsicht eines Direktors und zweier Unterdirektoren unterstellt.
In demselben J. (1869) wurde in Konstantinopel auch ein Friedensgerichts-
hof errichtet. Von der Organisation desselben handelt eine Vdg. vom 10. Chual
des J. 1292 (Dustur, Bd. HI S. 183).
Zweite Periode. Wenn nun auch durch die soeben geschilderten Re-
formen die beiden Hauptmängel der türkischen Gerichtsverfassung gehoben
waren, so blieben doch noch grosse Lücken auszufüllen. Das Institut der
Staatsanwaltschaft fehlte gänzlich, Friedensgerichte waren nur vereinzelt vor-
handen und das für die Aufnahme von Verträgen so sehr wichtige Notariat
existierte nicht. Diesen Cbelständen wurde erst im J. 1879 abgeholfen« in
welchem, dank der energischen Initiative des regierenden Sultans Abdul Hamid
Khan, die Reform ihren Fortgang nahm. Die Arbeiten wurden derartig be-
schleunigt, dass bereits mit dem J. 1880 die türkische Justizreorganisation
als abgeschlossen betrachtet werden kann.
Es wäre verkehrt anzunehmen, dass die nea geschaffenen Einrichtungen
mit den alten Grundlagen der mohammedanischen Gesetze im Widerspruch
stehen. Sie beruhen im Gegenteil auf ihnen und haben ausserdem die Wirk-
samkeit der Gerichte älteren Stils völlig unberührt gelassen. Im Gegensatz
zu den letzteren, den „heiligen Gerichten", d. h. denjenigen, welche zur Auf-
rechterhaltung der helligen Vorschriften und Institutionen des Islam (arabisch:
§ 4. Gerichte älteren Stils in der Türkei. 701
Sehen) ^) berufen sind, bezeichnet man. die neuen Gerichte als „Nisamiges",*)
d. h. Gerichte neueren Stils.
m. Die heutige Organisation der Gerichte.
§ 4. eierlehte älteren StUs in der Tfirkei.
Die Gerichte älteren Stils sind zuständig für die Aburteilung aller Prozesse,
die in dem Personalstatut der Mohammedaner ihren Grund haben, sowie ge-
wisser anderer civilrechtlicher Materien, deren Entscheidung ihnen durch be-
sondere Vdgn. überwiesen ist.*)
Der Schaich-ul-Isl&m. Die Gesamtheit der Gerichte älteren Stils unter-
steht der Leitung des Schaich-al-Islftm; dieser ist Mitglied des kaiserlichen
Kabinetts und der einzige Staatssekretär, der berechtigt ist, dem Sultan un-
mittelbar, ohne Vermittelung des Grossveziers über Angelegenheiten seines
Ressorts Vortrag zu halten. Er ist ferner aus der Klasse der mohammedani-
schen Weisen (Ulemas) der einzige, der gleichzeitig Rechtsgelehrter (Mufti) und
Richter (Kadi) ist. Als Muftt prüft und unterzeichnet er die von dem zu-
ständigen Rechtsgelehrten erteilten Rechtsgutachten : als Kadi ist er Vorsitzen-
der des höchsten im Khalifat vorhandenen Gerichtshofes.
Die Gerichte älteren Stils im allgemeinen. Die Gerichte älteren
Stils unterstehen sämtlich dem Ministerium, dessen Leiter der Schaich-ul-Isläm
ist, und sind in Konstantinopel und in den Provinzen völlig übereinstimmend
organisiert. Jedes Gericht ist mit einem Einzelrichter besetzt, dem ein erster
Gerichtsschreiber zur Unterstützung, sowie mehrere üntergerichtsschreiber bei-
gegeben sind; die Zahl der letzteren richtet sich nach dem Umfang der
Geschäfte.
Die Einführung eines geordneten Instanzenzuges bei den Gerichten älteren
Stils erfolgte 1879 durch den Schaich-al-Islftm Assad EflPendi, einen der hervoi^
ragendsten mohammedanischen Juristen. Ohne an den hierarchischen Prinzi-
pien zu rütteln, schuf er durch die planmässige Zulassung von Revisionen eine
bestimmte Rangordnung innerhalb dieser Gerichte und erreichte so die grösste
Sicherheit gegen das Vorkommen ungesetzlicher Urteile.
Die einzelnen Gerichte älteren Stils. Die Gerichte älteren Stils
zerfallen in zwei Klassen: 1. diejenigen, welche „in der Pforte — bab — des
Schaich-uMsläm", d. h. an seinem Amtssitze, und 2. diejenigen, welche ausser-
halb desselben, in Konstantinopel oder in der Provinz, tagen.
1. Die in der Pforte des Schaich-al-Isläm tagenden Gerichte.
Dieselben haben getrennte Organe für die bei den anderen Gerichten den
Rechtsgelehrten und die den Richtern obliegende Thätigkeit. Für die erstere sind
*) Sehen bedeutet wörtlich: Sitte, Gewohnheit, Regel, Gesetz; als Ausdruck der
Rechtssprache bezeichnet er das mohammedanische Recht; er findet sich fast immer
in Verbindung mit „Scherif" (= heilig); Scheri-scherif bedeutet: Stand der Richter
älteren Stils.
*) Von „Nisan" = System, Anordnung; Nisamiges sind die Gerichte des neuen
Systems, der neuen Ordnung.
•) Diese Verordnungen sind:
1. Die neue Verordnung über die Zuständigkeit der Gerichte älteren Stils.
Dustur, Bd. I S. 301.
2. Der Beschluss des Staatsrats über die infolge der Urteile der Gerichte
älteren Stils entstehenden Streitigkeiten wegen der Kosten, Schadens-
ersatzleistungen usw. Dustur, Bd. III S. 196.
3. Die Zirkularverfügung des Justizministers betr. die Prozesse über Grund-
stücke, Grenzstreitigkeiten usw. Dustur, Bd. IV S. 362.
702 ^® Türkei. — 1. Die isUmitischen Geridite and die türkische Gerichttrerfftssung'.
zuständig: 1. die mit der Erteüung von Reclitsgatachten (Fetwahane) beanftragte
Behörde, 2. der sog. Rat der gesetzlichen üntersachnngshandlungen (Me^jlisi-
tedqiqati'ScheriyeJ. Die ersterc ist eine besehliessende Behörde; Vorsitzender
ist der „F^twä-emini*', d. h. wörtlich : der mit der Erteilong von Rechtsgatachten
Beauftragte, ein Beamter mit dem Range eines Oberrichters (Gazi-asker). Dmi
zur Seite stehen zwei Abteilungsrorstände; die Abteilungen bestehen aus mehreren
rechtskundigen Mitgliedern. — Der letztere, dessen Vorsitzender ebenfalls den
Rang eines Oberrichters hat, ist gleichzeitig Eassationshof und Eröffhungs-
kammer. Er prüft die von den verschiedenen Gerichten älteren Stils gefällten
Urteile und bestätigt sie oder verwirft sie durch mit Gründen versehene Ur-
teile, wenn er die gesetzlichen Vorschriften für verletzt erachtet. Handelt es
sich bei einem aufgehobenen Urteil um einen Gegenstand unter 5000 Piaster
(= 1200 Francs = 960 Markj, so wird die Sache an das Gericht erster In-
stanz zur Berichtigung des Urteils oder zur nochmaligen Verhandlung zurück-
verwiesen. Anderenfalls wird die Sache einem höheren Gerichte zur Erledigung
tiberwiesen.
Mit der Erledigung der richterlichen Geschäfte sind betraut: 1. die beiden
Oberrichter; 2. der Richter von Stambul; 3. der unter dem Vorsitze des Schaich-
al-Isläm tagende höchste Gerichtshof.
Die Oberrichter. Es sind zwei Oberrichter vorhanden, einer für
Rumelien, einer für Anatolien; sie folgen im Range unmittelbar auf den
Schaich-al- Islam. Der Amtsbezirk des Oberrichters von Rumelien wird ge-
bildet durch die europäischen Teile des türkischen Reichs und den westlichen
Teil von Konstantinopel. Er entscheidet in erster Instanz alle diejenigen
Sachen, welche ihm wegen ihrer Wichtigkeit von einem besonderen Ministerial-
beamten (von welchem später noch die Rede sein wird) überwiesen werden.
Ausserdem erledigt er als Berufungsrichter diejenigen, mit deren Aburteilung
ihn der „Me^jlisi-tedqiqati-scheriye" (der „Rat der gesetzlichen Untersuchungs-
handlungen^j nach Aufhebung des Urteils erster Instanz beauftragt. Ihm sind
zwei andere Organe der Rechtsprechung unterstellt: der „Mahfeti-scheriat'*/)
d. h. Kammer der Gesetzlichkeit, für die Erledigung weniger wichtiger, vom
Oberrichter an diesen verwiesener Prozesse; und der „Gassami-askeri", d. h.
das Erbschaftsteilungsgericht. Letzteres leitet die Verteilung aller in Konstan-
tinopel anfallenden Erbschaften, sowie der in den Provinzen anfallenden, wenn
der Wert derselben 20000 Piaster (3600 Mark = 4500 Francs) übersteigt,
überwacht die Aufnahme des Inventars und entscheidet alle dabei entstehenden
Streitigkeiten. — Der Oberrichter von Anatolien hat die gleichen Amtsbefug-
nisse für den östlichen Teil von Konstantinopel und die asiatischen Provinzen
des Reichs. Unter ihm steht das Gericht zu Scutari (grosse, auf der asiatischen
Seite gelegene Vorstadt von Konstantinopel), dessen Kompetenz der des Erb-
schaftsteilungsgerichts entspricht.
Der Richter von Stambul folgt im Range auf die beiden Oberrichter.
Sein Amtsbezirk ist die Stadt Stambul im engeren Sinne; er ist zuständig für
die Entscheidungen aller Ehe-, Unterstützungs- und Alimenten-, sowie gewisser
Patentsachen (Gedik). Ein am Amtssitze des Schaich-ul-Isl&m funktionierendes
Gericht (Bab-Mekkemessi, d. h. Hofgericht) erledigt die ihm von dem Richter
von Stambul überwiesenen Bagatellsachen.
Der unter dem persönlichen Vorsitz des Schaich-ul-Isläm
stehende Gerichtshof führt die Bezeichnung „Husur", d. h. G^genwärtigkeit
wegen der persönlichen Beteiligung des Schaich aMsläm an den Amtsgeschäften.
*j Mahfet bedeutet eigentlich: der dem Herrscher vorbehaltene Teil der Moschee,
dann aber auch: der Versammlungsort eines Gerichts. •
§ 5. Die Gerichte neueren Stils. 703
Mitglieder desselben sind : die beiden Oberrichter, der Vorsitzende der mit der
Erteilung von Rechtsgutachten beauftragten obersten Behörde, der Richter von
Stambul, der den beiden Oberrichtem zugeteilte Rat, der dem Richter von
Stambul zugeteilte Rat, die Richter von Galata und von f^ub (beides sind
volkreiche Stadtteile von Konstantinopel), endlich der Justizministerialbeamte,
welcher mit der Vollstreckung der von den Gerichten älteren Stils erlassenen
Urteile beauftragt ist. Dieser Gerichtshof entscheidet in letzter Instanz über
die von den Gerichten älteren Stils überhaupt, sowie die von den beiden Ober-
richtem und dem Richter von Stambul in der Revisionsinstanz abgeurteilten
Sachen.
2. Die ausserhalb des Gerichtssitzes des Schaich-al-Isläm tagen-
den Gerichte älteren Stils befinden sich teils in Konstantinopel, teils in
den Provinzen und sind sehr zahlreich. Der Rang der Richter hängt von der
Bedeutung des Gerichtes ab und ist um so höher, je grösser an Zahl und je
wichtiger die durchschnittlich zur Erledigung kommenden Sachen sind.^)
Die Rechtsgelehrten (Mufti). Bei jedem Gerichte älteren Stils befindet
sich ein Mufti, der auf Vorschlag der oberen Verwaltungsbehörde von dem
Schaich-aMsläm ernannt wird. Sein Amtssitz ist nicht an der Gerichtsstelle;
bei der Fällung der Urteile wirkt er in keiner Weise mit; seine Thätigkeit
ist eine rein juristische und besteht, wie bereits ausgeführt ist, in der Erteilung
von Rechtsgutachten an die Parteien, welche diese entweder dem Richter erster
Instanz zur Benutzung bei der Entscheidung der Sache vorlegen oder zur Be-
gründung von Rechtsmitteln verwenden wollen.
Der Richter und der Rechtsgelehrte sind von Rechts wegen Mitglieder des
Verwaltungsrates ihres Amtssitzes; ihre Thätigkeit in demselben ist aber heute
lediglich eine beratende und verwaltende, kommt deshalb hier nicht in Betracht.
§ 5. Die 6terichte neueren Stils.
Die Gerichte neueren Stils gehören sämtlich zum Ressort des Justiz-
ministeriums. Nach der völligen Neuorganisation i. J. 1879 gehören diesem
als Mitglieder an: 1. der Justizminister, der Staatssekretär und Mitglied des
kaiserlich-ottomanischen Kabinetts ist; 2. der Unterstaatssekretär; 3. der General-
sekretär; 4. der Direktor der Abt. für Civilsachen; 5. der Direktor der Abt.
für Strafsachen; 6. der Direktor der Abt. für Überweisungssachen; 7. der Leiter
des Vollstreckungswesens; 8. der Dezernent für Personalangelegenheiten; 9. der
Vorstand des Rechnungswesens; 10. der beratende Ausschuss; 11. der Ver-
waltungsausschuss. Die Vdg. über die innere Organisation des Ministeriums
ist 1879 (am 29. Djemazi-ul-Akhir 1296; Dustur, Bd. IV S. 129) veröffentlicht.
Die Abt. für Oberweisungssachen ist nicht, wie in der älteren Verfassung, be-
stimmt, alle Sachen durch einen Überweisungsbeschluss bei den zuständigen
Gerichten anhängig zu machen, sondern hat nur die Aufgabe, die Entstehung
von Kompetenzkonflikten zwischen den Gerichten älteren und neueren Stils zu
vermeiden. — Die Thätigkeit des beratenden Ausschusses ist eine lediglich
*) Die mohammedanischen Juristen — Richter und Rechtsgelehrte — bilden eine
Hierarchie, deren Stufenfolge mit der amtlichen Stellung, auf welche die betreffende
Person ein Anrecht hat, in enger Beziehung steht. Ein Beamter erhält den einem
bestimmten Amte entsprechenden Titel früher als dieses Amt selbst und erwirbt viel-
mehr durch die Verleihung des Titels das Recht, das demselben entsprechende Amt
zu bekleiden. Wird z. B. jemand zum Richter der beiden heiligen Städte (Mekka
und Medina) ernannt, so wird durch diese Ernennung zum Ausdruck gebracht, dass
der Ernannte befähigt ist, in Mekka oder Medina Richter zu werden; derselbe wird
dann mit der nächsten dort frei werdenden Richterstelle belehnt.
704 I^ie Türkei. — 1. Die islamitischen Gerichte und die türkische Gerichtsverfassung.
juristische und beschränkt sich auf die Beantwortung der von den Gerichten
an das Ministerium gerichteten Anfragen rein rechtlicher Natur. Er ist unverant-
wortlicher Rechtsbeirat des Ministers; die Gerichte sind an seine Entscheidung
nicht gebunden. — Der Verwaltungsausschuss überwacht die Finanzverwaltung
des Ministeriums und der in der Hauptstadt befindlichen Gerichte.
Die Gerichte neueren Stils im allgemeinen. Die Gerichte neueren
Stils sind i. J. 1879 durch das G. v. 27. Djemasi-ul-Akkir 1296 (Dustur, Bd. IV
S. 245) reorganisiert. Nach demselben zerfallen die Gerichte in Civilgerichte,
Strafgerichte und Handelsgerichte. Das G. hat die Einrichtung der Friedens-
gerichte verallgemeinert, den Sitz, sowie die sachliche und örtliche Zuständig-
keit jedes einzelnen Gerichts bestimmt, genaue Normen für die Vorbildung
und die Anstellung der richterlichen Beamten erlassen und die Institutionen
der Staatsanwaltschaft, sowie der richterlichen Eröflfnungskammem neu ge-
schaffen. Die völlige Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit fällt in die
zweite Reformperiode. Das wichtigste der hierfür in Betracht kommenden Ge-
setze ist das 1879 erlassene G. vom 27. Djemazi-ul-Akhir (Dustur, Bd. IV S. 234);
es schliesst jede Einmischung der Verwaltungsbehörden in richterliche An-
gelegenheiten aus, legt die Zwangsvollstreckung in Civilsachen in die Hand
des Richters und unterstellt die Vollstreckungsbeamten (Gerichtsvollzieher) der
Dienstaufsicht des letzteren. Zur Vervollständigung des G. dient die Zirkular-
verfügung des Justizministers vom 1. Djemazi-ul-Akhir 1296 (Dustur, Bd. IV
S. 367), die über die Vollstreckung der civil- und handelsgerichtlichen Urteile
nähere Anweisungen giebt. Dem gleichen Zwecke der Sicherstellung der
richterlichen Unabhängigkeit dienen zwei Erlasse des Gross- Veziers aus dem-
selben Jahre. Der erste ist an den Ersten Staatsanwalt bei dem Kassations-
hofe gerichtet und beauftragt die Staatsanwaltschaft mit der Vollstreckung der
Strafurteile; der zweite besagt, dass als Voraussetzung der Strafvollstreckung
die auf dem Urteil vermerkte Rechtskraftbescheinigung (Ischara) des Staats-
anwalts genügt und eine Bestätigung des Urteils durch eine Verwaltungsbehörde
nicht erforderlich sei. Um jeden Zweifel auszuschliessen, sind ferner folgende
Massregeln getroffen: 1. der Erlass von Verfügungen der Verwaltungsbehörden,
in denen richterliche Urteile bestätigt werden, ist verboten; 2. die Über-
weisungsbeschlüsse, durch welche diese Behörden die bei ihnen eingegangenen
Sachen vor die zuständigen Gerichte brachten, sind für überflüssig erklärt;
3. es ist angeordnet, dass die zur Zuständigkeit der in den Hauptstädten der
Generalgouvernements befindlichen Handelsgerichte gehörigen Sachen bei diesen
Gerichten direkt einzureichen sind; den in kleineren Orten befindlichen Ge-
richten werden die Prozesse durch Überweisungs Verfügung des Vorsitzenden
der Gerichte erster Instanz übersandt (Zirkularverfügungen vom 21. April und
21. Mai 1295 [1879], Dustur, Bd. IV S. 752); 4. endlich ist (durch Zirkular-
verfügung vom 26. Djemazi-ul-Akhir 1296, Dustur, Bd. IV S. 747) angeordnet,
dass die Ladungen und Urteile der Civil- und Handelsgerichte den Beteiligten
direkt durch die gerichtlichen Vollziehungsbeamten zuzustellen sind.
Durch einen Zirkularerlass des Gross- Veziers vom 26. Djemasi-ul-Akkir
1296 (Dustur, Bd. IV S. 747) wurde dem Justizminister bekannt gegeben, dass
auf Grund einer kaiserlichen Vdg. die in den Provinzen noch gebräuchlichen,
zum Teil unzutrefiPenden Bezeichnungen für die Gerichte neueren Stils all-
gemein durch die Bezeichnung: „Gericht erster Instanz^' und „Appellations-
gericht" zu ersetzen seien.
Die einzelnen Gerichte neueren Stils. Zu diesen gehören: 1. die
Friedensgerichte, 2. die sogenannten, aus einer Abt. für Civilsachen und einer
Abt. für Strafsachen bestehenden, Civilgerichte.
Wegen des engen Zusammenhangs der Gerichtsverfassung mit der ver-
§ 5. Die Gerichte neueren Stils. 705
waltungsrechtlichen Einteilung des türkischen Reiches will ich letztere im fol-
genden kurz skizzieren. Das ungeheuere Grebiet desselben zerfällt in Provinzen
(Departements), jede Provinz (Vilajet) in Regierungsbezirke, jeder Regierungs-
bezirk (Liva) in Unterbezirke, jeder ünterbezirk (Gasa) in Kreise. Der Kreis
(Nahiyc) ist die Verwaltungseinheit des Reiches, dessen Teile die Dörfer bilden.
Die Städte zerfallen ebenfalls in Unterabteilungen (Stadtteile), die den Kreisen
nachgebildet sind.
Friedensgerichte. Jeder Ort hat ein Friedensgericht, bestehend aus
der Versammlung der Gemeindeältesten. Die Friedensgerichte sind zuständig
zur Aburteilung leichter Strafthaten, sowie zur Vornahme von Sühneversuchen
in Civilsachen und zur Entscheidung derselben innerhalb der ihnen durch das
G. über die ottomanischen Gerichte (Dustur, Bd. IV S. 245) gezogenen Grenzen.
Die Kompetenz der in den Kreishauptstädten bestehenden Friedensgerichte ist
weiter als die der übrigen.
Provinzialgerichte erster Instanz. In jedem Unterbezirk und in
jedem Bezirk ist ein Gericht erster Instanz vorhanden. Die in den Unter-
bezirken befindlichen bestehen aus einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern,
von denen der eine in Strafsachen die Funktionen des Untersuchungsrichters
wahrzunehmen hat. Dem Gerichte ist das erforderliche Exekutivpersonal bei-
gegeben. In den Orten, wo der Geschäftsumfang die Einteilung des Gerichts
in eine Civil- und eine Strafkammer erforderlich macht, werden zwei Vor-
sitzende und vier Beisitzer ernannt. — Die für den Regierungsbezirk errich-
teten Gerichte erster Instanz sind mit einem Vorsitzenden, zwei Richtern und
zwei Hülfsrichtern besetzt. Von 'den Richtern führt einer unter Mitwirkung
der beiden Hülfsrichter die Geschäfte des Untersuchungsrichters. Ist das Ge-
richt in zwei Abt. zerlegt, so ist ausserdem ein Vizepräsident vorhanden und
von den Hülfsrichtern sitzt einer in der Civilkammer, einer in der Strafkammer.
Eine Vollstreckungsbehörde ist auch diesen Gerichten zugeteilt.
Die örtliche und sachliche Zuständigkeit der Friedensgerichte, der Unter-
bezirksgerichte und der Bezirksgerichte, sowie ihr Verhältnis untereinander
und der zwischen ihnen bestehende Instanzenzug werden geregelt 1. durch
das G. über die Organisation der Gerichte neueren Stils (Dustur, Bd. IV S. 245);
2. durch die Civilprozessordnung (ebendas. S. 261) und die StPO. (ebendas.
S. 136).
Provinzial- Appellations-Gerichte. In jeder Provinzialhauptstadt
besteht ein Appellationsgericht zur Entscheidung über die Berufung gegen die
von den Gerichten erster Instanz in Civilsachen und in Bezug auf Vergehen ge-
fällten Urteile, sowie zur erstinstanzlichen Aburteilung von Verbrechen, wenn
ihnen dieselbe durch Beschluss der EröfiPnungskaramer überwiesen werden.
Gegen die in letzterer Beziehung von ihnen gefällten Entscheidungen ist nur
der Rekurs an den Kassationshof zulässig.
Neben jedem Appellationsgericht funktioniert eine Eröffnungs- (Anklage-)
Kammer, bestehend aus den drei Mitgliedern des am Orte befindlichen Gerichts
erster Instanz. Die Entscheidungen werden als in erster Instanz erlassen an-
gesehen und unterliegen daher der Berufung.
Die Provinzialappellationsgerichte bestehen aus einem Präsidenten und
vier Mitgliedern (Räten) und können, je nach den örtlichen Bedürfnissen, in
zwei Kammern, eine für Strafsachen, eine für Civilsachen, zerlegt werden.
In diesem Falle wird ein Vizepräsident ernannt und jede Kammer mit zwei
Räten besetzt. Bei jedem dieser Gerichte sind ein oder zwei Hülfsrichter,
sowie die erforderliche Anzahl von Gerichtsschreibern und Gerichtsvollziehern,
vorhanden.
Die Gerichte in Konstantinopel sind ähnlich eingerichtet, wie die
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I. 45
706 ^10 Türkei. — 1. Die islamitischen Gerichte und die türkische Gerichtsverfassung.
Provinzialgerichte. Es sind vorhanden: 1. zwei Gerichte erster Instanz mit
derselben Besetzung wie in der Provinz; 2. ein Appellationsgericht; dieses
zerfmit in vier Kammern: a) die Beruf ungs-Ci vi \ kämm er, die Berufungsgericht
für alle in der Hauptstadt in CivUsachen erlassenen erstinstanzlichen Urteile
ist; b) die Vergehenskammer, die über die Berufung gegen Strafurteile der
Gerichte erster Instanz entscheidet; c) die Handelskammer; ist Berufungsgericht
für die in erster Instanz von den Handelsgerichten der Hauptstadt erledigten
Sachen; d) die Verbrechenskammer oder der Kriminalgerichtshof; sie ist er-
kennendes Gericht erster Instanz für alle in Konstantinopel begangenen Ver-
brechen. Neben der letzteren besteht eine aus den drei Mitgliedern der Ver-
gehenskammer des Appellationsgerichts gebildete Eröfi^ungskammer. Die zur
Ermittelung eines Verbrechens vorgenommenen Untersuchungshandlungen, sowie
der Beschluss der Eröffnungskammer gelten als richterliche Handlungen erster
Instanz, unterliegen daher der Berufung.
Staatsanwaltschaft. Das Institut der Staatsanwaltschaft ist, wie be-
reits erwähnt, in der Türkei erst 1879 geschaffen worden. Die Staatsanwälte
sind staatlich ernannte Beamte, deren Aufgabe es ist, die Rechtsgüter des
Einzelnen und der Gesamtheit zu schützen, die öffentliche Ruhe und Sicherheit
vor jeder Störung zu bewahren und für die richtige Anwendung der Gesetze seitens
aller gerichtlichen Behörden Sorge zu tragen. Die Staatsanwälte unterstehen
dem Justizministerium, auf dessen Vorschlag sie durch kaiserliche Vdg. er-
nannt werden. Der höchste Beamte der Staatsanwaltschaft ist der General-
staatsanwalt bei dem Kassationshofe, dem eine Reihe von Hülfsstaatsanwälten
zur Seite steht. Ein Beamter mit dem Titel Oberstaatsanwalt ist bei jedem
Appellationsgericht in der Reichshauptstadt und den Bezirkshauptstädten au-
gestellt; ihm ist ein Hülfsbeamter beigegeben. Bei jedem Gerichte erster In-
stanz befindet sich ein Vertreter der Staatsanwaltschaft mit dem Titel Hülfs-
staatsanwalt.
Von der Thätigkeit der Staatsanwaltschaft in Strafsachen handelt die
StPO. (Dustur, Bd. IV S. 136), von der Zuständigkeit in Civilsachen das zweite
Kap. des zweiten Titels des G. über die Organisation der Gerichte neueren
Stils, Art. 65 ff. (Dustur, Bd. IV S. 245). Der Art. 60 des letzteren G. regelt
die dienstlichen Verhältnisse der Staatsanwälte untereinander.
Die Staatsanwaltschaft hat die Vollstreckung der Urteile zu besorgen,
die von dem Gerichte erlassen sind, bei welchem sie funktioniert; sie kami
hierbei die Hülfeleistung sämtlicher Polizeibeamten in Anspruch nehmen. Der
Justizminister und die ihn in den Provinzen vertretenden Verwaltungsbeamten
können sich mit den Gerichten nur durch Vermittelung der Staatsanwaltschaft
in Verbindung setzen.
