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Full text of "Die strafgesetzgebung, der gegenwart in rechtsvergleichender darstellung"

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DIE  8TRAFGESETZGEBÜNG  DER  GEGENWART. 


DIE 


STßAFGESETZGEBÜNG 


DER 


GEGENWART 


IN 


RECHTSVERGLEICHENDER  DARSTELLUNG. 


HEßAUSGEGEBEN 


VON    DKR 


INTERNATIONALEN  KRIMINALISTISCHEN  VEREINIGUNG. 


I.  BAND: 


DAS  STßAFRECHT  DER  STAATEN  EUROPAS. 


BERLIN  1894. 
VERLAG   VON   OTTO   LIEBMANN, 

BUCHHANDLUNG    FÜR   RECHTS-    UND    STAATSWISSENSCHAFTEN. 

W.    LÜTZOWSTRASSE    27. 


Hs->i;e.rv^o^\ov\«a.le-    Kv'i  vy^.  v»al«  sV-'v^c-Vie      VÄre\T\\au.-AOi 


C 


DAS  STEAFEECHT 


DEB 


STAATEN  EUROPAS. 


IM  AÜFTEAGE 

DER 

INTERNATIONALEN  KRIMINALISTISCHEN  VEREINIGUNG 

UNTER    MIT-^VIRICUK-Gf   'VON 

B.  Alimena,  Neapel  —  L.  W.  C.  van  den  Berg,  Delpt  —  V.  Berg,  Luxemburg  — 
G.  Grüben,  Hannover  —  K.  Dickel,  Berlin  —  I.  Foinitzki,  Petersburg  —  J.  Forsmann, 
Helbingfors  —  S,  Gabuzzi,  Bellinzona  —  A.  Gautier,  Genf  —  B.  Gbtz,  Kristiania  — 
G.  A.  VAN  Hamel,  Amsterdam  —  K.  Hiller,  Czernowitz  —  Josefo witsch,  Belgrad  — 
K.  A.  Kypriadbs,  Athen  —  P.  Th.  Missm,  Jassy  —  E.  Olrik,  Kopenhagen  —  A.  Prinb, 
Brüssel  —  A.  Kiviäre,  Paris  —  E.  Bosenfeld,  Halle  —  Sawas  Pascha,  Aix-en-Provenoe 
—  M.  St.  Schischmanov,  Sofia  —  E.  Schuster,  London  —  H.  Seuffert,  Bonn  — 
J.  J.  Tavares  de  Mbdeiros,  Lissabon  —  A.  Teichmann,  Basel  —  E.  Turrel,  Monaco  — 
W.  Uppström,  Stockholm  —  M.  Wesnitsch,  Bblgrad  —  J.  v.  Wlasbios,  Budapest 

HEBAÜSGEGEBEN 

vow 

Dr.  FRANZ  VON  LISZT, 

O.  ö.  PROFESSOR  DER  RBCnTE  AN  DER  DKIVERSTTAT  HALLS. 


4» 
BERLIN  1894. 

VERLAG   VON   OTTO   LIEBMANN. 

BUCHHANDLUNG   FÜR    RECHTS-    UND    STAATSWISSENSCHAFTEN. 

W.    LÜTZOWSTRASSE    27. 


"^ 


Die  Verlagsbuchbandluug  behält  sich   das  Übersetzungsrecht  und  alle  anderen  Rechte  auf  das 

ganze  Werk,  wie  auf  einzelne  Teile  desselben,  ausdrücklich  vor. 


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VERZEICHNIS  DER  MITARBEITER 


DBB 

ERSTEN  BANDES 


A  LIM  ENA,  Dr.  Bern.,  0.  6.  Professor  an  der  Universität  Neapel. 

Berg,  Dr.  L.  W.  C.  van  den,  Professor  des  mohamedanischen  Rechts,  Delft. 

Berg,  Viktor,  Advokat,  Luxemburg. 

Grusen,  Dr.  Georg,  Hannover. 

Dickel,  Dr.  K.,  Amtsrichterund  Lehrer  an  der  Forstakademie  in  Eberswalde,  Berlin 

FoiNiTZKi,  Dr.  I WAN,  Generaladvokat  am  Kassationssenat,  o.  ö.  Professor  a.  d.  Universität 

St.  Petersburg. 
Forsmann,  Dr.  Jaakko,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Helsingfors. 
Gabuzzi,  Stefano,  Advokat,  Bellinzona. 
Gautier,  Dr.  A.,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Genf. 
Getz,  Dr.  B.,  Oberreichsanwalt,  Kristiania. 

Hamel,  Dr.  G.  A.  van,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Amsterdam. 
Hiller,  Dr.  K.,  Regierungsrat,  o.  0.  Professor  an  der  Universität  Czemowitz. 
Josefowitsch,  Dr.,  Belgrad. 
Kypriades,  Dr.  Konst.  A.,  Advokat,  Athen. 

Liszt,  Dr.  Franz,  o.  ö.  Professor  der  Rechte  an  der  Universität  Halle  a.  S. 
MissiR,  P.  Th.,  Professor  an  der  Universität  Jassy. 
Olrik,  Eyvind,  Kopenhagen. 

Prins,  Ad.,  Generalinspektor  der  Gefängnisse,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Brüssel. 
Rivii:RE,  Albert,  ehem. Richter,  I.  Schriftfahrer  der  „Sooiete  generale  des  prisons**,  Paris. 
Rosenfeld,  Dr.  Ernst,  Halle  a.  S. 

Sa  WAS  Pascha,  ehem.  türkischer  Staatsminister,  Aix-en -Provence. 
Schischmanov,  Dr.  M.  St.  ,  Richter  am  obersten  Kassationshof,  Sofia. 
Schuster,  Dr.  Ernst,  Barrister-at-Law,  London. 
Seuffert,  Dr.  H.,  Geh.  Justizrat,  o.  0.  Professor  an  der  Universität  Bonn. 
Tavarer  de  Medeiros,  J.  J.,  Advokat,  Lissabon. 
Teichmann,  Dr.  A.,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Basel. 
TuRREL,  Edmond,  Staatsrat  und  Generaladvokat,  Monaco. 
Up P STRÖM,  Dr.  WiLH.,  Häradshöfding,  Stockholm. 
Wesnitsch,  Dr.  Milenko  J.,  Belgrad. 
Wlassics,  Dr.  Jul.  von,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Budapest. 


INHALTSVERZEICHNIS. 

(Die  genauen  Inhaltsübersichten  sind  der  Darstellung  der  einzelnen  L&nder  vorangestellt) 


Seit« 

ZUR  EINFÜHRUNG.    Rückblick  und  Zukunftspläne.    Von  Prof.  Dr.  Feanz  von 

LiszT,  Halle XIII 

I.  DEUTSCHES  REICH.  Von  Geh.  Justizrat  Prof.  Dr.  Hermann  Seüffekt,  Bonn  1 

I.  Die  Grundlagen  der  deutschen  Strafgesetzgebung  ( S.  3).  II.  Herstellung  und 
Umbildung  des  StGB.  (S.  9).  III.  Der  Inhalt  des  StGB.  (S.  16).  IV.  Die  Spezial- 
gesetzgebung  des  deutschen  Reiches  (S.  30).  V.  Das  besondere  Strafrecht  der 
Beamten  und  die  Disziplinarstrafgewalt  (S.  66).  VI.  Das  Militärstrafrecht  (S.  69). 
VII.  Die  Landesstrafgesetzgebung  (S.  84).  Anhang:  Litteratur  und  Praxis 
(S.  109). 

n.  ÖSTERREICH-UNGARN 113 

1.  Österreich.   Von  Regierungsrat  Prof.  Dr.  Karl  Hiller,  Czemowitz.     115 
I.  Die  geschichtlichen  Grundlagen  des  österreichischen  Strafrechts  (S.  115). 

n.  Die  gesetzlichen  Grundlagen  des  geltenden  Rechts  (S.  127).  III.  Das  Straf- 
gesetz für  Bosnien  und  Herzegowina  (S.  152).  IV.  Die  übrigen  Gesetze  straf- 
rechtlichen Inhaltes  (S.  153).  V.  Litteratur  des  Österreichischen  Strafrechts 
(S.  156).  VI.  Die  Reform  der  Strafgesetzgebung  und  die  Entwürfe  seit  1861 
(S.  158). 

2.  Ungarn.    Von  Prof.  Dr.  Julius  v.  Wlassics,  Budapest     ....     162 
I.  Die  kodifikatorischen  Bestrebungen  (S.  162).  II.  Das  geltende  Recht  (S.  168). 

ni.  Strafrechtliche  Sondergesetze  (S.  176).  IV.  Litteratur,  Sammlungen  von 
Gesetzen  und  Entscheidungen  (S.  182).  V.  Das  Strafrecht  von  Kroatien- 
Slavonien  (S.  184). 

lU.  DIE  NIEDERLANDE.    Von  Prof.  Dr.  G.  A.  van  Hamel,  Amsterdam.    (Über- 
setzung von  Dr.  Georg  Grusen,  Hannover)  187 

I.  Das  Mutterland  (S.  189).    II.  Das  Strafrecht  der  Kolonieen  (S.  202). 

IV.  DIE  SKANDINAVISCHEN  LÄNDER 205 

1.  Dänemark.    Von  Eyvind  Olrik,   Kopenhagen.    (Übersetzmig  von 

Dr.  Ernst  Rosenfeld,  Halle  a.  S.) 207 

I.  Das  Mutterland  (S.  207).  11.  Nebenländer  und  Kolonieen  (S.  224).  III.  Lil^ 
teratur,  Rechtsprechung,  Gesetzsammlungen  (S.  225). 

2.  Norwegen.    Von  Oberreichsanwalt  Dr.  B.  Getz,  Kristiania      .     .     .     227 
I.  Allgemeiner  Teü  (S.  227).    11.  Besonderer  Teil  (S.  232). 

3.  Schweden.    Von  Häradshöfding  Dr.  Wilh.  Uppström,  Stockholm     .     244 
I.  Quellen,    Gesetzes-Texte.     Litteratur  (S.  244).      II.    Geschichtliche  Vor- 
bemerkungen (S.  245).    III.  Die  geltende  Gesetzgebung  (S.  247).    IV.  Die  all- 
gemeinen strafrechtlichen  Bestimmungen  (S.  252). 


Inhaltsverzeichnis.  VII 


Seito 

V.  DER  RUSSISCHE  STAAT 267 

1.  Das  russische  Kaisertum.    Vom  Generaladvokat  Prof.  Dr.  Iwan 
FoiNiTZKi,  St.  Petersburg 269 

I.  Geschichtlicher  Überblick  des  russischen  Strafrechts  (S.  269).  II.  Das  gel- 
tende russische  Strafrecht  (S.  281). 

2.  Das  Grossfürstentum  Finnland.    Von  Prof.  Dr.  Jaakko  FoBS- 
MANN,  Helsingfors 313 

I.  Einleitung  (S.  313).  II.  Das  StGB.  v.  1889  (S.  316).  III.  Die  strafrecht- 
lichen Bestimmungen  ausserhalb  des  StGB.  fS.  326).  IV.  Rechtsprechung (S.  328). 

VI.  DIE  BALKANSTAATEN 329 

1.  Bulgarien.  Von  Richter  Dr.  M.  St.  Schischmanov,  Sofia  ....     331 

2.  Griechenland.  Von  Advokat  Dr.  Konstantin  A.  Ktpbiades,  Athen     336 

3.  Montenegro.   Von  Amtsrichter  Dr.  Kael  Dickel,  Berlin  ....     339 

4.  Rumänien.  Von  Prof.  P.TH.Mi88iK,Jas8y.  (Übersetzung  von  Dr.  Georg 
Cbusen,  Hannover) 343 

5.  Serbien.    Von  Dr.  Milenko  J.  Wesnitsch  und  Dr.  Josefowitsch, 
Belgrad 352 

VII.  DIE  SCHWEIZ 359 

1.  Die  deutsche  Schweiz  (einschliesslich  der  Bundesgesetzgebung)  von 
Prof.  Dr.  A.  Teichmann,  Basel 361 

I.  Einleitung.  Quellen  und  Litteratur  (S.  361).  U.  Erste  Abteilung.  Eidgenössi- 
sches (Bundes-)  Strafrecht  (S.  368).  III.  Zweite  Abteilung  (S.  392). 

2.  Die  französische  Schweiz.  Von  Prof.  Dr.  A.  Gaütieb,  Genf.  (Über- 
setzung von  Dr.  Geobg  Cbusen,  Hannover) 401 

(Kantone  Waadt,  Wallis,  Freiburg,  Genf,  Neuenburg.) 
I.  Die  Quellen  (S.  401).    II.  Die  Grundzüge  der  StR.  der  französischen  Schweiz 
(S.  412). 

3.  Kanton  Tessin.  Von  Advokat  Stefano  Gabuzzi,  Bellinzona.  (Über- 
setzung von  Dr.  Geobg  Cbusen,  Hannover) 421 

I.  Einleitung  (S.  421).  IL  Der  allgemeine  Teil  des  StGB.  (S.  423).  III.  Die 
einzelnen  strafbaren  Handlungen  und  ihre  Bestrafung  (S.  431).  IV.  Strafrecht- 
liche Nebengesetze  (S.  431). 

Vm.  PRANKREICH  —  BELGIEN  —  LUXEMBURG  —  MONACO    ....     433 

1.  Frankreich.  Von  AlbebtRivtIibe,  ehem. Richter,  Paris.  (Übersetzung 

von  Dr.  Geobg  Cbusen,  Hannover) 435 

I.  Die  allgemeinen  Grundsätze  des  Strafrechts  (S.  435).  H.  Der  besondere  Teil 
des  Strafrechts  (S.453).  IIL  Das  Strafrecht  der  französischen  Kolonieen  (S.460). 

2.  Belgien.   Von  Generalinspektor  Prof.  Adolf  Pbins,  Brüssel.    (Über- 
setzung von  Dr.  Geobg  Cbusen,  Hannover) 461 

I.  Der  Code  penal  (S.  461).  IL  Die  übrigen  Gesetze  strafrechtlichen  Inhalts. 
(S.  466). 

3.  Luxemburg.   Von  Advokat  Viktob  Bebg,  Luxemburg.  (Übersetzung 

von  Dr.  Geobg  Cbusen,  Hannover) 472 

4.  Monaco.    Von  Dr.  Geobg  Cbusen,  Hannover  und  Generaladvokat 
Staatsrat  Edmond  Tübbel,  Monaco 475 


VIII  Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

IX.  DIE  IBEEISCHE  HALBINSEL 481 

1.  Spanien.  Von  Dr.  Ebnst  Rosenfeld,  Halle  a.  S 483 

I.  Bie  geschichtliche  Entwicklung  des  spanischen  StE.  (S.  483).  ü.  Das  geltende 
spanische  StGB.  (S.  502).  HI.  Das  Spezialstrafrecht(S.  526).  IV.  Das  Militär- 
strafrecht (S.  531).  V.  Das  Stß.  der  Kolonieen  (S.  533). 

2.  Portugal.  VonAdvokat  J.J.Ta vares  de  Medeiros,  Lissabon.  (Über- 
setzung von  Dr.  Geoeg  Cbusen,  Hannover) 535 

I.  Ursprung  und  geschichtliche  Entwicklung  des  portugiesischen  StR.  (S.  535). 
n.  Litteratur-übersicht(S.  537).  HI.DasStGB. vom  16.  September  1886 (S.  538). 

X.  DIE  ITALIENISCHE  HALBINSEL.     Von  Prof.  Dr.  Bernardino  Alimena, 

Neapel.  (Übersetzung  von  Dr.  Georg  Grusen,  Hannover) 579 

1.  Italien  nebst  Kolonieen 581 

L  Einleitung  (S.  581).  II.  Das  heute  geltende  Recht  (S.  588).  IIL  Das  StR.  der 
Kolonieen  (S.  603).  IV.  Litteratur-Übersicht  (S.  603) 

2.  San  Marino 606 

XI.  GROSSBRITANNIEN.  Von  Barrister-at-Law  Dr.  Ernst  Schuster,  London    .     609 

1.  England  und  Irland 611 

L  Einleitung  (S.  611).  IL  Allgemeiner  Teil  (S.  622).  IIL  Besonderer  Teil  (S.  636). 

2.  Schottland 676 

I.  Einleitung  (S.  676).     IL  Allgemeiner  Teil  (S.  679).     IIL  Besonderer  Teil 
(S.  683).    Nachträge  (S.  690). 

XII.  DIE  TÜRKEI 691 

1.  Die  islamitischen  Gerichte  und  die  türkische  Gerichts- 
verfassung. Von  Savvas  Pascha,  ehem.  Staatsminister,  Aix-en- 
Provence.     (Übersetzung  von  Dr.  Georg  Grusen,  Hannover)  .     .     .     693 

I.  Einleitung  (S.  693).  IL  Geschichte  der  islamitischen  Gerichtsverfassung 
(S.  694).    in.  Die  heutige  Organisation  der  Gerichte  (S.  701). 

2.  Das  Strafrecht  der  Türkei.  Von  Prof.  Dr.  L.  W.  C  van  den  Berg, 
Delft.   (Übersetzung  von  Dr.  Georg  Grusen,  Hannover)      ....     710 

I.  Die  geschichtliche  Entwicklung  des  türkischen  StR.  (S.  710).  IL  Das  tür- 
kische StR.  seit  1858  (S.  723).    HI.  Das  StR.  des  Vizekönigreiches  Ägypten 

(S.  735). 


ZUR  EINFÜHRUNG. 


RÜCKBLICK  UND  ZÜKÜNFT8PLÄNB. 


Von 


Dr.  FRANZ  VON  LISZT, 

0.  Ö.  PROFESSOR  DER  RECHTE  AN  DER  UNIVERSITÄT  HALLE 


I. 

Im  zweiten  Jahre  ihres  Bestehens,  auf  der  Versammlung  zu  Bern  im 
Jahre  1890,  hat  die  Internationale  kriminalistische  Vereinigung  auf  Antrag 
des  Schreibers  dieser  Zeilen  den  Beschluss  gefasst,  eine  rechtsvergleichende 
Darstellung  des  heute  in  Europa  geltenden  Strafrechts  in  Angriff  zu 
nehmen.  Ein  engerer  Ansschuss,  bestehend  aus  den  Herren  van  Hamel, 
y.  Liszt,  Prins,  als  Mitgliedern  des  leitenden  Ausschusses,  sowie  weiter  den 
Herren  Gauckler,  Lammasch  und  Stooss,  erhielt  den  Auftrag,  den  Plan 
des  Unternehmens  genauer  festzustellen  und  für  die  Sicherung  der  finanziellen 
Grundlagen  seiner  Durchführung  zu  sorgen. 

Die  Anregung  zu  diesem  Antrage  hatte  ein  wertvolles  Geschenk  gegeben, 
das  der  eidgenössische  Bundesrat  am  14.  August  1890  den  auswärtigen  Teil- 
nehmern an  unserer  Versammlung  überreichen  zu  lassen  die  Aufmerksamkeit 
hatte.  Es  war  das  eben  erschienene  Buch  des  Bemer  Rechtslehrers  Karl 
Stooss:  „Die  schweizerischen  Strafgesetzbücher  zur  Vergleichung  zusammen- 
gestellt und  im  Auftrage  des  Bundesrates  herausgegeben^^  (n^es  codes  pens^x 
suisses.  Ranges  par  ordre  de  matiöres  et  publi6s  k  la  demande  du  conseil 
f^deral.^)  Meinen  Lesern  brauche  ich  die  eigenartige  Bedeutung  dieses  von 
uns  allen  freudig  begrüssten  Werkes  nicht  auseinanderzusetzen.  Sie  wissen 
alle,  dass  Stooss  vom  Bundesrate  den  Auftrag  erhalten  hatte,  die  Vorarbeiten 
für  ein  einheitliches  eidgenössisches  Strafgesetzbuch  zu  beginnen  und  thunlichst 
zu  fördern;  sie  wissen  alle,  dass  Stooss  mit  der  ihm  eigenen  ruhigen  Entr 
schlossenheit  an  die  grosse  Aufgabe  herangetreten  ist  und  die  Vorarbeiten  zu 
glücklichem  Ende  geführt  hat.  Das  Ergebnis  der  ebenso  umfassenden  wie 
tiefgehenden  Untersuchungen  von  Stooss  liegt  heute  in  zwei  weiteren  Bänden 
vor,  die  den  Titel  führen:  „Grundzüge  des  schweizerischen  Strafrechts",  und 
von  denen  der  erste  1892,  der  zweite  1893  erschienen  ist.  Sofort  hat  auch 
die  Ausarbeitung  des  Entwurfes  selbst  begonnen,  die,  wieder  in  die  bewährten 
Hände  unseres  Berner  Freundes  und  Kollegen  gelegt,  rüstig  vorwärts  schreitet. 
Vor  wenigen  Monaten  ist  der  Vorentwurf  des  allgemeinen  Teiles  eines  schwei- 
zerischen  Strafgesetzbuchs  deutsch  und  französisch  der  Öffentlichkeit  übergeben 
worden.  Und  während  ich  diese  Zeilen  schreibe,  erhalte  ich  den  Bericht  über 
die  Verhandlungen  der  Expertenkommission,  die  das  eidgenössische  Justiz- 
departement im  September  und  Oktober  1893  zusammenberufen  hatte. 

Es  wird  zweckmässig  sein,   den  Arbeitsplan  klar  zu  legen,  den  Stooss 
entworfen  und  durchgeführt  hat.    Denn  von  diesem  Arbeitsplan  sind  wir  aus- 


XII  V.  Liszt. 

gegangen,  als  wir,  im  Schosse  des  Redaktionsaasschusses,  über  die  Erfüllung 
der  uns  gestellten  Aufgabe  zu  beraten  uns  anschickten. 

Die  Vorarbeiten  zu  dem  Entwurf  eines  eidgenössischen  Strafgesetzbuchs 
sollten  nach  Ansicht  von  Stooss  ein  doppeltes  umfassen.  Es  handelte  sich 
erstens  dai'um,  das  kantonale  Strafrecht  selbst,  also  wenn  ich  so  sagen  darf 
das  Urmaterial  für  das  zu  schaffende  einheitliche  Strafgesetzbuch,  allgemein 
zugänglich  zu  machen.  Und  zweitens  sollte  nachgewiesen  werden,  welches 
die  übereinstimmenden,  welches  die  auseinandertretenden  Grundgedanken  des 
vielgestaltigen  Eechts  der  einzelnen  Kantone  seien.  Erst  auf  dieser  breiten 
und  sicheren  Grundlage  sollte  der  stolze  Bau  eines  Strafgesetzbuchs  für  die 
schweizerische  Eidgenossenschaft  errichtet  werden. 

Es  leuchtet  wohl  ein  —  und  das  war  für  Stellung  und  Annahme  meines 
Antrages  massgebend  —  dass  die  umfangreichen  „Vorarbeiten",  auch  abgesehen 
von  dem  weiteren  Ziele,  dem  zu  dienen  sie  berufen  waren,  eine  durchaus 
selbständige  und  kaum  hoch  genug  zu  veranschlagende  Bedeutung  bean- 
spruchen dürfen.  Ein  reiches,  zerstreutes,  kaum  Einem  von  uns  zugängliches 
Material  ist  übersichtlich  und  bequem  zusammengestellt.  Und  in  die  toten 
Buchstaben  des  Gesetzes  ist  Leben  und  Bewegung  gebracht;  die  treibenden 
Kräfte  sind  uns  klar  gelegt,  Verwandtschaften  ergeben  sich,  wo  wir  sie  nicht 
gesucht  hätten,  selbständige  Entwicklung  tritt  uns  entgegen,  wo  wir,  wegen 
gemeinsamer  Wurzel,  gleichförmige  Ausbildung  erwarteten.  Wer  je  in  früheren 
Jahren  vergebliche  Mühe  darauf  verwandt  hat,  Auskunft  über  die  Behand- 
lung irgend  einer  strafrechtlichen  Frage  in  dem  Rechte  der  Schweizer  Kan- 
tone zu  erhalten,  der  —  aber  auch  nur  der  —  wird  die  wissenschaftliche 
Bedeutung  der  Thatsache  völlig  zu  würdigen  wissen,  dass  er  nunmehr  in  den 
drei  Bänden  der  Stooss'schen  „Vorarbeiten"  die  Lösung  jedes  Zweifels  in 
wenigen  Augenblicken  findet. 

Hier  setzt  unser  Beschluss  vom  14.  August  1890  ein.  Konnte  es  für  die 
jugendkräftige  und  arbeitsfrohe  Internationale  kriminalistische  Vereinigung  eine 
schönere  und  grössere  Aufgabe  geben,  als  für  das  Recht  aller  Länder  Europas 
zu  versuchen,  was  Stooss  für  die  Kantone  der  Schweiz  unternommen  und  zu 
jener  Zeit  in  dem  schwierigeren  Teile  bereits  gelöst  hatte?  Stand  auch  für 
uns  als  weiteres  Ziel  nicht  die  Ausarbeitung  eines  europäischen  Strafgesetz- 
buchs in  Frage  (dass  dieser  Gedanke  nicht  gar  so  Utopist isch  ist,  als  es  auf 
den  ersten  Blick  scheinen  möchte,  hoffe  ich  noch  zeigen  zu  können),  so  musste 
doch  eine  „Rechtsvergleichende  Darstellung  des  in  Europa  geltenden  Strafrechts" 
an  sich  von  unschätzbarem  Werte  für  jeden  sein,  in  dessen  Arbeitsgebiet  das 
Strafr^cht  fällt:  nicht  nur  für  den  Gesetzgeber,  der  seinem  Volke  ein  neues 
nationales  Strafgesetzbuch  zu  geben  berufen  ist  und  der  dabei  die  in  anderen 
Ländern  gemachten  Fortschritte  und  Erfahrungen  vollständig  benutzen  möchte; 
nicht  nur  für  den  Gelehrten,  der  rechtsvergleichende  Studien  um  ihrer  selbst 
willen  treibt  und  zu  wissenschaftlicher  Methode  sich  durchzuringen  strebt; 
sondern  auch  für  den  Richter,  den  Staatsanwalt,  den  Verteidiger,  denen 
die    häufig    auftauchenden   Fragen    nach    ausländischem   Strafrecht    schlimme 


Zur  Einführung.    Rückblick  und  Zukunftspläne.  XIII 

Sorgen  zu  bereiten  pflegen;  und  für  den  Diplomaten,  dem  der  Auslieferungs- 
vertrag allein  ein  Buch  mit  sieben  Siegeln  bleibt,  solange  er  über  das  Straf- 
recbt  des  Landes,  mit  dem  der  Vertrag  geschlossen  ist,  nicht  raschere  und  zuver- 
lässigere Auskunft  sich  zu  verschaffen  vermag,  als  die  amtliche  Nachfrage  sie 
bietet.  Und  je  weiter  der  wirtschaftliche  Verkehr  seine  Kreise  zieht,  je  fester 
die  die  Völker  verbindenden  Handelsbeziehungen  sich  verknüpfen  und  ver- 
schlingen, desto  wichtiger  muss  es  selbst  für  den  nichtjuristischen  Geschäfts- 
mann sein,  das  Strafrecht  der  fernen  Länder  zu  kennen,  in  welchen  seine 
Thatkraft  neue  Werte  geschaffen  oder  neue  Absatzquellen  eröffnet  hat:  ver- 
bürgt ihm  doch  nicht  das  Privatrecht  allein  den  Schutz  seiner  Interessen! 

Die  Schwierigkeiten  des  Unternehmens  schreckten  uns  nicht.  Nur  quan- 
titativ, nicht  qualitativ  war  unsere  Aufgabe  eine  andere,  als  die  des  Berner 
Kollegen,  der  nicht  nur  deutsche,  französische  und  italienische  Rechtsbegriffe 
zur  einheitliclien  Darstellung  zu  verbinden,  sondern  auch  die  Überlieferungen 
der  Urkantone  mit  den  Bedürfnissen  des  Verkehrslebens  unserer  Tage  zu  ver- 
söhnen und  die  Technik  des  Fachjuristen  volkstümlicher  Rechtsbildung  dienst- 
bar zu  machen  hatte.  Was  der  eine  Mann  für  die  ganze  Schweiz  zu  Wege 
gebracht,  das  konnte  die  gesammelten  Kräfte  unserer  Vereinigung  nicht  über- 
steigen. So  kam  der  Beschluss  vom  14.  August  1890  zu  Stande.  Aufgabe  des 
gewählten  Ausschusses  war  es,  auf  Grund  nüchterner  Überlegung  durchzuführen, 
was  in  einer  Stunde  der  Begeisterung  beschlossen  war. 

II. 

Der  von  Stooss  aufgestellte  Arbeitsplan  bildete  den  Ausgangspunkt  und 
die  Grundlage  für  die  Beratungen  und  Beschlüsse  des  Redaktionsausschusses. 
Dass  er  für  die  Lösung  der  uns  gestellten  Aufgabe  nicht  ohne  weiteres  und 
nicht  unverändert  zur  Anwendung  gelangen  könne,  stand  von  allem  Anfange 
an  ausser  Zweifel.  Genauere  Prüfung  ergab  aber  sehr  bald,  dass  weitgehende 
Abweichungen  unvermeidlich  waren,  sollte  das  Unternehmen  zu  gedeihlichem 
Ende  geführt  werden. 

Schon  die  Aufgabe  selbst,  wie  sie  uns  durch  den  Berner  Beschluss 
von  1890  vorgezeichnet  war,  musste  anders  und  weiter  gefasst  werden.  Die 
Beschränkung  auf  Europa  erwies  sich  als  undurchführbar.  Wenn  das 
mohammedanische  Strafrecht  der  europäischen  Türkei  in  die  Darstellung  ein- 
bezogen wurde,  so  konnte  das  uns  viel  näher  stehende  Recht  der  Vereinigten 
Staaten  Nordamerikas  nicht  fehlen,  so  durften  die  spanischen  und  portugiesischen 
Tochterrechte  in  Süd-  und  Mittelamerika  nicht  übergangen  werden.  Den  Aus- 
tausch der  Güter  wie  der  Rechtsideen  hemmt  das  atlantische  Weltmeer  un- 
gleich weniger  als  der  Balkan.  Europa  ist  ein  geographischer,  kein  rechts- 
philosophischer Begriff.  Gegen  diese  Erkenntnis  gab  es  kein  Widerstreben. 
Mochten  die  Schwierigkeiten  auch  ins  Ungeahnte  wachsen  —  es  musste  der 
Versuch  gemacht  werden,  sie  zu  überwinden.  So  ist,  ohne  dass  wir  darüber 
viel  Worte  verloren  hätten,  aus  dem  Strafrecht  Europas  die  „Strafgesetzgebung 
der  Gegenwart"  geworden. 


XIV  V.  Li8zt. 

Aber  auch  damit  war  eine  endgültige  Abgrenzung  noch  nicht  gegeben. 
Auf  der  einen  Seite  bedurfte  der  von  uns  gewählte  und  dauernd  beibehaltene 
Ausdruck  „ Straf gesetzgebung"  selbst  der  erweiternden  Auslegung.  Es  konnte 
und  durfte  keine  Rede  davon  sein,  das  Recht  der  Staaten  ohne  strafrechtliche 
Kodifikation  aus  unserer  Darstellung  auszuschliessen.  Gehört  doch  zu  diesen 
Staaten  in  erster  Linie  das  englische  Weltreich  selbst.  Ohne  eingehendste 
Berücksichtigung  des  englischen  common  law  ist  jede  rechtsvergleichende  Dar- 
stellung des  Strafrechts  wertlos. 

Auf  der  anderen  Seite  konnte  es  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  „ethnologische 
Jurisprudenz"  zu  treiben.  Nur  das  entwickelte  Recht  der  Kulturvölker  kann 
Gegenstand  rechtsvergleichender  Behandlung  sein.  Aber  was  sind  Kultur- 
völker? Wie  schwer  eine  juristisch  scharfe  Antwort  auf  diese  Frage  gegeben 
werden  kann,  weiss  jeder,  der  dem  Begriff  des  Völkerrechts  näher  zu  treten 
versucht  hat.  Jahr  aus  Jahr  ein  erweitert  sich  der  Umkreis  der  Länder  und 
Völker,  die,  wenn  auch  zunächst  nicht  als  völlig  gleichberechtigte  Mitglieder, 
in  die  grosse  den  Erdball  umspannende  Rechtsgenossenschaft  der  Kulturstaaten 
eintreten.  Man  braucht  nur  einen  Blick  auf  die  Unterschriften  unter  den 
Wiener  Protokollen  des  Weltpostvereins  (1891)  zu  werfen,  um  die  vor  zwei 
Jahrzehnten  noch  kaum  zu  ahnenden  Fortschritte  in  ihrer  ganzen  Tragweite 
zu  erkennen.  Mit  der  unwiderstehlichen  Kraft  eines  Naturgesetzes  wirkt  die 
Attraktionskraft  des  völkerrechtlichen  Verbandes. 

Der  Begriff  der  Kulturstaaten  durfte  daher  nicht  zu  eng  gefasst  werden. 
Die  Abgrenzung  freilich  bleibt  mehr  oder  weniger  eine  willkürliche.  Wir 
haben  die  Entscheidung  nach  bestem  Wissen  getroffen;  aber  es  darf  und  soll 
nicht  verschwiegen  werden ^  dass  auch  äusserliche  Momente  bei  der  Ent- 
scheidung eine  Rolle  gespielt  haben.  Wenn  wir  einerseits  da  und  dort  eine 
zuverlässige  Auskunft  mit  dankbarer  Freude  verzeichneten,  obwohl  sie  uns 
über  die  selbstgesteckte  Grenze  hinausführte,  haben  wir  anderseits  uns  be- 
scheiden müssen,  wo  unsere  Quellen  uns  im  Stiche  liessen.  Mögen  Über- 
schreitungen wie  Lücken  uns  freundlich  verziehen  werden! 

Mit  dem  Hinausgreifen  über  Europa  war  aber  gleichzeitig  eine  wichtige 
Abweichung  von  dem  Stooss 'sehen  Vorbilde  geboten.  Wir  hatten  zuerst  daran 
gedacht,  vor  allem  den  Wortlaut  der  Gesetze  selbst  allgemein  zugäng- 
lich zu  machen,  gleichgiltig,  ob  in  der  von  Stooss  gewählten  oder  in  irgend 
einer  anderen  Form.  Wir  sahen  uns  gezwungen,  diesen  Gedanken  wieder 
fallen  zu  lassen.  Eine  Ausgabe  der  „Strafgesetze  des  Erdballs'^  hätte  unbe- 
dingt zunächst  den  Text  in  der  Ursprache  bringen  müssen;  denn  jede  eingehende 
wissenschaftliche  Forschung  ist  auf  den  Wortlaut  des  Gesetzes  unbedingt  an- 
gewiesen. Dem  Original  aber  hätte,  der  von  uns  einmal  angenommenen  Zwei- 
sprachigkeit des  ganzen  Unternehmens  gemäss,  je  eine  deutsche  und  eine  fran- 
zösische Übersetzung  beigefügt  werden  müssen.  Zu  den  kaum  überwindlichen,  und 
nicht  blos  auf  dem  finanziellen  Gebiete  liegenden,  Schwierigkeiten  einer  solchen 
Ausgabe  traten  schwere  Bedenken  gegen  ihre  Brauchbarkeit.  Ein  Gesetzbuch 
ohne  Einführung  und  Erläuterung  wird  auch  den  gewandtesten  Juristen  häufig 


Zur  Einführung.    Rückblick  und  Zukunftspläne.  XV 


genug  in  die  Irre  führen.  Tieferes  Eindringen  in  den  Geist  eines  nationalen 
Strafrechts,  wie  es  die  Wissenschaft  erfordert,  ist  unmöglich  ohne  Kenntnis 
seiner  Entwicklungsgeschichte,  seiner  Grundgedanken,  seiner  Litteratur,  seiner 
Rechtsprechung.  So  kamen  wir  von  zwei  Seiten  her  zu  demselben  Gedanken: 
Die  Ausgabe  der  Strafgesetzbücher  zu  ersetzen  durch  eine  systematische 
Einführung  in  das  Strafrecht  der  einzelnen  Länder.  Für  die  grossen 
Gebiete  des  nicht-kodifizierten  Rechts  war  ja  von  vornherein  jede  andere 
Möglichkeit  ausgeschlossen.  Der  Privatarbeit  musste  und  konnte  es  überlassen 
bleiben,  die  wünschenswerten  Übersetzungen  ausländischer  Strafgesetzbücher 
allmählich  zu  beschaffen.  Wie  die  Soci6t6  de  16gislation  compar6e  zu  Paris, 
so  ist  die  Zeitschrift  für  die  gesamte  Strafrechtswissenschaft  seit  Jahren  mit 
Erfolg  nach  dieser  Richtung  hin  thätig.  Da  wie  dort  wird  der  Eifer  auch 
in  Zukunft  nicht  erlahmen. 

Nach  Erledigung  dieser  Vorfrage  konnten  nunmehr  die  Grundzfige  des 
Unternehmens  nach  seiner  wissenschaftlichen  Seite  hin  rasch  festgestellt 
werden.  Es  sollte  eine  deutsche  und  eine  französische  Ausgabe  ver- 
anstaltet werden.  Jede  von  ihnen  wurde  auf  fünf  Bände  gross  Lexikonoktav 
zu  etwa  je  60  Druckbogen  (von  16  Seiten)  berechnet.  Der  L  Band  sollte  die 
systematische  Einführung  in  das  Strafrecht  der  einzelnen  Länder,  der  IL 
und  IIL  die  allgemeinen  Lehren  des  Strafrechts,  der  IV.  und  V.  die  einzelnen 
strafbaren  Handlungen  umfassen. 

Die  „Sicherung  der  finanziellen  Grundlagen"  des  Unternehmens  war 
mir  von  dem  Ausschusse  überlassen  worden.  Nach  eingehenden  Unterhand- 
lungen kam  eine  vorläufige  Vereinbarung  zwischen  mir  und  dem  Verlags- 
buchhändler Herrn  Otto  Liebmann  (Berlin)  zu  Stande.  Dieser  erklärte, 
das  geschäftliche  Risiko  für  den  I.  Band  ohne  weiteres,  für  die  übrigen  Bände 
dann  zu  übernehmen,  wenn  eine  genügende  Anzahl  von  Subskribenten  ge- 
sichert sei.  In  der  Sitzung  des  Redaktionsausschusses  zu  Kristiania  am 
25.  August  1891  wurde  die  Vereinbarung  gutgeheissen,  nachdem  als  Probe 
von  Satz,  Format  und  Papier  einerseits,  der  Darstellung  anderseits  die  kurze 
Abhandlung  von  Dr.  E.  Rosenfeld  „Die  Tötungen"  vorgelegt  worden  war. 
Tags  darauf,  den  26.  August  1891,  beauftragte  mich  die  dritte  Jahresver- 
sammlung der  Internationalen  kriminalistischen  Vereinigung,  den  Vertrag  mit 
Herrn  Otto  Liebmann  auf  der  bezeichneten  Grundlage  abzuschliessen.  Damit 
war  wenigstens  das  Erscheinen  des  ersten  Bandes  endgültig  gesichert. 

IIL 

Im  Spätherbst  1891  konnte  somit  an  die  wissenschaftliche  Vorbereitung 
des  I.  Bandes  herangetreten  werden.  Der  Redaktionsausschuss  genehmigte 
den  in  Halle  ausgearbeiteten  Plan,  der  in  den  „Mitteilungen  der  Internationalen 
kriminalistischen  Vereinigung"  III  390  zum  Abdruck  gebracht  ist.  Für  die 
Durchführung  des  Programms  ist  der  Unterzeichnete,  dem  der  Ausschuss 
völlig  freie  Hand  gelassen  hat,  allein  verantwortlich. 

Ein  Blick  in  den  vorliegenden,  die  Staaten  Europas  umfassenden,  I.  Band 


XVI  V.  Liszt. 

zeigt,  dass  ich  nach  mehreren  Eichtungen  hin  von  jenem  Programm  abgewichen 
bin.    Diese  eigenmächtigen  Abweichungen  habe  ich  zu  rechtfertigen. 

Zunächst  war  das  Programm  von  der  Aufstellung  der  „Ländergruppen" 
ausgegangen,  die  sich  aus  Dr.  Rosenfeld 's  Probearbeit  über  die  „Tötungen" 
ergeben  hatten.  Durch  die  Einreihung  der  einzelnen  Länder  in  die  eine  oder 
die  andere  der  aufgestellten  vier  Gruppen  (1.  englisch-nordamerikanische  Gruppe, 
2.  nord-  und  südromanische  Gruppe,  3.  deutsche  Gruppe,  4.  Gruppe  der  übrigen 
Länder)  sollte  die  innere  Verwandtschaft  der  Strafgesetzgebungen  ersichtlich 
gemacht  werden.  Demgemäss  waren  z.  B.  die  Türkei  und  Japan  der  nord- 
romanischen, Serbien  und  Griechenland  der  deutschen  Gruppe  zugeteilt  worden. 
Sehr  bald  aber  stellte  sich  bei  genauerer  Prüfung  des  Stoffes  die  Unmöglich- 
keit heraus,  an  diesem  Einteilungsgrunde  festzuhalten.  Die  vielfachen  Wechsel- 
beziehungen der  einzelnen  Eechtssysteme  untereinander  gestatten  eine  so  scharfe 
Gruppeneinteilung  zwar,  solange  es  sich  um  einzelne  strafrechtliche  Materien 
handelt,  nicht  mehr  aber  in  dem  Augenblicke,  in  welchem  die  Gesetzgebungen 
als  Ganzes  einander  gegenüber  gestellt  werden.  So  steht,  um  nur  ein  oder  zwei 
Beispiele  anzuführen,  das  preussische  Strafgesetzbuch  von  1851  und  somit  auch 
das  auf  ihm  beruhende  Strafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich  dem  fran- 
zösischen Code  penal  viel  näher,  als  dieser  dem  italienischen  Strafgesetzbuch 
oder  auch  nur  dem  Recht  der  romanischen  Schweiz.  Und  die  Selbständigkeit 
des  niederländischen  oder  des  finnländischen  Strafgesetzbuchs  verbietet  die  im 
übrigen  vielleicht  gerechtfertigte  Einreihung  in  die  deutsche  Gruppe.  Die 
vierte,  völlig  zusammenhangslose  Gruppe  endlich  wirft  in  allen  Fällen  das 
Einteilungsprinzip  selbst  über  den  Haufen;  eine  Gruppe,  die  z.  B.  Russland 
und  China  zusammenstellt,  hat  auf  die  Bedeutung  einer  wissenschaftlichen 
Zusammenfassung  überhaupt  keinen  Anspruch. 

Ich  glaube  daher,  auf  die  allgemeine  Zustimmung,  auch  auf  die  meiner 
Freunde  im  Redaktionsausschuss,  dafür  rechnen  zu  dürfen,  dass  ich  unser 
gemeinsames  Programm  in  diesem  Punkte  aufgegeben  und  auf  die  Einteilung 
in  Gruppen  verzichtet  habe.  Statt  dessen  ist  Europa  von  den  übrigen  Welt- 
teilen getrennt  worden,  soweit  nicht  die  Kolonieen  (wie  bei  den  Niederlanden, 
bei  Italien  u.  s.  w.)  gleich  mit  dem  Mutterlande,  andere  aussereuropäische 
Landesgebiete  (wie  bei  Russland  und  der  Türkei)  gleich  mit  dem  europäischen 
Hauptgebiete  erledigt  werden  konnten.  In  der  deutschen  Ausgabe  eröffnet  das 
deutsche  Reich,  in  der  französischen  Frankreich  die  Reihe  der  europäischen 
Staaten;  die  übrigen  folgen  ohne  jedes  Prinzip  aufeinander,  vielfach  eben  so, 
wie  die  einzelnen  Abhandlungen  in  der  einen  der  beiden  Sprachen  druckfertig 
vorlagen.  Je  weiter  der  Band  vorrückte,  desto  mehr  überzeugte  ich  mich 
von  der  Richtigkeit  dieses  Verfahrens. 

Auch  an  der  Ausmessung  des  Raums  für  die  einzelnen  Darstellungen, 
wie  sie  das  Programm  vorzeichnete,  ist  nicht  in  allen  Fällen  festgehalten 
worden.  Im  Ganzen  überwiegen  die  Überschreitungen.  Umfasst  doch  die 
Darstellung  Europas  allein  46,  bezw.  45  Druckbogen,  während  für  den  ganzen 
Band  nur  50  gerechnet  waren.    Ich  möchte  es  ausdrücklich  und  mit  besonderer 


Zur  Einführung.    Rückblick  und  Zukunftspläne.  XVII 

Dankbarkeit  anerkennen,  dass  der  Verleger  dieser  Überschreitung  zugestimmt 
und  auch  für  die  Behandlung  der  aussereurop&ischen  Länder  noch  Baum 
zur  Verfügung  gestellt  hat.  Einzelne  Abhandlungen,  so  insbesondere  die 
über  Frankreich,  sind  hinter  dem  angewiesenen  Baum  nicht  unbeträchtlich 
zurückgeblieben ;  es  rechtfertigt  sich  das  gerade  in  diesem  Falle  wohl  zur  Genüge 
dadurch,  dass  das  System  des  Code  penal  in  der  ganzen  Welt  bekannt  und 
an  sich  einfach,  dass  die  französische  Litteratur  jedermann  zugänglich  ist, 
und  dass  Frankreich  vor  einer  gründlichen  Umgestaltung  seiner  Strafgesetz- 
gebung steht. 

Von  diesen  Äusserlichkeiten  abgesehen,  war  ich  bemüht,  den  Grund- 
gedanken des  Programms  durchzuführen.  Noch  einmal  möchte  ich,  um  alle 
Missverständnisse  abzuschneiden,  ausdrücklich  betonen:  Der  erste  Band  enthält 
die  O^rondlage  für  eine  rechtsTergleichende  Darstellung  des  ouropttisehen 
Strafi*eelits,  nicht  diese  selbst.  Um  unser  schweizerisches  Vorbild  heranzu- 
ziehen: er  entspricht  nicht  Stooss'  „Grundzügen"  von  1892/93,  sondern  der 
Vorarbeit  dazu  von  1890.  Er  vertritt  die  Stelle  einer  Sammlung  der  ver- 
schiedenen Strafgesetzbücher.  Er  soll  die  notwendige  Vorbedingung  für  jede 
rechtsvergleichende  Arbeit  auf  strafrechtlichem  Gebiete  schaffen;  und  er  bean- 
sprucht daher  selbständigen  Wert  auch  für  den  Fall,  dass  der  Kriminalistischen 
Vereinigung  die  Fortführung  des  Unternehmens  nicht  beschieden  sein  sollte. 
Systematisehe  Einführung  in  das  8trafi*echt  Jedes  einzelnen  Staates :  das 
ist  die  Aufgabe  unseres  ersten  Bandes  wie  seiner  nächsten  Fortsetzung. 

Diese  Aufgabe  brachte  es  mit  sich,  dass  wir  unseren  Mitarbeitern  einige 
wenige  „leitende  Gesichtspunkte"  an  die  Hand  geben  mussten  (Berücksich- 
tigung der  geschichtlichen  Grundlagen  des  geltenden  Hechts,  der  strafrecht- 
lichen Sondergesetze,  der  Litteratur,  der  Rechtsprechung),  sie  aber  in  allem 
übrigen  frei  gewähren  lassen  konnten.  Jedes  grössere  Werk,  das  der  Feder 
verschiedener  Mitarbeiter  entstammt,  muss  in  seinen  einzelnen  Teilen  Uneben- 
heiten und  Verschiedenheiten  aufweisen.  Das  mag  vielfach  störend  wirken; 
in  unserem  Falle  bietet  gerade  diese  Abweichung  der  einzelnen  Mitarbeiter 
voneinander  in  der  ganzen  Art,  wie  sie  die  Aufgabe  anpacken  und  lösen, 
nicht  nur  hohen  künstlerischen  Reiz,  sondern  auch  einen  wissenschaftlichen 
Vorzug  des  Buches,  den  ich  um  keinen  Preis  missen  möchte.  In  den  Einzel- 
darstellungen tritt  nicht  nur  die  Eigenart  des  Verfassers,  es  tritt  auch  die 
Eigenart  der  Gesetzgebung  und  der  Wissenschaft  des  von  ihm  behandelten 
Landes  ins  hellste  Licht.  Gerade  aus  diesem  Grunde  habe  ich  auch,  soweit 
es  irgend  möglich  war,  an  dem  Grundsatze  festgehalten,  dass  jedes  Land  von 
einem  seiner  Angehörigen  zu  bearbeiten  sei.  Auch  für  die  überseeischen 
Staaten  war  mir  dieser  Grundsatz  massgebend.  Und  nur  dort  habe  ich  ihn 
verlassen,  wo  mir  die  Not  keine  Wahl  gestattete,  wo  ich  einen  Mitarbeiter 
entweder  überhaupt  unter  den  Landesangehörigen  nicht  fand  oder  eine  ge- 
gebene Zusage  im  letzten  Augenblick  zurückgenommen  wurde.  Für  die  fol- 
genden Bände,  für  die  rechtsvergleichende  Darstellung  selbst,  wird  ein  ein- 
heitliches Zusammenwirken  weniger  Mitarbeiter  nach  fest  bestimmten  Grund- 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwarf.    I.  II 


I 


XVIII  V.  Liszt. 

• 

Sätzen  unter  strammer  Centralleitung  unbedingt  notwendig  sein;  für  die 
in  diesem  Bande  angestrebte  übersichtliche  Darstellung  der  einzelnen 
nationalen  Rechte  kam  es  in  erster  Linie  darauf  an,  das  nationale  Gepräge 
zu  wahren,  die  Abweichungen  nicht  etwa  abzuschleifen,  sondern  möglichst 
scharf  hervortreten  zu  lassen. 

IV. 

So  gebührt  denn  das  Verdienst  für  das  Zustandekommen  des  ersten  Bandes 
den  Mitarbeitern,  die  in  aufopferndster  Weise  der  an  sie  gerichteten  Auf- 
forderung Folge  geleistet  haben.  Mögen  sie  den  Dank,  den  ich  in  diesem 
Augenblicke  so  lebhaft  empfinde,  auch  bei  unseren  Lesern  finden.  Und  mögen 
diese  über  die  (mir  recht  gut  bekannten)  Fehler  des  Bandes,  die  allein  der 
unter  sehr  schwierigen  Verhältnissen  arbeitenden  Redaktion  zur  Last  fallen, 
milde  zu  Gericht  sitzen. 

Zu  den  Mitarbeitern  zählen  auch  unsere  Übersetzer.  Sie  teilen  sich 
mit  den  Verfassern  in  die  Ehren  des  Unternehmens.  Ausdrücklich  möchte  ich 
hervorheben,  dass  ich  es  dem  überaus  liebenswürdigen  Entgegenkommen  der 
Societe  de  16gislation  comparee  in  Paris  und  ihres  Generalsekretärs  Daguin 
verdanke,  dass  die,  heute  auch  für  die  Zukunft  gesicherten,  l'^bertragungen 
ins  Französische  in  einem  recht  kritischen  Augenblicke  nicht  ins  Stocken 
gerieten.  Und  bezüglich  der  Übertragungen  ins  Deutsche  muss  ich  an  dieser 
Stelle  mit  herzlichem  Danke  des  jungen  Freundes  in  Hannover  gedenken, 
dessen  bewährte  Arbeitskraft,  so  oft  sie  auch  in  Anspruch  genommen  werden 
mochte,  mich  niemals  im  Stiche  gelassen  hat. 

Da  meine  einführenden  Zeilen  nicht  nur  diesem  Bande,  sondern  auch  dem 
folgenden  Halbbande  gelten,  so  habe  ich  noch  eine  weitere  Dankesschuld  schon 
heute  abzutragen.  Für  zahlreiche  überseeische  Gebiete  hat  das  Deutsche 
Auswärtige  Amt  unserem  Unternehmen  seine  machtvolle  Unterstützung  ge- 
währt. Kurze  aber  wertvolle  Notizen  sowie  umfangreichere  Darstellungen 
verdanke  ich  dieser  Vermittlung,  ohne  welche  die  Fortsetzung  des  ersten 
Bandes  niemals  auch  nur  annähernd  die  heute  bereits  erreichte  Vollständig- 
keit hätte  gewinnen  können.  Mit  lebhaftem  Danke  habe  ich  bei  den  be- 
treffenden Abschnitten  die  Quelle  angegeben,  der  sie  entstammen. 

Auch  der  erste  Teil  des  zweiten  Bandes,  die  sämtlichen  übrigen  Erd- 
teile umfassend,  ist  Dank  dieser  Unterstützung  heute  bereits  gesichert. 
Aber  gerade  diese  über  mein  Erwarten  reichliche  Hilfsquelle  hat  mich  ver- 
anlasst, im  Einvernehmen  mit  dem  Verleger,  mit  der  Herausgabe  des  ersten 
Bandes  nicht  länger  zu  zögern.  Die  abgeschlossen  vorliegende  Darstellung 
der  sämtlichen  europäischen  Staaten  mit  Einschluss  der  Türkei  sollte  nicht 
durch  die  begründete  Hoffnung  um  den  Wert  der  Aktualität  gebracht  werden, 
dass  in  einigen  Monaten  auch  die  bezüglich  der  überseeischen  Länder  noch 
vorhandenen  Lücken  ergänzt  sein  würden.  Zu  etwa  drei  Vierteilen  liegt  auch 
das  Manuskript  zu  der  ersten  Hälfte  des  zweiten  Bandes  druckfertig  in  beiden 
Sprachen  vor.   Binnen  kurzer  Frist  kann,  menschlicher  Berechnung  nach,  auch 


Zuv  Einführung.    Rückblick  und  Zukunftspläne.  XIX 


dieser  Teil  ausgegeben  werden,  und  zwar  in  einer  Vollständigkeit,  die  ich 
vor  wenigen  Monaten  noch  für  unerreichbar  gehalten  habe. 

Soll  unsere  Darstellung  bei  dem  raschen  Fluss  der  Gesetzgebung  nicht 
veralten,  so  bedarf  sie  einer  fortlaufenden  Ergänzung  durch  Jahresberichte 
über  die  in  Gesetzgebung  und  Wissenschaft  der  verschiedenen 
Länder  gemachten  Fortschritte.  Ich  kann  bereits  heute  die  Versicherung 
geben,  dass  diese  Ergänzung  erfolgen  wird,  wenn  ich  auch  noch  nicht  zu 
sagen  vermag,  wo  und  wie  das  der  Fall  sein  .wird.  Hoffentlich  sichert  der 
buchhändlerische  Erfolg  des  Werkes  die  Ausgabe  von  Nachtragsheften. 
Aber  auch  wenn  der  äussere  Erfolg  uns  fehlen  sollte,  werden  jene  Jahres- 
berichte irgendwo  ihr  Unterkommen  finden.  Soweit  die  Vermögensverhältnisse 
der  Internationalen  kriminalistischen  Vereinigung  es  gestatten,  werden  unsere 
„Mitteilungen"  die  geeignetste  Stelle  dafür  bieten.  Jedenfalls  aber  werden  die 
diesem  Plane  entgegenstehenden  Hindernisse  auf  die  eine  oder  andere  Weise 
fiberwunden  werden,  wenn  anders,  woran  ich  nicht  zweifle,  der  Opfermut 
unserer  Freunde  im  Dienste  der  Wissenschaft  nicht  erlahmt. 

Zweifelhaft  ist  es  dagegen  noch  im  Augenblicke,  ob  die  weiteren  Bände 
des  Werkes  zu  stände  kommen  werden.  Wie  bereits  erwähnt,  ist  die  Fort- 
setzung buchhändlerisch  bedingt  durch  die  Gewinnung  einer  entsprechenden 
Anzahl  von  Zeichnungen  auf  das  ganze  Werk.  Ob  diese  sich  finden  wird,  ob 
vielleicht  die  wissenschaftliche  und  praktische  Bedeutung  unseres  Unternehmens 
uns  daneben  noch  andere  Einnahmsquellen  eröffnet,  muss  abgewartet  werden. 
Für  alle  Fälle  aber  möchte  ich  es  nicht  unterlassen,  in  wenigen  Worten 
meine  Ansicht  über  die  Aufgabe  hier  niederzulegen,  welche  die  folgenden 
Bände  zu  erfüllen  hätten.  Ob  Vorwort  zu  diesen,  ob  Nachwort  zu  dem  ein- 
leitenden Teile,  ob  Arbeitsprogramm  oder  fromm-entsagender  Wunsch  —  soll 
diese  kurze  Darstellung  meine  Auffassung  über  Wesen  und  Ziel  der  Rechts- 
vergleichung auf  dem  Gebiete  der  Strafgesetzgebung  klarlegen. 

V. 

Rechtsvergleichung  ist  nicht,  was  nur  zu  oft  dafür  ausgegeben  wird :  die 
Behandlung  eines  einzelnen,  noch  so  entlegenen,  nationalen  Rechts.  Wer 
chinesisches  Strafrecht  darstellt,  treibt  ebensowenig  Rechtsvergleichung  wie 
derjenige,  der  ein  Lehrbuch  des  deutschen  Strafrechts  schreibt  oder  den  Code 
pönal  kommentiert.  Aber  auch  die  Nebeneinanderstellung  zweier  oder 
mehrerer  Rechte  ist  noch  nicht  Rechtsvergleichung;  ja,  so  paradox  es 
klingen  mag,  auch  ihre  Vergleichung,  die  Hervorhebung  des  Gemeinsamen 
wie  des  Verschiedenen,  ist  es  noch  nicht. 

Damit  von  Rechtsvergleichung  im  eigentlichen  und  allein  wissenschaft- 
lichen Sinne  gesprochen  werden  könne,  ist  es  notwendig,  dass  etwas  Neues, 
Selbständiges  gesucht  und  gefunden  werde,  das  von  den  einzelnen  ver- 
glichenen Rechten  verschieden,  in  ihnen  nicht  ohne  weiteres  enthalten  ist. 
Was  ich  damit  meine,  wird  vielleicht  klar  werden,  wenn  wir  näher  zusehen, 
worin  dieses  Neue,  Selbständige  gelegen  sein  kann. 

II* 


XX  V.  Liszt. 

1.  Hinter  der  wechselnden  Erscheinung  des  jeweils  geltenden  Eechts 
können  wir  nach  den  Gesetzen,  die  sein  Werden  und  Wachsen  bestimmen, 
und  nach  den  typisch  wiederkehrenden  Stufen  seiner  Entwicklung 
suchen.  Wir  verfolgen  die  gesellschaftliche  Gliederung  von  den  Blutsverbänden 
bis  zum  heutigen  europäischen  Staat,  mit  all  den  tiefgreifenden  Änderungen, 
die  mit  dieser  Entwicklung  verbunden  sind.  Kausale  oder  teleologische  Be- 
trachtung —  das  bleibt  sich  gleich:  Das,  was  wir  suchen  und  was  wir  im 
Falle  des  Gelingens  finden,  ist  ein  Neues,  Selbständiges,  qualitativ  von  all 
den  einzelnen  Rechten  völlig  Verschiedenes,  über  ihnen  allen  Stehendes.  Es 
leuchtet  ein,  dass  diese  Untersuchung  auf  Bechtsgeschichte  und  Ethnologie 
sich  stützt,  dass  das  heute  geltende  Recht  der  Eulturstaaten  für  sie  in 
den  Hintergrund  tritt.  Damit  ist  aber  auch  gesagt,  dass  das  zwar  Rechts- 
vergleichung ist,  vielleicht  die  wertvollste  von  allen;  aber  nicht  Rechts- 
vergleichung im  gewöhnlichen  und  gewiss  nicht  in  dem  Sinne,  in  dem  unsere 
folgenden  Bände  eine  rechtsvergleichende  Darstellung  der  Strafgesetzgebung 
der  Gegenwart  zu  bringen  bestimmt  sind.  Das  Neue,  das  wir  suchen,  muss 
also  ein  Anderes  sein. 

2.  Über  das  heute  geltende  Recht  hinaus  sucht  unser  Blick  nach  einem 
neuen  Recht  der  Zukunft.  Den  Massstab  für  dieses  müssen  wir  in  der 
Tasche  haben.  Aber  für  die  Einzelheiten  des  Neubaues  finden  wir  Belehrung 
und  Anregung  in  den  Baudenkmälern  der  G^enwart  wie  der  Vergangenheit. 
Das  ist  auch  Rechtsvergleichung;  nicht  so  vornehm  wie  die  erste  Art,  aber 
praktisch  gewiss  nicht  minder  wichtig  als  sie. 

So  hat  Stooss  in  seinen  Grundzügen  gearbeitet,  und  ich  weiss  kein 
Beispiel,  welches  in  grösserer  Reinheit  das,  was  ich  meine,  zum  Ausdrucke 
brächte.  Dass  ein  eidgenössisches  Strafgesetzbuch  der  zielbewussten  Be- 
kämpfung des  Verbrechens  zu  dienen  habe,  das  musste  Stooss  wissen,  ehe  er 
sich  an  die  Arbeit  machte;  dieses  Richtmass  musste  er  haben,  um  kritisch 
prüfen  zu  können,  was  bisher  geleistet  worden.  Aber  aus  der  Vergleichung 
der  kantonalen  Rechte  konnte  er  lernen,  wie  dieser  mehr  oder  weniger  dunkel 
erkannte  Gedanke  da  und  dort  zu  glücklicher  Verwertung  gelangt  ist.  So 
sind  die  „Grundzüge"  entstanden.  Auf  Schritt  und  Tritt  erkennt  man  in  der 
kritisch -wissenschaftlichen  Darstellung  den  Gesetzgeber:  nur  vom  legislativen 
Standpunkte  aus  konnte  Ordnung  in  das  Chaos,  Einheit  in  die  vielgestaltige 
Fülle  des  Einzelnen  gebracht  werden.  In  dem  zu  schaffenden  Recht  liegt  hier 
das  Neue,  das  uns  berechtigt,  von  Rechts  vergleichung  zu  sprechen.  Das 
Mosaikbild  ist  etwas  anderes  als  die  Summe  der  einzelnen  verwendeten  Steine. 

Es  fragt  sich:  kann  unsere  Internationale  Vereinigung  in  derselben 
Weise  Rechts  vergleichung  treiben  wie  der  Strafgesetzgeber  der  Schweiz?  Es 
steht  doch  kein  internationales  Strafgesetzbuch  in  Aussicht,  imd  die 
nationale  Gesetzgebung  hat  an  die  heimische  Rechtsentwicklung  anzu- 
knüpfen und  heimische  Anschauungen  und  Bedürfnisse  allein  zu  berück- 
sichtigen? 

Ich  halte  diesen  Einwand  für  völlig  unerheblich.    Es  ist  meiner  Über- 


Zur  Einführung.    Rückblick  und  Zukunftspläne  XXI 

Zeugung  nach  heute  jeden  Augenblick  möglich,  einen  Strafgesetzentwurf  aus- 
zuarbeiten, der  in  seinen  Grundzügen  ebensogut  für  Frankreich  wie  für 
das  deutsche  Reich,  für  Österreich-Ungarn  sogut  wie  für  die  Niederlande  an- 
nehmbar wäre.  Wer  das  Gegenteil  behauptet,  der  verkennt  die  Geschichte 
des  Strafrechts.  Gilt  denn  nicht  die  napoleonische  Strafgesetzgebung  in 
allen  ihren  Grundzügen  seit  einem  halben  Jahrhundert  in  dem  führenden 
deutschen  Staate  und  seit  über  zwanzig  Jahren  im  ganzen  deutschen  Reich? 
Lässt  sich  etwa  die  Rezeption  des  bayerischen  Strafgesetzbuchs  in  den  süd- 
amerikanischen Staaten  wie  in  Griechenland  in  Abrede  stellen?  Ich  wieder- 
hole es:  nur  die  Grundzüge  stehen  in  Frage.  Aber  man  vergesse  nicht, 
dass  unsere  ganze  Reformbewegung  dahin  drängt,  gerade  diesen  Grundzügen 
erhöhte  Bedeutung  zu  verleihen.  Je  mehr  wir  uns  darüber  klar  werden, 
dass  die  Überladung  des  besonderen  Teils  unserer  Strafgesetzbücher,  diese 
endlose  Unterscheidung  von  schwereren  und  leichteren  Fällen  desselben  Ver- 
brechens wertlose  Spielerei  ist,  desto  geringeres  Gewicht  werden  wir  all  diesen 
ehrwürdigen  Überlieferungen  der  nationalen  Gesetzgebung  beimessen.  Wer 
mit  vorurteilsfreiem  Blick  ins  Leben  sieht,  der  kennt  den  international  gleichen 
Charakter  unseres  Verbrechertums.  So  lange  der  gewerbsmässige  Taschendieb 
und  der  Hochstapler  in  Paris  ebenso  heimisch  ist  wie  in  Wien  oder  London, 
so  lange  der  russische  Rubel  in  Frankreich  oder  England  angefertigt  und 
im  deutschen  Reiche  vertrieben  wird,  so  lange  die  Schwindelkonsortien 
der  „schwarzen  Banden"  ihren  internationalen  Betrieb  nicht  einstellen,  so 
lange  die  Leidenschaften  und  Schwächen  der  Sterblichen  diesseits  und 
jenseits  der  Grenzen  nur  Variationen  desselben  Grundthemas  darstellen  — 
so  lange  wird  auch  die  Kriminalpolitik  der  verschiedenen  Länder  von  ein- 
heitlichen Grundgedanken  ausgehen  können.  Und  wird  es  in  absehbarer  Zeit 
anders  werden? 

Der  O^ewinnimg  einheitlicher  Grundgedanken  fHr  eine  den  For- 
derungen der  KrlmlnalpoUtlk  Rechnung  tragende  Strafgesetzgebong  der 
Zukunft  soll  unsere  rechtsverglelchende  Darstellung,  nach  meiner  Auf- 
fassung, in  erster  Linie  dienen.  Bei  der  den  einzelnen  Ländern  zu  über- 
lassenden Ausführung  dieser  internationalen  Grundgedanken  werden  nationale 
Überlieferungen  und  Bedürfnisse  zu  ihrem  vollen  Rechte  kommen. 

Ich  glaube  nicht,  dass  eine  weitere  Ausführung  dieser  einfachen  und 
durchaus  nicht  neuen  Gedanken  notwendig  ist.  Niemand  wird  heute  für  die 
deutsche  Gesetzgebung  die  Frage  der  Deportation  behandeln  wollen  und  dürfen, 
ohne  die  in  England,  Frankreich  und  anderen  Ländern  gemachten  Erfahrungen 
heranzuziehen.  Jede  tüchtigere  wissenschaftliche  Arbeit,  jede  gründlich  vor- 
bereitete Gesetzesvorlage  kann  als  Beispiel,  zugleich  aber  auch  als  Beweis  für 
die  Richtigkeit  meiner  Behauptung,  dienen. 

Nur  Eins  möchte  ich  noch  einmal  hervorhiüben.  Wenn  der  Verfasser 
einer  wissenschaftlichen  Monographie  oder  eines  Gesetzentwurfs  uns  z.  B.  die  in 
den  verschiedenen  Ländern  bezüglich  der  Tierquälerei  geltenden  Bestimmungen 
zusammenstellt,   sie  gliedert,  bespricht,  vergleicht:  so  ist  das  nicht  Rechts- 

III  e 


XXII  V.  Liszt. 

vergleichung  in  dem  Sinne,  wie  ich  das  Wort  verstanden  wissen  will.  Die 
Sechtsvergleichang  beginnt  für  mich  erst  in  dem  Augenblicke,  in  dem  der  Ver- 
fasser, gestützt  auf  diese  seine  sorgfältige  Untersuchnng  und  ausgehend  von 
einer  bestimmten  und  klaren  kriminalpolitischen  Grundanschauung^  uns  sagt: 
so,  und  nicht  anders^  sollt  ihr  es  machen. 

In  diesem  Sinne  hat  Stooss,  nicht  in  seiner  Zusammenstellung  der 
Schweizer  Strafgesetzbücher,  wohl  aber  in  seinen  „Grundzügen"  rechtsver- 
gleichend gearbeitet 

und  in  diesem  Sinne  sollen  unsere  folgenden  Bände  eine  wirklich  rechts- 
vergleichende Darstellung  der  „Strafgesetzgebung  der  Gegenwart"  uns  bringen. 
Was  für  einzelne  Lehren  des  Strafrechts,  unvollkommen  und  lückenhaft,  von 
einzelnen  Schriftstellern  geleistet  worden  ist,  soll  mit  vereinten  Kräften  für 
das  Gesamtgebiet  des  Straf  rechts,  auf  breiter  Grundlage,  mit  fester  Methode, 
in  scharfer  Erfassung  des  Zielpunktes,  in  Angriff  genommen  werden.  Fürwahr: 
eine  grosse  und  schwere  Aufgabe  —  aber  auch  so  lockend  und  lohnend  wie 
kaum  eine  andere! 

3.  Ich  gehe  aber  noch  einen  Schritt  weiter.  Aufgabe  der  Rechtsver- 
gleichung  ist  nicht  nur  die  Findung  des  zweckentsprechenden  Bechtssatzes^ 
sondern  auch  die  Weiterbildung  der  Rechtswissenschaft.  Auf  der  breiten^ 
empirischen  Grundlage,  die  sie  der  Durchdringung  fremder  Leistungen  ver- 
dankt, soll  die  nationale  Theorie  sich  über  sich  selbst  hinaus  erheben. 

Es  mag  mir  gestattet  sein,  mich  deutlicher  auszudrücken.  Unsere  Straf- 
gesetzgebung lässt  die  wissenschaftliche  Konstruktion  offen.  Und  sie 
wird,  glaube  ich,  niemals  anders  zu  Werke  gehen  können.  Mag  uns  das  Straf- 
gesetzbuch immerhin  den  Versuch  als  Anfang  der  Ausführung  oder  den  Mord 
als  die  vorsätzlich  und  überlegte  Tötung  bestimmen:  den  Begriff  des  Versuches 
und  des  Mordes  muss  doch  stets  erst  die  Wissenschaft  (und  ganz  dasselbe  gilt 
auch  selbstverständlich  von  der  nicht  bloss  handwerksmässig  betriebenen  Recht- 
sprechung) festzustellen  sich  bemühen.  Es  leuchtet  ein,  dass  es  sich  ganz 
ebenso  mit  allen  Begriffen  des  Strafrechts,  ganz  besonders  aber  mit  den  sämt- 
lichen Merkmalen  des  allgemeinen  Verbrechensbegriffes  verhält.  Der  einfacheren 
und  einleuchtenderen  Auseinandersetzung  wegen  möchte  ich  mich  auf  diesen 
letzteren  Punkt  beschränken. 

Wenn  ich  behaupte,  dass  durch  rechtsvergleichende  Untersuchungen  die 
allgemeine  Theorie  des  Verbrechens  nicht  nur  quantitativ,  sondern  qualitativ 
gefördert  werden  wird,  so  kenne  ich  den  Einwand  sehr  genau,  der  mir  ent- 
gegengehalten werden  wird.  Man  wird  behaupten,  dass  der  Begriff  des  Vor- 
satzes z.  B.  aus  dem  nationalen  Rechte  jedes  Landes  und  seiner  geschicht- 
lichen Entwicklung  zu  gewinnen  sei.  Die  Frage  also,  ob  etwa  das  Bewusstsein 
der  Rechtswidrigkeit  zum  Begriffe  des  Vorsatzes  gehöre,  könne  nur  „geschicht- 
lich-dogmatisch", also  für  das  deutsche  Recht  nur  aus  dem  deutschen,  nie  aus 
dem  französischen  oder  englischen  Recht  beantwortet  werden. 

Diesem  beliebten  Einwand  gegenüber  habe  ich  ein  doppeltes  zu  betonen. 
Erstens,   dass  die  geschichtliche   Betrachtung  uns   sofort   auf  internationale 


Zur  Einführung.    Rückblick  und  Zukunftspläne.  XXIII 


Wechselbeziehungen  führt  Den  Italiener  Julius  Clarus  darf  man  selbst  in 
streng  geschichtlichen  Untersuchungen  über  deutsches  Strafrecht  citieren;  und 
wenn  der  Spanier  Coyyaruvias  trotz  des  bestimmenden  Einflusses,  den  er  auf 
Carpzov  geübt  hat,  nicht  zu  seinem  Hechte  gelangt;  so  liegt  das  nur  daran, 
dass  dieser  Zusammenhang  unseren  „Rechtshistorikern^  bisher,  wie  so  mancher 
andere  Zusammenhang,  entgangen  ist.  Der  Gedanke  liegt  nun,  sollte  ich  meinen, 
nahe  genug,  dass  die  Entwicklung  des  Vorsatzbegriffes  in  Italien  von  Julius 
Clarus  und  in  Spanien  von  Covvaruvias  an  bis  zur  Gegenwart  uns  auch  f&r  das 
von  diesen  beiden  Schriftstellern  so  wesentlich  beeinflusste  und  unter  ähnlichen 
Bedingungen  sich  entwickelnde  deutsche  Recht  vielleicht  wertvolle  Aufschlüsse 
zu  geben  vermöchte,  dass  mithin,  um  es  anders  auszudrücken,  eine  geschicht- 
liche Betrachtung,  welche  von  derartiger  Bechtsvergleichung  absehen  zu 
können  vermeint,  völlig  „unhistorisch^  genannt  werden  muss.  Und  wenn  ein- 
mal ein  Staat,  wie  Preussen  das  im  Jahre  1851  gethan  hat,  sein  ganzes 
Strafgesetzbuch  einem  anderen  Staate  entlehnt,  kann  man  dann  der  straf- 
rechtlichen Wissenschaft  dieses  anderen  Staates,  sowie  seiner  Rechtsprechung 
die  Bedeutung  absprechen,  selbst  wenn  man  sich  auf  den  extremsten  Schul- 
standpunkt der  „historischen"  Richtung  stellt?  Ich  mache  keine  Vorwürfe; 
ich  stelle  lediglich  die  unbestreitbare  Thatsache  fest,  dass  im  19.  Jahrhundert 
mehr  als  je  zuvor,  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  des  nationalen  Rechts 
durch  rechtsvergleichende  Untersuchungen  bedingt  wird. 

Das  zweite,  was  ich  betonen  möchte,  greift  viel  tiefer.  Die  geschichtlich- 
dogmatische Methode  versagt  uns  —  ich  spreche  hier  nur  vom  Strafrecht  — 
auf  Schritt  und  Tritt.  Es  erscheint  mir  als  ein  geradezu  kindlich-naives  Be- 
mühen, etwa  das  Verhältnis  der  Unterlassung  zur  Begehung  mittels  jener 
Methode  feststellen  zu  wollen.  Denn  ganz  abgesehen  davon,  dass  nur  die 
Rechtsübung  der  Gerichte  eine  authentische  Auskunft  über  die  den  Gesetzen 
zu  einer  bestimmten  Zeit  beigelegte  Bedeutung  zu  geben  vermag  und  dass 
diese  Quelle  uns  um  so  hoffnungsloser  versagt,  je  weiter  wir  in  die  Vergangen- 
heit unseres  Rechts  zurückgehen  —  arbeitet  jene  Methode  mit  einer  geschicht- 
lich falschen  Voraussetzung:  dass  nämlich  überhaupt  frühere  nationale  Gesetz- 
gebungen von  einer  bestimmten  Auffassung  des  Verhältnisses  der  Unterlassung 
zur  Begehung  ausgegangen  seien.  Das  haben  sie  ebensowenig  gethan,  wie 
unsere  allemeuesten  Strafgesetzbücher.  Ich  möchte  den  Fachmann  kennen 
lernen,  der  das  Gegenteil  zu  behaupten  den  Mut  hat. 

Ich  stelle  also  den  Satz  auf:  Die  ganze  allgemeine  Lehre  vom  Ver- 
brechen kann  und  muss  In  ihren  Grundzttgen  unabhängig  von  dem 
jeweils  geltenden  Recht  aufgebaut  werden.  Was  Handlung  im  Sinne 
des  Strafrechts  ist,  aus  welchen  Gründen  die  Rechtswidrigkeit  entfällt,  wie 
der  Begriff  der  Zurechnungsfähigkeit,  des  Vorsatzes  und  der  Fahrlässigkeit 
zu  bestimmen  ist  usw.  usw.  —  das  ist  zum  allerkleinsten  Teil  in  den 
Civil-  und  Strafgesetzen  uns  ausdrücklich  oder  stillschweigend  gesagt.  Und 
wer  als  gesetzesgläubiger  Dogmatiker  die  Benutzung  anderer  Erkenntnisquellen 
ablehnen  wollte,  der  wird  sich  gar  bald  gezwungen  sehen,  seinem  doktrinären 


XXIV  V.  Liszt. 

Hochmut  zu  entsagen.  Die  wichtigsten  bahnbrechenden  Entscheidungen  des 
deutschen  Reichsgerichts  über  den  untauglichen  Versuch,  die  Mitthäterschaft, 
den  Ursachenbegriff  usw.  sind  praeter  legem  erfolgt.  Und  die  wissenschaft- 
lichen Arbeiten  der  „dogmatischen"  Kollegen?  Das  Beste,  was  sie  uns  gegeben, 
das  haben  sie  wahrhaftig  nicht  aus  den  Gesetzbüchern  geschöpft. 

Ich  hoffe,  dass  Missverständnisse  ausgeschlossen  sind.  Das  nationale  Ge- 
setz wird  uns  sagen,  wann  und  wie  der  Versuch  oder  auch  schon  die  Vor- 
bereitung  einer  Ubelthat  bestraft  werden  soll;  aber  den  Begriff  des  Versuchs 
und  der  Vorbereitung  muss  die  Wissenschaft  aufsuchen  und  weiterbilden.  Nur 
der  wissenschaftlich  erforschte  und  damit  in  den  lebenspendenden  Fluss  un- 
ausgesetzter wissenschaftlicher  Erörterung  gestellte  Begriff  vermag  die  Recht- 
sprechung vor  der  Erstarrung  zu  bewahren,  der  sie  rettungslos  verfallen  wäre, 
sollte  es  der  Gesetzgebung  einmal  gelingen,  die  Theorie  des  Verbrechens 
lückenlos  aufzubauen. 

Die  Wissenschaft  des  Straf  rechts  in  diesem  Sinne,  d.  h.  als  die  Klar- 
legung der  allgemeinen  Merkmale  des  Verbrechensbegriffs,  ist  notwendig  inter- 
national. Der  Begriff  der  strafrechtlichen  Verantwortlichkeit  ist  der  gleiche 
in  Frankreich  wie  in  Schweden,  mögen  auch  die  Grenzen  der  Strafmündigkeit 
hier  anders  gezogen  sein  als  dort;  die  Unterscheidung  von  Verursachung  und 
Veranlassung  verliert  an  ihrem  wissenschaftlichen  Wert  nichts  durch  die  Er- 
kenntnis, dass  nach  deutschem  Recht  schon  die  blosse  Veranlassung  für  den 
Erfolg  haftbar  macht;  die  Auffassung  der  Anstiftung  und  der  Thäterschaft  ist 
in  ihrem  innersten  Kern  unabhängig  von  jeder  positiv-rechtlichen  Gestaltung; 
und  wer  wollte  behaupten,  dass  alle  die  psychischen  Funktionen,  deren  Ana- 
lyse für  den  Kriminalisten  unentbehrlich  ist,  dass  die  Begiiffe  des  WoUens, 
des  Vorsatzes,  der  Absicht,  des  Entschlusses,  der  Überlegung  usw.  national- 
englische oder  spezifisch  portugiesische  wären? 

Wer  die  strafrechtliche  Litteratur  der  Kulturländer  auch  nur  oberfläch- 
lich kennt,  der  weiss,  wie  viel  jedes  Volk  noch  von  den  anderen  gerade  auf 
diesem  Gebiete  lernen  kann.  Die  englische,  die  deutsche,  die  französische 
Strafrechtswissenschaft  —  sie  gehen,  jede  für  sich,  getrennte  Wege.  Jede  hat 
ihre  starken  und  ihre  schwachen  Seiten  und  jeder  haften  die  Fehler  ihrer 
Tugenden  an.  Überall  liegen  neben  tiefdurchackerten  Feldern  andere,  deren 
Anbau  kaum  begonnen  hat;  die  eine  zeichnet  sich  durch  ihren  praktischen 
Blick,  die  andere  durch  Gedankentiefe  aus;  dort  wird  die  Überlieferung  treu 
bewahrt  und  sorgfältig  weitergebildet,  hier  mit  rücksichtsloser  Jugendkraft 
dem  kühnsten  Fortschritt  gehuldigt;  dort  werden  die  Ergebnisse  der  Natur- 
wissenschaften für  die  Jurisprudenz  fruchtbringend  gemacht,  hier  die  strengen 
Lehren  der  Erkenntniskritik  in  den  Dienst  strafrechtlicher  Forschung  gestellt. 
Überall  eigenartiges  Leben  und  übersprudelnde  Kraft,  überall  das  rastlose 
Ringen  nach  Wahrheit  und  niemals  gestillter  Durst  nach  Erkenntnis.  Aber 
die  gegenseitige  Anregung  und  Befruchtung  fehlt.  Wenn  all  diese  Ströme 
in  ein  mächtiges  Bett  geleitet,  wenn  all  diese  Lebenskraft  vereinigt,  wenn 
Schaffensdrang  und  Wissensdurst  der   einzelnen  Länder   zu  wetteifernder  ge- 


Zur  Einführung.    Rückblick  und  Zukunftspläne.  XXV 


meinsamer  Arbeit  angespornt  werden  könnten  —  müsste  dann  unsere  Wissen- 
schaft nicht  einen  gewaltigen,  heute  kaum  geahnten  Aufschwung  nehmen? 

Diese  Verbindung  ist  möglich.  Freilich  muss  dann  die  ßechtsver- 
gleichung  mehr  sein  als  „verglichene  Gesetzgebung"  („16gislation  compar6e"). 
Neben  den  Strafgesetzbüchern  muss  Wissenschaft  und  Eechtsprechung  der 
einzelnen  Länder  herangezogen  und  zur  höheren  Einheit  verarbeitet  werden. 
Eine  gemeinsame,  allen  einzelnen  Rechten  entnommene,  aber  fiber  ibnen 
allen  stehende  Strafreehtswtssensehaft:  das  wäre  die  zweite  und  höchste 
Aufgabe  unserer  Rechtsvergleichung. 

VI. 

Ich  habe  in  dem  Vorstehenden  nur  meine  eigene  Ansicht  ausgesprochen, 
und  ich  weiss  nicht,  ob  meine  Freunde  sie  teilen.  Noch  wäre  es  ja  auch  ver- 
früht, den  Plan  für  die  Fortführung  unseres  Unternehmens  im  einzelnen  end- 
gültig festlegen  zu  wollen.  Aber  eben  darum  wii*d  es  nicht  als  unbescheiden 
erscheinen  können,  wenn  ich  nunmehr  des  Näheren  die  Folgerungen  aus  meiner 
Auffassung  unserer  Aufgabe  ziehe. 

Der  allgemeine  Teil  unserer  rechtsvergleichenden  Darstellung  soll,  wie 
ich  es  mir  denke,  drei  Abschnitte  umfassen. 

Im  ersten  sind  die  Quellen  des  Straf  rechts  zu  erörtern:  das  Gesetz 
und  sein  Geltungsgebiet  in  zeitlicher,  räumlicher,  persönlicher  Beziehung. 

Dann  folgt  der  zweite  und  schwierigste  Abschnitt,  die  Lehre  vom 
Verbrechen:  der  ganze  objektive  und  subjektive  Thatbestand  des  peinlichen 
Unrechts.  Es  ist  meines  Erachtens  durchaus  notwendig,  diesen  ganzen  Ab- 
schnitt einem  einzigen  Mitarbeiter  zu  übertragen;  bei  dem  Ineinander- 
greifen der  sämtlichen  Einzelfragen  ist  es  unvermeidlich,  dass  die  Einheitlich- 
keit der  Auffassung  schwindet,  wenn  die  verschiedenen  Unterabschnitte  von 
Männern  abweichender  wissenschaftlicher  Grundanschauung  bearbeitet  werden. 
Gerade  auf  den  einheitlichen  Aufbau  der  Theorie  vom  Verbrechen  aber  kommt 
es  meiner  Auffassung  nach  an.  Dass  der  erste  Versuch  eines  solchen  Aufbaues 
schwere  Mängel  und  Gebrechen  aufweisen  wird,  weiss  ich  sehr  wohl;  es  kann 
auch  sein,  dass  er  völlig  misslingt.  Aber  selbst  der  misslungenste  Versuch 
wird  unsere  Wissenschaft  mehr  fördern  als  die  Nebeneinanderstellung  einwand- 
freier, aber  untereinander  nicht  zusammenhängender  Einzelausfuhrungen.  Die 
Arbeitslast,  die  wir  damit  auf  die  Schultern  eines  einzelnen  Mannes  legen,  ist, 
daran  lässt  sich  nicht  zweifeln,  erdrückend  schwer.  Aber  sie  kann  durch  die 
Zuziehung  von  Gehilfen  wesentlich  erleichtert  werden. 

Dem  dritten  Abschnitt  bleibt  die  Lehre  von  der  Strafe  vorbehalten: 
Begriff  der  Strafe,  Strafensystem,  Strafzumessung,  Strafaufhebung.  Hier  wäre 
eine  Einteilung  in  Arbeitspensa  nicht  ausgeschlossen.  Für  den  ganzen  all- 
gemeinen Teil  sind  zwei  Bände  von  je  50  Druckbogen  vorgesehen.  Nach  meiner 
Berechnung  werden  wir  mit  einem  Bande  von  etwa  60  Druckbogen  unser  Aus- 
langen finden  und  den  überschiessenden  Raum  für  den  besonderen  Teil  ver- 
werten können.    Nicht  die  breite  Fülle  der  Einzelnheiten,  sondern  die  scharfe 


XXVI  V.  Liszt. 

Hervorhebung  der  leitenden  Gesichtspunkte  wird  den  Verfassern  den  Dank  der 
Leser  sichern.  Im  zweiten  Abschnitte  wird  die  Rechtsdogmatik,  im  dritten  die 
Eriminalpolitik  die  entscheidende  Stimme  fuhren. 

Die  Aufgabe  des  besonderen  Teils  bildet  die  Darstellung  der  ein- 
zelnen Verbrechen  und  der  auf  diese  gesetzten  Strafen.  Weitgehende 
Arbeitsteilung  bei  eingehender  Ausführung  wird  hier  möglich  sein,  wenn  von 
Seiten  der  Redaktion  ein  voUst&ndiges,  bis  ins  Einzelne  gehendes  und  zugleich 
die  leitenden  Gesichtspunkte  klar  legendes  System  ausgearbeitet  und  das  legis- 
lative Material  den  Mitarbeitern  zur  Verfügung  gestellt  wird. 

Die  Ausarbeitung  bietet  recht  bedeutende,  aber  keineswegs  unüberwind- 
liche Schwierigkeiten.  Massgebend  erscheinen  mir  dabei  die  folgenden  Gesichts- 
punkte, die  ich  hier  nur  kurz  andeuten  kann. 

1.  Die  rechtsvergleichende  Darstellung  soll  zunächt  ein  vollständiges 
Bild  der  in  den  verschiedenen  Gesetzbüchern  gegen  Angriffe  strafrechtlich 
geschützten  Rechtsgüter  bieten.  Die  sämtlichen  Verbrechen,  die  in  den 
einzelnen  Landesrechten  unter  Strafe  gestellt  sind,  müssen  zu  diesem  Zwecke 
daraufhin  geprüft  werden,  welches  das  durch  die  Strafdrohung  geschützte 
Interesse  ist  Neben  Leben,  Freiheit,  Ehre,  Vermögen  und  andere  Interessen 
des  Einzelnen  treten  die  Interessen  der  Gesamtheit,  und  sie  alle  schliessen 
sich  zu  einem  System  zusammen,  das  notwendig  ungleich  vollständiger  und 
ungleich  lehrreicher  sein  wird,  als  das  System  eines  jeden  einzelnen  nationalen 
Rechts.  Die  Redaktion  wird  bei  Aufstellung  des  Systems  diesem  möglichste 
Spannkraft  zu  wahren  bemüht  sein  müssen,  damit  es  der  Auffassung  der  ver- 
schiedenen Rechte  über  dieselbe  Verbrechensgruppe  (man  denke  z.  B.  an  die 
sogenannten  Religionsdelikte)  sich  anzupassen  befähigt  bleibt. 

2.  Die  Ausfüllung  des  Systems  erfolgt  durch  die  Einarbeitung  und 
vergleichende  Darstellung  der  einzelnen,  zu  einer  Gruppe  gehören- 
den Verbrechen,  die  ja  ebensoviele  Arten  der  Verletzung  des  durch  die 
Strafdrohung  geschützten  Interesses  darstellen.  Dabei  werden  die  schwereren 
wie  die  leichteren  Fälle  sich  um  den  Durchschnittsfall  gruppieren,  und  die  Nutz- 
anwendung für  den  Gesetzgeber  wird  unschwer  hervortreten.  Die  Probedar- 
stellung der  Tötungsverbrechen  von  Dr.  Rosen feld,  die  den  meisten  meiner 
Leser  bekannt  sein  dürfte,  sonst  aber  gerne  von  der  Verlagsbuchhandlung  zur 
Verfügung  gestellt  wird,  mag  zur  Erläuterung  des  Gesagten  dienen. 

3.  Die  Strafmasse  werden  nicht  im  Einzelnen,  sondern  nur  soweit  zu 
berücksichtigen  sein,  als  sie  das  rechtliche  Werturteil  über  die  That  zum 
Ausdrucke  bringen. 

4.  Von  der  Darstellung  der  Spezialgesetzgebung  (Militärstrafrecht» 
Schiffahrtsdelikte  usw.)  muss  aus  äusseren  Gründen  vorläufig  Abstand  genommen 
werden.  Für  die  vielfach  wechselnde  Abgrenzung  soll  die  überwiegende  An- 
schauung der  tonangebenden  Staaten  massgebend  bleiben.  Spätere  Einbeziehung 
auch  dieser  grossen  und  praktisch  wichtigen  Gruppe  wird  damit  nicht  aus- 
geschlossen. 


Zur  Einführung.    Rückblick  und  Zukunftspläne.  XXVII 

Soweit  mein  Plan.  Ob  es  uns  beschieden  sein  wird,  ihn  zur  Ausführung 
zn  bringen,  vermag  heute  keiner  von  uns  zu  sagen.  Den  äusseren  Erfolg 
haben  wir  nicht  in  der  Hand.  Wenn  die  zahlreichen  Freunde  der  vergleichen- 
den Strafrechtswissenschaft  in  den  verschiedenen  Ländern  uns  ihre  thatkräftige 
Unterstützung  leihen,  müsste  es  möglich  sein,  in  kurzer  Frist  die  zur  Fort- 
führung unbedingt  erforderliche  Anzahl  von  Abnehmern  des  ganzen  Werkes 
zu  gewinnen.  Die  Entscheidung  dieser  Vorfrage  müssen  wir  abwarten.  Aber 
das  kann  ich  versichern^  dass  wir  jede  andere  Schwierigkeit  überwinden  werden, 
wenn  die  Kosten  der  Veröffentlichung  auch  nur  einer  der  beiden  Ausgaben  ge- 
deckt sind.  An  Mitarbeitern  wird  es  trotz  der  von  diesen  zu  bringenden  schweren 
Opfer  nicht  fehlen:  diese  erhebende  und  beruhigende  Überzeugung  hat  mir  die 
Redaktion  des  ersten  Bandes  gebracht.  Und  wenn  uns  die  Kräfte  versagen 
sollten,  werden  andere  nach  uns  die  Arbeit  aufnehmen.  Die  Strafrechtswissen- 
schaft ist  in  raschem  Aufschwung  begriffen.  Sie  kennt  daher  für  ihre  Vertreter 
den  Begriff  der  fungiblen  Grösse  allerdings  nicht.  Aber  gerade  weil  sie  un- 
aufhaltsam aufwärts  strebt,  arbeitet  jeder  von  uns,  auf  den  Schultern  seiner 
Vormänner  stehend,  für  die  Zukunft.  Getrost  können  wir  dem  jungen  Nach- 
wuchs die  Arbeit  übertragen,  mit  der  wir  selbst  nicht  mehr  fertig  zu  werden 
vermochten:  für  unsere  Wissenschaft  ist  das  Zeitalter  der  Epigonen  noch 
lange  nicht  angebrochen. 


I. 


DEUTSCHES  REICH. 


Von 


Dr.  Hermann  Senffert, 

Oeli.  Justizrat  und  ord.  Professor  der  Rechte  an  der  Univeraitüt  Bonn. 


Übersicht 

I.  Die  Grundlagen  der  deutschen  Strafgesetzgebung.  §  1.  Die  peinliehe  Gerichts- 
ordnung und  das  frühere  gemeine  Strafrecht,  §  2.  Die  deutsche  Landesgesetz- 
gebung bis  zum  Jahre  1869. 
II.  Herstellung  und  Umbildung  des  Strafgesetzbuches.  §  3.  Unmittelbare  Vor- 
geschichte der  Entwürfe.  §  4.  Die  Entwürfe.  §  5.  Die  Verhandlungen  im  nord- 
deutschen Reichstage.  §  6.  Die  Umbildung  des  norddeutschen  zum  deutschen 
Strafgesetzbuche.    §  7.    Inhaltliche  Veränderungen  des  Strafgesetzbuches. 

III.  Der  Inhalt  des  Strafgesetzbuches.  §  8.  Die  einleitenden  Bestimmungen  des  Straf- 
gesetzbuches. §  9.  Die  allgemeinen  Bestimmungen.  §  10.  Der  zweite  Teil 
des  Strafgesetzbuches.  §  11.  Das  Einführungsgesetz  zum  Strafgesetzbuche. 
§  12.   Schlussbetrachtungen. 

IV.  Die  Spezialstrafgesetzgebiuig  des  deutschen  Reiches.  §  13.  Einleitung.  §  14.  Das 
Strafverordnungsrecht  der  Reicfasorgane.  §  15.  Straftechtsexemtionen  ausserhalb 
des  Strafgesetzbuches.  §  16.  Beschränkung  der  freien  Bewegung  infolge  von  Be- 
strafungen. §  17.  Die  Strafbestimmungen  des  Personenstandsgesetzes.  §  18.  Be- 
sonderer Schutz  in  Bezug  auf  Leben  und  Gesundheit.  §  19.  Besonderer  Schutz 
des  Publikums  gegen  Schädigungen  des  Vermögens.  §  20.  Fischerei-  und  Vogel- 
schutz. §  21.  Besondere  Strafgesetze  zum  Schutze  des  Verkehrs.  §  22.  Besondere 
Strafbestimmungen  in  Betreif  der  Seeschiffahrt.  §  23.  Handels-,  Münz-  und  Bank- 
wesen. §  24.  Gewerbestrafrecht,  Arbeiterschutz.  §  25.  Versicherungsstrafrecht. 
§  26.  Der  strafrechtliche  Schutz  des  Urheberrechts.  §  27.  Press-  und  \  ereinsstraf- 
recht.  §  28.  Strafrechtlicher  Schutz  der  Einnahmen  des  Reichs.  (Finanzstraf recht.) 
§  29.  Verweigerung  und  Vernachlässigung  von  Amts-  und  Prozesspflichten. 
§  30.  Ungebühr  vor  der  Behörde.  Verletzung  der  Pflicht  des  Verhandlungs- 
geheimnisses. §  31.  Die  Strafe  im  Dienste  des  Erfüllungszwanges.  §  32.  Kriegs- 
wesen. §  33.  Strafrecht  in  Staatsverträgen.  §  34.  Die  Auslieferungsverträge 
insbesondere.  §  35.  Die  Bestimmungen  des  Bundes-  und  Reichsrechtes  in  Betreff 
der  Begnadigung. 

V.  Das  besondere  Strafrecht  der  Beamten  und  die  Disziplinarstrafgewalt.  §  36. 
VI.  Das  Militärstrafrecht.  1.  Geschichte  des  Militärstrafgesetzbuches.  §  37.  2.  Der 
Inhalt  des  Militärstrafgesetzbuches.  §  38.  Vorbemerkungen  un4  die  einleitenden 
Bestimmungen.  §  39.  Der  erste  Teil  des  Militärstrafgesetzbuches.  §  40.  Der 
zweite  Teil  des  Militärstrafgesetzbuches.  3.  Die  Ergänzung  des  Militärstrafrechts 
durch  die  Disziplin.  §  41.  4.  Das  Strafrecht  im  sogenannten  Kriegszustande. 
(Belagerungszustand,  Standrecht.)  §  42. 
VII.  Die  Landesstrafgesetzgebung.  §  43.  Das  Verhältnis  zwischen  Landes-  und  Reichs- 
recht. §  44.  Die  Landes-Einführungsgesetze  zum  Strafgesetzbuche.  §  45.  Die 
Art  der  Quellen  des  deutschen  Landesstrafrechts.  §  46.  Der  Inhalt  des  Landes- 
strafrechts.   Anhang.     §  47.  Litteratur  und  Praxis. 


L  Die  Grundlagen  der  deutschen  Strafgesetzgebung. 

§  1.  Die  peinliche  Grerlchteordnimg  und  das  frfthere  gemeine  Strafrecht.^) 

Die  Rechtsentwickelung  im  deutschen  Reiche  war  im  Laufe  des  15.  Jahr- 
hunderts wie  diejenige  der  andern  Länder  des  kontinentalen  Westeuropas  von  « 
dem  Ideeenkreise  des  romanisch-italienischen  Rechts  erfüllt  worden.  In  Rechts- 
bücher, in  Stadt-  und  Landrechte  waren  die  fremden  Rechtsgedanken  einge- 
zogen/ohne  indes  die  überlieferten  heimatlichen  Gedanken  und  Rechtssätze 
überaU  zu  überwinden  und  zu  verdrängen.  Der  Fülle  des  Rechtsstoffes  und 
dem  Widerstreite  der  darin  enthaltenen  Ideeen  entsprach  aber  in  den  breiten 
Schichten  der  zur  Teilnahme  an  der  Rechtspflege  berufenen  Personen  nicht 
die  zur  Beherrschung  und  Assimilierung  erforderliche  Geisteskraft  und  Geistes- 
schulung. Auf  dem  Gebiete  der  Strafrechtspflege  lähmten  überdies  soziale 
und  politische  Zustände  die  äussere  Macht  von  Recht  und  Gericht.  Laut  und 
heftig  waren  am  Ausgange  des  15.  Jahrhunderts  die  Klagen  über  den  Zustand 
der  Strafrechtspflege  im  deutschen  Reiche.  Gegen  Fürsten,  Reichsstädte  und 
andere  Obrigkeiten  wurde  bei  dem  neu  (1495)  errichteten  Kammergerichte 
Beschwerde  geführt,  dass  sie  Leute  unverschuldet  ohne  ^Recht  und  redliche 
Ursache  zum  Tode  verurteilen  und  richten  Hessen.  Schuldige  sollten  durch 
unordentliche  oder  böswillige  Verzögerung  des  Prozesses,  der  allgemeinen 
Wohlfahrt  zum  Nachteil,  der  verdienten  Strafe  entzogen  worden  sein.  Kaiser 
Karl  V.  und  des  Heiligen  Römischen  Reichs  peinliche  Gerichtsordnung,  die 
Constitutio  criminalis  Carolina,  —  nach  langen  Verhandlungen  des  Augsburger 
(1530)  und  des  Regensburger  Reichstages  (1532)  am  27.  Juli  1532  zum  Ab- 
schlüsse gebracht,  —  sollte  diesen  Klagen  abhelfen.  Als  Prozessordnung 
angelegt,  enthielt  die  Carolina  vom  Artikel  104  an  auch  Bestimmungen  darüber, 
wie  man  Missethat  peinlich  strafen  solle.  Strafdrohungen  fanden  sich  darin 
gegen  Gotteslästerung,  Meineid,  Bruch  der  Urphcde,  Zauberei,  Schmähschriften, 
Münzfälschung,  andere  Fälle  der  Fälschung  (darunter  auch  Betinigsfälle), 
Prävarikation,  zahlreiche  Sittlichkeitsverbrechen  (Sodomie,  Incest,  Entführung, 
Notzucht,  Ehebruch,  Bigamie,  Kuppelei),  dann  Verrat,  Brandstiftung.  Raub, 
Aufruhr,  Landzwang,  widerrechtliche  Fehde.  Ausführlich  waren  die  Tötungs- 
verbrechen behandelt  (Vergiftung,  Kindestötung,  Aussetzung,  Abtreibung,  Kunst- 
fehler,   Selbstmord,    Tötung   durch  Tiere,    Mord  und  Totschlag).     In   diesem 

M  G.  Geib,  Lehrbuch  des  Deutschen  Strafrechts.  Leipzig  1861.  Bd.  1,  S.  240. 
V  Bar  Handbuch  des  Deutschen  Strafrechts.  Bd.  1.  Geschichte  des  Deutschen 
Strafrechts  und  der  Strafrechtstheorieen.  Berlin  1882.  S.  112.  Hälschner,  Geschichte 
des  Brandenburgisch-Preussischen  Strafrechts  (1.  Teil  des  Preussischen  Straf  rechts). 
Bonn  1855.  S.57.  v.  Wächter,  Gemeines  Recht  Deutschlands,  insbesondere  Gemeines 
Deutsches  Strafrecht.  Leipzig  1844.  Brunnenmeister,  Die  Quellen  der  Bambergensis. 
Leipzig  1879.  Güterbock,  Die  Entstehungsgeschichte  der  Carolina  auf  Grund  archiva- 
liöcher  Forschungen  und  neu  aufgefundener  Entwürfe.    Würzburg  1876. 

1* 


Deutsches  Reich.  —  Die  sreschichtlichen  Grundlao-en. 


Zusammenhange  wurden  auch  Bestimmungen  über  Strafausschliessimgsgründe 
bei  der  Tötung,  über  zweifelhafte  Tötungsfillle,  über  Schlägerei,  Leichenschau 
und  sonstige  prozessuale  Fragen  getroffen.  Eingehend  sind  Diebstahl  und  Unter- 
schlagung behandelt.  Artikel  176  betrifft  die  Friedensbürgschaft,  Artikel  177  die 
Materie  der  Teilnahme,  Artikel  178  den  strafbaren  Versuch.  Artikel  179  handelt 
vom  Einfluss  der  Jugend  und  von  anderen  Gründen  der  Unzurechnungsfähig- 
keit; Artikel  180  leitet,  indem  er  sich  mit  der  widerrechtlichen  Gefangenenbefreiung 
und  mit  dem  Entweichenlassen  von  Gefangenen  beschäftigt,  wieder  zum  Prozess- 
rechte über.  Die  Strafen  entsprechen  der  Gesittung  imd  dem  Geiste  der  Zeit. 
Feuer,  Schwert,  Vierteilung,  Rad,  Galgen,  Ertränken,  lebendig  Vergraben, 
Schleifen,  Reissen  mit  glühenden  Zangen,  Landesverweisung,  Rutenaushauen 
und  dergleichen  sind  die  Mittel,  mit  denen  das  16.  Jahrhundert  die  Lieb'  der 
Gerechtigkeit  pflegen,  Furcht  erregen  (abschrecken),  bessern,  überhaupt  den 
gemeinen  Nutzen  fördern  wollte.  Die  Carolina  war  eine  vom  Standpunkte 
ihrer  Zeit  wohlgelungene  Verarbeitung  des  fremden  mit  dem  einheimischen 
Rechte.  Hauptsächlich  ein  Werk  des  fränkischen  Ritters  und  Staatsmannes 
Johann  von  Schwarzenberg,  gab  sie  in  mehr  als  zwei  Jahrhunderten  der 
deutschen  Strafrechtspflege  Richtung  und  Signatur.  Allerdings  gestatteten  die 
politischen  und  staatsrechtlichen  Verhältnisse  des  deutschen  Reiches  im  16.  Jahr- 
hundert kein  solches  Machtwort  der  Reichsgesetzgebung,  wie  es  die  Verfassungen 
des  norddeutschen  Bundes  und  des  deutschen  Reiches  in  der  zweiten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts  gesprochen  haben.  Nicht  übte  im  16.  Jahrhundert  das 
Reich  die  Gesetzgebung  mit  der  Wirkung  aus,  dass  die  Reichsgesetze  den 
Landesgesetzen  vorgingen.  Kaiser  Karl  V.  erklärte  vielmehr  am  Schlüsse  der 
VoiTcde  (des  Einführungspatentes)  zur  Carolina,  dass  er  „durch  diese  gnädige 
Erinnerung  Chm'fürsten,  Fürsten  und  Ständen  an  ihren  alten  wohlhergebrachten, 
rechtmässigen  und  billigen  Gebräuchen  nichts  benommen  haben"  wolle.  Und 
manche  Fürsten  und  Stände  hielten  sich  nicht  durch  die  neue  Ordnung  ge- 
bunden, oder  sie  glaubten  erst  noch  ihren  landesherrlichen  Willen  hinzuthun 
zu  müssen,  um  dem  Reichsgesetze  in  ihren  Landen  Eingang  zu  verschaffen. 
Trotzdem  ist  die  Carolina  die  Hauptgrundlage  des  gemeinen  deutschen  Straf- 
rechts geworden.  Dieselbe  ging  von  der  Geltung  der  Kaiserlichen  Rechte 
(römisches  und  kanonisches  Recht)  aus,  und  verwies  zu  ihrer  Ergänzung  auf 
diese,  sowie  auf  die  Analogie,  mit  Einschränkung  auch  auf  löbliche  Gebräuche 
und  gute  Gewohnheiten.  Erst  im  17.  Jahrhundert  ist  aber,  und  zwar  vor- 
nehmlich durch  den  Einfluss  der  sächsischen  Jurisprudenz  (namentlich  Benedikt 
Carpzov,  Practica  nova  Imperialis  Saxonica  reinim  criminalium)  aus  diesem 
Rechtsstoffe  ein  gemeines  deutsches  Strafrecht  mit  subsidiärer  Geltung  ausge- 
bildet worden ,  welches  über  ein  Jahrhundert  formale  Geltung  besass  und 
inhaltlich  bis  weit  in  das  19.  Jahrhundert  fortwirkte.  Seine  Tendenz  war 
rücksichtsloser  Schutz  der  Gesellschaft  gegen  verbrecherische  Naturen,  unter- 
mischt mit  dem  Vergeltungswerke.  Das  Fortschreiten  der  Gesittung  und  Ge- 
sinnung führte  schon  im  17.,  namentlich  aber  im  18.  Jahrhundert  zu  einer 
Bekämpfung  der  grausamen  Strafdrohungen  des  geschriebenen  Rechts.  Lebhafte 
Förderung  fand  dieser  Kampf  durch  die  Ideeen  der  naturrechtlichen  Schule. 
Das  Ansehen  und  die  Geltung  des  geschriebenen  Strafrechts  wurde  erschüttert. 
Praxis  und  Lehre  setzten  sich  über  die  gesetzlichen  Strafdrohungen  hinweg 
und  setzten  die  Willkür  an  deren  Stelle.  Dass  statt  Todesstrafe  eine  Geld- 
strafe von  20  Thalem  erkannt,  dass  ein  Inquisit  wegen  Ehebruchs  und  Unzucht 
des  Landes  ewig  verwiesen  oder  mit  30  Thalern  bestraft  wurde,  war  nichts 
Auffallendes.  Auch  in  unseren  Tagen  wird  vielfach  und  gerade  von  der 
Internationalen  Kriminalistischen  Vereinigung  die  Erweiterung  des  richterlichen 
Strafzumessungsrechtes   empfohlen.     Wir  stossen  uns.  nicht  daran,    wenn    das 


§  2.    Die  deutsche  Landes^esetz^ebung'  bis  1869.  5 


englische  Gesetz  vom  6.  August  1861  (24,  25  Victoria,  Cap.  100  No.  5^)  dem 
Cierichtshofe  die  Macht  giebt,  den  Totschläger  zu  verurteilen,  to  be  kept  in 
Penal  Servitude  for  Life  or  for  any  Term  not  less  than  Three  Years,  —  or 
to  be  iraprisoned  for  any  Term  not  exceeding  Two  Years,  with  or  without 
Hard  Labour,  or  to  pay  such  Fine  as  the  Court  shall  award,  in  addition  to 
or  without  any  such  other  discretionary  Punishment  as  aforesaid.  Aber  wir 
wollen  solche  Gewalt  nur  dem  durchgc^bildeten  und  unabhängigen  Richter  anver- 
trauen. Das  deutsche  Militärstrafgesetzbuch  §  88  (RGBl.  1872,  S.  190)  enthält 
in  einem  Falle  eine  noch  weitere  Ermächtigung.  S.  unten  §  40  No.  5.  Das 
18.  Jahrhundert  konnte  solches  Vertrauen  in  seine  Juristenwelt  nicht  setzen. 
Die  Gesetzgebung  musste  eingreifen,  um  der  unerträglich  gewordenen  Zerfahren- 
heit und  Willkür  des  Strafrechts  eine  Schranke  zu  errichten. 

§  2.    Die  deutsehe  Landesgesetzgebnng:  bis  znm  Jahre  1869.^) 

I.  Das  in  der  Auflösung  begriffene  alte  deutsche  Reich  besass  nicht  mehr 
die  Kraft  zu  neuen  Rechtsbildungsakten.  Einzelne  Gliedstaaten  des  alten 
Reiches  gingen  daher  selbständig  vor,  beseitigten  die  formale  Geltung  des 
gemeinen  Strafrechts  und  setzten  partikuläre  Strafrechtskodifikationen  an  dessen 
Stelle.  1.  Der  Codex  juris  Bavarici  criminalis  vom  Jahre  1751  eröffnete  die 
Reihe  der  Inndesrechtlichen  Strafgesetzgebungen,  welche  über  ein  Jahrhundert 
die  Fort-  und  Umbildung  des  Strafrechts  besorgten,  bis  der  norddeutsche 
Bund  und  das  neue  deutsche  Reich  zur  Schöpfung  eines  deutschen  Straf- 
gesetzbuches gelangten.  Bin  ding  hat  hundert  deutsche  (iesetzgebungswerke, 
teils  Gesetze,  teils  Gesetzesentwürfe,  ermittelt,  welche  von  1751 — 1809  für 
deutsche  Staaten  (Österreich  mit  einbegriffen)  ausgearbeitet  wurden.  2.  Dem 
bayerischen  Gesetzbuche  folgte  zunächst  die  Theresiana  vom  31.  Dezember  1768. 
Die  beiden  Gesetzbücher  sind  trotz  des  formalen  Bruches  mit  dem  gemeinen 
Rechte  noch  von  dem  Geiste  desselben  erfüllt.  Man  wirft  ihnen  grössere 
Halte  als  der  Carolina  vor  und  bezeichnet  sie  als  Rückschritte  gegenüber 
dem  Gesetzbuche  Johann  von  Schwarzenbergs.  Hinsichtlich  der  Theresiana 
dürfte  dieser  Vorwurf  nicht  in  allen  Beziehungen  begründet  sein.  Jedenfalls 
ist  Maria  Theresia  für  die  Übertreibung  der  Grausamkeit  in  ihrem  Gesetzbuche, 
besonders  für  die  Beibehaltung  der  Folter,  nicht  verantwortlich  zu  machen.  Die 
juristischen  Ratgeber  haben  der  an  Geist  sie  weit  überragenden  Kaiserin  das 
Gesetzbuch  abgetrotzt.  3«  Vom  Geiste  der  Aufklärung  beeinflusst  sind  das 
österreichische  Strafgesetzbuch  Josefs  II,  (die  Josephina)  von  1787,  das  Allge- 
meine preussische  Landrecht,  Teil  II,  Titel  20  (1577  Paragraphen)  von  1794 
und  das  österreichische  Strafgesetzbuch  von  1803.  Sie  bilden  den  Übergang 
von  der  Gesetzgebung  des  18.  zu  der  des  19.  Jahrhunderts.  4.  Eine  neue 
Periode  der  deutschen  Strafgesetzgebung  wurde  eingeleitet  durch  das  berühmte 
bayerische  Strafgesetzbuch  von  1813,  welches  Anselm  von  Feuerbach, 
den  bedeutendsten  deutschen  Kriminalisten,  zum  Haupturheber  hat.  Dieses 
Gesetzbuch  ist  nach  Inhalt,  Anordnung  und  Sprache  der  Markstein  für  die 
moderne  Strafgesetzgebung   in  Deutschland.     Es  sollte  der  Richterwillkür  Ziel 


*)  The  Statutes  of  the  united  Kingdom  of  Great  Britain  and  Ireland  24  and  25 
Victoria  1861  bv  George  Kettilbv  Rickards,  Esq.  London  1861.    S.  426. 

*)  G ei b, 'Lehrbuch,  Bd.  1,  S.806.  v.  Bar,  Handbuch,  Bd.  1,  S.  155.  Berner,  Die 
Strafgesetzgebung  in  Deutschland  vom  Jahre  1751  bis  zur  Gegenwart.  Leipzig  1867. 
Binding,  Die  gemeinen  deutschen  Strafgesetzbücher  vom  26.  Februar  1876  und 
vom  20.  Juni  1872.  Kommentar.  I.  P^inleitung.  2.  vermehrte  Aufl.  Leipzig  1877.  S.  4  ff. 
Binding,  Handbuch,  I,  §  8,  S.  38—48.  Grundri8S  (4.  Aufl.  1890),  §  14,  S.  34.  v.  Liszt,  Lehr- 
buch (5.  Aufl.  1892),  §  10,  S.  66.  —  Besonders  brauchbar:  M.  Stenglein,  Sammlung 
der  deutschen  Strafgesetzbücher.   Drei  Bändchen  mit  Sachregister.   München  1858. 


Deutsches  Reich.  —  Die  geschichtliehen  Grundlagen. 


und  Grenze  setzen;  daher  die  vielen  Abstufungen  in  den  Thatbeständen  und 
Straf drohungen.  Offizielle  Anmerkungen  (3  Bände  1813  und  1814)  sollten 
Privatkommentare  ersetzen.  Die  Anmerkungen  waren  abgefasst  von  Gönner, 
einem  Gegner  Feuerbachs,  der  zwar  hochbegabt,  aber  an  gewissenhafter  Gründ- 
lichkeit, sowie  philosophischer  Durchbildung  Feuerbach  nicht  ebenbürtig  war. 
Die  Anmerkungen  stehen  nicht  auf  der  Höhe  des  Gesetzbuches;  sie  haben 
durch  ihre  Widersprüche  mit  dem  Gesetzbuche  den  Ausleger  nicht  selten  in 
Verlegenheit  gebracht.  Das  bayerische  Strafgesetzbuch  von  1813  ist  die 
bedeutendste  gesetzgeberische  Ausgestaltung  der  psychologischen  Zwangstheorie. 
Trotz  seiner  epochemachenden  Bedeutung  litt  das  bayerische  Strafgesetzbuch 
von  1813  doch  an  schweren  Mängeln,  zu  denen  namentlich  eine  übertriebene 
Lehrhaftigkeit  gehörte.  Es  war  für  den,  der  das  Gesetzbuch  anzuwenden  hatte, 
nicht  selten  eine  peinliche  Arbeit,  die  Thatbestände  des  Lebens  den  minutiös 
unterscheidenden  Thatbestandszeichnungen  des  Gesetzbuchs  unterzuordnen.  Das 
bayerische  Gesetzbuch  von  1813  ist  mehr  durch  den  Anstoss,  den  es  der 
deutschen  Rechtsbildung  gegeben  hat,  durch  die  legislatorisch  angemessene 
Methode  und  Sprache  bedeutsam  geworden,  als  durch  den  Inhalt  seiner  Be- 
stimmungen. Nachdem  Oldenburg  im  Jahre  1814  das  bayerische  Strafgesetz- 
buch fast  wörtlich  rezipiert  hatte,  trat  wieder  ein  Stillstand  in  der  deutschen 
Strafgesetzgebung  ein.  Zwar  die  Vorarbeiten  für  neue  Entwürfe  ruhten  nicht, 
selbst  in  Bayern  wurde  schon  im  Jahre  1822  ein  neuer  Entwurf  veröffentlicht; 
aber  erst  das  Jahr  1838  brachte  ein  neues  Gesetzbuch,  und  zwar  das  königlich 
sächsische,  das  auf  die  Strafgesetzgebung  einer  grösseren  Anzahl  der  deutschen 
Bundesstaaten  erheblichen  Einfluss  äusserte.^)  Bemerkenswert  im  sächsischen 
Strafgesetzbuch  mit  Rücksicht  auf  die  heutigen  Ziele  der  Strafrechtsreform 
ist  die  Handarbeitsstrafe  als  Surrogat  der  Gefängnisstrafe.  Vergl.  Wächter 
a.  a.  O.  S.  219  f.  Das  sächsische  Strafgesetzbuch  von  1838  liegt  den  Straf- 
gesetzbüchern für  Weimar  (1839),  Sachsen-Altenburg  (1841),  Sachsen- 
Meiningen  (1844)  und  Schwarzburg-Sondershausen  (1845)  zu  Grunde; 
es  bildete  ferner  die  Grundlage  für  das  sogenannte  thüringische  Strafgesetz- 
buch, zu  dem  sich  in  den  Jahren  von  1849  an  eine  grössere  Anzahl  der  im 
Zentrum  von  Deutschland  gelegenen  Staaten,  freilich  nicht  ohne  manche  kleine 
Veränderungen  hinsichtlich  einzelner  Details,  vereinbart  hatten.  (Weimar, 
Meiningen,  Koburg-Gotha,  Schwarzburg-Sondershausen,  Schwarzburg-Rudolstadt, 
Reuss  alt.  L.,  Reuss  j.  L.,  Anhalt-Dessau  und  Köthen.*)  Das  Königreich 
Sachsen  selbst  schritt  noch  zweimal,  1855  und  1868,  zu  einer  Revision  seines 
Strafgesetzbuchs.  Im  Jahre  1840  wurde  das  braunschweigische  Strafgesetz- 
buch erlassen,  welches  zwar  die  vorhandenen  Gesetzgebungsarbeiten  berück- 
sichtigte, aber  doch  eine  selbständige  und  eigenartige  Schöpfung  war.**)  Be- 
sonders bemerkenswert  in  demselben  ist  die  Bestimmung  des  §  4,  wonach 
die  Vorschriften  des  Gesetzbuches  auf  solche  Handlungen  oder  Unterlassungen 
angewendet  werden  sollten,  „welche  entweder  nach  den  Worten  oder  nach 
dem  Sinne  oder  nach  dem  Grunde  der  einzelnen  Bestimmungen  desselben,  als 
darin  unzweifelhaft  enthalten,  anzusehen  sind".  Im  Widerspruche  mit  dem 
heutigen  Rechte  des  deutschen  Reiches,  aber  in  Übereinstimmung  mit  Artikel  105 
der  Carolina  wurde  sonach  die  Gesetzesanalogie  für  das  Gebiet  des  Strafrechts 
gutgeheissen.  Das  ist  ein  Standpunkt  der  Strafgesetzgebung,  der  als  ein  idealer 
erschiene,    wenn   auf  den  Richterbänken  nur  ideale  Naturen  gedacht  werden 


*)  Vergl.  bezüglich  desselben  namenthch:  Wächter,  Das  Königlich  sächsiche 
und  das  thüringische  Strafrecht.  Ein  Handbuch.  Einleitung  und  allgemeiner  Teil. 
Stuttgart  1857.     S.  1—27. 

-)  Vergl.  Wächter,  Sächsisch-thüringisches  Straf  recht.  S.  54  ff. 

»)  Vergl.  dazu  S.  8,  III. 


§  2.    Die  deutsche  Landesgesetzgebung  bis  1869. 


könnten.  Gegenüber  der  nicht  zu  ändernden  Unvollkommenheit  der  richter- 
lichen Kräfte  erscheint  aber  die  heutige  Begrenzung  der  richterlichen  Gewalt 
durch  das  Gesetz  unzweifelhaft  mehr  empfehlenswert  als  die  Ermächtigung 
der  Richter  zur  Bestrafung  nach  Analogie.  Im  Jahre  1843  ist  das  braun- 
schweigische  Strafgesetzbuch  im  Fürstentum  Lippe-Detmold  eingeführt  worden. 
Und  unverkennbar  ist  der  Einfluss  dieses  Gesetzbuches  auf  das  hamburgische 
Strafgesetzbuch  von  1869.  Auch  Hannover  gab  sich  im  Jahre  1840  ein 
Strafgesetzbuch,  das  bis  zur  Einführung  des  preussischen  Strafgesetzbuches  im 
Jahre  1867  in  Geltung  blieb.  Nach  langen  Vorbereitungen  und  Verhandlungen 
gelangte  im  Jahre  1841  das  Grossherzogtum  Hessen  zu  einem  Strafgesetz- 
buche, welches  1849  die  Grundlage  des  nassauischen,  1856  des  frank- 
furtischen und  1859  des  hessen-homburgischen  Strafgesetzbuches  wurde.  — 
Baden  hatte  noch  in  einem  Edikt  von  1803  eine  Kodifikation  des  gemeinen 
Rechtes  auf  der  Grundlage  der  Carolina  unternommen.  Nach  langen  und 
sorgfältigen  Vorbereitungen  und  Verhandlungen  ist  es  darauf  zu  dem  badischen 
Strafgesetzbuche  von  1845  gekommen.  Württemberg  war  im  Jahre  1839 
hauptsächlich  dem  bayerischen  Strafgesetzbuche  von  1813  gefolgt.  Entscheidend 
für  die  deutsche  Strafgesetzgebung  seit  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts,  nament- 
lich auch  für  das  heutige  gemeine  Reichsrecht  wurde  das  preussische  Straf- 
gesetzbuch vom  14.  April  1851.  Dieses  Gesetzbuch  ist  das  Ergebnis  von 
Arbeiten  Einzelner  und  von  Beratungen  und  Beschlussfassungen  in  Kommissionen 
während  eines  Vieiteljahrhunderts. 

Das  preussische  Strafgesetzbuch  ist  in  den  Bannkreis  des  Code  p^nal 
getreten,  namentlich  in  Hinsicht  auf  die  Dreiteilung  der  strafbaren  Handlungen, 
sowie  in  Bezug  auf  die  Behandlung  des  Versuchs  und  der  Teilnahme.  Im 
preussischen  Strafgesetzbuch  ist  sodann  zuerst  von  einem  deutschen  Strafgesetz- 
buche*) das  französische  System  der  ».mildernden  Umstände",  wenn  auch 
etwas  verschieden  von  der  Ausgestaltung  in  den  französischen  Gesetzen  vom 
25.  Juni  1824  und  28.  April  1832  angenommen  worden.  Die  deutsche  Rechts- 
wissenschaft beklagt  diese  Gefolgschaft  der  preussischen  gegenüber  der  franzö- 
sischen Gesetzgebung.  Hinsichtlich  der  Dreiteilung  der  strafbaren  Handlungen 
und  der  Annahme  des  Systems  der  mildernden  Umstände  wird  diese  Klage 
mit  ausreichenden  Gründen  nicht  zu  widerlegen  sein.  In  Bezug  auf  die 
Materie  des  Versuches  und  der  Teilnahme  kann  aber  derjenige  die  Nacfi- 
bildung  der  französischen  durch  die  preussische  Gesetzgebung  nicht  tadeln, 
welcher  in  der  staatlichen  Strafe  Schutz  gegen  die  wiederholte  Verübung  anti- 
sozialer Handlungen  seitens  des  bestraften  Individuums  sucht,  und  mit  regel- 
mässiger Erreichung  dieses  Zieles  die  Strafeinrichtung  für  begründet  ansieht. 
Es  war  eine  nicht  zu  rechtfertigende  Konzession  des  preussischen  Strafgesetz- 
buches an  die  deutsche  Erfolgsüberschätzung,  wenn  es  gerade  in  den  schwersten 
Fällen  das  eingenommene  Prinzip  verleugnete  und  z.  B.  den  Mordversuch  nur  mit 
Zuchthaus  von  10 — 20  Jahren  bestrafen  Hess  (preuss.  StGB.  §  32  Abs.  2).  Vergleiche 
demgegenüber  das  bayerische  Strafgesetzbuch  von  1861,  Artikel  49,  welches 
den  Versuch  nach  den  nämlichen  Bestimmungen  wie  die  Vollendung  bestrafte  und 
nur  den  Gerichten  (ohne  Beteiligung  der  Geschworenen)  ein  Ermässigungsrecht 
einräumte.  Das  preussische  Strafgesetzbuch  bildete  zum  Teil  fast  wörtlich, 
zum  Teil  in  den  Grundgedanken  und  in  der  Anlage  das  Vorbild  für  die 
Strafgesetzbücher  von  Anhalt-Bemburg  (1852),  (das  sich  freilich  später  dem 
thüringischen  Strafgesetzbuche  anschloss),  Waldeck  und  Pyrmont  (1855),  Olden- 
burg   (1858),    Lübeck    (1861),    Bayern    (1861).      Im   Jahre    1867    wurde    das 

*)  Vorher  hatte  das  bayerische  (Spezial-)Gesetz  zum  Schutz  gegen  den  Miss- 
brauch der  Presse  vom  17.  März  1850  die  Annahme  mildernder  Umstände  im  franzö- 
sischen Sinne  zugelassen.    Vergl.  auch  Zeitschr.  f.  d.  g.  Strafrechtsw.  XI,  S.  220  (46). 


Deutsches  Reich.  —  Die  geschichtlichen  Gnmdlageii. 


preussische  Strafgesetzbuch  in  den  von  Preussen  1866  erworbenen  Gebietsteilen 
(Schleswig-Holstein,  Hannover,  Hessen-Nassau  und  Frankfurt  a.  M.)  eingeführt. 

II.  Die  Motive  zum  Strafgesetzbuch  für  den  norddeutschen  Bund  unter- 
scheiden acht  Strafrechtsgruppen  im  Bundesgebiete,  die  Gruppe  des  preussischen, 
des  königlich  sächsischen,  des  hessischen,  des  thüringischen,  des  braun- 
schweigi sehen,  altenburgischen  und  hamburgischen  Strafgesetzbuches  und  das 
gemeine  deutsche  Strafrecht.  Sieht  man  auf  den  geschichtlichen  und  inhalt- 
lichen Zusammenhang,  so  lässt  sich  die  Gruppenbildung  noch  vereinlachen, 
indem  man  gegen  einander  stellt  die  Gruppe  der  preussischen,  der  sächsisch- 
thüringischen,  der  braunschweigischen  und  der  hessischen  Strafgesetzgebung, 
sowie  die  Gruppe  des  gemeinen  Rechts.  Das  letztere  galt  noch,  allerdings 
durch  die  Gesetzgebung  teilweise  modifiziert,  in  den  beiden  Grossherzogtümem 
Mecklenburg,  in  Schaumburg-Lippe  und  in  Bremen.  Wohl  fand  sich  in  diesen 
Gesetzgebungen  viele  Übereinstimmung,  aber  es  waren  auch  viele  recht  ein- 
greifende Verschiedenheiten  darin.  Und  was  das  Störendste  war,  in  dem 
nämlichen  Bundesstaate  von  22  Gliedstaaten  galten  18  formal  selbständige 
Strafgesetzbücher  und  das  alte  gemeine  Recht. 

III.  Ein  einheitliches  Strafrechtsprinzip  beherrschte  weder  die  Gesan^theit 
des  Strafrechts,  noch  die  einzelnen  Gesetze.  Wohl  meinten  die  Motive  und 
Bemerkungen  zum  braunschweigischen  Strafgesetzbuch,  es  müsse  ein  oberstes 
Prinzip  geben,  dem  man  bei  Bearbeitung  eines  Kriminalgesetzbuches  „mit  oder 
ohne  Absicht,  mit  Bewusstsein  oder  unwillkürlich"  folge.  Und  nach  einer 
Auseinandersetzung  über  das  Wesen  der  Strafe,  die  an  Kant  gemahnt,  wird 
erklärt:  „Der  Grund  und  Zweck  der  Rechtsgesetzgebung  überhaupt  und  der 
Strafgesetzgebung  insbesondere  kann  daher  lediglich  in  der  Erhaltung  und 
Förderung  der  sittlichen  Ordnung  gefunden  werden".  Es  dürfte  schwer 
sein,  mit  diesem  Grundgedanken  die  Bestimmung  des  §  31  des  Gesetzbuchs 
in  Einklang  zu  bringen,  welcher  dem  Wahn,  es  sei  die  durch  das  Gesetz 
bedrohte  Übertretung  nach  dem  Gewissen  und  nach  der  Religion  erlaubt, 
die  Beachtung  versagt.  Schwer  dürfte  es  sein,  vom  Standpunkte  der  sittlichen 
Ordnung  aus  die  mildere  Bestrafung  des  Versuches  zu  rechtfertigen ;  mit  der  sitt- 
lichen Ordnung  hat  die  Abstufung  der  Strafe  vorsätzlicher  Körperbeschädigungen 
nach  dem  Erfolge  und  namentlich  nach  der  Dauer  der  verursachten  Krankheit 
nichts  zu  thun.  Mehr  oder  weniger  bewusst  wirkten  in  den  Seelen  der  Ver- 
fasser der  deutschen  Strafgesetzbücher  und  in  den  Seelen  derer,  die  sie  gut 
hiessen ,  nebeneinander  die  absoluten  und  die  relativen  Theorien ,  bei  der 
einen  Bestimmung  vorwiegend  der  eine  Zweck,  bei  der  andern  Vorschrift  eine 
andere  Erwägung.  Immerhin  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  die  deutsche 
Philosophie,  besonders  Hegel,  in  den  Strafgesetzbüchern  zum  Worte  gekommen 
ist.  Die  überstarke  Betonung  der  „Gleichheit  vor  dem  Gesetze",  welche  in 
der  deutschen  Strafgesetzgebung  zu  beobachten  ist,  dürfte  nicht  ausser  Zu- 
sammenhang  mit   den   philosophischen  Spekulationen  über  die  Strafe  stehen. 

IV.  Zusammenhängend  mit  der  Vielheit  der  Gesetzbücher  und  der  Selb- 
ständigkeit der  Gerichtsverfassung  der  zum  ehemaligen  deutschen  Bunde 
gehörenden  Staaten  verlor  die  Strafrechtspraxis  mehr  und  mehr  die  Erinnerung 
an  die  frühere  Rechtsgemeinschaft.  Von  einer  gesunden  und  kräftigen  Ent- 
wickelung  und  Fortbildung  konnte  in  den  kleineren  Staatswesen  nicht  die 
Rede  sein.  Das  Recht  bedarf  eines  weiten  Bodens;  auf  engem  Raum  ver- 
kümmern die 'Wurzeln  und  Aste  und  Zweige  des  Baumes,  den  das  Recht 
darstellt.  Die  deutsche  Rechtswissenschaft  hat  wohl  den  Gedanken  der  Rechts- 
einheit wert  gehalten  und  gepflegt.  Teils  auf  dem  Boden  der  alten  gemein- 
rechtlichen Quellen,  teils  auf  der  Basis  der  neuen  Landesgesetzgebungen  ver- 
suchte sie  ein    deutsches  Straf  recht   zu   konstruieren.     Manche  hochverdienst- 


§  3.     Unmittelbare  Vorgeschichte  der  Entwürfe. 


liehe  und  noch  heute  zum  Teil  wertvolle  Bearbeitungen  des  Strafrechts  im 
ganzen  oder  einzelner  Teile  sind  aus  dem  Bestreben,  die  Einheit  des  Rechts 
zu  erhalten,  hervorgegangen.  Mit  unmittelbarer  Brauchbarkeit  für  das  Rechts- 
leben arbeitete  diese  Jurisprudenz  nur  in  höchst  bescheidenen  Grenzen.  Dem 
praktischen  Gebrauche  diente  vorzugsweise  die  Kommentarien-  und  Pr^tjudizien- 
litteratur,  wertvoll  für  den  selbständigen,  gefährlich  für  den  unselbständigen 
Juristen.  Eine  hochwertvolle  und  durchaus  zuverlässige  Zusammenstellung 
der  deutschen  kriminalistischen  Litteratur  seit  dem  Ende  des  vorigen  Jahr- 
hunderts hat  Binding,  Grundriss  des  Gemeinen  deutschen  Strafrechts.  I.  Ein- 
leitung und  allgemeiner  Teil;  4.  verb.  Aufl.  Leipzig  1890.  S.  43 — 48  gegeben. 
Vergleiche  auch  v.  Liszt,  Lehrbuch  (5.  Aufl.  1892),  S.  64 — 66.  Ein  kleines 
Stück  übereinstimmenden  Strafrechts  war  für  den  deutschen  Zollverein  ge- 
schafl'en  worden,  das  isf  in  jener  wirtschaftspolitischen  Vereinigung  deutscher 
Staaten,  durch  deren  Herbeiführung  schon  in  den  dreissiger  Jahren  des  19.  Jahr- 
hunderts die  weitsichtige  preussische  Staatsleitung  den  ersten  Keim  für  das 
heutige  deutsche  Reich  gelegt  hatte.  Das  noch  heute  geltende  Vereinszoll- 
gesetz des  Norddeutschen  Bundes  vom  1.  Juli  1869  (BGBl.  S.  355)  enthält 
diejenigen  strafrechtlichen  Grundsätze,  welche  bereits  in  der  früheren  vertrags- 
mässigen  Festsetzung  enthalten  waren. 


n.   Herstellimg  nnd  ümbildimg  des  Strafgesetzbuches.^) 

§  3.    Unmittelbare  Vorgeschichte  der  Entwürfe. 

Schon  in  der  Zeit  vor  der  Gründung  des  Norddeutschen  Bundes  wurden 
mehrere  Projekte  für  ein  gemeinsames  deutsches  Strafgesetzbuch  ausgearbeitet. 
Die  Reichsverfassung  von  1849  stellte  im  §  59  (64)  das  Programm  auf,  durch 
die  Erlassung  allgemeiner  Gesetzbücher  über  bürgerliches  Recht,  Handels-  und 
Wechselrecht,  Strafrecht  und  gerichtliches  Verfahren  die  Rechtseinheit  im 
deutschen  Volke  zu  begründen.  Darauf  wurde  im  preussisclien  Justizministerium 
der  Entwurf  eines  allgemeinen  deutschen  Strafgesetzbuches  ausgearbeitet. 
„Derselbe  betrachtet  Deutschland  strafrechtlich  als  ein  einheitliches  Gebiet  und 
beseitigt  innerhalb  der  deutschen  Grenzen  die  Unterscheidung  von  Inland  und 
Ausland."*)  Den  in  der  deutschen  Reichsverfassung  (1849)  aufgenommenen 
(xrundrechten  entsprechend,  hatte  der  preussische  (!)  Entwurf  die  Todesstrafe 
beseitigt.  Mit  dem  alsbaldigen  Zusammenbrechen  der  Reichsverfassung  wurde 
der  Entwurf  gegenstandslos,  und  er  wurde  bis  auf  wenige  Exemplare  —  ein- 
gestampft. Ein  Antrag  Bayerns  bei  dem  früheren  Bundestage,  die  Möglich- 
keit und  Nützlichkeit  einer  gemeinsamen  bürgerlichen  und  Strafgesetzgebung 
zu  erörtern  (1859),  fand  keinen  Anklang  in  der  zwiespältigen  Versammlung. 
So  wenig  scheint  in  massgebenden  Kreisen  das  Bedürfnis  nach  einheitlicher 
Strafgesetzgebung  empfunden  oder  für  dringend  erachtet  worden  zu  sein,  dass 
sogar  der  Entwurf  einer  Verfassung  des  norddeutschen  Bundes,  welcher  dem 
konstituierenden  Reichstage  von  1867  vorgelegt  worden  war,  das  Strafrecht 
nicht  unter    die    Gegenstände    der   gemeinsamen    Gesetzgebung    aufgenommen 


»)  Binding,  Handbuch,  I,  §§  9—18,  S.  48—96.  Derselbe,  Grundriss,  4.  Aufl. 
1890,  §  15.  Rubo,  Kommentar  über  das  Strafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich  imd 
das  EinführungRgesetz  vom  31.  Mai  1870  u.  s.  w.  Nach  amtlichen  Quellen.  Berlin 
1879.  S.  1—84.  Rüdorff,  Strafgesetzbuch  für  das  deutsehe  Reich.  Mit  Kommentar. 
4.,  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Praxis  des  Reichsgerichtes  neu  bearbeitete 
Aufl.,   herausgegeben  von  M.  Stenglein.    Berlin  1892.    S.  6—26,  35—38. 

«)  Rüdorff  (Stenglein)  a.  a  .0.  S.  8. 


10         Deutsches  Reich.  —  Herstellung  und  Umbildung  des  Strafgesetzbuches. 


hatte.  Und  nachdem  die  Abgeordneten  Miquel  und  Lasker  diese  Aufnahme 
beantragt  hatten,  erklärte  der  bekannte  sächsiche  Kriminalist  Generalstaats- 
anwalt  von  Schwarze,  es  sei  nach  seiner  Ansicht  „gegenwärtig  (1867)  und 
auf  lange  Zeit  hinaus  eine  Unmöglichkeit,  ein  gemeinsames  Strafgesetzbuch 
zu  erlassen ^^  Ein  Glück,  dass  der  nationale  Einheitsgedanke  den  parti- 
kularistischen  Neigungen  überlegen  war!  Mit  beredten  Worten  verteidigte 
Karl  von  Wächter  neben  andern  das  nationale  Programm,  dessen- Berech- 
tigung ihm  klar  und  unbestreitbar  sei  wie  die  Sonne.  Das  Strafrecht  wurde 
im  Artikel  4  No.  13  der  Verfassung  des  norddeutschen  Bundes  unter  die  Gegen- 
stände aufgenommen,  auf  welche  sich  die  Bundesgesetzgebung  zu  erstrecken 
habe.  Schon  im  Frühjahr  des  folgenden  Jahres  (18.  April  1868)  beschloss 
darauf  der  norddeutsche  Reichstag,  den  Bundeskanzler  aufzufordern,  die 
Bundesgesetzgebung  bezüglich  des  Strafrechts  und  des  Strafprozesses  einzu- 
leiten und  vorzubereiten.  Der  Bundesrat  trat  dem  Beschlüsse  bei.  In  Er- 
mangelung von  Bundesorganen  für  die  Vorbereitung  des  Gesetzgebungswerkes 
ersuchte  der  Bundeskanzler  den  preussischen  Justizminister,  die  Herstellung 
eines  Entwurfes  zu  veranlassen. 

§  4.    Die  Entwürfe. 

Mit  der  Ausarbeitung  des  Entwurfes  wurde  darauf  der  Geheime  Ober- 
justizrat (der  spätere  preussische  Justizminister)  Dr.  Friedberg  beauftragt. 
Der  preussische  Kreisrichter  Rüdorff  und  der  preussische  Gerichtsassessor 
Dr.  Rubo  wurden  als  Hilfsarbeiter  bestellt.  Eine  Denkschrift  Friedbergs 
an  den  Bundesrat  vom  21.  November  1868  entwickelte  das  Programm,  das 
der  Redaktor  sich  gestellt  hatte.  Die  Aufgabe  war  zum  Teil  neu  und  eigen- 
artig. Zwar  war  in  den  Landesstrafgesetzbüchem  ein  reiches  Material  ver- 
arbeitet und  zum  Teil  erprobt;  es  lag  ferner  nahe,  das  preussische  Strafgesetz- 
buch dem  Entwürfe  zu  Grunde  zu  legen.  Aber  das  preussische  Gesetzbuch 
war  für  einen  Einheitsstaat  gearbeitet,  das  neue  Gesetzbuch  sollte  für  einen 
Bundesstaat  eingerichtet  werden  und  zwar  für  einen  Bundesstaat,  der  grössten- 
teils aus  Monarchieen  bestand.  Die  Angehörigen  des  einen  Gliedstaates  waren 
durch  die  Bundesgründung  in  ein  staatsrechtliches  Verhältnis  zur  Bundes- 
gewalt und  damit  auch  in  ein  solches  Verhältnis  zu  den  Staatsgewalten  der 
andern  Gliedstaaten  gekommen.  Diese  Beziehungen  bedurften  des  strafi'echt- 
lichen  Schutzes.  Auf  der  andern  Seite  liess  sich  nicht  verkennen,  dass  die 
Beziehungen  der  Angehörigen  des  einen  Gliedstaates  zu  seiner  eigenen  Staats- 
gewalt noch  innigere  waren,  als  zu  den  anderen  Gliedstaaten.  Der  strafrecht- 
liche Schutz  musste  dieser  Verschiedenheit  entsprechen. 

Ausser  dem  im  preussischen  Justizministerium  gesammelten  Gesetzgebungs- 
materiale  wurden  die  von  der  Wissenschaft  und  Praxis,  besonders  in  Golt- 
dammers  Archiv  für  preussisches  Strafrecht  gelieferten  Beiträge,  sowie  nament- 
lich der  von  John  gearbeitete  Entwurf  mit  Motiven  zu  einem  Strafgesetzbuche 
für  den  norddeutschen  Bund  berücksichtigt.  Schon  am  31.  Juli  1869  überreichte 
Friedberg  dem  Bundeskanzler  den  Entwurf.  Derselbe  war  gedruckt  und 
wurde  gleichzeitig  der  öffentlichen  Kritik  unterstellt.^)  Das  Werk  bestand 
aus  sechs  Folioheften  und  enthielt  den  Entwurf  des  Gesetzbuches  selbst  mit 
356  Paragraphen,  sowie  den  Entwurf  eines  Einführungsgesetzes  (6  Paragraphen). 
Beigegeben  waren:  Motive  und  vier  Anlagen.  Die  letzteren  enthielten  eine  synop- 
tische Darstellung  strafrechtlicher  Bestimmungen  des  In-  und  Auslandes,   eine 


*)  Hervorragenden  Männern  der  Wissenschaft  und  Praxis  wurde  er  besonders 
mitgeteilt. 


§  4.     Die  Entwürfe.  H 


Erörterung  über  die  Todesstrafe,  Erläuterangen  strafrechtlicher  Fragen  aus 
dem  Gebiete  der  gerichtlichen  Medizin,  sowie  Gutachten  von  Strafanstalts- 
beamten über  die  Maximaldauer  der  Zuchthausstrafe. 

Der  so  ausgearbeitete  Entwurf  (Entwurf  I  oder  Ministerialentwurf)  wurde 
in  einer*  Anzahl  von  handschriftlichen  Mitteilungen  (an  die  nachher  zu 
erwähnende  Kommission),  sowie  in  zahlreichen  Druckschriften  (namentlich  von 
Berner,  Binding,  Geyer,  Hälschner,  Heinze,  John,  H.  Meyer,  Vollert), 
femer  in  den  Gutachten  von  Stenglein,  Ad.  Merkel,  v.  Gossler  und  Seeger 
für  den  deutschen  Juristentag  einer  mehr  oder  weniger  eingehenden  Besprechung 
unterzogen.*)  Im  Bundesrate  war  man  der  Ansicht,  dass  die  Vertreter  der 
Theorie  des  Strafrechts  hierdurch  genügend  zum  Worte  gekommen  seien 
und  wählte  zur  Beratung  des  Entwurfes  eine  Kommission  von  sieben  nord- 
deutschen Praktikern,  „deren  Leistungen  für  das  Kriminalrecht  auf  legislativem, 
litterarischem  oder  forensischem  Gebiete  in  weiteren  Kreisen  Anerkennung 
gefunden  hatten".  Karl  von  Wächter  war  nicht  zugezogen  worden.  Der 
Kommission  gehörten  an:  der  preussische  Justizminister  Leonhardt  als  Vor- 
sitzender und  der  sächsische  Generalstaatsanwalt  Schwarze  als  dessen  Stell- 
vertreter, Friedberg  (der  Verfasser  des  Entwurfes)  als  Referent,  der  Senator 
Donandt  zu  Bremen,  der  Rechtsanwalt  Dorn  zu  Berlin,  der  Appellations- 
gerichtsrat Bürgers  zu  Köln  und  der  Oberappellationsgerichtsrat  Budde  zu 
Rostock.  Rüdorf f  und  Rubo  fungierten  wieder  als  Schriftführer.  Es  galt, 
noch  in  der  ereten  Legislaturperiode  des  Bundes  das  Gesetzgebungswerk  ab- 
zuschliessen.  In  dieser  Absicht  einigte  man  sich  über  Geschäftsordnungs- 
maximen, die  jeder  Gesetzgebungskommission  zu  empfehlen  sind.  Nur  über 
schriftliche,  an  den  Entwurf  sich  anschliessende  und  in  Gesetzesform  gebrachte 
Anträge  durfte  eine  Debatte  stattfinden.  Die  Redaktion  der  gefassten  Beschlüsse 
erfolgte  durch  den  Referenten  Dr.  Friedberg  unter  Mitwirkung  Schwarzes 
meist  noch  am  Sitzungstage.  Nach  drei  Lesungen  in  43  Sitzungen  wurde 
am  31.  Dezember  1869  die  Beratung  geschlossen.  Am  nämlichen  Tage  wurde 
der  Entwurf  II  (Kommissionsentwurf*)  gedruckt  dem  Bundeskanzler  über- 
reicht. Der  Entwurf  bestand  aus  366  Paragraphen,  das  Einführungsgesetz 
aus  acht  Paragraphen.  Motive  waren  nicht  beigegeben.  Der  Entwurf*  wurde 
den  Bundesregierungen,  sowie  allen  denen  mitgeteilt,  welche  Gutachten  ein- 
gereicht hatten.  Nochmals  wurden  dem  raschen  Abschlüsse  des  Gesetzgebungs- 
werkes Vertagungsanträge  entgegengestellt.  Die  Regierungen  des  Grossherzog- 
tums Sachsen  und  der  Grossherzogtümer  Mecklenburg,  die  Erste  Kammer  des 
Königreichs  Sachsen  und  das  preussische  Herrenhaus  brachten  Bedenken  gegen 
diesen  Abschluss  vor.  Indessen  schon  am  11.  Februar  1870  wurde  der  Ent- 
wurf mit  wenigen  Modifikationen  und  unter  Verwerfung  der  meisten  Anträge, 
welche  von  den  Regierungen  eingebracht  worden  waren,  mit  allen  Stimmen 
gegen  die  Stimmen  der  Grossherzogtümer  Mecklenburg  angenommen.  Selbst 
das  Königreich  Sachsen,  dessen  Abänderungsanträge  sämtlich  abgelehnt  worden 
waren,  hatte  mit  Rücksicht  auf  den  nationalen  Zweck  seine  Zustimmung  gegeben. 

§  5.    Die  Yerhandlungen  Im  norddeutschen  Reichstage. 

Am  14.  Februar  1870  kündigte  bei  der  Eröffnung  des  norddeutschen 
Reichstages  die  Thronrede  das  Strafgesetzbuch  an,  dessen  Entwurf  III  (Bundes- 
ratsentwurf) noch  am  nämlichen  Tage  dem*  Reichstage  vorgelegt  wurde.     Bei- 


')  Vergl.  Rüdorf f  (Stenglein),  Kommentar.    4.  Aufl.    S.  16  ff. 
-)  Entwurf  eines  Strafgesetzbuches  für  den  norddeutschen  Bund.  Berlin,  31.  Dezem- 
ber 1869.    Folio. 


12         Deutsches  Reich.  —  Herstellung  und  Umbildung-  des  Strafgesetzbuches. 


gegeben  waren  Motive,  welche  auf  der  Grundlage  der  Motive  des  ersten  Ent- 
wurfes durch  Friedberg  und  Schwarze  unter  Hilfeleistung  der  Schriftführer 
ausgearbeitet  worden  waren.  Dem  Bundesrate  haben  diese  Motive  nicht  vor- 
gelegen.    Die  Anlagen  des  Entwurfes  I  waren  auch  diesmal  beigefüg^t. 

Im  Reichstage  beschloss  man  am  22.  Februar  1870,  die  Einleitung,  den 
ersten  Teil  und  die  sieben  ersten  Abschnitte  des  zweiten  Teiles  des  Entwurfes 
(Hochverrat,  Landesverrat,  Beleidigung  des  Landesherrn  und  von  Landesfürsten, 
feindliche  Handlungen  gegen  befreundete  Staaten,  Verbrechen  und  Vergehen 
in  Beziehung  auf  die  Ausübung  staatsbürgerlicher  Rechte,  Widerstand  gegen 
die  Staatsgewalt  und  Verbrechen  und  Vorgehen  wider  die  öffentliche  Ordnung, 
also  die  Verbrechen  und  Vergehen,  welche  nicht  selten  eine  politische  Färbung 
haben),  sofort  im  Plenum  zu  beraten,  dagegen  die  Abschnitte  acht  bis  neun- 
undzwanzig des  zweiten  Teiles  einer  Kommission  zur  Vorberatung  zu  über- 
weisen. In  zwanzig  Sitzungen  (28.  Februar  bis  8.  April  1870)  fand  darauf 
die  zweite  Lesung  im  Plenum  statt.  Ein  Kardinalpunkt  der  Verhandlungen 
war  die  FVage  der  Todesstrafe.  Es  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  die  seit 
Beccaria,  ja  schon  von  Carpzov  erörterte  Frage  über  die  Notwendigkeit 
und  Berechtigung  der  Todesstrafe  gerade  in  der  Zeit,  welche  den  Beratmigen 
über  das  Strafgesetzbuch  vorausgegangen  war,  von  der  Mehrzahl  der  an  dem 
Streite  Teilnehmenden  im  verneinenden  Sinne  beantwortet  wurde.  Es  waren 
nicht  bloss.  Juristen,  welche  „aus  schwächlicher  Abneigung,  ihr  Amt  bis  in 
seine  höchste  Potenz  zu  üben"  (Worte  Bismarcks),  gegen  die  Todesstrafe 
sprachen  und  schrieben.  Auch  Philosophen  und  Theologen  hatten  sich  gegen 
dieses  äusserste  Mittel  der  Strafrechtspflege  geäussert.  Dem  gegenüber  erklärte 
Oraf  Bismarc  k  in  der  Sitzung  vom  I.März  1870:  „Ich  halte  mich  meinerseits 
nicht  für  berechtigt,  die  Mehrheit  der  friedlichen  Bürger  dem  Experiment  (der 
Abschaffung  der  Todesstrafe)  ohne  weiteres  preiszugeben".  Dm'ch  Bismarcks 
Rede  über  die  Todesstrafe  klingt  einerseits  die  Fe  uerb  ach  sehe  psychologische 
Zwangstheorie,  andererseits  der  Glaube  an  einen  göttlichen  Auftrag  zur  Hand- 
habung der  Strafrechtspflege.  „Eine  menschliche  Kraft,  die  keine  Rechtfertigung 
von  oben  in  sich  spürt,  ist  allerdings  zur  Führung  des  Richtschwertes  nicht 
stark  genug."  Trotz  der  lebhaften  Verteidigung  durch  Bismarc k  fiel  die 
Todesstrafe  in  der  zweiten  Lesung  des  Entwurfes;  118  gegen  81  Stimmen 
hatten  sie  verworfen.  Dieser,  sowie  ein  paar  andere  Beschlüsse  erschienen 
dem  Bundesrate  unannehmbar.  Nach  Beendigung  der  zweiten  Lesung  trat  der 
Bundesrat  gegen  die  sonstigen  Gesetzgebungsgepflogenheiten  in  Beratung,  um 
Stellung  zu  den  Beschlüssen  des  Reichstages  zu  nehmen.  In  der  Sitzung  vom 
21.  Mai  1870  bezeichnete  der  preussische  Justizminister  Dr.  Leon hardt,  unter 
Anerkennung  der  Hingebung  des  Reichstages  für  das  nationale  Werk,  diejenigen 
Beschlüsse  des  Reichstages,  die  für  den  Bundesrat  unannehmbar  seien.  Die  Todes- 
strafe müsse  für  den  Mord  und  den  schwersten  Fall  des  Hochverrates  wieder 
in  das  Gesetzbuch  aufgenommen,  in  den  schwersten  Fällen  des  Landesven'ates 
müsse  an  lebenslänglicher  Zuchthausstrafe  als  ausschliesslicher  Strafe  festgehalten, 
und  für  gewisse  politische  Verbrechen  müsse  die  Zulässigkeit  landesrechtlicher 
Einrichtung  von  besonderen  Gerichtshöfen  wieder  hergestellt  werden.  Neue 
Debatten,  in  welchen  der  Versuch  gemacht  wurde,  für  die  Staaten,  welche  die 
Todesstrafe  schon  beseitigt  hatten  (Königreich  Sachsen,  Oldenburg,  Anhalt  und 
Bremen),  eine  Ausnahmestellung  zu  schaffen,  die  es  den  Staaten  ermöglichte, 
bei  der  Abschaffung  der  Todesstrafe  zu  bleiben.  Durch  Beschluss  vom  22.  Mai 
lehnte  der  Bundesrat  diese  Sonderstellung  einiger  Staaten,  als  mit  der  Einheit 
des  Strafrechts  in  einem  Kardinalpunkte  unverträglich,  ab.  Die  dritte  Lesung 
fand  am  23.,  24.  und  25.  Mai  1870  statt.  Wieder  griff  Bismarck  in  die 
Debatte   ein.     Waren   es   in   der  zweiten   Lesung    hauptsächlich   strafpolitische 


§  6.     Die  Umbildung  des  norddeutschen  zum  deutschen  Strafg-esetzbuche.    .    13 


Gründe,  die  Bisraarck  geltend  gemacht  hatte,  so  stand  die  nationalpolitische 
Seite  der  Frage  im  Vordergrunde,  als  Bismarck  am  23.  Mai  1870  die  Ge- 
währung eines  Sonderrechts  für  einige  Staaten  des  norddeutschen  Bundes  be- 
kämpfte. .  „Um  zu  der  Vorlage  zu  gelangen,  welche  ursprünglich  gemacht 
wurde,  —  erklärte  Bismarck  —  haben  die  einzelnen  Regierungen,  ich  kann 
sagen,  fast  jeder  Fürst  persönlich,  fast  jeder  Ratgeber  eines  deutschen  Fürsten 
persönlich ,  wesentlich  Opfer  an  ihren  politischen  Überzeugungen,  an  ihren 
Wünschen,  an  ihrem  Rechtsgefühl,  ich  möchte  sagen,  an  ihrem  Rechtsglauben 
bringen  müssen.  Sie  haben  sie  bereitwillig  dem  höher  stehenden  Zwecke 
deutscher  Rechtseinheit  gebracht."  „Die  Regierungen  haben  den  Beweis  ge- 
geben, dass  sie  die  eigene  Überzeugung,  die  eigene  Rechtsansicht  dem  höheren 
nationalen  Zwecke  zu  opfern  sich  entschliessen  können;  nur  Ein  Opfer  können 
sie  zu  diesem  Zwecke  nicht  bringen:  das  ist  das  Prinzip  dieser  nationalen 
Einheit  selbst."  „Es  ist  für  mich  eine  absolute  Unmöglichkeit,  es  wäre  ein 
volles  Verleugnen  meiner  Vergangenheit,  wollte  ich  einem  Gesetze  hier  zu- 
stimmen, welches  das  Prinzip  sanktioniert,  dass  durch  den  Bund  zweierlei  Recht 
für  die  Norddeutschen  geschaffen  werden  soll,  dass  ge Wissermassen  zweierlei 
Klassen  von  Norddeutschen  geschaffen  werden  sollen  —  eine  Selekta,  die  ver- 
möge ihrer  Gesittung,  vermöge  ihrer  Erziehung  soweit  vorgeschritten  ist,  dass 
selbst  ihre  üblen  Subjekte  des  Korrektivs  des  Richtbeils  nicht  mehr  bedürfen, 
und  dann  das  profanum  vulgus  von  27  Millionen,  welches  diesen  sächsisch- 
oldenburgischen  Kulturgrad  noch  nicht  erreicht  hat,  dem  das  Richtbeil  im 
Nacken  sitzen  muss,  um  es  in  Ordnung  zu  halten.  Dem  können  wir  nicht 
zustimmen."  Darauf  wurde  der  Antrag  zurückgezogen  und  mit  127  gegen 
119  Stimmen  wurde  schliesslich  die  Todesstrafe  in  das  Gesetzbuch  wieder  auf- 
genommen. In  einer  Nachtsitzung  vom  24.  auf  25.  Mai  1870  erfolgte  die 
Schlussredaktion  des  Entwurfes  unter  Berücksichtigung  der  zahlreichen  in 
der  dritten  Lesung  beschlossenen  Amendements;  und  am  25.  Mai  wurde 
der  so  umgestaltete  Entwurf  mit  sehr  grosser  Ma^jorität  angenommen.  Der 
Bundesrat  gab  noch  am  nämlichen  Tage  einstimmig  seine  Genehmigung  und 
Wilhelm  I.  konnte  als  Oberhaupt  des  norddeutschen  Bundes  am  26.  Mai  bei 
Schluss  des  Reichstages  den  Abschluss  des  grossen  und  mühsamen  Gesetz- 
gebungswerkes proklamieren.  Am  31.  Mai  1870  vollzog  Wilhelm  I.  das  Ge- 
setzbuch. Dasselbe  wurde  im  Bundesgesetzblatte  No.  16  S.  195  am  8.  Juni  1870 
publiziert.  Das  Einführungsgesetz  hatte  den  1.  Januar  1871  als  ersten  Gel- 
tungstag bestimmt.  —  Die  Jahre  1532  und  1870  sind  die  Zeitpunkte  in  der 
deutschen  Strafrechtsgeschichte,  in  denen  deutsche  Strafgesetzbücher  zustande 
gebracht  wurden.  Eine  grosse  Verschiedenheit  des  Kulturstandes  trennt  die 
beiden  Gesetzbücher;  nach  Inhalt,  Anlage  und  Sprache  sind  diä  Gesetzbücher 
verschieden;  auf  beide  darf  aber  die  deutsche  Nation  mit  freudiger  Genug- 
thuung  blicken. 

§  6.  Die  Umbildung  des  norddeutseheii  znni  deutschen  Strafgesetzbnehe. 

I.  Noch  vor  dem  Tage,  an  welchem  das  Strafgesetzbuch  ins  Leben  zu  treten 
hatte,  verftnderten  sich  die  staatsrechtlichen  Verhältnisse,  für  die  es  berechnet 
war.  1.  Die  Entwickelung  des  norddeutschen  Bundes  zum  deutschen  Reiche 
dehnte  auch  das  Herrschaftsgebiet  des  norddeutschen  Strafgesetzbuches  aus. 
Artikel  80  der  mit  Baden  und  Hessen  vereinbarten  Übergangs- Verfassung 
des  deutschen  Bundes  erklärte  das  Strafgesetzbuch  zum  Strafgesetzbuch 
des  deutschen  Bundes,  bestimmte,  dass  die  auf  den  norddeutschen  Bund 
sich  beziehenden  Vorschriften  als  für  den  deutschen  Bund  geltende  zu  ver- 
stehen seien  und  verfügte,  dass  das  Strafgesetzbuch  in  Hessen  am  1.  Januar 


14  •     Deutsches  Reich.  —  Herstellung  und  Umbildung  des  Strafgesetzbuches. 


1871,  in  Baden  am  1.  Januar  1872  in  Kraft  treten  solle.  2.  Diese  Bestim- 
mungen wurden  durch  Vertrag  vom  25.  November  1870  auf  Württemberg  aus- 
gedehnt, so  dass  dort  das  Strafgesetzbuch  am  1.  Januar  1872  in  Kraft  zu 
treten  hatte.  3.  Die  Übergangsbestimmungen  (Art.  79)  der  mit  Bayern 
am  23.  November  1870  vereinbarten  Bundesverfassung  erklärten  zwar  gleich- 
falls das  Strafgesetzbuch  vom  1.  Januar  1872  an  als  Bundesgesetz;  unter  III  §  8 
dieser  Bestimmungen  wurde  aber  die  Einführung  des  Strafgesetzbuchs,  wie  die  der 
meisten  Bundesgesetze,  in  Bayern  einem  Akte  der  neukonstituierten  Bundes- 
gesetzgebung vorbehalten.  IL  Auf  Anregung  Bayerns  ist  darauf  schon  durch 
Reichsgesetz  vom  22.  April  1871  (BGBl.  S.  87)  §  7  die  Einführung  des  Straf- 
gesetzbuchs in  Bayern  für  den  1.  Januar  1872  bestinmit  worden.  Nur  bezüglich 
des  §  4  des  Einführungsgesetzes,  betreffend  die  Bestrafung  gewisser,  während  des 
Kriegszustandes  und  während  eines  Krieges  begangener  Verbrechen,  war  für 
Bayern  eine  Ausnahme  vorbehalten,  welche  durch  Erlassung  des  Reichsmilitär- 
gesetzes und  des  Militärstrafgesetzbuches  grösstenteils,  aber  nicht  ganz,  gegen- 
standslos geworden  ist.  Siehe  unten  §42.  III.  Durch  Gesetz  vom  15.  Mai  1871 
(RGBl.  S.  127)  erhielt  das  Strafgesetzbuch  mit  Wirkung  vom  1.  Januar  1872 
als  Strafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich  eine  den  veränderten  staatsrecht- 
lichen Verhältnissen  entsprechende,  im  bayerischen  Justizministerium  redi- 
gierte, neue  Fassung.  xVn  die  Stelle  der  auf  den  „Norddeutschen  Bund'*  bezüg- 
lichen Ausdrücke  wurden  solche  gesetzt,  welche  dem  neu  gegründeten  „Deutschen 
Reiche"  entsprachen.  Namentlich  wurde  an  die  Stelle  des  „Bundesoberhauptes" 
der  „Deutsche  Kaiser"  gesetzt,  und  die  in  den  §§  102  und  103  zwischen  nicht 
zum  norddeutschen  Bunde  gehörenden  deutschen  und  andern  Staaten  ge- 
machte Unterscheidung  wurde  ausgemerzt,  da  es  nunmehr  deutsche  Staaten, 
die  nicht  zum  Bunde  (Reiche)  gehörten,  nicht  mehr  gab.  Das  Gesetz  vom 
15.  Mai  1871  ist  niclft  bloss  Redaktionsgesetz.^)  IV.  Auffallender  Weise  ist 
das  Einführungsgesetz  zum  norddeutschen  Strafgesetzbuche  vom  31.  Mai  1870 
nicht  von  der  Redaktionsänderung  betroflFen  worden,  so  dass  dieses  noch  heutigen 
Tages  in  seinem  amtlichen  Wortlaute  die  auf  den  norddeutschen  Bund  be- 
zügliche Fassung  enthält.  V.  Ein  mit  Zustimmung  des  Bundesrates  vom 
Kaiser  (vergl.  Ges.  v.  9.  Juni  1871,  RGBl.  S.  212  §  3)  für  Elsass-Lothringen 
erlassenes  Gesetz  vom  30.  August  1871  (Gesetzbl.  f.  Els.-Lothr.  No.  14,  S.  255; 
vergl.  dazu  Ges.  v.  14.  Juli  1873,  S.  166)  verordnete  die  Einführung  des  neu- 
redigierten Strafgesetzbuchs  in  Elsass-Lothringen  mit  Wirkung  vom  1.  Oktober 
1871  an.  Das  norddeutsche  Einführungsgesetz  erlangte  daselbst  keine  Geltung; 
das  für  Elsass-Lothringen  erlassene  Einführungsgesetz  enthält  aber  im  wesent- 
lichen die  nämlichen  Bestimmungen,  wie  das  norddeutsche.  Bemerkenswert 
darin  ist  die  im  Artikel  I  Absatz  2  enthaltene  Gleichstellung  Elsass-Lothringens 
mit  den  Bundesstaaten.  Zum  Artikel  II  des  elsass-lothringischen  Einführungs- 
gesetzes ist  am  29.  März  1888  (RGBl.  S.  127)  ein  auslegendes  Reichsgesetz 
ergangen.  VI.  Seit  dem  1.  Januar  1872  gilt  sonach  das  Strafgesetzbuch 
für  das  deutsche  Reich  als  solches  in  dem  ganzen  Umfange  des  Reiches. 
Und  zwar  gilt  es,  wie  die  anderen  Reichsgesetze,  unmittelbar  für  alle  Personen 
in-  und  ausserhalb  des  Reichs,  auf  welche  seine  Bestimmungen  inhaltlich  sich 
beziehen,  ohne  dass  es  irgend  einer  Vermittelung  der  Gesetzgebung  der  Einzel- 
staaten bedurfte.^)  Yll.  Das  Strafgesetzbuch  ist  in  der  nachher  zu  erwähnenden 
Fassung  vom  26.  Februar  1876  nebst  dem  norddeutschen  Einführungsgesetze 
und  dem  Wuchergesetzc  mit  Wirkung  vom  1.  April  1891  in  Helgoland  ein- 
geführt worden.     (Ges.  v.  22.  März  1891,  S.  21,  Art.  I,  No.  IX.)  VIIL    In  den 


>)  Vergl.  Binding,  Handbuch,  I,  S.  90. 

•')  Vergl.  Hänel,  Deutsches  Staatsrecht.   Leipzig  1892.   §  42,  Bd.  1,  S.  268. 


§  7.    Inhaltliche  Veränderungen  des  Strafgesetzbuches.  15 


Konsulargerichtsbezirken  gilt  das  Strafgesetzbuch  für  die  daselbst  wohnen- 
den Reichsangehörigen  und  Schutzgenossen  (Ges.  üb.  d.  Kons.-Gerichtsb.  v. 
10.  Juli  1879,  S.  197,  §  1);  in  den  Schutzgebieten  für  die  gleichen  Per- 
sonenkategorieen,  sowie  für  diejenigen  Personen,  auf  .welche  die  deutsche 
Gerichtsbarkeit  durch  kaiserliche  Verordnung  ausgedehnt  worden  ist.  (Ges. 
betr.  die  Rechtsverhältnisse  der  deutschen  Schutzgebiete  v.  15. /19.  März 
1888,  S.  75,  §  3,  No.  3.)  Es  sind  das  namentlich  alle  in  den  Schutzgebieten 
wohnenden,  dort  sich  aufhaltenden  oder,  hiervon  abgesehen,  einem  Gerichts- 
stand innerhalb  des  Schutzgebietes  unterworfenen  Personen;  die  Eingeborenen 
nur  kraft  besonderer  Unterstellung.  (Vergl.  z.  B.  Verordn.,  betr.  die  Rechtsver- 
hältnisse' in  den  Schutzgebieten  der  Neuguinea- Kompagnie  v.  5.  Juni  1886, 
S.  187,  §  2.)  Handlungen  der  genannten  Personen  in  den  Konsulargerichts- 
und  Schutzgebieten  werden  in  strafrechtlicher  Beziehung  als  im  deutschen 
Inlande  begangen  angesehen.^) 

§  7.    Inhaltliehe  Yerfinderuni^en  des  Strafgesetzbuches.^) 

l.  Schon  vor  dem  1.  Januar  1872  hat  das  Strafgesetzbuch  durch  Auf- 
nahme des  §  130a  (Kanzelparagraph)  eine  Erweiterung  erfahren.  (Ges.  v. 
10.  Dezember  1871,  S.  442.  Vergl.  dazu  Ges.  v.  15.  Juli  1872  für  Elsass- 
Lothringen,  GBl.  S.  531.)  2.  Durch  Gesetz  vom  30.  November  1874,  S.  143, 
§14  über  den  Markenschutz  wurde  §  287  des  Strafgesetzbuchs  und  durch 
das  Personenstandsgesetz  vom  6.  Februar  1875,  S.  23,  §67  wurde  §337  des 
Strafgesetzbuchs  (Vornahme  der  religiösen  Ehefeierlichkeiten  vor  der  standes- 
amtlichen Schliessung  der  Ehe)  ersetzt  und  beseitigt.  3.  Sehr  bald  nach 
dem  Inslebentreten  des  Strafgesetzbuchs  zeigten  sich  zahlreiche  Redaktions- 
versehen. Nach  dem  Wortlaute  des  §  102  z.  B.  hätte  die  Ermordung  eines 
auswärtigen  Monarchen  nur  mit  Festungshatit  von  1 — 10  Jahren  bestraft 
werden  können!  Es  stellte  sich  sodann  heraus,  dass  der  Schutz,  den  die  Straf- 
einrichtung zu  gewähren  hat,  in  mehreren  Beziehungen  vom  Strafgesetzbuch 
nicht  ausreichend  gewährt  wurde.  Dem  gegenüber  half  man  zum  Teil  durch 
die  Reicbsspezialgesetzgebung,*^)  teils  schritt  man  zu  einer  Revision  des  Straf- 
gesetzbuchs selbst.  Der  preussische  Justizminister  hatte  schon  bei  Einbringung 
des  Entwurfes  eines  Strafgesetzbuchs  im  norddeutschen  Reichstage  auf  eine, 
etwa  nach  5  Jahren  erfolgende  Revision  hingewiesen.  Das  Beispiel  vom 
Codex  repetitae  praelectionis  hat  noch  nach  13  Jahrhunderten  gewirkt!  Nach 
eingehenden  Vorarbeiten  seitens  der  Bundesregierungen  und  im  Bundesrate 
legte  der  Reichskanzler  am  25.  November  1875  dem  Reichstage  den  Entwurf 
eines  Revisionsgesetzes  vor,  (das  Projekt  der  Friedensbürgschaft  war  im 
Bundesrate  fallen  gelassen).  Nach  lebhaften  Debatten  im  Reichstage  wurde 
der  zum  Teil  in  einer  Kommission  vorberatene  Entwurf  unter  wesentlichen 
Änderungen  angenommen  und  darauf  das  Revisionsgesetz  vom  26.  Februar  1876 
(sowie  das  revidierte  Gesetzbuch)  am  6.  März  publiziert  (RGBl.  S.  25).  Das 
Gesetz  beseitigte  mehrere  (nicht  alle)  Redaktionsversehen,  vollzog  eine  Um- 
rechnung der  Thaler  in  Mark,  änderte  44  Paragraphen  (namentlich  durch 
Beseitigung  des  Antragseri'ordeniisses  und  der  regelmässigen  Zurücknehmbarkeit 
des  Antrages,  vergl.  dazu  Art.  III),  fügte  6  neue  Paragraphen  (49a,  103a,  223a, 
296a,  353a,  366a)  ein,  ergänzte  den  §  361  und  ermächtigte  den  Reichskanzler, 
eine  neue  Redaktion  des  Textes  zu  publizieren.  Mit  seinen  nunmehrigen 
375  Paragraphen  ist  das  Strafgesetzbuch  vom  26.  Februar  1876  am  20.  März 


M  Vergl.  Bin  ding,  Handbuch,  I,  S.4101f. 
•^)  Vergl.  Seite  14  zu  Note  1. 
«)  Siehe  unten  §  13. 


16  Deutsches  Reich.  —  Der  Inhalt  des  Strafgesetzbuches. 


1876  in  Wirksamkeit  getreten.  4.  Das  Einführungsgesetz  zur  Konkursord- 
nung für  das  deutsche  Reich  vom  10.  Februar  1877,  S.  390  beseitigte  im 
§  3,  No.  3  die  §§  281 — 283  des  Strafgesetzbuchs  über  den  Bankerott.  An 
deren  Stelle  traten  die  §§  209 — 214  der  Eonkursordnung.  (Vergl.  dazu  Einf.- 
Ges.  Konk.-O.  §4  Abs.  2,  §5  No.  2;  femer  Konk.-O.  §  76,  Ordnungsstrafen 
gegen  den  Verwalter).  5.  Das  Wuchergesetz  vom  24.  Mai  1880,  S.  109,  fügte 
die  §§  302  a — d  über  die  Bestrafung  des  Wuchers  ein  und  ersetzte  die 
Nummer  12  des  §  360.  6.  Das  Gesetz,  betreffend  die  unter  Ausschluss  der 
Öffentlichkeit  stattfindenden  Gerichtsverhandlungen  vom  5.  April  1888,  S.  133, 
ergänzte  im  Artikel  IV  den  §  184  des  Strafgesetzbuchs;  vergl.  dazu  unten 
§  30.  7.  Das  Gesetz  vom  13.  Mai  1891,  S.  107,  ergänzte  die  §§276,  364 
und  367,  ersetzte  die  §§  317  und  318  sowie  §  360  No.  4  und  schaltete  den 
§  318a  ein.  (Es  handelte  sich  um  den  bis  dahin  ungenügenden  Strafschutz 
gegen  Miss  brauch  von  Post-  und  Telegraphen  Wertzeichen  und  um  Ausdehnung 
des  Schutzes  von  Telegraphenanlagen,  auf  Rohrpost-  und  Fernsprechanlagen.) 
Zur  Zeit  —  1.  November  1892  —  zählt  das  Strafgesetzbuch  370+1  —  1  — 
l-J-6  —  3-j-4-|-l  =  377  Paragraphen.  Eine  grössere,  namentlich  gegen  das 
Zuhälterunwesen  gerichtete  Ergänzung  wurde  durch  einen  im  Anfange  dieses 
Jahres  (1892)  dem  Reichstage  vorgelegten  Gesetzentwurf  unternommen.  Dieses 
Projekt  ist  aber  nicht  mehr  zum  Abschlüsse  gekommen.  Eine  neue  Vorlage 
wird  erwartet. 


m.  Der  Inhalt  des  Strafgesetzbuches.  0 

§  8.    Die  einleitenden  Bestimmungen  des  Strafgesetzbuches. 

Das  Strafgesetzbuch  zerfällt  in  „Einleitende  Bestimmungen"  und  zwei 
Teile.  1.  Die  einleitenden  Bestimmungen  rezipieren  (§  1)  für  das  gemein- 
deutsche Recht  die  schon  von  mehreren  Landesstrafgesetzbüchem  eingeführte 
französische  Dreiteilung  der  strafbaren  Handlungen  in  Verbrechen,  Vergehen 
und  Übertretungen  nach  dem  Maximum  der  angedrohten  Strafe.")  2.  In  §  2 
gelangen  zwei  Grundsätze  zum  Ausdrucke:  a)  der  Grundsatz,  dass  eine  Strafe 
nur  auf  Grund  des  geschriebenen  (Gesetzes-)  Rechts,  nicht  nach  Gewohnheits- 
recht und  nicht  nach  Analogie  verhängt  werden  dürfe, '^)  und  b)  dass  im 
Falle  eines  Wechsels  der  Gesetzgebung  zwischen  der  Begehung  und  der  straf- 
gerichtlichen Erledigung  einer  Handlung  das  mildeste  Gesetz  anzuwenden 
sei.*)     3.    Die    §§   3 — 9   enthalten    die    Ordnung    des    sogenannten  internatio- 


*)  Amtliche  Ausgabe:  Reichsgesetzblatt  1876,  S.  40.  Textausgaben  mit  kleineren 
Noten:  Rüdorff,  16.  Aufl.  (nach  dem  Tode  des  Verfassers  besorgt  von  Appelius). 
Berlin  1892.  Olshausen,  4.  Aufl.  Berlin  1891.  Erweiterte  Textausgabe,  namentlich 
mit  Entscheidungen  des  Reichsgerichts.  Daude.  4.  Aufl.  Berlin  1891.  Hinsichtlich 
der  Kommentare  vergl.  unten  §  47. 

'-)  Vergl.  aber  das  bayerische  Ausführungsgesetz  vom  18.  August  1879  zur 
Reichs-Strafprozessordnung  Artikel  5,  welches  die  reichsrechtliche  Grenzbestimmung 
etwas  verschiebt.     Unten  §  44. 

^)  In  andern  Beziehungen  ist  die  Analogie  durch  keine  gesetzliche  Bestimmung 
ausgeschlossen. 

*)  Eine  Merkwürdigkeit  auf  dem  Gebiete  der  deutschen  Strafgesetzgebung  war 
das  am  26.  Juli  1881,  S.  247,  verkündigte  Gesetz  vom  17.  Juli  1881,  betreffend  die  Be- 
strafung von  Zuwiderhandlungen  gegen  die  österreichisch-ungarischen  Zollgesetze, 
welches  im  §  1  sich  rückwärts  für  die  Zeit  vom  1.  Juli  1881  au  Kraft  beilegte.  Dar- 
über Binding,  Handbuch,  I,  S.  249;  dagegen  Laband,  Staatsrecht  §  57  a.  E.,  Bd.  1, 
S.  589,  Note  1.  Auch  das  baverische  Gesetz  vom  31.  Januar  1888  über  die  Hunde- 
Steuer  ibayer.  GVBl.  S.  73),  das  im  Artikel  4  die  Straf bestimmung  des  Artikel  7,  Absatz  1, 
des  älteren  Hundesteuergesetzes  änderte,  legte  sich  Geltung  vom  1.  Januar  1888  an  bei. 


§  8.    Die  einleitenden  Bestimmungen  des  Strafgesetzbuches.  17 


nalen  Strafrechts.  Für  Handlungen  im  Inlande  statuiert  §  3  das  Terri- 
torialitätsprinzip, für  Handlungen  im  Auslände  stellt  sich  das  Gesetz  in  der 
Hauptsache  auf  den  Standpunkt  des  Personalitätsprinzipes  oder  des  Prinzipes 
der  aktiven  Nationalität.  Nur  in  wenigen  Fällen  nimmt  das  Gesetz  gegen- 
über auswärts  vorgekonmienen  Handlungen  den  Standpunkt  des  Realprinzips 
oder  des  Prinzips  der  passiven  Nationalität  ein.  (Vergl.  auch  Mil.-StGB. 
§  161  RGBl.  1872  S.  202.)  Der  Schutz,  welchen  das  Strafgesetzbuch  gegen  von 
auswärts  kommende  Angriffe  auf  inländische  Rechtsgtlter  gewährt,  ist  unge- 
nügend. Schüsse,  Rufe,  Briefe  und  sonstige  Sendungen,  die  über  die  deutsche 
Grenze  dringen,  sind,  wenn  der  Urheber  ein  Ausländer  ist,  nur  in  wenigen 
Ausnahmefällen  nach  dem  Strafgesetzbuch  deutscherseits  verfolgbar.  Die 
deutsche  Strafrechtspraxis  ist  auf  den  Ausweg  verfallen,  solchen  Handlungen 
mit  Rücksicht  auf  den  Ort  der  Wirkung  oder  des  Erfolges  eine  Beziehung 
zum  deutschen  Gebiete  zu  geben;  die  Praxis  fingiert  mit  Rücksicht  auf  den 
Ort  des  Erfolges,  dass  die  Handlung  auf  deutschem  Boden  begangen  sei  und 
wendet  dann  auf  solche  Handlungen  das  Territorialitätsprinzip  des  §  3  an. 
Die  Vermittelung  zu  einem  Viehkaufe  in  Russland  verlegte  man  in  Gedanken 
nach  Deutschland ,  um  den  Vermittler  als  Teilnehmer  an  der  nachher  von 
anderen  Leuten  verübten  Einschmuggelung  des  Viehs  über  die  deutsche 
Grenze  bestrafen  zu  können.  Dem  auf  französischem  Boden  ausgestossenen 
Rufe:  „vive  la  France"  gab  man  einen  deutschen  Begehungsort,  weil  der  Ruf, 
wie  allerdings  beabsichtigt,  in  Deutschland  vernehmbar  war!  Eine  ganze 
Litteratur  ist  über  die  Frage,  wo  eine  Handlung  begangen  sei,  entstanden.^) 
Insoweit  nicht  das  Gesetz  zu  Fiktionen  nötigt,  ist  die  Frage  nicht  nach 
juristischen  Gesichtspunkten  zu  beurteilen.  Es  steht  nur  die  Anerkennung  des 
Ergebnisses  einer  sinnlichen  Wahrnehmung  in  Frage.  Gehandelt  hat  jemand 
da  und  nur  da,  wo  er  sich  beim  Handeln  räumlich  befand.  .Die  Motive  zur 
deutschen  Strafprozessordnung  erklärten  die  Aufnahme  einer  Bestimmung  über 
den  Handlungsort  für  entbehrlich,  weil  es  „selbstverständlich"  sei,  dass  es 
nur  auf  den  Ort  der  That  und  nicht  auf  den  des  Erfolges  ankomme.  Jede 
Erweiterung  des  Handlungsbegriffes  beruht  auf  Willkürlichkeit  und  führt  zu 
strafrechtlich  unzulässigen  Fiktionen.  In  der  That  brauchen  wir  einen  Schutz 
gegen  die  Angriffe,  die  bös-  oder  mutwillige  Nachbarn  über  unsere  Grenze 
herüber  auf  unsere  Rechtsgüter  in  Scene  setzen.  Aber  diesen  Schutz  muss  zu- 
nächst das  Gesetz  gewähren;  die  Praxis,  die  ihn  von  sich  aus  bietet,  hält 
sich  mit  §  2  des  Gesetzbuchs  nicht  in  Einklang.  —  Die  §§  5  und  7  (vergl.  auch 
§  37)  tragen  der  auswärtigen  Erledigung  eines  deutscherseits  verfolgbaren 
Straffalles  Rechnung,  §  6  erklärt  auswärts  verübte  Übertretungen  nur  auf 
Grund  besonderer  Gesetze  (vergl.  z.  B.  bayer.  Forstgesetz  —  unten  §  46 
—  Art.  49,  Abs.  3)  oder  Verträge  (vergl.  namentlich  das  Zollkartell  mit  Öster- 
reich vom  6.  Dezember  1891  unten  §  28)  für  strafbar.  In  §  8  wird  der  Aus- 
landbegriff im  Sinne  des  Strafgesetzbuchs  festgestellt.*)  Einen  Verfassungsgrund- 
satz enthält  §  9,  welcher  die  Auslieferung  Deutseher  an  eine  ausländische 
Regierung  zur  Verfolgung  und  Bestrafung  verbietet.  4.  Auch  §  10  greift  über 
das  Strafgesetzbuch  hinaus,  indem  die  allgemeinen  Strafgesetze  des  Reichs 
auf  Militärpersonen  (vergl.  das  dem  Mil.-StGB.  vom  20.  Juni  1872,  RGBL 
S.  204  beigefügte  Verzeichnis)  insoweit  für  anwendbar  erklärt  werden,  als 
nicht  die  Militärgesetze  ein  Anderes  bestimmen.  —  5.  Die  §§11  und  12  ent- 


*)  Vergl.  namentlich  v.  Lilien  thal,  Der  Ort  der  begangenen  Handlung,  Marburg 
1890,  dessen  Resultat  freilich  hier  nicht  zugestimmt  wird. 

-)  Vergl.  dagegen  z.  B.  Artikel  99  des  bayerischen  Malzaufschlaffgesetzes  vom 
8.  Dezember  1889  (unten  §  46),  wo  in  Bezug  auf  mehrere  Bestimmungen  dieses  Gesetzes 
jeder  nicht  bayerische  Gebietsteil  als  Ausland  erklärt  wird. 

ätrafgesetzgebang  der  Gegenwart.  I.  2 


lg  Deutsches  Reich.  —  Der  Inhalt  des  Strafgesetzbuches. 


halten  ein  Stück  gemeinsamen  Landesstaatsrechtes  mit  strafrechtlicher  Schluss- 
wirkung. Die  Reichsverfassung  Artikel  30  hatte  die  Mitglieder  des  Reichstages 
in  Bezug  auf  ihre  Abstinmiungen  und  hinsichtlich  der  in  Ausübung  ihres  Berufes 
gethanen  Äusserungen  von  jeder  gerichtlichen  und  disziplinarischen  Verfolgung 
sowie  von  jeder  Verantwortung  ausserhalb  der  Versammlung  beft*eit.  Artikel  22 
der  Reichsverfassung  hatte  wahrheitsgetreue  Berichte  über  Verhandlungen  in 
den  öffentlichen  Sitzungen  des  Reichstages  von  jeder  Verantwortung  be&eit. 
Die  §§11  und  12  des  Strafgesetzbuches  (in  den  Verhandlungen  des  nord- 
deutschen Reichstages  eingefügt)  dehnten  die  Straffreiheit  der  Reichstagsmit- 
glieder auf  die  Mitglieder  der  gesetzgebenden  Versammlungen  in  den  Glied- 
staaten aus  und  stellten  die  Unverantwortlichkeit  der  Presse  auch  in  Bezug  auf 
wahrheitsgetreue  Berichte  über  die  Landtagsverhandlungen  fest.^) 

§  9.    Die  allgemeinen  Bestimmungen. 

Der  erste  TeU  des  Strafgesetzbuches  enthält  in  5  Abschnitten  und  67  Para- 
graphen (§§  13 — 79)  allgemeine  Bestimmungen  über  die  Bestrafung  von 
Verbrechen,  Vergehen  und  Übertretungen.  Dieselben  bilden  den  Mittelpunkt 
und  die  Grundlage  des  heutigen  deutschen  Strafrechts.  Sie  kommen  auch  für 
die  Gebiete  des  besonderen  Reichs-  und  des  Landesstrafrechts  in  Betracht^ 
soweit  diese  nicht  in  gültiger  Weise  abweichende  Bestimmungen  enthalten. 
(Vergl.  unten  §  43). 

Der  erste  Abschnitt,  §§  13 — 42,  handelt  von  den  Strafen,  der  zweite, 
§§  43 — 46,  vom  Versuche,  der  dritte,  §§  47 — 50,  von  der  Teilnahme,  der 
vierte,  §§  51 — 72,  von  den  Gründen,  welche  die  Strafe  ausschliessen  oder 
mildem,   der  fünfte,   §§  73 — 79,  vom  Zusammentreffen  strafbarer  Handlungen. 

1.  Die  Strafen  des  Strafgesetzbuches  gliedern  sich  in  Haupt-  und  Neben- 
strafen. Die  er'steren  sind  die  Todesstrafe,  Freiheitsstrafen  und  Geldstrafen; 
bei  jungen  Leuten  auch  Verweis.     (StGB.  §  57,  4.) 

1.  Die  Todesstrafe  ist  durch  Enthaupten  (Beil,  Schwert,  Fallbeil)  und 
zwar  intramuran  zu  vollziehen;  im  Felde  und  im  Kriegszustande  —  unten 
§42  —  durch  Erschiessen.  Für  die  Schutzgebiete  kann  durch  kaiserliche 
Verordnung  eine  andere,  eine  Schärtung  nicht  enthaltende  Art  der  Voll- 
streckung der  Todesstrafe  angeordnet  werden.  (Schutzgebietgesetz  vom  15./19. 
März  1888,  RGBl.  S.  75,  §  3,  No.  8;  vergl.  dazu  Verordn.  für  die  südwest- 
afrikanischen Schutzgebiete  vom  10.  August  1890,  RGBl.  S.  171,  §  14;  desgl. 
Verordn.  für  die  Marschallinseln  vom  7.  Februar  1890,  RGBl.  S.  55,  §  9, 
Erschiessen  oder  Erhängen.)  Todesurteile  bedürfen  keiner  Bestätigung;  die 
Vollstreckung  ist  jedoch  erst  zulässig,  wenn  die  Entschliessung  des  Staats- 
oberhauptes ergangen  ist,  von  dem  Begnadigungsrechte  keinen  Gebrauch 
machen  zu  wollen.  In  den  durch  das  Reichsgericht  in  erster  Instanz  erledigten 
Sachen  ist  die  Entschliessung  des  Kaisers  einzuholen.  (Strafprozess.-O.  §  484. 
Vergl.  jedoch  unten  §  42.)  Die  Todesstrafe  ist  angedroht  für  den  Mord 
(§  211),  den  Mordversuch  am  Kaiser,  am  eigenen  Landesherm  und  am  Landes- 
herm  des  Aufenthaltsortes  (schwerste  Fälle  des  Hochverrats:  §  80)  und  im 
schwersten  Falle  der  SprengstoffVerbrechen.    Ges.  v.  9.  Juni  1884  §  5. 

2.  Die  Freiheitsstrafen  des  Strafgesetzbuches  sind  Zuchthaus,  Gefängnis, 
Haft  und  Festungshaft.  Das  Zuchthaus  ist  zum  Teil  auf  Lebensdauer,  zum  Teil 
zeitlich  angedroht.  Im  letzten  Falle  ist  die  Minimaldauer  1  Jahr,  die  Maximal- 
dauer 15  Jahre.  Es  kommen  Minima  von  1,  2,  3,  5  und  10  Jahren,  Maxima  von  3, 
5,  10  und  15  Jahren  vor.   Die  Zuchthausstrafe  soll  von  einem  Jahr  ab  nur  in  Zeit- 


*)  Vergl.  dazu  unten  §  15. 


§  9.     Die  allgemeinen  Bestimmungen.  JQ 


teilen  von  Jahren  und  Monaten  erkannt  werden.  Die  Praxis  hat  sich  über  diese 
fundamentale,  auf  sorgfältigen  Erwägungen  beruhende  Bestimmung  bei  mehreren 
Gelegenheiten  hinweggesetzt.^)  Die  Zuchthausstrafe  soll  auf  die  bisherige  Lebens- 
weise des  Verurteilten  keine  Btlcksfcht  nehmen;  der  Sträfling  soll  zu  den  in  der 
Anstalt  eingeführten  Arbeiten  angehalten  werden,  selbstverständlich  unter  Berück- 
sichtigung der  körperlichen  und  geistigen  Fähigkeiten.  Die  Zuchthaussträflinge 
dürfen  auch,  unter  Vorbehalt  der  Trennung  von  freien  Arbeitern,  zu  Aussen- 
arbeiten  angehalten  werden.  Die  Zuchthausstrafe  macht  von  rechtswegen  auf 
Lebenszeit  ämter-,  militär-  und  marineunfähig.  Eidesunfähigkeit  oder  sonstige 
Abminderungen  der  öffentlichen  oder  bürgerlichen  Rechtsstellung  sind  mit 
der  Zuchthausstrafe  nicht  verbunden.  Doch  kann,  in  manchen  Fällen  muss 
mit  der  Zuchthausstrafe  die  Aberkennung  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  ver- 
bunden werden. 

Die  Gefängnisstrafe  ist  in  der  Dauer  von  1  Tage  bis  zu  5  Jahren  zu- 
lässig; bei  Zusammentreffen  mehrerer  Gefängnisstrafen  kann  bis  zu  10  Jahren 
erkannt  werden;  und  bei  jugendlichen  Verbrechern  ersetzt  Gefängnis  bis  zu 
15  Jahren  die  Todes-  und  die  lebenslängliche  Zuchthausstrafe.  Die  Gefängnis- 
strafe ist  nach  ganzen  Tagen,  nach  Wochen,  Monaten  oder  Jahren  zu  bestimmen. 
Es  kommen  Minima  von  1  Tag,  1  Woche,  14  Tagen,  1  Monat,  2,  3,  6  Monaten, 
1,  2  und  3  Jahren  vor,  Maxima  von  2,  3,  6  Monaten,  1,  2,  3  und  5  Jahren. 
Die  zur  Gefängnisstrafe  Verurteilten  können  in  einer  Gefangenanstalt  in  einer 
ihren  Fähigkeiten  und  Verhältnissen  angemessenen  Weise  beschäftigt  werden. 
Auf  ihr  Verlangen  sind  sie  in  dieser  Weise  zu  beschäftigen.  Zur  Aussenarbeit 
dürfen  sie  nur  mit  ihrer  Zustimmung  angehalten  werden.  (Vergl.  jedoch  MiL- 
StGB.  §  15  Abs.  2).  Straffolgen  sind  mit  der  Gefängnisstrafe  nicht  ver- 
bunden; die  Aberkennung  der  btlrgerlichen  Ehrenrechte  oder  eine  geringere 
Einwirkung  auf  die  Rechtsfähigkeit,  beziehungsweise  Rechtsstellung  kann  sich 
unter  gewissen  Voraussetzungen  auch  an  die  Gefängnisstrafe  anschliessen. 

Einzelhaft  ist  bei  Zuchthaus-  und  Gefängnissträflingen  zulässig,  ohne 
deren  Zustinmiung  jedoch  nur  bis  zu  3  Jahren.  Eine  Kürzung  der  Dauer 
der  Strafe  ist  mit  der  Einzelhaft  nicht  verbunden.  —  Zuchthaus-  und  Gefängnis- 
sträflinge, die  zu  einer  längeren  Strafe  verurteilt  sind,  können,  wenn  sie 
wenigstens  drei  Vierteile  der  Strafe  und  mindestens  ein  Jahr  erstanden  und 
sich  während  dieser  Zeit  gut  geführt  haben,  mit  ihrer  Zustimmung  vorläufig 
entlassen  werden.  Es  ist  das  Verdienst  der  sächsischen  Landesgesetzgebung, 
diesen  guten  und  fruchtbaren  Gedanken  zuerst  in  Deutschland  praktisch  aus- 
gestaltet zu  haben.  —  Auf  diese  Einrichtung  beziehen  sich  die  §§  23 — 26  des 
Gesetzbuches. 

Die  Haft  besteht  in  einfacher  Freiheitsentziehung.  (StGB.  §  18.)  Sie  kann 
von  einem  Tage  bis  zu  6  Wochen,  im  Falle  des  Zusammentreffens  mehrerer 
strafbarer  Handlungen  bis  zu  3  Monaten  erkannt  werden.  (§  77.)  Sie 
ist  regelmässig  Übertretungsstrafe;  zuweilen  kann  sie  auch  bei  Vergehen 
vorkommen  (z.  B.  StGB.  §§  185,  233).  Landstreicher,  Bettler,  durch  Trunk 
emährungsunfähig  Gewordene,  Weibspersonen,  die  sich  der  Prostitution  ergeben, 
Arbeitsscheue  können,  wenn  sie  aus  §  361,  No.  3 — 8  des  Gesetzbuches  zu 
Haft  verurteilt  worden  sind,  zu  Arbeiten,  welche  ihren  Fähigkeiten  und  Ver- 
hältnissen angemessen  sind,  innerhalb  und,  vorbehaltlich  der  Trennung  von 
freien  Arbeitern,  auch  ausserhalb  der  Strafanstalt  angehalten  werden.  Zugleich 
dürfen  diese  Verurteilten  seitens  des  Gerichtes  der  Landespolizeibehörde  über- 
wiesen werden,  welche  dadurch  die  Befugnis  erhält,   den  Verurteilten  bis  auf 


*)  Stenglein,  Zeitschrift  für  Gerichtspraxis,  Bd.  14(1875),  S.  100;  Entscheidungen 
des  Reichsgerichts  in  Strafsachen,  Bd.  4  No.  58. 

2* 


20  Deutsches  Reich.  —  Der  Inhalt  des  Strafgesetzbuches. 


zwei  Jahre  (nach  erledigter  Strafe)  in  einem  Arbeitshause  unterzubringen  oder 
zu  gemeinnützigen  Arbeiten  zu  verwenden  und,  wenn  der  Verurteilte  ein  Aus- 
länder ist,  denselben  aus  dem  Bundesgebiete  zu  verweisen. 

Die  Festungshaft  kommt  als  lebenslängliche  sowie  als  zeitige  in  der 
Dauer  von  1  Tag  bis  15  Jahren  vor.  Sie  ist  Verbrechensstrafe,  wenn  in 
höherem  Masse  als  5  Jahren  angedroht;  ausserdem  Vergehensstrafe.  Maximal- 
grenzen sind  ausser  15  Jahren  10,  5,  3,  2  Jahre,  1  Jahr,  6  Monate;  als  Minimal- 
grenzen erscheinen  ausser  1  Tag,  1  Woche,  1  Monat,  2,  3,  6  Monate,  1,  2,  3, 
5  Jahre.  Die  Festungshaft  gilt  als  custodia  honesta;  sie  besteht  in  Freiheits- 
entziehung mit  Beaufsichtigung  der  Beschäftigung  und  Lebensweise  der  Gre- 
fangenen,  welche  in  Festungen  oder  in  anderen  dazu  bestimmten  Räumen, 
jedenfalls  getrennt  von  sonstigen  Gefangenen  zu  bewahren  sind. 

Sind  ungleichartige  Freiheitsstrafen  zu  verbinden  oder  sonst  in  Beziehung 
zu  bringen  (z.B.  StGB.  §§  7,  44,  49,  157,  Strafprozess-0.  §  492),  so  ist  die 
Zuchthausstrafe  im  Verhältnis  zur  Gefängnisstrafe  und  diese  im  Verhältnis  zur 
Festungshaft  wie  2:3  anzusetzen;  d.h.  2  Teile  Zuchthaus  ==  3  Teilen  Gefäng- 
nis, und   2  Teile  Gefängnis  =  3  Teilen  Festungshaft.     (StGB.  §  21.) 

Jeder  deutsche  Staat  vollzieht  die  von  seinen  Gerichten  erkannten 
Freiheitsstrafen.  Die  Zuchthausstrafen,  welche  vom  Reichsgerichte  in  erster 
Instanz  erkannt  werden,  lässt  der  Oberreichsanwalt  in  der  preussischen  Straf- 
anstalt zu  Halle  vollstrecken.  Beruht  eine  Gesamtstrafe  auf  Einzelstrafen, 
die  von  Gerichten  verschiedener  Staaten  erkannt  sind,  so  kommt  die  Voll- 
streckung dem  Staate  zu,  dessen  Gericht  zuletzt  eine  Zusatzstrafe  erkannte 
oder  die  Gesamtstrafe  aussprach;  doch  ist  ersatzlose  Abwälzung  auf  den  mit 
der  grössten  Einzelstrafe  beteiligten  Staat  zulässig.  Bundesratsbeschluss  vom 
11.  Juni  1885,  Centralblatt  1885  S.  270.^)  Übersteigt  eine  Freiheitsstrafe  die 
Dauer  von  6  Wochen  nicht,  so  ist  dieselbe  in  demjenigen  Bundesstaate  zu 
vollstrecken,  in  welchem  der  Verurteilte  sich  befindet,  ohne  Rücksicht  darauf, 
wo  die  Strafe  erkannt  wurde.  (Ger. Verf. G.  §  163.)  —  Hinsichtlich  der  pro- 
zessualen Voraussetzungen  der  Vollstreckung  der  Freiheitsstrafen  vergl.  noch 
Strafprozess-0.  §§  481—483,  487—490,  492—494. 

Die  Hauptsache,  das  ist  der  Inhalt  der  Freiheitsstrafen,  ist  reichs- 
gesetzlich noch  nicht  geregelt.  In  Gesetzen  und  grösstenteils  in  Verordnungen 
ist  der  Vollzug  landesgesetzlich  geordnet;  im  nämlichen  Lande,  wie  z.  B. 
in  Preussen,  verschieden  für  die  dem  Ministerium  des  Innern  unterstellten 
Zuchthäuser  (Strafanstalten)  und  die  dem  Justizministerium  unterstellten  Ge- 
fangenanstalten. Alle  Strafvollzugssysteme  von  planloser  Gemeinschaftshaft 
bis  zur  systemgetreuen,  vielleicht  übertriebenen  Durchführung  der  Einzelhaft 
finden  sich  in  den  deutschen  Gefängnissen  und  Zuchthäusern  vertreten.  Die 
im  deutschen  Reich  erkannten  Freiheitsstrafen  haben  überall  denselben  Namen, 
dio  zeitlichen  Maximalgrenzen  sind  überall  dieselben,  im  übrigen  aber  ist  das 
für  die  einzelne  Anstalt  massgebende  Reglement  und  wohl  auch  Charakter, 
Wissen  und  praktische  Erfahrung  des  Anstaltsvorstandes  entscheidend  für  Inhalt 
und  Wirkung  der  Freiheitsstrafen.  Drei  Jahre  Zuchthaus  oder  Gefängnis  in 
der  einen  Anstalt  und  die  gleichbemessene  Strafe  in  der  anderen  Anstalt 
können  ganz  verschiedene  Strafen  sein.  Das  deutsche  Reich  hat  nur  zum  Teil 
und  vielleicht  gerade  bezüglich  des  weniger  wichtigen  Teiles  der  Strafein- 
richtung einheitliches  Recht.  Die  Voraussetzungen,  unter  denen  die  Gesell- 
schaft mit  dem  Strafschutz  einsetzen  darf,  sind,  abgesehen  vom  Gebiete  des 
Landesstrafrechtes,  übereinstimmend  geordnet.  Die  Strafmittel  sind  auch  überein- 


*)  Der  citierte  Beschluss  enthält  noch  weitere,  namentlich  die  Kosten  betreffende 
Bestimmungen. 


§  9.    Die  allgemeinen  Bestimmungen.  21 


stimmend  etikettiert;  die  Mittel  selbst  aber  sind  noch  recht  verschiedene,  daher 
auch  verschieden  wirkende.  In  Erkenntnis  dieses  fundamentalen  Misstandes 
hatte  die  Reichsregierung  einen  Gesetzentwurf  zur  einheitlichen  Regelung  des 
Vollzuges  der  Freiheitsstrafen  im  Reichsjustizamte  ausarbeiten  und  in  einer 
Kommission  von  hervorragenden  Praktikern  des  Gefängniswesens  beraten  und 
feststellen  lassen.  Am  19.  März  1879  gelangten  diese  Arbeiten  zum  Abschlüsse. 
Zum  Teil  der  Umschwung  in  den  kriminalistischen  Empfindungen  und  Urteilen, 
vorzugsweise  aber  finanzielle  Bedenken  brachten  das  Gesetzgebungsprojekt  zum 
Stillstand,  der  Strafvollzugsentwurf  gelangte  nicht  an  den  Reichstag.^)  Die 
Darstellung  der  Landes-Strafvollzugsgesetze ,  Verordnungen  und  Reglements 
liegt  nicht  im  Plane  dieser  Arbeit. 

3.  Die  Geldstrafe  ist  mit  der  Minimalgrenze  von  1  Mark  für  Über- 
tretungen und  mit  der  Minimalgrenze  von  3  Mark  bei  Vergehen  und  Ver- 
brechen zugelassen.  Überschreitet  die  Maximalgrenze  150  Mark,  so  qualifiziert 
das  die  That  zum  Vergehen.  Die  höchste  im  Strafgesetzbuche  angedrohte 
Geldstrafe  beträgt  15000  Mark  (§  302  d,  Wucher).  Das  Handelsgesetzbuch 
Artikel  249,  249  a,  249  b  (RGBl.  1884,  S.  166)  kennt  Geldstrafen  bis  zu 
20000  Mark;  nach  SpezialStrafgesetzen  sind  Geldstrafen  möglich,  die  der 
Konfiskation  eines  grossen  Vermögens  gleich  kommen,  indem  sie  in  einem 
Vielfachen  eines  dem  Staate  entzogenen  Betrages  bestehen.  Geldstrafen,  die 
nicht  beigetrieben  werden  können,  sind  in  der  Regel  in  Freiheitsstrafen  zu 
verwandeln.  (StGB.  §§  28 — 30.)  Und  zwar  giebt  das  Gesetzbuch  den  Ge- 
richten die  Befugnis,  bei  Verbrechen  und  Vergehen  je  3,  4  u.  s.  w.  bis 
15  Mark  durch  je  einen  Tag  Freiheitsentziehung  zu  ersetzen,  während  bei 
Übertretungen  ein  Tag  schon  für  eine  Mark  angesetzt  werden  kann.  Es  möchte 
jedoch  nicht  als  angemessen  erscheinen,  wenn  eine  Geldstrafe  von  16  Mark 
bei  Übertretungen  mit  15  Tagen  ersetzt  würde,  während  bei  Vergehen  nur 
5  Tage  an  deren  Stelle  treten  dürfen;  es  wird  sich  empfehlen,  die  Gleichung 
zwischen  Freiheits-  und  Geldstrafe  bei  Übertretungen  nicht  ungünstiger  als 
bei  Vergehen  anzusetzen.  In  manchen  Spezialgesetzen  ist  die  Umwandlung 
der  Geld-  in  Freiheitsstrafe  ausgeschlossen,  z.  B.  im  Wechselstempelsteuer- 
gesetze vom  10.  Juni  1869  (BGBl.  S.  193,  §  15).  Sogar  die  Subhastation 
eines  Grundstückes  zum  Zweck  der  Strafvollstreckung  wird  zuweilen  für  den 
Fall  verboten,  dass  der  Verurteilte  ein  Inländer  ist.  Die  Umwandlung  der 
Geld-  in  Freiheitsstrafe,  wie  sie  vom  deutschen  Strafgesetzbuch  vorgesehen 
ist  und  von  der  deutschen  Strafrechtspraxis  gehandhabt  wird,  ist  eine  rein 
fonnale  und  gänzlich  zwecklose,  sowie  schädliche  Massregel,  deren  baldige 
Ablösung  durch  ein  anderes  Ersatzmittel  der  Geldstrafe,  wie  sie  von  der 
Internationalen  Kriminalistischen  Vereinigung  vorgeschlagen  werden,  anzustreben 
ist.  Nur  insoweit  nach  (gültigen)  Landesgesetzen  anstatt  der  Gefängnis-  oder 
Geldstrafe  Forst-  oder  Gemeindearbeit  angedroht  oder  nachgelassen  ist,  soll 
es  nach  §6,  Abs.  2,  des  Einführungsgesetzes  zum  Strafgesetzbuch  dabei  sein 
Bewenden  haben.  Hier  wird  die  künftige  Reichsgesetzgebung  einzusetzen 
und  den  bisher  partikularrechtlichen  Gedanken  gemeinrechtlich  zu  verwerten 
und  weiter  zu  entwickeln  haben. 

4.  Der  Verweis  ist  nur  bei  Vergehen  und  Übertretungen  Jugendlicher, 
d.  h.  solcher,  die  zur  Zeit  der  That  12,  aber  noch  nicht  18  Jahre  alt  waren, 
für  besonders  leichte  Fälle  zugelassen.     (StGB.  §  57,  Z.  4.) 

Als  Nebenstrafen  kennt  das  Strafgesetzbuch  ausser  der  schon  er- 
wähnten   ipso  jure -Wirkung    der   Zuchthausstrafe:     1.   die    Aberkennung    der 

*)  Vergl.  die  Darstellung  v.  Jagemanns  im  Handbuch  des  Gefängniswesens, 
herausgegeben  durch  v.  Holtzendorff  und  v.  Jagemann.  Hamburg  1888.  Bd.  1, 
S.  142  if.,  besonders  S.  150  ff. 


22  Deutsches  Reich.  —  Der  Inhalt  des  Strafgesetzbuches. 


bürgerlichen  Ehrenrechte  neben  der  Todes-  und  Zuchthausstrafe,  sowie 
unter  gewissen  Voraussetzungen  auch  neben  der  Gefängnisstrafe.  Die  Ab- 
erkennung bedeutet  teils  Verluste  von  Rechten,  teils  Unfähigkeiten  zur  Er- 
langung gewisser  Rechte.  Die  Unfähigkeit  tritt  im  Falle  des  Ehrverlustes 
während  des  Strafvollzuges  und  für  einige  Zeit  nach  Erledigung  der  Freiheits- 
strafe ein.  Das  Gericht  kann  diese  Zeit  bei  Zuchthausstrafen  in  der  Dauer 
von  2 — 10,  bei  Gefängnisstrafen  in  der  Dauer  von  1 — 5  Jahren  bemessen.^) 
Die  Aberkennung  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  bringt  sowohl  nach  Reichs- 
wie  nach  Landesrecht  Zurücksetzungen  in  verschiedenen  Lebensbeziehungen 
mit  sich,  die  aber  nicht  als  Strafen  angesehen  werden,  daher  auch  nicht  der 
Einschränkung  nach  §  5  des  Einführungsgesetzes  zum  Strafgesetzbuch  unter- 
liegen. (Vergl.  z.B.  Ger.Verf.G.  §176,  Gew.-O.  §53,  83\  100^  106.  Preuss. 
Jagdpol.-Ges.  vom  7.  März  1850,  GS.  S.  165  §  15  lit.  b.  Preuss.  Verordn. 
betr.  die  Einrichtung  einer  ärztlichen  Standesvertretung  vom  25.  Mai  1887, 
GS.  S.  169  §4,  Abs.  3.)  Bei  Gefängnisstrafen  kann  die  Aberkennung  auf 
die  Ämterunfähigkeit  beschränkt  werden;  bei  manchen  Vergehen  darf  über- 
haupt nur  Ämterunfähigkeit  ausgesprochen  werden.  —  Auswärtige  Verurteilungen 
eines  Deutschen  wirken  nicht  für  das  deutsche  Reich,  aber  in  einem  Nach- 
tragserkenntnisse kann  die  gänzliche  beziehungsweise  teilweise  Aberkennung 
der  bürgerlichen  Ehrenrechte  erfolgen.  (StGB.  §  37.  Vergl.  eine  ähnliche  Be- 
stimmung in  §  42,  Abs.  2  des  Mil.-StGB.)  2.  Das  deutsche  Strafgesetzbuch 
kennt  als  Neben-,  richtiger  als  Nachstrafen  noch  die  Stellung  unter  Polizeiauf- 
sicht (§§  38,  39)  und  die  Nachhaft,  siehe  S.  19  a.  E.  und  S.  20;  ferner  3.  die 
Einziehung  einzelner  Gegenstände  (§  40),  sowie  die  Anordnung  der  Unbrauch- 
barmachung von  Druckschriften,  Abbildungen,  Darstellungen  (§  41).  Vergl.  auch 
§  42,  der  die  zwei  letzten  Massregeln  unter  gewissen  Voraussetzungen  zulässt, 
auch  wenn  kein  Schuldiger  mit  Strafe  zu  erreichen  ist.  (Dazu  Straf pr.Ordg. 
§§  477 — 479.)  Ausser  den  vorstehend  erwähnten  Strafen  kommen  im  Straf- 
gesetzbuche noch  folgende  Massregeln  als  Nebenstrafen  vor:  4.  die  Aberkennung 
der  Fähigkeit,  als  Zeuge  oder  Sachverständiger  einen  Eid  zu  leisten  (StGB. 
§  161);  5.  die  Aberkennung  der  Fähigkeit  zu  einer  Beschäftigung  im  Eisenbahn- 
oder im  Telegraphendienste  oder  in  bestimmten  Zweigen  dieser  Dienste  (StGB. 
§319);  6.  die  Verfallerklärung  des  Vorteils  oder  dessen  Wertes  bei  der  Bestechung 
(StGB.  §  335.)  Nicht  als  Strafe  erscheint  die  Anordnung  der  Zwangserziehung 
in  den  Fällen  der  §§  55  und  56  des  Strafgesetzbuchs. 

IL  In  der  Materie  des  Versuches  schliesst  sich  der  2.  Abschnitt  zunächst 
an  die  Begriffsbestimmung  des  Code  p^nal,  Artikel  2  an,  insofern  als  Haupt- 
merkmal der  Anfang  der  Ausführung  (le  commencement  d'ex6cution)  aufgestellt 
ist.  Auch  hinsichtlich  der  Strafbarkeitserklärung  folgt  das  deutsche  dem 
französischen  Gesetzbuche,  insofern  es  den  Versuch  eines  Verbrechens  ohne 
weiteres,  den  eines  Vergehens  dagegen  nur  bei  Vorhandensein  einer  besonderen 
Bestimmung  für  strafbar  erklärt.  Dagegen  ist  die  Unabhängigkeit  des  Aus- 
bleibens des  Erfolges  vom  Willen  des  Thäters  nicht,  wie  nach  dem  Code 
pönal,  dem  preussischen  und  bayerischen  Strafgesetzbuche,  Thatbestandsmerkmal 
des  Versuches;   die  Freiwilligkeit  des  Abstehens  oder  Rückgängigmachens  ist 

^)  Auf  die  sogenannte  restitutio  ex  capite  gratiae  (Rehabilitation)  bezieht  sich  z.  B. 
das  bayerische  Gesetz  vom  10.  Juli  1861,  betreflFend  die  Aufhebung  der  Straffolgen. 
Man  nimmt  an,  dass  die  deutschen  Landesherren  die  Macht  haben,  auch  die  nach 
§,31  des  Strafgesetzbuchs  mit  der  Zuchthausstrafe  von  rechtswegen  verbundene 
Ämter-,  Militär-  und  Marineunfähigkeit  wieder  zu  beseitigen.  Vergl.  Binding,  Hand- 
buch I,  S.  375,  376.  Ein  nach  Artikel  XII  des  bayerischen  Gesetzes  vom  4.  Juni  1848, 
die  Verantwortlichkeit  der  Minister  betreffend,  vom  Staatsgerichtshofe  zur  Entlassung 
verurteilter  Minister  kann  nur  mit  Zustimmung  der  beiden  Häuser  des  Landtages 
begnadigt  werden 


§  9.    Die  allgemeinen  Bestimmungen.  23 


vielmehr  (§  46)  zum  Elemente  eines  Strafaufhebungs-  oder  Tilgungsgrundes 
gemacht.  Am  meisten  verleugnet  das  deutsche  Gesetzbuch  sein  Vorbild  in 
der  schon  kritisierten  Bestimmung,  dass  das  versuchte  Verbrechen  oder  Ver- 
gehen milder  zu  bestrafen  sei  als  das  vollendete.  Nach  meiner  Auffassung 
ist  das  eine  Rückbildung  des  deutschen  StrafVechts  zu  einem  unvollkommeneren 
Standpunkt.  Die  Landesgesetzgebung  ist  mehrfach  auf  den  Standpunkt  des 
französischen  Rechts  zurückgekommen.     (Vergl.  unten  §  43.) 

III.  In  der  Lehre  von  der  Teilnahme  ist  das  Strafgesetzbuch  durch 
eine  metaphysische  Auffassung  der  Willensfreiheit  beeinflusst  worden.  Aus- 
gehend von  der  Meinung,  dass  der  keinem  Zwange  und  keinem  Irrtume  unter- 
liegende Mensch  aus  seiner  Seele  heraus  neue  Kausalitätsreihen  eröffne  und 
dass  die  psychischen  Einwirkungen  anderer  nicht  unter  dem  Gesichtspunkte  der 
Verursachung  aufgefasst  werden  dürften,  ist  die  Annahme  einer  intellektuellen 
Urheberschaft  abgelehnt.  Das  Gesetzbuch  erblickt  im  Anstifter  und  Qehtilfen 
nicht  Miturheber  des  verbrecherischen  Erfolges,  sondern  lediglich  Teilnehmer 
an  fremder  Verurschuldung.  Der  Gedanke,  an  sich  widerspruchsvoll,  konnte 
nicht  konsequent  durchgeführt  werden.  Und  seine  Ausprägung  als  Prinzip 
stellt  nicht  selten  die  Rechtsanwendung  vor  unlösbare  Probleme.  Es  ist  un- 
möglich, mit  begrifflicher  Schärfe  die  Mitthäterschaft  von  der  thätigen  Bei- 
hülfe im  Zeitpunkt  der  That  zu  unterscheiden.  Und  doch  hat  das  Gesetzbuch 
gerade  bei  den  schwersten  Verbrechen  der  Unterscheidung  eine  eminent  prak- 
tische Bedeutung  beigelegt,  indem  es  die  Hülfeleistung  in  der  Strafbarkeit 
dem  Versuche  gleichstellt,  so  dass  der  Gehülfe  beim  Morde  nur  mit  zeitiger 
Freiheitsstrafe  belegt  werden  kann,  während  den  Mitthäter  die  Todesstrafe 
trifift.  Im  §  49  a,  dem  sogenannten  Duchesne-Paragraphen,  hat  das  revidierte 
Strafgesetzbuch  den  nicht  gerade  glücklich  gelösten  Versuch  gemacht,  das 
Dingen  zum  Verbrechen  und  das  sich  Erbieten  zum  Verbrechen  unter  gewissen 
Voraussetzungen  unter  Strafe  zu  stellen.  (Über  die  Teilnahme  von  Civilpersonen 
an  militärischen  Delikten  vergl.  unten  §  38.) 

Die  Begünstigung  ist  in  den  besonderen  Teil  verwiesen  und  zusammen 
mit  der  Hehlerei  im  21.  Abschnitte  behandelt.  Leider  sind  dadurch  Vergehen 
mit  einander  in  Verbindung  gebracht,  welche  einen  grundverschiedenen  Inhalt 
haben.  Die  Unterstützung  der  Flucht  eines  politischen  Verbrechers,  eines 
Duellanten  und  dergleichen  gehört  nicht  in  den  nämlichen  Abschnitt  wie  die 
Hehlerei  und  Partiererei.  Die  unangemessene  Verbindung  hat  auch  zu  unan- 
gemessenen Bestimmungen  geführt.  Es  ist  nicht  abzusehen,  warum  die  Strafe 
desjenigen,  welcher  um  eigenen  Vorteils  willen  nach  Begehung  eines  Ver- 
brechens dem  Thäter  oder  einem  Teilnehmer  Beistand  leistet,  keine  schwerere 
sein  darf,  als  die  auf  die  Handlung  selbst  angedrohte. 

IV.  Der  vierte  Abschnitt  des  ersten  Teiles  stellt  unter  der  Überschrift: 
„Gründe,  welche  die  Strafe  ausschliessen  oder  mildem"  Zustände  und  Vor- 
gänge zusammen,  die  unter  verschiedenen  Gesichtspunkten  wirken.^)  Das 
Verbindungsglied  ist  lediglich  die  Endwirkung  auf  die  Bestrafung.  1.  Die 
Annahme  einer  strafbaren  Handlung  wird  abgelehnt,  wenn  die  freie  Willens- 
bestimmung durch  Bewusstlosigkeit  oder  krankhafte  Störung  der  Geistes- 
thätigkeit  ausgeschlossen  ist  (§  51),  im  Falle  unwiderstehlicher  Gewalt  (§  52), 
bei  Notstand  (§§  52,  54),  und  im  Falle  der  Notwehr  (§  53).  Es  ist  sofort 
ersichtlich,  dass  in  den  beiden  ersten  Fällen  (Ausschliessung  der  freien  Willens- 
bestimmung und  unwiderstehliche  Gewalt)  der  Handlungsbegriff  nicht  gegeben 

*)  Als  allgemeinen  Straferhöhung8-(Schärfungs-)Grund  kennt  das  Civilstraf- 
gesetzbuch  nur  das  Zusammentreffen  mehrerer  stran)aren  Handlungen,  vergl.  nach- 
her V.  Es  erfährt  aber  in  dieser  Beziehung  für  Militärpersonen  eine  Erweiterung  durch 
§  55  des  Militärstrafgesetzbuchs.    S.  unten  §  39. 


24  Deutsches  Reich.  —  Der  Inhalt  des  Strafgesetzbuches. 


ist,  während  in  den  Fällen  des  Notstandes  und  der  Notwehr  das  Moment  der 
RechtBwidrigkeit  fehlt.  Die  Behandlung  der  Notwehr  darf  als  mustergültig 
erklärt  werden;  dem  Notstande  ist  das  Gesetzbuch  nicht  ausreichend  gerecht 
geworden.^)  2.  Die  §§55 — 57  beschäftigen  sich  mit  dem  Einfluss  der  Jugend. 
Der  Strafgewalt  sind  überhaupt  entrückt  die  antisozialen  Thaten  von  Personen, 
die  zur  Zeit  der  That  noch  nicht  12  Jahre  alt  waren.  Das  Gesetzbuch  erklärt 
aber  nicht,  dass  solche  Thaten  keine  strafbaren  Handlungen  seien,  sondern  es 
verbietet  nur  die  Verfolgung.  Durch  die  Revision  vom  Jahre  1876  ist  die 
Möglichkeit  vorgesehen  worden,  seitens  der  Vormundschaftsbehörde  die  Begehimg 
der  That  feststellen  und  die  Zulässigkcit  der  Zwangserziehung  aussprechen  zu 
lassen.  Die  hierauf  folgende  Behandlung  richtet  sich  zur  Zeit  nach  landes- 
gesetzlichen Bestimmungen.^)  War  der  Thäter  zur  Zeit  der  That  12  aber  nicht 
18  Jahre  alt,  so  verlangt  das  Gesetzbuch  die  jedesmalige  Kognition,  ob  er  bei 
Begehung  der  That  die  zur  Erkenntnis  ihrer  Strafbarkeit  erforderliche  Einsicht 
besass.  Im  Vemeinungsfalle  ist  freizusprechen,  im  Bejahungsfalle  ist  eine  er- 
heblich mildere,  in  besonderen  Anstalten  zu  vollstreckende  Strafe  zu  erkennen. 
Vergleiche  jetzt  besonders  Dr.  H.  Appelius,  die  Behandlung  jugendlicher 
Verbrecher  und  verwahrloster  Kinder.  Bericht  der  von  der  Internationalen 
Kriminalistischen  Vereinigung  (Gruppe  deutsches  Reich)  gewählten  Kommission. 
Berlin  1892.  Der  aus  100  §§  bestehende,  dem  Buche  beigefügte  Gesetzesent- 
wurf unterscheidet  verbrecherische  Eander  bis  zum  vollendeten  14.  Jahre  und 
verbrecherische  jugendliche  Personen,  Alter  von  14 — 18  Jahren.  Bei  den  ver- 
brecherischen Kindern  soll  die  strafrechtliche  Verfolgung  ausgeschlossen  sein, 
aber  staatlich  überwachte  Erziehung  angeordnet  werden  können.  Bei  ver- 
brecherischen jugendlichen  Personen  soll  das  Strafgericht  die  Wahl  haben,  auf 
Strafe,  auf  staatlich  überwachte  Erziehung  oder  auf  Freiheitsstrafe  und  Er- 
ziehung oder  auf  Überweisung  an  die  Familie  zu  erkennen.  Auch  ohne  das 
Vorliegen  einer  strafbaren  Handlung  soll  für  Personen,  welche  das  16.  Jahr 
noch  nicht  vollendet  haben,  eine  staatlich  überwachte  Erziehung  angeordnet 
werden  können,  wenn  sittliche  Veinvalirlosung  festgestellt  ist  oder  die  häus- 
lichen Verhältnisse  sittliche  Verwahrlosung  befürchten  lassen  und  die  Mass- 
regel als  erforderlich  erscheint,  um  die  Person  vor  sittlichem  Verderben  zu 
bewahren.  Im  VI.  Abschnitt  regelt  der  Entwurf  den  Vollzug  der  Strafen  bei 
Jugendlichen. 

Die  vom  §  57  des  Strafgesetzbuches  vorgeschriebene  Strafmilderung  ist 
ausgeschlossen  vom  Militär-Strafgesetzbuch  §  50  und  mehrfach  von  der  Landes- 
gesetzgebung. (Vergl.  preuss.  Forstdiebstahlsgesetz  [unten  §  46]  §  10  und 
preuss.  Feld-  und  Forstpolizeigesetz  [unten  §  46]  §  4.)  Im  Falle  der  Frei- 
sprechung hat  der  Strafi'ichter  nach  §  56  des  Strafgesetzbuches  darüber  zu 
bestimmen,  ob  Zwangserziehung  einzutreten  habe,  die  bis  zum  vollendeten 
20.  Lebensjahre  dauern  darf.  Auch  bei  Taubstummen  ist  jedesmal  die  Ein- 
sichtsfrage aufzuwerfen  (§  58);  eine  besondere  Strafmilderung  im  Falle  der 
Bejahung  ist  hier  aber  nicht  vorgesehen.  Viel  erörtert  ist  die  auf  den  IiTtum 
bezügliche  Bestimmung  des  §  59.  Die  Praxis  giebt  sich  grosse  Mühe,  dessen 
Nichtanwendbarkeit  auf  den  sogenannten  Irrtum  über  das  Strafgesetz  darzuthun. 
3«   Auf  die  Anrechnung  der  Untersuchungshaft   bezieht   sich    die  Bestimmung 


^)  Interessante  Notstandsspezialbestimmungen  z.  B.  im  Intern.  Vertrag  zum 
Schutze  der  unterseeischen  Telegraphenkabel  Art.  2  (unten  §  20,  No.  4),  im  preuss. 
Feld-  und  Forstpolizeigesetz  vom  1.  April  1880,  §  10  Abs.  2,  im  bayerischen  Forstgesetze 
vom  28.  März  1852  (siehe  unten  §  46)  Art.  61  (60). 

^)  Vergl.  preuss  Gesetz  betr.  die  Unterbringung  verw^ahrlost^r  Kinder  vom 
13.  März  1878,  GS.  S.  132  und  Ergänzungsgesetz  vom  27.  März  1881,  ferner  Gesetz 
vom  23.  Juni  1884,  GS.  S.  306. 


§  9.    Die  allgemeinen  Bestimmungen.  25 


des  §  60.  4,  Die  §§  61 — 65  beschäftigen  sich  mit  dem  Erfordernis  der  Antrags- 
stellung als  Bedingung  der  Strafverfolgung.  (Vergl.  dazu  oben  §  7,  S.  13  a.  E.) 
5.  Die  §§  66 — 69  regeln  die  Verjährung  der  Strafverfolgung  (Strafklage),  die 
§§  70 — 72  die  Verjährung  der  Strafvollstreckung.  Keine  Strafthat  und  keine 
rechtskräftig  erkannte  Strafe  ist  nach  dem  Gesetzbuch  unverjährbar. 

V.  1.  Der  5.  Abschnitt  beschäftigt  sich  mit  einzelnen  Fällen  der  so- 
genannten Ideal-  und  Realkonkurrenz.  Wenn  eine  Handlung  die  Merkmale 
mehrerer  strafbarer  Handlungen  enthält  (Idealkonkurrenz),  so  soll  nur  die 
schwerste  Strafart  oder  das  schwerste  Strafmass  verhängt  werden.  (StGB. 
§  73.)  In  den  Fällen  der  Healkonkurrenz  lässt  das  Gesetzbuch  teils  eine 
Gesamtstrafe  eintreten,  teils  schreibt  es  die  Häufung  der  Strafen  vor.  Die 
Praxis  nimmt  an,  dass  das  letztere  auch  in  den  Fällen  zu  geschehen  habe, 
die  das  Gesetz  nicht  besonders  geregelt  hat.  Zum  mindesten  wunderlich  er- 
scheinen aber  Urteile,  durch  welche  jemand  zum  Tode  und  zugleich  zu  lebens- 
länglicher oder  zeitlicher  Zuchthausstrafe  verurteilt  wird.  Man  darf  sicher  sein, 
dass  der  Gesetzgeber  solche  Unmöglichkeiten  den  Richtern  nicht  hat  zumuten 
wollen.  2.  Für  die  Fälle  der  sogenannten  Gesetzeskonkurrenz,  z.  B.  §8  113  und 
114,  §§  267  und  363,  sowie  für  die  Fälle  des  fortgesetzten  Deliktes  hat  das 
Gesetzbuch  keine  Bestimmungen  aufgestellt.^)  Die  Gerichte  müssen  hierbei 
teils  die  allgemeinen  Regeln  der  Interpretation  zur  Anwendung  bringen,  teils 
die  natürliche  Zusammenfassung  mehrerer  Muskelbewegungen  zu  einem  Hand- 
lungsbegriflFe  auch  für  die  rechtliche  Beurteilung  gelten  lassen.  —  3.  Abweichend 
vom  preussischen  hat  das  deutsche  Strafgesetzbuch  den  Rückfj^Jl  nicht  als 
einen  allgemeinen  Schärfungsgrund  behandelt.  Anders  das  Militär-Strafgesetz- 
buch (vergl.  unten  §  39);  vergl.  auch  die  preussischen  Disziplinarvorschriften 
für  das  Heer  vom  31.  Oktober  1872,  §  3  C.  4,  (unten  §  41).  Nur  bei  Raub, 
raubgleichem  Diebstahl,  räuberischer  Erpressung,  Diebstahl,  Hehlerei,  Betrug 
(StGB.  §§  250  Z.  5,  252,  255,  244,  261,  264),  sodann  bei  Zolldelikten,  bei 
Kontraventionen  gegen  die  Gesetze  über  die  Besteuerung  des  Tabaks,  Zuckers, 
Salzes,  Branntweines  und  Bieres,  bei  Kontraventionen  gegen  das  Gesetz  be- 
treffend die  Reichsstempelabgaben  (vergl.  unten  §  28 1 — lU)  bewirkt  teils  der  erste, 
teils  erst  der  zweite  Rückfall  die  Möglichkeit  einer  Strafschärfung,  beziehungs- 
weise (beim  Betteln,  StGB  §  362  Abs.  2)  die  Zulässigkeit  der  Straftaachbehand- 
lung  im  Arbeitshause.*)  Das  Gesetzbuch  hat  bei  jeder  dieser  strafbaren  Handlungen 
diejenigen  bezeichnet,  deren  Vorbestrafung  die  Rückfall sstrafe  begründen  soll. 
(Vergl.  noch  Gesetz  über  die  Freizügigkeit  vom  1.  November  1867,  BGBl.  S.  55 
§  3.)  —  4.  Die  Qewohnheitsmässigkeit  ist  bei  dem  Münzvergehen  des  §  150  und 
bei  der  einfachen  Kuppelei  (§  180)  als  Vergehensmerkmal  ausgeprägt;  bei  Hehlerei 


*)  P^ine  interessante  Spezi albestimmung  hinsichtlieh  der  Fortsetzung  enthält 
Artikel  20  des  bayerischen  Gesetzes,  betreffend  die  Einrichtung  des  die  Kunst- 
strassen befahrenden  Fuhrwerks  vom  25.  Juli  1850,  (bayer.  GBl.  S.  321).  Eine  Über- 
tretung, welche  mit  demselben  Fuhrwerke  an  demselben  Tage  begangen  wurde,  darf 
nur  einmal  zur  Strafe  gezogen  werden.  Und  wer  während  einer  Fahrt  oder  Reise 
wegen  einer  Übertretung  gegen  die  Artikel  1—9  in  Untersuchung  gezogen  oder  be- 
straft wird,  darf  weder  wegen  der  Fortsetzung  der  Fahrt  oder  Reise  noch  wegen  der 
Heimfahrt  mit  demselben  Fuhrwerke  bestraft  werden,  wenn  er  sich  ein  dem  Absatz  3 
des  Artikel  20  entsprechendes  Zeugnis  hat  ausstellen  lassen.  Nach  §  10  des  preussischen 
Gesetzes  vom  20.  Juni  1887  (GS.  S.  301,  Art.  II,  §  11)  findet  eine  wiederholte  Be- 
strafung wegen .  auf  derselben  Reise  fortgesetzter  Zuwiderhandlungen  schon  dann 
statt,  wenn  die  Änderung  des  Fuhrwerks  nicht  im  nächsten  Orte,  wo  es  möglich  war, 
bewerkstelligt  wird. 

^)  Auch  in  einzelnen  Landesgesetzen  ist  der  Rückfall  als  Strafschärfungsgrund 
behandelt.  Preuss.  Forstdiebstahlsgesetz  vom  15.  April  1878,  GS.  S.  222,  §§  7,  8,  preuss. 
Feld-  und  Forstpolizeigesetz  vom  I.April  1880,  S.  230,  §  2b,  §3;  baver.  Forstgesetz 
vom  28.  März  1852  (GVBl.  1879,  S.  1313),  Art.  59  (58),  No.  12. 


26  Deutsches  Reich.  —  Der  Inhalt  des  Strafgesetzbuches 


(§  260)  und  Wucher  (§  302  d)  ist  die  Gewohnheitsmässigkeit  Strafschärfungs- 
grund. Vergl.  auch  die  starke  Wirkung  der  gesetzlich  näher  begrenzten  Ge- 
wohnheitsmässigkeit  im  bayerischen  Forstgesetze  vom  28.  März  1852  (bayer. 
GVBl.  1879,  S.  1313)  Artikel  104  (103)  und  105  (104).  5.  Die  Gewerbsmässigkeit 
ist  beim  Glücksspiel  (§284)  und  bei  der  Prostitution  (§361,  No.  6)  Vergehens- 
merkmal, bei  dem  Jagdfrevel  (§  294),  bei  der  Hehlerei  (§  260)  und  bei  dem 
Wucher  (§  302  d)  Strafschärfungsgrund.  6.  Die  Geschäftsmässigkeit  hat  im 
§144  (Verleitung  zur  Auswanderung)  entscheidenden  Einfluss  erlangt. 

§  10.    Der  zweite  Teil  des  Strafgesetzbuches. 

Der  zweite  Teil  des  Gesetzbuches  enthält  28  noch  in  Geltung  stehende 
Abschnitte.  Die  Zählung  der  Abschnitte  geht  bis  zu  29,  der  24.  Abschnitt 
über  den  Bankerutt  ist  aber  aufgehoben.  (Siehe  oben  §  7  S.  16.)  Nachstehend 
folgen  die  Überschriften  der  Abschnitte.  —  1,  Hochverrat  und  Landesverrat. 
2,  Beleidigung  des  Landesherm.  3«  Beleidigung  von  Bundesfürsten.  4.  Feind- 
liche Handlungen  gegen  befreundete  Staaten.  5*  Verbrechen  und  Vergehen 
in  Beziehung  auf  die  Ausübung  staatsbürgerlicher  Rechte.  6.  Widerstand 
gegen  die  Staatsgewalt.  7.  Verbrechen  und  Vergehen  wider  die  öffentliche 
Ordnung.  8,  Münzverbrechen  und  Münzvergehen.  9.  Meineid.  10«  Falsche 
Anschuldigung.  11,  Vergehen,  welche  sich  auf  die  Religion  beziehen.  12,  Ver- 
brechen und  Vergehen  in  Beziehung  auf  den  Personenstand.  13,  Verbrechen 
und  Vergehen  wider  die  Sittlichkeit.  14.  Beleidigung.  15.  Zweikampf.  16.  Ver- 
brechen un^  Vergehen  wider  das  Leben.  17.  Körperverletzung.  18.  Ver- 
brechen und  Vergehen  wider  die  persönliche  Freiheit.  19.  Diebstahl  und 
Unterschlagung.  20.  Raub  und  Erpressung.  21.  Begünstigung  und  Hehlerei. 
22.  Betrug  und  Untreue.  23.  Urkundenfälschung.  24.  vacat.  25.  Strafbarer 
Eigennutz  und  Verletzung  fremder  Geheimnisse.  26.  Sachbeschädigung.  27.  Ge- 
meingefährliche Verbrechen  und  Vergehen.  28.  Verbrechen  und  Vergehen  im 
Amte.^)  29.  Übertretungen.  —  Die  Überschriften  entsprechen  keineswegs  in 
allen  Beziehungen  dem  Inhalte  der  Abschnitte ;  und  es  ist  nicht  angängig,  die 
Überschriften  ohne  weiteres  zur  Auslegung  der  Tragweite  der  einzelnen  Be- 
stimmungen zu  verwerten.  Im  2.  Abschnitte  sind  nicht  bloss  Beleidigungen 
des  Landesherm,  sondern  auch  Beleidigungen  von  Mitgliedern  der  landesherr- 
lichen Familien  bedroht.  Im  Abschnitt  über  Beleidigung  von  Bundesfürsten 
finden  sich  Strafdrohungen  in  Bezug  auf  Thätlichkeiten  gegen  Mitglieder  bundes- 
fürstlicher Familien,  sowie  in  Bezug  auf  Thätlichkeiten  und  Beleidigungen 
gegen  den  Regenten.  Im  5.  Abschnitte  sind  Gewaltthätigkeiten  gegen  die 
Senate  und  die  Bürgerschaften  der  freien  Städte  sowie  gegen  gesetzgebende 
Versammlungen  und  deren  Mitglieder  mit  Strafe  bedroht;  ferner  Gewaltthätig- 
keiten und  Unredlichkeiten  in  Bezug  auf  öffentliche  Wahlen.  Der  6.  Abschnitt 
(Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt)  entspricht  in  der  Hauptsache  seiner  Über- 
schrift; doch  finden  sich  darin  auch  Gewaltthätigkeiten  gegen  Waldeigentümer, 
Forst-  und  Jagdberechtigte,  sowie  gegen  die  von  diesen  bestellten  Aufseher. 
Die  Überschrift  des  7.  Abschnitts  „Verbrechen  und  Vergehen  wider  die  öffent- 
liche Ordnung"  lässt  die  in  demselben  vorgesehenen  Verbrechen  und  Vergehen 
nicht  alle  erraten.  Es  gehören  dahin  der  Hausfriedensbruch  (§§  123,  124), 
der  Landfriedensbruch  (§  125),  die  Störung  des  öffentlichen  Friedens  durch 
Androhung  eines  gemeingefährlichen  Verbrechens  (§  126),  unerlaubte  Verbin- 
dungen und  die  Teilnahme  daran  (§§  127 — 129),  die  Friedensgefährdung  durch 
Aufreizung  von  Bevölkerungsklassen  gegen  einander  (§  130),  der  Eanzelmiss- 
brauch    (§  130a),    die  Verächtlichmachung   von    Staatseinrichtungen    und    An- 

*)  Siehe  unten  §  36. 


§  10.    Der  zweite  Teil  des  Strafgesetzbuches.  27 


Ordnungen  der  Obrigkeit  durch  öflPentliche  Unwahrheiten  (§  131),  die  Amts- 
anmassung  (§  132),  widerrechtliche  Einwirkungen  auf  amtlich  verwahrte  Sachen 
(§  133),  Widerrech tlichkeiten  in  Bezug  auf  öffentliche  Anschläge  (§  134),  des- 
gleichen in  Bezug  auf  öffentliche  Autoritäte-  und  Hohheitszeichen  (§  135), 
Amts-Siegelverletzung  (§  136),  Arrestbruch  (§  137),  falsche  Entschuldigungen 
von  Schöffen,  Geschworenen,  Zeugen  und  Sachverständigen  (§  138),  Nichtanzeige 
gewisser  bevorstehender  Verbrechen  (§  139),  Verletzungen  der  Wehrpflicht 
(§§  140,  142,  143),  Falschwerben  (§  141),  geschäftsmässige  Verleitung  zur 
Auswanderung  unter  Anwendung  täuschender  Mittel  (§  144),  Übertretung  der 
Seesehiffahrtsverordnungen  (§  145).  Lediglich  als  Saramelabschnitt  erscheint 
der  25.  Die  §§  284—286  beziehen  sich  auf  das  Glücksspiel;  (§  287  ist  durch 
das  Markenschutzgesetz,  siehe  unten  §  26,  ersetzt);  §  288  bedroht  Vereitelung 
bevorstehender  Zwangsvollstreckungen,  §  289  Eingriffe  in  ein  fremdes  Ge- 
brauchs- oder  Zurückbehaltungsrecht;  §  290  hat  einen  Fall  des  furtum  usus, 
§  291  einen  speziellen  Diebstahlsfall  zum  Gegenstande.  Die  §§  292 — 295  be- 
drohen die  Eingriffe  in  ein  fremdes  Jagdrecht.  Die  Verstösse  gegen  die  Jagd- 
ordnungen sind  der  landesrechtlichen  Straf bedrohung  überlassen.^)  Die  Ver- 
letzungen eines  fremden  Fischereirechtes  sind  als  Übertretungen  im  §  370, 
No.  4  vorgesehen;  nur  zwei  Fälle  sind  mit  Vergehensstrafen  in  den  §§  296 
und  296  a  bedroht.  (Das  unberechtigte  Fischen  und  Krebsen  in  einer  dem 
Fischfang  gefährlichen  Weise  und  das  unbefugte  Fischen  von  Ausländem  in 
deutschen  Küstengewässern.)  Gegen  die  Gefährdung  von  Schiff  oder  Ladung 
seitens  der  Reisenden,  Schiffsleute  oder  Schiffer  durch  Mitnahme  gefährlicher, 
beziehungsweise  verbotener  Waren  wendet  sich  §  297,  gegen  die  Untreue  der 
Schiffsleute  §  298.  Die  unbefugte  Eröffnung  verschlossener  Schriftstücke  ist 
im  §  299  (vergl.  auch  §  354),  die  Verletzung  des  Berufsgeheimnisses  durch 
Rechtsanwälte,  Notare,  Verteidiger,  Ärzte  und  andere  Medizinalpersonen  im 
§  300  bedroht.  Die  Verletzung  des  Amtsgeheimnisses  ist  mit  Ausnahme  eines 
Falles  (§  353a)  nicht  mit  einer  öffentlichen  Strafe  belegt,  sondern  der  diszi- 
plinaren Behandlung  innerhalb  der  Amtsordnung  überlassen.  Die  §§  301  und 
302  wenden  sich  gegen  die  geldgeschäftliche  Ausnützung  des  Leichtsinnes  und 
der  Unerfahrenheit  der  Minderjährigen,  die  §§  302a — d  gegen  den  Wucher. 
Es  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  ein  einheitlicher  und  abschliessender  Ge- 
danke der  Verbindung  all'  dieser  Strafdrohungen  im  25.  Abschnitte  nicht  zu 
Grunde  liegt.  Und  man  kann  nicht  behaupten,  dass  die  Nichtaufnahme  eines 
Thatbestandes,  der  in  dieser  äusserlichen  Verbindung  von  Landesgesetzbüchem 
bedroht  war  (vergl.  §  270  des  preuss.  StGB.),  im  Sinne  einer  Straflosigkeits- 
erklärung  gedeutet  werden  müsse. 

Noch  willkürlicher  ist  die  Verbindung  von  Thatbeständen  im  29.  Ab- 
schnitte. Es  ist  lediglich  die  Geringfügigkeit  der  für  angezeigt  erachteten 
Strafe,  welche  die  Reichsgesetzgebung  veranlasst  hat,  unter  der  Überschrift 
„Übertretungen",  Verstösse  gegen  Normen  mit  ganz  verschiedenartigem  Inhalt 
in  einem  Abschnitt  zusammenzufassen.  Es  sind  teils  Rechtsgüterverletzungen, 
teils  Gütergefährdungen,  teils  Fälle  blossen  Ungehorsams,  welche  im  29.  Ab- 
schnitte des  Reichsstrafgesetzbuches  in  eine  wunderliche  Verbindung  gekommen 
sind.*)  Im  nämlichen  §  360  ist  z.  B.  das  unerlaubte  Zeichnen  von  Festungs- 
werken, das  unbefugte  Tragen  eines  Ordens,  die  Verweigerung  der  Nothilfe, 
die  Erregung  ruhestörenden  Lärms  und  die  Verübung  groben  Unfugs,  die 
öffentliche  Tierquälerei  und  das  unbefugte  Veranstalten  öffentlicher  Glücks- 
spiele bedroht.     Im  §  361  sind  ausser  den  Bettlern,  Landstreichern  und  öffent- 


^)  Vergl.  unten  §  46. 

*)  Vergl.  Rosin  in  V.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Bd.  2, 8.275  (§5). 


28  Deutsches  Reich.  —  Der  Inhalt  des  Strafgesetzbuches. 


liehen  Dirnen  auch  Eltern  bedroht,  welche  es  unterlassen,  ihre  Kinder  vom 
unbefugten  Jagen  und  Fischen  abzuhalten.  Als  Gründe  für  die  reichsrecht- 
liche Bedrohung  einer  Reihe  von  Übertretungen  stellen  sich  dar  die  Absicht, 
für  gewisse  Handlungen  und  Unterlassungen  die  öffentliche  Bestrafung  sicher 
zu  stellen,  andererseits  die  Absicht,  in  gewissen  Fällen  die  Strafmittel  zu  be- 
grenzen. „Die  einschlägigen  Bestimmungen  —  heisst  es  im  Anhang  I  zu  den 
Motiven  des  norddeutschen  StGB.  —  werden  sich  .  .  an  der  Aufgabe  genügen 
lassen  müssen,  diejenigen  Vorschriften  aufzustellen,  die  im  wesentlichen  überall 
gleichmässig  anwendbar  sein  werden,  das  Besondere  dagegen  der  Partikular- 
gesetzgebung oder  der  autonomischen  Bestimmung  der  Behörden,  Kreise  und 
Gemeinden,  je  nach  der  Verschiedenheit  der  politischen  Organisation  in  den 
verschiedenen  Landesteilen,  zu  überlassen."  Es  gilt  als  ausgemacht,  dass  die 
Straf drohungen  des  29.  Abschnittes  die  Landesgesetzgebungen  nur  insoweit 
beschränken,  als  diese  regelmässig  nicht  befugt  sind,  einen  der  Thatbestände 
des  29.  Abschnittes  für  straflos  zu  erklären  oder  anders  zu  bedrohen,  als  es 
das  Reichsstrafgesetzbuch  gethan.  Im  übrigen  hat  das  Landesstrafrecht  freie 
Hand;  es  darf  Straf  drohungen  aufstellen,  welche  ganz  ähnliche  Thatbestände, 
wie  die  im  29.  Abschnitte  enthaltenen  betreffen.  Vergl.  z.  B.  bayer.  PoL- 
StGB.  (unten  §  46)  Art.  30  mit  RStGB.  §  360  Ziff.  11,  bayer.  PStGB.  Art.  39 
mit  RStGB.  §367  Ziff.  9,  Art.  44  mit  §366  Ziff.  10  u.  a.  Insoweit  „Vor- 
schriften" in  Frage  kommen,  welche  durch  §  2  Abs.  2  des  Einführungsgesetzes 
zum  Strafgesetzbuche  als  in  Geltung  bleibend  erklärt  werden,  darf  die  Landes- 
gesetzgebung sogar  abweichend  von  den  Bestimmungen  des  29.  Abschnittes 
einzelne  Thatbestände  behandeln  (s.  unten  §  43).  Die  Übertretungen  sind  nicht, 
wie  im  preussischen  Strafgesetzbuch  in  einen  besonderen  Teil  mit  besonderen 
allgemeinen  Bestimmungen  verwiesen.  Man  wollte  das  Anerkenntnis  aussprechen, 
„dass  auch  die  sogenannten  Polizeiübertretungen  ein  wirklich  strafbares  Un- 
recht darstellen  und  daher  gleich  den  Verbrechen  und  Vergehen  zu  verfolgen 
und  von  den  Gerichten  zu  bestrafen  seien."  ^)  Wo  aus  praktischen  Gründen  eine 
abweichende  Behandlung  für  angezeigt  schien,  da  ist  dies  an  geeigneter  Stelle 
zum  Ausdruck  gebracht,  wie  z.  B.  hinsichtlich  der  im  Ausland  begangenen 
Übertretungen  (§  6),  hinsichtlich  des  Versuches  (§  43),  der  Hülfeleistung  (§  49), 
der  Begünstigung  (§  257). 

§  11.   Das  ElnJtlhrnngsgesetz  znm  Strafgesetzbuelie.  ^) 

Dasselbe  hat  noch  heute  die  Fassung,  die  es  bei  seiner  Verkündung  für  den 
norddeutschen  Bund  bekommen  hat.  S.  oben  §  6  IV,  S.  14.  Die  Bestimmung  des 
§  1  über  den  Anfang  der  Geltung  ist  Gegenstand  der  Erörterung  gewesen  (vergl. 
oben  §  6);  die  §§  2,  3  und  5 — 7,  welche  sich  auf  das  Verhältnis  des  Landesstrafrechts 
zum  Strafgesetzbuch  beziehen,  fii  den  im  §  43  dieser  Darstellung  eine  Besprechung. 
Der  auf  das  Strafrecht  im  Kriege  und  im  Kriegszustande  sich  beziehende  §4  gelangt 
in  §  42  zur  Erörterung.  Und  §  8  wird  den  Ausgangspunkt  der  Erörterung  über 
die  Landes-Einführungsgesetze  bilden  (unten  §  44). 

§  12.    Sehlussbetrachtnngen. 

Vom  Standpunkte  der  Zeit,  in  welcher  das  Strafgesetzbuch  für  das 
deutsche  Reich  erlassen  wurde,  ist  dasselbe  als  ein  gutes  und  brauchbares 
Gesetzbuch  zu  bezeichnen.  Gleich  seinen  Vorgängern  ist  das  deutsche  Straf- 
gesetzbuch nicht  einseitig  von  einer  der  Strafrechtstheorien  beherrscht,  wenn- 
gleich sich  nicht  verkennen  lässt,   dass  die  ausgleichende  Gerechtigkeit,  mehr 

*)  Vergl.  dazu  die  vorzüglich  orientierende  Darstellung  von  Rosin  inv.  Stengel, 
Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Artikel  Polizeistrafrecht,  Bd.  2,  S.  273  ff.,  besonders 
§  5,  S.  275  f.  —  8)  Rüdorff  (Stenglein)  S.  45—48. 


§  12.    Schlnssbetrachtungen.  29 


als  praktische  Tendenzen,  in  dem  Gesetzbuche  zum  Worte  gekommen  ist.  Die 
sittlichen  und  rechtlichen  ünwerturteile,  welche  im  deutschen  Volke  verbreitet 
und  massgebend  waren,  sind  in  der  Hauptsache  durch  das  Strafgesetzbuch 
zum  Ausdrucke  gebracht  worden.  Diesen  Urteilen  entspricht  auch  die  nicht 
geringe  Bedeutung,  welche  das  Gesetzbuch  dem  Erfolge  beigelegt  hat.  In  der 
Materie  des  Versuches,  sowie  bei  zahlreichen  Thatbeständen  ist  die  Strafe  eine 
andere,  wenn  die  That  einen  gewissen  schweren  Erfolg  gehabt,  als  wenn  sie 
ihn  nicht  hatte.  Die  Spezialstrafgesetzgebung  hat  die  Zahl  dieser  Fälle  sehr 
vermehrt.  Vergl.  z.  B.  unten  §  18  (Nahrungsmittelgesetz).  Und  die  Praxis  ist 
in  der  Betonung  des  Erfolgsmomentes  soweit  gegangen,  dass  sie  die  schwerere 
Strafe  lediglich  mit  der  Thatsache  des  Erfolges  verknüpft,  ohne  dass  es  dabei 
irgendwie  auf  ein  Verschulden  des  Thäters  in  Bezug  auf  den  Überschuss  des 
Erfolges  anzukommen  habe.  ^)  Die  Eonsequenz  führt  dazu,  die  kleinste 
Überschreitung  des  Züchtigungsrechtes  mit  der  Strafe  der  schweren  Körper- 
verletzung (StGB.  §§  224,  226)  zu  belegen,  wenn  diese  Überschreitung,  ob- 
gleich ohne  jedes  weitere  Verschulden  des  Handelnden,  einen  unglücklichen 
Ausgang  nimmt.  Und  da  das  Züchtigungsrecht  der  Lehrer  in  den  deutschen 
Staaten,  ja  selbst  innerhalb  Preussens,  verschieden  begrenzt  ist,  so  kann  es 
leicht  kommen,  dass  dieselbe  Handlung  der  Schulzucht,  die  in  nicht  voraus- 
sehbarer Weise  unglücklich  ausfällt,  in  dem  einen  Lande,  in  der  einen  Provinz 
als  strafrechtlich  bedeutungsloser  Unglücksfall  erscheint,  während  sie  in  dem 
andern  deutschen  Lande,  in  der  andern  Provinz  das  Verbrechen  der  schweren 
Körperverletzung  darstellt.  Diese  mit  dem  Grundprinzipe  des  Strafrechts  un- 
vereinbare Überschätzung  des  Erfolges  iindet  sich  im  Code  p6nal  und  in  der 
preussischen  Strafgesetzgebung  vertreten,  sie  ist  aber  nicht  in  der  gemein- 
rechtlichen Lehre  begründet;  sie  entspricht  auch  nicht  der  überwiegend  in  der 
deutschen  Landesgesetzgebung  vertretenen  Ansicht.  Vergl.  z.  B.  den  Art.  238 
'  des  Bayer.  StGB,  von  1861,^  welcher  auf  einer  viel  feineren  strafrechtlichen 
Würdigung  beruht,  als  die  heutige  Strafrechtspraxis  im  deutschen  Reiche.  — 
Der  Rechtsgüterschutz,  den  das  Publikum  von  den  Strafgesetzen  erwartet,  wird 
vom  Strafgesetzbuche  nicht  in  allen  Beziehungen  ausreichend  gewährt.  In 
manchen  Beziehungen  hat  die  jüngere  Gesetzgebung  des  Reiches  schon  mehr- 
fach ergänzend  nachgeholfen.  Siehe  den  folgenden  §  13.  Besonders  aber 
sind  die  WaflPen,  welche  das  Strafgesetzbuch  zur  Bekämpfung  und  Unschädlich- 
machung des  sozial  gefährlichen  Verbrechertums  gewährt,  nicht  scharf  genug 
und  dem  zu  bekämpfenden  Übel  nicht  genügend  angepasst.  Deutschland  be- 
darf zwar  nicht  für  seine  Verbrecher  der  in  allen  Beziehungen  verwerflichen 
Prügelstrafe;  ein  gütiges  Geschick  bewahre  die  Deutschen  vor  dem  übelberatenen 
Eifer  der  Propheten  des  Stockes  und  der  Peitsche!  Aber  die  deutsche  Straf- 
rechtspflege bedarf  einer  Gesetzgebung,  die  es  ermöglicht,  gegenüber  den  anti- 
sozialen Naturen  der  Strafe  einen  wirksameren  und  nachdrücklicheren  Inhalt 
zu  geben,  als  dies  zur  Zeit  der  Fall  ist.  Nicht  bloss  gegen  die  Zuhälter, 
sondern  auch  gegen  das  andere  schädliche  Gesindel,  gegen  die  Messerhelden, 
die  professionellen  Ehrabschneider  und  Denunzianten,  gegen  die  rückfälligen 
Diebe,  Betrüger,  Erpresser  und  Fälscher  muss  das  Gesetzbuch  den  Gerichten 
und  Strafvollstreckungsbehörden  Mittel  zur  Verfügung  stellen,  welche  stark 
und   nachhaltig   wii'ken.      In   Bezug    auf  militärische   Vergehen    von    Militär- 


*)  Vergl.  namentlich  Entscheidungen  des  Reichsgerichts,  Bd.  5,  No.  9. 

^)  Hat  eine  körperliche  Misshandlung nur  wegen  zufälliger,  dem  Thäter  nicht 

bekannter  Umstände, eine  (der  schweren)  Folgen  gehabt,  ohne  dass  die  Absicht  des 

Thäters  auf  Hervorbringung  derselben  gerichtet  war,  so  soll  die  Strafe  nur  nach  dem  Erfolge 
bemessen  werden,  welcher  ohne  jene  Umstände  eingetreten  wäre,  vorbehaltlich  der  wegen 
Tötung  oder  Körperverletzung  aus  Fahrlässigkeit  etwa  verwirkten  höheren  Strafe. 


30       Deutsches  Reich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


Personen  sind  solche  Mittel  den  Militärstraf  behörden  schon  jetzt  zur  Verfügung- 
gestellt  (vergl.  unten  §§37,  39).  Und  einen  Versuch  zur  Ausdehnung  der  Straf- 
schärfungen auf  bürgerliche  Verhältnisse  hat  der  Gesetzesrorschlag  gemacht, 
welcher  im  Anfange  dieses  Jahres  (1892)  dem  deutschen  Reichstage  vorlag. 
(Siehe  oben  §  7  a.  E.)  Die  Beschränkung  der  Kost  auf  Wasser  und  Brot  und 
harte  Lagerstätte  zum  Empfang  und  in  angemessenen  Perioden  bis  zu  nach- 
haltigen Proben  einer  Sinnesänderung  und  Willenskräftigung  sind  jedenfalls 
einige  der  Mittel,  mit  denen  auf  das  Verbrechertum  eingewirkt  werden  kann. 
Insoweit  es  sich  aber  um  die  erstmaligen  Gesetzesübertreter  und  um  die  soge- 
nannten Gelegenheitsverbrecher  handelt,  ist  der  Rechtsschutz,  welchen  auf 
seinen  Gebieten  das  Strafgesetzbuch  gewährt,  ein  voll  ausreichender.  Wenn 
im  Publikum  und  in  den  Verhandlungen  der  gesetzgebenden  Körperschaften 
wiederholt  die  übertriebene  Milde  des  deutschen  Strafgesetzbuches  beklagt 
worden  ist,  so  ist  das  ein  unbegründeter  Vorwurf.  Das  Gesetzbuch  giebt  aus- 
reichend die  Mittel,  um  auf  lenksame,  ja  selbst  auf  harte,  aber  strafbestimm- 
bare Naturen,  die  nicht  zu  den  verbrecherischen  gehören,  denjenigen  Eindruck 
zu  machen,  welcher  in  den  meisten  Fällen  vor  Wiederholung  antisozialer 
Handlungen  bewahrt.  Hat  in  dieser  Beziehung  die  Strafeinrichtung  nicht 
überall  den  gewünschten  Erfolg  gehabt,  so  hat  die  Strafrechtspflege  die  Ver- 
antwortung zu  tragen,  welche  nicht  immer  die  Gewalten  voll  ausgenützt  hat, 
die  ihr  vom  Gesetze  anvertraut  worden  sind.  —  Die  Systematik  des  Gesetz- 
buches, im  einzelnen  anfechtbar,  ist  im  ganzen  klar  und  dem  praktischen 
Bedürfnisse  entsprechend.  Dass  ein  von  den  Reformgedanken  beherrschtes 
Strafgesetzbuch  zu  einer  grundsätzlich  verschiedenen  Anordnung  des  Stoffes 
gelangen  würde,  darf  bei  der  Würdigung  des  auf  anderen  Voraussetzungen 
aufgebauten  und  andere  Ziele  verfolgenden  deutschen  Strafgesetzbuches  nicht 
in  Betracht  kommen.  —  Die  Sprache  des  Gesetzbuches  ist  knapp  imd  meist 
dem  Gedanken  entsprechend.  Die  störende  Kasuistik  älterer  Gesetzbücher  ist 
vermieden.  Es  kann  kaum  als  ein  Tadel  angesehen  werden,  wenn  da  und 
dort  der  Wunsch  nach  einer  Definition  laut  geworden  ist.  Manches  Urteil 
z.  B.  wäre  anders  ausgefallen,  wenn  das  Gesetzbuch  den  Urkundenbegriflf 
nicht  für  einen  selbstverständlichen  angesehen,  sondern  begrenzt,  wenn  der 
Gesetzgeber  eine  Andeutung  darüber  gegeben  hätte,  was  er  sich  unter  Belei- 
digung denkt,  was  er  unter  grobem  Unfug  gemeint  hat.  Manche  kriminali- 
sierende Übertreibung  hat  indessen  neuestens  ohne  Eingriff  der  Gesetzgebung 
ihre  Berichtigung  gefunden.  Wer  auf  dem  Standpunkte  steht,  auf  dem  sich 
die  Gesetzgebung  des  Jahres  1870  befand,  der  würde  mit  dem  jetzigen  Straf- 
gesetzbuche auch  noch  längere  Zeit  auskommen  können.  Wer  aber  vom  Straf- 
gesetzbuche vor  allem  Rechtsgüterschutz  erwartet,  der  muss  eine  durchgreifende 
Revision  der  deutschen  Strafgesetzgebung  empfehlen.  Die  jetzige  Zeit  aber, 
in  welcher  die  Grundmeinungen  über  die  Aufgaben  der  Strafrechtspflege  un- 
vermittelt und  schrofl"  gegen  einander  stehen,  dürfte  wohl  nicht  die  geeignete 
für  eine  solche  Revision  sein! 

IV.  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Reiches/) 

§  13.    Einleitung. 

1.  Das  deutsche  Reich  war  nicht  bloss  zur  Erlassung  des  Strafgesetz- 
buches verfassungsmässig  berechtigt,  die  Reichsverfassung  unterstellt  vielmehr 
das  „Strafrecht"  schlechtweg  der  Gesetzgebung  des  Reichs.     (RV.  Art.  4  No.  13.) 

*)  Binding,  Handbuch,  I,  §§  25,  26,  S.  123—144.  —  v.  Liszt,  Lehrbuch,  5.  Aufl. 
1892,  §  14,  S.  88—92.  —  Staudinger,   Sammlung  strafrechtlicher  Spezialgesetze  des 


§  13.    Einleitung.  31 


und  man  bat  diesen  Begriff  auch  auf  das  sogenannte  Polizeistrafrecht  zu  be- 
ziehen.^) Das  Reich  hat  die  Gewalt,  auf  allen  Gebieten  sowohl  vollständige 
Strafgesetze  zu  erlassen,  als  auch,  unter  Überlassung  der  Normbegrenzung  an 
die  Landesgesetzgebung,  bloss  die  Strafdrohungen  aufzustellen.  Unter  der 
Voraussetzung,  dass  ein  das  Reich  berührendes  Interesse  vorhanden  ist,  darf 
das  Reich  auch  Strafbestimmungen  mit  Begrenzung  für  einen  oder  mehrere 
Bundesstaaten  erlassen.  (Vergl.  das  Ges.  v.  8.  Juli  1868,  unten  §  28  II  No.  4.) 
Nur  insoweit  bei  der  Reichsgründung  im  November  1870  für  einzelne  Staaten 
Reservatrechte  anerkannt  wurden,  dürfte  das  Reich  ohne  die  Zustimmung  der 
betreffenden  Staaten  durch  seine  Gesetzgebung  den  strafrechtlichen  Schutz 
nicht  ausschliessen  noch  begrenzen.  Das  für  mustergiltig  gehaltene  bayerische 
Einführungsgesetz  vom  26.  Dezember  1871  (siehe  unten  §  44  No.  4)  hat  sich 
mit  gutem  Grunde,  trotz  der  allgemein  lautenden  Bestimmung  des  §  7  des 
Einführungsgesetzes  zum  Strafgesetzbuche  über  die  Verjährung  von  Zuwider- 
handlungen gegen  die  Biersteuervorschriften,  für  befugt  gehalten,  eine  mit  dem 
§  7  allerdings  inhaltlich  übereinstimmende  Bestimmung  kraft  eigenen  Gesetz- 
gebungsrechtes zu  erlassen.  (Vergl.  Art.  24  No.  14  des  cit.  bayer.  Gesetzes 
und  jetzt  Art.  20  No.  14  des  bayer.  Ges.  v.  18.  August  1879.)  Das  Reich 
darf  auf  den  reservierten  Gebieten  den  beteiligten  Staaten  den  Strafschutz  auch 
nicht  aufnötigen,  wo  diese  ohne  ihn  auszukommen  vermeinen;  das  Reich  hat 
sich  femer  durch  Anerkennung  des  Reservatrechtes,  von  den  Schranken  der 
§§  5  und  6  des  Einführungsgesetzes  zum  Strafgesetzbuch  abgesehen  (vergl. 
unten  §  43),  der  Macht  begeben,  über  Art  und  Mass  des  Strafschutzes  zu 
bestimmen.  Das  ergiebt  sich  für  einzelne  dieser  Reservatrechte  schon  aus 
dem  Wortlaute  ihrer  Anerkennung,  so  z.  B.  bezüglich  des  bayerischen  in 
Betreff  der  Heimats-  und  Niederlassungsverhältnisse  (RV.  Art.  4.  No.  1) 
und  des  Eisenbahnwesens  (RV.  Art.  46  Abs.  2,  vergl.  unten  §  14  No.  6). 
Bezüglich  aller  Reservatrechte  dürfte  aber  die  Erwägung  massgebend  sein, 
dass  eine  Gesetzgebung  unvollkommen  ist,  wenn  sie  nicht  über  den  Strafschutz 
bestimmen  kann,  und  dass  kein  geschichtlicher  Vorgang  bekannt  ist,   welcher 


deutschen  Reichs.  Textausgabe  mit  kurzen  Anmerkungen.  Nördlingen  1880.  Erstes 
Ergänzungsbändchen.  1886. —  Hellweg  und  Arndt,  Die  deutsche  Strafgesetzgebung. 
Eine  Sammlung  aller  gegenwärtig  geltenden  Strafprozess  und  Strafrecht  betreffenden 
Gesetze  des  deutschen  Reichs.  Nebst  einem  Anhange,  enthaltend  sämtliche  wiebtigeren 
strafrechtlichen  Gesetze  und  Verordnungen  Preussens.  Textausgabe  mit  Anmer- 
kungen, einem  vollständigen  chronologischen  und  Sachregister.  Berlin  und  Leipzig 
1883.  Ergänzungshefte  1888—1885.  1886.  —  Borchert,  Kodex  des  deutsch-preussischen 
Strafrechts  und  Strafprozesses,  enthaltend  sämtliche  Gesetze  und  Verordnungen  des 
deutschen  Reichs  und  Preussens,  welche  zur  Zeit  auf  dem  Gebiete  des  Strafrechts  und 
Strafverfahrens  in  Geltung  sind,  soweit  dieselben  für  die  ordentlichen  Gerichte  und 
deren  Staatsanwaltschaften  Bedeutung  haben.  Anmerkungen.  Berlin  1882.  1887.  — 
Bei  der  Fruchtbarkeit  der  heutigen  Strafgesetzgebung  im  deutschen  Reiche  ist  die 
Veranstaltung  einer  neuen  Sammlung  ein  gewagtes  Unternehmen.  Vor  dem  Ab- 
schlüsse des  Druckes  dieser  Übersicht  kann  dieselbe  in  einzelnen  Teilen  schon  ver- 
altet sein,  besonders  wenn  noch  mehrere  Artikel  der  Reichsverfassung  zum  Ausgangs- 
punkte einer  Strafverordnungsthätigkeit  des  Bundesrates  genommen  werden,  wie  dies 
bezüglich  der  Artikel  42  und  43  geschehen  ist.  (Siehe  unten  §  14  I,  No.  5.)  Trotz  der 
Besorgnis  rascher  Antiquierung  in  einzelnen  Bestandteilen  würde  ein  Corpus  juris 
criminalis  nach  dem  heutigen  Stande  der  Gesetzgebung  des  deutschen  Reiches  will- 
kommen sein.  —  Der  Spezialstrafgesetzgebung  des  Reiches  ist  gewidmet  das  während 
der  Drucklegung  dieser  Darstellung  im  Verlage  von  Otto  Liebmann,  Berlin,  er- 
scheinende Werk :  „Die  strafrechtlichen  Nebengesetze  des  deutschen  Reiches".  Erläutert 
von  M.  Stenglein,  Dr.  Appelius  und  Dr.  Kleinfeller.  In  11  Abteilungen  ge- 
langen sämtliche  (78)  Reichsgesetze  zur  Erläuterung.  Die  baldige  Vollendung  des 
Werkes  steht  in  Aussicht. 

*)  Vergl.  namentlich  Heinze,  Das  Verhältnis  des  Reichsstrafrechts  zum  Landes- 
strafrecht, S.  12.  —  Binding,  Handbuch,  I,  S.  276. 


32       Deutsches  Reich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


auf  diese  Unvollkommenheit  der  Reservatrechte  hinweist.  Auch  hier  gilt  der 
Gedanke  des  römischen  Juristen  Javolenus:  „Cüi  jurisdictio  data  est,  ea  quoque 
concessa  esse  videntur,  sine  quibus  jurisdictio  explicari  non  potuit. "  (L.  2  D.  de  juris- 
dictione  2,1.)  3»  Schon  vor  dem  Strafgesetzbuche  ist  eine  Anzahl  von  Bundesgesetzen 
mit  strafrechtlichem  Inhalt  erlassen  worden.^)  Nur  einige  davon  sind  durch 
das  Strafgesetzbuch,  beziehungsweise  den  §  2  des  Einführungsgesetzes  zu  dem- 
selben, ausser  Kraft  gesetzt  worden,  so  namentlich  Artikel  74  der  Bundesver- 
fassung, §  23  des  Wechselstempelsteuergesetzes  vom  10.  Juni  1869;  femer 
der  §  2  des  Gesetzes  betr.  die  Einführung  von  Telegraphen-Freimarken  vom 
16.  Mai  1869,  BGBl.  S.  377,  insoweit  derselbe  auf  die  Fälschungsstrafen 
verweist.  Insoweit  §  2  auf  die  Defraudationsstrafen  sich  bezieht,  hat  er 
auch  jetzt  noch,  trotz  des  Absatz  2  des  §  276  (Ges.  vom  13.  Mai  1891, 
S.  107,  Art.  I)  praktische  Bedeutung.  Die  meisten  der  vor  dem  Strafgesetz- 
buche erlassenen  Spezialgesetze  betreffen  Materien,  auf  welche  sich  das  Straf- 
gesetzbuch nicht  bezieht;  sie  sind  deshalb  (vergl.  unten  §  43  II)  in  Gemäss- 
heit  des  §  2  des  Einführungsgesetzes  zum  Strafgesetzbuche  nicht  aufgehoben 
worden.  3.  Viel  reicher  floss  die  Spezialstrafgesetzgebung  des  Reiches  nach  Er- 
lassung d«s  Strafgesetzbuches.  Zum  Teil  sind  es  Verhältnisse,  welche  erst  in 
der  neuesten  Zeit  eine  rechtliche  Ausgestaltung  überhaupt  oder  wenigstens 
eine  öffentlich  rechtliche  Behandlung  erfahren  haben,  wie  namentlich  das 
Genossenschafts-  und  Versicherungswesen,  teils  lässt  sich  ein  kriminalisierender 
Zug  in  der  neuesten  deutschen  Rechtsentwickelung  —  Gesetzgebung  wie  Rechts- 
pflege —  nicht  verkennen  (vergl.  z.  B.  unten  §  19  I  1).  Man  ist  zu  der 
Erkenntnis  durchgedrungen,  dass  man  bei  Aufstellung  des  Strafgesetzbuches 
und  bei  Erlass  von  Spezialgesetzen  in  manchen  Beziehungen  zuviel  von  dem 
verständigen  und  gesetzmässigen  Sinn  der  Bevölkerung  erwartet  und  zu  wenig 
mit  Strafdrohungen  eingesetzt  hatte.  Nicht  bloss  ein  Fortschritt  oder  eine 
Rückkehr  zu  grösserer  Einsicht  in  Bezug  auf  die  Ausnützung  der  Strafeinrich- 
tung hat  sich  aber  vollzogen,  sondern  auch  auf  dem  Gebiete  des  Empfindungs- 
lebens der  deutschen  Nation  ist  in  den  letzten  zwei  Dezennien  ein  Umschwung 
eingetreten,  der  zu  stärkerer  Kriminalisierung  hindrängt.  *)  Es  lässt  sich  nicht 
verkennen,  dass  die  Einsetzung  des  Strafhebels  Augenblickserfolge  erzielen 
kann,  die  bei  grösserer  Zurückhaltung  des  Strafrechts  vermisst  werden.  Die 
Straf einrichtung  ist,  besonders  für  den,  der  mit  dem  Straf  Vollzüge  und  seinen 
Nachwirkungen  nichts  zu  thun  hat,  ein  ziemlich  leicht  und  bequem  zu  hand- 
habendes Mittel  der  Staatsleitung.  Aber  die  Strafeinrichtung  ist  auch  ein 
Mittel,  das  wie  starke  Arzneien  bedenkliche  Nachwirkungen  erzeugen  kann, 
die  noch  gefährlicher  für  den  sozialen  Körper  sind  als  die  Handlungen,  wegen 
deren  man  straft.  In  einem  im  ganzen  gesunden  Volkskörper,  wie  es  der 
deutsche  zur  Zeit  ist,  wird  die  Übertreibung  der  Kriminalisierung  sich  von 
selbst  korrigieren  und  mit  der  Zeit  überwunden  werden.  Zu  lange  darf  aber 
ein  Volk  an  die  drastischen  Wirkungen  der  Straf  einrichtung  nicht  gewöhnt 
werden,  sonst  entsteht  die  Gefahr  der  Verrohung  und  der  schliesslichen  Ab- 
stumpfung gegen  die  Strafe.  „Je  grausamer  die  Gesetze  werden,  desto  härter 
wird  das  menscliliche  Gemüt,  das  gleich  den  Flüssigkeiten  sich  mit  den  um- 
gebenden Gegenständen  stets  ins  Gleichgewicht  setzt;  und  die  stets  lebendige 
Gewalt  der  Leidenschaften  bewirkt,  dass  nach  hundert  Jahren  grausamer  Be- 
strafung das  Rad  nicht  mehr  Schrecken  einflösst  als  sonst  das  Gefängnis."^) 


»)  Vergl.  Binding,  Handbuch,  I,  S.  126—136;  v.  Liszt,   Lehrbuch.    5.  Aufl. 
S.  88  und  89. 

«)  Vergl.  auch  Binding,  Die  Ehre  und  ihre  Verletzbarkeit.  Leipzigl892.  S.21(Vd). 
•)  Beccaria,  dei  delitti  e  delle  pene,  §  27. 


§  14.   Das  Strafverordnungsrecht  der  Reichsorgane.  33 


§  14.   Das  Strafv^erordnangsrecht  der  Reichsorgane.  ^) 

I.  Die  deutsche  Rechtssprache  begreift  unter  Strafgesetzen  auch  die 
Strafverordnungen,  d.  h.  allgemein  wirkende  Strafandrohungen,  welche  ohne 
Mitwirkung  der  Volksvertretung  erlassen  werden.  Die  Reichsverfassung  aller- 
dings gewährt  weder  dem  Kaiser,  noch  dem  Bundesrate,  noch  irgend  einem 
Verwaltungsorgane  die  Macht  zu  solchen  Strafverordnungen.  Artikel  4  No.  13 
der  Reichsverfassung  ist  nur  auf  Strafgesetze  im  sogenannten  konstitutionellen 
Sinne  zu  beziehen,  d.  h.  auf  Strafdrohungen,  welche  im  Namen  des  Reiches 
und  unter  Zustimmung  des  Bundesrates  und  des  Reichstages  vom  Kaiser 
erlassen  und  verkündet  werden.  Wohl  aber  findet  sich  in  einzelnen  Reichs- 
gesetzen für  beschränkte  Gebiete  ein  Strafverordnungsrecht  anerkannt. 

h  Für  das  Inland  kommt  in  dieser  Beziehung  die  unten  §  25  zu  be- 
sprechende Versicherungsgesetzgebung  in  Betracht.  Durch  Versicherungs- 
genossenschaften ,  Ausftihrungsbehörden,  Landescentralbehörden,  Statuten  von 
Versicherungsanstalten  sowie  statutarische  Bestimmungen  von  weiteren  Kom- 
munalverbänden  oder  Gemeinden  können  für  gewisse  Verhältnisse  Normen 
aufgestellt,  und  es  darf  die  Übertretung  mit  Strafen  bis  zu  gewissen  Massen 
bedroht  werden,  ünfallversicherungsgesetz  vom  6.  Juli  1884,  §  78  No.  2, 
RGBl.  S.  100;  dazu  Ges.  vom  28.  Mai  1885,  §  9  mit  §  2  Abs.  3,  RGBl.  S.  161; 
Ges.  vom  11.  Juli  1887,  §  44  No.  1,  RGBl.  S.  304;  Ges.  vom  13.  Juli  1887, 
§  90,  RGBl.  S.  363;  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetz  vom  22.  Juni 
1889,  §  112,  RGBl.  S.  131;  Krankenversicherungsgesetz  in  der  Fassung  vom 
10.  April  1892,  §  6a  II,  §  26a  IL  Besonders  bemerkenswert  ist  §  109  Abs.  2 
(RGBl.  1889,  S.  130)  des  Invalid.-  und  Alters v.-Ges.,  welcher  Paragraph  den 
Bundesrat  ermächtigt,  Vorschriften  über  die  Entwertung  und  Vernichtung  der 
Versicherungsmarken  zu  erlassen  und  die  Übertretung  derselben  mit  Strafe  zu 
bedrohen.  Also  die  Einräumung  eines  formal  nicht  begrenzten  Straf  bedrohungs- 
rechtes an  den  Bundesrat!  (Vergl.  unten  §  25  II  No.  7  a.  E.)  Den  anfänglichen 
Gepflogenheiten  der  Reichsgesetzgebung  entspricht  diese  Delegation  zu  Straf- 
drohungen nicht.  2.  Das  Gesetz  über  die  Konsulargerichtsbarkeit  vom  10.  Juli 
1879,  RGBl.  S.  197  §  4  Abs.  3,  ermächtigt  den  Konsul,  für  seinen  Gerichtsbezirk 
oder  einen  Teil  desselben  polizeiliche  Vorschriften  mit  verbindlicher  Kraft 
für  die  seiner  Gerichtsbarkeit  unterworfenen  Personen  zu  erlassen  und  die 
Nichtbefolgung  der  Vorschriften  mit  Geldstrafen  bis  zum  Betrage  von  150  Mark 
zu  bedrohen.  Der  Reichskanzler,  dem  diese  Vorschriften  mitzuteilen  sind,  ist 
befugt,  sie  aufzuheben.  3.  Die  gleiche  Gewalt  kommt  in  den  deutschen  Schutz- 
gebieten dem  Beamten  zu,  der  vom  Reichskanzler  zur  Ausübung  der  Gerichts- 
barkeit ermächtigt  ist.  Gesetz,  betreflTend  die  Rechtsverhältnisse  der  deutschen 
Schutzgebiete,  in  der  Fassung  vom  15/19.  März  1888,  S.  75  §  2.  4.  In  den 
Schutzgebieten  kann  überdies  nach  §  3  No.  3  dieses  Gesetzes  durch  Kaiser- 
liche Verordnung  in  Vorschriften  über  Materien,  welche  nicht  Gegenstand  des 
Strafgesetzbuches  für  das  deutsche  Reich  sind,  Gefängnis  bis  zu  1  Jahr,  Haft, 
Geldstrafe  und  Einziehung  einzelner  Gegenstände  angedroht  werden.  Der 
Reichskanzler  ist  nach  §  11  Abs.  2  des  Gesetzes  befugt,  für  die  Schutz- 
gebiete polizeiliche  und  sonstige,  die  Verwaltung  betreffende  Vorschriften  zu 
erlassen  und  gegen  die  Nichtbefolgung  derselben  Gefängnis  bis  zu  3  Monaten, 
Haft,  Geldstrafe  und  Einziehung  einzelner  Gegenstände  anzudrohen.  Der 
Reichskanzler  kann  diese  Befugnis  weiter  übertragen  auf  Kolonialgesellschaften, 
die  mit  einem  Schutzbriefe  versehen  sind  und  auf  Beamte  des  Schutzgebietes. 

')  Binding,  Handbuch,  §43,  I,  S.  204.  —  Laband,  Das  Staatsrecht  des  deutschen 
Reiches,  §  58,  Bd.  1,  S.  589.  —  HäneJ,  Deutsches  Staatsrecht,  §§  43—48,  Bd.  1,  S.  271; 
besonders  S.  284.    Siehe  auch  die  Litteraturangaben  unten  bei  §  45. 

StrafgeBetsgebung  der  Gegenwart.    I.  3 


34       Deutsches  Reich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung'  des  deutschen  Reiches. 


Vergl.  dazu  Verordnung  vom  6.  Mai  1890,  S.  67  und  Verordnung  vom  15.  Juni 
1892,  S.  673.  5.  Das  Bahnpolizeireglement  für  die  Eisenbahnen  Deutschlands 
vom  30.  November  1885,  S.  312  enthält  im  §  62  Strafdrohungen.  Die  Rechts- 
verbindlichkeit dieser  vom  Bundesrat  beschlossenen  Strafdrohungen  ist  nicht 
zweifellos.  Auf  dieses  Bedenken  weist  die  Anordnung  des  §  74  Absatz  2 
S.  316  hin,  dass  das  Reglement,  welches  im  Reichsgesetzblatte  abgedruckt  ist, 
auch  noch  im  Centralblatt  für  das  deutsche  Reich  und  von  den  Bundes- 
regierungen publiziert  werden  solle.  Die  letzte  Vorschrift  wäre  unerklärlich, 
wenn  man  das  Reglement,  soweit  es  Rechtssätze  enthält,  für  Reichsrecht  ge- 
halten hätte.  Und  in  der  That  stellt  das  Reglement  nicht  Reichsrecht  auf, 
sondern  gemeinsames  Landesrecht  für  die  Staaten  des  deutschen  Reiches,  dessen 
verbindliche  Kraft  in  jedem  Staate  nach  dem  Staatsrecht  dieses  Staates  zu 
beurteilen  ist.  Anders  wurde  das  Verhältnis  aufgefasst  vom  Reichsgerichte, 
Entscheidung  in  Strafsachen  Bd.  10  S.  327.  Das  Bahnpolizeireglement  sei 
„verfassungsmässig  vom  Bundesrat  mit  Gesetzeskraft  erlassen".  Dem  gegen- 
über Laband,  Staatsrecht  des  deutschen  Reichs,  Bd.  2  S.  374,  2.  Aufl.  S.  118/119, 
besonders  Note  1,  und,  unter  Berufung  auf  Laband,  Reichsgericht  in  Civil- 
sachen,  Bd.  15  S.  156:  „Mit  Unrecht  wird  dem  Eisenbahnbetriebsreglement  die 
Natur  eines  Polizeigesetzes  beigelegt."  Vergl.  auch  Ulrich  in  v.  Stengel, 
Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  1  S.  336.  An  die  Stelle  des  Reglements 
vom  30.  Nov.  1885  tritt  nach  einer  Bekanntmachung  des  Reichskanzlers  vom  5.  Juli 
1892,  RGBl.  S.  691,  eine  neue  Betriebsordnung  für  die  Haupteisenbahnen ^) 
„Deutschlands".  Diese  Betriebsordnung  ist  vom  Bundesrate  auf  Grund  der 
Artikel  42  und  43  der  Reichsverfassung  am  30.  Juni  1892  beschlossen  worden. 
Die  Strafdrohung  des  §  62  ist  geblieben,  die  Abgrenzung  der  strafbaren  That- 
bestände  ist  etwas  geändert,  namentlich  mehr  spezialisiert.  Die  Bestimmung,, 
dass  die  Ordnung  auch  im  Centralblatte  und  von  den  Bundesregierungen 
publiziert  werden  solle,  ist  weggelassen;  es  heisst  im  §  74  Absatz  2  nur: 
„dieselbe  (die  Betriebsordnung)  wird  durch  das  Reichsgesetzblatt  veröffentlicht". 
Es  ist  selbstverständlich,  dass  der  Rechtsbestand  des  §  62  durch  diese  Ver- 
änderung der  Publikationsweise  nicht  verstärkt  wird.  Die  Verordnung  tritt 
am  1.  Januar  1893  in  Kraft,  aber  nicht  für  ganz  „Deutschland".*)  Für  Bayern 
gilt  vielmehr  das  Reglement  (die  Betriebsordnung)  nach  Artikel  46  Absatz  2 
der  Reichsverfassung  nicht;  statt  dessen  bis  jetzt  das  auf  Grund  des  bayerischen 
Polizeistrafgesetzbuches  erlassene,  an  das  Reichsreglement  sich  anschliessende 
bayerische  Bahnpolizeireglement  vom  29.  März  1886.  (Bayer.  GVBl.  1886,  S.  73.) 
II.  Nicht  zu  verwechseln  mit  dem  Strafverordnungsrechte  ist  das  Recht, 
in  Gemässheit  einer  Aufforderung  des  Gesetzes,  einer  Ermächtigung  oder  einer 
Bezugnahme  desselben  Normen,  d.  h.  Verbote  oder  Gebote  in  einer  gewissen 
Richtung  aufzustellen,  deren  Übertretung  das  Gesetz  mit  einer  von  ihm  selbst 
begrenzten  oder  bestimmten  Strafe  bedroht  hat.  Solche  Aufforderung,  Er- 
mächtigung oder  Bezugnahme  kommt  in  Reichs-  wie  in  Landesgesetzen  viel- 
fach vor.^)  Die  Strafdrohung  ist  in  diesen  Fällen  vom  Gesetze  (im  engeren, 
konstitutionellen  Sinne)  erlassen.  Das  Gesetz  ist  sog.  Blankettstrafgesetz.*) 
Unter  diesem  Gesichtspunkte    sind    auch  die  Verbote   aufzufassen,    welche  der 


*)  Für  die  Nebeneisenbahnen  Deutschlands  ist  am  gleichen  Tage  eine  „Bahn- 
ordnung" beschlossen  worden  (RGBl.  1892,  S.  764),  in  welcher  §  45  die  Strafbestim- 
mung  enthält. 

*)  Der  Ausdruck  „Deutschland"  ist  kein  durch  die  Reichsverfassung   gerecht- 


fertigter. 


»)  Vergl.  StGB.  §§  145,  360  No.  2,  9,  12;  §  361   No.  6;  §  365;  §  366  No.  1,  10; 
§  366  a;  Nahrungsmittel-Gesetz  §§  5,  6  mit  §  8. 

*)  Binding,  Handbuch,  I,  §  35,  S.  179  und  180. 


§15.   Strafrechtsexemtionen  ausserhalb  des  Strafgesetzbuches.  35 


Militärbefehlshaber  bei  Erklärung  des  Belagerungszustandes  oder  während  des- 
selben im  Interesse  der  öffentlichen  Sicherheit  erlässt.  (Preuss.  Gesetz  über 
den  Belagerungszustand  vom  4.  Juni  1851,  preuss.  GS.  S.  451,  §  9  lit.  b  und 
unten  §  42  II.) 

III.  Das  gleiche  strafrechtliche  Verhältnis  ist  gegeben,  wenn  das  Gesetz 
den\jenigen  Strafen  androht,  welcher  die  für  einzelne  Thatbestände  oder  für 
eine  begrenzte  Mehrheit  von  Thatbeständen  getroffenen  Anordnungen  der  Obrig- 
keit missachtet.  (Vergl.  StGB.  §  360  No.  10,  §  361  No.  1,  6,  7,  §  367  No.  13, 
14  u.  s.  w.;  unten  §  46  I  a.  E.). 


§  15.    Straflrecht^xemtlonen  ausserhalb  des  Strafgesetzbuches.^) 

I.  Staatsrechtliche:  1.  Die  Exemtion  der  Bundesfürsten,  auch  des  Königs 
von  Preussen,  beruht  in  ihren  Ländern  auf  den  bezüglichen  Staatsgrund- 
gesetzen;*) in  andern  Bundesstaaten  beruht  sie  auf  der  Beteiligung  der 
Bundesfürsten  an  der  souveränen  Gewalt  des  Reichs.  2.  Bezüglich  der  Reichs- 
tagsabgeordneten vergl.  RV.  Art.  30,  vergl.  auch  Art.  31;  bezüglich  der  Land- 
tagsabgeordneten vergl.  StGB.  §  11;  vergl.  auch  oben  §  8  S.  18.  3.  Hin- 
sichtlich wahrheitsgetreuer  Berichte  über  Verhandlungen  des  Reichstages  und 
der  Landtage  RV.  Art.  22,  StGB.  §  12  und  oben  §  8  S.  18.  —  Die  Privilegien 
der  Mitglieder  der  regierenden  Familien  und  der  Häupter  der  standesherrlichen 
Familien  liegen  ausschliesslich  auf  dem  Gebiete  der  Gerichtsverfassung  und 
des  Prozessrechts,  nicht  auf  dem  Gebiete  des  materiellen  Strafrechts. 

II.  Auf  völkerrechtlicher  Grundlage*)  beruhen:  1.  Die  Exemtionen  aus- 
wärtiger Staatsoberhäupter  und  deren  Reisebegleiter;  2.  die  Exemtionen  der 
Gesandtschaften.  Die  letzteren  sind  im  deutschen  Reiche  staatsrechtlich  aner- 
kannt und  näher  begrenzt  in  den  §§18  und  19  des  Gerichtsverfassungsgesetzes 
vom  27.  Januar  1877,  RGBl.  S.  41.  Die  bei  dem  deutschen  Reiche  beglaubigten 
Missionsbeamten  unterstehen  nicht  der  deutschen  Gerichtsgewalt  und  dem 
deutschen  Strafrechte.  Die  bei  einem  deutschen  Einzelstaate  beglaubigten 
Missionsbeamten  eines  andern  deutschen  Staates  oder  eines  auswärtigen  Staates 
sind  der  Gerichtsgewalt  und  damit  dem  Strafrechte  des  Staates  nicht  unter- 
worfen, bei  dem  sie  beglaubigt  sind.  Die  ausserpreussischen  Mitglieder  des 
deutschen  Bundesrates  unterstehen  nicht  der  preussischen  Gerichtsbarkeit  und 
dem  preussischen  Straf  rechte.*)  Diese  Exemtionen  sind  auf  die  Familien- 
glieder, das  Geschäftspersonal  und  das  nicht  deutsche  Dienstpersonal  der 
Missionsbeamten  ausgedehnt.  Die  im  deutschen  Reiche  angestellten  Konsuln, 
auch  die  missi,  sind  nur  dann  eximiert,  wenn  dies  in  Verträgen  des  Reiches 
besonders  vereinbart  ist.  (GVG.  §  21.)  3.  Bezüglich  der  Exterritorialität 
fremder  Truppenkörper  und  der  Besatzung  von  KriegsschiflFen  vergl.  Rivier, 
Völkerrecht  §  28  II,  S.  199;  Dollmann,  Komm,  zum  bayer.  StGB,  von  1861, 
Abtl.  I,  S.  104.    In  den  Etappen-Konventionen  zwischen  Bayern  und  Öster- 

,    ^  I.Februar   ^^.^  27.  Juli         ^.^^         ,    23.  April   _^_  . 

reich   vom  —r~^,z 1858,   — —   1861    und  ^—1863  ist  von 

9.  März  5.  September  6.  August 

dieser  Exterritorialität  nicht  die  Rede;  die  Konvention  vom  24.  Juni  1818, 
Z.  2,  Abs.  4  lit.  d  (Döllinger,  Sammlung  Bd.  10  S.  1107)  enthielt  Bestim- 
mungen, welche  die  Exterritorialität  der  Truppen  zur  Voraussetzung  haben. 


^)  Binding,  Handbuch,  I,  §  140—143,  S.  667. 

2)  z.  B.  preussische  VU.  von  1850,  Art.  43;  bayerische  von  1818,  Tit.  II,  §  1; 
sächsische  von  1831,  §4;  württembergische  von  1819,  §4;  badische  von  1818,  §5  u.  s.  w. 

»)  Vergl.  Rivier,  Lehrbuch  des  Völkerrechts,  Stuttgart  1889,  §  33,  S.  239;  §  38 
III,  S.  267. 

^)  §  18  des  Gerichts  Verfassungsgesetzes  drückt  sich  abstrakter  aus. 

3* 


36       Deutsches  Reich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


§16.    BeschrSnkiing  der  freien  Bewegung  infolge  Ton  Bestrafiingen.  ^) 

Das  Bundesgesetz  vom  1.  November  1867,  S.  55  (jetzt  Reichsgesetz, 
BGBl.  1871,  S.  87)  über  die  Freizügigkeit  giebt  jedem  Deutschen  das  Recht 
des  freien  Aufenthalts  und  der  freien  Niederlassung  im  Bundesgebiete.  Nach 
§  3  des  Gesetzes  bleiben  aber  Landesgesetze,  nach  welchen  bestrafte  Personen 
Aufenthaltsbeschränkungen  durch  die  Polizeibehörde  unterworfen  werden  dürfen, 
aufrecht  erhalten.  Und  solchen  Personen,  welche  derartigen  Aufenthalts- 
beschränkungen in  einem  Bundesstaate  unterliegen,  oder  welche  in  einem 
Bundesstaate  innerhalb  der  letzten  12  Monate  wegen  wiederholten  Betteins 
oder  wegen  wiederholter  Landstreicherei  bestraft  worden  sind,  darf  in  jedem 
andern  Bundesstaate  der  Aufenthalt  von  der  Landespolizeibehörde  verweigert 
werden.  (Vergl.  ausserdem  StGB.  §  39,  No.  1.)  In  diesen  Zusammenhang 
gehören  auch  die  landesrechtlichen  Bestimmungen  in  Bezug  auf  Reisen  und 
die  Fremdenpolizei.  (Vergl.  z.  B.  bayer.  Polizei-StGB.  Art.  45 — 50.)  Nach  der 
bestehenden  Gesetzgebung  des  Reiches  ist  es  dagegen  unzulässig,  dass  die 
Polizeibehörden  unbestrafte  Personen  wegen  ihres  vorausgehenden  Aufenthalts 
in  einem  verseuchten  Orte  zurückweisen,  darauf  bezügliche  Verordnungen 
wären  nicht  zu  Recht  bestehend. 

§  17.    Die  Straf bestimnmngen  des  Personenstandsgesetzes. 

Am  6.  Februar  1875  erging  das  Gesetz  über  die  Beurkundung  des  Per- 
sonenstandes und  die  Eheschliessung.  (RGBl.  S.  23).  Dieses  Gesetz  übertrug 
die  Beurkundung  der  Geburten,  Heiraten  und  Sterbefälle  ausschliesslich  den 
staatlich  bestellten  Standesbeamten,  §  1,  und  stellte  das  Prinzip  auf,  dass 
innerhalb  des  deutschen  Reiches  eine  Ehe  rechtsgültig  nur  vor  dem  Standes- 
beamten abgeschlossen  werden  könne,  §  41.  Durch  §  67  (an  die  Stelle  von 
StGB.  §  337  getreten,  vergl.  oben  §  7)  wurde  eine  Strafe  gegen  Religions- 
diener festgesetzt,  die  ohne  den  Nachweis  der  standesamtlichen  Eheschliessung 
zu  den  Feierlichkeiten  einer  kirchlichen  Eheschliessung  schreiten,  §  69  bedroht 
die  Standesbeamten,  welche  unter  Ausserachtlassung  der  in  dem  Gesetze  ge- 
gebenen Vorschriften  eine  Eheschliessung  vollziehen.  Die  Versäumung  der  An- 
zeigepflichten, sowie  die  Nichterfüllung  der  den  SchiflFem  und  Steuerleuten 
hinsichtlich  der  Beurkundung  von  Geburten  und  Sterbefällen  auf  Seeschiffen 
während  der  Reise  auferlegten  Pflichten  ist  im  §  68  mit  Strafe  bedroht.  Vergl. 
auch  §  11  Abs.  2  (Verweise  und  Geldstrafen  gegen  die  Standesbeamten  durch 
die  Aufsichtsbehörden),  ferner  §  68  Abs.  3  (Zwangsstrafen  durch  die  Standes- 
beamten), sowie  §  70  hinsichtlich  der  Verwendung  der  Geldstrafen. 

§  18.    Besonderer  Seliutz  in  Bezug  auf  Leben  und  Gesundheit. 

I.  Das  Impfgesetz  vom  8.  April  1874  (RGBl.  S.  31)*)  unterwirft  der 
Impfung  mit  Schutzpocken  jedes  Kind  vor  dem  Ablaufe  des  auf  sein  Geburts- 
jahr folgenden  Kalenderjahres,  wenn  es  nicht  die  natürlichen  Blattern  tiber- 
standen hat,  sowie  jeden  Zögling  einer  öffentlichen  Lehranstalt  oder  Privat- 
schule (mit  Ausnahme  der  Sonntags-  und  Abendschulen)  innerhalb  des  Jahres, 
in  welchem  der  Zögling  das  12.  Lebensjahr  zurücklegt,  sofern  der  Zögling 
nicht  in  den  letzten  5  Jahren  die  natürlichen  Blattern  überstanden  hat,  oder 
mit  Erfolg  geimpft  worden  ist.    Die  §§  14 — 16  des  Gesetzes  wenden  sich  mit 


*)  H.  Seuffert,  im  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  herausgegeben  durch 
V.  Stengel,  Bd.  2,  S.  258^261  (§  11). 

*)  V ergl.  V.  Jolly  in  v.  Stengels  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  1,  S.  670. 


§18.    Besonderer  Schatz  in  Bezug  auf  Leben  und  Gesundheit.  37 


Geld-  und  Haftstrafen  gegen  säumige  oder  ungehorsame  Eltern,  Pflegeeltern, 
Vormünder,  Ärzte  und  Schulvorsteher  und  gegen  die  unbefugte  Vornahme 
von  Impfungen.  Fahrlässigkeiten  bei  Impfungen  werden  mit  Geldstrafe  bis 
zu  500  Mark  oder  Gefängnis  bis  zu  3  Monaten  bestraft,  sofern  nicht  nach 
dem  Strafgesetzbuch  eine  höhere  Strafe  eintritt;  §  17.  —  Absatz  3  des  §  18  ent- 
hält einen  Vorbehalt  zu  Gunsten  des  Landesrechts  über  Zwaugsimpfungen  bei 
Ausbruch  von  Pocken-Epidemieen. 

II.  1,  Eine  grosse  Erweiterung  erfuhr  die  deutsche  Strafgesetzgebung 
durch  das  Gesetz,  betrefl'end  den  Verkehr  mit  Nahrungsmitteln,  Genussmitteln 
und  Gebrauchsgegenständen  vom  14.  Mai  1879,  S.  145.  (Sogenanntes  Nahrungs- 
mittelgesetz.) ^)  Die  im  Strafgesetzbuch  enthaltenen  Bestimmungen,  §§263,367 
No.  7,  324,  326,  erwiesen  sich  gegenüber  der  rücksichtslosen  Gewinnsucht 
gerade  in  Bezug  auf  die  im  täglichen  Gebrauche  und  Verkehre  stehenden  Sachen 
als  unzureichend.  Das  Gesetz  unterwarf  infolgedessen  den  Verkehr  mit  Nahrungs- 
und Genussmitteln,  sowie  mit  Spielwaren,  Tapeten,  Farben,  Ess-,  Trink-  und 
Kochgeschirr  und  mit  Petroleum  der  obrigkeitlichen  Beaufsichtigung.  (§  1.) 
Die  Polizei  wurde  ermächtigt,  in  Verkaufslokale  einzutreten  und  gegen  den 
üblichen  Kaufpreis  Proben  zu  entnehmen.  Bei  Personen,  welche  auf  Grund 
der  §§10,  12  oder  13  des  Gesetzes  rechtskräftig  verurteilt  worden  sind,  darf 
die  Polizei  von  der  Rechtskraft  des  Urteils  an  und  noch  drei  Jahre  nach  Er- 
ledigung der  Hauptstrafe  in  den  Geschäftslokalen  und  Vorratsräumen  Revisionen 
veranstalten  (§  3).  Die  §§  5  und  6  ermächtigen  den  Kaiser,  mit  Zustimmung 
des  Bundesrates  schützende  Verbotsnormen  aufzustellen,  die  aber  auf  Verlangen 
des  Reichstages  ausser  Kraft  zu  setzen  sind.  (§  7.)  Die  Übertretung  der 
Kaiserlichen  Verordnungen  ist  durch  §  8,  und  die  Auflehnung  gegen  die  vom 
Gesetze  zugelassenen  Polizeimassnahmen  durch  §  9  des  Gesetzes  mit  Strafe 
bedroht.  Dem  Schutze  von  Leben  und  Gesundheit  sind  besonders  die  §§  12, 
13  und  14  gewidmet.  Das  Gesetz  unterscheidet  in  seinen  Strafpositionen 
Gegenstände,  welche  die  menschliche  Gesundheit  zu  beschädigen,  und  solche, 
welche  die  Gesundheit  zu  zerstören  geeignet  sind.  Das  Gesetz  bedroht  die 
voreätzliche  wie  die  fahrlässige  Herstellung,  den  wissentlichen  wie  den  fahr- 
lässigen Verkehr  mit  solchen  Gegenständen.  Herstellung  und  Verkehr  sind 
schon  als  solche  strafbar,  auch  wenn  gar  kein  Schaden  erwächst.  Führt  aber 
die  That  zu  einer  schweren  Körperverletzung  (StGB.  §  224)  oder  gar  zum 
Tode  eines  Menschen,  so  steigern  sich  die  Strafpositionen  sehr  erheblich  und 
gehen  in  einem  Falle  bis  zu  lebenslänglichem  Zuchthaus.  Im  Falle  der  fahr- 
lässigen Verübung  berücksichtigt  das  Gesetz  jeden  Schaden  an  der  Gesund- 
heit als  Straf  erhöh  ungsgrund.^) 

Die  §§10  und  11  des  Gesetzes  beabsichtigen  zunächst  eine  Ergänzung 
des  Betrugsparagraphen  §  263  des  Strafgesetzbuches.  Sie  wollen  das  Publikum 
vor  wirtschaftlichen  Benachteiligungen  bewahren.  Das  Nachmachen  und  Ver- 
fälschen von  Nahrungs-  oder  Genussmitteln  zum  Zweck  der  Täuschung  im  Handel 
und  Verkehr,  das  Verkaufen  und  Feilhalten  von  verdorbenen,  nachgemachten 


^)  Materialien  zu  dem  Reichsgesetz,  betreffend  den  Verkehr  mit  Nahrungsmitteln 
u.  8.  w.  in  Goltdammer,  Archiv  für  gemeines  deutsches  und  für  preussisches  Straf- 
recht Bd.  27,  Berlin  1879,  S.  316,  420,  481.  —  Schwarze,  im  Gerichtssaal,  1879,  Bd.  31, 
S.  81.  —  Zinn  (Berichterstatter  der  Reichstags-Kommission),  Reichsgesetz  betreffend 
den  Verkehr  mit  Nahrungsmitteln  u.  s.  w.  Mit  Einleitung,  Erläuterungen  und  Re- 
gister. Nördlingen  1879.  2.  Aufl.,  durch  die  reichsgerichtlichen  Entscheidungen,  amt- 
lichen Erlasse  u.  s.  w.  vermehrt,  bearbeitet  von  R.  Haas.  1885.  Weitere  Ausgaben: 
Ortloff,  Neuwied  und  Leipzig  1882.  Marcinowsky,  Berlin  1884.  Meyer  und 
Finkelnburg,  Berlin  1885.  —  v.  Liszt,  Lehrbuch  (1892)  §  158,  S.  582.  Vergl.  auch 
Finkeinburg  bei  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  1,  S.  152, 

«)  Ähnlich  auch  StGB.  §  118. 


38       Deutsches  Reich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


oder  verfälschten  Nahrungs-  oder  Genussmittelu ,  unter  Verschweigen  dieser 
Umstände,  ist  mit  Geföngnis  bis  zu  6  Monaten  und  Geldstrafe  bis  zu  1500  Mark 
oder  mit  einer  dieser  Strafen  bedroht,  das  Verkaufen  und  Feilhalten,  wenn 
es  unwissentlich,  aber  aus  Fahrlässigkeit,  geschieht,  mit  Geldstrafe  bis  zu 
150  Mark  oder  mit  Haft.  Der  Zweck  dieser  Strafdrohungen  ist  aber  nicht 
bloss  ein  privat-vermögensrechtlicher.  Das  Gesetz  will  vielmehr  und  zwar  in 
erster  Linie  verhindern,  dass  die  Ernährung  des  Publikums  leide,  dass  die  Be- 
völkerung an  Gesundheit  und  Kraft  Einbusse  erfahre,  wenn  sie  die  durch  den 
Stoffwechsel  bedingte  Ergänzung  in  den  Nahrangs-  und  Genussmitteln  nicht 
empfangt.  Vergl.  auch  die  Strafdrohung  gegen  Bäcker  und  Brotwarenhändler, 
welche  unterwichtiges  Brot  feilbieten,  im  bayer.  Pol.-StGB.  von  1871,  Art.  142 
Abs.  3.  Der  §  15  des  Gesetzes  regelt  die  Einziehung  der  beanstandeten 
Gegenstände,  §  16  die  Veröffentlichung  des  Urteils  im  Falle  der  Freisprechung 
wie  der  Verurteilung,^)  §  17  trifft  Verfügungen  über  die  Geldstrafen.  Vergl. 
zu  dem  Gesetz  die  Verordnung  vom  24.  Febniar  1882,  S.  40  und  die  Verordnung 
vom  1.  Februar  1891,  S.  11  (betr.  Verbot  von  Maschinen  zur  Herstellung 
künstlicher  Kaffeebohnen).  Eine  ähnliche  Bewandtnis  wie  mit  den  §§10  und 
1 1  des  Nahrungsmittelgesetzes  hat  es  2.  mit  dem  Gesetz ,  betreffend  den  Ver- 
kehr mit  Ersatzmitteln  mr  Butter  (Buttergesetz)  vom  12.  Juli  1887,'-*)  S.  375, 
§§  5,  6.  Hierher  gehört  ferner  3.  das  erst  nach  Überwindung  schwerer  Zweifel 
und  nach  lebhaften  Debatten  zustande  gekommene  Gesetz,  betreffend  den  Ver- 
kehr mit  Wein,  weinhaltigen  und  weinähnlichen  Getränken  vom  20.  April 
1892,  RGBl.  S.  597.  (Weingesetz.)^)  Nach  §1  dieses  Gesetzes  dürfen  ge- 
wisse Stoffe  oder  Gemische  mit  solchen  Stoffen  Wein,  weinhaltigen  und  wein- 
ähnlichen Getränken,  die  bestimmt  sind.  Anderen  als  Nahrungs- (?!)  oder  Genuss- 
mittel zu  dienen,  weder  bei,  noch  nach  der  Herstellung  zugesetzt  werden. 
(Lösliche  Aluminiumsalze  [Alaun  und  dergl.],  Baryum Verbindungen ,  Borsäure, 
Glycerin,  Kermesbeeren,  Magnesium  Verbindungen,  Salicylsäure,  unreiner  [freien 
Amylalkohol  enthaltender]  Sprit,  unreiner  [nicht  technisch  reiner]  Stärkezucker, 
Strontiumverbindungen,  Teerfarbstoffe.)  Wein  u.  s.  w.,  welchem  solche  Stoffe 
beigesetzt  sind,  darf  weder  feilgehalten  noch  verkauft  werden.  (Ges.  §  2.) 
Ebenso  nicht  Rotwein,  dessen  Gehalt  an  Schwefelsäure  in  1  Liter  Flüssigkeit 
mehr  beträgt,  als  sich  in  2  Gramm  neutralen  schwefelsauren  Kaliums  vorfindet. 
Diese  Bestimmung  findet  jedoch  auf  solche  Rotweine  keine  Anwendung,  welche 
als  Dessertweine  (Süd-,  Süssweine)  ausländischen  Ursprungs  in  den  Verkehr 
kommen,  §  2  Abs.  2.  Wohl  lehrt  die  Chemie,  dass  in  jedem  Naturweine  0,5  bis 
ö>^  ^/o  Glycerin  sich  befindet.  Eine  massige  Zuthat  von  Salicylsäure  wird  von 
manchem  als  unschädliches  Präservativmittel  angepriesen.  Und  der  einmalige 
oder  selbst  ein  paarmal  wiederholte  Genuss  von  Getränken,  in  denen  sich 
massige  Quantitäten  der  vorerwähnten  Stoffe  finden,  dürfte  gesundheitlich  nicht 
so  bedenklich  sein,  wie  die  ebenso  oftmalige  Alkoholvergiftung  durch  über- 
mässige Quantitäten  von  unverfälschtem  Rheinwein.     Aber  die  Gefahr   ist  ge- 


')  Durch  das  Gesetz  vom  29.  Juni  1887  (RGBl.  S.  276)  erhielt  dieser  Paragraph 
einen  Zusatz,  betreffend  die  Kosten  der  polizeilichen  Untersuchung  im  Falle  der  Ver- 
urteilung. 

*^)  Zu  diesem  Gesetze,  sowie  zu  den  unter  No.  4  und  5  genannten:  R.  Haas, 
Die  Reichsgesetze  vom  25.  Juni  1S85  und  12.  Juli  1887  über:  1.  den  Verkehr  mit  blei- 
und  zinkhaltigen  Gegenständen,  2.  die  Verwendung  gesundheitsschädlicher  Farben  u.  s.  w., 
8.  den  Verkehr  mit  Ersatzmitteln  für  Butter,  mit  Ausführungsbestimmungen,  nebst 
einem  Anhang,  das  Gesetz  betreffend  die  Abänderung  des  Nahrungsmittelgesetzes  vom 
29.  Juni  1887  enthaltend.  Mit  Einleitung,  Erläuterungen,  technischen  Materialien  und 
Sachregister  bearbeitet  und  herausgegeben.    Nördlingen  1887. 

*J  Gesetz,  betreffend  den  Verkehr  mit  Wein  u.  s.  w.  Nebst  der  dem  Reichstage 
vorgelegten  allgemeinen  und  technischen  Begründung.    Berlin  1892. 


§18.    Besonderer  Schutz  in  Bezug  auf  Leben  und  Gesundheit.  39 


geben,  dass  der  längere  Zelt  fortgesetzte,  wenn  auch  jedesmal  massvolle  Genuss 
von  Getränken,  in  denen  sieh  die  ausgeschlossenen  Stoffe,  namentlich  Baryum- 
und  Strontiumverbindungen  befinden,  gesundheitsschädlich  wirkt,  ohne  dass 
sich  der  Geniessende  bewusst  ist,  worin  die  Ursache  seiner  Erkrankung  liegt. 
Die  sämtlichen  genannten  Stoffe  sind  —  namentlich  in  unkontrollierten  Mengen 
—  medizinisch  nicht  unverdächtig.  Von  Getränken,  denen  die  genannten  Stoffe 
beigemischt  sind,  kann  ferner  nicht  die  günstige  Wirkung,  wie  von  unver- 
fälschtem Wein  erwartet  werden.  Deshalb  verbietet  das  Gesetz  die  Beimischung 
der  Stoffe  und  bedroht  den  ungehorsamen  Weinchemiker  mit  Strafen.  Diese 
sind  die  nämlichen,  wie  die  des  Nahrungsmittelgesetzes  §§10  und  11  (oben  S.  38), 
vergl.  Weingesetz  §  7  No.  1  und  §  8  (der  letztere  betreffend  die  fahrlässige 
Verübung!).  Wird  durch  die  Weinfälschung  nachweisbar  die  Gefahr  begründet, 
dass  die  Gesundheit  anderer  beschädigt  oder  zerstört  werde,  so  kommen  die 
§§12  und  13  des  Nahrungsmittelgesetzes  in  Anwendung.  (Weingesetz  §  10.) 
Die  §§  3  bis  6  des  Weingesetzes  bringen  eine  Ergänzung  des  §  10  des  Nahrungs- 
mittelgesetzes. §  3  bezeichnet  eine  Anzahl  von  Behandlungsweisen  des  Weines, 
die  nicht  als  Verfälschung  oder  Nachmachung  anzusehen  sind.  Dazu  gehört 
namentlich  die  Beifügung  von  Zuckerstoff  bis  zu  den  regelmässigen  Grenzen 
des  durch  die  Etikette  bezeichneten  Weines.  Solch'  entsäuerter  oder  richtiger 
gesüsster  Wein  darf  als  Wein  schlechtweg  verkauft  werden ;  aber  er  darf  nicht 
mit  einer  Etikette  verkauft  werden,  welche  auf  reinen  Naturwein  hinweist. 
Geschieht  das  letztere,  so  trifft  den  Weinchemiker  die  Strafe  des  §  7  No.  1. 
Die  Beimischung  gewisser  Stoffe  wird  vom  §  4  als  Weinfölschung  im  Sinne  des 
Nahrungsmittelgesetzes  §  10  erklärt,  und  es  wird  der  Verkauf  nur  unter  der 
Voraussetzung  gestattet,  dass  die  Etikette  auf  den  Surrogatcharakter  der  Mischung 
hinweist.  Für  den  Schaumwein  stellen  die  §§  5  und  6  ein  besonderes  Recht 
auf;  vergl.  auch  §  4  Abs.  2  hinsichtlich  der  Dessert-  (Süd-,  Süssweine).  §  9  des 
Gesetzes  bezieht  sich  auf  die  Einziehung.  Nach  §  10  des  Gesetzes  findet  im 
Falle  einer  Verurteilung  wie  einer  Freisprechung  aus  dem  Weingesetze  die 
Veröffentlichung  des  Urteils  wie  nach  §  16  des  Nahrungsmittelgesetzes  statt; 
das  gleiche  gilt  von  der  Verwendung' der  Geldstrafen.  (NMG.  §17.)^)  Auf  den 
Schutz  der  Gesundheit  zielen  femer  ab  4.  das  Gesetz,  betreffend  die  Verwen- 
dung gesundheitsschädlicher  Farben  (Färb engesetz)  vom  5.  Juli  1887,  S.  277 
§§  12,  13;*)  5.  das  Gesetz,  betreffend  den  Verkehr  mit  blei-  und  zinkhaltigen 
Gegenständen  vom  25.  Juni  1887,  S.  273  §§  4  bis  7.  Vergl.  dazu  RGBl. 
1888,  S.  114.^) 

III.    1.  Gesetz,  betr.  die  Anfertigung von  Zündhölzern  vom  13.  Mai 

1884,  S.  49  §§3,  4.  Gehört  auch  zur  Arbeiterschutzgesetzgebung.  2.  Gesetz 
gegen  den  verbrecherischen  und  gemeingefährlichen  Gebrauch  von  Spreng- 
stoffen vom  9.  Juni  1884,  S.  61.^)  Dazu  Bekanntmachung  vom  13.  März  1885 
S.  78  (ein  echtes  Ergänzungsgesetz,  Laband,  Staatsrecht  I,  S.  593  Anm.  1); 
Bekanntmachung   vom  16.  April  1891,    S.  106.      Nach  §  1  Absatz  1  des  Ge- 


^)  Zu  §  11  des  Weingesetzes  vergl.  Bekanntmachung  des  Bundesrates  vom 
29.  April  1892  (RGBl.  S.  600). 

*)  Vergl.  S.  38  Note  3. 

«)  Vergl.  S.  38  Note  3. 

')  Dynamitgesetz.  —  Das  Reichsgesetz  betreffend  den  verbrecherischen  und  ge- 
meingefährlichen Gebrauch  von  Sprengstoffen.  Nebst  den  zur  Ausführung  desselben 
ergangenen  preussischen  Ministerial -Verordnungen,  Erlassen  und  Zirkularen,  sowie 
den  vom  Reichsgericht  angenommenen  Rechtsgrundsätzen.  Berlin  und  Neuwied 
1887.  —  Ausgaben  von  Biberstein.  Berlin  1885.  Scheiff.  Berlin  1886.  —  v.  Liszt, 
Lehrbuch  §  157  (1892)  S.  528.  —  Ommelmann  (Berg Werksunternehmer),  Das  Dyna- 
mitgesetz und  seine  Folgen.  Essen  1887  (Erzählung  eines  auf  Grund  des  Gesetzes 
Angeklagten). 


40       Deutsches  Reich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


setzes  ißt  die  Herstellung,  der  Vertrieb  und  der  Besitz  von  Sprengstoffen, 
sowie  die  Einführung  derselben  aus  dem  Auslande,  unbeschadet  der  bestehenden 
sonstigen  Beschränkungen,  nur  mit  polizeilicher  Genehmigung  statthaft.  VergL 
dazu  §  1  Absatz  2 — 4  und  §§  2 — 4.  Die  §§  5  — 13  enthalten  strenge,  zum 
Teil  einen  Fundamentalgrundsatz  des  Strafrechts  (in  Betreff  des  Verschuldens 
als  Voraussetzung  der  Strafbarkeit)  verleugnende  Strafbestimmungen.  Zucht- 
haus bis  zu  15  Jahren  soll  den  treffen,  der  vorsätzlich  durch  Anwendung  von 
Sprengstoffen  Gefahr  für  das  Eigentum,  die  Gesundheit  oder  das  Leben  eines 
anderen  herbeiführt.  Die  Strafe  ist  von  5  Jahren  an  zu  bemessen,  wenn  durch 
die  That  eine  schwere  Körperverletzung  (StGB.  §  224)  verursacht  wurde;  die 
Strafe  ist  Zuchthaus  von  10 — 15  Jahren  oder  lebenslängliches  Zuchthaus,  wenn 
der  Tod  eines  Menschen  verursacht  worden  ist.  Und  wenn  der  Thäter  einen 
solchen  Erfolg  hat  voraussehen  können,  so  soll  denselben  die  Todesstrafe 
treffen  (Ges.  §  5).  ^)  Komplott  und  Bande  in  Bezug  auf  Sprengstoffverbrechen 
werden  mit  Zuchthaus  von  5  — 15  Jahren  bestraft,  wenn  es  auch  noch  nicht 
zu  dem  Anfange  der  Ausführung  eines  solchen  Verbrechens  gekommen  ist  (§  6). 
Und  Zuchthaus  bis  zu  10  Jahren  trifft  die  Vorbereitung  eines  Sprengstoff- 
verbrechens durch  Herstellung,  Anschaffung,  Bestellung  von  Sprengstoffen.  Ja 
es  genügt  schon  der  verbrecherische  Besitz  von  Sprengstoffen  oder  die  Über- 
lassung an  andere  Personen,  wenn  der  Thäter  weiss,  dass  ein  Sprengstoffver- 
brechen geplant  ist  (§  7).  Und  §  8  stellt  Zuchthaus  bis  zu  5  Jahren  oder 
Gefängnis  von  1 — 5  Jahren  dem  in  Aussicht,  der  Sprengstoffe  herstellt,  an- 
schafft, bestellt,  wissentlich  in  seinem  Besitze  hat  oder  an  andere  Personen 
überlässt,  unter  Umständen,  die  sein  Benehmen  nicht  als  ein  erlaubtes  er- 
scheinen lassen.  Wer  mit  Sprengstoffen  manipuliert,  hat  die  Vermutung  miss- 
bräuchlicher  Anwendung  gegen  sich,  wenn  er  sich  nicht  über  das  Vorhanden- 
sein erlaubter  Ziele  ausweisen  kann.  Ja  selbst  derjenige,  bei  dem  es  zweifellos 
ist,  dass  er  erlaubte  Zwecke  verfolgt,  wird  auf  3  Monate  bis  zu  2  Jahren  ins 
Gefängnis  geschickt,  wenn  er  ohne  polizeiliche  Ermächtigung  es  unternimmt, 
Sprengstoffe  herzustellen,  vom  Auslande  einzuführen,  feilzuhalten,  zu  verkaufen 
oder  sonst  an  andere  zu  überlassen.  Der  gleichen  Strafe  verfällt,  wer  im 
Besitze  von  Sprengstoffen  betroffen  wird,  ohne  polizeiliche  Ermächtigung  nach- 
weisen zu  können,  sowie  derjenige,  welcher  die  in  Bezug  auf  den  Sprengstoff- 
verkehr erlassenen  Polizeivorschriften  übertritt  (Ges.  §  9).  Die  Praxis  hat, 
der  bezüglich  des  Rechtsirrtums  ^herrschenden  Ansicht  folgend,  ausgesprochen, 
dass  es  bei  Übertretungen  des  §  9  des  Gesetzes  auf  irgend  ein  Bewusstsein 
von  dem  Verbote  oder  Gebote  nicht  ankomme,  die  Schuldbarkeit  des  Vorsatzes 
werde  lediglich  durch  die  objektive  Rechtswidrigkeit  bedingt.  Entscheidungen 
des  Reichsgerichts  in  Strafsachen,  Bd.  15  S.  159;  in  Bd.  13  S.  49  findet  sich 
der  überraschende  Ausspruch,  „es  könne  dahin  gestellt  bleiben,  ob  nach  §  9 
(des  Sprengstoffgesetzes)  überhaupt  ein  bestimmtes  Verschulden  erforderlich  ist". 
Ja  zu  was  wird  denn  gestraft,  wenn  kein  Verschulden  da  ist?  Die  öffentliche 
oder  durch  Verbreitung  von  Schriften  und  dergl.  erfolgte  Aufforderung  zu  den 
Sprengstoffverbrechen  der  §§  5  oder  6,  das  Anreizen  oder  Verleiten  dazu  durch 
Anpreisen  oder  Rühmen  wird  mit  Zuchthaus  bis  zu  15  Jahren  bestraft  (§  10). 
Vergl.  noch  §  11  (Polizeiaufsicht  und  Einziehung),  §  12  (bedingungslose  An- 
wendbarkeit des  Gesetzes  auf  die  im  Auslande  verübten  Sprengstoffverbreehen), 
§13  (Nichterfüllung  der  Anzeigepflicht  gegenüber  gewissen  Sprengstoffver- 
brechen).   §  14  und  15  enthalten  Übergangsbestimmungen.    In  diesen  Zusammen- 


*)  Nach  dem  Wortlaute  des  Gesetzes  ist  auch  derjenige  dem  Tode  verfallen, 
der  die  voraussehbare  Tödlichkeit  seines  verbrecherischen  Unternehmens  nicht  be- 
dacht hat. 


t)  19.    Besonderer  Schutz  des  Publikums  gegen  Schädigungen  des  Vermögens.    41 


hang  gehört  S.  das  Gesetz,  betr.  die  Prüfung  der  Läufe  und  Verschlüsse  der 
Handfeuerwaffen  vom  19.  Mai  1891,  S.  109  §9.  §8  des  Gesetzes  ist  schon 
in  Wirksamkeit  getreten;  für  die  anderen  Bestimmungen  ist  der  Zeitpunkt  noch 
nicht  bestimmt;  der  Kaiser  hat  ihn  mit  Zustimmung  des  Bundesrates  festzu- 
setzen. Eine  vorbereitende  Bestimmung  enthält  die  Bekanntmachung  vom 
22.  Juni  1892,  S.  674. 

rV.  Vergl.  unten  §  19  VI  No.  1—3;  femer  §  21  No.  2;  §  22  No.  2,  7—12; 
vergl.  auch  No.  6.^) 

§  19.   Besonderer  Schutz  des  Publikums  gegen  SchSdlgungen  des 

YermSgens. 

I.  Die  im  vorigen  Paragraphen  II,  No.  1 — 3  erwähnten  Gesetze  (Nahrungs- 
mittel-, Butter-,  Weingesetz)  haben  auch  Beziehungen  zum  Vermögensschutz. 
Vergl.  den  vorigen  Paragraphen.     Ausserdem  kommt  in  Betracht: 

II.  1,  Das  Gesetz  über  den  Feingehalt  der  Gold-  und  Silberwaren  vom 
16.  Juli  1884,  S.  120,  §  9;*)  2.  Das  Gesetz,  betr.  die  Bezeichnung  des  Raum- 
gehaltes der  Schankgefässe  vom  20.  Juli  1888,  S.  249,  §  5.*) 

III.  Konkursordnung  vom  10.  Februar  1877,  S.  351,  §§  209  —  214, 
Bankerutt  und  verwandte  Fälle.*) 

IV.  Gesetz,  betr.  die  Inhaberpapiere  mit  Prämien  vom  8.  Juni  1871, 
S.  210,  §  6  (gegen  die  Spielsucht)  ;'^)  vergl,  preussisches  Gesetz  wegen  Aus- 
stellung von  Papieren,  welche  eine  Zahlungsverpflichtung  an  jeden  Inhaber 
enthalten,  vom  17.  Juni  1833,  GS.  S.  75,  §  5;  dazu  Verordnung  vom  17.  Septem- 
ber 1867,  GS.  S.  1518  (Ausdehnung  des  Gesetzes  auf  die  neuen  Gebietsteile). 

V.  SprengstoflPgesetz,  s.  oben  S.  40. 

VI.*)  1.  Gesetz,  betr.  die  Beseitigung  von  AnsteckungsstoflFen  bei  Vieh- 
beförderung auf  Eisenbahnen,  vom  25.  Februar  1876,  S.  163,  §5.  2»  Gesetz, 
betr.  die  Zuwiderhandlungen  gegen  die  zur  Abwehr  der  Rinderpest  erlassenen 
Vieheinfuhrverbote,  vom  21.  Mai  1878,  S.  95,  §§  1  —  4.  3.  Gesetz,  betr.  die 
Abwehr  und  Unterdrückung  von  Viehseuchen,  vom  23.  Juni  1880,  S.  153, 
§§  65—67. 

VII.')  Internationale  Reblauskonvention,  vom  3.  November  1881,  RGBl. 
1882,  S.  125,  Art.  1,  No.  4.  Abgeschlossen  von  folgenden  Staaten:  Deutsches 
Reich,  Österreich -Ungarn,  Frankreich,  Portugal,  Schweiz.  Beigetreten  sind: 
Belgien,  RGBl.  1882,  S.  138;  Luxemburg,  RGBl.  1882,   S.  139.  —  Deutsches 


^)  Das  plötzliche  Auftreten  der  Cholera  im  Sommer  1892  hat  im  deutschen 
Publikum  vielseitig  das  Verlangen  nach  einem  Menschenseuchen- Gesetze  erzeugt. 
Die  Tagespresse  hat  diesem  Verlangen  Ausdruck  gegeben;  und  es  verlautet,  dass  der 
Bundesrat  sich  mit  einer  darauf  bezüglichen  Vorlage  an  den  Reichstag  beschäftige. 
Es  ist  nur  zu  wünschen,  dass  das  erwartete  Gesetz  nicht  bloss  Schutz  gegen  die 
Setichengefahr  gewähre,  sondern  auch  aufgeregten  und  überängstlichen  Gemütern 
und  übereifrigen  Polizeiorganen  die  Grenzen  ihres  Handelns  weise,  damit  nicht  das 
gesunde  Publikum  von  unnötigen  Plackereien  heimgesucht  werde. 

*)  Vergl.  Lexis  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltimgsrechts  Bd.  1,  S.  378 
bis  380  und  die  daselbst  cit.  Litteratur. 

«)  Lexis  a.  a.  0.,  Bd.  2.  S.  400. 

*)  Vergl.  V.  Liszt,  Lehrbuch  (1892),  §  136,  S.  475.  Besonders:  Petersen  und 
Klein  feller,  Ronkursordnung  für  das  deutsche  Reich.  Kommentar.  3.  Aufl.  Lahr 
1892.     S.  588  ff. 

*)  Vergl.  Landgraf  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungarechts  Bd.  1 
S.  671,  besonders  §  3  S.  672.    v.  Liszt,  Lehrbuch,  (1892),  §  146,  III  S.  502. 

")  Zu  VI  1 — 3  vergl.  Dam  mann  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungs- 
rechts Bd.  2,  S.  809. 

')  Vergl.  Hermes  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  2,  S.  329. 


42       Deutsches  Reich.  —  Die  Spezialstrafg'esetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


Gesetz,    betr.    die    Abwehr   und    Unterdrückung    der   Reblauskrankheit,    vom 
3.  Juli  1883,  S.  149,  §  12. 

§  20.    Fischerei-  und  Vogelscliutz. *) 

Grundsätzlich  hat  die  Reichsgesetzgebung  die  Ordnung  der  Jagd  und 
Fischerei,  soweit  es  sich  nicht  um  Gewaltthätigkeiten  gegen  das  Jagdpei-sonal 
oder  um  widerrechtliche  Eingriffe  in  das  Okkupationsrecht  handelt  (StGB. 
§§  117 — 119,  370,  No.  4,  296a),  der  Landesgesetzgebung  überlassen.  Vergl. 
Einf.-Ges.  zum  StGB.  §  2.  Neuestens  hat  aber  das  Reich,  !•  namentlich 
im  Interesse  der  Landwirtschaft,  den  Vogelschutz  selbst  geordnet  und  Straf- 
bestimmungen gegen  die  Übertretungen  der  Ordnung  aufgestellt.  Gesetz, 
betr.  den  Schutz  von  Vögeln,  vom  22.  März  1888,  S.  111,  §§  6,  7,  9. 
2.  Die  Fischerei  in  der  Nordsee  ist  Gegenstand  internationaler  Vereinbarung 
und  ausführender  Reichsgesetzgebung  geworden.  Internationaler  Vertrag, 
betr.  die  polizeiliche  Regelung  der  Fischerei  in  der  Nordsee  ausserhalb  der 
Küstengewässer,  vom  6.  Mai  1882,  RGBl.  1884,  S.  25.  Beteiligte  Kontra- 
henten: Deutsches  Reich,  Belgien,  Dänemark,  Frankreich,  Grossbritannien  und 
Irland,  Niederlande,  Art.  35.  Vergl.  Art.  32,  34.  Vergl.  auch  die  für  die 
Notstandslelire  in  Betracht  kommenden  Art.  14,  16,  19 — 22.  Dazu  deutsches 
Gesetz  zur  Ausführung  der  internationalen  Konvention  vom  6.  Mai  1882,  betr. 
die  polizeiliche  Regelung  der  Fischerei  in  der  Nordsee,  ausserhalb  der  Küsten- 
gewässer, vom  30.  April  1884,  S.  48,  §  2.  (§  1  bezieht  die  Normen  der 
Artikel  6 — 23  der  Konvention  auf  die  Seefischereifahrzeuge  auch  während  ihres 
Aufenthaltes  in  den  zur  Nordsee  gehörigen  Küstengewässern.)  3.  Gesetz,  betr. 
die  Schonzeit  für  den  Fang  von  Robben,  vom  4.  Dezember  1876,  S.  233. 
Vergl.  dazu  die  Kaiserliche  Verordnung  vom  29.  März  1877,  S.  409.  4.  Ein 
Vertrag  zwischen  dem  deutschen  Reiche  und  Belgien  vom  29.  April  1885, 
R(tB1.  S.  251,  hat  die  Bestrafung  der  auf  den  beiderseitigen  Gebieten  be- 
gangenen Forst-,  Feld-,  Fischerei-  und  Jagdfrevel  verabredet.   Vergl.  StGB.  §  296  a. 

§  21.   Besondere  Strafgesetze  zum  Schutze  des  Verkehrs. 

1.  Gesetz  über  das  Postwesen  des  deutschen  Reichs,  vom  28.  Ok- 
tober 1871,  S.  347,  §§  18,  19,  23;  sodann  §§  27—33  (Defraudationen).^) 
Einf.-Ges.  zum  StGB.  §  7.  Gesetz  für  Elsass-Lothringen  vom  4.  November  1871, 
Gesetzbl.  S.  348;  für  Helgoland  Ges.  vom  22.  März  1891  (RGBl.  S.  21).  2.  Bahn- 
polizeireglement für  die  Eisenbahnen  Deutschlands.  Bekanntmachung  des  Reichs- 
kanzlers vom  30.  November  1885  in  Gemässheit  der  vom  Bundesrat  in  der 
Sitzung  vom  26.  November  1885  auf  Grund  der  Artikel  42  und  43  der 
RV.  gefassten  Beschlüsse.  RGBl.  1885,  S.  289,  §62  (S.  312);  vom  I.Januar 
1893,  neue  Bahnpolizeiordnung;  s.  oben  §  14  S.  34.  3.  Gesetz  über  das 
Telegraphenwesen  des  deutschen  Reichs  vom  6.  April  1892,  S.  467,  §§9,  10; 
vergl.  §  15.  Gesetz,  betr.  die  Einführung  von  Telegraphenfreimarken  vom 
16.  Mai  1869,  S.  377,  §  2;  trotz  des  Zusatzes  zu  §  276  des  Strafgesetz- 
buches noch  in  Geltung,  ebenso  wie  §  27  des  Postgesetzes.  Vergl.  ferner 
Art.  9  des  bayer.  Ausführ.-Ges.  vom  18.  August  1879  zur  Reichs- StPO. 
4«  Internationaler  Vertrag  zum  Schutze  der  unterseeischen  Telegraphenkabel, 
nebst  Zusatzartikel  und  Deklaration  vom  14.  März  1884,  RGBl.  1888,  S.  151, 
Art.  2,  5,  6,  8—12.*).      Dazu    Erklärung   vom    1.  Dezember   1886,    23.   März 


*)  Staudinger  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Bd.  1,  S.  408. 
")  Vergl.  Sydow  inv.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Bd. 2,  S.  291. 
')  Vergl.  Sydow  inv.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Bd.  2,  S.  619. 