Das Notariat. Die Einrichtung eines Notariats bei jedem (Tcrichte
erster Instanz erfolgte 1879 durch Vdg. vom 15. Schaban 1296 (Dustur, Bd. IV
S. 355). Die Notare werden vom Justizminister ernannt. Je nach der Grösse
des Ortes werden dem Notar ein oder mehrere Hülfsnotare beigegeben. Die
dienstlichen Verhältnisse und Amtspflichten der Notare werden durch die er-
wähnte Vdg. geregelt.
Handelsgerichte. Die Handelsgerichte sind, wie bereits erwähnt, i. J.
1860 durch das G. vom 9. Schawal 1276, die sog. Novelle zum Handelsgesetz-
buch, reorganisiert (Dustur, Bd. I S. 445, und Aristarchi Bey, Legislation Otto-
mane, Bd. II S. 355). Nach Art. 2 dieses G. giebt es in Handelssachen zwei
Instanzen, von denen die Handelsgerichte die erste, die Appellationsgerichte
die zweite Instanz bilden. Je nach der Grösse des Gerichtsortes bestehen die
Handelsgerichte aus einer oder zwei Kammern, von denen eine die seerecht-
lichen Angelegenheiten erledigt. Bei den aus nur einer Kammer bestehenden
§ 5. Die Gerichte neueren Stils. 707
sind vorhanden: ein Präsident, zwei ständige und vier nicht-ständige Richter;
bei den aus zwei Kammern bestehenden: ein Präsident, ein Vizepräsident und
für jede Kammer zwei ständige und zwei nicht-ständige Richter. Die ständigen
Richter werden von der Justizverwaltung ernannt, die nicht-ständigen von der
Versammlung der angesehenen Kaufleute bezw. von der Handelskammer, wo
eine solche vorhanden ist, gewählt. In Konstantinopel giebt es zwei besondere
Gerichte, von denen eines für handelsrechtliche Sachen i. e. S., das andere
für seerechtliche Streitigkeiten zuständig ist.
Von den bei allen Handelsgerichten gebildeten Gerichtsschreibereien ist
besteht bereits ftUher die Rede gewesen.
Wie bereits erwähnt, ist für jede Provinz ein Appellationsgericht vor-
handen, das auch für die Entscheidung über die Berufung gegen Urteile der
Handelsgerichte zuständig ist. Bei dem Appellationsgericht in Konstantinopel
besteht hierfür ein besonderer Handelssenat.
Die nicht-mohammedanische geistliche Gerichtsbarkeit. Die zu
der nicht-mohammedanischen geistlichen Gerichtsbarkeit gehörenden Gerichte
unterstehen der höchsten geistlichen Obrigkeit der nicht-muselmännischen Religions-
gesellschaften: den Patriarchen, Erzbischöfen, Bischöfen, Rabbinern und deren
Stellvertretern, die in der Türkei auch richterliche Befugnisse bezüglich personen-
standsrechtlicher Fragen haben und in den für die Entscheidung derselben
zuständigen Gerichten den Vorsitz führen. In den Provinzen ist ein solches
Gericht an dem Amtssitze jedes höheren Geistlichen vorhanden ; gegen die Ent-
scheidung desselben ist Berufung an das in Koiistantinopel bei dem Patriarchat
jeder Religionsgesellschaft gebildete Gericht zulässig. Die nicht-mohammedani-
schen Gerichte der Hauptstadt unterstehen unmittelbar den höchsten Geistlichen
der betreffenden Konfessionen. Für das griechisch-katholische Patriarchat z. B.
sind vier Gerichte vorhanden, die, von unbedeutenden Abweichungen abgesehen,
den der modernen Gerichtsverfassung eigentümlichen Instanzenzug ebenfalls
enthalten: 1. Das Gross- Vikariat ist Friedensgericht für alle im Erzbistum
Konstantinopel zwischen Ehegatten entstehenden Streitigkeiten; 2. der kirch-
liche Gerichtshof ist erkennendes Gericht erster Instanz für alle im Erzbistum
zwischen orthodoxen Christen anhängigen Verlöbnis- und Ehesachen; 3. der
ständige gemischte Nationalrat besteht aus zwölf Mitgliedern, nämlich: vier
aus den Mitgliedern des Heiligen Synods genommenen hohen Geistlichen (Erz-
bischöfen) und acht Laien, die von Vertretern der in Konstantinopel ansässigen
Griechen gewählt werden.^) Er hat wichtige verwaltungsrechtliche und richter-
liche Funktionen. In Ausübung der letzteren entscheidet er gewisse Prozesse
(über Aussteuern, Mitgüten, Erbschaften u.a.m.) in erster Instanz und ist
ausserdem Berufungsgericht für die kirchlichen Gerichtshöfe in der Provinz.
Der eigentliche Vorsitzende ist der ökumenische Patriarch, der jedoch that-
sächlich den Vorsitz nur .bei aussergewöhnlich wichtigen Sachen selbst über-
nimmt und ihn für gewöhnlich dem im Range höchsten kirchlichen Mitgliede
überlässt. 4. Der Heilige Synod bildet die Spitze der hierarchischen Gerichts-
barkeit. Er besteht aus zwölf dem ökumenischen Patriarchen unterstehenden
Erzbischöfen (Metropolitanen) und steht unter dem persönlichen Vorsitz des
ersteren. Er ist die hervorragendste Verwaltungsbehörde der griechisch-katho-
lischen Kirche, die Hüterin ihrer heiligen Lehren und zugleich der höchste
geistliche Gerichtshof. Er entscheidet in letzter Instanz alle zur Zuständigkeit
der geistlichen Gerichte gehörenden Sachen.
Die Vdg. über das griechische und armenische Patriarchat, sowie das
Rabbinat finden sich Dustur, Bd. II S. 902, 938 und 962.
M Die Versammlung derselben tritt jähriich einmal unter dem Vorsitz des öku-
menischen Patriarchen zusammen.
45*
708 Die Türkei. -— 1. Die islamitischen Gerichte und die türkische Gerichtsverfassimg'.
§ 6. Besondere Gerichte filr die In der Türkei sieh anfluiltenden
Aaslinder.
Auf Grund verschiedener mit auswärtigen Staaten abgeschlossener Ver-
träge gemessen Ausländer in gewisser Beziehung den Vorzug eines besonderen
Gerichtsstandes. Dabei ist zu unterscheiden, ob es sich um Konflikte zwischen
Ausländem und Ausländem oder zwischen Ausländem und türkischen unter-
thanen handelt. Im ersteren Falle geniessen die Ausländer so umfassende
Privilegien, dass man sagen kann, sie haben das Recht der Exterritorialität;
im letzteren Falle unterliegen sie zwar der Zuständigkeit der türkischen Ge-
richte, die aber dann besonders zusammengesetzt sind. Elin Vertreter der Ge-
sandtschaft des betreffenden Landes wohnt als Beistand des Ausländers den
Verhandlungen bei und in den meisten Fällea besteht die Hälfte der Richter
aus Landsleuten desselben. — Wenn zwischen zwei Angehörigen ein- und des-
selben Staates oder zweier verschiedener Staaten eine civilrechtliche Streitigkeit
entsteht oder ein Ausländer zum Nachteil eines anderen Ausländers eine straf-
bare Handlung begeht, so werden die in Frage kommenden Personen so an-
gesehen, als befänden sie sich im Gebiete ihres Heimatsstaates, und unterliegen
demgemäss nicht den türkischen Gerichten, sondern den Konsulatsgerichten.
Letztere bestehen aus einem Vorsitzenden und einer Anzahl von Beisitzern.
Den Vorsitz führt entweder der Konsul selbst oder ein anderer Konsulats-
beamter (Konsulatsrichter) oder auch ein mit dem Konsulat in keiner Beziehung
stehender Beamter; die beisitzenden Richter wählt der Konsul aus den an-
gesehenen Staatsangehörigen seines Bezirks.
Die in der Türkei bestehenden Konsulatsgerichte werden als Gerichte
erster Instanz betrachtet. Die von ihnen in Civilsachen erlassenen Urteile
unterliegen, den Bestimmungen jedes Landes entsprechend, der Berufung an
ein Appellationsgericht desselben, welches in der Türkei durch diejenige Ge-
sandtschaft vertreten wird, zu deren Bezirk das in Frage kommende Konsulat
gehört.^) In Strafsachen ist das Konsulatsgericht erkennendes Gericht erster
Instanz für Vergehen und Übertretungen. Bei Verbrechen (d. h. den zur Zu-
ständigkeit der Schwurgerichte gehörigen strafbaren Handlungen) führt das
Konsulatsgericht die Voruntersuchung und sendet dann den Angeklagten mit
den Akten an das nach den Gesetzen des betreffenden Landes zuständige Gericht.
Auf Grund der bestehenden internationalen Verträge ist bei Verschiedenheit
der Nationalität das Konsulatsgericht desjenigen Staates zuständig,* welchem
der Beklagte bezw. Angeklagte angehört.
Die sogenannten gemischten (d. h. zwischen einem Ausländer und einem
türkischen Unterthanen anhängigen) Prozesse aller Art unterliegen der Ent-
scheidung durch die türkischen Gerichte, jedoch in besonderen Formen. In
Strafsachen erhält der Angeklagte einen Beistand in Gestalt eines seinem
Heimatsstaate angehörigen Beamten, meistens des bei der Botschaft oder
dem Konsulate angestellten Dolmetschers (Dragomans). Derselbe wohnt der
gesamten Verhandlung bei, nimmt an der Beratung teil und unterzeichnet
das Protokoll. Die gemischten Civil- und Handelssachen werden in den Pro-
vinzen vor den Handelsgerichten erster Instanz verhandelt, in denen alsdann
zwei Angehörige des in Frage kommenden fremden Staats Sitz und Stimme
haben. Ein solches (jericht besteht mithin aus dem Vorsitzenden, zwei türki-
schen und zwei nichttürkischen Beisitzern. Der Dragoman leistet stets seinem
Landsmanne Beistand. Die Entscheidungen derartiger Gerichte unterliegen der Be-
^) Nur das englische Konsulatsgericht in Konstantinopel hat eine erste und
eine zweite Instanz.
§ 6. Besondere Gerichte für die in der Türkei sich aufhaltenden Ausländer. 709
rufung an die erste Kammer für Handelssachen in Konstantinopel. — Alle in der
Reichshauptstadt vorkommenden gemischten Civil- und Handelssachen werden
von dem zuletzt erwähnten Gericht entschieden. Die Zusammensetzung des-
selben ist in diesen Fällen eine so aussergewöhnliche, dass man ihm eine Zeit
lang die Bezeichnung „Ausnahme-Gerichtshof** beigelegt hatte. Das Gericht
besteht nämlich aus einem Präsidenten, zwei türkischen Richtern und einer
gesetzlich festgestellten Anzahl von ausländischen Richteni. Jede auswärtige
Macht ist bei demselben durch zwei Richter vertreten ; diese werden vom Konsul
aus den ortsansässigen angesehenen Kaufleuten ausgewählt, sitzen abwechselnd,
d. h. an den für jede Nation im voraus bestimmten Tagen, und haben die
gleichen Befugnisse, wie ihre türkischen Kollegen. Das Gericht besteht also
aus dem Präsidenten (der in der Regel ein höherer türkischer Beamter ist),
zwei türkischen Richtern und zwei Richtern desjenigen fremden Staates, dem
eine der Parteien angehört. Die Verhandlungen finden in Anwesenheit des
betreffenden Dragomans statt. Das Gericht ist Berufungsgericht für die in ereter
Instanz vor den Provinzialgerichten verhandelten gemischten Prozesse und
ausserdem Gericht erster und letzter Instanz für die in Konstantinopel bei ihm
direkt anhängig gemachten Sachen. Die Urteile desselben unterliegen nicht
der Kassation; die einzigen dagegen zulässigen Rechtsmittel sind: der Ein-
spruch gegen Versäumnisurteile, der Antrag auf Aufhebung eines kontradik-
torischen Urteils und, vorkommenden Falls, der Einspruch Dritter.
Der Zuständigkeit der vorstehend beschriebenen besonderen Gerichte sind
jedoch entzogen: 1. Mietstreitigkeiten; 2. Streitigkeiten über unbewegliche
Güter; 3. alle Streitigkeiten, deren Gegenstand einen Wert von höchstens
1000 Piaster (208 Mark =«= 260 Francs) hat. Die in diese drei Kategorieen
fallenden Prozesse werden von den türkischen Gerichten in Gegenwart des
betreffenden Konsulatsdragomans verhandelt.
Es giebt somit im türkischen Reiche drei völlig verschiedene Kategorieen
von Gerichten.
Die erste umfasst alle diejenigen, welche unter dem Vorsitze türkischer
Beamten stehen und ausschliesslich aus türkischen Richtern zusammengesetzt
sind. Sie zerfallen in vier Klassen: 1. die mohammedanischen Gerichte älteren
Stils; 2. die staatlichen Gerichte neueren Stils; 3. die Handelsgerichte; 4. die
unter dem Vorsitze türkischer Unterthanen stehenden geistlichen Gerichte.
Die zweite Kategorie bilden die mit der Erledigung der gemischten
Prozesse beauftragten besonderen türkischen Gerichte. Sie stehen unter dem
Vorsitz türkischer Beamten, die Beisitzer sind aber zu gleichen Teilen Türken
und Ausländer.
Die dritte Kategorie endlich sind die Konsulatsgerichte, die, ausschliess-
lich aus Ausländem bestehend, zwar in der Türkei funktionieren, aber in
keinerlei Beziehung zu der übrigen türkischen Gerichtsverfassung stehen.
2. Das Strafrecht der Türkei
I Die geschiclitliclie Entwicklung des türkischen Stra&echts.
§ 1. Der allgemeine Charakter und die 6randlage des mohammedanlsehen
Strafreehts.
Das geltende Strafrecht des ottomanischen Reiches ist eine seltsame
Mischung von mohammedanischen Rechtslehren, französischem Strafrecht,
nationalen Eigentümlichkeiten und Willkür. Eine klare, allgemein verständ-
liche Darstellung desselben setzt voraus, dass man sich mit einigen geschicht-
lichen Einzelheiten vertraut macht und sich über den Unterschied von
Theorie und Praxis im mohammedanischen Recht klar ist. Dabei darf ich
wohl davon ausgehen, dass die Mehrzahl meiner Leser weder in die Einrich-
tungen der Nachfolger des Propheten eingedrungen sind, noch sich mit den
in der Türkei seit 1839 eingeführten Reformen eingehend beschäftigt haben.
Gewöhnlich glaubt man in Europa, dass der türkische Kadi nach den
Satzungen des Korans entscheidet — oder wenigstens entscheiden sollte. Das
ist ein grosser Irrtum. Allerdings ist der Koran für den Muselmann die wort-
getreue und — im vollen Sinne des Wortes — unfehlbare OflFenbarung des
Willens Allahs; er ist, als das unerschaffene ewige Buch, nicht nur das Gmnd-
gesetz für alle Gläubigen, sondern sogar die metaphysische Grundlage^) ihres
Rechts; in Wirklichkeit aber citiert und interpretiert der Kadi in seinen Entschei-
dungen den Text des Koran ebensowenig, wie in anderen Staaten der Friedens-
richter die Artikel der Verfassung. Dasselbe gilt von der Sonnah, d. h. den über-
lieferten Aussprüchen und Handlungen Mohammeds, die man in den für kanonisch
geltenden Sammlungen*) findet. Die Lehren der Sonnah sind, obwohl mit
Rücksicht auf ihren Ursprung über die menschliche Kritik erhaben, doch nicht,
wie die im Koran enthaltenen, die wörtliche Wiedergabe des Willens Allahs,
sondern nur die Aufzeichnung der persönlichen Gedanken des von ihm erleuch-
teten Propheten. Hieraus folgt ihre Bedeutung als Rechtsquelle zweiter KJasse;
andererseits ist trotzdem die Sonnah, als Ganzes betrachtet, für die Gläubigen
ebenfalls metaphysische Grundlage des Rechts. Weitere metaphysische Rechts-
grundlagen sind: die übereinstimmenden Entscheidungen*) der Männer, die
*) Im Arabischen: a^l, Mehrzahl oqüI, wörtlich „Wurzel*', im Gegensatz zu den
Grundsätzen und Lehren des thatsächlich geltenden Rechts, arabisch: far', Mehrzahl
forü', wörtlich: „Zweig".
-) Die bekanntesten dieser Sammelwerke sind die von Bochärt und von Moslim,
die beide den Titel „(;ahfh" führen. Es giebt im ganzen sechs kanonische Sammlungen
von Überlieferungen, die sich an die Person des Propheten knüpfen; man nennt sie
in der Türkei gewöhnlich „die sechs verehrungswürdigen Bücher", arabisch: „al-kotnb
as-sittat al-mu'tabarah'*.
*) Arabisch: idschma' oder dschamä'ah.
§ 1. Der allgemeine Charakter iind die Grundlage des mohammedanischen StR. 711
man als die mohammedanischen Apostel und Kirchenväter bezeichnen könnte,
und ausserdem die menschliche Vernunft.*)
Die in der Praxis thatsächlich zur Anwendung gelangenden mohamme-
danischen Rechtsgrundsätze sind in den Werken der als Autorität anerkannten
Rechtsgelehrten niedergelegt. Die Rechtsgelehrten nehmen im Islam ettva
die Stellung ein, die sie in Rom vor Justinian inne hatten, und gelten
als Autoritäten auf rechtlichem Gebiete; sie erftillen den doppelten Beruf, das
vorhandene Recht auszulegen und, bei Gelegenheit dieser Auslegung, neuen
Recht zu schaffen: ihre Schriften haben Gesetzeskraft. Selbstverständlich
mtlssen sie von den Grundsätzen des Koran und der Sonnah ausgehen und
die bereits erwähnten, aus der Urzeit des Islam stammenden Entscheidungen
berücksichtigen. Ausserdem stehen begreiflicherweise nicht alle Rechtsge-
lehrten in gleichem Ansehen; die weniger bedeutenden müssen daher, wenn
sie selbst Anspruch auf Autorität machen wollen, die wohl begründeten An-
sichten ihrer bedeutenderen Fachgenossen beachten. Endlich ist nicht zu ver-
gessen, dass die Autorität der muselmännischen Juristen nicht auf Anerken-
nung durch den Herrscher, wie sie sich in der Verleihung des Jus re-
spondendi in Rom ausdrückte, sondern lediglich auf der öffentlichen Meinung
beruht.
Von diesen Rechtsgelehnen unterscheidet man in der mohammedanischen
Orthodoxie vier Schulen, deren Anhänger nach ihren Begründern Hanafiten,
Malikiten, Schäfi'iten und Hanbaliten heissen. Diese Schulen erkennen sich
gegenseitig als in gleicher Weise daseinsberechtigt an. Die Hanafiten sind die
im ottomanischen Reiche amtlich anerkannte Schule; zu ihr bekennt sich die
grosse Mehrzahl der in Europa und Kleinasien wohnenden Türken, während die
Schäfi'iten in Syrien, Mesopotamien, Arabien und Ägypten, die Malikiten in Tripolis
überwiegen. Die Hanbaliten sind wenig zahlreich und leben zerstreut in den grossen
Städten. Die grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen den Schulen be-
zieht sich auf die Frage, welcher Einfluss der vierten Rechtsgrundlage, d. h.
der menschlichen Vernunft, auf das Recht zu gestatten ist. Alle stimmen darin
überein, dass sie lediglich da ist, um die drei anderen Quellen zu erklären,
und in deiyenigen Punkten, in welchen sie nicht unmittelbar praktisch brauch-
bar sind, zu ergänzen. Jede rechtliche Deduktion muss aber von einer Vor-
schrift des Korans, der Sonnah oder der islamitischen Weisen aus den ersten
Zeiten ausgehen und sich als deren analoge Anwendung darstellen. Der Koran,
die Sonnah und die Werke der Rechtsgelehrten bilden zusammen das Gesetz,
arabisch 8chari*ah,*) und dasjenige rechtswissenschaftliche Werk, dessen Autorität
in der Türkei allgemein anerkannt ist, führt den Titel „MultaqÄ al-Abhur",
d. h. Zusammenfluss der Meere. Es ist eine von Ibrfthim al-HalabI (f 1649)
herrührende, reichhaltige Sammlung von Entscheidungen der hervorragendsten
Juristen aus der Schule der Hanafiten, in der fast alle Rechtsgebiete (Civil-
und StR., öffentliches Recht, Gerichtsverfassung, Militär-, Luxus- und Steuer-
gesetzgebung, internationales Recht) behandelt sind. Das Werk ist ursprüng-
lich arabisch geschrieben, unter Sultan Mahomet IV aber auch ins Türkische
übersetzt und 1824 im Auftrage der Hohen Pforte neu herausgegeben worden.*)
M Arabisch: qijÄs oder rÄY.
-) Die Türken sagen gewöhnlich ^Scheri", vom arabischen schar'l; es ist das
nonien relativum von Schar' oder Scharl'ah und bedeutet demnach „gesetzlich". Da
das Arabische auf theologischem und rechtlichem Gebiete die offizielle Sprache für
die Mohammedaner aller Länder ist, so empfiehlt es sich die hierauf bezüglichen Aus-
drücke in der arabischen Form anzuführen, ohne Rücksicht auf die zum Teil ver-
änderte türkische Aussprache.
'■^) Der Multaqa ai-Abhur und die FatwÄ, d. h. die Entscheidungen seiner be-
712 I>ie Türkei. — 2. Das Strafrecht der Türkei.
Nach mohammedanischen Grundsätzen darf der Kadi örtliches Gewohn-
heitsrecht nur anwenden, wenn die Schari'ah eine Entscheidung des fraglichen
Falls nicht enthält oder ausdrücklich auf den Ortsgebrauch verweist. Das
Gleiche gilt von der gesetzgeberischen Gewalt des Staatsoberhauptes: er darf
sie nur bezüglich derjenigen Materien ausüben, über welche die Schari'ah
nicht bereits entschieden hat; er ist daher auf den Erlass von Qänün, d. h.
Vdgn. beschränkt, während die Weiterbildung des Gesetzes im engern Sinn in
den Händen der Juristen liegt. Der Einfluss, den der einzelne Schriftsteller in
dieser Beziehung ausübt, richtet sich nach dem Ansehen, das er geniesst.
Da mm die Autorität der grossen Juristen der älteren Zeit eine bedeutend
grössere ist als die unserer Zeitgenossen, so ergiebt sich hieraus, dass es eine
Weiterentwicklung im mohammedanischen Recht kaum giebt.
Die im Vorstehenden dargelegten Verhältnisse muss man berücksichtigen,
um die jetzt in der Türkei geltende sog. „ßeformgesetzgebung" richtig zu
würdigen. Wie wir später sehen werden, ist der erste Art. des StGB. v. 1858
ohne diese Erklärung völlig unverständlich.^)
Ich wende mich nunmehr zu dem strafrechtlichen System der Hanafiten,
wie es in dem MultaqÄ enthalten ist.^)
§ 2. Das strafrechtliche System des Multaqä.
Die modernen europäischen StGBer pflegen in zwei Teile zu zerfallen,
von denen der erste die Bestimmungen über Strafensystem, Strafvollzug und
die Feststellung der GrundbegriflFe des StR.: Versuch, Rückfall, mildernde
Umstände, Teilnahme, Zurechnung, Zusammenhang und Zusammentreffen straf-
barer Handlungen*) enthält, während der zweite von den einzelnen strafliaren
Handlungen und ihrer Bestrafung handelt. Dem mohammedanischen Rechte
ist eine derartige Trennung des allgemeinen Teils vom besonderen fremd.
deutendsten Kommentatoren sind, unter Umstellung einiger Kapitel und Weglassuug
verschiedener Wiederholungen und Weitschweifigkeiten, ins Französische übersetzt
in dem Werke: Tableau g6n6ral de l'Empire Ottoman von d'Ohsson, Paris 1788. Eine
Analyse dieses Universalkodex enthalten auch die Lettres sur la Turquie von
Ubicini, Paris 1853, zweite Ausgabe, Bd. I S. 148 ff. Die Revision des Multaqsl v.
J. 1824 besteht hauptsächlich in der Einfügung der Fatwä (Entscheidungen) derjenigen
berühmten Juristen, die nach dem Tode al-Halabf's lebten. Zur Vergleichung des
arabischen Originals des Multaqft mit der Ohssonschen Übersetzung habe ich das in
der Universitätsbibliothek zu Leyden befindliche arabische Manuskript (No. 1081)
benutzt.
^) Ausführlichere Mitteilungen über das Wesen des mohammedanischen Rechts,
das Gesetz, das Gewohnheitsrecht, die Vdgn. und das Gewicht des Einflusses der ein-
zelnen Juristen enthalten folgende Werke : Das bereits erwähnte Buch von d'Ohsson,
Bd. I S. 1 ff., Bd. V S. 7; Hamilton: The Hedäya or Guide, a commeutary on the Musulman
laws, London 1791, Preliminary discourse; Mirza Kazem Bey in dem Journal Asiatique,
Jahrgang 1850 S. lo8ff.; Sachau: Zur ältesten Geschichte des Muhammedanischen
Rechts, Wien 1870; von Kremer: Kulturgeschichte des Orients, Wien 1875, Bd. I
S. 470 ff.; J. Kohler: Zur Geschichte der Islamitischen Rechtssysteme in der Zeitschrift
für vergleichende Rechtswissenschaft, Jahrgang 1884; Syed Ameer Ali: Lectures on
Mahommedan Law, Calcutta 1885, S. 1 ff.; van den Berg: De Beginselen van het
Mohammedaansche Recht, 3. Aufi., Batavia und den Haas* 1883 S. 1 ff. (hiervon ist
eine Übersetzung ins Russische von Girgass, Petersburg 1882, erschienen; eine eben-
solche ins Französische von de France de Tersant und Damiens erscheint dem-
nächst).
') In der Ohssonschen Übersetzung sind, infolge der bereits erwähnten Um-
stellung verschiedener Kapitel, die Grundzüge des StR. nur schwer aufzufinden.
*) Die zuletzt erwähnten Begriffe werden allerdings von einigen Gesetzgebern
in der StPO. behandelt; sie gehören aber wegen ihrer Einwirkung auf die Schuld
und das Strafmass thatsächlich zum materiellen StR.
§ 2. Das Btrafrechtliche System des Multaqft. 713
Die Delikte zerfallen in drei Klassen: Verbr. gegen Allah, Angriffe auf die
Person, endlich strafbare Handlangen gegen den öffentlichen Frieden.^)
Jede dieser drei Klassen wird in einem besonderen Kap. behandelt und
hat ein eigenes Strafensystem. Als allgemeine Grundsätze kann man den drei
Kap. folgendes entnehmen: 1. der Versuch ist nur insoweit strafbar, als er an
sich betrachtet den Thatbestand einer selbständigen strafbaren Handlung dar-
stellt ; 2. der Kückfall wirkt nur in den vom Gesetz ausdrücklich angegebenen
Fällen straf erhöhend; 3. ein mildernder Umstand bewirkt gleichfalls nur unter
dieser Voraussetzung eine Ermässigung der Strafe ; 4. einen besonderen Fall der
strafbaren Teilnahme kennt das Recht nur bei Tötung, Körperverletzung und
Unzucht; in allen übrigen Fällen haftet der Teilnehmer nur für die von ihm
persönlich begangenen Handlungen, die, für sich allein betrachtet, den That-
bestand eines Delikts bilden; 5. die Zurechnung wird ausgeschlossen durch
Geisteskrankheit, Minderjährigkeit, Zwangt) und Irrtum; 6. weder der Zu-
sammenhang noch das Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen hat
auf das Strafmass Einfluss, jede That wird einzeln abgeurteilt. — Die Schwanger-
schaft einer verurteilten Person bewirkt einen Strafvollzugsaufschub nur für
die körperlichen, nicht auch für die Freiheitsstrafen; weder die rechtskräftig
erkannte Strafe noch die Strafverfolgung unterliegt der Verjährung.