§  22.    Besondere  Strafbestimmungen  in  Betreff  der  Seeschiffahrt  48 


1887,  RGBl.  1888,  S.  167,  betreffend  das  Wort  „vorsätzlich"  (volontairement). 
Der  Vertrag  ist  abgeschlossen  von  folgenden  Staaten:  Deutsches  Reich,  Argen- 
tinien, Österreich,  Belgien,  Brasilien,  Costa  Rica,  Dänemark,  S.  Domingo, 
Spanien,  Vereinigte  Staaten  von  Nordamerika,  Staaten  von  Kolumbien,  Frank- 
reich, Grossbritannien  und  Irland  (Indien),  Guatemala,  Griechenland,  Italien, 
Türkei,  Niederlande  (Luxemburg),  Persien,  Portugal,  Rumänien,  Russland,  Sal- 
vador, Serbien,  Schweden  und  Norwegen,  Uruguay.  Beigetreten  sind:  Die 
britischen  Kolonien  und  Besitzungen  Canada,  Neufundland,  Cap,  Natal,  Neu- 
südwales, Tasmanien,  Westaustralien,  Neuseeland.  Bekanntmachung  vom 
26.  November  1888,  S.  292;  femer  Tunis,  Bekanntmachung  vom  6.  September 
1889,  S.  194.  Dazu  Reichsgesetz  zur  Ausführung  des  internationalen  Vertrages 
zum  Schutze  des  unterseeischen  Telegraphenkabels  vom  21.  November  1887, 
RGBl.  1888,  S.  169.  Strafrechtlich  interessant  namentlich  Artikel  2  des  Ver- 
trages, welcher  eine  Erweiterung  des  §  4  des  Strafgesetzbuches  bewirkt  und 
welcher  im  Absatz  2  eine  Notstandsbestimmung  enthält. 

§  22.    Besondere  Straf bestimmnngeii  In  Betreif  der  Seeschiffahrt.^) 

1.  Seemannsordnung.  Vom  27.  Dezember  1872,  8.  409,  §§  81—103,  107. 
Zu  vergleichen  §§30,  32,  79.  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  195  (1892),  S.  668.  Lewis 
in  V.  Stengel,  Wörterbuch  des  Vcrwwaltungsrechts  Bd.  2,  8.  415,  §  5.  2.  Bundes, 
gesetz,  betr.  die  Nationalität  der  Kauffahrteischiffe  und  ihre  Befugnis  zur  Führung 
der  Bundesflagge.  Vom  25. Oktober  1867,  BGBl.  S.35.  Vergl.  Lewis  in  v.  Stengel, 
Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Bd.  1,  S.  632.  3.  Gesetz,  betr.  die  Regi- 
strierung und  die  Bezeichnung  der  KauflPahrteischiffe.  Vom  28.  Juni  1873,  S.  184, 
§  4.  Vergl.  auch  Schiffs  Vermessungsordnung  vom  20.  Juni  1888,  S.  190,  §  36, 
No.  4  u.  5;  dazu  Hänel,  Staatsrecht,  S.  281;  Lewis  in  v.  Stengel,  Wörterbuch 
des  Verwaltungsrechts,  Bd.  2,  S.  411,  §3.  4,  Gesetz,  betr.  die  Küstenfrachtfahrt. 
Vom  22.  Mai  1881,  S.  97,  §  3.  Dazu  2  Verordnungen  vom  29.  Dezember  1881,  S.  275 
und  276.  (Die  letztere  durch  die  neuen  Handelsverträge  zum  Teil  ersetzt.)  Vergl. 
Lewis  in  v.  Stengel ,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Bd.  2,  S. 412.  5.  Gesetz, 
betr.  die  Schiflfsmeldungen  bei  den  Konsulaten  des  deutschen  Reiches.  Vom  25.  März 
1880,  S.  181,  §  4.  Dazu  Verordnung  vom  28.  Juli  1880,  S.  183.  6,  Gesetz, 
betr.  die  Verpflichtung  deutscher  Kauffahrteischiffe  zur  Mitnahme  hilfsbedürftiger 
Seeleute.  Vom  27.  Dezember  1872,  S.  432,  §  8.  7-  Zum  Strafgesetzbuch  §  145: 
Not-  und  Lootsensignalordnung  für  Schiff'e  auf  See  und  auf  den  Küstengewässem. 
Vom  14.  August  1876,  S.  187.  8.  Verordnung  zur  Verhütung  des  Zusammen- 
stossens  der  Schiffe  auf  See.  Vom  7.  Januar  1880,  S.  1.  Lewis  in  v.  Stengel, 
Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Bd.  1,  S.  419.  9.  Verordnung  über  das  Ver- 
halten der  Schiffer  nach  einem  Zusammenstoss  von  Schiffen  auf  See.  Vom 
15.  August  1876,  S.  189,  §  1.  10.  Verordnung  zur  Ergänzung  der  Verordnung 
über  das  Verhalten  der  Schiffer  nach  einem  Zusammenstosse  auf  See  u.  s.  w. 
Vom  29.  Juli  1889,  S.  171.  IL  Strandungsordnung.  Vom  17.  Mai  1874,  S.  73, 
§9,  Abs.  2  (StGB.  §  360  No.  10),  §  43.  Lewis  in  v.  Stengel,  Wörterbuch 
des  Verwaltungsrechts,  Bd.  2,  S.  574.  12.  Gesetz,  betr.  die  Untersuchung  von 
Seeunfällen.     Vom  27.  Juli  1877,  S.  549,  §§  26,  34. 


*)  Vergl.  das  Überschriftscitat  zu  §23.  Meves,  die  strafrechtlichen  Bestimmungen 
L  im  Gesetz,  betr.  die  Nationalität  der  Kauffahrteischiffe  und  ihre  Befugnis  zur  Führung 
der  Bundesflagge  von  25.  Oktober  1869  in  Verbindung  mit  dem  Gesetz,  betr.  die  Re- 

fistrierung  und  die  Bezeichnung  der  Kauffahrteischiffe  vom  28.  Juni  1873;  II.  in  der 
eemannsordnung  vom  27.  Dezember  1872;  III.  in  dem  Gesetz,  betr.  die  Mitnahme 
hülfsbedürftiger  Seeleute  vom  27.  Dezember  1872;  IV.  in  der  Strandungsordnung  vom 
17.  Mai  1874,  erläutert.    Erlangen  1876. 


44       Deutsches  Reich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


§  23.   Handels-,  Mflnz-  und  Bankwesen. 

I.  1.*)  Die  Veränderungen,  welche  das  deutsche  Handelsgesetzbuch  er- 
fahren hat,  sind  charakteristisch  für  den  im  §  13  geschilderten  Entwickelungs- 
gang.  Ursprünglich  nur  das  tibereinstimmende  Gesetzbuch  für  die  Staaten  des 
alten  deutschen  Bundes  und  durch  Gesetz  vom  5.  Juni  1869  zum  Gesetz  des 
norddeutschen  Bundes  erklärt,  enthielt  das  Handelsgesetzbuch  an  strafrechtlich 
bedeutsamen  Bestimmungen  lediglich  die  des  Artikels  84,  welche  die  Bestrafung 
der  von  den  Handelsmäklem  begangenen  Pflichtverletzungen  den  Landes- 
gesetzen überliess.  Vergl.  preuss.  Einf.-Ges.  zum  HandelsGB.  vom  24.  Juni  1861, 
GS.  S.  449,  Art.  9.  Schon  das  Bundesgesetz  vom  11.  Juni  1870,  betr.  die  Kom- 
manditgesellschaften auf  Aktien  und  die  Aktiengesellschaften,  BGBl.  8.  375,  ge- 
langte zu  Straf  drohungen  gegen  Pflichtwidrigkeiten  der  persönlich  haftenden 
Mitglieder  und  der  Mitglieder  des  Aufsichtsrates  einer  Kommanditgesellschaft  auf 
Aktien,  sowie  gegen  Pflichtwidrigkeiten  der  Mitglieder  des  Aufsichtsrates  und  des 
Vorstandes  einer  Aktiengesellschaft.  (Art.  206,  249,  249  a.)  Die  Gründungsmiss- 
bräuche in  den  70er  Jahren  und  die  Ausdehnung  des  Aktienwesens  haben  zu  den 
viel  weiter  gehenden  Straf  bestimmungen  des  Gesetzes,  betr.  die  Kommanditgesell- 
schaften auf  Aktien  und  die  Aktiengesellschaften  vom  18.  Juli  1884,  S.  123,  ge- 
führt, durch  welches  Gesetz  das  Handelsgesetzbuch,  Buch  2,  Titel  2,  Abschnitt  2 
und  Titel  3  (Art.  173 — 249)  eine  neue  Ausgestaltung  erfuhr.  Die  Strafdrohungen 
sind  in  den  neuen  Artikeln  249  —  249f  enthalten.  Dieselben  kündigen  Ge- 
fängnisstrafen bis  zu  5  Jahren,  Geldstrafen  bis  zu  20000  Mark  an  und  lassen 
mehrfach  die  Aberkennung  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  zu,  während  das 
Gesetz  vom  11.  Juni  1870  nicht  mehr  als  3  Monate  Gefängnis  und  bei  mil- 
dernden Umständen  Geldstrafe  bis  zu  3000  Mark  androhte.  Vergl.  auch 
Art.  249  g  (Ordnungsstrafen  durch  die  Handelsgerichte).  In  diesen  Zusammen- 
hang gehören  ferner  2.  die  Straf  bestimmungen  des  Gesetzes  betr.  die  Erwerbs- 
und Wirtschaftsgenossenschaften ^)  (früher  vom  4.  Juli  1868,  jetzt:)  vom  1.  Mai 
1889,  S.  55,  §§  140—145.  Vergl.  auch  §§  152  und  155,  dazu  Reichsgesetz 
vom  23.  Juni  1873,  S.  146,  §  2  in  Betreff  Bayerns;  femer  3.  Gesetz,  betr. 
die  Gesellschaften  mit  beschränkter  Haftung  vom  20.  April  1892,  S.  477, 
§§  80 — 82  (in  §  81  Bezugnahme  auf  die  Straf  Vorschriften  der  Konkursordnung, 
§§  209— -211);  vergl.  auch  §62  (Auflösung  der  Gesellschaft  wegen  Gefährdung 
des  Gemeinwohls,  z.  B.  Fassen  gesetzwidriger  Beschlüsse,  Geschehenlassen i 
gesetzwidriger  Handlungen  seitens  der  Geschäftsführer). 

n.  1.  Münzgesetz  vom  9.  Juni  1873,  S.  233,  Art.  13.  Koch  in  v.  Stengel, 
Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Bd.  2,  S.  146  (§  7).  2.  Gesetz,  betr.  den 
Schutz  des  zur  Anfertigung  von  Reichskassenscheinen  verwendeten  Papieres 
gegen  unbefugte  Nachahmung  vom  26.  Mai  1885,  S.  165,  §§  2,  3.  Koch  in 
V.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Bd.  2,  S.  205. 

III.  1,  Gesetz  über  die  Ausgabe  von  Banknoten  vom  21.  Dezember  1874, 
S.  193,  Art.  II,  §  2.  Koch  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts, 
Bd.  2,  S.  169.  2.  Bankgesetz  vom  14.  März  1875,  S.  177,  §§  55—59.  Koch 
in  V.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  a.  a.  0. 

IV.  Vergl.  oben  §  19,  III,  IV. 


')  Edwin  Katz,  Die  strafrechtlichen  Bestimmungen  des  Handels-Gesetzbuches 
betreffend  die  Ordnungsstrafen,  die  Mäklervergehen,  die  Delikte  des  Aktienrechts  und 
des  Seestrafrechts.    Mit  Kommentar  und  Anmerkungen.    Berlin  und  Leipzig  1885. 

*)  Ludolf  Parisius,  Das  Reichsgesetz,  betrefFend  die  Erwerbs-  und  Wirt- 
schaftsgenossenschaften u.  s.  w.  Textausgabe  mit  Anmerkungen  und  Sachregister. 
Berlin  1889. 


§  24.    Gewerbestrafrecht,  Arbeiterschutz.  45 


§  24.   Oewerbestrafreclit,  Arbeiterschutz.  ^) 

I.  Vom  Zunftzwan^e  und  von  der  obrigkeitlichen  Konzessionierung,  den 
Realberechtigungen,  den  Zwangs-  und  Bannrechten,  war  die  deutsche  Gewerbe- 
gesetzgebung, dem  von  der  ausländischen  Gesetzgebung  gegebenen  Anstosse 
folgend,  zum  Prinzipe  der  Gewerbefreiheit  übergegangen.  Trotzdem  enthielt 
schon  die  Gewerbeordnung  für  den  norddeutschen  Bund  vom  21.  Juni  1869, 
Bundesgesetzblatt  S.  245,  eine  Reihe  von  Strafbestimmungen,  welche  teils  auf 
den  Schutz  des  Publikums  abzielen,  teils  die  gewerblichen  Gehülfen  und  die 
im  Gewerbe  beschäftigte  Jugend  gegen  die  Übertreibungen  des  Egoismus 
schützen  wollen.  Es  sind  leise  Anfänge  des  Arbeiterschutzes  in  dieser  ersten 
Fassung  der  Gewerbeordnung  enthalten.  In  beiden  Beziehungen  ist  die  Gesetz- 
gebung des  Reiches,  sozialpolitischen  Anregungen  folgend,  in  zahlreichen  Ver- 
änderungen und  Ergänzungen  der  Gewerbeordnung  weiter  gegangen.  Vergl. 
darüber  Binding,  Handbuch  I,  S.  132f.  (No.  19).  Einen  vorübergehenden  Ab- 
schluss  hatte  diese  Gesetzgebung  in  dem  Gesetze  vom  1.  Juli  1883,  S.  159 
gefunden,  welches  den  Reichskanzler  ermächtigte,  den  Text  der  Gewerbe- 
ordnung neu  bekannt  zu  machen,  wie  er  sich  aus  den  Gesetzen  von  1872, 
1874,  1876,  1878,  1879,  1880,  1881,  1883,  sowie  aus  den  vom  Reichstag  ge- 
nehmigten Bundesratsbeschlüssen  von  1881  und  1883  ergiebt.  Der  Abdruck 
ist  im  Reichsgesetzblatt  1883,  S.  177  ff.  erfolgt.  Das  Gesetz  vom  6.  Juli  1887, 
S.  281  und  der  vom  Reichstag  genehmigte  Bundesratsbeschluss  vom  14.  De- 
zember 1888,  Reichsgesetzblatt  1889,  S.  1,  brachten  weitere  Änderungen.  Tief 
eingreifend  ist  endlich  das  Gesetz,  betr.  Abänderung  der  Gewerbeordnung  vom 
1.  Juni  1891,  S.  261.  Es  ist  dies  das  sogenannte  Arbeiterschutzgesetz,  dessen 
Haupttendenz,  in  Normen  und  Straf drohungen,  der  Schutz  von  Arbeitern,  Ge- 
werbegehilfen, Frauen,  Minderjährigen  und  Kindern  gegen  übermässige  Aus- 
nützung seitens  der  Arbeitgeber,  sowie  damit  im  Zusammenhange  die  Ordnung 
der  Sonntagsfeier  ist.  Das  Arbeiterschutzgesetz  bildet  zusammen  mit  den  im 
nächsten  Paragraph  zu  besprechenden  Versicherungsgesetzen  die  Realisierung 
der  Gedanken,  mit  welchen  Kaiser  Wilhelm  I.  in  der  berühmten  B(»tschaft  an 
den  Reichstag  vom  17.  November  1881  die  Sozialgesetzgebung  des  deutschen 
Reiches  einleitete.  Das  Arbeiterschutzgesetz  ist  zum  Teil  am  1.  Oktober  1891, 
in  der  Hauptsache  aber  am  1.  April  und  am  1.  Juli  1892  in  Kraft  getreten. 
Für  einzelne  Bestimmungen  ist  die  Inkraftsetzung  Kaiserlicher  Verordnung 
mit  Zustimmung  des  Bundesrates  überlassen  (cit.  Ges.  Art.  9).  Vergl.  fär 
einen  Teil  dieser  Bestimmungen  hinsichtlich  des  Handelsgewerbes  die  Verordnung 
vom  28.  März  1892,  S.  339:  1.  April  und  1.  Juli  1892.  Übergangsbestim- 
mungen mit  Wirkung  bis  zum  1.  April  1894  enthalten  die  Absätze  4  und  5 
des  Artikels  9  des  Gesetzes.  Die  Gewerbeordnung  ist  leider  nicht  neu  redi 
giert.  Es  ist  der  Privatthätigkeit  überlassen,  diese  Redaktion  zu  vollziehen. 
Auf  Grund  des  §  139a  des  Arbeiterschutzgesetzes  ist  schon  eine  Reihe  von 
Bekanntmachungen  des  Bundesrates  in  Bezug  auf  die  Beschäftigung  von 
Arbeiterinnen  und  jugendlichen  Arbeitern  in  einzelnen  Fabrikbetrieben  erlassen 
worden.  Vergl.  RGBl.  1892,  S.  317,  324,  327,  328,  331,  334,  602, 
604;    vergl.    auch    S.  337;    femer   RGBl.    1888,    S.  88,    172.      Vergl.    sodann 


*)  v.  Liszt,  Lehrbuch  (1892),  §  190,  S.  652.  Die  Bearbeitungen  von  Meves  und 
Pfeiffer  sind  durch  die  Veränderungen  der  Gewerbegesetzgebung  überholt.  Ge- 
werbeordnung für  das  deutsche  Reich  in  der  Fassung  des  Reichsgesetzes  vom  1.  Juni 
1891.  Mit  alphabetischem  Sachregister.  München  1892.  (Für  das  Gewerbestrafrecht 
ist  das  Register  nicht  ausreichend.)  —  Münsterberg  in  v.  Stengel,  Wörterbuch 
des  Verwaltungsrechts,  Ergänzungsband  1,  S.  1  (Arbeiterschutz.)  —  Kulemann,  Der 
Arbeiterschutz  sonst  und  jetzt  in  Deutschland  und  im  Auslande.    Leipzig  1893. 


46       Dentocbes  Reich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


die  auf  den  Arbeiterschutz  abzielenden  Bestimmungen  des  preussischen  Ge- 
setzes vom  24.  Juni  1892,  GS.  S.  131,  betr.  die  Abänderung  einzelner 
Bestimmungen  des  allgemeinen  Berggesetzes  vom  24.  Juni  1865,  §§  207  a  bis 
207  e;  femer  die  gesetzliche  Ermächtigung  der  Oberpräsidenten  und  Regierungs- 
präsidenten von  Schleswig -Holstein,  Hannover  und  Hessen  -  Nassau  und  der 
hohenzollernschen  Lande  zur  Erlassung  von  Verordnungen  bezüglich  der  Sonn- 
tagsfeier vom  9.  Mai  1892,  GS.  S.  107. 

Die  Gewerbeordnung  war  ursprünglich  für  den  norddeutschen  Bund  er- 
lassen, ist  aber  dann  auch  in  den  übrigen  Teilen  des  Reiches  eingeführt 
worden;  in  Bayern  durch  Gesetz  vom  12.  Juni  1872,  RGBl.  S.  170; 
in  Elsass-Lothringen  erst  durch  Gesetz  vom  27.  Februar  1888,  S.  57.  Vergl. 
dazu  Bekanntmachung  vom  27.  Dezember  1888,  S.  301.  Dem  Arbeiterschutze 
dient  auch  das  Gesetz  betr.  die  Anfertigung  u.  s.  w.  von  Zündhölzern  vom 
13.  Mai  1884,  S.  49,  §§  1—4. 

II.  Die  Gewerbeordnung  enthält  nicht  bloss  im  X.  Titel,  der  die  Über- 
schrift „ Straf  bestimmungen"  trägt,  sondern  auch  sonst  zahlreiche,  strafrechtlich 
bedeutsame  Vorschriften.  1.  Die  nach  dem  Strafgesetzbuch  erfolgende  Ab- 
erkennung der  bürgerlichen  Ehrei^rechte  hat  in  Bezug  auf  gewerbliche  Ver- 
hältnisse mehrfachen  Einfluss.  Vergl.  §§  53,  83  No.  1,  86,  100  Abs.  6,  106. 
Ebenso  2.  das  Stehen  unter  Polizeiaufsicht,  §§  57,  57  b  No.  2,  58,  62  Abs.  2. 
3.  Die  Verurteilung  wegen  gewisser  Delikte  zieht  oder  kann  nach  sich  ziehen 
die  Versagung  des  Wandergewerbescheines  und  der  Erlaubnis,  andere  Personen 
beim  Gewerbebetriebe  im  Umherziehen  mit  sich  zu  führen,  §§  57  No.  3,  57b 
No.  2,  3,  62  Abs.  2.  4,  Die  Gewerbeordnung  giebt  dem  im  deutschen  Straf- 
rechte nur  ausnahmsweise  auftauchenden  Gedanken  Raum,  dass  eine  Personen- 
mehrheit als  solche  gesetzwidrige  Handlungen  begehen  könne,  vergl.  §§  103 
No.  3,  104g  No.  3.  5.  Mit  der  väterlichen  Zucht  über  den  Lehrling  ist  dem 
Lehrherm  durch  §  127  ein  Züchtigungsrecht  eingeräumt.  6.  Vergl.  noch 
§§  98a  No.  5,  100b  Abs.  3,  lOOd  No.  2,  104  Abs.  3,  1041  Abs.  2  (Ordnungs- 
strafen), §  130  (Anhaltung  zur  Rückkehr  des  Lehrlings  durch  Polizeistrafen). 
7,  Für  die  Straf  bestimmungen  in  den  Arbeitsordnungen  setzt  §  134b  Schranken, 
vergl.  auch  §  134  c  Abs.  2. 

III.  Das  eigentliche  Gewerbestrafrecht  ist  im  X.Titel  §§  143 — 153  und 
§  154a  enthalten;  und  zwar  stellen  die  §§  143  — 145  einige  allgemeine  Be- 
stimmungen auf  (Entziehung  von  Gewerbeberechtigungen,  vergl.  dazu  Gesetz 
vom  27.  Juli  1877,  S.  549,  §  26,  betr.  Untersuchung  von  Seeunfällen,  Ver- 
weisungen auf  das  allgemeine  Strafrecht  und  sonstige  Straf  bestimmungen,  Ver- 
jährung). Die  Strafdrohungen  der  §§  146 — 150,  153  und  154a  sind  teils 
vollständige  Strafgesetze,  teils  verweisen  sie  auf  die  in  ftliherem  Zusammen- 
hange aufgestellten  Normen,  teils  sind  es  Blankettstrafgesetze  in  dem  oben  §  14, 
II,  S.  35  erwähnten  Sinne.  Die  Einordnung  der  Strafdrohungen  in  die  einzelnen 
Paragraphen  ist  nicht  mit  Rücksicht  auf  die  Verwandtschaft  der  Thatbestände, 
sondern  mit  Rücksicht  auf  das  Mass  der  Strafdrohung  erfolgt.  Die  höchste 
der  angedrohten  Strafen  beträgt  Geldstrafe  bis  zu  2000  Mark  und  im  Un- 
vermögensfalle Gefängnis  bis  zu  6  Monaten,  die  niederste:  Geldstrafe  bis  zu 
20  Mark,  bezw.  Haft  bis  zu  3  Tagen.  §  151  regelt  die  strafrechtliche  Ver- 
antwortlichkeit im  Falle  der  Übertretung  polizeilicher  Vorschriften  durch  Per- 
sonen, welche  zur  Leitung  des  Betriebes  oder  zur  Beaufsichtigung  bestellt 
sind;  §  152  schliesst  Verbote  und  Straf  bestimmungen  gegen  gewerbliche 
Koalitionen  aus;  §  153  bedroht  aber  die  Anwendung  von  Zwang,  Drohungen, 
Ehrverletzungen  und  Verrufserklärungen  durch  solche  Koalitionen. 


§  25.    Versicherungsstrafrecht.  47 


§  25.    Yersichemngsstrafrecht. 

I.  Das  Reichsgesetz  über  die  eingeschriebenen  Hülfskassen  vom  7.  April 
1876,  S.  125,  bezieht  sich,  auch  in  der  Fassung,  welche  ihm  durch  das  Gesetz 
vom  1.  Juni  1884,  S.  64,  gegeben  worden  ist,  auf  freiwillige  Genossenschaften, 
welche  die  gegenseitige  Unterstützung  ihrer  Mitglieder  für  den  Fall  der  Krank- 
heit bezwecken.  Die  Rassen  stehen  -*  unter  der  Beaufsichtigung  von  Landes- 
behörden, welchen  behufs  Erzwingung  der  durch  das  Gesetz  begründeten  Pflichten 
die  Androhung,  Festsetzung  und  Vollstreckung  von  Geldstrafen  bis  zu  100  Mark 
eingeräumt  ist;  vergl.  §  33  (neue  Fassung).  §  34  bestimmt  öffentliche  Strafen 
gegen  Mitglieder  des  Vorstandes,  des  Ausschusses  oder  einer  örtlichen  Ver- 
waltungsstelle, welche  gegen  die  Bestimmungen  des  Gesetzes  handeln,  und 
unterstellt  sie  dem  §  266  des  Strafgesetzbuches  (Untreue),  wenn  sie  absichtlich 
zum  Nachteil  der  Kasse  handeln. 

n.  Ein  neues  Gebiet  der  Sozialgesetzgebung  und  in  derselben  von  neuen 
strafrechtlichen  Bestimmiyigen  ist  durch  die  der  jüngsten  Zeit  angehörende 
Versichenmgsgesetzgebung  eröffnet  worden.^)  An  die  Stelle  der  ft^eiwilligen 
Individual-  und  der  freien  (Tcnossenschaftsversicherung  ist  vielfach  die  Zwangs- 
versicherung in  Zwangsgenossenschaften,  in  Landes-  und  Reichseinrichtungen 
getreten.  Mit  dem  Zwangsgedanken  hat  sich  die  Strafeinrichtung  verbunden. 
Teils  sind  es  Strafen,  welche  von  den  Gerichten  im  ordentlichen  Verfahren 
erkannt  werden  müssen  (auch  einzelne  Ordnungsstrafen  gehören  dahin),  teils 
sind  es  Ordnungs-  und  Zwangsstrafen,  welche  von  Verwaltungsbehörden  (Ver- 
waltungsgerichten) oder  von  Genossenschaftsorganen  verhängt  werden  können. 
In  dieser  Beziehung  ist  ähnlich  wie  bezüglich  des  Strafverordnungsrechtes  (s.  oben 
§14,  la.  E.),  ein  Entwickelungsgang  des  Reichsrechtes  zu  beobachten,  welcher 
eine,  der  anfänglich  vorhandenen,  entgegengesetzte  Richtung  nimmt.  Es  galt 
als  ein  Palladium  des  preussischen  und  später  des  Reichsrechtes,  dass  der 
Streit  um  die  Verhängung  einer  öffentlichen  Strafe,  von  ganz  untergeordneten 
Thatbeständen  abgesehen,  sofort  vor  den  Richter  gehört  oder  doch  im  Wege 
des  Einspruches  gegen  eine  Strafverfügung  der  Polizeibehörde  dahin  gebracht 
werden  kann.  Jetzt  mehrt  sich  die  Zahl  der  gesetzlichen  Bestimmungen, 
welche  die  Verhängung  einer  Strafe  wegen  normwidrigen  Benehmens  in  ein 
Verwaltungs-  oder  Verwaltungsstreitverfahren  mit  Ausschluss  des  Prozessver- 
fahrens vor  dem  ordentlichen  Richter  legen.  Für  den  Anhänger  des  Rechts- 
staat-Gedankens keine  erfreuliche  Entwickelung! 

!•  Die  Reihe  der  Zwangsversicherungen  wurde  durch  das  Gesetz,  betreffend 
die  Krankenversicherung  der  Arbeiter  vom  15.  Juni  1883,  S.  73,  eröffnet, 
welches  durch  das  Gesetz  vom  10.  April  1892,  S.  379,  eine  neue  Fassung  er- 
halten hat.  (Geltung  des  revidierten  Gesetzes  vom  1.  Januar  1893  an.)*)  §  42  III 
(Verweisung  auf  StGB.  §  266).  §§  81,  82,  82  a— 82  c,  83;  §§  76a  Abs.  3, 
76b  Abs.  2,  76c  (Zwangsstrafen);  §  6a  II,  §  26a  No.  2  und  2a,  §  45.^) 

Daran  schliesst  sich  2.*)  das  Unfall  Versicherungsgesetz  vom  6.  Juli  1884, 


*)  Vergl.  R.  Piloty,  Zur  Litteratur  des  Arbeiterversicherungsrechtes  in  der 
Kritischen  Vierteljahrsschrift  für  Gesetzgebung  und  Rechtswissenschaft,  herausgegeben 
von  Bechmann  und  Seydel.    34.  Bd.  (Neue  Folge  Bd.  15)  1892,  S.  399. 

-)  Woedtke,  Kranken  Versicherungsgesetz  in  der  Fassung  der  Novelle  vom 
10.  April  1892.     Textausgabe  mit  Anmerkungen.    Berlin  1892. 

*)  Die  Bestimmungen  in  §§  50  und  71  legen  doch  nur  eine  Ersatzpflicht  und 
nicht  eine  Strafe  auf,  was  Woedtke,  Krankenversicherungsgesetz,  Register  S.  292 
anzunehmen  scheint.  Auch  die  Massregeln  in  §  62  und  §  68  Abs.  2  dürften  nicht  als 
Strafen  anzusehen  sein. 

*)  Zu  No.  2— 6  das  grossartig  angelegte  Buch :  Handbuch  der  Unfallversicherung. 
Die   Reichsunfallversicherungsgesctze    (Hauptgesetz,   Ausdehnungsgesetz,   Landwirt- 


48       Deutsches  Reich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Kelches. 


S.  69,  welches  in  den  §§  11  Abs.  3,  49  Abs.  3,  78  (No.  1),  No.  2,  80,  82, 
85,  88  Abs.  3,  89  Zwangsstrafen  (zum  teil  Zuschlagserhöhungen),  in  den  §§  103 
bis  106  Ordnungsstrafen  (durch  die  Genossenschaftsvorstände)  und  in  den  §§  26 
(StGB.  §  266),  107,  108  ordentliche  Strafen  androht.  Femer  8.  das  Gesetz 
über  die  Ausdehnung  der  Unfall-  und  Krankenversicherung  vom  28.  Mai  1885, 
S.  169  §  9  (dazu  §  2  Abs.  3),  s.  §  17.  Verordnung  vom  25.  September  1885, 
S.  271,  betr.  die  Inkraftsetzung  des  Unfall versicherungs-Gesetzes  vom  6.  Juli 
1884  und  die  teilweise  Inkraftsetzung  des  Gesetzes  über  die  Ausdehnung  der 
Unfall-  und  Krankenversicherung  vom  28.  Mai  1885;  Verordnung  vom  24.  Juni 
1886,  S.  205,  betr.  die  Inkraftsetzung  des  Gesetzes  Über  die  Ausdehnung  etc. 
vom  28.  Mai  1885.  4.  Gesetz  betr.  die  Unfall-  und  Krankenversicherung  der 
in  land-  und  forstwirtschaftlichen  Betrieben  beschäftigten  Personen  vom 
5.  Mai  1886,  S.  132,  §§  29  Abs.  3,  53  Abs.  3,  87,  90  Abs.  2,  96  Abs.  3  a.  E., 
123  bis  126  (Zwangs-  und  Ordnungsstrafen).  §§  31,  127,  128  (ordentliche 
Strafen).  (Vergl.  §  129.)  Hinsichtlich  des  Inkrafttretens  dieses  Gesetzes 
kam  zum  teil  §  143  des  Gesetzes  in  Betracht,  teilis  sind  auf  Grund  dieses 
Paragraphen  kaiserliche  Verordnungen  ergangen,  welche  für  das  Inkraft- 
treten in  den  Bundesländern  verschiedene  Termine  in  den  Jahren  1888  und 
1889  bestimmten.  (Vergl.  RGBl.  1888,  S.  125,  175,  207,  217,  235  für  1888; 
RGBl.  1888,  S.  237,  289,  297,  RGBl.  1889,  S.  51,  195  für  1889.)  5.  Gesetz 
betr.  die  Unfallversicherung  der  bei  Bauten  beschäftigten  Personen  vom 
11.  Juli  1887,  S.  287,  §  44  No.  1,  §  49  Abs.  2,  §  51.  6.  Gesetz  betr.  die 
Unfallversicherung  der  Seeleute  und  anderer  bei  der  Seeschiffahrt  be- 
teiligten Personen  vom  13.  Juli  1887  S.  329,  §§  30  Abs.  3,  52  Abs.  4, 
90,  93  Abs.  3,  98  Abs.  3,  99,  117  —  120,  122.  (Vergl.  dazu  die  Ein- 
führungsverordnung [für  1.  Januar  1888]  vom  26.  Dezember  1887,  S.  537. 
7.  Gesetz  betr.  die  Invaliditäts-  und  Altersversicherung  vom  22.  Juni 
1889,  S.  97,^)  §§  18,  126,  131  a.  E.,  vergl.  §  134  Abs.  1  a.  E.  (Zwangsstrafen); 
§§  60,  73  Abs.  3  (Ablehnung  von  Wahlen,  Weigerung,  Versäumung  der  Be- 
rufspflicht), §§  109  Abs.  2,  112  No.  2  a.  E.,  142,  143  (vergl.  §§  144,  145), 
146  (Ordnungswidrigkeiten,  Unterlassungen),  §  59  (Verweisung  auf  StGB.  §  266), 
§  147 — 155  (öffentliche  Strafen).  Dazu:  Verordnung  vom  25.  November  1890, 
S.  191,  über  die  Inkraftsetzung  des  Gesetzes  betr.  die  Invaliditäts-  und  Alters- 
versicherung. Die  Einrichtung  ist  am  1.  Januar  1891  ins  Leben  getreten.  — 
Bekanntmachung,  betr.  die  Erstreckung  der  Versicherungspflicht  u.  s.  w.  auf 
die  Hausgewerbetreibenden  der  Tabakfabrikation  vom  16.  Dezember  1891, 
S.  395,  No.  3  Abs.  3,  No.  6,  7  Abs.  4,  No.  9  Abs.  2.  Bekanntmachung,  betr.  die 
Durchführung  der  Invaliditäts-  und  Altersversicherung,  vom  24.  Dezember  1891, 
S.  399;  siehe  oben  §  14  I  No.  1  a.  E.  S.  33,  betr.  die  Entwertung  und  Ver- 
nichtung der  Marken. 


schaftliches  Unfallversicherungsgesetz,  Bau-UVG.,  See-UVG.,  Verordnung  über  das 
Verfahren  vor  den  Schiedsgerichten,  Anhang)  dargestellt  von  Mitofliedern  des  Beichs- 
Versicherimgsamtes  nach  dem  Aktenmaterial  dieser  Behörde.  S.  VIII  und  802  (leider 
ohne  Register).  Leipzig  1892.  Kürzere  Darstellungen  von  Woedtke  in  v.  Stengel, 
Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  2,  S.  636. 

^)  Ausgaben  von:  Bosse  und  v.  Woedtke.  Leipzig  1891.  Nach  amtlichen 
Quellen  mit  Einleitung  und  Erläuterungen.  S.  851.  —  R.  Landmann  und  R.  Rasp. 
München  1891.  1.  Bd.  der  Kommentare  von  Landmann  und  Rasp.  Die  Arbeiterver- 
sicherungsgesetzfi^ebung  für  das  deutsche  Reich  in  ihrer  Anwendung  auf  das  König- 
reich Bayern.  S.  815.  —  Stenglein,  Berlin  1890,  S.  275.  —  Freund,  Berlin  1891, 
S.  308.  —  Fuld,  Erlangen  1891,  S.  561.  —  Gebhard,  Altenburg  1891,  S.  884.  — 
Trutzer,  Ansbach  1891.  Kürzere  Darstellung  von  Woedtke  bei  v.  Stengel, 
Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  1,  S.  681. 


§  26.    Der  strafrechtliche  Schutz  des  Urheberrechts.  ,      49 


§  26.    Der  strafrechtlielie  Schutz  des  Urheberrechts.^) 

Auf  den  Schatz,  des  Urheberrechts  beziehen  sich  Gesetze  und  inter- 
nationale Verträge  des  Reichs.  I.  Grundlegend  ist  das  Gesetz,  betr.  das  Ur- 
heberrecht an  Schriftwerken,  Abbildungen,  musikalischen  Kom- 
positionen und  dramatischen  Werken  vom  11.  Juni  1870  (BGBl.  S.  339). 
Es.  ist  zum  Reichsgesetz  erhoben.  Abteilung  I  bezieht  sieh  auf  Schriftwerke, 
Abteilung  II  auf  geographische,  topographische,  naturwissenschaftliche,  archi- 
tektonische, technische  und  ähnliche  Abbildungen  —  ob  auf  Abbildungen 
plastischer  Art,  ist  bestritten  — ,  Abteilung  III  auf  musikalische  Komposi- 
tionen, Abteilung  IV  auf  die  öffentliche  Aufführung  dramatischer,  musikali- 
scher oder  dramatisch -musikalischer  Werke;  Abteilung  Y  enthält  allgemeine 
Bestimmungen.  Die  §§  18 — 38  stellen  die  Entschädigungspflicht  wegen  Nach- 
drucks von  Schriftwerken  fest,  bestimmen  die  Strafen  wegen  des  Nachdrucks 
und  regeln  das  Verfahren.  Die  §§  43,  45,  54,  56  beziehen  diese  Vorschriften 
in  entsprechender  Weise  auf  den  Schutz  der  in  den  Abteilungen  II — IV  auf- 
gestellten Normen.  IL  Gesetz,  betr.  das  Urheberrecht  an  Werken  der  bil- 
denden Künste  vom  9.  Januar  1876,  RGBl.  S.  4,  §  6  No.  4;  §  16. 

-  Zu  I  und  II :  Übereinkunft,  betr.  die  Bildung  eines  internationalen  Verbandes 
zum  Schutze  von  Werken  der  Litteratur  und  Kunst.  Abgeschlossen  Bern,  9.  Sept. 
1886.  Mit  Zusatzartikel,  Schlussprotokoll,  Vollziehungsprotokoll.  (RGBl.  1887, 
S.  493  bis  516.)  Abgeschlossen  ist  das  Übereinkommen  von  folgenden  Staaten: 
Belgien,  deutsches  Reich,  Frankreich,  Grossbritannien,  Haiti,  Italien,  Liberia 
(nicht  ratifiziert),  Schweiz,  Tunis,  Spanien.  Beigetreten  ist:  Luxemburg,  Be- 
kanntmachung vom  30.  Juli  1888  RGBl.  S.  227.  Vergl.  Ausftihrungsgesetz  vom 
4.  April  1888,  S.  139.  —  Besondere  noch  in  Kraft  stehende  Verträge,  vergl. 
internationale  Übereinkunft  Art.  15  — ,  über  den  Schutz  von  Werken  der 
Litteratur  und  Kunst  sind  abgeschlossen  zwischen  dem  deutschen  Reiche 
und  den  folgenden  Staaten:  Belgien  12.  Dezember  1883,  RGBl.  1884,  S.  173, 
Art.  13;  Frankreich  19.  April  1883,  RGBl.  8.  269,  Art.  13;  Grossbritannien 
2.  Juni  1886,  S.  237;  (vergl,  bezüglich  der  praktischen  Bedeutung  Allfeld 
a.a.O.  S.  427);  Italien  20.  Juni  1884,  RGBl.  S.  193,  Art.  13;  Schweiz 
13.  Mai  1869,  BGBl.  S.  264,  imd  Vertrag  vom  23.  Mai  1881,  RGBl  S.  171; 
Vereinigte  Staaten  von  Amerika  15.  Januar  1892,  ratif.  15.  April  1892, 
RGBl.  S.  473.     Vergl.   dazu  deutsches  Urhebergesetz  vom   11.  Juni  1870  §  62 


*)  Dambach  in  v.  HoltzendorfTs  Handbuch,  Bd.  3  (1874),  S.  1022  und  die  da- 
selbst angegebene  Litteratur.  Derselbe  in  den  Ergänzungen  4.  (Supplement-)  Band 
(1877)  S.  467.  —  Hugo  Meyer,  Lehrbuch  des  Strafrechts.  4.  Aufl.  Erlangen  1888. 
§  108  (99),  S.  781,  besonders  Note  1.  —  v.  Liszt,  Lehrbuch  (1892),  §§  124,  125,  S.  424. 
—  Streissler,  Das  Recht  für  Urheber,  Buchhandel  und  Presse.  I.  Rechtslexikon  für 
Urheber,  Buchhandel  und  Presse  in  den  Ländern  deutscher  Zunge.  H.  Die  inter- 
nationalen Urheberrechts-Gesetzgebungen  und  Konventionen.  Leipzig  1890.  —  C.  Da- 
vids ohn,  Die  Reichsgesetze  zum  Schutze  des  gewerblichen  geistigen  Eigentums  (in- 
dustrielle und  technische  Urhebergesetze):  1.  Das  Markenschutzffesetz  vom  30.  November 
1874.  2.  Das  Musterschutzgesetz  vom  11.  Januar  1876.  3.  Das  ratentgesetz  vom  7.  April 
1891  und  4.  Das  Gesetz,  betr.  den  Schutz  der  Gebrauchsmuster  vom  1.  Juni  1891. 
Mit  Einleitung  und  Erläuterungen  unter  Berücksichtigung  der  Rechtsprechung  des 
Reichsgerichts  und  Patentamts  sowie  einem  Sachregister.  Handbuch  für  Juristen, 
Gewerbetreibende  und  Techniker.  München  1891.  Vergl.  die  Litteraturnach weise 
S.  V  daselbst.  —  Staudinger,  Sammlung  von  Staats  vertragen  des  deutschen  Reichs 
über  Gegenstände  der  Rechtspflege.  Textausgabe  mit  Anmerkungen,  Sachregister  u.  s.  w. 
Nördlingen  1882.  II.  Abschnitt,  S.  144  —  182.  1.  Ergänzungsband.  Nördlingen  1884. 
II,  S.  18—42.  —  Stenglein,  Appelius  und  Kleinfeller,  Die  strafrechtlichen  Neben- 
gesetze. Berlin  1892/93.  I.Abteilung:  Gesetze  zum  Schutze  des  geistigen  Eigentums , 
S.  1.  —  Allfeld,  Die  Reichsgesetze  betr.  das  litterarische  und  artistische  Urheber- 
recht.   München  1893. 

Strafgesetzgebnng  der  Gegenwart.  I.  4 


50      Deutsches  Beieh.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Kelches. 


und  Gesetz  vom  6.  Januar  1876  §  21  bezüglich  Österreichs,  Liechtensteins  und 
Luxemburgs.  Vergl.  auch  die  Obersichtstabelle  bei  Allfeld  a.  a.  O.  S.  432. 
IIL  Gesetz,  betr.  den  Schutz  der  Photo graphieen  gegen  unbefugte  Nach- 
büdung  vom  10.  Januar  1876,  RGBl.  8.  8  §  9.  Vergl.  dazu  Übereinkunft,  betr.  die 
Bildujdg  eines  internationalen  Verbandes  zum  Schutze  von  Werken  der  Litteratur 
und  Kunst  vom  9.  September  1886,  RGBl.  1887,  S.  493,  Schlussprotokoll  No.  1 
(S.  508).  Im  deutschen  Reiche  gehören  Photographieen  nicht  zu  den  Werken 
der  Kunst.  (Vergl.  auch  noch  Vertrag  mit  Italien  vom  20.  Juni  1884,  Schluss- 
protokoll No.  4,  RGBl.  1884,  S.  210.)  Der  Photographieenschutz  ist  den  Bürgern 
der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  durch  Übereinkommen  vom  15.  Januar 
und  15.  April  1892,  RGBl.  S.  473,  Art.  1  zugesichert.  —  Photographische  Auf- 
nahmen, welche  vor  dem  1.  Juli  1876  landesgesetzlich  gegen  Nachbildung 
geschützt  waren,  behalten  diesen  Schutz,  jedoch  mit  der  vom  Landesgesetze 
vorgesehenen  räumlichen  Beschränkung;  §  12  des  Gesetzes.  Das  bayerische 
Gesetz  zum  Schutze  der  Urheberrechte  an  litterarischen  Erzeugnissen  und 
Werken  der  Kunst  vom  28.  Juni  1865  (bayer.  GBl.  S.  65),  bezieht  sich  auch 
auf  Photographieen.  Nach  Art.  12  dieses  Gesetzes  ist  der  Nachdruck  während 
der  ganzen  Lebenszeit  des  Urhebers  und  während  der  ersten  30  Jahre  nach 
dessen  Tode  verboten  und  durch  Art.  37  mit  Strafe  bedroht.  Vergl.  auch 
noch  Art.  38,  61,  62  und  66  dieses  Gesetzes.  Nach  dem  letzten  Artikel  kam 
der  Schutz  allen  Werken  der  im  Gebiete  des  (früheren)  deutschen  Bundes 
sich  ständig  aufhaltenden  Urheber,  sowie  den  bei  einem  im  Bundesgebiete 
ansässigen  Verleger  erschienenen  Werken  zu,  also  auch  den  österreichischen 
Photographen.  Vergl.  hierüber  Staudinger,  Die  Einführung  norddeutscher 
Justizgesetze  in  Bayern,  11.  Abtl.   1871,  Exkurs  XII. 

IV.  Zum  Schutze  des  sogenannten  gewerblichen  geistigen  Eigentums  hat 
das  deutsche  Reich  vier  Gesetze  erlassen  und  zahlreiche  Verträge  mit  andern 
Staaten  abgeschlossen,  welche  den  Angehörigen  dieser  Staaten  denselben 
Schutz  des  gewerblichen  geistigen  Eigentums  gewähren,  wie  den  Reichs- 
angehörigen. Geschützt  werden  im  deutschen  Reiche:  Zeichen,  welche  zur 
Unterscheidung  von  Waren  anderer  Gewerbtreibenden  auf  den  Waren  selbst 
oder  auf  deren  Verpackung  angebracht  sind  (Marken),  gewerbliche  Geschmacks- 
Muster  und  Modelle  (Musterschutz),  neue  Erfindungen,  welche  eine  gewerbliche 
Verwertung  gestatten  (Patentschutz)  und  (körperliche)  Modelle  von  Arbeits- 
gerätschaften oder  Gebrauchsgegenständen  oder  Teilen  derselben,  sofern  sie 
dem  Arbeits-  oder  Gebrauchszwecke  durch  eine  neue  Gestaltung,  Anordnung 
oder  Vorrichtung  dienen  (Gebrauchsmusterschutz).  1.  Gesetz  über  den  Marken- 
schutz vom  30.  November  1874,  RGBl.  S.  143  §  14  (statt  StGB.  §  287),  §  15  (Buss- 
anspruch), §  17.  Vergl.  §  20.  Gegenseitiger  Markenschutz  ist  vereinbart 
zwischen  dem  deutschen  Reich  und  folgenden  Staaten:  Nordamerika  Kon- 
sularkonvention vom  11.  Dezember  1871,  RGBl.  1872,  S.  95,  Art.  17;  Belgien, 
Bekanntmachung  vom  13.  September  1875,  S.  301;  Brasilien,  Bekanntmachung 
vom  28.  Februar  1877,  S.  406;  Dänemark,  Bekanntmachung  vom  4.  April 
1879,  S.  123;  Frankreich,  Deklaration  vom  8.  Oktober  1873,  S.  365;  Gross- 
britannien, Deklaration  vom  14.  April  1875,  S.  199;  Italien,  Übereinkunft 
vom  18.  Januar  1892,  S.  293;  Luxemburg,  Bekanntmachung  vom  2.  August 
1883,  S.  268;  Niederlande,  Bekanntmachung  vom  19.  Januar  1882,  S.  5; 
Österreich-Ungarn,  Übereinkommen  über  den  gegenseitigen  Patent-,  Muster- 
und  Markenschutz  vom  6.  Dezember  1891,  RGBL  1892,  S.  289;  Portugal, 
Handels-  und  SchiflFahrtsvertrag  vom  2.  März  1872,  S.  254  Art.  10;  Rumänien, 
Übereinkommen  vom  27.  Januar  1882,  S.  7;  Russland,  Bekanntmachung  vom 
18. 'August  1873,  S.  337;  Schweden  und  Norwegen,  Bekanntmachung  vom 
11.  Juli  1872,  S.  293;  Schweiz,  Bekanntmachung  vom  31.  Januar  1892,  S.  304; 


§  27.    Press-  und  Vereiiisstrafrecht.  51 


Serbien,  Übereinkommen  vom  7.  Juni  1886,  S.  231;  Spanien,  Handels-  und 
SchiflFahrtsvertrag  vom  12.  Juli  1883,  S.  307  Art.  7,  (vergl.  Abkommen  vom 
28.  August  1886,  S.  295  und  Deklaration  vom  16.  Januar  1892,  S.  307); 
Venezuela,  Bekanntmachung  vom  8.  Dezember  1883,  S.  339.  Vergl.  noch 
Handels-  und  SchiflFahrtsvertrag  mit  Griechenland  vom  9.  Juli  1884,  RGBL 
1886,.  S.  23  Art.  7;  Handels-,  SchiflFahrts-  und  Konsularvertrag  mit  der  Do- 
minikanischen Republik  vom  30.  Januar  1885,  RGBl.  1886,  S.  3  Art.  V; 
Freundschafts-  und  Handelsvertrag  mit  der  Südafrikanischen  Republik 
vom  22.  Januar  1885,  RGBl.  1886,  S.  209  Art.  6.  Auch  die  Verträge  mit 
Ecuador  vom  28.  Mäi-z  1887,  RGBl.  1888,  S.  136  Art.  II,  mit  Paraguay 
vom  21.  Juli  1887,  RGBl.  1888,  S.  178  Art.  2;  mit  Guatemala  vom  20.  Sep- 
tember 1887,  RGBl.  1888,  S.  238  Art.  5;   mit  Honduras  vom  12.  Dezember 

1887,  RGBl.  1888,  S.  262  Art.  5;  die  Konvention  mit  Salvador  vom  12.  Januar 

1888,  RGBl.  1889,  S.  191,  dazu  RGBl.  1872,  S.  377  Art.  IV  dürften  auf  den 
Markenschutz  bezogen  werden  können,  sobald  in  den  genannten  Ländern  ein 
solcher  gesetzlich  eingeführt  wird.  2,  Gesetz,  betr.  das  Urheberrecht  an 
Mustern  und  Modellen,  vom  11.  Januar  1876,  S.  11  §  14.  (Dieses  Gesetz 
bezieht  sich  nur  auf  Geschmacksmuster  und  zwar  auf  Flächen-  wie  kör- 
perliche Muster.)  3.  Gesetz,  betr.  den  Schutz  von  (körperlichen)  Gebrauchs- 
mustern vom  1.  Juni  1891,  S.  290  §  10  (§  11  Busse).  Den  Musterschutz 
betreffen  folgende  Staatsverträge,  die  wohl  ebenso  auf  Gebrauchs-  wie  auf 
Geschmacksmuster  zu  beziehen  sind ^):  Konsularkonvention  mit  Nord-Amerika 
vom  11.  Dezember  1871,  RGBl.  1872,  S.  95  Art.  17;  Übereinkunft  mit 
Belgien  vom  12.  Dezember  1883,  RGBl.  1884,  S.  188;  Deklaration  des 
Art.  6  des  Handelsvertrages  vom  30.  Mai  1865  zwischen  dem  Zollverein  und 
Grossbritannien  vom  14.  April  1875,  8.  199;  Handels-  und  Schiflfahrts- 
vertrag  mit  Portugal  vom  2.  März  1872,  S.  254  Art.  10;  Übereinkommen 
mit  Italien  vom  18.  Januar  1892  S.  293;  Handels-  u.  s.  w.  Vertrag  mit 
Spanien  vom  12.  Juli  1883,  S.  307,  Art.  7;  Übereinkommen  mit  Österreich 
vom  6.  Dezember  1891,  RGBl.  1892,  S.  289;  Serbien,  Übereinkommen  vom 
3.  Juli  1886,  RGBl.  1887,  S.  151.  Die  Bekanntmachung  vom  11.  Juli  1872, 
S.  293  erstreckt  den  Musterschutz  unter  Bezugnahme  auf  §  287  des  StGB, 
auf  Schweden  und  Norwegen.  Allein  dieser  Paragraph  bezieht  sich  so 
wenig  wie  der  an  seine  Stelle  getretene  §  14  des  Markenschutzgesetzes  vom 
30.  November  1874  auf  den  Schutz  von  Mustern  und  Modellen.  Vergl.  auch 
den  Vertrag  mit  Griechenland,   oben  I  a.  E.     4.   Patentgesetz  vom   7.  April 

1891,  S.  79  §§  36  (37),  39,  40.^)  Vom  alten  Patentgesetze  vom  25.  Mai  1877, 
S.  501,  können  möglicher  Weise  noch  die  Übergangsbestimmungen  §§  41 — 45, 
die  nicht  aufgehoben  sind,  zur  Anwendung  kommen.  Vergl.  Handels-  u.  s.  w. 
Verti'ag  mit  Spanien  vom  12.  Juli  1883,  S.  307  (Deklaration  vom  16.  Januar 

1892,  S.  307)  Art.  7.  Auch  die  mehrfach  erwähnten  Verträge  mit  Öster- 
reich und  Italien  beziehen  sich  auf  den  Patentschutz. 

§  27.   Press-  und  Verelnsstrafrecht. 

I.«)    Pressgesetz    vom    7.  Mai  1874,    RGBl.  S.  65,   §§  5,   14,  16  Abs.  2, 
18,  19.     Hinsichtlich  der  Verantwortlichkeit  für  die  durch  die  Presse  begangenen 


^)  In  den  Verträgen  mit  Österreich  und  Italien  ist  das  ausdrücklich  gesagt. 

^)  Vergl.  Landgraf  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Er- 
gänzungsband 1  (1892)  S.  97,  besonders  §  9,  S  74. 

^  Marquardsen,  Das  Reichspressgesetz  u.  s.  w.  mit  Einleitung  und  Kommentar. 
Berlin  1875.  —  Schwarze,  Das  Reichspressgesetz  u.  s.  w.  Erläutert.  2.  Aufl.  Erlangen 
1885.  —  Koller,  Das  Reichspressgesetz  u.  s.  w.   Unter  Berücksichtigung  der  auf  das 

4» 


52      Deutsches  Reich.  — -  Die  Spezialstrafgjesetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


strafbaren  Handlungen  §§  20, 21 .  — Verjährung  §  22.  Auf  die  besondere  Beschlag- 
nahme von  Druckschriften  beziehen  sich  §§  23—  29,  darunter  §  28  Abs.  2  mit  einer 
Straf  bestimmung.  In  Bezug  auf  §  20  und  sein  Verhältnis  zu  §  193  des  Straf- 
gesetzbuches ist  namentlich  zu  vergleichen  die  Entscheidung  der  Vereinigten 
Strafsenate  des  Reichsgerichtes  vom  6.  Juni  1891  in  den  Entscheidungen 
Bd.  22,  S.  65.  Im  §  30  werden  mehrere  Vorbehalte  zu  Gunsten  der  Landes- 
gesetzgebung gemacht.  Vergl.  preuss.  Gresetz  über  die  Presse  vom  12.  Mai 
1851,  GS.  S.  273,  bayer.  Ausführ.-Gesetz  vom  18.  August  1879,  Art.  12; 
s.  unten  §  42  a.  E. 

II.  Das  Vereinsstrafrecht  ist  von  der  Landesgesetzgebung  geregelt.^) 
Das  Reichssozialistengesetz  vom  21.  Oktober  1878,  S.  351,  ist  am  1.  Oktober 
1890  ausser  ELraft  getreten.  Für  Übertretungen  des  Gesetzes,  welche  vor 
diesem  Tage  begangen  worden  sind,  behauptet  die  Entscheidung  des  Reichs- 
gerichts vom  15.  Januar  1891  (Bd.  21,  S.  294)  fortdau^ernde  Anwendbarkeit. 
Die  Entscheidung  dürfte  trotz  aller  dafür  beigebrachten  Gründe  mit  §  2  Abs.  2 
des  Strafgesetzbuches  nicht  vereinbar  sein. 

III.  Vergl.  oben  §  23,  I  2,  3. 

§  28.   Strafrechtlicher  Schatz  der  Einnahmen  des  Reichs. 

(Finanzstrafrecht.) 

I.  ZoUstrafrocht.-)  Lange  vor  Gründung  des  norddeutschen  Bundes  und 
des  deutschen  Reiches  bestand  unter  der  Mehrzahl  der  deutschen  Staaten  eine 
Zollvereinigung,  die  allerdings  nur  einen  völkerrechtlichen  Charakter  hatte. 
(Beginn:  1.  Januar  1834;  Erneuerung:  1841,  1853,  1865.)  Das  Organ 
dieser  Vereinigung,  die  Generalzollkonferenz,  war  über  leitende  Grundsätze  in 
Betreff  der  Bestrafung  von  Zollvergehen  übereingekommen.  Erst  der  Verti'ag 
zwischen  dem  norddeutschen  Bunde,  Bayern,  Württemberg,  Baden  und  Hessen 
vom  8.  Juli  1867  (BGBl.  S.  81)  schuf  die  staatsrechtliche  Grundlage  für 
eine  einheitliche  Gesetzgebung.  Nach  Artikel  18  dieses  Vertrages  blieb  das 
Begnadigungs-  und  Strafverwandlungsrecht  jedem  Vereinsstaate  in  seinem 
Gebiete  vorbehalten.  Im  Jahre  1869  wurde  für  den  deutschen  Zollverein  das 
Vereinszollgesetz  erlassen,  welches  ein  ausführliches  Zollstrafrecht  aufstellte; 
8.  nachher  Ziffer  1.  Nach  der  Reichsverfassung,  Artikel  33,  bildet  Deutsch- 
land ein  Zoll-  und  Handelsgebiet,    von   welchem   die    wegen    ihrer   Lage   zui' 

Presswesen  bezüglichen  Bestimmungen  sonstiger  Reichsgesetze,  sowie  mit  Benutzung 
der  Ergebnisse  der  Rechtsprechung  und  der  Litteratur  erläutert.  Nördlingen  1888.  — 
Bern  er,  Lehrbuch  des  deutschen  Fressrechts.  Leipzig  1876.  —  v.  Liszt,  Das  deutsche 
Reichspressrecht  unter  Berücksichtigung  der  Litteratur  und  der  Rechtsprechung  u.  s.  w. 
systematisch  dargestellt.  Berlin  und  Leipzig  1880.  —  v.  Liszt,  Lehrbuch  (1892)  §42 
S.  187,  §  184  S.  637.  —  L.  JoUv  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts 
Bd.  2,  S.  301. 

*)  Vergl.  L.  Jolly  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  2, 
S.  666;  sodann  z.  B.  baver.  Gesetz,  die  Versammlungen  und  Vereine  betr.  vom 
26  Febr.  1850,  GBl.  S.  53,  Art.  20—24;  preussisches  Gesetz  über  die  Verhütung  eines 
die  gesetzliche  Freiheit  und  Ordnung  gefährdenden  Missbrauchs  des  Versammlungs- 
und Vereinigungsrechtes  vom  11.  März  1850,  GS.  S.  277  §§  12—19.  (Verordnung 
vom.  25.  Juni  1867,  GS.  S.  921  Art.  IL).  —  Preuss.  Gesetz..betr.  die  Genehmigung  zu 
Schenkungen  und  letztwilligen  Zuwendungen,  sowie  zur  Übertragung  von  unbeweg- 
lichen Gegenständen  an  Korporationen  und  andere  juristische  Personen  vom  23.  Fe- 
bruar 1870,  GS.  S.  118,  §  5. 

^)  Lobe,  Das  deutsche  Zollstrafrecht.  Die  zoUstraf^echtlichen  Vorschriften  des 
deutschen  Reichs  unter  besonderer  Berücksichtigung  ihrer  Beziehungen  zum  Straf- 
gesetzbuche und  zur  Strafprozessordnung,  sowie  der  Rechtsprechung  des  Reichs- 
gerichts erläutert;  2.  vollständig  neu  bearbeitete  Aufl.  Leipzig  1890.  —  Dr.  v.  Mayr 
in  V.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  2,  S.  973  ff. 


§  28.    Strafrechtlicher  Schatz  der  Einnahmen  des  Reichs.  53 


Einschliessung  in  die  Zollgrenze  nicht  geeigneten  einzelnen  Gebietsteile  aus- 
geschloBsen  sind.  Das  deutsche  Zollgebiet  wird  jetzt  (Nov.  1892)  gebildet  vom 
ganzen  deutschen  Reich  mit  Ausschluss  von  68,7  qkm  und  12288  Einwohnern. 
(Teile  von  Hamburg,  Bremen,  Baden,  sowie  Helgoland.)  Von  ausscrdeutschen 
Oebieten  gehören  zum  Zollverein  das  Grossherzogtum  Luxemburg,  die  tiro- 
lische  Gemeinde  Jungholz  und  die  Gemeinde  Mittelberg  in  Vorarlberg 
(Österreich).  *)  Vergl.  Gesetz,  betr.  die  Sicherung  der  Zollvereinsgrenze  in  den 
vom  Zollgebiete  ausgeschlossenen  hamburgschen  Gebietsteilen  vom  1.  Juli 
1869,  BGBl.  S.  370  Art.  1—12,  lö  (Art.  18  Abs.  2,  3)  und  Gesetz,  betr.  die 
Sicherung  der  gemeinschaftlichen  Zollgrenze  in  dem  vom  Zollgebiete  ausge- 
schlossenen bremischen  Gebietsteilen  vom  28.  Juni  1879,  RGBl.  S.  159; 
femer  Vertrag  mit  Österreich-Ungarn  vom  2.  Dezember  1890,  RGBl.  1891,  S.  59; 
«Schlussprotokoll  III  No.  6,  IV  No.  1,  3.  Nach  Artikel  9  dieses  Vertrages 
können  Zuwiderhandlungen  gegen  die  deutschen  Zoll-  und  Steuergesetze,  die 
auf  österreichischem  Boden  begangen  sind,  durch  Strafbescheide  der  in  Öster- 
reich amtierenden  bayerischen  Verwaltungsbehörden  erledigt  werden,  sofern 
der  anwesende  Beschuldigte  sich  unterwirft  und  bezahlt  oder  Sicherheit  leistet. 
In  diesem  Falle  verbleiben  die  Geldstrafe  und  die  eingezogenen  Gegenstände 
der  bayerischen  Staatskasse,  während  sie  der  österreichischen  Staatskasse  zu- 
fliessen,  wenn  der  Kontravenient  auf  Entscheidung  durch  die  (österreichischen) 
Gerichte  angetragen  hat.  Die  österreichischen  Gerichte  verfahren  nach  öster- 
reichischem Strafprozessrecht,  haben  aber  die  im  deutschen  Reiche  und  in 
Bayern  geltenden  Straf bestimmungen  anzuwenden.  Schlussprotokoll  IV,  1 
(S.  67).  In  Luxemburg  ist  das  (deutsche)  Vereinszollgesetz  durch  Gesetz 
vom  11.  Dezember  1869  publiziert  worden. 

1.  Das  Vereinszollgesetz  ist  unter  Mitwirkung  des  Bundesrates,  des 
deutschen  Zollvereines  und  des  deutschen  Zollparlamentes  am  1.  Juli  1869 
erlassen  und  im  Bundesgesetzblatt  des  norddeutschen  Bundes  No.  30,  S.  317 
am  16.  Juli  1869,  sowie  in  den  anderen  Staaten  des  Zollvereines  publiziert 
worden.  Die  Abteilung  XX  S.  355  AT.  enthält  in  den  §§  134 — 165  das  deutsche 
2Sollstrafrecht.  Und  zwar  §  134  Begriff  und  Strafe  der  Kontrebande;  §  135 
Begriff  und  Strafe  der  Defraudation;  §§  136  — 139  Thatbestand  der  Kontre- 
bande und  der  Defraudation  (Rechtsvermutungen);  §§  140 — 143  Rüekfalls- 
strafen;  §§  144 — 148  Kontrebande  und  Zolldefraudation  unter  erschwerenden 
Umständen;  §  149  Strafe  der  Teilnahme;  §  150  Art  der  Vollstreckung  der 
Freiheitsstrafen  und  deren  Folgen  (jetzt  gilt  Reichsrecht);  §§  151,  152  Ordnungs- 
strafen; §  153  subsidiarische  Vertretungsverbindlichkeit  dritter  Personen;*) 
§§  154 — 157  Konfiskation;  §§  158, 159  Zusammentreffen  mit  anderen  Handlungen; 
§  160  Bestechung;  §  161  Widersetzlichkeit;  §  162  Umwandlung  der  G^ld-  in 
Freiheitsstrafe  (RStGB.  §§  28—30);  §  163  Unbekanntschaft  mit  den  Zollgesetzen; 
§  164  Verjährung;  §  165  hinsichtlich  des  Strafverfahrens  Verweisung  auf  die 
Landesgesetze.  Jetzt  auch  Strafprozessordnung  §§  459 — 469.  2.  Gesetz  vom 
23.  Juni  1882  betr.  die  Abänderung  des  Zolltarifgesetzes  vom  15.  Juli  1879, 
RGBl.    1882,    S.  59    §  1  a.  E.      3.  Gesetz,   betr.  die   Statistik   des  Waren- 

*)  Otto  Hühners  geographisch -statistische  Tabellen  aller  Länder  der  Erde, 
herausgegeben  von  Prof.  v.  Jurascheck.  Ausgabe  1892,  S.  17.  Vergl.  Laband, 
Das  Staatsrecht  des  deutschen  Reichs  (1B91),  Bd.  2,  S.  899  und  Ey sehen,  Das  Staats- 
recht des  Grossherzogtums  Luxemburg  im  Handbuch  des  öiTentlichen  Rechts  (Mar- 
quardsen),  Bd.  4,  Halbband  1,  Abt.  1,  S.  234. 

«)  Vergl.  dazu  v.  Liszt,  Lehrbuch,  5.  Aufl.  1892,  §  59,  Note  5,  S.  249  und  die 
daselbst  Citierten.  Femer:  Julius  Haimann,  Die  rechtliche  Natur  der  subsidiarischen 
Verbindlichkeiten  dritter  Personen  nach  den  Zoll-  und  Steuergesetzen  des  deutschen 
Reiches.    München  1892. 


54       Deutsches  Reich   —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


verkehre  des  deutschen  Zollgebietes  mit  dem  Auslande  vom  20.  Juli  1879, 
S.  261,  §  17,  vergl.  §11.  4.  Schon  auf  Grund  des  Handelsvertrages  und 
des  Zollkartells  mit  Österreich  vom  23.  Mai  1881  war  am  17.  Juli  1881 
(RGBl.  8.  247)  ein  Keichsgesetz  erlassen  worden,  welches  die  Übertretung  der 
österreichisch -ungarischen  Zollgesetze  unter  Strafe  stellte.  Vergl.  §§  2 — 5 
dieses  Gesetzes.  Jetzt  ist  in  Verbindung  mit  dem  deutsch -österreichischen 
Handelsvertrage  vom  6.  Dezember  1891  ein  neues  Zollkartell  abgeschlossen 
worden  (RGBl.  1892,  S.  63),  welches  in  zahlreichen,  teils  strafrechtlich,  teils 
strafprozessual  bedeutsamen  Verabredungen  das  deutsche  Reich  verpflichtet, 
Österreich-Ungarn  gegen  die  Verletzung  seiner  Zollgesetze  zu  schützen.  Vergl. 
namentlich  die  §§  12  — 16  des  neuen  Zollkartells.  5.  Vergl.  auch  Handels- 
und Zoll  vertrag  zwischen  dem  deutschen  Reich  und  Belgien  vom  6.  Dezember 
1891,  RGBl.  1892,  S.  241,  Bestimmungen  über  die  Zollabfertigung  u.  s.  w. 
S.  276  Art.  19. 

II.  Nach  Artikel  35  der  Reichsverfassung  hat  das  Reich  ausser  der  Zoll- 
gesetzgebung auch  die  Gesetzgebung  über  die  Besteuerung  des  im  Bundes- 
gebiete gewonnenen  Salzes  und  Tabaks,  des  daselbst  bereiteten  Branntweins 
und  Bieres,  des  aus  Rüben  oder  anderen  inländischen  Erzeugnissen  dargestellten 
Zuckere  und  Syrups,  sowie  über  den  gegenseitigen  Schutz  der  in  den  einzelnen 
Staaten  erhobenen  Verbrauchsabgaben  gegen  Hinterziehungen.  Für  Bayern, 
Württemberg  und  Baden  war  die  Besteuerung  des  inländischen  Branntweins 
und  Bieres  der  Landesgesetzgebung  vorbehalten  worden.  Thatsächlich  beruht 
der  gegenseitige  Schutz  der  Landesverbrauchsabgaben  (Übergangssteuem) 
überall  noch  auf  Landesgesetzen,  namentlich  in  Preussen  auf  Gesetz  vom 
23.  Januar  1838,  Bayern  vom  17.  November  1837,  Sachsen  vom  3.  April 
1838,  Württemberg  vom  15.  Mai  1838,  Baden  vom  3.  August  1837,  Hessen 
vom  9.  März  1838.  Besondere  bedeutsam  ist  das  für  Elsass-Lothringen 
'erlassene  Gesetz  vom  30.  Juni  1873.*)  Das  süddeutsche  Privileg  für  den 
Branntwein  ist  von  den  betreffenden  Staaten  aufgegeben  worden  (s.  unten  No.  4), 
es  erstreckt  sich  nur  mehr  auf  das  Bier.  Hinsichtlich  des  strafrechtlichen 
Schutzes  der  Reichsverbrauchsabgaben  kommen  folgende  Gesetze  in  Betracht: 
1.  Gesetz,  betr.  die  Besteuerung  des  Tabaks  vom  16.  Juli  1879,  S.  24ö, 
§§  32—47.  Vergl.  dazu  Gesetz  vom  5.  April  1885,  S.  83.*)  2.  Gesetz,  die 
Besteuerung  des  Zuckers  betr.,  vom  31.  Mai  1891,  S.  295,  §§  43—56,  §§  58 
bis  64.*)  Geltimg  vom  1.  August  1892  an.  Von  diesem  Tage  ab  sind  alle 
gesetzlichen  Vorechriften  aufgehoben,  welche  über  die  Besteuerung  des  Zuckers 
in  dem  Geltungsbereiche  des  Gesetzes  zur  Zeit  bestehen.  Für  Gebietsteile, 
welche  am  1.  August  1892  ausserhalb  der  Zollgrenze  lagen,  tritt,  falls  die- 
selben in  diese  Grenze  eingeschlossen  werden,  mit  dem  Tage  der  Einschlies- 
sung  das  Gesetz  in  Kraft:  §  66.  Die  §§  43 — 46  bestimmen  den  „Begriff  der 
Defraudation  der  Zuckersteuer".  Vergl.  namentlich  §  45:  „Der  Deflraudation 
der  Zuckereteuer  wird  es  gleichgeachtet,  wenn  jemand  Zucker,  von  dem  er 
weiss  oder  den  Umständen  nach  annehmen  muss,  dass  hinsichtlich  desselben 
eine  Defraudation  der  Zuckereteuer  verübt  worden  ist,  erwirbt  oder  in  Umsatz 
bringt."  Strafe  der  Defraudation  der  Zuckersteuer  §  47.  Rückfallsstrafen 
§§  48,  49.  Erschwerende  Umstände  §  50.  Ordnungsstrafen  §§  51—53.  Strafen 
für    die    Inhaber    oder    Leiter    von    Zuckerfabriken   §§  54  —  56.      Besondere 


M  V.  Mayr  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  2,  S.  683. 

*)  Vergl.  V.  Mavr  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  2, 
S.  597,  besonders  §  11,*^  S.  601. 

*)  Vergl.  dazu  die  Darstellung  von  v.  Mayr  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des 
Verwaltungsrechts  Bd.  2,  S.  982,  sowie  im  Ergänzungsband  1  (1892),  S.  109,  besonders 
§  14,  S.  116. 


§  28.    Strafrechtlicher  Schutz  der  Einnahmen  des  Reichs.  55 


bemerkenswert  §  56:  Übertragung  der  strafrechtlichen  Verantwortlichkeit 
möglich.  §  58:  Subsidiarische  Vertretungsverbindlichkeit  dritter  Personen 
(Haftung  für  die  gegen  Verwalter,  Gewerbegehilfen  und  gewisse  Hausgenossen 
erkannten  Geldstrafen  im  Falle  von  culpa  in  eligendo).  Der  Schlusssatz  von  I 
stellt  eine  praesumtio  juris  in  Bezug  auf  die  Fahrlässigkeit  auf.  §  59:  Zu- 
sammentreffen mehrerer  strafbarer  Handlungen.  §  60:  Umwandlung  der  Geld- 
in Freiheitsstrafen.  §  61:  Strafveijährung.  §§  62,  64:  Strafverfahren.  §  6a: 
Zufallen  der  Geldstrafen.  •!•  Gesetz,  betr.  die  Erhebung  einer  Abgabe  von 
Salz,  vom  12.  Oktober  1867,  S.  41.  Geltung:  I.Januar  1868.  §§  11—18; 
vergl.  §  19.^)  Zunächst  für  den  norddeutschen  Bund  erlassen,  ist  das  Gesetz 
mit  geringen  Veränderungen  auch  in  Baden,  Südhessen,  Bayern,  Württemberg 
und  Elsass-Lothringen  eingeführt.  4.  Gesetz,  betr.  die  Besteuerung  des  Brannt- 
weins, vom  24.  Juni  1887,  S.  253*),  §§  17—24,  26—35,  37,  40,  42,  III  (§  25 
ist  aufgehoben  durch  Gesetz  vom  7.  April  1889,  S.  49);  dazu  Bundesgesetz 
wegen  Besteuerung  des  Branntweins  in  verschiedenen  zum  norddeutschen 
Bunde  gehörenden  Staaten  und  Gebietsteilen  vom  8.  Juli  1868,  BGBl.  S.  384, 
§§  50  —  68;  Einf.-Ges.  z.  StGB.  §  7  (betreffs  der  Verjährung);  Verordnung 
betr.  die  Besteuerung  des  Branntweins  im  Grossherzogtum  Baden  vom  9.  Sep- 
tember 1887,  S.  485;  in  Württemberg  vom  23.  September  1887,  S.  487;  in 
den  hohenzollernschen  Landen  vom  25.  September  1887,  S.  489;  in 
Bayern  vom  27.  September  1887,  S.  491,*)  Gesetz,  betr.  die  Steuerfreiheit 
des  Branntweins  zu  gewerblichen  Zwecken  vom  19.  Juli  1879,  S.  259,  §§  2 — 4. 
Vergl.  dazu  Gesetz  vom  24.  Juni  1887,  §  47  (RGBl.  S.  271).  5.  Gesetz  wegen 
Erhebung  der  Brausteuer  vom  31.  Mai  1872,  S.  153*),  §§  27—42.  Vergl. 
dazu  Einf.-Ges.  z.  StGB.  §  7  (betreffs  der  Verjährung).  Bezieht  sich  nicht 
(vergl.  oben  II,  Einl.  und  §13  S.  31)  auf  Bayern,  Württemberg  und  Baden; 
femer  nicht  auf  Elsass-Lothringen  (Ges.  vom  25.  Juni  1873,  S.  161,  §  4); 
sodann  nicht  auf  die  dem  bayerischen  Biersteuersysteme  angeschlossenen  Ge- 
biete des  grossherzoglich  sächsischen  Vordergerichts  Ostheim  und  des  Sachsen- 
Koburg-Gothaischen  Amtes  Königsberg.*) 

III. ^)  Strafschutz  der  Beichsstempelabgaben.  L  Gesetz,  betr.  den 
Spielkartenstempel,  vom  3.  Juli  1878,  S.  133,  §§  10—20,  25,  26.  2.  Gesetz, 
betr.  die  Wechselstempelsteuer  im  norddeutschen  Bund^,  vom  10.  Juni 
1869,  Bundesgesetzblatt  S.  193.  (Geltung  in  Südhessen,  Baden,  Württem- 
berg  vom    1.  Januar    1871,    in    Bayern    vom    1.  Juli    1871,    in    Elsass- 


*)  Vergl.  V.  Mavr  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  2, 
S.  396,  besonders  §  10,  S.  399. 

^)  Vergl.  v.  Mayr  in  V.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  1,  S.  232. 

')  Der  Weg,  den  Bayern  bei  Einführung  der  Reichsbranntwein gesetzgebung 
einschlug,  dürfte  staatsrechtlich  als  mustergültig  zu  bezeichnen  sein.  §47  des  Reichs- 
gesetzes vom  24.  Juni  1887  machte  die  Geltung  des  Gesetzes  in  den  zur  Branntwein- 
steuergemeinschaft nicht  gehörenden  Staaten  von  deren  Zustimmung  abhängig.  Darauf 
liess  sich  die  bayerische  Staatsregierung  durch  ein  mit  dem  Landtage  vereinbartes 
Gesetz  zu  dieser  Zustimmung  ermächtigen.  Bayer.  Gesetz  vom  27.  September  1887; 
GVBl.  S.  547;  sie  gab  dann  die  Zustimmungserklärung,  worauf  der  Kaiser,  und  zwar 
in  Gemässheit  des  §  47  Abs.  3  des  Reichgesetzes,  dessen  Einführung  in  Bayern  ver- 
ordnete. Die  bayerische  Regierang  liess  hierauf  das  Gesetz,  nicht  um  es  zu  publi- 
zieren, sondern  zur  Benachrichtigung  des  Publikums  abdrucken.  Vergl.  auch  Lab  and, 
Das  Staatsrecht  des  deutschen  Reichs,  Bd.  2,  S.  919. 

Vergl.  V.  Mayr  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  1,  S.  240. 
Vergl.  Lab  and;  Das  Staatsrecht  des  deutschen  Reichs,  Bd.  2,  S.  924. 

•)  Hecht,  Die  Strafen  der  modernen  Stempelgesetze,  Stuttgart  1885.  —  Jacob 
in  V.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  2,  S.  470;  Xandgraf,  ebenda 
S.872,  besonders  §  6,  S.875;  derselbe  Bd.  1,  S.  227,  besonders  §  5  lit.  b,  S.  281,  Bd.  1, 
S.  671,  besonders  §3.  —  Olshausen,  Kommentar  zu  §  275,  Bemerkung  9  (4.  Aufl. 
1892)  S.  1085. 


:i 


56       Deutsches  Reich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung*  des  deutschen  Reiches. 


Lotbringen  vom  15.  Augast  1871.)  §§  15-^19.  (Dazu  Gesetz  vom  4.  Juni 
1879,  S.  151.)  Statt  §  23  des  Gesetzes:  Strafgesetzbuch  §§  275,  276,  364; 
vergl.  femer  Strafgesetzbuch  §  360  No.  4.  3.  Gesetz,  betr.  die  Erbebung  von 
Reichsstempelabgaben  (von  Aktien,  Renten  und  Schuldverschreibungen, 
Schlussnoten  und  Rechnungen,  Lotterielosen)  vom  I.Juli  1881,  S.  185;  dazu 
Abänderungsgesetz  vom  29.  Mai  1885,  S.  171;  neue  Fassung  des  ganzen  Ge- 
setzes Reichsgesetzblatt  1885,  S.  179,  §§  18—20,  25,  33,  36  (keine  Verwand- 
lung der  Geldstrafe  in  Freiheitsstrafe,  auch  keine  Subhastation  des  einem 
Deutschen  gehörenden  Grundstückes  nach  §  15  Abs.  3  des  unter  No.  2  und 
nach  §  36  des  unter  3  genannten  Gesetzes).  4.  Vergl.  Gesetz,  betr.  die  Inhaber- 
papiere mit  Prämien  vom  8.  Juni  1871,  S.  210,  §  3  (§  5),  §  6;  s.  oben  §  19 
IV.  S.  41.     5.  Vergl.  femer  oben  I  No.  3  (statistische  Gebühr)* 


§  29.  Verweigerung  und  Vemaehlässlgung  von  Amte-  und  Frozesspfliehten« 

I.  Zusammenhängend  mit  der  Heranziehung  des  Publikums  zur  ^Be- 
teiligung an  den  Geschäften  der  Rechtspflege  und  der  öffentlichen  Verwaltung 
(Selbstverwaltung)  haben  mehrere  Reichsgesetze  Strafdrohungen  gegen  die 
Verweigerung  oder  Versäumung  der  Amtspflicht  aufgestellt.  1.  Gerichts- 
verfassungsgesetz vom  27.  Januar  1877,  S.  41,  §§  56,  96  in  Bezug  auf 
SchöflTen  und  Geschworene.  Vergl.  dazu  StGB.  §  138.  2.  Konkursordnung, 
§  76  RGBl.  1877,  S.  366,  Ordnungsstrafe  gegen  den  Verwalter.  5.  Gesetz, 
betr.  die  Untersuchung  von  Seeunfällen  vom  27.  Juli  1877,  S.  549,  §  12 
Abs.  2,  §29  Abs.  1  a.  E.  4.*  Gewerbeordnung  (Fassung  von  1883),  §  lOOd 
No.  2  (RGBl.  S.  215).  5.  Unfallversicherangsgesetz  vom  6.  Juli  1884,  S.  69, 
§  49  Abs.  3,  vergl.  Gesetz  vom  5.  Mai  1886,  S.  132,  §  53  Abs.  3,  femer  Gesetz 
vom  13.  Juli  1887,  §  52  Abs.  4,  S.  350.  6.  Invaliditäts-  und  Altersversicherungs- 
gesetz vom  22.  Juni  1889,  §  60,  S.  116,  §  73  Abs.  3,  S.  120.  7.  Gesetz, 
betr.  die  Gewerbegerichte  vom  29.  Juli  1890,  S.  141,  §  21.  8.  Kranken- 
versicherungsgesetz vom  15.  Juni  1883  in  der  Fassung  des  Gesetzes  vom 
10.  April  1892,  §  6a  II,  26a  No.  2a.  Diese  Strafen  werden  nicht  auf  Straf- 
klage hin  im  Strafverfahren,  sondern  incidenter  in  dem  Verfahren  erkannt,  in 
welchem  der  Ungehorsam-  oder  die  Versäumung  vorkommt. 

II.  Straf drohungen  gegen  Zeugen  und  Sachverständige,  die  nicht  er- 
scheinen, oder  die  Aussage  dder  den  Eid  ohne  Grund  verweigern:  h  Civil- 
prozessordnung  vom  30.  Januar  1877,  S.  83,  §§  345  (346),  355,  374.  2.  Straf- 
prozessordnung vom  1.  Februar  1877,  S.  253,  §§  50,  69,  77.  Vergl.  zu  1 
und  2  StGB.  §  138.  3.  Gesetz  über  das  Postwesen  des  deutschen  Reichs 
vom  28.  Oktober  1871,  §  38,  S.  355.  4.  Hinsichtlich  der  Strafbarkeit  reni- 
tenter Zeugen  in  Disziplinarsachen  von  Reichsbeamten  vergl.  Lab  and,  das 
Staatsrecht  des  deutschen  Reichs,  2.  Aufl.,  2  Bd.  (1890),  §..90,  S.  462  No.  6. 
5.  Gewerbeordnung  §  21  No.  1  (RGBl.  1883,  S.  183).  6.  Unfallversicherungs- 
gesetz vom  6.  Juli  1884,  S.  69,  §50  Abs.  1  und  4;  dazu  Kaiserliche  Verord- 
nung vom  2.  November  1885,  S.  279,  §  17  (Verweisung  auf  die  Civilprozess- 
ordnung).  7.  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetz  vom  22.  Juni  1889, 
S.  97,  §  74  Abs.  2  und  5;  dazu  Kaiserliche  Verordnung  vom  1.  Dezember 
1890,  S.  193,  §  17  Abs.  3  (wie  bei  No.  6).  8.  Gesetz,  betr.  die  Gewerbe- 
gerichte vom  29.  Juli  1890,  S.  141,  §  24. 


§  80.  Ungebühr  vor  d.  Behörde.  Verletzung  d.  Pflicht  d.  Verhandlungsgeheimnisses.   57 


§  30.   Vngebfllir  Tor  der  BehSrde.    Yerletzmig  der  Pflicht  des  Yerhand- 

Inngsgelielinnlsses. 

I.  Reichs-  wie  Landesgesetze  geben  den  Behörden  und  Beamten  die 
Gewalt,  den  ihrer  Thätigkeit  und  ihren  Anordnungen  sich  entgegenstellenden 
Widerstand  sofort  thatsächlich  zu  übesrwinden  oder  überwinden  zu  lassen. 
Ausserdem  ist  den  (jerichten  und  gerichtliche  Punktionen  erfüllenden  Behörden 
eine,  wenn  auch  engbegrenzte  Strafgewalt  wegen  der  ihnen  entgegengebrachten 
Ungebühr  eingeräumt.  1.  Gerich tsverfassungsgesetz  §  178;  Strafprozessordnung 
§  162;  Kaiserliche  Verordnung  über  das  Verfahren  vor  den  auf  Grund  des 
TJnfallversicherungsgesetzes  errichteten  Schiedsgerichten  vom  2.  November  1885, 
S.  279,  §  12  Abs.  2;  desgl.  Verordnung  vom  1.  Dezember  1890,  S.  193  in 
Betreff  des  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes,  §  12  Abs.  2:  Gesetz, 
betr.  die  Gewerbegerichte  vom  29.  Juli  1890,  S.  141,  §  36  Abs.  3.  2.  Strafen: 
Gerichtsverfassungsgesetz  §  179  (Ordnungsstrafe  bis  zu  100  Mark  oder  Haft 
bis  zu  3  Tagen,  sofort  vollstreckbar  (!)  gegen  Parteien,  Beschuldigte,  Zeugen, 
Sachverständige,  Publikum),  §  180  (Ordnungsstrafe  bis  zu  100  Mark  gegen 
Rechtsanwälte  und  Verteidiger);  §182  giebt  die  gleiche  Gewalt  auch  einzelnen 
Richtern  bei  ihren  Amtshandlungen;  zu  vergl.  noch  §§  181,  183,  184.  Die 
von  der  französischen  Gesetzgebung  —  Code  d'instruction  crim.  Art.  181, 
505 — 508  —  den  Gerichten  eingeräumte  Befugnis,  über  strafbare  Handlungen, 
die  in  der  Sitzung  begangen  werden,  sofort  zu  verhandeln  und  zu  entscheiden, 
hat  die  deutsche  Gesetzgebung  den  Gerichten  nicht  eingeräumt.  Vergl.  nur 
Ger.Verf.G.  §  185.  Das  vorher  erwähnte  Gesetz  über  die  Gewerbegerichte  §  36 
Abs.  3.  und  die  zum  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetze  erlassene 
Kaiserliche  Verordnung  §  12  Abs,  2  räumen  die  im  (ierichts Verfassungsgesetz 
§§  179  ff.  vorgesehene  Strafgewalt  auch  den  Gewerbegerichten,  beziehungsweise 
den  auf  Grund  der  erwähnten  Verordnung  gebildeten  Schiedsgerichten  ein. 
(Hinsichtlich  der  Rechtsmittel  Gesetz  §  55,  Verordnung  §  12  a.  E.) 

II.  Die  im  §  200  des  deutschen  Gerichtsverfassungsgesetzes  den  Schöffen 
und  Geschworenen  aufgelegte  Pflicht,  über  den  Hergang  bei  der  Beratung 
und  Abstimmung  Stillschweigen  zu  beobachten,  ist  so  wenig  wie  die  Gerech- 
tigkeit der  Urteilsfällung  durch  Schöffen  und  Geschworene  unter  Sti*afschutz 
gestellt.^)  Die  Reichsgesetzgebung  enthielt  bis  zur  neuesten  Zeit  nur  in 
wenigen  Beziehungen  Straf drohungen  gegen  Mitteilung  von  Geheimnissen.  Vergl, 
unten  §  36.  Durch  das  Reichsgesetz  vom  5.  April  1888,  betr.  die  bei  Aus- 
schluss der  Öffentlichkeit  stattfindenden  Gerichtsverhandlungen,  RGBl.  1888, 
S.  133,  ist  die  rechtswirksame  Auflage  einer  Pflicht  zur  Verschwiegenheit  in 
weitem  Umfange  zugelassen  und  die  Verletzung  der  Auflage  mit  Strafe  be- 
droht worden.*)  Ist  die  Öffentlichkeit  einer  Gerichtsverhandlung  wegen  Ge- 
fährdung der  Staatssicherheit  ausgeschlossen  worden,  so  kann  das  Gericht  den 
anwesenden  Personen  (Richter,  Geschworene,  Schöffen  und  Staatsanwälte  ge- 
hören selbstverständlich  auch  dazu)  die  Geheimhaltung  von  Thatsachen,  welche 
durch  die  Verhandlung,  durch  die  Anklageschrift  oder  durch  andere  amtliche 
Schriftstücke  des  Prozesses  zu  ihrer  Kenntnis  gelangen,  zur  Pflicht  machen. 
Soweit  bei  einer  Gerichtsverhandlung  die  Öffentlichkeit  wegen  Gefährdung  der 
Staatssicherheit  ausgeschlossen  war,  dürfen  Berichte  über  die  Verhandlung 
durch  die  Presse  nicht  veröffentlicht  werden.     Das  Gleiche  gilt  auch  nach  der 


*)  Der  die  Rechtsbeugung  als  solche  bedrohende  §  336  des  Strafgesetzbuches 
bezieht  sich  nicht  auf  Schöffen  und  Geschworene.  Diese  sind  —  soweit  nicht  Be- 
stechung unterläuft  —  nur  ihrem  Gott  und  ihrem  Gewissen  verantwortlich. 

*)  Kl  ein  fei  1er,  Das  Reichsgesetz  betr.  die  unter  Ausschluss  der  Öffentlichkeit 
stattfindenden  Gerichtsverhandlungen.    Erlangen  1888. 


58       Deutsches  Reich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


Beendigung  des  Verfahrens  in  BetreflF  der  VeröflFentlichung  der  Anklageschrift 
und  anderer  amtlicher  Schriftstücke  des  Prozesses.  Zuwiderhandlungen  gegen 
diese  Bestimmungen  werden  mit  Geldstrafe  bis  zu  1000  Mark  oder  mit  Haft 
oder  mit  Gefängnis  bis  zu  6  Monaten  bestraft. 

§  31.   Die  Strafe  Im  Dienste  des  ErfUlungszwaiiges. 

Die  Verhängung  von  Strafen  (namentlich  unter  dem  Gesichtspunkte 
von  Ordnungsstrafen)  ist  vielfach  als  Mittel  zugelassen,  um  jemanden  zur  Er- 
füllung einer  öffentlichen  Pflicht  zu  bestimmen.  Vergl.  oben  §  14  III  S.  35, 
§  29,  S.  56  und  unten  §  45,  I,  a.  E.  Viel  weiter  geht  in  Ausnützung  der 
öflTentlichen  Strafe  zum  Zwecke  der  Zwangsvollstreckung  die  deutsche  Civil- 
prozessordnung,  welche  im  §  774  Geldstrafen  bis  zum  Betrage  von  1500  Mark 
oder  Zwangshaft  zulässt,  um  einen  verurteilten  Beklagten  zu  bestimmen,  eine  Hand- 
lung vorzunehmen,  welche  Dritte  nicht  vornehmen  können,  und  welche  aus- 
schliesslich von  seinem  Willen  abhängt.  Und  §  775  gestattet  Greldstrafe  bis  zu 
1500  Mark  oder  Verurteilung  zu  Strafhaft  bis  zu  6  Monaten  für  jede  Zuwider- 
handlung gegen  ein  Verbotsurteil.  Im  Falle  mehrerer  Zuwiderhandlungen 
kann  die  Freiheitsstrafe  im  zweiten  Falle  bis  auf  zwei  Jahre  ausgedehnt 
werden.  Diese  Massregeln  und  Strafen  sind  vom  Prozessgericht  erster  Instanz 
zu  verhängen. 

§  32.   Kriegswesen. 

I.  Auf  die  Heeresergänzung  beziehen  sich  ausser  den  §§  140 — 143  des 
Strafgesetzbuches  1.  das  Reichsmilitärgesetz  vom  2.  Mai  1874,  S.  45,^)  §§  18, 
33  Abs.  1  und  3,  39,  60  No.  2  und  3.')  2.  Das  Gesetz,  betr.  die  Ausübung 
der  militärischen  Kontrolle  über  die  Personen  des  Beurlaubtenstandes  vom 
15.  Februar  1875,  S.  65,  §§  6,  7;  vergl.  auch  §  4  lit.  b. 

II.  L  Gesetz,  betr.  die  Beschränkung  des  Grundeigentums  in  der  Um- 
gebung von  Festungen  vom  21.  Dezember  1871  (Reichsrayongesetz),  S.  459, 
§  32.*)  8.  Gesetz,  betr.  die  Reichskriegshäfen  u.  s.  w.  vom  19.  Juni  1883, 
S.  105,  §  2  Schlusssatz,  §  4.  3.  Gesetz  über  die  Eriegsleistungen  vom  13.  Juni 
1873,  S.  129,  §  27  Satz  2.*)  4,  Verordnung,  betr.  die  Einführung  von  Reichs- 
gesetzen in  Helgoland  vom  22.  März  1891,  S.  21,  Art.  I,  No.  IV.  5.  Press- 
gesetz vom  7.  Mai  1874,  RGBl.  S.  65,  §  15  mit  18,  ZiflT.   1. 

§  33.    Strafrecht  in  StaatsyertrBgen.'') 

In  verschiedenen  Beziehungen  strafrechtlich  bedeutsame  Verabredungen 
finden  sich  in  den  von  dem  norddeutschen  Bunde  und  von  dem  deutschen 
Reiche  abgeschlossenen  Staatsverträgen.  Diese  Verabredungen  fanden  zum 
Teil  ihre  Berücksichtigung  in  anderem  Zusammenhange;  so  namentlich  die 
internationale  Reblauskonvention,  die  Konventionen  zum  Schutze  des  geistigen 


^)  Die  Militärgesetze  des  deutschen  Reichs,  mit  Erläuterungen  herausgegeben 
auf  Veranlassung  des  königl.  preuss.  Kriegsministeriums.  Nene  Bearbeitimg.  Berlin 
1890.    Bd.  1,  II,  S.  29,  39,  41,  53. 

')  §  69  des  Reichsmilitärgesetzes  ist  aufgehoben  durch  Art.  11,  §  85  des  Gesetzes 
vom  11.  Februar  1888,  RGBl.  S.  11. 

*)  Vergl.  die  Militärgesetze  des  deutschen  Reichs  (oben  Note  1)  Bd.  1,  III, 
S.  237,  zu  §  32,  III,  S.  251. 

*)  Vergl.  die  Militärgesetze  u.  s.  w.  (oben  Note  1)  Bd.  1,  III,  S.  153,  zu  §  27, 
S.  182  u.  183. 

^)  Staudinger,  Sammlung  von  Staats  vertragen  des  deutschen  Reichs  über 
Gegenstände  der  Kechtspilege.    Nördlingen  1882;  erster  Ergänzungsband  1884. 


§  34.    Die  Auslieferungsverträge  insbesondere.  59 


und  des  gewerblich- geistigen  Urheberrechts,  der  internationale  Vertrag  über 
die  Fischerei  in  der  Nordsee,  der  Vertrag  mit  Belgien  über  die  Bestrafung 
von  Forst-,  Feld-,  Fischerei-  und  Jagdfrevel,  das  Zollkartell  mit  Österreich. 
Ausserdem  kommen  in  Betracht:  1.  Die  Zusatzkonvention  zu  dem  deutsch- 
chinesischen Freundschafts-  u.  s.  w.  Vertrage  vom  2.  September  1861, 
nebst  erläuternden  Spezialbestinmiungen  vom  31.  März  1880,  RGBl.  1881, 
8.  261,  Art.  3,  4,  6,  Spezialbestimmungen  §§  4,  5,  6,  9.  2.  Der  Vertrag  mit 
Japan  vom  20.  Februar  1869,  Bundesgesetzblatt  1870,  S.  1  Art.  3  Schluss- 
satz,  Art.  6,  7.  3.  Der  Handelsvertrag  mit  Korea  vom  26.  November  1883 
RGBl.  1884,  S.  221,  Art.  III  No.  4,  5,  6,  10,  IV,  No.  6,  7,  Art.  VI  und 
Bestimmungen  zur  Regelung  des  Handelsverkehres  S.  237,  I,  3,  6;  IH  (Zoll- 
sehutz)  2 — 5.  4.  Der  Handelsvertrag  mit  Serbien  vom  6.  Januar  1883, 
S.  41.  Besondere  Bestimmungen  8.  57,  §  3.  5.  Freundschaftsvertrag  mit  der 
südafrikanischen  Republik  vom  22.  Januar  1885,  RGBl.  1886,  S.  209, 
Art.  9  Abs.  2.  6,  Freundschaftsvertrag  u.  s.  w.  mit  dem  Sultan  von  Zan- 
zibar  vom  20.  Dezember  1885,  RGBl.  1886,  S.  275  Art.  XHI,  XIV  Abs.  4, 
XVI,  XVII.  Die  Verabredungen  statuieren  zum  Teil  Strafgerichtsexemtionen, 
zum  Teil  verpflichten  sie  zur  Handhabung  des  Strafschutzes  wegen  ge- 
wisser Delikte.  7.  Kongoakte.  (Generalakte  der  Berliner  Konferenz)  vom 
26.  Februar  1885.  RGBl.  S.  215  Art.  19  Abs.  4.  8.  Generalakte  der  Brüsseler 
Antisklavereikonferenz  nebst  Deklaration  vom  2.  Juli  1890,  RGBl.  1892, 
S.  605  Art.  V,  betr.  Verpflichtung  zur  Strafgesetzgebung  gegen  die  Ver- 
anstalter und  Teilnehmer  von  Menscheivjagden ,  gegen  diejenigen,  welche 
sich  der  Verstümmelung  von  Erwachsenen  und  Kindern  männlichen  Geschlechts 
schuldig  machen,  gegen  alle  Teilnehmer  am  Sklavenfange,  gegen  die  Sklaven- 
händler, Führer  und  Transporteure  von  Sklavenzügen,  sowie  gegen  die  Teil- 
nehmer und  Gehilfen  aller  dieser  Personen.     Vergl.  femer  Art.  LXVII. 

§  34.   Die  Auslief enrngsrertrlge  Insbesondere.^) 

1*  Mehrere  Staaten  des  alten  deutschen  Bundes  hatten  mit  ausserdeutschen 
St^iaten  Auslieferungsverträge  abgeschlossen,  so  namentlich  Preussen,  Baden, 
Bayern,  Bremen,  Hamburg,  Hessen-Darmstadt,  Lübeck,  Mecklenburg-Schwerin 
und  -Strelitz,  Oldenburg,  Sachsen,  Sachsen -Weimar,  Waldeck -Pyrmont,  Würt- 
temberg mit  Frankreich;  Preussen,  Baden,  Bayern,  Bi'emen,  Hamburg,  Hessen- 
Darmstadt,  Mecklenburg-Schwerin,  Oldenburg,  Sachsen,  Württemberg  mit  den 
Niederlanden;  Preussen,  Bayern  und  Hessen -Darmstadt  mit  Bussland; 
Preussen,  Bayern  imd  Baden  mit  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika. 
2.  Für  die  Staaten  des  deutschen  Bundes,  einschliesslich  Österreichs,  unter  sich 
bildete  der  Bundesbeschluss  vom  26.  Januar  1854  (vergl.  preuss.  GS.  1854, 
S.  359),  die  völkerrechtliche  Grundlage  der  Ausliefei'ungspflicht.  3.  Die  Ver- 
träge mit  Frankreich  wurden  nach  dem  Kriege   erneuert.  —  Zusatzkonven- 


^)  Auslieferungsverträge.  Berlin  1875.  Amtliche  Ausgabe.  Staudinger,  Samm- 
lung von  Staatsverträgen  des  deutschen  Reichs  über  Gegenstände  der  Rechtspflege. 
Textausgabe  mit  Anmerkungen,  Sachregister  u.  s.  w.  Nördlingen,  Becksche  Buch- 
handlung, 1882.  I.  Abschnitt  S.  1  —  143.  Erster  Ergänzungsband  1884.  Erster  Ab- 
schnitt S.  1—17.  —  G.  Hetzer,  Deutsche  Auslieferungsverträge.  Zusammenstellung 
der  vom  deutschen  Reiche,  dem  norddeutschen  Bunde  und  von  einzelnen  deutschen 
Staaten  mit  auswärtigen  Staaten  abgeschlossenen  noch  in  Kraft  befindUchen  Aus- 
lieferungsverträge nebst  den  dazu  ergangenen  deutschen  und  preussischen  Aus- 
führungsbestimmungen. Mit  vergleichenden  Übersichten  und  Erörterungen  zum 
praktischen  Gebrauch.  Berlin  1883.  —  Lammasch,  Auslieferungspflicht  und  Asyl- 
recht. Eine  Studie  über  Theorie  und  Praxis  des  Internationalen  Strafrechts.  Leipzig 
1887.  —  Binding,  Handbuch,  I,  §81.  —  v.  Liszt,  Lehrbuch  (5.  Aufl.  1892),  §20,  S.  112. 


60       Deutsches  Reich.  ■—  Die  Spezialstrafgesetzgebiuig  des  deutschen  Reiches. 


tion  zu  dem  Frankfurter  Frieden  vom  11.  Dezember  1871,  RGBL  1872,  S.  7, 
Art.  18.  Österreich  betrachtet,  nach  einem  Ministerial- Erlasse  vom  7.  De- 
zember 1870,  seit  der  Auflösung  des  alten  deutschen  Bundes,  den  Auslief e- 
rungsbeschluss  desselben  vom  26.  Januar  1854  als  eine  völkerrechtliche  Ab- 
machung und  erachtet  sich  daran  gebunden,  wie  auch  die  deutschen  Bundes- 
staaten im  Verhältnisse  zu  Österi'eich  nach  wie  vor  an  demselben  festhalten. 

4.  Anlangend  das  heutige  Verhältnis  der  deutschen  Bundesstaaten  zu  einander, 
so  wurde  schon  dtirch  das  Gesetz  des  norddeutschen  Bundes  vom  21.  Juni 
1869,  betreffend  die  Gewährung  der  Rechtshtilfe,  BGBl.  1869,  S.  305,  dio 
Auslieferungspflicht  auf  staatsrechtlicher  Grundlage  ausgebildet,  und  seit  der 
Geltung  des  deutschen  Gerichtsverfassungsgesetzes  vom  27.  Januar  1877,  also 
seit  dem  1.  Oktober  1879,  bilden  die  ordentlichen  deutschen  Gerichte  eine 
innerstaatliche  Gerichtsgemeinschaft,  wie  die  Gerichte  eines  Einheitsstaates. 
Die  Gerichtsgewalt  jedes  deutschen  Gerichts  erstreckt  sich  derart  auf  alle  im 
Reiche  sich  aufhaltenden  Personen,  dass  die  Anordnung  einer  Ladung,  einer 
Vorführung  oder  Verhaftung  durch  die  Zustellungs-  und  Vollstreckungsorgane 
eines  jeden  Bimdesstaates  zur  Ausführung  gebracht  werden  muss,  gleichviel 
ob  das  anordnende  Gericht  und  der  ausführende  Beamte  demselben  Bundes- 
staate angehören  oder  nicht.  Der  Haftbefehl  des  bayerischen  Amtsrichters 
muss  inPreussen  gerade  so  vollstreckt  werden,  wie  in  Bayern.  (Ger.Verf.Q.  §  161 ). 
Es  ist  nicht  einmal  die  Vemiittelung  der  Qerichtsgewalt  des  Richtei*s  des 
Ortes  nötig.  (Ger.Verf.G.  §  162.)  5.  Anlangend  die  heutigen  Rechtsbeziehungen 
des  Reichs  imd  der  Bundesstaaten  zum  Auslande,  so  sind  dieselben  nicht, 
wie  in  einigen  andern  Ländern  (Belgien,  Holland,  England,  Luxemburg,  Canada, 
Argentinien,  teilweise  in  den  Vereinigten  Staaten  —  v.  Liszt,  Lehrbuch,  5.  Aufl. 
1892,  §20  Note  2,  S.  113  — )  durch  Auslief erungsge setze  grundsätzlich  ge- 
regelt. Die  Beziehungen  des  deutschen  Reichs  und  der  einzelnen  Staaten  in 
Betreff  der  Auslieferung  beruhen  vielmehr,  abgesehen  von  der  Normierung 
einzelner  Fragen  durch  Gesetz  —  z.  B.  das  Verbot /der  Auslief erang  der  In- 
länder, deutsches  StGB.  §  9  —  auf  internationalen  Verträgen  und  völkerrecht- 
lichen Gewohnheiten.  Es  ist  zweifellos,  dass  der  deutsche  Kaiser  für  das 
Reich  Auslieferungsverträge  abschliessen  kann.  Es  ist  nur  zu  ihrem  Abschhiss 
die  Zustimmung  des  Bundesrates  und  zu  ihrer  Gültigkeit  die  Genehmigung 
des  Reichstages  erforderlich.  (Reichs- Verf.  Art.  11,  Abs.  3.)  Und  insoweit  ein 
solcher  Vertrag  wirksam  abgeschlossen  wurde,  verlieren  nach  Art.  2  der  Reichs- 
verfassung die  etwaigen  Verträge  einzelner  Bundesstaaten  ihre  Wirkung;  auch 
können  diese  nicht  mehr  von  sich  aus  mit  dem  auswärtigen  Staate,  mit  dem 
das  Reich  kontrahiert  hat,  einen  Auslieferungsvertrag  abschliessen.  Insoweit 
aber  das  Reich  und  vordem  der  norddeutsche  Bund  das  Verhältnis  zu  einzelnen 
Auslandstaaten  in  Hinsicht  auf  die  Auslieferung  nicht  geordnet  haben,  gelten 
die  abgeschlossenen  Verträge  noch  fort,  und  es  hat  jeder  Staat  das  Recht, 
neue  Auslieferungsverträge  abzuschliessen,  ein  Recht,  von  dem  Preussen  und 
Bayern  in  den  viel  kritisierten  Auslieferungsverträgen  mit  Russland  vom  Jahre 
1885  Gebrauch  gemacht  haben.  6.  Der  norddeutsche  Bund  hat  mit  Nord- 
amerika die  Übertragung  des  amerikanisch-preussischen  Vertrages  vom  Jahre 
1852  auf  den  Bund  vereinbart.  Württemberg  war  schon  durch  Verordnung 
vom   2.  März  1854   (Regierungsblatt   für   das   Königreich  Württemberg   1854, 

5.  31)  diesem  Vertrage  beigetreten.  Bayern  und  Baden  stehen  noch  heute 
in  Bezug  auf  die  Auslieferung  in  selbständigen  Vertragsbeziehungen  zu  den 
Vereinigten  Staaten.  Bayerischer  Vertrag  vom  12.  September  1853,  Regierungs- 
blatt 1854,  S.  1089;  badischer  Vertrag  vom  30.  Januar  1857,  badisches  Re- 
gierungsblatt von  1857,  S.  154.  Im  Jahre  1875  wurde  eine  amtliche  Ausgabe 
,,Deutscher  Auslieferungsverträge"    (Berlin  1875)    veröffentlicht.      Dieselbe    ist 


§  84.    Die  Auslieferungsverträge  insbesondere.  61 


durch  die  in  den  Jahren  1876,  1877,  1878  und  1880  abgeschlossenen  Ver- 
träge überholt  worden.  Vergl.  jetzt  die  oben  citicrten  Sammlungen.  Der 
neuesten  Zeit  gehört  der  Vertrag  an,  den  der  Kaiser  im  Namen  des  Reichs 
für  die  deutschen  Schutzgebiete  mit  dem  Kongostaate  abgeschlossen  hat. 
Vertrag  vom  25.  Juli  1890,  RGBl.  1891,  S.  91.^)  7.  Während  im  preussisch- 
norddeutschen  Vertrage  mit  den  Vereinigten  Staaten  nur  7  Verbrechen  und 
Verbrechensgruppen  als  Anlass  der  Auslieferung  vorgesehen  sind,  enthält  der 
deutsche  Vertrag  mit  dem  Kongostaate,  wie  die  Verträge  mit  Belgien, 
Luxemburg,  Spanien  und  Uruguay  34  Verbrechensgruppen.  Der  mit 
(Irossbritannien  abgeschlossene  Vertrag  betriflft  18,  der  Vertrag  mit  Bra- 
silien 19,  der  mit  der  Schweiz  23  Verbrechensgruppen.  In  den  neueren 
Verträgen,  namentlich  in  denen  mit  Italien,  Belgien,  Luxemburg,  Spanien, 
Uruguay  und  dem  Kongostaate,  aber  auch  in  der  Hauptsache  in  denen 
mit  der  Schweiz,  mit  Schweden-Norwegen  und  mit  Brasilien  sind  über- 
einstimmende Rechtsgedanken,  grösstenteils  in  wörtlich  gleicher  Fassung,  zum 
Ausdruck  gebracht.  Es  ist  uns  hier  Gelegenheit  gegeben,  das  Werden  von 
Gewohnheitsrecht  zu  beobachten.  Die  beste  und  mehrfach  schon  angeregte 
Regelung  durch  einen  internationalen  Welt- Auslieferungsvertrag  wird  in  nächster 
Zeit  wohl  an  der  in  massgebenden  Regierungskreisen  noch  vorhandenen  Ver- 
schiedenheit der  politischen  und  rechtlichen  Empfindungen  und  Urteile  scheitern. 
Sollte  freilich  die  mit  Sprengstoffen  arbeitende  Anarchie  noch  mehr  als  es  bis 
Jetzt  geschehen,  die  Völker  bedrohen,  so  düi'fte  die  Not  der  Zeiten  rasch  zum 
Abschlüsse  eines,  wenn  auch  beschränkten  Welt-Auslieferungsvertrages  führen, 
dessen  Inhalt  und  Inhaltsausprägung  dann  freilich  der  Gefahr  der  Über- 
hastung ausgesetzt  ist,  einer  Gefahr,  die  bei  rechtzeitiger  Inangrifftiahme  des 
Werkes  vermieden  würde.  Im  Ganzen  lässt  sich  eine  auf  Verstärkung  dc»s 
Strafl'echtsschutzes  abzielende  Richtung  in  den  Ausliefenmgsverträgen  nicht 
verkennen,  eine  Richtung,  die  allerdings  durch  die  Stellung  eingedämmt  wor- 
den sein  dürfte,  welche  einzelne  Staaten  zu  solchen  Verbrechen  mid  Vergehen 
zu  nehmen  scheinen,  die  in  Gewaltthätigkeiten  und  Ausbrüchen  der  Leiden- 
schaft ohne  Verletzung  eines  andern  bestehen.  Das  Fehlen  eines  Verbrechens 
oder  einer  Verbrechensgruppe  in  einem  Auslieferungsvertrage  hat  übrigens 
zuweilen  auch  darin  seinen  Grund,  dass  dieses  Verbrechen  oder  diese  Gruppe 
in  einem  weiteren  Verbrechensbegriffe  des  fraglichen  Landes  enthalten  ist. 
Unter  „murder"  z.  B.  im  Vertrage  mit  Grossbritannien  ist  auch  der  Kinds- 
mord begriffen,  der  in  den  andern  Verträgen  selbständig  genannt  ist.  Vielfach 
ist  Bedrohung  durch  die  Gesetze  der  beiden  Staaten  ausdrücklich  zur  Be- 
dingung der  Auslieferung  gemacht.  Das  ist  namentlich  zumeist  bezüglich  des 
Versuches  stipuliert.  8.  In  den  Verträgen  mit  den  Vereinigten  Staaten, 
mit  Grossbritannien  und  mit  Schweden-Norwegen  ist  die  Auslieferung 
wegen  Versuches  nur  bei  einzelnen  Handlungen  vorgesehen.  Die  Schuldfonn 
der  Teilnahme  ist  mit  Ausnahme  des  amerikanischen  Vertrages  überall  neben 
derjenigen  der  Thäterschaft  ausdrücklich  genannt.  Grossbritannien  hat 
die  Bedingung  der  Strafbarkeit  in  den  beiden  Ländern  beigefügt.  9,  Alle 
Verträge,  bis  auf  den  des  deutschen  Reichs  mit  dem  Kongostaate  nehmen 
die  AusliefeiTing  wegen  politischer  Verbrechen  aus.  Dieser  Begriff  ist  aber 
keineswegs  ein  so  sicherer,  dass  durch  dessen  Gebrauch  die  Ausnahme  eine 
feste  Begrenzung  erhalten  hätte.  Man  wird  dazu  rechnen  dürfen:  „alle 
vorsätzlichen,  gegen  Bestand  und  Sicherheit  des  Staates,  sowie  gegen  das 
Staatsoberhaupt  und  die  politischen  Rechte  der  Staatsbürger  gerichteten  Ver- 
brechen."    V.    Liszt,    Lehrbuch    §  20,    S.  114.     (Im    deutscheu    Reich:    Hoch- 

*)  Für  das  Reich  selbst  gilt  dieser  Vertrag  nicht.    Art.  17. 


62       Deutsches  Reich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


1. 

Nordamerika. 

22.  Februar  1868. 

BQBl.  S.  228. 


2. 

Itolien. 

31.  Oktober  1871 

BQBI.  S.  446. 


3. 

Groeebritannien. 
14.  Mai  1872. 
BGBl.  &  229. 


Schweiz. 

24.  Januar 

1874. 

BGBL  S.  113. 


Mord  und  Totschlag 

Kindsmord  .  .  . 
Abtreibung  .  .  . 
Aussetzung    .    .    . 


Schwere  Misshandlung 


Freiheitsberaubung  d.  Privatpersonen 
Freiheitsberaubung  durch  Beamte 

Mausfriedensbruch 

Landfriedensbruch 

Kindesunterschiebung ,    Unterdrück- 
ung, Verwechslung 

Kinderraub 

Menschenraub 

Entführung  Minderjähriger   .         .    . 

Nötigung 

Bedrohung 

Notzucht 

Unzucht  mit  Gewalt  oder  Bedrohung 
Unzucht  mit  Kindern 


Kuppelei 

Gewohnheitsmässige,  gewerbsmässige 

Kuppelei 

Bigamie 

Diebstahl 


Unterschlagung 
Raub      .    .    .    . 


Erpressung 

Unterschlagung  U.Erpressung  im  Amte 

Betrug 

Untreue 

Sachhehlerei       

Sachbeschädigung  (einfache)      .    .    . 

Qualifizierte  Sachbeschädigung     .    . 

Meineid  (im  Civilprozess) 

Falsches  Zeugnis,  Gutachten.  Falsch- 
heit des  Dolmetschers 

Verleitung  zum  Meineide 

Urkundenfälschung 

Vernichtung  u.  Beseitigung  v.  Urkund. 

Stempelfälschung  u.  dergl 

Münzfälschung 

Fälschung  von  Wertpapieren    .    .     . 

Bankerutt  und  betrügliche  Benachtei- 
ligung einer  Konkursmasse   .    .     . 

Vorsätzliche  Brandstiftung     .... 

Zerstörung  von  Eisenbahnen,  Dampf- 
maschinen, Telegraphenleitungen  . 

I 

Gefährdung  des  Eisenbahnbetriebes  .  I 
Angriffe  a.Personen  a.Bord  ein.  Schiffes  j 
Zerstörung,  Sinkenmachen,  Stranden-  i 
machen  eines  Seeschiffes  .  .  .  .| 
Meuterei  auf  einem  Seeschiffe  .  .  .! 
Bestechung , 


Art.  I. 

(marder) 


Art.  I. 

(auch  Seeranb) 

Art.  I. 

(Amts- 
anterschlagnng) 


Art.  I. 


Art.  I. 
Art.  I. 


Art.  I. 


1 
2 
3 

10 


6 
6 


1,2 

(murder)  1 


2 

(insofern 
manalanghter) 


(TOn  Menschen 
ftberhanpt) 


8 


11 

10 

(▼on  Menschen 
überhaupt) 


9 


9 

7 

11 

(schwerer  oder 
aber  1000  Fr.) 

12 

11 
11 

21 


(ftberlOOOFr.)  12 


5,  12 


5 
14 


15 


6 

8 


14 

15 
16 
17 


18 
19 

13 
20 

24 
24 


23 
23 
22 


3 
4 

7 
13 


17 

16 
18 


1 
2 
3 

10 

6 

6 


4 
4 


5 


9 

7 

11 

12 
11 

11 
21 

13 


14 

15 
16 
17 


18 
19 

13 
20 

23 
23 


22 


§  34.    Die  Anslieferungsvertrflge  insbesondere. 


63 


5. 

6. 

7. 

8. 

9. 

10. 

11. 

Bdgien. 
24.  D*Mmb*r 

1874.  RGBl. 

1875,  S.  78. 

Lnxembarg. 
9.  IC&re  1876. 
RGBl.  8.  228. 

Schwaden- 

Norwagen. 

19.  Januar  1878. 

RGBl.  S.  110. 

Spanien. 

2.  Mai  1878. 

RGBl.  S.  218. 

1 

Brasilien. 
17.  September 

1877.  RGBL 

1878.  S.  298. 

Umgnay. 

12.  Febmar  1880. 

RGBL  1888, 

S.  287. 

Deutsches  Reich  f. 
Schatzgebiete  mit 

Kongostaai 
25.JnIil890.  RGBl. 

1801,  8.  91. 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

1 

2 

2 

2 

2 

2 

2 

2 

3 

8 

3 

3 

3 

3 

3 

15 

15 

13 

15 

6 

15 

(hUfloeePertonen) 
15 

6 

6 

6 

6 

5 

6 

6 



— . 

^— 

7 

7 

7 

^^^ 

7 

7 

9 

9 

9 

9 

9 

4 

4 

4 

4 

3 

4 

4 

4 

4 

4 

4 

3 

4 

5 

5 

5 

*> 

<) 

2 

(von  Menschen 
fiberhanpt) 

5 

5 

— 

7 

— 

8 

8 

8 

_ 

8 

8 

11 

11 

9 

11 

2 

11 

11 

12 

12 

10 

12 

4 

12 

12 

13 

13 

11 

13 

(12  Jahre,  bezw. 
14  Jahre) 

^^M* 

13 

(12  Jahre,  bezw. 
14  Jahre) 

13 

^■^■B 

^^ 

14 

14 

14 

12 

14 

_ 

14 

14 

10 

10 

8 

10 

2 

10 

10 

16 

16 

15 

16 

7 

(schw.  Diebstahl) 

16 

16 

17 

17 

16 

17 

15,   17 

17 

17 

16 

16 

14 

16 

7 

16 

16 

16 

16 

14 

17 

8 

17 

16 

29 

29 

26 

29 

16 

29 

29 

18 

18 

16 

18 

8 

18 

18 

17 

17 

16 

17 

15 

17 

17 

84 

34 

31 

34 

34 

34 

— 

— 

33 

33 

33 

29,  30 

33 

—, 

33 

33 

20 

20 

18 

20 

— 

20 

20 

21 

21 

18,  19 

21 

9 

21 

21 

22 

22 

22 

22 

9 

22 

22 

23 

23 

20 

23 

10 

23 

23 

24 

24 

21 

24 

13 

24 

24 

25 

25 

22 

25 

11 

25 

25 

26 

26 

23 

26 

12 

26 

26 

27 

27 

24 

27 

12 

27 

27 

19 

19 

17 

19 

8 

19 

19 

28 

28 

25 

28 

14 

28 

28 

32 

32 

29 

32 

18 

32 

32 

32 

32 

(ancli  von  KanUen 
und  dergleichsn) 

29 

32 

32 

32 

31 

31 

28 

31 

17 

31 

31 

31 

31 

28 

31 

17 

31 

31 

30 

30 

27 

30 

16 

30 

30 

64       Deutsches  Heich.  —  Die  Spezialstrafgesetzgebung  des  deutschen  Reiches. 


verrat,    Landesverrat,    Beleidigung   des  Landesherm    und   von  Bundesfürsten, 
sowie  der  Mitglieder  der  regierenden  Familien  und  des  Regenten,   feindliche 
Handlungen   gegen  befreundete  Staaten,  Verbrechen   und  Vergehen   in  Bezug 
auf  die  Ausübung   staatsbürgerlicher  Rechte.)     Es   lässt   sich    aber  nicht  ver- 
kennen,   dass   manche    dieser  Verbrechen   im  einzelnen  Falle   mit  der  Politik 
nichts  zu  thun  haben,    und  dass  umgekehrt  manches  andere  Delikt,  z.  B.  ein 
Angriff  auf   den    leitenden    Staatsmann,    einen    eminent   politischen  Charakter 
haben   kann.      Im   belgischen  Verti'age   und    allen    folgenden   (Luxemburg, 
Schweden-Norwegen,   Spanien,  Brasilien,   Uruguay)  ist  der  Ausnahme 
der  politischen  Verbrechen  die  einschränkende  sogenannte  Attentatsklausel  bei- 
gefügt.    „Der  Angriff  gegen   das   Oberhaupt   einer   fremden   Regierung  oder 
gegen  Mitglieder  seiner  Familie  soll  weder  als  politisches  Vergehen,  noch  als 
mit  einem  solchen  in  Zusammenhang  stehend  angesehen  werden,  wenn  dieser 
Angriff  den  Thatbestand  des  Totschlages,  Mordes  oder  Giftmordes^)  bildet."") 
10.  Die  vorstehende  Tabelle  soll  eine  Übersicht  über  die  Verbrechen  gewähren, 
bezüglich  welcher   dem  deutschen  Reiche,    bezw.    dem   norddeutschen   Bunde 
(und  Wüi"ttemberg)  imd  von  diesen  vice  versa   die  Auslieferung  zugesagt  ist. 
Die  Zahlen  beziehen  sich  auf  die  Nummern,    unter  welchen   sich  die  Delikts- 
gruppen  in    den    einzelnen  Verträgen    befinden.     Im  Interesse    der  Übersicht 
und   der  Raumersparnis  sind  die  Deliktsgruppen  nicht  so  vollständig  wie  in 
den  Verträgen   selbst  bezeichnet;    auch  sind  nicht   alle  Einzelheiten,    auf  die 
Gewicht  gelegt  wird,    bemerkt.     Die  Tabelle    hat    den  Zweck   der  Anregung 
und  Orientierung;    für  den  praktischen  Gebrauch  setzt  sie  selbstverständlich 
die  Benutzung  des  Vertrages  selbst  voraus.     Es   bedarf  übrigens   kaum   der 
Ei'wähnung,  dass  die  Staaten  sich  nicht  darauf  beschränken,  in  den  stipulierten 
Fällen  auszuliefern.     In  diesen  Fällen  besteht  eine  vertragsmässig  bestimmte, 
völkerrechtlich   wii'ksame    Verpflichtung.      Auch    darüber   hinaus   pflegen    die 
Staaten  auf  besonderes  Ersuchen  die  Auslieferung  zu  bewilligen,  wenn  weder 
ein  Landesgesetz  im  Wege  steht,  noch  sonstige  Bedenken  im  konkreten  Falle 
obwalten.    Amerika  hat  den  Diebstahl  nicht  genannt,  das  gegenteilige  Zeichen 
in    der  Tabelle    bei  Hetzer    dürfte    auf   einem  Missverständnisse    beruhen  — , 
trotzdem  wird  Amerika  die  Auslieferung  von  Einbrechern  kaum  je  versagen, 
wie  auch  kein  deutscher  Staat  sich  weigern  wird,  auf  Requisition  der  zuständigen 
New- Yorker  Behörde,  den  aus  §  530  des  New- Yorker  Strafgesetzbuchs  vom  26.  Juli 
1881  wegen  grossen  Diebstahls  ersten  Grades  reklamierten  Amerikaner  auszu- 
liefern.    !!•    Schliesslich  ist  noch  zu  erwähnen,  dass  auch  in  anderen  Verträgen 
des  deutschen  Reichs  sich  einzelne  Verabredungen  in  Betreff  der  Auslieferung, 
besonders  von    Schiffsdeserteuren    befinden.      Handels-    u.    s.   w.  Vertrag   mit 
Portugal  vom  2.  März  1872,  RGBl.  S.  254  Art.  18.    Freundschafts-  u.  s.w. 
Vertrag  mit   Mexiko   vom    5.  Dezember  1882,  RGBl.  1883,   S.  247  Art.  21; 
Handels-   imd   Freundschafts-Vertrag   mit   Korea   vom    26.   November  1883, 
RGBl.  1884,  S.  221  Art.  III,    No.  9;    Freundschafts-  u.  s.  w,  Vertrag   mit  der 
südafrikanischen   Republik  vom   22.  Januar   1885,    RGBl.  1886,    S.  209 
Art.  31;  Freundschafts-  u.    s.  w.  Vertrag  mit  Zanzibar  vom   20.  Juni   1885, 
RGBl.  1886,    S.  261  Art.  XV.     Generalakte   der  Brüsseler  Antisklaverei-Kon- 
ferenz  vom  2.  Juli  1890,  RGBl.  1892,  S.  605,  Art.  V,  Abs.  3  a.  E.     Ein  Aus- 
lieferungsvertrag mit  Serbien  ist  durch  die  vorläufige  Vereinbarung  zwischen 
dem  deutschen  Reiche  und  Serbien   in    dem  Konsularvertrage  vom  6.  Januar 


^)  Giftmord  fehlt  im  Vertrag  mit  Brasilien;  das  Fehlen  dürfte  ohne  praktische 
Bedeutung  sein. 

*)  Da  sich  im  Vertrage  mit  dem  Kongostaate  die  Ausnahme  der  politischen 
Vergehen  nicht  befindet,  so  war  auch  die  exceptio  exceptionis  in  Betreff  des  Königs- 


mordes darin  nicht  nötig. 


^  85.    Die  Bestimmungen  des  Bundes-  und  Reichsrechtes  über  Begnadigung.     65 


1883,  Art.  XXV,  Abs.  3  RGBl.  S.  70,  verabredet  worden,  bis  zu  dessen  In- 
krafttreten dem  deutschen  Reich  unter  dem  Vorbehalte  der  Gegenseitigkeit 
die  Rechte  der  meistbegünstigten  Nation  in  Bezug  auf  Auslieferung  ein- 
geräumt wurden.  12«  Auf  die  Auslieferung  von  Militär-Deserteuren  zwischen 
dem  deutschen  Reich  und  Österreich  bezieht  sich  die  noch,  beziehungsweise 
wieder,  in  Geltung  stehende  Kartell -Konvention,  welche  von  der  deutschen 
Bundesversammlung  am  10.  Februar  1831  angenonunen  wurde;  preuss.  Ges.-S. 
1831,  S.  41,  und  die  Kartell-Konvention  zwischen  der  königlich  preussischen 
Regierung  einer-  und  der  königlich  dänischen  Regierung  andererseits  vom 
25.  Dezember  1821.  Preuss.  Ges.-S.  1822,  S.  33.  Vergl.  die  Militärgesetze 
des  deutschen  Reichs.  II.  Abschnitt  XI.  Neue  Bearbeitung,  Berlin  1890, 
S.  189  ff. 

§  35.   Die  Bestimmangen  des  Bundes-  und  Reichsrechtes  In  Betreff  der 

Begnadigung.  ^) 

Grundsätzlich  ist  die  Ausübung  des  Begnadigungsrechtes  vom  Reichs- 
reehte  nicht  geordnet.  Es  bestimmt  sich  namentlich  nach  dem  Landesstaats- 
rechte, ob  und  inwieweit  die  Hemmung  der  Strafklage  und  die  Niederschlagung 
eines  eröffneten  Strafverfahrens  vor  der  Rechtskraft  des  Urteiles  (Abolition) 
zulässig  sind.  ^)  Insoweit  Reichsgerichte  in  erster  Instanz  urteilen,  ist  Abolition 
ausgeschlossen.  Das  Reichsrecht  kennt  diese  Einrichtung  nicht.  Die  Begna- 
digung im  engeren  Sinne,  d.  h.  der  gänzliche  oder  teilweise  Erlass  einer 
rechtskräftig  erkannten  Strafe  richtet  sich  gleichfalls  nach  dem  Landesstaats- 
reehte,  insofern  die  Strafe  in  erster  Instanz  von  dem  Gerichte  eines  Bundes- 
staates erkannt  wurde.  Die  Strafprozessordnung  verlangt  nur,  dass  Todes- 
urteile dem  Staatsoberhaupte  vorgelegt  werden  und  lässt  sie  erst  dann  voll- 
strecken, wenn  das  Staatsoberhaupt  EntSchliessung  hat  ergehen  lassen,  von 
dem  Begnadigungsrechte  keinen  Gebrauch  machen  zu  wollen.  Strafprozess- 
ordnung §  485.  Artikel  18  des  Zollvereinsvertrages  vom  8.  Juii  1867, 
BGBl.  S.  102,  beliess  das  Begnadigungsrecht  in  Zollstrafsachen  jedem  Ver- 
einsstaate. Durch  die  Anerkennung  der  Kaiserlichen  Staatsgewalt  in  Elsass- 
Lothringen  —  Gesetz  vom  9.  Juni  1871,  RGBl.  S.  212,  §  3  —  ist 
auch  das  Begnadigungsrecht  des  Kaisers  für  Elsass- Lothringen  anerkannt. 
Das  Gesetz  vom  4.  Juli  1879,  RGBl.  S.  165,  regelt  die  Übertragung 
landesherrlicher  Befugnisse  auf  den  Statthalter  von  Elsass-Lothringen  und  auf 
Grund  dieses  Gesetzes  sind  die  Kaiserlichen  Verordnungen  vom  23.  Juli  1879 
(S.  282),  23.  September  1885  (S.  273),  15.  März  1888  (S.  130)  und  20.  Juni 
1888  (S.  189)  ergangen,  welche  den  Statthalter  ermächtigen,  Geldstrafen, 
welche  durch  richterliches  Urteil  oder  im  Verwaltungswege  rechtskräftig  er- 
kannt sind,  zu  erlassen  und  Rehabilitation  zu  gewähren.  Die  Strafprozess- 
ordnung vom  1.  Februar  1877,  §  484,  tiberträgt  dem  Kaiser  das  Begnadi- 
gmigsrecht  in  Sachen,  in  denen  das  Reichsgericht  in  erster  Instanz  geurteilt 
hat.  Das  Konsulargerichtsgcsetz  vom  10.  Juli  1879,  RGBl.  S.  197,  §  42, 
giebt  dem  Kaiser  die  Begnadigungsgewalt  in  Strafsachen,  in  welchen  der 
Konsul    oder    das    Konsulargericht   in    erster  Instanz  erkannt   hat.'*)     Für  die 


^)  Binding,  Handbuch,  I,  §  166—169,  S.  860.  —  H.  Meyer,  Lehrbuch  (4.  Aufl. 
1888),  §  46,  S.  890.  —  v.  Liszt,  Lehrbuch  1892,  §  77,  S.  293.  —  Laband,  Staats- 
recht des  deutschen  Reichs  (2.  Aufl.  1890),  Bd.  2,  §  91,  S.  479. 

'^  Vergl.  H.  Seuffert  in  v.  Stengels  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts 
Bd.  1,  S.  148  und  149. 

^)  Dazu  Verordnung,  betreifend  die  Konsulargerichtsbarkeit  in  Samoa,  vom 
29.  Oktober  1890,  RGBl.  S.  189,  §  1  No.  3  (Einschränkung  der  Konsulargerichtsbarkeit). 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.  I.  5 


66    Deutsches  Reich.  —  Das  Starafrecht  der  Beamten  und  die  Disziplinarstrafgewalt. 


Schutzgebiete  vergl.  Gesetz  vom  17.  April  1886  und  15./19.  März  1888,  RGBl. 
1888,  S.  75,  §  2.  —  Hinsichtlich  der  Bestätigung  kriegsgerichtlicher  Er- 
kenntnisse vergl.  preuss.  Mil. -Straf gerichtsordnung  vom  3.  April  1845,  §§  150 
bis  153,  Allerhöchste  Kabinettsordre  vom  1.  Juni  1867,  Armee- VBl.  S.  55;  Aller- 
höchste Kabinetteordre  vom  11.  April  1868,  Armee- VBl.  S.  100;  Mil.-Strafgerichts- 
ordnung§§  162—175,  205,  206,  267;  und  hinsichtlieh  der  Bestätigung  der  im  Be- 
lagerungszustande gefällten  Todesurteile  preuss.  Gesetz  vom  4.  Juni  1851, 
GS.  S.  451,  §  13  No.  6  und  unten  §  42. 


V.   Das  besondere  StrafrecM  der  Beamten  nnd  die  Disziplinar- 
strafgewalt/) 

§  36. 

I.  Das  Strafgesetzbuch  enthält  im  28.  Abschnitte  des  2.  Teiles,  sowie  in 
mehreren  ausserhalb  desselben  befindlichen  Paragraphen  Strafdrohungen  gegen 
Beamte  und  Strafdrohungen  wegen  Verbrechen  und  Vergehen  im  Amte  (SchöflFen- 
amt,  Geschworenenamt).  Fahrlässige  Tötung  und  Körperverletzung  unter 
Ausserachtlassung  der  durch  das  Amt  gebotenen  besonderen  Aufmerksamkeit, 
§§  222  Abs.  2,  230  Abs.  2;  vorsätzliche  Körperverletzung  im  Amte,  §  340; 
Unzucht  mit  Personen,  welche  der  Amtsgewalt  unterworfen  sind,  §  174 
No.  2  und  3;  Nötigung  und  Hausfriedensbruch  unter  Amtsmissbrauch,  §§339, 
342;  Amtsunterschlagung,  §§  350,  351;  übermässige  und  unbefugte  Gebühren- 
erhebung, §§  352,  353;  Amtserpressung,  §339  Abs.  2  mit  §253;  Teilnahme 
an  verbotenen  Verbindungen,  §  128  Abs.  2,  §  129  Abs.  2;  Störung  des  Gottes- 
dienstes unter  Amtsmissbrauch,  §  339  mit  §  167;  desgl.  Verhinderung  der 
Teilnahme  an  einer  gesetzgebenden  Versammlung,  §  339  mit  §  106;  desgl. 
Wahlbeeinflussuug,  §  339  mit  §  107;  Bestechlichkeit,  §§  332,  334  (§  335); 
Rechtsbeugung,  §  336 ;  Missbrauch  der  Untersuchungs-  imd  Strafgewalt,  §§  343 
bis  345 ;  gesetzwidrige  Nichtverfolgung  und  Nichtbestrafung,  §  346 ;  Entweichen- 
lassen eines  Gefangenen,  §347;  falsche  Beurkundung,  §§348,  349;  Verletzung' 
des  Dienstgeheimnisses,  Ungehorsam  und  falsche  Berichterstattung  der  Beamten 
des  Auswärtigen  Amtes  des  Reiches,  §  353a;  Verletzung  des  Post-  und  Tele- 
graphengcheimnisses,  §§354,  355;  bewusste  Mitwirkung  eines  Personenstands- 
beamten bei  Eingehung  einer  Doppelehe,  §  338,  vergl.  auch  oben  §  17;  Ver- 
leitung der  Untergebenen  und  Konnivenz  der  Aufsichts-  und  Kontrollbeamteu, 
§  357.  Die  Wahrung  des  Berufsgeheimnisses  ist  gegenüber  Rechtsanwälten, 
Advokaten,  Ärzten,  Wundärzten,  Hebammen,  Apothekern  und  den  Gehülfen 
dieser  Personen  unter  Strafschutz  gestellt,  StGB.  §  300.  Vergl.  auch  Unfall- 
versicheiTingsgesetz  vom  6.  Juli  1884,  §§  107  und  108  und  Invaliditäts-  und 
Alters  Versicherungsgesetz  vom  22.  Juni  1889,  §§  152,  153,  woselbst  auf  die 
Schwatzhaftigkeit  unter  gewissen  Umständen  Gefängnis  bis  zu  5  Jahren  mit 
Aberkennung  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  und  Geldstrafe  bis  zu  3000  Mark 
angedroht  ist.  Eine  allgemeine  Strafdrohung  gegen  die  Verletzung  des  Amts- 
geheimnisses   findet    sich    dagegen   in    dem   Reichsstrafrechte  nicht  und  nach 


*)  Laband,  Staatsrecht,  2.  Aufl.  (1890),  Bd.  1,  §  48,  S.  462.  —  Harseim  in 
V.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Bd.  1,  S.  266.  —  Hänel,  deutsches 
Staatsrecht,  Bd.  1  (1892),  §  76,  S.  455.  —  Sevdel,  baver.  Staatsrecht,  Bd.  3,  2.  Abt., 
München  1887,  S.  478.  —  H.  Meyer,  Lehrbuch,  4.  Aufl.  1888,  §  2  lit.  C,  S.  9.  —  Bin- 
ding,  Grundriss,  4.  Aufl.  1890,  §87  No.6,  S.  153  (3.  Aufl.  1884,  §88,  S.  83).  —  v.  Liszt, 
Lehrbuch,  1892,  §§  176,  177,  S.  592.  —  H.  Seuffert  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des 
Verwaltungsrechts,  Bd.  1,  S.  47. 


§  36.    Das  Strafrecht  der  Beamten  und  die  Disziplinarstrafgewalt.  67 


Artikel  2  der  Reicbsverfassung  und  §  2  des  Einführungsgesetzes  zum  Straf- 
gesetzbuche wäre  auch  die  Landesgesetzgebung  nicht  befugt,  eine  öffentliche 
Strafe  gegen  die  Verletzung  des  Amtsgeheimnisses  anzudrohen.  Vergl.  unten  §  43. 
II.  Eine  wesentliche  Ergänzung  findet  das  besondere  Beamtenstrafrecht 
in  dem  Disziplinarstrafrechte.  Wohl  wird  von  hervorragenden  Schriftstellern 
in  Deutschland  die  Meinung  vertreten,  dass  die  öffentliche  Strafe  und  die 
Disziplinarstrafe  wesensverschiedene  Dinge  seien.  So  insbesondere  von  Bin- 
ding,  V.  Liszt,  Laband,  Hänel.  Die  Verschiedenheit  der  Behandlung  der 
als  Amtsverbrechen  oder  Amtsvergehen  strafbaren  Handlung  und  des  Diszi- 
plinarvergehens,  besondere  aber  die  Nichtkonsumtion  der  Disziplinarstrafe 
durch  die  öffentliche  Strafe  und  umgekehrt  sprechen  für  diese  Wesensver- 
schiedenheit. In  der  deutschen  Gesetzgebung  ist  diese  aber  nicht  überall 
anerkannt  worden;  vergl.  namentlich  das  AUgem.  preuss.  Landrecht  von  1794, 
Teil  2,  Titel  20,  §§  323—508,  namentlich  §§  352,  363,  und  neuestens:  bayer. 
Ausf.-Ges.  vom  18.  August  1879  zur  Strafprozess-0.  für  das  deutsche  Reich 
(unten  §  44  No.  4)  Abschnitt  6,  sowie  namentlich  das  Einf.-Ges.  zum  deutschen 
Mil.-StGB.  (unten  §  41)  §  3.  Es  ist  nicht  zu  bestreiten,  dass  die  Disziplinar- 
strafe vielfach  Funktionen  der  öffentlichen  Strafe  erfüllt,  wie  die  öffentliche 
Strafe,  insofern  sie  die  Amtsunfähigkeit  mit  sich  bringt,  oder  insofern  der 
Amtsverlust  und  die  Amtsunfähigkeit  mit  ihr  verbunden  werden,  die  Thätig- 
keit  der  epurierenden  Disziplin  vorweg  nimmt.  Ordnung  und  Reinheit  des 
Amtes  von  störenden  Elementen  sind  nicht  die  letzten  Zwecke  der  Disziplinar- 
strafe. Mittelbar  verfolgt  die  Disziplinarstrafe  den  Schutz  derjenigen  Interessen, 
welche  das  Amt  zu  wahren  und  zu  pflegen  hat.  Solcher  Interessenschutz  ist  aber 
nach  der  hier  vertretenen  Ansicht  auch  das  Ziel  und  die  Rechtfertigung  der 
öffentlichen  Strafe.  Richtunggebend  für  die  deutsche  Beamtengesetzgebung 
überhaupt,  wie  für  die  Ausprägung  des  Disziplinarstrafrechtes  insbesondere, 
war  die  preussische  Gesetzgebung  am  Anfange  der  fünfziger  Jahre,  nämlich 
das  Gesetz  vom  7.  Mai  1851,  betr.  die  Dienstvergehen  der  Richter  und  die 
unfreiwillige  Versetzung  derselben  auf  eine  andere  Stelle  und  in  den  Ruhe- 
stand; GS.  1851,  S.  218;  besonders  aber  das  Gesetz  vom  21.  Juli  1852,  betr. 
die  Dienstvergehen  der  nicht  richterlichen  Beamten  u.  s.  w.,  GS.  1852,  S.  465. 
Dieser  Gesetzgebung  haben  sich  mehrere  Gesetze  anderer  Bundesstaaten  (Elsass- 
Lothringen,  Württemberg,  Baden,  Königreich  Sachsen,  Hessen)  angeschlossen; 
namentlich  aber  ist  die  Gesetzgebung  des  deutschen  Reichs  dem  preussischen 
Vorbilde  gefolgt.  Das  Gesetz,  betr.  die  Rechtsverhältnisse  der  Reichsbeamten 
vom  31.  März  1873,  RGBl.  S.  61,  erklärt  die  Verletzung  der  den  Reichs- 
beamten obliegenden  Pflichten  als  Dienstvergehen  und  bedroht  dieselben  mit 
Disziplinarstrafen;  §  72.  Die  Pflichten  bestehen  nach  §  10  in  der  der  Ver- 
fassung und  den  Gesetzen  entsprechenden  gewissenhaften  Wahrnehmung  des 
übertragenen  Amtes  und  in  einem  würdigen,  vom  Berufe  erforderten  Ver- 
balten in  und  ausser  dem  Amte.  Die  Disziplinarstrafen  bestehen  in  Ordnungs- 
strafen und  in  Entfernung  aus  dem  Amte  (Strafversetzung  und  Dienstentlassung). 
Die  Ordnungsstrafen  (Warnung,  Verweis,  Geldstrafe)  und  die  Strafversetzung 
dienen  der  bessernden  oder  korrektiven,  die  Dienstentlassung  der  epurierenden 
Disziplin.  Gesetz  §§  73 — 75.  Nach  der  grösseren  oder  geringeren  Erheblich- 
keit des  Dienstvergehens  und  mit  Rücksicht  auf  die  gesamte  Führung  des 
Angeschuldigten  ist  zu  ermessen,  welche  Strafe  anzuwenden  sei.  Gesetz  §  76. 
Die  Verhängung  von  Ordnungsstrafen  erfolgt  durch  die  Dienstvorgesetzten, 
nachdem  dem  Beamten  Gelegenheit  zur  Verantwortung  gegeben  war,  und 
unter  dem  Vorbehalte  einer  im  Instanzenzuge  sich  bewegenden  Beschwerde. 
Der  Entfernung  aus  dem  Amte  (Strafversetzung  und  Dienstentlassung)  muss 
ein    förmliches,    prozessual    ausgestaltetes    Disziplinarverfahren    vorausgehen. 


gg   Densches  Reich.  —  Das  Strafrecht  der  Beamten  und  die  Disziplinarstrafgewalt. 


Gesetz  §§  82 — 84.  Für  die  Mitglieder  des  Reiclisgerichts,  des  Bundesamtes 
für  das  Heimatwesen,  des  verstärkten  Reichseisenbahnamtes,  des  Patentamtes, 
der  Reichsrayonkommission  und  des  Reichsversicherungsamtes  gelten  besondere 
Bestimmungen,  ebenso  für  die  richterlichen  Militärjustizbeamten.  In  der 
bayerischen  Gesetzgebung  treten  die  Beziehungen  der  öffentlichen  und  der 
Disziplinarstrafe  besonders  stark  hervor.  Das  bayer.  Einführungsgesetz  zum 
Strafgesetzbuche  vom  26.  Dezember  1871  und  jetzt  das  Ausführungsgesetz  vom 
18.  August  1879  enthalten  im  VI.  Abschnitte  Artikel  103 — 110  Disziplinar- 
strafbestimmungen, welche  ähnlich  wie  das  Strafgesetzbuch  eine  Reihe  von 
Thatbeständen  aus  dem  Leben  der  Beamten  unter  Strafen  stellen.  Es  sind  Geld- 
strafen bis  zu  300,  600,  900  und  1500  Mark  angedroht,  auch  Entziehimg  des 
Amtes.  Die  Behandlung  und  Aburteilung  dieser  Disziplinarsachen  erfolgt  durch 
die  (ordentlichen)  Landgerichte  nach  Massgabe  des  Gerichts  Verfassungsgesetzes 
und  der  Strafprozessordnung.  Die  rechtliche  Behandlung  der  Disziplinarsachen 
unterscheidet  sich  von  der  anderer  Strafsachen  besonders  dadurch,  dass  die  Öffent- 
lichkeit ausgeschlossen  ist,  dass  gegen  die  erstergangenen  Urteile  das  Rechts- 
mittel der  Berufung,  dagegen  keine  Revision  stattfindet,  und  dass  im  Gesetz 
und  in  dem  verurteilenden  Erkenntnis  die  Strafen  das  Beiwort  „Disziplinar" 
haben.     Man  vergleiche: 

Reichsstrafgesetzbuch  §  266:  Bayer.  Ges.  18.  August  1879,  Art.  107: 

Wegen  Untreue  werden  mit  Gefäng-  Notare  oder  Gerichtsvollzieher,  wel- 

nis,  Reben  welchem  auf  Verlust  der  bür-      che  bei  den  ihnen  in  ihrer  dienstlichen 
gerlichen  Ehrenrechte  erkannt  werden      Eigenschaft    anvertrauten    Angelegen- 
kann,   bestraft:    1.   Vormünder,  Kura-      heiten  wissentlich   zum  Nachteil  ihrer 
toren,  Güterpfleger  u.  s.  w.,  wenn  sie      Auftraggeber  handeln,  werden  mit  Geld 
absichtlich  zum  Nachteil  der  ihrer  Auf-      bis  zu  1500  Mark  disziplinar  bestraft, 
sieht  anvertrauten  Personen  oder  Sachen      Art.  108:  In  den  Fällen  der  Art.  103 
handeln.    Vergl.  Hülfskassengesetz  vom      bis    107    kann   zugleich    auf   diszipli- 
1.    April    1884,   §  34;    Unfallversiche-      näre    Einziehung    des   Amtes    erkannt 
rungsgesetz  vom  6.  Juli  1884,    §  26;      werden. 
Invaliditäts-    und  Altersversicherungs- 
gesetz vom  22.  Juni  1889,  §  59;  Han- 
delsgesetzbuch   Art.    249;     Genossen- 
schaftsgesetz vom  1.  Mai  1889,  §  140. 

Es  dürfte  schwer  sein,  einen  begrifflichen  Unterschied  zwischen  dem 
obigen  Vergehen  des  Güterpflegei*s  und  dem  obigen  Disziplinarvergehen  des 
Notars  ausfindig  zu  machen.  Bezüglich  der  Richter  in  Bayern  kommt  jetzt 
das  Disziplinargesetz  vom  26.  März  1881  in  Betracht. 

Für  Rechtsanwälte  ist  die  deutsche  „Rechtsanwaltsordnung"  vom 
I.Juli  1878,  RGBl.  S.  177  massgebend.^)  Der  Rechtsanwalt  ist  verpflichtet, 
seine  Berufsthätigkeit  gewissenhaft  auszuüben  und  durch  sein  Verhalten  in 
Ausübung  des  Berufes  sowie  ausserhalb  desselben  sich  der  Achtung  würdig 
zu  zeigen,  die  sein  Beruf  erfordert.  Gesetz  §  28 ;  vergl.  über  die  Pflichten  im 
einzelnen  §§  29 — 40,  besonders  §  31.  Der  pflichtvergessene  Rechtsanwalt 
verwirkt  die  ehrengerichtliche  Bestrafung.  §  62.  Wamimg,  Verweis,  Geld- 
strafe bis  zu  3000  M.  mit  oder  ohne  Verweis,  Ausschliessung  von  der  Rechts- 
anwaltschaft. §  63;  vergl.  dazu  §  5  No.  2,  §  6  No.  3,  §  21  No.  3  (Folgen  der 
Ausschliessung,  des  Verweises  und  einer  Geldstrafe  von  mehr  als  160  M.) 
Über  die  Verblendung  der  Geldstrafen  bestimmt  §  97.  —  Bezüglich  der  Ärzte 
vergl.  Gewerbe- 0.  §  53,  RGBl.  1883  S.  195   (Zurücknahme  der  Approbation). 


^)  Laband,  Staatsrecht  des  deutschen  Reichs.   2.  Aufl.    1890.   §88  Bd.  2,  S.  417, 
besonders  S.  428. 


Das  MilitÄrstraf recht.  ■—  1.  Geschichte  des  Militärstrafgesetzbuches.  —  §  37.       69 


VI.   Das  MüitärstrafrechtO 

1.   Oeschichte  des  XilitArstrafjB^efletsbiiclies. 

§  37. 

Schon  die  deutschen  Volksrechte  des  frühen  Mittelalters  und  die  fränki- 
schen Königsgesetze  enthielten  Bestimmungen  über  die  Mannszucht  und  über 
militärische  Vergehen.  Neben  der  Androhung  strenger  Strafen  gegen  Fahnen- 
flucht (herisliz)  und  andere  militärische  Verbrechen  macht  sich  in  diesen  Ge- 
setzen der  auch  sonst  in  deutschen  Rechtsquellen  zuweilen  durchbrechende 
Humor  geltend.  Ein  Kapitulare  Karl  des  Grossen  vom  Jahre  811  bestimmte, 
ut  in  hoste  nemo  parem  suum  vel  quemlibet  alterum  hominem  bibere  roget. 
Et  quicunque  in  exercitu  ebrius  inventus  fuerit,  ita  excommunicetur,  ut  in 
bibendo  sola  aqua  utatur,  quousque  male  fecisse  cognoscat.  Eine  besondere 
Gerichtsbarkeit  über  die  Krieger  bestand  aber  nicht;  der  König  und  seine 
Vertreter  waren  zugleich  die  Führer  im  Kriege  und  die  ordentlichen  Friedens- 
obrigkeiten. *)  Das  änderte  sich  mit  dem  Aufkommen  des  Söldnerdienstes  und 
der  stehenden  Heere.  Die  Kriegsgerichte  lösten  sich  von  den  ordentlichen 
Gerichten  ab,  die  Kriegsleute  wurden  denselben  in  all  ihren  bürgerlichen  An- 
gelegenheiten und  in  Strafsachen  unterworfen.  Das  materielle  Strafrecht  für 
die  Kriegsleute  beruhte  auch  im  späten  Mittelalter  auf  den  allgemeinen  Rechts- 
quellen, ausserdem  aber  auf  Kriegsartikeln  und  Gewohnheiten,  deren  Inhalt 
durch  das  eigenartige  Berufsleben  der  Kriegsleute  und  durch  das  Bedürfnis 
strenger  Mannszucht  bestimmt  war.  Immerhin  war  auch  die  Behandlung  der 
gemeinen  Verbrechen  mit  Rücksicht  auf  ihre  besondere  Beziehung  zur  Manns- 
zucht und  zur  militärischen  Unterordnung  vielfach  eine  eigenartige.  Diese 
Absonderung  der  militärischen  Gerichtsbarkeit  und  des  Militärstrafrechts  wurde 
durch  die  militärischen  Spezialvorschriften  des  eindringenden  römischen  Rechts 
noch  besonders  begünstigt.  Vergl.  L.  2  Cod.  Theod.  de  jurisd.  2,  1  und  L.  18 
pr.  Cod.  Just,  de  re  milit.  12,  35  (36).  Bei  dieser  Sonderstellung  der  Militär- 
personen in  Hinsicht  auf  Gerichtsverfassung,  Strafrecht  und  Strafverfahren 
blieb  es  seitdem  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Es  fehlte  allerdings  nicht  an 
Versuchen,  die  Exemtion  der  Militärpersonen  auf  rein  militärische  und  durch 
den  Militärdienst  besonders  qualifizierte  Verbrechen  zu  beschränken;  so  schon 
im  Anfang  des  Jahrhunderts  bei  Aufhebung  der  Militärgerichtsbarkeit  in  Civil- 
sachen  durch  den  preussischen  Kanzler  von  Schrötter.  Scharnhorst  ver- 
anlasste die  Ablehnung  des  Antrages.*)  Vergl.  auch  die  deutschen  Grund- 
rechte von  1849,  §  35  (Roth  und  Merck,  Quellensammlung  zum  deutschen 
öffentlichen  Recht  seit  1848.  2.  Bd.  1852,  S.  122).  Im  selben  Sinne  hatte  im 
Jahre  1865  die  bayerische  Abgeordnetenkammer  mit  113  gegen  4  Stimmen 
einen  Antrag  an  die  Krone  beschlossen.^)  Allein  es  ist  auf  absehbare  Zeit  im 
deutschen  Reiche  nicht  daran  zu  denken,   dass  die  seit   vielen  Jahrhunderten 


*)  Wetzeil,  System  des  ordentlichen  Civilprozesses.  3.  Aufl.  Leipzig  1878. 
§  37,  S.  446.  —  E.  D'angelmaier  in  Goltdammers  Archiv,  Bd.  32  (1884),  S.  449.  — 
Heck  er,  Lehrbuch  des  deutschen  MiHtärstrafrechts.  Stuttgart  1887.  Einleitung.  — 
Binding,  Handbuch,  I,  §§  20—24,  S.  100.  —  v.  Liszt,  Lehrbuch  (1892),  §  201,  S.  685. 
—  Koppmann,  Das  Militärstrafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich  nebst  dem  Ein- 
führungsgesetz.    Mit  Kommentar.    2.  Aufl.    Nördlingen  1885.    Einleitung,  S.  I. 

*^j  Vergl.  Brunn  er,  Deutsche  Rechtsgeschichte  (Bindings  Handbuch,  2.  Abtl. 
1.  Teil,  2.  Bd.),  2.  Bd.,  §  60,  S.  11  f. 

*)  Dangelmaier,  a.  a.  0.  S.  455. 

*)  Stenographischer  Bericht  der  Kammer  der  Abgeordneten  1865,  Bd.  2  No.  45 
(Sitzung  vom  2.  Juni  1865),  S.  348. 


70  Deutsches  Reich.  —  Das  Militärstrafrecht. 


festgehaltene  Sonderstellung  des  Militärs  in  Bezug  auf  die  Strafgesetzgebung 
und  auf  die  Strafrechtspflege  im  wesentlichen  eine  Änderung  erfahren  wird. 
Massgebend  wird  bleiben  diejenige  Anschauung,  welche  in  einem  im  Jahre 
1^48  gedruckten,  aber  nicht  veröffentlichten,  Buche  zum  Ausdruck  gebracht 
ist,  das  keinen  Geringeren  als  den  damaligen  Prinzen  von  Preussen  imd 
späteren  Kaiser  Wilhelm  I.  zum  Verfasser  hat.  In  den  „Bemerkungen  zum 
Entwurf  der  Wehrverfassung  des  deutschen  Reiches,  Dezember  1848"  sagt  der 
spätere  Kaiser  zu  Artikel  XII,  Disziplin  und  Rechtspflege,  S.  92:  „ —  so  müssen 
wir  bei  dem  Grundsatze  stehen  bleiben,  dass  den  Militärgerichten  in  Krieg 
und  Frieden  die  volle  Strafgewalt  erhalten  bleibe,  wenn  man  nicht  einen  der 
festesten  Grundsteine  aus  dem  Heerwesen  verlieren  will." 

Die  Kriegsartikel  für  die  Landsknechte  von  Maximilian  I.  (1508)  mid 
die  Reiterbestallung  für  die  Reiterei,  unter  Maximilian  II.  auf  dem  Reichstage 
zu  Speier  1570  gegeben,  bildeten  mit  den  Kriegsartikeln  Gustav  Adolphs  vom 
Jahre  1621,  welche  vom  Grossen  Kurfürsten  für  Kurbrandenburg  eingeführt 
wurden,  die  hauptsächliche  Grundlage  des  preussischen  Militärstrafrechts.  *)  Zur 
Kodifikation  des  Militärstrafrechts  kam  es  erst  im  19.  Jahrhundert. 

Nach  Artikel  61  der  Verfassung  des  norddeutschen  Bundes  und  darauf 
nach  Artikel  61  der  Reichs  Verfassung  sollte  im  ganzen  Bunde,  beziehungsweise 
im  ganzen  Reiche  die  gesamte  preussische  Militärgesetzgebung  ungesäumt  ein- 
geführt werden,  namentlich  das  preussische  Militärstrafgesetzbuch  vom  3.  April 
1845  und  die  preussische  Militärstrafgerichtsordnung  vom  3.  April  1845,  sowie 
die  Verordnung  über  die  Ehrengerichte  vom  20.  Juli  1845.  Das  ist  zunächst 
für  den  norddeutschen  Bund  durch  die  Verordnung  des  Königs  von  Preussen 
vom  29.  Dezember  1867,  BGBl.  S.  185,  geschehen.  Nur  das  Königreich  Sachsen 
behielt  sein,  dem  preussischen  nachgebildetes  Militärstrafgesetzbuch  vom  4.  No- 
vember 1867.  Im  Grossherzogtum  Hessen,  südlich  des  Mains,  trat  das 
preussische  Militärstrafgesetzbuch  schon  mit  der  Bundesverfassmig  in  Kraft;*) 
in  Baden  wurde  es  durch  Kaiserliche  Verordnung  vom  24.  November  1871, 
RGBl.  S.  401,  eingeführt.  In  Bayern  wm-de  das  preussische  Militärstrafgesetz- 
buch auf  Grund  des  Bündnisvertrages  vom  23.  November  1870  (BGBl.  1871, 
S.  9),  in  Württemberg  auf  Grund  der  Militärkonvention  vom  21/25.  November 
1870,  BGBl.  1870,  S.  658,  nicht  eingeführt.  Nach  Gründung  des  Reichs 
galten  vier  Militärstrafgesetzbücher  in  demselben,  nämlich:  1.  das  württem- 
bergische vom  20.  Juli  1818;  2«  das  preussische  vom  3.  April  1845;  3.  das 
sächsische  vom  4.  November  1867  und  4.  das  bayerische  vom  29.  April  1869. 
Diese  Gesetzbücher  waren  nicht  bloss  unter  sich  in  vielen  Punkten  verschieden, 
sondern  sie  harmonierten  auch  nicht  in  den  allgemeinen  massgebenden  Grund- 
sätzen mit  dem  nunmehr  einheitlich  gewordenen  Civilstrafrechte.  Eine  Aus- 
gleichung war  geboten,  „wenn  das  Militärstrafrecht  nicht  hinter  den  Anforde- 
rungen der  Wissenschaft  und  denjenigen  Anforderungen,  die  an  eine  gute 
Rechtspflege  zu  machen  sind,  zurückbleiben,  nicht  der  Gefahr  der  Isolierung 
und  damit  der  Erstarrung  preisgegeben  werden  sollte".  Die  im  Kriege  unter 
einheitlichem  Oberbefehle  stehende  Armee  musste  schon  im  Frieden  dem  näm- 
lichen Gesetze  unterworfen  werden.  Ein  wichtiges  politisches  Element  für  die 
Stärkung  des  Reichs  war  darin  zu  finden,  dass  die  ganze  aus  verschiedenen 
Kontingenten  zusammengesetzte  deutsche  Armee  im  Frieden  wie  im  Kriege 
unter  ein  und  dasselbe  Gesetz  kam.  Speziell  „das  preussische  Militärstraf- 
gesetzbuch war  in  einer  Zeit  entstanden,  in  der  die  Bedürfnisse,  welche  der 
Krieg  an  ein  Militärstrafgesetzbuch  zu  stellen    hat,    zu    sehr   in  Vergessenheit 


*)  Dangelmaier,  a.  a.  0.  S.  454  und  455. 
-)  Bin  ding,  Handbuch,  I,  S.  101. 


§  37.  ■—  1.  Geschichte  des  Müitärstrafgesetzbuches.  71 


geraten  waren.  Wohlberatene  Stimmen  haben  darum  nicht  mit  Unrecht  ge- 
sagt, das  preussische  Militärstrafgesetzbuch  reiche  aus  für  den  Frieden,  sei 
aber  unzulänglich  für  den  Krieg". 

Schon  bei  der  Beratung  des  Civilstrafgesetzbuches  wurde  im  nord- 
deutschen Reichstage  unter  dem  Beifalle  des  Kriegsministers  Grafen  Dr.  von 
Roon  der  Antrag  „wegen  baldmöglichster  Vorlage  über  eine  Revision  der 
Militärstrafgesetzgebung"  angenommen.  Ein  vom  preussischen  Generalauditeur 
Fleck  auf  der  Basis  der  preussischen  Gesetzgebung  und  unter  Berücksich- 
tigung des  bayerischen  Militärstrafgesetzbuches  ausgearbeiteter  Entwurf  (I) 
wurde  darauf  einer  aus  Offizieren  und  Militärjuristen  zusammengesetzten  Kom- 
mission unterbreitet.  Aus  den  viermonatlichen  Beratungen  dieser  Kommission 
ging  der  Entwurf  II  hervor,  welcher  mit  wenigen  Änderungen  vom  Bundes- 
rate angenommen  und  am  8.  April  1872  dem  Reichstage  vorgelegt  wurde 
(Entwurf  III).  Beigegeben  waren  ein  aus  3  Paragraphen  bestehender  Entwurf 
eines  Einführungsgesetzes,  sowie  Motive,  welche  von  dem  Geheimen  Justizrate 
Keller  und  dem  preussischen  Stadtrichter  Dr.  R üb o,  der  erstere  Mitglied,  der 
letztere  einer  der  Schriftführer  der  Kommission,  ausgearbeitet  waren.  Der 
ganze  Entwurf  wurde  im  Reichstage  einer  Kommission  von  21  Mitgliedern 
zur  Vorberatung  überwiesen.  Vorsitzender  dieser  Kommission  war  der  Ab- 
geordnete Feldmarschall  Graf  von  Moltke,  dessen  Stellvertreter  der  spätere 
Präsident  des  Reichstages  von  Forckenbeck.  Unter  den  Mitgliedern  der 
Kommission  befanden  sich  die  Abgeordneten  Gneis t,  Windhorst,  Schwarze, 
Lasker  und  Lamey.  Der  letztere  fungierte  als  Berichterstatter  im  Plenum 
des  Reichstages.  In  26  Sitzungen  unterzog  die  Kommission  den  Entwurf  einer 
zweimaligen  Lesung.  Scharfe  Gegensätze  kamen  dabei  zum  Ausdrucke.  Die- 
selben bezogen  sich  namentlich  auf  das  Projekt,  die  Strafarten  bezüglich  der 
Militärpersonen  auch  hinsichtlich  der  nicht  militärischen  Delikte  besonders  aus- 
zugestalten, auf  die  prinzipiell  verschiedene  Straf behandlung  der  Offiziere, 
Unteroffiziere  und  Gemeinen,  sowie  die  Bevorzugung  der  Militärpersonen  vor 
den  Civilpersonen,  femer  auf  die  weitgehende  Heischung  des  blinden  Gehor- 
sams*) und  auf  die  Ausgestaltung  des  Arrestes.  Nach  einer  Mitteilung  im 
Plenum  des  Reichstages  (Sten.  Ber.  S.  810)  erklärten  die  verbündeten  Regie- 
rungen, dass  die  von  der  Kommission  in  der  ersten  Lesung  hinsichtlich  des 
Arrestes  gefassten  Beschlüsse  imannehrabare  seien,  dass  das  Gesetz  bei  dem 
Festhalten  dieser  Beschlüsse  scheitern  müsse,  und  zwar  um  deswillen,  weil 
man  der  Ansicht  sei,  dass  mit  diesen  Bestimmungen  die  Disziplin  in  der  Armee 
nicht  aufrecht  erhalten  werden  könne.  Auch  in  anderen  Beziehungen  gab  der 
Bundesrat  nach  der  ersten  Lesung  in  der  Kommission  seine  Meinung  kund. 
Am  7.  Juni  1872  kam  es  zur  zweiten,  am  8.  Juni  zur  dritten  Lesung  im 
Plenum.  Die  Rede  des  Abgeordneten  Grafen  von  Moltke  am  7.  Juni  ist  so 
gedankenreich  und  bewegt  sich  so  sehr  in  dem  Kreise  der  Ideeen,  welche  die 
heutigen  Reformbestrebungen  auf  dem  Gebiete  des  Strafrechts  erfüllen,  dass  es 
am  Platze  sein  dürfte,  die  Rede  hier  ihrem  Hauptinhalte  nach  wiederzugeben.*) 
Moltke  widersprach  dem  Versuche,   die  Arreststrafen  wesentlich  zu  mildem. 

„Ich  glaube,  dass  eine  allzugrosse  Abminderung  der  Strenge  der  Strafen 
nur   die  Zahl  ihrer  Anwendungen  vermehren  wird.    Wenn   wir   ein  Gesetz   für   die 


^)  Nach  §  58  des  Entwurfes  sollte  der  Untergebene  straflos  bleiben,  wenn  er 
durch  Ausführung  eines  Befehles  in  Dienstsachen  eine  mit  Strafe  bedrohte  Handlung 
begangen  und  den  Befehl  nicht  überschritten  hat.  Der  befehlende  Vorgesetzte  sollte 
als  Thäter  betrachtet  werden.  Eine  Ausnahme  war  nur  bei  Handlungen  gegen  die 
militärische  Treue  anerkannt.    Vergl.  dagegen  jetzt  Mil.-StGB.  §  47. 

-)  Stenographische  Berichte  über  die  Verhandlungen  des  deutschen  Reichstages, 
I.  Legislaturperiode,  III.  Session  1872,  Bd.  2,  S.  814. 


72  Deutsches  Reich.  —  Das  Militärstraf  recht. 


Armee  geben  woUen,  .  .  so  dürfen  wir  uns  nicht  ausschliesslich  auf  den  bürgerlichen, 
auf  den  juristischen  oder  ärztlichen  Standpunkt  stellen,  wir  müssen  uns  schon  auf 
den  militärischen  stellen.  Autorität  von  oben  und  Gehorsam  von  unten;  mit  einem 
Worte,  Disziplin  ist  die  ganze  Seele  der  Armee.  Die  Disziplin  macht  die  Armee  erst 
zu  dem,  was  sie  sein  soll,  und  eine  Armee  ohne  Disziplin  ist  auf  alle  Fälle  eine  kost- 
spielige, für  den  Krieg  eine  nicht  ausreichende  und  im  Frieden  eine  gefahrvolle  In- 
stitution. .  .  Die  Strafen  sind  es  lange  nicht  allein,  mit  denen  wir  die  Disziplin  auf- 
recht erhalten.   Es  gehört  dazu  die  ganze  Erziehung  des  Mannes Wir  können 

aber  die  Strafen  dennoch  nicht  entbehren Sie  werden  zugeben,  dass  es  einer 

ungemein  starken  Autorität  bedarf,  um  Tausende  von  Menschen  zu  bestimmen,  unter 
den  schwierigsten  Verhältnissen,  unter  Leiden  und  Entbehrungen,  Gesundheit  und 
Leben  an  die  Ausführung  eines  gegebenen  Befehles  zu  setzen.  Eine  solche  Autorität 
.  .  .  kann  nur  erwachsen  und  kann  nur  fortbestehen  unter  schützenden  Verhältnissen. 
Es  muss  der  Unteroffizier  dem  Soldaten  gegenüber  eine  bevorzugte  Stellung  haben, 
und  es  muss  der  Offizier  beiden  gegenüber  eine  Prärogative  geniessen.  Darin  liegt 
.  .  .  allerdings  die  .  .  .  hervorgehobene  Ungleichheit  vor  dem  Gesetze.  Es  ist  aber 
nicht  sowohl  eine  Bevorzugung  des  Offiziers,  als  eine  Bevorzugung  des  Vorgesetzten, 
und  ich  bemerke  dabei,  dass  in  der  ganzen  Armee  Jedermann  heute  Vorgesetzter  und 
morgen  Untergebener  sein  kann.  Der  General  an  der  Spitze  eines  Korps  ist  in  dem 
Augenblick  der  Gehorchende,  wo  er  in  Berührung  mit  einem  noch  höher  gestellten 
General  kommt,  und  ebenso  kann  der  einfache  Soldat  Vorgesetzter  werden,  sobald 
der  Dienst  ihn  dazu  beruft.  Jeder  Wachtposten,  jeder  Gefreite,  der  eine  Patrouille 
führt,  hat  Gehorsam  zu  fordern.  —  Wir  bedürfen  .  .  .  die  strengen  Strafen  nicht 
gegen  die  grosse  Masse  unserer  Leute,  die  durch  Belehrung,  Ermahnung,  Rüge, 
höchstens  leichte  Disziplinarstrafen  unschwer  zu  leiten  sind,  allein  .  .  wir  haben  es 
zum  Teile  auch  mit  ganz  schlechten  Subjekten  zu  thun.  Wenn  alles  unter  die  Waffen 
tritt,  so  treten  natürlich  die  schlechten  Subjekte,   die  ja    in  jeder  Nation  vorhanden 

sind,  auch  unter  die  Wafi'en Den  moralischen  Zustand  der  Rekruten 

kann  die  Aushebungskommission  nicht  untersuchen.  Wir  bekommen  also  auch  Leute, 
die  vielleicht  Kandidaten  des  Zuchthauses  sind,  wenn  sie  nicht  durch  eine  strenge 
militärische  Erziehung  noch  vor  diesem  Unglücke  bewahrt  werden  ....  —  Es  haben 
bedeutende  Abminderungen  der  Strafen  stattgefunden,  namentlich  Verkürzungen  bei  dem 
strengen  Arreste  um  das  volle  Dritt  eil  der  bisherigen  Dauer.  Wir  haben  uns  damit 
durchaus  einverstanden  erklärt.  Vollkommen  im  militärischen  Interesse  liegen  kurze, 
aber  strenge  Strafen,  —  mit  kurzen  und  leichten  Strafen  aber  können  wir  nicht  fertig 
werden.  Es  ist  das  harte  Lager  bezeichnet  als  eine  Art  Grausamkeit.  Meine  Herren, 
wir  verurteilen  alle  unsere  Leute  täglich  zu  diesem  harten  Lager,  so  oft  sie  auf  die 
Wache  ziehen,  nur  mit  der  Verschärfung,  welche  bei  dem  Arreste  hinwegfällt,  dass 
der  Mann  alle  vier  Stunden  herausgerufen  wird,  um  dann  zwei  Stunden  bei  Wind 
und  Wetter  Posten  zu  stehen.  Ein  hartes,  aber  trocknes  und  gegen  Wind  und  Wetter 
geschütztes  Lager  .  .  ist  eine  unglaubliche  Wohlthat  gegen  ein  Bivouac  auf  dem 
Schnee  oder  einem  nassen  Sturzacker,  wie  es  unsere  Leute  ja  viele  Nächte  hindurch 
haben  ertragen  müssen.  Wie  gerne  wäre  der  Soldat  oder  selbst  ein  Offizier  aus  einem 
solchen  Bivouac  in  ein  ähnliches  Lokal  geschlüpft.  Wenn  Sie  dem  widerspenstigen, 
faulen  Mann  die  Matratze  mit  in  das  Arrestlokal  geben,  und  wenn  Sie  ihm  seine  ge- 
wohnte Nahrung  nur  jeden  dritten  Tag  entziehen,  so  faulenzt  er  seinen  Arrest  ab, 
er  schläft  und  freut  sich,  dass  seine  Kameraden  für  ihn  auf  Wache  ziehen  müssen 
und  dass  er  nicht  zu  exerzieren  braucht  ....  Wir  kommen  mit  solchen  Strafen 
nicht  aus.  Bedenken  Sie,  dass  die  strengen  Strafen  nicht  gerichtet  sind  gegen  den 
ordentlichen,  propem  Soldaten,  wie  Sie  ihn  auf  der  Strasse  oder  dem  Exerzierplatz 
sehen,  sondern  gegen  die  wenigen  schlechten  Subjekte." 

Mit  „sehr  grosser  Majorität"  wurde  der  modifizierte  Entwurf  nebst  den 
drei  Paragraphen  des  Einführungsgesetzes  in  der  Schlussabstimmung  am 
8.  Juni  1872  angenommen  und  vom  Bundesrate  am  Tage  darauf  (9.  Juni) 
sanktioniert.  Am  20.  Juni  vollzog  Kaiser  Wilhelm  I.  das  Gesetzbuch.  Am 
25.  Juni  1872  wurde  es  als  „Militärstrafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich" 
vom  20.  Juni  1872  in  der  Nunmier  18  des  Reichsgesetzblattes  S.  173  publiziert. 
Ins  Leben  trat  das  Gesetzbuch  am  1.  Oktober  1872.  Einf.-Ges.  zum  Mil.-StGB. 
§  1,  RGBl.  S.  173.  Für  Elsass-Lothringen ,  wo  die  Reichs  Verfassung  erst  am 
1.  Januar  1874  in  Wirksamkeit  trat,  bestimmte  ein  Kaiserliches  Gesetz  vom 
S.Juli  1872  (GBl.  für  Elsass-Lothr.  S.  473)  die  Geltung  des  Militärstrafgesetzbuches 
gleichfalls  für  die  Zeit  vom  1.  Oktober  1872  an. 


§  88.  —  2.  Inhalt  des  Militärstrafgesetzbuches.    Einleitende  Bestimmungen.      73 


St  Ber  Inhalt  des  Militftmtrafjg— tobnche«.^) 

§  38.   Yorbemerkangen  and  die  einleitenden  Bestimmungen. 

I.  1.  Das  Militärstrafgesetzbuch  ist  nicht  bloss  ein  Strafgesetzbuch  für 
Militärpersonen.  Vielmehr  unterstehen  zahlreichen  Bestimmungen  desselben 
unter  gewissen  Voraussetzungen  auch  Civilpersonen.  S.  unten  §  40  III.  2.  Das 
Militärstrafgesetzbuch  enthält  zum  Teil  ein  besonderes  Strafrecht  für  Militär- 
personen im  Frieden,  zum  Teil  ist  es  Kriegsrecht;  s.  unten  II,  No.  14,  15. 
3.  Das  Militärstrafgesetzbuch  stellt  zum  Teil  Handlungen  unter  besondere 
Straf drohung,  die  schon  nach  allgemeinem  Rechte  strafbar  sind,  zum  Teil 
pönalisiert  es  Handlungen,  welche  nach  allgemeinem  Rechte  nicht  Verfolgbar 
wären.  Beide  Kategorieen  zusammen  bilden  die  militärischen  Verbrechen  und 
Vergehen.  Wo  dagegen  die  Berücksichtigung  des  Dienstverhältnisses  lediglich 
der  ordentlichen  Strafzumessung  überlassen  ist,  da  erscheint  die  betreffende 
Handlung  nicht  als  militärisches  Delikt,  wenn  auch  dieselbe  ausser  dem 
Bruch  des  allgemeinen  Rechts  die  Verletzung  einer  besondem  Dienstpflicht 
enthält.*)  Der  militärstrafrechtliche  Charakter  wird  selbst  dann  abgelehnt, 
wenn  in  Gemäss heit  des  §  55  des  Militärstrafgesetzbuches  bei  einer  allgemein 
strafrechtlichen  That  nur  eine  Straferhöhung  einzutreten  hat,  nicht  im  speziellen 
Teile  des  Militärstrafgesetzbuches  eine  besondere  Strafe  angedroht  ist.*)  4.  Das 
Militärstrafgesetzbuch  zerfällt  wie  das  Civilstrafgesetzbuch  in  „Einleitende 
Bestimmungen"  (§§  1 — 13)  und  zwei  Teile,  von  denen  der  erste  (§§  14 — 55) 
„von  der  Bestrafung  im  allgemeinen**,  der  zweite  (§§  56 — 166)  von  den 
einzelnen  Verbrechen  und  deren  Bestrafung  handelt.  Der  Inhalt  des  aus  drei 
Paragraphen  bestehenden  Einführungsgesetzes  zum  Militärstrafgesetzbuch  ist 
an  geeigneter  Stelle  besprochen.^) 

II.  Die  einleitenden  Bestimmungen.  !•  Ähnlich  wie  im  Civilstrafgesetz- 
buche  wird  durch  §  1  des  Militärstrafgesetzbuches  die  Gruppierung  der  mili- 
tärischen Delikte  nach  dem  Maximum  der  angedrohten  Strafe  vorgenommen. 
Das  Militärstrafgesetzbuch  kennt  aber  nur  Verbrechen  und  Vergehen  und  be- 
zeichnet als  militärisches  Verbrechen  eine  Handlung,  die  im  Militärstrafgesetz- 
buche mit  dem  Tode,  mit  Zuchthaus  oder  mit  Gefängnis  oder  Festungshaft 
von  mehr  als  fünf  Jahren  bedroht  ist,  während  die  im  Gesetzbuche  angedrohten 
Freiheitsstrafen  bis  zu  fünf  Jahren  die  That  als  militärisches  Vergehen  er- 
scheinen lassen.  Das  Gefängnis  ist  also,  anders  als  nach  dem  Civilstrafgesetz- 
buche,  sowohl  ordentliche  Verbrechens-  wie  Vergehensstrafe.  Eine  weitgehende 
Ergänzung  finden  die  Strafdrohungen  des  Militärstrafgesetzbuches  durch  die 
Handhabung   der   militärischen    Disziplin.     Vergl.    unten    §    41.      2.    Die    all- 


*)  Heck  er,  Lehrbuch  des  deutschen  Militärstrafrechts.  Stuttgart  1887.  —  Fleck, 
Militärstrafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich  nebst  den  seit  Publikation  desselben 
ergangenen,  auf  die  militärische  Rechtspflege  im  preussischen  Heere  und  in  der  kaiserl. 
Marine  sich  beziehenden  Gesetzen,  Verordnungen,  Erlassen  und  allgemeinen  Ver- 
fügungen. 2.  Aufl.  Berlin  1881.  2.  Teil.  Fortgesetzt  von  C.  Keller.  Berlin  1880.  — 
Keller,  Militärstrafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich  unter  Berücksichtigung  der 
Motive  und  Reichstagsverhandlungen  erläutert.  2.  Aufl.  Berlin  1878.  —  Heck  er.  Das 
Militärstrafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich  nebst  dem  Einführungsgesetz  erläutert. 
Berlin  1877.  —  Koppmann,  Das  MiHtärstrafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich  nebst 
dem  Einführungsgesetze.  Mit  Kommentar  herausgegeben.  2.  Aufl.  1885.  —  Solms, 
Straf  recht  und  Strafprozess  für  Heer  und  Marine  des  deutschen  Reichs.  3.  Aufl. 
Berlin  1892.  Vergl.  auch  die  Litteraturangaben  in  Heckers  Lehrbuch,  S.  315  imd 
316.  —  v.  Liszt,  Lehrbuch  (1892),  §1^201,  202,  S,  685. 

*)  Koppmann,  a.  0.  Bemerkung  28  zu  §  1,  S.  27. 

*)  Kopp  mann,  a.  O.,  S.  28  und  29.  Vergl.  auch  die  Bemerkung  bezüglich 
der  §1^  56,  136  und  145.    Vergl.  aber  imten  §  39  a.  E.  S.  79. 

*)  Vergl.  §  37  a.  E.,  diesen  Paragraph  II,  No.  9  und  10  und  unten  §  41  No.  1. 


74  Deutsches  Reich.  —  Das  Militärstrafreeht. 


gemeinen  Bestimmungen  des  Civilstrafgesetzbuches  werden  für  niilitärische 
Verbrechen  und  Vergehen  als  „entsprechend''  anwendbar  erklärt.  §  2.  Dies 
versteht  sich  unter  der  Voraussetzung,  dass  nicht  der  erste  Teil  des  Militär- 
strafgesetzbuches  abweichende  Bestimmungen  aufgestellt  hat.  Durch  die  §§  7, 
15,  29,  47,  49,  55,  127  erfährt  das  Civilstrafgesetzbuch  in  Bezug  auf  Militär- 
personen erhebliche  Abänderungen.  3.  Der  §  3  bestimmt  entgegen  dem  Ent- 
würfe, dass  Handlungen  der  Militärpersonen,  welche  nicht  militärische  Ver- 
brechen oder  Vergehen  sind,  nach  den  allgemeinen  Strafgesetzen  zu  beurteilen 
seien.  Das  gilt  namentlich  auch  von  den  Zweikämpfen  der  Offiziere,  insoweit 
nicht  die  §§  112  und  113  des  Militärstrafgesetzbuches  in  Frage  kommen. 
Vergl.  dazu  die  Einleitung  zu  den  kaiserlichen  Verordnungen  über  die  Ehren- 
gerichte der  Offiziere  im  preussischen  Heere  und  in  der  kaiserlichen  Marine 
vom  2.  Mai  1874  und  2.  November  1875.*)  4.  Nach  §  4  der  Einleitung 
sind  Militärpersonen:*)  die  Personen  des  Soldatenstandes  und  die  Militär- 
beamten, welche  zum  Heer  oder  zur  Marine  gehören.  Unter  Heer  ist  das 
deutsche  Heer,  unter  Marine  die  kaiserliche  Marine  zu  verstehen.  5,  Mit 
Rücksicht  auf  die  Verschiedenheit  der  Strafbehandlung  der  Angehörigen  des 
Heeres  ist  in  einem  Anhange  zum  Militärstrafgesetzbuch  (RGBl.  S.  204)  ein  Rang- 
verzeichnis der  zum  deutschen  Heere  und  zur  kaiserlichen  Marine  gehörenden 
Militärpersonen  aufgestellt,  auf  welches  §  5  des  Gesetzbuchs  verweist.'*)  6,  Die 
Personen  des  Beurlaubtenstandes  unterliegen  nach  §  6  dem  Militärstrafgesetz- 
buch in  der  Zeit  ihres  Dienstes;  ausserdem  sind  die  §§  68,  69,  113(89 — 112), 
126  (114—125),  ferner  die  §§  10  No.  2  und  42  auf  sie  anwendbar.  Hin- 
sichtlich der  Zugehörigkeit  zum  Beurlaubtenstande  vergl.  Reichsmilitärgesetz 
vom  2.  Mai  1874  (RGBl.  S.  45,  §  56).  7.  Für  solche  Offiziere  ä  la  suite, 
die  nicht  zum  Soldatenstande  gehören,  regelt  §  2  Abs.  3  des  Einf.-Ges.  zum 
Mil.-StGB.  die  Unterstellung  unter  das  Militärs  traf  recht.  8.  InbetreflF  der  mit 
Pension  verabschiedeten  Offiziere  vergl.  jetzt  Gesetz  vom  3.  Mai  1890  §  1, 
RGBl.  S.  63.  Dazu  Laband,  Staatsrecht  II,  S.  697.  9.  Hinsichtlich  der 
Landgendarmen  macht  §  2  des  Einf.-Ges.  zum  Mil.-StGB.  einen  Vorbehalt 
zu  Gunsten  des  Landesstrafrechts.  In  Preussen  sowie  in  den  anderen 
Bundesländern  (auch  Elsass- Lothringen),  wo  die  preussische  Militärgesetz- 
gebung gilt,  nicht  in  Bayern,  sind  die  Landgendarmen  Personen  des  Sol- 
datenstandes und  unterstehen  als  solche  dem  Reichsmilitärstrafgesetzbuch; 
ausserdem  aber  auch  den  §§48  Abs.  2  und  188,  Teil  I  des  preuss.  Mil.- 
StGB.,  welche  durch  §  2,  Abs.  2  des  Einf.-Ges.  zum  Mil.-StGB.  aufrecht 
erhalten  sind.  In  Bayern  sind  die  Landgendarmen  nicht  Personen  des 
Soldatenstandes;  sie  waren  aber  dem  bayerischen  Mil.-StGB.  vom  29.  April 
1869  in  Gemässheit  des  Art.  7  des  Einf.-Ges.  zu  diesem  Gesetzbuche  unter- 
worfen, und  dieses  ist  nach  §  2  Abs.  2  des  Einf.-Ges.  zum  Reichs-Mil.-StGB. 
in  der  modifizierten  Gestalt,  welche  ihm  das  bayer.  Ges.  vom  28.  April  1872 
gegeben  hat,  noch  heutigen  Tages  auf  die  Gemeinen  und  Unteroffiziere  der 
bayerischen  Landgendarmen  anwendbar.*)     10.  Der  Vorbehalt  des  §  2  Abs.  2 


*)  So] ms.  Strafrecht  und  Straf prozess  für  Heer  und  Marine  des  deutschen  Reichs. 
3.  Aufl.    S.  535. 

*)  Vergl.  dazu  Hecker  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts 
Bd.  2,  S.  125. 

')  Hinsichtlich  der  zur  Disposition  gestellten  Offiziere  vergl.  Heck  er  in  von 
Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  2,  S.  128;  dagegen  Laband, 
Staatsrecht  (1890),  Bd.  2,  S.  694,  besonders  Note  6. 

*)  Die  bayerischen  Gendarmerie- Offiziere  sind  als  abkommandierte  Offiziere  des 
Heeres  Personen  des  Soldatenstandes.  Vergl.  über  das  Vorstehende  Koppmann, 
Kommentar  (2.  Aufl.),  S.  2  0".  —  Merkwürdig  ist  die  Gerichtsbarkeit  hinsichtlich  der 
bayerischen  Landgendarmen.    In  Ansehung   der  militärischen  Verbrechen   und  Ver- 


§  38.  —  2.  Inhalt  des  Militärstrafgesetzbuches.    Einleitende  Bestimmungen.      75 


des  Einf.-Ges.  zum  Mil.-StGB.  in  BetreflF  der  Fahnenflüchtigen  ist  wesentlich 
prozessualer  Art.  Vergl.  darüber  Koppmann  a.  0.,  S.  6  und  Solms 
a.  0.  S.  6.  !!•  Aus  dem  Heere  oder  der  Marine  entfernte  Personen 
(s.  unten  §  39  I  a.  E),  sowie  Offiziere,  welche  des  Dienstes  oder  im  ehren- 
gerichtlichen Verfahren  mit  schlichtem  Abschied  entlassen  sind,  unterstehen 
dem  Militärstrafrechte  in  keiner  Weise.  Den  Diensttitel  können  solche 
Offiziere  auf  Grund  einer  späteren  Aberkennung  der  bürgerlichen  Ehren- 
rechte in  Gemässheit  des  §  33  des  Civil-StGB.  verlieren.  12.  Durch  §  7 
des  Mil.-StGB.  wird  für  Militärpersonen  im  Auslande  die  Verfolgbarkeit  gegen- 
über dem  §  4  des  Civil-StGB.  erweitert.  Strafbare  Handlungen  derselben 
sind  wie  die  im  Inlande  verübten  zu  bestrafen,  wenn  sich  die  Militärpersonen 
bei  Vornahme  der  Handlungen  im  Auslande  bei  den  Truppen  oder  sonst  in 
dienstlicher  Stellung  befanden.  13,  Nach  §  8  sollen  militärische  Verbrechen 
und  Vergehen,  welche  gegen  Militärpersonen  verbündeter  Staaten  in  gemein- 
schaftlichen Dienstverhältnissen  (gleichviel  wo)  begangen  werden,  im  Falle 
der  Gegenseitigkeitsverbürgung  ebenso  bestraft  werden,  als  wenn  sie  gegen 
deutsche  Militärpersonen  begangen  wären.  Vergl.  Mil.-StGB.  §  161  sowie 
unten  §  40  III,  No.  5.  14.  Der  zweite  Teil  des  Militärstrafgesetzbuches  stellt 
eine  Anzahl  von  Vorschriften  für  Handlungen  im  Felde  auf.  Diese  Vor- 
schriften werden  als  Kriegsgesetze  bezeichnet;  und  in  den  §§  9  und  10  werden 
die  Zeiten  und  die  Personen  bestimmt,  für  welche  die  Kriegsgesetze  gelten. 
(Die  Zeit  des  mobilen  Zustandes,*)  des  Kriegszustandes  —  unten  §  42;  Truppen- 
teile während  der  Zustände  des  Aufruhrs,  der  Meuterei  oder  eines  kriegerischen 
Unternehmens,  welche  unter  die  Kriegsgesetze  gestellt  sind,  desgleichen 
Kriegsgefangene.)  15.  Nach  §  11  des  (Gesetzbuches  ist  eine  Truppe  „als  vor  dem 
Feinde  befindlich"  (vergl.  z.  B.  Mil.-StGB.  §§  73,  108,  141  Abs.  2,  3)  zu  be- 
trachten, wenn  in  Gewärtigung  eines  Zusammentrefl'ens  mit  dem  Feinde  der 
Sicherheitsdienst  gegen  denselben  begonnen  hat.  16,  In  §  12  wird  der  Be- 
gi'iff  der  „versammelten"  Mannschaft  dahin  festgestellt,  dass  darunter  ausser 
dem  Vorgesetzten  und  dem  Beteiligten  noch  drei  andere  zu  militärischem 
Dienste  versammelte  Personen  des  Soldatenstands  gegenwärtig  gewesen  sind. 
17,  Der  Rückfall  ist  zum  Teil  abweichend  vom  Civilstrafgesetzbuche  (vergl. 
oben  §  9,  S.  25)  behandelt.  Er  ist  anzunehmen,  wenn  der  Thäter  wegen 
desselben  militärischen  Verbrechens  oder  Vergehens,  wie  das  in  Frage  stehende, 
durch  ein  deutsches  Gericht  verurteilt  und  bestraft  worden  ist.  Mil.-StGB. 
§  13;  vergl.  Abs.  2  und  3  daselbst.  Bei  Unteroffizieren  und  Soldaten  kann 
im  wiederholten  Rückfalle  auf  Versetzung  in  die  zweite  Klasse  des  Soldaten- 
standes, beziehungsweise  auf  Degradation  erkannt  werden,  Mil.-StGB.  §  37 
Abs.  2  No.  1  und  §  40  Abs.  2  No.  2,  bei  Offizieren  auf  Entfernung  aus  dem 
Heere,  beziehungsweise  auf  Dienstentlassung.  Mil.-StGB.  §  31  Abs.  3  und 
§  34  Abs.  2  No.  2.  Bei  Missbrauch  der  Dienstgewalt  kann  schon  im  ersten 
Rückfalle  auf  Dienstentlassung  oder  Degradation  erkannt  werden,  §  114  Abs.  2, 
bei  Misshandlung  Untergebener  muss  im  wiederholten  Rückfalle  neben  Ge- 
fängnis oder  Festungshaft  Dienstentlassung  oder  Degradation  ausgesprochen 
werden,  §  122,  Abs.  2.  Bei  der  Fahnenflucht  begründet  der  wiederholte 
Rückfall  an  Stelle  der  für  die   erste  Begehung  und    den    ersten  Rückfall    an- 


gehen unterstehen  sie  den  Militär-Strafgerichten,  im  übrigen  den  (bürgerlichen)  ordent- 
lichen Strafgerichten. 

*)  Der  „mobile  Zustand^  wird  vom  Kaiser,  —  für  das  bayerische  Kontingent  auf 
Veranlassung  des  Kaisers  vom  König  von  Bayern  angeordnet.  Vergl.  Koppmann 
a.  O.  S.  51.  In  der  Marine  gilt  als  mobiler  Zustand  der  Kriegszustand  eines  Schift'es. 
Und  im  Kriegszustände  ist  schon  jedes  Schiff  der  Marine  zu  betrachten,  welches 
aussei'halb  der  heimischen  Gewässer  allein  fährt.    Mil.-StGB.  §  164. 


76  Deutsches  Reich.  —  Das  Militärstraf  recht. 


gedrohten  Vergehensstrafen  Zuchthaus  von  5 — 10  Jahren  (§  70);  die  Fahnen- 
flucht im  Felde  wird  schon  bei  dem  ersten  Rückfalle  mit  Zuchthaus  von 
5 — 15  Jahren,  und  wenn  die  frühere  Fahnenflucht  im  Felde  begangen  war, 
mit  dem  Tode  bestraft  (§  71).  Rückfall  im  weiteren  Sinne  liegt  vor,  wenn 
jemand  ein  militärisches  Delikt  begeht,  der  wegen  irgend  eines  solchen  schon 
einmal  mit  Freiheitsstrafe  bestraft  worden  ist.  Das  Gesetzbuch  nennt  das 
nicht  Rückfall,  aber  es  behandelt  das  neue  Delikt  insofern  als  Rückfall,  als 
strenger  Arrest  gegen  den  wiederholt  Straffälligen  auch  ohne  besondere  An- 
drohung verhängt  werden  darf.  Mil.-StCirB.  §  22  Abs.  3.  Vergl.  auch  die 
Disziplinarstrafordnung  für  das  Heer  vom  31.  Oktober  1872  (unten  §  41)  §  3,  C  4. 

§  39.    Der  erste  Teil  des  Mllltfirstrafgesetzbnches. 

Der  erste  Teil  zerfällt  in  fünf  Abschnitte.  I.  Der  erste  Abschnitt  handelt 
von  den  Strafen  gegen  Personen  des  Soldatenstandes.  Insoweit  gemeine,  d.  h. 
nach  den  allgemeinen  Gesetzen  zu  bestrafende  Delikte  in  Frage  stehen,  sind 
die  Strafen  des  Civilstrafgesetzbuches  zu  verhängen.  Die  Strafen  wegen  mili- 
tärischer Verbrechen  und  Vergehen  gegen  Personen  des  Soldatenstandes  sind 
die  Todesstrafe,  Freiheitsstrafen  und  Ehrenstrafen.  Geldstrafe  ist  für  militärische 
Delikte  nicht  angedroht;  und  wo  die  allgemeinen  Strafgesetze  Geldstrafe  und 
Freiheitsstrafe  wahlweise  androhen,  darf  auf  Geldstrafe  nicht  erkannt  werden, 
wenn  durch  die  strafbare  Handlung  zugleich  eine  militärische  Dienstpflicht 
verletzt  worden  ist.  Mil.-StGB.  §  29.  —  1.  Die  Todesstrafe  ist  durch  Er- 
schiessen  zu  vollstrecken,  wenn  sie  wegen  eines  militärischen  Verbrechens  er- 
kannt wird.  Sie  ist  in  15  Paragraphen  (58,  60,  63,  71,  72,  73,  84,  95,  97, 
107,  108,  132,  133,  141,  159)  und  zwar  nur  wegen  Verbrechen  im  Felde  an- 
gedroht. Die  Todesstrafe  wird  im  Felde,  auch  wenn  sie  wegen  nicht  militäii- 
scher  Verbrechen  erkannt  wird,  durch  Erschiessen  vollzogen.  §  14.  —  2.  Die 
Zuchthausstrafe  hat  das  Militärstrafgesetzbuch  mit  dem  Civilstrafgesetzbuch 
gemein.  Vergl.  oben  §  9  I,  No.  2,  S.  18.  Ist  Zuchthaus  verwirkt,  so  geht 
die  Vollstreckung  auf  die  bürgerlichen  Behörden  über.  Mil.-StGB.  §  15, 
Abs.  3.  —  3«  Ausserdem  sind  Gefängnis,  Festungshaft  und  Arrest  die  Frei- 
heitsstrafen für  militärische  Delikte.  Dieselben  sind  mehrfach  abweichend 
vom  Civilstrafgesetzbuch  ausgestaltet.  Gefängnis  und  Festungshaft  kommen 
vor  als  lebenslängliche  und  als  zeitige.  Die  Lebenslänglichkeit  ist  in  man- 
chen Fällen  (§63,  No.  2  und  3  mit  Schlusssatz,  §95,  Abs.  2,  §97,  Abs.  3, 
§  141,  Abs.  2)  Mittelstufe  zwischen  Todes- und  zeitiger  Freiheitsstrafe,  in  zwei 
Fällen  (§§  93,  100)  ist  Lebenslänglichkeit  die  Strafsteigerung  gegenüber 
zeitiger  Freiheitsstrafe.  Bei  zeitigem  Gefängnis  und  zeitiger  Festungshaft 
beträgt  das  Maximum  15  Jahre,  das  Minimum  6  Wochen  und  1  Tag.  Inner- 
halb dieser  Grenzen  kommen  noch  Maxima  von  10,  5,  3,  2  Jahren,  1  Jahr 
und  6  Monaten,  Minima  von  10,  5,  3,  2  Jahren,  1  Jahr,  6  und  3  Monaten 
vor.  4,  Der  Arrest  bewegt  sich  in  den  Minimalgrenzen  von  1  Tag,  1  Woche, 
14  Tagen,  3  Wochen  und  Maximalgrenzen  von  4  und  6  Wochen.  Der  Arrest 
zerfällt  in  Stubenarrest,  gelinden,  mittleren  und  strengen  Arrest.  (Der  Höchst- 
betrag des  letztern  ist  4  Wochen,  §  24).  Der  Stubenarrest  findet  nur  gegen 
Offiziere  und  diesen  im  Range  gleich  stehende  Beamte  statt;  der  gelinde 
Arrest  ist  Strafe  gegen  Unteroffiziere  und  Gemeine,  der  mittlere  Arrest 
ist  nur  Strafe  gegen  Unteroffiziere  ohne  Portepee  (Sergeanten  und  Unter- 
offiziere i.  e.  S.)  und  gegen  Gemeine;  der  strenge  Arrest  nur  Strafe  gegen 
Gemeine  (§  20;  vergl.  §  44).  Der  Stubenarrest  wird  in  der  Wohnung  des 
Verurteilten  verbüsst.  Der  Verurteilte  darf  während  der  Strafzeit  seine  Woh- 
nung   nicht  verlassen,    auch    Besuche    nicht    annehmen.      Gegen    Hauptleute, 


§  39.  —  2.   Inhalt  des  Militärstrafgesetzbnches.    Sein  erster  Teil.  77 


Kittmeister  und  Subaltemoffiziere  kann  auf  geschärften  Stubenarrest  er- 
kannt werden,  der  in  einem  besondern  Offlzierarrestzimmer  zu  vollziehen 
ist  (§  23).  Die  andern  Arrestarten  werden  in  Einzelhaft  verbüsst  (§  24). 
Bei  dem  mittleren  Arrest  erhält  der  Verurteilte  eine  harte  Lagerstätte  und  als 
Nahrung  Wasser  und  Brot;  diese  Schärfungen  fallen  in  den  ersten  12  Tagen 
je  am  vierten,  dann  je  am  dritten  Tage  weg  (§  25).  Der  strenge  Arrest  wird 
in  einer  dunkeln  Arrestzelle,  im  übrigen  wie  der  mittlere,  jedoch  mit  dem 
Untei*schiede  vollstreckt,  dass  die  Schärf ung  mit  der  harten  Lagerstätte  und 
der  Beschränkung  auf  Wasser  und  Brot  schon  nach  den  ersten  acht  Tagen  je 
am  dritten  Tage  wegfallen  (§  26).  Es  wäre  dringend  zu  wünschen,  dass 
solche  Schärfungen  auch  für  Strafen  gegen  Civilpei*sonen  unter  gewissen  Vor- 
aussetzungen möglich  gemacht  würden.*)  Die  §§27  und  28  sehen  die  Mög- 
lichkeit von  Abweichungen  bei  der  Vollstreckung  von  Arreststrafen  wegen  der 
Körperbeschaffenheit  des  Verurteilten  und  für  die  Zeit  des  Krieges  beziehungs- 
weise für  die  Zeit  der  Indienststellung  eines  Kriegsschiffes  vor.  Ist  Freiheits- 
strafe als  solche  mit  einem  Minimum  von  mehr  als  6  Wochen  angedroht,  so 
kann  nach  Wahl  des  Gerichts  auf  Gefängnis  oder  Festungshaft  erkannt  werden. 
Ist  kein  Minimum  bestimmt,  oder  bewegt  sich  das  Minimum  unter  6  Wochen 
und  1  Tage,  so  stehen  Gefängnis,  Festungshaft  und  Arrest  zur  Wahl  des  Ge- 
richtes (§§  16  und  21).  Ist  Arrest  ausdrücklich  oder  in  der  allgemeinen  An- 
kündigung von  „Freiheitsstrafe"  angedroht,  so  kann  auf  jede  der  nach  dem 
Militärrange  des  Thäters  statthaften  Arten  des  Arrestes  erkannt  werden.  Ist 
die  angedrohte  Arrestart  nach  dem  Range  des  Thäters  ausgeschlossen,  so  ist 
auf  die  nächstfolgende  dem  Range  nach  statthafte  Arrestart  zu  erkennen. 
Strenger  Arrest  ist  nur  in  den  Fällen  zulässig,  wo  er  ausdrücklich  angedroht 
ist,  und  im  militärischen  Rückfalle  (§  22),     Siehe  oben  §  38  II,  No.  17. 

Auf  die  Vollstreckung  der  Freiheitsstrafen  gegen  Militärpersonen  bezieht 
sich  §  15.  Vergl.  dazu  die  Mil.-Straf-VoUstreckungsvorschrift  vom  9.  Februar 
1888  und  die  Allerhöchste  Kab.-O.  vom  22.  Januar  1889  über  die  Strafvoll- 
streckung an  Bord. 

Die  besonderen  Ehrenstrafen  gegen  Personen  des  Soldatenstandes  sind: 
a)  allen  Klassen  gegenüber  die  Entfernung  aus  dem  Heere  oder  der  Marine 
(§  30,  Z.  1),  vergl.  darüber  Mil.  StGB.  §§  31—33;  b)  gegen  Offiziere  die 
Diententlassung  (§  30,  Z.  2),  vergl.  §§  34 — 36;  c)  gegen  Unteroffiziere  und 
Gemeine  die  Versetzung  in  die  zweite  Klasse  des  Soldatenstandes  (§  30,  Z.  3), 
vergl.  §§  37—39,  vergl.  auch  Reichs-Mil.-Ges.  vom  2.  Mai  1874,  RGBl.  S.  46, 
§  50,  wonach  Einjährig-Freiwillige,  welche  in  die  zweite  Klasse  des  Soldaten- 
Standes  versetzt  werden,  diese  ihre  Eigenschaft  und  den  Anspruch  auf  Ent- 
lassung nach  einjähriger  Dienstzeit  verlieren;  d)  gegen  Unteroffiziere  die  De- 
gradation (§  30,  Z.  4),  vergl.  §§  39 — 41.  —  Bezüglich  der  Ehrenstrafen  gegen 
Beurlaubte  vergl.  Mil.-StGB.  §  42. 

II.  Der  zweite  Abschnitt  (§§  43  und  44)  regelt  den  Amtsverlust  und 
den  Arrest  bei  Militärbeamten,  §  45  bezieht  die  Bestimmungen  der  §§  14  und 
15  (Vollzug  der  Strafen)  auf  Militärbeamte. 

III.  Im  dritten  Abschnitt  erklärt  §  46  militärische  Ehrenstrafen  neben 
einer  Versuchsstrafe  für  zulässig,  gleichviel  ob  sie  neben  der  Vollendungs- 
strafe zulässig  oder  geboten  sind,  während  nach  §  45  des  bürgerlichen  Straf- 
gesetzbuchs die  Aberkennung  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  neben  der  Versuchs- 
strafe geboten  ist,  wenn  dies  bei  der  Vollendung  der  Fall. 

IV.  Von  fundamentaler  Bedeutung  ist  der  vierte  Abschnitt  mit  dem 
§  47.     Entgegen  dem  §  58  des  Entwurfes  proklamiert  §  47   des  Gesetzes  die 


»)  S.  oben  §  12,  S.  29. 


78  Deutsches  Reich.  —  Das  Militärstraf  recht. 


selbständige  Haftung  des  Untergebenen  für  die  von  ihm  begangenen  militäri- 
schen und  bürgerlichen  Verbrechen  und  Vergehen  trotz  des  Befehles  des  Vor- 
gesetzten. Allerdings  stellt  der  erste  Absatz  des  §  47  anscheinend  das  gegen- 
teilige Prinzip  auf,  insofern  er  den  befehlenden  Vorgesetzten  für  die  Aus- 
führung eines  Befehls  in  Dienstsachen  allein  verantwortlich  macht,  wenn 
dadurch  ein  Strafgesetz  verletzt  wird.  Aber  sofort  wird  der  gehorchende 
Untergebene  der  Strafe  des  Teilnehmers  (Civil-StGB.  §§  47  ff.)  unterworfen, 
wenn  er  den  Befehl  überschritten  hat,  sowie,  wenn  ihm  bekannt  gewesen,  dass 
der  Befehl  des  Vorgesetzten  eine  Handlung  betraf,  welche  ein  bürgerliches 
oder  militärisches  Verbrechen  oder  Vergehen  bezweckte.  Teilweise  trifft  hier  das 
Militäretrafgesetzbuch  mit  der  wohl  richtigen,  in  der  deutschen  Strafrechtspraxis 
und  überwiegend  in  der  Doktrin  nicht  anerkannten  Ansicht  zusammen,  dass  ent- 
schuldbare Normenunkenntnis  die  Rechtswidrigkeit  und  damit  die  Strafbarkeit  einer 
Handlung  ausschliesse.  Ja  das  Militärstrafgesetzbuch  §47  geht  noch  weiter,  indem 
es  schon  die  Unkenntnis  der  Verbrechens-  und  Vergehensqualität  einer  Handlung, 
also  die  Unkenntnis  einer  bestimmten  Strafbarkeit  derselben  entschuldigen 
lässt.  Aber  bei  Gegebensein  dieses  Strafbarkeitsbewusstseins  spricht  es  die 
eigene  Verantwortlichkeit  des  gehorchenden  Untergebenen  aus  und  verwirft 
damit  die  sogenannte  Theorie  vom  blinden  Gehorsam  in  militärischen  Dingen. 
Hält  der  Untergebene  die  anbefohlene  That  nur  für  eine  Übertretung  (Civil- 
StGB.  §  1  und  oben  §  8),  so  handelt  er  ohne  eigene  Verantwortung. 

Nach  Erlassung  des  Militärstrafgesetzbuches  wurde  angenommen,  dass 
eine  Teilnahme  an  rein  militärischen  Delikten  seitens  einer  Civilperson  nur 
insoweit  strafbar  sei,  als  das  allgemeine  Strafrecht  Bestimmungen  dafür  ent- 
hält, z.  B.  StGB.  §  112,  §  142  Abs.  2,  §  370  No.  3.  Vergl.  Koppmann, 
Kommentar  Bem.  9  zum  vierten  Abschnitt  S.  162  ff. ;  vergl.  sodann  namentlich 
das  preussische  Mil.-StGB.  Teil  I,  §  1.  Die  neuere  Praxis  nimmt  ohne 
zureichende  Gründe  das  Gegenteil  an.  Vergl.  Entscheidungen  des  Reichsgerichts 
in  Strafsachen  Bd.  6,  S.  9. 

V.  Der  fünfte  Abschnitt  des  Militärstrafgesetzbuches  ist  wie  der  vierte  des 
Civilstrafgesetzbuches  den  Gründen  gewidmet,  welche  die  Strafe  ausschliessen, 
mildern  oder  erhöhen.  Die  Bestimmungen  des  Civilstrafgesetzbuches  werden 
teils  ergänzt,  teils  modifiziert.  §  48  spricht  den  schon  nach  allgemeinen  straf- 
rechtlichen Gesichtspunkten  sich  ergebenden,  im  Civilstrafgesetzbuch  nicht  be- 
sonders enthaltenen,  Gedanken  aus,  dass  der  Thäter  sich  nicht  auf  abweichende 
Vorstellungen  seines  Gewissens  oder  seiner  Religion  berufen  dürfe.  In  §  49, 
Abs.  1  gelangt  der  Satz  zum  Ausdi^iick,  dass  die  Verletzung  einer  Dienst- 
pflicht aus  Furcht  vor  Gefahr  ebenso  zu  bestrafen  sei,  wie  die  Verletzung  der 
Dienstpflicht  aus  „Vorsatz".  Die  Fassung  des  Gedankens  ist  unvollkommen, 
denn  auch  die  Dienstverletzung  aus  Furcht  kann  vorsätzlich  begangen  sein; 
der  Gedanke  ist  klar:  der  Soldat  im  Dienste  darf  sich  gegenüber  einer  Dienst- 
verletzung nicht  auf  Gefahr  berufen,  Notstand  entschuldigt  ihn  nicht.  —  Selbst- 
verschuldete Trunkenheit  bildet  bei  strafbaren  Handlungen  gegen  die  Pflichten 
der  militärischen  Unterordnung  sowie  bei  allen  in  Ausübung  des  Dienstes  be- 
gangenen strafbaren  Handlungen  keinen  Strafmilderungsgrund  (§  49  Abs.  2). 
Auch  der  Jugend  ist  bei  Bestrafung  militärischer  Verbrechen  und  Vergehen 
die  nach  dem  Civil-StGB.  §  57  (s.  oben  §  9,  S.  24)  vorgesehene  Milderung 
versagt  (§  öO).  Die  Antragseinrichtung  greift  in  Bezug  auf  militärische  De- 
likte nicht  Platz  (§  öl).  Der  fünfte  Abschnitt  trifft  noch  Bestimmungen  über 
die  Verjährung  bei  Arreststrafen  (§  52),  über  Straferhöhung  (§§  53  und  55) 
und  über  Zusammentreffen  von  Freiheitsstrafen  (§  54).  Straferhöhend  wirkt 
es,  wenn  Vorgesetzte  mit  Untergebenen  eine  strafbare  Handlung  verüben, 
wenn  solche  Handlungen  unter  Missbrauch  der  Waffen  oder  der  dienstlichen  Be- 


§  40.  —  2.  Der  Inhalt  des  Militärstrafgesetzbuches.    Sein  zweiter  Teil.  79 


fugnisse  oder  im  Dienste  begangen  werden,  und  wenn  mehrere  unter  Zusammen- 
rottung oder  vor  einer  Mepschenmenge  eine  strafbare  Handlung  gemeinschaft- 
lich ausführen  (§  55).  Dieser  Paragraph  gilt  als  der  „difficilste'^  des  ganzen 
Militärstrafgesetzbuches  (Koppmann,  1.  Auflage,  S.  185).  Namentlich  ist 
streitig  geworden,  ob  sich  der  Paragraph  auch  auf  nichtmilitärische  Delikte 
beziehe,  eine  Frage,  welche  nach  dem  Wortlaute  des  Paragraphen  wohl  zu 
bejahen  ist,  so  dass  das  Civilstrafgesetzbuch  für  Militärpersonen  dadurch  eine 
wesentliche  Schärf ung  erfahren  hat.^) 

§  40.   Der  zweite  Teil  des  Hllltärstrafgesetzbuches. 

Derselbe  gliedert  sich  in  vier  Titel,  von  denen  der  erste  in  elf  Abschnitte 
zerfällt.  Die  Titeleinteilung  entspricht  den  verschiedenen  Personenkategorieen, 
auf  welche  sich  das  Militärstrafgesetzbuch  bezieht. 

I.  Der  erste  Titel  enthält  das  besondere  Strafrecht  gegen  die  Personen 
des  Soldatenstandes  und  betrifft  Delikte  im  „Felde"  und  im  Frieden.  Die 
Materien  der  elf  Abschnitte  sind  folgende:  1.  Hochverrat,  Landesverrat,  Kriegs- 
verrat, §§  56 — 61.  Der  Landesverrat  einer  Person  des  Soldatenstandes  im 
Felde  ist  stets  Kriegsverrat,  der  mit  Zuchthaus  nicht  unter  10  Jahren,  lebens- 
länglichem Zuchthaus  und  in  schwereren  Fällen  (§  58)  mit  dem  Tode  bestraft 
wird.  Die  Unterlassung  rechtzeitiger  Anzeige  von  dem  Vorhaben  eines  Bjriegs- 
verrats,  über  welches  jemand  glaubhafte  Kenntnis  bekommen  hat,  wird  mit 
der  Strafe  der  Mitthäterschaft  belegt,  §  60.  Umgekehrt  begründet  die  recht- 
zeitige Anzeige  von  einem  bevorstehenden  Kriegsverrat  für  den  Beteiligten 
Straflosigkeit,  §  61.  2.  Der  zweite  Abschnitt,  §§  62,  63,  handelt  von  der  Ge- 
fährdung der  Kriegsmacht  im  Felde.  3.  Der  dritte  Abschnitt,  §§  64 — 80,  be- 
droht die  unerlaubte  Entfernung  und  die  Fahnenflucht.  Im  §  80  Abs.  2  findet 
sich  aber  auch  eine  Strafdrohung  gegen  den  Offizier,  der  während  des  Stuben- 
arrestes verbotswidrig  Besuche  annimmt  (s.  oben  §  39  I,  4).  4.  Selbstbeschä- 
digung und  Vorschützung  von  Gebrechen,  §§  81—83.  5.  Feigheit,  §§  84—88. 
Charakteristisch  und  sehr  verständig  §  88:  „Hat  der  Thäter  in  den  Fällen 
der  §§  85  und  86  nach  der  That  hervorragende  Beweise  von  Mut  abgelegt, 
so  kann  die  Strafe  unter  den  Mindestbetrag  der  angedrohten  Freiheitsstrafe 
ermässigt  und  in  den  Fällen  der  §§  85  und  87  von  der  Bestrafung  gänzlich 
abgesehen  werden.*)  6.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Pflichten  der  mili- 
tärischen Unterordnung,  §§89 — 113.*)  7.  Missbrauch  der  Dienstgewalt,  §§114 
bis  126.  8.  Widerrechtliche  Handlungen  im  Felde  gegen  Personen  oder  Eigen- 
tum, §§  127 — 136.  9.  Andere  widerrechtliche  Handlungen  gegen  das  Eigen- 
tum, §§  137,  138.  (Vorsätzliche  und  widerrechtliche  Beschädigung,  Zerstörung, 
Preisgebung  von  Dienstgegenständen;  Diebstahl  und  Unterschlagung  im  Dienste, 
unter  Verletzung  eines  militärischen  Dienstverhältnisses,  gegen  Vorgesetzte, 
Kameraden  und  Quartierwirte  oder  deren  Angehörige.)  10.  Verletzung  von 
Dienstpflichten  bei  Ausführung  besonderer  Dienstverrichtungen,  §§  139 — 145. 
(Verursachung  eines  Nachteiles  durch  Pflichtverletzung  vor  dem  Feinde  [Mil.-StCxB. 


*)  Vergl.  Roppmann,  2.  Aufl.,  S.  212  flf.  —  Hecker,   Lehrbuch  des  deutschen 
Militärstraf  rechts.    Stuttgart  1887.    S.  llOf. 

-)  Die  Behauptungen  Bindings  (Die  Ehre  und  ihre  Verletzbarkeit,  Leipzig  1892 
S.  19  und  20),  das  Recht  führe  stets  getrennt  Buch  über  Ehre  und  Unehre,  rechne  nie 
das  eine  Konto  geffen  das  andere  auf,  das  Recht  verwerfe  „entschieden  die  ganze 
Theorie  von  der  Unehre  tilgenden  Kraft  des  Mutschatzes",  —  diese  Behauptungen 
dürften  gegenüber  dem  §  88  des  Mil.-StGB.  der  Einschränkung  bedürfen.  Auch  das 
Reichsbeamtengesetz  (oben  §  36  II)  §  76  streift  bei  der  disziplinaren  Behandlung  von 
Dienstvergehen  die  Abwägung  von  Schuld  und  Verdienst. 

»)  Zu  §  95  Abs.  1  vergl.  die  Berichtigung  RGBl.  1873,  S.  138. 


80  Deutsches  Reich.  —  Das  Militärstrafrecht. 


§  11],  z.  B.  durch  Trunkenheit,  Einschlafen,  wird  mit  dem  Tode,  in  minder 
schweren  Fällen  mit  Freiheitsstrafe  nicht  unter  zehn  Jahren  oder  mit  lebens- 
länglicher Freiheitsstrafe  bestraft,  §  141)  11.  Der  11.  Abschnitt  „sonstige 
Handlungen  gegen  die  militärische  Ordnung",  §§  146 — lö2,  hält  Nachlese  und 
bedroht  verschiedenartige  Verstösse  gegen  die  militärische  Ordnung,  Verlassen 
der  Wache  oder  des  Platzes ;  Nachlässigkeiten  in  Bezug  auf  die  Beaufsichtigung 
Untergebener,  obliegende  Meldungen  oder  Verfolgung  strafbarer  Handlungen; 
Körperverletzung  oder  Tötung  durch  Unvorsichtigkeit  im  Gebrauche  von 
Waffen  oder  Munition;  widerrechtlicher  Gebrauch  der  Waffe  oder  Aufforderung 
dazu;  Verheiratung  ohne  dienstliche  Genehmigung  (die  früher  eintretende  Un- 
gültigkeit der  Ehe  ist  beseitigt,  §  150  Abs.  2);  Trunkenheit  im  Dienste;  Be- 
schwerden wider  besseres  Wissen,  wiederholte  leichtfertige  Beschwerdeführung 
sowie  Beschwerdeführung  unter  Abweichung  vom  Dienstwege. 

II.  Der  zweite  Titel,  §  153  und  154,  enthält  Strafdrohungen  gegen  mili- 
tärische Verbrechen  und  Vergehen  der  Militärbeamten.  Für  diese  gelten  nur 
die  im  1. — 3.,  6.  und  8.  Abschnitt  des  ersten  Titels  aufgestellten  Strafdrohungen, 
und  auch  diese  nur  unter  der  Voraussetzung,  dass  solche  Handlungen  im 
Felde  begangen  werden.  Wegen  anderer  Handlungen,  und  im  Frieden 
überhaupt,  werden  Militärbeamte  nach  dem  allgemeinen  Beamtenstrafrechte 
(vergl.  namentlich  Civil-StGB.  Abschnitt  28,  §§331  —  358)  beurteüt  (MiL- 
StGB.  §  154). 

III.  Auch  der  dritte  Titel,  §§  155 — 161,  hat  es  nur  mit  Handlungen  im 
Felde  zu  thun.  Er  unterwirft  1.  alle  Personen,  welche  sich  während  eines 
Krieges  in  irgend  einem  Dienst-  oder  Vertragsverhältnisse  bei  dem  krieg- 
führenden Heere  befinden,  oder  sonst  sich  bei  demselben  aufhalten  oder  ihm 
folgen,  den  Bestimmungen  des  Militärstrafgesetzbuches,  insbesondere  den  Kriegs- 
gesetzen, §  155.  Als  solche  Personen  erscheinen  namentlich:  die  Angehörigen 
der  freiwilligen  Krankenpflege.  Marketender,  Fuhrleute,  dann  Berichterstatter 
von  Zeitungen,  Maler,  Zeichner  und  Photographen.  2.  Ausländische  Offiziere, 
welche  zu  dem  kriegführenden  Heere  zugelassen  sind,  werden,  vorbehaltlieh 
anderer  Bestimmungen  des  Kaisers,  wie  Deutsche  behandelt,  §  157.  3.  Die 
§§158  und  159  beziehen  sich  auf  Kriegsgefangene.  4.  Im  §  160  werden  die 
§§  57 — 59  und  134  des  Militärstrafgesetzbuches  auf  Ausländer  und  Deutsche 
für  anwendbar  erklärt,  welche  sich  eines  Kriegsverrates  oder  der  Beraubung 
hülf loser  Personen  auf  dem  Kriegsschauplatze  schuldig  machen.  5.  Im  §  161 
wird  für  den  Fall  der  Besetzung  eines  ausländischen  Gebietes  durch  deutsche 
Tnippen  die  vom  §  4  des  Civil-StGB.  gelassene  Lücke  teilweise  ausgefüllt. 
Handlungen  gegen  deutsche  Truppen  oder  deren  Angehörige,  sowie  gegen 
eine  auf  Kaiserliche  Anordnung  eingesetzte  Behörde  werden,  gleichviel  ob 
der  Thäter  Deutscher  oder  Ausländer  ist,  ebenso  bestraft,  als  wenn  sie  im 
Bundesgebiete  begangen  wären.  Vergl.  dagegen  oben  §  8  No.  3,  S.  17.  Vergl. 
auch  noch  Civil-StGB.  §  91,  welcher  Ausländer  dem  Kriegsgebrauche  imter- 
wirft,  wenn  sie  eine  der  im  §§  87,  89  oder  90  des  Civil-StGB.  vorgesehenen 
Handlungen  begehen. 

IV.  Der  vierte  Titel,  §§  162—166,  enthält  Zusatzbestimmungen  für  die 
Marine;  und  zwar  enthalten  die  §§  162 — 165  begriffsentwickelnde  Sätze,  §  166 
stellt  den  Militärpersonen  alle  Angestellten  eines  Kriegsschiffes  in  Bezug  auf  die 
Militärstrafgesetze  gleich  und  unterwirft  andere  am  Bord  eines  Kriegsschiffes 
dienstlich  eingeschiffte  Personen  den  Kriegsgesetzen  für  die  Zeit  des  Kriegs- 
zustandes. 


§41.  —  3.  Die  Ergänzung  des  Militärstrafrechts  durch  die  Disziplin.  81 


a   Die  Ergftnnng  des  ICilitftnitnifirechtfl  durch  die  DÜNdplin.^) 

§  41. 

1.  Füi"  militärische  Verhältnisse  lässt  sich  der  im  §  36,  II,  besprochene 
(Jegensatz  von  Strafrecht  und  Disziplin  wohl  am  wenigsten  aufrt^cht  erhalten. 
Bezüglich  des  militärischen  Dienstes  gehen  Strafrecht  und  Disziplin  auch  praktisch 
ineinander  über.  Das  Einführungsgesetz  zum  Miltärstrafgesetzbuche  §  3  gestattet 
in  zahlreichen  Fällen,  an  die  Stelle  der  Aburteilung  durch  die  Militärgerichte  und 
nach  dem  Militärstrafgesetzbuche  die  Ahndung  im  Disziplinarwege  ti'eten  zu 
lassen.  Nur  darf  bloss  Freiheitsstrafe,  und  zwar  gelinder  und  Stubenarrest 
bis  zu  4,  mittlerer  Arrest  bis  zu  3  Wochen,  strenger  Arrest  bis  zu  14  Tagen 
verhängt  werden.  Die  Fälle  sind  Urlaubsüberschreitung  (§  64),  leichte  Ach- 
tungsverletzung (§  89  Abs.  1),  wissentliche  Unwahrheit  in  dienstlichen  An- 
gelegenheiten (§  90),  der  leichtere  Fall  der  Beleidigung  eines  Vorgesetzten 
oder  im  Dienstrange  höher  Stehenden  (§  91  Abs.  1);  umgekehrt  Beleidigung 
oder  vorschriftswidrige  Behandlung  eines  Untergebenen  (§  121),  Ungehorsam 
gegen  einen  Dienstbefehl  (§  92).  (Durch  diesen  Paragraph  einfer-  und  §  47 
No.  2  andererseits  kann  ein  Untergebener  leicht  in  Rechtsnot  geraten.)  Hierher 
gehören  femer  die  vorsätzliche  und  rechtswidrige  Beschädigung,  Zerstörung 
und  Preisgebung  eines  Dienstgegenstandes  (§137),  die  leichteren  Fälle  schuld- 
hafter Dienstvernachlässigung  und  Eigenmächtigkeit,  namentlich  Verlassen  des 
Postens,  der  Wache,  des  Platzes  (§§  141  Abs.  2,  146),  Dienstunfähigkeit  durch 
Trunkenheit  (§  151,  vergl.  §49  Abs.  2),  ferner  das  Borgen  von  Geld  und  die 
Annahme  von  Geschenken  vom  Untergebenen  ohne  Vorwissen  des  gemein- 
schaftlichen Vorgesetzten  (§  114  mit  Einf. -Ges.  zum  Mil.-StGB.,  §3  No.  2j. 
2«  Auch  abgesehen  von  der  Disziplinarbehandlung  der  vorstehenden  Fälle  des 
öffentlichen  Strafrechts  giebt  die  militärische  Disziplinargewalt  den  Vorgesetzten 
weitgehende  Befugnisse  zur  Aufrechthaltung  der  militärischen  Zucht,  der  Ord- 
nung und  derjenigen  Dienstesvorschriften,  für  welche  die  Militärgesetze  keine 
Straf  bestimmun  gen  enthalten.  (Einfacher,  förmlicher  und  strenger  Verweis, 
Stubenarrest  bis  zu  14  Tagen  gegen  Offiziere;  ebensolcher  Verweis,  Auferlegung 
gewisser  Dienstverrichtungen  ausser  der  Reihe,  z.  B.  Strafwachen,  Kasernen-, 
Quartier-  oder  gelinder  Arrest  bis  zu  4  Wochen,  mittlerer  Arrest  bis  zu  3  Wochen 
gegen  Unteroffiziere;  die  Auferlegung  gewisser  Dienstverrichtungen  ausser  der 
Reihe,  z.  B.  Strafexerzieren  u.  s.  w.,  Entziehung  der  freien  Verfügung  über 
die  Löhnung,  die  Auferlegung  früherer  Rückkehr  in  Kaserne  oder  Quartier, 
Arrest  in  verschiedenen  Graden  bis  zu  4,  3,  2  Wochen  gegen  Gemeine  mit 
Einschluss  der  Obergefreiten  und  Gefreiten,  sowie  die  Entfernung  der  beiden 
letzteren  von  der  Charge;  die  Einstellung  in  die  Arbeiterabteilung  gegen 
Gemeine  der  zweiten  Klasse  des  Soldatenstandes  nach  fruchtloser  Anwendung 
der  vorstehend  erwähnten  Strafen.)  Vergl.  die  Disziplinarstrafordnung  für 
das  Heer  vom  31.  Oktober  1872,  Armeeverordnungsblatt  1872,  S.  330,  §§  1—3, 
sowie  die  gleichlautende  bayerische  Disziplinarstrafordnung  vom  12.  Dezember 
1872.  Vergl.  auch  die  Disziplinarstrafordnung  für  die  kaiserliche  Marine  vom 
4.  Juni  1891,  Marine-VBl.  1891  S.  116,  deren  erster  Teil,  betr.  die  Disziplinar- 
bestrafung am  Lande  mit  der  für  das  Heer  gegebenen  Ordnung,  auch  in  der 
neuen  Fassung,  grösstenteils  übereinstimmt.  Der  zweite  Teil,  betr.  die  Be- 
strafung an  Bord  in  Dienst  gestellter  Schiffe  und  Fahrzeuge,  ordnet  den  Arrest 
entsprechend  den  Verhältnissen  an  Bord  und  kennt  ausserdem  mehrere  mit  der 


*)  Vergl.  die  Citate  oben  bei  §  36  S.  66.  Ausserdem  Heck  er  in  v.  Stengel, 
Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Bd.  2,  S.  106  und  die  S.  109  daselbst  citierte  Lit- 
teratur;  namentlich  Hecker  im  Gerichtssaal,  Bd.  «Sl  (1879),  S.  481. 

Strafgesetzgebnng  der  Gegenwart.   I.  6 


82  Deutsches  Reich.  —  Das  Militärstrafrecht. 


Schiffahrt  zusammenhängende  Strafen,  so  das  Stehen  an  Deck  während  der 
Freizeit  bis  zu  6  Stunden,  jedoch  nicht  über  2  Stunden  an  einem  Tage  mit 
oder  ohne  Hängematte,  Entern  über  den  Topp  bis  zu  dreimal  in  angemessenen 
Zeiträumen,  je  nach  Grösse  des  Schiffes.  3.  Für  die  Offiziere  im  preussisch<*n 
Heere  und  in  der  kaiserlichen  Marine  kommen  ausserdem  die  Verordnungen 
über  die  Ehrengerichte  vom  2.  Mai  1874  und  vom  2.  November  1875  in  Be- 
tracht. Vergl.  So  1ms  (3.  Aufl.  1892)  S.  535  und  S.  602;  vergl.  auch  S.  632 
die  Verordnung  vom  16.  Juni  1891  bezüglich  der  deutschen  Offiziere  der 
Kaiserl.  Schutztruppe  für  Deutsch-Ostafrika. 

4.   Da«  Btrafrecht  im  sogenannteii  Kriegsnstanda    (BelagenmgwiiurtuLd« 

Standrecht.)') 

§  42. 

I.  Die  schützende  Kraft  der  Strafe  kommt  ausser  im  Kriege  da  am  rück- 
sichtslosesten zum  Ausdrucke,  wo  die  politischen  oder  sozialen  Grundlagen 
des  Gemeinwesens  in  Unruhe  geraten  sind  oder  schon  erschüttert  wurden. 
Bei  den  innerstaatlichen  Kämpfen  um  die  politische  Macht  und  um  die  Aus- 
nutzung der  Güterwelt  haben  Schwert  und  Pulver  und  Blei  nicht  bloss  auf 
der  Wahlstatt  und  auf  der  Barrikade,  sondern  auch  im  Gerichtsring  eine  Rolle 
gespielt.  Die  Vernichtung  des  überwältigten  Brechers  der  bestehenden  Rechts- 
ordnung erschien  nicht  bloss  zum  Schutz  gegen  ihn  selbst,  sondern  auch  zur 
Abschreckung  anderer  als  ein  Gebot  der  Selbsterhaltung.  Ausserordentliches 
Recht  und  Gericht  tritt  in  solchen  Fällen  an  die  Stelle  der  für  die  Zeiten 
friedlichen  und  ruhigen  Zusammenlebens  berechneten  Einrichtungen.  Es  ist 
der  Kriegs-  oder  Belagerungszustand.  Im  deutschen  Reiche  ist  das  Recht  des 
Kriegszustandes  noch  kein  einheitliches  und  allseitig  definitives. 

II.  Nach  Artikel  68  der  Reichsverfassung  kann  der  Kaiser,*)  wenn  die 
öffentliche  Sicherheit  in  dem  Bundesgebiete  bedroht  ist,  einen  jeden  Teil  des- 
selben in  Kriegszustand  erklären.  Bis  zum  Erlass  eines  die  Voraussetzungen, 
die  Form  der  Verkündigung  und  die  Wirkungen  einer  solchen  Erklärung 
regelnden  Reichsgesetzes  gelten  dafür  die  Vorschriften  des  preussischen  Ge- 
setzes vom  4.  Juni  1851  (GS.  1851,  S.  451  ff.).^)  Mit  der  Erklärung  des 
Kriegszustandes  wird  ein  ausserordentliches  Strafverordnungsrecht*)  begründet, 
die  vollziehende  Gewalt  geht  auf  den  Militärbefehlshaber  über,  die  Zuständig- 
keit der  ordentlichen  Gerichte  kann  für  gewisse  Verbrechen  ausgeschlossen  und 
ausserordentlichen  Gerichten  übertragen  werden.  (Vergl.  auch  (fCr.Verf.G.  §  16.) 
Die  §§  8  und  9  des  (prcuss.)  Gesetzes  enthalten  teils  Strafschärfungen  (Todes- 
strafe an  Stelle  von  Freiheitsstrafe),  teils  Strafdrohungen  für  sonst  straflose 
Thatbestände.  Dem  kommandierenden  General  ist  in  Bezug  auf  Todesurteile 
ein  Bestätigungsrecht  übertragen.      Eine  Ergänzung  und   teilweise  eine  Ände- 

^)  Laband,  Staatsrecht  (2.  Aufl.  1890),  2.  Bd.,  2.  Abtl.,  §  95,  S.  537.  —  Seydel 
in  V.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  1,  S.  158.  —  Hänel,  Staats- 
recht, §  73,  Bd.  1  (1892),  S.  432, 

*)  Dem  preussischen  Gesetze,  nach  welchem  die  Erklärung  vom  Staatsministerium 
auszugehen  hatte  und  in  dringenden  Fällen  vorbehaltlich  der  Bestätigung  seitens  des 
Ministeriums  durch  den  obersten  Militärbefehlshaber  erfolgen  konnte,  ist  durch  Art.  68 
der  Reichs  Verfassung  derogiert.  Die  am  28.  März  1885  für  ein  paar  preussische  Ge- 
bietsteile erfolgte  Verhängung  des  Belagerungszustandes  durch  den  obersten  Militär- 
befehlshaber Hess  sich  nach  dem  bestehenden  Rechte  nicht  rechtfertigen.  Vergl.  dar- 
über Hänel,  Staatsrecht,  S.  443,  Note  19  a.  E. 

8)  Für  Elsass-Lothringen  vergl.  jetzt  Gesetz  vom  30.  Mai  1892,  RGBl.  S.  667,  be- 
treffend die  Vorbereitung  des  Kriegszustandes. 

*)  Vergl.  oben  §  14,  II,  S.  35. 


§  42.  —  4.  Das  Strafrecht  im  sogenannten  Kriegszustande.  83 


rung  fand  das  zum  Bundes-  und  später  zum  Reichsgesetze  erklärte  preussische 
Gesetz  durch  den  §  4  des  Einführungsgesetzes  zum  Civilstrafgesetzbuch.  Dar- 
nach sind  bis  zum  Erlasse  eines  Reichsgesetzes  über  den  Kriegszustand  die 
in  den  §§  81,  88,  90,  307,  311,  312,  315,  322,  323,  324  des  Civilstrafgesetz- 
buches  vorgesehenen  Verbrechen,  insoweit  sie  mit  lebenslänglichem  Zuchthaus 
bedroht  sind,  mit  dem  Tode  zu  bestrafen,  wenn  sie  in  einem  Teile  des  Bundes- 
gebietes begangen  werden,  welchen  der  Kaiser  in  ELriegszustand  erklärt  hat. 
Durch  das  Militärstrafgesetzbuch  ist  die  Wirksamkeit  dieser  Bestimmung  für 
Militärpersonen  weggefallen,  insoweit  die  §§  88  und  90  des  Civilstrafgesetz- 
buches  in  Frage  stehen,  weil  die  daselbst  bedrohten  Thatbestände  auch  in  den 
§§57  und  58  Ziff.  1  des  Militärstrafgesetzbuches  vorgesehen,  diese  Paragraphen 
Kriegsgesetze  sind,  und  nach  §  9  Ziff.  2  des  Militärstrafgesetzbuches  die  Kriegs- 
gesetze für  Militärpersonen  im  „Kriegszustande"  Geltung  haben.  Die  Resolutiv- 
bedingung, welche  der  §  4  des  Einführungsgesetzes  zum  Civilstrafgesetzbuche 
sich  selbst  gesetzt  hat,  ist  sonach  insoweit  eingetreten.  Im  übrigen  gilt  der 
§  4  für  Militärpersonen  während  des  Kriegszustandes  noch  fort.  Für  Civil- 
personen  ist  er  während  des  Kriegszustandes  überhaupt  noch  in  Geltung. 
Seine  ursprüngliche  Anwendbarkeit  auf  den  Krieg  selbst  hat  dagegen  §  4 
durch  das  Inkrafttreten  des  Militärstrafgesetzbuches  in  Bezug  auf  Civil-  wie 
auf  Militärpersonen  verloren.  Auch  Nichtmilitärs  sind  jetzt  auf  dem  Kriegs- 
schauplatze dem  Militärstrafgesetzbuche,  besonders  den  Kriegsgesetzen,  unter- 
worfen. Vergl.  Mil.-StGB.  §§  155,  156,  160.  Dieses  Ergebnis  der  in  Frage 
kommenden  Bestimmungen  ist  in  mehreren  Beziehungen  streitig.  Vergl.  01s- 
hausen,  Kommentar  zu  §  4,  3.  und  4.  Aufl.  S.  19 — 21,  Hecker,  Lehrbuch 
§  6,  S.  43—45. 

III.  Für  Bayern  gelten  in  Gemässheit  des  Versailler  Vertrages  und  der 
Reichsverfassung  die  vorstehenden  Bestimmungen  nicht.  ^)  Dort  gelten  noch 
die  Artikel  441 — 451  des  bayer.  Strafgesetzbuches  von  1813,  Teil  II,  welche 
durch  Artikel  3  Ziff.  12  des  bayer.  Ausführungsgesetzes  vom  18.  August  1879 
zur  deutschen  Strafprozessordnung  (vergl.  unten  §  44  No.  4)  modifiziert 
wurden.  In  Bayern  wird  übrigens  zwischen  dem  „Standrecht"  und  dem 
„militärischen  Belagerungszustand"  unterschieden.  Das  Standrecht  darf  bei 
dem  Überhandnehmen  von  hochverräterischen  Unternehmungen,  von  staats- 
bürgerlichen Verbrechen  (jetzt  Reichs-StGB.  §  105),  von  Aufruhr,  Auflauf 
und  Landfriedensbruch,  von  Mord,  Raub  und  Brandstiftung  angeordnet 
werden,  wenn  durch  die  Handhabung  des  ordentlichen  Strafrechts  die  Ruhe 
oder  öffentliche  Sicherheit  nicht  wieder  hergestellt  werden  kann.  Siehe  über 
die  Handhabung  dieser,  im  Vergleiche  zum  preussischen  Gesetze  erheblich 
schärferen  Massregeln,  hinsichtlich  der  Einrichtungen  in  der  bayerischen 
Rheinpfalz  und  hinsichtlich  des  militärischen  Belagerungszustandes  Seydel 
in  V.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts,  Bd.  1,  S.  160.  Vergl. 
auch  das  bayer.  Ges.  vom  18.  August  1879  (zur  Reichs  -  StPO.)  Artikel  6. 
(Strafdrohungen  gegen  Übertretung  der  bei  drohendem  oder  ausgebrochenem 
Kriege  erlassenen  Verordnungen.) 


*)  Versailler  Vertrag  vom  23.  November  1870,  HI,  §  5,  RGBl.  1871,  S.  19;  Reichs- 
Verf.,  Schlussbestimmung  zu  Abschnitt  XI,  RGBl.  1871  S.  82.  —  Vergl.  Reichsgesetz 
vom  22.  April  1871,  RGBl.  S.  87  §  7  Abs.  2;  Ger.Verf.G.  §  16. 


6* 


84  Deutsches  Reich.  —  Die  Landesstrafgesetzgebung. 


Vn.   Die  Landesstrafgesetzgebimg. 

§  43.   Das  Verhältnis  zwischen  Landes-  und  Reichsrecht. ^) 

I.    Das  deutsche  Reich  hat,    wie  im  §  13   dargelegt,    mit  geringen  Aus- 
nahmen   die    verfassungsmässig    anerkannte    Macht,     auf   allen    Gebieten   des 
menschlichen  Verkehrs  den   Strafrechtsschutz    selbst    zu   ordnen.      Mit   gutem 
(irunde  hat  das  Reich  von  dieser  Rechtsmacht  keinen  erschöpfenden  Gebrauch 
gemacht,     (rross  genug  war  nach   der  Jahrhundertc*   andauernden  Partikulari- 
sierung  die  Aufgabe,  diejenigen  Strafrechtssätze  reichsrechtlich  zu  kodifizieren, 
(leren  Inhalt  traditionell  den  Inhalt  der  Landesstrafgesetzbücher   bildete.     So- 
dann war  viel  neuer  Rechtsstoff  zu  bewältigen,  welcher  der  einheitlichen  Rege- 
lung   dringend    bedurfte.     Vergl.  oben  §  13.     Das    nahm    die    Thätigkeit   der 
arbeitskräftigen  Reichsgesetzgebung   vollauf  in  Anspruch;    auf  nicht    wenigen 
( Jebieten  musste  die  Reichsgesetzgebung  zunächst  Zurückhaltung  üben.     Ausser- 
dem   giebt    es    zahlreiche  Beziehungen   des  Menschen   zum  Menschen  und  des 
Älenschen  zur  Sachenwelt,    welche    dui'ch    die  Beschaffenheit   des  Bodens,    auf 
dem  die  Menschen    leben,    besonders    aber   durch  den  geschichtlichen  Werde- 
gang, in  dem  sich  die  Menschen  einer  Gemeinschaft  bewegt  haben,  verschieden 
rechtlich  ausgestaltet  wurden;    vei'schieden    in    politisch    selbständigen    Staats- 
wesen,   die    später    zu  einem  Einheits-  oder  Bundesstaate  geeint  wurden,  ver- 
schieden in  den  Provinzen,    Bezirken   und  Kommunen   desselben   einheitlichen 
Staatswesens.     Können  die  grossen  Grundgedanken    des    Rechts  nui'  auf  dem 
Aveiten  Boden   nationaler  und   internationaler  Ausprägung    gedeihen    und    sich 
entwickeln,  so  nmss  sich  der  Schutz  für  natürlich  oder  historisch  individuelle 
Rechtsnormen  auch  individuell  entwickeln  können.     Alle  grösseren  Staatswesen 
haben  deshalb  neben  der  gemeinsamen  eine  provinzielle   oder  noch  mehr  be- 
grenzte Rechtsbildung  gelten  lassen.     Sehr  wohl  kann  Veranlassung  sein,  die- 
selbe  Handlung    im    Gebiete   der  nämlichen  Rechtsgemeinschaft  mit  schwerer 
und    mit   leichter   Strafe,   je   nach   den   örtlichen  Verhältnissen,    zu  bedrohen. 
Man  denke  *in  den  Waldfrevel  in  der  Ebene  und  an  den  Waldfrevel  im  Bann- 
walde   unterhalb    der   Stirnmoräne    eines    Gletschers!    Im  Einheitsstaate  führt 
die  (icltung  der  regional  begrenzten  Rechtssätze  auf  den  ermächtigenden  Willen 
des   grösseren    Staatswesens   zurück.      Auch  innerhalb   des   deutschen  Reiches 
giebt    es   zahlreiche,    auf  grössere    oder   kleinere    Gebiete   beschränkte   Straf- 
drohungen, die  das  Reichsrecht  aufgestellt  hat,  während  das  Landes-,   Provin- 
zial-  oder  Ortsrecht  den  Normeninhalt  begrenzte.     S.  oben  §  14,  II.     Aber  es 
giebt  auch  sehr  zahlreiche  Beziehungen  der   Menschen,    um    deren    rechtliche 
und  strafrechtliche  Ausgestaltung  das  Reich  sich  gar  nicht  kümmerte.     Nicht 
leiten    auf   diesen    Gebieten    die    Gliedstaaten   ihre    Gesetzgebungsgewalt   vom 
Reiche  ab;    diese  Gewalt  ist    vielmehr  eine   historisch  selbständig  entwickelte 
und  vom  Reiche  bis  jetzt  unberührte.      Est  ist  das  Landesstrafrecht,    das 
neben  dem  Reichsstrafrecht  in   den   deutschen  Landen    gilt,    nicht    ebenbürtig 
dem  Reichsstrafrechte  in  Hinsicht  auf  die  Wichtigkeit  der  geschützten  Lcbens- 


*)  Heinze,  Staatsrechtliche  und  strafrechtliche  Erörterungen  zu  dem  amtlichen 
Entwurf  eines  Strafgesetzbuches  für  den  norddeutschen  Bund.  Leipzig  1870.  —  Heinze, 
Das  Verhältnis  des  Keichsstraf rechts  zu  dem  Landesstrafrecht  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  durch  das  norddeutsche  Strafgesetzbuch  veranlassten  Landesgesetze. 
Leipzig  1871.  — Bin  ding.  Der  Antagonismus  zwischen  dem  deutschen  Strafgesetzbuch 
und  dem  Entwurf  des  badischen  Einführungsgesetzes  dazu.  Freiburg  i.  Br  1871.  — 
Binding,  Handbuch  I,  §  60—70,  S.  270—331.  —  v.  Liszt,  Lehrbuch  (1892)  §  16,  S.  95. 
—  Laband,  Staatsrecht  (2.  Aufl.  1890),  Bd.  1,  §  59,  S.  614.  —  Hänel,  Staatsrecht  des 
deutschen  Reiches  (1892),  Bd.  1,  §  77—79,  S.  460. 


§  43.    Das  Verhältnis  zwischen  Landes-  und  Reichsrecht.  85 


guter  und  die  Schwere  der  Strafmittel,  mit  denen  es  wirken  kann;  an  Zahl 
der  Strafrechtsdrohungen  und  an  Häufigkeit  ihrer  Anwendung  aber  das  Reichs- 
recht überbietend.  Die  Zahl  der  im  Königreiche  Bayern  rechtskräftig  ge- 
wordenen Verurteilungen  wegen  Verbrechen  und  Vergehen  gegen  Reichsgesetze 
(mit  Ausschluss  der  Vorschriften  über  die  Erhebung  öffentlicher  Abgaben  und 
Gefälle)  betrug  im  Jahre  1888  49  736.  Die  Zahl  der  im  nämlichen  Jahre  nur 
in  Forstrügesachen  nach  der  bayerischen  (iesetzgebung  verurteilten  Personen 
betrug  102877.^) 

II.  Vorbehaltlich  der  nachher  zu  erwähnenden  Scliranken  haben  die 
Kinzelstaaten  des  deutschen  Reiches  nach  wie  vor  Gründung  des  Reiches  die 
Macht,  Strafgesetze  zu  erlassen,  insoweit  das  Reich  weder  selbst  Strafdrohungen 
aufgestellt,  noch  seinen  Willen  zu  erkennen  gegeben  hat,  dass  ein  Benehmen 
straflos  sein  soll.  Ältere  Landesgesetze,  welche  mit  dem  Reichsrechte  nicht 
kollidieren,  sind  erhalten  geblieben.  Das  Prinzip  ist  nach  der  Reichsverfassung 
Artikel  2  einfach;  es  ist  das  gegenteilige,  wie  das  von  der  schwachen  Reichs- 
gewalt im  Jahre  1532  in  der  „Vorrede"  zur  Carolina  zum  Ausdruck  gebrachte. 
(S.  oben  §  1,  S.  4.)  Das  Reichsrecht  geht  jetzt  dem  Landesrechte  vor;  wo 
das  Reiehsrecht  nicht  Platz  gegriffen  hat,  kann  das  Landesrecht  walten.  In 
der  Ausführung  aber  ist  die  Grenzziehung  zwischen  Reichs-  und  Landesstraf- 
recht vielfach  schwierig  und  in  der  Rechtslehre  wie  in  der  Rechtspflege  streitig. 
Schon  manches  Urteil  wurde  von  den  höchsten  Gerichten  aufgehoben,  weil  es 
auf  einem  von  diesen  für  unzulässig  gehaltenen  Satze  des  Landesrechts  beruhte. 
Die  Schwierigkeit  ist  nicht  gemindert,  sondern  vermehrt  worden  durch  eine 
Wendung  im  §  2  des  Einführungsgesetzes  zum  Strafgesetzbuch  vom  31.  Mai 
1870,  durch  welche  die  Gesetzgebung  über  die  Schwierigkeit  hinwegzukommen 
trachtete.  Es  handelte  sich  zunächst  um  das  Verhältnis  des  neuen  Gesetz- 
buches zu  dem  bei  seinem  Erscheinen  schon  vorhandenen  Strafrechte  des 
norddeutschen  Bundes  und  der  Gliedstaaten  desselben;  also  um  die  Frage 
nach  dem  Verhältnisse  von  neuem  zu  altem  Rechte.  Die  während  der  Vor- 
bereitung des  Gesetzbuches  vorhandene  Absicht,  die  sämtlichen  Landesstraf- 
gesetzbücher formal  aufzuheben,  wurde  fallen  gelassen,  namentlich  um  nicht 
Vorschriften  zu  beseitigen,  welche  das  Strafgesetzbuch  unberührt  lassen  wollte, 
die  aber  in  einzelnen  Strafgesetzbüchern  enthalten  waren.  Man  vertraute 
darauf,  dass  die  Landesgesetzgebungen  ehie  Revision  veranstalten  und  das 
mit  dem  Reichsrecht  unverträgliche  Gesetzesmaterial  beseitigen  würden.  Man 
beschränkte  sich  im  Bundesrats -Entwürfe  und  im  Gesetze  auf  die  Wen- 
dung: „Mit  diesem  Tage  (1.  Januar  1871)  tritt  das  Bundes-  und  Landes- 
strafrecht, insoweit  dasselbe  Materien  betrifft,  welche  Gegenstand  des  Straf- 
gesetzbuches für  den  norddeutschen  Bund  sind,  ausser  Kraft.'*  Theorie  und 
Praxis  haben  diesen  Rechtsgedanken  nicht  bloss  in  Hinsicht  auf  das  zeit- 
liche Verhältnis  des  neuen  Bundesrechtes  zum  älteren  Bundes-  und  Landesrecht 
als  Direktive  genommen,  sie  glaubten  darin  vielmehr  auch  eine  Kundgabe  des 
massgebenden  Reichswillens  in  Bezug  auf  die  Grenzen  des  Bundes-  imd  des 
Landesstrafrechts  überhaupt  erblicken  zu  müssen.  Und  es  lässt  sieh  nicht 
bestreiten,  dass  die  Zurückdrängung  des  vorhandenen  Landesstrafrechtes  durch 
das  junge  Bundesstrafrecht  eine  Kraftbethätigung  des  Bundes  gegenüber  dem 
Landesrechte  überhaupt  war.  Man  kann  im  §  2  des  Einführimgsgesetzes  zum 
Strafgesetzbuch  eine  Konkretisierung  des  in  der  Bundesverfassung  Artikel  2 
zum  allgemeinen  Ausdruck  gebrachten  Willens  der  Superiorität  des  Bundes 
erblicken.     Aber  man  muss  nicht  davon  ausgehen,  dass  der  der  französisclien 

^)  Ergebnisse  der  Civil-  und  Strafrechtspflege  u.  s.  w.  des  Königreichs  Bayern. 
München,  Christian  Kaiser.    Jahrgang  1889,  S.  78;  Jahrgang  1^88,  S.  76. 


86  Deutsches  Reich.  —  Die  Landesstrafgesetz^ebung. 


Rechtssprache  entlehnte  Ausdruck  „Materie"  ein  neues  und  wertvolles  Element 
für  das  Judicium  finium  regundorum  zwischen  Bundes-  und  Landesstrafrecht 
gebracht  habe.  Der  Ausdruck  „Materie"  gehört  vielmehr  zu  derjenigen,  deren 
die  Menschen  sich  zu  bedienen  pflegen,  wenn  sie  einen  Gedanken  kund  geben 
wollen,  dessen  Tragweite  sie  nicht  nach  allen  Richtungen  hin  erwogen  haben. 
Es  führt  nicht  zum  Ziele,  wenn  man  zuerst  kanonhaft  den  Ausdruck  „Materie" 
bestimmt  und  dann  nach  der  dem  Gesetze  unterstellten  Bedeutung  des  Be- 
griffes die  Lösung  für  die  einzelne  Zweifelsfrage  zu  gewinnen  sucht.  „Materie" 
kann  eine  Mehrheit  von  Thatbeständen  und  eine  Mehrheit  von  Gesetzen  be- 
deuten, welche  ein  gemeinsames  Merkmal  besitzen.  Dieses  Merkmal  kann  in 
der  Gleichheit  oder  Ähnlichkeit  des  bedrohten,  beziehungsweise  beschützten 
Rechtsgutes  bestehen;  das  einigende  Merkmal  kann  aber  auch  die  Gleichartig- 
keit des  Bedürfnisses  sein,  das  zum  Motive  von  äusserlich  verschiedenen  Ver- 
brechen wird;  oder  man  kann  zu  einer  Materie  Handlungen  aus  verschiedenen 
Motiven  aber  mit  gleicher  Begehungserscheinung  stellen.  Die  herkömmliche 
Zusammenfassung  einer  Mehrheit  von  Handlungen  mit  ähnlicher  Richtung  und 
Begehungsform  in  einem  Gesetzesabschnitte  kann  diese  Handlungen  und  die 
darauf  bezüglichen  Gesetze  als  eine  „Materie"  erscheinen  lassen.  Es  ist  ledig- 
lich eine  spezielle  Interpretationsfrage,  ob  die  Reichsgesetzgebung  durch  ihr 
Schweigen  in  Betreff  eines  konkreten  Thatbestandes  eine  Straf  losigkeitserklärung 
hat  zum  Ausdruck  bringen  oder  ob  sie  die  strafrechtliche  Behandlung  des 
Thatbestandes  unberührt  lassen,  daher  dem  Landesrechte  überlassen  wollte. 
Man  nimmt  z.  B.  an,  dass  die  Unwahrheiten  vor  Gerichten  und  sonstigen  Be- 
hörden eine  Materie  seien,  mit  welcher  sich  der  9.  Abschnitt  des  2.  Teiles 
des  Strafgesetzbuches  erschöpfend  und  das  Landesrecht  ausschliessend  be- 
schäftigen wollte,  dass  dagegen  der  Begriff  des  strafbaren  Eigennutzes  keine 
vom  25.  Abschnitt  erschöpfend  und  ausschliessend  behandelte  Materie  sei. 
Vergl.  oben  §  10  S.  27. 

III.  Das  Einführungsgesetz  zum  Strafgesetzbuch  hat  sich  nicht  auf  die 
Kundgabe  des  allgemeinen  Rechtsgedankens  beschränkt,  dass  das  Strafgesetz- 
buch das  ältere  Bundes-  und  Landesstrafrecht  beseitige,  soweit  dieses  mit  dem 
Strafgesetzbuche  nicht  zu  vereinigen  ist,  sondern  es  hat  im  Absatz  2  des  §  2 
eine  Anzahl  von  Gebieten  bezeichnet,  auf  welchen  das  ältere  Bundes-  und 
Landesstrafrecht  jedenfalls  in  Kraft  bleiben  sollte.  Die  Aufzählung  ist  exem- 
plifikativ,  nicht  enumerativ  gemeint;  es  giebt  ausser  den  genannten  auch  noch 
zahlreiche  andere  Gebiete,  auf  die  sich  das  Reichsrecht  nicht  bezieht,  auf 
denen  daher  die  Landesgesetzgebung  in  Geltung  blieb  und  zu  neuer  Satzung 
übergehen  kann.  Die  Bestimmung  des  genannten  zweiten  Absatzes  hat  aber 
noch  eine,  über  die  Exemplifikation  hinausreichende,  Bedeutung.  Auf  den 
erwähnten  Gebieten  ist  das  sonstige  Verhältnis  zwischen  Bundes-  (Reichs-) 
und  Landesrecht  in  sein  Gegenteil  verkehrt.  Das  Landesrecht  darf  auf  diesen 
Gebieten  mit  dem  Reichsrecht  kollidierende  Vorschriften  aufstellen.  Das 
Reichsrecht  will  hier  nur  herrschen,  insoweit  nicht  das  Landesrecht  ab- 
weichende Bestimmungen  aufgestellt  hat;  das  Reichsrecht  ist  hier  subsidiäre 
Quelle  und  verhält  sich  zum  Landesrechte  wie  das  alte  gemeine  Recht  zum 
Landesrechte.^)  Die  Gebiete,  auf  denen  das  Einführungsgesetz  gegenüber  dem 
besonderen  Bundes-  (Reichs-)  und  Landesrechte  Zurückhaltung  übte,  waren 
die  Vorschriften  über  strafbare  Verletzungen   der  Presspolizei-,  Post-,   Steuer-, 

»)  Die  Frage  ist  sehr  bestritten.  Vergl.  RG.-E.  Bd.  4,  S.  51;  Binding,  Hand- 
buch, I,  §  78,  S.  344;  dagegen  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  16,  Note  3  (1892),  S.  98.  Beson- 
ders prägnant  tritt  dieses  Verhältnis  z.  B  in  t»  6  des  preuss.  Feld-  und  Forstpolizeiges. 
vom  1.  April  1880  (unten  t»  46  No.  15)  entgegen.  Vergl.  auch  Art.  III  des  baver.  Ges. 
vom  8.  Dezember  1889  betr.  den  Malzaufschlag.   Baver.  GVBl.  S.  586. 


§  48.    Das  Verhältnis  zwischen  Landes-  und  Reichsrecht.  87 


Zoll-,  Fischerei-,  Jagd-,  Forst-  und  Feldpolizeigesetze,  die  Vorschriften  über 
Missbrauch  des  Vereins-  und  Versammlungsrechts  und  über  den  Holz-  (Forst-) 
Diebstahl.  Hinsichtlich  der  Zoll-  und  einzelner  Steuergesetze  gab  es  bei  dem 
Inkrafttreten  des  Strafgesetzbuches  schon  einige  Straf  bestimmungen  des  Bundes, 
vergl.  oben  §  28,  die  erhalten  blieben,  insoweit  sie  nicht  durch  neueres 
Reichsrecht  geändert  sind.  In  Bezug  auf  die  Presspolizei,  das  Postwesen, 
mehrere  Steuern  und  Abgaben,  sowie  einzelne  Gebiete  der  Fischerei  hat 
die  spätere  Reichsgesetzgebung  zahlreiche  Strafbestimmungen  aufgestellt  und 
insoweit  das  nach  dem  EinführungBgesetz  zum  Strafgesetzbuch  erhalten 
gebliebene  Gebiet  der  Landesstrafgesetzgebung  eingeschränkt.*)  Soweit  das 
aber  nicht  der  Fall,  namentlich  bezüglich  des  Landessteuerwesens,  der  Fischerei-, 
Jagd-,  Forst-  und  Feldpolizei,  des  Vereins-  und  Versammlungswesens  und  des 
Holz-  (Forst-)  Diebstahls  gelten  nach  wie  vor  bis  zum  etwaigen  Erlass  eines 
Reichsgesetzes  die  landesrechtlichen  Strafbestimmungen,  und  zwar  mit  Aus- 
schluss der  Bestimmungen  des  Reichsrechtes,  welche  auf  diese  Thatbestände 
anwendbar  wären.  Die  falsche,  unter  Handgelübde  an  Eidesstatt  abgegebene 
Steuererklärung  wird  weder  als  Verletzung  der  eidesstattlichen  Versicherung 
nach  §  156  des  Strafgesetzbuches,  noch  als  Betrug  nach  §  263  des  Straf- 
gesetzbuches gestraft,  Entsch.  des  RG.  XIV  S.  294,  XXII  No.  34,  wenn  das 
betreflFende  Landesstrafrecht  Spezialbestimmungen  darüber  enthält,  sollten  auch 
die  fraglichen  Thatbestände  die  Merkmale  der  §§  156  oder  263  des  Straf- 
gesetzbuches erfüllen.  -)  Der  dritte  Absatz  des  §  2  des  Einführungsgesetzes 
zum  Strafgesetzbuche,  welcher  sich  auf  die  Bestrafung  des  Bankbruchs  von 
Nichtk^lufleuten  bezog,  ist  durch  die  deutsche  Konkursordnung  gegenstandslos 
geworden. 

IV.  Auf  den  der  Landesgesetzgebung  überlassen  gebliebenen  (Jebieten 
konnten  nicht  bloss  die  bestehenden  Gesetze  in  Geltung  bleiben,  die  Landes- 
gesetzgebung hatte  und  hat  fortwährend  die  Macht  zu  neuer  Thätigkeit.  Sie 
kann  auf  diesen  Gebieten  nicht  bloss  die  Thatbestände  nach  ihrem  Ermessen 
begrenzen,  die  Strafen,  vorbehaltlich  der  unter  V  erwähnten  Schranken,  nach 
Art  und  Mass  bestimmen,  sowie  besondere  Umstände  als  Gründe  der  Straf- 
erhöhung oder  Minderung  ausprägen:  die  Landesgesetzgebung  hat  vielmehr 
auf  ihren  Gebieten  auch  die  Macht,  hinsichtlich  der  allgemeinen  Voraus- 
setzungen der  Strafbarkeit  Vorschriften  aufzustellen,  die  vom  Reichsrechte 
abweichen.  In  der  Doktrin  ist  die  Frage  im  einzelnen  nicht  unbestritten. 
Unter  Anerkennung  der  (iültigk(ät  der  betreffenden  Bestimmungen  durch  die 
höchsten  Gerichte  (Oberlandesgerichte  und  Reichsgericht)  sind  aber  mehrere 
Landesgesetzo  zu  solchen  Abweichungen  von  den  Grundsätzen  des  gemeinen 
Reichsrechts  gelangt;  namentlich  in  Hhisicht  auf  die  Straf  barkeit  des  Versuches 
und  der  Hülfeleistuug. '*)      Insoweit   aber  das  besondere  Landesstrafrecht  über 

M  Hinsichtlich  des  Vereins-  und  Versammlungsrechtes  verffl.  oben  §  27  II. 

■)  Das  preuss.  Gesetz,  betr.  die  Erbschaftssteuer  vom  30.  Mai  1873,  GS.  S.  329, 
*^  42  Abs.  2  schliesst  die  Anwendung  seiner  Strafbestimmungen  aus,  wenn  die  Täuschung 
der  Steuerbehörde  mittelst  l^rkundenfälschung  oder  eidesstattlicher  Versicherung  unter- 
nommen ist  und  wegen  dieser  Vergehen  Bestrafung  eintritt.  Dadurch  ist  das  Regel- 
verhÄltnis  zwischen  Reichs-  und  Landesrecht  wieder  hergestellt. 

"I  Verffl.  das  preuss.  Forstdiebstahlsgesetz  vom  15.  April  1878,  GS.  S.  222,  §  4, 
das  preuss.  Feld-  und  Forstpolizeigesetz  vom  1.  April  1880,  GS.  S.  230,  §  78.  Vergl. 
ferner  preuss.  Gesetz  über  die  Bestrafung  unbefugter  Aneignung  von  Mineralien 
vom  26.  März  1856,  GS.  S.  203,  §  2  Abs.  2;  preuss.  Gesetz,  betr.  die  unbefugte  An- 
eignung von  Bernstein  vom  22.  Februar  1867,  GS.  S.  272,  Art.  I,  Abs.  2.  Das 
preussische  Forstdiebstahlsgesetz  §  10  schliesst  die  im  §  57  des  RStGB.  für  die 
Jugend  vorgesehene  Strafermässigung  aus;  ebenso  das  Feld-  und  Forstpolizeigesetz 
§  4.      Vergl.    sodann    bayer.    Forstgesetz     vom    28.  März    1852    (unten   §  46    No.  15) 


88  Deutsches  Reich.  —  Die  Landesstrafgesetzgebung*. 


die  allgemeinen  Bedingungen  der  Strafbarkeit  keine  Vorschriften  enthält, 
kommen  die  Bestimmungen  des  Reichsstrafgesetzbuches  auch  auf  dem  Gebiete 
des  Landesstrafrechts  zur  Anwendung,  das  sonach  in  gewissem  Sinne  der 
Mittelpunkt  der  Landes-  wie  der  Reichsstrafgesetzgebung  ist.  *)  Ja  das  Reichs- 
strafgesetzbuch bildet  die  Ergänzung  der  vor  seinem  Erscheinen  erlassenen 
Landesstrafgesetze  selbst  in  denjenigen  Beziehungen,  in  welchen  diese  Gesetze 
auf  das  bei  ihrer  Erlassung  geltende  Landesstrafgesetzbuch  ausdrücklich  ver- 
wiesen. Dieses  Gesetzbuch  ist  insoweit,  auch  wenn  es  von  der  Landes- 
ausführungsgesetzgebung  nicht  aufgehoben  wurde  —  s.  den  folgenden  Para- 
graphen — ,  wegzudenken,  und  die  Ergänzung  ist  aus  dem  Reichsstrafgesetz- 
buche zu  entnehmen.     Einf.-Ges.  zum  StGB.  §  3. 

V.  In  einigen  Beziehungen  hat  das  Reichsrecht,  namentlich  das  Ein- 
führungsgesetz zum  Strafgesetzbuch,  Normativbestimmungen  aufgestellt,  die 
für  die  Landesstrafgesetzgebung  absolut  massgebend  sind.^)  Ein  widersprechender 
Satz  des  Landesrechts  würde  keine  Gültigkeit  haben.  !•  Seit  der  Geltung  des 
Reichsstrafgesetzbuches  —  1.  Januar  1871,  beziehungsweise  1.  Januar  1872 
—  darf  in  Anwendung  von  landesgesetzlichen  Straf  bestimmungen  auf  keine 
anderen  Strafarten  erkannt  werden,  als  auf  diejenigen,  welche  im  Reichs- 
strafgesetzbuche enthalten  sind.  Ältere  Landesgesetze,  welche  andere  Straf- 
arten ankündigten,  z.  B.  Arbeitshaus  als  Hauptstrafe,  waren  und  sind,  auch 
wenn  die  darin  geschützten  Normen  fortbestehen,  nicht  mehr  anwendbar,  wenn 
nicht  die  Landesausführungsgesetzgebung  für  den  Ersatz  der  unzidässig  ge- 
wordenen Strafen  durch  Strafen  des  Strafgesetzbuches  gesorgt  hat.  Die  vor- 
stehende Bestimmung  ist  nicht  bloss  eine  Direktive  für  die  Landesgesetzgebmig, 
sondern  sie  ist  eine  unmittelbar  praktische  Norm  für  die  deutschen  Gerichte. 
Eine  Surrogierung  unzulässiger  Landessti'afen  durch  die  Sti'afen  des  Reichs- 
strafgesetzbuches seitens  der  Gerichte,  was  einzelne  Schriftsteller  für  zulässig 
gehalten  haben,  würde  mit  dem  §  2  des  Strafgesetzbuches  in  Widerspruch 
stehen.  Unbedenklich  jedoch  dürfte  die  Ersetzung  von  kleinen,  innerhalb 
6  Wocjien  sich  bewegenden,  Gefängnis-  durch  entsprechende  Haftstrafen  sein, 
so  z.  B.  der  Gefängnisstrafe  der  preussischen  Gesindeordnung  vom  8.  November 
1810  (§  51).  Und  wenn  in  Landesgesetzeu  anstatt  der  Gefängnis-  oder  Geld- 
strafe Forst-  oder  Gemeinde- Arbeit  angedroht  oder  nachgelassen  ist,  so  behält 
es  hierbei  sein  Bewenden.  Einf.-Ges.  zum  StGB.,  §  6,  Abs.  2.  Durch  §6 
ist  die  Vermögenskonfiskation  als  solche  ausgeschlossen.  Auch  die  körperliche 
Züchtigung  ist  ein  vom  §  6  nicht  anerkanntes,  daher  verworfenes  Mittel  der 
Strafrechtspflege.  Die  deutsche  Seemannsordnung  (§  79)  verbietet  die  körper- 
liche Züchtigung  auch  als  Diszii)linarmittel  zur  Aufrechthaltung  der  Ordnung 
auf  Schiffen.  Ebenso  findet  sich  dieses  Verbot  in  Landesgesetzen  und  Ver- 
ordnungen, welche  sich  auf  die  Behandlung  der  Sträflinge  in  Gefängnissen 
beziehen.  Bayer.  Ges.  vom  26.  Dezember  1871,  beti*.  die  Einführung  des 
StGB,  in  Bayern,  Art.  36,  Abs.  2,  desgleichen  bayer.  Ausf.-Ges.  vom 
18.  August   1879  zur  Reichs-Strafprozessordnung,   Art.  27,  Abs.  2;  preussisches 

Art.  56;  bayer.  Ausführungsgesetz  vom  18.  August  1879  (unten  §  44  No.  4)  Art.  5, 
welcher  das  Maximum  der  Übertretungsstrafe  höher  als  im  Reichsrechte  bestimmt; 
ebenso  bayer.  Berggesetz  vom  20.  März  1869,  Art.  206;  bayer.  Malzaufschlaggesetz 
in  der  Fassung  des  Gesetzes  vom  8.  Dezember  1889,  GVBl.  S.  600.  Art.  65,  UmM'and- 
lung  einer  Übertretungsgeldstrafe  in  Freiheitsstrafe  bis  zu  3  Monaten.  Dazu  bayer; 
Ges.  vom  18.  August  1879  Art.  5;  s.  unter  V. 

*)  Vergl.  namentheh  das  bayer.  Ausführungsgesetz  vom  18.  August  1879  zur 
Reichs -Strafprozess-Ordn.  Art.  4,  ferner  das  baver.  Malzaufschlaggesetz  vom  8.  De- 
zember 1889  Art.  49. 

')  Vergl.  Olshausen,  Kommentar.  4.  Aufl.  1892.  S.37.  Einleitende Bestinunungen, 
Bemerkung  2  c. 


§  4fS.    Das  Verhältnis  »wischen  Landes-  und  Reichsrecht.  89 


Gefängnisreglement  vom  16.  März  1881  ('§  55  Schlusssatz).  In  den  preussi- 
schen  Zuchthäusern,  im  Königreich  Sachsen,  in  Mecklenburg,  Schwarz- 
hurg-Rudolstadt,  Hamburg  und  Lübeck  hält  man  die  Anwendung  der  körper- 
lichen Züchtigung  als  Disziplinannittel  noch  für  zulässig.^)  An  dieser  Stelle 
mag  es  genügen,  die  Frage  aufzuwerfen,  ob  dieser  Zulassung  angesichts 
des  §  6  des  Einführungs- Gesetzes  noch  Wirksamkeit  beigelegt  werden  darf. 
Der  Stock  und  die  Rute  haben  genau  denselben  Effekt,  ob  sie  auf  Grund  des 
Strafgesetzbuches  oder  auf  Grund  eines  Gefängnisreglements  appliziert  werden; 
die  bedenkliche  Wirkung  dieses  Mittels  wird  dadurch  nicht  gemildert,  dass  es 
als  „Disziplinannittel"  zur  Anwendung  gebracht  wird.  Es  wird  sich  also 
fragen,  ob  man  durch  die  Beifügung  des  Wortes  „disziplinar"  über  den 
zweifellosen  Negativwillen    des  Reichsrechts    hinwegzukommen    berechtigt  ist. 

Mit  der  Bezeichnung  einer  Massnahme  als  polizeilicher  oder  als  Ver- 
waltungsmassregel setzt  sich  die  Rechtfertigung  landesrechtlicher  Bestimmungen, 
welche  strafähnliche  Mittel  androhen,  mit  dem  §  6  zuweilen  auseinander.  So 
hat  man  es  in  dem  auf  Beachtung  der  reichsrechtlichen  Schranken  sorgfältig 
bedachten  Bayern  trotz  des  §  6  des  Einführungs-Gesetzes  für  zulässig  gehalten, 
mit  gewissen  Verurteilungen  aus  dem  bayerischen  Malzaufschlag -(Bier- 
besteuerungs-)  Gesetze  die  zeitliche  Entziehung  der  Befugnis  zum  Malzbrechen 
zu  verbinden,  weil  dies  keine  (eigentliche  Strafe,  sondern  eine  polizeiliche 
Massregel  sei.  Vergl.  überdies  Reichs-Gew.-O.  §  143,  Abs.  2.  Auch  beztlg- 
lich  der  in  privatrechtlichen  Bestimmungen  und  in  Verwaltungsgesetzen  vielfach 
vorkommenden  „Verwirkungen**  von  Vermögenswerten  und  Befugnissen  beruhigt 
man  sich  gegenüber  dem  §  6  unter  der  Motivierung,  dass  solche  Verwirkungen 
keine  Strafen  seien.  Es  bedarf  noch  eingehender  Untersuchungen  über  das 
Verhältnis  der  polizeilichen  Massregel  und  der  sogenannten  Verwirkung  zum 
Strafbegriff,  um  mit  Sicherheit  über  die  reichsrechtliche  Zulässigkeit  der  landes- 
rechtlichen Polizeimassregeln  und  Vei*wirkungen  urteilen  zu  können.*)  Nament- 
lich ist  die  Zulässigkeit  der  von  der  Judikatur  mehrfach  als  fortgeltend  an- 
erkannten fiskalischen  Erbschaftsentreissungen  keine  ausgemachte  Sache. '^) 
Besonders  bestritten  ist  das  Verhältnis  des  Reichsrechts  zu  den  „eigentlichen" 
Privatstrafen.*) 

Bei  der  Fülle  der  hier  in  Bc^tracht  kommenden  Fragen  und  des  darauf 
bezüglichen  Quellenmaterials,  sowie  gegenüber  den  zahlreichen,  zum  Teil  sehr 
umfangreichen  Untersuchungen  und  Erörterungen  über  diese  Fragen  kann  hier 
nicht  in  eine  neue  Erörterung  eingetreten  werden.  Dagegen  mag  es  statthaft  und 
angemessen  sein,  die  Ergebnisse  der  Prüfung  zu  verzeichnen.  Es  muss  dabei  zum 
Teil  auf  den  §  2  des  Eiuführungsgesetzes  zum  Strafgesetzbuche»  zurückgegriffen 
werden,     a)  Auf  den  Unterschied  von  Privat«trafe  und  Verwirkung  lässt  sich 


*)  V.  Jagemann  in  dem  durch  ihn  und  v.  Holtzendorff  herausgegebenen  Hand- 
buch des  Gefängniswesens.    Hamburg  1888.     Bd.  2,  S.  94. 

«)  Vergl.  Bin  ding,  Handbuch,  I,  §  70,  S.  326. 

*J  Vergl.  H.  Seuffert  in  v.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts 
Bd.  1,  S.  311. 

*)  Vergl.  Windscheid,  Lehrbuch  des  Pandektenrechts  i^  326,  Note  4  und  '», 
7.  Aufl.  1891.  Bd.  2,  S.  222;  vergl.  auch  §  123  Note  4a,  Bd.  1,  S.  350  und  §  472  Note 
7a  und  8,  Bd.  2,  S.  701.  —  Binding,  Handbuch,  §  65,  III,  Bd.  1,  S.  304,  Note  27.  — 
V.  Liszt,  Lehrbuch  (1892),  §  17,  S.  101.  —  Mandry,  Der  civilrechtliche  Inhalt  der 
Reichsgesetze,  §  22,  3.  Aufl.  S.  220.  —  v.  Iheriug,  Rechtsschutz  gegen  injuriöse 
Rechts verl et zimgen  in  den  Jahrbüchern  für  die  Dogmati  k  des  heutigen  römischen 
und  deutschen  Privatrechtes.  Bd.  23  (1885),  S.  155—338  (auch  in  den  gesammelten 
Aufsätzen  Bd.  3,  Jena  1886,  S.  233—443).  —  Dernburg,  preuss.  Privatrecht,  Bd  1, 
§  125,  Anmerkimg  2.  —  Thon,  Rechtsnorm  und  subjektives  Recht.  Weimar  187S. 
S.  33— 40.  —  Ernst  Landsberg,  Injuria  und  Beleidigimg.    Berlin  1886,  S.  97  fl'. 


90  Deutsches  Reich.  —  Die  Landesstrafgesetzgebung'. 


die  Lösung  der  Frage  aus  dem  vorerwähnten  Grunde  nicht  abstellen.')  b)  Die 
(iepflogenheiten  der  deutschen  Strafgesetzgebung  führen  zu  der  Annahme, 
dass  das  deutsche  Strafgesetzbuch  mit  seinem  Einführungsgesetz  nur  die 
grundlegenden  und  wichtigeren  Bestandteile  des  öffentlichen  Straf  rechts 
behandeln  wollte,*)  und  dass  die  Einrichtung  der  Privatstrafe,  wie  sie  in  dem 
vorhandenen  Rechte  ausgebildet  war,  abseits  von  den  Gegenständen  prin- 
zipieller Regelung  lag.  Es  ist  namentlich  anzunehmen,  dass  das  Einführungs- 
gesetz zum  Strafgesetzbuch  und  speziell  dessen  §  2  auf  die  Einrichtung  der 
Privatstrafen  sich  nicht  bezieht,  insoweit  diese  auf  Privatgenugthuung  abzielen. 
Nicht  das  Fehlen  des  Strafcharaktere  führt  zu  dieser  Annahme,  sondern  das 
Fehlen  des  öffentlichen,  d.  h.  Interessen  des  Publikums  berührenden  Charakters 
der  Privatstrafe.*)  c)  Aus  dem  gleichen  Grunde  kann  auch  aus  §  6  des  Ein- 
führungsgesetzes keine  unmittelbare  Liösung  der  auf  die  Privatstrafen  bezüglichen 
Fragen  gewonnen  werden.  Die  Willensäusserung  jedoch,  welche  im  §  6  des 
Einführungsgesetzes  enthalten  ist,  lässt  ersehen,  dass  die  Gesetzgebung,  wenn 
ihr  die  Frage  der  Privatstrafen  unterbreitet  worden  wäre,  die  auf  Abbitte, 
Widerruf  und  Ehrenerklärung  gerichteten  Privatstrafen  als  mit  den  herrschenden 
Anschauungen  unverträglich  abgelehnt  haben  würde.  Diese  Mittel  sind  zweifel- 
los zur  Erreichung  öffentlicher  Zwecke  ausgeschlossen;  sie  erscheinen  im 
Dienste  der  Privatgenugthuung  noch  weniger  als  zulässig.  Insoweit  aber  die 
Privatstrafen  auf  vermögensrechtliche  Leistungen  des  Schuldigen,  namentlich 
auf  Geldzahlungen  gerichtet  sind,  steht  ihnen  §  6  des  Einführungsgesetzes 
nicht  im  Wege,  weil  für  den  Straffälligen  das  Wesen  der  Strafe  nicht  alteriert 
wird,  wenn  die  von  ihm  zu  bezahlende  Summe  dem  Verletzten  anstatt  der 
Staatskasse  zufliesst.  Die  auf  Geldzahlung  gerichtete  Privatstrafe  ist  eines  von 
den  im  §  6  genannten  Straf mittcln.  So  hat  auch  das  prenssische  Forstdieb- 
stahlsgesetz vom  15.  April  1878  anstandslos  aus  der  früheren  Gesetzgebung 
die  Bestimmimg  aufgenommen,  dass  die  wegen  Forstfrevels  zu  bezahlende 
Geldstrafe  ausser  der  Entschädigung  dem  Beschädigten  zuzuwenden  sei.  S.  unten 
§  46,  No.  15.  Wegen  ihres  Inhaltes  steht  der  Anwendung  der  Privatstrafe, 
insoweit  sie  auf  Geldzahlung  gerichtet  ist,  die  Strafgesetzgebung  des  Reiches 
nicht  im  Wege.  Die  Ehescheidungsstrafen  können  im  Gebiete  des  gemeinen, 
wie  des  preussischen  und  französischen  Rechts  auch  heutzutage  noch  neben 
der  öffentlichen  Strafe  des  Ehebruchs  geheischt  werden.*)  d)  Die  Prüfung  der 
andern  Fälle  der  Privatstrafe  und  der  darauf  bezüglichen  und  anwendbaren 
Bestinmiungen  veranlasst  aber  allerdings  zu  der  Annahme,  dass  die  Mehrzahl 
derselben  als  beseitigt  anzusehen  ist,  zum  Teil  schon  nach  dem  altem  Landes-, 
zum  Teil  nach  dem  Reichsstrafrechte.  Insoweit  nämlich  die  Privatstrafen  als  die  un- 
vollkommenere Form  des  Schutzes  des  Publikums  gegen  weitere  Störung  des 
Rechtsbrechers  erscheinen,  insoweit  sie  vorzugsweise  die  publica  utilitas  ver- 
folgen —  L.  42,  §  1  D.  de  procur.  3,  3,  L.  1,  §4  D.'depos.  16,  3  —  sind 
die  Privatstrafen  schon  durch  ältere  Strafgesetze  beseitigt,  welche  auf  die  von 

*}  Man  bezeichnet  z.  B.  die  Folgen  der  eigeumächtigen  Selbsthülfe  als  Verwir- 
kung.  Diese  Bezeichnung  trifft  aber  zum  mindesten  dann  nicht  zu,  wenn  der  Nichtr 
eigentümer  die  fremde  Sache,  die  er  für  eine  eigene  gehalten  und  eigenmächtig  an 
sich  genommen  hat,  zurückgeben  und  ausserdem  wegen  der  Selbsthülfe  den  Wert 
der  Sache  bezahlen  muss.  Übrigens  lässt  sich  gerade  für  diesen  Fall  der  Privatstrafe 
ziemlich  sicher  eine  derogatorische  Praxis  nachweisen.  Vergl.  Entscheidungen  des 
Reichsgerichts  in  Civilsachen  Bd.  11,  S.  244,  Bd.  18  No.  43. 

*)  Vergl.  auch  Entscheidungen  des  Reichsgerichts  in  Civilsachen  Bd.  23,  S.  321, 
Zeile  17  von  unten. 

*)  Vergl.  S.  Brie  in  den  Verhandlungen  des  deutsclien  Jiiristentages.  XX.  Jahr- 
gang, Bd.  2,  S.  235  f.,  namentlich  S.  243  f. 

*)  Vergl.  Brie  a.  (). 


§  43.    Das  Verhältnis  zwischen  Landes-  und  Heicbsrecht.  91 


der  Privatstrafe  betroffenen  Thatbestände  öffentliche  Strafen  androhten.*)  Jeden- 
falls würde  eine,  einen  solchen  Thatbestand  betreffende  Bestimmung  des 
Reichsrechtes  in  Gemässheit  des  §  2  des  Einführungsgesetzos  die  Privatstraf- 
klage ausschliessen.  Es  ist  anzunehmen,  dass  die  moderne  Strafgesetzgebung 
neben  dem  vollkommeneren  Schutze  des  Publikums,  den  sie  bot,  nicht  auch 
noch  den  unvollkommeneren  der  Privatstrafe  gewähren  wollte.  Das  gilt  nament- 
lich von  der  actio  furti,  der  actio  vi  bonorum  raptorum,  soweit  diese  auf  mehr 
als  die  Entschädigung  geht,  von  dem  Strafzusatze  der  lex  Aquiiia  und  für 
die  schwereren  Fälle  der  actio  injuriarum  aestimatoria,  sowie  für  die  Folgen 
der  widerrechtlichen  Selbsthülfe .^)  Bei  Beleidigung(*n  im  Sinne  des  Strafgesetz- 
buches und  bei  Körperverletzungen  ist  die  aestimatoria  heutzutage  jeden- 
falls nach  §  11  des  Einführungsgesetzes  zur  deutschon  Strafprozessordnung 
ausgeschlossen,  welcher  die  Verfolgung  dieser  Delikte  ausdrücklich  nui'  auf 
dem  von  der  Strafprozessordnung  vorgezeichneten  Wege,  nämlich  mittels  der 
öffentlichen  Klage  des  Staatsanwalt<»8  oder  mit  der,  gleichfalls  auf  öffentliche 
Strafe  abzielenden  Privatklage  des  Verletzten  zulässt.^)  Insoweit  aber,  ab- 
ges(!hen  von  diesen  Fällen,  die  Privatstraf  klage  nach  den  Intentionen  der  in 
Betracht  kommenden  Rechts bildung  die  bequemere  Form  für  einen  Entschädi- 
gungsanspruch ist  oder  eine  Privatgenugthuung  für  Verletzung  idealer  Rechts- 
güter gewähren  soll,  und  keine  partikularrechtliche  Beseitigung  nachzuweisen 
ist,  düi'fte  ihr  heutiger  Gebrauch  nicht  zu  ])eanstanden  sein.  Im  Gebiete  des 
gemeinen  Rechts  wird  man  sie  z.  B.  gewähren  müssen  dem  Arzte,  bei  dem 
mutwillig  die  Nachtglocke  gezogen  wird,  um  ihn  im  Schlafe  zu  stören;  man 
wird  sie  dem  Dichter  nicht  versagen,  dessen  an  eine  Zeitungsredaktion  zur 
Veröffentlichung  geschicktes  (reistesprodukt  mit  einer  Widmung  an  eine  dem 
Dichter  fremde  Person  abgedruckt  wird.  —  Durch  die  Aufstellung  des  Antrags- 
erfordemisses  kann  zum  Ausdruck  gebracht  sein,  dass  die  Strafgesetzgebung 
in  der  fraglichen  That,  wie  z.  B.  bei  dem  einfachen  Hausfriedensbruche  haupt- 
sächlich und  zunächst  eine  Verletzung  von  Privatinteressen  erblickte.  Hat  in 
einem  solchen  Falle  der  Verletzte  die  dreimonatliche  Antragsfrist  verstreichen 
lassen,  so  dass  die  öffentliche  Klage  ausgeschlossen  ist,  so  wird  der  actio  in- 
juriarum aestimatoria  weder  L.  6  D.  de  in^jur.  47,  10  noch  §  2  des  Einf.-Ges. 
zum  StGB,  entgegen  gehalten  werden  können.  Es  wäre  wünschenswert,  dass 
die  deutsche  Gesetzgebung  angesichts  der  Unsicherheit  des  bestehenden  R(»chts 
und  dessen  Lücken  sich  zu  einer  ausdrücklichen  Regelung  entschlösse. 

2.  Eine  Nonnativbestimmung  enthält  §  5  des  Einf.-Ges.  zum  StGB. 
Darnach  ist  der  Kreis  der  Straf  mittel,  mit  welchen  die  Landesgesetzgebung 
auf  den  ihr  verbliebenen  Gebieten  wirken  darf,  seit  der  Geltung  des  Straf- 
gesetzbuches sehr  eingeschränkt.  Die  Androhung  der  drtistischer  wirkenden 
Mittel  hat  die  Reichsgesetzgebung  sich  selbst  vorbehalten.  Das  Landesrecht 
d^^rf  seit  dem  1.  Januar  1871  und  1872  selbstverständlich  keine  Straf art  ver- 
hängen,    die    das  Strafgesetzbuch    nicht   kennt;    es    darf   aber  auch  von  den 

^)  Das  spätere  römische  Recht  gab  die  Wahl  zwischen  actio  und  crimen,  Privat- 
stratklage  und  Kriminalanklage  extra  ordinem;  und  mehrfach  Ündet  sich  der  Gedanke 
ausgesprochen,  dass  durch  den  Gebrauch  der  einen  die  andere  Klage  ausgeschlossen 
werde.  L.  57  (56)  §  1  D.  de  furtis  47,  2;  L.  6  D.  de  injur.  47,  10.  Vergl.  dagegen  L.  9, 
§  5  D.  de  publicanis:  „Quod  illicite  publice  privatimque  exactum  est  (vergl.  deutsches 
StGB.  *$  853),  cum  altero  tanto  passis  iiijuriam  exsolvitur.  per  vim  vero  extortum 
(StGB.  §889,  Abs.  2)  cum  poena  tripli  restituitur:  amplius  extra  ordinem  plectantur: 
alterum  enim  utilitas  privatorum  alterum  rigor  publicae  disciplinae  postulat.'' 

2)  Vergl.  oben  S.  90,  Note  1  a.  E. 

')  Auf  eine  utilis  Aquiliae  actio  (L.  18  pr.  D.  ad  leg.  Aq.  9,  2)  mit  Beweis- 
erleichterung nach  §  2H0  der  deutschen  Civil -rrozess- Ordnung  bezieht  sich  diese 
P'.inschrftnkung  selbstverständlich  nicht. 


92  Deutsches  Reich.  —  Die  Landesstrafgcsetzgebnng. 


Mitteln  des  Strafgesetzbuches  nur  androhen:  Gefängnis  bis  zu  2  Jahren, 
Haft,  Geldstrafe  (uneingeschränkt),  Einziehung  einzelner  Gegenstände  und  Ent- 
ziehung öffentlicher  Ämter.  Die  Todesstrafe,  das  Zuchthaus,  Gefängnis  über 
2  Jahre,  Festungshaft,  die  Aberkennung  der  bürgerlichen  Ehrenrechte,  die 
Amterunfähigkeit,  die  Polizeiaufsicht,  sowie  die  Nachhaft  im  Arbeitshause 
stehen  der  Landesgesetzgebung  nicht  mehr  zur  Vorfügung.  Man  nimmt  an^ 
dass  ältere  Strafgesetze,  auch  wenn  sie  härtere,  aber  dem  Reichsrechte  be- 
kannte Strafen  androhen,  z.  B.  die  preussische  Verordnung  vom  S.Juli  1844, 
betr.  die  Bestrafung  des  Handels  mit  Negersklaven  (Ges.-S.  1844,  S.  399,  §  3) 
noch  Gültigkeit  haben;  freilich  mit  Einschränkung  der  Strafdrohungen  auf 
die  nach  dem  Reichsrechte  zulässigen  Masse. 

Als  Normativbestimmungen  sind  ferner  zu  erachten:  3.  die  Vorschrift  de& 
§  7  des  Strafgesetzbuches,  dass  eine  im  Auslande  vollzogene  Strafe  auf  die  im  In- 
lande  zu  erkennende  in  Anrechnung  zu  bringen  ist,  wenn  wegen  derselben 
Handlung  im  Gebiete  des  deutschen  Reiches  abermals  eine  Verurteilung  er- 
folgt. 4,  Das  Auslieferungsverbot  des  §  9.  5.  Der  Ausschluss  der  Verfolgung 
der  Landtagsmitglieder  wegen  ihrer  Abstimmungen  und  der  in  Ausübung  ihres 
Berufes  gethanen  Äusserungen  durch  §  11  des  StGB,  und  6.  das  Privilegium 
der  Presse  nach  §  12  des  StGB. 

Die  Bestrafung  der  Erben  als  solcher  wegen  der  vom  Erblasser  be- 
gangenen Delikte  widerstreitet  dem  Geiste  des  Reichsstrafrechts,  das  die  Voll- 
streckung einer  Geldstrafe  in  den  Nachlass  nur  unter  der  Voraussetzung  zu- 
lässt,  dass  das  Urteil  bei  Lebzeiten  des  Verurteilten  rechtskräftig  geworden 
ist.  StGB.  §  30.  Das  Landesrecht  wäre  trotzdem  nicht  gehindert,  auf  seinem 
Gebiete  die  Bestrafung  der  Erben,  z.  B.  wegen  Steuerdefraudationen  des  Erb- 
lassers, vorzuschreiben.  Solche  Vorschriften  finden  sich  in  derwürttembergischeu 
Steuergesetzgebung.^)  Das  Reichsgericht  hat  denselben  aber  die  Anwendbar- 
keit versagt.  Es  fehle  „eine  prozessuale  Form,  welche  die  Anwendung  dieser 
materiellen  Anordnung  ermöglichen  würde".  Die  Strafprozessordnung  setze 
„einen  lebenden  Beschuldigten  voraus";  gegen  einen  Verstorbenen  oder  gegen 
einen  Nachlass,  eine  Sachgesamtheit,  könne  nicht  verfahren  werden.  Das 
sogenannte  objektive  Strafverfahren  (St-PO.  §§  477 — 479)  komme  hier  nicht 
in  Frage.  Das  verurteilende  Erkenntnis  des  Untorgorichts  wurde  aufgehoben 
und  das  Strafverfahren  als  unzulässig  eingestellt.*) 

s^  44.    Die  Landes-EInführungs^esetze  zum  Strafgesetzbnche.  ^) 

In  55  ^  ^^^^  Einführungsgesetzes  zum  Strafgesetzbuche  wurde  zur  Ab- 
schneidung jedes  Zweifels  die  Befugnis  der  Landesgesetzgebungen  anerkannt, 
t?bergangsbestimmungen  zu  treffen,  um  die  in  Kraft  bleibenden  Landesstraf- 
gesetze mit  den  Vorschriften  des  Strafgesetzbuches  in  Übereinstimmung  zu 
bringen.  Der  Gesetzgebung  der  einzelnen  Staaten  wurde  es  anheimgegeben, 
die    Konkordanz    der    Landes-    mit    der    Bundesgesetzgebung    herzustellen.  — 


*)  Württembergisches  Gesetz  vom  19.  September  1852,  betr.  die  Steuer  vom 
Kapital-,  Renten-,  Dienst-  und  Berufseinkommen,  Art.  11  Abs.  1  und  Art.  13  Abs.  2, 
württembergisches  Gesetz  vom  15.  Juni  1853,  betr.  die  Besteuerung  des  Einkommens 
von  Kapitalien  u.  s.  w.  für  die  Zwecke  der  Amtskörperschaften  und  Gemeinden,  Art.  5. 

-)  Entscheidung  des  Reichsgerichts  in  Strafsachen  Bd.  18,  No.  3,  S.  14,  besonders 
S.  20—23. 

'*)  Heinz e.  Das  Verhältnis  des  Reichsstrafrechts  zu  dem  Landesstrafrecht.  Leipzig 
1871,  besonder  sS.  4— 19.  Das  bedeutendste,  das  bayerische  vom  26.  Dezember  1871,  war 
zur  Zeit,  als  Heinze's  Buch  erschien,  noch  nicht  erfassen.  —  Rüdorf f,  Strafgesetzbuch 
für  das  deutsche  Reich.  Mit  Kommentar.  2.  Aufl.  Berlin  1877,  S.  61—70,  4.  Aufl.  Berlin 
\X92,  S.  49.  —  Bin  ding,  Handbuch,  I,  §  19,  S.  97. 


§  44.    Die  Landes-Einfühnuigsgcsetze  zum  Strafgesetzbiiche.  93 


!•  Preussen  und  Waldeck  (s.  oben  §  2,   S.  7  a.  E.)  glaubten  es  ihren  Gerichtiin 
überlassen  zu   können,   über  die  Einwirkungen   des  neuen  Bundesrechtes  auf 
den  Bestand    ihres  Landesstrafrechtes  von  Fall    zu   Fall    zu    entscheiden.     In 
Preussen    ergingen    nur    eine  Verfügung    des    Ministers    des    Innern    und    dos 
Justizministers    vom    21.    Januar    1871,    Justiz-Min.-Bl.   S.   35,    betr.    die  vor- 
läufige Entlassung   (deutsches   StGB.   §§  23 — 26),   sowie   eine  Instruktion    des 
Ministers    des    Innern  vom   21.  April  1871,    Justiz-Min.-Bl.   S.  126,    in  Betreff 
der  Polizeiaufsicht.  \)    2.  Einige  Staaten  erliessen  Übergangsgesetze,  beziehungs- 
weise Verordnungen,    ohne   indessen    über    die    Fortgeltung   der  vorhandenen 
Strafgesetzbücher   Bestimmung    zu    treffen.      Dahin    gehören    das    Königreich 
Sachsen,    die    beiden  Mecklenburg,    Sachsen -Meiningen,    Altenburg,    Sachsen- 
Koburg-Gotha,  Schwarzburg-Rudolstadt,  Schwarzburg-Sondershausen,  Reussä.  L.. 
Reuss  j.  L.,  Schaumburg-Lippe,  Lippe,  Lübeck  und  Elsass-Lothringen.     3.    In 
zehn  Staaten  (Bayern,  Württemberg,  Baden,  Hessen,  Sachsen-Weimar,  Olden- 
burg, Braunschweig,  Anhalt,  Hamburg  und  Bremen)  wurden  dagegen  die  vor- 
handenen   Strafgesetzbücher,    in   Bremen    das    noch    geltende    gemeine  Recht, 
ganz  oder  unter  einzelnen  Vorbehalten  aufgehoben.     4.   Die  sorgfältigste   und 
anerkannt   mustergültige    Revision    des    Bestandes    an  Strafgesetzen  wurde    in 
Bayern^)  vollzogen   und   zwar  durch  das  Gesetz  vom  26.  Dezember  1871,  den 
Vollzug  der  Einführung  des  Strafgesetzbuches  für  das  deutsche  Reich  in  Bayern 
betreffend,  bayer.  Gesetzbl.  1871  und  1872,  No.  4,  S.  81.    Ein  grosses  Verdienst 
an  diesem  mühsamen  und  Staats-  wie  strafrechtlich   interessanten  (jesetze  hat    " 
der  damalige  Appellationsgerichtsrat  im  Justizministerium  Dr.  Julius  Staudinger. 
Das  Gesetz  vom  26.  Dezember  1871    ist  fonnell   bald   überholt  worden.     An- 
lässlich   der  Einführung    der    auf   das  Prozessrecht    sich    beziehenden    Reichs- 
justizgesetzgebung   der    Jahre    1877 — 1879    kam    es    in    Bayern    wie    in    den 
andern    Ländern    des    deutschen   Reiches    zu    einer   Ausführungsgesetzgebung. 
Und    in    dem  Gesetze    zur   Ausführung    der   Reichs- Strafprozessordnung    vom 
18.  August  1879  nahm  die    bayerische  Gesetzgebung  neuerdings  Anlass,   eine 
Revision  im  Bestände  ihres  Strafrechts  zu  veranstalten.     Bei  dieser  Gelegenheit 
wurde   auch    das  vorher    erwähnte    bayerische  Einführungsgesetz  zum  Reichs- 
strafgesetzbuche vom    26.  Dezember  1871  wieder    aufgehoben.      Trotz    dieser 
Aufhebung   ist  das   Gesetz  vom  26.  Dezember  1871    noch   immer   für  Bayern 
von  Bedeutung  und  für  jede  Übergangsgesetzgebung  ein  mustergültiges  Vorbild, 
da  es   durch  Ausserkraftsetzung    der   bayerischen   Gesetzbücher  und   Gesetze, 
die    vor    dem    Reichsstrafgesetzbuche    galten,    in    wohlgelungener    Weise    das 
Judicium  finium  regundoruni  zwischen   Reichs-    und  Landesrecht  gezogen  hat. 
„Vom  1.  Januar  1872  an  —  bestimmte  dieses  Gesetz  —  gelten  im  Königreiche 
Bayern  neben  den  Straf bestimmungen  der  Reichsgesetze,  sowie  der  in  Bayern 
verkündeten  Zollvereinsgesetze  (vergl.   oben   §  28  I,    S.  52),  von   den  noch  in 
Kraft  stehenden  Bestimmungen  des  Landesstrafrechts  fernerhin  nur  mehr  die- 
jenigen, welche  in  dem  gegenwärtigen  Gesetze  oder  in  dem  Polizeistrafgesetz- 
buche'^)  für  Bayern  enthalten    oder   als    fortbestehend    bezeichnet    sind.     Alle 
übrigen  Bestimmungen   des  bayerischen  Landesstrafrechts,  welche  nicht  bereits 
durch  die  am  1.  Januar  1872  zur  Einführung  kommenden  Reichsgesetze  auf- 
gehoben werden,  treten  von  demselben  Tage  an  kraft  des  gegenwärtigen  Ge- 
setzes ausser  Geltung."     Das  ältere  Landesstrafrecht,    das  nicht   ausdrücklich 
aufrecht  erhalten  wurde,   trat  also  auf  alle  Fälle   ausser  Kraft.     War  es   den 


*)  Die  allgemeine  Verfügung  des  Justizministers  vom  28.  Dezember  1870  betraf 
die  Zuständigkeit  in  Strafsachen. 

*)  Auch  die  Gesetzgiabung  von  Anhalt  hat  sorgfältige  Revision  gehalten,  vergl. 
Gesetz  vom  30.  Dezember  1870,  Bd.  5  der  GS.  S.  1675. 

3)  Vergl.  unten  §  45,  II. 


94  Deutsches  Reich.  —  Die  Landesstrafgesetzgebnng. 


Gerichten  zweifelhaft,  ob  das  Landesrecht  s^on  durch  das  Keichsrecht  in  Ge- 
mässheit  des  §  2  des  Einführungsgesetzes  zum  Strafgesetzbuch  ausser  Wirk- 
samkeit gesetzt  wurde,  so  wirkte  als  Reserveaufhebung  der  bayerische  Artikel  1 
des  Gesetzes  vom  26.  Dezember  1871.  Um  keinen  Zweifel  hinsichtlich  der 
wichtigeren  strafgesetzlichen  Bestimmungen  zu  lassen ,  bezeichnete  sodann 
Artikel  2  des  bayerischen  Gesetzes  in  24  Nummern  Gesetzbücher  und  Gesetze, 
die  aufgehoben  sein  sollen,  darunter  das  bayerische  Strafgesetzbuch  und 
Polizeistrafgesetzbuch  vom  10.  November  1861.  Artikel  3  des  bayerischen 
Gesetzes  vom  26.  Dezember  1871  bezeichnete  umgekehrt  das  zerstreut  vor- 
kommende Landesstrafrecht,  welches  ausser  dem  Reichsrechte,  dem  neu 
redigierten  Polizeistrafgesetzbuche  und  den  in  diesem  Gesetze  selbst  enthaltenen 
Spezialstraf  bestimmungen  noch  in  Geltung  bleiben  sollte.  Es  wäre  zu  wünschen, 
dass  die  deutschen  Bundesstaaten  von  Zeit  zu  Zeit  solche  legislatorische  Re- 
visionen über  den  Bestand  ihres  Strafrechts  veranstalteten.  Das  Verlangen, 
dass  jeder  die  Strafgesetze  seines  Landes  kennen  müsse,  erscheint  sonst  als 
eine  gar  zu  grosse  Zumutung!  Eine  Zusammenstellung  der  in  den  deutschen 
Bundesstaaten  bei  Gelegenheit  der  Einführung  des  Strafgesetzbuches  erlassenen 
Einführungs-  und  Übergangsgesetze  findet  sich  in  den  zwei  ersten  Auflagen 
des  Kommentars  zum  Strafgesetzbuch  von  Rüdorff,  in  der  zweiten,  Berlin 
1877,  S.  63 — 70.  Vergl.  auch  die  in  der  Note  zur  Paragraphenüberschrift 
erwähnte  Schrift  von  Heinze,  S.  4 — 20. 

§  45.    Die  Art  der  Quellen  des  deutschen  Landesstrafrechts.^) 

I.  In  allen  Bundesstaaten  finden  sich  einzelne  vollständige  Strafgesetze, 
d.  h.  Gesetze,  welche,  wie  in  der  Regel  das  Strafgesetzbuch,  Norm  und  Straf- 
drohung in  einem  Gedankengange  verbinden.  Abgesehen  davon  sind  die 
staatsrechtlichen  Vorschriften  und  Gepflogenheiten  in  Bezug  auf  die  Technik 
der  Strafrechtssatzung  verschieden.  In  Bayern,  Württemberg  und  Baden 
hält  man  in  Übereinstimmung  mit  dem  französischen  Rechte  an  dem  Prinzip 
des  Blankettstrafgesetzes  fest.  S.  oben  S.  34  §  14,  II.  Dem  gegenüber  stellt  Ar- 
tikel 8  der  preussischen  Verfassungsurkunde  vom  31.  Januar  1850  das  Prinzip 
auf:  „Strafen  können  nur  in  Gemässheit  des  Gesetzes  angedroht  oder  verhängt 
werden".  Die  preussische  Verfassung  macht  die  Verbindlichkeit  einer  Straf- 
drohung zwar  auch  von  einer  gesetzlichen  Bestimmung  abhängig;  aber  die 
preussische  Verfassung  ermöglicht  eine  gesetzliche  Delegation  nicht  bloss  zur 
Normenbildimg,  sondern  auch  zur  Strafdrohung.  Durch  das  Gesetz  kann  der 
König  oder  ein  Regierungs-  oder  Verwaltungsorgan  ermächtigt  sein,  Strafver- 
ordnungen zu  erlassen.  Der  König  hat  in  Preussen  nur  ein  sogenanntes  Not- 
verordnungsrecht nach  Artikel  63  der  Verf.-Urk.  Wenn  die  Aufrechthaltung 
der  öffentlichen  Sicherheit,  oder  die  Beseitigung  eines  ungewöhnlichen  Not- 
standes es  dringend  erfordert,  können,  insofern  die  Kammern  nicht  versammelt 
sind,  unter  Verantwortlichkeit  des  gesamten  Staatsministeriums,  Verordnungen, 
die  der  Verfassung  nicht  zuwiderlaufen,  mit  Gesetzeskraft  erlassen  werden. 
Dieselben  sind  aber  den  Kammern  bei  ihrem  nächsten  Zusammentritt  zur  Ge- 
nehmigung sofort  vorzulegen.     Dieses  Notverordnungsrecht  begreift   auch  das 


*)  Grundlegend:  Ros  in,  Das  Polizei  verordnungsrecht  in  Preussen.  Verwaltungs- 
rechtlich entwickelt  und  dargestellt.  Breslau  1882.  Derselbe  in  v.  Stengel,  Wörter- 
buch des  Verwaltungsrechts  Bd.  2,  S.  273  (Polizeistraf recht)  und  S.  279  (Poüzeiver- 
ordnung).  Zu  berücksichtigen  namentlich  die  bei  beiden  Artikeln  enthaltenen 
Litteraturan gaben,  sowie  die  im  Texte  des  ersten  Artikels  und  am  Ende  des  zweiten 
enthaltenen  Quellenangaben.  —  Rotering,  Polizei-Übertretungen  imd  Polizeiver- 
ordnungsrecht.   Berlin  1888. 


§  45.    Die  Art  der  Quellen  des  deutschen  Landesstrafrechts.  05 


Recht  zu  Strafverordnungen,  die  sich  selbstverständlich  jetzt  in  den  vom  Reichs- 
reehte  gezogenen  Grenzen  halten  müssen.  S.  oben  §  43.  Artikel  9  des  baye- 
rischen Polizeistrafgesetzbuches  vom  26.  Dezember  1871  regelt  das  Notverord- 
nungsrecht des  Königs  noch  genauer  und  begrenzt  das  Recht  der  Strafandrohung 
auf  50  Thaler  und  30  Tage  Haft.  Das  preussische  Gesetz  über  die  Polizei- 
verwaltung vom  11.  März  1850,  GS.  S.  265,  ermächtigt  in  §  5  die  mit  der 
örtlichen  Polizeiveinvaltung  beauftragten  Behörden,  nach  Beratung  mit  dem 
Gemeindevorstande  ortspolizeiliche  für  den  Umfang  der  Gemeinde  gültige  Vor- 
schriften zu  erlassen  und  gegen  die  Nichtbefolgung  derselben  Geldstrafen  bis 
zum  Betrage  von  3  Thalern  ==  9  Mark  anzudrohen.  Mit  Zustimmung  der 
Bezirksregierung  konnte  die  Strafandrohung  bis  zu  10  Thalem  =  30  Mark 
gehen.  Zu  den  Gegenständen  der  polizeilichen  Vorschriften  gehören  nach  §  6 
des  genannten  Gesetzes:  a)  der  Schutz  der  Personen  und  des  Eigentums; 
b)  Ordnung,  Sicherheit  und  Leichtigkeit  des  Verkehrs  auf  öffentlichen  Strassen, 
Wegen  und  Plätzen,  Brücken,  Ufern  und  Gewässern ;  c)  der  Marktverkehr  und 
das  öffentliche  Feilhalten  von  Nahrungsmitteln ;  d)  Ordnung  und  Gesetzlichkeit 
bei  dem  öffentlichen  Zusammensein  einer  grösseren  Anzahl  von  Personen; 
e)  das  öffentliche  Interesse  in  Bezug  auf  die  Aufhahme  und  Beherbergung  von 
Fremden;  die  Wein-,  Bier-  und  Kaffeewirtschaften  und  sonstigen  Einrichtungen 
zur  Verabreichung  von  Speisen  und  Getränken;  f)  Sorge  für  Leben  und  Ge- 
sundheit; g)  Fürsorge  gegen  Feuersgefahr  bei  Bauausführungen,  sowie  gegen 
gemeinschädliche  und  gemeingefährliche  Handlungen ,  Unternehmungen  und 
Ereignisse  überhaupt;  h)  Schutz  der  Felder,  Wiesen,  Weiden,  Wälder,  Baum- 
pilanzungen,  Weinberge  u.  s.  w. ;  i)  alles  andere  was  im  besonderen  Interesse 
der  Gemeinden  (Amtsbezirke,  Kreise)  und  ihrer  Angehörigen  polizeilich  ge- 
ordnet werden  muss.  Die  letzte  Einräumung  ist  so  allgemein  gehalten,  dass 
wohl  alle  öffentlichen  Angelegenheiten  des  Bezirkes,  soweit  dieselben  nicht 
wie  das  Bergwesen,  Forst-  und  Jagdverhältnisse  speziell  geordnet  sind,  darunter 
begriffen  werden  können.  Jetzt  ist  das  Polizeiverordnungsrecht  in  Preussen 
zum  Teil  im  Anschluss  an  den  mitgeteilten  §  6  durch  das  Gesetz  über  die 
allgemeine  Landesverwaltung  vom  30.  Juli  1883,  GS.  S.  195  ff*,  geordnet. 
Nach  diesem  Gesetze,  §  136,  sind  die  Minister  befugt,  innerhalb  ihres  Ressorts 
für  den  ganzen  Umfang  der  Monarchie  oder  für  einzelne  Teile  derselben  Vor- 
schriften zu  erlassen  und  die  Nichtbefolgung  mit  Geldstrafe  bis  zu  100  Mark 
zu  bedrohen,  soweit  die  Gesetze  ausdrücklich  auf  den  Erlass  besonderer  poli- 
zeilicher Vorschriften  durch  die  Central behörden  verweisen.  Die  §§  137 — 145 
regeln  die  Befugnis  der  Oberpräsidenten,  Regierungspräsidenten,  Landräte  und 
Ortspolizeibehörden  zur  Erlassung  und  Ausserkraftsetzung  von  Polizeistraf- 
verordnungen. Den  Ober-  und  den  Regierungspräsidenten  ist  Strafandrohungs- 
gewalt bis  zu  60  Mark,  den  Landräten  und  Ortspolizeibehörden  bis  zu  30  Mark 
eingeräumt.^)  Das  preussische  Verwaltungsgesetz  beteiligt  übrigens  wie  das 
Gesetz  vom  Jahre  1850  an  dem  Strafverordnungsrechte  die  Vertretungen  der 
Bevölkerung.  Der  Oberpräsident  hat  die  Zustimmung  des  Provinzialrates,  der 
Regienmgspräsident  die  des  Bezirksausschusses  einzuholen.  Die  Strafverord- 
nungen des  Landrates  sind  abhängig  von  der  Zustimmung  des  Kreisaussclmsses, 
ortspolizeiliche  Vorschriften,  soweit  sie  nicht  zum  Gebiete  der  Sicherheitspolizei 
gehören,  bedürfen  in  Städten  der  Zustimmung  des  Gemeindevorstandes,  even- 
tuell des  Bezirksausschusses.  Die  Systeme  der  Blankettstrafgesetzgebung  und 
der  Delegation   zur   Strafverordnung   sind   in  den  betreffenden  Ländern  nicht 

*)  Dazu  Gesetz,  betr.  die  Bestrafung  der  Schulversäumnisse  im  Gebiete  der 
Schulordnung  für  die  Elementarschulen  der  Provinz  Preussen  u.  s.  w.  vom  6.  Mai 
1886,  GS.  S  144,  §  2;  femer  Gesetz  vom  12.  Juni  1889,  GS.  S.  129  (Erweiterung  des 
Verordnungsrechts  des  Polizeipräsidenten  zu  Berlin). 


96  Deutsches  Reich.  —  Die  Landesstrafgesetzgebung. 


ausnahmslos  festgehalten.     Die  bayerischen  Gemeindeordnungen  vom  29.  April 
1869  (für  die  Landesteile  rechts   des  Rheines  und  für  die  Pfalz)   ermächtigen 
die  Gemeinden,  ortspolizeiliche  Vorschriften  zui'  Kontrolle   und  Sicherung  ört- 
licher Gefälle  zu  erlassen  und  in  denselben  die  Gefährdung  der  Gefälle  durch 
Zuwiderhandlung  gegen  derartige  Vorschriften  mit  Geldstrafe  bis  zu  10  Gulden, 
die  rechtswidrigem  Entziehung  oder  Verkürzung  der  Gefälle  mit  Geldstrafen  bis 
zu  25  Gulden,  beziehungsweise  bis  zum  zehnfachen  und  im  Rückfalle  bis  zum 
zwanzigfachen  Betrage  des  entzogenen  Gefälles  zu  bedrohen.     Umgekehrt  ver- 
folgt das  preussische  Berggesetz  vom   24.  Juni  1865,  GS.  S.  705,  das  System 
des  Blankettstrafgesetzes.      Der   §  208    normiert    selbst  die    Sti'afen  in  Bezug 
auf  die  von  den  Bergbehörden  bereits  erlassenen,    sowie    die    von    den    Ober- 
bergämteni    auf   (^rund    des  §  197   noch   zu   erlassenden  Polizei  Verordnungen. 
{Geldbusse  bis  zu   50  Thalem.)     Das   preussische   Gesetz  vom  24.  Juni  1892, 
GS.  S.  131,    betr.    die   Abänderung    einzelner    Bestimmungen   des  allgemeinen 
Berggesetzes  vom  24.  Juni  1865  hält  an  diesem  Standpunkte  fest,  erhöht  aber 
die  Strafdrohung  des  §  208  auf  Geldstrafe  bis  zu   300  Mark,   eventuell  Haft, 
und  stellt  in  den  §§  207  a — 207  e    w^eit    über    die   Masse    der  bisherigen  Berg- 
gesetzgebung hinausgehende,    auf   den  Arbeiterschutz   abzielende    Strafbestim- 
mungen auf.     Auch  das  preussische   Gesetz,   betr.   die   Errichtung  öffentlicher, 
ausschliesslich  zu  benutzender  Schlachthäuser  vom  18.  März  1868,  GS.  S.  277, 
§  14,  hat  den  Weg  der  Blankettstrafgesetzgebung  eingeschlagen.     Vergl.  femer 
preussisches   Fischereigesetz  vom  30.  Mai   1874,  GS.  S.  197,  §  50  No.  7.     Hin- 
sichtlich   des    Rechtes    der  Straf  Verfügungsgewalt,    als   Machtmittel  zur  Durch- 
setzung des  Amtswillens  im  einzelnen  Falle  —  s.  oben  §  31  —  vergl.  nament- 
lich das  preussische  Verwaltungsgesetz  §  132  und  das  bayer.   Pol.-StGB.  vom 
26.  Dezember  1871,  Art.   21,  22.     Der  preussische  Regierungspräsident  hat  die 
Macht,    Geldstrafe    bis    zu    300  Mark    und    eventuell    Haft    bis    zu   4  Wochen 
anzudrohen. 

II.  Noch  eine  andere  Verschiedenheit  in  der  Beschaffenheit  des  Landes- 
strafrechts ist  zu  erwähnen.  Eni  Teil  der  deutschen  Staaten  hat  das  Polizei- 
strafrecht in  besonderen  Polizeistrafgesetzbüchern  kodifiziert.  Bayerisches 
Pol.-StGB.  vom  26.  Dezember  1871,  württembergisches  Pol.-StGB.  vom  2.  Ok- 
tober 1839,  mit  Abänderungen  vom  27.  Dezember  1871,  badisches  Pol.-StGB. 
vom  31.  Oktober  1863;  hessisches  Pol.-StGB.  vom  2.  November  1847,  wieder 
eingeführt  30.  Oktober  1855,  dazu  Gesetz  vom  10.  Oktober  1871,  vergl.  No.  35, 
S.  393  des  hessischen  Regierungsblattes  von  1871,  anhält -dessauisches  Pol.- 
StGB.  vom  29.  März  1855"  (für  Bernburg  I.Juli  1864).*)  Preussen  dagegen, 
Sachsen,  wie  überhaupt  die  Mehrzahl  der  deutschen  Staaten  besitzt  solche 
Kodifikationen  des  Polizeistrafrechts  nicht.  Der  dritte  Teil  des  preussischen 
Strafgesetzbuches  konnte  als  ein  Stück  Polizeistrafrecht  gelten,  welches  sogar 
im  1.  Titel  allgemeine,  auf  Übertretungen  beschränkte  Bestimmungen  enthielt, 
während  die  Titel  2 — 4  Spezialbestimmungen  aufstellten.  Zu  den  Übertretungen 
gehörten  freilich  tiuch  die  einfache  Beleidigung,  der  einfache  Hausfriedens- 
bruch, die  P^ntwendung.  Noch  weniger  als  im  Reichsstrafgesetzbuch  war  dem- 
nach im  preussischen  Strafgesetzbuche  eine  Scheidung  von  Rechts-  und  Polizei- 
verbrechen nach  irgend  einem  CJesichtspunkte  unternommen.  So  wenig  wie 
das  Reichsstrafgesetzbuch  hatte  der  3.  Teil  des  preussischen  Strafgesetzbuches 
die  Absicht,  das  Polizeistrafrecht  zu  erschöpfen. 

Von  den  Gesetzgebungen,  welche  das  Polizeistrafrecht  kodifizierten,  bietet 
die   bayerische  ein  besonderes  Interesse;  nicht  bloss  weil  Bayern  der  grösste 


^)  Auch   das  Königreich  Hannover   hatte    ein  Polizeistrafgesetzbuch,   das   aber 
durch  die  preussische  Gesetzgebung  grösstenteils  verdrängt  wurde. 


§  45.    Die  Art  der  Quellen  des  deutschen  Landesstrafrechts.  97 


der  kodifizierenden  Staaten  ist,  sondern  auch  wegen  der  eigenartigen  Ent- 
stehungsgeschichte. Die  Geschichte  des  bayerischen  Polizeistrafgesetzbuches 
ist  ein  interessanter  Ausschnitt  der  deutschen  Staats-  und  Rechtsgeschichte  des 
19.  Jahrhunderts.  Der  Abschluss  dieses  Gesetzbuches  bedeutet  den  Sieg  des 
Rechtsstaats-Gedankens  über  den  des  Polizeistaates.  ^) 

Aus  den  Reichspolizeiordnungen  glaubten  die  deutschen  Landesherren  in 
den  früheren  Jahrhunderten  so  Recht  wie  Pflicht  abzuleiten,  ohne  Mitwirkung 
ihrer  Stände  in  Polizeisachen  einseitig  im  Verordnungswege  verbindliche  An- 
ordnungen zu  erlassen.  Die  Verhängung  von  Strafen  aber  auf  Grund  dieser  An- 
ordnungen gehörte  namentlich  in  Bayern  mit  Ausnahme  der  Defraudationen 
an  Mautgefällen,  Aufschlags-  und  Accissachen  bis  in  dieses  Jahrhundert  zu 
den  Aufgaben  der  ordentlichen  Gerichte.  Das  änderte  sich  in  den  ersten 
Dezennien  dieses  Jahrhunderts.  Die  Polizei  trat  in  den  Vordergrund,  sie  er- 
langte judizielle®)  und  Rechtsbildungsgewalt,  namentlich  das  Strafverordnungs- 
recht.  Das  bayerische  Stmfgesetzbuch  von  1813  (s.  oben  §  2,  S.  5)  bezog 
sich  nur  auf  Verbrechen  und  Vergehen,  die  Polizeiübertretungen,  imter  denen 
sich  auch  zahlreiche  geringere  Verletzungen  befanden,  sollten  in  einem  beson- 
deren Gesetzbuche  behandelt  werden.  Der  im  Jahre  1822  veröffentlichte  Ent- 
wurf eines  Strafgesetzbuches  (für  Bayern)  enthielt  in  den  356  Artikeln  des 
zweiten  Teiles  den  Versuch  einer  solchen  Kodifikation.  Auch  die  Entwürfe 
von  1827  und  1831  bezogen  sich  auf  die  Übertretungen.  Nur  einzelne  Ge- 
setze kamen  indessen  während  der  nächsten  vier  Dezennien  auf  dem  Gebiete 
der  polizeilichen  und  verwaltenden  Staatsthätigkeit  in  Bayern  zum  Abschlüsse. 
Die  ersten  Jahre  nach  der  Bewegung  von  1848  und  1849  namentlich  brachten 
auf  wichtigen  Gebieten  z.  B.  in  BetreflF  der  Versammlungen  und  Vereine,  der 
Presse,  der  Jagd,  der  Wasserbenutzung  und  des  Uferschutzes,  des  Forstwesens, 
der  Feuerversichei'ung  eine  gesetzliche  Ordnung,  sowie  die  Verweisung  von 
Übertretungen  auf  diesen  Gebieten  an  die  ordentlichen  Gerichte.  In  der  baye- 
rischen Pfalz  galt  das  oben  berührte  System  des  französischen  Rechtes.  Im  Jahre 
1851  gelangte  zum  erstenmale  der  Entwurf  eines  besonderen  Polizeistraf- 
gesetzbuches an  den  bayerischen  Landtag,  wurde  aber  wieder  zurückgezogen, 
um  1855  durch  einen  Entwurf  ersetzt  zu  werden,  der  eine  gesetzliche  Rück- 
bildung der  seit  1848  gemachten  Errungenschaften  auf  dem  Gebiete  der 
Strafgesetzgebung  bedeutet  hätte,  wenn  das  Projekt,  wie  es  glücklicherweise 
nicht  der  Fall  war,  zum  Gesetze  erhoben  worden  wäre.  Körperliche  Züchtigung 
war  in  der  Praxis  der  bayerischen  Landgerichte  alten  Stils  (Mischgebilde  von 
Polizei  und  Justiz)  kein  ungewöhnliches  Mittel  der  Strafrechtspflege.  Noch 
im  Sommer  1858  musste  ich,  unmutig  und  widerstrebend,  Beschlüsse  entwerfen, 
durch  welche  vagierenden  Handwerksburschen,  die  nichts  Böses  weiter  ver- 
brochen hatten,  als  dass  sie  sich  beim  Betteln  hatten  betreten  lassen,  eine 
Anzahl  Streiche  verordnet  wui'de.  Und  mehr  wie  ein  Protokoll  wurde  mir  in 
die  Feder  diktiert,  das  mit  der  Feststellung  der  Anerkennung  ausserehelicher 
Vaterschaft,  Festsetzung  der  Kindbettkosten  und  Alimente  begann  und  mit 
einem  polizeilichen  Beschlüsse  endigte,  durch  welchen  dem  glücklichen  Vater 
ob  des  verbotenen  Geschlechtsverkehres  eine  Tracht  von  Rutenhieben  zudiktiert 


^)  Vergl.  Edel,  Das  Polizeistrafgesetzbuch  für  das  Königreich  Bayern  vom 
10.  November  1861  erläutert.    Erlangen  1862. 

*)  Auf  Grund  reichsrechtlicher  Anerkennung  (Einf.-Ges.  zur  StPO.  §6  No.  3 
und  StPO.  §§  453  ff.)  und  darnach  auf  Grund  der  Landesgesetzgebung  sind  auch 
heutzutage  zum  teil  deutsche  Polizei-  und  Verwaltungsbehörden  zur  Straffestsetzung 
berechtigt,  aber  diese  Festsetzung  ist  eine  vorläufige,  der  Betroffene  kann  auf  gericht- 
liche Entscheidung  antragen.  Vergl.  namentlich  das  preuss.  Gesetz,  betr.  den  Erlass 
polizeilieber  Strafverfügungen  wegen  Übertretungen  vom  23.  April  1883,   GS.  S.  65. 

Strafgesetzgebnng  der  Gegenwart.   I.  7 


98  Deutsches  Reich.  —  Die  Landesstrafg'esetzgebung. 


wurde.  Würden  diejenigen,  welche  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts  für  die 
Wiedereinführung  des  Stockes  oder  der  Prügelmaschine  plädieren,  die  Gelegen- 
heit gehabt  haben,  die  verhängnisvollen  Wirkungen  dieser  Mittel  der  „ver- 
geltenden Gerechtigkeit"  zu  beobachten,  so  würden  sie  wohl  abstehen,  diesen 
Mitteln  noch  femer  das  Wort  zu  reden.*)  Der  bayerische  Entwurf  von  1822 
wusste  nichts  von  körperlicher  Züchtigung;  der  Entwurf  von  1855  wollte  die 
thatsächlich  geübte  und  dem  Gesetzbuche  von  1813  bekannte  Strafe  zur  er- 
neuten gesetzlichen  Anerkennung  bringen.  Ein  heftiger  Kampf  ist  während 
mehrerer  Jahre  über  die  projektierten  Mittel  der  Staatskunst  zwischen  dem 
reaktionären  Ministerium  und  der  sehr  gemässigt  liberalen  zweiten  Kammer 
geführt  worden.  Nicht  bloss  das  Polizeistrafgesetzbuch,  sondern  auch  das 
gleichzeitig  dem  Landtage  vorgelegte  Strafgesetzbuch  war  neben  anderen 
Fragen  der  Gegenstand  des  Streites,  der  sich  im  September  1858  bis  zur  Auf- 
lösung der  Kammer  der  Abgeordneten  zuspitzte.  Es  erfolgte  die  Wiederwahl 
aller  massgebenden  Abgeordneten.  „Die  dem  gesetzlich  verbürgten  F'ortschritt 
getreue  Kammermehrheit  nahm  verstärkt  ihre  Sitze  wieder  ein."  König  Max  IL, 
dessen  Wahlspruch  „Freiheit  und  Gesetzmässigkeit"  war,  hat  sich  nach  schwerem 
Kampfe  die  Nachgiebigkeit  gegenüber  dem  Willen  des  Landes  abgerungen. 
Das  unbeliebte  Ministerium  Avurde  entlassen,  und  als  dann  im  folgenden  Jahre 
die  Entwürfe  des  Strafgesetzbuches  und  des  Polizeistrafgesetzbuches,  wesent- 
lich geändert,  abermals  an  den  Landtag  gelangten,  wurde  in  rascher  P^olge 
das  lang  geplante  Gesetzgebungswerk  zum  Abschluss  gebracht  (10.  November 
1861).  Mit  diesem  Abschlüsse  hat  sich  die  bayerische  Polizeistrafgesetzgebung 
auf  den  oben,  I  S.  94  geschilderten  Standpunkt  gestellt.  Bei  Gelegenheit  der 
Einführung  des  Keichsstrafgesetzbuches  ist  das  bayerische  Polizeistrafgesetz- 
buch von  1861  einer  Revision  unterzogen  und  durch  das  Polizeistrafgesetz- 
buch vom  26.  Dezember  1871  ersetzt  worden.  Diese  Revision  bestand  aber 
nicht  bloss  in  einer  Anpassung  des  bayerischen  Polizeistrafgesetzbuches  an 
das  Reichsstrafgesetzbuch,  vielmehr  'wairde  durch  diese  Revision  der  Charakter 
der  bayerischen  Polizeistrafgesetzgebung  verändert,  worauf  im  nächsten  Para- 
graph zurückzukommen  ist.  Die  körperliche  Züchtigung  ist  seit  dem  1.  Juli 
1862  (Geltung  der  bayerischen  Strafgesetzgebung)  auch  als  Disziplinarmittel 
in  allen  Strafanstalten  ausgeschlossen.-) 

§  46.    Der  Inhalt  des  Landesstrafrechts. 

Vergl.  bezüglich  Preussens  die  zu  IV  bei  §  13  S.  30  und  31  angeführten  Samm- 
lungen von  Hellweg  und  Arndt,  sowie  von  Borchert. 

Reger,  Die  in  Bayern  geltende  allgemeine  Polizeistrafgesetzgebung.  Ans- 
bach 1880.  —  Allfeld,  Sammlung  der  neben  dem  Strafgesetzbuch  und  dem  Militär- 
Strafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich  in  Bayern  geltenden  Reichs-  und  Landes- 
gesetze strafrechtlichen  Inhalts.  Mit  Anmerkungen.  2.  Aufl.  Hildburghausen.  München 
1887.  —  Edel,  Das  Polizeistrafgesetzbuch  für  das  Königreich  Bayern  vom  26.  Dezember 
1871  erläutert.  Erlangen  1872.  (Auch  die  Erläuterung  zum  Gesetzbuche  von  1861 
ist  fortwährend  beachtenswert.)  —  Riedel,  Das  Polizeistrafgesetzbuch  für  Bayern  vom 
10.  Dezember  1871.  Mit  systematischer  Einschaltung  der  bezüglichen  Bestimmungen 
des  Reichsstrafgesetzbuches.  4.  Aufl.  v.  Proebst.  Nördlingen  1889.  —  Staudinger, 
Das  Polizeistrafgesetzbuch  für  das  Königreich  Bayern.    2.  Aufl.    Nördlingen  1885. 

Paul  von  Mangoldt,  Das  im  Königreiche  Sachsen  neben  den  Strafgesetz- 
büchern geltende  Reichs-  und  Landesstrafrecht.  Für  den  Handgebrauch  zusammen- 
gestellt. Mit  Sachregister.  2  Bde.  Leipzig  1886.  —  Die  Justizgesetze  für  das  König- 
reich Sachsen.  Enthaltend  die  das  Privat-  und  Strafrecht  betreffenden  Reichs-  und 
Landesgesetze,  sowie  die  damit  in  Verbindimg  stehenden  Verordnungen.    Mit  Inhalts- 


*)  Vergl.   auch    Eckert   im  Handbuch    des   Gefängniswesens.     Hamburg  1888. 
Bd.  2,  S.  95,  Note  13  a.  E. 

'')  Vergl.  oben  «^  43  V,  No.  1,  S.  88. 


§  46.    Der  Inhalt  des  Landesstrafrechts.  99 


Verzeichnis  und  Sachregister.  Neue  Folge,  12.  Bd.  1886.  13.  Bd.  1888.  14.  Bd.  1889. 
2.  Abteil.  1890.    15.  Bd.  1891.     16.  Bd.  1892. 

Schicker,  Das  Polizeistraf  recht  und  Polizeistrafverfahren  im  Königreich 
Württemberg.    2  Teile.    2.  Aufl.    Stuttgart  1887. 

G.  Schlusser,  Das  badische  Polizeistrafrecht;  enthaltend  das  badische  Polizei- 
Strafgesetzbuch,  den  allgemeinen  Teil  und  Abschnitt  XXIX  des  besonderen  Teiles 
des  Reichs-Strafgesetzbuches,  sowie  die  sonstigen  einschlagenden  Gesetzesbestimmungen 
nebst  den  zu  deren  Vollzug  erlassenen  Verordnungen  und  Erläuterungen.  Tauber- 
bischofsheim 1888.  (Als  neue  Bearbeitung  des  II.  Teiles  des  Bingner  Lisenlohrschen 
badischen  Strafrechts  herausgegeben.) 

C.  Goesch  und  A.  v.  Düring,  Mecklenburg-Schwerinsches  Landesstraf- 
recht. Die  in  dem  Grossherzogtum  Mecklenburg  -  Schwerin  in  Geltung  befindlichen 
landesrechtlichen  Verordnungen  strafrechtlichen  Inhalts  zusammengestellt  und  er- 
läutert. Auch  mit  dem  Titel:  Mecklenburgsches  Landesstrafrecht  u.  s.  w.  Ausgabe 
für  Schwerin.  Schwerin  1887.  Dasselbe:  Ausgabe  für  Mecklenburg-Strelitz  (ein- 
schliesslich des  Fürstentums  Lübeck). 

Sammlung  der  in  Elsass-Lothringen  geltenden  Gesetze.  Herausgegeben  in 
Verbindung  mit  anderen  reichsländischen  Juristen  von  Althoff,  Förtsch,  Harseim, 
Keller  und  Leoni.  Strassburg  1880 — 1886.  —  Förtsch  und  Leoni,  Sammlung  der 
in  Elsass -Lothringen  in  Geltung  gebliebenen  französischen  Strafgesetze.  2  Teile 
1875  und  1876. 

Der  Inhalt  des  Landesstrafrechts  deckt  sich  mit  keiner  der  bekannten 
Kategorieen  des  strafbaren  Unrechts.  Das  Landesstrafrecht  bezieht  sich  auf 
Rechts-  wie  Polizeiverbrechen;  es  betrifft  Verletzungen,  Gefährdungen  und 
reinen  Ungehorsam.  Das  fortgeltende  ältere  Landesstrafrecht  operiert  noch 
mit  schweren  Verbrechensstrafen.  ^)  Die  Polizeistrafgesetzbücher  allerdings 
beschränken  sich  zumeist  auf  die  Bedrohung  von  reinem  Ungehorsam  und 
der  nicht  schweren  Rechtsgütergefährdungen.  Namentlich  die  bayerische  Straf- 
gesetzgebung des  Jahres  1861  hatte  die  leichtesten  Verletzungen  als  „Über- 
tretungen" an  geeigneter  Stelle  im  Strafgesetzbuche  eingereiht,  im  Polizeistraf- 
gesetzbuche dagegen  nur  Gefährdungen  und  den  polizeilichen  Ungehorsam 
behandelt.  Dies  ermöglichte  auch  eine  eigenartige  Behandlung  der  Gefährdungen 
und  des  Ungehorsams  in  den  allgemeinen  Materien.  Der  allgemeine  Teil  des 
bayerischen  Polizeistrafgesetzbuches  von  1861  enthielt  solche  Vorschriften,  nament- 
lich in  Hinsicht  auf  den  Versuch  (Art.  17),  auf  die  Haftbarkeit  von  Familien- 
häuptern, Dienst-,  Lehrherren  u.  dergl.  für  die  von  den  Untergebenen  be- 
gangenen Übertretungen  (Art.  18),  in  Bezug  auf  die  Fahrlässigkeit  (Art.  19)  u.  a. 
Die  hessische  Strafgesetzgebung  der  vierziger  Jahre  war  zu  einer  ähnlichen 
Scheidung  gelangt.  Im  württembergischen  und  badischen  Polizeistrafgesetzbuch 
war  dagegen  eine  verschiedene  Behandlung  der  Rechts-  und  Polizeiverbrechen 
nicht  durchgeführt.  Während  nun  Hessen  an  der  besonderen  Behandlung 
der  von  seinem  Polizeistrafgesetzbuch  bedrohten  Handlungen  und  Unter- 
lassungen festhielt,  hat  die  bayerische  Gesetzgebung  des  Jahres  1871  den  bis 
dahin  festgehaltenen  Unterschied  von  Rechts-  und  Polizeiverbrechen  im  An- 
schlüsse an  die  Reichsgesetzgebung  fallen  lassen  und  die  auf  eine  eigenartige 
Behandlung  der  Polizeiverbrechen  abzielenden  Bestimmungen  des  allgemeinen 
Teiles  des  bayerischen  Polizeistrafgesetzbuches  gestrichen.^)  —  Die  Darstellung 
des  Landesstrafrechts  folgt  zunächst  am  besten  der  Stoffanordnung,  welche 
einem  der  vorhandenen  Polizeistrafgesetzbücher  zu  Grunde  gelegt  ist.  Und 
in  dieser  Beziehung  dürfte  es  angezeigt  sein,  von  der  bayerischen  Gesetz- 
gebung auszugehen,  welche  die  jüngste  ist,  und  wie  oben  erwähnt,  zweimal 
in  kurzer  Frist  (1871  und  1879)  Umschau  gehalten  hat,  das  Landesstrafrecht 


')  Die  preussische  Verordnung  vom  8.  Juli  1844,  betreffend  die  Bestrafung  des 
Handels  mit  Negersklaven ,  GS.  S.  §99 ,  welche  langjährige  Zuchthausstrafen  androht 
(vergl.  oben  §  48,  V,  No.  2),  wird  als  noch  zu  Recht  bestehend  angesehen. 

*)  Vergl.  Rosin  in  V.  Stengel,  Wörterbuch  des  Verwaltungsrechts  Bd.  2,  S.  277f. 

7* 


100  Deutsches  Reich.  —  Die  Landesstrafgesetzgebung. 


in  Einklang  mit  dem  Reichsstrafrechtc  zu  bringen  suchte  und  —  abgesehen 
von  einigen  nicht  ganz  unzweifelhaften  Punkten  —  in  Einklang  gebracht  hat. 
Bei  der  Beschränkung  des  Riauraes  und  der  Zeit,  welche  dem  Verfasser  gegeben 
war,  konnte  es  sich  nur  um  Hervorhebung  der  wichtigeren  Beziehungen  und 
solcher  Einzelheiten  handeln,  in  welchen  besondere  strafrechtliche  Gedanken 
zum  Ausdruck  kommen.  Ausser  der  bayerischen  Landesstrafgesetzgebung 
ist  auch  die  preussische  mehrfach  zur  Berücksichtigung  gelangt.  Manche  landes- 
rechtliche Spezialität  ist  schon  in  einem  früheren  Zusammenhange  berührt 
worden.  1.  Das  bayerische  Polizeistrafgesetzbuch  vom  26.  Dezember  1871 
in  der  Fassung,  die  es  durch  das  bayerische  Ausführungsgesetz  vom  1 8.  August 
1879  zur  Reichsstrafprozessordnung  erhielt,  regelt  in  der  ersten  Abteilung, 
Art.  1 — 15,  das  Anordnungs-  (Verordnungs-)  Recht  in  dem  oben,  §  45  S.  94, 
besprochenen  Sinne.  Die  zweite  Abteilung,  Art.  16  —  22,  enthält  unter  der 
Überschrift  „Vollzugsmassregeln  und  vorläufige  Einschreitung"  die  Rechts- 
satzung in  Bezug  auf  polizeiliche  Massnahmen  im  einzelnen  Fall,  einschliess- 
lich der  dabei  in  Betracht  kommenden  Ungehorsamsstrafen.  2,  Die  Übei'schrift 
des  ersten  Hauptstückes  der  dritten  Abteilung  des  bayerischen  Polizeistraf- 
gesetzbuches „Übertretungen  in  Bezug  auf  einzelne  Staatseinrichtungen  und 
öffentliche  Vei'pflichtungen"  lässt  den  Inhalt  des  Hauptstückes  kaum  erraten. 
Es  werden  da  bedroht:  unerlaubter  Verkehr  mit  Gefangenen,  Unterlassung  vor- 
geschriebener Anzeigen  in  Bezug  auf  Verehelichungen,  Entbindungen  und 
Todesfälle  (selbstverständlich  soweit  nicht  §  68  des  Personenstandsgesetzes 
Platz  greift),  Veränderung  des  Geschlechtsnamens,  widerrechtliche  Anwendung 
der  Livree  der  königlichen  Hof dienerschaft ,  Störung  der  Nothülfe,  Zuwider- 
handlung gegen  Ortsvenveisungen  (soweit  nicht  StGB.  §  361  No.  1  anwendbar 
ist),  vergl.  dazu  namentlich  Reichsgesetz,  betr.  den  Orden  der  Gesellschaft  Jesu 
vom  4.  Juli  1872,  S.  253.  Strafbar  ist  nach  dem  bayerischen  Polizeistrafgesetz- 
buch Artikel  29  die  Versäumung  von  Diensten  in  Bezug  auf  Sicherheitswachen 
und  Erhaltung  der  Wege.  3.  Eine  weitere  Gruppe  von  Strafdrohungen  betrifft 
die  Übertretung  der  Vorschriften  in  Bezug  auf  öffentliche  Ruhe,  Ordnung  und 
Sicherheit,  namentlich  Eri'egung  öffentlicher  Unruhe  und  Besorgnis  (die  cris 
s6ditieux  gehören  hierher),  Gestattung  des  Wirtshausbesuches  gegenüber  aus- 
geschlossenen Pereonen,  unbefugte  Veranstaltung  von  öffentlichen  oder  die 
Nachbarschaft  belästigenden  Lustbarkeiten,  Unterhaltungen,  Schaustellungen, 
Artikel  32^:-36;  verbotswidrige  Ankündigungen,  Maueranschläge,  unbefugte  Be- 
seitigung u.  dergl.  von  Anschlägen,  Versäumung  der  Wohnungsräumung  trotz 
unstreitiger  Pflicht  imd  polizeilicher  Aufforderung,  Tragen  verbotener  Waffen, 
soweit  nicht  Strafgesetzbuch  §  367,  Ziff.  9  Platz  greift,  unbefugte  Aufnahme 
von  Pflegekindern  (Art.  41),  widerrechtliche  Zurückhaltung  verirrter  Kinder 
oder  hülf  loser  Personen  ohne  Anzeige  bei  der  Obrigkeit  (Art.  42),  Versäumung 
der  Anzeige  des  Verdachtes  eines  gewaltsamen  Todes  seitens  der  Totenbeschauer, 
der  Leichenbesorger  und  sezierenden  Ärzte  (Art.  43),  Zuwiderhandeln  gegen  die 
bei  Volksfesten  und  sonstigen  ausserge wohnlichen  Ansammlungen  von  Menschen 
bekannt  gemachten  polizeilichen  Anordnungen,  soweit  nicht  §  366  Ziff.  10  des 
Keichsstrafgesetzbuches  Anwendung  findet.  4,  Übertretungen  in  Bezug  auf 
Reisen  und  Fremdenpolizei.  5.  Strafbestimmungen  in  Bezug  auf  die  Sitten- 
polizei, unerlaubte  Sammlungen,  Gaukelei,  Glücksspiele.  Vergl.  preuss.  Gesetz, 
betr.  das  Spiel  in  ausserpreussischen  Lottenen  vom  29.  Juli  1885,  GS.  S.  317; 
preuss.  Gesetz,  betr.  das  Verbot  des  Privathandels  mit  Staatslotterielosen  vom 
18.  August  1891,  GS.  S.  353.  Besonders  bemerkenswert  ist  der  durch  das 
bayer.  Gesetz  vom  20.  März  1882  (bayer.  GVBl.  S.  105)  in  das  Polizeistraf- 
gesetzbuch eingestellte  Art.  50a:  „Personen,  welche  durch  fortgesetztes  häus- 
liches Zusammenleben  in  ausscrchelicher  Geschlechtsverbindmig  zu  öffentlichem 


§  46.    Der  Inhalt  des  Landesstrafrechts.  101 


Ärgernisse  Veranlassung  geben,  werden  an  Geld  bis  zu  45  Mark  oder  mit  Haft 
bis  zu  8  Tagen,  im  Wiederholungsfalle  an  Geld  bis  zu  150  Mark  oder  mit  Haft 
bestraft  und  sind  durch  die  Polizeibehörde  von  einander  zu  trennen."  Die 
bayerische  Praxis  trägt  kein  Bedenken,  diese  Bestimmung  über  die  ötrafbarkeit 
des  iCbnkubinates  anzuwenden;  vergl.  Sammlung  von  Entscheidungen  des 
kgl.  Oberlandesgorichts  München  in  Gegenständen  des  Strafrechts  und  Straf- 
prozesses, Bd.  2  (1884)  S.  341,  513,  529,  538,  Bd.  3  (1886)  S.  43,  238.  Vergl. 
dazu  Harburger  in  der  Zeitschrift  für  die  gesamte  Strafrechtswissenschaft  Bd.  4 
S.  499.  Es  lässt  sich  aber  das  Bedenken  geltend  machen,  dass  §  183  des  Reichs- 
strafgesetzbuches die  Ärgerniserregung  durch  unzüchtige  Handlungen  erwogen 
und  in  gewisser  Begrenzung  mit  Strafe  bedroht  hat.  Dadurch  wird  di(»  Befugnis 
der  Landesgesetzgebung  fraglich,  solche  Ärgerniserregung  auch  noch  in  anderer 
Begrenzmig  zu  bedrohen.  Art.  55  giebt  der  Polizei  die  Befugnis,  Ärgernis 
erregende  Betrunkene  aus  der  Öffentlichkeit  zu  entfernen,  und  wenn  dieselben 
störend  werden,  bis  auf  24  Stunden  in  Gewahrsam  zu  nehmen.  Wer  binnen 
Jahresfrist  zum  dritten-  oder  öfterenmale  in  einer  störenden  Weise  betroffen 
wird,  ist  mit  Haft  bis  zu  14  Tagen  zu  bestrafen.  6.  Übertretungen  in  Bezug 
auf  religiöse  Einrichtungen,  Erziehung  und  Bildung.  7,  Übertretungen  in  Bezug 
auf  polizeiliche  Vorschriften  zum  Schutze  von  Leben  und  Gesundheit.  (Er- 
gänzung des  Reichs-StGB.  §  367);  vergl.  bayer.  Pol.-StGB.  Art.  66:  „Wer  an 
einem  ansteckenden  Übel  leidet  und  mit  Verheimlichung  desselben  sich  als 
Dienstbote,  Amme,  Geselle,  Gewerbsgehülfe,  Lehrling  oder  Fabrikarbeiter  ver- 
dingt, desgleichen,  wer  im  Dienste  von  einem  solchen  übel  befallen  wird  und 
solches  der  Dienstherrschaft,  dem  Meister  oder  dem  Fabrikherm  verheimlicht, 
wird  mit  Haft  bis  zu  8  Tagen  oder  an  Geld  bis  zu  45  Mark  l)e8traft.  Die 
Befugnis  der  Polizeibehörde,  die  erforderlichen  Massregeln  wegen  Absondening 
und  Heilung  solcher  Personen  zu  treffen,  bleibt  vorbehalten."  Dazu  Verord- 
nung vom  22.  Juli  1891,  GVBl.  S.  229,  welche  auf  Grund  des  Art.  72  des 
Polizeistrafgesetzbuches  ergangen  ist  und  die  Verpflichtung  der  Medizinal- 
personen zur  Anzeige  von  ansteckenden  Krankheiten  betrifft.  8.  Strafdrohungen 
sind  femer  aufgestellt  in  Bezug  auf  die  Strassenreinlichkeits-  und  W^asser- 
polizei. .  Namentlich  die  Erhaltung  der  Kunststrassen,  die  Benutzmig  des 
Wassers,  der  Uferschutz,  Wasserstau  und  Vorflut,  sowie  das  Deichwesen  stehen 
unter  dem  Strafschutze.  9.  Zahlreiche  Bestimmungen  ergänzen  die  Reichs- 
gesetzgebung in  Bezug  auf  das  Gewerbewesen;  z.  B.  Art.  144  des  bayer. 
Pol.-StGB.:  Bäcker,  Brot-  und  Mehlhändler,  schankberechtigte  Brauer,  Bier- 
wirte, Metzger  und  andere  zum  Feilbieten  von  Fleisch  berechtigte  Personen 
imterliegen  einer  Geldstrafe  bis  zu  45  Mark,  wenn  sie  ohne  genügenden  Ent- 
schuldigungsgnind,  so  lange  ihre  Vorräte  reichen,  einem  Käufer  die  Abgabe 
ihrer  Verkaufsgegenstände  gegen  Zahlung  verweigeni.  Bäcker,  Metzger,  Müller 
und  Bierwirte,  welche  den  Betrieb  ihres  Gewerbes  ohne  genügende  Entschul- 
digung einstellen,  ohne  solches  wenigstens  14  Tage  zuvor  der  Ortspolizei- 
behörde angezeigt  zu  haben,  werden  an  Geld  bis  zu  90  Mark  bestraft.^) 
10.  Die  Überwachung  der  Dampfkessel  (Reichs-Gew.-O.  §§24,  147  Nr.  2),  11.  das 
Brandversicherungswesen,  12.  die  Baupolizei  und  13.  das  Dienstboten wesen 
haben  zu  Strafbestimmungen  Anlass  gegeben.  Vergl.  z.  B.  preuss.  Gesinde- 
ordnung vom  8.  November  1810,  GS.  S.  101,  §§  51,  77  (bedeutsam  in  Bezug 
auf  §§  185  und  223  des  StGB,  und  414  der  StPO.),  168;  174,  176  (Ausstellung 
wahrheitswidriger  Zeugnisse).  Preuss.  Gesetz,  betr.  die  Verletzungen  der 
Dienstpflichten  des  Gesindes  und   der  ländlichen  Arbeiter   vom  24.  April  1854, 


*)  Vergl.   Lexis   in   v.   Stengels    Wörterbuch   des   Verwaltungsrechts,   Bd.  2, 
S.  400  (Schankgewerbe). 


102  Deutsches  Reich.  —  Die  Land  esstraf  gesetzgebung. 


GS.  S.  214,  §§1—5;  §3  bedroht  die  Streikes  des  Gesindes,  der  Schiflfeknechte, 
Dienstleute  und  der  im  §  2  erwähnten  Handarbeiter  mit  Gefängnis  bis  zu 
1  Jahre.  Hinsichtlich  der  Schiffsknechte  durch  §  152  der  Gewerbeordnung 
ausser  Anwendung  gesetzt;  im  übrigen  noch  in  Geltung.  Preuss.  Gesetz  für 
die  Provinz  Hessen -Nassau  mit  Ausschluss  der  ehemals  bayerischen  Gebiets- 
teile, betr.  die  Verletzung  der  Dienstpflichten  des  Gesindes  vom  27.  Juni 
1886,  GS.  S.  173,  §§  1  und  2.  14.  Auch  die  Landwirtschaft  und  das  Fischerei- 
wesen sind  des  Strafschutzes  teilhaftig  geworden.  Zunächst  sind  die  §§  370 
No.  4  und  296a  des  Strafgesetzbuches  massgebend;  s.  oben  §  19.  Für  Preussen 
namentlich  kommt  das  unter  No.  16  näher  erörterte  Feld-  und  Forstpolizei- 
gesetz vom  1.  April  1880,  sowie  das  Fischereigesetz  vom  30.  Mai  1874,  GS. 
S.  197,  §§  49—52  in  Betracht;^)  für  Bayern  das  Pol.-StGB.  Art.  111,  Abs.  2 
bis  124,  126,  dann  die  Körordnung  (betr.  die  Pferdezucht)  vom  29.  März  1881, 
GVBl.  S.  166,  Art.  5  und  das  Gesetz,  die  Haltung  von  Zuchtstieren  betr., 
vom  5.  April  1888,  GVBl.  S.  235,  Art.  13.  15.  Einen  der  wichtigsten  und 
umfangreichsten  Bestandteile  des  Landesstrafrechtes  bildet  das  ForststrafVecht. 
Das  Keichsstrafgesetzbuch  enthält  in  den  §§  117 — 119  scharfe  Strafdrohungen 
gegen  denjenigen,  der  einem  Forstbeamten,  einem  Waldeigentümer,  einem  Forst- 
berechtigten oder  einem  von  diesen  bestellten  Aufseher  in  der  rechtmässigen 
Ausübung  seines  Amtes  oder  Rechtes  durch  Gewalt  oder  durch  Bedrohung 
mit  Gewalt  Widerstand  leistet  oder  auch  nur  eine  dieser  Personen  während 
der  Ausübung  ihres  Amtes  oder  Rechtes  thätlich,  d.  h.  animo  hostili,  angreift. 
Die  geringste  durch  den  Widerstand  oder  Angriff,  wenn  auch  unabsichtlich, 
verursachte  Körperverletzung  bringt  dem  Thäter,  wenn  nicht  mildernde  Um- 
stände angenommen  werden,  Zuchthaus  bis  zu  10  Jahren  ein.  Und  wenn  die 
That  von  mehreren  gemeinschaftlich  begangen  worden  ist,  so  kann  die  Strafe 
um  die  Hälfte  erhöht  werden,  das  Gefängnis  allerdings  nur  bis  zu  5  Jahren,  das 
Zuchthaus  aber  bis  zu  15  Jahren.  Im  übrigen  ist  der  P^orststrafschutz  der  Landes- 
gesetzgebung überlassen,  welche  denn  auch  teils  in  den  Forstgesetzen,  teils  in 
besonderen,  auf  die  Bestrafung  der  Forstdelikte  abzielenden  Gesetzen  zahlreiche 
Strafdrohungen  aufgestellt  hat.  Das  bayerische  Forstgesetz  vom  28.  März 
1852,  modifiziert  durch  das  Einf.-Ges.  zum  St(iB.  vom  26.  Dezember  1871*) 
und  dann  durch  das  Ausführungsgesetz  vom  18.  August  1879  zur  Reichs-Straf- 
prozessordnung,  enthält  in  der  vierten  Abteilung  das  Forststrafrecht,  welches 
sowohl  die  Forstpolizeiübertretungen,  als  auch  die  Forstfrevel  begreift.  Die 
ersteren  sind  Verstösse  gegen  die  Forstordnung,  begangen  vom  Waldeigentümer 
oder  dessen  Personal,  die  letzteren  sind  Entwendungen,  Beschädigungen, 
Zuwiderhandlungen  gegen  die  Forstordnung  und  andere  Gefährden,  welche  in 
fremdem  Walde  begangen  werden  (Art.  48  und  49  des  Forstgesetzes).  Die 
allgemeinen  Bestimmungen  Art.  48 — 74  enthalten  in  mehreren  Beziehungen 
vom  gemeinen  Reichsrechte  abweichendes  Recht.  So  namentlich  Art.  56, 
welcher  für  den  Gehülfen  die  volle  Thäterschaftsstrafe  bestimmt.  Merkwürdig 
ist  Abs.  3  dieses  Artikels.  Damach  werden  mehrere  zur  nämlichen  Familie 
gehörige  Personen'^)  (auch  Dienstboten,  Zöglinge,  Gesellen  und  Gehülfen  sind 
darunter  begriffen),  welche  bei  der  Begehung  eines  mit  Geldstrafe  bedrohten 
Frevels    einen    Handschlitten,    einen    Schiebkarren    oder    einen    zweiräderigen 


*)  Vergl.  besonders  Staudinger  in  v.  Stengels  Wörterbuch  des  Verwaltungs- 
rechts, Bd.  1,  S.  408  und  das  S.  420  daselbst  enthaltene  Quellen  Verzeichnis. 

*-}  Für  die  bayerische  Rheinpfalz  gilt  ein  besonderesForstgesetz  vom28.Dezcmberl83 1 , 
modifiziert  durch  das  im  Text  erwähnte  Ausführungsgesetz.  23.März^46 

'^)  Im  pfälzischen  Forststrafgesetze  Art.  8  ist  diese  Bestimmimg  auf  2  oder  3 
Personen  derselben  Familie  beschränkt. 


§  46.    Der  Inhalt  des  Landesstrafrechts.  103 


Karren  gemeinschaftlich  fortbewegen,  miteinander,  jedoch  samtverbindiich,  in 
die  treffende  Geldstrafe  verurteilt.  In  dem  Urteile  ist  auszusprechen,  gegen 
welchen  oder  welche  Frevler  die  Umwandlung  der  Geldstrafe  in  Haftstrafe 
einzutreten  hat,  wenn  die  Geldstrafe  nicht  beigetrieben  werden  kann.  —  Der 
Rückfall  gilt  in  Forststrafsachen  allgemein  als  Schärfungsgrund ;  Art.  59  (58), 
No.  12.  Sehr  verständig  ist  der  Notstand  im  Walde  behandelt.  Art.  61  (60). 
Wert-  und  Schadensersatz  muss  für  die  Wegnahme  oder  Beschädigung  von 
Forstprodukten  geleistet  werden,  wenn  jemand  durch  einen  Unfall  im  Walde 
dazu  veranlasst  wurde;  mit  der  Strafe  muss  aber  der  im  Notstande  Handelnde 
verschont  werden,  vorausgesetzt,  dass  er  innerhalb  24  Stunden  geeignete  An- 
zeige macht.  Art.  69  (68)  erklärt  Angehörige,  Vormünder,  Kuratoren,  Pfleger, 
Dienstherrschaften,  Lehrmeister,  Gewerbsleute  und  Geschäftsgeber  unter  ge- 
wissen Voraussetzungen  als  civilverantwortlich  für  Geldstrafe,  Wert-  und 
Schadensersatz,  wenn  sie  nicht  beweisen,  dass  sie  ausser  Stande  waren,  den 
Frevel  zu  verhindern.  Die  genannten  Personen  haften  nach  Art.  70  (69)  auch 
für  die  in  ihrem  eigenen  Walde  von  Angehörigen  oder  Untergebenen  vei'tibten 
Forstpolizeiübertretungen,  wenn  sie  nicht  beweisen,  dass  die  Übertretung  ohne 
ihr  Voi-wissen  begangen  worden  ist.  —  Nimmt  in  einem  Bezirke  die  Ver- 
übung von  Forstfreveln  durch  Entwendung  überhand,  so  kann  durch  könig- 
liche Verordnung  für  den  Frevelbezirk  wie  für  die  Verkaufsbezirke  der  Ver- 
kauf von  Walderzeugnissen  von  Einholung  eines  Ursprungszeugnisses  abhängig 
gemacht  M'^erden,  in  welchem  Falle  der  Verkauf  ohne  dieses  Zeugnis  strafbar 
ist.  Art.  106  (105),  107  (106).^)  Für  Preussen  kommt  das  Gesetz  be- 
treffend Schutzwaldungen  und  Waldgenossenschaften  vom  6.  Juli  1875,  GS. 
S.  416,  §53,  in  Betracht;  femer  das  Gesetz,  betreffend  den  Fürstdiebstahl  vom 
15.  April  1878,  S.  222.  §  1  begi-enzt  den  Thatbestand  des  Forstdiebstahls 
durch  Aufzählung  der  Objekte:  1.  Holz,  welches  noch  nicht  vom  Stamme 
oder  vom  Boden  getrennt  ist;  2.  Holz,  welches  durch  Zufall  abgebrochen 
oder  umgeworfen  und  mit  dessen  Zurichtung  der  Anfang  noch  nicht  ge- 
macht ist;  3.  Späne,  Abraum  (zufällige  Abfälle),  Borke,  insofern  dieselben 
noch  nicht  in  einer  umschlossenen  Holzablage  sich  belinden,  oder  noch  nicht 
geworben  oder  eingesammelt  sind;  4.  Andere  Walderzeugnisse  (Beispiele), 
insofern  dieselben  noch  nicht  geworben  oder  eingesammelt  sind.  Das  Ein- 
sammeln von  Kräutern,  Beeren  und  Pilzen  ist  nicht  Forstdiebstahl,  sondern 
unterliegt  forstpolizeilichen  Bestimmungen.  Das  Gesetz  stuft  die  Strafen  nach 
folgenden  Gesichtspunkten  ab.  Der  einfache  Forstdiebstahl  und  der  Forst- 
diebstahl unter  gewissen  erschwerenden  Umständen  werden  mit  dem  fünf- 
fachen, bezw.  zehnfachen  Werte  des  Entwendeten,  jedoch  nicht  unter  1,  bezw. 
2  Mark  bestraft.  Vereuch  und  Teilnahme  werden  mit  der  vollen  Strafe  be- 
straft. §  4.  Für  Begünstigung  und  Hehlerei  ist  der  fünffache  Betrag  festgesetzt. 
§  5.  Schwerer  Forstdiebstahl  (Geldstrafe  und  nach  Ermessen  des  Gerichts 
Gefängnis  bis  zu  6  Monaten)  wird  angenommen:  a)  im  Falle  gemeinschaftlicher 
Verübung  durch  drei  oder  mehr  Personen;  b)  wenn  der  Forstdiebstahl  zum 
Zweck  der  Veräusserung  des  Entwendeten  oder  der  daraus  hergestellten  Gegen- 
stände erfolgte;  c)  im  Falle  gewerbs-  oder  gewohnheitsmässiger  Forsthehlerei. 
§  6.  Für  den  ersten  Rückfall  ist  die  Geldstrafe  auf  das  Zehnfache  festgesetzt 
und  im  dritten  und  ferneren  Rückfall  ist  neben  der  Geldstrafe  auf  Gefängnis 
bis  zu  2  Jahren  zu  erkennen.  Bei  geringeren  Beträgen  Milderung  möglich. 
Nur  preussische  Vorstrafen  kommen  in  Betracht;    die  Rückfalls  Verjährung  be- 

^)  Durch  königl.  Verordnung  vom  2.  Oktober  1887,  GVBl.  S.  611,  wurde  von 
dieser  Ermächtigung  gegenüber  einigen  oberfrärikischen  Bezirken  Gebrauch  gemacht, 
woselbst  die  Forstfrevel  durch  Entwendung  von  Christbäumchen  in  ausserordentlicher 
Weise  überhand  genommen  hatten.    Im  September  1892  erneuert! 


104  Deutsches  Reich.  —  Die  Landesstrafgesetzgebung. 


trägt  zwei  Jahre.  §§  7  und  8.  Die  von  §  57  des  Strafgesetzbuchs  in  Betreff 
der  Jugendlichen  vorgesehene  Strafmilderung  ist  nach  §  10  des  Gesetzes  aus- 
geschlossen. Vergl.  auch  preussisches  Feld-  und  Forstpolizeigesetz  §4.  §11 
statuiert  ähnlich  wie  der  bayerische  Artikel  69  (68)  eine  eventuelle  Haftbar- 
keit gewisser  Personen  für  Geldstrafe.  Wertersatz  und  Kosten.  Eigenartige 
Bestimmungen  enthalten  die  §§12  und  14.  Nach  dem  ersteren  sind  diese 
Personen  nicht  bloss  civil-,  sondern  auch  strafrechtlich  (für  die  Geldstrafe)  un- 
mittelbar haftbar,  wenn  der  Thäter  noch  nicht  12  Jahre  alt,  oder  zwar  12  aber 
noch  nicht  1 8  Jahre  alt  war  und  im  letzten  Falle  wegen  Mangels  an  Einsicht« 
sowie  wenn  der  Thäter  aus  §  51  des  Strafgesetzbuches  —  Mangel  der  freien 
Willensbestimnmng  —  freigesprochen  werden  muss.  Die  Haftbarkeit  wird  in 
den  Fällen  des  §  11,  auch  des  §  12  für  den  Dritten  nur  dann  ausgeschlossen,  wenn 
bewiesen  wird,  dass  die  That  ohne  sein  Wissen  verübt  worden  ist,  oder  dass 
er  sie  nicht  verhindern  konnte.  Fälle  der  Strafrechtspräsumtion.  Vergl.  auch 
preuss.  Feld-  und  Forstpolizeigesetz,  §5.  Nach  §  14  kann  der  zu  einer  Geld- 
strafe Verurteilte,  der  dieselbe  zu  bezahlen  ausser  Stande  ist,  statt  ins  Gefängnis 
geschickt  zu  werden,  für  die  Dauer  der  ihn  treffenden  Strafzeit  zu  Forst-  und 
Gemeindearbeiten,  welche  seinen  Fähigkeiten  und  Verhältnissen  angemessen 
sind,  angehalten  werden.  (Vergl.  Einf.-G.  zum  StGB.  §  6  Abs.  2.)  Die  näheren 
Bestimmungen  wegen  der  zu  leistenden  Arbeiten  werden  mit  Rücksicht  auf 
die  Lohn-  und  sonstigen  örtlichen  Verhältnisse  vom  Regierungspräsidenten 
in  Gemeinschaft  mit  dem  Oberstaatsanwälte  erlassen.  Dieselben  sind  er- 
mächtigt, in  der  Weise  Tagewerke  zu  bestimmen,  dass  der  Verurteilte  durch 
angestrengten  Fleiss  früher  abkommen,  daher  noch  für  sich  und  die  Seinigen 
arbeiten  kann.  §  13  des  Gesetzes  bezieht  sich  auf  die  Umwandlung  der 
Geld-  in  Gefängnisstrafe;  §  15  regelt  die  Einziehung  mehrfach  abweichend 
vom  allgemeinen  Reichsrechte,  verbietet  namentlich  die  Einziehung  von 
Tieren  und  anderen  zur  WegschaflPung  des  Entwendeten  dienenden  (Gegen- 
ständen. Ganz  eigentümlich  ist  die  Vorschrift  des  §  17,  wonach  frisch 
geföntes,  nicht  forstmässig  zugerichtetes  Holz,  ohne  dass  auf  eine  Haupt- 
strafe erkannt  zu  werden  brauchte,  der  Einziehung  unterliegt,  wenn  das 
Holz  bei  jemandem  gefunden  wird,  der  in  den  letzten  2  Jahren  nach 
dem  Forstdiebstahlsgesetze  verurteilt  worden  ist  und  der  sich  über  den 
redlichen  Erwerb  des  Holzes  nicht  ausweisen  kann.  Im  §  18  ist  eine  vom 
Reichsrechte  abweichende  Bestimmung  über  die  Verjährung  der  Strafverfolgung 
enthalten.  Eine  starke  Abweichung  vom  Reichsrechte, ^)  >vie  überhaupt  von 
der  Regel  des  modernen  Strafrechts  enthält  §  34.  Die  auf  Grund  des  Forst- 
diebstahlsgesetzes  erkannten  Geldstrafen  fliessen,  mit  einer  die  Zusatzstrafe  im 
Rückfalle  (§  8)  betreffenden  Ausnahme,  dem  Beschädigten  zu.  —  Dieser  braucht 
sie  nicht  einmal  selbst  einziehen  zu  lassen,  der  Staat  zieht  sie  ein  und  bringt 
sie  dann  dem  Beschädigten.  Und  weist  der  Beschädigte  im  Falle  der  Nicht- 
einziehbarkeit  der  Geldstrafe  rechtzeitig  geeignete  Arbeitsleistungen  (§  14) 
nach,  welche  der  Verurteilte  für  ihn  machen  könnte,  so  soll  dieser  von  der 
Behörde  zu  solcher  Arbeit  angehalten  werden.  Das  Gesetz  hat  mit  dieser, 
dem  preussischen  Rechte  allerdings  schon  früher  bekannten,  Einrichtung  den 
Boden  der  römischen  Privatstrafe  wieder  betreten,  nui*  mit  dem  Unterschiede, 
dass  der  Staat  dem  Beschädigten  die  Gefälligkeit  erweist,  die  Strafe  zu  heischen 
und  beizutreiben.  Nur  wenn  eine  Gemeinde  beschädigt  ist  und  der  Verurteilte 
zu  derselben  gehört,  kann  der  Amtsrichter  die  Beitreibung  der  Geldstrafe  mit 
den  Kosten  und  der  Entschädigung  der  Gemeindebehörde  auftragen.     Die  dem 


*)  Die  Bestimmung  in  §  146  Abs.  2  mit  §  116  der  Gewerbeordnung  kann  als  eine 


solche  Abweichung  nicht  erachtet  werden. 


§  46.    Der  Inhalt  des  Landesstrafrechts.  105 


Beschädigten  zufallende  Geldstrafe  erfüllt  nicht  etwa  eine  Entschädigungs- 
funktion; das  Amtsgericht  hat  vielmehr  ausser  der  Geldstrafe  auch  die  Ver- 
pflichtung zum  Wertersatze  auszusprechen,  so  dass  der  Beschädigte  Wertersatz 
und  Geldstrafe  erhält,  vorausgesetzt,  dass  der  Schuldige  zahlungsfähig  ist. 
Vergl.  §  9  des  Gesetzes.  Die  Ei'satzarbeit  (§  34,  Abs.  2)  kann  nur  für  die 
Strafe,  nicht  für  die  Entschädigung  gefordert  werden.  —  In  diesen  Zusammen- 
hang gehört  16.  das  preussische  Feld-  und  Forstpolizeigesetz  vom  1.  April 
1880,  GS.  S.  230.  Die  §§  1 — 8  dieses  Gesetzes  enthalten  allgemeine,  zum  Teil  an 
das  Forstdiebstahlsgesetz  sich  anschliessende  Bestimmungen ,  das  letztere 
namentlich  in  Betreff  der  Jugendlichen  und  in  Betreff  der  Civil-  und  Straf- 
verantwortlichkeit Dritter.  §  1  verweist  zur  Ergänzung  auf  das  Strafgesetzbuch; 
§  2  stellt  Schärfungsgründe,  darunter  auch  den  Rückfall  auf.  §  3  begrenzt 
den  Rückfall  abweichend  vom  gemeinen  Reichsrechte,  zum  Teil  auch  vom 
Forstdiebstahlsgesetze.  (Rechtskräftige  Verurteilung  in  Preussen  durch  Gericht 
oder  polizeiliche  Strafverfügung  während  der  vorausgegangenen  zwei  Jahre 
wegen  einer  nach  demselben  Paragraphen  des  Gesetzes,  beziehungsweise  nach 
derselben  Paragraphennummer  strafbaren  Handlung  —  im  Falle  der  Ent- 
wendung Vorbestrafung  wegen  Entwendung,  Verauch  einer  solchen,  Teilnahme 
daran,  Begünstigung  und  Hehlerei  in  Bezug  darauf.)  Sehr  wichtig  ist  die 
Begrenzung,  die  sich  das  Gesetz  gegenüber  dem  gemeinen  Reichsrechte  giebt; 
§  6.  Entwendungen,  Begünstigungen  und  Hehlerei  in  Bezug  auf  Entwendungen, 
rechtswidrig  und  vorsätzlich  begangene  Beschädigungen  (§  303  des  StC^B.)  und 
Begünstigung  in  Bezug  auf  solche  unterliegen  nur  dann  dem  Gesetze,  wenn 
der  Wert  des  Entwendeten  oder  der  angerichtete  Schaden  10  Mark  nicht 
übersteigt.  Ist  das  der  Fall,  so  sind  die  Entwendungen  und  Beschädigungen 
nach  dem  Reichsrechte  zu  beurteilen.  Vergl.  oben  §  43  IV,  S.  87.  Diese 
Wertberücksichtigung  ist  ein  Zurückkommen  auf  einen  Gesichtspunkt,  den  das 
deutsche  Strafgesetzbuch  glücklich  überwunden  hatte.  Schon  im  Gerichts- 
verfassungsgesetze ist  wieder  dem  Werte  bei  Entfremdungen  imd  Beschädigungen 
Bedeutung  beigelegt  worden.  Vergl.  Ger. -Verf. -Ges.  §  27.  Nun  führt  die 
Landesgesetzgebung,  nicht  zum  Vorteil  der  Rechtsentwickelung,  das  Moment 
der  Schadenshöhe  auch  wieder  in  das  materielle  Strafrecht  ein.  Kein 
Grund  ist  vorhanden,  die  Wegnahme  von  Rosen  aus  einem  umschlossenen 
Garten  mittelst  Einsteigens  bloss  mit  Geldstrafe  von  5 — 150  Mark  oder  mit 
Haft  bis  zu  6  Wochen  zu  bestrafen,  wenn  die  Rosen  zu  10  Mark  gewertet 
werden  (Feld-  und  Forstpolizei- Gesetz  §  19,  No.  3);  während  die  Strafe  1  bis 
10  Jahre  Zuchthaus,  bei  Annahme  mildernder  Umstände  Gefängnis  von  3  Mo- 
naten bis  zu  5  Jahren  beträgt,  wenn  die  Rosen  etwas  höher  taxiert  werden 
(StGB.  §  243,  Z.  2)!  Viel  verständiger  verordnete  die  preussische  Feldpolizei- 
Ordnung  vom  1.  November  1847,  abgeändert  durch  Gesetz  vom  13.  April  1856, 
GS.  S.  205,  dass  der  „unbedeutende  Wert"  oder  die  „geringe  Quantität" 
der  weggenommenen  Bodenerzeugnisse  die  Wegnahme  als  Entwendung  er- 
scheinen lasse,  dass  aber  gewinnsüchtige  Absicht  dieselbe  wieder  zum  Dieb- 
stahl mache, ^)  ebenso  wie  ein  Feld-  oder  Garten-Frevel  zur  gemeinen  Sach- 
beschädigung werde,  wenn  derselbe  aus  Rache  oder  Bosheit  verübt  wird.  Cit. 
Ges.  §  42,  Z.  2,  §  45.  Der  §  6  des  preuss.  Feld-  und  Forstpolizei-Gesetzes  er- 
scheint der  Feidpolizei-Ordnung  von  1847/56  gegenüber  als  eine  legis  refor- 
matio in  pejus  I  —  Die  Beihülfe  zu  einer  Entwendung  oder  Beschädigung,  die 
Begünstigung  in  Bezug  auf  dieselben,  sowie  die  Hehlerei  in  Bezug  auf  eine 
Entwendung  sind  strafbar,  auch  wenn  die  Hauptthat  nur  eine  Übertretung  ist 
(gegen   StGB.  §§  49  und  257),   und   sie   sind  strafbar  wie  die  Hauptthat.     Das 


*)  Vergl.  auch  oben  das  preuss.  Forstdiebstahlsgesetz  §  6. 


\ 


106  Deutsches  Reich.  —  Die  Landesstrafgesetzgebnng. 


Gleiche  gilt  vom  Versuch  der  EntwendoBg  (Gres.  §§  7,  8).  Die  §§  9 — 15,  17 — 47, 
51  enthalten  Spezialstrafbestimmangen,  von  denen  besonders  die  auf  den  Not- 
stand bezügliche  bemerkenswert  ist.  §  16  des  Gesetzes  hat  privatrechtliche 
Bedeutung,  er  giebt  der  Dienstherrschaft  eines  wegen  Weidefrevels  rechtskräftig 
verurteilten  Hirten  das  Recht,  denselben  innerhalb  14  Tagen  von  der  rechts- 
kräftigen Verurteilung  an  ohne  vorgängige  Kündigung  zu  entlassen.  Titel  2 
des  Gesetzes,  §§53—61  betrifft  das  Verfahren,  Titel  3,  §§  62—66  die  Feld- 
und  Forsthüter,  Titel  4,  §§  67 — 88  Schadensersatz  und  Pfändung.  Strafrechtlich 
bedeutsam  für  die  Frage  der  Rechtswidrigkeit  ist  der  das  Pfandungsrecht  des 
Beschädigten  anerkennende  §  77.  Titel  5,  §§  89 — 97  Übergangs-  und  Schluss- 
bestimmungen. Vergl.  noch  preuss.  Ges.  über  gemeinschaftliche  Holzungen 
vom  14.  März  1881,  GS.  S.  261,  §  9.  —  17.  Die  §§  117—119  des  Strafgesetz- 
buches gewähren  den  Jagdbeamten,  den  Jagdberechtig^en,  so\*ie  den  von  diesen 
bestellten  Aufsehern  denselben  Strafschutz,  wie  den  Forstbeamten  u.  s.  w. 
S.  No.  15.  Auf  die  Verletzung  eines  fremden  Jagdrechtes  beziehen  sich  die 
§§  292—295  des  Strafgesetzbuchs;  §  368  No.  10  enthält  eine  jagdpolizeüiche 
Bestimmung  (unbefugtes  ambulari  cum  instrumentis  venatoriis).  Im  übrigen 
ist  der  Jagdschutz,  besonders  sofern  derselbe  sich  auf  die  Schonung  des  Wildes 
bezieht,  dem  Landesrechte  überlassen.  Preuss.  Jagdpolizeiges.  vom  7.  März 
1850,  GS.  S.  165,  §§  16— 20,  28,  29;  Preuss.  Ges.  über  die  Schonzeiten  des 
Wüdes  vom  26.  Februar  1870,  GS.  S.  120,  §§  5,  7;  §  6  Abs.  2,  3  (Abs.  1  durch 
das  Reichsvogelschutzgesetz  vom  22.  März  1888,  oben  §  20,  No.  1,  S.  42  ersetzt). 
Bayer.  Ges.,  betr.  die  Ausübung  der  Jagd  vom  30.  März  1850,  GBl.  1850/51, 
S.  117,  Art.  23  (Vei^stösse  gegen  die  Jagdordnung).  18.  Das  Berggesetz  für 
das  Königreich  Bayern  vom  20.  März  1869,  GBl.  1866/69,  S.  673  giebt  im 
Art.  199  den  Bergbehörden  für  den  Vollzug  des  Berggesetzes  die  sonst  den 
Polizeibehörden  zustehende  Befugnis  zur  Anwendung  von  Zwangsmitteln  und 
Androhung  und  Verhängung  von  Ungehorsamsstrafen.  Art.  206  erklärt  die 
Übertretung  des  Gesetzes,  sowie  der  in  demselben  vorgesehenen  Verordnungen 
und  oberpolizeilichen  Vorschriften  als  Übertretungen,  obgleich  die  Straf- 
drohungen das  Mass  der  reichsgesetzlichen  Übertretungsstrafen  zum  Teil  über- 
schreiten. Die  Strafdrohungen  sind  in  den  Art.  208 — 213  enthalten.  Nach 
Art.  214  soll  in  den  Fällen  der  Art.  208,  209,  211  und  212  die  Bergpolizei- 
übertretung auch  nach  dem  allgemeinen  Strafrechte  verfolgt  werden,  wenn 
die  That  nach  ihrem  Erfolge  unter  ein  Strafgesetz  fällt.  Diese  Bestimmung 
dürfte  jetzt  nur  mehr  dann  anwendbar  sein,  wenn  der  Erfolg  durch  ein  an 
die  Bergpolizeiübertretung  zwar  sich  anschliessendes,  aber  doch  selbständiges 
Thun  (StCfB.  §  74)  verui-sacht  \^'urde;  andernfalls  dürfte  §  73  des  Strafgesetz- 
buches der  Doppelbestrafung  im  Wege  stehen.*)  Vergl.  jetzt  auch  die  Straf- 
bestimmungen in  der  kaiserlichen  Verordnung,  betr.  das  Bergwesen  im  süd- 
westafrikanischen Schutzgebiet  vom  15.  August  1889,  RGBl.  S.  179,  §§  52  u.  53. 
Inbetreff  des  Bergstrafrechts  in  Preussen  vergl.  oben  §  45  I,  S.  96;  femer 
Gesetz  über  die  Bestrafung  unbefugter  Gewinnung  von  Mineralien  vom 
26.  März  1856,  GS.  S.  203,  §§  1—4;  Gesetz,  betr.  die  Bestrafung  der  un- 
befugten Aneignung  von  Bernstein  u.s.w.  vom  22.  Februar  1867,  GS.  S.  272, 
Art.  I— IV. 

Von  den  auf  den  Schutz  des  Staatseinkommens  abzielenden  Landes- 
strafbestimmungen  ist  von  besonderem  Interesse  das  bayerische  Gesetz  über 
den  Malzaufschlag  in  der  Fassung  des  Gesetzes  vom  8.  Dezember  1889,  GVBl. 
S.  600,  Art.  2:  „Unter  Malz  wird  alles  künstlich  zum  Keimen  gebrachte  Getreide 


^)  Auch   dem  Reichsgerichte   scheint   die  Kumulieriing   der   Strafen   in  Fällen 
dieser  Art  nicht  unbedenklich  zu  sein;  vergl.  Entsch.  X,  S.  393  Zeile  4  v.  u. 


§  46.    Der  Inhalt  des  Landesstrafrechts.  107 


verstanden."*)  Art.  7:  „Es  ist  verboten,  zur  Bereitung  von  Bier  statt  Malzes 
(Dörr-  oder  Luftmalzes)  StoflPe  irgend  welcher  Art  als  Zusatz  oder  Ersatz,  oder 
ungemälztes  Getreide  für  sich,  sowie  mit  ungemälztem  Getreide  gemischtes  Malz 
zu  verwenden.  Zur  Erzeugung  von  Braunbier  darf  nur  aus  Gerste  bereitetes 
Malz  verwendet  werden."  Die  Abteilung  II  dieses  Gesetzes  enthält  ein  Bierstraf- 
gesetzbuch mit  allgemeinem  (Titel  1)  und  besonderem  Teil  (Titel  2).  Straf- 
rechtlich interessant  sind  namentlich  die  folgenden  Bestimmungen.  Art.  50: 
Dife  Vorschriften  des  Gesetzes  über  strafbare  Handlungen  finden  auch  An- 
wendung auf  strafbare  Unterlassungen.  (Dem  Art.  5  des  bayer.  StGB,  von 
1861  nachgebildet.)  Nach  Art.  51  finden  die  Bestimmungen  des  Gesetzes 
gleichmässig  auf  vorsätzliche  wie  auf  fahrlässig  begangene  Handlungen  An- 
wendung; bei  Anstiftern  und  Gehülfen  ist  aber  die  Absicht,  das  (iefäll  zu 
verkürzen  oder  zu  gefährden,  Bedingung  der  Strafbarkeit.  Die  in  einem  auf- 
schlagpflichtigen Betriebe  oder  bei  dem  Betriebe  einer  Malzmühle  verwendeten 
Personen  sind  nur  strafbar,  wenn  sie  gegen  ein  ausdrückliches  Verbot  des 
Betriebsberechtigten  oder  gegen  besondere  Aufträge  desselben  gehandelt  haben. 
In  diesem  Falle  haftet  der  Betriebsberechtigte  nicht;  in  allen  andern  Fällen 
haftet  dieser  allein.  Art.  52,  Abs.  1.  Der  Abs.  3  dieses  Artikels  enthält 
eine  strafrechtliche  Merkwürdigkeit.  Ist  eine  Malzmühle  im  Besitze  einer 
politischen  Gemeinde,  so  haftet,  nicht  etwa  subsidiär,  sondern  primär  als  das 
strafrechtlich  verantwortliche  Subjekt  —  die  Gemeindekasse.  Die  Gemeinde 
wird  angeklagt.^)  Erachtet  man  die  Genossenschaft  für  eine  wirkliche  Person 
und  nicht  bloss  für  eine  zu  praktischen  Zwecken  und  dann  in  der  Voi'stellung 
und  Ausdrucksweise  erfolgende  Zusammenfassung  einer  Anzahl  leibhaftigem* 
Menschen,  so  wird  man  an  solchen  Bestimmungen  nichts  Auffälliges  finden. 
Vergl.  Gierke,  Die  Genossenschaftstheorie  und  die  deutsche  Rechtsprechung. 
Berlin  1887,  S.  771 — 784.  Dem  deutschen  Strafrechte  ist  aber  die  Vorstellung 
der  Bestrafung  juristischer  Personen  keine  geläufige  und  gewohnte.  Die  Körper- 
schaft an  sich  ist  als  willenloses  Wesen  nicht  fähig,  eine  unerlaubte  Handlung 
zu  begehen.*)  —  Art.  53  des  bayerischen  Malzaufschlaggesetzes  behandelt  die 
auch  in  Reichsgesetzen  (s.  oben  §  28  II  S.  54  a.  E.,  S.  55)  mehrfach  vor- 
kommende Übertragung  der  strafrechtlichen  Verantwortlichkeit.  Die  schriftliche 
Zustimmung  des  Oberaufschlagamtes  hat  die  Wirkung,  dass  die  volle  straf- 
rechtliche Verantwortlichkeit  von  dem  Betriebsberechtigten  auf  den  Pächter 
oder  Geschäftsführer  übergeht.  Art.  57  stellt  als  allgemeinen  Strafmilderungs- 
grund auf:  die  erhebliche  Minderung  der  Fähigkeit  der  Selbstbestimmung  oder 
der  zur  Erkenntnis  der  Strafbarkeit  nötigen  Urteilskraft.  Auch  die  Ab- 
teilung III,  betr.  den  Lokal-Malzaufschlag,  enthält  Straf bestimmungen.  Vergl. 
ferner  bayer.  Pol.-StGB.  Art.  136,  Verkauf  von  geschwefeltem  Hopfen  betr. 
Art.  69  des  Malzaufschlaggesetzes  bedroht  die  missbräuchliche  Benutzung  des 
Einschreibbuches;    Art.    77    des    Gesetzes    schränkt    auf   Gnind    der    Ermäch- 


^)  Vergl.  dazu  das  Erkenntnis  des  Reichs -Gerichts  in  Entsch.  Bd.  7  No.  94, 
das  sich  auf  den  übereinstimmenden  Art.  7  des  bayerischen  Gesetzes  vom  16.  Mai 
1868  über  den  Malzaufschlag  bezieht. 

*)  Auch  §  33  des  preussischen  Gesetzes  über  das  Mobiliar-Feuer-Versicherungs- 
wesen vom  8.  Mai  1837  bedroht  Versicherungsgesellschaften  unter  gewissen  Voraus- 
setzungen mit  Strafe.  Die  Bestimmung  im  §  17  des  Reichskrankenversicherungsgesetzes 
(siehe  oben  §  25,  II,  No.  1)  wird  als  Strafdrohung  gegen  Gemeinden  aufgefasst  (?). 
V.  Woedtke,  Krankenversicherungsgesetz,  4.  Aufl.  Berlin  1892,  Register  S.  292  unter 
„Strafe".  Das  Bedenken,  welches  in  der  Reichsgerichtsentscheidung  Bd.  18  No.  3 
(oben  §  43,  a.  E.  S.  92)  in  Bezug  auf  den  Strafprozess  gegen  die  Erben  eines  Schuldigen 
erhoben  wurde,  dürfte  auch  bei  einer  Anklage  gegen  Gemeinden  u.  s.  w.  zutreflFen. 

'^)  Motive  zu  dem  Entwurf  eines  bürgerlichen  Gesetzbuches  für  das  deutsche 
Reich.   Bd.  1.   Allgemeiner  Teil.   Amtliche  Ausgabe.    Berlin  und  Leipzig  1888.   S.  103. 


108  Deutsches  Reich.  —  Die  Landesstrafgesetzgebung'. 


tigung  in  §  2  des  Einf.-Ges.  zum  StGB,  die  Anwendbarkeit  der  allgemeinen 
Bestimmung  über  den  Betrug  —  StGB.  §  263  —  ein.  „Wer  im  Inlande  er- 
zeugtes Bier  zum  Zweck  der  Rückvergütung  des  Malzaufschlags  zur  Ausfuhr 
anmeldet,  während  in  den  Gefässen,  welche  angeblich  das  Bier  enthalten 
sollen,  kein  Bier  oder  solches  in  geringerer,  als  in  der  angemeldeten  Menge 
sich  befindet,  oder  wer  einen  höhern  als  den  durch  die  Verordnung  bestimmten 
Rückvergütungssatz  beansprucht,  ist  auf  den  zehnfachen  Betrag  der  Rück- 
vergütung, welche  er  sich  widerrechtlich  zu  verschaffen  sucht,  zu  bestrafen." 
Ausserdem  Ersatz.     Eigenartige  Rückfallsstrafe,  Art.  79. 

Auch  die  sonstigen,  auf  Gewinnung  von  Staats-  und  Kommunaleinkommen 
abzielenden  Gesetze^)  stellen  die  von  ihnen  ausgeprägten  Handlungs-  und 
Leistungspflichten  unter  den  Strafschutz,  dessen  Umfang  und  Rücksichtslosigkeit 
vielfach  nicht  im  richtigen  Verhältnisse  zu  dem  konkreten  Verschulden  stehen 
dürften.  Die  Nichtberücksichtigung  der  Rechtsunkenntnis  führt  im  Finanz- 
strafrechte zu  besonders  abstossenden  Resultaten.  Die  Behauptung  dürfte 
kaum  zu  gewagt  sein,  dass  die  grundsätzliche  Zurückweisung  des  sogenannten 
Irrtums  über  das  Strafgesetz  neuerdings  eine  besondere  Anregung  und  Be- 
lebung von  Seiten  des  Finanzstraf  rechts  erhalten  hat.-)  Das  preussische  Erb- 
schaftssteuergesetz  vom  30.  Mai  1873,  in  der  Fassung  des  Gesetzes  vom  24.  Mai 
1891,  GS.  S.  78,  operiert  in  dem  für  die  hohenzollernschen  Lande  und  Lauen- 
burg abgeänderten  §  46  mit  dem  Gedanken  einer  Inhaberstrafe.  Die  Strafe 
kann  gegen  jeden  Inhaber  einer  Urkunde  verfolgt  werden,  auf  welcher  sich 
kein  Vermerk  über  die  Entrichtung  der  Steuer  findet,  vorbehaltlich  des  Rück- 
griffs gegen  den  Aussteller.  Bemerkenswert  ist  die  Einräumung  eines  Straf- 
milderungsrechtes an  die  Regierungsbehörden^)  im  preussischen  Einkommensteuer- 
gesetz vom  24.  Juni  1891,  GS.  S.  175  und  im  preussischen  GcAverbesteuergesetz 
vom  24.  Juni  1891,  GS.  S.  205 ;  strafrechtlich  besonders  bemerkenswert  sind  sodann 
die  Strafbestimmungen  gegen  die  bei  der  Steuerveranlagung  beteiligten  Personen 
wegen  Verletzung  des  Berufsgeheimnisses.  Nach  §  69  des  Einkommensteuergesetzes 
findet  die  Verfolgung  nur  auf  Antrag  der  Regierung  oder  des  betroffenen 
Steuerpflichtigen  statt.  Nach  §72,  Abs.  2  des  Gewerbesteuergesetzes  tritt  die 
Strafverfolgung  nur  auf  Antrag  ein  und  muss  stattfinden,  insofern  der  durch 
die  Verletzung  des  Geheimnisses  betroffene  Steuerpflichtige  dieselbe  unter  Dar- 
legung des  Sachverhalts  beansprucht  und  nicht  Rücksichten  öffentlichen 
Wohles  entgegenstehen.  Für  die  Stellung  des  Antrages  gegen  Vorsitzende 
und  Mitglieder  der  Steuerausschüsse  der  Klasse  I  und  gegen  deren  Stell- 
vertreter ist  der  Finanzminister,  im  übrigen  die  Bezirksregierung  zuständig. 
Die  preussische  Gesetzgebung  dürfte  sich  durch  diese  Bestimmung  mit  dem  §  11 
des  Einführungsgesetzes  zum  Gerichtsverfassungsgesetz  in  Widerspruch  gesetzt 
haben.  Das  Reichsrecht  will,  wenigstens  grundsätzlich  nicht,  dass  Erwägungen 
des  öffentlichen  Wohles  für  die  Frage  der  Strafverfolgung  massgebend  sind;  die 
Ausnahmen  hat  es  selbst  bestimmt.  Die  preussische  Gesetzgebung  kann  auf 
ihrem  Gebiete  die  Strafverfolgung  von  Stellung  eines  Antrages  des  Verletzten 
abhängig  machen;  das  preussische  Recht  darf  aber  nicht  durch  Übertragung 
der  Antragstellung  auf  die  vorgesetzten  Behörden  der  Beschuldigten  die  vom 


*)  So  namentlich  Gesetze  über  Grund-  und  Gebäudesteuer,  Einkommen-,  Kapital- 
renten-, Gewerbesteuer,  Besteuerung  des  Gewerbebetriebes  im  Umherziehen  (Wander- 
gewerbebetrieb j,  Hundesteuer,  Erbschaftssteuer,  Gebührengesetze,  Stempelgesetze  u. s.w. 

-)  Eine  seltene  Ausnahme  z.  B.  im  bayer.  Gesetze  über  das  Gebührenwesen 
vom  18.  August  1879,  GVBl.  S.  903,  Art.  270,'  wo  dem  Rechtsirrtum  Rechnung  ge- 
tragen ist. 

^)  Wer  auf  gerichtliche  Entscheidung  anträgt,  begiebt  sich  der  Aussicht  auf 
Strafmilderung  durch  die  Verwaltungsbehörden. 


§  47.    Litteratur  und  Praxis.  109 


Reichsrechte  abgelehnte  administrative  Erwägung  über  die  ZweQkmässigkeit 
einer  Strafverfolgung  wieder  einführen.  Die  Gültigkeit  der  Bestimmung  des 
§  72  Abs.  2  des  Gewerbesteuergesetzes  dürfte  zu  beanstanden  sein. 


Anhang. 

§  47. 

Litteratur  und  Prazü. 

Hinsichtlich  der  Litteratur  des  deutschen  Strafrechts  wird  vor  allem  auf  die 
Zusammenstellung  verwiesen,  welche  Binding  in  dem  Grundriss  des  Gemeinen 
deutschen  Straf  rechts,  4.  verbesserte  Auflage,  Leipzig  1890,  S.  43—51,  gegeben  hat. 

I.  Bis  in  die  Mitte  des  laufenden  Jahrhunderts  unternahm  es  die  deutsche 
Rechtswissenschaft,  das  Strafrecht  auf  dem  Boden  der  alten  gemeinrechtlichen  Quellen 
darzustellen.  1.  Für  die  Auffassung  und  Darstellung  des  deutschen  Strafrechts  am 
Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  mag  besonders  in  Betracht  kommen :  Johann  Christian 
Edlen  von  Quistorps  Grundsätze  des  deutschen  peinlichen  Rechts.  (Oft  aufgelegt.) 
6.  Aufl.  2  Teile.  Deutschland  1796.  2.  Auf  durchaus  anderem  Boden  steht  schon: 
Karl  von  Grolman,  Grundsätze  der  Kriminalrechtswissenschaft,  zuerst  Giessen 
1798.  4.  Aufl.  Giessen  1825.  —  Anselm  v.  Feuerbach,  Lehrbuch  des  gemeinen  in 
Deutschland  gültigen  peinlichen  Rechts.  1.  Aufl.  Giessen  1801;  bis  zur  11.  (1882) 
noch  von  Feuerbach  selbst  besorgt;  nach  dessen  Tod  (29.  Mai  1838)  noch  dreimal, 
zuletzt  1847  in  14.  Aufl.  von  Mittermai  er  herausgegeben.  —  C.  G.  Wächter,  Lehr- 
buch des  Römisch-Teutschen  Strafrechts.  Grundriss  mit  vortrefflichen  Quellen-  und 
Litteraturangaben,  sowie  grösseren  und  kleineren  Erörterungen.  2  Teile.  Stuttgart 
1825, 1826.  —  Ed.  Henke,  Handbuch  des  Kriminalrechts  und  der  Kriminalpolitik.  4  Teile. 
Berlin  1828  —  1888  (1.  Allgemeiner  Teil,  2.,  3.  Spezieller  Teil,  4.  Kriminalprozess.)  — 
A.  W.  Heffter,  Lehrbuch  des  gemeinen  deutschen  Strafrechts  mit  Rücksicht  auf 
ältere  und  neuere  Landesrechte  zuerst  1833;  6.  Aufl.  Braunschweig  1857.  —  Klein- 
schrod,  Systematische  Entwickelung  der  Grundbegriffe  und  Grundwahrheiten  des 
peinlichen  Rechtes.  Dritte  Ausgabe,  3  Teile.  Erlangen  1805.  —  Feuerbach,  Revision 
der  Grundsätze  und  Grundbegriffe  des  gesamten  peinlichen  Rechts.  2  Bde.  Erfurt 
und  Chemnitz  1799/1800. 

II.  H.  Luden,  Handbuch  des  teutschen  gemeinen  und  partikularen  Straf  rechts. 
1.  und  einziger  Band.  Jena  1842.  —  R.  Köstlin,  Neue  Revision  der  Grundbegrifl'e 
des  Kriminalrechts.  Tübingen  1845.  —  C.  Reinhold  Köstlin,  System  des  deutschen 
Strafrechts.  1.  Abteilung.  Allgemeiner  Teil.  Tübingen  1855  (unvollendet).  —  A.  F. 
Berner,  Lehrbuch  des  deutschen  Strafrechts.  1.  Aufl.  Leipzig  1857.  (Jetzt  in  16.  Aufl. 
unten  III  No.  1).  —  G.  Geib,  Lehrbuch  des  deutschen  Strafrechts.  Leipzig  1861  und 
1862.  1.  Bd.  Geschichte.  2.  Bd.  System:  Allgemeine  Lehren.  (Vortrefflich  brauchbares 
Buch  mit  reichen  Quellenangaben  und  Quellenauszügen;  leider  unvollendet.) 

III.  Litteratur  des  heutigen  Reichsstrafrechts:  1.  Handbuch  des  deutschen 
Strafrechts  in  Einzelbeiträgen,  herausgegeben  von  Fr.  vonHoltzendorf,  3  Bde. 
Berlin  1871  —  1874.  Alphabetisches  Sachregister  1874.  Ergänzimgsband  1877.  — 
Hälschner,  Das  gemeine  deutsche  Strafrecht  systematisch  dargestellt.  Bonn  18S1 
bis  1887.  2  Bde.,  der  2.  in  2  Abteilungen.  —  von  Bar,  Handbuch  des  deutschen  Straf- 
rechts. 1  Bd.  Geschichte  des  deutschen  Strafrechts  und  der  Strafrechtstheorieen. 
Berlin  1882.  —  Binding,  Handbuch  des  Strafrechts.  1.  Bd.  Leipzig  1885  (7.  Abt., 
1.  Teil,  1.  Bd.  des  systematischen  Handbuches  der  deutschen  Rechtswissenschaft.)  — 
Schütze,  Lehrbuch  des  deutschen  Straf  rechts  auf  Grund  des  RStGB.  2.  Aufl. 
Leipzig  1874,  (Anhang  von  Wanick  und  Villnow  1877.)  —  H.  Meyer,  Lehrbuch  des 
deutschen  Strafrechts.  4.  Aufl.  Erlangen  1888.  —  A.  Merkel,  Lehrbuch  des  deutschen 
Strafrechts.  Stuttgart  1889.  —  von  Liszt,  Lehrbuch  des  deutschen  Strafrechts. 
5.  Aufl.  Berlin  1892.  —  Berner,  Lehrbuch  des  deutschen  Strafrechts.  16.  Aufl. 
Leipzig  1891.  —  Geyer,  Grundriss  zu  Vorlesungen  über  gemeines  deutsches  Straf- 
recht. 2  Hälften.  München  1884,  1885.  —  R.  Löning,  Grundriss  zu  Vorlesungen 
über  deutsches  Strafrecht.  Frankfurt  a/M.  1885.  2.  Kommentare:  Strafgesetzbuch 
für  das  deutsche  Reich.  Mit  Kommentar  von  Dr.  Hans  Rüdorff,  4.  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  Praxis  des  Reichsgerichts  neubearbeitete  Auflage,  herausgegeben 
von  M.  Stenglein.  Berlin  1892.  —  J.  Olshausen,  Kommentar  zum  Strafgesetzbuch 
für   das   deutsche   Reich.      4.  Aufl.    Berlin   1892.   —   Oppenhoff,    Das   Strafgesetz- 


110  Deutsches  Reich.  —  Litteratur  und  Praxis. 


buch  für  das  deutsche  Reich  u.  s.  w.  12.  Aufl.  Berlin  1891.  —  von  Schwarze,  Kom- 
mentar zum  Strafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich.  5.  Aufl.  Leipzig  1884.  —  Rubo, 
Kommentar  über  das  Strafgesetzbuch  für  das  deutsche  Reich.    Berlin  1879. 

IV.  Hinsichtlich  des  besonderen  Reichsstrafrechts  und  des  Militärstraf  rechts 
wird  auf  die  zu  den  betreffenden  Paragraphen  angegebene  Litteratur  verwiesen. 

V.  Abhandlungen:  Luden,  Abhandlungen  aus  dem  gemeinen  teutschen  Straf- 
rechte. 2  Bde.  Göttingen  1836  und  1840.  —  H.  Seeger,  Abhandlungen  aus  dem 
Strafrechte.  2  Bde.  Tübingen  1858  und  1862.  —  R.  Köstlin,  Abhandlungen  aus 
dem  Strafrechte,  nach  dem  Tode  des  Verfassers  herausgegeben  von  Th.  Gessler, 
Tübingen  1858.  —  A.  Merkel,  Kriminalistische  Abhandlungen.  I.  Zur  Lehre  von  den 
Grundeinteilungen  des  Unrechtes  und  seiner  Rechtsfolgen.  Leipzig  1867.  IL  Die 
Lehre  vom  strafbaren  Betrüge.  1.  Abteil.  Die  Ent Wickelung  des  Thatbestandes. 
Leipzig  1877.  —  Otto,  Aphorismen  zu  dem  allgemeinen  Teile  des  Strafgesetzbuches 
für  das  deutsche  Reich.  Leipzig  1873.  —  A.  Geyer,  Kleinere  Schriften  strafrecht- 
lichen Inhaltes,  herausgegeben  von  Harburger.    München  1889. 

Binding,  Die  Normen  und  ihre  Übertretung,  eine  Untersuchung  über  die 
rechtmässige  Handlung  und  die  Arten  des  Delikts.  1  Bd.  1.  Abt.  Normen  und 
Strafgesetze.  Leipzig  1872;  2.  Bd.  Schuld  und  Vorsatz.  Mit  einem  Register  über 
beide  Bände.    Leipzig  1877.   2.  Aufl.     1.  Bd.  Normen  und  Strafgesetze.    Leipzig  1890. 

VI.  Zeitschriften:  Archiv  des  Kriminalrechts.  Halle  1799—1807;  Neues  Archiv. 
Halle  1816  —  1833;  Archiv  des  Kriminal  -  Rechtes ,  Neue  Folge.  Halle  1834—1857.  — 
Der  Gerichtssaal.  Erlangen  1849  ff.  Neue  Folge  1872  ff.;  erscheint  weiter.  —  Holtzen- 
dorff,  Allgemeine  deutsche  Strafrechtszeitung.  13  Bde.  Leipzig  1861  ff.  Seit  1874 
mit  dem  „Gerichtssaal"  verbunden.  —  Goltdammer,  Archiv  für  gemeines  deutsches 
und  preussisches  Strafrecht.  1871  ff.  Als  Bd.  19  des  Archivs  für  preussisches  Straf- 
recht fortgesetzt;  erscheint  weiter.  —  Stenglein,  Zeitschrift  für  Gerichtspraxis  und 
Rechtswissenschaft  in  Deutschland.  (Neue  Folge  der  Zeitschrift  u.  s.  w.  in  Bayern.) 
8  Bde.  1872—1879.  —  Zeitschrift  für  die  gesamte  Strafrechtswissenschaft,  zuerst  her- 
ausgegeben von  Dochow  und  v.  Liszt,  jetzt  von  v.  Liszt,  v.  Lilienthal  und 
Ben  necke;  erscheint  weiter.  —  Magazin  für  das  deutsche  Recht  der  Gegenwart, 
herausgegeben  von  Bödiker,  1  Bd.  Hannover  1881.  —  Zeitschrift  für  Internationales 
Privat-  und  Strafrecht  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Rechtsfhüle,  begründet 
und  herausgegeben  von  F.  Böhm.   Bd.  1.    1891;  erscheint  weiter. 

VII.  Entscheidungen  des  Reichs-Ober-Handels-Gerichts.  25  Bde.  Erlangen  1871 
bis  1880.  —  Entscheidungen  des  Reichsgerichts,  herausgegeben  von  den  Mitgliedern 
des  Gerichtshofes;  Entscheidungen  in  Strafsachen.  Seit  1880.  (Dezember  1892:  22  Bde., 
1  Heft.  General-Register  zum  1.— 12.  Bde.  Leipzig  1885,  zum  13. —  20.  Bde.  Leipzig 
1890.)  —  Rechtsprechung  des  deutschen  Reichsgerichts  in  Strafsachen,  herausgegeben 
von  den  Mitgliedern  der  Reichsanwaltschaft.  München  und  Leipzig  seit  1879.  10  Bde. 
Vom  19.  Bde.  der  Entscheidungen  des  Reichsgerichts  an  mit  diesen  vereinigt.  — 
Repertorium  zu  den  Erkenntnissen  des  Reichsgerichts  in  Strafsachen,  zugleich  als 
Register  der  Rechtsprechung  und  der  Entscheidungen,  herausgegeben  von  Zuerl. 
München  und  Leipzig.    3  Bde.    1882,  1885,  1889. 

VIII.  Die  Bearbeitungen  des  Straf  rechts  in  den  einzelnen  Bundesstaaten  vor 
dem  Strafgesetzbuche  für  das  deutsche  Reich  gehen  zunächst  von  dem  in  dem  Lande 
des  Verfassers  geltenden  Landesstrafrechte  (vergl.  oben  §  2)  aus,  greifen  aber  mehr 
oder  weniger  auf  das  alte  gemeine  Recht  und  auf  die  Strafgesetzgebung  anderer 
Länder  über.  Seit  der  Einführung  des  Reichsstrafgesetzbuches  bezieht  sich  der  Inhalt 
der  zunächst  für  die  einzelnen  Länder  bestimmten  Urteilssammlungen  und  Zeitschriften 
teils  auf  das  Reichsstrafrecht,  teils  und  zwar  vorzugsweise  auf  das  spezielle  Landes- 
strafrecht. Mit  Rücksicht  auf  die  Bedeutung,  welche  die  Landesstrafgesetzbücher  für 
den  Inhalt  und  die  Ausgestaltung  des  Reichsstrafgesetzbuches  gehabt  haben  —  siehe 
oben  §  4  S.  10  —  ist  auch  die  wichtigere  Litteratur  in  Bezug  auf  diese  Landesstraf- 
gesetzbücher erwähnt.  Die  Litteraturnachweise  sind  dann  aber  für  das  einzelne  Land 
bis  auf  die  heutige  Zeit  fortgesetzt.  Hinsichtlich  der  in  den  einzelnen  Ländern  vor- 
handenen Sammlungen  der  besonderen  Landesstratgesetze  wird  auf  die  Zusammen- 
stellung vor  §  46  verwiesen. 

1.  a)  Goltdammer,  Materialien  zum  Strafgesetzbuche  für  die  preussischen 
Staaten,  aus  den  amtlichen  Quellen  nach  den  Paragraphen  des  Gesetzbuches  zu- 
sammengCaStellt  und  in  einem  Kommentar  erläutert.  Berlin  1851  und  1852.  Unent- 
behrlich für  die  Erkenntnis  des  preussischen  und  mittelbar  des  deutschen  Straf- 
rechts. —  Hä Ischner,  Das  preussische  Strafrecht.  3  Teile.  Bonn  1855,  1858,  1868. 
1.  Teil:  Geschichte  des  brandenburgisch-preussischen  Strafrechts.  2.  Teil:  Allgemeiner 
Teil  des  Systems.  3.  Teil:  Erster  Abschnitt  des  besonderen  Teiles  des  Systems.  Un- 
vollendet; meistens  System  Teil  1  und  2  citiert.  —  Berner,  Grundsätze  des  preussi- 
schen Strafrechts.    Leipzig  1861.  —  Oppenhoff ,  Das  Strafgesetzbuch  für  die  preussi- 


^5  47.    Litteratur  und  Praxis.  Hl 


scheu  Staaten.  5.  Ausgabe.  Berlin  1867.  —  Goltdammer,  Archiv  des  preussischen 
Strafrechts.  Berlin  von  1853 — 1870  (Fortsetzung'  oben  VI !).  —  Entscheidungen  des  Ge- 
heimen Obertribunals.  83  Bde.  Berlin  1837—1879.  —  Oppenhoff,  Die  Rechtsprechung 
des  königl.  Obertribunals  in  Strafsachen.  20  Bde.  Berlin  1861—1879.  Jetzt:  Jahrbuch 
des  Kammergerichts  in  Strafsachen  von  Johow  und  Küntzel.  Berlin  seit  1881.  —  Bei- 
träge zur  Erläuterung  des  preussischen  Rechts  durch  Theorie  und  Praxis.  Unter 
Mitwirkung  mit  praktischen  Juristen  herausgegeben  von  J.  A.  Gruchot.  Hamm, 
später  Berlin  1857  —  1871.  Dann  Beiträge  zur  Erläuterung  des  deutschen  Rechts,  in 
besonderer  Beziehung  auf  das  preussische  Recht.  1872 — 1876;  von  1877  an  heraus- 
gegeben von  Rassow  und  Küntzel.    Mit  Registern.    Erscheint  weiter. 

b)  Archiv  für  das  Civil-  und  Kriminal -Recht  der  königl.  preussischen  Rhein- 
provinzen.   Köln  seit  1821,  erscheint  weiter. 

c)  Leonhardt,  Kommentar  über  das  Kriminalgesetzbuch  für  das  Königreich 
Hannover.  2  Bde.  Hannover  1846  und  1851.  —  Magazin  für  hannoversches  Recht. 
Göttingen,  später  Hannover  1851—1859.  Neues  Magazin.  Hannover  1860—1869.  — 
Zeitschrift  für  das  hannoversche  Recht.    Hannover  1869—1878. 

d)  Heusser,  Systematisches  Handbuch  des  kurhessischen  Straf-  und  Polizei- 
Rechts  mit  Einschluss  der  noch  gültigen  Strafbestimmungen  des  älteren  Fuldaer, 
Hanauer,  Mainzer,  Isenburger  und  Schaumburger  Rechts  und  der  Praxis  des  Ober- 
appellationsgerichts. Cassel  1853.  —  Strippelmann,  Neue  Sammlung  bemerkens- 
werter Entscheidungen  des  Oberappellationsgerichts  zu  Cassel.  Cassel  1842  —  1852. 
Heusser,  Bemerkenswerte  Entscheidungen  des  Kriminalsenates  des  Oberappellations- 
gerichts zu  Cassel.  Cassel  1845—1852.  —  Heusser,  Annalen  der  Justizpflege  und 
Verwaltung.    Cassel  seit  1854. 

e)  C.  von  Schirach,  Handbuch  des  Schleswig-Holsteinischen  Kriminalrechts 
und  -Prozesses  mit  einem  Vorworte  und  einigen  Anmerkungen  von  N.  Falck.  2  Bde. 
Altona  1828  und  1829. 

2.  Anmerkungen  zum  Strafgesetzbuch  für  das  Königreich  Bayern.  Nach  den 
Protokollen  des  königl.  geh.  Riites.  3  Bde.  München  1813,  1814;  s.  oben  §  2  S.  6.  — 
Kommentar  zum  Strafgesetzbuch  vom  10.  November  1861  von  C.  Fr.  von  Dollmann, 
nach  dessen  Ableben  von  Art.  76  an  fortgesetzt  von  C.  Risch.  2  Abteilungen.  Erlangen 
1868—1870.  —  C.  Hocheder,  Das  Strafgesetzbuch  für  das  Königreich  Bayern  vom 
10.  November  1861.  Kommentar.  l.Bd.  Allgemeiner  Teil.  München  1862.  —  M.  Steng- 
lein, Kommentar  über  das  Strafgesetzbuch  für  das  Königreich  Bayern  (1861).  2  Teile. 
München  1861,  1862.  —  M.  Stenglein.  Das  StGB,  für  das  Königreich  Bayern  vom 
10.  November  1861.  München  1869.  —  Sitzungsberichte  der  bayerischen  Strafgerichte, 
herausgegeben  von  der  Redaktion  der  Blätter  für  Rechtsan  wen  düng.  5  Bde.  mit  Re- 
gister. Erlangen  1850—1854.  —  Zeitschrift  für  Gesetzgebung  und  Rechtspflege  des  König- 
reichs Bayern.  Mit  Allerhöchster  Genehmigung  unter  Aufsicht  und  Mitwirkung  des 
königl.  Justizministeriums  herausgegeben.  13  Bde.  Erlangen  1854—1867.  —  Sammlung 
w^ichtiger  Entscheidungen  des  königl.  baverischen  Kassationshofes  (Fortsetzung  der 
Zeitschrift).  Erlangen  1868—1870  und  Register-Band  zugleich  über  Bd.  11—18  der  Zeit- 
schrift. —  Sammlung  von  Entscheidungen  des  obersten  Gerichtshofes  für  Bayern  in 
Gegenständen  des  Strafrechts  und  Strafprozesses.  9  Bde.  1872—1880.  —  Sammlung  von 
Entscheidungen  des  königl.  Oberlandesgerichts  München  in  Gegenständen  des  Straf- 
rechts und  Strafprozesses.  1.  Bd.  München  1882,  erscheint  weiten  —  Blätter  für  Rechts- 
anwendung zunächst  in  Bayern,  zuerst  herausgegeben  von  Johann  Adam  Seuffert 
und  Christian  Carl  Glück.  l.Bd.  1836;  erscheint  weiter.  —  M.  Stenglein,  Zeit- 
schrift für  Gerichtspraxis  und  Rechtswissenschaft.  Bd.  1—10.  München  1862—1871. 
Neue  Folge  siehe  oben  S.  110,  VI. 

3.  Krug,  Kommentar  zu  dem  Strafgesetzbuch  für  das  Königreich  Sachsen 
vom  11.  August  1855.  4  Abteil.  Leipzig  1855.  2.  Aufl.  2  Abteil.  Leipzig  1861.  — 
V.  Wächter,  Das  Königl.  Sächsische  und  das  Thüringische  Strafrecht.  Ein  Handbuch. 
Einleitung  und  allgemeiner  Teil.  Stuttgart  1857.  Ein  Meisterwerk,  von  dem  nur  zu 
bedauern  ist,  dass  es  nicht  fortgesetzt  wurde;  auch  der  allgemeine  Teil  ist  leider 
nicht  vollendet.  —  Schwarze,  Das  königl.  sächsische  revidierte  Strafgesetzbuch  vom 
1.  Oktober  1868.  —  Das  königl.  sächsische  Gesetz  vom  11.  August  1855,  die  Beschädigung 
von  F^isenbahnen  und  Telegraphen  betreflTend.  —  Das  Gesetz  vom  11.  August  1855, 
Die  Forst-  und  Feld- Diebstähle  betr.  Mit  Erläuterungen.  Leipzig  1868.  —  Jahr- 
bücher für  sächsisches  Strafrecht.  Herausgegeben  von  v.  Watzdorf  und  Siebdrat. 
Zwickau  1839.    Neue  Jahrbücher  für  sächsisches  Strafrecht.  Leipzig  1857—1881.  25  Bde. 

—  Annalen  des  königl.  sächsischen  Oberappellationsgerichts  zu  Dresden.  Leipzig  von 
1860  an,  8  Bde.    Neue  Folge  1866—1873.    10  Bde.    2.  Folge  6  Bde.    Leipzig  1874—1879. 

—  Annalen  des  königl.  sächsischen  Oberlandesgerichts  zu  Dresden.   Leipzig  seit  1880. 

—  Zeitschrift  für  Rechtspflege  und  Verwaltung  zunächst  für  das  Königreich  Sachsen. 
Leipzig  1838.    3  Bde.    Neue  Folge  von  1841  au. 


112  Deutsches  Reich.  —  Litteratur  uud  Praxis. 


4.  Hufnagel,  Das  Strafgesetzbuch  für  das  Königreich  Württemberg.  2  Bde. 
Stuttgart  1>*40  und  1W2,  3.  Bd.  184o  (Präjudizien,  Berichtigungen.  Znsatze».  —  Huf- 
nagel, Das  Strafgesetzbuch  für  das  Königreich  Württemberg  mit  erläuternden 
Anmerkungen,  vornehmlich  aus  der  Praxis  der  Gerichte.  —  Sarwey,  Monatschrift 
für  württ^mbergische  Justizpflege.  1837—1856.  —  Kübel  und  Sarwey,  Württem- 
bergi.^hes  Archiv  für  Recht  und  Rechtsverwaltung.  Stuttgart  1S5T—1*<>^. —  Gerichts- 
blatt, herausgegeben  von  Kübel.  Stuttgart  1857— 1><*<2.  —  Jahrbücher  der  württem- 
bergischen Rechtspflege.    Tübingen  von  18'<7  an. 

5.  W.  Thilo,  Die  Straf gesetzgebung  des  Grossherzogtums  Baden  nebst  dem 
Gesetz  über  die  Gerichtsverfassung  mit  den  Motiven  der  Regierung  und  den  Resul- 
taten der  Stände  Verhandlungen  im  Zusammenhange  dargestellt.  Karlsruhe  1845.  1  Abt. 
Strafgesetzbuch  von  1845.  —  Puchelt,  Das  Strafgesetzbuch  für  das  Grossherzogtum 
Baden  nebst  Abänderungen  und  Ergänzungen  mit  Erläuterungen.  Mannheim  1><B8. 
—  Annalen  der  grossherzoglich  badischen  Gerichte.  In  Verbindung  mit  anderen 
Rechtsgelehrten  des  Grossherzogtums  herausgegeben  von  Bekk  und  anderen.  Karls- 
ruhe 1833;  später  Mannheim;  jetzt  unter  Mitwirkung  der  Vorstände  und  Mitglieder 
des  grossherzoglichen  Oberlandesgerichts  und  anderen  herausgegeben. 

6.  Breidenbach,  Kommentar  über  das  grossherzoglich  hessische  Strafgesetz- 
buch (vom  18.  Oktober  1841 1  und  die  damit  in  Verbindung  stehenden  Gesetze  und 
Verordnungen  nach  authentischen  Quellen,  mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
Gesetzgebungswerke  anderer  Staaten,  namentlich  des  Königreichs  Württemberg  und 
des  Grossherzogtums  Baden.  Darmstadt.  Erster  Band,  1.  Abt.  1842,  2.  Abt.  1844  (nur 
den  allgemeinen  Teil  enthaltend).  Sammlung  der  Entscheidungen  des  grossherzoglich 
hessischen  Kassationshofes  in  Civil-  und  Strafsachen  vom  Jal^e  1842  an  (auch  ältere 
Urteile  enthaltend^  bis  1878. 

7.  Mecklenburgische  Zeitschrift  für  Rechtspflege  und  Rechtswissenschaft, 
herausgegeben  von  Budde,  Moeller  (Blanck)  und  Birkmeyer  seit  1881. 

8.  Archiv  für  die  Praxis  des  gesamten  im  Grossherzogtum  Oldenburg  gelten- 
den Rechts.  Oldenburg  1844  —  1869.  —  Zeitschrift  für  Verwaltung  und  Rechtspflege 
im  Grossherzogtum  Oldenburg.  Fortsetzung  der  vorigen  und  einer  auf  das  öffent- 
liche Recht  sich  beziehenden  Sammlung.    Oldenburg  von  1874  an. 

9.  Das  Kriminal-Gesetz-Buch  für  das  Herzogtum  Braunschweig.  Nebst  den 
Motiven  der  herzoglichen  Landesregierung  und  Erläuterungen  aus  den  ständischen 
Verhandlungen.  Braunschweig  1840.  —  Zeitschrift  für  Rechtspflege  im  Herzogtum 
Braunschweig,  herausgegeben  von  Gotthard  und  Koch  später  auch  Dedekind. 
Braunschweig  seit  1854.  —  Sammlung  der  vom  Kassationshofe  des  Herzogtums  Braun- 
schweig entschiedenen  Strafrechtfälle.    Wolfenbüttel  1853—1860. 

10.  Blätter  für  Rechtspflege  in  Thüringen  und  Anhalt,  von  Bd.  21  an  mit 
dem  Zusatz:  unter  Berücksichtigung  der  Reichsgesetzgebung  und  der  juristischen 
Litteratur.     Seit  1854. 

11.  Sammlung  der  Entscheidungen  des  Oberappellationsgerichtes  der  4  freien 
Städte  Deutsehlands  zu  Lübeck.  Herausgegeben  von  Kierulff.  Hamburg 
1866—1874. 

12.  Juristische  Zeitschrift  für  das  Reichsland  Elsass-Lothringen.  Strassburg 
und  Mannheim  1876—1881.  Mannheim  1882  fl".  —  Kayser,  Cbereicht  des  Sonderstraf- 
rechts von  Elsass-Lothringen  in  Holtzendorffs  Handbuch.  Ergänzungen.  Berlin 
1877.    S.  639-744. 


n. 


ÖSTERREICH-UNGARN. 


1.  Österreich. 

Von  Dr.  Karl  Hiller, 

Regierungsrat  und  ord.  Professor  der  Rechte 
ai»  der  Universität  Czernowitz. 


2.  Ungarn. 

Von  Dr.  Julins  v.  Wlassics, 

ord.  Professor  der  Rechte  an  der  Universität 
Budapest. 


Ötrafgesetzgebung  der  Gegenwart.   [. 


s 


Übersicht 

1«  Österreich« 

1.  Die  geschichtlichen  Grundlagen  des  österreichischen  Strafrechts.  §  1.  Die  Con- 
stitutio  criminalis  Theresiana  von  1768.  §  2.  Das  Josephinische  Strafgesetz 
von  1787.  §  3.  Das  westgalizische  Strafgesetz  von  1796.  §  4.  Das  Strafgesetz 
von  1803. 
II.  Die  gesetzlichen  Grundlagen  des  geltenden  Rechts.  §  5.  Die  Revision  des  Straf- 
gesetzes von  1803  und  das  Strafgesetz  von  1852.  §  6.  Das  Strafgesetz  von  18o2 
in  seinen  Grundzügen.  §  7.  Die  einzelnen  Verbrechen,  Vergehen  und  Über- 
tretungen. 

III.  §  8.    Das  Strafgesetz  für  Bosnien  und  die  Herzegowina. 

IV.  §  9.    Die  übrigen  Gesetze  strafrechtlichen  Inhaltes. 
V.  §  10.  Litteratur  des  österreichischen  Strafrechts. 

VI.  §  11.  Die  Reform  der  Strafgesetzgebung  und  die  Entwürfe  seit  1861. 

2«  Ung:arn. 

1.  Die  kodifikatorischen  Bestrebungen.  §  1.  Ihre  Vorgeschichte.  §  2.  Die  neueste 
Epoche  der  Kodifikation. 
II.  Das  geltende  Recht.  *?  3.  Die  ungarischen  Strafgesetze  und  ihre  Einteilung. 
§  4.  Einführung  der  ungarischen  Strafgesetzbücher.  §.  5.  Allgemeine  Charak- 
teristik der  Strafgesetzbücher.  §  6.  Spezielle  Charakterisierung  des  Straf- 
gesetzbuchs über  Übertretungen.  §  7.  Räumliches  und  persönliches  Geltungs- 
gebiet der  Strafgesetzbücher.  §  8.  Modifikationen  des  Strafgesetzbuches  über 
Verbrechen  und  Vergehen. 

III.  §  9.   Strafrechtliche  Sondergesetze. 

IV.  §  10.  Kommentare,  Monographieen,  Sammlungen  von  Gesetzen  und  Entscheidungen. 
V.  §11.  Das  Strafrecht  von  Kroatien-Slavonien. 


1.  Österreich. 

I.    Die  geschichtlicheii  Grnindlagen  des  österreichischen  Strafrechts. 

§  1.  Die  Constitutlo  erimlnalls  Theresiana  von  1768. 

Die  Grundlage  des  heute  geltenden  österreichischen  Strafrechts  bildet 
das  Strafgesetzbuch  vom  27.  Mai  18o2,  welches  in  seinen  Hauptzügen  wie  in  der 
Fassung  und  dem  legislativen  Ausdruck  vieler  Begrififöbestimmungen  noch  auf 
Kaiser  Joseph's  IL  „Allgemeines  Gesetz  über  Verbrechen  und  deren  Bestrafung" 
vom  13.  Januar  1787  zurückweist.  Mit  diesem  Gesetzbuche,  einem  typischen 
Werke  der  Aufklärungsperiode  des  18.  Jahrhunderts,  verliess  die  österreichische 
Gesetzgebung  auch  in  mancher  Beziehung  materiell  den  Boden  des  gemeinen 
deutschen  Rechtes,  aus  welchem  bis  dahin  die  P^inzelgesetzgebung  der  öster- 
reichischen Erblande,  wie  die  in  der  Absicht  ihrer  Unifizierung  erlassene 
Constitutio  criminalis  Theresiana  von  1768  erwachsen  war  und  ihre  beste 
Lebenskraft  geschöpft  hatte,  und  wandelte  nun,  völlig  abgeschieden  von  der 
deutschen  Gesetzgebung,  auch  bis  in  die  Mitte  unseres  Jahrhunderts  fast 
ausser  Kontakt  mit  der  deutschen  Strafrechtswissenschaft,  ihre  eigenen  Wege. 
Formell  war  allerdings  schon  durch  die  am  31.  Dezember  1768  publizierte 
Constitutio  criminalis  Theresiana  („oder  der  Römisch -kaiserl.  zu  Hungarn 
und  Böheim  usw.  Königl.  Apostol.  Majestät  Maria  Theresia,  Erzherzogin 
zu  Österreich  usw.,  peinliche  Gerichtsordnung"),  die  bis  dahin,  wie  allent- 
halben im  Reiche,  anerkannte  subsidiäre  Geltung  des  gemeinen  Rechtes, 
insbesondere  der  Carolina,  auch  auf  dem  Gebiete  der  österreichischen  Erb- 
lande beseitigt  und  an  die  Stelle  der  bis  dahin  in  den  einzelnen  Ländern 
geltenden  Landes-  und  Halsgerichtsordnungen  und  der  neben  ihnen  noch  be- 
stehenden Satzungen  und  Gewohnheiten  ein  in  seiner  Gesetzeskraft  auch  nur 
auf  diese  Erblande  beschränkter  gemeinsamer  Strafkodex  gesetzt  worden. 
Ihrem  Inhalte  nach  war  aber  die  Theresiana  ein  genaues  Abbild  des  gemeinen 
deutschen  Strafrechts  ihrer  Zeit,  ja  eine  —  erst  neuestens  gerechter  gewür- 
digte —  zumeist  gelungene  Durchbildung  der  gemeinrechtlichen  Wissenschaft 
jener  Periode,  welche  damals,  nachdem  Carpzow's  Autorität  schon  seit 
Dezennien  zu  verblassen  begann,  vorwiegend  von  J.  S.  F.  Böhmer  beherrscht 
und  geführt  wurde.  Die  kurz  zuvor  durch  Beccaria  (1764),  Voltaire  und 
andere  allenthalben,  in  ÖsteiTeich  namentlich  durch  Sonnenfels  entfesselte 
Bewegung  gegen  die  in  der  Strafrechtspflege  herrschenden  Missständc  (ins- 
besondere gegen  die  grausamen  Lebens-  und  Leibesstrafen)  konnte  den  kon- 
servativen Sinn  der  übrigens  schon  seit  1752  (mit  dem  ausdrücklichen  Auf- 
trage: „kein  neues,  sondern  nur  ein  gleiches  Recht  für  die  Erblande  zu 
schaffen")  arbeitenden  Gesetzeskommission  in  keiner  Weise  beeinflussen.  Trotz- 
dem ist  es  ein  schwerer  Irrtum,  die  Theresianische  Kodifikation  ihrem  inneren 

8* 


116    Österreich.  —  Die  g-eschicht liehen  Gmndlag'eii  des  österreichischen  Strafrechts. 


Werte  nach  auf  gleiche  Linie  mit  dem  Codex  juris  Bavarici  eriminalis  von 
1751  zu  stellen,  ein  Irrtum,  der  so  lange  währte,  als  man  die  erstere  weder 
in  Österreich  selbst  noch  ausserhalb  desselben  gehörig  würdigte. 

Beiden  Gesetzen  —  und  darin  sind  sie  denkwürdig  und  massgebend  für 
die  ganze  Entwickelung  des  deutschen  und  österreichischen  Strafrechts  ge- 
blieben —  ist  gemeinsam  das  Heraustreten  aus  dem  Verbände  des  gemeinen 
deutschen  Rechtes.  Wie  durch  den  Codex  Bavaricus  von  1751  für  das  Kur- 
fürstentum Bayern,  so  wurde  1768  durch  die  Theresiana  auf  dem  Gebiete  der 
österreichischen  Erblande  das  gemeine  Recht  auch  als  subsidiäres  Recht  völlig 
aufgehoben  und  fortan  nur  das  neue  Gesetz  als  alleinige  Grundlage  der  Straf- 
rechtsordnung erklärt. 

Dazu  kommt  noch  für  die  Theresiana  der  nicht  minder  bedeutungsvolle 
Umstand,  dass  ihr  als  Hauptaufgabe  gesetzt  war,  die  Land-  und  Halsgerichts- 
ordnungen der  einzelnen  Erblande  zu  kombinieren  und  an  ihre  Stelle  ein 
denselben  gemeinsames,  auf  fester  gesetzlicher  Basis  stehendes  Strafrecht  zu  setzen. 
Wurde  so  der  Partikularismus  im  eignen  Körper  der  Erblande  überwunden ^  so 
war  aber  auch  mit  der  formellen  Absage  vom  gemeinen  Rechte  dem  damit 
eigentlich  erst  geschaffenen  österreichischen  Strafrechte  für  die  Zu- 
kunft der  Charakter  des  partikulären  gegenüber  jenem  (gemeinen  Rechte)  entzogen 
und  das  für  die  Erblande  nunmehr  einheitliche  Recht  als  ein  jetzt  losgetrennter 
Zweig  des  alten  gemeinrechtlichen  Stammes  selbständig  neben  diesen  gestellt. 
Damit  war  das  \'erhältnis  des  gemeinen  deutschen  zum  österreichischen  Straf- 
recht für  alle  Folgezeit  besiegelt  und  dieses  seiner  ganz  isolierten  Fortbildung 
anheimgegeben.  Die  meisten  und  selbst  die  hervorragendsten  österreichischen 
kriminalistischen  Schriftsteller  bis  gegen  1860  hielten  auch  getreu  und  fast 
ängstlich  an  diesem  Abschluss  nach  aussen  fest,  nahmen  eine  von  der  gemein- 
rechtlichen Doktrin,  der  Gesetzgebung  und  Praxis  der  übrigen  Staaten  ge- 
schiedene Richtung  ein  und  konnten  so  von  jener  weder  Einfluss  noch  Förde- 
rung empfangen.  Dass  übrigens  das  österreichische  Recht  auch  fernerhin 
genug  Berührungspunkte  mit  der  gemeinrechtlichen  Strafrechtswissenschaft 
gehabt  hätte,  beweist  der  Inhalt  der  Theresianischen  Halsgerichtsordnung  und 
ihrer  positivrechtlichen  Grundlagen,  d.  i.  der  Land-  und  lialsgerichtsordnungen 
der  österreichischen  Erblande,  insbesondere  der  Landgerichtsordnung  Fer- 
dinands UI.  von  1656  für  Österreich  unter  der  Enns  und  der  peinlichen  Hals- 
gerichtsordnung Joseph  I.  von  1707  für  Böhmen,  Mähren  und  Schlesien,  welche 
fast  ausschliesslich  die  quellenmässige  Basis  der  Theresiana  bilden.  Die  Fer- 
dinandea  von  1656  schliesst  sich  vielfach  zum  Teile  wörtlich  an  die  Carolina 
an,  in  Härte  und  Grausamkeit  der  Lebens-  und  Leibesstrafen  sie  noch  über- 
bietend, und  bestätigt  ausserdem  „die  Anordnungen  der  gemeinen  Rechte" 
ausdrücklich  als  ergänzendes  Recht  (Art.  99);  ebenso  die  Josephina  von  1707 
(Art.  II,  §  3,  femer  Art.  XIX,  §  46),  welche  noch  besonders  betont,  dass  „die 
Richter  in  Kaiser  Karl  V.  peinlicher  Gerichtsordnung  wohlerfahrene  Leute 
seien".  —  Wollte  nun  aber  die  Theresiana  das  in  den  Erblanden  geltende 
Recht  zu  einer  einheitlichen  Kodifikation  zusammenfassen,  so  musste  in  die- 
selbe, wenn  das  subsidiär  geltende  gemeine  Recht  in  Zukunft  ausgeschlossen 
sein  sollte,  auch  dasjenige  Material  aufgenommen  werden,  welches  bis  dahin 
das  Supplement  der  österreichischen  Partikularrechte  gebildet  hatte.  So  ist 
es  gekommen,  dass  die  Theresianische  Halsgerichtsordnung  mehr  als  irgend 
eine  Kodifikation  des  18.  Jahrhunderts  den  Stempel  des  bis  zum  Zeitpunkte 
ihrer  Publikation  bestandenen  gemeinen  Rechtes,  wie  es  namentlich  durch  die 
herrschende  gemeinrechtliche  Doktrin  dieser  Epoche  gebildet  war,  nur  mit  den 
eben  überall  vorhandenen  partikulären  Modifikationen  an  sich  trägt,  ebenso 
wie  der  Codex  eriminalis  Bavaricus  die  gemeinreclitliche  Doktrin   und  Praxis 


§  2.    Das  Josephinische  Strafgesetz  von  17^7.  117 


auf  Gmnd  ihrer  partikulären  Durchbildung  bis  1751  in  Bayern  darstellt. 
Dadurch  sind  beide  Kodifikationen  nicht  nur  für  das  selbständige  Landesrecht, 
das  sie  schufen,  sondern  auch  für  die  Geschichte  des  gemeinen  Rechtes  von 
grossem  Werte  und  für  dessen  Verständnis  von  nicht  zu  unterschätzender  Be- 
deutung. Zu  beklagen  war  dabei  nur,  dass  hiermit  für  Österreich  (ebenso  wie 
1751  für  Bayern)  ein  Standpunkt  der  gemeinrechtlichen  Doktrin  und  Praxis 
fixiert  wurde,  über  den  man  in  dem  grössten  Teile  des  übrigen  Deutschland 
gerade  im  Hinweggehen  war,  ganz  abgesehen  von  dem  Missstande  der  vollen 
Losreissung  dieser  grossen  Gebiete  aus  dem  gemeinrechtlichen  Verbände. 

Trotzdem  hat  die  verbreitete  Meinung,  dass  die  Theresiana  keinen  Fort- 
schritt, sondern  in  vielfacher  Beziehung  einen  Rückschritt  im  Vergleiche  zur 
Carolina  bedeute,  nur  ihre  Richtigkeit  betreffs  des  grausamen  Strafensystems. 
In  manchen  treiflichen,  mit  Sorgfalt  redigierten  Bestimmungen  tritt  entschieden 
eine  schon  durchschimmernde  mildere  Gesittung  und  eine  geläuterte  Rechts- 
anschauung hervor.  Diese  vereinzelten  Lichtpunkte  überwuchert  freilich  die 
Weitläufigkeit  und  Ungeschicklichkeit  der  gesamten  legislativen  Arbeit  und 
ausser  dem  Terrorismus  des  Strafensystems  auch  noch  die  Beibehaltung  mancher 
damals  schon  vielfach  in  desuetudinem  gekommenen  Verbrechen ,  wie  z.  B. 
Hexerei  und  Zauberei,  ebenso  aber  auch,  was  uns  hier  zunächst  nicht  angeht, 
die  Beibehaltung  der  Folter  für  den  Strafprozess.  Zum  erstenmale  kommt  in 
diesem  Gesetzbuche  das  richterliche  Milderungsrecht  zur  legislativen  Erwähnung, 
ja  es  ist  das  ausserordentliche  Milderungsrecht  der  (ierichte  in  der  öster- 
reichischen Gesetzgebung  zum  erstenmale  statuiert  und  seitdem  zum  Segen  der 
späteren  Rechtssprechung  auch  Rechtens  geblieben.  Um  gegenüber  der  Aus- 
schliessung der  subsidiären  Geltung  des  gemeinen  Rechtes  doch  die  Aus- 
füllung etwaiger  Lücken  des  positiven  Rechtes  zu  ermöglichen,  ist  die  Ana- 
logie als  rechtliche  Grundlage  der  Bestrafung,  also  auch  was  die  Strafbarkeit 
im  Gesetze  nicht  enthaltener  Verbrechen  betrifft,  zugelassen. 

§  2.  Das  Josephinisclie  Strafgesetz  von  17S7. 

Der  Gedanke  der  Rechtseinheit  für  die  Erblande  wurde  indes  kurze  Zeit 
nach  Publikation  der  Theresiana  schon  im  Jahre  1787  von  Kaiser  Joseph  IL 
in  der  ihm  eigenen  energischen  und  durchdringend  reformatorischen  Weise 
erfasst  und  in  dem  in  diesem  Jahre  erlassenen  allgemeinen  Strafgesetze  über 
Verbrechen  und  deren  Bestrafung  mit  der  ausgesprochenen  Geltung  für  das 
ganze  Reich  (in  Ungarn  und  seinen  Nebenländem,  sowie  in  Siebenbürgen 
konnte  es  jedoch  nie  Geltung  erlangen)  realisiert.  Wie  schon  eingangs  hervor- 
gehoben, ist  mit  diesem  Gesetzbuche  dem  österreichischen  Strafrecht  sein 
spezifischer  Charakter  für  die  ganze  Folgezeit  aufgeprägt  worden,  wenngleich 
auch  der  Grundtypus  dieses  dem  Rationalismus  der  Aufklärungszeit  en^ 
sprossenen  Gesetzes  deutlich  den  Zusammenhang  erkennen  lässt,  welchen  es 
mit  den  geläuterten  Anschauungen  sowohl  der  seit  der  Theresiana  fort- 
geschrittenen gemeinrechtlichen  Doktrin,  als  auch  mit  manchen  Hauptzügen 
der  damals  allerdings  noch  in  voller  Gährung  begriffenen  kriminalpolitischen 
Strömung  aufweist.  Schon  die  bekannte  Resolution  der  Kaiserin  Maria  Theresia 
vom  2.  Januar  1776,  welche  die  Folter  aufliebt,  insbesondere  aber  die  Re- 
solution vom  17.  Februar  1777  sprach  bereits  das  Programm  der  ins  Werk 
zu  setzenden  Strafreform  aus.  (Die  übrigen  Strafnovellen  Maria  Theresias 
und  Joseph's  IL  sind  minder  bedeutend.)  Die  Grundzüge  derselben  bestanden 
in  der  Konstruktion  von  Ersatzstrafen  für  die  Todesstrafe,  welche  diese  an 
Abschreckung  noch  überbieten  sollten  und  in  neuen  für  das  spätere  materielle 
Fortkommen    der   Sträflinge    nutzbringenden    Arbeitsstrafen.     Das    Gesetzbuch 


118    Österreich.  —  Die  geschichtlichen  Grundlagen  des  österreichischen  Strafrechts. 


selbst  unterscheidet  sich  von  seinen  Vorgängern  formell  schon  dadui'ch,  dass 
es  zum  erstenmale  das  materielle  Strafrecht  allein  umfasste,  während  der 
Prozess  einem  eigenen  Gesetze  (der  Kriminalgerichtsordnung  von  1788)  über- 
lassen bleibt.  Aber  noch  in  viel  höherem  Grade  steht  das  Josephinische 
Gesetzbuch  materiell  im  schärfsten  Gegensatze  zur  Theresiana.  Als  seine 
Hauptziele  bezeichnet  das  Gesetz  selbst:  der  strafenden  Gerechtigkeit  durch 
ein  allgemeines  Gesetz  eine  bestimmte  Richtung  zu  geben,  bei  Verwaltung 
desselben  alle  Willkür  zu  entfernen,  zwischen  Kriminal-  und  politischen  Ver- 
brechen und  Strafen  das  billige  Ermessen  zu  bestimmen  und  die  letzteren 
^nach  einem  Verhältnis  zu  bestimmen",  damit  ihr  Eindruck  nicht  bloss  vorüber- 
gehend sein  möge.  In  der  That  war  die  Sonderung  des  kriminellen  und 
polizeilichen  Unrechtes,  wie  sie  in  dem  Gesetzbuche  mit  der  Unterscheidung 
von  Kriminalverbrechen  und  politischen  Verbrechen  hervortritt,  für  die  damalige 
Zeit  und  für  das  gesamte  künftige  österreichische  Strafrecht  von  grund- 
legender Bedeutung.  Nicht  als  ob  damit  für  diese  in  der  Theorie  heute  noch 
schwankende  Frage  zur  damaligen  Zeit  viel  geleistet  worden  wäre  (war 
doch  unter  den  politischen  Verbrechen  eine  Menge  von  Fällen  rein  kriminellen 
Unrechtes);  das  Verdienst  bestand  vielmehr  darin,  wirklich  die  schweren  alten 
„peinlichen  Fälle"  von  den  leichteren  Delikten  zu  scheiden,  wobei  letztere 
allerdings  den  politischen  Behörden,  d.  h.  den  Polizeibehörden  zur  Bestrafung 
zugewiesen  wurden.  Um  aber  bei  der  Ausübung  der  Strafjustiz  alle  Willkür 
zu  beseitigen,  wurde  jede  richterliche  Strafausmessung,  die  sich  an  die  indivi- 
duellen Umstände  des  Straffalles  anpassen  könnte,  für  unzulässig  erklärt  und 
in  schroffer  Übertreibung  jenes  an  sich  richtigen  Bestrebens  die  buchstäbliche 
Auslegung  und  Anwendung  des  neuen  Gesetzes  dui'ch  das  Gericht  der  erstc^n 
Instanz  zur  absoluten  Vorschrift  erhoben.  Charakteristisch  für  dieses  Gesetz 
ist  der  gänzliche  Ausschluss  der  Todesstrafe  (für  das  ordentliche  Verfahren) 
und  die  Ersetzung  derselben  durch  ein  System  der  grausamsten  und  härtesüm 
Freiheits-,  Leibes-  und  Arbeitsstrafen.  Die  Bestrafung  nach  Analogie  wurde 
gesetzlich  verboten  und  der  von  da  ab  im  österreichischen  Strafrecht  wie  in 
der  modernen  Kriminalgesetzgebung  allgemein  geltende  Satz  aufgestellt,  dass 
nur  diejenigen  Handlungen  bestraft  werden  dürfen,  welche  das  Gesetz  aus- 
drücklich als  strafbar  erklärt.  Die  kurze  und  knappe  Sprache  des  Gesetzes, 
welche  freilich  wieder  in  vielen  mangelhaften  Begriffsbestimmungen  ihre  Kehr- 
seite fand,  stellte  das  Josephinische  Gesetz  nicht  nur  in  entschiedenen  Gegen- 
satz zu  der  Breitspurigkeit  und  Weitläufigkeit  der  Theresiana,  sondern  bildete 
auch  so  den  Ausgangspunkt  einer  neuen  österreichischen  Kodifikation,  welche 
in  Form  und  Fassung  für  das  östen'eichische  Strafrecht  massgebend  ge- 
blieben ist. 

Das  Gesetzbuch  zerfällt  in  zwei  Teile.  Der  erste  handelt  von  Kriminal- 
verbrechen und  Ki'iminalstrafen  und  enthält  in  Kap.  1,  2  und  7  die  allgemeinen 
Bestimmungen,  in  Kap.  3 — 6  die  einzelnen  Kriminalverbrechen.  Desgleichen 
umfasst  der  zweite  Teil ,  von  den  politischen  Verbrechen  und  politischen 
Strafen  handelnd,  in  Kap.  1  und  2  die  allgemeinen  Bestimmungen,  in  Kap.  3 — 5 
die  einzelnen  politischen  Verbrechen  (Polizeidelikte). 

Wie  schon  erwähnt,  war  übrigens  die  ganze  Einteilung  in  Kriminal-  und 
politische  Verbrechen  —  an  sich  immerhin  ein  nennenswerter  Fortschritt  — 
doch  in  ihrer  grundsätzlichen  Durchführung  nichts  weniger  als  gelungen,  da 
eine  Reihe  von  wirkliches  Kriminalunrecht  enthaltenden  Delikten,  so  z.  B. 
kleinere  Diebstähle  und  Betrügereien ,  Falschspielen ,  Ehrverletzungen ,  alle 
kulposen  Delikte  u.  a.  m.  als  solche  Polizeidelikte  angesehen  und  der  Judikatur 
der  Polizeibehörden  („politischen  Behörden")  zugewiesen  wurden.  Als  Kriminal- 
verbrechen   wurden    nach    der    damals    herrsclienden    Doktrin    „die   unmittel- 


§  2.    Das  Josephinische  Strafrecht  von  1787.  119 


baren  schweren  Rechtsverletzungen"  angesehen,  daher  die  Überweisung  aller 
leichteren  Kriminalfälle  in  das  Gebiet  der  Polizeidelikte  erklärlich  wird.  Eine 
richtigere  Sonderung  zwischen  Kriminal-  und  Polizeidelikten,  wie  sie  insbe- 
sondere aus  den  Werken  von  Justi  und  Sonnenfels,  beziehungsweise  selbst 
aus  älteren  einheimischen  Polizeiordnungen  hätte  gewonnen  werden  können, 
bleibt  erst  der  späteren  Kodiflkationsarbeit  und  dem  Strafgesetz  von  1803 
vorbehalten,  obwohl,  wie  später  zu  zeigen  ist,  auch  unter  dessen  „schweren 
Polizeiübertretungen"  Fälle  wirklichen  Kriminalunrechtes  vielfach  enthalten  sind. 
Was  nun  insbesondere  das  Strafensystem  des  Josephinischen  Ges(»tz- 
buches  anlangt,  so  ist  demselben  charakteristisch  die  Aufhebung  der  Todes- 
strafe für  das  ordentliche  Verfahren.  Der  Grund  derselben  ist  jedoch  nicht 
die  von  der  damaligen  kriminalpolitischen  Strömung  propagi(»rte  Meinung  ihrer 
prinzipiellen  ünzulässigkeit,  sondern  nach  Joseph *s  II.  Überzeugung  der  Mangel 
wirklicher  Abschreckungsfähigkeit  derselben;  vielmehr  sollte  eine  erhöhte  Ab- 
schreckung in  den  schweren  und  grausamen  Freiheitsstrafen  versucht  werden, 
welche  sich  in  ihrem  Vollzuge  mehr  als  wirkliche  Leibesstrafen  erweisen.  So 
ist  es  also  unbestrittene  Thatsache,  dass  Joseph  II.  die  Todesstrafe  gerade  aus 
dem  Gesichtspunkte  der  Abschreckungstheorie  selbst  abgeschaflFt  hat,  während 
dessen  Bruder  (und  Nachfolger  in  der  Kaiserwürde)  Grossherzog  Leopold  von 
Toskana  sie  ein  Jahr  zuvor  im  Sinne  der  Zeitströmung  aus  dem  Gesichtspunkte 
der  Besserungstheorie  beseitigt  hatte. 

Die  Kriminalstrafen  waren  folgende :  Anschmiedung,  Gefängnis  mit  öffent- 
licher Arbeit  oder  Gefängnis  allein,  Stock-,  Karpatsch-  und  Rutenstreiche, 
Ausstellung  auf  der  Schandbühne.  Das  Gefängnis  war  entweder  zeitliches 
(1.  Grad  von  1 — 5  Jahren,  2.  Grad  von  5 — 8  Jahren)  oder  anhaltendes 
(1.  Grad  von  8 — 12  Jahren,  2.  Grad  von  12 — 15  Jahren),  oder  langwieriges 
(1.  Grad  von  15 — 30  Jahren,  2.  Grad  von  30  selbst  bis  zu  100  Jahren). 
Bei  langwieriger  Gefängnisstrafe  2.  Grades  konnte  auf  Brandmarkung  durch 
Einschröpfung  des  Galgenzeichens  auf  beide  Wangen  erkannt  werden.  Dazu 
kam  noch  die  durch  unmittelbare  Erlasse  Kaiser  Joseph's  II.  in  den  Jahren 
1783  und  1784  eingeführte  und  durch  §  188  der  Kriminalgerichtsordnung  von 
1788  definitiv  angeordnete  Strafe  des  Schiffziehens  auf  der  Donau  und  ihren 
Nebenflüssen  in  Ungarn.  Diese  im  Strafgesetz  von  1787  nirgends  erwähnte, 
bei  Verurteilung  zu  hartem  Gefängnis  und  zu  öffentlicher  Arbeit  zulässige 
Massregel  hatte  den  Charakter  einer  Surrogat-  oder  Ersatzstrafe  gegenüber 
den  genannten  Strafarten.  Erst  Kaiser  Leopold  II.  hob  mit  Hofdekret  vom 
19.  Juli  1790  im  Hinblick  auf  die  entsetzliche  Wirkung  dieser  neuen  Strafart 
(von  den  zum  Schiffziehen  seit  1784  bestimmten  Sträflingen  waren  fast  zwei 
Drittel  gestorben)  dieselbe  auf,  nachdem  wiederholte  dringende  Vorstellungen 
der  obersten  Justizhofstelle  bei  Josei)h  II.  dessen  entschiedenes  Beharren  auf 
dieser  Massregel  nicht  zu  ändern  vermochten.  Es  ist  nicht  zu  läugnen,  dass, 
auch  abgesehen  von  der  Strafe  des  Schiffziehens,  die  Freiheitsstrafen  selbst 
mit  einem  gewissen  Raffinement  zu  schwersten  Lciibesstrafen  gestaltet,  so  den 
Mittelpunkt  des  Strafensystems  einnahmen.  (Zur  Charakterisierung  derselben 
genügt,  dass  z.  B.  bei  der  Anschmiedung  der  Verbrecher  dermassen  enge  im 
Kerker  angekettet  werden  soll,  dass  ihm  nur  zur  unentbehrlichsten  Bewegung 
des  Körpers  Raum  gelassen  wird,  und  überdies  noch  jährliche  in  publico  voll- 
ziehbare körperliche  Züchtigung  „zum  öffentlichen  Beispiele"  mit  dieser  Strafe 
verbunden  ist.)  Bei  dem  schwersten  Gefängnis  ist  der  Verbrecher  mit  einem 
um  die  Mitte  des  Körpers  gezogenen  eisernen  Ringe  Tag  und  Nacht  an  den 
ihm  angewiesenen  Orte  zu  befestigen.  Auch  können,  wenn  die  ihm  auferlegte 
Arbeit  es  zulässt,  schwere  Eisen  angelegt  werden. 

Die   Strafen    der    politischen  Verbrechen    sind  Züchtigung    mit  Schlägen, 


120   Osterreich.  —  Die  geschichtlichen  Grundlagen  des  österreichischen  Strafrechts. 


Ausstellung  auf  der  Schandbühne,  Arrest,  öffentliche  Arbeit  in  Eisen,  Ab- 
Schaffung  aus  einem  bestimmten  Orte.  Geldstrafe  ist  nur  für  das  Verbrechen 
des  Falschspielens  angedroht,  im  übrigen  ausgeschlossen. 

Wägt  man  nach  dieser  Skizze  des  Inhalts  des  Gesetzbuches  seine 
Vorzüge  und  Fehler  gegeneinander  ab,  so  treten  die  ersteren  vor  allem 
hervor  in  der  dem  Geiste  der  modernen  Gesetzgebung  entsprechenden  Be- 
schränkung des  richterlichen  Ermessens,  was  die  Auswahl  der  Strafmittel  und  das 
Strafmass  betriffit,  femer  in  der,  in  der  That  humanen,  Behandlung  der  Ehren- 
strafen und  Ehrenfolgen,  welche  mit  der  geschehenen  Strafverbüssung  bezw. 
mit  der  Begnadigung  des  Verbrechers  gleichfalls  ihr  Ende  finden  sollen.  Ins- 
besondere aber  ist  es  das  Verbot  der  Vermehrung  der  Straf  fälle  per  analogiam, 
welches  das  Gesetzbuch  —  wie  bereits  hervorgehoben  wurde  —  mit  einem  Schlage 
auf  die  Höhe  der  modernen  Anschauung  erhebt,  im  Gegensatze  zum  bisherigen 
Rechte.  Im  legislativen  Ausdruck  und  in  der  Form  bleibt  das  Josephinische 
Gesetzbuch  immer  ein  Ijervorragendes  Beispiel  der  Kürze,  Einfachheit  und  Gemein- 
fasslichkeit  der  Kodifikation  des  18.  Jahrhunderts  und  hierin  liegt  gerade  einer 
der  gewaltigsten  Fortschritte  desselben  gegen  die  Theresiana,  wodurch  es 
sozusagen  sprunghaft  von  der  steifen,  weitläufigen  und  bureaukratischen  Manier 
der  letzteren  sich  emanzipierend,  als  ein  Werk  von  einfacher  Klarheit  er- 
scheint. Dass  die  Knappheit  der  Fassung  manchmal  freilich  auf  Kosten  der 
Begriffsbestimmungen  ging,  ist  schon  oben  berührt  worden.  Ein  Vorzug  aber, 
den  man  sonst  selten  zu  Gunsten  des  Gesetzbuches  hervorgehoben  findet, 
muss  besonders  betont  werden.  Durch  den  Codex  criminalis  Bavaricus  von 
1751  wurde  für  Kur-Bayern  ein  Standpunkt  der  gemeinrechtlichen  Doktrin 
und  Praxis  fixiert,  der  damals  schon  in  vieler  Beziehung  als  ein  überwundener 
gelten  konnte.  Dasselbe  war  durch  die  Theresiana  geschehen.  Während  aber 
Bayern  bis  zum  Jahre  1813  mit  seinem  veralteten  Strafrechte  sich  durchhelfen 
musste,  war  gerade  durch  das  Josephinische  Gesetzbuch  der  in  vielen  Be- 
ziehungen dem  Geiste  der  Zeit  widersprechende  Gehalt  der  Theresianischen 
Bestimmungen  derogiert  und  der  Weiterbildung  des  östeiTcichischen  Strafrechts 
im  modernen  Sinne  Bahn  gebrochen. 

Die  Schattenseiten  des  Gesetzbuches,  insbesondere  was  das  Stmfensystem 
betriffst,  dürften  schon  bei  der  Mitteilung  seines  Inhaltes  vor  Augen  getreten 
sein.  Besonders  kann  in  dieser  Richtung  noch  betont  werden,  dass  in  mancher 
Hinsicht  an  Stelle  des  religiösen  Standpunktes  der  älteren  (lesetzgebung  in 
dem  Josephinischen  Gesetzbuche  ein  ängstlich  polizeilicher  tritt.  So  >vird  z.  B. 
die  Gotteslästerung  nicht  mehr  als  solche  bestraft,  sondern  der  Lästernde  nur 
als  Wahnwitziger  behandelt,  bis  man  seiner  Besserung  sicher  ist.  Aber  gleich- 
wohl wird  noch  Verleitung  zum  Abfalle  vom  christlichen  Glauben,  Ver- 
leugnung der  Religion  usw.  als  politisches  Verbrechen  bestraft.  Die  Irr- 
lehren werden  vom  Polizeistaate  insofern  gefürchtet,  als  sie  Änderungen  des 
herrschenden  Zustandes  herbeiführen  können.  Ein  Missstand  ist  femer,  dass 
die  Deliktsbegriffe,  wie  sie  in  den  österreichischen  Halsgerichtsordnungen  und 
der  Theresiana  im  Einklänge  mit  der  gemeinrechtlichen  Doktrin  doch  in  ihren 
Hauptumrissen  feststanden,  unklarer,  ja  oft  bis  zur  Unkenntlichkeit  verzogen 
und  namentlich  einzelne  Delikte  in  den  sonderbarsten,  ihrem  Begriffe  selbst 
widersprechenden  Zusammenstellungen  behandelt  werden,  wobei  häufig  Zu- 
fälligkeiten der  Begehungsart  in  viel  höherem  Grade  als  das  Objekt  des  De- 
liktes, das  Rechtsgut  selbst,  in  Betracht  kommen.  Der  oben  unter  den  Vor- 
zügen erwähnten  festen  Regulierung  des  Verhältnisses  des  Richters  zum  Straf- 
gesetze entspricht  aber  auch  dessen  völlige  Fesselung  hinsichtlich  der  Straf- 
ausmessung und  die  totale  Ausschliessung  jedes  richterlichen  Milderungsrechts. 


^  3.    Das  westgali zische  Strafgesetz  von  1796.  121 


§  3.  Das  westgallzisehe  Strafgesetz  von  1796. 

Schon  unter  Kaiser  Leopold  II.  (1790 — 1792)  veranlassten  die  bald  nach 
dem  Inkrafttreten  fühlbar  gewordenen  Härten  des  Josephinischen  Gesetzbuches 
eine  Reihe  von  Strafmilderungen.  So  hob  das  Hofdekret  vom  7.  Mai  1790 
die  öflFentliche  Züchtigung  mit  Schlägen,  die  Brandmarkung,  die  Strafe  der 
Anschmiedung  (und  des  Schiffsziehens,  s.  o.  S.  119)  auf,  während  die  Stockstreiche 
als  solche  nicht  abgeschafft  wurden  und  auch  als  Disziplinarstrafe  verhängt 
werden  konnten.  Auch  bezüglich  der  Gefängnisse  selbst,  der  Arbeit  und  der 
Verköstigung  der  Gefangenen  wurden  humanere  Bestimmungen  erlassen.  Die 
Anhaltung  in  Eisen  und  Banden  sollte  derart  ausgeführt  werden,  dass  die 
Verbrecher  sich  frei  bewegen  und  im  Kerker  herumgehen  konnten.  Des- 
gleichen wurde  noch  unter  der  kurzen  Regierungszeit  dieses  Kaisers  die  Ver- 
fassung des  Entwurfes  eines  neuen  Strafgesetzes  verfügt,  welches  allerdings 
erst  unter  seinem  Nachfolger  Franz  II.  vollendet  und  besonderen  Kommissionen, 
welche  zu  diesem  Zwecke  eigens  in  den  einzelnen  Kronländem  berufen  waren, 
zur  Begutachtung  übergeben  wurde.  Es  kam  nun  zunächst  diesem  Entwürfe 
sehr  zu  statten,  dass  er  mit  Patent  vom  17.  Juni  1796  als  Strafgesetz  für 
Westgalizien,  das  eben  damals  erst  mit  Österreich  vereinigt  war  und  die  Ein- 
führung einer  strafrechtlichen  Ordnung  innerhalb  seines  Gebietes  dringend  er- 
heischte, sofort  gesetzliche  Kraft  erlangte.  Es  konnte  damit  für  das  künftige 
Gesetzbuch  eine  Art  probeweiser  Einführung  und  Bewährung  auf  einem  kleineren 
Gebiete  ermöglicht  und  das  Resultat  dieser  einstweiligen  Geltung  für  die 
spätere  Kodifikation  selbst  nutzbar  gemacht  werden. 

Zuvor  aber  wurde  durch  das  Patent  vom  2.  Januar  1795  die  Grundlage 
des  Strafensystems  des  Josephinischen  Gesetzbuches  noch  wesentlich  geändert, 
indem  die  in  jenem  Gesetzbuche  aufgehobene  Todesstrafe  für  politische  Ver- 
brechen wieder  eingeführt  wurde.  Es  wurden  nämlich  die  im  Josephinischen 
Gesetzbuche  §§  41 — 48  als  Majestätsbeleidigung  und  Landesverrat  definierten 
Verbrechen  im  Wege  des  genannten  Patentes  in  den  Begriff  des  „Hochverrates" 
zusammengezogen  und  gingen  in  dieser  Fassung  auch  in  die  spätere  öster- 
reichische Strafgesetzgebung  über. 

Das  westgallzisehe  Strafgesetzbuch  nimmt  innerhalb  der  Entwicklungs- 
geschichte der  österreichischen  Strafgesetzgebung  immerhin  eine  so  eigentüm- 
liche Stellung  ein,  dass  es,  wenn  auch  im  Vergleiche  zum  Josephinischen  und 
zum  Strafgesetzbuche  von  1803  nur  eine  mehr  lokale  und  ephemere  Er- 
scheinung, doch  besondere  Würdigung  verdient.  Es  zerfällt  nämlich,  ähnlich 
wie  das  spätere  Strafgesetz  von  1803,  in  zwei  Teile,  den  ersten  „Von  Ver- 
brechen und  Strafen"  und  den  zweiten  „Von  dem  rechtlichen  Verfahren  über 
Verbrechen".  Das  ganze  Gesetzbuch  umfasst  568  Paragraphen.  Der  erste  Teil 
enthält  in  den  28  Hauptstücken  zunächst  (und  zwar  1.,  2.  und  25. —  28. 
Hauptstück)  die  allgemeinen  Bestimmungen,  dann  die  verschiedenen  Gattungen 
der  Verbrechen,  an  der  Spitze  den  Hochverrat,  ganz  im  Sinne  und  Wortlaute? 
des  Patentes  vom  2.  Januar  1795,  und  dann  die  einzelnen  Verbrechen  in 
einer  dem  späteren  Strafgesetze  von  1803  analogen  Reihenfolge.  Bemerkens- 
wert ist  hier  schon  in  der  äusseren  Erscheinung  der  grössere  Umfang  des 
gesetzlichen  Materiales,  hier  28  Hauptstücke  und  232  Paragraphen  im  Ver- 
hältnisse zu  7  Kapiteln  und  184  Paragraphen  für  den  gleichen  Stoff  im  Jo- 
sephinischen Gesetzbuche.  Jedenfalls  wollte  man  zwischen  der  Weitläufigkeit 
und  Kasuistik  der  Theresiana  und  der  allzugrossen  Knappheit  des  Josephi- 
nischen Gesetzbuches  eine  gewisse  Mitte  halten,  wenngleich  nicht  zu  leugnen 
ist,  dass  im  grossen  und  ganzen  an  der  Grundlage  des  letzteren  Gesetzes- 
werkes festgehalten  werden  sollte. 


122   Osterreich.  —  Die  g^eschichtlichen  Gmndlagen  des  österreichischen  Strafrechts. 


Charakteristisch  ist  dem  westgalizischenStrafgesetzbuehe  die  Unterscheidung 
in  „Kriminal-  und  Civilverbrechen"*,  unter  welch  letzteren  weder  die  politischen 
Verbrechen  des  Josephinischen,  noch  die  „schweren  Polizeiübertretungen**  des 
Gesetzbuches  von  1803  zu  verstehen  waren.  Auch  die  „Civil verbrechen"  sind 
wirkliche  Verbrechen  nach  der  Distinktion  des  Gesetzgebers  selbst,  von  den 
„Kriniinalverbrechen"  nur  dadurch  unterschieden,  das«  sie  den  „Ruh-  und 
»Sicherheitsstand  im  gemeinen  Wesen"  weniger  verletzen  als  letztere  und  des- 
halb geringer  bestraft  wurden. 

Diese  legislativ  jedenfalls  überflüssige  und  für  eine  praktische  Anwendung 
ganz  illusorische  Einteilung  wurde  mit  Recht  in  das  Gesetzbuch  von  1803 
nicht  aufgenommen.  Die  Todesstrafe  ist  im  Gesetzbuche  nicht  nur  für  Hoch- 
verrat, sondern  auch  für  gewisse  Arten  des  Mordes  (Meuchelmord  oder  be- 
stellter Mord,  den  Eltern-  oder  Gatten-  und  Raubmord)  eingeführt.  Eine  Aus- 
dehnung auf  andere  Verbrechen,  wie  in  dem  Gesetzbuche  von  1803,  hatte  die 
Todesstrafe  noch  nicht  gefunden;  es  war  eben  das  Strafgesetzbuch  von  1796 
nur  eine  Etappe  in  der  fortschreitenden  Wiedereinführung  der  Todesstrafe  in 
die  österreichische  Gesetzgebung.  Die  Strafdrohungen  sind  jedoch  im  übrigen 
wesentlich  milder  als  im  Josephinischen  Gesetzbuche.  Die  Grundeinteilung  in 
schwersten,  harten  und  gelinden  Kerker  blieb  aufrecht,  jedoch  war  der  Voll- 
zug gegenüber  dem  Josephinischen  Gesetzbuche  wesentlich  humaner  gestaltet. 
Als  Verschärfung  der  Kerkerstrafe  war  Anhaltung  zu  öffentlicher  Arbeit,  Aus- 
stellung auf  der  Schandbühne,  Züchtigung  mit  Stock-  oder  Rutenstreichen  und 
Fasten  festgesetzt.  Vermögenskonfiskation  wird  auch  beim  Hochverrat  als 
unzulässig  erklärt.  Im  ganzen  sind  die  Begriffsbestimmungen  der  Verbrechen 
gegenüber  dem  Josephinischen  Gesetzbuche  klarer  und  sorgfältiger  gefasst. 
Was  jedoch  dem  westgalizischen  Gesetzbuche  einen  besonderen  Vorzug  giebt, 
ist  das  wieder  anerkannte  Recht  der  richterlichen  Strafausmessung,  die  Rück- 
sichtnahme auf  erschwerende  oder  mildernde  Umstände  und  die  Befreiung 
der  richterlichen  Gewalt  von  dem  Zwange  der  buchstabenmässigen  Recht- 
sprechung. Auch  die  dem  Josephinischen  Strafgesetze  fehlende  Verjährung 
der  Verbrechen  war  in  das  Gesetz  wieder  aufgenommen.  Die  Materie  über 
die  Polizeidelikte  („politische  Verbrechen")  wurde  dagegen  in  das  west- 
galizische  Strafgesetzbuch  nicht  aufgenommen. 

§  4.  Das  Strafgesetz  von  1803. 

Nachdem  endlich  die  Vorarbeiten  für  das  projektierte  allgemeine  Gesetz- 
buch abgeschlossen,  die  Erfahrungen,  welche  man  mit  der  Einführung  des 
westgalizischen  Strafgesetzes  gemacht  hatte,  sowie  die  Gutachten  der  über 
dasselbe  einvernommenen  Länder-Kommissionen  verwertet  waren,  wurde  gleich- 
zeitig auch  der  Entwurf  für  ein  Strafgesetz,  betreffend  die  schweren  Polizei- 
übertretungen, der  Beratung  unterzogen,  mit  dem  bisherigen  die  Verbrechen 
betreffenden  Entwürfe  (dessen  versuchsweise  Emanation  das  westgalizische  Ge- 
setzbuch war)  vereint,  mit  kaiserlichem  Patent  vom  3.  September  1803  als 
„Strafgesetz  über  Verbrechen  und  schwere  Polizeiübertretungen"  für  die  „ge- 
samten deutschen  Erblande"  eingeführt  und  dessen  Wirksamkeit  auch  noch 
auf  die  später  mit  Österreich  vereinigten  Länder,  im  Jahre  1850  auch  auf 
Siebenbürgen,  ausgedehnt,  wo  überdies  kurz  zuvor  schon  für  einzelne  Teile 
dieses  Landes  durch  Verordnung  des  Civil-  und  Militärgouvemeurs  das  Straf- 
gesetzbuch von  1803  eingeführt  ward.  In  Krakau  war,  bevor  noch  diese 
Stadt  (1846)  mit  Österreich  vereinigt  wurde,  das  Gesetzbuch  von  1803  rezipiert 
worden,  desgleichen  im  Fürstentum  Lichtenstein  mit  fürstlicher  Resolution  vom 
18.  Februar  1812.     Demgemäss  hatte  dtis  Strafgesetz  von  1803  in  der  ganzen 


§  4.    Das  Strafgesetz  von  ISOH.  123 


Monarchie  mit  Ausnahme  von  Ungarn  und   dessen  Nebenländern   gt^setzliche 
Geltung. 

Das  Gesetzbuch  zerfiel  in  zwei  Teile,  deren  erster  wie  das  Avestgalizisclie 
Strafgesetz  in  2  Abschnitten  und  557  Paragraphen  die  Verbrechen  und  deren 
Strafen  sowie  das  bezügliche  Strafverfahren  regelte,  während  der  zweiti*  Teil 
ebenfalls  in  zwei  Abschnitten  und  459  Paragraphen  die  schweren  Polizei- 
übertretungen, das  zu  ihnen  gehörige  Straf ensysteni  und  Verfahren  behandelte. 
In  strafrechtlicher  Beziehung  zeigt  der  erste  Teil  im  Vergleich  mit  dem  früher 
als  westgalizisches  Strafgesetz  publizierten  Entwürfe  manche  wesentliche  Unter- 
schiede, wenn  auch  die  stoffliche  Einteilung  in  beiden  Gesetzen  die  gleiche 
ist,  nur  mit  der  einen  Modifikation,  dass  die  Bestimmungen  über  erschwerende 
und  mildernde  Umstände  unter  die  ersten  Hauptstücke  (3. — 5.  Hauptstück)  ge- 
stellt sind,  während  sie  im  westgalizischen  Strafgesetze  das  25. — 27.  Haupt- 
stück bilden. 

Das  Gesetzbuch  selbst  weist,  verglichen  mit  der  Kodifikation  dieser 
Epoche,  unleugbare  und  nicht  unbedeutende  Vorzüge  auf.  Es  ist  das  erste 
Gesetz  —  und  dies  ist  meines  Erachtens  nirgends  gebührend  hergehoben 
worden  —  welches  F'euerbach*s  Theorie  des  psychologischen  Zwanges  zu 
Grunde  legt,  ohne  jedoch  wie  das  Werk  Feuerbachs,  das  bayerische  Straf- 
gesetzbuch von  1813,  das  System  bis  in  seine  äussersten  Konsequenzen  ein- 
seitig zu  treiben.  Das  Prinzip  selbst  wird  im  10.  Absätze  des  Kundmachungs- 
patents ausdrücklich  mit  den  Worten  anerkannt:  „Der  Schuldige  soll  kein 
grösseres  Übel  leiden,  als  zur  Hintanhaltung  der  Verbrechen  angedroht  und 
vollzogen  werden  muss."  Insbesondere  sind  es  die  Vorschriften  über  die 
Straf ausmessung,  über  Erschwerungs-  und  Milderungsumstände ,  welche  be- 
weisen, wie  hoch  der  Gesetzgeber  über  der  damals  die  gesamte  Wissenschaft 
und  Gesetzgebungskunst  beheiTSchenden  Theorie  des  psychischen  Zwanges 
stand,  von  welchem  er  eben  nur  eine  auch  heute  noch  teilweise  als  richtig 
erkannte  Seite  annahm.  Im  übrigen  durchweht  das  ganze  Gesetzbuch  ein 
Geist  der  Humanität  und  Gerechtigkeit,  der  sich  nicht  nur  darin  zeigt,  dass 
die  Folgen  der  Strafen,  so  wenig  als  immer  möglich  ist,  auf  die  schuldlosen 
Angehörigen  des  Verbrechers  wirken  sollen,  sondern  namentlich  darin,  dass 
der  Richter  überall  da,  wo  es  einen  gegen  den  Schuldigen  zu  verhängenden 
Nachteil  betrifft,  strenge  an  das  Gesetz  gebunden  ist  und  sich  niemals  über 
dasselbe  hinwegsetzen  kann,  während  er  andererseits  durch  ein  mit  ausdrück- 
licher Gesetzes  Vorschrift  statuiertes  weitgehendes  ausserordentliches  Milderungs- 
recht den  vollsten  Spielraum  hat,  die  Strafe  im  konkreten  Falle  der  indivi- 
duellen Grösse  der  Schuld  anzupassen  trotz  des  Wortlautes  der  den  Normaltall 
treffenden  relativ  hohen  Straf drohung.  Die  österreichische  Praxis  hat  denn 
auch  seit  dieser  Zeit  von  diesem  ausserordentlichen  Milderungsrechte  stets 
vollen  Gebrauch  gemacht  und  damit  der  Judikatur  einen  Zug  der  Milde  auf- 
geprägt, der  angesichts  der  auf  die  einzelnen  Delikte  angedrohten  relativ 
hohen  Strafen  im  ersten  Augenblicke  frappieren  kann.  Jedenfalls  ist,  wie 
Herbst  richtig  hervorhebt,  das  österreichische  Strafrecht  durch  die  Art  seiner 
Anordnung,  und  zwar  nicht  gegen  das  Gesetz,  sondern  nach  dessen  eigener 
Anleitung  und  Weisung,  zu  einem  der  mildesten  unter  den  überhaupt  be- 
stehenden geworden. 

Zu  den  gerechten  und  humanen  Bestimmungen  des  Gesetzes  gehört  auch, 
dass  anschliessend  an  das  westgalizische  Strafgesetz  die  Verjährung  (wenn 
auch  nur  die  der  Strafverfolgung)  wieder  aufgenommen  ist,  die  Einziehung 
der  Güter  gänzlich  abgeschaff't  wird  und  abgesehen  von  dem  eben  erwähnten 
ausserordentlichen  Milderungsrechte  noch  den  Gerichtshöfen  die  Befugnis  er- 
teilt wird,  die  Strafart  mit  Rücksicht  auf  die  schuldlose  Familie  des  Verbrechers 


124   Osterreich.  —  Die  geschichtlichen  Grundlagen  des  österreichischen  Strafrechts. 


abzuändern.  Desgleichen  erhält  das  internationale  Strafrecht  seine  gehörige 
Berücksichtigung  unter  den  allgemeinen  Bestimmungen  des  Gesetzbuches.  Die 
Einteilung  in  Verbrechen  und  schwere  Polizeiübertretungen  entspricht  im  ganzen 
der  Grundidee  des  Josephinischen  Strafgesetzes  und  seiner  Einteilung  in 
Kriminalverbrechen  und  politische  Verbrechen. 

Zwischen  beiden  Graden  der  strafbaren  Handlungen  sucht  der  (Gesetz- 
geber selbst  in  der  Einleitung  („von  den  Gegenständen  dieses  Strafgesetzes") 
eine  möglichst  scharfe  Grenzlinie  zu  ziehen,  indem  er  von  dem  allgemeinen 
Begriffe  der  gesetzwidrigen  Handlung  ausgeht.  Die  Gesetzgebung  wird  zu 
grösserer  Strenge  gegen  diejenigen  gesetzwidrigen  Handhmgen  aufgefordert, 
welche  der  Sicherheit  im  Gemeinwesen  zunächst  und  in  einem  höheren  Grade 
nachteilig  sind;  dies  seien  eben  die  Verbrechen  und  schweren  Polizeiüber- 
tretungen, von  welchen  erstere  gesetzwidrige  Handlungen  und  Unterlassungen 
sind,  „bei  welchen  die  Absicht  eigens  auf  dasjenige  gerichtet  ist,  was  die  Sicher- 
heit im  Gemeinwesen  verletzt  und  welche  die  Grösse  der  Verletzung  oder 
die  gefährlichere  Beschaffenheit  der  Umstände  zur  kriminellen  Behandlung 
eignet",  während  letztere  („schwere  Polizeiübertretungen")  entweder  absicht- 
liche Verletzungen  sind,  welche  aber  nach  Beschaffenheit  des  Gegenstandes, 
der  Person  des  Thäters  oder  der  Umstände  zu  einer  kriminellen  Behandhmg 
sich  nicht  eignen,  oder  solche  Fälle,  wo  ohne  eine  auf  ein  Verbrechen  ge- 
richtete Absicht  etwas,  was  durch  die  Gesetze,  um  Verbrechen  zuvorzukommen 
oder  grosse  Nachteile  abzuwenden,  zu  thun  verboten  ist,  gethan  oder  etwas, 
was  zu  diesem  Ende  geboten  ist,  unterlassen  wii'd,  und  endlich  noch  wegen 
des  „allgemeinen  Einflusses  der  Sittlichkeit  auf  die  Verhinderung  der  Ver- 
brechen, auch  solche  Handlungen,  welche  die  öffentliche  Sittlichkeit  stören." 
Dazu  kommt  dann  noch  der  bereits  im  Josephinischen  Gesetzbuche  zuerst  mit 
Entschiedenheit  aufgestellte  Satz,  dass  nur  dasjenige  als  Verbrechen  oder 
schwere  Polizeiübertretung  behandelt  werden  dürfe,  was  in  diesem  Gesetz- 
buche ausdrücklich  als  solches  bezeichnet  sei,  während  die  Bestrafung  anderer 
(in  gesetzlichen  oder  verordnungsmässigen  Bestimmungen  ausserhalb  dieses 
Gesetzbuches  enthaltenen)  Übertretungen  den  dazu  bestimmten  Behörden  nach 
den  darüber  vorhandenen  Vorschriften  vorbehalten  bleibt.  Bezüglich  des 
Strafensystems  erklärt  der  Gesetzgeber  selbst,  dass  überwiegende  Gründe  ihm 
die  Notwendigkeit  auferlegt  haben,  die  Todesstrafe  für  einige  Gattungen  der 
Verbrechen  auch  ausser  dem  Standrechte  wieder  herzustellen.  Sie  sei  aber 
auch  nur  auf  die  Verbrechen  eingeschränkt  worden,  die  mit  voller  Überlegung 
ausgeführt,  bezw.  für  die  öffentliche  und  private  Sicherheit  höchst  gefährlich 
sind.  Ausser  dem  bereits  durch  das  Patent  vom  2.  Januar  1795  mit  Todes- 
strafe bedrohten  Hochverrat,  welches  Verbrechen  gleichfalls  im  Gesetzbuche 
von  1803  als  das  erste  mit  Todesstrafe  bedrohte  Verbrechen  angeführt  wird, 
sind  noch  folgende  Verbrechen  mit  dem  Tode  bedroht:  Vollbrachter  Mord 
und  räuberischer  Totschlag,  sowie  die  gefährlichsten  Fälle  der  Fälschung  von 
Kreditpapieren  und  Münzen  und  die  Brandlegung.  Auch  hier  ist  die  milde 
Praxis  in  Anwendung  des  österreichischen  Strafgesetzes  bemerkenswert,  indem 
bis  zum  Jahre  1848  von  1304  Todesurteilen  nur  448  zur  Vollziehung  kamen, 
während  in  856  Fällen  Begnadigung  eintrat.  Wegen  HochveiTates  und  Kredit- 
papierverfälschung wui'den  überhaupt  nur  2  bezw.  3  Todesurteile  und  seit 
1808  wegen  Kreditpapierverfälschung  kein  Todesurteil  mehr  vollzogen. 

Desgleichen  weist  das  Gesetzbuch  von  1803  eine  beträchtliche  Herab- 
setzung der  Strafdrohungen  bezüglich  der  minder  gefährlichen  Verbrechen  auf. 
Der  Textierung  des  Gesetzes  kann  immerhin  Klarheit  und  Einfachheit  nach- 
gerühmt werden;  einzelne  Begriffsbestimmungen  zeichnen  sich  namentlich  im 
Verhältnisse  zu   den  bisherigen  Gesetzen   durch  Deutlichkeit   und  Präzision   in 


«i  4.    Das  Strafgesetz  von  1803.  125 


der  Fassung  aus.  Insbesondere  was  den  allgemeinen  Teil  des  Gesetzbuches 
anlangt,  kann  dessen  Textierung  wohl  nicht  besser  als  mit  den  Worten  Berners 
beurteilt  werden :  „Die  gesetzlichen  Bestinmiungen  auf  diesem  Gebiete  sind  mit 
einer  so  weisen  Zurückhaltung  abgefasst,  dabei  so  weich  und  elastisch  und 
der  Natur  der  Sache  sich  anschliessend,  dass  der  Doktrin  ein  willkommener 
Spielraum  der  Entwicklung  und  Fortbildung  blieb,  den  sie  dann  auch  in 
einer  sehr  anerkennenswerten  Weise  benutzt  hat."  Gerade  dadurch  zeichnet 
sich  das  österreichische  Gesetz  von  1803  vorteilhaft  von  manchen  späteren 
deutschen  Gesetzbüchern  aus;  dagegen  sind  wiederum  manche  Begriffs- 
bestimmungen des  besonderen  Teiles  ebenso  mangelhaft  und  der  erforderlich (»n 
Bestimmtheit  entbehrend  geblieben,  wie  im  Josephinischen  Gesetzbuch.  Die 
Unterecheidung  zwischen  Kriminal-  und  Civilverbrechen  des  westgalizischen 
Gesetzbuches  ist  nattlrlich  in  Wegfall  gekommen,  während  mehrere  in  letzterem 
Gesetze  als  Civilverbrechen  bezeichnete  Delikte  unter  die  schweren  Polizei- 
übertretungen gestellt  wurden.  Gingen  das  Strafensystem  Hesse  sich  jedoch 
noch  Manches  einwenden,  insbesondere  was  den  Fortbestand  der  körperlichen 
Züchtigung,  der  Brandmarkung  und  öfiTentlichen  Ausstellung  anlangt. 

Ein  weiteres  Eingehen  auf  die  materiellen  Bestimmungen  des  Gesc^tzes 
und  das  Strafensystem  insbesondere  kann  an  dieser  Stelle  vermieden  werden, 
da  das  geltende  österreichische  Strafgesetzbuch  von  1852  nur  eine  revidierte 
Ausgabe  dieses  Gesetzbuches  ist  und  die  alsbald  folgende  Erörterung  des  gel- 
tenden Rechtes  doch  die  Bestimmungen  des  Strafgesetzbuches  von  1803,  auch 
wo  sie  modifiziert  wurden,  nicht  umgehen  kann.  Schliesslich  muss  noch  unter 
den  Vorzügen  des  Gesetzbuches  mit  hervorgehoben  werden  sein  Festhalten  an 
den  früher  bereits  anerkannten  Grundzügen  des  Josephinischen  Strafgesetzes. 
Damit  ist  dem  österreichischen  Strafrechte  jene  feste  Kontinuität  und  Selbst- 
ständigkeit gewahrt  worden,  welche  auch  noch  das  heute  geltende  Recht  kenn- 
zeichnet. So  erscheint  das  Strafgesetz  von  1803  trotz  seiner  teilweise  harten 
Strafsatzungen  immerhin  als  eine  reife  Frucht  der  Strafrechtsdoktrin  jener 
Zeit,  wobei  nicht  genug  bedauert  werden  kann,  dass  dasselbe  bei  den  legis- 
latorischen Versuchen,  die  seit  den  ersten  Jahrzehnten  dieses  Jahrhunderts  in 
Deutschland  und  anderen  Ländern  gemacht  worden  sind,  namentlich  im  Gegen- 
satze zum  bayerischen  Strafgesetzbuche  von  1813,  nicht  diejenige  Beachtung 
gefunden  hat,  die  es  vermöge  der  glücklichen  Einfachheit  und  vorherrschenden 
Klarheit  seiner  Textierung,  femer  mit  Rücksicht  auf  die  für  die  damalige  Zeit 
sehr  anerkennenswerte  Mässigung  bezüglich  der  Androhung  der  Todesstrafe, 
den  freieren  Spielraum  für  das  richterliche  Ermessen,  die  im  ganzen  be- 
friedigende Begrenzung  des  Strafgebietes  und  der  Grundsätze  über  das  Straf- 
mass usw.  in  hohem  Grade  verdient. 

Aber  wie  Österreich  seit  damals  in  seiner  Rechtsentwicklung,  in  der 
Einrichtung  des  juristischen  Studiums  und  in  der  wissenschaftlichen  Bearbeitung 
seines  Rechtes  sich  von  dem  gemeinrechtlichen  Stamme  abschloss,  so  wurde 
sein  Recht  auch  von  dieser  Seite  gewissermassen  zur  Wiedervergeltung  ignoriert. 
Damit  war  natürlich  auch  für  diese»  Epoche  (bis  1850)  jede  zeitgemässe  Revision 
des  Gesetzbuches  etwa  im  Anschlüsse  an  die  Fortschritte  der  deutschen  Straf- 
rechtswissenschaft von  vornherein  undenkbar.  Dieser  Umstand  im  Zusammen- 
halte mit  den  unleugbaren  Vorzügen  des  Gesetzbuches  lässt  es  erklärlich  er- 
scheinen, dass  dasselbe  mehrere  Dezennien  hindurch  ohne  wesentliche  Ände- 
rungen in  Geltung  blieb,  ja  ohne  dass  einzelne  Mängel,  welche  die  Grundlage 
des  Werkes  getroffen  hätten,  stärker  fühlbar  wurden.  Die  Verbesserungen, 
welche  durch  einzelne  Novellen  in  den  ersten  Dezennien  unscTes  Jahrhunderts 
vorgenommen  wurden,  betreffen  namentlich  die  Milderung  einzelner  Härten 
des  Gesetzes,  insbesondere  die  Abschaffung  der  Galeerenstrafe  (1819)  und  der 


126   Österreich.  —  Die  geschichtlichen  Grundlagen  des  österreichischen  Strafrechts. 


Strafe  des  schwersten  Kerkers  (1833),  die  Modifizierung  der  Bestimmungen 
betreffs  der  Verpflegung  und  Lagerstätte  der  Sträflinge  im  humaneren  Sinne, 
die  Entscheidung  mancher  zweifelhaften  Fragen,  endlich  noch  die  nachträgliche 
Verpönung  von  strafwürdigen  Handlungc^n,  welche  im  Strafgesetze  selbst  über- 
gangen waren,  und  die  Einreihung  ders(»lbeu  unter  die  Verbrechen,  bezw. 
unter  die  schweren  Polizeiübertretungen.  Im  ganzen  aber  blieb  der  Grund- 
typus des  Gesetzbuches  unverändert  vom  Jahre  1803  bis  zum  Jahre  1848,  und 
so  ist  das  heutige  österreichische  Sti'afgesetzbuch  von  1852  (seinem  Wesen 
nach  nur  eine  revidierte  Ausgabe  des  Strafgesetzbuches  von  1803)  seiner 
Grundlage  und  Geltung  nach  das  älteste  unter  den  bestehenden  Strafgesetzen. 
Immerhin  kann  es  nicht  mit  Stillschweigen  übergangen  werden,  dass  sich  die 
Hofkommission  in  Justizsachen  schon  seit  dem  Jahre  1820  mit  Vorarbeiten  der 
Revision  beschäftigte.  Das  Resultat  dieser  Arbeiten  waren  jedoch  nur  jene 
erwähnten  Novellen,  Abänderungen  und  Zusätze  zum  alten  Gesetze. 

Charakteristisch  für  den  Konservatismus  der  Gesetzgebung  vor  1848  ist 
es  jedenfalls,  dass  selbst  wiederholte  Anfragen  der  Gerichte  mit  Hinweis  auf 
die  im  Gesetz  buche  festgesetzten  Grundsätze  erledigt  oder  nach  mehr  als 
20  Jahre  sich  hinziehenden  Verhandlungen  (z.  B.  über  das  Verhältnis  Ungarns 
zu  Österreich  in  strafrechtlicher  Beziehung  -  seit  1819  ein  Gegenstand  fort- 
gesetzter Verhandlungen)  beschlossen  wurde,  die  Sache  auf  sich  beruhen  zu 
lassen.  Ja  fast  unglaublich  klingt  es,  dass  selbst  die  ginindsätzlichen  Ent- 
scheidungen der  obersten  Justizstelle  zumeist  unbekannt  blieben,  während  wir 
heute  gerade  in  deren  Veröffentlichung  eine  ständig  fliessende  Quelle  des  prak- 
tischen ötrafrechts  erblicken. 

So  war  es  wesentlich  die  Interpretation  des  Gesetzes,  welche  die  fast 
ausschliessliche  Arbeit  mehrerer  Generationen  österreichischer  Juristen  bildete, 
wobei  es  unvermeidlich  war,  dass  solch  eine  einseitige  exegetische  Richtung 
bald  auf  die  Abwege  eines  kleinlichen  Buchstabendienstes  geriet  und  jeden- 
falls die  Klagen  mancher  hervorragenden  deutschen  Kriminalisten  (wie  Henke, 
Abegg,  Rosshirt  u.  a.)  über  die  Stockung  der  Strafrechtswissenschaft  in 
Österreich  nicht  unbegründet  erscheinen.  Immerhin  wurden  jedoch  von  Seite 
der  deutschen  kriminalistischen  Schriftsteller  die  Verdienste  und  Vorzüge  der 
österreichischen  Strafrechtslitteratur  gerecht  und  richtig  gewürdigt,  insbesondere 
was  die  Verbindung  der  Theorie  und  Praxis,  die  taktvolle  Anwendung  des 
Strafgesetzes  und  eine  weitgehende  Individualisierung  bei  der  Handhabung 
des  Milderungsrechts  betrifft;  und  Zachariä  fand  sich  noch  1853  veranlasst 
zu  bemerken,  die  Leistungen  der  östeiTeichischen  Gesetzgebungsarbeiten,  die 
Mässigung  im  Gebrauche  der  zu  scharfen  Strafen  bei  Staats-  und  Religions- 
verbrechen u.  a.  m.  seien  nicht  vollkommen  gewürdigt  worden.  Insbesondere 
war  es  das  tiusserordentliche  richterliche  Milderungsrecht,  welches,  wenn  auch 
von  einzelnen  Kriminalisten  wie  z.  B.  Köstlin  unrichtig  aufgefasst,  dagegen  von 
anderen,  wie  Mittermaier  ausdrücklich  anerkannt  und  gebilligt,  bei  den  legisla- 
torischen Arbeiten  der  partikularen  deutschen  Strafgesetzgebung  seit  dem  3.  Dezen- 
nium unseres  Jahrhunderts  vielfach  als  Muster  zur  Nachahmung,  sei  es  in  den 
Entwürfen  selbst,  sei  es  bei  der  parlamentarischen  Beratung  aufgestellt  wurde. 

Litteratur  zur  Geschichte  der  österreichischen  Strafgesetzgebung : 
Wahlberg,  Gesammelte  kleinere  Schriften  H,  S.  86  ff.,  Hoff.,  16:3 ff.,  III,  S.  1  ff., 
18 ff.,   115 ff.  —  V.  Domin -Petrushevecz,   Neuere  österreichische  Rechtsgeschichte, 
1869.  —  V.  Maasburg,  Zur  Entstehungsgeschichte  der  Theresianischen  Halsgerichts- 
ordnung usw.   1880.  —  Derselbe,  die  Strafe  des  Schiffziehens  in  Österreich,  1890. 

—  Berner,  Die  Strafgesetzgebnng  in  Deutschland  von  1751  bis  zur  Gegenwart.  1867. 

—  C.  G.  v.  Wächter,  Gemeines  Recht  Deutschlands,  insbesondere  gemeines  deutsches 
Strafrecht  1844,  und  die  geschichtliche  Darstellung  in  der  Einleitung  zu  den  (unten  citier- 
ten)  Kommentaren  von  Herbst,  v.  Hye,  Frühwald  und  dem  Lehrbuche  von  Janka. 


§  5.    Die  Revision  des  Strafgesetzes  von  1808  und  das  Strafgesetz  von  1852.       127 


n.   Die  gesetzlichen  Grundlagen  des  geltenden  Rechts. 

§  5.  Die  Keylslon  des  Strafgesetzes  you  1803  and  das  Strafgesetz  Yon  1853. 

Die  Stabilität  des  Gesetzbuches  von  1803  schien  so  fest  gegründet,  dass 
selbst  nach  den  Erschütterungen,  welche  das  Jahr  1848  mit  sich  brachte,  das 
geltende  Gesetzbuch  vorerst  nicht  in  seinem  Bestände  bedroht  wurde  und  die 
Hauptforderungen  sich  nur  auf  die  Reform  des  Strafprozesses  bezogen.  Immerhin 
aber  brachte  die  bewegte  Zeit  doch  auch  für  das  materielle  Strafrecht  manche 
längst  wünschenswerte  Veränderungen.  So  verfügte  eine  Allerhöchste  Ent- 
schliessung  vom  22.  Mai  1848  die  Aufhebung  der  öffentlichen  Ausstellung,  der 
Brandmarkung  und  der  köi'perlichen  Züchtigung  und  das  gleichz(iitig  mit  der 
Strafprozessordnung  (welche  nebenbei  bemerkt  den  refonnierten  Strafprozess 
im  Sinne  der  damaligen  Postulate  einführte  —  im  Ganzen  eine  gelungene  Nach- 
bildung der  thüringischen  StPO.)  publizierte  kaiserliche  Patent  vom  17.  Januar 
1850,  gewöhnlich  Strafmilderungspatent  genannt,  wirksam  für  alle  Kronländer, 
in  welchen  das  Strafgesetzbuch  von  1803  in  Rechtskraft  stand,  enthielt  noch 
umfassendere  Milderungen  des  geltenden  Strafrechtes  nebst  Beseitigung  mancher 
als  verwerflich  erkannten  Bestimmungen,  so  z.  B.  der  Bestrafung  des  Selbst- 
mordes und  der  Zensurübertretungen. 

Eret  im  Jahre  1849  wurde  offiziell  die  Notwendigkeit  der  Schöpfung  eines 
neuen  Strafgesetzbuches  anerkannt.     In  einem  an  den  Kaiser  gerichteten  Vor- 
trage vom  24.  August  1850  erklärte  Justizminister  von  Schmerling  es  für  not- 
wendig, die  Ausarbeitung  eines  ganz  neuen  Strafgesetzbuches  in  Angriff  nehmen 
zu  lassen,  welches  den  Anforderungen  der  Wissenschaft  entsprechen,  ebensowohl 
die  veränderte  politische  Gestaltung,  als  auch  die  heutigen  Bildungs-  und  Ge- 
sittungsstufen  der  verschiedenen  Völker  des  Kaisertumes  ins  Auge  fassen  und 
zugleich  darauf  berechnet  sein  sollte,    allen    diesen  Völkern    ein  gemeinsames 
neues  Strafgesetz  zu  sichern.     Die  Verwirklichung    dieses   grossen    so    tief   in 
alle  sozialen  und  politischen  Verhältnisse    des    gesamten  Staates    eingreifenden 
Gesetzeswerkes    müsse    aber    dem    Zusammenwirken    der   verfassungsmässigen 
Organe  der  Gesetzgebung  vorbehalten  bleiben.    Allerdings  machte  die  reaktio- 
näre Strömung  der  folgenden  Jahre  das  Zustandekommen    eines    neuen  Straf- 
gesetzbuches auf  konstitutionellem  Wege  unmöglich.    Indessen  hatte  jedoch  der 
Ministerrat  im  Jahre  1850  insbesondere  bezüglich  derjenigen  Länder,  in  welchen 
bisher  das  Gesetzbuch  von  1803  nicht  galt,   eine  Refonn  des  Strafrechtes  mit 
provisorischer  Geltung  für  nötig  befunden    und    deshalb    beantragt,    dass    das 
bisherige    Strafgesetz   mit  Aufnahme    aller   durch    spätere  Novellen    verfügten 
Abänderungen  in  allen  jenen  Kronländern,  wo  es  bisher  gegolten,  in  erneuter 
authentischer   Ausgabe,    in    den   übrigen    Kronländem    aber    provisorisch    als 
neues  Strafgesetz    kundgemacht  werden    möge.     Freilich   verhehlte   man    sich 
nicht,  dass  es  misslich  erecheine,  ein  Strafgesetz  noch  aus  dem  Anfange  unseres 
Jahrhunderts,  das  selbst  einer  Reform  bedürfe,   und  welchem  die  Fortschritte 
der  Wissenschaft  und  die  reichen  Erfahrungen    von    fast    einem    halben  Jahr- 
hundert fremd  seien,  jetzt  noch  neu  einzuführen.     Dennoch  glaubte  man  aber 
annehmen  zu  dürfen,    dass    es  für  diejenigen  Länder,  wo    es  bisher  nicht  ge- 
golten,   im  Vergleiche   mit   ihren  bisherigen  höchst  traurigen  Rechtszuständen 
auch  ohne  wesentliche  Umgestaltung    doch  noch  eine  wünschenswerte  Refonn 
und    ein   bedeutender  Fortschritt   sei,    und    dass   zur  ersten  Einführung   einer 
neuen  Kodifikation  des  Strafrechts  in  diesen  Ländern  sich  sogar  ein  ganz  neu 
zu  verfassendes  Strafgesetzbuch  weniger  eigne  als  ein  älteres,  dessen  Gerechtig- 


128  (>sterreich.  —  Die  gesetzlichen  Grandlagen  des  geltenden  Rechts. 


keit,  Milde  und  Weisheit  in  den  leitenden  Grundsätzen  und  Hauptbestimmungen 
sich  schon  in  der  Erfahrung  Ton  fünf  Dezennien  bewährt  habe.  So  wollte 
man  sich  vorläufig  darauf  beschränken,  in  dem  ursprünglichen  Gesetzestexte 
nur  jene  Abänderungen  vorzunehmen,  welche  bereits  durch  spätere  rechts- 
gültige Bestimmmigen  eingeführt  seien  und  welche  sich  nach  den  Erfahrungen 
der  Praxis  als  unabweislich  darstellten.  Aus  diesem  Plane  ging  der  unter 
Schmerling  verfasste  Entwurf  des  revidierten  Strafgesetzes  von  1850  hervor, 
der  mit  dem  1.  März  1851  Gesetzeskraft  erhalten  sollte.  Dazu  kam  es  jedoch 
nicht.  Vielmehr  bildete  dieser  Entwurf  des  revidierten  Strafgesetzes  die  Grund- 
lage einer  vermehrten  und  revidierten  Ausgabe  des  Strafgesetzes  von  1803, 
welche  am  27.  Mai  1852  als  ^allgemeines  österreichisches  Strafgesetz"  in  allen 
Ländern  des  Eaiserstaates  mit  Ausnahme  der  Militärgreuze  publiziert  wurde. 
Damit  war  der  ursprüngliche  Plan  einer  umfassenden  neuen  Strafgesetzgebung 
vertagt,  nicht  ohne  dass  namhafte  österreichische  Kriminalisten,  wie  von  Hye, 
Passy,  Jul.  Glaser,  aber  auch  deutsche  Kriminalisten  wie  Zachariä  u.  a., 
dieser  Vertagung  zustimmten  und  die  überwiegenden  Vorteile  lediglich  emer 
Revision  des  alten  Gesetzbuches,  das  sich  in  die  Praxis  eingelebt  hatte,  mit 
besonderer  Rücksicht  auf  die  herzustellende  Rechts-  und  Gesetzeseinheit  in 
der  gesamten  Monarchie  betonten. 

In  dem  Kundmachungspatent  (kaiserliches  Patent  vom  27.  Mai  1852)  wird 
das  Strafgesetzbuch  als  eine  neue  Ausgabe  des  Strafgesetzes  von  1803  be- 
zeichnet mit  Einschaltung  der  durch  spätere  Gesetze  verfügten  Abänderungen 
und  mit  Aufnahme  mehrerer  neuer  Bestimmungen. 

Zugleich  wird  unter  Bezugnahme  auf  die  mit  der  kaiserlichen  Ent- 
schliessung  vom  31.  Dezember  1851  festgesetzten  Grundlagen  für  die  organische 
Gesetzgebung  des  Reiches  verfügt,  dass  das  Strafgesetz  für  den  ganzen  Um- 
fang des  Reiches  in  Wirksamkeit  gesetzt  werde  und  zwar  vom  1.  September 
1852  angefangen,  sowohl  in  jenen  Kronländem,  in  welchen  bisher  das  Straf- 
gesetzbuch von  1803  in  Rechtskraft  stand,  als  auch  in  den  Königreichen 
Ungarn,  Kroatien,  Slavonien  mit  dem  kroatischen  Küstenlande,  dem  Gross- 
fürstentum Siebenbürgen,  der  Woiwodschaft  Serbien,  dem  Temeser  Banate 
und  dem  Grossherzogtxmi  Krakau,  wodurch  zugleich  alle  Gesetze,  Verord- 
nimgen  und  Gewohnheiten,  welche  in  irgend  einem  Teile  des  Reiches  in  Be- 
ziehung auf  die  Gegenstände  dieses  Strafgesetzes  bisher  bestanden  haben,  mit 
alleiniger  Ausnahme  der  für  das  k.  k.  Militär  und  für  die  Militärgrenzgebiete 
bestehenden  besonderen  Strafgesetze  von  eben  jenem  Tage  ausser  Geltung 
gesetzt  werden  (Einleitung  und  Art.  I  des  Kundmachungspatentes). 

In  Ungarn  trat  jedoch  zufolge  der  sanktionierten  Judex-Curial-Beschlüsse  vom 
Jahre  1861  das  Strafgesetz  von  1852  wieder  ausser  Wirksamkeit,  blieb  jedoch  in 
Kroatien  und  Slavonien  —  und  zwar  bis  heute  —  weiter  bestehen,  desgleichen  in 
Siebenbürgen,  wo  es  jedoch  durch  das  neue  ungarische  Strafgesetzbuch  von  1878,  in 
Geltung  seit  IS^^U,  ausser  Kratt  trat.  Im  Fürstentum  Lichtenstein  ist  das  österreichische 
Strafgesetz  von  1852  (an  Stelle  des  1812  eingeführten  Strafgesetzes  von  1803)  durch 
fürstliche  Resolution  vom  7.  November  1859  in  Geltung  mit  dem  1.  Januar  1860 
getreten. 

Unter  Hin  weglassung  der  das  Strafverfahren  betreffenden  Bestimmungen 
des  alten  Gesetzbuches  zerfällt  nunmehr  das  Strafgesetz  von  1852  in  zwei 
Teile,  deren  erster  von  den  Verbrechen,  deren  zweiter  von  den  Vergehen  und 
Übertretungen  handelt.  Der  erste  Teil  umfasst  27,  der  zweite  14  Hauptstücke, 
welche  zusammen  532  durchlaufende  Paragraphen  enthalten,  von  welchem  232 
dem  ersten,  300  dem  zweiten  Teile  angehören. 

Zugleich  mit  dem  Strafgesetzbuche  wurde  mit  einem  weiteren  kaiserl. 
Patent  vom  27.  Mai  1852  für  sämtliche  Kronländer  des  Reiches  mit  Ausnahme 


§  5.    Die  Revision  des  Strafgesetzes  von  1803  und  das  Strafgesetz  von  1852.      129 


des  Militärgrenzgebietes  eine  neue  Pressordnung  erlassen,  welche  gleichfalls 
mit  dem  1.  September  1852  in  Wirksamkeit  trat  und  das  Gesetz  gegen  den 
Missbrauch  der  Presse  vom  13.  März  1849  ausser  Geltung  setzte. 

Fasst  man  zunächst  die  Hauptunterschiede  des  revidierten  Strafgesetzes 
vom  3.  September  1803  im  allgemeinen  ins  Auge,  so  ergeben  sich  (nach 
V.  Ilyes  Zusammenstellung)  folgende  Hauptpunkte: 

1.  In  den  Text  des  neuen  Strafgesetzes  sind  alle  seit  der  Geltung  des 
Gesetzes  von  1803 — 1852  erflossenen  Nachtragsgesetze,  Ergänzungen,  Erläute- 
rungen und  Belehrungen,  sei  es,  dass  sie  von  dem  Gesetzgeber  selbst  oder 
nm*  von  Behörden  ausgegangen  sind,  insoweit  dieselben  als  mit  dem  Geiste 
des  ursprünglichen  Gesetzes  vereinbar  und  auch  den  Verhältnissen  der  Gegen- 
wart noch  angemessen  erkannt  worden  sind,  aufgenommen. 

ä.  Das  gegenwärtige  Strafgesetz  soll  in  Beziehungen  auf  die  darin  er- 
wähnten als  Verbrechen,  Vergehen  und  Übertretungen  erklärten  strafbaren 
Handlungen  auch  dann  zur  Richtschnur  dienen,  Avenn  dieselben  durch  Druck- 
schriften begangen  werden. 

3.  Unter  den  allgemeinen  B(»stimmungen  des  Strafgesetzes  enthält  die 
revidierte  Ausgabe  von  1852  mehrfache  neue  Vorschriften,  so  über  die  Not- 
wehr (§  2  lit.  g),  misslungene  Verleitung  zu  Verbrechen  (§  9),  ferner  die  Ein- 
führung mehrerer  neuer  Strafarten  und  Strafverschärfungen  (§§  21 — 24,  248, 
255 — 258),  wesentliche  Milderungen  im  Vollzuge  der  Kerkerstrafe  (§16  luid 
18),  Aufhebung  der  Zulässigkeit  der  Verschärfung  der  lebenslangen  Kerker- 
strafe (§  50). 

4.  Ebenso  wurden  neue  Verbrechensbegriffe  zwischen  die  einzelnen  Gat- 
tungen und  Arten  der  Verbrechen  des  alten  Gesetzbuches  eingeschoben,  so 
§§64,  65,  76—80,  85  lit.  c  und  87,  98  lit.  a,   174  1,    175  1b   und  Ild,    176  1. 

5.  Aber  auch  an  den  Begriffsbestimmungen  der  Delikte  selbst  wurden 
grundsätzliche  und  wesentliche  Abänderungen  vorgenommen.  So  sind  die 
BegriflFe:  Hochverrat,  Majestätsbeleidigung,  Störung  der  öffentlichen  Ruhe,  Not- 
zucht, Schändung  und  andere  schwere  Unzuchtsfälle,  schwere  körperliche 
Beschädigung,  Vergehen  und  Übertretungen  gegen  die  Sicherheit  der  Ehre 
gänzlich  umgearbeitet  und  neugestaltet,  sowie  an  zahlreichen  anderen  Begriffs- 
bestimmungen von  Verbrechen  bezw.  Vergehen  und  Übertretungen  Abände- 
rungen vorgenommen  (vergl.  die  Zusammenstellung  bei  v.  Hye,  das  öster- 
reichische Strafgesetz  S.  14 — 15). 

6.  Besonders  zahlreich  sind  die  Abänderungen  an  den  bisherigen  Straf- 
drohungen für  die  einzelnen  Delikte ,  sowohl  was  Milderungen  als  Ver- 
schärfungen der  bisherigen  Strafbestimmungen  betrifft.  Hierher  gehört  vor 
allem  die  Einschränkung  der  mit  Todesstrafe  bedrohten  Verbrechen. 

7.  Endlich  ist  in  vielen  Paragraphen  der  revidierten  Ausgabe  der  Text 
des  früheren  Gesetzes  schärfer  und  bestimmter  präzisiert  oder  in  stilistischer 
Beziehung  verbessert  worden,  ohne  dass  dadurch  eine  Sinnesänderung  in  dem 
bisherigen  Gesetze  herbeigeführt  werden,  vielmehr  nur  damit  der  früher  häufig 
zweifelhaft  gewesene  Sinn  des  Gesetzes  genauer  und  zwar  regelmässig  in 
der  Art  und  Bedeutung  bestimmt  werden  sollte ,  welche  von  der  ♦vorherrschen- 
den Interpretation  der  Doktrin  und  Praxis  auch  bisher  schon  dem  bestehenden 
Gesetze  untergelegt  worden  war. 

Insbesondere  erscheinen  hier  als  die  wichtigsten  materiellen  Änderungen 
diejenigen,  wodurch  an  die  Stelle  von  absoluten  Strafsätzen  des  alten  Gesetzes 
nunmehr  eine  relative  Strafdrohung  für  zahlreiche  Vergehen  und  Übertretungen 
tritt;  hiermit  wird  das  im  Prinzip  für  das  gesamte  Gesetz  anerkannte  System  der 
relativen  Strafsätze  fast  ausnahmslos  durchgeführt  wird.  Gleichwohl  lässt  sich 
nicht  leugnen,   dass  trotz  des  Bestrebens,    die  Textierung  des  neuen  Gesetzes 

Strafgesetzgebuiig  der  Gegenwart.    I.  9 


•  •  

130  (Österreich.  —  Die  gesetzlichen  Grundlagen  des  geltenden  Rechts. 


gegenüber  der  des  alten  zu  verbessern,  gerade  die  wegen  ihrer  Knappheit  und 
Klarheit  geschätzte  Sprache  des  Gesetzes  von  1803  durch  manche  minder 
genaue,  teils  verschwommene,  teils  allzu  kasuistische  Fassung  abhanden  ge- 
kommen ist,  abgesehen  von  höchst  eigentümlichen  und  gesehraubten  Er- 
findungen technischer  Ausdrücke,  wie  „Teilnehmung**  im  Gegensatze  zur  Teil- 
nahme, u.  a. 

§  6.  Das  Strafgesetz  von  1852  In  seinen  OrundzQgen. 

Die  in  der  heutigen  Gesetzgebung  als  „allgemeine  Bestimmungen **  be- 
zeichneten, die  Delikte  und  ihre  Bestrafung  überhaupt  betreflTenden  Vorschriften 
sind  im  Gesetzbuche  von  1852  in  den  Hauptstücken  1 — 5  und  21  des  ersten 
Teiles,  was  die  Verbrechen  betrifft,  ferner  in  den  Hauptstücken  1 — 3  und  14 
des  zweiten  Teiles,  was  die  Vergehen  und  Übertretungen  betrifft,  enthalten. 
Die  Hauptstücke  6 — 26  des  ersten  Teiles,  4 — 13  des  zweiten  Teiles  enthalten 
die  Bestimmungen  über  die  einzelnen  Verbrechen,  bezw.  Vergehen  und  Über- 
tretungen. In  den  allgemeinen  Bestimmungen  des  Gesetzbuches  von  1852 
tritt  der  Zusammenhang  mit  der  früheren  österreichischen  Gesetzgebung  deut- 
lich und  unverkennbar  vor.  Dies  zeigt  sich  insbesondere  hinsichtlich  der  Be- 
stimmungen über  den  dolus  („bösen  Vorsatz"),  die  Ausschliessungsgründe  der 
Zurechnung,  den  Versuch,  die  Mitschuld  und  Teilnahme,  die  Konkurrenz,  das 
Strafensystem  und  die  Strafaufhebungsgründe  („Erlöschung  der  Strafen"). 
Hierin  ist  ein  Unterschied  nur  insofern  zu  bemerken,  dass  einzelne  Materien, 
wie  böser  Vorsatz,  Versuch,  Mitschuld,  Konkurrenz  in  ihrer  begrifflichen 
Fixierung  bis  auf  das  Josephinische  Gesetzbuch  von  1787  zurückweisen, 
während  das  Strafensystem  des  gegenwärtigen  Gesetzbuches  lediglich  dem  des 
Gesetzbuches  von  1803,  bezw.  dessen  zuvor  als  westgalizisches  Strafgesetzbuch 
publiziertem  Entwürfe  folgt.  Die  Grundeinteilung  der  strafbaren  Handlungen 
dagegen  in  Verbrechen,  Vergehen  und  Übertretungen,  welche  dem  gegen- 
wärtigen Gesetzbuche  zu  Grunde  liegt,  führt  zunächst  auf  die  Einteilung  des 
Gesetzbuches  von  1803  in  Verbrechen,  und  schwere  Polizeiübertretungen  als 
ihre  Grundlage  zurück,  welche  allerdings  wiederum  an  die  Einteilung  des 
Josephinischen  Gesetzbuches  in  Kriminalverbrechen  und  politische  Verbrechen 
sich  anlehnt.  Mit  der  gleichlautenden  Dreiteilung  der  strafbaren  Handlungen 
der  modernen  Strafgesetzgebung  (preuss.  StGB,  von  1851,  bayerisches  StGB. 
von  1861,  deutsches  RStGB.,  österreichische  Strafgesetz -Entwürfe  von  1871 
bis  1891),  welche  dem  auf  die  Strafsätze  der  einzelnen  Delikte  gebauten 
System  des  Code  p6nal  folgt,  hat  die  Einteilung  des  österreichischen  Gesetz- 
buches jedoch  nichts  als  die  Wortbezeichnung  gemein.  Die  Erklärung  der 
Gesamteinteilung  kann  deshalb  nur  aus  dem  Gesetzbuche  von  1803  entnommen 
werden.  Dasselbe  hatte,  wie  oben  hervorgehoben,  eine  Einleitung,  „von  den 
Gegenständen  dieses  Strafgesetzes"  an  die  Spitze  gestellt,  in  welcher  die  den 
Gesetzgeber  bei  der  Pönalisierung  der  einzelnen  Handlungen  und  bei  ihrer 
Einreihung  unter  die  beiden  Hauptarten:  Verbrechen  und  schwere*  Polizei- 
übertretungen bestimmenden  Grundsätze  ausgeführt  werden.  Obwohl  diese 
Einleitung  aus  formellen  legislatorischen  Gründen  in  das  gegenwärtige  Gesetz- 
buch nicht  mehr  aufgenommen  wurde,  sind  die  dort  angeführten  Grundsätze 
gleichwohl  auch  für  das  Gesetzbuch  von  1852,  was  insbesondere  die  Einteilung 
der  strafbaren  Handlungen  betrifft,  immer  noch  von  massgebender  Bedeutung 
und  vollkommen  im  Einklänge  mit  der  Unterscheidung  der  Verbrechen  einer- 
seits, der  Vergehen  und  Übertretungen  andererseits,  wie  sie  dem  gegen- 
wärtigen Gesetzbuche  zu  Grunde  liegt.  Vergleicht  man  die  Definition  des 
Gesetzbuches  von  1803  mit  den  im  Strafgesetze  von  1852  als  Verbrechen  be- 


§  6.    Das  Strafgesetz  von  1852  in  seinen  Grundzügen.  131 


zeichneten  Handlungen,  so  ergiebt  sich,  dass  die  in  derselben  angeführten  Merk- 
male auch  auf  die  Verbrechen  des  gegenwärtigen  Gesetzbuches  vollkommen 
passen.  So  sagt  der  von  der  Einteilung  der  einzelnen  Verbrechen  handelnde 
§  56  des  gegenwärtigen  Gesetzbuches  ausdrücklich,  dass  die  Verbrechen  ent- 
weder „die  gemeinschaftliche  Sicherheit"  angreifen,  oder  „die  Sicherheit  ein- 
zelner Menschen  an  ihren  Rechten  verletzen".  Das  Erfordernis  der  Absicht- 
lichkeit ist  in  dem  im  §  1  aufgestellten  Grundsatze:  „zu  einem  Verbrechen 
wird  böser  Vorsatz  erfordert"  enthalten.  Dass  auch  das  in  jener  Deünition 
enthaltene  Merkmal  „der  Grösse  der  Verletzung  oder  der  gefährlicheren  Be- 
schaffenheit der  Umstände"  im  gegenwärtigen  Strafgesetze  für  die  Unter- 
scheidung der  Verbrechen  von  den  anderen  Arten  der  strafbaren  Handlungen 
hervortritt,  ist  namentlich  dadurch  begründet,  dass  nur  solche  vorsätzliche 
Rechtsverletzungen  und  Rechtsgefährdungen,  bei  denen  dieses  Erfordernis  vor- 
liegt, als  Verbrechen  bezeichnet  werden,  während  der  Mangel  desselben  Hand- 
lungen gleicher  Art  nur  als  Vergehen  und  Übertretungen  erscheinen  lässt,  wie 
dies  insbesondere  bei  den  Delikten  gegen  das  Vermögen,  gegen  die  körper- 
liche Integrität  und  die  Ehre  hervortritt.  Die  Begriffsbestimmung  der  Ver- 
gehen und  Übertretungen  ist  gleichfalls  der  oben  angeführten  Einleitung 
des  Strafgesetzes  von  1803  zu  entnehmen,  aus  welcher  sich  drei  Arten  der- 
selben ergeben:  1.  Unmittelbare  und  vorsätzliche  Verletzungen  der  Rechtsord- 
nung, welchen  die  nach  dem  Gesetze  zur  Qualifikation  als  Verbrechen  erforder- 
liche Grösse  der  Verletzung  oder  Gefahr  fehlt.  2.  Die  kulposen  Delikte  und 
8.  die  reinen  Ungehorsams-  oder  Polizei delikte.  Die  letzteren  hebt  §  238  des 
Strafgesetzbuches  von  1852  besonders  hervor  durch  die  Bestimmung,  dass  der- 
artige normwidrige  Handlungen  oder  Unterlassungen  Vergehen  oder  Übertretungen 
sind,  „obgleich  weder  eine  böse  Absicht  dabei  mit  unterlaufen,  noch  Schaden 
oder  Nachteil  daraus  erfolgt  ist".  Der  Unterscheidung  der  schweren  Polizei- 
übeitretungen  des  früheren  Gesetzbuches  in  Vergehen  und  Übertretungen  liegt 
jedoch  nicht  ein  wesentlicher  begrifflicher  Unterschied  zu  Grunde;  sie 
ist  auch  für  das  materielle  Strafrecht  von  untergeordnetem  Werte,  da  nament- 
lich für  beide  Arten  die  gleichen  allgemeinen  Grundsätze  betreffs  der  Zurech- 
nung der  Strafen,  Strafausmessung,  Erlöschung  der  Strafen  usw.  gelten. 
Die  Unterscheidung  hat  vielmehr  nur  in  Bezug  auf  das  Strafverfahren  und 
die  Zuständigkeit  der  Gerichte  eine  Bedeutung,  indem  die  Vergehen  in 
dieser  Hinsicht  den  Verbrechen  gleichgestellt,  die  Übertretungen  dagegen  den 
Einzelgerichten  (Bezirksgerichten)  zur  Verhandlung  und  Entscheidung  zu- 
gewiesen sind. 

Wie  die  Einteilung  der  strafbaren  Handlungen,  so  weisen  auch  die  all- 
gemeinen Bestimmmigen  des  Gesetzbuches  von  1852  über  bösen  Vorsatz,  Ver- 
such und  Mitschuld  auf  die  frühere  österreichische  Gesetzgebung,  speziell  auf 
das  Josephinische  Gesetzbuch  von  1787  als  ihre  Grundlage  zurücjc.  Der  §  1 
des  Gesetzbuches  bezeichnet  den  bösen  Vorsatz  als  notwendiges  Erfordernis 
eines  Verbrechens.  „Böser  Vorsatz  aber  —  heisst  es  dann  weiter  —  fällt 
nicht  nur  dann  zur  Schuld,  wenn  vor  oder  bei  der  Unternehmung  oder  Unter- 
lassung das  Übel,  welches  mit  dem  Verbrechen  verbunden  ist,  geradezu  be- 
dacht und  beschlossen,  sondern  auch,  wenn  aus  einer  anderen  bösen  Absicht 
etwas  unternommen  oder  unterlassen  worden,  woraus  das  Übel,  welches  da- 
durch entstanden  ist,  gemeiniglich  erfolgt  oder  doch  leicht  erfolgen  kann." 
In  den  Worten  „vor  oder  bei  der  Unternehmung  usw."  ist,  wie  die  öster- 
reichische Doktrin  annimmt,  eine  Hinweisung  auf  die  Unterscheidung  des  Vor- 
satzes in  dolus  praemeditatus  und  Impetus  enthalten,  während  durch  die 
Worte  „geradezu  bedacht  und  beschlossen"  und  die  Gegenüberstellung  des 
zweiten  Satzes   „sondern   auch  wenn  aus   einer  anderen   bösen  Absicht  usw." 

9* 


132  Österreich.  —  Die  «resetzlichen  Grundlageu  des  geltenden  Rechts. 


die  clrr  ältoivu  Doktrin  eigene  Unti^rschoidung  von  dolus  directus  und  indirectus 
gemacht  wird. 

Di^'se  in  das  heutige  Strafrecht  und  in  die  moderne  Strafgesetzgebung 
wie  eine  Ruine  aus  fast  verschollenen  alten  Kämpfen  hineinragende  Bestim- 
mung niuss  sowohl  wegen  dieser  Sonderstellung  als  auch  wegen  der  zahl- 
reichen Kontroversen,  zu  denen  sie  den  österreichischen  Kriminalisten  Anlass 
gab,  näher  gewürdigt  werden. 

Einige  Schriftsteller  nämlich,  wie  Jenull  („Östern^ichisches  Kriminal- 
recht**,  §  1,  lU)  wollen  hierin  nicht  die  gesetzliche  Fixiening  des  dolus  in- 
directus, sondern  eine  praesumtio  doli,  andrTc  dagegen,  wie  Herbst  (^Hand- 
buch des  österreichischen  Strafrechtes",  Bd.  I,  Note  9  bis  12  zu  §  li,  v.  Hye 
(„das  österreichische  Strafgc^setz" ,  S.  147),  Kitka  (im  Archiv  des  Kriminal- 
recht(»s,  1835,  S.  240)  lediglich  eine  Beweisregel  erk(»nnen,  während  Rulf  und 
(ilaser  (in  Haimerls  „Magazin  für  Rechts-  und  Staatswissenschaft",  Bd.  IX, 
S.  315  ff.  und  Bd.  XI,  S.  305  ff.),  ebenso  Geyer  (Erörterungen,  S.  21  ff.)  hierin 
eine  gesetzliche  Anerkennung  des  dolus  indirectus  finden,  wenn  sie  auch 
dessen  Verwerflichkeit  vom  Standpunkte  der  Theorie  ausdrücklich  zugeben. 
Diese  letztere  Ansicht  ist  jedenfalls  die  richtige.  Denn  ein  Blick  auf  die 
Entstehungsgeschichte  des  §  1  und  seinen  Zusammenhang  mit  der  älteren  öster- 
reichischen Gesetzgebung  ergiebt  in  der  That,  dass  schon  die  Theresiana 
(anschliessend  an  einige  offenbar  unter  dem  Einflüsse  des  Carpzowschen  dolus 
indirectus  stehende  Bestimmungen  der  Landgerichtsordnung  Ferdinands  III. 
von  1656)  in  Art.  3,  §  1  und  Art.  83,  §>$  3  und  13  den  dolus  indirectus  der  da- 
maligen Doktrin,  wie  er  zuletzt  durch  die  Nettelblatt-Glänzersche  Dissertation 
von  1756  formuliert  war,  aufgenommen  hatte,  freilich  nicht  ohne  die  ver- 
mutete eventuelle  Einwilligimg  in  den  ursi)rünglich  nicht  beabsichtigten  Erfolg, 
wie,  sie  kurz  darauf  J.  S.  F.  Böhmer  und  später  Püttmann  hierzu  ausdrück- 
lich forderte,  mit  darunter  zu  beziehen.  Von  hier  aus  ging  dann  der  dolus 
indirectus,  wenn  auch  unter  Ausschluss  des  bis  dahin  unter  ihn  einbezogenen 
dolus  eventualis  in  etwas  geläuterter  Gestalt  und  genauerer  Fassung  in  das 
Josei)hinische  StG.  und  aus  diesem  in  das  westgalizische  und  in  das  StG. 
von  1803  über,  dessen  §  1  im  Gesetzbuche  von  1852  unverändert  blieb. 
Damit  ist  die  Annahme  derjenigen,  welche  in  dieser  Stelle  eine  Beweisregel, 
bezw.  eine  praesumtio  doli  finden  wollen  (ohne  übrigens  zu  bedenken,  dass 
ja  das  (Gebilde  des  dolus  indirectus  in  seinem  Ausgangsi)unkte  und  seiner 
ganzen  Entwickelung  nichts  anderes  als  eine  derartige  Fiktion  war)  jedenfalls 
nachdrücklich  widerlegt.  Jedoch  bedeutet  der  im  Schlusssatze  des  §  1  ent- 
haltene dolus  indirectus  (wie  die  Wortfassung  ergiebt,  unter  Ausschluss  des 
dolus  eventualis,  der  vielmehr  unter  die  Worte  des  ei'sten  Absatzes  des  §  1 
„geradezu  bedacht  und  beschlossen"  subsumiert  werden  müsste)  nur  einen 
Teil  der  früher  mit  der  Bezeichnung  dolus  indirectus  verbundenen  Vorstellung 
und  zwar  die  Fälle,  bei  welchen  ein  nicht  beabsichtigter  Erfolg  durch  eine  in 
anderer  böser  Absicht  unternommene  Handlung  wirklich  herbeigeführt  wird. 
Diese  Handlung  muss  aber  so  geartet  sein,  dass  aus  ihr  Jener  Erfolg  ge- 
meiniglich entsteht  oder  doch  leicht  entstehen  kann",  für  den  Thäter  also  der 
bewirkte,  nicht  beabsichtigte  Erfolg  jedenfalls  voraussehbar  war.  Übrigens 
genügt  ein  solcher  dolus  indirectus  nur  zum  Thatbestande  jener  Verbrechen, 
bei  welchen  dies  im  Gesetze  deutlich  und  insbesondere  ereichtlich  gemacht 
ist.  Dies  sind  namentlich  Totschlag  und  schw^ere  körperliche  Beschädigung, 
{5§  140  und  152.  (Diese  Ansicht  wird  insbesondere  von  Glaser  und  Geyer  ver- 
treten und  begründet.) 

Im  S  2  des  Gesetzbuches  werden  unter  der  Rubrik  „Gründe,  die  den 
bösen  Vorsatz  ausschliessen",  Ausschliessungsgründe  der  Zurechnung  des 


§  6.    Das  Strafgesetz  von  1852  in  seinen  Grundzügen.  133 


Verbrechens  aufgezählt  und  zwar  zunächst  lit.  a — e  solche  Zustände,  welche  das 
Bewusstsein  und  damit  die  Zurechnung  ausschliessen ,  („wenn  der  Thäter  des 
Gebrauchs  der  Vernunft  ganz  beraubt  ist;  wenn  die  That  bei  abwechselnder 
Sinnenverwirrung  zur  Zeit,  da  die  Verrückung  dauerte,  oder  in  einer  ohne 
Absicht  auf  das  Verbrechen  zugezogenen  vollen  Berauschung  —  bemerkens- 
wert ist  der  weitere  Begriff  Berauschung,  nicht  Trunkenheit  —  oder  einer 
anderen  Sinnesverwirrung,  in  welcher  der  Thäter  sich  seiner  Handlung  nicht 
bewusst  war,  begangen  worden").  In  letzterer  Beziehung  besitzt  das  öster- 
reichische Gesetzbuch  im  §  236  und  §  523  die  neuestens  auch  zur  Aufnahme 
in  die  deutsche  Gesetzgebung  empfohlene  Bestimmung,  dass  bei  Handlungen, 
die  als  Verbrechen,  weil  im  Zustande  der  Trunkenheit  verübt,  nicht  zugerech- 
net werden  können,  die  Trunkenheit  selbst  als  Übertretung  bestraft  wird 
(ebenso  §524:  Vornahme  gefährlicher  Arbeiten  durch  Trunkene). 

Lit.  d  des  §  2  behandelt  im  Zusammenhalte  mit  den  §§  237  und  269  die  Frage 
der  Straf  Unmündigkeit.  Das  österreichische  Strafgesetzbuch  nimmt  hier  im  Ver- 
gleich mit  der  heutigen  (Tcsetzgebung  einen  gesonderten  Standpunkt  ein,  wenn 
auch  wesentlich  auf  dem  Boden  des  gemeinen  Rechtes  stehend,  und  unterscheidet: 

1.  Das  Alter  der  Kindheit  bis  zum  vollendeten  zehnten  Jahre.  Alle 
während  dieser  Periode  verübten  strafbaren  Handlungen  können  überhaupt 
nicht  zugerechnet  werden  und  unterstehen  lediglich  der  häuslichen  Züchtigung. 

2.  Das  Alter  der  Unmündigkeit  erstreckt  sich  vom  angehenden  elften 
bis  zum  vollendeten  vierzehnten  Lebensjahre.  Handlungen,  die  nur  wegen 
Unmündigkeit  des  Thäters  nicht  als  Verbrechen  zugerechnet  werden  können, 
sind  als  Übertretungen  zu  strafen.  Dagegen  unterstehen  Vergehen  und  Über- 
tretungen der  Unmündigen  lediglich  der  häuslichen  Züchtigung,  eventuell  auch 
der  Ahndung  und  Vorkehrung  der  Sicherheitsbehörden. 

3.  Erst  mit  dem  vollendeten  vierzehnten  Jahre  beginnt  die  Mündigkeit 
und  damit  die  volle  strafrechtliche  Verantwortlichkeit.  Gleichwohl  ist  noch 
das  Alter  vom  vierzehnten  bis  zum  zwanzigsten  Jahre  ein  Strafmilderungs- 
umstand (§  46  lit.  a  und  §  264  lit.  a),  und  nach  §  52  auch  ein  Ausschliessungs- 
grund der  Todesstrafe  und  der  lebenslänglichen  Kerkerstrafe,  an  deren  Stelle 
schwerer  Kerker  zwischen  zehn  und  zwanzig  Jahren  tritt. 

In  lit.  e  wird  der  „Irrtum,  der  ein  Verbrechen  in  der  Handlung  nicht 
erkennen  Hess"  (Thatirrtum),  als  Ausschliessungsgrund  der  Zurechnung  erklärt, 
während  im  §  3  die  Berufung  auf  den  Rechtsirrtum  in  Bezug  auf  das  Straf- 
gesetz für  unzulässig  erklärt  wird.  („Mit  der  Unwissenheit  des  gegenwärtigen 
Gesetzes  über  Verbrechen  kann  sich  niemand  entschuldigen.")  Dieselbe  Be- 
stimmung enthält  §  233  betreffs  der  Vergehen  und  Übertretungen. 

In  lit.  f  wird  die  Zurechnung  zum  Verbrechen  ausgeschlossen,  wenn  das 
Übel  aus  „Zufall,  Nachlässigkeit  oder  Unwissenheit  der  Folgen  der  Handlung 
entstanden  ist".  Selbstverständlich  ist  hierdurch  in  letzteren  beiden  Fällen  die 
Zurechnung  eines  kulposen  Deliktes  nicht  ausgeschlossen. 

Lit.  g  spricht  von  dem  „unwiderstehlichen  Zwang",  wobei  physischer 
und  psychologischer  Zwang  nicht  unterschieden  werden.  Unter  diese  Be- 
stimmung fallen  auch  die  im  Notstand  begangenen  Handlungen,  da  das  (xesetz- 
buch  hierüber  eine  eigene  Vorschrift  nicht  enthält.  Zugleich  ist  auch  in  lit.  g 
die  Notwehr  unter  die  Gründe,  welche  „den  bösen  Vorsatz  aufheben",  gestellt, 
während  das  Strafgesetz  von  1803  dieselbe  nur  im  Anschlüsse  an  die  Ver- 
brechen des  Mordes  und  Totschlages  anfühi'te:  der  BegriflF  der  Notwehr  ist 
jedoch  nur  auf  rechtswidrige  Angriffe,  gegen  Leben,  Freiheit  oder  Vermögen 
beschränkt.  Der  Notwehr  ist  die  Überschreitung  der  Grenzen  derselben  „aus 
Bestürzung,  Furcht  oder  Schrecken"  gleichgestellt,  welche  jedoch  „nacli  Be- 
schaffenheit der  Umstände"  als  kulposes  Delikt  bestraft  werden  kann. 


134  Österreich.  —  Die  gesetzlichen  Grundlagen  des  geltenden  Rechts. 


Was  den  Versuch,  die  Mitschuld  und  Teilnahme  betrifft,  so  giebt  das 
Gesetz  §§  5,  6  und  8  keine  erschöpfende  und  schulmässige  Definition,  sondern 
nur  Fingerzeige  und  Abgrenzungen,  welche  der  Doktrin  den  entsprechenden 
Spielraum  zur  Entwickelung  und  Fortbildung  lassen,  den  sie  auch  in  einer 
anerkennenswerten  Weise  benützt  hat.  Indessen  wird  schon  „der  Versuch 
einer  Übelthat  für  das  Verbrechen"  erklärt  und  weiter  nur  der  Anfangspunkt 
der  Strafbarkeit  markiert,  indem  „eine  zur  wirklichen  Ausübung  führende 
Handlung"  unternommen  sein  muss,  und  als  weiteres  Erfordernis  aufgestellt 
wird,  dass  „die  Vollbringung  des  Verbrechens  aber  nur  wegen  Unvermögen- 
heit,  wegen  Dazwischenkunft  eines  fremden  Hindernisses  oder  durch  Zufall 
unterblieben  sei".  In  der  Gleichstellung  des  Versuches  mit  dem  vollendeten 
Verbrechen  weicht  das  österreichische  Strafgesetzbuch  von  den  Grundsätzen 
des  gemeinen  deutschen  Kriminalrechtes  und  der  neueren  deutschen  Straf- 
gesetzgebung ab.  Jedoch  ist  hierin  nicht  so  sehr  eine  Annahme  des  Grund- 
satzes des  französischen  Code  des  d61its  et  des  peines  vom  3.  ßrumaire 
des  J.  IV  und  des  Gesetzes  vom  22.  Prairial  des  J.  IV  —  wie  es  das 
preussische  Strafgesetzbuch  von  1851  und  das  bayerische  Strafgesetzbuch  von 
1861  mit  Beziehung  auf  den  Code  pönal  von  1810  gethan  haben  —  zu  er- 
blicken, da  vielmehr  schon  die  ältere  österreichische  Strafgesetzgebung,  von 
der  Theresiana  (Art.  13,  §4)  angefangen,  den  Versuch  rücksichtlich  der  Be- 
strafung prinzipiell  dem  vollendeten  Verbrechen  gleichsteUt,  aber  mit  ausdrück- 
licher Zulassung  einer  Strafmilderung;  und  dies  ist  auch  der  Standpunkt  des 
Gesetzbuches  von  1852  (§47,  lit.  a).  Überdies  werden  bei  einzelnen  Verbrechen, 
insbesondere  bei  den  mit  absoluter  Strafe  bedrohten,  eigene  mildere  Straf- 
drohungen für  den  Versuch  aufgestellt,  so  z.  B.  beim  Mord  (§  138),  sowie  ab- 
gesehen davon  in  einzelnen  Fällen  der  Versuch  als  besonderer  Milderungs- 
grund erklärt  und  ein  geringeres  Strafmass  für  denselben  bestimmt  wird,  so 
z.  B.  bei  der  Verfälschung  von  Kreditpapieren  (§§110,  113  und  115);  Ab- 
treibung der  Leibesfrucht  (§  145)  u.  a.  m. 

Als  Mitschuld  am  Verbrechen  werden  Anstiftung  und  Hülfeleistung  der 
Thäterschaft  gleichgestellt  und  als  „Teilnehmer"  derjenige  erklärt,  der  „nur 
vorläufig  sich  mit  dem  Thäter  über  die  nach  vollbrachter  That  ihm  zu 
leistende  Hülfe  und  Beistand  und  über  einen  Anteil  am  Gewinne  und  Vorteil 
einverstanden  hat".  Dagegen  ist  der  ohne  vorläufiges  Einverständnis  nach 
begangenem  Verbrechen  dem  Thäter  geleistete  Beistand  und  das  nachträgliche 
Gewinn-  und  Vorteilziehen  aus  dem  Verbrechen  als  delictum  sui  generis  er- 
klärt und  im  besonderen  Teile  des  Gesetzbuches  als  Vorschubleistung,  bezw. 
bei  Diebstahl,  Veruntreuung  und  Raub  mit  der  der  österreichischen  Termino- 
logie eigentümlichen  Bezeichnung  „Teilnehmung"  normiert.  Mitschuldige  und 
Teilnehmer  sind  dem  Thäter  rücksichtlich  der  Bestrafung  prinzipiell  gleich- 
gestellt; jedoch  macht  das  Gesetzbuch  auch  hiervon  bei  den  einzelnen  Delikten 
Ausnahmen,  indem  es  rücksichtlich  entfernterer  Mitschuldiger  (Gehilfen)  und 
Teilnehmer  geringere  Strafsätze  aufstellt.  Der  Ausdruck  „Teilnahme"  be- 
zeichnet also  nicht  wie  in  der  Terminologie  der  gemeinrechtlichen  Doktrin 
und  d(ir  ncuieron  Strafgesetzgebung  alle  Arten  der  dolosen  Beteiligung  meh- 
rerer an  einem  Delikte,  sondern  nur  eine  Art  derselben,  und  zwar  eine 
Modalität  der  intellektuellen  Beihülfe,  so  dass  also  nacJi  dem  österreichischen 
Gesetzbuche  erst  der  Umfang  b(»ider  Begriffe:  „Mitschuld"  und  „Teilnahme" 
zusammengenommen  dem  sonst  in  der  Wissenschaft  und  Gesetzgebung  all- 
gemein üblichen  Begriffe  der  „Teilnahme"  entspricht. 

Im  §  9  wird  dii^  versuchte  Verleitung  zu  Verbrechen  (im  Gegensatze  zu 
der  früheren  österreichischen  Strafgesetzgebung,  die  diese  Bestimmung  nicht 
kannte)  als  strafbar  erklärt  und  ist  dieselbe  mit  derjenigen  Strafe  zu  belegen. 


§  6.    Das  Strafgesetz  von  1852  in  seinen  Gnindzügen.  135 


welche  für  den  Versuch  des  betreffenden  Verbrechens  zu  verhängen  wäre. 
Dieses  ist  wohl  der  älteste  Vorläufer  des  berüchtigten  Duchesne-Paragraphen 
des  neuen  belgischen  und  deutschen  Strafrechtes.  Durch  die  Bestimmung  des 
§  239  finden  die  die  Mitschuld  und  Teilnahme,  sowie  den  Versuch  betreffenden 
Bestimmungen  der  §§  5 — 11  auch  auf  Vergehen  und  Übertretungen  Anwendung. 

Besondere  Würdigung  fordern  auch  die  die  Zurechnung  der  durch 
Druckschriften  begangenen  Delikte  betreffenden  Vorschriften  des  Gesetzbuches 
von  1852  und  des  Pressgesetzes.  §  7  bestimmt,  dass  der  Verfasser,  Über- 
setzer, Herausgeber,  Verleger  oder  Betriebsbesorger,  Buchhändler,  Drucker, 
bei  periodisclien  Druckschriften  auch  der  verantwortliche  Redakteur,  wie 
überhaupt  alle  Personen,  die  bei  der  Drucklegung  oder  Verbreitung  der  straf- 
baren Druckschrift  mitgewirkt  haben,  desselben  Verbrechens  schuldig  sind, 
wenn  die  allgemeinen  Bestimmungen  der  §§  1,  5,  6,  8,  9 — 11  auf  sie  in  An- 
wendung kommen.  Das  in  dieser  Anordnung  enthaltene  Prinzip  wurde  jedoch 
in  bedenklicher  Weise  ergänzt  durch  den  §  34  ff.  der  Pressordnung  vom 
27.  Mai  1852,  welche  die  Haftung  „wegen  Vernachlässigung  der  pflichtmässigen 
Aufmerksamkeit  und  Obsorge"  in  die  österreichische  Pressgesetzgebung  ein- 
führen; Verfasser,  Übersetzer,  Herausgeber,  Redakteure,  Verleger,  Drucker, 
Vertriebsbesorger,  Verschleisser  und  Verbreiter  haften  „gleichzeitig";  mit 
Freiheitsstrafen  bis  zu  2  Jahren  wird  kumulativ  Geldstrafe  oder  Kautions- 
verfall angedroht.  Das  Pressgesetz  vom  17.  Dezember  1862  enthält  zwar  Be- 
schränkungen der  Haftung  für  Vernachlässigung  pfiicl^tmässiger  Obsorge  und 
Aufmerksamkeit,  aber  das  dieses  Pressgesetz  teilweise  abändernde  Gesetz  vom 
15.  Oktober  1868  hielt  im  Prinzipe  an  dieser  Fahrlässigkeits-  oder  Ordnungs- 
strafe fest,  wenn  es  auch  im  Art.  III  die  Verantwortlichkeit  des  Verfassers 
und  Herausgebers  wegen  Vernachlässigung  der  pflichtgemässen  Obsorge  und 
Aufmerksamkeit  beseitigte  durch  die  Bestimmung,  dass  Redakteure,  Verleger, 
Drucker  und  Verbreiter,  wenn  sie  auch  wegen  des  mangelnden  Nachweises 
der  bösen  Absicht  nach  allgemeinen  strafrechtlichen  Grundsätzen  nicht  ver- 
urteilt werden  können,  doch  wegen  Vernachlässigung  derjenigen  Obsorge  und 
Aufmerksamkeit  zur  Verantwortung  gezogen  werden,  deren  Anwendung  ihre 
besondere  Berufsstellung  ihnen  zur  Pflicht  macht.  Diese  Bestimmungen  werden 
noch  durch  die  Normierung  des  sogenannten  objektiven  Verfahrens  ergänzt. 
Es  wurde  nämlich  durch  das  gleichzeitig  mit  dem  Pressgesetze  vom  17.  De- 
zember 1862  erlassene  Gesetz  über  das  Strafverfahren  in  Presssachen  be- 
stimmt, dass  der  Staatsanwalt,  auch  wenn  er  gegen  keine  bestimmte  Person 
eine  Anklage  erhebt,  im  öffentlichen  Interesse  begehren  kann,  dass  das  Gericht 
erkenne,  ob  der  Inhalt  einer  im  Aus-  oder  Inlande  erschienenen  Druckschrift 
ein  Verbrechen  oder  Vergehen  begründet.  Hierüber  erkennt  das  Pressgericht 
in  nichtöffentlicher  Sitzung  nach  Anhörung  des  Staatsanwaltes,  ohne  dass  hier- 
durch dem  etwa  später  gegen  eine  Person  einzuleitenden  Strafverfahren  vor- 
gegriffen wird.  Gegen  dieses  Erkenntnis  stand  jedem  Beteiligten  die  Be- 
rufung offen. 

Das  Gesetz  vom  15.  Oktober  1868  suchte  die  Nachteile  der  in  nicht- 
öffentlicher Sitzung  ohne  Anhörung  des  Gegenteiles  ergehenden  Entscheidungen 
durch  die  Einführung  eines  besonderen  Rechtsmittels  zu  paralysieren,  indem 
jeder  Beteiligte  gegen  das  Verbot  binnen  8  Tagen  nach  der  Kundmachung 
desselben  Einspruch  erheben  kann,  über  welchen  das  Pressgericht  in  öffent- 
licher Sitzung  nach  Anhörung  des  Staatsanwaltes  und  des  Einspruch  Er- 
hebenden zu  entscheiden  hat.  Gegen  diese  Entscheidung  stehen  dann  weiter 
die  gegen  Endurteile  eingeräumten  Rechtsmittel  offen.  Diese  Bestimmungen 
gingen  grösstenteils  in  die  Strafprozessordnung  vom  23.  Mai  1873  (§§  493  und 
494)  über.    Die  wichtigsten  Abänderungen  bestanden  darin,  dass  die  Zulässig- 


13(j  Österreich.  —  Die  gesetzlichen  Grundlagen  des  geltenden  Rechts. 


keit  der  objektiven  Verfolgung  auch  auf  Übertretungen  ausgedehnt  und 
gegen  das  Erkenntnis  über  den  Einspruch  eine  Beschwerde  nach  §  494  zu- 
gelassen wurde. 

Das  im  §  7  des  Strafgesetzbuches  über  die  Zurechnung  der  durch  den 
Inhalt  einer  Druckschrift  begangenen  Delikte  aufgestellte  Prinzip  wird  jedoch 
durch  den  §  10  wieder  eingeschränkt,  wonach  bei  Verbrechen  (und  nach  der 
ausdehnenden  Vorschrift  des  §  239  auch  bei  Vergehen  und  Übertretungen), 
die  durch  Druckschriften  begangen  werden,  die  Strafbarkeit  für  den  Verfasser, 
Übersetzer,  Herausgeber,  Redakteur  und  Verleger  schon  mit  der  Übergabe 
des  zu  vervielfältigenden  Werkes  zur  Drucklegung,  für  die  übrigen  Mitschul- 
digen aber  mit  dem  Anfange  ihrer  Mitwirkung  beginnt.  Viel  richtiger  und 
den  allgemeinen  strafrechtlichen  Grundsätzen  entsprechend  war  die  Bestimmung 
des  Pressgesetzes  vom  13.  März  1849  (§  34),  welche  bestimmte,  dass  die  in  den 
§§  23 — 35  angeführten  Übertretungen  den  Strafbestimmungen  dieses  Patentes 
unterliegen,  wenn  die  Hinausgabe  oder  Versendung  der  sträflichen  Druck- 
schriften begonnen  hat,  während  §  10  des  Gesetzbuches  auf  einer  bedenklichen 
Vermischung  des  polizeilichen  mit  dem  strafrechtlichen  Gesichtspunkte  beruht. 

Was  die  den  Geltungsbereich  des  Strafgesetzes  rücksichtlich  des  Ortes 
und  der  Person  betreffenden  Bestimmungen  anlangt,  so  steht  das  Gesetzbuch 
von  1852  hierin  auf  dem  durch  das  Territorialitätsprinzip  erweiterten  Per- 
sonalitätsprinzip und  anerkennt  überdies  auch  einige  wichtige  Konsequenzen 
des  Weltstrafrechtsprinzipes. 

Demnach  sind  alle  im  Inlande  begangenen  Delikte  und  zwar  Verbrechen, 
Vergehen  und  Übertretungen  (§§  37  und  234)  der  Strafgewalt  des  österreichi- 
schen Staates  unterworfen,  ohne  Unterschied,  ob  sie  von  einem  Inländer  oder 
von  einem  Ausländer  begangen  sind ;  auch  Verbrechen  der  Inländer,  wenn  sie 
im  Auslande  begangen  worden  sind,  werden  bedingungslos  bestraft.  Dagegen 
sind  im  Auslande  begangene  Vergehen  und  Übertretungen  der  Inländer,  wenn 
sie  nicht  im  Auslande  bereits  bestraft  oder  nachgesetien  worden  sind,  ohne 
Rücksicht  auf  die  Gesetze  des  Landes,  wo  sie  begangen  wurden,  nach  dem 
Strafgesetzbuche  von  1852  zu  behandeln.  Kraft  ausdrücklicher  gesetzlicher 
Vorschrift  ist  aber  jede  Auslieferung  des  Inländers  an  das  Ausland,  ebenso 
der  Vollzug  der  Urteile  ausländischer  Strafbehörden  im  Inlande  unter  allen 
Umständen  unzulässig  (§§  36  und  235  des  StGB.).  Dagegen  ist,  im  Falle  der 
Schuldige  bereits  im  Auslande  bestraft  worden  ist,  die  erlittene  Strafe  in  die 
nach  dem  österreichischen  Gesetze  zu  verhängende  einzurechnen.  Bezüglich 
der  von  Ausländem  im  Auslande  begangenen  Delikte  sind  zu  unterscheiden 
das  Verbrechen  des  Hochverrates  in  Beziehung  auf  den  österreichischen  Staat 
und  das  Verbrechen  der  Verfälschung  öffentlicher  Kreditpapiere  oder  Münzen 
einerseits  und  die  übrigen  Verbrechen  andererseits.  Wegen  der  erstgenannten 
ist  der  Ausländer  nach  §  38  gleich  einem  Eingeborenen  nach  österreichischem 
Gesetze  zu  behandeln  (Realprinzip),  während  andere  Verbrechen,  von  Aus- 
ländern im  Auslande  begangen,  nur  unter  der  Voraussetzung,  dass  die  Aus- 
lieferung des  Schuldigen  an  die  Behörde  des  Thatortes  nicht  durchführbar  ist, 
bestraft  werden  (Konsequenz  des  Weltstrafrechtsprinzips).  Letzterenfalls  ist 
jedoch  das  Recht  des  Thatortes  anzuwenden,  wenn  die  Behandlung  nach  dem- 
selben gelinder  ausfällt  als  nach  dem  österreichischen  Gesetze  (§§39  und  40). 
Dagegen  werden  von  Ausländem  im  Auslande  begangene  Vergehen  und  Über- 
tretungen gar  nicht  bestraft  (§  234).  §  41  verweist  im  übrigen,  soweit  es  sich 
um  Ausländer  handelt,  auf  die  über  die  gegenseitige  Auslieferung  von  Ver- 
brechern mit  auswärtigen  Staaten  bestehenden  besonderen  Verträge. 

Für  das  Strafensystem  des  Gesetzbuches  von  1852  ist  die  Unterscheidung 
von  Verbrechensstrafen   einerseits,    Strafen    der  Vergehen   und   Übertretungen 


§  6.    Das  Strafgesetz  von  ISo'i  in  seinen  Grundzü^^en.  137 


andererseits  massgebend,  wozu  bei  jeder  Kategorie  die  Unterscheidung  von 
Haupt-  und  Nebenstrafen  tritt.  Die  Hauptstrafen  der  Verbrechen  sind  die 
Todesstrafe  (durch  den  Strang  vollzogen)  und  die  Kerkerstrafe.  Die  Todes- 
strafe ist  im  Gesetzbuche  von  1852  in  folgenden  fünf  Fällen  angedroht:  Hoch- 
verrat nach  §  59,  lit.  a  und  b,  öflfentliche  Gewaltthätigkeit  in  den  Fällen  der 
§§  86  und  87  (boshafte  Eigentumsbeschädigung,  wenn  diese  den  Tod  eines 
Menschen  zur  Folge  hatte  und  mit  derselben  Voraussetzung  boshafte  Hand- 
lungen und  Unterlassungen  unter  besonders  gefährlichen  Verhältnissen),  voll- 
brachter Mord  und  Bestellung  zum  Morde  (§  136),  unmittelbai'e  Mitwirkung  zu 
räuberischem  Totschlag  (§  141),  Brandlegung  im  Falle  des  §  167,  lit.  a  (wenn 
dadurch  ein  Mensch  getötet  wurde  oder  w^enn  der  Brand  durch  besondere  auf 
Verheerung  gerichtete  Zusammenrottung  bewirkt  wurde).  Hierzu  kommt  noch 
der  Fall  des  §  4  des  Gesetzes  vom  27.  Mai  1885  gegen  den  gemeinschädlichen 
(Tcbrauch  von  Sprengstoffen  (wenn  vorsätzlich  durch  Anwendung  von  Spreng- 
stoffen Gefahr  für  Eigentum,  Gesundheit  oder  Leben  eines  anderen  herbei- 
geführt und  dadurch  der  Tod  eines  Menschen  verursacht  wird).  Im  Falle  des 
Standrechtes  kann  die  Todesstrafe  erkannt  werden  bei  den  Verbrechen  des 
Aufruhrs,  Mordes,  Raubes,  der  Brandlegung  und  boshaften  Eigentumsbeschä- 
digung (StPO.  von  1873,  §  429  ff.)  und  bei  den  Vergehen  gegen  die  Pest- 
anstalten (Patent  vom  21.  Mai  1805,  §  12  und  Verordnung  vom  10.  November 
1833,  §  12).  Femer  kann  in  den  Fällen  des  Strafgesetzbuches  §  67  (Aus- 
spähung), §  92  (unbefugte  Werbung),  §  222  (Verleitung  zur  Verletzung  mili- 
tärischer Dienstpflicht  usw.),  wenn  diese  Verbrechen  nach  dem  Gesetze  vom 
20.  Mai  1869  im  Kriegsfalle  der  Militärgerichtsbarkeit  unterstellt  werden,  unter 
bestimmten  Voraussetzungen  Todesstrafe  erkannt  werden. 

Die  Kerkerstrafe  ist  nach  einem  doppelten  Massstabe  abgestuft,  nämlich 
nach  ihrer  Strenge,  d.  h.  nach  ihrer  Intensität  oder  ihrer  Stärke  und  nach 
ihrer  Dauer.  Nach  der  Strenge  kennt  das  Gesetzbuch  von  1852  nur  noch 
zwei  Grade:  Kerker  ohde  Zusatz  oder  schlechthin  Kerker  und  schwerer  Ker- 
ker (§  14).  Im  Strafgesetzbuche  von  1803  war  noch  eine  dritte  Stufe,  der 
schwerste  Kerker,  beigefügt.  Die  Kerkerstrafe  ist  eine  Freiheitsstrafe,  ver- 
bunden mit  Arbeitszwang.  Beim  schweren  Kerker  soll  nach  Vorschrift  des 
§  16  der  Verurteilte  mit  Eisen  an  den  Füssen  angehalten  werden;  diese  Be- 
stimmung ist  jedoch  durch  das  Gesetz  vom  15.  November  1867,  §  3  beseitigt. 
Die  Gerichte  haben  statt  dessen  auf  Beifügung  einer  oder  mehrerer  der  gesetz- 
lich zulässigen  Verschärfungsarten  der  Kerkerstrafe  zu  erkennen.  Die  Fesselung 
der  Gefangenen  ist  nur  noch  als  Disziplinarstrafe  zulässig.  Immerhin  ist 
durch  die  Abschaffung  der  Kette  beim  schweren  Kerker  die  durch  das  Straf- 
gesetz begi'ündete  äussere  Unterscheidung  von  schwerem  und  einfachem  Kerker 
fast  gänzlich  verwischt  worden,  zumal  dieselbe  nach  aussen  hin  überhaupt 
nicht  scharf  genug  hervortritt.  Ausserdem  bestimmt  noch  §  16,  dass  dem  zu 
schwerem  Kerker  Verurteilten  eine  Unterredung  mit  Leuten,  die  nicht  un- 
mittelbar auf  seine  Verwahrung  Bezug  haben,  nur  in  ganz  besonderen  und 
wichtigen  Fällen  gestattet  wird.  Der  zu  dem  ersten  Grade  der  Kerkei-strafe 
(Kerker  ohne  Zusatz)  Verurteilte  soll  nach  §  15  ohne  Eisen,  jedoch  enge  ver- 
wahrt und  in  der  Verpflegung  so  gehalten  werden,  wie  es  die  Einrichtung 
der  für  solche  Sträflinge  bestimmten  Strafanstalten  nach  den  darüber  be- 
stehenden oder  noch  zu  erlassenden  Vorschriften  mit  sich  bringt.  Mit  der 
Kerkerstrafe  ist  stets  die  Anhaltung  zur  Arbeit  verbunden,  jeder  Sträfling 
muss  daher  diejenige  Arbeit  verrichten,  welche  die  Einrichtung  d(?r  Straf- 
anstalten mit  sich  bringt.  Bei  der  Verteilung  dieser  Arbeit  soll  auf  den  Grad 
der  Kerkerstrafe,  die  bisherige  Beschäftigungsweise  und  die  Bildungsstufe  der 
Sträflinge  thunlichste  Rücksicht  genommen  werden  (^  18j. 


138  Osterreich.  —  Die  gesetzlichen  Grundlagen  des  geltenden  Rechts. 


lu  Bezug  auf  die  Dauer  teilt  das  Gesetz  die  Kerkerstrafe  in  lebens- 
länglichen und  zeitlichen  Kerker  ein.  Die  längste  Dauer  beträgt  20  Jahre, 
die  kürzeste  Dauer  in  der  Regel  6  Monate  (§  17).  Auf  Grund  des  ausser- 
ordentlichen Milderungsrechtes  kann  auch  unter  das  Minimum  von  6  Monaten 
herabgegangen  werden  (§  54),  desgleichen  im  Wege  der  Veränderung  der 
Strafe  aus  Humanitätsrücksichten  für  die  schuldlose  Familie  des  Verurteilten  (§55). 

Die  Strafsätze  selbst  sind  folgendermassen  abgestuft:  von  6  Monaten  bis 
zu  1  Jahre,  von  1  Jahre  bis  5  Jahre,  von  5  bis  10  Jahre,  von  10  bis  20 
Jahre.  Die  Strafzeit  und  jede  andere  Rechtswirkung  des  Strafurteils  beginnt 
mit  dem  Zeitpunkte  der  Kundmachung  des  rechtskräftigen  Strafurteiles  (§  17. 
Ausnahmen  hiervon:  StPO.  von  1873,  §§  294,  398,  400,  401,  466). 

Die  Strafen  der  Vergehen  und  Übertretungen  sind:  Geldstrafe,  Verfall 
von  Waren,  Feilschaften  oder  Geräten,  Verlust  von  Rechten  oder  Befugnissen, 
Arrest,  körperliche  Züchtigung,  Abschaffung  aus  einem  Orte,  aus  einem  Kron- 
lande oder  aus  sämtlichen  Kronländern  des  österreichischen  Kaisei*staates. 
Was  zunächst  die  Arreststrafe,  als  die  am  häufigsten  angedrohte  Hauptstrafe, 
betrifft,  so  ist  auch  diese  sowohl  nach  der  Schwere  als  nach  der  Dauer  ab- 
gestuft. In  ersterer  Beziehung  unterscheidet  man  Arrest  ohne  Zusatz,  d.  i. 
Verschliessung  in  einem  Gefangenhause  ohne  Eisen,  wobei  dem  Verurteilten, 
wenn  er  sich  den  Unterhalt  aus  eigenen  Mitteln  oder  durch  Unterstützung 
der  Seinigen  zu  verschaffen  fähig  ist,  die  Wahl  seiner  Beschäftigung  über- 
lassen bleibt  (§  244)  —  und  strengen  Arrest,  in  welchem  der  Verurteilte  in 
Beziehung  auf  die  Verpflegung  und  Arbeit  so  gehalten  wird,  wie  es  die  Ein- 
richtung der  für  solche  Sträflinge  bestimmten  Strafanstalten  nach  den  dar- 
über bestehenden  oder  noch  zu  erlassenden  Vorschriften  mit  sich  bringt. 
Auch  wird  ihm,  wie  dem  zu  einfachem  Kerker  Verurteilten,  eine  Zusammen- 
kunft mit  anderen  Personen  nur  in  Gegenwart  des  Gefangenenwärters,  sowie 
keine  Unterredung  in  einer  dem  letzteren  unverständlichen  Sprache  gestattet 
(§  245).  Ausserdem  kennt  das  Strafgesetzbuch  im  §  246  auch  noch  den  Haus- 
arrest entweder  gegen  blosses  Angeloben,  sich  nicht  zu  entfernen  oder  mit 
Aufstellung  einer  Wache.  Nach  §  262  soll  Hausarrest  verhängt  werden,  wenn 
der  zu  Bestrafende  von  unbescholtenem  Rufe  ist  und  durch  Entfernung  von 
seiner  Wohnung  seinem  Amte,  seinem  Geschäfte  oder  seiner  Erwerbung  ob- 
zuliegen ausser  Stande  ist.  Doch  wird  von  dieser  Strafart  in  der  Praxis 
kaum  mehr  (xebrauch  gemacht.  Strafbare  Handlungen  Unmündiger,  welche 
sonst  als  Verbrechen  zu  qualitizieren  wären,  werden  nach  §  270  mit  Ver- 
schliessung an  einem  abgesonderten  Verwahrungsorte  bestraft.  Der  Dauer  nach 
kann  Arrest  in  minimo  zu  24  Stunden,  in  maximo  zu  6  Monaten  verhängt 
werden,  doch  kann  auch  unter  das  Minimum  herabgegangen  werden,  wenn 
nach  §  260  eine  Umänderung  oder  nach  §  266  eine  ausserordentliche  Milderung 
der  Strafe  eintritt.  Auch  das  Maximum  der  Arreststrafe  kann  nach  besonderen 
gesetzlichen  Bestimmungen  bis  zu  1,  2  oder  3  Jahren  erhöht  werden. 

Die  Abschaffung  (Ausweisung),  obgleich  unter  den  Hauptstrafen  für  Ver- 
gehen und  Übertretungen  angeführt,  tritt  doch  insofern  nur  als  Nebenstrafe 
auf,  als  sie  nie  für  sich  allein,  sondern  immer  nur  in  Verbindung  mit  anderen 
Strafen  erkannt  wird,  doch  darf  dies  nur  in  denjenigen  Fällen  geschehen,  wo 
sie  ausdrücklich  angedroht  ist.  Die  Abschaffung  aus  einem  Orte  oder  einem 
Kronlande  findet  statt  entweder  auf  eine  bestimmte  oder  nach  Beschaffenheit 
der  strafbaren  Handlung  und  der  Umstände  auch  auf  unbestimmte  Zeit.  Auf 
Abschaffung  aus  sämtlichen  Kronländern  des  österreichischen  Kaisei*staates 
kann  nur  gegen  Ausländer  erkannt  werden  (§  249).  Rückkehr  eines  Ab- 
geschafften bildet  nach  §§  323  und  324  eine  Übertretung. 

In  den  §§  19  und  253  stellt   das  Gesetzbuch  von  1852,    auch   hierin   dem 


§  6.    Das  Strafgesetz  von  1852  in  seinen  Grundzügen.  139 


Strafgesetze  von  1803  folgend,  Verschärfungen  der  Kerkersti-afe  und  der  Arrest- 
strafe auf,  jedoch  sind  diese  Verschärfungen  nur  bei  der  zeitlichen,  nicht  aber 
bei  der  lebenslänglichen  Kerkerstrafe,  ebensowenig  wie  bei  der  Todesstrafe, 
zulässig  (§  50).  Die  einzelnen  Verschärfungen  sind:  Fasten,  Anweisung  eines 
harten  Lagers,  Anhaltung  in  Einzelhaft,  einsame  Absperrung  in  dunkler  Zelle, 
ferner  noch  bei  Kerkerstrafen  speziell  Landesverweisung,  bei  Arreststrafen 
Auferlegung  schwererer  Arbeit.  Die  im  Gesetzbuche  gleichfalls  als  Ver- 
schärfung der  Kerkerstrafe  bezw.  als  Haupt-  oder  Stellvertretungsstrafe  der 
Arreststrafe  angeführte  körperliche  Züchtigung  wurde  durch  das  Gesetz  vom 
15.  November  1867  (§  1  und  2)  unbedingt  und  ausnahmslos  abgeschafft  und 
damit  die  bezüglichen  Bestimmungen  des  Gesetzbuches  von  1852  aufgehoben. 
Zugleich  ist  die  körperliche  Züchtigung  hieraiit  auch  als  Diszipllnai^strafe  in 
den  Strafanstalten  aufgehoben.  Der  Regel  nach  ist  die  Verschärfung  der 
Freiheitsstrafe  dem  richterlichen  »Ermessen  überlassen.  Nur  in  einigen  Fällen 
ist  dieselbe  ausdrücklich  durch  das  Gesetz  vorgeschrieben  (so  §§  146,  155,  194). 

Unter  allen  Umständen  muss  —  wie  bereits  oben  bemerkt  wurde  —  bei 
Verurteilung  zu  schwerem  Kerker  als  Ersatz  für  die  weggefallene  Kettenstrafe 
auf  Beifügung  einer  oder  mehrerer  der  gesetzlich  zulässigen  Verechärfungs- 
arten  der  Kerkerstrafe  erkannt  werden  (§  3  des  citierten  G.). 

Was  den  Vollzug  der  Freiheitsstrafe  anlangt,  so  ist  derselbe  teils  gesetz- 
lich, teils  im  Verordnungswege  geregelt.  Neben  dem  System  der  Gemein- 
schaftshaft besteht  auch  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  1.  April  1872  Einzelhaft. 
Doch  überwiegt  noch  das  erstere,  da,  trotzdem  seit  den  letzten  Jahrzehnten 
Zellenbauten  errichtet  wurden,  die  vorhandenen  Räumlichkeiten  zur  voll- 
ständigen Durchführung  der  Einzelhaft  im  Sinne  des  citierten  Gesetzes  noch 
nicht  ausreichen.  Auf  Grund  dieses  Gesetzes  sollen  zeitliche  Kerkerstrafen 
und  Arreststrafen  unter  Umständen  ganz,  ausserdem  teilweise  und  zwar  wäh- 
rend des  ersten  Teiles  in  Einzelhaft,  d.  h.  in  unausgesetzter  Absonderung  von 
anderen  Gefangenen,  vollzogen  werden,  wobei  die  Einzelhaft  mindestens  durch 
8  Monate  und  nicht  über  3  Jahre  dauern  soll;  sie  hat  zu  entfallen,  wenn  be- 
sondere Rücksichten  auf  den  leiblichen  und  geistigen  Zustand  des  Gefangenen 
entgegenstehen.  Bei  Berechnung  der  Dauer  der  Strafzeit  gelten,  nachdem  der 
Sträfling  mindestens  3  Monate  in  Einzelhaft  zugebracht  hat,  je  2  vollständig 
in  Einzelhaft  zugebrachte  Tage  als  3  Tage.  Das  System  der  Gemeinschaft 
wird  mit  Anhaltung  der  Sträflinge  in  Gruppen  von  6 — 30  zu  gemeinsamer 
Arbeit,  wobei  auch  dem  Klassifikationssystem  (drei,  bezw.  zwei  Disziplinar- 
klassen)  Rechnung  getragen  ist,  und  dieselben  die  übrige  Zeit  des  Tages 
und  der  Nacht  gemeinsam  gehalten  werden,  durchgeführt.  Ausser  den  täg- 
lichen Verrichtungen  werden  die  Sträflinge  teils  zu  Handlanger-,  teils  zu 
Gewerbearbeilen,  nach  bestimmter  Vorschrift  auch  ausser  dem  Hause  ver- 
wendet. Bei  der  Verteilung  dieser  Arbeiten  soll  auf  den  Grad  der  Kerker- 
strafe, die  bisherige  Beschäftigung  und  die  Bildungsstufe  der  Sträflinge  thun- 
lichst  Rücksicht  genommen  werden.  Freiheitsstrafen  bis  zu  einem  Jahre 
werden  in  den  Gerichtsgefängnissen  verbüsst,  Freiheitsstrafen  über  1  Jahr  in 
den  22  Strafanstalten,  von  welchen  16  für  männliche  und  6  für  weibliche 
Gefangene  bestimmt  sind.  Strafanstalten,  welche  ausschliesslich  der  Voll- 
ziehung der  Einzelhaft  dienen,  giebt  es  in  Österreich  nicht,  es  haben  viel- 
mehr die  im  übrigen  nach  dem  System  der  Gemeinschaftshaft  eingerichteten 
Anstalten  zu  Stein,  Karthaus,  Karlau,  Pilsen,  Prag  und  Marburg  besondere 
Flügelbauten,  welche  für  den  Vollzug  der  Einzelhaft  eingerichtet  sind.  Zum 
Vollzuge  der  als  Verschärfung  der  Kerker  und  Arreststrafe  dienenden  Einzel- 
haft bestehen  jedoch  in  den  zum  Vollzuge  der  Gemeinschaft  bestimmten  An- 
stalten besonders  eingerichtete  Zellen. 


■  • 

140  Österreich.  —  Die  g-esetzlichen  Grundlagen  des  geltenden  Rechts. 


Unter  den  Vermögensstrafen  des  österreichischen  Gesetzbuches  tritt  vor 
allem  die  Geldstrafe  als  Hauptstrafe  hervor,  daneben  auch  der  Verlust  von 
Rechten  und  Befugnissen  und  zwar  regelmässig  mit  dem  Charakter  der  Ver- 
mögensstrafe (Ausnahme  §  415:  Aberkennung  der  elterlichen  Gewalt).  Die 
Einziehung  einzelner  Vermögensgegenstände  kommt  nur  als  Nebenstrafe  vor. 
Die  Geldstrafe  als  Hauptstrafe  bei  Vergehen  und  Übertretungen  ist,  was  ihre 
Höhe  betrifft,  zwar  nicht  in  maximo  und  minimo  im  allgemeinen  bestimmt, 
doch  kommt  sie  regelmässig  nur  in  einer  Höhe  von  5 — 500  Gulden  vor.  Aus- 
nahmsweise kann  sie  auch  niedriger  und  höher  bemessen  werden.  Die  Geld- 
sti'al'e  verfällt  dem  Armenfond  des  Ortes,  wo  die  strafbare  Handlung  begangen 
worden  ist  (§  241),  und  geht  nach  der  Bestimmung  der  Justizministerial -Ver- 
ordnung vom  9.  April  1859  auch  auf  die  Erben  des  Verurteilten  über,  wenn 
er  nach  eingetretener  Rechtskraft  des  Urteiles  gestorben  ist. 

Das  österreichische  Gesetzbuch  kennt  auch  noch  die  Strafe  des  Verweises, 
wenn  derselbe  auch  in  den  allgemeinen  Bestimmungen  über  die  Strafen  der 
Vergehen  und  Übertretungen  nicht  genannt  ist.  Zulässig  ist  derselbe  in  drei 
Fällen  (§  414  Misshandlung  der  Kinder  durch  ihre  Eltern,  §  417  Misshandlung 
der  Mündel  von  selten  der  Vormünder,  §  419  Misshandlung  unter  Ehegatten). 

Die  Nebenstrafen  des  Gesetzbuches  von  1852  zerfallen  in  Nebenstrafen 
an  der  Ehre,   der  Freiheit  und  dem  Vermögen. 

Was  zunächst  die  Ehrenstrafen  betriift,  so  verbindet  das  Gesetzbuch  teils 
mit  der  Verurteilung  wegen  Verbrechen  bestimmte  Ehrenfolgen  (§  26  und  27), 
teils  verweist  es  bezüglich  der  mit  der  Verurteilung  wegen  Verbrechen,  Ver- 
gehen und  Übertretungen  verbundenen  Folgen  auf  die  bestehenden  civilrecht- 
liehen,  politischen  und  kirchlichen  Vorschriften  (§26  und  268  des  StGB.).  Durch 
das  Gesetz  vom  15.  November  1867  haben  jedoch  die  auf  die  Ehrenstrafe  be- 
züglichen Bestimmungen  des  Strafgesetzes  von  1852  tiefgreifende  Änderungen 
erfahren.  So  wurde  vor  allem  durch  §  5  dieses  Gesetzes  jede  bis  dahin  als 
Folge  strafgerichtlicher  Verurteilung  eintretende  Beschränkung  der  bürger- 
lichen Handlungsfähigkeit  des  Venirteilten  beseitigt  und  demzufolge  die  im 
S  27,  lit.  b  des  Gesetzbuches  von  1852  enthaltene  Anordnung  sowie  die  hier- 
auf bezüglichen  Bestimmungen  des  allgemeinen  bürgerlichen  Gesetzbuches 
(§§  61,  574  und  868)  ausser  Kraft  gesetzt,  bezw.  abgeändert  (so  die  §§  191,  254 
und  281  des  allgemeinen  bürgerlichen  GB.).  Ferner  soll  nach  der  Bestimmung 
des  8  6  des  citierten  Gesetzes  der  nach  dem  Strafgesetze  von  1852  oder  anderen 
gesetzlichen  Vorschriften  mit  einer  Verurteilung  zu  einer  Strafe  verbundene 
Verlust  des  Adels,  der  Orden  und  Ehrenzeichen,  der  öffentlichen  Titel,  akademi- 
schen (irade  und  Würden,  der  Staats-  oder  anderen  öflTentlichen  Landes-  oder 
Gemeindeämter  und  Dienste,  der  Advokatur,  des  Notariats,  der  öffentlichen 
Agentie  oder  der  Part  ei  Vertretung  vor  öffentlichen  Behörden,  der  Mitglied- 
schaft bei  Gemeindevertretungen  oder  anderer  zur  Besorgung  öffentlicher  An- 
gelegenheiten berufenen  Vertretungen  und  der  Pensionen,  Provisionen,  Er- 
ziehungsbeiträge oder  sonstigen  Bezüge  nur  mehr  bei  Verurteilung  zur  Strafe 
wegen  eines  Verbrechens  oder  wegen  der  Übertretungen  des  Diebstahles,  der 
Veruntreuung,  der  Teilnehmung  an  denselben  und  des  Betruges  (StG.  §§  460, 
461,  463  und  464)  eintreten  und  die  Unfähigkeit  zur  Erlangung  der  vor- 
erwähnten Vorzüge  und  Berechtigungen  bei  Verurteilung  zur  Strafe  wegen 
eines  der  in  Abs.  2  dieses  Paragraphen  bestimmten  Verbrechen  für  die  Zu- 
kunft mit  dem  Ende  der  Strafe  aufhören  (es  sind  dies  vorwiegend  politische 
und  aus  politischen  Motiven  begangene  Delikte,  femer  die  Verbrechen  nach 
§143  Satz  2,  §  157  Satz  2,  Zweikampf,  das  Verbrechen  der  Vorschubleistung 
mit  Bezug  auf  diese  Delikte  und  das  Verbrechen  nach  §  220).  Dagegen  haben 
die    übrigen    nachteiligen  Folgen,    welche    noch    ausser    den  Haupt-    und  den 


§  6.    Das  Strafgesetz  von  1852  in  seinen  Grundzügen.  141 


Nebenstrafen  und  ausser  dem  durch  das  Pressgesetz  vom  17.  Dezember  18f>2 
festgesetzten  Kautionsverfall  mit  strafrechtlichen  Erkenntnissen  schon  aus  dem 
Strafgesetze  oder  kraft  anderer  gesetzlichen  Vorschriften  verbunden  sind,  in- 
sofern dieselben  daher  nicht  insbesondere  vom  Richter  zu  verhängen  sind,  für 
die  Zukunft  bei  den  eben  aufgezählten  Verbrechen,  sowie  bei  Vergehen  und 
Übertretungen  ausser  den  genannten  (§  460  ff.)  gar  nicht  mehr  einzutreten. 

Bei  Verurteilung  zur  Strafe  wegen  anderer  als  der  in  dem  zweiten  Absätze 
dieses  Paragraphen  bezeichneten  Verbrechen  hören  die  Unfähigkeit  zur  Er- 
langung der  im  ersten  Absätze  dieses  Paragraphen  erwähnten  Vorzüge  und 
Berechtigungen,  sowie  die  übrigen  im  zweiten  Absätze  dieses  Paragraphen  ge- 
dachten nachteiligen  Folgen  mit  dem  Ablauf  von  zehn  Jahren,  wenn  der 
Schuldige  zu  einer  wenigstens  fünfjährigen  Kerkerstrafe  verurteilt  wurde  und 
ausserdem  mit  dem  Ablaufe  von  fünf  Jahren;  bei  Verurteilung  wegen  der 
oben  angeführten  Übertretungen  (§460  ff.)  jedoch  mit  dem  Ablaufe  von  drei 
Jahren  nach  dem  Ende  der  Strafe  auf  (§  6,  Abs.  3  und  4  des  citierten  G.). 

Zu  den  Nebenstrafen  an  der  Freiheit  gehört  die  bereits  oben  erörterte 
Ausweisung  (Abschaffung),  femer  die  Zulässigkeit  der  Stellung  des  Verurteilten 
unter  Polizeiaufsicht  (StG.  §  22,  Abs.  2  und  G.  vom  10.  Mai  1873,  §§  4  und  11), 
endlich  die  Zulässigkeit  der  Anhaltung  in  einer  Zwangsarbeitsanstalt  nach  dem 
Gesetze  vom  24.  Mai  1885. 

Unter  die  Nebenstrafen  am  Vermögen  fällt  vor  allem  die  Einziehung' 
spezieller  Vermögensgegenstände  nach  §  240  lit.  b  und  §  241  des  Strafgesetzes. 
Hierher  gehört  auch  der  nach  §§  104  und  105  des  Strafgesetzes  (passive  und 
aktive  Bestechung)  eintretende  Verfall  des  erhaltenen,  angetragenen  oder 
wirklich  gegebenen  Geschenktes  oder  dessen  Wertes.  Ebenso  kann  auch  der 
Verlust  von  Rechten  und  B(?fugnis8en  nach  §  240  lit.  c  und  §  242  gegen  graduierte 
oder  andere  ein  Amt  oder  eine  Beschäftigung  unter  öffentlicher  Beglaubigung 
ausübende  Personen,  gegen  solche,  die  ein  Handwerk  oder  Gewerbe  als 
Bürger  oder  unter  erhaltener  obrigkeitlicher  Bewilligung  betreiben,  und  zwar 
auf  bestimmte  Zeit  oder  beständig  als  Nebenstrafe  verhängt  werden.  (StG.  §§30 
und  268,  Pressgesetz  von  1862,  §  3  Abs.  6  a — b.)  Diese  Entziehung  ist  in  allen 
Fällen,  wo  das  Gesetz  nicht  eine  besondere  Bestimmung  oder  Beschränkung 
beifügt,  als  beständig  zu  verstehen.  (Ministerial-Verordnung  vom  29.  Mai  1854.) 
Endlich  erschehien  auch  Geldstrafen  als  Nebenstrafen,  wenn  sie  nicht  selbst- 
ständig, sondern  in  Verbindung  mit  einer  anderen  Strafe  kumulativ  verhängt 
werden.  Hierher  zählt  namentlich  der  im  §  221  normierte  Fall  der  Bestrafung 
des  Verbrechens  der  Verhehlung  oder  sonstigen  Begünstigung  eines  Deserteurs, 
wo  neben  Kerkerstrafe  noch  die  Zahlung  von  100  fl.  an  die  Kriegskasse  an- 
geordnet ist.  (Ob  diese  Leistung  übrigens  den  Charakter  einer  wirklichen 
Geldstrafe  hat,  ist  bestritten.) 

Zu  den  Nebenstrafen  am  Vermögen  gehört  auch  der  im  §  35  des  Press- 
gesetzes angeordnete  Verfall  der  Kaution  bei  Verurteilung  wegen  eines  durch  den 
Inhalt  einer  Druckschrift  begangenen  Verbrechens  oder  Vergehens,  desgleichen 
das  Verbot  der  Weiterverbreitung  der  Druckschrift  und  das  damit  fakultativ 
zu  verbindende  Erkenntnis  auf  Vernichtung  der  für  strafbar  erklärten  Druck- 
schrift und  auf  Zerstörung  des  Satzes,  der  Platten  usw.  (§§  36  und  37).  —  Im 
übrigen  verweist  §  268  des  Strafgesetzes  bezüglich  der  weiteren  Folgen  der 
Verurteilung  wegen  eines  Vergehens  oder  einer  Übertretung  auf  die  beson- 
deren Gesetze,  politischen  und  kirchlichen  Vorschriften. 

Die  Strafausmessung  wird  in  den  Hauptstücken  III — V normiert.  Unter 
der  Bezeichnung:  „Erschwerungs-  und  Milderungsumstände"  werden  die  Straf- 
erhöhungs-  und  Minderungsgründe,  also  die  eigentlichen  Strafzumessungsgründe 
^usammengefasst ,    denn    ihre  Wirkung    erstreckt    sich    nicht    über    den    Straf- 


142  Österreich.  —  Die  gesetzlichen  Grundlagen  des  geltenden  Hechts. 


rahmen  hinaus,  sodass  wegen  Vorhandenseins  derselben  weder  die  Quantität 
noch  die  Qualität  der  gesetzlichen  Strafdrohung  verändert  werden  kann 
(§§  48 — 53,  265).  Dagegen  sind  bei  den  einzelnen  Delikten  häufig  Er- 
schwerungs-  resp.  Milderungsgründe  angeführt,  deren  Vorhandensein  den  Straf- 
satz verändert.  Diese  werden  von  der  Doktrin  als  „besondere"  im  Gegensatz 
zu  den  ersteren  als  „allgemeinen"  Erschwerungs-  bezw.  Milderungsgründe  be- 
zeichnet. Das  Gesetzbuch  zählt  die  Erschwerungs-  und  Milderungsumstände 
in  den  §§  43—47  für  die  Verbrechen,  §§  263—264  für  die  Vergehen  und  Über- 
tretungen auf;  jedoch  ist  diese  Aufzählung  nur  eine  exemplifikative.  (Der  in 
§45  hervorgehobene  Umstand:  Hintergehung  des  Richters  während  der  Unter- 
suchung durch  Erdichtung  falscher  Umstände  —  ist  mit  der  Stellung  des  An- 
geklagten im  heutigen  Strafprozesse,  insbesondere  nach  der  österreichischen 
StPO.  von  1873,  unvereinbar.)  Die  Milderungsgründe  werden  bei  Verbrechen 
eingeteilt  in  solche,  die  aus  der  Beschaffenheit  des  Thäters,  und  solche,  die 
aus  der  Beschaffenheit  der  That  hervorgehen  (§§  46  und  47).  Unter  jene  ist, 
eigentümlich  genug,  auch  die  unverschuldet  erlittene  Untersuchungshaft  ge- 
stellt. Von  besonderem  Interesse  ist  das  im  §54  ^desgleichen  §  266  für  Ver- 
gehen und  Übertretungen)  normierte  ausserordentliche  Milderungsrecht,  wonach 
bei  Verbrechen,  bei  welchen  die  Strafzeit  nicht  über  5  Jahre  bestimmt  ist, 
sowohl  der  Kerker  in  einen  geringeren  Grad  verändert,  als  auch  die  gesetz- 
liche Dauer  selbst  unter  6  Monate  verkürzt  werden  kann,  falls  mehrere  und 
zwar  solche  Milderungsgründe  zusammentreffen,  welche  mit  Grund  die  Besse- 
rung des  Verbrechers  erwarten  lassen.  Unter  der  gleichen  Voraussetzung  ist 
im  §  55  eine  Veränderung  der  Strafe  zulässig,  „mit  Rücksicht  auf  die  schuld- 
lose Familie  des  Verbrechers",  und  kann  die  Straf dauer  auch  in  diesem  Falle 
unter  6  Monate  verkürzt  werden,  jedoch  nur  in  der  Weise,  dass  die  längere 
Dauer  der  Kerkerstrafe  durch  eine  oder  mehrere  der  im  §  19  aufgezählten 
Verschärfungen  ersetzt  werde.  Diese  Bestimmungen  werden  noch  ergänzt 
durch  das  in  der  Strafprozessordnung  von  1873,  §§  338  und  410  den  Gerichts- 
höfen eingeräumte  weitgehende  Milderungsrecht.  Auch  bei  Vergehen  und 
Übertretungen  sind  von  der  im  übrigen  als  Regel  aufgestellten  Unzulässigkeit 
der  Strafverwandlung  gleichwohl  bei  Geldstrafe  und  Arrest  Ausnahmen  gemacht 
mit  Rücksicht  auf  das  Vermögen  und  den  Nahrungsbetrieb  des  Sträflings  und 
seiner  Familie  (§§  260  imd  261). 

In  der  Behandlung  der  Konkurrenz  der  Delikte  tritt  wie  bei  den  übrigen 
allgemeinen  Bestimmungen  der  Zusammenhang  mit  der  älteren  österreichischen 
Gesetzgebung,  speziell  mit  dem  Josephinischen  Gesetzbuche  und  der  Theresiana 
deutlich  hervor.  Auch  das  Strafgesetz  von  1803  hatte  sich  nicht  nur  dem 
Strafprinzip,  welches  die  ältere  Gesetzgebung  für  die  Konkurrenz  anerkannt 
hatte,  angeschlossen,  sondern  auch  in  anerkennenswerter  Weise  die  gerade 
damals  neu  auftauchenden  und  von  da  ab  bis  in  die  neuere  Zeit  viel 
umstrittenen  „Arten"  und  „Einteilungen"  der  Konkurrenz  in  ein-  und  mehr- 
thätige,  gleichartige  und  ungleichartige  usw.  beiseite  gelassen,  und  dem  Straf- 
gesetze von  1803  folgte  hierin  mit  Recht  das  Strafgesetz  von  1852,  welches 
nur  unter  den  Erschwerungsumständen  der  §§  44  und  263  die  letztere  Kategorie 
—  gleich-  und  ungleichartige  —  (übrigens  in  §  263  lit.  a  auch  die  „Fortsetzung 
der  strafbaren  Handlung  durch  längere  Zeit",  aber  eigentümlicher  Weise  nur 
bei  Vergehen  und  (Übertretungen ,  nicht  auch  in  §  44  bei  Verbrechen)  er- 
wähnt. Auch  der  neueste  Strafgesetzentwurf  von  1891  kennt,  nebenbei  be- 
merkt, im  Anschluss  an  das  bisher  geltende  Recht  und  gegen  die  früheren  Ent- 
würfe, keine  Arten  der  Konkurrenz  mehr  und  statuiert  für  die  Bestrafung 
derselben  als  Regel  die  Absorption.  Dieses  Prinzip  soll  nach  §§  34,  35  und 
267  des  Gesetzbuches  von  1852  im  Falle  der  Konkurrenz  mehrerer  Verbrechen 


§  6.    Das  Strafgesetz  von  1852  in  seinen  Grundzügeu.  143 


bezw.  mehrerer  Verbrechen  mit  Vergehen  oder  Übertretungen  oder  mehrerer 
Vergehen  und  Übertretungen  untereinander  gelten,  indem  die  Bestrafung 
nach  jenem  Delikte,  auf  welches  die  schärfere  Strafe  gesetzt  ist,  jedoch  mit 
Bedacht  auf  die  übrigen  Delikte  einzutreten  hat.  Es  ist  also  der  Strafsatz 
für  das  schwerste  der  konkurrierenden  Delikte  zu  Grunde  zu  legen,  innerhalb 
desselben  aber  mit  Rücksicht  auf  die  übrigen  die  Strafe  strenger  zu  bemessen. 
Hierin  ist  jedoch  nicht,  wie  vielfach  hervorgehoben  wird,  die  Verwirklichung 
des  sogenannten  vermittelnden  oder  Strafversch&rfungsprinzipes,  welches  die 
Möglichkeit  eines  Hinausgehens  über  das  Maximum  der  schwersten  Strafe  ver- 
langt, zu  finden,  sondern  lediglich  eine  Sanktion  des  Absorptionsprinzipes,  da 
ja  auch  bei  diesem,  soweit  es  der  relative  Strafsatz  zulässt,  ein  höheres  Straf- 
mass, eventuell  bis  zum  Maximum  zulässig  ist,  welches  allerdings  durch  den 
Beisatz  in  den  §§34  und  267:  ,Jedoch  mit  Bedacht  auf  die  übrigen  (Delikte)" 
hier  dem  Richter  besonders  nahe  gelegt  wird.  Nicht  eigens  berücksichtigt  ist 
im  Gesetzbuche  der  Fall,  wenn  Todesstrafe  oder  lebenslängliche  Kerkerstrafe 
mit  anderen  Strafen  konkurrieren,  wo  naturgemäss  Absorption  eintreten  muss, 
während  für  den  Fall  des  Zusammentreffens  einer  Geldstrafe  (bezw.  einer 
anderen  Vermögensstrafe  nach  §  240  lit.  b.  und  c)  mit  anderweiten  Strafen  aus- 
drücklich die  Kumulation  derselben  angeordnet  ist  (§§  35  und  267,  Abs.  2). 

Die  Hauptstücke  XXVII  des  ersten  Teiles  und  XIV  des  zweiten  Teiles 
handeln  von  der  Erlöschung  der  Verbrechen,  bezw.  der  Vergehen  und  Über- 
tretungen und  ihrer  Strafen.  Als  Gründe  dieser  Erlöschung  sind  der  Tod  des 
Schuldigen,  die  Vollstreckung  der  Strafe,  die  Nachsicht  derselben  (Begnadigung) 
und  die  Verjährung  aufgezählt.  Das  österreichische  Strafgesetzbuch  kennt 
indessen  nur  eine  Verjährung  der  Strafverfolgung,  nicht  aber  eine  Verjährung 
der  Strafvollstreckung.  Die  die  Verjährung  betreffenden  Bestimmungen  des 
Strafgesetzbuches  von  1803  sind  im  ganzen  unverändert  in  das  Gesetzbuch 
von  1852  übergegangen,  demzufolge  auch  sowohl  die  eigentümlichen  Bedin- 
gungen, an  welche  die  Verjährung  geknüpft  ist  (dass  der  Verbrecher  keinen 
Nutzen  mehr  von  dem  Verbrechen  in  den  Händen  haben  darf;  nach  seinen 
Kräften  Wiedererstattung  geleistet  hat,  soweit  es  die  Natur  des  Verbrechens 
zugiebt;  sich  nicht  geflüchtet  und  während  der  Verjährungsfrist  kein  weiteres 
Verbrechen  begangen  hat),  sich  in  dem  Gesetzbuche  von  1852  wiederfinden, 
als  auch  die  Unverjährbarkeit  der  mit  Todesstrafe  bedrohten  Verbrechen  aus- 
gesprochen ist,  welche  Bestimmung  jedoch  dadurch  modifiziert  ist,  dass  nach 
Ablauf  eines  Zeitraumes  von  20  Jahren  nur  auf  schweren  Kerker  zwischen 
10  und  20  Jahren  erkannt  werden  kann. 

Die  Antragsdelikte,  im  Strafgesetze  von  1852  der  älteren  legislativen 
Auffassung  gemäss  noch  auf  zehn  Fälle  beschränkt,  werden  in  §  530  behandelt, 
dessen  ganze  Fassung  und  Ausdrucksweise  nicht  gerade  als  Muster  gesetz- 
geberischer Klarheit  und  Übersichtlichkeit  in  einer  so  wichtigen  Materie  gelten 
kann.  Die  Frist  zur  Antragstellung  ist  sechs  Wochen  von  der  Zeit  an,  wo 
dem  Verletzten  die  strafbare  Handlung  bekannt  wurde,  falls  inzwischen  die- 
selbe nicht  durch  Verjährung  erloschen  ist.  Der  Widerruf  ist  zulässig  bis 
zur  Kundmachung  des  Urteiles;  die  Verfolgung  der  Antragsdelikte  findet 
(nach  der  österreichischen  StPO.  von  1873,  §  46)  lediglich  im  Wege  der  Privat- 
anklage statt  —  daher  „Privatdelikte"  genannt,  während  die  Bezeichnung 
„Antragsdelikte"  offiziell  nicht  vorkommt.  Durch  die  prozessualen  Bestim- 
mungen erhalten  übrigens  die  unzureichenden  Details  des  §  530  des  Strafgesetzes 
erst  ihre  notwendige  Ergänzung. 


144  Osterreich.  —  Die  gesetzlichen  Grundlagen  des  geltenden  Rechts. 


§  7.    Die  einzelnen  Verbrechen,  Vergehen  und  Übertretungen. 

Das  VI.  Hauptstück  des  ersten  Teiles  enthält  eine  Übersicht  der  nun  im 
Gesetzbuch  folgenden  einzelnen  Verbrechen;  ebenso  wie  das  vierte  Hauptstück 
des  zweiten  Teiles  eine  Übersicht  über  die  verschiedenen  Gattungen  der  Ver- 
gehen und  Übertretungen  aufstellt.  Die  im  §  56  aus  dem  Strafgesetz  von  1803 
entnommene  Einteilung  der  Verbrechen  stützt  sich  im  wesentlichen  auf  die 
alte  (übrigens  längst  als  nicht  erschöpfend  erkannte)  Einteilung  von  öffentlichen 
und  Privatverbrechen.  „Die  Verbrechen  greifen  entweder  die  gemeinschaftliche 
Sicherheit  unmittelbar  in  dem  Bande  des  Staates,  in  den  öffentlichen  Vor- 
kehrungen, oder  dem  öffentlichen  Zutrauen  an,  oder  sie  verletzen  die  Sicher- 
heit einzelner  Menschen  an  der  Person,  dem  Vermögen,  der  Freiheit  oder 
anderen  Rechten." 

Die  Vergehen  und  Übertretungen  werden  unterschieden  in  strafbare 
Handlungen  gegen  die  öffentliche  Sicherheit,  gegen  die  Sicherheit  einzelner 
Menschen  und  gegen  die  öffentliche  Sittlichkeit  (§§  275 — 277).  Die  einzelnen 
Verbrechen,  überdies  noch  im  §  57  des  Strafgesetzes  aufgezählt,  werden  im 
VII. — XXVI.  Hauptstück  des  ersten  Teiles,  die  einzelnen  Vergehen  und  Über- 
tretungen im  V. — XIII.  Hauptstück  des  zweiten  Teiles  behandelt. 

An  der  Spitze  der  Verbrechen  steht  der  Hochverrat,  welcher  auch  den 
Begriff  des  Landesverrates  mitumfasst  und  in  Handlungen  besteht,  welche 
auf  die  Verletzung  der  Integrität  des  Kaisers,  auf  die  gewaltsame  Veränderung 
der  Regierungsform,  auf  die  Losreissung  eines  Teiles  von  dem  einheitlichen 
Staatsverbande,  auf  die  Herbeiführung  oder  Vergrösserung  einer  Gefahr  des 
Staates  von  aussen  oder  einer  Empörung  oder  eines  Bürgerkrieges  im  Innern 
abzielen.  Nach  der  Fassung  der  gesetzlichen  Bestimmungen  sind  nicht  nur  jede 
Versuchshandlung,  sondern  auch  alle  bezüglichen  Vorbereitungshandlungen  als 
das  vollendete  Verbrechen  erklärt.  Durch  die  vorsätzliche  Unterlassung  der  Ver- 
hinderung und  vorsätzliche  Unterlassung  der  Anzeige  wird  Mitschuld  am  Hoch- 
verrat begründet,  wogegen  thätige  Reue  durch  rechtzeitige  Anzeige  Straflosig- 
keit bewirkt.  Das  Verbrechen  der  Majestätsbeleidigung  besteht  in  der  Ver- 
letzung der  Ehrfurcht  gegen  den  Kaiser,  (weiterer  Begriff  als  die  Beleidigung 
an  sich),  gleichviel  ob  sie  durch  die  im  Gesetze  beispielsweise  namhaft  gemachten 
oder  durch  andere  Äusserungen  begangen  wird,  (Thätlichkeiten  fallen  unter 
den  Begriff  des  Hochverrats);  derselben  ist  die  Beleidigung  der  Mitglieder  des 
kaiserlichen  Hauses  gleichgestellt,  jedoch  nur  mit  einfacher  Kerkerstrafe,  die 
Majestätsbeleidigung  mit  schwerem  Kerker  bedroht.  Gewissermassen  einen 
Ergänzungsthatbestand  zum  Begriffe  des  Hochverrates  und  der  Majestätsbelei- 
digung bildet  das  dem  österreichischen  Rechte  in  dieser  Gestaltung  eigene 
Verbrechen  der  Störung  der  öffentlichen  Ruhe  f§  65),  dessen  sich  schuldig 
macht:  wer  öffentlich  oder  vor  mehreren  Leuten  oder  in  Druckwerken,  ver- 
breiteten Schriften  oder  bildlichen  Darstellungen 

a)  zur  Verachtung  oder  zum  Hasse  wider  die  Person  des  Kaisers,  wider 
den  einheitlichen  Staatsverband  des  Kaisertums,  wider  die  Regierungsform 
oder  Staatsverwaltung  (desgleichen  auch  nach  Art.  II  des  Gesetzes  vom  17.  De- 
zember 1862  wider  die  Verfassung  des  Reiches)  aufzureizen  sucht,  oder 

b)  zum  Ungehoi-sam,  zur  Auf  lehnung  oder  zum  Widerstände  gegen  Gesetze, 
Verordnungen,  Erkenntnisse  oder  Verfügungen  der  Gerichte  oder  anderer 
öffentlicher  Behörden,  oder  zur  Verweigenmg  von  Steuern  oder  für  öffentliche 
Zwecke  angeordneten  Abgaben  auffordert  oder  zu  verleiten  sucht; 

c)  wer  Verbindungen  zu  stiften  oder  andere  zur  Teilnahme  an  solchen  zu  ver- 
leiten sucht,  oder  selbst  in  was  immer  für  einer  Weise  daran  teilnimmt,  die  sich 
einen  der  unter  lit.  a  und  b  bezeichneten  straf  baren  Zwecke  zur  Aufgabe  setzen. 


•  « 

§  7.    Die  einzelnen  Verbreclien,  Vergehen  und  Tbertretungen.  145 


Nach  §  66  Abs.  2  maciit  sich  desselben  Verbrechens  schuldig,  wer  eine 
dieser  Handlungen  gegen  einen  anderen  fremden  Staat  oder  gegen  dessen 
Oberhaupt  unternimmt,  insofern  von  dessen  Gesetzen  oder  durch  besondere 
Verträge  die  Gegenseitigkeit  verbürgt  und  im  Kaisertum  Österreich  gesetzlich 
kundgemacht  ist. 

Begrifflich  verwandt  mit  dem  Verbrechen  des  §  65  sind  die  Vergehen 
der  Aufwiegelung  und  der  Gutheissung  von  ungesetzlichen  Handlungen  usw. 
nach  §§  303  und  305 ;  ferner  sind  als  strafbare  Friedens  Verletzungen  hierher 
zu  zählen  die  Vergehen  nach  Art.  VI,  VII  und  VIII  des  Gesetzes  vom  17.  De- 
zember 1862,  ferner  die  Vergehen  bezw.  Übertretungen  nach  §§285 — 299, 
301,  302,  308,  309,  310,  315  und  316.  (Da  die  im  zweiten  Teile  des  Gesetz- 
buches normierten  Vergehen  und  Übertretungen  teils  nur  als  niedere  Grade 
von  bei  höherer  Qualifikation  als  Verbrechen  erscheinenden  Handlungen  — 
Verletzungs-  und  Gefährdungsdelikte  — ,  teils  lediglich  als  reine  Ungehorsams- 
oder Polizeidelikte  sich  darstellen,  werden  nur  erstere  bei  den  ihnen  verwandten 
Verbrechen  gleich  mit  angeführt). 

Im  §  67  ist  als  Verbrechen  gegen  die  Kriegsmacht  des  Staates  Aus- 
spähung (Spionerie)  oder  anderes  Einverständnis  mit  dem  Feinde  normiert. 
Andere  Verbrechen  gegen  die  Kriegsmacht  des  Staates,  wie  die  unbefugte 
Werbung  §  92  und  Verhehlung  oder  sonstige  Begünstigung  eines  Deserteurs, 
sowie  Verleitung  eines  Soldaten  zur  Verletzung  der  Dienstpflicht  und  Hülfe- 
leistung zu  militärischen  Verbrechen  (§§  220  und  222)  werden,  erstere  als 
Fall  der  öffentlichen  Gewaltthätigkeit,  letztere  als  Fall  der  Vorschubleistung 
behandelt. 

Zu  den  Delikten  gegen  die  Kriegsmacht  des  Staates  gehören  femer:  das 
Vergehen  nach  Art.  IX  des  Gesetzes  vom  17.  Dezember  1862,  Mitteilung  über 
militärische  Operationen  usw.  und  die  Selbstverstümmelung,  um  sich  dem 
Militärstande  zu  entziehen,  nach  dem  Strafgesetzbuch  §§  409  und  410,  bezw. 
nach  dem  an  deren  Stelle  getretenen,  noch  weitere  hierher  gehörige  Delikte 
betreffenden  §§  41  ff.  des  Wehrgesetzes  vom  11.  April  1889. 

Im  VIII.  Hauptstück  folgen  die  Verbrechen  des  Aufstandes  (Zusammen- 
rottung zum  gewaltsamen  Widerstände  gegen  die  Obrigkeit)  und  des  Aufruhrs 
(Zusammenrottung,  bei  welcher  es  trotz  obrigkeitlicher  Abmahnung  durch  die 
Vereinigung  gewaltsamer  Mittel  soweit  kommt,  dass  zur  Wiederherstellung 
von  Ruhe  und  Ordnung  ausserordentliche  Gewalt  angewendet  werden  muss): 
hierzu  das  Vergehen  des  Auflaufes  nach  §§  279  ff. 

Im  IX.  Hauptstück  werden  unter  der  Kollektivbezeichnung  „öffentliche 
Gewaltthätigkeit''  dreizehn  Verbrechen  zusammengefasst,  ohne  dass  es  möglich 
wäre,  ein  Merkmal  anzugeben,  welches  allen  diesen  Verbrechen  untereinander 
derart  gemeinsam  wäre,  dass  dadurch  ein  wesentlicher  Unterschied  der  unter 
dieser  Rubrik  zusammengefassten  Verbrechen  gegenüber  anderen  begründet 
werden  könnte.  Denn  gerade  das  einzige  gemeinsame  Merkmal,  das  der  eigen- 
mächtigen Gewalt,  gewährt  ein  solches  Kriterium  nicht,  weil  es  sich  auch  bei 
vielen  anderen  Verbrechen  findet.  Die  Erklärung  dieser  Zusammenfassung  des 
österreichischen  Strafgesetzes,  welches  an  Stelle  eines  gemeinsamen  Begriffes 
nur  eine  Rubrik  setzt,  ist  deshalb  nur  aus  der  geschichtlichen  Entwickelung 
möglich.  So  wird  schon  von  der  Theresiana  im  Art.  73  ein  sehr  weiter  Begriff 
der  „öffentlichen  Gewalt''  im  Anschlüsse  an  die  gemeinrechtliche  Auffassung 
des  crimen  vis  aufgestellt  und  sind  hier  nur  „jene  Gewaltthätigkeiten"  normiert, 
„wovon  anderwärts  in  dieser  Ordnung  nichts  vorkommt  und  wo  wieder  alle- 
mal die  peinliche  Verfahrung  anzustrengen  ist."  Im  §  2 — 11  dieses  Artikels 
werden  alsdann  zehn  Fälle  der  öffentlichen  Gewalt  angeführt.  Dagegen  kennt 
das  Josephinische  Strafgesetz  nur  zwei  Fälle  der  öffentlichen  Gewalt,  nämlich 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.   I.  10 


146  Österreich.  —  Die  gesetzlichen  Grundlagen  des  geltenden  Rechts. 


in  §  54  gewaltsamen  Einfall  in  fremdes  Gebiet,  Haus  und  Wohnung  und  Wider- 
setzung  gegen  obrigkeitliche  Personen  in  Amtssachen  (§  56).  Andere  in  der 
späteren  Gesetzgebung  unter  jene  Kollektiv- Rubrik  gestellte  Straffälle,  nämlicli 
Menschenraub,  Entführung  und  unbefugte  Gefangenhaltung  sind  ganz  korrekt 
unter  die  Verbrechen  gegen  die  Freiheit  gestellt,  wogegen  im  Strafgesetz  von 
1803  die  beiden  Fälle  der  öffentlichen  Gewalt  des  Joscphinischen  Gesetzbuches 
mit  den  letzteren  drei  Fällen  und  „anderen  boshaften  Beschädigungen  fremden 
Eigentums"  unter  der  gemeinsamen  Rubrik  der  öffentlichen  Gewaltthätigkeit 
zusammengestellt  und  ausserdem  noch  einige  durch  Nachtragsgesetze  als  Ver- 
brechen erklärte  Handlungen  diesem  Hauptstücke  eingereiht  sind,  welche  dann 
im  Strafgesetz  von  1852  gleichfalls  in  demselben  beibehalten  und  noch  durch 
zwei  weitere  Fälle  (den  ersten  und  zweiten)  vermehrt  sind.  Diese  sämtlich 
sind  folgende: 

a)  öffentliche  Gewaltthätigkeit  durch  gewaltsames  Handeln  gegen  eine 
von  der  Regierung  zur  Verhandlung  öffentlicher  Angelegenheiten  berufene  Ver- 
sammlung,  ein  Gericht  oder  eine  andere   öffentliche  Behörde  (§§  76  und  77); 

b)  durch  gewaltsames  Handeln  gegen  gesetzlich  anerkannte  Körperschaften 
oder  gegen  Versammlungen,  die  unter  Mitwirkung  oder  Aufsicht  einer  öffent- 
lichen Behörde  gehalten  werden  (§§  78 — 80): 

c)  durch  gewaltsame  Handanlegung  oder  gefährliche  Drohung  gegen 
obrigkeitliche  Personen  in  Amtssachen  (Widersetzung)  §§  81 — 82  und  die  Über- 
tretung nach  §§312  und  314; 

d)  durch  gewaltsamen  Einfall  in  fremdes  unbewegliches  Gut  (§§83 — 84); 
ej  durch    boshafte  Beschädigung    fremden  Eigentums   (§§  85 — 86 ,  hierzu 

die  Übertretung  nach  §  468j ; 

f)  durch  boshafte  Beschädigungen  oder  Unterlassungen  unter  besonders 
gefährlichen  Verhältnissen  (insbesondere  beim  Eisenbahnbetrieb  §§  87  und  88, 
hierzu  die  Übertretungen  nach  den  §§317 — 319); 

g)  durch  boshafte  Beschädigungen  oder  Störungen  am  Staatstelegra- 
phen (§  89); 

h)  durch  Menschenraub  (§§90 — 91;  §92  behandelt  den  Fall  der  unbe- 
fugten Werbung,  s.  o.); 

i)  durch  unbefugte  Einschränkung  der  pei'sönlichen  Freiheit  eines  Men- 
schen (§§93—94); 

k)  durch  Behandlung  eines  Menschen  als  Sklaven  (§95); 

1)  durch  Entführung  (§§96—97); 

ra)  durch  Erpressung  (§§  98); 

n)  durch  gefährliche  Drohung  (§§  99  und  100). 

Das  X.  Hauptstück  handelt  vom  Missbrauch  der  Amtsgewalt  in  §§  101 
bis  103  und  von  der  aktiven  und  passiven  Bestechung.  („Geschenkannahme 
in  Amtssachen"  und  „Verleitung  zum  Missbrauch  der  Amtsgewalt",  hierzu  die 
Übertretungen  nach  §§  331—333.) 

Im  XI.  und  XII.  Hauptstücke  ist  die  Verfälschung  öffentlicher  Kredit- 
papiere und  die  Münzverfälschung  normiert,  mit  besonders  detaillierten  Be- 
stimmungen, was  die  Mitschuld  und  Teilnahme,  sowie  den  Versuch  dieser  Ver- 
brechen betrifft  (§§  106—121). 

Im  XIII.  Hauptstück  werden  unter  der  Rubrik  „Religionsstörung": 
Gotteslästerung,  Störung  der  Religionsübung,  entehrende  Misshandlung  an 
den  zum  Gottesdienste  gewidmeten  Gerätschaften  usw.  als  Verbrechen  erklärt 
{§§  122—124). 

Durch  Art.  7  des  Gesetzes  vom  25.  Mai  1868  sind  die  Bestimmungen  des 
§122  1it.  c  und  d  (Vedeitung  eines  Christen  zum  Abfalle  vom  Christentum 
und  der  Versuch  der  Verbreitung  einer  der  christlichen  Religion  widerstreben- 


§  7.    Die  einzelnen  Verbrechen,  Vergehen  und  Übertretungen.  147 


den  Irrlehre)  aufgehoben.    Hierher  gehören  auch  noch  die  Übertretungen  nach 
§§  403  und  406. 

Das  XIV.  Hauptstück  handelt  von  der  Notzucht,  Schändung  und  anderen 
schweren  Unzuchtsfällen.  Der  mitOewalt,  Drohung  oder  arglistiger  Betäubung 
der  Sinne  ausgeübten  Notzucht  (§§  128  und  126)  wird  im  §  127  der  an  einer 
schon  zuvor  im  Zustande  der  Wehr-  oder  Bewusstlosigkeit  befindlichen,  oder 
noch  nicht  14  Jahre  alten  PYauensperson  unternommene  aussereheliche  Bei- 
schlaf gleichgestellt.  Als  Schändung  sind  im  §  128  unzüchtige  Handlungen 
an  einem  Knaben  oder  Mädchen  unter  14  Jahren  oder  an  einer  im  Zustande 
der  Wehr-  oder  Bewusstlosigkeit  befindlichen  Person  zum  Verbrechen  erklärt. 
Als  Unzucht  wider  die  Natur  wird  im  §  129  die  Unzucht  mit  Tieren  oder  mit 
Personen  desselben  Geschlechts  —  also  auch  unter  Frauenspersonen  —  be- 
zeichnet. Als  Verbrechen  der  Blutschande  wird  im  §  131  der  Beischlaf  zwischen 
Aszendenten  und  Deszendenten  erklärt,  während  Unzucht  zwischen  anderen 
Verwandten  und  Verschwägerten  nach  §  501  nur  als  Übertretung  bezeichnet 
wird.  §  132  bestraft  die  Verführung,  wodurch  jemand  eine  seiner  Aufsicht 
oder  Erziehung  oder  seinem  Unterrichte  anvertraute  Person  zur  Begehung 
oder  Duldung  einer  unzüchtigen  Handlung  verleitet  (hierzu  die  Übertretungen 
nach  §§  504 — 506)  und  erklärt  die  Kuppelei,  wofern  dadurch  eine  unschuldige 
Person  verführt  wurde  oder  wenn  sich  Eltern,  Vormünder,  Lehrer  derselben 
gegen  ihre  Kinder,  Mündel  oder  die  ihnen  zur  Erziehung  oder  zum  Unterrichte 
anvertrauten  Personen  schuldig  machen  als  Verbrechen,  während  sie  im  übrigen 
in  verschiedenen  Abstufungen  nach  §  511 — 515  nur  als  Übertretung  strafbar 
ist.  Desgleichen  ist  nur  als  Übertretung  strafbar  der  Ehebruch  nach  SJJ  502 
und  503;  femer  gehören  hierher  die  Übertretungen  nach  §§509 — 510  und  516. 
Im  XV. — XIX.  Hauptstück  werden  die  Verbrechen  wider  Leib  und 
Leben  normiert  und  zwar  Mord  und  Totschlag,  Abtreibung  der  Leibesfrucht,  Weg- 
legung eines  Kindes  (Kindesaussetzung),  Verbrechen  der  schweren  körperlichen 
Beschädigung  (Körperverletzung)  und  Zweikampf.  Die  Begriffe  von  Mord 
und  Totschlag,  wie  sie  das  österreichische  Gesetzbuch  aufstellt,  weisen  eine 
tiefgehende  Verschiedenheit  von  den  bezüglichen  Bestimmungen  des  gemeinen 
Rechts  und  der  neueren  Gesetzgebung  auf,  indem  nicht  die  Unterscheidung 
zwischen  überlegter  und  vorbedachter  Tötung  einerseits  und  Tötung  ohne 
Überlegung,  bezw.  im  Affekt  andererseits  zu  Grunde  gelegt  ist,  sondern  als 
Mord  (§  134)  jede  mit  der  Absicht  zu  töten  (einerlei  ob  mit  Vorbedacht  oder 
nur  im  Affekte)  unternommene  Handlung,  aus  welcher  der  Tod  eines  Menschen 
erfolgte,  erklärt  ist,  während  als  Totschlag  die  Handlung  erscheint,  wodurch 
ein  Mensch  ums  Leben  kommt,  welcher  jedoch  nicht  die  Absicht  zu  töten, 
sondern  eine  „andere  feindselige  Absicht"  zu  Grunde  liegt  (§  140).  Auch  hier 
ist  die  Erklärung  dieses  dem  österreichischen  Rechte  eigentümlichen  Stand- 
punktes nur  der  geschichtlichen  Entwickelung  zu  entnehmen. 

Die  Theresiana  nennt  im  Art.  83  §  3  die  widerrechtliche  Tötung  über- 
haupt Totschlag,  wobei  es  nicht  darauf  ankommt,  „dass  der  Fürsatz  jemanden 
umzubringen,  einige  Zeit  vor  dem  Angriffe  und  vor  der  Thathandlung  vor- 
hergegangen sei  oder  dass  der  Totschläger  den  Tod  des  Entleibten  vorbedächt- 
lich  und  eigens  gewollet  habe.  Denn  wenn  auch  die  Entleibung  von  ungefähr, 
aus  Zorn  oder  Gähheit  entstände,  so  ist  es  schon  genug  an  dem,  dass  der 
Entleiber  entweder  mit  tödlichen  Waffen  oder  sonst  was  gegen  seinen  Gegner 
boshaft  und  gefährlicher  Weise  unternommen  habe,  woraus  gemeiniglich  der 
Tod  erfolgt  oder  doch  leicht  erfolgen  kann."  „Diese  boshaften  Totschläge" 
—  heisst  es  nun  weiter  §  4  —  „sind  nicht  einerlei,  sondern  selbe  sind  ent- 
weder nur  einfache  und  sogenannt  gemeine  Totschläge,  wobei  kein  vorbedachter 
Fürsatz  und  Vorentschluss  unterwaltet,  oder  es  sind  wegen  der  dabei  fürgehend 

10* 


148  Österreich.  —  Die  gesetzlichen  Grundlagen  des  geltenden  Rechts. 


allzugi'ossen  Bosheit  (Strassenraub ,  bestellter  Mord,  Verwandtenmord  etc.)  be- 
sonders geartete  und  schwerere  Ertötungsfälle,  welcherwegen  auch  ein  Unter- 
schied in  der  geringeren  oder  schwereren  Bestrafung  nötig  ist."  Wenn  auch 
hier  das  Wort  „Mord"  nur  zur  Bezeichnung  von  objektiv  qualifizierten  ein- 
zelnen Gattungen  des  Verbrechens  gebraucht  wird,  so  ist  dennoch  auch  hier 
die  in  der  Carolina  Art.  137  schon  gemachte  Hauptunterscheidung  zwischen 
„fürsetzlichen  mutwilligen  Mörder"  und  „Totschlag  aus  Gähheit  und  Zorn", 
wenn  auch  nicht  so  bestimmt  wie  dort  zu  Grunde  gelegt  und  das  Schwert  als 
die  ordentliche  Strafe  „des  gemeinen  Totschlages",  welche  Strafe  aber  nach 
Umständen  zu  verschärfen  oder  zu  vermindern  sei,  bezeichnet  (§11).  Im 
§12  ist  sodann  unter  den  „erschwerenden  Umständen",  welche  die  Verschärfung 
der  Todesstrafe  bedingen,  aufgeführt:  „erstlich  durch  den  leichtfertig  und  bos- 
haften, lang  vorgefassten  Fürsatz  der  Ermordung". 

Im  Josephinisclien  Strafgesetz  tritt  hinsichtlich  der  Benennung  insofern 
ein  Umschwung  ein,  als  nunmehr  jede  verbrecherische  Tötung  als  Mord  be- 
zeichnet wird,  welchem  jedoch  genau  derselbe  BegriflFsumfang  mit  dem  Tot- 
schlage der  Theresiana  gegeben  Avird.  (Derselbe  umfasst  die  vorsätzliche  Tötung 
mit  direktem  oder  indirektem  Vorsatz.)  Ganz  im  Geiste  der  Theresiana,  welche 
für  den  gemeinen  Totschlag  f ohne  Vorbedacht)  die  gelindere  Strafe  des  Schwertes 
androht,  im  Gegensatze  zu  den  verschärften  Todesstrafen  bei  Tötung  mit  Vor- 
bedacht, ist  auch  im  §  95  des  Josephinischen  Gesetzbuches  ausdrücklich  aus- 
gesprochen, dass  wegen  „Zorn,  Übereilung  und  Gähe"  nach  Umständen  in 
solchen  Fällen  die  Strafe  gemildert  werden  kann,  wofür  die  in  verschiedenen 
Abstufungen  angedrohten  Freiheitsstrafen  genug  Spielraum  geben.  —  Das 
westgalizische  Strafgesetz  schliesst  sich  auch  in  diesem  Punkte  an  die  Grund- 
lagen des  Josephinischen  Gesetzes  an  und  giebt  dem  BegriflTe  des  Mordes  den- 
selben Umfang  wie  dort.  Die  Begriffsbestimmungen  des  §  110  („Wer  in 
der  Absicht  einen  Menschen  zu  beschädigen,  auf  solche  Art  handelt,  dass 
daraus  der  Tod  desselben  erfolgt,  der  macht  sich  des  Kriminalverbrechens 
des  Mordes  schuldig")  umfasst  zwar,  noch  immer  neben  der  vorsätzlichen 
Tötung  mit  und  ohne  Vorbedacht  auch  den  Totschlag  des  heutigen  österreichi- 
schen Rechts,  doch  macht  sich  in  der  Strafabstufung  die  Unterscheidung  fühl- 
bar, indem  gegenüber  allen  übrigen  Arten  des  Mordes  (Meuchelmord,  Bestellung 
zum  Morde,  gemeiner,  aber  „mit  dem  Entschlüsse  zu  töten"  verübter  Mord  usw.), 
welche  mit  Todesstrafe,  lebenslangem  schwersten  Kerker  usw.  bedroht  sind, 
harter  Kerker  von  5 — 10  Jahren  angedroht  ist,  „wenn  ohne  die  Absicht  zu 
töten,  doch  vorsätzlich  eine  Wunde  zugefügt  worden,  die  für  sich  tötlich  ist 
und  den  Tod  verursacht  hat".  Dagegen  geschieht  von  der  Strafmilderung  im 
Falle  der  vorsätzlichen  Tötung  aus  Zorn  und  Gähheit  keine  Erwähnung  mehr. 
Damit  war  der  Übergang  zum  geltenden  Rechte  gemacht  und  zunächst  auch 
der  Standpunkt  des  sich  an  das  westgalizische  Strafgesetzbuch  anschliessenden 
Strafgesetzes  von  1803  vorgezeichnet,  welches  von  dem  Mord  als  der  in  der 
Absicht  zu  töten  unternommenen  Handlung  ohne  weitere  Rücksicht  auf  die 
Art  des  dolus  den  Totschlag  scheidet,  als  die  nicht  in  der  Absicht  zu  töten 
aber  mit  einer  „anderen  feindseligen  Absicht"  unternommene  Handlimg,  aus 
welcher  der  Tod  erfolgte.  Diese  Bestimmungen  sind  ihrem  wesentlichen  In- 
halte nach  in  das  Strafgesetzbuch  von  1852  übergegangen  —  doch  wurde  in 
§  134  (Mord)  noch  ein  Zusatz  aufgenommen,  auf  Grund  dessen  bei  diesem 
Verbrechen  nicht  nur  der  error  in  persona,  sondern  auch  die  aberratio  ictus 
als  vollendetes  Verbrechen  des  Mordes  gestraft  werden  muss.  («Wer  gegen 
einen  Menschen  in  der  Absicht,  ihn  zu  töten,  auf  eine  solche  Art  handelt,  dass 
daraus  dessen  oder  eines  anderen  Menschen  Tod  erfolgt,  macht  sich  des  Ver- 
brechens des  Mordes  schuldig.")     Weiter  werden   im  §  135  Arten   des  Mordes 


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§  7.    Die  einzelnen  Verbrechen,  Vergehen  und  Übertretungen.  149 


unterschieden  und  zwar  Meuchelmord,  Raubmord,  bestellter  Mord  und  gemeiner 
Mord,  wozu  noch  in  den  von  der  Bestrafung  der  Mitschuldigen  oder  Teilnehmer 
und  des  Versuches  handelnden  §§  137  und  138  der  Verwandtenmord  kommt. 
Die  Strafe  des  Mordes  ist  der  Tod  für  den  Thäter,  den  Anstifter  („Besteller") 
und  den  unmittelbar  Mitwirkenden,  während  für  entferntere  Mitschuldige  oder 
Teilnehmerin  §  137  und  §  138  für  den  Versuch  Kerkerstrafe  in  verschiedenem 
Ausmasse  angedroht  ist.  Auch  die  Strafe  des  Totschlages  und  seiner  qualifi- 
zierten Unterarten  (räuberischer  Totschlag,  Verwandtentotschlag)  bildet  Kerker 
in  verschiedenen  Abstufungen.  Die  kulpose  Tötung  wird  als  „Vergehen  gegen 
die  Sicherheit  des  Lebens"  in  §  335  normiert.  §  139  behandelt  den  Kindes- 
mord, dessen  Subjekt  sowohl  die  eheliche  wie  die  uneheliche  Mutter  sein 
kann  (das  Strafmass  ist  jedoch  in  beiden  Fällen  verschieden).  Im  §  143  wird 
die  Tötung  bei  einer  Schlägerei  oder  bei  einer  gegen  eine  oder  mehrere  Per- 
sonen unternommenen  Misshandlung  dem  Totschlage  bezw.  der  schweren  kör- 
perlichen Beschädigung  gleichgestellt.  (Die  analoge  Bestimmung  bezüglich  der 
Körperverletzung  s.  §  157.) 

Die  §§  152 — 157  (XVIIL  Hauptstück)  handeln  von  dem  Verbrechen  der 
„schweren  körperlichen  Beschädigung".  Während  die  meisten  Straf- 
gesetze, so  das  deutsche  Reichsstrafgesetzbuch  (ebenso  wie  die  österreichischen 
Strafgesetz-Entwürfe  seit  1874)  von  der  leichtesten  Fonn  der  Körperverletzung 
als  begrifflicher  Grundlage  ausgehen  und  darauf  die  weiteren  schweren  Arten 
bauen,  nimmt  das  österreichische  Gesetzbuch  in  §  152  eine  mittelschwere  Art 
als  Normalfall  des  Verbrechens  an,  welcher  die  qualifizierten  Unterarten  in  den 
§§  155  und  156  aufsteigend  folgen,  während  die  zu  diesem  Deliktsbegriffe 
gehörigen  Ühertretimgen  in  §§335 — 337  (kulpose  Körperbeschädigung),  sowie  in 
§411  (vorsätzliche  leichtere  Körperbeschädigung  usw.)  und  im  §431  normiert 
sind.  Das  Verbrechen  des  §152  bildet  bezüglich  des  zu  seinem  Willensmomente 
vorausgesetzten  dolus  indirectus  gewissermassen  das  Supplement  des  Totschlags- 
begriffs nach  §  140,  indem  es  alle  mit  animus  nocendi  („feindseliger  Absieht'*) 
ausgeführten  Handlungen  ohne  tödlichen  aber  mit  einem  gewissen  schädigen- 
den Erfolg  (Gesundheitsstörung  oder  Berufsunfähigkeit  von  mindestens  20tägiger 
Dauer,  Geisteszerrüttung  oder  sonstige  schwere  Verletzung)  umfasst.  Die  vor- 
sätzliche Körperbeschädigung  des  §153  gegen  die  leiblichen  Eltern  des  Thäters 
oder  gegen  öffentliche  Beamte,  Geistliche,  Zeugen  oder  Sachverständige  während 
der  Ausübung  ihres  Berufes  oder  mit  Beziehung  auf  dieselbe,  wenn  auch  die 
Beschädigung  nicht  die  im  §  152  vorausgesetzte  Beschaffenheit  hat,  erscheint 
als  besondere  Art  der  Körperbeschädigung,  welche  sowohl  in  subjektiver  wie 
in  objektiver  Hinsicht  von  den  im  §  152  geforderten  Merkmal(Mi  verschieden 
ist.  Denn  es  genügt  in  ersterer  Beziehung  ein  direkter,  wenn  auch  unbestimmter 
auf  Beschädigung  gerichteter  Vorsatz,  und  nach  der  objektiven  Seite  eine 
Verletzung  irgend  welcher  Art  ohne  die  im  §  152  vorausgesetzte  Qualifikation. 
Dagegen  liegt  die  qualifizierte  Unterart  der  schweren  Körperbeschädigung 
nach  §  155  lit.  a  vor,  wenn  der  Vorsatz  nachweisbar  direkt  auf  Herbeiführung 
der  im  §  152  erwähnten  schweren  Folgen  gerichtet  ist,  was  insbesondere  bei 
ein<'r  auch  an  sich  leichten,  aber  „mit  einem  solchen  Werkzeuge  und  auf 
solche  Art  unternommenen  Verletzung,  womit  gemeiniglich  eine  Lebensgefahr 
verbunden  ist",  immer  angenommen  werden  soll.  Während  die  mit  dolus 
indirectus  begangenen  Verbrechen  schon  ihrer  Natur  nach  einen  Versuch  nicht 
zulassen,  ist  natürlich  bei  dieser  Begehungsart  ein  Versuch  möglich,  was 
überdies  noch  im  Gesetze  besonders  ausgesprochen  ist.  Indessen  hat  der 
Gesetzgeber  das  Vorhandensein  eines  solchen  direkten  Vorsatzes  bei  den  übrigen 
qualifizierten  Unterarten  nach  §  155  lit.  b — c  und  §  156  lit.  a — e  nicht  weiter 
hervorgehoben,  wie  er  dies  rücksichtlich  der  im  §  155  lit.  a  thut.    Wenn  daher 


150  Osterreich.  —  Die  gesetzlichen  Grundlag'en  des  geltenden  Rechts. 


einer  dieser  schweren  Erfolge  beabsichtigt  und  eingetreten  ist,    so    kann   dies 
nur  als  erschwerender  Umstand  bei  der  Strafausmessung  berücksichtigt  werden. 

In  seiner  Stellung  im  Gesetzbuch  tritt  das  Verbrechen  der  Brandlegung 
nicht  so  sehr  als  gemeingefährliches  Verbrechen,  sondern  mehr  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte eines  gegen  die  Vermögenssphäre  gerichteten  Deliktes  hervor,  da  es 
(XX.  Hauptstück  §§166 — 170)  zwischen  die  Verbrechen  gegen  Leib  und  Leben 
und  die  nun  folgenden  Vermögensverbrechen  gestellt  ist.  Das  Strafgesetzbuch 
betrachtet  als  Brandlegung  schon  das  Unternehmen  einer  Handlung,  aus  welcher 
„nach  dem  Anschlage  des  Thäters  an  fremdem  Eigentum  eine  Feuersbrunst 
entstehen  soll",  wenngleich  das  Feuer  nicht  ausgebrochen  ist  oder  keinen 
Schaden  verursacht  hat.  Mit  dieser  Begriffsbestimmung  wird  allerdings  schon 
ein  gewisses  Versuchsstadium  als  das  vollendete  Delikt  erklärt,  während  gemein- 
rechtlich und  in  der  neueren  Gesetzgebung  (das  deutsche  RStGB.  und  die 
österreichischen  Entwürfe  seit  1874  fordern  wirkliche  Inbrandsetzung)  zumeist 
die  Vollendung  erst  durch  das  wirkliche  Ausbrechen    des  Feuers   bedingt  ist. 

Der  wirkliche  Ausbruch  des  Feuere  und  die  verursachte  erhebliche  Be- 
schädigung ist  neben  sonstigen  besonderen  Erschwerungsumständen  in  der 
Fixierung  der  Strafmasse  (schwerer  Kerker  von  1 — 5,  5 — 10,  10—20  Jahren 
und  lebenslänglicher  schwerer  Kerker)  berücksichtigt  (§  167  lit.  b — g).  Dagegen 
ist  im  Falle,  dass  das  Feuer  ausgebrochen  und  dadurch  ein  Mensch,  da  es  vom 
Brandleger  vorhergesehen  werden  konnte,  getötet  wird,  und  bei  Brandlegung 
durch  besondere  auf  Verheerungen  gerichtete  Zusammenrottung  Todesstrafe 
angedroht  (§  167  lit.  a).  §  168  handelt  von  der  Straflosigkeit  wegen  thätiger 
Reue,  §  169  von  der  Brandlegung  an  eigner  Sache  und  §  170  von  einem  Falle 
des  Versicherungsbetruges  und  einem  anderen  Betrugsfalle  durch  Brandlegung. 
Ein  Delikt  der  fahrlässigen  Brandstiftung  kennt  "das  österreichische  Strafgesetz 
nicht.  Ergänzend  kommen  hier  etwa  noch  in  Betracht  die  Ungehorsams-Delikte 
der  §  434  AT.,  insbesondere  die  §§  458  und  459  des  Strafgesetzes. 

Das  XXL  Hauptstück  §§  171—189  handelt  von  dem  Diebstahl,  der  Ver- 
untreuung und  der  ,,Teilnehmung''  am  Diebstahle  oder  der  Veruntreuung 
(Hehlerei).  Das  Gesetzbuch  erklärt  als  Diebstahl  die  Entziehung  einer  fremden 
beweglichen  Sache  aus  eines  anderen  Besitz  ohne  dessen  Einwilligung  um 
eigenen  Vorteiles  willen  und  qualifiziert  ihn  als  Verbrechen  entweder  aus  dem 
Betrage  (§  173),  wenn  der  Betrag  oder  der  Wert  der  gestohlenen  Sache  mehr 
als  25  (rulden  ausmacht  (wobei  es  keinen  Unterschied  macht,  ob  dieser  Betrag 
aus  einem  oder  mehreren  gleichzeitigen  oder  wiederholten  Angriffen  hervorgeht, 
ob  er  einem  oder  mehreren  Eigentümern  entwendet,  ob  der  Diebstahl  an  einem 
oder  verschiedenen  Gegenständen  verübt  ist),  oder  aus  der  Beschaffenheit  der 
That  (§  174),  aus  der  Eigenschaft  der  gestohlenen  Sache  (§  175)  oder  aus  der 
Eigenschaft  des  Thäters  (§176).  Ferner  enthält  §179  noch  besondere  Er- 
schwerungsumstände  (Betrag  über  300  Gulden,  Verübung  mit  besonderer  Ver- 
wegenheit, Gewalt  oder  Arglist,  Gewaltanwendung  seitens  des  Diebes  bei  der 
Betretung  und  Gewohnheitsdiebstahl),  welche  einen  Strafsatz  von  fünf  bis  zehn 
Jahren  schweren  Kerkers  bedingen,  während  als  Normalstrafe  schwerer  Kerker 
von  sechs  Monaten  bis  zu  einem  Jahre,  bei  erschwerenden  Umständen  von 
einem  bis  fünf  Jahren  angedroht  ist  (§  178).  Auch  die  Veruntreuung  wird 
entweder  aus  der  Beschaffenheit  der  That  (Amtsveruntreuung)  oder  durch  den 
höheren  Betrag  (mehr  als  50  Gulden)  zu  einem  Verbrechen  (§§181 — 183).  Den 
weiteren  Begriff*  der  Unterschlagung  kennt  das  österreichische  Recht  nicht. 
Als  Teilnehniung  am  Diebstahle  oder  an  der  Veruntreuung  (Hehlerei)  ist  im 
§  185  das  Verhehlen,  Ansichbringen  oder  Verhandeln  einer  gestohlenen  oder 
veruntreuten  Sache  erklärt.  §  187  lässt  Straflosigkeit  des  Diebstahles  und  der 
Veruntreuung  wegen  thätiger  Reue  zu. 


§  7.    Die  einzelnen  Verbrechen,  Vergehen  und  Übertretungen.  151 


Diebstähle  und  Veruntreuungen  und  die  Teilnebmung  an  denselben, 
welche  nach  diesem  Hauptstück  nicht  als  Verbrechen  qualifiziert  erscheinen, 
sind  nach  §§  460 — 466  als  Übertretungen  strafbar.  Im  Anschlüsse  hieran  wird 
im  §  467  das  Vergehen  gegen  das  litterarische  und  artistische  Eigentum 
normiert. 

Das  XXn.  Hauptstück  (§§190—196)  handelt  vom  Raube,  weicher  als 
Gewaltanwendung  oder  Drohung  gegen  eine  Person  bezeichnet  wird,  zu  dem 
Zwecke  unternommen,  um  sich  ihrer  oder  sonst  einer  beweglichen  Sache  zu 
bemächtigen.  Demnach  ist  schon  mit  der  Gewaltanwendung  bezw.  Bedrohung 
das  Verbrechen  vollendet  ( Straf satz  5—10  Jahre  schwerer  Kerker). 

Besondere  Erschwerungsumstände:  Drohung  in  Gesellschaft  eines  oder 
mehrerer  Raubgenossen  oder  mit  mörderischen  Waffen,  bezw.  wenn  das  Gut 
auf  die  Bedrohung  wirklich  geraubt  worden,  sowie  gewaltthätige  Handanlegung, 
wenn  auch  der  Raub  nicht  vollbracht  worden,  Strafsatz:  schwerer  Kerker 
10 — 20  Jahre;  im  Falle  der  mit  gewaltthätiger  Handanlegung  unternommenen 
gelungenen  Beraubung:  schwerer  Kerker  von  10 — 20  Jahren  mit  Verschärfung. 
Bei  Verursachung  schwerer  körperlicher  Beschädigung  des  Beraubten  oder  bei 
Versetzung  desselben  in  einen  qualvollen  Zustand  ist  lebenslänglicher  schwerer 
Kerker  angedroht.  Der  §  196  behandelt  die  Teilnehmung  am  Raube  (Hehlerei 
mit  Bezug  auf  geraubte  Sachen). 

Unter  den  mannigfaltigen  Anschauungen,  welche  rücksichtlich  des  Be- 
trugsbegriffes in  Wissenschaft  und  Gesetzgebung  hervortreten,  huldigt  das 
österreichische  Gesetzbuch  (XXIII.  Hauptstück  §§  197 — 205)  im  Gegensatze 
zur  modernen  Gesetzgebung,  welche  den  Eintritt  eines  Verraögensschadens 
beim  Getäuschten  verlangt,  jener  Ansicht,  welche  das  Wesen  des  Betruges 
in  dei:  Irreführung,  in  der  Täuschung  selbst,  bezw.  in  der  Benützung  des 
Irrtumes  eines  anderen  erblickt,  ohne  die  Zufügung  eines  Schadens  zu  fordern. 
Darauf  muss  vielmehr  nur  die  über  das  Thatmoment  hinausgehende  Absicht 
gerichtet  sein.  Übrigens  ist  nach  der  richtigen  in  der  österreichischen  Doktrin 
und  Praxis  auch  am  meisten  vertretenen  Ansicht  zur  Vollendung  des  Betruges 
die  wirklich  gelungene  Irreführung  bezw.  die  gelungene  Benützung  des  Irr- 
tumes des  anderen  erforderlich.  Die  gemeinrechtliche  Unterscheidung  von 
Betrug  und  Fälschung  ist  jedoch  dem  österreichischen  Gesetzbuch  unbekannt. 
Nur  die  Verfälschung  öffentlicher  Kreditspapiere  und  die  Münzverfälschung 
sind  als  delicta  sui  generis  hervorgehoben.  Alle  übrigen  Arten  der  Fälschung 
sind  unter  den  Betrugsbegriff  gestellt,  ja  selbst  Meineid  und  falsches  Zeugnis 
sind  mit  unter  den  Betrugsbegriff  gezogen.  Auch  der  Betrug  wird  entweder 
aus  der  Beschaffenheit  der  That  oder  aus  dem  Betrage  des  Schadens  zum 
Verbrechen.  Unter  die  ersteren  Betrugsfälle  (§  199)  gehören  ausser  dem  er- 
wähnten Meineid  und  falschem  Zeugnis  noch  betrügerische  Amtsanmassung,  Mass- 
und Gewichtsverfälschung,  Verfälschung  öffentlicher  Urkunden,  Stempel,  Siegel 
usw.,  betrügerische  Versetzung  oder  Wegräumung  von  Grenzsteinen  und  be- 
trügerische Crida,  (fahrlässige  Crida  ist  Vergehen  nach  §  486).  Der  höhere 
Betrag  macht  den  Betrug  zum  Verbrechen,  wenn  der  wirklich  verursachte 
oder  auch  nur  beabsichtigte  Schaden  sich  höher  als  auf  25  Gulden  beläuft.  Im 
§  201  werden  zwar  einige  Hauptarten  von  Betrügereien  angegeben,  jedoch 
zuvor  im  allgemeinen  bemerkt,  dass  sich  die  Arten  des  Betruges  wegen  ihrer 
zu  grossen  Mannigfaltigkeit  nicht  alle  im  Gesetze  aufzählen  lassen.  Die 
folgende  nur  exemplifikative  Aufzählung  enthält  unter  anderen  besonders  die 
Verfälschung  von  Privaturkunden,  Fundverheimlichung,  Anwendung  falscher 
Würfel,  falscher  Karten  beim  Spiel  usw. 

Von  der  Bestrafung  handeln  die  §§  202 — 204  unter  Aufstellung  verschie- 
dener Strafsätze  von  6  Monaten  bis  1  Jahr,  und  1 — 5  Jahren  Kerker,  bei  be- 


•  ■  _ 

152  Osterreich.  —  Das  Strafgesetz  für  Bosnien  und  Herzegowina. 


sonderen  Erschwerungsumständen  schwerer  Kerker  von  5—10  Jahren  und 
insbesondere,  wenn  der  Meineid  einen  sehr  wichtigen  Schaden  verursacht  hat 
bis  zu  20  Jahren,  nach  Umständen  auch  lebenslanger,  schwerer  Kerker. 
(Hierzu  die  Übertretung  nach  §  461.) 

Hauptstück  XXIV  §§205—208:  Doppelehe,  (die  übrigen  Delikte  gegen 
die  Eheordnung  sind  Übertretungen  nach  §§  502 — 503,  507 — 508).  Hauptstück 
XXV,  §§  209 — 210  Verleumdung  (falsche  Anschuldigung).  Die  Delikte  gegen 
die  Ehre  sind  im  XII.  Hauptstück  des  zweiten  Teiles  unter  der  Rubrik:  „Ver- 
gehen und  Übertretungen  gegen  die  Sicherheit  der  Ehre"  §§  487 — 499  detailliert 
behandelt,  wo  von  „Ehrenbeleidigung"  in  verschiedenen  Arten,  §§  487 — 491, 
öffentliche  Beschimpfungen  oder  Misshandlungen,  §  496,  und  in  den  §§  497 — 499 
einige  verwandte  Fälle  (wie  Aufdeckung  der  Geheimnisse  der  Kranken  durch 
Ärzte  usw.)  unterschieden  werden.  Hierher  gehört  auch  noch  das  Vergehen, 
nach  Art.  V  des  Gesetzes  vom  17.  Dezember  1862,  der  durch  Druckschriften 
begangenen  Beleidigung  von  Militärpersonen  oder  Seelsorgern  in  Bezug  auf 
deren  Berufshandlungen. 

Das  XXVI.  Hauptstück  handelt  von  der  Vorschubleistung  (§§  211—222), 
worunter  boshafte  Nichtverhinderung  von  Verbrechen  (§  212),  Verhehlung  (§  214, 
d.  h.  Verheimlichung  der  zur  Entdeckung  des  Thäters  dienenden  Anzeigungen 
gegenüber  der  Obrigkeit,  bezw.  Verbergung  des  Verbrechers  usw.),  Vorschub- 
leistung durch  Hülfe  zum  Entweichen  eines  wegen  Verbrechens  Verhafteten 
(§  217),  und  in  den  §§  220  und  222  das  schon  an  anderer  Stelle  genannte 
Verbrechen  (Verhehlung  oder  Begünstigung  von  Deserteuren,  Verleitung  eines 
Soldaten  zur  Verletzung  militärischer  Dienstpflicht  und  Hilfeleistung  zu  mili- 
tärischen Verbrechen)  behandelt  wird. 


m. 

§  8.    Das  Strafgesetz  für  Bosnien  und  Herzegowina. 

Für  Bosnien  und  Herzegowina  wurde  im  Jahre  1880  mit  Einfühmng  der 
österreichischen  Gesetzgebung  auch  ein  Strafgesetzbuch  publiziert  (amtliche 
Ausgabe,  Wien  1881,  Hof-  und  Staatsdruckerei).  Merkwürdigerweise  ist  die 
Jahreszahl  aus  der  undatierten  Einführungsverordnung —  „1.  September  d.  J." 
heisst  es  daselbst  —  nicht  zu  ersehen.  Dasselbe  ist  seinem  System  und  Inhalte 
nach  eine  Nachbildung  des  österreichischen  Militär-Strafgesetzbuches  (s.  unten) 
mit  Hinweglassung  der  besonderen  Militärverbrechen  und  Militärvergehen,  und 
kennt  wie  dieses  nur  eine  Zweiteilung  der  strafbaren  Handlungen  in  Verbrechen 
und  Vergehen  (unter  letztere  Fälle  gehören  auch  die  meisten  der  im  GB.  von 
1852  als  Übertretungen  erklärten  Handlungen).  Das  Strafensystem  ist  dem 
des  Strafgesetzbuches  von  1852  konform.  „Die  allgemeinen  Bestimmungen 
über  Verbrechen  und  Vergehen"  sind  in  vorteilhaftem  Gegensatze  zu  der  vom 
Strafgesetz  von  1852  festgehaltenen  Trennung  gemeinschaftlich  im  ersten  Teile 
behandelt,  sonst  wesentlich  mit  jenen  gleichlautend,  ebenso  die  meisten  Be- 
griffsbestimmungen der  einzelnen  Delikte  des  zweiten  Teiles.  (Ausnahmen  ins- 
besondere beim  Hochverrat,  mit  Bezug  auf  die  besondere  staatsrechtliche 
Stellung  der  beiden  Länder  zur  Österreich-ungarischen  Monarchie  —  und  bei 
dem  Verbrechen  der  zweifachen  Ehe  mit  Rücksicht  auf  die  besonderen  Ver- 
hältnisse der  Mohamedaner.) 


§  9.    Die  übrigen  Gesetze  strafrechtlichen  Inhaltes.  153 


IV. 

§  9.    Die  flbrlgen  Gfesetze  strafrechtlichen  Inhaltes. 

Von  grösseren  neben  dem  Strafgesetz  von  1852  geltenden  Kodifikationen 
strafrechtlichen  Inhaltes  sind  vor  allem  zu  nennen: 

1.  Das  Gefällsstrafgesetzbuch  vom  11.  Juli  183ö,  umfassend  das  ge* 
samte  Zoll-  und  Steuerstrafrecht  usw.  und  das  gefäUsrichterliche  Verfahren. 

2.  Das  Militär-Strafgesetzbuch  vom  15.  Januar  1855. 

Bis  zum  Jahre  1855  entbehrte  die  österreichische  Militär-Strafgesetzgebung 
einer  umfassenden  Kodifikation.  Das  bis  dahin  geltende  Recht  beruhte  auf 
der  Constitutio  criminalis  Theresiana  von  1768,  den  an  die  Stelle  der  Kriegs- 
artikel Maria  Theresias  von  1769  tretenden  Kriegsartikeln  vom  Jahre  1803 
für  die  Marine  und  von  1808  für  die  Armee,  sowie  mehreren  zerstreut  erflossenen 
Gesetzen  und  Verordnungen,  wozu  auch  die  Satzungen  für  die  Mannschaft  des 
Gestüts  Wesens,  für  die  Militärverpflegshandwerker  u^w.  kamen.  Natürlich  musste 
der  zerfahrene  Zustand  des  materiellen  Militär-Strafrechts  dem  Militärrichter 
seine  Jurisdiktion  ungemein  erschweren  und  konnte  eine  gerechte  Urteilsfällung 
häufig  kaum  ermöglichen,  zumal  mit  Ausnahme  der  Fälle,  wo  Todesstrafe  an- 
gedroht war,  auch  die  Strafbestimmungen  selbst  viel  zu  wünschen  übrig 
Hessen. 

Mit  dem  Erscheinen  des  Strafgesetzes  von  1803  trat  auch  die  Notwendig- 
keit einer  Ordnung  des  Militär-Strafrechts  dringend  hervor.  Doch  dauerte  es 
noch  geraume  Zeit,  bis  wenigstens  die  Reform  desselben  unternommen  wurde. 
Dies  geschah  mit  allerhöchstem  Handschreiben  vom  19.  Juni  1837,  welches 
den  Militärappellationsrat  Bergmayer  mit  der  Ausarbeitung  des  Entwurfes  eines 
neuen  Militär- Strafgesetzes  und  dem  hierüber  zu  führenden  Referate  betraute 
nebst  der  ausdrücklichen  Bestimmung,  „dass  bei  gemeinen  Verbrechen  und 
Vergehen  an  die  Anordnungen  des  geltenden  (Civil-)Strafge8etzes  von  1803  sich 
zu  halten  sei,  insofern  nicht  die  Eigentümlichkeiten  des  Militärstandes  Ab- 
weichungen erfordern'*.  Nach  fünf  Jahren  legte  Bergmayer  im  Jahre  1842 
den  Entwurf  vor,  doch  erhielt  derselbe  die  kaiserliche  Sanktion  nicht. 

Erst  nach  den  politischen  Stürmen  der  Jahre  1848  und  1849  ordnete 
Kaiser  Franz  Joseph  I.  mit  allerhöchster  Entschliessung  vom  29.  September 
1850  die  Revision  der  auf  den  materiellen  Teil  des  Militär-Strafgesetzes  Bezug 
nehmenden  Vorarbeiten  und  namentlich  des  erwähnten  von  Bergmayr  ver- 
fassten  Entwurfes  an.  In  der  hierzu  eingesetzten  Kommission,  deren  Referent 
wieder  Bergmayr  war,  wurde  der  Entwurf  sorgfältig  beraten,  desgleichen  seitens 
des  Kriegsministeriums  eingehend  geprüft  und  erhielt  (nach  weiterer  Begut- 
achtung seiner  allgemeinen  Bestimmungen,  und  derjenigen  über  die  gemeinen 
Verbrechen  und  Vergehen  durch  den  Ministerrat  und  Reichsrat,  bezüglich  der 
militärischen  Delikte  durch  eine  aus  Generälen  unter  Beiziehung  des  General- 
auditors zusammengesetzte  Kommission)  die  allerhöchste  Sanktion  am  15.  Januar 
1855  als  ,, Militärstrafgesetz  über  Verbrechen  und  Vergehen  für  das  Kaisertum 
Österreich '^ 

Die  Systematik  des  Gesetzbuches  ist  folgende: 

I.  Teil:  Die  allgemeinen  Bestimmungen  über  Verbrechen  und  Vergehen 
und  deren  Bestrafung,  §S  1 — 141;  II.  Teil:  Die  Militärverbrechen,  Militärver- 
geheu  und  deren  Bestrafung,  §§142—303;  111.  Teil:  Die  Verbrechen  wider 
die  Kriegsmacht  des  Staates  und  deren  Bestrafung,  §§304 — ^331;  IV.  Teil: 
Die  anderen  Verbrechen  (gemeine  Verbrechen)  und  deren  Bestrafung,  §§  332 
bis  525;  V.Teil:  Die  gemeinen  Vergehen  und  deren  Bestrafung,    §§526 — 799. 


•  «  

154  Osterreich.  —  Die  übrigen  Gesetze  strafrechtlichen  Inhaltes. 


Das  Geltungsgebiet  des  Militär -Strafgesetzes  hinsichtlich  der  Personen 
regelt  das  Kundmachungspatent  Art.  III — IV. 

Die  allgemeinen  und  die  die  gemeinen  Verbrechen  und  Vergehen  betreffenden 
Bestimmungen  schliessen  sich  wesentlich  an  das  Strafgesetz  von  1852  an,  nur 
mit  den  durch  die  Rücksicht  auf  die  militärischen  Verhältnisse  erforderlichen 
Modifikationen.  Dabei  tritt  im  allgemeinen  Teile  (I)  vor  allem  die  korrekte 
Verbindung  der  allgemeinen  Bestimmungen  über  Zurechnung,  Versuch,  Mit- 
schuld und  Teilnahme,  Konkurrenz,  internationales  Strafrecht,  Erlöschungs- 
gründe der  Strafbarkeit,  was  Verbrechen  und  Vergehen  anlangt,  vorteilhaft 
hervor  gegen  die  auch  im  Gesetzbuch  von  1852  beibehaltene  aus  dem  älteren 
Eechte  seit  dem  Josephinischen  Gesetzbuch  überlieferte  Trennung.  Insbesondere 
ist  im  Militär-Strafgesetz  §  5,  desgleichen  wie  in  dem  oben  erwähnten  Straf- 
gesetz für  Bosnien  und  Herzegowina  eine  Darstellung  der  Gründe  gegeben, 
welche  die  Zurechnung  der  Vergehen  ausschliessen,  während  nach  dem  gelten- 
den Strafgesetz  von  1852  die  Frage  nach  dem  Einflüsse  der  die  Zurechnung 
ausschliessenden  Gründe  (inklusive  Irrtum  und  Zwang),  desgleichen  auch  der 
Notwehr  bei  Vergehen  und  Übertretungen  angesichts  des  Mangels  einer  bezüg- 
lichen Bestimmung  durchaus  ungelöst  ist  und  nur  im  Wege  der  Analogie  ent- 
schieden werden  kann. 

Auch  die  Zweiteilung  in  Verbrechen  und  Vergehen  ist  ein  Fortschritt 
gegenüber  dem  Gesetzbuch  von  1852  insofern,  als  beim  Fehlen  jeglichen 
Kriteriums  materiellrechtlicher  Natur  die  Scheidung  in  Vergehen  und  Über- 
tretungen dort  nur  aus  prozessualen  Gründen  erfolgte,  wozu  angesichts  der 
Organisation  des  Militärstrafverfahrens  ein  Bedürfnis  nicht  vorlag.  Dass  die 
Erlöschungsgründe  der  Strafbarkeit  mit  in  den  allgemeinen  Teil  aufgenommen 
und  nicht  mehr  an  den  Schluss  des  Gesetzbuches  nach  Darstellung  der  ein- 
zelnen Delikte  verwiesen  sind,  ist  gleichfalls  ein  Vorzug  dieses  Gesetzes  im 
Vergleiche  zum  Strafgesetz  von  1852.  Zu  den  gemeinen  Verbrechen  und  Ver- 
gehen rechnet  das  Militär-Strafgesetz  nicht  nur  die  als  solche  im  IV.  und  V. 
Teile  bezeichneten  Delikte,  sondern  auch  (Art.  II  des  Kundmachungspatents) 
die  Verbrechen  wider  die  Kriegsmacht  des  Staates  im  III.  Teile,  (es  sind  dies 
nur  weitere  Bestimmungen  betr.  die  im  Civil-StG.  von  1852  enthaltenen  gleich- 
namigen Verbrechen). 

Der  zweite  die  militärischen  Delikte  behandelnde  Teil  ist  im  Vergleiche 
mit  den  bisherigen  Kriegsartikeln  inhaltlich  und  in  der  Fassung  neu  gearbeitet. 
Hierbei  ist  besonders  beachtenswert,  dass  diese  militärischen  Delikte  insofern 
gemeinsam  behandelt  werden,  als  Verbrechen  und  Vergehen  nach  ihrer  inneren 
Verwandtschaft  zusammengestellt  in  diesem  Teile  ihre  Normierung  finden, 
während  die  gemeinen  Verbrechen  und  Vergehen,  wie  ersichtlich,  in  zwei  be- 
sonderen Teilen  getrennt  zur  Darstellung  kommen.  Die  Aufnahme  der  letzteren 
ist  übrigens  charakteristisch  für  das  österreichische  Militär-Strafgesetz  im  Ver- 
gleiche zu  der  Gesetzgebung  anderer  Staaten,  welche,  wie  z.  B.  das  Deutsche 
Reich  und  Italien,  lediglich  ein  besonderes  Strafgesetzbuch  für  die  militärischen 
Delikte  besitzen  und  die  Geltung  der  allgemeinen  Strafgesetze  auch  für  Militär- 
personen, was  die  von  diesen  begangenen  gemeinen  Delikte  betrifft,  anerkennen. 

3.  Ausser  diesen  grösseren  Kodifikationen  ist  aber  noch  ein  reiches  straf- 
rechtliches Material  in  einer  nicht  unbeträchtlichen  Anzahl  von  Gesetzen  ent 
halten,  welches  danach  unterschieden  werden  kann,  dass  einige  derselben  das 
Strafgesetz  von  1852  abändern,  d.  h.  einzelne  Vorschriften  desselben  aufheben 
oder  modifizieren,  andere  dagegen  Zusätze  zu  demselben  enthalten  und  das 
Gebiet  des  strafbaren  Unrechts  durch  neue  Strafdrohungen  gegen  bisher  straf- 
lose Handlungen  erweitern. 

Hiervon   wurden    die   Gesetze    ersterer  Art   bereits    an    der   betreffenden 


§  9.    Die  übrigen  Gesetze  strafrechtlichen  Inhaltes.  155 


Stelle  bei  Darstellung  der  Grundzüge  des  Gesetzbuches  von  1852  angeführt 
und  erörtert,  so  namentlich  das  Gesetz  vom  15.  November  1867  und  das  Press- 
gesetz vom  17.  Dezember  1862. 

Aus  der  zweiten  Gruppe  von  Gesetzen  wurde  das  als  Zusatzgesetz  (so- 
genannte Straf gesetznovelle)  erscheinende  Gesetz  vom  17.  Dezember  1862,  was 
die  in  demselben  neu  aufgestellten  DeliktsbegriflFe  betrifft,  gleichfalls  bei  den 
verwandten  Delikten  gegen  die  öffentliche  Ordnung  mit  angeführt,  desgleichen 
das  Wehrgesetz  vom  11.  April  1889  und  das  den  Strafvollzug  betreffende 
Gesetz  vom  1.  April  1872  über  die  Einzelhaft.  Es  erübrigt  also  nur  noch 
die  Aufzählung  derjenigen  Gesetze,  welche  neben  anderen  Bestimmungen  straf- 
rechtliche Vorschriften  enthalten,  neue  Deliktsbegriffe  feststellen  oder  den  Straf- 
vollzug betreffen.  Diese  sind  (nach  der  amtlichen  Ausgabe  im  Reichsgesetz- 
blatt  citiert): 

Das  die  Pestvergehen  betreffende  Patent  vom  21.  Mai  1805  (Z.  731  Justiz- 
Gesetz-Sammlung). 

Das  Patent  vom  18.  Januar  1818  betreffend  das  Verbot  meuchelmörderische 
Waffen  zu  führen  und  zu  halten  (für  Südtirol). 

Das  Patent  vom  19.  Oktober  1846  (Z.  992  Justiz-GS.,  zum  Schutze  des 
litterarischen  und  artistischen  Eigentums). 

Das  allgemeine  Reglement  für  die  Seesanitätsverwaltung  vom  13.  De- 
zember 1851  (Z.  41  RGBl.)  betreffend  die  Einschleppung  der  Pest  oder  des 
gelben  Fiebers  zur  See. 

Das  kaiserliche  Patent  vom  24.  Oktober  1852  (Z.  223  RGBl.)  betreffend 
die  Erzeugung,  den  Verkehr  und  den  Besitz  von  Waffen  und  Munitionsgegen- 
ständen, dann  das  Waffentragen  (Waffenpatent). 

Das  Gesetz  vom  27.  Oktober  1862  (Z.  87  RGBl.)  zum  Schutze  der  persön- 
lichen Freiheit. 

Das  Gesetz  vom  27.  Oktober  1862  (Z.  88  R(;B1.)  zum  Schutze  des 
Hausrechts. 

Das  Gesetz  vom  25.  Juli  1867  (Z.  101  RGBl.)  betreffend  die  Minister- 
verantwortlichkeit. 

Das  Gesetz  vom  15.  November  1867  fZ.  134  RGBl.)  über  das  Vereinsrecht. 

Das  Gesetz  vom  15.  November  1867  (Z.  135  RGBl.)  über  das  Versamm- 
lungsrecht. 

Das  Gesetz  vom  5.  Mai  1869  (Z.  66  RGBl.)  betreffend  die  Suspension 
der  Staatsgrundgesetze. 

Das  Gesetz  vom  6.  April  1870  (Z.  42  RGBl.)  zum  Schutze  des  Brief- 
uud  StJhriftengeheimnisses. 

Das  Gesetz  vom  7.  April  1870    (Z.  43   RGBl.)    über    das   Koalitionsrecht. 

Das  Gesetz  vom  9.  April  1873  (Z.  70  RGBl.)  über  Erwerbs-  und  Wirt- 
schaftsgenossenschaften. 

Das  Gesetz  vom  10.  Mai  1873  (Z.  108  RGBl.)  wider  Arbeitsscheue  und 
Landstreicher. 

Das  Gesetz  vom  19.  Juli  1877  (Z.  67  RGBl.)  die  Hintanhaltung  der 
Trunkenheit  betreffend  für  Galizien  und  die  Bukowina.  (Ein  Entwm'f  betreffend 
die  Hintanhaltung  der  Trunkenheit  mit  projektierter  Gültigkeit  für  alle  im 
Reichsrate  vertretenen  Länder  erlangte  nicht  Gesetzeskraft.) 

Das  Gesetz  vom  19.  Juli  1879  (Z.  108  RGBl.)  betreffend  die  Desinfektion 
bei  Viehtransporten. 

Das  Gesetz  vom  29.  Februar  1880  (Z.  35  RGBl.)  betreffend  die  Abwehr 
und  Tilgung  ansteckender  Tierkrankheiten. 

Das  Gesetz  vom  29.  Februar  1880  (Z.  37  RGBl.)  betreffend  die  Abwehr 
und  Tilgung  der  Rinderpest  usw. 


15G  Osterreich.  —  Litteratur  des  österreichischen  Strafrechts. 


Das  Gesetz  vom  28.  Mai  1881  (Z.  47  RGBl.)  betreffend  Abhülfe  gegen 
unredliche  Vorgänge  bei  Kreditgeschäften  (Wuchergesetz). 

Das  Gesetz  vom  25.  Mai  1883  (Z.  78  RGBl.)  über  strafrechtliche  Be- 
stimmungen gegen  Vereitelung  von  Zwangsvollstreckungen. 

Das  Gesetz  vom  17.  Juni  1883  (Z.  187  RGBl.)  über  die  Gewerbeinspektoren. 

Das  Gesetz  vom  24.  Mai  1885  (Z.  89  RGBl.)  enthaltend  strafrechtliche 
Bestimmungen  betreffend  die  Zulässigkeit  der  Anhaltung  in  Zwangsarbeits- 
und Besserungsanstalten. 

Das  Gesetz  vom  27.  Mai  1885  (Z.  134  RGBl.)  gegen  den  gemeinschädlichen 
Gebrauch  von  Sprengstoffen. 

Das  Gesetz  vom  21.  Mai  1887  (Z.  51  RGBl.)  betreffend  die  Verlängerung 
des  Privilegiums  der  österreichisch-ungarischen  Bank;  und 

Das  Gesetz  vom  30.  Mai  1888  (Z.  41  RGBl.)  betreffend  strafrechtliche 
Bestimmungen  in  Betreff  der  Sicherung  der  Unterseekabel. 

Under  den  „anderen"  —  d.  h.  nicht  im  Strafgesetzbuch  enthaltenen  — 
Gesetzesübertretungen,  von  welchen  Art.  V  des  Kundmachungspatents  zum 
Strafgesetz  von  1852  spricht,  sind  in  erster  Linie  die  in  zahlreichen  Gesetzen 
und  Verordnungen  allgemeiner,  provinzieller  und  —  was  letztere  betrifft  — 
auch  lokaler  Natur  normierten,  von  den  politischen  (Polizei-)Behörden  nach 
der  Ministerial -Verordnung  vom  20.  September  1857  abzuurteilenden  Über- 
tretungen zu  verstehen  im  Gegensatze  zu  den  im  Strafgesetz  von  1852  ent- 
haltenen und  anderen  in  besonderen  Gesetzen  und  Verordnungen  eigens  be- 
zeichneten Ü])ertretungen ,  welche  zur  Judikatur  der  Bezirks(  Einzel-)gcrichte 
gehören. 

V. 

§  10.    Litteratur  des  Ssterrelehichen  Straf  rechts. 

Aus  der  älteren  Litteratur  (vor  dem  Gesetzbuch  von  1(S08)  sind  zu  nennen: 

J.  L.  Banniza,  delineatio  juris  criminalis  secundum  coiistitutionem  Carolinam 
ae  Therosianani.     2  Bde.  1778. 

Sonnleithner,  Anmerkungen-  zum  Kriminalgesetzbuch  Josephs  II.     1787. 

de  Luca,  Leitfaden  in  das  Josephinische  Gesetz  über  Verbrechen  und  deren 
Bestrafung  1789. 

Die  ältere  das  Strafgesetzbuch  von  1803  betreffende  Litteratur  ist  auch  für 
dessen  revidierte  Ausgabe  von  1852  noch  immer  von  nicht  zu  unterschätzender  Be- 
deutung und  kann  in  vielfacher  Hinsicht  auch  heute  nicht  als  antiquiert  betrachtet 
werden.  Dies  gilt  vor  allem  von  dem  wissenschaftlich  hochstehenden  Kommentar: 
„Das  österreichische  Kriminalrecht  nach  seinen  Gründen  und  seinem  Geiste  dargestellt 
von  Sebastian  Jenull".  1.  Teil  1808  (2.  umgearbeitete  und  vermehrte  Auflage  1820), 
2.  Teil  1809  (der  8.  und  4.  Teil  umfasst  die  strafprozessualen  Abschnitte  des  GB.  von 
1803);  ein  neuer  unveränderter  Abdruck  des  ganzen  Werkes  erschien  1887. 

Kudler,  Erklärungen  des  ersten  Abschnittes  des  Strafgesetzes  über  schwere 
Polizeiübertretungen  mit  Vorwort  und  Anhang  von  Dr.  Hye,  6.  Auflage  1850  (1.  Aufl.  1825). 

Mancher,  Das  österreichische  Strafgesetz  über  Verbrechen  samt  den  auf  das- 
selbe sich  beziehenden  Gesetzen  und  Verordnungen,  systematisch  bearbeitet  als  Hülfs- 
huch  beim  Studium  desselhen  1847  (eine  Sammlung  der  teils  nachträglich  zum  StGB, 
von  1808  erschienenen,  teils  mittelbar  auf  dasselbe  sich  beziehenden  Gesetze  und 
Verordnungen);  desg-leichen  von  Lützenau,  Handbuch  der  Gesetze  und  Verordnungen, 
welche  sich  auf  den  zweiten  Teil  des  Strafgesetzlmches  beziehen,  1846  und: 

Waser,  Das  Strafgesetz  über  Verbrechen  nebst  den  dazu  gehörigen  Verordnungen. 
Wien  1889. 

Die  monographische  Litteratur  zum  Strafgesetz  von  1808,  (Abhandlungen,  Auf- 
sätze, Mitteilungen  von  Kechtsfällen  usw.),  sind  zum  grössten  Teile  in  den  älteren 
österreichischen  juristischen  Zeitschriften  enthalten,  diese  sind: 

^Zeitschrift  für  Österreichische  Hechtsgelehrsamkeit  und  politische  Gesetzes- 
kimde**  1825—1849  (von  1846—1849  unter  dem  Titel:  „Österreichische  Zeitschrift  für 
Rechts-  und  Staatswissenschaff*),  jMhrlich  in  drei  Bilnden. 


§  10.    Litteratur  des  österreichischen  Strafrechts.  15' 


Der  „Jurist"  1839—1848  erschienen,  juristische  Zeitschrift  in  19  Bänden. 

„Themis",  Sammlung'  von  KechtsfHllen,  Abhandlungen  aus  dem  Privat-  und 
Strafrecht  usw.    Heft  1-— 11  (1835 — 37,  1841—44),  herausgegeben  von  Wessely. 

Materialien  für  Gesetzeskunde  und  Rechtspflege  in  den  österreichischen  Erb- 
staaten, herausgegeben  von  Pratobevera,  8  Bände,  lb<15 — 1824. 

„Jährliche  Heiträge  zur  Gesetzeskunde  und  Rechtswissenschaft  in  den  öster- 
reichischen Erbstaaten**,  herausgegeben  von  Zeiller,  IV  Bände.    Wien  1806 — 1809. 

Visini,  Beiträge  zur  Kriminalrechtswissenschaft  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
das  österreichische  Kriminalrecht.    Wien  1839 — 1843,  4  Bände. 

Von  selbständig  erschienenen  grösseren  Monographieen  sind  zu  nennen: 

Kitka,  Über  das  Zusammen  treffen  mehrerer  Schuldigten  bei  einem  Verbrechen 
und  deren  Strafbarkeit,  Wien  1840  und  von  demselben  Autor:  „Abhandlungen  aus 
dem  Gebiete  des  Strafrechts"   1847. 

Eine  Sammlung  von  Rechtsfällen  erschien  1837  unter  dem  Titel  „Rechtsfälle 
aus  dem  Civil-  und  Kriminalrecht^  von  Joseph  Tausch.  Eine  übersichtliche  Zusammen- 
stellung der  gesamten  Litteratur  und  soweit  sie  den  Teil  des  Gesetzbuches  über 
Verbrechen  betrifft  mit  auszugsweise  Angabe  des  Inhaltes  der  einzelnen  Abhand- 
lungen usw.  findet  sich  bei  Maucher,  „Darstellung  der  Quellen  und  der  Litteratur 
der  österreichischen  Strafgesetzgebung  mit  Rücksicht  auf  die  deutsche  Strafreclits- 
wissenschaft  und  Gesetzgebung**,  1849.  Den  Litteraturnachweis  bezüglich  des  zweiten 
Teiles  des  Gesetzbuches  enthält  der  bereits  angegebene  Kommentar  von  Kudler. 

Die  das  geltende  österreichische  Strafrecht  auf  Grundlage  des  Gesetzbuches  von 
1X.V2  behandelnde  Litteratur  ist  eine  vorwiegend  kommentatorische. 

Grössere  systematische  Bearbeitungen  hat  das  österreichische  Strafrecht  bis  in 
die  neuere  Zeit  nicht  gefunden.  Erst  im  Jahre  1884  erschien  in  der  Handbibliothek 
des  österreichischen  Rechts  (Prag,  Tempsky)  ein  368  Seiten  umfassendes  Lehrbuch 
unter  dem  Titel:  „Das  österreichische  Strafrecht  von  Dr.  Carl  Janka"  (zweite  Auflage 
durchgesehen  und  ergänzt  von  Dr.  Friedrich  Rulf).  Ferner  erschien  im  Jahre  1891 
unter  dem  Titel:  „Das  österreichische  Strafrecht  mit  Berücksichtigung  des  Entwurfes 
und  des  deutschen  „Reichsstrafgesetzbudies"  ein  Bruchstück  eines  (von  rückwäi'ts 
begonnenen)  Systems  von  Dr.  August  Finger  (enthaltend  die  Verbrechen  gegen  Leib 
und  Leben  und  gegen  die  Freiheit).     Die  Kommentare  sind  folgende: 

Herbst,  Handbucli  des  österreichischen  Strafrechts  mit  Rücksicht  auf  die  Be- 
dürfnisse des  Studiums  und  der  Anwendung  bearbeitet  (1.  Bd.,  7.  Aufl.  1882,  2.  Bd., 
5.  Aufl.  1880). 

von  Hye,  Das  österreichische  Strafgesetz  über  Verbrechen,  Vergehen  und  l.'ber- 
tretungen  (unvollendet,  nur  bis  zu  §  75  des  GB.  reichend). 

Frühwald,  Handbuch  des  österreichischen  Strafgesetzes  über  Verbrechen,  Ver- 
gehen und  Übertretungen,  3.  Aufl.  18'*>5. 