Verbrechen gegen Allah sind:
1. Die Unzucht, d. h. jeder unerlaubte fleischliche Verkehr zwischen den
beiden Greschlechtem , also nicht nur Ehebruch, Blutschande und Notzucht,
sondern auch die freiwillige Vollziehung des Beischlafs zwischen zwei erwach-
senen unverheirateten Personen. Nur die Ehe und das Eigentumsrecht an einer
Sklavin geben dem Manne die Befugnis, mit einer Frau geschlechtlich zu ver-
kehren. Die Strafe ist: Steinigung oder Geisselung und Verbannung, je nach
den Umständen des Falles; sie kann aber nur ausgesprochen werden, wenn
die That durch viermaliges Geständnis oder durch das Zeugnis von vier männ-
lichen, einwandsfreien Zeugen (während sonst nur deren zwei gefordert werden)
erwiesen ist. Ausserdem liegt strafbare Unzucht nur vor , wenn der Beischlaf
vollständig, und zwar in normaler Weise vollzogen ist.
2. Die Verleumdung, d. h. die wissentlich falsche Anschuldigung wegen
Unzucht, wenn diese die Strafe der Steinigung zur Folge gehabt halben würde.
Als wissentlich falsch gilt nach dem Gesetz die Anzeige desjenigen, der nicht im
Stande ist, die gesetzlich erforderten Beweise beizubringen; jedoch besteht
hiervon eine Ausnahme zu Gunsten des Mannes, der seine Ehefrau des Ehe-
bruchs beschuldigt, um die Ehescheidung herbeizuführen und die Vaterschaft
des Kindes, mit dem sie schwanger geht, zu bestreiten: er kann den Mangel
der gesetzlichen Beweisführung durch die fünfmalige Wiederholung einer Ver-
wünschung ersetzen. Die Verleumdung wii'd mit Geisselung bestraft.
3. Der Diebstahl, d. h. die rechtswidrige Zueignung eines Gegenstandes
im Werte von mindestens 10 Silberdrachmen, der sich unter einer seiner Be-
schaffenheit nach genügend sicheren Bewachung oder an einem sicher ver-
wahrten Orte befand. Die Strafe besteht in Abhauen der rechten Hand und
— bei vorliegendem Rückfall — des linken Fusses. Weitere Rückfälle werden
mit Gef. bestraft. Die verstümmelnden Strafen finden keine Anwendung bei
den Diebstählen, die begangen werden : auf einem öffentlichen Platze, zwischen
*] Die geschichtliche Erklärung dieser Dreiteilung w^ürde zu weit führen. Es
sei daher nur angedeutet, dass die drei Klassen den drei Perioden der Rechtsentwick-
lung bei den Arabern entsprechen, die durch das Heidentum, die Reformtbätigkeit
Mohammeds und die Weiterentwicklung unter den Kalifen dargestellt werden.
*) In diesem Falle gilt derjenige, welcher den Zwang ausgeübt, nicht der ihn
erduldet hat, als Thäter.
714 Die Türkei. — 2. Das Strafrecht der Türkei.
Ehegatten oder solchen Verwandten, zwischen welchen die Ehe verboten ist,
zwischen Herrn und Sklaven, zum Nachteil der Staatskasse oder an einem
Gegenstand, dessen Miteigentümer der Dieb ist.
4. Raub. Der Räuber, welcher einen Diebstahl unter Vornahme von
Gewaltthätigkeiten begeht, wird mit Abhauen der rechten Hand und des linken
Fusses, wenn er aber einen Menschen tötet, mit dem Tode bestraft. Ob im
letzteren Falle der Thäter enthauptet oder gekreuzigt werden soll, bestimmt
der Richter. Bei der Kreuzigung wird der Verurteilte lebend an das Kreuz
geschlagen, sodann mit der Lanze durchbohrt und darauf, jedoch höchstens
drei Tage lang, dem Anblick des Volkes preisgegeben.
6. Wein trinken. Der des Wemgenusses überführte Muselmann wird mit
Geisselung bestraft.
6. Der Abfall vom mohammedanischen Glauben. Der unbussfertige
Abtrünnige wird mit dem Tode bestraft, weibliche Personen dagegen werden ein-
gesperrt und täglich gepeitscht, bis sie zum wahren Glauben zurückkehren. In
allen Fällen hat der Abfall vom mohammedanischen Glauben den bürgerlichen
Tod zur Folge. GrOtteslästerer werden ohne Unterschied des Geschlechts und
der Konfession und ohne Gewährung einer Frist zur Reue zum Tode verurteilt.
7. Rebellion, d. h. die Weigerung des Gehorsams gegen die Gesetze oder
die rechtmässige Obrigkeit seitens eines Muselmannes,^) der im übrigen die
Grundlehren des Islam als richtig und die Unterwerfung unter das Gesetz als
erforderlich anerkennt. Der hartnäckige Ungehorsam ist mit dem Tode be-
droht; da aber der Thäter Muselmann geblieben ist, so findet die Strafe des
bürgerlichen Todes auf ihn keine Anwendung; auch sollen, wenn mildere
Strafen zur Beugung seiner Hartnäckigkeit ausreichen, diese gegen ihn ver-
hängt werden, bevor das äusserste Mittel gegen ihn gebraucht wird.*) Eis sei
bemerkt, dass die Kommentatoren des Multaqä den Begriff der Rebellion sehr
weit fassen, indem sie jede aufreizende Rede, jede Handlung, welche geeignet
ist, die öflTentliche Ordnung zu stören, jede Übertretung der gesetzmässigen
Anordnungen des Herrschers, die Fälschung, die Amtsunterschlagung, die Er-
pressung im Amte und ganz allgemein jede Verletzung der Amtspflicht als
Rebellion ansehen.*) Die Stellung dieses Delikts entspricht also etwa der des
Crimen laesae maiestatis im römischen Recht, das, ursprünglich ein bestimmtes
Verbrechen mit eng umgrenztem Thatbestande, später der Sammelname für eine
Reihe von strafbaren Handlungen wurde. Indes ist der Begriff der Rebellion
im türkischen Recht ein erheblich weiterer. Ich komme auf dieses Delikt
bei der Besprechung des türkischen StGB. v. 1858 zurück.
Ein Straferlass ist bei den vorerwähnten Strafthaten nicht zulässig, ab-
gesehen von der Verleumdung, die nur auf Antrag des Beleidigten verfolgt
wird, und der Rebellion, bei welcher das Staatsoberhaupt von seinem Be-
gnadigungsrechte Gebrauch machen darf. Den Dieb trifft neben seiner Strafe
die Verpflichtung zur Herausgabe der gestohlenen Sache als Schadensersatz,
wenn er sie noch im Besitz hat; die Verbindlichkeit erlischt, wenn er zur Zeit
der Klageerhebung bereits nicht mehr Besitzer war.
*) Da ein Ungläubiger nur infolge eines Vertrages Unterthan eines mohamme-
danischen Herrschers werden kann, so bildet die Gehorsamsverweigerung eines solchen
nicht einen Fall der Rebellion, sondern nur ein vertragswidriges Verhalten, das zur
Folge hat, dass auch die Mohammedaner an die bezüglich der persönlichen Sicherheit
des Thäters übernommenen Verpflichtungen nicht mehr gebunden sind-
-) Dieselben Grundsätze gelten, wenn es sich nicht um den Ungehorsam eines
einzelnen, sondern um den Aufstand einer Volksmenge handelt, zu dessen Unter-
drückung militürisches Einschreiten erforderlich ist.
^) Vgl. dOhsson a. O. Bd. VI S. 258 ff".
§ 2. Das strafrechtliche System des MultaqA. 715
Die zweite Klasse von strafbaren Handlangen bilden die Angriffe auf die
Person: Tötung und Körperverletzung. Es giebt drei Arten von Tötungen:
Tötung mit Vorbedacht, vorsätzliche Tötung ohne Vorbedacht und fahrlässige
Tötung. Vorbedacht ist: der Vorsatz, einem anderen mit einer Waffe oder
irgend einem unter gewöhnlichen Umständen zui* Herbeiführung des Todes
geeigneten Mittel das Leben zu nehmen. Also gehört auch die Tötung durch
Gift, Verbrennen, Ertränken, sowie die Verursachung eines Todesurteils durch
Ablegung falschen Zeugnisses hierher. Vorsätzliche (oder wie es im Arabischen
heisst: mit einem Anscheine von Vorbedacht begangene) Tötung liegt vor, wenn
der Tod als zufällige Folge eines gegen eine Person, jedoch ohne Tötungs-
absicht, gerichteten Angriffs eingetreten ist. Auch hier bestinmit sich die Art
der Handlung nach der Beschaffenheit der zur Anwendung gelangten Mittel.
Fahrlässig endlich ist jede durch Unaufhierksamkeit, ünerfahrenheit, Nach-
lässigkeit oder Zufall herbeigeführte Tötung; man unterscheidet demnach vier
Arten der fahrlässigen Tötung.^)
Gegen vorsätzliche mit Vorbedacht begangene Tötung ist die Strafe der
Talion angedroht, falls nicht die Erben des Ermordeten erklären, dass sie mit
einem Wergeide zufHeden sein wollen, oder der Thäter ein Ascendent des
Opfers ist oder ein Herr seinen Sklaven getötet hat. Im letzteren Falle wird
nur auf die korrektioneile Strafe erkannt, von der noch später die Rede sein
wird; in den beiden ersteren Fällen kann an Stelle der Talion das Wergeid
treten; der Betrag desselben ist: 1000 Goldstücke oder 10000 Silberdrachmen
für einen Mann, die Hälfte für eine Frau.*) Vorsätzliche und fahrlässige
Tötung haben stets die Verpflichtung zur Zahlung des Wergeides zur Folge;
sie lastet nicht nur auf dem Thäter, sondern auch auf seiner Korporation
und subsidiär seinen Agnaten, seinem Stamme oder dem Staate. Ist der Thäter
unbekannt, so haften die Bewohner des Hauses, der Strasse oder Stadtviertels,
wo der Leichnam gefunden ist, für die Bezahlung des Wergeides.
Die gleichen Grundsätze gelten für die Körperverletzung, jedoch mit dem
Vorbehalt, dass die Talion selbst bei mit Vorbedacht begangenen Verletzungen
dann keine Anwendung findet, wenn die Herstellung völliger Gleichheit zwischen
Verletzung und Strafe schwierig oder gar unmöglich sein würde. So ist z. B.
die Talion ausgeschlossen, wenn jemand, der seine rechte Hand bereits ver-
loren hat, einen anderen der seinigen beraubt; denn es ist nicht zulässig, als
Vergeltung für das Abhauen der rechten Hand dem Thäter die linke zu
nehmen. Auch für Fleischwunden ist die Talion nicht zulässig, weil es sehr
schwer sein würde, dem Thäter eine Wunde von gleicher Länge, Breite und
Tiefe zuzufügen. Ihre Anwendbarkeit beschränkt sich also auf die Fälle
der Verstümmelung und der Beraubung eines äusseren Organs. Für alle
Verletzungen einschliesslich der Abtreibung ist ein Preisverzeichnis aufgestellt.
Als allgemeine Regel gilt, dass das Wergeid für ein Glied oder Organ, von
welchem man zwei hat, halb so hoch ist, wie das Wergeid für Tötung; bei
den Gliedern, von denen der Mensch zehn hat (Finger, Zehen), ist der Betrag
gleich einem Zehntel des Totschlags -Wergeides; hat die Verletzung den Ver-
*) Unaufmerksamkeit liegt z. B. vor, wenn ich, in der Meinung auf ein Stück
Wild angelegt zu haben, auf einen Mensehen schiesse; llnerfahrenheit, wenn ich anstatt
des Feindes, dem ich nachstellte, den Freund treffe; Nachlässigkeit, wenn ich an einem
öffentlichen Platze eine Grube anlege, ohne die erforderlichen Vorsichtsmassregeln zu
treffen, so dass ein Vorübergehender hineinfällt und an den Folgen des Falles stirbt;
Tötung durch Zufall ist es endlich, wenn ein Schlafender beim Umdrehen in der
Schlaftrunkenheit ein Kind erstickt.
-) Ursprünglich wurde das Wergeid in Kamelen entrichtet, die Zahlung in Geld
war nur subsidiär zulässig.
716 Die Türkei. — 2. Das Strafrecht der Türkei.
Inst eines nnr einmal vorhandenen Gliedes,^) der Vernunft, eines der fünf Sinne
oder einer körperlichen oder geistigen Fähigkeit veranlasst, so ist das volle
Wergeid zu zahlen. Dabei ist jedoch stets zu beachten, dass bei allen einer
weiblichen Person zugefügten Verletzungen sich der Betrag um die Hälfte
ermässigt.
Tötung, Körperverletzung und Verstünmielung bleiben straflos, wenn sie
im Falle der Notwehr, auf Anordnung der rechtmässigen Obrigkeit, im Kriege
oder zur Vollstreckung eines Urteils ausgeführt wurden.
Die für die obenerwähnten Delikte angedrohten Strafen können dem
Schuldigen von dem Verletzten oder dessen Erben erlassen werden; die Hand-
lungen haben den Charakter von Civildelikten, bei denen das Wergeid den
an die Stelle des Schadensersatzes tretenden Preis des vergossenen Blutes
bildet. Das Staatsoberhaupt ist nicht befugt einzuschreiten, weder, um den
Thäter zu begnadigen, wenn der Verletzte auf der Talion besteht, noch um
ihn dem Richter zu überliefern, wenn der zur Stellung des Strafantrages Be-
rechtigte hiervon Abstand nimmt.
Wie bereits oben erwähnt ist, kennt das mohammedanische Recht eine
dritte Klasse von strafbaren Handlungen: die Vergehen und Übertretungen
gegen den öffentlichen Frieden. Der Herrscher und seine Vertreter: die Kadis
und, für Übertretungen, die Leiter der Polizei, haben das Recht und die Pflicht,
alle Handlungen zu bestrafen, die ihrer Ansicht nach gegen die Gesellschafts-
ordnung Verstössen, sei es, dass sie im Gesetz (Scharf 'ah) zwar verboten, aber nicht
mit einer bestimmten Strafe bedroht, sei es, dass sie in einer Vdg. (Qänün) des
Landesherm oder einer Anordnung der zuständigen Behörde, mit oder ohne
Festsetzung einer bestimmten Strafe, verboten sind, sei es endlich, dass ein
Verbot oder eine Strafandrohung überhaupt nicht vorhanden ist, die That aber
nach Ortsgebrauch oder nach der persönlichen Ansicht des Beamten strafi-echtliche
Ahndung verdient. Hieraus ergiebt sich, dass die Grundregel des in Europa
geltenden modernen StR.: nullum delictum, nulla poena sine praevia lege
poenali, im mohammedanischen Recht nicht gilt. Indes sind die wegen der
Verg. und Übertretungen gegen den öflTentlichen Frieden zulässigen Strafen,
wenn auch der Willkür der Richter überlassen, so doch dem Masse nach durch
die Schari'ah beschränkt. Sie können nur in Gef., Geisselung, Geldstrafe
und richterlichem Verweis bestehen ; die Todesstrafe ist ausgeschlossen. Andere
als die vorstehenden Strafen darf weder das Staatsoberhaupt noch irgend ein
Richter selbständig androhen. Die wegen dieser Klasse von Strafthaten ver-
hängten Strafen können durch den Herrscher und sogar durch den Kadi
(bezw. in Übertretungsfällen durch den Leiter der Polizei) erlassen werden;
jedoch hat dieser Erlass auf den Schadensersatzanspruch des Verletzten keinerlei
Einfluss.
Streng genommen kann man noch eine besondere Klasse von strafbaren
Handlungen aufstellen: die Verstösse gegen die Ritualvorschriften und die
Moral, die, nach der Schari'ah Sühne, Geldstrafe und Opfer nach sich ziehen.
Bei vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung ist die Sühne neben der Zahlung
des Wergeides erforderlich. Da aber diese Handlungen von den Mohamme-
danern nicht als zum Gebiete des Strafrechts gehörig angesehen werden, so
mögen sie auch hier unberücksichtigt bleiben.
Der Multaqä kennt ein besonderes Militärstrafrecht nicht; der militärische
Ungehorsam wird beispielsweise, je nach der Lage der Sache, entweder einen
Fall der Rebellion oder ein Delikt gegen den öffentlichen Frieden bilden.
M Hierzu rechnet man auch den Verlust des Bartes, des Haupthaars oder der
Jungfräulichkeit.
§ 3. Die Entwicklung bis zum Jahre 1858. 717
• § 3. Die Entwicklung bis zam Jabre 1858.
Das StR., wie ich es vorstehend in kurzen Zügen ^) geschildert habe, galt
in der Türkei mit geringen Abänderungen bis zum J. 1840 — wenigstens im
Prinzip, denn die Praxis wich von dem Buchstaben des Gesetzes erheblich ab.
Ich will hier nicht bei nebensächlichen Umständen lange verweilen, z. B. dass
die Geisselung seit langer Zeit fast vollständig durch die Bastonnade verdrängt
war, dass grausame Strafen, wie die gegen Räuber und Rebellen verhängte
Pfählung, zur Anwendung gelangten, die sich durch die Schari'ah nicht recht-
fertigen lassen, da diese im Gegenteil dem Kadi vorschreibt, die Vollziehung
der Todesstrafe an dem Verurteilten auf dem schnellsten Wege zu veranlassen,
ihm aber allerdings (abgesehen vom Falle der Unzucht) in der Wahl der
Mittel völlig freie Hand lässt. Es waren noch viel ärgere Übelstände ein-
gerissen, die der türkischen Justizverwaltung mit vollem Recht den Vorwurf
sprichwörtlicher Grausamkeit und Willkür zugezogen hat. Obwohl das moham-
medanische Recht ausdrücklich besagt, dass eine Strafe nur von dem zustän-
digen Richter verhängt werden und kein Beamter eines anderen Verwaltungs-
zweiges sich in die Geschäfte der Justiz einmischen darf, sehen wir doch, wie
diese Grundsätze in der Türkei seit Jahrhunderten von Beamten aller Art
mit Füssen getreten sind. Ferner enthält die Schari'ah ausführliche Vorschriften
über das gesetzliche Beweisverfahren und den Straf prozess ; auch der Souverän
muss, wenn er in seiner Eigenschaft als Oberhaupt der Kadis seines Reiches,
von seiner Befugnis, eine bei einem Gerichte anhängige Sache vor sein Forum
zu ziehen, Gebrauch machen will, ebenso wie der ordentliche Richter die ge-
setzlichen Formen beachten. Die, oft sogar heimlichen, Hinrichtungen ohne
vorhergegangenes ordentliches Verfahren, die von dem Sultan oder selbst von
Mitgliedern seiner Familie und von seinen Beamten angeordnet werden, sind
nach mohammedanischem Recht ebenso strafwürdig, wie sie es nach den Ver-
fassungen des westlichen Europas sein würden. Die Ausserachtlassung der
gesetzlichen Garantieen, die Bestechlichkeit der Richter, die Willkür und Un-
ordnung der Verwaltung, die Diebereien und Erpressungen seitens der Organe
des Staats, mit einem Worte, die vom Standpunkte der Moral, der Politik und
des Gesetzes gleich beklagenswerte Paschawirtschaft, unter welcher die Türkei
im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts zu leiden hatte, findet in der
Schan'ah die stärkste Missbilligung. ^)
Politische Ereignisse, deren Schilderung den Rahmen dieser Abhandlung
überschreiten würde, •'^) wiesen auf die dringende Notwendigkeit zur Vornahme
von Reformen (tanzim, Mehrzahl: tanzimät, wörtlich: Organisation) hin. Die
Pforte beschloss, sich den christlichen Mächten mehr als bisher zu nähern und
vor allem ihnen in der Einrichtung einer geordneten Verwaltung und einer
unbestechlichen Justiz nachzueifern. Die Schwierigkeiten waren nicht uner-
heblich. Die geplanten Reformen fanden zunächst ihre natürliche Gegnerschaft
*) Ausführlichere Darstellungen findet der Leser in den Spezialwerken der
Hanafitischen Schule; z. B. in den bereits oben ausgeführten Übersetzungen von
d'Ohsson und Hamilton und meinem Werke über die Anfangsgründe des muselmän-
nischen Rechts. Eine Aufzählung der noch nicht in eine europäische Sprache über-
setzten arabischen Schriften dürfte für die Mehrzahl meiner Leser kein Interesse
bieten. Diejenigen von ihnen, welche der arabischen Sprache mächtig sind, bedürfen
eines besonderen Hinweises nicht und für die anderen hat er keinen Wert.
«) Vgl. Ubicini a. O. Bd. I S. 172, 193.
•) Über die genaue Geschichte der Ereignisse, welche die Reformen in der
Türkei veranlasst haben, vgl. Engelhardt: La Turquie et le Tanzimät, Paris 1882.
718 Die Türkei. — 2. Das Strafrecht der Türkei.
in dem bösen Willen aller derjenigen, welche an der Anfrechterhaltong der
alten Mißswirtschaft Interesse hatten, d. h. fast aller in Amt und Würden be-
findlichen Persönlichkeiten. Andererseits mnsste aber auch auf die Schari'ah
Rücksicht genommen werden ; denn wenn sie auch alle die in Frage stehenden
Missbräuche verdammte, so verhinderte sie doch die Einführung europäischer
Einrichtungen und Gesetze selbst in einer den orientalischen Verhältnissen ange-
passten Form. Wollte der Sultan überhaupt Anhänger Mohanmieds bleiben, so
musste er seine reformatorische Thätigkeit beschränken auf diejenigen Fragen
untergeordneter Natur, deren Regelung die Schari'ah der Lokalgesetzgebung
überlassen hatte, und auf die Abschaffung der mit dem Gesetz geradezu im Wider-
spruch stehenden Übelstände, deren Einreissen auf den allgemeinen Niedergang
der politischen und sozialen Gewohnheiten zurückzuführen war.^) Die Reform
konnte höchstens in der Rückkehr zu den alten idealen Zuständen, nicht aber
in der Einführung von Neuerungen bestehen, und doch wurden gerade diese
letzteren von Europa energisch verlangt.
In dem ersten Aktenstück der ernsthaften Reorganisationsthätigkeit, dem
Chatti-Scharif oder der am 3. November 1839 erlassenen kaiserlichen Erklärung
von Gul-Chänah (Kiosk im Serail) wurden alle diese Klippen geschickt umschifft.
Der Sultan beschränkt sich auf die Aufhebung der auch von der Schari'ah ge-
missbilligten Gebräuche; z. B. (um mich auf das strafrechtliche Gebiet zu be-
schränken) verbietet er die willkürlichen ohne vorhergehendes ordentliches Ver-
fahren angeordneten Hinrichtungen, die Einziehung des gesamten Vermögens, die
Ächtung der unschuldigen Erben eines Verbrechers, die heimliche Hinrichtung
durch Gift u. s. w. Um nicht bei den christlichen Mächten einen schlechten
Eindruck hervorzurufen, bediente man sich zweideutiger Ausdrücke oder über-
ging wichtige Punkte mit Stillschweigen. Wenn z. B. der Chatti-Scharif allen
ünterthanen des Sultans ohne Unterschied des Bekenntnisses völlige Sicherheit
für Leben, Ehre, Ruf und Vermögen „so wie es die Schari*ah vorschreibt" zu-
sichert, so ist damit keineswegs gesagt, dass Leben, Ehre u. s. w. eines Christen
oder Juden den gleichen Schutz gemessen sollen, wie die eines Mohammedaners,
sondern nur, dass die Ungläubigen diejenigen Rechte haben sollen, die ihnen
nach der Schari'ah zustehen, noch viel weniger ist aber damit die politische
Gleichheit der Konfessionen ausgesprochen. Wenn der Chatti-Scharif den Er-
lass einer neuen Strafverordnung^) (Qänün) in Aussicht stellt, so ist hiermit
wörtlich lediglich der Erlass einer Vdg. zum Zwecke der besseren Durch-
führung des bereits geltenden mohammedanischen Rechts zu verstehen. Wer
aber geneigt sein sollte, die Hohe Pforte deshalb der Doppelzüngigkeit oder
gar des Mangels an Würde gegenüber den europäischen Mächten zu beschul-
digen, der darf, um gerecht zu sein, nicht vergessen, dass man der Türkei
nicht zumuten kann, aufzuhören, ein mohammedanischer Staat zu sein, und dass
der Islam durch seine Grundlehren von der Unfehlbarkeit nicht nur des Sinnes,
sondern auch des Wortlauts des Koran und der Autorität der Rechtsgelehrten
*) In der Türkei erlängt keine Vd^. (Qänün) des Sultans Verbindlichkeit ohne
die Erklärung (Fatwä) des Schaich al-Isläm, als des Leiters der amtlichen Juristen,
dass sie keinerlei der Schari'ah widersprechende Bestimmungen enthält. Vgl. Ubicini
a. 0. Bd. I S. 87 und oben S. 712. In Art. 7 der oktroyierten Verfassung für das
ottomanische Reich von 1876 bezeichnet sich der Sultan ausdrücklich als Vollstrecker
der Schari'ah und nimmt die gesetzgeberische Gewalt für sich nur in Bezug auf
Vdgn. auf dem Gebiete der Staatsverwaltung in Anspruch. Vgl. Aristarchi Bey: Le-
gislation Ottomane (Konstantinopel 1878— 1S88) Bd. V S. 8.
-) In den Übersetzungen heisst es iinrichtigerweise „StGB.*' Das Wort „qänün"
bedeutet vielmehr gerade, dass der Multaqä als StGB, in Kraft bleiben und lediglich
zur Ausfüllung seiner Lücken eine Novelle erlassen werden soll.
§ 3. Die Entwicklung bis zum Jahre 1858. 719
nicht nur zu einem religiösen , sondern auch zu einem politischen und recht-
lichen System geworden ist.
Die inl Chatti-Scharif *) versprochene neue Strafverordnung wurde i. J. 1840
veröffentlicht. Sie wurde im Grossen Justizrat (Madjlisi Ahk&m al-^Adl^jah)
vorbereitet und von den hervorragendsten türkischen Juristen ausgearbeitet.
Ich erinnere hier nur an Raschid Päschä, den bekannten Vorkämpfer der
Reform in der Türkei.
In der Einleitung wird die Bestimmung des Chatti-Scharif wiederholt,
dass alle Unterthanen des Sultans ,,nach Massgabe der ihnen zustehenden
Ansprüche" sich völliger Sicherheit für Leben, Vermögen und Ehre er-
freuen, dass in Bezug auf die „gesetzlich gewährte" Freiheit alle vor der
Schari'ah und dem Qänün gleich sein sollen, und dass die Rechtspflege ohne
Unterschied der Person ausgeübt werden soll.*) Die Vdg., die dreizehn Art.
und einen Schluss enthält, verbietet ausserdem die Vornahme einer heim-
lichen Hinrichtung ohne vorhergehendes Urteil, die Verurteilung in Fällen, in
denen der gesetzliche Beweis nicht erbracht ist, die Rebellion, Missbrauch der
Amtsgewalt gegen Privatpersonen, Erpressung im Amte, Bestechung, Amts-
unterschlagung (worunter auch die Weigerung der Reohnungsablegung zu ver-
stehen ist), die Weigerung eines Beamten, einem anderen Beamten die diesem
gesetzlich zukommenden Dienste zu leisten, die Vornahme einer richterlichen
Handlung durch einen Verwaltungsbeamten und umgekehrt, die Verweigerung
der Steuerzahlung, Ungehorsam gegen Polizeibeamte, Waffengebrauch seitens
einer Privatperson, einerlei ob dieser Verwundungen oder Tötungen zur Folge
gehabt hat, Raub, den Eingriff in das Ansehen eines Vorgesetzten, der in
rechtmässiger Ausübung seines Amtes handelt, sowie die Verstösse eines solchen
gegen die ihm von der dazu befugten Person oder Behörde erteilten schrift-
lichen Verhaltungsmassregeln. Alle diese Handlungen sind im Falle ihrer Be-
gehung mit Strafen bedroht, ohne dass aber angegeben ist, in welchem Ver-
hältniss diese zu den auf Grund der Schari'ah verhängten stehen.^)
Die Vdg. hat ferner eine Art Nachprüfung der von den Gerichten er-
lassenen Todesurteile eingeführt. Sie geschieht durch den Schaich al-Isläm
oder Oberhaupt der amtlichen Rechtsgelehrten ('olamä) und ist von dem dem
Sultan als höchstem Richter seines Reiches zustehenden Recht der Revision
unabhängig. Ich werde auf diese Einrichtung später zurückkommen.
Sehr bemerkenswert ist, dass der Gross-Herr, nachdem er in der Vdg.
seinen Beamten die heimliche Hinrichtung, z. B. durch Vergiftung, die Erpres-
sung im Amte usw. verboten hat, gelobt, dass er auch seinerseits aller der-
artigen Übergriffe sich enthalten, mit anderen Worten, seine Unterthanen in Zukunft
nicht mehr vergiften, berauben und bestehlen wolle (Art. 1 und 4). Endlich
ist im Schlüsse nochmals wiederholt, dass die Vdg. auf jedermann, ohne irgend
welche Rücksicht oder Ausnahme Anwendung finden soll.
Schon aus dieser kurzen Inhaltsangabe kann man entnehmen, dass
*) Einen Abdruck des türkischen Textes des Chatti-Schartf und der Strafver-
ordnung V. 1840 nebst deutscher Übersetzung enthält das Werk von Petermann und
Ramis Effendi: Beiträge zu einer Geschichte der neuesten Reformen des osmanischen
Reiches, Berlin L^42. Eine französische Übersetzung des Chatti-Scharif enthalten die
bereits erwähnten Werke von Ubicini, Bd. 1 S. 527 ff., Engelhardt, S. 257 ff. und Ari-
starchi Bey, Bd. II S. 7 ff. Eine eingehende Analvse der Vdff. v. 1840 ffiebt Ubicini
a. O. Bd. I S. 167 ff. ^ ö e
*) Ubicini a. 0. S. 168 übersetzt unrichtig, „dass alle als vor dem Gesetz gleich
angesehen werden sollen". In der Türkei giebt es kein für alle gleiches Recht.
8) Man vgl. z. B. Art. 10. Es ist daher unrichtig, wenn Ubicini a. 0. S. 164
behauptet, die StGgebung des Multaqft sei durch die Vdg. v. 1840 grösstenteils ausser
Kraft gesetzt.
720 IHe Türkei. — 2. Daß Strafrecht der Türkei.
man im J. 1840 keineswegs die Kodifikation des gesamten StR., sondern
lediglich eine Regelung deijenigen Delikte beabsichtigte, welche die Schari'ah
nach türkischer Anffassong der weltlichen Gesetzgebung überlassen hatte. Die
Missbränche, deren Unterdrückung die Vdg. bezweckt, waren von dem mohamme-
danischen Recht bereits im Mittelalter verboten. Die Vdg. ist daher nichts
als ein Nachtrag zum Multaqä, der das Hauptgesetzbuch ^) blieb.
Nach 1840 trat in der türkischen StGgebung wieder ein Stillstand
ein, der bis 1856 dauerte. Die Pforte suchte so viel als möglich die. Miss-
bräuche in der Justizverwaltung, insbesondere die willkürlichen Bestrafungen
auszurotten, ohne indes stark genug zu sein, ihre Anordnungen in allen Fällen,
oder auch nur in den Mauern des Serails*) durchzuführen. Nach dem Krim-
kriege i. J. 1856 sah sich der Sultan wieder einmal zwischen Hammer und
Ambos, oder um es weniger bildlich auszudrücken, zwischen der Schan'ah
und den Vorwürfen seiner christlichen Verbündeten. Letztere verlangten aufs
neue gründliche Reformen und zwar in europäischem Sinne, während der Sultan
nur Reformen in mohammedanischem Sinne in Aussicht stellen, d. h. das noch-
malige Verbot längst vom mohammedanischen Recht gemissbilligter Handlungen
oder den Erlass von Vdgn. auf dem beschränkten ihm zur Verfügung stehenden
Gebiet versprechen konnte. Die einfache Gegenüberstellung des arabischen
Wortes „tanzimät" und des französischen „r^formes** lässt klar werden, dass
beide Parteien über die zu unternehmenden Schritte eine völlig verschiedene
Auffassung hatten, und der Chatti-Homajün oder die Erklärung vom 18. Februar
1856,*) mit der die Reform eingeleitet wurde, gab einen neuen glänzenden
Beweis von der Fähigkeit der türkischen Staatsmänner, es scheinbar allen
recht zu machen. In dieser Erklärung, von der hier nur die für das StR.
wichtigen Punkte berührt werden sollen, wiederholt der Sultan die be-
reits in der Erklärung von Gul-Chänah gemachten Versprechungen und ver-
spricht, dass fortan im Reiche völlige Kultusfreiheit herrschen soll, ohne aber
die in der Schan'ah für den Abfall eines Muselmannes von seinem Glauben
angedrohten Strafen aufzuheben.*) Ausserdem spricht er aus, dass ungläubige
vor Gericht als Zeugen zugelassen werden sollen, allerdings nur in den ge-
mischten Gerichten;*) die Unfähigkeit, in gleicher Weise vor rein mohammeda-
nischen Gerichten aufzutreten, blieb in vollem Umfange bestehen; auch hat
sich der Sultan sehr wohl gehütet, die Zeugnisablegung seitens eines Ungläu-
bigen gegen einen Mohammedaner vor einem gemischten Gerichtshofe zuzulassen.
Die Aussage eines Ungläubigen gegen einen anderen Ungläubigen ist aber
*) Dieser ergänzende Charakter der Vdg. v. 1840 ist beinahe von allen Schrift-
stellern, die darüber handelten, verkannt worden. Vgl. z.B. Kngelhardt S. 40: „Dieses
besondere GB war allerdings ebenso unvollständig wie unzusammenhängend.*^
«) Petermann und Ramis Eflfendi a. 0. S. XXXVIII Anm. 2.
') Die Übersetzung des Chatti-Homajün v. 1856 ist in den erwähnten Werken
von Engelhardt S. 263 ff und Aristarchi Bey Bd. II S. 14 ff. enthalten.
*) Der Vorschlag Englands, die hierauf bezüglichen Straf bestimmungen auf-
zuheben, wurde von der Pforte entschieden abgelehnt. Vgl. Engelhardt a. O. S. 180.
Übrigens ist eine gewisse Kultusfreiheit, in den von der Schart'ah gezogenen Schran-
ken, stets in der Türkei sowohl rechtlich wie thatsächlich vorhanden gewesen. Vgl.
Ubicini a. 0. Bd. II S. 8 ff. Dieser Schriftsteller irrt aber, wenn er (S. 12 No. 1) sagt,
dass die Todesstrafe für den Religionswechsel eines Muselmannes abgeschafft sei; der
Sultan hat lediglich den Vertretern der Grossmächte mitgeteilt, dass er die deswegen
erlassenen Todesurteile in Zukunft nicht mehr bestätigen werde. Vgl. Aristarchi
Bey a. 0. Bd. II S. 23.
*) Die gemischten Gerichte entschieden in solchen Civil- und Strafsachen, bei
denen Angehörige verschiedener Konfessionen beteiligt waren. Sie sind niemals sehr
zahlreich gewesen und haben den in sie gesetzten Erwartungen nicht entsprochen.
Vgl. Engelhardt a. 0. S. 242 ff. Bei der späteren Veränderung der Gerichtsverfassung
sind sie abgeschafft worden.
§ 8. Die Entwicklung bis zum Jahre 1858. 721
nach Ansicht der Hanaiiten bereits in der Schari'ah zugelassen, ebenso wie
die im Chatti-Hom^gün angeordnete Öffentlichkeit der Gerichtssitzungen. Femer
versprach der Sultan zwar den Erlass von Straf-, Handels- und Prozessgesetzen
für die gemischten Gerichtshöfe, ohne aber über eine etwaige neue Gesetzgebung
ftlr alle seine Unterthanen etwas zu sagen. In Beziehung auf die Strafgesetz-
gebung im allgemeinen beschränkte er sich auf die Entwickelung eines ganz
allgemein gehaltenen Programms, das sich sowohl vom Standpunkte der Schari'ah
wie von dem der europäischen Mächte verteidigen liess.^) Das Versprechen einer
Reform des Gefängniswesens, „um den Rechten der Menschlichkeit in der Rechts-
pflege zum Durchbruch zu verhelfen" war zu unbestimmt gehalten, um erheb-
liche Schwierigkeiten zu veranlassen. Das Gleiche gilt von dem Verbot, körper-
liche Strafen in anderen als den durch die Vdgn. zugelassenen Fällen zu ver-
hängen ; dagegen steht die Abschaffung der Folter vollkommen im Einklang mit
der Schari'ah, die jedes durch sie erpresste Geständnis und jede unter der Ein-
wirkung eines Zwanges gemachte Aussage für wertlos erklärt. Trotz alledem
muss man sagen: der Chatti-Homajün als Ganzes betrachtet ist ein Anzeichen
für das ernstliche Bestreben des Sultans, den Beschwerden der europäischen
Mächte soweit nachzugeben, wie dieses mit seiner Würde als Haupt aller recht-
gläubigen Muselmänner vereinbar war.^)
Diese Bereitwilligkeit ergiebt sich auch aus dem Erlass eines für alle
Unterthanen giltigen StGB. i. J. 1858; denn wenn dieses keineswegs den in
Europa gehegten Erwartungen entsprach, so war es doch ein Beweis für den
guten Willen des Sultans.
Man versuchte diese Massregel vom mohammedanischen Standpunkte als
mit der Schari'ah im Einklang stehend in folgender Weise zu rechtfertigen.
In Übereinstimmung mit den oben erwähnten Ansichten der alten Kommenta-
toren des Multaqä^) erklärte die Pforte zunächst, dass nicht nur die unmittel-
bar gegen den Staat, sondern auch die gegen Privatpersonen gerichteten An-
griffe wegen der durch sie herbeigeführten Störung der Ruhe der menschlichen
Gesellschaft Fälle des Ungehorsams bildeten. Infolge dessen fallen sie ihrer
Natur nach unter den Begriff der Rebellion oder wenigstens der Quasi-Rebellion,
die vom Staate nötigenfalls mit der Todesstrafe geahndet werden muss. Als
Quasi-Rebellion konnte nun durch kaiserliche Vdg. ein grosser Teil 'der im
französischen C. p. enthaltenen Delikte unter Strafe gestellt werden; nur
musste man sich hüten: einmal die, nach der Schari'ah, aus der Tötung und
Körperverletzung entspringenden privatrechtlichen Ansprüche*) zu verletzen,
und ausserdem, dem europäischen StR. den in Art. 4 des französischen
C. p. ausgedrückten Grundsatz zu entlehnen, dass eine Verurteilung und
selbst eine strafrechtliche Verfolgung nur zulässig ist wegen einer Handlung,
die zur Zeit ihrer Begehung bereits mit Strafe bedroht war.*) Infolge dieser
^) Vgl. Art. VI, VIII, XI-XV und XXIII des Chatti-Homajün.
*) Bekanntlich betrachtet sich die Hohe Pforte als rechtmässige Nachfolgerin
der Kalifen und daher auch als Oberhaupt aller Muselmänner, auch derjenigen, welche
nicht türkische Unterthanen sind. Vgl. Art. 5 der oktroyierten Verfassung für das
ottomanische Reich von 1876 (Aristarchi Bey a. 0. Bd. V S. 7). Allerdings ist diese
Anschauung, selbst vom Standpunkte des mohammedanischen Rechts aus, voUkom
men irrig. Vgl. Baillie: Is the Sultan of the Turks the Caliph of the Mussulmans?
London 1877.
3) S. o. S. 714.
*) S. 0. S. 715, 716.
^) Allerdings verbietet Art. 10 der vom Sultan im Jahre 1876 oktroyierten
Verfassung die Verurteilung zu Strafe in anderen als den gesetzlich bestimmten Fällen;
wenn aber dasselbe G. dem Richter gestattet, zu verurteilen ohne an einen gesetzlich
bestimmten Thatbestand gebunden zu sein, so ergiebt sich schon hieraus, dass der
Strafgesetzgebung der Gegenwart. I. 46
722 I>ie Türkei. — 2. Das Strafrecht der Türkei.
letzteren Beschränkung blieben die Verbrechen gegen Allah^) von der Reform
unberührt, und gleichzeitig überhob man die Richter der Mühe, die Überein-
stimmung einer That mit dem gesetzlichen Thatbestande festzustellen und ihre
Urteile in dieser Beziehung ausführlich zu begründen; dieses war nicht un-
wichtig, denn in einem Lande wie die Türkei, wo örtliche Polizeiverordnungen
fehlen und die Richter mit wenigen Ausnahmen zu ungebildet sind, um einer
solchen Aufgabe gewachsen zu sein, hätte die Einführung einer derartigen
Verpflichtung notwendigerweise schwere Übelstände zur Folge gehabt. Be-
züglich der Verbr. gegen Allah ist noch zu bemerken, dass die Nachprüfung
der Todesurteile durch den Schaich al-Isläm und die nochmalige Revision durch
den Sultan bei einigem guten Willen stets Veranlassung giebt, diejenigen Hin-
richtungen, die in Europa besonderen Anstoss erregen würden, wie z. B. wegen
Abfalles vom mohammedanischen Glauben oder wegen Vollziehung des Beischlafs
in einem Falle, der weder als Notzucht, noch als Blutschande oder Ehebruch
anzusehen ist, zu verhindern. Es ist sogar nicht unwahrscheinlich, dass die
türkischen Staatsmänner beabsichtigt haben, die Todesstrafe in den Fällen,
in denen sie vom europäischen Standpunkte aus zu sehr gemissbilligt wurde,
wenn nicht rechtlich, so docfi thatsächlich zu beseitigen.*)
Die vorstehenden Ausführungen dürften ausreichen, um eine Vorstellung
von den allgemeinen Grundzügen des StGB. v. 1858, wie sie in seinem ersten
Art. niedergelegt sind, zu geben. Das Gesetz findet auf alle türkischen Unter-
thanen'^) ohne Unterschied der Konfession Anwendung; indes kann sich ein
Nichtmohammedaner auf die in der Scharl*ah garantierten Individualrechte nur
in den Fällen berufen, in denen erstere auf ihn Anwendung findet. Da die
Schari'ah von dem Grundsiatze der Geltung des Personalstatuts für die zu den
Unterthanen eines mohammedanischen Fürsten gehörigen Ungläubigen ausgeht,
so sind diese Fälle sehr wenig zahlreich; der in Bezug auf diese im Individual-
rechte im ersten Art. gemachte Vorbehalt ist daher für die Nichtmohammedaner
fast bedeutungslos.
Gesetzgeber die Konsequenz aus dem in Art. 10 aufgestellten Grundsatze nicht ge-
zogen hat. Übrigens ist die Verfassung von 1876 infolge verschiedener politischer
Ereignisse niemals in Kraft getreten und zur Zeit völlig ausser Geltung gekommen.
Die auf Grund dieser Verfassung im Jahre 1877 zusammenberufene Generalversamm-
lung wurde bereits im folgenden Jahre für immer aufgelöst. Vgl. Aristarchi Hey a. O.
Bd. V S. 8, Annuaire de legislation 6trangfere, Jahrgang 1889 S. 866, Lawrence: Com-
mentaire etc. (Leipzig 1868—1880) Bd. IV S. 173, 195.
M S. o. S. 713, 714.
«) Vgl. Engelhardt a. O. S. 130 und oben S. 720 Anm. 4. Trotz alledem bestehen
neben den sogenannten Reform- (tanzlmftt) oder regelmässigen (nizAmijah) Gerichten,
d. h. den über die in dem StGB, oder besonderen Vdgn. geregelten Delikte erkennen-
den Gerichten, jene Gerichte, welche über die nach der Scharfah strafbaren Hand-
lungen urteilen, weiter fort. Vgl. Art. 87 der bereits oben S. 721 Anm. 2 und 5 erwähnten
Verfassung von 1876 und Aristarchi Bey a. 0. Bd. V S. 20. Welche Fülle von Schwierig-
keiten aus diesem Nebeneinanderbestehen zweier Arten von Gerichten entstehen, von
denen die ältere, wenigstens in Strafsachen, nahezu v öllig überflüssig geworden ist,
brauche ich kaum zu betonen. Es scheint, als ob die Vorsitzenden der Gerichte neueren
Stils regelmässig Mitglieder auch des Gerichts älteren Stils sind. Vgl. Aristarchi Bey a. 0.
Bd. VI S. 4fF. übrigens ist die Gerichtsverfassung der Türkei sehr verwickelt; sie ist
oft abgeändert und beruht in ihrer gegenwärtigen Gestaltung auf einem G. von l'^79,
das keineswegs genügende Sicherheit gegen willkürliche Rechtspflege und Amtsmiss-
brauch bietet. Ausführliche amtliche Mitteilungen über die Wirkung der G. von 1879
findet man in den dem Englischen Parlamente überreichten Reports on the Admini-
stration of Justice in the civil, criminal and commercial Courts in the various Pro-
vinces of the Ottoman Empire. London 1881.
^) Das türkische G. über die Staatsangehörigkeit ist im J. 1869 erlassen und
in den bereits erwähnten Werken von Lawrence Bd. III S. 222 und Aristarchi Bey Bd. I
S. 7ir. abgedruckt.
1. § 4. Allgemeiner Teil des StGB. 723
n. Das türkische StR. seit 1858.
a) Pas tftrküiclie StOB. von 1858.
1. § 4. Allgemeiner Teil.
Das StGB. V. 1858^) ist am 25. Juli dieses Jahres veröflFentlicht und ent-
hält einleitende Bestimmungen und drei Bücher.*) Die Einleitung zerfällt in
vier Kap.: 1. Von den Graden der strafbaren Handlungen und den Strafen
im allgemeinen, sowie von einigen allgemeinen Grundsätzen; 2. von den Ver-
breehensstrafen ; 3. von den Vergehens- und Übertretungsstrafen: 4. von den
Fällen, in welchen der Angeklagte entschuldbar, verantwortlich oder straf-
bar ist.
Es giebt drei Arten von Delikten: Verbr., Verg. und Übertretungen
(Art. 2), je nachdem sie mit schwerer, korrektioneller oder leichter Strafe be-
droht sind. Schwere Strafen^) sind: Todesstrafe, lebenslängliche oder zeitige
Zwangsarbeit und Festungshaft, mit öffentlicher Ausstellung am Pranger, Ver-
bannung auf Lebenszeit, Verlust aller öffentlichen Grade und Ämter auf Lebens-
zeit und Ausschluss von der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte (Art. 3).
Korrektionelle Strafen sind: Gef. über eine Woche, zeitige Verbannung, Ver-
lust eines öffentlichen Amtes und Geldstrafe über 100 Piaster (Art. 4). Leichte
(Polizei-)Strafen sind: Gef, von 24 Stunden bis zu einer Woche und Geldstrafe
bis zu 100 Piastern (Art. 5). In den gesetzlich bestimmten Fällen können
alle diese Strafen kumulativ oder getrennt verhängt werden (Art. 6). Der
Art. 7, zu dessen &gänzung am 27. September 1867 eine kaiserliche Verord-
nung erlassen ist, enthält sehr verwickelte Vorschriften über die Strafschärfung
derjenigen zu Zwangsarbeit, Festungshaft, Gef. oder Verbannung Verurteilten,
welche entfliehen oder während der Strafvollstreckung ein neues Delikt be-
gehen. Der Rückfall bewirkt, abgesehen von den Fällen, in denen das Gesetz
etwas anderes bestimmt, die Verdoppelung der über den Thäter wegen der
ersten That verhängten Strafe (Art. 8); eine Begriffsbestimmung des Rückfalls
enthält das StGB, ebensowenig wie eine solche des Versuchs.*) Neben der ver-
hängten Strafe besteht unabhängig von dieser der Ersatzanspruch des Be-
^) Eine französische Übersetzung des StGB, giebt Aristarchi Bey a. 0. Bd. II
S. 212 ff. ; vgl. auch daselbst Bd. V S. 72 ff. Eine französische Ausgabe' unter Berück-
sichtigung der seit 1858 erfolgten Abänderungen ist von G. Macrid^s veröffentlicht
(Konstantinopel 1883). Das StGB. v. 18r>8 ist in der Gesetzgebungsabteilung des Staats-
rates (Madjlisi Walä) unter dem Vorsitz von Mahomet-Ruschdt-F&schä ausgearbeitet.
Europäische Juristen um Rat zu fragen oder zur Mitarbeit aufzufordern, hat man
völlig vermieden. Ich verdanke diese Mitteilung, wie verschiedene andere (die später
in den Anmerkungen mit einem Sterne bezeichnet sind), den Herren Gescher Effendi
und Gabriel Effendi Nuradungian, Justizräten der Hohen Pforte, die auf Bitten des
niederländischen Gesandten in Konstantinopel, Excellenz Ritter Dr. jur. D. A. W. van
Tets van Goudriaan, mir über verschiedene wichtige Punkte bereitwilligst Auskunft
erteilt haben.
'^) *Alle früher erlassenen strafrechtlichen Bestimmungen einschliesslich der
Strafverordnung von 1840 sind mit der Veröffentlichung des StGB, ausser Kraft ge-
setzt. Übrigens ist es in der Türkei nicht üblich, neuen G. besondere Einf.G. beizu-
geben.
*) *Alle nach dem StGB, wegen eines Verbr. ergangenen Verurteilungen unter-
liegen der Nachprüfung durch den Kassationshof, der das Urteil bestätigen, aufheben
oder die Sache zur nochmaligen Verhandlung an das erkennende Gericht zurück-
verweisen kann. ,
*) Nur in wenigen Art. des türkischen StGB, wird das versuchte Delikt dem
vollendeten gleichgestellt; vgl. z. B. Art. 55 und 57.
46*
724 Die Türkei. — 2. Das Strafrecht der Türkei.
schädigten (Art. 9), dem bezüglich der Zwangsvollstreckung der Vorrang vor
der Geldstrafe zusteht (Art. 10). Weigert sich der Verurteilte, Geldstrafe und
Schadensersatz zu zahlen oder bewegliche Gegenstände herauszugeben, so tritt
gerichtlicher Zwang ein; ist er dagegen zahlungsunfähig, so muss mit der
Beitreibung von Gegenständen und Kosten gewartet werden, bis er in Besitz
der Mittel gekommen ist.^) Nur eine uneinziehbare Geldstrafe wird in Gef.
umgewandelt (Art. 11, 37, 39). — Die Stellung unter Polizeiaufsicht, Geld-
strafe und die Einziehung von Gegenständen, die durch dasVerbr. oderVerg.
hervorgebracht sind oder als Mittel zur Begehung gedient haben, sind Neben-
strafen (Art. 12). Die erstere ist von Rechtswegen eintretende Folge jeder
Verurteilung wegen eines Verbr. oder Verg. gegen die Sicherheit des Staates
(Art. 13). Ihre Wirkung (Art. 14) ist nahezu die gleiche wie im französischen
C. p. Art. 15 endlich spricht aus, dass das StG. keine rückwirkende Kraft hat.
Die beiden folgenden Kapitel enthalten nähere Angaben über die vor-
erwähnten Strafarten, von denen hier nur die wichtigsten wiedergegeben wer-
den sollen. Das StGB, sagt nicht, auf welche Weise die Todesstrafe vollstreckt
werden soll; nur darf die Hinrichtung erst nach feierlicher Verlesung des sie
gestattenden kaiserlichen Firman erfolgen (Art. 16).^) Die Verurteilung zu
Zwangsarbeit hat öflFentliche Ausstellung am Pranger zur Folge; indes findet diese
Bestimmung keine Anwendung auf Personen unter 18 Jahren und über 70 Jahre,
ebensowenig auf Geistliche aller Konfessionen (Art. 19 und Kaiserliche Vdg. vom
17. Juni 1862). Weder die Vollstreckung der Todesstrafe noch die öflFentliche
Ausstellung dürfen an einem Tage stattfinden, der für die Konfession, welcher
der Verurteilte angehört, als Festtag gilt (Art. 22). Die Dauer der zeitigen
Zwangsarbeit und der zeitigen Festungshaft beträgt mindestens 3 und höch-
stens 15 Jahre, die der Gefängnisstrafe mindestens 24 Stunden und höchstens
3 Jahre, die der zeitigen Verbannung mindestens 3 Monate und höchstens
3 Jahre. Zwangsarbeit unterscheidet sich von Gefängnisstrafe durch die strengere
Behandlung, die grössere Schwere der Arbeit und durch die Kugeln, welche
den zu Zwangsarbeit Verurteilten angelegt werden. Den zu Festungshaft Ver-
urteilten ist ein gewisses Mass von Freiheit und Verkehr mit der Aussenwelt
gestattet; zur Arbeit sind sie nicht verpflichtet; die Verbüssung erfolgt in
einer der Staatsfestungen, und zwar stets ausserhalb des Wohnorts des Ver-
urteilten. Die zur Verbannung Verurteilten werden aus ihrem Aufenthaltsorte
entfernt und an einen anderen von der Regierung bezeichneten Ort gebracht.
(Art. 21, 23, 24, 28, 34, 35). Die Verurteilung zu Zwangsarbeit und zu Festungshaft
hat die civilrechtliche Handlungsunfähigkeit für die Dauer der Strafe zur Folge
(Art. 27);^) Zwangsarbeit, Festungshaft und Verbannung auf Lebenszeit ausser-
dem den dauernden Verlust aller öffentlichen Ämter und Grade; jedoch kann
bei Verurteilung zu zeitiger Festungshaft die Regierung den Verurteilten re-
habilitieren, wenn bewiesen ist, dass er sich gebessert hat (Art. 30). Der vor-
erwähnte Verlust schliesst auch die Unfähigkeit ein, vom Staate eine Pachtung
oder Konzession zu erhalten. Der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte be-
steht in dem Verlust aller öflPentlichen Ämter und Grade, der Unfähigkeit ein
^) Diese Bestimmung ist darauf zurückzuführen, dass nach mohammedanischem
Recht ein zahlungsunfähiger Schuldner civilrechtlich nur verfolgt werden kann, wenn
die Insolvenz vorsätzlich oder durch grohe Fahrlässigkeit herbeigeführt ist, um die
Gläubiger zu benachteiligen.
*) *Es hat sich der Gebrauch herausgebildet, dass die von den Gerichten neueren
Stils gefällten Todesurteile durch Hängen, die von den Gerichten älteren Stils aus-
gehenden durch Köpfen vollstreckt werden. Vel. S. 722 Anm. 2.
') Eine Vdg. des Grossveziers vom 28. Mai 1875 regelt die Verwendung de»
Arbeitsverdienstes und bestimmt den den Gefangenen an demselben zu gewährenden
Anteil. Vgl. Aristarchi Bey a. 0. Bd. V S. 293.