Ferner  von  demselben  Verfasser,  Die  Fortbildung  des  österreicliischen  mate- 
riellen Strafrechts  durch  Gesetzgebung,  Litteratur  und  Praxis  in  den  letzten  zehn 
Jahren,  1865.    (Ergänzungen  zu  dem  ersteren  Werke.) 

Die  monographische  Litteratur  zum  (iesetzbuch  von  1852  ist  zum  grössten  Teil 
in  den  juristischen  Zeitschriften  enthalten.  Von  selbständig  erschienenen  Monographieen 
sind  zu  nennen: 

Glaser,  Abhandlungen  aus  dem  österreichischen  Strafrecht,  1858. 

Geyer,  Erörterungen  über  den  allgemeinen  Thatbestand  der  Verbrechen  nach 
österreichischem  Rechte.    1862. 

Ferner  eine  Sammlung  mehrerer  in  Zeitschriften  erschienenen  Abhandlungen 
von  Glaser  unter  dem  Titel:  „Kleine  Schriften  über  Strafrecht  und  Strafprozess, 
2.  Aufl.  1883.  Desgleichen  von  Wahlberg,  Gesammelte  kleinere  Schriften  und  Bruch- 
stücke über  Strafrecht,  Strafprozess-  und  Gefängniskunde  usw.,  3  Bände  1875— 1SS2. 

Das  Pressrecht  insbesondere  betreffend  sind  hervorzuheben: 

Lienbacher,  Historisch -genetische  Erläuterungen  des  österreichischen  Press- 
gesetzes 1863,  und  von  demselben:  Praktische  Erläuterungen  des  österreichischen 
Presagesetzes,  1868.  Lentner,  Die  Grundlagen  des  Pressstrafrechts,  1873.  Jaques, 
Grundlagen  der  Pressgesetzgebung,  1874.  v.  Liszt,  Lehrbuch  des  österreichischen 
Pressrechts,  1878. 

Zeitschriften:  Allgemeine  österreichische  Gerichtszeitung  von  Nowak  (seit  ls,")0 
erscheinend).  Magazin  für  Rechts-  und  .Staatswissenschaft  (seit  1S50  jährlich  in  zwei 
Bänden),  seit  1858  unter  dem  Titel:  „Osterreichische  Vierteljahrsschrift  für  Rechts- 
und Staatswissenschaff^ ,  herausgegeben  von  Haimerl  und  Passy  (9  Bände).  Zeit- 
schrift für  Gesetzeskunde  und  Rechtsi)flege  zunächst  in  Ungarn,  Kroatien  usw., 
herausgegeben  von  Petruska,  später  von  Slavicek  1855—1860.  „Gerichtshalle'^,  her 
ausgegeben   von    Pisko   seit  1S57.     „Juristische    Blätter",  begründet    von   Dr.  Burian 


158    Österreich.  —  Die  Reform  der  Strafffesetzgebunff  und  die  Entwürfe  seit  1861. 


und  Dr.  Johanny;  jetzige  Redaktion:  Dr.  Robert  Schindler  und  Dr.  Edmund  Benedikt 
seit  1872.  „Österreichisches  Centralblatt  für  juristische  Praxis**,  redigiert  von  Geller 
1883 — 1889.  „Allgemeine  Juristenzeitung",  redigiert  von  Breitenstein  seit  1876.  Juristi- 
sche Vierteljahrsschrift,  Organ  des  deutschen  Juristenvereins  in  Prag.  Redaktion: 
Dr.  Dominik  Uilmann,  Dr.  Frankl  und  Dr.  Aug.  Finger.  Grünhuts  Zeitschrift  für  das 
Privat-  und  öffentliche  Recht  der  Gegenwart  seit  1874. 

Von  Präjudikatensammlungen  sind  zu  nennen: 

Peitler,  Systematische  Sammlung  von  326  auf  das  materielle  Strafrecht  sich  be- 
ziehenden Entscheidungen  des  k.  k.  obersten  Gerichts-  und  Kassationshofes  aus  den 
Jahren  1850—1852,  mit  mehr  als  1000  Strafrechtsfällen,  1853. 

Herbst,  Die  grundsätzlichen  Entscheidungen  des  k.  k.  obersten  Gerichtshofes 
über  zweifelhafte  Fragen  des  allgemeinen  österreichischen  Strafrechts,  3.  Aufl.  Wien 
1858,  mit  Nachtragsheft  1860. 

Adler,  Krall  und  von  Walther,  Sammlung  strafrechtlicher  Entscheidungen  des 
k.  k.  obersten  Gerichts-  und  Kassationshofes,  auf  Veranstaltung  von  Dr.  Julius  Glaser 
herausgegeben  1875. 

Plenarbeschlüsse  und  Entscheidungen  des  k.  k.  obersten  Gerichts-  und  Kassa- 
tionshofes veröflFentlicht  von  der  Redaktion  der  allgemeinen  österreichischen  Gerichts- 
zeitung, 1876—1891  (XI  Bde.). 

Eine  Sammlung  von  Strafrechtsfällen  ohne  Entscheidungen  zum  akademischen 
Gebrauche  usw.,  herausgegeben  von  Rulf,  1874. 

Gesetzesausgaben.  Die  gebräuchlichste  und  beste  Textausgabe  des  Strafgesetz- 
buches von  1852  ist  die  bei  Manz,  Wien,  in  zahlreichen  Auflagen  erschienene,  seit 
1884  (17.  Aufl.  1892)  von  Gramer  besorgt,  mit  Entscheidungen  des  Kassationshofes  und 
vielen  die  Zusatz-  und  Abänderungsgesetze  betreffenden  Noten.  Die  bezüglichen  Ge- 
setze sind  überdies  im  Anhange  abgedruckt.  Ferner  die  von  der  k.  k.  Hof- und 
Staatsdruckerei  in  Wien  veranstaltete  Handausgabe  der  österreichischen  Gesetze  und 
Verordnungen,  Heft  52  (1877);  endlich  Geller,  Allgemeines  Strafgesetz  und  besondere 
Strafgesetze  nebst  Pressgesetz  und  einschlägigen  Novellen  mit  Erläuterungen  aus  der 
Rechtssprechung  von  1850-1^^88  und  einer  Einleitung.    Dritte  Auflage  1889. 

Bezüglich  des  Gefälls-Strafgesetzbuches  von  1835  ist  zu  erwähnen:  Die  Ausgabe 
von  Bldnski  1H81  und  der  Kommentar  von  Eglauer,  1889. 

Litteratur  betreffend  das  Militär-Strafgesetz:  Die  Ausgabe  von  Damianitsch 
mit  den  bezüglichen  Verordnungen  und  kurzen  Erläuterungen,  3.  Aufl.  1863,  und  von 
demselben  ein  Kommentar  zu  diesem  Gesetze  unter  dem  Titel:  „Das  Militär-Straf- 
gesetzbuch über  Verbrechen  und  Vergehen  vom  15.  Januar  1855,  erläutert  von  usw. 
1855'*,  zweite  vermehrte  Auflage  1861;  (vergl.  daselbst  auch  die  älteren  Quellen  des 
österreichischen  Militär-Strafrechts  bis  zur  Theresiana  und  die  ältere  Litteratur.  Ein- 
leitung S.  IX— X);  ferner  von  demselben  Verfasser:  „Studien  über  das  MilitÄrstraf- 
recht  usw.  mit  vorzugsweiser  Berücksichtigung  des  österreichischen  Militär-Strafgesetz- 
buches yom  Jahre  1855  (1862  erschienen).  Dangelmaier,  Grenzen  des  Militär-Straf- 
rechts (Osterreichische  Militär-Zeitschrift  1883)  und  von  demselben:  Militärverbrechen 
und  Vergehen  nach  österreichischem  Recht,  1884.  Weisl,  Das  Heeresstrafrecht ,  All- 
gemeiner Teil  1892  (vergl.  dort  noch  weitere  Litteraturnachweise,  S.  70 — 71).  Ferner 
Textausgabe  des  Mil.-StGB's  von  Skala  1891. 


VI. 

§11.    Sie  Reform  der  Strafgesetzgebung  und  die  EntwQrfe  seit  1861. 

That^ächlich  erfreuen  sich  —  wie  bisher  gezeigt  wurde  —  die  Grund- 
zügc  und  zahlreiche  Begriffsbestimmungen  des  geltenden  österreichischen 
Strafrechtes  eines  mehr  als  hundertjährigen  Bestandes,  da  sie  ihre  Genesis  von 
1787  (Josephinisches  StG.)  nicht  verleugnen.  Schon  dieser  Umstand  würde 
genügen,  die  Notwendigkeit  und  den  dringenden,  immer  wieder  hervor- 
brechenden Wunsch  einer  Reform  der  österreichischen  Strafgesetzgebong  be- 
greiflich zu  finden.  Gesteigert  wurde  aber  noch  die  Agitation  in  dieser  Rich- 
tung durch  den  fortwährend  (in  den  fünfziger  und  sechziger  Jahren)  erhaltenen 
Missmut  über  die  oktroyierte  Gesetzgebung  von  1852  und  1853  und  die  wenig 
glückliche  Art  ihrer  Fortbildung  in  der  reaktionären  Zeit  bis  1860.    Erst  mit 


§11.    Die  Reform  der  Strafgesetzgebung  und  die  Entwürfe  seit  1861.        159 


der  Wiedererweckung  des  österreichischen  Verfassungslebens  konnte  hier 
Wandel  geschaffen  werden  und  wirklich  kam  seit  1861  das  Reformwerk 
einigermassen  in  Fluss.  Freilich  boten  die  Anfänge  hierzu  sofort  wieder  wenig 
Anlass  zur  Befriedigung.  Erschwert  war  die  Arbeit  dadurch,  dass  man  die 
Reform  von  zwei  einander  eigentlich  ausschliessenden  Richtungen  her  in  An- 
griff nehmen  wollte;  Abänderung  bezw.  Beseitigung  der  dringendsten  Miss- 
stände des  geltenden  Rechtes  im  Wege  einer  Novelle  zum  Gesetzbuche  von 
1852  einerseits,  andererseits  die  Ausarbeitung  ein<»8  umfassenden  Entwurfes 
eines  neuen  Strafgesetzes.  —  Auf  letztere  bezog  sich  der  mit  kaiserlicher 
EntSchliessung  vom  16.  Februar  1861  dem  damaligen  Sektionschef  von  Hye 
gegebene  Auftrag,  während  in  ersterer  Beziehung  ein  besonderer  Auftrag  des 
Justizministers  Hein  (zur  Ausarbeitung  einer  Novelle  zum  geltenden  Straf- 
gesetze) folgte.  Gleichzeitig  damit  ging  aber  eine  andere  Aktion.  Es  war 
nämlich  nach  den  vom  Justizminister  Pratobevera  veranlassten  Beratungen  über 
die  dringendsten  Abänderungen  der  strafgesetzlichen  Bestimmungen  (betreffend 
die  politischen  und  Pressdelikte  sowie  die  Ehrenfolgen  der  strafgeriehtlichen 
Verurteilung)  und  einer  sehr  wenig  gelungenen  Behandlung  dieses  Entwurfes 
durch  den  Staatsrat,  endlich  nach  schweren  Kämpfen  und  Debatten  des  jungen 
Parlamentes  doch  erreicht  worden,  das  Pressgesetz  vom  17.  Dezember  1862 
(einschliesslich  des  wieder  obsolet  gewordenen  (iesetzes  über  das  Pressstraf- 
verfahren) und  ein  Ergänzungsgesetz  zum  Strafgesetze  von  1852  von  gleichem 
Datum  (enthaltend  einige  früher  erörterte  Delikte  politischer  Natur  und  gegen 
die  öffentliche  Ordnung)  zu  stände  zu  bringen. 

Obwohl  im  Jahre  1862  das  Abgeordnetenhaus  gleichfalls  die  Vorlage 
eines  neuen  allgemeinen  Strafgesetzes  für  Beginn  der  nächsten  Sessionspewode 
entschieden  urgiert  hatte  (desgleichen  die  Vorlage  eines  neuen  Polizeistraf- 
gesetzes), verstrich  doch  noch  geraume  Zeit  bis  zur  Erfüllung  dieses  ent- 
schieden kundgegebenen  Wunsches  der  Volksvertretung.  Zunächst  legte  im 
März  1 863  von  Hye  dem  erhaltenen  Auftrage  entsprechend  den  Entwurf  eines 
Abänderungsstatutes  zum  Strafgesetze  von  1852  und  kürze  Zeit  darauf  den 
Entwurf  eines  allgemeinen  Strafgesetzes  der  Regierung  vor.  Doch  auch  in 
der  seit  1864  begonnenen  Beratung  dieser  Entwürfe  durch  eine  aus  den  an- 
gesehensten Vertretern  der  österreichischen  Praxis  und  Theorie  zusammen- 
gesetzte „Justizministerialkommission"  zeigte  sich  fort  und  fort  das  Schwanken 
der  RegieiTing,  ob  die  Reform  in  der  einen  oder  anderen  Richtung  zunächst 
zu  beginnen  sei,  indem  bald  das  Abänderungsstatut,  bald  der  Strafgesetz- 
entwurf zur  Beratung  gezogen  wurde.  Die  Sistierung  der  Reichsverfassung 
(1865)  hatte  zur  Folge,  dass  Männer  wie  Berger  und  Waser,  die  Professoren 
Glaser  und  Wahlberg  aus  der  Kommission  ausschieden. 

Immerhin  muss,  was  die  prinzipiellen  Ausgangspunkte  der  geplanten 
Reform  betrifft,  auch  heute  noch  rühmend  hervorgehoben  werden,  dass  die 
von  V.  Hye  vorzüglich  redigierten  Motive  des  Strafgesetzentwurfes  ausdrück- 
lich betonten:  Das  neue  österreichische  Strafgesetz  solle  nicht  nur  kein  hin- 
derndes, sondern  vielmehr  ein  förderndes  Element  werden,  um  endlich  die 
Zustandebringung  auch  einer  gemeinsamen  Strafgesetzgebung  für  ganz  Deutsch- 
land anzubahnen,  welcher  Gedanke  später  auch  unter  den  nach  Auflösung  des 
deutschen  Bundes  geänderten  Verhältnissen  in  den  Motiven  der  Regierungs- 
vorlage von  1867  noch  stärkeren  Ausdruck  fand  in  dem  Satze:  Österreichs 
Gesetzgebung  könne  sich  niemals  ungestraft  deutschem  Geiste,  deutscher  Bil- 
dung, deutscher  Wissenschaft  verschliessen. 

Zu  dem  vom  Abgeordnetenhause  1862  gleichfalls  verlangten  Entwürfe 
eines  Polizeistrafgesetzes  kam  es  indessen  nicht.  Dagegen  wurde  am  19.  Juli 
1867    im    Abgeordneten  hause    abermals    eine    Novelle    zum    Strafgesetze    als 


160    Osterreich.  —  Die  Reform  der  Strafgesetzgebung*  und  die  Entwürfe  seit  1861. 


Regierungsvorlage  eingebracht  (im  Hinblicke  darauf,  dass  das  neue  Straf- 
gesetz nicht  so  bald  zu  stände  kommen  werde  und  doch  einige  der  brennendsten 
Fragen  im  Wege  einer  Novelle  rascher  zu  lösen  seien).  Dieser  im  Zusammen- 
hange mit  dem  von  v.  Hye  1863  ausgearbeiteten  Abänderungstatute  stehende 
Entwurf  erhielt  Gesetzeskraft  unter  v.  Hve  als  Justizraiu ister  am  15.  November 
1867  und  betrifft  —  wie  früher  erörtert  —  ausser  der  Aufhebung  der  Ketten- 
strafe und  der  körperlichen  Züchtigung  insbesondere  die  Neuregelung  der 
Ehrenfolgen  usw. 

Der  im  Abgeordnetenhause  am  27.  Juni  1867  endlich  vorgelegte  Entwurf 
eines  Strafgesetzes  war  das  Ergebnis  der  Beratungen  der  Justizkommission 
von  1864 — 1866.  Über  diesen  Entwurf  sollten  auf  Wunsch  der  Regierung 
noch  vor  dessen  Vorlage  zunächst  Beurteilungen  von  kompetenter  Seite  in 
Praxis  und  Fachwissenschaft  eingeholt  und  bei  der  nochmaligen  Revision  be- 
rücksichtigt werden.  Gleichwohl  wurden  die  zahlreich  eingegangenen  Gut- 
achten seitens  ereter  Autoritäten,  wie  Berner,  Mittermaier,  von  Schwarze,  von 
Holtzendorff,  Osenbrtiggen,  Merkel  u.  a.,  seitens  der  Regierung  nicht  mehr 
benützt  und  von  Justizminister  Komers  der  Entwurf  unverändert  im  Abgeord- 
netenhause eingebracht.  Die  trübselige  Geschichte  dieses  und  der  folgenden 
Entwürfe  lässt  sich  nun  weiter  folgenderraassen  skizzieren: 

Der  Bericht  des  Strafgesetzausschusses  über  den  Entwurf  wurde  am 
20.  März  1868  erstattet.  Hierauf  erfolgte  Vertagung  des  Reichsrates,  Auf- 
lösung des  Abgeordnetenhauses,  Zurückziehung  der  Regierungsvorlage  durch 
Justizminister  Dr.  Herbst.  Weiteren  Beratungen  über  den  letzten  Bericht  des 
Ausschusses  vom  21.  Februar  1870  machte  gleichfalls  wieder  die  Vertagung 
und  später  erfolgte  Auflösung  des  Abgeordnetenhauses  ein  jähes  Ende. 

Mit  der  Übernahme  des  Justizministeriums  durch  Dr.  Julius  Glaser  wurde 
die  Reformarbeit  abermals  neu  belebt  und  als  Prinzip  derselben  der  möglichst 
nahe  Anschluss  an  das  deutsche  Reichsstrafgesetzbuch  ausgesprochen.  Nach 
fast  dreijähriger  Arbeit  wurde  dieser  Entwurf  (mit  Motiven  über  den  all- 
gemeinen Teil)  am  7.  November  1874  von  der  Regierung  dem  Abgeordneten- 
hause vorgelegt,  von  dem  hierzu  gewählten  Ausschusse  in  den  Jahren  1875 
und  1876  beraten  und  mit  Bericht  vom  5.  September  1877  (zugleich  mit  einem 
inzwischen  neu  eingebrachten  Entwürfe  eines  Einführungsgesetzes)  dem  Hause 
vorgelegt,  kam  jedoch  bis  zum  Ablauf  der  Wahlperiode  im  Jahre  1879  nicht 
mehr  zur  Beratung. 

Dieses  unausgesetzte  Missgeschick  der  Entwürfe  seit  länger  als  einem 
Dezennium  scheint  indes  die  parlamentarischen  Kreise  für  die  Reformarbeit 
eine  Zeitlang  gleichgültig  gemacht  zu  haben,  denn  ein  im  Jahre  1881  durch 
den  damaligen  Leiter  des  Justizministeriums  Dr.  Prazak  abermals  eingebrachter, 
mit  der  Regierungsvorlage  von  1874  unter  Berücksichtigung  der  Ausschuss- 
beratungen wesentlich  übereinstimmender,  Entwurf  wurde  im  Ausschusse  nicht 
einmal  vollständig  durchberaten.  —  So  währte  es  fast  acht  Jahre,  bis  endlich 
am  11.  April  1889  durch  Justizminister  Graf  Schönborn  wiederum  der  Entwurf 
eines  Strafgesetzes  dem  Reichsrate  vorgelegt  wurde,  dessen  Inhalt  als  auf 
Grundlage  des  Entwurfes  von  1874  stehend  und  die  Arbeiten  der  Ausschüsse 
seit  damals  berücksichtigend  charakterisiert  werden  kann.  Der  zur  Beratung 
der  Vorlage  eingesetzte  Ausschuss  legte  nach  eifrigen  und  sehr  rasch  be- 
triebenen Beratungen  schon  mit  Ende  des  Jahres  1889  seinen  Bericht  dem 
Abgeordnetenhause  vor,  jedoch  —  merkwürdiges  Schicksal,  zum  drittenmale! 
—  abermals  Auflösung  des  Abgeordnetenhauses  und  zwar  diesmal  vor  Ablauf 
der  gesetzlichen  Sitzungsperiode  am  23.  Januar  1891,  noch  bevor  zu  einer  Be- 
ratung des  Entwurfes  geschritten  werden  konnte. 

Dem    im    Frühjahre  1891    neugewählten   und    alsbald    zu    den  Verband- 


§11.    Die  Reform  der  Strafgesetzgebung  und  die  Entwürfe  seit  1861.        161 


lungen  einberufenen  Reichsrate  wurde  vom  Justizminister  Graf  Schönbom  der 
jüngste  (seit  1867  fünfte)  Entwui'f  eines  Strafgesetzes  vorgelegt  und  der  Aus- 
schussberatung überwiesen,  welche  im  Frühjahr  1893  zu  Ende  geführt  sein  wird. 

Dies  ist  der  gegenwärtige  Stand  der  bis  jetzt  wahre  Sisyphusarbeit  ge- 
bliebenen Entwürfe  eines  künftigen  österreichischen  Strafgesetzbuches.  In- 
dessen ist  trotz  der  durch  diese  bitteren  Erfahrungen  bisher  nicht  gerade 
sanguinischen  Hoffnungen  auf  das  Inkrafttreten  eines  neuen  österreichischen 
Strafgesetzes  in  nächster  Zukunft  —  wenn  auch  nicht  mit  absoluter  Sicherheit 
im  Hinblick  auf  das  Schicksal  aller  bisherigen  Entwürfe  —  so  doch  mit  grosser 
Wahrscheinlichkeit  zu  rechnen,  da  der  gegenwärtige  Justizminister  die  Reform- 
arbeit mit  dankenswerter  Energie  nicht  nur  in  Angriff  genommen,  sondern 
beständig  im  Auge  behält  und  —  was  von  nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung 
ist  —  die  Stimmung  der  massgebenden  politischen  Parteien  dem  Zustande- 
kommen eines  neuen  Strafgesetzbuches  günstig  zu  sein  scheint. 

Wie  dringend  notwendig  letzteres  ist,  ergiebt  ein  Blick  auf  die  dar- 
gelegten Grundzüge  des  gegenwärtig  geltenden  Gesetzbuches,  namentlich  wenn 
man  dessen  Anwendbarkeit  in  der  Schwurgerichtspraxis  in  Betracht  zieht. 
Es  ist  ein  nicht  genug  zu  rühmendes  Zeugnis  für  die  Tüchtigkeit  und  den 
feinen  juristischen  Takt  des  österreichischen  Richterstandes,  dass  ihm  eine 
Fragestellung  an  die  Geschworenen  bei  vielen  Verbrechen  auf  Grund  des 
Gesetzbuches  von  1852  überhaupt  gelingt  —  man  denke  nur  z.  B.  an  die 
unter  den  allgemeinen  Betrugsbegriff  subsumierten  heterogenen  Verbrechens- 
fälle, an  Definitionen,  wie  Hochverrat,  Störung  der  öffentlichen  Ruhe  usw., 
welche  in  manchen  Fällen  für  die  Fragestellung  enorme  Schwierigkeiten  bieten. 
Dies  alles  im  Vereine  mit  den  Mängeln  des  veralteten,  der  modernen  Straf- 
gesetzgebung heute  fast  isoliert  gegenüberstehenden,  Gesetzbuches  sind  wohl 
hinreichende  Gründe,  um  der  Hoffnung  auf  endlichen  Abschluss  der  dreissig- 
jährigen  Reformarbeit  baldige  Erfüllung  zu  wünschen! 

Der  Charakteristik  des  Entwurfes  selbst  ist  nach  dem  für  diesen  Band 
eng  begrenzten  Programme  kein  Raum  gegeben,  sie  ist  auch  wohl  um  des- 
willen nicht  unbedingt  geboten,  als  die  Grundzüge  und  die  Systematik  der 
Entwürfe  seit  1874  sich  thatsächlich  enge  an  das  deutsche  Reichsstrafgesetzbuch 
anschliessen.  Gleichwohl  sind  nicht  nur  durch  die  Regierungsvorlagen,  sondern 
auch  durch  die  Ausschussberatungen  viele  Traditionen  der  österreichischen 
Rechtsentwickelung  auch  dem  künftigen  Strafrechte  erhalten,  die  Fortschritte 
der  Wissenschaft  in  den  letzten  Dezennien  sowie  manche  Postulate  der  neuesten, 
durch  die  internationale  kriminalistische  Vereinigung  repräsentierten,  krimi- 
nalpolitischen Strömung,  insbesondere  was  den  Strafvollzug  betrifft,  berück- 
sichtigt, namentlich  auch  das  noch  immer  viel  umstrittene  Institut  der  bedingten 
Verurteilung  (richtiger  des  Aufschubes  des  Strafvollzuges)  in  einer  im  allgemeinen 
wohl  zu  billigenden  Einschränkung  aufgenommen. 


StrafgesetzgebuDg  der  Gegenwart.  1 1 


2.  Ungarn. 

I.  Die  kodifikatorischen  Bestrebungen. 

§  1.  Ihre  Vorgeschichte. 

1.  Die  ungarische  Strafgesetzgebung  hat,  von  wenigen  Abweichungen 
abgesehen,  die  gleichen  Entwickelungsstufen  durchgemacht,  wie  die  der  anderen 
europäischen  Staaten.  In  der  Zeit,  da  das  Kompositionensystem  der  Typus  der 
europäischen  Strafrechte  war,  war  es  auch  der  unseres  Strafrechtes.  Der 
Übergang  vom  Kompositionensystem  zu  dem  Abschreckungssystem  fand  bei  uns 
ebenso  statt,  wie  in  den  übrigen  europäischen  Staaten.  Schliesslich  folgte 
hierauf  bei  uns,  ebenso  wie  anderswo,  die  Entwickelungsstufe,  in  welcher  die 
modern-humanistischen  Prinzipien  zur  Geltung  gelangten. 

Der  Einfluss  der  Rechtsansichten,  die  bei  den  grösseren  europäischen 
Völkern  herrschten,  könnte  bei  uns  von  Epoche  zu  Epoche  nachgewiesen 
werden.  Die  ungarische  Nation  war  stets  den  Strömungen  der  Zeit  unter- 
worfen und  suchte  die  Garantie  ihrer  Individualität  nie  in  einer  Isolierung 
vor  den  kulturellen  Bestrebungen  der  civilisierten  Welt.  Sie  vermochte  auch 
die  Ansprüche  ihrer  nationalen  Individualität  stets  mit  den  Einwirkungen  der 
westeuropäischen  Civilisation  zu  versöhnen. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  die  Gesetze  unserer  ersten  Könige 
unter  dem  Einflüsse  des  kanonischen  und  fränkischen  Rechts  standen.  Die 
Gesetze  Stephans  des  Heiligen  (997 — 1038)  und  Ladislaus  des  Heiligen 
(1077 — 1095)  stehen  auf  keiner  geringeren  Entwickelungsstufe,  als  die  frän- 
kischen Kapitularien  und  das  kanonische  Strafrecht,  welches  zu  jener  Zeit  in 
der  ganzen  civilisierten  Welt  Gültigkeit  hatte. 

Es  gab  sogar  einige  unter  unseren  ersten  Königen,  die  ihrem  Zeitalter 
auch  in  Bezug  auf  die  Strafgesetzgebung  weit  vorausgeeilt  waren. 

Unter  der  Regierung  des  Königs  Koloman  (1095 — 1114),  dem  die  Ge- 
schichte wegen  seiner  wissenschaftlichen  Neigungen  den  Beinamen  Bticher- 
Koloman  gab,  wurde  kein  einziges  Gesetz  geschafften,  in  welchem  die  Todes- 
strafe verhängt  wurde.  Derselbe  Koloman  verbot  die  Verbrennung  der  Hexen 
mit  der  Motivierung,  dass  es  keine  solchen  gebe.  Er  setzte  der  Benützung  des 
glühenden  Eisens  und  des  heissen  Wassers  Schranken,  indem  er  deren  An- 
wendung den  bischöflichen  Residenzen  und  einigen  Propsteien  anvertraute. 
Die  berühmte  goldene  Bulle  des  Königs  Andreas  des  Zweiten  (1222),  welche 
die  magna  Charta  der  ungarischen  Verfassung  ist,  verbot  die  Verhaftung  von 
Edelleuten  vor  dem  richterlichen  Uneilsspruch.  Seit  der  Zeit  des  Königs  Bela 
des  Vierten  (1235 — 1270)  fängt  die  Anwendung  des  glühenden  Eisens  als 
Beweismittel  zu  verschwinden  an.  Diese  Thatsachen  beweisen  zur  Genüge,  dass 
die  ungarischen  Gesetze  um  nichts  grausamer  waren,  als  die  der  übrigen  Staaten. 


§  1.    Vorgeschichte  der  kodiflkatorischeu  Bestrebungen.  163 


Seit  Wladislav  dem  Zweiten  wurden  die  Gesetze  infolge  des  Bauern- 
aufstandes, dessen  Bekämpfung  ausserordentliche  Mittel  erheischte,  strenger. 
Die  Gesetze,  welche  nach  der  Schlacht  von  Mohäcs  entstanden  sind,  tragen 
auch  den  Stempel  kriegerischer  Zustände  an  sich.  Infolge  des  unaufhörlichen 
Kriegszustandes,  in  welchem  Ungarn  fast  zwei  Jahrhunderte  lang  sich  befand 
als  einziger  Schutz  Europas  gegen  die  türkische  Invasion,  konnte  von  einer 
ruhigen  Entwickelung  des  Strafrechtes  keine  Rede  sein.  Die  durch  die  Re- 
formation hervorgerufenen  Religionsstreitigkeiten,  welche  Verbitterung  der  Ge- 
müter, Schonungslosigkeit  und  Intoleranz  mit  sich  brachten,  blieben  auch  auf 
die  Strafgesetzgebung  nicht  ohne  Einfluss.  Die  Gesetze  dieses  Zeitalters  ver- 
hängen über  die  Häretiker  qualifizierte  Todesstrafe.  Dies  ist  aber  eine  Er- 
scheinung, welche  nicht  nur  in  Ungarn,  sondern  auch  im  übrigen  Europa 
konstatiert  werden  kann,  und  welche  in  Westeuropa  in  den  Schrecknissen  der 
Inquisition  noch  entsetzlicher  auftritt  als  in  den  ungarländischen  Verfolgungen 
der  Häretiker. 

Ungarn  musste,  ausser  dem  Kampfe  mit  der  Türkei,  auch  gegen  Öster- 
reich einen  Kampf  bestehen,  und  zwar  einen  Kampf  um  seine  staatliche  Un- 
abhängigkeit und  die  Integrität  seiner  Verfassung.  Solche  Zeiten  sind  der 
systematischen  Arbeit  der  Gesetzgebung  nicht  günstig,  und  du  die  antiquierten 
Gesetze,  das  Tripartitum  Verboczys  und  die  städtischen  Rechte,  weder  ge- 
nügend waren,  noch  durch  neue  gesetzgeberische  Arbeiten  ersetzt  wurden, 
übernahm  in  Ungarn  der  Richter  die  Rolle  des  Gesetzgebers.  Der  Geist  der 
Zeiten  überflügelte  die  veralteten  Bestimmungen  des  corpus  juris  und  das 
„prudens  judicis  arbitrium"  wurde  die  herrschende  Rechtsquelle.  Das  rich- 
terliche Recht  war  natürlich  bemüssigt,  sein  Augenmerk  auf  den  Rechtsschatz 
der  vorgeschritteneren  Nationen  zu  richten.  Die  italienischen  Universitäten 
wurden,  wie  durch  neueste  Forschungen  ans  Tageslicht  gebracht  ist,  durch  viele 
Ungarn  besucht.  Wir  begegnen  im  ungarischen  Gewohnheitsrechte  deutlichen 
Spuren  der  italienischen  Kechtsquellen.  Dies  ist  am  besten  aus  den  ungarischen 
Rechtsbüchem  des  17.  Jahrhunderts  ersichtlich,  welche  mit  dem  eingestandenen 
Zwecke  der  Beschreibung  des  ungarischen  Gewohnheitsrechtes  geschrieben 
wurden,  und  in  welchen  mehrere  Ansichten  und  Lehren  der  italienischen  Ju- 
risten enthalten  sind.  Den  meisten  Einfluss  auf  das  ungarische  Gewohnheits- 
strafrecht übte  aber  doch  die  durch  Ferdinand  den  Dritten  im  Jahre  1656 
herausgegebene  niederösteiTeichische  Landgerichtsordnung  (Forma  processus 
judiciarii  criminalis  seu  praxis  criminalisj.  Dieses  Werk  wurde  1687  in  Tymau 
durch  den  Kardinal  Kolonics  in  lateinischer  Sprache  herausgegeben  und  169() 
durch  Szentivanyi  der  Ausgabe  der  ungarischen  Gesetzsammlung  beigefügt. 
Der  Reichstag  vom  Jahre  1728 — 29  untersuchte  dieses  Werk,  verlieh  ihm  aber 
keine  Gesetzeskraft.  Nichtsdestoweniger  übte  es  auch  fürderhin  und  zwar  bis 
zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts  einen  herrschenden  Einfluss  auf  die  Gerichts- 
praxis aus.  Ausserdem  hatte  Carpzows  Werk  einen  grossen  Einfluss  auf  die 
Entwickelung  der  ungarischen  Judikatur  und  zwar  so,  dass  selbst  strafgericht- 
liche Urteile  sich  auf  die  practica  nova  beriefen. 

2.  Der  Gedanke,  dass  ein  heimisches  Strafgesetzbuch  geschaffen  werden 
müsse,  entstand  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts.  Kardinal  Kolonics  verfasste 
mit  einigen  Genossen  im  Jahre  1689  einen  gross  angelegten  „Landes- Organi- 
sations-Entwurf", in  welchem  die  Schaffung  eines  Strafgesetzbuches  empfohlen 
wurde.  Infolge  dieser  Bewegung  entsandte  der  Reichstag  im  Jahre  1715  eine 
Kommission  (de  emendatione  legum  et  celebratione  judiciorum).  Diese  Kom- 
mission hat  auf  Grund  des  erhaltenen  Auftrags  auch  die  Schaffung  eines  Straf- 
gesetzbuches in  den  Kreis  ihrer  Beratungen  gezogen. 

Der  Entwurf   dieser  Kommission  wurde    auf   dem    Reichstage  von  1723 

11* 


1(54  Ungarn.  —  Die  kodifikatorischen  Bestrebungen. 


verhandelt,  aber  nicht  entsprechend  gefunden.  Da  aber  die  Reform  allgemein 
für  dringend  erachtet  wurde,  erliess  Karl  der  Dritte  am  11.  Mai  1726  eine  Ver- 
ordnung an  die  Jurisdiktionen,  in  welcher  diese  aufgefordert  werden,  bis  zum 
Zusammentritt  des  Reichstages  einen  Strafgesetzentwurf  auszuarbeiten.  Wir 
wissen  auch,  dass  der  darauffolgende  Reichstag,  auf  Grund  der  Vorarbeiten 
der  Jurisdiktionen,  einen  Strafgesetzentwurf  zu  stände  brachte,  dass  aber 
dieser  Entwurf  nie  zur  Verhandlung  gelangte.  Die  öffentliche  Meinung  liess 
sich  durch  diese  Verzögerung  nicht  ermüden,  und  die  auf  die  Kodifikation  des 
Strafrechtes  gerichteten  Bestrebungen  erhielten  sich  dauernd  auf  der  Ober- 
fläche. Ein  im  18.  Jahrhundert  verfasstes  Werk  (tripartitum  juris  hungarici 
tyrocinium,  Szegedy  1734)  hofft,  dass  Ungarn  in  kurzer  Zeit  ein  selbständiges 
Strafgesetzbuch  haben  wird.  (Sperandum  aliunde  regis  regnique  auctoritate  intra 
annos  non  multos  praxim  criminalem  regni  propriam  legibus  conformem  elabo- 
ratum  iri.)    Diese  kurze  Zeit  hat  mehr  als  anderthalb  Jahrhunderte  gedauert. 

3.  Die  Königin  Maria  Theresia,  die  dem  Aufblühen  Ungarns  in  allem 
ein  reges  Interesse  widmete,  erliess  am  11.  Juli  1752  eine  Verordnung,  in 
welcher  die  Ausarbeitung  des  Strafgesetzbuches  angeordnet  wird.  Mit  dem 
Vollzuge  dieser  Verordnung  wurde  durch  die  königliche  Statthalterei  eine 
separate  Kommission  betraut.  Die  Arbeiten  dieser  Kommission  wurden  durch 
das  Inslebentreten  des  Josephinischen  allgemeinen  Strafgesetzbuches  gegen- 
standslos gemacht.  Der  geniale  Joseph  der  Zweite,  dessen  Regierung  in  die 
Zeit  fällt,  wo  das  Wirken  der  Beccaria  und  Filangieri  die  Schaffung  systema- 
tischer und  humanitärer  Strafgesetzbücher  ermöglichte,  wollte  auch  für  Ungarn 
ein  diesen  Anforderungen  entsprechendes  Strafgesetzbuch  schaffen.  Er  ver- 
fehlte aber  den  richtigen  Weg.  Er  wollte  das  Strafgesetz ,  welches  übrigens 
auf  dem  Niveau  der  hohen  Ideeen  seines  Zeitalters  stand  und  die  Todesstrafe 
im  gewöhnlichen  Strafverfahren  abgeschafft  hatte,  mittels  kaiserlicher  Verord- 
nung ins  Leben  treten  lassen.  Ungarn  aber,  welches  vor  allem  seine  ver- 
fassungsmässigen Rechte,  die  zur  Schaffung  eines  Strafgesetzes  die  Mitwirkung 
des  Reichstags  fordern,  gewahrt  wissen  wollte,  verweigerte  die  Anerkennung 
und  Befolgung  dieser  königlichen  Verordnung  ebenso  wie  die  der  anderen 
Verordnungen  Josephs  des  Zweiten.  Faktisch  war  wohl  das  Josephinische 
Strafgesetzbuch  in  den  Jahren  1787 — 90  in  Geltung,  ohne  aber  auf  die  Rechts- 
ansichten der  ungarischen  Gerichte,  welche  den  Josephinischen  Verfassungs- 
widrigkeiten durchwegs  feindlich  gesinnt  waren,  einen  nennenswerten  Einfluss 
auszuüben.  Dieses  Strafgesetzbuch,  resp.  die  kaiserliche  Verordnung,  wurde 
übrigens  bereits  im  Jahre  1791  gesetzlich  ausser  Kraft  gesetzt. 

4.  Nach  Herstellung  der  Verfassung  unter  der  Regierung  Leopold  des 
Zweiten  sah  der  Reichstag  ein,  dass  die  Gerichtszustände  unhaltbar  waren. 
Der  Reichstag  von  1791  erklärte  die  Schaffung  eines  systematischen  Straf- 
gesetzes für  dringend.  Die  neuen  Ideeen  forderten  ihr  Recht.  Es  gab  zwar 
eine  Partei,  die  den  freiheitlichen  Ideeen  nur  aus  dem  Grunde  feindlich  gegen- 
überstand, weil  sie  die  Ideeen  Josephs  IL  waren,  die  Mehrheit  des  Reichstages  war 
ihnen  aber  ergeben.  Der  Gesetz- Artikel  LXVII,  1791,  entsandte  eine  Landes-Justiz- 
Kommission  zur  Ausarbeitung  eines  systematischen  Strafgesetzbuches  (elaboratio 
codicis  criminalis).  Die  Kommission  entsprach  ihrer  Aufgabe  und  zwar  in  der 
Weise,  dass  ihre  Arbeit  (codex  de  delictis  eorumque  poenis  pro  tribunalibus  regni 
hungarici  part.  eidem  annex.  Pest  1807)  als  auf  der  Höhe  ihrer  Zeit  stehend  be- 

X  zeichnet  werden  kann.  Der  Entwurf  schliesst  sich  dem  System,  der  Einteilung 
und  der  Behandlungsweise  ganz  nach  der  damals  herrschenden  typischen  ver- 
nunftrechtlichen Richtimg  an.  Die  humanistischen  Bestrebimgen  des  Zeitalters 
gelangen  in  ihm  zum  Ausdruck,  und  er  kann  den  Vergleich  mit  allen  damaligen 
Gesetzbüchern  Europas  bestehen.    Diese  hervorragende  Arbeit  kam  aber  nicht 


§  1.    Vorgeschichte  der  kodifikatorischen  Bestrebungen.  165 


zur  Verhandlung,  da  die  politischen  Zustände,  welche  durch  die  französische 
Revolution  hervorgerufen  wurden,  alle  Aufinerksamkeit  für  sich  in  Anspruch 
nahmen. 

5.  Die  kodifikatorischen  Bestrebungen  ruhten  hierauf  bis  zur  Schaffung 
des  Gesetz-Artikel  VIII ,  1827.  Dieses  Gesetz  entsandte  wieder  eine  Kom- 
mission mit  der  Aufgabe,  den  Entwurf  von  1791  zu  überprüfen.  Die  Kom- 
mission hat  aber,  anstatt  ihr  Augenmerk  auf  die  Reformideeen  zu  richten,  die 
Lösung  ihrer  Aufgabe  darin  gesucht,  dass  sie  aus  den  antiquierten  ungarischen 
Rechtsgrundsätzen  und  aus  dem  österreichischen  Strafgesetzbuche  von  1803 
ein  Konglomerat  zu  machen  versuchte.  Diese  Bestrebungen  mussten  natürlich 
fehlschlagen,  da  der  Charakter  des  ausgearbeiteten  Entwurfes  durchwegs  reak- 
tionär war.  Es  ist  auch  gar  nicht  zu  beklagen,  dass  dieser  Entwurf,  der,  mit 
dem  Entwurf  von  1791  verglichen,  einen  entschiedenen  Rückschritt  bedeutet, 
keine  Gesetzeskraft  erlangt  hat. 

6.  Wieder  dreizehn  Jahre  waren  vergangen,  bis  sich  der  Reichstag  wieder 
mit  der  Fi'age  der  Strafrechtsreform  beschäftigte.  Der  Ausgangspunkt  der 
neuen  Bewegung  war  die  Frage  der  Gefängnisreform.  Das  allgemeine  Interesse 
für  die  Gefängnisfrage  wurde  durch  zwei  grosse  Staatsmänner,  durch  den 
Baron  Joseph  Eötvös  und  Berthold  Szemere  in  der  Weise  wachgerufen,  das« 
der  Gesetz -Artikel  V,  1840,  wieder  eine  Kommission  niedersetzte,  welche 
mit  der  Ausarbeitimg  eines  Straf-  und  Verbesserungssystems  der  Gefängnisse 
betraut  wurde.  Nur  als  Anfang  hierzu  erwähnt  das  Gesetz,  dass  von  der 
Kommission  auch  eine  Verbesserung  des  Strafgesetzentwurfes  vom  Jahre  1827 
ge^vünscht  werde.  Die  Kommission  bestand  aus  den  hervorragendsten  Mit- 
gliedern des  Reichstages,  von  welchen  es  genügen  wird,  einige  Namen,  wie 
Franz  Deäk,  Georg  Majläth,  Baron  Nikolaus  Vay,  Graf  Georg  Apponyi,  Baron 
Joseph  Eötvös  und  Franz  Pulszky  zu  nennen.  Der  Referent  der  Kommission 
war  ^er  grösste  Historiker  und  einer  der  grössten  Publizisten  Ungarns,  La- 
dislaus  Szalay. 

Die  Kommission  erklärte  das  auf  Grund  der  Abschreckungstheorie  und 
der  Standesunterschiede  verfasste  österreichische  Strafgesetzbuch  vom  Jahre  1803 
und  den  diesem  nachgebildeten  ungarischen  Entwurf  von  1827  für  unbrauch- 
bar. Sie  musste  einen  neuen  Entwurf  ausarbeiten.  Hierzu  entschloss  sie  sich 
um  so  leichter,  als  ein  auf  die  Rechtsgleichheit  basiertes  Strafgesetzbach  auch 
als  wirkungsvolles  Mittel  zur  Bekämpfung  der  Standesunterschiede  der  unga- 
rischen Verfassung  betrachtet  wurde.  Übrigens  war  die  Kodifikation  und  die 
Strafrechtswissenschaft  im  Auslande  schon  so  weit  vorgeschritten,  dass  man 
eine  Kodifikation  auch  kaum  anders  als  auf  Grund  der  modernen  Ideeen  in 
Angriff  nehmen  konnte. 

Die  Kommission  zerfiel  in  drei  Subkommissionen.  Den  Mittelpunkt  der 
strafrechtlichen  Subkommission  bildete  Franz  Deäk.  Die  Kommission  arbeitete 
in  kaum  anderthalb  Jahren  den  Entwurf  eines  Strafgesetzes  samt  Polizeigesetz, 
eines  Strafverfahrens  samt  Polizeiverfahren  und  eines  Gefängnissystems  aus. 
Der  Entwurf  des  Strafgesetzes,  von  dem  hier  allein  die  Rede  sein  kann,  ist, 
wie  wir  es  mit  der  grössten  Objektivität  erklären  können,  eine  legislatorische 
Arbeit  ersten  Ranges,  welche  auch  nach  den  Äusserungen  ausländischer  Auto- 
ritäten selbst  dem  civilisiertesten  Staate  Westeuropas  zur  Zierde  gereichen 
würde.  Der  Entwm'f  fusst  auf  den  Ideeen  des  modernen  Fortschrittes.  Er 
enthält  sogar  mehrere  solche  Prinzipien,  die  noch  heute  als  ein  Ziel  der 
europäischen  Gesetzgebungen  betrachtet  werden.  Seine  humanistische  Richtung 
äussert  sich  in  der  Abschaffung  der  Todesstrafe  und  der  infamierenden  Strafen, 
und  in  der  Abschaffung  der  Strafminima.  Das  Gefängnissystem  wurde  darin 
auf   Grund    des    Einzelhaftsystems    organisiert.     Der  Entwurf  errang   sich   die 


166  UngariJ.  —  Die  kodifikatorischen  BestrebuDgen. 


Anerkennung  der  europäischen  Presse  und  wurde  durch  Mittermaier,  die  erste 
Autorität  jener  Epoche,  mit  Begeisterung  aufgenommen.  Mittermaier  stand 
überdies  in  reger  Korrespondenz  mit  mehreren  Mitgliedern  der  Subkommission. 

Der  Reichstag  von  1843 — 44  machte  sich  mit  Eifer  an  die  Verhandlung 
des  Entwurfes.  Da  aber  zwischen  dem  Unter-  und  dem  Oberhause  des  Reichs- 
tages betreffs  der  Grundprinzipien  des  Entwurfes  sich  Meinungsverschieden- 
heiten kundgaben,  zogen  sich  die  Verhandlungen  in  die  Länge,  und  erlangte 
der  Entwurf  bis  zum  Schluss  des  Reichstages  keine  Gesetzeskraft. 

?•  Der  Reichstag  von  1847 — 48  wäre  berufen  gewesen,  den  Entwurf 
weiter  zu  verhandeln.  Franz  Deäk,  der  Justizminister  der  ersten  ungarischen 
verantwortlichen  Regierung,  hielt  es  für  eine  seiner  hauptsächlichsten  Pflichten, 
die  Idee  des  Strafgesetzbuches  zu  verwirklichen,  wurde  aber  hieran  durch 
den  dazwischengekommenen  Freiheitskampf  gehindert. 

Nach  Beendigung  des  Freiheitskampfes  betrachtete  die  zur  Herrschaft 
gelangte  Regierung  Ungarns  tausendjährige  Verfassungsrechte  als  erloschen 
und  wollte  Ungarn  in  die  einheitliche  österreichische  Monarchie  einverleiben. 
Unter  anderen  Gesetzen  wurde  in  Ungarn  das  österreichische  Strafgesetz  vom 
27.  Mai  1852  publiziert,  welches  aber  nur  bis  zum  Jahre  1860  geltend  blieb. 
Nachdem  nämlich  das  Oktoberdiplom  vom  Jahre  1860  die  ungarische  Verfassung 
teilweise  wieder  hergestellt  hatte,  wurde  unter  dem  Präsidium  des  Judex  Curiae 
Graf  (reorg  Apponyi  am  23.  Januar  1861  eine  Kommission  einberufen,  welche 
die  ,,provisorischen  Gerichtsnormen"  festzustellen  die  Aufgabe  hatte.  Durch 
diese  Kommission  wurde  das  frühere  ungarische  Strafrecht,  bezw.  die  straf- 
rechtliche Praxis  mit  wenigen  durch  die  veränderten  Verhältnisse  nötig  ge- 
wordenen Kodifikationen  wieder  hergestellt. 

Diese  auf  so  morschen  Grundlagen  stehende  strafrechtliche  Praxis  hatte 
nur  deshalb  keine  grösseren  Übel  hervorgerufen,  weil  die  Richter  sich  nicht 
an  die  veralteten  Gesetze  hielten.  Es  war  eine  ungarische  Tradition,  dass  der 
Richter  sich  zur  Verbesserung  der  schlechten  Gesetze  berechtigt  fiLhlte.  Natür- 
lich war  in  diesem  Zustande  jede  Gleichförmigkeit  und  Folgerichtigkeit  in  der 
Judikatur  ausgeschlossen.  Die  Notwendigkeit  der  Kodifikation  wurde  dringend. 
Gleich  nach  der  gänzlichen  Wiederherstellung  der  ungarischen  Verfassung  stellte 
sich  der  zweite  verantwortliche  Justizminister  des  Landes,  der  hochherzige 
Balthazar  Horvdth,  die  Aufgabe,  den  Strafgesetzentwurf  vom  Jahre  1843  um- 
zuarbeiten. p]s  'wairden  zwei  Arbeiten  fertiggestellt,  aber  keine  wurde  geeignet 
gefunden,  dem  Reichstage  vorgelegt  zu  werden. 

Schliesslich  wurde  die  Idee  laut,  dass  ein  neuer  und  selbständiger  Straf- 
gesetzentwurf verfertigt  werden  sollte,  in  welchem  die  neueren  Errungen- 
schaften der  Wissenschaft,  das  ungarische  Gewohnheitsrecht  und  die  speziellen 
Anforderungen  der  Nation  in  Betracht  zu  ziehen  wären. 

§  2.  Die  neueste  Epoche  der  Kodifikation. 

Es  zeugt  von  der  grossen  Menschenkenntnis  des  Justizministers  Balthazar 
HorvAth,  dass  er  mit  der  Abfassung  eines  Strafgesetzentwurfes  den  damaligen 
Ministerialrat  und  späteren  Staatssekretär  und  Kurialsenatspräßidenten  Karl 
Csemegi  betraut  hat.  Der  ausserordentliche  Fleiss,  das  scharfe  kritische  Ur- 
teil, der  weite  Gesichtskreis  und  die  staatsmännische  Einsicht  dieses  hervor- 
rag(»nden  Gelehrten  bildeten  die  beste  Garantie  für  den  Erfolg  des  Unter- 
nehmens.    Eine  bessere  Wahl  hätte  kaum  getroffen  werden  können. 

Der  Anfang  der  kodifikatorischen  Arbeit  ging  etwas  langsam  von  statten, 
da  Karl  Csemegi  durch  die  nötig  gewordene  AT)fassung  des  Gerichtsorganisa- 
tionsgesotzes  und  der  provisorischen  Strafprozessordnung  daran  gehindert  ^>nirde. 


§  2.    Die  neueste  Epoche  der  Kodifikation  167 


Der  Justizminister  Stefan  Bittö,  der  Nachfolger  Balthazar  Horväths,  hielt 
den  durch  seinen  Vorgänger  erteilten  Auftrag  aufrecht.  Karl  Csemegi  beendigte 
die  erste  Abfassung  des  Entwurfes  im  August  1872.  Diesen  Entwurf  arbeitete  er 
aber  im  nächsten  Jahre  um  und  versah  ihn  mit  einer  gross  angelegten  Moti- 
vierung, welche  an  und  für  sich  als  ein  wissenschaftliches  Werk  gelten  kann. 
Das  war  übrigens  in  Ungarn  nötig,  da  die  Motivierung  auch  eine  Lücke  in 
Ungarns  damals  unentwickelter  wissenschaftlicher  Litteratur   ausfüllen  musste. 

Die  Arbeit  ist  im  Sommer  des  Jahres  1874  erschienen  und  wurde  durch 
den  inzwischen  Justizminister  gewordenen  üniversitätsprofessor  Theodor  Pauler 
dem  Abgeordnetenhause  vorgelegt.  Wegen  der  kurz  hierauf  eingetretenen  Auf- 
lösung des  Reichstages  konnte  aber  dieser  Entwurf  nicht  zur  Verhandlung  kommen. 

Zu  dieser  Zeit  erschien  in  Österreich  der  Glasersche  Entwurf,  der  viel 
wertvolles  Material  enthielt,  und  mit  dem  sich  Ungarns  öffentliche  Meinung 
neben  dem  Csemegischen  Entwürfe  stark  beschäftigte.  Infolgedessen  war  es 
Karl  Csemegi  selbst,  der  im  Jahre  1875  die  Revision  seines  Entwurfes  beantragte, 
womit  der  damalige  Justizminister  B61a  Perczel  ihn  betraute. 

Der  revidierte  Entwurf  wurde  samt  der  Motivierung  des  speziellen  Teiles 
bald  fertig  und  im  August  1875  durch  den  Justizminister  einer  aus  hervor- 
ragenden praktischen  Juristen  bestehenden  Kommission  unterbreitet,  welche 
ihn  in  acht  Sitzungen  besonders  aus  dem  Gesichtspunkte  der  bestehenden 
ungarischen  Verhältnisse  prüfte. 

Am  5.  November  1875  wurde  der  Entwurf  dem  Abgeordnetenhause  imter- 
breitct  und  hier  an  die  Justizkommission  überwiesen.  Diese  verhandelte  den 
Entwurf  sowohl  hinsichtlich  der  allgemeinen  Prinzipien,  wie  auch  der  einzelnen 
Bestimmungen  in  59  Sitzungen  und  unterbreitete  ihren  Bericht  dem  Abgeord- 
netenhause am  15.  September  1877. 

Die  Verhandlung  im  Plenum  des  Hauses  nahm  am  22.  November  ihren 
Anfang.  Sie  wurde  durch  eine  gross  angelegte  Rede  des  inzwischen  wieder 
Üniversitätsprofessor  gewordenen  Theodor  Pauler  eröffnet  und  blieb  bis  zum 
Schluss  auf  einem  hohen  Niveau.  Besonders  bemerkenswert  sind  die  klassischen 
Reden  des  Kodifikators  selbst.  Das  Ergebnis  der  Verhandlung  war  die  An- 
nahme des  Entwurfes  mit  einigen  durch  die  Justizkonmiission  beantragten 
Modifikationen,  die  teils  auf  die  Textierung,  teils  auch  auf  einige  Prinzipien 
Bezug  hatten. 

Hierauf  wurde  der  Entwurf  dem  Oberhause  zugesandt,  welches  ihn  am 
18.  Februar  1878  in  Verhandlung  zog,  in  fünf  Sitzungen  verhandelte  und  mit 
Beantragung  einiger  nicht  unwichtiger  Modifikationen  an  das  Abgeordneten- 
haus zurückleitete.  Das  Abgeordnetenhaus  verhandelte  diese  Modifikationen 
am  27.  März,  nahm  einige  derselben  an,  blieb  aber  in  Betreff  der  übrigen  auf 
seinem  früheren  Standpunkte.  In  der  hierauf  folgenden  neuerlichen  Verhand- 
lung des  Oberhauses  trat  dieses  den  Anträgen  des  Abgeordnetenhauses  im 
allgemeinen  bei,  hielt  aber  seinen  früheren  Standpunkt  in  Bezug  auf  einen 
einzigen  Punkt  aufrecht.  Die  Differenz  wurde  endlich  durch  das  Abgeordneten- 
haus gänzlich  gehoben,  indem  es  in  seiner  Sitzung  vom  8.  April  den  Stand- 
punkt des  Oberhauses  acceptierte.  Der  Gesetzentwurf  wurde  am  27.  Mai  mit 
der  königlichen  Sanktion  versehen  und  als  Gesetz- Artikel  V  vom  Jahre  1878 
unter  dem  Titel  „Das  ungarische  Strafgesetzbuch  über  Verbrechen  und  Ver- 
gehen'* am  29.  Mai  in  beiden  Häusern  des  Reichstages  publiziert. 

Endlich  haben  also  die  hundertjährigen  Bestrebungen  und  Kämpfe  zum 
Ziele  geführt.  Um  dieses  Ergebnis  hat  sich  Karl  Csemegi  nicht  nur  als 
Koditikator  verdient  gemacht,  sondern  auch  als  Staatssekretär  und  Parlaments- 
mitglied, indem  er  als  solches  den  Strafgesetzentwurf  mit  ausserordentlicher 
Zähigkeit  und  Energie  auf  der  Tagesordnung  des  Parlaments  erhielt. 


168  Ungarn.  —  Das  geltende  Recht. 


n.  Das  geltende  Recht. 

§  3.  Die  ungarischen  Strafgesetze  und  ihre  Einteilung. 

1.  Wir  haben  einen  Kodex  (GA.  V,  1878)  über  die  Verbrechen  und 
Vergehen  und  einen  anderen  (GA.  LX,  1879)  über  die  Übertretungen. 
Die  Delikte  werden  also,  gemäss  dein  Dreiteilungssystem,  in  Verbrechen,  Ver- 
gehen und  Übertretungen  eingeteilt,  während  der  Entwurf'  von  1843  das  Zwei- 
teilungssystem (Verbrechen  und  Übertretungen)  befolgte. 

Da  es  zwischen  Verbrechen  und  Vergehen  keinen  qualitativen  Unter- 
schied giebt,  ist  es  der  quantitative  Unterschied,  auf  Grund  dessen  die  Teilung 
in  zwei  Gruppen  vollzogen  wird.  Die  Einteilung  basiert  auf  dem  System  der 
„distinctio  ex  poena".  Wie  diese  Einteilung  durchgeführt  wird,  werden  wir 
unten  beim  Strafensystem  hervorheben.  Wir  müssen  aber  schon  hier  bemerken, 
dass  nur  dolose  Handlungen  ein  Verbreclien  bilden  können  und  dass  diese 
Regel  auch  in  Bezug  auf  die  Vergehen  gilt,  insoweit  die  speziellen  Be- 
stimmungen des  Gesetzes  nicht  fahrlässige  Handlungen  als  Vergehen  erklären. 
Das  ungarische  Strafgesetzbuch  über  Verbrechen  und  Vergehen  zählt 
486  Paragraphen.  Hiervon  zählt  der  allgemeine  Teil  125  und  der  spezielle 
Teil  361  Paragraphen.  Jeder  Teil  besteht  aus  selbständigen  Abschnitten.  Im 
allgemeinen  Teil  giebt  es  9  Abschnitte,  im  speziellen  43.  Der  allgemeine  Teil 
enthält  alle  die  allgemeinen  Bestimmungen,  welche  auf  dem  Gebiete  des 
ganzen  Strafgesetzes  giltig  sind,  insofern  die  speziellen  Bestimmungen  dem 
nicht  widerstreiten,  und  diejenigen,  welche  die  Grundlage  oder  die  Ergänzung 
der  einzelnen  speziellen  Bestimmungen  bilden. 

Bei  der  Bestimmung  der  Aufeinanderfolge  der  Abschnitte  wurden  die- 
jenigen rein  doktrinären  Gesichtspunkte,  welche  die  Übersichtlichkeit  hindern 
und  disparate  Delikte  nebeneinander  stellen,  vermieden.  Ebenso  wurde  aber 
die  Systemlosigkeit  vermieden.  Die  sechsfache  Einteilung  des  code  penal  und 
der  ihm  ähnlichen  Gesetze  (I.Bücher,  IL  Titel,  III.  Kapitel,  IV.  Abschnitte, 
V.  Artikel,  VI.  Paragraphen)  wurde  nicht  acceptiert. 

Im  allgemeinen  Teile,  welcher  den  Titel  „Allgemeine  Bestimmungen" 
führt,  sind  die  Paragraphen  folgendermassen  eingeteilt: 

I.  Abschnitt.  Einleitende  Verfügungen.  §§  1 — 4.  II.  Abschnitt.  Wirksamkeit 
dieses  Gesetzes  hinsichtlich  des  Gebietes  und  der  Personen.  §§  5 — 19.  III.  Ab- 
schnitt. Strafen.  §§  20—64.  IV.  Abschnitt.  Der  Versuch.  §§  65—68.  V.  Ab- 
schnitt. Teilnahme.  §§  69 — 74.  VI.  Abschnitt.  Vorsatz  oder  Fahrlässigkeit. 
§  75.  VII.  Abschnitt.  Gründe,  welche  die  Strafe  ausschliessen  oder  mildern. 
76 — 94.  VIII.  Abschnitt.  ZusanunentreflFen  mehrerer  strafbarer  Handlungen. 
95 — 104.  IX.  Abschnitt.  Gründe,  welche  die  Strafverfolgung  und  die  Straf- 
voUstreckung  ausschliessen  (Tod,  Begnadigung,  Verjährung,  Antragsdelikte) 
§§  105—125. 

Der  zweite  oder  spezielle  Teil  enthält  die  einzelnen  Verbrechen  und 
Vergehen  und  ihre  Bestrafung.  In  erster  Reihe  handelt  er  von  den  Verbrechen 
und  Vergehen  gegen  den  Staat,  die  staatlichen  Institutionen  und  den  Staats- 
kredit. Hiemach  folgen  die  Verbrechen  und  Vergehen  gegen  Privatpersonen 
und  zwar  gegen  die  Ehre,  das  Leben,  den  Körper,  die  Gesundheit,  die  persön- 
liche Freiheit,  das  Recht  des  Individuums  und  endlich  gegen  das  Vermögen. 
Am  Ende  stehen  die  gemeingefährlichen  Verbrechen  und  Vergehen. 

Die  Paragraphen  des  zweiten  Teiles,  welcher  die  Aufschrift  führt:  „Die 
einzelnen  Verbrechen  und  Vergehen  und  ihre  Bestrafung",  wurden  wie  folgt 
eingeteilt: 


§  3.    Die  iiiig'ai'ischen  Strafgesetze  und  ihre  Einteilung.  169 


1.  Abschnitt.  Hochven-at.  §§  126—138.  11.  Abschnitt.  Thätlichkeiten 
gegen  den  König  und  gegen  Mitglieder  des  königlichen  Hauses.  Beleidigung 
des  Königs.  §§139—141.  III.  Abschnitt.  Staatsverrat.  §§142—151.  IV.  Ab- 
schnitt. Aufstand.  §§  152 — 162.  V.  Abschnitt.  Gewaltthätigkeit  gegen  Be- 
hörden, gegen  Mitglieder  des  Keichstages  und  gegen  behördliche  Organe. 
§^  163 — 170.  VI.  Abschnitt.  Aufreizung  gegen  die  Verfassung,  die  Gesetze, 
die  Behörden  oder  die  behördlichen  Organe.  §§171—174.  VII.  Abschnitt,  Ge- 
waltthätigkeit gegen  Privatpersonen.  §§  175 — 177.  VIII.  Abschnitt.  Ver- 
brechen und  Vergehen  gegen  das  Wahlrecht.  §§  178 — 189.  IX.  Abschnitt. 
Verbrechen  und  Vergehen  gegen  die  freie  Religionsübung.  §§  190 — 192.  X.  Ab- 
schnitt. Verletzung  der  persönlichen  Freiheit,  des  Hausrechtes,  des  Brief-  und 
Depeschengeheininisses  durch  öffentliche  Beamte.  §§193 — 202.  XI.  Abschnitt. 
Geldverfälschung.  §§  203—212.  XII.  Abschnitt.  Falsche  Aussage  und  Mehi- 
eid.     §§213  —  226.     XIII.  Abschnitt.     Falsche  Anschuldigung.     §§227—231. 

XIV.  Abschnitt.    Verbrechen  und  Vergehen  gegen  die  Sittlichkeit.     §§  232 — 250. 

XV.  Abschnitt.  Zweifache  Ehe.  §§  251—253.  XVI.  Abschnitt.  Verbrechen 
und  Vergehen  in  Beziehung  auf  den  Familienstand.  §§  25^ — 257.  XVII.  Ab- 
schnitt. Verleumdung  und  Ehrenbeleidigung.  §§  258 — 277.  XVIII.  Abschnitt. 
Verbrechen  und  Vergehen  wider  das  Leben.  §§  278 — 292.  XIX.  Abschnitt. 
Zweikampf.  §§293—300.  XX.  Abschnitt.  Köi-perverletzung.  §§301—313. 
XXI.  Abschnitt.  Verbrechen  und  Vergehen  wider  den  öffentlichen  Gesund- 
heitsstand. §§  314 — 316.  XXII.  Abschnitt.  Verletzung  der  persönlichen  Frei- 
heit durch  Privatpersonen.  §§  317 — 326.  XXIII.  Abschnitt.  Verletzung  des 
Brief-  und  Depeschengeheimnisses  durch  Privatpersonen.  §  327.  XXIV.  Ab- 
schnitt. Verletzung  fremder  Geheimnisse.  §§  328—329.  XXV.  Abschnitt. 
Hausfriedensbruch  durch  Privatpersonen.  §§  330 — 332.  XXVI.  Abschnitt. 
Diebstalü.  §§  333—343.  XXVII.  Abschnitt.  Raub  und  Erpressung.  §§  344 
bis  354.  XXVni.  Abschnitt.  Unterschlagung,  Verletzung  der  behördlichen 
Sperre  und  Untreue.  §§  355—364.  XXIX.  Abschnitt.  Widerrechtliche  An- 
eignung. §§  365—369.  XXX.  Abschnitt.  Hehlerei  und  Begünstigung.  §§  370 
bis  378.  XXXI.  Abschnitt.  Betrug.  §§  379—390.  XXXII.  Abschnitt.  Ur- 
kundenfälschung. §§  391—407.  XXXIII.  Abschnitt.  Ausstellung  und  Be- 
nützung falscher  ärztlicher  und  Gemeinde-Zeugnisse.  §§  408 — 411.  XXXIV. 
Abschnitt.  Stempel  Verfälschung.  §§  412—413.  XXXV.  Abschnitt.  Betrüge- 
rischer und  schuldbarer  Bankerutt.  §§  414 — 417.  XXXVI.  Abschnitt.  Sach- 
beschädigung.   §§418—421.    XXXVII.  Abschnitt.    Brandstiftung.    §§422—428. 

XXXVIII.  Abschnitt.     Herbeiführung   einer   Überschwemmung.     §§  429—433. 

XXXIX.  Abschnitt.  Beschädigung  von  Eisenbahnen,  Schiffen  und  Telegraphen 
und  andere  gemeingefährliche  Handlungen.  §§  434 — 446.  XL.  Abschnitt.  Be- 
freiung von  Gefangenen.  §§447 — 448.  XLI.  Abschnitt.  Verbrechen  und  Ver- 
gehen gegen  die  bewaffnete  Macht.  §§  449 — 460.  XLII.  Abschnitt.  Verbrechen 
und  Vergehen  im  Amte  und  Missbrauch  der  Advokatenstellung.  §§  461 — 484. 
XLIII.  Abschnitt.     Schlussbestimmungen.     §§  485 — 486. 

2.  Die  zweite  Hauptrechtsquelle  neben  dem  Gesetzbuch  über  Verbrechen 
imd  Vergehen  (GA.  V,  1878)  ist  das  „Gesetzbuch  über  Übertretungen" 
(GA.  XL,  1879).  Der  Entwurf  dieses  Gesetzes  ist  ebenfalls  das  Werk 
Karl  Csemegis.  Der  Entwurf  wurde  im  Jahre  1878  dem  Reichstage  unter- 
breitet, wurde  aber  nur  im  Justizausschusse  verhandelt,  da  der  Reichstag  auf- 
gelöst wurde,  bevor  es  zur  Plenarverhandlung  kam.  Im  Herbste  des  Jahres 
1878  wurde  der  Entwurf'  dem  neuen  Reichstage  in  der  Fassung  unterbreitet, 
in  welcher  er  durch  den  Justizausschuss  des  früheren  Reichstages  angenommen 
worden  war.  Das  Abgeordnetenhaus  verhandelte  ihn  vom  24.  bis  28.  Mai 
1879,  das  Oberhaus   am  7.  Juni   desselben   Jahres.     Das   Oberhaus   beantragte 


170  UngSLTn.  —  Das  gleitende  Recht. 


nur  eine  einzige  Veränderung  des  Gesetzes  (im  §  30),  welchem  Antrage  das 
Abgeordnetenhaus  zustimmte.  Hiemach  wurde  der  Entwurf  am  11.  Juni  mit 
der  allerhöchsten  Sanktion  versehen  und  als  Gesetz-Artikel  XL  vom  Jahre  1879 
unter  dem  Titel  „Ungarisches  Strafgesetzbuch  über  Übertretungen"  am  14.  Juni 
in  beiden  Häusern  des  Reichstages  publiziert. 

Dieses  Gesetz  enthält  145  Paragraphen  und  ist  in  zwei  Teile  eingeteilt. 
Der  erste  mit  dem  Titel  ,,Allgemeine  Bestimmungen"  enthält  32  Paragraphen, 
der  zweite  mit  dem  Titel  „Von  den  Arten  der  Übertretungen  und  deren  Be- 
strafung" enthält  die  übrigen  Paragraphen  und  ist  ausserdem  in  11  Abschnitte 
eingeteilt.     Die  Titel  der  Abschnitte  sind  die  folgenden: 

I.  Abschnitt.  Die  Übertretungen  gegen  den  Staat.  §§  33 — 38.  II.  Ab- 
schnitt. Übertretungen  gegen  die  Behörde  und  die  öffentliche  Ruhe.  §§  39 — 50. 
III.  Abschnitt.  Übertretungen  gegen  die  Religion  und  deren  freie  Ausübmig. 
§§  51 — 54.  IV.  Abschnitt.  Übertretungen  bezüglich  der  Fälschung  von  Geld 
und  Wertpapieren.  §§  55 — 59.  V.  Abschnitt.  Übertretungen  gegen  den  Fa- 
milienstand. §  60.  VI.  Abschnitt.  Übertretungen  gegen  die  öffentliche  Sicher- 
heit. §§  61 — 73.  VII.  Abschnitt.  Übertretungen  gegen  die  öffentliche  Ruhe 
und  öffentliche  Moral.  §§  74  —  86.  VIII.  Abschnitt.  Übertretungen  durch 
Glücksspiele.  §§  87 — 91.  IX.  Abschnitt.  Übertretungen  gegen  die  Gesundheit 
und  körperliche  Sicherheit.  §§  92 — 125.  X.  Abschnitt.  Übertretungen  gegen 
das  Eigentum.    §§126—143.   XI.  Abschnitt.  Schlussbestimmungen.  §§144—145. 

§  4.  Einftihrang  der  ungarischen  Strafgesetzbücher. 

In  den  beiden  ungarischen  Gesetzbüchern  wurde  ausgesprochen,  dass 
betreffs  des  Inslebentretens  sowie  der  Übergangsbestimmungen  dieser  Gesetze 
ein  spezielles  Einführungsgesetz  verfügen  werde. 

Mit  der  Abfassung  dieses  Gesetzentwurfes  betraute  der  Justizminister 
Pauler  den  Abgeordneten  und  heutigen  Staatssekretär  im  Justizministerium 
Stefan  Teleszky.  Der  Entwurf  wurde  nach  einer  Ausschussberatung  als  Regie- 
rungsentwurf am  22.  Januar  1880  dem  Abgeordnetenhause  vorgelegt.  Der  Be- 
richt des  Justizausschusses,  in  welchem  der  etwas  modifizierte  Entwurf  zur 
Annahme  empfohlen  wurde,  wurde  am  5.  März  dem  Abgeordnetenhause  vor- 
gelegt. Der  Entwurf'  wurde  im  Abgeordnetenhause  am  28.  und  29.  März 
verliandelt  und  zwecks  neuerlicher  Textierung  einiger  Paragraphen  an  den 
Justizausschuss  zurückgeleitet.  Der  Ausschuss  erstattete  am  8.  Mai  den  zweiten 
Bericht,  worauf  der  Entwurf  vom  Abgeordnetenhause  und  später  auch  vom 
Oberhause  (Magnatentafel)  angenommen  wurde.  Der  Entwurf*  wurde  am  15.  Juni 
mit  der  königlichen  Sanktion  versehen  und  am  21.  in  beiden  Häusern  des 
Reichstages  als  Gesetz- Artikel  XXXVII  vom  Jahre  1880  unter  dem  Titel  „Über 
die  Einführung  der  ungarischen  Strafgesetzbücher"  publiziert.  Das  Gesetz, 
welches  aus  49  Paragraphen  besteht,  bestimmt,  dass  die  beiden  ungarischen 
Strafgesetzbücher  am  1.  September  1880  in  Wirksamkeit  treten. 

§  5.    Allgemeine  Charakteristik  der  Strafgesetzbileher. 

1.  Bei  der  Ausarbeitung  des  Strafgesetzentwurfes  wurden  alle  Quellen, 
welche  beim  damaligen  Stande  der  Wissenschaft  und  mit  Bezug  auf  die  Ver- 
hältnisse unseres  Landes  massgebend  waren,  gewissenhaft  benutzt.  Der  Ein- 
fluss  des  deutschen  Reichsstrafgesetzbuches,  der  belgischen  und  Züricher  Straf- 
gesetze, sowie  auch  der  italienischen  und  der  Glaserschen  (österreichischen) 
Strafgesetzentwürfe  auf  unser  Strafgesetzbuch  kann  zweifellos  festgestellt  wer- 
den.    Der  Autor  des  Entwurfes  beherrschte    den    ganzen  Stoff   der  deutschen, 


§  5.    Allgemeine  Charakteristik  der  Strafgesetzbücher.  171 


französischen  und  italienischen  Strafrechtswissenschaft  und  zog  bei  seiner 
Arbeit  alle  Ergebnisse  der  wissenschaftlichen  Kritik  in  Betracht.  Die  Arbeit 
war  mit  gi'osseu  Schwierigkeiten  verbunden,  da  die  Kontinuität  der  Entwick 
lung  fehlte.  Die  Gerichtspraxis,  weiche  sich  unter  dem  Einflüsse  des  öster- 
reichischen Strafgesetzes  entwickelt  hatte,  war  voll  von  Irrtümern.  Überlebte 
Lehren  wurden  als  Wahrheiten  verkündet.  Es  war  unmöglich,  ein  neues  Straf- 
gesetzbuch auf  diese  Praxis  zu  gründen.  Diese  musste  eher  ausgerottet  werden. 
Die  Litteratur  hatte  in  jener  Zeit  noch  keinen  solchen  Aufschwung  genommen, 
dass  sie  als  Vorläuferin  der  grossen  Refonn  hätte  gelten  können.  Die  in  der 
Praxis  herrschenden  Prinzipien  des  österreichischen  Strafgesetzbuches  verlockten 
nicht  zu  wissenschaftlicher  Verarbeitung.  Den  litterarischen  Arbeiten,  welche 
produziert  wurden,  fehlte  die  modern  positive  Grundlage,  und  es  herrschte  in 
der  Litteratur  die  vernunftrechtliche  Richtung  vor.  Es  fehlte  also  das  Binde- 
glied zwischen  dei  Litteratur  und  dem  neuen  Strafgesetze;  und  wenn  wir 
dieses  und  die  oben  dargestellten  geschichtlichen  Momente  in  Betracht  ziehen, 
muss  es  uns  klar  werden,  dass  das  ungarische  Strafgesetz  nicht  wie  das  deutsche 
oder  italienische,  welchen  partikuläre  Gesetze  und  (»ine  blühende  Litteratur 
vorausgingen,  auf  geschichtlicher  Grundlage  stehen  konnte. 

Es  giebt  in  Ungarn  viele,  die  dem  Strafgesetzbuche  den  Vorwurf  machen, 
dass  es  nicht  wenigstens  einige  Prinzipien  des  Entwurfes  von  1843  übernahm. 
Man  beruft  sich  hierauf  insbesondere  deshalb,  weil  sich  in  der  Praxis  die 
Minima  des  Strafgesetzes  (bei  Zuchthaus  2  Jahre,  bei  Kerker  6  Monate)  als 
zu  hoch  erwiesen  haben,  und  da  man  dieser  Unzukömmliehkeit  hätte  aus- 
weichen können,  wenn  man  das  hier  in  Betracht  kommende  Prinzip  des  vr- 
wähnten  Entwurfes,  welcher  bei  keiner  Strafe  ein  Minimum  vorschreibt,  über- 
nommen hätte. 

Hiennit  gehen  wir  über  zur  Charakterisierung  des  Systems  und  der  Rich- 
tung des  Strafgesetzbuches. 

2»  Das  Grundprinzip  des  ungarischen  Strafgesetzbuches  ist  dasselbe  ver- 
einigte Prinzip  der  Gerechtigkeit  und  Nützlichkeit,  welches  die  Grundlage 
aller  civilisierten  Strafgesetze  bildet.  Das  ganze  System  und  alle  Bestim- 
mungen des  ungarischen  Strafgesetzes  sind  von  dieser  Vereinigungstheorie 
durchdrungen.  Das  Nützlichkeitsprinzip  kommt  besonders  bei  den  Fragen 
der  Entlassung  auf  Widerruf,  der  Begnadigung,  der  Verjährung,  des  Rück- 
trittes vom  Versuche  usw.  zum  Vorschein.  Das  ungarische  Strafgesetz  hält 
sich  sowohl  von  der  Theorie  der  absoluten  Gerechtigkeit,  als  von  der  des 
rollen  Utilitarismus  ferne,  und  es  gelingt  ihm,  die  beiden  Gesichtspunkte  glück- 
lich zu  vereinigen. 

3.  Die  ungarischen  Strafgesetzbücher  (GA.  V,  1878,  über  Verbrechen 
und  Vergehen  und  GA.  XL,  1879,  über  Übertretungen)  enthalten  nicht 
sämtliche  Rechtsobjekte,  welche  unter  dem  strafrechtlichen  Schutze  des  Staates 
stehen.  Das  Bestreben  der  Theoretiker,  alle  strafrechtlichen  Institutionen  in 
ein  einzelnes  Gesetzbuch  zusammen  zu  fassen,  konnte  bei  uns  ebensowenig 
durchdringen,  wie  anderswo.  Die  gi'osse  Zahl  der  unten  aufgezählten  speziellen 
Gesetze  zeigt,  dass  bereits  bei  der  SchaflFung  des  Einführungstjfesetzes  mehrere 
strafrechtliche  Bestimmungen  anderer  Gesetze  aufrecht  erhalt(^n  und  dass  seit- 
dem viele  neue  Gesetze  solcher  Art  geschaffen  werden  nmssten. 

Hier  muss  zugleich  hervorgehoben  werden,  dass  das  Strafgesetzbuch  sich 
auch  auf  die  im  Wege  der  Presse  begangenen  Verbrechen  und  Vergehen  er- 
streckt. Das  Strafgesetzbuch  bestimmt  die  strafbaren  Handlungen  und  ihre 
Strafen,  und  der  GA.  XVHI,  1848,  ist  hinsichtlich  dieser  Handlungen  und 
Strafen  ausser  Kraft  gesetzt.  Hinsichtlich  des  Verfahrens,  der  Presspolizei, 
der  stufen  weisen  Verantwortlichkeit   ist   das  Pressgesetz  noch  immer  in  Kraft. 


172  Ungarn.  —  Das  g-elteude  Recht. 


4.  Das  Strafen  System  des  Gesetzes  bestrebt  sich,  die  Ansprüche  der 
HuüiAnität  mit  denen  der  Gerechtigkeit  und  der  nötigen  Strenge  in  Einklang 
zu  bririgen. 

Die  Todesstrafe  erscheint  im  Gegensatz  zu  dem  Entwuif  vom  Jahre 
1843  aufrecht  erhalten,  wird  aber  nur  im  Falle  des  Mordes  und  der  voraätz- 
lichen  Tötung  des  Königs  angewendet. 

Der  Schwerpunkt  der  Strafen  liegt  in  den  Freiheitsstrafen.  Das  Straf- 
gesetzbuch über  Verbrechen  und  Vergehen  kennt  vier  Arten  der  Freiheits- 
strafen: Zuchthaus,  Staatsgefängnis  (honesta  custodia),  Kerker,  Gefängnis. 

Die  schwersten  Verbrechen  unterliegen  der  lebenslänglichen  Zuchthaus- 
strafe. Die  längste  Dauer  der  zeitigen  Freiheitsstrafen  ist  15  Jahre.  Ent- 
scheidend für  dieses  Maximum  waren  die  bei  Abfassung  des  norddeutschen 
Strafgesetzes  gepflogenen  Untersuchungen,  welche  zur  Folge  hatten,  dass  das 
deutsche  Reichsstrafgesetzbuch  und  das  Züricher  Strafgesetzbuch  dasselbe 
Maximum  acceptierten. 

Die  Zuchthausstrafe  kann  also  lebenslänglich  oder  zeitig  sein.  Ihre 
kürzeste  Dauer  beti'ägt  2  Jahre. 

Die  längste  Dauer  des  Staatsgefängnisses  beträgt  15  Jahre,  die  kürzeste 
einen  Tag. 

Die  längste  Dauer  des  Kerkers  beträgst  10  Jahre,  die  kürzeste  6  Monate. 

Die  Gefängnisstrafe  kann  bis  zu  5  Jahren  verhängt  werden,  ihre  kürzeste 
Dauer  beträgt  einen  Tag. 

Die  Todesstrafe,  Zuchthaus-  und  Kerkerstrafen  werden  ausschliesslich  auf 
Verbrechen,  die  Gefängnisstrafe  ausschliesslich  auf  Vergehen  angewendet. 
Das  Staatsgefängnis  ist  unter  5  Jahren  auf  Vergehen,  sonst  auf  Verbrechen 
anzuwenden. 

Ob  das  Delikt  ein  Verbrechen  oder  ein  Vergehen  bildet,  wird  nicht 
durch  das  im  speziellen  Teile  des  Gesetzes  festgestellte  Strafausmass,  sondern 
durch  die  im  konkreten  Falle  durch  das  Gericht  bemessene  Strafe  bestimmt. 
Dies  ist  im  Gesetze  nicht  ganz  klar  ausgesprochen,  und  es  erwähnt  das  Gesetz 
auch  nicht,  ob  das  im  Wege  der  Korrektionalisation  als  Vergehen  qualifizierte 
Delikt  dieselben  rechtlichen  Folgen  nach  sich  zieht  als  das  Delikt,  welches 
gesetzlich  als  Vergehen  qualifiziert  wird.  Die  hierbei  Ausschlag  gebenden 
Paragraphen  des  Strafgesetzes  (insbesondere  §  20)  werden  aber  heute  aus- 
nahmslos in  dem  Sinne  ausgelegt,  dass  für  die  Qualifikation  des  Deliktes  die 
in  concreto  richterlich  bemessene  Strafe  entscheidend  ist. 

5.  Die  Strafrahmen.  Das  Gesetz  bestimmt  hinsichtlich  jeden  Deliktes 
das  Maximum  und  das  Minimum  der  StriUe.  Wo  im  speziellen  Teile  das  Mini- 
mum nicht  einyähnt  wird,  fällt  es  mit  dem  im  allgemeinen  Teile  bestinmiten 
Minimum  der  fraglichen  Strafart  zusammen.  Das  System  des  Gesetzes  ist  also 
der  relativ  bestimmte  Strafrahmen,  während  der  Entwurf  vom  Jahre  1843, 
der  die  Minima  nicht  kannte,  das  System  der  relativ  unbestimmten  Strafrahmen 
befolgte.  Die  Rahmen  der  zeitigen  Freiheitsstrafen,  welche  im  speziellen  Teile 
des  Strafgesetzes  enthalten  sind,  sind  die  folgenden.  Zuchthaus:  10 — 15,5 — 10 
und  10  Jahre  (Minimum  2  Jahre),  3 — 5,  5  und  3  Jahre  (2 — 3  Jahre).  Kerker- 
strafe: 2 — 5,  l-t-5  und  5  Jahre  (Minimum  6  Monate),  1 — 3,  3,  2  und  1  Jahr. 
Staatsgefängnisstrafe:  10 — 15,  5 — 10,  2 — 5,  1 — 5,  5,  1 — 3,  3  Jahre,  6  Monate  bis 
2  Jahre,  2  Jahre,  1  Jahr,  6  Monate.  Gefängnis:  2 — 5,  5,  1 — 3  Jahre,  6  Mo- 
nate bis  3  Jahre,  3  Jahre,  2  Jahre,  3  Monate  bis  1  Jahr,  1  Jahr,  6,  3  imd  1 
Monate,  8  Tage. 

Hieraus  ist  ersichtlich,  dass  es  im  Gesetze  bei  der  Bestimmung  der  kon- 
kreten Maxima  und  Minima  mehrere  Unterstufen  giebt. 

6.  Strafausmass.    Ausserordentliche  mildernde  Umstände.     Die 


§  5.    Allgemeine  Charakteristik  der  Strafgesetzbücher.  173 


Regel  bei  Bemessung  der  Strafe  ist  die,  dass  wenn  weder  mildernde,  noch 
erschwerende  Umstände  überwiegen,  die  zwischen  dem  Maximum  und  Minimum 
liegende  mittlere  Dauer  bemessen  wird.  Die  mittlere  Dauer  beträgt  z.  B.  in 
dem  Falle,  wenn  5  Jahre  Zuchthaus  das  Maximum  bildet,  S^/^  Jahre  (da  das 
Minimum  des  Zuchthauses  2  Jahre  beträgt). 

Das  Gesetz  zieht  ausserdem  die  ausserordentlichen  mildernden  Umstände 
in  Betracht.  Das  System,  welches  hier  befolgt  wird,  ist  nicht  die  Aufstellung 
zweier  Strafrahmen,  von  welchen  einer  für  die  normalen,  und  der  andere 
für  die  ausserordentlich  leichten  Fälle  Geltung  hat.  Im  ungarischen  Straf- 
gesetze wird  anstatt  der  Qualität  der  Strafen  im  allgemeinen  Teile  (§  92)  das 
Prinzip  der  Strafmilderung  für  ausserordentlich  leichte  Pralle  ausgesprochen 
und  die  Grenze  dieser  Strafmilderung  festgesetzt.  Die  Milderung  der  Strafen 
hat  auch  für  die  Verbrechen,  welche  mit  dem  Tode  oder  mit  lebenslänglicher 
Zuchthausstrafe»  geahndet  werden,  Geltung,  ist  aber  insofern  eingeschränkt, 
als  an  Stelle  der  Todesstrafe  auf  keine  geringere  als  15jährige  Zuchthaus- 
strafe, und  an  Stelle  der  lebenslänglichen  Zuchthausstrafe  auf  keine  geringere 
als  10jährige  Zuchthausstrafe  erkannt  werden  darf.  Sonst,  wenn  die  mildern- 
den Umstände  so  schwerwiegend  oder  so  zahlreich  sind,  dass  selbst  das  auf 
die  Handlung  angedrohte  niedrigste  Strafausmass  un verhältnismässig  schwer  wäre, 
so  kann  innerhalb  derselben  Strafart  auf  das  niedrigste  gesetzliche  Mass  er- 
kannt werden;  sollte  auch  dies  zu  strenge  sein,  dann  kann  an  die  Stelle  der 
zeitigen  Zuchthausstrafe  Kerker,  an  Stelle  der  Kerkerstrafe  Gefängnis,  an 
Stelle  des  Gefängnisses  Geldstrafe  bis  zum  niedrigsten  Ausmasse  der  jeweiligen 
Straf art  treten. 

Hieraus  folgt  auch,  dass,  wenn  auf  Grund  dieser  Bestimmungen  die 
Strafe  im  konkreten  Falle  korrigiert  und  anstatt  des  Kerkers  auf  Gefängnis 
erkannt  wird,  zugleich  die  im  (iesetze  als  Verbrechen  qualifizierte  Handlung 
im  Urteil  als  Vergehen  qualifiziert  wird,  da  die  erkannte  Strafe  eine  Strafe 
für  Vergehen  bildet. 

7.  Gefängnissystem.  Das  Gefängnissystem  ist  abweichend  vom  Einzel- 
system des  Entwurfes  von  1843  auf  das  Progressivsystem  basiert.  Dieses 
enthält  die  Stufen  der  Einzelhaft,  der  gemeinsamen  Arbeit,  der  Zwischen- 
anstalt und  der  Entlassung  auf  Widerruf,  welche  während  des  Vollzuges  der 
Strafe  stufenweise  aufeinander  folgen.  Die  Institution  der  Entlassung  auf 
Widerruf,  welche  weiter  unten  noch  erörtert  werden  wird,  hat  sich  gut  be- 
währt, und  die  öffentliche  Meinung  fordert  sogar  die  Entwicklung  dieser  In- 
stitution. Es  muss  noch  hervorgehoben  werden,  dass  das  Gesetz  nur  die 
allgemeinen  Prinzipien  der  Vollstreckung  der  einzelnen  Strafarten  enthält  und 
sich  in  die  Einzelheiten  nicht  einlässt.  Es  wird  das  Wesen  der  Strafarten 
festgestellt,  woraus  sozusagen  die  Menge  der  zu  erleidenden  Strafe  ersichtlich 
und  die  relativen  Zwecke  des  Gesetzes  und  die  Bestimmungen,  welche  das 
Gesetz  zur  Erreichung  dieser  Zwecke  für  entsprechend  hält,  erkenntlich  sind. 
Aus  diesem  Standpunkte  muss  der  Inhalt  der  einschlägigen  Bestimmungen  des 
Gesetzes,  welche  sich  auf  das  Strafensystem  bezichen,  beti'achtet  und  beurteilt 
werden.     Die  Einzelheiten  sind  in  ministeriellen  Verordnungen  geregelt. 

8.  Geldstrafe.  Die  Geldstrafe  wird  als  selbständige  Strafe  ausschliess- 
lich bei  Vergehen  angewendet  und  zwar  laut  dem  speziellen  Teile  des  Gesetzes 
nur  im  Falle  der  §§  261,  366  und  443  in  der  Höhe  von  1—500,  1—1000 
und  100 — 1000  Gulden.  Ausserdem  wird  die  Geldstrafe  als  selbständige  Strafe 
angewendet,  wenn  die  Gefängnisstrafe  auf  Grund  ausserordentlicher  mildern- 
der Umstände  in  (J eidstrafe  umgewandelt  wird.  Die  Geldstrafe  kann  im 
Nichtzahlungsfalle  nicht  mit  Arbeit  abgedient  werden,  sondern  wird  in  Gefäng- 
nis umgewandelt.    Dies  ist  von  grossem  Nachteile,  da  hierdurch  die  Geldstrafe 


174  Ungarn.  —  Das  geltende  Recht. 


für  den  armen  Mann  diesen  Charakter  verliert  und  in  der  Praxis  zur  Gefängnis- 
strafe wird. 

9.  Nebenstrafen.  Als  Nebenstrafen  gelten,  abgesehen  von  der  Einziehung 
der  zur  Verübung  des  Deliktes  dienenden  Gegenstände,  der  Ausweisung  fremder 
Verbrecher,  der  Untersagung  der  Ausübung  eines  Berufes  und  der  Geldstrafe 
als  Nebenstrafe,  der  Amtsverlust  und  die  zeitweilige  Entziehung  der  politischen 
Rechte.  Die  zeitlebens  dauernden  Rechtsfolgen  des  Verbrechens  sind  aus  dem 
System  ausgeschlossen.  Das  Prinzip  „non  poena  sed  factum  infamat"  ist 
durchgeführt.  Die  oben  erwähnten  Nebenstrafen  werden  bei  Vergehen  bis 
zu  einer  dreijährigen,  bei  Verbrechen  bis  zu  einer  zehnjährigen  Dauer  im 
Urteil  bemessen,  können  aber  nur  bei  deiyenigen  Delikten  angewandt  werden, 
bei  welchen  die  Anwendung  im  speziellen  Teile  des  Gesetzes  vorgeschrieben 
ist.  Der  Richter  hat  sogar  in  diesen  Fällen  das  Recht,  falls  die  erkannte  Frei- 
heitsstrafe ein  sechsmonatliches  Gefängnis  oder  Staatsgefängnis  nicht  übersteigt, 
von  der  Verhängung  der  Nebenstrafen  Umgang  zu  nehmen. 

10.  Antragsdelikte.  Die  Regel  des  ungarischen  Strafgesetzbuches  ist  die 
Verfolgung  der  Delikte  durch  den  Staat,  bezw.  durch  den  öffentlichen  Ankläger. 
Es  giebt  aber  im  ungarischen  ebenso  wie  in  den  übrigen  europäischen  Straf- 
gesetzbüchern mehrere  Delikte,  welche  nur  auf  Antrag  des  Verletzten  verfolgt 
werden  können.  Solche  Handlungen  giebt  es  24  und  zwar:  Leichtere  Art 
der  falschen  Anschuldigung  (§  229),  Notzucht  (§§  232,  238),  gewaltsame  Un- 
zucht (§§  233,  238),  Schändung  (§§  236,  238),  Blutschande  (§  244),  Beischlaf 
zwischen  Geschwistern  (§  244),  Unzucht  (§  245),  Ehebruch  (§  246),  Verbrechen 
gegen  den  Familienstand  (§  255),  Verleumdung  (§§  258—260,  268),  Ehren- 
beleidigung (§§  261—262,  268),  leichte  Körperverletzung  (§  301,  312),  Kindes- 
raub (§§  317—320,  322),  Entführung  einer  Frauensperson  (§§  321—322),  Ver- 
letzung des  Briefgeheimnisses  (§  327),  Verletzung  fremder  Geheimnisse  (§  328), 
Hausfriedeusbruch  (§332),  Diebstahl  von  Verwandten  und  Angestellten  (§§342 
bis  343),  Unterschlagung  (§  358),  Vergehen  der  Untreue  (§  361),  Widerrecht- 
liche Aneignung  (§  369),  Betrug  (§§  380  bis  390),  Fälschung  der  Industrie- 
schutzmarke (§413,  welchem  aber  seither  die  §§23—30  des  GA.  II,  1890, 
substituiert  worden  sind),  Sachbeschädigung  (§§418,  420,  421),  und  zwei 
Übertretungen  (§§  126 — 127  des  StGB,  über  Übertretungen).  Der  Antrag 
muss  binnen  drei  Monaten  gestellt,  und  kann,  insoweit  das  Gesetz  keine  Aus- 
nahme macht,  zurückgezogen  werden. 

11.  Über  den  Rückfall  hat  das  Strafgesetzbuch  keine  allgemeinen  Be- 
stimmungen und  bestimmt  einzeln  die  Handlungen,  hinsichtlich  welcher  der 
Rückfall  eine  höhere  Strafe  zur  Folge  hat,  womit  auch  der  Ausschluss  d(»r 
Entlassung  auf  Widerruf  verbunden  ist.  Diese  Handlungen  sind  Diebstahl, 
Raub,  Erpressung,  Unterschlagung,  Hehlerei  und  Betrug. 

12.  Das  Begnadigungsrecht,  und  zwar  sowohl  die  Einstellung  des  Ver- 
fahrens als  auch  die  Gnade  im  eigentlichen  Sinne,  wurde  als  ein  essentielles 
Recht  der  Staatssouveränität  in  das  System  des  Gesetzes  aufgenommen,  im 
einzelnen  aber  nicht  geregelt.  Hingegen  ist  die  Verjährung  als  Ausschliessungs- 
grund sowohl  der  Strafvollstreckung,  als  auch  der  Strafverfolgung  in  allen 
Einzelheiten  geregelt;  dabei  ist  zu  bemerken,  dass  die  Dauer  der  Verjähning 
durch  die  Höhe  der  im  konkreten  Falle  bemessenen  Strafe  bestimmt  wird. 

13.  Wenn  wir  zum  Schlüsse  noch  erwähnen,  dass  die  Hauptrichtung  des 
Gesetzes  durch  die  Prinzipien  der  sogenannten  objektiven  Theorie  bestimmt 
werden,  und  dass  dies  insbesondere  auf  dem  Gebiete  des  Versuchs  und  der 
Teilnahme  zum  Ausdruck  gelangt  und  auch  in  der  Judikatur  vorherrscht, 
haben  wir  den  Grundcharakter  und  die  Hauptgrundsätze  des  ganzen  ungari- 
schen Strafgesetzes  dargelegt. 


§  7.    Räumliches  und  persönliches  Geltungsgebiet  der  Strafgesetzbücher.     175 


§.  6.  Spezielle  Charakterislerimg  des  Strafgesetz bnehes  Aber  Übertretungen. 

Die  Rechtsquelle  für  das  Gebiet  der  Übertretungen  bilden  ausser  dem 
Gesetz  auch  die  Ministerialverordnungen  und  die  Statuten  des  Munizipiums 
und  der  Städte.  Diese  können  aber  nur  die  Verletzung  irgend  eines  polizei- 
lichen Verbotes  oder  einer  polizeilichen  Verfügung  als  Übertretung  quali- 
fizieren. Die  allgemeinen  Bestimmungen  des  Strafgesetzbuches  über  Verbrechen 
und  Vergehen  sind,  inwiefern  das  (iesetz  über  Übertretungen  nicht  etwas 
anderes  festsetzt,  auch  in  Fällen  von  Übertretungen  anzuwenden  (§  12).  Wegen 
einer  im  Auslande  begangenen  Übertretung  kann  eine  Besti*afung  nicht  Platz 
greifen  (§  13).  Wegen  einer  Übertretung  kann  keine  Auslieferung  bewilligt 
werden  (§  14).  Die  Strafe  wegen  einer  Übertretung  kann  zweimonatlichen 
Arrest  und  Geldbusse  von  300  (»ulden  nicht  übersteigen,  wenn  im  Gesetze; 
fünfzehntägigen  Arrest  und  eine  Geldbusse  von  100  (Julden,  wenn  in  einer 
Ministerial Verordnung;  fünftägigen  Arrest  und  50  Gulden  Geldbusse,  wenn 
in  einem  Munizipalstatute ;  dreitägigen  Arrest  und  20  Gulden  Geldbusse,  wenn 
in  einem  städtischen  Statute  irgend  eine  Handlung  als  Übertretung  erklärt 
wird  (§  16).  Die  kürzeste  Dauer  des  Arrestes  ist  drei  Stunden;  der  kleinste 
Betrag  der  Geldstrafe  50  Kreuzer  (S  17)-  Wenn  die  mildenulen  Umstände 
überwiegen,  kann  statt  Arrest  auf  Geldstrafe  erkannt  werdcm  (^  21).  Der 
Versuch  einer  Übertretung  wird  nicht  bestraft  (§  2()).  Die  Übertretung  ist 
auch  dann  zu  bestrafen,  wenn  sie  aus  Unachtsamkeit  verübt  wurde,  ausge- 
nommen, wenn  das  Gesetz,  die  Verordnung  oder  das  Statut  bloss  die  absicht- 
liche Verübung  der  Übertretung  zu  bestrafen  anordnet  (§  28).  Das  Recht  zur 
Einleitung  des  Strafverfahrens  verjälirt,  inwiefern  ein  besonderes  Gesetz  nicht 
das  Gegenteilige  verfügt,  innerhalb  sechs  Monaten,  die  bemessene  Strafe  inner- 
halb eines  Jahres. 

§  7.  Bäumliches  nnd  persönliches  Geltungsgebiet  der  Strafgesetzbttclier. 

Die  Wirksamkeit  beider  Strafgesetze  erstreckt  sich  auf  das  ganze  Ge- 
biet des  ungarischen  Staates  mit  Ausnahme  von  Kroatien  und  Slavonieu, 
wo  die  Schaffung  der  Strafgesetze  in  den  Reehtskreis  der  autonomen  Gesetz- 
gebung gehört.  Das  Prinzip  ist  das  der  Territorialität,  welches  aber  mit  dem 
universellen  Prinzip  der  Weltrechtspflege  und  der  Personalität  kombiniert  er- 
scheint. Vom  Standpunkte  des  ungarischen  Strafgesetzes  können  wir  viererlei 
Gebiete  unterscheiden.  1,  Jenes  (Jebiet  der  ungarischen  Staaten,  über  welches 
die  Strafgesetzgebung  ohne  Ausnahme  durch  den  ungarischen  Reichstag  aus- 
geübt wird,  also  Ungarn,  die  Landesteile  über  den  Königssteg  und  Fiume. 
2.  Jenes  Gebiet  des  ungarischen  Staates,  welches  hinsichtlich  der  Strafgesetz- 
gebung Autonomie  besitzt,  also  Kroatien  und  Slavonieu  oder  wie  es  laut 
ungarischem  öffentlichem  Recht  korrekter  ausgedrückt  wird,  die  kroatisch- 
slavonisch-dalmatischen  Länder.  3.  Die  cislaithanischen  Teile  der  Monarchie, 
also  die  im  österreichischen  Reichsrate  vertretenen  Länder  und  4,  das  übrige 
Ausland. 

Hinsichtlich  der  Personen  sind  die  folgenden  Unterscheidungen  von  Be- 
lang: 1.  Ungarische  Staatsangehörige,  worunter  auch  die  Kroaten  und  Sla- 
vonen  zu  verstehen  sind,  2.  die  Ausländer,  3,  die  Angehörigen  des  anderen 
Staates  der  Monarchie,  welche  in  der  Regel  wohl  als  Ausländer  betrachtet 
werden,  aber  doch  einigermassen  eine  Ausnahmestellung  einnehmen.  Z.  B. 
kann  ein  solcher  nur  seinem  Heimatsstaate  ausgeliefert  werden  (§  17j  und  wird 
auf  solche  in  einigen  Fällen  des  Staatsverrates  (§  142,  144)  das  ungarische 
Strafgesetzbuch  angewendet,  während  auf  die  übrigen  Ausländer  die  Regeln 
des  internationalen  Rechts  zur  Anwendung  konmien. 


17(5  Ungarn.  —  Strafrechtliche  Sondergesetze. 


Laut  den  Grundregeln  des  öffentlichen  Rechts  sind  den  Strafgesetzen 
nicht  unterworfen:  1.  Der  König  (Tripartitum,  11.  5.  39).  2.  Die  Mitglieder 
des  Eeichstages  hinsichtlich  ihrer  Äusserungen  im  Reichstage,  in  den  Aus- 
schüssen und  in  den  Delegationen.  Hinsichtlich  der  übrigen  sti'afbaren  Hand- 
lungen der  Reichstagsmitglieder  findet  die  gerichtliche  Verfolgung  nur  nach 
Einholung  der  Einwilligung  des  betreffenden  Hauses  statt.  3.  Laut  den  Regeln 
des  Völkerrechts  sind  dem  Strafgesetzbuche  jene  Personen  nicht  unterworfen,  die 
das  Recht  der  Exterritorialität  besitzen. 

Die  im  aktiven  Heeresdienst  stehenden  Personen  sind  dem  Militäi-straf- 
gesetzbuche  unterworfen  (Österr.  Mil.-StGB.  v.  15.  Januar  1855). 

§  8.  Modifikationen  des  Strafgesetzbuches  Aber  Verbrechen  und  Yergeheu. 

Das  Strafgesetzbuch  wird  durch  viele  spezielle  Gesetze  ergänzt,  von 
denen  weiter  unten  die  Rede  sein  wird.  Hier  wollen  wir  nur  jene  Gesetze 
aufzählen,  welche  den  GA.  V  v.  J.  1878  modifizieren,  und  dessen  Bestimmungen 
ausser  Kraft  setzen.     Diese  sind  die  folgenden: 

1.  §  27  des  Strafgesetzbuches,  welcher  von  der  Verwendung  der  Geld- 
strafen handelt,  wird  durch  zwei  Gesetze  modifiziert,  und  zwar  zuerst  dui'ch  den 
GA.  XX  V.  J.  1884  und  dann  durch  den  GA.  VHI  v.  J.  1887.  Nach  dem 
letzten  Gesetz  werden  die  aus  Geldstrafen  einfliessenden  Gelder  zur  Unter- 
stützung entlassener  armer  Sträflinge,  zur  Erhaltung  von  Besserungsanstalten 
und  zur  Errichtung  von  Gefängnissen  verwendet  (abgeändert  durch  GA.  XXVII 
V.  J.  1892). 

2.  Die  §§  449 — 51  des  Strafgesetzbuches  wurden  durch  die  §§  45,  47 — 49 
des  GA.  VI  V.  J.  1889  über  die  Wehrkraft  ausser  Kraft  gesetzt. 

3.  Der  §  413  des  Strafgesetzbuches  wurde  durch  die  Bestimmungen  des 
Markenschutzgesetzes  (GA.  II  v.  J.  1890,  Kap.  III)  ausser  Kraft  gesetzt. 

4«  §  452  des  Strafgesetzbuches,  welcher  vom  Ungehorsam  gegen  den 
militärischen  Einberufungsbefehl  handelt,  wurde  durch  die  §§  1 — 9  des  GA.  XXI 
V.  J.  1890  ausser  Knift  gesetzt. 

m. 

§  9.    Strafrechtliche  Sondergesetze.^j 

Die  beiden  Strafgesetzbücher,  deren  System  oben  vorgelegt  wurde,  bilden 
die  Hauptquelle  des  ungarischen  materiellen  Strafrechtes.  Sie  werden  aber 
durch  zahlreiche  andere  Gesetze  ergänzt,  welche  ebenfalls  auf  das  materielle 
Strafrecht  bezügliche  Bestimmungen  enthalten,  bezw.  welche  Handlungen  als 
Delikte  qualifizieren.  Bereits  das  Einführungsgesetz  (GA.  XXXVII  v.  J.  1880) 
enthält  wichtige  strafrechtliche  Bestimmimgen  über  die  Delikte,  welche  von 
Sträflingen  während  der  Verbüssung  der  Strafe  begangen  werden  (§§  35 — 37). 
In  demselben  Gesetze  werden  auch  die  strafrechtlichen  Bestimmungen  mehrerer 
früherer  Gesetze  aufrecht  erhalten  (§§  4 — 8). 

Und  zwar  verfügt  das  Einführungsgesetz,  dass  ausser  den  Gesetzen, 
welche  in  den  §§  5 — 8  des  Einführungsgesetzes  als  in  Kraft  bleibend  auf- 
gezählt werden,  auch  noch  alle  diejenigen  Gesetze  in  Kraft  bleiben,  die  von 
solchen  Delikten  handeln,  welche  nicht  den  Gegenstand  der  Strafgesetzbücher 
bilden.     Ausserdem  werden  auch   alle   diejenigen  früheren  Strafbestimmungen 

^)  An  der  Zusammenstellung  der  Spezialgesetze,  Litteratur  usw.  hat  Sigmund 
Reichard  mitgearbeitet. 


Gesetzliche  Bestimmungen  über  Verbrechen  und  Vergehen.  177 


aufrecht  erhalten,  welche  Gegenstand  des  Verwaltungsstrafverfahrens  bilden, 
und  endlich  diejenigen,  die,  obwohl  durch  die  Gerichte  ausgesprochen,  doch 
als  Disziplinar-  oder  Ordnungsstrafen  zu  betrachten  sind. 

Seit  dem  Inslebentreten  des  Einführungsgesetzes  wurden  mehrere  Gesetze 
geschaffen,  welche  an  den  citierten  Paragraphen  des  Einführungsgesetzes 
Änderungen  vornehmen,  und  es  wurden  auch  zahlreiche  neue  Delikte,  teils 
Verbrechen  und  Vergehen,  teils  (und  zumeist)  Übertretungen  statuiert.  Um 
also  ein  vollständiges  Bild  von  den  Rechtsquellen  des  ungarischen  Strafrechtes 
zu  gewinnen,  müssen  wir  alle  die  Gesetze  aufzählen,  welche  ausser  den  beiden 
Strafgesetzbüchern  strafgesetzliche  Bestimmungen  enthalten,  und  welche,  wie 
schon  erwähnt,  t<dls  aus  der  Zeit  vor,  teils  aus  der  Zeit  nach  der  Schaffung  d(»r 
beiden  Strafgesetzbücher  stammen.  Bei  Betrachtung  dieser  Gesetze  werden  wir 
finden,  dass  die  Verbrechen  und  Vergehen,  durch  welche  das  System  des 
Strafgesetzbuches  ergänzt  erscheint,  von  nicht  grosser  Bedeutung  sind,  und  dass 
das  Strafgesetzbuch  trotz  dieser  Ergänzungen  in  Bezug  auf  Verbrechen  und 
Vergehen  noch  immer  als  der  weitaus  wichtigste  Hauptbestandteil  unseres 
Strafrechts  zu  betrachten  ist.  Die  straft*echtlichen  Bestimmungen  hingegen, 
welche  neue  Übertretungen  feststellen,  sind  so  zahlreich  und  wichtig,  dass 
wir  in  Bezug  auf  diese  dem  Strafgesetzbuche  über  Übertretungen  diese  domi- 
nierende Stellung  im  Strafsysteme  nicht  zuerkennen  dürfen.^) 

A.    Gesetzliche  Bestimmungen  über  Verbrechen  und  Vergehen. 

Wir  wollen  die  Gesetze,  die  ausser  dem  Strafgesetzbuchc  Verbrechen 
und  Vergehen  statuieren,  nicht  der  zeitlichen  Reihenfolge  nach  aufzählen, 
sondern  der  Übersichtlichkeit  halber  dem  System  des  Strafgesetzbuches  anreihen. 
In  dieser  Reihenfolge  betrachtet  sind  die  gesetzlichen  Bestimmungen,  welche 
ausser  dem  Strafgesetzbuche  Verbrechen  und  Vergehen  statuieren  und  n(*.ben 
diesem  in  Gültigkeit  sind,  die  folgenden: 

1.  Die  §§  32—36  des  GA.  III  v.  J.  1848  (in  Wirksamkeit  erhalten  durch 
den  55  6  des  Einf.G.).  Diese  handeln  von  den  Verbrechen  der  Minister  in 
Ausübung  ihres  Amtes.  Das  Gesetz  bestimmt,  dass  die  Minister  in  diesem 
Falle  durch  das  Abgeordnetenhaus  in  Anklagezustand  versetzt  werden  und 
dass  das  Urteil  durch  das  Oberhaus  gefällt  wird.  Es  bildet  eine  Eigentüm- 
lichkeit dieses  Gesetzes,  dass  die  Strafen  der  verbrecherischen  Handlungen 
nicht  festgestellt  sind  und  dass  das  Gesetz  nur  das  Prinzip  ausspricht,  dass 
die  Strafe  im  Verhältnis  zu  der  Grösse  des  Verbrechens  zu  bemessen  sei. 
Das  Gesetz  bestimmt  auch,  dass  der  verurteilte  Minister  nur  im  Falle  einer 
allgemeinen  Amnestie  begnadigt  werden  kann. 

2.  Der  §  10  des  GA.LIII  v.  J.  1868  (aufrecht  erhalten  im  §  5  des  Einf.G.) 
reiht  sich  an  die  Verfügungen  des  XVI.  Abschnittes  des  Strafgesetzbuches  über 
die  Verbrechen  und  Vergehen,  welcher  von  den  Delikten  in  Bezug  auf  den 
Familienstand  handelt.  Der  GA.  LIII  v.  J.  1868  handelt  von  der  Gleich- 
berechtigung der  recipierten  Konfessionen  und  der  §  10  dieses  Gesetzes  quali- 
fiziert die  Unterlassung  des  Geistlichen,  begangen  durch  die  Verschweigung 
eines  Ehehindernisses,  als  Vergehen,  welches  mit  Gefängnis  bis  zu  6  Monaten 
bestraft  wird. 

3.  Der  GA.  XXV  v.  J.  1883  über  den  Wucher  und  die  schädlichen  Kredit- 
geschäfte reiht  sich  an  die  Abschnitte  XXVI — XXXI  des  Strafgesetzbuches 
über  die  Verbrechen  und  Vergehen,  welche  über  die  Delikte  gegen  das  Ver- 

*)  Wir  bemerken,  dass  wir  nur  die  bis  zum  Schlüsse  des  Jahres  1891  geschaffenen 
Gesetze  in  Betracht  gezogen  haben. 

Strafgesetzgebnng  der  Gegenwart.   I.  12 


178  Ungarn.  —  Strafrechtliche  Sondergesetze. 


mögen  handeln.  Das  Gesetz  qualifiziert  den  Wucher  als  Vergehen  und  statuiert 
noch  das  Ausnützen  des  Ehrenwortes  bei  Kreditgeschäften  als  eine  Übertretung. 
Dasselbe  Gesetz  regelt  den  Wirtshauskredit  in  der  Weise,  dass  Wirtshaus- 
kreditforderungen von  über  acht  Gulden  nicht  klagbar  sind  und  dass  die 
Umgehung  dieser  Bestimmung  in  Form  von  Scheingeschäften  als  Übertretung 
qualifiziert  wird. 

4.  Der  GA.  XLI  v.  J.  1891  über  den  strafrechtlichen  Schutz  der  Grenz- 
und  Triangulierungszeichen  reiht  sich  an  den  §  407  (Abschn.  XXII)  des  Straf- 
gesetzbuches, welcher  das  Vergehen  der  Grenzverrückung  statuiert,  und  quali- 
fiziert mehrere  einzelne  Handlungen,  durch  welche  die  Landesgrenzzeichen 
vernichtet  oder  beschädigt  werden,  als  Vergehen. 

5.  Die  §§  265—266  des  GA.  XVII  v.  J.  1881  (Konkursgesetz)  können 
an  den  XXXV.  Abschnitt  des  Strafgesetzbuches  über  betrügerischen  und  schuld- 
baren Bankrott  angereiht  werden.  Die  Paragraphen  qualifizieren  das  An- 
melden erdichteter  Forderungen  im  Konkursverfahren  und  die  Bestechung 
einzelner  Gläubiger  bei  der  Fassung  von  Beschlüssen  im  Konkurs  als  Vergehen. 

6.  Der  GA.  XII  v.  J.  1888  betr.  die  Feststellung  strafgesetzlicher  Be- 
stimmungen in  Bezug  auf  die  Sicherung  der  Untereeekabel,  reiht  sich  an 
den  XXXIX.  Abschnitt  des  Strafgesetzbuches  (Beschädigung  von  Eisenbahnen 
usw.)  an  und  qualifiziert  die  vorsätzliche  Beschädigung  eines  Unterseekabels 
als  Verbrechen.  Ausserdem  werden  im  Gesetze  mehrere  Übertretungen  das 
Unterseekabel  betr.  statuiert. 

Dies  sind  die  Gesetze,  welche  ausser  dem  GA.V  v.J.  1878  Verbrechen 
und  Vergehen  statuieren.  Es  ist  noch  zu  bemerken ,  dass  der  GA.  XLI  v.  J. 
1891  (über  Grenzzeichenschutz)  die  Verfügung  trifi't,  dass  die  Bestimmungen 
des  allgemeinen  Teiles  des  Strafgesetzbuches  auch  in  Bezug  auf  die  gegen 
dieses  Gesetz  verstossenden  Vergehen  in  Anwendung  zu  bringen  seien.  Diese 
oder  ähnliche  Bestimmungen  fehlen  in  den  übrigen  citierten  Gesetzen  gänzlich, 
und  die  eventuell  in  dieser  Hinsicht  auftauchenden  Fragen  werden  eret  in 
der  Gerichtspraxis  zu  entscheiden  sein. 

B.    Bestimmungen  über  Ordnungsstrafen. 

Wie  schon  oben  erwähnt,  wurden  im  Einführungsgesetze  auch  diejenigen 
Strafbestimmungen  in  Wirksamkeit  erhalten,  welche  sogenannte  Ordnungsstrafen 
enthalten.  Es  giebt  nämlich  im  ungarischen  Rechtssysteme  melirere  Fälle,  in 
welchen  Strafen  verhängt  werden,  ohne  dass  die  bestrafte  That  als  Verbrechen, 
Vergehen  oder  Übertretung  qualifiziert  werden  könnte.  Diese  Strafen  sind 
mitunter  recht  empfindlich  und  müssen,  trotzdem  sie  keine  eigentlichen  straf- 
rechtlichen Strafen  sind,  in  Betracht  gezogen  werden,  wenn  man  ein  voll- 
ständiges Bild  des  ungarischen  Strafensystems  gewinnen  will.  Sie  werden  da- 
durch charakterisiert,  dass  die  Strafe  nicht  durch  das  Strafgericht  und  im 
Wege  des  Strafverfahrens,  sondern  durch  das  Civilgericht  und  im  Wege  des 
Civilverfahrens  ausgesprochen  wird.  Natürlich  haben  für  diese  Handlungen 
und  Strafen  die  Bestimmungen  des  allgemeinen  Teiles  des  Strafgesetzbuches 
keine  Gültigkeit. 

Die  hierher  gehörenden  Strafbestimmungen  sind  folgende: 
1.  Der  §  122  des  Konkursgesetzes  (GA.  XVII  v.  J.  1881)  bestimmt, 
dass  gegen  den  Gemeinschuldner,  wenn  er  das  Verzeichnis  seines  Aktiv-  und 
Passivstandes  nicht  vorlegt,  oder  dessen  eidliche  Bekräftigung  verweigert  oder 
sich  den  Aufträgen  des  Gerichtes  widersetzt,  die  Haft  bis  zu  2  Monaten  ver- 
fügt werden  kann.  Die  Haft  wird  durch  das  Konkursgericht  im  Konkurs- 
verfahren ausgesprochen. 


Gesetzliche  Bestimmungen,  welche  Übertretungen  statuieren.  179 


2.  Laut  §§  218—221  und  §  246  des  Handelsgesetzes  (GA.  XXXVII 
V.  J.  1875)  werden  die  Direktoren  und  Gründer  einer  Aktiengesellschaft  resp. 
Genossenschaft,  welche  gegen  einige  wichtigere  und  zum  Schutze  des  Publi- 
kums und  der  Aktionäre  dienende  Bestimmungen  des  Gesetzes  Verstössen,  mit 
einer  dreimonatlichen  Gefängnisstrafe,  in  leichteren  Fällen  mit  einer  Geldstrafe 
von  1000  Gulden  bestraft  Die  Strafen  werden  durch  das  Handelsgericht  im 
Wege  des  Handelsgerichtsverfahrens  ausgesprochen. 

3.  Unter  dieselbe  Beurteilung  fallen  die  Straf  bestimmungen  des  GA.  XVI 
V.  J.  1884  über  das  Autorrecht.  Im  §  19  dieses  Gesetzes  wird  die  unbefugte 
Aneignung  des  Autorrechtes  mit  1000  Gulden  Geldbusse  gestraft,  welche,  im 
Falle  sie  nicht  einzutreiben  ist,  in  Gefängnisstrafe  umgewandelt  wird.  Das 
Gesetz  nimmt  aber  auch  hier,  wie  in  den  obigen  Fällen,  von  der  Qualifikation 
als  Delikt  Umgang  und  überweist  die  Ausmessung  der  Strafe  der  Wirksamkeit 
des  Civilgerichtes. 

C.  Gesetzliche  Bestimmungen,  welche  Übertretungen  statuieren. 

Wir  gehen  nun  zur  Darstellung  derjenigen  Gesetze  über,  welche  ausser 
dem  GA.  XL  v.  J.  1879  Übertretungen  statuieren.  Diese  sind,  wie  schon 
erwähnt,  sehr  zahlreich,  und  es  würde  nicht  gut  gehen,  sie  an  die  ein- 
zelnen Abschnitte  des  Strafgesetzbuches  anzureihen.  Wir  werden  sie  also  in 
einem  selbständigen  und  möglichst  übersichtlichen  System  darzustellen  ver- 
suchen. 

Die  hierher  gehörenden  Übertretungen  sind  folgende: 

1.  Übertretungen  der  Bestimmungen  des  Gesetzes  über  die  Abgeordneten- 
wahlen (§§  93—94  und  103—106  des  GA.  XXXIII  v.  J.  1874).  Übertretungen 
bei  der  Zusammenstellung  der  Wählerlisten  und  Übertretungen  gegen  die 
öffentliche  Ordnung  bei  Vornahme  der  Wahlen. 

2.  Übertretungen  der  Bestimmungen  des  Wehrgesetzes  (§§  35,  44,  48 
\md  50  des  GA.  VI  v.  J.  1889).  Versäumen  der  Meldung,  Versäumen  des 
Erscheinens  bei  der  Stellung,  listige  Umtriebe  zur  Erlangung  einer  Begünstigung 
und  verbotene  Eheschliessung. 

3.  Übertretungen  gegen  Polizeiverordnungen  in  der  Hauptstadt.  Der  §  8 
des  GA.  XXI  v.  J.  1881  (über  die  Budapester  hauptstädtische  Polizei)  be- 
stimmt, dass  in  solchen  Fällen,  bezüglich  welcher  weder  ein  Gesetz,  noch  eine 
Verordnung,  noch  ein  Munizipalstatut  eine  Verfügung  enthält  und  in  welchen 
für  die  Sicherheit  oder  das  Eigentum  eine  unmittelbare  Gefahr  entstehen 
könnte,  die  Polizei  berechtigt  ist,  provisorische  Verordnungen  zu  erlassen  und 
auf  deren  Übertretung  eine  Geldstrafe  bis  zu  50  Gulden  zu  setzen. 

Es  ist  zu  bemerken,  dass  das  Gesetz  hier  nicht  den  im  Codex  accep- 
tierten  terminus  technicus  der  Übertretung  (kihägäs)  benützt,  sondern  einen 
anderen  Ausdruck  (äthägäs),  was  etwa  ein  „Verstössen  gegen  das  Gesetz"  be- 
deutet. Diese  Qualifikation  wird  in  den  Gesetzen  öfters  bei  Bezeichnung  von 
leichteren  Übertretungen  und  von  Übertretungen  gegen  die  Finauzgcsetze  ge- 
braucht, ohne  dass  sie  sonst  auf  einen  strafrechtlichen  Unterschied  zwischen 
den  beiden  Qualifikationen  hinweisen  würde. 

4.  Übertretungen  der  Bestimmungen  des  GA.  XXVIII  v.  J.  1879  über  die 
Errichtung  eines  polizeilichen  Meldungsamtes  in  der  Hauptstadt  Budapest. 

5.  Übertretungen  der  Bestimmungen  des  GA.  I  v.  J.  1890  über  die 
öflFentlichen  Strassen  und  Mauten  (§§  104 — 145).  Dieses  Gesetz  qualifiziert 
die  Übertretungen  gegen  die  Sicherheit  des  Verkehrs  auf  den  öflentlichen 
Strassen,  die  Übertretungen  gegen  die  Integrität  des  Strassenkörpers ,  gegen 
die  Erhaltung   der   öflFentlichen  Strassen,    gegen    die  Bestimmungen  betr.    die 

12* 


180  Ungarn.  —  Strafrechtliche  Sondergesetze. 


Bewilligung  von  neuen  öffentlichen  Strassen  und  endlich  die  Übertretungen  der 
Bestimmungen  der  Konzessionsurkunde. 

6.  Übertretungen  gegen  die  Gesetze,  die  öflfentliche  Gesundheitspflege 
betr.  Und  zwar  werden  solche  qualifiziert  im  GA.  XIV  v.  J.  1876  über  die 
Regelung  des  öffentlichen  Sanitätswesens,  dann  im  6A.  XIV  v.  J.  1891 
über  die  Unterstützung  im  Krankheitsfalle  der  in  Gewerbe  und  Fabrikarbeiten 
Beschäftigten,  und  endlich  im  GA.  XXII  v.  J.  1887,  welcher  mit  Modi- 
fizierung der  diesbezüglichen  Bestimmungen  des  vorerwähnten  Gesetzes  über 
das  öffentliche  Sanitätswesen  den  Schutzimpfzwang  regelt.  Hierher  gehören  auch 
die  Übertretungen,  welche  im  GA.  VII  v.  J.  1888  über  die  Regelung  des 
Veterinärwesens  qualifiziert  sind  und  hieran  reihen  sich  auch  die  Übertretungen, 
welche  in  dem  GA.  XVII.  v.  J.  1883  über  die  gegen  die  Ausbreitung  der 
Phylloxera  vastatrix  zu  ergreifenden  Schutzmassregeln  und  im  GA.  XXV  v.  J. 
1885  über  den  Schutz  der  Seidenzucht  qualifiziert  sind. 

7.  Übertretungen  betr.  den  Volksschulunterricht  und  das  Kinderbewahr- 
wesen.  Solche  werden  qualifiziert  im  GA.  XXXVIII  v.  J.  1868  in  Sachen  des 
Volksschulunterrichtes  und  im  GA.  XV  v.  J.  1891  über  das  Kinderbe wahr- 
wesen,  welche  bestimmen,  dass,  im  Falle  die  Kinder  nicht  in  die  Volksschule 
bezw.  in  die  Kinderbewahranstalt  geschickt  werden,  die  Eltern  und  Vormünder 
mit  einer  Geldstrafe  zu  strafen  sind.  Hierher  gehört  auch  die  Bestimmung 
des  GA.  XXVIII  v.  J.  1876  über  die  Volksschulbehörden,  wonach  der  Gebrauch 
eines  durch  die  Staatsregierung  verbotenen  Lehrbuches  oder  Lehrmittels  in 
den  Volksschulen  als  Übertretung  qualifiziert  wird. 

8,  Übertretungen  der  Bestimmungen  des  GA.  XXXIX  v.  J.  1881  über  die 
Erhaltung  der  Kunstdenkmäler. 

9,  Übertretungen,  welche  im  Interesse  der  verschiedenen  Zweige  der 
Volkswirtschaft  statuiert  wurden,  und  zwar  gehören  hierher: 

a)  Die  Übertretungen  gegen  die  verschiedenen  Zweige  der  Urproduktion, 
qualifiziert  im  GA.  IX  v.  J.  1840  über  die  Feldpolizei,  im  GA.  XXXI  v.  J. 
1879  (Forstgesetz),  im  GA.  XX  v.  J.  1883  (Jagdgesetz),  im  GA.  XXIII  v.J. 
1885  über  das  Wasserrecht  und  im  GA.  XIX  v.  J.  1888  über  die  Fischerei. 

ß)  Zu  den  Übertretungen  gegen  die  einzelnen  Zweige  der  Volkswirtschaft 
gehört  ferner  die  grosse  Gruppe  der  Übertretungen,  welche  im  Interesse  des 
Gewerbebetriebes  im  allgemeinen  oder  hinsichtlich  einzelner  Zweige  qualifiziert 
wurden.  Hierher,  und  zwar  unter  diejenigen,  die  im  Interesse  des  Gewerbe- 
betriebes im  allgemeinen  statuiert  wurden,  gehören  a)  die  Übertretungen, 
qualifiziert  im  GA.  XVII.  v.J.  1884,  über  das  Gewerbegesetz;  b)  imGA.  XUI 
v.  J.  1876  über  die  Regelung  des  Dienstbotenverhältnisses;  c)  im  GA.  XIII  v. 
J.  1891  über  die  Sonntagsruhe  bei  gewerblichen  Arbeiten;  d)  im  GA.  XVIII 
V.  J.  1883  über  die  Benützung  der  Landeswappen  durch  Private  und  Unter- 
nehmungen und  e)  im  GA.  VIII  v.  J.  1874  über  die  Einführung  des  Meter- 
masses  (wo  die  Benützung  der  alten  Masse  als  Übertretung  qualifiziert  wird). 

Die  Gesetze,  welche  hinsichtlich  einzelner  Gewerbezweige  Übertretungen 
qualifizieren,  sind  die  folgenden:  a)  Der  GA.  XVIII  v.  J.  1848  (Pressgesetz), 
in  welchem  bestimmt  wird,  dass  das  Erscheinen  von  Blättern  politischen  In- 
haltes ohne  Kaution  und  das  Drucken  eines  jeden  Druckwerkes  ohne  Bezeich- 
nung der  Druckerei  eine  Übertretung  bildet  (§§  30 — 44  des  Gesetzes).  Die 
Wirksamkeit  dieses  Gesetzes  erstreckt  sich  nicht  auf  das  frühere  Siebenbürgen 
und  hier  sind  die  —  übrigens  in  merito  analogen  —  Bestimmungen  des 
kaiserlichen  Patentes  vom  Jahre  1852  in  Wirksamkeit;  b)  der  GA.  XV  v.  J. 
1875  über  die  Regeln  der  Bezeichnung  des  Feingehaltes  der  Gold-  und  Silber- 
waren; c)  der  GA.  XXXVIII  v.  J.  1881  über  die  Auswanderungsagenturen; 
d)  der  GA.  XXXI  v.  J.  1888   über  Telegraphen,    Telephon-  und  andere  eJek- 


Übertretungen  gegen  die  Steuergesetze.  181 


trische  Einrichtungen;  e)  der  GA.  XII  v.J.  1888  betr.  die  Feststellung  straf- 
gesetzlicher  Bestimmungen  in  Bezug  auf  die  Sicherung  der  Unterseekabel, 
welcher  ausser  dem  oben  schon  erwähnten  Verbrechen  auch  mehrere  Über- 
tretungen qualifiziert;  f)  der  GA.  XXXIV  v.  J.  1891  über  die  obligatorische 
Untersuchung  der  Handschiessgewehre ;  g)  der  GA.  XIV  v.  J.  1881  über  das 
Faustpfandleihgeschäft;  h)  der  GA.  XXV  v.J.  1883  über  den  Wucher  und  die 
schädlichen  Kreditgeschäfte ,  welcher  ausser  dem  schon  oben  dargestellten 
Vergehen  auch  Übertretungen  hinsichtlich  der  verbotenen  Art  der  Sicherstellung 
der  Kreditgeschäfte  und  hinsichtlich  des  Wirtshauskredites  qualifiziert;  i)  der 
GA.  XXXI  V.  J.  1883  über  das  Ratenbriefgeschäft. 

An  diese  Gesetze  reiht  sich  noch  die  Bestimmung  des  §  39  des  GA.  XXXIV 
V.  J.  1874  über  die  Winkelschreiberei  an. 

D.    Übertretungen  gegen  die  Steuergesetze. 

Ein  besonderes  System  der  Übertretungen  bilden  im  ungarischen  Straf- 
recht die  Übertretungen  gegen  die  Steuergesetze.  Die  allgemeinen  Regeln 
sind  nicht  im  Strafgesetzbuche  über  Übertretungen,  sondern  im  GA.  XLIV  v. 
J.  1883  über  die  Manipulation  der  öffentlichen  Steuern  enthalten.  Diese  sind 
die  folgenden:  Als  Grundprinzip  dient,  dass,  insoweit  keine  spezielle  Verfügung 
existiert,  die  Strafe  für  jede  Verkürzung  des  Ärars  ein-  bis  achtmal  soviel 
beträgt,  als  die  Summe,  mit  welcher  das  Ärar  geschädigt  wurde.  Ist  diese 
Summe  nicht  bekannt,  so  beträgt  die  Geldstrafe  1  bis  500  Gulden  (§  100). 
Die  Geldstrafe  wird,  wenn  sie  nicht  einzutreiben  ist,  in  Arrest-  oder  Gefängnis- 
strafe umgewandelt  (§  108).  Die  Untersuchung  wird  durch  die  Finanzbehördeu 
geführt,  und  diese  haben  das  Recht,  im  Falle  mildernder  Umstände,  die  Unter- 
suchung einzustellen. 

Wenn  die  Untersuchung  nicht  eingestellt  wird,  werden  die  Akten  an 
den  Gerichtshof  übersendet,  welcher  das  Urteil  nicht  als  Strafgerichtshof, 
sondern  als  der  mit  der  Finanzgerichtsbarkeit  bekleidete  Gerichtshof  fällt  (§  104). 
Das  Gesetz  bestimmt  noch,  dass  im  Falle  sogenannter  „kleinerer  Übertretungen", 
bei  welchen  nämlich  eine  Absicht  der  Verkürzung  des  Ärars  nicht  vorhanden 
ist,  eine  Geldbusse  von  1  bis  50  Gulden  ausgemessen  wird.  Die  Ausmessung 
dieser  Geldbusse  fällt  in  die  Kompetenz  der  Finanzbehörden,  und  diese  CJeld- 
busse  kann  nicht  in  Freiheitsstrafe  umgewandelt  werden.  Der  allgemeine  Teil 
des  Strafgesetzbuches  über  Übertretungen  hat  für  die  Übertretungen  gegen 
die  Steuergesetze  keine  Gültigkeit.  Es  giebt  in  mehreren  der  Steuerübertretungs- 
gesetze  eine  Verfügung,  wonach  Unternehmer  und  Kaufleute  für  die  Geld- 
strafen ihrer  Angehörigen  und  Bediensteten  auch  in  dem  Falle  haftbar  sind, 
wenn  sie  nicht  als  Anstifter  oder  Helfer  gelten  können.  Es  giebt  auch  eine 
Bestimmung,  wonach  diejenigen,  welche  Übertrctungsfälle  anzeigen  oder  er- 
greifen, den  dritten  Teil  bezw.  die  Hälfte  des  hereingebrachten  Strafbetrages 
als  Belohnung  erhalten. 

Ausser  diesen  allgemeinen  Vorschriften  giebt  es  «eine  grosse  Anzahl  von 
Steuergesetzen,  welche  spezielle  Übertretungen  hinsichtlich  spezieller  Steuern 
feststellen  und  hinsichtlich  einiger  auch  spezielle  Verfügungen  betr.  das  Straf- 
verfahren feststellen.  Diese  gelten  insbesondere  in  Bezug  auf  die  Gesetze 
über  die  indirekten  Steuern,  die  Stempel  und  Gebühren.  In  diesen  Gesetzen 
fällt  insbesondere  die  Ausmessung  sehr  hoher  Strafen  auf,  welche  in  einzelnen 
Gesetzen  das  Hundertfache  und  sogar  das  Tausendfache  der  Summe  erreichen 
können,  um  welche  das  Ärar  geschädigt  wurde.  Die  Gesetze  über  die  direkten 
Steuern  machen  im  allgemeinen  keine  Ausnahmen  von  den  Regeln  des  oben 
citierten  Gesetzes. 


182      Ungarn.  —  Litteratur,  Sammlungen  von  Gesetzen  und  Entscheidungen. 


Die  Steuergesetze,  welche  besondere  Verfügungen  betreflPs  der  Über- 
tretungen enthalten,  sind  die  folgenden:  a)  GA.  XXVIl  v.J.  1880  über  die 
Militärtaxe;  b)  GA.  XXVI  v.  J.  1881  über  die  Stempel  und  Gebühren.  In 
diesem  Gesetze  sind  einige  Übertretungen  mit  einer  Geldbusse  bedroht,  welche 
das  Fünfzigfache  der  Schädigungssumme  ausmacht,  c)  GA.  XXVIl  v.  J.  1881 
über  den  Spielkartenstempel;  d)  GA.  XVIII  v.  J.  1882  über  den  Zoll  und  die 
Steuer  von  Mineralöl;  e)  GA.  X  v.  J.  1883  über  die  Steuerfreiheit  der  Tage- 
löhner; f)  GA.  XXIII  V.  J.  1883  über  die  Gewehrsteuer  und  Jagdsteuer; 
g)  GA.  XIV  V.  J.  1887  über  die  Eisenbahn-  und  DampfschiflFahrts-Transport- 
steuer;  h)  GA.  XL VII  v.  J.  1887  über  Wein-,  Fleisch-,  Zucker-  und  Bierkonsum- 
steuer; i)  GA.XLIV  v.J.  1887  über  das  Tabakgefälle;  k)  GA.XXIII  v.  J.  1888 
betr.  die  Zuckerbesteuerung.  In  diesem  Gesetze  sind  Geldstrafen  bis 
zur  Höhe  von  5000  und  10000  Gulden  ausgemessen.  1)  GA.  XXIV  v.  J.  1888 
betreffend  den  Zoll  von  gebrannten  geistigen  Flüssigkeiten  und  die  Besteuerung 
des  Branntweins.  In  diesem  Gesetze  sind  Geldstrafen  bis  zum  sechzehnfachen 
Betrage  der  verkürzten  Konsumabgabe  und  Geldstrafen  bis  zur  Höhe  von 
5000  Gulden  ausgesetzt,  m)  GA.  XXXV  v.  J.  1888  über  das  staatliche  Schank- 
gefäUe  und  n)  GA.  IX  v.  J.  1889  über  den  Verkehr  in  Prämien- Anlehens- 
Obligationen  und  Promessen,  welcher  die  bereits  oben  erwähnten  Übertretungen 
als  Gefällsübertretungen  qualifiziert. 

IV. 

§  10.    litteratur,  Sammlangen  von  Gesetzen  und  Entecheidungen. 

Den  wichtigsten  Kommentar  für  die  ungarischen  Strafgesetzbücher  bildet  die 
ministerielle  Motivierung  derselben,  von  der  Feder  des  Rodifikators,  deren  wissen- 
schaftlicher Wert  oben  schon  gewürdigt  wurde.  Sie  ist  unter  den  Druckschriften  des 
ungarischen  Abgeordnetenhauses  erschienen. 

Eine  vollständige  Sammlung  der  ganzen  auf  das  Strafgesetzbuch  über  Ver- 
brechen und  Vergehen  bezüglichen  Materie  ist  in  dem  Werke  von  Tobias  Low 
„Materialiensammlung  des  ungarischen  Strafgesetzbuches^^)  enthalten,  in  welchem 
Werke  ausser  der  ministeriellen  Motivierung  auch  die  Verhandlungen  der  beiden 
Häuser  des  Reichstages  und  der  Ausschussbericht  enthalten  sind.  Der  Strafgesetzent- 
wurf vom  Jahre  184B  ist  in  einer  Ausgabe  im  Jahre  1860  erschienen.*) 

Den  voUständi&^sten  Kommentar  der  beiden  ungarischen  Strafgesetzbücher  bildet 
das  Werk  des  Karl  Tu^s  v.  Edvi,^)  welches  das  Strafgesetzbuch  über  Verbrechen  und 
Vergehen  in  drei  Bänden  und  das  Strafgesetzbuch  über  Übertretungen  in  einem 
Bande  kommentiert.  Ein  anderer  Kommentar  ist  das  Werk  des  Budapester  Universi- 
tätsprofessors Aladär  Schnierer.*) 

Die  Lehrbücher  der  Universitätsprofessoren  Aladär  Schnferer,*)  Gustav  Kautz,^) 
Rudolf  Werner,')  Alexander  Körösi*)  und  Simon  Horovitz')  behandeln  die  Strafgesetz- 
bücher teils  systematisch,  teils  kommen tarmässig. 

*)  Low,  T.,  A  magyar  büntetötörv^nykönyo  a  büntettekröl  ^s  v6ts6gekröl  (1878, 
V.  t.  cz.)  6s  teljes  anyagyäjtem6nye.   2  kötet.    1885. 

«)  Az  1843.    ki  büntetötörv6nyjavaslat.     1860. 

')  Edvi  1116b,  K.,  A  büntettekröl,  y6ts6gekr6l  6s  kihÄgÄsokrol  szolö ^ büntetotör- 
v6nyek  magyarÄzata. 

*)  Schnierer,  A.,  A  büntettekröl  es  v6ts6gekröl  szöl6  magyar  büntetotÖrv6ny 
(1878.    V.  t.-cz.)  magyarÄzata.    2.  kiad.    1885. 

*)  Schnierer,  A.,  A  büntetojog  Ältalänos  tanai  az  1878.  V.  es  1879.  XL.  t.-cz. 
alapjÄn.    2.  kiad.     1888. 

^)  Kautz,  6.,  A  magyar  büntetojog  tankönvve.  Különös  tekintettel  a  gvakorlati 
61et  ig6nveire.     1881. 

')  Werner,  R.,  A  büntettek,  vets^gek  6s  kihägAsok.  A  magyar  büntetotörvenv- 
könyv   (1878.  V.  6s  1879.  XL.  t.-cz.)  szerint.     1882. 

*)  Korösi,  S.,  A  magyar  büntetojog  tankönyve.  (A  „Büntetojogtan")  2.  tejj. 
Ätdolg.  kiad.  I.  k.  1—2.  füzet.    Az  anyagi  büntetojog  ältalÄnos  r6sze.    1881. 

•)  Horovitz,  S.,  A  magyar  büntetojog  rendszeres  tan-6s  k6zi  konyve.  AltalAnos  r68z. 


Litteratur,  Sammlungen  von  Gesetzen  und  Entscheidungen.  183 


Das  frühere  ungarische  Strafrecht,  wie  es  vor  den  beiden  Strafgesetzbüchern 
in  Kraft  war,  ist  in  den  Werken  von  Paul  Szlemenics*)  und  Theodor  Pauler*)  ent- 
halten.    Das  militärische  Strafrecht  wird  im  Werke   des   Koloman   Pap*)   behandelt. 

Monographieen :  Eugen  Balogh,  Die  Lehre  von  den  dauernden  und  fortgesetzten 
Verbrechen?)  Die  Antragsdelikte.*)  —  Isidor  Baumgarten,  Die  Lehre  des  Versuchs") 
und  die  Lehre  von  der  Identität  der  That.')  —  Ladislaus  Fayer,  Die  Reform  unseres 
Strafrechts.*)  —  Karl  Ill^;8  v.  Edvi,  Die  Konkurrenz®)  und  Über  die  Urkundenfälschung.**^) 
—  Sigmund  Keichard,  Über  das  Strafmilderungsrecht  des  Richters.")  —  Joseph  Sz^kely, 
Über  die  Gefällsübertretungen.*-)  —  Lorenz  Töth,  Über  Ursachen  und  Verhütung  des 
Rückfalls.**)  —  Julius  Wlassics,  Die  Lehre  vom  Versuch  und  der  vollbrachten  Hand- 
lung, Über  die  Teilnahme**)  und  Über  die  Geldstrafe.**) 

Ein  grosser  Teil  der  Monographieen  ist  in  den  Abhandlungen  des  ungarischen 
.Juristen Vereins  (herausgegeben  durch  den  Verein  selbst***)  erschienen.  Diese  sind  die 
folgenden:  Faustin  Heil,  Natiiralismus  im  Strafrechte.*')  Eugen  Balogh,  Das  Delictum 
collectivum  usw.**)  Moriz  Kelemen,  Straf-  und  Gefängnissystem  des  ungarischen  Straf- 
gesetzbuches.*") Dasselbe  von  Franz  Szekely.^)  Karl  lÜ^s  v.  Edvi,  Die  Reform  der 
Freiheitsstrafe.**)  Sigmund  Reichard,  Die  bedingte  Verurteilung.**)  Dasselbe  von  Isidor 
Baumgarten,*^)  Ladislaus  Bodor^)  und  Ludwig  Gruber.**)  Ladislaus  Fayer,  Die  Re- 
form unseres  Straf-  und  Gefängnissystems.**)  Julius  Bonts,  Die  Revision  des  Mili- 
tärstrafrechts.*') Alfred..  Doleschall,  Die  Entschädigung  unschuldig  Verurteilter ***) 
und  Sigmund  Reichard,  Über  das  anthropologische  Strafrecht.**) 

Die  ungarischen  Gesetze  erscheinen  in  der  vom  königl.  ungarischen  Ministerium 
des    Innern    herausgegebenen    amtlichen   „Landesgesetzsammlung** ,**)    welche    unter 


*)  Szlemenics,  P.,  Magyar  fenyito  tÖrv6ny.  Függelekkel:  Büntetojogi  kalauz 
szotÄr  alakban.    5.  kiad.  1872. 

*)  Pauler,  T.,  Büntetojogtan.    2  kötet.    3.  kiad.  1872. 

*)  Pap,  K.,  A  katonai  büntetö  6s  fegvelmi  fenvitöjog  kezikönyve.  2.  javitott 
kiad&s.     1888. 

*)  Balogh,  J.,  A  folytonos  6s  folytatolagos  büncselekv^nyek  tana.  1885. 

*)  —  A  sertett  f61  jogköre  a  büntetojogban.  I. 

•)  Baumgarten,  I.,  A  kiserlet  tana.    1885. 

')  —  A  tett  azonossägÄnak  kerd6s6hez.     1889. 

")  Fayer,  L.,  Büntet6si  rendszerünk  reform  ja.     1889. 

*)  1116s,  K.,  A  bünhalmazat,  különös  tekintettel  a  magyar  b.  t.-könyv  95.  §-Ära 
s  a  csalds  6s  okirathamisltAs  eseteire.    1887. 

*®)  —  Az  okirathamisitAs  büntethet6s6g6nek  hatÄrai.     1886. 

**)  Reichard,  Zs.,  A  birö  büntet6senyhit6si  jojga.    1890. 

**)  Sz6kely,  J.,  A  jöved6ki  kihÄgäsok  büntetojogtana.     1881. 

*')  Töth,  L.,  A  visseaes6s  okairol  6s  ovszereirol.    1889. 

**)  Wlassics,  Gy.,  A  bünkis6rlet  6s  bev6gzett  bünc8elekm6ny.  I.  kötet:  A  tettesseg 
es  r6szess6g  tana.  1885.   II.  kötet:  Abünkis6rlet  6s bev6gzettbüncselekm6ny  tana.  1887. 

**)  —  A  p6nzbüntet6s  jogi  term68zete  68  a  magyar  büntetötörv6ny  53  szakasza.  1882. 

**)  Magyar  JogAszegyleti  ertekez6sek.  Budapest.  Franklin -TÄrsulat  Könyvn- 
yomdÄja. 

*')  Naturalismus  a  büntetojogban.    Irta  Dr.  Heil  Fausztin.^ 

*^)  A  delictum  collectivum  6s  a  szok&sszerü  6s  üzletszeru  büncselekm6nyek  tana. 
Irta  Dr.  Balogh  Jenö. 

**)  A  magyar  bünteto  törv6nykönyv  büntet6si  6s  börtönrendszere.  Irta  Dr. 
Kelemen  M6r. 

*®)  A  magyar  bünteto  törv6nykönyv  büntet6si  6s  börtönrendszer6nek  jelenlegi 
v6grehajtÄsa  6s  ennek  eddigi  eredm6nyei.    Irta  Dr.  Sz6kely  Ferencz. 

**)  A  szabadsä.gbüntet6s  reformja.    Irta  Dr.  11168  Kiroly. 

**)  A  felt6teles  elit616s.    Irta  Dr.  Reichard  Zsigmond. 

*')  A  felt6teles  elit616sr61.    Irta  Dr.  Baumgarten  Izidor. 

**)  A  felt6teles  iteletekröl.    Bodor  Ldszlö. 

^)  A  felt6teles  elit616s.    Irta  Dr.  Gruber  Lajos. 

**)  Büntet6si  68  börtönrendszerünk  reformja.    Dr.  Fayer  Laszlo. 

*')  A  katonai  büntetötörv6nykönyv  6s  eljärAs  revisiojÄnak  k6rd6s6nez.  Irta 
Dr.  Bonts  Gyula. 

**)  Az  Artatlanul  vizsgAlati  fogsägba  helyezettek  68  Ärtatlanul  elit61tek  kirta- 
lanitÄsÄröl.    Irta  Dr.  Doleschall  Alfr6d. 

*®)  Az  anthropologikus  büntetöjogröl.    Irta  Dr.  Reichard  Zsigmond. 

^)  Orszagos  törv6nytÄr  (Corpus  juris)  Kiadja  a  m.  kir.  Belügyminiszterium. 
Budapest,  Nagel  Otto  bizomänya. 


184  Ungarn.  —  Das  Strafrecht  von  Kroatien-Slavonien. 


diesem  Titel  auch  in  einer  amtlichen  deutschen  Ausgabe  erscheint.^)  Ausserdem 
giebt  es  mehrere  private  Gesetzessammlungen.'-) 

Die  gerichtlichen  Entscheidungen  erscheinen  in  keiner  amtlichen  Ausgabe, 
doch  giebt  es  mehrere  private  Sammlungen  derselben.  Die  wichtigste  ist  das  so- 
genannte „Archiv  der  Entscheidungen",^)  welche,  herausgegeben  durch  die  Redaktion 
des  juristischen  Blattes  „JogtudomAnyi  Közlöny",  seit  dem  Jahre  1870  jährlich  in 
mehreren  Bänden  erscheint  und  die  ganze  Materie  der  Entscheidungen  enthält.  Bis- 
her (Ende  des  Jahres  1891)  sind  57  Bände  erschienen. 

Eine   systematische    Zusammenstellung    der    obergerichtlichen   Entscheidungen 

fibt  die  als  „Wegweiser  66  zu  diesem  Archiv  erschienene  Sammlung  der  prinzipieUen 
eile  der  obergerichtlichen  Entscheidungen*)  und  das  unter  dem  Titel:  „Prinzipielle 
Entscheidungen  unserer  Obergerichte"  in  zwei  Bänden  erschienene  Werk  von  Dr. 
Desider  Markus.*^) 

Ausserdem  werden  Entscheidungen  in  allen  juristischen  Blättern  veröffentlicht.*) 
Die  Plenarentscheidungen  der  königl.  Curie  werden  durch  Peter  Nemeth^  ge- 
sammelt und  herausgegeben. 

Das  Werk  des  Vincenz  Cserna  giebt  eine  systematische  Zusammenstellung  der 
obergerichtlichen  Entscheidungen  strafrechtlichen  Inhalts®)  in  drei  Bänden  und  nach 
den  Paragraphen  der  Strafgesetzbücher  geordnet. 


V. 

§  11.  Das  Strafrecht  von  Eroatien-SlaYonieu. 

Kroatien  und  Slavonien  bilden  eine  staatliche  Gemeinschaft  mit  Ungarn*.) 
Dieses  Gemeinschaftlichkeitsprinzip  ist  in  dem  ungarischen  GA.  XXX  v.  J.  1868 
und  im  entsprechenden  kroatisch-slavonischen  GA.  I  v.  J.  1868  festgestellt. 
Diese  Gesetze  bestimmen,  dass  Elroatien- Slavonien  hinsichtlich  mehrerer  im 
Gesetze  aufgezählter  Angelegenheiten  mit  Ungarn  gemeinschaftliche  Gesetz- 
gebung hat.  (Hinsichtlich  der  im  Gesetze  nicht  aufgezählten  Angelegenheiten 
ist  die  kroatisch- slavonische  Gesetzgebung  autonom). 

Das  Strafrecht  gehört  zu  den  autonomen  Angelegenheiten  von  Kroatien- 
Slavonien  und  wird  also  durch  die  autonomen  Gesetze  bestimmt.  Das  im 
Lande  gültige  Strafrecht  ist  im  Strafgesetzbuclie  über  Verbrechen,  Vergehen 
und  Übertretungen  vom  27.  Mai  1852  kodifiziert.  —  Dieses  Strafgesetzbuch  ist 
mit  dem  in  Österreich  geltenden  Strafgesetzbuche  identisch  und  seine  Gültig- 
keit findet  darin  ihre  Erklärung,  dass  Kroatien  im  Jahre  1852  als  integrierender 
Bestandteil  des  Kaisertums  Österreich  galt.  Zu  dieser  Zeit  wurde  das  Straf- 
gesetzbuch ins  Leben  gerufen  und  auch  in  der  durch  das  vorerwähnte  Gesetz 
V.  J.  1868    geschafiPenen   staatsrechtlichen    Ordnung    beibehalten.      Es   wurden 

^)  Landesgesetzsammlung  für  das  Jahr  ....  Herausgegeben  vom  königl. 
ungarischen  Ministerium  des  Innern.    Budapest.    In  Kommission  bei  Otto  Nagel. 

*)  Karl  KAth,  Leo  R6vai,  Robert  Lampel. 

*)  Döntv6nyt&r.  Kiadja  a  Jogtudomänyi  Közlöny  szerkesztös6ge.  Budapest  1891. 

*)  Därday,  "A  felsobirösAgok  gyakorlata,  Budapest  1891.    Franklin  Tärsulat. 

^)  Felsobirösägaink  elvi  hatärozatai.  K6szitette  Dr.  Markus  Dezso.  Budapest 
1891.     Grill  KAroly. 

®)  JogtudomÄnyi  közlöny,  Magyar  Igazsdgügy,  Büntetö  Jog  Tara,  Jogi  Szemte, 
A  Jog,  Ügyvedek  Lapja. 

')  A  kir.  Curia  teljesülesi  megdllapoddsai.    Budapest,  Eggenberger. 

*)  Cserna,  V.,  A  büntetö  törvenykönyv  a  kihäpAsokrol.  1879.  XL.  t.-cz.  2.  jav. 
kiad.  1881.  —  A  magyar  büntetö  törv6nykönyv  a  buntettekröl  es  vötsegekröl.  187?<. 
V.  t.-cz.  2.  jav.  kiad.  1881.  —  Az  1880.  XXXVII.  t.-cz.  a  magvar  büntetö  törv6ny- 
könyvek  (1878.  V.  6s  1879.  XL.  t.-cz.)  eletbel^ptet^^seröl.    2.  jav.' kiad.  1881. 

")  Der  staatsrechtlich  richtige  Ausdruck  für  Kroatien-Slavonien  ist  Kroatien- 
Slavonien-Dalmatien.  Dieser  Ausdruck  weist  darauf  hin,  dass  das  Königreich  Dal- 
matien  früher  zur  ungarischen  Krone  gehörte  und  dass,  trotzdem  es  jetzt  thatsächiich 
zu  Österreich  gehört,  die  Rechte  der  ungarischen  Krone  nicht  aufgegeben  wurden. 


§11.    Das  Strafrecht  von  Kroatien-Slavonien.  185 


auch  seit  jener  Zeit  nur  wenig  Gesetze  geschaffen,  welche   dieses  Strafgesetz- 
buch verändern. 

Da  unsere  Leser  das  österreichische  Strafgesetzbuch  an  anderer  Stelle 
dieses  Werkes  ausführlich  behandelt  finden,  ist  es  unnötig,  dasselbe  hier  zu 
charakterisieren.  Im  Folgenden  zählen  wir  nur  die  seit  dem  Jahre  1868  ge- 
schaffenen Gesetze  auf,  welche  die  Bestimmungen  des  Strafgesetzbuches  er- 
gänzen oder  abändeni.  Diese  sind  folgende:  1.  Der  GA.  XIV.  v.  J.  1870, 
welcher  das  Verbrechen  des  Hochverrates  in  Bezug  auf  den  Staatsverband 
zwischen  Kroatien-Slavonien  und  Ungarn  qualifiziert.  2.  Das  Gesetz  vom 
20.  Oktober  1872,  mit  welchem  die  Strafe  der  körperlichen  Züchtigung  ab- 
geschafft wird.  3.  Das  Gesetz  vom  22.  April  1875,  in  welchem  die  bedingte 
Beurlaubung  der  verurteilten  Sträflinge  angeordnet  wird.  Und  zwar  kann  der 
bedingte  Urlaub  erteilt  werden  nach  Verbüssung  der  Hälfte  der  Strafzeit, 
wenn  es  sich  um  einen  das  erste  Mal,  und  nach  Verbüssung  von  dreiviertel 
Teil  der  Strafzeit,  wenn  es  sich  um  einen  das  zweite  Mal  wegen  Verbrechens 
verurteilten  Sträfling  handelt.  4.  Das  Gesetz  vom  17.  Mai  1875  über  die  Auf- 
hebung der  Kettenstrafe,  worin  auch  ausgesprochen  wird,  dass  die  Fesselung 
der  Gefangenen  nur  im  Disziplinarwege  und  bei  besonders  widei'spenstigem 
Benehmen  stattfinden  darf.  5,  Das  Gesetz  vom  29.  Dezember  1886,  welches 
einige  Bestimmungen  des  Strafgesetzes,  die  auf  den  Diebstahl,  auf  die  Ver- 
untreuung und  auf  die  Betrügerei  Bezug  haben,  abändert  und  ergänzt. 
6.  Endlich  das  Gesetz  vom  10.  Juni  1890  über  die  Folgen  der  Strafurteile  mid 
der  Strafen.  Dieses  Gesetz  regelt  den  Amtsverlust  und  die  Amtsunfähigkeit 
im  Falle  einer  strafrechtlichen  Verurteilung  und  bestimmt,  in  welcher  Zeit  die 
gesetzlichen  Folgen  der  strafrechtlichen  Verurteilungen  in  Bezug  auf  die  ein- 
zelnen Delikte  aufhören,  es  bestimmt  endlich,  dass  jeder  Verurteilte  das  Recht 
hat,  beim  Gericht  die  Ausfertigung  eines  Zeugnisses  darüber  zu  verlangen, 
dass  die  Dauer  des  Amtsverlustes  und  die  Folgen  der  Delikte  aufgehört  haben. 
Ausserdem  sind  noch  strafrechtliche  Bestimmungen  enthalten  in  folgenden 
Gesetzen:  1,  Gesetz  vom  10.  Januar  1874,  welches  die  Verantwortlichkeit  des 
Banus  imd  der  Abteilungsvorstände  der  Landesregierung  regelt,  und  welches 
ausspricht,  dass  der  Banus,  sein  Stellvertreter  und  die  Abteilmigsvorstände 
für  ihre  Amtshandlungen  durch  den  Landtag  zur  Verantwortung  gezogen 
werden  können.  Der  Regnicolar-Gerichtshof,  der  über  die  Anklage,  die  durch 
den  Landtag  erhoben  wird,  entscheidet,  besteht  aus  einigen  Richtern  und 
Präsidenten  der  höheren  Gerichtshöfe  und  aus  zwölf  vom  Landtage  mit  Aus- 
schluss der  eigenen  Mitglieder  gewählten  Staatsbürgern.  Der  Gerichtshof 
kann  nur  die  Strafe  der  Dienstentlassung  oder  die  der  Amtsentsetzung  (welche 
die  Unfähigkeit  zur  Wiederanstellung  im  Staatsdienste  nach  sich  zieht)  aus- 
sprechen. Liegt  auch  eine  solche  Handlung  vor,  welche  eine  Übertretung 
gegen  das  Strafgesetz  bildet,  so  sind  für  die  Entscheidung  die  ordentlichen 
Gerichte  kompetent.  2.  Das  Gesetz  vom  14.  Januar  1875  über  das  Versamm- 
lungsrecht, welches  die  Verletzung  der  auf  die  Versammlungen  bezüglichen 
Bestimmungen  als  Übertretungen  qualifiziert.  3.  Das  (jresetz  vom  17.  Mai  1875 
über  den  Gebrauch  der  Presse,  welches  im  dritten  Hauptstück  „über  die 
strafbaren  Handlungen,  begangen  durch  den  Inhalt  von  Druckschriften",  han- 
delt. Dieses  Gesetz  spricht  als  oberstes  Prinzip  aus,  dass  die  Pressvergehen, 
sowie  auch  die  Strafbarkeit  der  mitwirkenden  Personen  nach  den  Prinzipien 
des  Strafgesetzbuches  zu  beurteilen  sind,  dass  aber  der  Redakteur  und  wenn 
derselbe  nicht  zu  finden  ist,  der  Verleger,  und  in  letzter  Linie  auch  der 
Drucker  für  die  Versäumung  der  pfiichtgeraässen  Aufmerksamkeit  zur  Ver- 
antwortung gezogen  werden  kann.  Das  Gesetz  steht  übrigens  auf  gleichen 
Grundlagen  wie  das  österreichische  Pressgesetz.     4.    Gesetz  vom  4.  Juni  1888. 


186  Ungarn.  —  Da«  Strafrecht  von  Kroatien-Slavonien. 


in  welchem  die  Straf  bestimmungen  zum  Schutze  der  Unterseekabel  festgesetzt 
werden.  5.  Das  Gesetz  vom  27.  August  1888,  in  welchem  das  Veterinärwesen 
in  den  Königreichen  Kroatien  und  Slavonien  geordnet  wird.  6.  Gesetz  vom 
2.  Dezember  1889,  in  welchem  die  Straf  bestimmungen  für  Vergehen  gegen 
das  Wehrgesetz  bestimmt  werden.  7.  Gesetz  vom  11.  Dezember  1890,  in 
welchem  die  Strafbestimmungen  für  Verleitung  zum  Ungehorsam  gegen  Militär- 
Einberufungsbefehle  festgesetzt  werden. 

Das  Militärstrafgesetzbuch  für  Kroatien-Slavonien  ist  das  östeiTeichische 
Militärstrafgesetzbuch. 

Die  Gewerbegesetzgebung  und  die  Steuergesetzgebung  für  Kroatien- 
Slavonien  bildet  eine  mit  Ungarn  gemeinsame  Angelegenheit,  die  auf  die 
Übertretungen  bezüglichen  Bestimmungen  sind  also  dieselben  wie  die  oben 
bezüglich  Ungarns  aufgezählten. 

Die  kroatischen  Landesgesetze  sind  ausser  der  amtlichen  kroatischen  Aus- 
gabe^) auch  in  einer  deutschen  Übersetzung  in  3  Bänden  erschienen  unter  dem 
Titel:  „Gesetz- Artikel  des  Landtages  der  Königreiche  Kroatien,  Slavonien  und 
Dalmatien".  Der  erste  Band  enthält  die  Gesetze  von  1868 — 1870,^)  der  zweite 
Band  die  von  1872—1876,^)  der  dritte  von  1876— 1886.*)  Weitere  Bände  sind 
bisher  nicht  erschienen. 

Die  gerichtlichen  Entscheidungen  werden  amtlich  nicht  gesammelt;  es 
erscheinen  aber  solche  in  der  juristischen  Zeitschrift  „Mjesecnik". 

Das  Strafgesetz  und  die  späteren  Gesetze  wurden  durch  Stephan  Kranjcic 
kroatisch  herausgegeben.*) 

^)  Sbornik  zakonah  i  naredabah  va^anih  za  Kraljevinu  Hrvatsku  1  Slavoiiiju 
u  Zagrebu. 

*)  Agram,  Schnellpressendruck  von  Jul.  Huhn,  1871. 

*)  Agram,  Druckerei  der  Narodne  Novine,  1877. 

*)  Agram,  Druckerei  der  Narodne  Novine,  1887. 

''*)  Agram,  Buchhandlung  L.  Hartmann,  Kugli  und  Deutsch,  1890. 


m. 


DIE  NIEDERLANDE. 


Von 


Dr.  Q.  A.  van  Hamel, 

Professor  in  ArnKterdam. 


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(Übersetzung  von  Dr.  Georg  Cruseii  in  Hannover.) 


M 

Übersicht 


I.    Das  Mutterland. 

§  1.   Das  niederländische  Strafgesetzbuch  vom  3.  März  1881.    Seine  Geschichte. 

§  2.   Die  allgemeinen  Grundzüge  des  geltenden  Straf  rechts. 

§  3.   Die  einzelnen   strafbaren  Handlungen. 

§  4.   Das  nicht  auf  dem  Strafgesetzbuch  beruhende  Straf  recht. 

§  5.    Gesetzesausgaben,  Litteratur,  Rechtsprechung. 

II. 
§  6.    Das  Strafrecht  der  Kolonieen  (Niederländisch-Indien,  Surinam,  Cura^ao) 


L  Das  Mutterland. 

§  1.    Das  Strafgesetzbuch  rom  3.  MSrz  1881.    Seine  €feschichte. 

Das  zur  Zeit  geltende  Strafgesetzbuch  des  Königreichs  der  Niederlande 
hat  den  Titel:  „Wetboek  van  Strafrecht".  Es  wurde  beschlossen  durch 
Gesetz  vom  3.  März  1881,  Gesetzsammlung  (Staatsblad)  No.  35,^)  ist  aber  erst 
infolge  eines  besonderen  Gesetzes  (vom  15.  April  1886,  Staatsblad  No.  64) 
über  das  Inkrafttreten  des  Strafgesetzbuches,  und  zwar  am  1.  September  1886, 
in  Kraft  getreten.  —  Es  ist  zweimal,  jedoch  nur  unwesentlich,  abgeändert: 

1.  Durch  eine  auf  mehrere  Artikel  sich  erstreckende  Änderung,  noch 
vor  seinem  Inkrafttreten,  durch  Gesetz  vom  15.  Januar  1886  (Staatsblad  No.  6), 
das  allgemein  als  „Novella"  bezeichnet  wird; 

2.  bezüglich  eines  einzigen  Artikels  über  die  Verjährung  durch  Gesetz 
vom  31.  Dezember  1887  (Staatsblad  No.  265). 

Übersicht  über  die  frühere  Gesetzgebung.  Die  wechselnden  po- 
litischen Schicksale  des  Landes  haben  auf  die  Gesetzgebung  überhaupt,  ins- 
besondere aber  auf  die  Strafgesetzgebung,  bedeutenden  Einfluss  gehabt. 

Das  Fehlen  einer  engeren  politischen  Verbindung  zwischen  den  Provinzen, 
welche  jetzt  das  Königreich  der  Niederlande  bilden,  hat  Jahrhunderte  lang 
das  Zustandekommen  einer  einheitlichen,  das  ganze  Land  umfassenden  Kodi- 
fikation verhindert.  Im  16.,  17.  und  18.,  ja  sogar  noch  im  Anfange  des 
19.  Jahrhunderts  beruhte  die  Strafrechtspflege  nur  zum  Teil  auf  schriftlichen, 
von  den  Provinzen  oder  Städten  ausgehenden  Verordnungen,  der  Hauptsache 
nach  aber  auf  allgemeinem  oder  lokalem  Gewohnheitsrecht,  dem  das  römische 
Recht  und  die  Werke  der  grossen  italienischen,  deutschen,  französischen  und 
niederländischen  Kriminalisten  ergänzend  zur  Seite  traten. 

Wenn  auch  sofort  nach  der  Herstellung  der  politischen  Einheit  gegen 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  (i.  J.  1796)  durch  Einsetzung  von  Gesetzgebungs- 
kommissionen der  erste  Schritt  zur  Kodifikation  des  Privat-  und  Strafrechts 
gethan  wurde,  so  scheiterte  doch  zunächst  die  Ausarbeitung  eines  Gesetzbuches. 

Erst  etwa  10  Jahre  später  (1809)  erhielt  das  Land,  welches  seit  1806 
unter  König  Louis  Bonaparte  das  Königreich  Holland  bildete,  sein  erstes 
Strafgesetzbuch  (Crimineel  Wetboek  voor  het  Koningryk  Holland),  das,  auf 
nationaler  Grundlage  aufgebaut,  zweifellos  für  die  damalige  Zeit  ein  muster- 
haftes Gesetz  war.  Wenn  die  Niederlande  in  der  Lage  gewesen  wären,  das- 
selbe zu  behalten  und  weiter  zu  entwickeln,  so  hätten  sie  sich  seit  Anfang 
dieses  Jahrhunderts  eines  ihrer  nationalen  Eigenart  entsprechenden  Strafrechts 
erfreuen  können.  Zu  erwähnen  ist,  dass  schon  das  Gesetzbuch  von  1809  drei 
wichtige,    im    geltenden    Strafgesetzbuch    wiederkehrende  Züge    aufweist:    das 

*)  Die  gesetzgebende  Gewalt  übt  der  König  in  Verbindung  mit  den  beiden 
Kammern    der  Generalstaaten  aus. 


190  I^ic  Niederlande.  —  Das  Mutterland. 


Fehlen  des  französischen  Systems  der  Dreiteilung  der  Straf thaten,  die  Behand- 
lung des  strafrechtlichen  Verschuldens  (Vorsatz,  Fahrlässigkeit)  und  die  Frei- 
heit des  richterlichen  Ermessens  in  Beziehung  auf  die  Feststellung  des  Straf- 
masses. 

Indes  hatte  die  Annexion  der  Niederlande  durch  das  französische  Kaiser- 
reich (1810)  die  Ersetzung  des  nationalen  Strafgesetzbuches  durch  den  fran- 
zösischen Code  p6nal  (1811)  zur  Folge.  Nach  der  Restauration  unter  dem 
Prinzen  von  Oranien  (1813)  wurde  zunächst  „bis  auf  weiteres"  das  französische 
Recht  in  Geltung  belassen,  jedoch  unter  Abänderung  verschiedener  Bestim- 
mungen über  das  Strafensystem  und  die  mildernden  Umstände.  Während 
aber  1838  die  französischen  Gesetzbücher  auf  dem  Gebiete  des  bürgerlichen 
und  des  Handelsrechts  wie  des  Civil-  und  Strafprozesses  durch  nationale  Kodi- 
fikationen ersetzt  wurden,  waren  die  auf  das  gleiche  Ziel  gerichteten  Be- 
strebungen im  Gebiete  des  materiellen  Strafrechts  nicht  von  Erfolg  begleitet. 
In  der  Zeit  von  1827  bis  1859  scheiterten  mehrere  Versuche,  dem  Lande 
ein  wahrhaft  niederländisches  Strafgesetzbuch  zu  geben,  an  den  allgemeinen 
politischen  Verhältnissen  und  an  der  mangelnden  Entschlossenheit,  sich  füi* 
ein  bestimmtes  Strafensystem  zu  entscheiden.  Man  musste  sich  daher  wohl 
oder  übel  darein  fügen,  das  fremdländische  Recht  beizubehalten,  dessen  fran- 
zösischer Text,  obwohl  eine  amtliche  holländische  Übersetzung  bestand,  gesetz- 
licl\^  die  Grundlage  der  Interpretation  blieb.  Indes  wurden,  um  es  wenigstens 
einigermassen  den  Anschauungen  und  Gewohnheiten  des  Volkes,  den  Fort- 
schritten der  Strafrechtswissenschaft  und  den  Bedürfnissen  des  modernen 
Lebens  anzupassen,  mehrere  abändernde  Gesetze,  vor  allem  i.  J.  1854,  geschaffen, 
die  sich  auf  verschiedene  Materien  beziehen  und  teils  grössere,  teils  geringere 
Tragweite  haben.  Ausserdem  wurden  neben  dem  Strafgesetzbuch,  um  dessen 
Lücken  auszufüllen,  mehrere  Spezialgesetze  strafrechtlichen  Inhalts  erlassen. 
Zu  bemerken  ist,  dass  unter  der  Herrschaft  dieses  französisch-holländischen 
Rechts  der  Gesetzgeber  im  Jahre  1870  die  Todesstrafe  abgeschafft  hat,  ab- 
gesehen von  wenigen  besonderen  Fällen  des  Militärstrafrechts,  für  welche  sie 
bestehen  blieb. 

Die  Geschichte  des  geltenden  Strafgesetzbuches.  In  demselben 
Jahre  (1870)  wurde  durch  königliche  Verordnung  eine  Staatskommission  (Staats- 
commissie)  zur  Ausarbeitung  eines  Strafgesetzbuchs  eingesetzt.  Mitglieder  der- 
selben waren:  Dr.  de  Wal,  damals  Professor  an  der  Universität  Leiden,  ein 
Strafrechtslehrer  von  umfassenden  Kenntnissen,  der  jedoch  bald  dieses  Amt 
niederlegte  und  1892  hochbetagt  gestorben  ist  (Präsident);  Dr.  Frangois,  Ober- 
landesgerichtsrat, der  jedoch  mit  Rücksicht  auf  seine  dienstliche  Thätigkeit 
seine  Stellung  bald  wieder  aufgab  und  ersetzt  wurde  durch  Dr.  Loke,  eben- 
falls Oberlandesgerichtsrat,  hervorragender  Magistrat  (f  1878);  Dr.  A.  A.  de 
Pinto,  Schriftführer  der  Kommission,  damals  Abteilungschef  im  Justizministerium, 
jetzt  Rat  im  Kassationshofe  (Hooge  Raad),  der  unermüdliche  Nestor  der  hol- 
ländischen Kriminalisten;  M.  Pols,  damals  Militär- Auditeur,  später  General- 
staatsanwalt am  obersten  Militärgericht,  seit  1878  Professor  des  Strafrechts 
an  der  Universität  Utrecht,  allgemein  bekannt  als  Vertreter  der  Regierung 
bei  verschiedenen  Gefängnis -Kongressen;  Dr.  Modderman,  damals  Professor 
des  Strafrechts  in  Amsterdam,  dann  in  Leiden,  von  1879  bis  1882  Justiz- 
minister, als  welcher  er  1881  den  Strafgesetzentwurf  in  beiden  Kammern  mit 
grossem  Geschick  verteidigte  (f  1885);  endlich  Jonkheer  Dr.  Beelaerts  van 
Blockland,  damals  Bureauvoratand  im  Justizministerium,  später  Mitglied  der 
zweiten  Kammer,  als  zweiter  Schriftführer. 

Im  Mai  1875  überreichte  die  Kommission  dem  Könige  den  vollständigen 
Entwurf   eines   neuen    Strafgesetzbuches    sowie    der    Einführungsgesetze;    ihre 


§  1.    Das  Strafgesetzbuch  vom  3.  März  1881.    Seine  (beschichte.  191 


Arbeit  ist  die  Grundlage  aller  späteren  geblieben,  ja,  man  kann  sagen,  trotz 
wichtiger  Einschränkungen  und  Änderungen,  geltendes  Recht  geworden. 

Die  vorgenommenen  Beschränkungen  sind  vorzugsweise  auf  den  Justiz- 
minister H.  J.  Smidt  zurückzuführen,  der  bezüglich  des  Umfangs  der  Kodi- 
fizierung die  entgegengesetzte  Ansicht  vertrat,  wie  die  Kommission.  Letztere 
war  davon  ausgegangen,  dass  die  gesamten  strafrechtlichen  Bestimmungen 
aller  Nebengesetze,  ohne  Rücksicht  auf  den  sonstigen  Inhalt  derselben,  in  das 
Strafgesetzbuch  aufzunehmen  seien.  Nach  Ansicht  der  Kommission  ergab  sich 
diese  Konsequenz  mit  Notwendigkeit  aus  dem  Begriffe  der  Kodifikation.  Dem- 
gemäss  hatte  sie  eine  bedeutende  Anzahl  „Übertretungen"  in  ihren  Entwurf 
aufgenommen.  Der  Minister  dagegen  war  von  der  Notwendigkeit  dieser  Mass- 
regel keineswegs  überzeugt,  hielt  es  vielmehr  vom  Standpunkte  der  gesetz- 
geberischen Technik  für  praktischer,  den  Bestimmungen  der  Spezialgesetze 
auch  gleichzeitig  deren  strafrechtliche  Sanktion  hinzuzufügen.  Es  schied  daher 
über  70  Artikel  aus,  venninderte  so  ihre  Zahl  von  602  auf  530  und  legte 
dann  den  Entwurf,  der  als  „Erster  Regierungsentwurf"  (Oorspronkelijk  Regee- 
rings-Ontwerp)  bezeichnet  wird,  zunächst  1878  dem  Staatsrat,  dann  nach  Vor- 
nahme einiger  unwesentlicher  Änderungen  auf  Vorschlag  desselben,  im  Februar 
1879  der  zweiten  Kammer  der  Generalstaaten  vor. 

Hier  wurde  der  Entwui*f  in  den  Abteilungen  nach  Anweisung  einer  par- 
lamentarischen Kommission  (der  sogenannten  Berichterstatter-Kommission)  ge- 
prüft; letztere  bestand  aus  den  fünf  Mitgliedern:  Godefroi,  Patijn,  van  der  Kaay, 
de  Savomin  Lohmann  und  des  Amerie  van  der  Hoeven. 

Während  dieser  Beratungen  trat  infolge  einer  Ministerkrisis  Professor 
Modderman,  eines  der  Mitglieder  der  Staatskommission,  an  die  Spitze  des 
Justizministeriums;  mit  ihm  beriet  seitdem  die  Berichterstatter-Kommission 
mündlich  und  schriftlich.  Ein  und  dasselbe  parlamentarische  Aktenstück 
enthält  den  Kommissionsbericht  und  die  Antwort  des  Ministers,  welcher  dieser 
einen  abgeänderten  Entwurf  beigegeben  hat;  letzterer  wird  als  „abgeänderter 
Regierungsentwurf  von  1880^*  (Gewyzigd  Regeerings-Ontwerp)  citiert.  Dieser 
Entwurf  enthielt  weitere  Abkürzungen  und  Änderungen  (z.  B.  Erhöhung  des 
Höchstmasses  der  in  Einzelhaft  zu  verbüssenden  Gefängnisstrafe  von  3  auf 
5  Jahre,  Herabsetzung  der  Mindestdauer  der  Freiheitsstrafe  von  6  Tagen 
auf  1  Tag). 

Nachdem  die  zweite  Kammer  den  Entwurf  in  den  öffentlichen  Sitzungen 
vom  25.  Oktober  bis  zum  9.  November  1880  beraten  hatte,  wurde  er  mit 
mehreren,  teils  geringfügigen,  teils  erheblichen  Änderungen  mit  bedeutender 
Mehrheit  (58  gegen  10  Stimmen)  angenommen.  Da  die  erste  Kammer  nicht 
die  Befugnis  hat,  ein  ihr  zur  Beschlussfassung  vorgelegtes  Gesetz  abzuändern 
und  das  Strafgesetzbuch  eine  einheitliche  Gesetzesvorlage  bildete,  die  entweder 
angenommen  oder  verworfen  werden  musste,  so  entschloss  sich  die  Kammer, 
ihre  Zustimmung  zu  geben,  obwohl  erhebliche  Bedenken  laut  geworden  waren. 
Einen  Hauptstein  des  Anstosses  bildete  die,  einem  übertriebenen  Doktrinaris- 
mus zu  verdankende,  Straflosigkeit  der  Landstreicherei.  So  förderte  die  erste 
Kammer  zwar  das  Zustandekommen  des  Strafgesetzbuches,  Hess  sich  aber  vom 
Minister  die  Zusage  der  Einbringung  eines  abändernden  Gesetzes  noch  vor 
dem  Inkrafttreten  geben. 

Einführung  des  Strafgesetzbuches.  Die  Bestimmung  des  Tages,  mit 
welchem  das  Gesetz  Geltung  erlangen  sollte,  war  einem  späteren  besonderen 
Gesetze  vorbehalten.  Die  Notwendigkeit  dieser  Massregel  ergab  sich  nicht  nur 
aus  dem  der  ersten  Kammer  gegebenen  Versprechen,  sondern  noch  mehr  aus  der 
engen  Beziehung,  die  zwischen  dem  materiellen  Strafrecht  einerseits  und  dem 
Strafprozess,    verschiedenen    Bestimmungen    anderer    Gesetze    und    zahlreichen 


192  Die  Niederlande.  —  Das  Mutterland. 


Nebeugesetzen  andererseits  bestand,  sowie  aus  der  Notwendigkeit,  füi*  die  ein- 
heitliche Durchführung  des  Strafensystems  vorbereitende  Massregeln  zu  treffen. 
Vielleicht  wäre  die  sofortige  Einführung  des  Gesetzes  möglich  gewesen,  wenn 
man  versucht  hätte,  seine  Grandsätze,  so  gut  es  ging,  im  Rahmen  des  gelten- 
den Verfahrens  durchzuführen;  aber  mit  Recht  zog  man  vor,  zu  warten,  bis 
dui'ch  Abänderung  der  anderen  Gesetze  und  durch  Bereitstellung  der  erforder- 
lichen Zellengefängnisse  die  uneingeschränkte  Wirksamkeit  des  Strafgesetz- 
buches gesichert  war. 

Diese  viel  Zeit  und  Mühe  erfordernden  Vorarbeiten  wurden  noch  unter 
dem  Justizminister  Modderman  begonnen,  aber  erst  unter  seinem  Nachfolger, 
Baron  du  Four  van  Bellinchave,  vollendet.  Endlich  konnte  der  Geltungsbeginn 
des  Gesetzes  selbst  und  der  Nebengesetze  auf  den  1.  September  1886  fest- 
gesetzt werden. 

Diese  Gesetze  und  Verordnungen,  welche  den  Zubehör  des  Strafgesetz- 
buches bilden,  mit  Rücksicht  auf  dieses  erlassen  und  gleichzeitig  in  Kraft 
getreten  sind,  kann  man  folgendermassen  einteilen: 

I.  Das  Gesetz  betr.  die  Abänderung  einiger  Artikel  des  Strafgesetz- 
buches (Novella)  vom  15.  Januar  1886;  Staatsblad  No.  6.  —  Die  Modifikationen 
bieten  im  ganzen  nur  geringes  Interesse;  hervorgehoben  sei  nur,  dass  die 
Landstreicherei  als  Übertretung  bestraft  wird  (Art.  432,  StGB.),  und  die  Be- 
strafung des  Ehebruchs  nach  deutschem  Muster  von  der  vorgängigen  Auf- 
lösung der  Ehe  oder  Trennung  von  Tisch  und  Bett  durch  Richterspruch  ab- 
hängig gemacht  ist.     (Art.  241,  StGB.) 

II.  Die  Massregeln  betr.  das  Strafensystem:  a)  Gesetz  über  die  Gefängnis- 
anstalten (Gestichterwet)  vom  3.  Januar  1884,  Staatsblad  No.  3,  abgeändert 
durch  Gesetz  vom  28.  August  1886,  Staatsblad  No.  130,  und  später  noch  in 
verschiedenen  Punkten;  b)  Gesetz,  enthaltend  die  Grundsätze  über  die  Voll- 
streckung der  Freiheitsstrafen  vom  14.  April  1886,  Staatsblad  No.  62  (Wet  tot 
vaststelling  der  beginselen  van  het  gevangeniswezen) ;  c)  Königliche  Ver- 
ordnung, enthaltend  die  allgemeinen  Vorschriften  über  das  Gefängnis wesen, 
vom  31.  August  1886,  Staatsblad  No.  159  (in  unwesentlichen  Punkten  später 
wiederholt  abgeändert);  d)  die  durch  königliche  Verordnung  erlassenen  be- 
sonderen Reglements  für  jede  einzelne  Anstalt. 

III.  Gesetz  über  die  Ausführung  der  Art.  38  und  39  des  Strafgesetzbuches 
vom  15.  Januar  1886,  Staatsblad  No.  7  (enthält  Vorschriften  über  das  besondere 
Verfahren  gegen  jugendliche  Verbrecher  unter  10  Jahren). 

IV.  Die  Gesetze  betr.  die  Abändening  der  Gerichtsverfassung  (vom 
26.  April  1884,  Staatsblad  No.  92)  imd  der  Strafprozessordnung  (vom  15.  Januar 
1886,  Staatsblad  Nö.  5). 

V.  Die  Gesetze,  welche  einzelne  geringfügige,  vorzugsweise  terminologische 
Änderungen  im  bürgerlichen  Gesetzbuch,  im  Handelsgesetzbuch  und  in  der 
Civilprozessordnung  zum  Gegenstande  haben  (vom  20.  April  1884,  Staatsblad 
No.  93,  94,  95,  auch  Art.  8  des  Gesetzes  betr.  das  Inkrafttreten  des  Straf- 
gesetzbuches). 

VI.  Das  Gesetz  betr.  das  Inkrafttreten  des  Strafgesetzbuches  vom  15.  April 
1886,  Staatsblad  No.  64.  Dieses  sorgfältig  ausgearbeitete  Gesetz,  der  Schluss- 
stein im  Bau  des  neuen  Systems,  dient  einem  vierfachen  Zwecke;  es  sollte 
1.  das  Inkrafttreten  des  Strafgesetzbuches  anordnen  und  den  Zeitpunkt  des- 
selben bestimmen;  2.  klar  und  deutlich  von  den  älteren  und  neueren  Gesetzen 
diejenigen  bezeichnen,  welche  neben  dem  Strafgesetzbuche  Gesetzeskraft  be- 
halten und  diejenigen,  welche  abgeschafft  werden  sollten;  3.  die  Einheit  und 
Übereinstimmung  im  Strafensystem  herstellen  zwischen  dem  Strafgesetzbuche 
einerseits  und  andererseits  den  übrigen  Gesetzen,  Verordnungen,  provinzialen  und 


§  2.    Die  allgemeinen  Grundzüge  des  geltenden  Straf  rechts.  193 


lokalen  Heglements,  die  neben  demselben  in  Geltung  bleiben  oder  in  Krat^ 
treten  sollten;  4,  Übergangsbestimmungen  auf  Grund  des  Art.  1  des  Straf- 
gesetzbuches treffen. 

VII.  Endlich  ist  zu  nennen:  das  Gesetz  vom  15.  April  1886  über  die 
Abänderung  des  Konsulargesetzes  von  1871  (Staatsblad  No.  63),  durch  welches 
dieses  mit  dem  Strafgesetzbuche  in  Übereinstimmung  gebracht  wird. 

§  2.   Die  allgemeinen  Grnndzttge  des  geltenden  Strafreclits. 

Das  geltende  holländische  Strafgesetzbuch  ist  ein  durchaus  selbständiges 
Werk;  den  Gedanken,  lediglich  eine  verbesserte  Ausgabe  des  damals  gel- 
tenden französischen  Code  pönal  zu  schaffen,  hatte  die  Kommission  von 
vornherein  von  der  Hand  gewiesen.  Ein  derartiges  Unternehmen  wäre  auch 
sowohl  aus  nationalen  wie  aus  wissenschaftlichen  Gründen  aussichtslos  ge- 
wesen. Ebensowenig  wollte  sich  aber  die  Kommission  auf  eine  Nachprüfung 
der  früheren,  in  der  Zeit  von  1839  bis  1847  ausgearbeiteten  Entwürfe  be- 
schränken, dazu  waren  die  Fortschritte  zu  gross,  welche  Wissenschaft  und 
Praxis  seit  jener  Zeit  gemacht  hatten.  Trotzdem  hat  aber  die  Kommission 
die  bedeutenden  Muster,  welche  ihre  grossen  Vorgänger  in  Holland,  Frank- 
reich, Belgien  und  Deutschland  geschaffen  hatten,  keineswegs  unbenutzt  ge- 
lassen. Ohne  eines  der  geltenden  Strafgesetzbücher  direkt  nachzuahmen,  hat 
der  holländische  Gesetzgeber  ihnen  mehr  als  eine  seiner  Vorschriften  ent- 
nommen. 

Von  dem  nationalen  Charakter  einer  Kodifikation  im  strengsten  Sinne 
des  Wortes  kann  man  heutzutage  überhaupt  kaum  noch  sprechen.  Dazu  sind 
die  sozialen  Bedürfnisse  und  die  wissenschaftlichen  Anschauungen  der  ver- 
schiedenen Länder,  welche  fast  die  gleichen  Stadien  modemer  Civilisation 
durchlaufen  haben,  einander  zu  ähnlich.  Immer  aber  wird  es  neben  diesen 
gleichartigen  Erscheinungen  Züge  nationaler  Eigenart  geben,  die  sich  ent- 
weder aus  der  geschichtlichen  Entwickelung  der  Einrichtungen  des  Landes 
oder  aus  dem  eigentümlichen  Charakter  seiner  Bewohner  erklären. 

Eines  der  Grundprinzipien  des  holländischen  Strafgesetzbuches  ist  die 
ihm  eigentümliche  Einteilung  der  strafbaren  Handlungen.  Die  Dreiteilung 
des  französischen  Systems  in  crimes,  d61its  und  contraventions  ist  aufgegeben 
und  durch  die  Zweiteilung  in  „misdryven"  und  „overtredingen"  ersetzt.  Ohne 
sich  dem  Vorwurfe  der  Ungenauigkeit  allzusehr  auszusetzen,  kann  man  sagen : 
Die  erste  Gruppe  umfasst  die  „crimes"  und  „d61its"  des  französischen,  die 
„Verbrechen"  und  „Vergehen"  des  deutschen  Rechts;  und  die  Gruppe  der 
„overtredingen"  unterscheidet  sich  nicht  wesentlich  von  den  „contraventions 
de  police"  und  den  „Übertretungen".  Jedoch  ist  dieser  Vergleich  nur  im 
grossen  und  ganzen  richtig,  da  der  Gesetzgeber  die  Grenzlinie  zwischen 
beiden  Gruppen  nicht  nach  dem  Masse  oder  der  Art  der  Strafe,  sondern  nach 
einer  theoretischen  Antithese  —  strafbare  Handlungen  gegen  natürliches  Recht 
(Rechtsdelikte)  und  Handlungen,  deren  Strafbarkeit  erst  durch  ausdrückliche 
Vorschrift  des  Gesetzgebers  begründet  wird  (Gesetzesdelikte)  —  gezogen  hat. 
Die  Richtigkeit  dieses  Gegensatzes  und  seine  Anwendung  ist  indessen  sehr 
bestritten.  —  In  dieser  Arbeit  werden  wir  das  Wort  „misdryven"  in  der 
Regel  mit  „Verbrechen"  übersetzen,  sowie  dies  auch  geschehen  ist  in  der 
Dochow-Teichmannschen  Übersetzung  (Zeitschrift  für  die  gesamte  Strafrechts- 
wissenschaft Bd.  I.  Beilage). 

Dieser  Einteilung  der  strafbaren  Handlungen  entsprechen:  1.  Die  Ein- 
teilung des  Strafgesetzbuches  in  drei  Bücher:  1.  Allgemeiner  Teil;  II.  die 
„misdryven"  (Verbrechen);    III.    die  „overtredingen"  (Übertretungen).     2.  Die 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.  I.  13 


194  I^ie  Niederlande.  —  Das  Mutterland. 


Bestimmungen  über  die  Zuständigkeit  der  Gericlite  und  das  Strafverfaliren.  — 
Schwurgerichte  haben  in  Holland  nur  während  der  zwei-  bis  drevj&hrigen 
französischen  Herrschaft  f  1810 — 1813)  bestanden.  Sie  sind  nach  der  Restanration 
sofort  beseitigt  worden  und  haben  sich  seitdem  niemals  im  Lande  bedeutender 
Sympathieen  erfreut.  Später,  während  der  Greltung  des  Code  p^nal  (bis  1886), 
hatte  man  für  die  Dreiteilung  der  Strafthaten  ein  derselben  angepasstes, 
innerlich  wertloses  Zuständigkeitssystem  gebildet.  Mit  Einführung  des  neuen 
Strafgesetzbuches  ist  es  wesentlich  vereinfacht  und  besteht  in  folgendem:  die 
Aburteilung  der  „overtredingen"  geschieht  in  erster  Instanz  durch  den  Kanton- 
richter (Amtsrichter),  in  zweiter  durch  das  Landgericht  ( Arrondissementsrecht- 
bank);  über  die  „misdryven",  die  schwersten  Verbrechen  darunter  mitbegriflFen, 
entscheidet  in  erster  Instanz  das  Landgericht  in  der  Besetzung  mit  drei 
Richtern,  in  der  Berufungsinstanz  das  Appellationsgericht  (Oberlandesgericht): 
Kassationshof  ist  der  „Hooge  Raad".  —  Besondere  Strafgerichte  giebt  es 
nicht,  dieselben  Gerichte  entscheiden  in  Civil-  und  in  Strafsachen. 

Das  Strafensystem  (Buch  I,  Titel  2)  ist  sehr  einfach  und  bildet  das 
natürliche  Ergebnis  der  in  Holland  seit  1813  an  dem  französischen  Strafen- 
system vorgenommenen  Reformen.  —  Bei  der  Abschaffung  der  Todesstrafe 
hat  es  sein  Bewenden  gehabt;  ein  in  der  Zweiten  Kammer  eingebrachter  An- 
trag auf  ihre  Wiedereinführung  wurde    mit    bedeutender  Mehrheit    abgelehnt. 

—  Die  Verbannung  ist  nicht  zulässig;  ganz  abgesehen  von  anderen  Gründen, 
die  gegen  diese  kostspielige  und  nur  für  eine  beschränkte  Anzahl  von  Ver- 
brechern anwendbare  Strafart  sprechen,  musste  der  Gesetzgeber  schon  deshalb 
von  ihrer  Einführung  absehen,  weil  es  an  einem  geeigneten  Deportationsorte 
in  den  Kolonieen  fehlte.  —  Das  niederländische  Strafrecht  kennt  femer  weder 
Zwangsarbeit  und  Zuchthaus  noch  Festungshaft.  Es  giebt  nui*  drei  Haupt- 
strafarten: Gefängnis  (gevangenis) ,  einfache  Freiheitsentziehung  oder  Haft 
(hechtenis)  und  Geldstrafe  (geldboete). 

Die  Gefängnisstrafe  ist  die  wichtigste  Freiheitsstrafe;  sie  wird  ganz  all- 
gemein angewendet,  sowohl  bei  schweren  wie  bei  leichten  Delikten  mit  Aus- 
nahme gewisser  nicht  vorsätzlich  begangener  Vergehen  und  der  Übertretungen. 

—  Die  schwerste  Strafe  ist  lebenslängliches  Gefängnis;  das  Höchstmass  der 
auf  bestimmte  Zeit  erkannten  Gefängnisstrafe  beträgt  im  allgemeinen  15,  in 
einigen  besonderen  Fällen  20  Jahre,  das  Mindestmass  1  Tag.  Die  besonderep 
Höchstmasse,  die  in  verschiedenen  Straf bestimmungen  angedroht  werden,  sind : 
15j  12,  9,  6,  4,  3  Jahre,  1  Jahr,  einige  Monate,  ja  sogar  einige  Wochen.  — 
Die  Einzelhaft,  mit  der  seit  1851  unter  allmählicher  Erhöhung  der  Höchst- 
dauer ununterbrochen  Versuche  angestellt  sind,  ist  für  Gefängnisstrafen  mit 
einer  Höchstdauer  von  nicht  mehr  als  5  Jahren  vorgeschrieben,  bei  Strafen 
von  längerer  Dauer  nur  für  die  ersten  5  Jahre.  Nach  Ablauf  dieser  Zeit 
kann  der  Justizminister  dem  Gefangenen  das  Verbleiben  in  der  Einzelhaft 
gestatten  (Art.  4),  im  allgemeinen  tritt  jedoch  mit  diesem  Zeitpunkte  gemein- 
schaftliche Haft  mit  Klassifikation  ein  (Art.  13);  die  Klassifizierung  der  ge- 
meinsam zu  verwahrenden  Sträflinge  erfolgt  nach  ihrer  Vergangenheit,  ihrer 
bisherigen  Führung,  der  Art  der  Strafthat,  dem  Alter,  der  körperlichen  und 
geistigen  Entwickelung  und  der  Dauer  der  Strafe.  Während  der  Nacht  werden 
die  Gefangenen  vollkommen  getrennt  (Alkoven-System).  Die  auf  Lebenszeit 
verurteilten  Gefangenen  kommen  mit  den  anderen  nicht  in  Berührung.  Für 
die  weiblichen  Gefangenen  sind  teils  besondere  Anstalten,  teils  innerhalb  der 
gemeinsamen  Anstalten  abgetrennte  Flügel  vorhanden.  Nach  Art.  12  ist  die 
Einzelhaft  ausgeschlossen  für  Kinder  unter  14  Jahren,  für  Personen  über 
60  Jahren,  falls  sie  nicht  darauf  antragen,  und  für  solche,  bei  denen  sie  nach 
ärztlicher  Ansicht  gesundheitsschädlich  wirken  würde.     Für  die  zu  Gefängnis 


§  2.    Die  allgemeinen  Grundztigpe  des  geltenden  Strafrechts.  195 


Verurteilten  gilt  Arbeitszwang  (Art.  14).  —  Die  bedingte  Entlassung  kann  der 
Justizminister  für  solche  Verurteilte  anordnen,  die  drei  Vierteile  ihrer  Straf- 
zeit, mindestens  aber  3  Jahre,  verbüsst  haben  (Art.  16 — 17). 

Die  einfache  Freiheitsentziehung  (Haft,  hechtenis)  ist  die  Strafe  für  nicht 
vorsätzlich  begangene  Vergehen,  bei  denen  sie  meist  wahlweise  neben  Ge- 
fängnis angedroht  wird,  und  für  Übertretungen.  Ihr  Höchstmass  beträgt 
1  Jahr,  in  einzelnen  besonderen  Fällen  1  Jahr  und  4  Monate.  Sie  wird  in 
Gemeinschaftshaft  vollstreckt,  falls  nicht  der  Verurteilte  die  Einzelhaft  wünscht. 
Die  Sträflinge  sind  nicht  zu  bestimmten  Arbeiten  verpflichtet,  sondern  können 
sich  nach  Belieben  beschäftigen;  nur  wenn  sie  sich  völlig  dem  Müssiggange 
ergeben,  zwingt  die  Verwaltung  sie  zur  Arbeit.  Über  den  Arbeitsverdienst 
können  sie  frei  verfügen  (Art.  18 — 20). 

Die  Geldstrafe  (Geldbusse)  wird  vom  Gesetze  gegen  Verbrechen  und 
Übertretungen  angedroht,  teils  allein,  teils  wahlweise  neben  einer  der  beiden 
Freiheitsstrafen,  niemals  aber  kumulativ  mit  diesen.  An  Stelle  der  zwei  Mo- 
nate nach  Rechtskraft  des  Urteils  noch  nicht  bezahlten  Geldstrafe  tritt  hülfs- 
weise  Freiheitsentziehung  (Art.  23),  deren  Charakter  durchaus  dem  der  Haft 
(hechtenis)  entspricht.  Ihre  Dauer  wird  durch  den  Richter  für  den  Fall  der 
Zahlungsunfähigkeit  des  Verurteilten  nach  dem  vom  Gesetze  allgemein  vor- 
geschriebenen Umwandlungsmassstab  im  voraus  bestimmt,  das  Höchstmass 
beträgt  6,  in  besonderen  Fällen  8  Monate. 

Nicht  auf  dem  Strafgesetzbuche,  sondern  auf  dem  Gesetze  über  die  all- 
gemeinen Grundzüge  des  Gefängniswesens  (Art.  8)  beruht  die  Vorschrift,  dass 
jeder  zu  einer  Freiheitsstrafe  irgendwelcher  Art  einschliesslich  der  hülfsweisen 
Haft  Verurteilte  während  der  ersten  beiden  Tage  der  Einsperrung  nur  Wasser 
und  trockenes  Brot  erhält. 

Das  Strafgesetzbuch  kennt  keine  entehrenden  Strafen,  wohl  aber  vier 
Arten  von  Nebenstrafen  (9,  28 ff.):  die  Einziehung  einzelner  Gegenstände,  den 
Ausschluss  von  der  Ausübung  gewisser  politischer  Rechte  oder  gewisser  Be- 
rufsarten, die  öffentliche  Bekanntmachung  des  Urteils  und  die  zeitweilige 
Unterbringung  in  ein  Arbeitshaus.  Auf  alle  diese  Strafen  darf  nur  in  den 
vom  Gesetze  ausdrücklich  vorgesehenen  Fällen  erkannt  werden,  auf  die  letz- 
tere nur  gegen  die  wegen  Betteins  oder  Landstreicherei  Verurteilten  und 
gegen  rückfällige,  bereits  mehr  als  dreimal  wegen  öffentlicher  Trunkenheit 
verurteilte  Trunkenbolde.  Diese  Arbeitshäuser  —  teilweise  Ackerbaukolonieen 
—  befinden  sich :  für  die  Männer  in  den  drei  Anstalten  von  Veenhuisen  (in 
der  Provinz  Drenche)  und  in  Hoom;  für  die  Frauen  in  Ögstgeest  bei  Leiden. 

Endlich  sei  noch  erwähnt,  dass  jugendliche  Verbrecher  unter  10  Jahren 
und  solche  von  10 — 16  Jahren,  die  ohne  Unterscheidungsvermögen  gehandelt 
haben,  in  eine  Erziehungsanstalt  untergebracht  werden  können,  jedoch  höchstens 
bis  zum  vollendeten  18.  Lebensjahre  (Art.  38,  39).  Diese  Anstalten  befinden 
sich:  für  die  Knaben  in  Alkmoor  und  in  Doetinchem  (Kreuzberg),  der  Bau 
einer  dritten  Anstalt  in  Avercest  ist  beschlossen;  für  die  Mädchen  in  Montfoort. 
Ein  sehr  charakteristischer  Zug  des  holländischen  Strafgesetzbuches  ist 
die  bedeutende  Freiheit  des  richterlichen  Ermessens  bei  der  Auswahl  der 
Strafe.  Die  Verurteilung  zu  einer  Nebenstrafe  sowie  die  Unterbringung  eines 
jugendlichen  Verbrechers  in  eine  Erziehungsanstalt  ist  niemals  obligatorisch, 
sondern  dem  Ermessen  des  Richters  überlassen. 

Die  Verurteilung  zu  den  Hauptstrafen  ist  in  allen  Fällen  obligatorisch  — 
das  System  der  bedingten  Verurteilung  ist  dem  holländischen  Recht  fremd  — ; 
bezüglich  des  Strafmasses  —  der  Dauer  der  Gefängnis-  oder  Haftstrafe,  des 
Betrages  der  Geldbusse  —  ist  jedoch  der  Richter  nur  durch  ein  für  jede 
Strafthat   besonders  bestimmtes  Höchstmass    beschränkt.      Besondere  Mindest- 

13* 


196  I^iß  Niederlande.  —  Das  Mutterland. 


masse  für  die  einzelnen  Delikte  kennt  das  Gesetz  nicht;  es  gilt  für  alle  das 
gemeinsame  Mindestmass  von  einem  Tage  für  Gefängnis-  und  Haftstrafe,  von 
60  Cents  oder  einem  halben  Gulden  füi*  die  Geldbusse.  Dieses  Prinzip  war 
nicht  von  vornherein  in  Aussicht  genommen;  die  Kommission  hatte  vielmehr 
für  einzelne  schwere  Verbrechen,  die  unteren  Strafgrenzen  erhöht,  und  erst 
infolge  späterer  Erwägungen  kam  man  mehr  und  mehr  zu  dem  jetzigen 
System.  Es  hat  ein,  wenn  auch  nicht  ganz  ähnliches,  Vorbild  im  Strafgesetz- 
buche von  1809  und  ist  das  Ergebnis  der  kläglichen  Erfahrungen,  die  man 
während  der  Geltung  des  französischen  Code  mit  der  erkünstelten  Einrichtung 
der  „mildernden  Umstände"  gemacht  hatte.  Der  in  ihnen  liegende  Formalismus 
hatte  schliesslich  dahin  geführt,  dass  der  Richter  nicht  mehr  nach  den  Um- 
ständen des  Falles  die  Strafe  ausmass,  sondern  nach  mildernden  Umständen 
suchte,  um  die  von  ihm  für  angemessen  gehaltene  Strafe  zu  begründen. 
Gerade  dieses  System  drückt  zweifellos  dem  Strafgesetzbuche  den  Stempel 
nationaler  Eigenart  auf;  es  beruht  auf  einem  weitgehenden  Vertrauen  in  die 
Unparteilichkeit  des  Richterstandes,  das  durch  die  bisherige  Praxis,  welche 
nicht  einmal  Klagen  geschweige  denn  Missbräuche  zu  Tage  gefördert  hat,  in 
vollem  Umfange  gerechtfertigt  ist. 

Dem  Umstände,  dass  die  Mitglieder  der  Staatskommission  zu  den  hervor- 
ragendsten Vertretern  der  Strafrechtswissenschaft  gehörten,  verdankt  das 
Strafgesetzbuch  das  ihm  eigene  wissenschaftliche  Gepräge.  Dieses  findet  seinen 
Ausdruck  in  erster  Linie  in  der  Genauigkeit,  mit  welcher  die  Bestimmungen 
des  allgemeinen  Teiles  (Buch  I)  abgefasst  wurden,  die  von  der  deutschen 
Strafrechtswissenschaft  dieses  Jahrhunderts  vorzugsweise  beeinflusst  sind.  Der 
wissenschaftliche  Wert  des  Gesetzes  liegt  aber  ferner  in  der  genauen  BegrifFs- 
bestünmung  der  einzelnen  strafbaren  Handlungen  und  der  im  allgemeinen 
sehr  sorgfältigen  Hervorhebung  der  Art  des  erforderten  „Vorsatzes".  Das 
Erfordernis  des  „Bewusstseins  der  Rechtswidrigkeit"  („des  rechtswidrigen  Vor- 
satzes") ist  von  den  Verfassern  des  geltenden  Strafgesetzbuches  im  Anschluss 
an  das  von  1809  ausdrücklich  verworfen  worden. 

In  Übereinstimmung  mit  der  herkömmlichen  Ansicht  wird  der  Rückfall 
als  erschwerender  Umstand  betrachtet,  der  den  Richter  berechtigt,  auf  die 
schwerste  zulässige  Strafe  zu  erkennen.  Rückfall  liegt  nach  dem  Gesetze  nur 
vor,  wenn  dieselbe  Deliktsart  (Buch  II,  Titel  31)  bezw.  dieselbe  Übertretung 
wiederholt  begangen  ist. 

Der  Versuch  (Art.  45)  wird  mit  einer  geringeren  Strafe  wie  das  vollendete 
Verbrechen  bestraft,  das  Höchstmass  wird  um  ein  Drittel  erniedrigt.  Im  all- 
gemeinen ist  der  Versuch  bei  „misdrljven"  strafbar;  die  ausgenommenen 
Verbrechen  sind  ausdrücklich  bezeichnet.  Bei  Übertretungen  ist  der  Versuch 
straflos. 

Die  Bestimmungen  über  Teilnahme  (Art.  47 — 52)  sind  prinzipiell  denen 
des  deutschen  Gesetzbuches  ähnlich.  Jedoch  kennt  das  holländische  Gesetz- 
buch den  Duchesne-Paragraphen  (§  49  a  des  RStGB.)  nicht.  Die  Beihülfe  ist  bei 
Übertretungen  straflos. 

In  den  Fällen  von  concursus  realis  kennt  das  Gesetzbuch  für  Verbrechen 
das  System  einer  gemässigten  Kumulation,  d.  h.  mit  Herabsetzung  des  Gesamt- 
betrages der  verwirkten  Einzelstrafen;  für  Übertretungen  kennt  es  die  ein- 
fache Kumulation. 

Kinder  unter  10  Jahren  dürfen  nicht  bestraft  werden;  zwischen  10  und 
16  Jahren  werden  sie  nur  dann  bestraft,  wenn  sie  mit  Unterscheidungs- 
vermögen gehandelt  haben;  für  diejenigen,  welche  ohne  Unterscheidungs- 
vermögen gehandelt  haben,  kann  der  Richter  die  Aufnahme  in  eine  von  den 
obenbezeichneten  Erziehungsanstalten  anordnen  (Art.  38,  39). 


§  8.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  197 


Die  Zurechnungsfähigkeit  wird  ausdrücklich  ausgeschlossen  bei  krank- 
hafter Störung  oder  mangelhafter  Entwickelung  der  Geistesthätigkeit  (Art.  37). 
Die  Unzurechnungsfähigkeit  bei  Bewusstlosigkeit  war  in  den  Entwürfen  er- 
wähnt; diese  Erwähnung  wurde  aber  bei  der  Beratung  gestrichen. 

Als  allgemeine  Rechtfertigungsgründe  sind  erwähnt:  Übermacht  (nach 
dem  französischen  Code  pönal);  Notwehr,  sogar  deren  Überschreitung  unter 
der  Wirkung  von  heftigen  Gemtitserregungen  (nach  dem  deutschen  RStGB.); 
die  Bestimmung  des  Gesetzes  oder  Gesetzeskraft  besitzender  Anordnungen; 
der  Befehl  einer  dazu  befugten  Behörde  (Art.  40 — 43). 

Als  allgemeinen  Strafmilderungsginind,  welcher  das  Höchstmass  erniedrigt, 
kennt  das  Gesetzbuch  bloss  das  Lebensalter  zwischen  10  und  16  Jahren 
(Art.  39).  Als  allgemeinen  Strafschärfungsgrund  kennt  das  Gesetzbuch  bloss 
die  amtliche  Stellung  des  Verbrechers   (s.  nachher  bei   den  Amtsverbrechen). 

Das  Gesetzbuch  kennt  nur  wenig  Antragsdelikte. 

§  3.  Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen. 

Buch  II  handelt  über  Verbrechen  („mißdryven).  Es  enthält  XXXI  Ab- 
schnitte (Titel).  —  T.  I.  Verbrechen  gegen  die  (innere  und  äussere)  Sicherheit 
des  Staates.  Hier  wird  das  Unternehmen  (der  Versuch)  wider  das  Leben  oder 
die  Freiheit  des  Staatsoberhauptes,  wider  die  Integrität  des  Staatsgebietes  oder 
wider  die  Verfassung  bestraft  wie  das  vollendete  Verbrechen.  —  T.  II.  Ver- 
brechen gegen  die  königliche  Würde;  unter  andern  Majestätsbeleidigung,  mit  Ge- 
fängnis bis  zu  5  Jahren  oder  Geldstrafe  bis  zu  300  Gulden  bestraft.  —  T.  III.  Ver- 
brechen gegen  das  Staatsoberhaupt  oder  die  Vertreter  befreundeter  Staaten.  — 
T.  IV.  Verbrechen  in  Beziehung  auf  die  Ausübung  staatsbürgerlicher  Pflichten 
und  Rechte;  insbesondere  Bestimmungen  enthaltend  zum  Schutz  der  freien  und 
ehrlichen  Ausübung  des  Wahlrechts.  —  T.  V.  Verbrechen  gegen  die  öffent- 
liche Ordnung;  ein  Abschnitt,  der,  wie  im  deutschen  Gesetzbuch,  eine  Anzahl 
sehr  verschiedener  Verbrechen  enthält,  wie  die  öflFentliche  Aufforderung  zu 
strafbaren  Handlungen,  die  Nichtanzeige  von  Komplotten  und  des  Vorhabens 
von  einzelnen  schwereren  Verbrechen  zur  Zeit,  als  der  Begehung  jener  Ver- 
brechen noch  vorgebeugt  werden  konnte,  den  Hausfriedensbruch,  ein  Ver- 
brechen, das  in  dieser  Allgemeinheit  im  französisch-holländischen  Rechte  un- 
bekannt war.  —  T.  VI.  Zweikampf.  —  T.  VII.  Verbrechen  gegen  die  öflfentliche 
Sicherheit  von  Personen  oder  Sachen ;  unter  andern  Brandstiftung,  die  Verursachung 
von  Explosion  oder  Überschwemmung  mit  Gemeingefahr  für  Sachen  oder  Lebens- 
gefahr; die  Verursachung  von  Gefahr  für  den  Verkehr  mit  Dampf  kraft  auf 
einem  Schienenwege;  in  diesem  Abschnitt  wird  neben  der  vorsätzlichen  Form 
von  jedem  dieser  Verbrechen  auch  die  fahrlässige  bestraft;  weiter  wird  die 
Strafe  bei  fast  allen  diesen  Verbrechen  geschärft,  wenn  der  Tod  eines  Menschen 
dadurch  verursacht  worden  ist.  —  T.  VIII.  Verbrechen  gegen  die  öffentliche 
Obrigkeit;  unter  andern  Widerstand,  ein  Verbrechen,  wozu  auch  in  diesem  Gesetze 
die  rechtmässige  Amtsausübung  gefordert  wird;  die  falsche  Anzeige  eines 
Verbrechens  an  die  Obrigkeit;  und  die  anderen  Delikte,  welche  in  allen  Gesetz- 
büchern hierher  gerechnet  werden.  —  T.  IX.  Meineid;  ein  Abschnitt,  der  nur 
einen  Paragraphen  enthält,  mit  einer  sehr  genauen  Fassung,  um  alle  Unter- 
arten darin  zu  begreifen;  und  ohne  jede  befreiende  Bestimmung  zu  g^nsten 
desjenigen,  welcher  seine  Angabe  widerruft  oder  des  Zeugen,  welcher,  wenn 
er  die  Wahrheit  sagen  würde,  zu  seinem  Nachteile  oder  dem  eines  Verwandten 
ausgesagt  hätte.  —  T.  X.  Mtinzverbrechen.  —  T.  XL  Fälschung  von  Stempeln 
und  Marken.  —  T.  XII.  Urkundenfälschung.  Hier  hat  das  Gesetzbuch  das 
System    der    französischen  Doktrin,    welche   die  Benachteilungsabsicht  fordert, 


198  I^Je  Niederlande.  —  Das  Mutterland. 


verlassen;  es  unterscheidet  die  folgenden  Bestandteile :  die  fälschliche  Anfertigung 
oder  Verfälschung,  die  Art  der  Urkunde,  welche  ein  Recht,  eine  Verpflichtung 
oder   eine  Schuldbefreiung   begründen  kann,    oder  welche   dazu  bestimmt  ist, 
als  Beweismittel  zu  dienen,  die  betrügerische  Absicht,  die  Möglichkeit  der  Be- 
nachteiligung. —  T.  XIII.  Verbrechen  gegen  den  Personenstand;  ein  Abschnitt, 
,der  unter  andern  jedes  vorsätzliche  Unsichennachen  der  Abstammung  enthält, 
und  Doppelehe.  —  T.  XIV.  Verbrechen  gegen  die  Sittlichkeit;  unter  andern  un- 
züchtige Handlungen  mit  Kindern  bis  zu  16  Jahren;  weiter  Unzucht  von  Eltern, 
Lehrern,  Dienstherren,  Vorstehern  in  Anstalten,  Beamten  u.  a.  mit  ihren  Pflegebe- 
fohlenen, ihrer  Gewalt  untei-worfenen  oder  ihrer  Aufsicht  anvertrauten  Personen 
(Art.  249);    Kuppelei    in    Bezug    auf    Minderjährige     entweder    durch    deren 
Eltern   oder  Vormünder,    oder    durch    einen    anderen,    aber   in  diesen  Fällen 
entweder  aus  Gewinnsucht  oder  gewerbsmässig  begangen;  in  diesem  Abschnitt 
findet  sich  auch  ein  Paragraph  gegen  Tierquälerei.  —  T.  XV.  Verlassung  Hülfs- 
bedürftiger.   —  T.  XVI.    Beleidigung.     Dieser   Abschnitt    umfasst:    mündliche 
und  schriftliche  Schmähung,  d.  h.  die  beleidigende  Beschuldigung  mit  einer  be- 
stinmiten  Handlung  in  dem  offenbaren*  Zweck,    sie  bekannt  zu  machen;    Ver- 
leumdung, d.  h.  Schmähung,  wobei  die  Beschuldigung  eine  unwahre  und  wider 
besseres  Wissen  begangene  war,    in   den  seltenen  Fällen,    wo   der  Beweis  der 
Wahrheit  zugelassen  ist;  die  einfache  Beleidigung;  Beleidigung  gegen  Beamte 
in  Beziehung    auf  ihre  rechtmässige  Berufsausübung  (wobei   die  gewöhnlichen 
Strafen  um  ein  Drittel  erhöht  werden  können);    die  verleumderische  Anklage; 
die  Beschimpfung  Verstorbener;    die  Verbreitung  von  beleidigenden  Schriften 
oder  Abbildungen.     Schmähung   wird    nicht    angenommen,    wenn    der    Thäter 
augenscheinlich  im  allgemeinen  Nutzen  oder  in  notwendiger  Verteidigung  ge- 
handelt hat.     Der  Beweis  der  Wahrheit,    welcher  für  eine  Verfolgung  wegen 
Verleumdung  notwendig  ist,   wird  nur  zugelassen,   wenn  davon  die  Kede  ist, 
dass  die  Handlung  wegen  einer  von  den  genannten  Ursachen  straflos  bleiben 
sollte  oder  wenn    die  Beschuldigung   gegen  einen  Beamten  in  Beziehung  auf 
seine    Berufsausübung   gerichtet  wurde    (Art.  263);    die   Beschränkung   ist   in 
das  Gesetzbuch    eingeführt   durch   einen  Antrag  in   der  zweiten  Kammer  und 
schränkt  die  Wirkung  des  Verleumdungsparagraphen  erheblich  ein.     Das  Ver- 
breiten   ist  nur  dann  zu  bestrafen,    wenn    der  Verbreiter   in    der  Absicht   ge- 
handelt hat,  den  beleidigenden  Inhalt  bekannt  zu  machen  oder  die  Kenntnis  zu 
erweitern.  —  T.  XVII.  Offenbarung  von  Geheimnissen.  —  T.  XVIII.  Verbrechen 
gegen   die  persönliche  Freiheit.     Dieser  Abschnitt   bestraft   unter  andern   den 
Sklavenhandel  oder  die  Teilnahme  daran,  die  Entziehung  von  Minderjährigen,  die 
Entführung  einer  Frauensperson  in  der  Absicht,  sich  ihres  Besitzes  in  oder  ausser 
der  Ehe  zu  versichern;  die  rechtswidrige  Freiheitsberaubung,  die  Nötigung,  die 
Bedrohung.    —    T.  XIX.    Verbrechen    gegen    das    Leben.     Das    Gesetz    unter- 
scheidet vorsätzlichen  Totschlag,    Totschlag  in  Verbindung  mit  einer  anderen 
strafbaren  Handlung,  Mord  (Totschlag  mit  Vorbedacht);  nur  die  beiden  letzt- 
genannten Verbrechen  können  mit  Gefängnis  auf  Lebenszeit   bestraft  werden; 
Totschlag  oder  Mord  eines  neugeborenen  Kindes  durch  die  Mutter  unter  dem 
Einfluss  der  Furcht  vor  Entdeckung  ihrer  Entbindung;  Totschlag  auf  das  aus- 
drückliche und  ernstliche  Verlangen  des  Getöteten;    Anstiftung  zu  oder  Hülfe 
bei  Selbstmord;  Abtreibung.   —  T.  XX.  Misshandlung.     Das  Gesetzbuch  unter- 
scheidet  dieses  Verbrechen    in    seiner    einfachen   Form    oder    als    vorsätzliche 
schwere  Köi'perverletzung,    mit    oder    ohne  Vorbedacht,    mit    oder  ohne  nicht 
gewollte  schwerere  Folgen   (Tod  oder  schwere  Körperverletzung).  —  T.  XXI. 
Fahrlässige  Tötung  und  Körperverletzung.     Das  Gesetzbuch  fordert  erhebliehe 
Schuld.  —  T.  XXII.  Diebstahl  und  Feldfrevel.     Der  Begriff  des  Diebstahls  ist 
nicht  verschieden  von  dem  in  anderen  Gesetzbüchern:  Diebstahl  zwischen  von 


§  4.    Das  nicht  auf  dem  Strafgesetzbuch  beruhende  Strafrecht.  199 


Tisch  und  Bett  oder  Gütern  geschiedenen  Ehegatten  oder  zwischen  Verwandten 
in  grader  Linie  oder  im  zweiten  Grade  der  Seitenlinie  ist  Antragsdelikt;  der 
nicht  von  Tisch  und  Bett  oder  von  Gütern  geschiedene  Ehegatte,  der  bei 
Diebstahl  zum  Nachteil  des  anderen  Thäter  oder  Teilnehmer  ist,  wird  nicht 
verfolgt.  —  T.  XXIII.  Erpressung.  —  T.  XXIV.  Unterschlagung.  Die  vor- 
sätzliche und  widerrechtliche  Zueignung  einer  einem  anderen  gehörenden  Sache, 
welche  der  Thäter  anders  als  durch  ein  Verbrechen  in  seinem  Gewahrsam  hat, 
wird  als  Unterschlagung  qualifiziert.  —  T.  XXV.  Betrug.  Unter  diesem  Namen 
enthält  dieser  Abschnitt  den  typischen  Betrug  (escroquerie),  begangen  durch 
Annahme  eines  falschen  Namens,  oder  einer  falschen  Eigenschaft,  durch  listige 
Kmistgriffe  oder  durch  Vorspiegelung  von  Thatsachen,  und  weiter  eine  ganze 
Reihe  spezieller  Betrugsformen.  —  T.  XXVI.  Benachteiligung  von  Gläubigern 
oder  Interessenten.  Dieser  Abschnitt  handelt  von  Bankrott  und  verwandten 
Verbrechen  und  von  der  Entziehung  der  eigenen  Sache  zum  Nachteil  derjenigen, 
die  an  derselben  ein  Pfandrecht,  Zurückbehaltungsrecht,  Niessbrauchs-  oder 
Gebrauchsrecht  hat.  —  T.  XXVII.  Zerstörung  und  Beschädigung  von  Sachen. 
Diese  Handlungen  werden  nur  bestraft,  insoweit  sie  vorsätzlich  begangen 
werden;  aber  das  Abänderungsgesetz  (Novella)  hat  eine  Ausnahme  eingeführt 
und  auch  die  fahrlässige  Sachbeschädigung  bestraft,  wenn  es  bestimmte  Werke 
betriflTt,  die  dem  allgemeinen  Nutzen  dienen.  —  T.  XXVIII.  Amtsverbrechen. 
Dieser  Abschnitt,  der  verschiedene  spezielle  Amtsverbrechen  enthält,  muss  in 
Beziehung  zu  Art.  44  (Buch  I)  gebracht  werden,  der  im  allgemeinen  die  Strafen 
gegen  den  Beamten  erschwert,  welcher,  indem  er  ein  gemeines  Verbrechen  begeht, 
eine  seiner  speziellen  Pflichten  verletzt  oder  seine  Stellung  missbraucht.  — 
T.  XXIX.  Schiflfahrtsverbrechen ,  darunter  Seeräuberei,  sowie  auch  unerlaubtem 
Kaperei,  d.  h.  begangen  von  einem  Niederländer  ohne  Zustimmung  der  Staats- 
regierung. —  T.  XXX.  Begünstigung.  Dieser  Abschnitt  handelt  von  Hehlerei 
und  betrachtet  als  solche  Kauf,  Eintauschung,  die  Inbesitznahme  .  als  Pfand 
oder  Geschenk  und  das  Verbergen  aus  Gewinnsucht;  auch  wird  derjenige,  der 
vorsätzlich  aus  dem  Ertrage  der  Sache  Vorteil  zieht,  wie  der  Hehler  bestraft. 

—  T.  XXXI.  Verschiedenen  Titeln  gemeinsame  Bestimmungen  über  Rückfall. 
(Dieser  Gegenstand  ist  oben  schon  behandelt  worden.) 

Das  III.  Buch  handelt  von  den  Übertretungen  und  enthält  IX  Abschnitte: 
T.  I.  Übertretungen,  betr.  die  allgemeine  Sicherheit  von  Personen  und  Sachen. 

—  T.  II.  Übertretungen,  betr.  die  öffentliche  Ordnung,  worunter  öflFentliche 
Bettelei  und  Landstreicherei.  —  T.  III.  Übertretungen,  betr.  die  öflFentliche 
Obrigkeit.  —  T.  IV.  Übertretungen,  betr.  den  Personenstand.  —  T.  V.  Über- 
tretungen, betr.  Hülfsbedürftige.  Dieser  Abschnitt  besteht  aus  einem  einzigen 
Paragraphen,  worin  derjenige  bestraft  wird,  der  als  Zeuge  augenblicklicher 
Lebensgefahr  eines  anderen  es  unterlässt,  diesem  die  Hülfe  zu  leisten  oder  zu 
verschaflFen,  welche  er,  ohne  Gefahr  für  sich  selbst  oder  andere  vernünftiger- 
weise befürchten  zu  müssen,  ihm  leisten  oder  verschaflFen  kann,  wenn  der  Tod 
des  Hülfebedürftigen  eintritt.  —  T.  VI.  Übertretungen,  betr.  die  Sittlichkeit.  — 
T.  VII.  Übertretungen,  betr.  die  Feldpolizei.  —  T.  VIII.  Amtsübertretungen.  — 
T.  IX.  SchiflFahrtsübertretungen. 

§  4.   Das  nicht  auf  dem  Strafgesetzbuch  beruhende  Strafreeht. 

Mit  der  Einführung  des  Strafgesetzbuches  wurde  eine  Umgestaltung  des 
gesamten  Strafrechts  vorgenommen.  Die  Niederlande  lebten  in  einem  Labyrinth 
alter,  zum  Teil  noch  aus  der  Zeit  der  französischen  Annexion  stammender 
Gesetze.  Wenn  man  aber  auch  mit  Recht  davon  Abstand  nahm,  nicht  nur 
das   eigentliche   Strafrecht   im    engeren   Sinne,    sondern   auch    sämtliche   Straf- 


200  I^ie  Niederlande.  —  Das  Mutterland. 


bestimmuiigen  der  anderen  Gesetze  in  einer  einheitlichen  Kodifikation  unter- 
zubringen, so  bildet  doch  das  Einfühnmgsgesetz  zum  Strafgesetzbuch  (vom 
15.  April  1886,  Staatsblad  No.  64)  den  Schlussstein  im  Bau  des  gesamten  nicht 
kodifizierten  Strafrechts.  Zunächst  sind  durch  dasselbe  alle  Strafgesetze  und 
alle  Vorschriften  strafrechtlichen  Inhalts  der  am  1.  März  1886  geltenden  Gresetze 
ausser  Kraft  gesetzt,  soweit  nicht  ihre  fernere  Geltung  im  Einführungsgesetze 
ausdrücklich  angeordnet  ist.  Über  die  später  erlassenen  Gesetze  geben  die 
seit  dem  1.  März  1886  erschienenen  Nummern  des  „Staatsblad'^  klare  Auskunft. 
Femer  hat  aber  das  EinfOhrungsgesetz  die  volle  tTbereinstimmung  der  Grund- 
sätze des  kodifizierten  und  des  nicht  kodifizierten  StrafVechts  dadurch  her- 
gestellt, dass  es  das  letztere  in  mehreren  Punkten  abänderte;  die  Modifikationen 
beziehen  sich  teils  auf  die  Landesgesetze,  teils  auf  Provinzial-  und  Gemeinde- 
verordnungen. 

Von  den  wichtigsten  Gesetzen  des  nicht  kodifizierten  Strafrechts  seien 
hier   die  folgenden   erwähnt:    1,  aus  dem  Gebiete  des  internationalen  Rechts: 

a)  das  Auslieferungsgesetz  vom  6.  April  1875,  Staatsblad  No.  66;  b)  das  Gesetz, 
betr.  die  Ausführung  des  internationalen  Vertrages  über  die  Fischerei  in  der 
Nordsee  vom  7.  Dezember  1883,  Staatsblad  No.  202;  c)  das  Gesetz,  betr.  die 
Ausführung  des  internationalen  Vertrages  zum  Schutz  der  unterseeischen  Kabel 
vom  15.  April  1886,  Staatsblad  No.  65,  revidiert  am  4.  Juli  1887,  Staatsblad 
No.  109;  d)  das  Gesetz,  betr.  die  Ausführung  des  Vertrages  über  die  Lachs- 
fischerei im  Rhein  vom  14.  April  1886,  Staatsblad  No.  61;  e)  das  Gesetz,  betr. 
die  Ausführung  des  internationalen  Vertrages  über  den  Verkauf  alkoholhaltiger 
Getränke  an  Fischer  in  der  Nordsee  mit  Ausschluss  der  Binnengewässer,  vom 
15.  April  1891,  Staatsblad  No.  84. 

2.  Aus  dem  Gebiete  des  öffentlichen  niederländischen  Rechts:  a)  das  Staats- 
grundgesetz   oder  die  Verfassung  des  Königreichs   von  1848,    revidiert  1887: 

b)  das  Gesetz  über  die  Provinzialverfassung  vom  6.  Juli  1850,  Staatsblad  No.  39: 

c)  die  Gemeindeordnung  vom  29.  Juni  1851,  Staatsblad  No.  85;  d)  das  Gesetz 
über  die  Kirchenaufsicht  vom  10.  September  1853,  Staatsblad  No.  102;  e)  das 
Gesetz  über  das  Vereins-  und  Versammlungsrecht  vom  22.  April  1855,  Staats- 
blad No.  32;  f)  das  Gesetz  über  die  Kooperativ-Genossenscliaften  vom  17.  No- 
vember 1876,  Staatsblad  No.  227. 

3.  Über  das  Landesverteidigungswesen:  a)  das  Gesetz  über  die  Bürger- 
wehr (schutterij)  vom  11.  April  1827,  Staatsblad  No.  17;  b)  das  Gesetz  über 
die  Miliz  vom  19.  August  1861,  Staatsblad  No.  72. 

4.  Über  das  öffentliche  Gesundheitswesen:  a)  die  Gesetze  über  die  Aus- 
übung des  ärztlichen  und  pharmazeutischen  Berufs  vom  1.  Juni  1865,  Staats- 
blad No.  60,  61;  b)  das  Gesetz,  betr.  die  epidemischen  Krankheiten  vom 
4.  Dezember  1872,  Staatblad  No.  134  (revidiert  1874  und  1877);  c)  das  Gesetz, 
betr.  die  Massregeln  zur  Verhinderung  der  Tollwut  vom  5.  Juni  1875,  Staats- 
blad No.  110;  d)  das  Quarantänegesetz  vom  28.  März  1877,  Staatsblad  No.  35: 

e)  das  Gesetz  über  die  Behandlung  der  Geisteskranken  vom  27.  April  1884. 
Staatsblad  No.  96;  f)  das  Veterinär-Polizeigesetz  vom  20.  Juli  1870,  Staatsblad 
No.  131  (modifiziert  1875,   1878  und  1880j. 

5.  Aus  dem  Gebiete  der  Gewerbegesetzgebung:  a)  das  Jagd-  und  Fischerei- 
gesetz vom  13.  Juni  1857,  Staatsblad  No.  57;  b)  das  Hochseefischereigesetz  vom 
21.  Juni  1881,  Staatsblad  No.  76  (abgeändert  1884);  c)  das  Gesetz  über  die 
Beförderung  von  Auswanderern  vom  1.  Juni  1861,  Staatsblad  No.  53  (ab- 
geändert 1869j;  d)  das  Eisenbahngesetz  vom  9.  April  1875  —  Staatsblad  No.  67 
—  und  vom  28.  Oktober  1889  —  Staatsblad  No.  140;  e)  das  Gesetz  über  die 
Einrichtung  gefährlicher  Fabrikanlagen  vom  2.  Juni  1875,   Staatablad  No.  95; 

f)  das  Gesetz   über  die  Beförderung  von  Giften   und  giftigen  Substanzen  vom 


§  4.    Das  nicht  auf  dem  Strafgesetzbuch  beruhende  Strafrecht.  201 


d8.  Juni  1876,  Staatsblad  No.  150;  g)  das  Gesetz  über  die  Beförderung  und 
den  Verkauf  von  Sprengstoffen  vom  20.  April  1884,  Staatsblad  No.  81;  h)  das 
Gesetz  über  die  Dampfmaschinen  vom  28.  Mai  1869,  Staatsblad  No.  97;  i)  das 
Gesetz  über  Masse  und  Gewichte  vom  7.  April  1869,  Staatsblad  No.  57;  j)  das 
Gesetz  über  den  Verkauf  alkoholhaltiger  Getränke  vom  28.  Juni  1881,  Staats- 
blad No.  97  (abgeändert  1884  und  1885);  k)  das  Gesetz  zur  Verhinderung  der 
Überanstrengung  von  Arbeiterinnen  und  jugendlichen  Arbeitern  vom  5.  Mai  1889, 
Staatsblad  No.  48;  1)  das  Gesetz  über  das  Urheberrecht  vom  28.  Juni  1881,  Staats- 
blad No.  124;  m)  das  Gesetz  über  die  Aufrechterhaltung  der  Disziplin  an  Bord  der 
zur  Handelsmarine  gehörigen  Fahrzeuge  vom  7.  Mai  1856,  Staatsblad  No.  32. 

6.  Aus  dem  Gebiete  des  Unterrichts:  a)  das  Gesetz  über  das  höhere  Unter- 
richtswesen vom  28.  April  1876,  Staatsblad  No.  102;  b)  das  Gesetz  über  das 
mittlere  Unterrichtswesen  vom  2.  Mai  1863,  Staatsblad  No.  50  (abgeändert 
1876  und  1879);  c)  das  Gesetz  über  den  Unterricht  der  untersten  Stufe  vom 
17.  August  1878,  Staatsblad  No.  127  (abgeändert  1882,  1884,  1889). 

7.  Ein  besonderes  Pressgesetz  giebt  es  nicht  und  damit  auch  keinerlei 
Präventivmassregeln  auf  diesem  Gebiete.  Die  strafrechtliche  Verantwortlich- 
keit für  die  durch  die  Presse  begangenen  strafbaren  Handlungen  bestimmt 
sich  für  die  Thäter  nach  den  allgemeinen  Grundsätzen,  für  den  Herausgeber 
und  Drucker  nach  den  sehr  liberalen  Vorschriften  der  Art.  53,  54,  418 — 420 
des  Strafgesetzbuches. 

8.  Das  Zollstrafrecht  ist  nicht  kodifiziert;  es  findet  sich  zerstreut  in 
den  verschiedenen  Zoll-  und  Steuergesetzen,  von  denen  in  strafrechtlicher  Be- 
ziehung das  allgemeine  Zoll-  und  Accise-Gesetz  vom  26.  August  1822  (Staats- 
blad No.  38)  das  wichtigste  ist.  Eine  vollständige  Aufzählung  enthält  das 
weiter  unten  zu  erwähnende  Werk  van  Hamels  Bd.  I,  S.  105  fl'.  —  Durch  Art.  7 
des  Einführungsgesetzes  zum  Strafgesetzbuch  ist  das  Zollstrafrecht  mit  seinen 
besonderen  Vorschriften,  von  geringen  Änderungen  abgesehen,  ausdrücklich 
in  Geltung  belassen.  Ebenso  ist  der  dem  Steuers  traf  recht  eigentümliche  Ginind- 
satz,  dass  die  festgesetzten  Geldstrafen  durch  den  Tod  des  davon  Betroff'enen 
nicht  hinfällig,  sondern  in  den  Nachlass  vollstreckt  werden,  durch  die  Art.  410  fl". 
der  Strafprozessordnung  aufrecht  erhalten. 

9.  Ebenso  ist  für  das  Militärstrafrecht  als  Spezialrecht  durcli  Art.  9  des 
ei'wähnten  Einführungsgesetzes  ausdrücklich  die  fernere  Gültigkeit  angeordnet. 
Die  einschlägigen  Gesetze  stammen  aus  älterer  Zeit:  das  Strafgesetzbuch  für 
das  See-Heer  beruht  auf  dem  Gesetz  vom  20.  Juli  1814  (Staatsblad  No.  85), 
das  Sti'afgesetzbuch  für  die  Landarmee  auf  dem  Gesetz  vom  15.  März  1815 
(Staatsblad  No.  26).  Beide  Gesetzbücher  beschäftigen  sich  nur  mit  den  so- 
genannten reinen  und  gemischten  Militärdelikten;  die  von  Militärpersonen  be- 
gangenen Strafthaten  gemeinen  Rechts  werden  vom  Militärrichter  nach  den 
allgemeinen  Strafgesetzen  abgeurteilt.  Neben  diesen  beiden  Strafgesetzbüchern 
giebt  es  zwei  Disziplinargesetze  für  Marine  und  Landheer  von  den  gleichen 
Daten.  —  Indessen  sind  das  veraltete  Strafensystem  und  einige  andere  Mängel 
der  vorbezeichneten  vier  Gesetzbücher  im  Jahre  1879  durch  die  Gesetze  vom 
14.  November  (Staatsblad  No.  191 — 194)  einer  Korrektur  unterzogen.  Trotz 
dieser  teilweisen  Abänderung  ist  eine  vollständige  Revision  dringend  erforder- 
lich. Es  hat  auch  bereits  der  mit  der  Vornahme  derselben  betraute  Hen^ 
H.  van  der  Hoeven,  Professor  an  der  Universität  Leiden,  den  Entwurf  eines 
Militärstrafrechts  ausgearbeitet,  der,  nach  gehöriger  Nachprüfung  durch  den 
Verfasser  in  Verbindung  mit  einer  militärischen  Kommission,  schon  der  zweiten 
Kammer  vorgelegt  worden  ist.  Die  Revision  erstreckt  sich  auch  auf  die  Dis- 
ziplinargesetze und  die  völlig  veralteten  Gesetze  über  das  Verfahren  vor  den 
Kriegsgerichten  und  dem  obersten  Militärgericht. 


202  I^ie  Niederlande.  —  Das  Strafrecht  der  Kolonieen. 


§  5.    Gresetzesansgaben,  Litteratur,  Rechtsprechung.  * 

1.  Ausgaben  des  Strafgesetzbuches.  —  Amtliche  Ausgabe,  den  Haag  1886  (van 
Weelden  &  Mingelen).  —  Bureau-Ausgabe:  M.  S.  Pols,  De  Wetboeken  van  Straf- 
oordering  en  strafrecht  met  toelichtende  aantreckelingen  (1886).  —  Taschen- Ausgabe: 
J.  A.  Fruin,  De  Nederlandsche  Wetboeken  (die  fünf  kodifizierten  Gesetze),  2.  Aufl. 
besorgt  von  M.  S.  Pols  (1888)  und  in  demselben  Format  eine  Ausgabe,  die  nur  das 
Strafgesetzbuch  und  die  Strafprozessordnung  enthält.  —  Französische  Übersetzung 
des  Strafgesetzbuches  von  Dr.  J.  W.  Wintgens;  deutsche  Übersetzung  in  der  „Zeit- 
schrift für  die  gesamte  Strafrechtswissenschaft",  Bd.  I  Beilage. 

2.  Litteratur  über  die  Geschichte  des  Strafgesetzbuches.  —  Entwurf  der  Staats- 
kommission mit  Motiven;  amtliche  Ausgabe  in  4®  (gedruckt  in  der  Staatsdruckerei ); 
Oktav- Ausgabe  bei  Gebr.  Belinfante,  den  Haag  1879  (vergrifFen).  —  Über  die  Regie- 
rungsentwürfe, die  Motive,  die  Gutachten  des  Staatsrats,  sowie  die  parlamentarischen 
Verhandlungen  und  Berichte  vgl.  vor  allen  die  vollständige  systematische  Bearbeitung 
von  H.  J.  Smidt:  „Geschiedenis  van  het  Wetboek  van  Strafrecht"  (Geschichte  des 
Strafgesetzbuchs),  Bd.  I— V  (2.  Aufl.  1890 ff.);  die  Bände  I,  II  und  III  behandeln  das 
Strafgesetzbuch,  Band  IV  und  V  die  Nebengesetze.  An  dem  fünften  Bande  und  der 
gesamten  zweiten  Auflage  haben  zwei  Söhne  des  Verfassers,  E.  A.  Smidt  und  J.  W. 
Smidt,  mitgearbeitet.*)  —  Ausserdem  existiert  eine  (nicht  systematische)  Ausgabe  der 
Aktenstücke  und  Verhandlungsberichte  (Gebr.  Belinfante,  1879—1886).  —  H.  L.  Isra(Ms, 
Het  Wetboek  van  Strafrecht  vergeleken  met  de  verschillende  ontwerpen  en  met  aan- 
wijzing  der  officieele  stukken  (vergleichende  Textausgabe  der  verschiedenen  Ent- 
würfe) 1883. 

3.  Kommentare  und  Abhandlungen:  Polenaar  und  Heemskerk,  Het  Wetboek 
van  Strafrecht  in  doorloopende  aantekeningen  verklaard,  1881 — 1889,  Kommentar.  — 
G.  A.  van  Hamel,  Inleiding  tot  de  Studie  van  het  Nederlandsche  Strafrecht  I  (theore- 
tische und  systematische  Darstellung  der  holländischen  Strafrechtslehre,  noch  unvoll- 
endet 1889  f.).  —  0.  L.  van  Swinderen,  Het  hedendagsche  Strafrecht  in  Nederlande 
en  het  buitenland  (theoretische  Abhandlung);  allgemeiner  Teil,  2  Bde.  (1889V  —  B.  E. 
Ascher  und  D.  Simons,  Het  nieuwe  Wetboek  van  Strafrecht  (vergleichende  Textaus- 
gabe des  französischen  und  des  holländischen  Strafgesetzbuchs,  1886). 

4«  Sammlungen  von  Entscheidungen:  Weekblad  van  het  Recht  (eine  sehr  ver- 
breitete Sammlung).  —  De  Nederlandsche  Rechtspraak,  eine  vom  Greffier  des  obersten 
Gerichtshofes  herausgegebene  Sammlung  von  Entscheidungen  dieses  Gerichts.  —  Van 
den  Honert,  Verzameling  van  arresten  van  den  Hoogen  Raad;  vgl.  besonders  die 
Abteilung:  Strafrecht  und  Straf prozess. 

5,  Zeitschriften.  —  Tijdschrift  voor  Strafrecht  (Zeitschrift  für  Strafrecht),  her- 
ausgegeben von  den  Straf  rechtslehren  der  vier  Universitäten  (Leiden,  E.  J.  Brill);  sie 
enthält:  a)  Originaldissertationen;  b)  eine  nach  den  Artikeln  des  Strafgesetzbuches, 
der  Strafprozessordnung  und  der  Nebengesetze  geordnete  jährliche  Übersicht  über 
Litteratur  und  Rechtsprechung  auf  dem  Gebiete  des  holländischen  Strafrechts;  c)  in 
jeder  Lieferung  eine  von  Petit,  Universitätsbibliothekar  zu  Leiden,  redigierte  inter- 
nationale Überschau  über  Erscheinungen  aus  dem  Gebiete  des  Strafrechts.  —  Dem- 
nächst erscheint  unter  dem  Titel:  „Het  Wetboek  van  Strafrecht  met  aantekeningen", 
eine  von  den  Herausgebern  der  vorerwähnten  Zeitschrift  verfasste  svstematische 
Übersicht  der  über  das  Strafgesetzbuch  während  der  ersten  sechs  Jahre  seiner  Gel- 
tung erschienenen  Rechtsprechung  und  Litteratur.  —  Auch  die  anderen  juristischen 
Zeitschriften:  Themis  und  Rechtsgeleerd  Magazijn,  bringen  strafrechtliche  Abhand- 
lungen. 

n. 

§  6.    Das  Strafrecht  der  Kolonieen. 

I.  Niederländisch-Indien  (Nederlandsch  Indie ).  In  dieser  bedeutenden 
Kolonie  galten  auf  dem  Gebiete  des  Strafrechts  lange  Zeit  altes  Gewohnheits- 
recht und  lokale  Verordnungen.  Jetzt  sind  nachstehende  Gesetze  in  Kxaft. 
Für  die  Europäer:  a)  Das  Strafgesetzbuch  für  Europäer,  eingeführt  durch 
königliche  Verordnung    am    10.  Februar    1866,    Gesetzsammlung    für    Indien 

M  Der  Verfasser  H.  .1.  Smidt  ist  zur  Zeit  wieder  Justizminister. 


§  6.    Das  Strafrecht  der  Kolonieen.  203 


No.  213 — 215;  der  Entwurf  derselben  von  einer  hierzu  ernannten  Kommission 
auf  Grund  des  französischen  Code  p6nal  und  seiner  nachträglichen  Abände- 
rungen, also  des  damals  im  Mutterlande  geltenden  holländisch-französischen 
Rechts  ausgearbeitet.  —  Eine  Ausgabe  des  Gesetzes  mit  Motiven  ist  1866  von 
A.  A.  de  Pinto,  damaligem  Sekretär  der  erwähnten  Kommission,  veröffentlicht. 
—  b)  Das  durch  Verfügung  des  General-Gouverneurs  vom  15.  Juni  1873  er- 
lassene allgemeine  Polizeireglement  für  Europäer,  das  die  Straf bestimmungen 
für  Übertretungen  enthält.  Eine  Ausgabe  des  Reglements  mit  Motiven  hat 
de  Kinderen,  ehemaliges  Mitglied  des  Grossen  Rats  für  Indien,  der  die  Redaktion 
desselben  besorgt  hatte,  veröflFentlicht  (2.  Aufl.  1890).  —  Für  die  Eingeborenen: 
a)  Das  Strafgesetzbuch  für  Eingeborene,  eingeführt  durch  Verordnung  des  General- 
gouvemeurs  am  6.  Mai  1872,  auf  Grund  des  für  Europäer  geltenden  Straf- 
gesetzbuches verfasst,  jedoch  mit  einigen  Abänderungen,  insbesondere  mit 
anderem  Strafensystem,  b)  Das  allgemeine  Polizeireglement  für  Eingeborene, 
zu  derselben  Zeit  wie  das  für  Europäer  bestimmte  erlassen  und  ebenfalls  von 
de  Kinderen  herausgegeben. 

Augenblicklich  wird  an  der  Herstellung  des  Entwurfs  eines  neuen  Straf- 
gesetzbuches für  Europäer  gearbeitet.  Die  hierzu  eingesetzte  Kommission  be- 
steht aus  den  früheren  indischen  Magistraten  de  Pauly  (Vorsitzender)  und 
L.  Hovy,  sowie  den  holländischen  Kriminalisten  A.  A.  de  Pinto,  D.  J.  Mom  Visch 
und  G.  A.  van  Hamel,  endlich  dem  ehemaligen  javanischen  Richter  J.  Lion 
(Sekretär).  Der  Entwurf  ist  1891  veröffentlicht  (den  Haag,  Gebr.  Belinfante) 
und  liegt  gegenwärtig  den  indischen  Behörden  zur  Begutachtung  vor. 

Über  das  geltende  Recht  sind  zu  vergleichen :  a)  Eine  von  J.  Lion,  ehe- 
maligem Richter  in  Java,  veranstaltete  Sammlung,  enthaltend  die  in  Nieder- 
ländisch-Indien  geltenden  Gesetzbüclier  und  einzelne  Gesetze,  sowie  die  wichtig- 
sten besonderen  Verordnungen;  b)  eine  von  de  Reitz  und  Bousquet  besorgte, 
nur  das  Grundgesetz  und  die  Gesetzbücher  umfassende  Sammlung;  c)  W.  de 
Gelder,  Ret  Strafrecht  in  Nederlandsch-Indie,  2  Bände  1886.  —  Die  Zeitschrift: 
Indisch  Weekblad  van  het  Recht. 

IL  Die  westindischen  Kolonieen  sind  1.  das  Festland  von  Surinam, 
2.  die  Insel  Cura9ao  mit  Dependenzen.  Beide  bilden  getrennte  Regierungsbezirke 
mit  verschiedenen  Staatsgrundgesetzen  und  besonderem,  von  der  Königin  er- 
nannten Gouverneur;  an  der  Gesetzgebung  haben  die  Eingeborenen  der  Kolonial- 
Staaten  einen  gewissen  Anteil.  Seit  dem  1.  Mai  1869  haben  beide  Gebiete 
ihr  besonderes  Strafgesetzbuch;  dieselben  sind  vom  König  am  4.  September 
1868  erlassen  und  auf  Grund  des  damals  im  Mutterlande  geltenden  französisch- 
holländischen  Rechts  ausgearbeitet.  Nach  Massgabe  der  Grundgesetze  sind 
diese  Gesetze  später  in  einzelnen  Punkten  durch  Verordnungen  der  kolonialen 
Regierung  abgeändert.  Von  der  Ausarbeitung  neuer  Strafgesetzbücher  für 
diese  beiden  Kolonieen  auf  Grund  des  neuen  holländischen  Strafgesetzbuches 
ist  bisher  noch  nicht  die  Rede  gewesen. 


IV. 


DIE  SKANDINAVISCHEN  LÄNDER. 


1.  Dänemark.  2.  Norwegen. 

Von  Ey-vjnd  Olrik  von  Dr.  B.  Oetz, 

in  Kopenhagen.  Oberreirbsanwall  in  Kristianin. 
(Übersetzung  von  Dr.  Ernst  Rosenfeld  in  Hnlle  S.) 


3.  Schweden. 

Von  Dr.  Wilh.  Uppström, 

Hiirndshöfding  in  Stockholm. 


•1 

Übersicht 

1.  Dänemark. 

I.   Das  Mutterland.     §  1.   Das  StGB,  als  Grundlage  des  Strafrechts.     §  2.   Zur  Ge- 
schichte  des    dänischen   StGB.     §  3.   System   und  Hauptgrundsätze   des   StGB. 
§  4.   Abänderungen  des  StGB.    Kritik.    §  5.   Bestimmungen  ergänzender  Natur 
im  StGB.    §  6.   Die  Strafdrohungen  ausserhalb  des  StGB. 
II.  §  7    Nebenländer  und  Kolonieen.    (Die  F8er0er,  Island,  Grönland,  westindische 

Besitzungen.) 
III.  §  8.    Litteratur.    Rechtsprechung.    Gesetzsammlungen. 

2.  Norwegen. 

I.  Allgemeiner  Teil.    §  1.  Quellen.    §  2.  Litteratur.  §  3.  Herrschaftsgebiet  des  nor- 
wegischen Strafrechts.    §  4.  Das  Strafensvstem.  §  5.  Versuch,  Teilnahme,  Weg- 
fall der  Strafe.    §  6.   Pressdelikte. 
II.  Besonderer  Teil.    §  7.   Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen. 

3.  Schweden. 

I.  §  1.   Quellen.    Gesetzes-Texte.    Litteratur. 

II.  Geschichtliche  Vorbemerkungen.    §  2.  Charakter  des  älteren  Rechts.    §  3.  Reform- 
bestrebungen. 

III.  Die  geltende  Gesetzgebung.  §4.  Das  Strafgesetz  vom  16.  Februar  1864.  §5.  Spätere 
Abänderungen.    §  6.   Nebengesetze  strafrechtlichen  Inhalts. 

IV.  Die  allgemeinen  strafrechtlichen  Bestimmungen.  §  7.  Geltungsgebiet.  §  8.  Strafen. 
§  9.  Zurechnungsfähigkeit.  Strafmilderung.  §  10.  Strafausschliessungs-  und  Straf- 
aufhebungsgründe. §11.  Strafschärfung.  §  12.  ZusammentrefiTen  von  Verbrechen. 
§  13.   Teilnahme.    §  14.  Versuch.    §  15.  Vorsatz.    Fahrlässigkeit. 

V,  §  16.   Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen. 


1.  Dänemark. 


I.  Das  Mutterland. 

§  1.   Das  StGB,  als  Grandlage  des  Strafrechts. 

I.  Bei  einer  Darstellung  des  gegenwärtigen  Zustandes  der  dänischen  Straf- 
gesetzgebung knüpft  das  Interesse  sich  in  überwiegendem  Grade  an  das  Straf- 
gesetzbuch vom  10.  Februar  1866.  Obgleich  dies  durchaus  als  ein  systema- 
tisches Gesetz  bezeichnet  werden  kann,  das  auf  den  für  solche  in  neuerer 
Zeit  allgemein  durchgeführten  Grundsätzen  ruht,  so  hat  das  Gesetzbuch  doch 
(wie  es  auch  anderwärts  der  Fall  gewesen  ist)  niemals  das  ganze  Gebiet  der 
strafbaren  Handlungen  decken  wollen.  Das  Gesetzbuch  giebt  selbst  sein  Ge- 
biet an,  indem  es  sich  bezeichnet  als  „Allgemeines  bürgerliches  Straf- 
gesetzbuch" (Almindelig  borgerlig  Straf felov).  Kraft  der  damit  ge- 
gebenen Beschränkung  auf  die  allgemeinen  strafbaren  Rechtsverletzungen  in 
civüen  Beziehungen  fallen  aus  dem  Gebiet  des  Gesetzbuches  heraus:  1.  die 
militärische  Strafgesetzgebung;  2.  die  bürgerliche  Strafgesetzgebung  für  be- 
sondere Rechtsverhältnisse.  —  In  der  ersteren  Hinsicht  erhält  das  Straf- 
gesetzbuch seine  notwendige  Ergänzung  durch  das  Strafgesetzbuch  für  die 
Armee  ( Straff elov  for  Krigsmagten)  vom  7.  Mai  1881.  In  der  zweiten  Be- 
ziehung wird  diese  Ergänzung  dargestellt  teils  durch  die  ganze  Polizei-Gesetz- 
gebung, die  ausser  eigentlich  präventiven  Gesetzen  auch  alle  Strafbestimmungen 
für  die  Verletzung  der  aus  allgemeinen  Zweckmässigkeits-  und  Nützlichkeits- 
erwägungen abgeleiteten  Pflichten  umfasst  (die  vom  Gesetz  gezogenen  Schranken 
bleiben  im  Übrigen  etwas  vag),  —  teils  durch  die  Strafbestimmungen  für  die 
Verletzung  gewisser  aus  den  Bedürfnissen  der  Staatsverwaltung  sich  ergebender 
Pflichten,  —  teils  endlich  durch  Strafbestimmungen  für  Pflichtverletzungen  in 
ganz  besonderen  persönlichen  Rechtsverhältnissen. 

II.  Ist  also  das  Gebiet  für  die  rechtswidrigen  Handlungen,  deren  Straf- 
barkeit auf  einem  ausserhalb  des  allgemeinen  Strafgesetzbuches  liegenden 
Rechtsgrunde  beruht,  an  und  für  sich  nicht  unansehnlich,  so  hat  es  doch 
nur  eine  relativ  geringere  Bedeutung.  Die  militärische  Strafgesetzgebung 
beschränkt  sich  im  wesentlichen  auf  die  Ahndung  der  besonderen  aus  dem 
militärischen  Verhältnis  fiiessenden  Pflichtverletzungen,  während  andere  straf- 
bare Handlungen  nach  dem  bürgerlichen  Gesetz  gestraft  werden,  unter  Um- 
ständen mit  Beachtung  der  mit  Rücksicht  auf  gewisse  besondere  militärische 
Strafarten  bestimmten  Strafveränderungen.  Während  die  militärische  Straf- 
gesetzgebung auf  diese  Weise  eigentlich  nur  „besondere"  Verbrechen  umfasst, 
kommt  sie  insoweit  dazu,  eine  etwas  ähnliche  Stellung  einzunehmen,  wie  die 
übrigen  Strafbestimmungen  für  Übertretungen  von  Pflichten,  die  ihren  Grund 
in  besonderen  Rechtsverhältnissen  haben.  Diese  können  in  der  Regel  keinen 
Anspruch  auf  irgend  ein  allgemeines  Interesse  vom  strafrechtlichen  Gesichts- 
punkt aus  machen  und  insoweit  dies  doch  der  Fall  sein  sollte,  sind  sie 
sogar    teilweise     ins    Strafgesetzbuch     aufgenommen    (vgl.    namentlich     StGB. 


208  Dänemark.  -—  Das  Mutterland. 


Kap.  XIII :  über  Verbrechen  im  Amt) ,  obwohl  ja  hiermit  das  Gesetz  an  und 
für  sich  über  den  im  Titel  angegebenen  Rahmen  hinausgeht.  Gleiche  Er- 
wägungen treffen  auch  für  die  übrigen,  ausserhalb  des  Strafgesetzbuchs 
liegenden  strafbaren  Handlungen  zu.  Verschiedene  von  diesen  knüpfen  sich 
an  Bestimmungen  von  mehr  oder  weniger  örtlichem  Interesse  (Polizei-  und 
Gesundheitsvorschriften),  und  auch  sonst  bieten  mit  wenig  Ausnahmen  die  be- 
treffenden Gesetze  niemals  in  strafrechtlicher  Hinsicht  ein  wesentliches  Interesse 
dar.  Vielmehr  knüpft  sich  das  Interesse  hier  gemeiniglich  an  die  Rechts- 
regöln  selbst,  für  deren  Übertretung  die  betreffenden  Strafbestimmungen  zur 
Anwendung  kommen,  so  dass  diese  Strafandrohungen  in  den  meisten  Fällen 
reine  Accessorien  zu  jenen  rechtsanordnenden  Regeln  bilden.  Selbst  abgesehen 
hiervon  müsste  endlich  bereits  das  ausgedehnte  Gebiet  der  ausserhalb  des 
allgemeinen  Strafgesetzbuches  liegenden  Strafbestimmungen  es  mit  sich  bringen, 
dass  man  sich  bei  dem  einzelnen  Punkte  auf  die  einfache  Straffestsetzung 
beschränkt,  ohne  sich  im  übrigen  auf  eigentlich  strafrechtliche  Fragen  einzu- 
lassen. Unter  solchen  Umständen  muss  das  allgemeine  Strafgesetzbuch  eine 
ausserordentliche  Bedeutung  auch  ausserhalb  seines  eigentlichen  Gebietes  be- 
kommen, namentlich  findet  sich  lediglich  hier  eine  zusammenhängende  und 
einigermassen  erschöpfende  Behandlung  aller  in  den  allgemeinen  Teil  des 
Strafrechts  gehöriger  Fragen,  deren  Klärung  eine  für  die  Rechtsanwendung 
im  Einzelfall  notwendige  Voraussetzung  ist.  Obgleich  das  dänische  Strafgesetz- 
buch nicht,  wie  z.  B.  das  norwegische,  seinem  allgemeinen  Teil  eine  für  das 
ganze  Gebiet  der  strafbaren  Handlungen  gemeinsame  Geltung  beigelegt  hat, 
so  muss  doch  seinen  Grundsätzen  nahezu  eine  Hegemonie  zukommen:  die 
Physiognomie  des  geltenden  dänischen  Strafrechts  ist  in  allen  ihren  wesent- 
lichen Zügen  durch  dieses  Gesetzbuch  bestimmt,  weswegen  auch  seine  land- 
läufige Bezeichnung  als  „das"  Strafgesetzbuch  vollkommen  korrekt  ist. 

§  2.   Znr  €^eschichte  des  dänischen  St€^B. 

I.  Zur  Darstellung  einiger  Hauptzüge  des  Strafgesetzbuches  giebt  den  besten 
Einblick  in  seinen  ganzen  Geist  und  Charakter  eine  Betrachtung  seiner  Ent- 
stehung und  seines  Verhältnisses  zum  älteren  Recht.  Die  Ausarbeitung  des 
Strafgesetzbuches,  das  nach  Annahme  durch  den  Reichstag  die  königliche  Be- 
stätigung am  10.  Februar  1866  erhielt,  verdanken  wir  zwei  Kommissionen: 
eine  1850  eingesetzte  Kommission  verfasste  einen  vorläufigen  Entwurf,  der 
einer  neuen  1859  eingesetzten  Kommission  als  Grundlage  für  den  endgültigen 
Entwurf  diente.  Die  Bestrebungen,  ein  neues  und  vollständiges  Strafgesetz- 
buch zu  Stande  zu  bringen,  gehen  indessen  in  Wirklichkeit  bedeutend  weiter 
zeitlich  zurück.  Nachdem  für  das  ganze  Land  durch  Christians  V.  dänisches 
Gesetzbuch  (Danske  Lov)  von  1683  Rechtseinheit  geschaffen  war,  beruhte 
das  Strafrecht  im  wesentlichen  auf  dem  VI.  Buch  dieses  Gesetzes:  „Über 
Missethaten^  (Gm  Misgeeminger).  War  nun  die  angeführte  Gesetzesarbeit  auch 
für  ihre  Zeit  höchst  achtungswert,  so  musste  sie  doch  namentlich  im  straf- 
rechtlichen Teil  bald  dem  Einfluss  der  Zeit  unterliegen.  Indessen  wurde  doch 
ungefähr  ein  Jahrhundert  lang  an  dem  angeführten  Fundament  des  Strafrechts 
in  keinerlei  bedeutendem  Grade  gerüttelt,  und  auch  die  gegen  Schluss  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  erlassenen  Gesetze,  namentlich  das  übrigens  ver- 
dienstvolle Gesetz  über  den  Diebstahl  vom  20.  Februar  1789,  waren  nicht  im 
Stande,  eine  durchgreifende  Umgestaltung  zu  schaffen. 

II.  Vielmehr  machte  sich  bei  Beginn  des  gegenwärtigen  Jahrhunderts, 
als  überhaupt  ein  bisher  unbekanntes  Interesse  für  das  Strafirecht  erwachte 
und  gleichzeitig   an  mehreren  Orten    epochemachende    systematische   Gesetze 


§  2.    Zur  Geschichte  des  dänischen  StGB.  209 


entstanden,  auch  hier  das  Bedürfnis  geltend,  ein  neues  vollständiges  Straf- 
gesetzbuch unter  Verwirklichung  der  neuen  Gedanken  der  Zeit  zu  stände 
zu  bringen.  Eine  solche  Kodifikation  des  Strafrechts  fand  zwar  nicht  statt, 
aber  die  durchgreifende  Erneuerung,  die  in  jener  Zeit,  von  Anders  Sand0e 
0r8ted  ausgehend,  die  ganze  dänische  Rechtswissenschaft  durchzog,  trug  ihre 
guten  Früchte  auch  im  Gebiete  der  'Strafgesetzgebung.  Auf  die  Initiative 
dieses  „Vaters  der  dänischen  Rechtswissenschaft"  hin  und  in  Übereinstimmung 
mit  den  von  ihm  ausgearbeiteten,  ausftlhrlichen  Entwürfen,  kamen  zwischen 
1833  und  1841  vier  Gesetze,  jedes  an  sich  ausserordentlich  bedeutungsvoll 
zu  Stande:  das  Gesetz  vom  4.  Oktober  1833  über  Verbrechen  gegen  körper- 
liche Unversehrtheit  und  Freiheit;  das  Gesetz  vom  11.  April  1840  über  Dieb- 
stahl, Betrug,  Fälschung  und  damit  verwandte  Verbrechen;  das  Gesetz  vom 
15.  April  1840  über  Meineid;  nebst  dem  Gesetz  vom  26.  März  1841  über 
Brandstiftung.  Diese  Gesetze  unterzogen  nicht  bloss  die  besonderen,  höclist 
wichtigen  Verbrechenarten,  auf  die  sie  sich  zunächst  beziehen,  einer  um- 
fassenden und  erschöpfenden  Behandlung,  wobei  man  namentlich  auch  die 
Strafen  mit  der  modernen  Auffassung  der  betreflPenden  Verbrechen  mehr  in 
Einklang  zu  bringen  suchte,  sondern  sie  brachten  zugleich  das  dänische  Straf- 
recht  im  ganzen  auf  die  Höhe  der  wissenschaftlichen  Anforderungen.  Die  in 
jenen  Gesetzen  zum  Ausdruck  kommenden  strafrechtlichen  Grundanschauungen 
übten  bei  dem  damaligen  lückenhaften  Zustand  der  Strafgesetzgebung  einen 
ausserordentlichen  Einfluss  auch  ausserhalb  des  eigenen  Gebietes  der  betreffen- 
den Gesetze  aus  und  schufen  zugleich  eine  wichtige  Grundlage  für  die  Ab- 
fassung eines  neuen  vollständigen  Strafgesetzbuches. 

ni.  Der  Mangel  an  einem  solchen  musste  trotz  der  sehr  bedeutenden  Fort- 
schritte fortdauernd  lebhaft  empfunden  werden.  Die  Autorität  der  Rechtspflege 
konnte  unter  den  bestehenden  Verhältnissen  nur  leiden.  Nicht  bloss  waren  die 
Strafsatzungen  der  angeführten  Gesetze  durchgehends  von  weitgetriebener 
Strenge,  sondern  daneben  war  man  auch  auf  verschiedenen  Gebieten  durch 
die  nicht  mehr  passenden  Strafbestimmungen  des  älteren  Rechts  derartig  ge- 
hemmt, dass  man  zum  teil  es  aufgab,  gewisse  Verbrechensarten  zum  Gegen- 
stande einer  Anklage  zu  machen,  zum  teil  auch  eine  Anwendung  von  der 
Begnadiguijgsbefugnis  machte,  die  alle  vernünftigen  Grenzen  überschritt  und 
überhaupt  nur  durch  die  gebietende  Notwendigkeit  sich  rechtfertigen  Hess, 
ein  für  das  allgemeine  Rechtsgefühl  allzu  schreiendes  Missverhältnis  zwischen 
Strafe  und  Missethat  zu  beseitigen.  Das  Strafgesetzbuch  musste  sich  zu  einem 
bestimmten  Bruch  mit  dem  älteren  Recht  überall  da  entschliessen,  wo  jenes 
veraltet  oder  unnötig  hart  war.  Andererseits  kam  man  dabei  nicht  dazu, 
tabula  rasa  zu  machen,  denn  es  durfte  selbstverständlich  nicht  die  Aufgabe 
sein,  alles  von  sich  zu  weisen,  was  das  geltende  Recht  von  wii'klich  Brauch- 
barem enthielt.  Infolgedessen  konnte  man  auf  verschiedenen  der  Ge- 
danken, die  durch  die  besprochenen  systematischen  Gesetze  bereits  der 
dänischen  Strafgesetzgebung  einverleibt  worden  waren,  mit  Glück  weiter  bauen 
und  baute  auch  in  der  That  weiter.  Diese  Gesetze  bekommen  damit  eine 
wesentliche  Bedeutung  als  Quelle  für  das  Strafgesetzbuch,  ohne  indessen  eine 
ausschliessliche  Rolle  zu  spielen.  Die  Motive  tragen  an  vielen  Punkten  die 
Spuren  davon,  welche  Bedeutung  auch  die  Zusammenstellung  mit  fremdem 
Recht  bei  der  Abfassung  des  Gesetzbuches  gehabt  hat.  Namentlich  sieht  man, 
dass  auf  das  norwegische  Gesetzbuch  von  1842  und  auf  das  preussische  von 
1851  Rücksicht  genommen  ist.  Zu  einem  näheren  Verständnis  des  Gesetz- 
buches geben  übrigens  die  ausführlichen  Motive  zu  beiden  Entwürfen  eine 
wertvolle  Anleitung. 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.   I  14 


210  Dänemark.  —  Das  Mutterland. 


§  3.    System  und  HauptgrnndsBtze  des  St&B. 

I.  Dänemark  hat  im  Anschluss  an  die  übrigen  skandinavischen  Länder  die 
Zweiteilung  des  Strafgesetzbuches  in  einen  allgemeinen  und  besonderen  Teil 
aufgegeben.  In  Übereinstimmung  damit  ist  die  Kapitel-  und  Paragraphenreihe 
für  das  ganze  Gesetzbuch  gemeinschaftlich  durchgeführt.  Die  Bestimmungen, 
die  gewöhnlich  den  allgemeinen  Teil  bilden,  nehmen  indessen  auch  in  der 
Systematik  des  Gesetzbuches  im  wesentlichen  einen  zusammenhängenden  Platz 
ein;  sie  umfassen  die  §§  1 — 70  (Kap.  1 — 8),  woran  sich  die  am  Schluss  des 
Gesetzbuches  angefügten  §§  298 — 311  (Kap.  31 — 32)  anschliessen.  Die  hier 
behandelten  Gegenstände  verteilen  sich  in  folgender  Weise  auf  die  einzelnen 
Kapitel,  wobei  jedoch  hervorzuheben  ist,  dass  die  Kapitelüberschriften  weder 
hier  noch  bei  den  besonderen  Bestimmungen  des  Gesetzbuches  immer  den 
Inhalt  des  Kapitels  erschöpfend  angeben.  Kap.  1.  Einleitende  Bestimmungen 
(§  1.  Analogie,  §§  2 — 8.  Wirkungskreis  des  Gesetzes  in  Bezug  auf  den  Ort  und 
den  Thäter  des  Verbrechens);  Kap.  2.  Über  die  Strafen  (§§  9—34);  Kap.  3. 
Über  Zureclmungsfähigkeit,  Notwehr  und  Notstand  (§§  35 — 43);  Kap.  4.  Ver- 
such (§§  44—46);  Kap.  5.  Über  Teihiahme  am  Verbrechen  (§§  47—56);  Kap.  6. 
Über  die  Ausmessung  der  Strafe  und  ihre  Herabsetzung  in  gewissen  Fällen,  sowie 
über  die  Wiederholung  des  Verbrechens  (§§57 — 61);  Kap.  7.  Über  Zusammen- 
treffen von  Verbrechen  und  über  Strafveränderung  in  gewissen  Fällen  (§§62 — 65); 
Kap.  8.  Über  Verjährung  der  Strafschuld  (§§  66—70);  Kap.  31.  Über  Anklage 
der  Verbrechen,  Vorbeugungszwang,  Schadenersatz  u.  a.  (§§  298 — 304);  Kap.  32. 
Über  das  Inkrafttreten  des  Gesetzbuches,  Übergangsbestimmungen,  sowie  Auf- 
hebung älterer  Bestimmungen  (§§  305 — 311). 

Eine  Eigentümlichkeit  des  Gesetzbuches,  die  auch  in  systematischer  Hin- 
sicht Bedeutung  hat,  ist  ferner,  dass  es  keine  Bestimmung  enthält,  die  z.  B. 
dem  deutschen  Reichsstrafgesetzbuch  §  1,  oder  dem  code  penal  Artikel  1  ent- 
spricht. Die  überhaupt  durchgehends  in  den  nichtskandinavischen  Ländern 
adoptierte  Dreiteilung  der  strafbaren  Handlungen  (Verbrechen,  Vergehen,  Ober- 
tretungen)  ist  formell  und  praktisch  im  dänischen  Strafgesetzbuch  ohne  Be- 
deutung. 

II.  Im  besonderen  Teil  sind  die  verwandten  Verbrechen  in  gemeinsame 
Kapitel  zusammengefasst,  ohne  dass  irgend  eine  weitere  Klassifizierung  statt- 
findet. Übrigens  ist  es  dem  Gesetzbuche  kaum  unbedingt  geglückt,  überall 
gerade  den  Kernpunkt  der  beti'effenden  Verbrechensgruppe  zu  treffen.  Kap.  9 — 14 
behandeln  im  ganzen  die  Verbrechen  gegen  die  politische  Gemeinschaft,  nament- 
lich gegen  die  äussere  Sicherheit  und  Selbständigkeit  des  Staates,  gegen  die 
Staatsverfassung,  gegen  den  König,  die  königliche  Familie,  die  gesetzgebenden 
Versammlungen  usw.,  Verbrechen  gegen  die  öffentliche  Obrigkeit  und  Ordnung, 
sowie  endlich  Meineid  und  damit  verwandte  Verbrechen,  deren  Platz  haupt- 
sächlich durch  die  Absicht  bestimmt  ist,  sie  in  die  Nähe  der  im  folgenden  be- 
handelten Verbrechen  gegen  die  Religion  (Kap.  15)  und  gegen  die  Sittlichkeit 
(Kap.  16)  zu  bringen.  Die  wichtigen  Kap.  17  und  18  betreffen  Verbrechen 
gegen  Leben,  Leib  oder  Gesundlieit  des  Einzelnen,  und  Kap.  19  über  das 
Duell  lässt  sich  hieran  anschliessen.  Kap.  20  behandelt  die  Freiheitsberaubung-, 
Kap.  21  die  Beleidigung,  Kap.  22  die  falsche  Anschuldigung.  Sodann  folgen 
in  Kap.  23—26  Diebstahl  (Tyveri  og  Ran^))  und  Hehlerei,  Räuberei  (R0veri) 
und  Erpressung,  unredliches  Verfahren  mit  Fundgut  usw.,  sowie  Betrug.    Ferner 


*)  Anmerkung  des  Übersetzers:  Ran  (Raub)  unterscheidet  sich  gemäss  der 
älteren  germanischen  und  nordischen  Auffassung  als  offene  Wegnahme  aus  fremder 
Gewehr  von  der  Tyveri  als  der  heimlichen  Wegnahme  (vgl.  Hagerup,  Formucsind- 


§  3.    System  und  Hauptgrundsätze  des  StGB.  211 


in  Kap.  27  Falschmünzerei,  Urkundenfälschung  und  andere  Fälschungen. 
Kap.  28  Brandstiftung,  Kap.  29  gewisse  andere  gemeingefährliche  Verbrechen. 
Kap.  30  behandelt  endlich  die  Unbrauchbarmachung  oder  Beschädigung  Grem- 
den  Eigentums,  sowie  die  Tierquälerei.  —  Durchgehends  ist  die  Fassung  des 
Gesetzes  klar  und  km*z  und  sein  System  wenig  verwickelt,  sodass  man  sich 
leicht  darin  zurecht  findet. 

III.  Bei  der  Charakteristik  des  Strafgesetzbuches  gilt,  was  von  jeder 
Arbeit  gilt:  wie  jedes  Werk  durch  die  bei  seiner  Anfertigung  vorliegenden 
Voraussetzungen  eine  bestimmte  Prägung  erhält,  so  wird  auch  dieses  Gesetz- 
buch in  wesentlichem  Orade  gekennzeichnet  durch  seine  gegebenen  Voraus- 
setzungen: den  durch  das  ältere  Eecht  geschaffenen  Rechtszustand  und  di<* 
Mängel,  die  dieser  sehr  handgreiflich  hervortreten  Hess.  Die  Auffassung  des 
Gesetzes  muss  sich  also  nach  der  Aufgabe  richten,  die  ihm  bei  seiner  Ent- 
stehung gesetzt  war. 

Das  äussere  Merkmal  des  älteren  Rechtszustandes  war  zuerst  und  vor 
allem  seine  Unvollständigkeit  und  der  Mangel  an  Zusammenhang.  Indem  das 
Strafgesetzbuch  innerhalb  des  ganzen  grossen  und  wichtigen  Gebietes  allgemeiner 
bürgerlicher  Rechtsverletzungen  eine  wirklich  systematische  Behandlung  durch- 
führte, hat  es  hier  in  der  That  in  entscheidender  Weise  Abhülfe  geschaffen, 
was  bereits  aus  der  oben  gegebenen  Übersicht  über  seinen  Inhalt  hervorgeht. 
Andererseits  ist  es  doch  verständlich,  wenn  man  in  einem  einzelnen  Punkt, 
wo  die  meisten  neueren  Gesetzbücher  eine  fortgeschrittenere  Stellungnahme 
vorgezogen  haben,  sich  etwas  zurückgehalten  hat.  Als  man  von  einem  teil- 
weise verworrenen  und  jedenfalls  ganz  unvollständigen  Konglomerat  älterer 
Bestimmungen  abging,  das  nicht  selten  sogar  an  und  für  sich  fem  liegende 
Analogieen  und  in  Verbindung  damit  Verurteilung  zu  arbiträren  Strafen  hervor- 
rufen musste,  hat  man  in  nicht  unberechtigtem  Misstrauen  in  seine  Fähigkeit 
wirklich  den  ganzen  überwältigenden  Stoff  zu  erschöpfen,  es  nicht  gewagt, 
jede  Analogie  auszuschliessen.  Vielmehr,  in  §  1  des  Strafgesetzbuches,  der 
Strafe  zulässt,  wenn  ein  Verhältnis,  ohne  gleichw^ohl  unter  einen  Strafparagraphen 
zu  passen,  doch  mit  einer  im  Gesetzbuche  als  Verbrechen  bezeichneten  Hand- 
lung völlig  in  eine  Klasse  gestellt  werden  muss,  ist  man  bei  einer  Beschränkung 
der  Analogie  stehen  geblieben,  welche  deren  bedenkliche  Konsequenzen  im 
wesentlichen  beseitigt  und  gleichzeitig  das  Gesetzbuch  in  einer  Weise  ergänzt, 
wie  sie  durch  seine  Fassung  in  mehreren  Punkten  (z.  B.  bei  der  mehr  kasuistischen 
Behandlung  der  Betrugsfälle)  an  und  für  sich  wünschenswert  gemacht  ward. 
Auch  hat  diese  Bestinmiung  in  der  Praxis,  ohne  besondere  Ungelegenheiten 
mit  sich  zu  führen,  eine  freilich  eingeschränkte  Bedeutung  bekommen.^) 

Neben  dem  Fortschritt,  der  schon  formell  in  der  Beseitigung  der  Unvoll- 
ständigkeit des  älteren  Rechtes  besteht,  hatte  das  Strafgesetzbuch  noch  wich- 
tigere Aufgaben  in  materieller  Beziehung.  Ausschlaggebende  Grundanschauung 
musste  sein,  dasa  man  alle  seine  Bestimmungen  von  einem  humanen  Geist 
durchdringen  Hesse,  und  zwar  nicht  bloss  in  der  Weise,  dass  das  Gesetzbucli 
für    das    allgemeine  Rechtsgefühl    ein    zuverlässiger  Ausdruck  und  in   gegen- 


o^reb,  1891  S.  5).  Von  der  R0veri  (Räuberei)  grenzt  den  Ran  das  Merkmal  erheb- 
licherer Gewalt  ab.  Vgl.  norwegisches  StGB.  (1842)  Kap.  19  §  1,  (1889)  Kap.  19  §  3i. 
Schwedisches  StGB.  Kap.  20  §  4  b. 

*)  Die  citierte  Bestimmung,  die  sowohl  die  sog.  Rechtsanalogie  wie  die  unvoll- 
ständige Gesetzanalogie  ausschliesst,  betrifft  unmittelbar  nur  eine  analoge  Erweiterung 
der  Zahl  strafbarer  Handlungen;  aber  sie  muss  unzweifelhaft  auch  Anwendung 
finden  mit  Bezug  auf  die  Strafbefreiungsgründe,  und  ebenso  muss  die  gleiche  be- 
schränkte Anwendung  der  Analogie  auch  als  berechtigt  angesehen  werden  in  Be- 
ziehung auf  die  straferniedrigenden  und  straferhöhenden  Umstände.  In  der  Praxis 
wird  z.  B.  auch  StGB.  §  58  analog  angewendet. 

14* 


212  Dänemark.  —  Das  Mutterland. 


seitiger  Befruchtung  auch  eine  Richtschnur  wurde,  sondern  namentlich  auch 
in  der  Weise,  dass  alle  durch  die  fortschreitende  Gesellschaftsentwickelung 
gewonnenen  und  durch  die  Wissenschaft  vertieften  Resultate  mit  aufgenommen 
wurden.  Man  muss  auch  sagen,  dass  diese  Hauptaufgabe  des  Gesetzbuches, 
deren  bereits  die  zuerst  eingesetzte  Kommission  sich  bewusst  war,  und  deren 
Verwirklichung  der  spätere  Entwurf  noch  kräftiger  zustrebte,  im  grossen  und 
ganzen  in  zufriedenstellender  Weise  gelöst  worden  ist.  Wie  das  Gesetzbuch 
es  aufgegeben  hat,  eine  Mehrzahl  von  Handlungen  zu  strafen,  deren  Strafbar- 
keit nicht  mit  den  neueren  Vorstellungen  über  die  Grenzen  der  Rechtsordnung 
sich  vereinigen  Hess,  so  hat  es  auch  innerhalb  des  fortdauernd  als  strafrechtlich 
erkannten  Gebietes  sich  ganz  und  gar  von  dem  frei  gemacht,  was  an  die  Über- 
treibungen früherer  Zeiten  erinnern  konnte,  ohne  indessen  jene  Interessen  zu 
vernachlässigen,  auf  die  sich  jederzeit  die  Berechtigung  und  Notwendigkeit 
einer  energischen  Repression  gründet. 

IV,  Die  humanen  aber  nirgends  zwecklos  „verbrecherfreundlichen"  Tenden- 
zen des  Gesetzbuches  zeigen  sich  in  der  Wahl  der  Strafarten.  Die  besonderen 
Ehrenstrafen  sind  fortgefallen  imd  körperliche  Züchtigung  findet  sich  nur  in 
Form  von  Rutenstrafe  (Ris),  für  Knaben  bis  zu  15,  für  Mädchen  bis  zu  12  Jahren, 
und  Stockschlägen  (Rottingslag)  für  männliche  Jugendliche  zwischen  15  und 
18  Jahren,  (vgl.  §  29,  wo  die  letztgenannte  ihrem  Quantum  nach  stark  ein- 
geschränkte Strafe  von  der  Erklärung  des  Arztes,  dass  der  Verurteilte  sie 
aushalten  könne,  abhängig  gemacht  wird).  Ferner  sind  die  erschwerenden 
Formen  der  Todesstrafe  abgeschafft  und  ist  die  Anwendung  der  Todesstrafe 
überhaupt  ziemlich  auf  ein  Minimum  eingeschränkt;  nur  bei  überlegtem  Totschlag, 
wo  sie  sich  als  einzige  Strafe  findet  (§  190),  hat  sie  eine  praktische  Bedeutung 
für  die  Rechtsanwendung  behalten. ')  Der  verschärften  Freiheitsstrafe  (Gefängnis 
bei  Wasser  und  Brot  von  2 — 30  Tagen,  §  20)  hat  das  Gesetz  eine  Grundlage  ge- 
geben, die  die  Praxis  in  weitem  Umfang  ausgenutzt  hat.  Meistens  sind  doch  die 
milderen  Formen  der  Gefängnisstrafe  (Gefängnis  bei  gewöhnlicher  Gefangenen- 
kost von  2  Tagen  bis  zu  6  Monaten  und  einfaches  Gefängnis  von  2  Tagen  bis  zu 
2  Jahren,  vgl.  §§  18 — 19)  daneben  zur  Wahl  gestellt.  Auch  sind  sichernde  Be- 
stimmungen getroffen  mit  Rücksicht  auf  die  Abbüssung  der  Strafe  mit  Zvdschen- 
fristen  und  über  ihre  Verwandlang  in  Gefängnis  bei  gewöhnlicher  Gefangenen- 
kost je  nach  dem  Alter  des  Betreffenden  (unter  18  oder  über  60  Jahren), 
seinem  Gesundheitszustande  usw.  (§§  21 — 23).  Über  die  beiden  Arten  der  Straf- 
arbeit, die  das  Strafgesetzbuch  kennt  —  Besserungshausarbeit  (8  Monate  bis 
6  Jahre)  und  Zuchthausarbeit  (2 — 16  Jahre  oder  lebenslänglich)  vgl.  §  11  — 
hat  das  Gesetz  Bestimmungen  getroffen,  um  sich  dessen  zu  versichern,  dass 
eine  jede  der  beiden  Arten  gerade  auf  die  Verbrecher  angewendet  werde,  für 
die  sie  als  dienlich  angesehen  werden  muss  (§  14),  während  es  für  die  Einzel- 
heiten der  Verbüssung  mit  einem  Hinweis  auf  die  Vorschriften,  durch  die  bereits 
früher  eine  Reform  der  Strafarbeit  nach  neueren  Grundsätzen  eingeleitet 
worden  war  (Königliche  Resolution  vom  25.  Juni  1842),  sich  begnügt  hat.  Das 
Strafgesetzbuch  hebt  lediglich  von  neuem  die  Hauptregel  für  Besserungshaus- 
arbeit  hervor:  sie  soll  in  Einzelhaft  verbüsst  werden,  in  der  der  Gefangene 
sich  Tag  und  Nacht  aufhält.  In  Verbindung  hiermit  sind  Bestimmungen  über 
die  Abkürzung  dieser  Strafe  nach  einer  bestimmten  Skala  getroffen,  wonach  das 
Höchstmass  des  Einzelzellengefängnisscs  3^2  Jahre  beträgt  (§§  13  und  15).  Das 
Detail  beruht  auf  besonderen  Anstaltsreglements,  während  die  Vollstreckung 
der  Zuchthausarbeit  und  der  Besserungshausarbeit  in  den  Ausnahmefällen,  wo 
diese  Freiheitsstrafen  nicht  in  der  Zelle  verbüsst  werden,   nach  Erlassung  des 

*)  Doch  sind  seit  1866  nur  vier  Todesurteile  vollstreckt  worden. 


§  3.    System  und  Hauptgrundsätze  des  StGB.  213 


Strafgesetzbuches  allgemein  geregelt  sind  durch  die  königl.  Verordnung  vom 
13.  Februar  1873,  die  für  alle  in  Gemeinschaftshaft  verbüsste  Strafarbeit  ein 
vollständiges  Progressivsystem  entsprechend  den  Anforderungen  der  modernen 
Gefängniswissenschaft  durchgeführt  hat. 

V.  Das  Streben,  nach  allen  Seiten  gerecht  zu  werden,  sodass  weder  eine 
energische  Rechtshandhabung  unmöglich  wird,  noch  die  Forderungen  der 
Humanität  vernachlässigt  werden,  zeigt  sich  namentlich  in  der  Lehre  von  der 
Straffestsetzung.  Die  Strafrahmen  sind  durchgehends  so  weit,  dass  sie  be- 
rechtigten Ansprüchen  beider  Rücksichten  genügen  können  und  für  die  Be- 
messung innerhalb  des  gegebenen  Rahmens  hat  das  Gesetzbuch  (ausser  der 
tVüher  genannten  Bestimmung  in  §  14  über  die  Wahl  der  Strafarten)  solche 
leitende  Regeln  aufgestellt,  die  sowohl  subjektiven  wie  objektiven  Rücksichten 
in  ungezwungener  Weise  Einfluss  gestatten  (§§  57 — 59).  Daran  schliesst  sich 
eine  Bestimmung  über  Herabsetzung  der  Strafe  bei  der  sogenannten  thätigen 
Reue  (§  60)^).  Es  wird  femer  einer  lange  dauernden  Untersuchungshaft,  sofern 
sie  nicht  dem  eigenen  Verhalten  des  Schuldigen  zuzuschreiben  ist,  eine  weite 
Bedeutung  beigelegt,  sodass  sie  bei  geringeren  Vergehen  sogar  an  Stelle  der 
Strafe  treten  kann  (§  58)-). 

Der  besondere  Teil  des  Gesetzbuches  weist  imganzen  die  gleichen 
charakteristischen  Züge  auf,  doch  sind  hier  einige  Ungleichheiten  in  der 
Behandlung  zu  spüren.  Bei  den  Fälschungen,  bei  der  Brandstiftung  und 
anderen  gemeingefährlichen  Verbrechen  ist  das  Strafgesetzbuch  und  auch 
die  Praxis  im  ganzen  ziemlich  hellhörig  gegenüber  den  Anforderungen 
eines  ausgiebigen  Schutzes  der  Gesellschaft,  und  dasselbe  kann  man  auch  teil- 
weise beim  Diebstahl  und  bei  der  Hehlerei  sagen;  vgl.  so  die  allein  hier 
geltenden  besonderen  Bestimmungen  für  den  Rückfall  §§  230 — 232,  sowie  die 
an  und  für  sich  anerkennenswerte  Regel,  dass  die  Strafe  für  scliweren  Dieb- 
stahl (§  229)  niemals  unter  Strafarbeit  herunter  gehqn  kann  (Mindestmass 
8  Monate).  Dagegen  sind  die  Bestimmungen  über  Betrug  (Kap.  26),  die  über- 
haupt kaum  eine  zufriedenstellende  Behandlung  erfahren  haben,  durchgehends 
zu  milde,  offenbar  weil  unleugbar  hier  sehr  leicht  liegende  Fälle  vorkommen 
können.  Darunter  leidet  aber  oft  genug  die  energische  Repression  gegenüber 
den  häufigen  Fällen  rutinierten  Schwindels,  namentlich  in  der  Form  einer 
frechen  Ausnützung  der  Leichtgläubigkeit.  Femer  ist  stark  zu  betonen,  dass 
mehrere  der  Bestimmungen  über  Gewaltthätigkeit  (Kap.  18),  namentlich  soweit 
sie  den  häufigen  brutalen  Überfall  ahnungsloser  Leute  betreffen,  und  über  Be- 
leidigung (Kap.  21),  glimpflicher  als  wünschenswert  sind.  Einige  Schuld  trifft 
dabei  auch  die  Praxis,  die  insbesondere  auf  dem  letztgenannten  Gebiete  wenig 
geneigt  gewesen  ist,  die  Bestimmungen  des  Gesetzes  energisch  zu  handhaben. 

VI.  Aber  auch  auf  vielen  anderen  und  verschiedenartigen  Gebieten  treten 
die  angeführten  allgemeinen  Tendenzen  des  Gesetzbuches  zu  Tage.  Eine 
einzelne  Konsequenz  ist  insbesondere,  dass  die  Wirkungen  des  Rückfalls,  so- 
weit solche  überhaupt  erwähnt  werden,  auf  den  Fall  eingeschränkt  sind,  dass 
das  frühere  Verbrechen  nach  vollendetem  18.  Jahre  verübt  worden  ist,  und 
dass  nicht  ein  Zeitraum  von  10  Jahren  seit  der  Verbüssung  der  Strafe  ver- 
strichen ist  (§  61);  die  Beschränkung  auf  inländische  Urteile  ist  schon  durch 
die    überhaupt    obwaltende     nationale    Exklusivität    gegeben.       In    gleichem 

^)  Daneben  finden  sich  in  einzelnen  speziellen  Paragraphen  weitergehende 
Regeln,  vgl.  imten  S.  219. 

*)  Ist  der  Betreffende  unverschuldet  der  Untersuchungshaft  unterworfen  gewesen, 
so  hat  er  das  Recht,  durch  Urteil  Erstattung  seines  Interesses  zu  fordern.  (Gesetz 
vom  5.  April  1888.) 


214  Dänemark.  —  Das  Mutterland. 


Lichte  muss  man  auch  die  Bestimmungen  des  folgenden  Kapitels  über  das 
ZusammentrefPen  von  Verbrechen  betrachten;  denn  es  wird  hier  ein  sehr  ge- 
mässigtes Kumulationsprinzip  festgesetzt,  von  dem  jedoch  in  einzelnen  Fällen 
eines  sehr  ungleichen  Verhältnisses  zwischen  den  Verbrechen  zu  Gunsten  einer 
vollständigen  Absorption  der  Strafe  für  das  geringere  Vergehen  abgewichen 
wird.  Gleichfalls  durch  die  allgemeine  Tendenz  des  Gesetzes  bestimmt  sind 
die  wichtigen  Regeln  über  die  Beschränkung  der  vollen  strafrechtlichen  Ver- 
antwortlichkeit auf  das  vollendete  18.  Jahr;  die  grundsätzliche,  vom  Gesichts- 
punkte der  Gegenwart  indessen  kaum  bestimmt  genug  durchgeführte  An- 
erkennung einer  Einschränkung  der  Strafgewalt  gegenüber  Kindern  (§§35 — 37); 
femer  der  in  §  39  gutgeheissene  Begriff  der  geminderten  ZurechnungsfUhigkeit 
und  die  hiervon  abhängige  Strafherabsetzung.  Endlich  tritt  auch  die  an- 
geführte Tendenz  direkt  oder  mittelbar  in  einer  Reihe  spezieller  Bestimmungen 
des  Gesetzbuches  zu  Tage,  insbesondere  auch  in  einer  weitgehenden  Rücksicht 
auf  gewisse  besondere,  dieses  oder  jenes  Verbrechen  begleitende  Umstände. 
In  dieser  Verbindung  können  auch  einige  Bestimmungen  aus  dem  allgemeinen 
Teil  genannt  werden,  so  z.  B.  die  Regeln  über  die  Überschreitung  der  Not- 
wehr (§  40). 

VII.  Wenn  das  Gesetzbuch  so  auf  verschiedenen  Gebieten  mit  glücklichem 
Takt  eine  Ordnung  durchgeführt  hat,  die  im  ganzen  mit  den  auch  innerhalb 
der  Rechtshandhabung  geltenden  humanen  Anschauungen  übereinstimmt,  so 
beruht  das  zu  einem  Teile  auf  der  Stütze,  die  der  wissenschaftliche  Fort- 
schritt, der  beständig  eine  notwendige  Voraussetzung  für  den  Fortschritt  der 
Gesetzgebung  bildet,  in  verschiedenen  Punkten  ihr  geben  konnte.  In  dieser 
Beziehung  ist  die  Aufgabe  natürlich  besonders  erleichtert  gewesen  da,  wo  die 
Wissenschaft  durch  die  Vertiefung  jener  Anschauungen  imstande  gewesen  ist, 
gewisse  bestinmite  Fundamentalsätze  mit  sozusagen  allgemein  anerkannter  Gültig-  , 
keit  hinzustellen.  Mit  voller  Klarheit  tritt  deswegen  z.  B.  im  §  306  die  direkte 
Anerkennung  des  Grundsatzes  hervor,  dass  ein  strafmilderndes  Gesetz  rück- 
wirkende Kraft  hat,  während  die  Sache  sich  sogleich  schwieriger  stellt,  wo  es 
sich,  wie  z.  B.  in  §  307,  der  die  Berührungen  zwischen  dem  Strafgesetzbuche  und 
dem  älteren  Rechte  im  Falle  eines  wiederholten  Verbrechens  betrifft,  darum  dreht, 
aus  jenem  Grundsatze  auf  einem  verwickeiteren  Gebiete  weitere  Folgesätze  her- 
zuleiten. Bei  der  Frage  nach  der  Bedeutung  des  Ortes  und  des  Thäters  für 
die  Anwendung  des  Gesetzes  hat  man  auch  dem  Grundgedanken  nachgestrebt, 
sich  an  wissenschaftlich  und  völkerrechtlich  feststehende  Maximen  zu  halten; 
dadurch  hat  man  auch  auf  diesem  schwierigen  Gebiete  jedenfalls  teilweise  eine 
prinzipielle  und  zweckmässige  Begrenzung  des  Wirkungskreises  des  Gesetz- 
buches erlangt,  wenn  auch  in  der  näheren  Ausführung  verschiedenes  ein- 
zuwenden sein  mag.  Unter  Abweisung  einer  so  allgemeinen  und  umfassenden, 
aber  deswegen  auch  unhaltbaren  Regel,  wie  sie  z.  B.  Kap.  1  §  1  im  norwegischen 
Strafgesetzbuche  giebt,  hat  das  dänische  Strafgesetzbuch  (§  2)  das  natürliche 
Territorialitätsprinzip  aufgestellt,  und  im  Anschluss  daran  hat  §  3  zufolge  der 
landläufigen  Fiktion,  die  das  Schiff  als  schwimmenden  Gebietsteil  auffasst,  die 
Anwendung  des  Gesetzbuches  auf  Verbrechen,  die  an  Bord  eines  dänischen 
Fahrzeuges  begangen  sind,  bestimmt,  doch  mit  einer  völkerrechtlich  nicht 
notwendigen  Ausnahme,  wenn  sich  das  Fahrzeug  auf  fremdem  Seegebiet  be- 
findet. Nach  den  §§  4  und  5  werden  die  Verbrechen  eines  dänischen  Unter- 
thans  im  Auslande  nur  dann  als  Übertretungen  des  dänischen  Strafgesetz- 
buches aufgefasst,  wenn  damit  eine  Umgehung  eines  in  Dänemark  geltenden 
Verbotsgesetzes  beabsichtigt  wurde  oder  wenn  durch  das  Verbrechen  das 
Treu-  und  Gehorsamsverhältnis  des  Unterthans  oder  gewisse  besondere  öffent- 
liche oder  privatreehtliche  Verpflichtungen  verletzt  wurden.     Daneben  enthält 


§  4.    Fortsetzung.    Abänderungen  des  StGB.    Kritik.  215 


indessen  §  6  eine  Ermächtigung  der  obersten  Anklagebehörde,  auch  andere 
Verbrechen  zu  verfolgen,  die  von  dänischen  ünterthanen  im  Auslande  be- 
gangen werden;  doch  werden  diese  nicht  als  Übertretungen  des  dänischen 
Gesetzbuches  aufgefasst,  was  indessen  nicht  mit  solcher  Klarheit  hervortritt, 
wie  z.  B.  in  den  entsprechenden  Bestimmungen  des  deutschen  Reichsstrafgesetz- 
buches. So  ist  das  Erfordernis,  dass  das  betreffende  Verhalten  nach  dem 
fremden  Recht  strafbar  sein  muss,  nicht  hervorgehoben,^)  und  sodann  hat 
man  auch,  der  Natur  der  Sache  zuwider,  in  §  7  (über  den  Einfluss  einer  im 
Auslande  verbüssten  Strafe,  wenn  die  gleiche  Handlung  (iegenstand  einer 
Anklage  in  Dänemark  ist)  keine  Rücksicht  auf  den  Gegensatz  zwischen  den 
§§  2 — 5  und  §  6  genommen.*) 

§  4.    Fortsetzung.    Abänderaugen  des  StGB.    Kritik. 

I.  Das  Gesetzbuch  hat  aber  keineswegs  nur  dadurch,  dass  es  eine  Stütze 
in  den  durch  wissenschaftliche  Erörterungen  mehr  oder  weniger  festgestellten 
Sätzen  suchte,  auf  vielen  Punkten  eine  glückliche  Lösung  mehrerer  bedeutungs- 
voller, aber  an  und  für  sich  kombinierter  Probleme  des  neueren  Strafrechts 
geben  können.  Dies  ist  in  der  That  nur  eine  einzelne  Seite  der  ganzen  im  besten 
Sinne  praktischen  Art  und  Weise  des  Vorgehens,  der  man  bei  Erlassung  des 
Gesetzbuches  gefolgt  ist.  Für  alle  oben  genannten  Gebiete,  sowie  überhaupt 
für  die  SchafPnng  eines  rationellen,  dem  Bedürfnisse  des  praktischen  Lebens 
sich  eng  anschliessenden  Strafgesetzbuches,  musste  es  von  ausserordentlicher 
Bedeutung  sein,  dass  das  Gesetz  —  zu  einer  Zeit,  wo  die  Strafrechtstheorieen 
noch  eine  bedeutende  Rolle  spielten  und  wo  man  nicht  ganz  selten  bei  der 
Lösung  der  einzelnen  strafrechtlichen  Fragen  die  einmal  angenommene  Theorie 
als  Prüfstein  benutzte,  —  in  keinem  Punkte  sich  durch  die  Auskunft  hat 
zufrieden  stellen  lassen,  die  man  bei  Benutzung  eines  solchen  Prokrustesbettes 
erhalten  konnte,  ohne  dass  doch  deshalb  der  allgemeine  Hauptgesichtspunkt 
des  Gesetzes  (nämlich  die  Auffassung  der  Strafe  als  einer  Forderung  der 
Gerechtigkeit,  bei  deren  Erfüllung  man  zugleich  einen  Schutz  für  die  Gesell- 
schaft herstellt)  sich  eigentlich  verflüchtigt  hat.  In  dieser  Beziehung  weist 
das  Gesetz  deutlich  zurück  auf  F.  C.  Bomemann  (f  1861),  der  sowohl  direkt 
als  Kommissionsmitglied,  wie  mittelbar  durch  seine  geistreichen  Universitäts- 
vorlesungen über  Strafrecht,  einen  sehr  wesentlichen  Einfluss  auf  die  ganze 
Richtung  des  Gesetzbuches  ausgeübt  hat.  Der  Sinn  für  die  Fmiktionen  des 
praktischen  Rechtslebens,  mit  dem  sich  bei  ihm  die  rechtsphilosophische  Spe- 
kulation paarte,  wusste  es  zu  verhindern,  dass  man  sich  einseitig  in  eine 
einzelne  bestimmte  Theorie  verbohrte,  besonders  in  die  sonst  prinzipiell  zu- 
nächst liegende  absolute;  das  hätte  unter  anderem,  um  nur  ein  einzelnes  Bei- 
spiel statt  aller  anzuführen,  leicht  zu  Konflikten  führen  können  mit  einer  an 
und    für    sich    so    natürlichen  Sache,    wie    der  Rücksicht    auf  die  subjektiven 


^)  Diesem  Ubelstand  wird  indessen  etwas  abgeholfen  teils  durch  die  interna- 
tional wesentlich  gleiche  Auffassung  einer  Reihe  von  Verbrechen,  teils  durch  die 
Möglichkeit,  die  angeführte  Rücksicht  für  die  Erhebung  der  Anklage  den  Ausschlag 
geben  zu  lassen. 

*)  Was  die  Frage  nach  der  ganzen  oder  teilweisen  Befreiung  gewisser  Personen 
von  Strafbarkeit  betrifft,  so  enthält  das  Gesetzbuch  nur  einen  Vorbehalt  entsprechend 
den  allgemeinen  Regeln  des  Völkerrechts  (§  8),  während  die  in  staatsrechtlichen  Rück- 
sichten begründeten  Ausnahmen  (der  König  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die 
Volksvertreter)  auf  Bestimmungen  im  Grundgesetz  vom  28.  Juni  1866  §  12  und  §  .^7 
beruhen. 


216  Dänemark.  —  Das  Mutterland. 


Voraussetzungen  des  Verbrechens,  die  das  Gesetzbuch  kraft  seiner  ganzen 
angeführten  Tendenz  im  allgemeinen  wie  im  besonderen  Teile  mehrfach  nimmt. 

n.  Die  feste  Grundlage,  die  das  Gesetzbuch  sich  auf  die  angeführte  Weise 
geschaffen  hat,  ist  sicherlich  auch  eine  wesentlich  mitwirkende  Ureache  dabei 
gewesen,  dass  es  über  ein  Viertel  Jahrhundert  in  Kraft  geblieben  ist,  ohne 
tiefer  greifende  Veränderung  und  ohne  dass  man  sagen  kann,  dass  eine 
durchgreifende  Revision  heute  auf  dem  Programm  stände.  Die  vorgenommenen 
Änderungen  sind,  wie  angeführt,  nur  wenig  und  unbedeutend.  Ein  Gesetz 
vom  25.  Februar  1871  hat,  zum  Teil  veranlasst  dm^ch  die  Verordnung  über 
die  Führung  der  Regentschaft  im  Falle  der  Unmündigkeit,  Krankheit  oder 
Abwesenheit  des  Königs  (Gesetz  vom  11.  Februar  1871),  den  §§  95 — 97  des 
Strafgesetzbuches  (betr.  Verbrechen  gegen  die  gesetzgebenden  Versammlungen 
oder  deren  Mitglieder  als  solche,  gegen  denjenigen  oder  diejenigen,  die  unter 
den  genannten  Umständen  die  Regierung  führen,  gegen  das  Reichsgericht  oder 
Höchstgericht)  eine  andere  Fassung  gegeben.  Femer  hat  das  Münzgesetz  vom 
23.  Mai  1873  §  14  in  natürlicher  Konsequenz  der  Münzverträge  mit  Schweden 
und  Norwegen  die  §§  264 — 266  des  Strafgesetzbuches  so  abgeändert,  dass  der 
Nachmachung  oder  Verfälschung  von  Münzen  dieser  Länder  gleiche  Bedeutung 
wie  der  Nachraachung  dänischer  Münzen  beigelegt  wird.  Des  weiteren  ist  durch 
das  Gesetz  vom  10.  April  1874  (No.  47)  §  4  eine  von  der  Praxis  stark  be- 
nutzte Ermächtigung  geschaffen  worden,  bei  Übertretung  von  §  180  des  Straf- 
gesetzbuches (Verbot  gewerbsmässiger  Unzucht  gegen  polizeiliche  Vorschrift) 
an  Stelle  der  Gefängnisstrafe  zu  Arbeit  in  einer  Zwangsarbeitsanstalt  zu  ver- 
urteilen, einer  Strafart,  die  das  Strafgesetzbuch  sonst  nicht  kennt,  während 
sie  durch  das  Gesetz  vom  3.  März  1860  für  Landstreicherei  und  Betteln  ein- 
geführt ist.  Endlich  hat  das  Gesetz  vom  9.  April  1891  (No.  136)  §  5  a.  E. 
das  Maximum  der  im  StGB.  §  290  (letzter  Absatz),  festgesetzten  Strafe  erhöht. 
Vorschläge  zu  einzelnen  anderen  Änderungen  im  Gesetzbuche  sind  vereinzelt 
gemacht  worden,  darunter  einer  betr.  Intramuranhinrichtung  mittels  Fallbeils 
(Fald0xe)  an  Stelle  der  öffentlichen  mit  dem  Beil  (StGB.  §  10);  aber  sie  sind 
nicht  durchgeführt  worden.^) 

III.  Es  ist  indessen  klar,  dass  das  Strafgesetzbuch  nach  Verlauf  von  mehr 
als  25  Jahren  nicht  mehr  in  gleichem  Grade  befriedigen  kann  wie  bei  seiner 
Erlassung.  Nach  dem  regen  Leben,  das  in  der  Gegenwart  sich  auf  dem  Ge- 
biete des  Strafrechts  abspielt,  lässt  es  sich  ziemlich  voraussehen,  dass  bei 
einer  demnächst  zu  erwartenden  Revision  des  Strafgesetzbuches  der  Gesetz- 
geber es  nicht  wird  unterlassen  können,  zu  den  grossen  Fragen,  die  die 
moderne  Forschung  in  die  erste  Reihe  geschoben  hat,  Stellung  zu  nehmen. 
Das  Interesse  wird  sich  dann  nicht  nur  an  Abänderungen  einzelner  Straf- 
bestimmungen knüpfen,  —  wohl  namentlich  in  Kap.  16  (Sittlichkeitsverbrechen), 
Kap.  18  (Gewaltthätigkeit  und  Körperverletzung)  und  Kap.  21  (Beleidigung), — 
sondern  daneben  namentlich  auch  an  einige  allgemeine  und  höchst  aktuelle 
Probleme,  darunter  namentlich  die  Fragen  nach  den  Verbrechen  der  Kinder 
und  der  Jugendlichen,  nach  der  Anwendung  des  bedingten  Strafurteils  und 
in  Verbindung  damit  nach  anderen  möglichen  Mitteln  zur  Einschränkung  der 
ganz  kurzen  Freiheitsstrafe,  deren  Bedenklichkeit  durch  die  für  diese  Stral- 
art   fehlende  Arbeitspflicht   erhöht  wird,    wenn    dieser  Cbelstand    auch    durch 

^)  Ein  durch  vorläufiges  Gesetz  vom  2.  November  1885  gegebener  „Zusatz^  zum 
Strafgesetzbuch,  der,  unter  bewegten  politischen  Verhältnissen  und  zum  Teil  nach 
ausländischem  Muster  erlassen,  vornehmlich  einei-seits  gewisse  Fälle  entfernterer  An- 
stiftung zum  Verbrechen  treffen  wollte,  andererseits  dem  deutschen  Reichsstrafgesetz* 
buch  §§  130  und  131  genau  entsprechende  Bestimmungen  enthielt,  ist  durch  vorläufiges 
Gesetz  vom  19.  Jimi  1888  wieder  aufgehoben  worden. 


§  4.    Abänderungen  des  StGB.    Kritik.  217 


die  in  anderer  Richtung  verschärfte  Form  des  Gefängnisses  bei  Wasser  und 
Brot  wieder  etwas  gehoben  wird.  Femer  ist  hier  zu  nennen  die  Frage  nach 
besonderen  auf  anderer,  teilweise  breiterer  Basis  gehaltenen  Massregeln  gegen 
den  RückfaU,  —  alles  Fragen,  die  insgesamt  nur  Teile  des  grossen  allgemeinen 
Problems  bilden,  mit  dem  vornehmlich  sich  das  Strafrecht  der  neueren  Zeit 
beschäftigt,  nämlich  des  Problems,  wie  weit  es  möglicb  sei,  auf  Grundlage 
einer  innerlicheren  Auffassung  und  eines  besseren  Verständnisses  der  nähereu 
Voraussetzungen  des  Verbrechens  in  subjektiver  Hinsicht  diesen  Verhältnissen 
und  Voraussetzungen  einen  weitergehenden  Einfluss  beizulegen.  Auf  mehreren 
der  Gebiete,  wo  man  jedenfalls  das  angeführte  Problem  streift,  hat  das  Straf- 
gesetzbuch Bestimmungen,  mit  denen  man  sich  kaum  auf  die  Dauer  wird  be- 
freunden können.  Was  besonders  die  Frage  nach  den  strafbaren  Handlungen 
der  Kinder  anbetrifft,  so  hat  das  Strafgesetzbuch,  ohne  dass  ihm  hier  gerade 
ein  Vorwurf  gemacht  werden  kann,  die  eigentliche  Straffrage  kaum  in  ge- 
nügend enger  Verbindung  mit  der  jetzt  so  stark  vorgedrängten  Frage  nach 
anderen  Mitteln,  auf  junge  Verbrecher  einzuwirken  und  sich  gegen  sie  zu 
sichern,  betrachtet.  Nach  §  36  des  Strafgesetzbuches  ist  das  Kind  mit  dem 
vollendeten  10.  Jahre  strafbar,  wenn  man  nach  der  Beschaffenheit  des  Ver- 
brechens oder  nach  seiner  Verstandesentwickelung  und  Erziehung  annehmen  muss, 
dass  es  die  Strafbarkeit  seiner  Handlung  eingesehen  hat  und  das  Verbrechen 
nicht  ganz  unbedeutend  ist.^)  Nach  der  Strafe,  die  am  öftesten  in  körper- 
licher Züchtigung  (Rutenstrafe)  besteht,  andere  vorbeugende  Mittel  anzuwenden, 
dazu  giebt  das  Gesetz  kein  Recht.  Die  Gestattung  solcher  Mittel  ist  auf  die 
Fälle  beschränkt,  in  denen  in  Gemässheit  der  Ermächtigung,  die  der  Paragraph 
der  obersten  Anklagebehörde  beilegt,  die  Straffrage  gegenstandslos  wird.  Was 
vor  der  Hand  auf  diesem  Gebiete  ausgerichtet  wird,  geschieht  im  wesentlichen 
durch  freiwillige  Unterbringung  verwahrloster  oder  verdorbener  Kinder  in 
Privatanstalten,  deren  unser  Land  mehrere  vorzügliche  besitzt,  und  die  auch 
der  Staat  in  der  Regel  unterstützt.  Nach  vollendetem  15.  Lebensjahre  ist 
das  Kind  immer  strafbar,  nur  findet,  im  Gegensatze  zum  älteren  Recht,  bei 
Verbrechen,  die  vor  vollendetem  18.  Jahre  begangen  sind,  eine  Herabsetzung 
bis  zur  Hälfte  der  sonst  gesetzlichen  Strafe  statt  (§37).  Ob  die  sonstigen 
Bestimmungen  des  Gesetzes  über  die  Zurechnungsfähigkeit  ganz  unangetastet 
werden  bleiben  können,  ist  kaum  sicher.  Besonders  wird  wohl  die  Frage; 
aufgeworfen  werden,  ob  wissenschaftliche  Bedenken  zur  Verwerfung  des  in 
§  39  des  Gesetzbuches  anerkannten  Begriffs  der  verminderten  Zurechnungs- 
fähigkeit zu  führen  vermögen.  Es  wird  sich  femer  fragen,  wie  die  Zustände 
der  Zurechnungsunfähigkeit  im  näheren  Anschluss  an  die  Auffassung  der 
neueren  Wissenschaft  von  den  psychophysischen  Abnormitäten  zu  formulieren 
sind.  Das  Strafgesetzbuch,  dessen  Fassung  übrigens  nirgends  als  besonders 
unglücklich  bezeichnet  werden  kann,  hatte  in  seiner  Entstehungszeit  dazu 
keine  Veranlassung.  Gegenüber  dem  rutinierten  Verbrechertum  hat  das  Ge- 
setz bei  Diebstahl  und  Hehlerei  (Kap.  23)  besonders  verschärfte  Rückfalls- 
strafen eingeführt,  die  unter  Umständen  sogar  bis  zu  lebenslänglicher  Straf- 
arbeit ansteigen  können  (§§  230—232,  vergl.  §  238  ff.),  während  das  Gewöhn- 
liche sonst  ist,  dass  die  Wiederholung  lediglich  innerhalb  des  gewöhnlichen 
Strafrahmens  schärfend  wirkt,  sodass  sie  höchstens  als  ein  Umstand  erwähnt 
wird,  der  bei  Strafschärfung  besonders  in  Betracht  kommt.  Aber  hiermit 
wird  man  sich  kaum  genügen  lassen   können,   wenn   die  Frage   der  Gewohn- 


*)  Einzelne  besondere  Bestimmungen  im  Gesetzbuch  jgestatten  unbedingte  Straf- 
freiheit für  Kinder  unter  15  Jahren,  so  §  56  (nachfolgende  Teilnahme)  und  §  109  (Vor- 
beugungspflicht gegen  Verbrechen  usw.). 


218  Dänemark.  —  Das  Mutterland. 


heits-  und  der  unverbesserlichen  Verbrecher  erst  unabweisbar  dem  Gesetzgeber 
zur  Entscheidung  vorliegt. 

Unter  den  Strafarten  müsste  auch  die  Geldstrafe  eine  Reform  durch- 
machen, denn  das  Gesetz  hat  zwar  in  §  59  ausgesprochen,  dass  bei  ihrer 
Festsetzung  auf  die  Vermögensverhältnisse  des  Schuldigen  Rücksicht  zu  nehmen 
sei,  aber  das  Höchstmass  der  Strafe  beträgt  4000  Kronen,  und  falls  die  Geld- 
strafe nicht  bezahlt  wird,  tritt  an  ihre  Stelle  eine  im  Urteil  selbst  festgesetzte 
einfache  Gefängnisstrafe  (§  30).^)  Sodann  kann  hervorgehoben  werden,  dass 
es  möglich  und  zweckmässig  wäre,  die  Bestimmungen  über  die  Teilnahme 
(Kap.  ö)  zu  ändern,  die  in  ihrer  gegenwärtigen  Fassung  komplizierter  als  not- 
wendig und  daher  auch  nicht  immer  hinlänglich  klar  und  begründet  sind, 
wie  z.  B.  der  hier  eingeführte  Begriff  des  Hauptthäters  (Hovedmand)  gegen- 
über dem,  der  Beistand  leistet.  Desgleichen  müsste  die  Versuchslehre  einer 
erneuten  Untersuchung  unterzogen  werden,  namentlich  mit  Rücksicht  darauf, 
wo  der  strafbare  Versuch  beginnt,  indem  §  45  Strafbarkeit  für  jede  Handlung 
einführt,  die  „darauf  abzielt,  die  Vollendung  eines  Verbrechens  zu  befördern 
oder  herbeizuführen",  —  eine  Regel,  die  jedenfalls  kaum  mit  einem  akkusa- 
torischen  Prinzip  im  Strafprozess  zusammenpassen  wird. 

IV.  Um  den  Standpunkt  des  Gesetzes  überhaupt  zu  beleuchten,  wird  es 
noch  dienlich  sein  hervorzuheben,  dass  das  Gesetzbuch  in  der  Regel  nur  das  vor- 
sätzliche Verbrechen  straft,  sodass  die  Fahrlässigkeit  überhaupt  nur  infolge 
ausdrücklicher  Festsetzung  für  jeden  einzelnen  Fall  strafbar  ist  (§  43).  Eine 
solche  Festsetzung  findet  sich  nur  auf  Gebieten,  wo  die  Strafbarkeit  der  Fahr- 
lässigkeit mit  allgemein  angenommenen  Grundsätzen  übereinstimmt,  so  bei 
Totschlag  (§  198),  Körperverletzungen  schwerster  Art  (§  207),  Brandstiftung 
{§  284),  gewissen  in  hohem  Grade  gemeingefährlichen  Verbrechen  usw.*) 

Daneben  kann  hervorgehoben  werden,  dass  das  Gesetz  in  einzelnen  Be- 
stimmungen (§  160  über  Bigamie;  §  181  Unzucht  von  Personen,  die  mit  an- 
steckenden Geschlechtskrankheiten  behaftet  sind  und  §267  über  Verausgabung 
falschen  Geldes)  sich  einer  Ausdrucksweise  bedient  hat,  die,  ohne  dass  der 
(Tcsetzgeber  sich  das  vielleicht  hinlänglich  klar  gemacht  hat,  Fälle  der  Fahr- 
lässigkeit mit  in  die  betreffende  Strafbestimmung  hineingezogen  hat.  Endlich 
hat  das  Gesetzbuch  auch  im  §  188  (vgl.  §  204)  die  Strafbarkeit  über  das  voi^ 
sätzliche  Verbrechen  hinaus  erstreckt.  Aber  diese  Bestimmungen  stehen  im 
Zusammenhang  mit  dem  ganzen  Kap.  18,  dessen  Unterscheidungen  innerhalb 
der  Körperverletzungen  nach  der  jetzt  allgemeinen  Annahme  eine  Abstufung 
nach  der  Folge  des  rechtswidrigen  Angriffes  enthalten,  sodass  die  §§188  und 
204  relativ  die  höchste  und  nächsthöchste  Abstufung  bezeichnen,  die  indessen 
hier  an  gewisse  subjektive  Bedingungen  angeknüpft  ist  (mindestens  eine  grobe 
Fahrlässigkeit),  während  die  allgemeine  Forderung  des  Gesetzbuches,  nämlich, 
dass  Vorsatz  vorliege,  sonst  für  das  ganze  Kapitel  durchgreift,  wenn  der  Vor- 
satz auch  bloss  vorliegt  mit  Rücksicht  auf  eine  Körperverletzung  leichtester  Art. 

§  5.    Bestimmungen  ergänzender  Natur  im  StGrB. 

I.  Das  dänische  Strafgesetzbuch  hat,  ebensowenig  wie  andere  systematische 
Strafgesetzbücher,    sich    streng   und    ausschliesslich    an    solche    Bestimmungen 

^)  Ausserhalb  des  Strafgesetzbuches  wird  die  nicht  gezahlte  Geldstrafe  ebenfalls 
in  Gefängnisstrafe  umgewandelt,  aber  nach  einer  bestimmten  ein  für  alle  Mal  ge- 
gebenen Skala  (Gesetz  vom  16.  Februar  1866).  —  Das  einfache  Gefängnis  kann  auf 
Antrag  in  Gefängnis  bei  Wasser  und  Brot  umgewandelt  werden,  wovon  1  Tag  gleich 
6  Tagen  des  einfachen  Gefäng-nisses  gerechnet  wird  (§  30). 

•)  Hier  ein  Verzeichnis  der  Paragraphen  des  StGB.,  die  die  Fahrlässigkeit 
strafen:  §<j  129,  130,  182,  148,  149,  198,  207,  262,  268,  284,  289—292,  295. 


§  5.    Bestimmungen  ergänzender  Natur  im  StGB.  219 


gehalten,  die  sieh  unmittelbar  auf  die  Handhabung  der  Strafe  beziehen,  son- 
dern hat  daneben  auch  gleichsam  accessorisch  einzelne  andersartige  Bestim- 
mungen aufgenommen.  Hier  sind  zu  nennen  die  Sicherheitsmassregeln,  die 
gegenüber  Kindern  (§  36,  vgl.  §  36)  und  von  den  Gerichtshöfen  gegenüber 
Wahnsinnigen  (§  38),  sowie  im  Falle  gewisser  Drohungen  (§  299)  getroffen 
werden  können;  ferner  die  im  §  300  dem  Verbrecher  auferlegte  allgemeine 
Pflicht  der  Schadenserstattung;  sowie  die  Bestimmung  in  §34  über  Einziehung; 
weiter  die  Bestimmungen  in  den  §§  301 — 303  über  Erstattung  der  Heilungs- 
kosten und  des  Erwerbsverlustes,  über  die  Vergütung  für  Schmerzen,  „Un- 
gemach, Gebrechen  und  Entstellung",  für  den  Verlust  des  Versorgers  und  für 
die  Zerstörung  der  Lebensstellung  und  der  Erwerbsverhältnisse  des  Verletzten. 
Sodann  ist  zu  nennen  der  in  §  304  im  Falle  der  Gewaltthätigkeit  oder  groben 
Beleidigung  gegen  Verwandte  aufsteigender  Linie  bedingt  eingeführte  Verlust 
des  Erbrechtes,  der  ebensowenig  wie  die  im  §  218  festgesetzte  Mortifikation 
von  Im'urien  als  Strafe  aufgefasst  werden  kann.  Endlich  bestimmt  §  16:  wenn 
Ausländer,  die  in  den  letzten  5  Jahren  keinen  festen  Aufenthalt  in  dem  däni- 
schen Staate  gehabt  haben,  zu  einer  Strafe  verurteilt  werden,  so  kann  — 
unter  Umständen  soll  —  gegen  sie  zugleich  auf  Landesverweisung  (Rückkehr 
ist  unter  Strafe  gestellt)  erkannt  werden. 

Dass  das  Gesetz  über  seinen  Rahmen  hhiausgeht,  kann  eigentlich  nicht 
gesagt  werden,  wenn  es  die  Regeln  für  die  Anklage  aufnimmt,  insoweit  diese 
nämlich  als  Strafbarkeitsbedingungen  aufgefasst  werden  können.  Namentlich 
muss  man  jedenfalls  in  den  Fällen,  wo  die  Anklage  in  einer  von  der  Haupt- 
regel des  Gesetzes  abweichenden  Weise  beschränkt  ist,  von  einer  besonderen 
Bedingung  der  Strafverfolgung  reden.  Die  Anklage  ist  im  allgemeinen  eine 
öffentliche  (§  298),  doch  wegen  einzelner  Vergehungen  muss  von  den  betreffen- 
den Privaten  Privatklage  angestrengt  werden,  so  namentlich  wegen  Beleidigung 
und  leichter  Körperverletzung  (Gewaltthätigkeit),  und  alsdann  in  den  Formen 
des  Civilprozesses.^)  Bei  einzelnen  anderen  Verbrechen  ist  sodann  die  öffent- 
liche Anklage  durch  den  Antrag  des  Verletzten  bedingt,  so  namentlich  im 
Falle  des  Ehebruchs,  bei  gewissen  Sittlichkeitsvergehen  gegenüber  noch  nicht 
voll  entwickelten  Personen,  bei  ganz  unbedeutenden  Diebstählen,  bei  Gebrauchs- 
anmassung,  sowie  in  gewissen  Betrugsfällen.*) 

Einen  an  und  für  sich  natürlichen  Platz  innerhalb  des  Rahmens  des 
Strafgesetzbuches  nehmen  endlich  die  Bestimmungen  ein,  die  bei  gewissen 
besonderen  Bedingungen  den  Wegfall  der  Anklage  oder  der  Strafe  verfügen. 
Es  handelt  sich  hier  um  besondere  Strafaufhebungsgründe.  Hier  können  an- 
geführt werden  namentlich  teils  die  Bestimmungen,  die,  im  Gegensatz  zur 
allgemeinen  Regel  des  §  60,  den  Handlungen,  die  die  schädlichen  Folgen  des 
Verbrechens  abwehren  oder  wieder  gut  machen,  eine  solche  Bedeutung  bei- 
legen, —  vgl.  §  146  (Widerruf  einer  unbeeidigten  falschen  Aussage),  §  166 
und  175  (Eingehung  der  Ehe),  §242  (Zurücklief erung) ,  §§  136,  254  und  284 
(Erstattung),  §295  (Anzeige),  — teils  auch  die  Bestimmungen  über  Verjährung. 
Eine  solche  wird  indessen  nur  wegen  der  geringen  Strafbarkeit  des  Vergehens 
(nach  Umständen  in  Verbindung    damit,    dass    der  Private    es    unterlässt,    die 


*)  Bestimmungen  über  die  Privatklage  sind  in  folgenden  Paragraphen  enthalten: 
§§  116,  200,  212,  vgl.  §§  210  und  211,  228,  vgl.  §§  215—222,  226.  Bei  den  ausserhalb 
des  Strafgesetzbuches  fallenden  Vergehen,  die  Verletzungen  besonderer  Pflichten  ent- 
halten, ist  die  Anklage  öfters  dem  Privaten  überlassen. 

*)  Bedingte  öflFentliche  Anklage  findet  im  ganzen  statt  nach  den  §§  159,  174, 
175,  235,  236,  254,  278.  Ausserdem  ist  die  Anklage  der  in  §§82  und  83  behan- 
delten Verbrechen  davon  abhängig,  dass  das  Verlangen  darnach  von  der  betreffenden 
Regierung  oder  dem  betrefl'enden  Gesandten  ausgesprochen  M'ird  (§  84). 


220  Dänemark.  —  Das  Mutterland. 


Privatklage  zu  erheben  oder  den  Strafantrag  zu  stellen,  §§  66  und  67),  oder 
wegen  der  Jugend  des  Verbrechers  (§§  68 — 69)  zugelassen.  Ausser  in  diesen 
Fällen  ist  nur  die  oberste  Anklagebehörde  berechtigt,  die  Anklage  fallen  zu 
lassen,  wenn  seit  der  Begehung  des  Verbrechens  10  Jahre  verstrichen  sind  (§  70). 
II.  Während  das  Strafgesetzbuch  so  einerseits  sein  eigentliches,  strafrecht- 
liches Gebiet  ergänzt,  weist  es  umgekehrt  für  gewisse  wirklich  strafrechtliche 
Fragen  auf  eine  ausserhalb  liegende  Ergänzung  hin.  Die  Strafvollstreckung 
(vgl.  §§13  und  17)  beruht  nicht  bloss  in  Einzelheiten,  sondern  auch  in  ent- 
scheidenden Hauptpunkten  auf  besonderen  Bestimmungen,  in  erster  Linie  aut 
der  früher  genannten  Königlichen  Verordnung  vom  13.  Februar  1873,  die  den 
Abschluss  der  durch  Königliche  Resolution  vom  25.  Juni  1842  eingeleiteten  Reform 
der  Strafanstalten  bildet.  Im  Anschluss  an  die  Verordnung  von  1873,  die  alle 
in  Gemeinschaftshaft  verbüsste  Strafarbeit  behandelt,  und  mit  Hinweis  auf 
den  Vorbehalt  in  §  13  des  Gesetzbuches  hat  ein  Circular  vom  20.  Oktober 
1875  die  Regeln  dafür  aufgestellt,  in  welchen  besonderen  Fällen  auch  Besserungs- 
hausarbeit auf  diese  sonst  für  Zuchthausarbeit  normierte  Weise  verbüsst 
werden  soll.  Was  die  Gefängnisstrafe  angeht,  so  beruht  ihre  Regelung  auf 
der  Königlichen  Resolution  vom  22.  Dezember  1841  und  dem  detaillierten 
Reglement  vom  7.  Mai  1846.^)  Auch  für  die  Verbrechen  der  Strafgefangenen 
in  der  Strafanstalt  enthält  das  Strafgesetzbuch  Verweisungen  auf  die  hierüber 
anderen  Ortes  gegebenen  Regeln  (vgl.  §§  65  und  111).  Diese  finden  sich  im 
Gesetz  vom  3.  Dezember  1850,  soweit  es  die  Anwendung  disziplinarer  Straf- 
gewalt in  den  Strafanstalten  betrifft,  während  das  ältere  Plakat  vom  31.  August 
1813  fortdauernd  für  die  in  Strafanstalten  begangenen  gröberen  Verbrechen  gilt. 

§  6.    Die  Strafdrohimgen  ausserhalb  des  Strafgesetzbuches. 

I.  Von  den  Gesetzen,  die  an  die  oben  (S.  207,)  genannten  ausserhalb 
des  allgemeinen  bürgerlichen  Strafgesetzbuches  liegenden  Verbrechensarten 
anknüpfen,  ist  das  umfassendste  das  Strafgesetzbuch  für  das  Heer  vom 
7.  Mai  1881.^)  Sein  Charakter  als  der  eines  „besonderen"  Gesetzes  entspringt 
daraus,  dass  es  im  Gegensatz  zu  den  älteren  für  das  Heer  geltenden  „Kriegs- 
artikelbriefen" nur  militärische  Verbrechen  behandelt,  d.  h.  solche,  die  eine 
Verletzung  der  aus  dem  militärischen  Verhältnis  entspringenden  Pflichten  ent- 
halten. Soweit  von  Handlungen  die  Rede  ist,  die  an  und  für  sich  ein  all- 
gemeines bürgerliches  Verbrechen  darstellen,  geschieht  dies  nur,  um  den  be- 
sonderen Einfluss  der  darin  mit  enthaltenen  Verletzungen  besonderer  militärischer 
Pflichten  hervorzuheben.  Infolgedessen  stehen  die  Gesetzesbestimmungen  durch- 
gehends  in  so  enger  Verbindung  mit  den  besonderen  Anforderungen  des  Dis- 
ziplinarverhältnisses,  dass  sie  meist  kein  allgemeines  Interesse  haben. 

Mit  Rücksicht  auf  besondere  militärische  Strafen  ist  hervorzuheben,  dass 
die  Gefängnisstrafe  in  mehreren  Richtungen  in  einer  Weise  verschärft  werden 
kann,  wie  sie  das  bürgerliche  Strafrecht  nicht  kennt  (so  Dunkelarrest,  Arrest 
in  Fesselung,  hartes  Gefängnis  bei  Wasser  und  Brot).  Jedoch  sucht  man  mit 
Rücksicht  auf  die  strengeren  Formen  durchgehends  ähnliche  Kautelen  für  die 
Fähigkeit  des  Betreffenden,  die  Strafe  zu  ertragen,  wie  sie  die  bürgerliche 
Gesetzgebung  kennt.     Andererseits  finden  sich  auch  besonders    milde  Formen 


^)  Mit  Rücksicht  auf  die  Vollstreckung  der  Todesstrafe  wird  es  im  Gesetz  vom 
1().  Dezember  1840  zur  Bedingung  gemacht,  dass  die  Sache  in  oberster  Instanz  ver- 
handelt, und  dass  dem  König  Vortrag  darüber  gehalten  worden  ist. 

')  Eine  deutsche  L^bersetzung  findet  sich  in  der  Zeitschrift  für  die  gesamte 
Strafrechtswissenschaft,  Bd.  II.  Beilage. 


§  6.    Die  Strafdrohungen  ausserhalb  des  Strafgesetzbuches.  221 


des  Gefängnisses  (so  Haus-  und  Wachtarrest).  Körperliche  Züchtigung  ist 
unbekannt. 

Unter  den  Bestimmungen,  die  den  Hinweis  des  Militärstrafgesetzbuches 
(§  46)  auf  den  allgemeinen  Teil  des  bürgerlichen  Strafgesetzbuches  modifizieren, 
ist  insbesondere  zu  erwähnen,  dass  selbstverschuldete  Trunkenheit  nicht  die  An- 
wendung der  gesetzlichen  Strafe  für  Übertretung  von  Dienstpfiichten  ausschliesst 
(§  50).  Femer  hat  das  Gesetz  sowohl  durch  Festsetzung  einer  Reihe  besonders 
erschwerender  Umstände,  wie  umgekehrt  mit  Rücksicht  auf  den  Befehl  des  Vor- 
gesetzten usw.  Bestimmungen  getroffen,  die  in  ungezwungener  Weise  den 
Anforderungen  des  militärischen  Dienstes  Rechnung  tragen.  Über  die  An- 
wendung der  Disziplinarstrafbefugnis  beim  Heer  ist  Bestimmung  getroffen  durch 
eine  Reihe  Königlicher  Verordnungen  vom  20.  Juni  1881,  vgl.  Verordnung  vom 
13.  August  1886. 

n.  Von  den  Gesetzen,  die  im  Strafgesetzbuch  nicht  enthaltene  bürgerliche 
Verbrechen  betreffen,  bieten  einzelne  einiges  Interesse  in  strafirechtlicher  Hin- 
sicht. Es  sind  das  Bestimmungen,  die  an  und  für  sich  geeignet  gewesen 
wären,  vom  Strafgesetzbtrch  mit  umfasst  zu  werden.  Bei  der  Abscheidung 
haben  natüi'lich  einzelne  Willkürlichkeiten  nicht  vermieden  werden  können, 
teils  wegen  des  flüssigen  Charakters  der  angewendeten  Unterecheidungsmerk- 
male  (Verbrechen  in  allgemeinen  und  in  besonderen  bürgerlichen  Verhältnissen), 
teils  weil  mehr  oder  weniger  zufällige  Umstände  mitspielen. 

In  dieser  Verbindung  kann  genannt  werden  die  Bestimmung  im  Kon- 
kursgesetz vom  26.  März  1872  §  148,  die  eine  natürliche  Ergänzung  zu 
StGB.  §  262  enthält  (über  betrügerischen  Bankerutt  usw.),  auf  dessen  Straf- 
satzungen es  auch  hinweist.  Von  grosser  praktischer  Bedeutung  ist  sodann 
das  Gesetz  vom  3.  März  1860,  über  die  Bestrafung  der  Landstreicherei 
und  des  Betteins,  im  grossen  und  ganzen  eine  glückliche  Bekämpfung  dieser 
ganz  gewiss  geringeren,  aber  sehr  oft  gewerbsmässig  begangenen  und  ihrer 
Natur  nach  öfters  in  naher  Verbindung  zu  dem  Verbrechertum  auf  anderen 
Gebieten  stehenden  Vergehungen.  Namentlich  bezeichnet  die  durch  das  Gesetz 
eingeführte  Strafe  der  Arbeit  in  einer  Zwangsarbeitsanstalt  einen  an  und  für 
sich  glücklichen  Griff,  wenn  man  auch  das  Höchstmass  der  Strafe  (180  oder 
90  Tage)  etwas  höher  hätte  wünschen  können. 

Im  Einklang  mit  dem,  was  auch  in  den  meisten  anderen  Ländern  der 
Fall  ist,  nehmen  die  Pressvergehen  eine  Sonderstellung  ein.  Das  beruht 
jedoch  nicht  auf  den  zur  Anwendung  kommenden  Strafbestimmungen;  denn 
diese  sind  die  des  allgemeinen  Strafgesetzbuches,  nachdem  das  Strafgesetz 
die  früheren  Bestimmungen  des  Pressgesetzes  hierüber  aufgehoben  hat:  die 
Sonderstellung  äussert  sich  in  speziellen  Regeln  über  die  Verantwortlichkeit 
für  Druckschriften,  die  teils  auf  dem  Gedanken  beruhen,  den  Interessen,  denen 
die  Presse  in  so  hohem  Grade  dient,  nicht  hindernd  in  den  Weg  zu  treten, 
teils  auf  der  Absicht,  gegenüber  der  Gefahr,  die  von  der  Presse  ausgeht, 
die  Möglichkeit  einer  Durchführung  der  Rechtssatzungen  zu  sichern.  Während 
bereits  das  Grundgesetz  (vom  5.  Juni  1849  §  91,  revidiertes  Grundgesetz  vom 
28.  Juli  1866  §  86)  die  Zensur  und  alle  anderen  Präventivmassregeln  verboten 
hat,  enthält  das  Pressgesetz  vom  3.  Januar  1851  im  Anschluss  an  die  auch 
anderen  Ortes  angenommenen  Grundsätze  nähere  Bestimmungen  über  die  Ver- 
antwortlichkeit für  Druckschriften  usw.,  also  namentlich  mit  vollständiger  Ab- 
weichung von  der  allgemeinen  Teilnahmelehre.  Der  leitende  Grundsatz  ist, 
dass  unbedingt  nur  eine  Person  verantwortlich  gemacht  wird,  indem  jeder 
einzelne  in  der  Reihe  derer,  die  sich  eventuell  zu  verantworten  haben,  da- 
durch frei  wird,  dass  die  Bedingungen  vorliegen,  um  einen  der  voraufgehen- 
den zur  Verantwortung   zu   ziehen.     Verantwortlich    ist  erstens  der  Verfasser 


222  Dänemark.  —  Das  Mutterland. 


insoweit  er  seinen  Namen  angegeben  hat,  und  daneben  entweder  zur  Zeit,  als 
die  Schrift  erschien,  seinen  Wohnsitz  im  Keiche  hatte,  oder  zur  Zeit,  als  die 
Sache  anhängig  wurde,  innerhalb  des  Gebietes  der  Staatsgewalt  sich  befand. 
Genügt  er  diesen  Bedingungen  nicht,  so  geht  die  Verantwortlichkeit  unter  den 
gleichen  Bedingungen  über  auf  den  Herausgeber,  sodann  auf  den  Verleger 
(Kommissionshändler),  endlich  auf  den  Drucker,  der  deshalb  immer  auf  der 
Druckschrift  angegeben  werden  soll.  Daneben  hat  man  jedoch  in  der  Praxis 
für  Tages-  und  Wochenblätter  beständig  die  Verantwortlichkeit  des  Redakteurs 
festgehalten.  Aus  Anlass  der  hierdurch  herbeigeführten  Missbräuche  hat  ein  vor- 
läufiges Gesetz  vom  13.  August  1886  Bestimmungen  getroffen,  die  namentlich  das 
Unwesen  der  Strohmänner  zu  verhindern  beabsichtigen.  Im  Pressgesetz  finden 
sich  im  übrigen  Bestimmungen  für  den  Fall,  dass  die  Angabe  des  Namens 
des  Druckers  und  der  Druckstätte  fehlt  oder  unrichtig  ist,  oder  dass  die  Ab- 
gabe eines  Exemplars  an  die  Polizei  versäumt  wird,  ferner  auch  für  den  Fall, 
dass  ein  Blatt,  das  einen  persönlichen  Angriff  enthält,  trotz  Verlangens  es 
unterlässt,  eine  Mitteilung  über  die  Anhängigmachung  dieser  Sache  und  seiner 
Zeit  über  den  Ausfall  aufzunehmen.  Ebenso  finden  sich  besondere  Bestim- 
mungen über  die  Anklagebehörden,  sowie  über  die  Strafverfolgung  fremder 
in  das  Reich  eingeführter  Druckschriften. 

III.  Die  übrigen  Gesetze,  die  Straf bestimmungen  für  ausserhalb  des  Straf- 
gesetzbuches fallende  Übertretungen  enthalten,  bieten  schlechthin  kein  beson- 
deres strafrechtliches  Interesse.  So  alle  die  Gesetze,  die  die  Verletzung  ge- 
wisser auf  der  Staatsverwaltung  beruhender  Pflichten  betreffen,  vgl.  die  ver- 
schiedenen Steuergesetze,  darunter  auch  Zoll-  und  Stempelgesetze,  ferner  das 
Wehrpflichtgesetz  vom  6.  März  1869  u.  a. 

Im  übrigen  werden  als  „besondere"  strafbare  Handlungen  Vergehen 
von  sehr  verschiedener  Art  zusammengefasst.  Erstlich  können  die  eigentlichen 
Polizeivergehen,  Übertretungen  von  Präventivgesetzen  angeführt  werden. 
In  dieser  Beziehung  kommen  namentlich  die  lokalen  Polizei-  und  Gesundheits- 
verordnungen, die  Hafenreglements  usw.  in  Betracht  mit  ihrer  Menge  von  Be- 
stimmungen über  Verkehr,  Ordnung,  Reinlichkeit  u.  dergl.  Die  Grund- 
lage der  Polizeiverordnungen  sind  die  Gesetze  vom  11.  Februar  1863  und  vom 
4.  Februar  1871,  in  denen  auch  einzelne  Regeln  von  allgemeinerem  Interesse 
enthalten  sind. 

Ausserdem  finden  sich  in  einer  Reihe  spezieller  Gesetze  Strafbestim- 
mungen, die  an  eine  für  gewisse  Verhältnisse  normierte  Ordnung  (die  den 
eigentlichen  Inhalt  jener  speziellen  Gesetze  ausmacht)  als  Ergänzung  sich 
anschliessen.  Die  meisten  hierher  gehörigen  Bestimmungen  sollen  übrigens 
unmittelbar  auf  vorbeugende  Massregeln  hinauslaufen,  so  die  Gesetze  über 
das  Gesundheits-  und  Polizeiwesen  im  weiteren  Sinne,  z.  B.  die  verschiedenen 
Gesetze,  die  Ausbreitung  von  Ansteckungen  verhindern  oder  beseitigen  wollen 
(Gesetz  vom  10.  April  1874  über  Massregeln,  um  der  Ausbreitung  ansteckender 
Geschlechtskrankheiten  vorzubeugen;  G.  vom  2.  Juli  1880  über  Massregeln 
gegen  die  Einführung  ansteckender  Krankheiten  in  das  Reich;  G.  vom  30.  März 
1892  über  Massregeln  gegen  die  Ausbreitung  solcher  Seuchen).  —  Mit  fort- 
schreitender EntWickelung  ist  man  geneigt,  immer  mehr  Gebiete  unter  Prä- 
ventivmassregeln zu  stellen,  vergl.  z.  B.  Gesetz  vom  12.  April  1889  über  Mass- 
regeln zur  Vorbeugung  von  Unglücksfällen  bei  Maschinen;  Gesetz  vom  9.  April 
1891  über  Untersuchung  der  Lebensmittel.  Von  einem  präventiven  Gesichts- 
punkte müssen  auch  die  verschiedenen  Brandpolizeigesetze  (2.  März  1861, 
15.  Mai  1868,  21.  März  1873  und  einzelne  spätere  Zusätze)  und  zum  Teil  die 
Baugesetze  (12.  April  1889  u.  a.)  betrachtet  werden.  Unter  verschiedenen  anderen 
Bestimmungen,    die   jede   in   ihrer   besonderen  Richtung   auf  den  Schutz   der 


§  6.    Die  Straf drohungen  ausserhalb  des  Strafgesetzbuches.  223 


Gesamtheit  ausgehen,  können  genannt  werden:  die  Bestimmungen  über  die 
Quacksalberei  (G.  vom  3.  März  1854;  vgl.  G.  vom  5.  September  1794),  ferner 
das  Gesetz  vom  15.  Mai  1875  über  Fremdenpolizei  usw.  Verschiedene  Polizei- 
verordnungen gehen  nicht  sowohl  auf  Abwehr  einer  besonderen  Gefahr  aus, 
als  auf  den  Schutz  des  einzelnen  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen,  z.  B. 
das  allgemeine  Gesetz  über  Mark-  und  Wegfrieden  vom  25.  März  1872 ,  vgl. 
Gesetz  vom  12.  April  1889  über  Strafe  und  Erstattung  für  den  von  Hunden 
verursachten  Schaden.  Einzelne  Polizeivorschriften  beruhen  wieder  auf  anderen 
Rücksichten,  so  auf  rein  humanen  das  Gesetz  vom  23.  Mai  1873  über  die 
Fabrikarbeit  von  Kindern  und  jugendlichen  Personen,  auf  religiösen  das  Gesetz 
vom  1.  April  1891  über  die  öflTentliche  Ruhe  an  Feiertagen  der  Landeskirche. 
Daneben  giebt  es  eine  Menge  Gesetze,  die  innerhalb  des  ganzen  allgemeinen 
Erwerbslebens  eine  gewisse  Ordnung  festsetzen,  jedes  auf  seinem  speziellen 
(tebiet,  und  die  hieran  Straf  bestimmungen  für  die  Übertretmig  der  festgesetzten 
Ordnimg  anknüpfen.  Hier  ist  das  Gesetz  vom  29.  Dezember  1857  über  den  Hand- 
werks- und  Fabriksbetrieb  sowie  über  Handel  und  Gastwirtschaft  zu  erwähnen 
(die  Straf  bestimmungen  finden  sich  in  Abschnitt  VII)  nebst  den  im  Gesetz  vom 
23.  Mai  1873  enthaltenen  Abänderungen  und  Zusätzen.  Femer  das  Gesetz  vom 
25.  März  1892  über  das  Seefischereigewerbe.  Auch  finden  sich  über  die  Land- 
wirtschaft zahlreiche  Bestimmungen,  die  im  allgemeinen  Interesse  verschiedene 
Einschränkungen  auferlegen,  so  hinsichtlich  der  Vertragsfreiheit  bei  Übertragung 
von  Land  zum  Anbau,  hinsichtlich  der  Zerstückelungsfreiheit  usw.  Vom  gleichen 
Gesichtspunkte  müssen  auch  die  Schonzeitbestimmungen  im  Jagdgesetz  vom 
1.  April  1871  und  Fisch ereigesetz  vom  5.  April  1888  angesehen  werden.  Un- 
mittelbar den  Schutz  der  bestehenden  Landwirtschaft  haben  solche  Be- 
stimmungen im  Auge,  wie  die  im  Gesetz  vom  1.  April  1891  über  die  Fabrikation 
der  Margarine  enthaltenen. 

IV.  Eine  andere  Reihe  von  Bestimmungen  beabsichtigt  den  Schutz  gegen- 
über der  Ausnutzung  des  Leichtsinns,  der  bedrängten  Lage  u.  dergl.  Indessen 
hat  das  dänische  Strafrecht  keine  den  modernen  Wuchergesetzen  entsprechenden 
Bestimmungen  aufzuweisen,*)  vielmehr  begnügt  es  sich  durchgehends  mit  dem 
unter  Umständen  anwendbaren  Betrugsparagraphen.  Die  älteren  Be'stimmungen 
über  den  Wucher  haben,  nachdem  das  Gesetz  vom  6.  April  1855  den  früher 
beschränkten  Zinsfuss  frei  gegeben  hat  (ausgenommen  für  Darlehn  gegen 
Pfand  in  festes  Eigentum),  nur  für  diesen  Ausnahmefall  Bedeutung.  Die 
Strafe  ist  nach  dem  Gesetz  von  1855  Einziehung  des  Kapitals  und  eine  Geld- 
strafe bis  zum  24  fachen  Betrage  des  ungesetzlichen  gezogenen  Vorteils.  Der 
Wucherbegriff  setzt  nämlich  voraus,  dass  der  ungesetzlich  ausbedungene 
Vorteil  gezogen  ist,  sodass  also  der  Versuch  des  Wuchers  straflos  ist.  In 
dieser  Verbindung  können  auch  die  Strafbestimmungen  angeführt  werden  für 
Übertretung  der  Verordnungen,  die  für  die  Miete  von  Gesinden  und  Seeleuten 
eingeführt  sind  (Gesetze  vom  1.  April  1891  und  12.  April  1892)  sowie  für  ver- 
schiedene Beschäftigungen,  deren  Ausüber  zum  Publikum  in  seiner  Allgemein- 
heit in  Beziehung  treten  oder  ihm  ihre  Dienste  darbieten;  so  das  Gesetz  vom 
21.  Juni  1867  über  Pfandleiher  und  daran  sich  schliessende  Regulative,  die 
Bestimmungen  über  die  Auswanderungsagenten  usw.  im  Gesetz  vom  1.  Mai  1868 
mit  einem  späteren  Zusätze  vom  25.  März  1872. 

V.  Die  bisher  genannten  Bestimmungen  betreffen  Zuwiderhandlungen 
gegen  mehr  oder  minder  allgemeine  Anforderungen;  daneben  giebt  es  noch  eine 
Reihe  Vergehungen,  die  die  Gerechtsamen  des  Einzelnen,  insbesondere  soweit 


^)  Ein  Gesetzentwurf  dieser  Art  lag  dem  Reichstage  im  Jahre  1887  vor,  ist  aber 
nicht  Gesetz  geworden. 


224  Dänemark.  —  Nebenländer  und  Kolonieen. 


sie  an  das  Erwerbsleben  anknüpfen,  verletzen.  Von  Bedeutung  sind  hier  die 
Verletzungen  des  Urheberrechts  (Verfasserrechts  u.a.;  Gesetze  vom  29.  De- 
zember 1857,  31.  März  1864  u.a.).  Von  anderen  Gebieten  ist  zu  nennen 
der  EingiiflF  in  die  Patentrechte  (vgl.  die  früher  angeführte  Gewerbeordnung 
vom  29.  Dezember  1857  §94),  die  Alleinberechtigung  auf  Warenzeichen  (G.  vom 
2.  Juli  1880),  femer  auf  Jagd  (G.  vom  1.  April  1871)  und  auf  Fischerei  (G.  vom 
5.  April  1888). 

VI.  Diese  Bestimmungen  bilden  einen  Übergang  zu  der  Gruppe  von 
Strafbestimmungen  für  die  Pflichtverletzungen  in  besonderen  Bechts Verhältnissen 
der  Bürger  untereinander.  Übrigens  knüpft  sich  bei  diesen  Bestimmungen 
das  Hauptinteresse  nicht  an  die  strafrechtliche  Seite,  auf  die  es  uns  hier  allein 
ankommt.  Von  hierher  gehörigen  Gesetzen  mag  angeführt  werden  das  Gesetz 
vom  10.  Mai  1854  mit  Straf bestimmungen  für  die  Übertretungen  der  Pflichten 
im  Gesindeverhältnis.  Ähnliche  Bestimmungen  für  das  Lehrlingsver- 
hältnis finden  sich  im  Gesetz  vom  30.  März  1889.  Mit  Rücksicht  auf  die 
Dienstverhältnisse  zur  See  gilt  das  Seegesetz  vom  1.  April  1892.  Auch  für  die 
Übertretungen  der  Pflichten  in  besonderen  öffentlich-rechtlichen  Verhältnissen 
findet  sich  eine  Reihe  Bestimmungen.  Vom  Militärstrafgesetzbuch,  das  an  und 
für  sich  hierher  gehört,  ist  bereits  gesprochen.  Daneben  können  alle  eigent- 
lichen Amtsverbrechen  genannt  werden,  von  denen  indessen  das  Straf- 
gesetzbuch einen  grossen  Teil  aufgenommen  hat.^)  Endlich  können  in  dieser 
Verbindung  auch  eine  Reihe  Disziplinarvergehen  angeführt  werden;  soweit  sie 
Strafgefangene  betreffen,  sind  die  entsprechenden  Straf  bestimmungen  bereits 
früher  genannt.  Mit  Rücksicht  auf  die  der  Fürsorge  des  Armenwesens  unter- 
worfenen Personen  kommen  die  Bestimmungen  im  Armengesetz  vom  9.  April 
1891  §  41  zur  Anwendung. 


n. 

§  7.    NebenlBnder  und  Kolonieen. 

Wie  die  dänischen  Gesetze  überhaupt  für  die  FserOer  gelten,  insoweit 
keine  besondere  Ausnahme  gemacht  ist,  so  finden  auch  durchgehends  die  Straf- 
gesetze des  Königreiches,  darunter  namentlich  das  allgemeine  bürgerliche, 
hier  Anwendung.  Island  hat  dagegen  zu  einem  grossen  Teil  seine  besondere 
Gesetzgebung,  aber  ihre  Bedeutung  ist  auf  strafrechtlichem  Gebiete  im  wesent- 
lichen doch  nur  formell,  indem  das  allgemeine  bürgerliche  Strafgesetzbuch 
für  Island  vom  25.  Juni  1869  in  allen  Hauptsachen  vollkommen  mit  dem  von  1866 
übereinstimmt.  Für  Grönland,  wo  die  besonderen  Verhältnisse  sowohl  eine 
Durchführung  der  Bestimmungen  des  allgemeinen  Strafgesetzbuches,  wie  auch 
eine  in  gewöhnlicher  Weise  geordnete  Rechtspflege  unmöglich  machen,  ent- 
halten die  vorläufigen  Bestimmungen  über  die  Vorsteherschaften  in  Grönland 
vom  31.  Januar  1872  neben  den  Regeln  über  die  Rechtspfiege  auch  die  für 
die  Eingeborenen  geltenden  Straf  bestimmungen.  Für  die  dänischen  Besitzungen 
in  Westindien  gilt  noch  das  im  Königreiche  vor  dem  Strafgesetz  von  1866 
geltende  Recht.  Euer  haben  also  die  früher  angeführten  vier  systematischen 
Gesetze  von  1833,   1840  imd  1841  noch  praktische  Bedeutung. 

*)  Das  bereits  im  Grundgesetz  angekündigte  Gesetz  über  die  Ministerveraut- 
wortlichkeit  ist  niemals  erlassen  worden. 


§  8.    Litteratur,  Rechtsprechung,  Gesetzsammlungen.  225 


HL 

§  8.    Litteratur,  Rechtsprechung,  Oesetzsammlungen. 

I.  Infolge  des  in  allen  wesentlichen  Punkten  bestimmenden  Einflusses,  den  das 
allgemeine  bürgerliche  Strafgesetzbuch  auf  das  ganze  dänische  Strafrecht  ausübt, 
stehen  auch  in  der  strafrechtlichen  Litteratur  die  an  dieses  Gesetzbuch  sich  an- 
schliessenden Werke  im  Vordergrunde  des  Interesses.  In  ganz  eigentlichem  Sinne 
ist  das  der  Fall  einerseits  mit  den  bereits  erwähnten  Motiven  zum  Strafgesetzbuch, 
andererseits  mit  einzelnen  sogleich  nach  dem  Zustandekommen  des  Gesetzes  er- 
schienenen Arbeiten,  so  namentlich  E.  Jürgensen,  Anleitung  zum  Verständnisse  der 
Grundsätze  des  Strafgesetzbuches  (Kopenhagen  1866),  ferner  Schi0rring,  Beitrag  zur 
Erläuterung  des  neuen  Strafgesetzbuches  (Tidsskrift  for  Retsvaesen,  Zeitschrift  für 
Rechtswesen,  1866),  vgl.  ferner  verschiedene  Abhandlungen  in  der  Ugeskrift  for  Rets- 
vaesen (Wochenschrift  für  Rechtswesen)  1867.  Von  weitaus  grösserer  Bedeutung  ist 
jedoch  die  geistvolle  systematische  Bearbeitung  des  dänischen  Strafrechts,  die  wir  der 
Hand  des  gegenwärtigen  Kultusministers  Goos  verdanken.  Sie  hat  die  Litteratur  um 
ein  gewiss  noch  nicht  vollendetes,  aber  in  seinem  architektonischen  Aufbau  muster- 
haftes und  in  der  Durchführung  der  Gedanken  ebenso  scharfsinniges  wie  gründliches 
Werke  bereichert.  Bisher  ist  erschienen:  I.  Einleitung  in  das  dänische  Strafrecht 
(Kopenhagen  1875),  II.  Über  das  Verbrechen  (Kopenhagen  1878),*)  sowie  Vorlesungen 
über  des  dänischen  Strafrechts  speziellen  Teil  (Kopenhagen  1887).  Daneben  hat  Goos 
im  5.  Heft  der  nordischen  Rechtsencyklopädie  (1882)  eine  kürzer  gefasste  vergleichende 
Darstellung  des  allgemeinen  Teils  der  drei  nordischen  Strafrechte  gegeben,  die  uns 
als  vorläufige  Ergänzung  von  des  Verfassers  Hauptwerk  auf  den  Gebieten  dient,  die 
in  jenem  noch  nicht  ihre  endgültige  Bearbeitung  gefunden  haben.  In  seinen  Vor- 
lesungen über  die  allgemeine  Kechtslehre  (I.  IL,  1885 — 1892)  hat  derselbe  Verfasser 
im  Abschnitt  über  die  Rechtsanwendung  (Kap.  6)  eine  von  seltener  Klarheit  und 
Konsequenz  zeugende  Darstellung  einiger  Grundfragen  des  Strafrechts  geliefert. 
Endlich  hat  er  auch  in  verschiedenen  kleineren  Arbeiten  seine  hervorragende  krimi- 
nalistische Begabung  an  den  Tag  gelegt,  so  besonders  in  einer  vortrefflichen  Abhand- 
lung über  die  internationale  kriminalistische  Vereinigung  (Tidsskrift  for  Fsengels- 
v*sen,  Zeitschrift  für  Gefängniswesen  1890),  sowie  er  auch  als  Mitarbeiter,  des 
V.  Holtzendorff-Jagemannschen  Handbuches  für  Gefängniswesen,  ferner  durch  Über- 
sichten in  ausländischen  Fachblättern  und  auf  andere  Weise  zu  ausgebreiteter  Kennt- 
nis des  dänischen  Strafrechts  beigetragen  hat. 

Von  den  Arbeiten  anderer  Verfasser  sind  einige  grössere  Monographieen  zu 
erwähnen,  so  Jul.  Lassen,  Voraussetzungen  des  strafbaren  Versuches  (Kopenhagen 
1879);  Gram,  die  strafrechtliche  Bedeutung  des  Motivs  (Kopenhagen  1889)  und  Schau, 
Begründung  und  Zweck  der  Strafe  (Kopenhagen  1889);  femer  mehrere  kleinere 
Abhandlungen,  besonders  von  N.  Lassen^)  in  den  späteren  Jahrgängen  der  Ugeskrift 
for  , Retsvaesen  (Wochenschrift  für  Rechtswesen);  sodann  von  gerichtsmedizinischer 
Seite  nicht  wenige  Arbeiten  von  Tryde,^)  Pontoppidan*)  u.  a.  In  der  seit  1888  er- 
scheinenden Nordisk  Tidsskrift  for  Retsvidenskab  (Nordische  Zeitschrift  für  Rechts- 
wissenschaft) sind  auch  wertvolle  strafrechtliche  Arbeiten  zu  finden. 

IL  Bezüglich  der  Rechtsanwendung  ist  auf  die  Urteilssammlungen  zu  verweisen; 
für  die  Zeit  nach  dem  Strafgesetzbuch  besonders  auf  die  Ugeskrift  for  Retsvaesen 
(seit  1867)  und  die  H0iesteretstidende  (Höchstegerichtszeitung ,  seit  1857).  Eine  nütz- 
liche Anleitung  enthält  Ipsen  und  Scharling,  Systematische  Übersicht  über  die  Urteile 

^)  Die  Darstellung  desselben  ist  jedoch  im  vorliegenden  Band  noch  nicht  zu 
Ende  geführt. 

-)  So:  Über  Urkundenfälschung.  Über  StGB.  §  123  (Ugeskrift  usw.  1879).  Über 
Erpressung  (a.  0.  1883).     Über  nachfolgende  Teilnahme  (a.  O.  1886)  u.  a. 

^)  Die  Rechtsstellung  des  Geisteskranken  (Kopenhagen  1865);  die  Zurechnungs- 
fähigkeit vom  Standpunkte  des  Gerichtsarztes  (ebenda  1867).  Über  den  sogenannten 
moralischen  Irrsinn  (Zeitschrift  für  Gefängniswesen  1880),  vgl.  Lykke,  Beitrag  zur 
Lehre  von  der  Moral  insanity  (Kopenhagen  1879). 

*)  Die  Anwendung  der  verminderten  Zurechnungsfähigkeit  (Ugeskrift  usw.  1880). 
Die  Verwandtschaft  zwischen  Verbrechen  und  Geisteskrankheit  (Nord.  med.  Arch. 
1882).  Die  Grade  der  Zurechnungsfahigkeit  (Schwed.  Zeitschr.  für  Gesetzgebung 
1882).  Vier  psychiatrische  Vorträge  (Kopenhagen  1891).  Psychiatrische  Vorlesungen 
und  Studien  (Kopenhagen  1892)  u.  a. 

8trafgj?setzgebung  der  Gegenwart.    I.  1,5 


226  Dänemark.  —  Litterat ur,  Rechtsprechung,  Gesetzsammlungen. 


des  Höchsten  Gerichts  in  Strafsachen  1857—1874  (Kopenhagen  1876)  und  1875—1884 
(Kopenhagen  1885). 

III.  Auf  dem  Gebiet  der  Gefängnis  Wissenschaft  ist  namentlich  die  tüchtige  Arbeit 
von  F.  Bruun  hervorzuheben:  Über  die  Vollstreckung  der  Strafarbeit  (Kopenhagen 
1867);  femer  mögen  die  offiziellen  Berichte  über  den  Zustand  der  Strafanstalten  an- 
geführt werden.  In  der  seit  1878  erscheinenden  Nordisk  Tidsskrift  for  Fsengselsva^sen 
(Nordische  Zeitschrift  für  Gefängniswesen)  haben  die  Interessen  der  Gefängniswisseu- 
schaft  ein  eigenes  Organ  erhalten. 

IV.  Mit  dem  Strafgesetzbuch  von  1866  hat  indessen  die  ältere  Litteratur  keineswegs 
alles  Interesse  verloren.  Die  Anwendung  des  geltenden  Rechts  selbst  setzt  beständige 
wissenschaftliche  Untersuchungen  voraus,  für  die  man  sich  nicht  selten  auch  bei 
älteren  Schriftstellern  mit  Vorteil  Rats  erholen  kann.  Dies  gilt  besonders  von  0rsted 
und  Bomemann,  deren  Arbeiten  in  der  That  einen  Gedankenreichtum  von  bleibender 
Bedeutung  für  alle  Zeit  in  sich  enthalten.    Daneben  haben  Bomemanns  Arbeiten  die 

fanz  besondere  Bedeutung,  mehr  als  irgend  etwas  anderes  zur  Vorbereitung  des 
trafgesetzbuches  von  1866  beigetragen  zu  haben.  Seine  „Vorlesungen  über  Straf- 
recht" sind  in  Bd.  3  und  4  seiner  nach  seinem  Tode  herausgegebenen  Gesammelten 
Schriften  erschienen.  Von  0rsteds  epochemachenden  Arbeiten  sind  namentlich  die 
Einleitung  in  das  dänische  und  norwegische  Kriminalrecht  (Archiv  für  Rechtswissen- 
schaft, III— V,  1826—1828),  sowie  ausführliche  Monographieen  über  fast  alle  wichtigeren 
Verbrechensarten  hervorzuheben.  Auch  mag  an  den  von  Howitz  mit  seiner  Ab- 
handlung: Über  Wahnsinn  und  Zurechnung  (Juristische  Zeitschrift  VIII,  1824)  er- 
öffneten Streit  erinnert  werden,  an  dem  0r8ted,  Sibbem  und  Brandes  teilnahmen.  Von 
jüngeren  strafrechtlichen  Schriftstellern,  deren  Arbeiten  jedoch  vor  dem  Strafgesetz- 
buch liegen,  ist  zu  nennen:  Algreen-Ussing,  Gasse,  Schönberg,  Nyholm  u.  a.*) 

V.  Über  die  verschiedenen  Gesetzsammlungen  sei  noch  bemerkt,  dass  seit  1871 
eine  offizielle  Gesetzes-  und  Ministerial-Zeitung  erscheint,  während  man  für  die  Zeit 
vor  1871  auf  private  Sammlungen  angewiesen  ist,  von  denen  die  von  Schon  be- 
gonnene, von  Ussing  fortgesetzte  die  vollständigste  und  allgemein  benutzte  ist 
(40  Bände,  1670—1870);  sie  wird  übrigens  beständig  fortgesetzt.  Daneben  giebt  es 
eine  kleinere  Gesetzsammlung,  herausgegeben  von  Klein,  später  ergänzt  und  fort- 
gesetzt von  Damkjaer  und  Kretz.  Für  detailliertere  und  speziellere  administrative  Be- 
stimmxmgen  kann  auf  die  Reskriptsammlungen  verwiesen  werden  (die  grosse  von 
Fogtmann,  fortgesetzt  von  Ussing;  eine  kleine  in  2  Bänden  von  Linde,  Schi0rring 
und  Ussing).  Für  die  Zeit  nach  1871  tritt  im  ganzen  an  deren  Stelle  die  Ministerial- 
tidende  (Ministerialzeitung). 

*)  Erschöpfende  Li tteraturan gaben  findet  man  bei  Aagesen,  Verzeichnis  der 
Rechtssammlungen,  Rechtslitteratur  u.  a.  in  Dänemark,  Norwegen  und  Schweden 
(Kopenhagen  1876),  nebst  späteren  Zusätzen  (nur  für  Dänemark)  von  Secher  in 
Ugeskrift  for  Retsvsesen  1884  und  1889. 


2.  Norwegen. 

I.   Allgemeiner  Teil. 

§  1.   Quellen. 

Das  noch  geltende  Hauptgesetz  ist  das  allgemeine  StG.  von  1842, 
welches  wesentlich  nach  den  Mustern  deutscher  StG.  und  namentlich  des  han- 
noveranischen  StG.-Entw.  von  1826  ausgearbeitet  worden  ist.  Es  sind  jedoch  im 
Laufe  der  Zeit  in  verschiedenen  Teilen  desselben  bedeutende  Änderungen  vor- 
genommen worden.  Durch  G.  v.  1866  und  1874  wurde  eine  Reihe  von  Straf- 
milderungen eingeführt,  unter  andern  auch  die  unbedingte  Androhung  der 
Todesstrafe  prinzipiell  aufgegeben,  und  neben  dieselbe  beinahe  überall  alter- 
nativ lebenslängliche  Strafarbeit  gestellt.  Noch  viel  durchgreifender  sind 
aber  die  in  den  Jahren  1889  und  1890  vorgenommenen  Neuerungen,  durch 
welche  die  ganzen  von  Totschlag,  Körperverletzung,  Beleidigung,  Betrug, 
und  Fälschung  handelnden  Kap.  umgeschaflFen  sind  und  auch  diejenigen  des 
Diebstahls,  des  Raubes  und  der  Freiheitsentziehung  grössere  Änderungen  er- 
fahren haben.  Der  allgemeine  Teil  des  StG.  v.  1842  ist  dagegen  noch  in  allen 
seinen  Hauptzügen  gültig  und  insbesondere  ist  das  Strafensystem  noch  das- 
selbe, obwohl,  was  den  Strafvollzug  betriflFt,  durch  eine  Reihe  von  Massregeln, 
namentlich  durch  die  Schaffung  neuer,  guter  Gefängnisse,  viele  Besserungen 
errungen  sind,  unter  denen  vor  allem  die  Durchführung  der  Einzelhaft  beinahe 
aller  zu  weniger  als  dreijähriger  Freiheitsstrafe  Verurteilten  erwähnt  werden 
muss.  Es  wird  aber  jetzt  ein  Entw.  eines  ganz  neuen  allgemeinen  StG.  von 
einer  Kommission  ausgearbeitet,  durch  welchen  auch  die  Prinzipien  des  all- 
gemeinen Teiles  einer  durchgehenden  Revision  unterzogen  werden  sollen. 

Neben  dem  allgemeinen  StG.  bestehen  noch  verschiedene  andere  G., 
die  für  das  StR.  von  grosser  Bedeutung  sind,  und  zwar:  1.  das  Mil.-StGB.  v. 
23.  März  1866;  2.  das  Seegesetz  v.  24.  März  1860,  dessen  Kap.  10  vonVerbr. 
in  Dienstverhältnissen  zur  See  handelt;  3.  das  G.  die  Verantwortlichkeit  der 
Minister  betr.  v.  7.  Juli  1828;  4.  das  Zollgesetz  v.  20.  September  1845,  Kap.  8. 

Dagegen  besitzt  Norwegen  kein  allgemeines  Polizei-StGB.  Die  grosse 
Zahl  von  Strafbestimmungen  polizeilicher  Art,  die  natürlich  hier  wie  anderswo 
vorhanden  sind,  finden  sich  teils  in  den  verschiedenen  G.  zerstreut,  welche 
die  betreffenden  Materien  behandeln,  so  in  Steuer-,  Gewerbe-,  Patent-,  Fischerei-, 
Branntwein-,  Bau-,  Brau-  und  Postgesetzen,  im  G.  betr.  das  Urheberrecht,  im 
G.  betr.  die  Schonzeit  des  Wildes,  in  der  StPO.,  in  Gesinde-Ordnungen  usw.; 
teils  in  alten  Polizei -Vdgn.  einzelner  Städte  oder  in  örtlichen  Statuten,  die 
von  den  verschiedenen  Gemeindevertretungen  angenommen  und  vom  König 
bestätigt  sind. 

15* 


•  

228  Norwegen.  —  Allgemeiner  Teil. 


Was  die  Bettelei  und  das  Vagabundentum  betrifft,  so  finden  sich  die  sich 
darauf  beziehenden  Bestimmungen  in  den  Armengesetzen.  Einige  Vorschriften 
eigentlich  polizeilicher  Natur  enthält  auch  das  allgemeine  StG.  selbst,  während 
auf  der  anderen  Seite  auch  Strafdrohungen  existieren,  die  richtiger  im  all- 
gemeinen StG.  ihren  Platz  hätten,  die  aber  in  besonderen  Gesetzen  gegeben 
sind.  So  enthält  z.  B.  das  G.  v.  1854,  den  Eisenbahnbetrieb  betr.,  die  Straf- 
bestimmungen wegen  vorsätzlicher  oder  fahrlässiger  Zerstörung  oder  Gefähr- 
dung der  Eisenbahnen.  Von  strafbarem  Wucher  handelt  ein  besonderes  G. 
vom  29.  Juni  1888. 

Durch  §  96  der  norwegischen  Verfassung  ist  der  Satz :  Nulla  poena  sine 
lege  gewährleistet.  Zwar  hat  sich  die  Praxis  nicht  immer  der  analogen  An- 
wendung der  Strafbestimmungen  enthalten.  Dadurch  ist  Indessen  eine  Ver- 
fassungsbestimmung unzweifelhaften  Inhaltes  nicht  aufgehoben. 

§  2.    Litteratur. 

Lasson,  Haandbog  i  Kriminalretten  (Handbuch  des  StR.)  I.  bis  IIT.  Bd.,  1848  bis 
1851  nebst  Supplement  1858  und  Sämling  af  Bidrag  til  Strafferetten  (Sammlung  von 
strafrechtlichen  Beiträgen)  1871 — 1872.  —  Schweigaard,  Kommentar  over  den  norske 
Kriminallov  (Kommentar  des  norwegischen  Strafgesetzes)  I.,  II.  Bd.,  1.  Ausg.  1844  bis 
1846,  3.  1882.  —  Getz,   Om   den   saakaldte   Delagtighed  i  Forbrydelser  (Von  der   so- 

fenannten  Teilnahme  an  Verbr.)  in  Norsk  Retstidende  1876,  S.  1 — 64.  —  Bachke,  Om 
orbrydelsers  Sammenstöd  (Von  der  Verbrechensmehrheit)  in  „Ugeskrift  for  Lovkvn- 
dighed"  1862/63.  —  Hagerup,  Om  Formuesindgreb  og  Dokumentforbrydelser  (von 
Eigentumsverbrechen  und  Urkundenfälschung)  in  „Norsk  Retstidende"  1891.  —  Brandt, 
ForelaBsninger  over  den  Norske  Retshistorie  (Vorlesungen  über  die  norwegische  Rechts- 
geschichte II,  4.  Abschnitt,  Verbr.  und  Strafen)  1883.  —  Getz,  Udkast  til  Den  alm. 
borgerlige  Strafelovs,  forste  Del  (Entwurf  des  allgemeinen  Teils  des  allgemeinen  bür- 
gerlichen Strafgesetzes)  nebst  Motiven  1887.  —  Getz,  Udkast  til  Lov  om  sapdelig  for- 
komne  og  van,  vyrdede  Borns  Behandling  (Entwurf  eines  Gesetzes  über  die  Behand- 
lung sittlich  verwahrloster  und  gemisshandelter  Kinder)  nebst  Motiven  1892,  —  v.  Liszt, 
Kritik  af  det  norske  Strafflovudkast  (Kritik  des  norwegischen  StG.-Entw.)  in  „Tidsskrift 
for  Retsvidenskaben"  1889.  „Forslag  til  Lov  indeholdende  Forandringer  i  Lov  ang. 
Forbrvdelser  af  20  Aug.  1842  med  Motiver*",  von  der  Straf gesetzkommission  ausge- 
arbeitet, 1888. 

Gesetzesausgaben:  Mejlaender,  Den  norske  StraflPlov  (Das  norwegische  StG.)  etc. 
1889.  —  Faerden,  Lov  af  28.  juli  1890  indeholdende  Forandringer  i  Lov  om  Forbry- 
delser etc.  1890. 

Die  bedeutenderen  strafrechtlichen  Entscheidungen  des  norwegischen  Höchsten 
Gerichtes  sind  in  „Norsk  Retstidende**  aufgenommen.  Es  fehlt  dagegen  leider,  nach- 
dem i.  J.  1890  die  Schwurgerichte  eingeführt  wurden,  noch  eine  Veröffentlichung  der 
interessanteren,  vor  diesen  stattgefundenen  Verhandlungen. 

§  3.    Herrschaftsgebiet  des  norw.  StR. 

Das  norw.  StR.  findet  Anwendung  auf  alle  auf  norw.  Territorium 
(darunter  auf  norw.  Schiffen)  vorgenommenen  Handlungen,  insofern  dem  Han- 
delnden nicht  des  Recht  der  Exterritorialität  gebührt.  Wegen  im  Auslande 
vorgenommener  Handlungen  findet  es  Anwendung,  wenn  entweder  der  Thäter 
ein  Norweger  ist  oder  wenn  durch  sie  der  norw.  Staat  oder  ein  Norweger 
verletzt  worden  ist  und  der  König  die  Verfolgung  beschliesst.  Hierbei  muss 
bemerkt  werden,  dass  jedoch  vielen  Strafbestimmungen  ein  so  weiter  Wirkungs- 
kreis nicht  beigelegt  werden  kann,  weil  sie  überhaupt  nur  für  das  norw.  Terri- 
torium gegeben  sind,  so  die  meisten  Polizeiverbote.  Auch  wird  in  vielen  Fällen 
eine  im  Auslande  vorgenommene  Handlung  deswegen  nach  norw.  Rechte  nicht 
als  ein  Verbr.  angesehen  werden  können,  weil  sie  nach  den  G.  des  Handlungs- 
ortes  überhaupt  keine  Rechtswidrigkeit  enthält.  Wie  weit  aber  dieser  Gesichts- 
punkt entscheidend  ist,  unterliegt  grossen  Zweifeln;  und  gewiss  ist  auf  der 
anderen  Seite,    dass,    wenn  Strafe    überhaupt    angewendet  werden    kann,    das 


§  4.    Das  Strafensystem.  229 


norw.  StG.  durchaus  zur  Anwendung  kommt,  ohne  jegliche  Rücksicht  darauf, 
ob  etwa  nach  dem  StG.  des  Ortes  die  Strafe  gelinder  oder  vielleicht  verjährt 
oder  aus  anderen  Gründen  weggefallen  ist.  Eine  erfolgte  ausländische  Be- 
strafung schliesst  jedoch  die  nochmalige  inländische  Verfolgung  unbedingt  aus. 

§  4.    Das  Strafensystem. 

Die  Todesstrafe  steht  noch  im  GB.,  ist  aber  in  den  letzten  16  Jahren 
nicht  zur  Anwendung  gekommen.  Die  Vollstreckung  geschieht  durch  Intra- 
muran-Hinrichtung. 

Von  den  Freiheitsstrafen  kennt  das  G.  zwei  Hauptarten:  Strafarbeit 
und  Gefängnisstrafe. 

Die  Dauer  der  Strafarbeit  ist  entweder  lebenslänglich  oder  von  6  Mo- 
naten bis  zu  15  (ausnahmsweise  18)  Jahren.  Männer  zwischen  18  und  50  Jahren, 
die  zu  höchstens  dreyähriger  Strafarbeit  verurteilt  und  nicht  auf  derselben 
Weise  nach  ihrem  25.  Jahre  vorbestraft  sind,  verbüssen  die  Strafe  in  Einzelhaft. 
Alle  Weiber  und  die  übrigen  zu  Strafarbeit  verurteilten  Männer  kommen  in 
Gemeinschaftshaft,  doch  mit  Absonderung  während  der  Nacht. 

Die  Gefängnisstrafe  ist  entweder  Gef.  mit  Wasser  und  Brot  von  4  bis 
zu  30  Tagen  oder  mit  gewöhnlicher  Gefängniskost  von  16  bis  zu  120  Tagen 
oder  sog.  Arrest,  d.  h.  einfache  Freiheitsentziehung  von  32  bis  zu  240  Tagen. 
Arbeitszwang  findet  in  keinem  Falle  statt;  es  soll  aber,  soweit  möglich,  den 
Gefangenen  Gelegenheit  gegeben  werden,  sich  zu  beschäftigen. 

Die  Geldstrafe  kann  nach  dem  StG.  von  8  Kronen  bis  zu  800  Kronen 
bemessen  werden,  nach  anderen  Gesetzen  teilweise  auch  niedriger  und  höher. 
Bei  der  Feststellung  des  Betrages  soll  auf  die  Vermögensverhältnisse  des  Schuldigen 
Rücksicht  genommen  werden,  eine  Vorschrift,  die  aber  des  engen  gesetzlichen 
Strafmasses  wegen  nur  unvollkommen  durchgeführt  werden  kann.  In  den 
Spezialgesetzen  giebt  es  auch  viele  Fälle,  wo  der  Betrag  entweder  absolut 
oder  im  Verhältnis  zum  Entwendeten  oder  in  ähnlicher  Weise  bestimmt  ist. 
Statt  der  Geldstrafe  tritt,  wenn  der  Verurteilte  nicht  bezahlt  und  sie  nicht 
ohne  seine  Verarmung  eingetrieben  werden  kann,  Gef.  bis  zu  denselben  Zeit- 
grenzen ein,  welche  für  die  Gefängnisstrafe  selbst  gelten. 

Die  Geldstrafe  ist  für  die  Polizeiübertretungen  fast  die  einzige  und  folglich 
die  allergewöhnlichste  Strafe,  wobei  jedoch  zu  bemerken  ist,  dass  sie  ungefähr 
eben  so  oft  in  Gefängnisstrafe  umgewandelt  werden  muss,  wie  sie  durch  Ent- 
richtung des  festgesetzten  Betrages  abgemacht  wird.  Für  die  kleineren  der 
eigentlichen  Verbr.  (Verg.  im  Sinne  des  deutschen  StG.)  ist  Gef.  mit  Wasser 
und  Brot  die  häufigste  Strafe,  so  z.  B.  für  den  einfachen  Diebstahl.  Die  Arrest- 
strafe wird  dagegen  beinahe  nie  angewendet,  und  das  Gef.  mit  gewöhnlicher 
Gefängniskost  im  allgemeinen  nur  gegen  jugendliche  und  andere  Personen, 
welche    die  Kostschmälerung   nicht   ohne  Gefahr   ertragen   können,    verhängt. 

Eine  besondere  Strafe  für  öffentliche  Beamte  ist  die  Dienstentlassung, 
mit  welcher  die  Erklärung  der  Unwürdigkeit,  in  Zukunft  ein  öffentliches  Amt 
zu  bekleiden,  verbunden  werden  kann.  Diese  Strafart  kommt  nicht  nur  wegen 
Dienstvergehen  zur  Anwendung,  sondern  vertritt  auch  bei  den  gewöhnlichen 
Strafthaten  oft  die  Geld-  oder  die  Gefängnisstrafe. 

Kinder  unter  10  Jahren  können  nicht  bestraft  werden.  Knaben  zwischen 
10  und  15  Jahren  werden  gewöhnlich  mit  Rutenstreichen  oder  mit  Gef.  von 
8  bis  zu  60  Tagen  gestraft.  Wegen  der  schwersten  Verbr.  kann  auch  Straf- 
arbeit bis  zu  9  Jahren  angewendet  werden.  In  leichteren  Fällen  kann  an 
Stelle  der  körperlichen  Züchtigung  oder  der  Gefängnisstrafe  ein  Verweis  treten. 
Auch    kann    der   Richter    statt    derselben    Strafen    die  Unterbringung   in    eine 


230  Norwegen.  —  Allgemeiner  Teil. 


Zwangserziehuiigsanstalt  anordnen,  wo  der  Knabe  bis  zum  18.  Lebensjahre 
behalten  werden  kann.  Voraussetzung  aller  dieser  Massregeln  ist  immer,  dass 
mit  Unterscheidungsvermögen  gehandelt  worden  ist.  Im  entgegengesetzten 
Falle  kann  das  Gericht  weder  Strafe  verhängen,  noch  Zwangserziehung  vor- 
schreiben ;  es  kann  aber  die  Schulbehörde  und  die  Armenverwaltung  in  vielen 
Fällen  sowohl  für  die  Erziehung  dieser  wie  der  sonstigen  verwalirlosten  Jugend 
Sorge  tragen.  Gegen  Mädchen  kann  nur  dann  körperliche  Züchtigung  An- 
wendung finden,  wenn  sie  noch  nicht  das  zwölfte  Lebensjahr  zurückgelegt 
haben.  Sonst  ^t  für  sie  nach  dem  G.  dasselbe  wie  für  die  Knaben.  In 
Wirklichkeit  wird  indessen  die  Rute  beinahe  nie  gegen  Mädchen  angewendet 
und  ihre  Unterbringung  in  Erziehungsanstalten  verbietet  sich  von  selbst,  weil 
es  keine  Anstalten  giebt,  welche  Mädchen  aufnehmen. 

Jugendliche  zwischen  15  und  18  Jahren  können  nicht  zur  Todesstrafe  ver- 
urteilt werden,  und  es  finden  auch  sonst  für  sie  einige  Strafermässigungen  statt. 

Im  Entw.  des  neuen  StG.  sind  in  Beziehung  auf  die  jugendlichen  Verbrecher 
durchgreifende  Änderungen  vorgeschlagen.  Wie  in  Schweden  und  Finnland 
soll  die  Altersgrenze  der  Strafunmündigkeit  regelmässig  bis  zum  15.  Jahre 
zurückgeschoben  und  die  Strafe,  was  die  jüngeren  betriffst,  durch  Erziehungs- 
massregeln ersetzt  werden. 

Eine  besondere  Strafart  für  Bettelei  ist  die  Zwangsarbeit,  die  in  diesem 
Falle  von  2  Monaten  bis  zu  1  Jahre  verhängt  werden  kann.  Sonst  konmit  die- 
selbe nicht  als  Strafe,  sondern  als  Polizeimassregel  gegen  Vagabunden  und 
Müssiggänger  zui*  Anwendung.  Zwangsarbeitsanstalten  sind  aber  bisher  nicht 
vom  Staate  errichtet  worden,  sondern  es  ist  den  Gemeinden  anheimgestellt, 
solche  zu  schaffen.  Wo  keine  vorhanden  sind,  tritt  Gefängnisstrafe  an  Stelle 
der  Zwangsarbeit. 

Auch  die  Einziehung  besteht  teils  als  Strafe,  teils  als  Sicherheitsmass- 
regel. Alles  was  durch  eine  strafbare  Handlung  erworben  ist,  sowie  alles, 
was  zu  einer  solchen  bestimmt  gewesen  ist,  kann  eingezogen  werden. 

Die  Polizeiaufsicht  ist  in  Norwegen  unbekannt.  Der  Verlust  der 
staatsbürgerlichen  Rechte  ist  nicht  Strafe,  sondern  eine  ipso  jure  ein- 
tretende Folge  der  meisten  Verbr.,  gegen  die  jedoch  nach  einiger  Zeit  reha- 
bilitiert werden  kann. 

Das  G.  betr.  die  Verantwortlichkeit  der  Minister  kennt  eine  besondere 
Art  Gefängnisstrafe,  die  Festungshaft;  und  verschiedene  besondere  Arten, 
die  jedoch  hier  nicht  näher  erwähnt  werden  können,  kommen  auch  nach  dem 
Mil.-StGB.  zur  Anwendung. 

Was  die  Strafzumessung  betrifft,  so  hat  das  Gericht  im  allgemeinen 
eine  grosse  Freiheit.  Die  Entwickelung  hat  entschieden  die  Richtung  ver- 
folgt, das  Strafmass  mehr  und  mehr  zu  erweitern,  und  es  ist  jetzt  Qichts 
Ungewöhnliches,  dass  das  Gericht  die  Wahl  hat  zwischen  Geldstrafe,  die  mit 
8  Kronen  anfängt,  Gef.  und  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren,  oder  zwischen  Straf- 
arbeit vom  6  Monaten  und  von  9,  ja  12  Jahren.  Regel  ist  es  aber,  dass  die 
Strafen  nicht  hoch  bemessen  werden,  sondern  sich  viel  näher  dem  Mindest- 
ais dem  Höchstmasse  halten.  Sind  in  dem  Gesetzesparagraphen  nur  zwei 
Strafarten  genannt,  so  ist  der  Richter  insofern  gebunden,  als  er,  wenn  nicht 
besondere  Umstände  vorhanden  sind,  die  erstgenannte  Strafart  zu  wählen  hat. 

§  5.     Versuch,  Teilnahme,  Wegfall  der  Strafe,  Antrag. 

Der  Versuch  eines  Verbr.  ist  in  der  Regel  strafbar,  soll  aber  gelinder 
gestraft  werden  als  das  vollendete  Verbr.  selbst. 

Bezüglich    der    Teilnahme    ist    das    System    des    G.  dasselbe   wie    das- 


§  5.    Versuch,  Teilnahme,  Wegfall  der  Strafe,  Antrag.  231 


jenige  der  meisten  deutschen  G.  Der  Anstifter  wird  gestraft  wie  der  Thäter 
selbst.  Derjenige,  der  Beihülfe  vor  der  That  geleistet  hat,  kann  auch  wie  der 
Thäter  gestraft  werden,  es  kann  aber  auch  seine  Strafe  viel  milder  bemessen 
werden.  Eltern  und  andere  Vorgesetzte,  die  unter  ihi*er  Aufsicht  stehende 
Personen  nicht,  wenn  möglich,  von  der  Begehung  strafbarer  Handlungen  ab- 
gehalten haben,  können  auch  bestraft  werden.  Hehlerei  und  Begünstigung 
werden  als  nachfolgende  Beihülfe  aufgefasst.  Für  die  nächsten  Angehörigen 
des  Schuldigen  ist  die  Förderung  seiner  Entweichung  nicht  strafbar.  Auch 
können  die  Mitglieder  seiner  Familie  nicht  zur  Verantwortung  gezogen  werden, 
weil  unentbelu'liche  Gegenstände,  die  sie  von  ihm  erhalten  haben,  durch 
strafbare  Handlungen  erworben  worden  sind. 

Das  Vorhandensein  eines  Notstandes,  der  von  Strafe  befreit,  erkennt 
das  G.  ausdrücklich  nur  dann  an,  wenn  es  notwendig  ist,  einem  anderen  Ver- 
mögensschaden zuzufügen,  um  des  Thäters  oder  eines  anderen  Leben  oder 
Gesundheit  aus  einer  gegenwärtigen  Gefahr  zu  retten.  Sonst  wird  der  im 
Notstande  handelnde  nur  wegen  Unzurechnungsfähigkeit  Straffreiheit  bean- 
spruchen können.  Dagegen  hat  das  Recht  der  Notwehr  vor  dem  norw.  G. 
unbedingte  Anerkennung  gefunden.  Freilich  haben  sich  in  der  gerichtlichen 
Praxis  Bestrebungen  bemerkbar  gemacht,  dies  Recht  einzuengen;  den  bestimmten 
Ausdrücken  des  G.  gegenüber  kann  jedoch  diesen  Versuchen  einer  einengenden 
Auslegung  keine  Bedeutung  beigemessen  werden.  Sind  die  Grenzen  der 
rechten  Notwehr  überschritten,  so  kann  von  Strafe  abgesehen  werden,  wenn 
der  Thäter  in  Bestürzung  gehandelt  hat.  Darf  nach  dem  Ermessen  des  Ge- 
richtes Straffreiheit  nicht  eintreten,  so  kann  doch  dieser  Umstand  bewirken, 
dass  die  Handlung  nur  als  fahrlässig  zugerechnet  wird. 

Das  Institut  der  Verjährung  hat  in  dem  geltenden  norw.  Rechte  keine 
durchgängige  Aufnahme  gefunden.  Die  Verfolgung  von  Verbr.,  die  nur  mit 
Gef.  oder  einer  noch  niedrigeren  Strafe  bedroht  sind,  verjährt  in  zwei  Jahren. 
Kann  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  alternativ  mit  Gef.  angewendet  werden,  so 
verjährt  die  Verfolgung,  wenn  5  Jahre  abgelaufen  sind.  Hat  der  Schuldige 
abermals  ein  ebenso  grosses  Verbr.  begangen,  so  wird  im  letzten  Falle  die 
Verjährung  dadurch  unterbrochen,  ja  selbst  eine  vollendete  Verjährung  wieder 
aufgehoben.  Hat  sich  der  Schuldige  durch  eine  unerlaubte  Handlung  der 
Verfolgung  entzogen,  so  findet  nur  ausnahmsweise  Verjährung  statt  und  die 
Frist  derselben  beträgt  dann  10  Jahre.  Ist  auf  Gefängnisstrafe,  Geldstrafe,  Rute 
oder  Einziehung  erkannt,  die  Strafe  aber  nicht  vollstreckt,  so  wird  auch  die 
Vollstreckung  nach  10  Jahren  durch  Verjährung  ausgeschlossen.  Die  Press- 
vergehen verjähren  in  einem  Jahre  nach  der  VeröflTentlichung,  die  kleineren, 
rein  militärischen  ebenso  in  einem  Jahre,  und  nach  anderen  Spezialgesetzen 
verjähren  verschiedene  Übertretungen  in  noch  kürzerer  Zeit.  Sonst  ist  sowohl 
die  Verfolgung  wie  die  Strafe  unverjährbar.  Es  ist  aber  der  Staatsanwalt- 
schaft eine  diskretionäre  Befugnis  gegeben,  die  Verfolgung  zu  unterlassen, 
wenn  entweder  eine  sehr  lange  Zeit  verflossen  ist  oder  andere  besondere  Gründe 
dafür  sprechen.  Gegen  Ejnder  braucht  überhaupt  Verfolgung  wegen  kleinerer 
Verbr.  nicht  einzutreten,  wenn  Unterbringung  in  eine  Anstalt  oder  eine  ge- 
eignete Familie  administrativ  erfolgen  kann. 

Gegen  alle  Strafen  kann  der  König  Begnadigung  erteilen. 

In  vielen  Fällen  hängt  die  öffentliche  Verfolgung  von  der  Stellung  eines 
Antrages  seitens  des  Verletzten  ab.  So  bei  Beleidigungen,  leichteren  Körper- 
verletzungen, Betrug,  Unterschlagung,  Diebstahl  unter  nahen  Angehörigen, 
Freiheitsentziehungen,  Notzucht  und  damit  verwandten  Verbr.  Einige  straf- 
bare Handlungen  sind  auch  überhaupt  nicht  Gegenstand  öffentlicher  Verfolgung. 
So  z.  B.  die  unerlaubte  Selbsthülfe,    einfache  Beleidigungen   und   beleidigende 


232  Norwegen.  —  Besonderer  Teil. 


Behauptungen,  die  nicht  wieder  besseres  Wissen  geschehen  sind,  und  ver- 
schiedene unerlaubte  Benutzungen  der  Sachen  anderer.  Sowohl  das  Recht 
den  Antrag  zu  stellen,  wie  das  Recht  selbst  zu  verfolgen,  verjährt  in  einem 
Jahre,  nachdem  der  Verletzte  von  der  strafbaren  Handlung  Kenntnis  erlangt 
hat.  Ein  gestellter  Antrag  kann  gültig  wieder  zurückgenommen  werden,  wenn 
der  Schuldige  noch  nicht  in  Anklagestand  versetzt  ist.  Dagegen  kann  der 
Antrag  nicht  in  der  Art  geteilt  werden,  dass  er  gegen  einige  der  Schuldigen 
mit  Ausschliessung  anderer  gerichtet  wird.  Auf  das  Recht,  den  Antrag  zu 
stellen,  kann  gültig  verzichtet  werden. 

§  6.    PressdeUkte. 

Besondere  Pressdelikte  kennt  das  norw.  Recht  beinahe  gamicht.  Was 
sonst  öffentlich  gethan  oder  gesagt  werden  darf,  ist  auch  in  einer  Druckschrift 
erlaubt.  Dagegen  hat  die  Benutzung  des  Druckes  eine  andere,  sehr  weitgehende 
Folge,  was  die  Verantwortlichkeit  für  die  auf  solchem  Wege  begangenen  Verbr. 
betrifft.  Der  Regel  nach  haftet  nämlich  nur  der  Verfasser,  und  selbst  der 
Redakteur  einer  Zeitung  kann  ^nicht  wegen  der  durch  diese  begangene  Be- 
leidigungen ,  Sittlichkeitsverbrechen ,  Aufforderungen  zum  Hochverrat  usw. 
gestraft  werden,  wenn  bewiesen  werden  kann,  dass  der  strafbare  Inhalt 
von  einem  andern  heiTührt.  Kann  dies  dagegen  nicht  bewiesen  oder  doch 
dem  Verfasser  die  volle  Verantwortlichkeit  nicht  zugemutet  werden,  so  haftet 
in  erster  Reihe  der  Herausgeber  oder  Verleger,  dann  der  Drucker  und 
zuletzt  der  Verbreiter,  als  ob  sie  die  Verfasser  wären.  Nachdem  gericht- 
liche Verfolgung  eingeleitet  ist,  kommen  einem  jeden  gegenüber,  der  sich 
weiterhin  mit  der  Verbreitung  der  Druckschrift  befasst,  die  allgemeinen  Regeln 
zur  Anwendung.  Ebenso  ist  z.  B.  der  Redakteur  verantwortlich,  wenn  er  nicht 
allein  Herausgeber  ist,  sondern  auch  zur  Abfassung  des  strafbaren  Inhaltes 
angestiftet  hat. 


n.    Besonderer  Teil. 

§  7.    Die  einzelnen  strafbaren  Handinngen. 

Die  einzelnen  Verbr.  werden  in  dem  allgemeinen  StG.  in  17  Kap.  be- 
handelt. Im  folgenden  wird  die  Ordnung  des  G.  im  wesentlichen  bewahrt, 
und  nur  insoweit  sollen  einige  Änderungen  vorgenommen  werden,  als  dies  not- 
wendig erscheint,  um  das  Zusammengehörige  nicht  zu  trennen.  Natürlich  können 
hier  nicht  alle  Strafbestimmungen  des  StG.  besprochen  werden.  Andererseits 
befinden  sich  auch  ausserhalb  dieses  G.  einige  wichtige  Bestimmungen  oder 
Gruppen  von  Bestimmungen,  die  deswegen  in  der  Darstellung  am  geeigneten 
Orte  erwähnt  werden  müssen. 

I.  Verbr.  gegen  den  Staat  und  die  Staatsgewalt.  Hochverrat 
gegen  die  vereinigten  Königreiche  wird  mit  Todesstrafe  oder  Strafarbeit  von 
mindestens  12  Jahren  bestraft.  Ein  norwegischer  oder  schwedischer  Unterthan, 
der  einen  Ejrieg  gegen  die  vereinigten  Königreiche  vorsätzlich  verursacht,  oder 
selbst  Waffen  gegen  sie  trägt  oder  dem  Feinde  Hülfe  leistet,  wird  mit  Todes- 
strafe oder  lebenslänglicher  Strafarbeit  bestraft.  Ebenso  wird  ein  jeder  be- 
straft, der  dem  Feind  die  Dienste  eines  Spions  leistet.  Andere  Untreue  gegen 
den  Staat  oder  Offenbarung  wichtiger  Staatsgeheimnisse  kann  mit  Strafarbeit 
bis  auf  Lebenszeit  bestraft  werden. 

Jede  Gewaltthätigkeit   gegen   den  König   ist   mit   lebenslänglicher  Straf- 


§  7.     Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  233 


arbeit  oder  Todesstrafe  bedroht.  Beleidigungen  gegen  ihn,  die  Königin  und 
den  Kronprinzen  werden  mit  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  bestraft. 
Vernachlässigung  der  der  königlichen  Familie  schuldigen  Ehrerbietung  ist  mit 
Gef.  oder  Geldstrafe  bedroht.  Gewalt  gegen  das  Storthing,  den  Staatsrat  und 
das  höchste  Gericht  wird  wenigstens  mit  Strafarbeit  von  9  Jahren  bestraft, 
Drohung  gegen  dieselben  mit  Strafarbeit  von  3  bis  6  Jahren.  Wer  in  einer 
Druckschrift  vorsätzlich  und  offenbar  dem  Königtum»  der  Volksvertretung  oder 
dem  höchsten  Gerichte  Geringschätzung  bezeigt,  wird  mit  Gef.  oder  Geldstrafe 
geahndet. 

Gewalt  gegen  einen  Beamten,  um  ihn  zur  Vornahme  oder  Unterlassung 
einer  Amtshandlung  zu  zwingen,  kann  mit  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren 
bestraft  werden;  ebenso  gewaltsame  Widerspenstigkeit.  Doch  kann  Geldstrafe 
in  minder  schweren  Fällen  und  besonders,  wenn  der  Beamte  durch  unrichtiges 
Auftreten  selbst  zu  dem  Verg.  Anlass  gegeben  hat,  angewendet  werden.  Mit 
Geldstrafe  oder  Gef.  wird  derjenige  bestraft,  der  einem  Beamten  seine  Beihtilfe 
weigert,  wenn  gegen  ihn  Gewalt  verübt  wird  und  die  Hülfe  ohne  Gefahr  für 
Leib  und  Leben  hätte  geleistet  werden  können. 

Wenn  sich  eine  Menschenmenge  öffentlich  zusammenrottet,  um  mit  ver- 
einigten Kräften  gegen  die  öffentliche  Gewalt  oder  gegen  Personen  oder  Sachen 
Verbr.  zu  begehen,  so  werden  die  Anstifter  und  Rädelsführer  mit  Gef.  oder  Straf- 
arbeit bis  zu  3  Jahren  gestraft,  die  anderen  dagegen  straflos  gelassen,  wenn 
sie  auf  Aufforderung  des  zuständigen  Beamten  sich  ruhig  entfernen.  Im  ent- 
gegengesetzten Falle  werden  die  ersten  mit  Strafarbeit  bis  zu  6  Jahren,  die 
letzten  mit  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  bestraft.  Finden  Gewalt- 
thätigkeiten  statt,  so  kann  die  Strafe  bis  zu  9  Jahren  und,  wenn  Raub  oder 
Totschlag  verübt  worden  ist,  bis  zur  Todesstrafe  erhöht  werden. 

Wer  bei  öffentlichen  Wahlen  seine  Stimme  verkauft  oder  Stimmen  kauft 
oder  durch  Drohungen  und  dergl.  sich  Einfluss  zu  verschaffen  sucht  oder  sich 
selbst  seine  Stimme  giebt,  wird  mit  Geldstrafe  oder  Gef.  gestraft. 

Wer  einen  Gefangenen  rechtswidrig  befreit,  kann  mit  Gef.  oder  Straf- 
arbeit bis  zu  3  Jahren  bestraft  werden.  Wer  sonst  einen  Schuldigen  der  Strafe 
zu  entziehen  sucht,  wird  mit  Geldstrafe  oder  Gef.,  ganz  ausnahmsweise  mit 
Strafarbeit,  gestraft.    Die  nächsten  Angehörigen  sind  im  letzeren  Falle  straffrei. 

Die  unterlassene  Anzeige  drohender  Verbr.,  von  welchen  man  Kenntnis 
erlangt  hat,  ist  mit  Geldstrafe  oder  Gef.  zu  strafen,  wenn  es  sich  um  Hoch- 
verrat, Landesverrat,  Totschlag  oder  Brandstiftung  handelt,  und  wenn  die 
Anzeige  hätte  geschehen  können,  ohne  einen  nahen  Angehörigen  der  Verfolgung 
auszusetzen. 

Die  Aufforderung  zum  Ungehorsam  gegen  die  G.  ist,  wenn  sie  nicht  den  / 

Charakter  einer  Anstiftung  trägt,  im  allgemeinen  nicht  strafbar.  Ausnahme 
ündet  statt,  wenn  sie  erfolgt  in  einer  Versammlung,  in  welcher  das  G.  kund- 
gemacht wird,  wenn  zum  Hochverrat,  Landesverrat  oder  Aufruhr  öffentlich 
aufgefordert  wird  oder  wenn  die  Aufforderung  selbst  als  ein  Verbr.  gegen  die 
Sittlichkeit  angesehen  werden  kann. 

Die  Selbsthülfe  ist  in  der  Regel  strafbar.  Die  Strafe  ist  jedoch  nur  Geld- 
strafe und  die  Verfolgung  ist  dem  Verletzten  überlassen. 

Die  Teilnahme  an  geheimen  Gesellschaften  oder  Vereinen  mit  gesetz- 
widrigen Zwecken,  sowie  die  Anreizung  der  verschiedenen  Klassen  der 
Bevölkerung  gegen  einander  und  die  Angriffe  gegen  die  obrigkeitlichen  Anord- 
nungen und  dergl.  mittelst  Behauptung  erdichteter  oder  entstellter  Thatsachen 
sind  nicht  strafbar. 

II.  Urkundenfälschung.  Wer  in  rechtswidriger  Absicht  eine  falsche  oder 
verfälschte  Privaturkunde    als   echt  und   unverfälscht  benutzt,    wird    mit  Gef. 


234  Norwegen.  —  Besonderer  Teil. 


oder  Strafarbeit  bis  zu  6  Jahren,  oder  wenn  in  gewinnsüchtiger  Absicht 
gehandelt  ist,  bis  zu  9  Jahren  bestraft.  Die  Verfertigung  einer  falschen  oder  die 
Verfälschung  einer  echten  Urkunde  in  rechtswidriger  Absicht  ist,  auch  wenn 
noch  keine  Benutzung  versucht  worden  ist,  mit  Strafe  belegt.  Als  Urkunde 
wird  jeder  Gegenstand  angesehen,  der  als  dazu  bestimmt  hervortritt,  zum 
Beweis  für  Rechtsverhältnisse  oder  für  Umstände  von  rechtlicher  Bedeutung  zu 
dienen.  Als  falsch  wird  auch  die  Urkunde  angesehen,  welche  im  Namen  einer 
fingierten  Person  ausgestellt  ist.  Ebenso  die  von  einem  Unberechtigten  aus- 
gefüllten Blankette.  Wer  in  rechtswidriger  Absicht  seine  Unterschrift  leugnet 
oder  Urkunden  vernichtet,  wer  ein  zur  Bezeichnung  einer  Grenze  oder  dergl. 
bestimmtes  Merkmal  wegnimmt  oder  fälschlich  setzt,  wird  mit  Gef.  oder  Straf- 
arbeit bis  zu  6  Jahren  bestraft.  Die  eines  Vorteils  wegen  abgegebene  lügen- 
hafte schriftliche  Bescheinigung  ist  strafbar.  Ebenso  die  Benutzung  einer  für 
eine  andere  Person  ausgestellte  Bescheinigung.  Wer  bewirkt,  dass  in  öffentliche 
Urkunden  oder  Bücher,  die  dazu  bestimmt  sind  Beweis  abzugeben,  falsche 
Bekundungen  aufgenommen  werden,  oder  sich  solcher  bedient,  wird  mit  Geld- 
strafe, Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  6  Jahren  gestraft.  Die  Verfälschung  oder 
falsche  Ausfertigung  öffentlicher  Urkunden  kann  nach  den  Umständen  mit 
Strafarbeit  bis  zu  12  Jahren  gestraft  werden.  Ob  die  Urkunde  eine  inländische 
oder  ausländische  ist,  macht  keinen  Unterschied. 

Münzverbrechen  können  mit  Strafarbeit  bis  zu  15  Jahren  bestraft 
werden;  auch  hier  wird  zwischen  In-  und  Ausland  nicht  unterschieden.  Die 
unberechtigte  Herstellung  von  Stempeln,  Formen  und  dergl.  Mitteln  zur  Ver- 
fertigung falscher  Urkunden,  Münzen  oder  geldvertretenden  Wertzeichen  ist; 
auch  wenn  keine  verbrecherische  Absicht  damit  verbunden  war,  mit  Strafe 
bedroht. 

III.  Falsche  Anzeige  gegen  besseres  Wissen  wird  mit  Gef.  oder  Straf- 
arbeit bis  zu  6  Jahren  bestraft.  Ist  auf  Grund  der  Anzeige  eine  Verurteilung 
wegen  eines  schwereren  Verbr.  erfolgt,  so  kann  die  Strafarbeit  bis  zu  lebens- 
länglicher Freiheitsstrafe  erhöht  werden.  Ebenso  zu  strafen  ist  derjenige, 
welcher  auf  irgend  eine  Weise  zu  bewirken  versucht,  dass  ein  Unschuldiger 
verurteilt  wird.  Aus  grober  Fahrlässigkeit  erfolgte  unrichtige  Anzeige  kann 
mit  Geldstrafe  oder  Gef.  geahndet  werden. 

Das  Verbr.  des  Meineides  wird  mit  Straf  arbeit  von  6  Monaten  bis  zu 
12  Jahren  bestraft.  Wenn  der  Meineid  abgelegt  ist,  um  die  Veiiirteilung  eines 
Unschuldigen  zu  bewirken,  so  kann  auf  geringere  Strafe  als  dreyährige  Straf- 
arbeit nicht  erkannt  werden;  die  höchste  Strafe  ist  lebenslängliche  Strafarbeit 
oder,  wenn  infolge  des  Meineides  Todesstrafe  vollzogen  worden  ist,  dieselbe 
Strafe.  Die  höchste  Strafe  ist  Strafarbeit  von  3  Jahren,  wenn  der  Schuldige 
seine  Aussage  zurückgenommen  hat,  ehe  eine  Verfolgung  gegen  ihn  eingeleitet 
und  ehe  ein  Schaden  angerichtet  worden  ist,  oder  wenn  der  Meineid  deswegen 
abgelegt  worden  ist,  um  eine  Anklage  gegen  sich  selbst  oder  einen  der  näch- 
sten Angehörigen  zu  vermeiden. 

Fahrlässiger  Meineid  wird  mit  Gef.  oder  Geldstrafe  bestraft.  Auch  die 
falsche  unbeeidigte  Aussage  ist  strafbar,  wenn  sie  vor  einem  Gerichte  oder  einem 
Notar,  oder  in  Fällen,  wo  der  Schuldige  verpflichtet  war  sich  zu  erklären,  vor 
einer  anderen  Behörde  abgegeben  worden  ist.  Wird  die  Aussage  rechtzeitig 
zurückgenonmien  oder  ist  sie  geschehen,  um  eine  Anzeige  gegen  sich  selbst 
oder  einen  nahen  Angehörigen  zu  vermeiden,  so  tritt  Straflosigkeit  ein. 

IV.  Verbr.  gegen  das  Leben.  Der  Totschlag  wird  mit  Strafarbeit 
von  9  Jahren  bis  zu  lebenslänglicher  Strafarbeit  bestraft.  Der  überlegte  Tot- 
schlag wird  als  Mord  mit  lebenslänglicher  Strafarbeit  oder  Todesstrafe  bestraft. 
Die  Anstiftung  sowie    die  Beihülfe  zum  Selbstmord   ist   ebensowenig  strafbar 


§  7.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  235 


wie  der  Selbstmord  selbst.  Der  Totschlag  aus  Mitleid  oder  auf  Verlangen  wird 
ganz  wie  ein  anderer  Totschlag  bestraft.  Über  das  Duell  enthält  jetzt  das 
StGB,  keine  besonderen  Bestimmungen.  Die  Mutter,  die  während  der  Geburt 
oder  binnen  24  Stunden  nachher  ihr  uneheliches  Kind  tötet,  wird  mit  Straf- 
arbeit von  3  bis  zu  9  Jahren,  im  Rückfalle  mit  Strafarbeit  bis  zu  15  Jahren 
bestraft.  Hat  die  Mutter  eines  unehelichen  Kindes  sich  vorsätzlich  bei  der 
Niederkunft  in  eine  hülflose  Lage  versetzt,  oder  hat  sie  es  unterlassen 
die  nötige  Hülfe  herbeizurufen,  so  wird  sie,  wenn  das  Kind  tot  ist  und  eine 
andere  Todesursache  nicht  bewiesen  werden  kann,  mit  Gef.  oder  Strafarbeit 
bis  zu  6  Jahren  bestraft.*)  Die  fahrlässige  Tötung  wird  mit  Gef.  oder  Straf- 
arbeit bis  zu  3  Jahren  bestraft. 

Die  Schwangere,  die  ihre  Leibesfrucht  abtreibt,  wird  mit  Gef.  oder  Straf- 
arbeit bis  zu  6  Jahren  gestraft.  Wer  sich  mit  Einwilligung  der  Schwangeren 
der  Abtreibung  schuldig  macht,  wird  mit  Strafarbeit  bis  zu  6  Jahren,  und 
wenn  er  ohne  ihre  Einwilligung  gehandelt  hat,  mit  Strafarbeit  bis  zu  1 5  Jahren 
oder  mit  lebenslänglicher  Strafarbeit  gestraft. 

Wer  den  Leichnam  eines  Gestorbenen  oder  Totgeborenen  heimlich  oder 
rechtswidrig  vernichtet  oder  heimlich^)  beiseite  bringt,  oder  wer  sich  weigert, 
der  Obrigkeit  anzuzeigen,  wo  ein  Kind,  das  er  unter  seiner  Obhut  hatte,  sich 
befindet,  wird  mit  Gef.  oder  Geldstrafe  bestraft.  Diese  Bestimmung  beabsich- 
tigt hauptsächlich,  der  Beiseiteschaffung  unehelicher  neugeborener  Kinder,  wo- 
durch der  Beweis  eines  möglicherweise  vorliegenden  Totschlages  vereitelt  wird, 
entgegenzuwirken. 

Strafbar  ist  die  Unterlassung,  einem  in  Lebensgefahr  Geratenen  zu  Hülfe 
zu  kommen,  sowie  ein  gegen  das  Leben  gerichtetes  Verbr.  anzuzeigen,  wenn 
dies  ohne  Gefahr  und  ohne  einen  nahen  Angehörigen  anzugeben,  hätte  ge- 
schehen können. 

V.  Körperverletzungen.  Die  einfache  Körperverletzung  wird  mit  Geld- 
strafe, Gef.  öder  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  bestraft.  Ist  die  körperliche 
Schädigung  absichtlich  verursacht,  so  kann  Strafarbeit  bis  zu  6  Jahren,  und 
wenn  die  Schädigung  eine  bedeutende  gewesen  ist,  bis  zu  15  Jahren  angewendet 
werden.  Lebenslängliche  Strafarbeit  kann  verhängt  werden,  wenn  bedeutende 
Schmerzen  zugefügt  worden  sind  oder  das  Verbr.  durch  Gift  verübt  worden 
ist.  Wird  eine  Körperverletzung  oder  eine  Beleidigung  mit  einer  Körper- 
verletzung erwidert,  so  kann  Straffreiheit  eintreten.  Hat  sonst  der  Verletzte 
durch  ungebührliches  Betragen  zur  Körperverletzung  Anlass  gegeben,  so  wird 
das  Strafmass  herabgesetzt. 

Das  rechtswidrige  Versetzen  in  hülflose  Lage  sowohl,  als  das  rechts- 
widrige Verlassen  in  solcher  Lage  wird,  wenn  augenscheinliche  Gefahr  für 
Leib  und  Leben  vorhanden  war,  mit  Strafarbeit  bis  zu  9  Jahren  und  im  Falle 
eines  tötlichen  Ausganges  als  vorsätzliche  Tötung  bestraft.  War  die  Gefahr 
eine  geringere,  so  kann  Strafarbeit  bis  zu  3,  und  wenn  eine  schwere  Körper- 
verletzung verursacht  worden  ist,  bis  zu  9  Jahren  angewendet  werden. 

Mit  Geldstrafe,  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  wird  derjenige  be- 
straft, der  durch  Vernachlässigung,  übertriebene  Züchtigung  öder  auf  andere 
Weise  einen  unter  seiner  Obhut  stehenden  und  wegen  Jugend,  ELrankheit  oder 

*)  Es  muss  bemerkt  werden,  dass  diese  Strafbestimmung,  deren  Strafmass  so- 
wohl in  sich  selbst  wie  im  Verhältnisse  zur  Strafe  des  wirklichen  Kindesmordes  ganz 
unverhältnismässig  ist,  1889  in  das  StG.  aufgenommen  wurde,  sich  aber  in  verschie- 
denen Beziehungen  von  dem  Entw.  der  Kommission  unterscheidet.  So  war  auch  die 
Unterlassung  der  Herbeirufung  von  Hülfe  von  derselben  nicht  besonders  erwähnt. 

-)  Das  rechtswidrige  Beiseitebringen  ist  nicht  nach  dieser  Bestimmung  zu  strafen, 
wenn  es  nicht  heimlich  erfolgt  ist. 


236  Norwegen.  —  Besonderer  Teil. 


aus  anderen  Gründen  hülflosen  Menschen  niisshandelt.  Für  sittliche  Verwahr- 
losang  droht  das  G.  dagegen  nur  insofern  ^^trafe,  als  die  Eltern  und  Vor- 
gesetzten für  die  deswegen  begangenen  strafbaren  Handlungen  verantwortlich 
werden  können  «s.  S.  231  unter  Teilnahme».  Ebenso  sind  sie  strafbar,  wenn 
sie  die  Kinder  die  Schule  versäumen  lassen. 

Fahrlässige  Körperverletzung  kann  mit  Gef.  oder  Geldstrafe  gestraft  werden. 

VI.  Verbrechen  gegen  die  Freiheit.  Rechtswidrige  Freiheitsberaubung 
wird  mit  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  gestraft.  Hat  aber  dieselbe 
mehr  als  einen  Monat  gedauert  oder  ist  dadurch  ungewöhnliches  Leiden,  eine 
schwere  Körperverletzung  oder  der  Tod  des  Verletzten  verursacht  worden,  so 
kann  Strafarbeit  bis  zu  15  Jahren  angewendet  werden.  Besondere  Bestimmungen, 
welche  aber  jetzt  beinahe  aller  praktischen  Bedeutung  entbehren,  enth&lt  das 
StG.  über  den  Sklavenhandel. 

Unter  diesem  Titel  wird  auch  behandelt  die  rechtswidrige  Entführung 
von  Kindern  oder  Minderjährigen,  selbst  wenn  sie  mit  ihrem  Willen  geschieht. 
Die  gewöhnliche  Strafe  ist  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren.  Sucht  der 
Schuldige  die  Entführten  zur  Unzucht  anzuhalten  oder  verbringt  er  sie  ins 
Ausland,  so  tritt  bedeutend  erhöhte  Strafe  ein. 

Wer  durch  Gewalt,  Drohung  mit  einer  rechtswidrigen  Handlung,  mit 
Anzeige  eines  Verbrechens  oder  mit  einer  beleidigenden  Behauptung  jemanden 
nötigt,  etwas  zu  thun,  zu  dulden  oder  zu  unterlassen,  wird  mit  Gef.  oder  Straf- 
arbeit bis  zu  6  Jahren,  bei  mildernden  Umständen  mit  Geldstrafe  bestraft. 
Die  Drohung  selbst  ist  strafbar,  wenn  mit  emem  Verbr.  gedroht  wird,  das  mit 
Strafarbeit  gestraft  werden  kann.  Neben  Strafe  kann  in  ernsteren  Fällen  auch 
auf  Friedensbürgschaft  erkannt  werden,  an  deren  Stelle,  wenn  sie  nicht  ge- 
leistet wird,  Sicherheitshaft  tritt. 

VIL  Beleidigung.  Wer  es  bewirkt  oder  zu  bewirken  sucht,  dass  eine 
Behauptung  Glauben  findet,  die  geeignet  ist,  dem  guten  Namen  und  Leumund 
eines  anderen  zu  schaden  oder  ihn  dem  Hasse,  der  Geringschätzung  oder  dem 
Verluste  des  für  seine  Stellung  oder  seinen  Unterhalt  nötigen  Zutrauens  aus- 
zusetzen, wird  mit  Geldstrafe  oder  Gef.  oder,  wenn  wider  besseres  Wissen  ge- 
handelt ist,  auch  mit  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  bestraft. 

Nicht  strafbar  ist  die  Behauptung,  wenn  ihre  Wahrheit  oder  wenn  Umstände 
bewiesen  sind,  die  dazu  berechtigten,  sie  für  wahr  zu  halten.  Nicht  strafbar 
ist  sie  auch  (insofern  nicht  grobe  Fahrlässigkeit  vorliegt),  wenn  der  Betreffende 
v<iq>flichtet  gewesen  ist,  zu  reden  oder  in  berechtigter  Wahrnehmung  eigener 
od<?r  fremder  Interessen  gehandelt  hat. 

Worte  oder  Handlungen,  die  Geringschätzung  kundgeben  oder  die  Ehr- 
barkeit verletzen,  können  ebenfalls  als  beleidigend  mit  Geldstrafe  oder  Gef.  ge- 
ahndet werden.  Und  wahre  Behauptungen,  die  in  dieser  Eigenschaft  als  Be- 
leidigung nicht  gestraft  werden  können,  sind  doch  als  Ausdruck  einer  uner- 
laubten Geringschätzung  zu  strafen,  wenn  sie  wegen  ihrer  Form  oder  wegen 
der  sonstigen  Umstände  als  ungebührlich  erachtet  werden  müssen.  Auch  die 
Verletzung  des  Friedens  des  Privatlebens  dadurch,  dass  ohne  beweisbaren 
triftigen  Grund  von  persönlichen  oder  häuslichen  Verhältnissen  öffentliche  Mit- 
teilung gemacht  wird,  ist  mit  Geldstrafe  oder  Gef.  zu  strafen. 

Wenn  jemand  wegen  Beleidigung  verurteilt  wird,  so  kann  das  Urteil  die 
Veröffentlichung  desselben  auf  Kosten  des  Verurteilten  anordnen.  Öffentliche 
Zeitungen,  die  die  Beleidigung  aufgenommen  haben,  können  verpflichtet  werden, 
auch  das  Urteil  abzudrucken. 

Nach  dem  Tode  wird  die  Ehre  noch  10  Jahre  hindurch  geschützt.  So- 
wohl in  diesem  Falle,  wie  wenn  die  Beleidigten  nach  der  Beleidigung  ver- 
storben sind,  ohne  in  Beziehung   auf  die  Verfolgung  derselben  Beschluss  ge- 


§  7.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  237 


fasst  zu  haben,  können  die  Ehegatten,  die  Eltern,  Kinder  und  Geschwister  der 
Beleidigten  die  Klage  erheben. 

Straflos  kann  die  Beleidigung  gelassen  werden,  wenn  der  Beleidigte  selbst 
durch  ungebührliches  Betragen  zu  derselben  Anlass  gegeben  hat  oder  wenn 
sie  mit  einer  Beleidigung  oder  Körperverletzung  erwidert  worden  ist. 

VIII.  Sittlichkeitsverbrechen.  Während  der  einfache  aussereheliche 
Beischlaf  nicht  mehr  strafbar  ist,  wird  sowohl  der  Mann,  welcher  drei  ver- 
schiedene Mädchen  geschwängert  hat,  als  auch  das  Mädchen,  die  sich  von  drei 
verschiedenen  Männern  hat  schwängern  lassen,  mit  Gefängnis  und  im  Eückfall 
sogar  mit  Strafarbeit  gestraft.  Ebenso  ist  das  Konkubinat  strafbar,  und  es 
fordert  hier  die  Praxis  sogar  keinen  Beweis  des  fleischlichen  Verkehrs,  wenn 
die  Betreffenden  im  übrigen  wie  Eheleute  zusammenleben. 

Die  gewerbsmässige  Unzucht  ist  mit  Strafe  bedroht.  In  den  grösseren 
Städten  hat  jedoch  die  Rücksicht  auf  die  venerischen  Krankheiten  die  Ver- 
waltung bewogen,  eine  regelmässige  gesundheitliche  Kontrolle  einzuführen, 
womit  die  unbedingte  Verfolgung  unvereinbar  gewesen  wäre.  In  der  Haupt- 
stadt ist  sie  aber  seit  einigen  Jahren  wieder  aufgehoben,  ohne  dass  jedoch 
das  StG.  wieder  gegen  die  Prostitution  zur  Anwendung  gebracht  worden  ist. 
Es  werden  solche  Prostituierte,  welche  ein  besonders  anstössiges  Betragen 
zeigen,  von  der  Polizei  als  Müssiggänger  in  die  Zwangsarbeitsanstalten 
versetzt. 

Öffentliche  Häuser  sind  auch  im  StG.  verboten,  und  dies  Verbot  wird  jetzt 
durchgeführt,  während  sie  früher  oft  thatsächlich  toleriert  wurden.  Strafbar 
ist  ferner  die  gewinnsüchtige  Verführung  Unbescholtener  zu  unzüchtigem  Ge- 
Averbe,  dagegen  nicht  die  einfache  Förderung  der  Prostitution. 

Die  Verführung  macht  nie  den  ausserehelichen  Beischlaf  zu  einem  straf- 
baren ;  selbst  der  Vorspiegelung  einer  Trauung  ist  nicht  im  G.  gedacht.  Straf- 
bar ist  dagegen  alle  Unzucht  mit  wahnsinnigen  sowie  mit  Mädchen  unter  fünf- 
zehn Jahren.  Es  mag  auch  bemerkt  werden,  dass  ein  Art.  des  alten  G.  von 
1687  noch  gültig  ist,  wonach  die  Verführung  der  Jugend  zu  Ärgernis  er- 
regendem Betragen  gestraft  werden  kann,  ein  Artikel,  dessen  Tragweite  schwer 
zu  bestimmen  ist. 

Wird  eine  für  Leben  oder  Gesundheit  gefährliche  Drohung  oder  Gewalt 
angewendet,  um  den  Beischlaf  zu  erreichen,  so  wird  der  Schuldige  wegen  Not- 
zucht mit  Strafarbeit  bis  zu  12  Jahren  gestraft.  Ist  das  Weib  um  das  Leben 
gekommen,  so  kann  sogar  Todesstrafe  verhängt  werden.  Sind  minder  gefähr- 
liche Drohungen  angewendet,  so  kommen  die  allgemeinen  Bestimmungen  über 
Verbr.  gegen  die  Freiheit  zur  Anwendung.  Unzucht  mit  einer  bewusstiosen 
Frauensperson  wird,  wenn  der  Thäter  selbst  die  Bewusstlosigkeit  hervorgerufen 
hat,  wie  Notzucht,  sonst  aber  milder  bestraft.  Die  Entführung  einer  Minderjährigen 
selbst  mit  ihrem  Willen,  um  sie  zur  Unzucht  oder  zur  Ehe  zu  bringen,  ist 
strafbar.     Ebenso  die  Entführung  einer  Verheirateten. 

Bigamie  wird  mit  Strafarbeit  bis  zu  9  Jahren  bestraft.  Die  eheliche 
Untreue  ist  am  Mann  sowohl  als  an  der  Frau  mit  Gef.  zu  strafen.  Gegen 
den  nicht  verheirateten  Mitschuldigen  kann  Geldstrafe  verhängt  werden.  Die 
Verfolgung  tritt  von  Amtswegen  ein,  wenn  die  Ehe  des  Verbr.  wegen  aufgelöst 
worden  ist,  sonst  aber  nur  auf  Antrag  des  Verletzten. 

Als  Blutschande  werden  gestraft  der  aussereheliche  Beischlaf  und  die 
Heirat  zwischen  Ascendenten  und  Descendenten  und  ebenso  nahen  Verschwägerten, 
sowie  unter  Geschwistern.  Auch  die  aussereheliche  Verschwägerung  kommt 
in  Betracht;  es  sind  aber  für  diesen  Fall  die  Strafen  bedeutend  ermässigt. 
Personen,  die  nicht  ohne  Dispensation  in  Ehe  miteinander  eintreten  dürfen 
(z.  B.  Neffe  und  Tante,   Schwager  und  frühere  Frau  eines   Bruders),   werden 


238  Xorweg-en.  —  Besonderer  Teil. 


mit  Geldstrafe  geahndet,  wenn  sie  aosserehelichen  Verkehr  haben  oder  ohne 
Erlaubnis  sieh  heiraten. 

Wegen  der  besonderen  Pflichtverletzung  ist  strafbar:  der  aussereheliche 
Beischlaf  mit  einem  Pflegekinde  oder  Mündel  oder  mit  einem  Mädchen,  das 
dem  Schuldigen  zum  Unterricht  oder  zur  Erziehung  anvertraut  ist;  femer  der 
Beischlaf  seitens  der  Vorgesetzten  in  Strafanstalten,  Armenhäusern  und  dergl. 
mit  Frauen,  die  daselbst  unter  ihrer  Aufsicht  stehen.  Eltern,  Vormünder, 
Lcfhrer  usw.,  die  ihre  Kinder  oder  die  ihnen  sonst  Anvertrauten,  und  Ehe- 
männer, die  ihre  Frauen  zu  einem  unsittlichen  Leben  anhalten,  können,  wenn 
es  des  Vorteils  wegen  geschieht,  mit  Strafarbeit  bis  zu  9,  sonst  aber  bis  zu 
6  Jahren  bestraft  werden. 

An  Geistlichen  ist  auch  die  einfache  Unzucht  mit  Dienstentlassung  zu  be- 
strafen. Inwieweit  die  Schwängeinmg  unter  Eheversprechen  der  Geschwängerten 
das  Becht  giebt,  die  Heirat  zu  verlangen,  ist  nicht  unzweifelhaft.  Allerdings 
ist  derjenige,  der  unter  solchem  Versprechen  ein  Mädchen  schwängert,  ohne 
sie  auf  ihr  Verlangen  zu  heiraten,  zu  Gefängnis  oder  Geldstrafe  zu  verurteilen, 
wenn  er,  als  der  Beischlaf  vollzogen  wurde,  über  21  Jahre  alt  war,  und  die 
Weigerung  ohne  triftige  Gründe  stattfindet,  oder  er  selbst  vorsätzlich  die 
Hindernisse  hervorgerufen  hat.  Waren  solche  schon,  als  der  Beischlaf  statt- 
fand, vorhanden,  so  kann  Strafarbeit  verhängt  werden. 

Ein  anstössiges,  Ärgernis  erregendes  Betragen  ist  im  allgemeinen  nur 
nach  den  Polizei  Vorschriften  der  einzelnen  Gemeinden  strafbar.  Da  als  Unzucht 
im  Sinne  des  G.  nur  der  wirkliche  Beischlaf  und  der  Versuch  desselben  an- 
gesehen wird,  muss  dies  um  so  mehr  als  eine  bedauerliche  Lücke  empfunden 
werden.  Der  Veröffentlichung  unsittlicher  Bücher,  Büder,  sowie  Aufführung 
von  Schauspielen  und  anderen  öffentlichen  Vorstellimgen  oder  Vorträgen  unsitt- 
licher Art  ist  dagegen  im  StG.  gedacht.  Als  Verletzung  der  Sittlichkeit  wird 
es  nach  einem  im  J.  1891  gegebenen  G.  auch  angesehen,  wenn  jemand  öffent- 
lich zur  Anwendung  präventiver  Mittel  bei  dem  Beischlafe  auffordert  oder  über 
die  Benutzung  derselben  Auskunft  giebt. 

Die  widernatürliche  Unzucht  zwischen  Personen  männlichen  Geschlechts 
sowie  von  Menschen  mit  Tieren  ist  strafbar. 

Die  durch  Unzucht  erfolgte  Ansteckung  eines  anderen  mit  einer  venerischen 
Krankheit  wird  mit  Gef.  oder  mit  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  bedroht. 

Die  Verhöhnung  der  heiligen  Schrift  sowie  der  Sakramente  und  des 
Glaubensbekenntnisses  der  Staatskirche  ist  in  allen  Fällen  strafbar,  die  Ver- 
höhnung anderer  Glaubensbekenntnisse  dagegen  nur,  wenn  dadurch  unter  den 
Anhängern  derselben  Ärgernis  hervorgerufen  worden  ist. 

Die  Tierquälerei  ist  strafbar,  wenn  Haustiere  Gegenstand  derselben  sind. 
Strafbar  ist  es  auch  für  Schankwirte  tmd  dergl.,  Kindern  (unter  15  Jahren) 
oder  Betrunkenen  geistige  Getränke  zu  verkaufen  oder  ihre  Kunden  soviel 
geniessen  zu  lassen,  dass  sie  betrunken  werden,  sowie  —  nach  den  meisten 
Polizeivorschriften  der  Städte  —  sich  öffentlich  in  einem  Zustande  der  Betrunken- 
heit zu  zeigen.  Auch  in  verschiedenen  anderen  besonderen  Fällen,  wie  im 
>lilitär-  oder  Schiffsdienste  und  dergl.*,  ist  die  Betrunkenheit  strafbar,  ohne 
dass  hier  darauf  näher  eingegangen  werden  kann,  ebenso  wenig  wie  auf  alle 
anderen  rein  polizeilichen  Vorschriften,  den  Verkehr  mit  geistigen  Getränken 
betr.,  deren  Übertretung  mit  Strafe  bedroht  ist.  Der  Trunkenheit  sowie  dem 
Müssiggange  ergebene  Personen,  die  deswegen  ausser  stände  sind,  sich 
selbst  oder  ihre  Familien  zu  ernähren,  können  von  der  Polizei  für  einige 
Monate  in  Zwangsarbeit  untergebracht  oder  gerichtlich  zu  Gefängnis  ver- 
urteilt werden. 

Bei  Strafe  verboten  sind  die  Lotterie,  sowie  der  Verkauf  von  Losen  und 


§  7.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  239 


die  Glücksspiele,  nicht  dagegen  die  allgemeinen  Spiele,    deren  Betrieb  in  den 
Schankstuben  aber  von  der  Polizei  untersagt  werden  kann. 

Von  der  Bettelei  ist  schon  früher  das  Notwendige  gesagt. 

Um  der  allgemeinen  Unsitte  des  Bauernstandes/ dass  die  Jünglinge  nachts 
in  die  Schlafzimmer  der  Mädchen  eindringen  und  sich  um  sie  bewerben, 
entgegenzuwirken,  ist  derjenige,  der  sich  auf  Aufforderung  der  Frauensperson 
oder  der  Herrschaft  nicht  entfernt,  wegen  Nachtläuferei  mit  einer  Geldstrafe 
zu  ahnden. 

IX.  Unterschlagung  und  Diebstahl.  Wer  in  der  Absicht,  sich  oder 
anderen  einen  unberechtigten  Vermögensvorteil  zu  verschaflPen,  sich  einen  Gegen- 
stand zueignet,  der  ganz  oder  teilweise  einem  anderen  gehört,  wird  wegen 
Unterschlagung  mit  Geldstrafe,  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  bestraft. 
Straflosigkeit  kann  eintreten,  wenn  gefundene  Sachen  von  unbedeutendem  Wert 
zugeeignet  worden  sind.  Wer  einen  Gegenstand,  der  ganz  oder  teilweise  einem 
anderen  gehört,  in  der  Absicht  wegnimmt,  um  sich  oder  anderen  durch  diese 
Zueignung  einen  unberechtigten  Vermögensvorteil  zu  verschaffen,  wird  wegen 
einfachen  Diebstahls  mit  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren,  unter  besonders 
mildernden  Umständen  aber  mit  Geldstrafe  bestraft. 

Ist  der  Diebstahl  mittelst  Einbruchs,  Einsteigens  oder  Einschleichens  zur 
Nachtzeit  geschehen  oder  sind  Haustiere  auf  dem  Felde,  Gegenstände  in  der 
Kirche  oder  aus  der  öffentlichen  Post  gestohlen  oder  ist  der  Diebstahl  während 
einer  Feuersbrunst  oder  eines  anderen  Notstandes  oder  in  gewaltsamer  Weise 
oder  auch  unter  einigen  anderen  Umständen  erfolgt,  so  wird  der  Schuldigie 
wegen  schweren  Diebstahls  mit  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  9  Jahren  bestraft. 
Der  Diebstahl  im  wiederholten  Eückfalle  kann  mit  Straf  arbeit  bis  zu  15  Jahren 
bestraft  werden. 

Strafbar  mit  Gef.  ist  die  in  diebischer  Absicht  erfolgte  Verfertigung  von 
Dietrichen  oder  falschen  Schlüsseln. 

X.Wegen  Eaubes  wird  derjenige  bestraft,  der  durch  Misshandlung  oder 
durch  eine  solche  Gewalt,  dass  Furcht  vor  Misshandlungen  entsteht,  oder  durch 
Verursachung  von  Bewusstlosigkeit  oder  durch  Drohungen,  welche  unmittelbar 
Gefahr  für  Leib  oder  Leben  enthalten,  in  der  Absicht  sich  oder  einem  anderen 
einen  unberechtigten  Vermögensvorteil  zu  verschaffen,  jemanden  dazu  nötigt, 
etwas  zu  thun,  zu  dulden  oder  zu  unterlassen.  Die  Anwendung  von  Gewalt 
macht  mithin  nicht  den  Thäter  zum  Räuber.  Liegt  nicht  Misshandlung  oder 
Furcht  vor  einer  solchen  vor,  so  muss  er  wegen  schweren  Diebstahls  oder  Verbr. 
gegen  die  lYeiheit  gestraft  werden.  Auf  der  anderen  Seite  umfasst  der  Raub 
nach  norwegischem  Rechte  auch  die  sogenannte  räuberische  Erpressung,  während 
sonst  die  Erpressung  als  Angriff  gegen  die  Freiheit  zu  bestrafen  ist.  Die 
Strafe  des  Raubes  ist  Straf  arbeit  von  3  bis  zu  12,  unter  erschwerenden  Umstän- 
den bis  zu  15  Jahren,  und  wenn  der  Beraubte  um  das  Leben  gekommen  ist, 
so  kann  lebenslängliche  Strafarbeit  oder  Todesstrafe  angewendet  werden. 

XI.  Wer  in  der  Absicht,  sich  oder  einem  Dritten  einen  unberechtigten 
Vermögensvorteil  zu  verschaffen,  einem  anderen  Vermögensverlust  dadurch 
verursacht,  dass  er  durch  falsche  Vorspiegelungen  oder  Unterdrückung  wahrer 
Thatsachen  oder  anderes  täuschendes  Benehmen  bei  jemandem  einen  Irrtum 
erregt  oder  unterhält,  wird  wegen  Betruges  mit  Geldstrafe,  Gef.  oder  Straf- 
arbeit bis  zu  3  Jahren  bestraft. 

Unter  erschwerenden  Umständen  kann  Strafarbeit  bis  zu  6  Jahren,  und 
wenn  der  Betrug  in  Beziehung  auf  Lieferung  für  die  Heeresmacht  in  Kriegs- 
zeiten erfolgt  ist,  oder  Gefahr  für  Leib  und  Leben  verursacht  hat,  bis  zu 
9  Jahren  angewendet  werden.  Ist  bedeutender  Schaden  eingetreten,  so  kann 
bis   zu  lebenslänglicher   Strafarbeit  erkannt  werden.     Ist  das  Verbr.   in  Aus- 


240  Norwegen.  —  Besonderer  Teil. 


Übung  eines  Gewerbes  geschehen,  so  kann  die  Fortsetzung  desselben  unter- 
sagt werden. 

Da  das  6.  nicht  angenommen  hat,  dass  die  Erschleichung  von  Kredit 
unbedingt  als  Betrug  aufzufassen  ist,  so  hat  es  desselben  besonders  gedacht, 
und  wenn  durch  solche  Vorspiegelungen  Kredit  erreicht  und  dadurch  Schaden 
verursacht  worden  ist,  diese  Handlung  mit  Geldstrafe  oder  Gef.  bedroht. 

Die  Steuerdefraudationen  und  dergl.  werden  im  allgemeinen  nach  den 
besonderen  Bestimmungen  der  betreflTenden  G.  bestraft.  Die  Strafe  ist  nur 
ganz  ausnahmsweise  Gef.  oder  Strafarbeit,  gewöhnlich  Geldstrafe  oder  Ein- 
ziehung. 

Die  Untreue  wird  mit  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  6  Jahren  gestraft. 
Gewinnsüchtige  Absicht  ist  nicht  erforderlich;  es  ist  die  Absicht,  zu  schaden 
oder  sich  oder  einem  anderen  einen  unberechtigten  Vorteil  irgend  welcher  Art 
zu  verschaffen,  hinreichend. 

Xn.  Benachteiligung  der  Gläubiger.  Mit  Geldstrafe,  Gef.  oder 
Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  wird  der  Eigentümer  eines  verpfändeten  oder 
anderweitig  zur  Sicherheit  dienenden  Gegenstandes  bestraft,  wenn  er  denselben 
rechtswidrig  dem  Gläubiger  entzieht.  Dasselbe  gilt  in  Bezug  auf  denjenigen, 
der  im  Interesse  des  Eigentümers  oder  mit  dessen  Einwilligung  solche  Hand- 
lungen vornimmt. 

Hat  ein  Schuldner,  in  der  Absicht  sich  oder  anderen  einen  unberechtigten 
Gewinn  zu  verschaffen,  durch  Schenkung,  Verkauf  unter  dem  Werte,  Beiseite- 
schaffung oder  auf  andere  Weise  sein  Eigentum  den  Gläubigern  zu  entziehen 
versucht  oder  hat  er  in  dieser  Absicht  falsche  Verpflichtungen  angegeben  oder 
anerkannt,  so  wird  er  mit  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  6  Jahren  bestraft. 
Unter  besonders  mildernden  Umständen  kann  jedoch  auch  Geldstrafe  an- 
gewendet werden. 

Mit  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren,  unter  besonders  mildernden 
Umständen  mit  Geldstrafe,  wird  der  Schuldner  gestraft,  der  in  der  Absicht, 
einen  Gläubiger  zu  begünstigen,  demselben  eine  Befriedigung  oder  Sicherung 
gewährt  hat,  die  er  nicht  zu  der  Zeit  oder  in  der  Art  beanspruchen  konnte. 
Mit  Geldstrafe,  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  wird  der  Konkurs- 
schuldner gestraft,  der  durch  Verschwendung,  gewagte  Unternehmungen,  welche 
ausserhalb  seines  Geschäftskreises  liegen  oder  im  Missverhältnis  zu  seinem 
Vermögen  stehen,  durch  anderes  besonders  leichtsinniges  Betragen  oder  durch  in 
hohem  Grade  unordentliche  Geschäftsführung  seinen  Gläubigem  bedeutende 
Verluste  verursacht  hat.  Ebenso  wird  der  Konkursschuldner  bestraft,  der, 
obgleich  er  eingesehen  haben  musste,  dass  er  seine  Gläubiger  nicht  befriedigen 
konnte,  durch  neue  Darlehen,  Verkauf  unter  dem  Werte,  oder  dadurch,  dass 
er  einzelne  Gläubiger  nicht  gehindert  hat,  Befriedigung  oder  Sicherung  zu  er- 
langen (z.  B.  durch  Exekution),  die  Lage  der  Konkursmasse  bedeutend  ver- 
schlechtert hat.  Verfälschung  der  Bücher  und  dergl.  wird  mit  Gef.  oder  Straf- 
arbeit bis  zu  3  Jahren  bestraft.  Unterlassung  der  Führung  der  angeordneten 
Bücher  oder  gesetzwidrige  Führung  derselben  wird  mit  Gef.  oder  Geldstrafe 
gestraft. 

XIII.  Eine  bedeutend  herabgesetzte  Strafe  findet  Anwendung,  wenn  durch 
einen  Diebstahl,  eine  Unterschlagung  oder  einen  Betrug  Ess-  oder  Trink- 
waren, welche  auf  der  Stelle  verzehrt  werden,  oder  solche  Waren  oder 
Brennholz  von  höchstens  einer  Krone  Wert  zugeeignet  worden  sind,  indem 
dann  Geldstrafe  die  gewöhnliche  Strafe  ist.  Noch  gelinder  gestraft  wird  die 
in  Wäldern  imd  ungebauten  Feldern  stattgefundene  Aneignung  von  Gras, 
Stein,  Lehm,  Erde,  Laub,  dürren  Zweigen  usw.  Ganz  straflos  ist  es  in  der 
Regel,   auf  nicht   eingehegten  Orten  Nüsse,    welche    auf    der   Stelle   verzehrt 


§  7.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  241 


werden,  oder  wilde  Beeren  und  Blumen  zu  pflücken^    Dagegen  wird  der  eigent- 
liche Holzdiebstahl  ganz  wie  ein  anderer  Diebstahl  betrachtet. 

XIV.  Die  Hehlerei  ist  im  G.  eigentlich  als  nachfolgende  Teilnahme  auf- 
gefasst,  was  jedoch  nur  dann  zutreffend  ist,  wenn  durch  sie  dem  Thäter  wirk- 
lich Hülfe  geleistet  worden  ist.  Ganz  unabhängig  davon  wird  indessen  der- 
jenige bestraft,  der,  um  sich  oder  anderen  einen  unberechtigten  Gewinn  zu 
verschaffen,  einen  Gegenstand  kauft  oder  sonst  an  sich  bringt,  der  von  einem 
anderen  durch  Diebstahl,  .Raub  oder  Unterschlagung  erworben  worden  ist,  oder 
der  bei  dessen  Verbrauche  odei  Verkaufe  mitwirkt.  Nicht  strafbar  ist  es  da- 
gegen, etwas  von  dem  durch  den  Verkauf  der  gestohlenen  Gegenstände  er- 
worbenen Gelde  und  dergl.  an  sich  zu  bringen  oder  zu  empfangen. 

XV.  Gemeingefährliche  Verbr.  Die  absichtliche  Ausbreitung  von 
gefährlichen,  ansteckenden  Krankheiten  unter  Menschen  wird  mit  Strafarbeit 
von  12  bis  15  Jahren,  und  wenn  ein  Mensch  infolgedessen  um  das  Leben  ge- 
kommen ist,  mit  lebenslänglicher  Strafarbeit  oder  mit  dem  Tode  gestraft.  Die 
absichtliche  Ausbreitung  von  Viehseuchen  wird  mit  S]brafarbeit  von  3  bis  zu 
9  Jahren  betraft.  Die  Verletzung  von  Absperrungsmassregeln  gegen  das  Aus- 
land (Quarantaine)  wird,  wenn  keine  Ansteckung  erfolgt,  mit  Geldstrafe  oder 
Gef.  gestraft,  im  entgegengesetzten  Falle  dagegen  mit  Strafarbeit  von  6  Monaten 
bis  zu  6  Jahren.  Fahrlässige  Ausbreitung  von  Viehseuchen  ist  mit  Geldstrafe 
belegt.  Ebenso  oder  mit  Gef.  werden  Übertretungen  der  verschiedenen  vom  G. 
oder  der  von  den  Behörden  gegen  die  ansteckenden  Krankheiten  vorgeschrie- 
benen Massregeln  gestraft.  Unbefugte  Ausübung  des  ärztlichen  Berufes  wird 
mit  Geldstrafe  oder  Gef.,  unter  erschwerenden  Umständen  mit  Straf  arbeit  bis 
zu  3  Jahren  bestraft. 

Wer  in  der  Absicht,  die  Gesundheit  anderer  zu  schädigen,  Waren  oder 
andere  gewöhnliche  Verbrauchsmittel  vergiftet,  wird  mit  mindestens  12jähriger 
Strafarbeit  bestraft.  Ist  die  Vergiftung  unvorsätzlich  geschehen,  so  wird  der 
Thäter  doch  mit  Gef.  oder  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  bestraft,  wenn  er  nicht 
versucht  hat,  den  möglichen  Schaden  abzuwenden.  Die  Vergiftung  von  Futter 
und  dergl.,  um  damit  anderen  Schaden  zuzufügen,  ist  mit  Strafarbeit  bis  zu 
6  Jahren  zu  strafen.  Ist  dadurch  der  Tod  eines  Menschen  oder  eine  bedeutende 
Körperverletzung  verursacht,  so  kann  Strafarbeit  bis  zu  15  Jahren  angewendet 
werden.  Auch  hier  ist  die  unterlassene  Abwendung  strafbar.  Wie  schon  er- 
wähnt, ist  es  beim  Betrüge  ein  sehr  erschwerender  Umstand,  wenn  Waren  mit 
Stoffen  verfälscht  werden,  die  der  Gesundheit  schädlich  sind.  * 

Liegt  weder  ein  Betrug,  noch  eine  Vergiftung  in  der  Absicht  zu  schaden  oder 
ein  wirklich  eingetretener  Schaden  vor,  so  wird  die  Vergiftung  oder  die  gesund- 
heitsgefährliche Verfälschung  von  Nahrungsmitteln  und  dergl.  nur  mit  Geld- 
strafe (als  Übertretung  der  gesundheitspolizeilichen  Vorschriften)  geahndet. 

Wer  ein  Haus,  ein  Schiff  oder  eine  andere  Räumlichkeit,  in  der  Menschen 
sich  gewöhnlich  oder  wie  er  weiss  aufhalten,  oder  Gegenstände,  die  den  ge- 
nannten Räumlichkeiten  so  nahe  liegen,  dass  das  Feuer  sich  leicht  von  diesen 
zu  jenen  verbreiten  kann,  in  Brand  setzt,  wird  wegen  Mordbrandes  mit  Straf- 
arbeit von  9  bis  zu  15  Jahren  oder  auf  Lebenszeit  bestraft.  Auch  in  anderen 
Fällen  wird  die  Brandstiftung,  wenn  entweder  fremdes  Eigentum  oder  eigenes 
in  betrügerischer  Absicht  in  Brand  gesetzt  worden  ist,  sehr  strenge  bestraft. 
Dagegen  hat  das  G.  noch  nicht  besonders  der  Verwendung  von  Sprengstoffen 
gedacht,  die  nur  als  Beschädigung  gestraft  wird. 

Die  fahrlässige  Verursachung  eines  Brandes  kann  in  besonders  schweren 
Fällen  mit  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  bestraft  werden. 

Wer  vorsätzlich  die  Strandung  oder  das  Sinken  eines  Schiffes  bewirkt 
und  dadurch  Gefahr  für  das  Leben  anderer  herbeiführt,   wird  mit  Strafarbeit 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.  I.  16 


242  Norwegen.  —  Besonderer  Teil. 


von  9  bis  12  Jahren  bestraft.  Das  Zerstören  von  Feuerzeichen  nnd  dergl.  in 
der  Absicht  Schiffbruch  zu  verursachen,  kann  mit  Strafarbeit  bis  zu  15  Jahren 
bestraft  werden. 

Die  Herbeiführung  einer  Überschwemmung  wird  mit  Strafarbeit  von  9  bis 
zu  15  Jahren  gestraft. 

Zerstörung  oder  Gefährdung  der  Eisenbahnen  und  des  Eisenbahnbetriebes 
ist  in  einem  besonderen  6.  behandelt. 

Im  ganzen  sind  die  gemeingefährlichen  Verbr.  im  geltenden  Rechte  wenig 
befriedigend  behandelt.  Grosse  Lücken,  bisweilen  übertriebene  Härte  und 
durch  nichts  gerechtfertigte  Widersprüche,  Inkonsequenzen  sind  die  hervor- 
tretenden Züge. 

XVI.  Sachbeschädigung  wird  mit  Geldstrafe,  Gef.  und  in  besonders 
schweren  Fällen  mit  Strafarbeit  bis  zu  3  Jahren  bestraft. 

Unbefugte  Benutzrmg  und  unberechtigte  Besitzergreiftmg  ft'emder  Sachen 
ist  auch  strafbar. 

Verschiedene  unbefugte  Nutzungen  von  Grundstücken  sind  im  G.  mit 
Geldstrafe,  ausnahmsweise  mit  Gef.  bedroht.  Jagd  und  Fischerei,  durch  welche 
die  Rechte  des  Grundeigentümers  verletzt  werden,  können  mit  Geldstrafe  bis 
zu  200  Kronen  bestraft  werden.  Ungefähr  auf  dieselbe  Weise  werden  Ver- 
letzungen der  zur  Schonung  des  Wildes  oder  zur  Aufrechterhaltung  der  Ord- 
nung bei  den  Hochseefischereien  gegebenen  Vorschriften  gestraft. 

Hausfriedensbruch  ist  im  allgemeinen  mit  Geldstrafe  zu  strafen.  Wegen 
thätlicher  Widerspenstigkeit  gegen  den  Besitzer,  oder  wenn  sich  jemand  nachts 
oder  durch  eine  nicht  zum  Eingang  bestinmite  Offhung  heimlich  eingeschlichen 
hat,  kann  aber  Gef.  angewendet  werden.  Wer  öffentliche  Verhandlungen,  den 
Gottesdienst,  den  Schulunterricht  und  dergl.  durch  unberechtigtes  Eindringen 
oder  ungebührliches  Benehmen  stört,  wird  mit  Greldstrafe  oder  Gef.,  und  wenn 
dieselben  dadurch  absichtlich  verhindert  werden,  auch  mit  Strafarbeit  bis  zu 
3  Jahren  bestraft. 

Die  Verletzung  fremder  Geheimnisse  ist  strafbar,  wenn  sie  durch 
Eröffnung  verschlossener  Briefe  und  dergl.  geschieht;  sonst  nur,  wenn  sie  sich 
als  Untreue  oder  Beleidigung  darstellt,  oder  wenn  dadurch  eine  Amtspflicht 
verletzt  worden  ist,  oder  wenn  es  sich  um  Staatsgeheimnisse  handelt. 

Mit  Geldstrafe  oder  Gef.  wird  derjenige  bestraft,  der,  nachdem  er  für 
Waren  oder  Arbeit  Vorschuss  empfangen  hat,  ohne  den  Vorschuss  zurück- 
zugeben, sich  ausser  stände  setzt  oder  es  unterlässt,  seine  Verpflichtung  zu 
entrichten. 

Wegen  Wuchers  kann  mit  Geldstrafe  oder  Gef.  derjenige  bestraft  werden, 
der  die  Notlage,  den  Leichtsinn,  die  Verstandesschwäche  oder  die  Unerfahren- 
heit  eines  anderen  dazu  benutzt,  um  für  Darlehen  oder  Stundung  einer  Geld- 
forderung sich  Vermögensvorteile  zu  verschaffen  oder  versprechen  zu  lassen, 
welche  in  auffälligem  Missverhältnis  zu  der  Leistung  stehen. 

Die  Verletzung  der  litterarischen  Eigentums-  sowie  der  Patentrechte 
und  der  Firma-  und  Muster  rechte  ist  in  besonderen  Gesetzen  behandelt. 
Die  Strafe  ist  Geldstrafe. 

XVII.  Verbr.  gegen  den  Personenstand.  Wer  einem  anderen  den  ihm 
gebührenden  Familienstand  zu  entziehen  oder  sich  selbst  oder  einem  anderen 
einen  falschen  Familienstand  zuzuwenden  sucht,  wird  mit  Geldstrafe,  Gef.  oder 
Strafarbeit  bis  zu  6  Jahren  bestraft.  Hat  derjenige,  der  mit  einem  anderen 
eine  Ehe  geschlossen  hat,  diesem  eine  ansteckende  Krankheit  verschwiegen, 
und  wird  deswegen  die  Ehe  aufgehoben,  so  ist  er  mit  Gef.  oder  Strafarbeit 
bis  zu  3  Jahren  zu  bestrafen.  Mit  Straf  arbeit  von  3  bis  zu  6  Jahren  wird 
derjenige  bestraft,  welcher  sonst  Umstände  verschwiegen  hat,   wegen  welcher 


§  7.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  243 


die  Ehe  ungültig  ist,  oder  etwas  fälschlich  vorgespiegelt  hat,  das  den  anderen 
Ehegatten  zur  Auflösung  der  Ehe  berechtigt. 

XVIII.  Verbr.  im  Amte.  Nach  dem  Mil.-StG.  kann  ein  Offizier  zur 
Dienstentlassung  verurteilt  werden,  wenn  er  durch  Trunksucht  oder  anderes 
schlechtes  oder  unanständiges  Benehmen  sich  der  Achtung  unwürdig  gemacht 
hat,  welche  er  zufolge  seiner  Stellung  besitzen  sollte.  Was  dagegen  die 
anderen  öflPentlichen  Beamten  betriflPt,  so  fehlen  in  unserem  Rechte  entsprechende 
Bestimmungen  beinahe  ganz,  was  um  so  bedenklicher  ist,  als  die  meisten 
höheren  Staatsbeamten  nicht  von  der  Regierung  ohne  Urteil  verabschiedet 
werden  können.  Auch  sind  die  meisten  Amtsverbr.  an  und  für  sich  selbst 
Verbr.,  obwohl  in  der  Regel  mit  einer  gelinderen  Strafe  bedroht,  als  wenn  sie 
im  Amte  vorgenommen  werden.  Von  grosser  Bedeutung  ist  indessen  die  Be- 
stimmung, wonach  eine  besonders  grobe  oder  oft  wiederholte  Versäumnis  oder 
Nachlässigkeit,  sowie  ein  grosser  Unverstand  mit  Geldstrafe  oder  Dienstentlassung 
bestraft  werden  kann. 

XIX.  Die  meisten  straf  baren  Handlungen  in  Bezug  auf  das  Schiffahrts- 
wesen sind  im  Seegesetze  behandelt.  Einzelne  sind  aber  auch  im  Musterungs- 
gesetze, Konsulatgesetze,  in  den  G.  über  die  Dampfschiffahrt  und  die  Be- 
förderung von  Auswanderern,  im  Lotsengesetzc  und  im  Zollgesetze  zu  finden. 
Da  jetzt  ein  neues  Seegesetz  angenommen  werden  dürfe,  kann  um  so  weniger 
davon  die  Rede  sein,  dieses  Thema  näher  zu  erörtern. 

Was  andere  Dienstverhältnisse  betrifft,  mag  erwähnt  werden,  dass  Gesinde, 
welches  den  angenommenen  Dienst  nicht  antritt  oder  ihn  rechtswidrig  verlässt, 
mit  Geldstrafe  oder  Gef.  zu  strafen  ist.  Die  unbefugte  Entlassung  des  Gesindes 
seitens  der  Herrschaft  wird  mit  Geldstrafe  geahndet. 


16* 


3.  Schweden. 


I. 

§  1.    Quellen.    Oesetzes- Texte.    litteratur. 

StraflFlag  (StG.)  vom  16.  Februar  1864;  Kongl.  förordning  om  nva  Strafflageiis 
införande  m.  m.  vom  16.  Februar  1864  (Eiuf.G.);  Strafflag  för  Krigsmagten  (Mil.-StG.) 
vom  7.  Oktober  1881;  Kongl.  förordn.  om  införande  af  den  nya  Strafflagen  för  Krigs- 
magten m.  m.  vom  7.  Oktober  1881 ;  Disciplin-stadga  för  Krigsmagten  (Disziplin-Statu- 
ten) vom  7.  Oktober  1881.  —  Lag.om  straff  för  embetsbrott  af  prest  m.  m.  (Priester- 
liches StG.)  vom  8.  März  1889.  —  Über  das  Pressgesetz,  das  GB.  v.  1734  und  die  Neben- 
gesetze s.  u.  §  6.  —  Texte  amtlich  veröffentlicht  in  dem,  unter  fortlaufenden  Nummern 
für  jedes  Jahr,  erscheinenden  GBl.  „Svensk  Författningssamling".  —  Pri vat- Ausgaben : 
Svalander,  StraflFlagen  och  promulgationsförordningen,  Carlstad  1866.  Loi  pönale 
donnde  1864,  Trad.  Stockholm  1866.  Das  allgemeine  StG.  nach  dem  jetzigen  Wortlaut 
nebst  Bemerkungen  und  Präjudikaten,  sowie  das  Priesterliche  StG:  s.  Uppström, 
Sveriges  Rikes  Lag  IX.  Aufl.,  Stockholm  1893.  S.  152—234,  844—848;  Hemming,  Straff- 
lagen med  deruti  senast  vid  1890  ärs  riksdag  antagna  ändringar  etc.   Stockholm  1890. 

—  WaÜensteen,  Lagsamling  för  Krigsdomstolarne,  Stockholm  1892.  —  Entwürfe  und 
Gutachten:  Förslag  (Vorschlag)  tili  allmän  Criminallag,  Stockhohn  1832;  Förslag  tili 
Straff balk,  Stockholm  1844;  „Om  lagcommitteens  förslag  tili  allmän  Criminallag**;  — 
Gutachten  der  juristischen  Fakultät  (Boethius,  Rabenius)  und  der  Professoren  der 
Philosophie  (Grubbe,  Atterbom)  —  in  Skandia  Tidskrift  för  vetenskap  och  konst  I,  1833, 
S.  1—136;  —  Hofrättens  öfv.  Skane  och  Blekinge  und  Utlätande  jemte  anmärkningar 
i  anledning  af  Lagkomitens  förslag  tili  allm.  Criminallag,  Kristianstad  1838;  —  Svea 
Hofrätts  und  Utlätande  öf ver  Lagkomitens  förslag  tili  allm.  Criminallag,  Stockholm  1839 ; 

—  Göta  Hofrätts  und  Utlätande  öfver  Lagkomitens  förslag  tili  allm.  Criminallag,  Stock- 
holm 1839;  —  Högsta  Domstolens  Protokoll  vid  granskning  af  förslaget  tili  allm.  Cri- 
minallag, Stockholm  1840;  —  Konffl.  Proposition  om  antagande  af  en  ny  strafflag  d. 
23  September  1862,  No.  37;  —  Dellden,  Anmärkningar  vid  Lag  Committ6ens  förslag  tili 
allm.  Criminallag,  i  Schmidts  Jurid.  Arkiv  III,  S.  161;  —  Nya  lagberedningens  förslag 
tili  Lag  ang.  ändring  i  vissa  delar  af  strafflagen,  Stockholm  1888;  Kongl.  Prop.  med 
förslag  tili  lag  ang.  ändring  i  vissa  delar  af  Strafflagen  etc.  d.  14.  Februar  1890,  No.  21 ; 
vgl.  Olivecrona,  Über  die  im  Jahre  1890  vorgenommenen  Änderungen  des  schwedi- 
schen StGB.  V.  1864,  in  Böhms  Zeitschrift  für  Intern.  Privat-  und  Strafrecht  1891.  — 
Kommentar:  Carlen,  Kommentar  öfver  strafflagen,  Stockholm  1866.  —  Abhand- 
lungen: Kronprinz  Oscar,  Om  straff  och  straffanstalter,  Stockholm  1840.  (Deutsch: 
Über  Strafen  und  Strafanstalten,  Übersetzt  von  A.  v.  Treskow,  Leipzig  1841);  —  Alm- 
qvist,  Ang.  olika  satt  för  verkställighet  af  frihetsstraff,  Stockholm  1877;  Derselbe, 
Resume  historique  de  la  r^forme  penitentiaire  en  Su^de  depuis  le  commencement  du 
XIX  sifecle,  Stockholm  1884.  —  Annerstedt,  Om  straffmätning,  Upsala  1869  (in  Upsala 
Univ.  Ärsskrift);  —  Ask,  Ansvarighet  för  tryckfrihetsbrott,  Lund  1890;  —  Assarsson, 
Svenska  straffrättens  allmänna  dei,  Lund  1877;  —  Grubbe,  Om  den  borgerliga  straff- 
maktens  grund  och  väsende,  in  Skandia  II  1834;  —  Hagströmer,  Om  Frihetsstraffen, 
in  Upsala  Univ.  Ärskrift  1875;  Derselbe,  Om  rätten  tili  nödvärn;  s.  Forhandl.  paa  d. 
IV  Nord.  Jurist-m0de  1881,  Kj0benhavn  1882;  — Hammarskjöld,  Om  falsk  angifvelse  och 
ärekränkning,  Upsala  1875;  —  Hasselroth,  Om  frihetsstraffen  och  deras  verkställighet, 
Stockholm  1876;  —  Humbla,  De  crimine  falsi,  Lund  1843;  —  Derselbe,  De  legibus 
penalibus  indefinitis,  Lund  1849;  —  Derselbe,   Om  obestämta  strafflagar,   Lund  1850; 

—  Derselbe,  Om  straflTlagens  användande  vid  sammanträffandet  af  brott.    Lund  1851 ; 


§  2.    Charakter  des  JÜteren  Rechts.  245 


—  Derselbe,  Inledning  tili  läran  om  stöld  och  snatterl,  Lnnd  1862;  —  Lindblad,  Om 
mord  och  drap.  Upsala  1832;  —  Natunann,  Om  Kriminallag'stiftningen  i  Sverlge 
efter  1809;  s.  Naumann:  Tidskrift  för  lagstiftning,  lagskipning-  och  förvaltning  1864 
—1867,  1869—1871;  —  Nehrmann,  (Ehrenstrale) ,  Inledning  tili  den  Svenska  jiiris- 
prndentlam  Criminalem,  Lund  1756;  —  Nordling,  Om  Straflmedium;  s.  Naumann:  Tid- 
skrift, 1864,  S.  567;  1865  S.  785;  —  Nordström,  Svjenska  SamhäUsförfattningens  Historia, 
II,  S.  227—384;  Helsingfors  1840;  —  Nybleeus,  Om  Statens  straflfrätt,  III.  Aufl.,  Lund 
1879;  —  Olivecrona,  Om  dödsstraffet,  fl.  Aufl.,  Stockholm  1891;  —  Derselbe,  Om  or- 
sakerna  tili  äterfall  tili  brott  och  om  medlen  att  minska  dessa  orsakers  skadliga  ver- 
kan,  Stockholm  1872;  Derselbe,  Des  causes  de  la  r^cidive  (trad.),  Stockholm  1873; 
Derselbe,  Om  de  kännetecken,  som  karakterislra  tjufnadsbrott,  Upsala  1846;  —  Rydin, 
H.  L.,  Om  yttranderätt  och  tryckfrihet,  Upsala  1859;  —  Derselbe,  Om  Konimgens  rätt 
att  göra  nad,  Upsala  Univ.  Ärsskrift  1861;  —  Rydin,  K.,  Om  KonkursfÖrbrytelser, 
Upsala  1888;  —  Stjernhöök,  De  jure  Sveorum  et  Gothorum  vetusto,  Stockholm  1672; 

—  Wykander,  Om  preskription  i  brottmäl,  Lund  1878;  —  Winroth,  Rättshistoriska 
föreläsningar  i  straffrätt,  Lund  1889.  —  Vgl.  Goos,  den  Nordiske  Strafferet,  in  Nordisk 
Retsencyclopsedi,  Kj0benhavn  1882.  —  P reJudikate,  s.  Naumann:  Tidskrift  för  lags- 
tiftning,  lagskipning  och  förvaltning,  I— XXV,  Stockholm  1864—1888,  mit  Register  zum 
Jahrgang  1864 — 1886  ausgearbeitet  von  Leuhusen;  Holm,  Nj'tt  juridiskt  Arkiv,  Jahrg. 
1874  —  1893,  nebst  Register  I.  und  II.  —  Während  des  Drucks  erschienen:  Anteil, 
Sveriges  Rikes  Strafflagar  jamte  rättshistorisk  inledning,  Lund  1892. 


n.  Geschichtliche  VorbemerkimgeiL 

§  2.  Charakter  des  Slteren  Rechts, 

Das  älteste  schwedische  Strafrecht,  soweit  wir  aus  den  mittelalterlichen 
Rechtsquellen  —  hauptsächlich  den  Landschafts-,  Landes-  und  Stadtrechten  ^) 
—  uns  ein  Bild  davon  machen  können,  zeigt  ein  Nebeneinanderbestehen  des 
älteren  Herkommens  der  Sippe  und  der  allmählich  sich  geltend  machenden 
Grundsätze  einer  neu  aufkeimenden  Gesellschaftsordnung.  Die  Rache  des 
Verletzten,  bezw.  seiner  Sippegenossen,  ist  noch  nicht  beseitigt,  erscheint  aber 
insofern  geregelt,  als  der  Verletzte,  bezw.  der  Klageinhabejf,  die  Wahl  hatte, 
entweder  Sühnegeld  als  Genugthuung  des  kriminellen  Unrechts  und  Ersatz 
des  bürgerlichen  Schadens  anzunehmen  oder  die  Friedloserklärung  des  Übel- 
thäters  zu  beanspruchen,  wobei  mitunter  der  Verletzte  durch  Tötung  des  auf 
frischer  That  ErgriflFenen  dem  Urteile  zuvorkommen  konnte.  In  Ermangelung 
der  Entrichtung  des  Sühnegeldes  musste  der  Verbrecher  seine  Schuld  mit  dem 
Körper  oder  mit  Arbeit  entgelten.  Nach  und  nach  fängt  auch  der  Staat  an, 
in  gewissen  Fällen  die  Verfolgung  der  Missethäter  als  unerlässliche  Obliegen- 
heit zu  fordern,  wobei  er  selbst  einen  Anteil  des  Sühnegeldes  beansprucht, 
sowie  die  Vollstreckung  übernimmt.  Die  Strafen  waren  anfänglich  Todes-, 
Körper-  und  Geldstrafen.  Die  Freiheitsstrafen  wurden  später  durch  das  kircli- 
liche  Recht  eingeführt.  An  der  Hand  des  kräftigeren  Eingreifens  des  Staates 
in  Bezug  auf  die  Verfolgung  des  Verbr.  bildete  sich  aber  statt  des  alten  Übel- 
standes eine  neue  nicht  weniger  unwürdige  Barbarei  aus.  Der  Einfluss  der 
Mosaischen  Talion,  sowie  die  abergläubische  Vorstellung  von  der  Notwendig- 
keit den  gegen  das  Gesamtwesen  durch  das  Verbr.  erregten  göttlichen  Zorn 
abzuwehren  und  das  Volk  vermittelst  der  unausgesetzten  Thätigkeit  des  obrig- 
keitlichen Schwertes  vom  Verbr.  abzuschrecken,  führten  allmählich  zur  An- 
wendung grausamer  Strafen,  sowie  zu  einer  haarsträubenden  Vollstreckung. 

Auf  solchen  Voraussetzungen  waren  die  Abschnitte  über  Verbr.  und 
Strafen  (Missgemings  —  och  Straflfbalkame)  des  sonst  mit  Recht  gepriesenen 
GB.  V.  1734  gebaut.     Dies  G.   droht  meistens  absolut  bestimmte  Strafen,    und 


*)  S.  das  Gesamt-Werk:  Schlyter,  Sveriges  GamlaLagar,  Stockholm-Lund  1827—77. 


246  Schweden  —  Geschichtliche  Vorbemerkangen. 


zwar  in  69  Fällen  einfache  oder  qnalifizierte  Lebensstrafe,  woran  sich  Raten- 
strafe, Wasser*  und  Brotstrafe  (anf  höchstens  28  Tage),  Verbannung,  Ehren- 
strafen, Geldstrafe,  Gefängnis,  sowie  Festungs-  oder  Strafarbeit  in  bnntem 
Gemenge  ansctüiessen. 

§  3.  Beformbestrebimgeii. 

Die  Aufklärung  bewirkte  eine  Milderung  der  strafrechtlichen  Anschauungen, 
die  vorzugsweise  in  der  unter  persönlicher  Mitwirkung  des  Königs  Gustaf  III., 
zu  Stande  gekonunenen  Verordnung  vom  20.  Januar  1779,  durch  die  unter 
anderm  die  Todes-  und  Ehrenstrafen  in  mehreren  Fällen  durch  geringere 
Strafen  ersetzt  wurden,  hervortritt.  Die  qualifizierten  Todesstrafen  wurden 
erst  durch  die  königl.  Verordnungen  vom  30.  Mai  1835  (Radbrechen)  imd  vom 
10.  Juni  1841  beseitigt.  Aber  schon  am  14.  Februar  1811  wurde  auf  Verlangen 
der  Beichsstände  ein  Ausschuss  (Gesetzkomitee)  mit  der  Ausarbeitung  eines 
reformierten  StG.  beauftragt. 

Der  Entw.  dieses  Ausschusses,  welcher  auch  den  vollständigen  Entn\ 
eines  bürgerlichen  GB.  ausarbeitete,  erschien  erst  im  J.  1832.  Er  zeigt  deut- 
lich den  Einfluss  der  damals  in  Deutschland  (Bayern,  Hannover)  und  Osterreich 
vorhandenen  StG.  und  G^setzentw.  Als  allgemeine  Hauptstrafen  waren  auf- 
genommen: Todesstrafe,  Strafarbeit  in  fünf  Graden,  Gefängnis,  Geldstrafe. 
Das  System  der  relativ-bestimmten  Strafdrohungen  wurde  befürwortet.  In  Be- 
zug auf  die  Vollstreckung  der  Freiheitsstrafen  schloss  sich  der  Ausschuss  an 
das  Aubumsche  System  an. 

Welcher  Strafrechtstheoric  der  Ausschuss  huldigte,  ist  nirgends  deutlieh 
ausgesprochen.  Jedenfalls  ist  er  kein  Anhänger  der  absoluten  Theorieen.  Der 
Zweck  der  Straf drohungen  sei,  dem  Verbr.  vorzubeugen.  Die  Gesellschaft 
sollte  aber  auch  für  die  Besserung  solcher  Delinquenten,  die  nach  ausgestan- 
dener Strafe  in  die  Gesellschaft  wieder  einträten,  wirken. 

Nachdem  über  diesen  Entwurf  Bemerkungen  und  Gutachten  von  Justiz- 
behörden, Profesaipren  der  Rechtswissenschaft  und  der  Philosophie,  sowie  von 
anderen  Rechtsgelehrten  abgegeben  waren,  wurde  er  einer  anderen  Kommission 
(Lagberedningen),  deren  Entwurf  1844  erschien,  überwiesen.  Diese  neue  gesetz- 
beratende Kommission  war  eine  prinzipielle  Anhängerin  des  Philadelphischen 
Systems  (Begründung  S.  4).  Von  Freiheitsstrafen  nahm  sie  nur  eine  Art  — 
Gefängnis  in  sieben  Graden  —  an.  Zweck  der  Strafe  sei  die  Abhaltung  von 
Verbr.;  jedoch  sei,  wenn  möglich,  bei  der  Vollstreckung  auch  die  Besserung 
des  Verbrechers  zu  berücksichtigen.  Die  Absicht  ernster  Bestrafung  nebst  der 
Möglichkeit  der  Besserung  des  Bestraften  sei  am  besten  durch  das  Philadel- 
phische  System  zu  erreichen. 

Trotz  eines  teilweisen  Erfolges  beim  Reichstage  1844  wurde  der  Entw. 
vom  nächsten  Reichstage  verworfen.  Die  Regierung  schlug  daher  zunächst 
die  Bahn  der  teilweisen  Reformen  ein.  Als  Ergebnisse  dieser  Bestrebungen 
sind  zu  bezeichnen  die  königlichen  Verordnungen  vom  4.  Mai  1855,  betr. 
1.  die  Beseitigung  der  Rutenstrafe  und  der  Kirchenbusse;  2.  der  Strafen  wegen 
Diebstahl,  Entwendung  (Snatteri)  und  Raub;  die  vom  7.  September  1858  (Fäl- 
schung, Betrug);  die  vom  29.  Januar  1861  (Mord,  Totschlag,  Körperverletzung), 
sowie  die  vom  21.  Dezember  1857  über  Vollstreckung  von  Freiheitsstrafen  in 
der  Einzelhaft,  nach  welcher  Strafarbeit  auf  höchstens  zwei  Jahre,  in  der  Zelle 
jedoch  mit  Abzug  von  einem  Viertel  der  drei  Monate  überschiessenden  Zeit, 
abzubüssen  sei.^)  In  der  Begründung  der  letzterwähnten  Vdg.  wird  ausgesprochen, 
dass  die  Strafe  nicht  nur  ernst  genug  sein  soll,    um  vom  Verbr.  abzuhalten. 


^)  Die  längste  Dauer  der  Zellenhaft  war  also  1  Jahr,  6  Monate,  28  Tage. 


§  4.    Das  Strafgesetz  vom  16.  Februar  1864.  247 


sondern  auch  die  Besserung  des  Verbrechers  oder  wenigstens  seine  Rettung 
vor  weiterer  VerhÄrtung  zu  erstreben  habe. 

In  den  Vdg^  y.  1855,  1858,  1861  war  das  System  der  relativ  bestimmten 
Strafdrohungen  oder  das  in  Schweden  gewöhnlich  so  genannte  Latituden- 
System  angenommen.  Die  Ergebnisse  der  neuen  Bestimmungen  in  dieser 
Hinsicht  fielen  im  ganzen  so  günstig  aus,  dass  die  öffentliche  Meinung  für  die 
Annahme  des  Systems  in  seinem  vollen  Umfange  reif  war,  als  die  Regierung 
im  J.  1862  den  damaligen  Reichsständen  den  schliesslichen ,  im  Justizdeparte- 
ment ausgearbeiteten  Entw.  eines  neuen  StG.  unterbreitete.  Die  Vorlage  wurde 
mit  einigen  Änderungen  angenommen  und  nebst  einer  Einführungsverordnung, 
welche  ausser  Übergangsbestimmungen  noch  Vorschriften  über  Verhaftung, 
Haussuchung,  Leichenschau,  nebst  einigen  privatrechtlichen  Bestimmungen  (in 
§16,  Abschn.  2—6)  aus  dem  G.  v.  1734  enthielt,  am  16.  Februar  1864  pro- 
mulgiert. 

m  Die  geltende  Gesetzgebnng. 

§  4.    Das  S^trafgesetz  rom  16.  Februar  1864. 

Das  neue  StG.  wird  in  der  Regierungsvorlage  (königl.  Prop.  vom  23.  Sep- 
tember 1862,  No.  37)  als  auf  die  oben  erwähnten  Vdg.  v.  1855,  1858  und  1861 
nebst  dem  Entw.  v.  1844  gebaut  angegeben.  Als  seine  wichtigste  Eigentüm- 
lichkeit wird  am  meisten  das  schon  erwähnte  „Latituden-System"  hervorgehoben. 
Das  G.  schreibt  mit  wenigen  Ausnahmen  alternative  Strafen  vor.  Für  das 
Ausmass  der  Strafe  nach  dem  Vorhandensein  erschwerender  oder  mildernder 
Umstände  ist  meistens  ein  sehr  weiter  Spielraum  innerhalb  der  Grenzen  eines 
Höchst'  und  eines  Mindestbetrages  zugelassen.  Ausgeschlossen  aus  dem  G. 
sind  allgemeine  Strafzumessungsregeln;  dergleichen  gab  es  aber  in  Kap.  6  der 
Entw.  V.  1832  und  1844.  Sehr  zurückhaltend  mit  doktrinären  Bestimmungen 
und  Definitionen,  hat  der  Gesetzgeber  auch  allgemeine  Vorschriften  über  Ver- 
such (Entw.  V.  1832,  1844,  Kap.  3),  Fahrlässigkeit  u.  dgl.  vermieden.  Die 
ziemlich  knappe  Begründung  der  Vorlage  enthält  ebensowenig  wie  die  der 
Entw.  eine  kritische  Analyse  der  Vorschriften  und  giebt  wenig  Anleitung  zur 
Lösung  von  Streitfragen  oder  zur  Förderung  einer  einheitlichen  Rechtssprechung. 

Das  G.  ist  in  25  Kap.  eingeteilt,  von  welchen  Kap.  I — V  den  allgemeinen 
Teil  des  StR.  behandeln,  Kap.  VI.  Regeln  über  Entschädigung,  Kap.  VII— XXV 
die  einzelnen  strafbaren  Handlungen  enthalten,  und  zwar  Kap.  VII  Religions- 
verbr.,  Kap.  VIII — X  Staatsverbr.,  Kap.  XI — XXIV  hauptsächlich  Verbr.  von 
einzelnen  gegen  einzelne,  und  Kap.  XXV  Amtsverbr.  Ausgeschlossen  sind  mit 
einigen  Ausnahmen  die  Polizeiübertretungen. 

Weder  dem  Inhalte  nach  noch  in  sprachlicher  Hinsicht  ist  das  G.  streng 
wissenschaftlich  gehalten,  mitunter  sogar  kasuistisch  und  lückenhaft.  Statt 
technischer  Terminologie  werden  manchmal  weniger  bestimmte  Ausdrücke  der 
Alltagssprache,  oder  sogar  veraltete,  nicht  gemeinverständliche  Redensarten  und 
Fremdwörter  angewendet.  Bestimmungen,  die  nach  dem  ausdrücklichen  Inhalt 
des  G.  nur  eine  bedingte  Geltung  haben,  sind  wie  oft  sonst  in  den  betreffenden 
Hauptparagraphen  ganz  kategorisch  gegeben,  ohne  eine  Andeutung  der  später 
irgendwo  folgenden  Beschränkung.  Die  Dreiteilung  der  strafbaren  Handlung 
ist   im  StG.    nicht   adoptiert.*)      Die   allgemeine   Bezeichnung   der   strafbaren 


^)  Nach  der  für  die  Rechtsstatistik  angenommenen  Terminologie  unterscheidet  man 
1.  crimes  (gröfre  brott),  wenn  die  Handlung  mit  Todesstrafe  oder  Straf  arbeit  bedroht  ist, 
jedoch  unter  dem  Vorbehalt,  dass,  insofern  auch  Geldstrafe  hilfsweise  angedroht  ist 


248  Schweden.  —  Die  geltende  Gesetzgebung. 


Handlang  ist  brott  (Bruch)  oder  flirbrytelse  (Verbr.).  In  den  Verwaltungs-, 
Polizei'  und  dergleichen  Vdg.  sind  kleinere  Delikte  oft  mit  förseelae  (Versehen), 
förbrytelse,  öfverträdelse,  lagöfverträdelse  (Gesetzübertretung)  bezeichnet.  (Eönigl. 
Vdg.  vom  24.  Oktober  1885,  §§  16,  21,  vom  31.  Dezember  1891,  §  38  u.  a.). 

Die  nach  dem  G.  strafbaren  Handlungen  sind  speziell  angegeben.  Der 
Grundsatz:  „nulla  poena  sine  lege"  ist  nicht  ausdrücklich  ausgesprochen,  aber 
in  der  Rechtsprechung  ausnahmslos  angenonmien.  Die  im  G.  bestimmten 
Strafen  —  Todesstrafe,  Strafarbeit,  Gef.,  Geldstrafe  —  sind,  mit  Ausnahme  für 
gewisse  Beleidigungen  und  Verbr.  im  Amte,  nicht  übertrieben  streng.  Die 
Todesstrafe  ist  in  der  Regel  alternativ  angedroht.  Nur  ftir  den  von  einem 
Sträfling  auf  Lebenszeit  begangenen  „Totschlag"  ist  sie,  sofern  keine  mildernden 
umstände  vorliegen,  bindend  vorgeschrieben.  Die  Frage,  ob  sich  im  StG.  eine 
gewisse  Straftheorie  geltend  gemacht  hat,  muss  m.  £.  aufs  Entschiedenste  ver- 
neint werden.  Hagströmer  (Freiheitsstrafen,  S.  186)  findet  wohl,  dass  alle 
Vorkommnisse  auf  dem  Gebiete  des  positiven  StR.  sich  ungezwungen  aus  der 
Präventionstheorie  ableiten  lassen,  welche,  wenn  auch  unbewusst,  für  den 
Gesetzgeber  leitend  und  massgebend  gewesen  sein  sollte,  während  möglicher- 
weise auch  andere  Theorieen,  wie  die  Vergeltungs-,  Abschreckungs-  und  Besse- 
rungstheorie mit  Rücksicht  auf  die  sekundären  Zwecke  der  Strafe  sich  gel- 
tend gemacht  haben;  er  giebt  aber  selbst  zu,  dass,  wenn  man  auf  die  in  den 
Begründungen  der  Entw.  vorkommenden  Äusserungen,  worin  alle  denkbaren 
Strafzwecke  hervorgehoben  sind,  Rücksicht  nimmt,  der  Standpunkt  des  Gesetz- 
gebers als  ein  ziemlich  arbiträrer  und  eklektischer  bezeichnet  werden  muss. 
Nach  Annerscedt  (Strafzumessung,  S.  68j  gilt  als  doppelter  Strafzweck,  im  G. 
sowie  in  den  Entw.,  Abschreckung  und  Besserung,  wenn  auch  in  einigen 
Punkten  der  Einfluss  der  absoluten  Theorieen  gespürt  wird.  Im  ganzen  solle 
aber,  in  Bezug  auf  die  Strafzumessung,  mit  dem  Geiste  des  G.  die  Präventions- 
theorie (Grolmann),  mit  der  man  die  des  schwedischen  Denkers  BostrOm  (gest. 
in  Upsala  1866)  hat  gleichstellen  wollen,  übereinstimmen.  Ich  kann  für  meinen 
Teil  diesen  Ansichten  nicht  beipflichten.  Ohne  Einfluss  auf  den  Gesetzgeber 
sind  freilich  die  schwedischen  Denker  und  Rechtslehrer  aus  dem  Anfange  dieses 
Jahrhunderts,  die  der  Vergeltungstheorie  entweder  rein  (wie  Biberg),  oder  mit 
Annahme  von  Nebenzwecken,  —  Besserung,  Abschreckung  —  (wie  Grubbe), 
huldigten,  nicht  gewesen«  Ganz  fremd  kann  er  auch  nicht  der  von  Boström 
und  seinen  Schülern  (Nyblseus,  Sahlin  u.  a.)  an  den  schwedischen  Universitäten 
vorgetragenen  absolut-idealistischen  Theorie  geblieben  sein.  Zu  einer  organi- 
schen Verwertung  dieser  oder  irgend  einer  anderen  Theorie  ist  der  Gesetz- 
geber jedoch  nicht  gelangt.  Dass  z.  B.  (wie  nach  Boström)  die  Strafe  ein  Aus- 
fluss  des  unbedingten  Rechts  wie  der  unbedingten  Pflicht  des  Staates  sich 
selbst  zu  schützen  sei,  war  niemals  Gegenstand  der  politischen  Analyse. 
Meistens  war  es  wohl  dagegen  anerkannt,  dass  die  Art  und  das  Mass  der 
Strafe  nach  dem  Grade  der  Intensität  oder  der  Gefähiiichkeit  des  verbreche- 
rischen Willens  zu  bestimmen  sei.  Dass  aber  dem  Verbrecher  in  erster  Linie 
die  Lust  zu  weiteren  Rechtsverletzungen  zu  benehmen  ist,  wobei  jedoch  der 
Staat,  der  als  Ausüber  der  Strafgewalt  nur  auf  die  Sinnlichkeit  wirkt,  nicht 
über  die  politische  Besserung  des  Verbrechers  hinauszielt,  oder,  wenn  der 
verbrecherische  Wille  als  unabänderlich,  d.  h.  unverbesserlich,  anzusehen  ist, 
dem  Verbrecher  die  Fähigkeit  zu  weiteren  Rechtsverletzungen,   absolut  durch 


die  Handlung  nur,  wenn  auf  Strafarbeit  oder  Gef.  erkannt  wird,  als  crime  anzusehen 
ist;  2.  d61its  (ringare  brott),  die  strafbaren  Handlungen,  die  mit  strengerer  Strafe  als 
Geldstrafe  von  100  Kronen  bedroht,  aber  nicht  als  crimes  zu  betrachten  sind,  und 
3.  contraventions  förseelser,  die  mit  einer  nicht  100  Kronen  übersteigenden  Geldstrafe 
bedroht  sind. 


§  5.    Spätere  Abänderungen  des  StGB.  249 


Hinrichtung  oder  relativ  durch  lebenslängliche  Einsperrung  (Unschädlich- 
machung), zu  entziehen  ist,  das  gehörte,  soweit  ersichtlich,  nie  zu  den  klaren 
Grund-  und  Leitgedanken  des  Gesetzgebers.  Die  spätere  Gesetzgebung,  sowie 
die  ganze  StrafVechtspflege  erscheinen  auch  nicht  vorzugsweise  von  dem  Geiste 
des  erhabenen  Denkers  getragen. 

In  dieser  Beziehung  darf  aber  mit  dem  Gesetzgeber  nicht  gerechtet 
werden.  Wenn  dieser  sich  einer  der  damaligen  Straf'rechtstheorieen  zu  eng 
angeschlossen  hätte,  dann  wäre  vielleicht  das  G.  den  realen  Verhältnissen 
weniger  zweckdienlich  ausgefallen.  Auf  alle  Fälle  bezeichnet  das  StG.  v.  1864, 
etwaiger  vorhandener  Mängel  ungeachtet,  einen  gewaltigen  Fortschritt  über 
den  Standpunkt  des  18.  Jahrhunderts  hinaus. 

§  5.  SpStere  AbSndernngen  des  StG^B, 

Die  Änderungen,  welche  das  StG.  seit  1864  erlitten  hat,  sind  zum 
grössten  Teil  mildernd.  In  gewissen  Fällen  sind  auch  strengere  Strafen,  bezw. 
solche  wegen  Handlungen,  die  vorher  straflos  waren,  vorgeschrieben.  Die  in 
Frage  kommenden  G.  sind: 

1.  Königl.Vdg.vom24.Mail872,  betr.  Kap.  XVIII,  §5  (Unzucht  zwischen 
Verschwägerten)  ;i)  2,  Königl.  Vdg.  vom  19.  Juli  1872,  betr.  Kap.  XX,  §  11 
(Milderung  der  Rückfallsstrafe  wegen  Diebstahl);  3.  Königl.  Vdg.  vom  31.  Ok- 
tober 1873,  betr.  Kap.  II,  §  19  (nähere  Bestimmungen  bezw.  Verlängerung  der 
Dauer  des  Verlustes  bürgerlichen  Vertrauens);  4,  Königl.  Vdg.  vom  16.  Juni 
1875;  betr.  Kap.  XX,  §§  1,  2,  16,  Kap.  XXIV,  §§  3,  4  (Waldfrevel  und  Holz- 
diebstahl  in  gewissen  Fällen  als  Diebstahl  zu  beurteilen  —  unklare  Vorschrift); 
5.  Königl.  Vdg.  vom  10.  August  1877,  betr.  Kap.  II,  §  2  (Intramuran-Hinrich- 
tung);  6.  Königl.  Vdg.  vom  6.  August  1881,  Zusatz  zu  Kap.  XIX,  §21  (Gemein- 
gefährliche  Verbr.    gegen    private   Eisenbahnen,    Kanäle    u.   dgl.    gerichtet); 

7.  Königl.  Vdg.  vom  6.  Oktober  1882,  betr.  Kap.  XXIII,  §§4—7  (Strafen  für 
Mitglieder    des  Verwaltungsrates    beim    Bankerutt    einer    Aktiengesellschaft); 

8.  G.  vom  16.  Mai  1884,  betr.  Kap.  II,  §§  6,  10—13;  Kap.  IV,  §  7;  Einf.G.  §  11 
(Aufhebung  der  Wasser-  und  Brotstrafe);  9.  G.  vom  28.  Oktober  1887,  betr. 
Kap.  VII,  §§1,2  (Milderung  der  Strafe  wegen  Gotteslästerung  und  Verspottung 
des  Gottesdienstes;  neue  Bestimmung  der  Kennzeichen  der  Gotteslästerung, 
die  viele  Streitfragen  veranlasst  hat)  und  betr.  Kap.  X,  §§1,  3,  11,  14 — 18 
(Milderung  der  Strafen  wegen  Körperverletzung  und  Beleidigung  gegen  Beamte 
und  wegen  Befreiung  Gefangener;  Schärfung  der  Straten  wegen  Aufforderung 
zum  Aufruhr;  Straf bestimmung  wegen  gewisser  öffentlicher  oder  schriftlicher 
Aufforderungen  zur  Gewalt  gegen  Person  oder  Eigentum) ;  10.  G.  vom  7.  Juni 
1889  (Zusatz  zu  Kap.  X,  §  14;  Strafe  wegen  gewisser  Verleitungen  zu  Un- 
gehorsam gegen  Gesetz  und  Behörden);  11,  6.  vom  20.  Juni  1890,  betr.  Ände- 
rungen gewisser  Teile  des  StG.,  hauptsächlich  eine  Revision  der  Straf- 
bestimmungen nebst  dadurch  veranlassten  Änderungen,  —  worüber  Olivecrona 
in  Böhms  Zeitschrift  für  internationales  Privat-  und  StR.  eingehend  berichtet 
hat,  —  enthaltend  nämlich: 

a)  Sachliche  Änderungen.  I.  Im  allgemeinen  Teil,  betr.  1.  den  Ver- 
lust des  bürgerlichen  Vertrauens,  Kap.  II,  §  19;  III,  §  13;  s.  auch  Kap.  VIII, 
§  30;  Kap.  XII,  §  21 ;  Kap.  XIV,  §  46;  Kap.  XV,  §  25;  Kap.  XVI,  §  16;  Kap.  XIX, 
§  22;  Kap.  XX,  §  14;  Kap.  XXI,  §  10;  Kap.  XXII,  §  22;  Kap.  XXIII,  §§1,  2; 
3.  Voraussetzungen  des  Rückfalls,  Kap.  IV,  §11;  3.  junge  Delinquenten,  Kap.V, 
§§  2—4;  4.  Notwehr,  Kap.  V,  §§  7—10;  5.  Verjährung,  Kap.V,  §  14.  —  II.  In 


*)  Folge  einer  Änderung  des  Eherechts;  Giftermäls  Balk,  Kap.  2,  §§  5,  6. 


250  Schweden.  —  Die  geltende  Gesetzgebung. 


Bezug  auf  die  Strafrahmen:  L  Milderung  (bisweilen  bei  besonders  mildernden 
UmstAnden)  wegen  Migestätsbeleidig^ng,  Kap.  IX,  §  5;  Fälschung,  Kap.  XU, 
§§1—5,  7,  12,  14,  16,  17;  Kap.  XXV,  §12  (auch  SchÄrfung);  Kindestötung, 
Abtreibung,  Aussetzung  von  Kindern,  Kap.  XIV,  §§  22—26,  32;  Brandstiftung 
und  andere  gemeingeiUhrliche  Verbr.,  Kap.  XIX,  §§  1 — 4,  9;  Diebstahl,  Raub, 
Kap.  XX  (gänzlich  umgearbeitet);  Kap.  XXI,  §§  1—3,  9;  2.  Schärfung  der 
Strafen  wegen  gewisser  Körperverletzungen,  Gebrauch  von  tötlichen  WaflTen, 
Kap.  XIV,  §§  12,  15,  37;  Kap.  XI,  §§7,  8;  Abtreibung  der  Leibesfrucht  von 
andern  als  der  Mutter;  Gewalt  gegen  schwangere  Weiber,  Kap.  XIV,  §§27, 
29;  Tierquälerei,  Kap.  XVIII,  §16;  Versuch  zur  Bewirkung  des  Sinkens  eines 
Schiffes  u.dgl.,  Kap.  XIX,  §9;  Betrügerei,  Unterschlagung,  Untreue  gegen 
Auftraggeber  u.  dgl.,  Kap.  XXII,  §§1,  6,  11,  13,  14,  16,  18;  Vertauschung  von 
Kindern,  Kap.  XXII,  §9;  Verletzung  des  Briefgeheinmisses,  Kap.  XXII,  §10. 
—  ni.  Neue  Straf bestimmungen:  Wegen  Störung  privater  Andachtsübungen, 
Kap.  XI,  §§  1 — 3;  Hausfriedensbruch  durch  Steinwurf,  Lärm  u.  dgl.,  Kap.  XI, 
§12;  Fälschung  von  Marken,  Stempeln  fremder  Staaten,  Kap.  XII,  §§10,  18; 
Versuch  der  Brandstiftung,  Kap.  XIX,  §5;  gemeingefährliche  Verbr.  begangen 
durch  Anwendung  von  Pulver  oder  Sprengstoffen,  Kap.  XIX,  §6;  Beschädigung 
von  Telephonanlagen,  Kap.  XIX,  §§13,  14,  21.  —  IV.  Betr.  das  Klagerecht, 
Kap.  XXn,  §  21. 

b)  Formelle  Änderungen.  Kap.  IV,  §§2,  8 — 10  (concursus  delictorum); 
Kap.V,  §6;  Kap.  XI,  §§5,  6;  Kap.  XVIII,  §7;  Kap. XIX,  §§2—5;  Kap.  XX, 
§4Abs.  1,  §5  Abs.  2,  §8;  Kap.  XXII,  §16;  Kap.  XXIK,  §6;  Kap.  XXV, 
§11.  Der  frühere  Wortlaut  wurde  schliesslich  beibehalten  in  Kap.  XXIII,  §7. 
Kap.  XXII,  §16  des  alten  G.  (vgl.  G.  betr.  Warenmarken  vom  6.  Juli  1884, 
§§12,  15)  wurde  fortgelassen.  —  In  Übereinstinmiung  mit  den  Änderungen 
des  aUgemeinen  StG.  wurden  auch  die  §§58,  113,  114,  116,  121—123,  126 
des  Mil.-StG.  geändert. 

12.  G.  vom  14.  Oktober  1892,  betr.  den  geänderten  Wortlaut  von  Kap.  XXni, 
§  7  des  StG.,  wodurch  das  Klagerecht  des  öffentlichen  Anklägers  bei  Bankerutt 
erweitert  wird.  13.  Schliesslich  kommt  hier  in  Betracht  das  G.  vom  29.  Juli  1892, 
betr.  Vollstreckung  von  Strafarbeit  und  Gef .  in  Einzelhaft,  in  welchem  unter  anderm 
vorgeschrieben  ist,  dass  Strafarbeit  bis  zu  4  Jahren  wenn  möglich  in  Einzel- 
haft verbüsst  werden  soll,  wobei  von  der  Strafzeit  ein  Viertel  (=  höchstens 
1  Jahr)  abgezogen  wird.  Wenn  Strafarbeit  auf  gewisse  Zeit,  über  4  Jahre 
oder  auf  Lebenszeit,  auferlegt  ist,  wird  der  Sträfling  während  der  ersten 
3  Jahre  in  Einzelhaft  gehalten.  Ein  Drittel  dieser  Zeit  (=  1  Jahr)  wird  im 
ersten  Falle  von  der  übrigen  Strafzeit  abgezogen. 

§  6.  Nebengesetze  strafrechtlichen  Inhalts. 

Weiter  zu  beachtende  G.  strafrechtlichen  Inhalts  sind:  L  Das  Pressgesetz 
(TryckMhetsförordning)  vom  16.  Juli  1812,  nebst  späteren  Änderungen,  zuletzt 
V.  1888;^)  2.  das  Mil.-StG.  und  Disziplinar-Statuten  vom  7.  Oktober  1881  nebst 
späteren  Änderungen,  zuletzt  vom  20.  Juni  1890;^)  3.  priesterliches  StG.  vom 
8.  März  1889;*)  4»  6.  betr.  die  Verantwortlichkeit  der  Minister  vom  10.  Februar 
1810;*)  d.  G.  vom  12.  September  1868  betr.  die  Verantwortlichkeit  der  Depu- 


^)  Text  nebst  Erläuterungen  s.  Sveriges  Grundlagar,  2.  Aufl.,  herausgegeben 
V.  Uppström. 

-)  Wallensten  Lagsamling  för  Krigsdomstolame,  Stockholm  1890.  Deutsche  Über- 
setzung in  der  Zeitschrift  für  die  gesamte  Strafrechtswissenschaft  Bd.  II,  Beilage  2. 

«)  Uppström,  Sveriges  Rikes  Lag  IX.  Aufl.,  Stockholm  1893,  S.  844—847. 

*)  Uppström,  Sveriges  Grundlagar  S.  91—95. 


§  6.    Nebengesetze  strafrechtlichen  Inhalts.  251 


tierten  des  Reichstags,  in  der  Reichsschalden-Yerwaltang  und  der  Reichsbank 
nebst  Nebenstellen.^) 

Strafrechtliche  Bestimmungen  (hauptsächlich  über  geringere  Geldstrafen, 
Bussen)  in  den  noch  geltenden  bürgerlichen  Abteilungen  des  GB.  v.  1734  sind 
enthalten  in:  Giftermäls-Balk  (Ehe),  Kap.  HI,  §§1,  3—7;  Kap.  VI,  §§3,  4; 
Kap.  VII,  §§1,  3;  Kap.  XII,  §§1,  3;  Kap.  XIU,  §  2;  —  Ärfda-Balk  (Erb- 
schaften) Kap.  IX,  §5;  Kap.  XXm,  §  6.  —  Jorda-Balk  (Liegenschaften), 
Kap. XI,  §3;  Kap.  XVI,  §§  4,  7 ;  Byggninga-Balk  (Bauen,  Landeskultur),  Kap.  II, 
§§  2,  3;  Kap.  VI,  §  1;  Kap.  IX,  §  5;  Kap.  X,  §  8;  Kap.  XI,  §§  2—4;  Kap.  XIII, 
§§5,  6;  Kap.  XIV,  §3;  Kap.  XV,  §§1—4;  Kap.  XXn,  §§5,  8;  Kap.  XXIV, 
§§1,  7;  Kap.  XXVI,  §6;  Kap.  XXVII,  §§2,  4,  10.  —  Handels-Balk  (Handel), 
Kap.I,  §§2.  3,  6,  8,   10;    Kap.  III,  §§3,  5;   Kap.  IX,  §6;    Kap.  XVIII,   §§2, 

3,  4.  —  Rätteg&ngs-Balk  (Prozess),  Kap.  II,  §§1,  3,  6;  Kap.  VI,  §5;  Kap.  IX, 
§§  1-4;  Kap.  XII,  §  2;  Kap.  XIII,  §  2;  Kap.  XIV,  §§  2,  3,  6,  6,  8;  Kap.  XV, 
§§14—16;  Kap.  XVI,  §§1,  2,  5;  Kap.  XVII,  §3;  Kap.  XIX,  §§1,  2;  Kap.  XX, 
§1;  Kap.XXn,  §2;  Kap.  XXIV,  §§5,  10;  Kap. XXVII,  §§2,  5,  8;  Kap.  XXVIII, 
§§1,  2;  Kap.  XXIX,  §§1—3;  Kap.  XXX,  §§10,  11,  14,  16,  18—22;  Kap. 
XXXI,  §§  2,  3. 

Bestimmiugen  strafrechtlichen  Inhalts  sind  auch  in  verschiedenen  Gesetzen  und 
Verordnungen  administrativer,  ökonomischer  und  polizeilicher  Natur.enthalten.  Zu  nen- 
nen sind:  Privileg  für  die  Apotheker-SozietÄt,  28.  Juni  1688;  Privileg  für  das  CoUegium 
Medicum,  30.  Oktober  1688,  Art.  XIV;  Statuten  betr.  Kontrollstempelung,  7.  Dezember 
1752;  Eönigl.  Forstordn.,  I.August  1805,  §55,  56;  GrundKCsetz-Regierungsform,  6.  Juni 
1809,  §110;  Successionsordn. ,  «6.  September  1810,  §§4,  5,  8;  Dienstboten-Statuten, 
28.  November  1833,  §§  17,  28,  24,  25—28,  38,  37,  42,  45,  46;  Königl.  Brief,  29.  November 
1839,  betr.  Bekämpfung  der  Trunksucht  in  Lappland;  Vdg.  gegen  Trunksucht,  16.  No- 
vember 1841,  §6;  Königl.  Vdg.,  13.  Mai  1846,  betr.  unerlaubte  AnschafTung  von  Brannt- 
wein für  Gefangene;  Königl.  Erlass,  16.  April  1847,  betr.  die  Einatmung  von  Äther; 
Fischerei-Statuten,  29.  Juni  1852,  Kap.  5;  Königl.  Regl.,  29.  September  1853,  betr.  die 
Schutzpockenimpfung;  Königl.  Regl.  für  Hebammen,  28.  November  1856,  Kap.  5;  Königl. 
Vdg.,  1.  Oktober  1858,  betr.  Fabrikation  und  Verkauf  von  Pulver;  Königl.  Cirkular, 
28.  Mai  1859,  betr.  Strafe  wegen  unerlaubten  Betretens  von  Eisenbahnen;  Königl.  Er- 
lass, 26.  Oktober  1860,  betr.  Postbeförderung  auf  Eisenbahnen  usw.;  Ordnung  für  die 
Ausübung  des  Feldscher- Gewerbes,  18.  Januar  1861  und  für  die  des  Zahnarzt -Ge- 
werbes, 18.  Juni  1861;  Konkursordn.,  18.  September  1862,  §  138;  Gewerbeordnung,  18.  Juni 
1864,  §§  18—23;  Jagd-Statuten,  21.  Oktober  1864,  §§  21—28;  Grundstücksauseinander- 
setzungs-G.,  9.  November  1866,  §137;  G.  betr.  das  künstlerische  Eigentum,  3.  Mai  1867, 
§  5;  Königl.  Vdg.,  29.  November  1867,  betr.  die  Schonung  und  Aufbewahrung  der  Alter- 
tumsdenkmäler, §7,  §8  Abs.  3;  Stadtordnung  24.  März  1868,  §§  1—18,25,28;  Königl.  Vdg., 

4.  Juni  1868,  über  Musterung  von  Seeleuten,  §§16  —  21;  Königl.  Vdg.,  4.  Juni  1868, 
betr.  Pässe  und  Nationalitätsurkunden,  §  8  Abschn.  2,  §  10,  §  11  Abschn.  7;  Königl. 
Vdg.,  11.  Dezember  1868,  betr.  religiöse  Zusammenkünfte;  Königl.  Vdg.,  21.  Oktober 
1869,  betr.  Fabrikation  von  Dynamit  usw.;  Königl.  Vdg.,  21.  Oktober  1869,  betr.  die 
Beförderung  von  Pulver  uud  anderen  Sprengstoffen  auf  Eisenbahnen,  §  11;  Königl 
Vdg.,  16.  November  1869,  betr.  Strafe  wegen  Häresie;  Königl.  Vdg.,  18.  Februar  1870. 
betr.  Fabrikation  von  Streichhölzern;  Königl.  Vdg.,  31.  Oktober  1873,  betr.  die  Bekenner 
fremden  Glaubens  und  deren  ReUgionsübung,  §  18;  Stadt.  Bau-Ordn.,  8.  Mai  1874,  §  2, 
Abs.  3,  §§  45,  46;  Stadt.  Feuer-Ordn.,  8.  Juli  1874,  §  2  Abs.  3,  §§  15,  16;  Reichs-Gesund- 
heits-Ordn.,  25.  September  1874,  §§  22,  29,  39,  40;  Königl.  Erlass,  11.  Dezember  1874, 
betr.  Besichtigung  von  privaten  Eisenbahnen,  §6;  Königl.  Vdg.,  19.  März  1875,  betr. 
ansteckende  Krankheiten,  §§  17,  18;  Zwei  königl.  Vdgn.,  26.  November  1875,  betr.  Ver- 
kauf und  Transport  von  Petroleum  und  dergl.;  Gift-Ordn,,  7,  Januar  1876,  §§  21—30, 
35,  87;  Königl.  Vdg.,  8.  Dezember  1876,  betr.  Handel  mit  Äther  und  geistigen  Arznei- 
mitteln; Königl.  Erlass,  1.  Juni  1877,  betr.  die  Hundesteuer;  G.  über  das  Titterarische 
Eigentum,  10.  August  1877;  ZoU-Ordn.,  2.  November  1877;  Köniffl.Vdg.,  31.  Mai  1878, 
betr.  die  Beförderung  von  Reisenden  durch  Mietspferde,  §  56;  Königl.  Erlass,  8.  No- 
vember 1878,  betr.  Strafe  wegen  unerlaubten  Betretens  von  Eisenbahnen  oder  Bahn- 
höfen; Königl.  Vdg.,  22.  November  1878,  betr.  den  Befehl  auf  Handelsschiffen,  §§13 
bis  18;  Königl.  Vdg.,  30.  Mai  1879,  betr.  Massregeln  gegen  die  Einführung  der  Pest, 

*)  iJppström,  Sveriges  Grundlagar  S.  91—95. 


252  Schweden.  —  Die  allgemeinen  Btrafrechtlichen  Bestimmungen. 


§§21,  22;  Königl.Vdg.,  12.  November  1880,  über  Schiffsvermessung;  König!.  Vdg., 
30.  Dezember  1880,  über  Deichschleiisen;  Flössungs-Ordn.,  30.  Dezember  1880,  §21; 
Königl.Vdg.,  15.  Februar  1881,  über  das  Lootsenwesen ;  Königl.Vdg.,  6. Aug^t  1881, 
betr.  Verlosungen;  Königl.Vdg.,  8.  November  1881,  betr.  Arbeit  von  Minderjährigen,  §§  17, 
18, 19;  Königl.Vdg.,  16.  Juni  1882,  betr.  die  Besteuerung  von  Rübenzucker;  Notariatsordn., 
H.  Oktober  1882,  §  11;  G.  betr.  Strafe  wegen  Ausbleibens  des  Beklagten,  6,  Oktober  1882; 
Königl.  Erlass,  15.  Dezember  1882,  betr.  Jagd  auf  Wallfische ;  Königl.Vdg.,  2.  November 
1883,  betr.  Geisteskranke;  Königl.Vdg.,  T.Dezember  1888,  betr.  Sportelgebühren,  §  21; 
Bergwerks-Ordn.,  16.  Mai  1884,  Kap.  6;  Königl.  Patent-Ordnung,  16.  Mai  1884,  §22;  Königl. 
Vdg.,  4.  Juni  1884,  betr.  die  Beförderung  von  Auswanderern,  §§  56—59;  G.  betr.  Schutz 
für  Warenmarken,  5.  Juli  1884,  §  12;  Königl.  Erlass,  7.  November  1884,  betr.  das  Pfand- 
leihgeschÄft;  Königl.  Erlass,  22.  November  1884,  betr.  Platzanschaffung,  §§  11,  12; 
Königl.  Erlass,  20.  Februar  1885,  betr.  norweg.  Warenmarken;  Wehr-G.,  5.  Juni  1885^ 
Art.  VlII;  Königl.  Erlass,  26.  Juni  1885,  betr.  fremde  Patente  und  Warenmarken; 
Königl  Erlass,  11.  September  1885,  betr.  unterseeische  Kabel,  §  8;  Königl.Vdg.,  9.  Ok- 
tober, über  Mass  und  Gewicht,  Art.  10;  Königl.  Vdg.,  24.  Oktober  1885,  betr.  Ausschank 
von  Wein,  Malzgetränken  usw.,  §§12—18,  21;  G.  betr.  Steinkohlengruben,  28.  Mai  1886» 
Zwei  königl.  Erlasse,  22.  Oktober  1886,  betr.  in-  und  ausländische  Versicherungsan" 
stalten;  Königl.Vdg.,  11.  Februar  1887,  betr.  Geburtsmeldungen;  G.  betr.  Handels" 
register,  Firma  und  Prokura,  13.  Juli  1887,  §23;  Ordn.,  13.  Juli  1887,  betr.  die  Heil- 
gymnastik; Königl.Vdg.,  13.  Juli  1887,  über  Branntweinfabrikation,  Art.  IV;  Königl- 
Vdg.,  23.  September  1887,  betr.  Tierseuchen,  §33;  Königl.Vdg.,  19.  März  1888.  betr- 
Verhütung  der  Abholzung  junger  Bäume;  Königl.Vdg.,  9.  November  1888,  betr.  Ver- 
bot gegen  Einfuhr  von  Waren  mit  unrichtiger  Ursprungsbezeichnung;  Königl.  Erlass, 
21.  Dezember  1888,  betr.  die  Postbeförderung;  G.  betr.  Schutz  gegen  Gefahr  im  Ge- 
werbebetrieb, 10.  Mai  1889,  §§7—9;  Köniffl.Vdg.,  11.  Oktober  1889,  betr.  Fabrikation 
und  Verkauf  von  Margarine,  §§  12—15;  Königl.  Vdg.  betr.  Stempelgebühren,  5.  Sep- 
tember 1890,  Art.  VI;  Seegesetz,  12.  Juni  1891,  Kap.  12;  G.  betr.  Seefund,  12.  Juni  1891; 
Königl.Vdg.,  10.  Juli  1891,  betr. Verbot  gegen  Nachtbandel  von  Kindern,  §4;  G.  betr. 
die  öffentlichen  Landwege,  23.  Oktober  1891,  Kap.  VII;  Königl.Vdg.,  27.  November  1891, 
betr.  Pässe  und  Nationalitätsurkunden,  §§2,  3;  Königl.Vdg.,  27.  November  1891,  betr. 
Registrierung  schwedischer  Schiffe,  §§22—27;  Königl.Vdg.,  31. Dezember  1891,  betr. 
Verkauf  geistiger  Getränke,  §§  38—49;  Königl.  Erlass,  31.  Dezember  1891,  betr.  Muste- 
rung von  Seeleuten  §  17;  Königl.Vdg.,  3.  Juni  1892,  betr.  die  Einkommensteuer,  §  19: 
Königl.  Erlass,  7.  Oktober  1892,  betr.  die  Besteuerung  von  Spielkarten;  Königl.  Vdg., 
2.  Dezember  1892,  betr.  besondere  Steuerabgaben,  §  4. 


IV.  Die  allgemeinen  strafreclitlichen  Bestünmungen. 

§  7.  Geltungsgebiet« 

I.  Räumliches  Herrschaftsgebiet  (Kap.  I).  Massgebend  in  dieser 
Hinsicht  ist  teils  der  Ort  des  Verbr.,  teils  die  Staatsangehörigkeit  des  Ver- 
brechers. Wegen  aller  in  Schweden  oder  auf  einem  schwedischen  Schifife 
ausserhalb  der  Landesgrenzen  begangenen  strafbaren  Handlungen  ist  der  Ver- 
brecher ohne  Rücksicht  auf  die  Staatsangehörigkeit  nach  dem  schwedischen 
6.  zu  bestrafen.  Dasselbe  gilt  bezflglich  schwedischer  Unterthanen  wegen  der 
auf  ausländischem  Boden  gegen  den  schwedischen  Staat  oder  einen  schwedi- 
schen Unterthan  begangenen  strafbaren  Handlungen;  betreffs  eines  Ausländers 
aber  nur,  wenn  die  schwedische  Staatsregierung  die  Klage  anordnet.  Schwe- 
dische Unterthanen  können  ausserdem  wegen  anderer,  im  Auslande  begangener 
strafbarer  Handlungen  nach  dem  Befehl  der  Regierung  angeklagt  werden 
(Kap.  !,§§!,  2). 

Die  Bestrafung  wegen  der  im  Auslande  begangenen  strafbaren  Hand- 
lungen ist  —  mit  Ausnahme  für  Priester  in  Fällen,  wo  der  priesterliche  Ruf 
befleckt  oder  preisgegeben  wird  —  ausgeschlossen,  wenn  der  Thäter  schon 
im  Auslande   bestraft  worden  ist.     Jedoch  kann  der  Richter  den  Verlust  des 


§  8.    Die  Strafen  (Kap.  II).  253 


bürgerlichen  Vertrauens  oder  die  Unwürdigkeit  zum  staatlichen  Dienste  aus- 
sprechen (Kap.  I,  §3;  Kap.  11,  §21;  priesterliches  StG.,  §8,  Abschn.  2). 

Dem  StG.  nicht  unterworfen  sind:  a)  der  König  (das  Grundgesetz 
Regierungsform  §3);  b)  Gesandtschaften  ausländischer  Mächte  nebst  ihren  wirk- 
lichen Dienern  (Königl.  Brief  vom  10.  Februar  1769). 

Norwegischen,  bez.  russischen  Unterthanen  gegenüber  gilt  mit  Gegenseitigkeit 
für  Schweden,  dass  der  Delinquent,  welcher,  nachdem  er  in  dem  fremden  Lande 
eine  strafbare  Handlung  begangen  hat,  in  sein  eigenes  Land  zurückkehrt,  entweder, 
in  Beziehung  auf  Kussland,  daheim  verurteilt  oder,  Norwegen  gegenüber,  von 
derProvinzialregierung  ausgeliefert,  bezw.  vor  das  zuständige  Gericht  des  fremden 
Landes  vorgeladen  wird  (Kap.  I,  §  5 ;  königl.  Vdg.  vom  1  .Juni  1819;  königl .  Erlass  vom 
5.  Dezember  1821).  Nach  dem  Mil.-StG.,  §  7,  werden  Verbr.  gegen  Kriegsleute 
eines  verbündeten  Staates  wie  solche  gegen  die  schwedische  Kriegsmacht  bestraft. 

Die  Auslieferung  ist  nur  durch  Verträge  gemäss  den  französischen 
Grundsätzen  geregelt.  —  S.  die  Verträge  mit:  den  Vereinigten  Staaten  von 
Nordamerika  vom  14.  Januar  1893,  schwed.  Verfass.- Samml.  1893,  No.  21;  Bel- 
gien vom  26.  April  1870,  No.  37,  und  vom  6.  November  1877,  No.  39;  Deutsch- 
land vom  19.  Januar  1878,  No.  19;  Frankreich  vom  4.  Juni  1869,  No.  72; 
Grossbritannien  vom  26.  Juni  1873,  No.  60;  Italien  vom  20.  September  1866, 
No.  73  und  vom  28.  Mai  1878,  No.  15;  Luxemburg  vom  21.  Juli  1883, 
Jahrg.  1884,  No.  8;  Holland  vom  11.  März  1879,  No.  38;  Portugal  vom  17.  De- 
zember 1863,  Jahrg.  1864,  No.  44;  Spanien  vom  15.  Mai  1885,  No47;  Öster- 
reich vom  2.  Juni  1868,  No.  54.  Ausgenommen  sind  schwedische  Staatsbürger 
und  in  der  Regel  politische  Verbrecher.  Nach  den  Verträgen  aber  mit  Deutsch- 
land, Frankreich,  Belgien,  Holland,  Luxemburg  und  Spanien  sind  gewisse  An- 
griffe auf  das  Leben  des  Oberhaupts  einer  fremden  Regierung  oder  seiner 
Familienmitglieder  nicht  als  politische  Verbr.  anzusehen. 

IL  Zeitliches  Herrschaftsgebiet.  Strafrechtliche  Bestimmungen  treten 
in  Wirksamkeit  an  dem  im  G.  angegebenen  Tage,  oder,  wenn  ein  solcher  nicht 
festgestellt  ist,  an  dem  nach  dem  Beginne  der  Verlesung  des  G.  in  der  Ge- 
meindekirche folgenden  Tage.  Bei  Verschiedenheit  der  StG.  zur  Zeit  der  be- 
gangenen Handlung  und  zur  Zeit  ihrer  Aburteilung  ist  das  mildeste  G.  anzu- 
wenden. Einf.G.  zum  StG.  vom  16.  Februar  1864,  §§  1,  5,  6  Abschn.  3;  Einf.G. 
zum  Mil.-StG.  vom  7.  Oktober  1881,  §  4;  königl.  Cirk.  vom  2.  April  1833. 

§  8.  Die  Strafen  (Kap.  II). 

!•  Allgemeine  Hauptstrafen  sind:  Todesstrafe,  Strafarbeit,  Gef.  (ohne 
Arbeitspflicht)  und  Geldstrafe  (§  1),  welche  zusammen  64  regelmässige  und  19 
besondere  Strafrahmen  ergeben.  Körperliche  Züchtigung  für  Kinder  (Kap.  V,  §  1) 
wird  nicht  als  Strafe  betrachtet. 

Besondere  Strafen  für  Amtsdelikte  sind:  dauernde  oder  zeitweise 
Enthebung  von  dem  bekleideten  Amte^)  oder  der  sonstigen  öffentlichen  An- 
stellung, mitunter  mit  anderen  Strafen  verbunden  (Kap.  XXV,  §§  9 — 11,  14, 
15;  priesterl.  StG.  §12);  —Disziplinarstrafen  (Mil.-StG.  vom  7.  Oktober  1881, 
§§  16,  80,  81;  Disziplinarstatuten  vom  7.  Oktober  1881,  §  24);  —  Warnung,  für 
Priester  (priesterl.  StG.  vom  8.  März  1889,  §§  8,  9);  —  administrative  Rüge  nach 
verschiedenen  Beamteninstruktionen. 

2.  Nebenstrafen  und  Nebenfolgen  sind:  a)  Verlust  des  bürgerlichen 
Vertrauens  (Kap.  II,  §§19,  21;  Kap.  III,  §13;  Kap.  IV,  §§1,  11;  Kap.  V,  §§2,  3), 


*)  Wenn  der  Betreffende  das  Amt  nicht  mehr  bekleidet,  tritt  hohe  Geldstrafe 
oder  Gef.  auf  höchstens  6  Monate  ein,  eventuell  nebst  Unwürdigkeit  zum  staatlichen 
Dienste  und  Nebenstrafen  (Kap.  II  §  17,  XV  §  1,  XXV  §  21). 


254  Schweden.  —  Die  allgemeinen  strafrechtlichen  Bestimmungen. 


nach  besonderen  Bestimmungen,^)  entweder  für  immer,  —  bei  Todesstrafe, 
lebenslänglicher  Strafarbeit,  Meineid  nach  Kap.  XIII,  §§1,2,  —  oder  auf  ge- 
wisse Zeit,  von  dem  Tage  der  Rechtskraft  des  Urteils  bis  zum  Ablaufe  von 
mindestens  einem,  höchstens  zehn  Jahren  von  der  Freilassung  nach  verbüsster 
Strafe  gerechnet.^)  So  lange  der  Verlust  des  bürgerlichen  Vertrauens  dauert, 
tritt  Ausschliessung  von  den  bekleideten  Ämtern  (Stellen),  sowie  von  allen  Ge- 
rechtsamen und  Vorteilen  ein,  zu  deren  Genuss  guter  Ruf  (frejd)  erforderlich 
ist.  b)  Dunkle  Zelle ,  Zusatzstrafe  nach  Kap.  IV,  §  1 2  für  den  Sträfling  auf 
Lebenszeit,  der  ein  Verbr.,  welches  nicht  Todesstrafe  nach  sich  zieht,  verübt  hat. 
c)  Besondere  Nebenstrafen  für  Beamte :  Aberkennung  der  Fähigkeit  zur  Bekleidung 
öffentlicher  Ämter  (Unwürdigkeit  zum  staatlichen  Dienste),  bezw.  dergleichen 
Anstellungen  oder  einer  bestimmten  Anstellung,  Kap.  II,  §§15 — 17;  Kap.  XXV, 
§15.  Mit  dem  Verlust  des  bürgerlichen  Vertrauens  ist  immer  Verlust  des  Amtes 
bezw.  der  öffentlichen  Anstellung  verbunden  (vgl.  Mil.-StG.  §27;  priesterl.  StG. 
§  7).*)  Über  Verlust  königlicher  Orden  s.  königl.  Brief  vom  19.  Juli  1806, 
königl.  Cirkular  vom  20.  Januar  1837.  d)  Einziehung,  e)  Beschlagnahme. 
f)  Unschädlichmachung  von  Platten,  Formen  usw.  g)  Ausscheidung,  G.  betr.  litter. 
Eigentum  vom  10.  August  1877,  §  15.  h)  Entschädigung  für  die  Bekanntmachung 
eines  verurteilenden  Erkenntnisses,  StG.  XVI,  §  14.  i)  Verlust  der  Befugnis  zum 
Gewerbebetrieb;  Kap.  XXII,  §  14;  G.  betr.  Verkauf  von  Branntwein  vom 
31.  Dezember  1891,  §  39. 

3.  Die  Todesstrafe  ist  durch  Enthaupten  auf  dem  Gefängnishof  zu  voll- 
strecken (Kap.  II,  §  2  der  Vdg.  vom  10.  August  1877);  nach  Mil.-StG.  §  10  auch 
durch  Erschiessen;  die  Vollstreckung  erfordert  die  besondere  Vorschrift  der 
Staatsregierung  oder,  bei  standgerichtlichem  Urteil,  die  des  höchsten  Befehls- 
habers des  Platzes  (Mil.-StG.  §11);  sie  wird  durch  Krankheit  oder  Schwanger- 
schaft bis  auf  weiteres  gehemmt  (Kap.  II,  §  3). 

4.  Die  Freiheitsstrafen:  Kap.  II,  §§5 — 7.  Die  Strafarbeit  ist  eine 
lebenslängliche  oder  zeitige.  Der  Höchstbetrag  der  zeitigen  ist  10  Jahre,  bei 
Kumulation  12  Jahre;  der  Mindestbetrag  2  Monate.  Der  Höchstbetrag  der  Ge- 
fängnisstrafe ist  2  Jahre,  bei  Kumulation  4  Jahre;  der  Mindestbetrag  1  Monat. 
Die  Bemessung  der  Freiheitsstrafen  erfolgt  ausnahmslos  nach  vollen  Monaten; 
die  Bemessung  nach  Tagen  ist  jedoch  nicht  gesetzlich  ausgeschlossen.  Die 
Freiheitsstrafen  werden  in  einer  centralen  Strafanstalt  oder  in  einem  Zellen- 
gefängnis (nach  dem  Mil.-StG.  §  13,  vgl.  Disziplinarstatut  §§  29 — 32  auch  im 
Militär-Gef.)  nach  Massgabe  besonderer  Vorschriften*)  vollstreckt.  Weder  be- 
dingte Entlassung  noch  progressive  Vollstreckung  findet  statt.  Der  zur  Straf- 
arbeit Verurteilte  wird,  soweit  möglich,  mit  Arbeit *"*)  beschäftigt.  Die  Art  der 
Arbeit  ist  nicht  gesetzlich  bestimmt  (in  den  centralen  Strafanstalten  oft  Fabriks- 
arbeit; nie  Feld-  oder  Strassenarbeit).  Die  Beschaffung  der  Arbeit  liegt  dem 
Gefängnisvorsteher  ob.  —  Bezüglich  der  Arbeitsprämien  s.  königl.  Reglement 
vom  24.  Oktober  1890.  Die  Gefängnisstrafe  wird  in  Einzelhaft  ohne  Arbeits- 
zwang verbüsst.  Als  ausschliessliche  Umwandlungsstrafe  ist  sie  mit  Arbeitspflicht 
verbunden.  Als  Folge  von  Bettelei,  Landstreicherei  u.  dgl.  kann  Zwangsarbeit, 
die  nicht  als  Strafe  zu  erachten  ist,  in  besonderen  Arbeitsanstalten  auferlegt 
werden  (G.  vom  12.  Juni  1885  über  Behandlung  von  Landstreichern,  §  5;  Armen- 

»)  Wird  nicht  auferlegt  wegen  der  in  Kap.  VIT,  IX,  X,  XI,  XVII  und  XXIV  er- 
wähnten Delikte.  —  *)  In  Bezug  auf  etwa  vorkommende  Kumulation  der  Hauptstrafen 
könnte  der  Wille  des  G.  treffender  ausgedrückt  sein.  —  ^)  Über  die  Entlassung  aus  dem 
Dienste  wegen  eines  mit  Strafarbeit  oder  schwererer  Strafe  bedrohten  ausseramtlichen 
Verbrechens  s.  Kap.  XXV  §20; Mil.-StG.  §§28, 120.  —  *i  S.  G.  v. 29.  Juli  1892  (oben  §5  a.E.).  — 
*)  Im  Jahre  1889  kamen  bei  den  centralen  Strafanstalten  22'^'^  gehinderte  Tagewerke  vor, 
17^/o  Arbeit  für  die  Anstalt,  61"/y  remunerierte  Arbeit.  Bei  den  Zellengefängnissen  fehlte 
Arbeit  für  9,2«  o- 


^ 


§  8.    Die  Strafen  (Kap.  11).  255 


pflegegesetz  vom  9.  Juni  1871,  §§  40 — 41).    Die  Zwangsarbeit  ist  durch  voraus- 
gehende fruchtlose  Warnung  bedingt. 

5.  Geldstrafe.  Der  Mindestbetrag  nach  dem  StO.  ist  5  Kronen  (Riks- 
daler).^)  Der  Höchstbetrag  darf  im  allgemeinen  500  Kr.  nicht  überschreiten 
(Kap.II,§8).  In  besonderen  Fallen  beträgt  er  bis  1000  Kr.  (Kap.IX,  §§5,8;  Kap.X, 
§§2,  16;  Kap.  XVI,  §10;  Kap.  XXIV,  §3)  bezw.  für  Beamte  den  Betrag  eines 
Jahresgehaltes  (Kap.  XXV,  §21;  Mil.-StG.  §123);  nach  Verwaltungs-  und 
Folizeigesetzen  höher,  z.  B.  nach  Branntweinfabrikations-G.  vom  13.  Juli  1887, 
§  25,  bis  5000  Kr.  Zuweilen  ist  die  Geldstrafe  als  ein  Zwei-  oder  Mehrfaches 
oder  als  Quote  eines  Wertes  zu  berechnen  (StG.  Kap.  XXII,  §§19,  20;  Konk.- 
Odg.  vom  18.  September  1862,  §133;  ZoU-Odg.  vom  2.  November  1877,  §138). 
Nach  dem  Pressgesetz  §  4,  Abs.  7  wird  die  im  allgemeinen  bestimmte  Geld- 
strafe in  Bezug  auf  den  verantwortlichen  Redakteur  auf  das  Doppelte  erhöht. 
Bei  der  Umwandlung  ist  jedoch  nur  der  einfache  Betrag  zu  berechnen. 

In  den  privatrechtlichen  Abteilungen  des  GB.  v.  1734  kommen  Geld- 
strafen von  sehr  verschiedenen  Grössen  vor.  Giftermäls  Balk,  Kap.  VI,  §3, 
^I^Q  des  Vermögens;  Byggninga  Balk,  Kap.  XI,  §3:  der  Lohn  des  Hirten  wegen 
Versäumnis  beim  Weiden;  Kap.  XIII,  §5:  ^4  ^^^  Strafe  wegen  Holzschiagens; 
Kap.  XIV,  §3:  der  Jahreslohn;  Handels  Balk,  Kap.  IX,  §6:  ^/^^^  des  Kapitals, 
bei  Wucher;  Rättegängs-Balk,  Kap.  XXIV,  §10:  5— 10— 20  Daler*)  oder  mehr 
nach  den  Umständen  (vgl  Kap.  XXX,  §  10)  wegen  unberufenen  Antrages  auf 
Urteilserklärung;  sonst  1,  2,  3,  5,  6,  10,  15,  20,  25,  30,  40,  50,  100,  500 
Daler.  —  Ganz  geringfügige  Geldstrafen  s.  Rättegängs-Balk,  Kap.  IX,  §  2, 
8  öre  Sübermünze;  Byggninga  Balk,  Kap.  XHI,  §  6,  6  marker;  Kap.  XXVII, 
§§  2,  4  (1,  2,  4,  6,  8  öre),  vgl.  Jorda  Balk,  Kap.  XVI,  §  4. 

Die  Geldstrafe  wird  nach  dem  StG.  zu  der  Staatskasse  eingezogen.  Nach 
den  Nebengesetzen  fällt  sie  Gemeinden,  öffentlichen  Einrichtungen,  Armen- 
verwaltungen, dem  öffentlichen  Ankläger  und  dem  Angeber  zu.  Nach  Rätte- 
gängs  Balk,  Kap.  XXX,  §  23,  vgl.  königl.  Ordre  vom  25.  September  1799,  dem 
Lazarette;  nach  Giftermäls  Balk,  Kap.  III,  §1,  Kap.  VI,  §3;  Ärfda  Balk. 
Kap.IX,  §5;  Handels  Balk,  Kap.IX,  §6;  Rättegängs  Balk,  Kap. II,  §3, 
Kap.IX,  §5,  den  Armen;  nach  Jorda  Balk,  Kap.  XVI,  §7,  dem  Grundbesitzer 
oder  seinem  Rechtsinhaber;  nach  Byggninga  Balk,  Kap.  XXVI,  §  6,  den  Bau- 
pflichtigen. —  Verteilung  zwischen  der  Krone  und  dem  öffentlichen  Ankläger 
ist  vorgeschrieben  im  Fischerei-Statut,  §42;  im  Jagd-Statut,  §25;  zwischen  der 
Polizei  und  der  Stadt,  in  der  Städte-Ordnung  vom  24.  März  1868,  §  28,  usw. 

Nach  den  privatrechtlichen  Abt.  des  GB.  v.  1734  ist  zu  verzeichnen: 
Dreiteilung  zwischen  dem  König  (der  Staatskasse),  dem  Gerichtssprengel 
und  dem  Klaginhaber,  Rättegängs  Balk,  Kap.  XXXII,  §  1 ;  Zweiteilung  zwischen 
dem  König  und  dem  öffentlichen  Ankläger,  Rättegängs  Balk,  Kap.  XXXII,  §  2 ; 
zwischen  dem  König  und  dem  Gerichtssprengel,  Giftermäls  Balk,  Kap.  3,  §  4. 

Bei  Uneinbringlichkeit  der  Geldstrafe  tritt  an  deren  Stelle  (nach  Kap.  II, 
§§  10 — 13,  gemäss  dem  Wortlaut  des  G.  vom  16.  Mai  1884)  Gefängnisstrafe  von 
3  bis  zu  60  Tagen  (fVüher  bei  Wasser  und  Brot),  welche  in  den  gewöhnlichen 
Gef.  —  nach  dem  Mil.-StG.  in  gewissen  Fällen  auch  im  Militär-Gef.  —  ab- 
gebüsst  wird.  Der  Gefangene  ist  zur  Arbeit  verpflichtet.  War  neben  der 
Geldstrafe  auf  Strafarbeit  erkannt,  so  ist  die  an  deren  Stelle  tretende  Gefäng- 
nisstrafe in  Strafarbeit  mit  Abzug  der  Hälfte  der  Gefängnisstrafe  umzuwandeln. 
(Kap.  IV,  §§  5 — 7).    Wenn  auf  Todesstrafe  oder  lebenslängliche  Strafarbeit  er- 


*)  Eine  Krone  oder  100  öre  =  1  Mark  12,5  Pfg.  deutscher  Währung. 
'-)  1  Daler  Silber-Münze  (//«  Krone)  =  4  mark  oder  32  öre  S.M.;  (1  öre  S.M.  =  1,56 
des  jetzigen  öre). 


i 

> 


25t>  Schweden.  —  Die  allgemeinen  strafrechtlichen  Bestimmungen. 


kannt  war  oder  zeitige  Strafarbeit  nicht  mehr  kumuliert  werden  kann,  so  ist 
die  uneinbringliche  Geldstrafe  als  durch  die  übrige  auferlegte  Strafe  verbüsst 
anzusehen. 

6.  Busse.  Obwohl  aus  den  eigentlichen  StG.^)  ausgeschlossen,  ist  sie 
nicht  ganz  aus  der  schwedischen  Gesetzgebung  verschwunden.  S.  Giftermäls 
Balk,  Kap.  XII,  §  1 :  ein  Drittel  des  Vermögensanteiles,  wenn  ein  Witwer  (oder 
eine  Witwe)  in  eine  neue  Ehe  eintritt,  ohne  den  Kindern  des  Verstorbenen  ihre 
Erbschaft  zu  verabfolgen ;  Giftermäls  Balk,  Kap.UI,  §7;  Kap.  XIII,  §1;  Jorda 
Balk,  Kap.  XVI,  §  7 ;  Byggninga  Balk,  Kap.  XXVI,  §  6 ;  Ärfda  Balk,  Kap.  IX, 
§§5,  7,  bei  versäumter,  bezw.  betrügerischer  Inventarauftiahme;  Handels  Balk. 
Kap.  III,  §  5,  bei  unterlassener  Entrichtung  der  zu  zahlenden  Auswanderungs- 
Abgabe,  Kap.  IX,  §  6 :  die  Zinsen  bei  Wucher.  Nach  der  Konkursordnung 
vom  18.  September  1862,  §  133,  kann  der  Gläubiger,  der  sich  des  strafbaren 
Eigennutzes  schuldig  gemacht  hat,  verurteilt  werden,  die  Hälfte  des  Wertes 
des  Vorenthaltenen  an  die  Konkursmasse  zu  büssen. 

7.  Strafmass,  Durchschnittsstrafe,  Strafmedium.  Absolut  be- 
stimmte Strafen  kommen  ausnahmsweise  bei  gewissen  Amtsdelikten  vor  (StG., 
Kap.  XXV,  §§1,  4,  5,  8,  9,  13,  16,  19;  Mü.-StG.  §§  123,  125;  Nebengesetze). 
Wenn  ein  auf  Lebenszeit  verurteilter  Sträfling  sich  des  Totschlages  schuldig 
macht,  tritt  Todesstrafe  ein,  sofern  nicht  mildernde  Umstände  vorliegen.  Sonst 
hat  der  Richter  die  Wahl,  entweder  innerhalb  derselben  Strafart  zwischen 
einem  Mindest-  und  einem  Höehstbetrag,  oder  zwischen  zwei  oder  mehreren 
Strafarten,  jede  in  der  Hegel  begrenzt  durch  Mindes^  und  Höchstmass,  oder 
zwischen  einer  absolut  und  einer  relativ  bestimmten  Strafe.  Zuweilen  ist  es 
dem  richterlichen  Ermessen  überlassen,  ob  neben  der  Hauptstrafe  eine  Neben- 
strafe einzutreten  hat  (StG.,  Kap.  V,  §3;  Kap.  XXV,  §§3,  16;  vgl.  Mil.-StG. 
§§  27,  28). 

In  den  Entw.  (1832,  Kap.  VI,  §3;  1844,  Kap.  VI,  § 6)  war  vorgeschrieben, 
dass  bei  Androhung  alternativer  Strafarten  ohne  Angabe  irgend  eines  Grundes 
für  ihre  Anwendung  die  an  erster  Stelle  genannte  in  Anwendung  zu  bringen 
sei,  wenn  sie  die  schwerere  ist,  insofern  nicht  mildernde  Umstände  überwiegen : 
und  unter  der  entgegengesetzten  Voraussetzung,  wenn  sie  die  mildere  ist.  Der 
Gesetzausschuss  des  Reichstages  v.  1862 — 1863  ist  dagegen  der  Ansicht,  dass 
die  erstgenannte  Strafart  stets  vorzugsweise  anzuwenden  sei,  verwirft  aber 
entschieden  die  Theorie  von  einem  sogenannten  Strafmedium,  d.  h.  einem  dem 
Verbr.  in  gewöhnlichen  Fällen,  bei  Abwesenheit  erschwerender  sowie  mildernder 
Umstände  entsprechenden  Strafmasse.  Diese  Normalstrafe,  welche  nach  der 
Theorie  etwa  halbwegs  zwischen  dem  arithmetischen  Mittel  und  dem  Mindest- 
mass des  Strafrahmens  —  jedoch  mit  einem  Zuschlag  zu  dem  auf  diesem 
Wege  gefundenen  Strafmasse  bei  ZusammentreflFen  mehrerer  erschwerender 
Umstände,  und  im  entgegengesetzten  Falle  nach  einem  Abzug  —  aufzusuchen 
sein  sollte,^)  hat  indessen  mehrere  Vertreter  gefunden;  vor  anderen  Nordling, 
in  Naumanns  Zeitschrift  1864,  S.  567;  1865,  S.  785;  Annerstedt,  Straffmätning, 
S.  57 — 58;  Gegner  war:  CarKm,  Kommentar,  S.  21;  unbestimmt:  Fröman, 
Justitieombudsmannens  Embetsberättelser  1862,  1864,  1865.  —  Vgl.  Winroth, 
Föreläsninger,  S.  102;  Goos,  Nordiske  Strafferet,  S.  239—240. 


*)  S.  über  Entschädigung  Kap.  VI. 

*)  Die  Aufgabe  gehört  wohl  eigentlich  zu  den  unlösbaren,  sowie  das  Strafmedium 
zu  den  rein  abstrakten  Konsequenzen  des  heiklen  Versuches,  eine  Gleichung  zwischen 
Schuld  und  Strafe  zu  finden. 


§  10.    Strafausschliessungs-  und  Strafaufhebungsgründe.  257 


§  9.  ZurechnungsfShi^keit.    Strafinflndigkeit. 

Die  diesbezüglichen  Bestimmungen  werden  im  Kap.  V  (Mil.-StG.  §  30)  in 
Verbindung  mit  den  Regeln  über  Notwehr,  Verjährung,  Strafmilderung  u.  dgl., 
unter  der  gemeinschaftlichen  Überschrift:  „von  besonderen,  die  Strafbarkeit 
ausschliessenden,  mildernden  und  aufhebenden  Gründen *S  behandelt.  Straf- 
mündigkeit tritt  in  der  Regel  mit  dem  vollendeten  fünfzehnten  Jahre  ein  (§1); 
bei  Verbr.,  die  mit  Todesstrafe  oder  Strafarbeit  von  mehr  als  2  Jahren  be- 
droht sind,  sogar  mit  vollendetem  vierzehnten  Jahre  (§  2),  sofern  der  Thäter 
bei  Begehung  des  Verbr.  die  zur  Erkenntnis  der  Strafbarkeit  der  Handlung 
erforderliche  Einsicht  (Unterscheidungsvermögen)  hatte.  Die  regelmässigen 
Strafrahmen  erleiden  jedoch  eine  Herabsetzung.  Auch  wird  auf  Verlust  des 
bilrgerlichen  Vertrauens  nicht  erkannt. 

Zurechnungsunfähigkeit  wird  angenommen:  a)  bei  Strafunmün- 
digkeit. Diese  ist  grundsätzlich  mit  Straflosigkeit  verbunden.  Der  Richter 
kann  aber  entweder  auf  körperliche  Züchtigung  zu  Hause  durch  die  Eltern 
oder  sonstige  gesetzliche  Vertreter,  oder  die  Überführung  in  eine  öffentliche 
Erziehungsanstalt,^)  wenn  Gelegenheit  dazu  vorhanden  ist,  verfügen;  b)  bei 
fehlender  geistiger  Gesundheit.  Hierher  gehören:  !•  Wahnsinnige  und 
diejenigen,  welchen  der  Gebrauch  des  Verstandes  durch  Krankheit  oder  Alters- 
schwäche entzogen  ist  (§  5,  Abs.  1).  Nach  dem  königl.  Brief  vom  9.  März  1826 
soll  für  eine  die  Gesellschaft  sichernde  Unterbringung  der  Geisteskranken*) 
gesorgt  werden.  2.  Die  ohne  eigene  Schuld  in  eine,  das  Bewusstsein  aus- 
schliessende ,  Geistesstörung  Geratenen  (§  5,  Abs.  2).  In  diesen  unter  a,  b, 
1,  2  bezeichneten  Fällen  tritt  Straflosigkeit  ein. 

Andere  Arten  unvollkommener  Geistesreife  oder  geistiger  Gesundheit  ver- 
anlassen nur  Strafmilderung;  und  zwar:  !•  Jugendliches  Alter  vom  vollendeten 
15.  bis  zum  vollendeten  18.  Lebensjahr.  Für  Delinquenten  dieser  Altersstufe 
ist  statt  Todesstrafe  und  lebenslänglicher  Straf  arbeit  von  6  bis  zu  10  Jahren 
Strafarbeit  vorgeschrieben.  Zeitige  Strafarbeit  kann  bis  zur  Hälfte  der  sonst 
augedrohten  Strafzeit,  jedoch  nicht  unter  2  Monate  verkürzt  werden.  Ob  auf 
Verlust  des  bürgerlichen  Vertrauens  erkannt  werden  soll,  unterliegt  nach  der 
Strafgesetznovelle  vom  20.  Juni  1890  der  richterlichen  Prüfung  (§  3).  Ein  vor 
vollendetem  18.  Jahre  begangenes  Verbr.  wird  in  Bezug  auf  Rückfall  nicht 
angerechnet  (§  4).  —  2.  Geringere  Geistesstörung  (Trübung  des  Seelenlebens, 
Überspanntheit).  Das  G.  (Kap.  V,  §  6)  bestimmt,  dass,  wenn  derjenige,  welcher 
„eine  verbrecherische  That"  begangen  hat,  durch  Körper-  oder  Geisteskrankheit, 
Altersschwäche  oder  andere'  unverschuldete  Verwirrung  des  vollständigen  Ver- 
standesgebraucbes  entbehrte,  obwohl  er  nicht  als  straflos  (nach  §  5)  anzusehen 
ist,  statt  der  Todesstrafe  auf  Strafarbeit  von  6  bis  10  Jahren  zu  erkennen  sei. 
Andere  Strafen  können  nach  Umständen  unter  diejenige  Strafe,  welche  im  all- 
gemeinen auf  die  That  folgen  sollte,  herabgesetzt  werden. 

§  10.   Strafausschllessungs-  und  Strafaufhebungsgründe. 

Notwehr  (Kap.  V,  §§  7— -11,  vgl.  für  gewisse  Fälle  Mil.-StG.  §  36,  Ab- 
schnitt 1,  2)  ist  nach  dem  schwedischen  StR.  teils  ein  Strafmilderungsgrund, 
teils  ein  Strafausschliessungsgrund.    Die  Lehre  von  der  Notwehr  ist  nach  dem 


*)  Als  solche  sind  zu  nennen:  Die  Ackerbaukolonie  Hall  in  Södertöm,  Stora 
Raby  bei  Malmö  und  19  andere;  vgl.  Guillaume,  Congres  penitentiaire  international 
h  Stockholm,  Stockholm  1879. 

*)  Auch  bei  der  nach  begangener  That  eintretenden  Geisteskrankheit.  In  diesem 
Falle  kann  aber  gegen  den  Genesenen  gerichtliche  Verfolgung  stattfinden. 

Strafgesetzgebang  der  Gegenwart.  I.  17 


258  Schweden.  —  Die  allgemeinen  strafrechtlichen  Bestimmnngren. 


G.  vom  20.  Juni  1890  bis  ins  Einzelne,  aber  bei  alledem  unbefriedigend  und 
kasuistisch  geregelt.  —  Notwehr  ist  im  allgemeinen  berechtigt,  ^wenn  jemand 
mit  Gewalt  oder  Drohung,  die  eine  dringende  Gefahr  herbeigeführt  hat,  an- 
gegriffen wird"  (§  7,  Abs.  1;.  Besondere  Fälle,  wo  Notwehr  oder  Anwendmig 
„der  erforderlichen  Gewalt**  erlaubt  ist,  —  z.  B.  bei  Einbruch,  nächtlichem 
Eindringen,  Widerstand  gegen  den  rechtmässigen  Eigentümer  oder  Besitzer, 
angefangenem  oder  unmittelbar  bevorstehendem  Angriffe  gegen  Person  und 
Eigentum  usw.,  —  sind  in  §  7,  Abs.  2,  §§  8.   10  angegeben. 

Strafbare  Überschreitung  der  Notwehr  liegt  vor,  wenn  die  Gewalt  g^rösser 
war,  als  die  Not  erforderte,  oder  wenn  sie  in  offenbarem  Missverhältnis  zu  dem 
zu  befttrchtenden  Schaden  stand.  Die  Überschreitung  ist  nicht  strafbar,  „wenn 
die  Umstände  derart  waren,  dass  der  Betreffende  sich  schwerlich  besinnen 
konnte".  Sonst  hat  der  Richter  zu  prüfen,  ob  und  wie  weit  die  Strafe  herunter- 
gesetzt werden  möge.     Über  Nothülfe  gelten  dieselben  Kegeln  (§  11). 

Ein  allgemeiner  Strafausschliessungsgrund  ist  der  unbeabsichtigte  Zufall 
(Väda).  Das  G.  (Kap.  V,  §  12)  bestimmt  diesbezüglich,  dass  niemand  wegen 
eines  Ereignisses,  welches  „mehr  dem  Zufall  als  der  Fahrlässigkeit^  zuzuschreiben 
ist,  bestraft  werden  solle. 

Besondere  Strafausschliessungsgründe  s.  Kap.  in,  §11,  Kap.  Vm, 
§  22  (Angehörigkeit,  bei  Begünstigung  oder  unterlassener  Anzeige  eines  Hoch- 
verrates); Kap.  X,  §7,  Kap.  XV,  §21  (die  Zustimmung  der  Genötigten  bei 
Nötigung  zur  Heirat);  Kap.  XVIII,  §  9;  Kap.  XXII,  §  21,  Abs.  3;  Kap.  XXDI,  §  6. 

Strafaufhebungsgründe  (Kap.  V,  §§  13—18)  sind:  1.  Der  Tod  des 
Delinquenten.  Auferlegte  Geldstrafe  wird,  wenn  Pfändung  von  Geld  oder 
Mobilien  schon  stattgefunden  hat,  eingetrieben.  Nebenfolgen,  wie  Unschäd- 
lichmachung von  Formen,  Platten  u.  dgl.  sind  nicht  ausgeschlossen. 

2.  Verjährung,  a)  Verfolgungsverjährung  (Kap.  V,  §§  14,  18)  tritt  ein: 
in  zwei  Jahren,  wenn  die  strafbare  Handlung  nicht  mit  härterer  Strafe  als 
Gefängnis  bedroht  ist;  in  fünf  Jahren,  wenn  der  regelmässige  Höchstbetrag 
der  Strafe  (d.  h.  wenn  keine  besonders  erschwerenden  Umstände  vorhanden 
sind)  Strafarbeit  von  zwei  Jahren  ist.  Eine  besondere  Verjährungsfrist  von 
nur  6  Monaten  ist  bei  Notzucht  (Kap.  XV,  §§  12 — 16)  vorgeschrieben.  Amts- 
delikte, die  nur  mit  Geldstrafe  bedroht  sind,  verjähren  in  zwei  Jahren;  andere 
Amtsdelikte,  wenn  sie  fahrlässig  begangen  sind,  in  fünf  Jahren  (§  18).  Be- 
sondere Fristberechnung  s.  Stempel- Vdg.  vom  5.  September  1890,  §  48.  Nach 
dem  priesterlichen  StG.,  §  11  Abs.  1,  beträgt  die  Verjährungsfrist  bei  gewissen 
Verbr.  fünf  Jahre.  Nach  dem  Mil.-StG.,  §  38,  sind  in  Bezug  auf  Verjährung 
die  Disziplinarstrafen  den  Geldstrafen  des  aligemeinen  StG.  gleichgestellt.  Die 
Verjährungsfristen  werden  in  der  Regel  von  dem  Tage  der  begangenen  That, 
diesen  Tag  ausgeschlossen,  bezw.  des  vollendeten  Verbr.  (z.  B.  Konkursdelikte, 
Kap.  XXIII;  aber  nicht  bei  mehrfachem  Diebstahl,  s.  Erkenntnis  des  obersten 
Gerichtshofes  vom  3.  Juli  1890)  berechnet;  bei  den  in  Kap.  XV,  §§  18,  21,  ge- 
nannten Fällen  (Entführung,  Nötigung  zur  Heirat),  von  dem  Tage  der  Rechts- 
kraft des  die  Ehe  für  ungültig  erklärenden  Urteils;  nach  dem  Mil.-StG.  §  39 
bezüglich  des  bei  einer  Generalmusterung  angemeldeten  Delikts  eines  Vor- 
gesetzten gegen  Untergebene  vom  Tage  der  Musterung.  —  Unterbrechung  der 
Verjährung  erfolgt  durch  Verhaftung  oder  durch  Behändigung  der  Klage.  Bei 
Unterbrechung  des  Strafverfahrens  ohne  Verschulden  des  Delinquenten  beginnt 
eine  neue  Verjährungsfrist,  §  16. 

b)  Vollstreckungsverjährung  (§  17)  tritt  bei  solchen  Strafen  ein,  die 
höchstens  2  Jahre  Strafarbeit  betragen.  Die  Frist  beträgt  nach  dem  allgemeinen 
StG.  10  Jahre,  nach  §  11  Abs.  3  des  priesterlichen  StG.  5  Jahre,  vom  Tage  des 
Urteils  berechnet. 


§  12.    Verbrechenseinheit  —  Verbrechensmehrheit.  259 


3.  Begnadigung,  welche  vom  Könige  nach  einem  vom  obersten  Ge- 
richtshofe erstatteten  Gutachten  im  Staatsrate  erteilt  wird.  (Grundgesetz 
Regierungsform,  §  26). 

§  11.    StrafsehSrfbng.    BflckfaU. 

Allgemeine  Strafschärfungsgründe  sind  im  G.  nicht  angegeben.  Bei  ge- 
wissen Verbr.,  so  bei  unerlaubtem  Verkauf  von  Gift,  Notzucht,  Brandstiftung, 
gemeingefährlichen  Verbr.,  Sachbeschädigung,  Raub  usw.  (StG.  Kap.  XIV, 
§§21,  28.  30-32,  38;  Kap.  XV,  §§12—15;  Kap.  XVIII,  §7;  Kap.  XIX,  §§  1, 
3,  4,  7,  8,  10,  11,  18,  20;  Kap.  XXI,  §8;  Kap. XXII,  §  3),  wird  als  besonderer 
Strafschärfungsgrund  der  Eintritt  eines  schweren  Erfolges  (Tod,  Gesuüdheits- 
gefahr,  schwerer  körperlicher  Schaden)  berücksichtigt;  bei  Körperverletzung: 
grobe  Fahrlässigkeit,  Kap.  XIV,  §9;  Gebrauch  einer  Waffe,  Kap.  XIV,  §15; 
nahe  Verwandtschaft  (Kap.  XIV,  §§35 — 37;  diese  auch  bei  Beleidigung,  Kap. 
XVI,  §12);  bei  Amtsverbrechen:  gewinnsüchtige  Absicht,  Kap.  XXV,  §§9 — 10. 
Auch  werden  neue  Verbrechensarten  mit  eigenen  Strafrahmen  infolge  von  Straf- 
schärfungsgründen gebildet;  beispielsweise  sei  auf  Einbruchs-  und  andere  qua- 
lifizierte Diebstähle  verwiesen  (Kap.  XX,  §§  3,  4).  Über  strafschärfende  Um- 
stände im  allgemeinen  s.  Kap.  XX,  §  1,  Kap.  XXII,  §  20;  über  mildernde  Um- 
stände, Kap.  XII,  §§  12-  -14;  Kap.  XIV,  §§  22,  29;  Kap.  XV,  §  9;  Kap.  XX,  §§  1,  4. 

Der  Rückfall  in  dasselbe  Verbr.  ^)  wird  als  Strafschärfungsgrund  bei 
folgenden  Delikten  verwendet:  Diebstahl,  Entwendung  (schwedisch  Snatteri)  und 
Raub . (Kap.  XX,  §§6,  7;  Kap.  XXI,  §3;  Mil.-StG.  §§30,  121);  Fahnenflucht 
(Mil.-StG.  §62);  Unterschlagung  oder  Beschädigung  von  Waffen,  Monturstüeken 
usw.  (Mil.-StG.  §  112);  unerlaubte  Anwerbung  zu  einer  anderen  Truppe,  Verleiten 
dazu  (Mil.-StG.  §  142);  unerlaubter  Verkauf  von  Wein,  Malz-  und  geistigen 
Getränken  (königl.  Vdg.  vom  24.  Oktober  1885,  §  12;  vom  31.  Dezember  1891, 
§  38;  vgl.  Vdg.  vom  1.  Oktober  1858  und  vom  26.  November  1875,  betr.  Verkauf 
von  Pulver,  Petroleum  u.  dgl).  Die  Rückfallsschärfung  tritt  nur  ein  bei  gänz- 
licher Verbüssung  der  früheren  wegen  desselben  Verbr.^)  im  Inlande  zuerkannten 
Strafe  (Kap.  IV,  §  11;  Einf.G.  zum  Mil.-StG.  vom  7.  Oktober  1881,  §  6).  Wenn 
die  Strafe  im  Gnadenwege  erlassen  wird,  gilt  sie  als  verbüsst. 

Rückfallsverjährung  tritt  nach  10  Jahren  von  der  Verbüssung,  bezw.  dem 
Erlass  der  früheren  Strafe  ein,  sofern  nicht  der  Delinquent  während  dieses 
Zeitraumes  ein  mit  Verlust  des  bürgerlichen  Vertrauens  bedrohtes  Verbr.  be- 
gangen hat,  oder  wegen  eines  solchen  früher  verübten  Verbr.  bestraft 
worden  ist. 

§  12.  Yerbrechenseinhelt  —  Verbrechensmehrheit. 

Das  IV.  Kap.  des  StG.  mit  der  Überschrift  „vom  Zusammentreffen  von  De- 
likten und  von  der  Verbindung  oder  Veränderung  von  Strafen,  sowie  vom 
Rückfall"  enthält  in  den  drei  ersten  Paragraphen  die  Regeln  über:  1.  sogenannte 
ideale  Konkurrenz  (Verbrechenseinheit,  §  1);  2  a)  reale  Konkurrenz  (Verbrechens- 
mehrheit, §  2)  und  b)  sogenanntes  „fortgesetztes  Verbr."  (§  3).  Besondere  Regeln 
S.Kap. XXV,  §18.  Mü.-StG.  §31.  Gemäss  dem  priesterlichen  StG.  §10, 
Abschnitt  1  gilt  betr.  aller  nach  diesem  G.  strafbaren  Handlungen  das  Ab- 
sorptionsprinzip .     , 

1.  Ideale  Konkurrenz  (§1).  Der  Ausdruck  kommt  im  G.  ebensowenig 
wie  etwa  Handlungseinheit  oder  Verbrechenseinheit  vor.     In  der  Begründung 

^)  Das  schwedische  StR.  kennt  nur  die  sogen,  „recidive  sp^'ciale". 
*)  Verbüsste  Strafe  wegen  Raubes  (bezw.  Versuch  dazu)  oder  wegen  Einbruchs 
wird  der  wegen  Diebstahls  verbüssten  Strafe  gleichgestellt. 

17* 


260  Schweden.  —  Die  allgemeinen  strafrechtlichen  Bestimmungen. 


des  Entw.  v.  1844  wird  angedeutet,    dass   in  dem  diesbezüglichen  Paragi'aph 
des  Entw.  (Kap.  VI,  §  11)  vom  „concursus  formalis"  die  Eede  sei. 

Das  G.  sowie  der  Entw.  unterscheidet  hier  freilich  zwei  Fälle:  !•  „wenn 
eine  Handlung  mehrere  Verbr.  enthält"  —  welcher  Ausdruck  nicht  notwendig 
dieselbe  Bedeutung  hat,  wie  ,.wenn  durch  einen  Akt  mehrere  verbrecherische 
Erfolge  herbeigeführt  worden  sind"  — ;  2.  wenn  „eine  HandluDg  ein  in  ver- 
schiedenen Hinsichten  mit  ungleichen  Strafen  bedrohtes  Verbr.  enthält",  — 
was  wohl  bedeuten  kann,  „wenn  eine  Handlung  einen  den  Thatbestand  meh- 
rerer Verbr.  bildenden,  d.  h.  unter  verschiedene  Straf  bestimmungen  fallenden 
Erfolg  gehabt  hat  (Gesetzes-Konkurrenz).  Was  aber  nach  der  Ansicht  des 
Gesetzgebers  genau  unter  1.  fällt,  ist  von  ihm  nicht  näher  angegeben.  Betr. 
den  Fall  2.  ist  in  der  Begründung  des  Entw.  v.  1844  ein  Beispiel  angeführt, 
welches  indessen  das  gegenseitige  Verhältnis  beider  Fälle  keineswegs  genügend 
erklärt.  Es  solle  aber  ein  Fall  der  sogenannten  Partialkonkurrenz  damit  ge- 
troffen werden.^)  In  beiden  Fällen  wird,  nach  dem  Absoi*ptionsprinzip ,  nur 
eine  Hauptstrafe  auferlegt,  und  zwar  die  strengste,  wenn  die  in  Frage  kom- 
menden Strafen  ungleich  sind.  Ausnahmen:  Bei  Konkurrenz  eines  im  Kap. XXV, 
§§  16,  17  erwähnten  Amtsdeliktes  mit  anderen  Delikten  gilt  gemäss  Kap.  XXV, 
§  18,  das  Kumulationsprinzip.  So  auch  nach  dem  Mil.  StG.  §  145,  wenn  mili- 
tärische Amts-  oder  Dienstverbr.  andere  Verbr.  einschliessen.-)  Die  Vergehung, 
wegen  welcher  keine  besondere  Strafe  auferlegt  wird,  ist  als  ein  Strafmehrungs- 
grund  zu  erachten.  Amtsentziehung  und  Nebenstrafen  (Kap.  II,  §§15,  17,  20) 
werden  dagegen,  dem  Kumulationsgrundsatz  gemäss,  auferlegt,  wenn  nur  eins 
der  konkurrierenden  Verbr.  damit  bedroht  ist. 

Nach  Mü.-StG.  §31,  Abs.  2  ist  bei  Konkurrenz  zwischen  Kap.  X,  §§  1, 
2,  5  des  allgemeinen  StG.  und  Mil.-StG.  Kap.  VII  (Verbr.  gegen  die  militärische 
Gehorsamspflicht  u.  dgl.)  nur  das  Mil.-StG.  in  Anwendung  zu  bringen.  Bei 
Konkurrenz  zwischen  Disziplinarstrafen  und  den  in  anderen  G.  angedrohten 
Geldstrafen  wird  in  den  in  §  31  vorgesehenen  Fällen  nur  die  Disziplinarstrafe 
auferlegt. 

2.  Realkonkurrenz  (§§  2,  3).  1.  „Wenn  mehrere  strafbare  Hand- 
lungen nicht  in  dem  Zusammenhange  zu  einander  stehen,  dass  sie  die  Fort- 
setzung desselben  Verbr.  ausmachen ,  sondern  jede  für  sich  als  selbständiges 
Delikt  aufzufassen  ist"  (d.  h.  den  Thatbestand  mehrerer  Verbr.,  z.  B.  eines  Dieb- 
stahls, eines  Betrugs,  einer  Körperverletzung,  enthalten),  gilt  nach  §  2  der 
Kumulationsgrundsatz.  Der  Richter  bestimmt  für  jede  der  verbrecherischen 
Handlungen  die  ihr  entsprechende  Einzelstrafe,  muss  aber  darauf  achten,  dass 
die  Freiheitsstrafen  die  in  §  5  angegebenen  Grenzen  (s.  o.  §  8 ,  7)  nicht 
überschreiten  und,  wenn  die  Strafen  nicht  gleichzeitig  vollstreckt  werden 
können  oder  dürfen  (S§  4,  6,  7),  die  infolge  dessen  dem  G.  gemäss  erforder- 
lichen Bestimmungen  mitteilen.  2,  Wenn  mehrere  Handlungen  eine  Fortsetzung 
desselben  Deliktes  bilden  (§  3),  ist  bei  der  Bestimmung  der  Strafe  die  Hand- 
lungsmehrheit als  Straf mehrungsgrund  (erschwerender  Umstand)  zu  betrachten. 
In  diesem  Falle  wird  auf  eine  Gesamtstrafe  erkannt.^)  Ein  Vergleich  mit  dem 
W^ortlaute  des  §  2  veranlasst  zu  der  Annahme,  dass  die  strafbaren  Handlungen, 
um  ein  fortgesetztes  Verbr.  nach  §  3  zu  bilden,    in    irgend  einem  Zusammen- 


0  Z.  B.  Körperverletzung  gegen  Beamte  des  Amtes  wegen  (Kap.  X,  §  1),  wobei 
die  „körperliche  \  erletzung"  bisweilen  mit  schwererer,  bisweilen  mit  leichterer  Strafe 
als  das  „Verbrechen  gegen  die  Staatsgewalt**  bedroht  ist. 

*)  Betr.  das  priest.  StG.  s.  §  12. 

*)  Bei  Fortsetzung  des  unerlaubten  Verkaufes  von  Branntwein,  Bier  und  dergl. 
nach  der  Klageerhebung  findet  besondere  Bestrafung  in  Bezug  auf  iede  behändigte 
Klage  statt.    Königl.  Vdg.  vom  24.  Oktober  1885,  §21,  und  vom  81.  Dezember  1891,  §  46. 


§  12.   Verbrechenseinheit  —  Verbrechensmehrheit.  201 


hange  stehen  müssen.  Näher  ist  die  umstrittene  Frage  gesetzgeberischerseits 
nicht  erklärt.  Meistens  wird  zugestanden,  dass  ein  jeder  der  mehreren  Akte 
den  Thatbestand  desselben*)  Verbr.  erfüllen  muss.  Die  Annahme  eines  fort- 
gesetzten Verbr.  gilt  meistens  als  ausgeschlossen,  wenn  die  mehreren  Akte 
gegen  verschiedene  Personen  gerichtet  sind.  Gemäss  besonderer  Vorschrift  des 
Kap.  XX,  §  9,  sind  jedoch  die  zu  verschiedenen  Zeiten  und  Orten  begangenen 
Diebstähle,  die  gleichzeitig  verfolgt  werden,  als  fortgesetztes  Verbr.  anzusehen. 
Mehrere  Entwendungen  (Snatterier)  werden  als  ein  fortgesetztes  Delikt  be- 
trachtet, wenn  der  Gesamtwert  nicht  mehr  als  15  Kronen  beträgt.  Wenn  er 
aber  diesen  Betrag  überschreitet,  sind  die  Entwendungen  als  ein  Diebstahl  zu 
beurteilen.  —  Die  Anwendung  der  Regeln  von  der  Realkonkurrenz  nach  §  2 
findet  nicht  nur  bei  gleichzeitiger  Aburteilung  mehrerer  Verbr.  statt,  sondern 
auch  L  „wenn  jemand  erst,  nachdem  er  durch  rechtskräftiges  Urteil  zur  Strafe 
wegen  eines  oder  mehrerer  Verbr.  verurteilt  worden  ist,  —  es  sei  die  Strafe 
schon  verbüsst  oder  nicht,  —  wegen  einer  schon  vor  dieser  Verurteilung  be- 
gangenen strafbaren  Handlung  angeklagt  und  überwiesen  wird"  (§  8).  In 
diesem  Falle  wird  die  Gesamtstrafe  so  bestimmt,  als  ob  der  Thäter  wegen 
sämtlicher  Verbr.  gleichzeitig  verfolgt  worden  wäre.  Von  der  neuen  Gesamt- 
strafe wird  die  schon  verbüsste  Strafe,  bezw.  der  verbüsste  Teil  der  früher 
zuerkannten  Strafe  abgerechnet;  2,  „wenn  jemand  nach  einer  rechtskräftigen 
Verurteilung,  aber  vor  der  schliesslichen  Verbüssung  der  Strafe,  ein  neues 
Verbr.  begeht"  (§  9).  In  diesem  Falle  wird  die  neue  Strafe  mit  der  vorher 
auferlegten,  oder  mit  dem  bei  der  Begehung  des  neuen  Verbr.  noch  nicht 
verbüssten  Teile  derselben  zusammengelegt.  Von  der  Gesamtstrafe  wird  ab- 
gerechnet, was  nach  der  Begehung  des  neuen  Verbr.  von  der  ersten  Strafe 
verbüsst  sein  kann. 

Wenn  mehrere  Straferkenntnisse  gleichzeitig  zur  Vollstreckung  kommen, 
so  sind  die  auferlegten  Strafen  auf  eine  Gesamtstrafe  zurückzuführen,  sofern 
die  Vollstreckung  der  einzelnen  Strafen  gegen  die  angeführten  Regeln,  —  die 
keine  Anwendung  finden,  wo  nur  Geldstrafen  in  Frage  sind,  —  streiten 
würde  (§  10). 

Durch  die  Vorschrift  des  G.  ist  die  Anwendung  des  Kumulationsprinzipes 
insofern  beschränkt,  dass  1.  die  „Todesstrafe"  Freiheits-  und  Geldstrafen  ab- 
sorbiert, nicht  aber  besondere  Strafen  und  Nebenstrafen  (§  4  Abschn.  1);  2.  mit 
lebenslänglicher  Strafarbeit  weder  eine  andere  Freiheitsstrafe  noch  Geldstrafe 
verbunden  werden  dürfen  (§  4  Abschn.  2).  Nach  der  allgemeinen  Ansicht  ist 
in  diesem  Falle  die  Geldstrafe  als  verbüsst  oder,  nach  der  Ausdrucksweise 
des  Entw.  v.  1844  (Kap.  VI,  §  16)  als  verfallen  anzusehen.'^) 

Bei  Vereinigung  mehrerer  zeitiger  Freiheitsstrafen  darf  die  Gesamtstrafe 
die  Dauer  der  schwersten  unter  den  verwirkten  Strafen,  oder  wenn  die  Dauer 
der  einzelnen  Strafen  eine  gleiche  ist,  diese  Dauer  nicht  mit  mehr  als  2  Jahren 
übersteigen  (§  5).  Triift  Gefängnisstrafe  mit  Strafarbeit  zusammen,  so  wird 
jene  in  Strafarbeit  umgewandelt,  wobei  die  Hälfte  der  Dauer  des  Gefängnisses 
abgerechnet  wird  (§  6). 


*)  Betrug  gegen  Gläubiger  durch  Beiseiteschafifung  von  Vermögensstücken, 
Bankerott  usw.  und  darauf  folgenden  falschen  Offenbarungseid  ist  von  der  Mehrheit 
des  obersten  Gerichtshofes  bis  jetzt  immer  nach  §  2,  d.  h.  nicht  als  fortgesetztes  Ver- 
brechen beurteilt  worden.  Erkenntnis  vom  6.  und  80.  September  1887,  in  Naumann, 
Zeitschrift  von  1888,  S.  49,  ;)3.  Vgl.  Carl6n,  Kommentar  S.  65—68;  Winroth,  Föreläsn. 
S.  114;  Justitie-Ombudsmannens  Embets-Berättelse  1885,  S.  27. 

-)  Carlen,  Kommentar,  8.  78:  „Mit  Todesstrafe  oder  lebenslänglicher  Strafarbeit 
darf  keine  andere  allgemeine  Strafe  voreinigt  werden."  —  Über  lebenslängliche  Straf- 
arbeit im  Verein  mit  dunkler  Zelle  iKap.  IV,  §  12),  s.  o.  §  x. 


2Ö2  Schweden.  —  Die  allgemeinen  strafrechtlichen  Bestimmungen, 


Geldstrafen  können  unbeschränkt  gehäuft  werden. 

Anrechnung  erlittener  Untersuchungshaft  auf  die  verwirkte  Strafe  ist 
weder  in  der  schwedischen  Gesetzgebung  erwähnt,  noch  in  der  Praxis  als  zu- 
gelassen erachtet.  Über  die  im  Auslande  begangenen,  dort  schon  bestraften 
Delikte  s.  o.  §  7,  I. 

§  13.   Teilnahme. 

Die  allgemeine  Lehre  von  der  Teilnahme,  wozu  vom  Gesetzgeber,  ausser 
Anstiftung,  Beihülfe  und  un eigentlicher  Teilnahme,  auch  Begünstigung  und 
Hehlerei  gerechnet  worden  sind,  wird  im  Kap.  III  behandelt.  Besondere  Straf- 
bestiramungen  wegen  Teilnahme  s.  Kap.  VIII,  §§  2,  3,  8,  22,  26  (Verrat  u.  dgl.); 
Kap.  X,  §§  7—9,  11,  13,  14;  Kap.  XIV,  §§  7,  8,  14,  27,  41  (Tötung,  Körper- 
verletzung, Abtreibung,  Zweikampf);  Kap. XV,  §2  (Sklavenhandel);  Kap.  XVIII, 
§  14  (Glücksspiel);  Kap.  XX,  §§  10,  12,  13  (Diebstahl,  Anfertigung  oder  Au- 
schaflfung  von  Dietrichen  für  andere  mit  Kenntnis  der  Absieht  zu  stehlen); 
Kap.  XXI,  §9  (Raub);  Mil.-StG.  §41  (Überlauf);  §§64,  66,  67  (Fahnenflucht); 
§77  (Aufruhr);  §79  (Auflauf);  §§81—82  (unerlaubte  Zusammenkunft). 

Der  Anstifter  (§  1)  wird  bestraft,  als  ob  er  Thäter  wäre,  d.  h.  wegen 
der  vollendeten  That,  bezw.  wegen  Versuches,  wenn  die  Handlung  nicht  zur 
Vollendung  gekommen  war,  sofern  nämlich  der  Versuch  strafbar  ist.  Hat  der 
Anstifter  rechtzeitig  den  Thäter  an  dem  Vorhaben  zu  hindern  gesucht,  so  wird 
er  als  Beihelfer  (socius  minus  principalis)  bestraft.  Die  Anstiftung  ist  als  qua- 
lifiziert zu  erachten,  wenn  der  Angestiftete  minderjährig  oder  dem  Anstifter 
zu  Gehorsam  verpflichtet  ist. 

Aufforderung  zum  Aufruhr  vor  einer  Volkssammlung  oder  durch  Schrift, 
die  der  Schuldige  verbreitet  oder  verbreiten  lässt,  wird  mit  Gef.  bestraft, 
auch  wenn  die  Aufforderung  keine  strafbare  Wirkung  hatte  (Kap.  X,  §  11, 
nach  dem  G.  vom  28.  Oktober  1887).  Auf  dieselbe  Weise  geschehene  Auf- 
forderung zur  Gewaltthätigkeit  gegen  Personen  oder  Eigentum  oder  zu  einem 
anderen  Verbr.,  sowie  Verleitung  zu  Ungehorsam  gegen  G.  oder  öflPentliche 
Behörden,  wird,  wenn  die  Aufforderung  (Verleitung)  mit  keiner  besonderen 
Strafe  bedroht  ist,  mit  Geldstrafe  oder  Gef.  bestraft  (Kap.  X,  §  14,  nach  dem 
G.  vom  7.  Juni  1889).  Wenn  die  Aufforderung  zu  einem  Verbr.  geführt  hat, 
wird  sie  als  Anstiftung  bestraft. 

Der  Rädelsführer  wird  in  Kap.  X,  §§  7—9  gedacht. 

Wegen  Teilnahme  an  unerlaubter  Anwerbung  stellt  Mil.-StG.  §  142  Abs.  3, 
besondere  Strafrahmen  auf. 

Der  Hauptgehülfe,  d.h.  nach  dem  Wortlaut  des  §3  „der,  welcher  bei 
Begehung  der  strafbaren  Handlung  einem  anderen  mit  Rat  und  That  hilft, 
sodass  die  Übelthat  dadurch  geschieht",  wird  so  wie  der  Thäter  bestraft.  Wer 
in  geringerem  Grade  die  strafbare  Handlung,  vor  oder  bei  deren  Begehung, 
durch  Rat  und  That  befördert  hat  (socius  minus  principalis),  wird  in  der  Regel, 
gemäss  der  Vorschrift  des  §  4  nach  Massgabe  seiner  Mitwirkung,  jedoch  weniger 
als  der  Thäter  bestraft;  bei  Diebstahl  aber,  gemäss  Kap.  XX,  §  10,  wie  der  Thäter. 

Komplott  (§§  5,  6).  Ein  jeder,  welcher  an  der  Verabredung  teilgenommen 
hat,  ist,  wenn  er  beim  Verbr.  anwesend  war,  oder  vor,  bezw.  bei  der  Ausübung 
der  That  das  Verbr.  befördert  oder  nachträglich  dem  Thäter  geholfen  hat,  als 
Thäter  zu  bestrafen.  Hat  er  sich  nicht  in  dieser  Weise  beteiligt,  so  wird  er 
wegen  Beihülfe  nach  §  4  (socius  minus  principalis)  bestraft,  sofern  er  nicht 
als  Anstifter  nach  §  1  zu  strafen  ist.  Einen  besonderen  Strafrahmen  wegen 
Komplottes  zu  Raub  bestimmen  Kap.  XXI,  §2  und  Mil.-StG.  §118.  Über  den 
Einfluss  persönlicher  Verhältnisse  auf  die  Strafbarkeit  der  Anstiftung  oder  der 
Beihülfe  giebt  das  G.  keine  Regeln.  —   Uneigentliche  Beihülfe  (§§  7—8). 


§  15.    Vorsatz  und  Fahrlässigkeit.  263 


Wenn  Eltern,  Adoptiveltern,  Erzieher  oder  der  Vormund  es  unterlassen,  ein 
Verbr.  des  unter  ihrer  Aufsicht  Stehenden  zu  verhindern  oder  zu  offenbaren, 
sofern  dies  ohne  Anzeige  geschehen  kann,  so  wird  der  Schuldige  als  socius 
minus  principalis  nach  Massgabe  des  §  4  bestraft,  über  uneigentliche  Bei- 
hiüfe  s.  auch  Mil.-StG.  §  78. 

Bei  Begünstigung  und  Hehlerei  unterscheidet  das  G.  zwei  Arten: 
a)  wenn  der  Begünstiger  bezw.  Hehler  von  dem  Verbr.  Kenntnis  gehabt  hat 
(§9);  b)  wenn  ihm  nur  Verdachtsgründe  vorgelegen  haben  (§10).  Im  letzteren 
Falle  tritt  nur  Geldstrafe  ein,  in  dem  vorgenannten  (§  9)  auch  Gef.  von  höch- 
stens 6  Monaten,  oder  bei  gewissen  schwereren  Fällen  Strafarbeit  bis  zu 
2  Jahren.  Wenn  der  Begünstigte  Diebstahl,  Entwendung  oder  Raub  verübt 
hat,  so  wird  der  Begünstiger  oder  Hehler  nach  Kap.  XX,  §12  und  Kap.  XXI, 
§  9,  wegen  Diebstahls  bezw.  Entwendung  bestraft.  Die  von  einem  Angehörigen 
gewährte  Begünstigung  nach  §  10  ist  straflos  (§  11). 

§  14.  Der  Versuch, 

über  welchen  allgemeine  Bestimmungen  im  StG.  nicht  vorkommen,  wird  nur 
in  besonders  erwähnten  Fällen  —  Kap.  VIII,  §§1,  5,  6,  7,  10  (Verrat);  Kap.X, 
§17  (Gefangenen-Befreiung);  Kap.  XIV,  §§2,  18,  23  (Mord,  Vergiftung,  Kindes- 
tötung); Kap.  XV,  §  14  (Notzucht);  Kap.  XIX,  §§  5,  6,  7  (Mordbrand,  Attentat 
durch  Sprengstoffe,  Bewirken  von  Strandung  u.dgl.);  Kap.  XXI,  §§  1 — 3,  5 — 7 
(Raub)  —  bestraft,  sofern  die  Vollendung  des  Verbr.  nur  durch  Umstände,  die 
vom  Willen  des  Verbrechers  unabhängig  waren ,  verhindei-t  wurde ,  und  zwar 
in  der  Eegel  nach  herabgesetztem  Strafrahmen.  Ausnahmen:  Kap.  VIII,  §  1; 
Kap.  XIV,  §  18;  Kap.  XXI,  §§  3,  6—8;  vgl.  Mil.-StG.  §  41,  Abs.  2,  §§  &7,  105, 
121,   136. 

In  gewissen  Fällen  bildet  der  Versuch,  bezw.  die  Vorbereitung,  den  That- 
bestand  eines  besonderen  Verbr.;  so  nach  Kap.  VIII,  §§2,  8  (Verabredung 
eines  hochverräterischen  Unternehmens) ;  Kap.  XII,  §§  7,  12,  16,  18  (Anbringen 
falscher  Marken  an  Urkunden  u.  dgl.,  Verfertigung  von  Stempeln,  Nachahmung 
von  Münzen);  Kap.  XIV,  §§15,  18  Abs.  2,  §  39  (Gebrauch  von  tötlichen  Waffen, 
Bereitung  von  Gift,  Her ausf ordenin g  zum  Zweikampf);  Kap.  XV,  §§4,  14,  17, 
18  (Ausrüstung  von  Sklavenschiffen,  Gewalt  oder  Entführung  in  unzüchtiger 
Absicht);  Kap.  XX,  §  13  (Anfertigung  oder  Anschaffung  von  Dietrichen);  Mil.- 
StG.  §42  (Versuch  zum  Überlauf);  §§117,  118  (Gewaltthätiger  Angriff  in  der 
nicht  ausgeführten  Absicht,  Kriegsbedürfnisse  sich  anzueignen,  —  Zusammen- 
rottung zu  demselben  nicht  ausgeführten  Zwecke). 

§  15.  Vorsatz  und  Fahrlässigkeit. 

1.  Vorsatz  (Uppsät).  Gemäss  der  noch  massgebenden  Begründung  des 
Entw.  V.  1832  wird  zwischen  dem  mit  Überlegung  und  dem  nicht  mit  Über- 
legung geff&sten  Vorsatz  unterschieden.  Für  den  Ausdruck  „mit  Überlegung" 
(StG.  Kap.  XIV,  §§1,  4,  10,  11,  23,  29)  wird  der  archaistische  Leihausdruck 
„med  berädt  mod" ,  mit  beratenem  Mut,  gebraucht.  Vgl.  Abschnitt  vom 
Verbr.  (Missgemingsbalk)  im  GB.  v.  1734,  Kap.  XX,  §§  1,  13:  ,,med  (af) 
berädde  mode",^)  Kap.  14,  §1:  „stadgadt  mod").  Der  Gegensatz  wird  mit 
„hastigt  mod",-j  Hastmut  (StG.  Kap.  XIV,  §§3,  5,  10,  11,  29,  vgl.  Missgeni. 
Brtlk,   Kap.  XVIII,  §  6,  bräd  skilnad-^)  Impetus),  bezeichnet. 

*)  Vgl.  Skane-Lag,  AdditV:  3,  4  variant. 

'-)  Christoffers  Lands-Lag,  Tingmala  Balk,  Kap.  43,  Add.  H.2. 

^)  Magnus  Erikssons  Lands-Lag,  Edsöris  Balk  Kap.  18:  Saramal  med  Vilia  Kap.  16 
§  1;  Magii.  E.  Stads-Lag,  Edsöris  Balk  Kap.  12,  14;  Christoffers  Lands-Lag,  FAs.  Balk 
Kap.  13,  17. 


264  Schweden.  —  Die  allgemeinen  strafrechtlichen  Bestimmungen. 


2.  Fahrlässigkeit  (einfache,  grobe)  wird  nui*  in  besonders  bestimmten 
FäUen  bestraft;  so  Kap.  XIV,  §9  (fahrlässige  Tötung);  Kap.  XIV,  §§17,  43 
(Körpei-verletzung,  vgl.  Mü.-StG.  §§88,  89);  Kap.  XIX,  §  21  (gemeingefährliche 
Delikte;  vgl.  Mil.-StG.  §  107). 

§  16.  Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen. 

(Kap.  VII— XXV,  vgl.  Kap.  III,  §§  9—10.) 

a)  Gegen  die  körperliche  Unversehrtheit,  Kap.  XIV  (Von  Mord, 
Totschlag  und  anderer  Köq)er\'erletzung) ;  Mord,  §1;  Mordversuch,  §2;  Tot- 
schlag, §§3—5;  fahrlässige  Tötung,  §9;  Körperverletzung,  Gefährdung  von 
Leib  und  Leben,  §§10—17,  36—37,  42,  44,  45;  Kiudestötung,  §§22—25 
(Selbstmord,  Tötung  auf  Verlangen  sind  nicht  erwähnt);  Aussetzung,  §§30 — 34; 
Vergiftung,  §§18—21;  Abtreibung,  §§26—29;  Raufliandel,  §§7—8;  Zweikampf, 
§§  38—41. 

b)  Gegen  die  Ehre.  Kap.  XVI.  Falsche  Anschuldigung,  §§  1 — 6;  Be- 
leidigung, §§  7 — 15.    Verleumdung  Verstorbener  nicht  berücksichtigt. 

c)  Gegen  die  persönliche  Freiheit.  Kap.  XV,  §§  1—11;  20—23: 
Sklavenhandel,  §§  1 — 4;  Menschenraub,  §§5 — 7;  Kinderraub,  §8;  Freiheits- 
beraubung, §§9 — 10;  Erzwingung  eines  Geständnisses,  §11;  Entführung  der 
Frau  eines  anderen  mit  ihrer  Einwilligung,  §20;  Nötigung  zur  Heirat,  §21; 
Nötigung  im  allgemeinen,  §  22;  Drohung,  §  23. 

d)  Gegen  geschlechtliche  Freiheit  und  sittliches  Gefühl,  Kap.XV, 
§§  12—19;  Kaj).  XVIII;  Entführung,  Kap.  XV,  §§  17—19;  Nötigung  zur 
Unzucht,  Kap.  XV,  §§  12 — 16;  Unzucht  mit  Minderjährigen  (unter  12 — 15  Jahren) 
oder  Geisteskranken,  Kap.  XVIII,  §§7,  8;  Unzucht  mit  Verletzung  eines  Ab- 
hängigkeitsverhältnisses, Kap.  XVIII,  §  6;  Kuppelei,  Kap.  XVIII,  §§11,  12; 
Blutschande,  Kap.  XVIII,  §§  1—5;  Widernatürliche  Unzucht,  Kap.  XVIII,  §  10: 
Erregung  öffentlichen  Ärgernisses,  Verbreitung  unzüchtiger  Schriften,  Kap.  XVI II, 
§13;  Ti-unksucht,  Kap.  XVllI,  §  15;  Tierquälerei,  Kap.  XVIII,  §  16. 

e)  Gegen  Religion  und  kirchliche  Ordnung,  Kap.  VII  (königl.  Vdg. 
vom  11.  Dezember  1868,  vom  16.  November  1869).  (iotleslästerung,  Kap.  Vll, 
§  1;  Verspottung  des  Gottesdienstes,  Kap.  VII,  §  2;  Sonntagsarbeit  (theokratisch), 
Kap.  VII,  §3;  Gewaltthätigkeit  während  eines  Gottesdienstes,  Kap.  XI,  §  1, 
vgl.  §7;  anderweitige  Störung  eines  Gottesdienstes  u.dgl.,  Kap.  XI,  §§2,  3; 
vgl.  §7;  Störung  des  Gräberfriedens,  Kap.  XI,  §4. 

f)  An  Personenstand  und  Ehe,  Kap.  XXII,  §§7—9  (vgl.  §2  Abs.  4); 
Kaj).  XVII;  Unterschiebung  und  Verwechselung  eines  Kindes,  Kap.  XXII, 
§9;  Eheerschleichung,  Kap.  XXII,  §§7—8;  Ehebruch,  Kap.  XVII,  §§1—3; 
mehrfache  Ehe,  Kaj).  XVII,  §§  4—6. 

g)  Gegen  verschiedene  immaterielle  Eechtsgüter.  Hausfriedensbruch, 
Kap.  XI,  §§10—14;  Störung  des  Gerichtsfriedens,  Kap.  XI,  §§  5-«8.  S.  auch 
beie);  Mil.-StG.  Kai).IX,  §§113—116,  119  -121;  ruhestörender  Lärm,  Schnell- 
fahren, Kap.  XI,  §15;  Verletzung  des  Briefgeheimnisses,  Kap.  XXII,  §10; 
Treulosigkeit  eines  Anwaltes,  Kap.  XXII,  §  14. 

h)  Gegen  das  Vermögen.  1.  Kap.  XX,  Diebstahl,  Einbruch,  Anfer- 
tigung von  Dietrichen;  Entwendung  (schwed.  snatteri),  wenn  der  Wert  des 
Gestohlenen  nicht  15  Kronen  übersteigt  und  die  That  nicht  durch  Einbruch, 
nächtliches  Eindringen,  Führen  von  Waffen  und  dergl.  nach  §  4  qualifiziert 
ist.  Unterschlagung  in  demselben  Wert  gegen  Personen,  in  deren  Lohn 
und  Kost  der  Thäter  sich  befindet,  und  dergl.  wird  als  qualifizierte  Entwen- 
dung (§3)  angesehen.  —  2.  Hehlerei,  Kap.  III,  §§9—10,  vgl.  Kap.  XX,  §12. 
XIX,  §  9  =  Diebstahl,  bezw.  snatteri,  s.  o.  §  12.    Über  Holzdiebstahl  s.  o.  §  5, 


§  16.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  265 


—  3.  Raub,  Kap.  XXI;  Mil.-StG.  Kap.  IX,  §§117  bis  118,  119  bis  121.  — 
4.  Erpressung,  Kap.  XXI,  §  5.  —  5.  Verschiedene  Arten  von  Unterschlag- 
ungen, Kap.  XXII,  §§11,  14;  Mil.-StG.  §112;  von  einem  Ehegatten  gegen 
den  anderen  u.  dgl.  (schwed.  bodrägt),  Kap.  XXII,  §  20;  Fund-  und  Schatz- 
verhehlung,  Kap.  XXII,  §  19.  —  6.  Furtum  usus,  Kap.  XXII,  §  12;  Mil.-StG. 
§  111.  —  7,  Furtum  possessionis,  Kap.  X,  §  20.  —  8,  Sachbeschädigung,  gemein- 
geföhrliche  Verbr.  und  Verg.,  Kap.  XIX;  Mil.-StG.  Kap.  IX,  §§107-112;  Un- 
vorsichtigkeit mit  dem  Feuer,  Byggn.  Balk  Kap.  XXIV.  —  9.  Jagd-,  Fisch - 
und  Forstfrevel,  Abgraben,  Abpflügen,  Haidebrand,  Roden,  Entrinden  u.  dgl., 
Kap.  XXIV,  8.  auch  Byggningabalk.  —  10,  Konkurs verbr.,  Kaj).  XXIII;  vgl. 
Konkurs-Odg.  vom  18.  Sej)tember  1862,  Kap.  8,  §  133  (deutsche  Konkursordnung, 
§213)  Eigennutz  des  Gläubigers).  —  11.  Betrug,  Untreue,  WarenfUlschung. 
Kap.  XXII  (vom  Betrug  und  anderer  Unehrlichkeit),  §§  1 — 5,  13,  14,  15,  17; 
Glücksspiel,  Kap.  XVIII,  §  14. 

i)  Gegen  uneigentliche  Rechtsgüter.  Fälschung  (von  Urkunden. 
Münzen  usw.),  Kap.  XII;  Gebrauch  von  gefälschten  Schuldscheinen,  Testamenten 
u.  dgl.  oder  von  gewissen  Urkunden,  welche  für  andere  Personen  angefertigt 
sind.     Kap.  XXII,  §§  16,   18. 

k)  Gegen  das  Gemeinwesen.  1.  Verrat  und  Gefährdung  der  Sicherheit 
des  Staates,  Kap.  Vlll;  Mil.-StG.  Kap.  4  (auch  Feigheit,  Gemeinschaft  mit  dem 
Feinde),  Kap.  5  Fahnenflucht,  Überlaufen  u.  dgl.  —  2.  M«yestätsbeleidigung, 
Verbr.  gegen  Reichsregierung  und  Reichstag,  Kap.  IX.  —  3.  Widerstand  gegen 
die  Staatsgewalt,  strafbare  Aufforderungen,  Missachtung  der  Autorität  der 
Staatsgewalt  usw.,  Kap.  X,  Mil.-StG.  Kap.  6,  §7,9;  Wahl-  und  Stimmverhinde- 
rung, Kauf  und  Verkauf  von  Wahlstimmen,  Kap.  X,  §16;  Siegel-,  Arrestbruch, 
Kap. X,  §21;  Amtsanmassung,  Kap.  XXII,  §6;  Wegnahme  von  Bekanntmach- 
ungen, Kap.  X,  §  19.  —  4.  Meineid,  Kap.  XIII. 

l)  Verbr.  und  Verg.  im  Amte,  Kap.  XXV;  priesterl.  StG.  vom  8.  März 
1889;  Mil.-StG.  Kap.  10.  —Kap.  8  des  Mil.-StG.  handelt  von  Kriegsbeut<^  und 
Missbrauch  der  Waffenmacht,  Kap.  11  von  Disziplinsachen. 

m)  Pressdelikte  (Druckfreiheits-Vdg.  vom  16.  Juli  1812  mit  späteren 
Änderungen):  1.  durch  den  Inhalt  einer  gedruckten  Schrift  (§  3).  Dies  Delikt 
ist  in  der  Regel  nach  dem  allgemeinen  StG.  zu  strafen.  Die  Schuldfrage 
wird  von  Geschworenen  beurteilt.  Besondere  Straf bestimmungen  s.  §  3  Abs.  2 
und  12  (Verleugnung  Gottes,  eines  jenseitigen  Lebens  oder  der  reinen  evange- 
lischen Lehre;  Aufforderung  zu  in-  oder  ausländischer  Lotterie;  unwahre  und 
verkehrte  Darstellungen  zur  Täuschung  oder  Verleitung  des  Publikums); 
t.  gegen  Ordnungsvorschriften  (§1  Abs.  5,  8,  9,  10,  11;  §  4  Abs.  2);M 
3.  gegen  die  Anonymität  (§  1  Abs.  6,  8);  4,  gegen  die  Vorschriften  über  Ver- 
öffentlichung von  Urkunden  (§  2  Abs.  4,  Alinea  1 — 8);  5.  Veröffentlichung^ 
von  Privatbriefen  (§  2  Abs.  4,  Alinea  3);  6.  Verkauf  von  sequestrierten 
Schriften  (§  4  Abs.  9). 

^  Versäumnis  der  Meldung  der  Druckerei,  der  Angabe  des  Namens  des  Buch- 
druckers, des  Druckortes,  oder  der  Jahreszahl,  der  Einlieferung  von  Pflicht-  und  Kon- 
trollexemplaren, Herausgabe  einer  periodischen  Schrift  ohne  einen  vom  Justiz- 
minister erteilten  Erlaubnisschein  (alle  diese  unter  dem  Ressort  des  Justizministers), 
betrü«:eri8cher  Titel  (Gerichtssache). 


V. 


DER  RUSSISCHE  STAAT. 


1.  Das  russische  Kaisertum. 

vou  Dr.  Jwan  Foinitzki, 

Professor  de»  Strafrechts  a.  d.  Universität,  (ieneraladvokat  am  Kassations-Seuate  in  St.  Petersburg. 


2.  Das  Grossfürstentum  Finnland. 

Von  Dr.  Jaakko  Forsmann, 

Professor  des  Strafrechtä  in  Helsingforä. 


M 

Übersicht. 

1.  Russland. 

I.  Geschichtlicher  Überblick  des  russischen  Strafrechts.  §  1.  Die  Zeit  der  Teilfürsteii- 
tümer  und  Volksversammlungen.  §  2.  Die  Moskauer  Periode,  16.  und  17.  Jahr- 
hundert. §  3.  Die  Petersburger  Periode,  erste  Hälfte  (bis  zum  Grafen  Sporanski, 
1826i.  §  4.  Die  Petersburger  Periode,  zweite  Hälfte. 
II.  Das  geltende  russische  Strafrecht.  §  5.  Die  Quellen,  ihr  Geltungsgebiet,  ihre 
wissenschaftliche  Behandlung.  §  6.  Der  allgemeine  Thatbestand  des  Verbrechens. 
§  7.  Die  Strafen  des  geltenden  russischen  Rechts.  §  8.  Der  besondere  Teil  de^ 
russischen  Strafrechts.    §  9.    Gerichtsverfassung  und  Verfahren. 

2.  Finnland. 

I.    Einleitung.    §  1.  Die  ältere  Geschichte  des  finnUtndischen  Rechts.    §  2.   Die  Ent- 
stehungsgeschichte des  SGBs.  von  1HS9. 
II.   Das  StGB,  von  1889.    §  3.    Der  allgemeine  Teil.    ^5  4.   Die  einzelnen  strafljaren 
Handlungen. 

III.  §  5.    Die  strafrechtlichen  Bestimmungen  ausserhalb  des  StGBs. 

IV.  §  6.    Die  Rechtsprechung. 


1.  Das  russische  Kaisertum. 


I.   Geschichtlicher  Überblick  des  russischen  Strafrechts. 

Litteratur:  Ewers,  Das  älteste  Recht  der  Russen,  Dorpat  1826.  Reutz,  Ver- 
such über  die  geschichtliche  Ausbildung  der  russischen  Staats-  und  Rechtsverfassung, 
1829.  Iwanishew,  Das  Wehrgeld  für  Mord,  1839.  Tobien,  Die  Blutrache,  1840.  Nje- 
wolin,  Die  äussere  Gesichte  der  Gesetzgebung  in  Russland,  1840.  Kalatshow,  Eine 
Untersuchung'  über  die  russ.  Prawda,  1846.  Derselbe,  Über  die  Bedeutung  der  Korm- 
tshaja,  1850.  Pogodin,  Über  die  Verträge  der  russ.  Fürsten  mit  den  Griechen,  1846. 
Depp,  Über  die  Strafen  in  Russland  vor  dem  Zaren  Alexen  Michäilowitsh,  1849.  Bog- 
danowski,  Die  Entwicklung  der  Ideeen  über  Verbrechen  und  Strafe  im  russ.  Recht 
vor  Peter  d.  Gr.,  1857.  Lange,  Untersuchung  über  das  StR.  der  russ.  Prawda,  1860. 
Tshebishew-Dmitrijew%  Das  Verbrechen  im  russ.  Recht  vor  Peter  d.  Gr.,  1862.  Nek- 
liudow,  Zusätze  zu  Berners  Lehrbuch,  1865.  Die  Lehrbücher  des  russ.  Rechts  von 
Leontowitsh  1869,  Samokwassow  1878,  Bjeljajew  1879,  Sergej ewitsh  1883.  Wladimirski- 
Budanow,  Chrestomathie  der  Quellen  der  Geschichte  des  russ.  Rechts,  1872—76.  Stroew 
und  Kalaidowitsh,  der  Sud6bnik  vom  J.  1497,  zum  ersten  Mal  herausgegeben,  1819. 
Tatishew,  Der  Sudebnik  vom  J.  1550,  zum  ersten  Mal  herausgegeben,  1762.  Stroew, 
Historisch-juristische  Forschung  über  das  Ulozhenije,M  1833.  Moroshkin,  Rede  über 
das  Ulozh6n\je,  1839.  Linowski,  Erforschung  der  Prinzipien  des  Kriminalrechts  in 
dem  Ulozhenije  des  Zaren  Alex6i  MichAilowitsb,  1847.  Njewolin,  Kritik  über  Linowski, 
Bd.  VI  der  Werke.  Kolossowski,  Die  Zurechnung  von  Mord  und  Totschlag  nach  der 
Ulozhenije,  1859.  Die  Werke  über  die  Supplement-Artikel  von  Wlassijew,  Tshebishew- 
Dmitrijew  und  Kistjakowski.  Utin,  Über  die  Ehrverletzungen  nach  russ.  Recht,  1888. 
Sergejewski,  Die  Strafe  im  17.  Jahrhundert,  1888.  —  Rosenheim,  Geschichte  der  militär- 
gerichtlichen Behörden  bis  zum  Tode  Peter  L,  1878.  Bobrowski,  Der  Ursprung  der 
Mil.-Art.  Journal  des  Civil-  und  Strafrechts,  1881,  No.  3.  Derselbe,  Das  Mil.-Recht  in 
Russland  zur  Zeit  Peter  I.,  1883.  Filippow,  Über  die  Strafe  nach  der  Gesetzgebung 
Peter  L,  1891.  Wostokow,  Die  Entw.  eines  StGB.  1754  und  1756,  St.  Petersburg  1882. 
Sammlung  der  historischen  Gesellschaft,  1869.  L.  A.  v.  Jakob  (Sohn),  Kriminalkodex 
für  das  russ.  Reich,  von  der  kaiserl.  Gesetzgebungskommission  entworfen  und  nach 
erfolgter  Genehmigung  der  gesetzgebenden  Abteilung  des  Reichsrates  zum  Druck 
befördert.  Übersetzt.  Halle,  1818.  Neues  Archiv  des  Kriminalrechts,  1819,  S.  43,  59. 
L.  H.  V.  Jakob,  Entw.  eines  Kriminal-GB.  für  das  russ.  Reich,  mit  Anmerkungen  über 
die  bestehenden  russ.  Kriminalgesetze.  Nebst  einem  Anhange,  welcher  enthält:  kri- 
tische Bemerkungen  über  den  von  der  Gesetzgebungskommission  zu  St.  Petersburg 
herausgegebenen  Kriminalkodex.  Halle  1818.  —  Baron  Korff,  Das  Leben  des  Grafen 
Speranski,  1862.  Dimitrijew,  Speranski  und  seine  Staatsthätigkeit.  Russisches  Archiv 
1868,  No.  10. 

§  L  Die  Zeit  der  TeilfDrstentfimer  and  Yolksyersaminluiigen. 

I.  Die  erste  Periode  des  russischen  StR.  (10. — 15.  Jahrhundert),  die  Zeit 
der  Teilfürstentümer  (udjelü)  und  Volksvei*sammlungen  (wetshej,  ist  charak- 
terisiert durch  das  Überwiegen  des  privaten,  persönlichen  Momentes  über  das 
allgemeine,  staatliche.  Li  staatsrechtlicher  Hinsicht  sehen  die  Fürsten  ihre 
Gebiete  als  Privateigentum  an;   in  strafrechtlicher   steht   die  Idee   der  persön- 

')  z  =  s  in  niaison,  zh  =  j  in  Journal. 


270     Das  russische  Kaisertum.  —  Geschichtlicher  Überblick  des  russischen  StR. 


liehen  Beleidigung,  der  Verletzung  des  einzelnen  Privatinteresses  im  Vorder- 
grunde. Die  Strafe  ist  durch  die  Rache,  die  Funktion  des  Gerichts  durch  die 
Verfolgung  des  Thäters  und  seiner  Sippe  durch  den  einzelnen  und  seine  Sippe* 
ersetzt.  „Und  es  erhob  sich  ein  Geschlecht  wider  das  andere"  (i  wsta  rod 
na  rod)  —  schreibt  der  Annalist  Nestor. 

U.  Quellen:  1.  Die  Verträge  Olegs  und  Igors  mit  den  Griechen  über 
Auslieferungspflichten  (911,  945).  Mörder  und  Diebe  werden,  auf  der  That 
ertappt,  mit  dem  Tode;  wenn  sie  entflohen  sind,  mit  Vermögensverlust  be- 
straft; Vermögenslose  werden  dem  Beleidigten  übergeben.  Für  Körperverletzung 
sind  5  Liter  Silber  zu  zahlen;  der  Unvermögende  büsst  seine  Kleidung  ein 
und  muss  den  Paupertätseid  leisten.  Bei  Marterung  ist  das  Dreifache  zu  ent- 
richten. In  dieser  ältesten  Zeit  war  die  Blutrache  für  Mord  moralische  Pflicht, 
aber  Privat-,  keine  Staatsangelegenheit.  Dem  Entflohenen  gegenüber  wurde 
unter  dem  Einfluss  der  Zeit  das  Gefühl  der  Beleidigung  milder:  es  stellt  sich 
die  Geldbusse  ein.  Die  erste  Reaktion  gegen  dieses  System  zu  Gunsten  eines 
publizistischen  Charakters  der  Strafe  wird  von  der  Sage  auf  den  von  griechi- 
schen Mönchen  beratenen  Wladimir  d.  Heil,  zurückgeführt.  2.  Die  Russkaja 
Prawda,  angeblich  von  Grossfürst  Jaroslaw  (f  1054)  herrührend,  in  der  That 
Privatsammlung  aus  Einzelentscheidungen  und  aus  den  Übungen  der  ver- 
schiedensten Teile  Russlands.  3.  Gerichtsurkunden  und  Freibriefe  von  rein 
partikulärem  Charakter;  so  von  der  Düna  1397,  von  Pskow  1397 — 1467,  Now- 
gorod 1471.  4.  Die  Kormtshaja,  tralatizische,  ins  Kirchenslavische  übersetzte 
Sammlung  der  Grundsätze  des  griechischen  Kirchenrechts.  5.  Die  Verträge 
der  Fürsten  untereinander,  z.  B.  der  von  Nowgorod  1195   mit  den  Deutschen. 

III.  Die  Prawda  enthält  bereits  Andeutungen  über  Scheidung  vorsätz- 
licher und  unvorsätzlicher  Schuld.  Den  Versuch  als  solchen  kennt  sie  nicht; 
doch  wird  z.  B.  Entblössen  des  Schwertes  als  selbständiges  Verbrechen  der 
Beleidigung  bestraft.  Betr.  den  privatrechtlichen  Charakter  des  StR.  ist  ein 
Unterschied  zwischen  den  Redaktionen  der  Prawda.  In  den  älteren  herrscht 
die  Blutrache  ausschliesslich,  die  jüngeren  berichten  die  Abschafiimg  der  Blut- 
rache durch  die  Söhne  Jaroslaws.  Damit  ist  das  volle  Kompositionensystem 
eiTeicht.  Die  Geldstihnen  sind  zweierlei  Art :  zu  Gunsten  des  Fürsten  —  wira 
und  prodazha,  und  zu  Gunsten  des  Beleidigten  —  golownojö,  urök;  daneben 
stand  die  Prozesskostenpflicht.  Abstufung  der  Bussen  nach  der  gesellschaft- 
lichen Stellung  des  Beleidigten. 

IV.  Unter  den  Strafen  ist  seiner  Natui*  nach  sehr  streitig  der  Potök; 
nach  richtiger  Ansicht  stellt  er  keine  bestimmte  Strafart  dar,  sondern  bedeutet 
die  Auslieferung  des  Schuldigen  an  den  Fürsten  oder  die  Volksmenge,  die 
mit  ihm  nach  Belieben  verfahren  konnten.  Auch  die  Bezeichnung  Opäla  (Un- 
gnade) wird  gebraucht.  Der  Potök  wird  wohl  mit  der  sacratio  des  römischen 
und  der  Friedlosigkeit  des  deutschen  Rechts  zusammengestellt;  vielleicht  hat 
er  auch  seinen  Ursprung  im  germanischen  Recht  (Vermittelung  der  Waräger). 
Der  Potök  trifll;  den  Schuldigen  und  seine  Familie  bei  Raubmord,  gewinn- 
süchtigem Mord  aus  einem  Hinterhalt,  Pferdediebstahl,  Brandstiftung  an  Haus 
oder  Scheune.  Andere  Rechtsquellen  haben  hier  Todesstrafe,  die  auch  mehr- 
fach auf  Kirchenraub,  auf  dem  dritten  Diebstahl,  auch  auf  Hochverrat  steht. 
Leibes-  und  Ehrenstrafen  sind  unbekannt. 

V.  Die  Anzahl  der  Verbr.  ist  in  den  älteren  Redaktionen  der  Prawda 
verschwindend  klein.  Auch  später  wurden  nur  Verbr.  gegen  die  Person 
(Beleidigung  ist  hier  gewissermassen  clausula  generalis)  und  das  Vermögen 
(Wert  ohne  Einfluss.  Rolle  des  Pferdes:  weit  strengere  Strafe  des  Pferde- 
diebstahls; das  Reiten,  das  Töten  fremden  Pferdes  sind  strafbar)  behandelt. 
Unter  den  letzteren  figurieren  Grenzsteinverrückung  und   dolose  Ableugnung 


§  2.    Die  Moskauer  Periode,  16.  und  17.  Jahrhundert.  271 


einer  Geldschuld.    Über  eine  Reihe  Delikte  des  kirchlichen  Rechts  sind  Vdgn. 
Wladimirs  und  Jaroslaws  von  zweifelhafter  Echtheit  vorhanden. 

VII.  Neben  Überbleibseln  von  Selbsthülfe  (Niederstossen  des  ertappten  Diebes, 
Mörders,  Ehebrechers)  weist  das  Verfahren  als  Mittel  der  Streiterledigung  den 
gerichtlichen  Zweikampf  auf.  Die  Paktion  der  Parteien  beherrscht  den  Pro- 
zess.  Nur  in  den  wichtigsten  Sachen  besteht  eine  ausserordentliche  Prozess- 
form, die  den  Ausgangspunkt  für  den  russischen  nationalen  Instruktionsprozess 
bildet.  Beweismittel  sind  hier:  Geständnis,  gerichtlicher  Zweikampf  (in  der 
Prawda  nicht  erwähnt,  seine  Existenz  für  das  13.  Jahrhundert  nicht  zweifel- 
haft, auch  unter  Weibern  zugelassen),  Beweiseid,  Reinigungseid,  Gottesurteil, 
Gehörzeugen  (juratores,  mit  Lange  den  germanischen  Eideshelfem  gleich- 
zustellen), Augenzeugen,  Urkunden,  Augenschein.  Die  Prawda  kennt  ausser- 
dem die  Umfrage  (izwod),  das  successive  Ausfragen  einer  Reihe  von  Personen 
(z.  B.  Besitznachfolger). 

§  2.  Die  Moskauer  Perlode,  16.  und  17.  Jahrhundert. 

I.  Zwei  mächtige  Faktoren  haben  eine  neue  Zeit  heraufgeftihrt.  Das 
mongolische  Joch,  erst  vor  kurzem  abgeworfen,  in  seinen  Einflüssen  tief  ins 
Leben  des  Volkes  gedrungen,  hat  neue,  bis  zu  dieser  Zeit  unbekannte  Straf- 
massregeln (die  körperlichen  Strafen)  und  neue  Vorstellungen  über  das  Wesen 
des  Unerlaubten  mit  sich  geführt.  Das  Verbrechen  erscheint  lediglich  als 
Verletzung  eines  höheren  Willens.  Diese  formelle  Auffassung  führt  zwar  zum 
Teil  auch  auf  die  byzantinische  Geistlichkeit  zurück,  aber  den  nachhaltigsten 
Einfluss  hat  die  Weltanschauung  der  Mongolen  gehabt,  nach  der  alles  dem 
Chan  gehört  und  sogar  jede  Privatrechtsverletzung  nichts  als  Verletzung  des 
Willens  des  Chan  ist.  Unterstützt  wird  die  Entwickelung  durch  den  zweiten 
Faktor:  Die  Centralisation  der  Gewalt  im  Moskauer  Fürstentum. 

II.  Quellen:  1.  Der  Kodex  Iwan  III.,  1497,  der  grossfürstliche  Sude bnik, 
abgefasst  auf  Grund  von  Ukasen,  der  Praxis,  der  Prawda,  der  Bücher  Mosis 
und  der  Pskower  Gerichtsurkunde.  2.  Der  Sud<3bnik  des  Zaren,  nämlich 
Iwan  IV.  des  Schrecklichen,  1550,  vollständiger,  systematischer  gearbeitet,  nach 
Artikeln  eingeteilt.  3.  Das  Hauptdenkmal  ist  das  GB.  des  Zaren  Alcx^i 
MichAilowitsh,  1648,  das  (Sobörnoje)  Ulozhönye.  Seine  hauptsächlich  in  den 
130  Art.  der  Kap.  21  und  22  enthaltenen  Strafsatzungen  sind,  —  ein  Produkt 
der  imruhigen  Zeit  vor  dem  Aufkommen  der  Romanows,  —  von  besonderer 
Strenge  gegen  die  Verletzer  öffentlicher  Ordnung.  „Altertümlich  wie  Moskau, 
patriarchalisch  wie  das  russische  Volk,  Gefahr  drohend  wie  des  Zaren  Grimm" 
—  nennt  Moroshkin  das  Ulozh6nije.  Es  war  bis  1832  geltendes  Recht  und 
ist  grösstenteils  in  den  Swod  (s.  u.)  aufgenommen.  4.  Sonstige  Denkmäler, 
teilweise  Quellen  der  schon  erwähnten,  sind  zahlreiche  Ergänzungsukase ,  das 
Statutenbuch  des  Kriminalgerichts  (Prikäz  für  Räuberprozesse),  die  Gübnaja 
Gramöta  (Instruktion  an  die  Distriktsältesten  und  Geschworenen  über  die  Haupt- 
grundsätze des  Kriminal-Rechts  und  -Prozesses),  das  Stoglaw,  städtische  Gesetze. 
Daneben  ist  das  im  Rechtsbewusstsein  der  Zeit  nur  schwach  durch  das  Gesetz 
paralysierte  Gewohnheitsrecht  zu  beachten. 

III.  Der  Verbrechensbegriff  hebt  sich  allmählich  von  dem  civilen  Unrecht 
ab,  neben  die  Accusatio  tritt  die  Inquisitio.  1.  Entweder  als  gesellschaftliche, 
ausgeübt  durch  die  von  den  Gemeinden  erwählten  Distriktsältesten  und  Ge- 
schworenen, besonders  in  Räuber-,  Diebstahls-  und  Mordprozessen.  Charakte- 
ristisch ist,  dass  als  gefährlich  nicht  die  That,  sondern  der  Thäter  erschien,  — 
erster  praktischer  Versuch,  die  Verbrecher  nach  dem  persönlichen  Zustand  des 
verbrecherischen  Willens    zu    sondeni.      Das  Schicksal    des   notorischen  Böse- 


272     Das  russische  Kaisertum.  —  Geschichtlicher  Überblick  des  rassischen  StR. 


wichts  ist  ein  von  Grund  aus  anderes,  als  das  des  bisher  Unbescholtenen.  Es 
folgt  daraus  die  Beachtung  des  Rückfalls,  dessen  Bestrafung  aber  immer 
milder  wird :  Der  I.  Sudebnik  bestraft  jeden  zweiten  Diebstahl  mit  dem  Tode, 
der  II.  Sud6bnik  nur  ausnahmsweise,  das  Ulozhönye  nur  den  dritten  Diebstahl 
und  zweiten  Raub.  2.  Oder  als  staatliche  da,  wo  es  sich  um  die  Interessen 
der  fürstlichen  und  kaiserlichen  (Tcwalt  handelt  (Embryo  des  finsteren  Inqui- 
sitionsprozesses der  Rasprawa). 

In  der  Beweislehre  sind  die  Ordalien  bis  auf  das  Los  (nach  dem  Ulozhe- 
nije  in  Sachen  unter  1  Rubel  Wert)  verschwunden:  dtis  Eideshelferinstitut  ist 
gleich  der  Leumundsumfrage  in  der  Accusatio  im  Zeugenbeweis  aufgegangen. 
Andere  vorerst  mit  dem  Leumund  im  Inquisitionsprozess.  Im  Ealle  des  guten 
Leumunds  gUt  die  Majorität  gleich  Einstimmigkeit:  Resultat  ist  Freilassung 
unter  Bürgschaft  der  Nachbarn.  Im  Falle  des  bösen  Leumunds  tritt  bei  Ein- 
stimmigkeit volle,  bei  Majorität  nur  Gefängnisstrafe  als  Sicherungsmassregel 
ein.  Das  Zutrauen  zu  diesem  Beweismittel  schwindet  im  Laufe  des  17.  Jahr- 
hunderts, es  wird  allmählich  zum  Aussagen  über  Thatsachen,  zu  Massenzeugen- 
aussagen reduziert.  Dem  bösen  Leumund  folgte  Folterung,  deren  Anwendung 
sich  mit  dem  Schwinden  der  Umfrage  erweiterte. 

IV.  Die  culpa  wird  bald  mit  Vorsatz,  bald  mit  Zufall  zusiimmengeworfen. 
Berauschung  schliesst  den  Vorsatz  aus.  Die  Notwehr  ist  in  weitestem  Umfange 
anerkannt,  jedoch  wird  sofortige  Anzeige  iin  den  dichter  verlangt;  der  Not- 
stand ist  kasuistisch  behandelt.  TVillensäusserung,  Versuch  und  Vollendung 
werden  unterschieden ;  bei  Verbrechen  g€*gen  die  Pei"son  des  Herrschers  werden 
alle  gleich  bestraft  mit  dem  Tode  (wie  noch  heute);  der  Versuch  ist  öfters 
delictum  sui  generis  (Entblössen  des  Schwertes  im  Herrscherhaus  mit  Abhauen 
der  Hand  bestraft).  Die  ,,Gesellschafter"  des  Verbrechens  sind  gleichfalls 
strafbar;  darunter  auch  die  Begünstigung,  worunter  viele  Unterlassungen  fallen, 
bei  politischen  Verbrechen  auch  Nichtanzeige  (so  heute  noch). 

V.  Privater  Charakter  der  Strafe  kommt  nur  vereinzelt  vor  (Beleidigung, 
Vermögensbeschädigung j.  Zweck  der  Strafe  ist  Abschreckung  —  „damit  es 
dem  anderen  nicht  gelüste,  auf  dieselbe  Weise  zu  handeln'*  —  und  Sicherung  der 
Gesellschaft  vor  der  Person  des  Verbrechers.  Neben  den  absolut  bestimmten 
Strafen  stehen  die  absolut  unbestimmten  („wie  es  der  Zar  befehlen  wird"); 
relativ  bestimmte  Strafen  sind  unbekannt. 

Hauptstrafen  sind:  L  Die  Todesstrafe,  etwa  in  60  Art.  des  Ulozh<:»nije,  in 
erschwerten  Formen  als  Verbrennen.  Eingiessen  flüssigen  Metalles  in  den  Hals, 
Erhängen  vor  dem  feindlichen  Heer,  Vergraben;  die  Praxis  kennt  auch  Rädern, 
Vierteilen  u.  a.  Häufig  ist  in  Sonderukasen  die  Todesstrafe  für  ganz  formelle 
Verbrechen  verhängt;  z.  B.  Nichterfüllung  der  Regeln  für  das  Löschen  von 
Bränden.  2.  Körperstrafen,  mit  der  Todesstrafe  zusammen  das  Centrum  des 
Strafensystems,  in  etwa  160  Art.  des  Ulozhenije.  Sie  sind,  wie  die  Namen  der 
Werkzeuge  zeigen,  tatarischen  Ursprungs  und  zerfallen  in  vei'stümmelnde  und 
Schmerz  zufügende.  Die  Prügelwerkzeuge  zu  ,, einfacher'*  oder  „schonungs- 
loser'* Züchtigung  sind  Knute  (gewöhnlich  als  Marktstrafe  bezeichnet)  und  die 
Batogi  (Stöcke,  mit  denen  geschlagen  wird,  „wie  Kürschner  die  Felle  aus- 
klopfen"). Verschiedene  Brandmarkungen  dienen  zu  leichterer  Erkennbarkeit 
der  Rezidivisten.  3.  Als  Freiheitsstrafe  kennt,  neben  dem  Gefängnis  (das 
auch  anderen  Zwecken  dient),  das  Ulozhenye  die  aus  dem  Jahre  1582  datie- 
rende Verschickung  (Verbannung,  ssülka)  in  9  von  der  Praxis  sehr  vermehrten 
Fällen.  Urspiünglich  ist  sie  bald  Ächtung,  bald  ein  Gnadenakt  (bei  Kriegs- 
gefangenen), bald  Sicherheitsmassregel  (gegen  die  ganze  Bevölkerung  einer 
aufständischen  Gegend),  bald  Verwaltungsmassregel  (wenn  in  einer  Ortschaft 
gewisse  Handwerker  u.  a.    nötig  waren).      Bald   nach  dem  Ulozhenije  gewinnt 


§  3.    Die  Petersburger  Periode.    Erste  Hälfte.  273 


durch  zwei  Gruppen  neuer  Gesetze  die  Deportation  die  kulturelle  Bedeutung 
einer  1.  die  Anwendung  der  Todesstrafe  einschränkenden  und  2.  die  Körper- 
verstümmelungen aufhebenden  Massregel.  Die  Übelthäter  werden  nach  Sibi- 
rien verschickt  ins  Gefängnis,  in  die  Städte,  wo  ihnen  Handel  oder  ein  Hand- 
werk, in  den  Staatsdienst,  wo  ihnen  Landbau  oder  ein  Civil-,  Militär-,  Kirchen- 
amt angewiesen  wird.  Überhaupt  war  es  die  Devise  der  Moskauer  Verbannung, 
den  Deportierten  einen  bestimmten  Stand  und  Beschäftigung  je  nach  dem  In- 
dividuum zu  geben.  Unhaltbar  ist  die  Meinung,  die  Verschickung  habe  damals 
kolonisatorische  Zwecke  verfolgt;  wohl  aber  ging  sie  mit  einer  grossartigen 
freien  Kolonisation  Hand  in  Hand.  Eine  besondere  Politik  für  die  Verbannung 
als  Strafe  kannte  man  ebenso  wenig,  alle  Ansiedler  in  Sibirien  wurden  nach 
gleichen  Verwaltungsprinzipien  behandelt.  4,  Die  Vermögenseinziehung  ist 
mehrfach  Nebenstrafe.  Die  Geldpön  kommt  als  Ehrenbusse  und  Entschädigung 
vor  (Eintreibung  durch  Geisselung  auf  dem  Markt  bis  zur  Zahlung),  doch 
auch  als  staatliche  Strafe.  5.  Sonst  werden  erwähnt:  schimpfliche  Abbitte, 
Verlust  einzelner  Rechte,  des  Ranges  usw.,  öffentliche  Kirchenbusse. 

Die  Rauheit  des  Systems  ist  notwendiger  Ausfluss  der  wissenschaftlichen 
Prinziplosigkeit  und  der  sozialen  Wirren.  Auf  Linderung  wirken  zwei  Ideeen 
hin:  das  Bestreben,  den  Bestraften  praktisch  auszunützen  —  und  das  im  Volk 
tief  eingewurzelte  Gnadengefühl  (an  hohen  Festtagen  obligatorische  Begnadi- 
gung derer,  für  die  gebeten  wird).  1654  wurde  die  Todesstrafe  für  den  Ge- 
ständigen, 1655  für  den  Wahnsinnigen  aufgehoben.  1672  wurde  das  Ein- 
giessen  geschmolzenen  Metalles,  1689  das  Vergraben  abgeschafft,  doch  sind 
bis  1740  Fälle  vorgekommen. 

VI.  Der  besondere  Teil  ist  beträchtlich  erweitert.  Die  Einteilung  in 
notorische  Bösewichte  und  bisher  Unbescholtene  übt  ihren  Einfluss  auch  auf 
die  Systematik  —  bei  dem  einen  ist  ein  Civilunrecht,  was  bei  dem  anderen 
Raub  ist.  Hinzugekommen  sind  namentlich  Verbrechen  gegen  den  Staat  und 
die  öffentliche  Ordnung,  und  die  sorgfältig  behandelten  Religionsverbrechen, 
die  wie  noch  heute  das  GB.  eröffnen.  Gotteslästerung  und  gewaltsame  Be- 
kehrung zu  nicht  christlichem  Glauben  werden  mit  Verbrennen,  Störung  der 
Liturgie  mit  einfacher  Todesstrafe,  des  übrigen  Gottesdienstes  mit  schwerer 
Leibesstrafe  belegt.  Unter  den  Tötungen  sind  mannigfache  Qualifizierungen: 
Ascendentenmord  —  Tod  „ohne  jede  Schonung";  Tötung  des  Ehemannes  — 
Vergraben;  Tötung  des  unehelich  geborenen  Kindes  von  selten  der  Mutter 
und  ihrer  Helfer  —  Hinrichtung  ohne  Verschonung,  ^auf  dass  andere  Leute 
solches  sich  merken  und  von  diesem  unrechtlichen,  schamlosen  Verhalten  ab- 
lassen und  der  Hurerei  sich  enthalten".  Erleichtert  ist  die  Tötung  der  Ehefrau; 
Tötung  der  (ehelichen)  Kinder  durch  die  Eltern  wird  mit  Gefängnis  bis  zu 
1  Jahr  und  Kirchenbusse  belegt  (geändert  1716).  Fahrlässige  Tötung  ist  straflos. 
Von  den  Körperverletzungen  werden  nur  die  schwereren  neben  der  Komposi- 
tion mit  öffentlicher  Strafe  belegt.  Bei  der  Beleidigung  kann  man  die  Ansicht 
nicht  los  werden,  dass  die  Ehre  nicht  sowohl  ein  individuelles  persönliches 
Gut,  als  ein  Attribut  der  staatsdienstlichen  Stellung  und  der  ganzen  Familie 
ist.  Die  Vermögensverbrechen  werden  nicht  nach  dem  Wert  der  Sache,  son- 
dern nach  dem  Hang  des  Thäters  zum  Verbr.  eingeteilt.  Die  ganze  Schwere 
staatlicher  Repression  fällt  auf  das  professionelle  Gaunertum. 

§3.  Die  Petersburger  Periode..  Erste  Hftlfte. 

(Bis  zum  Grafen  Speranski,  1826.) 

I.  Dieser  Zeit  ist  eigentümlich  das  Bestreben,  alles  Westeuropäische  sich 
anzueignen,  alles,  was  die  westliche  Civilisation  bieten  konnte  und  was  bisher 
als  etwas  Verbotenes,   den  guten  Sitten  Zuwideres  dem  Russen   unzugänglich 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.   I.  13 


274     ^c^s  rassische  Kaisertum.  —  Geschichtlicher  Überblick  des  russischen  StR. 


war,  aufzunehmen  und  Wurzel  fassen  zu  lassen.  Im  StR.  haben  freilich  die 
historisch  entwickelten  Grundsätze  ihre  Geltung  nicht  verloren;  mehr  die  Form 
als  der  Inhalt  hat  sich  geändert. 

II.  Quellen.  Ausser  zahlreichen  Sonder- Vdgn.  !•  Mil.-Ordnung  Peters  des 
Grossen,  1716,  mit  den  sogenannten  Mii.-Artikeln  von  grösster  Bedeutung  (Be- 
mühung einer  Übersetzung  und  Einführung  des  schwedischen  und  sächsischen 
StR.).  2.  „Kurze  Schilderung  des  Militärprozesses"  (in  Mil.-Odg.  enthalten,  durch- 
aus Wiederholung  des  zur  Zeit  in  Deutschland  geltenden  Inquisitionsprozesses, 
auch  von  den  gemeinen  Gerichten  angewendet).  3.  Katharina  der  Zweiten 
Instruktion  zur  Ausarbeitung  eines  neuen  allgemeinen  GB.,  1767  —  glänzende, 
mit  Talent  und  Gewandtheit  verfasste,  Auseinandersetzung  der  Ideeen  Montes- 
quieus  und  Beccarias;  praktisch  allerdings  ohne  Resultate  geblieben.  4.  Alex- 
anders I.  Feldordnung,  1812,  Gesetz  über  den  Bankerutt,   1800. 

III.  Das  Bedürfnis,  den  in  übergrossen  Massen  separater  Gesetze  ver- 
teilten Stoff  zu  kodifizieren,  veranlasste  mehrfache  Versuche  der  Regierung. 
Es  wurden  schon  von  Peter  dem  Grossen  ein  spezieller  Rat  und  später  zwei  Kom- 
missionen eingesetzt,  desgleichen  von  Peter  II.,  Elisabeth  (die  Kommission  hinter- 
liess  2  Bde.  kompilatorischer  Natur  über  Gericht  und  StR.)  und  Katharina  II. 
(füi*  die  Kommission  war  die  berühmte  Instruktion  bestimmt).  Die  1808  von 
Alexander  I.  eingesetzte  Kommission  verfasste  unter  Vorsitz  des  Grafen  Spe- 
ranski  1813  einen  Entw.  nach  französischem  Muster  und  1818  einen  zweiten 
nach  der  von  Professor  Ludwig  Jakob  in  Charkow  dem  Feuerbaclischen  StGB, 
von  1813  nachgebildeten  Vorlage. 

IV.  In  der  Fassung  des  Verbrechensbegriffes  herrscht  die  formelle  Rich- 
tung noch  vor  (unbedeutende  Übertretungen  werden  mit  übertrieben  harten 
Strafen  belegt)  bis  zur  Instruktion  von  1767,  die  eine  ein  öffentliches  oder 
privates  Gut  verletzende  Handlung  verlangte.  Das  bisher  so  beachtete  sub- 
jektive Moment  wird  abgeschwächt  und  schwindet  mit  dem  Leumundsverfahren. 
Die  Mil.-Odg.  unterscheidet  Fahrlässigkeit  und  Zufall  und  versucht  Arten  des  Vor- 
satzes zu  definieren,  z.  B.  Prämeditation.  Zurechnung:  Wahnsinnige  werden 
sehr  leicht  oder  gamicht  bestraft;  Kinder  sind  von  den  Eltern  mit  Ruten  zu 
strafen.  Betrunkenheit,  in  der  Armee  an  sich  straffällig ,  wirkt  straf  erhöhend 
(zum  Teil  bis  jetzt).  Provokation  ist  Milderungsgrund.  Der  Begriff  der  Not- 
wehr ist  bedeutend  enger  gefasst  (der  Gegner  muss  bewaffhet  sein;  es  muss 
ihm  vergebens  zugeredet  worden  sein  usw.).  Neben  Vollendung  und  Versuch, 
der  in  beendeten  und  nicht  beendeten  geteilt  wird,  steht  Vorbereitung  und 
blosse  Vorsatzäusserung.  Bei  Wiederholung  ist  die  Straferhöhung  nicht  mehr 
so  unverhältnismässig:  eret  den  vierten  Diebstahl  straft  die  Mil.-Odg,  mit 
dem  Tode. 

V.  Neue  Strafarten  sind  von  Westen  herübergetragen:  Zwangsarbeit, 
Galeeren  (Peter  I.);  Arbeits-  und  Zuchthäuser  (Katharina  U.);  Einrekrutierung. 
neue  Leibesstrafen  (Spitzruten,  Peitsche,  Katze),  Ehrenstrafen.  Die  Strafen 
werden  härter;  Todesstrafe  kennt  man  in  110  Fällen.  Dennoch  sind  sie  ver- 
hältnismässig gelinder  als  im  Westen,  was  neben  dem  Prinzip  der  Gnade  seine 
Erklärung  darin  findet,  dass  schon  frühe  das  Bestreben,  aus  dem  Verbrecher 
Nutzen  zu  ziehen,  Einfiuss  geübt  hat.  Daher  die  interessante  Erscheinung  der 
Abmessung  der  Strafgrösse  nach  den  Kräften  des  Verurteilten.  Das  führte 
dazu,  dass  zur  Erfüllung  einer  und  derselben  Pflicht  verschiedene  Kategorieen 
von  Verbrechern  verm'teilt  und  sogar  mit  NichtVerbrechern  zur  gleichen  Arbeit 
verwendet  wurden.  Von  hier  war  nur  noch  ein  Schritt  zur  Besserungsidee 
(Anpassung  des  Verbrechers  an  das  Gemeinwesen),  der  von  Katharina  II. 
theoretisch  in  der  Instruktion  von  1767,  praktisch  in  den  Arbeits-,  Zucht-  und 
KoiTcktionshäuseni    gemacht   wurde    (1775    für  Vagabunden   und  Übelbcrüch- 


§  3.    Die  Petersburger  Periode.    Erste  Hälfte.  275 


tigte;    1783  für  Diebe,    Räuber,    Betrüger;  1787  Entw.  einer  allgemeinen  Ge- 
fängnisordnung). 

Daneben  wirkte  weiter  die  Idee  der  Gnade,  besonders  ausgeprägt  in 
den  Erlassen  Elisabeth  II.  von  1753,  1754  über  Aufhebung  der  Todesstrafe. 
Nachdem  schon  1742  für  unter  17  Jahre  Alte  die  Todesstrafe  abgeschafft  war, 
wurden  1744  und  1753  die  Gerichte  angewiesen,  nie  vor  kaiserlicher  Bestätigung 
ein  Todesurteil  zu  vollziehen.  Seitdem  blieb  faktisch  die  Todesstrafe  ohne 
Anwendung;  die  Gefängnisse  waren  mit  zum  Tode  veinirteilten,  die  Entscheidung 
ihres  Schicksals  von  der  Kaiserin  erwartenden  Verbrechern  überfüllt*  Auf 
eine  Anfrage  des  Senates,  was  mit  ihnen  zu  geschehen  habe,  erging  der  UkAz 
von  1754.  Danach  sollen  die  Diebe  zu  schwerer  Arbeit  verschickt  werden; 
statt  der  Todesstrafe  sollen  sie  mit  Knuten  grausam  bestraft,  ihnen  die  Nasen- 
flügel ausgerissen  und  sie  mit  dem  Worte  ,,Dieb"  gestempelt  werden.  Da  ein 
verheissener  späterer  Ukas  nicht  erschien,  so  war  damit  die  Todesstrafe  de 
jure  völlig  abgeschafft  (de  facto  freilich  während  der  Geltung  der  „grausamen 
Knutenstrafe"  nicht).  Sie  wurde  wieder  eingeführt  durch  die  Gesetze  über 
Organisation  der  Sondergerichte  für  Staatsverbrechen,  durch  die  Feldordnmig 
von  1812,  für  Militär -Verbrechen ,  durch  die  Quarantäne-Ordnung,  1832,  für 
Quarantäne -Verbrechen.  Von  Leibesstrafen  wurden  1771  die  Batögi,  1800 
und  1817  die  grausame  Knutenstrafe  und  das  Ausreissen  der  Nasenflügel 
abgeschafft.  1785  wurden  Adlige,  Ehrenbürger,  Kaufleute  der  1.  und 
2.  Gilde,  1798  Siebzigjährige  und  Geistliche  und  deren  Familien  von  der 
Knutenstrafe  befreit,  an  deren  gänzliche  Abschaff*ung  man  1813  dachte, 
die  man  aber  doch  beibehielt,  weil  man  fürchtete,  dass  im  Volke  dadurch 
die  Überzeugung  von  der  Straflosigkeit  der  Verbrechen  hervorgerufen  werden 
würde. 

Auf  rationelle  Organisation  der  Gefängnisse  wirkten  Howard  und  seine 
Anhänger,  die  Gebrüder  Winnig,  ein,  auf  deren  Initiative  auch  die  Gründung 
der  Gesellschaft  für  das  Gefängnispatronat  (allerdings  erst  in  der  zweiten 
Hälfte  dieser  Periode)  zurückzuführen  ist. 

VI.  Unter  den  mit  dem  Tode  bestraften  politischen  Verbrechen  steht 
auch  jede  ungeeignete  Kritisierung  der  Thätigkeit  und  der  Pläne  des  Zaren. 
Zum  erstenmale  werden  harte  Strafen  gegen  falsche  Anschuldigung  angedroht. 
Dem  deutschen  Recht  entlehnt  ist  die  Bestrafung  des  Selbstmordes  und  des 
Zweikampfes,  ebenso  seit  der  Mil.-Odg.  die  Unterscheidung  des  grossen  und 
kleinen  Diebstahls  (Grenze  20  Rubel). 

VII.  Der  Inquisitionsprozess  hat  seine  volle  Entwickelung  genommen; 
legale  Beweistheorie  und  absolutio  ab  instantia  sind  eingeführt.  Mündlichkeit 
und  Verteidigung  im  StP.  sind  kategorisch  verboten.  Nur  voller  Beweis  genügt 
zur  Verurteilung,  während  partieller  (d.  h.  Indizien-)  Beweis  einen  Verdacht  be- 
gründet, von  dem  man  in  kleineren  Sachen  sich  durch  Reinigungseid  befreien 
kann.  In  wichtigen  Sachen  bietet  der  Verdacht  Anlass  zur  Folterung.  Erst 
in  der  Instruktion  von  1767  wird  erklärt,  dass  mehrere  Indizien  zui*  vollen 
Überzeugung  führen  können;  zugleich  wird  ein  energischer  Protest  gegen  die 
Folter  ausgesprochen.  In  den  heimlichen  Ukasen  1774  und  1781  wird  dieser 
Protest  wiederholt  und  den  Gouverneuren  bekannt  gemacht,  dass  die  Folter 
nicht  mehr  angewendet  werden  darf.  Dessen  ungeachtet  setzte  die  Praxis 
ihren  Gebrauch  fort,  und  erst  durch  Ukäz  Alexander  I.  von  1801  wurde  die 
Folter  ganz  beseitigt,  indem  der  Richter  höherer  Instanz  angewiesen  wurde, 
den  Angeschuldigten  in  der  Revision  zu  befragen,  ob  er  bei  der  Vernehmung 
zu  bestimmten  Antworten  genötigt  worden  sei. 


18 


276     ^&s  russische  Kaisertnm.  —  Geschichtlicher  Überblick  des  russischen  StR. 


§  4.  Die  Petersburger  Periode.    Zweite  HSlfte. 

Die  Entwickelung  des  StR.  in  der  neuesten  Zeit  ist  mit  dem  Namen  der 
Urheber  zweier  aufeinander  folgender  StGB,  des  19.  Jahrhunderts  eng  ver- 
bunden; dem  des  Grafen  Speranski  —  Schöpfen  des  Swod  Zakönow  (1.  Aus- 
gabe 1832)  und  dem  des  Grafen  Bludow  —  Verfassers  des  GB.  über  Strafen 
(Ulozh^nye  o  nakazto\jach,  I.Ausgabe  1845).  In  letzter  Zeit  waren  von  Ein- 
fluss  für  die  StG.  die  Redaktionskommissionen  der  Gerichtsordnungen  des 
Jahres  1864  und  des  GB.  über  Vergehen  und  Strafen,  die  von  den  Friedens- 
richtern verhängt  wurden;  und  die  Kommission,  die  mit  der  Ausarbeitung  des 
Entw.  eines  neuen  StGB,  zur  Zeit  beschäftigt  ist. 

I.  Der  Graf  Speranski  hat  sich  einen  weiten  Ruhm  als  Gesetzgeber  und 
Verwaltungsbeamter  erworben.  Seine  administrative  Thätigkeit  war  haupt- 
sächlich Sibirien  gewidmet  und  hatte  die  Regelung  der  Deportation  nach  Si- 
birien zum  Gegenstand;  seine  gesetzgeberische  Thätigkeit  datiert  v.  1808 
(s.  o.).  Speranski  schwärmte  damals  für  den  Rationalismus  tmd  stand  ganz 
im  Banne  der  französischen  Vorbilder.  Dies  machte  ihn  auch  verdächtig,  und 
er  verlor  das  Vertrauen  Alexanders  I.  So  endete  die  erste  Periode  seiner 
gesetzgeberischen  Thätigkeit.  Den  Übergang  zu  der  zweiten  bildete  1822  die 
Ausarbeitung  eines  Statuts  für  die  Deportation  und  die  „Etappen"  (Ordnung 
für  die  Beförderung  der  zur  Verbannung  nach  Sibirien  verurteilten  Verbrecher). 
Dabei  konnte  Speranski  die  Kenntnis  der  Verhältnisse  benutzen,  die  er  in 
Sibirien  an  Ort  und  Stelle  gesammelt  hatte.  Als  er  wieder  mit  der  Aufgabe 
betraut  wurde,  ein  allgemeines  System  des  öffentlichen  wie  des  Privatrechts 
zu  entwerfen,  ging  er  mit  völlig  anderen  Anschauungen  an  die  Arbeit.  Der 
Gedanke,  etwas  Neues  zu  schaffen,  wurde  ganz  verlassen.  Statt  dessen  be- 
schloss  er,  nur  das,  was  zur  Zeit  in  Geltung  war,  in  einem  System  darzulegen, 
—  eine  kolossale  Arbeit,  da  es  nötig  war,  mehr  als  30000  verschiedene  Ukase 
durchzusehen.  Zu  diesem  Zwecke  wurden  von  Speranski  zwei  Arbeiten  unter- 
nommen: eine  „vollständige  Sammlung  der  Gesetze"  (Pölnoje  SobrAnye  Zakönow), 
die  seit  dem  Jahre  1649  erlassen  worden  waren,  und  der  Swod  Zakönow 
(=  Sammlung  der  geltenden  Gesetze).  Die  erstere  enthält  in  chronologischer 
Ordnung,  von  dem  GB.  des  Zaren  Alex6i  MichAilowitsh,  1648,  an,  Verordnungen 
und  Befehle  der  Kaiser,  und  wird  bis  jetzt  fortgesetzt;  es  sind  bereits  150 
Bände  in  4®  erschienen.  Diese  Ausgabe  wurde  bei  der  Ausarbeitung  des  Swod 
Zakönow  zu  Grunde  gelegt;  dieser  bildet  einen  Auszug  aus  den  nicht  ab- 
geänderten und  zur  Zeit  gültigen  Verordnungen  von  aligemeiner  Bedeutung. 
Die  erste  Ausgabe  des  Swod  erschien  1832  in  15  Bänden,  deren  letzten  die 
Strafgesetze  bilden,  als  Schutznormen,  welche  die  ganze  Rechtsordnung  zu 
schützen  berufen  sind. 

Der  15.  Bd.  des  Swod  beginnt  mit  dem  allgemeinen  Teil  des  StR.; 
dann  folgen,  in  besonderen  Kapiteln,  die  Bestimmungen  über  einzelne  Verbr. 
und  Verg.,  im  Anfange  die  Verbr.  gegen  die  Verwaltung  und  den  Staat,  und 
am  Schlüsse  die  gegen  das  Vermögen.  Den  zweiten  Teil  des  StG.  bildet  die 
StPO.  Der  Swod  ist  bis  jetzt  die  Grundlage  des  geltenden  Rechts.  Diese 
kolossale  Arbeit,  die  systematische  Zusammenfassung  eines  ungeheuer  grossen 
Materials,  das  bisher  kaum  jemandem  bekannt  und  fast  ganz  unzugänglich 
war,  wurde  von  Speranski  meisterhaft  durchgeführt.  Der  ersten  Ausgabe  des 
Swod  Zakönow  folgte  die  zweite,  ergänzt  und  verhältnismässig  umgeändert 
1842,  die  dritte  1857,  die  vierte  1876,  und  endlich  die  fünfte  (die  letzten  zwei 
Ausgaben  umfassen  nur  einige  Bände  des  Swod)  1886.  Diese  letzte  ist  jetzt 
g(»ltondes  Recht.    Die  Verordnungen  und  Gesetze,  die  in  dem  Zeitraum  zwisclien 


§  4.    Die  Petersburger  Periode.    Zweite  Hälfte.  277 


je  zwei  Ausgaben  erlassen  werden,  werden  gewöhnlich  in  „Ergänzungen  zum 
Swod  Zakönow'^  zusammengefasst  und  herausgegeben. 

II.  Als  eine  Im  wesentlichen  geschichtliche  Sammlung  ist  der  Swod  Za- 
könow  nicht  frei  von  schwerwiegenden  Fehlem,  die  auch  in  seinem  strafrecht- 
lichen Teil  nur  zu  sehr  bemerkbar  sind.  Die  Quelle,  aus  welcher  der  Vei^ 
fasser  schöpfte,  führte  unvermeidlich  zu  einer  kasuistischen  Redaktion  und 
damit  zur  Unvollständigkeit.  Das  Streben,  alle  nicht  ausdrücklich  beseitigten 
Bestimmungen  auft'echt  zu  erhalten,  machte  eine  leitende  Idee  unmöglich;  die 
Anschauungen  verschiedener  Epochen  stehen  als  gleichberechtigt  neben  ein- 
ander. Als  Beispiel  mag  das  Strafensystem  des  Swod  dienen.  Dieses  enthielt: 
!•  Die  Todesstrafe,  die  in  den  drei  oben  erwähnten  Fällen  verhängt  wird, 
also  eine  ausserordentliche  Strafe  bildet.  2.  Leibesstrafen,  die  mit  Knute, 
Peitsche,  Spitzruten,  Ruten  oder  Gerten,  Stricken  usw.  vollzogen  wurde;  als 
leichtere  Form  Einsperrung  bei  Wasser  und  Brot;  bei  den  schwersten  Strafen 
trat  Brandmarkung  hinzu.  3.  Zwangsarbeit,  wobei  zwischen  harter  Arbeit 
(KAtorga)  in  den  Festungen,  Häfen,  Staatsanstalten  und  Fabriken,  in  den 
sogenannten  Arrestantenabteilungen,  in  den  Korrektions-  und  Arbeitshäusern, 
Arbeiten  bei  Privatpersonen,  Stadtarbeiten  usw.  unterschieden  wurde.  Der 
Dauer  nach  unterschied  man  lebenslängliche  und  zeitliche  Zwangsarbeit. 
4.  Die  Deportation,  die  a)  in  der  Verbannung  nach  Sibirien  mit  harter  Zwangs- 
arbeit (Kätorga);  b)  in  der  Zwangsansiedelung  in  Sibirien  mit  oder  ohne  Verbot 
des  Fortzuges,  auf  Lebensdauer  oder  zeitlich;  c)  in  der  Verbannung  zum  Auf- 
enthalt in  bestimmten  entfernten  Städten,  Dörfern  oder  anderen  Ortschaften 
bestand.  Hierher  gehört  auch  die  Ausweisung  aus  dem  Reiche  und  die  Aus- 
weisung aus  den  Hauptstädten  (Moskau  und  St.  Petersburg).  Alle  Arten  der 
Verbannung  waren  lebenslängliche  Strafen.  5.  Einstellung  in  das  Heer,  ent- 
weder ohne  Anspruch  auf  Beförderung  (statt  der  Zwangsansiedelung  in  Sibi- 
rien), oder  mit  diesem  Ansprüche.  6.  Freiheitsstrafen,  die,  verhältnismässig 
selten  verhängt,  in  Gefängnisstrafe,  Arrest  oder  Stellung  unter  eine  besondere 
Wärter-  oder  Polizeiaufsicht  bestanden;  diese  Strafen  waren  von  kurzer  Dauer. 
7.  Einziehung  und  Geldstrafen.  8.  Kirchliche  Bussen  und  endlich  9,  Diszipli- 
narstrafen ftlr  die  im  Amte  begangenen  Vergehen.  Die  schwersten  Arten  der 
Strafen  werden  immer  mit  lebenslänglicher  Entziehung  der  Rechte,  nämlich 
des  Standesrechtes,  der  öflPentlichen  und  bei  lebenslänglichen  Strafen  sogar 
aller  bürgerlichen,  Vermögens-  und  Familienrechte  verbunden. 

Es  ist  also  hier  von  einem  einheitlichen  Strafensystem  keine  Rede;  der 
Swod  ist  im  Gegenteil  bestrebt,  jede  einzelne  Strafart  in  ein  ganzes  System 
zu  verwandeln,  und  sie  in  mehrere  leichtere  und  härtere  Stufen  gemäss  ihrer 
Ausbildung  in  der  betreffenden  geschichtlichen  Periode  einzuteilen.  Dieselbe 
Buntheit  ist  bezüglich  der  Form  der  Strafdrohungen  zu  bemerken.  Neben 
einer  absolut  unbestimmten  findet  man  auch  absolut  und  relativ  bestimmte 
Strafdrohungen  wiederum  je  nach  der  Zeit,  der  das  betreffende  Gesetz  an- 
gehört. Die  Schwere  der  zu  verhängenden  Strafe  stimmt  sehr  oft  nicht  mit 
der  Grösse  der  Schuld  überein.  Die  prozessualen  Bestimmungen  des  Swod 
stellen  den  Inquisitionsprozess  dar,  wie  ihn  die  Gesetze  Peters  des  Grossen 
normiert  hatten;  selbstverständlich  sind  die  Gesetze  Katharina  II.  und  Alex- 
anders I.  berücksichtigt. 

III.  Diese  Fehler  des  Swod  Zakönow  bestimmten  die  Regierung,  die 
(Grundlagen  des  gesamten  StR.  einer  Revision  zu  unterziehen.  Diese  Aufgabe 
wurde  vom  Kaiser  Nikolaus  I.  dem  damaligen  Chef  der  II.  Abteilung  der 
kaiserlichen  Kanzlei  (jetzt  Kodiflkationsabteilung  des  Staatsrates),  Grafen 
Bludow  übertragen.  Die  Reform  des  Strafverfahrens  wurde  bis  in  das  Jahr 
1864    verschoben   und   schon   von    anderen    Personen    vollzogen.     Wirksamer 


278     ^As  rassische  Kaisertum.  —  Geschichtlicher  U^berblick  des  mssischen  StR. 


waren  die  Arbeiten  an  der  Reform  des  materiellen  StR.,  die  1845  znr  Aus- 
gabe eines  neuen  StGB,  führten,  das  den  Titel  eines  „GB.  (Ulozhenjje)  über 
Kapital-  und  Korrektionsstrafen "  trägt.  Schon  nach  diesem  Titel  sollte  es^ 
keine  einfache  kodifizierte  Sammlung  der  aufrecht  erhaltenen  Gesetze  sein, 
sondern  eine  rationell  unternommene  Revision  des  positiven  StR.  auf  Grund 
wissenschaftlicher  Behandlung.  In  der  That  war  man  bei  der  Ausarbeitung 
bestrebt,  das  einheimische  gesetzliche  Material  in  Verbindung  mit  der  west- 
europäischen gesetzgeberischen  Praxis  kritisch  zu  behandeln,  was  das  (tB.  v. 
1845  günstig  von  dem  Swod  des  J.  1832  unterscheidet.  Die  Bestimmungen 
des  allgemeinen  Teils  sind  vollständiger;  das  Strafensystem  nicht  so  bunt 
zusammengewürfelt,  und  auf  das  Verhältnis  zwischen  Strafe  und  Schuld,  wie 
auf  eine  richtigere  Abstufung  der  Strafen,  wurde  möglichst  Rücksicht  ge- 
nommen. In  das  russische  Recht  sind  durch  das  GB.  mehrere  Grundsätze 
der  westeuropäischen  Jurisprudenz  hineingetragen  worden.  Vergebens  wäre 
es  jedoch,  in  ihm  ein  einheitliches,  das  ganze  Werk  durchdringendes  Prinzip, 
eine  grundlegende  und  einheitliche  Idee  zu  suchen.  Das  GB.  entspricht  bei 
weitem  nicht  den  grossen  Erwartungen  seines  Schöpfers,  da  es  in  Wirklich- 
keit nur  eine  mechanische  Verbindung  des  zur  Zeit  geltenden  einheimischen 
Rechts,  eines  Produktes  verschiedener  Geschichtsperioden,  mit  einigen  neueren 
Grundsätzen  bildet.  Die  Verfasser  waren  von  einem  allzu  berechtigten  Miss- 
trauen gegenüber  den  Gerichten,  die  in  einem  wirklich  traurigen  Zustande 
sich  befanden,  beseelt  und  daher  bestrebt,  die  richterliche  Thätigkeit  bei  Be- 
urteilung der  einzelnen  Verbr.  möglichst  eingehend  zu  reglementieren.  So 
wurde  das  StR.  in  einem  StGB,  normiert,  das  aussergewöhnlieh  umfangreich  ^) 
war  und  das  kein  harmonisches  Ganze,  sondern  ein  künstliches  Agglomerat 
von  Grundsätzen  und  Ideeen  verschiedener  Epochen  und  sogar  verschie- 
dener Völker  darstellte,  ein  Agglomerat,  wie  es  nur  eine  büreaukratisch 
geordnete  Kanzlei  ohne  wissenschaftliche  Kenntnisse  und  Überzeugungen 
schaffen  konnte. 

In  der  3.  Ausgabe  des  Swod  Zakönow  v.  1857  wurde  das  GB.  v.  1845 
als  der  1.  Teil  des  15.  Bds.  diesem  einverleibt,  der  2.  Teil,  die  StPO.,  i^-urde 
fast  ohne  Änderungen  herausgegeben.  Später  als^  die  reformierte  Prozess- 
gesetzgebung in  den  Gerichtsordnungen  v.  J.  1864  ihren  Ausdruck  gefunden 
hatte,  erachtete  man  ein  kurz  gefasstes,  auch  für  nicht  juristisch  gebildete 
Richter  verständliches  und  anwendbares  StGB,  für  notwendig,  das  nur  jene 
Bestimmungen  über  Verg.  und  Übertretungen  umfassen  sollte,  die  zur  Jurisdiktion 
der  Friedensrichter  (diese  werden  von  den  autonomen  Landes-  und  Stadtverwal- 
tungen gewählt  und  brauchen  nicht  Juristen  zu  sein)  gehören.  Mit  der  Kund- 
machung dieses  „GB.  über  Strafen,  die  von  den  Friedensrichtern  zu  verhängen 
sind",  entstand  die  Notwendigkeit,  das  allgemeine  StGB,  zu  revidieren,  um 
aus  ihm  alle  diejenigen  Bestimmungen  auszuscheiden,  die  in  das  GB.  für 
Friedensrichter  aufgenommen  waren,  was  auch  1866  geschehen  ist.  Dabei 
wurden  die  Gesetze  v.  J.  1863  (über  die  Abschaffung  der  Leibesstrafen  und 
Ilrrichtung  von  Zwangserziehungsanstalten  für  jugendliche  Verbrecher)  berück- 
sichtigt. Mehrere  spätere  Gesetze  haben  vieles  in  dem  StGB,  geändert  und 
diese  Ergänzungen  und  Abänderungen  wurden  in  die  „Ergänzungen  zum  Swod 
Zakönow"  aufgenommen.  Die  letzte,  jetzt  gültige  Ausgabe  des  StGB,  ist  die 
T.  J.  1885. 


»)  Im  Swod  (Ausgabe  1842)  sind  dem  StR.  SKI  Art.  gewidmet;  das  GB.  v.  184o 
enthielt  2224  Art.,  1857  wurde  die  Zahl  auf  2304  erhöht.  Eine  talentvolle  kritische 
Beleuchtung  des  StGB,  von  1845  giebt  Prof.  Tagantsew  in  seinem  Aufsatze:  Das 
Ulozhenije  über  die  Strafen,  Charakteristik  und  Beurteilung. 


§  4.    Die  Petersburger  Periode.    Zweite  HÄlfte.  279 


Von  den  nach  1866  erlassenen  Gesetzen  sind,  als  die  wichtigsten,  folgende  zu 
beachten:  1871  G.  über  die  Bestrafung  des  Mordes;  1874  G.  über  Aufruhr  und  ge- 
heime verbotene  Verbindungen;  1876  über  die  Einführung  des  allgemeinen  StGBs.  in 
Polen;  1881  Abschaffung  der  Öffentlichkeit  der  Hinrichtung;  1882  über  den  Verkehr 
mit  Sprengstoffen ;  in  demselben  Jahre  über  einige  qualifizierte  Formen  des  Diebstahls ; 
1883,  1884  und  1889  Gesetze  über  das  Vergehen  der  Sektierer  („Raskolniki"),  welche 
die  frühere  Gesetzgebung  wesentlich  mildern;  das  G.  vom  J.  1884,  das  die  Reklusions- 
und  Arbeitshäuser  durch  die  Gefängnisstrafe  ersetzt;  1885  die  gänzliche  Abschaffung 
einiger  körperlicher  Strafen  auch  für  die  nichtprivilegierten  Klassen  der  Bevölkerung; 
1885  G.  über  Regelung  der  harten  Zwangsarbeit  (KAtorga);  1886  G.  über  die  Verhält- 
nisse zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitern  in  den  Fabriken  und  über  landwirtschaft- 
liche Arbeiter;  allgemeines  Statut  der  russischen  Eisenbahnen;  18S8  Forstschutz-G. ;  1889 
•G.  über  die  Reform  der  Gerichtsverfassung  und  Prozessordnung  in  den  Ostseepro- 
vinzen; 1890  Eisenbahndienstordnung  und  G.  über  die  Arbeit  der  Minderjährigen  in 
den  Fabriken;  1891  über  Margarinhandel;  1892  über  Verjähning  des  Rückfalls  und 
Bestrafung  zusammentreffender  Verbrechen;  G.  über  Bestrafung  der  Spionage  in 
Friedenszeiten  und  endlich  G.  vom  18.  Juni  1892  über  die  Bestrafung  wucherischer 
Rechtsgeschäfte  beim  Getreidehandel. 

IV.  Wie  schon  erwähnt,  war  Grafen  Bludow  auch  die  Aufgabe  zu  Teil 
geworden,  den  Entw.  einer  StPO.  auszuarbeiten.  Nach  dem  Erlasse  des  StGB, 
wurde  zu  diesem  Zwecke  eine  besondere  Kommission  unter  seinem  Vorsitze 
eingesetzt,  deren  Arbeiten  sich  längere  Zeit  hinzogen.  Inzwischen  waren  seit 
der  Thronbesteigung  des  Kaisers  Alexander  II.  so  wichtige  Veränderungen  in 
dem  sozialen  und  rechtlichen  Leben  der  Nation  eingetreten  —  so  die  Be- 
freiung der  Leibeigenen  (1861),  die  Abschaffung  der  Leibesstrafen  (1863),  die 
Reform  der  Landesverwaltung  (Zemstwo)  — ,  dass  der  von  der  Kommission  teil- 
weise ausgearbeitete  und  an  den  Staatsrat  gebrachte  Entwurf  den  neu  ge- 
schaffenen Verhältnissen  nicht  mehr  entsprechen  konnte.  Diese  erheischten 
einen  radikalen  Bruch  mit  dem  veralteten  Inquisitionsprozesse.  Die  Regierung 
zögerte  auch  nicht,  einen  neuen  Weg  zu  betreten;  1862  wurden  die  Grund- 
sätze der  bevorstehenden  grossen  Justizreform  Allerhöchst  bestätigt,  und  am 
20.  November  1864  erhielt  Russland  neue  Prozessordnungen,  die  aus  vier  be- 
sonderen Teilen  bestehen:  1.  Gerichtsverfassung;  2.  Civilprozessordnung  und 
Notariatsordnung;  3.  StPO.  und  4.  das  erwähnte  GB.  für  Friedensrichter.  Diese 
Reform  ist  auf  das  Zutrauen  zu  dem  Volke  aufgebaut  und  ruft  in  den  Frie- 
densrichtern und  Schwurgerichten  das  altrussische  Prinzip  der  Richterwahl 
und  der  Gewissensgerichte  wieder  ins  Leben.  Die  Gerichtsverfassung  hat  die 
Grundsätze  der  Trennung  der  richterlichen  von  der  administrativen  und  gesetz- 
geberischen Gewalt  und  der  richterlichen  Unabsetzbarkeit  aufgenommen,  die 
Teilnahme  des  Volkselenients  in  Form  der  Geschworenen  eingeführt,  die  Zahl 
der  Instanzen,  die  zu  unendlichen  Verschleppungen  führte,  beschränkt.  Schrift- 
lichkeit und  Heimlichkeit  sind  durch  Mündlichkeit  und  Öffentlichkeit,  die  ge- 
setzliche Beweistheorie  ist  durch  die  freie  Beweis  Würdigung  ersetzt;  statt  der 
Revision  von  Amtswegen  ist  das  Prinzip  der  Parteidisposition  bei  Anfechtung 
der  Urteile  aufgenommen,  endlich  ist  ein  Kassationsgericht  (innerhalb  des  dirigie- 
renden Senats)  geschaffen  und  die  absolutio  ab  instantia  völlig  beseitigt. 

Die  Urheber  der  Reform  berücksichtigten  zwar  besonders  das  englische 
und  französische  Recht;  aber  sie  verstanden  es,  sich  die  Selbständigkeit  des 
Urteils  zu  wahren,  sodass  die  von  ihnen  ausgearbeiteten  Gesetze  ein  durch- 
aus nationales  Werk  bilden,  nicht  nur  eine  einfache  Nachahmung  der  aus- 
ländischen Beispiele.  Mit  lebhafter  Beft'iedigung  begrüsste  die  öffentliche 
Meinung  die  Reform,  die  von  dem  Vertrauen  in  den  geschichtlich  entwickelten 
Rechtssinn  des  russischen  Volkes  beseelt  war.  Aber  die  Reform-  und  Be- 
freiungsideeen  der  sechziger  Jahre  riefen  unvermeidlich  Ausschreitungen  her- 
vor; und  die  Regierung  sah  sich  genötigt,  ihnen  physische  Gewalt  entgegen- 
zusetzen.   Damit  beginnt  die  Reaktion  gegen  die  grossen  Prinzipien  der  Justiz- 


280     I^^tö  russische  Kaisertum.  —  Geschichtlicher  Überblick  des  russischen  StK. 


reform:  allmählich  wird  die  Zuständigkeit  der  Schwurgerichte  geschmälert, 
die  Zahl  der  Sondergerichte  für  politische  Sachen  vermehrt;  immer  schärfer 
wird  der  Kampf  gegen  die  Richterwahl  durch  die  Landes-  und  Stadtverwal- 
tungen, sowie  gegen  die  gewählten  Friedensrichter.  Demgemäss  wird  auch 
die  Bekämpfung  der  reaktionären  Richtung  seitens  der  Oppositionspartei  schärfer: 
sie  geht  in  direkte  verbrecherische  AngriflFe  über  und  endigt  mit  dem  un- 
geheueren Verbrechen  vom  1.  März  1881.  Damit  gewinnt  die  Reaktion  neue 
Kraft;  sie  mündet  aus  in  das  Gesetz  von  1889,  welches  die  gewählten  Friedens- 
richter beseitigt,  die  richterliche  Gewalt  mit  der  administrativen  vermengt, 
die  erstere  sogar  der  zweiten  unterwirft;  die  Unabsetzbarkeit  der  Richter  war 
schon  früher,  im  J.  1885,  erschüttert  worden. 

Trotzdem  haben  die  Gerichts-  und  Prozessordnungen  vom  20.  November 
1864  bleibende  Bedeutung  für  das  inissische  Rechtsleben ;  sie  haben  das  Rechts- 
bewusstsein  gehoben  und  dem  Volke  die  Möglichkeit  gegeben,  einen  Blick  in 
die  Epoche  des  Rechtsstaates  zu  werfen.  Unter  ihrem  Einflüsse  füllten  sich 
die  Auditorien  der  juridischen  Fakultäten,  erschienen  juristische  Zeitschriften; 
juristische  Vereine,  die  früher  Russland  ganz  unbekannt  waren,  werden  ins 
Leben  gerufen,  und  die  Idee  der  Gesetzlichkeit,  die  früher  der  öffentlichen 
Meinung  fremd  war,  fasst  tiefe  Wurzeln  in  dem  öffentlichen  Bewusstsein.  Unter 
dem  Einflüsse  der  allgemeinen  Justizreform  wird  auch  die  Reform  des  Pro- 
zesses für  Heer  und  Flotte  durchgeführt. 

V.  Indessen  machte  sich  gleich  nach  Erlass  der  reformierten  PO.,  noch 
zur  Zeit  Alexander  II.,  das  Bedürfnis  einer  Revision  des  StGB,  ffthlbar,  vor 
allem  des  Strafen  Systems.  Die  Leibesstrafen  wurden  abgeschafil;  femer  musste 
die  Deportation  nach  Sibirien  umgestaltet  werden,  da  es  sich  herausstellte, 
dass  die  Staatsfabriken  und  anderen  Anstalten,  wo  die  schweren  Verbrecher 
beschäftigt  wurden,  mit  grossen  Kosten  für  den  Fiskus  verbunden  waren,  und 
die  Zwangsarbeit  selbst  sich  nicht  rentierte.  Es  musste  also  zu  ihrer  allmäh- 
lichen Abschaffung  geschritten  werden:  die  Praxis  zeigte  die  ungeheuren 
Schwierigkeiten,  mit  denen  zweckmässige  Verwaltung  und  Aufsicht  über  die 
Bevölkerung  der  Deportierten  verbunden  sind.  Die  Zahl  der  Deportierten  war 
immer  grösser  geworden.  *)     Alles  dieses  führte  unvermeidlich  zu  dem  Ergeb- 


*)  Nach  Anutshin  (Über  den  Prozentsatz  der  nach  Sibirien  Verbannten,  St.  Peters- 
burg 1873)  sind  seit  1827  bis  1847,  also  binnen  20  Jahren,  159  755  Personen  de- 
portiert worden,  im  Jahre  also  im  Durchschnitte  7000.  Die  von  Speranski  geschaffene 
Organisation  der  Deportation  war  nur  auf  eine  Zahl  von  2500  berechnet.  Unter  der 
angeführten  Zahl  159755  waren  79846  gerichtlich  Verurteilte  und  79909  auf  administra- 
tivem Wege  Verschickte.  Nach  den  amtlichen  Angaben  des  Ministeriums  des  Innern, 
die  aber  einer  wissenschaftlichen  Kritik  noch  nicht  unterworfen  worden  sind  (vgl. 
Tagantsew,  Vorlesungen  IV,  S.  1296),  drückt  sich  die  Zahl  der  Deportierten  aller  Art 
in  folgenden  Zahlen  aus: 


Allgemeine 

Darchschuitt 

Allgemeine 
Zahl. 

Durchschnitt 

In  den  Jahren : 

Zahl. 

ffir  1  Jahr. 

In  den  Jahren: 

fftr  1  Jahr. 

1807     1813 

14245 

2035 

1849—1853 

37820 

5566 

1814—1818 

12371 

2476 

1854—1858 

37307 

7461 

1819     1828 

22848 

4570 

1859     1863 

42094 

8419 

1824—1828 

35219 

11044 

1864—1868 

60589 

12118 

1829     18;^3 

36703 

7341 

1869     1873 

73448 

14690 

1834—1888 

41154 

8231 

1874     1878 

91921 

18384 

1839-1843 

38349 

7670 

1879     1883 

86156 

17231 

1844—1848 

31285 

6257 

1884—1886 

51299 

17256 

18C 

)7     1886 

722299          9028 

In  der  letzten  Periode  (1884—1886)  auf  je  100  nach  Sibirien  Verbannte :  gericht 
lieh  Verurteilte  32,20,  im  administrativen  Wege  Verbannte  28,00,  Mitglieder  der  Fa- 
milien der  Verbannten,  die  ihnen  freiwillig  folgten,  32,80. 


Das  geltende  russische  StR.  281 


nlsse,  dass  die  Gefängnisstrafe  der  Mittelpunkt  des  Strafensystems  werden 
musste.  Die  russischen  Gefängnisse  aber  waren  in  einem  bei  weitem  nicht 
befHedigenden  Zustande;  sie  schlössen  jede  Organisation  der  Gefängnisarbeit 
und  sogar  eine  regelmässige  Verteilung  der  Gefängnisbevölkerung  in  ver- 
schiedene abgesonderte  Verbrecherkategorieen  aus;  traurige  Gesundheitszustände, 
mangelhafte  Bauten,  völliger  Mangel  an  vorgebildeten  AufseheiTi  und  Beamten 
machten  die  russischen  Gefängnisse,  wie  die  Regierung  es  selbst  anerkannt  hat, 
statt  zu  Strafanstalten  zu  Schulen  des  Lasters. 

Die  Lage  der  Gesetzgebung  hinderte  die  Verbesserung  der  Gefängnisse 
im  Verwaltungswege,  da  das  Gesetz  viele  Arten  der  Gefängnisstrafe  kannte, 
die  zwar  geschichtlich  sich  ausgebildet  hatten  (Korrektions-,  Reklusions-  und 
Arbeitshäuser,  Gefängnisse  und  Arresthäuser)  und  durch  besondere  Verord- 
nungen geregelt  waren,  aber  in  Wirklichkeit  keine  Unterschiede  aufwiesen. 
Daher  wurden  in  den  70er  Jahren  drei  aufeinander  folgende  Kommissionen 
eingesetzt  (unter  dem  Vorsitze  des  Grafen  SoUogub,  des  Senators  Frisch  und 
des  Mitgliedes  des  Staatsrates  (xrott),  um  ein  neues  Strafensystem  zu  entwerfen 
und  besonders  die  Gefängnisstrafe  zu  normieren.  Die  Arbeiten  der  letzten 
Kommission  führten  zum  G.  v.  1879,  das  die  centrale  Gefängnisadministration 
eingerichtet  hat  und  allgemeine  Grundsätze  eines  neuen  vereinfachten  Strafen- 
systems enthält,  die  Deportation  nach  Sibirien  ohne  Zwangsarbeit  nur  als  eine 
besondere  Strafart  (für  einige  Verbr.  gegen  die  Religion,  für  politische  Verg., 
Duell  usw.)  auft*echt  hält  und  die  Gefängnisstrafe  zum  Mittelpunkte  des  Systems 
macht.  Bald  nachher,  im  J.  1880,  wurde  ein  besonderer  Ausschuss  unter 
dem  Vorsitze  des  Justizministers  (damals  Wirkl.  Geheimer  Rat  Nabokow,  zur 
Zeit  Wirkl.  Geheimer  Rat  Manassein)  und  des  Chefs  der  Kodifikationsabteilung 
(damals  Fürst  Urussow,  zur  Zeit  Senator  Frisch)  mit  dem  Auftrage  eingesetzt, 
den  Entw.  eines  neuen  StGB,  auf  Grund  der  einheimischen  und  der  ausländi- 
schen Gesetzgebung  und  der  wissenschaftlichen  Grundsätze  auszuarbeiten. 
Diese  Kommission  bildete  einen  Redaktionsausschuss  unter  dem  Vorsitze  des 
Senators  Frisch.  Die  wichtigsten  und  jetzt  schon  vollendeten  Arbeiten  dieses 
Ausschusses  sind  dem  juristischen  europäischen  Publikum,  dank  den  verdienst- 
vollen Bemühungen  des  Professors  Gretener  in  Bern,  hinlänglich  bekannt.  Zur 
Zeit  sehen  die  Arbeiten  ihrem  Ende  entgegen.  Mehrere  von  diesem  Ausschusse 
ausgearbeitete  Grundsätze,  sind  jetzt  geltendes  Recht  geworden,  so  die  Gesetze 
von  1882  über  den  schweren  Diebstahl,  1884  und  1885  über  die  Abschaffung 
der  Arbeits-  und  Reklusionshäuser  sowie  die  völlige  Abschaffung  der  Leibes- 
strafen, 1884  über  die  Bestrafungen  der  Amtsunterschlagungen,  1892  über 
Bestrafung  der  Spionage,  1892  über  Bestrafung  der  konkurrierenden  Verbrechen 
und  des  Rückfalls.  Unter  der  Leitung  des  Ausschusses  werden  jetzt  Gesetze 
über  Wucher,  Nahrungsmittelfälschung  usw.  ausgearbeitet. 


n.   Das  geltende  russische  Strafrecht. 