1. § 4. Allgemeiner Teil des StGB. 725
öffentliches Amt irgendwelcher Art (einschliesslich der von den Gemeinden
nnd öffentlichen Korporationen verliehenen) zu erlangen, Zeuge, Prozessbevoll-
mächtigter, Vormund^) zu sein oder die Waffen zu tragen (Art. 31). Diese
Unfähigkeit ist, je nach der Dauer der Hauptstrafe, zeitig oder dauernd; in
den Fällen, in denen sie vom Gesetz allein angedroht ist, tritt Gef. von höchstens
3 Jahren hinzu (Art. 32). Die wegen eines Verbr. erlassenen Urteile müssen
im Auszuge durch öffentlichen Anschlag bekannt gemacht werden (Art. 33).
Die Enthebung von einem öffentlichen Amte geschieht auf die Dauer von
3 Monaten bis zu 6 Jahren; sie bezieht sich nur auf ein bestimmtes Amt und
die damit verbundenen Einkünfte (Art. 36).
An der Spitze des letzten Kapitels der Einleitung steht eine sehr kom-
plizierte und völlig unlogische Bestimmung über die jugendlichen Verbrecher
(Art. 40), zu deren Erläuterung und Vervollständigung unter dem 25. Mai 1874
eine Ministerialverfügung erlassen ist. Um den Sinn dieses Artikels richtig
zu erfassen, muss man zunächst beachten, dass im mohammedanischen Rechte
die Frage, ob jemand bereits grossjährig ist, ex habitu corporis beantwortet
wird;^) man ist grossjährig, wenn die körperlichen Anzeichen der Pubertät
sich eingestellt haben, jedoch muss ein Knabe mindestens das zwölfte, ein
Mädchen mindestens das neunte Lebensjahr vollendet haben. Fehlt es an
körperlichen Zeichen der Pubertät, so tritt die Grossjährigkeit mit dem fünf-
zehnten Lebensjahre ein. Das türkische StGB, und die erwähnte Vdg. er-
klären Kinder unter 13 Jahren für unzurechnungsfähig; sie werden, wenn sie
eine strafbare Handlung begehen, ihren Eltern gegen Stellung einer Bürg-
schaft überwiesen, oder wenn eine solche nicht bestellt wird, eingesperrt, und
zwar „auf angemessene Zeit". Jugendliche Personen zwischen 13 und 15 Jahren,
bei denen die körperlichen Zeichen der Pubertät vorhanden sind, werden den
Erwachsenen gleich als völlig strafrechtlich verantwortlich behandelt; andern-
falls werden sie den Kindern gleichgestellt, wenn sie ohne Unterscheidungs-
vermögen gehandelt haben; dagegen — auch für begangene Verbr. — mit
korrektionellem Gef. bestraft, wenn das Unterscheidungsvermögen als vorhan-
den festgestellt wird.
Die Zurechnungsfähigkeit wird ausserdem noch ausgeschlossen durch
Geisteskrankheit und Zwang (Art. 41, 42). Frauen sind in gleicher Weise
verantwortlich wie Männer; eine schwangere Frauensperson soll jedoch der
Krankenabteilung des Gefängnisses oder erforderlichen Falls dem Ejanken-
hause zur Pflege überwiesen werden. (Art. 43 und Ministerialverfügung vom
28. Januar 1880.)
Ein gestohlener Gegenstand muss auch von dem gutgläubigen Dritten
herausgegeben werden.'^) (Art. 44.)
Den Teilnehmer trifft die gleiche Strafe wie den Thäter (Art. 45); was
unter Teilnahme zu verstehen ist, sagt jedoch das StGB, nicht, sodass der Art. 45
thatsächlich bedeutungslos ist.
Die wegen ein- und derselben Strafthat Verurteilten haften solidarisch
für Kosten, Schadensersatz und Herausgabe von Sachen (Art. 47).
Das System der mildernden Umstände ist dem türkischen StGB, fremd.
Die Umwandlung einer Strafe durch den Richter ist nur in dem im StGB, aus-
drücklich bestimmten Fällen zulässig: der Richter darf dann im allgemeinen
^) Im mohammedanischen Recht giebt es nur ein Wort für „Vormund" nnd
„Pfleger". Vgl. auch Art. 27.
^) Für das römische Recht vgl. Gaius I, 196 und pr. J. Quibus modis tutela lini-
tur (I, 22).
^) Der Grundsatz, dass bei beweglichen Sachen der thatsächliche Besitz einen
genügenden Rechtstitel bildet, ist dem mohammedanischen Recht unbekannt.
726 Die Türkei. — 2. Das Straf recht der Türkei.
höchstens um einen Grad im Strafmass herabgehen. Jede andere Strafam-
wandlung kann nur durch Erlass des Sultans erfolgen (Art. 47). ^)
2. § 5. Der besondere Teil des StGB.
Im folgenden will ich eine kurze Inhaltsangabe der den besonderen Teil
des StR. enthaltenden drei Bücher des türkischen StGB, geben. Die Mehrzahl
ihrer Artikel ist, wenn auch mit einzelnen Vereinfachungen und redaktionellen
Änderungen, dem französischen C. p. entlehnt. Um den mir zur Verfügung
stehenden Raum nicht zu überschreiten, werde ich im folgenden im all-
gemeinen nur die unter Strafe gestellten Handlungen kurz bezeichnen und
auf Einzelheiten nur bei denjenigen Delikten eingehen, deren Behandlung vom
französischen Rechte erheblich abweicht oder deren Besonderheiten entweder aus
dem Charakter des mohammedanischen Rechts oder aus den Eigentümlichkeiten
der orientalischen Gesellschaft zu erklären sind. Aus dem gleichen Grunde
werde ich auf die angedrohten Strafen nur eingehen, wenn sie von den in
den europäischen Gesetzgebungen gebräuchlichen nach Mass und Art wesent-
lich verschieden sind.
Das erste Buch trägt die Überschrift: Von den Verb r. undVerg.
gegen den Staat und deren Bestrafung und zerfällt in 16 Kapitel.
Kap. 1. Verbr. und Verg. gegen die äussere Sicherheit des türkischen
Reichs. WaflPentragen gegen den Staat seitens eines türkischen ünterthanen
(Art. 48). Verbindung oder Verständigung mit fremden Regierungen (Art. 49).
Die Erleichterung des Betretens türkischen Gebiets durch den Feind, sowie
die Erteilung schädlicher Auskunft über die politische oder militärische Lage
der Türkei oder ihrer Verbündeten (Art. 50 und 51, abgeändert durch Kaiser-
liche Vdg. vom 4. Dezember 1880). Verrat des Geheimnisses einer Abmachung,
einer militärischen Unternehmung, eines Planes, Entwurfs oder einer militärischen
Massregel (Art. 52 und 53, von denen letzterer durch die vorerwähnte Vdg. ab-
geändert ist). Verbergen von Spionen (Art. 54). Durch die gedachte Vdg. wird
ausser dem mit Strafe bedroht: wer Handlungen begeht, welche die Loslösung
einer Provinz vom Reiche bezwecken ; wer sich unter den Schutz einer fremden
Macht begiebt, in der Absicht, dieser einen Vorwand zum Kriege mit der
Türkei zu geben ; wer fortfährt, in der Armee einer fremden Macht zu dienen,
nachdem zwischen dieser und der Türkei Krieg ausgebrochen ist; wer poli-
tische Geheimnisse des Reichs verrät; wer Aktenstücke und Urkunden, die für
die Rechte oder Beziehungen des Reichs von Bedeutung sind, zerstört oder
beschädigt; endlich der mit einer diplomatischen Sendung Beauftragte, welcher
sich mit feindlichen Unterhändlern ins Einvernehmen setzt. Nach dieser Vdg.
sind wegen Verbr. und Verg. gegen die äussere Sicherheit des Staates nicht
nur türkische Staatsangehörige, sondern auch Ausländer strafbar.
Kap. 2. Verbr. und Verg. gegen die innere Sicherheit des türkischen
Reichs. Vollendeter und versuchter thätlicher AngrilQf gegen die Person des
Sultans: vollendeter und versuchter Aufruhr; beleidigende Reden gegen den
Sultan, vollendeter und versuchter Angriff in der Absicht, eine Änderung der
*) Die Verjährung der Delikte des StGB, und der aus ihnen entspringenden
privatrechtlichen Ersatzansprüche ist in der StPO. vorgeschrieben (Art. 2.), doch selbst-
verständlich hat dies keine Beziehung auf die Klagen infolge der Schari'ah. Vgl. oben
S. 713. *Das türkische StGB, enthält keine Bestimmung für die Fälle des Zusammen-
hangs oder des Zusammentreffens von strafbaren Handlungen ; nach der StPO. wird im
letzteren Falle lediglich wegen der schwersten That auf Strafe erkannt, und die übrigen
gelten als erschwerende Umstände. Der Richter hat alsdann auf eine dem gesetz-
lichen Höchstmass der Strafe nahe kommende Strafe zu erkennen.
2. § 5. Der besondere Teil des StGB. 72?
Regierangsform oder der Thronfolge herbeizuführen (Art. 55 und die oben
erwähnte Vdg.); Aufreizung zum Bürgerkriege (Art. 56, 57); Verabredung zur
Begehung eines der vorerwähnten Delikte (Art. 58 und die Vdg.); Erteilung
eines ungesetzlichen Befehls (Art. 59): Aufwiegelung von Militärpersonen zur
Widersetzlichkeit, Verwendung von Truppen oder Polizeimannschaften gegen
die militärische Aushebung (Art. 60 und die Vdg.); Brandstiftung, Zerstörung
und Plünderung von Staatseigentum, von mehreren gemeinschaftlich oder von
einem einzelnen begangen; Eäuberei im allgemeinen (Art. 61 — 65 und Kaiser-
liche Vdg. vom 14. Februar 1861); Aufreizung zu den in diesem Kapitel be-
handelten Delikten mittels Reden, öffentlicher Anschläge oder Drucksachen
(Art. 66).
Kap. 3. Bestechung (Art. 62 — 81). Bestechung ist: „Annahme irgend
eines Gegenstandes, welcher gegeben wird, um das Gelingen eines Vorhabens
zu sichern". Nur die gewohnheitsmässig bei festlicher Gelegenheit gegebenen
Geschenke und Vergütungen sind erlaubt. Die Veräusserung einer beweglichen
oder unbeweglichen Sache zu einem offenbar zu niedrigen Preise in der Ab-
sicht, sich jemand dadurch zu verpflichten, ist ebenfalls Bestechung. Das Ver-
bot der Annahme von Geschenken bezieht sich auch auf die durch eine Mittels-
person, insbesondere die Ehefrau des zu Bestechenden, gegebenen. Die Be-
stechimg ist nicht notwendigerweise Amtsdelikt; sie kann auch von einem
Zeugen (Art. 210) und ganz allgemein von jeder Person, die irgend einen Ein-
fiuss ausübt, begangen werden. Wahrscheinlich hat der Gesetzgeber hierbei
an die Stammeshäupter usw. gedacht. Strafbar sind: der Bestechende, der
Bestochene und die Zwischenpersonen; ersterer bleibt aber straflos, wenn er
die That begangen hat, um sein Leben, sein Vermögen, seine Ehre, kurz seine
wichtigsten Rechtsgüter zu retten.
Kap. 4. Diebstahl an öffentlichen Geldern und Gebührenüberhebung.*)
Entwendung von öffentlichen Geldern; Betrug beim Ankauf, Verkauf oder bei
der Anfertigung von Gegenständen für Rechnung des Staats, sei es seitens
eines mit einem öffentlichen Amte oder einer öffentlichen Stellung Betrauten,
sei es seitens eines Privatmannes, mit dem Unterschied jedoch, dass neben der
Höhe des der Staatskasse erwachsenen Schadens auch die soziale Stellung
des Schuldigen auf das Strafmass erheblichen Einfluss hat (Art. 82 — 84 und
Cirkularverfügung des Gross -Veziers vom 11. Mai 1875). Die Ausstellung
von Staatsschuldverschreibungen oder anderen Obligationen der Staatsschuld
seitens eines Beamten, seiner Vei'wandten oder seiner Dienerschaft (Art. 85);
die Zurückbehaltung des den im öffentlichen Dienste beschäftigten Arbeitern,
Polizeibeamten usw. zukonmienden Lohnes durch einen Beamten oder die
Verwendung dieser Personen zu Privatarbeiten oder Frohndiensten ^ (Art. 86,
87); Unregelmässigkeiten bei der Versteigerung und Zuschlagserteilung bezüg-
lich der Verpachtung der Staatseinkünfte. (Art. 88); Spekulation in Lieferungen
für den Staat seitens eines Beamten und Verg. der Lieferanten im allgemeinen
(Art. 89—93).
Kap. 5. Missbrauch der Amtsgewalt; Vernachlässigung der Amtspflicht.
Kein Beamter darf an ein Gericht oder eine Ratsversammlung einen Befehl,
ein Gesuch oder eine Bitte richten, und andererseits kein Gericht oder Rats-
versammlung sich auf diese Weise beeinflussen lassen (Art. 94 — 98). Pflicht
Widrigkeiten bei der Ausführung von Anordnungen der Regierung, Gesetzen oder
Verordnungen, sowie bei der Eintreibung der Steuern (Art. 99 und Kaiserliche
^) Die „coneussion" des französischen StR. ist in Kap. 6 unter Strafe gestellt.
-) Die Frohndienste sind im Prinzip durch Art. 24 der Verfassung von 187(5
aufgehoben. Vgl. oben S. 7'21 Anm. 5.
728 Die Türkei. — 2. Das Straf recht der Türkei.
Vdg. vom 18. Februar 1861); Handel mit Nahrungsmitteln usw. seitens einer Per-
son, der gewisse amtliche Befugnisse verliehen sind (Art. 100); Verzögerung der
Bekanntmachung von Anordnungen der Regierung (Art. 101); unzulässige Milde
oder Nachlässigkeit in der Ausführung oder Nichtausführung der Anordnung
eines vorgesetzten durch einen untergebenen Beamten (Art. 102).
Kap. 6. Gewaltthätige Behandlung und Misshandlung einer Privatperson
durch einen öfifentlichen Beamten: Folterung eines Angeklagten (Art. 103);
Verurteilung zu einer schwereren als der gesetzlich zulässigen Strafe (Art. 104);
Hausfriedensbruch (Art. 105); die Anwendung von Gewalt bei der Vollstreckung
an sich gesetzlicher Anordnungen (Art. 106); Inbesitznahme beweglicher oder
unbeweglicher Sachen durch einen Beamten oder Würdenträger (Art. 107);
Gebührenüberhebung begangen von Beamten oder Steuerpächtem in Beziehung
auf Steuern, Zehnte usw. oder auf Geldstrafen, Frohnarbeiten oder auf requi-
rierte Leistungen (Art. 108 — 111).
Kap. 7. Widerstand, Ungehorsam und Beleidigung gegen die Staatsge-
walt (Art. 112 — 116). In diesem Kap. wird auch die Weigerung, trotz rechts-
förmlicher Vorladung vor einem Gericht oder einer Behörde zu erscheinen,
mit Strafe bedroht.
Kap. 8. Entweichenlassen von Gefangenen; Verheimlichung von Verbrechern
(Art. 117 — 121). Mit Rücksicht auf die Bestimmung des Art. 7^) ist in diesem
Kap. nur von den Wärtern und denjenigen, welche zur Befreiung Hülfe leisteten,
nicht aber von den Entwichenen selbst die Rede.
Kap. 9. Siegelbruch und Entwendung amtlich verwahrter Gegenstände
(Art. 122 — 129). Hier wird auch die Verletzung des Briefgeheimnisses durch
einen Postbeamten behandelt.
Kap. 10. Anmassung von Titeln und Ämtern (Art. 130 und 131).
Kap. 11. Beeinträchtigung der Kultusfreiheit; Beschädigung von Denk-
mälern (Art. 132 und 133).
Kap. 12. Störung des Telegraphen dienstes*) (Art. 134 — 136): böswillige
oder fahrlässige Beeinträchtigung des Dienstes; Beschädigung von Apparaten,
Zerreiösen der Drähte usw. ; wenn diese Handlungen während eines Aufstandes
begangen werden, sowie bei bewaffneten Widerstand gegen die Wiederher-
stellung einer Telegraphenlinie kann die Strafe bis zu zeitiger Zwangsarbeit
in Verbindung mit Geldstrafe von 50 bis 200 Gold-Medjidies steigen.
Kap. 13. Anfertigung von Drucksachen ohne Genehmigung; Veröffent-
lichung schädlicher Schriften; Übertretung der auf den Schulunterricht bezüg-
lichen Vorschriften (Art. 137 — 142). Strafen: Geldstrafe, Gefängnis, Schliessung
der Schule, Entziehung der Befugnis, zu unterrichten.^)
Kap. 14. Falschmünzerei (Art. 143 — 147). Als Falschmünzerei gilt auch
diejenige Färbung einer Münze, durch welche dieser das Aussehen einer solchen
von höherem Werte gegeben wird, z. B. das Vergolden einer Silbermünze.
Kap. 15. Fälschungsdelikte. Fälschung staatlicher Kreditpapiere (Art. 148).
Nachahmung amtlicher Siegel und Stempel (Art. 149 und 150). Straffrei bleibt,
wer die in Art. 148 — 150 bezeichneten Verbr. anzeigt (Art. 151). Fälschung
amtlicher Urkunden^) durch Beamte oder andere Personen; selbstverständlich
1) S. o. S. 723.
'-) Die zur Sicherung des Eisenbahnverkehrs erlassenen Strafvorschriften ent-
hält die allgemeine Eisenbahnpolizeiordnung vom 28. April 1868, Art. 1 flF. Vgl. Ari-
starchi Bey a. O. Bd. III S. 228 ff.
^) Die Vdg. über den öffentlichen Unterricht ist in dem mehrfach erwähnten
Werke von Aristarchi Bey Bd. III S. 277 ff., die über die Druckereien und die Presse
ebendaselbst S. 318 ff., abgedruckt. Vgl. auch a. 0. Bd. V S. 235 ff. und Annuaire de
l^gislation 6trang6re, Jahrgang 1889 S. 869 ff.
*) Amtliche Urkunden sind die von einem Beamten innerhalb seiner Amtsbefug-
2. § 5. Der besondere Teil des StGB. 729
wird die in Bezug auf das Privatsiegel eines Beamten verübte Fälschung der
Nachahmung seiner Unterschrift gleichgestellt (Art. 152 und 153). Gebrauch-
machen von gefälschten amtlichen Urkunden (Art. 154). Fälschung von Privat-
urkunden ^) und Gebrauchmachen von solchen, die gefälscht sind (Art. 155);
Fälschung von Reiseerlaubnisscheinen und Pässen, sowie Gebrauchen von ge-
fälschten Papieren dieser Art (Art. 156, 157, 169); Fäschung von Gasthof s-
registem (Art. 158); Fälschung von Krankenscheinen (Art. 160, 161); entschuld-
barer Gebrauch gefälschter Urkunden (Art. 162).
Kap. 16. Vorsätzliche Brandstiftung (Art. 163 — 167). Wer einen anderen
zwingt, fremdes Eigentum in Brand zu setzen, wird stets mit Zwangsarbeit
bestraft. Die Vorschriften über den Versuch der Brandstiftung sind in der
Cirkularverfügung des Gross- Veziers vom 18. Januar 1872 und der Kaiserlichen
Vdg. vom 30. September 1864 enthalten; letztere bedroht auch jede Über-
tretung der bezüglich der privaten Pulvemiederlagen erlassen Vorschriften
mit Einziehung und dreijähriger Zwangsarbeit; ist eine Explosion erfolgt, so
kann die Strafdauer auf 15 Jahre erhöht werden.*) Die durch Herbeiführung
einer Explosion verursachte Sachbeschädigung ist nicht besonders erwähnt
und daher nur, wie Sachbeschädigung im allgemeinen, nach Art. 249 strafbar,
der die Strafbarkeit davon abhängig macht, dass die beschädigte Sache eine
fremde ist. Die Bedrohung mit Brandstiftung ist eine Art der allgemeinen
Bedrohung (Art. 191).
Das zweite Buch trägt die Überschrift: Verbr. und Verg. gegen Privat-
personen und ihre Bestrafung; es zerfällt in 12 Kap., deren Überschriften und
wichtigster Inhalt im folgenden mitgeteilt werden soll.
Kap. 1. Tötung, Körperverletzung und Bedrohung (Art. 186 — 191). Die
gegen eine Tötung angedrohte Todesstrafe kann in allen Fällen durch Annahme
des Wergeides seitens der Erben des Getöteten abgewendet werden; der Staat
darf alsdann nur die Strafe der Zwangsarbeit nicht unter 15 Jahren zur An-
wendung bringen. Nur gewohnheitsmässige Verbrecher, welche die That unter
Anwendung von Martern oder Grausamkelten begangen haben, werden ohne
Rücksicht auf die- etwaige Verzeihung der Angehörigen mit dem Tode bestraft.
Die Gehülfen einer mit dem Tode bedrohten Tötung haben zeitige Zwangs-
arbeit verwirkt. Körperverletzungen haben, ausser den im StGB, angedrohten
Strafen, die in der Schari'ah festgestellte Verpflichtung zum Schadenersatz
zur Folge. Der Giftmord ist eine Unterart der vorsätzlichen und mit Über-
legung ausgeführten Tötung. Ascendententotschlag, Kindsmord und Kastration
sind keine Spezialdelikte. — Fahrlässige Tötung und Körperverletzung werden
nur bestraft, wenn sie auf Unaufmerksamkeit oder auf Nichtbeachtung von
Vorschriften beruhen; in allen anderen Fällen entsteht lediglich die auf der
Schari'ah beruhende Ersatzpflicht. Körperverletzungen unterliegen einer
schwereren Strafe, wenn sie einen fehlgeschlagenen Mordversuch bilden. Die
Ausführung nicht nur einer von der rechtmässigen Obrigkeit befohlenen,
sondern ganz allgemein einer von einem Vorgesetzten angeordneten Tötung
wird dem Untergebenen nicht zugerechnet, wenn der Befehlende in der Lage
war, letzteren im Falle der Weigerung töten zu lassen. Die Tötung ist ent-
nisse ausgestellten, aber nicht von der Kaiserlichen Regierung selbst ausgehenden
Urkunden. Der BegriflF der öffentlichen Beweisurkunde ist dem mohammedanischen
Kecht unbekannt.
*) Die Unterscheidung zwischen der Fälschung von Handelspapieren und der
von anderen Arten von Schriftstücken findet sich im StGB, nicht, da das mohamme-
danische Recht diese beiden Arten von Papieren auch sonst nicht unterscheidet.
*) Vgl. die Vdg. über den Verkauf von Schiesspulver vom 1. November 1870;
Aristarchi Bev a. 0. Bd. III S. 418 fF.
730 Die Türkei. — 2. Das Strafrecht der Türkei.
schuldbar ; wenn sie von einem Manne verübt wird, der seine Ehefrau oder
„eine der Frauen seines Hauses"^) beim Ehebruch ertappt. Dass dieser Straf-
ausschliessungsgrund nicht auch für die von einer Frau bei gleicher Veranlassung
verübte Tötung gilt, ist eine notwendige Folge der Polygamie.*) Auch der
an dem Mitschuldigen der Ehebrecherin verübte Totschlag ist entschuldbar.
Der auf die Bedrohung bezügliche Art. 191 ist bereits oben erwähnt; hinzu-
gefügt sei, dass dieser sich auf Drohungen durch Wort oder Schrift bezieht
und dass die Kaiserliche Vdg. vom 14. Februar 1861 für die mittels Waffen
begangene Drohung eine besondere Strafe festsetzt.
Kap. 2. Abtreibung, Verkauf von gefälschten Getränken, Abgabe giftiger
Stoffe, ohne vom Käufer Sicherheit zu verlangen. Die Abtreibung, welche als
Folge gewaltsamer, aber ohne Abtreibungsabsicht begangener Handlungen ein-
getreten ist, zieht lediglich die auf der Schari*ah beruhende Schadensersatz-
I)flicht nach sich; im Falle vorsätzlicher Vornahme gewaltsamer Handlungen
oder Beibringung von Medikamenten tritt ausserdem eine Bestrafung auf Grund
des StGB, ein (Art. 192, 193). Das Kap. behandelt ausserdem: Beibringung
gesundheitsschädlicher Stoffe (Art. 194); Eröffnung einer Apotheke seitens einer
Person, die nicht im Besitze der erforderlichen Genehmigung ist^) (Art. 195);
Verkauf von giftigen oder gesundheitsschädlichen Getränken oder Stoffen, ohne
vom Käufer die „notwendige" Sicherheit erhalten zu haben (Art. 196).
Kap. 3. Sittlichkeitsdelikte. Schamverletzung mit oder ohne Gewalt gegen-
über einer Person männlichen oder weiblichen Geschlechts (Art. 197 — 199);
Notzüchtigung eines nicht verheirateten, jungen Mädchens hat die in der
Schari'ah festgesetzte Schadensersatzpflicht und Bestrafung nach dem StGB.
(Art. 200) zur Folge. Kuppelei (Art. 201); öffentliche Schamverletzung (Art. 202).
Die Ministerialverfügung vom 25. März 1874 besagt, dass die an einem Kinde
unter 13 Jahren vorgenommenen unzüchtigen Handlungen stets, ohne Rück-
sicht auf die etwaige Einwilligung des Kindes, als mit Gewalt vorgenommen
anzusehen und demgemäss zu bestrafen sind. Der Inhalt des hier behandelten
Kap. ist ausserdem durch eine Kaiserliche Vdg. vom 14. Februar 1861 wesent-
lich geändert. Nach dieser Vdg. wird der Versuch der Notzucht mit Gef.
nicht unter 3 Monaten und der Beischlaf mit einem erwachsenen jungen Mädchen,
welches der Thäter durch Heiratsversprechen getäuscht hat, mit Gef. von einer
Woche bis zu sechs Monaten bestraft. Durch dieselbe Vdg. ist auch der Ehe-
bruch für strafbar erklärt. Die ehebrecherische Frau und ihr Mitschuldiger
werden auf Antrag des Ehemannes oder des Vormundes*) zur Verantwortung
gezogen; die Anwesenheit eines Mannes in dem Harem eines Muselmannes ge-
nügt, um ihn als Mitschuldigen erscheinen zu lassen.*^) Endlich wird durch
^) D, h.: seine Konkubine; nach der Schari'ah hat der Mann das Recht, mit
allen seinen erwachsenen, nicht verheirateten Sklavinnen geschlechtlich zu verkehren.
*) Da das StGB, auf alle türkischen Unterthanen Anwendung findet, so gilt
diese Vorschrift auch für Christen und Israeliten, obwohl diese monogam leben. Die
Doppelehe ist nach dem StGB, nicht strafbar; nach der Schari'ah dürfte es der mo-
hammedanischen Frau jedoch nicht gestattet sein, mehrere Männer auf einmal zu
haben.
^) Die unbefugte Ausübung des ärztlichen Berufs, sowie jede Übertretunff der
die Ausübung der Heilkunde betreffenden Vorschriften werden nach Titel II! der
Vdg. über die Ausübung der Heilkunde vom 11. Oktober 1861 bestraft. (Vgl.
Aristarchi Bey a. 0. Bd. III S. 105 flF.)
*) Eine grossjährige Mohammedanerin, welche eine Ehe eingehen will, bedarf
hierzu stets eines Vormundes.