LUteratur:  Spassowitsh,  Lehrbuch  des  Strafrechts,  1860.  Berners  Lehrbuch 
in  der  Übersetzung  von  Nek\judow  (mit  Anmerkungen  über  das  russische  Recht), 
1S67.  Nekljudow,  Handbuch  für  Friedensrichter,  2.  Ausg.  1872;  derselbe,  Handbuch 
des  besonderen  Teiles  des  StR.,  1872—1881.  Tagantsew,  Kursus  des  StR.  1874—1880; 
derselbe,  Vorlesungen  über  das  russ.  StR.,  1887 — 1892.  Kistjakowski,  Elementar-Lehr- 
buch  des  StR.  2.  Ausg.,  1884.  Lochwitski,  Das  russ.  StR.,  1867.  Sergejewski,  Das  russ. 
StR.,  2.  Ausg.  1890.  Wjadimirow,  Kursus  des  StR.,  18H8.  Budsinski,  Grundsätze  des 
StR.,  1870;  derselbe.  Über  einzelne  Verbrechen,  1887.  Tshebüshew-Dmitrijew,  Das 
russ.  Strafprozessrecht,  1875.  Slutshewski,  Kursus  des  Strafprozesses,  1890— 1H92. 
Tallberg,  Kursus  des  Strafprozesses,  1890.  Foinitski,  Die  Lehre  von  der  Strafe,  18S9; 
derselbe,  Kursus  des  Strafprozesses,  1885;  derselbe.  Besonderer  Teil  des  StR.,  1890. 


282  I^As  russische  Kaisertum.  —  Das  geltende  russische  StR. 


^  5.  Die  Quellen,  ihr  Gl^eltungsgebiet,  ihre  wissenschaftliehe  Behandlung. 

L  Die  Quellen  des  materiellen  StR.  bilden*.  1«  Das  StGB,  in  seiner  jetzt 
p:eltenden  Ausgabe  v.  1885,  und  2.  das  GB.  über  Strafen,  die  von  den  Friedens- 
richtern verhängt  werden,  in  der  Ausgabe  desselben  Jahres.  Diese  Gesetzbücher 
sind  in  Geltung  für  das  ganze  Reich ;  eine  Ausnahme  bildet  das  Grossfursten- 
tum  Finnland,  wo  der  schwedische  Codex  v.  1754  bisher  in  Geltung  war  und 
jetzt  durch  ein  besonderes  StGB.,  das  1889  sanktioniert,  nachher  aber  von  der 
Regierung  wegen  seiner  separatistischen  Neigung  zurückgehalten  worden  ist, 
ersetzt  werden  wird.  Dieses  GB.  muss  als  russisches  Sondergesetz  betrachtet 
werden ,  obschon  es  seinem  Inhalte  nach  nichts  Gemeinsames  mit  dem 
russischen  Rechte  hat  (vgl.  unten  S.  313  ff.). 

Ausserdem  giebt  es  keine  StGe.  mit  besonderer  örtlicher  Geltung.  Wohl 
giebt  es  aber  in  Russland  StGe.  mit  besonderer  Geltimg  bezüglich  der  Personen, 
die  jedoch  alle  an  die  allgemeinen  Gesetzbücher  anknüpfen  und  ihre  Grund- 
sätze zur  Voraussetzung  haben.  Es  sind  die  folgenden:  !•  Das  StGB,  für  Heer 
und  Flotte;  erste  Ausgabe  1875,  letzte  1879.  2,  Die  geistliche  Konsistorien- 
ordnung v.J.  1841,  jetzt  gültige  Ausgabe  v.  J.  1883;  sowie  die  Ordnungen 
der  nicht  orthodoxen  Konfessionen,  in  denen  Bestimmungen  über  Verg.  der 
Geistlichen  wie  auch  der  Laien  betr.  Religion  und  kirchliche  Organisation 
aufgenommen  sind.  3«  Die  Gerichtsordnung  für  Bauern  v.  1839  und  das  (t. 
über  Gemeindegerichte  v.  1889,  die  manche  Übertretungen  von  Personen  des 
bäuerlichen  Standes  mit  Strafen  belegen.  4.  Das  Deportationsreglement,  in 
dem  Bestimmungen  über  Bestrafung  der  von  den  Deportierten  begangenen 
Verbr.  enthalten  sind.  5.  Besonderes  Recht  gilt  in  denjenigen  Orten,  die  im 
kleinen  oder  grossen  Belagerungszustand  sich  befinden.  Hier  ist  es  nämlich 
durch  G.  v.  1881  dem  Minister  des  Innern,  den  General-Gouverneuren,  Grou- 
vemeuren  und  Staatspräfekten  anheimgegeben,  einige  Strafsachen  den  sonst 
zuständigen  Gerichten  zu  entziehen,  sie  dem  Militärgerichte  zu  überweisen  und 
sie  auch  nach  den  Militärgesetzen  zu  beurteilen;  ferner  bindende  Verordnungen 
zum  Zwecke  der  Sicherung  der  öffentlichen  Ordnung  und  der  Staatsintegrität 
zu  erlassen  und  kraft  eigener  Gewalt  ohne  gerichtliches  Urteil  Gefängnisstrafe 
bis  zu  drei  Monaten  oder  Geldstrafe  bis  zu  500  Rubel  zu  verhängen. 

Viel  buntscheckiger  sind  die  strafprozessuale^  Quellen,  besonders  nach 
den  Gesetzen  des  J.  1889,  die  das  einheitliche  Gebäude  der  Prozessordnungen 
V.  1864  wesentlich  erschüttert  haben.  Hier  mangelt  es  an  Einheitlichkeit  auch 
in  den  allgemeinen  Quellen.  Es  gelten  nämlich  1.  die  Gerichtsordnungen  vom 
20.  November  1864  in  der  Ausgabe  v.  1885.  2.  Für  den  grössten  Teil  der 
Provinzen  sind  die  Friedensgerichte,  die  von  den  Gerichtsordnungen  geschaffen 
sind,  beseitigt  und  statt  ihrer  gerichtlich -administrative  Institute  durch  das  G. 
V.  1889  ins  Leben  gerufen.  3.  Die  prozessualen  Bestimmungen  des  2.  Teils  des 
15.  Bd.  des  Swod  Zakonow,  die  den  alten  luquisitionsprozess,  obwohl  in  einer 
unter  dem  Einflüsse  der  reformierten  Prozesse  verbesserten  Form,  normieren. 
4.  Endlich  haben  wir  besondere  prozessuale  Gesetze  für  einzelne  Provinzen  und 
Personenklassen.  Die  besonderen  örtlichen  Prozessgesetze  enthalten  fast  die- 
selben Bestimmungen  wie  die  Gerichtsordnungen,  mit  dem  Unterschiede,  dass 
ihnen  die  Schwurgerichte  fremd  geblieben  und  dass  einige  Modifikationen  in 
der  Organisation  der  Friedensgerichte  bestimmt  sind.  So  das  G.  v.  1866  für 
den  Kaukasus,  v.  1875  für  Polen,  v.  1889  für  die  Ostseeprovinzen,  *)  und  eine 

•«  

*)  Über  die  frühere  patrimoniale  Inquisitionsprozessordnung  s.  Bunge,  Geschicht- 
liches des  Gerichtswesens  und  (Gerichtsverfahrens  in  Liv-,  Est-  und  Kurland,  RevaK 
1871;  RemduU  Die  deutschon  Gerichte  in  den  Ostseeprovinzen  (Juridischer  Bote.  1-^*^7 
No.  10  und  11). 


§  5.    Die  Quellen,  ihr  Geltungsgebiet,  ihre  wissenschaftliche  Behandlung.     283 


ganze  Reihe  von  Gesetzen  für  die  westlichen,  nördlichen  und  südlichen  Pro- 
vinzen. Andererseits  gelten  auch  neuere  Gesetze,  welche  noch  das  alte  pro- 
zessuale Recht  in  verbesserter  Form  enthalten,  so  z.  B.  das  G.  v.  25.  Februar 
1885  über  die  Gerichtsorganisation  in  Sibirien.  Besondere  persönliche  Pro- 
zessgesetze sind:  a)  die  Militär-  und  Flottegerichtsordnung  in  der  Ausgabe  des 
J.  1885;  b)  die  schon  erwähnte  Gerichtsordnung  für  Bauern  mit  den  Verände- 
rungen von  1889;  und  c)  die  ebenfalls  erwähnten  geistlichen  Konsistorien- 
ordnungen und  die  Ordnungen  der  nicht  orthodoxen  Konfessionen  (Bd.  XI  des 
Swod  Zakönow). 

Die  Gewohnheit  gilt  als  Reehtsquelle  bei  den  Gerichten  für  einige  Völker- 
schaften des  Ostens  und  Südostens  des  Reiches,  wie  auch  in  Bagatellsachen, 
in  welchen  die  Gemeinderichter  zuständig  sind;  übrigens  hat  das  G.  v.  J. 
1889  die  letzteren  den  sogenannten  Landesvorstehem  (z^mskye  natshAlniki) 
unterworfen,  was  gewiss  eine  Schmälerung  der  Geltung  des  Gewohnheitsrechtes 
zur  Folge  haben  wird. 

II.  Was  die  Gerichtspraxis  betrifft,  so  konnte  sie  bis  zu  den  Gerichts- 
ordnungen vom  20.  November  nicht  einmal  als  eine  ergänzende  Rechtsquelle 
dienen,  da  die  gerichtliche  Gewalt  von  der  gesetzgeberischen  nicht  getrennt 
war  und  letztere  manchmal,  besonders  in  den  Fällen  einer  Lücke  in  dem  G. 
und  bei  Zweifel  der  Gerichtsinstanzen,  einzelne  Sachen  zu  beurteilen  hatte. 
Die  Verhältnisse  haben  sich  völlig  geändert  seit  der  Einführung  der  Gerichts- 
ordnungen vom  20.  November;  die  Judikatur  in  der  Form  von  Sammlungen 
der  gerichtlichen  Entsch.,  besonders  des  Kassationssenates,  hat  wichtige  Be- 
deutung als  subsidiäre  Rechtsquelle  bekommen^)  und  übt  Einfluss  auf  die  wei- 
tere Praxis,  teilweise  sogar  auf  die  gesetzgeberische  Thätigkeit.  Dieser  Einfluss 
ist  übrigens  nicht  zu  überschätzen,  da  er  nur  sporadisch  wirkt,  was  seine  Ur- 
sache in  dem  Mangel  einer  selbständigen  wissenschaftlichen  Bearbeitung  des 
Rechts  hat.  Der  grösste  Teil  der  russischen  juridischen  Litteratur  trägt  einen 
kommentatorischen  Charakter.  Theoretische  Erörterungen  bieten  bis  zur  neuesten 
Zeit  fast  ausschliesslich  die  obligatorischen  wissenschaftlichen  Dissertationen, 
die  von  den  Aspiranten  der  gelehrten  Universitätsgrade  eingereicht  werden 
müssen.  Die  Hauptrichtungen  in  der  russischen  Strafrechtslitteratur  sind:  die 
kommentatorische  (Nekljudow  und  Lochwitski);  die  historische  (Tshebüshew- 
Dmitryew  und  Sergejewitsh) ;  die  abstrakt- dogmatische  (Spassowitsh) ;  die  so- 
genannte positiv-dogmatische  (Sergejewski,  der  Binding  folgt);  die  kritisch-dog- 
matische (Kistjakowski  und  Tagantsew);  die  anthropologisch-historische  (Kowa- 
lewski);  die  anthropologisch-medizinische  (Drill).  Mehrere  Schriftsteller  zählen 
sich  zu  den  Anhängern  der  vergleichenden  dogmatischen  Richtung  (so  beson- 
ders Budsinski);  eigentlich  aber  giebt  es  noch  keine  solche  auf  russischem 
Boden,  da  sie  sich  ausschliesslich  in  der  Anführung  der  einschlagenden  Be- 
stimmungen verschiedener  Gesetzgebungen  erschöpft  und  weit  entfernt  ist  von 
einer  philosophisch-dogmatischen  Erklärung  der  inneren  Natur  verschiedener 
Rechtsinstitute.  Es  muss  jedoch  bemerkt  werden,  dass,  indem  wir  von  ver- 
schiedenen Richtungen  in  der  russischen  Litteratur  sprechen,  diese  nicht  etwa 
als  Schulen  im  Sinne  der  westeuropäischen  Litteratur  aufzufassen  sind;  bis 
jetzt  haben  wir  noch  keine  solchen  Schulen,  welche  Gedankentradition  und 
gemeinschaftliche  Arbeit  zur  Voraussetzung  haben.  Der  Individualismus,  der 
dem  Slaventum  so  eigen  ist,  macht  sich  auch  in  dieser  Beziehung  fühlbar. 


*)  Auszüge  aus  den  Kassationsentscheidungen  in  der  Form  von  einzelnen  Thesen 
bilden  einen  besonderen  Zweig  der  juridischen  Litteratur.  Die  besten  Ausgaben  sind: 
Tagantsew,  Das  Strafgesetzbuch;  Bjelow,  Popow  und  Sheglowitow,  Die  Strafprozess- 
ordnungen. 


284  I^AS  russische  Kaisertum.  —  Das  j!;^eltende  russische  StR. 


in.  Nach  rassischem  Rechte  erhält  ein  StG.  seine  Wirkung  von  der  Zeit 
seiner  Publizierung  an;  es  wirkt  also  immer  das  O.  der  Zeit  der  Aburteilung, 
nur  mildere  G.  der  Begehungszeit  werden  trotz  dem  Erlasse  eines  neuen, 
härteren  Gesetzes  angewendet.  Dieser  Grundsatz  ist  von  dem  Einf.-G.  zu  dem 
StGB.  V.  J.  1845  legalisiert  worden.  Dem  Umfange  nach  wird  die  Wirkung 
der  russischen  StG.  durch  die  Prinzipien  der  Territorialität  und  Personalität 
sowie  durch  das  Schutzprinzip  bestinmit.  Nach  dem  ersteren  sind  dem  StG. 
alleVerbr.,  die  von  Inländern  oder  Ausländem  begangen  werden,  unterworfen: 
eine  Ausnahme  bilden  nur  diejenigen  Personen,  die  das  Recht  der  Exterri- 
torialität geniessen.  Andrerseits  sind  dem  russischen  Recht  auch  die  von 
russischen  Unterthanen  in  der  TiLrkei,  in  Persien,  China  und  Japan  begangenen 
Handlungen  xmterworfen.  Nach  dem  Personalitätprinzip  unterliegen  dem  russi- 
schen StG.  russische  Unterthanen,  die  im  Auslande  verbrecherische  Handlungen 
begehen;  nur  wird,  wenn  sie  gegen  den  ausländischen  Staat  oder  ausländische 
Unterthanen  gerichtet  sind  und  wenn  das  ausländische  Gesetz  milder  ist, 
letzteres  angewendet.  Endlich  nach  dem  Schutzprinzip  werden  Handlungen 
der  Ausländer,  wenn  auch  im  Auslande  begangen,  nach  russischem  StG.  be- 
urteilt, wenn  das  Verbr.  gegen  das  russische  Reich  oder  gegen  russische  Unter- 
thanen gerichtet  ist.  Die  Auslieferung  der  Verbrecher  wird  nicht  im  StGB, 
normiert,  sondern  durch  besondere  Verträge  und  durch  das  Prinzip  der  Re- 
prozität.     Regel  ist,  dass  russische  Unterthanen  nicht  ausgeliefert  werden. 

§  6.    Der  allgemeine  Thatbestand  des  Yerbreehens. 

I.  In  der  russischen  Gesetzgebung  wird  kein  Unterschied  zwischen  Zu- 
rechnxmg  und  Zurechnungsfähigkeit  gemacht;  wohl  aber  werden  beide  Begriffe 
in  der  Litteratur  unterschieden.  Das  StGB,  spricht  nur  von  Ursachen,  die  die 
Zurechnung  zur  Schuld  beseitigen.  Hierher  gehören:  Zufall,  Minderjährigkeit. 
Bewusstlosigkeit  und  Anfälle  von  Geistesstörung,  die  mit  vollem  Verlust  der 
Sinne  und  des  Bewusstseins  verbunden  sind;  Irrtum,  Zwang,  endlich  Notwehr 
(Art.  192).  Die  Aufzählung  der  Gründe  der  Zurechnungsunfähigkeit  im  all- 
gemeinen Teil  des  StGB,  wird  durch  andere,  von  denen  im  besonderen  Teil 
anlässlich  einzelner  Thatbestände  gesprochen  wird,  ergänzt.  Hierher  gehören: 
die  vom  G.  erlaubte  Verletzung  fremder  Rechte,  verbindlicher  Befehl  des  Vor- 
gesetzten, Einwilligung  des  Verletzten  und  endlich  in  einigen  einzelnen  Fällen 
Aufgebung  des  verbrecherischen  Verhaltens  (z.  B.  bei  Abfall  von  der  Ortho- 
doxie) und  Anzeige  (z.  B.  bei  Münzfälschung).  Die  Litteratur  rubriziert  diese 
mannigfaltigen  Gründe  wissenschaftlich  und  unterscheidet:  Gründe  der  Zu- 
rechnungsunfähigkeit; Wegfall  des  Schutzes  des  verletzten  Objekts  —  Aus- 
schliessung der  Zurechnung  im  Einzelfall;  excuses  legales. 

Gründe  der  Zurechnungsunfähigkeit.  !•  Das  jugendliche  Alter. ^)  Die 
Bestimmungen  über  diese  Materie  gehen  teils  auf  ein  in  den  Swod  Za- 
könow  aufgenommenes  G.  v.  1765,  teils  auf  die  vom  StGB.  v.  1845  kritiklos 
gleichfalls  angenommenen  Sätze  des  Entw.  v.  1813  zurück.  Die  Strafbar- 
keit ist  bis  zum  10.  Lebensjahre  gänzlich  ausgeschlossen:  für  die  in  diesem 
Alter  begangenen  Verbrechen  findet  Auslieferung  an  die  Eltern  zur  häus- 
lichen Besserung  statt.  Die  nächste  Altersstufe  ist  die  vom  10.  bis  zum  14. 
Lebensjahre:  Strafe  ist  ausgeschlossen,  wenn  der  Angeschuldigte  ohne  Erkennt- 
nisvermögen gehandelt  hat;  im  entgegengesetzten  Falle  werden    entweder   die 


*)  Vgl.  Tagantsew,  Erörterungen  über  die  Verantwortlichkeit  der  jugendlichen 
Verbrecher,  1871.  Bogdonowski,  ßie  jugendlichen  Verbrecher,  1872.  Kistjakowski, 
Über  das  jugendliche  Alter,  1881. 


§  6.    Der  allgemeine  Thatbestand  des  Verbrechens.  285 


allgemeinen  Strafen  in  vermindertem  Masse  verhängt  (es  kann  sogar  Depor- 
tation mit  Zwangsansiedelung  und  Entziehung  aller  Rechte  bestimmt  werden), 
oder  es  werden  spezielle  Massregeln,  wie  z.  B.  Zwangserziehung  in  einem 
Kloster,  Gefängnisstrafe,  Ausliefermig  an  die  Eltern  zum  Zwecke  der  Besserung, 
und  seit  dem  J.  1866  Zwangserziehung  in  einer  Besserungsanstalt  für  jugend- 
liche Verbrecher  angewendet.  Dasselbe  gilt  von  den  Minderjährigen  bis  zum 
17.  Lebensjahre  im  Falle  der  Verneinung  der  Erkenntnisfrage.  Für  das  Alter 
von  dem  14.  bis  zum  21.  J.  (vom  14.  bis  zum  17.  im  Falle  der  Bejahung 
der  Erkenntnisfrage)  werden  die  allgemeinen  Strafen  angewendet,  wenn  auch 
in  vermindertem  Masse.  Die  vollständige  strafrechtliche  Verantwortlichkeit 
tritt  mit  dem  21.  J.  ein.  2.  Neben  dem  Kindesalter  wird  von  dem  StGB,  die 
angeborene  oder  im  frühen  Kindesalter  erworbene  Taubstummheit  als  Grund 
der  Zurechnungsunfähigkeit  angeführt,  mit  der  Bedingung  aber,  dass  der  Be- 
treffende keine  moralische  Erziehung  genossen  hat  (Art.  98).  3,  Von  den 
anomalen  psychischen  Zuständen  kennt  das  G.  als  Gründe  der  Zurechnungs- 
unfähigkeit den  angeborenen  Blödsinn,  chronische  Geistesstörung,  die  Bewusst- 
losigkeit  infolge  von  Krankheit,  dementia  senilis  und  Mondsüchtigkeit  (Art.  95 
bis  97).  Diese  Aufzählung  wird  von  der  Wissenschaft  für  mizulänglich  erklärt 
und  vervollständigt.  4.  Über  die  Trunkenheit  enthält  das  StGB,  eine  be- 
sondere Bestimmung,  wonach  diese  im  allgemeinen  nicht  auf  die  Verantwort- 
lichkeit wirkt.  Sie  wird  als  ein  Strafschärfungsgrund  angesehen,  wenn  der 
Schuldige  sich  in  den  Zustand  der  Trunkenheit  absichtlich  zum  Zwecke  der 
Vergehung  des  Verbr.  versetzt  hat  (actio  libera  in  causa). 

Die  Verletzung  verliert  ihren  widerrechtlichen  Charakter;  1.  im 
Falle  gesetzlichen  Gebots,  z.  B.  Tötung  oder  Körperverletzung  seitens  eines 
Forstbeamten  infolge  des  thätlichen  Widerstandes,  wenn  keine  anderen  Mittel 
den  Widerstand  zu  bekämpfen  zu  Gebote  standen  (Art.  1471).  2.  Erfüllung 
eines  verbindlichen  Befehls  des  Vorgesetzten;  in  der  Regel  muss  dieser  ein 
gesetzmässiger  sein ;  die  Verletzung  aber,  die  in  Erfüllung  eines  ungesetzlichen 
Befehls,  wenn  auch  einer  gesetzlichen  Obrigkeit,  begangen  worden  ist,  führt 
zur  Bestrafung  des  Befehlenden,  wie  des  Gehorchenden  (Art.  403).  Eine  Aus- 
nahme gilt  nur  für  Befehle  der  militärischen  Vorgesetzten,  die  für  die  Unter- 
gebenen unbedingt  verbindlich  sind.  3«  Die  Einwilligung  und  der  Verzicht 
auf  das  Recht  seitens  des  Verletzten  werden  vom  G.  direkt  nicht  erwähnt; 
aber  aus  einigen  Bestimmungen,  wie  z.  B.  über  Ehrenkränkungen  und  leichte 
Körperverletzungen,  ist  zu  entnehmen,  dass  das  Gesetz  sie  als  GiUnde  der 
Ausschliessung  der  Widerrechtlichkeit  anerkennt.  In  dieser  Auffassung  herrscht 
vollständige  Übereinstimmung  in  Rechtsprechimg  und  Litteratur.  4.  Notwehr^) 
ist  erlaubt  a)  im  Falle  der  Unmöglichkeit,  den  Schutz  der  örtlichen  Obrigkeit 
anzurufen;  b)  wenn  sie  zur  Abwehr  eines  widerrechtlichen  Angriffes  dient,  der 
eine  Gefahr  für  Leben,  Gesundheit  oder  Freiheit  des  AngegriflTenen  bietet; 
femer  eines  Angriffes  auf  die  Frauenehre,  oder  auf  das  Hausrecht.  Angriffe 
auf  das  Vermögen,  wenn  nicht  mit  Gefahr  für  die  Person  oder  Einbruch  ver- 
bunden, berechtigen  nicht  zur  Notwehr,  ausser,  wenn  der  Angreifer  Wider- 
stand gegen  seine  Festnahme  leistet.  Die  Notwehr  ist  in  den  angegebenen 
Fällen  auch  zum  Schutz  eines  fremden  Rechts  gestattet,  c)  Wer  in  Notwehr 
eine  Verletzung  begeht,  muss  unverzüglich  die  Nachbarn  und  bei  der  ersten 
Möglichkeit  die  Polizei  in  Kenntnis  setzen,  d)  Die  Zufügung  einer  Verletzung, 
nachdem  die  Gefahr  bereits  beseitigt  ist,  wird  als  Überschreitung  der  Notwehr 
betrachtet,  und  je  nach  den  Folgen,  aber  in  viel  geringerem  Masse,  bestraft, 
(Art.  101,  103).    Neben  der  Notwehr  steht  5,  der  Notstand,  der  nach  Art.  100 


')  Vgl.  Poletajew,  Über  die  Notwehr,  1863;  Koni,  Die  Notwehr,  1866. 


286  I^A8  russische  Kaisertum.  —  Das  geltende  nissische  StR. 


des  StGB,  die  Bestraftmg  beseitigt,  aber  nnr  dann,  wenn  das  Begangene  zur 
Abwehr  einer  Gefahr  für  das  Leben  notwendig  war  nnd  zur  Zeit  der  Be- 
gehang  keine  andern  Mittel  zur  Erhaltung  des  Lebens  Torhanden  waren. 
Es  muss  bemerkt  werden,  dass  Mittellosigkeit  und  Arbeitsunfähigkeit  nur  straf- 
mildernd wirken  (Art.  134,  1663,  1674). 

U.  Die  Schuldlehre  war  in  dem  „Swod  Zakönow"  des  Grafen  Spe- 
ranski  einfach,  wenn  auch  nicht  vollständig  entwickelt;  in  dem  StGB.  v.  184.^ 
ist  sie  überflüssig  kompliziert  und  wenig  Terständlich.  Es  werden  nämlich 
vorsätzliche  xmd  xmvorsätzliche  Verbr.  und  Verg.  unterschieden.  !•  Dolus  prae- 
meditatns  und  dolus  repentinus.  Prämeditation  ist  vorhanden,  wenn  die  Ab- 
sicht, die  Handlung  zu  begehen,  zeitlich  vor  der  Begehung  selbst  gefasst 
worden  ist;  sie  setzt  also  einen  gewissen  Zeitraum  zwischen  dem  Entstehen 
der  verbrecherischen  Absicht  und  ihrer  Verwirklichung  voraus.  Die  zweite  Art 
des  Vorsatzes  ist  dann  vorhanden,  wenn  die  Fassung  der  Absicht  mit  der  Be- 
gehung zeitlich  zusammenfällt.  Interessant  ist  es,  dass  die  Begehung  eines 
Verbr.  zum  drittenmale,  wenn  auch  ohne  Prämeditation,  als  in  prämeditiertem 
Vorsatze  begangen  bestraft  wird.  Die  inneren  Motive  der  Thätigkeit  werden 
im  allgemeinen  nicht  berücksichtigt;  freilich  erhalten  sie  eine  wesentliche  Be- 
deutung bei  Beurteilung  einzelner  Verbr.,  wie  z.  B.  der  Irritationszustand,  die 
Provokation  u.  dgl.  In  einigen  Fällen  des  besonderen  Teiles  des  StGB,  wird 
dem  Vorsatze  der  Leichtsinn,  als  eine  geringere  Art  desselben,  entgegen- 
gesetzt, i.  Das  StGB,  unterscheidet  femer  direkten  oder  indirekten  Dolus. 
Im  allgemeinen  Teile  wird  nur  der  Fall  der  Coincidenz  beider  Arten  erwähnt 
und  die  Straf  barkeit  nach  der  schwereren  Art  des  Dolus  oder  nach  den  Kegeln 
über  die  Konkurrenz  der  Verbr.  bestimmt.  Im  besonderen  Teile  begegnet 
man  einigen  Bestimmungen  über  Verbr.,  die  im  indiiekten  Vorsatze  begangen 
sind;  die  Strafbarkeit  ist  im  Verhältnisse  zu  der  Bestrafung  derselben  Hand- 
lungen, wenn  in  direktem  Vorsatze,  begangen,  so  gering,  dass  die  Vermutung 
berechtigt  ist,  das  StGB,  behandle  diese  Art  des  Dolus  eigentlich  als  die 
schwerere  Art  der  Fahrlässigkeit.  Diese  Vermutung  wird  dadurch  verstärkt, 
dass  sie  im  G.  (Art.  108)  durch  die  Vorhersehbarkeit  des  verbrecherischen 
Erfolges  bei  mangelnder  Absicht  ihn  hervorzurufen  charakterisiert  wird.  In 
der  Doktrin  wird  allgemein  die  von  Professor  Tagantsew  befürwortete  Ein- 
teilung des  Dolus  in  zwei  Arten,  nämlich  in  dolus  directus  und  in  verbreche- 
rische Gleichgültigkeit  gebilligt.  Letztere  Form  wird  wiederum  von  der 
luxuria  als  der  schwersten  Art  der  Fahrlässigkeit  xmterschieden ,  die  sich  als 
Voraussicht  der  Möglichkeit  des  Erfolges  verbunden  mit  der  Hoffnung,  ihn  zu 
vermeiden,  charakterisiert.  Es  muss  aber  bemerkt  werden,  dass  diese  Form 
des  Dolus  die  Möglichkeit  des  strafbaren  Versuches  gänzlich  ausschliesst; 
daher  stossen  die  Verfasser  des  neuen  Entwurfes  bei  der  Konstruktion  des  in 
diesem  Sinne  gefassten  Dolus  eventualis  auf  manche  Schwierigkeiten,  und  der 
Redaktionsausschuss  sah  sich  genötigt,  den  Versuch  bei  dieser  Form  des  Vor- 
satzes für  straflos  zu  erklären,  was  doch  den  besten  Beweis  liefert,  dass  sie 
eigentlich  nichts  anderes  als  eine  Art  der  Fahrlässigkeit  sei.  Der  Begriff  der 
Fahrlässigkeit  ist  im  G.  noch  immer  ganz  unklar  erfasst  und  wird  sogar  mit 
dem  Zufalle  vermengt.  Das  StGB,  rechnet  nämlich  zu  der  schwersten  Form 
der  Culpa  diejenige  Fahrlässigkeit,  die  mit  der  Verletzung  einer  amtlichen 
oder  professionellen  Pflicht  zu  besonderer  Behutsamkeit  verbunden  ist;  und 
zu  der  leichteren  Form  den  Fall,  wenn  der  Thäter  zu  der  fahrlässigen  Ver- 
letzung durch  besonderen  Eifer  bei  der  Erfüllung  seiner  Pflicht  hingerissen 
war  (was  freilich  die  Bedeutung  des  ersteren  Satzes  ganz  vernichtet),  und 
wenn  die  schädlichen  Folgen  der  Handlung  schwer  vorausgesehen  werden 
konnten.     Dazu  fügt  das  StGB,  hinzu  (Art.  110):  „Wenn  aber  die  fahrlässige 


§  6.    Der  allgemeine  Thatbestand  des  Verbrechens.  287 


Handlang,  die  eine  Verletzung  verursacht  hat,  durch  Umstände  gerechtfertigt 
wird,  die  die  Möglichkeit  der  Erwartung  und  der  Vermutung  dieser  Folgen 
völlig  ausschlössen,  so  wird  dem  Schuldigen  nur  ein  passender  Verweis  er- 
teilt/' Die  Unmöglichkeit  aber,  die  Folgen  einer  Handlung  vorauszusehen, 
charakterisiert,  dem  StGB,  nach,  den  straflosen  Zufall  (Art.  6  und  93).  Es  mag 
hinzugefügt  werden,  dass  nur  einige  vom  6.  bestimmte  Verbr.  die  Strafbarkeit 
der  Fahrlässigkeit  zulassen.^)  Gewöhnlich  wird  vom  G.  ausser  der  Strafe  noch 
kirchliche  Busse  auferlegt,  die  „zur  Beruhigung  des  Gewissens  des  Schuldigen" 
auch  bei  zufälligen  Verletzungen  bestimmt  wird.  Die  Verantwortlichkeit  für 
dolose,  wie  auch  kulpose  Schuld  hat  zur  Voraussetzung  das  Vorhandensein 
des  Willens  und  der  Voraussicht  oder  wenigstens  der  Voraussicht  des  bevor- 
stehenden verbrecherischen  Erfolges  und  verschwindet  selbstverständlich  bei 
der  Abwesenheit  dieser  Bedingungen.  Dies  ist  der  Fall  1.  bei  Zufälligkeit 
der  Handlung  oder  des  eingetretenen  Erfolges;  t.  bei  Irrtum  oder  Unwissen- 
heit. Der  Rechtsirrtum  (error  juris),  sowie  die  Unkenntnis  des  G.  (ignorantia 
legis)  beseitigen  nicht  die  Zurechnung.  Sie  entfällt  nur  bei  error  facti.  End- 
lich 3«  bei  Zwang,  von  dem  das  geltende  G.  nur  anlässlich  des  Notstandes 
spricht.  In  dieser  engen  Fassung  ist  die  Straflosigkeit  freilich  nur  auf  psychi- 
schen Zwang  beschränkt.  Was  den  physischen  Zwang  betriflFt,  so  schliesst  er 
jedenfalls  die  Verantwortlichkeit  aus,  da  bei  ihm  von  einer  Willensbestimmung 
keine  Rede  sein  kann.  Der  Strafe  verfällt  der  Zwingende,  nicht  der  Ge- 
zwungene. In  air  diesen  Fällen  wird  kirchliche  Busse  „zur  Beruhigung  des 
Gewissens'*  vorgeschrieben,  wenn  durch  die  Handlung  der  Tod  eines  Menschen 
verursacht  worden  ist. 

III.  Stufen  der  Verwirklichung  des  verbrecherischen  Entschlusses  sind 
nach  der  russischen  Gesetzgebung:  Äusserung  des  Vorsatzes,  Vorberei- 
tung, Versuch  und  Vollendung.^)  Charakteristisch  für  das  russische  Recht 
ist  die  Erwähnung  der  ersten  beiden  Stufen  im  G. ;  dies  hat  darin  seine  Er- 
klärung, dass  bei  einigen,  namentlich  bei  politischen  Verbr.,  auch  die  blosse 
Äusserung  des  Vorsatzes,  um  so  mehr  die  Vorbereitung,  strafbar  ist.  Die 
Äusserung  des  Vorsatzes  wird  vom  G.  bestimmt  als  die  mündliche,  schrift- 
liche oder  konkludente  Äusserung  der  Absicht,  ein  Verbr.  zu  begehen.  Dahin 
gehören:  Drohungen,  Prahlerei  und  Antrag.  Die  Vorbereitung  wird  als  Auf- 
suchung oder  Anschaffung  der  Mittel  zur  Begehung  eines  Verbr.  und  bei  der 
Brandstiftung  auch  als  Anpassung  derselben,  definiert.  Ausser  den  politischen 
Verbr.,  deren  Vorbereitung  mit  der  Strafe  der  Vollendung  bedroht  ist,  werden 
mit  geminderten  Strafen  die  Vorbereitung  zum  Morde  und  zur  qualifizierten 
Brandstiftung  belegt.  Versuch  wird  vom  G.  diejenige  Thätigkeit  genannt, 
mit  der  die  Verwirklichung  des  bösen  Vorsatzes  begonnen  oder  befördert  wird, 
sodass  diese  Stufe  die  gesamte  Thätigkeit  vom  Anfange  der  Handlung  bis 
zum  Eintritt  des  Erfolges  umfasst.  Es  wird  der  beendigte  und  der  nicht 
beendigte  Versuch  unterschieden.  Letzterer  liegt  vor,  wenn  von  dem  Thäter 
alles  gethan  worden  ist,  was  seiner  Meinung  nach  zur  Herbeiführung  des  Er- 
folges notwendig  war;  dieser  Begriff  entspricht  also  vollkommen  dem  Begriffe 
des  df^^lit  manqu6  mit  dem  Unterschiede,  dass  der  russische  Begriff  (durch  das 


M  Diese  Regel  des  StGB,  hat  das  GB.  für  Friedensrichter  verworfen.  Letzteres 
giebt  den  Richtern  die  Befugnis,  jede  fahrlässige  Handlung,  für  welche  im  Gesetze 
keine  besondere  Strafe  bestimmt  ist,  mit  dem  Verweise  zu  belegen;  übrigens  hat  die 
Praxis,  den  Anweisungen  der  Litteratur  folgend,  diese  Bestimmung  so  ausgelegt,  dass 
sie  nur  bei  den  Thatbeständen  angewendet  werden  kann,  die  überhaupt  fahrlässige 
Begehung  zulassen. 

-)  Eine  gründliche  Behandlung  des  Versuches  enthalten  die  Arbeiten  von  Tshebü- 
shew-DmJtrijew  1866,  Orlow  1868,  Kolokolow  1884. 


288  ^As  russische  Kaisertum.  —  Das  geltende  russische  StR. 


6.  V.  1865  eingeführt)  von  dem  subjektiven  Gesichtspunkte  ausgeht.  Der  nicht 
beendigte  Versuch  zerfällt  wieder  in  zwei  Arten:  in  den  ftreiwillig  aufgegebenen 
und  den  von  äusseren  Umständen  gehinderten.  Der  erstere  ist  hinsichtlich 
der  Strafbarkeit  der  Vorbereitung  gleichgestellt,  der  zweit«  unterliegt  der 
Strafe  des  vollendeten  Verbr.  in  vermindertem  Masse.  Die  Strafe  wird  auch 
im  Falle  des  beendigten  Versuches  vermindert;  wenn  aber  der  Thäter  infolge 
von  äusserster  Unwissenheit  oder  von  Aberglauben  absolut  untaugliche  Mittel 
zur  Herbeiführung  des  verbrecherischen  Erfolges  gebraucht  hat,  so  wird  er 
nur  für  die  Äusserung  des  Vorsatzes  bestraft.  Die  angeführten  Stufen  des 
verbrecherischen  Vorhabens   sind   nur   bei  vorsätzlichen  Handlungen  möglich. 

IV.  Die  Lehre  von  der  Teilnahme^)  am  Verbr,  ist  in  dem  geltenden 
Rechte  weit  ausgedehnt  und  kompliziert  ausgestaltet.  Es  kennt  nämlich  Teil- 
nahme ohne  vorangegangene  Verabredung,  Komplott  und  Bande,  und  in  jeder 
dieser  Arten  wird  zwischen  dem  Hauptthäter  und  den  physischen  wie  intellek- 
tuellen Gehülfen  unterschieden.  Die  Teilnehmer  an  einem  Verbr.  zerfallen  in 
eine  grosse  Zahl  von  Kategorieen,  die  sich  durch  ganz  geringe  Merkmale  be- 
stimmen. Die  Verfasser  des  GB.  haben  alles,  was  die  deutschen  Strafgesetz- 
bücher der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  bezüglich  der  Teilnahme  ent- 
halten, zusammengebracht.  Die  Teilnahme  am  Verbr.  wird  nur  im  Falle  der 
Vollendung  oder  des  Versuches  mit  Strafe  belegt;  das  freiwillige  Aufgeben 
der  verbrecherischen  Absicht  seitens  der  Teilnehmer  beseitigt  jede  Strafe. 
Das  Aufgeben  des  Vorhabens  seitens  einzelner  Teilnehmer  schliesst  aber  nur 
dann  die  Strafe  aus,  wenn  sie  rechtzeitig  Anzeige  gemacht  und  dadurch  die 
Begehung  des  Verbr.  beseitigt  haben.  Die  Strafbarkeit  der  Teilnehmer  bei- 
stimmt sich  nach  der  Art  der  Teilnahme;  die  volle  Strafe  ftlr  das  vollendete 
Verbr.,  mit  der  die  Mitthäter  belegt  werden,  wird  abgestuft  und  vermindert 
für  die  übrigen  Kategorieen  der  Teilnehmer  (das  deutsche  System  im  G^en- 
satze  zu  dem  französischen).  Zu  der  Teilnahme  gehört  auch  die  Hehlerei, 
die  Begünstigung  im  engeren  Sinne  und  die  Nichtanzeige.  Die  Hehlerei  um- 
fasst  die  Hehlerei  der  durch  das  Verbr.  erlangten  Gegenstände,  die  Verdeckung 
der  Spuren  des  Verbr.  und  endlich  die  Verhehlung  des  Verbrechers  vor  der 
Justiz.  Begünstigung  im  engern  Sinne  heisst  die  Zulassung  des  Verbr.  trotz 
der  Möglichkeit,  es  zu  verhindern.  Die  Nichtanzeige  zerfällt  in  die  Nicht- 
anzeige eines  bevorstehenden  und  in  die  eines  schon  begangenen  Verbr.  Die 
erstere  wird  wie  die  nicht  notwendige  Beihülfe  bestraft.  Die  Nichtanzeige 
eines  schon  begangei^n  Verbr.  wird  in  einigen  Fällen  als  delictum  sui  generis 
mit  Strafe  belegt.  Nahe  Verwandte  des  Verbrechers  werden  von  der  Strafe 
für  die  Nichtanzeige  und  ftlr  die  Verhehlung  der  Person  des  Verbrechers  be- 
freit, oder  sie  werden  nur  in  geringem  Masse  bestraft.  Dieses  Privileg  gilt 
nicht  bezüglich  der  politischen  Verbr. 

V.  Besondere  Bestimmxmgen  sind  der  Konkurrenz  mehrerer  Verbr. 
und  dem  Rückfall  gewidmet.^)  Erstere  bedeutet  nach  dem  russischen  Rechte 
die  Begehung  mehrerer  Verbr.  vor  der  Aburteilung  irgend  eines  von  ihnen; 
Rückfall  die  Begehung  eines  neuen  Verbr.  nach  einer  erlittenen  Strafe.  Das 
G.v.  1892  hat  dazu  noch  eine  Zwischenform  hinzugefügt,  nämlich  die  Begehung 
eines  weiteren  Verbr.,  nachdem  das  frühere  abgeurteilt  ist,  aber  noch  vor  Voll- 
ziehung der  bestimmten  Strafe.^) 

*)  Monographische  Bearbeitung  der  Lehre  von  der  Teilnahme  liefern:  Zhirjajew, 
1850;  Shaikewitsh  im  Journal  des  Justizministeriums,  1865;  Tagantsew,  Kursus  III, 
1880;  Kolokolow,  1881.    Vgl.  auch  Foinitski  im  Juristischen  Boten"  1891. 

-)  Tagantsew,  Über  die  Wiederholung  der  Verbrechen,  1866. 

*)  Dieses  Gesetz  hat  die  Divergenz,  die  zwischen  dem  StGB,  und  dem  GB.  für 
Friedensrichter  bestand,  beseitigt.    Übrigens  galten  auch  vor  dem  v.  G.  1892  besondere 


§  7.    Die  Strafen  des  geltenden  russischen  Rechts.  289 


Die  Strafe  wird  bei  Konkurrenz  nach  dem  Prinzipe  der  Absorption  be- 
stimmt, wenn  verschiedene  Straf  arten  für  die  begangenen  Verbr.  angedroht 
sind;  nach  dem  Prinzipe  der  juristischen  Kumulation,  d.  h.  Schärfang  der  här- 
teren der  verwirkten  Strafen,  wenn  für  die  begangenen  Verbr.  dieselben  Straf- 
arten angedroht  sind.  Nur  bei  Geldstrafen  für  fiskalische  Übertretungen 
werden  die  Strafen  einfach  kumuliert.  Die  Wiederholung  eines  Verbr.  derselben 
Art  bildet  einen  Straf erhöhungsgrund;  nur  in  einigen,  vom  G.  besonders  be- 
stimmten Fällen,  hat  sie  die  Bedeutung  eines  Umstandes,  der  das  neue  Verbr. 
als  eine  andere  Verbrechensart  qualifiziert.  Das  G.  v.  1892  führt  die  Ver- 
jährung des  Kückfalls  ein.  Letztere  wird  mittels  der  von  dem  Ministerium 
der  Justiz  geführten  und  periodisch  publizierten  Listen  der  Verbr.  festgestellt. 

§7.  Die  Strafen  des  geltenden  rassischen  Rechts.^) 

I.  Die  Verfasser  des  StGB,  hatten  es  sich,  wie  sie  selbst  erklärten,  zur 
Aufgabe  gemacht,  „die  bestehenden  Strafarten  in  ein  geordnetes  System  zu 
bringen".  Dies  ist  ihnen  aber  nicht  vollständig  gelungen;  das  System  des 
StGB,  ist  doch  sehr  kompliziert.  Es  kennt  aDgemeine,  besondere,  ausschliess- 
liche und  ausserordentliche  Strafarten;  ihrem  gegenseitigen  Verhältnisse  nach 
werden  sie  in  Haupt-  und  Ergänzungsstrafen  geteilt.  Die  allgemeinen  Haupt- 
strafen zerfallen  ihrer  Schwere  nach  in  Kapital-  und  Korrektionsstrafen.  Nach 
der  Idee  des  Grafen  Bludow  sollten  die  Kapitalstrafen  nur  gegen  den  ver- 
härteten, unverbesserlichen  Verbrecher  verwendet  werden  und  die  vollständige 
Ausstossung  des  Verbrechers  aus  dem  Gemeinwesen  herbeiführen;  daher  werden 
sie  auch  durch  die  voUständige  Entziehung  aller  bürgerlichen  Rechte  ergänzt. 
Die  Korrektionsstrafen  sollten  nur  gegen  Verbrecher,  die  noch  die  Möglichkeit 
der  Besserung  bieten,  verhängt  werden. 

II.  Arten  der  Kapitalstrafen  sind:  !•  Die  Todesstrafe,  mit  der,  nach 
dem  Entw.  des  Grafen  Bludow,  politische  Verbr.  und  Vatermord  bedroht  sind; 
bei  der  Beratung  des  Entw.  wurde  die  Todesstrafe  nur  für  politische  Verbr. 
beibehalten;  2.  die  Deportation  nach  Sibirien  mit  harter  Zwangsarbeit  (Kätorga), 
die  von  lebenslänglicher  oder  zeitiger  Dauer  ist;  nach  Ablauf  der  Zwangs- 
arbeitszeit wird  der  Verurteilte  auf  immer  in  Sibirien  angesiedelt;  3.  Deporta- 
tion mit  lebenslänglicher  Zwangsansiedelung  in  Sibirien.  Nach  dem  GB.  v, 
1845  waren  diese  Straf  arten  bis  zum  J.  1863  für  Verurteilte,  die  den  nicht 
privilegierten  Klassen  der  Bevölkerung  angehören,  mit  Leibesstrafe  (Züchtigung 
mit  Prügeln)  verbunden. 

Die  Korrekt ionsstrafen  sind  nicht  mit  der  vollständigen  Entziehung 
aller  bürgerlichen  Rechte  verbunden;  bei  der  Anwendung  der  schwersten 
Arten  dieser  Kategorieen  werden  nur  einige  Standes-  und  Ehrenrechte  auf 
Lebenszeit  entzogen.  Die  schwersten  Korrektionsstrafen  zerfallen  in  zwei 
parallel  laufende  Systeme.  Das  eine  für  die  sogenannten  privilegierten,  das 
andere  für  die  nicht  privilegierten  Klassen.  Dies  erklärt  sich  dadurch,  dass 
bis  1863  die  härteren  Korrektionsstrafen  immer  Leibesstrafe  für  die  Nicht- 
privilegierten mit  sich  führten.  Zu  den  Privilegierten  gehören  Adelige,  Geist- 
liche und  Ehrenbürger.  Die  Korrektionsstrafen  stufen  sich  in  folgender  Weise 
ab:  !•  Korrektionelle  Arrestantenabteilungen  (von  1^/^  bis  4  Jahren).  In  diesen 
ist  die  Arbeit  für  die  Gefangenen  obligatorisch.  Privilegierte  unterliegen  statt 
dieser  Strafart   der  einfachen  (aber   auch  lebenslänglichen)  Deportation   nach 


Bestimmungen  über  die  Bestrafung  von  Verbrechen,  die  von  den  Deportierten  vor 
Ablauf  der  Strafzeit  begangen  wurden. 

^)  Maximowitsh,  Über  die  Strafen  nach  den  Gesetzen  in  Russland,  1858. 

Strafgesetzgehttng  der  Gegenwart.   1.  19 


290  ^^s  russische  Kaisertum.  —  Das  geltende  russische  StR. 


Sibirien.  Die  Verurteilung  zu  dieser  Strafart  führt  den  lebenslänglichen  Verlust 
der  Standes-  und  Ehrenrechte  herbei.  2.  Arbeitshäuser  und  für  Privilegierte 
Deportation  nach  den  entfernten  Provinzen  des  europäischen  Russlands.  Die 
Arbeitshäuser  sind  von  Katharina  II.  errichtet  worden;  alle  Bemühungen  der 
Regierung,  sie  zweckmässig  zu  organisieren  und  in  genügender  Zahl,  abgeson- 
dert von  den  Gefängnissen,  zu  errichten,  waren  erfolglos,  daher  wurden  sii^ 
im  J.  1884  völlig  abgeschafft  und  durch  Gefängnis  von  2  Monaten  bis  zu 
2  Jahren  ersetzt.  Dasselbe  gilt  3«  von  den  Zuchthäusern,  die  ebenfalls  durch 
Gefängnisstrafe  bis  zu  2  Jahren  ersetzt  sind.  —  Es  folgen  als  die  leichteren 
Korrektionsstrafarten,  verbunden  mit  Verlust  bloss  der  politischen  Ehrenrechte, 
für  Privilegierte  und  Nichtprivilegierte:  4.  Festungshaft  in  der  Dauer  von 
4  Wochen  bis  zu  4  Jahren,  nur  in  einigen  Fällen  auch  länger.  Diese  Straf- 
art wird  für  Verbr.,  die  nichts  Ehrloses  enthalten,  wie  z.  B.  das  Duell  u.  dgl., 
angewendet.  5«  Gefängnis  in  der  Dauer  von  2  Monaten  bis  zu  1  Jahr  und 
4  Monaten.  Privilegierte,  gegen  die  diese  Strafe  wegen  begangener  ehrloser 
Verbr.  (Diebstahl,  Betrug,  Unterschlagung)  erkannt  worden  ist,  werden  ausser- 
dem zum  lebenslänglichen  Verlust  der  Standesrechte  verurteilt.  6.  Haft  in 
der  Dauer  von  1  Tage  bis  zu  3  Monaten.  7.  Geldstrafe.  8.  Verweis,  der  in 
drei  verschiedene  Arten  zerfällt. 

Jede  dieser  Kapital-  und  Korrektionsstrafen  wird  in  Grade  geteilt,  sodass 
sämtliche  Strafarten,  in  eine  Reihe  geordnet,  eine  Leiter  bilden;  bei  der  Straf- 
erhöhung und  Strafminderung  hat  der  Richter  von  einer  Stufe  dieser  Leiter 
auf  die  andere  auf-  oder  abzusteigen,  und  so  auch,  mit  einigen  Beschränkungen, 
von  einer  Strafart  auf  die  andere.  Ausserhalb  dieser  Leiter  steht  nur  die  Festungs- 
haft, die  überhaupt  nur  in  ganz  besonderen  Fällen  von  Gesetzen  angedroht  ist. 
Im  ganzen  enthält  diese  Leiter  zehn  Strafarten,  die  in  32  Grade  zerfallen. 

Die  Ergänzungsstrafen,  die  neben  Hauptstrafen  verhängt  werden, 
sind:  Rechtsaberkennung,  Veröffentlichung  des  Urteils,  Verbot  des  Aufenthaltes 
in  den  Hauptstädten,  Polizeiaufsicht  und  kirchliche  Busse. 

III.  Besondere  Strafen  werden  nur  für  amtliche  Verbr.  der  Beamten 
angewandt  und  bestehen  in  Ausschliessung  aus  dem  Dienste,  Dienstentlassung. 
Abrechnimg  von  der  Dienstzeit,    Gehaltminderung,  Verweise  und  Ermahnung. 

IV.  Als  ausschliessliche  gelten  diejenigen  Straffolgen,  die  in  das  allgemeine 
System  nicht  aufgenommen  xmd  daher  in  dem  allgemeinen  Teile  des  StGB. 
nicht  erwähnt  sind,  die  aber  in  ziemlich  häufigen  Fällen  im  besonderen  Teile 
angewendet  werden.  So  haben  die  wegen  Vatermordes  zur  lebenslänglichen 
Zwangsarbeit  (Kätorga)  in  Sibirien  Verurteilten  nicht  das  Recht,  für  gutes 
Verhalten  in  die  Abteilung  der  privilegierten  Sträflinge  (sie  besteht  aus  den 
sich  bessernden  Verbrechern)  überzugehen  und  nach  Ablauf  von  20  Jahren  be- 
freit zu  werden  (Art.  1449).  Selbstmörder  werden  nicht  nach  dem  kirchlichen 
Ritus  begraben,  und  ihre  testamentarischen  Verfügungen  sind  von  Rechtswegen 
ungültig  (Art.  1479).  Blutschande  unter  Verwandten  gerader  Linie  wird  mit 
Einzelhaft  im  Kloster  auf  die  Dauer  von  6^/^  Jahren  und  lebenslänglicher  Ein- 
sperrung in  einem  Kloster  mit  Arbeit  und  Busse,  dasselbe  Verbr.  unter  Verwand- 
ten anderer  Linien  mit  der  Einsperrung  in  einem  Kloster  mit  harter  Arbeit  be- 
straft. (Art.  1593 — 1594).  Einige  Arten  von  Religions verbr.,  wie  z.  B.  Eintritt  in 
die  Sekte  der  Altgläubigen,  werden  mit  Zwangsansiedelung  auf  dem  Kaukasus 
bestraft.  Eine  besondere  praktische  Bedeutung  dieser  ausschliesslichen  Strafen 
besteht  darin,  dass  es  für  den  Richter  unmöglich  ist,  bei  Milderuug  oder  Er- 
höhung der  Strafe  zu  den  allgemeinen  Strafarten    überzugehen. 

Als  ausserordentliche  Strafe  gilt  die  Einziehung  des  gesamten  Ver- 
mögens, die  für  das  Verbr.  des  Hochverrats  auf  Grund  eines  besonderen  Aller- 
höchsten Befehls  bestimmt  wii*d  (Art.  255). 


§  7.    Die  Strafen  des  geltenden  russischen  Rechts.  291 


V.  So  viel  von  dem  zerstückelten  und  komplizierten  Strafensystem  des 
StGB.  V.  1845,  das  durch  die  Bestimmungen  der  anderen  geltenden  Strafgesetze 
noch  verwickelter  wird.  Die  angeführten  Strafmassregeln  bilden  nur  den  Kreis 
der  Strafen,  die  von  den  Gerichten  verhängt  werden;  ausserdem  aber  giebt 
es  eine  Fülle  von  ziemlich  harten  Strafmassregeln,  die  ohne  vorläufige  Gerichts- 
entscheidang  bloss  auf  administrativem  Wege  zuerkannt  werden,  sei  es  von 
Verwaltungsorganen,  sei  es  von  den  Bauerngemeinden,  die  eine  Art  Disziplinar- 
gewalt über  ihre  Mitglieder  besitzen.  Der  Kreis  dieser  administrativen  Mass- 
regeln ist  besonders  gross  bezüglich  der  Provinzen,  in  welchen  der  grössere 
oder  kleinere  Belagerungszustand  auf  Grund  des  G.  v.  1881  erklärt  ist;  ausser 
dem  schon  erwähnten  Rechte  der  Zuweisung  von  Strafsachen  an  die  Militär- 
gerichte und  ausser  dem  Rechte,  verbindliche  Verordnungen  mit  Androhung  von 
Freiheitsstrafen  (GefUngnis)  bis  zu  3  Monaten  und  Geldstrafe  bis  zu  500  Rubel 
zu  erlassen,  ist  der  Administration  das  Recht  gegeben,  beliebige  Personen 
auszuweisen,  Handels-  und  Industrieanstalten  zu  schliessen,  Zeitungen  ein- 
zustellen usw.  In  den  anderen  Provinzen  kann  von  den  Verwaltungsbehörden 
ohne  gerichtliche  Entscheidung  Verbannung  nach  Sibirien  bis  zu  5  Jahren,  Einzel- 
haft bis  zu  4  Jahren,  Aiisweisung  aus  den  Hauptstädten  und  Polizeiaufsicht 
bestimmt  werden.  Die  Bauemgemeinden  haben  das  Recht,  ihre  verdächtigen 
Mit^^lieder  zum  Zwecke  der  Besserung  zur  Gemeindearbeit  zu  verwenden, 
ihnen  Haft  und  Geldstrafen  aufzuerlegen  und  endlich  „der  Administration  aus- 
zuliefern", was  eigentlich  Zwangsansiedelung  des  Betreffenden  samt  seiner  Fa- 
milie auf  Lebensdauer  nach  Sibirien  bedeutet. 

VI.  Die  Strafzumessung.  Im  StGB,  werden  alle  Formen  der  Straf- 
sanktion gebraucht.  Der  absolut  unbestimmten  Sanktion,  einem  Überbleibsel 
der  Moskowitischen  Periode,  begegnet  man  sehr  selten;  am  häufigsten  wird 
vom  St(}B.  die  relativ  bestimmte  Form  gebraucht.  Die  Schranken  des  richter- 
lichen Ermessens  sind  aber  ziemlich  eng  gefasst,  da  das  Gericht  bei  der  Straf- 
zumessung in  den  Grenzen  eines  bestimmten  Grades  derselben  Strafart  bleiben 
muss.  Die  Strafgrade  aber  sind  ziemlich  eng  und  bieten  sehr  selten  ein 
günstigeres  Verhältnis  zwischen  dem  Minimum  und  Maximum  als  1  :  2.  Dabei 
muss  bemerkt  werden,  dass  das  G.  nur  gesetzliche  Strafmilderungs-  und  Straf- 
erhöhungsgründe  kennt  ^)  und  die  Aufzählung  derselben  im  G.  als  eine  er- 
schöpfende zu  betrachten  ist;  deshalb  ist  sie  auch  sehr  kompliziert.  Das  G. 
unterscheidet:  Straferhöhungsgründe  einerseits,  Strafmilderungs-  und  Straf- 
minderungsgründe  andererseits;  die  Strafschärfungsgründe  und  Straftninderungs- 
gründe  geben  die  Möglichkeit  der  Wahl  innerhalb  des  gegebenen  Grades  der 
Strafart,  sodass  das  Gericht  weder  das  Minimum  noch  das  Maximum  über- 
schreiten kann.  Als  solche  Gründe  werden  vom  G.  die  grössere  und  geringere 
Intensität  des  Vorsatzes,  die  verbrecherische  Energie,  die  Brutalität  der  Hand- 
lung, die  Grösse  des  zugefügten  Schadens  usw.  angeführt  (Art.  129).  Die 
Straferhöhungsgründe,  die  eigentlich  das  einfache  Verbr.  in  ein  qualifiziertes 
umwandeln,  werden  nur  anlässlich  einzelner  Verbrechensarten  im  besonderen 
Teile  des  StGB,  aufgezählt.  Bei  ihrem  Vorliegen  wird  die  Strafe  nicht  nur 
dem  Grade,  sondern  auch  der  Art  nach  erhöht;  hierher  gehören  Einbruch 
beim  Diebstahl,  Wiederholung  des  Verbr.,  Wert  der  entwendeten  Sache  u.  dgl. 
Als  Strafmilderungsgründe  kennt  das  G.:  Reue,  Provokation,  Leichtsinn,  Not, 
Bemühungen  zur  Abwendung  der  schädlichen  Folgen  der  Handlung  (Art.  134). 
Die  Strafmilderungsgründe,  die  die  Strafe  auch  in  der  Art,  jedoch  immer 
innerhalb  der  vom  G.  bestimmten  Grenzen,  mildeni  können,  sind  teils  gesetz- 


V)  Im    GB.    für  die   Friedensrichter    ist    die   Aufzählung   der   Milderungs-    und 
Schärfungsgründe  nur  eine  beispielsweise  und  für  die  Richter  nicht  bindend. 

19* 


292  Das  russische  Kaisertam.  —  Das  geltende  russische  StR. 


liehe,  wie  z.  B.  Minderjährigkeit,  Untersnchongshaft  u.  dgl.,  teils  bestehen  sie, 
seit  der  Geltung  der  Gerichtsordnungen  v.  1864,  aus  den  von  den  Geschworenen 
zuerkannten  Milderungsgründen;  in  letzterem  Falle  ist  das  Gericht  befugt,  die 
Strafe  bis  auf  zwei  Grade  zu  mildem;  eine  fernere  Milderung  kann,  falls  das 
Gericht  sie  durch  besondere  Umstände  geboten  erachtet,  nur  im  Wege  der 
(4nade  auf  Vdg.  des  Kaisers  durch  den  Justizminister  stattfinden. 

VII.  Gründe  der  Ausschliessung  der  Strafverfolgung  und  Strafverhän- 
gung sind  nach  dem  StGB.:  1.  der  Tod  des  Verbrechers,  der  auch  die  Geld- 
strafe beseitigt,  i.  Die  Befriedigung  des  Verletzten,  die  auch  nach  dem  Be- 
ginne des  Strafvollzuges  erfolgen  kann  und  3.  die  Verjährung.  Das  russische 
StR.  kennt  keine  ürteilsverjährung.  Die  Verfolgungsverjährung  aber  ist  in 
die  Gesetzgebung  von  Katharina  II.  1775  durch  einen  UkAz  eingeführt,  der 
für  alle  Verbr.  die  civilrechtliche  zehnjährige  Verjährungsfrist  anordnet.  Aber 
noch  vor  diesem  G.  wurde  die  Verjährung  durch  Gewohnheit  anerkannt.  Im 
geltenden  Rechte  hat  der  Verlauf  der  Zeit  eine  zweifache  Bedeutung,  die 
eines  Strafmilderungsgrundes,  wie  z.  B.  bei  den  Verbr.  des  Hochverrats  und 
Vatermordes,  wo  die  Todes-  und  lebenslängliche  Zwangsarbeitsstrafe  durch 
die  Zwangsansiedelungsstrafe  in  Sibirien  ersetzt  wird,  wenn  seit  der  Begehung 
des  Verbr.  20  Jahre  verflossen  sind ;  und  die  eines  Strafausschliessungsgrundes 
bei  allen  anderen  Verbr.  Die  Verjährungsfrist  schwankt  je  nach  der  Schwere 
der  angedrohten  Strafe,  manchmal  auch  der  Art  des  Verbr.,  von  einem  halben 
Jahre  bis  zu  10  Jahren.  Die  Verjährung  ist  unabhängig  von  dem  Verhalten 
des  Verbrechers  während  der  Verjährungsfrist.  4,  Die  Begnadigung,  entweder 
in  der  Form  einer  allgemeinen  Amnestie,  laut  eines  speziellen  Allerhöchsten 
Manifestes,  oder  in  der  Form  einer  besonderen  Begnadigung,  die  in  der  Be- 
freiung von  der  Strafverfolgung  (Abolitio)  oder  in  der  Befreiung  von  der 
Strafe  nach  dem  Urteil  bestehen  kann;  in  letzterem  Falle  kann  die  Begnadi- 
gung eine  völlige  oder  teilweise  sein,  vor  dem  Beginne  der  Vollziehung  oder 
nach  demselben  geschehen.  Die  letztere  Art  der  Begnadigung  wird  in  Russ- 
land verhältnismässig  selten  angewendet.  5.  Das  Institut  der  bedingten  Ent- 
lassung ist  dem  russischen  Rechte  bis  zum  heutigen  Tage  unbekannt;  nur  für 
die  auf  Grund  des  G.  v.  1866  in  Besserungs-Kolonieen  oder  -Anstalten  unter- 
gebrachten jugendlichen  Verbrecher  kann  die  vorläufige  Entlassung  stattfinden. 

Ersetzung  einer  Strafart  durch  die  andere  findet  statt  bei  thatsächlicher 
oder  rechtlicher  Unmöglichkeit,  die  im  Urteil  bestimmte  Strafe  zu  vollziehen. 
Thatsächliche  Unmöglichkeit  ist  vorhanden,  wenn  der  zu  einer  Geldstrafe  Ver- 
urteilte zahlungsunfähig  ist,  in  welchem  Falle  Arrest  oder  Verwendung  zu 
öffentlichen  Arbeiten  eintritt ;  ferner  wenn  im  gegebenen  Orte  die  Vollziehung 
der  Strafe  in  den  Korrektionsabteilungen  oder  in  einer  Festung  unmöglich 
ist,  in  welchem  Falle  Gefängnisstrafe  eintritt.  Die  rechtliche  Ersetzung  be- 
steht in  der  auf  Allerhöchsten  Befehl  eintretenden  Ersetzung  der  Todesstrafe 
durch  den  politischen  Tod,  d.  h.  durch  die  Aberkennung  aller  bürgerlichen 
Rechte  und  die  Deportation  nach  Sibirien  mit  Zwangsarbeit ;  in  der  Ersetzung 
der  Deportation  mit  Zwangsarbeit  durch  Deportation  mit  Ansiedelung  für  Ver- 
urteilte, die  das  70.  Lebensjahr  überschritten  haben;  für  Frauen  und  über- 
haupt zur  Arbeit  Unfähige  in  der  Ersetzung  der  Detention  in  den  Korrektions- 
abteilungen durch  Gefängnisstrafe  auf  dieselbe  Dauer;  für  Ausländer  in  der 
Ersetzung  der  Verbannung  in  entfernte  Provinzen  des  europäischen  Russlands 
durch  Gef.  und  Ausweisung  aus  dem  Reiche  (oder  wenn  der  ausländische 
Staat  den  AusgcAviesenen  nicht  aufnimmt,  Polizeiaufsicht).  Für  Verurteilte  der 
nicht  privilegierten  Stände  kann  Arrest  statt  öffentlicher  Arbeiten  angewendet 
w(»rden.  Hinzuzufügen  ist,  dass  die  öffentliche  Ausstellung  auf  dem  Schafotte 
abgeschafft  ist. 


§  7.    Die  Strafen  des  geltenden  russischen  Kechts.  293 


VIII.  Gehen  wir  jetzt  zur  Besprechung  einzelner  Straf  arten  über.  Die 
Todesstrafe  wird  ohne  jede  Schärf ung  durch  Erhängen,  für  Militärverbr. 
durch  Erschiessen  vollzogen;  seit  1881  ist  die  Hinrichtung  intramuran.  Mit 
Todesstrafe  sind  bedroht:  !•  der  Hochverrat,  der  mehrere  Thatbestände  uni- 
fasst,  nämlich:  Verbr.  gegen  Leben,  Gesundheit,  Freilieit  oder  Ehre  (ausser 
Injurien,  die  nicht  in  Anwesenheit  des  Kaisers  geschehen,  wie  auch  Ma- 
jestätsbeleidigung durch  Schriften  und  Abbildungen)  des  Kaisers  und  der  Mit- 
glieder des  kaiserlichen  Hauses,  der  Versuch,  den  regierenden  Kaiser  vom 
Throne  zu  stürzen,  die  souveränen  Rechte  zu  beschränken,  Gewalt  gegen 
Schildwachen,  die  die  Person  des  Kaisers  oder  sonstiger  Mitglieder  des  kaiser- 
lichen Hauses  schützen.  Aufstand,  d.  h.  Bildung  eines  Komplottes,  Eintritt  in 
ein  Komplott,  das  die  Regierungsform  oder  die  Regierung  im  ganzen  Reiche 
oder  in  einem  einzelnen  Teile  desselben  oder  die  Thronfolge  zu  ändern  zum 
Zwecke  hat,  Landesverrat  (Art.  241—244,  244,  249,  253,  254).  Diese  Verbr. 
sind  sogar  in  den  entferntesten  Stufen  der  Verwirklichung  als  vollendet  mit 
der  Todesstrafe  belegt,  derselben  Strafe  unterliegen  die  Teilnehmer,  sogar  die 
Begünstiger;  in  der  Praxis  werden  zur  Todesstrafe  auch  Minderjährige  ver- 
urteilt. Vom  J.  1866 — 1869  sind  wegen  Hochverrates  70  Personen  zum  Tode 
verurteilt  und  40  hingerichtet  worden.  2,  Für  einige  Quarantäneverbr. ,  aber 
nur  zur  Zeit  einer  Pestepidemie.  3.  Für  Kriegsverbr. ,  die  nach  den  G.  der 
Kriegszeit  abgeurteilt  werden.  Für  gemeine  Verbr.  dagegen,  auch  für  die 
schwersten  Arten,  wird  die  Todesstrafe  vom  G.  nicht  bestimmt.  Hier  ist  sie, 
wie  bereits  erwähnt,  durch  die  Ukäze  der  Kaiserin  Elisabeth  von  1742,  1744, 
1753,  1754  abgeschafft  worden.  Aber  auch  später  wurden  verschiedene  G. 
erlassen,  die  die  Anwendung  der  Todesstrafe  für  gemeine  Verbr.  in  einzelnen 
Teilen  des  Reiches,  besonders  in  depjenigen,  die  nach  der  Kaiserin  Elisabeth 
einverleibt  worden  sind,  beseitigen,  z.  B.  im  J.  1794  für  Litauen,  1801  für 
Grusien,  1804  für  MingreUen,  1811  für  Gurien,  1826  für  Finnland.  Seither 
ist  die  Todesstrafe  für  gemeine  Verbr.  nicht  wieder  hergestellt  worden.^)  Seit 
dem  G.  von  1881  über  den  Belagerungszustand  ist  die  Möglichkeit  gegeben 
worden,  gemeine  Verbr.  in  besonders  wichtigen  Fällen,  wenn  es  nämlich  die 
Sicherung  der  Staatsordnung  erheischt,  mit  dem  Tode  zu  bestrafen,  indem  die 
Generalgouvemeure  die  Aburteilung  solcher  Fälle  den  Kriegsgerichten  über- 
weisen können.  Es  sind  auch  manche  Fälle  bekannt,  dass  Verbr.  der  Detinierten 
gegen  die  Gefängnisadministration  durch  Allerhöchsten  Befehl  den  Kriegs- 
ministem zugewiesen  wurden. 

Die  zweite  Stelle  im  Strafensystem  nimmt  die  Deportation  ein.  Sie  zer- 
fällt in  drei  Arten:  die  Deportation  mit  Zwangsarbeit  (Kätorga),  die  Depor- 
tation mit  Zwangsansiedelung  in  Sibirien  und  die  einfache  Deportation.  Die 
ersten  zwei  Arten  gehören  zu  den  Kapitalstrafen  und  sind  mit  dem  Verluste 
aller  bürgerlichen  Rechte  verbunden.  Die  letzte  steht  an  der  Spitze  der  Kor- 
rektionsstrafen, ihr  unterliegen  Personen  der  privilegierten  Stände.  Die  ein- 
fache Deportation  besteht  in  der  Verbannung  nach  Sibirien,  die  statt  Detention 
in  Korrektionsabteilungen,  zu  welcher  Nichtprivilegierte  verurteilt  werden,  aus- 
gesprochen wird,  oder  aus  Verbannung  nach  entfernten  Provinzen  des  euro- 
päischen Russlands,  an  Stelle  der  Gefängnisstrafe  für  Nichtprivilegierte. 

Die  Deportation  mit  Zwangsarbeit  hat  sich  geschichtlich  aus  zwei  ver- 
schiedenen Strafarten  entwickelt:  der  Deportation  und  der  Zwangsarbeit.  Die 
harte  Zwangsarbeit,  die  sogenannte  „Kätorga",  entsprach  vollständig  den  Ga- 

^)  Eine  Ausnahme  bildet  die  kurze  Periode  von  1834—1837,  als  die  Todesstrafe 
auf  Grund  geheimer  Reskripte  an  die  General-Gouverneure  in  Sibirien  für  gewisse 
Verbrechen  der  Deportierten  erlaubt  war.    Vgl.  Foinitski,  Die  Lehre  von  der  Strafe, 

S.  288. 


294  I^as  russische  Kaisertum.  —  Das  geltende  russische  StR. 


leren  des  alten  französischen  Strafensystems.     Zum  erstenmale  ist  die  Eatorga 
oder  Galerenstrafe  1688  erwähnt,  nachher  wurde  diese  Benennung  für  die  Hafen- 
arbeiten und  überhaupt  alle  extramuranen  Arbeiten,  für  welche  zur  Zeit  Peters 
des  Grossen  nicht  nur  Verbrecher,  sondern  alle  zur  Disposition  des  Staates  gestellten 
Personen  verwendet  wurden,  gebraucht.    Zur  Zeit  Elisabeths  bedeutete  Kätorga 
die  Minenarbeit  in  Daurien,    die  laut  des  Ukäzes  v.J.  1754  statt  der  Todes- 
strafe angewendet  wurde.     Das  Bedürfnis  des  Staats  nach  Arbeiterhänden  rief 
noch  andere  Arten  der  Zwangsarbeit  hervor,  so  Festungs-  und  Fabrikarbeiten. 
Es  entstand   ein  ganzes  System  von  Zwangsarbeiten,   die  verschiedene  Straf- 
arten bildeten.     Die  Deportiertenordnung  v.  J.  1822  und  das  StGB.  v.  J.  1845 
änderten  diesen  Zustand  Insoweit,  dass  sämtliche  Arten  der  Zwangsarbeit  als 
eine  Strafart,    die    der  Todesstrafe    im  Systeme    unmittelbar   folgt,    betrachtet 
und   dass   sie  je   nach   der  Dauer  und  der  Art  der  Arbeit   in  verschiedenen 
Stufen  verteilt  werden.    Die  geschichtlich  ausgebildete  Unterscheidung  der  Minen-, 
Festungs-  und  Fabriks-Zwangsarbeit  wird  in  der  neueren  Zeit  beseitigt.   Zuerst 
verschwand  die  Fabrikszwangsarbeit,  da  der  Mangel  an  Arbeitern  immer  ge- 
ringer wurde,  und  die  Fabriken  selbst  aus  dem  Betriebe  des  Staates  in  den 
der  Privatuntemehmung  übergingen.    Ebenso  hat  die  Festungsarbeit  aufgehört. 
Es  bleiben  nur  die  Minenarbeiten  der  Deportierten,   die  auch  am  Vorabende 
ihres  Verschwindens   stehen,    da   die   Minen   Privateigentum    des   kaiserlichen 
Hauses  sind  und  dessen  Verwaltung  die  Zwangsarbeit   der  Deportierten  nicht 
für  vorteilhaft  findet.    In  den  70er  Jahren  war  die  Kätorga  ganz  desorganisiert; 
daher  wurden  an  verschiedenen  Punkten  des  europäischen  Teiles  des  Reiches 
sogenannte  Centralkätorgagefängnisse  errichtet,  in   denen  die  zur  Deportation 
mit  Zwangsarbeit  Verurteilten  in  gemeinsamer  Detention  ohne  Arbeit  und  imter 
einem  sehr  strengen  Regime  ihre  Strafzeit  verbrachten.     Die  Resultate  waren 
sehr   bedauerliche,    die  Mortalität  stieg   in    diesen  Gef.  bis  auf  25 ^/^  jährlich. 
Dies  hatte  zur  Folge,   dass  einerseits  die  Verbrecher  nach  der  Insel  Sachalin 
transportiert  und  dort  zu  landwirtschaftlichen  und  Kohlenminenarbeiten  ver- 
wendet wurden,    xmd  andererseits  die  Überzeugung  sich  befestigte,   dass   die 
Zwangsarbeit  nicht  als  kostenlose  Arbeit  für  die  Bedürfnisse   des  Staates  zu 
betrachten  sei,  sondern  ein  selbständiges  Strafmittel  bilde,   das  für  den  Staat 
mit  Kosten  verbunden  ist.     Im  jetzigen  Rechte  wird   die  KÄtorga  nicht  mehr 
nach  der  Art  der  Arbeit,   sondern  nach  ihrer  Dauer  in  sieben  Stufen  geteilt: 
die  mindeste  Dauer  beträgt  4  Jahre,  das  Höchstmass  ist  lebenslängliche  Dauer; 
die  Verurteilten  werden  zuerst  in   die  Kategorie    der  Geprüften  versetzt  und 
nach  einiger  Zeit,  wenn  sie  sich  gut  verhalten,  in  die  Kategorie  der  Gebesserten 
überführt;  hier  ist  das  Regime  etwas  milder  und  die  Strafdauer  kann  ftlr  die 
in   dieser  Kategorie  Befindlichen  verkürzt  werden.     Die  zur  lebenslänglichen 
KAtorga  Verurteilten  bleiben  20  Jahre  in  der  Arbeit;   die  wegen  Vatermordes 
Verurteilten   werden   von    der  Arbeit   nur   im  Falle    der   gänzlichen   Arbeits- 
unfähigkeit befreit.    Nach  dem  Ablaufe  der  Arbeitszeit  werden  die  Deportierten 
an  bestimmten  Punkten  Sibiriens  angesiedelt;  Vatermörder  bleiben  auch  dann 
im  Gef.   —  Die  Deportation  mit  Zwangsansiedelung,   die  die  nächste  Strafart 
bildet,  zerfällt  in  zwei  Stufen:  Deportation  nach  ganz  entfernten  und  Deportation 
nach   weniger   entfernten    Gegenden   Sibiriens.     Die   Regierung   erprobte  ver- 
schiedene Systeme  der  Ansiedelung;  so  bildete  man  neue  Dörfer,  die  von  De- 
portierten bevölkert  wurden,  Häuser  wurden  für  sie  gebaut  und   das  nötige 
Inventar  geschaffen,  was  selbstverständlich  mit  grossen  Kosten  verbunden  war. 
Die  Angesiedelten  verliessen  aber  bald  ihre  neue  Heimat;   daher  und  um  die 
Deportierten   durch  Schaffung  von  Familien   in   den  angewiesenen  Orten   fest- 
zuhalten,   verteilte  man   sie   in  verschiedene  Familien    der  Einwohner,   denen 
man  dafür  Prämien  aussetzte.    Dieses  System  ist  jetzt  ganz  aufgegeben;  ebenso 


§  7.    Die  Strafen  des  geltenden  russischen  Rechts.  295 


ist  das  noch  in  der  moskowitischen  Periode  nnd  im  G.  v.  1806  normierte 
System  der  Unterstützung  der  Deportierten  in  landwirtschaftlicher  Einrichtung 
ausser  Gebrauch  gekommen.  Gegenwärtig  werden  die  Deportierten  verschiedenen 
Gemeinden  zugeschrieben,  die  sie  mit  Boden  versehen  und  eine  Art  von  vor- 
mundschaftlicher Aufsicht  ausüben.  Zum  selbstberechtigten  Mitglied  der  Ge- 
meinde wird  der  Deportierte  erst  nach  Ablauf  von  10  Jahren.  Die  Gemeinden 
schenken  gewöhnlich  den  Deportierten  wenig  Zutrauen  und  behandeln  sie  ziem- 
lich stiefmütterlich;  daher  laufen  die  Angesiedelten  fort,  vergrössem  die  ohne- 
dies schon  grosse  Zahl  der  Vagabunden,  verfallen  in  das  professionelle  Ver- 
brechertum, terrorisieren  die  Umgegend  und  kehren  zu  ihren  Gemeinden  erst 
dann  zurück,  wenn  sie  körperlich  ganz  herabgekommen  und  zum  Vagabunden- 
leben ganz  unfähig  sind;  sie  fallen  dann  der  Gemeinde  zur  grossen  Last.  Wie 
die  Erfahrung  lehrt,  richtet  sich  nur  ^/.>^/o  ^^^  Angesiedelten  ein.  Als 
Ursache  dieser  traurigen  Erfolge  der  Zwangsansiedelung  sind  folgende  Um- 
stände zu  betrachten:  1*  Mangel  an  Frauen,  und  daher  die  Familienlosigkeit 
der  Deportierten;  der  Prozentsatz  der  Frauen  unter  den  De])ortierten,  die  frei- 
willig folgenden  mit  eingerechnet,  übersteigt  nicht  14*^/^,  auch  ist  der  grösste 
Teil  derselben,  dank  ihrem  ftüheren  verbrecherischen  Lebenswandel,  kaum  zur 
Bildung  einer  festen  Familie  fähig.  Die  ansässigen  Frauen,  die  überhaupt 
einen  kleinen  Bestandteil  der  Bevölkerung  bilden,  sind  sehr  wenig  geneigt, 
sich  mit  einem  Deportierten  zu  verheiraten.  Es  kann  jetzt  auch  nicht  mehr 
die  von  Peter  I.  angeordnete  Massregel  getroffen  werden,  dass  Weiber  für  die 
Deportierten  bei  den  nomadischen  Völkerschaften  Sibiriens  gekauft  werden. 
2.  Eine  erfolgreiche  Ansiedelung  setzt  den  Besitz  von  irgend  welchem  Ver- 
mögen bei  den  Angesiedelten  voraus;  in  Wirklichkeit  aber  kommen  die  De- 
portierten nach  Sibirien  mit  einem  Vermögen,  das  durchschnittlich  den  Wert 
von  drei  Rubeln  nicht  übersteigt.  3.  Ein  grosses  Hindernis  der  Entwickelung 
eines  gesunden  bürgerlichen  Lebens  bei  den  Deportierten  bildet  ihre  Recht- 
losigkeit, die  das  Resultat  der  Rechtsentziehung  ist.  4.  Das  grösste  Übel  ist 
der  hohe  Prozentsatz  der  Kranken  und  Arbeitsunfähigen  unter  den  Depor- 
tierten, der  manchmal  42  ^/^  beträgt.  Dieser  Umstand  ist  dadurch  bedingt, 
dass  nach  Sibirien  Personen  jedes  Alters  und  jedes  Gesundheitszustandes  depor- 
tiert werden,  dass  die  Deportierten  fast  den  ganzen  langen  Weg  zu  Fuss  in 
der  Etappenordnung  zurücklegen,  dass  die  klimatischen  Verhältnisse  Sibiriens 
von  denen  des  europäischen  Russlands  ganz  verschieden  sind,  und  endlich, 
dass  zur  Deportation  Personen  mit  einer  verbrecherischen  und  lasterhaften 
Vergangenheit,  die  einen  üblen  Einfluss  auf  ihren  körperlichen  Zustand  übt, 
verurteilt  werden.  Dabei  ist  auch  noch  zu  bemerken,  dass  die  Deportation 
mit  grossen  Kosten  verbunden  ist  und  dass  sie  die  gesunde  Entwickelung 
Sibiriens  hemmt.  Wie  wir  gesehen,  hat  die  Erfahrung;,  die  Russland  mit  der 
Deportation  im  Laufe  von  Jahrhunderten  gemacht  hat,  nur  die  dunkeln  Seiten 
(lieser  Strafart  bezeugt,  und  wie  verlockend  auch  die  Idee  der  Verwendung 
der  Deportation  als  eines  Strafmittels  sein  mag,  so  muss  man  doch  auf  Grund 
der  russischen  Praxis  zu  der  Überzeugung  ihrer  Schädlichkeit  notwendig 
gelangen.^) 

^)  Gegen  diese  Ansicht  spricht  sich  Tagautsew  aus,  der  Anhänger  der  Depor- 
tation als  eines  Strafmittels  ist,  und  der  glaubt,  dass  „wir  auf  Grund  der  russischen 
Erfahrungen  nicht  zum  Schlüsse  kommen  können,  dass  die  Deportation  als  Strafmittel 
nicht  anwendbar  sei;  nur  dies  sei  zu  konstatieren,  dass  in  der  gegenwärtigen  Organi- 
sation die  Deportation  unzweckmässig  ist  und  eine  wesentliche  Reform  fordert."  Aber 
um  zu  einer  zweckmässigen  Organisation  zu  kommen,  hat  Russland  mehr  als  drei 
Jahrhunderte  Zeit  gehabt,  und  doch  mangelt  es  an  einer  solchen  bis  jetzt;  ja  Tagan- 
tsew  selbst  weist  keine  Periode  unserer  Geschichte  auf  —  und   kann    es   auch   nicht 


296  I^&s  russische  Kaisertum.  ~  Das  gelteude  russische  StR. 


Die  Skala  der  Korrektionsstrafen  beginnt  mit  der  einfachen  Deportation 
für  privilegierte  Klassen  der  Bevölkerung.  Die  Nichtprivilegierten  unterliegen 
statt  der  Deportation  der  Detention  in  den  Korrektionsabteilungen  (biß  zu 
4^9  Jahren).  Die  einfache  Deportation  besteht  in  der  Ausweisung  aus  dem 
Aufenthaltsorte  des  Verurteilten  und  der  Einweisung  in  einen  bestimmten  Ort, 
sei  es  in  Sibirien,  sei  es  in  einer  der  entfernten  Provinzen  des  europäischen 
Eusslands,  mit  dem  Verbote,  während  einer  Dauer  bis  zu  12  Jahren  denselben 
zu  verlassen.  Die  Deportation  erw^artet  in  nächster  Zukunft  eine  gründliche 
Reform.  Der  Entw.  eines  neuen  StGB,  beseitigt  die  einfache  Deportation  und 
behält  nur  die  Deportation  mit  Zwangsansiedelung  in  Sibirien,  und  das  nur 
als  eine  besondere  Straf art  für  einige  Gewissensverbr.,  bei.  Die  harten  Arbeits- 
strafen werden  nach  dem  Entw.  nicht  in  Sibirien  vollzogen;  erst  nach  dem 
Ablaufe  der  Strafzeit  sollen  die  Verurteilten  nach  Sibirien  transportiert  werden. 
Mit  diesem  Entw.,  wenn  er  G.  wird,  wird  ein  fernerer  Schritt  zur  Beschränkung 
der  Deportation  gemacht  werden,  die  schon  mit  der  Deportiertenordnung  von 
1822  beginnt.  Aber  dabei  wird  man  gewiss  nicht  stehen  bleiben;  die  Durch- 
führung der  sibirischen  Eisenbahn  wird  den  Augenblick  der  völligen  Ab- 
schaffung der  Deportation  und  der  Befreiung  Sibiriens  von  der  Verbrecher- 
bevölkerung des  ganzen  Russlands  nur  näher  rücken.^) 

Die  Freiheitsentziehung  als  Strafinittel  wird  jetzt  bloss  in  drei  Arten  ge- 
teilt: 1.  Detention  in  den  Korrektionsabteilungen ;  8.  Gefängnisstrafe;  und  3.  Haft 
von  kurzer  Dauer.  Als  eine  besondere  Strafe  steht  neben  dieser  die  Festungs- 
haft. In  den  Korrektionsabteilungen  werden  nur  Männer  der  nichtprivilegierten 
Stände  angehalten.  Die  Korrektioushäuser  erscheinen  zuerst  am  Ende  des 
zweiten  Jahrzehnts  dieses  Jahrhunderts  und  waren  bestimmt  für  Sträflinge,  die 
unter  Militärregime  für  Arbeiten  ausserhalb  der  Anstalt  verwendet  waren;  jetzt 
werden  die  Detinierten  innerhalb  der  Anstalt  beschäftigt  und  die  Hausordnung 
ist  etwas  milder  als  vorher.  1890  befanden  sich  im  ganzen  Reiche  32  Kor- 
rektionsabteilungen mit  einer  durchschnittlichen  täglichen  Bevölkerung  von 
11  156  Mann;  jährlich  werden  zur  Detention  in  diesen  Anstalten  bis  zu  10 000 
Verbrecher  verurteilt.  Die  Sträflinge  werden  Tag  und  Nacht  in  gemeinsamer 
Haft  gehalten;  die  besten  Sträflinge  werden  nach  Ablauf  von  2  Jahren  in  die 
Kategorie  der  Gebesserten  versetzt  und  gemessen  manche  Begünstigungen;  hier 
werden  10  Monate  für  ein  Jahr  angerechnet.  Bei  schlechtem  Verhalten  können 
sie  aus  dieser  Kategorie  ausgeschlossen  werden.  Vor  dem  Ablauf  der  Straf- 
zeit wird  bei  der  Gemeinde,  zu  welcher  der  Sträfling  gehört,  angefragt,  ob 
sie  nacli  der  Befreiung  den  Entlassenen  unter  ihre  Aufsicht  zu  nehmen  geneigt 
ist;  bei  günstiger  Antwort  wird  der  Entlassene  der  Gemeinde  ausgeliefert,  im 
entgegengesetzten  Falle,  der  mit  ganz  seltenen  Ausnahmen  in  Wirklichkeit 
immer  eintrifiPt,  wird  der  Entlassene  in  Sibirien,  namentlich  in  den  Gouverne- 
ments Tobolsk  oder  Tomsk  auf  administrativem  Wege  angesiedelt.  —  Die 
Gefängnisstrafe,  in  der  Dauer  von  2  Monaten  bis  zu  2  Jahren,  wird  der  Dauer 
nach  in  9  Stufen  geteilt  und  je  nach  dem  Eintritt  oder  Nichteintritt  der  Rechts- 
entziehung unterschieden.  In  der  Regel  wird  gemeinsame  Haft  angewendet; 
das  G.  V.  1887  giebt  aber  der  Gefängnisverwaltung  das  Recht,  die  Einzelhaft 
auf  die  Dauer  von  höchstens  1^2  Jahren  anzuwenden,  wobei  für  das  erste  Jahr 
3  Tage  gleich  4,  später  2  Tage  gleich  3  Tagen  gerechnet  werden.  Seit  dem 
G.  V.  1886    ist   die  Arbeit   in   den  Gef.  innerhalb  oder  ausserhalb  der  Anstalt 

thun  — ,  in  welcher  die  Deportation  in  irgend  welchem  Masse  zweckmässig  organi- 
siert gewesen  wäre. 

*)  Über  die  Deportation  und  Kolonisation  Sibiriens  vgl.  Jadrientsew,  Sibirien 
als  eine  Kolonie,  1882;  derselbe,  Die  russische  Gemeinde  in  Gefängnissen  und  Ver- 
bannung, 1872.    Maxlniow,  Sibirien  und  die  Kdtorga,  1867. 


§  7.    Die  Strafen  des  geltenden  russischen  Rechts. 


297 


obligatorisch;  einen  Teil  des  Arbeitslohnes,  nämlich  ^/^q,  bekommt  der  Sträfling, 
^I^Q  kommen  dem  Fiskus  und  die  übrigen  ^/j^  der  Anstalt  zu.  Die  letztere 
Summe  wird  zur  Instandhaltyng  der  Werkzeuge,  zur  Belohnung  der  für  die 
Bedürfhisse  des  Gef.  beschäftigten  Sträflinge  verwendet,  und  der  Rest  der  Ge- 
fängnisverwaltung  überlassen. 

Die  leichteste  Art  der  Freiheitsentziehung  endlich  ist  die  einfache  Haft, 
in  der  Dauer  von  3  Tagen  bis  zu  3  Monaten;  der  Dauer  nach  wird  sie  in 
4  Stufen  geteilt.  Sie  besteht  in  einfacher  Freiheitsentziehung  ohne  obligatorische 
Arbeit;  die  Verhafteten  haben  das  Recht,  ihre  eigene  Kleidung  zu  benutzen 
und  auf  eigene  Kosten  sich  zu  nähren. 

Um  einen  Begriff  von  der  Zahl  der  Gefängnisbevölkerung  aller  Kategorieen 
in  Russland  zu  geben,  mag  die  folgende  Tabelle,  die  amtliche  Angaben  über 
diese  Zahl  im  Jahre  1890  enthält,  angeführt  werden. 


■ 

Oesan 

ntzahl 
inter 

0 
>3 

Franen 

i^ 

Dan 

^4H 

Sa 

Es  waren: 

i 

dg 

Yerarteilte 

anf  be- 
stimmte Zeit 

Deportierte 

Freiwillig  d 

Deportierte 

Folgende 

Am  1.  Januar  1890  .  .  . 

Während     des     Jahres 
1890  angekommen  .  . 

Während  desselben  Jah- 
res entlassen 

Am  1.  Januar  1892  ge- 
blieben     

68,820 
454,853 
455,416 

68,257 

7,555 
68,402 
68,571 

7,386 

73,781 
55,291 
20,832 

109,776 

123,325 
43,049 

53,659 

59,663 

4,638 

244,726 

244,162 

4,692 

6,006 

5,879 

752 

35,307 

35,659 

1,656 

75,6 

43 1) 

Die  Durchschnittszahl  für  den  Tag,  die  freiwillig  folgenden  nicht  mit 
gerechnet,  ist  74,415,  daninter  65,987  Männer  und  7,428  Frauen:  die  Zahl 
der  Kranken  ist  im  Durchschnitte  für  den  Tag  4,393,  also  6^/^,  die  Durch- 
schnittszahl der  Gefängnissträflinge  ist  33,967  (29,719  Männer,  4,248  Frauen); 
die  der  Gefangenen  in  den  Korrektionsabteilungen  6,960  und  die  der  Häftlinge 
441.  Dazu  kommen  etwa  10,500  Deponierte,  die  in  den  Strafanstalten  auf 
der  Insel  Sachalin  detiniert  werden. 

Die  Entziehung  der  Rechte  ist  dem  russischen  Rechte  bis  Peter  dem 
Grossen  unbekannt.  Dieser  entnahm  1716  dem  deutschen  Rechte  eine  besondere 
Strafart,  die  öffentliche,  durch  den  Strafvollzieher  geraachte  Erklärung,  dass  der 
Verurteilte  ein  Schelm  sei,  was  den  Verlust  jedes  Zutrauens,  des  Eides  und 
der  Zeugnisfähigkeit,  den  Verlust  des  Schutzes  der  Gesetze  und  der  Gerichte  zur 
Folge  hatte;  der  Verurteilte  war  also  vogelfrei,  es  war  verboten,  mit  ihm  in 
Berührung  zu  kommen,  nur  seine  Tötung  wurde  mit  Strafe  belegt.  Derselbe 
Kaiser  führte  das  Anathema  ein,  das  in  der  vollständigen  Exkommunikation 
nicht  nur  aus  der  Kirche,  sondern  auch  aus  der  bürgerlichen  Gesellschaft  be- 
stand. Diese  Exkommunikation  wurde  der  politische  Tod  genannt.  Später 
wurde  der  politische  Tod,  laut  dem  obenerwähnten  G.  der  Kaiserin  Elisabeth 
v.  1753,  statt  der  Todesstrafe  angewendet  und  führte  die  lebenslängliche  De- 
portation, Leibesstrafen,  Ausreissung  der  Nasenflügel  mit  sich.  Im  Swod 
Zakonow  und  nachher  im  StGB.  v.  1845  findet  sich  ein  ziemlich  kompliziertes 


*)  Ausser  (7,268  Männern  und  1,505  Frauen)  in  den  Gefängnissen  Polens. 


298  Das  russische  Kaisertum.  —  Das  geltende  russische  StR. 


System  der  Rechtsentziehung;  es  wird  unterschieden  1.  der  Verlust  einiger 
Rechte  und  Privilegien;  8.  der  Verlust  aller  besonderen  Standesrechte  und 
Privilegien;  und  3.  der  Verlust  aller  bürgerliclien  Rechte.  Alle  diese  Arten 
sind  lebenslänglich  und  treten  als  notwendige  Folge  der  ausgesprociieneu 
Strafen  ein.  Ausserdem  kennt  die  russische  Gesetzgebung  4.  den  Verlust  von 
bestimmten  professionellen  Rechten,  z.  B.  des  Rechtes  der  ärztlichen  Praxis,  des 
Rechtes  eine  Apotheke  zu  verwalten,  industrielle  Anstalten  zu  betreiben,  sich 
mit  dem  Handel  zu  beschäftigen  usw.  Hierher  gehört  auch  der  Verlust  des 
Rechtes,  in  einem  bestimmten  Orte  sich  aufzuhalten,  minderjährige  Lehrlinge 
im  Handwerke  zu  benutzen  usw.  Dieser  Verlust  ist  entweder  lebenslänglich 
oder  von  einer  bestimmten  Dauer.  Der  Verlust  einzelner  Rechte  bedeutet  die 
Unfähigkeit,  öffentliche  Ämter  zu  bekleiden,  den  Verlust  des  passiven  und 
aktiven  Wahlrechtes;  der  Verurteilte  behält  aber  seine  Standesrechte  und  alle 
Privilegien  und  Auszeichnungen,  die  er  im  Staatsdienste  bis  zur  Verurteilung 
erworben  hat  (ausser  den  Geistlichen,  die  ihre  Qualität  einbüssen).  Diese  Strafe 
besteht  hauptsächlich  nur  in  Entziehung  der  amtlichen  Rechte.  Der  Verlust 
aller  besonderen  Rechte  umfasst  ausser  den  erwähnten  Rechten  die  privilegierten 
Standesrechte  und  alle  Auszeichnungen ;  also  Verlust  des  Adels,  der  Ehrentitel ; 
des  Rechtes,  in  den  Kaufmannstand  aufgenommen  zu  werden  usw.,  femer  des 
Rechtes  auf  Beschäftigungen,  die  mit  öffentlichem  Vertrauen  verbunden  sind 
(als  Vormund  gewählt  zu  werden,  Anwalt  zu  sein,  Zeugnis  in  Civilsachen  al>- 
zulegen  usw.).  Der  Verlust  aller  bürgerlichen  Rechte  umfasst  ausser  den  bei 
den  ersten  zwei  Arten  erwähnten  1.  den  Verlust  der  Vermögensrechte;  in  den 
Besitz  des  Vermögens  des  Verurteilten  treten  seine  Erben  wie  im  Falle  des 
Todes;  der  Verurteilte  kann  selber  nicht  Erbe  sein  und  er  wird  in  der  Erb- 
schaft von  seinen  Erben  repräsentiert.  Das  6.  enthält  keine  Bestimmungen 
über  das  Recht,  Vermögen  zu  erwerben;  nur  in  der  Deportiertenordnung  finden 
sich  manche  Bestimmungen  darüber.  Der  Verurteilte  kann  nämlich  Mobilien 
besitzen,  (es  wird  sogar  amtliche  Rechnung  über  die  von  den  Deportierten 
mitgenommenen  Gelder  geführt).  Immobilien  können  nur  die  zu  der  Kategorie 
der  Gebesserten  gehörenden  Sträflinge  erwerben,  es  wird  ihnen  gestattet, 
Bodenparzellen  und  Häuser  in  der  Nachbarschaft  der  Strafanstalten  durch  die 
sogenannte  „Expedition  der  Deportierten"  zu  kaufen.  Die  angesiedelten  De- 
portierten können  selbständig  in  ihrem  Wohnungsort  Immobilien  erwerben; 
nach  ihrem  Tode  erben  nur  diejenigen  Verwandten,  die  selbst  in  Sibirien 
wohnhaft  sind,  bei  dem  Nichtvorhandensein  solcher  fällt  das  Vermögen  an 
den  sogenannten  „Fonds  für  Unterhaltung  der  arbeitsunfähigen  Deportierten". 
Nach  Ablauf  von  10  Jahren  hat  der  Deportierte  das  Recht,  in  den  Bauern- 
stand aufgenommen  zu  werden,  imd  damit  erhält  er  auch  alle  Vermögensrechte 
ohne  jede  Einschränkung.  2.  Den  Verlust  der  Familienrechte,  a)  Die  früher 
geschlossene  Ehe  wird  auf  Wunsch  des  nicht  verurteilten  Ehegatten  gelöst, 
wenn  keine  konfessionellen  Hindemisse  vorhanden  sind;  nicht  aber  kann  die 
Ehe  auf  Wunsch  des  Verurteilten  selbst  gelöst  werden.  Die  zur  Kätorga  Ver- 
urteilten haben  nicht  das  Recht,  eine  Ehe  zu  schliessen,  bis  sie  in  die  Kategorie 
der  (lebesserten  eintreten;  in  der  Praxis  aber,  da  die  Familienbildung  füi* 
die  Deportierten  höchst  wünschenswert  ist,  wird  die  frühere  Ehe,  wenn  der 
nicht  verurteilte  Ehegatte  nach  Sibirien  nicht  gefolgt  ist,  gelöst  und  neue  Ehe- 
schliessung gestattet,  b)  Verlust  der  Elternrechte  über  die  Kinder,  die  vor 
der  Verurteilung  geboren  sind,  aber  nur  wenn  die  Kinder  dem  verurteilten 
Vater  oder  der  Mutter  nicht  nach  Sibirien  folgen,  was  bei  Minderjährigkeit 
der  Kinder  von  dem  nicht  verurteilten  Ehegatten  abhängt.  Endlich  c)  die 
Lösung  aller  Verwandtschaftsbande,  was  für  die  Erbschaft  und  Vormundschaft 
von  Bedeutung  ist.    Wie  wir  sehen,  ist  auch  diese  Art  der  Rechtsentziehung  von 


§  8.    Der  besondere  Teil  des  nissischen  StR.  299 


dem  sogenannten  bürgerlichen  Tode  weit  entfernt;  auch  ist  ihre  Lebensläng- 
lichkeit nur  bedingt  und  ebensowenig  absolut  wie  die  lebenslängliche  Kätorga 
selbst. 

Die  übrigen  Strafarten  des  Strafensystems  sind  die  Geldstrafe  und  der 
Verweis.  Die  erstere  wird  in  der  Regel  als  eine  selbständige  Strafe  an- 
gewendet, nur  ausnahmsweise  ist  sie  Ergänzungsstrafe;  bei  Zahlungsunfähigkeit 
wird  sie  durch  Haft  oder  Verwendung  zu  öffentlichen  Arbeiten  ersetzt.  Die 
Höhe  der  Summe  wird  vom  G.  festgesetzt,  nur  in  einigen  Fällen  wird  sie  als 
Zweifaches,  Dreifaches  des  Wertes  des  zugefügten  Schadens  bestimmt  (Forst- 
diebstahl, Zollvergehen  usw.).  Gewöhnlich  steigt  die  Summe  nicht  über 
300  Rubel,  eine  Ausnahme  bilden  die  fiskalischen  Übertretungen. 

IX.  Das  Strafensystem  des  Entw.  ruht  auf  dem  G.  v.  1879  und  ist 
wesentlich  vereinfacht.  Allgemeine  Strafarten  sind  Todesstrafe,  KAtorga  mit 
nachfolgender  Deportation,  Korrektionshaus,  Gef.,  Haft  und  Geldstrafe;  be- 
sondere Strafmittel,  Deportation,  Festungshaft  und  Vei-weis  für  Minderjährige. 
Die  Rechtsentziehung  besteht  in  der  Aberkennung  der  Standes-,  Amts-  und 
Ehrenrechte;  die  Entziehung  der  Vermögens-  und  Familien-Rechte  wird  be- 
seitigt, es  treten  aber  im  Interesse  der  Familie  des  Verurteilten  manche  Be- 
schränkungen in  der  Ausübung  von  Vermögens-  oder  Familienrechten  seitens 
des  zu  einer  lebenslänglichen  Strafe  Verurteilten  durch  die  bürgerliche  Ciesetz- 
gebung  ein. 

§  8.    Der  besondere  Teil  des  russischen  StR.^) 

I.  Das  ganze  StGB,  ist  in  12  Abschnitte  geteilt,  von  denen  der  erste  den 
allgemeinen  Bestimmungen  gewidmet  ist;  die  übrigen  11  Abschnitte  enthalten 
Bestimmungen  über  einzelne  Verbrechensarten,  nämlich :  Abschnitt  II  Verbr. 
gegen  die  Religion;  III  gegen  den  Staat;  IV  gegen  die  öffentliche  Ordnung; 
V  Amtsverbrechen;  VI  gegen  Steuer-  und  Staatspflicht-Ordnungen;  VII  gegen 
den  Fiskus;  VIII  wider  die  öffentliche  Wohlfahrt  und  Polizei;  IX  gegen  die 
Standesrechte;  X  gegen  Leben,  Gesundheit  und  Ehre  der  Privatpersonen; 
XI  gegen  Familienrechte  und  XII  gegen  das  Vermögen.  Die  Verfasser  des 
StGB  wurden  zur  Annahme  dieses  Systems  durch  zwei  Umstände  bestimmt. 
Eretens  wünschten  sie  in  dem  StGB.,  das  den  Schutz  der  allgemeinen  Normen 
verwirklichen  soll,  dem  System  zu  folgen,  das  in  der  Gesetzgebung  überhaupt, 
d.  h.  im  „Swod  Zakonow"  durchgeführt  ist;  einzelne  Abteilungen  des  StGB, 
sollen  den  einzelnen  Bänden  des  Swod  entsprechen;  zweitens  berücksichtigen 
die  Verfasser  auch  die  innere  Natur,  die  Richtung  der  strafbaren  Handlungen. 
Jeder  Abschnitt  ist  in  Kap.  geteilt;  die  Kap.  in  Teile  und  Paragraphen;  alle  Abt., 
Kap.,  Teile  und  Paragraphen  sind  betitelt.  Im  ganzen  enthalten  die  XI  Ab- 
schnitte des  besonderen  Teils  des  StGB  75  Kap.,  88  Teile  und  45  §§,  also  im 
ganzen  219  verschiedene  Titel.  Da  die  Kodifikation  der  Verbr.  auf  den  Cha- 
rakter der,  durch  die  strafrechtlichen  Bestimmungen  zu  sichernden,  Normen 
und  Rechte,  aber  nicht  auf  die  juristische  Natur  der  Begriffe  gegründet  ist, 
so  sind  Bestimmungen,  die  sich  auf  einen  und  denselben  Begriff  beziehen,  an 
verschiedenen  Orten   des  StGB   zu   finden.     So   sind  z.  B.  die  Verbrechen    der 


^)  Litteratur:  Lochwitski,  Kursus  1867;  Nekljudow,  Handbuch  des  besonderen 
Teils,  1872—1876;  Budsinski,  Über  einzelne  Verbrechensarten,  1878;  Foinitski,  Der 
besondere  Teil  des  Strafrechts,  1890;  Tagantsew,  Verbrechen  gegen  das  Leben;  Du- 
chowskoj,  Die  Verleumdung;  Bjelogritz-Kotljarewski,  Religionsverbrechen;  derselbe. 
Der  Diebstahl;  Tallberg,  Die  gewaltsame  Entwendung  fremden  Vermögens;  Foinitski. 
Der  Betrug;  Essipow,  Die  Beschädigung  von  Vermögen  durch  Feuer;  Sokolski,  Über- 
tretung der  Fiskalbestimmungen. 


300  ^&s  rassische  Kaisertum.  —  Das  geltende  russische  StR. 


Urkundenfälschung  oder  die  Bestimmungen  über  den  Diebstahl  im  ganzen 
StGB,  zerstreut.  Selbstverständlich  ist  diese  Zerreissung  des  begrifflich  Ein- 
heitlichen mit  grossen  Schwierigkeiten  für  die  Praxis  verbunden.  Viel  ein- 
facher ist  die  von  dem  6B.  für  die  Friedensrichter  angenommene  Einteilung. 
Es  besteht  aus  30  Kap.,  von  denen  das  erste  den  allgemeinen  Bestimmungen 
und  die  übrigen  den  Bestimmungen  über  einzelne  Verg.  gewidmet  sind.  Bei 
der  Systematisierung  der  einzelnen  Vergehensarten  hat  auch  hier  das  System 
des  StGB,  seinen  Einfiuss  geübt,  da  jenes  GB.  durch  Aussonderung  der  leich- 
teren Verg.  aus  dem  StGB,  sich  gebildet  hat. 

II.  Die  Strafbestimmungen  überVerbr.  gegen  die  Religion  haben  zum 
Zweck  den  Schutz  der  Gegenstände  religiöser  Achtung  und  besonders  der 
herrschenden  staatlichen  Religion,  der  Orthodoxie.  Die  manchmal  recht  hart 
verpönten  Handlungen  umfassen  einen  ziemlich  weiten  Kreis,  indem  ausser  der 
Gotteslästerung  (Strafe:  Deportation  mit  Kätorga  bis  zu  20  Jahren)  einen  ziem- 
lich wichtigen  Platz  das  Bekehren  und  der  Abfall  vom  wahren  Glauben,  nicht 
nur  in  eine  nicht  christliche,  sondern  auch  in  eine  andere  christliche  Kon- 
fession, einnimmt.  Streng  bestraft  ist  auch  die  Teilnahme  an  verbotenen  Sekten, 
nicht  vergessen  die  Nichterfüllung  von  religiösen  Geboten.  Eine  besondere 
Erwähnung  findet  hier  der  Diebstahl  von  geweihten  Gegenständen  aus  christ- 
lichen Kirchen.  Zu  den  Religionsverbrechen  rechnet  das  StGB,  auch  den  so- 
genannten Totenraub  (d.  h.  das  öffnen  der  Gräber  und  die  Beraubung  dt*r 
Leichen)  und  den  Meineid.  Intoleranz,  Kontrolle  über  das  Gewissen  und  end- 
lich harte  Strafen  charakterisieren  diese  Abt.  des  StGB.,  eine  direkte  Erbschaft 
des  Ulozh6n\je  von  1648,  sodass  die  Praxis  sich  genötigt  sieht,  die  Bestim- 
mungen dieser  Abt.  milde  anzuwenden. 

III.  Die  Verbrechen  gegen  den  Staat  zerfallen  in  Handlungen  gegen 
den  obersten  Träger  der  Staatsgewalt,  so  gegen  Leben  oder  Gesundheit  des 
Kaisers  oder  der  Mitglieder  des  Kaiserlichen  Hauses,  gegen  ihre  Freiheit, 
Handlungen,  die  den  Sturz  des  regierenden  Kaisers  zum  Zwecke  haben,  Maje- 
stätsbeleidigungen, die  einen  weiten  Umfang  haben  und  mit  harten  Strafen 
belegt  sind.  Bestraft  werden  auch  diejenigen,  in  deren  Anwesenheit  die  be- 
leidigende Äusserung  gemacht  worden  ist  und  die  dies  nicht  verhindert  haben. 
Femer  in  Handlungen  gegen  die  gesetzliche  Gewalt  und  gegen  die  Integrität 
des  Staates,  so  Aufstand,  Hochverrat,  Verbr.  gegen  fremde  Staaten  und  ihre 
Repräsentanten  usw.  Wie  wir  schon  oben  Gelegenheit  hatten  zu  bemerken, 
ist  hier  die  Todesstrafe,  besonders  bei  den  wichtigeren  Verbr.,  nicht  sparsam 
angedroht. 

IV.  Die  Abt.  gegen  die  öffentliche  Ordnung  enthält  Bestimmungen 
über  den  Widerstand  gegen  die  Organe  des  Staates  und  den  Ungehorsam 
gegen  gesetzliche  Anordnungen ;  es  werden  dabei  Widerstand  mit  Gewaltthätig- 
keit,  bewaffneter  imd  einfacher  Aufruhr  unterschieden ;  femer  Beamtenbeleidigung 
und  Anstiftung  zum  Ungehorsam  (mündlich  und  durch  Schriften).  Zu  dieser 
Kategorie  sind  auch  Anmassung  der  Gewalt,  Fälschung  öffentlicher  Urkunden 
und  Siegel,  Entwendung  von  Dokumenten  aus  behördlichen  RHumen,  Erbrechen 
der  Gef.  und  Befreiung  der  Gefangenen  zu  rechnen.  Die  Selbstbefreiung  wird 
ebenfalls  bestraft,  ebenso  die  Bildung  von  verbotenen  Verbindungen  und  die 
Beteiligung  daran,  und  endlich  das  unerlaubte  Verlassen  des  Vaterlandes, 
welches  erst  dann  bestraft  werden  kann,  wenn  der  im  Auslande  befindliche 
Unterthan,  trotz  der  Aufforderung  zurückzukehren,  nicht  zurückkommt;  der 
Schuldige  wird  lebenslänglich  vom  Staate  verbannt  und  büsst  alle  seine  büi^er- 
lichen  Hechte  ein.  Es  ist  dabei  zu  bemerken,  dass  seit  der  Abänderung  des 
Kontumazialverfahrens  in  Strafsachen  die  Anwendung  dieser  Strafe  praktisch 
unmöglich  geworden  ist. 


§  8.    Der  besondere  Teil  des  russischen  StR.  301 


V.  Die  Abt.,  die  den  Amtsverbrechen  gewidmet  ist,  ist  eine  der  um- 
fangreichsten; sie  enthält  277  Art.,  die  nicht  nur  Verbr.  und  Verg.,  sondern 
auch  die  unbedeutendsten  Disziplinarübertretungen  umfassen,  so  dass  sie  ein 
selbständiges  Disziplinargesetzbuch  bilden  könnten. 

VI.  Unter  den  Verbr.  und  Verg.  wider  die  Steuer-  und  Staats- 
pflichten sind  besonders  die  Verbr.  gegen  die  Wehrpflicht,  nämlich  die 
Fahnenflucht  und  die  Begünstigung  der  Desertierten,  das  Abweichen  von  der 
Erfüllung  der  Wehrpflicht,  die  Selbstverstümmelung  zu  erwähnen. 

VII.  In  die  Kategorie  der  Verbr.  gegen  Fiskus  und  Staatseinkom- 
men gehören  die  Münzverbrechen  und  die  Verfälschung  von  Staatspapieren, 
die  Übertretung  der  Bestimmungen  über  Staatsgefälle,  die  in  besonderen  Ord- 
nungen normiert  sind,  besonders  die  Zoll-  und  Forstvergehen.  Diese  Abt.  ent- 
hält 283  Art.  und  bestimmt  harte  Strafen  für  Fiskaldefraudationen.  Die  ge- 
bräuchlichste Strafe  ist  hier  Geldstrafe,  deren  Höhe  durch  das  duplum,  triplum 
usw.  bestimmt  ist. 

VIII.  Die  umfangreichste  Abt.  des  StGB.,  die  achte  (673  Art.,  nämlich  von 
Art.  831  bis  1404),  enthält  Bestimmungen  über  Verg.  und  Übertretungen  gegen 
die  öffentliche  Sicherheit,  Wohlfahrt  und  Ruhe  (gegen  die  Sicherungs- 
und Wohlfahrts-Polizei):  1»  Sanitätsverbrechen,  so  Verletzung  der  Quarantäne- 
ordnung (bei  einer  Pestepidemie  mit  dem  Tode  bestraft),  Verletzung  der  Be- 
stimmungen über  ansteckende  und  epidemische  Krankheiten,  über  die  Siche- 
rung der  Unschädlichkeit  der  Nahrungsmittel  und  des  Wassers,  über  Handel, 
Aufbewahrung  und  Gebrauch  von  Gift,  Verletzung  der  Arzte-  und  Apotheken- 
Ordnungen.  2,  Verletzung  der  Bestimmungen  über  die  Sicherung  der  Volks- 
verpflegung, nämlich  der  Vdg.  über  die  Unterhaltung  der  Vorratsmagazine, 
Steigerung  der  Lebensmittelpreise,  Ausrottung  von  essbarem  Wild  usw.  3.  Störung 
der  öffentlichen  Ruhe  durch  die  Bildung  von  Banden  zur  Begehung  von  Verbr. 
und  gewerbsmässige  Hehlerei,  Verbreitung  von  alarmierenden  Gerüchten,  Ver- 
kündigung von  Wundem,  Zauberei,  Bekehrung  von  einer  nichtchristlichen 
Konfession  zu  einer  andern  auch  nichtchristlichen  durch  Betrug;  unbegründete 
Klagen  bei  den  Gerichten,  falsche  Anzeige,  falsches  Zeugnis,  Anstiftung  zur 
ungesetzlichen  Auswanderung  und  unerlaubte  Auswanderung  selbst,  Verletzung 
der  Bestimmungen  über  Passkarten,  Anfertigung  und  Gebrauch  von  gefälschten 
Legitimationsscheinen  und  endlich  Landstreicherei,  die  bis  jetzt  ein  gi^osses 
soziales  Übel  bildet.  Heutzutage  rekrutiert  sich  die  grosse  Zahl  der  Land- 
streicher aus  den  entflohenen  Deportierten,  die  dank  dem  Mangel  an  Aufsicht 
nach  dem  europäischen  Russland  zurückkehren  und  hier  als  Leute  ohne  Namen 
verbrecherischen  Wandel  führen.  „Brodjäga"  (Landstreicher)  wird  derjenige 
genannt,  der  keinen  Legitimationsschein  besitzt  und  seine  Abstammung  nicht 
nachweisen  kann;  dieser  Begriff  weicht  von  dem  des  westeuropäischen  Land- 
streichers insoweit  ab,  als  er  auch  Personen,  die  einen  redlichen  Erwerb  haben, 
umfasst,  wenn  sie  ihre  Legitimation  nicht  aufweisen  können.  Die  Brodjägi 
unterliegen  einer  besonderen  Strafe,  nämlich  der  Einsperrung  in  die  Korrek- 
tionsabteilungen, und  der  Deportation,  gewöhnlich  nach  Sachalin,  nach  vor- 
ausgegangener Rutenstrafe.  Sie  werden  nicht  von  den  Schwurgerichten  ab- 
geurteilt. Zu  derselben  Kategorie  zählt  die  gewerbsmässige  Bettelei,  wenn  sie 
nicht  die  Folge  von  körperlichen  Gebrechen  ist.  In  dieser  Abt.  flndet  sich 
auch  die  Verletzung  der  G.  über  Fabrikation  und  Aufbewahrung  von  Pulver 
und  seit  dem  J.  1882  von  Sprengstoff'en ;  verbotene  Spiele  und  Lotterieen,  Ver- 
letzung der  G.  über  Lombarden.  4,  Verbr.  und  Verg.  wider  die  öff'entliche 
Sittlichkeit;  Konkubinat,  das  mit  kirchlicher  Busse  belegt  wird;  Sodomie  und 
widernatürliche  Sünde  (Dei)ortation,  und  wenn  mit  Gewaltthätigkeit  gegen  den 
Verletzten  verbunden,  KAtorga);  Kuppelei  durch  die  Eltern  den  Kindern,  oder 


302  I^as  russische  Kaisertum.  —  Das  geltende  russische  StR. 


den  Ehemann  der  Frau,  oder  den  Vormund  dem  Mündel  gegenüber;  Ver- 
führung Minderjähriger;  Druck  und  Verbreitung  von  unzüchtigen  Schriften, 
öflFentliche  unzüchtige  Reden.  5.  Verletzung  der  Bestimmungen  über  die  Presse ; 
hier  finden  sich  Verg.  der  Zensoren  und  Verg.  wider  die  Zensur  (1865  refor 
miert);  hier  haben  auch  die  Bestimmungen  über  Verleumdung  und  Beleidigung 
in  Drucksachen  ihren  Platz  (Art.  1039,  1040).  6.  Unerlaubte  Errichtung  von 
Schulen  und  Übertretung  der  G.  über  Privatlehrer.  7.  Verletzung  der  Vdgn. 
über  die  äussere  Polizei.  8.  Übertretung  der  Bauordnung.  9.  Übertretung 
der  G.  zur  Sicherung  gegen  Brand.  10.  Übertretungen  der  Wegeordnung  und 
Eisenbahnbeschädigung.  11.  Übertretungen  der  Post-  und  Telegraphen-Ordnung, 
unter  anderem  Postunterschlagung  und  Telegraphenbeschädigung.  12.  Ver- 
letzung der  G.  über  den  Kredit;  hier  sind  die  Verfälschung  von  Papieren  der 
öffentlichen  und  Privat-Banken ,  Urkundenfälschung  bei  Bankoperationen,  un- 
gesetzliche Ausgabe  von  Privat geldzeichen,  Verletzung  des  Geschäftsgeheim- 
nisses von  selten  der  Bankbeamten,  Wechsel  Verfälschung,  Insolvenz  erwähnt. 
13.  Verletzung  der  Handels-  und  Börse-Ordnungen,  der  Bestimmungen  über 
Aktiengesellschaften  usw.  14.  Übertretungen  der  G.  über  Fabriken  und  andere 
Industrieen,  über  Patente  und  Markenschutz,  Verletzung  des  Handelsgeheim- 
nisses, Arbeiterstrikes ,  Arbeitseinstellung  von  selten  der  Arbeiter  oder  der 
Arbeitgeber.  Endlich  Übertretungen  der  Gewerbeverordnungen,  die  noch  auf 
der  ziemlich  erschütterten  Gildenorganisation  beruhen.  Über  diese  Abt.  des» 
StGB,  kann  man  sich  nicht  anders  aussprechen,  als  dass  sie  im  ganzen  eine 
kleinliche,  völlig  veraltete  Reglementierung  der  ökonomischen  Verhältnisse 
bildet;  daher  bleiben  auch  alle  diese  G.  jetzt  in  den  veränderten  Verhältnissen 
des  gesamten  Volkslebens  ohne  Anwendung. 

IX.  Die  nächste  Abt.,  Verbr.  wider  die  G.  über  Standesrechte  ent- 
hält Thatbestände,  die  in  drei  Kategorieen  geteilt  werden  können:  1.  Ent- 
ziehung fremder  Standesrechte  (durch  Verheimlichung,  Verfälschung  oder  Unter- 
drückung von  Standesurkunden  und  ebenso  durch  Raub  und  Umtausch  von 
Kindern);  hierher  gehört  auch  der  Verkauf  in  die  Sklaverei  und  der  Neger- 
handel (mit  Kätorga  bestraft).  2.  Anmassung  von  Standesrechten  oder  eines 
Ranges,  die  dem  Schuldigen  nicht  zukommen.  Hier  wird  auch  der  Fall  er- 
wähnt, wenn  jemand  sich  als  Mitglied  des  kaiserlichen  Hauses  ausgiebt. 
8.  Verbr.  der  Beamten,  welche  Standesurkunden  anfertigen  oder  die  überhau))t 
zur  Regelung  standesrechtlicher  Verhältnisse  zuständig  sind.  Merkwürdiger- 
weise finden  sich  in  derselben  Abt.  auch  Verbr.  wider  G. ,  die  die  Ausübung 
der  Standesrechte  normieren,  wie  z.  B.  Versammlungen  der  Adeligen  usw. 
Besonders  erwähnt  sind  Verbr.  wider  Bestimmungen  über  die  Volkszählung, 
die  seit  dem  J.  1857  jedoch  nicht  stattgefunden  hat. 

X.  Mehr  Interesse  bietet  die  Abt.  über  Verbr.  und  Verg.  gegen  Leben, 
Gesundheit,  Freiheit  und  Ehre  von  Privatpersonen  (Art.  1449 — 1548L 

1.  Vorerst  wird  die  Tötung  vorgesehen.  Es  wird  unterschieden  vorsätz- 
liche und  fahrlässige  Tötung;  erstere  zerfällt  in  drei  Arten:  die  prämeditierte, 
die  vorsätzlich  ohne  Überlegung  und  die  im  Affekte  begangene  Tötung.  Die 
mit  Überlegung  begangene  Tötung  wird  mit  harter  Zwangsarbeit  in  Sibirien 
bis  zu  20  Jahren  bestraft;  die  vorsätzliche  mit  Zwangsarbeit  bis  zu  15  Jahren, 
und  die  im  Affekte  begangene  mit  Zwangsarbeit  bis  zu  12  Jahren  oder  mit 
Zwangsansiedelung  in  Sibirien  ohne  Zwangsarbeit.  Der  Begriff  der  Überlegung 
wird  im  G.  durch  das  äussere  Moment  der  Zeit  bestimmt  und  ist  mit  dem 
Begriffe  des  zeitlich  der  That  vorausgehenden  Vorsatzes  identisch.  Das  G. 
kennt  folgende  qualifizierte  Arten  der  Tötung,  die  mit  lebenslänglicher  Kfttorga 
bedroht  sind :  die  vorsätzliche  Tötung  der  Eltern,  wiederholte  überlegte  Tötung, 
nachdem  der  Thäter  schon  für  die  früher  begangenen  bestraft  war;  überlegte 


§  8.    Der  besondere  Teil  des  russischen  StH.  308 


Tötung  eines  Ehegatten,  von  Grosseltem,  Enkeln  und  überhaupt  Anverwandten 
in  gerader  auf-  oder  absteigender  Linie,  des  leiblichen  Bruders  oder  der 
Schwester,  des  Oheims  oder  der  Tante,  eines  Vorgesetzten,  Herrn  (Über- 
bleibsel der  Leibeigenschaft!)  oder  Dienstherm,  sowie  der  Mitglieder  seiner 
Familie,  die  mit  ihm  zusammen  lebten,  oder  endlich  eines  Wohlthäters  des 
Schuldigen,  dem  letzterer  seine  Erziehung  oder  Erhaltung  zu  verdanken  hatte; 
die  überlegte  vorsätzliche  Tötung  einer  Schwangeren;  femer  die  mit  Überlegung 
begangene  Tötung,  wenn  sie  durch  gemeingefährliche  Mittel  ausgeführt  worden 
ist,  oder  mit  besonderer  Marterung  des  Getöteten  verbunden  war;  Tötung  aus 
einem  Hinterhalte,  aus  gewinnsüchtigen  Motiven  und  die  Tötung  durch  Ver- 
giftung. Als  qualifiziert  ist  auch  jede  vorsätzliche  Tötung  zu  betrachten  (und 
mit  Kätorga  bis  zu  20  Jahren  zu  bestrafen),  die  zum  Zwecke  der  Begehung 
eines  anderen  gewaltsamen  Verbr.  unternommen  wird.  Als  privilegierte  Tötungs- 
arten werden  bestraft:  der  Kindesmord,  d.  h.  die  aus  Scham  oder  Furcht  ent- 
springende Tötung  eines  unehelichen  Kindes  seitens  der  Mutter  bei  oder  unmittelbar 
nach  der  Geburt  (Verbannung  nach  Sibirien),  Tötung  einer  Missgeburt ;^)  Tötung 
der  Leibesfrucht,  oder,  wie  es  vom  G.  konstruiert  wird,  die  Fruchtabtreibung. 
Es  wird  die  Abtreibung  ohne  Einwilligung  der  Schwangeren  und  die  mit  Ein- 
willigung der  letzteren  begangene  unterschieden.  Die  erstere  wird  mit  KÄtorga 
bis  zu  6  Jahren  bestraft,  welche  Strafe  erhöht  wird,  wenn  die  Abtreibung  der 
Frucht  mit  üblen  Folgen  fiLr  die  Gesundheit  der  Schwangeren  verbunden  ist; 
dagegen  wird  die  Abtreibung,  die  mit  Einwilligung  der  Schwangeren  unter- 
nommen wird,  nur  mit  Zwangseinsiedelung  bestraft.  Der  Strafe  unterliegt  auch 
die  Schwangere  selbst.  Als  eine  besondere  privilegierte  Art  der  Tötung  er- 
wähnt das  G.  (Art.  1467)  die  Tötung,  die  in  Überschreitung  der  Notwehr  be- 
gangen wird;  sie  wird  mit  Gef.  bis  zu  8  Monaten  und  Kirchenbusse  bestraft. 
Nicht  nur  der  Versuch  der  Tötung,  sondern  auch  die  blosse  Vorbereitung  wird 
bestraft,  freilich  (Art.  1457)  viel  milder,  nämlich  mit  Gef.  bis  zu  1  Jahr  und 
4  Monaten.  Neben  der  Tötung  mit  dolus  directus  kennt  das  G.  die  mit  indirektem 
dolus  begangene  Tötung  (Art.  1458),  unter  welcher  die  Vornahme  von  solchen 
gesetzwidrigen  Handlungen  zu  verstehen  ist,  die,  wie  der  Schuldige  weiss  und 
voraussieht,  eine  andere  Person  notwendig  einer  Gefahr  aussetzen,  und  die  er 
dessen  ungeachtet  ausführt,  wenn  dadurch  eine  Person  um  das  Leben  ge- 
kommen ist  (Kätorga  von  8  bis  1 2  Jahren).  Die  fahrlässige  Tötung  wird  vom 
G.  ebenfalls  in  Arten  geteilt.  Die  schwerere  ist  die,  wenn  die  Tötung  die 
unerwartete  Folge  einer  vorsätzlichen,  widerrechtlichen  Handlung  ist,  die  aber 
ohne  Absicht  der  Tötung  ausgeführt  wurde  (Art.  1464).  Davon  ist  zu  unter- 
scheiden die  Verstümmelung  oder  die  Beschädigung  der  Gesundheit,  die  ob- 
wohl ohne  Absicht  der  Tötung  unternommen,  die  Erwartung  des  Todes  recht- 
fertigte (Art.  1484,  1488,  1490).  Zur  fahrlässigen  Tötung  gehört  die  Tötung 
im  Raufhandel,  der  ohne  tötliche  Absicht  begonnen  ist.^j 

Mit  Strafen  werden  belegt  entweder  alle  Teilnehmer  an  einem  Raufhandel, 
in    dem   jemandem  der  Tod    oder  eine  Körperverletzung  zugefügt  worden  ist, 


M  Der  Art.  1469  des  StGB.,  der  von  der  Tötung  einer  Missgeburt  spricht,  hat 
seinen  Ursprung  in  zwei  UkAzen  Peters  L,  welche  Anzeige  bei  der  Obrigkeit  anordnen, 
zum  Zwecke  der  Bildung  eines  Museums,  und  welche  die  Tötung  einer  Missgeburt, 
welche  menschliche  Seele  besitzt,  als  Menschentötung  betrachten. 

*)  Der  Raufhandel  und  die  mit  ihm  notwendig  verbundene  Tötung  sogar  mehrerer 
Personen  war  eine  erlaubte  Beschäftigung  in  den  älteren  Zeiten  und  bildete  eine 
Art  von  begünstigten  Turnieren,  die  selbst  von  den  Zaren  gebilligt  wurden.  Der  be- 
rühmte Dichter  Lermontow  gab  eine  poetische  Schilderung  solcher  Raufhändel  in 
seinem  Gedicht  „vom  Kaufmann  Kalaschnikow".  Das  allgemeine  Verbot  von  Herbei- 
führung von  Raufhändeln  ist  in  dem  Art.  38  des  GB.  für  Friedensrichter  ausge- 
sprochen worden. 


304  I^as  russische  Kaisertnin.  —  Das  g^elteade  rassische  StR. 


wenn  es  unbekannt  geblieben  ist,  wer  eigentlich  der  Urheber  der  den  Erfolg 
verursachenden  Verletzung  war;  oder  nur  deren  Urheber,  wenn  diese  bekannt 
sind.  Hier  finden  wir  also  ein  seltsames  Überbleibsel  der  im  älteren  Rechte 
häufig  vorkommenden  Gruppenverantwortlichkeit,  bei  der  Schuldige  und 
Unschuldige  gleichmässig  der  Strafe  unterliegen  und  deren  Eintritt  von  pro- 
zessualen Ergebnissen  (Ausfindung  der  wirklich  Schuldigen)  abhängig  ist. 
Femer  unterscheidet  das  StGB.,  je  nachdem  der  Tod  der  Elrfolg  einer  an  sich 
unerlaubten  oder  einer  an  sich  erlaubten  Handlung  ist.  Besonders  erwähn^ 
wird  die  Straflosigkeit  der  Tötung,  die  im  Znstande  der  Unzurechnungsfähig, 
keit  oder  unter  solchen  Umständen  begangen  wird,  die  die  Gesetzwidrigkeit 
beseitigen  (Notwehr,  Erftillung  einer  Pflicht  seitens  der  Forst-,  Quarantäne, 
aufseher  usw.).  Das  G.  kennt  nicht  den  Fall  der  straflosen  Tötung  des  £^e. 
gatten,  der  bei  ehelicher  Untreue  ertappt  wird,  aber  die  schwurgerichtliche 
Praxis  ist  in  dieser  Beziehung  ziemlich  nachsichtig. 

3.  Im  russischen  Rechte  hat  sich  bis  jetzt  die  Strafbarkeit  des  Selbst- 
mordes erhalten.  Straffällig  ist  der  Thäter  selbst,  aber  auch  jeder  Dritte,  der 
ihm  bei  der  Ausführung  behülflich  war.  Die  testamentarischen  Verfügungen 
des  Selbstmörders,  der  im  Zustande  der  Zureehnungsfähigkeit  sich  das  Lieben 
genommen  hat,  werden  als  ungültig  erklärt,  und  die  Leiche,  wenn  der  Be- 
treffende christlichen  Glaubens  war,  darf  nicht  mit  dem  übUchen  Ritus  beerdigt 
werden.  Der  Versuch  des  Selbstmordes  ist  nur  für  Christen  mit  kirchlicher 
Busse  bedroht.  Die  Anstifter  zum  Selbstmorde  und  diejenigen,  die  die  Mittel 
zum  Selbstmorde  verschafit  haben,  werden  als  Teilnehmer  an  vorsätzlicher 
Tötung  beurteilt.  Diese  Bestimmung  giebt  der  Praxis  genügenden  Anlass,  die 
Tötung  eines  EinwiUigenden ,  über  die  keine  direkte  Bestimmung  im  G.  vor- 
handen ist,  zu  bestrafen.  Endlich  werden  die  Eltern,  Vormünder  und  Vor- 
gesetzten, die  jemanden  durch  schlechte  Behandlung  zum  Selbstmorde  getrieben 
haben,  mit  Gef.  und  kirchlicher  Busse  bestraft. 

3»  Die  Straf  bestimmungen  über  die  Körperverletzung  sind  sehr  verwickelt. 
Das  6.  unterscheidet  mehrere  Thatbestände  und  definiert  sie  nach  verschiedenen 
Merkmalen,  namentlich  nach  der  Art  der  Verletzung,  nach  deren  Grösse,  nach 
dem  Erfolg  für  die  Gresundheit  des  Verletzten  und  endlich  nach  dem  subjektiven 
Momente.  So  werden  erwähnt  Zufügung  von  Verletzungen,  Verstünunelung, 
Wunden,  Misshandlung,  Quälungen,  Gesundheitsbeschädig^ng  und  Verursachung 
von  Geistesstörung.  Der  Schwere  nach  werden  unterschieden  schwere  Körper- 
verletzungen,  die  eine  Gefahr  für  das  Leben  bieten,  schwere  aber  nicht  ge- 
fährliche, und  leichte  Körperverletzungen.  Freilich  ist  diese  Einteilung  nicht 
folgerichtig  für  alle  Arten  der  Körperverletzung  durchgeführt.  Nach  den 
Folgen  wird  besonders  die  Körperverletzung  mit  tödlichem  Erfolge  erwähnt. 
Endlich  werden  in  jeder  Art  vorsätzliche  und  fahrlässige,  manchmal  auch  mit 
Überlegung  begangene  Körperverletzungen  unterschieden.  Es  muss  bemerkt 
werden,  dass  zu  den  Injurien  nicht  nur  leichte,  sondern  auch  schwere,  für 
das  Leben  nicht  gefährliche  Verletzungen  gezählt  werden.  Dem  russischen 
Rechte  ist  der  allgemeine  Begriff  der  Nötigung,  im  Sinne  des  deutschen  StGB, 
fremd;  es  kennt  nur  einige  Arten  derselben,  Nötigung  zur  Auslieferung  von 
(jegenständen,  zur  Ehe  usw. 

4.  Die  Bestimmungen  über  den  Zweikampf  sind  ziemlich  sorgfältig; 
mit  Strafe  sind  belegt  die  Herausforderung  an  sich,  die  Aufforderung  zum 
Zweikampfe,  die  Übergabe  der  Herausforderung,  die  Anreizung  zum  Zwei- 
kampfe und  endlich  der  vollendete  Zweikampf,  unabhängig  von  seinen 
Folgen.  Es  wird  zwischen  dem  regelrechten  und  dem  regelwidrigen  Zwei- 
kampfe unterschieden.  Der  erstere,  obwohl  nach  den  Folgen  qualifiziert, 
wird   immer  mit   Festungsstrafe  belegt.     Die    Sekundanten  werden   nur   dann 


§  8.    Der  besondere  Teil  des  russischen  StR.  305 


bestraft,  wenn  sie  sich  keine  Mühe  gegeben  haben,  den  Streit  auf  fried- 
lichem Wege  zu  erledigen.  Der  regelwidrige  Zweikampf  hat  drei  Formen, 
den  Zweikampf  mit  der  Bedingung,  den  Kampf  bis  zum  Tode  eines  Duellanten 
fortzusetzen,  den  Zweikampf  ohne  Sekundanten  und  den  Verrat  seitens  eines 
der  Kämpfer.  Die  ersten  zwei  Arten  werden  mit  Deportation  mit  Zwangs- 
ansiedelung bestraft,  wenn  der  Zweikampf  zu  tödlichem  Erfolg  oder  zur  Zu- 
fügung  von  tödlichen  Wunden  geführt  hat.  Der  Verrat  bei  Zweikampf  wird 
als  verräterischer  Mord  oder  als  überlegte  Körperverletzung  betrachtet;  der- 
selben Strafe,  wie  der  Verräter,  unterliegen  seine  Sekundanten,  die  wissentlich 
beim  Kampfe  behülflich  waren. 

5,  Als  selbständige  Verbr.  durch  Unterlassung  werden  vom  russischen 
Rechte  das  Verlassen  einer  in  Gefahr  befindlichen  Person  und  die  Nicht- 
leistung von  Hülfe  einem  Umkommenden  gegenüber  (Art.  1513  flF.)  mit 
Strafe  belegt.  Das  Verlassen  bei  drohender  Gefahr  (selbstverständlich  wenn 
es  nicht  im  Notstande  geschieht)  wird  unabhängig  von  den  Folgen  bestraft. 
Ist  dasselbe  aus  der  Absicht  entsprungen,  einen  Menschen  das  Leben  ein- 
büssen  zu  lassen,  so  wird  es  als  vorsätzliche  Tötung  betrachtet,  und  wenn 
der  Schuldige,  obschon  ohne  Vorsatz  eine  Tötung  zu  begehen,  immerhin 
aber  wissentlich  einen  anderen  in  eine  solche  Lage  verlockt  oder  bringt, 
in  der  dessen  Leben  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  der  Gefahr  ausgesetzt 
werden  musstc,  so  wird  er  wegen  Tötung  mit  indirektem  Dolus  bestraft. 
Wegen  Verlassens  einer  in  Gefahr  befindlichen  Person  werden  bestraft: 
a)  diejenigen,  die  ein  eigenes  oder  fremdes  Kind  unter  7  Jahren  in  einer  ge- 
fährlichen Lage  verlassen  (das  Verlassen  eines  unehelichen  Neugeborenen  seitens 
der  Mutter  wird  als  eine  Art  des  Kindesmordes  in  Art.  1460  besonders  er- 
wähnt); b)  Eltern,  Vormünder  oder  Personen,  die  kraft  G.  oder  Vertrages  ver- 
pflichtet sind,  Sorge  für  einen  Unmündigen,  Kranken  oder  überhaupt  Kraft- 
losen oder  Geisteskranken  zu  tragen;  c)  diejenigen,  die  dem  Verlassenen  als 
Führer  oder  Reisegefährten  gedient  haben;  d)  derjenige,  der  zufällig  bei  einem 
Zweikampfe  sich  befand,  die  Möglichkeit  hatte,  die  Kämpfer  zu  versöhnen  und 
dies  unterliess.  Zu  den  Merkmalen  des  Verbr.  ist  nicht  notwendig,  dass  der 
Tod  des  Verlassenen  wirklich  eintrete,  es  genügt,  wenn  festgestellt  wird, 
dass  derselbe  eintreten  konnte.  Die  Strafen  sind  milder  als  die  für  Tötung, 
und  den  Richtern  ist  ein  grösserer  Spielraum  tür  die  Strafzumessung  gegeben. 
Die  Rettung  des  Umkommenden  betrachtet  das  russische  StG.  als  Pflicht  jedes 
Bürgers,  daher  werden  diejenigen,  die  zufällig  jemanden  in  einer  Gefahr 
finden,  die  Möglichkeit  ihn  zu  retten  haben,  und  dies  dennoch  unterlassen,  mit 
kirchlicher  Busse  belegt,  wenn  die  Rettung  des  Nächsten  ohne  Gefahr  für 
das  eigene  Leben  möglich  war.  Mit  Strafe  belegt  werden  Ärzte,  Geburts- 
helfer, Hebammen,  die  trotz  Auff'orderung  ihre  Hülfe  einem  Kranken  nicht 
gewähren.  Die  Eigentümer  einer  Weinstube,  die  einen  bis  zur  Bewusstlosigkeit 
Betrunkenen  ohne  Aufsicht  verlassen,  werden  ebenfalls  bestraft. 

6.  Das  Kap.  „von  Kränkungen  der  Ehre"  zerfällt  in  drei  Unterabteilungen: 
a)  Verbr.  wider  die  Ehre  und  Keuschheit  der  Frauen;  b)  direkte  persönliche  Be- 
leidigungen usw.,  Verleumdung  und  Verbreitung  von  für  die  Ehre  kränkenden 
Schriften,  Abbildungen  oder  Gerüchten.  Die  erste  Abt.  enthält  Vorschriften  über 
Notzucht,  Entführung,  Verführung  durch  das  Versprechen  der  Ehe  usw.  Sie  ent- 
hält eine  Straf  bestimmung  über  Verletzung  des  weiblichen  Schamgefühls  durch 
schamlose  Handlungen  (attentats  ä  la  pudeur).  Beleidigung  und  Verleumdung 
sind  in  dem  GB.  für  Friedensrichter  vorgesehen,  neben  der  thätlichen  Beleidi- 
gung von  Eltern  und  der  Verleumdung  durch  Druckschriften  und  Papiere, 
die  einer  Behörde  oder  Beamten  übeireicht  werden.  Seit  dem  G.  über  die 
Presse  v.  J.  1866  kennt  das  russische  Recht  die  sogenannte  Diffamation,  d.  h. 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.   I.  20 


306  Das  russische  Kaisertum.  —  Das  geltende  russische  StR. 


die  Behauptung  einer  die  Ehre  des  Verletzten  vermindernden  Handlung,  bei 
deren  Verfolgung  die  exceptio  veritatis  ausgeschlossen  ist.  Das  Institut  der 
Privatbusse  für  Iiyurien  ist  dem  russischen  Recht  unbekannt;  zwar  kann  bei 
Ehrenkränkungen  eine  Civüklage  erhoben  und  Befriedigung  verlangt  werden, 
aber  auch  dies  ist  in  der  Praxis  nicht  mehr  anwendbar. 

?•  Von  den  Verbr.  gegen  die  Freiheit  kennt  das  russische  Recht  die  gewaltsame 
widerrechtliche  Freiheitsberaubung,  die  je  nach  der  Dauer,  dem  Mittel,  den  Folgen 
für  die  Gesundheit  des  Verletzten  bestraft  wird;  härter  bestraf t  wird  die  Beraubung 
der  Freiheit  von  Verwandten  und  Wohlthätem.  Die  Einsperrung  von  gesunden 
Menschen  in  einem  Irrenhause,  von  Frauen  in  Bordellen  ist  nicht  besonders  erwähnt. 

8.  Das  letzte  Kap.  der  Abt.  über  Verbr.  gegen  die  Person  bilden  die 
Bestimmungen  über  Drohungen.  Ihre  einfacheren  Arten  sind  in  dem  GB.  füi' 
Friedensrichter  vorgesehen;  hier  werden  nur  schwere  Drohungen  erwähnt, 
nämlich  Bedrohungen  mit  gewaltsamen  Handlungen  und  Brandlegung;  quali- 
fizierte Drohungen,  wenn  sie  gegen  einen  Vorgesetzten,  Wohlthäter  oder  Ver- 
wandten aufsteigender  Linie  gerichtet  sind,  Drohung  um  zu  einer  widerrecht- 
lichen Handlung  zu  nötigen,  endlich  Drohung  mit  der  Nötigung,  sich  ver- 
mögensrechtlich verbindlich  zu  machen  oder  Sachen  auszuliefern.  Indessen 
kennt  unser  StGB,  keine  Bestimmung  über  die  Straffälligkeit  der  Erpressung 
(chantage)  und  die  Praxis  sah  sich  genötigt,  diese,  obwohl  in  juristisch  in- 
konsequenter Weise,  als  Betrug  zu  beurteilen.  Einen  allgemeinen  Begriff  der 
Nötigung  kennt  das  russische  Recht  nicht. 

XI.  Die  Verbr.  wider  die  Familienrechte  umfassen:  1.  Verg.  und 
Verbr.  wider  die  Ehe,  unter  denen  verschiedene  Thatbestände  vom  G.  be- 
griffen werden  und  sogar  solche,  die  eigentlich  wider  die  elterliche  Grewalt 
gerichtet  sind,  wie  z.  B.  die  Eheschliessung  gegen  den  Willen  der  Eltern  oder 
Vormünder,  besonders  wenn  sie  durch  Entführung  vermittelt  wird.  Hierher 
gehören  auch  Nötigung  zu  Eheschliessimg,  Täuschung  über  die  Person  bei  der 
Schliessung  einer  Ehe;  Bigamie,  die  dann  strafbar  ist,  wenn  die  Schuldigen 
zu  einer  Konfession  gehören,  die  sie  verbietet;  f^eschliessung  unter  Verwandten 
und  Verschwägerten  in  verbotenen  (weit  gefassten)  Graden,  unter  Personen, 
die  das  vom  G.  bestimmte  Alter  (18  Jahre  für  Männer  und  15  für  Frauen) 
nicht  erreicht  haben  usw.  In  allen  diesen  Fällen  werden  ausser  den  Haupt- 
personen noch  die  Zeugen  und  die  Geistlichen,  die  die  Ehe  einsegneten,  be- 
sti*aft.  Da  die  Ehe  als  ein  religiöser  Akt  betrachtet  wird,  so  ist  sehr  häufig 
die  Strafbarkeit  oder  Straflosigkeit  einer  Handlung  von  der  Zugehörigkeit  der 
Schuldigen  zu  einer  bestimmten  Konfession  abhängig.  Unter  derselben  Rubrik 
werden  Entführung  verheirateter  Frauenzimmer,  Missbrauch  der  ehelichen  Ge- 
walt, wie  z.  B.  grausame  Behandlung  der  Frau  oder  grausames  Benehmen 
gegen  den  Mann,  und  endlich  der  Ehebruch  erwähnt.  Letzterer  ist  für  beide 
Ehegatten  gleich  strafbar;  der  verletzte  Ehegatte  kann  entweder  vor  den  kirch- 
lichen Gerichten  KUage  erheben  und  die  Scheidung  erwirken  oder  Strafantrag 
stellen,  nicht  aber  diese  beiden  Mittel  zusammen  benützen.  Der  schuldige 
Ehegatte  wird  mit  Einsperrung  in  einem  Kloster  oder  (jef.  bis  zu  8  Monaten, 
sein  Mitschuldiger,  wenn  er  nicht  in  einem  Eheverbande  steht,  mit  Gef.  bis  zu 
3  Monaten  oder  Haft  bestraft.  2.  Missbrauch  der  elterlichen  Gewalt  (Nötigung 
eine  Ehe  zu  schliessen,  ins  Kloster  einzutreten,  Verbr.  zu  begehen,  Unter- 
schlagung des  Vermögens  der  Kinder  usw.)  und  Verbr.  der  Kinder  wider  ihre 
Eltern,  so  Misshandlung,  hartnäckiger  Ungehorsam  (bestraft  auf  Verlangen 
der  Eltern  mit  Gef.  bis  zu  3  Monaten).  3.  Verbr.  wider  das  Verwandtschafts- 
band (eigentlich  nur  die  Blutschande).  4.  Missbrauch  der  den  Vormündern 
und  Kuratoren  zustehenden  Gewalt,  der  dieselben  Thatbestände  umfasst,  die 
unter  2.  erwähnt  sind. 


§  8.    Der  besondere  Teil  des  russischen  StR.  307 


XII.  Der  letzte  Titel  des  StGB.,  wie  auch  das  letzte  Kap.  des  GB.  für 
Friedensrichter,  sind  den  Verbr.  und  Verg.  wider  Vermögensrechte  der 
Privatpersonen  gewidmet.  Diese  Bestimmungen  zeigen  mehr  als  die 
übrigen  den  Einfluss  späterer  geschichtlicher  Perioden  und  besonders  der 
Gesetzgebung  Katharinas  II.  Es  mangelt  hier  nicht  an  einem  System;  das 
Kap.  beginnt  mit  Bestimmungen  über  gesetzwidrige  gewaltsame  Besitzentwen- 
dung von  unbeweglichem  Eigentum,  Verrückung  oder  Zerstörung  von  Grenz- 
zeichen; dann  folgen  Bestimmungen  über  widerrechtliche  Nutzung,  wohin  auch 
der  Forstdiebstahl  gehört.  Den  nächsten  Platz  nehmen  ein  die  Bestimmungen 
über  Zerstörung  fremden  Eigentums  durch  Brandstiftung,  Sprengung,  Über- 
schwemmung und  durch  andere  Mittel.  Das  russische  Recht  kennt  nicht  den 
Begriff  gemeingefährlicher  Handlungen  an  sich,  und  auch  die  Litteratur  ver- 
hält sich  zu  demselben  negativ.  Den  Schluss  bilden  Bestimmungen  über  Ent- 
wendung von  fremdem  Eigentum,  Raub  (in  zwei  Formen),  Diebstahl  imd  Betrug. 
Diese  Einteilung  ist  das  Ergebnis  eines  geschichtlichen  Entwickelungsprozesses, 
der  aber  hier  nicht  näher  erörtert  werden  kann. 

Der  Raub  stellt  sich  im  russischen  StR.  dar  als  die  gewinnsüchtige 
Entwendung  von  fremden  beweglichen  Sachen  durch  Anwendung  von  Gewalt 
an  der  Person  des  Verletzten,  durch  offenen  Angriff  mit  Waffen,  Drohungen  oder 
Handlungen,  die  eine  Gefahr  für  das  Leben,  Gesundheit  oder  Freiheit  des 
Angegriffenen  bieten.  Dieser  Thatbestand  unterscheidet  sich  von  dem  Raube 
in  der  zweiten,  milderen  Form  (grabjözh)  nur  durch  die  Intensität  der  Gewalt. 
Endlich  der  einfache  Raub  (grabjözh  zweiten  Grades)  besteht  in  der  offenen 
Entwendung  von  Sachen  ohne  Gewalt  und  unterscheidet  sich  von  dem  Diebstahl 
nur  dadurch,  dass  dieser  Heimlichkeit  der  Entwendung  verlangt.  Der  Betrug 
charakterisiert  sich  als  Entwendung  mittels  Täuschung.  Jede  von  den  er- 
wähnten Arten  der  Vermögensverbrechen  zerfällt  in  privilegierte  oder  quali- 
fizierte Unterarten.  So  z.  B.  zerfällt  der  Diebstahl  in  einfachen,  schweren 
und  qualifizierten  Diebstahl.  Letzterer  liegt  vor,  wenn  der  Wert  des  Ent- 
wendeten 300  Rubel  übersteigt,  wenn  er  durch  mehrere  Teilnehmer  an  einer 
Bande  oder  durch  Einbruch  begangen  wird.  Dem  Diebstahl  mit  Einbruch 
stehen  gleich  der  Diebstahl  aus  einem  bewachten  Staats-  oder  öffentlichen 
Gebäude,  der  Diebstahl,  der  von  Bedienten  aus  dem  Hause,  in  dem  sie  an- 
gestellt sind,  durch  Einführung  von  fremden  Leuten,  oder  der  auf  einer 
öffentlichen  Strasse  oder  durch  einen  Bewaffneten  begangen  wird;  der  ge- 
werbsmässige Pferdediebstahl  (der  eine  wahre  Plage  für  manche  Provinzen 
ist),  die  Entwendung  von  Urkunden,  der  Diebstahl  im  zweiten  Rückfall,  end- 
lich der  Diebstahl  seitens  der  privilegierten  Stände  (Adelsleuten,  Geistlichen 
und  Ehrenbürgern).  Mehrere  Bestimmungen  über  einzelne  Diebstahlsfälle 
sind  in  verschiedenen  Abt.  des  StGB,  enthalten;  so  ist  der  Diebstahl  von 
geweihten  Sachen  aus  einer  Kirche  bei  den  Religionsverbrechen  erwähnt; 
die  Entwendung  von  Urkunden  aus  amtlichem  Gewahrsam  bei  den  Amts- 
verbrechen und  den  Verbr.  gegen  den  Staat  usw.  Endlich  folgen  Verbr.  und 
Verg.,  die  in  der  Eigentumsaneignung  bestehen,  nämlich  Unterschlagung  und 
Verheimlichung  von  fremdem  Eigentum.  Hierher  gehört  die  Aneignung  von 
fremden  Immobilien  durch  Fälschung  oder  Täuschung,  und  die  Unterschlagung 
von  anvertrauten  beweglichen  Sachen,  sowie  der  im  deutschen  Rechte  sogenannte 
Funddiebstahl.  Die  Unterschlagung  ist  qualifiziert,  wenn  der  Wert  des  Unter- 
schlagenen 300  Rubel  übersteigt,  oder  wenn  sie  im  Rückfall  begangen  ist. 
Sie  ist  privilegiert,  wenn  sie  Folge  des  Leichtsinnes  des  Schuldigen  ist  und 
dieser  sich  freiwillig  zum  Ersätze  verbindlich  macht  (der  wirkliche  Ersatz  ist 
nicht  notwendig,  es  genügt,  wenn  bei  Aburteilung  der  Angeklagte  sich  bereit 
erklärt,  den  Wert  späterhin  zu  ersetzen).    Bei  Amtsunterschlagung  ist  nur  der 

20* 


308  öas  russische  Kaisertum.  —  Das  geltende  russische  StR. 


schon  geschehene  Ersatz  als  Milderungsgrund  anzusehen.  Bei  Beurteilung  des 
Funddiebstahls  kommt  der  Umstand  in  Betracht,  ob  dem  Angeklagten  der 
Eigentümer  der  gefundenen  Sache  bekannt  war  oder  nicht  imd  ob  dieser  die 
Sache  von  ihm  forderte.  Überhaupt  verhält  sich  das  G.  dem  Funddiebstahl 
gegenüber  ziemlich  nachsichtig,  und  daher  bleibt  seine  Bestrafung  ohne  wesent- 
lichen Einfluss.  Zu  dieser  Kategorie  von  Verg.  gehören  auch  die  Aneignung 
von  Autorrechten,  die  Verletzung  des  litterarischen  oder  künstlerischen  Eigen- 
tums, Nachdruck  und  Plagiat;  die  Verletzimg  des  Patentrechtes,  sowie  Verg. 
wider  den  Markenschutz  sind  an  einem  anderen  Orte,  wie  früher  erwähnt,  vom 
StGB,  erörtert. 

Die  letzte  Gruppe  der  Vermögensverbrechen  bilden  Verbr.  bei  einigen 
Arten  von  Verträgen;  nämlich:  1.  Nötigung  zum  Abschluss  von  Verträgen 
und  Fälschung  der  Vertragsurkimden ;  2.  Verbr.  bezüglich  einiger  spezieller 
Vertragsarten;  so  Verkauf  von  fremdem  oder  schon  früher  verkauftem,  aber 
noch  nicht  kreditiertem,  oder  von  hypotheciertem  Eigentum  (unter  Verheim- 
lichung dieses  Umstandes);  Verkauf  von  gestohlenen  oder  durch  andere  Verbr. 
erworbenen  Sachen;  Verpfändung  von  fremden  Sachen,  Missbrauch  einer  er- 
teilten Vollmacht  usw. 

Es  muss  erwähnt  werden,  dass  trotz  der  Fülle  von  Straf bestimmungen 
oder  vielmehr  infolge  derselben  wie  auch  infolge  der  kasuistischen  Art  der 
Fassung,  ausser  der  schon  oben  bemerkten  Abwesenheit  einer  Bestimmung^ 
über  Erpressung  (chantage)  auch  eine  Bestimmung  über  Missbrauch  des  Ver- 
trauens (Untreue)  fehlt.  Zwar  befinden  sich  im  russischen  Rechte  einzelne 
Fälle,  die  hierher  gehören  (wie  z.B.  bezüglich  der  Beamten,  Anwälte  usw.), 
aber  es  mangelt  an  einer  allgemeinen  Bestimmung. 

§  9.    Gerichtsverfassung  und  Verfahren. 

I.  Die  Gerichtsverfassung  ist  in  Hussland  bei  weitem  nicht  einheitlich  für 
das  ganze  Reich  geordnet.  Die  Reform  v.  J.  1864  ist  allmählich  in  verschie- 
denen Provinzen  eingeführt  worden,  aber  mehrere  Provinzen  (Sibirien  und 
östliche  Gouvernements)  sehen  noch  immer  der  Einführung  der  reformierten 
Gerichte  entgegen.  Und  noch  ehe  das  Werk  des  Jahres  1864  in  territorialer 
Beziehung  abgeschlossen  war,  hat  es  in  dem  G.  des  J.  1889  wesentliche  Um- 
gestaltungen erfahren.  Auch  dieses  gilt  nicht  für  ganz  Russland,  und  somit 
ist  zu  unterscheiden:  1,  Gerichtsverfassung  nach  den  Gerichtsordnungen  v.  J. 
1864,  in  den  Provinzen,  in  welche  sie  eingeführt  worden  und  die  v.  6.  1889 
noch  nicht  betroffen  sind.  2,  Gerichtsverfassung  nach  den  G.-Ordnungen  v. 
1864,  aber  umgestaltet  durch  das  G.  v.  1889.  3.  Die  nicht  reformierte  Gerichts- 
verfassung. In  den  Provinzen,  wo  die  Gerichtsverfassung  v.  J.  1864  in  vollem 
Umfange  noch  in  Kraft  steht,  ist  die  Justiz  völlig  von  der  Verwaltung  ge- 
trennt und  unabhängig;  sie  ist  einheitlich,  da  alle  Zweige  unter  der  oberen  Aul- 
sicht des  Kassationssenats  stehen.  Letzterer  bildet  die  höchste  Kassations- 
instanz für  die  allgemeinen  und  die  Friedensgerichte,  von  denen  die  ersteren 
aus  angestellten  und  unabsetzbaren  Staatsrichtern,  die  letzteren  aus  periodisch 
alle  3  Jahre  gewählten  Richtern  bestehen.  Jeder  dieser  zwei  Zweige  der  Jasti2 
übt  seine  Gerichtsbarkeit  selbständig  aus  und  besteht  aus  zwei  Instanzen,  der 
ersten  und  der  Appellationsinstanz;  die  allgemeine  Justiz  aus  dem  Bezirks- 
gerichte und  dem  Appellhofe  (der  auch  als  Anklagekammer  funktioniert);  die 
Friedensjustiz  aus  dem  Friedensrichter  und  der  Session  der  sämtlichen  Friedens- 
richter des  Bezirks,  mit  einem  gewählten  ständigen  Vorsitzenden  und  einem 
ständig  funktionierenden  Mitgliede.  Das  Nebeneinanderbestehen  dieser  beiden 
Gerichtsorganisationen  erinnert  an  die  englische  Einrichtung;  eine  Annäherung 


^  9.     Gerichtsverfassung  und  Verfahren.  309 


an  die  französische  Organisation  wird  dadurch  gegeben,  dass  die  Bezirksgerichte 
mit  oder  ohne  Beteiligung  der  Geschworenen  funktionieren,  sodass  sie  etwa 
zwei  besondere  Institutionen  bilden  und  die  erste  Instanz  also  durch  3  Gerichte 
repräsentiert  wird,  den  Friedensrichter,  das  Bezirksgericht  ohne  Geschworene 
und  das  Bezirksgericht  mit  Geschworenen  (Schwurgericht).  An  die  französische 
Organisation  erinnert  auch  das  einheitliche  Kassationsgericht. 

Die  Zuständigkeit  der  Friedensrichter  ist  grösser  als  in  EYankreich  (ihnen 
sind  Verg.,  die  mit  Gefängnisstrafe  bis  zu  l^/g  Jahren,  Haft  bis  zu  3  Monaten 
und  Geldstrafe  bis  zu  300  Rubeln  belegt  sind,  zugewiesen);  die  Kompetenz 
des  Bezirksgerichtes  ohne  Geschworene  ist  onger  umgrenzt.  Die  Geschworenen- 
bank wird  mit  Personen  besetzt,  die  aus  mehreren,  aufeinander  folgenden 
Listen  entnommen  werden,  im  Vergleich  zu  dem  westeuro[)äischen  Verfahren 
mit  dem  Unterschiede,  dass  für  die  Aufstellung  der  Listen  immer  dasselbe 
ziemlich  grosse  Gebiet  verwendet  wird,  nämlich  ein  Bezirk  (Ujozd),  ein  Teil 
des  Gouvernements,  der  manchmal  grösser  ist  als  ein  ganzes  französisches 
Departement. 

Das  Richterelement  in  den  Schwurgerichten  ist  durch  3  Richter  des  Be- 
zirksgerichtes repräsentiert,  mag  die  Sitzung  am  Sitze  des  Gerichts  oder  in 
einer  andern  Stadt  des  Bezirkes  abgehalten  werden;  die  Richter  werden  nicht 
wie  in  Frankreich  für  einzelne  Sitzungsperioden  bestimmt,  sondern  sind  ein- 
mal für  allemal  kraft  Gesetzes  bezeichnet. 

Die  Voruntersuchung  wird  von  besonders  dazu  bestimmten  Untersuchungs- 
richtern geführt.  Die  Staatsanwaltschaft  ist  streng  hierarchisch  organisiert, 
sie  hat  an  der  Spitze  den  Minister  der  Justiz  als  General-Prokurator,  und  be- 
steht aus  dem  Ober-Prokurator  und  dessen  Gehülfen  bei  dem  Kassations- 
senate, den  Prokuratoren  und  deren  Gehülfen  bei  den  Appellhöfen  und 
den  Prokuratoren  und  deren  Gehülfen  bei  den  Bezirksgerichten.  Die  Friedens- 
gerichte haben  keine  besondere  Staatsanwaltschaft,  in  den  Sessionen  der  Friedens- 
richter, also  in  der  Appellationsinstanz  fungiert  (nicht  als  Ankläger,  vielmehr 
als  beisitzender  beratender  Richter)  einer  der  Gehülfen  des  Prokurators  bei 
dem  Bezirksgerichte.  Die  Anklage  vor  dem  Friedensrichter  liegt  in  den  Hän- 
den der  Polizeiorgane  und  der  Verletzten. 

IL  In  vielen  Provinzen  gelten  jetzt  di(^  Gerichtsordnungen  v.  J.  1864  nicht 
in  ihrer  früheren  Form,  sondern  in  der  durch  G.  v.  1889  herbeigeführten  Um- 
gestaltung, welche  die  allgemeinen  Gerichte  gar  nicht  betroffen  hat,  dafür 
aber  die  Friedensrichter,  mit  Ausnahme  der  sogenannten  Ehrenfriedensrichter,^) 
gänzlich  beseitigt  und  durch  von  dem  Ministerium  des  Innern  angestellte  und 
das  Recht  der  Unversetzbarkeit  nicht  geniessende  Beamten  und  Behörden  er- 
setzt, die  in  ihrer  richterlichen  Thätigkeit  unter  der  Aufsicht  des  Ministeriums 
der  Justiz  wie  auch  des  Innern  stehen.  Die  erste  Instanz  bilden  für  das 
flache  Land  —  Landeskreis  —  Hauptmänner  (Zemskij  utshastkowoj  Natshal- 
nik),  die  aus  den  adeligen  Grundeigentümern  des  Kreises  vom  Minister  des 
Innern  ernannt  werden  und  gänzlich  unter  dessen  Aufsicht  stehen;  für  Städte 
die  Stadtricliter,  die  von  dem  Minister  der  Justiz  angestellt  werden.  Die  Zu- 
ständigkeit dieser  Richter  wie  auch  der  Zemskije  Natshalniki  ist  eine  geringere 
als  die  der  Friedensrichter;  für  Sachen,  die  ihre  Kompetenz  übersteigen,  für 
die  aber  auch  die  Bezirksgerichte  nicht  zuständig  sind,  ist  eine  neue  Institu- 
tion geschaffen :   das  Kreismitglied  des  Bezirksgerichts,  d.  h.  eines  von  den  Mit- 

^)  Einem  an  die  englischen  justices  of  the  peace  erinnernde  Institution;  die 
Ehrenfriedensrichter  fungieren  nicht  beständig  als  Richter,  sie  sind  Stellvertreter  der 
Friedensrichter  und  nehmen  an  den  Sessionen  der  Friedensrichter  Teil;  manchmal 
Averden  sie  zur  Besetzung  der  Richterbank  in  den  Schwurgerichten  (aber  nicht  mehr 
als  je  einer)  zugezogen. 


310  L)as  russische  Kaisertum.  —  Das  geltende  rassische  StR. 


gliedern  des  Bezirksgerichtes,  das  für  die  Funktionen  eines  Richters  im  Kreise 
bestimmt  wird,  in  der  Kreisstadt  residiert  und  unter  Aufsicht  des  Justizministe- 
riums und  des  Kassationssenates  steht,  während  als  Appellationsinstanz  für 
seine  Urteile  das  Bezirksgericht  fungiert.  Als  Appellationsinstanz  für  die 
Z^mskije  Natshälniki  und  Stadtrichter  fungieren  die  Versammlungen  der  B^reis- 
hauptmänner  (unter  dem  Vorsitze  der  Adelsvorsteher)  und  als  Kassationsinstanz 
eine  Behörde,  die  in  der  Provinzialhauptstadt  ihren  Sitz  und  den  Gouver- 
neur der  Provinz  zum.  Vorsitzenden  hat.  Das  Justizelement  ist  in  den  letzt- 
genannten Instanzen  in  ganz  untergeordneter  Weise  vertreten.  Sie  stehen  in 
keiner  Verbindung  mit  dem  Kassationssenate  und  sind  überhaupt  nur  zum 
Teil  Justizorgane.  Als  Staatsanwälte  fungieren  die  Prokuratoren  des  Bezirks- 
gerichtes. —  Die  Zemskije  Natshälniki,  die  Kreisversammlungen  und  die  Pro- 
vinzialbehörden  bilden  ein  Gemisch  von  administrativen  und  richterlichen  Or- 
ganen, und  von  Trennung  dieser  Gewalten  ist  selbstverständlich  hier  keine 
Spur  zu  finden. 

In  den  Provinzen,  in  welchen  nicht  reformierte  Gerichte  noch  bestehen, 
ist  die  Justiz  in  den  niedem  Instanzen  völlig  mit  der  Administration  ver- 
mischt; es  funktionieren  Kreisgerichte,  Kriminalgerichtshöfe  und  das  5.  De- 
partement des  Senates.  Die  Verwaltungsorgane  üben  Kontrolle  über  die  Thätig- 
keit  der  Gerichte  und  bestätigen  die  gefällten  Urteile. 

III.  Was  die  besonderen  Gerichtsorganisationen  betriflFt,  ist  zu  nennen  die 
Gerichtsverfassung  in  den  Ostseeprovinzen,  in  Polen  und  im  Kaukasus,  wo  die  Ge- 
richtsverfassung vom  Jahre  1864,  aber  ohne  Schwurgerichte,  gilt.  Die  Friedens- 
gerichte sind  anders  organisiert.  In  Polen  urteilen,  neben  den  in  den  Städten 
angestellten  Friedensrichtern,  auf  dem  platten  Lande  sogenannte  Gminen- 
gerichte,  die  aus  einem  unter  Kontrolle  der  Regierung  gewähltem  Gminenrichter 
(Gmine  =  Gemeinde)  und  zwei  Beisitzern,  etwa  in  der  Art  der  deutschen  SchöflFen, 
bestehen,  nur  werden  sie  auf  eine  Zeit  von  6  Monaten  gewählt.  Die  Appel- 
lationsinstanz bildet  die  Versammlung  der  Friedens-  und  Gminen-Richter. 
Im  Kaukasus  werden  die  Friedensrichter  von  dem  Justizminister  angestellt; 
sie  funktionieren  auch  als  Untersuchungsrichter,  und  können  durch  besondere 
angestellte  Gehülfen  ersetzt  werden.  Als  Appellationsinstanz  gilt  das  Bezirks- 
gericht, während  der  Appellationshof  in  Tiflis  als  Kassationsgericht  für  Urteile 
der  Friedensrichter  funktioniert. 

rv.  Besondere  Gerichte  für  bestimmte  Personenkreise  sind:  !•  Die  Militär- 
gerichte, die  in  Friedenszeiten  aus  Regimentsgerichten,  Bezirksgerichten  und 
dem  oberen  Hauptkriegsgerichte  bestehen.  Es  sind  kollegiale  Behörden  die 
aus  teils  ständigen  doch  nicht  unabsetzbaren,  teils  temporär  funktionierenden 
Richtern  bestehen.  In  ihrer  Thätigkeit  sind  sie  völlig  dem  Kriegsministerium 
unterworfen.  Zur  Kriegszeit  wird  die  Justiz  durch  die  Feldgerichte  und  Haupt- 
feldgerichte repräsentiert.  2.  Bauern-  oder  Gemeindegerichte,  die  ganz  unab- 
hängig von  den  allgemeinen  Gerichten  bestehen.*)  Sie  bestehen  aus  5  kollegial 
ftmktionierenden,  von  der  Gemeinde  gewählten  Richtern;  Jährlich  wird  die 
Wahl  erneuert.  Die  Übung  des  Richteramtes  wird  meistens  von  dem  Bauer 
als  eine  schwere  Staatspflicht  betrachtet,  da  nur  einzelne  Gemeinden  die  Richter 
honorieren.  Dort  wo  das  G.  v.  J.  1889  noch  nicht  in  Geltung  ist,  können  die 
Urteile  dieser  Gerichte  der  (völlig  administrativen)  Behörde  filr  Bauemsachen 
zur  Revision  übertragen  werden;  dort,  wo  das  erwähnte  G.  schon  in  Geltung 
steht,  sind  diese  Gerichte  der  Aufsicht  der  Kreishauptmänner  (Zemkye  Natsh^niki) 
unterworfen.      3.    Kirchengerichte    als    besondere    Institution    existieren    nicht, 


*)  In  Polen  jedoch  giebt  es  keine  besondern  Gemeindegerichte  für  Bauern,  da  das 
Genieindegericht  für  alle  Personenkreise,  die  der  Gemeinde  angehören,  zuständig  ist. 


§  10.    Die  Fortentwickelung.  311 


ihre  Funktionen  werden  durch  kirchliche  Verwaltungsorgane,  durch  die  Epi- 
skope  oder  Konsistorien  und  den  heiligen  Synod  für  die  orthodoxe  Kirche, 
und  andere  kirchliche  Behörden  der  nichtorthodoxen  Konfessionen  ausgeübt. 
Letztere  stehen  unter  der  Kontrolle  und  Aufsicht  des  Ministeriums  des  Innern. 
V.  Was  das  Verfahren  selbst  betrifft,  so  ist  das  frühere  Inquisitionsverfahren 
durch  das  Verhandlungsverfahren,  das  auf  den  Grundsätzen  der  Münd- 
lichkeit, Unmittelbarkeit,  Öffentlichkeit,  der  Parteiverfügung,  bczw.  der  An- 
fechtung beruht  und  durch  die  Gerichtsordnungen  vom  20.  November  1864 
geregelt  ist,  ersetzt.  Wie  schon  erwähnt,  folgen  die  Verfasser  derselben 
den  besten  Prozessordnungen  des  Westens;  manche  Institute  sind  sogar  in 
liberalerer  Weise  organisiert  als  dort.  Mangel  an  Raum  hindert  uns  näher 
auf  das  Verfahren  einzugehen. 


Die  russische  Gesetzgebung  ist  zur  Zeit  In  fortwährender  Thätigkeit,  die 
überhaupt  in  Russland  viel  leichter  hervorzurufen  und  zu  verwirklichen  ist, 
als  irgendwo  im  Westen.  Fast  alle  Kanzleien  der  zentralen  Behörden  sind 
ununterbrochen  mit  der  Ausarbeitung  von  neuen  Gesetzentwürfen  beschäftigt. 
Ausserdem  besteht  in  Russland  eine  besondere  Behörde  mit  dem  Range 
etwa  eines  Ministeriums,  die  nur  mit  Ausarbeitung  von  neuen  Gesetzen 
und  Inkorporierung  der  neu  erlassenen  in  die  betreffenden  Teile  des  Swod 
Zakönow  und  seiner  Ergänzungen  beschäftigt  ist.  Diese  Behörde  ist  die 
sogenannte  Kodifikationsabteilung  des  Reichsrates  (früher  II.  Abteilung  der 
Kanzlei  Seiner  Majestät  des  Kaisers).  Natürlich  übt  sie  durch  die  Eintragung 
eines  neuen  G.  in  das  System  des  gesammten  Rechts,  seine  Verteilung  in 
die  verschiedenen  Teile  der  Gesetzbücher,  die  häufig  eine  redaktionelle  Um- 
wandlung zum  Zwecke  der  Vermeidung  von  Widersprüchen  fordert  (was  mit 
Allerhöchster  Genehmigung  geschieht),  einen  grossen  Einfluss  auf  Gestalt 
und  Inhalt  der  neu  erlassenen  G.  aus  und  die  Thätigkeit  dieser  Behörde  muss 
als  eine  gesetzgeberische  betrachtet  werden.  Das  Ergebnis  ist  die  äusserst 
rasche  Umänderung  des  geltenden  Rechts.  Wir  besitzen  jetzt  eine  grosse  Zahl 
von  Novellen,  die  das  materielle  und  besonders  das  formelle  StR.  betreffen, 
deren  Natur  und  wahre  Bedeutung  nicht  immer  leicht  zu  bestimmen  ist  und 
die  die  gesunde  Entwicklung  der  Praxis  sehr  hemmen,  da  diese  mit  Wider- 
sprüchen, Folgewidrigkeiten  und  dergl.  zu  kämpfen  hat.  Es  ist  ihr  auch 
die  Möglichkeit  nicht  gegeben,  aus  den  Motiven  der  neuen  Gesetze  die 
nötige  Aufklärung  zu  schöpfen,  da  sie  ohne  Motive  publiziert  werden. 
Die  Leichtigkeit,  mit  der  bei  der  Schaffung  von  neuen  G.,  bei  Abschaflfnng 
bestehender  Institute,  Schaffung  neuer  Organe  und  Behörden  vorgegangen  wird, 
wird  begreiflich,  wenn  man  in  Betracht  zieht,  dass  dabei  die  öffentliche  Mei- 
nung der  Bevölkerung  keinen  Anteil  nimmt,  dass  diese  durch  das  Ermessen 
und  die  Einsicht  einzelner  Persönlichkeiten,  die  gerade  an  der  Spitze  des  be- 
treffenden Verwaltungszweiges  stehen,  völlig  ersetzt  wird.  Dies  führt  unver- 
meidlich dazu,  das  Bewusstsein  von  der  Festigkeit  des  bestehenden  G.  abzu- 
schwächen und  ist  selbstverständlich  für  die  Autorität  des  G.  äusserst  wenig 
günstig;  für  die  Autorität  desselben  nicht  nur  bei  der  Bevölkerung,  sondern 
auch  bei  der  Administration,  die  bei  der  bestehenden  Regierungsform  nur 
durch  die  Autorität  des  G.  in  den  Schranken  der  Rechtsordnung  gehalten  und 
vom  Übergang  zur  Willkür  abgehalten  werden  kann.  Man  könnte  noch  einiger- 
massen  die  fortwährenden  Änderungen  der  G.  billigen,  wenn  sie  immer  die 
für  die  Strafgesetzgebung    einzig   massgebenden  Interessen    der    Gerechtigkeit 


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2.  Das  Grossfürstentum  Finnland. 


L  Einleitung. 

§  1.  Die  ältere  Cresehlehte  des  tiimländlscheii  Rechts. 

Es  ist  dem  Leser  bekannt,  dass  das  Grossfürstentum  Finnland,  mit  Russ- 
land vereinigt,  seine  eigene  Verfassung  und  eine  besondere,  von  der  russischen 
völlig  verschiedene  Gesetzgebung  besitzt.  Es  ist  hier  nicht  am  Platze,  auf 
eine  Darstellung  der  staatsrechtlichen  Stellung  Finnlands  einzugehen.  Hier 
mag  nur  erwähnt  werden,  dass  die  gegenwärtige  politische  Stellung  Finnlands 
datiert  von  dem  im  J.  1809  abgehaltenen  Landtage  zu  Borgo,  wohin  Kaiser 
Alexander!.,  nachdem  das  schwedisch  -  finnische  Heer  nach  einem  tapferen 
Widerstände  besiegt  und  über  die  Grenzen  des  Landes  zurückgedrängt  worden, 
die  gesetzlichen  Vertreter  des  finnischen  Volkes,  die  Stände  Finnlands,  zusammen- 
berufen hatte.  Hier  wurde  dem  Kaiser  als  Grossfürsten  Finnlands  gehuldigt, 
nachdem  er,  der  selbst  anwesend  war,  in  einer  den  versammelten  Ständen  in 
der  Domkirche  von  Borgo  vorgelesenen  schriftlichen  Versicherung  die  Gesetze 
und  Verfassung  des  Landes  vorher  feierlich  bestätigt  und  bekräftigt  hatte. ^) 

Bis  zur  Vereinigung  mit  Russland  machte  Finnland  einen  Teil  des 
schwedischen  Reiches  aus,  seitdem  das  Land  in  den  Jahren  1157  bis  1323 
von  den  Schweden  durch  verschiedene  Kreuz-  und  Eroberungszüge  allmählich 
in  Besitz  genommen  worden  war.  Die  Einverleibung  Finnlands  in  Schweden 
wurde  durchgeführt,  ehe  die  alten  Rechtssitten  und  Rechtsgewohnheiten  der 
finnischen  Nation,  oder  richtiger  der  verschiedenen  Stämme  des  Volkes,  die 
feste  Form  des  geschriebenen  Gesetzes  anzunehmen  vermochten.  Die  Folge 
davon  war,  dass  die  Finnen,  die  Hauptbevölkerung  Finnlands,  keine  solchen 
Denkmäler  des  Rechts  hinterliessen ,  aus  welchen  man  in  Betreff  ihrer  ältesten 
Rechtsverhältnisse  bestimmte  und  genaue  Folgerungen  ziehen  könnte. 

Indessen  konnten  die  Finnen  nach  dem  ersten  schwedischen  Eroberungs- 
zuge (1157)  eine  geraume  Zeit  ziemlich  ungestört  nach  ihren  heimischen 
Rechtsgewohnheiten  leben.  Erst  im  14.  Jahrhundert  fing  schwedisches  Recht 
und  Gemeinwesen  an,  sich  in  Finnland  mit  grösserem  Erfolg  einzubürgern. 
Dass  diese  sozusagen  geistige  Eroberung  sich  ohne  nennenswerte  Schwierig- 
keiten vollziehen  konnte,  ist  aus  folgendem  Umstände  erklärlich. 


^)  Über  die  Staatsverfassung  und  die  staatliche  Stellung  Finnlands  s.  unter  an- 
dern: Mechelin,  L.,  Das  Staatsrecht  des  Grossfürstentums  Finnland  (als  Anhang  zu  Prof. 
Engehnanns  Arbeit:  Das  Staatsrecht  des  russischen  Reichs,  aus  Marquardsens  Hand- 
buch des  öffentlichen  Rechts),  Freiburg  i.  B.  1889;  Mechelin,  L.,  Precis  du  droit  public 
du  Grand-duche  de  Finlande,  Helsingfors  1886;  Danielson,  J.  R.,  Finnlands  Vereinigimg 
mit  dem  russischen  Reich.  Übersetzung  der  2.  Aufl.  des  schwedischen  Originals.  Hel- 
singfors 1891-,  Hermanson,  R.  F.,  Finnlands  statsrätliga  ställning.     Helsingfors  1892. 


314  I***  ra«»^i>che  Raiscrtnoi.  —  I>as  SiR.  Finuiands. 


Die  alte  schwedische  Gesellschaft  hatte  eine  demokratische  Grondlage. 
Das  in  dem  grössten  Teile  des  übrijren  Enropa  herrschende  Feudalwesen  hatte 
niemals  im  schwedischen  Boden  Wurzel  scblag-en  können.  Schwedische  Rechts- 
ordntmg  konnte  daher  an  die  bei  den  Finnen  bestehenden  volkstümlicheD. 
einfachen  BechtsTcrhältnisse  leicht  anknüpfen.  Eine  Folge  davon  war.  dass 
das  schwedische  Recht  und  die  schwedische  Gesellschaftsordnimg  bei  dem 
finnischen  Volke,  obgleich  dies  seine  Nationalität  and  Sprache  nebst  seinen 
alten  Sitten  imd  Gebräuchen,  wenigstens  in  der  Hauptmasse  der  BeTolkenm^. 
beibehielt,  im  Laufe  der  Jahrhunderte  heimisch  wurde.  Das  finnische  Volk 
wurde  in  politischer  Beziehung  mit  dem  schwedischen  gleichberechtigt.  Auf 
den  schwedischen  Reichstagen  sassen  die  finnischen  Volksvertreter  mit  den- 
jenigen aus  Schweden  2nisammen  und  nahmen  an  der  gemeinsamen  Gesetz- 
gebungsarbeit teil.  Dies  Verhältnis  dauerte  bis  zur  Vereinigung  Finnlands 
mit  dem  russischen  Reiche.' i 

Das  positive  Recht  Finnlands  ist  daher  aus  derselben  Wurzel  wie  das 
schwedische  erwachsen,  weshalb  die  Rechtsgeschichte  der  beiden  Länder,  bis 
die  politische  Scheidung  jedem  eine  ven^chiedene  Entwickelungsbahn  zuwies, 
gemeinsam  verlief. 

Wir  können  daher  in  betreff  der  älteren  historischen  Entwicklung  des 
finnischen  StR.  den  Leser  auf  die  Darstellung  der  schwedischen  Rechtsent- 
wicklung hinweisen. 

Nach  Finnlands  Vereinigung  mit  dem  russischen  Reiche  trat  aber  eine 
längere  Stagnation  in  der  Entwicklung  der  kriminalrechtlichen.  wie  der  übrigen 
Gesetzgebung,  ein.  Nach  dem  Landtag  zu  Borgo  verstrichen  mehr  als  50  Jahre, 
ehe  ein  neuer  Landtag  zusammenberufen  wurde.  Eine  unvermeidliche  Folge 
davon  war,  dass  jede  gesetzgeberische  Thätigkeit,  die  der  Verfassung  des 
Landes  gemäss  das  Mitwirken  der  Volksvertretimg  erheischte,  ins  Stocken 
geriet.  Die  kriminelle  Gesetzgebung  Finnlands  blieb  somit  jahrzehntelang  von 
den  gewaltigen  Fortschritten,  die  die  Doktrin  und  die  Gesetzgebung  anderer 
Länder  während  dieser  Zeit  auf  dem  Gebiete  des  StR.  gemacht,  fast  un- 
berührt. 

§  2.  Die  Entstehimgsgesehiehte  des  StGB.  t.  1SS9. 

Im  J.  18H3  brach  für  Finnland  dadurch  die  Dämmenmg  eines  neuen 
Tages  an ,  dass  Kaiser  Alexander  IL ,  dessen  Name  bei  dem  finnischen  Volke 
in  dankbarem  Andenken  lebt,  die  Stände  des  Landes  wieder  zimi  Landtage 
zusammenberief  und  damit  die  alte  Verfassung  des  Landes  zu  neuem  Leben 
und  zu  neuer  Entwicklung  erweckte.  Eine  von  den  dringenden  Fragen,  die 
in  erster  Linie  die  Aufmerksamkeit  sowohl  der  Regierung  als  der  Volks- 
vertretung auf  sich  zogen,  war  die  nach  einer  Reform  der  veralteten  StGgebung. 
Schon  auf  dem  soeben  erwähnten  Landtage,  der  vom  15.  September  1863  bis 
zum  15.  April  1864  dauerte,  wurde  eine  kaiserliche  Proposition  wegen  der  all- 
gemeinen Grundsätze,  nach  denen  ein  neues  StCiB.  ausgearbeitet  werden  sollte, 
den  Ständen  vorgelegt.  Regienmg  und  Volksvertretung  waren  darin  einver- 
standen, dass  eine  durchgreifende  Reform  der  ganzen  StGgebung  vorzunehmen 
wäre  und  zwar  nach  den  für  die  moderne  Doktrin  und  die  neueren  StG. 
massgebenden  Prinzipien.  Behufs  Ausarbeitung  eines  Entw.  zum  neuen  StG. 
wurde  von  der  Regierung  im  J.  1865  ein  Komitee  niedergesetzt,  das  aber, 
weil  die  Mitglieder  anfangs  mit  anderen  Gresetzgehungsarbeiten  beschäftigt 
waren  und  überdies  ihre  Staatsämter  zu  versehen  hatten,  erst  im  J.  1875  seinen 

*j  Koskinen.  Y.,  Finnische  Ge.^chichte  von  den  frühesten  Zeiten  bis  auf  die 
Gegenwart,  l'bersetzung  ans  dem  Finnischen.    Leipzig  ls74. 


§  2.    Die  Entstehungsgeschichte  des  StGB.  v.  1889.  315 


Entw.  fertig  stellte.  Der  Entw.  enthielt  ausser  dem  StG.  eine  Vdg.  betr.  die 
Vollstreckung  der  Strafen  und  ebenso  eine  Vdg.  betr.  die  Einführung  des  StG. 
und  was  in  Bezug  darauf  zu  beobachten  ist.  In  der  That  hatte  es  mit  der 
Ausarbeitung  des  Entw.  keine  besondere  Eile,  weil  eine  durchgreifende  Reform 
des  Gefängniswesens  des  Landes  eine  notwendige  Bedingung  für  das  Inkraft- 
treten des  G.  war.  Seitdem  verschiedene  juristische  Behörden  über  den  Entw. 
eingeforderte  Gutachten  ^)  abgegeben  hatten  und  derselbe  auch  Gegenstand  der 
Kritik  von  selten  einzelner  Juristen*)  geworden  war,  was  jedoch  nur  in  sehr 
beschränktem  Masse  hatte  geschehen  können,  weil  der  Entw.  nur  in  den  beiden 
Landessprachen,  der  finnischen  und  schwedischen,  veröfifentlicht  worden  und 
somit  dem  grossen  Kreise  der  ausländischen  Fachmänner  nur  in  sehr  begrenztem 
Masse  zugänglich  war  —  kam  man  zur  Einsicht,  dass  der  Entw.,  obgleich 
eine  Frucht  gründlicher  Gelehi-samkeit,  um  den  Anforderungen  des  praktischen 
Rechtslebens  entsprechen  zu  können,  doch  einer  Revision  bedürftig  war. 

Zur  Umarbeitung  des  Entw.  wurde  daher  ein  zweites  ^omitee  nieder- 
gesetzt, das  im  J.  1884  einen  neuen  Entw.  einreichte.  Obgleich  dieser  sich 
in  betreflF  der  strafrechtlichen  Prinzipien  dem  ersten  anschloss,  kann  er  doch 
als  ein  selbständiges  Werk  betrachtet  werden.  Auch  dieser  zweite  Entw.  er- 
schien nur  in  den  beiden  Landessprachen. 

Indessen  waren  zwanzig  Jahre  vergangen,  ohne  dass  man  über  Entwürfe 
noch  hinausgekommen  wäre.  Als  die  Vorarbeiten  zum  neuen  StG.  in  Angriff 
genommen  wurden,  musste  es  jedem  einleuchten,  dass  eine  geraume  Zeit  ver- 
streichen würde,  ehe  das  neu  auszuarbeitende  G.  zur  Anwendung  gelangen 
könnte.  Es  schien  aber  nicht  angängig,  die  alte  StGgebung  mit  ihrem  ver- 
alteten Strafensystem,  wie  es  im  GB.  v.  1734  vorlag,  bis  dahin  unverändert  bei- 
zubehalten. Man  suchte  den  dringendsten  Missverhältnissen  durch  verschiedene 
G.  provisorischer  Art  abzuhelfen.  Als  Früchte  der  Thätigkeit  des  Landtages 
V.  1863 — 1864  mögen  hier  vier  Strafrechtsnovellen,  jede  vom  26.  November 
1866  erwähnt  werden:  eine  betr.  Körperverletzung  und  un vorsätzliche  Tötung, 
eine  betr.  falsche  Anschuldigung  und  Ehi'verletzung,  eine  betr.  Kindesmord 
und  eine  betr.  Vollstreckung  der  tYeiheitsstrafcn.  Auf  dem  folgenden  Landtag 
im  J.  1867  wurde  von  den  Ständen  ein  Gesetzentwurf  angenommen,  dessen 
Zweckes  war,  bis  zum  Inkrafttreten  des  neuen  StGB,  das  alte  Strafensystem  durch 
ein  anderes  provisorisch  zu  ersetzen,  das  wenigstens  in  irgend  welchem  Masse 
den  Gegensatz  zwischen  dem  Buchstaben  des  G.  und  dem  allgemeinen  Rechts- 
bewusstsein  auszugleichen  geeignet  wäre.  Dieser  Entw.  wurde  auch  von  der 
Regierung  bestätigt,  die  Promulgation  aber  wegen  des  noch  mangelhaften  Zu- 
standes  der  Gefängnisse  aufgeschoben.  Da  inzwischen  der  Aufschub  so  lange 
dauerte,  dass  man  das  Inkrafttreten  des  neuen  StGB,  mit  Sicherheit  erwarten 
zu  können  glaubte,  so  ist  das  in  Rede  stehende  provisorische  G.  niemals  zur 
Beobachtung  promulgiert  worden.^) 

Wir  kommen  auf  die  Vorarbeit  für  das  neue  StGB,  zurück.  Nachdem 
der  Entw.  v.  J.  1884   von  selten  der  Regierung  noch   eine    Revision    erfahren 

^)  Diese  Gutachten  wurden,  in  einem  Heft  zusammengestellt,  unter  dem  Titel: 
Underdäniga  utlätanden  öfver  förslagen  tili  strafflag  för  Storfurstendömet  Finland 
och  tvä  dermed  gemenskap  ägande  förordningar,  Helsingfors  1880,  veröffentlicht. 

*)  Unter  diesen  sind  zu  erwähnen:  Hagströmer,  J.,  Granskning  af  förslaget 
tili  strafflag  för  Storfurstendömet  Finland,  Upsala  1879  und  Forsman,  J.,  Muistutuk- 
sia  alamaiseen  rikoslain  ehdotukseen,  jonka  on  valmistanut  eräs  sitä  varten  asetettti 
komitea,  Helsingfors  1878,  als  Anhang  zum  13.  Jahrgang  der  Zeitschrift  des  juristischen 
Vereins  (Tidskrift  utgiven  af  Juridiska  Föreningen  i  Finland). 

'J  Eine  Übersicht  über  die  Entwicklung  der  finnischen  StGgebung  infolge 
der  Landtage  1863—1864  und  1867  ist  im  6.  Jahrgange  der  Zeitschrift  des  juristischen 
Vereins  von  G.  Ehrström  gegeben. 


316  I^as  russische  Kaisertum.  —  Das  StK.  Finnlands. 


hatte,  wurde  derselbe  auf  dem  Landtage  im  J.  1885  den  Ständen  vorgelegt, 
aber  leider  zu  spät,  als  dass  die  Frage  auf  diesem  Landtage  zum  Austrag 
hätte  gebracht  werden  können.  Auf  dem  nächstfolgenden  Landtage  im  J.  1888 
wurde  der  Entw.  den  Ständen  wieder  überreicht,  von  diesen  mit  wenigen 
Abänderungen  genehmigt,  von  dem  Monarchen  bestätigt  und  mit  Datum  vom 

19.  Dezember  1889  promulgiert.  Das  neue  G.  nebst  den  dazu  gehörenden 
zwei  G.,  der  Vdg.  betr.  die  Vollstreckung  der  Strafen  und  derjenigen  betr. 
die  Einführung  des  StG.  und  was  in  Bezug  darauf  zu  beobachten  ist,  sollte 
vom  1.  Januar  1891  zur  Anwendung  kommen.^)  Zuvor  aber  erschien  ein 
kaiserlicher  Erlass  vom  13.  Dezember  1890,  durch  welchen  „zur  Beseitigung 
der  durch  die  am  1.  Januar  1891  erfolgende  Einführung  des  neuen  StG.  nebst 
den  dazu  gehörenden  Vdgn.  erwachsenden  Ungelegenheiten  und  Schwierigkeiten" 
das  Inkrafttreten  des  G.   solange   sistiert  wurde,    bis    der   Beschluss    der    am 

20.  Januar  1891  zusammentretenden  Stände,  betr.  die  in  Vorschlag  gebrachten, 
„von  der  Notwendigkeit  gebotenen"  Veränderungen  des  G.,  von  dem  Kaiser 
und  Grossfürsten  genehmigt  und  bestätigt  werden  könnte. 

Diese  als  nötig  erachteten,  in  einer  Regierungsproposition  den  Ständen 
vorgelegten  Veränderungen  betrafen  beinahe  ausschliesslich  das  erste  Kap. 
(von  denjenigen,  die  finnischem  StG.  unterworfen  sind)  und  die  Kap.  vom 
Hochverrat,  Landesverrat  und  Majestäts verbrechen.  Die  Anderungsvorschläge 
schienen  von  der  Meinung  hervorgerufen  zu  sein,  dass  einige  Satzungen  des 
neuen  schon  sanktionierten  G.  die  nahe  Vereinigung  Finnlands  mit  Russland 
und  die  Interessen  der  Reichseinheit  nicht  genügend  berücksichtigt  hätten. 
Indessen  wurde  die  Regierungsvorlage  von  den  Ständen  mit  einigen  gering- 
fügigen Abänderungen  angenommen.  Die  Sanktionierung  des  Beschlusses  der 
Stände  ist  jedoch  nicht  erfolgt,  vielmehr  eine  neue  Regierungsvorlage  für  1894 
zu  erwarten.  Dennoch  dürfte,  da  die  streitigen  Punkte  nur  Einzelnheiten  be- 
treffen, die  hier  nicht  zu  berühren  sind,  dem  Zwecke  dieses  Aufsatzes  am  besten 
entsprochen  werden,  wenn  der  von  den  Ständen  genehmigte  Gesetzentwurf  der 
vorliegenden  Übersicht  zu  Grunde  gelegt  werden  wird.  Es  dürfte  keine  allzu 
kühne  Antizipation  sein,  wenn  wir  hier  den  Entw.  schon  als  G-  bezeichnen. 


n.    Das  StGB.  V.  1889. 

§  3.  Der  allgemeine  TeU. 

Das  neue  StG.,  bei  dessen  Ausarbeitung  in  erster  Linie  das  schwedische 
StGB.  V.  J  1864  und  das  deutsche  v.  J.  1871  berücksichtigt  worden  sind,  ist  in 
44  Kap.  eingeteilt,  von  denen  die  neun  ersten  den  allgemeinen  Teil  des  StR. 
umfassen  und  die  folgenden  von  den  Verbrechensarten  und  ihren  Strafen 
handeln.  In  die  vier  letzten  Kap.  des  StG.  sind  die  wichtigsten  Polizeiüber- 
tretungen aufgenommen.  Eine  der  französischen  und  deutschen  Dreiteilung 
entsprechende   Abstufung    der    kriminellen    Rechtsverletzungen    hat,    als    dem 

*)  Das  StG.  nebst  den  dazu  gehörenden  Vdg.  ist  ausser  in  der  amtlichen  GS. 
Finnlands  (finnisch:  Suomen  Suuriruhtinanmaan  Asetuskokoelma,  schwedisch:  Stor- 
furstendömet  Finlands  Författningssamling)  in  einer  im  Verlage  von  G.  W.  Edlund  ver- 
anstalteten Handausgabe  mit  Register  (1889)  herausgegeben.  —  Ebenso  sind  eine 
französische  und  eine  deutsche  Übersetzung  des  G.  erschienen,  die  französische  unter 
dem  Titel:  Code  penal  de  Finlande  du  19  Decembre  1889  traduit  de  Toriginal  su^dois 
par  Ludovic  Beauchet,  Professeur  ä  la  Faculte  de  Droit  de  Nancy  1890,  die  deutsche, 
bewerkstelligt  von  Johannes  Öhquist  in  Helsingfors,  als  Beilage  zum  elften  Band  der 
Zeitschrift  für  die  gesamte  Strafrechtswissenschaft.  Die  französische  Übersetzung 
umfasst  nur  das  Hauptgesetz,  die  deutsche  daneben  auch  die  Vollstreckungsverordnung. 


§  3.    Der  all«:emeine  Teil  des  StGB.  v.  1889.  317 


finnischen  Rechtswesen  fremd,  in  dem  G.  nicht  Aufnahme  gefunden.  Alle 
kriminellen  Rechtsverletzungen,  mögen  sie  schwererer  oder  geringerer  Art  sein, 
sind  mit  der  Benennung:  Verbr.  (schwedisch  brott,  finnisch  rikos)  bezeichnet. 

Wir  werden  die  der  Rechtsvergleichung  in  erster  Reihe  Stoff  darbietenden 
Bestimmungen  des  G.  kurz  berühren.  Zuerst  einige  Worte  über  das  Strafen- 
system. 

Als  allgemeine  Strafarten  sind  in  das  G.  aufgenommen:  Todesstrafe, 
Zuchthaus,  Gef.  und  Geldstrafe;  als  besondere  Strafen  für  Beamte:  Amtsent- 
setzung und  Entfernung  von  Ausübung  des  Dienstes.  Daneben  sind  im  6. 
mehrere  Nebenstrafen  angedroht.  Von  diesen  sind  die  wichtigsten:  Verlust 
der  bürgerlichen  Ehrenrechte  und  für  Beamte  Unfähigkeit  zur  Bekleidung 
öffentlicher  Ämter. 

Die  Todesstrafe,  die,  obgleich  in  der  alten  Gesetzgebung  des  Landes 
sehr  häufig  angedroht,  durch  ein  Edikt  von  Kaiser  Nikolaus  im  J.  1826  ausser 
Anwendung  gesetzt  worden  ist,  ist  in  dem  neuen  G.  für  folgende  Verbr.  bei- 
behalten worden:  a)  Mord  oder  vorsätzlicher  Totschlag  an  dem  Kaiser  und  Gross- 
fürsten sowie  Versuch  solcher  Tötungen;  b)  Thätlichkeit  gegen  den  Kaiser  und 
Grossfürsten  (alternativ  mit  lebenslänglichem  oder  zeitigem  Zuchthaus);  c)  Mord 
oder  vorsätzlicher  Totschlag  an  der  Kaiserin,  dem  Thronfolger  oder  einem 
anderen  Mitglied  des  kaiserlichen  Hauses;  d)  Mord  an  dem  Oberhaupt  eines 
befreundeten  Staates;  und  e)  gewöhnlicher  Mord  (alternativ  mit  lebensläng- 
lichem Zuchthaus). 

In  betreff  der  Vollstreckung  der  Todesstrafe  ist  (Vollstreckungsverordnung 
1:4,  5)  angeordnet,  dass  die  Hinrichtung  intramuran  sein  und  vermittelst 
Enthauptung  vollzogen  werden  soll. 

Die  Zuchthausstrafe  ist  entweder  eine  lebenslängliche  oder  eine  zeitige. 
Der  Höchstbetrag  der  zeitigen  Zuchthausstrafe  ist  12  Jahre,  ausser  wenn  bei 
Zusammentreffen  von  Verbr.  auf  eine  Gesamtstrafe  zu  erkennen  ist.  In  diesem 
Fall  kann  das  Maximum  15  Jahre  erreichen.  Der  Mindestbetrag  der  Zucht- 
hausstrafe ist  6  Monate. 

Die  Gefängnisstrafe  ist  eine  zeitige.  Ihr  Höchstbetrag  ist  überhaupt 
4  Jahre.  Bei  Zusammentreffen  ist  es  jedoch  gestattet,  auf  höchstens  6  Jahre  zu 
erkennen.  Ausserdem  wurde  im  StG.  in  seiner  ursprünglichen  Gestalt  für 
einige  Fälle,  die  der  Art  waren,  dass  zu  ihrer  Abbüssung  die  Zuchthausstrafe 
nicht  angezeigt  war,  welche  jedoch  eine  längere  Freiheitsentziehung  zu  er- 
heischen schienen,  eine  Gefängnisstrafe  von  längerer  Dauer  (gewissermassen 
eine  Art  von  custodia  honesta)  angeordnet.  Diese  Fälle  sind  jedoch  in  der 
von  den  Ständen  (1891)  genehmigten  Straf  rech  tsnovelle  auf  zwei  (betr.  den 
Zweikampf,  23  :  1)  zurückgeführt  worden.  —  Das  Verhältnis  des  Zuchthauses 
zum  Gef.  in  Bezug  auf  die  Strafzeit  entspricht  der  Proportion  von  '^j^  zu  ^j^. 

Die  Vollstreckung  der  Freiheitsstrafen  ist  in  den  Kap.  2 — 4  der  VoU- 
streckungs-Vdg.  den  Prinzipien  des  Progressivsystems  gemäss  geordnet.  Die 
bedingte  Entlassung  ist  sowohl  für  die  Zuchthäusler  als  für  die  Gefängnis- 
sträflinge eingeführt  worden.  Sie  kann  nur  unter  der  Voraussetzung  zur  An- 
wendung gelangen,  dass  der  Sträfling  zu  einer  mindestens  dreijährigen  Frei- 
heitsstrafe verurteilt  worden  ist,  und  dass  er  drei  Viertel  derselben  oder,  wenn 
er  lebenslänglichem  Zuchthaus  unterworfen  ist,  mindestens  12  Jahre  von  der 
Strafzeit  abgebüsst  hat  (V^ollstreckungs-Vdg.  2  :  13). 

Was  insbesondere  die  Zuchthausstrafe  anbelangt,  so  mag  hier  hervor- 
gehoben werden,  dass  sie  in  verschiedenen  Anstalten  für  Männer  und  für 
Frauen  zu  vollstrecken  ist,  dass  die  Sträflinge,  die  zur  Zwangsarbeit  für  den 
Staat  anzuhalten  sind,  in  drei  Klassen:  die  Zwangs-,  Lehr-  und  Prüfungs- 
klasse, eingeteilt  sind,  falls  nicht  bei   der  Verbüssung  von  längeren  Freiheit«- 


318  I^a«  russische  Kaisertum.  —  Das  StR.  Finnlands. 


strafen  eine  grössere  Anzahl  von  Lehrklassen  als  nötig  erachtet  würde;  dass 
jeder  Sträfling  im  Beginn  der  Strafzeit  der  Zwangsklasse  zuzuzählen  ist;  dass 
die  Versetzung  des  Sträflings  aus  dieser  in  die  Lehrklasse  und  nachher  in 
eine  höhere  Klasse  auf  Grund  der  ihm  g(3mäss  seiner  Führung  zu  erteilenden 
Zeugnisse  erfolgen  soll. 

In  betreff  der  Behandlung  der  Sträflinge  in  den  verschiedenen  Klassen 
sind  einige  den  Strafvollzug  charakterisierende  Umstände  zu  erwähnen. 

Die  zur  Zwangsklasse  zählenden  Sträflinge  sollen  nach  ihrer  Einlieferung 
Tag  und  Nacht  nach  Ermessen  der  Zuchthausdirektion,  jedoch  nicht  weniger 
als  vier  Monate,  in  Einzelhaft  gehalten  werden.  Wenn  jedoch  der  Sträfling 
nicht  ohne  Nachteil  für  seine  Gesundheit  den  beständigen  Aufenthalt  in  Einzel- 
haft verträgt  oder  aus  anderen  Gründen  nicht  in  einer  Zelle  gehalten  werden 
kann,  ist  es  der  Zuchthausdirektion  frei  gestellt,  ihm  zu  gestatten,  dass  er 
unter  beständiger  Aufsicht  in  Gemeinschaft  mit  anderen  Sträflingen  arbeiten 
darf,  wobei  jedoch,  soweit  möglich,  die  Nächte  und  längere  Freistunden  in 
der  Zelle  zugebracht  werden  müssen.  Hat  ein  Sträfling  das  achtzehnte  Lebens- 
jahr nicht  vollendet,  so  steht  es  der  Direktion  frei,  die  Dauer  seines  Auf- 
enthalts in  der  Einzelhaft  zu  bestimmen.  In  keinem  Fall  aber  darf  ein  solcher 
in  Gemeinschaft  mit  älteren  Gefangenen  aus  der  Zwangsklasse  gehalten  werden. 

In  der  Lehrklasse  sind  die  Sträflinge  unter  beständiger  Aufsicht  zu  ge- 
meinsamer Strafarbeit  anzuhalten.  Nur  ausnahmsweise  ist  Einzelhaft  anzu- 
ordnen. Die  Nächte  und  längere  Freistunden  aber  sind,  wenn  irgend  an- 
gängig, in  der  Zelle  zuzubringen.  , 

In  der  Prüfungsklasse  soll  in  ähnlicher  Weise  gemeinschaftliche  Zwangs- 
arbeit verrichtet  und  die  Nacht  nach  Ermessen  des  Vorstehers  in  gemeinsamen 
Schlafräumen  oder  etwa  freien  Zellen  zugebracht  werden.  In  sonstiger  Be- 
ziehung hat  man  gesucht,  so  gut  die  Verhältnisse  es  gestatten,  aus  dieser 
Prüfungsklasse  nach  dem  Muster  des  irischen  intermediate  prison  eine  Über- 
gangsanstalt auszubilden  (Vollstreckungs-Vdg.  3  :  11^). 

Auch  die  Insassen  des  Gef.  sind  gleich  den  Zuchthäuslern  dem  Arbeits- 
zwang unterworfen,  erstere  aber  sind,  berechtigt,  ihre  Arbeit  selbst  zu  wählen 
und  sie,  nach  dem  Wortlaute  des  G.,  für  eigene  Rechnung  zu  verrichten,  vor- 
ausgesetzt, dass  sie  mit  der  Anstalt  vereinbar  ist  und  mit  eigenen  oder  den 
Werkzeugen  der  Anstalt  ausgeführt  werden  kann.  Doch  werden  auch  in  die- 
sem Falle  zwei  Drittel  des  Preises,  der  durch  den  Verkauf  des  Verfertigten 
erzielt  wird,  nach  Abzug  des  Wertes  der  Zuthaten,  für  Rechnung  des  Staates 
(oder  der  Stadt  oder  des  Gerichtssprengeis)  zurückbehalten.  Kann  der  Sträf- 
ling jedoch  keine  solche  Arbeit  angeben,  so  soll  er  gleich  den  Zuchthäuslern 
überhaupt  für  Rechnung  des  Staates  arbeiten. 

Die  Gefängnisgefangenen  sind  mindestens  in  zwei  den  Klassen  des  Zucht- 
hauses entsprechende  Abt.  verteilt.  Den  schädlichen  Wirkungen  der  kurz- 
zeitigen Freiheitsstrafen  ist  man  dadurch  wirksam  entgegengetreten,  dass  man 
bei  dem  Vollzug  der  Gefängnisstrafe  der  Einzelhaft  eine  sehr  ausgedehnte 
Anwendung  eingeräumt  hat.  Es  ist  nämlich  verordnet,  dass  jeder  Gefängnis- 
sträfling, wenn  möglich,  zu  Beginn  der  Strafzeit  in  Einzelhaft  gehalten  werden 
solle.  Im  Verhältnis  zur  Strafzeit  des  Gefangenen  kann  die  Zeit  der  Einzel- 
haft nach  Ermessen  der  Gefängnisdirektion  bis  zu  12  Monaten  und  wichtiger 
Gründe  wegen  noch  länger  ausgedehnt  werden,  wenn  nicht  die  Gesundheit 
des  Gefangenen  ein  Hindernis  entgegenstellt.  Verschiedene  Vorkehrungen  sind 
hier  wie  im  Zuchthause  in  Bezug  auf  die  in  Gemein schaftshaft  gehaltenen 
Sträflinge  getroffen,  um  dem  schädlichen  Einflüsse  der  schlechteren  Elemente 
der  Gefängnisbevölkerung  vorzubeugen.  So  ist  bestimmt,  dass  die  zur  niedrig- 
sten Abt.  zählenden  Sträflinge,  die  das  achtzehnte  Lebensjahr  nicht  vollendet 


t?  3.    Der  allgemeine  Teil  des  StGB.  v.  1889.  319 


haben,  mit  älteren  Gefangenen  derselben  Abt.  nicht  zusammengebracht  werden 
dürfen. 

Über  die  Einzelhaft  bei  dem  Vollzug  der  Zuchthaus-  und  Gefängnisstrafe 
mag  noch  erwähnt  werden,  dass,  wenn  ein  Zuchthaus-  oder  Gefängnissträfling 
selbst  darum  bittet,  Tag  und  Nacht  in  Einzelhaft  zubringen  zu  dürfen,  es  vom 
Ermessen  des  Vorstehers  abhängt,  ihm  dies  zu  erlauben  (Vollstreckungs-Vdg. 
3:9;  4:7).  Ebenso  ist  in  betreff  der  Gefängnissträflinge  überhaupt  verordnet, 
dass,  wenn  dringliche  Veranlassung  vorhanden  ist,  einen  Gefangenen,  der 
sonst  in  Gemeinschaft  mit  anderen  Gefangenen  gehalten  werden  sollte,  von 
diesen  zu  trennen,  er,  wenn  irgend  thunlich,  der  Einzelhaft  zu  unter- 
werfen ist. 

Die  Geldstrafe  ist  für  die  leichtesten  Rechtsverletzungen  angedroht. 
Häufig  kommt  sie  auch  neben  der  Gefängnisstrafe  wahlweise  angedroht  vor. 
Der  Höchstbetrag  der  Geldstrafe  ist  1000  finnische  Mark  (=  Francs)  und  der 
Mindestbetrag  3  Mark.  In  einigen  Fällen  —  der  Verbrechenskonkurrenz  nicht 
zu  gedenken  —  ist  jedoch  ein  höherer  Betrag  vorgeschrieben,  z.  B.  bei  dem 
Wucher  (38  :  10";  ferner  2  :  9;  10  :  5;  43  :  1,  3).  Nicht  beizutreibende  Geld- 
strafen werden  in  Gef.  umgewandelt.  Für  diese  Umwandlung  hat  der  finnische 
Gesetzgeber  nicht  einen  relativen  Massstab  der  Art,  wie  z.  B.  im  deutschen 
StGB.  §  29,  aufgestellt,  sondern  einen  festen  Geldbetrag  für  jeden  Gefängnistag 
angeordnet.  Der  Höchstbetrag  dieser  hülfsweisen  Freiheitsstrafe  ist  90  und 
der  Mindestbetrag  4  Tage  (2  : 5).  In  betreff  des  Vollzugs  dieser  Umwandlungs- 
strafe ist  in  der  Vollstreckungsverordnung  (4 : 5)  festgestellt,  dass  die  dieselbe 
abbüssenden  Gefangenen  von  anderen  Sträflingen  getrennt  zu  halten  sind. 
Wenn  dies  jedoch  nicht  thunlich  ist,  so  sind  sie,  soweit  möglich,  mit  solchen 
Sträflingen  zusammenzuhalten,  die  unbedingte  Gefängnisstrafe  in  einer  höheren 
Abteilung  abbüssen  (Vollstreckungs-Vdg.  4  :  5). 

Was  die  Beitreibung  der  Geldstrafe  anbelangt,  so  ist  im  finnischen  Recht 
der  Grundsatz  von  altersher  geltend,  dass,  wenn  der  zur  Geldstrafe  Verurteilte 
nicht  den  ganzen  Betrag  zu  zahlen  vermag,  die  ganze  Summe  in  die  hülfs- 
weise  Strafe  umzuwandeln  ist,  ohne  dass  eine  teilweise  Abzahlung  Platz 
greifen  kann. 

Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  hat  zur  Folge  die  Verwir- 
kung  der  Rechte,  deren  Genuss  durch  guten  Leumund  bedingt  ist.  Diese 
Nebenstrafe  ist  eine  zeitige  und  zwar  mit  einem  Mindestbetrag  von  einem 
Jahre  und  einem  Höchstbetrage  von  15  Jahren.  Nur  in  dem  Falle,  dass  das 
den  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  nach  sich  ziehende  Verbr.  mit  Todes- 
strafe oder  lebenslänglichem  Zuchthaus  bedroht  ist,  ist  diese  Nebenstrafe  auch 
Jahre  eine  lebenslängliche. 

Die  Unfähigkeit  zur  Bekleidung  öffentlicher  Ämter  ist  eine  zei- 
tige, indem  sie  ebenfalls  nicht  unter  einem  Jahre  und  nicht  über  fünfzehn 
dauern  kann. 

Das  finnische  G.  hat,  wie  die  modernen  StG.  überhaupt,  für  die  straf- 
zumessende Thätigkeit  des  Richters  einen  sehr  ausgedehnten  Spielraum  gewährt. 
Dies  tritt,  ausser  in  der  relativen  Bestimmtheit  der  Strafgebote,  indem  ent- 
weder eine  Strafart  mit  einem  Höchst-  und  Mindestbetrag  festgestellt  worden 
ist  oder  mehrere  absolut  oder  relativ  bestimmte  Strafarten  im  Strafgebote 
Aufnahme  gefunden  haben,  vorzugsweise  in  der  Anordnung  hervor,  dass  in 
mehreren  Fällen  neben  den  Regel -Strafrahmen  in  Bezug  auf  besonders  mil- 
dernde oder  erschwerende  Umstände  besondere  Strafrahmen  festgestellt  worden 
sind.  Bisweilen  veranlassen  die  besonders  erschwerenden  Umstände  keine 
Feststellung  von  besonderen  Strafrahmen,  sondern  nur  einen  verstärkenden 
Zusatz  zur  Hauptstrafe  (38  :  2*;  40  :  6^).     Zu  den  Fällen  der  mildernden  und 


320  Das  russische  Kaisertum.  —  Das  StR.  Finnlands. 


erschwerenden  Umstände  zählen  wir  nicht  diejenigen,  wo  der  Gesetzgeber 
durch  ausdrückliches  Hervorheben  eines  Umstandes  von  mildernder  oder  er- 
schwerender Art  eine  mildere  oder  strengere  Strafe  begründet  (z.  B.  16  :  10*; 
17  :  1*;  22  :  8-  usw.),  auch  nicht  diejenigen,  wo  der  Gesetzgeber  angedeutet 
hat,  dass  irgend  ein  Umstand  bei  der  Strafzumessung  als  erschwerender,  d.  h. 
die  Strafe  innerhalb  des  Strafrahmens  erhöhender  angesehen  werden  soll  (7  :  2; 
14  :  1*;  21  :  13^;  40  :  22;  41  :  8).  Es  verdient  auch  erwähnt  zu  werden,  dass 
der  Gesetzgeber  eine  besondere  Strafbestimmung  häufig  begründet  durch 
Zusammenstellung  von  einem  gewissen  angegebenen  Strafschärfungs-  oder 
Milderungsgrund  mit  besonders  mildernden  und  erschwerenden  Umständen 
überhaupt  (z.  B.  21  :  2*;   25  :  9;  29  :  1^  33  :  1^  36  :  5  usw.). 

In  betreff  der  Personen,  die  das  für  die  Zurechnungsfähigkeit  und  die 
kriminelle  Verantwortlichkeit  erforderliche  Alter  erreicht  haben,  macht  das 
G.  folgende  Unterschiede:  ein  Kind,  welches  das  fünfzehnte  Lebensjahr  noch 
nicht  vollendet  hat,  ist  nicht  strafrechtlich  verantwortlich.  Doch  kann  das 
Gericht  nach  Umständen  verordnen,  dass  ein  Kind,  welches  das  siebente  Lebens- 
jahr vollendet  hat,  in  einer  öffentlichen  Erziehungsanstalt  untergebracht  oder 
von  den  Eltern  oder  von  einem  anderen,  in  dessen  Obhut  und  Gehorsam  es 
steht,  zu  Hause  erweislich  gezüchtigt  werden  soll.  Würden  die  Eltern  oder 
der  Pfleger  des  Kindes  die  ihnen  obliegende  Züchtigung  unterlassen,  so  hat 
die  vollziehende  Behörde  dafür  Sorge  zu  tragen. 

In  der  öffentlichen  Erziehungsanstalt  kann  das  Kind,  so  lange  die  der 
Anstalt  vorgesetzte  Behörde  solches  für  es  erforderlich  erachtet,  behalten 
werden;  jedoch  nicht  über  das  vollendete  achtzehnte  Lebensjahr  hinaus,  es 
wäre  denn,  dass  der  gesetzliche  Vertreter  des  Kindes  ein  längeres  Verweilen 
in  der  Anstalt  gutheisst,  in  welchem  Falle  dieses  bis  zum  vollendeten  zwanzigsten 
Lebensjahre  ausgedehnt  werden  kann.  Das  Unterbringen  in  einer  Erziehungs- 
anstalt ist  jedoch  nicht  nach  dem  Wortlaut  zu  verstehen;  denn  nach  der  Ver- 
fügung der  Vollstreckungsverordnuug  (6  :  1)  soll  ein  der  Erziehungsanstalt 
überlassenes  Kind,  soweit  es  möglich  ist,  von  der  Anstalt  an  eine  geeignete 
Privatfamilie  übergeben  werden,  um  dort  unter  der  Aufsicht  der  Anstalt  er- 
zogen zu  werden,  falls  es  nicht  mit  Rücksicht  auf  Alter,  Verdorbenheit  oder 
andere  Umstände  besser  in  der  Anstalt  zu  erziehen  ist.  Die  näheren  Bestim- 
mungen über  diese  Erziehungsanstalten  sind  besonderen  Verordnungen  vor- 
behalten. 

Jugendliche  Verbrecher  zwischen  dem  fünfzehnten  und  achtzehnten  Lebens- 
jahr werden  einer  im  G.  näher  dargelegten  ausgedehnten  Strafermässigung 
teilhaft.  Nach  denselben  Gründen  wird  die  Strafe  ermässigt  auch  für  diejenigen, 
denen,  obgleich  sie  nicht  für  unzurechnungsfähig  angesehen  werden  können, 
der  volle  Gebrauch  des  Verstandes  mangelt  (3  :  4),  ebenso  bei  der 
Überschreitung  der  Notwehr,  bei  Notstand,  Versuch  und  Beihülfe. 

Die  Strafermässigung,  die  denjenigen  zu  teil  wird,  welchen  der  volle 
Gebrauch  des  Verstandes  abgeht,  ist  auf  die  Trunkenheit  oder  eine  andere  ähn- 
liche, vom  Thäter  selbst  verschuldete  Geistesverwirrung  nicht  dermassen  erstreckt 
worden,  dass  dieser  Zustand  für  sich  allein  als  Grund  zu  der  Strafmindemng 
gelten  könnte  (3  :  4*-). 

Hier  mag  nebenher  bemerkt  werden,  dass  das  StG.  (43:  6)  eine  Geld- 
strafe für  denjenigen  verfügt,  der  auf  „öffentlichen  Wegen,  Strassen  oder  an 
andern  öffentlichen  Orten  oder  bei  öffentlichen  Verrichtungen  oder  Versamm- 
lungen betrunken  auftritt  und  dadurch  Ärgernis  giebrt".  Die  Strafe  ist  be- 
trächtlich verschärft  für  einen  Beamten,  der  sich  in  der  Ausübung  des  Amtes 
der  in  Rede  stehenden  Übertretung  schuldig  macht.  Diese  Bestimmungen  sind 
eine  Modifikation  der  diese  Frage  betreffenden  Satzungen    der  älteren  Gesetz- 


§  3.    Der  allgemeine  Teil  des  StGB.  v.  1889.  321 


gebungi  nach  welchen  die  Tnmkenheit,  auch  wenn  sie  nicht  öffentlich  zum  Vor- 
schein gekommen  ist,  mit  Strafe  belegt  ist  und  dieser  Zustand  in  betreff  der 
in  demselben  begangenen  Verbr.  keinen  Entschuldigungsgrund  abgeben  kann. 

Die  vom  Notstand  veranlasste  Straffreiheit  ist  nach  der  Auffassung  des 
Gesetzgebers  ersichtlich  nicht  in  einem  Notrecht,  sondern  vielmehr  in  der  Ent- 
schuldbarkeit einer  in  sqlchem  Zustande  begangenen  strafbaren  Handlung 
begründet.  Es  ist  demgemäss  verordnet  (3:  10),  dass,  wenn  jemand,  um  seine 
eigene  oder  eines  anderen  Person  oder  Eigentum  aus  gegenwärtiger  Ge- 
fahr zu  retten,  eine  strafbare  Handlung,  ohne  welche  die  Rettung  nicht  möglich 
war,  begangen  hat,  das  Gericht  entscheiden  muss,  ob  ihm  völlige  Straffreiheit 
zu  Gute  kommen  soll,  oder  ob  er  eine  volle  oder  verminderte  Strafe  nach 
Massgabe  der  den  jungen  Verbrechern  zukommenden  Strafermässigung  ver- 
wirkt habe. 

In  betreff  der  Teilnahme  liegt  der  Unterschied  von  Thäterschaft  und 
Beihülfe  in  der  Beschaffenheit  der  Handlung.  Die  Handlung  des  Thäters  ist 
eine  Ausführungshandlung,  die  Handlung  des  Gehülfen  aber  eine  solche,  durch 
welche  während  oder  vor  der  Ausführung  der  Handlung  dem  Thäter  mit  Rat 
oder  That  oder  durch  Ermunterung  derselben  Vorschub  geleistet  wird  (6:  3). 
Der  Versuch  der  Anstiftung  ist,  der  in  der  Doktrin  immer  herrschenden  Lehre 
gemäss,  straflos  gelassen  worden.  Man  hat  aber  in  Finnland  ebensowenig 
wie  in  Deutschland  der  Notwendigkeit  entgehen  können,  den  Anforderungen 
des  praktischen  Rechtslebens  in  dieser  Beziehung  Rechnung  zu  tragen.  So 
ist  in  16:  8  —  den  Paragraphen  85,  110  und  111  des  deutschen  StGB,  ent- 
sprechend —  auch  die  erfolglose  öffentliche  Aufforderung  zum  Verbr.,  sei  es, 
dass  sie  in  einer  Volksversammlung  oder  durch  eine  verbreitete  oder  öffent- 
lich angeschlagene  oder  ausgestellte  Schrift  oder  Darstellung  geschehen  ist, 
mit  Strafe  belegt.  Als  die  Strafbarkeit  erhöhend  ist  der  Fall  besonders  her- 
vorgehoben, dass  das  Verbr.  Hochverrat  oder  Landesverrat  ist.  Mit  beson- 
derer Strafe  ist  eine  auf  die  angegebene  Weise  bewerkstelligte  Aufforderung  zum 
Ungehorsam  gegen  das  G.  oder  gesetzliche  Vorschriften  bedroht.  Ebenso  ist 
in  17:  6,  gleichwie  in  §159  des  deutschen  GB.,  gegen  die  erfolglose  Anstiftung 
zum  Meineid  Strafe  angedroht.^) 

Was  den  Rückfall  betrifft,  so  ist  von  altersher  im  finnischen  Recht  der 
Grundsatz  geltend  gewesen,  dass  für  einen  in  strafrechtlicher  Beziehung  rele- 
vanten Rückfall  das  vollständige  Verbüsstsein  des  früheren  Verbrechens  notwendig 
ist.  Die  durch  den  Rückfall  bedingte  höhere  Strafbarkeit  ist  vom  Gesetzgeber 
auf  Eigentumsverbrechen  beschränkt.  Hierbei  hat  er  nicht  streng  auf  die  enge 
Verwandtschaft  des  neuen  Verbrechens  mit  dem  früheren  gehalten.  So  wird 
z.  B.  ein  Einbruch,  dem  eine  Erpressung  vorgegangen,  als  Einbruch  im  Rück- 
fall bestraft.  Auch  die  sogenannte  Rückfallsverjährung  ist  von  dem  finnischen 
Gesetzgeber  aufgenommen,  indem  in  6:  2  festgestellt  ist,  dass,  falls  10  Jahre 
vergangen  sind,  seit  die  Strafe  des  früheren  Verbrechens  verbüsst  war,  dem 
Rückfall  keine  strafschärfende  Wirkung  mehr  beizulegen  ist.*) 

Im  Kapitel  vom  Zusammentreffen  der  Verbr.  hat  der  Gesetzgeber 
den  alten  Unterschied  von  idealer  und  realer  Konkurrenz  beibehalten.  Bei 
jener  kommt  das  Absorptionsprinzip  und  bei  dieser  ein  zwischen  den  Absorp- 

*)  Forsman,  J.:  Grunderna  för  läran  cm  delagtighet  i  brott  (Die  Qründe  der 
Lehre  von  der  Teilnahme),  Helsingfors  1879,  enthält  eine  Darstellung  der  auf  die 
Teilnahme  sich  beziehenden  Bestimmungen  des   älteren  schwedisch-finnischen  Rechts. 

*)  Aufschlüsse  über  die  den  Rückfall  betreffenden  Bestimmungen  des  älteren 
schwedisch-finnischen  Rechts  giebt  die  akademische  Dissertation  von  K.  F.  Lagus:  Om 
äterfäll  i  brott,  senare  delen  (Über  den  Rückfall  in  Verbr.,  zweite  Hälfte),  Helsing- 
fors 1856. 

Straf^esetz^ebnng  der  Gegenwart.   I.  21 


322  I^ÄS  russische  Kaisertum.  —  Das  StR.  Finnlands. 


tions-  und  KumuIatioDsprinzipien  stehendes  mittleres  Prinzip  zur  Anwendung. 
Bei  dem  Zusammentreffen  von  mehreren  Geldstrafen  ist  jedoch  das  im  alten 
Recht  geltende  Kumulationsprinzip  beibehalten  worden.  Bei  der  idealen  Kon- 
kurrenz soll  dasjenige  von  den  auf  die  betreffenden  Verbr.  sich  beziehenden 
Gesetzen  zur  Anwendung  kommen,  das  dem  Richter  den  weitesten  Raum  für  Aus- 
messung der  strengsten  Strafe  gewährt,  ohne  dass  dabei  die  Strenge  der  Strafe  der 
Art  nach  allein  massgebend  sein  darf.  Daher  vertritt  das  Gef.  im  Vergleich  mit 
der  Zuchthausstrafe  die  strengere  Strafe,  wenn  die  in  einem  Gesetzgebot  an- 
gedrohte Gefängnisstrafe  in  Bezug  auf  die  Strafzeit  in  grösserem  Masse  als 
im  Verhältnis  von  4  zu  3  die  in  einem  anderen  G.  festgesetzte  Zuchthausstrafe 
übersteigt.  In  diesem  Falle  ist  das  Gef.  mit  Abzug  eines  Viertels  in  Zucht- 
haus umzuwandeln.  Diese  Umwandlung  braucht  jedoch  nicht  notwendig  Platz 
zu  grellen,  wenn  das  andere  G.  neben  der  Zuchthausstrafe  eine  gelindere 
Strafart  androht.  —  Dem  realen  Zusammentreffen  ist  im  finnischen  G.  ein 
weitrer  Raum  als  z.  B.  in  dem  deutschen  StGB.  (§  79)  gewährt  worden.  So  liegt 
nach  7:  9  ein  reales  Zusammentreffen  auch  in  dem  Falle  vor,  dass  von  etwa 
zwei  Verbr.,  die  vor  der  Aburteilung  eines  von  beiden  begangen  worden  sind, 
die  Strafe  für  das  eine  schon  verbüsst  ist,  ehe  das  andere  zur  Aburteilung 
gelangt.  Auch  in  den  Fällen,  dass  jemand,  nachdem  er  für  ein  oder  mehrere 
Verbr.  zur  Strafe  verurteilt  worden,  aber  bevor  er  die  Strafe  ganz  verbüsst, 
von  neuem  ein  Verbr.  begangen,  kommen  die  bei  dem  realen  Zusammentreffen 
geltenden  Regeln  für  die  Strafausmessung,  jedoch  mit  einer  nicht  unerheblichen 
Modifikation,  zur  Anwendung,  indem  dem  Richter  gestattet  ist,  den  Höchst- 
betrag, welchen  die  betreffende  Freiheitsstrafe  beim  Zusammentreffen  der  Verbr. 
erreichen  kann,  um  eine  gewisse  Zeit  zu  überschreiten.  Diese  Zeit  beträgt 
bei  der  Zuchthausstrafe  höchstens  5  und  bei  der  Gefängnisstrafe  höchstens 
2  Jahre. 

Hier  ist  auch  zu  bemerken,  dass,  wenn  bei  dem  realen  Zusammentreffen 
die  Einzelstrafen  ungleichartig  sind,  behufs  der  Bildung  einer  Gesamtstrafe 
eine  Umwandlung  in  die  der  Art  nach  strengste  —  natürlich  die  Todesstrafe 
und  die  lebenslängliche  Zuchthausstrafe  ausgenommen  —  stattfinden  soll.  Die 
Umwandlung  einer  Geldstrafe  in  Zuchthaus  ist  so  zu  bewerkstelligen,  dass  die 
Geldstrafe  nach  dem  im  G.  angegebenen  Massstabe  zuerst  in  Gef.  umgesetzt 
wird  und  die  GefUngnisstrafe  darauf  mit  Abzug  eines  Viertels  in  Zuchthans 
umgewandelt  wird. 

Für  die  Verfolgung  der  Antragsverbrechen,  ^)  deren  das  G.  eine  grosse 
Anzahl  enthält,  ist  eine  Präklusivfrist  von  einem  Jahre,  von  dem  Tage  an 
berechnet,  wo  der  Antragsberechtigte  Kenntnis  vom  Verbr.  erhielt,  aufgestellt 
worden.  Der  Antragsberechtigte  (der  „Klaginhaber")  ist  berechtigt,  einen 
gestellten  Antrag  zurückzunehmen,  bevor  die  Sache  zur  Behandlung  des  Ge- 
richts gekommen  ist,  oder  eine  von  ihm  selbst  in  Gang  gebrachte  Strafver- 
folgung fallen  zu  lassen,  bevor  das  Gericht  erster  Instanz  sein  Urteil  abge- 
geben.   Wird  ein  Antragsverbr.  vom  gesetzlichen  Vertreter  gegen  den  begangen. 


*)  Unter  diesen  mag  hier  erwähnt  werden:  die  Verleitung  zu  einem  Ehevertrag 
(18:  1);  der  Ehebruch  (19:  8);  eine  gelindere  Art  von  Misshandlung  nebst  einer  durch 
FahrläSvSigkeit  verursachten  Körperverletzung  (21:  14);  der  Hausfriedensbruch,  die  un- 
gesetzliche Haussuchung  und  das  Einschlagen  von  Fenstern,  das  Hineinwerfen  von 
Steinen  oder  anderen  Gegenständen  in  das  Zimmer,  Haus  oder  Fahrzeug  eines  anderen 
oder  das  mit  Waffen  geschehende  Hineinschiessen  in  solche  Räumlichkeiten  (24:  5); 
die  Notzucht  nebst  anderen  Angriffen  gegen  die  Freiheit  und  Keuschheit  einer  Frauens- 
person und  die  Nötigung  und  Bedrohung  mit  einem  Verbr.  (25:  14);  die  Ehrver- 
letzungen (27:  8);  die  Entwendung  von  gemeinschaftlichem  Gut  (30:  2^;  die  Sachbe- 
schädigung, durch  welche  nur  ein  Privatrecht  verletzt  worden  ist  (85 : 4) ;  die  Untreue 
und  der  strafbare  Eigennutz  (3S :  9)  usw. 


§  4.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  323 


dem  der  Gebrauch  des  Verstandes  mangelt  oder  der  das  mündige  Alter  nicht 
erreicht  hat,  so  darf  eine  Strafverfolgung  vom  öffentlichen  Ankläger  ohne 
einen  besonderen  Antrag  eingeleitet  werden.') 

Die  zu  dem  allgemeinen  Teil  des  StR.  gehörenden  Kap.  werden  mit  einem 
Kap.  über  den  Schadensersatz  in  Kriminalsachen  abgeschlossen.  Die  Aufnahme 
von  Bestimmungen  über  den  Schadensersatz  in  das  StGB,  hat  ihren  Grund  in 
der  engen,  in  der  alten  bisher  geltenden  Strafgesetzgebung  zwischen  der 
Strafe  und  dem  Schadensersatz  obwaltenden  Verwandtschaft,  infolgedessen  in  den 
alten  Satzungen  neben  den  Strafbestimmungen  häufig  auch  über  den  Schadens- 
ersatz verordnet  ist,  ferner  auch  in  der  hierauf  bezüglichen  Mangelhaftigkeit 
der  bürgerlichen  Gesetzgebung.  Auch  ist  zu  merken,  dass  die  in  Rede  stehende 
Anordnung  sich  dem  einheimischen  Strafprozesse  anschliesst,  indem  die  Klage 
der  verletzten  Partei  um  Schadensersatz  in  den  meisten  Fällen  zugleich  mit 
der  Strafklage  geführt  wird. 

§  4.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen. 

Die  die  besonderen  Verbr.  umfassenden  Kap.  werden  mit  einem  Kap. 
über  die  Religionsverbrechen  eingeleitet.  An  der  Spitze  derselben  steht 
die  Gotteslästerung.  Hieran  schliesst  sich  die  Beschimpfung  des  heiligen  Wor- 
tes Gottes  oder  der  Lehre,  der  Sakramente  oder  der  Gebräuche  einer  in  Finn- 
land anerkannten ,  gestatteten  oder  geduldeten  Religionsgesellschaft.  Dem- 
nächst sind  die  Kultusstörungen,  die  vom  Gesetzgeber  gleichmässig  auf  alle  im 
Lande  anerkannten,  gestatteten  oder  geduldeten  Religionsgesollschaften  bezogen 
sind,  mit  Strafe  bedroht.  Auch  unbefugte  Proselyt^nmacherei  ist  gleichmässig 
mit  Strafe  belegt,  wenn  sie  sich  auf  irgend  eine  von  den  im  Lände  anerkannten, 
gestatteten  oder  geduldeten  Religionsgesellschaften  bezieht.  Das  Kap.  wird 
mit  einer  Strafbestimmung  für  denjenigen  abgeschlossen,  welcher  seinen  Diener 
oder  ein  anderes  Mitglied  seines  Hausgesindes  daran  verhindert,  den  Gottesdienst 
zu  besuchen,  so  dass  er  selten  oder  niemals  dc^mselben  beiwohnen  kann.  — 
Im  41.  Kap.  sind  Strafbestimmungen  gegen  verschiedene  Übertretmigen  der 
für  die  Hauptkonfession  des  Landes,  die  evangelisch-lutherische  Gemeinde, 
festgestellten  kirchlichen  Ordnung  eingeführt  worden.  Daneben  ist  in  demselben 
Kap.  die  Sabbatsentheiligung  in  Strafe  genommen.  Diese  Übertretung  besteht 
darin,  dass  jemand  zur  Sabbatszeit  —  der  Zeit  zwischen  6  Uhr  morgens  mid 
6  Uhr  abends  an  Sonntagen  und  kirchlichen  Feiertagen  —  ohne  zwingende 
Notwendigkeit  Arbeit  verrichtet  oder  Geschäft  oder  Gewerbe  treibt.  Wenn  ein 
Verbr.  zur  Sabbatszeit  verübt  wird,  so  ist  dieser  Umstand  als  ein  erschweren- 
der in  Betracht  zu  ziehen. 

Die  delicta  carnis  (Kap.  20)  anlangend  ist  zu  merken,  dass  im  finnischen 
G.  auch  der  einfache  Beischlaf  zwischen  unverheirateten  Personen  und  zwar 
unter  dem  Namen  des  heimlichen  Beilagers  (schwedisch:  lönskaläge,  finnisch: 
salavuoteus)  mit  Strafe  von  höchstens  40  Mark  finnisch  (=  Francs)  für  den 
Mann  und  20  Mark  für  die  Frau,  belegt  ist.  Mehrere  Arten  von  qualifiziertem 
Beischlaf  sind  ausserdem  mit  höheren  Strafen  bedroht.  Der  einfache  Bei- 
schlaf und  die  leichteren  Arten  des  qualifizierten  Beischlafs  sind  straffrei,  weim 
die  betreff'enden  Personen  die  Ehe  miteinander  eingehen. 

In  betreff"  der  Tötungsverbrechen  ist  das  neue  0.  von  der  alten 
Gesetzgebung  erheblich  abgewichen.     In   dieser  wurde   unter  den   Begriff  des 

*)  über  die  Antragsverbr.  und  die  darauf  sich  beziehenden  Bestimmungen  in 
dem  älteren  schwedisch-finnischen  Recht  können  Aufschlüsse  aus  der  akademischen 
Dissertation  J.  Grotenfelts:  Om  malsägarebrottets  begrepp  enligt  finsk  rätt  (Über  den 
Begriff  des  Antragsverbr.  nach  finnischem  Recht),  Helsingfors  1H87,  entnommen  werden. 

21* 


324  I^as  russische  Kaisertum.  —  Das  StR.  Finnlands. 


Totschlages  jede  rechtswidrige  Handlung  und  Unterlassung,  die  den  Tod  eines 
Menschen  verursacht,  untergeordnet.  Der  vorsätzliche  Totschlag  (schwedisch: 
viljadrip)  im  GB.  v.  J.  1734  umfasst  nicht  nur  die  Fälle  von  Tötung,  in  denen 
der  Thäter  beabsichtigt,  einen  anderen  ums  Leben  zu  bringen,  sondern  auch 
solche,  in  denen  die  Absicht  auf  Zufügung  eines  körperlichen  Schmerzes  oder 
einer  körperlichen  Verletzung  gerichtet  ist,  woraus  nachher  in  einem  Jahr  der 
Tod  erfolgt.  Durch  das  die  Tötung  betreffende  G.  vom  26.  November  1866, 
welches  auch  die  unvorsätzlichen  Tötungen  behandelt,  erhielt  der  Begriff 
des  vorsätzlichen  Totschlags  eine  dermassen  enge  Fassung,  dass  seitdem  als 
vorsätzlicher  Totschlag  nur  eine  solche  Tötung,  wobei  der  Eintritt  des  Todes 
beabsichtigt  war,  betrachtet  wurde.  Der  Mord  aber  war  nach  der  alten  Gesetz- 
gebung ein  qualifizierter  vorsätzlicher  Totschlag  und  zwar  in  der  Beziehung, 
dass  derselbe  hinterlistig  und  heimlich  ausgeführt  wurde.  —  In  dem  neuen 
G.  sind  Mord  und  Totschlag  in  der  Weise  von  einander  unterschieden,  dass 
der  Mord  eine  vorsätzliche  mit  Vorbedacht  ausgeführte  Tötung,  und  der  vor- 
sätzliche Totschlag  ebenfalls  eine  gewollte,  aber  hastigen  Muts  begangene 
Tötung  in  sich  schliesst.  Übrigens  sind  unter  den  Begriff  von  Totschlag  dem 
weiteren  Sinne  der  alten  Gesetzgebung  gemäss  nicht  nur  eine  durch  vorsätz- 
liche Misshandlung  verursachte  unvorsätzliche  Tötung  (21  :  4),  sondern  auch 
die  durch  Fahrlässigkeit  oder  Unachtsamkeit  verschuldete  Herbeiführung  des 
Todes  eines  anderen  untergeordnet  (21  :  10).  Als  Milderungsgrund  nicht  nur 
bei  Totschlag,  sondern  auch  bei  der  durch  vorsätzliche  Misshandlung  herbei- 
geführten Tötung  gilt  der  Umstand,  dass  der  Totschläger  ohne  eigene  Schuld 
durch  eine  schwere  Beleidigung  oder  besondere  Gewaltsamkeit  des  Getöteten 
zum  Zorne  gereizt  war.  Bei  der  durch  vorsätzliche  Misshandlung  verursachten 
Tötung  ist  als  Milderungsgrund  der  Fall  aufgenommen,  dass  der  Tod  oder 
eine  schwere  Körperverletzung  als  wahrscheinliche  Wirkung  der  Misshandlung 
nicht  erwartet  werden  konnte. 

Die  Misshandlung,  ausschliesslich  des  Falles,  wo  der  Tod  eine  Folge 
der  Misshandlung  ist,  ist  vom  Gesetzgeber  in  Bezug  auf  ihre  Wirkung  in  drei 
Kategorieen  eingeteilt  worden.  1.  Misshandlung,  die  eine  schwere  Körper- 
verletzung verursacht:  Verlust  der  Sprache,  des  Gesichtes  oder  des  Gehörs, 
eine  schwere  Verkrüppelung  oder  einen  anderen  schweren  körperlichen  Fehler, 
eine  dauernde  Schädigung  der  Gesundheit  oder  lebensgefährliche  Krank- 
heit (21  :  5);  3.  eine  solche,  deren  Folge  eine  gelindere  als  die  zur  ersten 
Kategorie  gehörende  Beschädigung,  körperlicher  Fehler  oder  Krankheit  ist 
(21  :  11)  und  3.  eine  solche,  die  nur  einen  geringen  oder  gar  keinen  Schaden 
verursacht  (21  :  12). 

Die  Kindesaussetzung  (22:8),  die  darin  besteht,  dass  eine  in  unehe- 
lichem Beischlafe  schwanger  gewordene  Frau  ihr  neugeborenes  Kind  in  irgend 
einer  Weise  aufgiebt  oder  in  hülfloser  Lage  lässt,  ist  als  ein  dem  Kindesmorde 
verwandtes  Verbr.  aus  der  unter  den  Verbr.  wider  die  Freiheit  (25  Kap.)  er- 
wähnten Rechtsverletzung  ausgeschieden,  welche  in  der  Aussetzung  eines  hülf- 
losen Kindes  oder  anderer  dergleichen  hülfsbedürftiger  Personen  oder  in  der 
Versetzung  in  eine  hülflose  Lage  oder  in  dem  Verlassen  einer  anderen  Person 
in  einer  solchen  Lage  besteht,  die  fortzuschaffen,  zu  begleiten  oder  zu  hüten 
man  verpflichtet  ist  oder  übernommen  hat  (25  :  3). 

Die  Ehrverletzungen  (27  Kap.)  sind  Verleumdung  (schwed.  smädelse) 
und  Beleidigung  (schwed.  förolämpning).  Verleumdung  liegt  vor,  wenn  jemand 
einem  anderen  ein  bestimmtes  Verbr.  oder  eine  gewisse  Art  Verbr.  oder  eine 
andere  derartige  Handlung  aufbürdet,  die  diesen  verächtlich  zu  machen  oder 
in  seinem  Gewerbe  oder  Fortkommen  zu  schädigen  geeignet  ist,  oder  auch 
über  ihn  erdichtete  oder  unwahre  Gerüchte  verbreitet.     Die  Verleumdung  ist 


§  4.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  325 


zweierlei  Art:  eine  solche,  die  wider  besseres  Wissen  und  eine  solche,  die 
nicht  wider  besseres  Wissen  geschieht.  Für  alle  beide  Arten  sind  strengere 
Strafbestimmungen  für  den  Fall  gegeben,  dass  die  Verleumdung  öffentlich  oder 
durch  eine  von  dem  Schuldigen  oder  durch  seine  Fürsorge  verbreitete  Druck- 
oder andere  Schrift  oder  bildliche  Darstellung  begangen  ist. 

In  betreff  des  Diebstahls  (Kap.  28)  ist  der  in  der  schwedisch-finnischen 
Gesetzgebung  von  altersher  gemachte  Unterschied  zwischen  Entwendungen  von 
grösserem  und  solchen  von  minderem  Betrag  zu  merken.  Jene,  die  Entwen- 
dungen von  Eigentum  im  Wert  von  mehr  als  20  Mark  (-=  Francs)  umfassen, 
werden  als  Diebstahl  bezeichnet,  diesen  aber,  zu  denen  Eigentumsentwendungen 
im  Wert  von  20  Mark  oder  weniger  gehören,  ist  die  Benennung:  Mauserei 
(schwed.  snatteri,  finnisch  näpistely),  beigelegt.  Die  Mauserei  ist  mit  weit 
niederer  Strafe  als  der  Diebstahl  bedroht.  Jene  wird  —  wenn  sie  nicht  unter 
besonders  erschwerenden  Umständen  begangen  worden  ist  —  mit  Geldstrafe 
gesühnt,  während  dieser  Gef.  und  unter  besonders  erschwerenden  Umständen 
Zuchthaus  nach  sich  zieht.  Der  Diebstahl  hat  den  Verlust  der  bürgerlichen 
Ehrenrechte  zur  Folge,  während  diese  Nebenstrafe  mit  der  Mauserei  nicht 
verknüpft  ist.  Diese  der  Mauserei  zuerkannte  Strafmilderung  ist  jedoch  bei 
den  qualifizierten  Eigentumsentwendungen,  deren  eine  gi'osse  Menge  aus  der 
alten  Gesetzgebung  herübergenommen  worden  sind,  ausgeschlossen. 

Als-  ein  dem  Diebstahl  gegenüber  selbständiges  Delikt  ist  in  Überein- 
stimmung mit  der  alten  Gesetzgebung  der  Einbruch  (28  :  3)  aufgestellt  worden. 
Dieser  liegt  vor,  wenn  jemand  in  der  Absicht  zu  stehlen  in  einen  Hof,  ein 
Haus,  Fahrzeug  oder  in  verschlossenen  Gewahrsam  einbricht  oder  durch 
Dietriche,  Nachschlüssel  oder  andere  List  sich  dorthin  Eingang  oder  Öffhung 
verschafft  oder  auch  durch  Gewalt  oder  List  mit  Schloss,  Siegel  oder  ähnlichem 
Verschluss  versehene  Schränke,  Kisten,  Schreine  oder  andere  Behältnisse,  ohne 
dieselben  wegzubringen,  öflPhet.  Ein  Diebstahl  mit  Einbruch  wird  aber  als 
qualifizierter  Diebstahl  angesehen,  während  dieser  Fall  in  der  alten  Gesetz- 
gebung als  ein  Zusammentreffen  von  Diebstahl  und  Einbruch  erachtet  wurde. 

Unter  den  Eigentumsdelikten  verdient  noch  die  Entwendung  von  ge- 
meinschaftlichem Gut  (schwed.  bodrägt)  hervorgehoben  zu  werden  (30.  Kap.). 
Sie  liegt  vor,  wenn  Ehegatten  von  einander  oder  Kinder  von  Eltern  oder  Pflege- 
kinder von  Pflegeeltern  oder  Teilhaber  einer  Erbmasse  oder  andere,  die  an 
einer  gemeinsamen  Masse  oder  Gesellschaft  teilnehmen,  aus  der  Masse  oder 
dem  Vereinsgut  etwas  entwenden. 

Dem  gegenwärtigen  flnnischen  und  schwedischen  Recht  gewissermassen 
eigentümlich  ist  das  als  rechtswidrige  Bodenbenutzung  (schwed.  äverkan) 
(33.  Kap.)  zu  bezeichnende  Delikt.  (Vgl.  das  deutsche  StG.  §  370 \  *).  Im  GB. 
v.J.  1734  und  in  späteren  Vdgn.  ist  das  in  Rede  stehende  Delikt  als  eine  un- 
befugte Benutzung  des  in  Wald  und  Boden  bestehenden  Grundeigentums  eines 
anderen  aufgeführt.  Die  rechtswidrige  Bodenbenutzung  ist  daher  ein  sehr 
weiter  Begriff,  der  eigentlich  mehrere,  der  Art  nach  verschiedene,  Delikte  um- 
fasst.  So  wird  der  gesetzwidrigen  Bodenbenutzung  zugezählt  nicht  nur  die  an 
fremdem  Grund  und  Boden  verübte  Beschädigung,  unbefugtes  Bauen  und  teil- 
weises Einnehmen  desselben,  sondern  auch  diebische  Entwendung  von  Gegen- 
ständen, die  zur  Substanz  des  Bodens  gehören  oder  Erzeugnisse  desselben 
ausmachen,  ohne  dass  bei  der  Hervorbringung  der  fraglichen  Erzeugnisse  die 
menschliche  Arbeit  eine  nennenswerte  Rolle  gespielt  hat.  Aber  ausserdem  wer- 
den derartige  Rechtsverletzungen,  wenn  sie  von  Miteigentümern  zum  Nach- 
teil anderer  Mitinteressenten  am  gemeinschaftlichen  Grundstück  oder  von  dem 
berechtigten  Besitzer,  wie  von  Pächtern,  Käthnem  usw.,  an  dem  von  ihnen 
innegehabten  Grundstücke  zum  Schaden  des  Eigentümers  verübt  werden,   als 


326  Das  rassische  Kaisertum.  —  Das  StR.  Finnlands. 


rechtswidrige  Bodenbenatzung  betrachtet.  Die  mehrmals  laut  gewordene  An- 
sicht, es  sollte  der  Waldfrevel,  wenn  er  mit  diebischer  Entwendung  von  Wald- 
produkten verbunden  ist,  als  Diebstahl  erachtet  werden,  hat  gegen  die  im 
Volke  tief  wurzelnde  Auffassung  nicht  durchdringen  können.  Auch  das  neue 
StG.  hat  dieser  Auffassung,  die  ebenso  im  geltenden  Waldgesetz  vom  3.  Sep- 
tember 1886  zum  Vorschein  kommt,  Rechnung  tragen  müssen,  indem  auch  hier 
das  Fällen  von  Bäumen,  in  der  Absicht  sich  oder  einem  anderen  dieselben 
anzueignen,  als  rechtswidrige  Bodenbenutzung  betrachtet  worden  ist. 

Hinsichtlich  der  alten  Gesetzgebung  hat  der  Thatbestand  des  Wuchers 
(38  :  10)  im  neuen  StG.  eine  Erweiterung  erfahren,  die  den  Anforderungen  des 
praktischen  Lebens  entgegenkommt.  Nach  diesem  ist  des  Wuchers  schuldig 
nicht  nur  derjenige,  der  für  ein  Darlehn,  für  welches  nur  bestimmte  jährliche 
Zinsen  genommen  werden  dürfen,  einen  höheren  als  den  vom  G.  gestatteten 
Zinsfuss  nimmt  oder  sich  versprechen  lässt,  sondern  auch  derjenige,  der  bei 
einem  anderen  Darlehn  oder  im  Falle  der  Stundung  einer  Geldforderung,  unter 
Ausbeutung  der  Notlage,  der  Unerfahrenheit  oder  des  Leichtsinns  eines  anderen 
über  den  üblichen  Zinsfuss  sich  Vermögensvorteile,  die  in  auffälligem  Miss- 
verhältnis zu  der  Leistung  stehen,  versprechen  oder  gewähren  lässt.  Der  ge- 
werbs-  oder  gewohnheitsmässige  Wucher  ist  mit  einer  besonderen  strengeren 
Strafe  belegt. 

In  demselben  Kap.  (demjenigen  von  Untreue  und  strafbarem  Eigennutz), 
wie  der  Wucher,  haben  zwei  auf  Steuerdefraudationen  bezügliche  Delikte 
Aufnahme  gefunden.  Diese  liegen  vor:  a)  wenn  jemand  durch  eine  unwahre 
Angabe  oder  anderen  Trug  dem  Staat  oder  einer  Gemeinde  Zollgebühren  oder 
andere  Steuern  oder  allgemeine  Abgaben  entzieht  oder  zu  entziehen  versucht 
und  b)  wenn  jemand  Waren,  deren  Ein-  oder  Ausfuhr  verboten  ist,  ins  Land 
einführt  oder  einzuführen  versucht,  oder  aus  dem  Lande  ausführt  oder  aus- 
zuführen versucht.  Einzelsatzungen  über  die  Zolldelikte  sind  in  einer  an  das 
Zollgesetz  vom  30.  Dezember  1887  sich  anschliessenden  Vdg.  von  demselben 
Tage  zu  finden. 

Die  geltende  Konkursordnung  ist  vom  9.  November  1868.  In  dem 
allgemeinen  StGB.  (Kap.  39)  haben  jedoch  die  auf  den  Bankerutt  bezüglichen 
Straf  bestimmungen  in  hauptsächlicher  Übereinstimmung  mit  der  Konkursordnung 
Aufnahme  gefunden.  Das  StG.  unterscheidet  zwischen  betrüglichem ,  unred- 
lichem und  fahrlässigem  oder  leichtsinnigem  Bankerutt,  die  jedweder  im  G. 
näher  charakterisiert  sind. 


m.  Die  strafrechtlichen  Bestimmuiigen  ausserhalb  des  StGB. 

Militärstrafgesetzbuch.  Das  Mil.-StG.  Finnlands  (StG.  für  das  fin- 
nische Militär  nebst  Ordnungsstatut)  ist  vom  16.  Juli  1886.  Nachdem  die  all- 
gemeine Wehrpflicht  durch  ein  von  den  Ständen  auf  dem  Landtage  im  J.  1877 
angenommenes  und  nachher  promulgiertes  G.  vom  27.  Dezember  1878  in  Finn- 
land eingeführt  worden  war,  wurde  eine  durchgreifende  Revision  des  früheren 
finnischen  Mil.-StG.  vom  9.  April  1877  in  Angriff;  genommen.  Als  Frucht  dieser 
Arbeit  wurde  ein  Entw.  zum  neuen  Mil.-StG.  den  Ständen  vorgelegt,  von  diesen 
auf  den  Landtagen  1882  und  1885  behandelt  und  schliesslich  mit  einigen  von 
den  Ständen  vorgenommenen  Abänderungen  zum  G.  erhoben.  Dies  G.,  welches 
auch  das  militärische  Strafprozessrecht  enthält,  ist  in  25  Kap.  mit  218  Para- 
graphen eingeteilt.     An  das  G.  schliesst  sich  ein  Ordnungstatut  an,  enthaltend 


§  5.    Die  strafrechtlichen  Bestimmungen  ausserhalb  des  StGB.  327 


Vorschriften  über  die  disziplinarischen  Bestrafungen  und  andere  Bestimmungen 
zur  Aufrechthaltung  der  militärischen  Ordnung.  Die  im  Mil.-StG.  vorgesehenen 
Strafen  sind:  I.Todesstrafe;  2.  Zuchthaus;  3.  Gef.;  4.  Amtsentsetzung;  5.  Ent- 
fernung vom  Dienste;  6.  Geldstrafe  und  7.  Ordnungsstrafe.  Die  letztgenannte 
kann  von  einem  zuständigen  Vorgesetzten  verhängt  werden,  ohne  dass  ein 
Gerichtsurteil  nötig  ist.  Zur  Ausfertigung  des  Ordnungsstatuts  ist  die  Regierung 
allein  zuständig.  Das  Wehrpflichtsgesetz  vom  27.  Dezember  1878  enthält  da- 
neben Straf bestimmungen  gegen  diejenigen,  die  sich  der  Erfüllung  der  Wehr- 
pflicht entziehen  oder  zu  entziehen  suchen.^) 

Pressgesetzgebung.  Das  Hauptgesetz,  durch  welches  die  Pressver- 
hältnisse in  Finnland  geordnet  sind,  ist  die  im  administrativen  Wege  erschienene 
Vdg.  vom  31.  Mai  1867.  Diese  Vdg.  dürfte  dadurch  genügend  charakterisiert 
sein,  dass  nach  derselben  die  vorläufige  Censur,  wenn  auch  nicht  dem  Namen 
nach,  so  jedoch  in  der  That  geltend  ist.  Nach  §  34  ist  der  Buchdrucker,  ehe 
eine  Schrift  aus  der  Buchdruckerei  herausgegeben  werden  darf,  verpflichtet, 
jene  dem  Pressanwalt  (censor  librorum)  zuzustellen.  Wenn  der  Pressanwalt 
in  Bezug  auf  den  Inhalt  der  Schrift  das  Erscheinen  derselben  als  zulässig  er- 
achtet, zeichnet  er  daran  das  Wort:  vorgezeigt,  nebst  seiner  Namensunterschrift. 
Erst  nachdem  diese  Genehmigung  erfolgt  ist,  ist  die  Verbreitung  der  Schrift 
gestattet.  Diese  Approbation  seitens  des  Pressanwalts  schliesst  jedoch  die 
strafrechtliche  Verfolgung  der  Schrift  nicht  aus,  wenn  nachher  dazu  Anlass  ge- 
funden wird  (§  41).  Auf  eine  Darstellung  der  gegen  die  periodische  Presse 
in  der  Vdg.  gestatteten  Massregeln  und  der  späteren,  die  Pressverfassung 
V.  1867  verändernden  und  ergänzenden  obrigkeitlichen  Erlasse,  besonders  der 
Vdg.  vom  18.  Juni  1891,  durch  welche  die  periodische  Presse  der  Willkür 
des  Generalgouvemeurs  des  Landes  ganz  und  gar  überlassen  worden  ist,  kann 
als  jedes  juristischen  Interesses  ermangelnd  verzichtet  werden. 

In  betreff  der  Gewerbe-  und  Fabriksgesetzgebung  ist  als  Hauptgesetz  die 
Gewerbeordnung  vom  31.  März  1879  in  erster  Linie  zu  merken.  Dies  G. 
hat  zur  Grundlage  die  Gewerbefreiheit.  Es  enthält  verschiedene  den  Schutz 
der  gewerblichen  Arbeiter  und  die  Beschränkung  der  Verwendung  von  Minder- 
jährigen in  Fabriken  und  Gewerben  bezweckende  Bestimmungen.  Diese  waren 
jedoch  bei  weitem  nicht  genügend.  Infolgedessen  wurde  ein  G.  vom  15.  April 
1889,  betr.  Schutz  für  die  gewerblichen  Arbeiter,  erlassen.  Dies  G.  enthält 
genaue  Bestimmungen  über  die  Überwachung  der  hygienischen  Verhältnisse  in 
Gewerben  und  Fabriken  und  die  zur  Verhütung  von  Unglücksfällen  in  den- 
selben zu  ergreifenden  Massregeln  und  besonders  über  die  Verwendung  von 
minderjährigen  Personen  als  gewerbliche  Arbeiter.  Zur  Überwachung  der 
Beobachtung  der  Vorschriften  des  G.  sind  besondere  sogenannte  Gewerbe- 
inspektoren angestellt  worden. 

Unter  den  übrigen  strafrechtliche  Bestimmungen  enthaltenden  G.  mögen 
hier  folgende  noch  hervorgehoben  werden:  die  Landtagsordnung  vom  15.  April 
1869,  das  Seegesetz  vom  9.  Juni  1873,  die  Vdg.  über  das  Recht  der  Schrift- 
steller und  Künstler  an  den  Erzeugnissen  ihrer  Thätigkeit  vom  15.  März  1880, 
die  Vdg.  über  den  Verkauf  und  Ausschank  von  Malzgetränken  vom  2.  April 
1883,  die  Vdg.  über  die  Vagabunden  und  ihre  Behandlung  vom  2.  April  1883, 
die  Vdg.  über  die  Bedingungen  für  Zubereitung  und  Destillierung  von  Branntwein 
vom  9.  Juni  1892,  die  Vdg.  von  demselben  Tage  über  die  Bedingungen  für  Verkauf, 
Transportierung  und  Niederlage  von  Branntwein  und  anderen  gebrannten  oder 


*)  Eine  Handausgabe,  das  Mil.-StGB.  nebst  dem  Ordnungsstatut  und  das  Wehr- 
pflichtgesetz und  die  dazu  gehörenden  Vdgn.  enthaltend  und  mit  ^Erläuterungen  ver- 
sehen, ist  von  Richard  Idestam  und  K.  W.  Sulin  herausgegeben,  Abo  1886. 


:^2^  Das  nL^^lscLe  Kab^rmni-  —  Das  S4IL  Finniandic 


destüLierten  Sprit^^rtränken.  Die  behufs  der  Vt-riiänm^  des  Missbrnachs  der 
jfeistigen  Getränke  in  den  früheren  Vdgn-  eing^eschl^gene  restringierende  Rich- 
tung, ist  in  den  gegenwärtigen  Vdgn.  noch  entschiedener  werfolgt  worden. 

Schliesslich  ist  zu  erwähneiL  das  die  strairecbtiichen  Beziehungen  zwischen 
Rossland  nnd  Finnland  hauptsächlich  durch  eine  Ydg.  Tom  2.  Juni  1826,  betr. 
die  von  Finnländem  in  Russland  und  von  Russen  in  Finnland  begangenen 
Verbr.,  geordnet  worden  sind.  Diese  Vdg.  wurde  neuerdings  einer  vorbereitenden 
Revision  von  einer  gemischten  Konunis^oa.  bestehend  aus  römischen  und  finni- 
schen Delegierten,  unterworfen  ohne  dass  jedoch  irgend  eine  daraus  herrorge- 
gangene  legislatorische  Massregel  n«jch  zum  Vorschein  gekommen  ist. 


IV. 


§ 


6.    Reehtspre^m^. 


Id  die  Recht<pret-huDg  des  Landes  bietet  die  seit  dem  Jahre  l^i  erscheinende 
Zeitschrift  des  finnischen  juristischen  Vereins  Tidskrift  utgifven  af  Juridiska  fore- 
ningen  i  Finland)  einen   Einblick   dar.    iodem   die   genannte   ZeitschriA  Gerichtsent- 


hcheidnngen  in  wichtigeren  Jnstizsachen  enthält . 


VL 


DIE  BALKANSTAATEN. 


1.  Bulgarien.  2.  Griechenland. 

Von  Dr.  M.  St  ScMschmanov,      von  Dr.  Konstantin  A.  Kypriades, 

Richter  am  obersten  Kaasationsliof  in  Sofia.  Advokat  in  Athen. 


3.  Montenegro. 


Von  Dr.  Karl  Dickel, 

Amtsrichter  in  Berlin  nnd  Lehrer  an  der  Forstakademie  in  Eherswalde. 


4  Rumänien.  5.  Serbien. 

Von  P.  TL  Missir,  von  Dr.  Uilenko  J.  Wesnitsch 

ProftM«  »  d.r  j,ri.tUch..  F.k»ltat  i»  J»..y.  ^^^    J)j.     JoSefOWltSCh 

(Cbersetznng  von  Dr.  Georg  Cnuea  in  Hannover).  in  Belgrad. 


Übersicht 


!•  Bulgarien. 

§  1.   Die   Strafgesetzbücher   und   der   Entwurf  von    1888.     §  2.   Naclitrags-   und    Er- 


^änzungsgesetze. 


erl 


2.  Griechenland. 

§  1.   Das  StGB.  V.  1834.    §  2.   Neuere  Strafgesetze.    §  3.   Litteratur. 

3.  Montenegro. 

§  1.  Litteratur.  §  2.  Geschichtliches.  §  3.  Die  allgemeinen  Lehren.  §  4.  Die  ein- 
zelnen strafbaren  Handlungen. 

4.  Rumänien. 

§  1.  Geschichtlicher  Überblick.  §  2.  Allgemeine  Grundzüge.  §  3.  Der  besondere  Teil 
des  StGB.    §  4.  Strafrechtliche  Nebengesetze. 

5.  Serbien. 

§  1.  Die  Vorgeschichte  des  geltenden  Rechts.  §  2.  Das  StGB,  vom  27.  März  1860. 
§  3.  Nachtragsgesetze.  §  4.  Strafrechtliche  Nebengesetze.  §  5.  Das  Strafverfahren. 
§  6.  Litteratur  und  Rechtsprechung. 


1.  Bulgarien. 


§  1.  Die  StGBaeher  und  der  Entwurf  von  1888. 

Bulgarien  besitzt  bislang  —  1893  —  kein  eigencjs  StGB,  für  Verbr.  und 
Verg.,  sondern  bloss  ein  kurzes  —  139  Paragraphen  umfassendes  — "G.  über 
kleinere  Verg.  bezw.  Übertretungen  oder,  wie  der  Titel  des  (i.  lautet,  „über 
die  Strafen,  welche  die  Friedensrichter  verhängen  können**.  Dieses 
G.,  welches  am  3.  Juni  1880  sanktioniert  wurde,  ist  ein  getreuer  Auszug  des 
entsprechenden  russischen  StG.,  auf  dessen  Darstellung  (oben  S.  278)  verwiesen 
werden  kann.  Dasselbe  ist  der  Fall  mit  dem  bulgarischen  Mil. -StG.  v.  17.  De- 
zember 1887,  weiches  ebenfalls  dem  russischen  Recht  entnommen  ist  und  von 
diesem  im  allgemeinen  und  wesentlichen  nicht  abweicht.') 

Das  eigentliche  und  gegenwärtig  in  Bulgarien  Gesetzeskraft  besitzende 
StG.  für  Verbr.  und  Verg.  ist  das  türkische  StGB.  v.  28.  Zilhidzr  1274  nach 
mohammedanischer  Zeitrechnung  (1857)  mit  den  Ergänzungen  v.  18.Djemaziul- 
ewel  und  19.  Rebjul-Akhir  1284  und  4.  Muharem  1286  (1864—1865). 

Dieses  StG.  ist  auch  nach  der  Befreiung  Bulgariens  mit  sehr  wenigen  — 
unten  angegeben  —  Änderungen  in  Kraft  geblieben.  Eine  amtliche  bulgarische 
Übersetzung  dieses  StGB,  ist  im  J.  1867  in  Rustschuk  erschienen.  Sie  ist  von 
Iwan  P.  Tsheraptsiew  verfasst  und  von  den  damaligen  türkischen  Würden- 
trägem  geprüft.*)  Ausser  dieser  Übersetzung  existieren  noch  andere,  so  von 
Stoi'l  D.  Popow  V.  J.  1879,  zur  Ausgabe  autorisiert  von  dem  damaligen  russi- 
schen Gouverneur  zu  Tniowo,  dann  von  Peretz  und  Iwan  Chr.  Geshow  v.  J.  1881, 
und  noch  andere  mehrere;  jedoch  wird  zur  Auslegung  des  richtigen  Gesetz- 
textes die  von  der  türkischen  Regierung  autorisierte  französische  Ausgabe  des 
ottomanischen  StG.  von  Aristarchi  Bey  (Gregoire);  veröffentlicht  von  Demeter 
Nicolaides  zu  Konstantinopel,  1874)  mit  Vorliebe  von  Richtern  und  Advokaten 

*)  Das  bulgarische  Mil.-StG.  enthält  im  besonderen  Teile  bloss  die  eigentlichen 
Militärverbr.  und  -Verg.,  daher  wendet  auch  das  Militärgericht  bei  Verbr.  und  Verg. 
allgemeinen  Charakters  das  ottomanische  StG.  bezw.  das  GB.  über  die  Übertretungen 
an.  Zu  diesem  Behufe  ist  dem  Mil.-StG.  eine  Tabelle  beigefügt,  welche  die  Militär- 
strafen bestimmt,  die  den  im  ottomanischen  StG.  oder  im  GB.  über  die  Übertretungen 
vorgesehenen  Strafen  entsprechen  und  nach  dieser  Tabelle  umzuwandeln  sind.  Die.s- 
bezüglich  unterscheidet  die  Tabelle  zwei  Kategorieen,  nämlich:  Offiziere  und  Militär- 
ärzte und  niedere  Chargen.  Z.  B.  Dunkelarrest  von  1—3  Jahren,  wird  bei  der  ersten 
Kategorie  (Offiziere  und  Militärärzte)  in  Hauptwachtarrest  von  6  Monaten  bis  1  Jahr 
und  mit  Beschränkung  der  Amtsrechte,  bei  der  zweiten  Kategorie  aber  in  Ein- 
teilung in  die  Straf(I)iszlpIinar)- Kompanie  durch  alle  vier  Stufen  mit  oder  ohne 
Einzelhaft  umgewandelt. 

-)  Neuestens  hat  der  nämliche  Autor  eine  zweite  wesentlich  verbesserte  und 
mit  den  betreffenden  bulgarischen  Gesetzen  ergänzte  Ausgabe  in  Rustschuk  1892  er- 
scheinen lassen. 


332  Die  Balkanstaaten  —  Bulgarien. 


benützt.  Eine  noch  neuere  französische  Ausgabe  (1883)  existiert  von  G.  Makridi 
(Code  p6nal  ottoman,  6dit6  avec  l'autorisation  du  Ministt^re  de  Tinstruction 
publique.  Constantinople,  Typographie  et  Lithographie  du  Journal  „La  Tur- 
quie",  1883). 

Da  die  Vorschriften  des  türkischen  StG.  —  welches  übrigens  zum  grössten 
Teile  eine  Nachbildung  des  französischen  Code  penal  ist  —  in  mehrfacher 
Hinsicht  mit  dem  Charakter  und  der  Gesittung  des  bulgarischen  Volkes  nicht 
im  Einklang  stehen  und  ausserdem  sehr  viele  dem  gegenwärtigen  Stande  der 
Strafrechtswissenschaft  widcreprechende  Bestimmungen  enthalten,  so  war  schon 
seit  der  Schaffung  des  bulgarischen  Fürstentums  der  Gedanke  wach  geworden, 
ein  eigenes  bulgarisches  StGB.,  welches  sich  den  modernen  europäischen  St.G.en 
würdig  anreihen  könnte,  auszuarbeiten.  Diese  Idee  hatte  im  J.  1888  der  damalige 
rührige  und  als  hervorragender  Jurist  und  Staatsmann  rühmlichst  bekannte 
Justizminister  Dr.  Stojlow  auf  Grund  des  holländischen  und  des  ungarischen 
StGB,  verwirklicht.  Er  legte  seinen  Entw.  der  Deputiertenkammer  vor;  hier 
aber  wurden  bei  Beratung  dieses  so  wichtigen  Entw.  solche  nicht  zur  Sache 
gehörigen  Erwägungen  eingeflochten  und  eine  solche  Haltung  eingenommen, 
dass  der  Justizminister  sich  veranlasst  sah,  den  Entw.  alsbald  wieder  zurück- 
zuziehen. 

In  Bezug  auf  die  eigentliche  bulgarische  Litteratui*  des  StR.  ist  ebenfalls 
nur  sehr  wenig  zu  berichten.  Sie  beschränkt  sich,  abgesehen  von  einer  er- 
läuternden Ausgabe  des  G.  über  die  kleineren  Verg.  und  Übertretungen  von 
Mintow,  bloss  auf  einige  Abhandlungen,  welche  in  der  Sofia'er  juristischen 
Monatsschrift  „Juriditshesko  Spisanlje"  erschienen  sind.  Darunter  verdienen 
besonders  hervorgehoben  zu  werden  die  Abhandlungen  des  Kassationsrates 
Wasil  Marinow  „Über  den  Versuch  (conatus  delinquendi)",  „über  die  Auslief e- 
iTing  der  Verbrecher",  „über  die  gesetzliche  Notwehr  in  der  Theorie  und  den 
positiven  Gesetzgebungen"  und  „über  die  Erneuerung  von  Strafprozessen", 
erschienen  im  I.  und  II.  Jahrgange  (1888  und  1889)  der  genannten  juristischen 
Zeitschrift. 

§  2.  Nachtrags-  und  ErgSnKangsgesetze. 

Die  eigentlichen  Änderungen,  welche  die  bulgarische  Legislative  an  dem 
ottomanischen  StGB,  vorgenommen  hat,  beschränken  sich  auf  drei  Gesetze:  eines 
V.  4.  Mai  1883  über  die  strafbaren  Handlungen  gegen  die  Person  des  Fürsten, 
das  andere  v.  17.  Januar  1885,  betr.  die  Art  und  Weise,  nach  welcher  die  Verg. 
der  leichten  oder  nicht  beabsichtigten  körperlichen  Verletzung,  der  Schändung 
bezw.  Päderastie,  der  Entführung,  der  Ehrenbeleidigung  und  der  Enthüllung 
von  Geheimnissen  durch  Ärzte,  Chirurgen,  Apotheker,  Hebammen  u.  dgl. 
(§§  178,  179  samt  Zusatz,  183,  197,  198  samt  Zusatz,  200  samt  Zusatz,  214, 
215  und  die  Zusätze  —  additions  —  zu  den  §§201  und  206  des  ottomanischen 
StGB.)  zu  verfolgen  sind;  endlich  das  dritte  v.  11.  Juli  1886  über  die  straf- 
baren Handlungen  gegen  die  Nationalversammlung  oder  deren  Mitglieder. 

Das  erstgenannte  G.  —  über  die  strafbaren  Handlungen  gegen  die  Person 
des  Fürsten  —  bestimmt  die  Todesstrafe^)  sowohl  für  den  vorausbedachten 
und  absichtlichen  Fürstenmord,  als  auch  für  den  Versuch  des  Fürstenmordes 
(§  1).     Für  vorbereitende  Handlungen,  welche  die  Ermordung  des  Fürsten  zum 


^)  Die  Todesstrafe  wird  in  Bulgarien  im  geschlossenen  Räume  (GefÄngnishof) 
in  Gegenwart  geladener  oder  mit  Bewilligung  des  Staatsanwaltes  zugelassener  Per- 
sonen, durch  den  Strang  vollzogen.  Unmittelbar  vor  der  Hinrichtung  wird  über 
den  Kopf  des  zu  Justifizierenden  ein  Sack  aus  Segeltuch  geworfen  und  darüber  die 
Schlinge  befestigt. 


§  2.    Nachtrags-  und  Ergänzung'sgesetze.  333 


Zwecke  haben,  verhängt  das  G.  (§  2)  eine  schwere  Kerker-,  d.  h.  Kettenstrafe  ^) 
von  3 — 10  Jahren.  —  Ist  eine  auf  diesen  Zweck  gerichtete  Verschwörung  zu 
Stande  gekommen,  so  werden  alle  Teilnehmer  mit  der  nämlichen  Strafe  von 
5 — 15  Jahren  bestraft  (§3).  Wird  die  Absicht,  den  Fürsten  zu  töten,  münd- 
lich, schriftlich  oder  auf  andere  Weise  verlautbart,  so  verfallen  die  Schuldigen 
der  Strafe  des  dunklen  Kerkers  von  1 — 3  Jahren  (§  4).  Für  die  durch  Wort, 
Schrift  oder  auf  andere  Weise  erfolgende  Aufreizung  des  Volkes  zum  Un- 
gehorsam gegen  die  Fürstengewalt  oder  zur  Vertreibung  oder  Tötung  des 
Fürsten,  ist  eine  Kerkerstrafe  von  1 — 8  Jahren  bestimmt  (§  5).  Endlich  unter- 
liegen alle  Gewaltthätigkeiten  gegen  die  Person  des  Fürsten,  welche  ihn  körper- 
lich zu  verletzen  oder  zu  beleidigen  oder  seiner  Freiheit  zu  berauben  be- 
zwecken, sowie  der  Versuch  dieser  Handlungen  einer  schweren  Kerker- 
(Ketten-)Strafe  von  5 — 15  Jahren  (§  6).  In  allen  genannten  Fällen  (ausgenommen 
selbstverständlich  den  ersten  Fall,  wo  Todesstrafe  angewendet  wird)  zieht  die 
Strafe  auch  den  Verlust  der  politischen  und  bürgerlichen  Rechte  während  eines 
Zeitraumes  von  1  bis  zu  5  Jahren  nach  sich  (§  10).  Die  Strafe  der  persön- 
lichen Beleidigung  des  Fürsten  durch  Wort,  Schrift  u.  dgl.  ist  dunkler  Kerker 
von  2 — 5  Jahren  (§  7).  Geschieht  die  Beleidigung  in  Abwesenheit  des  Fürsten 
auf  öffentlichen  Plätzen,  in  Versammlungen  oder  in  Gegenwart  mehrerer  Per- 
sonen, so  unterliegen  die  Schuldigen  der  nämlichen  Strafe  (dunklem  Kerker) 
von  3  Monaten  bis  zu  2  Jahren;  wird  jedoch  erwiesen,  dass  sich  der  Angeklagte 
nicht  im  nüchternen  Zustande  befunden  hat,  so  beträgt  die  Strafe  1  bis  6  Mo- 
nate (§  8).  Für  Verleumdung  des  Fürsten  durch  Wort  oder  Schrift  ist  die 
Strafe  des  dunklen  Kerkers  von  3  Monaten   bis  zu  3  Jahren   bestimmt  (§  9). 

Das  G.  V.  17.  Januar  1885,  betr.  die  straf  gerichtliche  Verfolgung  der 
in  den  §§  178,  179  Zusatz,  183,  197,  198  Zusatz,  200  Zusatz,  201  Zusatz, 
206  Zusatz,  214  und  215  des  ottomanischen  StGB,  vorgesehenen  Verg.,  be- 
stimmt, dass  diese  Verg.  bloss  auf  Antrag  des  Beschädigten  bezw.  deren  Eltern, 
Vormünder  und  Ehegatten  (wenn  die  Beschädigte  eine  verheiratete  Frauens- 
person ist)  verfolgt  werden  können;  das  bereits  begonnene  Verfahren  ist  ein- 
zusteDen,  wenn  sich  der  Beschädigte  mit  dem  Angeklagten  verglichen  hat  oder 
wenn  in  den  Fällen  der  §§  198,  200  und  206  (Zusätze),  der  Angeklagte  die 
beschädigte  Person  heiratet.  Eine  Ausnahme  findet  jedoch  statt,  wenn  in  den 
Fällen  der  §§  197,  198,  200  und  Zusatz  zu  206  die  beschädigte  Frauensperson 
verheiratet  ist,  in  welchem  Falle  das  bereits  begonnene  Verfahren  nicht  mehr 
eingestellt  werden  kann. 

Das  dritte  G.,  v.  11.  Juli  1886,  ist  eine  Ergänzung  zu  §  58  des  otto- 
nianischen  StGB,  und  verfügt  die  Strafe  des  schweren  Kerkers  in  Ketten  von 
mindestens  3  Jahren  für  den,  der  allein  oder  im  Einverständnis  mit  anderen 
Gewaltthätigkeiten  oder  gefährliche  Drohungen  gegen  die  Nationalversammlung, 
deren  Kommissionen  oder  Mitglieder  in  der  Absicht  unternimmt,  dieselben 
in  der  Ausübung  ihrer  Pflichten  zu  hindern  oder  ihre  Immunität  in  irgend 
welcher  Art  zu  verletzen. 

Als  Ergänzung  des,  wie  oben  erwähnt,  auch  als  bulgarisches  StG.  an- 
zusehenden ottomanischen  StGB,  sind  die  Straf  bestimmungen  des  Pressgesetzes 
V.  16.  Dezember  1886  und  das  G.  über  die  Verbr.  und  Verg.  gegen  die  Sicher- 
heit der  Eisenbahnverbindungen  v.  30.  November  1889  zu  betrachten.  Hieran 
reihen  sich  noch  die  Strafbestimmungen  des  bulgarischen  Wahlgesetzes  v. 
8.  Januar  1890. 

Das  bulgarische  Pressgesetz  ist  dem  französischen  Recht  entnommen, 
daher  sind  auch  die  Straf  bestimmun  gen  diesem  gemäss.     Für  die   schwereren 


*)  Die  Anlegung  der  Ketten  ist  selten.    Neue  Gefängnis-Odg.  in  Vorbereitung. 


334  l^ie  Balkanstaaten.  —  Bulgarien. 


Press  vergehen  (gegen  den  Staat  oder  gegen  die  Gewalt  und  Unverletzliehkeit 
des  Fürsten)  sind  Kerkerstrafen  von  1 — 5  Jahren  vorgesehen;  für  die  minder 
schweren  (Aufreizung  zur  Begehung  von  Verbr.  und  zur  Beleidigung  oder 
Verleumdung  des  Fürsten)  sind  ähnliche  Strafen  von  3  Monaten  bis  zu  3  Jahren 
bestimmt.  Für  Verbreitung  lügenhafter  Gerüchte  ist  bloss  eine  Geldstrafe  von 
10 — 300  Frcs.  bestimmt;  für  Ehrenbeleidigung  und  Verleumdung  privater 
Personen  aber  werden  Geldstrafen  von  1 — 1000  Frcs.,  zugleich  mit  Kerker- 
strafen von  15  Tagen  bis  1  Jahr  angewendet.  In  allen  übrigen  Fällen  ist  das 
Minimum  der  Kerkerstrafe  1  Monat,  das  Maximum  2  Jahre. 

Eine  zweite  Ergänzung  zum  StG.  ist  das  oben  erwähnte  G.  über  die 
Verbr.  und  Verg.  gegen  die  Sicherheit  der  Eisenbahnverbindungen.  Dieses 
umfasst  bloss  drei  Paragraphen,  deren  zwei  ersteren  die  eigentlichen  Verbr.  und 
Verg.  gegen  die  Sicherheit  der  Eisenbahnverbindungen  enthalten  und  dem 
deutschen  StGB,  entnonmien  sind.  Die  Strafen  sind  im  schwersten  Falle,  wenn 
infolge  absichtlicher  Zerstörung  der  Schienen  der  Zug  entgleist  und  dadurch 
Menschenleben  zum  Opfer  gefallen  sind,  Tod  durch  den  Strang;  wenn  nur 
körperliche  Verletzungen  vorgekommen  sind,  schwerer  Kerker  (in  Ketten)  von 
mindestens  10  Jahren;  in  den  übrigen  Fällen  schwerer  Kerker  bis  zu  10  Jahren. 
—  In  den  leichteren  Fällen,  wenn  bloss  eine  Gefahr  für  das  Leben  der  im 
Zuge  befindlichen  Personen  herbeigeführt  wurde,  sind  Kerkerstrafen  bis  zu 
2  oder  1  Jahre  vorgesehen,  je  nachdem  infolge  des  Unfalles  jemand  sein 
Leben  verloren  hat  oder  nicht.  —  Endlich  beruft  sich  das  genannte  G.  bezüg- 
lich des  Angriffes  und  Widerstandes  gegen  das  Eisenbahnpersonal  auf  die  Vor- 
schriften der  §§  113—114  des  ottomanischen  StGB.  (Geldstrafe  von  1— 3  Gold- 
medschidschije  und  Arreststrafen  von  1  Woche  bis  1  Monat  und  6  Monaten  bis 
2  Jahren,  je  nach  der  Kategorie  der  strafbaren  Handlung). 

Endlich  ist  zur  Vervollständigung  der  Übersicht  noch  jener  Strafbestim- 
mungen Erwähnung  zu  thun,  welche  in  dem  bulgarischen  Wahlgesetze  und  in 
den  Finanzgesetzen  vorgesehen  sind. 

Die  Straf  bestimmungen  des  Wahlgesetzes  umfassen  24  Paragraphen  (§§  72  bis 
96).  Sie  zerfallen  in  vier  Kategorieen,  nämlich:  a)  in  kumulativ  zu  bemessende 
Strafen,  d.  h.  Arrest  und  Geldstrafe,  und  zwar  Arrest  von  1  Monat  bis  zu  5  Jahren 
und  Geldstrafe  von  100  bis  zu  5000  Frcs.  (in  13  Fällen);  b)  in-  alternative,  u.  z. 
Arrest  oder  Geldstrafen  und  zwar  Arrest  von  1  Woche  bis  1  Jahr  oder  Geld- 
strafe von  100  bis  1000  Frcs.  (in  fünf  Fällen) ;  c)  in  einfache  Arreststrafen  von 
15  Tagen  bis  3  Jahren  (in  drei  Fällen)  und  d)  in  einfache  Geldstrafen  von  50  bis 
600  Ffcs.  (in  zwei  Fällen).  In  einem  Falle,  und  zwar,  wenn  ein  Staats-  oder 
Gemeindebeamter  die  ihm  vom  Wahlgesetze  auferlegten  Pflichten  zu  erfüllen 
sich  weigert,  verfügt  das  G.  (§  72)  ausser  der  alternativen  Geldstrafe  von 
100  bis  1000  Frcs.  oder  Arrest  von  2  Monaten  bis  1  Jahr,  auch  Amts  verlost 
für  3  Jahre.  —  Ebenso  bestimmt  das  G.  (§93),  dass,  wenn  die  nach  §§86 
und  90  (fälschliche  Eintragung  in  die  Wählerliste  und  unbefugte  Requirierung 
der  bewaffneten  Macht)  Schuldigen  Staats-  oder  Gemeindebeamte  oder  Mit- 
glieder des  Wahlbureaus  sind,  die  Strafe  zu  verdoppeln  sei.  Endlich  sind  alle 
diese  Wahlvergehen  von  Amtswegen  oder  auf  Anzeige  des  Wahlbureaus  oder 
eines  Wählers  zu  verfolgen,  verjähren  aber,  wenn  innerhalb  eines  Monates, 
vom  Wahltage  gerechnet,  keine  Anzeige  erfolgt  (§  95). 

Zum  Schlüsse  sind  noch  die  Strafbestimmungen  der  Finanzgesetze  zu 
erwähnen.  Hierher  gehören:  das  Zollgesetz,  das  PAtent-(Einkommen8teuer-) 
Gesetz,  das  G.  über  Mass  und  Gewicht,  das  Forstgesetz,  das  Stempelgesetz, 
das  Tabakgesetz  und  das  Bergwerksgesetz. 

Die  Straf  bestimmungen  des  Zollgesetzes  v.  8.  Januar  1885  (§§  242 — 253) 
beziehen    sich    auf   die    Fälle    des  Zollschmuggels  (Konterbande),    insofern  sie 


§  2.    Nachtrags-  und  Ergänzungsgesetze.  335 


nicht  unter  das  allgemeine  StG.  gehören.  Die  Strafe  des  Schmuggels  solcher 
Gegenstände,  welche  zollfrei  sind,  ist  der  Höhe  des  Zolles  gleich,  welcher 
zu  entrichten  wäre,  wenn  der  betreffende  Gegenstand  nicht  zollfrei  wäre.  In 
allen  anderen  unter  das  Zollgesetz  gehörigen  Fällen  einfacher  Konterbande  ist 
die  Strafe:  Arrest  von  5  Tagen  bis  1  Monat,  wenn  der  Schmuggel  von  nicht 
mehr  als  3  Personen  ausgeführt  wiu*de;  waren  mehr  als  3  Personen  zu  einer 
Schmugglerbande  vereint,  so  ist  die  Strafe  Arrest  von  1  Monat  bis  zu  1  Jahr. 
Die  geschnmggelte  Ware  wird  konfisziert.  Sowohl  die  unmittelbaren,  als  auch 
die  mittelbaren  Teilnehmer  unterliegen  der  nämlichen  Strafe.  —  Die  Ver- 
folgimg dieser  Übertretungen  verjährt  in  einem  Jahre. 

Für  Übertretungen  des  Patent- (Einkommensteuer-)  G.  v.  31.  Januar  1885, 
bestimmt  das  G.  eine  Geldstrafe  in  der  Höhe  des  Betrages,  welcher  von  dem 
nicht  gehörig  oder  nicht  rechtzeitig  angemeldeten  Gewerbe,  Handel  bezw. 
Einkommen  zu  entrichten  gewesen  wäre. 

Ebenso  bestimmt  auch  das  G.  über  die  Masse  und  Gewichte  v.  18.  De- 
zember 1888  (§§  45 — 50)  für  Übertretungen  des  G.,  nebst  Konfiskation  der 
unrichtigen  Masszeichen,  Geldstrafen  von  1  bis  150  Frcs.  und  im  Nicht- 
einbringungsfalle  (§  6  des  G.  für  Übertretungen)  Arrest  von  3  Tagen  bis  zu 
3  Monaten.  —  Bei  Wiederholung  der  Übertretung  wird  die  Strafe  verdoppelt. 

Das  Forstgesetz  v.  16.  Dezember  1889  (§§  44 — 55)  bestimmt  für  Über- 
tretungen dieses  G.  Geldstrafen  von  5  bis  zu  500  Frcs.  Die  Verfolgung  ver- 
jährt in  6  Monaten. 

Ebenso  sind  auch  im  Tabakgesetze  v.  15.  Dezember  1890  (§§55 — 75)  für 
Übertretungen  des  G.  (Verheimlichung  von  Tabakmengen  bei  der  behörd- 
lichen Aufnahme  wegen  der  Tabaksteuer;  Fabrikation,  Kauf  und  Verkauf  von 
Tabak  ohne  behördliche  Erlaubnis,  heimliche  Tabakpflanzung  usw.)  Geldstrafen 
von  5  bis  zu  500  Frcs.  und  ausserdem  in  den  meisten  Fällen  Bezahlung  des 
einfachen,  doppelten  oder  dreifachen  Wertes  der  Banderoigebühr  und  Kon- 
fiskation des  Tabaks  und  der  Rchneidinstrumente  vorgesehen.  Bei  Nichtein- 
bringlichkeit  der  Geldstrafe  wird  entsprechende  Arreststrafe  angewendet,  diese 
darf  jedoch  die  Dauer  von  6  Monaten  nicht  tibersteigen  (§81). 

Die  Strafbestimmungen  des  Stempelgesetzes  v.  15.  Dezember  1890  (§§  34 
bis  43)  zerfallen  in  fünf  Kategorieen:  a)  einfache  Geldstrafen  von  5  bis 
100  Frcs.  (Fälle  der  NichtVernichtung  der  Stempelmarken  durch  Beamte  oder 
Privatpersonen);  b)  Prozentualstrafen  zu  3^/^  oder  10^/q  (bei  stempellosen  Do- 
kumenten oder  wenn  nicht  hinreichende  Stempelmarken  verwendet  worden 
sind,  ebenso  wenn  ungestempelte  Lose  verkauft  werden) ;  c)  multiplizierte  Geld- 
strafen, das  Dreifache  des  entfallenden  Stempels  (wenn  behördliche  Personen 
Dokumente  oder  Eingaben  ohne  Stempel  annehmen  oder  ausfertigen);  d)  alter- 
native Androhung  von  Arrest  (1  Woche  bis  zu  6  Monaten)  oder  Geldstrafe  (25 
bis  1000  Frcs.),  bei  Verkauf  gebrauchter  Stempelmarken  und  Benutzung  solcher 
Marken;  und  e)  schwere  Kerkerstrafe  in  Ketten  von  3  bis  zu  15  Jahren  für 
Fälschung  von  Stempelmarken  und  Stempelbogen. 

Endlich  bestimmt  das  Bergwerksgesetz  v.  15.  Dezember  1891  (§§  68 — 70) 
Geldstrafen  von  20—300  Frcs. 


1 


2.  Griechenland. 


§  1.    Das  StOB.  T.  1834. 

Vor  dem  Jahre  1821,  als  Oriechenland  sich  noch  unter  dem  türkischen 
Joch  befand,  übten  die  türkischen  Oerichte  die  Strafgewalt,  indem  sie  den 
türkischen  Strafkodex  zur  Anwendung  brachten.  Auch  die  griechische  Kirche 
benützte  manchmal  ihre  Macht  zur  Bestrafung  von  Verg.,  die  sie  nach  den 
Bestimmungen  der  byzantinischen  Kaiser  oder  nach  dem  in  den  verschiedenen 
Orten  geltenden  Gewohnheitsrechte  verfolgte.  Die  gewöhnlichen  Strafen  waren 
Verbannung,  Geldentschädigungen,  der  Bann.^) 

Nachdem  aber  Griechenland  seinen  Freiheitskrieg  gegen  die  Türken  er- 
klärt hatte,  wurde  sofort  ein  eigenes  StGB,  notwendig,  zumal  da  das  Land 
sich  in  einer  sehr  unruhigen  Lage  befand. 

Am  1.  April  1823  wurde  von  der  in  Astros  II.  einberufenen  National- 
versammlung eine  aus  neun  Personen  bestehende  Kommission  ernannt,  welche 
ein  aus  82  Artikeln  bestehendes  StG.  unter  dem  Titel:  ,*A7idr^kOfÄa  xtav  kyxkri- 
fÄaxix(bv  xfjq  devregag  xwv  *EXkr\v(ov  E'&vixfjg  2vveksvoe(o^*  abfasste.^)  Dasselbe 
wurde  im  J.  1824,  unter  der  Präsidentschaft  von  Georg  Kunduriotis  ver- 
öffentlicht. 

Das  ganze  G.  war,  wie  es  auch  bei  den  damaligen  Verhältnissen  im 
Lande  nicht  anders  möglich  war,  gänzlich  misslungen.  Die  politischen  Zu- 
stände waren  keineswegs  geordnete,  die  wissenschaftlichen  Kenntnisse  waren 
zur  Verfassung  eines  solchen  Werkes  unzureichend,  und  überdies  drängte  alles 
der  unsicheren  und  aufgeregten  Stimmung  halber  nach  einem  StGB.  Obwohl 
die  Kommission  den  französischen  Code  p^nal  als  Vorbild  gehabt  hatte,  hat 
sie  doch  den  allgemeinen  Teil  und  viele  bedeutende  Strafbestimmungen  weg- 
gelassen; und  so  fühlte  sich  G.  v.  Maurer  zu  der  so  treffenden  Äusserung  ver- 
anlasst: „Das  Ganze  ist  ein  wahres  Meisterstück  im  negativen  Sinn."^) 

Ein  solches  StG.  konnte  natürlich  keinen  langen  Bestand  haben.  Schon 
Johann  Kapodistria,  Präsident  des  neuen  griechischen  Staates,  hatte  den  Ent- 
schluss  gefasst,^)  ein  neues  StGB,  abfassen  zu  lassen.  Leider  aber  hat  der 
frühe  Tod  des  berühmten  und  hochbegabten  Staatsmannes  und  Patrioten  diesen 
Plan  vereitelt. 

In  diesem  Zustande  befand  sich  die  StGgebung  an  dem  Tage,  als  der 
junge  König  Otto  und  die  Regentschaft  aus  Bayern  nach  Griechenland  kamen. 


*)  K.  N.  Kcoajrj.  'Eg/irfveia  tov  kv  'EXkadi  laxvovrog  Iloivtxov  N6/iov.  Tofiog  A!  — fi<V  1. 
2.  ixdoaig  Bf  1892. 

^)  Mdfxovxa.  Ta  xaxa  xrjv 'Ävayewrioiv  tfjg 'EXXdSog.  TofÄog  B!  2eXig  32,  81,  83.  Toftog  I! 
ZsXlg  73,  81. 

'^)  Georg  Ludw.  v.  Maurer.    Das  griechische  Volk.    Erster  Bd.    §  227. 

*)  Mdfiovxa.     Ta  xaia  x^v  'Avayswtjoiv  xyg  'EXXdöog.     Touog  JA!  2eXig  511. 


§  2.    Neuere  Strafgesetze.  337 


Das  StGB.  V.  J.  1824,  zwei  neue  von  Kapodistria  erlassene  G.,')  ferner  einige 
strenge  von  der  Kegentschaft  durch  Dekret  vom  9./ 21.  Februar  1833  zur 
Wahrung  der  öffentlichen  Sicherheit  provisorisch  festgesetzte  Strafdrohungen, 
bildeten  in  jenen  Tagen  die  griechische  StGgebung.') 

Endlich  am  18./30.  Dezember  1833  wurde  das  heute  noch  geltende  StG.,^) 
durch  welches  alle  bis  dahin  bestehenden  BtG.  abgeschafft  waren,  von  der 
Regentschaft  best&tigt.  Am  10.  Januar  1834  wurde  der  Text  in  griechischer 
und  deutscher  Sprache  als  Beilage  in  No.  3  des  Regierungsblattes  vom  10.  Ja- 
nuar 1834  veröffentlicht  und  trat  am  19.  April/ 1.  Mai  in  Elraft. 

Das  StG.  wurde  besonders  auf  Grund  des  bayrischen  StGB,  von  1813 
imd  der  bayrischen  Entw.  von  1822,  1827  und  1831  ausgearbeitet.^) 

Georg  V.  Maurer  sagt  in  seinem  Werke  „Das  griechische  Volk" :  „Eine 
Hauptrücksicht  bei  Entwerfung  dieses  StGB,  war  grösstmögliche  Milde  und 
Vollständigkeit.  Und  ich  glaube  nicht  zu  irren,  wenn  ich  das  griechische 
StGB,  für  das  vollständigste  und  mildeste  unter  allen  bis  jetzt  vorhandenen 
StGgebungen  erkläre." 

Das  G.  zerfällt  in  drei  Bücher.  Das  erste  behandelt  die  allgemeinen 
Bestimmungen,  das  zweite  die  Verbr.  und  Verg.  und  das  dritte  die  Polizei- 
übertretungen. 

Verfasser  dieses  StG.  ist  hauptsächlich  Georg  v.  Maurer,  Mitglied  der 
Regentschaft.  Überhaupt  hat  der  durch  und  durch  gelehrte  Mann  und  be- 
geisterte Philhellene  den  Grundstein  zu  der  Gesetzgebung  Griechenlands  ge- 
legt. Das  neue  Griechenland  wird  Jahrhunderte  hindurch  sein  Andenken 
dankbar  zu  bewahren  wissen! 


§  2.    Neuere  Strafgesetze. 

Vdg.  vom  10.  Juli  1836  betr.  den  Waldfrevel.  G.  vom  23.  November 
1837  über  die  Beleidigung  im  allgemeinen  und  über  die  Presse.  G.  vom  1.  März 
1841  betr.  das  Verbot  des  Sklavenhandels.  G.  vom  30.  März  1845  über  Un- 
treue des  Schiffers  und  Seeraub.  G.  vom  9.  Juni  1848  betr.  die  Entwendung 
und  Tötung  von  Tieren.  Auch  G.  vom  27.  April  1867.  G.  vom  27.  Juni 
1850  betr.  Änderungen  des  G.  über  die  Beleidigung.  G.  vom  19.  Mai  1860 
über  die  Militärstrafgesetzgebung.  G.  vom  5.  August  1861  über  die  Marine- 
strafgesetzgebung. G.  vom  10.  August  1861  betr.  die  Inbrandsteckung  der 
Wälder.  Dekret  vom  31.  Oktober  1862  über  die  Abschaffung  des  bürgerlichen 
Todes.  G.  vom  4.  Juni  1882  betr.  das  Verbot  der  Fischerei  unter  Anwendung 
von  Dynamit.  G.  vom  12.  April  1883  betr.  die  strafbaren  Handlungen  gegen 
die  Sicherheit  der  Eisenbahnen.  G.  vom  5.  April  1884  betr.  die  Sicherheit 
und  Polizeiaufsicht  der  Eisenbahnen.  G.  von  1885  betr.  die  strafbaren  Hand- 
lungen gegen  die  Sicherheit  der  unterseeischen  Telegraphenkabcl.  G.  vom 
28.  Mai  1887  betr.  Veränderungen  der  Militärstrafgesetzgebung. 

Alle  diese  G.  sind  in  die  beste  und  gebräuchlichste  Ausgabe  der  griechi- 
schen Gesetzgebung  mit  der  Rechtsprechung  des  Areopags  (Kassationsgerichtes) 
von  Th.  N.  Phlogaitis  in  Athen  aufgenommen.  (Ol  Atxaorixol  No/uoi  r7]g'EU.ddog 
juetä  Ttjg  ax€tixfjg  Nofiokoyiag  xoX  'Ageiov  Ildyov.     !Ev  Ad'Yivaig.) 


*)  Über   die   Falschmünzer   (17.  29.  Februar  1830)   und    ein   Pressgesetz   (14./26. 
April  1831). 

«)  G.  v.  Maurer.    Das  griechische  Volk.    Bd.  2  S.  80. 
»)  Art.  705—707.^ 

*)  K.  N.  Küxnfj.    'Eginijveia  tov  h  'EXXddi  hxvovrog  Iloivtxov  Nofiov,    Tofi»  A!  2sX.  5 — 7, 
Stnfgesetzg^ebung  der  Gegenwart.   I  22 


338  l^ie  Balkanstaaten.  —  Griechenland. 


§  3,    Litteratur  des  ^iechlschen  8tR. 

A,  K.  Mtxa^d,  Zvartj^ia  lov  Uoivixov  Aixalov.  Tofiog  A\  1867.  Tofiog  B\  l^SöS.  Ev 
'A^cug.  (A.  K.  Metaxa.  System  des  StR.  Bd.  I,  1867,  Bd.  II,  1868.  Athen.)  —  N.  I. 
ZoQuioXov  2vaTTjfm  tfjg  h  'EXXddt  laxvovarig  JUotvixrjg  Nofio^eaCag.  Tofiog  AI  1868.  Tofiog  B! 
1868.  Tofiog  n  1870.  Ev  A^vaig,  (N.  I.  Saripolos.  System  der  in  Griechenland  gelten- 
den StGgebun^.  Bd.  I,  1868,  Bd.  II,  1868,  Bd.  III,  1870.  Athen.)  —  N,  F.  KagatCd,  Ai- 
xaoTixfj  TiQoxuxij  hti  rfjg  noivixfjg  Aixovo/Uag  xai  tov  noivixov  No/aov  t^g  *EXka6og,  Met'  kjii- 
^ecoQijaecog  x^g  noivixrjg  NofAoXoylag.  —  Tofiog  AsvrsQog  =  Uoivixog  Ndfiog.  A:&fjvai,  1870.  (N.  G. 
Karatza.  Gerichtlich  praktische  Anwendung  des  Strafverfahrens  und  des  StGB. 
Mit  Berücksichtigung  der  Rechtssprechung  des  Kassationsgerichtes  in  Strafsachen. — 
Bd.  II.  Das  StGB.  Athen.  1870.)  [Für  ausübende  Juristen  nützlich.]  —  K.  N.  Ktoarrj. 
'Egfirfveia  tov  svEXldSi  iaxvovxog  üoivixov  Nofiov.  Tofiog  A!  exöooig  B!  1892.  Tofiog  B!  1877. 
Tofiog  n  1879.  Ev  'A^vaig.  (C.  N.  Kosti.  Erläuterungen  des  in  Griechenland  gelten- 
den StR.  Bd.  I,  Aufl.  2,  1892.  Bd.  II,  1877.  Bd.  III,  1879.  In  Athen.)  Wohl  das  beste 
der  bis  jetzt  erschienenen  Handbücher. 

Von  strafrechtlichen  Monographieen  sind  zu  nennen:  A.  Papadiamantopxilos, 
Ilegl  vjioTQOJt^g  (über  den  Rückfall)  1881.  —  Derselbe,  'O  vjivcouafiog  xai  ^  Sixcuoavvrj  (über 
Hypnotismus)  1891.  —  St.  Valvis,  üegi  xaxaXoyiafwv  xfjg  Ttga^ecog  t^g  Hetf-^igag  h  tfj  aixia 
(actiones  liberae  in  causa)  1890.  —  Norres,  üegl  avQQotjg  ddixtjfidjo>v  (Verbrechenskon- 
kurrenz). —  Iliopolos,  IleQi  dbixYifiaxog  xcu  notvfjg  (Verbr.  und  Strafe)  1890.  — 

Sammlungen  von  strafrechtlichen  Entscheidungen  enthalten  die  Zeit- 
schriften :  'H  'Etprjfjisgig  xfjg  'EU.rjvixijg  xcu  FaXlixtlg  NoftoXoylag :  ixoido/iiyij  vjto  2,  K.  Mxala- 
vov,  AtxrjYOQov.  T6/iog  lA!  Ev  'Adifycug.  (Zeitschrift  über  die  griechische  und  fran- 
zösische Rechtsprechung.  Herausgegeben  vom  Advokaten  S.  K.  Balano.  Bd.  XI.  In 
Athen.)  —  'H  ßifiig:  ixdidofiivri  vno  xwv  dSeX<p(bv  S,  xai  II,  AyyeXonovXcov  *A&avdx(ov,  Aixtf- 
yoQcov.  Tofiog  F!  Ev  'A^vaig.  (Themis:  Herausgegeben  von  den  Brüdern  Th.  und  P. 
Angelopulos  Athanatos,  Advokaten.  Bd.  III.  In  Athen.)  —  'H  Nia  ßifitgi  ixdid,  imo 
Tq,  Mavxaqpovvrj,  Aixrfyoßov.  Tofwg  lA!  Ev  'A^rfvaig,  [Neue  Themis,  herausgegeben  von 
Tr.  Mantaphuni,  Advokat.  Bd.  XI.  In  Athen.]  —  Die  amtliche  Ausgabe  der  Straf- 
rechtsprechung des  Kassationsgerichtes. 


3.  Montenegro. 


§  1.    litteratnr. 

Popovic,  Recht  und  Gericht  in  Montenegro,  Agram  1877.  Gopcevic,  Montene- 
gi-o  und  die  Montenegriner,  Leipzig  1877,  S.  67  -74,  82,  104.  Dareste,  iltudes  d'histoire 
du  droit,  Paris  1889.  Über  Blutrache:  Demeliö,  Le  droit  coutumier  des  Slaves  m6ri- 
dionaux  d'apr^s  les  recherches  de  M.  Bogisiö  (Collectio  consuetudinum  juris  apud 
Slavos  meridionales  etiam  nunc  vigentium,  in  serbischer  Sprache;  Agram  1874), 
Paris  1876,  S.  150  ff.  Kohler,  Shakespeare  vor  dem  Forum  der  Jurisprudenz,  1883, 
S.  135  ff.  Miklosich,  Die  Blutrache  bei  den  Slaven,  Wien  1887.  Milenko  R.Wesnitsch, 
Die  Blutrache  bei  den  Südslaven,  Zeitschr.  für  vergleichende  Rechtswissenschaft  Bd.  8 
S.  433  ff.,  besonders  S.  463  ff.,  B.  9  S.  46  ff.  Für  die  Älbanesen  kommt  noch  in  Betracht: 
Gopceviö  in  Petermanns  Mitteilungen  Bd.  26  S.  407,  416;  derselbe,  Oberalbanien  und 
seine  Liga  S.  322  ff. 

§  2.  OescUchtUches. 

Im  Volksbewusstsein  der  Äontenegriner  ist  die  Blutrache  erhalten  und 
wird  noch  geübt;  es  ist  dies  begreiflich  bei  einem  von  Unabhängigkeitssinn 
und  stark  entwickeltem  Pflichtbewusstsein  belebten,  in  allen  Lebensauffassungen 
äusserst  konservativen,  alten,  ritterlichen,  erst  seit  einem  Menschenalter  in  euro- 
päische Kultur  eintretenden  Gebirgsvolke  mit  vollständig  erhaltener  Geschlechter- 
verfassung. Es  findet  aber  Blutsühne  statt;  Blutpreis  wird  von  einigen  Stämmen, 
vom  Standpunkte  der  Entschädigung  für  eine  entzogene  Arbeitskraft,  ange- 
nommen. —  Quelle  des  StR.:  das  erste  G.  ist  von  Wladika  Peter  I. ,  1796 
(16  Art.),  1803  (17  Art.);  diese  33  Art.,  Zakonik  (=  Gesetzbuch)  genannt,  han- 
deln von  folgenden  Verbr.:  Verrat,  Tötung,  Körperverletzung,  Störung  der 
öffentlichen  Ruhe,  Beamtenbeleidigung,  Sachbeschädigung,  Entführung,  Miss- 
brauch der  Amtsgewalt,  Bestechung,  Diebstahl  und  Raub,  Begünstigung.  — 
1855  hat  Fürst  Danüo  I.  ein  neues  GB.  (95  Art.)  veröffentlicht  (in  deutscher 
Übersetzung  bei  Manz  in  Wien,  1859,  —  in  französischer  in  Delarue,  Le  Mon- 
tenegro, Paris,  1862).  Auch  dieses  G.  enthält  fast  nur  StR.;  einige  Bestim- 
mungen aber  sind  nie  zur  Anwendung  gekommen,  fast  alle  anderen  sind  durch 
das  Gewohnheitsrecht  abgeändert  bezw.  beseitigt  worden.  Das  Gewohnheits- 
recht gilt  noch  heute  als  die  dem  G.  gleichberechtigte  Quelle  und  beherrscht 
die  Rechtsbildung.  Es  ist  der  Mangel  des  sonst  vortrefflichen  Buches  von 
Popovic,  dass  es  dasG.  v.  1855  als  geltendes  Recht  darstellt ;  vgl.  Dickel,  Über 
das  neue  bürgerliche  GB.  für  Montenegro,  Marburg  (Hessen)  1889,  ins  Fran- 
zösische   übersetzt    von  J.  Brissaud,    Paris  1891,    mit  Anmerkungen   des   Über- 

22* 


340  Die  Balkanstaaten.  —  Montenegro. 


Setzers  über  Litterator  und  Blutrache.  Das  Recht  Montenegros  ist  urwüchsig 
und  national;  die  Einführung  der  Freiheitsstrafe  ist  erst  allmählich  gelungen, 
die  Durchführung  der  Prügelstrafe  bei  Diebstahl  erst  seit  1855  (noch  1845 
scheiterte  der  Versuch).  Das  neue  GB.  v.  1888,  verfasst  von  V.  Bogisic,  ent- 
hält nur  Vermögensrecht.  Von  neueren  6.  kommt  für  StR.  in  Betracht  das 
dem  österreichischen  Recht  nachgebildete  G.  über  Post-  und  Telegraphen wesen. 
Inwieweit  etwa  die  Zirkular-Instruktionen,  welche  zeitweise  vom  Senate  an  die 
Gerichte  gesendet  wurden,  strafrechtliche  Bestinmiungen ,  enthalten,  ist  nicht 
bekannt. 

§  3.    Die  allgemeinen  Lehren.^) 

1.  In  der  serbischen  Volkssprache  giebt  es  keine  Bezeichnung  für  „Straf- 
that" ;  es  findet  sich  nur  der  Gattungsbegriff  zlodjin  =  Cbelthat.  Man  unter- 
scheidet schwere  und  leichte.  —  2.  Die  StG.  gelten  seit  Erstarkung  der  Central- 
gewalt  unter  Danilo  I.  für  alle  Staatsbürger,  Montenegriner,  Türken,  Albanesen: 
auch  für  Ausländer  während  ihres  Aufenthalts  in  Montenegro.  —  Für  die  im 
Auslande  begangenen  Straf thaten  wird  nur  der  Montenegriner  (und  zwar  nur 
nach  montenegrinischem  Recht)  bestraft  (§§  24 — 26).  Der  in  Montenegro 
Schutz  suchende  Ausländer  ist  nach  dem  Gelöbnis  des  heiligen  Peter  frei  (§  91). 
—  3.  Strafarten:  a)  Das  G.  nennt  folgende  Hauptstrafen:  Todesstrafe,  meist 
vollstreckt  durch  Pulver  und  Blei,  bei  entehrenden  Verbr.  durch  den  Strang; 
Frauen  wurden  früher  gesteinigt  (so  noch  in  diesem  Jahrhundert  bei  Keusch- 
heitsfehlem, hier  warfen  die  eigenen  Eltern  die  ersten  Steine);  jetzt  tritt  bei 
Frauen  lebenslängliche  Freiheitsstrafe  an  Stelle  der  Todesstrafe.  Freiheits- 
strafe (ohne  Zwangsarbeit),  zeitig  (Höchst-  und  Mindestbetrag  gesetzlich  nicht 
festgesetzt)  und  lebenslänglich;  bei  letzterer  tritt  nach  10  bis  15  Jahren  meist 
Begnadigung  ein.  Gef.  sind  in  Cetinje  und  Germozur.  Dort  gilt  die  Strafe 
als  leichter,  hier  als  schwerer;  die  in  Cetinje  Eingeschlossenen  arbeiten  meist, 
z.  B.  bei  Strassenbauten ,  als  Boten,  und  erhalten  dann  einen  geringen  Lohn; 
es  kann  Verschärfung  der  Freiheitsstrafe  bei  „Wasser  und  Brot"  eintreten. 
Ehrloserklärung  als  Strafe  für  gewissenlose  Richter  (neben  der  Amtsentsetzung) 
und  für  Feigheit  vor  dem  Feinde.  Landesverweisung  für  Bigamie,  Entführung 
(§  69),  die  fliehende  Ehebrecherin  (§  72).  WaflFenabnahme  bei  Feigheit  (§  18). 
Geldstrafe  ist  die  häufigste  Strafart  (früher  erhielt  der  Richter  einen  Teil,  jetzt 
fliesst  sie  vollständig  in  die  öfl'entliche  Kasse ) ;  wird  die  Strafsumme  (auch  von 
Familie  und  Brastvo)  nicht  bezahlt,  so  tritt  Freiheitsstrafe  ein.  Prügelstrafe 
nur  bei  Diebstahl  (diese  Strafart  hat  bewirkt,  dass  Diebstahl  fast  gamicht  mehr 
vorkommt).  —  b)  Nebenstrafen:  Amtsentsetzung  (§§  7,  8,  12);  Einziehung  des 
Vermögens  mid  einzelner  Vermögensstücke,  auch  im  sogenannten  objektiven 
Strafverfahren  (§§  9,  28,  69);  Verbot  der  Wiederverheiratung  (§  77,  Diebstahl 
der  Frau  gegen  den  Mann  im  zweiten  Rückfalle). 

4.  Als  Strafschärfungsgrund  kommt  der  Rückfall  vor.  —  5.  Über  den 
Versuch  giebt  es  keine  geschriebenen  Regeln,  er  wird  meist  bestraft  und  zwar 
milder  als  die  vollendete  That.  —  6.  Der  Gehülfe  wird  milder  bestraft  als 
der  Thäter.  Scharfe  Unterscheidungen  sind  nicht  gegeben.  —  Der  Anstifter 
wird  bestraft  je  nach  Schwere  der  That,  zu  der  er  anstiftete,  und  nach  dem 
Masse  seines  Einflusses.  —  7.  Strafausschliessungsgründe :  Notwehr  ist  erlaubt, 
Überschreitung  derselben  wird  milde  bestraft.  Wer  ein  Delikt  in  der  Trunken- 
heit verübt ,    soll    nach   §  93    mit    der    Hälfte    der    angedrohten    Strafe   belegt 

*)  Die  im  folgenden  ohne  Zusatz  angeführten  Paragraphen  sind  Bestimmungen 
des  G.  V.  18V). 


§  4.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  341 


werden,  es  sei  denn,  dass  er  aus  Hass  handelte.  (Trunkenbolde  kommen  nicht 
vor;  sie  würden  der  allgemeinen  Verachtung  anheimfallen.)  Einfluss  des 
Alters:  Man  setzt  bei  der  Bestrafung  überall  die  erforderliche  Einsicht  voraus 
und  nimmt  an,  dass  sich  dieselbe  erst  mit  dem  15.  bis  17.  Lebensjahr  ent- 
wickelt. Der  jugendliche  Thäter  wird,  wenn  er  verurteilt  wird,  stets  milder 
behandelt.  Erziehungs-  und  Besserungsanstalten  giebt  es  nicht.  Geisteskranke 
kommen  fast  gamicht  vor.  —  8.  Eine  Norm  über  Verjährung  der  Verfolgung 
und  Vollstreckung  fehlt,  so  viel  bekannt  ist. 

§  4.    Die  einzelnen  strafbaren  Handinngen. 

1.  Hochverrat.  Wer  die  Person  oder  die  Würde  des  Fürsten  verletzen 
sollte,  wird  wie  ein  Mörder  bestraft  (Art.  3,  4).  2.  Landesverrat.  Wer  sich 
mit  dem  Feinde  zu  einem  Montenegro  schädlichen  Untemebmen  verabredet, 
ferner  der  Wojwode,  welcher  bei  einer  dem  Lande  drohenden  Gefahr  nicht 
sofort  seine  Leute  zu  den  Waffen  ruft,  wird  mit  dem  Tode  bestraft  (Alt.  16,  19). 
3.  Aufruhr.  Der  Eädelsführer  wird,  wenn  Blutvergiessen  aus  dem  Aufruhr 
entsteht,  mit  dem  Tode  bestraft,  sonst  wie  die  Teilnehmer  des  Aufruhrs  mit 
Geldstrafe  (Art.  16,  94).  4.  Tötung,  a)  Vorsätzliche:  ist  mit  dem  Tode  be- 
droht (Art.  27),  auch  die  Kindestötung  (Art.  74).  (Wenn  ein  Montenegriner 
mit  dem  Fusse  gestossen  oder  mit  dem  Pfeifenrohre  geschlagen  und  dadurch 
verwundet  wird,  im  Zorne  darüber  den  Thäter  sofort  innerhalb  der  ersten 
Stunde  tötet,  so  bleibt  er  straflos,  Art.  34,  35).  —  b)  Bei  fahrlässiger  Tötung 
soll  der  Streit  möglichst  friedlich  beigelegt  werden  (Art.  37).  5.  Körperverletzung. 
h)  Vorsätzliche:  bei  Verwundung  mit  Schiessgewehr  oder  Messer  ist  Freiheits- 
strafe oder  Geldstrafe  zu  verhängen;  hat  der  Thäter  die  Verwundung  mit 
Waffe  oder  Stock  verübt,  um  da  als  Held  zu  gelten,  wo  keine  Notwendigkeit 
einer  Heldenthat  besteht,  so  ist  die  Geldstrafe  zu  verdoppeln ;  wird  Hand  oder 
Fuss  verstümmelt,  so  beträgt  die  Geldstrafe  100  Thaler,  wird  der  Kopf  ver- 
letzt oder  ein  Auge  ausgeschlagen,  60  Thaler;  Verwundung  durch  Stossen 
mit  dem  Fusse  oder  Schlagen  mit  dem  Pfeifenrohr  ist  mit  50  Dukaten  bedroht 
(Art.  31 — 34).  b)  Fahrlässige:  Verstümmelung  eines  Fusses  oder  einer  Hand 
(50  Thaler),  Verletzung  des  Kopfes  oder  eines  Auges  (30  Thaler)  (Art.  33). 
H.  Beleidigung,  a)  üble  Nachrede:  Wenn  der  Thäter  nicht  den  Beweis  der 
Wahrheit  führt,  so  ist  er  mit  der  Strafe  zu  belegen,  welche  den  Verletzten 
getroffen  hätte,  wenn  er  schuldig  befunden  worden  wäre  (Art.  87).  b)  Bei 
Beamtenbeleidigung  tritt  Geldstrafe  ein  (Art.  14:  10  Thaler;  bei  Beleidigung 
eines  Beamten  gegen  einen  Montenegriner  20  Thaler,  Art.  15).  7,  Zweikampf 
war  nach  Art.  40  erlaubt  ohne  Sekundanten.  Wer  sekundiert,  zahlt  100  Thaler 
Geldstrafe ;  jetzt  ist  der  Zweikampf  mit  arbiträrer  Strafe  bedroht.  8.  Ehebruch 
ist  mit  Geldstrafe  von  130  Thaler  und  Gef.  bis  6  Monaten  bei  Wasser  und 
Brot  bedroht  (Art.  71).  9,  Bei  Diebstahl  tritt  Prügelstrafe  ein  (Diebstahl  an 
Waffen:  100,  an  Pferden,  Füllen,  Rindern,  Bienenkörben:  50,  bei  anderen 
Sachen:  20  Stockstreiche).  Nach  Art.  78  soll  beim  dritten  Falle  Todesstrafe 
eintreten.  Diebstahl  der  Frau  gegen  den  Mann  wird  in  den  beiden  ersten 
Fällen  mit  Freiheitsstrafe,  im  dritten  Falle  mit  körperlicher  Züchtigung  und 
Ehescheidung  bestraft.  —  Bei  Diebstahl  an  den  dem  Gottesdienste  gewidmeten 
Sachen  und  an  Landesmunition  tritt  Todesstrafe  ein.  —  Der  auf  frischer  That 
ertappte  Dieb  darf  erschossen  werden;  wer  aber  einen  Unschuldigen  tötet,  ist 
als  Mörder  verantwortlich  (Art.  77 — 82).  10.  Sachbeschädigung,  a)  Vorsätz- 
liche Brandstiftung:  Todesstrafe  (Art.  41);  b)  wer  vorsätzlich  ein  fremdes  Tier 
tötet,  wer  Feldfrüchte  oder  Heu  in  Weinbergen  oder  Gärten,  wer  Gebäude 
oder  Pflanzschulen  oder  irgend  eine  Sache  beschädigt,  muss  10  Thaler  bezahlen 


342  ^^  Balkanstaaien-  —  Montenegro. 


(Alt,  42,  83».  IL  Begünstigimg.  Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt.  Land- 
friedensbnieh.  Der  Begünstiger  wird  mit  der  Strafe  belegt,  mit  welcher  die 
That  des  Begünstigten  bedroht  ist,  der  Begünstiger  des  Mörders  also  mit  der 
Todesstrafe.  Wer  zum  Zweck  der  Begünstigung  gegen  einen  Beamten  zn  den 
Waffen  greift,  darf  auf  der  Stelle  erschossen  werden.  —  Als  Begünstiger  wird 
anch  derjenige  behandelt,  welcher  einen  Verräter  oder  einen  Mörder  nicht  an- 
zeigt oder  nicht  verfolgt  oder  nicht  festnimmt,  wenn  er  dazu  in  der  Lage  ist 
CArt.  20 — 22,  17,  29  •.  12.  Verbr.  im  Amte,  a)  Vorsätzliche  Rechtsbengong 
eines  Richters:  Amt»entsetznng,  lebenslänglicher  Ehrrerlnst  nnd  Geldstrafe: 
h)  bei  Bestechimg  dieselbe  Strafe:  c)  wer  Unrohe  nnd  Uneinigkeit  anter  den 
Richtern  stiftet,  wird  seines  Amtes  entsetzt;  ebenso  derjenige,  welcher  ungehorsam 
imd  in  Erfüllung  seiner  Amtspflichten  nachlässig  ist:  d»  wer  Straf-  oder  Steuer- 
gelder unterschlägt,  wird  entsetzt  und  muss  den  fünffachen  Betrag  der  unter- 
schlagenen Summe  als  Strafe  bezahlen  <  Art.  7,  8,  12,  63,  66).  13.  Bestechimg. 
Wer  in  einer  Prozesssache  einem  Richter  ein  Geschenk  giebt  oder  verspricht, 
ist  in  dem  Prozesse  ohne  weiteres  für  sachfäUig  zu  erklären  nnd  wird  für 
jeden  angebotenen  oder  gegebenen  Dukaten  mit  1  Woche  Cef.  bestraft;  das 
Geschenk  wird  eingezogen  (Art.  9).  14.  Frauenraub,  Entführung  und  Kindes- 
raub sind  im  Art.  69  mit  Landesverweisung  und  Gütereinziehung  bedroht.  — 
1^.  Die  im  6B.  Danilos  unter  Strafe  gestellten  Unsitten  (Abschneiden  des 
Haares  und  Zerkratzen  des  Gesichts  zum  Zeichen  der  Traner,  übermässiges 
Feiern,  Erscheinen  vor  Gericht  mit  einem  Steine  am  Halse)  kommen  nicht 
mehr  vor.  Überhaupt  konmien  fast  nur  Körperverletzung  und  Totschlag  beim 
Streit  im  Zorne  vor. 


4.  ßmnänien. 


§  1.    eescUchOlcher  Überblick. 

Das  Jahr  des  Erlasses  des  gegenwärtig  in  Rumänien  geltenden  StGB.  — 
1864  —  bezeichnet  zugleich  den  Eintritt  eines  für  die  politische  Entwicklung 
des  Landes  ausserordentlich  wichtigen  Ereignisses. 

In  diesem  Jahre  erfolgte  nämlich,  dank  der  einseitigen  Initiative  des 
Fürsten  Cusa,  die  Abänderung  der  von  den  Signatarmächten  des  Pariser  Ver- 
trages auf  Grund  der  Vereinbarung  vom  19.  August  1858  eingeführten  Re- 
präsentativ-Verfassung  durch  ein  autonomes  Statut. 

Obgleich  dieser  autonome  Akt  noch  in  demselben  Jahre  vom  Lande 
durch  ein  Plebiscit  bestätigt  wurde,  hat  er  in  der  rumänischen  Geschichte  die 
Bezeichnung  „Staatsstreich  vom  2.  Mai"  behalten. 

In  dem  Datum  der  Verkündigung  des  StGB,  ist  dessen  Geschichte  nahezu 
vollständig  enthalten.  In  dem  Bestreben,  sich  vor  dem  rumänischen  Volk  und 
dem  gesamten  Europa  der  übernommenen  Verantwortung  gewachsen  zu  zeigen, 
hat  die  ßegierung  des  Fürsten  Cusa  es  erreicht,  noch  in  demselben  Jahre 
nicht  nur  zahlreiche  wichtige  wirtschaftliche  Reformen  durchzuführen,  sondern 
auch  dem  Lande  eine  vollständige  Civil-  und  StGgebung  zu  geben. 

Die  so  entstandene  Gesetzgebung  trägt  die  deutlichen  Spuren  der  Über- 
stürzung, mit  welcher  sie  geschaflTen  wurde.  Es  ist  nicht  zu  verwundem,  dass 
der  Staatsrat  bei  der  Eile,  mit  der  er  die  ihm  aufgetragenen  Arbeiten  er- 
ledigen musste,  die  geschichtliche  Vergangenheit  der  rumänischen  Gesetzgebung 
geopfert  und  sich  auf  eine  Kompilation  der  westeuropäischen  Gesetzgebungen, 
und  zwar  unter  enger  Anlehnung  an  die  französischen  Gesetzbücher,  be- 
schränkt hat. 

Was  die  StGgebung  anbetriflPt,  so  hat  der  Staatsrat  zwar  den  französischen 
Code  p^nal  als  Grundlage  genommen,  für  verschiedene  Materien  aber  auch 
das  preussische  StGB,  benutzt.  Das  StGB,  wurde  unter  dem  30.  Oktober  1864 
verkündet  und  hat  1874  einige  unwesentliche  Abänderungen  erfahren,  deren 
Hauptbedeutung  darin  besteht,  dass  gewisse  Handlungen,  die  früher,  als  Verbr., 
von  den  Schwurgerichten  abgeurteilt  wurden,  in  die  Kategorie  der  Verg.  ge- 
setzt sind. 

Eine  Strafrechtslitteratur  besitzt  Rumänien  bislang  nicht;  die  erschienenen 
Werke  bestehen  ausschliesslich  in  praktischen  Kommentaren  und  Sammlungen 
von  Entsch.  (Vgl.  besonders:  J.  S.  Condeescu,  Das  rumänische  StGB.,  erklärt 
und  mit  Anmerkungen  versehen,  Bukarest  1883,  und  Georg  N.  Fratostiteano, 
Das  StGB,  mit  der  rumänischen  Rechtsprechung  in  Anmerkungen,  Bukarest 
1891.)  Diese  Erscheinung  darf  wohl  zum  grössten  Teil  darauf  zurückgeführt 
werden,  dass  diejenigen,  denen  die  Anwendung  des  StGB,  obliegt,  in  der  Lage 
sind,    die  Litteratur   der   seine   Quelle   bildenden  Gesetzgebungen    unmittelbar 


344  1^6  Balkanstaaten.  —  Ramäiiien. 


zn   benatzen,    nnd    daher  ein  dringendes   Bedürfnis   nach    einer   mmänischen 
Speziallitterator  bisher  nicht  fühlbar  geworden  ist. 

§  2.    Allgememe  tirnndzfige. 

h  Das  allgemeine  Bestreben  des  mmänischen  Gesetzgebers  geht  auf 
Milderung  der  Bestimmungen  des  französischen  Code  p^nal;  der  durchweg 
strenge  Zug  des  preussischen  StGB.,  welches  für  die  Ei^änzung  verschiedener 
Bestinmiungen  des  ersteren  als  Muster  gedient  hat,  ist  daher  ohne  Einflnss 
geblieben.  Diese  Milde  ei^ebt  sich  auf  den  ersten  Blick  aus  der  Aufzählung 
der  Strafen  und  wird  durch  die  Abschaffung  der  Todesstrafe  zur  Genüge  illu- 
striert. Der  Gesetzgeber  hat  den  Versuch  gewagt,  die  Sicherheit  der  Gesell- 
schaft auch  ohne  diese  Strafe  aufrecht  zu  erhalten,  und  die  Zahlenreihen  der 
Kriminalstatistik  ergeben  nicht,  dass  er  misslungen  ist.  Der  im  ganzen  gut- 
artige Charakter  der  Bevölkerung  hat  zum  Gelingen  des  Experiments  zweifel- 
los wesentlich  beigetragen.  Im  Mil.-StGB.  jedoch  war  die  Todesstrafe  nicht, 
zu  entbehren. 

Das  rumänische  G.  macht  ferner  keinen  Gebrauch  von  der  Deportation, 
der  Aufenthaltsbeschränkung  und,  im  Anschluss  an  das  französische  G.  von 
1848,  der  öffentlichen  Ausstellung  der  zu  Zwangsarbeit  oder  Zuchthaus  Ver- 
urteilten. Die  Schuldhaft  (contrainte  par  corps)  zur  Beitreibung  von  Geld- 
strafen oder  Ersatzforderungen  ist  unzulässig;  im  Falle  festgestellter  Zahlungs- 
unfähigkeit des  Verurteilten  wird  die  Geldstrafe  in  Gef.  umgewandelt;  für  je 
5  Francs  wird  ein  Tag  substituiert,  die  Höchstdauer  der  Freiheitsstrafe  beträgt 
ein  Jahr.  Eine  Besonderheit  des  Strafensystems  besteht  darin,  dass  die  Festungs- 
haft in  den  Klöstern  verbüsst  wird;  zur  Zeit  des  Erlasses  des  G.  waren  näm- 
lich Festungen  nicht  vorhanden,  oder  vielmehr  richtiger  die  vorhandenen  voll- 
kommen verfallen.  —  Auf  dem  Grundsatz  der  Milde  beruht  auch  die  Ab- 
schaffung der  Stellung  unter  Polizeiaufsicht  als  Repressivmassregel  (vgl.  Art. 
7—34). 

t.  Den  gleichen  Zug  der  Milde  atmen  die  Bestimmungen  über  den  Ver- 
such. An  Stelle  des  französischen  Systems  (gleiche  Strafe  für  vereuchtes  und 
vollendetes  Delikt)  verwendet  der  Gesetzgeber  hier,  und  zwar  unter  Ausdehnung 
auf  alle  Fälle,  eine  Bestimmung,  welche  das  preussische  StGB,  nur  für  die  mit 
Todesstrafe  und  lebenslänglicher  Zwangsarbeit  bedrohten  Verbrechen  kennt. 
Die  für  das  versuchte  Delikt  angedrohte  Strafe  ist  nämlich  um  einen  Grad 
milder  als  die  für  das  vollendete  aufgestellte;  im  Falle  des  misslungenen  De- 
likts (delit  manc|uej  muss  der  Richter  auf  die  geringste  zulässige  Strafe  er- 
kennen (Art.  38).  Wie  im  französischen  und  preussischen  Recht  wird  der 
Versuch  eines  Verg.  nur  in  den  Fällen  bestraft,  in  welchen  das  G.  dieses  aus- 
drücklich bestimmt  (Art.  39). 

3.  Für  den  Fall  der  Realkonkurrenz  mehrerer  Strafthaten  weicht  das 
rumänische  G.,  seiner  allgemeinen  Neigung  entsprechend,  von  dem  System  des 
preussischen  StGB.  (§§  55  und  56)  ab  und  befolgt  die  milderen  Grundsätze 
des  französischen  Rechts  (Absorption  der  Strafen,  Code  d'instruction  crim. 
Art.  365).  Demgemäss  ist  zu  erkennen:  die  verwirkte  schwerste  Strafart  im 
Falle  des  Zusammentreffens  von  verschiedenartigen  Delikten,  die  mit  verschie- 
denen Strafarten  bedroht  sind;  die  der  Dauer  nach  schwerste  verwirkte 
Einzelstrafe,  wenn  gleichartige  mid  mit  gleicher  Strafart  bedrohte  Delikte  kon- 
kurrieren. 