*) Jeder Muselmann darf zur Zeit vier rechtmässige Frauen haben, wobei die
Konkubinen (s. o. Anm. 1) nicht mitgerechnet werden. Nur die Vollziehung des Bei-
schlafs mit der Frau eines anderen (nicht z. B. auch die in der Türkei sehr verbreitete
Päderastie) bildet für ihn einen Fall des Ehebruchs. Für Christen und Israeliten
2. § 5. Der besoudere Teil der StGB. 731
die Vdg. mit Strafe bedroht: wer sich einer jugendlichen Person männlichen
oder weiblichen Geschlechts gegenüber unanständiger Ausdrücke bedient;
wer eine solche in unzüchtiger Weise berührt; wer einen zur ausschliess-
lichen Benutzung durch das weibliche Geschlecht bestimmten Ort in Frauen-
kleidem betritt.
Kap. 4. Ungesetzliche Verhaftung; Freiheitsberaubung; Entführung jugend-
licher Personen; Frauenraub. Die Strafen sind: für ungesetzliche Verhaftung und
Freiheitsentziehung: Gef. von 6 Monaten bis zu 3 Jahren, bei Vorliegen er-
schwerender Umstände: zeitige Zwangsarbeit; ftlr die Überlassung eines Raumes
zum Zwecke der Freiheitsberaubung: Gef. von 3 Monaten bis zu 3 Jahren
(Art. 203, 204); für Unterschiebung, Verwechslung und Unterdrückung von
Kindern: Gef. von 6 Monaten bis zu 3 Jahren (Art. 205); für Entführung eines
unerwachsenen Kindes mittels Betrugs oder Gewalt: Gef. von 3 Monaten bis
zu einem Jahre und, wenn es sich um ein unerwachsenes Mädchen handelt,
zeitige Zwangsarbeit; für Entführung eines erwachsenen jungen Mädchens:
Gef. von 3 Monaten bis zu 3 Jahren; für Entführung einer verheirateten Frau:
zeitige Zwangsarbeit. Der Entführer eines jungen Mädchens, welcher mit der
Entführten die Ehe schliesst, wird nach den Vorschriften des StGB, straflos, jedoch
finden die Bestimmungen der Schari'ah *) auf ihn Anwendung. Die Beihülfe zur
Entführung eines jungen Mädchens wird mit Gef. von 1 — 6 Monaten bestraft
(Art. 206 und Vdg. vom 25. März 1874).
Kap. 5. Meineid und falsches Zeugnis (Art. 207 — 212). Die Verleitung
eines Zeugen zu falscher Aussage bildet eine Art der Bestechung.-) Die thät-
liche Widersetzung gegen die Aussage eines Zeugen und die Erzwingung einer
falschen Angabe durch Gewalt werden der Abgabe eines falschen Zeugnisses
gleichgestellt.
Kap. 6. Verleumdung; Beleidigung; OflTenbarung von Geheimnissen
(Art. 213 — 215). Verleumdung ist: Behauptung einer bestimmten Thatsache,
die, wenn sie wahr wäre, entweder strafbar oder geeignet sein würde, den
Verleumdeten bei seinen Mitbürgern verächtlich zu machen. Beleidigung ist
die Behauptung eines bestimmten Lasters. Bei der Verleumdung muss die
Behauptung entweder in einer Rede, in einer Versammlung oder durch Anschlag
bezw. Verteilung von Schriften (auch ungedruckten) aufgestellt sein. Die
verleumderische Anzeige ist nicht unter Strafe gestellt.
Kap. 7. Diebstahl (Art. 216—230). Das StGB, giebt keine Begriffsbestim-
mung des Diebstahls. Diebstahl zwischen Ehegatten oder Verwandten in gerader
Linie hat nur Verbindlichkeit zum Schadensersatz zur Folge; im ersteren Falle
ist jedoch die Strafe verwirkt, wenn die That nach Auflösung der Ehe be-
gangen ist.*) Die Straflosigkeit erstreckt sich nicht auch auf Entwendungen
unter Verschwägerten. Ein gewohnheitsmässiger Dieb, der nicht im stände ist,
den Schaden zu ersetzen, den er durch Diebstahl zum Nachteil seines Ehe-
gatten oder eines seiner Verwandten verursacht hat, wird mit Gef. bestraft.
Die erschwerenden Umstände sind dieselben wie im französischen Recht; jedoch
hat der Gross- Vezier in einer Cirkularverfügung vom 11. Mai 1875 diejenigen
Instrumente näher bezeichnet, welche den falschen Schlüsseln gleichzustellen
bedeutet die fragliche Bestimmung des StGB, das Verbot, in der ehelichen Wohnung
eine Beischläferin zu unterhalten. Über die Doppelehe s. o. S. 730 Anm. 2.
') Vgl. o. S 713 und 716 Anm. 1.
'') S. o. S. 727.
^) Der in Art. 216 enthaltene Zusatz: „ohne Rücksicht darauf, ob sie gemein-
schaftlich oder getrennt leben **, erklärt sich aus der orientalischen Sitte, dass ein
Mann, der mehrere Frauen hat, diesen besondere Häuser, oft sogar verschiedene Orte
als Wohnsitz anzuweisen pflegt. Die Scharf'ah kennt den Begriff der ehelichen Woh-
nung (domicile conjugalj überhaupt nicht.
732 I>ie Türkei. — 2. Das Strafrecht der Türkei.
sind und ausserdem ausgesprochen, dass die Öffnung von Thüren. die nur mit
einer Klinke, einen Riegel oder einem Strick verschlossen sind, nicht als Ein-
bruch (effraction) im Sinne des StGB, anzusehen sind. Durch Cirkularver-
fügung vom 3. Juni 1873 hat ferner der Gross-Vezier entschieden, dass bei
Begehung eines Diebstahls die Nacht als eine Stunde nach Sonnenuntergang
beginnend angenommen werden soll. Eine Vdg. vom 25. März 1874 setzt die
Strafen für Versuch, Beihülfe und Hehlerei fest und sichert dem Gehülfen,
welcher den oder die Thäter namhaft macht, Straffreiheit zu.
Kap. 8. Bankerutt und Betrug (Art* 231 — 233).
Kap. 9. Unterschlagung (abus de confiance) (Art. 234 — 237).
Kap. 10. Beeinträchtigung der Freiheit öflFentlicher Versteigerungen; Miss-
bräuche im Handelsverkehr. Das Kap. behandelt: wörtliche oder thätliche
Beeinträchtigung einer Versteigerung*) (Art. 238); Massnahmen, welche eine
künstliche Erhöhung oder Verminderung der Preise bezwecken; die Strafe
wird auf das Doppelte erhöht, wenn es sich um notwendige Lebensbedürfnisse
handelt (Art. 239); betrügerische Handlungen in Bezug auf Beschaffenheit und
Quantität der Waren; Benutzung falscher Masse und Gewichte (Art. 240). Nach-
druck von Büchern zum Nachteil der Verfasser und, ganz allgemein, Nachahmung
von Gegenständen, für deren Herstellung jemandem ein Privileg erteilt ist
(Art. 241).
Kap. 11. Glücksspiele; Lotterieen (Art. 242, 243). Das StGB, verbietet alle
Lotterieen, findet jedoch nach einer Ministerialverordnung vom 23. Februar 1881
auf die zu wohlthätigcn Zwecken veranstalteten keine Anwendung.
Kap. 12. Sachbeschädigung: Zerstörung von landwirtschaftlichen Geräten,
Viehhürden und Wächterhütten (Art. 244); Tötung oder Vergiftung von Tieren
(Art. 245); Zerstörung von Einfriedigungen (Art. 246); Verursachung der Über-
schwemmung von Landwegen oder Feldern (Art. 247); fahrlässige Brand-
stiftung (Art. 248); Zerstörung fremder Gebäude, Strassen usw. (Art. 249);
Widerstand gegen die Vornahme öffentlicher Arbeiten (Art. 250); Zerstörung
von Registern, Urkunden usw. (Art. 251); gemeinsam verübte Plünderungen
und Beschädigungen (Art. 252); Vernichtung von Erntevorräten, Bäumen usw.
(Art. 253).
Das dritte Buch behandelt die tTbertretungen der Vdgn. betr. das öffent-
liche Gesundheitswesen und die öffentliche Reinlichkeit, sowie der polizeilichen
Vorschriften (Art. 254—264 und Kaiserliche Vdg. vom 16. April 1869). Dieses
Buch ist meiner Ansicht nach der vollständigste Teil des türkischen StGB,
und giebt den Inhalt des vierten Buches des französischen Code pönal ziem-
lich genau wieder, soweit dessen Bestimmungen auf orientalische Verhältnisse
überhaupt anwendbar sind.*) Den Inhalt dieses Buches in wenigen Worten
wiederzugeben, ist völlig unmöglich.
Endlich ist durch die Vdg. vom 16. April 1869 die Beerdigung an einem
verbotenen Platz mit Gef. von einem Monat bis zu einem Jahre und Geld-
strafe von 1 — 10 Gold-Medjidies bedroht; obwohl diese Bestimmung nach dem
Wortlaut des Art. 5 StGB, nicht die Androhung einer einfachen Polizeistrafe
enthält, hat man sie doch als Zusatz zum letzten Art. des dritten Buches
veröffentlicht.
Unzweifelhaft ist das türkische StGB., als Ganzes betrachtet, ein wenig
gelungenes, unvollkommenes Werk. Seine Verfasser haben sich zu eng an
*) D. h. einer Versteigerung zu Gunsten einer Privatperson; die strafbaren
Handlungen, welche mit Bezug auf die Verpachtung der Staatseinkünfte begangen
werden, sind bereits in Art. 88 behandelt.
*) So ist z. B. Wahrsagen, Traumdeuten usw. (Art. 479 C. p. fr.) nicht für straf-
bar erklärt.
§ 6. Die türkischen Vdgn. strafrechtlichen Inhalts. 733
die Schari'ah gehalten, und es unterlassen, auch nur diejenigen Punkte zu
berücksichtigen, in denen die Bestimmungen derselben, ohne völlig aufge-
hoben zu werden, wenigstens verbessert werden konnten. Verschiedene Art.
des französischen C. p. haben keine Aufnahme gefunden, obwohl die Schari'ah
dieser nicht hinderlich gewesen sein würde. Gänzlich tiberflüssiger Weise
hat man die Fassung der französischen Artikel vielfach geändert; auch fragt
man sich mit Becht, weshalb wichtige Delikte, wie Landstreicherei, Kindes-
aussetzung, Grabschändung u. a. nicht herübergenommen sind. Auch der
Leser wird der Ansicht sein, dass ein Gesetz, dessen Bestimmungen durch
Vdgn., ja sogar durch Sendschreiben der Verwaltungsbehörden, beliebig ge-
ändert werden können, kein Gesetz im Sinne der europäischen Rechtswissen-
schaft ist. Hierzu kommt noch, dass man die Beamten auch in Strafsachen
einer besonderen Verwaltungsgerichtsbarkeit unterstellt^) und ihnen durch diese
einschneidende Massregel, wenigstens für die von ihnen gegen Privatpersonen
begangenen strafbaren Handlungen, thatsächlich nahezu einen Freibrief ge-
geben hat. Man geht wohl nicht fehl, wenn man in diesen Erscheinungen
einen Ausfluss türkischer Willkür sieht, die, wie ehemals bei Anwendung der
Schari'ah, jetzt noch bei der Anwendung des StGB, vielfach zu Tage tritt.
Der Umstand endlich, dass die Trennung der richterlichen Gewalt von der
Gesetzgebungs- und Verwaltungsbefugnis noch heute nicht völlig durchgeführt
ist, drängt unwillkürlich zur Aufwerfung der Frage, ob man nicht besser
gethan hätte, die Schari^ah mit einigen den veränderten Umständen entsprechen-
den Änderungen beizubehalten.*)
b) Pas ausserhalb des türkischen StOB. stehende StB^
§ 6. Die türkischen Vdgn. strafrechtlichen Inhalts.
Das Spezialstrafrecht bedarf einer eingehenden Darstellung nicht. Mehrere
zur Ergänzung des StGB, von 1858 erlassene Vdgn. (über die Presse, Spreng-
stoffe u. a. m.) haben bereits Erwähnung gefunden. Ein Militär-StGB. ist nicht
vorhanden, obwohl Art. 51 StGB, ein solches zur Voraussetzung hat. Gemeinden,
Kreise, Regierungsbezirke und Provinzen haben ebensowenig gesetzgeberische
Befugnisse wie eine besondere, von der des Staats verschiedene juristische
Persönlichkeit.'*) Die für einzelne Orte bestimmten Vdgn. gehen ebenso von
der Centralregierung aus, wie die für das ganze Reich geltenden, falls nicht
im einzelnen Falle den Lokalbehörden das Recht der Gesetzgebung ausnahms-
weise übertragen ist. Infolge dessen ist die durch örtliche Verhältnisse erfor-
derte Lokalgesetzgebung sehr unvollkommen, und die türkischen Unterthanen
würden in mancher Beziehung von jeder gesetzlichen Beschränkung frei sein,
wenn der Richter, wie bei uns, in der Bestrafung von Übertretungen an den
Wortlaut des Gesetzes gebunden wäre. So ist die richterliche Willkür die un-
vermeidliche Folge der Unzulänglichkeit der Gesetzgebung.
Aus dem vorstehend Gesagten ergiebt sich femer, dass die Androhung
von Strafen in Vdgn. der Verwaltungsbehörden in keiner Weise gesetzlich be-
>) Vdg. vom 11. Januar 1869; vgl. Aristarchi Bey a. O. Bd. II S. 400 ff.
') *Kinen in einer europäischen Sprache verfassten Kommentar zum türkischen
StGB, giebt es nicht, dagegen sind mehrere wertvolle in türkischer und arabischer
Sprache geschriebene Arbeiten über das moderne türkische StR. vorhanden, von
denen die Werke von Schahbaz EfPendi, Djalftl Bey, Hatscherian Naz&rat Effendi und
Chftlid Bey die bekanntesten sind.
*) Vgl. die Vdg. über die allgemeine Verwaltung der Vilajets vom 22. Januar
1871, Aristarchi Bev Bd. III S. 7 AT. und die Vdg. über die Gemeindeverwaltimg vom
27. März 1876, ebendaselbst Bd. V S. 60 ff.
734 Die Türkei. — 2. Das Strafrecht der Türkei.
schränkt ist; denn diese Vdgn. sind als gesetzgeberische Akte dem StGB, völlig
gleichwertig; sie sind, wie dieses, Anordnungen des Staatsoberhaupts. Wenn
es ihm beliebt, kann er auch in einer Steuerverordnung Todesstrafe und
Zwangsarbeit androhen. Die für das gesamte Staatsgebiet berechneten Vdgn.
sind meist nach europäischem, insbesondere französischem und deutschem Muster
verfasst und leiden zum Teil an dem Fehler, die Besonderheiten der sozialen
und wirtschaftlichen Verhältnisse des Orients nicht genügend zu berücksichtigen.
Ich glaube daher von einer ausführlichen Besprechung der in ihnen enthaltenen
Straf bestimmungen umsomehr absehen zu können, als diese auf Vollständigkeit
keinesfalls Anspruch machen könnte. In mehreren Verwaltungs-Vdgn. fehlen
die Strafbestimmungen überhaupt, sodass auch hier die Willkür der Richter
ergänzend eintreten muss.
Die vorstehenden Andeutungen dürften genügen, um einen allgemeinen
Begriff der Spezialstrafgesetzgebung zu geben; wer sie im einzelnen studieren
will, wird stets auf den Text derselben zurückgehen müssen.^)
c) Schlussbemerkungen.
§ 7. Theorie und Praxis.
Das StR., wie es in den vorhergehenden Seiten geschildert ist. gilt offiziell
im ganzen türkischen Reiche, auch in den Provinzen, die, wie Libanon und
die Inseln Samos und Kreta, eine besondere Organisation haben.^) Nur Mekka
macht insofern eine Ausnahme, als dort nicht die Schule der Hanau ten, sondern
die der Schäfi'iten die herrschende ist, und daher nicht der Multaqä, sondern
die der letzteren Schule angehörenden Juristen die Autorität haben. ^) Da
aber, wie wir bereits gesehen haben, die Geltung der Schari'ah teils thatsächlich,
teils durch gesetzliche Fiktionen zum grossen Teile beseitigt ist, so hat diese
Verschiedenheit heute nur noch geringe Bedeutung. Übrigens versteht es sich
von selbst, dass eine grosse Anzahl von Bestimmungen des StGB. v. 1858,
z. B. die auf die Einrichtung der Gefängnisse und die Stellung unter Polizei-
aufsicht bezüglichen, sowie das ganze dritte Buch, in den entfernteren Teilen
des Reiches, in denen eine geordnete Verwaltung überhaupt nicht vorhanden
ist, nur auf dem Papier stehen. Aber selbst in den übrigen Teilen des Reichs
lässt ihre Durchführung in der Praxis viel zu wünschen übrig. Ich erinnere
mich lebhaft, mit welchem Erstaunen einige erst kürzlich von Temen und
Mekka nach Batavia gekommene Leute sich darüber äusserten, dass die
niederländisch-indische Regierung die Gefangenen mit der notwendigen Nah-
rung und Kleidung versah. Wie sie mir sagten, denkt in der Türkei niemand
daran: jeder muss sich auf eigene Kosten oder mit Hülfe seiner Familie
») Das mehrfach erwähnte Werk von Aristarchi Bey enthält in Bd. IV S. 77 ff.
und Bd. V S. 113 ff. die gesamte Verwaltungsgesetzgebung* des türkischen Reichs bis
1S78. Die seitdem erlassenen Vdgn. sind lediglich in dem amtlichen türkischen GBl.
(Dustur) enthalten, abgesehen von einigen wenigen, die im Annuaire de l^gis-
lation ^trang^re von 1889 S. 869 ff. abgedruckt sind. Einige wichtige Gesetze, wie die
St PO., sind sogar überhaupt niemals gesetzlich veröffentlicht, existieren vielmehr nur
in der Form von Entw., was aber die Gerichte durchaus nicht hindert, sie anzuwen-
den. Vgl. ebendaselbst S. x^^^. *Die amtliche Gesetzessprache ist das Türkische; nur
auf den Inseln Samos und Kandia (Kreta) geschieht die Veröffentlichung auch in
griechischer Sprache.
*^) Vgl. Aristarchi Bey a. (). Bd. II S. 145 ff. und S. 169 ff.
^) Die näheren Angaben über die schäfi'itischen Juristen findet der Leser in der
Vorrede meiner Ausgabe und Übersetzung des MinhAdsch at-TAlibin von Nawawt,
Batavia 1882—1^^4. Das StR. der Schati'iten weicht von dem der Hanafiten lediglich
in nebensächlichen Punkten ab. Vgl. Minhadsch at-TAlibin Bd. III S. 106 ff.
1. § 8. Das ägyptische StR. bis zum J. 1888. 735
nähren nnd kleiden. Selbst in den meisten grossen Städten sind die Gefäng-
nisse in einem trostlosen Znstande. Der in Art. 25 und 34 StGB, angeordnete
Erlass allgemeiner Vorschriften hat niemals stattgefunden; man gab sich, wie
z.B. aus einer Ministerialverordnung vom 28. Januar 1880 hervorgeht, der irrigen
Ansicht hin, dass jedes Gefängnis eine Krankenstation und getrennte Abteilung
für die zu verschiedenen Strafarten Verurteilten habe.^) Zu einer durchgreifenden
Reform des Gefängniswesens fehlt es im Staatsschatz an den nötigen Mitteln;
die feierlichen Versprechungen, die die Hohe Pforte in dieser Richtung ab-
gegeben hat, haben bislang keinerlei praktische Folgen gehabt. Es wäre viel-
leicht unrecht, hieraus auf mangelnden guten Willen schliessen zu wollen;
vielmehr ist meiner Ansicht nach der Türke besser als sein Ruf; aber die Um-
stände sind stärker als er. Auch bei dieser Gelegenheit muss ich darauf zu-
rückkommen, dass die europäischen Mächte, indem sie von dem Sultan Re-
formen verlangten, die teils undurchführbar waren, teils mit seiner Würde als
Herrscher aller Gläubigen im Widerspruch standen, diesen selbst verleitet hat,
zu Zweideutigkeiten und Ausflüchten seine Zuflucht zu nehmen, die bei dieser
Lage der Sache, wenn auch nicht entschuldbar, so doch in milderem Lichte
zu betrachten sind.
Zur Vervollständigung dieses kurzen Abrisses des türkischen StR. muss
ich noch erwähnen, dass der auf Grund besonderer Verträge'*) ausgeübten Kon-
sulargerichtsbarkeit eine Reihe von Personen unterworfen sind, die weder
Landsleute der in Frage kommenden Konsuln, noch überhaupt — infolge von
Abstammung oder Naturalisierung — Unterthanen irgend einer europäischen
Macht sind. Es sind die sogenannten „Schützlinge" der Konsuln, die der Ge-
richtsbarkeit der türkischen Gerichte entzogen und — oft genug auf heimlichem
Wege — der eines Konsulargerichts unterstellt sind.*)
m. Das StR. des Vizekönigreiches Ägypten.
1. § 8. Das ägyptische StR. bis zum J. 1883.
Eine besondere Erwähnung verdient Ägypten. Bald nach der Annexion
durch das ottomanische Reich i. J. 1517 wurde dieses Land eine Art aristo-
kratisch-militärischer Republik, die von den Beys oder Häuptlingen der Manie-
lukken*) beherrscht wurde und deren Abhängigkeit von der Pforte nur in der
Zahlung eines Tributs zum Ausdruck kam. Nach der Besetzung Ägyptens
durch die Franzosen bemächtigte sich Mahomet Ali der Gewalt und erlangte
schliesslich von der Pforte seine Anerkennung als Khedive^) oder erblicher
^) Vgl. Macridfes a. 0. S. 92. Der Leser, der ein getreues Abbild der in den
Gef. der europäischen Türkei herrschenden Zustände kennen zu lernen wünscht,
möge die allerdings oberflächliche aber sehr charakteristische Beschreibung des Gef.
zu Monastir lesen, die Berard in seinem Artikel „A travers la Macedoine slave" giebt
(Revue des deux Mondes Bd. CXIX 1892 S. 577). Nur die unmittelbar dem Polizei-
ministerium unterstellten Gef. der Hauptstadt haben eine gewisse Organisation, und
selbst diese besteht zum Teil nur in der Theorie. Vgl. Aristarchi Bev a. 0. Bd. III
S. 43 flF.
*) Bezüglich der mit den verschiedenen christlichen Mächten abgeschlossenen
Verträge (Kapitulationen) verweise ich auf die erwähnten Schriften von Lawrence
Bd. IV S. 119 flr. und Aristarchi Bey Bd. II S. 403 ff. und IV S. 25flr. Vgl. auch Du
Moiron: Les juridictions fran<;aises en Orient et les tribunaux internationaux en
Egvpte, Algier 1892.
'•") Vgl. Lawrence a. O. Bd. IV S. 176 flF.
*) Arabisch: mamlük, wörtlich: Sklave.
») Türkisch: chidlw.
736 Die Türkei. — 2. Das Strafrecht der Türkei.
Vizekönig in dem Chatti-Scharif vom 13. Februar 1841. Seitdem verwaltet
Ägypten seine inneren Angelegenheiten nahezu völlig selbständig und zahlt
lediglich der Türkei einen jährlichen Tribut. Nur gewissen ausserordentlichen
Regierungshandlungen, wie z. B. der Aufnahme von Anleihen muss der Sultan,
der ausserdem einige rein formelle Vorrechte geniesst, seine Zustimmung geben. ^)
Mahomet Ali gebührt auch das Verdienst, die Ära der Reformen in Ägypten
eingeleitet zu haben, das seitdem wie kein anderer Teil des türkischen Reiches,
und zwar auch auf dem Gebiete der Gesetzgebung, unter europäischem Ein-
flüsse steht.
In der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts galt in Ägypten annähernd
dasselbe Recht , wie im übrigen türkischen Reiche , d. h. in der Theorie die
Schari'ah, in der Praxis Willkür und Bestechlichkeit.-) Zu bemerken ist, dass
die Schari'ah in Ägypten nach der Lehre der Hanafiten angewendet wurde,
obwohl die grosse Mehrzahl der Einwohner Schäfi'iten sind. Um die Beach-
tung der herrschenden Lehre zu überwachen, schickte der Sultan alljährlich
einen Kadi als Abgesandten von Konstantin opel nach Ägypten, der sich nach
einjährigem Aufenthalt im Lande an die Spitze der Pilgerkarawane zu stellen
und mit dieser nach Mekka zu ziehen pflegte. Das Amt des türkischen Kadi
in Kairo galt fast als Sinekure, da nahezu alle Sachen von seinem Stellvertreter,
dem N&ib, oder von den vizeköniglichen Gerichten (mahkamah) oder, in den
Landbezirken, von den Kadis des Vizekönigs erledigt wurden. Im Wider-
spruch mit der ausdrücklichen Vorschrift der Schari ah verstand der türkische
Kadi gewöhnlich nicht einmal die arabische Sprache und beschränkte sich
darauf, auf Kosten der Rechtsuchenden sich die Taschen zu füllen.') Die
jährliche Sendung eines Kadi von Konstantinopel hat bis 1875 stattgefunden.
Obwohl selbst ein autokratischer Charakter, duldete Mahomet Ali bei
seinen Untergebenen keinerlei Missbräuche; er stellte in Ägypten eine Sicher-
heit für Personen und Sachen her, die sich von den in den übrigen türkischen
Provinzen herrschenden Zuständen vorteilhaft unterschied. Schon der Umstand,
dass er sich mit energischen, wenn auch nicht in allen Fällen vorwurfsfreien,
Europäern umgab, dass er bemüht war, nicht nur Kapitalien, sondern auch
Industrielle, Kaufleute und Beamte aus England und Frankreich in das Land
zu ziehen, machten es ihm unmöglich, die Bestimmungen der Schari'ah über
die soziale und politische Minderwertigkeit der Ungläubigen, vor allem aber
die gegen den Übertritt eines Mohammedaners zu einem anderen Glauben an-
gedrohte Todesstrafe beizubehalten.*) Ausserdem darf man nicht vergessen,
dass es für den Vizekönig, dem der Sultan nur notgedrungen und mit Wider-
streben die nahezu völlige Unabhängigkeit zugestanden hatte, viel leichter war,
die Schari'ah zu beseitigen, als für den Sultan, der sich mit Recht oder Un-
recht als Oberhaupt aller Gläubigen ansieht. Jedenfalls konnte Mahomet Ali im
Jahre 1839, als er beauftragt wurde, den Chatti-Scharif von Gul-Chänah zu ver-
öffentlichen, antworten, dass die Grundsätze dieses Erlasses: Gleichheit vor dem
Gesetz und Unverletzlichkeit des Privateigentums, überall in seinem Lande seit
\) Vgl. von Kremer: Ägypten. Leipzig 1863, Bd. II S. 2; BoreUi Bey und Ruelens:
La l^gislation 6gyptienne annot^e (Brüssel, Paris, Cairo 1892) Bd. I S. VII ff. und XV;
Lawrence a. O. Bd. I (1808) S. 256; Wheaton: Histoire du Progr^ du Droit des Gens,
Bd. II (Leipzig 1865) S. 252 ff. Der Chatti-Scharff vom 13. Februar 1841, sowie die
späteren auf das Verhältnis Ägyptens zur Türkei bezüglichen Aktenstücke findet man
in dem erwähnten Buche von Aristarchi Bey, Bd. IIS. 133 ff. und im Annuaire de 16-
gislation 6trang(;re, Jahrgang 1880 S. 620 ff.*^
-) Vgl. Lane: The modern Egvptians, 5. Aufl., London 1860, S. 104 ff., HO ff., 120.
«) Vgl. von Kremer a. (). Bd. II S. 74; Lane a. O. S. 112 ff.
*) Vgl. von Kremer a. 0. Bd. II S. 52, 81; Lane a. 0. S. 108.