4.  Bezüglich  des  Rückfalls  unterscheidet  das  G.,  ob  die  neue  Strafthat 
begangen  wird  nach  oder  während  der  Verbüssung  der  für  die  frühere  er- 
kannten Strafe.     Im  ersteren  Falle  erhöht    sich,    wie    im   französischen  Recht, 


§  2.    Allgemeine  Grund züge.  345 


die  Strafe  nm  einen  Grad,  oder  es  wird  das  Höchstmass  der  Strafe,  eventuell 
sogar  der  aufs  doppelte  erhöhten  Strafe  angedroht,  je  nachdem  es  sich  handelt: 
um  zwei  Verbr.  (Art.  41),  oder  um  ein  Verbr.  und  ein  Verg.  (Art.  42),  oder 
endlich  um  zwei  Verg.  (Art.  43).  Tritt  der  Rückfall  während  der  Verbüssung 
der  eraten  Strafe  ein,  so  ist  das  Höchstmass  der  schwersten  Strafe  anzuwenden, 
wenigstens  dann,  wenn  die  zweite  Strafthat  mit  einer  schwereren  Strafe  bedroht 
ist  als  die  erste.  Ist  jedoch  das  erste  Delikt  das  mit  der  schwereren  Strafe 
bedrohte,  so  findet  eine  Absorption  der  Strafen  statt  mit  der  Massgabe,  dass 
derjenige  Teil  der  zuletzt  erkannten  Strafe,  welcher  der  Dauer  nach  die  zuerst 
erkannte  übersteigt,  mit  dieser  letzteren  kumuliert  wird  (Art.  44).  Der  Rück- 
fall bewirkt  keine  Strafschärfung,  wenn  er  sich  später  als  10  Jahre  nach  Ver- 
büssung der  früheren  Strafe  ereignet  (Art.  45). 

5.  Die  dem  französischen  Code  p^nal  entlehnten  Bestimmungen  über 
Teilnahme  wurden  1874  durch  Vorschriften  vei-voUständigt,  die  dem  belgischen 
Recht  entnommen  sind  und,  wie  wir  sehen  werden,  mit  den  Bestrebungen  des 
rumänischen  Gesetzgebers  von  1864  in  offenem  Widerspruche  stehen. 

So  fügt  das  G.  auf  Grund  dieser  Zusätze  zu  den  in  Art.  60  des  franzö- 
sischen Code  p6nal  aufgeführten  Mitteln  der  Anstiftung  (Geschenke,  Versprechen, 
Drohungen  usw.)  noch  die  dem  belgischen  Code  p^nal  (Art.  66  ff.)  entnommenen 
Mittel:  öffentliche  Reden,  Plakate,  Handlungen,  Schriften,  Drucksachen,  Zeich- 
nungen, Stiche,  sinnbildliche  Darstellungen  usw.  hinzu.  Im  Anschluss  an  das 
belgische  Recht  straft  der  rumänische  Gesetzgeber  nicht  nur  den  eigentlichen 
Anstifter,  imd  zwar  diesen  gleich  dem  Thäter,  sondern  auch  denjenigen,  welcher 
durch  eines  der  soeben  erwähnten  Mittel  erfolglos  zur  Begehung  einer  straf- 
baren Handlung  auffordert,  und  zwar  mit  Geldstrafe  und  Gef.  von  drei  Mo- 
naten bis  zu  zwei  Jahren.  Andererseits  mildert  das  rumänische  G.,  und  zwar 
wiederum  im  Anschluss  an  den  belgischen  Code  p^nal,  die  Strafbestimmungen 
für  den  Teilnehmer  am  Verbr.;  derselbe  wird  nur  dann  gleich  dem  Haupt- 
thäter  gestraft,  wenn  ohne  seine  Mitwirkung  das  Delikt  nicht  hätte  begangen 
werden  können  (Art.  51);  in  allen  anderen  Fällen  ist  die  Strafe  des  Gehülfen 
einen  Grad  geringer  als  die  des  Hauptthäters,  und  zwar  ist  sie  auszumessen 
lediglich  nach  der  Beschaffenheit  der  Handlung,  zu  welcher  Beihülfe  ge- 
leistet ist,  so  jedoch,  dass  eine  Verschärfung  aus  Gründen,  welche  ausser- 
halb der  Person  oder  der  Thätigkeit  des  Gehülfen  liegen,  ausgeschlossen 
ist  (Art.  48.) 

Dem  Beispiele  der  von  ihm  benutzten  ausländischen  Quellen  folgend  be- 
straft das  rumänische  StGB,  als  Teilnahme  auch  dieser  ähnliche  Handlungen.  So 
wird  mit  Strafe  bedroht:  wer  wissentlich  an  der  Vorbereitung  oder  der  Aus- 
führung einer  Strafthat  teilnimmt  und  wer  dem  Thäter  wissentlich  Mittel  und 
Werkzeuge  zur  Ausführung  des  Delikts  verschafft  (Art.  50,  Abs.  1  und  2). 
Den  Gehülfen  gleich  werden  femer  gestraft  diejenigen,  welche  sich  zur  Ver- 
heimlichung von  Sachen,  die  mittels  einer  strafbaren  Handlung  erlangt  sind, 
verabredet  haben  (Art.  56),  ferner  wer  Personen,  die  Raub  oder  Gewaltthätig- 
keiten  gegen  das  Eigentum,  die  persönliche  Sicherheit,  den  öffentlichen  Frieden 
oder  die  Sicherheit  des  Staates  begehen,  der  Strafe  entzieht,  indem  er  ihnen 
wissentlich  und  gewohnheitsmässig  Unterkunft  gewährt  (Art.  52  des  rumänischen, 
61  des  französischen  StGB).  Durch  die  Novelle  von  1874  ist,  im  Anschluss 
an  das  belgische  »StGB.,  auf  dem  Gebiete  der  Press- Verbr.  und  -Verg.  die 
Strafe  des  Teilnehmers  ausgedehnt  auf  alle  diejenigen,  welche  bei  der  Her- 
stellung, Verbreitung  oder  Ausstellung  des  Presserzeugnisses  (Schriftwerk, 
Zeichnung,  Druck  usw.)  mitgewirkt  haben,  ohne  Namen  und  Wohnung  des  Ver- 
fasser, Herausgebers  oder  Verlegers  richtig  anzugeben;  sie  können  sich  je- 
doch von  jeder  Verantwortlichkeit  befreien,  wenn  sie  den  Nnmen  des  Verfassers, 


436  I^i^  Balkanstaateu.  —  Rumänien. 


Herausgebers,  Verlegers  oder  wenigstens  de^'enigen  nennen,  der  ihnen  die 
Schriften,  Dmcksachen,  Zeichnungen,  Stiche  übergeben  hat  (Art.  50  Abe.  3). 

Trotz  der  theoretischen  Inkonseqnenz,  zn  deren  Begehung  der  Gesetz- 
geber  durch  das  Beispiel  der  von  ihm  als  Quellen  benutzten  ausländischen 
Gesetzgebungen  sich  hat  verleiten  lassen,  ist  er  nicht  soweit  gegangen,  den 
Sachhehler  auch  dann  als  Gehülfen  zu  bestrafen,  wenn  eine  Verabredung  über 
die  Hehlerei  weder  vor  noch  während  der  Begehung  des  Delikts  stattgefunden 
hat.  Abweichend  vom  französischen  Recht  bildet  in  diesem  Falle  die  Hehlerei 
keine  Art  der  Beihülfe,  sondern  ein  selbständiges  Delikt  mit  selbständigem 
Strafrahmen  (Art.  53  und  54),  obgleich  sie  das  G.,  jedenfalls  versehentlich, 
unter  der  Rubrik  „Teilnahme"  mit  aufführt. 

6.  Bei  den  Gründen,  welche  die  Strafbarkeit  ausschliessen  oder  ver- 
mindern, finden  wir,  von  unwesentlichen  Änderungen  abgesehen,  die  franzö- 
sischen Bestimmungen  wieder.  Zunächst  stellt  das  rumänische  G.  für  den 
Fall  der  NichtVerantwortlichkeit  des  Thäters,  abgesehen  von  dem  der  Geistes- 
krankheit, eine  Formel  auf,  die  viel  allgemeiner  ist  als  der  enge  Begriff  der 
„contrainte""  des  französischen  Rechts.  In  der  That  sind  die  Fälle  des  phy- 
sischen und  psychischen  Zwanges  keineswegs  die  einzigen,  in  welchen  die 
Verantwortlichkeit  des  Handelnden  ausgeschlossen  ist,  und  es  ist  deshalb  rich- 
tiger, zu  sagen,  dass  sie  durch  jede  Ursache  aufgehoben  wird,  welche  den 
Thäter  des  freien  Gebrauches  seiner  Vernunft  beraubt.  Um  nun  aber  zu  ver- 
hüten, dass  durch  diese  allgemeine  Fassung  auch  die  im  Zustande  der  selbstver- 
schuldeten Trunkenheit  begangenen  Delikte  für  straffrei  erklärt  würden,  macht 
das  G.  den  einschränkenden  Zusatz,  dass  der  Verlust  des  freien  Gebrauchs  der 
Vernunft  einen  ausserhalb  des  Willens  des  Thäters  liegenden  Grund  haben 
muss  (Art.  57). 

Dass  der  Gesetzgeber  zur  Bezeichnung  des  Geisteszustandes  eines  unzu- 
rechnungsfähigen Thätera,  abgesehen  vom  Falle  der  Greisteskrankheit,  auf  die 
Wiedergabe  der  französischen  Definition  der  „contrainte"  verzichtet  hat,  ist 
meines  Erachtens  dem  Einfluss  des  preussischen  Textes  (§  40)  zuzuschreiben. 
Jedoch  hat  der  rumänische  vor  diesem  den  Vorzug,  die  schwierige  Frage  der 
Willensfreiheit  unberührt  zu  lassen  und  sich  auf  die  Stellung  der  weit  leichter 
zu  lösenden  Frage  zu  beschränken:  ist  die  Beeinflussung  des  Thäters  eine 
derartige  gewesen,  dass  sie  ihn  des  Gebrauchs  seiner  Vernunft  beraubte? 

Diese  Fonnuliei*ung  des  Prinzips  hat  den  Vorzug,  alle  in  einem  anomalen 
oder  krankhaften  Zustande  begangenen  Handlungen  zu  umfassen,  sodass  der 
Richter  auf  Grund  des  G.  in  der  Lage  ist,  in  jedem  derartigen  Falle  die  Zu- 
rechnungsfähigkeit oder  Unzurechnungsfähigkeit  des  Thäters  zu  prüfen.  Sie 
begreift  selbstverständlich  die  im  Zustande  des  Somnambulismus,  auf  Suggestion 
und  im  Zustande  nicht  vorsätzlich  herbeigeführter  sinnloser  Trunkenheit  be- 
gangenen Delikte.  Andererseits  lässt  sich,  genau  genommen,  die  Vorschrift 
in  dieser  Fassung  nicht  wohl  anwenden  auf  den  Fall  der  erzwungenen  Hand- 
lung (contrainte).  Denn  wenn  man  auch  mit  Recht  sagen  kann:  wer  über- 
legener Gewalt  oder  psychischem  Zwange  weicht,  ist  nicht  verantwortlich, 
weil  er  nicht  nach  der  Entscheidung  seiner  eigenen  Vernunft  handelt  —  so 
ist  doch  dabei  zu  beachten,  dass  derselbe  nicht  immer  des  Gebrauchs  seiner 
Vernunft  beraubt  ist.  Im  Gegenteil:  oft  ist  er  sich  vollkommen  klar  darüber, 
dass  er  dem  ihm  drohenden  Übel  nur  dadurch  entgehen  kann,  dass  er  der 
Gewalt  oder  dem  psychischen  Drucke  nachgiebt  —  er  tiberlegt  also.  Man 
muss  daher  zugeben,  dass  die  rumänische  Definition  der  Unzurechnungsfähig- 
keit nach  dieser  Richtung  zu  eng  ist. 

Die  sich  aus  der  Fassung  des  Art.  57  des  rumänischen  StGB,  ergebenden 
Übelstände  treten  nicht   ein    im  Falle  einer   gesetzlich   vorgeschriebenen  und 


§  2.    Allgemeine  Grundzüge.  34' 


von  der  rechtmässigen  Obrigkeit  angeordneten  Tötung,  Verwundung  und 
Körperverletzung;  diese  erklärt  das  G.  in  einem  besonderen  Art.  (255,  ent- 
sprechend dem  ft'anzösischen  Art.  327)  für  straflos.  Abgesehen  von  diesem 
Falle  ist  der  passive  Gehorsam  eines  Beamten  kein  Strafausschliessungsgrund, 
wenn  nicht  die  Wirkung  des  erteilten  Befehls  eine  derart  unwiderstehliche 
gewesen  ist,  dass  sie  den  Thäter  des  Gebrauchs  seiner  Vernunft  beraubt  hat, 
und  von  der  Bestrafung  wird  nur  in  den  (weiter  unten  zu  erwähnenden)  Fällen 
abgesehen,  in  denen  das  6.  derartige  Delikte  ausdrücklich  für  straflos  erklärt. 

Streng  genommen  ündet  der  Art.  57  ferner  keine  Anwendung  auf  den 
Fall  der  Notwehr,  falls  nicht  auch  hier  Furcht  und  Schrecken  eine  Störung 
der  Intelligenz  herbeigeführt  haben.  Der  Gesetzgeber  hat  deshalb  für  diesen 
Strafausschliessungsgrund  eine  besondere  Bestimmung  getroffen,  und  zwar  im 
Art.  58  unter  Anwendung  des  vom  preussischen  StGB.  (§  41)  vertretenen  Prin- 
zips, jedoch  mit  der  dem  französischen  Recht  entlehnten  Beschränkung  des 
Verteidigungsrechts  auf  den  Fall  des  Angriffs  gegen  eine  Person.  Die  Not- 
wehr ist  daher  unzulässig:  als  Verteidigung  gegen  einen  Angriff  auf  Ver- 
mögensrechte, falls  darin  nicht  gleichzeitig  ein  Angriff  auf  die  Person  liegt, 
und  (was  sich  besonders  aus  dem  dem  französischen  Art.  329  entsprechenden 
Art.  257  ergiebt)  als  Verteidigung  eines  unbewohnten  Hauses  oder  Raumes. 

In  Bezug  auf  Anwendung  des  Art.  58  ist  noch  zu  bemerken,  dass  nicht 
nur  Tötung  und  Körperverletzung,  sondern  jedes  zur  Abwendung  eines  gegen 
die  Person  gerichteten  Angriffs  erforderliche  Verbr.  oder  Verg.  einen  Fall 
strafloser  Notwehr  bildet  (französischer  Art.  328,  rumänischer  256). 

Ebenso  wie  diese  Fälle  der  Straflosigkeit  behandelt  das  rumänische  G. 
die  von  Kindern  unter  acht  Jahren  begangenen  Delikte. 

Bezüglich  der  allgemeinen  Grundsätze  darüber,  in  welchen  Fällen  Weg- 
fall oder  Milderung  der  Strafe  eintritt,  obgleich  vom  Richter  das  Verschulden 
des  Thäters  festgestellt  ist,  herrscht  völlige  Übereinstimmung  zwischen  den 
rumänischen  und  den  französischen  Vorschriften.  Beide  Strafgesetzbücher 
kennen  drei  Strafausschliessungs-  bezw.  Milderungsgrtinde : 

a)  Jugendliches  Alter  des  Thäters.  Nach  französischem  Recht  (Art. 
66 — 69)  bleibt  der  noch  nicht  16  Jahre  alte  Thäter  straflos,  wenn  festgestellt 
wird,  dass  er  ohne  Unterscheidungsvermögen  (discemement)  gehandelt  hat; 
er  wird  milder  bestraft,  wenn  er  dieses  besessen  hat;  in  allen  Fällen,  auch 
für  Verbr.,  erfolgt  die  Aburteilung  durch  die  Strafkammern  (tribunaux  cor- 
rectionnels).  Unsere  Gesetzgebung  hat  dieses  System  für  die  Delinquenten  von 
8 — 15,  teilweise  auch  für  die  von  15 — 20  Jahren  angenommen.  Für  die  sonst 
mit  Zwangsarbeit  bedrohten  Verbr.  ist  bei  Jugendlichen  auf  Gef.  von  3  bis 
15  Jahren  zu  erkennen;  in  allen  übrigen  Fällen  beträgt  die  Strafe  zwischen 
einem  Dritteil  und  der  Hälfte  des  für  Erwachsene  vorgesehenen  Strafmasses 
(Art.  62—65). 

b)  Die  vom  G.  ausdrücklich  vorgesehenen  Fälle.  Auf  diese  bezieht 
sich  der  im  allgemeinen  Teil  enthaltene  Art.  65  des  französischen  Code  penal : 
„Straflosigkeit  oder  Strafmilderung  wegen  eines  Verbr.  oder  Verg.  darf  nui' 
in  depjenigen  Fällen  eintreten,  in  welchen  das  G.  den  Ausschluss  oder  die 
Milderung  der  Strafe  ausdrücklich  zulässt."  Die  hierhergehörigen  zahlreichen 
Fälle  des  französischen  Rechts  sind  in  das  rumänische  StGB,  vollzählig  über- 
gegangen. So  bleiben  straflos:  der  Teilnehmer  an  einem  Komplott,  der  das- 
selbe vor  der  Ausführung  anzeigt  oder  die  Entdeckung  der  Mitschuldigen  er- 
leichtert (Art.  92);  ein  Beamter,  der  auf  Befehl  eines  Vorgesetzten  ein  Delikt 
gegen  die  persönliche  Freiheit  oder  die  Verfassung  begeht  (Art.  99),  oder  aus 
demselben  Grunde  sich  der  bewaflftieten  Macht  bedient,  um  die  Ausführung 
von    G.    oder    richterlichen    und    obrigkeitlichen   Verfügungen    zu    verhindern 


'44*^  \n*r  BaIkaii=i4iÄ:*-n.  —  RTiii:-«n:en. 


«Art.  151*  .  Jedoch  ma»  in  diesen  Fällen  fest^^e^telli  werden,  d-ass  die  aos- 
geführten  Befehle  Ton  Personen  ausgingen,  denen  der  Thä:»fr  dienstlichen  Ge- 
horsam schuldig  war.  Femer  bleibt  straflos:  der  Bebell,  der  ach  freiwillig 
onterwirft.  unter  gewLsä^rn  Voraussetzungen  Art.  174  :  der  Falschmünzer,  der 
vor  Ausgabe  des  falschen  Geldes  sein  Verbr.  entdeckt  Art.  116  :  wer  nahe 
Verwandte  nach  Begehung  eines  Delikts  bei  sich  aufnimmt  und  verbirgt 
«Art.  197  :  wer  einen  Diebstahl  gegen  Angehörige  begeht  Art.  3«»^*  .  Ander»* 
Fälle  teilweiser  Strafaufbebung  behandeln  die  Art.  2ä«>,  274,  276.  2dl.  2b2. 
C;  Die  mildernden  Imstiinde  im  eigentlichen  Sinne,  deren  Anwendung 
zu  Gunsten  des  Angeklagten  dem  freien  richterlichen  Ermessen  überiassen  ist. 
In  dieser  Beziehung  enthält  der  allgemeine  Teil  des  rumänischen  SttiB.  -.Art,  60 ■ 
die  Vorsschrift  des  Art,  463  des  französischen  Ojde,  mit  geringen,  auf  der  Ver- 
schiedenartigkeit der  beiden  G.  beruhenden.  Abweichungen. 


^  3.  Der  besondere  Teil  4es  StGB. 

Der  zweite,  besondere  Teil  hat  die  Reihenfolge  und  Einteilung  des  fran- 
zösischen Code  in  jeder  Beziehung  beibehalten,  enthält  jedoch  ausserdem  eine 
Reihe  vervollständigender,  dem  preussischen  ^^lGB.  entnommener  Bestimmungen. 
Eine  genaue  Untersuchung,  in  welchem  Masse  dieses  letztere  von  dem  rumä- 
nischen Gesetzgeber  benutzt  worden  ist,  würde  den  Rahmen  dieser  gedrängten 
Abhandlung  überschreiten:  ich  muss  mich  deshalb  darauf  beschränken,  einige 
bes^^nders  wichtige  Punkte  hervorzuheben,  bei  deren  praktischer  Anwendimg 
in  Rimiänien  di«'  Zweckmässigkeit  der  Einwirkung  preussischer  Bestimmungen 
hervorgetreten  ist.  Es  kommen  hier  vor  allem  in  Betracht:  die  Bestimmung 
des  §  241  df^  preussischen  StGB,  über  den  Betrug  «wiedergegeben  im  roma- 
nischen Art.  332 1,  die  Vorschrift  des  §246  über  die  Verantwortlichkeit  der 
Vormünder,  Kuratoren,  Pfleger  usw..  welche  absichtlich  zum  Nachteil  der 
ihnen  anvertrauten  Personen  oder  Sachen  handeln  ( rtmiänischer  Art.  330»,  end- 
lich die  Bestimmung  des  >$  215  des  preussischen  StGB,  über  den  Diebstahl, 
mit  welcher  die  Gerichte  täglich  bei  Anwendung  des  Art.  306 — 316  des  roma- 
nischen StGB,  zu  thun  haben. 

Die  im  J.  1«74  vorgenommenen  Abänderungen  verschiedener  Art.  des 
Sti^rB.  hatten  sich  in  einer  zehnjährigen  Praxis  als  notwendig  herausgestellt. 
Es  wiu-den  einerseits  die  Strafen  in  mehreren  Fällen  verschärft,  andererseits 
wurde  die  Aburteilung  verschiedener  Delikte  den  (Jeschworenen  entzogen  tmd 
den  Strafkammern  (tribunaux  correctionnels i  zugeteilt,  da  die  Elrfahnmg  ge- 
lehrt hatte,  dass  die  ersteren  nicht  die  genügenden  Garantieen  ffir  eine  sach- 
gemässe  Rechtsprechung  boten  und  sich  der  Schwere  der  ihrer  Zuständigkeit 
unterstehenden  Strafthaten  nicht  immer  bewusst  geworden  waren. 

Die  bereits  erwähnte  humane  Tendenz  des  Gesetzgebers  v.  1864  hatte 
eine  allgemeine  Reduzierung  in  der  Stufenfolge  der  Freiheitsstrafen  veranlasst; 
so  bewegt  sich  die  Gefängnisstrafe  für  einfache  Polizeiübertretungen  zwischen 
1  und  5  Tagen,  für  Verg.  zwischen  6  Tagen  und  2  Jahren;  die  gelindeste 
Strafe  für  Verbr.  beträgt  3  Jahre  Zuchthaus.  Als  nun  1874  eine  Anzahl  von 
Verbr.,  die  bis  dahin  mit  Zuchthaus  nicht  unter  3  Jahren  bedroht  waren,  zu 
Verg.  erklärt  wurden,  sah  sich  der  Gesetzgeber  veranlasst,  die  Strafrahmen 
des  französischen  Rechts  zu  adoptieren.  Seitdem  beträgt  die  für  Verg.  an- 
gedrohte Gefängnisstrafe  15  Tage  bis  zu  5  Jahren  imd  das  Mindestmass  der 
Zuchthausstrafe  5  Jahre. 

Die  Durchführung  dieses  Grundsatzes  machte  zwei  Arten  von  Änderungen 
im  Gesetzestext  unumgänglich:    einerseits  mussten  bei   allen  mit  dem  Höchst- 


§  3.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  349 


masse  bedrohten  Verg.,  bei  welchen  der  Gesetzgeber  eine  Erweiterung  des 
StratVahmens  nach  oben  nicht  beabsichtigte,  zum  Ausdruck  gebracht  werden, 
dass  nur  auf  Gef.  bis  zu  2  Jahren  erkannt  werden  dürfe  —  andererseits  musste 
für  die  nunmehr  in  Verg.  umgewandelten  Verbr.  an  Stelle  der  Zuchthausstrafe 
Gef.  bis  zu  5  Jahren  angedroht  werden.  —  Diese  letztere,  für  die  Tendenz  der 
Novelle  charakteristische  Änderung  verdient  eine  eingehende  Besprechung. 
Zunächst  wird  die  Anfertigung  und  der  wissentliche  Gebrauch  falscher  Stem- 
pel, Abzeichen  und  amtlicher  Siegel  anstatt,  wie  vorher,  mit  Zuchthaus,  nur 
noch  mit  Vergehensstrafe  bedroht  (Art.  118,  119,  120).  Ebenso  verhält  es 
sich  mit  den  Delikten  der  wissentlichen  Benutzung  falscher  öffentlicher  Urkunden 
und  Banknoten  (Art.  126),  der  Unterschlagung  und  Erpressung  seitens  eines 
öffentlichen  Beamten  (Art.  140  und  141),  der  Bestechung  (Art.  145),  der  Körper- 
verletzung und  des  thätlichen  Angriffs  gegen  Beamte  bei  Ausübung  ihres 
Amtes  (Art.  186,  187),  des  Bruches  amtlicher  Siegel  (Art.  200),  der  Unter- 
schlagung und  Vernichtung  von  Urkunden,  die  sich  in  den  öffentlichen  Archiven 
und  Verwahrungsstellen  befinden  (Art.  204,  205),  der  Sittlichkeitsverletzung 
(Alt.  263,  264),  der  Bigamie  (Art.  271),  des  falschen  Zeugnisses  (Art.  287),  des 
schweren  Diebstahls  (Art.  310),  des  betrügerischen  Bankerutts  (Art.  343,  344, 
348),  der  Vernichtung  von  Akten  einer  Behörde  oder  von  Banknoten  (Art.  367). 

Abgesehen  von  den  soeben  aufgezählten  Änderungen  hat  der  Gesetzgeber 
v.  1874  den  Versucli  gemacht,  verschiedene  ihm  unvollständig  erscheinende 
Bestimmungen  zu  vervollständigen.  Sie  seien  hier  kurz  erwähnt.  Zunächst 
kommt  in  Betracht  der  Text  des  von  der  öffentlichen  Beleidigung  des  Herr- 
schers, seiner  Gemahlin  und  seiner  Kinder  handelnden  Art.  77.  Die  Novelle 
dehnt  diesen  Schutz  auf  alle  Personen  aus,  welche  mit  der  regierenden  Fa- 
milie bis  zum  dritten  Grade  verwandt  oder  verschwägert  sind;  mit  gleicher 
Strafe  wird  bedroht,  wer  durch  öffentliche  Reden,  Anheftung  von  Plakaten, 
Drucksachen,  Schriften,  Zeichnungen,  Stichen,  durch  sinnbildliche  Darstellungen 
usw.  das  Ansehen  des  Landesherm,  die  Unverletzlichkeit  seiner  Person  oder 
die  seiner  Dynastie  verfassungsmässig  zugesicherten  Rechte  angreift,  endlich 
wer  den  Landesherrn  wegen  einer  Massregel  angreift,  für  welche  nicht  er, 
sondern  die  Regierung  ausschliesslich  verantwortlich  ist.  Auch  der  von  den 
strafbaren  Wahlbeeinflussungen  handelnde  Art.  97  wurde  in  mehreren  Punkten 
abgeändert  und  ausserdem  später  durch  das  1884  erlassene  Wahlgesetz  ver- 
vollständigt. 

Der  Verfälschung  und  fälschlichen  Anfertigung  inländischer  öffentlicher 
Obligationen  und  Banknoten  wurde  die  Verfälschung  und  fälschliche  Anferti- 
gung der  von  ausländischen  G.  zugelassenen,  sowie  der  Gebrauch  solcher 
gleichgestellt.  Den  Bestimmungen  über  die  Beleidigungen  und  Gewaltthätig- 
keiten  gegen  Behörden  ist  der  Text  des  Art.  181  hinzugefügt,  nach  welchem 
als  Verg.  bestraft  werden :  die  öffentliche  Aufforderung  zum  Ungehorsam  gegen 
Gesetze  oder  Behörden  oder  zur  Verspottung  der  Religion,  die  öffentliche 
Aufforderung  zur  Begehung  strafbarer  Handlungen,  die  Eröffnung  einer  Sub- 
skription zur  Aufbringung  der  wegen  einer  strafbaren  Handlung  erkannten 
Geldstrafe,  endlich  die  Reproduktion  von  Reden,  Schriften,  Zeichnungen  oder 
sinnbildlichen  Darstellungen,   welche   durch   richterliches  Urteil  verboten  sind. 

Die  einfachen  Körperverletzungen  waren  in  dem  ursprünglichen  Text  des 
Art.  238  als  Verg.  behandelt;  der  Gesetzgeber  v.  1874  unterscheidet,  je  nach- 
dem sie  in  einer  Schankwirtschaft,  auf  einer  Messe  oder  einem  Markte,  oder 
an  irgend  einem  anderen  Orte  begangen  sind:  im  ersteren  Falle  werden  sie 
als  einfache  Polizeiübertretungen,  im  zweiten  jedoch  auch  ferner  als  Verg.  be- 
straft. Hier  sei  gleich  erwähnt,  dass  durch  das  G.  v.  1879  über  die  Organi- 
sation der  Friedensgerichte  auch  diese  letztere  Gruppe  von  Körperverletzungen, 


350  ^ic  Balkanstaaten.  —  Rumänien. 


trotz  ihrer  Vergehensnatnr,  den  Friedensrichtern  zu  Aburteilung  in  ei*ster  Instanz 
überwiesen  ist. 

Der  Text  des  Art.  294,  betr.  die  Verleumdung,  wurde  vervollständigt 
durch  eine  dem  Art.  367  des  französischen  Code  v.  1810  entnommene  Auf- 
zählung der  Mittel,  durch  welche  die  verleumderischen  Behauptungen  zum 
Ausdruck  gebracht  werden  können;  übrigens  nimmt  das  G.  auf  diese  Auf- 
zählung in  verschiedenen  anderen  Art.  Bezug. 

Endlich  hat  die  Novelle  v.  1874  in  Art.  193  ein  neues  Delikt  gescha£Pen 
unter  der  Bezeichnung:  Verweigerung  der  Erfüllung  einer  gesetzlichen  Ver- 
pflichtung. Auf  Grund  dieser  Vorschrift  werden  mit  Geldstrafe  für  jeden  Tag 
der  Verzögerung  bestraft:  die  verantwortlichen  Herausgeber  und  Verleger  von 
Zeitungen,  welche  sich  weigern,  die  gesetzlich  zulässigen  Antworten  der  in 
ihrem  Blatte  unmittelbar  oder  mittelbar  angegriffenen  Personen,  die  Verurtei- 
lungen von  Personen,  welche  vermittelst  des  betreffenden  Blattes  ein  Press- 
delikt begangen  haben,  oder  endlich  die  amtlichen  Mitteilungen,  welche  zur 
Widerlegung  einer  durch  das  betreffende  Blatt  verbreiteten  irrigen  Nachricht 
bestimmt  sind,  zum  Abdruck  zu  bringen. 

Diese  Straf bestimmung  bildet  eine  derjenigen  Massregeln,  welche  die 
Novelle  v.  1874  in  Bezug  auf  die  Presse  getroffen  hat.  Die  ebenfalls  hierher 
gehörige  Vorschrift  des  Art.  50  über  die  Teilnahme  haben  wir  bereits  erwähnt; 
eine  weitere  Bestimmung,  und  zwar  bezüglich  des  Rückfalls,  enthält  Art.  43, 
nach  welchem  deijenige,  welcher  sich  eines  Pressverbrechens  oder  Pressvergehens 
schuldig  macht,  nur  dann  als  rückfällig  angesehen  wird,  wenn  die  von  ihm 
friiher  erlittene  Verurteilung  wegen  eines  politischen  oder  eines  Pressdelikts 
erfolgt  ist.  Übrigens  belässt  der  Art.  398  des  StGB,  die  Strafbestimmungen 
des  Pressgesetzes  vom  1.  April  1862  in  Kraft.  Dieses  G.  enthält  die  ausdrück- 
liche Anerkennung  des  litterarischen  und  künstlerischen  Eigentumsrechts  und 
die  Grundsätze  über  Art  und  Umfang  der  Pressfreiheit,  die  Straf  bestinmiungen 
zum  Schutze  des  freien  Gebrauchs  des  ersteren  und  die  Präventivmassregeln 
gegen  die  letztere.  Es  zählt  ausserdem  alle  strafbaren  Handlungen  auf,  die 
mittelst  der  Presse  begangen  werden  können ;  sie  sind  fast  alle  im  StGB,  noch- 
mals aufgeführt. 

Trotz  der  allgemeinen  Bestimmung  des  Art.  398  des  StGB,  finden  die 
zur  Durchführung  der  Präventivmassregeln  erlassenen  Strafandrohungen  des 
Pressgesetzes  v.  1862  keine  Anwendung  mehr.  Durch  die  rumänische  Ver- 
fassung (v.  1866  und  1884)  sind  diese  Massregeln  und  damit  auch  die  auf  sie 
bezüglichen  Strafbestimmungen  abgeschafft. 

Da  jedes  Werk  veröffentlicht  werden  darf,  ohne  dass  es  einer  vorher- 
gehenden vorläufigen  Genehmigung  oder  Kautionsstellung  bedarf,  so  werden 
die  früheren  Strafvorschriften  für  diejenigen,  welche  sich  diesen  Massregeln 
entziehen,  von  selbst  gegenstandslos. 

Abgesehen  von  den  im  StGB,  behandelten  Verbr.,  Verg.  und  Über- 
tretungen finden  sich,  im  gesamten  Gebiete  der  rumänischen  Gesetzgebung 
zerstreut,  Handlungen  und  Unterlassungen,  welche  der  Gesetzgeber  mit  Strafe 
bedroht  hat,  um  die  Durchführung  seiner  Anordnungen  zu  sichern.  Die  in 
diesen  Spezialgesetzen  erwähnten  Delikte  sind  zum  Teil  mit  härterer  Strafe 
bedroht,  als  die  Verbr.  des  StGB.;  so  droht  das  Militärjustizgesetz  in  ver- 
schiedenen Fällen  die  Todesstrafe  an. 

Die  Durchführung  der  Vorschriften  des  materiellen  StR.  regelt  die  nach 
französischem  Muster  verfasste,  noch  im  J.  1864  erlassene  StPO.  Für  einzelne 
besondere  Arten  des  Strafverfahrens  bestehen  besondere  Gesetze. 


§  3.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  351 


§  4.  Strafrechtliche  Nebengesetze. 

Neben  dem  StGB,  und  der  StPO.,  welche  das  allgemeine  (bürgerliche) 
Recht  enthalten,  sind  folgende  Sondergesetze  zu  erwähnen: 

1.  Das  Militärjustizgesetz  vom  24.  Mai  1881,  eine  getreue  Nachahmung  des 
französischen  G.  vom  9.  Juni  1857,  das  für  die  Aburteilung  sowohl  der  von 
Militärpersonen  begangenen  gemeinrechtlichen  Delikte  als  auch  der  besonderen 
militärischen  Delikte  die  Zuständigkeit  besonderer  Gerichte  begründet. 

2.  Das  Marinejustizgesetz  vom  6.  Juni  1884.  Obwohl  auf  der  Grundlage 
des  Militärjustizgesetzes  beruhend,  weist  es  doch  gegenüber  dem  französischen 
G.  einige  Unterschiede  auf. 

3.  Das  Forstgesetz  vom  24.  Juni  1881  regelt  das  Forstwesen  und  droht 
für  Übertretungen  Geldstrafen  an,  die  im  Falle  der  Zahlungsunfähigkeit  des 
Verurteilten  in  Gef.  von  5  Tagen  bis  zu  3  Monaten  umgewandelt  werden 
können. 

4.  Die  G.,  welche  sich  auf  die  Übertretungen  der  Zoll-  und  Steuergesetze 
beziehen  und  diese  mit  Geldstrafen  belegen,  die  im  Falle  der  Zahlungsunfähig- 
keit in  Gef.  verwandelt  werden.     E^s  kommen  vor  allen  in  Betracht: 

a)  Das  allgemeine  Zoll gesetz  vom  15.  Juni  1874;  es  bedroht  gewisse  Fälle 
des  Schmuggels  sogar  mit  Gef. 

b)  Das  G.  betr.  das  Tabakmonopol  usw.  vom  6.  Februar  1872. 

c)  Das  G.  über  die  Besteuerung  alkoholhaltiger  Getränke  vom  14.  Fe- 
bruar 1882. 

d)  Das  G.  über  die  Stempel-  und  Eintragungsgebühren  vom  31.  Juli  1881. 

Das  Verfahren  bei  den  in  diesen  G.  erwähnten  Übertretungen  ist  ein  be- 
sonderes: in  erster  Instanz  entscheidet  die  Steuerbehörde,  gegen  deren  Er- 
kenntnis der  Antrag  auf  richterliche  Entscheidung  zulässig  ist. 

Alle  in  Rumänien  von  1864  bis  1885  in  Bezug  auf  Justizwesen  und 
Recht  erlassenen  G.  sind  in  der  Sammlung  abgedruckt,  welche  bis  1882  von 
B.  Boerescu  und  seit  1882  von  C.  Boerescu  und  C.  Vlahuti  herausgegeben  wird. 


5.  Serbien. 


J;  1.  Die  Vorgesehiehte  des  sreltenden  Reehts. 

Das  gegenwärtig  im  Königreich  Serbien  geltende  StR.  bemht  im  vresent- 
liehen  auf  dem  G.  vom  27.  März  1850.  Eine  Eontinnität  zwischen  der  modernen 
Rechtsentwickelnng  nnd  der  mittelalterlich  serbischen  Gesetzgebung,  wie  sie 
ihren  Ansdmck  im  GB.  des  Kaisers  Duschan  gefanden  hat,  ist  nicht  vor- 
handen. Wenn  dies  vom  rein  nationalen  Gcäichtspoukte  ans  zn  bedaoem  sein 
mag,  indem  das  Daschan'sche  Gesetzes  werk  nicht  bloss  wegen  der  für  seine 
Zeit  (14.  Jahrhandertl  hohen  Bildimgs-  and  Kaltarstofe.  die  es  bei  der  serbi- 
schen Nation  voranssetzt,  sondern  anch  wegen  seiner  vergleichsweise  bedentenden 
Selbständigkeit  und  Unberöhrtheit  von  fremden  Einflüssen,  sowie  schliesslich 
wegen  der  darin  sich  ausprägenden  juristischen  Folgerichtigkeit  imd  Gesetzes- 
kunst  eins  der  glänzendsten  Geistesdenkmäler  aus  dem  serbischen  Mittelalter 
ist:  so  lässt  sich  doch  das  jähe  Abreissen  des  Fadens  organischer  Entwickelang 
im  vorliegenden  Falle  durch  den  Gang  der  politischen  Ereignisse  vollkommen 
erklären.  Nach  gewaltigen  Stürmen  im  Innern,  die  den  serbischen  Staat  bis 
in  seine  Grundvesten  erschütterten,  brach  wie  eine  Sturmflut  die  osmanische 
Invasion  über  die  Balkanländer  herein,  die  noch  vorgefundene  Gesetzlichkeit 
und  Gesittung  bis  auf  unbedeutende  Trümmer  hinwegspülend,  die  Balkanslaven 
zur  „Raja'*  erniedrigend,  über  welche  während  fünfhundertjähriger  Knecht- 
schaft statt  des  G.  türkische  Willkür  waltete,  hier  und  da  gemildert  durch 
Ortsgebräuche  ( welche  jedoch  nicht  schriftlich  fixiert  wurden ).  Als  im  Beginn 
dieses  Jahrhunderts  revolutionäre  Stösse  die  Balkanhalbinsel  zu  erschüttern 
begannen  und  die  Serben  —  als  die  ersten  unter  den  Balkanvölkem  —  in 
die  Kämpfe  um  ihre  Unabhängigkeit  und  Befreiung  vom  Türken joche  eintraten: 
da  waren  alle  lebendigen  Kräfte  der  Nation  so  ausschliesslich  mit  dieser  fQr 
das  Land  ungeheuren  Aufgabe  beschäftigt,  dass  an  den  Ausbau  einer  modernen 
Gesetzgebung  und  Administration  in  den  ersten  Jahrzehnten  füglich  nicht  ge- 
dacht werden  konnte.  Erst  als  das  junge  Staatswesen  nach  aussen  hin  einiger- 
massen  gefestigt  war,  begann  man  allmählich  —  im  Laufe  der  vierziger  Jahre 
—  strafrechtliche  Materien  im  Wege  von  Spezialgesetzen  zu  regeln.  Als  die 
wichtigsten  unter  diesen  Spezialgesetzen,  welche  recht  eigentlich  als  Vorläufer 
einer  kodifizierten  StGgebung  in  Serbien  zu  betrachten  sind,  wären  zu  er- 
wähnen: das  G.  betr.  die  Bestrafung  von  Aufruhr  und  Empönmg  vom  22.  Ok- 
tober 1843;  G.  betr.  Diebst«hl  und  Raub  vom  26.  Mai  1847;  G.  wider  das  Hei- 
dukenunwesen  vom  13.  April  1850;  Strafnormen  betr.  Polizeivergehen  und 
Übertretungen  vom  27.  Mai  1850;  (J.  über  Umwandlung  der  Strafe  des  Spiess- 
rutenlaufens  in  Zuchthäusern  vom  6.  Mai  1859. 

Als  endlich  ausgangs  der  fünfziger  Jahre  das  Bedürfnis  unabweislich 
ward,  dem  (damaligen)  Fürstentume  Serbien  ein  einheitliches  bis  ins  Einzelne 


§  2.    Das  StGB,  vom  27.  März  1860.  353 


planmässig  ausgearbeitetes  StGB,  zu  geben,  konnte  die  Aufgabe  des  Gesetz- 
gebers, bei  den  damals  gärenden  Zuständen  im  Lande  und  inmitten  der  poli- 
tischen Wirren,  nicht  sowohl  diese  sein:  ein  möglichst  origineUes  Gesetzgebungs- 
werk zu  Stande  zu  bringen,  welches  auf  der  Höhe  der  Zeit  stehend,  doch 
gleichzeitig  ein  spezifisch  serbisches  Gepräge  trtlge:  ein  Problem,  welches 
einen  ungleich  höheren  Aufwand  an  Arbeitskraft  und  juridischer  Kunst  erfordert 
hätte,  als  man  damals  daran  zu  wenden  gewillt  und  wohl  auch  im  stände  war 
—  sondern  es  galt  vielmehr,  unter  Anlehnung  an  eins  der  bewährten  modernen 
StGB,  den  dringendsten  Anforderungen  des  veränderten  Kulturzustandes  in 
Serbien  durch  eine  Adaptation  zu  genügen. 

Die  Wahl  fiel  auf  das  preussische  StGB.  v.  1851,  welches  ein  wohl- 
verdientes Ansehen  im  Auslande  genoss  und  zugleich  den  Vorzug  hatte,  damals 
eine  der  modernsten  Arbeiten  auf  diesem  Felde  zu  sein.  Dieses  StGB,  (nebst 
einzelnen  Vorschriften  des  badensischen  StGB.,  welche  später  durch  Novellen 
eingeführt  wurden  und  wovon  weiter  unten  die  Rede  sein  soll)  wurde  in  allen 
wesentlichen  Bestimmungen  dem  serbischen  StGB.  —  welches  am  27.  März  1860 
promulgiert  wurde  —  zu  Grunde  gelegt.  Da  das  preussische  StGB,  als  be- 
kannt vorausgesetzt  werden  darf,  so  ist  das  serbische  StGB,  hier  hauptsächlich 
insoweit  ins  Auge  zu  fassen,  als  es  charakteristische  Abweichungen  von 
seinem  Vorbilde  —  hervorgerufen  a)  durch  die  relativ  niedrigere  Kulturstufe 
des  Landes,  b)  den  Charakter  der  fast  ausschliesslich  Ackerbau  und  Viehzucht 
treibenden  Bevölkerung  und  c)  gewisse  historische  Entwickelungszustände,  die 
den  Balkanländern  spezifisch  sind  (Heiduckenunwesen,  Klephten  u.  dgl.)  — 
aufzuweisen  hat. 

§  2.  Das  StaB.  Tom  27.  MBrz  1860. 

Solche  Abweichungen  machen  sich  besonders  nach  folgenden  Richtungen 
hin  geltend: 

L    In  Hinsicht  der  Strafmittel: 

a)  Die  Prügelstrafe  ist  im  StGB.  v.  1860  noch  beibehalten.  Allerdings 
können  zu  derselben  nur  „Vagabunden,  Tagelöhner,  Diebe  und  solche  Indi- 
viduen, deren  Verurteilung  zu  einer  Freiheitsstrafe  ihre  Angehörigen  in  eine 
Notlage  versetzen  würde",  verurteilt  werden.  Jedoch  formell  aufgehoben  ward 
die  Prügelstrafe  erst  durch  die  Novelle  vom  11.  Dezember  1873  (als  ihren 
Zweck  verfehlend  und  durch  das  serbische  Mil.-StGB.,  welches  sie  nicht  mehr 
kennt,  antiquiert).  In  derselben  Novelle  wird  die  Art  ihrer  Umwandlung  in 
eine  Freiheits-  oder  Geldstrafe  für  alle  die  Fälle,  in  denen  das  bisherige  StG. 
die  körperliche  Züchtigung  vorschrieb,  bestimmt. 

b)  Auch  die  Verbannung  behauptet  noch  ihren  Platz  als  Strafe  im  System 
des  StGB.  V.  1860.  Ihre  endgültige  Aufhebung  ist  erst  durch  Art.  14  der  ser- 
bischen Verfassung  vom  22.  Dezember  1888  erfolgt.  Dieser  besagt:  „Kein 
serbischer  Bürger  darf  des  Landes  verwiesen  werden.  Die  Beschränkung  oder 
das  Verbot  des  Aufenthaltes  serbischer  Bürger  an  einem  bestimmten  Orte 
(Intemierung)  ist  nur  in  den  durch  das  G.  ausdrücklich  vorgesehenen  Fällen 
zulässig." 

c)  Neben  Zuchthaus  und  Gefängnisstrafe  besteht  auch  im  serbischen 
StGB,  als  custodia  honesta  eine  Art  Festungshaft  (genannt  zatotsch^nje),  jedoch 
mit  der  Besonderheit,  dass  sie  bezüglich  ihres  Mindest-  wie  Höchstbetrages 
(§§  14,  15)  sowie  des  bei  ihrer  Umwandlung  in  eine  andere  Freiheitsstrafe  zu 
Grunde  zu  legenden  Masses  (§21)  der  Zuchthausstrafe  vollständig  gleichsteht. 
Beamte  und  Geistliche  sind  statt  zu  Zuchthaus  regelmässig  zu  dieser  Strafe 
zu  verurteilen,    ausser   in  Fällen,    in    denen  festgestellt  wird,    dass   die  straf- 

Strafgesetzgebnng  der  Ge^^enwart.  I.  28 


354  IHe  Balkanstaaten.  —  Serbien. 


bar   befundene    Handlung   einer   besonders   ehrlosen    G^esinnang    entsprangen 
ist  (§  24). 

d )  Die  Strafe  der  Haft  als  besondere,  vom  Cef.  nnterschiedene  Hanptstrafe 
kennt  das  StGB.  ▼.  1860  nicht. 

e)  Die  Todesstrafe  wird,  nicht  wie  im  prenssischen  StGB,  durch  Ent- 
hauptung, sondern  durch  Erschiessen  vollstreckt. 

f )  Lebenslängliche  Freiheitsstrafen  kennt  das  serbische  StGB,  nicht.  Der 
Höchstbetrag  der  Zuchthausstrafe  und  Festungshaft  ist  20  Jahre,  ihr  Mindest- 
betrag 1  Jahr  (§§  14,  Ib),  Der  Mindestbetrag  der  Geftagnisstrafe  ist  30  Tage 
(§  20j.  Der  Mindestbetrag  der  Geldstrafe  ist  1  Thaler  (eine  gegenwärtig  ideelle 
Münze,  weiche  fünf  Francs  [Dinanen]  gleichgerechnet  wird),  somit  ein  erheb- 
lich höherer  Wert  als  der  dem  prenssischen  StGB,  zu  Grunde  gelegte  Mindest- 
betrag der  Geldstrafe,  wenn  m^in  die  Zeit  der  Publikation  des  serbischen 
StGB,  und  die  damals  in  Serbien  herrschenden  Wertverhältnisse  in  Be- 
tracht zieht. 

g)  Was  die  Xebenstrafen  betrifft,  so  kennt  das  G.  t.  1860  die  Zulässig- 
keit  der  Stellung  unter  Polizeiaufsicht  nicht.  Durch  die  Novelle  vom  20.  März 
1863  ist  sie  als  Nebenstrafe  eingeführt  worden,  im  wesentlichen  mit  denselben 
Wirkungen,  wie  im  prenssischen  bezw.  deutschen  StGB.  Hinsichtlich  ihrer 
Dauer  setzt  §  37a  fest  dass  ihr  Mindestbetrag  1  Jahr,  ihr  Höchstbetrag  5  Jahre 
zu  betragen  hat,  bis  auf  bestimmte,  gesetzlich  vorgesehene  Fälle,  wo  auf  zehn- 
jährige Dauer  der  Polizeiaufsicht  erkannt  werden  konnte.  Aber  auch  diese 
Fälle  sind  in  neuester  Zeit  (durch  G.  vom  29.  März  1891)  aufgehoben  worden. 

h)  Die  Aberkennung  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  endlich  hat  im  all- 
gemeinen dieselben  Wirkungen,  wie  im  preussisch-deutschen  StGB.,  mit  der 
Besonderheit  jedoch,  dass  die  Unfähigkeit,  öffentliche  Ämter,  Würden,  Titel. 
Orden  und  Ehrenzeichen  zu  erlangen  usw.,  höchstens  für  die  Dauer  von  5  Jahren 
aberkannt  werden  kann. 

II.  Bezüglich  des  allgemeinen  Teils  des  serbischen  StGB,  ist  noch  als 
charakteristisch  zu  erwähnen: 

a)  Der  §  51  statuiert  eine  Anzeigepflicht  für  Kapitalverbrechen,  deren 
ünterlassuDg  mit  Gef.  bis  zu  5  Jahren  bestraft  wird. 

b)  §  57  setzt  die  Grenzen  der  Zurechnungsfähigkeit  nach  dem  Alter  in  fol- 
gender Weise  fest:  1.  Periode  der  absoluten  Unzurechnungsfähigkeit  bis  zu 
7  Jahren ;  2*  Periode  der  bedingten  Zurechnnügsfähigkeit,  je  nachdem  das  Be- 
wusstsein  der  Strafbarkeit  als  vorhanden  angenommen  wird  oder  nicht,  bis  zu 
14  Jahren;  3.  Periode,  wo  das  Bewusstsein  der  Straf  barkeit  als  vorhanden  an- 
genommen wird,  gleichwohl  aber  mildernde  Umstände  von  Rechtswegen  in 
Betracht  kommen,  bis  zu  21  Jahren.  Mit  dem  vollendeten  21.  Leben^ahre 
tritt  die  volle  strafrechtliche  Zurechnungsfähigkeit  ein. 

III.  Bezüglich  des  besonderen  Teils  des  StGB,  sind  als  besonders 
kennzeichnend  für  die  Anschauungen  des  serbischen  Gesetzgebers  die  Bestim- 
mungen über  Diebstahl  und  Raub  bezw.  Heiduckenunwesen  hier  ausführlicher 
zu  besprechen. 

a)  Was  die  Diebstahlsbestimmungen  betrifft,  so  lehnte  sich  die  ursprüng- 
liche Fassung  des  StGB.  (1860)  ziemlich  eng  an  das  preussische  Vorbild  an. 
Aber  im  I^aufe  der  Jahre  sehen  wir  den  Gesetzgeber  mit  immer  strengeren 
Strafen  in  dieser  Materie  vorgehen,  gleichzeitig  unter  Aufstellung  verschiedener 
Kategorieen  je  nach  dem  Werte  des  gestohlenen  Objekts. 

Besonders  scharf  tritt  dies  beim  Feld-  und  Viehdiebstahle  einerseits,  sowie 
beim  Rückfalle  andererseits  hervor. 

So  bestimmte  im  ursprünglichen  Texte  des  StGB.  §  222  Abs.  3:  Wer 
landwirtschaftliche  Geräte  auf  dem  Felde,  Vieh  auf  dem  Felde  oder  der  Weide, 


§  2.    Das  StGB,  vom  27.  März  1860.  355 


Leinewand  von  der  Bleiche,  gesammelte  Früchte  vom  Felde  oder  überhaupt 
Gegenstände,  welche  im  Vertrauen  auf'  die  öffentliche  Sicherheit  ohne  Wächter 
auf  iireiem  Felde  belassen  werden,  stiehlt,  ist  mit  Gef.  nicht  unter  3  Monaten 
und  Ehrverlust  zu  bestrafen,  und  kann  mit  Zuchthaus  bis  zu  5  Jahren  bestraft 
werden. 

Hingegen  bestimmt  die  Novelle  vom  10.  Januar  1879:  „Wer  landwirt- 
schaftliche Geräte  oder  Viehstände,  wo  immer  dieselben  sich  befinden  mögen, 
stiehlt,  wird,  wenn  der  Wert  der  gestohlenen  Objekte  200  Piaster  =  40  Francs 
übersteigt,  mit  Zuchthaus  von  2  bis  zu  5  Jahren  bestraft.  Diese  Diebstähle 
sind  ohne  weiteres  zu  den  schweren  Diebstählen  zu  rechnen  und  unterliegen 
der  Kompetenz  der  Schwurgerichte." 

Äusserst  streng  und,  verglichen  mit  den  strafgesetzlichen  Bestimmungen 
anderer  europäischer  Länder,  geradezu  exorbitant,  erscheinen  die  Bestimmungen 
über  den  Diebstahl  im  Rückfalle.  Die  Novelle  vom  30.  März  1863  lautet:  „Der- 
jenige, welcher  drei  oder  mehrere  schwere  Diebstähle,  oder  ausser  zwei  oder 
mehreren  einfachen  noch  zwei  schwere  Diebstähle  begeht,  ist  mit  dem  Tode 
zu  bestrafen.  Die  gleiche  Strafe  trifft  denjenigen,  welcher  einen  schweren 
Diebstahl  begeht,  nach  vorgängiger  zweimaliger  Verurteilung  wegen  einfachen 
Diebstahles  oder  einmaliger  Verurteilung  wegen  schweren  Diebstahls. 

Indessen  ist  der  Gesetzgeber  nicht  so  weit  gegangen,  diese  drakonischen 
Bestimmungen  auf  Diebstähle  von  Landwirtschaftsgeräten  oder  Vieh,  im  Rück- 
falle oder  bei  Konkurrenz  auszudehnen.  Er  nimmt  diese  Fälle  ausdrück- 
lich aus. 

Die  Aufstellung  verschiedener  Kategorieen  mit  bestimmtem  Minimal-  und 
Maximalstrafmasse,  je  nachdem  das  Diebstahlsobjekt  unter  oder  über  200  Piaster 
(40  Frcs.)  oder  unter  oder  über  10  Piaster  (2  Frcs.)  beträgt,  ist  durch  die 
Novelle  vom  17.  Juni  1861  erfolgt,  wie  derartige  Kategorieen  analog  auch  bei 
Unterschlagung,  Betrug  und  Brandstiftung  durch  die  Novelle  vom  21.  März  1863 
eingeführt  worden  sind. 

Andererseits  möge  jedoch  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass  der  Gesetzgeber 
den  (einfachen)  Diebstahl  straflos  lässt,  wenn  der  Thäter,  bevor  er  entdeckt 
oder  ergriffen  worden  ist,  das  gestohlene  Gut  dem  Bestohlenen  zurückerstattet 
oder  ihn  sonst  voll  entschädigt. 

b)  Vollends  schwer  verständlich  müssen  die  Bestimmungen  des  serbischen 
StGB,  über  das  Heiduckenunwesen  demjenigen  erscheinen,  welchem  ihre 
geschichtlichen  Voraussetzungen  nicht  klargelegt  sind.  Die  Erscheinung  der 
Heiducken  ist  als  eine  Reaktion,  eine  Art  lebendiger  Protest  gegen  die  Türken- 
herrschaft und  ihre  Willkür  aufzufassen,  analog  den  Klephten  im  modernen 
Griechenland.  Wer  die  Rache  der  Türken  fürchtend  oder  wegen  erlittener 
Unbill  selbst  auf  Rache  gegen  sie  sinnend  oder  schliesslich  überhaupt  ausser 
Stande,  ihren  despotischen  Druck  länger  zu  ertragen,  sich  in  die  Berge  flüch- 
tete, um  sein  Leben  zu  schützen  oder  auf  eigene  Faust  sich  Gerechtigkeit  zu 
verschaffen,  erhielt  den  Beinamen  eines  „Heiducken",  eine  Bezeichnung,  welche 
von  Hause  aus  keineswegs  ehrenrührig  war,  indem  das  Volk  in  den  Heiducken 
nicht  sowohl  „Räuber"  als  „Helden"  erblickte,  die  einer  tyrannischen  Über- 
macht gegenüber  kühn  mit  der  Waffe  in  der  Hand  das  Recht  des  kleinen 
Mannes  vertreten,  eine  Art  natürlicher  Beschützer  der  geknechteten  Raja: 
„Viele,"  sagt  Wuk  S.  Kanerdjic,  einer  der  besten  Kenner  serbischer  Verhält- 
nisse, „ergeben  sich  dem  Heiduckentume,  nicht  sowohl  in  verbrecherischer  Ab- 
sicht, um  zu  plündern  und  zu  morden,  sondern  um  ihr  Leben  zu  retten  oder 
sich  an  jemand  zu  rächen  oder  in  Freiheit  zu  leben;  aber  wenn  nun  schon 
einer  (insbesondere  von  den  einfachen  Leuten)  vom  grossen  Haufen  sich  los- 
sagt,  so   liegt   die  Gefahr   nahe,    dass    er   allmählich    auf  Abwege  gerät  und 

23* 


356  I^ie  Balkanstaaten.  —  Serbien. 


schlechte  Streiche  zu  begehen  anfangt.  Gleichwohl  kann  man  auch  heute 
noch  einem  Heiducken  keinen  grösseren  Schimpf  zufügen,  als  wenn  man  ihn 
einen  „Dieb"  oder  „Frauenschänder"  (przihabe)  nennt.  Ein  echter  Heiducke 
wird  nie  einen  Menschen  morden,  der  ihm  kein  Leides  zugefügt  hat,  ausser 
wenn  ihn  ein  Freund  oder  Helfershelfer  (jatak)  dazu  aufstachelt.  Es  scheint 
ihm  eine  Schande,  einem  Armen  etwas  zu  rauben,  ausser  etwa  schöne  Waffen ; 
aber  Kaufleuten  auf  dem  Wege  aufzulauern  und  in  die  Häuser  reicher  Leute 
einbrechen,  dünkt  ihm  keine  Schande." 

Mit  dem  allmählichen  Erstarken  der  serbischen  Staatsgewalt  und  dem  Ver- 
schwinden der  Türkengefahr  einerseits,  dem  Eindringen  modemer  Anschauungen 
über  Raubwesen  und  Wegelagerer  andererseits,  wurde  natürlicherweise  der 
Daseinsberechtigung  der  Heiducken  immer  mehr  der  Boden  entzogen.  An  Stelle 
des  Helden  trat  der  Charakter  des  Räubers  immer  stärker  in  den  Vordergrund, 
wobei  jedoch  immer  noch  ein  blasser  Abglanz  des  alten  Heldenschimmers  in 
den  Augen  des  Volkes  die  Gestalten  dieser  Heiducken  umwob,  sie  zu  einem 
Gegenstande  besonderer  Berücksichtigung  für  den  serbischen  Gesetzgeber 
machend.  Dieser  musste  es  aus  Gründen  legislativer  Politik  für  geratener 
halten,  dem  Heiducken  eine  goldene  Brücke  zu  bauen  und  ihm  den  Rückzug 
in  eine  bürgerliche  Existenz  auf  alle  Weise  zu  erleichtem,  als  durch  aus- 
schliesslich terroristische  Massregeln  ihn  zum  äussersten  Widerstände  aufzureizen 
und  so  die  Gefahr,  die  der  Gesellschaft  von  diesen  kühnen  Raubgesellen  und 
ihren  zahlreichen  überall  im  Lande  zerstreuten  Helfershelfern  drohte,  noch  zu 
vergrössem. 

Daher  bestimmt  §  244  des  StGB.:  „Wer  zu  den  Heiducken  übergeht,  ist 
zwar  von  Rechtswegen  mit  Gef.  bis  zu  5  Jahren  nebst  Verlust  der  bürgerlichen 
Ehrenrechte  zu  bestrafen.  Wenn  er  jedoch,  ohne  noch  eine  That  von  Heiducken- 
willkür verübt  zu  haben,  freiwillig  von  diesem  Treiben  absteht  und  der  Be- 
hörde sich  ausliefert,  so  ist  er  mit  jeder  Strafe  zu  verschonen. 

Steht  er  ab,  zwar  noch  ohne  ein  Delikt  als  Heiducke  begangen  zu  haben, 
jedoch  erst  nach  vorgängiger  Aufforderung  seitens  der  Behörden,  und  stellt  er 
sich  der  Behörde  auf  Gnade  und  Ungnade,  so  wird  er  mit  Gef.  bis  zu  6  Mo- 
naten bestraft."  §245:  „Der  Heiducke,  welcher  als  solcher  ein  Verbr.  begeht, 
ist  mit  dem  Tode  zu  bestrafen;  wenn  er  ein  Verg.  begeht,  mit  Zuchthaus  von 
10  bis  zu  20  Jahren.  —  Wenn  ein  Heiducke  nach  begangenem  Verbr.  sich 
aus  eigenem  Antriebe  der  Behörde  stellt,  so  ist  er  mit  Zuchthaus  bis  zu  15  Jah- 
ren zu  bestrafen;  nach  verübtem  Verg.  mit  Gef.  bis  zu  5  Jahren  und  Ehr- 
verlust. Stellt  er  sich  nach  verübtem  Verbr.,  jedoch  erst  infolge  Aufforderung 
der  Obrigkeit,  so  ist  er  mit  Zuchthaus  bis  zu  20  Jahren  zu  bestrafen,  nach  ver- 
übtem Verg.  mit  Zuchthaus  bis  zu  10  Jahren." 

Endlich  bestinmit  §  250  bezüglich  der  Helfershelfer  QaXak)  der  Heiducken: 
„Wer  Heiducken  an  die  Hand  geht,  um  sie  der  behördlichen  Verfolgimg  zu 
entziehen  oder  um  ihnen  die  Vorteile  ihrer  strafbaren  Handlung  zu  sichern, 
wird  mit  Zuchthaus  bis  zu  10  Jahren  bestraft.  Betreibt  er  die  Beihülfe  gewohn- 
heits- oder  gewerbsmässig,  so  wird  er  mit  Zuchthaus  bis  zu  15  Jahren  bestraft." 

§  3.   Nachtragsgesetze. 

Zum  StGB,  vom  27.  März  1860  sind,  wie  bereits  im  Vorstehenden  mehr- 
fach erwähnt,  zahlreiche  Novellen  erschienen,  von  welchen  die  wichtigsten  die 
G.  vom  17.  Juni  1861,  vom  20.  März  1863,  vom  15.  Juni  1863  und  vom  11.  De- 
zember 1873  sind.  Diese  Novellen,  welche  zum  Teil  der  badischen  Gesetz- 
gebung entlehnt,  bezw.  nachgebildet  sind,  tragen  sämtlich  den  Charakter  einer 
fortschreitenden  Annäherung    der   serbischen  Landesgesetze    an    die  modernen 


§  5.    Das  Strafverfahren.  357 


europäischen  Gesetzgebungen.  Durch  die  erstgenannten  G.  sind  insbesondere, 
abgesehen  von  der  Einführung  der  Zulässigkeit  der  Stellung  unter  polizeiliche 
Axifsicht  als  Nebenstrafe,  und  der  Modifikation  der  Bestimmungen  über  Ver- 
such und  Konkurrenz,  die  Kap.  über  Hochverrat,  Landesverrat  und  Beleidigung 
des  Landesfürsten  gründlich  umgestaltet  worden.  (Wenn  diese  Delikte  durch 
die  Presse  begangen  werden,  so  ist  das  G.  vom  24.  Oktober  1870  massgebend.) 
Des  Ferneren  ist  durch  diese  Novellen  sowie  durch  diejenigen  vom  23.  Oktober 
1871  und  10.  Januar  1876  das  Kap.  Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt  erheb- 
lich modifiziert  worden.  Das  G.  vom  11.  Dezember  1873  endlich  ist  besonders 
wichtig  wegen  der  durch  dasselbe  bewirkten  Aufhebung  der  Prügelstrafe. 

§  4.  Strafrechtliche  Nebengesetze. 

Von  Spezialgesetzen,  welche  strafrechtliche  Bestimmungen  enthalten,  sind 
hervorzuheben: 

a)  Das  serbische  Mil.-StGB.  vom  28.  April  1864,  ergänzt  und  umgestaltet 
durch  die  Novellen  vom  17.  Juni  1876  und  12.  bezw.  23.  August  1876. 

b)  Die  Konkursordnung  vom  17.  März  1861,  welche,  unabhängig  vom 
Kap.  XXVI  des  StGB,  über  Bankerutt,  in  den  Art.  130,  131  Straf bestimmungen 
wider  den  Cridar  enthält. 

c)  Das  G.  über  die  Presse  vom  Januar  1890.  Dasselbe  beruht  im  wesent- 
lichen auf  Art.  22  der  Verfassung  vom  24.  Dezember  1888,  welcher  neue  Grund- 
lagen für  das  Presswesen  geschafi^en  hat,  indem  er  die  Präventivzensur  aufhob, 
von  dem  Erläge  einer  Kaution  befreite,  und  die  Beschlagnahme  nur  in  den 
Fällen  von  Beleidigung  des  Landesherm  und  seines  Hauses  sowie  fi'emder 
Landesfürsten  und  ihrer  Häuser  und  im  Falle  der  Aufreizung  zur  Empörung 
zuliess.  Verantwortlich  für  einen  strafbaren  Artikel  ist  in  erster  Reihe  der 
Verfasser.  Wenn  derselbe  unbekannt  oder  nicht  in  Serbien  ansässig  oder  nicht 
haftbar  ist,  so  fällt  die  Verantwortlichkeit  auf  den  Redakteur,  Drucker  oder 
Verbreiter. 

d)  Bezüglich  des  Eisenbahnwesens  sind  strafgesetzliche  Bestimmungen 
eingeführt  worden  durch  das  Sondergesetz  vom  30.  Juni  1882. 

e)  Das  G.  betr.  die  Organisation  der  Zollbehörden  vom  12.  Dezember  1863 
enthält  im  §  119  Straf  bestimmungen  wider  den  Schmuggel;  hierzu  Novelle  vom 
14.  Dezember  1867. 

Strafgesetzliche  Bestimmungen  enthalten  femer  die  Rechtsanwaltsordnung, 
die  Gesindeordnung  usw. 

Ein  besonderes  Wuchergesetz  existiert  in  Serbien  nicht. 

§  5.  Das  Strafverfahren. 

Schliesslich  sei  hier  noch  mit  wenigen  Worten  die  serbische  StPO.  vom 
16.  Juni  1865  in  ihren  Hauptzügen  skizziert.  Diese  lehnt  sich  durchweg  an 
das  österreichische  Muster  (StPO.  v.  1853)  an ,  und  baut  sich  im  wesentlichen 
auf  dem  Inquisitionsprinzip  auf,  wiewohl  im  einzelnen  viele  Bestimmungen  dem 
Anklageprinzip  entlehnt  sind. 

So  liegt 

a)  die  Untersuchung  aller  strafbaren  Handlungen  ausschliesslich  und  von 
Amtswegen  den  polizeilichen  und  richterlichen  Behörden  ob  (§§  4,  5,  151,198, 
208,  209),  und  nur  bei  der  Hauptverhandlung  ist  insofern  ein  Zugeständnis 
gemacht  worden,  als  hier  ein  Richter,  in  Vertretung  der  Staatsanwaltschaft, 
die  Anklage  erhebt.  Seine  Funktion  ist  jedoch  keine  vom  Gerichtshofe  ge- 
sonderte.    Er  ist  im  wesentlichen  Gerichtsreferent. 


358  I^^  Balkanstaaten.  —  St^rbien. 


b)  Nicht  bloss  die  Vorerhebungen,  sondern  die  ganze  Vonmtersneliong 
liegt  in  den  Händen  der  Polizei.  Hier  ist  jedoch  dnrch  die  Veifassnng  vom 
24.  Dezember  1888  eine  einschneidende  Änderung  getroffen  worden,  indem  die 
bisherigen  Funktionen  der  Polizei  auf  eine  mit  richterlicher  Qualität  ausgestat- 
tete, selbständig  fungierende  üntersuchungskommission  (genannt  istrasus  suedya) 
übertragen  wurde.  Liegt  hinreichendes  Belastungsmaterial  vor,  so  wird  die 
Strafsache  der  kompetenten  Gerichtsbehörde  abgetreten,  welche  alsdann  als 
eine  An  Anklagekammer  fungiert  und  nötigenfaUs  Ergänzung  der  Untersuchung 
bezw.  Untersuchungshaft  des  Inkulpaten  verfugt. 

c)  Zulassung  der  Mündlichkeit,  jedoch  nur  für  die  Hauptverhandlung. 

d)  Zulassung  der  Öffentlichkeit,  jedoch  ebenfalls  nur  für  die  Hauptver- 
handlung (vgl.  indessen  Art.  153  der  mehrcitierten  Verfassung). 

e)  Zulassung  der  Verteidigung,  anfangs  nur  in  beschränktem  Masse  für 
Mlndeijähnge,  Abwesende,  Kranke,  der  Landessprache  Unkundige,  Frauen, 
dann  durch  6.  vom  25.  Mai  1868  erweitert,  und  schliesslich  durch  Art.  154  der 
Verfassung  auf  alle  wegen  eines  Verbr.  oder  Veig.  Angeklagten  (vom  Momente 
der  eröffneten  Voruntersuchung  ab)  erweitert,  so  zwar,  dass  diese  einen  Ver- 
teidiger haben  müssen,  während  alle  einen  Verteidiger  haben  können. 

f)  Einführung  des  Schwurgerichts,  jedoch  nur  für  Raub,  schweren  Dieb- 
stahl und  Brandstiftung. 

§  6.    Litteratnr  und  Rechtspreehung. 

Eine  Sammlung  strafrechtlicher  Entscheidungen  des  obersten  Gerichtshofes 
existiert  in  Serbien  nicht,  doch  werden  diese  publiziert  in  den  juristischen  Zeit- 
schriften, gegenwärtig  in  dem  von  Dr.  Wesnitsch  herausgegebenen  „Pravnik"  (der 
Jurist).  Von  Kommentaren  zum  StGB,  sei  derjenige  vom  Staatsrate  Zenitsch  (aus  den 
sechziger  Jahren)  erwähnt;  von  systematischen  Darstellungen  diejenigen  von  Awa- 
kumo witsch  ge^^'enwärtig  serbischem  Minister.  Dieselbe  ist  unter  dem  Titel  „Theorie 
des  Strafrechts**  von  1882 — 1884  erschienen,  aber  noch  nicht  beendigt.  Den  Straf- 
prozesH  hat  Radowitsch  (1870)  bearbeitet. 


vn. 


DIE  SCHWEIZ. 


1.  Die  deutsche  Schweiz 

(einschliesslich,  der  Bizndesgesetzgebung), 


Von  Dr.  A.  Teichmann, 

ord.  Profeflsor  der  Beeilte  in  Basel. 


2.  Die  französische  Schweiz. 

Von  Dr.  A.  Gautier, 

ord.  Professor  der  Bechte  in  Genf. 

(Übersetzimg  von  Dr.  €^rg  Cmsen  in  Hannover.) 


3.  Das  8trafrecht  des  Kantons  Tessin. 

Von  Stefano  Gbbnzzi, 

AdTokat  in  BeUinzona. 

(Übersetzung  von  Dr.  Georg  Crnsen  in  Hannover.) 


Übersicht 


1.  Die  deutoche  Schweiz  (einschliesslich  der  Bundess^esetm^ebmi^). 

I.  Einleitung.  Quellen  und  Litteratur.  §  1.  Kodifiziertes  und  nicht  kodifiziertes 
Recht.    §  2.   Bundesstrafrecht  und  Kantonalstrafrecht.    §  3.  Litteratur. 

II.  Erste  Abteilung.  Eidgenössisches  (Bundes-)Strafrecht.  §  4.  Das  Helvetische  pein- 
liche Gesetzbuch.  §  5.  Die  Periode  des  Staatenbundes  1803—1848.  §  6.  Die 
Straf gesetzgebung  des  Bundes  seit  1848. 

III.  Zweite  Abteilung.  §  7.  Die  Kantonalstrafgesetzgebung.  1.  Aargau.  2.  St.  Gallen. 
3.  Basel-Stadt  und  Basel-Land.  4.  Luzem.  5.  Schaflfhausen.  6.  Zürich.  7.  Thur- 
gau.  8.  Graubänden.  9.  Solothum.  10.  Appenzell  a  Rh.  11.  Unterwaiden  o  W. 
12.  Bern.    13.  Glarus.     14.  Schwyz.     15.  Zug. 

2«   Die  franz5si8che  Sch^ireix« 

I.   Die  Quellen.    §  1.   Kanton  Waadt.    §  2.   Kanton  Wallis.    §  3.    Kanton  Freiburg. 

§  4.   Kanton  Genf.    §  5.   Kanton  Neuenburg. 
IL   Die   Grundzüge   des   Strafrechts   der   französischen   Schweiz.    §  6.   Giebt  es  ein 
besonderes  französisch-schweizerisches  Strafrecht?    §  7.  Die  allgemeinen  Lehren. 
§  8.   Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen. 

3.   Der  Kanton  Tessin. 

I.   Einleitung.     §  1.   Übersicht  über  die  Litteratur.     §  2.   Geschichtliche  Vorbemer- 
kungen. 
II.   Der  allgemeine  Teil  des  Strafgesetzbuches.    §  3.  Das  Strafgesetz.    §  4.  Die  straf- 
bare Handlung.    §  5.   Die  Strafen.    §  6.   Endigung  der  Strafverfolgung  und  der 
Strafvollstreckung. 

III.  §  7.   Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen  und  ihre  Bestrafung. 

IV.  §  8.   Strafrechtliche  Nebengesetze. 


1.  Das  Strafrecht  der  deutschen  Schweiz 

(einschliesslich  der  BimdesgesetzgehuDg). 


I.  Einleitimg.    Quellen  und  Litteratur. 

Auch  in  der  Schweiz  wird  der  Satz  als  richtig  anzusehen  sein,  dass 
„Gesetz  und  Richteramt  dem  Volke  sein  Recht  schafft".  (O.  Btilow,  Gesetz  und 
Richteramt,  Leipzig  1885.)  Nur  ist  hier  jedenfalls  der  Einiluss  des  letzteren 
grösser,  als  anderwärts,  wo  es  als  zweckmässig  erscheinen  kann,  das  von  oben 
herab  eingesetzte,  unabhängige,  rechtsgelehrte  Richtertum  an  scharf  formulierte 
Bestimmungen  des  Gesetzes  zu  binden  und  eine  Kontrolle  in  dieser  Beziehung 
mittels  der  Formen  eines  fein  ausgebildeten  Rechtsmittelsystems  zu  gewähren. 
Demgegenüber  weist  von  vornherein  die  Gesetzgebung  der  Schweiz  kraft  der 
für  die  Aufstellung  derselben  massgebenden  Faktoren  eine  andere  Form  auf, 
welche  dem  Ermessen  des  Laienrichtertums,  das  mehr  oder  minder,  direkt 
oder  indirekt,  aus  Volkswahlen  hervorgeht,  rücksichtlich  Annahme  der  Straf- 
würdigkeit einer  Handlung  weiteren  Spielraum  einräumt.  Nicht  überall  ist 
der  Satz  „nuUa  poena  sine  lege"  in  der  Verfassung  oder  in  dem  Straf-  oder 
Strafprozess-Gesetz  ausdrücklich  ausgesprochen,  vielfach  nur  stillschweigend 
vorausgesetzt  oder  als  geltend  angenommen,  auch  dann  nicht  immer  ohne  ge- 
wisse Einschränkungen.  Selbst  aber  wo  ersteres  der  Fall,  liegt  nicht  selten  in 
der  Form  des  Strafgesetzes  selbst  der  Grund,  dass  die  Rechtsprechung  der 
in  dieser  Richtung  angerufenen  höheren  Gerichte  nur  in  ganz  eklatanten 
Fällen  die  Verletzung  jenes  Grundsatzes  durch  einen  Richterspruch  anerkennen 
oder  die  Unvereinbarkeit  der  fraglichen  Straf  bestimmung  mit  jenem  Grund- 
satze aussprechen  kann. 

§  1.   Kodifiziertes  und  nicht  kodifiziertes  Recht. 

Wie  in  vielen  anderen  Staaten  ist  gleichfalls  das  Strafrecht  der  Schweiz, 
nach  nur  sehr  kurzer  Periode  des  Einheitsstaates,  erst  allmählich  seit  Beginn 
dieses  Jahrhunderts  in  22  Kantonen,  sowie  für  die  wichtigsten  Interessen  des 
Bundes  in  modern-systematischer  Form  kodifiziert  worden.  Anlass  hierzu  gab 
die  durch  die  Ideeen  der  Aufklärungszeit  geweckte  und  dann  durch  die 
idealen  Bestrebungen  der  Helvetik  in  weiterem  Umfange  gestärkte  Überzeugung 
von  der  Notwendigkeit  grosser  Reformen  auf  allen  Gebieten  des  staatlichen 
Lebens,  verbunden  mit  einem  in  immer  weitere  Kreise  eindringenden  Ver- 
ständnisse für  die  Anforderungen  der  angebrochenen  neuen  Zeit,  welche  nach 
Zusammenbruch  alles  Alten  und  überlebten  sowie  Fortfall  fremder  Beeinflussung 
oder  Bedrohung   eine  Regeneration    der  Eidgenossenschaft   aus   eigener  Kraft 


3^32      I'**  5iß-  der  deaiscben  Schweiz.  —  Einl^firang'.   Qnelien  and  Lineramr. 


al-  e^5tre>>eIli^we^tes  Ziel  ei>c-h».-!nen  li»rs»-  X*x-h  in  viel  höhtfrem  Ibisse  als 
für  manches  andere  befriedigender  ansgestalieie  GebM  mnsste  nun  da  eine 
den  »ehr  versehied^-nartigen  Lebensformen  d»-r  Bevöikemng  in  den  einzelnen 
.Schweizer  Territorien  an  gepauste  Kodifikation  der  die  Strafrechtspfl^e  im 
w*-it^r»ten  Sinne  normierenden  Sätze  wünschenswert  sein.  Diese  Erkenntnis 
machte  feich  zuerst  hauptsächlich  in  d^-n  leitenden,  gebildeteren  Kreisen  geltend. 
während  das  Volk  in  Äussening  Ton  Wünschen  vor  der  Hand  noch  sehr 
massToll  vorging  und  nur  für  einzelne  Neuerungen  ein  grösseres  Interesse  an 
den  Tag  l«-gte.  dann  erst  allmählich  mit  Ausdauer  die  firringung  der  An- 
erk«-nnung  von  Frei  hei  isrecht^-n  d*-s  Individuums  und  (Gleichheit  Aller  vor  dem 
Gf-s^'tze  sich  zum  Zir-le  setzte.  Namentlich  musste  man  sich  überzt-ugen.  dass 
ohne  Trennung  der  richterlichen  G^-walt  von  Gesetzgebung  und  Verwaltung 
ein  Fortschritt  unmöglich  und  an  St«'lJe  namenlos  zersplitterter  Gerichts- 
barkeiten eine  einfachere  Gerichtsorganisation  als  Grundlage  §ur  ein  öffent- 
liches Veri'ahren  mit  Anklagebehörde  und  Verteidigung  notwendig  sei.  Eben- 
sowenig konnte  man  verkennen,  dass  grössere  Klarheit  und  Bestimmtheit  des 
Gesetzes,  wie  sie  in  den  Kodifikationsarbeiten  benachbarter  grösserer  Staaten 
mehr  und  mehr  erzielt  wurde,  ganz  einleuchtende  Vorzüge  aufwiese,  sodass 
ein  starres  Festhalten  an  dem  chaotischen  Gewirr  einer  nach  Inhalt  wie  Form 
gleich  mangelhaften  Gesetzgebung  oder  aber  an  schrankenlosem  EIrmessen  des 
Richters  fortan  unthunllch  imd  verwerflich  sei.  Nur  Kurzsichtigkeit  konnte 
dem  Volke  hier  ond  da  noch  länger  eine  bessere  imd  tiefere  Bildung  vor- 
enthalten wollen,  während  Aufgeklärtere  es  mit  Recht  ihres  Amtes  erachteten, 
das  Volk  über  das  Wesen  von  Recht  und  Staat,  Rechte  und  Pflichten  des 
Bürgers  und  des  Richters  usw.  aufzuklären.  Nach  und  nach  forderte  dann 
auch  das  Volk  Anteil  an  der  Leitung  des  Staates  und  nahm  den  Kampf  auf 
gegen  Verfassimgen,  welche  der  Verklausulierung  in  Art.  7  des  Bundesvertrages 
vom  7.  August  1815  entsprachen,  nicht  aber  dem  einfachen  Satze  des  Art,  3 
der  Mediationsverfassung  vom  19.  Homung  1803,  Kap.  20:  „Es  giebt  in  der 
Schweiz  keine  Unterthanenlande  mehr.  Alle  Privilegien,  die  Wohnort  und 
Abst^immung  gaben,  sowie  die  einzelner  Personen  und  Familien,  sind  auf- 
gehoben."* Jetzt  forderte  man  Beseitigung  der  lästigsten  Beschränkungen  der 
Presse,  freies  Niederlassungsrecht,  Handels-  und  Gewerbefreiheit,  Vereinsrecht, 
Beschränkung  der  Todesstrafe.  Milderung  anderer  schwerer  Strafen  unter 
FaUenlassen  wenig  kostspieliger,  aber  auch  wenig  nutzender,  wenn  nicht  sogar 
schädlicher  Strafformen,  bei  denen  man  sich  lediglich  des  Delinquenten  so 
schnell  als  möglich  zu  entledigen  trachtete;  endlich  auch  gr<)ssere  staatliche 
Fürsorge  in  präventiver  Beziehung,  wo  lediglich  repressive  Massregeln  nicht 
ausreichen  konnten.  Philanthropische  Bestrebungen  zimi  Zwecke  der  Rettung 
und  Besserung  der  verwahrlosten  Jugend  lenkten  die  Aufmerksamkeit  auf  die 
grossen  Mängel  des  damaligen  Gefangniswesens  und  führten  zur  Einsicht,  dass 
ohne  grosse  Opfer  in  dieser  Richtung  jede  Strafrechtsreform  von  vornherein 
undurchführbar  sein  müsse.  Diese  und  ähnliche  Gründe  bewogen  also  die 
seit  der  Mediationsverfassung  „souveränen"  Kantone,  je  nach  Gunst  der  2ieit- 
verhältnisse  bald  früher,  bald  später,  auch  auf  strafrechtlichem  Gebiete  Kodi- 
fikationsarbeiten in  AngriflT  zu  nehmen.  Gewiss  konnte  der  Erlass  eines  Straf- 
gesetzbuches als  eine  der  wesentlichsten  Bethätig^ngen  der  Staatsgewalt  gelten. 
Doch  wäre  es  wohl  irrig,  wollte  man  hierin  allein  den  Antrieb  zu  den  aller- 
dings mit  ganz  besonderem  Eifer  seitens  der  Kantone  gepflegten  Strafgesetz- 
gebungsarbeiten  sehen.  Bei  einem  überblick  über  die  hier  entfaltete  reiche 
und  ausgedehnte  Thätigkeit  wird  man  sich  dem  Eindruck  nicht  verschliessen 
können,  dass  wirkliches,  lebendiges  Interesse  für  Würde  und  Wohlfahrt  des 
Staates    den  Ausschlag   gab    und   einige   Kantone   immer  wieder   von   neuem 


§  1.    Kodifiziertes  und  nicht  kodifiziertes  Recht.  363 


nach  inzwischen  gesammelten  Erfahrungen  weitere  Verbesserungen  einzuführen 
veranlasste.  Hierbei  war  man  nun  allerdings,  da  das  Strafrecht  wenigstens 
in  der  deutschen  Schweiz  niemals  eine  wissenschaftliche  Bearbeitimg  und  Fort- 
bUdung  gefunden  hatte,  zumeist  auf  fremdes  Vorbild  angewiesen.  Die  Blicke 
der  Redaktoren  richteten  sich  hier  fast  naturgemäss  nach  dem  Lande,  von 
dem  man  schon  bisher  sehr  starke  Impulse  empfangen  hatte  und  wo  gerade 
das  Strafrecht  von  jeher  einer  besonderen  Pflege  sich  erfreute.  Und  dies  um 
so  mehr,  als  gerade  in  diesem  Jahrhundert  in  Deutschland  die  Strafrechts- 
wissenschaft sich  auf  das  Glänzendste  entfaltete.  Von  Gesetzgebungswerken 
fanden  zuerst  das  österreichische  Gesetzbuch  über  Verbrechen  von  1803  und 
dann  das  noch  einflussreichere  bayerische  von  1813  treffliche  Verwertung, 
später  die  Gesetze  von  Hannover,  Baden  und  Preussen,  in  neuester  Zeit  das 
deutsche  Reichsstrafgesetzbuch  selbst  auch  ausserhalb  des  Gebietes  der  deut- 
schen Schweiz  grösste  Beachtung.  Die  bei  dieser  Anlehnung  an  fremdes 
Recht  zu  überwindenden  Schwierigkeiten  waren  nicht  gering.  Um  sie  richtig 
zu  würdigen,  fehlt  uns  noch  oft  der  richtige  Massstab.  Nüchterne  Verständig- 
keit und  volle  Hingabe  an  die  grosse  Aufgabe  trugen  wesentlich  zu  dem  Ge- 
lingen mancher  dieser  Arbeiten  bei.  Abgesehen  von  den  grossen  Verschieden- 
heiten in  staatsrechtlicher  Beziehung  handelte  es  sich  in  der  Schweiz  um 
Schaffung  von  einfachen,  kurzen,  praktisch  abgefassten  Strafgesetzbüchern 
ohne  philosophischen  und  doktrinellen  Ballast.  Es  sollten  dieselben  dem 
Volke  verständlich  und  durch  Laienrichter  durchführbar  sein.  Eigenartige, 
und  dem  Volke  lieb  gewordene  und  vom  Rechtsbewusstsein  festgehaltene 
Institutionen,  wo  immer  solche  bestanden,  waren  möglichst  festzuhalten  und 
fortzuentwickeln.  Nicht  immer  ist  man  in  dieser  Hinsicht  glücklich  gewesen. 
Manches  der  Erhaltung  nicht  Unweite  wurde  dem  nur  scheinbar  Besseren 
geopfert,  öfters  unzweckmässig  in  kleinlicher  Änderungssucht  von  dem  ander- 
wärts Geltenden  abgegangen,  wo  solche  Originalität  sehr  unangebracht  war  — 
oder  aber  in  Vereinfachung  und  Zusammenziehung  so  weit  gegangen,  dass 
darin  eine  klare  und  feste  Regelung  kaum  mehr  zu  sehen  war.  Von  Schweizern 
selbst  wurde  eine  Zeitlang  die  geringe  Selbständigkeit  beklagt,  die  man  bei 
einzelnen  Gesetzgebungsarbeiten  beobachten  konnte,  während  doch  damals, 
noch  mehr  als  heute,  die  einzelnen  Stände  eine  vollkommen  ausgeprägte 
Sondernatur  zeigten.  Manches  hat  sich  freilich  später  gebessert,  wie  denn 
zweifellos  die  Gesetzbücher  von  Appenzell  A.-Rh.,  Schwyz  und  Glarus  landes- 
eigentümliche Werke  von  unerreichter  Einfachheit  darstellen.  Ist  dies  nicht 
in  weiterem  Umfange  gelungen,  so  liegt  der  Grund  gewiss  weniger  in  dem 
Willen  und  Verständnis  der  mit  solchen  Arbeiten  betrauten  Personen,  als  in 
allgemeinen  Verhältnissen.  Denn  auch  die  Schweiz  konnte  sich  nicht  auf  die 
Dauer  dem  Nivellierungsprozesse  entziehen,  der  mehr  und  mehr  die  straf- 
rechtlichen Institutionen  der  einzelnen  Völker  einander  ähnlich  gestaltet  und 
dem  Eindringen  kosmopolitischer  Gesichtspunkte  Vorschub  leistet.  Diesem 
Momente  ist  es  wohl  auch  zuzuschreiben,  dass  die  unzweifelhaft  vorhandenen 
Spuren  eines  nationalen  Gepräges  der  Schweizer  Strafgesetzgebung  keine 
rechte  Entfaltung  gewinnen  konnten.  Vom  patriotischen  Standpunkte  aus  mag 
dieses  Bekenntnis  dem  Einzelnen  recht  schwer  fallen  und  es  ist  deshalb  l)ei 
echten  Patrioten  auch  nicht  zu  verwundem,  wenn  sie  hierzu  sich  nicht  ver- 
stehen wollen,  wobei  ganz  gern  anzuerkennen  ist,  dass  einzelne  Fragen  noch 
nicht  genügend  aufgeklärt  sind,  weil  überhaupt  über  den  Zustand  der  Straf- 
rechtspflege in  den  einzelnen  Kantonen  mangels  geeigneter  Veröffentlichungen 
sich  nur  schwer  ein  völlig  zutreffendes  Urteil  gewinnen  lässt.  Übrigens 
machten  sich  in  neuerer  Zeit  auch  besondere  Schwierigkeiten  geltend,  da 
neben  die  ursprünglich  allein  über  das  Geschick  eines  Entwurfes  entscheidenden 


364      I^as  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Einleitung.    Quellen  und  Litteratur. 


gesetzgebenden  Behörden  von  der  Mitte  dieses  Jahrhunderts  an  noch  in  einer 
stetig  steigenden  Zahl  von  Kantonen  eine  Volksabstimmung  trat,  welche  Be- 
schränkmigen  auferlegte,  mit  denen  man  anderwärts  nicht  zu  rechnen  hatte. 
Mehr  und  mehr  drängten  sich  die  kantonalen  Kodifikationen,  gelegentlich  bei 
Änderungen  der  Gerichtsverfassung  oder  des  Verfahrens  sowie  durch  einzelne 
Gelegenheitsgesetze  durchbrochen  und  den  jeweiligen  Zeitströmungen  Rechnung 
tragend.  Hatte  die  deutsche  Partikulargesetzgebung  bis  1870  allmählich 
einige  20  Gesetzbücher  geschaffen,  so  traten  im  gleichen  Zeiträume  in  der 
Schweiz  nach  und  nach  einige  40  Gesetzbücher,  einander  in  Geltungskraft 
ablösend,  auf  imd  gelten  auch  zur  Zeit  noch  neben  zwei  Gesetzen  des  Bundes 
in  22  Kantonen  22  verschiedene  Strafgesetze  (vom  Polizeistrafrecht  ganz  al)- 
gesehen).  Wohl  konnten  die  Strafgesetze  der  grösseren  deutschen  Staaten 
wissenschaftliche  Bearbeiter  finden;  das  war  dagegen  schon  aus  Gründen  des 
oftmals  geringen  Herrschaftskreises  bei  Schweizer  Gesetzen  meist  von  vorn- 
herein ausgeschlossen.  Die  mit  einer  solchen  Rechtszersplitterung  verbundenen 
grossen  Nachteile  mussten  sich,  während  auf  vielen  anderen  Gebieten  Rechts- 
einheit erzielt  wurde,  immer  mehr  als  jeden  Fortschritt,  namentlich  auch  auf 
dem  Gebiete  des  Strafv^ollzuges,  hemmend  erweisen. 

Ganz  ähnlich  wie  in  Deutschland  Mitte  1870  nur  drei  Gebiete  (die  beiden 
Mecklenbui'g,  Lippe-Schaumburg  und  Bremen)  kodifikationslos  waren,  so  sind 
trotz  einiger  Versuche  in  dieser  Richtung  auch  drei  Gebiete  der  Schweiz  (die 
beiden  Halbkantone  Appenzell  I.-Rh.  und  Nidwaiden,  sowie  Uri)  bisher  ohne 
Kodifikation  geblieben.  Letztgenannter  Kanton  scheint  allerdings  einer  solchen 
zur  Zeit  nicht  abgeneigt  zu  sein.  Von  den  Vätern  ererbter  Freiheitssinn  sträubt 
sich  hier  in  engem  Kreise,  wo  das  Rechtsbewusstsein  des  Volkes  sich  ganz 
unmittelbar  zur  Geltung  bringen  kann,  gegen  jede,  wie  man  meint,  künstliche 
Massregelung  durch  mehr  oder  minder  gelehrte  Gesetzesparagraphen.  In 
vollem  Vertrauen  überlässt  man  den  Richtern  als  Männern  des  Volkes  die 
Rechtsprechung,  sei  es  mit  oder  ohne  Anhalt  an  ältere  modernisierte  oder  im 
heutigen  Sinne  anzuwendende  Quellen,  und  anerkennt  dieselben  auch  willig 
als  Schöpfer  des  Rechts. 

§  2.  Bundesstrafrecht  und  Eantonalstrafrecht. 

Neben  die  Scheidung  in  kodifiziertes  und  nicht  kodifiziertes  Recht  tritt 
die  weitere  in  Bundesstrafrecht  und  Kantonalstrafrecht.  Es  entspricht  dies 
dem  Wesen  des  Bundesstaates  als  der  jetzigen  Staatsform  der  Eidgenossen- 
schaft seit  der  Bundesverfassung  vom  12.  September  1848.  Denn  selbst  der 
Einheitsstaat  kann  wenigstens  auf  strafrechtlichem  Gebiete  nicht  nur  gemein- 
sames, einheitliches  Recht  haben,  sondern  muss  daneben  in  Rücksicht  auf 
manche  durch  örtliche  Bedingungen  eigentümlich  gestaltete  Verhältnisse,  welche 
eine  sachgemässe  Ordnung  nur  durch  partikulare  Rechtssätze  empfangen 
können,  nicht  gemeinsames  anerkennen,  mag  er  nun  selbst  durch  seine  Gesetz- 
gebung Gesetze  mit  Geltung  nur  für  einen  Teil  des  Staatsgebietes  erlassen 
oder  durch  Übertragung  der  Gesetzgebungsbefugnis  an  Behörden,  Selbst- 
vei'waltungskörper  oder  Körperschaften  hierfür  sorgen.  Im  Bundesstaate  ist 
eine  solche  Verschiedenheit  des  Rechts  noch  in  viel  höherem  Masse  bedeutungs- 
voll und  zweckmässig.  Allerdings  kann  diese  Kompetenzregulierung  zwischen 
(tesamtstaat  und  Gliedstaaten  eine  sehr  verschiedene  sein,  wie  dies  die  Er- 
fahrung bestätigt.^)   Die  Bezeichnung  „Bundesstaat"  ist  ja  eben  —  wie  neuestens 

M  Vgl.  Trieps,  Das  deutsche  Reich  und  die  deutschen  Bundesstaaten  in  ihren 
rechtlichen  Beziehungen.  Berlin  1890;  Westerkamp,  Staatenbund  und  Bundesstaat. 
Leipzig  1892. 


§  2.    Bundesstrafrecht  und  Kantonalstrafrecht.  365 


namentlich  Hänel,  Deutsches  Staatsrecht,  Leipzig  1892,  Bd.  I,  8.200  gezeigt 
hat  —  nur  ein  Ausdruck  „für  den  Thatbestand,  den  die  politischen  Einrich- 
tungen Nordamerikas  (seit  1787),  der  Schweiz  (seit  1848)  und  Deutschlands 
(seit  1867)  aufweisen:  planmässige  Verteiliuig  politischer  Aufgaben  zwischen 
einer  zentralen  und  einer  Reihe  dezentralisierter  Organisationen  —  Ausrüstung 
der  Zentralgewalt  und  der  dezentralisierten  Gewalten  mit  gleichartigen  Rechts- 
und Machtmitteln  zur  Durchführung  der  einem  jeden  Teile  gestellten  Auf- 
gaben —  Willensbildung  der  zentralen  Organisation  unt^r  dem  doppelten  Ein- 
flüsse sowohl  der  Einzelstaaten  als  auch  der  Staatsbürger".  Der  Begriff  des 
Bundesstaates  ist  eben  kein  unabänderlicher,  der  Modifikation  unzugänglicher, 
sondern  „eine  Zusammenfassung  der  wesentlichen  Merkmale,  welche  das 
positive  Recht  dieser  drei  Staatenverbindungen  als  ihnen  gemeinsame  ergiebt". 
Eingehend  und  zutreffend  hat  Hänel  dargestellt,  wie  verschieden  diese  drei 
Verfassungen  den  Wirkungskreis  der  Zentralgewalt  und  der  Bundesglieder 
festgestellt  haben.  So  bestrebte  sich  die  Unionsverfassung  Nordamerikas,  den 
Grundsatz  des  Gleichgewichtes  auf  beide  Staatswesen  in  reiner,  rücksichtsloser 
Durchführung  anzuwenden,  wonach  kein  Einzelstaat  rechtlich  verpflichtet  ist, 
zur  Durchführung  der  der  Union  obliegenden  Aufgaben  seine  Organisation, 
seine  Gesetzgebung  oder  Vollziehung  bereit  zu  stellen,  ohne  Abhängigkeit 
seiner  Organe  von  denen  der  Union  und  ohne  ihm  drohendes  Exekutionsrecht 
der  Union.  Die  Verfassung  der  schweizerischen  Eidgenossenschaft  hat  dagegen 
trotz  ihres  Art.  2  und  Art.  3  (welcher  die  kantonale  „Souveränität"  als  Regel 
proklamiert)  die  Wechselbeziehungen  beider  Teile  nirgends  grundsätzlich  for- 
muliert, wohl  aber  in  bunter  Mannigfaltigkeit  die  konkurrierenden  Zuständig- 
keiten derselben  bestimmt,  von  der  Voraussetzung  ausgehend,  dass  die  Kan- 
tono zur  Mitwirkung  berufen  sind,  auch  einem  Exekutionsrechte  unterliegen. 
So  hat  der  Bund  nach  jetziger  Verfassung  bald  Gesetzgebung  und  Vollziehung 
(Post,  Telegraphie  und  Telephonie;  Zollwesen,  Pulverregal  und  Alkoholmonopol ; 
Münzwesen),  bald  Gesetzgebung  und  Aufsicht  oder  Oberaufsicht  (Militär-, 
Mass-  und  Gewichtswesen;  Wasserbau-  und  Forstpolizei  im  Hochgebirge) ;  bald 
Gesetzgebung  und  eine  gewisse  Rechtsprechung  (bürgerliches  Recht,  Urheber- 
recht, Patentrecht;  Betreibungsverfahren  und  Konkursrecht;  Auslieferung)  oder 
aber  Gesetzgebung  schlechthin  (Bau  und  Betrieb  von  Eisenbahnen),  bezw.  nur 
Erteilung  von  Direktiven  (Press-  und  Vereinswesen;  Kultus-,  Handels-  und 
Gewerbefreiheit;  Strafarten).  Bei  diesem  Gesetzgebuugsprozess  und  bei  Ver- 
fassungsänderungen steht  den  Kantonen  ein  Mitwirkungsrecht  zu,  während  für 
die  Gesetzgebung  des  deutschen  Reiches  innerhalb  der  Kompetenz  desselben 
den  Einzelstaa^ten ,  ausserhalb  ihrer  Stellung  im  Bundesrate,  ein  solches  nicht 
gewährt  ist  (S.  244).  Unendlich  beschränkter  als  in  Deutschland  ist  die  eid- 
genössische Kompetenz  zu  Regelung  des  Strafrechts  ausgefallen.  Es  handelte 
sich  bei  Schaffung  einer  bundesstaatlichen  Organisation  überhaupt  in  erster 
Linie  um  Gewinnung  eines  Bundesgerichts  und  Strafrechtspflege  desselben  mit 
Geschworenen.  Natürlich  konnte  dieser  kostspielige  und  schwerfallige  Apparat 
nur  für  einen  ganz  kleinen  Kreis  von  Fällen  in  Aussicht  genommen  werden; 
nur  für  solche,  in  denen  die  höchsten  Interessen  des  Bundesstaates  in  Frage 
standen.  Die  nähere  Ausführung  dieses  Punktes  überliess  man  —  da  auch 
der  Abschluss  des  Verfassungswerkes  drängte  —  der  späteren  Bundesgesetz- 
gebung. Sorgfältig  hütete  man  sich  hierbei  vor  jeglichem  Eingriff  in  die  kan- 
tonale Souveränität,  soweit  nicht  der  zu  schaffende  Bund  notwendigerweise 
eine  eigene  Kompetenz  zum  Schutze  seiner  Institutionen  beanspruchen  durfte. 
Zuerst  schritt  man,  als  die  wichtigsten  durch  die  Verfassung  gebotenen  Ge- 
setze erlassen  waren,  zur  Uniflkation  der  Militärstrafgesetzgebung.  Einzelne, 
zum  Teil  weit  zurückreichende  Versuche  einheitlicher  Regelung  für  die  Truppen- 


366  .    Das  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Einleitung.    Quellen  und  Litteratur. 


körper  des  Inlandes  oder  die  in  auswärtigem  Dienste  boten  eine  erwünschte 
Grundlage  für  eine  den  stetig  wachsenden  Forderungen  der  Zeit  entsprechende 
Reform;  hier  war  man  auch  in  der  Hauptsache  einer  Zentralisation  in  der 
kräftigeren  Hand  des  Bundes  von  vornherein  nicht  abgeneigt,  sodass  schon 
1851  ein  Straf-,  Gerichtfiorganisations-  und  Prozessgesetz  erlassen  werden 
konnte.  Bei  Inangriffnahme  des  gemeinen  Strafgesetzbuches  musste  man  sich 
an  die  verfassungsmässigen  Schranken  (Art.  104  und  107  b  der  BV.  von  1848) 
halten  und  ging  nur  stillschweigend  (gestützt  auf  Art.  106)  etwas  über  jenen 
Kreis  hinaus,  ohne  hierbei  auf  Opposition  zu  stossen.  Man  errang  1853,  was 
damals  irgend  möglich  war  und  musste  sich  mit  dem  Bewusstsein  begnügen, 
ein  in  vielen  Beziehungen  vorbildliches  Gesetz  geschaffen  zu  haben.  Einzelne 
Versuche  der  Ergänzung  und  Erweiterung  des  Bundesgesetzes  über  das  Bundes- 
strafrecht, sowie  der  Ausdehnung  der  Bundeskompetenz  auf  das  Strafrecht  im 
weiteren  Umfange  sind  bisher  gescheitert;  doch  ist  seit  den  letzten  Jahren  die 
Wünschbarkeit  einer  eidgenössischen  umfassenden  Strafgesetzgebung  in  weiten 
Kreisen  erkannt,  erfreulicherweise  selbst  seitens  einzelner  Kantone  jedes 
weitere  legislative  Vorgehen  angesichts  der  schon  begonnenen  Vorarbeiten  für 
ein  eidgenössisches  Strafgesetzbuch  vor  der  Hand  eingestellt.  —  Eine  grössere 
Thätigkeit  konnte  der  Bund  nur  da  entfalten,  wo  es  sich  um  die  Fürsoi^ 
für  die  Befriedigung  allgemeiner  Interessen,  gemäss  den  immer  höheren  Kultur- 
aufgaben des  modernen  Staates,  handelte.  Sonst  aber  waren  und  blieben  die 
Kantone,  lediglich  durch  einzelne  Direktiven  der  Bundesverfassung  beschränkt, 
allein  zur  Regelung  in  strafrechtlicher  Beziehung  zuständig  und  haben  denn 
auch  von  dieser  Befugnis  den  ausgedehntesten  Gebrauch  gemacht. 

§  3.    Litteratur. 

A.  8  traf  recht.  Erst  in  neuerer  Zeit  ist  die  Litteratur  des  Strafrechts  der 
deutschen  Schweiz  etwas  umfangreicher  geworden.  Lange  Zeit  hat  die  Schweizer 
Strafgesetzgebung  eine  eingehendere  Berücksichtigung  lediglich  bei  Mittermaier  ge- 
funden, der  namentlich  im  „Archiv  für  Kriminalrecht^  mit  grossem  Interesse  die  Ent- 
wicklung derselben  verfolgte  und  öfters  sich  lobend  über  manche  Vorzüge  dieser 
Arbeiten  gegenüber  ähnlichen  deutschen  aussprach.  Dann  hat  von  Schweizer  Ge- 
lehrten besonders  Johannes  Schnell  (1812 — 1889)^)  als  Hauptbegründer  der  „Zeitschrift 
für  schweizerisches  Recht ^,  Basel  1852  ff.,  neben  Herausgabe  älterer  Rechtsquellen  mit 
grosser  Mühewaltung  die  kantonale  Rechtsgesetzgebung  gesammelt  und  über  Ent- 
würfe wie  Gesetze,  Litteratur  und  Organismus  der  kantonalen  Gesetzgebungen  als 
scharfer  Kritiker  berichtet.  Ebenso  hat  Osenbrüggen  (1807—1879)*)  mit  liebevoller 
Versenkung  in  das  Detail  der  älteren  Quellen  durch  seine  bekannten  rechtshistorischen 
und  kleinere  dem  neueren  Rechte  gewidmete  Arbeiten  zu  besserer  Kenntnis  der 
Schweizer  Zustände  beigetragen,  auch  A.  v.  Orelli  (1827—1892^)  mehrfach  die  Institu- 
tionen der  Schweiz  beleuchtet  und  speziell  Fortschritte  im  Gefängniswesen  angebahnt. 

Eine  Darstellung  des  Strafrechts  mehrerer  Kantone  versuchte  zuerst  Constantin 
Siegwart-MüUer  in  dem  Werke:  „Das  Strafrecht  der  Kantone  Uri,  Schwyz,  Unter- 
waiden, Giarus,  Zug  und  Appenzell",  St.  Gallen  1833,  wobei  er  die  Mängel  desselben 
zu  zeigen  und  die  Strafrechtspflege  dieser  demokratischen  Kantone  der  Zeit  näher 
zu  bringen  beabsichtigte.  Lange  nach  ihm  veröffentlichte  Temme  (1798—1881),*)  der 
schon  früher  auf  die  Schweiz  mannigfach  hingewiesen  hatte,  das  erste  und  bisher 
einzige  „Lehrbuch  des  schweizerischen  Strafrechts  nach  den  Strafgesetzbüchern  der 
Schweiz".    Aarau  1855.    XV,  684  Seiten. 


*)  Nekrolog  von  Andreas  Heusler  in  der  Zeitschr.  für  Schweiz.  Recht,  XXXI,  1—8. 

■')  Vgl.  Gerichtssaal,  Bd.  XXXI  321  —  326;  Krit.  Vierteljahresschrift ,  Bd.  XXII, 
321-326. 

*)  Nekrologe  von  Rivier  in  der  Revue  de  droit  international  1892,  p.  104 — 108; 
von  Zürcher  in  der  Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht,  Bd.  V  84—87;  von  A.  Heusler  in 
der  Zeitschr.  für  Schweizerisches  Recht,  XXXII,  305—308. 

*)  Vgl.  Erinnerungen  von  J.  D.  H.  Temme  herausgegeben  von  Stephan  Bom^ 
.Leipzig  1H83. 


§  3.    Litteratur.  367 


Als  entschiedener  Feind  der  Zentralisation  und  Kodifikation  war  Temme  bestrebt, 
auf  das  Rechtsbewnsstsein  des  Volkes  als  die  eigentliche  Quelle  des  Rechts  zurück- 
zugehen. Er  brachte  aber  nur  das  Recht  von  11  Kantonen  mit  wesentlich  deutschem 
Recht,  sowie  ganz  kurz  das  Bundesstrafrecht  (ausschliesslich  des  Militärstrafrechtsj 
zur  Darstellung.  Leider  fand  dieses  für  seine  Zeit  höchst  verdienstliche  Werk  trotz 
grosser  Änderungen  der  Strafgesetzgebung  keine  neue  Bearbeitung.  Das  rasch  an- 
wachsende Material  der  Kantonalrechte  schreckte  mehr  und  mehr  vor  einer  zusammen- 
fassenden Behandlung  ab.  Einheitsbestrebungen  aber  fanden  nur  sehr  allmählich 
einige  Befürworter.  Neben  dem  stetig  steigenden  Interesse  der  rechtsvergleichenden 
Forschung  an  Kenntnis  auch  der  Schweizer  Rechtszustände  kamen  neue  Anregungen 
mancherlei  -^rt  von  zwei  Vereinen,  denen  auch  auf  strafrechtlichem  Gebiete  grosses 
Verdienst  zuzuschreiben  ist.  P^s  waren  dies  einerseits  der  1861  gegründete  „Schweizer 
Juristenverein",  der  auch  strafrechtliche  Themata  zur  Erörterung  brachte;^)  anderer- 
seits der  1867  entstandene  „Schweizerische  Verein  für  Straf-  und  Gefängniswesen**, 
der  weitere  Kreise  zur  Förderung  seiner  Bestrebungen  anregte  und  Berichterstattungen 
über  die  Fortschritte  auf  diesen  Gebieten,  wie  auch  über  die  Entwicklung  des  kan- 
tonalen Rechts  bei  seinen  Versammlungen  einführte.')  Mehr  und  mehr  fanden  die 
Arbeiten  von  Strafanstaltsdirektoren  der  Schweiz  (Kühne,  Hürbin,  Dr.  Guillaume  u.  a.) 
auch  im  Auslande  wohlverdiente  Anerkennung.  Schon  lange  in  engen  Beziehungen 
mit  Schweizer  Fachmännern  gab  sodann  v.  Holtzendorff  in  seinem  „Handbuch  des 
deutschen  Strafrechts'*,  Bd.  I,  Berlin  1871,  S.  145—152  eine  Übersicht  über  die  Straf- 
gesetzgebung der  Schweiz  und  folgte  ihm  speziell  in  längerer  Ausführung  über  das 
Gefängniswesen  v.  Jagemann  in  dem  mit  v.  Holtzendorff  herausgegebenen  „Handbuch 
des  Gefrtngniswesens",  Bd.  I,  Hamburg  1888,  S.  206-222.  Endlich  wagte  Stooss  die 
Herausgabe  einer  allen  Strafrechtsdisziplinen  gewidmeten  „Zeitschrift  für  Schweizer 
Strafrecht",  Bern  1888 if.  (französisch  als  „Revue  pönale  suisse"  bezeichnet),  die  ver- 
möge vielseitiger  Mitwirkung  aus  allen  Kantonen  schnell  über  alle  wichtigeren  Vor- 
gänge zu  berichten  in  der  Lage  war  und  zu  gedeihlicher  Pflege  einer  wirklich 
schweizerischen  Straf  rechts  Wissenschaft  kräftige  Anregung  gab.  Bald  darauf  erschien 
nach  jahrelangen  Vorarbeiten  das  in  geschichtlicher  Beziehung  weit  zurückgreifende 
und  die  einzelnen  Strafgesetzbücher  von  ihrem  Entstehen  bis  auf  die  jüngste  Zeit 
herab  verfolgende  Werk  von  H.  Pfenninger,  „Das  Strafrecht  der  Schweiz".  Berlin 
1890,  XXVIII,  889  Seiten.  Es  ermöglichte  die  Übersicht  über  die  unendliche  Fülle 
des  vorhandenen  Gesetzgebungsmaterials  und  verband  damit  beachtenswerte  Er- 
örterungen über  Form  und  Inhalt  eines  nunmehr  in  Aussicht  genommenen  gemein- 
samen Strafgesetzbuches.  Mit  diesen  Vorarbeiten  wurde  vom  hohen  Bundesrate  Stooss 
betraut.  Als  notwendige  Grundlage  zu  weiterer  Arbeit  veröffentlichte  derselbe  zu- 
erst eine  textgetreue,  nach  Materien  geordnete  Zusammenstellung  des  wichtigsten 
Inhaltes  aller  Strafgesetzbücher  der  Schweiz:  „Die  schweizerischen  Strafgesetzbücher 
zur  Vergleichung  zusammengestellt  und  im  Auftrage  des  Bundesrates  herausgegeben" 
(Les  Codes  ponaux  suisses.  Ranges  par  ordre  de  matiferes  et  publi^s  ä  la  demande 
du  conseil  federal).  Basel  und  Genf  (Bale  et  Geneve)  1890  —  XXXI,  867  Seiten,  welcher 
Arbeit  sich  sehr  bald  als  weiterer  Band  anschloss:  „Grundzüge  des  schweizerischen 
Strafrechts".    Erster  Band  1S92.    Basel  und  Genf.   X,  470  Seiten.  Zweiter  Band  im  Druck. 

Dieses  Werk  giebt  eine  genaue  Übersicht  über  die  kantonalen  Strafgesetzbücher 
wie  die  Litteratur  des  Schweizer  Strafrechts,  eine  Darstellung  des  Bundesstrafrechts 
in  seinen  verschiedenen  Zweigen,  eine  besonders  eingehende  (auf  Ermittelungen  an 
Ort  und  Stelle  gestützte;  Schilderung  der  Rechtspflege  in  den  Kantonen  ohne  Kodi- 
fikation, endlich  eine  rechtsvergleichende  Besprechung  der  Materien  des  allgemeinen 
Teils  der  Gesetzbücher  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Regelung  des  Gefängnis- 
wesens und  sonstiger  damit  in  Verbindung  stehender  Einrichtungen.  In  letzterer  Be- 
ziehung fanden  namentlich  die  neuesten  Erhebungen  über  die  Raumverhältnisse  der 
Strafanstalten  und  die  Bewegung  der  Gefängnisbevölkerung  usw.  Verwertung,  die 
seit  Übertritt  von  Dr.  Guillaume  an  die  Spitze  des  eidgenössischen  statistischen  Bu- 
reaus im  Hinblick  auf  eine  höchst  wünschbare  Kriminalstatistik  der  Schweiz  mit 
grösstem  Eifer  gepflegt  werden. 

Für  Monographieen,  einzelne  Abhandlungen,  früher  erschienene  und  jetzt  noch 

*)  Vgl.  den  Bericht  von  Prof.  A.  Zeerleder:  Der  Schweizer  Juristen  verein.  Über- 
sicht seiner  Thätigkeit  in  den  ersten  25  Jahren  1861—1886.  Basel,  C.  Detloffs  Buch- 
handlung, 1887. 

*)  Bisher  17  Versammlungen.  Die  Vereinshefte  erschienen  an  verschiedenen 
Orten,  in  den  letzten  Jahren  zu  Aarau  (Sauerländer).  Jüngst  hat  sich  dem  Verein  die 
interkantonale  Vereinigung  der  schweizerischen  Schutzaufsichtsvereine  auch  für  die 
Versammlungen  angeschlossen. 


368  I^as  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Eidgenössisches  (Bundes-)  StR. 


erscheinende  Zeitschriften  muss  hier  auf  die  genauen  Angaben  S.  17  ff.  der  „Grund- 
züge* von  Stooss  verwiesen  werden;  für  wichtigere  Rechtsfäile  auf  die  Angaben  von 
Pfenninger  bei  den  einzelnen  Gesetzbüchern  und  —  was  die  letzten  Jahre  betrifft  — 
auf  die  „Zeitschrift  für  Schweizer  Strafrecht".  Dazu  noch  die  Notiz,  dass  eine  er- 
weiterte Ausgabe  der  ^^Bibliographie  pönale  et  p6nitentiaire  suisse"  Lenzbourg  188') 
(^ Actes  du  congr^s  p^^nit.  intemat.  de  Rome,  II  127—167)  zur  25jährigen  Feier  des 
Schweizer  Vereins  für  Straf-  und  Gefängniswesen  für  1893  vorbereitet  wird.  —  Eine 
amtliche  Sammlung  der  Entscheidungen  des  Schweizer  Bundesgerichts  (Arröts  du 
tribunal  fedi»ral  suisse)  erscheint  in  Lausanne  seit  1876. 

B.  Neueres  Staatsrecht  der  Schweiz:  Blumer,  Handbuch  ^des  Schweiz. 
Bundesstaatsrechts,  2  Bde.,  Schaffhausen  1863,  1864;  2.  Aufl.  von  Dr.  J.  Morel,  SchafF- 
hausen  und  Basel  1877— 18S7  in  3  Bänden;  3.  Aufl.  Basel  1891  ff".  —  Rüttimann,  Das 
nordamerikanische  Bundesstaatsrecht  verglichen  mit  den  politischen  Einrichtungen  der 
Schweiz,  2  Teile,  Zürich  1867,  1872,  1876.  —  A.  v.  Orelli,  Das  Staatsrecht  der  Schweiz. 
Eidgenossenschaft  (in  Marquardsens  Handbuch  des  öffentlichen  Rechts,  4.  Bd.,  1.  Halbbd., 
2.  Abtl.,  Freiburg  i.  B.  1885.  —  Kaiser  (Die  Bundesverfassung)  in  Wirth,  Allgemeine 
Beschreibung  und  Statistik  der  Schweiz,  Tl.  Bd.,  Zürich  1873.  —  Strickler  (Bundesver- 
fassungen) im  Suppl.  zum  Volkswirtschafts-Lexikon  der  Schweiz  von  A.  Forrer,  Bern 
1891,  S.  79— 104.  —  Strickler,  Verfassungsbüchlein,  2.  Aufl.,  Bern  1891.  —  Contuzzi, 
II  diritto  pubblico  della  confederazione  svizzera,  Venezia  1889.  —  Adams  et  Cunning- 
ham,  La  confed^ration  suisse,  pr6face  de  L.  Ruchonnet,  B&le,  Geneve,  Lyon  1891.  — 
Vincent,  State  and  Federal  Government  in  Switzerland,  Baltimore  1891.  —  A.  Bushnell 
Hart,  Introduction  to  the  study  of  federal  govemment,  Boston  1891.  —  Boyd  Win- 
chester, The  Swiss  Republic,  Philadelphia  1891.  —  Wichtig  für  die  Praxis  der  "Bundes- 
behörden: UUmer,  Die  staatsrechtliche  Praxis  der  Schweiz.  Bundesbehörden,  Bd.  I 
(1848-1860),  Zürich  1862,  Bd.  II  (1848-1863),  Zürich  1866;  französisch  von  Dr.  E.  Borel, 
NeuschÄtel  1864, 1867.  —  Schweizerisches  Bundesrecht.  Staatsrechtliche  und  verwaltungs- 
rechtliche Praxis  des  Bundesrates  und  der  Bundesversammlung  seit  dem  29.  Mai  1874. 
Im  Auftrage  des  schweizerischen  Bundesrates  dargestellt  von  Prof.  Dr.  L.  R.  v.  Salis, 
bisher  3  Bde.,  Bern  1891 — 1892.  Französisch  von  Generalprokurator  Dr.  E.  Borel  (Le 
droit  f^'ideral  suisse,  I.  Berne  1892);  italienisch  von  Staatsrat  Dr.  Colombi. 

C.  Bundesgesetzgebung.  Die  „Amtliche  Sammlung  der  Bundesgesetze  xxnd 
Verordnungen  der  schweizerischen  Eidgenossenschaft^  erschien  für  die  Jahre  \S4i< 
bis  1874  zu  Bern,  Stämpflische  Buchdruckerei,  in  11  Bänden;^)  eine  Neue  Folge  für 
1874—1888  ebenda  in  10  Bänden;  seit  1889  eine  Neue  Folge  II.  Serie  (unter  Fallen- 
lassen dieser  Bezeichnung  wird  der  I.  Band  derselben  gewöhnlich  als  N.  F.  Bd.  XI, 
der  folgende  als  Bd.  XII  bezeichnet).  Die  entsprechende  französische  Ausgabe  ist 
der  „Recueil  officieP,  die  italienische  „Raccolta  officiale**.  Offizieller,  entscheidender 
Gesetzestext  ist  aber  nur  der  deutsche  (vgl.  v.  Salis,  I  415  ff.).  —  Das  gewöhnliche 
Publikationsorgan  des  Bundes  ist:  Schweizerisches  Bundesblatt,  Bern.  Stämpflische 
Buchdruckerei,  Jahrgang  1848  ff.  (auch  in  französischer  Ausgabe). 

Eine  sehr  gewissenhafte  und  höchst  praktische  Arbeit  ist:  Die  schweizerische 
Bundesgesetzgebung.  Nach  Materien  geordnete  Sammlung  der  Gesetze,  Beschlüsse, 
Verordnungen  und  Staats  vertrage  der  schweizerischen  Eidgenossenschaft,  sowie  der 
Konkordate  mit  Anmerkungen  von  Dr.  jur.  et  lic.  P.  Wolf,  2  Bde.  Basel  1890,  1891. 


n.  Erste  Abteilnng.   Eidgenössisches  (Bundes-)  Strafrecht. 

§  4.   Das  Helretische  peinliche  Glesetzbueh. 

Während  der  kurzen  Periode  der  Hclvctik  (1798—1803)  hat  die  Eid- 
genossenschaft in  ihrem  damaligen  Bestände  der  13  alten  Orte  (Stände)  ein- 
heitliches 8trafrecht  (für  die  schwereren  Verbrechen)  besessen,  das  freilich  in 
jenen  Zeitläuften  wohl  nicht  überall  zur  Anwendung  gebracht  worden  sein  mag. 
Unter  französischem  Einflüsse  wurde  sie  zufolge  Proklamation  der  zu  Aarau 
versammelten  Abgeordneten  sämtlicher  Kantone  vom  12.  April  1798  plötzlich 
zu  einem  Einheitsstaat  —  zur   „Röpublique   une   et   indivisible".     Einheit  des 


^)  Der  erste  Band  (erschienen  1849,  2.  Aufl.  1850)  ist  betitelt:  „Offizielle  Samm- 
hing ..."  (im  nachfolgenden  mit  O.  S.  bezeichnet).  Als  Abkürzung  wird  „A.  S.**  ge- 
braucht. 


§  4.    Das  Helvetische  peinliche  GB.  369 


Civil-  und  Strafrechts,  einschliesslich  des  Prozesses,  musste  unter  den  damaligen 
Verhältnissen,  als  fast  selbstverständliche  Folge  der  Staatseinheit,  höchst  wünscb- 
bar  erscheinen,  wenn  auch  dieser  Punkt  in  der  ersten  helvetischen  Verfassung 
nicht  ausdrücklich  berührt  wurde.  Erst  die  folgenden  Verfassungen,  besonders 
die  zweite  vom  12.  Mai  1802,  erwähnen  dieses  Punktes,  allerdings  für  das 
ausserhalb  des  Strafrechts  und  Strafprozesses  liegende  Gebiet  in  einschränkendem 
Sinne.^)  Jedenfalls  schien  zur  Stütze  der  neuen  Staatsgewalt  vor  allem  eine 
zeitgemässe  Strafgesetzgebuug  dringend  notwendig.  Erwünschten  Aufschluss 
über  die  Einzelheiten  der  hierauf  bezüglichen  Arbeiten  und  Vorgänge  geben 
uns  jetzt  die  im  IV.  Bande  der  grossen,  von  Dr.  Johann  Strickler*)  bearbeiteten 
„Amtlichen  Sammlung  der  Akten  aus  der  Zeit  der  Helvetischen  Republik'* 
(Bd.  I — III.  Bern  1886 — 1889)  nächstens  zur  Veröffentlichung  kommenden 
Materialien.  Es  dürfte  nicht  ohne  Interesse  sein,  einiges  aus  denselben  hier 
mitzuteilen. 

Schon  am  27.  April  1798  wurde  eine  Kommission  für  die  Materien  der 
Strafgerichtsbarkeit  bestellt,  eine  allgemeine  Anregung  vom  Direktorium  in 
der  Botschaft  vom  4.  Oktober  gegeben  (Bd.  III,  No.  8,  S.  71,  72)  und  am 
10.  November  erneuert.  Es  handelte  sich  um  Organisation,  Prozess  und  Straf- 
gesetz. Ein  erstes,  von  B.  F.  Kuhn  verfasstes  Gutachten  der  Grossratskommission 
„über  die  Grundideeen  einer  neuen  Einrichtung  des  Kriminalgerichtswesens" 
wurde  am  24.  Januar  1799  vorgelegt  (Bd.  IV,  415 — 429).  Dasselbe  ist  separat 
in  kl.  8®  (47  Seiten),  auch  französisch  (51  Seiten),  veröffentlicht  worden.  Am 
25.  März  folgte  die  Vorlage  eines  Gutachtens,  das  einen  nur  wenig  veränderten 
Auszug  des  französischen  Gesetzbuches  (code  p^nal  du  25  septembre  —  6  octobre 
1791)  enthielt.  Bei  den  Beratungen  erklärte  Secretan  (Referent),  „ein  ganz 
neues  Gesetzbuch  zu  entwerfen  und  in  beiden  Räten  nach  sorgfältiger  Behand- 
lung anzunehmen,  würde  jahrelange  Arbeit  erfordern,  und  da  man  gegenwärtig 
noch  in  den  verschiedenen  Teilen  Helvetiens  die  schrecklichsten  Kriminal- 
gesetzbücher befolgen  sollte,  so  sei  es  selbst  der  Menschlichkeit  eben  so  sehr 
als  der  Klugheit  und  dem  Bedürfnis  des  Vaterlandes  gemäss,  dieses  auf  wahre 
Grundsätze  gebaute  System  ohne  Aufschub  und  ohne  weitere  Beratung  im 
Vertrauen  auf  die  Vortrefflichkeit  des  ti*anzösischen  Gesetzbuches  auch  für 
Helvetien  anzunehmen".  Escher,  einverstanden  hinsichtlich  des  dringenden 
Bedürfnisses,  wünschte  Beratung  und  sprach  sich  namentlich  gegen  Todesstrafe 
und  Landesverweisung  aus.  Carrard  hielt  das  Gesetzbuch  für  allen  bekannt, 
für  das  menschlichste  unter  allen  und  auf  die  neuesten  Grundsätze  der  Philo- 
sophie gegründet,  daher  ohne  weiteres  annehmbar.  Escher  bestritt,  dass  das 
Gesetzbuch  so  bekannt  sei  und  wünschte  auch  wegen  der  im  Entwurf  vor- 
geschlagenen Änderungen  Beratung  —  was  auch  beschlossen  wurde.  —  In  der 
Sitzung  vom  27.  März  hielt  Escher  eine  grosse  Rede  gegen  die  Todesstrafe  und 
erachtete  das  Schweizer  Volk  für  würdig,  allein  und  selbständig  mit  Abschaffung 
derselben  vorzugehen.  Dagegen  trat  namentlich  Huber  für  dieselbe  ein,  zumal 
sie  weniger  grausam  sei,  als  das  Schiffziehen  Josephs  II.,  forderte  aber  wegen 
zu  häufiger  Androhung  derselben,  wie  auch  der  20jährigen  Kettenstrafe,  Rück- 
weisung an  die  Kommission.  Secretan  meinte,  dass  Abschaffung  der  Todes- 
strafe im  gegenwärtigen  Augenblicke  gefährlich  sei.  Nachdem  am  30.  März 
noch    einige  Redner   für   die  Todesstrafe  eingetreten,    wurde  der  Entwurf  an- 


*)  C.  Halty,  Öffentliche  Vorlesungen  über  die  Helvetik,  Bern  1878,  S.  616  ff. 

^)  Für  gefällige  Zusendung  der  betr.  DruckJ^ogen  bin  ich  demselben  zu  Dank 
verpflichtet.  —  Dieser  IV.  Band  ist  inzwischen  erschienen. 

Vorschläge  und  Motive  für  die  Vereinheitlichung  des  Rechts  enthält  die  neueste 
Schrift  von  Oberrichter  G.  Wolf  in  Zürich :  Rechtswirrwarr  und  Rechtseinheit  oder  das 
jetzige  und  das  zukünftige  schweizerische  Recht.    Zürich  1892. 

Sirafgesetzgebung  der  Gegenwart.   I.  24 


370  t)as  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Eidgenössisches  (Bundes-)  StR. 


genommen,  jedoch  eine  Einleitung  zu  demselben  gewünscht.  Diese  gab  am 
1.  April  Secretan,  indem  er  ausführte:  Das  Bedürfnis  einer  besseren  Gesetz- 
gebung lasse  sich  nirgends  so  lebhaft  fühlen,  als  in  Rücksicht  der  peinlichen 
Gesetzgebung.  Noch  sei  das  karolinische  „Abscheu  erweckende  Gesetz"  nicht 
gesetzlich  abgeschafft  und  „die  Gesetzbücher  der  Tyrannen  beherrschten  freie 
Männer".  Die  Gleichförmigkeit  der  Anstalten  der  Schweiz  mit  denen  der 
grossen  Republik  gebe  von  vornherein  dem  französischen  Gesetz  einen  sehr 
natürlichen  Vorzug;  derselbe  werde  aber  auch  weiter  gerechtfertigt,  da  sich 
die  Kommission  überzeugte,  dass  die  „Sammlung  von  einfachen  und  deutlichen 
Gesetzen  die  Strenge  der  Gerechtigkeit  mit  der  der  Menschheit  schuldigen 
Achtung  vereinige".  Nirgends  sei  darin  die  Todesstrafe  verschwenderisch  an- 
gebracht; überall  zwischen  Verbrechen  und  Strafen  ein  richtiges  Verhältnis 
beobachtet,  sodass  zur  Anpassung  in  der  Schweiz  nur  sehr  geringe  Verände- 
rungen notwendig  gewesen  seien.  —  Der  Entwurf  wurde  hierauf  g^tgeheissen. 
Am  11.  April  kam  derselbe  zur  Vorlage  im  Senate,  der  denselben  an  eine 
Kommission  wies.  Nach  Bereinigung  einiger  Redaktionsversehen  durch  die 
Grossratskommission  am  29.  April  von  neuem  vorgelegt,  wurde  der  Entwurf 
ohne  grosse  Debatte  in  der  weiteren  Sitzimg  vom  3.  Mai  angenommen. 

Das  hiernach  zu  Luzern  am  1.  April  1799  vom  Grossen  Rat  beschlossene, 
am  4.  Mai  vom  Senat  bestätigte  „Helvetische  peinliche  Gesetzbuch"  (code  p6nal) 
wurde  am  8.  Mai  von  dem  Präsidenten  des  vollziehenden  Direktoriums,  Peter 
Ochs,  dem  Minister  der  Justiz  und  Polizei  F.  B.  Meyer  von  Schauensee  (Luzern) 
zum  Druck  und  Mitteilung  an  die  Tiibunalien  der  Republik  zugestellt.  Der 
Druck  verzögerte  sich,  sodass  ein  Dekret  vom  4.  Juni  auf  Beschleunigung 
dringen  musste. 

Der  französische  (damals  im  „Bulletin  des  loix"  II,  542—589  veröffentlichte)  Text 
ist  jetzt  in  sorgfältiger  Revision  in  der  Amtlichen  Sammlung,  Bd.  IV,  393—414  mit- 
geteilt; der  deutsche  offizielle  Text  damaliger  Zeit  steht  im  „Tageblatt  der  Gesetze 
und  Dekrete  der  gesetzgebenden  Räte  der  Helvetischen  Republik".  Bern  1798,  ge- 
druckt in  der  Nationalbuchdruckerei,  2.  Heft,  S.  569—621.  Eine  Separatausgabe  in  4^ 
ohne  Ort  und  J.  umfasst  38  Seiten;  eine  des  französischen  Textes  (A  Lausanne,  de  l'im- 
primerie  d'Henri  Vincent)  28  Seiten;  eine  mit  italienischem  Text  in  S^  (Lugano,  presso 
Rossi  1  ottobre  1800  mit  Dekreten  vom  28.  I.  1800  und  28.  II.  1800)  40  Seiten.  —  Der 
deutsche  Text  (der  in  einer  Nacht  abgefasst  sein  soll)  ist  vielfach  fehlerhaft  und 
mangelhaft,  immerhin  weniger  mangelhaft  als  die  in  Strassburg  bei,  F.  G.  Levrault, 
des  niederrheinischen  Departements  Buchdrucker,  ohne  J.  erschienene  Obersetzung  der 
Loi  du  25  septembre  1791.  —  Dagegen  sind  als  gute  Ausgaben  des  Helvetischen  pein- 
lichen GB.  zu  nennen:  1.  Peinliches  Gesetzbuch  der  helvetischen  einen  und  unteil- 
baren Republik  mit  XVIII  Supplementen,  wie  es  im  Kanton  Bern  noch  in  Anwendung 
ist.  Genau  nach  dem  Originaltext  aufs  neue  gedruckt  und  vermehrt  durch  das 
Kindermords-,  Hochverrats-  und  Diebstahlsgesetz.  Bern  1838.  Druck  und  Verlag  von 
Chr.  Fischer.  —  2.  Helvetisches  peinliches  Gesetzbuch  mit  den  dasselbe  in  einzelnen 
Paragraphen  und  ganzen  Titeln  aufhebenden,  modifizierenden  und  ergänzenden 
späteren  Gesetzen  für  die  Republik  Bern.     1839  bei  C.  Langlois  in  Burgdorf. 

Eine  Vergleichung  des  Textes  mit  dem  des  französischen  Vorbildes*) 
ergiebt,  dass  nur  geringfügige,  durch  die  Schweizer  Verhältnisse  gebotene 
Veränderungen  daran  vorgenommen  wurden,  natürlich  auch  einige  Weg- 
lassungen. Neu  ist  die  durchlaufende  Numerierung  der  Paragraphen  („articles**), 
die  in  Frankreich  erst  im  Code  des  delits  et  des  peines  du  3  brumaire  an  IV 
sich  findet.  Das  Gesetz  schliesst  eigentlich  mit  den  auf  2  Alinea  beschränkten 
Übergangsbestimmungen  hinter  §  209.     Nun  folgt  ein  Zusatztitel   („titre  addi- 

*)  Eine  eingehendere  Besprechung  des  Gesetzbuches  bei  Correvon,  Avant-projet 
de  Code  p6nal,  Lausanne  1879,  p.  60—64  (auch  in  den  Actes  du  congres  pdnitentiaire 
international  de  Rome,  tome  II  1.  partie,  Rome  1888,  p.  652—659).  —  Pfenninger,  142 
bis  156.  —  Stooss,  Grundzüge  2—6. 


§  4.    Das  Helvetische  peinliche  GB.  371 


tionner*)  über  die  Gleichheit  der  Strafen  („sur  ]*6galite  des  peines")  mit  4  Pa- 
ragraphen. Bisher  scheint  der  Ursprung  derselben  nicht  erkannt  worden  zu 
sein.  Es  sind  dieselben  nämlich  wörtlich  der  loi  du  21  jan vier  1790^)  ent- 
nommen. 

Schon  vorher  (12.  Mai  1798)  war  die  Folter,  soweit  sie  noch  bestand,  in 
ganz  Helvetien  abgeschafft  worden.  Ein  Gesetz  vom  19.  Oktober  1798  unter- 
sagte die  Konfiskation  des  Vermögens  von  Selbstmördern  und  ein  weiteres 
vom  19.  Februar  1799  hob  alle  Strafen  der  früheren  Kantonsregierungen  wegen 
religiöser,  sektiererischer  Meinungen  auf.^  Diese  Milde  zeichnet  auch  das 
Gesetzbuch  in  einzelnen  Punkten  aus.  So  soll  namentlich  die  Todesstrafe, 
welche  freilich  sehr  erklärlich  bei  Verbrechen  gegen  die  äussere  und  innere 
Sicherheit  des  Staates  und  manchen  Verbrechen  gegen  die  Verfassung  an- 
gedroht ist,  ohne  jede  Marter  durch  Enthauptung  vollzogen  werden.  Bisher 
herkömmliche  Strafmittel,  wie  Galgen,  Brandmarkung  und  Staupenschlag,  sind 
abgeschafft.  Die  Freiheitsstrafen  sind  nicht  lebenslänglich;  Kettenstrafe ,  aus- 
geschlossen gegenüber  weiblichen  Personen,  im  Maximum  auf  24  Jahre  be- 
schränkt. Zwangsarbeit  ist  mit  Ketten-  und  Zuchthausstrafe  verbunden.  Den 
zu  Stockhaus  (ohne  Ketten  an  einem  heitern  Ort)  und  den  zu  Einsperrung 
Verurteilten  steht  mit  gewissen  Beschränkungen  die  Wahl  der  Arbeit  frei  und 
wird  bei  Entlassung  ein  Teil  des  Arbeitsertrages  zugestellt.  Mildere  Behand- 
lung erfahren  Personen  über  75  Jahre,  wie  andererseits  solche  unter  16  Jahren, 
die  für  untorscheidungsfähig  („discernement" !)  erklärt  wurden.  Neben  Straf- 
verfolgungsverjährung wird  auch  Verjährung  der  Strafvollstreckung  anerkannt,'*) 
dagegen  Begnadigung  übergangen.*)  Hart  dagegen  sind  die  Ehrenfolgen  der 
Freiheitsstrafen,  ungerecht  die  bald  grosse  Milde,  bald  übergrosse  Strenge  der 
absoluten  Straf drohungen.  Übrigens  wurden  diese  Härten  sehr  bald  beseitigt. 
Das  Dekret  vom  27.  Januar  1800  erklärte  die  Strafen  des  Gesetzbuches  bloss 
für  Maxima;  gestattete  bei  mildernden  Umständen  an  Stelle  der  Todesstrafe 
einährige  Kettenstrafe,  in  allen  anderen  Fällen  Herabsetzung  auf  ein  Viertel 
der  gesetzlichen  Strafe  und  schrieb  bestimmte  Angabe  der  Milderungsgründe 
im  Urteil  vor.  Ebenso  liess  ein  Gesetz  vom  6.  Mai  1800  die  öffentliche  Schau- 
stellung des  §28  (doch  nur  auf  1  Stunde),  ausgenommen  überhaupt  Frauens- 
personen, nur  gegen  solche  zu,  die  zu  10  oder  mehr  Jahren  Kettenstrafe  oder 
zur  Verbannung  verurteilt  waren,  verband  dieselbe  auch  nicht  mehr  mit  der 
bürgerlichen  Entsetzung  und  brachte  Pranger  nur  bei  Rückfall  und  gegen 
Fremde  zur  Anwendung.  Charakteristisch  für  die  damaligen  Gefängniszustände 
kann  man  (mit  Pfenninger,  S.  155)  das  Gesetz  vom  16.  Hornung  1801  nennen, 
das  neben  näherer  Bestimmung  von  Strafen  gegen  entwichene  Verbrecher, 
denen,  die  keinen  Entweichungsversuch  wagten,  für  jedes  Jahr  Freiheitsstrafe 
1  Monat  in  Abzug  bringt.  Demgegenüber  hielt  ein  Gesetz  vom  11.  Brach- 
monat 1801  „in  Erwägung  der  Notwendigkeit,  den  Ackerbau,  Tuch-  und  Vieh- 
handel als  Quellen  des  Nationalwohlstandes  auf  kräftigere  Weise  zu  beschützen", 


*)  Vgl.  Sagnier,-  Code  criminel  de  la  republique  fran^aise,  2.  ed.  A  Paria  an  VII, 
p.  217,  218.  —  Code  judiciaire,  2.  6d.  Paris  1793,  tome  II,  p.  11,  47  ff. 

^)  Vgl.  E.  Herzog,  Über  Religionsfreiheit  in  der  helvetischen  Republik,  Bern  1884. 

*)  Die  Ansicht  von  L.  Meyer-Knonau,  Bemerkungen  über  die  Gebrechen  des 
helvetischen  Kriminalwesens,  Zürich  1802,  S.  36:  „es  solle  damit  wohl  nur  gesagt  sein, 
dass  die  ausgesprochene  Strafe  nicht  ohne  Revision  angewandt  werden  könne'',  ist 
nicht  richtig. 

'*)  Der  Code  p6nal  de  1791,  I.  partie  titre  VII  art.  13  verwirft  alle  Formen  des 
Straferlasses  bei  Schwurgerichtsfällen.  Diese  Bestimmung  steht  mit  Verwerfung  der 
lebenslänglichen  Strafen  und  den  absoluten  Strafdrohungen  im  Einklang.  Vgl.  Gar- 
raud,  Traite  th6orique  et  pratique  du  droit  penal  francjais  I  (1888)  p.  91,  92. 

24* 


372  I^as  !StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Eidgenössisches  (Bundes-)  StR. 


Schärfungen  für  angezeigt,    sodass  z.  B.   bei  Angriffen  mit  Mordgewehr  und 
beim  dritten  Rückfalle  Todesstrafe  eintreten  soll. 

Mehr  und  mehr  anerkennt  man  heutzutage,  wo  eine  gerechtere  Würdi- 
gung auch  des  französischen  Vorbildes  Platz  gegriffen  hat,  dass  das  Gesetz- 
buch, wie  kein  anderes  der  damaligen  Zeit,  geeignet  war,  den  Übergang  vom 
alten  Recht  zu  vermitteln  und  eine  gesunde  Fortbildung  anzubahnen.  In 
einzelnen  Kantonen  ist  es  noch  längere  Zeit,  allerdings  durch  Novellengesetz- 
gebung hier  und  da  durchbrochen  oder  mit  nur  subsidiärer  Kraft  in  Greltung 
geblieben.  So  in  Luzem  bis  1827,  in  Thurgau  bis  1841,  in  der  Waadt  bis 
1843,  in  Solothum  bis  1859,  in  Bern  bis  1866.  Anderwärts  stiess  es  auf 
stärkeren  Widerstand.  Namentlich  galt  es  einzelnen,  wie  z.  B.  dem  bei  Gesetz- 
gebungsarbeiten beteiligten  Züricher  L.  Moyer-Knonau,\)  in  vielen  Beziehungen 
als  zu  wenig  streng  und  bei  den  damaligen  Zuständen  der  Gefängnislokalitäten 
als  undurchführbar.  Zu  einer  Ergänzung  des  Gesetzes  für  die  geringeren 
Vergehen  ist  es  nicht  gekommen,  sodass  die  Kantone  hier  und  da  durch  eigene 
Gesetze  (W'aadt  1805,  Luzemer  Polizeigesetze  von  1806,  1815',  1817),  durch 
Inkraftsetzung  alter  Ordnungen  und  Gerichtssatzungen  (Bemer  G.  vom  27.  Juni 
1803  u.a.),  durch  Bestimmungen  in  Straf-  oder  Civilprozessordnungen  usw. 
sorgen  mussten. 

§  5.  Die  Periode  des  Staatenbundes  1803—1848. 

Die  Mediationsverfassung  vom  19.  Februar  1803  machte  dem  Einheitsstaat 
ein  Ende.  Die  Schweiz  wurde  durch  Hinzutritt  der  6  neuen  Kantone  St.  Gallen, 
Graubünden,  Aargau,  Thurgau,  Tessin  und  Waadt  ein  Staatenbund  von  nun- 
mehr 19  in  ihrer  Souveränität  wichtigen  Beschränkungen  unterworfenen  Kan- 
tonen. Nur  im  Wege  der  Konkordate  konnte  es  zu  mehr  oder  minder  ein- 
heitlichen Regelungen  kommen.  In  strafrechtlicher  Beziehung  sind  erwähnens- 
wert die  Konkordate  betr. 

1.  Ausschreibimg,  Verfolgung,  Festsetzung  und  Auslieferung  von  Ver- 
brechern oder  Beschuldigten;  die  diesfälligen  Kosten;  die  Verhöre  und  p]vokation 
von  Zeugen  in  Kriminalfällen  und  die  Restitution  gestohlener  Effekten  vom 
8.  Juni  1809,  bestätigt  den  8.  Juli  1818  (noch  geltend  in  Art.  19,  20  neben  dem 
Bundesgesetz  vom  24.  Juli  1852),  wodurch  der  Grundsatz  der  Auslieferung  von 
Verbrechern  von  Regierung  zu  Regierung  zu  voller  Anerkennung  gelangte, 
während  Art.  8  der  Mediationsakte  nur  gesagt  hatte ,  dass  kein  Kanton  einem 
von  der  Justizpflege  eines  anderen  Verurteilten  oder  gesetzlich  Verfolgten  Zu- 
flucht gestatten  dürfe; 

^2.    gegenseitige  Stellung  von  Fehlbaren  in  Polizeifällen  vom  7.  Juni  1810, 
bestätigt  9.  Juli  1818,  erläutert  1840; 

3.  Polizeiverfügungen  gegen  Gauner,  Landstreicher  und  gefährliches  (Se- 
sindel  vom  17.  Juni  1812,  bestätigt  9.  Juli  1818  (Art.  4  nimmt  sogar  Straf- 
kolonieen  und  Konkordatszuchthäuser  in  Aussicht!).*) 

Über  die  weitere  Periode  des  Staatenbundes  (von  dem  am  7.  August  1815 
von  den  Gesandten  der  nunmehr  22  Kantone  beschworenen  Bundesvertrage 
bis  zur  Bundesverfassung  von  1848)  ist  nur  wenig  zu  berichten.    Längere  Zeit 


*)  Die  oben  S.  371  Anm.  3  citierte,  sehr  lesenswerte  Schrift  desselben  ist  her- 
vorgerufen durch  die  Zuschrift  des  Departements  der  Justiz  vom  7.  Juni  1802  an  alle 
Behörden,  ihre  gesammelten  Erfahrungen  und  Bemerkungen  über  das  gesamte  Kri- 
minalwesen der  neuen  Regierung  behufs  legislatorischer  Arbeiten  mitzuteilen.  VgL 
über  den  Verfasser:  L.  Meyer  v.  Knouau,  Lebenserinnerungen  1769 — 1841.  Heraus- 
gegeben von  Gerold  Meyer  v.  Knonau,  1S83. 

^)  Abgedruckt  bei  Wolf,  die  Schweiz.  Bundesgesetzgebung  Bd.  I,  1890,  S.  321ff. 


§  6.    Die  StGgebung  des  Bundes  seit  184H.  373 


bildeten  Massregeln  gegen  die  sich  freier  regende  Presse,  wie  sie  von  den 
verschiedensten  Seiten  gefordert  worden,  ein  stets  wiederkehrendes  Traktandum. 
Schon  am  16.  Mai  1815  hatte  die  Tagsatznng  beschlossen,  die  Stände  auf- 
zufordern, die  bei  ihnen  gedruckten  öffentlichen  Blätter  einer  strengen  Zensur 
zu  unterwerfen.  Bald  mehrten  sich  die  Klagen,  sodass  sich  die  Tagsatzung 
1819  zur  nachdrücklichsten  Einladung  veranlasst  sah,  solche  Verfügungen  zu 
treffen,  dass  in  Druckschriften,  Flugblättern  oder  Zeitungen  keinerlei  Be> 
schimpfung  oder  beleidigende  Aufsätze  weder  gegen  das  eine  noch  das  andere 
der  beiden  Glaubensbekenntnisse  abgedruckt  und  verbreitet  werden.  Unter 
dem  Drucke  des  Auslandes  erging  dann  1823  ein  weiteres  Konklusum:  „E^ 
ergehe  an  die  Stände  die  nachdrückliche  Einladung,  die  erforderlichen  und 
genügenden  Massregeln  zu  ergreifen: 

1.  dass  in  den  Zeitungen,  Tagesblättem,  Flugschriften  und  Zeitschriften 
bei  Berührung  auswärtiger  Angelegenheiten  alles  dasjenige  sorgfältig  aus- 
gewichen werde,  was  die  schuldige  Achtung  gegen  befreundete  Mächte  ver- 
letzen oder  denselben  Veranlassung  zu  begründeten  Beschwerden  geben  könnte ; 

2.  dass  bei  diesen  Vorkehren  nicht  allein  auf  Bestrafung  von  Wider- 
handlungen, sondern  vornehmlich  auf  Verhütung  derselben  hingezielt  werde." 

Von  Jahr  zu  Jahr  erneuert,  wurde  dieses  Konklusum  erst  1829  fallen 
gelassen.  Mehrere  Kantone  leisteten  solchen  Einladungen  Folge,  teils  durch 
einzelne  Artikel  der  kantonalen  Strafgesetzbücher,  teils  durch  eigene  Press- 
gesetze. ^) 

Auch  auf  einem  anderen  Gebiete,  dem  des  Flüchtlingswesens,  konnte  die 
Schweiz  gegenüber  dem  immer  bedrohlicheren  Drängen  des  Auslandes  nichts 
anderes  thun,  als  nachgeben.  So  kam  es  11.  August  1836  zu  dem  bekannten 
Fremdenkonklusum,  durch  das  die  Wegweisung  ruhestörerischer  Fremder  unter 
die  Oberaufsicht  und  Leitung  des  Vorortes,  bezw.  der  Tagsatzung,  gestellt 
wurde.*)  Diesem  Beschlüsse  kann  endlich  der  vom  20.  März  1845  angereiht 
werden,  der  die  Bildung  und  das  Auftreten  bewaftYieter  Freikorps  ohne  Zu- 
stimmung oder  Mitwirkung  der  Kantonsregierungen  von  Bundeswegen  verbot 
und  die  eidgenössischen  Stände  zur  Ergreifung  der  geeigneten  Massregeln 
gegen  dieselben  einlud. 

§  6.  Die  Strafgesetzgebimg  des  Bundes  seit  1848. 

Nach  Niederwerfung  des  Sonderbundes  schwebte  noch  einmal  eine  Zeit- 
lang fremde  Intervention  über  dem  Haupte  der  Eidgenossenschaft.  Diese 
Intervention  der  sogenannten  Vermittelungskonferenz  konnte  allerdings  weder 
vollendete  Thatsachen  rückgängig  machen,  noch  das  Selbstbestimmungsrecht 
der  Schweiz  erschüttern.  Noch  glaubten  die  Abgeordneten  von  Österreich, 
Preussen  und  Frankreich  über  die  kleine  Schweiz  zu  Grericht  sitzen  zu  können. 
Doch  schlug  der  Ausbruch  der  Februarrevolution  1848  jeden  Gedanken  an 
weitere  Massnahmen  nieder.  Die  Schweiz  war,  nachdem  sie  die  geplante  Ein- 
mischung mit  ebenso  grosser  Gründlichkeit  als  Entschiedenheit  zurückgewiesen, 
sich  selbst  überlassen  und  hatte  nunmehr  freie  Hand,  ihre  inneren  Angelegen- 
heiten zu  ordnen.  Mehr  und  mehr  klärten  sich  die  Ansichten  über  das,  was 
notwendig,  wünschlfar  und  erreichbar  wäre.  Mit  Recht  führte  der  Entwurf 
einer  Bundesverfassung  aus,  dass  der  Kautonalismus  zu  tiefe  Wurzeln,  hundert- 
jährige Gewohnheiten  zu  viel  Macht  hätten,  um  die  Umgestaltung  in  einen 
Einheitsstaat  zu  gestatten.     „Ein    Föderativsystem,    welches    die    beiden   Ele- 


*)  Als  litterarische  Arbeit  dieser  Zeit  sei  erwähnt  L.  Frey,  Entw.  zu  einem  re- 
publikanischen StGB.   Bern  1835. 

')  Feddersen,  Geschichte  der  Schweiz.  Regeneration,  Zürich  1867,  S.  228  ff.,  401  ff. 


374  Das  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Eidgenössisches  (Bundes-)  StR. 


mente,  welche  nun  einmal  in  der  Schweiz  vorhanden  sind,  nämlich  das  nationale 
oder  gemeinsame  und  das  kantonale  oder  besondere,  achtet;  welches  jedem 
dieser  Elemente  giebt,  was  ihm  im  Interesse  des  Ganzen  und  seiner  Teile  ge- 
hört; welches  sie  verschmilzt,  vereinigt;  welches  die  Glieder  dem  Ganzen, 
das  Kantonale  dem  Nationalen  unterordnet,  indem  sonst  keine  Eidgenossen- 
schaft möglich  wäre  und  die  Kantone  in  ihrer  Vereinzelung  zu  Grunde  gehen 
müssten  —  das  ist's,  was  die  jetzige  Schweiz  bedarf  und  das  ist  der  Grund- 
gedanke des  ganzen  Entwurfs."  Man  entschied  sich  für  das  Zweikammer- 
system, verwarf  die  Wahl  des  Bundesrates  durch  das  Volk,  indem  man  die- 
selbe vielmehr  der  vereinigten  Bundesversanmilung  (National-  und  Ständerat) 
übertrug  und  gewährte  dem  Bunde  ein  reiches  Mass  von  Kompetenzen,  das 
den  neuen  Bundesstaat  zu  einem  lebensfähigen  Organismus  machte.  Freilich 
musste  man  sich  auf  einzelnen  Gebieten  bescheiden,  namentlich  auf  dem  hier 
in  Frage  stehenden.  Der  Antrag  der  Gesandtschaft  von  Solothum  auf  Uni- 
fikation des  Strafrechts,  dem  sich  auch  die  von  Bern  und  Freiburg  geneigt 
zeigten,  fand  bei  den  übrigen  keinen  Anklang.  Am  12.  September  1848^) 
wurde  die  von  lö^/^  Ständen  und  der  überwiegenden  Mehrheit  der  Bevölkerung 
gebilligte  Bundesverfassung  als  angenommen  erklärt.  Sie  entsprach  den  da- 
maligen Bedürfnissen  und  enthielt  einen  glücklichen  Kompromiss  zwischen 
dem  Föderalismus  im  Innern  und  der  notwendigen  Zentralisation  nach  aussen. 
Aus  ihr  ging  die  jetzige  Verfassung  vom  29.  Mai  1874*)  hervor,  die  bis  zu 
diesem  Augenblicke  schon  mannigfache  Änderungen  in  Einzelheiten  erfahren 
hat  und  möglicherweise  noch  durchgreifenderen  entgegengeht.  Die  Bundes- 
verfassung vom  12.  Herbstmonat  1848  (Offizielle  Sammlung  I,  1 — 35)  bestimmte  in 

Art.  94:  „Zur  Ausübung  der  Rechtspflege,  soweit  dieselbe  in  den  Bereich 
des  Bundes  föllt,  wird  ein  Bundesgericht  aufgestellt.  Für  Beurteilung  von 
Straffällen  werden  Schwurgerichte  (Jury)  gebildet." 

Art.  103:  „Die  Mitwirkung  des  Bundesgerichts  bei  Beurteilung  von 
Straffällen  wird  durch  die  Bundesgesetzgebung  bestimmt,  welche  über  Vei> 
Setzung  in  Anklagezustand,  über  Bildung  des  Assisen-  und  Kassationsgerichts 
das  Nähere  festsetzen  wird." 

Art.  104:  „Das  Assisengericht  mit  Zuziehung  von  Geschworenen,*)  welche 
über  die  Thatfrage  absprechen,  urteilt: 

a)  in  Fällen,  wo  von  einer  Bundesbehörde  die  von  ihr  ernannten  Beamten 
zur  strafrechtlichen  Beurteilung  überwiesen  werden; 

b)  über  Fälle  von  Hochverrat  gegen  die  Eidgenossenschaft,  vonAufVuhr 
und  Gewaltthat  gegen  die  Bundesbehörden; 

c)  über  Verbrechen  und  Vergehen  gegen  das  Völkerrecht; 

d)  über  politische  Verbrechen  und  Vergehen,  die  Ursache  oder  Folge 
derjenigen  Unruhen  sind,  durch  welche  eine  bewaffnete  eidgenössische  Inter- 
vention veranlasst  worden  ist. 

Der  Bundesversammlung  steht  das  Recht  zu,  hinsichtlich  solcher  Ver- 
brechen und  Vergehen  Amnestie  oder  Begnadigung  auszusprechen." 

Art.  106:  „Es  bleibt  der  Bundesgesetzgebung  ^)  überlassen,  ausser  den  in 
den  Art.  101,  104  und  105  bezeichneten  Gegenständen  auch  noch  andere  Fälle 
in  die  Kompetenz  des  Bundesgerichtes  zu  legen."  ^ 

Art.  107:   „Die  Bundesgesetzgebung  wird  das  Nähere  bestimmen: 

^)  Amtliche  Ausgaben  der  Bundesverfassung  (in  3  Sprachen)  und  der  zur  Zeit  in 
Kraft  stehenden  Kantonsverfassungen  erschienen  Bern  1864,  sodann  1880,  zuletzt  1891. 

-)  A.  S.  n.  F.  I,  1—41,  auch  separat.  Eine  kommentierte  Ausgabe  gab  Mann 
(Schweiz.,Buudesgesetze  mit  Erläuterungen  I)  Bern,  1888,  heraus. 

^)  Über  das  Verhältnis  dieser  Art.  104  und  106  vgl.  Dr.  Hafner  in  der  Zeitschr. 
für  Schweizer  Strafrecht  1,  250,  Leo  Weber  (ebenda  370). 


§  6.    Die  StGgebung  des  Bundes  seit  1848.  375 


a)  über  Aufstellung  eines  Staatsanwaltes; 

b)  über  die  Verbrechen  und  Vergehen,  welche  in  die  Kompetenz  des 
Bundesgerichtes  fallen,  und  über  die  Strafgesetze,  welche  anzuwenden  sind; 

c)  über  das  Verfahren,  welches  mündlich  und  öffentlich  sein  soll; 

d)  über  die  Gerichtskosten /^ 

Es  handelt  sich  hier,  wie  man  sieht,  um  Regelung  der  Bundesstraf- 
gerichtsbarkeit. Die  in  Art.  104  erwähnten  Fälle  gehören  ausschliesslich  zur 
Kompetenz  des  Bundesgerichts;  andere  können  demselben  (106)  übertragen 
werden.  Die  Strafgesetzgebungsgewalt  wird  nur  in  Art.  107b  gestreift,  und 
zwar  in  Zusammenhalt  mit  Art.  106  sehr  unklar.  Es  scheint,  wie  Stooss, 
Grundzüge  S.  39,  ausführt,  die  Vorstellung  obgewaltet  zu  haben,  dass  die 
Bundesstrafgesetzgebungsgewalt  Folge  der  Bundesstrafgerichtsbarkeit  sei  und 
sein  solle. 

Die  durch  die  Bestimmungen  der  Bundesverfassung  veranlassten  gesetz- 
geberischen Arbeiten  führten  zu  folgenden,  hier  interessierenden  Bundes- 
gesetzen: 

la.  B6.  über  die  Organisation  der  Bundesrechtspflege  vom  5.  Brachmonat 
1849  (O.  S.  I,  65—86,  Wolff,  I,  392  ff.),  das  in  Art.  49,  No.  1,  2,  3  den  Inhalt 
der  Art.  104  und  106  wiedergab  und  in  No.  4  hinzufügte,  dass  durch  die 
Gesetzgebung  eines  Kantons  im  Einverständnisse  mit  der  Bundesversammlung 
noch  andere  Kompetenzen  dem  Assisengerichte  übertragen  werden  könnten 
(wovon  kein  Gebrauch  gemacht  wurde). 

Dieses  Gesetz  ist  (im  Zusammenhange  mit  der  neuen  Bundesverfassung) 
ersetzt  durch 

Ib.  BG.  über  die  Organisation  der  Bundesrechtspflege  vom  27.  Brach- 
monat 1874  (A.  S.  n.  F.  I,  136—156,  Wolf,  I,  380  ff.).  Art.  32  und  33  ent- 
sprechen dem  Art.  49  des  zuvor  genannten,  bezw.  Art.  112  (alt  104)  der  BV. 
unter  Berücksichtigung  des  inzwischen  erlassenen  Bundesstrafgesetzes  vom 
4.  Hornung  1853.  —  Ein  neues  G.  wird  voraussichtlich  1893  erlassen  werden. 

2.  BG.  über  die  Bundesstrafrechtspflege  vom  27.  August  1851  (A.  S.  H, 
743  ff.,  Wolf,  I,  412  ff'.).  —  Das  eigentliche,  noch  geltende  Strafprozessgesetz 
des  Bundes. 

3  a.  BG.  über  den  Geschäftskreis  und  die  Besoldung  des  Generalanwaltes 
vom  20.  Christmonat  1850  (A.  S.  II,  167  ff.).  Dasselbe  wurde  aufgehoben  er- 
klärt in  Art.  64  No.  2  des  Gesetzes  ad  1  b.  Doch  wurde  diese  Beamtung  von 
neuem  eingerichtet  im 

3b.  BG.  über  die  Bundesanwaltschaft  vom  28.  Juni  1889  (A.  S.  n.  F.  X, 
243,  Wolf,  II,  1132).  Vgl.  Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht  II,  395—398,  III, 
276,  277. 

4.  BG.  über  das  Verfahren  bei  Übertretungen  fiskalischer  und  polizei- 
licher Bundesgesetze  vom  30.  Brachmonat  1849  (0.  S.  I,  87—96,  Wolf,  I,  433). 
—  Es  handelt  sich  hier  um  Übertretungen  der  BG.  über  Zölle,  Posten, 
Pulver,  Münzen,  Mass  und  Gewicht  usw.  Allein  es  wurden  keine  Bestimmungen 
über  Übertretung  des  Münzregals  erlassen;  vielmehr  verblieb  Münzfälschung 
und  Münzbetrug  unter  dem  gemeinen  Strafi-echte  der  Kantone,  indem  man 
bei  dem  Entwürfe  des  Bundesstrafgesetzes  geltend  machte,  dass  die  kantonalen 
Strafgesetze  genügend  hierfür  sorgten.  Andererseits  ist  Art.  10  der  Mass-  und 
Gewichtsordnung  vom  23.  Christmonat  1851  (A.  S.  III,  84  ff.)  durch  Bundes- 
beschluss  vom  18.  Heumonat  1856  (A.  S.  V,  345  ff.,  Wolf,  I,  709)  aufgehoben 
worden.  Dagegen  gelten  jetzt  die  Straf bestimmungen  der  Art.  14 — 17  des 
neuen  BG.  über  Mass  und  Gewicht  vom  3.  Heumonat  1875  (A.  S.  n.  F.  I,  752  ff., 
Wolf  I,  709).  Vgl.  Leo  Weber  in  der  Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht, 
I,  378  ff. 


376  Das  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Eidgenössisches  (Bundes-)  StR. 


5.  BG.  über  die  Verantwortlichkeit  der  eidgenössischen  Behörden  und 
Beamten  vom  9.  Dezember  1850  (A.  S.  H,  149  ff.,  Wolf,  I,  29  ff.).  Das  Gesetz 
weist  in  Art.  6  und  8  auf  nähere  Bestimmungen  in  dem  (zu  erlassenden) 
eidgenössischen  Strafgesetz  hin. 

6.  BG.  über  die  politischen  und  polizeilichen  Garantieen  zu  Gunsten  der 
Eidgenossenschaft  vom  23.  Dezember  1851  (A.  S.  III,  33  ff.,  Wolf,  I,  27 ff.). 
Vgl.  Blumer,  Bundesstaatsrecht  II,  75  ff.     (Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  III,  201  ff.). 

7.  BG.  über  die  Auslieferung  von  Verbrechern  oder  Angeschuldigten  vom 
24.  Jidi  1852  (A.  S.  III,  161  ff.,  Wolf,  I,  429  ff.).  Dasselbe  ist  erlassen  gemäss 
Art.  55  der  BV.  von  1848,  in  welchem  gesagt  wurde:  „Die  Ausliefenmg  kann 
jedoch  für  politische  Vergehen  und  für  Pressvergehen  nicht  verbindlich  ge- 
macht werden."  Wichtig  die  Bestimmung  des  Abs.  2  des  Art.  1 :  „Die  Aus- 
lieferung von  Personen,  die  in  einem  Kanton  verbürgert  oder  niedergelassen 
sind,  kann  jedoch  verweigert  werden,  wenn  der  Kanton  sich  verpflichtet,  die- 
selben nach  seinen  Gesetzen  beurteilen  und  bestrafen  oder  eine  bereits  über 
sie  verhängte  Strafe  vollziehen  zu  lassen."  —  Hierzu  trat  BG.  vom  24.  Heu- 
monat 1867  und  BG.  vom  2.  Homungl872  mit  kleinen  Abänderungen  (A.  S.  IX, 
86  ff.,  X,  672;  Wolf,  I,  432).  Näheres  bei  Schauberg  in  der  Zeitschr.  für 
Schweizerisches  Recht,  XVI,  117— 220.  —  Pfenninger,  326  ff.  —  Blumer-Morel, 
3.  Aufl.  I,  291  ff.  —  Colombi  in  der  Zeitschr.  für  Schweizerisches  Recht, 
n.  F.  VI,  453  ff. 

Auch  kam  im  Jahre  1851  ein  BG.  über  die  Strafrechtspflege  für  die  eid- 
genössischen Truppen  zu  stände,  das  in  seinem  materiellen  allgemeinen  Teile 
das  Vorbild  des  allgemeinen  Teils  des  im  Jahre  1853  erlassenen  BG.  über  das 
Bundesstrafrecht  darstellt. 

A.   Bnndesgesetz  Aber  die  Strafreelitspflege  fOr  die  eidpeA^ssischen  Truppen 

Tom  27.  Angrnst  1851. 

A.  S.  II,  606—741.  —  Recueil  officiel  II,  598—733.  —  Raecolta  officiale  II,  598 
bis  783,  auch  Separatausgaben.  Eine  Textberichtigung  in  Art.  182  lit.  e  des  italienischen 
Textes  erfolgte  durch  Bundesratsbeschluss  vom  16.  Dezember  1887  (A.  S.  n.  F.  X,  433, 
Wolf,  II,  276). 

Die  Kompetenz  zu  Erlass  dieses  Gesetzes  lag  begründet  in  Art.  20  der 
BV.  von  1848,  bezw.  Art.  102  der  Militärorganisation  vom  8.  Mai  1850.  Es 
umfasst  drei  Bücher,  deren  erstes  die  strafrechtlichen  Bestimmungen  un^asst, 
Avährend  das  zweite  die  Organisation  der  Rechtspflege  und  das  dritte  das  Ver- 
fahren betrifft.  Das  erste  Buch  ist  ein  vollständiges  Militärstrafgesetzbuch  mit 
zwei  Teilen.  Der  erste  Teil,  dem  ein  Einleitungstitel  (Art.  1 — 3)  vorausgeschickt 
ist,  zerfällt  in  Abschnitt  I  (Allgemeine  Bestimmungen ,  Art.  4 — 40)  und  Ab- 
schnitt II  (Von  den  verschiedenen  Arten  der  Verbrechen  im  besonderen, 
Art.  41 — 165  in  13  Titeln).  Der  zweite  Teil  handelt  von  Disziplin-  oder  Ord- 
nungsfehlem (Art.  166—197),  dem  ein  Anhangstitel  (Art.  198 — 203)  folgt,  mit 
Bestinmiungen  über  die  Kompetenz  in  Civilsachen.  Das  Gesetz  geht  in  den 
Art.  1 — 3  rücksichtlich  Unterstellung  von  Nichtmilitärs  unter  die  Militärstraf- 
gerichtsbarkeit und  Militärstrafgesetze  weiter  als  ähnliche  Gesetze  anderer 
Länder  (vgl.  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  11,  349).  Es  droht:  1.  Todesstrafe.  2.  Zucht- 
haus von  1 — 30  Jahren,  ausnahmsweise  lebenslänglich  (Art.  125).  S.  Gefängnis 
bis  zu  6  Jahren.  4«  Landesverweisung..  5.  Kassation.  6.  Entsetzung.  7.  Ver- 
lust des  Aktivbürgerrechts.  Die  Bestimmungen  des  allgemeinen  Teils  kehren 
mit  geringfügigen  Änderungen  im  Bundesstrafgesetze  von  1853  (unten  B)  wieder; 
nur  wird  hier  Rückfall  (in  Art.  32,  lit.  d)  ausdrücklich  als  allgemeiner  .,Er- 
schwerungsgrund"  bezeichnet  und  in  Art.  35  dieser  „Schärfungsgrund"  beson- 
ders  behandelt,    andererseits  bei  Personen   unter  16  Jahren  in  Art.  33,    lit.  c 


§  6.    Die  StGgebung  des  Bundes  seit  1848.  ,377 


Minderung  der  Strafbarkeit  angenommen.  Milder  sind  die  Bestimmungen  des 
Militärstrafgesetzes  als  die  des  gemeinen,  insofern  bei  gemeinen  Verbrechen 
(d.  h.  den  abgesehen  von  dem  militärischen  Verhältnisse  des  Thäters  im  btirger- 
Ijchen  Leben  mit  Strafe  bedrohten  Handlungen,  wie  Mord,  Raub,  Diebstahl, 
Betrug  usw.)  die  Strafklage  nach  Art.  38  bei  den  mit  dem  Tode  oder  mit 
lebenslänglichem  Zuchthaus  bedrohten  in  10  Jahren,  bei  sonst  mit  Zuchthaus 
belegten  in  5  Jahren  und  in  allen  anderen  Fällen  in  2  Jahren  verjährt,  bei 
rein  militärischen  innerhalb  eines  Jahres  nach  Auflösung  des  Korps,  zu  welchem 
der  Thäter  gehörte.  Als  gemeine  Verbrechen  werden  aber  aufgeführt:  Titel  VI 
die  Tötung  (Mord,  Totschlag,  Totschlag  aus  Fahrlässigkeit,  in  Raufhändeln, 
Duell) ;  Tit.  VII  Körperverletzungen  und  Gewaltthätigkeit  gegen  Personen 
(Notzucht,  Schändung,  Menschenraub  und  Entführung,  widerrechtliches  Gefangen- 
halten, Verletzung  des  Hausrechts);  Tit.  VIII  Brandstiftung,  Verheerungen, 
Verwüstungen  und  Eigentums beschädigungen;  Tit.  IX  Diebstahl,  Raub,  Er- 
pressung und  Plünderung;  Tit.  X  Veruntreuung,  Betrug  und  falsches  Zeugnis ; 
Tit.  XI  Ehrverletzungen;  Tit.  XII  Religionsstörung;  Tit.  XIII  Drohungen. 

Als  Mängel  des  'Gesetzes  erkannte  man  sehr  bald  den  engen  Anschluss 
an  die  Gesetzgebung  der  Jahre  1836  und  1837,^)  die  ihrerseits  wieder  auf 
Arbeiten  der  Jahre  1806 — 1817,  d.  h.  auf  Strafgesetzen  für  die  Schweizer- 
truppen in  fremden  Diensten  beruhte;-)  die  völlige  Vermischung  militäri- 
scher und  gemeiner  Verbrechen,  sowie  solcher  Verbrechen,  die  nur  im  aktiven 
Dienste  oder  Kriege  vorkommen,  mit  denen  des  Instruktionsdienstes  oft  in 
einem  und  demselben  Artikel;  die  Berechnung  des  Verfahrens  als  Ganzes  be- 
trachtet auf  den  aktiven  Dienst,  womit  die  Neuerung  des  nunmehr  eingeführten 
Geschworenengerichts  in  scharfem  Kontrast  stand;  endlich  die  sehr  hohen 
Minimalstrafen  einzelner  im  Instruktionsdienste  häufig  vorkommender  Verbrechen, 
während  umgekehrt  sehr  schwere,  wie  Verrat  im  Kriege  gegen  die  Eid- 
genossenschaft, mit  einer  relativ  sehr  grossen  Milde  behandelt,  manche  gar 
nicht  bedroht  oder  mangelhaft  bestimmt  waren.  So  schlug  schon  eine  am 
21.  Juli  1863  im  Ständerat  gestellte  (aber  abgelehnte)  Motion  Herabsetzung 
der  Minimalstrafansätze  für  die  kriegsgerichtliche  Behandlung  der  Straffalle, 
dagegen  Erhöhung  der  Disziplinarstrafkompetenz  der  Oberkommandanten,  der 
eidgenössischen  und  kantonalen  Militärbehörden  zur  Ermöglichung  der  diszi- 
plinaren Bestrafung  von  minder  bedeutenden  Vergehen  gegen  das  Eigentum 
vor  (Blumer-Morel ,  2.  Aufl.,  II,  351).  Revisionsarbeiten  wurden  aber  erst 
nach  1874  (hauptsächlich  auch  der  neuen  Militärorganisation  vom  13.  November 
1874)^)  unternommen.  Der  im  Jahre  1878  von  Professor  Hilty  ausgearbeitete 
Entwurf  wollte  ein  ganz  kurzes  Gesetz  (von  80  Artikel)  aufstellen.  Dieses 
System  fand  jedoch  bei  der  Kommission  im  Oktober  1879  keinen  Beifall;  man 
wünschte  ein  Gesetzbuch  nach  bisheriger  Art  und  Weise.  Demzufolge  ver- 
fasste  der  Redaktor  einen  zweiten  Entwurf,  Bern  1881,  mit  140  Artikeln  und 
Anhang,*)  der  1884  seine  Schlussredaktion  erhielt  und  vom  Bundesrat  mit 
Botschaft    vom  30.  Mai  1884    (Bbl.  1884,     III,   197  ff.)    der   Bundesversamm- 


*)  Diese  wird  in  der  Botschaft  des  Bundesrates  vom  2.  Juni  1851  (BBl.  1851,  1, 
633  fF.)  als  „von  den  ausgezeichnetsten  Juristen  der  Schweiz  verfasst"  hezeichnet. 

-)  Über  die  älteren  Kriegsrechte,  die  französische  Übersetzung  der  Carolina  usw. : 
Zürcher,  im  Referat  über  die  Wünschbarkeit  eines  gemeinsamen  Schweiz.  Strafrechts, 
Frauenfeld  1882;  Hilty,  Vorlesungen  über  die  Helvetik,  Bern  1878,  S.  622,  623;  Hilty, 
Grundzüge  eines  Militärgesetzbuches  für  die  Schweiz.  Eidgenossenschaft,  Bern  1876, 
2.  Aufl.  1878;  Schneider,  Zur  Geschichte  der  militärischen  Rechtspflege  in  der  züriche- 
rischen Zeitschrift  für  Gerichtspraxis  und  Rechtswissenschaft  Bd.  II,  1875. 

*)  Herausgegeben  mit  historischer  Einleitung  und  Erläuterungen  von  Mann 
(Bd.  2  der  Sammlung  Schweiz.  Gesetze),  Bern  1890,  S.  204  ff. 

*)  Vgl.  Hilty  in  der  Zeitschr.  für  die  gesamte  StR.- Wissenschaft  II,  808  ff. 


378-         I^as  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Eidgenössisches  (Bundes-)  StR. 


lang  vorgelegt  wurde.  Die  Beratungen  darüber  im  Stände-  und  Nationalrat 
führten  dahin,  dass  man  im  Juni  1886  Oberst  Müller  den  Auftrag  erteilte, 
über  die  Militärgerichtsorganisation  und  das  Militärstrafverfahren  einen  Ent- 
wurf auf  Grund  eines  schematisierten  Antrages  einzureichen.  Der  von  dem- 
selben schon  Ende  Juli  1886  vorgelegte  Entwurf  fand  die  Billigung  der  Kom- 
mission; doch  erkannte  man,  dass  die  Annahme  desselben  eine  Umarbeitung 
auch  des  materielleti  Strafrechts  notwendig  mache  (Beschluss  vom  3.  Februar 
1887).  Die  auf  materielles  Strafrecht,  Disziplinarstrafordnung  und  IMegs- 
artikel  bezügliche  Arbeit  schien  aber  noch  geraume  Zeit  in  Anspruch  zu 
nehmen,  sodass  man  sich  für  Zurückziehung  der  Vorlage  vom  30.  Mai  1884 
und  Vorlegung  eines  auf  die  Militärstrafgerichtsordnung  beschränkten  Gesetz- 
entwurfes entschied.  Am  10.  April  1888  wurde  derselbe  mit  Botschaft  der 
Bundesversammlung  vorgelegt  und  von  derselben  am  28.  Juni  1889  mit  einigen 
Änderungen  angenommen.^)  Diese  Militärstrafgerichtsordnung  trat  1.  Januar 
1890  in  Kraft.  Inzwischen  ist  eine  Disziplinarstrafordnung  ausgearbeitet.*) 
Weitere  Arbeiten  sind  dagegen  verschoben,  bis  über  ein  bürgerliches,  in  Aus- 
sicht genommenes  Bundesstrafgesetzbuch  entschieden  sein  wird.  —  Durch  die 
genannte  Militärstrafgerichtsordnung  sind  die  oben  erwähnten  Art.  1 — 3  des 
BG.  von  1851  durch  neue  Bestimmungen  ersetzt,  ebenso  Art.  36,  37  aufgehoben. 
Das  2.  und  3.  Buch  (Art.  204 — 449)  sind  fortgefallen;  ebenso  die  Zusatzbe- 
stimmungen des  Bundesratsbeschlusses  vom  10.  Juli  1854  (A.  S.  IV,  225  ff.). 

Dubs  (Referent  über  das  Gesetz  im  Nationalrate),  das  neue  schweizerische  Militär- 
strafrecht (im  „Gerichtssaal«  IV  2,  Erlangen  1852,  S.  149 ff.,  305 ff.)  —  K.G.König, 
Grundzüge  eines  eidgenössischen  Militärstrafrechts,  Bern  1872.  —  Stooss,  Bemer- 
kungen zu  dem  Entwürfe  eines  schweizerischen  Militärstrafgesetzbuches.  Tötung  und 
Körper verletzunff,  Bern  1885;  in  seiner  Zeitschr.  I,  261;  in  „Grundzüge"  S.  52 — 55.  — 
Gretener,  Zum  Entwürfe  eines  Militärstrafgesetzbuches  für  die  Schweiz.  Eidgenossen- 
schaft, Bern  1886.  —  Hilty,  Das  eidgenössische  Militärstrafrecht.  (^Politisches  Jahr- 
buch der  Schweiz.  Eidgenossenschaft**  IV,  747  ff.)  —  Pfenninger  614  ff. 

B.  Bundesgesetz  über  das  Bandesstrafreclit  der  sehwehserlschen  Eidgenosaenseluift 

Tom  4.  Homung  1853. 

A.  S.  III,  404—429;  Separatausgabe,  Bern  1853;  Wolf,  1,  371—379.  Code  pönal 
fM6ral  du  4  fevrier  1853  (Recueil  officiel  III,  335—359).  Codice  penale  federale  del 
4  febbrajo  1853  (Raccolta  officiale  III,  335—359). 

Die  Vorarbeiten  zu  diesem  Bundesstrafgesetzbuch  hatten  schon  1849  be- 
gonnen, zogen  sich  aber  wegen  anderweiter  Beschäftigung  des  Experten  in 
die  Länge.  Dem  schliesslich  zugezogenen  Redaktor  konnte  die  far  die  Aus- 
arbeitung eines  solchen  Gesetzes  wünschbare  Müsse  nicht  mehr  gewährt  werden. 
Ein  erster,  nicht  veröffentlichter  Entwurf  wurde  im  Jahre  1852  dem  Bundes- 
rate vorgelegt  und  von  diesem  bis  zum  1.  Juli  1852  durchberaten.  Der  ans 
dieser  Beratung  hervorgegangene  Entwurf  von  81  Paragraphen  (BBl.  1852  U, 
539—580)  wurde  in  der  Botschaft  vom  1.  Juli  1852  (S.  581—593)  kurz  be- 
leuchtet, sehr  treffend  in  dem  von  Dubs  redigierten  Berichte  der  Kommission 
des  Nationalrates  (ebenda  1853  I,  1 — 21)  kritisiert  und  kam  im  Anfange  des 
Jahres  1853  zur  Beratung  in  der  Bundesversammlung.  Mit  einigen  Änderungen 
wurde  er  vom  Nationalrate  am  3.  Februar  1853  und  vom  Ständerate  am  folgen- 
den Tage  angenommen,  sodann  vom  Bundesrate  am  6.  April  1853  als  Gresetz 
mit  Gesetzeskraft  vom  1.  Mai  1853  veröffentlicht. 


1)  Vgl.  Stooss  in  der  Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht  I,  261—303.   Der  Text  in 
der  A.  S.  n.  F.  XI,  273  ff.;  Wolf,  II,  277  ff. 

«)  Vgl.  Stooss  in  der  Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht  V,  885  ff. 


§  6.    Die  StGgebung  des  Bundes  seit  1848.  379 


Das  Gesetz  sagt  in  der  Eingangsformel  nur:  ^Dle  Bandesversammlnng 
der  schweizerischen  Eidgenossenschaft,  nach  Einsicht  des  Vorschlages  des 
Bnndesrates,  beschliesst".  Es  handelte  sich  um  die  Ausführung  des  Art.  107  b 
der  BV.  von  1848,  d.  h.  um  Strafbestimmungen  zum  Schutze  bundesstaatlicher 
Interessen  und  Einrichtungen,  für  welche  man  ^^Emanzipation  von  der  Kantonal- 
gesetzgebung" anstrebte.  Hieraus  erklärt  sich  der  allerdings  minime  Umfang 
dieses  Gesetzbuches ,  das  in  seinem  I.  Abschnitt  (Allgemeine  Bestimmungen) 
mit  7  Titeln  nur  35  Artikel,  im  II.  Abschnitt  (Von  den  verschiedenen  Verbrechen 
im  besonderen)  mit  gleichfalls  7  Titeln  weitere  37  Artikel  enthält,  worauf  im 
Anhangstitel  (Art.  73 — 77)  Kompetenzbestimmungen  folgen,  endlich  im  Art.  78 
die  Vollziehungsklausel. 

Der  allgemeine  Teil  ist  mit  geringen  Änderungen  in  den  Art.  2 — 35 
übereinstimmend  mit  Art.  4 — 35,  38  und  39  des  Militärstrafgesetzes  (oben  S.  376). 
Unter  Weglassung  der  Todesstrafe  werden  als  Freiheitsstrafen  gedroht:  1.  Zucht- 
haus (das  stets  mit  Verlust  des  Aktivbürgerrechts  für  eine  vom  Richter  zu 
bestimmende  Frist  verbunden  ist)  von  1 — 30  Jahren,  nur  ausnahmsweise  nach 
Art.  36,  37,  62*  lebenslänglich  und  2«  Gefängnis  bis  zu  6  Jahren,  womit  Amts- 
entsetzung wie  Verlust  des  Aktivbürgerrechts  nach  richterlichem  Ermessen  ver- 
bunden werden  kann,  während  es  nicht  gestattet  ist,  „den  Verlust  der  Freiheit 
durch  andere  übel  zu  erschweren".  Immerhin  dürfen  die  Bundesassisen  bei 
Aburteilung  gemeiner,  in  die  Kantonalkompetenz  fallender  Verbrechen  nach 
dem  Kantonalrechte  alle  Strafbefugnisse  (die  Ausfällung  der  Todesstrafe  in- 
begriffen) ausüben,  sollen  aber  unter  keinen  Umständen  körperliche  Züchtigung, 
Brandmarkung  oder  öffentliche  Ausstellung  aussprechen,  vielmehr  statt  dessen 
eine  verhältnismässige  Freiheitsstrafe  verhängen  (Art.  9  Abs.  2,  Art.  76).  Mit 
Amtsentsetzung  soll  Unfähigkeit  zur  Bekleidung  eines  öffentliclien  Amtes  oder 
einer  Anstellung  für  eine  durch  das  Urteil  zu  bestimmende  Zeit  von  2 — 10  Jahren 
verbunden  sein  und  Verlust  des  Aktivbürgerrechts  darin  bestehen,  dass  der 
mit  dieser  Strafe  Belegte  unfähig  wird,  das  ihm  nach  der  Verfassung  oder 
den  Gesetzen  des  Bundes  oder  eines  Kantons  zustehende  Stimm-  und  Wahl- 
recht auszuüben  oder  ein  öffentliches  Amt  zu  bekleiden.  Die  längste  Dauer 
letzterer  Strafe  kann  sich  bei  Zuchthaus  bis  auf  Lebenszeit  erstrecken,  bei 
Gefängnis  dagegen,  über  diese  Strafe  hinaus,  nicht  über  10  Jahre  (Art.  6,  7). 
Im  Übrigen  kennt  das  Gesetz  noch  Landesverweisung  und  Geldbusse.  Erstere 
Strafe  soll  Schweizerbürgem  gegenüber  nie  auf  länger  als  10  Jahre,  niemals 
gegenüber  rückfälligen  oder  gefährlichen  Verbrechern  ausgesprochen  werden, 
stets  nur  in  Verbindung  mit  einer  Freiheitsstrafe  oder  Amtsentsetzung  und 
dann,  wenn  Wahrscheinlichkeit  vorhanden  ist,  dass  der  zu  Verurteilende  im 
Stande  sei,  ausser  Landes  sich  auf  eine  rechtliche  Weise  durchzubringen.  Es 
verwendet  hiermit  der  Bund  ein  den  Kantonen  später  (BV.  von  1874,  Art.  44) 
entzogenes  Strafmittel.  —  Geldbusse  (Geldstrafe)  andrerseits  wird  bis  zu  Frs. 
10000  angedroht.  Hierüber  sagt  die  Botschaft,  dass  man  sich  hierfür  an  das 
Vorbild  der  soviel  als  möglich  zu  Rate  gezogenen  Bundesgesetze  von  Nord- 
amerika gehalten  habe,  welche  neben  der  Freiheitsstrafe  immer  auch  eine 
Geldbusse  und  zwar  neben  lOjährigem  Gefängnis  eine  solche  von  10000  Dollars 
androhen.  Angesichts  der  grossen  Verschiedenheit  der  Verhältnisse  in  jenem 
Lande  und  derer  in  der  Schweiz  hat  man  diese  Begründung  vielfach  als  nicht 
zutreffend  erklärt.  Bei  Ausfällung  solcher  Geldbussen  soll  für  den  Fall,  dass 
dieselben  nicht  innerhalb  3  Monaten  erhältlich  sind,  oder  bei  Zahlungsunfähig- 
keit Umwandlung  in  Gefängnisstrafe  (für  je  5  Frs.  Busse  1  Tag)  ausgesprochen 
werden. 

Rücksichtlich  des  Herrschaffcskreises  geht  das  Gesetz  in  Art.  1  von  dem 
Territorialprinzip  nur  in  wenigen  Fällen  (Abs.  2:  Art.  36 — 40,  45,  61  und  65) 


380  I^a-s  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Eidgenössisches  (Bundes-)  StR. 


zu  beschränkter  Anerkennung  des  Realprinzips  tiber^)  und  giebt  schon  hier 
rücksichtlich  Abgrenzung  der  bundesrechtlichen  Kompetenz  gegenüber  kanto- 
naler zu  Auslegungsschwierigkeiten  Anlass.  Jedenfalls,  zeichnet  sich  das  Gesetz 
durch  Milde  aus.  Abgesehen  von  schweren  Fällen  des  Landesverrates  (Art. 
36,  37)  mangeln  Minima  bei  den  Strafdrohungen;  Maxima  kommen  nur  selten 
vor,  öfters  werden  mehrere  Strafarten  zur  Wahl  gestellt,  sodass  das  richter- 
liche Ermessen  weiten  Spielraum  hat.  Fahrlässigkeit  wird  gleichfalls  nur  aus- 
nahmsweise (Art.  57,  67  b)  bestraft.  —  Als  Versuch  eines  Verbrechens  gilt  es, 
wenn  jemand,  in  der  Absicht  dasselbe  zu  begehen,  eine  äussere  Handlung  vor- 
genommen hat,  welche  wenigstens  schon  als  ein  Anfang  der  Ausführung  der 
beabsichtigten  Übertretung  anzusehen  ist.  Die  Strafe  hierfür  besteht  höchstens 
in  der  Hälfte  der  auf  das  vollendete  Verbrechen  gesetzten  Strafe,  sofern  diese 
teilbar  ist.  Nähere  Anweisung  für  den  Richter  giebt  Art.  16,  —  Strafbar 
werden  alle  Teilnehmer  eines  Verbrechens  erklärt,  d.  h.  Urheber,  Gehülfen 
und  Begünstiger.  Die  Strafe  der  Gehülfen  ist  gewöhnlich  zwischen  */^ — V* 
der  ürheberstrafe  zu  bemessen;  die  der  Begünstiger  soll  höchstens  die  Hälfte 
der  auf  die  That  gesetzten  Strafe  betragen.  —  Nicht  bestraft  werden  diejenigen, 
welche  in  einem  Zustande,  in  dem  sie  ohne  ihr  Verschulden  der  Urteilskraft 
oder  der  Willensfreiheit  beraubt  waren,  gebandelt  haben.  Dahin  gehören  ins- 
besondere Raserei,  Wahnsinn  und  dergleichen  (Art.  27).  Art.  28  betrifft  den 
Befehl,  Art.  29  gerechte  Notwehr,  um  sein  oder  seines  Nebenmenschen  Leib, 
Leben,  Eigentum  oder  Freiheit  zu  schützen.  Bei  Kindern  zwischen  12 — 16 
Jahren  tritt  Bestrafung  nur  bei  Vorhandensein  der  zur  Unterscheidung  der 
Strafbarkeit  der  Handlung  erforderlichen  Urteilskraft  ein  (Art.  30).  —  Unter 
den  Fällen,  in  denen  der  Richter  innerhalb  der  gesetzlichen  Grenzen  die  Strafe 
erhöhen  soll  (Art.  31),  begegnet  auch  der  Rückfall  in  der  Fassung  der  lit.  d: 
,Je  öfter  der  Schuldige  wegen  aus  gleicher  rechtswidriger  Neigung  entsprungener 
Verbrechen  bestraft  worden  ist".  Selbstverschuldete  Trunkenheit  gilt  in  der 
Regel  nicht  als  Milderungsgrund  (Art.  32  lit.  b),  wohl  dagegen  Jugend  (Art. 
30,  32  lit.  c).  Ohne  Erwähnung  der  Real-  und  Idealkonkurrenz  verfügt  Art.  33 
ganz  einfach:  „Wenn  mehrere  noch  nicht  bestrafte  Übertretungen  desgleichen 
Thäters  so  zur  Untersuchung  kommen,  dass  darüber  in  einem  und  demselben 
Urteile  zu  erkennen  ist,  so  soll  die  Strafe  des  schwersten  dieser  Verbrechen 
angewendet,  die  übrigen  aber  als  besondere  Schärfungsgründe  berücksichtigt 
werden".  —  Verjährung  wird  sowohl  für  die  Strafverfolgung  wie  die  Straf- 
vollstreckung anerkannt.  Die  Frist  beträgt  dort  bei  den  mit  Zuchthaus  be- 
drohten Verbrechen  15  bezw.  10  Jahre,  sonst  3  Jahre;  hier  dagegen  bei  lebens- 
länglicher Zuchthausstrafe  30  Jahre,  sonst  zwischen  5 — 25  Jahren,  wobei  die 
Dauer  der  erkannten  und  noch  nicht  erstandenen  Strafe  in  Betracht  fällt 
(Art.  35  lit.  b).  Eigentümlich  ist,  dass  bei  Betrug,  Fälschung  und  Unter- 
schlagung die  Strafklage  erst  von  dem  Tage  der  Entdeckung  an  veijähren 
soll.  —  Von  Begnadigung  wird  nur  in  Art.  74  und  zwar  dahin  gesprochen, 
dass  das  Begnadigungsrecht  hinsichtlich  der  in  diesem  Gesetze  vorgesehenen 
Verbrechen,  auch  wenn  sie  zur  Untersuchung  und  Beurteilung  an  die  Kan- 
tonalbehörden gewiesen  werden,  der  Bundesversammlung  zustehen  soll  (was 
aber  auf  alle  Bundesstrafsachen,  wie  Stooss,  Grundzüge  461,  sagt,  Anwendung 
finden  muss).  Im  Übrigen  ist  über  Begnadigung  und  Rehabilitation  in  Art. 
169—  182  des  BG.  über  die  Bundesstrafrechtspflege  vom  27.  August  1851  Be- 
stimmung getroffen. 

Der   zweite  Abschnitt  (besondere  Teil)   behandelt   in   auffälliger  Reihen- 
folge   in  Tit.  I  Verbrechen    gegen    die    äussere  Sicherheit   und  Ruhe   der  Eid- 


*)  Vgl.  Pervers  in  der  Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht  IV,  830. 


§  6.    Die  StGgebung  des  Bundes  seit  IMs.  381 


genossenschaft  —  d.  h.  militärischen  wie  diplomatischen  Landesverrat,  auch 
völkerrechtswidrige  Handlungen.^)  —  Tit.  II  Verbrechen  gegen  fremde  Staaten. 
—  Tit.  ni  Verbrechen  gegen  die  verfassungsmässige  Ordnung  und  die  innerem 
Sicherheit.  Die  hier  für  einen  Bundesstaat  zu  lösende  Frage  war  besonders 
dadurch  erschwert,  dass  die  BV.  Art.  5  eine  Garantie  des  Gebietes  der 
Kantone,  ihrer  Souveränität,  der  Verfassungen  (sofern  deren  Gewährleistung 
nachgesucht  und  erteilt  war),  der  Freiheit,  Rechte  des  Volkes  und  der 
verfassungsmässigen  Kechte  der  Bürger  enthält,  andrerseits  auf  das  Inter- 
ventionsrecht des  Bundes  bei  Unruhen  Kücksicht  zu  nehmen  war.  Hier  konnte 
das  Resultat  natürlich  kein  einfaches  sein  (vgl.  Temme,  Lehrbuch  350  ff.). 
Gerade  auf  diesem  Gebiete  handelte  es  sich  um  wesentliche  Beschränkungen, 
der  kantonalen  Strafgesetzgebungsgewalt,  was  leider  in  vielen  kantonalen  Ge- 
setzen nicht  genügend  beachtet  wurde,  sodass  darin  teils  überflüssige,  teils 
sogar  ungültige  Bestimmungen  begegnen.  Im  Auslande  musste  es  beifällig 
anerkannt  werden,  dass  schon  damals  die  Schweiz  ihren  internationalen  Ver- 
pflichtungen bei  politischen  Angriffen  gegen  fi*emde  Staaten  nach  Kräften  nach- 
zukommen trachtete;  mochte  auch  z.B.  der  Ausdruck  in  Art.  41:  „wer  ein 
fremdes  Gebiet  verletzt  oder  eine  andere  völkerrechtliche  Handlung  begeht" 
sehr  unbestimmt  gefasst  sein.  Grosse  Anfechtung  erfuhren  aber  namentlich 
die  Art.  42 — 44  (öffentliche  Beschimpfung  eines  ft*emden  Volkes  oder  seines 
Souveräns  oder  einer  fremden  Regierung  usw.)  in  der  Schweiz,  da  man  hier 
den  Druck  des  Auslandes  zu  spüren  vermeinte  (was  auch  durch  die  Ausfüh- 
rungen in  der  Botschaft  des  Bundesrats  nicht  geändert  wurde).  Die  Verfolgung 
wird  allerdings  in  Art.  42  davon  abhängig  gemacht,  dass  der  Eidgenossenschaft 
„Gegenrecht  gehalten  wird".  Wie  es  sich  hiermit  verhalte,  wurde  in  dem 
Fall  Schill  (verhandelt  vor  den  eidgenössischen  Assisen  zu  Basel  am  18/19.  Juni 
1888)  eingehend  erörtert.^)  Auch  ein  anderer  Artikel  (in  Tit.  III,  Art.  52)  hat 
mehrfach  die  weitesten  Kreise  beschäftigt  und  wird  auch  bei  ferneren  Ver- 
handlungen dies  von  neuem  thun.     Derselbe  sagt: 

„Wenn  eine  der  in  den  Art.  45 — 50  bezeichneten  Handlungen  gegen  eine 
durch  den  Bund  garantierte  Kantonalverfassung  oder  gegen  eine  Behörde  oder 
einen  Beamten  eines  Kantons  gerichtet  wird,  oder  auf  Wahlen,  Abstimmungen 
und  dergl.  sich  bezieht,  so  finden  die  benannten  Artikel  analoge  Anwendung, 
sofern  die  betreffenden  Handlungen  Ursache  oder  Folge  von  Unruhen  sind, 
durch  welche  eine  bewaffnete  eidgenössische  Intervention  veranlasst  worden  ist". 

In  der  Erkenntnis,  dass  es  noch  andere  politische  Verbrechen  geben 
könne,  als  die  in  jenen  Art.  45 — 50  genannten,  für  welche  der  Art.  104  d 
der  BV.  einen  unparteiischen  Richter  im  Bundesassisengerichte  gewähren 
wollte,  wurde  1865  vom  Ständerate  beschlossen,  es  sei  der  Bundesrat  einzu- 
laden, zu  prüfen,  ob  und  wie  eine  Revision  dieser  Bestimmungen  vorzunehmen 
sei.  Der  Vorschlag  des  Bundesrats,  es  solle  das  Bundesgericht  in  den  Fällen 
jenes  Art.  104 d  kantonales  Strafrecht  zur  Anwendung  bringen,  wurde  abgelehnt 
und  die  Vorlage  zu  nochmaliger  Prüfung  zurückgewiesen.  Doch  Hess  man 
die  Sache  auf  sich  beruhen.  Erst  die  bekannten  Stabiovorgänge  vom  24.  Ok- 
tober 1876  gaben  wieder  Anlass  zur  Aufnahme  der  Arbeiten.  Infolge  des 
Stabioprozesses^)  stellte  Ständerat  Brosi  am  19.  Juni  1880  eine  vom  Stände- 
rat am  28.  Juni  1880  erheblich  erklärte  Motion,  worin  der  Bundesrat  ein- 
geladen wurde,  den  eidgenössischen  Räten  Bericht  und  Antrag  zu  hinterbringen 
über  Revision  des  Bundesstrafrecht«  im  Sinne  einer  Erweiterung  des  Begriffes 

^)  Vgl.  Lammasch  in  der  Zeitschr.  für  die  gesamte  StR.-Wissenschaft  III,  404. 
«)  Vgl.  Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht  I,  304—306,  314—320. 
")  Vgl.  Atti  del  processo  di  Stabio,  Bellinzona  1880;   Scartazzini,   Der   Stabio- 
Prozess,  Zürich  1880;  Der  Stabio-Prozess  im  „Neuen  Pitaval"  n.  F.  XVI,  Leipzig  1881. 


382  I^as  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Eidgenössisches  (Bundes-)  StR. 


der  politischen  Verbrechen  und  Vergehen,  welche  in  die  Kompetenz  der 
Bundesassisen  faUen.  Nach  Vorlage  eines  Entwurfes  einigte  sich  zwar  am 
19.  Dezember  1883  die  Bundesversammlung,  indem  sie,  gestützt  auf  Art.  114 
der  neuen  BV.  (entsprechend  Art.  106  der  früheren)  einen  Zusatzartikel 
14: bis  annahm,  demzufolge  dem  Bundesrate  zustehen  sollte,  das  Bundesgericht 
mit  Untersuchung  und  Aburteilung  von  Verbrechen  zu  betrauen,  auch  wenn 
diese  nicht  im  Bundesstrafrechte  vorgesehen  seien,  falls  infolge  politischer 
Aufregung  das  Vertrauen  in  die  Unabhängigkeit  oder  Unbefangenheit  kan- 
tonaler Gerichte  in  Bezug  auf  eine  ihrer  Beurteilung  unterstellte,  auf  ein  Ver- 
brechen gerichtete  Strafklage  als  beeinträchtigt  angesehen  werden  muss.  Der 
zufolge  Ergreifung  des  Referendums  der  Volksabstimmung  unterstellte  Bundes- 
beschluss  wurde  aber  am  11.  Mai  1884  vom  Volke  verworfen.^) 

In  Tit.  IV  sind  die  eigentlichen  Amtsverbrechen-)  der  Bundesbeamten 
aufgenommen:  absichtliche  Verletzung  der  Amtspflicht,  Überschreitung  oder 
Missbrauch  der  Amtsgewalt,  Bestechlichkeit,  schwere  Vernachlässigung  der 
Geschäfte;  Unterschlagung  von  Briefen  und  Paketen  durch  Postangestellte, 
Verletzung  des  Post-  und  Telegraphengeheimnisses.  Es  folgen  dann  (gestützt 
auf  Art.  106  der  BV.  von  1848),  in  systematischer  Stellung  sehr  anfechtbar, 
in  Tit.  V  Verbrechen  gegen  Bundesbeamte  und  in  Tit.  VI  (Art.  61 — 68)  ver- 
mischte Bestimmungen,  nämlich  Delikte  an  Bundesurkunden;  falsches  Zeugnis 
vor  einer  Bundesbehörde;  Übertretung  einer  durch  eine  Bundesbehörde  ver- 
fügten Landesverweisung;  Hülfeleistung  gegenüber  einem  ausgewiesenen  Frem- 
den; verbotene  Werbung  (aufgehoben  durch  BG.  betr.  die  Werbung  usw.  vom 
30.  Juli  1859);  Verletzung  und  Gefährdung  des  Telegraphenbetriebes;  Beschä- 
digung und  Gefährdung  von  Post-  und  Eisenbahnzügen. 

Im  letzten  Tit.  VII  wird  die  pressrechtliche  Verantwortlichkeit  im  Sinne 
des  „Systeme  par  cascades"  geregelt;  im  übrigen  hat  der  Bund  das  ihm  in 
der  BV.  von  1848  Art.  45  (neu  Art.  55)  eingeräumte  Recht,  Strafbestimmungen 
gegen  Missbrauch  der  Presse,  der  gegen  die  Eidgenossenschaft  und  ihre  Be- 
hörden gerichtet  ist,  zu  treffen,  nicht  ausgeübt. 

Auf  die  Kompetenzbestimmungen  der  Art.  73 — 76,  welche  in  ihrem  Ver- 
hältnis zu  damals  bestehenden  und  später  hinzugetretenen  anderweiten  Bestim- 
mungen der  Auslegung  Schwierigkeit  bieten,  hier  einzugehen,  ist  nicht  möglich. 
Die  Umgestaltung  des  Bundesgerichts  zu  einem  ständigen  Gerichtshofe  durch 
die  Gesetzgebung  von  1874  und  eine  lange  Reihe  von  Bundesnebengesetzen 
mit  prozessualen  Normen  hat  die  Abgrenzung  der  Bundesstrafgerichtsbarkeit 
gegenüber  den  kantonalen  zu  einer  höchst  verwickelten,  unklaren  und  un- 
befriedigenden gemacht,  in  welcher  Beziehung  nur  durch  eine  Revision  di'S 
Bundesstrafrechts  und  der  Bundesstrafrechtspflege  in  weitem  Umfange  abge- 
holfen werden  kann.  Seit  mehreren  Jahren  ist  man  hiermit  beschäftigt*)  und 
gerade  jüngst  ein  neuester  Entwurf  zur  Organisation  der  Bundesrechtspflege 
durchberaten  wurden.  Der  Erlass  des  neuen  Gesetzes  steht  binnen  kurzem 
bevor.  Anders  liegt  es  mit  der  jüngst  unternommenen,  für  den  Augenblick 
notwendigsten  Ergänzung  des  Bundesstrafrechts.  Denn  die  Lückenhaftigkeit 
desselben,  gegenüber  den  Anforderungen  neuester  Zeit,  ist  allerdings  mehr 
und  mehr  erkannt  und  offen  zugestanden  worden.  So  erklärte  namentlich  der 
Vorsteher  des  eidgenössischen  Justizdepartements,  Bundesrat  Dr.  Ruchonnet,  in 


»)  Näheres  bei  v.  Sali«,  I,  81  ff. 

-)  Über  Disziplinarvergehen  (Art.  77 d)  vgl.  Blumer- Morel,  2.  Aufl.,  I,  544,  563; 
II,  391;  III,  215. 

*)  Vgl.  die  Ausführungen  von  Dr.  Hafner  und  Dr.  Leo  Weber  in  der  Zeitschr.  für 
Schweizer  Strafrecht  I,  228—260,  361—389.  Der  neueste  Entwurf  ist  im  Bundesblatt 
1892,  II,  273—458  mitgeteilt. 


§  6.    Die  StGgebung  des  Bundes  seit  1848.  :^83 


Beantwortung  der  Motion  Forrer  am  8.  März  1888  (Zeitschr.  für  Schweizer 
Strafrecht,  I,  208): 

„Ce  Code  est  surann^.  U  ne  connait  pas  les  d^lits  politiques  des  temps 
„pr6sent8.  II  ne  connait  ni  les  anarchistes/)  ni  la  dynamite,  ni  Tespionnage 
„politique.  Dans  un  autre  ordre  d*id6es  ce  code  n'a  aucune  disposition  pour 
„prot^ger  la  monnaie,^)  non  plus  que  les  timbres-poste.  II  nous  laisse  d^sarmes 
„dans  bien  des  cas  oü  nos  rapports  intemationaux  sont  en  jeu/' 

Man  schritt  deshalb,  natürlich  nicht  ohne  Rücksicht  auf  die  jetzt  geplante 
Entwerfung  eines  einheitlichen  eidgenössischen  Strafgesetzbuches,  vor  der  Hand 
zum  Entwurf  einer  Novelle.  Die  aus  den  Kommissionsberatungen  hervor- 
gegangene Arbeit  —  über  welche  Stooss  in  der  Zeitschrift  III,  160  ff.  und  in 
seinen  Grundzügen  S.  44/45  berichtete  —  ist  aber  zur  Zeit  noch  nicht  zur  Be- 
ratung in  den  Räten  gekommen. 

Das  Bundesstraftrechtsgesetz  besteht  also  vorläufig  —  abgesehen  von  einer 
Abänderung  des  Art.  26  durch  das  neue  Obligationenrecht  (Art.  60,  88)  und 
andrerseits  Ersetzung  des  Art.  65  durch  das  BG.  betr.  die  Werbung  vom 
30.  Juli  1859  —  unverändert  in  Kraft.  Eine  der  Hauptstreitf^agen,  welche 
jetzt  mehr  und  mehr  die  Praxis  und  Doktrin  beschäftigt,  betrifft  die  Frage, 
welche  Bedeutung  den  Sätzen  desselben  im  allgemeinen  Teil  zuzuschreiben  sei. 
Die  Nebengesetzgebung  des  Bundes  hat  nicht  immer  in  solchen  Fragen  be- 
sondere Verfügung  getroffen ;  wo  dieselbe  nun  z.  B.  über  Verjährung  schweigt, 
ist  kontrovers  geworden,  ob  die  Lücke  durch  Anwendung  der  Bestimmungen 
des  Bundesstrafgesetzes  oder  etwa  der  kantonalen  Gesetzgebung  oder  vielleicht 
sogar  nach  freiem  richterlichen  Ermessen  auszufüllen  sei.  Gewiss  dürfte  die 
namentlich  von  Stooss,  Grundzüge  S.  49  und  Zeitschr.  V,  159,  vertretene  Ansicht, 
dass  nur  ersteres  zulässig  sei,  dem  Zwecke  des  Gesetzes  allein  entsprechen. 
In  einem  der  Räte  freilich  ist  erst  jüngst  bei  Beratung  des  neuen  Fischerei- 
gesetzes eine  Anschauung  zu  Tage  getreten,  die  dem  Kantonalrechte  auf  Kosten 
des  Bundesrechts  Anwendbarkeit  zusprechen  möchte  (Leo  Weber  in  Zeitschr. 
für  Schweizer  Strafrecht  I,  389;  II,  269). 

Eine  wissenschaftliche  Bearbeitung  hat  das  Gesetz  leider  nicht  gefunden;  aus- 
führlichere Besprechung  widmeten  demselben  aber  in  neuester  Zeit  Stooss  im  Gerichts- 
saal Bd.  XL  (1888),  121—129  („Grundzüge"  41—43);  Pfenninger,  346—360;  Blumer- 
Morel,  2.  Aufl.,  III,  195—205.  Interessante  Rechtsfälle  in  der  Zeitschr.  für  Schweizer 
Strafrecht;  namentlich  neueste  in  Bd.  V,  88  ff.  —  Vgl.  auch  v.  Salis,  I,  74  ff.  383;  III, 
835—379. 

Einen  nicht  zu  unterschätzenden  Erfolg  erzielte  man  dagegen  jüngst  auf 
dem  Gebiete  des  Auslieferungswesens.  Hier  schien  bei  stets  wachsender  Zahl 
der  von  der  Schweiz  mit  anderen  Staaten  geschlossenen  Auslieferungsverträge 
oder  Vereinbarungen,  namentlich  zu  Beseitigung  gewisser  Differenzen  zwischen 
der  Centralbehörde  und  den  Kantonsregierungen,  ein  die  Kompetenz  genau 
regelndes  und  die  Beurteilung  seitens  des  Bundesgerichts  als  Staatsgerichts-' 
hofes  dem  Umfange  nach  erweiterndes  Auslieferungsgesetz,  wie  solches  einige 
andere  Staaten  besitzen,  notwendig.  Der  von  Prof.  Dr.  Alphons  Rivier,  Schweiz. 
Generalkonsul  in  Brüssel,  abgefasste  Entwurf  wurde  von  der  hierzu  ernannten 
Kommission  in  der  Sitzung  zu  Bern  vom  14 — 23.  April  1890  durchberaten 
und  der  Bundesversammlung  mit  Botschaft  des  Bundesrates  vom  9.  Juni  1890 
(BBl.  III,  316 — 369)  vorgelegt.  Der  hier  und  da  bei  den  Beratungen  ab- 
geänderten Vorlage  trat  der  Nationalrat  am  21.,  der  Ständerat  am  22.  Januar 


0  Vgl.  die  Schrift  des  Bundesanwalts  Ed.  Müller,  Bericht  über  die  Untersuchung 
betr.  die  anarchistischen  Umtriebe  in  der  Schweiz,  Bern  1885. 

•-)  Bericht  des  Justizdepartements  im  Bundesblatt  1883,  II,  839  über  den  Genfer 
Prozcss  wegen  Anfertigung  ägyptischer  Münzen. 


384  I^as  Stß-  der  deutschen  Schweiz.  —  Eidgenössische»  (Bundes-)  StR. 


1892  bei.     Das   hiermit   zu   Stande   gekommene   Bundesgesetz   betr.  die  Aus- 
lieferung gegenüber  dem  Auslande  vom  22.  Januar  1892  (BBl.   1892,   I,  402 
bis  416)  ist  (nachdem  nur  eine  nicht  genügende  Zahl  von  Referendumsbegehren 
eingelaufen)  nunmehr  in  Kraft  erklärt  worden  (A.  S.  n.  F.  XII,  870  ff.).     Hier- 
nach kann  der  Bundesrat,  mit  oder  ausnahmsweise  ohne  Vorbehalt  des  Gegen- 
rechts, unter  den  in  diesem  Gesetze  aufgestellten  Voraussetzungen  jeden  Frem- 
den ausliefern,  der  durch  die  zuständigen  Gerichtsbehörden  des  ersuchenden 
Staates  verfolgt,    in  Untersuchung   gezogen   oder   in  Anklagezustand   versetzt 
oder  vemrteüt  ist  und  auf  dem  Gebiete  der  Eidgenossenschaft  betroffen  wird: 
ebenso  innerhalb  der  Grenzen  dieses  Gesetzes  seinerseits  Gegenrecht  zusichern 
wie  Auslieferungsverträge   schliessen,   auch   bei   Bestehen   eines   solchen  Ver- 
trages mit  oder  ohne  Vorbehalt  des  Gegenrechts  auch  wegen  einer  darin  nicht 
vorgesehenen  Handlung,  sofern  Auslieferung  nach  dem  gegenwärtigen  Gesetze 
statthaft  ist,    letztere  gewähren  oder  Gegenrecht  zusichern   (Art.  1).  —  Kein 
Schweizerbürger   darf  (Art.  2)    an   einen   fremden    Staat   ausgeliefert  werden; 
vielmehr  erteilt  der  Bundesrat  dem  verfolgenden  Staate  auf  dessen  Ersuchen 
oder  bei  Ablehnung  des  Begehrens  die  Zusicherung,  dass  der  Verfolgte  in  der 
Schweiz  nach  dem   im    Gebiete    des  zuständigen  Gerichtes  geltenden   Rechte 
beurteilt  und  gegebenen  Falles  bestraft  werden  wird,   wofern   der  ersuchende 
Staat  erklärt,  dass  der  Schweizerbürger  nach  Verbüssung  der  in  der  Schweiz 
gegen  ihn  verhängten  Strafe  auf  seinem  Gebiete  nicht  nochmals  wegen  des- 
selben Verbrechens   verfolgt   und   auch    ein  von   seinen  Gerichten   gegen   ihn 
ausgefälltes  Strafurteil  nicht  vollzogen  werden  wird.     Wird  diese  Zusicherung 
erteilt,    so   ist   der   Niederlassungskanton    (bezw.    Heimatskanton)   verpflichtet, 
gegen   denselben  vorzugehen,    wie  wenn    die   strafbare  Handlung  im  Gebiete 
des  Kantons  begangen  wäre.  —  Art.  3  enthält  die  lange  Liste  der  Auslieferungs- 
delikte, während  Art.  4  die  Auslieferung  auch  gestattet,  wenn  Nichterwähnung 
einer  Handlung  im  Strafgesetze  des  Zufluchtskantons  lediglich  Folge  äusserer 
Verhältnisse,   wie  z.  B.   der  Verschiedenheit  der  geographischen  Lage  beider 
Länder,  ist.  —  Nach  Art.  9  erfolgt  die  Auslieferung  nur  unter  der  Bedingung, 
dass  der  Auszuliefernde  nicht  vor  ein  Ausnahmegericht  gestellt  werden  darf. 
Art.  10  schliesst  die  Auslieferung  wegen  politischer  Verbrechen  und  Vergehen 
aus,  gestattet  sie  jedoch,   obgleich   der  Thäter  einen  politischen  Beweggrund 
oder  Zweck  vorschützt,*)  wenn  die  Handlung  vorwiegend  den  Charakter  eines 
gemeinen  Verbrechens  oder  Vergehens  hat,   worüber  das  Bundesgericht  nach 
freiem   Ermessen   entscheidet.*)   —   Der   Bundesrat   bewilligt   sofort   die  Aus- 
lieferung, wenn  der  Verhaftete  in  dieselbe  eingewilligt  hat,  kein  gesetzliches 
Hindernis  entgegensteht  oder  gegen  die  Auslieferung  nur  Einwendungen   er- 
hoben werden,  welche  sich  nicht  auf  das  Gesetz,  den  Staatsvertrag  oder  eine 
Gegenrechtserklärung  stützen.    Im  Falle  sonstigen  Einspruches  entscheidet  das 
Bundesgericht  (Art.  23).  —  Nach  Art.  30  kann  der  Bundesrat  im  Einverständ- 
nisse aller  Beteiligten  gestatten,   dass  eine  im  Auslande  verhängte  Gefängnis- 
strafe in  einer  inländischen  Verhaftsanstalt  erstanden  werde  und  trägt  derselbe 
(Art.  31 )    die    Kosten    der  von    seinen  Behörden    angeordneten  Auslieferungen 
an  auswärtige  Staaten.  —  Der  bisher  die  Stellung  des  Bundesgerichts  und  des 
Bundesrats   normierende   Art.  58    des   BG.    über   die    Bundesrechtspflege  vom 
27.  Juni  1874  (in  Ersetzung   des  früheren  vom  5.  Juni  1849)   wird   im  letzten 


*)  Der  französische  Text:  ^Elle  pourra  etre  accord^e  alors  meme  que  le  coupable 
alleguerait  un  inotif  ou  un  but  politique  .  .  .^  giebt  diesen  Sinn  vielleicht  nicht  ganz 
unzweideutig  wieder. 

-)  Vgl.  Rolin  in  Revue  de  droit  international  XXIV,  1892,  p.  25;  Bernev  ebenda 
p.  212—223.  Vgl.  auch  Hiltv  in  seinem  Jahrbuch  VII  96—138,  593;  Archiv  für  öffent- 
liches Recht  VII  565—578.  * 


§  6.    Die  StGgebung  des  Bundes  seit  1848.  385 


Artikel  des  Gesetzes  (33)  aufgehoben.  Eine  Aufzählung  der  bestehenden  Aus- 
lieferungsverträge und  Abreden  giebt  Tabelle  II  der  genannten  Botschaft  vom 
9.  Juni  1890.     Näheres  bei  v.  Salis,  III,  414  flf. 

C.  Bnndesstraft-eehtllche  Nebenipesetze. 

Während  im  Bundesgesetze  über  das  Bundesstrafrecht  nach  der  Auf- 
stellung von  Stooss  in  seinen  Grundzügen  S.  50  die  Bundesinteressen  ihren 
Schutz  gefunden  haben,  nämlich:  I.  Der  Bundesstaat  als  solcher  und  im 
völkerrechtlichen   Verkehr,    daneben    auch    der   fremde    Staat   (Art.  36  —  44); 

II.  Die  Bundesgewalt  und  ihre  Organe  (Art.  45 — 51,  59,  60);  III.  Die 
Bundesverwaltung  a)  im  allgemeinen  (Art.  53  bis  58);  b)  die  Bundesrechts- 
pflege (Art.  61 — 63);  c)  Verkehrswesen  (Art.  66 — 68),  —  hat  der  Bund 
natürlich  auf  den  verschiedensten  Gebieten  von  der  ihm  durch  die  Ver- 
fassung ausdrücklich  oder  stillschweigend  gewährten  Gesetzgebungskompetenz 
mannigfach  Gebrauch  gemacht  und  hierbei  sich  auch  zu  strafrechtlichen 
Bestimmungen  veranlasst  gesehen.  Über  die  Grenzen  der  Bundes-  und  der 
Kantonalsouveränität  kann  allerdings  Streit  entstehen,  um  so  mehr,  als 
jedenfalls  für  das  Strafrecht  letztere  die  Regel  bildet.  Solche  Kompetenz- 
streitigkeiten sollten  nach  der  BV.  von  1848,  Alt.  74,  Ziff.  17  und  Art.  80 
durch  die  Bundesversammlung  entschieden  werden;  die  neue  BV.  von  1874, 
Art.  113,  lässt  das  Bundesgericht  entscheiden,  doch  sind  ,fdie  von  der  Bundes- 
versammlung erlassenen  Gesetze  und  allgemein  verbindlichen  Beschlüsse, 
sowie  die  von  ihr  genehmigten  Staatsverträge  für  das  Bundesgericht  mass- 
gebend." Im  Gegensatze  zur  nordamerikanischen  Unions Verfassung,  welche 
die  Gerichte  der  Union  auch  über  die  Verfassungsmässigkeit  der  Gesetze 
entscheiden  lässt, ^)  liegt  es  hiemach  allerdings  in  der  Hand  der  Bun- 
desversammlung, ihre  Kompetenzen  allmählich  weiter  auszudehnen,  wogegen 
den  Betroffenen  nur  einige  Schutzmittel  (fakultatives  Referendum,  Revisions- 
modus)'') gewährt  sind.  Grosser  Mässigung  in  centralisierendem  Vorgehen 
und  Achtung  kantonaler  Selbständigkeit  ist  es  zuzuschreiben,  dass  es 
nicht  öfter  zu  grösseren  Konflikten  zwischen  Bund  und  Kantonen  gekommen 
ist  und  man  sich  jeweilig  überzeugte,  dass  die  bundesstaatlichen  Einrichtungen 
nach  den  Bedürftiissen  der  Zeit  einer  fortschreitenden  Veränderung  unterliegen 
müssen.  Strafrechtliche  Bestimmungen  sind  nun  in  folgenden  Bundesgesetzen 
enthalten,  geordnet  nach  Materien: 

I.  Civilstand  und  Heimatlosigkeit. 

1.  BG.  die   Heimatlosigkeit   betr.  v.  3.  Dezember  1850    (A.  S.  II,   138  ff.) 

Art.  18  (Vaganten);  19  (BG.  v.  24.  JuU  1867). 

Wolf,  I,  153.  —  Gebhardt,»)  25—26.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  II,  221  ff.  —  v.  Salis, 
J,  477  ff. 

2.  BG.  betr.  Feststellung  und  Beurkundung  des  Civilstandes  und  die  Ehe 
V.  24.  Christmonat  1874  (A.  S.  n.  F.  I,  506  ff.)  Art.  59. 

Wolf,  I,  158  ff.  —  Gebhardt,  So—SS.  —  Pfenninger,  587.  —  Blumer-Morel.  2.  Aufl., 

III,  217. 

U.    Obligationenrecht.     Urheberrecht.     Schuldbetreibung. 

1.   BG.  über    das  Obligationenrecht   v.  14.  Brachmonat    1881    (A.  S.  n.  F. 


*)  Vgl  über  die  Bundesrechtspflege  in  den  Vereinigten  Staaten  Prof.  G.  Vogt 
in  der  Zeitschr.  für  Schweizerisches  Recht  XXXI,  566 — 586;  Westerkamp,  Staatenbund 
und  Bundesstaat,  S.  827. 

*)  Der  3.  Abschnitt  der  BV.  von  1874  (Art.  118—121)  ist  jetzt  abgeändert  und 
erweitert  zu  Art.  118—123,  in  Kraft  seit  29.  Juli  1891.   Vgl.  Westerkamp  a.  O.  414  ff. 

')  Gebhardt,  Sammlung  der  eidgenössischen  Straf-  und  Strafprozessgesetze. 
Luzern  1889. 

Btrafgesetzgebnng  der  Gegenwart.   I.  25 


386  Das  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Eidgenössisches  (Bundes-)  StR. 


V,  635  ff.),  Art.  864  (Ordnungsbusse  wegen  Nichteintragung  in  das  Handels- 
register). Nach  Art.  880  bleiben  Strafbestimmungen  betr.  Führung  von  Ge- 
schäftsbüchern und  Aufbewahrung  derselben  der  Kantonalgesetzgebung  vor- 
behalten.    Vgl.  auch  Art.  50—60,  69. 

Amtl.  Ausgabe  (deutsch,  französisch,  italienisch)  Bern  1882.  —  Kommentar  von 
Schneider  &  Fick.  Grössere  unter  Benutzung  der  Praxis  bearbeitete  Ausgabe.  Zürich 
1891—93.  —  Haberstich,  Handbuch  des  Schweiz.  Obligationenrechts,  Zürich  1884—1887. 

—  Textausgabe  mit  Anmerkungen  v.  Dr.  H.  Hafner,  Zürich  1892.  —  Virgile  Rössel, 
Manuel  du  droit  f^d^ral  des  obTigations,  Lausanne  1892. 

2>  BG.  betr.  das  Urheberrecht  an  Werken   der  Litteratur  und  Kunst  v. 

23.  April  1883  (A.  S.  n.  F.  VH,  261  ff.)  Art.  13  ff. 

Wolf,  I,  259  ff.  —  Gebhardt,  67—72.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  III,  498  ff.  —  A.  v. 
Orelli,  Das  Schweiz.  Bundesgesetz  betr.  das  Urheberrecht  an  Werken  der  Litteratur 
und  Kunst  unter  Berücksichtigimg  der  bezüglichen  Staats  vertrage,  Zürich  1884.  — 
H.  Rüfehacht,  Das  litterarische  und  künstlerische  Urheberrecht  in  der  Schweiz  mit 
besonderer  Rücksicht  auf  die  bestehenden  Staats  vertrage.  Diss.  Bern  1892.  —  Meili, 
Die  Schweiz.  Gerichtspraxis  über  das  litterarische,  künstlerische  und  industrielle  Eigen- 
tum, I.  Zürich  1890.  —  Niesper- Meyer,  Der  Schutz  industriellen  Eigentums  in  der 
Schweiz  und  im  deutschen  Reich,  Zürich  1892. 

3.  BG.  betr.  den  Schutz  der  Fabrik-  und  Handelsmarken,  der  Herkunfts- 
bezeichnungen von  Waren  und  der  gewerblichen  Auszeichnungen  v.  26.  Sep- 
tember 1890  (A.  S.  n.  F.  XII,   1  ff.)  Art.  24—34. 

Meili,  Die  Schweiz.  Gesetzgebung  über  den  Schutz  der  Erfindungen,  Marken, 
Muster  und  Modelle.  Textausgabe,  Zürich  1890,  S.  9  ff.  —  Meili,  Das  Marken  strafrecht, 
Bern  1888.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  III,  508  ff.  über  das  frühere  BG.  v.  19.  Dezember 
1879  (A.  S.  n.  F.  V,  35.    Wolf,  I,  765). 

4.  GB.  betr.  die  Erfln dungspatente  v.  29.  Juni  1888  (A.  S.  n.  F.  X,  764  ff.) 

Art.  25  ff. 

Wolf,  I,  276.  —  Gebhardt,  101—103.  —  Meili,  Die  Schweiz.  Gesetzgebung  .  .  ., 
Zürich  1890,  S.  21  ff.  —  Meili,  Die  Prinzipien  des  Schweiz.  Patentgesetzes,  Zürich  189Ü. 

—  Pfenninger,  602.  —  Simon,  Der  Patentschutz,  Bern  1891. 

5.  BO.  betr.  die  gewerblichen  Muster  und  Modelle  v.  21.  Dezember  1888 

(A.  S.  n.  F.  XI,   73  ff.)  Art.  20  ff. 

Wolf.  II,  1122.  —  Gebhardt.  179—181.  —  Meili,  Die  Schweiz.  Gesetzgebung  .  . 
Zürich  1890,   S.  55 ff.  —  Pfenninger,  603.  —  Zeitschr.  für  schweizer  Strafrecht  II,  268. 

6.  BG.  über  Schuldbetreibung  und  Konkurs  v.  11.  April  1889  (A.  S.  n.  F. 
XI,  529  ff.)  enthält  in  Art.  91,  96,  163,  164,  222,  229,  232  Strafandrohungen, 
verfügt  in  Art.  25  No.3,  dass  die  Kantone  die  zur  Vollziehung  eri'orderlichen  Straf- 
bestimmungen festzustellen  haben;  in  Art.  26,  dass  sie  ebenso,  unter  Vorbehalt 
bundesrechtlicher  Bestimmungen  über  die  politischen  Rechte  der  Schweizer- 
bürger (Art.  66  der  BV.),  die  öffentlich  rechtlichen  Folgen  der  fruchtlosen  Pfän- 
dung und  des  Konkurses  feststellen  können.   Das  Konkursstrafrecht  der  Kantone 

wird  nicht  berührt.     Das  Gesetz  ist  auch  in  Romanisch  erschienen. 

Amtliche  Ausgabe,  Bern,  Stärapfli  1890.  —  Kommentar  von  Dr.  Leo  Weber  und 
Dr.  A.  Brüstlein,  Bern  1892,  franz.  von  Brüstlein  und  Rambert,  Lausanne  1892.  — 
Taschenausgabe  von  Dr.  H.  Hafner,  Zürich  1892.  —  Zürcher  in  der  Zeitschr.  für 
Schweizer  Strafrecht  II,  293—343.  —  F.  Zeerleder  (ebenda  IV,  401). 

IIL  Gewerbepolizei. 

1.  BG.  betr.  die  Arbeit  in  den  Fabriken  vom  23.  März  1877  (A.  S.  n.  F. 
III,  241  ff.)  Art.  19. 

Wolf,  I,  291.  —  Gebhardt,  48.  —  Pfenninger,  588.  —  Blumer-Morel^  2.  Aufl.  II, 
273  ff.  —  Das  BG.  vom  23.  März  1877  kommentiert,  Bern  1888. 

2.  BG.  betr.  die  Ausdehnung  der  Haftpflicht  und  die  Ergänzung  des  BG. 

vom  25.  Juni  1881,  vom  26.  April  1887  (A.  S.  n.  F.  X,   165  ff.)  Art.  8. 

Wolf,  I,  295.  —  Gebhardt,  91.  —  Pfenninger,  601.  —  Zeerleder,  Die  Schweiz. 
Haftpflichtgesetzgebung,  Bern  1888. 

3.  BG.  betr.  die  Fabrikation  und  den  Verkauf  von  Zündhölzchen  vom 
22.  Juni    1882,    nebst   Reglement   vom    17.  Oktober  1882,    Art.  11    (A.  S.  n.  F. 

VI,  499  ff.).     Ein  neues  Gesetz  in  Vorbereitung. 


§  6.    Die  StGgebung  des  Bundes  seit  1848.  387 


Wolf,  I,  299.  —  Gebhardt,  64—67.  —  v.  Salis,  I,  414.  —  Dr.  Leo  Weber  in  der 
Zeitßchr.  für  Schweizer  Strafrecht  III,  277. 

4a.  B6.  betr.  Eontrollierung  und  Garantie  des  Feingehalts  der  Gold-  and 
Silberwaren  vom  23.  Christmonat  1880  (A.  S.  n.  F.  V,  363  ff.)  Art.  6,  7,  9,  10 
nebst  Zusätzen  vom  21.  Christmonat  1886  (A.  S.  n.  F.  X,  45). 

Wolf,  I,  302,  305.  —  Gebhardt,  59—62.  —  v.  Saus,  I,  25.  —  Pfenninger,  594. 

4b.  BG.  über   den   Handel   mit   Gold-   und    Silberabfällen   vom   17.  Juni 

1886  (A.  S.  n.  F.  IX,  266  ff.)  Art.  6. 
Wolf,  I,  317.  —  Gebhardt,  77. 

5.  BG.    über   die   Ausgabe   und  Einlösung   von    Banknoten  vom  8.  März 

1881  (A.  8.  n.  F.  V,  400  ff.)  Art.  47—60. 

Wolf,  I,  326.  —  Gebhardt,  62—64.  —  Pfenninger,  595.  —  Blumer-Morel ,  2.  Aufl. 
III,  208.  —  V.  Salis,  IIT,  220. 

6.  BG.  über  den  Geschäftsbetrieb  von  Au8W^^nderung8-Agenturen  vom 
22.  März  1888  (A.  S.  n.  F.  X,  652 ff.)  Art.  18— 20,  nebst  Vollziehungsverord- 
nung vom  10.  Juli  1888,  Art.  35  Abs.  2. 

Wolf,  I,  358.  —  Gebhardt,  92—101.  —  Pfenninger,  601.  —  Zeitschr.  für  Schweizer 
Strafrecht,  II,  265. 

7.  BG.  betreffend  Beaufsichtigung  von  Privatunternehmungen  im  Gebiete 
des  Versicherungswesens  vom  25.  Juni  1885  (A.  S.  n.  F.  VIII,  171  ff.),  Art.  10, 
11,  nebst  Regulativ  betr.  Staatsgebühr  vom  29.  Oktober  1886,  Art.  8. 

Wolf,  I,  366,  368.  —  Gebhardt,  74—76.  —  Pfenninger,  599.  —  v.  Waldkirch,  die 
Staatsaufsicht  über  die  privaten  Versicherungsunternehmungen  nach  Bundesgesetz 
vom  25.  Juni  1885,  Zürich  1892. 

8.  BG.  betr.  die  Patenttaxen    der   Handelsreisenden    vom  24.  Juni  1892 

Art.  8  und  Bundesratsbeschluss  vom  1.  November  1892  (A.  S.  n.  F.  XIII,  43  ff.). 
Hiltv,  Politisches  Jahrbuch  der  schweizerischen  Eidgenossenschaft,  VII  601. 

IV.  Forstwesen.    Vogelschutz. 

la.  BG.  betr.  die    eidgenössische   Oberaufsicht   über   die  Forstpolizei   im 

Hochgebirge  vom  24.  März  1876  (A.  S.  n.  F.  H,  353  ff.)  Art.  27,  29. 

Wolf,  I,  776.  -^  Gebhardt,  44—47.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  II,  198 ff.  —  Pfen- 
ninger, 588. 

Ib.  BG.  betr.  die  Wasserbaupolizei  im  Hochgebirge  vom  22.  Brachmonat 

1877  (A.  S.  n.  F.  HI,   193  ff.)  Art.  13. 

Wolf,  I,  906.  —  Gebhardt,  49.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  II,  205  ff.  —  Pfen- 
ninger,  588. 

2.  BG.  über  Jagd  und  Vogelschutz  vom  17.  Herbstmonat  1875  (A.  S.  n. 
F.  II,  39  ff.)  Art.  5,  21,   22. 

Wolf,  I,  784.  —  Gebhardt,  40.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  II,  301  ff.  —  Pfenninger,  588. 

3.  BG.  betr.  die  Fischerei  vom  21.  Dezember  1888  (A.  8.  n.  F.  XI,  62  ff.) 
Art.  31—33. 

Wolf,  I,  797.  —  Gebhardt,  181—190.  —  Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht  II,  268. 

V.  Gesundheitswesen. 

1.  BG.  über  polizeiliche  Massregeln  gegen  Viehseuchen  vom  8.  Homung 

1872  (A.  S.  X,   1029  ff.)  Art.  26,  36,  37;  Zusatzbestimmung  vom  19.  Heumonat 

1873  (A.  S.  XI,  211  ff.)  Art.  2. 

Vollziehungsverordnung  vom  14.  Oktober  1887  (A.  S.  n.  F.  X,  305  ff.) 
Art.  31,  103. 

Wolf,  I,  747  ff.  —  Gebhardt,  30—36.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  ü,  265  ff. 

2.  BG.  betr.  Massnahmen  gegen  gemeingefährliche  Epidemieen  vom  2.  Juli 
1886  (A.  S.  n.  F.  IX,  277  ff.)  Art.  9.  — Vdg.  betr.  Leichentransport  vom  6.  Ok 
tober  1891  (A.  S.  n.  F.  XIl/339)  Art.  22. 

Wolf,  I,  898.  —  Gebhardt,  79—82.  —  Pfenninger,  600.  —  v.  Salis,  I,  5. 

3.  Vollziehungsreglement    betr.  Vorkehrungen    gegen    die    Reblaus   vom 

29.  Januar  1886  (A.  S.  n.  F.  IX,  3  ff.)  Art.  27. 

Wolf,  I,  740.  —  v.  Salis,  I,  13—16.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  III,  568  ff. 

VI.  Finanzwesen. 

25* 


388  I^as  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Eidgenössisches  (Bundes-)  StR. 


1.  BG.  über  das  Zollwesen  vom  27.  August  1851  (A.  S.  11,  535  ff.)  Art. 
50 — 57.  —  Ein  neues  Gesetz  in  Vorbereitung. 

Wolf,  I,  442  ff.  —  V.  Salis,  III,  88  ff.  —  Gebhardt,  26—29.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl., 
II,  379  ff. 

2a.  BG.  über  das  Postregale  vom  2.  Juni  1849  (0.  S.  I,  98  ff.)  Art.  6,  9,  11. 
Wolf,  I,  502.  —  Gebhardt,  23.  —  v.  Salis,  III,  178  ff.  —  Ein  neues  Gesetz  in  Vor- 
bereitung. 

2b.  BG.  betr.  die  Posttaxen  vom  26.  Juni  1884  (A.  S.  n.  F.  VII.  584 ff.) 
Art.  21.  36.  —  Nachtragsgesetz  vom  24.  Juni  1890  (A.  S.  n.  F.  XI,  720ff.)  — 
Revision  einiger  Bestimmungen  vom  17.  Juni  1891  (A.  S.  n.  F.  XII,  350ff.)  — 
Transportordnung  vom  7.  Oktober  1884  (A.  S.  n.  F.  VII,  619  ff.)  Art.  15^  16*. 
—  Vdg.  des  Bundesrats  über  Konzessionierung  von  Unternehmungen  für  den 
Transport  von  Personen  und  deren  Gepäck  mit  Fuhrwerken  vom  26.  Mai  1891, 
Art.  11  (A.  S.  n.  F.  XII,   118). 

Wolf,  I,  525  ff.  —  Gebhardt,  23-2:.,  72.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  I,  536  ff. 

3.  BG.  über  das  Pulverregale  vom  30.  April  1849  (O.  S.  I,   165  ff.)  Art  6. 
Wolf,  I,  956.  —  Gebhardt,  22.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  II,  392  ff. 

4.  BG.  betr.  gebrannte  Wasser  vom  23.  Dezember  1886  (A.  S.  n.  F.  X,  60  ff.) 

Art.  14 — 17,   19.      Bundesratsbeschluss    betr.  Denaturieren    des   Alkohols    vom 

2.  September  1887   (A.  S.  n.  F.  X,   135).     Reglement  vom   24.  Juli   1888  (A.  S. 

n.  F.  X,  742):  neues  vom  11.  Juli  1890  (A.  S.  n.  F.  XI,  626  ff.). 

Wolf,  I,  968  ff.  II,  1153.  —  Gebhardt,  82—91.  —  v.  Salis,  III,  194  ff.  —  Zeitschr. 
für  Schweizer  StR.  IV,  404. 

VII.  Verkehrswesen. 

1.  BG.  betr.  die  Verbindlichkeit    zur    Abtretung   von    Privatrechten    vom 

1.  Mai  1850  (0.  S.  I,  319  ff*.)  Art.  9. 

Wolf,  I,  896.  —  Gebhardt,  25.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  II,  162  ff. 

2  a.  BG.  über  den  Bau  und  Betrieb  der  Eisenbahnen  vom  23.  Christmonat 
1872  (A.  S.  XI,   1  ff.)  Art.  34. 

Wolf,  I,  588.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  II,  36  ff.  —  v.  Salis,  I,  44  ff.  —  HürUmann, 
Die  eidgenössische  Eisenbahngesetzgebung  mit  Angabe  der  Quellen  für  die  Kenntnis 
der  darauf  bezüglichen  Praxis  der  Btmdesbehörden  bis  Ende  1885,  Zürich  1887. 

2b.  BG.  betr.  Handhabung  der  Bahnpolizei  vom  18.  Homung  1878  (A. 
S.  n.  F.  III,  422  ff.)  Art.  8,  9. 

Wolf,  I,  608.  —  Gebhardt,  49—53.  —  Blumer-Morel,  2.  Aufl.,  II,  106 ff.  —  Pfen- 
ninger, 589. 

2c.  HG.  betr.  die  Arbeitszeit  beim  Betriebe  der  Eisenbahnen  und  anderer 

Transportanstalten  vom  27.  Juni  1890  (A.  S.  n.  F.  XI.   713)  Art.  7. 
F.  Zeerleder  in  der  Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht,  IV,  402. 

3.  BG.  über  die  Organisation  der  Postverwaltung  v.  25.  Mai  1849  (O.  S. 
I,  104  ff.)  Art.  14,   15.    (W^olf,  I,   129.) 

4  a.  BG.  über  die  Organisation  der  Telegraphen  Verwaltung  vom  20.  Christ- 
monat 1854  (A.  S.  V,   Iff.)  Art.  16,  17.    (Wolf,  I,   135.) 

Verordnung  üVer  die  Disziplinarstrafen  der  Telegraphenbeamten  und  Be- 
diensteten vom  22.  Januar  1855  (ebenda  V,  66  ff.)  Art.  1,  4.  (Wolf,  I,  566, 
Gebhardt,  29.) 

4b.  BG.  über  den  telegraphisehen  Verkehr  im  Innern  der  Schweiz  vom 
22.  Brachmonat  1877  (A.  8.  n.  F.  III,  161  ff.)  Art.  4,  aufgehoben  durch  Verord- 
nung vom  30.  Juli  1886. 

5  a.  BG.  betr.  die  Erstellung  von  Telegraphen-  und  Telephonlinien  vom 
26.  Juni  1889  (A.  S.  n.  F.  XI,  251)  Art.  9,  11. 

5b.  BG.  betr.  das  Telephonwesen    vom  27.  Juni  1889    (ebenda  XI,  256) 

Art.  19  Abs.  2. 

Wolf,  II,  1137  ff.  —  Meili,  Das  Telephonrecht,  Leipzig  1885.  —  Meili,  Das  Recht 
der  modernen  Verkehrs-  und  Transportanstalten,  Leipzig  1888.  —  Leo  Weber  in  der 
Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht,  III,  275.  —  v.  Salis,  III,  189  ff. 


§  6.    Die  StGgebung  des  Bundes  seit  1848.  389 


]>•  Die  BnndesYerfasnang  in  ihrem  EinUnss  auf  das  kantonale  Strafreoht« 

Die  Bundesverfassung  von  1848,  wie  die  jetzige  von  1874,  enthält  melir- 
fach  Bestimmungen,  welche  auf  das  kantonale  Strafrecht  Einfluss  üben.  Es 
handelt  sich  hier  um  folgende  Punkte: 

a)  Verbot  der  Todesstrafe.  Politische  Todesurteile  (wie  das  im  Tessin 
an  Advokat  Nessi  vollzogene  und  das  in  Luzem  gegen  Dr.  Robert  Steiger 
ausgefällte,  wegen  Befreiung  aus  dem  Kerker  nicht  zur  Vollstreckung  ge- 
langte) und  wohl  auch  der  Vorgang  Frankreichs  bestimmten  dazu,  in  die 
BV,  von  1848  Art.  54  mit  dem  Satz  aufzunehmen:  „Wegen  politischer  Vergehen 
darf  kein  Todesurteil  gefällt  werden."  Diese  Bestimmung  wurde  auf  gemeine 
Verbrechen  in  Art.  65  der  BV.  von  1874  erweitert,  indem  gesagt  wurde: 

„Die  Todesstrafe  ist  abgeschafft.  Die  Bestimmungen  des  Militärstrafgesetzes 
bleiben  jedoch  in  Kriegszeiten  vorbehalten". 

Die  Abschaffung  dieses  Verbotes  wurde  in  mehreren  Petitionen  aus  ver- 
schiedenen Kantonen  gefordert,  als  Ende  der  70er  Jahre  mehrere  schwere 
Verbrechen  in  weiten  Kreisen  grosse  Beunruhigung  hervorgerufen  hatten. 
Ständerat  Freuler  von  Schaffhausen  brachte  2.  Dezember  1878  die  Motion  ein, 
den  Art.  65  aufzuheben  und  den  ftüheren  Rechtszustand  wieder  herzustellen. 
Von  beiden  Räten  wurde  dieselbe  17.  Dezember  1878  erheblich  erklärt  und 
dem  Bundesrate  zur  Begutachtung  überwiesen.  Letzterer  beantragte  in  seiner 
Botschaft  vom  7.  März  1879  (BBl.  1879,  I,  281—301)  auf  die  Motion 
und  die  Petitionen  nicht  einzutreten.  Doch  beschloss  die  Bundesversammlung 
dem  entgegen  die  Revision  des  Artikels.  Der  auf  die  frühere  Bestimmung 
zurückgehende,  durch  Bundesbeschluss  vom  28.  März  1879  vorgelegte  Revi- 
sionsartikel fand  Annahme  bei  der  Bundesversammlung  und  Gutheissung  in 
der  Abstimmung  des  Volkes  und  der  Stände  vom  18.  Mai  1879.  Es  sprachen 
sich  dafür  200485  (gegen  181  588)  Stimmberechtigte,  sowie  eine  Mehrheit  von 
13  Ständen  und  4   halben  Ständen  (gegen  6  Stände  und  2   halbe)   aus.      Mit 

dem  darauf  erlassenen  Bundesbeschluss  vom  20.  Brachmonat  1879  wurden  die 

« 

Kantone  nunmehr  wieder  zur  Androhung  der  Todesstrafe,  ausgenommen  wegen 
politischer  Vergehen,  berechtigt.     Hiervon  machten  Gebrauch: 

1.  Appenzell  I.-Rh.  durch  Beschluss  der  Landsgemeinde  vom  25.  April 
1880.  2.  Obwalden  durch  Gesetz  vom  25.  April  1880.  3.  Uri  durch  Lands- 
gemeindebeschluss  vom  2.  Mai  1880.  4.  Schwyz  im  Kriminalstrafgesetz  vom 
20.  Mai  1881.  5.  Zug  durch  Gesetz  betr.  Abänderung  des  Strafgesetzes  vom 
1.  Juni  1882.  6.  St.  Gallen  durch  Gesetz  vom  2.  Dezember  1882.  7.  Luzem 
durch  Gesetz  vom  6.  März  1883.    8.  Wallis  durch  Gesetz  vom  24.  November  1883. 

Fast  wäre  zu  diesen  Kantonen  auch  noch  Zürich  getreten.  Denn  es 
sprachen  sich  bei  der  Volksabstimmung  vom  27.  Mai  1883  für  die  Todesstrafe 
28  394,  gegen  dieselbe  nur  25254  aus.  Die  hierauf  dem  Volke  gemachte 
Gesetzvorlage  wurde  aber  abgelehnt.  —  Eine  neue  Bewegung  zeigt  sich  jetzt 
(März  1893)  im  Kanton  Schaffhausen.  Der  grosse  Rat  erklärte  sich  (13.  März 
1893)  dem  Initiativbegehren  nach  Wiedereinführung  der  Todesstrafe  (mit  33 
gegen  31  Stimmen)  günstig. 

Vor  dem  29.  Mai  1874  war  die  Todesstrafe  abgeschafft  im  Kanton  Frei- 
burg, der  hierin  vorangegangen  war  (nach  der  Verfassung  von  1848,  Art.  8, 
bezw.  Strafgesetzbuch  von  1849  bis  I.Januar  1874  als  Datum  des  Inkrafttretens 
des  neuen  StGB.);  in  Neuenburg  (Loi  du  13  juin  1854,  code  pönal  du 
19janvier  1856);  in  Zürich  (Verfassung  von  1869,  Art.  5,  StGB,  von  1871)  — 
in  Genf  (Loi  du  24  mai  1871);  in  Basel-Stadt,  das  im  J.  1819  die  letzte 
Hinrichtung  vollstreckte,  angebahnt  durch  die  Gesetze  vom  11.  Oktober  1849 
und  1.  Februar  1869  im  St(;B.  vom  17.  Juni  1872),  sowie  in  Basel-Land  (StGB, 
vom  3.  Februar  1873);  im  Tessin  (Grossratsbeschluss  vom  3.  Mai  1871,  codice 


390  ^^^  S^K*  <l^r  deutschen  Schweiz.  —  Eidgenössisches  (Bundes-)  StR. 


penale  3  febbrajo  1873j.  Im  Kanton  Solothom  hatte  der  Kantonsrat  bei  Be- 
ratung des  neuen  StOB.  am  19.  Mai  1873  mit  70  gegen  11  Stimmen  die  Ab- 
schaffung beschlossen;  das  StGB,  wurde  aber  erst  12.  Juli  1874  in  der  Volks- 
abstimmung angenommen.  Die  letzten  Hinrichtungen  waren  1867  (in  Luzem), 
1868  (in  Waadt)  erfolgt,  sodass  man  trotz  vorstehend  genannter  Gresetze,  an- 
gesichts der  namentlich  in  Luzem  zu  beobachtenden  Begnadigungspraxis,  die 
Todesstrafe  für  de  facto  beseitigt  erachten  konnte;  bis  am  18.  März  1892 
nach  Ablehnung  des  Begnadigungsgesuches   von   Gatti  in  Luzem  von  neuem 

eine  Hinrichtung  vollzogen  wurde. 

Stooss,  Systematische  Zusanmienstellung  lOs— 111;  Grundzüge  56—58,  285 — 30.S 
und  in  seiner  Zeitschr.  II,  453 — 455.  —  Dr.  Plazid  Mever  v.  Schauensee  in  der  Zeitschr. 
für  Schweizer  Strafrecht  IH,  196,  V,  68—71,  221—229.  —  Repond,  ebenda  HI,  47.  — 
Dr.  Thumeysen,  ebenda  IV,  184.  —  Soldan  et  Decoppet,  ebenda  V,  163—201.  —  Hilty 
in  seinem  Jahrbuch  VIT,  414.  —  v.  Salis,  I,  383.  —  Blumer-Morel,  3.  Aufl.,  I,  574. 

h)  Körperstrafe.  Wohl  aus  Anlass  der  Bestrafung  eines  Schriftsetzers 
Ryniker  im  Kanton  Uri  wegen  Gotteslästerung  und  Religionsbeschimpfung  mit 
20  Rutenstreichen  wurde  durch  Nationalrat  Eytel  bei  den  Beratungen  tiber 
die  neue  Bundesverfassung  im  Jahre  1871  beantragt,  auch  körperliche  Strafen 
zu  untersagen.  Dieser  Antrag  wurde  angenommen,  sodass  jetzt  Art.  65  als 
drittes  Alinea  den  Satz  enthält:  „Körperliche  Strafen  sind  untersagt".  Leider 
bleibt  ungewiss,  was  der  Sinn  dieses  Satzes  sei,  ob  damit  „körperliche 
Züchtigung"  nur  als  Straftnittel  verboten  werde,  oder  auch  als  Disziplinar- 
mittel;  ob  damit  die  in  einzelnen  Gesetzen  gedrohte  Kettenstrafe  getroffen 
werde?  Blumer-Morel,  3.  Aufl.,  I,  575,  erwähnt  allerdings  Staupbesen,  Pranger 
und  Brandmarkung.  Letztere  beide  sind  aber  —  wie  Stooss  in  seinen  Grund- 
zügen 59  bemerkt  —  doch  ihrem  Wesen  nach  Ehrenstrafen. ^) 

c)  Landesverweisung.  Während  Art.  43  der  BV.  von  1848  nur  ver- 
fügte: „Kein  Kanton  darf  einen  Bürger  des  Bürgerrechtes  verlustig  er- 
klären'", bestimmt  Art.  44  der  jetzigen  Verfassung:  „Kein  Kanton  darf  einen 
Kantonsbürger  aus  seinem  Gebiete  verbannen  oder  ihn  des  Bürgerrechtes  ver- 
lustig erklären".  Gestützt  auf  Art.  60,  welcher  vorschreibt,  dass  sämtliche 
Kantone  verpflichtet  sind,  alle  Hchweizerbürger  in  der  Gesetzgebung  sowohl 
als  im  gerichtlichen  Verfahren  den  Bürgern  des  eigenen  Kantons  gleich  zu 
halten,  hat  das  Bundesgericht  sich  mehrfach  dahin  ausgesprochen,  dass  kein 
Kanton  „einen  Schweizerbürger"  aus  seinem  Gebiete  (natürlich  auch  nicht 
aus  irgend  einem  Teile  desselben)  verweisen  dürfe  (Entsch.  des  Bundesgerichts 

I  75  ff'.  263,  XII,  512). 

Hilty,  Über  die  Landesverweisung  nach  eidgenöss.  Recht  (in  den  Verhandlungen 
des  Schweiz.  Vereins  für  Straf-  und  Gefängniswesen  in  Luzem  vom  4.,  5.  Juni  1876, 
Luzem  1877,  S.  68  fl".,  auch  in  der  Zeitschr.  für  Schweiz.  Rechtspflege  und  Gesetzgebung 
Bd.  II  (Zürich  1876),  S.  605—634).  —  Langhard,  Das  Recht  der  politischen  Fremden- 
ausweisimg  mit  besonderer  Berücksichtigimg  der  Schweiz,  Leipzig  1891,  S.  49  fr.  — 
A.  Cbantre,  Du  sejour  et  de  Texpulsion  des  ^trangers,  Geneve  1891,  p.  7 — 15.  —  Blumer- 
Morel,  3.  Aufl.,  I,  575  fr.  —  Stooss,  Grundzüge  60—65.  —  v.  Salis,  I,  No.  345,  S.  495;  II, 
325.  —  Pfenninger,  319,  548,  549. 

d)  Bestrafung  wegen  Glaubensansichten  in  irgend  welcher  Art  ist 
in  Abs.  2  des  Art.  49  der  jetzigen  BV.  von  1874  verboten.  Eine  ausgedehnte 
Rechtsprechung  des  Bundesgerichts  ist  über  diesen  die  Glaubens-  und  Gewissens- 
freiheit im  weitesten  Umfange  garantierenden  Art.  49  und  den  folgenden  (50) 
ergangen. 

*j  In  seinem  Kommentar  zur  BV.  von  1874  bemerkt  Mann  S.  180,  dass  der  dem 
Ständerat  am  19.  Dezember  1873  vorliegende  Text  auch  noch  die  Worte  enthielt  „und 
lebenslängliche  Ehrenstrafen*^.  Hierüber  scheint  nicht  abgestimmt  worden  zu  sein. 
In  der  Vorlage  an  das  Volk  fehlen  dieselben.  Sie  müssen  also  gestrichen  worden  sein, 
was  allerdings  die  Kommission  beantragt  hatte. 


§  6.    Die  StGgebung  des  Bundes  seit  1848.  391 


Hierüber  und  über  Rekursentscheide  des  Bundesrates  vgl.  Langhard,  Die 
Glaubens-  und  Kultusfreiheit  nach  schweizerischem  Bundesrecht,  Bern  1888,  S.  55  ff. 
—  Blumer -Morel,  3.  Aufl.,  I,  425.  —  Stooss,  Grundzüge,  65—68.  —  v.  Salis,  II,  289, 
432.1)  —  Bundesblatt  1886,  I,  63.  —  Pfenninger,  562,  649.  —  v.  Sali»,  Die  Religions- 
freiheit in  der  Praxis,  Bern  1892.  —  Stooss  in  seiner  Zeitschr.  V,  515.  —  Alb.  Maechler, 
Das  Begräbniswesen  nach  schweizerischem  Bundesrecht.    Berner  Diss.,  Herisau  1892. 

e)  Schuldverhaft.  Derselbe  ist  in  Art.  59  der  jetzigen  BV.  abgeschaflFt. 
Durch  die  Rechtsprechung  des  Bundesgerichts  ist  festgestellt,  dass  ein  Ver- 
haft  als  Exekutionsmittel  zur  Eintreibung  von  Forderungen,  ebenso  bei 
Kosten-  und  Schadensersatz  unzulässig  sei.  Dagegen  sind  die  Kantone  be- 
rechtigt, die  Umwandlung  von  Geldstrafen  in  Freiheitsstrafe  vorzusehen. 

Pfenninger,  550,  582.  —  Stooss,  Grundzüge  411.  —  Blumer-Morel,  3.  Aufl.,  I,  580. 

f)  Pressfreiheit.  Schon  Art.  45  der  BV.  von  1848  erklärte:  „Die  Press- 
freiheit ist  gewährleistet.  Über  den  Missbrauch  derselben  trifft  die  Kantonal- 
gesetzgebung die  erforderlichen  Bestimmungen,  welche  jedoch  der  Genehmigung 
des  Bundesrates  bedürfen."  Art.  55  der  neuen  BV.  ist  gleichlautend.  Es 
war  Sache  der  Judikatur,  festzustellen,  was  unter  „Pressfreiheit"  und  „Miss- 
brauch" zu  verstehen  sei,  auch  was  die  Folge  der  Nichtvorlegung  solcher  Be- 
stimmungen seitens  der  Kantone  sei.    Eine  völlig  befriedigende  Lösung  dieser 

Fragen  ist  bisher  nicht  erzielt. 

Blumer-Morel,  3.  Aufl.,  I,  492—510.  —  Stooss,  Grundzüge  207—212.  —  Herm. 
Huber,  Der  Begriff  der  Pressfreiheit  nach  schweizerischem  Rechte,  Bern  1891.  —  Pfen- 
ninger, 834,  576.  —  Paccaud,  Du  regime  de  la  presse  en  Europe  et  aux  Etats-Unis, 
Lausanne  1887. 

g)  Vereinsfreiheit.  Art.  46  der  früheren  und  Art.  56  der  neuen  BV.  ent- 
halten die  Bestimmung:  „Die  Bürger  haben  das  Recht,  Vereine  zu  bilden, 
sofern  solche  weder  in  ihrem  Zweck,  noch  in  den  dafür  bestimmten  Mitteln 
rechtswidrig  oder  staatsgefährlich  sind.  Über  den  Missbrauch  dieses  Rechtes 
trifft  die  Kantonalgesetzgebung  die  erforderlichen  Bestimmungen."  Garantiert 
scheint  hiermit  das  Vereinsrecht  nur  den  Schweizerbürgern,  keineswegs  Fremden. 
Hierin  können  die  kantonalen  Verfassungen,  wie  auch  bezüglich  des  Versamm- 
lungsrechts, weiter  gehen.  Jedenfalls  hat  aber  die  BV.  die  Absicht,  gegenüber 
Vereinen  grössere  Beschränkungen  als  gegenüber  der  Presse  zu  gestatten,  indem 
sie  von  vornherein  gewisse  Vereine  ausschliesst,   deren  Bestehen  und  Wirken 

als  unvereinbar  mit  der  Staatsordnung  erscheint. 

Blumer-Morel,  3.  Aufl.,  I,  511  ff.  —  v.  Orelli,  Staatsrecht  S.  72,  78.  —  Pfenninger, 
335,  579.  —  V.  Orelli,  Les  droits  des  6trangers  en  Suisse  (Revue  de  droit  international 
XIV,  473—489). 

h)  Gleichheit  vor  dem  Gesetz.     Der  Satz  des  Art.  4  der  BV.:    „Alle 

Schweizer  sind  vor  dem  Gesetze  gleich",   wie   der  oben  erwähnte  des   Art,  60 

(alt  48),  wonach  sämtliche  Kantone  verpflichtet  sind,  alle  Schweizer  Bürger  in 

der    Gesetzgebung   sowohl    als    im    gerichtlichen  Verfahren    den  Bürgern    des 

eigenen  Kantons   gleich    zu    halten,  wird   namentlich    oft   in.  Rekurssachen  in 

Bezug   genommen.     Eine  Verletzung   kann   darin   liegen,    dass    dem   vielfach 

in  dieser  oder  jener  Form  aufgestellten  Satze  „keine  Strafe  ohne  Strafgesetz" 

zuwider  gehandelt  wird. 

Hierüber  namentlich:  Stooss,  Grundzüge,  129 — 135.  —  Guggenheim  in  der  Zeit- 
schr. für  Schweizer  Strafrecht  I,  306  ff.  —  Pfenninger,  318,  336,  572  ff. 


*)  Über  diesen  Basler  Fall  vgl.  die  Schrift:  Der  Basler  Religionsprozess  vom 
Jahre  1884/85.  Bern  1886  und  Dr.  E.  Thurnevsen  in  der  Zeitschr.  für  Schweizer  Straf- 
recht IV,  215  Anm. 


392  I^as  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Zweite  Abteilung. 


m.  Zweite  Abteilung. 

§  7.   Die  Eantonalstrafgesetzgebung. 

In  dem  Eahmen  dieses  Werkes  kann  nur  eine  kurze  Darstellung  der 
gesetzgeberischen  Thätigkeit  der  Kantone  gegeben  werden.  Eine  eingehendere 
Charakterisierung  der  einzelnen  Gesetzbücher  giebt  Pfenninger,  in  kurzer  Fassung 
auch  Zürcher  in  seinem  Referate  über  die  Wünschbarkeit  eines  gemeinsamen 
schweizerischen  Strafrechts  (Verhandlungen  des  schweizerischen  Vereins  für 
Straf-  und  Qef ängniswesen,  XII.  Versamml.,  Frauenfeld  1882,  S.  85  ff.,  auch 
separat),  eine  chronologische  Aufzählung  Stooss  in  seinen  Grundzügen,  S.  8 
bis  13.  Für  die  nachfolgend^  übersieht  wurde  der  Zeitpunkt  der  ersten  Kodi- 
fikation als  massgebend  erachtet. 

1.    Kanton  Aargau. 

Eben  erst  in  die  Eidgenossenschaft  eingetreten,  erliess  dieser  Kanton 
schon  1804  im  Anschluss  an  das  österreichische  Gesetz  von  1803  das  erste 
aller  kantonalen  Strafgesetzbücher.  Datiert  vom  19.  Christmonat  1804,  publi- 
ziert durch  den  kleinen  Rat  des  Kantons  am  26.  desselben  Monats,  ti'at  dieses 
185  Paragraphen  umfassende  Gesetzbuch  am  1.  März  1805  in  Kraft: 

Kanton-Aargauisches  Gesetzbuch  über  Kriminal-Verbrechen.  Aarau  1805. 
Gedruckt  in  der  obrigkeitlichen  Buchdruckerey.  —  GS.  von  1826,  Bd.  I, 
220—269. 

Dasselbe  wurde  ersetzt  durch 

Peinliches  Straf-Gesetz  für  den  Kanton  Aargau  vom  11.  Hornung  1857,  in 
Kraft  getreten  am  1.  Mai  1857.  GS.  Bd.  IV,  521 — 555,  auch  separat  ohne 
Ort  und  J. 

Von  den  174  Paragraphen  entfallen  59  auf  den  allgemeinen  Teil;  im 
speziellen  Teile  werden  die  einzelnen  Verbrechen  zwanglos  in  34  Titeln  auf- 
geführt. Charakteristisch  die  übertriebene  Einfachheit  des  Strafensystems  und 
Enge  des  richterlichen  Ermessens.  Ein  Abändenmgsgesetz  wurde  am  19.  Hor- 
nung 1868  (ebenda  Bd.  VI,  334 — 336)  gleichzeitig  mit  einem  Zuchtpolizeigesetz 
vom  19.  Hornung  1868  (Bd.  VI,  322—332)  erlassen,  das  sehr  wenig  präzise 
Begriffsbestimmungen  und  unbestimmte  Strafdrohungen  enthält.  Ein  Ergänzungs- 
gesetz betr.  die  Strafrechtspflege  vom  7.  Juli  1886  (GS.  n.  F.II,  191 — 196)  hat 
den  Rechtszustand  sehr  unklar  gemacht,  sodass  jetzt  eine  Revision  im  Werke 
ist  (Stooss,  Grundzüge  S.  137).  Eine  Textausgabe  bietet:  G.  L.  Stierli,  Zucht- 
polizeigesetz und  peinliches  Strafgesetz  für  den  Kanton  Aargau  mit  den  Ab- 
änderungen, Aarau  1887.  —  Ein  von  Oberrichter  Jakob  Heuberger  verfasster 
Entwurf  mit  505  Paragraphen  erschien  vor  Kurzem  (Brugg  1892). 

Ein  Wuchergesetz  wurde  am  26.  September  1887  erlassen  (GS.  n.  F.  II, 
385 — 386.  —  Stooss,  Systematische  Zusammenstellung  830).  —  Das  Einf.G.  vom 
17.  März  1891  zum  BG.  vom  11.  April  1889^)  enthält  in  den  §§  40—54  Straf- 
bestimmungen, wie  solche  auch  begegnen  im  Gesetz  über  den  Bezug  von  Ver- 
mögens- und  Erwerbssteuern  zu  Staatszwecken  vom  11.  März  1865,  §§  27 — 29, 
im  Gesetz  über  die  Verwendung  der  Gemeindegüter  und  Gemeindesteuern  vom 
30.  November  1866,  §§48,  49  (vgl.  Schanz,  Die  Steuern  der  Schweiz,  Bd.V 
(1890),  S.  5,  13). 


*)  Hiermit  ist  im  nachfolgenden  stets  das  BG.  über  Schuldbetreibung  und  Kon- 
kurs vom  11.  April  1?^89  gemeint. 


§  7.    Die  Kantonalstrafgesetzgebung.  393 


Pfenninger,  176—180,  891—400.  —  Guggenheim,  Der  Grundsatz  „nuUa  poena 
sine  lege"  im  aargauischen  Strafrecht  (Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht  I,  306  ff.).  — 
Stooss,  Grundzüge  180  ff.,  137.  —  Merz,  Aargauische  Strafrechtsquelleu  (in  der  Zeit- 
schr. für  Schweizer  Strafrecht  V,  72-88,  .506-514). 

2.   Kanton  St.  Gallen. 

Schon  18U7  orliess  dieser  Kanton  ein  225  Paragraphen  umfassendes  Straf- 
gesetzbuch über  Verbrechen  vom  14.  Mai  1807.  St.  Gallen,  gedruckt  bei  Zolli- 
kofer  und  Züblin,  sowie  ein  194  Artikel  enthaltendes  Strafgesetz  wider  geringe 
Verletzungen  und  wider  Übertretung  allgemeiner  Polizeiverordnungen  vom 
10.  Dezember  1808  (StGB.  2.  Teil  über  Vergehen.  St.  Gallen,  gedruckt  bei 
Zollikofer  und  Züblin),  das  noch  jetzt  in  einzelnen  Paragraphen  gilt. 

An  die  Stelle  des  ersteren  trat 

Strafgesetzbuch  (erster  Teil)  über  Verbrechen  vom  25.  Juni  1819,  in  Kraft 
getreten  1.  Weinmonat  1819   (mit  222  Artikeln),   St.  Gallen,  gedruckt  bei  Zolli- 
kofer und  Züblin  (GS.  St.  Gallen  1842,  Bd.  I,  779—832); 
ersetzt  durch 

Strafgesetzbuch  über  Verbrechen  und  Vergehen  vom  4.  April  1857,  in  Kraft 
getreten  am  11.  Juni  1857  mit  217  Artikeln  (ebenda  Bd.  V  (1868),  154—218), 
dieses  wiederum  ersetzt  durch 

Strafgesetz  über  Verbrechen  und  Vergehen  vom  25.  November  1885,  in 
Kraft  getreten  am  4.  Januar  1886,  in  Anwendung  seit  1.  Mai  1886  (GS.  n.  F. 
V.  1 — 88;  separat:  St.  Gallen,  Druck  der  Zollikoferschen  Buchdruckerei,  1886), 
ergänzt  durch  ein  Nachtragsgesetz  vom  21.  November  1889  betr.  die  Verjährung 
(Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht,  III,  297—298)  und  eines  vom  29.  Juni 
1891  betr.  jugendliche  Verbrecher  (ebenda  V,  447  ff.). 

Dieses  Gesetz  mit  207  Artikeln  scheidet  Verbrechen,  Vergehen  und  Über- 
tretungen und  kennt  demzufolge  als  Kriminalstrafen:  1.  Todesstrafe,  wieder- 
eingeführt durch  Gesetz  vom  2.  Dezember  1882  (GS.  n.  F.  IV,  80  ff.)  und 
2.  Zuchthausstrafe;  als  Korrektionalstrafen  11  Formen,  darunter  Arbeitshaus 
von  3  Monaten  bis  6  Jahren.  Gefängnis  von  1  Tag  bis  2  Jahren,  Unter- 
bringung in  eine  Besserungsanstalt  auf  1 — 4  Jahre.  Die  Übertretungen  trifft 
„polizeiliche  Abwandlung".  Ganz  besonders  häufig  wird  von  Geldstrafe 
Verwendung  gemacht.  Der  besondere  Teil  behandelt  Verbrechen  und  Vergehen: 
A.  gegen  Vermögen  und  öffentliche  Treue.  B.  gegen  die  Ehre.  C.  gegen  die 
persönliche  Freiheit.  D.  gegen  Gesundheit  und  Leben.  E.  gegen  die  öffent- 
liche Ordnung,  die  Sicherheit  und  den  Bestand  des  Staates.  F.  gegen  den 
konfessionellen  Frieden.  G.  gegen  die  Sittlichkeit.  H.  gegen  besondere  Fa- 
milienpfiichten.     Art.  193 — 199  betrifft  Pressvergehen. 

Wuchergesetz  vom  21.  Mai  1884  (Stooss,  Systematische  Zusammenstellung, 

841— 842).  — Einf.G.  zum  BG.  vom  11.  April  1889  vom  S.März  1891,  Art.  50—78 

(wodurch  Art.  84  lit.  b  c  bis  87  des  StG.  aufgehoben  werden).  —  G.  über  das 

Steuerwesen  vom  24.  Hornimg  1832,  Art.  15  (vgl.  Schanz,  Steuern  der  Schweiz, 

Bd.V,  306). 

Pfenuinger,  180—190,  400—409,  658—662.  —  Zeitschr.  für  die  gesamte  StR.- 
Wissenschaft  Vi,  726  bis  729. 

3a.    Kanton  Basel  (Basel-Stadt). 

Dieser  Kanton  war  fortwährend  bestrebt,  seine  Strafgesetzgebung  auf 
Grund  gemachter  Erfahrungen  zu  verbessern.  Nach  langen  Vorarbeiten  erliess 
er  das  in  seinem  materiellen  Teile  (160  Paragraphen)  höchst  einfache 

Kriminalgesetzbuch.  Erster  Teil:  Über  Verbrechen  und  deren  Bestrafung 
vom  3.  April  1821,  in  Kraft  getreten  am  I.August  1821  (GS.  Bd.V,  147,   148), 


394  Das  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Zweite  Abteilung. 


ersetzt  durch  das  Kriminalgesetzbuch  für  den  Kanton  Basel -Stadtteil  vom 
18.  Mai  1835,  in  Kraft  getreten  am  I.August  1835  (ebenda  Bd. VIII,  423  bis 
503),  letzteres  ersetzt  durch  das  Kriminalgesetzbuch  vom  1.  August  1846.  Erster 
Teil:  Über  Verbrechen  und  derselben  Bestrafung  mit  168  Paragraphen  (ebenda 
Bd.  XI,  219—296). 

Andererseits  wurde  ein  Gresetz  über  die  korrektionelle  Gerichtsbarkeit 
vom  6.  Weinmonat  1824  (GS.  Bd.  VI,  73—107)  durch  das  korrektionelle  Gesetz 
vom  I.August  1846  (Erster  Teil:  Von  Vergehen  und  deren  Bestrafting)  ersetzt 
(ebenda  Bd.  XI,  367  —  401).  Separatnusgaben  dieser  Gesetze  erschienen  je- 
weilig bei  Schweighauser. 

Unter  strenger  Scheidung  von  Verbrechen  und  Polizeiübertretungen  in 
besonderen  Gesetzen  wurden  erlassen  die  jetzt  geltenden  Gesetzbücher: 

1.  Strafgesetz  für  den  Kanton  Basel-Stadt,  beschlossen  vom  Grossen  Rate 
den  17.  Juni  1872,  in  Kraft  getreten  am  I.Januar  1873,  mit  sehr  kurz  gehal- 
tenen 178  Paragraphen,  wesentlich  im  Anschluss  an  das  deutsche  Strafgesetz- 
buch (GS.  Bd.  XVIII,  1—68). 

2.  Polizeistrafgesetz  vom  23.  September  1872,  gleichfalls  am  I.Januar  1873 
in  Kraft  getreten,  mit  165  Paragraphen  (ebenda  XVIII,  69 — 142),  in  welchem 
-. —  wie  Stooss,  Grundzüge  168,  anerkennt  —  das  Wesen  des  Polizeiunrechts 
tiefer  erfasst  ist,  als  in  anderen  schweizerischen  Strafgesetzen. 

Amtliche  Ausgabe:  Straf gesetzgebung  für  den  Kanton  Basel-Stadt  (Juni 
und  September  1872),  Basel,  Schweighauserische  Buchdruckerei  1872.  —  Eine 
neuere  Ausgabe  (ohne  amtlichen  Charakter):  Gesetze  betr.  die  Strafrechts- 
pflege für  den  Kanton  Basel-Stadt.  Basel.  Benno  Schwabe,  Verlagsbuch- 
handlung.    1887. 

Wuchergesetz  vom  9.  April  1883  (§§  152  a,  b,  c,  d  des  8tG.).  —  Press- 
recht: Strafprozessordnung  vom  5.  Mai  1862,  §§163 — 165  (Stooss,  Systematische 
Zusammenstellung,  838).  —  Einf.G.  zum  BG.  vom  11.  April  1889,  vom  22.  Juni 
1891,  §§31 — 34  (mit  Zusätzen  zu  beiden  Strafgesetzbüchern  und  anderer 
Textierung  des  §  54  des  StG.).  —  Gesetz  betr.  die  direkten  Steuern  vom 
31.  Mai  1880  mit  Abänderungen  vom  31.  März  1887,  §  34  (§  45  des  PoL-StG. 
in  neuer  Fassung);  Gesetz  betr.  die  Besteuerung  der  anonymen  Erwerbsgesell- 
schaften vom  14.  Oktober  1889,  §6  (vgl.  Schanz,  Die  Steuern  der  Schweiz, 
Bd.V,  48- -50). 

Pfenninger,  203—207,  251—262,  646—652.  —  Dr.  E.  Thurneysen,  Die  Strafrechts- 
pflege des  Kantons  Basel  (Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht  IV,  165 — 230).  —  Zeitschr. 
für  Schweizerisches  Recht  XIX,  85,  86.  —  Regierungsrat  Dr.  E.  Brenner,  Entwicklung 
des  Gefängnis-  und  Straf wesens  in  Basel  (Verhandlungen  des  schweizerischen  Vereins 
für  Straf-  und  Gefängniswesen,  XVII.  Versammlung,  II.  Heft,  Aarau  1892.  S.  25—81). 

3b.    Kanton  Basel-Landschaft. 

Das  Basler  Kriminalgesetzbuch  vom  3.  April  1821  und  das  Basler  kor- 
rektionelle Gesetz  vom  6.  Weinmonat  1824,  wie  auch  das  Basler  Müderungs- 
gesetz  vom  2.  August  1825,  wurden  unter  Vorbehalt  baldiger  Revision  (welche 
aber  nicht  zu  stände  kam)  von  Basel-Landschaft  nach  seiner  Trennung  von 
Basel-Stadtteil  beibehalten.  Einzelne  Paragraphen  des  Gesetzes  von  1824 
gelten  nach  dem  Einführungsgesetz  zum  neuen  Strafgesetze  vom  10.  März  1873 
auch  jetzt  noch.  Dieses  neue  Strafgesetz,  bei  ganz  geringen  Änderungen 
mit  dem  neuen  Strafgesetze  für  Basel-Stadt  vom  17.  Juni  1872  gleichlautend, 
wurde  vom  Landrate  am  3.  Februar  1873  beschlossen,  in  der  Volksabstimmung 
vom  11.  Mai  1873  angenommen  und  trat  am  I.Juni  1873  in  Kraft  (Amtsblatt 
1873,  S.  139— 198,  287—295;  GS. IX,  683—752).  Ausgabe:  Kanton  Basel- 
Landschaft.  Gesetze  und  Erlasse  betr.  Strafrecht  und  Strafrechtspflege.  Liestal, 
Buchdruckerei  von  A.  Brodbeck,  1889. 


§  7.    Die  Kantonalstrafgesetzgebung.  395 


Straf bestimmungen  enthält  das  Einf.G.  zum  B6.  vom  11.  April  1889,  vom 
31.  August  1891,  §§43 — 51.  —  Ebenso  das  G.  über  Vermögens-,  P>w«rbs- 
und  Einkommensbesteuerung  vom  11.  August  1856,  §12  und  das  Abänderungs- 
gesetz vom  16.  November  1858,  §8  (vgl.  Schanz,  Die  Steuern  der  Schweiz, 
Bd.  V,  32,  33).  —  Wucher:  G.  über  die  korrektioneile  Gerichtsbarkeit  vom 
6.  Oktober  1824,  §  50. 

Pfenninger,  256/7.  —  Zeitschr.  für  schweizerisches  Recht  XIX,  sfJ. 

4.    Kanton  Luzern. 

Hauptsächlich  nach  dem  Vorbilde  des  Basler  Gesetzes  von  1821  erliess 
dieser  Kanton  sein  Eoiminalstrafgesetz  vom  18.  Homung  1827  mit  176  Para- 
graphen, in  Kraft  getreten  1.  Heumonat  1827  und  auch  ein  Polizeistrafgesetz  vom 
18.  Homung  1827  mit  68  Paragraphen  (3.  GS.  Bd.  V  [1827],  1-75,  133—158) 
und  ersetzte  dieselben  durch  das 

Kriminalstrafgesetzbuch  vom  12.  März  1836,  in  Kraft  getreten  16.  März 
1836,  mit  281  Paragraphen  und  das  Polizeistrafgesetz  vom  23.  März  1836,  in 
Kraft  getreten  1.  Maimonat  1836,  mit  167  Paragraphen  (4.  GS.,  Bd.IV'  [1836], 
1 — 104,  105 — 160)  und  diese  wieder  unter  dem  Eindrucke  von  Volkspctitionen, 
welche  eine  Verschärfung  der  Strafgesetzgebung,  Anwendung  von  Köi-per- 
strafen  und  Ausdehnung  der  Todesstrafe  verlangten,  durch 

Kriminalstrafgesetz  vom  29.  Wintermonat  1860,  in  Kraft  getreten  28.  Ja- 
nuar 1861,  mit  257  Paragraphen  und  Polizeistrafgesetz  vom  6.  Brachmonat 
1861,  in  Kraft  getreten  11.  Augustmonat  1861  mit  176  Paragraphen.  Amtliche 
Ausgabe  ohne  Ort  und  J.  —  fünfte  GS.  Bd.  HI  (1861),  325—392,  487—538. 
Ausgaben  mit  erläuternden  Anmerkungen  von  Kasimir  Pfyflfer,  Luzern  1861 
und  Luzern  1862. 

Nach  dem  Urteile  von  Pfenninger  (491)  fiel  man  hierbei  zurück  auf  den 
alten  doktrinellen  Standpunkt  und  folgte  deutschen  Mustern  auch  in  regierungs- 
polizeilichen Delikten,  wie  in  der  harten  Strafe  der  Amts-  und  Privat- 
ehrverletzung.—  Revision  geplant  (Zeitschr.  für  Schweizer  StR.  VI,  112flr.). 

Die  Todesstrafe  wurde  wieder  eingeführt  durch  Gesetz  vom  6.  März  1883. 

Wucher:    Bürgerliches    GB.,    §§595—600;    Polizeistrafgesetz    von  1861, 

§§109—  111;    (t.  betr.  den  gewerbsmässigen  Betrieb  von   Kasso-,  Abtretungs-, 

Darleihens-   und  Wechselgeschäften   vom  4.  März  1880   (Stooss,    Systematische 

Zusammenstellung  832 — 834).  —  Pressrecht:    G.  über  die  Freiheit  der  Presse 

vom  31.  Christraonat  1848  (Stooss,  ebenda  845).  —  Einf.G.  zum  BG.  vom  11.  April 

1889,    vom  Mai  1891,  §  21.  —  Steuergesetz  vom  18.  Herbstmonat  1867,    §  38 

(vgl.  Schanz,  Die  Steuern  der  Schweiz,  Bd.  V,  206/7). 

Pfenninger,  207—211,  268—270,  441—450.  —  Dr.  Plazid  Mever  v.  Schauensee, 
Luzerns  Strafgesetzgebung  (Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht  III,  S8— 93,  195—202,  V, 
498—505);  die  Todesstrafe  (ebenda  V,  68— 71);  Wuchergesetzgebung  (ebenda  IV,  80—84). 
—  J.  Zimmermann,  Über  bedingte  Freilassunff  (ebenda  III,  208—2061  —  X.  Gretener, 
Über  schwere  Körperverletzung  (ebenda  II,  899 — 408),  über  Päderastie  in  der  Zeitschr. 
des  bernischen  Juristen  Vereins  XXII,  108  ff.  —  Dr.  Sigrist,  Sammlung  grundsätzlicher 
Entscheide  und  Maximen  des  Obergerichts,  Bd.  I,  Luzern  1882. 

5.    Kanton  Schaffhausen. 

Dem  Basler  Entwurf  von  1833  folgte  dieser  Kanton  in  seinem  ersten 
175  Paragraphen  umfassenden  Strafgesetz,  das  am  22.  Februar  1834  auf  Probe 
von  4  Jahren  als  Leitfaden  in  Kraft  trat  (Gesetzliche  Bestimmungen  III.  Abt. 
1833,  S.  160—208)  und  dem  Basler  Gesetz  von  1824  in  dem  93  Paragraphen 
enthaltenden  Zuchtpolizeigesetz  vom  25.  Februar  1842,  das  am  1.  Mai  1842  in 
Kraft  trat.     Offizielle  GS.,  Schaffh.  1846,  S'.  645—669. 

Später  behandelte  man  Verbrechen  und  Vergehen  ungetn^nnt  in  dem  sehr 


396  I^as  StR.  der  deutschen  Schweiz.  —  Zweite  Abteilung. 


kasuistischen  und  doktrinell  gehaltenen  Strafgesetz  für  den  Kanton  Schaff- 
hausen, gegeben  in  den  Sitzungen  des  Grossen  Rates  vom  22.  Dezember  1858 
und  23.  März  1859,  in  Kraft  getreten  mit  3.  April  1859  (267  Paragraphen). 
Offizielle  GS.  n.  F.  in.  Bd.,  Schaffh.  1861,  S.  65—172.  Jetzt  wesentlich  geändert 
durch  Novelle  vom  9.  November  1891  (Amtsblatt  No.  52  vom  29.  Dezember  1891), 
vgl.  Stooss,  Grundzüge  14 — 16  und  Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht  V,  466 
bis  471. 

Pressrecht:  StG.  §  204  (Stooss,  Syst.  Zus.  845).  —  Wucher:  StG.  §  230 
(Stooss,  Systematische  Zusammenstellung  832).  —  Einf.G.  zum  BG.  vom  11.  April 
1889,  vom  8.  Juni  1891,  Art.  32 — 39.  —  Steuergesetz  vom  29.  September  1879 
und  Vollziehungsverordnung  vom  20.  Mai  1885,  Art.  133,  134  (vgl.  Schanz,  Die 
Steuern  der  Schweiz,  Bd.  V,  275). 

Pfenninger,  257,  415—424.  —  Zeitschr.  für  Schweizerisches  Recht  IX,  161  ff.  — 
Stokar,  Verbrechen  und  Strafe  in  Schaffhausen  vom  Mittelalter  bis  in  die  Neuzeit 
(Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht  V,  309—384). 

6.    Kanton  Zürich. 

Nach  langen  Vorarbeiten  wurde  der  durch  Kürze,  Einfachheit,  Schärfe 
der  Begriffe  und  Milde  ausgezeichnete  Entwurf  von  Oberrichter  Ulrich  an- 
genommen und  erhoben  zum 

Strafgesetzbuch  für  den  Kanton  Zürich.  Von  den  Verbrechen  und  deren 
Bestrafung  vom  24.  Herbstmonat  1835,  in  Kraft  getreten  1.  Januar  1836  (273  Pa- 
ragraphen), Zürich  1835.     OffizieUe  GS.  Bd.  IV,  43—148. 

An  die  Stelle  desselben  trat  das  von  Dr.  Rudolf  Benz  entworfene  Straf- 
gesetzbuch fttr  den  Kanton  Zürich,  beschlossen  vom  Kantonsrate  am  24.  Oktober 

1870,  vom  Volke    angenommen   am  8.  Januar  1871,    in   Kraft  vom  I.Februar 

1871.  Es  umfasst  227  Paragraphen  und  ist  verbunden  mit  einem  (von  A.  v. 
Orelli  bearbeiteten)  Gesetze  über  den  Vollzug  der  Freiheitsstrafen  in  der  Kan- 
tonalstrafanstalt (18  Paragraphen).     Ofüzielle  GS.  Bd.  XV,  392—475. 

Besprechungen  des  Entwurfes  veröffentlichten:  Glaser,  Bemerkungen.  Wien 
1X67;  V.  Holtzendorff  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Strafrechts-Zeitung  1866,  Spalte 
46»5ff.,  542  ff.;  über  das  Gesetz:  A.  v.  Orelli  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Strafrechts- 
Zeitung  1871,  S.  281—300.  —  Schnell  in  der  Zeitschr.  für  Schweiz.  Recht  XVIII,  105  ff. 
—  Pfenninger  238—251,  637  —  646.  —  0.  Kronauer,  Die  Sittlichkeitsvergehen  nach 
Zürcher  Strafrecht  (Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht  V,  202—216).  —  Einen  Kommen- 
tar schrieb  Dr.  Rudolf  Benz,  Zürich  1871,  in. .2.  Aufl.  herausgegeben  von  Dr.  Emil  Zür- 
cher, Zürich  1886.  Ferner  erschien  die  Übersetzung:  II  codice  penale  zurighese, 
versione  italiana,  preceduta  da  un'  introduzioue  critica  dell'  avv.  Emilio  Brusa,  con 
note  del  medesimo  e  del  Prof.  Francesco  Carrara,  Venezia  1873. 

Wuchergesetz  vom  27.  Mai  1883  (§  181  a,  b,  c  des  StGB.;  Stooss,  Syste- 
matische Zusammenstellung  837,  838.  —  Zürcher  in  der  Zeitschr.  für  Schweizer 
Straft-echt,  III,  207—209).  Pressrecht:  §§  222—227  des  StGB.  —  Einf.G.  zum 
BG.  vom  11.  April  1889  vom  11.  Mai  1891,  §§103—117  (mit  Änderungen  und 
Einschiebungen  im  StGB.).  —  G.  betr.  die  Vermögens-,  Einkommen-  und  Aktiv- 
bürgersteuer vom  24.  April  1870,  §§38,  39  (vgl.  Schanz,  Die  Steuern  der 
Schweiz,  Bd.  V,  428—429). 

7.  Kanton  Thurgau. 

Das  von  diesem  Kantone  unter  dem  15.  Juni  1841  erlassene,  am  1.  Oktober 
1841   in  Kraft  getretene  » 

Strafgesetzbuch  für  den  Kanton  Thurgau,  Frauenfeld  1841  (385  Para- 
graphen), Kantonsblatt  Bd.  IV,  81 — 181,  war  dem  badischen  Entwurf  nach- 
gebildet und  wurde  wesentlich  verbessert  im 

Strafgesetz  für  den  Kanton  Thurgau  vom  10.  Februar  1868,  in  Kraft  ge- 
treten 13.  Mai  1868  (287  Paragraphen).  Ausgabe  ohne  Ort;  und  J.  —  GS.  Bd.  V, 
281—337. 


§  7.    Die  Kantonalstrafgesetzgebung.  397 


Eigentümlich  die  Systematik  des  besonderen  Teils.  Ausgehend  von  den 
Tötungen  behandelt  das  Gesetz  dann  die  Vermögensdelikte,  aber  auch  Mein- 
eid und  Münzverbrechen,  sodann  nach  Berührung  der  Ehrverletzung  die  poli- 
tischen Delikte,  Selbsthülfe  und  Zweikampf,  endlich  Heligionsdelikte  und  schliess- 
lich Amtsdelikte. 

Wuchergesetz  vom  24.  April  1887  (neue  GS.  Bd.  V,  387.  —  Stooss,  Systcv 

matische  Zusammenstellung  830).  —  Pressrecht:  §§  231 — 233  des  StG.  (Stooss, 

a.  O.    843/4).    —    Einf.G.    zum   BG.   vom    11.  April    1889    vom    3.  Mai    1891, 

§§  52—77  (unter  Aufhebung  der  §§  162—164  des  StGB.).  —  G.  betr.  den  Bezug 

einer  allgemeinen  Vermögens-  und  Einkommensteuer  vom  6.  März  1849  mit  den 

1866  vorgenommenen  Änderungen,  §  41  (vgl.  Schanz,  Die  Steuern  der  Schweiz, 

Bd.V,  355). 

Pfenninger,  270—280,  476—482.  —  Grundsätzliche  Entscheidungen  des  Ober- 
gerichts sowie  der  Rekurskommission  und  Kriminalkammer,  Frauenfeld  1880. 

8.   Kanton  Graubünden. 

Aus  einem  Entwürfe  von  1825  ging  ein  neuer  von  1829  mit  133  Paragraphen 
hervor,  der  nach  Gesetz  vom  9.  August  1838  der  Rechtsprechung  zu  Grunde  lag, 
bis  ein  dritter  von  1850  vom  Volke  genehmigt  wurde,  promulgiert  als 

Strafgesetzbuch  für  den  Kanton  Graubün^en  mit  Abschied  vom  8.  Juli 
1851,  gleichzeitig  in  Kraft  getreten  (208  Paragraphen).  Amtliche  GS.  II.  Bd. 
Chur  1864,  S.  1 — 62.     Diese  erscheint  auch  in  italienischer  Übersetzung. 

Der  allgemeine  Teil,  der  den  überwiegenden  Einfluss  deutscher  Gesetz- 
bücher zeigt,  ist  sehr  weitschweifig.  Minimalgrenzen  fehlen  bei  den  Straf- 
drohungen des  besonderen  Teiles.  —  Dazu  trat,  als  Polizeistrafgesetz,  das  Gesetz 
über  Ausscheidung  der  Polizeivergehen  von  den  kriminellen,  sowie  über  das 
bei  Aburteilung  der  ersteren  einzuhaltende  Verfahren,  mit  Abschied  vom 
26.  Juli  1873  (GS.  IV,  327—337). 

Pressrecht:  G.  wider  den  Missbrauch  der  Pressfreiheit  vom  13.  Juli  1839 
(Amtliche  GS.  II.  Bd.  Chur  1864,  S.  66  —  70),  dazu  StGB.  §  203,  Pol.-G. 
§§  37 — 41.  —  G.  gegen  betrügerische,  mutwillige  und  fahrlässige  Falliten  und 
Akkorditen  vom  1.  Januar  1854,  beibehalten  in  den  Straf bestimmungen  der 
Ausführungsbestimmungen  zum  BG.  vom  11.  April  1889  vom  27.  Mai  1891, 
§§38—46.  —  Steuergesetz  vom  28.  August  1881,  §§29,  30  (vgl.  Schanz,  Die 
Steuern  der  Schweiz,  Bd.  V,  194). 

Pfenninger,  371—379.  —  Zeitschr.  für  Schweizerisches  Recht  XIX,  88.  —  Rechts- 
quellen des  Kanton  Graubünden,  herausgegeben  von  Wagner  und  v.  Salis,  Basel 
18S7— 92. 

9.    Kanton  Solothurn. 

Nachdem  die  Hoffnungen  auf  ein  mehrere  Kantone  umfassendes  oder 
sogar  ein  eidgenössisches  Strafgesetzbuch  gescheitert  waren,  unternahm  man 
eine  die  vielen  seit  Anfang  des  Jahrhunderts  erlassenen  Novellen  beseitigende 
Kodifikation  in  dem  geschickt  abgefassten 

Strafgesetzbuch  vom  3.  Juni  1859,  in  Kraft  getreten  I.August  1859,  mit 
191  Paragraphen  (57  für  Verbrechen,  55  für  Vergehen).  Amtliche  Sammlung 
LIV,   101—154. 

Behufs  Erleichterung  der  Schaffung  einer  Strafrechtseinheit  schloss  man 
sich  dem  Zürcher  Strafgesetzbuch  von  1871  an  in  dem  neuen  Strafgesetzbuch 
vom  21.  Mai  1873,  vom  Volke  am  12.  Juli  1874  angenommen,  in  Kraft  getreten 
am  18.  Juli  1874,  mit  197  Paragraphen.  Amtl.  Ausgabe,  Solothurn.  Druck  von 
J.  Gassmann  Sohn,  1874. 

Im  Zusammenhang  mit  weiteren  Änderungen  des  Verfahrens  wurde  sodann 
im  Anschlüsse  an  das  deutsche  StGB,  erlassen 


398  ^^as  StR.  der  deutschen  Schweiz.  -—  Zweite  Abteilung. 


Strafgesetzbuch  für  den  Kanton  Solothurn  vom  29.  August  1885,  vom 
Volke  am  25.  Oktober  1885  angenommen,  in  Kraft  mit  I.Juli  1886  (195  Para- 
graphen).    Ausgabe:    8olothum,   Druck  der  Zepfelschen  Buchdruckerei  1886. 

Wucher:  Gesetz  über  den  Betrieb  von  Geld-  und  Betreibungsgeschäffcen 
vom  25.  Februar  1879    (Amtl.  Sammig.  Bd.  LVIII,    181,    Stooss,    a.  O.    841). 

—  Pressrecht:    §§  182—187    des    StGB.    (Stooss,    a.  O.   851).  —  Einf.G.    zum 

BG.  vom  11.  April  1889  vom  27.  Mai  1891,  Art.  5,  6.  —  G.  betr.  Organisation  des 

Gemeindewesens  vom  8.  Oktober  1875  mit  Novelle  vom  10.  Juli  1880,  §  82  (vgl. 

Schanz,  Die  Steuern  der  Schweiz,  Bd.  V,  299). 

Pfenninger,  424—433,  652—658.—  Zeitschr.  für  Schweizerisches  Recht  XXI,  254  ff., 
XXVll,  475  ff.  —  Zeitschr.  des  bernischen  Juristen  Vereins  XXI,  497.  —  Gerichtssaal  1886 
(XXXVIII),  396,  397.  —  Verhandlungen  des  schweizerischen  Vereins  für  Straf-  und 
Gefängnis wesen,  X.  Versammlung,  Solothurn  1880  (Beilage  I,  Vortrag  von  Ständerat 
A.  Brosi). 

10.    Kanton  Appenzell  Ausser-Rhoden. 

Kin  echter  Repräsentant  eigentümlichen  und  volkstümlichen  Rechts  ist 
das  durch  Einfachheit  und  Konsequenz,  Verwertung  gleichzeitiger  Wissenschaft 
und  Gesetzgebung  sich  auszeichnende 

Strafgesetzbuch  der  Landsgemeinde  vom  16.  Oktober  1859  mit  145  Artikel 
(Gesetzbuch  für  Appenzell  A,^Rh.,  Herisau  1864,  I,  26 — 88)  revidiert  im  Straf- 
gesetzbuch der  Landsgemeinde  vom  28.  April  1878,  (Gesetzbuch  für  Appenzell 
A.-Rh.,  Herisau  1883,  S.  86    -162).  —  Ausgabe  ohne  Ort  und  J. 

Das  Gesetz  nennt  Verbrechen  die  mit  Zuchthaus,  Vergehen  die  mit  Ge- 
fängnis bedrohten  Handlungen,  während  Übertretungen  (Polizeivergehen)  nur 
mit  Haft,  Arbeitsstrafe  oder  Geldbusse  belegt  werden.  Zuchthaus  kann  bis 
auf  Lebenszeit,  Gefängnisstrafe  bis  auf  2  Jahre,  Haft  (Bussenumwandlung  aus- 
genommen) bis  auf  4  Wochen  verhängt  werden.  Im  ganzen  sind  15  Straf- 
mittel aufgeführt.  Der  besondere  Teil  handelt  in  den  §§  56 — 134  von  Ver- 
brechen und  Vergehen,  dann  im  Anhang  §  135  von  Wucher,  §  136  Lotterie, 
§  137  Spiel;  sodann  §§  138 — 170  von  Übertretungen;  endlich  sind  eidgenös- 
sische Vorschriften  angeschlossen.    Press  vergehen  sind  in  §§  33 — 35  behandelt. 

—  Vollziehungsgesetz    der   Landsgemeinde    vom  26.  April  1891    zum  BG.  vom 

11.  April  1889,   §§47—51.   —  G.  über  das  Steuerwesen  vom  30.  August  1835 

und  24.  April  1836,  §5  (vgl.  Schanz,  Die  Steuern  der  Schweiz,  Bd.  V,  25). 

Pfenninger,433— 441,676-678.  — Zeitschr.für  Schweizerisches  RechtXXII,  142—145. 

11.  Kanton  Unterwaiden  ob  dem  Wald  (Obwalden). 

Nicht  die  gleichen  Vorzüge  wie  das  GB.  von  Appenzell  A.-Rh.  weist  die 
Gesetzgebung  dieses  Kantons  auf  in  dem  Kriminalstrafgesetz,  beschlossen  vom 
dreifachen  Rate  den  20. Weinmonat  1864,  in  Kraft  getreten  I.Juli  1865  (116  Art.) 
und  dem  Polizeistrafgesetz,  beschlossen  vom  Kantonsrate  den  20.  April  1870, 
in  Kraft  getreten  I.Mai  1870  (152  Art.).  Sammlung  der  Gesetze.  Bd. II,  447  bis 
501,  ni,  269 — 327.  —  Amtl.  Ausgabe  des  Kriminalstrafgesetzes.  Samen  1864, 
Druck  von  Baumann. 

Charakteristisch  die  ausführlichen  Bestimmungen  über  Ehrverletzung  und 
die  strengen  zum  Schutze  von  Religion  und  Sitte.  Die  Todesstrafe  wurde 
durch  Gesetz  vom  25.  April  1880  wieder  eingeführt  „in  Erwägung,  dass  sie 
hinsichtlich  der  allerschwersten  Verbrechen  eine  gerechte  Strafe  ist,  in  den 
weitaus  meisten  Ländern  zu  Recht  besteht,  dass  übrigens  das  Strafverfahren 
gegen  zu  rasche  Ausfällung  der  Todesstrafe  besondere  Bestimmungen  vorsieht 
und  dass  überhin  dem  Kantonsrate  das  Recht  der  Strafumwandlung  zusteht^ 
(GS.  IV,  405). 

Pressrecht:     Polizeistrafgesetz    §  68    (Stooss,     a.  0.    486).    —    Wucher: 


§  7.    Die  Kantoiialstrafgesetzgebung.  399 


Hypothekargesetz  vom  20.  Hornung  1868,  §§13,  18,  19,  23,  24;  Polizeistraf- 
gesetz §§  93,  94  (StooBS,  a.  0.  834 — 836).  —  Vollziehungsverordnung  vom 
21.Mail891,  Art.  57 — 82  zum  BG.  vom  11.  April  1889.  —  Steuergesetz  vom 
3.  März  1870,  Art.  36;  Polizeistrafgesetz,  Art.  41  (vgl.  Schanz,  Die  Steuern  der 
Schweiz,  Bd.V,  260). 

Pfenninger,  450—459.  -—  Zeitschr.  für  Schweizerisches  Recht  XIII,  153  ff.,  XVIII, 
118,  119. 

12.  Kanton  Bern. 

Nach  langer  ruhmloser  Periode  der  EntT^-llrfe  —  wie  Stooss  in  den  ein- 
leitenden geschichtlichen  Bemerkungen  zu  seiner  Ausgabe  sagt  —  kam  es 
endlich  zum 

Strafgesetzbuch  für  den  Kanton  Bern  vom  30.  Januar  1866,  in  Kraft  ge- 
treten 1.  Januar  1867  (258  Art.).  Amtl.  Ausgabe:  Bern,  gedruckt  bei  J.  A.  Wein- 
gart. -  -  Textausgabe  mit  Anmerkungen  von  C.  Stooss,  Bern  1885.  —  Fran- 
zösischer Text  für  den  Jura  in  der  „Collection  des  lois  pönales  du  canton  de 
Beme,  publiee  par  J.  Feune,  avocat."  Del^mont.  imprimerie  L6on  Feune,  Als, 
1867,  p.  3 — 69.  —  Kohler,  Sammlung  von  kantonal  -  bemischen  und  eid- 
genössischen strafrechtlichen  Bestimmungen,  Bern  1886. 

Pf<mninger  (461)  bezeichnet  das  eine  Dreiteilung  der  Delikte  aufweisende 
Gesetz  als  „mit  (jeschick  redigiert,  kurz  gefasst,  eine  eigentümliche  Verbindung 
französischen  und  deutschen  Rechts,  mit  manchen  Reminiscenzen  an  die  alte 
Gerichts-  und  Ehegerichtsordnung,  zuweilen  auch  versetzt  mit  einem  Rest  aus 
der  gemeinrechtlichen  Doktrin". 

Wichtigere  spätere  gesetzgeberische  Erlasse  sind: 

1.  Erklärung  betr.  Ersetzung  der  Todesstrafe  durch  lebenslängliche  Zucht- 
hausstrafe imd  Aufhebung  der  Verweisungsstrafe  vom  30.  Wintermonat  1874 
(Gesetze,  Dekrete  und  Verordnungen,  n.  F.  XIII,  254). 

2.  (iesetz  betr.  einige  Abänderungen  des  Verfahrens  in  Strafsachen  und 
des  Strafgesetzbuches  vom  2.  Mai  1880  (ebenda  XIX,  60—64). 

3.  Gesetz  betr.  den  Gewerbebetrieb  der  Gelddarleiher,  Darlehnsvermittler, 
Pfandleiher  und  Trödler,  sowie  betr.  den  Wucher  vom  26.  Hornung  1888 
(ebenda  XXVII,  20—37,  Zeitschr.  für  Schweizer  Strafrecht,  I,   174—181). 

4.  (Jcsetz  betr.  den  Verkehr  mit  Nahrungsmitteln,  Genussmitteln  und 
Gebrauchsgegenständen  sowie  Abänderung  der  Art.  232  und  233  des  StGB, 
vom  26.  Hornung  1888  (ebenda  XXVII,  38—48,  Zeitschr.  für  Schweizer  Straf- 
recht, I,  181—185). 

Das  Pressrecht  ist  in  Art.  240—247  des  StGB,  geregelt.  —  Einf.G.  zum 
BG.  vom  11.  April  1889  vom  18.  Oktober  1891,  §§44—57  (unter  Aufliebung  der 
Art.  224—230  des  StGB.).  —  G.  über  die  Vermögenssteuer  vom  15.  März  1856 
mit  Modifikation  vom  26.  Juni  1857,  §39;  G.  über  die  Einkommensteuer  vom 
18.  März  1865,  §  35;  G.  über  das  Steuerwesen  in  den  Gemeinden  vom  2.  Sep- 
tember 1867,  §14  f vgl.  Schanz,    Die  Steuern  der  Schweiz,  Bd.  V,  64,  82,  89). 

Pfenninger,  459—470.  —  Pfotenhauer,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Strafgesetz- 
gebung im  Kanton  Bern  seit  fünfzig  und  einigen  Jahren  (Zeitschr.  für  vaterlän- 
disches Recht  XrV  [1855],  1—18).  —  Zeitschr.  für  Schweizerisches  Recht  XV,  136  ff.  — 
Türler,  Bernische  Strafurteile  aus  dem  16.  Jahrhundert  (Zeitschr.  für  Schweizer  Straf- 
recht V,  217—220). 

13.  Kanton  Glarus. 

Als  eines  der  besten  Schweizer  Strafgesetze  gilt  das  von  Dr.  J.  J.  Blumör 
(1819 — 1875)  entworfene  Strafgesetzbuch  für  den  Kanton  Glarus,  erlassen  von 
der  Landsgemeinde  1867  (138  Paragraphen).^)  Amtliche  GS.,  Glarus  1867,  2.  Heft 
S.  12—41;  Landsbuch  des  Kanton  Glarus,  3.  Teil  Glarus  1878,  S.  289—327.  — 


*)  (Dr.  J.  Heer),  Dr.  J.  J.  Blumer,  sein  Leben  und  Wirken,  2.  Aufl.  Glarus  1877. 


400  I^as  Stß.  der  deutschen  Schweiz.  —  Zweite  Abteilung. 


„Strafrecht  und  -Prozess  für  den  Kanton  Glarus",  Glarus.  Buchdruckerei  von 
Frid.  Schmid,  1878,  S.  3 — 41.  Jetzt  ersetzt  durch  Strafgesetzbuch  der  Lands- 
gemeinde vom  22.  Mai  1887  (149  Paragraphen).  (Amtsblatt  No.  28  vom  9.  Juli 
1887).  Nicht  korrekte,  aber  von  den  Gerichten  benutzte  Ausgabe:  „Strafrecht 
und  -Prozess  für  den  Kanton  Glarus".  Schwanden,  Buchdruckerei  von  D.  Tschudy- 
Aebly,  1887. 

Wucher:  §  145  des  StGB.  (Stooss,  a.  0.  837).  —  Pressrecht:  §  183  der  StPO. 
vom  22.  Mai  1887  (Stooss,  a.  O.  502). 

14.  Kanton  Schwyz. 

Äusserst  kurz,  mild  und  volkstümlich  gehalten  ist  das  Kriminalstrafgesetz 
für  den  Kanton  Schwyz,  angenommen  von  den  Kreisgemeinden  am  31.  Januar 
1869,  in  Kraft  getreten  am  15.  Aprill 869  (115  Paragraphen).  GS.  des  Kantons 
Schwyz,  Bd.  VI  (Schwyz  1873),  3—36.  —  Amtliche  Ausgabe:  Schwyz  1869. 
Bei  A.  Eberle  &  Söhne. 

Zufolge  Gesetz  über  die  Wiedereinführung  der  Todesstrafe  vom  26.  Sep- 
tember 1880  und  weiteren  Abänderungen  und  Ergänzungen  vom  8.  Mai  1881 
ist  es  umgeschrieben  als  Kriminalstrafgesetz  für  den  Kanton  Schwyz  vom 
20.  Mai  1881,  in  Kraft  getreten  am  1.  August  1881  (117  Paragraphen).  Amtliche 
GS.  Bd.  VIII  (1881),  294—333.  —  Amtliche  Ausg.  Schwyz  1881,  Druck  von 
C.  Weber  &  Co. 

Als  Polizeistrafgesetz  wird  nach  Weisung  des  Kantonsrates  vom  22.  März 
1848  das  (in  Luzem  aufgehobenene)  Luzerner  Polizeistrafgesetz  vom  23.  März 
1836  (doch  nicht  für  das  Strafmass)  befolgt.  Vgl.  Entsch.  des  Bundesgerichts 
vom  7.  Mai  1881  in  Sachen  Wiser  (Bd.  VII,  298).  Ein  eigenes  Gesetz  wird 
ausgearbeitet. 

Wuchergesetz  vom  28.  Mai  1854  (Stooss,  a.  0.  840).  —  P^inf.G.  zum 
BG.  vom  11.  April  1889  vom  4.  September  1891,  §§  73—100.  —  Steuergesetz  vom 

10.  Herbstmonat  1854,  §  22  (vgl.  Schanz,  Die  Steuern  der  Schweiz,  Bd.  V,  293). 

Pfenninger,  482—488,  679.  —  Zeitschr.  für  Schweizerisches  Recht  XXIII,  278. 

15.  Kanton  Zug. 

Nach  dem  Vorbilde  des  Züricher  StGB,  wurde  ein  kurzes  Gesetz  von  132 
Paragraphen  erlassen:  Strafgesetz  für  den  Kanton  Zug,  beschlossen  vom  Kan- 
tonsrate 20.  Weinmonat  1876,  in  Kraft  getreten  21.  Februar  1877.  GS.  Bd.  VI. 
No.  2,  S.  5 — 62.  —  Ausgabe  ohne  Ort  und  J. 

Hierzu  trat  ein  etwas  schärfendes,  auch  die  Todesstrafe  wieder  ein- 
führendes Gesetz  vom  I.Juni  1882  (GS.  Bd.  VI,  No.  23,  S.  307—313). 

Pressrecht:    §§  130 — 132   des  StG.  —  Einf. Bestimmungen  zum  BG.  vom 

11.  April  1889  vom  5.  Oktober  1891,    §§38—56.   —  G.    über   Bestreitung    der 

Staatsauslagen  vom  I.Juni  1876,  §87  (vgl.  Schanz,    Die  Steuern  der  Schweiz, 

Bd.V,  449). 

Pfenninger,  673—676.  —  Zeitschr.  für  Schweizerisches  Recht  XX,  251;  XXIV,  471. 

Zum  Schluss  sei  erwähnt,  dass  jüngst  (März  1893)  seitens  des  eidgenössi- 
schen Justiz-  und  Polizeidepartements  eine  Kommission  von  Fachmännern  der 
einzelnen  Kantone  (darunter  die  Herren  Leo  Weber,  Hürbin,  Dr.  Plazid  Meyer 
V.  Schauensee,  Correvon,  Gabuzzi,  die  Proff.  Zürcher,  Gretener,  Favey,  Gautier) 
ernannt  wurde,  welche  mit  dem  Redakteur  des  eidgenössischen  Strafgesetzent- 
wurfes, Herrn  Prof.  Dr.  Carl  Stooss,  im  April  1893  unter  Vorsitz  des  Herrn  Bundes- 
rats Ruchonnet  über  ein  in  Rücksicht  auf  den  zu  verfassenden  Entwurf  aufgestelltes 
Fragenschema  beraten  soll.    Näheres  in  Zeitschr.  für  Schweizer  StR.  VI,  115 — 127. 


2.  Die  französische  Schweiz. 

(Kantone  Waadt,  Wallis,  Freiburg,  &enf,  Neuenbürg.) 


I  Die  Quellen. 

Allgemeine  Litteratur:  Pfenninger,  Das  StR.  der  Schweiz.   Berlin  1890  (Biblio- 

fraphie  S.  1  ff.)  (citier't:  Pfenninger).  —  Stooss,  Die  schweizerischen  Strafgesetzbücher, 
asel  und  Genf  1890.  —  Stooss,  Die  Grundzüge  des  schweizer  StR.  I.  Basel  und  Genf 
1892.  (Bibliographie  S.  17  ff.)  (citiert:  Stooss).  —  Zeitschriften;  M^moires  et  documents 
pubU^s  par  la  soci^t^  d'histoire  de  la  Suisse  romande;  erscheint  in  unregelmässigen 
Zwischenräumen  in  Lausanne,  I.  Folge  1838—1884,  Bd.  1—36,  IL  Folge  1887—1891, 
Bd.  1—3,  enthält  Mitteilungen  über  das  ältere  Recht,  insbesondere  die  Gemeindever- 
fassungen. —  Zeitschrift  für  schweizerisches  Recht  (citiert:  Z)  seit  1852.  Neue  Folge 
(Basel,  Reich)  seit  1882;  berücksichtigt  die  neueren  Gesetzbücher  und  bringt  interessante 
Fälle  aus  dem  Gebiete  des  Kantonalrechts.  Die  neue  Folge  enthält  jährliche  Berichte 
von  Heusler  über  neue  G.  —  Revue  pönale  suisse  (citiert:  R.  P.)  (Zeitschrift  für 
schweizer  StR.),  in  deutscher  und  französischer  Sprache  herausgegeben  von  Stooss 
unter  Mitwirkung  der  Strafrechtslehrer  der  schweizer  Universitäten  und  Akademieen, 
Bern,  Stämpfli,  seit  1888.  Centralorgan  für  StR.,  Straf^rozess,  Gerichtsverfassung, 
Gefängniswesen  usw.;  berücksichtigt  auch  die  Rechtsprechung  der  Bundes-  und 
Kantonalgerichte  und  giebt  alljährlich  eine  genaue  Übersicht  über  neue  G.  auf 
dem  Gebiete  des  Bundes-  und  Kantonalstraf  rechts  (vgl.  I,  S.  72,  174;  II,  S.  265; 
III,  S.  274;  IV,  S.  401).  Die  wichtigsten  Artikel  der  R.  P.  über  die  StG.  der  französi- 
schen Schweiz :  Brodbeck,  Die  Antragsdelikte  der  schweizer  Kantonalgesetze  I,  S.  475 ; 
Fervers,  Das  sogenannte  internationale  StR.  in  der  Schweiz  IV,  S.  271 ;  Gautier,  Etudes 
sur  les  l^gislations  penales  de  la  Suisse  romande:  1.  R6cidive  I,  S.  15;  2.  Prescription  I, 
S.  443;  Picot,  La  tentative  dans  les  c.  p.  suisses  I,  S.  111;  Picot,  Les  d^lits  contre  les 
moBurs  dans  les  c.  p.  suisses  II,  S.  51.  —  Verhandlungen  des  schweizer  Vereins  für 
Straf-  und  Gefängniswesen  1867—91 ;  vgl.  insbesondere  die  Berichte  von  Dr.  Guillaume 
(Stooss,  S.  21,  führt  sie  einzeln  auf)  über  die  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  der  StG- 

Eebung  und  des  Gefängniswesens.  —  Journal  des  Tribunaux  et  de  la  jurisprudence, 
ausanne  1853—74,  fortgesetzt  unter  dem  Titel:  Gazette  des  Tribunaux  suisses 
(1875—76),  dann  seit  1877  unter  dem  Namen:  Journal  des  Tribunaux,  revue  de  juris- 
prudence, Lausanne  1877—91.  —  Revue  judiciaire,  Journal  des  Tribunaux  suisses  et 
de  .  l^gislation,  Lausanne  seit  1884.  —  Semaine  judiciaire,  Journal  des  Tribunaux, 
jurisprudence  suisse  et  6trang^re,  Genf  1879  ff.  Die  beiden  letztgenannten  Zeit- 
schriften behandeln  vorzugsweise  civilrechtliche  Fragen. 

§  1.    Kanton  Waadt 

Code  pönal  du  Canton  de  Vaud,  vom  Grossen  Rate  beschlossen  am  18.  Fe- 
bruar 1843,  in  Kraft  getreten  am  1.  Januar  1844.  Lausanne,  Imprimerie 
G.Bridel,  1867. 

Litteratur:  Mittermaier,  Die  StGgebung  in  ihrer  Fortbildung  etc.  1841—48. 
II,  S.  204.  —  Fehr,  Le  c.  p.  expliqu6  par  lui  mßme  (Repertorium),  Lausanne  1846  und 
1867.  —  Temme,  Lehrbuch  des  schweizer  StR.  Aarau  1855,  S.  53ff.  —  Pfenninger, 
S.  280  ff.  —  Stooss,  passim.  —  Vorarbeiten:  Projet  de  c.  p.  pr6sent6  par  la  commission 
legislative  1841.  —  Projet  de  c.  p.  present6  par  le  Conseil  d'Etat  avec  expos6  des 
motifs.    November  1842.  —  Rapport  de  la  commission  du  Grand  Conseil  sur  le  projet 

StrafgesetKgebang  der  Gegenwart.  I.  26 


402  I^ie  französische  Schweiz.  —  Die  Quellen. 


de  c.  p.  Lausanne,  Imprimerie  Vincent  fils  1842.  —  Die  Verhandlungen  sind  abge- 
druckt in  dem  Bulletin  des  Seances  du  Grand  Conseil  du  Canton  de  Vaud.  Session 
d'automne  1842,  S.  16  ff.  —  Rechtsprechung:  Boven,  Repertoire  des  arr^ts  rendus 
1846—77.  —  Vorarbeiten  für  die  Revision:  Avant-projet  de  c.  p.  present^  au 
Conseil  d'iitat  par  la  commission  legislative  charg^e  de  rdviser  le  c.  p.  de  1848,  pr^- 
cede  du  r^sume  des  proc^s-verbaux  des  seances  de  la  commission  et  d'une  notice 
sur  le  d6veloppement  historique  du  droit  p^nal  dans  le  canton  de  Vaud.  (Verfasser: 
Obergerichtspräsident  Gustave  Correvon).  Lausanne,  Imprimerie  Vincent  1879.  — 
Projet  de  c.  p.,  Lausanne,  Imprimerie  Genton  &  Viret,  1882  (enthält  auch  die  Sitzungs- 
berichte der  Kommission). 

Einteilung.  L  Allgemeiner  Teil,  7  Titel.  1.  Einleitende  Bestim- 
mungen. 2.  Strafen.  3.  Vollendung  und  Versuch.  4.  Thäterschaft  und  Teil- 
nahme. 5.  Umstände,  welche  die  Strafbarkeit  ausschliessen,  aufheben  oder 
mildem  usw.  6.  Zusammentreffen  mehrerer  strafbarer  Handlungen  und  Rück- 
fall. 7.  Ausschluss  der  Strafverfolgung  und  der  Strafvollstreckung.  —  II.  Be- 
sonderer Teil,  11  Titel.  1.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Sicherheit  des 
Staates,  den  öffentlichen  Frieden  und  die  öffentliche  Ordnung.  2.  Gegen  Treu 
und  Glauben.  3.  Sittlichkeitsdelikte.  4«  Delikte  gegen  das  Leben.  5.  Körper- 
verletzung. 6,  Delikte  gegen  den  Personenstand.  7.  Gegen  die  Freiheit  und 
die  persönliche  Sicherheit.  8.  Vermögensangriffe  in  Aneignungsabsicht.  9.  Ver- 
mögensdelikte, begangen  durch  Beschädigung  oder  Zerstörung.  10,  Amts- 
delikte. 11.  Schluss-  und  Übergangsbestimmungen.  —  Gesamtzahl  der  Art.:  363. 
Die  Polizeiübertretungen  behandelt  das  StGB,  nicht. 

Geschichtliches.  Nach  Erlass  des  „Acte  de  m^diation'^  (1803)  blieb 
der  Code  p^nal  helv^tique  v.  1799  zunächst  bis  1843  in  Geltung  mit  verschie- 
denen aus  der  Revolutionszeit  stammenden  Abänderungen  (vgl.  insbesondere 
das  G.  vom  27.  Januar  1800,  welches  im  Widerspruch  mit  den  Grundsätzen  des 
Code  helv6tique  bestimmt,  dass  die  Strafen  des  Code  nur  -als  Maxima  an- 
gesehen werden  sollen  und  der  Richter  sie  bis  auf  ein  Vierteil  ihrer  Dauer 
ermässigen  kann;  an  Stelle  der  Todesstrafe  kann  Kettenstrafe  nicht  unter 
11  Jahren  treten).  Ftlr  die  im  Code  helvötique  nicht  erwähnten  strafbaren 
Handlungen  waren  die  alten  Bemer  Gewohnheiten  und  Bestinmiungen  mass- 
gebend, später  der  Code  correctionnel  vom  30.  Mai  1805.  Die  bemerkens- 
wertesten Grundsätze  des  letzteren  sind:  Aufhebung  der  Straftnindestmasse 
(ausser  für  Diebstahl)  und  die  Erteilung  der  Erlaubnis  an  den  Richter,  eine 
Strafart  durch  eine  andere  zu  ersetzen.  Der  Code  correctionnel  ist  in  das 
jetzt  geltende  StGB,  fast  vollständig  aufgenommen.  —  Seit  Beginn  dieses  Jahr- 
hunderts erhob  sich  eine  lebhafte  Strömung  gegen  die  übergrosse  Strenge  und 
Starrheit  des  im  Code  helv6tique  aufgestellten  Strafensystems ;  seit  1810  wurde 
das  Verlangen  nach  einem  neuen  StGB,  allgemein.  Preisausschreiben  über 
die  Geschworenengerichte  (1819).  Zwei  (nur  handschriftlich  vorhandene)  Entw. 
eines  StGB,  und  einer  StPO.,  der  erste  v.  1826  (ohne  Geschworenengerichte), 
der  zweite  v.  1827  (mit  Geschworenengerichten)  gingen  nicht  durch.  Man  be- 
schränkte sich  dann  auf  die  Reform  des  Strafprozesses  (G.  vom  28.  Januar  1836, 
ersetzt  durch  die  StPO.  vom  1.  Februar  1850)  und  einzelne  Materien  des  StR. 
(G.  vom  1.  Juni  1829  über  den  Diebstahl  usw.).  In  der  Verfassung  v.  1831 
wird  die  Revision  der  StGgebung  und  der  Gerichtsverfassung  in  Aussicht  ge- 
stellt. Eine  zu  diesem  Zwecke  niedergesetzte  Kommission  begann  ihre  Thätig- 
keit  1832  und  legte  1841  dem  Staatsrat  einen  (hauptsächlich  von  Guisan  und 
Secr^tan  verfassten)  Entw.  vor.  Nach  Prüfung  durch  den  Staatsrat  wurde 
dieser  Entw.  im  Herbst  1842  mit  guten  Motiven  versehen  dem  Grossen  Rat 
überreicht.  Dieser  tiberwies  ihn  einer  Kommission,  welche  ihn  in  einem  schrift- 
lichen Bericht  (Verfasser:  Verrey)  zur  Annahme  empfahl.  Der  Entw.  wurde 
dann  am  18.  Februar  1843  mit  einigen  Veränderungen  angenommen;  die  wich- 
tigsten derselben  beziehen  sich  auf  den  Unterschied  zwischen  Zuchthaus-  und 


§  1.    Kanton  Waadt.  403 


Gefängnisstrafe  und  die  mit  einer  dieser  beiden  Straf  arten  bedrohten  Delikte 
sowie  auf  den  BegriflF  der  Fälschung  (faux). 

Grundzüge.  Der  Code  p^nal  du  Canton  de  Vaud  ist  nach  dem  „StG. 
für  den  Kanton  Thurgau"  v.  1841  das  älteste  StGB,  der  Schweiz.  In  der 
Litteratur  ist  er  mit  Recht  als  ein,  besonders  unter  Berücksichtigung  der  Zeit 
seiner  Entstehung,  hervorragendes  Werk  allgemein  anerkannt.  Während  der 
langen  Zeit  seiner  praktischen  Anwendung  hat  er  nur  zu  so  unerheblichen 
Ausstellungen  Veranlassung  gegeben,  dass  die  Entw.  für  das  neu  zu  schaffende 
StGB,  sich  auf  eine  Modernisierung  des  alten  unter  Beibehaltung  seiner  wesent- 
lichen Gnmdzüge  beschränken.  Mithin  ein  wahrhaft  nationales,  den  Bedürf- 
nissen der  waadtländischen  Bevölkerung  durchaus  entsprechendes  GB.  —  Der 
vorwiegende  Einfluss  der  deutschen  Wissenschaft  wie  der  deutschen  StGB,  ist 
unverkennbar;  doch  ist  die  Behauptung  Temmes,  das  StGB,  enthalte  im  wesent- 
lichen deutsches  Recht,  in  dieser  absoluten  Form  nicht  zutreffend,  denn  auch 
der  französische  Einfluss  ist  deutlich  zu  spüren:  richtiger  sagt  Pfenninger,  es 
bilde  eine  gelungene  Vereinigung  beider  Systeme.  —  Milde  und  weiter  Spiel- 
raum für  das  richterliche  Ermessen  bilden  die  Grundzüge.  Die  Anwendung 
der  an  und  für  sich  nur  in  seltenen  Fällen  angedrohten  Todesstrafe  ist  zahl- 
reichen Einschränkungen  unterworfen.  Die  durch  den  Code  correctionnel  ein- 
geführte Neuerung  ist  insofern  beibehalten,  als  Mindestmasse  nur  für  schwere 
Strafthaten  festgesetzt  sind.  Häufig  ist  dem  Richter  unter  mehreren  Strafarten 
die  Wahl  gelassen.  —  Allerdings  müssen  auch  einige  Vorwürfe  gegen  das 
waadtländische  StGB,  erhoben  werden:  es  ist  für  die  Laienrichter  zu  kompli- 
ziert und  daher  schwer  zu  handhaben,  die  zahlreichen  Verweisungen  von  einem 
Art.  auf  andere  ermüden  und  beeinträchtigen  die  Übersichtlichkeit;  die  Unter- 
scheidungen sind  häufig  (beispielsweise  bei  Rückfall,  Körperverletzung,  Dieb- 
stahl) zu  zahlreich  und  zu  sehr  ins  einzelne  gehend;  der  Höhe  des  durch  die 
Straf that  verursachten  materiellen  Schadens  (Wert,  des  Gegenstandes,  Dauer 
der  Arbeitsunfähigkeit)  ist  ein  zu  weit  gehender  Einfluss  auf  die  Höhe  der 
Strafe  eingeräumt.  Dagegen  ist  die  Bezeichnung  des  StGB,  als  „Professoren- 
arbeit", wenn  im  schlechten  Sinne  gemeint,  unverdient,  Stil  und  Begriffs- 
bestimmungen sind  von  Doktrinarismus  und  Pedanterie  vollkommen  frei. 

Die  wichtigsten  der  neben  dem  StGB,  in  Kraft  gebliebenen  G. 
sind:  G.  über  die  Presse  (loi  sur  la  presse)  vom  26.  Dezember  1832;  G.  über 
die  Wahlbeeinflussungen  (loi  sur  la  brigue  dans  les  ölections)  vom  18.  Dezember 
1832;  G.  über  die  religiöse  Freiheit  (loi  sur  la  libert^  religieuse)  vom  22.  Ja- 
nuar 1834;  G.  über  das  Verbot  des  Wirtshausbesuchs  (loi  sur  l'interdiction  de 
la  ft'^quentation  des  Etablissements  destin^s  ä  la  vente  des  boissons)  vom 
4.  Juni  1841. 

Spätere  G.:  G.  betr.  die  Abänderung  des  Art.  311  des  StGB,  (loi  modi- 
fiant  Tarticle  311  du  c.  p.)  vom  28.  Mai  1849  (ermässigt  die  Strafen  für  die 
im  Rückfalle  begangenen  Eigentumsdelikte).  StPO.  (Code  de  proc^dure  pönale) 
vom  1.  Februar  1850  (Art.  14  und  15  derselben  sind  an  Stelle  des  Art.  6  des 
C.  p.  getreten).  Vdg.  betr.  die  Umreclmung  der  Geldstrafen  in  die  neue 
Währung  (d6cret  sur  le  taux  de  roduction  des  amendes  en  nouvelle  monnaie) 
vom  21.  November  1850.  Vdg.  betr.  die  Anlage  von  Ackerbaukolonieen  für 
Landstreicher  (döcret  concernant  la  creation  de  colonies  agricoles  pour  les 
vagabonds)  1871.  Vdg.  betr.  den  Ersatz  der  Todesstrafe  durch  die  lebens- 
längliche Zuchthausstrafe  (decret  etablissant  la  röclusion  perpötuelle  en  rem- 
placement  de  la  peine  de  mort)  vom  20.  Januar  1875.  Die  letzte  Hinrichtung 
im  Kanton  Waadt  hat  1868  stattgefunden.  Seitdem  ist  der  Scharfrichter  in  der 
Schweiz  überhaupt  zum  erstenmale  wieder  in  Thätigkeit  getreten  bei  der  Hin- 
richtung von  Gatti  in  Luzem  am  18.  März  1892.     Vdg.   betr.   die  Abänderung 

26* 


404  I^ie  französische  Schweiz.  —  Die  Quellen. 


der  Art.  141 — 144  des  StGB,  (decret  modifiant  les  art.  141 — 144  du  c.  p.)  vom 
21.  Januai*  1875  (setzt  an  Stelle  der  Zuchthausstrafe  für  Bettler,  Landstreicher  u.  a. 
Unterbringung  in  eine  Ackerbaukolonie  und  Wirtshausverbot).  6.  über  die 
Organisation  der  Strafanstalten  (loi  sur  Torganisation  des  Etablissements  de 
dötention)  vom  17.  Mai  1875  (landwirtschaftliche  und  gewerbliche  Koloniecn. 
bedingte  Entlassung.  Fürsorge  für  Entlassene  usw.).  G.  betr.  das  Verbot  der 
Lotterieen  (loi  sur  la  prohibition  des  loteries)  vom  5.  Dezember  1876.  Vdg. 
über  die  Abänderung  gewisser  Eidesformeln  (decret  modifiant  la  formule  de 
certains  serments)  vom  23.  Februar  1877. 

Die  bereits  oben  angedeuteten  Mängel,  die  Abänderungen  der  Bundes- 
gesetzgebung und  vor  allem  die  neueren  Reformbestrebungen  auf  dem  Gebiete 
der  gesamten  Strafrechtswissenscbaft  Hessen  eine  vollständige  Revision  des 
C.  p.  V.  1843  notwendig  erscheinen.  Die  zu  diesem  Behufe  1874  vom  Staats- 
rat ernannte  Gesetzgebungskonmiission  überreichte  1879  einen  vorläufigen,  1882 
einen  endgültigen  Entw.  eines  StGB.;  beide  sind  von  Correvon,  dem  zeitigen 
Präsidenten  des  Kantonalgerichts,  ausgearbeitet.  Der  Entw.  v.  1882  enthält 
368  Art  und  hat  die  Einteilung  des  alten  C.  p.  beibehalten;  jedoch  sind  im 
ersten  Titel  des  besonderen  Teils  zwei  neue  Kap.  hinzugekommen,  von  denen 
eines  die  Delikte  gegen  die  Ausübung  politischer  Rechte,  das  andere  Glücks- 
spiele, Lotterien  usw.  behandelt.  Die  Übertretungen  berücksichtigt  der  Entw. 
nicht.  Als  seine  Grundsätze  kann  man  kurz  folgende  bezeichnen:  Erweiterung 
der  in  der  Praxis  vorzüglich  bewährten  Befugnis  des  Richters,  an  Stelle  der 
ursprünglich  vom  G.  angedrohten  Strafart  eine  andere  zu  setzen;  Abschaffung 
der  Strafmindestmasse,  abgesehen  von  wenigen  besonderen  Fällen,  bei  gleich- 
zeitiger Erhöhung  der  Höchstmasse;  Bruch  mit  dem  System  der  Strafabmessung 
nach  dem  Wert  des  Gegenstandes  (Eigentumsdelikte)  und  der  Dauer  der  Ar- 
beitsunfähigkeit (Verg.  gegen  Leib  und  Leben) ;  es  bleibt  dem  fi'eien  Ermessen 
des  Richters  überlassen,  inwieweit  er  die  Folgen  der  That  bei  der  Strafzumessung 
berücksichtigen  will.  Das  in  der  Kommission  lebhaft  erörterte  Institut  der 
mildernden  Umstände  ist  nur  in  zwei  Fällen  zugelassen:  bei  strafbaren  Hand- 
lungen, die  mit  lebenslänglichem  Zuchthaus  bedroht  sind  (für  diese  kann  nach 
dem  Dekret  vom  20.  Januar  1875  bei  Vorliegen  mildernder  Umstände  auf  Zucht- 
haus von  15  bis  30  Jahren  erkannt  werden)  und  bei  Eigentums  vergehen,  wenn 
sie  im  einfachen  oder  wiederholten  Rückfalle  begangen  werden  (wegen  der  für 
diese  Fälle  vom  Entw.  vorgesehenen  erheblichen  Mindestmasse).  Die  Kom- 
mission ist  dabei  von  dem  Grundsatze  ausgegangen,  dass  die  Strafzumessung 
im  allgemeinen  den  Laienrichtern  zu  entziehen  und  dem  Richterkollegium  vor- 
zubehalten sei.  Der  Grosse  Rat  hat  sich  mit  diesem,  beachtenswerte  Neuerun- 
gen enthaltenden  Entw.  noch  nicht  beschäftigt.  Man  ist  jedenfalls  der  Ansicht, 
dass  die  binnen  kurzem  zu  erwartende  Schaffung  eines  Bundesstrafgesetz- 
buches die  Reformarbeiten  der  einzelnen  Kantone  überflüssig  machen  wird. 

§  2.  Kanton  WalUs. 

Code  penal  du  Canton  du  Valais,  vom  Grossen  Rate  beschlossen  am 
26.  Mai  1858,  in  Kraft  getreten  am  1.  Januar  1859,  2.  Aufl.  Sion,  Imprimerie 
L.  Schmid.     1880. 

Litteratur:  Pfenninger,  S.  409  ff.;  Stooss  passim.  Ein  Kommentar  ist  nicht  vor- 
handen. Die  ^richtigsten  Entsch.  werden  seit  einigen  Jahren  in  dem  „Rappoit  an- 
nuel  du  Tribunal  superieur**  abgedruckt. 