2. § 9. Das StGB, für die Eingeborenen von 1883. 737
Jahren anerkannt und durchgeführt seien.^) Daher ist auch die türkische
Strafverordnung von 1840*) in Ägypten niemals in Kraft getreten, da der
Vizekönig sich weigerte, sie zu veröffentlichen, ganz besonders aber, sich die
Nachprüfung der Todesurteile durch den zu Eonstantinopel residierenden Schaich
al-Isldm und die entgültige Entscheidung durch den Sultan gefallen zu lassen.
Diese Neuerung vertrug sich seiner Ansicht nach weder mit der ägyptischen
Unabhängigkeit, noch mit der seit Jahrhunderten befolgten Praxis. Die An-
gelegenheit wurde durch einen Vergleich beendigt: der Sultan bewilligte dem
Vizekönig das Recht, Todesurteile zu bestätigen, auf sieben Jahre; nach Ab-
lauf dieser Zeit blieb es stillschweigend beim Alten.^) Nach Erledig^ing dieser
Meinungsverschiedenheit erliess der Vizekönig am 24. Januar 1855 für seine
Unterthanen ein besonderes StGB., das von der Schart' ah sich zwar nicht völlig
lossagte, aber doch in vieler Beziehung erheblicher abwich als die türkische
Strafverordnung von 1840.
Das ägyptische StGB. v. 1855 war in fünf Titel eingeteilt, von denen
jeder wieder in mehrere Paragraphen zerfällt. Er enthielt in ziemlich naiver
Systemlosigkeit neben Straf bestimmungen auch Vorschriften aus dem Beamten-
Disziplinarrecht und sogar civilrechtliche Grundsätze. Handlungen, die in
Europa als schwere Verbr. gelten, z. B. Falschmünzerei, Fälschung öffentlicher
Urkunden, Bestechung und Amtsmissbrauch, wurden mit einer, allerdings
schweren, aber nur kurzzeitigen Gefängnisstrafe bedroht. Da die allgemeinen
Lehren des StR. nicht kodifiziert waren, so blieb die Ausmessung der Strafe der
Willkür des Richters überlassen, der nur durch die Festsetzung eines allgemeinen
Mindest- und Höchstmasses beschränkt war. Im Falle des mit Vorbedacht aus-
geführten Mordes stand den Erben des Getöteten auch jetzt noch das ihnen
durch die Schari'ah verliehene Recht des Erlasses der Strafe zu; der Mörder
konnte sich also durch Erlegung des Blutgeldes loskaufen. Nur wenn die That
von Räubern begangen war, trat im Falle der Verzeihung durch die Erben
zeitige Zwangsarbeit ein.*)
2. § 9. Das St&B. fflr die Eingeborenen ron 1883.
Das türkische StGB, von 1858 ist in Ägypten nicht eingeführt; vielmehr Hess
der Khedive 1871 einen Entw. eines neuen StGB, ausarbeiten, der, wenn auch
in der Anordnung mit dem türkischen StGB, übereinstimmend, sich doch enger
an den französischen C. p. anschloss. Um nicht zu ausführlich zu werden,
erwähne ich hier nur, dass der Entw. Artikel über Versuch, Teilnahme und
mildernde Umstände enthält, dass die Bestechung nur strafbar ist, wenn es
sich um einen Beamten handelt, usw.*) Dieser Entw. ist die Grundlage des
StGB, für die gemischten Gerichtshöfe, von dem später die Rede sein wird,
und des StGB, für die eingeborenen Gerichte und Richter von 1883*) geworden.
Im folgenden seien kurz die Punkte berührt, in denen sich das letztere von
dem türkischen und dem französischen StGB, unterscheidet.
Die Anordnung ist dieselbe wie im türkischen StGB., von welchem das
') Vgl. Petermann und Ramis Effendi a. 0. S. XLIV.
«) S. o. S. 719.
«) Vgl. von Kremer a. 0. Bd. II S. 53, 54 und 68, und Lane a. 0. S. 110.
*) Eine ausführliche Analyse des ägyptischen StGB* v. 1855 enthält das er-
wähnte Buch von von Kremer Bd. II S. 54 flf.
*) Der Entw. ist in französischer Sprache zu Alexandria im Jahre 1871 ver-
öffentlicht.
^) Eine französische Übersetzung beider G. enthalten das erwähnte Buch von
Borelli Bey und Ruelens, sowie das Bulletin des lois et decrets.
Stra%esetzg^e)mng der Gogenwart. I. 47
738 I^ie Türkei. — 2. Das Strafrechs der Türkei.
ägyptische StGB, gewissermassen eine durchgesehene und verbesserte Ausgabe
bildet. Es zerfällt in vier Titel: Einleitende Bestimmungen; Verbr. und Verg.
gegen den Staat; Verbr. und Verg. gegen Privatpersonen; Übertretungen.
Der erste Titel hat 5 Kap., der zweite 16, der dritte 13 und der vierte nur
ein einziges. Die Kapitelüberschriften stimmen mit denen des türkischen
StGB, überein. Nur sei bemerkt, dass fahrlässige Brandstiftung im türkischen
StGB, ein Delikt gegen den Staat, im ägyptischen dagegen ein solches gegen
die Privatperson ist. Der erste Art. beider Gesetze, und mithin auch ihr grund-
sätzlicher Standpunkt stimmt überein,*) in Wirklichkeit aber nimmt das ägyp-
tische StGB, auf diesen Standpunkt wenig Rücksicht. Im Entw. fehlte dieser
Art. 1. Der in Art. 4 des französischen C. p. enthaltene Grundsatz fehlt auch
im ägyptischen StGB. Ein Art., durch welche alle früheren G. für aufgehoben
erklärt würden, existiert nicht, sodass auch das ägyptische StGB., theoretisch
betrachtet, nur eine Novelle ist, während die Schari'ah das Hauptgesetz bleibt,
ein Verhältnis, das natürlich jeder Willkür Thor und Thür öflPhet.*)
Die gegen Verbr. angedrohten Strafen sind: Tod, lebenslängliche und
zeitige Zwangsarbeit, lebenslängliche und zeitige Festungshaft, lebenslängliche
Verbannung, dauernder Verlust der Fähigkeit, öffentliche Würden zu erlangen
und öffentliche Ämter zu bekleiden, endlich Ausschluss von der Ausübung der
bürgerlichen Ehrenrechte. Vergehensstrafen sind: Gef. nicht unter einer Woche,
zeitige Verbannung, Verlust des bekleideten öffentlichen Amtes und Geldstrafe
von mindestens 100 ägyptischen Piastern. Übertretungsstrafen sind: Gef. bis
zu einer Woche und Geldstrafe bis zu 100 ägyptischen Piastern (Art. 3 — 5).
Von der jedesmaligen Bestimmung des StGB, hängt es ab, ob diese Strafen nur
einzeln oder nebeneinander verhängt werden können. Ausserdem werden vom
StGB, in bestimmten Fällen zugelassen: Stellung unter Polizeiaufsicht, Verlust
privatrechtlicher (nicht, wie im Entw. stand: familienrechtlicher) Befugnisse,
und Einziehung des bei Begehung der Strafthat benutzten Gegenstandes (Art. 7).
Die Begriffsbestimmung und die Bestrafung des Versuchs (Art. 8 — 11) ist die
gleiche wie im C. p. Der Rückfall (Art. 12—18) zerl^llt in drei Klassen. Er
liegt zunächst vor, wenn jemand ein Verg. begeht, nachdem er wegen eines
Verbr. oder Verg. zu Gef. oder Verbannung nicht unter einem Jahre oder
einer schwereren Strafe verurteilt war; femer: wenn jemand sich eines Verg.
schuldig macht, nachdem er innerhalb der vorhergehenden fünf Jahre zu Gef.
oder Verbannung nicht unter einem Jahre oder zu Geldstrafe verurteilt war,
vorausgesetzt, dass das später begangene Delikt dem früher begangenen ähnlich
ist; endlich: wenn jemand ein Verbr. begeht, nachdem er bereits einmal wegen
eines solchen verurteilt war. Das Unlogische dieses Systems liegt auf der Hand.
Hinzugefügt sei, dass die Strafe in den ersten beiden Fällen das Doppelte des
*) Jedoch giebt es die zwei Arten von Gerichten, die in der Türkei vorhanden
sind, in Ägypten nicht. Nur sollen die ordentlichen Gerichte bei Verbr., die mit dem
Tode bedroht sind, zuvor das Gutachten des Mufti einholen. Vgl. Art. 15 der Vdg.
vom 14. Juni 1883 über die Reorganisierung der für die Eingeborenen bestimmten
Gerichte. Diese Vdg., sowie die sie ergänzende vom 9. Februar 1887 sind im Annuaire
de 16gi8lation 6trang6re von 1883 und 1887 S. 769 und 819 abgedruckt; vgl. o. S. 722
Anm. 2.
*) Es könnte auf den ersten Blick scheinen, als ob die Lücken des StGB, durch
einige Art. der StPO. (z B. 145, 147, 153, 171) in verschiedenen Punkten ausgefüllt
würden. Indessen ergiebt sich bei näherer Betrachtung, dass diese Artikel ebenso
lediglich auf dem Papiere stehen, wie die türkische Verfassung von 1876, von der
o. S. 721 Anm. 5 die Rede gewesen ist. Solange nicht die Schari'ah auf dem Gebiete des
StR. formell ausser Kraft gesetzt ist, hat es keinen Sinn, dem Richter vorzuschreiben,
nur in den' gesetzlich vorgesehenen Fällen auf Strafe zu erkennen. Indes enthält
allerdings die StPO. in den Art. 249—255 über die Strafverjährung Bestimmungen,
die entschieden als ein Fortschritt zu begrüssen sind. Vgl o. S. 713 und 726 Anm. 1.
2. § 9. Das StGB, für die Eingeborenen von 1883. 739
für das spätere Delikt angedrohten Höchstmasses erreichen kann und im dritten
Falle m derjenigen Strafe besteht, die zwei Grade höher ist als die, zu welcher
der Thäter verurteilt werden würde, wenn er sich nicht im Rückfall befände.
Kein Todesurteil darf vollstreckt werden ohne Genehmigung des Vize-
königs, dem in jedem Falle das Recht der Strafumwandlung zusteht. Ist seine Ettt-
scheidung nicht binnen 14 Tagen nach Einsendung der Akten an ihn eingetroffen,
so ist das Urteil als bestätigt anzusehen; dabei ist jedoch zu beachten, dass
ein Todesurteil nur gefällt werden kann, wenn entweder der Angeklagte ge-
standen hat oder mindestens zwei Zeugen bekundet haben, dass sie die Be-
gehung der That durch den Angeklagten „gesehen" haben (Art. 26 — 32).*)
Zeitige Zwangsarbeit und zeitige Festungshaft haben eine Dauer von mindestens
drei und höchstens 15 Jahren und ziehen den Verlust der bürgerlichen Ehren-
rechte nach sich. Personen über 60 Jahre und Frauen (nicht auch unver-
heiratete weibliche Personen) werden während der Dauer der Zwangsarbeit
nicht in Ketten gelegt (Art. 32 — 39). Die Festungshaft ist in einer Anstalt zu
verbüssen, in welcher Arbeitszwang herrscht (Art. 35); dagegen ist die Voll-
streckung der Verbannung ebenso geregelt wie in der Türkei (Art. 38, 46).
Die dauernde Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Stellungen und Ämter
bezieht sich nicht nur auf die Stellungen und Ämter i. e. S., sondern auch auf die
Fähigkeit, vom Staate eine Pachtung oder eine Konzession zu erlangen. Sie
ist die von Rechtswegen eintretende Folge jeder Verurteilung wegen eines Verbr.
Der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte besteht u. a. in dem Verlust des
aktiven und passiven Wahlrechts, der Unfähigkeit, Mitglied einer Körperschaft
zu sein, in einer solchen oder einer Gemeinde ein Amt zu bekleiden, Ge-
schworener,^) Sachverständiger, Lehrer oder Aufseher in einer Schule zu sein.
Dieser Verlust ist notwendige Folge jeder Verurteilung zu Zwangsarbeit, Festungs-
haft und Verbannung; er ist dauernd oder auf Zeit, je nach der Dauer der
Hauptstrafe, ist er vom StGB, allein angedroht, so tritt ausserdem Gef. bis zu
3 Jahren ein (Art. 39 — 42). Die wegen eines Verbr. erlassenen Urteile werden
durch öffentlichen Anschlag in französischer, italienischer und arabischer Sprache
bekannt gemacht (Art. 43).
Die wegen eines Verg. zu erkennende Gefängnisstrafe hat eine Dauer
von mindestens 8 Tagen und höchstens 3 Jahren, die wegen einer Übertretung
zulässige eine solche von 24 Stunden bis zu einer Woche; die Dauer der zei-
tigen Verbannung beträgt 3 Monate bis 3 Jahre; die Entfernung aus einem
öffentlichen Amte geschieht auf 1 — 5 Jahre; die Höhe der Geldstrafe beträgt
bei Verg. 101 — 10000, bei Übertretungen 5 — 100 ägyptische Piaster (Art.
44—48).
Bezüglich der Zurechnungsfähigkeit ist zu bemerken, dass Kinder unter
7 Jahren nicht strafrechtlich verfolgt werden können. Bei einem Kinde zwischen
7 und 15 Jahren muss man unterscheiden, ob es bei Begehung der That im
Besitze des Unterscheidungsvermögens war oder nicht; im letzteren Falle wird
es freigesprochen, im ersteren milder bestraft, als ein Erwachsener. Die Grund-
sätze über Geisteskrankheit und Zwang, sowie über Thäterschaft und Teil-
nahme entsprechen denen des französischen Rechts. Bei weiblichen Angeklagten
soll der Richter nach Vorschrift des StGB, bei Ausmessung der Strafe auf ihre
körperlichen und geistigen Verhältnisse Rücksicht nehmen (Art. 56 — 69). Auch
^) Das StGB, giebt keine allgemeinen Vorschriften, in welcher Weise die Todes-
strafe vollzogen werden soll; der Richter muss daher, wie in der Türkei, in jedem
Falle eine besondere Anordnung treffen.
■^) Für Eingeborene giebt es Schwurgerichte in Ägypten nicht. Vgl. Borelli Bey
und Ruelens a. O. Bd. I S. "»79 No. 1.
47*
740 Die TürkeL — 2. Das Strafrecht der Türkei.
in Beziehung auf die mildernden Umstände, welche unter der Überschrift
„Allgemeine Bestimmungen" in dem letzten Art. (252) des StGB, behandelt werden,
gelten die französischen Grundsätze.^)
Die vorstehenden Ausführungen werden genügen, um die wichtigsten Be-
stimmungen des ersten Titels des StGB, klar zu legen. Über die drei folgen-
den Titel kann ich mich kurz fassen. Wie bereits erwähnt, stimmt die Ein-
teilung bis auf eine Ausnahme mit der des türkischen StGB. Dagegen finden
sich im Wortlaute der einzelnen Art. manche Verschiedenheiten, da das ägyp-
tische StGB, sich enger an den französischen C. p. anschliesst. Jedoch weicht
ersteres auch an manchen Stellen von diesem in der Anordnung und Verbin-
dung der Art., sowie im Wortlaut und im Strafmass verschiedentlich ab, ohne
dass die Neuerungen in allen Fällen als Verbesserungen bezeichnet werden
könnten. Als Beispiel sei Art. 70 des ägyptischen StGB, angeführt, der nicht
nur Jeden Ägypter", sondern Jede Person", die gegen Ägypten WaflPen trägt,
mit dem Tode bedroht.
Von den strafbaren Handlungen des C. p. sind ausgeschieden: das Kom-
plott gegen das Staatsoberhaupt oder seine Familie, Unternehmungen, welche
eine Veränderung in der Regierungsform oder in der Thronfolge bezwecken,
öflFentliche Beleidigung des Staatsoberhaupts oder seiner Angehörigen,*) Verbr.
und Verg. in Bezug auf die Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte, uner-
laubte Vereinigung von Beamten, Störung der öffentlichen Ordnung durch
Geistliche, Bettelei, Landstreicherei, unerlaubte Vereinigung, Kindesaussetzung,
Doppelehe, Grabschändung und die Mehrzahl der auf Handel, Industrie und
Kunst bezüglichen Delikte. Alle übrigen nach dem französischen C. p. straf-
baren Handlungen sind es mit geringen Ausnahmen auch nach dem ägyp-
tischen StGB., nur ist die Verteilung der Delikte auf die einzelnen Kap. zum
Teil abweichend. So bilden z. B. die Verg. der Lieferanten wie im türkischen
StGB, eine strafbare Handlung gegen den Staat und werden demgemäss im
rV. Kap. des zweiten Titels unter der Überschrift: „Veruntreuung öffentlicher
Gelder und Amtserpressung" behandelt. Nur wenige Art. in den letzten drei
Titeln des ägyptischen StGB, tragen den besonderen Verhältnissen des Orients
Rechnung, und diese sind noch dazu dem türkischen StGB, entlehnt. So ge-
nügt beispielsweise nach dem Wortlaut des Art. 90 und 91 die Thatsache,
dass ein Beamter oder ein Beauftragter durch die Veräusserung einer beweg-
lichen oder unbeweglichen Sache oder infolge des Abschlusses irgend eines
anderen Vertrages einen aussergewöhnlichen Vorteil zugewendet erhält, zum
Thatbestande der Bestechung; eine solche liegt auch dann vor, wenn die Gre-
schenke oder Vorteile einem von dem bestochenen Beamten oder Unterhändler
bezeichneten Dritten zugewendet sind.
Ein von der Regierung mit dem Verkauf, dem Ankauf oder der An-
fertigung irgend welcher Gegenstände beauftragter Privatmann, der sich bei
dieser Gelegenheit irgend einen unerlaubten Vorteil verschafft, wird nach
Art. 100 mit der gleichen Strafe belegt, wie ein Beamter, der öffentliche Gelder
veruntreut. Die Ausstellung von Anweisungen auf den Staatsschatz oder von
anderen öffentlichen Schuldverschreibungen durch einen Beamten, seine Ver-
wandten oder seine Diener wird nach Art. 102 bestraft, während die Amts-
unterschlagung nach Art. 103 und 104 auch bei Eintreibung von Frohndiensten,
durch Verwendung staatlicher Arbeiter zu Privatzwecken, sowie dadurch be-
gangen werden kann, dass jemand einem Arbeiter oder Angestellten den Lohn,
^) Das Zusammentreffen und der Zusammenhang mehrerer strafbarer Hand-
lungen sind sowohl im StGB, wie in der StPO. mit Stillschweigen übergangen.
'") Vorausgesetzt, dass sie nicht durch die Presse begangen ist; vgl. Art. 153 ff.
8. § 10. Die ägyptischen Verordmingen strafrechtlichen Inhalts. 741
den er ihm auszahlen soll, vorenthält, oder weniger Angestellte als vorge-
schrieben unterhält, sich aber doch für die volle Anzahl den Lohn ausbezahlen
lässt. Die Verwendung eines Beamten für jemanden durch Bitte oder Em-
pfehlung bei einem Richter, ist nach Art. 111 als Missbrauch der Amtsgewalt
anzusehen. Unter den gewaltsamen Handlungen öffentlicher Beamten gegen
Privatpersonen erwähnt Art. 112 die Folterung eines Angeklagten und Art. 122
die Heranziehung zu Frohnarbeiten, die weder nach Gesetz noch auf Grund der An-
ordnung einer Behörde dem öflFentlichen Wohle dienen, noch im Interesse der
Bevölkerung schleunigst vorgenommen werden müssen. Gleich dem Falsch-
münzer wird nach Art. 179 bestraft, wer einer Münze eine andere Färbung
giebt, um sie als eine solche von wertvollerem Metalle erscheinen zu lassen,
und Art, 184 erklärt die Nachahmung des Siegels eines öffentlichen Beamten
für ebenso strafbar, wie die Fälschung seiner Unterschrift. Die Teilnehmer
an einem mit dem Tode bedrohten Morde werden stets nur zu lebenslänglicher
Zwangsarbeit verurteilt; die Erben haben das Recht, dem Thäter die Strafe
der Talion zu erlassen, die dann in Zwangsarbeit auf Lebenszeit oder auf
bestimmte Zeit, jedoch nicht unter 15 Jahren, umgewandelt wird (Art. 214, 215,
230). Ascendententötung, Kindsmord und Kastration bilden keine besonderen
Delikte. Der Ehemann wird bestraft, nicht wenn er „eine Beischläferin",
sondern wenn er „einen ehebrecherischen Verkehr" in der ehelichen Wohnung
unterhält (Art. 255). Das StGB, bestraft die Entführung einer verheirateten Frau
(Art. 268); bei der Entführung eines jungen Mädchens bewirkt die Schliessung
der Ehe zwischen dem Entführer und der Entführten den Eintritt völliger
Straflosigkeit (Art. 269). Endlich wird die Anwendung von Gewalt gegen
einen Zeugen um ihn von einer wahrheitsgemässen Angabe abzuhalten oder
zur Ablegung eines falschen Zeugnisses zu veranlassen wie das falsche Zeugnis
selbst bestraft (Art. 275). Die Störung des Telegraphen-Verkehrs (Art. 150 — 152),
Pressdelikte und die auf den Unterricht bezüglichen strafbaren Handlungen
(Art. 153 — 178), sowie die Eröffnung einer Apotheke ohne Konzession — alles
Handlungen, die in vielen Ländern den Gegenstand von Spezialgesetzen bilden
— sind im ägyptischen StGB., wie auch im türkischen, mit Strafe bedroht.
Die Übertretungen werden im vierten Titel behandelt. In Bezug auf
diesen gilt ebenfalls das für das III. Buch des türkischen StGB. Gesagte. ^)
3. § 10. Die ägyptischen Yerordnungen strafrechtlichen Inhalts.
Neben dem StGB, giebt es verschiedene Vdgn. strafrechtlichen Inhalts;
einzelne derselben, wie die über die Schiffahrt auf dem Suezkanal, über die
sanitÄren Massregeln bezüglich der Mekka-Pilger, über den Sklavenhandel^)
usw., haben eine internationale Sanktion erhalten. Diese letzteren sind natur-
gemäss von bleibender Bedeutung, was man von den lediglich von der vize-
königlichen Regierung und den Ortsbehörden ausgehenden nicht sagen kann.
In dieser Beziehung gilt das bereits für die Türkei Gesagte. Da die Trennung
der Gewalten nicht durchgeführt ist, mithin der Khedive, seine Minister und
sogar die Ortsbehörden durch Verfügungen, Vdgn. und Sendschreiben Vor-
schriften mit Gesetzeskraft erlassen können, ohne dabei anders als durch ihr
Subordinationsverhältnis zu dem vorgesetzten Beamten beschränkt zu sein, so
*) S. o. S. 782.
*) Vgl. Borelli Bey und Ruelens Bd. I S. XIII. Die Verwaltungs Verordnungen
sind im Annuaire de 16gislation 6trangöre regelmässig erwähnt; nach dieser Samm-
lung zu schliessen, scheint die Spezialstrafgesetzgebung noch unvollkommener zu
sein als in der Türkei, was aber nach dem oben S. 733 Gesagten kaum als Nachteil
anzusehen wäre.
742 Die Türkei. — 2. Das Strafrecht der Türkei.
ist klar, dass trotz aller eiiropäischeii und halbenropäischen Formen der Kern
anch der ägyptischen Rechtspflege die Willkür ist.*)
4. § 11. Das Straflrecht fQr die gemischten Gerichtshöfe.
Ich komme mit einigen kurzen Bemerkungen auf das bereits oben er-
wähnte StGB, für die gemischten Gerichtshöfe zurück.
Wie in den übrigen Teilen des türkischen Reiches, gemessen die Euro-
päer auch in Ägypten auf Grund internationaler Verträge das Recht der Ehcter-
ritorialität.^) Die Missbräuche, die mit der Befugnis der Konsuln getrieben
wurden, Personen, die von Rechtswegen Eingeborene waren, vor ihr Gericht
zu ziehen, waren in Ägypten ebenso zahlreich, wie in der Levante.*) Ja, die
Verhältnisse in diesem Lande, vor allem das ausserordentlich schnelle An-
wachsen der ausländischen Einwohner seit der Regierungsübemahme durch
Mahomet Ali und die Wichtigkeit der Handelsinteressen, gaben Veranlassung
zu ganz besonders schweren Übelständen. Ägypten war das Gelobte Land
aller schlechten Zahler und böswilligen Schuldner geworden, welche die leichte
Möglichkeit, von der einen Gerichtsbarkeit unter die andere zu schlüpfen,
benutzten, um sich der Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten und der Vollstreckung
der von ihren ordentlicheD Richtern gegen sie gefällten Urteile zu entziehen.
Seit langer Zeit war man darüber einig, dass dieser Zustand nicht länger
fortbestehen könne, indes gelang eine durchgreifende Reform erst 1875 nach
langwierigen diplomatischen Verhandlungen. Die Ausländer und Schutzge-
nossen wurden in Civil- und Handelssachen, und zwai* auch in Bezug auf ihr
Verhältnis zu den Eingeborenen, besonderen, aus Vertretern der Eingeborenen
und der interessierten europäischen Nationen bestehenden Gerichten, den so-
genannten gemischten Gerichtshöfen, unterstellt. Gleichzeitig wurde ein bürger-
liches GB., ein Handelgesetzbuch, ein Seehandelsgesetzbuch, eine Civil- und
Handelsprozessordnung erlassen, die alle nach dem Muster der französischen
Gesetzgebung gearbeitet sind.*) Bestrebungen, welche darauf abzielten, diesen
Gerichten auch Zuständigkeit in Strafsachen zu geben, waren nur zum Teil
erfolgreich. Es wurde vereinbart, dass sie lediglich zuständig sein sollten für
die Aburteilung der von Nichtmohammedanern begangenen Übertretungen, der
Verbr. und Verg., welche gegen Beamte, Richter oder Polizeibeamte in Aus-
übung ihres Amtes oder bei Gelegenheit der Ausübung desselben begangen
sind, ferner der Verbr. und Verg., die sich unmittelbar gegen die Vollstreckung
gerichtlicher Urteile und Aufträge richten, endlich der einem Richter, Ge-
schworenen oder Justizbeamten als in Ausübung ihres Amtes oder mittels
Missbrauchs ihrer Amtsgewalt begangen zur Last gelegten Verbr, und Verg.*)
Ein StGB, und eine StPO. sind als Anhang zu dem für die gemischten Ge-
richte geltenden Civil- und Handelsgesetzbuch erlassen und daher formell in
Geltung; dieselben sind jedoch gerade in Beziehung auf die Delikte, für deren
Aburteilung die gemischten Gerichte zuständig sind, später abgeändert. Diese
*) Ebendaselbst Bd. I S. XV ff. Von allen Verwaltxmgseinheiten hat nur die
Stadtverwaltung von Alexandria eine vom Staate verschiedene juristische Persön-
lichkeit.
'^) Vgl. von Kremer a. 0. Bd. II S. 100; Borelli Bev und Ruelens a. 0. Bd. I
S. 10; Lawrence a. 0. S. 182 ff.; Du Moiron a. 0. S. 52 ff.
3) Vgl. von Kremer a. 0. Bd. II S. 101 ; Borelli Bey und Ruelens a. O. Bd. I
S. XIX; L'Egvpte et l'Europe par un ancien Juge Mixte, Bd. I (Leiden 1882) S. 121 ff.
*) Vgl. Lawrence a. 0. Bd. IV S. 182 ff.; Borelli Bey und Ruelens a. 0. Bd. I
S. XXI ff. und XXVII ff.
*) Vgl. die Gerichtsverfassungs-Vdg. Titel II Art. 6 ff.; Borelli Bev und Ruelens
a. 0. Bd. I S. 17.
4. § 11. Das Strafrecht für die gemischten Gerichtshöfe. 743
Delikte, die übrigens selten vorzukommen scheinen, werden jetzt nach einer
Zusammenstellung von Straf bestimmungen abgeurteilt, die dem ägyptischen
StGB, entnommen und bei den gemischten Gerichten in Gebrauch ist.^) That-
sächlich ist bislang die Strafkammer erst zweimal, das Schwurgericht erat
einmal in Thätigkeit getreten ; eine gerichtliche Polizei ist bei den gemischten
Gerichten nicht vorhanden, auch hat man versäumt, ihnen Gefängnisse zur Ver-
fügung zu stellen.*) Die Strafen werden in den Konsulatsgefängnissen ver-
büsst; bei Verurteilung zur Todesstrafe sind die Vertreter der fremden Mächte
befugt, ihre Angehörigen zu reklamieren.*)
Unter diesen Umständen erscheint eine genaue Analyse dieses nur auf
dem Papier bestehenden, übrigens auch von dem StGB, für Eingeborene nur
wenig abweichenden G. nicht erforderlich. Sollte später die Zuständigkeit der
gemischten Gerichte auf alle Strafsachen ausgedehnt werden, so müsste jeden-
falls das StGB, einer völligen Umarbeitung unterzogen werden.
*) Borelli Bey und Ruelens a. 0. Bd. I S. CVI flf. und: Procfes Verbaux et Rapport
de la Commission des Del^gu^s de LL. £E. MM. les Repr^sentants des Puissances
prfes la Sublime Porte, Institute pour Texamen des propositions du Gouvernement
egyptien relative k la R^forme judiciaire en mati^re pönale. Konstantinopel 1873.
*) Borelli Bey und Ruelens a. 0. Bd. I S. XXIII.
») GerichtsverfasBungs-Vdg. Titelll Art.36— 38; Borelli Bey und Ruelens Bd. IS. 21.
Dmck Ton OseAr Brandstetter in Leipzig.
Litterarischer Anzeiger.
Satzungen der Internationalen Kriminalistischen Yerelnlgang. *
Statuts de Tünlon Internationale de Droit P^naL
Art. I. Dio IKV. geht von der Über-
zeugung aus, dass Verbrechen und Strafe ebenso-
sehr vom soziologischen wie vom juristificben
Standpunkte aus ins Auge gefasst werden müssen.
Sie stellt sich die Aufgabe, diese Ansicht und die
aus ihr sich ergebenden Folgerungen in Wissen-
schaft und Gesetzgebung zur Anerkennung zu
bringen. — Art« II. Die Vereinigung stellt als
Grundlage ihrer Wirksamkeit die folgenden Sätze
auf: 1. Aufgabe der Strafe ist die Bekämpfung
des Verbrechens als sozialer Erscheinung. 2. Die
Ergebnisse der anthropologischen und soziolo-
gischen Forschungen sind daher von der Straf-
rocbtswissenschaft wie von der Strafgesetzgebung
zu berücksichtigen. 3. Die Strafe ist eines der
wirksamsten Mittel zur Bekämpfung des Ver-
brechens. Sie ist aber nicht das einzige Mittel.
Sie darf daher nicht aus dem Zusammenhange
mit den übrigen Mitteln zur Bekämpfung, ins-
besondere mit den übrigen Mitteln zur Ver-
hütung des Verbrechens gerissen werden. 4. Die
Unterscheidung der G^elegenheitsverbreche^ und
der Gewohnheitsverbrecher ist von grundlegender
Bedeutung in theoretischer wie in praktischer Be-
ziehung; sie hat daher als Grundlage für die Be-
stimmungen der Strafgesetzgebung zu dienen.
5. Da Strafrechtspflege und Strafvollzug dem-
selben Zwecke dienen, das strafrechtliche Urteil
mithin erst durch die Vollstreckung der Strafe
Inhalt und Bedeutung gewinnt, erscheint die dem
heutigen Strafrechto eigentümliche Trennung des
Strafvollzuges von der Strafrechtspflege als un-
richtig und zweckwidrig. 6. Da die Freiheits-
strafe in unserm Strafcnsystem mit Recht die
erste Stelle einnimmt, wird die Vereinigung den
Bestrebungen zur Verbesserung der Gefangnisse
und der verwandten Anstalten besondere Beach-
tung widmen. 7. Die Vereinigung hält jedoch
den Ersatz der kurzzeitigen Freiheitsstrafe durch
andre Strafmittel von gleicher Wirksamkeit für
möglich und wünschenswert. 8. Bei langzeitigen
Freiheitsstrafen ist die Bemessung der Strafdauer
nicht nur von den Ergebnissen des Strafverfahrens,
sondern auch von denjenigen des Strafvollzuges
abhängig zu machen. 9. Unverbesserliche Ge-
wohnheitsverbrecher hat die Strafgesetzgebung,
und zwar auch dann, wenn es sich um die oft-
malige Wiederholung kleinerer Vergehungen han-
delt, für eine möglichst lange Zeitdauer un-
schädlich zu machen. — Art. III, Die Mitglieder
der Vereinigung stimmen den in Axt. fi auf-
geführten Grundsätzen bei. Die Aufnahme neuer
Slitglieder erfolgt auf schriftlichen Vorschlag eines
der bisherigen Mitglieder durch ßeschluss des ge-
schäfteführehden Ausschusses. — Art. IX. Jedes
Mitglied zahlt einen Jahresbeitrag von 6 Mark.
. I. L^Union estime, que la criminalit^ et la
r^pression doivent dtre envisag^es aussi bien au
point de vue social qu'au point de vue juridique.
EUe poursuit la consdcration de ce principe et
de ses consäquences dans la science du droit
criminel comme dans les lägislations pönales. —
II. L'Union adopte comme base fondamentale
de ses travaux les thöses suivantes: 1. La mission
du droit p^nal c^est la lutte contre la criminalit^
envisag^e comme ph^nom^ne social. 2. La science
pönale et la l^gislation pönale doivent donc tenir
compte des rösultats des ötudes anthropologiques
et sociologiques. 3. La peine est un des moyens
les plus efficaces dont l'Etat dispose contre la
criminalitö. Elle n^est pas le moyen unique. Elle
ne doit donc pas dtre isolöe des autres rem^des
Bociaux et notamment ne pas faire oublier les
mesures präventives. 4. La distinction entre les
dölinquants d'accident et les dölinquants d'habitude
est esseatielle en pratique comme en thöorie; eile
doit etre la base des dispositions de la loi pönale.
5. Comme les tribunaux röpressifs et Tadmini-
stration pönitentiaire concourent au mdme but,
et que la condamnation ne vaut que par son mode
d'exöcution, la Separation 'consacröe par notre droit
moderne entre la fonction repressive et la fonction
pönitentiaire est irrationnelle et nuisible. 6. La
peine privative de libertö occupant ä juste titre
la premi^re place dans notre systöme des peines,
1' Union accorde une attention speciale k tout ce
qui concerne Tamölioration des prisons et des in-
stitutions qui s'j rattachent. 7. En ce qui con-
cerne toutefois les peines d'emprisonnement de
courte duröe, TUnion consid^re que la Substitution
ä Temprisonnement de mesures d'une efflcacitö
äquivalente est possible et dösirable. 8. ^n ce
qui concerne les peines d'emprisonnement de
longue duröe, l'Union estime qu'il faut faire dö-
pendre la duröe de l'emprisonnement, non pas
uniquement de la gravitö materielle et morale
de rinfraction commise, mais aussi des rösultats
obtenus par le regime pönitentiaire. 9. En ce
qui concerne les dölinquants d'habitude incorri-
gibles, r Union estime qu'independamment de la
gravite de Tinfraction, et quand meme il ne s'agit
que de la röitöration de petits dölits, le systöme
pönal doit avant tout avoir pour objectif de
mettre ces dölinquants hors d'ötat de nuire, le
plus longtemps possible. — HI. Les membres
de l'Union adhörent aux thöses fondamentales ci-
dessus önoncöes. La candidature d'un membre
nouveau doit etre proposöe par öcrit au bureau
par un membre de l'Union. — IX. Le taux de
la cotisation annuelle est flxö ä fr. 7.50.
n LiTTEBABISCHEB ÄKZEiaEB.
Otto Liebmann, Verlagsbuchhandlung,
Buchhandlung für Rechts- und Staatswissenschaften.
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Die gesamten strafrechtlichen Nebengesetze.
I. Band:
Die strafrechtlichen Nebengesetze
des Deutschen Reiches.
Erläutert von
Dr. M. Stengleln,
Reichsgerichts rat,
in Verbindung mit
Dr. H. Appellus, ^nd I^r. tt. Eleinfeller,
Staatsanwalt in Celle. Professor a. d. Universität Kiel.
1898. PreiB: des Hauptwerkdi IL 28,50, in eUg. HalbfraazbuLd M. 81, — , der Boeben enoldeiLeiLML
« Snppleme&thtfte I n&d U M. 2,50 beiw. K. 1,80.
II. Band:
Die Preussischen Strafgesetze.
Erläutert von
A. Orosehuff,
Senatspräsidenten beim Kammergericht,
Gt. Eichhorn, „„a ^^* B* Delias,
Kammergerichtsrat, Amtsrichter in Hamm.
Erscheint in 3 Uefenmgen und wird im Herbst 1894 bestimmt komplett vorliegen.
SnbikriptioiLfpreii dei Werket M. 16, — , kooluteiii X. 18, — .
Die Werke umfassen sämtliche Strafgesetze ausser dem Reichsstrafgesetzbnch und bilden eine not-
wendige Ergänzung zu diesem. Sie verfolgen den Zweck, die zahlreichen, noch in Kraft befindlichen,
zum grössten Teil noch gar nicht erläuterten strafrechtlichen Nebengesetze in ausführlicher Kommentierang
von berufensten Kräften, gleichmässiger Bearbeitung und Ausstattung zu vereinigen und somit dem Be-
dürfnisse der Juristen, Verwaltungs- und Polizeibeamten nach praktischen Hand- und Nachschlage-
büchern entgegenzukommen.
Die Werke zerfallen in mehrere Abteilungen. Band I enthält insgesamt 8o, Band II I02 Gese'zc.
Die einzelnen Abteilungen sind folgende:
Sand X. | Band H.
j. Gesetze zum Schutze des geistigen Eigentums. (7 Gesetze )
3. Gesetze über gewerbliche Vereinigungen. (3 Gesetze.)
3. Gesetze, das Verkehrswesen betreffend, (iz Gesetze.)
4. Gesetze über das Gesundheitswesen und die Lebens-
mittel. (7 Gesetze.)
5. Gesetze gegen Viehkrankheiten. (4 Gesetze.)
6. Gesetze, die militärischen Verhältnisse betr. (5 Gesetze.)
7. Gesetze allgemein polizeilichen Charakters. (6 Gesetze.)
X. Gesetze zum Schutze des Eigentums. (3 Gesetze.)
2. Gesetze zum Schutze des Staates und der ÖffentL Ordnung.
(17 Gesetze.)
3. Gesetze allgemein polizeilichen Charakters. (11 Gesetze.)
4. Polizeistrafgesetze : I. Baupolizei (5 Gesetze). U. Bergpolizei
(a Gesetze). IIL Feld- und Forstpolizei (9 Gesetze).
lY. Fischereipolizei (i Gesetz). V. Feuerpolizd (a Gesetze).
8. Gesetze, das Seewesen betreffend, (is Gesetze.) < VI. Gesindepolizei (7 Gesetze). VIL Gesundheitspolizei
9. Bestimmungen über den strafbaren Bankerutt ! (6 Gesetze). Vtll. Jagdpolizei (3 Gesetze). IX. Markt- u
10. Gewerbeordnung und die Arbeiterversicherungsgesetze. I Gewerbepolizei (6 Gesetze). X. Schulpolizei (6 Gesetze)
(9 Gesetze.) '^' «t " ... ,.r. '. ^w, ,« .5_„w_ri .— .
XI. Steuergesetze. (8 Gesetze.)
la. I. Supplement. (4 Gesetze.)
13. IL Supplement (9 Geseue.)
14. Sachregister.
XL Wasserpolizei (6 Geseue). XII. WegepoUzei (7 Geseue).
Steuergesetze, (xo Gesetze.)
Inhaltsverzeichnis.
Sachregister.
Jeder Band bildet ein in sich abgeschlossenes Ganzes nnd ist apart käuflich.
Ausführliche Prospekte gratis und franko.
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Buchhandlung für Rechts- und Staatswissenschaften.
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Strafrechtspflege und Socialpolitik.
Ein Beitrag zur Refonn der Strafgesetzgebimg,
auf Grund rechtsvergleichender und statistischer Erhebungen über die Polizeiaufsicht.
Von
Dr. Karl Fuhr,
Rechtsanwalt in Giessen.
1892. 860 Beiten nebst mohreran Tabellen. Preii IL 8, — .
Die Arbeit unternimmt es tum erstenmale, auf dem Wege der geschichtlichen rechtSTergleichenden Erforschung
eines Strafmittels eine theoretische Grundlage für die Reformbestrebungen der Gegenwart xu suchen und eine organische Ver-
bindung derselben mit der geschichtlichen Entwickelung des Strafrechts nachzuweisen; sie sucht nach neuen Gesichtspunkten
für das weitere Studium des Verbrechertums, sowie nach neuen Handhaben zu dessen erfolgreicher Bekämpfung und enthält
kritische Erörterungen und Reformvorschläge.
Die Tierquälerei
in der
Strafgesetzgebung des In- und Auslandes.
Historisch, dogmatisch und kritisch dargestellt,
nebst Vorschlägen zur Abänderung des Reichsrechts
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Professor an der Universität zu Strassburg.
1891. Preis M. 6,—.
Die Lehre von der Teilnahme
und die
Rechtsprechung des Deutschen Reichsgerichts.
Kritische Studien
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o. ö. Professor der Rechte an der Universität zu München.
1890. Preis M. 7,—.
Die Lehre von der Idealkonkurrenz.
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Die Pflicht des Arztes
zur
Bewahrung anvertrauter Geheimnisse.
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Dr. jur. J. Liebmann,
Rechtsanwalt
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Die Behandlung
der
verwahrlosten und verbrecherischen Jugend
und
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Dp. P. f. Aschrott,
Landrichter in Berlin.
Der Reinertrag ist zum Besten der Holtzendorff-Stiftang bestimmt.
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Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung
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Industrie- und B[andelsstä<iten.
Bericht
über den
am 8. und 9. Oktober 1893 vom Freien Deutschen Hochstift
zu Frankfurt am Main
veranstalteten sozialen Kongress.
1894. PreU M. 8,20.
Die Abend -Haushaltungsschule
in Frankfurt am Main,
als praktische Lösung einer sozialen Aufgabe.
Von
Dr. Otto Kamp,
städtischer Lehrer und Vorsitzender des Vereins für Haushaltungsschuleii in Frankfurt a. M.
1890. Preis M. 2,—.
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Der Civilprozess.
Systematisch bearbeitet
für die
ordentlichen Berichte des Preussisehen Staates und für das Reichsgericht
aaf Grund der
ReiohBgesetzgebiiBg und der Prenssisoheii Landesgesetzgebuiig,
sowie der
Vorschriften der Preussisehen Landefigustiz Verwaltung
von
Dr. V. Bintelen,
Geheimem Ober-Justic-Rat
189L Proii: broiehiert M. S2, — , gebunden M. 28,50.
Die „Zeitschrift für Deutschen Civilprozess** schreibt, dass der
„YeHasser eine Reihe von sehr schätzenswerten ZusammensteUungen über praktisch wichtige Materien
giebt, wie sie sich in gleicher Vollständigkeit und Übersichtlichkeit nirgends, namentlich anch
nicht in Kommentaren, finden''.
Der „Deutsche Reichsanzeiger" nennt Rintelens Bearbeitungen
„Handbücher im besten Sinne des Wortes. Sie enthalten alle Vorteile der grossen Kommentare;
in manchen Beziehungen verdient aber diese systematische Darstellung den Vorzug**.
Der Strafprozess.
Systematisch bearbeitet
von
Dr. V. Bintelen,
Geheimem Ober-Jasdz-Rat.
1891. Preis: brosehiert X. 18,50, gebunden X. 18,80.
„Der Zweck des Buches, dem Richter und Rechtsanwalt als Handbuch, dem in die
Praxis eintretenden jungen Juristen als Lehrbuch zu dienen, darf als vollkommen erreicht an-
gesehen werden," Zeitschrift für internationales Privat- und Strafrecht.
Das Konkursrecht
nebst Anhang,
betreffend
die Anfechtung von Rechtshandlnngen eines Schnldners ausserhalb des Eonkursverfahrens,
systexnatiseh bearbeitet
fUr den Preussisehen Staat auf Grund der Reichsgesetzgebung und der Preussisehen Landesgesetzgebung
von
Dr. V. Bintelen,
Geheimem Ober-Jastiz-Rat
1800. Preii: broiebiert X. 5, — , gebunden X. 5,80.
Das „Litterarische Centralblatt" schreibt, dass sich die Rintelenschen Werke als „vortreffliche
Hilfsbücher für die Praxis erweisen. Ihr Hanptwert, welcher sie vor allen anderen umfassen-
den Darstellungen auszeichnet, besteht in übersichtlichen Zusammenstellungen eines oft weit
zerstreuten Gesetzesmaterials".
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Das Gefangenen-Transportwesen.
Zum praktischen Gebrauch
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Gerichte, Staatsanwaltsch&ften, fleOnipiisbeamte, Landratsimter, PoUnirerwaltiiiigeii,
imtSYonteher etc.
zusammengestellt von
C. Eurtz,
Amtsgerichtsrat
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Hilfsbuch
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SMollzags-, Rechtslfe- und iasliefenmgs-ingelegenlieiteD.
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die Vorschriften über Strafregisterführung, Zählkartenstatistik,
Mitteilungen und Ersuchen in Strafsachen,
nebst sämtlichen
AnsliefenuigSTertrftgeii)
ergänzt durch Gesetze, Verordnungen, ministerioUe Erlasse, den Verzeichnissen der Gerichtsbehörden Ostenreich -Ungarns,
Russlands und der Schweiz, der Konsulate etc.
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Die Kranken-, UnfaO-, InYaliditäts- nnd ilters-Yerslchernn^esetze
in Einzelausgaben
erläutert unter Berücksichtigung der Materialien und der Rechtsprechung.
Hebst Anhängen,
enthaltend alle wichtigeren bezüglichen Gesetze, Verordnangen und Erlasse.
Aas dieser Sammlnng yon Einzelkommentaren , welche die gesamte Gesetzgebung des Deutschen
Reiches auf dem bezeichneten Gebiete nm£usen wird, sind bisher erschienen:
Erster Band:
Krankenversicherung^sgesetz
in der Fassung vom 10. April 1892
und
Oesetz tlber die eingeschriebenen SLtllf^kassen vom 1. Juni 1884.
Kebst einem Anhange,
enthaltend die Normal-Statuten nnd alle wichtigeren bezüglichen Gesetze, Verordnungen und Erlasse.
Von
Dr. jur. Oteorg Eger,
Regierung« rat
Zweite TeniLehrte Anflmge. 1898. Preia kartenniert M. 8,50.
Zweiter Band:
Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz
vom 22. Juni 1889
mit dem A.banderungsge@etz vom 8. Juni 1891.
Nebst einem Anhange,
enthaltend alle wichtigfren bezüglichen Verordnungen, Vorschriften und Bekanntmachungen.
Von
Dr. jur. Georg Eger,
Regierungsrat.
Zweite yermehrte Auflage. 1898. Preis kartomdert K. 8,50.
Gewerbeordnung für das Deutsche Reich
in ihrer gegenwärtigen Gtestaltung,
nebst den
für das Reich und für Preussen erlassenen Ausführungsbestimmungen und einem Anhange,
enthaltend die wichtigsten bezüglichen Gesetze und Verordnungen.
Erläutert von
Dr. H. Appelius,
Staatsanwalt.
1898. Flreif elegant geboadeii X. 7, — .
Die Erläuterungen dieses Kommentars, welcher noch sämtliche im Jahre 1893 hervorgerufenen Ab-
änderungen und Bekanntmachungen enthält, erstrecken sich auch auf solche Paragraphen, über welche
Entscheidungen noch nicht ergangen sind.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, sowie direkt vom Vertage (Abteilung Sortiment).
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Die Reichs -Wuchergesetze
vom 24. Mai 1880 und 19. Juni 1893.
Eiiäntert von
Dr. J. Meisner,
Oberlandesgericbtsrat ia Posen.
1894. FnU M. 1,60.
Die Reichsgesetze
zum Schutz des geistigen Eigentums.
Erläutert von
Dr. M . Stenglein, «nd Dr. H. Appelius,
ReichsgerichtsraL Staatsanwaüt.
1898. Prell broieh. X. 5, — , ele^. gebnndMi M. 5,80.
Die
Post-, Bahn- und Telegraphengesetzgebung
des Deutschen Beiches.
Erläutert von
«
Dr. M. Stenglein,
Reichsgerichurat
1898. Preif M. 3,50.
AVider die Beriafims:.
Ein Mahnwort zur
Novelle der Stra^rozessordniong
von
Dr. M. Stenglein,
ReichsgerichUrat.
1894. Frei! IL —,80.
Zu baziehen durch alle Buchhandlungen des bi- und Auslandes, sowie direkt vom Verlage (Abteilung Sortfaiient)i
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Buchhandlung für Rechts- und Staatswissenschaften.
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Das Preussisclie illgemeine Landrecht
und der
Entwurf des Deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs.
Vergleichende kritische Bemerkungen
von
Dr. J. Meisner,
Oberlandesgerichtsrac in Posen.
1890. PreU X. 8,50.
Das
Recht der Ehescheidung in Deutschland.
Von
Dr. jur. Eduard Hubrich.
Mit einem Vorwort
von
Dr. jur; Philipp Zorn,
o. ö. Professor an der Universität Königsberg.
1891. PreU M. 8,—.
Die Sonderrechte der Aktionäre.
Von
Dr. jur. Edmund Alezander,
Rechtsanwalt.
1898. Preii M. 4,50.
Quellen
zur
Deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte.
Zusammengestellt und mit Anmerkungen versehen
von . .
Dr. H. O. Lehmann,
o. ö. Professor der Rechte an der Universität zu Marburg.
189L Preis broteliiert M. 8,—, gebunden X. 9,80.
Die Sammlung nmfasst die deutsche Geschichte von den ältesten Zeiten bis zur Gründung
des norddeutschen Bundes; mit Stellen aus Cäsar beginnt und mit dem Entwurf zur norddeutschen Bundes-
verfassung schliesst sie.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In* und Auitamdesi sowie direkt vom Verbge (Abteihing Softiment).
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Das Reichsgesetz,
betreffend die
Gesellschaften mit beschränkter Haftung
vom 20. April 1892.
Mit einer Einleitung über die Entstehungsgeschichte des Gesetzes
und die Charakteristik der neuen GeseUschaftsform.
Erläutert too
Th. Hergenhahüy
Oberlandesgerichtsrat a. I>.
Zweite, oATeriaderte Auflafr*- U98. Preis gebuiden M. 8,—.
Das Reiclisgesetz,
betreffend die
Kommandit-Gesellschaften auf Aktien und die Ütien-Geseüschaflen
vom 18. Juli 1884.
Mit einer Einleitung über die Entwickelung des Aktienrechts und die
Ergebnisse des Gesetzes.
Erläutert Ton
Th. Hergrenbahn,
Oberlandesgericbtsrat a. D.
1891. Freie gebunden M. 8,50.
Alte und neue Formen
der
Handelsgesellschaft.
Vortrag in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin
gehalten den 18. März 1892
▼on
Dr. li. Goldschmidt,
Geheimer Justizrat und ordendicher Professor der Recbtswissenscbaft
an der Universität Berlin.
1892. PreiiM.1,^.
^Welche Recht© hat die
Minderheit der Aktionäre
gegenüber der Gesellschaft?
Von
Dr. Jur. Jul. Liubszynski«
1898. Freie M. 1,50.
Zu beziehen durch aHe Buchhandlungen des bi- und Auslandes, sowie direkt vom Veriage (Abteilung Sortiment)i
LiTTEBABISOHEB ÄNZEiaEB. X.
Otto Liebmann, Verlagsbuchhandlung,
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Das
Kassen- und EtatsT;iresen
bei den
prenssischen Justizbehörden.
Nebst Bämtliohen Formularen und Anhängen.
Nach dem amtlichen Text der bis auf die Gegenwart ergangenen ministeriellen VerfÜgangen
erläutert von
C. Kurtz,
Amtsgerichtsrat, aursichtfiihrender Richter nnd Kassenkurator.
SSweite, umffearbtiUtB und t«c«enllleJk erwtUerU Auflage,
IxiUalt:
[. Instruktion für die Verwaltung der Kassen.
IL Instruktion für die Verwaltung der Etatsfonds.
IJL Verwaltungszwangsverfahren.
IV. Gebühren .und Registerfuhrung der GerichtsvolUieher.
V. Revisionswesen.
VI. Kanzlei-Reglement.
1894. Kartonniert K. 5,50.
lieber die rechtliche Natur
der
Grundstückszusammenlegung
und die
Fortf&hmng der Grund- und Hypothekenbficher
im Falle einer Zusaixiinenlesazie der Ghrundatacke.
Von
Gustav Diez,
Amtsrichter in Pössneck.
1893. Preif M. 1,50.
Das
Verfahren in Zwangsverwaltungssachen
und die
Geschäftsführung der Verwalter.
T^aoh dem Preiiissisolien Oesetze vom 13. Juli 1883
und
dar Allffemainea VerAgnng vom 7. Hin 1892,
betr. die Geschäftsführung der Verwalter in diesem Verfahren und die denselben zu gewährende Vergütung,
nebst den dazugehörigen Formularen, prakt. Beispielen, Prozent- und Gerichtskostentabellen etc.
zusammengestellt und mit Anmerkungen versehen
für Amtsrichter, Gerichtsschreiber, Gerichtsvollzieher, Zwangsverwalter,
Administrationsinspektoren, beteiligte Behörden etc.
von
C. Kurtz,
Amtsgerichtsrat
1892. Kartonniert M. 1,30.
Die Pfändung
bei Personen^ welche Landwirtschaft betreiben.
Zugleich ein Beitrag zur allgemeinen Lehre von den Pfandungsbeschränkungen.
Von
E. Burlage,
Amtsrichter.
1893. Prell X. 2,20
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, sowie direkt vom Vertage (Abteilung Sortiment).
XII
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Die
Widersetzong gegen die Staatsgewalt
(8 HS E.' St. (/. B.) *
Von
Dr. O. von Sirelt.
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Theorie
der
Verbrechenskonkurrenz.
Von
Br. Friedrleh l¥aelienfeld,
Privatdozent an der UniTerait&t Marburg.
Preis M. 8, bei postfireier ZuBendung M. 3,20.
Die Rechtsverfolgung
im
Internationalen Verkehr.
Darstellung
der Justisorgani«ation, des CivilproaeMrechts, des Konkursrechts, der Erbscbaftsregulierun^
und der Konsulargerichtsbarkeit
in den europäischen und aussereuropäischen Staaten.
Unter Mitwirknng Ton Beebtegelehrten heranag^geben von
Dr. Franz I^eiike, und Dr. !¥• liOewenfeld,
Landricbter bei dem Königl. Landgeriebt I in Berlin. Beobteanwalt bei dem Königl. Landgeriebt 1 in Berlin
nnd Notar.
Bisher erschaeoAn die L und S. lieferung des I. Bandes. Preis je M. 4, bei postfrcier Zusendung M. 4,80.
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