Einteilung.  L  Allgemeiner  Teil,  7  Titel,  die  ersten  vier  wie  im 
waadtländischen  C.  p.,  dann  5.  Zusammentreffen  mehrerer  Straf thaten  und  Rück- 
fall.    6.  Zurechnung.     7.  Erschwerende  und  mildernde  Umstände.     II.  Beson- 


§  2.    Kanton  Wallis.  405 


derer  Teil,  zerfällt  in  2  Bücher:  Erstes  Buch.  Von  den  Verbr.  und  Verg. 
und  deren  Bestrafung;  11  Titel.  1.  Delikte  gegen  die  Staatsreligion.  Die  Titel 
2 — 6  entsprechen  den  Titeln  1 — ö  von  Waadt.  7.  Aussetzung.  Die  Titel  8 — 11 
entsprechen  den  Titeln  6 — 9  von  Waadt;  von  den  Beamtendelikten  handelt 
Titel  n,  Kap.  8.  —  Zweites  Buch.  Die  Polizeiübertretungen  und  ihre  Bestrafung. 
2  Titel:  1.  Die  Polizeiübertretungen.  2.  Bestrafung  der  Übertretungen.  —  Ge- 
samtzahl der  Art.:  353. 

Geschichtliches.  Die  ersten  geschriebenen  G.  sind  die  Statuta  Vallesiae 
(1571)  mit  den  sich  daran  schliessenden  „Abscheiden".  Die  Rezeption  der  Ca- 
rolina ging  nicht  ohne  Kämpfe  vor  sich  (vgl.  H.  Gay ,  Histoire  du  Valais ,  II, 
S.  61flf.,  78),  aber  die  kaiserliche  Gesetzgebung  fasste  allmählich  Fuss  und 
der  Kommentar  von  Fröhlichsburg  (1710)  erlangte  Gesetzeskraft  (Revision 
des  Abscheids,  Art.  II).  Nach  der  Revolutionszeit  erhielt  Fröhlichsburg  durch 
ein  G.  vom  22.  November  1804  von  neuem  Gesetzeskraft.  Vorwalten  des  freien 
richterlichen  Ermessens;  die  Wissenschaft  holt  sich  Rat  aus  den  Schriften 
Feuerbachs,  sowie  aus  dem  Gewohnheitsrecht  und  den  Präjudizien  der  Nach- 
barkantone. Da  von  dem  jetzt  geltenden  StGB,  weder  Vorarbeiten  noch  Mo- 
tive oder  Sitzungsberichte  vorhanden  sind,  so  ist  schwer  zu  sagen,  wie  der 
Übergang  vom  früheren  zu  dem  jetzt  geltenden  Recht  sich  vollzogen  hat.  Die 
vorstehenden  kurzen  Bemerkungen  sind  dem  Pfenningerschen  Werke  (S.  74, 
83,  409)  entnommen;  es  war  nicht  möglich,  genauere  Nachrichten  über  den 
Ursprung  des  C,  p.  von  Wallis  zu  erhalten.^) 

Grund  Züge.  Der  C.  p.  von  Wallis  ist  eine  Zusammenstellung  von  Be- 
stimmungen, welche  vorzugsweise  dem  C.  p.  von  Waadt,  zum  Teil  auch  dem 
französischen  und  Neuenburger  StGB,  entnonmien  sind.  Um  wörtliche  Her- 
übemahme  zu  vermeiden,  hat  der  Verfasser  manchmal  geradezu  kindliche 
Mittel  angewendet,  Umstellungen,  Einschaltungen,  Wortveränderungen  und  andre 
zum  Teil  monströse  Abänderungen,  wie  z.  B.  die  Schaffung  eines  besonderen, 
nur  einen  einzigen  Art.  enthaltenden,  achten  Titels  im  I.  Buche.  Die  Bestim- 
mungen sind  zum  Teil  veraltet  und  grausam,  insbesondere  die  des  allgemeinen 
Teils  (Art.  26,  27,  29).  Die  Todesstrafe  ist  beibehalten,  die  Zuchthausstrafe 
kann  durch  Anlegung  von  Ketten  verschärft  werden.  Mit  der  Abschaffung 
der  eigentlichen  Körperstrafen  ist  indessen  der  C.  p.  von  Wallis  der  Bundes- 
verfassung V.  1874  voraufgegangen. 

Manche  Bestimmungen  sind  naiv;  das  religiöse  Moment  ist  stark  betont 
(Art.  101  ff.).  Durchschnittlich  sind  aber  die  Strafen  weniger  streng,  die  Min- 
destmasse niedriger  als  im  C.  p.  von  Waadt;  letztere  sind,  selbst  ftlr  schwere 
Delikte,  wie  Totschlag,  Kindesmord,  Diebstahl,  Zweikampf,  Raub,  Blutschande  u.a., 
teilweise  völlig  aufgehoben.  Zu  beachten  ist  der  internationale  Charakter 
einiger  Bestinmiungen :  bei  ausserhalb  des  Kantons  begangenen  Delikten  wird 
das  ausländische  G.  angewendet,  wenn  es  milder  ist  (Art.  14);   eine  im  Aus- 

*)  Durch  ein  G.  v.  1808  war  dem  Staatsrate  aufgegeben,  eine  Kommission  für 
die  Ausarbeitung  einer  StPO.  (durch  welche  unter  anderm  die  Folter  abgeschafiPt 
werden  sollte)  niederzusetzen.  I)ie  Vereinigung  des  Kantons  mit  dem  französischen 
Kaiserreiche  und   die  verwickelten  Verhältnisse  bei   der  Wiederherstellung   der  Re- 

Sublik  nach  dem  Sturz  Napoleons  verzögerten  «jedoch  die  gesetzliche  Regelung  dieser 
[aterie.  Später  drängte  die  Reform  der  Civilgesetzgebung  die  des  StR.  in  den 
Hintergrund.  Aber  was  der  Gesetzgeber  versäumte,  gelang  dem  Gewohnheitsrecht: 
die  öffentliche  Meinung  verurteilte  die  Prügelstrafe  und  die  Strafe  der  Brandmarkung 
ebenso  wie  die  Androhung  der  Todesstrafe  wegen  Diebstahls.  Die  Gerichte  kamen 
von  der  Anwendung  des  Fröhlichsburgschen  Kommentars  ab  und  legten  ihren  Ur- 
teilen teils  die  allgemeinen  Rechtslehren,  teils  neuere  Kodifikationen  zu  Grunde. 
Der  Strafprozess  wurde  1848  kodifiziert;  Verfasser  des  Entw.  der  StPO.  und  des 
StGB,  ist  Dr.  Cropt,  Professor  in  Sion.  (Mitteilung  des  Herrn  Dr.  Loretan,  Gerichts- 
präsident zu  Leuk-Lou^che.) 


406  I^ie  französische  Schweiz.  —  Die  Quellen. 


lande  erfolgte  Verurteilung  genügt  zur  Begründung  des  Rückfalls  (Art.  79). 
Die  praktische  Anwendung  des  Code  durch  die  wallisischen  Gerichte  scheint 
sehr  streng  zu  sein. 

Spätere  G.  G.  vom  24.  Mai  1876  betr.  die  Abänderung  des  Art.  20  des 
C.  p.  (loi  modifiant  Tarticle  20  du  c.  p.),  G.  vom  23.  Mai  1879  (erlassen  auf 
Grund  des  Art.  49  der  Bundesverfassung)  betr.  die  Eidesformel  (loi  concemant 
la  formule  du  serment),  G.  vom  24.  November  1883  betr.  die  Wiedereinführung 
der  Todesstrafe  und  die  Abänderung  einiger  Art.  des  StGB,  und  der  StPO. 
(loi  r^tablissant  la  peine  de  mort  et  modifiant  quelques  articles  du  c.  p.  et  du 
Code  de  proc^dure  pönale).  (Wallis  ist  der  einzige  Kanton  der  französischen 
Schweiz,  welcher  von  der  durch  Abänderung  des  Art.  65  der  Bundesverfassung 
den  Kantonen  verliehenen  Befugnis  zur  Wiedereinführung  der  Todesstrafe  Ge- 
brauch gemacht  hat.  VoUzogen  ist  sie  jedoch  seitdem  noch  nicht  wieder;  die 
letzte  Hinrichtung  hat  1842  stattgefunden).  G.  vom  30.  November  1887  gegen 
den  Wucher  (loi  concernant  la  röpression  de  Tusure  et  modifiant  Tart.  314 
du  c.  p.). 

§  3.  Kanton  Freibnrg. 

Code  p^nal  du  Canton  de  Fribourg,  vom  Grossen  Rat  beschlossen  in  der 

Februar-  und  Maisitzung  1868,  in  Kraft  getreten  am  1.  Januar  1874.    Freiburg, 

Imprimerie  L.  Fragni^re,   1873. 

Litteratur:  Bis  zum  C.  p.  v.  1849  vgl.  Pfenninger,  S.  370.  —  über  das  geltende 
Recht  8.  Pfenninger,  S.  662;  Stooss  passim;  H.  Schaller,  Discours  d  ouverture  sur  T^tat 
du  droit  p^nal  et  du  Systeme  penitentiaire  dans  le  Canton  de  Fribourg  in  den  „Ver- 
handlungen des  Vereins  für  Straf-  und  Gefängniswesen^  1888,  S.  11;  J.  Repond,  Les 
sources  du  droit  p^nal  fribourgeois.  R.  P.  III,  S.  46.  —  Vgl.  auch  Z.  XIä,  S.  83.  — 
Der  Entw.  des  C.  p.  ist  ohne  Angabe  des  Druckorts  und  der  Jahreszahl  gedruckt.  — 
Das  „Bulletin  officiel  des  S^ances  du  Grand  Conseil''  1868,  S.  10  ff.,  enthält  die  Ver- 
handlungen. 

Die  Einteilung  des  StGB,  ist  sehr  charakteristisch,  es  behandelt  nach 
einander  getrennt  Verbr.,  Verg.  und  Übertretungen,  vier  Bücher:  Buch  I.  All- 
gemeiner Teil,  10  Titel.  1.  Einleitende  Bestimmungen.  2.  Strafen.  S.Vor- 
satz, Überlegung  und  Fahrlässigkeit.  4.  Versuch.  5.  Thäterschaft  und  Teil- 
nahme.    6.   Gründe,   welche   die  Strafbarkeit  vermindern   oder  ausschliessen. 

7.  Zusammentreffen  mehrerer  Strafthaten  und  Rückfall.  8.  Verjährung  der 
Strafverfolgung  und  der  Strafvollstreckung.  9.  Rehabilitierung.  10.  Begnadi- 
gung. —  Buch  II.  Besonderer  Teil,  12.  Titel:  1.  Verbr.  gegen  die  Sicher- 
heit des  Staates.  2.  Aufruhr  usw.  3.  Verbr.  gegen  die  Religion.  4.  Verbr. 
gegen  Personen.  5.  Verbr.  gegen  die  Freiheit  und  Sicherheit  der  Personen. 
6.  Verbr.    gegen    den   Personenstand.      7.  Verbr.    gegen   Treu   und    Glauben. 

8.  Sittlichkeitsverbrechen.  9.  Angriffe  auf  Sachen,  um  sie  zu  zerstören  oder 
zu  beschädigen.  10.  Angriffe  auf  Sachen,  um  sie  sich  anzueignen.  11.  Betrug. 
12.  Verbr.  begangen  in  Ausübung  eines  öffentlichen  Amtes.  —  Buch  III.  Vei^. 
11  Titel:  1.  Allgemeine  Bestimmungen.  2.  Verg.  gegen  den  Staat.  3.  Verg. 
gegen  die  Religion.  4.  Verg.  gegen  Treu  imd  Glauben.  5.  Verg.  gegen  Leben 
und  Sicherheit  der  Personen.  6.  Sittlichkeitsvergehen.  7.  Landstreicherei  und 
Bettel.  8.  Vergehen  gegen  die  Ehre.  9.  Eigentumsvergehen.  10.  Sachbeschä- 
digung. 11.  Beamtenvergehen.  —  Buch  IV.  Übertretungen.  2  Titel:  1.  All- 
gemeine Bestimmungen.  2.  Die  einzelnen  Übertretungen.  —  Von  der  Anwen- 
dung des  allgemeinen  Teils  handeln  Art.  295,  456  ff.  Die  Einteilung  innerhalb 
der  Titel  ist  wenig  systematisch.  —  Die  Gesamtzahl  der  Art.  —  464  —  ist 
die  höchste  in  den  Schweizer  StGB,  überhaupt  vorkommende. 

Geschichtliches.  Der  von  Anfang  an  durchaus  deutsche  Grundzug 
des  Freiburger  Rechts  hat  der  Karolina  die  Wege  geebnet.     Die  kaiserliche 


§  3.    Kanton  Freiburg.  407 


Gesetzgebung  blieb  bis  zum  Eriass  des  Code  helv^tique  in  Kraft;  später,  nach 
dem  Acte  de  m^diation,  schaffte  ein  G.  vom  28.  Juni  1803  die  während  der 
Revolution  erlassenen  G.  wieder  ab  und  stellte  die  Karolina  wieder  her;  die 
Anwendung  der  Folter,  deren  völlige  Aufhebung  erst  durch  die  Verfassung 
V.  1830  erfolgte,  wurde  gleichzeitig  eingeschränkt.  Bereits  1808  hatte  T.  Barras, 
Mitglied  des  Tribunal  d'appel,  einen  Strafgesetzbuchsentwurf  vorgelegt,  den 
Pfenninger  (S.  361)  analysiert.  Ein  Beschluss  vom  21.  Mai  1832  verordnete 
die  Ausarbeitung  eines  StGB,  und  einer  StPO.,  „da  die  Karolina  den  Einrich- 
tungen der  jetzigen  Zeit  nicht  mehr  entspreche"  (!).  Ein  Entw.  der  StPO. 
wurde  1840  veröffentlicht,  1850  jedoch  durch  einen  neuen  ersetzt.  Mehrere 
Entw.  eines  StGB.  (v.  1844  und  1846)  gelangten  nicht  zur  Annahme.  Im 
J.  1848  Wechsel  in  der  politischen  Richtung  der  herrschenden  Parteien  und 
—  zum  erstenmale  in  der  Schweiz  —  Abschaffung  der  Todesstrafe.  Dann  im 
Mai  1849  Annahme  eines  aus  509  Art.  bestehenden  0.  p.,  dessen  im  ganzen 
sehr  milde  Bestimmungen  den  StGB,  der  Kantone  Waadt,  Luzern,  Zürich  und 
Basel,  sowie  dem  französischen  C.  p.  entnommen  sind.  Er  kennt  weder  die 
Todesstrafe  noch  die  körperliche  Züchtigung;  charakteristisch  ist  die  aus- 
schliessliche Androhung  der  Verbannung  für  die  Verbr.  gegen  den  Staat.  Die 
Einteilung  in  drei  getrennte  Abschnitte  für  Verbr.,  Verg.  und  Übertretungen 
findet  sich  hier  zum  erstenmale;  sie  reisst  Zusammengehöriges  auseinander  und 
erschwert  das  Nachschlagen.  Eine  ausführliche  Analyse  und  Würdigung  findet 
sich  bei  Pfenninger,  S.  362.  —  Der  Code  von  1849  hat  bis  zum  Inkrafttreten 
des  jetzigen  gegolten.  Der  Entw.  des  letzteren  ist  durch  die  Beratungen  im 
Grossen  Rat  nur  in  wenigen  nebensächlichen  Punkten  abgeändert;  lebhafter 
Streit  entstand  nur  über  die  Frage  der  Todesstrafe. 

Grundzüge.  Das  vom  Kantonalrichter  Fracheboud  verfasste  Freiburger 
StGB.  V.  1873  ist  mit  Recht  Gegenstand  lebhafter  Angriffe  gewesen;  es  atmet 
politischen  und  wissenschaftlichen  Rückschritt,  wie  schon  die  Wiedereinführung 
der  Todesstrafe  beweist.  Repond  (s.  o.  S.  49)  tadelt  die  Strafandrohung  gegen 
eine  Reihe  von  Handlungen  (welche  er  meint,  sagt  er  nicht),  die  in  anderen 
Gesetzgebungen  straflos  seien,  und  rügt  die  übertriebene  Strenge  verschiedener 
Straf bestimmungen  (Art.  205,  411).  Während  der  alte  Code  fast  gar  keine 
Minima  hatte,  setzt  der  neue  solche  fast  immer  fest.  Die  Fassung  ist  oft  dok- 
trinär und  pedantisch,  viele  überflüssige  Definitionen  (z.  B.  Vollendung,  un- 
taugliches Delikt)  erwecken  den  Anschein,  als  habe  der  Verfasser  sie  aus  alten 
Lehrbüchern  geschöpft.  Die  Einteilung  in  drei  getrennte  Abschnitte  mit  allen, 
besonders  bei  der  Anwendung  des  allgemeinen  Teils  hervortretenden  Mängeln 
ist  beibehalten.  Bezüglich  der  Vorbilder  und  der  Richtung  im  allgemeinen  ist 
zu  bemerken,  dass  das  StGB,  für  den  norddeutschen  Bund  in  ausgedehntem 
Masse  benutzt  und  mit  Bestimmungen  des  französischen  C.  p.  (zum  Teil  recht 
flüchtig)  verarbeitet  ist.  (Vgl.  Art.  228  und  259,  „escroquerie"  und  „fraude".) 
Repond  spricht  den  wenigen  dem  Freiburger  C.  p.  eigentümlichen  Bestimmungen 
die  Existenzberechtigung  ab. 

Die  wichtigsten  neben  dem  C.  p.  in  Geltung  gebliebenen  G.:  G.vom 
28.  Mai  1850  über  die  Gesundheitspolizei  (loi  sur  la  police  de  sant6).  G.  betr. 
die  Distriktsgefängnisse  vom  31.  Januar  1852  (loi  sur  le  regime  des  prisons 
de  district)..  Pressgesetz  (loi  sur  la  presse)  vom  3.  Mai  1854.  Forstgesetz  (code 
forestier)  vom  18.  Dezember  1858.  Wahlgesetz  (loi  61ectorale)  vom22.  Mai  1861. 
G.  über  das  Armenwesen  (loi  sur  le  paup^risme)  vom  17.  November  1869. 

Spätere  G.:  G.  vom  19.  August  1874  betr.  die  Abschaffung  der  Todes- 
strafe (loi  sur  Tabolition  de  la  peine  de  mort  [letzte  Hinrichtung  1832]).  G. 
vom  13.  Mai  1875  über  die  Bestrafung  des  Betruges  in  leichteren  Fällen  (loi 
fixant  une  peine  pouf  le  d^lit  d 'escroquerie,   lorsqu'il  revöt  le  caractäre  cor- 


408  I^ie  französische  Schweiz.  —  Die  Quellen. 


rectionnel)  zur  Vervollständlgniig  des  Art.  229.  G.  vom  27.  August  1875  über 
die  Geldstrafen  und  Gerichtskosten  (loi  concemant  les  amendes  et  frais  de 
justice)  zur  Abänderung  der  Art.  26,  28,  303,  455).  G.  vom  15.  November  1875 
betr.  die  Abänderung  des  Art.  346  des  C.  p.  (Beschimpfung  von  Kirchen,  Re- 
ligionsgesellschaften usw.).  G.  vom  20.  November  1877  über  die  Gef.  (loi  sur 
les  p^nitenciers;  führt  die  Möglichkeit  eines  bedingten  Erlasses  von  einem 
Zehnteil  der  erkannten  Strafe  ein).  G.  vom  28.  September  1888  über  die  Her- 
bergen (loi  sur  les  auberges).  —  Über  einzelne  dieser  G.  vgl.  Z.  XXVn  S.  482 
und  XXIX  S.  557. 

§  4.  Kanton  €lenfl 

Code  p^nal  du  Canton  de  Gen^ve,  vom  Grossen  Rat  beschlossen  am 
21.  Oktober  1874,   in  Kraft  getreten  am  30.  Oktober  1874.     (Jenf,    Imprimerie 

Jarrys,  1874. 

Litteratur.  Über  das  ältere  Recht:  M6moires  et  documents  publi^s  par  la  So- 
ciety d'histolre  et  d'arch^ologie  de  Gen^ve,  erscheinen  in  unregelmässigen  Zwischen- 
räumen; I.  Folge  (80)  Bd.  I— XX,  Genf  1841—88-,  H.  Folge  {^)  Bd.  I— fu,  Genf  1882 
bis  1888-,  Ausgabe  in  4®,  Bd.  I  und  II,  Genf  1870—92.  —  Ant.  Flammer,  Lois  pönales, 
dlnstruction  criminelle  et  de  police  du  Canton  de  Genöve  (mit  einer  geschichtlichen 
Einleitung),  Genf  1862.  —  Alb.  Dunant,  Notice  sur  la  lögislation  pönale  du  Canton  de 
Genfeve.  R.  P.  III,  S.  178.  —  Pfenninger,  S.  72,  97,  190.  —  Über  das  geltende  StGB.: 
Gutachten  von  Dunant  in  dem  „Memorial  des  S^ances  du  Grand  Conseil  1873/74*^  II, 
S.  1415;  die  Verhandlungen  finden  sich  daselbst  Bd.  11  und  III.  —  Pfennineer,  S.  670. 
—  Stooss  passim.  Vgl.  auch  Z.  XXI,  S.  266.  —  J.  Homung,  La  r^vision  du  C.  p.  de 
1810.  Genf  1873.  Derselbe,  Le  nouveau  C.  p.  in  der  Revue  de  droit  international 
1875.  —  Bret  und  Le  Fort,  Repertoire  des  r^glements  adopt^s  par  le  Conseil  d'£tat 
de  1876  k  1887.  Genf  1888.  —  Ein  Kommentar  ist  nicht  vorhanden.  —  Die  „Semaine 
judiciaire"  veröffentlicht  die  wichtigsten  Entsch.  des  Kassationshofes  (Cour  de  Cas- 
sation cantonale). 

Einteilung.  Nach  französischem  Muster  sind  Verbr.  und  Verg.  zusammen 
behandelt  und  nur  die  Übertretungen  abgetrennt.  Drei  Bücher.  BuchL:  All- 
gemeiner Teil,  7  Titel:  1.  Von  den  strafbaren  Handlungen  im  allgemeinen. 
2.  Versuch.  3.  Strafen.  4.  Kreis  der  strafbaren  Personen.  5.  Gründe,  welche 
die  Strafbarkeit  ausschliessen  oder  vermindern.  6.  Strafaufhebung  und  Straf- 
verjährung. 7.  Bedeutung  einiger  im  Code  vorkommenden  Ausdrücke.  — 
Buch  n.  Verbr.,  Verg.  und  ihre  Bestrafung,  9  Titel:  1.  Verbr.  und  Verg.  gegen 
die  Sicherheit  des  Staates.  2.  Gegen  die  durch  die  Verfassung  gewährleisteten 
Rechte.  3.  Gegen  öffentliche  Treu  und  Glauben.  4.  Verbr.  und  Verg.  gegen 
die  öffentliche  Ordnung,  begangen  von  Beamten.  5.  Dieselben,  begangen  von 
Privatpersonen.  6.  Verbr.  xmd  Verg.  gegen  den  öffentlichen  Frieden  und  die 
öffentliche  Sicherheit.  7.  Gegen  die  Personen.  8.  Gegen  das  Eigentum.  9.  Die 
verschiedenen  Arten  des  Betruges.  —  Buch  III.  Übertretungen  und  ihre  Be- 
strafung. —  Gesamtzahl  der  Art.:  388. 

Geschichtliches.  Die  Zeit  bis  zur  französischen  Revolution  wird  charak- 
terisiert durch  die  Rechtsprechung  des  „Petit  Conseil"  (ex^cutif)  und  die  will- 
kürliche Festsetzung  der  Strafen.  Strenge,  auf  Calvins  Einfluss  zurückzufüh- 
rende Praxis  auf  dem  Gebiete  der  Sittlichkeits-  und  Religionsdelikte.  Reform- 
versuch durch  den  Code  genevois  v.  1791.  Im  J.  1792  Revolution  in  Genf. 
Die  Verfassung  V.  1794  trennt  Justiz  und  Verwaltung  und  führt  Schwurgerichte 
sowie  die  Öffentlichkeit  und  Mflndlichkeit  des  Verfahrens  ein.  Nach  der  fran- 
zösischen Eroberung  v.  1798  wurde  das  G.  vom  3  Brumaire  des  J.  IV,  später  der 
C.  d*instr.  crim.  und  C.  p.  in  Genf  eingeführt.  Wiederherstellung  der  Republik 
(1814)  und  Vereinigung  mit  der  Schweiz.  Der  Code  v.  1810  blieb  bis  1874 
in  Kraft,  aber  mit  einschneidenden  Abänderungen.  Die  G.  vom  6.  Januar  1815 
und  6.  Februar  1816  beliessen  die  französischen  GB.  in  Geltung,  jedoch  unter 
Änderung  folgender  Punkte:  Aufhebung  der  Laiengerichte,  Beschränkung  der 


§  4.    Kanton  Genf.  409 


Todesstrafe,  Einführung  des  Hausarrestes  (nach  Muster  des  C.  genevois  v.  1791), 
Abschaffung  der  Yermögenskonfiskation  und  der  Strafmindestmasse  unter  Bei- 
behaltung der  Höchstmasse  des  C.  p.  —  Entw.  eines  völlig  revidierten  StGB, 
auf  ähnlicher  Grundlage  v.  1821  und  1829  (iltienne  Dumont).  Gefängnisreform 
seit  1822.  Die  Laiengerichte  wurden  im  Prinzip  wieder  eingeführt  durch  ein 
G.  vom  8.  Januar  1831  ,dann  durch  die  Verfassung  v.  1841.  Inzwischen  (1838) 
scheiterte  der  Entw.  eines  revidierten  GerVerfG.  und  einer  StPO.  Das  wich- 
tige G.  vom  12.  Januar  1844  führte  die  Jury  für  Verbr.  und  die  mildernden 
Umstände  ersten  und  zweiten  Grades  (circonstances  att^nuantes  et  tr^  att^- 
nuantes)  ein  und  stellte  die  Mindestmasse  wieder  her,  mit  Ausnahme  jedoch 
des  Falls  des  Vorhandenseins  mildernder  Umstände  zweiten  Grades.  Die  seit 
etwa  20  Jahren  bereits  nicht  mehr  angewendeten  Strafen  der  Brandmarkung 
und  des  Prangers  wurden  abgeschafft.  Ein  nur  im  Manuskript  vorhandener 
Entw.  eines  StGB.  (Rigaud,  Gramer,  Duval)  ging  im  Strudel  der  politischen 
Wirren  des  J.  1846  unter.  Verfassung  v.  1847.  Ein  G.  vom  4.  März  1848 
dehnte  die  Einrichtung  der  Schwurgerichte  auf  das  Verfahren  vor  den  Tri- 
bunaux  correctionnels  aus  und  schaffte  die  Mindestmasse  für  die  zur  Zuständig- 
keit derselben  gehörigen  Sachen  ab.  Durch  G.  vom  10.  Dezember  1848  wurde 
dem  Grossen  Rat  das  Recht  der  Begnadigung  verliehen.  Ein  G.v.  1849  garan- 
tierte die  persönliche  Freiheit  und  die  Unverletzlichkeit  der  Wohnung.  Im 
J.  1856  wurde  der  bürgerliche  Tod  durch  G.  aufgehoben.  (Über  das  Ver- 
hältnis des  C.  p.  zu  diesen  späteren  G.  vgl.  Flammer  a.  0.  S.  333.)  Endlich 
Abschaffung  der  Todesstrafe  durch  G.  vom  24.  Mai  1871  (letzte  Hinrichtung  1862). 
Im  J.  1873  beantragte  Dunant  bei  dem  Grossen  Rat  die  Revision  der  gesamten 
StGgebung,  da  die  zu  strengen  Bestimmungen  der  französischen  G.  den  Be- 
dürfnissen der  Zeit  nicht  mehr  entsprächen  und  auf  die  Rechtsprechung  einen 
verderblichen  Einfluss  ausübten.  Einsetzung  einer  Kommission  von  7,  später 
9  Mitgliedern  (Berichterstatter  und  Verfasser  des  Entw. :  Dunant).  Von  August 
bis  Oktober  1874  wurde  der  Entw.  im  Grossen  Rat  artikelweise  diskutiert;  be- 
dauerlicher Einfluss  politischer  Meinungsverschiedenheiten;  eine  Unmenge  von 
teils  unüberlegten,  teils  den  Grundgedanken  des  G.  widersprechenden  Ab- 
änderungsanträgen  (so  auf  Wiederherstellung  der  vom  Entw.  aufgegebenen 
mildernden  Umstände  zweiten  Grades  —  circonstances  trös  att^nuantes  —  in 
zweiter  Lesimg). 

Der  Grundcharakter  des  G.  ist  grosse  Milde;  die  anscheinend  oft 
hohen  Minima  sind  durch  die  Einführung  der  mildernden  Umstände  zweiten 
Grades  thatsächlich  wieder  aufgehoben  und  gestatten  eine  sehr  milde  Praxis. 
Eine  sehr  geistreiche,  aber  der  nationalen  Eigentümlichkeit  völlig  entbehrende 
Kompilation  von  Bestimmungen  des  französischen  Rechts,  die  durch  Anleihen 
aus  den  modernen  Gesetzgebungen  gemildert  und  verbessert  sind  (vgl.  die 
Bestimmungen  über  EJndesmord).  Die  meisten  Begriffsbestimmungen  sind  aus 
dem  Code  v.  1810  wörtlich  herübergenommen. 

Die  wichtigsten  neben  dem  Code  in  Geltung  gebliebenen  G.:  G. 
vom  27.  Februar  1829  betr.  gefährliche  Anlagen  (loi  sur  les  constructions  dan- 
gereuses).  G.  vom  5.  Februar  1838  betr.  die  Unterbringung  und  Überwachung 
der  Geisteskranken  (loi  sur  le  placement  et  la  surveillance  des  ali6n6s).  G. 
vom  28.  Febmar  1840  über  die  Gefängnisverwaltung  (loi  sur  Tadministration 
des  prisons).  G.  vom  23.  April  1849  über  die  persönliche  Freiheit  und  die  Un- 
verletzlichkeit der  Wohnung  (loi  sur  la  libertö  individuelle  et  Tinviolabilit^  du 
domicile).  G.  vom  7.  November  1849  über  die  Verantwortlichkeit  des  Staatsrats 
(loi  sur  la  responsabilit^  du  Conseil  d'^tat). 

Spätere  G.:  G.  vom  12.  Juni  1875  über  die  Begnadigung  (loi  sur  la 
gr&ce).    G.  vom  15.  Juni  1878  und  21.  Oktober  1881  über  Wahlbetrug  (lois  sur 


410  I^ie  französische  Schweiz.  —  Die  Quellen. 


les  fraudes  ^lectorales).  6.  vom  7.  April  1883  über  den  Weinverkanf  (loi  sur 
la  vente  des  vins).  StPO.  (e.  d'instr.  pönale)  vom  25.  Oktober  1884.  (Be- 
stimmungen über  die  Aufhebimg  anderer  G.:  Art.  7.)  —  G.  vom  29.  Januar 
1887  über  die  zur  Nachahmimg  von  Banknoten  und  Wertpapieren  bestimmten 
Drucksachen  (loi  pönale  relative  aux  imprimös  de  papier  tendant  ä  imiter  des 
billets  de  banque  ou  valeurs  fiduciaires).  6.  vom  19.  März  1888  betr.  die 
Stellung  einer  Frage  über  den  Geisteszustand  des  Angeklagten  an  die  Ge- 
schworenen (loi  permettant  de  poser  au  jury  la  question  d'alienation  mentale) 
(in  Anlass  des  Falls  Lombardi  erlassen).  G.  vom  26.  September  1888  betr.  die 
Verg.  und  Übertretungen  gegen  die  öffentliche  Sittlichkeit  (loi  concemant  les 
dölits  et  contraventions  contre  la  morale  publique).  G.  vom  1.  Oktober  1890 
und  28.  März  1891  betr.  Abänderung  der  StPO.  (loi  modifiant  le  c.  d'instr.  crim.; 
das  erste  dieser  G.  ordnet  die  Beteiligung  des  Vorsitzenden  Richters  an  der 
Beratung  der  Geschworenen  über  die  Schuldfrage  und  umgekehrt  der  Ge- 
schworenen an  der  Beratung  des  Gerichtshofes  über  die  Strafzumessung  an, 
schafft  die  mildernden  Umstände  zweiten  Grades  —  circonstances  ti'ös  atte- 
nuantes  —  für  die  zur  Zuständigkeit  des  Tribunal  correctionnel  gehörigen 
Delikte  ab  und  bestimmt,  dass  bei  Vorhandensein  mildernder  Umstände  die 
Strafmindestmasse  ausser  Kraft  treten).  G.  vom  20.  Mai  1891  über  die  väter- 
liche Gewalt  (loi  sur  la  puissance  paternelle).  Vereinbarung  vom  3.  November 
1891  zwischen  den  Kantonen  Aargau,  Neuenburg  und  Genf  betr.  die  Einrich- 
tung einer  Strafkolonie  für  jugendliche  Gefangene  im  Schlosse  Aarburg.  G. 
vom  30.  März  1892  betr.  die  verwahrlosten  Kinder  (loi  sur  Tenfance  abandonnce). 
Ein  vom  Staatsrat  Richard  verfasster  Entw.  eines  G.  über  die  bedingte  Ver- 
urteilung wird  gegenwärtig  im  Grossen  Kate  diskutiert;  die  Aufnahme  ist 
durchaus  günstig.  (Vgl.  R.  F.  V,  S.  17).  Dieser  Entw.,  wesentlich  umgestaltet 
durch  den  mit  seiner  Prüfung  beauftragten  Ausschuss,  wurde  in  zweiter  Lesung 
von  dem  Grossen  Rate  in  der  Sitzung  vom  22.  Juni  1892  angenommen;  die 
endgültige  Annahme  in  dritter  Lesung  erscheint  als  sicher.  Elndlich  beabsich- 
tigt der  Staatsrat  einen  Gesetzentwurf  betr.  die  Abänderung  der  Art.  48  ff. 
(Einfluss  des  Lebensalters  auf  die  Zurechnung)  und  278  (Sittlichkeitsdelikte 
gegen  Kinder  ohne  Anwendung  von  Gewalt)  des  C.  p.  v.  1874.  Über  einzelne 
dieser  G.  vgl.  Z.  XXI,  S.  275,  XXII,  S.  153,  XXIX,  S.  454  und  458,  sowie 
R.  P.  n,  S.  344  und  536,  III,  441,  IV,  425. 

§  5.  Kanton  Neuenburg. 

Code  p6nal  de  la  R6publique  et  Canton  de  Neuchätel,  vom  Grossen  Rate 

beschlossen  am  12.  Februar  1891,    in   Kraft   getreten   am  1.  Juli  1891.     Chaux 

de  Fonds,  Imprimerie  du  National  Suisse  1891. 

Litteratur.  Über  das  ältere  Recht:  Matile,  De  rautorit^  du  droit  romain,  de  la 
coutume  de  Bourgogne  et  de  la  Caroline  dans  la  prineipaut^  de  Neuchätel  1838.  — 
Matile,  Histoire  des  institutions  judiciaires  et  legislatives  deNeuch&tel  1838.  —  Guillaume, 
Esquisse  historique  du  d^veloppement  de  la  l^gislation  pönale  et  du  Systeme  des  prisons 
dans  le  Canton  de  Neuchätel.  Verhandlungen  des  schweizer  Vereins  für  Straf-  und 
GefÄngniswesen.  Neuch&tel  1872.  S.  1.  —  Pfenninger,  S.  76,  84,  379.  —  Über  den  C.  p. 
V.  1855:  Pfenninger,  S.  381,  mit  Verzeichnis  der  darüber  vorhandenen  Litteratur  (S.  390). 
—  Über  das  geltende  StGB.:  Correvon,  De  TAvant-projet  de  C.  p.  pour  le  Canton  de 
Neuchätel,  R.  P.  II,  S.  139.  —  Avant-projet  de  C.  p.  September  1888.  Chaux  de  Fonds, 
Imprimerie  du  National  Suisse.  1888.  —  Projet  de  c.  p.  (März  1889).  Chaux  de  Fonds, 
Imprimerie  du  National  Suisse.  Die  vorzüglichen  Vorarbeiten  zu  demselben  sind 
unter  dem  Titel:  „Bulletin  concernant  le  C.  p.'^  als  Auszug  aus  dem  Memorial  du  Grand 
Conseil  (Bd.  51)  erschienen  (Societe  d'imprimerie  de  Cemier  1891);  das  Werk  enthält: 
1.  Antrag  vom  6.  März  1884  betr.  Revision  des  C.  p.  2.  Entw.  (Verfasser  Staatsrat 
Comaz).  8.  Motive  (von  demselben).  4.  Generaldiskussion  mit  Beschluss  auf  Zurück- 
verweisung au  die  Gesetzgebungskommission.  5.  Kommissionsbericfat  (vom  Nationahrat 


§  5.    Kanton  Neuenbürg.  411 


Jeanhenry)  und  Abänderungsvorschläge.  6.  Diskussion,  Annahme  des  Entw.  und 
Schlussanträge.  —  Vgl.  Stooss  passim. 

Die  Einteilung  ist  der  des  C.  p.  Ton  Genf  ähnlich,  jedoch  ist  die  Unter- 
scheidung zwischen  Verbr.  und  Verg.  fallen  gelassen.  Drei  Bücher:  Buch  I. 
Allgemeine  Bestimmungen,  10  Titel:  1.  Einleitung.  2.  Strafen.  3.  Be- 
dingte Freilassung.    4.  Versuch.    5.  Thäterschaft,  Teilnahme  und  Begünstigung. 

6.  Vorsatz  und  Fahrlässigkeit,  Umstände,  welche  die  Strafbarkeit  ausschliessen, 
aufheben  oder  vermindern.  7.  Konkurrenz.  8.  Rückfall.  9.  Ausschluss  der 
Strafverfolgung  und  der  Strafvollstreckung.  10.  Von  der  Verfolgung  der 
strafbaren  Handlungen.  Buch  II:  Die  Delikte  und  ihre  Bestrafung, 
11  Titel.  1.  Politische  Delikte.  2.  Delikte  in  Bezug  auf  die  Verwaltung  und 
die   Ausübung   öffentlicher   Ämter.      3.   Delikte    gegen    die   Justizverwaltung. 

4.  Delikte  gegen  den  öffentlichen  Frieden  und  die  öffentliche  Ordnung.  5.  De- 
likte gegen  Treu  und  Glauben.     6.  Delikte  gegen  die  öffentliche  Sicherheit. 

7.  Sittlichkeitsdelikte.  8.  Delikte  gegen  die  Person.  9.  und  10.  wie  Titel  8 
und  9.  des  C.  p.  von  Waadt.  11.  Pressdelikte.  Buch  III:  Polizeiübertretungen 
und  ihre  Bestrafung.  —  Gesamtzahl  der  Art.:  448. 

Geschichtliches.  Die  Frage  nach  der  Geltung  der  Karolina  wurde 
bis  1848  in  Neuenburg  wiederholt  lebhaft  erörtert,  so  am  5.  Juni  1848  auch 
im  Grossen  Rate  gelegentlich  eines  Antrags  auf  Abschaffung  der  kaiserlichen 
Gesetzgebung.  Nach  einer  sehr  verworrenen  Debatte,  welche  die  verschiedensten 
Ansichten  zu  Tage  förderte,  wurde  beschlossen,  sie  in  Zukunft  nicht  mehr  an- 
zuwenden. Als  geschichtliche  Kontroverse  ist  dieselbe  Frage  bei  Gelegenheit 
der  Diskussion  über  den  jetzigen  Code  erörtert.  (Bulletin  S.  673).  Die  grösste 
Wahrscheinlichkeit  hat  die  Ansicht  Matiles  (der  auch  Comaz  und  Jeanhenry 
folgen)  für  sich,  dass  die  Karolina,  ohne  jemals  förmliche  Gesetzeskraft  er- 
langt zu  haben,  doch  die  Grundlage  des  StR.,  das  gemeine  Recht,  gebildet 
hat,  auf  welches  die  Gerichte  in  zweifelhaften  Fällen  zurückgingen.  Mehrere 
Spezialgesetze  gingen  der  allgemeinen  Revision  voraus,  so  das  wichtige  G.  vom 

8.  Juni  1854  über  die  Abschaffung  der  Todesstrafe  (letzte  Hinrichtung:  1834). 
Das  am  I.Januar  1862  in  Kraft  getretene  StGB,  vom  21.  Dezember  1856  ist 
durch  das  jetzige  aufgehoben.  Von  allen  Schweizer  StGB,  schloss  es  sich  am 
engsten  an  das  französische  Recht  an  und  bildete  eine  mildere  Wiederholung 
des  C.  p.  fran9ais  v.  1810  (Verfasser:  Piaget).  Die  demselben  von  Pfenninger 
gespendeten  Lobeserhebungen  sind  übertrieben;  auf  Kosten  der  Vollständigkeit 
kurz  zu  sein,  ist  kein  Verdienst.  Richtiger  bezeichnet  es  Comaz  als  ein  über- 
eiltes, unselbständiges  Werk  ohne  nationales  —  man  kann  hinzufügen:  und 
originales  —  Gepräge.  Die  irrtümliche  Auffassung  des  französischen  C.  p.  über 
Versuch  und  Teilnahme  ist,  wenn  auch  in  abgeschwächter  Form,  beibehalten. 
Im  ganzen  ist  das  G.,  das  weder  Todesstrafe  noch  körperliche  Züchtigung 
kennt,    sehr   milde.      Über   spätere  Abänderungen    desselben  vgl.  Pfenninger, 

5.  390  und  Stooss ,  Die  schweizerischen  StGB. ,  S.  XXIII.  —  Die  Vorarbeiten 
zum  jetzigen  C.  p.  sind  bereits  oben  erwähnt.  Die  Art  und  Weise,  in  welcher 
über  den  Entw.  diskutiert  wurde,  verdient  eine  lobende  Erwähnung;  man  kam 
demselben  mit  Achtung  entgegen,  unterliess  es,  noch  in  der  letzten  Minute 
Abänderungsanträge  einzubringen  und  beschränkte  sich  darauf,  die  von  der 
Kommission  vorgeschlagenen  wohlüberlegten  Änderungen  anzunehmen. 

Grundzüge.  Es  ist  das  jüngste  der  Schweizer  StGB,  und  steht  auf  der 
Höhe  modemer  Wissenschaft,  deren  reformatorische  Gedanken  es  glücklich 
verwertet.  Die  veraltete  Unterscheidung  zwischen  Verbr.  und  Verg.  ist  ab- 
geschafft, die  Trennung  der  Verbrecher  in  G^wohnheits-  und  Gelegenheits- 
verbrecher ist  teilweise  durchgeführt  in  den  Bestimmungen  über  Rückfall 
(Art.  96),  gewohnheitsmässigen  Diebstahl  (399),  polizeiliche  Überwachung  der 


412     I^ie  französische  Schweiz.  —  Die  Grundzüge  des  StR.  der  französischen  Schweiz. 


Rückfälligen  (38)  einerseits,  andererseits  über  bedingte  Entlassung  (43),  Schutz- 
fürsorge  für  Entlassene  (38,  81)  und  vor  allem  in  den  Bestimmungen  der 
Art.  86  (Straflosigkeit  der  geringen  Eigentumsdelikte,  wenn  Schadensersatz  ge- 
leistet ist)  und  400  ff.  (Aussetzung  der  Verurteilung  bei  dem  ersten  Eigentums- 
delikt). Kinder  können  ohne  vorhergehende  richterliche  Verurteilung  fest- 
gehalten werden.  Besserung  des  Verurteilten  wird  in  erster  Linie  erstrebt; 
er  wird  vor  der  Bekanntschaft  mit  Gef.  zu  bewahren  gesucht  durch  Ausdeh- 
nung der  dem  Vermögen  angepassten  und  ratenweise  zahlbaren  Geldstrafe 
(27)  und  der  Civilhaft  ohne  entehrenden  Charakter;  die  an  Stelle  der  Geld- 
strafe im  Falle  der  Nichtzahlung  tretende  Freiheitsstrafe  kann  in  Zwangsarbeit 
ohne  Einsperrung  umgewandelt  werden  (28).  Einzelne  Bestimmungen  des  c.  p. 
tragen  einen  internationalen  Charakter;  eine  im  Auslande  erfolgte  Verurteilung 
wird  berücksichtigt  bei  der  Aberkennung  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  (37), 
und  der  Statuierung  des  Rückfalls  (96);  vgl.  auch  Art.  20  und  91.  Das  Streben 
nach  möglichster  Humanität  ist  unverkennbar  (Art.  21,  25,  29).  Häufig  kann 
der  Richter  zwischen  mehreren  Strafarten  wähleft.  Mindestmasse  sind  nur  für 
sehr  schwere  Delikte  festgesetzt,  die  Höchstmasse  erscheinen  oft  zu  niedrig. 
Zu  tadeln  ist  die  Länge  des  C.  p. ;  er  ist  mit  zahlreichen  rein  doktrinären  Be- 
stimmungen beschwert,  die  eigentlich  in  eine  wissenschaftliche  Abhandlung 
hineingehören  (Art.  1,  51,  59,  69,  95,  112,  232  u.  a.).  Andere  Artikel  stehen 
nicht  am  richtigen  Orte  (76,  86).  Endlich  bildet  die,  allerdings  ausserordent- 
liche, Bestimmung  des  Art.  16  Z.  3  (Verschärfung  der  lebenslänglichen  Ein- 
sperrung durch  Anlegung  von  Ketten  im  Falle  eines  neuen  Delikts)  einen 
dunklen  Punkt  im  C.  p.  Über  die  Frage,  ob  die  Kettenstrafe  (als  Körper- 
strafe?) verfassungswidrig  ist,  vgl.  Stooss,  S.  59. 

Ein  wichtiges  vom  C.  p.  nicht  aufgehobenes  G.  ist  das  vom  23.  März 
1889  über  die  staatliche  Hülfe  und  Fürsorge  für  die  verwahrloste  Jugend  (loi 
sur  Tassistance  publique  et  la  protection  de  l'enfance  malheureuse).  R.  P.  III, 
S.  295. 


n.  Die  Gnmdzttge  des  StR.  der  französischen  Schweiz. 

§  6.  Glebt  es  ein  besonderes  franzOslseh-schwelzerlsclies  StB.t 

Von  nationalen  Grundsätzen  im  engsten  Sinne  des  Wortes  kann  hier  nicht 
die  Rede  sein;  die  Schweizer  Kriminalisten  streiten  über  das  Vorhandensein 
eines  eigenen  schweizerischen  StR.,  diejenigen,  welche  es  verneinen,  dürften 
Recht  haben  (Stooss,  S.  7).  Es  wäre  jedenfalls  unvorsichtig,  dem  Einflüsse  der 
Rassenverschiedenheit  einen  besonderen  Wert  beimessen  und  die  Existenz  eines 
ausgeprägten,  von  dem  der  Kantone  deutscher  Zunge  verschiedenen  ft*anzösisch- 
schweizerischen  StR.  behaupten  zu  wollen.  Zur  Rechtfertigung  einer  derartigen 
Behauptung  müsste  man  zunächst  das  fortdauernde  Vorhandensein  einer  Stammes- 
verwandtschaft, eines  gemeinsamen  Ursprungs,  übereinstimmender  Grund- 
anschauungen, kurz  eines  der  gesamten  französischen  Schweiz  gemeinsamen 
Gewohnheitsrechts  nachgewiesen  haben.  Ein  Blick  auf  die  politische  Geschichte 
zeigt  die  Haltlosigkeit  dieser  Hypothese  für  die  Vergangenheit.  Der  Begriff 
der  französischen  Schweiz  ist  ein  völlig  willktirlicher  und  künstlicher;  die  Ele- 
mente, aus  denen  sie  besteht,  sind  so  verschieden,  dass  sie  nichts  weniger 
als  eine  Nation  bilden.  Die  einzelnen  Kantone  —  das  erst  seit  kaum  einem 
Jahrhundert  unabhängige  Waadtland,  das  später  zur  Republik  umgewandelte 
Bistum  Wallis,  Freiburg,  einer  der  ältesten  Kantone  des  Bundes,  die  alte  Re- 
publik Genf  und   das  Fürstentum  Neuenburg  —  haben  eine  zu  verschieden- 


§  7.    Die  allgemeinen  Lehren.  413 


artige  geschichtliche  Vergangenheit,  als  dass  sich  ein  Stamm  gemeinsamer  Über- 
lieferungen^ hätte  bilden  können.  Und  trotz  der  Zusammenfassxmg  zu  einem 
einheitlichen  politischen  Bunde  tiberwiegen  auch  in  der  Gegenwart  noch  die- 
jenigen Elemente,  welche  eine  Trennung  der  künstlich  zusammengewürfelten, 
vom  Auslande  nicht  einmal  durch  natürliche  geographische  Grenzen  getrennten 
Stämme  bedeuten.  Die  Verschiedenheit  der  Interessen  (Stadt  und  Land,  In- 
dustrie und  Ackerbau),  des  Klimas  und  der  Lebensweise  (Ebene  und  Berg- 
land), der  Kultur  und  beinahe  sogar  der  Civilisation,  der  sehr  schroflFe  Gegen- 
satz der  Konfessionen,  ja  selbst  der  Sprache,  ist  zu  gross.  Jahrhunderte  ge- 
meinsamen Lebens  würden  erforderlich  sein,  um  eine  Verschmelzung  dieser 
erst  kürzlich  vereinigten  Elemente  zu  bewirken.  Alle  diese  Momente  haben 
die  Entstehung  eines  der  französischen  Schweiz  gemeinsamen  Nationalgeistes, 
dessen  Spiegelbild  unsere  Gesetzgebungen  wiedergeben  könnten,  verhindert 
und  machen  sie  noch  heute  unmöglich.  In  sämtlichen  geltenden  GB. 
der  ö*anzösichen  Schweiz  herrscht  deshalb  auch  unumschränkt  ein  kosmo- 
politischer Eklektizismus.  Im  StR.  nimmt  jeder  Kanton  das  Gute,  wo  er  es 
findet;  die  unvermeidlichen  Ähnlichkeiten  erklären  sich  ganz  einfach  durch 
die  Herübernahme  von  Bestimmungen  aus  den  ältesten  StGB,  in  die  modernen 
oder  durch  die  Benutzung  einer  gemeinsamen  ausländischen  Quelle.  Von 
letzterer  hat  nur  der  französische  C.  p.  auf  alle  Gesetzgebungen  der  französi- 
schen Schweiz  einen  gleichmässigen  Einfluss  gehabt,  aber  auch  dieser  äussert 
sich,  je  nach  den  einzelnen  Kantonen,  in  sehr  verschiedener  Stärke  und  in 
den  verschiedenartigsten  Punkten.  Der  einzige  in  der  Geschichte  des  StR. 
der  französischen  Schweiz  zu  entdeckende  gemeinsame  Zug  ist  der,  dass  keiner 
der  Kantone  nach  Erlangung  der  Unabhängigkeit  sofort  zum  Erlass  einer 
neuen  Gesetzgebung  geschritten  ist,  sondern  dass  das  geltende  Recht  (Karolina, 
Code  helv6tique  oder  C.  p.  fran9ais)  noch  während  eines  längeren  Zeitraums 
Geltung  behalten  hat.  Doch  beruht  der  späte  Eintritt  der  Kodifikation  auf 
zufälligen,  für  jeden  Kanton  verschiedenen  Gründen. 

Man  muss  daher  nicht  nur  auf  jede  geschichtliche,  sondern  auch  auf 
jede  wissenschaftliche  Gruppierung  verzichten.  Denn  um  eine  Einheitlichkeit 
wenn  nicht  der  Gesetzgebung,  so  doch  wenigstens  der  Theorie  herzustellen, 
hätte  es  einer  französisch-schweizerischen  Wissenschaft  bedurft  —  eine  solche 
giebt  es  aber  nicht.  Die  alten  Kriminalisten,  wie  Quisard,  Seigneux,  Matile, 
deren  Namen  noch  heute  mit  Stolz  genannt  werden,  lenkten  ihren  Blick  kaum 
über  die  Grenzen  ihres  Kantons  hinaus  und  diese  Art  des  Partikularismus 
hat  sich  bis  zum  heutigen  Tage  erhalten.  Wie  dürftig  unsere  Litteratur  ist, 
ergiebt  sich  aus  der  oben  gemachten  Zusammenstellung.  Der  Mangel  an  ge- 
meinsamer wissenschaftlicher  Arbeit  hat  nicht  nur  eine  noch  grössere  Isolierung 
der  Kantone  zur  Folge  gehabt,  sondern  erschwert  auch  eine  Vergleichung  der 
StGB,  ungemein.  Kommentare  sind  nicht  vorhanden;  man  ist  daher  auf  die 
Benutzung  des  Textes  und  zuweilen  der  Vorarbeiten  angewiesen.  Ein  ver- 
gleichendes Studium  sämtlicher  einzelner  Bestimmungen  eines  G.  ist  erforder- 
lich, um  die  demselben  zu  Grunde  liegenden  allgemeinen  Grundsätze  zu  ent- 
decken. Die  Resultate  dieser  Forschungen,  welche  übrigens  auf  Vollständigkeit 
keinen  Anspruch  machen,  seien  in  folgendem  kurz  wiedergegeben. 


§  7.  Die  allgemeinen  Lehren. 

Allgemeine  Einteilung.  Der  Einfluss  des  französischen  Rechts  fehlt 
hier:  unsere  StGB,  behandeln  den  allgemeinen  Teil  in  einem  einzigen  Ab- 
schnitt,  dann  den  besonderen  Teil  in  einer  Reihe  nach  Zahl  und  Inhalt  ahn- 


414     I>ie  französische  Schweiz.  —  Die  Grundzüge  des  StR.  der  französischen  Schweiz, 


lieber  Titel.  Freiburg  mit  seiner  bereits  besprochenen  Einteilung  in  drei  Bücher 
steht  vereinzelt  da. 

Einteilung  der  strafbaren  Handlungen.  Die  aus  Frankreich  stam- 
mende, den  früheren  drei  Arten  der  Gerichte  entsprechende  Dreiteilung  (C.  p. 
fran9ais  1)  findet  sich  in  Freiburg  (2)  und  Genf  (l),  hat  in  letzterem  jedoch  nur  die 
Bedeutung  einer  in  Ermangelung  von  etwas  Besserem  beibehaltenen  Bezeichnung. 
—  Waadt  (1)  und  Neuenburg  (1)  machen  keinen  Unterschied  zwischen  Verbr. 
und  Verg.  —  Wallis  (2)  bestimmt,  dass  das  Verg.  im  Falle  eines  hohen  Grades 
von  Verschulden  Verbr.  genannt  wird,  ohne  dass  jedoch  diese  Unterscheidung 
in  den  späteren  Art.  des  Code  praktisch  verwendet  wird.  —  Ausser  dem  C.  p. 
von  Waadt  regeln  sämtliche  Codes  am  Schluss  die  Übertretungen. 

Strafen.  Der  Begriff  der  peinlichen  und  beschimpfenden  Strafe  (peine 
afflictive  et  infamante,  C.  neuchätelois  v.  1856,  Art.  1)  ist  überall  aufgegeben. 
Die  Todesstrafe  ist  nur  in  Wallis  vorhanden.  Von  Freiheitsstrafen  kennen  alle 
Codes  wenigstens  zwei  Arten:  Zuchthaus  und  Gef.  Für  Waadt  (15,  16)  ist 
die  Verwendung  beider  Arten  charakteristisch:  beide  haben  ein  sehr  bedeu- 
tendes Höchstmass  und  ein  Mindestmass  von  1  Tag.  Man  hat  also  zwei  Straf- 
arten von  gleicher  Dauer,  aber  verschiedenem  Charakter  geschaffen;  Zucht- 
haus wird  angedroht  bei  Delikten,  die  als  Ausfluss  einer  niedrigen  Gesinnung 
erscheinen,  Gef.  bei  solchen,  die  auf  einer  momentanen  Verirrung  des  Willens 
beruhen.  (Bericht  von  Verrey,  S.  37.)  In  den  anderen  Kantonen  ist  bei 
Zuchthaus  das  Minimum  höher  als  bei  Gef.  Neuenburg  (23)  verwendet  in 
ausgedehntem  Umfange  die  Civilhaft  als  Custodia  honesta  für  leichte,  nicht 
aus  niedriger  Gesinnung  hervorgehende  Delikte  wie  Zweikampf,  politische  De- 
likte u.  a.  Die  Bestimmungen  über  Verschärfung  der  Zuchthausstrafe  durch 
Anlegung  von  Ketten  (Wallis  25 ff.,  Neuenburg  16)  bilden  einen  empörenden 
Anachronismus.  Wallis  kennt  sogar  noch  die  öffentliche  Schaustellung  als 
Strafe,  die  jedoch  nicht  mehr  angewendet  wird.  Die  Strafvollstreckung  ist  in 
mancher  Beziehung  unvollkommen;  Personen,  die  zu  Strafen  verschiedener  Art 
verurteilt  sind,  werden  zusammen  eingesperrt  und  gleichmässig  behandelt. 
(Stooss  S.  303  ff.,  334  ff.).  Die  Kantone  Waadt  (G.  vom  17.  Mai  1875),  Freiburg 
(G.  vom  20.  November  1877;  Repond  a.  a.  0.,  S.  48)  und  Neuenburg  (43  ff.) 
kennen  die  bedingte  Entlassung.  Arbeitshäuser  für  Landstreicher,  Arbeits- 
scheue u.  a.  giebt  es  im  Kanton  Neuenburg  (maison  de  travail  et  de  correction 
zu  Devens)  und  Waadt  (Kolonieen  in  Payerne  und  Orbe).  Die  auf  dem  Lande 
sehr  wirksame  Strafe  des  Wirtshaus  Verbotes  kennen  Waadt  30,  Freiburg  309 
und  Neuenburg  41.  Der  Verweis  ist  beibehalten  von  Waadt  31  (Entw.  35), 
Freiburg  310  und  Neuenburg  8;  der  Entw.  über  die  bedingte  Verurteilung  will 
ihn  auch  in  Genf  einführen.  —  Neuenburg  27  ff.  kennt  Geldstrafe  bis  zu 
15  000  Frcs.  und  enthält  ausgezeichnete  Bestimmungen  über  die  Art  der  Be- 
zahlung. Alle  StGB,  ausser  Genf  lassen  die  Verwandlung  der  nicht  bezahlten 
Strafe  in  Freiheitsstrafe  zu.  Im  Kanton  Waadt  kann  (nach  G.  vom  17.  Mai 
1875,  Art.  7)  letztere  durch  öffentliche  Arbeit  abgewendet  werden. 

Nebenstrafen.  Die  aus  Frankreich  stammende  polizeiliche  Überwachung 
ist  beibehalten  in  Wallis  29  (die  Ausführung  ist  für  den  Verurteilten  lästig,  im 
Falle  des  Ungehorsams  wird  im  Verwaltungswege  Arrest  angeordnet),  Freiburg 
11,  32  und  Neuenburg  8,  38  (insbesondere  für  Rückfällige).  —  Die  Aberken- 
nung der  bürgerlichen  Ehrenrechte  mit  ihren  seltsamen,  der  französischen 
„degradation  civique"  entlehnten  Bestimmungen  (Verlust  der  Fähigkeit,  als 
Zeuge  vernommen  zu  werden,  Waffen  zu  tragen  usw.)  ist  als  gesetzliche  Folge 
der  Verurteilung  zu  schwerer  Strafe  in  alle  StGB,  übergegangen;  eine  Ausnahme 
macht  Genf  10,  11,  wo  es  glücklicherweise  dem  Richter  freigestellt  ist,  ob  und 
eventuell  welche  einzelnen  Rechte  er  aberkennen  will. 


§  7.    Die  allgemeinen  Lehren.  415 


Kichterliches  Ermessen.  Nur  Wallis  96  ff  bestimmt  im  einzelnen  die 
erschwerenden  und  mildernden  Umstände,  welche  der  Richter  berücksichtigen  muss. 
Umfassende  Befugnisse  des  Richters:  1.  Durch  die  (im  waadtländischen  Entw. 
völlig  durchgeführte)  Aufhebung  der  Mindestmasse.  Im  Grunde  genommen 
führt  sie  zur  Einführung  der  unbestimmten  Strafandrohungen,  denn  die  gleichen 
Gründe  sprechen  auch  für  Aufhebung  der  (übrigens  im  waadtländischen  Entw. 
erhöhten)  Straftnaxima.  Die  Aufhebung  der  Minima  ist  teilweise  in  Waadt, 
Wallis  und  Freiburg,  nahezu  vollständig  in  Neuenburg  durchgeführt.  In  Genf 
(c.  d'instr.  crim.  338  und  381)  haben  die  mildernden  Umstände  ersten  Grades 
(Verfahren  vor  der  Cour  correctionelle)  und  zweiten  Grades  (Verfahren  vor 
der  Cour  d'assises)  die  gleiche  Wirkung.  2*  Durch  die  Befugnis  des  Rich- 
ters, zwischen  mehreren  Strafarten  zu  wählen.  Waadt  28,  49,  56,  57,  59, 
121,  133,  246,  248,  251,  301,  302  u.  s.  w.  lässt  häufig  die  Wahl  zwischen 
Zuchthaus,  Gef.  und  Geldstrafe,  gestattet  auch  in  einzelnen  Fällen  sogar  völ- 
lige Straflosigkeit.  (Man  beachte  die  sehr  interessante  Bestimmung  des  waadt- 
ländischen Entw.  56,  wo  für  die  Verurteilten  von  14  bis  18  J.  die  Strafe  aus- 
gemessen werden  kann  zwischen  einem  Verweis  und  der  vollen  Deliktstrafe  mit 
der  Unterbringung  in  eine  Strafkolonie  als  Übergangsstrafe.)  Die  Bestimmungen 
von  Waadt  sind  von  Wallis  und  Freiburg  an  verschiedenen  Stellen  adoptiert. 
Neuenburg  (73,  230  u.  a.)  gestattet  zuweilen  die  Wahl  zwischen  Zuchthaus, 
Gef.  und  Civilhaft.  Genf,  dem  richterlichen  Ermessen  weniger  Spielraum  ge- 
während, lässt  die  Wahl  nur  selten,  und  dann  nur  zwischen  Gef.  und  Geld- 
strafe zu  (auf  Geldstrafe  allein  wird  sehr  selten  erkannt).  —  Charakteristisch 
ist  die  Bestimmung  von  Waadt  270,  nach  welcher  ein  erster  unbedeutender 
Diebstahl  nur  mit  Verweis  bestraft  werden  kann,  sie  findet  sich  auch  in  Wallis 
301  (Polizeistrafe)  und  Freiburg  421.  Vgl.  auch  Neuenburg  400,  wo  die  be- 
dingte Verurteilung  unter  gewissen  Voraussetzungen  zugelassen  wird.  — 
Das  französische  System  der  nicht  näher  bestimmten  mildernden  Umstände 
kommt  (ausser  in  Genf)  noch  vor  in  Waadt  61  und  Freiburg  67  für  die  mit 
lebenslänglicher  Strafe  bedrohten  Delikte,  umgekehrt  in  Neuenburg  441  für 
Übertretungen. 

Zurechnungsfähigkeit.  Alle  StGB,  haben  den  klassischen  Begriff 
der  Zurechnungsfähigkeit  beibehalten  und  bezeichnen  die  Zustände,  welche  sie 
ausschliessen  bezw.  die  Eigenschaften,  welche  vorhanden  sein  müssen,  wenn 
dieselbe  als  vorhanden  angenommen  werden  soll.  Vgl.  Waadt  51,  Freiburg  56, 
Wallis  85,  Genf  52  und  Neuenburg  70.  Freiburg  behauptet  sogar  ausdrück- 
lich die  Existenz  der  Willensfreiheit,  und  die  Motive  von  Neuenburg  sagen  zur 
Widerlegung  der  italienischen  Schule,  das  StR.  setze  begrifflich  die  Existenz 
zweier  inneren  Thatsachen  voraus:  die  des  Sittengesetzes  und  der  Fähigkeit, 
dasselbe  frei  zu  befolgen.  Bemerkenswert  sind  Wallis  86  und  Neuenburg  70 
Abs.  2,  die,  im  Widerspruch  mit  der  französischen  Auffassung  der  Zurechnuogs- 
fähigkeit  als  eines  unteilbaren  Ganzen,  eine  geminderte  Zurechnungsfähigkeit 
kennen.  Andrerseits  ist  der  französische  Begriff  der  „unwiderstehlichen 
Gewalt"  (force  irrösistible)  (C.  p.  frang.  64)  in  alle  GB.  und  den  waadt- 
ländischen Entw.  fast  wörtlich  übergegangen.  (Vgl.  jedoch  Freiburg  56  b.) 
Über  das  Verhältnis  dieses  Begriffes  zu  dem  „Notstand"  des  deutschen  Rechts 
vgl.  Stooss  S.  260.  —  Unter  den  Umständen,  welche  die  Zurechnungsfähigkeit 
beeinflussen,  steht  das  Alter  in  erster  Linie.  Alle  GB.  (anders  C.  p.  fran- 
gais)  kennen  eine  Altersstufe,  während  welcher  das  Kind  nicht  verurteilt  werden 
kann  (besser  Freiburg  60,  welches  die  strafrechtliche  Verfolgung  verbietet). 
Andrerseits  hat  leider  auch  die  abscheuliche  französische  Einrichtung  der  Frage 
nach  dem  Unterscheidungsvermögen  (question  du  discemement)  überall  Eingang 
gefunden   (der  waadtländische  Entw.  hat   sie    aufgegeben).     Der   Gipfelpunkt 


416     I^ie  französische  Schweiz.  —  Die  Grundzüge  des  StR.  der  französischen  Schweiz. 


des  Unsinns  ist  erreicht,  wenn  die  (jeschworenen  die  Frage  entscheiden  sollen. 
Der  einzig  massgebende  Gesichtspunkt  muss  sein:  Braucht  das  Kind  eine 
weitere  Erziehung  zum  Zwecke  der  Besserung?  (Stooss  S.  189).  Dieser  mo- 
dernen Auffassung  entsprechend  gestattet  Neuenburg  83,  ein  verwahrlostes 
Kind  auch  ohne  richterliches  Urteil  einzusperren.  Die  schwierige  Frage,  ob 
man  zwischen  der  Periode  der  Strafunmündigkeit  und  der  der  vollen  Straf- 
mündigkeit eine  Zwischenstufe  schaffen  soll,  ist  in  bejahendem  Sinne  be- 
antwortet von  Wallis  92,  Freiburg  63  und  Neuenburg  84  (von  den  beiden 
letzteren  jedoch  nur  für  die  mit  lebenslänglichem  Zuchthaus  bedrohten  De- 
likte). Die  anderen  stellen,  wie  das  fi-anzösische  Recht,  die  Jugendlichen 
den  Erwachsenen  gleich. 

Notwehr  wird  überall  als  völliger  Strafausschliessungsgrund  betrachtet 
anders  C.  p.  ftran9ais328;  jedoch  stösst  Wallis  den  in  Art.  95  aufgestellten  Grund- 
satz durch  Nachahmung  der  französischen  Bestimmungen  bei  Mord  —  Art.  228, 
229  —  wieder  um).  Die  zu  enge  Definition  des  C.  p.  fran9ais  von  1810  als 
„Verteidigung  der  eigenen  oder  einer  fremden  Person**  findet  sich  nur  in 
Genf  55,  jedoch  mit  Hinzusetzung  der  sehr  anfechtbaren,  dem  C.  p.  fran9ais 
329  entnommenen  Bestimmungen  No.  1  und  2.  Die  anderen  Gesetzbücher 
lassen  die  Notwehr  auch  zu  gegen  Angriff  auf  den  Hausfrieden  und  das 
Eigentum,  aber  mit  der  Beschränkung,  dass  obrigkeitlicher  Schutz  nicht  hat 
erlangt  werden  können  oder  dass  die  angewandten  Mittel  im  Verhältnis  zu 
der  vorhandenen  Gefahr  stehen.  Waadt  57  (ähnlich  Wallis  95  und  Freiburg 
66),  Neuenburg  73.  Excess  der  Notwehr  ist  ein  mildernder  Umstand.  Be- 
sondere Bestimmungen  über  den  Notstand  hat  nur  Freiburg  59  (eine  ver- 
altete Vorschrift  über  den  Diebstahl  an  Nahrungsmitteln,  dem  „Stehlen  in 
echter  Hungersnot"  der  Karolina  Art.  166,  nachgebildet)  und  Neuen  bürg  74 
(geht  weiter  als  das  deutsche  RStGB.  §§  52,  54  insofern,  als  ein  verwandt- 
schaftliches Verhältnis  zwischen  dem  Thäter  und  der  im  Notstand  befindlichen 
Person  nicht  verlangt  wird). 

Versuch.  Waadt  35,  Wallis  56,  Freiburg  38,  Genf  5  enthalten  die 
Definition  des  C.  p.  frangais  mit  einigen  Veränderungen.  Neuenburg  52  nähert 
sich  dem  deutschen  und  italienischen  StGB.  (43  bezw.  58).  Alle  bestrafen 
den  Versuch  milder  als  das  vollendete  Delikt.  Das  fehlgeschlagene  Verbr. 
erwähnen  Wallis  54,  Freiburg  36  und  Neuenburg  57. 

Teilnahme.  Das  französische  Recht  ist  hier  fast  ohne  Einfluss  geblieben, 
überall  wird  der  Anstifter  gleich  dem  Thäter  bestraft  (anders  C.  p.  fran9ais  60). 
Die  erfolglos  versuchte  Anstiftung  ist  straflos  nach  Waadt  42  (nachgeahmt 
von  Wallis  65  und  Freiburg  45)  und  Neuenburg  60.  Wenig  klar  in  dieser 
Beziehung  ist  Genf  43  Z.  2  und  3.  Vgl.  C.  p.  fran9ais  60,  und  die  unver- 
ständliche, dem  Art.  65  widersprechende  Vorschrift  von  Wallis  Art.  66  §  2.  — 
Art.  über  das  Komplott  (dem  C.  p.  fran9ais  89  entnommen)  finden  sich  in 
Waadt  47,  48,  Wallis  71,  72,  Freiburg  52,  53,  aber  diese  Art.  haben  nur  den 
Wert  einer  theoretischen  Definition  und  wären  für  die  Praxis  völlig  zu  ent- 
behren (Stooss  S.  227),  da  die  Teilnehmer  am  Komplott  nicht,  wie  in  Frank- 
reich, mit  schwererer  Strafe  bedroht  sind;  ausserdem  ist  das  Komplott  nur  in 
dem  Falle  strafbar,  dass  das  geplante  Verbr.  wirklich  begangen  ist  (die  ent- 
gegenstehende Bestinmiung  von  Freiburg  52  §  2  erscheint  unanwendbar)  und  die 
nicht  angenommene  Aufforderung  ist  immer  straflos.  Wallis  64,  67  (eine 
mildere  Fassung  von  C.  p.  fran9ais  62)  betrachtet  die  Sachhehlerei  als  Be- 
günstigung. 

Rückfall.  Das  französische  System  der  Annahme  des  Rückfalls  bei 
Begehung  verschiedener  Delikte  hat  nur  Genf  34  ff.  angenommen  und  zwar  mit 
Verbesserungen  und  mit  Ausschluss  der  Übertretungen  (§  388).     Die   andern 


§  8.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  417 


Gesetzbücher  fordern  wiederholte  Begehung  derselben  Strafthat.  Waadt  68, 
Freiburg  74  und  Neuenburg  97  zählen  dieselben  einzeln  auf.  Wallis  79  defi- 
niert den  Begriff  des  Rückfalls  überhaupt  nicht  und  nimmt  denselben  auch 
bei  Begehung  von  Übertretungen  verschiedener  Art  an  (352).  Überall  giebt  es 
eine  sog.  „Rückfallsverjährung".  —  In  völlig  richtiger  Würdigung  der  inter- 
nationalen Bedeutung  des  gewohnheitsmässigen  Verbrechertums  legen  Wallis  79 
und  Neuenburg  96  der  im  Auslande  erfolgten  Verurteilung  für  die  Statuie- 
rung des  Rückfalls  dieselbe  Wirkung  bei,  wie  der  im  Inlande  erfolgten. 
Waadt  142,  311  (abgeändert  durch  G.  vom  28.  Mai  1849  und  Vdg.  vom 
21.  Januar  1875)  und  Neuenburg  398  suchen  die  Gesellschaft  gegen  Vaga- 
bunden und  Rückfällige  durch  Erhöhung  der  Strafminima  bei  einigen  Eigen- 
tumsdelikten zu  verteidigen.  Der  waadtländische  Entw.  (279,  286,  291,  341) 
droht  für  den  zweiten  und  dritten  Rückfall  3  bezw.  7  Jahre  Zuchthaus  als 
niedrigste  Strafe  an. 

Konkurrenz.  Nach  Genf  39  (eine  Nachahmung  des  französischen  Rechts) 
wird  bei  dem  Zusammentreffen  mehrerer  strafbarer  Handlungen  nur  auf  die 
für  die  schwerste  derselben  verwirkte  Strafe  erkannt.  Die  anderen  Strafgesetz- 
bücher lassen  die  Erhöhung  derselben  fakultativ  zu.  Eine  praktische  Neuerung 
ist  die  Bestimmung  von  Neuenburg  91,  wonach  der  Staatsrat  für  die  Fälle, 
dass  mehrere  strafbare  Handlimgen  gleicher  Art  in  verschiedenen  Kantonen 
begangen  werden,  Verträge  abschliessen  kann  dahingehend,  dass  nur  ein 
Strafverfahren  in  einem  dieser  Kantone  stattfindet. 

§  8.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen. 

Strafbare  Handlungen  gegen  den  Staat.  Bezüglich  der  gegen  die 
äussere  Sicherheit  desselben  gerichteten  verweisen  Genf  85,  Wallis  103  und 
Neuenburg  113,  114  mit  Recht  auf  das  Bundesrecht.  Die  hier  leider  unter 
französischem  Einflüsse  stehenden  StGB,  von  Waadt  89  ff.  und  Freiburg  102 
enthalten  besondere  Bestimmungen,  deren  Anwendbarkeit  jedoch  mindestens 
zweifelhaft  ist  (Stooss  S.  50).  Waadt  95  ff.  =  C.  p.  fran9ais  75  ff.  nut  etwas 
milderen  Strafen;  diese  unglücklichen  Art.  sind  mit  sehr  fadenscheinigen  Argu- 
menten auch  im  waadtländischen  Entw.  beibehalten  (vgl.  Rapport  S.  47). 
Unter  den  Delikten  gegen  die  innere  Sicherheit  werden  die  gegen  die  Ver- 
fassung mit  Recht  besonders  betont.  Alle  GB.  ausser  Genf  verwenden  den 
so  vieldeutigen  französischen  Begriff  des  „attentat^.  Eine  andere  Nachahmung 
des  französischen  Rechts  enthalten  Waadt  107,  Wallis  106  und  Neuenburg  116, 
wo,  entgegen  den  allgemeinen  Grundsätzen  über  den  Versuch,  die  vorbereiten- 
den Handlungen  zu  Delikten  gegen  die  innere  Sicherheit  des  Staats  mit  Strafe 
bedroht  werden.  Nur  Freiburg  106  lässt  den  Teilnehmer,  welcher  Anzeige 
macht,  straflos  (C.  p.  fran9ai8  108).  Die  Nichterstattung  der  Anzeige  ist  nir- 
gends mit  Strafe  bedroht. 

Religionsdelikte.  Hier  zeigen  sich  charakteristische  Unterschiede  zwi- 
schen katholischen  und  protestantischen  Kantonen:  die  ersten  schützen  die 
Religion  selbst,  die  letzteren  nur  den  Frieden  der  Religionsgesellschaften. 

Wallis  101,  102  macht  aus  diesen  Delikten  den  Kardinalpunkt  des  be- 
sonderen Teils;  schwere  Strafen,  auch  gegen  Gotteslästerung  und  Kirchenraub. 
Freiburg  119,  120,  346  ff.  bestraft  die  Entweihung  von  Hostien  oder  zum 
Gottesdienst  bestimmten  Gefässen,  Gotteslästerung,  Anmassung  des  Rechts,  die 
Sakramente  auszuteilen  (über  die  Verfassungsmässigkeit  dieser  Strafandrohungen 
und  die  Abänderung  des  Art.  346  durch  das  G.  vom  16.  November  1875 
vgl.  Stooss  S.  65).  Waadt  133  und  Genf  107  schützen  nur  die  Ausübung 
des  Kultus;    Neuenburg  183,    184  bestraft  auch  Angriffe  gegen  Kultusgegen- 

Strafgesetzgebnug  der  Gegenwart.  I.  27 


418     ^ic  französische  Schweiz.  —  Die  Gnindzäge  des  StR.  der  französischen  Schweiz. 


stände.  Eine  interessante  Bestimmung  enthält  Nenenborg  185,  wonach  die 
bei  Kindern  nnter  16  Jahren  gegen  den  Willen  des  Familienoberhaupts  nnter- 
nommene  Proselytenmaeherei,  jedoch  nnr  anf  Antrag,  bestraft  wird  (gegen  die 
Heilsarmee  and  ähnliches).  Das  Vorbild  zn  diesem  Artikel  findet  sich  im  waadt- 
ländischen  Entw.  135,  der  auch  den  Bekehnmgsversuch  bezüglich  einer  Ehe- 
frau erwähnt  (vgl.  Rapport  S.  56).  —  Die  strengen  Bestimmungen  des  C.  p. 
ft'an^ais  199  ff.  gegen  die  Geistlichkeit  haben  in  der  Schweiz  keine  Anftiahme 
gefunden.     Genf  169  behandelt  einen  Spezialfall. 

Sittlichkeitsdelikte.  Hier  bestehen  einschneidende  Gegensätze  zwi- 
schen den  anderen  Kantonen  und  Genf,  dessen  gegenwärtige  Milde  besonders 
auffällig  ist,  wenn  man  die  Geschichte  des  Strafrechts  in  der  alten  Stadt  Cal- 
vins betrachtet.  Genf  277  ff.,  noch  milder  als  der  G.  p.  ft'angais,  lässt  den 
Ehebruch  straflos  (der  Bericht  sagt,  eine  Bestrafong  des  Ehebruchs  bedeute 
lediglich  eine  Herabwürdigung  der  Ehe  und  die  Herbeiführung  eines  überflüs- 
sigen Skandals;  die  einzige  Massregel  sei  die  Elhescheidung,  übrigens  seien 
Klagen  sehr  selten)  und  bedroht  nur  Notzucht,  gewaltsame  Vornahme 
unzüchtiger  Handlungen  und  Bigamie  mit  Strafe,  überall  sonst  wird  der- 
Ehebruch  an  beiden  Teilen  (anders  C.  p.  fran9ai8  337,  339)  mit  Strafe  be- 
droht. Freiburg  droht  gegen  den  doppelseitigen  Ehebruch  in  Art.  398  das 
höchste  zulässige  Strafmass,  gegen  den  qualifizierten  Ehebruch  aber  in  Art.  400 
unbegreiflicherweise  eine  geringere  Strafe  an,  als  gegen  den  einfachen.  Frei- 
burg 129  und  Wallis  225  bestrafen  den  Totschlag  milder,  wenn  er  von  den 
Eltern  begangen  ist,  die  ihre  Kinder  bei  Ehebruch  oder  Unzucht  in  flagranti 
betroffen  haben.  Blutschande  und  widernatürliche  Unzucht  werden  von  Frei- 
burg 401  und  Neuenburg  281,  282  bestraft,  wenn  öffentlich  ein  Ärgemiss 
gegeben  ist,  Blutschande  allein  auch  ohne  diese  Voraussetzung  von  Wallis  202. 
—  Nach  Waadt  197,  Wallis  198  und  Freiburg  395  ist  die  einfache  Prostitu- 
tion strafbar,  nach  Neuenburg  291  und  dem  waadtländischen  Entw.  207  nur, 
wenn  eine  Aufforderung  auf  öffentlicher  Strasse  oder  Übertretung  der  Regle- 
ments stattgefunden  hat  (ähnlich  Reglement  vom  12.  August  1881  für  Grenf). 
Notzucht  und  Vornahme  unzüchtiger  Handlungen  werden ,  ausser  im  Falle 
gleiclizeitiger  schwerer  Körperverletzung  oder  öffentlichen  Ärgernisses,  nur  auf 
Antrag  bestraft:  Waadt  202,  Wallis  206,  Freiburg  197  und  Neuenburg  275, 
280  ff.  Wallis  196  bestraft  sogar  die  Unterhaltung  eines  unerlaubten  Verkehrs, 
wenn  dadurch  öffentliches  Ärgernis  gegeben  wird  (vgl.  Waadt  343,  344  und 
Wallis  134,  Unzucht,  begangen  von  Beamten)  und  Freiburg  402,  die  heim- 
liche Niederkunft  einer  Unverehelichten.  Die  Verführung  wird  bestraft:  nach 
Waadt  205  und  Freiburg  397  von  Personen  beiderlei  Geschlechts  bis  zu 
18  Jahren,  jedoch  nur  bei  dem  Vorliegen  eines  Autoritätsverhältnisses  zwischen 
dem  Verführer  und  seinem  Opfer;  nach  Neuenburg  269  nur  von  Mädchen 
unter  16  Jahren  und  ohne  Altersgrenze  nach  Wallis  199.  —  Die  Verletzung 
der  Sittlichkeit  durch  unzüchtige  Reden  wird  mit  Strafe  bedroht  von  Waadt  195, 
Wallis  196,  Freiburg  394  (sehr  unbestimmt)  und  Neuenburg  288  (anders 
Genf  212). 

Die  beiden  letztbehandelten  Gruppen  von  strafbaren  Handlungen  werden 
von  den  einzelnen  Kantonen  nach  so  durchaus  verschiedenartigen  Gesichts- 
punkten behandelt,  dass  sie  jedem  Versuch  einer  Einigung  auf  strafrechtlichem 
Gebiete  erhebliche  Schwierigkeiten  bereiten  würden. 

Über  die  (im  Waadt  und  Freiburg)  sehr  zahlreichen  Antragsdelikte 
vgl.  Brodbeck,  R.  P.  I,  S.  475.  —  Über  die  Bestrafung  der  Pressvergehen 
siehe  Stooss  S.  207. 

Endlich  sei  erwähnt,  dass  der  Einfluss  des  französischen  Rechts 
sich  noch  bei  folgenden  Delikten  bemerkbar  macht: 


§  8.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen.  419 


1.  Die  Begriffe  der  „diffamation"  (Schmähung)  und  der  „iiyure"  (Be- 
leidigung) Bind  überall  aufgenommen;  Wallis  275  fügt  zweckloserweise  den  der 
„calomnie"  (Verleumdung)  hinzu. 

2.  Das  Gleiche  gilt  von  Mord  und  Totschlag,  nur  dass  Waadt  211, 
212  daraus  zwei  Arten  desselben  Delikts  macht.  Die  Bestimmung  des  C.  p. 
il'an9ais  304,  wonach  der  Totschlag,  welcher  dazu  dienen  soll,  eine  andere 
Strafthat  vorzubereiten  oder  zu  verheimlichen,  dem  Morde  gleich  erachtet  wird, 
findet  sich  auch  in  Wallis  222  und  Genf  253. 

3.  Der  Begriff  des  Elternmordes  (parricide,  C.  p.  frangais  299)  ist  in 
Genf  254  und  Wallis  217  tibergegangen;  nach  letzterem  liegt  bei  Tötung  der 
Adoptiveltern  nur  einfacher  Mord  vor.  Neuenburg  297  sagt  ganz  allgemein 
„der  Mord  an  einem  Ascendenten".  Waadt  212  stellt  den  Ascendenten  die 
Descendenten,  Ehegatten  und  Brüder,  sowie  Beamte  in  Ausübung  ihres  Amtes, 
Freiburg  126  ausser  diesen  auch  die  Geistlichen  in  Ausübung  ihres  Amtes 
gleich. 

4.  Das  französische  G.  erwähnt  bekanntlich  den  Zweikampf  nicht 
und  die  Rechtsprechung  der  Cour  de  Cassation  ist  in  dieser  Beziehung 
sehr  streng.  Allerdings  tritt  eine  strafrechtliche  Verfolgung  wohl  nur  ein 
im  Falle  des  Todes  eines  der  Beteiligten  oder  wenn  vorsätzliche  Überschrei- 
tung der  herkömmlichen  Regeln  vorliegt.  Dieses  Stillschweigen  der  Gesetz- 
gebung ist  nur  von  Genf  nachgeahmt,  wo  eine  Bestrafung  des  Duells  sich 
niemals  als  notwendig  erwiesen  hat.  Wallis  244  und  Freiburg  382  bedrohen 
sogar  den  im  Auslande  veranstalteten  Zweikampf,  Freiburg  381  auch  die 
Zeugen  mit  Strafe. 

5.  Die  Statuierung  eines  schweren  Falls  der  Körperverletzung, 
wenn  die  Arbeitsunfähigkeit  des  Verletzten  von  langer  Dauer  gewesen  ist, 
findet  sich  überall  ausser  im  waadtländischen  Entw.  239  ff.  und  Neuenburg 
314  ff.,  wo  hauptsächlich  die  Art  der  Beibringung  der  Verletzung  berück- 
sichtigt wird. 

6.  Der  von  C.  p.  fran9ais  321  ff.  zu  eng  gefasste  Begriff  der  Provo- 
kation des  Thäters  seitens  des  Verletzten  als  Straf ausschliessungsgrund  für 
ersteren  ist  nicht  ohne  Einfluss  gewesen  auf  Genf  57,  wo  selbst  schwere  Be- 
leidigung nur  eine  leichte  Körperverletzung  entschuldigt.  Wallis  225  und 
Neuenburg  296  und  320  erweitern  glücklicherweise  den  Begriff  und  fassen 
auch  Beleidigungen  als  Provokation  auf. 

7.  Endlich  haben  alle  GB.  die  drei  Hauptgruppen  der  Eigentums- 
delikte beibehalten;  alle  ausser  Genf  haben  auch  den  deutschen  Begriff  des 
Raubes  (brigandage)  aufgenommen.  Die  Definition  des  Diebstahls  (C.  p.  frangais 
379)  ist  beibehalten  von  Genf  316  und  Neuenburg  360;  Waadt  269  macht  Zusätze 
und  Freiburg  230  ist  noch  weitschweifiger  als  die  waadtländische  Definition. 
Wallis  288  benutzt  die  letztere  und  die  französische  Definition.  Genf  361  und 
Neuenburg  385  haben  die  Begriffsbestimmung  des  „abus  de  confiance"  (Ver- 
trauensmissbrauch) des  C.  p.  fran9ais  408  aufgenommen;  sie  ist  sehr  weitläufig 
und  gefährlich  insofern,  als  sie  die  Deliktsfälle  einzeln  aufzählt;  Wallis  308 
verallgemeinert  sie  daher  mit  Recht.  Waadt  283  und  Freiburg  247  definieren 
selbständig.  Die  entsetzliche  Definition  des  Betruges  (escroquerie ,  C.  p.  fran- 
9ais  405)  hat  wörtlich  Aufnahme  gefunden  m  Neuenburg  389  und  (mit  einem 
verallgemeinerjiden  Zusätze)  auch  Genf  364.  Waadt  282  kürzt  die  ermüdende 
Aufzählung  des  C.  p.  fran9ais  ab.  Wallis  306  und  Freiburg  228  sind  aus 
Waadt  herübergenommen.  Freiburg  kennt  ausserdem  noch  den  völlig  zweck- 
losen allgemeinen  Begriff  der  „fraude**  (Betrug). 

27* 


420     I^ie  französische  Schweiz.  —  Die  Grundzüge  des  Stß.  der  französischen  Schweiz. 


Fassen  wir  das  Resultat  der  vorstehenden  Untersuchungen  kurz  zusam- 
men, so  können  wir  sagen,  dass  —  abgesehen  von  dem  Einfluss  und  der 
mehr  oder  weniger  geschickten  Nachahmung  des  französischen  Rechts  —  unter 
den  geltenden  StGB,  der  französischen  Schweiz  keine  engere  Verwandtschaft 
besteht,  als  .unter  denen  anderer  Länder,  die  auf  gleicher  Kulturstufe  stehen, 
im  tlbrigen  aber  sich  völlig  ft'emd  sind.  Wenn  man  aber  durchaus  die  Kodi- 
fikationen, deren  Grundzüge  wir  in  obigem  angedeutet  haben,  nach  Ähnlich- 
keit und  Ursprung  klassifizieren  will,  so  könnte  man,  jedoch  ohne  Anspruch 
auf  wissenschaftliche  Genauigkeit,  folgendermassen  einteilen:  1.  Gruppe  des 
waadtländischen  Rechts,  enthaltend  ausser  dem  Code  Vaudois  die  sich  an 
diesen  anlehnenden  StGB,  von  Wallis  und  Freiburg.  —  2.  Gruppe  des  fran- 
zösischen Rechts,  die  durch  den  Code  de  Genfeve  gebildet  wird.  —  3.  Gruppe 
des  modernen  Rechts:  das  neue  Neuenburger  StGB. 


3.  Kanton  Tessin. 


L  Einleitung. 

§  1.    Übersicht  Aber  die  Lltteratur. 

Codice  penale  della  Bepubblica  e  Cantone  del  Ticino,  Lugano,  Francesco  Vela- 
dini  &  Co.,  1816.  —  Progetto  di  Codice  penale  per  il  Cantone  Ticino  vom  Advokaten 
Carlo  Battaglini,  November  1868,  Lugano,  Tipografia  e  Litografia  Cantonale.  —  Pro- 
getto di  Codice  penale  per  il  Cantone  Ticino  colla  relazione  della  Commissione  go- 
vemativa,  Bellinzona,  Tipografia  e  Litografia  Cantonale.  1870.  —  Emilio  Brusa,  Studi 
8ui  progetti  di  Codice  penale  ticinese,  Bellinzona,  Tipografia  Cantonale,  1871.  — 
Carrara,  Sulprogetto  del  Codice  penale  ticinese.  Opuscoli  vol.  II,  4.  edizione,  Prato  1888, 
p.  518  sq.  —  F.  Chicherio,  Progetto  di  regolamento  organico  per  il  penitenziere  cantonale 
preceduto  da  un  memoriale  di  giustificazione  dei  suoi  principii  fondamentali,  Bellinzona, 
Tipografia  cantonale,  1872.  —  Derselbe:  Sistemi  penitenziari  in  Italia  e  in  Svizzera,  Be- 
lazione  del  direttore  del  penitenziere  cantonale  al  Consiglio  di  Stato  colF  aggfiunta 
di  due  relazioni  dei  Signori  Aw.  Carlo  Olgiati  e  Architetto  Defilippis,  Bellinzona, 
Tipografia  cantonale,  1872.  —  Derselbe:  Belazione  accompagnante  un  progetto  di 
legge  per  la  riduzione  delle  pene  da  scontarsi  nel  penitenziere  cantonale,  Bellinzona, 
Tipografia  di  Carlo  Colombi,  1872.  —  Derselbe:  Aper<ju  historique  du  droit  pönal  et 
des  procödures  pönales  dans  le  Canton  du  Tessin  et  statistique  de  son  mouvement 
penitentiaire  dans  la  Periode  de  1873  k  1891,  Bellinzona,  Eredi  Carlo  Colombi  1892.  — 
Codice  penale  per  il  Cantone  Ticino,  amtliche  Ausgabe,  Bellinzona,  Tipografia  e  Lito- 

frafia  Cantonale  1873.  —  Raccolta  officiale  delle  leggi  e  degli  atti  esecutivi  della 
epubblica  e  Cantone  del  Ticino  dal  1803  al  1891.  —  Nuova  Kaccolta  generale  delle 
leggi  e  dei  decreti  del  Cantone  Ticino  dal  1803  all  1886  in  vigore  e  degli  atti  piü 
importanti  del  diritto  pubblico  svizzero,  4  Bände,  Bellinzona,  Tipografia  Cantonale 
1886—1887.  —  Processi  verbali  del  Gran  Consiglio  della  Bepubblica  e  Cantone  del 
Ticino  1831—1891.  —  Karl  Stooss:  Die  schweizerischen  StGB,  zur  Vergleichung  zu- 
sammengestellt, Basel  und  Genf,  Georg,  1890.  —  Derselbe:  Die  Grundzüge  des 
schweizerischen  StR.  im  Auftrage  des  Bundesrates  vergleichend  dargestellt,  Basel  und 
Genf,  Georg,  1892.  —  Sammlung  von  Entsch.:  Repertorio  di  gurisprudenza  patria; 
dieselbe  erschien  von  1866  bis  1878  (13  Bände)  unter  Leitung  des  Advokaten  Gio. 
Battista  Meschini  (f  1878);  seit  1881  erscheint  eine  Neue  Folge  unter  Leitung  von  Dr. 
Luigi  Colombi,  Staatsrat  und  Direktor  im  Justizdepartement  und  Stefano  Gabuzzi, 
Anwalt  in  Bellinzona  (Bellinzona,  Eredi  Carlo  Colombi,  bislang  12  Bände). 

§  2.    Cresehlchtllehe  Torbemerkungeii. 

Das  erste  StGB,  für  den  Kanton  Tessin  wurde  am  1.  Juli  1816  erlassen 
und  ist  am  1.  Januar  1817  in  Kraft  getreten.  Abgesehen  von  der  kurzen  er- 
regten Periode  der  helvetischen  Republik  (1799 — 1803)  war  bis  zu  dieser  Zeit 
das  tessinische  StR.  enthalten  in  den  Statuten  der  verschiedenen  Bezirke, 
welche  die  bis  zum  J.  1799  unter  der  Herrschaft  der  Schweizer  Kantone  ge- 
bliebenen acht  Ämter  bildeten. 

Das  StGB,  von  1816  zeichnete  sich  durch  grosse  Strenge  aus.  Es  unter- 
schied zwei  Arten  von  Strafen:  schwere  (kriminelle)  und  leichte  (korrektioneile). 


422  Kanton  Tessin.  —  Einleitung. 


Die  schwerste  Strafe  war  die  Todesstrafe,  die  in  13  Artikeln  angedroht  wurde 
und  zwar  gegen  folgende  Verbr.:  gegen  die  Sicherheit  des  Staates  (Art.  101 
bis  104),  gegen  die  Verfassung  (Art.  110  und  111),  gegen  die  Bechtspflege 
(Art.  121,  122  und  135),  gegen  das  Leben  (Art.  250,  252  und  264)  und  gegen 
das  Eigentum  (Art.  338).  Die  ihr  der  Schwere  nach  am  nächsten  stehenden 
Strafen  waren  lebenslängliche  Kettenstrafe  und  zeitige  Zwangsarbeit.  Das 
StGB,  hat  im  Laufe  der  Zeit  mehrere  Veränderungen  erlitten.  Ein  6.  vom 
20.  Januar  1851  schaffte  die  Todesstrafe  und  alle  entehrenden  Strafen  (mit 
Ausnahme  des  Verlustes  der  bfirgerlichen  Ehrenrechte)  für  Delikte  ausschliess- 
lich politischer  Natur  ab,  für  welche  es  eine  besondere  Strafe,  die  Einsperrung, 
androhte;  die  Bestimmung  über  die  Art  der  Verbüssung  dieser  Strafe  war 
einem  späteren  G.  vorbehalten,  das  jedoch  niemals  erlassen  ist. 

In  der  Sitzung  vom  Monat  Mai  1863  beschloss  der  grosse  Rat  die  Aus- 
arbeitung eines  neuen  StGB.  Den  Anstoss  hierzu  hatte  die  lebhafte,  gegen 
das  Fortbestehen  der  Todesstrafe  gerichtete  Bewegung  gegeben.  Drei  tessinische 
Advokaten:  Carlo  Battaglini  in  Lugano  (f  1886),  Carlo  Olgiati  in  Bellinzona 
(f  1888)  und  Vittore  Scazziga  in  Locamo  (f  1891)  wurden  mit  der  Ausarbei- 
tung beauftragt.  Der  erstere  fertigte  einen  vorläufigen  Entw.  an  und  über- 
reichte denselben  im  J.  1868  dem  Staatsrat.  Der  von  der  gesamten  Kom- 
mission verfasste  Entw.  wurde  im  J.  1870  fertig  gestellt  und  am  23.  Januar 
1873  vom  grossen  Bat  zum  G.  erhoben.  Gleichzeitig  wurde  das  alte  Zucht- 
haus in  Bellinzona  geschlossen  und  eine  neue  Gefängnisanstalt  in  Lugano  er- 
öffnet. Der  Entw.  des  StGB,  war  von  dem  hervorragenden  Rechtslehrer  an 
der  Universität  Pisa,  F.  Carrara,  einer  Durchsicht  unterzogen  und  mit  wert- 
vollen Bemerkungen  versehen  worden,  die  auf  die  endgültige  Fassung  einen 
bedeutenden  Einfluss  gehabt  haben.  Das  G.  trat  am  1.  Juli  1873  in  Kraft 
und  gilt  noch  heute. 

Es  enthält  einen  einleitenden  Titel  und  drei  Bücher.  Ersterer  behandelt 
in  neun  Art.  das  StG.  und  seine  räumliche  und  zeitliche  Anwendung.  Das 
erste  Buch  enthält  den  allgemeinen  Teil  des  StR.;  es  zerfallt  in  sieben  Titel, 
welche  behandeln:  die  Strafen;  die  Gründe,  welche  die  Strafbarkeit  aus- 
schliessen  oder  vermindern;  das  versuchte  und  das  fehlgeschlagene  Delikt; 
die  Beteiligung  mehrerer  bei  Begehung  einer  strafbaren  Handlung;  das  Zu- 
sammentreffen mehrerer  strafbarer  Handlungen;  den  Rückfall;  die  Verjährung 
der  Strafverfolgung  und  die  Strafvollstreckung.  Das  zweite  Buch  handelt  von 
der  Bestrafung  der  einzelnen  Verbr.  und  Verg.,  das  dritte  von  den  Über- 
tretungen. 

Zum  Zweck  der  Abänderung  des  StGB,  sind  zwei  G.  ergangen:  das  G. 
vom  28.  Januar  1886  über  die  Freiheit  der  katholischen  Kirche  und  die  Ver- 
waltung der  Kirchengüter  und  das  G.  vom  11.  April  1889  betr.  die  Anwen- 
dung des  Bundesgesetzes  über  die  Bestrafung  des  Schuldenmachens  und  des 
Bankerutts  im  Kanton  Tessin.  Ersteres  schaffte  alle  auf  den  Missbrauch  der 
Amtsgewalt  seitens  eines  Geistlichen  bei  Ausübung  des  Berufs  bezüglichen 
Bestimmungen  des  StGB,  von  1873  ab.  Letzteres  hob  die  auf  die  Bestrafung 
des  Bankerutts  als  eines  handelsrechtlichen  Delikts  betreffenden  Art.  231  bis 
232  des  StGB.  auf. 

Es  sei  bemerkt,  dass  das  StGB,  das  G.  vom  13.  Juni  1834  über  die 
Presse  (Nuova  Raccolta,  Bd.  1  S.  113)  nicht  aufgehoben  hat.  Dieses  behandelt 
die  mittelst  der  Presse  begangenen  Verg.  gegen  die  Religion,  gegen  die  g^ten 
Sitten  und  gegen  die  Obrigkeit.  Verantwortlich  ist  in  erster  Linie  der  Ver- 
fasser; ist  derselbe  unbekannt  oder  nicht  der  Rechtsprechung  der  Eumtonal* 
gerichte  unterworfen,  so  trifft  den  Herausgeber  und  in  Ermangelung  eines 
solchen    den   Drucker    die  Verantwortlichkeit.     Verfasser,    Herausgeber    und 


§  3.    Das  Strafgesetzbuch.  423 


Drucker  haften  für  die  Bezalilung  der  Kosten  des  Verfahrens,   der  erkannten 
Geldstrafe  und  des  Schadensersatzes  in  allen  Fällen  solidarisch. 


n.  Der  allgemeine  Teil  des  StGB. 

§  3.    Das  Strafgesetzbach. 

Der  erste  Art.  des  G.  bestimmt,  dass  eine  strafrechtliche  Verfolgung  nur 
stattfindet  wegen  solcher  Thatbestände,  die  vom  StGB,  als  Verbr.,  Verg.  oder 
Übertretung  bezeichnet  sind;  diese  Fassung  ist  nicht  genau.  Es  giebt  mehrere 
besondere  6.,  welche,  unabhängig  von  den  zur  Zuständigkeit  der  Bundesgesetz- 
gebung gehörigen  und  im  Art.  8  des  StGB,  aufgeführten  Thatbeständen,  ge- 
wisse Handlungen  mit  Strafe  bedrohen.  Der  Art.  1  sollte  lediglich  den  Grund- 
satz: nullum  crimen,  nulla  poena  sine  lege  poenali  aussprechen.  Derselbe 
gelangt  in  korrekterer  Fassung  zum  Ausdruck  in  dem  ersten  Art.  der  StPO. 
vom  8.  Dezember  1855,  wefcher  besagt,  dass  eine  Strafe  nur  von  dem  zu 
ihrer  Anordnung  zuständigen  Beamten  auf  Grund  ausdrücklicher  gesetzlicher 
Vorschrift  und  unter  Beachtung  der  vorgeschriebenen  Förmlichkeiten  verhängt 
werden  darf. 

Das  G.  spricht  den  Grundsatz  aus,  dass  ein  StG.  niemals  zum  Nachteil 
des  Angeklagten  rückwirkende  Kraft  haben  kann,  wohl  aber  zum  Vorteil  des- 
selben derart,  dass  die  Wirkungen  einer  bereits  ergangenen  Verurteilung  von 
Rechts  wegen  aufhören,  wenn  ein  späteres  G.  die  Handlung,  wegen  welcher 
sie  erfolgte,  für  straflos  erklärt.  Die  Strafen,  deren  Vollstreckung  bereits  be- 
gonnen hat,  und  die  Wirkungen  früher  ergangener  Verurteilungen  werden 
nach  Massgabe  des  neuen  G.  ermässigt  oder  gemildert  (Art.  8).  Auf  dem- 
selben Prinzip  beruht  die  Bestimmung  des  Art.  87,  dass  bei  Verschiedenheit 
der  G.  zur  Zeit  der  Begehung  imd  der  Aburteilung  der  That  das  dem  An- 
geklagten günstigere  G.  anzuwenden  ist. 

Bezüglich  des  räumlichen  Geltungsgebietes  des  StGB,  bestimmt  der  Art.  2, 
dass  dasselbe  Anwendung  findet  auf  alle  im  Gebiet  des  Kantons  Tessin  be- 
gangenen strafbaren  Handlungen.  Von  der  Anwendung  auf  die  ausserhalb 
dieses  Gebietes  begangenen  Delikte  handeln  die  Art.  3 — 6.  Damach  ist  ein 
Einheimischer  oder  Fremder,  der  ausserhalb  des  Kantons  ein  Delikt  gegen 
die  Sicherheit  desselben  begeht,  oder  sich  der  Fälschung  eines  Staatssiegels 
oder  eines  öfi'entlichen  Kantonal-Kreditpapieres  schuldig  macht,  nach  tessini- 
schem  Recht  zu  bestrafen,  einerlei  ob  wegen  dieser  That  bereits  im  Auslande 
eine  Verurteilung  erfolgt  ist  oder  nicht.  Jedoch  ist  im  ersteren  Falle  die  im 
Auslande  bereits  verbüsste  Strafe  auf  die  von  den  tessinischen  Gerichten  zu 
verhängende  anzurechnen.  Ein  tessinischer  Staatsangehöriger,  der  im  Aus- 
lande einen  Mord,  einen  Kindesmord,  eine  vorsätzliche  Brandstiftung,  eine 
Erpressung,  einen  Raub,  einen  schweren  Diebstahl  an  einem  Objekt  von  mehr 
als  1000  Lire,  eine  Notzucht  oder  eine  Entführung  begeht,  wird  im  Kanton 
Tessin  nach  inländischem  Recht  bestraft,  wenn  im  Auslande  ein  Strafverfahren 
nicht  stattfand,  oder  wenn  der  Schuldige  sich  der  Aburteilung  oder  dem  Straf- 
vollzuge im  Auslande  entzogen  hat.  Begeht  ein  Tessiner  im  Auslande  ein 
anderes»  weniger  schweres  Verbr.  oder  Verg.,  so  findet  im  Kanton  ein  Straf- 
verfahi'en  und  eine  Bestrafung  nur  statt  auf  Antrag  des  Verletzten  oder  auf 
Verlangen  der  Regierung  desjenigen  Landes,  in  welchem  die  strafbare  Hand- 
lung begangen  ist,  oder  welchem  der  Verletzte  angehört.  Unter  den  gleichen 
Voraussetzungen  findet  ein  Verfahren  nach  einheimischem  Recht  gegen  einen 
Ausländer  statt,  der  im  Auslande  zum  Nachteil  eines  Tessiners  ein  Verbr.  oder 


424  Kanton  Tessin.  —  Der  allgemeine  Teil  des  StGB. 


Verg.  begangen  hat,  und  sich  im  Gebiete  des  Kantons  betreffen  lässt,  voraus- 
gesetzt, dass  wegen  desselben  entweder  die  Auslieferung  nicht  zulässig  ist, 
oder  die  Annahme  des  Auszuliefernden  von  der  Regierung  des  Landes,  in 
welchem  die  That  begangen  wurde,  verweigert  wird.  Für  die  ersten  beiden 
Fälle  schreibt  das  G.  nicht  vor,  dass  der  Thäter  sich  im  Gebiet  des  Kantons 
betreflFen  lassen  muss.  Diese  Voraussetzung  ist  vielmehr  nur  wesentlich  in 
dem  letzteren  Falle,  wo  es  sich  um  die  von  einem  Ausländer  im  Auslande 
begangenen  Delikte  handelt.  In  den  von  den  Art.  4  und  5  des  StGB,  vor- 
gesehenen Fällen  muss  der  tessinische  Richter  das  dem  Angeklagten  günstigste 
G.  anwenden.  Ist  die  That  von  den  G.  des  Landes,  in  welchem  sie  begangen 
wurde,  nicht  mit  Strafe  bedroht,  so  findet  auch  im  Gebiet  des  Kantons  ein 
Strafverfahren  nicht  statt.  Ebenso  ist  es,  wenn  nach  den  G.  des  Begehungs- 
ortes der  erforderliche  Antrag  nicht  rechtzeitig  gestellt  oder  die  Strafverfolgung 
verjährt  ist.  In  allen  diesen  Fällen  verjährt  die  Strafverfolgung  in  der  Hälfte 
der  für  die  im  Gebiete  des  Kantons  begangenen  Delikte  vorgeschriebenen  Ver- 
jährungsfrist. 

§  4.    Die  strafbare  Handlung. 

1.  Einteilung  der  Delikte.  Das  StGB,  behält  die  auf  der  verschie- 
denen Schwere  der  angedrohten  Strafen  beruhende  Dreiteilung  des  fran- 
zösischen C.  p.  V.  1810  bei.  Diese  war  von  praktischer  Bedeutung  zur  Zeit, 
wo  nur  die  Aburteilung  der  Verbr.  den  Schwurgerichten  zustand.  Sie  ist 
heute  praktisch  wertlos,  da  das  Strafverfahren  wegen  Verbr.  und  Verg,  ein 
einheitliches  ist.  Die  Schwurgerichte  wurden  im  Kanton  Tessin  durch  die 
Verfassung  vom  10.  Februar  1883  aufgehoben.  Die  Aburteilung  der  Über- 
tretungen geschieht  nach  dem  G.  vom  8.  Februar  1873  durch  die  Friedens- 
richter. Als  Übertretungen  gelten  auch  einige  geringfügige  vorsätzliche  Verg., 
wie  einfache  Diebstähle  und  Unterschlagungen,  wenn  das  Objekt  unter  5  Lire 
ist.  Trotz  der  theoretischen  Unterscheidung  von  Verbr.  und  Verg.  behandelt 
das  G.  sie  gemeinschaftlich  und  nach  denselben  Gesichtspunkten. 

2.  Zurechnung.  Nach  Art.  46  ist  die  Zurechnung  ausgeschlossen,  wenn 
der  Thäter  sich  bei  Begehung  der  That  im  Zustande  der  Bewusstlosigkeit  oder 
unter  dem  Einfluss  eines  unwiderstehlichen  physischen  oder  moralischen  Zwangs 
befand.  Das  G.  fügt  ausdrücklich  hinzu,  dass  Unkenntnis  des  G.  die  Zu- 
rechnung nicht  ausschliesst.  Der  Art.  47  handelt  von  der  Verminderung  der 
Zurechnungsfähigkeit  und  gestattet  dem  Richter,  bei  der  Ausmessung  der  Strafe 
um  ein,  zwei  oder  drei  Grade  herabzugehen,  wenn  durch  die  im  vorhergehen- 
den Art.  angegebenen  Umstände  die  Zurechnungsfähigkeit  zwar  nicht  voll- 
ständig ausgeschlossen,  aber  doch  mehr  oder  weniger  vermindert  war.  Das 
G.  giebt  besondere  Vorschriften  über  die  Behandlung  der  Trunkenheit,  den 
Einfluss  des  Lebensalters  und  der  Taubstummheit.  Es  unterscheidet  vollständige 
Trunkenheit  und  solche  Trunkenheit,  welche  eine  vollständige  Bewusstlosigkeit 
des  Thäters  nicht  zur  Folge  gehabt  hat.  Das  Vorhandensein  der  vollständigen 
Trunkenheit  schliesst  den  Vorsatz  aus,  lässt  aber  die  Annahme  einer  Fahr- 
lässigkeit bestehen.  Auch  die  letztere  ist  ausgeschlossen,  wenn  die  Trunken- 
heit eine  unverschuldete  oder  zufällige  war.  Die  teilweise  Trunkenheit  mindert 
die  Strafe  um  einen  Grad,  wenn  sie  nicht  in  der  Absicht  herbeigeführt  ist, 
während  des  trunkenen  Zustandes  das  Delikt  zu  begehen.  Das  StGB,  unter- 
scheidet fünf  Altersstufen,  Die  volle  Strafmündigkeit  tritt  mit  dem  vollendeten 
20.  Lebensjahre  ein;  wer  noch  nicht  zehn  Jahre  alt  ist,  kann  strafrechtlich 
nicht  zur  Verantwortung  gezogen  werden.  Ist  der  Thäter  10,  aber  noch  nicht 
14  Jahre  alt,  so  ist  zu  prüfen,  ob  er  mit  der  Einsicht  in  die  Strafbarkeit  seiner 
Handlungsweise  gehandelt  hat.     Ist  dies  der  Fall,  so  wird  die  für  das  Verbr. 


§  4.    Die  strafbare  Handlung.  425 


angedrohte  Strafe  um  zwei  oder  drei  Grade  ennässigt.  Anderenfalls  ordnet 
der  Bichter'die  Unterbringung  zur  Zwangserziehung  auf  Kosten  der  Familie 
oder  Gemeinde  an.  Für  einen  Thäter  im  Alter  von  14  bis  zu  18  Jahren 
werden  die  Strafen  um  ein  oder  zwei  Grade,  und  für  einen  solchen  von  18 
bis  zu  20  Jahren  um  einen  Grad  ermässigt.  Ein  Taubstummer  kann  vor  voll- 
endetem 14.  Lebensjahre  nicht  straft-echtlich  verfolgt  werden.  Vom  14.  bis 
zum  18.  Lebensjahre  ist  auch  bei  ihm  zu  prüfen,  ob  er  die  Einsicht  in  die 
Strafbarkeit  seiner  That  besessen  hat,  und  das  Verfahren  ist  dasselbe  wie 
gegen  einen  Mindeijährigen  von  10  bis  zu  14  Jahren.  Die  Frage  nach  der 
Einsicht  in  die  Strafbarkeit  muss  auch  für  den  über  18  Jahre  alten  taub- 
stummen Angeklagten  geprüft  und  in  allen  Fällen  die  Strafe  um  ein  oder  zwei 
Grade  ermässigt  werden. 

Die  Anwendung  eines  allgemeinen  Grundsatzes  über  die  Zurechnung  ent- 
hält der  Art.  108,  welcher  bestimmt,  dass  ein  Untergebener  straflos  bleibt, 
wenn  er  nachweist,  dass  er  die  That  lediglich  in  Ausführung  eines  ausdrück- 
lichen Befehls  seines  Vorgesetzten  und  ohne  Einverständnis  mit  diesem  be- 
gangen hat. 

3.  Versuch.  Das  G.  unterscheidet  Versuch  imd  fehlgeschlagenes  Delikt 
(delltto  mancato,  Art.  54 — 57).  Wegen  eines  fehlgeschlagenen  Delikts  wird 
bestraft,  wer  in  der  Absicht  ein  Delikt  zu  begehen,  alles  gethan  hat,  was  zu 
dessen  Ausführung  erforderlich  war,  so  dass  die  Nichtvollendung  lediglich  auf 
zufälligen  und  vom  Willen  des  Thäters  unabhängigen  Umständen  beruht.  Des 
Versuchs  macht  sich  schuldig,  wer  durch  Handlungen,  welche  einen  Anfang 
der  Ausführung  der  That  bilden  und  geeignet  sind,  die  Vollendung  zu  be- 
wirken, seine  unmittelbare  Absicht  bekundet  hat,  das  Delikt  zu  begehen, 
jedoch  durch  zufällige  und  von  seinem  Willen  unabhängige  Umstände  verhindert 
worden  ist,  alle  diejenigen  ferneren  Handlungen  vorzunehmen,  welche  nötig 
gewesen  wären,  um  das  Delikt  zu  vollenden.  Entsteht  ein  Zweifel,  welches 
von  mehreren  Delikten  versucht  ist,  oder  welche  von  mehreren  schädigenden 
Wirkungen  herbeigeführt  werden  sollte,  so  wird  angenommen,  dass  die  Ab- 
sicht des  Thäters  auf  die  Begehung  des  leichteren  Delikts  und  die  Herbei- 
führung des  geringeren  Schadens  gerichtet  war  (Art.  55).  Der  freiwillige 
Rücktritt  vom  Versuch  macht  diesen  straflos.  Bildet  jedoch  die  bereits 
vorgenommene  Ausführungshandlung  den  Thatbestand  eines  Delikts,  so  wird 
der  Thäter  wegen  dieses  bestraft.  Die  Strafe  des  fehlgeschlagenen  Delikts  ist 
einen  Grad  niedriger  als  die  für  das  vollendete  angedrohte,  die  Strafe  des 
Versuchs  zwei  bis  drei  Grade,  je  nachdem  die  That  der  Vollendung  mehr  oder 
weniger  entgegengeführt  war. 

4.  Beteiligung  mehrerer  bei  Begehung  einer  strafbaren  Hand- 
lung. Das  G.  unterscheidet  Thäter  und  Teilnehmer  (Art.  59  und  60).  Thäter 
ist  1.  wer  die  den  Thatbestand  des  Delikts  bildende  Handlung  unmittelbar 
selbst  vornimmt;  2.  wer  unmittelbar  und  thatsächlich  bei  der  Ausführung 
mitgewirkt  hat;  3.  wer  einen  anderen  durch  Auftrag,  Geschenke,  Versprechungen, 
Drohungen,  Missbrauch  des  Ansehens  oder  der  Amtsgewalt  zur  Begehung  der 
That  bestimmt  hat.  Teilnehmer  ist  1,  wer  vorsätzlich  die  Begehung  der  That 
veranlasst,  oder  dem  Thäter  zur  Begehung  Ratschläge  erteilt,  oder  sich  mit  dem 
Thäter  oder  seinen  Gehülfen  über  den  nach  Begehung  der  That  zur  Sicherung 
der  Vorteile  aus  der  That  oder  der  Straflosigkeit  des  Thäters  von  ihm  zu  ge- 
währenden Beistand  ins  Einvernehmen  gesetzt  hat;  2.  wer  dem  Thäter  Waffen, 
Werkzeuge  oder  irgend  ein  anderes  bei  der  That  benutztes  Mittel  in  Kenntnis 
seiner  Bestimmung  verschafft  hat;  3.  wer  zu  Handlungen,  welche  die  Ausführung 
der  That  vorbereiten  oder  erleichtem  sollten,  wissentlich  Beistand  geleistet 
hat.     Persönliche  Eigenschaften   und  Umstände,   welche   die  Strafbarkeit   des 


426  Kanton  Tessin.  —  Der  allgemeine  Teil  des  StGB. 


Thäters  ausschliessen,  erhöhen  oder  vermindern,  haben  auf  die  Bestrafung  des 
Gehülfen  keinen  Einfluss  (Art.  61);  besondere  umstände,  welche  in  der  That 
selbst  liegen,  nur  insoweit,  als  der  Handelnde  sie  kannte  oder  kennen,  bezw. 
vojhersehen  musste  (Art.  62).  Die  Strafe  des  Teilnehmers  ist  1 — 3  Grade 
niedriger  als  die  des  Thäters.  Der  Teilnehmer  wird  jedoch  gleich  dem  Thäter 
bestraft,  wenn  die  That  ohne  seine  Mitwirkung  nicht  begangen  worden  wäre 
(Art.  63). 

Die  Begünstigung  bildet  nicht  einen  Fall  der  Teilnahme,  sondern  ein 
selbständiges  Delikt  gegen  die  Justizverwaltung  (Art.  171 — 174). 

5.  Die  Strafbarkeit  der  Handlung.  In  keinem  Falle  überlässt  das 
G.  die  Erhebung  der  Anklage  einer  Privatperson.  Nach  Art.  3  der  StPO. 
steht  die  Erhebung  der  Strafklage,  welche  stets  eine  öffentliche  Klage  ist,  nur 
der  Anklagebehörde  zu.  Indessen  ist  diese  Erhebung  in  zahlreichen  Fällen 
von  dem  Antrage  des  Verletzten  abhängig,  so  bei  den  Ehrverletzungen  (Art.  355), 
der  leichten  Körperverletzung  (Art.  313),  der  Entführung  (Art.  260),  der  Not- 
zucht (Art.  256),  der  Misshandlung  seitens  eines  Familienangehörigen  oder  Ehe- 
gatten (Art.  333),  dem  Hausfriedensbruch  (Art.  342),  Diebstahl,  Vertrauens- 
missbrauch, Betrug  und  Aneignung  gefundener  Gegenstände  zwischen  gesetz- 
lich geschiedenen  Ehegatten,  Geschwistern  und  Verschwägerten  bis  zum  zweiten 
Grade,  wenn  diese  nicht  zusammen  leben  (Art.  367,  383,  386  und  393), 
Betrug,  Wucher  und  Aneignung  gefundener  Gegenstände  in  minder  schweren 
FäUen  (Art.  380,  381  §  1,  388,  391  §  3),  Offenbarung  von  Privatgeheimnissen 
(Art.  358),  Verletzung  des  Briefgeheimnisses  (Art.  343)  und  Verfälschung  von 
Urkunden  (Art.  220).  In  mehreren  Fällen  bleiben  an  und  für  sich  straf- 
bare Handlungen  straflos,  wenn  der  Thäter  und  die  Person,  zu  deren 
Gunsten  das  Delikt  begangen  war,  oder  der  Thäter  und  der  Verletzte  mit- 
einander verwandt  sind.  Hierher  gehören  Begünstigungen  und  Handlungen, 
welche  den  Zweck  haben,  die  Spuren  eines  begangenen  Delikts  zu  verwischen 
zu  Gunsten  des  Aszendenten,  Deszendenten,  Bruders,  der  Schwester,  des 
Schwagers,  Onkelfe,  Neffen,  Schwiegervaters,  Schwiegersohnes  oder  Ehegatten 
des  Hehlers  (Art.  176).  Ebenso  wird  das  zu  Gunsten  eines  Angeklagten  ab- 
gegebene falsche  Zeugnis  nicht  bestraft,  wenn  der  Zeuge  mit  diesem  in  einem 
Grade  verwandt  ist,  der  ihn  von  der  eidlichen  Vernehmung  ausschliesst 
(Art.  187  des  StGB,  und  Art  185  der  StPO.).  Das  falsche  Zeugnis  wird  femer 
nicht  bestraft,  wenn  der  Zeuge  durch  Angabe  der  Wahrheit  sich  selbst  oder 
seinen  Ehegatten,  seine  Aszendenten  oder  Deszendenten,  Geschwister,  Onkel, 
Neffen  oder  Verschwägerte  bis  zum  zweiten  Grade  der  Gefahr  einer  Straf- 
verfolgung ausgesetzt  haben  würde  (Art.  187  §  2).  Diebstahl,  und  zwar  der 
leichte  wie  der  schwere,  Vertrauensmissbrauch,  Betrug  und  Aneignung  gefun- 
dener Gegenstände  werden  nicht  bestraft,  wenn  sie  begangen  sind  zwischen 
gesetzlich  nicht  geschiedenen  Eheleuten,  zwischen  Geschwistern  und  Ver- 
schwägerten zweiten  Grades,  welche  in  häuslicher  Gemeinschaft  leben,  sowie 
zwischen  Aszendenten,  Deszendenten,  in  gerade  Linie  Verschwägerten  und 
Adoptiveltern  und  Adoptivkindern  (Art.  367,  383,  389  und  392). 

In  anderen  Fällen  bewirkt  die  Reaie  des  Thäters  den  Eintritt  der  Straf- 
losigkeit. So  bleibt  straflos  a)  wer,  nachdem  er  an  einem  Aufruhr  oder  einem 
Aufstand  teilgenommen  hat,  auf  Aufforderung  der  Obrigkeit  sich  entfernt  oder 
sich  jeder  weiteren  Beteilig^ung  enthält  (Art.  96);  b)  der  Verleumder,  der  vor 
der  richterlichen  Vernehmung  des  Verleumdeten  oder  vor  Vornahme  einer  Ver- 
haftung oder  Haussuchung  freiwillig  die  Verleumdung  zurücknimmt  (Art.  181, 
§2);  c)  der  Zeuge,  Sachverständige  oder  Dolmetscher,  welcher  nach  Abgabe 
eines  falschen  Zeugnisses  dieses  widerruft  zu  einer  Zeit,  wo  der  Widerruf  für 
die  Rechtspflege  noch  von  Bedeutung  und  das  Verfahren  noch  nicht  geschlossen 


5.    Die  Strafen.  427 


ist  (Art.  188) ;  d)  wer  den  in  einem  Civilprozess  geschworenen  falsclien  Eid 
vor  Abgabe  einer  Entscheidung  widerruft  (Art.  190):  e)  wer  nach  Fälschung 
einer  Privaturkunde  auf  die  an  ihn  ergangene  richterliche  Aufforderung  er- 
klärt, das6  Ä  von  derselben  keinen  Gebrauch  machen  werde  (Art.  220);  f)wer 
nach  Begehung  eines  leichten  Diebstahls,  eines  Vertrauensmissbrauchs,  Betrugs 
oder  der  Aneignung  eines  gefundenen  Gegenstandes  innerhalb  24  Stunden  nach 
der  Begehung,  und  bevor  die  That  bekannt  geworden  ist,  den  entwendeten 
Gegenstand  zurückgiebt  und  dem  Verletzten  vollen  Schadenersatz  leistet  (Art.  364, 
383,  389  und  392);  g)  wer,  nachdem  er  einem  anderen  bei  der  von  diesem 
beabsichtigten  Begehung  des  Selbstmordes  Beistand  geleistet  hat,  seine  That 
bereut  und  ihn  rechtzeitig  an  der  Ausführung  seines  Vorhabens  verhindert 
(Art.  301), 

Die  Strafbarkeit  einer  Handlung  ist  endlich  ausgeschlossen  im  Fall  der 
Notwehr.  Das  StGB,  handelt  von  dieser  in  dem  Titel  über  die  Verg.  gegen 
das  Leben  und  die  Person.  Nach  Art.  293  wird  die  vorsätzliche  Tötung  nicht 
bestraft,  wenn  sie  begangen  wurde:  a)  in  der  unmittelbaren  Notwendigkeit 
der  rechtmässigen  Verteidigung  der  eigenen  oder  einer  fremden  Person,  sowie 
der  eigenen  oder  fremden  Geschlechtsehre;  b)  in  der  unmittelbaren  Notwendig- 
keit der  rechtmässigen  Verteidigung  des  Eigentums  gegen  gewaltsamen  Dieb- 
stahl, Plünderung  oder  Beschädigung;  c)  bei  dem  Widerstand  gegen  die  Ver- 
anstalter eines  Diebstahls  mittels  Einbruchs  oder  Einsteigens,  der  Brandstiftung 
an  einem  bewohnten  Gebäude  oder  dessen  Nebengebäuden,  wenn  die  That  zur 
Nachtzeit  geschah,  oder  es  sich  um  ein  einsam  liegendes  Haus  handelte  und 
gerechtfertigte  Besorgnis  für  die  Sicherheit  der  sich  dort  befindenden  Personen 
vorhanden  war.  Die  Überschreitung  der  Notwehr  bewirkt  eine  bedeutende 
Ermässigung  der  Strafe  und  ist  straflos,  wenn  sie  auf  besonderen  Umstände 
der  Zeit,  des  Ortes,  der  Art  des  Angriffs  oder  des  Angegriffenen  beruhte  oder 
der  Thäter  in  Furcht  oder  Bestürzung  handelte. 

§  5.   Die  Strafen. 

1.  Freiheitsstrafen.  Die  schwerste  vom  G.  angedrohte  Strafe  ist  Zucht- 
haus auf  Lebenszeit.  Sie  wird  im  Kantonalzuchthause  verbüsst;  der  Verurteilte 
wird  3  Jahre  lang  in  Einzelhaft  gehalten  und  ist  zu  vollständigem  Stillschweigen 
und  zur  Arbeit  verpflichtet.  Nach  Ablauf  dieser  Zeit  wird  er  nach  und  nach 
zur  gemeinsamen  Arbeit  mit  anderen  Sträflingen  zugelassen,  jedoch  nachts  von 
ihnen  getrennt  und  hat  Stillschweigen  zu  bewahren.  Personen  über  70  Jahre 
werden  nur  2  Jahre  lang  in  Einzelhaft  gehalten.  Die  ebenfalls  für  Verbr.  ange- 
drohte zeitige  Zuchthausstrafe  zerfällt  in  5  Grade  und  schwankt  zwischen  4  und 
24  Jahren.  Sie  wird  ebenfalls  im  Kantonalzuchthause  verbüsst;  der  Verurteilte 
ist  zum  Schweigen  verpflichtet,  wird  während  der  Nacht  isoliert  und  am  Tage 
zu  gemeinsamer  Arbeit  verwendet.  Die  Dauer  der  Einzelhaft  beträgt  8  Monate 
bis  zu  1  Jahr.  • 

Die  zu  Gef,  Verurteilten  verbüssen  ihre  Strafe  in  derselben  Anstalt  wie 
die  zu  Zuchthaus  Verurteilten,  sind  jedoch  von  diesen  räumlich  getrennt  und 
durch  die  Kleidung  unterschieden.  Sie  werden  während  der  Nacht  isoliert 
und  am  Tage  mit  anderen  Gefangenen  gemeinschaftlich  unter  Verbot  jeder 
Unterhaltung  beschäftigt.  Der  zu  Gef.  Verurteilte  kann  sich  eine  der  in  der 
Anstalt  zugelassenen  Arbeiten  auswählen;  auch  er  wird,  und  zwar  für  die  Zeit 
von  1  bis  zu  6  Monaten ,  in  Einzelhaft  gehalten.  Die  Gefängnisstrafe  zerfällt 
in  5  Grade,  deren  erster  eine  Straf dauer  von  3  Tagen  bis  zu  3  Monaten  und 
deren  fünfter  eine  solche  von  3  bis  zu  4  Jahren  umfasst.  Aus  besonderen 
Gründen  kann  der  Richter  im  Urteil  anordnen,  dass  der  zu  Gef.  ersten  Grades 


428  Kanton  Tessin.  —  Der  allgemeine  Teil  des  StGB. 


Verurteilte  seine  Strafe  in  dem  Gef.  desjenigen  Bezirks  verbüssen  soll,  in 
welchem  das  Urteil  ergangen  ist.  Beträgt  die  Strafe  nnr  Gef.  auf  die  Dauer 
von  3  Tagen,  so  kann  der  Richter  dem  Verurteilten  gestatten,  sie  in  seiner 
Wohnung  unter  Aufsicht  der  Obrigkeit  zu  verbüssen. 

Der  zu  zeitigem  Zuchthaus  oder  Gef.  auf  die  Dauer  von  mehr  als  1  Jahr 
Verurteilte,  welcher  mindestens  drei  Vierteile  der  Strafe  verbüsst  und  sich 
während  dieser  Zeit  tadellos  geführt  hat,  kann  auf  Widerruf  entlassen  werden, 
bleibt  jedoch  der  unmittelbaren  besonderen  Aufsicht  des  GefUngnisleiters  unter- 
stellt. Für  die  Entscheidung  der  Frage,  ob  der  Sträfling  sich  gut  geführt 
hat,  und  ob  die  bedingte  Entlassung  erfolgen  oder  wegen  schlechter  Führung 
des  Entlassenen  zurückgenommen  werden  soll,  ist  die  der  Gefängnisverwaltung 
vorgesetzte  Strafvollzugskommission  zuständig.  Diese  besteht  aus  dem  mit  der 
Leitung  des  Justizwesens  beauftragten  Staatsrat,  dem  Präsidenten  des  Appellations- 
gerichts und  dem  Staatsanwalt.  Sie  muss  ihre  Entscheidung,  gegen  welche 
sowohl  der  Verurteilte,  als  auch  die  Strafvollstreckungsbehörde  auf  Ent- 
scheidung des  Appellationsgcrichts  antragen  können,  mit  Gründen  versehen. 

Füi*  politische  Delikte  (Art.  88 — 91)  droht  das  StGB,  eine  besondere  Strafe 
der  Einsperrung  (prigionia)  an,  die  zwischen  1  und  20  Jahren  schwankt  und 
in  5  Grade  zerfällt.  Nach  Art.  23  ist  diese  Strafe  in  einem  Staatsgefängnis 
zu  verbüssen,  in  welchem  der  Verurteilte  während  der  gesamten  Strafdauer 
einzusperren  ist;  er  darf  jedoch  sich  selbst  kleiden,  auf  eigene  Rechnung  be- 
köstigen, arbeiten  oder  sich  anderweitig  beschäftigen  und  Besuche  empfangen; 
angewendet  ist  die  Strafe  bis  heute  noch  nicht. 

Die  für  Übertretungen  angedrohte  Haftstrafe  (arresto)  wird  in  einem 
Distrikts-Gefängnisse  verbüsst  und  beträgt  mindestens  einen  Tag  und  höchstens 
sieben  Tage. 

2.  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  und  Unfähigkeit  der 
Ausübung  einzelner  Rechte.  Die  Verurteilung  zu  lebenslänglichem  oder 
zeitigem  Zuchthaus  hat  den  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  für  die 
Dauer  der  erkannten  Strafe  von  Rechts  wegen  zur  Folge.  In  den  vom  G.  be- 
sonders vorgesehenen  Fällen  kann  der  Verlust  auch  für  die  Zeit  nach  der 
Verbüssung  der  zeitigen  Zuchthausstrafe,  sowie  bei  einer  Verurteilung  zu 
Gef.  von  gewisser  Dauer  nach  Verbüssung  dieser  letzteren  Strafe  eintreten. 
Der  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  hat  zur  Folge:  1.  den  Verlust  aller 
vom  Verurteilten  bekleideten  öffentlichen  Ämter,  sowie  den  Ausschluss  von  der 
Erlangung  solcher;  2.  den  Verlust  aller  staatsbürgerlichen  und  politischen 
Rechte;  3.  den  Ausschluss  von  der  Ausübung  des  Amtes  als  Anwalt  oder 
Notar;  4.  die  Unfähigkeit,  Vormund  anderer  Kinder  als  der  eigenen  zu  sein; 
5.  die  Unfähigkeit,  einen  anderen  mit  Ausnahme  seiner  Ehefrau  oder  seiner 
Kinder  gerichtlich  oder  aussergerichtlich  zu  vertreten  oder  als  Beistand  auf- 
zutreten; 6.  die  Unfähigkeit,  Testamentsvollstrecker  zu  sein;  7.  die  Unfähig- 
keit, als  Zeuge  oder  Sachverständiger  gerichtlich  vernommen  zu  werden  oder 
Zeuge  bei  der  Aufnahme    von  Urkunden    zu  sein  (Art.  31). 

Die  Strafe  des  Ausschlusses  von  der  Ausübung  einzelner  Rechte  besteht 
in  dem  Ausschluss  des  Verurteilten  von  der  Ausübung  staatsbürgerlicher  oder 
politischer  Rechte,  von  der  Bekleidung  öffentlicher  Ämter,  von  der  Ausübung 
einer  bestimmten  öffentlichen  Funktion  oder  eines  Gewerbes,  einer  Beschäftigung 
oder  einer  Kunst.  Die  Strafe  zerfällt  ihrer  Dauer  nach  in  vier  Grade:  der 
1.  Grad  umfasst  den  Ausschluss  auf  die  Dauer  von  1  Monat  bis  zu  1  Jahr, 
der  4.  auf  die  Dauer  von  6  bis  zu  10  Jahren.  Diese  Strafe  findet  nur  als 
Nebenstrafe  neben  anderen  Strafmitteln  Anwendung. 

3.  Geldstrafe.  Das  G.  kennt  zwei  Geldstrafen:  die  multa  fürVerg.,  die 
ammenda  für  Übertretungen.     Erstere  zerfällt  in   acht  Grade,   von  denen  der 


§  5,    Die  Strafen.  429 


erste  die  Beträge  von  2 — 25  Lire  und  der  achte  die  von  350 — 5000  Lire  um- 
fasst.  Sie  wird  allein  oder  in  Verbindung  mit  anderen  Strafen  angedroht. 
Die  letztere  zerfällt  in  zwei  Grade  und  schwankt  zwischen  2 — 50  Lire. 

Ist  der  Verurteilte  zahlungsunfähig,  so  wird  die  multa  in  Gef.  verwan- 
delt und  zwar  tritt  1  Tag  an  die  Stelle  von  je  5  Lire,  jedoch  beträgt  die 
Höchstdauer  der  Gefängnisstrafe  3  Monate  (Art.  30).  Ist  auf  multa  neben 
Zuchthaus  oder  Gef.  erkannt,  so  wird,  wenn  sie  nicht  beizutreiben  ist,  die 
Freiheitsstrafe  verlängert,  indem  1  Tag  Zuchthaus  für  je  15  Lire  und  1  Tag 
Gefängnis  für  je  10  Lire  eintritt.  Die  Verlängerung  darf  jedoch  die  Dauer 
von  3  Monaten  nicht  überschreiten  (Art.  31). 

4.  Abstufung  und  Ausmessung  der  Strafen.  Die  Strafzumessung 
geschieht  nach  Graden.  Der  Richter  hat  die  Strafe  nach  den  im  G.  be- 
stimmten Graden  unter  Berücksichtigung  der  Schwere  der  That,  der  Inten- 
sität, des  verbrecherischen  Willens,  des  entstandenen  Schadens  und  der  her- 
beigeführten Gefahr  zuzumessen.  Liegt  ein  mildernder  Umstand  vor,  so  ist 
höchstens  auf  die  Hälfte  des  im  allgemeinen  angedrohten  Grades  zuerkennen; 
liegen  zwei  mildernde  Umstände  vor,  so  tritt  eine  Ermässigung  um  einen 
Grad  ein.  Trifft  ein  mildernder  Umstand  mit  einem  erschwerenden  Umstand 
zusammen,  so  gleichen  sie  sich  aus.  Mildernde  Umstände  liegen  vor:  1.  wenn 
der  Thäter  sich  früher  gut  geführt  hat;  2.  wenn  er  aus  Not  gehandelt  hat; 
3.  wenn  er  ft'eiwillig  und  unmittelbar  nach  Begehung  der  That  den  Schaden 
ersetzt  hat;  4.  wenn  er  sich  freiwillig  der  Obrigkeit  stellt  und  seine  That 
eingesteht  (Art.  53). 

Die  erlittene  Untersuchungshaft  kann  auf  die  erkannte  Strafe  ganz  oder 
teilweise  angerechnet  werden,  sodass  1  Tag  Zuchthaus  oder  Gef.,  2  Tage 
des  Ausschlusses  von  der  Ausübung  irgend  welcher  Rechte  und  5  Lire  Geld- 
strafe gleich  einem  Tage  Untersuchungshaft  gerechnet  werden  (Art.  33). 

Der  Rückfall  bildet  einen  Strafschärfungsgrund.  Er  liegt  nur  vor,  wenn 
der  Verurteilte  wegen  einer  gleichartigen  That  bereits  früher  verurteilt  war; 
als  gleichartig  gelten  diejenigen  strafbaren  Handlungen,  welche  vom  G.  in  einem 
und  demselben  Titel  behandelt  werden  (Art.  69).  Bei  der  Feststellung  des 
Rückfalls  werden  nicht  berücksichtigt:  das  von  einem  ausländischen  Gerichte 
oder  dem  Gerichte  eines  andern  schweizerischen  Kantons  erlassene  Urteil;  die 
Verurteilimg  auf  Grund  einer  einfachen  Nachlässigkeit;  die  Verurteilung  zu 
einer  leichteren  Strafe  als  6  Monate  Gef.,  wenn  die  für  das  neue  Delikt  an- 
gedrohte Strafe  Zuchthaus  ist  (Art.  70).  Rückfall  liegt  nicht  vor,  wenn  wegen 
des  früheren  Delikts  Amnestie  erfolgt  war  oder  seit  Beendigung  der  wegen 
desselben  erkannten  Strafe  mindestens  10  Jahre  verflossen  waren.  Für  die 
Verschärfung  der  Strafe  unterscheidet  das  G.,  ob  das  neue  Delikt  während, 
nach  oder  vor  der  Verbüssung  der  früheren  Strafe  begangen  ist.  Der  zu 
lebenslänglichem  Zuchthaus  Verurteilte,  welcher  während  Verbüssung  dieser 
Strafe  ein  neues  Delikt  begeht,  wird  mit  Einzelhaft  auf  die  Dauer  eines  Jahres 
wenn  es  sich  um  eine  mit  Gef.  bedrohte  That,  und  auf  die  Dauer  von  5  Jahren 
wenn  es  sich  um  eine  mit  Zuchthaus  bedrohte  That  handelt,  bestraft.  In  allen 
anderen  Fällen  wird  die  im  allgemeinen  angedrohte  Strafe  um  einen  Grad 
erhöht,  wenn  der  Rückfällige  die  frühere  Strafe  vollständig  verbüsst  hatte. 
Das  zulässige  Höchstmass  des  betreffenden  Grades  wird  angewendet,  wenn 
die  neue  That  während  der  Verbüssung  der  ersten  Strafe  begangen  wird; 
hatte  die  Vollstreckung  noch  nicht  begonnen,  so  ist  die  Verurteilung  zu  der 
niedrigsten  Strafe  des  betreffenden  Grades  ausgeschlossen  (Art.  72). 

Einen  andei*n  Strafschärfungsgrund  bildet  das  Zusammentreffen  mehrerer 
strafbaren  Handlungen.  Wer  durch  ein  und  dieselbe  Handlung  mehrere  StG. 
verletzt,  wird  nach  der  die  schwerste  Strafe  androhenden  Bestimmung  bestraft 


430  Kanton  Tessin.  —  Der  allgemeine  Teil  des  StGB. 


(Art.  64).  Bei  dem  ZusammentrefPen  mehrerer  selbständiger,  strafbarer  Hand- 
lungen befolgt  das  StGB,  im  allgemeinen  das  Kumulations-Prinzip,  indem  die 
durch  das  schwerste  Delikt  verwirkte  Strafe  nach  Verhältnis  der  durch  das 
weniger  schwerere  verwirkten  verschärft  wird  (Art.  65 — 67). 

5.  Die  Wirkung  der  Verurteilung.  Der  zu  lebenslänglichem  Zucht- 
haus Verurteilte  verliert  die  Befugnis  zur  Verwaltung  seines  Vermögens  und 
die  väterliche  Gewalt  über  seine  Kinder;  er  wird  wie  ein  durch  gerichtliche 
Entsch.  für  abwesend  Erklärter  behandelt.  Der  zu  zeitiger  Zuchthausstrafe 
Verurteilte  geht  der  Vermögens -Verwaltung  und  der  väterlichen  Gewalt  über 
seine  Kinder  für  die  Dauer  der  Straf verbüssung  verlustig;  er  erhält  gleich 
einem  Handlungs-Unfähigen  einen  Vormund.  Mehrere  Personen,  die  wegen 
einer  gemeinschaftlich  begangenen  Handlung  verurteilt  werden,  haften  soli- 
darisch für  Strafe,  Schadensersatz  und  Kosten.  Reicht  das  Vermögen  eines  ! 
sowohl  zu  Geldstrafe  und  Kosten,  sowie  zu  Schadensersatz  Verurteilten  ' 
nicht  zur  Deckung  beider  Ansprüche  aus,  so  geht  die  Befriedigung  wegen 
des  letzteren  Anspruchs  der  wegen  des  ersteren  vor  (Art.  36).  Der  Art.  39 
stellt  die  gesetzliche  Vermutung  auf,  dass  jede  von  dem  Verurteilten  nach 
Begehung  der  That  vorgenommene  entgeltliche  oder  unentgeltliche  Veräusse- 
rung  oder  von  ihm  übemonmiene  Verpflichtung  in  der  Absicht  geschehen 
bezw.  übernommen  ist,  den  Staat  oder  den  Verletzten  zu  schädigen.  —  Im 
Urteil  ist  die  Einziehung  des  Gegenstandes  der  That,  sowie  der  bei  ihrer 
Begehung  benutzten  oder  für  die  Begehung  bestimmten  Gegenstände  anzu- 
ordnen, wenn  diese  dem  Verurteilten  gehören. 

In  gewissen  Fällen  ist  die  Stellung  des  Verurteilten  unter  Aufsicht  der 
Kantonal-  oder  Ortsbehörde  auf  die  Dauer  von  höchstens  2  Jahren  nach  Ver- 
büssung der  Strafe  zulässig  (Art.  22). 

§  6.   Endfgniig  der  Strafverfolgung  und  der  StrafVolIstreeknng. 

Das  Recht  zur  Strafverfolgung  erlischt  1.  durch  den  Tod  des  Schuldigen, 
2.  durch  Amnestie,  3.  durch  Verzeihung  seitens  des  Verletzten  in  den  Fällen, 
in  welchen  die  Strafverfolgufig  nur  auf  Antrag  eintritt,  4.  durch  Verjährung 
(Art.  73).  Nach  Art.  75  ist  die  Verzeihung  des  Beschädigten  wirkungslos, 
wenn  der  Angeklagte  ihre  Annahme  verweigert;  durch  Amnestie  erlischt  das 
Recht  zur  Strafverfolgung  nur  bei  den  ohne  Antrag  zu  verfolgenden  Delikten. 
Die  Verjährungsfristen  betragen  20,  15,  10,  5  und  3  Jahre,  je  nach  der  Art 
und  dem  Umfange  der  angedrohten  Strafe  und  unter  Berücksichtigung  aller 
Umstände,  welche  auf  die  Strafzumessung  Einfluss  haben.  Eine  singulare  Be- 
stimmung enthält  der  Art.  78,  der  anordnet,  dass  die  Verjährung  ruht,  solange 
eine  strafrechtliche  Untersuchung  wegen  der  That  schwebt.  Wenn  jedoch 
innerhalb  der  Zeit  von  5  Jahren  nach  Beginn  des  Verfahrens  oder  nach  Er- 
lass  des  Einstellungs-Beschlusses  eine  Verurteilung  nicht  erfolgt  ist,  so  ist  die 
Strafklage  verjährt.  Hat  also  ein  Verfahren  stattgefunden  und  sogar  zur  Er- 
hebung der  Anklage  geführt,  so  ist  die  Fortsetzung  desselben  unzulässig,  wenn 
nicht  binnen  5  Jahren  endgültige  Verurteilung  erfolgt.  Man  hat  durch  diese 
Bestimmung  verhindern  wollen,  dass  die  Behörden  einen  Bürger  längere  Zeit 
mit  der  Möglichkeit  einer  strafrechtlichen  Verfolgung  bedrohen  können.  Nach 
Art.  102  beträgt  die  Verjährungsfrist  für  die  bei  einer  Wahl  oder  gelegentlich 
einer  Wahlversammlung  begangenen  betrügerischen  Handlungen  6  Monate,  be- 
ginnend vom  Augenblick  des  Abschlusses  des  Versammlungs-Protokolls  (Art, 
97 — 101).  Besondere  Verjährungsfristen  gelten  für  die  strafrechtliche  Ver- 
folgung der  Ehrverletzungen.    Sie  betragen  nach  Art.  357:  1  Jahr  für  dieVer- 


§  8.    Strafrechtliche  Nebengesetze.  431 


leumdung  und  3  Monate  ftlr  die  Beleidigung.    Die  Strafverfolgung  wegen  einer 
Übertretung  veijährt  in  2  Monaten  (Art.  438). 

Die  erkannte  Strafe  erlischt:  1.  durch  Vollstreckung;  2.  durch  den  Tod 
de«  Verurteilten;  3.  durch  Amnestie  oder  Begnadigpung;  4.  durch  Verzeihung 
seitens  des  Verletzten  in  dem  vom  G.  besonders  erwähnten  Falle;  5.  durch 
Verjährung  (Art.  79).  Der  Tod  des  Verurteilten  schliesst  die  Zwangsvollstreckung 
wegen  einer  Geldstrafe  in  den  Nachlass  nicht  aus,  wenn  das  Urteil  zu  Leb- 
zeiten des  Verurteilten  rechtskräftig  geworden  ist.  Die  Verzeihung  seitens  des 
Verletzten  bewirkt  das  Erlöschen  der  Strafe  in  den  in  den  Art.  221,  261  und 
273  vorgesehenen  Fällen.  Die  Verführung  bleibt  straflos,  wenn  der  Verführer 
die  Verführte  heiratet;  das  gleiche  gilt  bei  der  Entführung.  Die  einem  des 
Ehebruchs  schuldigen  Ehegatten  seitens  des  unschuldigen  Teils  gewährte  Ver- 
zeihung bewirkt  Straflosigkeit  für  den  ersteren  und  seinen  Mitschuldigen.  Un- 
verjährbar ist  Zuchthausstrafe  auf  Lebenszeit  und  auf  die  Dauer  von  mehr  als 
12  Jahren.  Die  Veijährungsfristen  für  die  übrigen  Strafen  betragen  30,  26, 
20,  15  und  10  Jahre,  je  nach  Art  und  Mass  der  Strafe.  Mit  der  Hauptstrafe 
verjährt  auch  die  ausgesprochene  Unfähigkeit  zur  Ausübung  bürgerlicher  oder 
anderer  Rechte. 

m. 

§  7.    Die  einzelnen  strafbaren  Handlungen  und  Ihre  Bestrafking. 

Wir  müssen  uns  hier  darauf  beschränken,  die  Einteilung  der  strafbaren 
Handlungen  im  G.  wiederzugeben.  Sie  beruht  auf  der  Verschiedenheit  der 
Rechtsgüter,  gegen  welche  der  strafbare  Angriff  gerichtet  ist.  Das  G.  be- 
handelt sie  in  13  Titeln,  welche  folgende  Überschriften  haben: 

I.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Verfassung  und  die  innere  Sicherheit 
des  Staates.  II.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Ausübung  politischer  Rechte, 
in.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  verfassungsmässig  zugesicherten  Rechte 
und  die  öffentliche  Verwaltung.  IV.  Strafbare  Handlungen  von  Privatpersonen 
gegen  die  öffentliche  Verwaltung  und  gegen  öffentliche  Beamte.  V.  Strafbare 
Handlungen  gegen  die  Justizverwaltung.  VI.  Strafbare  Handlungen  gegen  die 
öffentliche  Ordnung.  VII.  Strafbare  Handlungen  gegen  Treue  und  Glauben. 
VIII.  Strafbare  Handlungen  gegen  Handel  und  Gewerbe.  IX.  Sittlichkeits- 
Delikte  und  strafbare  Handlungen  gegen  die  Familienordnung.  X.  Strafbare 
Handlungen  gegen  das  Leben  und  die  Person.  XI.  Strafbare  Handlungen 
gegen  die  persönliche  Freiheit.  XII.  Ehi-verletzungen.  XIII.  Strafbare  Hand- 
lungen gegen  das  Eigentum. 

Das  dritte  Buch  des  Strafgesetzbuches  beschäftigt  sich  mit  den  Über- 
tretungen und  behandelt  in  verschiedenen  Kap.  das  verbotene  Waffentragen, 
Betteln  und  Landstreichen,  Verletzung  sozialer  Pflichten,  unsittliche  Hand- 
lungen, Verstösse  gegen  die  öffentliche  Gesundheit  und  die  öffentliche  Sittlich- 
keit, endlich  Übertretungen  gegen  das  Eigentum. 


IV. 

§  8.    StrafrechtUehe  Nebengesetze. 

Weitere  Thatbestände  sind  in  anderen  G.  mit  Strafe  bedroht,  welche 
teils  von  den  Verwaltungs-Behörden,  teils  von  den  Gerichten  zu  verhängen 
ist.    Zu  erwähnen  sind:  Die  Gemeindeordnung  vom  15.  Juni  1854,  Kap.  5  und 


432  Kanton  Tessin.  —  Strafrechtliche  Nebengesetze. 


11  (Nuova  Raccolta  I,  458);  der  5.  Titel  des  G.  vom  9.  Juni  1853  über  die 
Frenlden-Polizei  (N.  R.  I,  385 j;  das  G.  vom  5.  Mai  1875  betr.  die  staatliche 
Cberwachung  explodierender  und 'feuergefährlicher  Stoffe  (N.  R.  I,  428);  das 
G.  über  das  Gesundheitswesen  vom  26.  November  1888  (amtliches  GBL  1889, 
S.  149);  das  Reglement  vom  11.  Juni  1844  über  die  Ausübung  des  Notariats 
(N.  R.  I,  293);  die  G.  und  Reglements  vom  28.  November  1840,  4.  Mai  1870, 
13.  Februar  1878  und  1.  Juni  1880  über  die  Fors^  und  Wald-Polizei  (N.  R. 
II,  300,  315  ff.).  Femer  seien  hier  kurz  erwähnt  die  G.  aus  dem  Gebiete  der 
Steuerverwaltung:  über  das  Stempelwesen  vom  27.  November  1858  (N.  R.  II, 
477),  über  die  Spielkarten  vom  6.  Dezember  1853  (daselbst  484),  über  die 
Taxen  für  Handel  und  Gewerbe  und  den  Gewerbebetrieb  im  Umherziehen 
vom  I.Dezember  1875  und  21.  November  1879  (N.  R.  n,  515  und  525  ff.). 
Auch  auf  dem  Gebiete  der  Wahlgesetzgebung,  auf  welchem  in  der  letzten 
Zeit  im  Kanton  eine  lebhafte  Thätigkeit  entfaltet  ist,  giebt  es  Strafvorschriften 
fürVerg.  und  Übertretungen.  Man  vgl.  das  G.  vom  3.  Dezember  1888,  welches 
für  die  Volkswahlen  die  Benutzung  amtlicher  Hüllen  zum  Verschluss  der  Wahl- 
zettel vorschreibt,  die  G.  vom  1.  Dezember  1890  und  24.  November  1891, 
welche  für  die  Wahlen  zum  grossen  Rat  und  zur  konstituierenden  Versamm- 
lung das  System  der  proportionellen  Abstimmung  einführen.  Diese  G.  bedrohen 
mit  Geldstrafe  bis  zu  200  Lire  die  Gemeinde-  oder  Wahl -Vorstände,  welche  die 
ihnen  zur  Herbeiführung  der  ordnungsgemässen  Wahl  und  Abstimmung  auf- 
erlegten Pflichten  nicht  erftillen. 


vm. 


1.  Frankreich. 

Von  Albert  Biviöre, 

Ehemaligem  Richter,  Erstem  Schriftführer  der  ^Sociät^ 
giindrale  des  prisons"  in  Paris. 

(Übersetinng  von  Dr.  Georg  Cratea  in  HannoTer.) 


2.  Belgien.  3.  Luxemburg. 

Von  Adolf  Prins,  von  Viktor  Berg, 

Oeueralinspektor  der  Geflngnisse,  Professor  des  Straf-  Advokat  in  Laxembarg. 

rechts  in  Brüssel. 

(Übersetzang  von  Dr.  Georg  Cnuea  in  Hannover.)  (Übersetzung  von  Dr.  Georg  Cruea  in  Hannover.) 


4.  Monaco. 

Von  Dr.  Georg  Grasen 

in  Hannover 

nnd 

Edmond  Tnrrel, 

Generaladvokat  nnd  Staatsrat  in  Monaco. 


Strafgesetzgebnng  der  Gegenwart.  I.  28 


Übersicht 


1.  Frankreich. 

I.  Die  allgemeinen  Grundsätze  des  StR.    §  1.  Einleitung.    §  2.  Die  strafbare  Hand- 
lung.   §  3.  Das  Subjekt  des  Verbrechens.    §  4.  Die  Strafen. 
II.  Der  besondere  Teil  des  StR.    §  5.  Das  StR.  des  StGB.    §  6.  Das  StR.  der  Spezial- 
gesetze. 
III.  §  7.  Das  StR.  der  französischen  Kolonieen. 

2.  Belgien. 

I.  Der  Code  p6nal.    §  1.  Geschichtliches.    §  2.  Der  Code  p^nal  von  1867.    §  8.  All- 
gemeine Grundsätze.   §  4.  Einteilung  der  strafbaren  Handlungen.   §  5.  Die  Strafen- 
II.  §  6.  Die  übrigen  Gesetze  strafrechtlichen  Inhalts. 

3.  Liuxembnrg:. 

4.  Monaco. 


1.  Frankreich. 


L  Die  allgemeinen  Grundsätze  des  Strafrechts.') 

§  1.    Einleitung. 

Das  französische  StGB,  stammt  aus  dem  J.  1810. 

Als  Qaelle  haben  ihm  die  beiden  Rechtssysteme  gedient,  die  nach  der 
Eroberung  Galliens  durch  die  Barbaren  auf  gallischem  Boden  Geltung  hatten. 
Das  gallo-romanische  Recht  unterschied  sich  wesentlich  von  dem  germanischen, 
und  es  bedurfte  des  Einflusses  von  vierzehn  Jahrhunderten,  um  beide  mit  ein- 
ander zu  verschmelzen.  Dies  geschah  durch  die  Einwirkung  des  Christentums 
und  des  kanonischen  Rechts.  Die  Grundlagen  der  Rechtseinheit  Frankreichs 
legte  Ludwig  XIV.  mit  Hülfe  der  bedeutenden  Arbeiten  der  Juristen  des 
16.  Jahrhunderts  durch  seine  allgemeinen  Ordonnanzen  (ordonnance  criminelle 
von  1670).  Die  Krönung  des  Gebäudes  blieb  jedoch  der  Revolution  vor- 
behalten, die  durch  sorgfältige  Bearbeitung  der  ihr  überlieferten  Grundideeen 
ein  lebenskräftiges  Rechtssystem  schuf,  dessen  internationaler  Charakter^  es 
einer  grossen  Anzahl  fremder  Länder  ermöglichte,  das  ft'anzösische  Recht  zu 
dem  ihrigen  zu  machen. 

Indes  erreichte  auch  die  Revolution  dieses  Ziel  nur  allmählich.  Zunächst 
mussten  die  philosophischen  Gedanken  des  18.  Jahrhunderts  für  die  Entwickelung 
des  Rechts  nutzbar  gemacht  werden.  Erst  dann  gelang  die  Kodifikation,  deren 
Ergebnis  der  Code  pönal  vom  6.  Oktober  1791  (ergänzt  durch  das  G.  vom 
22.  Juni  1791)  ist,  der  in  Frankreich  bis  zum  Jahre  1810  in  Kraft  blieb. 

Der  C.  p.  beruht  auf  4er  Nützlichkeits-Theorie,  deren  hervorragendster 
Vertreter  Bentham^)  war,  und  deren  Grundsätze  sich  durch  die  Formel  aus- 
drücken lassen:  „Die  Strafe  wird  gerechtfertigt  durch  ihre  Zweckmässigkeit 
oder  richtiger:  durch  ihre  Notwendigkeit." 


*)  Von  den  umfassenden  Darstellungen  des  französischen  StR.  sind  zu  erwähnen: 
A.  Blanche,  :fetudes  pratiques  sur  le  code  p6nal  (7  Bde.  ^.  Paris  1871—1872;  2.  Aufl. 
von  Dutruc  1888—90).  Boitard,  Lebens  de  droit  criminel  (13.  Aufl.  v.  Villey,  Paris  1890), 
Chauveau  und  Faustin  Helle,  Theorie  du  Code  p6nal  (6  Bde.  8«.  Paris  1873;  6.  Aufl. 
von  Villey  1887  flf.).  Dalloz,  Code  p6nal  annot6  (4».  Paris  1882)  und  Repertoire  g6n6ral. 
R.  Garraud,  Traite  du  droit  p^nal  fran^ais  (im  Erscheinen  begriflPen;  Paris,  Larose, 
1888);  dieses  letztere  Werk  ist  vor  allen  zu  empfehlen  und  von  mir  bei  der  Ausarbei- 
tung dieser  Abhandlung  vorzugsweise  benutzt.  —  Von  Zeitschriften  sind  zu  erwähnen: 
Journal  de  droit  criminel,  Bulletin  des  arr^ts  de  la  Cour  de  Cassation,  R^vue  p^ni- 
tentiaire  (Organ  der  Soci6t6  g6n6rale  des  Prisons). 

*)  Seine  Anschauungen  über  StR.  und  Gefäneniswesen  genossen  in  Frankreich 
ein  solches  Ansehen,  dass  der  Konvent  ihm  den  Titel  eines  französischen  Bürgers 
verlieh. 

28* 


436  Frankreich.  —  Die  allgemeinen  GrondBätze  des  StR. 


Dagegen  beruhen  die  seit  1832  vorgenommenen  Reformen  anf  dem  in  Frank* 
reich  hauptsächlich  durch  Rossi  entwickelten  Eklektizismus.  Die  Gerechtig- 
keit bildet  den  Grund  des  Rechts  zu  strafen,  die  Zweckmässigkeit  bestimmt 
das  Mass  seiner  Anwendung. 

Die  Strafbestimmungen  des  C.  p.  waren  keineswegs  musterhaft.  Die  Drei- 
teOung  der  strafbaren  Handlungen  hatte,  weil  ihr  eine  Dreiteilung  der  Ge- 
fängnisanstalten nicht  entsprach,  mehr  den  Wert  einer  theoretischen  Spielerei 
als  eine  besondere  praktische  Bedeutung.  Die  Strafdrohungen  waren  zum  Teil 
übermässig  hart.  Inunerhin  bildete  das  GB.  in  seiner  damaligen  Fassung  einen 
gewaltigen  Fortschritt  gegenüber  der  früheren  Gesetzgebung. 

Heute  jedoch,  nach  Verlauf  fast  eines  Jahrhunderts,  ist  es,  trotz  der 
grossen  Reformen  der  Jahre  1832  und  1863  und  der  wiederholten,  vor  allem 
in  den  Jahren  1850,  1854,  1874,  1885  und  1891  vorgenommenen  Abänderungen, 
weit  davon  entfernt  auf  strafrechtlichem  Gebiete  den  ihm  zur  Zeit  seines  Er- 
lasses zukommenden  Rang  einzunehmen.  Verschiedene  Länder  wie  Spanien, 
Belgien,  Luxemburg,  Holland  und  Italien,  die  ihm  einst  die  Grundzüge  für 
ihre  Gesetze  entlehnt  hatten,  haben  ihre  StGB,  von  Grund  aus  umgestaltet  und 
können  uns  jetzt  als  Muster  dienen. 

Die  Regierung  hat  sich  der  Erkenntnis  dieser  Sachlage  nicht  verschlossen 
und  bereits  1887  im  Justiz-Ministerium  eine  Kommission  zur  Vorbereitung  einer 
Reform  der  gesamten  StGgebung  eingesetzt.  Diese  hat  unter  dem  Vorsitz 
von  Ribot  2  Jahre  lang  fleissig  gearbeitet  und  den  Entw.  der  112  ersten  Art., 
d.  h.  des  gesamten  allgemeinen  Teils  fertiggestellt.^)  Am  30.  Juni  1892  wurde 
sie  neu  zusammengesetzt  und  in  vier  Abteilungen  geteilt,  von  denen  je  eine 
die  Delikte  gegen  den  Staat,  die  Delikte  gegen  die  Person,  die  Delikte  gegen 
das  Eigentum  und  die  Sonderstrafgesetze  bearbeiten  wird.  Die  baldige  Be- 
endigung der  Arbeiten  steht  zu  erwarten. 

In  der  folgenden  Abhandlung  werde  ich,  soviel  als  möglich,  die  Reihen- 
folge des  StGB,  beibehalten. 

§  2.    Die  strafbare  Handlung. 

Begriff.  Die  wesentlichen  Bestandteile  der  strafbaren  Handlung,  deren 
Deünition  das  GB.  unterlässt,  sind:  1.  eine  Handlung  oder  Unterlassung,  welche 
2.  vom  Gesetz  verboten,  3.  mit  Strafe  bedroht  und  4.  dem  Thäter  in  vollem  Um- 
fange zur  Schuld  zuzurechnen  ist.  Hieraus  folgt  bereits,  dass  die  strafbare  Hand- 
lung wie  die  Strafe  vom  G.  ausdrücklich  vorgesehen  sein  muss  und  dass  die 
Bestrafung  im  Namen  des  Staates  geschieht. 

Das  GB.  teilt  die  strafbaren  Handlungen  ein:  in  Verbr.  (crimes),  Verg. 
(d^lits)  und  Übertretungen  (contraventioos),  je  nachdem  sie  bedroht  sind:  mit 
beschimpfenden  oder  entehrenden  Strafen  (peines  afflictives  ou  diffamantes), 
oder  mit  korrektioneilen  Strafen  (peines  correctionnelles)  oder  mit  Polizeistrafen 
(peines  de  police)  (Art.  1).  Diese  Dreiteilung  ist  der  Gegenstand  heftiger  An- 
griffe gewesen  und  in  den  StGB.  Hollands  und  Italiens,  die  früher  dem 
französischen  System  folgten,  aufgegeben.  Sie  hat  den  nicht  zu  unterschätzen- 
den Vorzug  der  Klarheit  und  praktischen  Brauchbarkeit. 

Ich  habe  bereits  erwähnt,  dass  eine  strafbare  Handlung  nur  vorliegt  und 
eine  Strafe  nur  verhängt  werden  kann,  wenn  das  G.  es  ausdrücklich  anordnet. 

Rückwirkende  Kraft.  Das  G.  muss  ausserdem  bereits  erlassen  sein 
zur  Zeit,  wo  die  strafbare  Handlung  begangen  wurde  (Art.  4). 


*)  Der  Entw.   ist   abgedruckt   in   den  Mitteilungen   der   Internationalen  krimi- 
nalistischen  Vereinigimg  Bd.  IV  Heft  4. 


§  2.    Die  strafbare  Handlung.  437 


Unter  dem  Ausdruck  Gesetz  (loi)  sind  zu  verstehen:  1.  die  von  der  gesetz- 
gebenden Gewalt  erlassenen  Gesetze  im  engeren  Sinne;  2.  dieVdgn.  des  Staats- 
oberhauptes (d6crets),  der  Minister  (arretös),  des  Polizei-Präsidenten  (ordonnances) 
und  der  Gemeinde -Vorsteher  (arretös). 

Räumliches  Geltungsgebiet.  Das  G.  findet  auf  alle  innerhalb  des 
französischen  Staatsgebiets  sich  aufhaltenden  Personen  —  Franzosen  und  Aus- 
länder —  Anwendung  (Art.  3  des  Code  civil).  Dem  G.  nicht  unterworfen  sind 
nur  1.  das  Staatsoberhaupt,  welches  nur  wegen  Hochverrats  zur  Verantwortung 
gezogen  werden  kann,  und  die  Volksvertreter  für  die  in  Ausübung  ihres  Be- 
rufes gemachten  Äusserungen  oder  Abstimmungen;  2.  die  diplomatischen  Ver- 
treter fremder  Länder. 

Jedoch  findet  wegen  eines  Verbr.  oder  Verg.  ein  Strafverfahren  nicht 
statt,  wenn  der  Angeklagte  nachweist,  dass  er  wegen  desselben  bereits  im 
Auslande  rechtskräftig  abgeurteilt  ist  (Art.  5  des  C.  d'instr.  crim.).  Unser  GB. 
ist  in  dieser  Beziehung  weniger  kühn  als  das  neue  italienische  StGB.,  welches 
davon  ausgeht,  dass  der  Grundsatz  „non  bis  in  idem"  nur  innerhalb  der  Landes- 
grenzen Geltung  hat.  Ein  Ausländer  kann  wegen  einer  im  Auslande  begangenen 
Handlung  nur  bestraft  werden,  wenn  dieselbe  gegen  die  Sicherheit  des  Staates 
oder  den  öffentlichen  Kredit  gerichtet  war  (Art.  7  a.  0.).  Bedauerlicherweise 
trifft  unser  StGB,  keinerlei  Bestinmiung  für  den  nicht  seltenen  Fall,  dass  ein 
Ausländer,  der  im  Auslande  ein  schweres  Verbr.  begangen  hat,  lediglich  des- 
halb der  Bestrafung  entgeht,  weil  es  ihm  gelingt,  in  ein  anderes  Land  zu 
entfliehen.  Alle  von  einem  Franzosen  im  Auslande  begangenen  Delikte  werden 
ohne  Rücksicht  auf  die  Staatsangehörigkeit  des  Verletzten  bestraft  (Art.  5  a.  0.). 

Die  von  einem  Franzosen  im  Auslande  begangene  That  wird  in  Frank- 
reich nur  bestraft,  wenn  sie  von  den  Gesetzen  des  Begehungsortes  mit  Strafe  be- 
droht ist;  dass  dies  der  Fall  ist,  hat  die  Staatsanwaltschaft  nachzuweisen. 

Die  im  Auslande  gegen  einen  Franzosen  oder  einen  Ausländer  begangene 
strafbare  Handlung  wird  nur  auf  Verlangen  der  Staatsanwaltschaft  und  auf 
Antrag  des  Verletzten  oder  amtliches  Verlangen  der  Regierung  des  Landes,  in 
welchem  sie  begangen  wurde,  betraft  (Art.«^  a.  0.). 

Die  von  einem  Franzosen  im  Auslande  begangene  Übertretung*  wird  nur 
bestraft,  wenn  sie  gegen  die  Bestimmungen  der  Forst-,  Feld-,  Fischerei-,  Zoll- 
oder Steuergesetze  gerichtet  war,  im  Gebiete  eines  benachbarten  Landes  be- 
gangen wurde  und  die  Gegenseitigkeit  gesetzlich  und  thatsächlich  feststeht. 

Wie  man  sieht,  huldigt  das  GB.  dem  Prinzip  der  Intemationalität  des  StR. 
zwar  nicht  in  dem  Umfange  wie  das  italienische  StGB.,  berücksichtigt  es  je- 
doch seit  1866  in  reichem  Masse  und  steht  etwa  auf  dem  Standpunkt  des  so- 
genannten gemischten  Systems,  welches  der  fortschreitenden  Verständigung 
der  einzelnen  Staaten  über  die  Anwendung  der  wichtigsten  strafrechtlichen 
Grundsätze  am  meisten  förderlich  ist. 

Diese  Grundsätze  haben  auch  in  dem   neuen  Entw.  Aufnahme  gefunden. 

Ausweisungs-Befugnis.  Das  G.  vom  3.  Dezember  1849  ermächtigt 
die  Regierung,  Ausländer,  deren  Führung  oder  Vergangenheit  sie  gefährlich 
erscheinen  oder  befürchten  lässt,  dass  sie  gefährlich  werden,  aus  dem  Staats- 
gebiete auszuweisen. 

Auslieferung.  Die  Auslieferung  ist  nur  bei  Ausländem  zulässig;  ein 
französischer  Staatsangehöriger  wird  niemals  ausgeliefert.^) 

Die  Auslieferung  erfolgt  nur  für  schwere  Delikte  nicht  politischer  Natur, 


*)  Indessen  mildert  der  bereits  erwähnte  Art.  5  des  C.  d'instr.  crim.  die  Unzu- 
träglichkeiten, welche  sich  bei  konsequenter  Anwendung  dieses  Grundsatzes  in  der 
Praxis  ergeben  würden. 


438  Frankreich.  —  Die  allgemeinen  Grundsätze  des  StR. 


welche  im  einzelnen,  je  nach  dem  Inhalt  der  hierüber  geschlossenen  Verträge 
verschieden  sind.  Sie  erfolgt  wie  in  den  meisten  europäischen  Ländern  durch 
Vermittelung  des  Ministers  der  auswärtigen  Angelegenheiten  oder  des  Justiz- 
ministers.^) 

Ist  die  Auslieferung  einmal  erfolgt,  so  darf  der  Richter  die  Anwesenheit 
des  Angeklagten  nicht  dazu  benutzen,  um  ihn  für  eine  That  zur  Verantwortung 
zu  ziehen,  wegen  welcher  die  Auslieferung  nicht  erfolgt  ist. 

Ausführung  des  Verbr.  Die  psychischen  Elemente  der  strafbaren 
Handlung  werde  ich  in  einem  besonderen  Paragraphen  behandeln  und  mich 
hier  lediglich  mit  der  materiellen  Ausführung  (Vorbereitung,  Versuch  und  Voll- 
endung) des  Delikts  beschäftigen. 

Vorbereitende  Handlungen  sind  straflos,  ebenso  wie  der  Gedanke  an  ein 
Verbr.  oder  die  Fassung  des  Entschlusses,  es  zu  begehen.^) 

Sobald  jedoch  ein  Anfang  der  Ausführung  gemacht  ist,  liegt  ein  Ver- 
such vor,  wenn  der  Erfolg  nur  durch  Umstände,  die  von  dem  Willen  des 
Thäters  unabhängig  sind,  vereitelt  wurde.  Der  Versuch  umfasst  also  das  ver- 
suchte, das  fehlgeschlagene  und  das  unmögliche  Verbr.  Letzteres  wird  nie- 
mals bestraft.  Die  beiden  ersteren  werden  vom  GB.  in  ein  und  derselben  Be- 
stimmung behandelt  und  bezüglich  der  Strafbarkeit  als  dem  vollendeten  Delikt 
gleichwertig  betrachtet  (Art.  2).  Diese  Gleichstellung  (von  der  es  einzelne  Aus- 
nahmen, insbesondere  für  Abtreibung  imd  Abgabe  falscher  Zeugnisse  giebt) 
steht  mit  den  Grundprinzipien  des  Rechts  in  Widerspruch  und  wird  von  den 
meisten  modernen  Gesetzgebungen  missbilligt.  Auch  in  dem  Entw.  hat  sie 
keine  Aufnahme  gefunden. 

Ebenfalls  eine  Übertreibung,  jedoch  nach  entgegengesetzter  Richtung,  ent- 
hält der  Art.  3,  nach  welchem  das  versuchte  und  das  fehlgeschlagene  Verg. 
nur  bestraft  wird,  wenn  das  GB.  dies  ausdrücklich  anordnet. 

Der  Versuch  einer  Übertretung  wird  niemals  bestraft. 

§  3.    Das  Subjekt  des  Yerbreeliens. 

Mehrheit  der  Subjekte:  Die  Unterscheidung  zwischen  Thäter  und 
Mitthäter  einerseits  und  Gehülfen  andererseits  findet  sich  in  den  Art.  59  und  60. 

Das  GB.  bezeichnet,  ohne  den  Anstifter  besonders  hervorzuheben,  als 
Thäter  oder  Mitthäter  diejenigen,  welche  die  den  Thatbestand  des  Delikts 
bildenden  Handlungen  physisch  vorgenommen,  als  Teilnehmer  diejenigen, 
welche  in  anderer  Weise  als  durch  eine  unmittelbare  körperliche  Ausführungs- 
handlung sich  an  der  Begehung  eines  Delikts  beteiligt  haben. 

Dem  Gebrauch  der  in  französischer  Sprache  abgefassten  Gesetze  ent- 
sprechend, zählen  die  Art.  60 — 62  die  Fälle  der  Teilnahme  erschöpfend  auf, 
während  die  Gesetze  deutscher  Zunge  übereinstimmend  als  Teilnehmer  ganz 
allgemein  jeden  betrachten,  der  durch  Rat  oder  That  bei  der  Begehung  der 
strafbaren  Handlung  behülflich  gewesen  ist.  Das  G.  kennt  sechs  Fälle  der 
Teilnahme:  Anstiftung,  Erteilung  von  Rat,  Lieferung  von  Waffen  oder  Werk- 
zeugen, thätliche  Unterstützung,  Personenhehlerei,  Sachhehlerei. 

Der  Teilnehmer  wird  gleich  dem  Thäter  bestraft,  wenn  nicht  das  GB. 
ausdrücklich  etwas  anderes  anordnet.    Die  Härte  dieser  offenbar  übertriebenen 


*)  Die  Nationalversammlung  hatte  am  19.  Februar  1791  angeordnet,  dass  die  Aus- 
lieferung von  einer  richterlichen  Entsch.  abhängig  zu  machen  sei.  Diese  auch  von 
den  StGB.  Belgiens,  Hollands  und  Italiens  eingeführte  Garantie  findet  sich  ebenfalls 
in  dem  vom  Senat  am  4.  April  1879  angenommenen  Entw. 

*)  Eine  Ausnahme  hiervon  gilt  nur  für  die  gegen  das  Staatsoberhaupt  gerichtete 
Verschwörung  (Art.  89). 


§  3.    Das  Subjekt  des  Verbrechens.  489 


und  den  meisten  ausländischen  Gesetzgebungen  unbekannten  Gleichstellung 
wird  in  der  Praxis  durch  weitgehende  Zubilligung  mildernder  Umstände  ab- 
geschwächt.    Der  neue  Entw.  hat  sie  beibehalten. 

1.    Oründe,  welche  eine  Änderung  der  Zurechnung  herbeiführen. 

Straf ausschliessungs-  und  Strafmilderungsgründe.  Umstände, 
durch  welche  das  Unterscheidungsvermögen  und  die  freie  Willensbestimmung, 
und  damit  die  strafrechtliche  Verantwortlichkeit  ausgeschlossen  wird,  sind  nach 
den  Art.  64  und  66 — 72:  Geisteskrankheit,  jugendliches  Alter  und  Zwang. 
Die  gefährlichen  Theorieen  der  positivistischen  Schule  über  den  Atavismus  sind 
in  keiner  Weise  berücksichtigt.  Die  Überzeugung  von  der  Existenz  der 
WiUensfreiheit  bildet,  ohne  dass  sie  irgendwo  einen  besonderen  gesetzlichen 
Ausdruck  gefunden  hätte,  eines  der  unabänderlichen  Grundprinzipien  unserer 
Gesetzgebung. 

Geisteskrankheit.  Neuere  Gesetzgebungen  vermeiden  es,  die  Krank- 
heiten, durch  welche  die  Zurechnungsfähigkeit  ausgeschlossen  wird,  einzeln  zu 
bezeichnen.  So  spricht  das  holländische  StGB,  von  „unvollständiger  Entwicke- 
lung  oder  krankhafter  Störung  der  Geisteskräfte",  das  italienische  StGB,  von 
,, Geistesschwäche**.  Andere,  wie  das  englische  Recht,  geben  genaue  Vor- 
schriften darüber,  wie  der  Richter  die  Geisteskrankheit  erkennen  soll.  Die 
französische  Gesetzgebung  hat  ein  gemischtes  System;  sie  vermeidet  eine  Defi- 
nition, benützt  jedoch  den  Fachausdruck  „d^mence**.  Liegt  dieselbe  vor,  so 
ist  nach  Art.  64  das  Vorhandensein  jeder  strafbaren  Handlung  ausgeschlossen. 

Das  Gericht  muss  daher,  geeignetenfalls  im  Vorverfahren,  einen  Ein- 
stellungsbeschluss  erlassen.  Eine  Gefahr  für  die  menschliche  Gesellschaft  ent- 
steht hieraus  nicht,  da  ein  G.  betr.  die  Geisteskranken  vom  J.  1838  den  Ver- 
waltungsbehörden gestattet,  Personen,  deren  geistige  Erkrankung  eine  Gefahr 
für  die  öffentliche  Ordnung  oder  die  Sicherheit  anderer  Personen  befürchten 
lässt,  von  Amts  wegen  in  geeigneter  Weise  unterzubringen.  Dieses  G.  enthält 
jedoch  keinerlei  besondere  Bestimmungen  für  geisteskranke  Verbrecher  und  ist 
wegen  dieser  Lücke  in  den  letzten  Jahren  von  der  einen  Seite  ebenso  heftig  ange- 
griffen, wie  von  der  anderen  energisch  verteidigt  worden.  Nach  Ansicht  der  einen 
empfiehlt  es  sich  nicht,  besondere  Anstalten  nach  Art  der  in  England,  Holland, 
Italien,  Deutschland  und  den  Vereinigten  Staaten  bestehenden  zu  schaffen.  In 
der  That  müssen  die  in  unseren  Strafanstalten  zu  Gaillon,  La  Sant6  und  Mont- 
pellier im  Verwaltungswege  geschaffenen  besonderen  Abteilungen  für  geistes- 
krank gewordene  Verurteilte  genügen;  Geisteskranke,  die  nicht  verurteilt  sind, 
sind  lediglich  als  Elranke  zu  behandeln  und  auf  die  übrigen  Irrenanstalten  zu 
verteilen.  Nach  Ansicht  der  anderen  darf  unbescholtenen  Geisteskranken 
nicht  die  Gesellschaft  Verurteilter  aufgenötigt  werden,  welche  wegen  geistiger 
Störung  aus  den  Strafanstalten  entfernt  wurden.  Dieser  letzten  Ansicht  hat 
sich,  wie  der  Senat,  so  auch  der  Ausschuss  der  Kammer  angeschlossen.  Aber 
er  verlangt,  wie  der  vom  Senat  bereits  angenommene  Entw.,  besondere  An- 
stalten nur  für  solche  Personen,  welche  zu  einer  Verbrechensstrafe  oder  zu 
einer  mehr  als  einjährigen  Gefängnisstrafe  verurteilt  worden  sind. 

Zum  Schluss  sei  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  das  GB.  1.  ein  Zwischen- 
stadium zwischen  geistiger  Gesundheit  und  Geisteskrankheit,  wie  es  das  italieni- 
sche StGB,  annimmt,  nicht  kennt  und  2.  der  Geisteskrankheit  ähnliche  Zu- 
stände, wie  Taubstummheit,  Somnambulismus  und  Hypnotismus,  Trunkenheit 
nicht  besonders  erwähnt.  In  dem  zweiten  Falle  muss  der  Richter  nach  all- 
gemeinen Grundsätzen  entscheiden,  ob  der  Thäter  mit  oder  ohne  Bewusstsein 
gehandelt  hat. 


440  Frankreich.  —  Die  allgemeinen  Grundsätze  des  StR. 


Jugendliches  Alter.  Der  Beginn  der  vollen  Strafmündigkeit  wird 
auf  das  vollendete  16.  Lebensjahr  festgesetzt.  Im  Gegensatz  zu  allen  übrigen 
Gesetzgebungen  mit  Ausnahme  der  türkischen  und  belgischen  (welch  letztere 
jedoch  zur  Zeit  damit  umgeht,  den  Beginn  der  Strafmündigkeit  auf  das  voll- 
endete 10.  Lebensjahr  gesetzlich  festzustellen)  kennt  das  Gesetz  kein  Lebens- 
alter, in  welchem  jede  strafrechtliche  Verfolgung  ausgeschlossen  ist;  es  hat 
die  Entscheidung  dieser  Frage  dem  vernünftigen  richterlichen  Ermessen  *  über- 
lassen. Ministerial-Verfügungen  aus  den  J.  1855  und  besonders  1876  haben 
darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  es  angezeigt  wäre,  Kinder  unter  7  oder  8 
Jahren  überhaupt  nicht  strafrechtlich  zu  verfolgen.  Thatsächlich  scheint  das 
Fehlen  einer  besonderen  gesetzlichen  Bestimmung  zu  schweren  Missbräuchen 
keinen  Anlass  gegeben  zu  haben,  wenigstens  befanden  sich  nach  Ausweis  der 
letzten  Gefängnisstatistik  unter  5713  jugendlichen  Gefangenen,  die  auf  Grund 
der  Art.  66  und  67  verurteilt  waren,  nur  1  Prozent  im  Alter  unter  6  Jahren 
und  11  Prozent  im  Alter  von  8  bis  zu  10  Jahren.  In  der  Soci6t6  G6n6rale 
des  Prisons  hat  dieses  Thema  in  den  Sitzungen  von  Januar  bis  April  1892  zu 
sehr  leidenschaftlichen  Debatten  Veranlassung  gegeben.  Die  Mehrheit  erkannte 
die  Schwierigkeit  der  Bestimmung  einer  unteren  Altersgrenze  an;  trotzdem 
hat  der  Entw.  sie  auf  das  vollendete  10.  Lebensjahr  festgesetzt. 

Bei  Angeklagten  unter  16  Jahren  muss  also  der  Richter  stets  unter- 
suchen,   ob  dieselben  im  Besitz  des  Unterscheidungsvermögens  gewesen  sind. 

Steht  fest,  dass  ein  Kind  ohne  Unterscheidungs vermögen  gehandelt  hat, 
so  wird  es  freigesprochen,  jedoch  nach  den  Umständen  des  Falls  seinen  Eltern, 
anderen  Personen  (einer  anderen  anständigen  Familie  oder  einer  Wohlthätig- 
keits- Anstalt)^)  oder  einer  Besserungs- Anstalt  überwiesen  (Art.  66). 

Der  Angeklagte  wird  alsdann  in  einer  der  staatlichen  oder  vom  Staate 
genehmigten*)  Besserungs-Anstalten  während  der  im  Urteil  bestimmten,  jedoch 
höchstens  20  Jahre  betragenden,  Zeit  untergebracht. 

Die  Anstalts-Verwaltung  hat  jederzeit  das  Recht,  den  Zögling  auf  Wider- 
ruf zu  entlassen  (G.  von  1850). 

Steht  fest,  dass  der  jugendliche  Angeklagte  im  Besitz  des  Unterschei- 
dungsvermögens gewesen  ist,  so  wird  die  Strafe  gemildert.  Sie  beträgt  bei 
Verbr.  Gef.  bis  zu  20  Jahren,*)  bei  Verg.  die  Hälfte  derjenigen  Strafe,  welche 
den  Angeklagten  hätte  treffen  können,  wenn  er  das  16.  Lebensjahr  bereits 
vollendet  hätte  (Art.  67).*) 


*)  Nach  dem  G.  vom  24.  Juli  1889  wird  die  Unterbringung  in  eine  Besserungs- 
anstalt häufig  dadurch  vermieden,  dass  bereits  durch  den  Untersuchungsrichter  die 
väterliche  Gewalt  über  den  Angeklagten  dauernd  oder  zeitweilig  für  erloschen  er- 
klärt und  derselbe  infolgedessen  in  dem  letzteren  Falle  unmittelbar  ohne  mündliche 
Hauptverhandlung  dem  Fürsorge  verein  überwiesen  werden  kann. 

*)  Staatliche  Anstalten  bestehen  in:  Les  Douaires,  St.  Hilaire,  St. ^Maurice,  Val 
dTfevre  (landwirtschaftlicher  Betrieb),  Aniane  (Gewerbebetrieb),  Belle-lle  (Landwirt- 
schaft und  Seefahrt),  sowie  die  fünf  besonderen  Abteilungen  in  den  Anstalten  zu 
Nantes,  Ronen,  Dijon,  Lyon  und  Villeneuve-sur-Lot,  in  denen  die  zu  mehr  als  zwei- 
jähriger Strafe  Verurteilten  und  widerspenstige  Sträflinge  der  anderen  Anstalten 
untergebracht  werden.  Von  den  Privatanstalten  sind  zu  erwähnen:  die  von  Mettray, 
Frasnes  le  ChAteau,  Limoges,  St.  Ilan,  Sainte  Foy  und  La  Jommeli^re. 

^  Zuständig  zur  Aburteilung  sind  die  Strafkammern  (tribunaux  correctionnels), 
wenn  nicht  gleichzeitig  Grossjährige  wegen  Beteiligung  an  der  That  mit  angeklagt 
sind  und  diese  letztere  weder  mit  dem  Tode,  noch  mit  lebenslänglicher  Zwangsarbeit, 
mit  Deportation  oder  Festungshaft  bedroht  ist  (Art.  68). 

*)  Die  gesetzlichen  Bestimmungen  über  die  Vollziehung  der  Gefängnisstrafe  an 
Minderjährigen  sind  sehr  unvollkommen.  Die  zu  weniger  als  6  Monaten  Verurteüten 
bleiben  in  den  Arresthäusem  und  Gef.  des  Departements,  die  zu  einer  Strafe  von 
6  Monaten  bis  zu  2  Jahren  Verurteilten  werden  in  die  Straf-  und  Besserungsanstalt 
geschickt  und  dort  mit  den  freigesprochenen  Jugendlichen    zusammen  verwahrt,   die 


§  3.    Das  Subjekt  des  Verbrechens.  44 1 


Diese  Bestimmangen  sind  in  doppelter  Hinsicht  anfechtbar. 

Ein  Jugendlicher,  der  beispielsweise  im  Alter  von  15  Jahren  einen  Mord 
x)der  einen  Totschlag  begeht,  muss  stets  mit  35  Jahren  in  Freiheit  gesetzt 
werden. 

Bedauerlich  und  gefährlich  ist  es,  dass  gegen  einen,  zu  einer  Gefäng- 
nisstrafe von  häufig  nur  kurzer  Dauer  verurteilten  Jugendlichen  nicht  auf 
Unterbringung  in  eine  Erziehungs-Anstalt  bis  zum  vollendeten  20.  Lebensjahre 
erkannt  werden  kann. 

Es  dürfte  sich  sogar  empfeJilen,  diese  Altersgrenze  auf  das  vollendete 
21.  Lebensjahr  festzusetzen,  um  den  unmittelbaren  Übergang  des  Verurteilten 
aus  der  Anstalts-Disziplin  in  .die  mUitärische  zu  ermöglichen.^) 

Die  Bestimmungen  des  Entw.  in  dieser  letzteren  Beziehung  verdienen 
vollkommene  Billigung. 

Zwang.  Eine  strafbare  Handlung  liegt  nicht  vor,  wenn  der  Verurteilte 
unter  dem  Einfluss  eines  unwiderstehlichen  körperlichen  oder  physischen 
Zwanges  gebandelt  hat  (Art.  64). 

Das  Gleiche  gilt,  wenn  ein  Rechtfertigungsgrund  (Cause  de  justiflcation) 
vorliegt. 

Notwehr  und  gesetzliche  Vorschrift  sind  die  einzigen  Rechtfer- 
tigungsgründe, die  eine  allgemeine  Bedeutung  haben. 

„Eine  strafbare  Handlung  liegt  nicht  vor,  wenn  eine  Tötung  oder  Körper- 
verletzung durch  die  unmittelbare  Notwendigkeit  der  rechtmässigen  Vertei- 
digung der  eigenen  oder  einer  fremden  Person  geboten  war**  (Art.  328  C.  p.). 
Erforderlich  ist,  dass  der  Angriff  1.  gefährlich  ist,  d.  h.  den  Angegriffenen 
unmittelbar  mit  der  Zufügung  eines  nicht  wieder  gutzumachenden  Übels  be- 
droht; 2.  rechtswidrig  ist,  d.  h.  nicht  von  einem  Polizeibeamten  in  der  recht- 
mässigen Ausübung  seines  Amtes  ausgeht.  Die  Verteidigung  muss  gegen  eine 
unvorhergesehene,  unmittelbare,  nicht  anders  zu  beseitigende  Gefahr  gerichtet 
sein.     Sie  ist  nicht  gerechtfertigt  bei  einem  Angriff  gegen  das  Eigentum. 

„Eine  strafbare  Handlung  liegt  nicht  vor,  wenn  eine  Tötung  oder  Körper- 
verletzung durch  gesetzliche  Vorschrift  angeordnet  oder  von  der  rechtmässigen 
Obrigkeit  befohlen  war"  (Art.  327  C.  p.). 

Beide  Rechtfertigungsgründe,  sowohl  der  letztere  wie  der  im  vorher- 
gehenden Absatz  erwähnte,  sind  zu  verallgemeinem,  denn  sie  finden  nicht  nur 
auf  die  ausdrücklich  angegebenen  Fälle,  sondern  auch  auf  den  Fall  der  Ver- 
haftung, der  Gefangenhaltung,  des  Hausfriedensbruchs  usw.  Anwendung. 

Die  Strafmilderungsgründe  zerfallen  in  Entschuldigungsgründe 
(excuses)  und  mildernde  Umstände  (circonstances  attönuantes),  je  nachdem 
sie  vom  Gesetz  ausdrücklich  vorgesehen  oder  erst  vom  Richter  im  Urteil  fest- 
gestellt werden. 

Die  ersteren  bewirken  teils  völlige  Straflosigkeit  (excuses  •absolutoires), 
teils  nur  Strafmilderung  (excuses  att^nuantes)  und  sind  entweder  allgemeine 
oder  besondere,  je  nachdem  sie  auf  eine  Gruppe  von  Delikten  oder  nur  auf 
einzelne  strafbare  Handlungen  Anwendung  finden. 

Das  G.  kennt  nur  zwei  allgemeine  Gründe  der  Strafmilderung :  Jugend- 
liches Alter  unter  16  Jahren  (die  hierauf  bezüglichen  Vorschriften  der  Art.  67 
und  69  habe  ich  bereits  oben  erwähnt)  und  Provokation  (provocation). 


zu  mehr  als  2  Jahren  Verurteilten  werden  in  besondere  Strafanstalten  geschickt  (G. 
V.  1850). 

^)  Ich  möchte  bei  dieser  Gelegenheit  auf  die  unschätzbaren  Dienste  hinweisen, 
welche  der  jugendlichen  Verbrecherwelt  durch  die  „Soci6t6  de  protection  des  engag^s 
volontaires  elev^s  sous  la  tuteile  administrative"  geleistet  sind. 


442  Frankreich.  —  Die  allgemeinen  Grundsätze  des  StR. 


Provokation  entschuldigt  bei  den  gegen  Leib  und  Leben  gerichteten 
Delikten:  Totschlag,  Körperverletzung  mit  tödlichem  Ausgang  (homicide 
volontaire),  vorsätzlicher  Körperverletzung  und  Kastration  (Art.  321 — 326). 
Eine  Ausnahme  hiervon  macht  jedoch  der  Aszendenten-Totschlag  und  der 
von  einem  Ehegatten  gegen  den  anderen  verübte  Totschlag. 

Die  Provokation  bewirkt  jedoch  nur  in  folgenden  vier  Fällen  Straflosig- 
keit: bei  schwerer  Körperverletzung,  schwerer  Scham  Verletzung,  auf  frischer 
That  betroffenem  Ehebruch  und  Hausfriedensbruch  mittels  Einsteigens  oder 
Einbruchs  am  hellen  Tage.  In  allen  anderen  Fällen  bildet  die  vorausgegangene 
Reizung  des  Thäters  seitens  des  Verletzten  nicht  einen  gesetzlichen  Entschul- 
digungsgrund, sondern  nur  einen  mildernden  Umstand. 

Die  Zahl  der  EntscbuldigungsgriLnde,  welche  völlige  Straflosigkeit  be- 
wirken, ist  sehr  erheblich.  Der  Grund  der  Wirkung  beruht  teils  in  den  per- 
sönlichen Beziehungen  zwischen  Thäter  und  Opfer  (Art.  114,  190,  248,  280), 
teils  in  dem  Umstände,  dass  der  zugefügte  Schaden  ersetzt  ist  (Art.  247,  357), 
teils  in  Diensten,  welche  der  Schuldige  der  menschlichen  Gesellschaft  geleistet 
hat  (Art.  100,  108,   138,  144,  213,  285)  usw. 

Mildernde  Umstände.  Sie  sind  unbeschränkt  imd  nicht  näher  zu  be- 
stimmen. Seit  1832  ist  bei  Verg.  und  Übertretungen  der  Befugnis  des  Rich- 
ters, mildernde  Umstände  als  vorhanden  anzunehmen,  nahezu  keine  Schranke 
gesetzt.  Er  kann  selbst  beim  Rückfall  auf  die  geringste  zulässige  Cber- 
tretungsstrafe  von  1  Frank  heruntergehen,  während  andererseits  bei  Verbr. 
dem  richterlichen  Ermessen  enge  Grenzen  gezogen  sind  (Art.  463). 

Mildernde  Umstände  können  bei  allen  strafbaren  Handlungen  einschliess- 
lich der  Militär-Delikte,  jedoch  mit  Ausnahme  der  in  den  Spezialgesetzen  vor- 
gesehenen Strafthaten  zugebilligt  werden. 

Sie  bewirken  Strafmilderung  und  zwar  bei  Verbr.  (von  gewissen  Be- 
schränkungen abgesehen)  mindestens  um  einen  Grad  und  möglicherweise  um 
zwei  Grade,  bei  Verg.  ohne  gesetzliche  Beschränkung,  ebenso  bei  Übertretungen, 
wo  sie  sogar  beim  Rückfall  zulässig  sind  (Art.  483). 

Besondere  Milderungsgründe.  Besondere  körperliche  Eigenschaften 
des  Verurteilten,  namentlich  weibliches  Geschlecht  und  hohes  Alter,  können 
eine  Modifikation  der  Strafe  herbeiführen  (Art.  65). 

2.    Strafschärfungsgründe. 

Erschwerende  Umstände.  Es  würde  ein  Zurückgehen  auf  das  von 
der  Revolution  gemissbilligte  System  der  willkürlichen  Strafzumessung  be- 
deuten, wenn  man  dem  Richter  gestatten  wollte,  das  gesetzlich  festgesetzte 
Höchstmass  der  Strafe  zu  überschreiten,  falls  er  das  Vorliegen  besonders 
schwerer  Umstände  feststellt.  Dagegen  bestimmt  das  GB.  von  vornherein  ge- 
wisse Umstände,  welche  teils  bei  allen,  teils  bei  einzelnen  strafbaren  Hand- 
lungen eine  Strafschärfung  bewirken. 

Diese  Umstände  sind  zum  Teil  gesetzlich  besonders  vorgesehen  und 
bestimmt  und  bewirken  die  notwendige  Zuerkennung  einer  härteren  als  der 
regelmässigen  Strafe;  bei  Verbr.  ^rd  ihr  Vorhandensein  von  den  Geschworenen 
festgestellt. 

Bei  einem  andern  Teil  ist  ihre  Feststellung  dem  Richter  überlassen; 
erschwerende  Umstände  dieser  Art  haben  jedoch  nur  zur  Folge,  dass  der 
Richter  auf  das  Höchstmass  der  Strafe  erkennen  darf.  Ihr  Vorhandensein  wird 
durch  den  Gerichtshof  festgestellt. 

Die  gesetzlichen  erschwerenden  Umstände  sind  entweder  besondere  oder 
allgemeine;  unter  diesen  letzteren  versteht  dasGB.:  die  Beamten- oder  Qffizier- 
eigenschaft  des  Thäters  (Art.  198)  und  den  Rückfall. 


§  8.    Das  Subjekt  des  Verbrechens.  443 


Zusammentreffen  mehrerer  strafbarer  Handlungen.  In  über- 
triebener Reaktion  gegen  die  verkehrte  Auslegung  der  römischen  Bestimmungen 
unter  der  HerrBcbaft  des  älteren  Rechts  wendet  das  G.  das  absolute  Absorptions- 
prinzip an:  „Die  schwerere  Strafe  geht  in  der  leichteren  auf"  (Art.  365  C. 
d'instr.  crim.). 

Der  Gnmdsatz  der  Nichtkumulierung  ist  ein  allgemeiner  und  findet  auf 
alle  Verbr.  und  Verg.  (nicht  aber  auf  Übertretungen)  Anwendung,  einerlei  ob 
sie  im  StGB,  oder  in  besonderen  Gesetzen  vorgesehen  sind,  abgesehen  von  den 
in  diesen  Gesetzen  ausdrücklich  gemachten  Ausnahmen. 

Das  Prinzip  der  Nichtkumulierung  der  Strafen  findet  derart  Anwendung, 
dass  man  von  der  im  StGB,  gegebenen  Aufzählung  der  Strafen  nach  ihrer 
Schwere  ausgeht.  Es  findet  auf  alle  Strafen  einschliesslich  der  Geldstrafe 
Anwendung. 

Der  Rückfall  ist  allgemeiner  Schärfangsgrund,  d.  h.  bewirkt  stets  eine 
Strafschärfung  ohne  Rücksicht  auf  die  Natur  des  früheren  wie  des  später 
begangenen  Delikts;  er  wirkt  zeitlich  unbeschränkt,  d.  h.  die  Strafschärfung 
tritt  ein  ohne  Rücksicht  auf  den  Zeitraum,  welcher  zwischen  der  ersten  und 
der  späteren  Verurteilung  liegt. 

Zum  Vorliegen  des  Rückfalls  ist  erforderlich,  1.  dass  von  einem  fran- 
zösischen Gericht  bereits  früher  ein  rechtskräftiges,  auf  Strafe  lautendes  Urteil 
ergangen  war,  2.  dass  die  zweite  strafbare  Handlung  von  der  ersten  unab- 
hängig war. 

Die  Begehung  eines  Verbr.  nach  zuvoriger  VerÜbung  ebenfalls  eines  Verbr. 
verpflichtet  den  Richter  grundsätzlich,  die  einen  Grad  höhere  Strafe  aus- 
zusprechen, bewirkt  jedoch  nicht,  dass  an  Stelle  einer  zeitigen  eine  lebens- 
längliche Strafe  tritt.  In  diesem  Falle  wird  lediglich  die  erstere  auf  das 
Doppelte  des  Höchstmasses  erhöht.  Auch  wird  nicht  leicht  von  einer  politischen 
zu  einer  gemeinen  Strafe  übergegangen  (Art.  56). 

Die  Begehung  eines  Verg.  nach  früherer  VerÜbung  eines  Verbr.  hat  Ver- 
urteilung zum  Höchstmasse  zur  Folge,  und  dieses  kann  verdoppelt  sowie  mit 
Aufenthaltsbeschränkung  verbunden  werden.  Doch  muss  die  erste  Verurteilung 
mehr  als  ein  Jahr  betragen,   und  sie  darf  nicht  5  Jahre  übersteigen  (Art.  57). 

Die  Begehung  eines  Verbr.  nach  früherer  Ausführung  eines  Verg.  bewirkt 
keine  besondere  Strafschärfung,  weil  der  Gesetzgeber  davon  ausgeht,  dass  in 
diesem  Falle  die  erste  Bestrafung  zu  milde  gewesen  ist. 

Für  den  Rückfall  durch  Begehung  eines  Verg.  nach  früherer  Ausführung 
eines  solchen  giebt  es  besondere  Bestimmungen  erst  seit  dem  G.  v.  26.  März  1891, 
welches  den  Zweck  hat,  die  wiederholte  Begehung  leichter  Delikte  zu  unter- 
drücken (Art.  58).  Übrigens  ist  dieser  sogenannte  leichte  Rückfall  (petite 
r6cidive)  bereits  in  dem  G.  v.  1855  über  die  Verbannung  erwähnt,  über  welches 
ich  hier  noch  einige  Bemerkungen  einschalten  muss. 

Verbannung  (rel6gation).  Sie  ist  zulässig  für  Inländer  und  Ausländer 
männlichen  und  weiblichen  Geschlechts,  jedoch  ausgeschlossen  bei  Personen, 
die  zur  Zeit  der  Beendigung  der  Strafe,  welche  die  Verbannung  zur  Folge 
haben  würde,  über  60  oder  unter  21  Jahre  alt  sein  würden  (Art.  8  des  G.  v.  1885). 
—  Das  G.  stellt  eine  gesetzliche  Vermutung  für  das  Vorhandensein  der  Un- 
verbesserlichkeit auf,  wenn  gegen  eine  Person  innerhalb  des  Zeitraumes  von 
10  Jahren  nachstehende  Verurteilungen  ergangen  sind:  1.  zwei  Verurteilungen 
zu  Zwangsarbeit  oder  Zuchthaus;  2.  drei  Verurteilungen,  von  denen  eine  auf 
Zwangsarbeit  oder  Zuchthaus  und  zwei  aufGef.  von  mehr  als  3  Monaten  lauten; 
3.  vier  Verurteilungen  zu  Gefängnis  über  3  Monate;  4.  sieben  Verurteilungen 
wegen  bestimmter  Delikte  (Art.  4  des  G.).  Diese  Bestimmungen  lassen  er- 
kennen,   dass    das  G.  den    dreifachen    Zweck   verfolgte,    1.  die  schweren  Ver- 


444  Frankreich.  —  Die  allgemeinen  Grundsätze  des  StR. 


brecher,  deren  Zahl  bereits  durch  die  gegen  sie  gerichteten  Bestimmungen 
des  G,  V.  1854  erheblich  vermindert  war,  2.  die  rückfälligen  leichten  Ver- 
brecher, 3.  die  Bettler  und  Landstreicher,  diese  Hauptstütze  der  Verbrecher- 
welt, zu  treffen.  Ich  werde  auf  diese  wichtigen  Gegenstände  später  zurück- 
kommen. 

§  4.    Die  Strafen. 

Das  GB.  zählt  in  den  Art.  6 — 11  und  464  die  verschiedenen  Strafarten 
auf  Tind  teilt  sie  in  drei  EJassen:  1.  Verbrechensstrafen  (peines  en  mati^re 
criminelle),  die  entweder  beschimpfend  und  entehrend  oder  nur  entehrend  sind, 
2.  Vergehensstrafen  (peines  en  mati^re  correctionnelle),  3.  Übertretungsstrafen 
(peines  de  police). 

Die  beschimpfenden    und   entehrenden   Strafen   sind:    1.  die  Todesstrafe, 

2.  Zwangsarbeit  auf  Lebenszeit,  3.  Deportation  in  einen  befestigten  Platz,  4.  ein- 
fache Deportation,  5.  zeitige  Zwangsarbeit,  6.  Festungshaft  (d^tention),  7.  Zucht- 
haus (r^clusion),  8.  Ausschluss  von  der  Ausübung  gewisser  Hechte  (interdiction 
legale),  9.  die  Unfähigkeit,  unentgeltlich  unter  Lebenden  oder  von  Todes  wegen 
zu  erwerben  oder  zu  verfügen,  10.  die  Anweisung  eines  Wohnsitzes  nach 
Endigung  der  Strafe. 

Die  nur  entehrenden  Strafen  sind:  1.  Aufenthaltsbeschränkung  (banisse- 
ment),  2.  Verlust  der  btlrgerlichen  Ehrenrechte  (d6gradation  civique). 

Deportation,  Festungshaft,  Aufenthaltsbeschränkung  und  Verlust  der  bürger- 
lichen Ehrenrechte  bilden  das  System  der  politischen  Strafen. 

Vergehensstrafen  sind:  1.  Gef.  von  6  Tagen  bis  zu  5  Jahren,  2.  zeitweiliger 
Ausschluss  von  der  Ausübung  gewisser  staatsbürgerlicher  und  bürgerlicher 
Rechte  oder  Familienbefugnisse,  3.  Geldstrafe. 

Übertretungsstrafen  sind:    1.  Gef.  von    1  bis  zu  5  Tagen,    2.  Geldstrafe, 

3.  Einziehung  einzelner  Gegenstände. 

Diese  letztere  Strafe,  sowie  die  Veröffentlichung  gewisser  Verurteilungen 
findet  auch  bei  Verbr.  und  Verg.  Anwendung. 

Ausserdem  sind  zwei  bei  Verbr.  und  Verg.  anwendbare,  durch  besonderes 
G.  vom  J.  1885  geregelte  Strafen  zu  erwähnen:  1.  das  Aufenthaltsverbot, 
(interdiction  de  s6jour),  2.  die  Relegation. 

Zu  bemerken  ist,    dass    1.  der  Ausschluss   von   der   Ausübung   gewisser 

Rechte,  2.  die  Unfähigkeit  zu  verfügen    oder   zu  erwerben,    3.  die  Anweisung 

eines  bestimmten  Wohnsitzes,  4.  die  Veröffentlichung  eines  Urteils,   5.  gewisse 

besondere  Unfähigkeiten  stets  Nebenstrafen    sind;  —  während    1.  der  Verlust 

der   bürgerlichen   Ehrenrechte,    2.  das   Aufenthaltsverbot   bald   Haupt-,    bald 

Nebenstrafen  sind. 

Todesstrafe». 

Die  Todesstrafe  wird  durch  Enthaupten  vollstreckt  (Art.  12).  Die  Be- 
rechtigung dieses  Strafmittels  ist  in  Frankreich,  wie  in  fast  allen  Ländern, 
heftig  bestritten  worden;  indessen  bilden  die  Abolitionisten  mehr  eine  Ver- 
einig^ung  von  glänzenden  Rednern  als  eine  grosse  Schar.  Bei  der  Erörterung 
dieser  Frage  in  der  allgemeinen  Versammlung  der  Soci6t6  G6n6rale  des  Pri- 
sons  im  Jahre  1887  fand  auch  die  Beibehaltung  dieser  Strafe  eine  grosse 
Anzahl  von  eifrigen  Verteidigern.  Die  entsetzlichen  Verbr.,  welche  von  Ver- 
worfenen jedes  Lebensalters  mit  unerhörter  Frechheit  in  den  letzten  Jahren 
begangen  sind,  dürften  nicht  dazu  gedient  haben,  die  Zahl  der  Gegner  dieses 
Strafmittels  zu  vermehren.*) 

*)  Es  mag  an  dieser  Stelle  darauf  hingewiesen  werden,  mit  welcher,  oft  als 
Schwäche  getadelten  Grossmut  das  Staatsoberhaupt  selbst  bei  den  verabscheuung^- 
würdigsten  Verbr.  von  seinem  Begnadigungsrechte  Gebrauch  macht. 


§  4.    Die  Strafen.  445 


Anders  steht  es  mit  der  Frage  der  Öffentlichkeit  der  Hinrichtung.  Das 
Ärgernis,  welches  durch  verschiedene  berüchtigte  Hinrichtungen  gegeben  ist, 
hat  in  verschiedenen  Kreisen  den  Wunsch  hervorgerufen,  die  Öffentlichkeit 
derselben,  wenn  nicht  vollständig  zu  beseitigen,  so  doch  jedenfalls  erheblich 
einzuschränken  und  zum  System  der  Intramuran-Hinrichtungen  überzugehen. 
Auch  das  Parlament  hat  sich  bereits  im  Jahre  1887  mit  dieser  Frage  be- 
schäftigt. Indessen  hat  die  Schwierigkeit,  Zahl  und  Art  der  erforderlichen 
Zeugen  näher  zu  bestimmen,  bislang  eine  befriedigende  Lösung  verhindert. 

Verweifliing  aus  dem  Vaterlaade  al«  BtraAuitteL 

Zwangsarbeit  (Travaux  forc6s).  Die  Strafe  der  Zwangsarbeit  wird 
seit  dem  G.  von  1854  in  Guyana  und  seit  der  Verordnung  von  1863  auch 
in  Neu-Caledonien  verbüsst.  Ihre  Anwendung  ist  nur  für  männliche  Verurteilte 
vorgeschrieben  und  für  sie  nur  zulässig,  wenn  sie  noch  nicht  60  Jahre  alt  sind. 

Die  Verurteilten  werden  mit  sehr  harten  Kolonisations-  und  anderen  im 
öffentlichen  Interesse  liegenden  Arbeiten  beschäftigt. 

Die  zu  einer  Strafe  von  weniger  als  acht  Jahren  Verurteilten  müssen 
nach  Verbüssung  derselben  in  der  Kolonie  während  einer  der  Strafdauer  gleich- 
kommenden Zeit  sich  aufhalten.  Die  zu  mehr  als  acht  Jahren  Verurteilten 
bleiben  lebenslänglich  dort. 

Ein  Verurteilter,  dessen  gute  Führung,  Arbeitsleistung  und  erkennbare 
Reue  eine  besondere  Berücksichtigung  angezeigt  erscheinen  lassen,  kann  1.  die 
Erlaubnis  bekommen,  für  die  Einwohner  der  Kolonie  oder  die  Gemeindever- 
waltungen zu  arbeiten;  2.  Land  angewiesen  erhalten  mit  der  Ermächtigung, 
es  auf  seine  eigene  Rechnung  zu  bebauen.  —  Diese  letztere  Erlaubnis  wird 
jedoch  erst  nach  Verbüssung  der  Strafe  endgültig. 

Ein  solcher  Gefangener  kann  femer  1.  die  völlige  oder  teilweise  Aus- 
übung der  ihm  infolge  seiner  Verurteilung  verloren  gegangenen  Rechte,  sowie 
2.  die  Befugnis  zur  Verwaltung  seines  Vermögens  oder  eines  Teils  desselben, 
sowie  andere  Vergünstigungen  erlangen. 

Einem  Sträfling,  der  nach  Verbüssung  seiner  Strafe  in  der  Kolonie  bleibt, 
kann  Land  zur  Bebauung  auf  Widerruf  oder  endgültig  angewiesen  werden. 

Es  ist  allgemein  bekannt,  dass  die  Art  der  Vollstreckung  dieser  Strafe 
von  den  verschiedensten  Seiten  mit  Recht  getadelt  ist. 

Die  Arbeit  in  den  Kolonieen  war  so  wenig  anstrengend  und  intensiv,  die 
Disziplin  so  locker,  die  Verpflegung  so  gut,  dass  sich  in  den  Zuchthäusern 
des  Mutterlandes  die  Legende  gebildet  hatte,  Caledonien  sei  ein  Eldorado,  und 
es  empfehle  sich  daher  mehr,  ein  schweres  mit  Zwangsarbeit  bedrohtes  Verbr. 
als  eine  nur  mit  Zuchthaus  bedrohte  That  zu  begehen.  Es  kam  vor,  dass 
Gefangene  ihre  Wärter  ermordeten,  um  zur  Deportation  nach  den  Straf  kolonieen 
verurteilt  zu  werden.  Im  Jahre  1880  sah  sich  das  Parlament  genötigt,  ein 
besonderes  G.  zur  Unterdrückung  der  innerhalb  der  Gefängnisanstalten  be- 
gangenen Verbr.  zu  erlassen.^) 

Die  Kosten  der  Überführung  nach  den  Kolonieen  und  die  Unterhaltungs- 
kosten derselben  sind  sehr  beträchtlich,  die  positiven  Ergebnisse  dagegen  in 
Bezug  auf  Anlage  von  Landstrassen,  Häfen  und  Urbarmachung  von  Land 
ausserordentlich  gering.  Die  oben  erwähnten  Straferleichterungen  wurden  mit 
beklagenswertem  Leichtsinn  gänzlich  unwürdigen  Sträflingen  gewährt.  Hunderte 
von  Individuen,  die  kaum  in  der  Kolonie  angekommen  waren  und  noch  keinerlei 


*)  Am  2.  März  1889  hat  der  Senat  einem  G.-Entw.  seine  Zustimmung  erteilt, 
welcher  anordnet,  dass  im  Falle  der  Umwandlung  der  Todesstrafe  in  Zwangsarbeit 
zunächst  eine  sechsjährige  Einzelhaft  in  Frankreich  zu  verbüssen  ist. 


446  Frankreich.  —  Die  allgemeinen  Grundsätze  des  StR. 


Gelegenheit  gehabt  hatten,  Beweise  ihrer  Bessemng  zu  geben,  erhielten  anf 
einmal  die  Erlaubnis,  bei  Privatpersonen  zu  arbeiten. 

Das  vollständige  Zusammenleben  der  Sträflinge  bei  Tag  und  Nacht  hatte 
eine  völlige  Demoralisation  zur  Folge. 

Es  ist  daher  keine  Übertreibung,  wenn  man  sagt,  dass  von  den  Grond- 
erfordernissen  eines  jeden  Strafmittels:  Strafübel,  gutes  Beispiel  und  Bessemng 
—  bei  der  Zwangsarbeit  auch  nicht  ein  einziges  zu  entdecken  war. 

Durch  neuere  Vdgn.  ist  der  Strafvollzug  vollständig  abgeändert  und  einem 
Teil  der  vorerwähnten  Übelstände  abgeholfen  worden. 

Besonders  die  Vdg.  vom  4.  September  1891  über  die  Disziplinar-Mass- 
regeln  hat  die  Zwangsgewalt  des  Beamtenpersonals  erheblich  verstärkt  und 
eine  wirksame  und  unmittelbare  Vollstreckung  der  verhängten  Disziplinar 
Strafen  gesichert;  die  Unverbesserlichen  werden  von  den  anderen  getrennt 
und  In  besonderen  Räumen  untergebracht.  Die  Gefangenen  werden  nach  dem 
Grade  ihres  Fortschritts  in  der  Besserung  in  drei  Klassen  geteilt,  von  denen 
die  der  untersten  Klasse  zu  den  schwersten  Arbeiten  verwendet  werden;  die 
Dauer  und  die  Intensität  der  Arbeit  sind  vermehrt,  die  Lässigen  werden  auf 
Wasser  und  Brot  gesetzt  oder  mit  Entziehung  oder  Einschränkung  ihres 
Arbeitsverdienst-Anteils  bestraft  usw. 

Die  Vdg.  vom  16.  September  1891  regelt  die  Anweisung  von  Land  und 
beschränkt  die  Zulässigkeit  derselben,  sowie  die  Überlassung  der  Sträflinge  an 
die  Gemeinde- Verwaltungen  zur  Leistung  von  Arbeiten;  diese  letztere  wird 
jedoch  zugelassen  zu  Gunsten  der  Kolonieen  ohne  Strafcharakter. 

Andere  Vdgn.  beziehen  sich  auf  die  Anzahl  und  die  Voraussetzungen  für 
die  Erteilung  der  besonderen  Vergünstigungen,  die  Lage  der  entlassenen  Sträf- 
linge, die  Bestrafung  von  Fluchtversuchen,  die  Verteilung  der  Verurteilten  anf 
die  beiden  Strafkolonieen  nach  der  Dauer  ihrer  Strafe  und  den  Inspektions- 
Dienst,  der  früher  dauernd  war,  jetzt  aber  nur  zeitweilig  funktioniert  usw. 

Deportation.  Nach  dem  G.  vom  8.  Juni  1850  giebt  es  zwei  Arten 
der  Deportation;  beide  erfolgen  auf  Lebenszeit,  sind  beschimpfend  und  ent- 
ehrend und  unterscheiden  sich  nur  durch  die  Art  der  Vollstreckung. 

Die  zur  Deportation  in  einen  befestigten  Platz  (d^portation  dans  une 
enceinte  fortifl6e)  Verurteilten  haben  nach  dem  Wortlaut  des  G.  v.  1872  Freiheit 
der  Bewegung,  soweit  diese  mit  der  Notwendigkeit  ihrer  Überwachung  und  der 
Aufrechterhaltung  der  Ordnung  vereinbar  ist. 

Die  zu  einfacher  Deportation  (d^portation  simple)  Verurteilten  erfi:^uen 
sich  einer  noch  weiter  gehenden  Freiheit  und  sind  in  dieser  lediglich  durch 
die  gegen  Fluchtversuche  und  Unordnung  getroffenen  Massregeln   beschränkt. 

Zur  Aufnahme  der  zu  der  ersteren  Strafe  Verurteilten  dient  die  Halb- 
insel Ducos  in  Neu-Caledonien;  für  die  zu  der  letzteren  Verurteilten  die  zu 
dieser  Kolonie  gehörende  Insel  Pins. 

Die  Verurteilten  haben  das  Kecht  zum  vollständigen  Müssiggang,  es  ist 
nicht  gestattet,  sie  zur  Arbeit  zu  zwingen.  Die  Abschaffung  dieser  Strafart 
ist  dringend  zu  empfehlen,  vor  allem  aus  dem  Grunde,  weil  doch  infolge  der 
von  Zeit  zu  Zeit  regelmässig  sich  wiederholenden  allgemeinen  Gnadenakte  die 
politischen  Verbrecher  immer  wieder  in  die  Hauptstadt  zurückkehren.  Die 
Strafe  ist  daher  nicht  nur  kostspielig,  sondern  auch  in  der  That  kurzzeitig 
und  bildet  eine  erhebliche  Erschwerung  der  Vollstreckung  der  Zwangsarbeit 
und  der  Relegation  in  Neu-Caledonien. 

Der  Entw.  des  StGB,  erwähnt  sie  nicht  mehr. 

Relegation.  Diese  Straf art  mag  an  dieser  Stelle  erwähnt  werden, 
weil  sie  durch  die  Art  ihrer  Vollstreckung  mit  den  beiden  vorhergenannten 
eng  zusammenhängt,  obgleich  sie  eigentlich  keine  Verbrechensstrafe  ist. 


§  4.    Die  Strafen.  447 


Thatsächlich  ist  der  Unterschied  in  der  Behandlung  der  „Relegierten'*') 
von  der  der  „Deportierten"  ein  rein  theoretischer.*) 

Beide  Arten  von  Sträflingen  werden  entweder  nach  Guyana  oder  Neu- 
Caledonien  geschaflPt,  sind  zu  Kolonisations- Arbeiten  verpflichtet,  können  zur 
Arbeit  bei  fl'eien  Bauern  zugelassen,  mit  Land  versehen  oder  in  den  Besitz 
des  ihnen  verloren  gegangenen  ganz  oder  teilweise  wieder  eingesetzt  werden  usw. 

Der  einzige  praktische  Unterschied  besteht  darin,  dass  den  Relegierten 
in  Haute-Maron6e  in  Guyana  und  auf  der  Insel  Pins  in  Caledonien  besondere 
Landstriche  angewiesen  werden. 

Bei  welchen  Klassen  von  Personen  die  Relegation  zulässig  ist,  habe  ich 
bereits  oben  erwähnt.  Ich  will  hier  auf  den  sonderbaren  Charakter  dieser 
Strafart  nicht  näher  eingehen.  Sie  macht  eine  Nebenstrafe  zu  einer  dauern- 
den und  in  den  Kolonieen  zu  verbüssenden  Hauptstrafe,  während  die  eigent- 
liche Hauptstrafe  nur  auf  Zeit  erkannt  und  in  Frankreich  verbüsst  wird;  der 
nach  Verbüssung  der  letzteren  freigelassene  Verurteilte  wird  auf  diese  Weise 
einem  zur  Zwangsarbeit  Verurteilten  gleichgestellt. 

Nach  dem  G.  v.  188ö  ist  die  Relegation  entweder  kollektiv  oder 
individuell.  Im  ersteren  Falle  unterscheidet  sich  die  Behandlung  des  Ver- 
urteilten nicht  von  der  eines  anderen  Transportierten.  Im  letzteren  Falle  hat 
der  Verurteilte  verhältnismässig  viele  Freiheit,  und  seine  Stellung  ist  annähernd 
die  eines  Deportierten.  Er  ist  lediglich  aus  dem  Vaterlande  ausgewiesen  unter 
Anweisung  eines  bestimmten  Wohnsitzes,  der  nicht  immer  eine  Strafkolonie  zu 
sein  braucht.  Er  untersteht  den  Vorschriften  des  gemeinen  bürgerlichen  Rechts 
und  der  ordentlichen  Gerichtsbarkeit. 

Um  des  Vorteils  der  individuellen  Einzel-Relegation  teilhaftig  zu  werden, 
braucht  der  Verurteilte  nur  entweder  nachzuweisen,  dass  er  fähig  ist,  sich 
selbst  zu  unterhalten,  oder  geeignet  ist,  eine  Landanweisung  oder  die  Erlaubnis 
zu  bekommen,  einen  Arbeitsvertrag  für  Rechnung  des  Staates,  einer  Kolonie 
oder  emer  Privatperson  abzuschliessen. 

Es  leuchtet  ein,  dass  diese  Art  der  Strafverbüssung  dem  Grundbegrifi'e 
der  Gleichheit  der  Strafe  für  alle  Verurteilten  widerspricht.  Der  Besitz  von 
Geldmitteln,  die  vielleicht  aus  einem  früheren  Diebstahl  herrflhren,  genügt,  um 
den  Verurteilten  in  den  Stand  zu  setzen,  auf  ein  Leben  Anspruch  zu  machen^ 
das  im  Vergleich  zu  dem  eines  zur  Kollektiv-Relegation  Verurteilten  para- 
diesisch genannt  werden  kann.  Als  einzigen  Entschuldigungsgrund  für  die 
haarsträubende  Ungerechtigkeit  dieser  Strafart  kann  man  anführen,  dass  Rele- 
gierte, die  sich  im  Besitz  dieser  Mittel  befinden,  nur  selten  vorkommen. 

FrmhMtMtrafinL 

Es  giebt  vier  Strafarten,  deren  Vollzug  durch  Einsperrung  auf  dem  Kon- 
tinent erfolgt:     Festungshaft,  Zuchthaus,  Gefängnis,  Haft. 

Festungshaft  (d^tention).  Die  Festungshaft  hat  für  das  Gebiet  der 
politischen  Strafen  die  Bedeutung,  welche  das  Zuchthaus  für  die  gemeinen 
beansprucht,  unterscheidet  sich  von  diesen  jedoch  durch  die  Dauer,  die  Art  der 
Vollziehung  und  den  Vollstreckungsort  (Art.  20). 

Die  mindeste  Dauer  der  Festungshaft  ist  6,  die  höchste  20  Jahre,  wäh- 
rend die  höchste  zulässige  Zuchthausstrafe  10  Jahre  beträgt.     Infolge  der  Art 


')  Von  den  zur  Einzelrelegation  Verurteilten,  die  die  Ausnahme  bilden,  ist  hier 
keine  Rede. 

*)  Die  Relegation  hat  den  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  und  den  Aus- 
schluss von  der  Ausübung  gewisser  Rechte,  sowie  die  Unfähigkeit  zu  verfügen  und 
zu  erwerben,  nicht  von  Rechts  wegen  zur  Folge.  In  der  Regel  jedoch  sind  diese 
Folgen  bereits  auf  Grund  früherer  Verurteilungen  des  Relegierten  eingetreten. 


448  Frankreich.  —  Die  allg'emeinen  Grundsätze  des  StR. 


der  Vollziehnng  ist  die  Festungshaft  weniger  schwer  als  Zuchthaus,  denn  der 
Verurteilte  ist  nicht  zur  Arbeit  verpflichtet  und  darf  mit  dritten  Personen  frei 
verkehren.  Die  Vollstreckung  geschieht  nicht  in  einem  Zuchthaus,  sondern  in 
einer  Festung. 

Zuchthaus  (r6clusion).  Die  Verurteilung  zu  Zuchthaus  hat  den  Verlust 
der  bürgerlichen  Ehrenrechte  und  den  Ausschluss  von  der  Ausübung  gewisser 
Rechte  und  Befugnisse  von  Rechts  wegen  zur  Folge.  In  der  Verbrecherwelt 
gilt  diese  Strafe  für  die  allerschwerste.  Der  harte  Arbeitszwang,  die  geringe 
Vergütung  der  Arbeit,  das  absolute  Verbot  der  Unterhaltung,  die  Eintönigkeit 
dieses  Lebens  zwischen  hohen  Mauern  und  engen  Anstaltshöfen,  dessen  ein- 
zige Abwechslung  besteht  in  dem  Übergang  vom  Schlafisaal  zum  Arbeitsraum, 
vom  Arbeitsraum  zum  Speisesaal  und  von  diesem  zum  Gefängnishof,  in  wel- 
chem die  Sträflinge  abgemessenen  Schrittes  „im  Gänsemarsch"  spazieren  gehen, 
—  alles  dieses  übt  auf  die  Verbrecher  eine  äusserst  abschreckende  Wir- 
kung aus. 

In  allen  Zuchthäusern  werden  gewerbliche  Arbeiten  in  grossem  Mass- 
stabe ausgeführt,  teils  im  Auftrage  des  Staates  wie  in  Melun,  Fontevrault, 
Gaillon,  Clairvaux,  Loos,  Beaulieu  u.  a.,  teils  im  Auftrage  von  Privatunter- 
nehmern, wie  beispielsweise  in  Poissy,  Albertville  und  Embrun. 

Der  zu  Zuchthaus  Verurteilte  hat  nur  auf  Vio  ^^^  Ertrages  seiner  Arbeit 
Anspruch,  von  welchem  ihm  jedoch  nur  die  Hälfte  zu  freier  Verfügung  über- 
lassen wird;  die  andere  Hälfte  dient  zur  Bildung  eines  Kapitals,  das  ihm  bei 
seiner  Entlassung  ausgehändigt  wird. 

Der  grösste  Teil  unserer  Zuchthäuser  ist  jetzt  nach  dem  Auburnschen 
System  eingerichtet;  die  Gefangenen  befinden  sich  den  Tag  über  gemeinschaft- 
lich in  Werkstätte,  Speisesaal,  Spazierhof,  Kirche  und  Schule,  werden  aber 
des  Nachts  in  Schlafzellen  (dortoirs)  getrennt  (Melun). 

Der  Vollständigkeit  wegen  sei  erwähnt,  dass  in  den  drei  Strafkolonieen 
zu  Castelluccio  und  Chiavari  auf  der  Insel  Corsica  und  Bermagia  in  der  Pro- 
vinz Algier  die  Zuchthausstrafe  im  Freien  voUstreckt  wird.  Diesen  Anstalten 
werden  jedoch  fast  ausschliesslich  arabische  Sträflinge  zugeteilt.  Der  Ertrag 
ihrer  Beschäftigung  (Wein-  und  Getreidebau,  Forstarbeiten  usw.)  bleibt  zwar 
hinter  den  berechtigten  Erwartungen  zurück,    ist  jedoch  nicht  unbeträchtlich. 

Gefängnis  (emprisonnement  correctionnel).  Die  Gefängnisstrafe  wird, 
je  nach  ihrer  Dauer,  in  verschiedenartigen  Anstalten  vollstreckt. 

Die  Vollstreckung  von  Strafen  bis  zu  1  Jahr  und  1  Tag  einschliesslich 
erfolgt  in  den  Arresthäusem ,  Gerichtsgefängnissen  und  Arbeits-Anstalten  der 
Departements,  die  also  zur  Aufnahme  der  vorläufig  Festgenommenen,  der 
Untersuchungsgefangenen  und  der  zu  Strafen  bis  zu  der  oben  erwähnten  Dauer 
Verurteilten  bestimmt  sind.  Zu  diesen  kommen  noch  jugendliche  Verurteilte, 
deren  Strafdauer  weniger  als  6  Monate  beträgt,  sowie  die  wegen  Schulden 
gegen  den  Staat  Verhafteten  und  die  weiter  unten  zu  erwähnenden  zu  Haft- 
strafe Verurteilten. 

Die  Gefängnisstrafen,  deren  Dauer  mehr  als  1  Jahr  und  1  Tag  beträgt, 
werden  in  den  grossen  Centralanstalten  verbüsst.  Diese  gehören  dem  Staat  und 
haben  dieselben  Reglements  wie  die  Zuchthäuser,  mit  denen  sie  häufig  in  ein 
und  demselben  Gebäude  untergebracht  sind.  Ohne  auf  Einzelheiten  näher 
einzugehen,  muss  ich  doch, darauf  hinweisen,  dass  die  immer  noch  nicht  be- 
seitigte Zusammenbringung  von  Zuchthäuslern  und  Gefängnis-Gefangenen,  die 
Überfüllung  der  Anstalten,  deren  Gebäude  (alte  Klöster  und  Schlösser  usw.) 
häufig  für  ganz  andere  Zwecke  erbaut  worden  sind,  sowie  die  in  einem  Teile 
derselben  herrschende  Gemeinschaftlichkeit  nicht  nur  bei  Tage,  sondern  auch 
bei  Nacht  eine  durchgreifende  Reform  dringend  erforderlich  machen. 


§  4.    Die  Strafen.  449 


Ganz  anders  steht  es  mit  der  Verbüssnng  der  kurzzeitigen  Gefängnis- 
strafen. Sie  werden  nach  dem  G.  v.  1875  in  vollständiger  Einzelhaft  bei  Tag 
nnd  Nacht  verbüsst;  die  Sträflinge  kommen  miteinander  überhaupt  nicht  in 
Berührung,  machen  ihre  Spaziergänge  in  getrennten  Spazierhöfen  und  wohnen 
dem  Unterricht  wie  dem  Gottesdienst  in  geschlossenen  Verschlagen  bei,  die 
nur  nach  der  Seite  des  Lehrers  oder  Geistlichen  geöffnet  sind.  Dagegen  ist 
es  ihnen  gestattet,  in  ihren  Zellen  den  Besuch  solcher  Personen  zu  erhalten, 
von  denen  man  einen  besonders  günstigen  Einfluss  erwartet,  wie  des  Direktors, 
des  Anstalt-Personals,  des  Armenvorstehers,  Arztes,  Lehrers,  der  Mitglieder  der 
Fürsorge -Vereine,  des  Werkmeisters  usw.  Die  Verbüssung  einer  Strafe  in  dieser 
Weise  hat  die  Verkürzung  der  Strafdauer  um  ^/^  von  Rechts  wegen  zur  Folge. 
Diese  Massregel  rechtfertigt  sich  durch  die  grössere  Strenge  und  die  bedeu- 
tendere erziehliche  Wirkung  dieser  Verbüssungsweise.  Sie  findet  jedoch  nur 
auf  Strafen  über  3  Monate  Anwendung. 

Auf  Antrag  können  auch  die  zu  Gef.  über  1  Jahr  Verurteilten  ihre 
Strafe  in  dieser  Weise  verbüssen. 

Leider  hat  die  durch  dieses  6.  angeordnete  Umwandlung  der  Gefängnis- 
Anstalten  infolge  der  Gleichgültigkeit  der  Departements  in  allen  auf  das  Ge- 
fängniswesen bezüglichen  Fragen  bislang  nur  geringe  Fortschritte  gemacht. 
Von  382  Departemental-Gefängnissen  sind  bis  jetzt  nur  23  nach  den  Vor- 
schriften des  G.  V.  1875  umgebaut  und  neu  organisiert;  allerdings  darf  dabei 
nicht  verschwiegen  werden,  dass  von  26  815  überhaupt  erforderlichen  Zellen 
auf  diese  23  die  Zahl  von  4072  entfallen.  Auch  ist  im  Januar  1893  ein  G. 
angenommen  worden,  dass  den  Zweck  verfolgt,  diese  Reform  zu  beschleunigen. 

Die  Überwachung  der  Ausführung  der  Reform  geschieht  durch  eine  be- 
sondere Gef^ngniis-Kommission,  zu  deren  Mitgliedern  solche  Personen  ernannt 
werden,  die  sich  mit  dem  Gefängniswesen  besonders  beschäftigt  haben.  Die 
Arbeit  der  Gefangenen  wird,  abgesehen  von  den  Gefängnissen  weniger  Departe- 
ments, an  Unternehmer  vergeben.  Der  besonders  für  die  in  Einzelhaft  ge- 
haltenen Sträflinge  durchaus  erforderliche  Arbeitszwang  ist  jedoch  keineswegs 
vollständig  durchgeführt.  Die  vorzugsweise  betriebenen  Beschäftigungen  sind: 
Schuhmacherei,  Korbmacherei,  Schneiderei,  Anfertigung  von  Bürsten,  Spielzeug, 
künstlichen  Blumen  usw.  Der  Gefangene  kann  sich  seine  Beschäftigung  selbst 
wählen.  Da  jedoch  die  Zahl  der  Industrieen  nur  gering  ist,  so  ist  diese  Be- 
fugnis meist  eine  rein  theoretische.  Die  Gefangenen  erhalten  von  dem  Elrtrage 
ihrer  Arbeit  */jq,  jedoch  vermindert  sich  dieser  Anteil  um  ^/^^  für  jede  voraus- 
gegangene anderweite  Verurteilung,  beträgt  indes  mindestens  ^/^q.  Über  die 
Hälfte  des  Verdienst- Anteils  kann  der  Gefangene  frei  verfügen,  die  andere 
Hälfte  dient  zur  Bildung  eines  Kapitals,  welches  ihm  bei  seiner  Entlassung 
ausgehändigt  wird. 

An  der  Spitze  der  Verwaltung  steht,  je  nach  der  Grösse  der  Anstalt, 
ein  Direktor  oder  ein  Oberaufseher,  dessen  Aufsicht  das  übrige  Anstalts-Personal 
untergeordnet  ist.  Dieses  besteht  für  weibliche  Gefangene  zum  Teil  aus  Ordens- 
schwestern. Die  Oberaufseher  unterstehen  der  dienstlichen  Aufsicht  des  Direk- 
tors des  Gefängnis-Bezirks,  von  denen  es  in  Frankreich  und  Algier  zusammen 
35  giebt.  Die  Vorgesetzten  der  Direktoren  sind  die  General -Inspektoren, 
welche  direkt  an  den  Minister  des  Innern  Bericht  erstatten.  Eine  Art  von 
Aufsicht  wird  ausser  durch  die  von  der  StPO.  (Art.  611 — 613)  dem  Präfekten, 
Unterpräfekten  und  anderen  Beamten  zur  Pflicht  gemachten  Besuche  durch 
die  infolge  einer  Vdg.  v.  1819  eingesetzten  besonderen  Kommissionen  aus- 
geübt, von  denen  noch  weiter  unten  die  Rede  sein  wird. 

Haft  (emprisonnement  de  simple  police).  Ich  habe  bereits  erwähnt,  dass 
diese  Strafe  in  den  Arresthäusern  der  Departements  verbüsst  wird  und  zwar, 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.  I.  29 


450  Frankreich.  —  Die  allgemeinen  Grundsätze  des  StR. 


wenn  die  Anstalt  noch  nicht  in  ein  ZicUengefängnis  umgewandelt  ist,  in  einem 
besonderen  Teile  derselben.  Die  Vollstreckong  kann  jedoch  auch  in  den 
kleinen  Bezirks-  oder  Orts-GefUngnissen  erfolgen;  Arbeitszwang  herrscht  nicht. 

Preiheitgbegchrftn¥iingiin. 

Für  die  Aufhebung  oder  Beschränkung  des  Rechts  zum  beliebigen 
Aufenthaltswechsel  durch  Ausweisung  aus  dem  bisherigen  Wohnort  oder  An- 
weisung eines  bestimmten  Wohnsitzes  kennt  das  G.  drei  Formen: 

1.  Verbannung  (bannissement).  Diese  Strafart  findet  seit  1863  nur 
noch  auf  leichte  politische  Delikte  Anwendung  und  besteht  in  einer  besonde- 
ren Art  der  Ausweisung  auf  die  Dauer  von  5  bis  zu  10  Jahren.  Betritt  der 
Verurteilte,  dem  Ausweisungsbefehl  zuwider,  das  französische  Gebiet,  so  wird 
der  noch  nicht  verbüsste  Rest  seiner  Strafe,  der  in  diesem  Falle  auf  die  dop- 
pelte Dauer  erhöht  werden  kann,  in  Festungshaft  umgewandelt.  (Art.  32  und  33.) 
—  Die  Strafe  wird  selten  angewendet  und  ist  von  geringer  Bedeutung;  sie 
wirkt  ungleichmässig  je  nach  der  Person  des  Verurteilten,  entbehrt  jeder 
bessernden  Wirkung  und  gefährdet  die  guten  Beziehungen  Frankreichs  zu 
anderen  Ländern  —  alles  Eigenschaften,  die  ihre  Abschaffung  wünschenswert 
erscheinen  lassen. 

2.  Aufenthaltsverbot  (interdiction  de  s^jour).  Diese  Strafe  ist  infolge 
eines  G.  v.  J.  1885  an  die  Stelle  der  Stellung  unter  Polizeiaufsicht  getreten, 
deren  grosse  Unzuträglichkeiten  schon  längst  zu  lebhaften  Klagen  Veranlas- 
sung gegeben  hatten,  ohne  dass  es  den  zahlreichen  gesetzgeberischen  Ver- 
suchen gelungen  wäre,  diese  zu  beseitigen. 

Die  Verwaltungsbehörde  hat  das  Recht,  dem  zu  dieser  Strafe  Verurteil- 
ten nach  Verbüssung  seiner  Hauptstrafe  bestimmte  Bezirke  zu  bezeichnen, 
deren  Betreten  ihm  verboten  ist.  Der  Aufenthalt  in  gewissen  Orten  (nach 
allgemeiner  Vorschrift  Lyon,  Marseille,  Bordeaux,  dem  Seine-D6partement,  dem 
Departement  de  la  Seine  et  Oise  u.  a.  m.)  ist  allen  diesen  Verurteilten  unter- 
sagt; ausserdem  können  ihnen  durch  besondere  Vorschrift  auch  noch  andere 
Gegenden  verschlossen  werden. 

Obwohl  das  Aufenthaltsverbot  seiner  Natur  nach  weniger  zur  Bestrafang 
begangener,  als  zur  Verhütung  zukünftiger  Delikte  geeignet  ist,  wird  es  doch 
als  Strafmittel  betrachtet  und  bildet  bald  eine  Haupt-,  bald  eine  Nebenstrafe. 

Die  Dauer  des  Verbots  beträgt  höchstens  20  Jahre.  Die  Übertretung  der 
durch  dasselbe  auferlegten  Verpflichtungen  wird  mit  Gefängnis  bestraft. 

3.  Besondere  Aufenthaltsbeschränkungen  (interdiction  de  certains 
s^jours).  Neben  dem  allgemeinen  Aufenthaltsverbot  kennt  die  französische 
Gesetzgebung  noch  gewisse  besondere  Beschränkungen  der  Aufenthalts-  und 
Bewegungsfreiheit.     Beispiele:    Art.  229  des  StGB,  und  Art.  635  der  StPO. 

Verliist  von  Rechten  und  Befhgnüisen. 

Der  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  (degradation  civique) 
bewirkt  den  Verlust  aller  politischen,  gewisser  staatsbürgerlicher  Rechte  und 
einzelner  familienrechtlicher  Befugnisse.  Er  ist  unteilbar  und  dauernd,  seine 
Wirkungen  können  nur  infolge  einer  Amnestie  oder  einer  Wiedereinsetzung  in 
den  vorigen  Stand  (rehabilitation)  erlöschen  (Art.  34). 

Diese  Strafe  ist  ihrem  Wesen  nach  äusserst  ungerecht  und  bedarf  dringend 
der  von  der  Revisionskommission  für  sie  beabsichtigten  Änderungen. 

Ausschluss  von  der  Ausübung  gewisser  staatsbürgerlicher, 
privatrechtlicher  und  familienrechtlicher  Befugnisse.  Bei  der  Ab- 
urteilung gewisser  Verg.  kann  der  Richter  auf  eine  Strafe  erkennen,  die  in 
dem  völligen   oder   teilweisen  Verlust   gewisser  Rechte   besteht  und   mit  dem 


§  4.    Die  Strafen.  451 


Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  nahe  verwandt  ißt,  sich  von  diesem  aber 
dadurch  unterscheidet,  dass  sie  weniger  schwer  ist  und  nur  auf  Zeit  verhängt 
wird.  Der  Art.  42  erwähnt  acht  Gruppen  von  Befugnissen,  welche  durch  das 
Urteil  entzogen  werden  können. 

Die  civilrechtliche  Handlungsunfähigkeit  (interdiction  legale)  bildet 
die  von  Rechts  wegen  eintretende  Folge  gewisser  Verurteilungen.  Die  unklare 
Fassung  der  auf  sie  bezüglichen  Art.  29 — 31  hat  zu  zahlreichen  Kontroversen 
Veranlassung  gegeben.  Sie  dient  dem  doppelten  Zwecke,  einerseits  die  Wirk- 
samkeit der  Hauptstrafe  dadurch  zu  erhöhen,  dass  dem  Verurteilten  die  Ver- 
waltung seines  Vermögens  entzogen,  andrerseits  die  Interessen  desselben  da- 
durch zu  wahren,  dass  ihm  ein  Vormund  bestellt  wird.  Ihre  Wirkung  erlischt 
gleichzeitig  mit  der  Beendigung  der  Hauptstrafe. 

Rechtsbeschränkungen  an  Stelle  des  bürgerlichen  Todes.  Das 
G.  V.  1854,  durch  welches  die  Strafe  des  bürgerlichen  Todes  abgeschaflt  wurde, 
ersetzt  diese  durch  1.  den  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  (d^gradation 
civique),  2.  die  civilrechtliche  HandlungsunfUhigkeit  (interdiction  16gale),  3.  die 
Unfähigkeit,  unentgeltliche  Verfügungen  zu  treffen  oder  durch  solche  etwas  zu 
erwerben,  wozu  noch  die  Nichtigkeit  eines  etwa  MLher  gemachten  Testamentes 
hinzukommt.  Jede  Verurteilung  zu  einer  lebenslänglichen  Strafe  hat  alle  vor- 
stehend erwähnten  Rechtsbeschränkungen,  die  Verurteilung  zu  einer  entehren- 
den, aber  nicht  lebenslänglichen  Strafe  nur  die  xmter  1.  und  2.  erwähnten 
zur  Folge. 

Die  auf  besonderen  G.  beruhenden  Rechtsbeschränkungen.  Hier 
sind  zu  erwähnen:  1.  der  in  den  Wahlgesetzen  vorgesehene  Verlust  gewisser 
Rechte;  2.  gewisse  Beschränkungen,  die  eine  Folge  des  Verlustes  der  bürger- 
lichen Ehrenrechte  bilden  und  vom  Richter  in  einigen  Fällen  neben  den  in 
Art.  42  ausgesprochenen  Folgen  im  Urteil  ausdrücklich  auferlegt  werden  können. 

VermögeiuMtnifeii. 

Geldstrafe.  Sie  ist  die  einzige  Strafe,  welche  bei  richtiger  Ausmessung 
alle  Verurteilten  gerecht  und  gleichmässig  trifft;  ohne  die  Freiheit  des  Schuldigen 
zu  beeinträchtigen  und  ohne  die  den  Freiheitsstrafen  anhaftende  ungünstige  morali- 
sche Wirkung  auszuüben,  bildet  sie  eine  Einnahmequelle  für  den  Staatsschatz. 
Bentham  hat  sie  „die  Strafe  par  excellence^,  genannt  und  es  ist  bedauerlich,  dass 
der  französische  Gesetzgeber  sie  nicht  in  einer  grösseren  Zahl  von  Fällen  an 
die  Stelle  der  verschwenderisch  angedrohten  Gefängnisstrafe  gesetzt  hat.  Der 
Grund  für  diese  Thatsache  liegt  in  der  Schwierigkeit  der  Einziehung  der  Geld- 
strafe. Die  Mehrzahl  der  Verurteilten  gehört  der  besitzlosen  Klasse  an;  ihre 
Zahlungsunfähigkeit  hat  meistens  zur  Folge,  dass  an  Stelle  der  nicht  beizu- 
treibenden Geldstrafe  schliesslich  doch  die  Freiheitsstrafe  tritt,  wenn  nicht 
etwa  gar  durch  Verschulden  der  Vollstreckungsbehörden  auch  dieses  unter- 
bleibt und  damit  die  Wirkung  des  Urteils  völlig  illusorisch  wird.  Gerade 
dieser  letztere  Umstand  trägt  nicht  wenig  dazu  bei,  dass  die  Gerichte  immer 
seltener  auf  Geldstrafe  erkennen. 

Von  verschiedenen  Seiten  wird  die  Verallgemeinerung  der  Bestimmung 
des  Art.  210  des  Forstgesetzes  (Code  forestier)  befürwortet,  der  die  Umwand- 
lung einer  nicht  einziehbaren  Geldstrafe  in  Arbeitsleistung  gestattet. 

Einziehung.  Die  Vermögenskonfiskation  ist  durch  die  Charte  von  1814 
endgtQtig  aufgehoben;  gegenwärtig  ist  nur  noch  die  Einziehung  einzelner 
Gegenstände  zulässig,  die  mit  der  strafbaren  Handlung  —  als  Gegenstand, 
Mittel  oder  Produkt  derselben  —  in  irgend  welcher  Beziehung  stehen  (Art.  11, 
464  und  470). 

Im  Prinzip  wird  der  Staat  Eigentümer   der  eingezogenen  Sache;    in  ein- 

29* 


452  Frankreich.  —  Die  allgemeinen  Grundsätze  des  StR. 


zelnen  Fällen  jedoch  wird  dieselbe  einer  öffentlichen  Anstalt  (z.  B.  einem 
Erankenhause)  oder  dem  Verletzten  als  Schadensersatz  überlassen.  In  gewissen 
Fällen  wird  auch  im  Interesse  der  öffentlichen  Sittlichkeit,  Gesnndlieit  oder 
Sicherheit  die  Vemichtiing  des  eingezogenen  Gegenstandes  angeordnet. 

Die  Einziehung  ist  also  bald  ein  reines  Strafmittel,  bald  eine  polizeiliche 
Massregel,  deren  Anwendung  aber  den  gerichtlichen  Behörden  überlassen  ist, 
bald  ein  Weg  zur  Erfüllung  der  dem  Schuldigen  obliegenden  Schadensersatz- 
verbindlichkeit. 

Entehrende  Strafen. 

Die  im  älteren  Recht  so  häufige  Strafe  der  öffentlichen  Abbitte  (amende 
honorable)  wird  nur  noch  in  zwei  Fällen  (Art.  226  und  227)  angedroht. 

Dagegen  wird  von  der  Strafe  der  Veröffentlichung  des  Urteils  ein  um- 
fassender Gebrauch  gemacht. 

Verspliiedene  Bestimmungen, 

Die  Verurteilung  zu  den  vom  G.  angedrohten  Strafen  hat  auf  die  Schadens- 
ersatzverbindlichkeit des  Schuldigen  keinerlei  Einfluss.  Die  im  Urteil  aufer- 
legte Verpflichtung  zur  Leistung  von  Schadensersatz,  zur  Herausgabe  von 
Sachen  und  zur  Tragung  der  Kosten  kann  durch  die  Anwendung  von  Zwangs- 
haft (contrainte  par  corps)  verwirklicht  werden  (Art.  51  und  52).  Mehrere 
Angeklagte  haften  hierfür  solidarisch  (Art.  55). 

Die  Dauer  einer  erkannten  zeitigen  Freiheitsstrafe  wird  berechnet  von 
dem  Tage,  an  welchem  der  Verurteilte  auf  Grund  des  rechtskräftigen  Urteils 
in  Haft  genommen  ist.  War  er  bereits  vorher  in  Haft,  so  wird  diese  Zeit 
von  Eechts  wegen  auf  die  erkannte  Strafe  angerechnet,  wenn  nicht  der  Richter 
das  Gegenteil  anordnet  (Art.  23  und  24  der  StPO.  in  der  durch  G.  vom  15.  No- 
vember 1892  hergestellten  Fassung). 

Bezüglich  der  unschuldig  Verurteilten  ist  zu  erwähnen,  dass  die  Kammer 
am  7.  April  1892  einem  G.  ihre  Zustimmung  erteilt  hat,  das  die  Fälle  der 
Wiederaufnahme  des  Verfahrens  wegen  Verbr.  und  Verg.  vermehrt  und  Be- 
stimmung über  die  Entschädigung  der  zu  Unrecht  Verurteilten  trifft  (Art.  443 
bis  446  der  StPO.).  Zur  Zeit  liegt  das  G.  dem  Senate  vor,  der  es  zunächst 
dem  Staatsrate  zur  Begutachtung  überwiesen  hat. 

Vorbengnngs-  nnd  SchntsfUrsorge-KaBsregeln. 

Bedingte  Verurteilung.  Unsere  Gesetzgebung  kennt  eine  Reihe  von 
Massregeln,  die  den  Zweck  haben,  denjenigen,  der  nur  einmal  vom  rechten 
Wege  abgewichen  ist,  vor  weiteren  Fehltritten  zu  bewahren  und  ihm  die  Wieder- 
begründung einer  ehrlichen  Existenz  zu  ermöglichen. 

An  Stelle  des  im  älteren  Recht  vorkommenden  Verweises  (bläme  judiciaire) 
und  der  Verwarnung  (ammonizione)  des  neuen  italienischen  StGB,  verwendet 
der  französische  Gesetzgeber  die  eindrucksvollere  bedingte  Verurteilung,  deren 
Vorbild  er  in  England  (Probation  of  first  offenders  Act),  Amerika  und  vor 
allem  Belgien  (G.  vom  31.  Mai  1888)  vorfand.')  Das  G.  vom  26.  März  1891 
verleiht  dem  Richter  die  Befugnis,  die  Strafvollstreckung  bei  der  ersten  Ver- 
urteilung auszusetzen;  nach  fünf  Jahren  erlöschen  sämtliche  Wirkungen  der 
Verurteilung  (la  condamnation  est  consid^röe  comme  non  avenue,  art.  1). 

Bedingte  Entlassung.  Schutzfürsorge.  Rehabilitation.  Die  durch 
ein  G.  vom  14.  August  1885   eingeführte   bedingte  Entlassung   bildet   die  Be- 


^)  Es  ist  nur  gerecht  zu  bemerken,  dass  Belgien  den  Hauptteil  seines  G.  dem 
Entw.  von  B6renger  entlehnt  hat,  welcher  bereits  auf  den  Tisch  des  Senates  nieder- 
gelegt war. 


§  5.    Das  StB.  des  StGB.  453 


lohnung  deijenigen  Gefangenen,  deren  Führung  und  Fleiss  auf  ernstliche  Besse- 
rung schliessen  lassen  (Art.  1).  Sie  ist  nur  bei  solchen  zulässig,  die  zu  einer 
mindestens  sechsmonatigen  Strafe  verurteilt  sind  und  von  dieser  die  Hälfte 
verbüsst  haben.  Sie  findet  auch  bei  solchen  Strafen  Anwendung,  welche  Ver- 
bannung (r616gation)  zur  Folge  haben  (Art.  2). 

Zur  Vervollständigung  der  Einrichtungen  dieses  G.  dienen  die  Bestim- 
mungen desselben  über  die  Sorge  für  vorläufig  entlassene  Gefangene  (Art,  7 
und  8). 

Dasselbe  G.  führt  erhebliche  Vereinfachungen  ftlr  die  bei  der  Rehabili- 
tation vorgeschriebenen  Formen  ein  (Art.  10).  Letztere  vernichtet  jede  Wirkung 
des  Urteils  einschliesslich  der  auf  Grund  desselben  erfolgten  Eintragungen  in 
die  Strafregister;  sie  bildet  heute  eine  richterliche  Handlung. 

Erltack«!!  d«r  Strafklaffe  und  d#r  Straük 

Der  Tod  des  Schuldigen  bringt  die  Straf  klage  zum  Erlöschen  und  hindert 
die  Vollstreckung  der  rechtskräftig  erkannten  körperlichen  Strafen;  ftlr  die 
Vermögensstrafen  bestehen  Ausnahmen. 

Begnadigung  und  Amnestie.  Die  Begnadigung  besteht  in  dem  völligen 
oder  teilweisen  Erlass  der  Strafe. 

Die  Amnestie  beseitigt  auch  die  in  der  Vergangenheit  liegenden  Folgen 
des  Urteils;  sie  wird  durch  G.  erlassen  (Art,  3  der  Verfassung  vom  2ö.  Februar 
1875).  Der  Gesetzgeber  hat  von  diesem  Recht  wiederholt,  insbesondere  1878, 
1879,  1880  und  1881,  Gebrauch  gemacht. 

Verjährung.  Die  Verjährung  hat  Berührungspunkte  mit  der  Amnestie, 
insofern  sie  das  Erlöschen  der  Strafklage  bewirkt,  und  mit  der  Begnadigung, 
insofern  sie  die  Strafvollstreckung  hindert.  Die  Verjährungsfrist  der  öflFent- 
lichen  Klage  beträgt  zehn  Jahre  bei  Verbr.,  drei  Jahre  bei  Verg.  und  ein  Jahr 
bei  Übertretungen  (Art.  637,  638  und  640  StPO.).  Die  Fiisten  sind  grund- 
sätzlich dieselben  bei  der  Privatklage.  Beide  werden  durch  Untersuchungs- 
und Verfolgungshandlungen  unterbrochen. 

Die  rechtskräftig  erkannte  Strafe  verjährt  in  20,  5  und  2  Jahren  (Art. 
635,  636  und  639  der  StPO.). 


n.   Der  besondere  Teil  des  Strafrechts. 

§  5.    Das  Strafrecht  des  Strafgesetzbuchs. 

Das  GB.  teilt  die  Verbr.  und  Verg.  ein  in :  I.  Verbr.  und  Verg.  gegen  den 
Staat;  II.  Verbr.  und  Verg.  gegen  Privatpersonen. 

Der  Titel  I  zerfällt  in  drei  Kap. :  I.  Verbr.  und  Verg.  gegen  die  (äussere 
und  innere)  Sicherheit  des  Staates;  II.  gegen  die  Verfassung;  III.  gegen  den 
öflFentlichen  Frieden  (Fälschungsdelikte,  Amtsdelikte  —  forfaiture  — ,  strafbare 
Handlungen  der  Geistlichkeit,  Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt,  Vereinigungen 
von  Verbrechern  [Landstreicherei  und  Bettelei],  unerlaubte  Vereine  und  Ver- 
sammlungen) (Art.  75 — 294). 

Der  Titel  II  enthält  zwei  Kap. :  I.  Verbr.  und  Verg.  gegen  die  Person 
(Tötungsdelikte,  Körperverletzung ,  Sittlichkeitsdelikte,  strafbare  Handlungen 
gegen  die  Freiheit,  die  Justizverwaltung  usw.) ;  II.  Verbr.  und  Verg,  gegen  das 
Eigentum  (Diebstahl,  Bankerutt,  Betrug,  Sachbeschädigung  usw.)  (Art.  295 
bis  463). 

Die  Übertretungen  zerfallen  nach  dem  Strafmass  in  di'ei  Klassen  (Art. 
464—483). 


454  Frankreich.  —  Der  besondere  Teil  des  Strafrechts. 


Der  beschränkte  Raum  dieser  Abhandlung  gestattet  mir  nicht,  auf  alle 
einzelnen  Delikte  näher  einzugehen;  es  würde  dieses  auch  zum  Teil  deshalb 
überflüssig  sein,  weil  andere  auf  der  unsrigen  beruhende  Gesetzgebungen  die 
Bestimmungen  des  StGB,  erheblich  verbessert  haben.  Ich  beschränke  mich 
daher  auf  eine  kurze  Betrachtung  der  am  häufigsten  vorkommenden  strafbaren 
Handlungen  und  auf  die  Hervorhebung  derjenigen  Materien,  deren  Regelung 
durch  Spezialgesetze  erfolgt  ist  oder  hätte  erfolgen  sollen. 

In  Titel  I  Kap.  I  ist  nur  zu  erwähnen,  dass  die  auf  den  Schutz  der  Per- 
son des  Kaisers  und  seiner  Familie  bezüglichen  Art.  86,  87  (in  der  Mitte)  und 
90  durch  den  1870  erfolgten  Wechsel  der  Regierungsform  thatsächlich  ausser 
Wirksamkeit  gesetzt  sind.  Der  Angriff  auf  das  Leben  des  Präsidenten  der 
Republik  und  seiner  Angehörigen  ist  kein  politisches  Delikt;  die  Auslieferung 
wegen  desselben  ist  daher  zulässig. 

Das  IL  Kap.  handelt  von  den  Verbr.  und  Verg.  gegen  die  freie  Ausübung 
der  politischen  Rechte,  insbesondere  des  Wahlrechts  (Art.  109 — 113),  und  von 
den  Eingriffen  in  die  Freiheit  seitens  der  öffentlichen  Beamten  (abgesehen  von 
dem  Falle,  dass  diese  lediglich  den  Befehl  eines  Vorgesetzten  ausführen), 
der  Minister,  Richter  und  Gefangenaufseher  (Art.  114 — 122).  Der  richterliche 
Beamte,  welcher  eine  zur  Zuständigkeit  der  Verwaltungsbeamten  gehörige  Hand- 
lung, und  umgekehrt  der  Verwaltungsbeamte,  welcher  eine  zur  Kompetenz  des 
Richters  gehörige  Handlung  vornimmt,  wird  mit  Verlust  der  bürgerlichen  Ehren- 
rechte bestraft.  In  welchen  Fällen  und  unter  welchen  Formen  die  Präfekten 
den  Kompetenzkonflikt  erheben  dürfen,  wird  in  der  Vdg.  vom  1.  Juni  1828 
bestimmt. 

Kap.  HI.  Zu  den  Fälschungsdelikten  gehören:  Münzfälschung,  Nachahmung 
von  Staatssiegeln,  Banknoten  usw.,  von  öffentlichen  und  Privaturkunden,  Pässen, 
Jagdscheinen  u.  a.  m.  (Art.  132 — 165).  Die  vom  G.  nicht  genügend  hervor- 
gehobenen wesentlichen  Bestandteile  der  Fälschung  —  1.  falsche  Thatsache, 
2.  Beschädigungsabsicht,  3.  Möglichkeit  einer  Beschädigung  —  sind  erst  von 
der  Wissenschaft  aufgedeckt  worden. 

Alle  von  öffentlichen  Beamten  in  Ausübung  ihres  Amtes  begangenen  straf- 
baren Handlungen  ziehen  den  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  nach  sich 
(Art.  166  und  167).  Hierher  gehören:  Veruntreuungen  durch  Kassenbeamte 
(Art.  169),  Gebührenüberhebung  (concussion,  Art.  174),  die  eigennützige  Be- 
teiligung an  Geschäften  seitens  eines  Beamten,  der  die  Aufsicht  über  diese  zu 
führen  hat  (Art.  175),  Annahme  von  Geschenken  und  Bestechung  (comiption, 
Art.  177 — 183),  Missbrauch  der  Amtsgewalt  zum  Nachteil  einer  Privatperson 
oder  des  Staates  (Art.  184 — 191),  unbefugte  Amtsausübung  seitens  einer  noch 
nicht  in  das  Amt  eingeführten  oder  aus  demselben  entfernten  Person  (Art. 
196  und  197). 

Geistliche  können  die  öffentliche  Ordnung  stören,  indem  sie:  1.  eine  Ehe- 
schliessung vor  der  standesamtlichen  Trauung  vornehmen;  2.  in  der  Predigt 
oder  in  einem  Hirtenbriefe  Massregeln  der  Obrigkeit  einer  abfälligen  Kritik 
unterziehen;  3.  mit  einer  fremden  Macht  einen  Schriftwechsel  über  religiöse 
Gegenstände  unterhalten  (Art.  199 — 208). 

Als  Widerstand,  Ungehorsam  und  andere  Vergehungen  gegen  die  öffent- 
liche Obrigkeit  (Art.  209 — 264)  werden  betrachtet:  1.  der  mit  oder  ohne  Waffen, 
von  einzelnen  oder  von  einer  Menschenmenge  verübte  Widerstand  gegen  Polizei- 
beamte (G.  vom  9.  Juni  1848);  2.  Beleidigung  und  Verübung  von  Thätlichkeiten 
gegen  öffentliche  Beamte  in  Bezug  auf  die  Ausübung  ihres  Amtes  (outrages 
ou  violences  envers  les  döpositaires  de  Tautoritö);  3.  Verweigerung  eines  ge- 
setzmässig  geschuldeten  Dienstes  (bezieht  sich  auf  Polizeikommandanten  und 
Geschworene);  4.  Entweichen  von  Gefangenen;  5.  Siegelbruch  und  Entwendung 


§  5.    Das  StR.  des  StGB.  455 


von  Akten  ans  einer  öffentlichen  Verwahrangsstelle;  6.  Beschädigung  von  öffent- 
lichen Kunstgegenständen  (Denkmälern,  Standbildern  usw.);  7.  unbefugte  Bei- 
legung eines  Titels  oder  einer  Amtseigenschaft,  unbefugtes  Tragen  von  Uni- 
formen und  Ehrenzeichen;  8.  Beeinträchtigung  der  Kultusft'eiheit.  Als  unter 
die  letztere  Kategorie  fallend  wird  bestraft:  a)  die  Störung  der  Feier  religiöser 
Feste  und  des  Gottesdienstes,  b)  Beschimpfung  der  Geistlichen  und  der  zum 
Gottesdienst  bestimmten  Gegenstände  (Art.  260 — 264). 

Die  organisierte  Verbindung  von  Verbrechern  ist  strafbar;  die  Rädels- 
führer werden  mit  zeitiger  Zwangsarbeit,  die  übrigen  Beteiligten  mit  Zucht- 
haus bestraft  (Art.  265—268). 

Zum  Thatbestande  der  Landstreicherei  genügt  es,  dass  jemand  keinen 
festen  Wohnsitz,  keine  Mittel  zur  Bestreitung  seines  Lebensunterhalts  und  keinen 
bestimmten  Beruf  hat.  (Nach  Art.  4  des  G.  v.  27.  Mai  1885  sind  Bauernfänger 
[bonneteurs]  und  Zuhälter  [souteneurs]  den  Landstreichern  auch  dann  gleich- 
zustellen, wenn  sie  einen  festen  Wohnsitz  haben.)  Die  Landstreicherei  wird 
mit  Gefängnis  von  3 — 6  Monaten  und  Aufenthaltsbeschränkung  (interdiction 
de  söjour)  bestraft.  Kinder  unter  16  Jahren  dürfen  nicht  zu  Gefängnis  ver- 
urteilt werden,  der  Kassationshof  hat  aber  in  einer  Entscheidung  vom  30.  Juni 
1892  ausgesprochen,  dass  die  Strafe  der  Aufenthaltsbeschränkung  gegen  sie 
zur  Anwendung  gebracht  werden  kann.  Diese  Auffassung  widerspricht  den 
allgemeinen  Rechtsgrundsätzen  und  ist  sowohl  in  der  Litteratur  wie  von  den 
Schutzfürsorge- Vereinen  auf  das  schärfste  angegriffen. 

Ausländische  Landstreicher  werden  ausgewiesen;  französische  Staats- 
angehörige können  auf  Verlangen  der  Gemeinde,  welcher  sie  angehören,  oder 
einer  Privatperson,  die  für  sie  Bürgschaft  leistet,  mit  Genehmigung  der  Regie- 
rung auf  freien  Fuss  gesetzt  werden  (Art.  269 — 273). 

Die  Bettelei  ist  nur  strafbar,  wenn  sie  an  einem  Orte  geschieht,  an 
welchem  ein  Arbeitshaus  (d6pöt  de  mendicit6)  besteht  (Art.  274);  diese  sind 
zur  Bekämpfung  der  Bettelei  durch  eine  Vdg.  vom  5.  Juli  1808  ins  Leben  ge- 
rufen, erfüllen  aber  nur  zum  Teil  ihren  Zweck,  sodass  die  Gerichte  oft,  um 
eine  Strafe  aussprechen  zu  können,  ihr  Nichtvorhandensein  ignorieren  müssen. 
Wo  nämlich  ein  Arbeitshaus  nicht  existiert,  ist  die  Bettelei  nur  strafbar,  wenn 
sie  gewohnheitsmässig  und  von  einer  arbeitsfähigen  Person  begangen  wird; 
die  Strafe  beträgt  nur  Gef.  von  1—3  Monaten  (Art.  275).  Die  Bettelei  im  Falle 
des  Art.  274  wird  mit  Gef.  von  3 — 6  Monaten  bestraft^  nach  Verbüssung  der 
Strafe  ist  der  Verurteilte  dem  Arbeitshause  zuzuführen.  Diese  willkürliche 
Verlängerung  der  Strafzeit,  deren  Vollstreckung  den  Präfekten  übertragen  ist, 
bildet  den  Gegenstand  heftiger  Angriffe  und  hat  so  wenig  günstige  Resultate 
gehabt,  dass  der  „Conseil  supörieur  de  l'Assistance  publique"  bereits  die  Be- 
fürwortung ihrer  Abschaffting  in  Erwägung  gezogen  hat.  Sie  ist  jedoch  im 
Entw.  des  StGB.,  allerdings  unter  Einführung  der  erforderlichen  richterlichen 
Garantieen,  beibehalten  worden. 

Von  den  unerlaubten  Vereinigungen  und  Versammlungen  handeln  die 
Art.  291—294,  die  durch  die  G.  vom  10.  April  1834  und  6.  Juni  1868  eine  Vervoll- 
ständigung erfahren  haben.  Die  Frage,  ob  die  Art.  291  und  292  auf  die 
geistlichen  Orden  Anwendung  finden,  hat  im  J.  1880  eine  heftige  Polemik 
hervorgerufen,  deren  Entscheidung,  anstatt  durch  den  Erlass  der  berühmten 
Ausweisungsbefehle  für  diese  Orden,    besser  durch  die  Gerichte  erfolgt  wäre. 

Von  dem  zweiten  Titel  enthält  das  von  den  Delikten  gegen  diePerson 
handelnde  erste  Kapitel  sieben  Abschnitte. 

Der  erste  beschäftigt  sich  mit  Mord  und  Totschlag;  das  Bestehen  eines 
verwandtschaftlichen  Verhältnisses  zwischen  dem  Thäter  und  dem  Opfer  bildet 
mit  Recht  einen  Straferschwerungsgrund    (Art.  295 — 308).     Zu   bedauern   ist. 


456  Frankreich.  —  Der  besondere  Teil  des  Strafrechts. 


dass  nicht  an  dieser  Stelle  —  ähnlich  wie  im  neuen  italienischen  StGB.  —  die 
unerlaubte  Selbsthülfe  mit  Strafe  bedroht  ist.  Keine  gesetzliche  Vorschrift, 
sagt  Lacointa  sehr  richtig,  ist,  wenn  sie  von  den  Gerichten  streng  gehandhabt 
wird,  so  sehr  geeignet,  auf  ein  ft*eies  Volk  erziehlich  zu  wirken.  Folgerichtig 
hätte  dann  auch  der  Zweikampf,  und  selbst  die  erfolglose  Herausforderung  zu 
demselben,  unter  Strafe  gestellt  werden  müssen.  Die  Anstrengungen  der 
Wissenschaft,  durch  eine  gezwungene  Auslegung  des  Art.  302,  den  Zweikampf 
zu  einer  strafbaren  Handlung  zu  stempeln,  sind  nicht  im  stände,  dem  immer 
mehr  überhandnehmenden  Duellunwesen  Einhalt  zu  thun.  Der  Zweikampf  ist 
nicht  nur  eine  Übertretung  göttlicher  Gebote,  sondern  bildet  auch  einen  Ein- 
griff in  die  dem  Staate  vorbehaltenen  Funktionen  und  wird  auch  als  solcher 
in  fast  allen  Staaten  mit  Recht  bestraft.  Am  2.  Juli  1892  hat  die  Kammer 
die  Ausarbeitung  eines  Gesetzentwurfes  gegen  diese  barbarische  Sitte  in  Er- 
wägung gezogen.  —  Das  vorstehend  Gesagte  gilt  auch  bezüglich  der  Beihülfe 
zum  Selbstmord,  den  das  italienische  StGB,  streng  bestraft,  das  unsrige  da- 
gegen straflos  lässt. 

Der  zweite  Abschnitt  handelt  von  der  Körperverletzung  (Art.  309 — 318). 
Den  „Schlägen  und  Verwundungen"  (coups  et  blessures)  werden  die  übrigen 
Fälle  der  Körperverletzung  gleichgestellt;  für  die  leichten  Körperverletzungen 
gelten  noch  d[ie  Bestimmungen  des  Art  8  No.  8  des  GB.  vom  Brumaire  des 
Jahres  IV;  die  vorsätzlichen  gegen  einen  Aszendenten,  die  mit  Vorbedacht  und 
die  von  einer  aufrührerischen  Menge  verübten  werden  mit  verschärfter  Strafe 
belegt.  —  Die  Abtreibung  wird  streng  geahndet;  jedoch  dürfte  es  sich 
empfehlen,  den  wegen  derselben  verurteilten  Ärzten,  Apothekern  und  Heb- 
ammen die  fernere  Ausübung  ihres  Berufes  zu  untersagen  (Art.  317). 

Die  im  dritten  Abschnitte  stehenden  Art.  319  und  320  über  die  fahrläs- 
sigen Tötungs-  und  Verletzungsdelikte  gelangen  bei  Unglücksfällen  auf  der 
Jagd,  im  Transportwesen,  im  Bergbau  usw.  fast  täglich  zur  Anwendung.  — 
Die  in  Art,  321 — 329  aufgeführten  Entschuldigungsgründe  sind  bereits  oben 
erwähnt. 

Die  Sittlichkeitsdelikte  (Abschnitt  4)  werden  mit  verschärfter  Strafe  be- 
leget, wenn  sie  gegen  Kinder  unter  13  Jahren,  oder  von  Aszendenten  oder 
anderen  Respektspersonen  begangen  werden  (Art.  330 — 333).  Die  Kunstgriffe, 
welche  die  menschliche  Verderbtheit  unter  Benutzung  der  wissenschaftlichen 
Entdeckungen  neuerdings  zur  Anwendung  bringt,  fallen  nicht  unter  das  G., 
und  eine  Ergänzung  desselben  in  dieser  Beziehung  —  etwa  nach  dem  Vor- 
bilde des  italienischen  und  des  holländischen  StGB.  —  ist  dringend  zu  empfehlen. 
Die  Verleitung  zur  Ausschweifung  wird  mit  besonderen  Strafen  belegt,  wenn  sie 
von  selten  eines  Aszendenten  geschieht  (Art.  335  und  G.  vom  24.  Juli  1889,  Art.  1). 
Die  Blutschande  ist  nicht  strafbar,  selbst  wenn  durch  sie  öffentliches  Ärgernis 
erregt  ist.  Der  Ehebruch  wird  nur  auf  Verlangen  des  beleidigten  Ehegatten 
bestraft,  und  zwar  an  dem  Ehemanne  nur,  wenn  dieser  eine  Konkubine  in  der 
ehelichen  Wohnung  unterhalten  hat;  da  dieser  Fall  nur  äusserst  selten  vor- 
kommt, bleibt  der  Ehebruch  des  Ehemannes  fast  immer  ungesühnt  (Art.  336 
und  339). 

Die  Vorschrift,  dass  eine  Bestrafung  des  Ehebruchs  nur  auf  Antrag  des 
Verletzten  eintritt,  ist  durchaus  zu  billigen;  dagegen  würde  es  sehr  bedenk- 
lich sein,  auch  bei  den  in  den  vorhergehenden  Artikeln  behandelten  Sittlich- 
keitsdelikten die  Einleitung  des  Strafverfahrens  von  einem  Antrage  abhängig 
zu  machen;  zweifellos  würden  dann  viele  schwere  Verbr.  unbestraft  bleiben. 
—  In  vielen  anderen  Fällen  ist  dagegen  eine  weitere  Ausdehnung  des  Antrags- 
erfordernisses zu  empfehlen. 

Der   sechste  Abschnitt  beschützt  das  Kind  gegen   die  Gefahren,    welche 


§  5.    Das  StR.  des  StGB.  457 


seinem  Leben,  seinem  Personenstande  und  seiner  Sittlichkeit  drohen.  Zu  be- 
merken ist,  dass  eine  Person,  die  es  nnterlässt,  ein  von  ihr  aufgefundenes 
Kind  der  Polizei  abzuliefern,  nur  bestraft  wird,  wenn  das  Kind  ein  neu- 
geborenes ist.  Der  französische  Oesetzgeber  sollte  sich  die  fürsorgliche  Be- 
stimmung des  italienischen  Rechts  zum  Muster  nehmen,  nach  welcher  diese 
pflichtwidrige  Unterlassung  selbst  dann  bestraft  wird,  wenn  sie  einem  sechs- 
jährigen Kinde  oder  einem  hülflosen  Erwachsenen  gegenüber  begangen  wird. 
—  Die  Strafe  der  Entführung  ist  schwerer  oder  leichter,  je  nach  dem  Alter 
des  Entführers  und  der  Entführten  und  je  nachdem  letztere  eingewilligt  hatte 
oder  nicht  (Art.  364 — 356).  Der  Entführer  wird  nur  auf  Antrag  bestraft, 
wenn  er  die  Entführte  geheiratet  hat  (Art.  357). 

Der  siebente  Abschnitt  besteht  aus  zwei  Paragraphen.  Der  erste  bedroht 
das  falsche  Zeugnis,  und  zwar  auch  das  in  einer  Zivilsache  abgegebene,  mit 
Strafe  (Art.  361 — 366).  Zu  bedauern  ist  das  Fehlen  einer  Strafbestimmung 
für  die  erdichtete  Anzeige  einer  strafbaren  Handlung;  diese  Lücke  zwingt  die 
Gerichte,  diese  als  Beleidigung  derjenigen  Behörde,  bei  der  sie  angebracht  ist, 
anzusehen. 

Der  zweite  Paragraph  beschäftigt  sich  mit  der  wissentlich  falschen  An- 
schuldigung einer  bestimmten  Person;  zu  vermissen  ist  eine  Strafermässigung 
für  den  Fall  der  Zurücknahme  der  Anschuldigung  (Art.  373).  —  Der  Verrat 
von  Geheimnissen  durch  Anwälte,  Ärzte  und  andere  Vertrauenspersonen  wird 
mit  Gef.  von  1 — 6  Monaten  bestraft;  diese  können  ihre  Aussage  über  solche 
Punkte  verweigern. 

Das  von  den  Delikten  gegen  das  Eigentum  handelnde  Kapitel  enthält 
nur  drei  Abschnitte:  1.  Diebstahl;  2.  Bankerutt  und  andere  betrügerische 
Handlungen;  3.  Sachbeschädigung. 

Das  Thatbestandsmerkmal ,  welches  den  Diebstahl  von  Betrug  und  Un- 
treue (abus  de  confiance)  unterscheidet,  besteht  in  der  heimlichen  Wegnahme 
der  Sache  im  Gegensatz  zu  dem  „sich  geben  lassen^'  und  „sich  aneignen^'. 
Diebstahl  unter  Ehegatten  ist  nicht  strafbar  (Art.  380);  der  unter  gewissen,  in 
den  Art.  381 — 399  aufgeführten  Umständen  begangene  Diebstahl  ist  ein  Verbr. 
Erpressung,  Pfandbruch  (d^toumement  d'objets  saisis),  Entwendung  (larcin) 
und  die  Entwendung  von  Nahrungsmitteln  werden  in  den  Art.  400  und  401 
erwähnt. 

Der  zweite  Abschnitt  bezieht  sich  auf:  Bankerutt  (einfachen  und  betrü- 
gerischen); Betrug  (escroquerie);  Untreue  (abus  de  confiance,  Art.  406 — 409); 
Zuwiderhandlungen  gegen  die  Vorschriften  über  Spielhäuser  und  Verlosungen 
(G.  vom  21.  Mai  1836),  sowie  über  Pfandleihanstalten  (G.  vom  24.  Juni  1851); 
Beeinträchtigung  der  Freiheit  der  öflPentlichen  Versteigerungen;  Eingriffe  in 
die  Freiheit  der  Arbeit  usw.  (Art.  414 — 429);  Verzögerungen  und  Betrügereien 
seitens  der  Lieferanten  (Art.  423,  424,  430—433);  Brandstiftung  und  Zerstö- 
rung von  öffentlichen  oder  Privatgebäuden  (Art.  95,  434 — 438;  verschärft  durch 
das  Dynamitgesetz  vom  3.  April  1892);  Vernichtung  von  Registern,  Lebensmitteln, 
Emtevorräten ,  landwirtschaftlichen  Geräten  und  Tieren  usw.  (Art.  439 — 462). 
Zahlreiche  Delikte,  welche  der  Vervollkommnung  der  Technik  ihr  Entstehen 
verdanken,  so  vor  allem  auf  dem  Gebiete  der  Nahrungsmittelfälschung,  der 
Verwendung  explodierender,  narkotischer  oder  aus  anderen  Gründen  gefähr- 
licher Stoffe,  des  Transportwesens,  des  Seeraubs,  des  Handels,  des  Versiche- 
rungswesens, des  Emissionswesens  usw.  sind  vom  Gesetze  nicht  berücksichtigt. 

Bezüglich  der  Übertretungen  wäre  zu  wünschen,  dass  die  systematische 
Einteilung  nach  Deliktsgruppen   auch  auf  sie  Anwendung  gefunden  hätte. 

Die  Art.  471 — 483  enthalten  eine  genaue  Aufzählung  von  Bestimmungen 
zur  Durchführung  der  Vorschriften  über  Strassenpolizei,  Fuhrwesen,  Gasthäuser, 


458  Frankreich.  —  Der  besondere  Teil  des  Strafrechts. 


Bewachung  von  Geisteskranken  und  wilden  Tieren,  über  den  Schutz  der 
EmtevorrÄte  und  des  beweglichen  Eigentums,  über  die  Verweigerung  von 
Hülfeleistung  bei  Unglücksfällen,  verbotenes  Waffentragen,  Benutzung  falscher 
Masse  und  Gewichte  usw. 

Zu  ihrer  Vervollständigung  sind  mehrere  spätere  Gesetze  ergangen,  so  das 
G.  über  die  Trunkenheit;  abgesehen  von  wenigen  Punkten,  bezüglich  deren 
die  Nachahmung  von  Vorschriften  fremder  StGB,  zu  empfehlen  wäre,  bilden 
sie  einen  genügenden  Schutz  gegen  alle  Handlungen,  welche  irgendwie  geeignet 
sind,  die  öffentliche  Ruhe  und  Ordnung  zu  stören. 

§  6.    Das  StB«  der  Spezialgesetze« 

Das  StGB.  V.  1810  konnte  nicht  alle  strafbaren  Handlungen  vorsehen, 
welche  die  fortschreitende  Entwickelung  der  menschlichen  Gesellschaft  täglich 
neu  entstehen  lässt.  Ein  Teil  derselben  ist  ihm  nachträglich  eingefügt,  ein 
noch  grösserer  Teil  aber  in  Spezialgesetzen  behandelt  worden. 

Zu  diesen  gehören  zunächst  die  umfangreichen  Spezialgesetze,  wie  die 
Militärgesetze,  das  Forstgesetz,  ausserdem  die  kleineren  G.  mit  strafi'echtlichen 
Bestinmiungen,  wie  die  G.  über  Feld-  und  Forstpolizei,  Presse,  Kinderschutz  usw. 

Das  Militärjustizgesetz  für  das  Landheer  ist  am  9.  Juni  1857,  das  für 
die  Marine  am  4.  Juni  1858  erlassen.  Militärgerichte  sind:  1.  der  Kriegsrat  (con- 
seil  de  guerre);  2.  der  Revisionsrat  (conseil  de  r^vision).  In  bestimmten  Fällen 
werden  bei  den  einzelnen  Heeresteilen  besondere  Gerichte  (Pr6v6t6s)  gebildet. 
—  Alle  aktiven  Militärpersonen,  einerlei  ob  sie  sich  bei  der  Truppe  befinden 
oder  beurlaubt  sind,  unterstehen  für  Verbr.  und  Verg.  jeder  Art  der  Zuständig- 
keit der  Kriegsgerichte.  —  ßind  mehrere  Thäter  oder  Teilnehmer  vorhanden, 
von  denen  einige  der  Kompetenz  der  Civilgerichte  unterliegen,  so  werden  alle 
Angeklagten  von  diesen  abgeurteilt;  die  Strafvollstreckung  erfolgt  jedoch  be- 
züglich der  Militärpersonen  durch  die  Militärbehörde.  Die  Verbrechensstrafen 
sind  dieselben  wie  im  bürgerlichen  StR.  (Art.  185,  C.  p.  Art.  7  und  8),  nur  dass 
an  Stelle  des  Verlustes  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  der  Verlust  der  militäri- 
schen Grade  (dögradation  militaire)  tritt.  Die  Todesstrafe  wird  durch  Erschiessen 
vollstreckt.  Vergehensstrafen  sind:  Verlust  des  Ranges  (destitution),  Zwangs- 
arbeit (travaux  publics),  Gef.  und  Geldstrafe.  —  Die  Art.  204 — 266  zählen  die 
einzelnen  Delikte  und  die  für  sie  angedrohten  Strafen  auf.  —  Zu  erwähnen 
sind  auch  die  Strafbestimmungen  des  G.  vom  15.  Juli  1889  über  die  Rekru- 
tierung des  Heeres,  und  des  G.  gegen  die  Spionage  vom  18.  April  1886. 

Das  Forstgesetz  (Code  forestier)  stammt  aus  dem  Jahre  1827.  Es  regelt 
die  Ausübung  der  Forstpolizei  zum  Schutze  und  zur  Erhaltung  der  Gehölze 
und  Wälder,  die  Strafverfolgung  der  innerhalb  derselben  begangenen  Delikte 
durch  die  Forstverwaltung,  sowie  die  Art  und  die  Vollstreckung  der  wegen 
derselben  zu  erkennenden  Strafen  (Geld  und  Gef.). 

Unser  Feldgesetz  (Code  rural)  ist  bruchstückweise  erlassen;  es  besteht 
aus  den  G.:  vom  6.  Oktober  1791  über  die  ländlichen  Gebräuche  und  die 
Feldpolizei  (vgl.  G.  vom  21.  Juli  1881);  vom  3.  Mai  1844  über  die  Jagd  (dessen 
Bestimmungen,  besonders  soweit  sie  sich  auf  den  Verkauf  von  Wild  während 
der  Schonzeit  beziehen,  gegen wärtig  revidiert  werden) ;  vom  31.  Mai  1865  über 
den  Fischfang;  vom  20.  August  1881  über  die  Feldwege  und  deren  Benutzung; 
vom  9.  April  1889  über  die  Haustiere;  vom  9.  Juli  1889  über  das  Triftrecht 
(parcours),  die  Weinlese,  das  Mieten  von  Dienstboten  usw. 

Seit  Erlass  des  G.  vom  29.  Juli  1881,  durch  das  zahlreiche  auf  Pressdelikte 
sich  beziehende  Gesetze  abgeschafft  sind,  besitzt  Frankreich  ein  vollständiges 
Pressgesetz.     Die  Bestimmungen  desselben  über  Druckereien  und  Buchhandel, 


§  6.    Das  StR.  der  Spezialgesetze.  459 


Herausgabe  von  periodischen  Druckschriften,  Anschlag^wesen,  Kolportage  und 
Verkauf,  Bestrafung  der  mittels  der  Presse  begangenen  oder  hervorgerufenen 
strafbaren  Handlungen  gegen  den  Staat,  gegen  Private  und  gegen  auswärtige 
Staatsoberhäupter  oder  Gresandte,  über  Straffreiheit  von  parlamentlichen  oder 
gerichtlichen  Referaten,  über  den  Elreis  der  verantwortlichen  Personen  —  sind 
äusserst  liberal.  Den  Druckern  oder  Herausgebern  werden  keinerlei  Präventiv- 
massregeln auferlegt.  Die  Verletzung  der  Vorschriften  wird  teils  durch  die 
Schwurgerichte,  teils  durch  die  Strafkammern  (tribunaux  correctionnels),  teils 
durch  die  Polizeigerichte  (tribunaux  de  police)  abgeurteilt. 

Unter  den  eigentlichen  Spezialgesetzen  verdienen  die  zum  Schutze 
der  Kinder  erlassenen  an  erster  Stelle  erwähnt  zu  werden.  Das  G.  vom 
24.  Juli  1889  ergänzt  die  völlig  ungenügenden  Bestunmungen  des  Code  civil 
und  des  G.  p.  über  den  Missbrauch  der  väterlichen  Gewalt;  dieser  hat,  je 
nach  der  Schwere  des  Falls,  den  Verlust  der  väterlichen  oder  vormundschaft- 
lichen Gewalt  von  Rechts  wegen  oder  auf  Grund  besonderer  Anordnung  zur 
Folge.  Das  G.  hätte  andrerseits  es  nicht  unterlassen  sollen,  den  Eltern  ge- 
eignete Mittel  an  die  Hand  zu  geben,  um  gegen  das  ungebührliche  Verhalten  ihrer 
Kinder  einzuschreiten;  die  durch  die  Art.  375 — 383  des  Code  civil  zugelassenen 
Strafmittel  (Haft  bis  zu  6  Wochen)  sind  völlig  ungenügend  und  unwirksam.  — 
Die  G.  vom  23.  Dezember  1874  über  den  Schutz  und  die  Ernährung  der  Eänder 
im  frühesten  Lebensalter,  vom  2.  November  1892  über  die  Beschäftigung 
von  Kindern  und  minderjährigen  Mädchen  in  der  Industrie,  und  vom  7.  De- 
zember 1874  (Art.  2)  über  den  Gewerbebetrieb  im  umherziehen,  gewähren, 
bei  energischer  Handhabung,  dem  Leben,  der  Gesundheit  und  der  Sittlichkeit 
der  Jugend  einen  grossen  Teil  des  derselben  sonst  fehlenden  Schutzes.  — 
Ein  G.-Entw.  über  die  unterstützungsbedürftigen  Kinder  (enfants  assist^s)  wird 
vorbereitet. 

Dem  Schutze  der  Sittlichkeit  und  der  Gesundheit  der  Erwachsenen  dient 
zunächst  das  G.  zur  Bekämpfung  der  Trunksucht  vom  23.  Januar  1873.  Die 
weisen  Bestimmungen  desselben  werden  leider  einerseits  nicht  energisch  genug 
gehandhabt,  andrerseits  dadurch  völlig  illusorisch  gemacht,  dass  seit  dem  G. 
vom  17.  Juli  1880  die  Errichtung  von  Schankstellen  völlig  frei  und  nur  von 
einer  Anzeige  bei  der  Behörde  abhängig  ist.  —  Dem  gleichen  Zwecke  dienen 
die  Gesetze  undVdgn.  über  ungesunde  Wohnungen  (25.  Mai  1864),  ungesunde 
Werkstätten  usw. 

Zum  Schutze  der  erwachsenen  Arbeiter  in  den  Fabriken,  sowie  über 
Arbeiterversicherungswesen  werden  gegenwärtig  G.-Entw.  ausgearbeitet;  indes 
ist,  bei  den  ungeheueren  Schwierigkeiten,  welche  die  Lösung  der  mit  diesen 
umfassenden  Materien  zusammenhängenden  Fragen  durch  den  Staat  bietet, 
kaum  anzunehmen,  dass  dieselben  in  absehbarer  Zeit  zur  Annahme  gelangen 
werden.  —  Beztlglich  der  Handhabung  der  Gesundheitspolizei  an  den  Land- 
imd  Wassergrenzen  gilt  das  G.  vom  3.  März  1822,  welches  gegen  Zuwider- 
handlungen teils  Todesstrafe,  teils  mildere  Strafen  androht,  zu  denen  Geldstrafe 
von  200 — 20000  Frcs.  hinzutreten  können.  Vgl.  das  G.  über  die  Veterinär- 
polizei vom  21.  Juli  1881. 

Die  öffentliche  Sicherheit  wird  geschützt  durch  dieG.:  über  das  Ver- 
einswesen (10.  April  1834),  über  die  Klubs  (21.  Juni  1851),  über  die  Abhaltung 
von  öffentlichen  Versammlungen  (9.  Juni  1868),  über  die  Vereinigungen  (coa- 
litions)  (25.  Mai  1864),  über  öflFentiiche  Ansammlungen  (ist  bereits  oben  bei 
Art.  213  erwähnt),  über  internationale  Verbindungen  (14.  März  1872)  usw. 

Die  Solidität  des  Handels  und  des  öffentlichen  Kredits  wird,  soweit 
die  Ausgabe  und  der  Vertrieb  von  Aktien,  die  Verteilung  fingierter  Dividenden 
und  die  Gründung  von  Handelsgesellschaften   in  Frage  kommt,    sichergestellt 


460  Frankreich.  —  Das  Strafrecht  der  französischen  Kolonieen. 


durch  die  Art.  13 — 16,  45,  66  und  61  des  G.  über  die  Handelsgesellschaften 
vom  24.  Juli  1867.  —  Eine  Abänderung  dieses  G.  sowie  des  Art.  241  des 
StGB,  über  Wetten  und  Börsenspiel  ist  seit  längerer  Zeit  beabsichtigt. 

Das  geistige  Eigentum  an  litterarischen  Werken  und  an  Werken  der 
bildenden  Kunst,  sowie  das  Recht  auf  ausschliessliche  Ausnutzung  von  Patenten, 
Fabrikmarken  usw.  wird  —  ausser  durch  die  Art.  425 — 429  des  StGB.  — 
zu  Gunsten  von  Inländern  und  Ausländem  geschützt  durch  die  Verordnungen 
vom  24.  Juli«  1793  und  28.  März  1852,  welche  den  Nachdruck  mit  Geldstrafe 
bedrohen;  durch  das  Patentgesetz  (loi  sur  les  brevets  d'invention)  vom  5.  Juli 
1844  (Art.  40 — 49),  und  das  G.  über  die  Fabrik-  und  Handelsmarken  vom 
23.  Juni  1857  (Art  7—15). 

Die  Sicherheit  der  Eisenbahntransporte  wird  geschützt  durch  das  G. 
vom  15.  Juli  1845  über  die  Bahnpolizei;  die  Aufsicht  liegt  in  den  Händen 
besonderer  Kommissare  (G.  vom  27.  Februar  1850). 

Die  Verletzung  des  Brief-  und  Telegrammgeheimnisses  wird  durch  G. 
mit  Strafe  bedroht,  welche  den  völlig  ungenügenden  Art.  187  des  StGB,  ergänzen. 

Endlich  ist  noch  die  Steuer-  und  Zollgesetzgebung  zu  erwähnen, 
die  zahlreiche  Strafandrohungen  enthält.  Das  G.  vom  22.  Frimaire  des  Jahres  VII 
(Art.  33 — 40)  droht  gegen  die  Hinterziehung  von  gewissen  Eintragsgebühren 
Geldstrafen  an,  die  in  der  Regel  in  einem  Vielfachen  des  hinterzogenen  Be- 
trages bestehen;  es  wird  ergänzt  durch  die  G.  vom  23.  August  1871  und  vom 
21.  Juni  1875,  die  den  Zollbeamten  die  Vornahme  von  Untersuchungshandlungen 
zur  Feststellung  des  Thatbestandes  gestatten.  Das  G.  vom  23.  August  1871 
modifiziert  die  friiher  erlassenen  Stempelgesetze,  insbesondere  das  G.  vom 
13.  Brumaire  des  Jahres  VII  (Art.  26 — 30).  Die  Einziehung  der  direkten  Steuern 
wird  gesichert  durch  die  G.  vom  12.  November  1808  und  vom  28.  Pluvlöse 
des  Jahres  VUI  (Art.  4),  die  der  indirekten  Steuern  sowie  der  verschiedenen 
Taxen  durch  die  Gesetze,  durch  welche  sie  eingeführt  sind.  Während  die 
gegen  die  letzteren  verübten  Delikte  von  den  ordentlichen  Strafgerichten  ab- 
geurteilt werden,  gehört  die  Rechtsprechung  über  die  bei  den  direkten  Steuern 
vorgekommenen  Unregelmässigkeiten  zur  Zuständigkeit  der  Verwaltungs- 
behörden. 

Der  Wucher  ist  nur  strafbar,  wenn  er  gewohnheitsmässig  betrieben 
wird.  Der  Zinsfuss  bei  Darlehen  ist  für  die  Handelsgewerbe  nicht  beschränkt; 
im  übrigen  darf  er  nicht  mehr  als  5®/q  jährlich  betragen.  Der  gesetzliche 
Zinsfuss  beträgt  bei  Handelssachen  6,  bei  anderen  Sachen  5^/^  (G.  v.  19.  De- 
zember 1850  und  12.  Januar  1886). 


m.   Das  Strafrecht  der  französischen  Kolonieen. 

§  7. 

Das  in  Frankreich  geltende  Strafrecht  ist  zum  grössten  Teil  auch  auf 
die  französischen  Kolonieen  ausgedehnt.  Eine  Aufzählung  der  gesetzgeberischen 
Akte,  durch  welche  die  Strafgesetze  in  denselben  veröffentlicht  sind,  enthält: 
Sauvel,  Les  codes  criminell  des  Etablissements  fran9ais  de  Tlnde,  Paris  1884. 

Die  wenigen  vorhandenen  besonderen  Bestimmungen  hier  aufzuzählen, 
verbietet  der  beschränkte  Raum.  Bezüglich  Algiers  verweise  ich  auf  zwei 
Werke  von  Jacquey:  De  l'application  des  lois  fran^aises  en  Algc^rie,  1883, 
und  von  Albert  Desjardins:  De  Tapplication  des  lois  criminelles  en  Alg^rie 
et  dans  les  colonies  (Revue  critique,  1886). 


2.  Belgien. 


I.   Der  Code  pönal/) 

§  1.  C^esehlchtUches. 

Nachdem  Belgien  anfangs  unter  der  Herrschaft  der  Lex  Salica  gestanden 
hatte,  galt  im  Mittelalter  lokales  StR.,  wie  es  in  den  Keuren  oder  Gemeinde- 
Satzungen  enthalten  war.  Von  der  Zeit  Karls  V.  bis  zum  18.  Jahrhundert  wur- 
den strafrechtliche  Bestimmungen  erlassen  in  „Edikten^*  und  „ Ordonnanzen '^ 
Verfügungen  des  Herrschers,  die  nach  besonderer  Verkündigung  in  jeder  Provinz 
im  ganzen  Lande  Geltung  hatten.  Nach  der  Zeit  Karls  V.  und  Philipps  H.  ver- 
suchten Maria  Theresia  und  Joseph  II.  einzelne  Teile  der  StGgebung  zu  re- 
formieren. Doch  gelang  bis  zur  französischen  Eevolution  eine  Kodüizierung 
des  StR.  in  Belgien  ebensowenig  wie  in  den  übrigen  europäischen  Staaten. 
Nur  das  Strafprozessrecht  wurde  kodifiziert.  Die  strafrechtlichen  Bestimmungen 
hatten  daher  ihren  gewohnheitsrechtlichen  und  damit  durchaus  nationalen 
Charakter  bewahrt,  bis  sie  im  Strudel  der  Revolution  verschwanden  und  neuen 
Gesetzen  fremden  Ursprungs  Platz  machten.  Als  am  Ende  des  J.  1792  die  bel- 
gischen Provinzen  von  der  französischen  Armee  besetzt  und  durch  Dekret  vom 
9.  Vendömiaire  des  J.  IV  (1.  Oktober  1795)  mit  Frankreich  vereinigt  wurden, 
gelangten  alle  seit  1789  erlassenen  Gesetze  und  mit  ihnen  der  von  der  kon- 
stituierenden Nationalversammlung  angenommene  C.  p.  von  1791  auch  in  Belgien 
unmittelbar  zur  Einführung. 

Bis  18 lö  blieben  die  Geschicke  des  Landes  an  die  Frankreichs  gekettet; 
die  napoleonische  Gesetzgebung  wurde  auch  hier  eingeführt,  und  wie  in  allen 
dem  französischen  Kaiserreiche  angehörigen  Ländern  von  Rom  bis  Hamburg 
trat  auch  in  Belgien  der  berühmte  C.  p.  von  1810  in  Kraft.  Bei  der  Teilung 
des  Kaiserreichs  wurde  Belgien  mit  Holland  zu  dem  Königreich  der  Nieder- 
lande vereinigt,  dessen  Regierung  die  Strafmasse  herabsetzte,  die  Vermögens- 
konfiskation abschaffte,  im  übrigen  aber  die  wesentlichen  Bestimmungen  des  C. 
von  1810  nicht  antastete. 

Nachdem  Belgien  1830  endlich  die  Unabhängigkeit  erlangt  und  der 
Nationalkongress   die  Notwendigkeit  einer  nationalen  Gesetzgebung  anerkannt 


*)  J.  J.  Haus,  Principes  g6n6raux  du  droit  p^nal  beige.  2  Bde.  3.  Aufl.  Gent 
1874.  Patria  Belgica,  Encyclop^die  nationale  par  von  Bemmel  Bd.  II,  S.  619.  Nypels, 
Le  droit  p^nal.  3  Bde.  Brüssel,  Christophe  Bruylant,  1873.  —  Nypels,  Le  code  penal 
beige  interpr6t6.  3  Bde.  Brüssel,  Christophe  Bruylant,  1867.  —  Nypels,  Legislation 
criminelle  de  la  Belgique  ou  Commentaire  et  Compl^ment  du  code  p6nal  beige.  4  Bde. 
Brüssel,  Christophe  Bruylant,  1872.  —  Thiry,  Cours  de  Droit  crimlnel.  1  Bd.  Lüttich, 
Desoer,  1892.  —  Prins,  Criminalit6  et  Repression.    1  Bd.   Brüssel,  Muquardt,  1886. 


462  Belgien.  —  Der  Code  pönal. 


hatte,  ordnete  die  Verfassnng  von  1831  die  Revision  der  GB.  an.  Durch 
die  Verfassung  selbst  wurde  ausserdem  gleichzeitig  die  AbschafPting  der  Strafe 
des  bürgerlichen  Todes  neu  verfügt,  die  der  VermOgenskonfiskation  dagegen 
aufrecht  erhalten. 

Die  Vorarbeiten  für  das  StGB,  begannen  1834  mit  der  Ausarbeitung 
eines  Revisionsplanes  durch  eine  Spezialkommission.  Im  Jahre  1848  wurde 
durch  königliche  Vdg.  zur  Ausführung  weiterer  Vorarbeiten  eine  neue 
Kommission  (der  unter  anderen  Haus  und  Nypels  als  Mitglieder  angehörten) 
niedergesetzt;  dieselbelegte  den  Kammern  alsbald  den  ersten  Teil  ihres  Werkes 
vor.  Nachdem  Belgien  56  Jahre  lang  unter  der  Herrschaft  des  französischen 
C.  p.  gestanden  hatte,  wurde  am  15.  Oktober  1867  der  jetzt  geltende  C.  p. 
ein  Werk  achtzehnjähriger  Arbeit  und  Thätigkeit,  publiziert. 

§  2.    Der  Code  p^^nal  ron  1867. 

Die  theoretische  Grundlage  des  C.  p.  v.  1867  und  die  Anschauungen,  von 
denen  seine  Verfasser  ausgingen,  sind  den  im  Code  v.  1810  herrschenden  dia- 
metral entgegengesetzt.  Die  Verfasser  des  letzteren  gehörten  zu  der  unter 
Benthams  Einflüsse  stehenden  Schule,  welche  in  der  Notwendigkeit  der  Strafe 
deren  einzige  Rechtfertigung  sahen.  „C'est  la  n6cessit6  de  la  peine  qui  la 
rend  legitime",  sagte  Target.  Diese  Theorie  von  der  Notwendigkeit  der  Strafe 
gefiel  dem  despotischen  Sinne  Napoleons,  der  auch  dem  StGB,  den  Stempel 
seines  Geistes  aufprägte.  Indem  er  den  Kriminalisten  die  Abschreckung  als 
Hauptzweck  der  Strafe  empfahl,  verleitete  er  sie  zu  einer  übertriebenen  Ver- 
schärfung der  Strafmittel.  Handlungen,  welche  an  und  für  sich  zum  Teil 
überhaupt  keine  Strafe  verdienten,  werden  als  Verbr.  und  Verg.  charakteri- 
siert; der  Versuch  wird  stets  mit  gleichem  Masse  gemessen  wie  das  vollendete 
Delikt,  die  Beihülfe  der  Mitthäterschaft  gleichgestellt;  die  nicht  selten  durch 
Verstümmelung  verschärfte  Todesstrafe  wird  in  erschreckendem  Umfange  an- 
gedroht. Der  Code  v.  1810  kennt  noch  körperliche  und  entehrende  Strafen, 
den  bürgerlichen  Tod,  die  Vermögenskonfiskation,  die  Brandmarkung,  den 
Pranger,  die  Stellung  unter  Polizeiaufsicht.  Häufig  finden  sich  die  verschieden- 
artigsten Fälle  in  einem  Paragraphen  behandelt,  sodass  man  Rossi  beistimmen 
muss,  wenn  er  sagt:  „der  Verfasser  des  Code  v.  1810  bedroht  mit  einer  ge- 
wissen Gleichgültigkeit  eine  Unmasse  von  Handlungen  mit  Strafe".  That- 
bestände,  die  miteinander  keinerlei  Ähnlichkeit  haben,  werden  unter  einen 
zu  engen  Begriff  zusammengefasst,  die  Schwere  der  Strafen  steht  in  empören- 
dem Missverhältnis  zu  der  der  Strafthaten,  das  System  der  erschwerenden 
Umstände  ist  schwerfällig. 

Auf  diese  Missstände  wurde  von  der  Strafrechtswissenschaft  zur  Zeit  der 
Ausarbeitung  des  neuen  StGB,  nachdrücklich  hingewiesen;  man  betonte,  dass 
der  Code  v.  1810  nicht  dem  Geiste  des  Fortschritts,  sondern  dem  des  Rück- 
schritts seine  Entstehung  verdanke;  jedenfalls  müsse  die  neu  zu  schaffende 
StGgebung  mit  den  seit  dem  Erlass  der  Kodifikationen  des  Kaiserreichs  in 
Europa  entstandenen  Reformen  wie  mit  den  Ideeen  modemer  Civilisation  in 
Einklang  gebracht  werden. 

In  diesem  Sinne  wurde  der  Code  v.  1867  ausgearbeitet.  Die  Recht- 
fertigung der  Strafe  wird  nicht  in  ihrer  Notwendigkeit,  sondern  in  ihrer  Ge- 
rechtigkeit gefunden  —  nicht  mehr  Benthams,  sondern  Rossis  Schüler  sind  für 
dieses  Grundprinzip  des  GB.  massgebend  gewesen.  Die  Überzeugung  von 
der  Nützlichkeit  der  Strafe  ist  ebenfalls  von  Einfiuss,  dient  aber  nicht  dazu, 
das  Recht  zu  strafen  zu  begründen,  sondern  lediglich  dazu,  die  Anwendung 
desselben  auf  das  notwendige  Mass  zu  beschränken.   Dem  Gesetzgeber  v,  1867 


§  8.    Allgemeine  Grundsätze.  463 


ißt  die  Wiederherstellung  der  öffentlichen  Ordnung  der  Hauptzweck  der  Strafe. 
Die  menschliche  Gesellschaft  straft  nicht  mehr  ausschliesslich  um  abzuschrecken ; 
gewiss  soll  die  Strafe  auch  zur  Warnung  dienen,  sie  soll  aber  vor  allem  bessern 
und  den  Schuldigen  auf  den  Weg  des  Guten  zurückführen.  Man  kann  das 
Grundprinzip  des  Code  v.  1867  kurz  bezeichnen  als:  Reaktion  gegen  das 
Verbr.  in  den  Grenzen  der  Notwendigkeit  und  Gerechtigkeit,  in  der  Hoffnung 
auf  Besserung  des  Verurteilten.  Von  diesen  Anschauungen  Hessen  sich  die 
Verfasser  bei  der  Ausarbeitung  sowohl  des  allgemeinen  wie  des  besonderen 
Teils  leiten. 

§  3.    Allgemeine  Ctnmdsltze. 

Im  aUgemeinen  Teile  (Art.  1 — 100)  ist  das  Bestreben  nach  Milderung  an 
den  Bestimmungen  über  den  Versuch  zu  erkennen;  die  Strafe  desselben  ist 
diejenige,  welche  der  Schwere  nach  auf  die  für  das  vollendete  Verbr.  fest- 
gesetzte unmittelbar  folgt  (Art.  52).  Auch  der  Gehülfe  wird  milder  bestraft 
als  der  Mitthäter.  —  In  Bezug  auf  den  Rückfall  hatte  der  Code  v.  1810  dra- 
konische Vorschriften  und  zwang  den  Richter,  stets  eine  schwerere  Strafart 
anzuwenden;  das  belgische  StGB,  verfällt  dem  entgegengesetzten  Extrem,  leitet 
aus  dem  Rückfall  lediglich  die  Vermutung  für  einen  höheren  Grad  des  Ver- 
schuldens her  und  stellt  es  in  allen  Fällen  in  das  Ermessen  des  Richters,  ob 
er  das  Strafmass  erhöhen  will  oder  nicht.  Wenn  er  es  erhöht,  so  bezieht  sich 
die  Erhöhung  nur  auf  die  Dauer,  nicht  auch  auf  die  Art  der  Strafe,  da  der 
Rückfall  die  Art  der  Strafthat  nicht  verändert  (Art.  54  und  19).  —  Andrer- 
seits kennt  der  Gesetzgeber  ein  vollständiges  und  sehr  weitgehendes  System 
mildernder  Umstände,  die  nicht  nur  bei  allen  Verbr.  und  Verg.,  sondern  sogar 
bei  Übertretungen  zugebilligt  werden  können.  Bei  Verbr.  hat  die  Zubilligung 
stets  eine  Modifikation  der  Normalstrafe,  nämlich  die  Herabsetzung  um  min- 
destens einen  Grad,  zur  Folge;  bei  Verg.  kann  der  Richter  die  Strafe  bis  zum 
Mindestmass  der  Polizeistrafen,  bei  Übertretungen  bis  zu  Geldstrafe  von  1  Frc. 
ermässigen.  Selbst  einem  Rückfälligen  kann  der  Gerichtshof  mildernde 
Umstände  zubilligen  und  damit  die  Strafe  herabsetzen.  —  Wie  man  sieht,  ist 
der  Grundsatz  der  Milde  bis  zur  äussersten  Grenze  des  Zulässigen  durch- 
geführt; zur  Strenge  ist  der  Richter  gesetzlich  nicht  gezwungen,  seiner  Milde 
und  Menschlichkeit  sind  dagegen  keinerlei  Schranken  gesetzt. 

Die  Behandlung  der  Fälle  des  Zusammentreffens  mehrerer  strafbarer 
Handlungen  (Art  58  ff.)  will  die  zu  harte  Wirkung  des  Prinzips  der  Kumu- 
lierung der  Strafen  abschwächen,  ohne  in  die  übertriebene  Nachsicht  des  Ab- 
sorptionsprinzips zu  verfallen. 

Der  Code  enthält  nichts  über  die  Frage  der  Verantwortlichkeit.  Der 
Gesetzgeber  hat  eine  Definition  des  Begriffs  der  Zurechnungsfähigkeit  nicht 
für  erforderlich  erachtet  und  den  Ausbau  dieses  wesentlichen  Teils  der  Straf- 
rechtslehre der  Wissenschaft  und  Praxis  überlassen.  Übrigens  hatte  das  Pro- 
blem der  Verantwortlichkeit  zu  der  Zeit,  wo  die  Art.  des  Code  v.  1867  in  den 
gesetzgebenden  Körperschaften  beraten  wurden,  noch  nicht  diejenige  hohe 
Bedeutung,  welche  es  heute  beansprucht.  Die  Verfasser  des  Code  und  vor 
allen  ihr  hervorragendes  geistiges  Oberhaupt,  Haus,  sahen  in  dem  Verbrecher 
lediglich  den  abstrakten  Typus  des  hinreichend  intelligenten  und  willensfähigen 
Normalmenschen;  dass  die  Beurteilung  des  Willens  und  des  Unterscheidungs- 
vermögens Änderungen  unterliegen  und  Schwierigkeiten  verursachen  könnte, 
kam  ihnen  nicht  in  den  Sinn,  sie  beschränkten  sich  deshalb  darauf,  negativ 
diejenigen  Umstände  gesetzlich  zu  fixieren,  bei  deren  Vorhandensein  die  Zu- 
rechnung ausgeschlossen  ist.    Diese  letzteren  sind:  Geisteskrankheit  und  Zwang 


464  Belgien.  —  Der  Code  p6nal. 


(Art.  71),  femer,  vorausgesetzt,  dass  der  Richter  das  Vorhandensein  des  ünter- 
scheidungsvermögens  verneint,  Taubstummheit  und  Alter  unter  16  Jahren  (Art. 
72  und  76).  Es  sei  darauf  hingewiesen,  dass  das  GB.  eine  Altersstufe,  in 
welcher  jede  Strafverfolgung  unzulässig  ist,  nicht  kennt.^) 

Das  System  der  Ausschliessungsgründe  für  die  Strafzumessung  ist  un- 
vollständig; Theorie  und  Praxis  haben  sich  daher  genötigt  gesehen,  dasselbe 
unter  Zurückgehen  auf  allgemeine  Grundsätze  zu  ergänzen. 

Neben  den  Gründen,  welche  die  Zurechnung  ausschliessen,  kennt  das 
G.  auch  solche,  welche  sie  vermindern  und  damit  eine  Strafmilderung  bewirken. 
Dieses  sind:  jugendliches  Alter  und  Taubstummheit,  wenn  der  Richter  das 
Vorhandensein  des  Unterscheidungsvermögens  feststellt  (Art.  73  und  76),  ausser- 
dem bei  Körperverletzung  und  bei  den  Tötungsdelikten  der  Umstand,  dass  der 
Thäter  entweder  von  dem  Verletzten  durch  schwere  widerrechtliche  Gewalt- 
thätigkeiten  zum  Zorne  gereizt  ist  oder  ihn  beim  Ehebruch  auf  frischer  That- 
betroflfen  hat  (Art.  411  ff.). 

§  4.    Einteilung  der  strafbaren  Handinngen. 

Bezüglich  der  Einteilung  der  strafbaren  Handlungen  befolgt  auch  der 
Code  V.  1867  das  System  der  Dreiteilung  der  Delikte  in  Verbr.,  Verg.  und  Über- 
tretungen je  nach  der  für  eine  Handljing  angedrohten  Strafart  (peine  crimi- 
nelle, peine  correctionnelle ,  peine  de  police).  Dem  gegen  diese  Einteilung 
erhobenen  Vorwurf  der  Willkürlichkeit  haben  die  Verfasser  des  Gesetzes  ent- 
gegengehalten, dass  dieselbe  durchaus  folgerichtig  und  gerecht  sei,  da  ja  die 
Schwere  der  Strafe  von  der  Schwere  der  That  abhängig  sei.  Bei  der  Ten- 
denz der  Gegenwart,  unter  den  Strafmitteln  die  Freiheitsstrafe  besonders  zu 
betonen  und  so  durch  Schaffung  einer  nur  der  Dauer  nach  verschiedenen 
Straffolge  dem  Strafensystem  einen  immer  mehr  einheitlichen  Charakter  zu 
verleihen,  würde  wohl  die  einfachere  Einteilung  der  Delikte  in  schwere  und 
leichte  den  Vorzug  verdienen;  der  Gesetzgeber  ist  jedoch  dieser  Frage  nicht 
näher  getreten. 

Bei  der  weiteren  Einteilung  der  Verbr.  und  Verg.  in  Deliktgruppen 
ist  der  Gegenstand,  auf  welchen  sich  der  strafbare  Angriff  richtet,  mass- 
gebend. Dementsprechend  kennt  der  Code  9  Gruppen  von  Verbr.  und  Verg.: 
gegen  die  Sicherheit  des  Staates,  gegen  die  von  der  Verfassung  gewährleisteten 
Rechte,  gegen  Treu  und  Glauben,  Angriffe  gegen  die  öffentliche  Ordnung  von 
Seiten  eines  Beamten,  ebensolche  von  selten  eines  Privatmannes,  Delikte  gegen 
die  öffentliche  Sicherheit,  gegen  die  Ordnung  des  Familienlebens,  gegen  die 
öffentliche  Sittlichkeit,  Verletzung  von  Personen  und  Sachbeschädigung.  Die 
Übertretungen  sind  nach  der  Höhe  des  Strafmasses  in  4  Klassen  eingeteilt. 
Diese  Einteilung  ist  eine  summarische  und  hauptsächlich  der  Übersichtlichkeit 
wegen  vorgenommen;  eine  vollkommen  genaue  Einteilung  der  strafbaren  Hand- 
lungen dürfte  überhaupt  unmöglich  sein.  Immerhin  hat  der  Gesetzgeber  durch 
Schaffung  von  Unterabteilungen  innerhalb  der  einzelnen  Gruppen  und  durch 
Aufstellung  eines  der  Spezialisierung  der  Strafthaten  entsprechend  spezialisierten 
Strafensystems  auch  in  dieser  Beziehung  eine  massvolle  Reaktion  gegen  das 
Verbr.  gesichert. 

§  5.    Die  Strafen. 

Über  das  Strafensystem  des  Code  möge  folgendes  bemerkt  werden. 
Verbrechensstrafen  sind:    Die  Todesstrafe,  die  jedoch  seit  einer  langen 

^)  Der  G.-Entw.  über  den  Kinderschutz  füllt  diese  Lücke  aus  und  setzt  das 
zehnte  Lebensjahr  als  Grenze  für  die  Zulässigkeit  der  Strafverfolgung  fest. 


§  5.    Die  Strafen.  465 


Reihe  von  Jahren  in  Belgien  stets  umgewandelt  wird,  sodass  Hinrichtungen 
thatsächlich  nicht  mehr  stattfinden;  Zwangsarbeit  auf  Zeit  oder  lebenslänglich; 
Einsperrung  auf  Zeit  oder  lebenslänglich  (ftlr  politische  Delikte);  Zuchthaus 
von  6  bis  10  Jahren. 

Vergehens-  und  Übertretungsstrafe  ist  Gefängnis  (emprisonnement), 
welches  als  „emprisonnement  correctionnel"  eine  Dauer  von  mindestens  8  Tagen 
und  höchstens  5  Jahren,  als  „emprisonnement  de  police'^  eine  solche  von 
mindestens  1  Tage  und  höchstens  7  Tagen  hat. 

Die  Aberkennung  gewisser  politischer  und  bürgerlicher  Ehrenrechte  findet 
sich  als  Strafe  für  Verbr.  und  Verg.  angedroht,  Geldstrafe  und  Einziehung 
einzelner  Gegenstände  bei  allen  Deliktsarten. 

Wegen  einer  Übertretung  kann  auf  Geldstrafe  von  1  bis  25  Frcs.  er- 
kannt wei'den;  die  geringste  Summe  bei  Verbr.  und  Verg.  ist  26  Frcs.,  die 
höchste  in  einigen  Artikeln  vorkommende  10  000  Frcs.  Eine  Betrachtung  der 
einschlägigen  Artikel  des  C.  p.  ergiebt,  dass  der  Gesetzgeber  den  Bestimmungen 
über  die  Geldstrafe  die  nötige  Beweglichkeit  und  Anpassung  an  die  Lebens- 
verhältnisse gegeben  hat.  In  der  Praxis  freilich  hat  man  sich  dieses  nicht  zu 
nutze  gemacht,  vielmehr  leidet  die  Handhabung  der  Geldstrafe  in  Belgien  an 
den  gleichen  Mängeln  wie  in  den  übrigen  Ländern:  die  Verurteilten  gehören 
fast  immer  der  besitzlosen  Klasse  an,  die  Strafe  ist  daher  in  den  meisten 
Fällen  nicht  beizutreiben  und  muss  in  Freiheitsstrafe  umgewandelt  werden. 

Ausgehend  von  dem  Grundsatz,  dass  die  Strafe  innerhalb  der  Grenzen 
des  Notwendigen  bleiben  muss  und  die  Besserung  des  Schuldigen  stets  zu 
erstreben  ist,  hat  der  Gesetzgeber  v.  1867  die  Brandmarkung,  den  Pranger, 
die  körperlichen  und  die  entehrenden  Strafen  abgeschafft,  indem  er  richtig 
erkannt  hat,  dass  alle  diese  Bestimmungen  des  älteren  Rechts  nicht  nur  unprak- 
tisch, sondern  auch  gefährlich  sind. 

Ebenso  wird  von  der  Verbannung  und  der  Landesverweisung,  als  der 
bessernden  Wirkung  der  Strafe  widersprechend,  kein  Gebrauch  gemacht.  Da 
im  J.  1867  eine  Aussicht  auf  Erwerbung  von  Eolonieen  für  Belgien  nicht 
bestand,  so  sind  auch  Deportation  und  Relegation  nicht  angedroht. 

Da  die  Todesstrafe  durch  die  Ausübung  des  Begnadigungsrechts  that- 
sächlich abgeschafft  ist  und  die  Geldstrafe  nur  eine  nebensächliche  Rolle  spielt, 
so  beruht  das  gesamte  belgische  Strafensystem  auf  der  Gefängnisstrafe,  die 
damit  den  Beruf  hat,  die  drei  vom  Gesetzgeber  erstrebten  wesentlichen  Wir- 
kungen der  Strafe  —  Züchtigung,  Abschreckung  und  Besserung  —  in  sich  zu 
vereinigen.  Um  diese  zu  erreichen,  hat  man  als  Modus  der  Strafvollstreckung 
die  Einzelhaft  gewählt,  die  im  G.  vom  4.  März  1870  vorgeschrieben  wird.  Die 
Folge  davon  ist,  dass  die  klassische  Unterscheidung  der  Freiheitsstrafen  in 
Zwangsarbeit,  Zuchthaus  und'  Gef.  ihre  wesentliche  Bedeutung  eingebüsst  hat 
und  lediglich  auf  dem  Papiere  steht.  Da  das  Zellensystem  eine  grosse  Gleich- 
mässigkeit  in  der  Behandlung  der  Gefangenen  mit  sich  bringt,  so  unterscheiden 
sich  die  Strafarten  nur  noch  durch  ihre  Dauer  und  gewisse  Bestimmungen 
über  die  Höhe  des  den  Sträflingen  zu  belassenden  Arbeitsverdienstanteils. 

Die  zu  lebenslänglicher  oder  langjähriger  Einsperrung  Verurteilten  dürfen 
ohne  ihre  Einwilligung  nicht  länger  als  10  Jahre  in  Einzelhaft  gehalten 
werden.  Da  femer  die  Einzelhaft  als  die  schwerere  Strafe  gegenüber  der  ge- 
meinsamen Haft  betrachtet  wird,  so  bestimmt  das  G.  v.  1870,  dass  die  Dauer 
der  in  Einzelhaft  verbüssten  Strafen  nach  einem  im  G.  aufgestellten  Mass- 
stabe verkürzt  werden  soll;  die  Kürzung  ist  um  so  grösser,  je  länger  die 
Dauer  der  zu  verbüssenden  Strafe  ist.  Diese  auf  alle  Freiheitsstrafen  von 
mehr  als  1  Monat  Gef.  Anwendung  findende  milde  Bestimmung  bedeutet  eine 
Abschwächung  der  Reaktion  gegen  das  Verbr.,  vor  allem  bei  leichteren  Straf- 

Strafgesetzgebiing  der  Gegenwart.  I.  30 


466  Belgien.  —  Die  übrigen  Gesetze  straA-echtlichen  Inhalts. 


thaten.  Denn  wenn  man  aacb  eine  Strafv^erkflrznng  bei  langer  Dauer  der 
Einzelhaft  für  erforderlich  erachten  mag,  so  ist  doch  nicht  einzusehen,  wes- 
halb es  notwendig  oder  anch  nur  zweckmässig  ist,  die  Daner  der  kurzzeitigen 
Freiheitsstrafen  noch  weiter  zu  vermindern.  Diese  Verkürzung  ist  um  so 
weniger  gerechtfertigt,  als  der  Strafrichter  sich  darauf  beschränkt,  die  vom  G-. 
vorgeschriebene  Strafe  anzuwenden  ohne  Kücksicht  auf  die  etwa  im  Verwal- 
tungswege vorzunehmende  Reduzierung;  die  Folge  ist,  dass  der  Verurteilte  die 
ihm  von  Kechts  wegen  durch  den  Richter  zudiktierte  Strafe  thatsächlich  nicht 
erleidet. 

Die  vorstehenden  Ausführungen  über  das  belgische  Strafensystem  müssen 
der  Vollständigkeit  wegen  ergänzt  werden  durch  Erwähnung  des  O.  vom  31.  Mai 
1888  über  die  bedingte  Verurteilung  und  die  bedingte  Freilassung  (loi  6tablis- 
sant  la  lib6ration  conditionneUe  et  les  condamnations  conditionnelles  dans  le 
Systeme  p^nal). 

Dieses  G.  schafft  ein  neues  Strafinittel,  die  bedingte  Verurteilung  zu 
Gunsten  solcher  Verurteilten,  die  noch  keine  Bestrafung  erlitten  haben  und 
deren  Strafe  nicht  mehr  als  6  Monate  Gefängnis  beträgt.  Es  schafft  femer 
eine  neue  StrafvoUstreckungsart,  die  bedingte  Entlassung,  zu  Gunsten  solcher 
Gefangenen,  die  sich  einer  besonderen  Berücksichtigung  würdig  erzeigen  und 
eine  Strafe  von  mindestens  9  Monaten  zu  verbüssen  haben. ^) 

Man  darf  behaupten,  dass  der  Code  v.  1867  in  Beziehung  auf  die 
Befolgung  humaner  Grundsätze  einen  wesentlichen  Fortschritt  gegenüber  dem 
V.  1810  bedeutet.  Er  atmet  den  menschenf^reundlichen  Geist  seiner  Zeit,  das 
Abschreckungsprinzip  findet  in  den  Strafmitteln  keinen  Ausdruck  mehr,  wo- 
gegen der  Schwerpunkt  in  den  Besserungszweck  verlegt  wird.  Andererseits 
ist  er  wohl,  ohne  der  widerspenstigen  Natur  gewisser  Verbrecher  genügend 
Rechnung  zu  tragen,  auf  dem  Wege  der  Milde  zu  weit  gegangen. 

Zwei  neue,  von  den  Kammern  noch  nicht  beratene  Gesetzentwürfe  wollen 
diesen  Mangel  beseitigen.  Ein  Entw.  vom  5.  Juli  1889  über  die  Anwendung 
der  Einzelhaft  hebt  die  in  dem  G.  v.  1870  zu  Gunsten  der  in  Einzelhaft  ge- 
haltenen Sträflinge  vorgesehene  Verkürzung  der  Strafdaaer  auf.  Ein  anderer 
Entw.  vom  15.  April  1890  will  die  Mängel  beseitigen,  welche  dem  Code  in  Bezug 
auf  die  Behandlung  der  Rückfälligen  anhaften,  und  enthält  ein  System  fort- 
schreitender Strafschärfung  entsprechend  der  Zahl  der  vom  Verurteilten  be- 
reits erlittenen  Vorstrafen. 


n.  Die  übrigen  Gesetze  strafrechtliclien  Inlialts. 

§6. 

Der  Code  v.  1867  regelt  nicht  die  Gesamtheit  der  strafrechtlichen  Materien, 
es  giebt  neben  ihm  andere  G.  strafrechtlichen  Inhalts:  das  Mil.-GB.  (C.  mili- 
taire),  das  Feldgesetz  (C.  rural),  das  Forstgesetz  (C.  forestier)  und  eine  Reihe 
anderer  Spezialgesetze,  deren  strafrechtliche  Bestimmungen  in  den  Rahmen 
des  StGB,  keine  Aufnahme  gefunden  haben,  weil  sie  sich  teils  auf  besondere 
Materien,  teils  auf  besondere  Klassen  der  Bevölkerung,  teils  auf  Gegenstände 
veränderlicher  Natur  beziehen.  — 

Das  Militärstrafgesetzbuch  (C.  p. militaire)  ist  vom  17. Mai  1870.  —  Die 
Militärpersonen  sind,  wie  alle  anderiBu  Bürger,   zunächst  den  Vorschriften  des 


')  Prins,  La  loi  sur  la  lib^ration  conditionneUe  et  les  condamnations  condition- 
nelles.   Brüssel,  Muquardt,  1888. 


§  6.    Die  übrigen  Gesetze  strafrechtlichen  Inhalts.  467 


Ck)de  V.  1867  unterworfen;  in  ihrer  Eigenschaft  als  Personen  des  Soldatenstandes 
unterstehen  sie  jedoch  besonderen  strafrechtlichen  Bestimmangen,  welche  im 
Mil.-StGB.  enthalten  sind.  Da  diese  durchaus  exzeptioneller  Natur  sind  und 
lediglich  in  den  Bedürfnissen  der  militärischen  Disziplin  ihre  Rechtfertigung 
finden,  so  müssen  sie  sich  in  den  engsten  Grenzen  halten  und  die  Abweichungen 
von  den  gewöhnlichen  StG.  auf  das  geringste  zulässige  Mass  beschränken. 

Demgemäss  enthält  der  C.  p.  militaire  nur  58  Artikel.  Er  behandelt 
vor  allem  Verrat,  Spionage,  Kapitulation,  Verlassen  des  Postens,  Beleidigung 
von  Vorgesetzten,  Ungehorsam  im  Dienst  und  Revolte,  Gewaltthätigkeiten  und 
Beschimpfungen,  Desertion,  endlich  Unterschlagung,  Diebstahl  und  Verkauf  von 
Dienstgegenständen. 

Militärstrafen  sind:  Tod  durch  die  Waffe,  Einreihung  in  eine  Strafkom- 
panie, Degradation  xmd  Dienstentlassung.  — 

Das  Feldgesetz  vom  7.  Oktober  1886,  Art.  86—92,  bedroht  eine  Reihe 
von  feldpolizeilichen  Übertretungen  mit  Polizeistrafe  von  1  Fr.  Geldstrafe  bis 
zu  7  Tagen  Gefängnis. 

Endlich  enthält  das  Forstgesetz  vom  19.  Oktober  1854  Bestimmungen 
über  die  Verg.  und  Übertretungen,  welche  in  den  der  Forstverwaltung  unter- 
stehenden Wäldern  und  Forsten  verübt  werden.  Dieselben  werden  mit  Geld- 
strafen und  in  gewissen  Fällen  mit  Gef.  bedroht;  die  Strafverfolgung  ist  Auf- 
gabe der  Forstverwaltung.  Die  Flussfischerei,  für  die  bislang  noch  der 
Titel  XXXI  der  französischen  „Ordonnance  des  eaux  et  forto^'  v.  1669  und 
das  G.  vom  14.  Flor6al  des  J.  X  massgebend  war,  wird  jetzt  durch  das  G.  über 
Flussfischerei  (loi  sur  le  pßche  fluviale)  vom  19.  Januar  1883  geregelt,  durch 
welches  die  Aufsicht  über  die  Flüsse  ebenfalls^  der  Forstverwaltung  zu- 
gewiesen wird. 

Von  den  eigentlichen  Spezialgesetzen  ist  das  vom  27.  November  1891 
über  die  Unterdrückung  der  Landstreicherei  und  der  Bettelei  (loi  sur  la 
r6pression  du  vagabondage  et  de  la  mendicit6)  wegen  seiner  hervorragend 
sozialen  Bedeutung  und  seines  Einflusses  auf  die  Kriminalität  überhaupt  eines 
der  wichtigsten.  Zum  Zwecke  der  wirksameren  Unterdrückung  der  erwähnten 
Delikte  organisiert  das  G.  Asylhäuser,  Freischulen  und  Korrektionsanstalten 
unter  der  Bezeichnung  „d6p6ts  de  mendicitö",  in  denen  Bettler,  Landstreicher 
und  Dirnenbeschützer  auf  die  Dauer  von  höchstens  7  Jahren  untergebracht 
werden  können. 

Andererseits  betont  das  G.  den  jugendlichen  (noch  nicht  16  Jahre  alten) 
Verbrechern  gegenüber  weniger  die  Bßstrafung  als  die  Schutzfürsorge,  welche 
es  in  den  Art.  2  b  E.  vollkommen  systematisch  organisiert. 

Kinder,  denen  nur  leichte  Delikte  zur  Last  fallen  (und  solche  bilden 
unter  den  zur  Aburteilung  gelangenden  die  grosse  Mehrzahl)  können  nun  nicht 
mehr  zu  Gefängnis  verurteilt  werden.  Der  Friedensrichter  kann  sie  entweder 
freisprechen  oder  der  Regierung  überweisen. 

Kinder,  welche  wegen  einer  schwereren  Strafthat  von  einem  Tribunal 
correctionnel  zu  Gef.  verurteilt  werden,  dürfen  nach  Verbüssung  der  Strafe 
der  Regierung  für  die  Zeit  bis  zum  Eintritt  ihrer  Volljährigkeit  überwiesen 
werden. 

Die  Regierung  bringt  die  ihr  überwiesenen  Kinder  in  den  staatlichen 
Freischulen  unter;  nach  einer  Beobachtungszeit  von  6  Monaten  kann  sie  die- 
selben einem  öflTentlichen  oder  privaten  Unterrichts-  oder  Wohlthätigkeitsinstitut 
übergeben  oder  sie  auch  zu  Landwirten  oder  Handwerkern  in  die  Lehre 
schicken. 

Dieses  G.  bekämpft  das  Verbrechertum  in  seiner  Wurzel,  nämlich  der 
verwahrlosten  und  infolgedessen  dem  Verbrechen  verfallenden  Jugend*    seine 

30* 


468  Belgien.  —  Die  übrigen  Gesetze  strafrechtlichen  Inhalts. 


Bestimmungen  bedeuten  einen  hervorragenden  Fortschritt,  der  darin  liegt,  dass 
das  Kind  so  lange  wie  möglich  vor  der  Bekanntschaft  mit  dem  Gtet'.  behütet 
und  so  gleichzeitig  die  Zukunft  des  Kindes  wie  das  Interesse  der  Gesellschaft 
gewahrt  wird. 

Von  den  übrigen  Spezialgesetzen  sind  die  folgenden  zu  erwähnen: 
!•  Das  G.  vom  20.  Dezember  1852  betr.  die  Bestrafung  von  Beleidigungen 
gegen  die  Spitzen  auswärtiger  Regierungen  (loi  relative  ä  la  r^pression  des 
offenses  envers  les  chefs  des  gouvemements  6trangers)  und  das  G.  vom 
12.  März  1858  über  die  Verbr.  und  Verg.  gegen  die  internationalen  Beziehungen 
des  Landes  (loi  sur  les  crimes  et  les  d^lits  qui  portent  atteinte  aux  relations 
internationales). 

Beide  G.  gehören  dem  Gebiete  des  Völkerrechts  an  und  sind  unmittelbar 
zurückzuführen  auf  das  Prinzip  der  Neutralität  des  Landes.  Der  Umstand, 
dass  das  belgische  Gebiet  den  politischen  Flüchtlingen  offensteht,  bringt  die 
Gefahr  für  das  Land  mit  sich,  ein  Zufluchtsort  für  Verschwörer  zu  werden. 
Die  für  Belgien  bei  dieser  Sachlage  den  übrigen  Nationen  gegenüber  be- 
stehenden Verpflichtungen  werden  durch  die  G.  v.  1852  und   1858  geregelt. 

2,  Das  G.  vom  7.  Juli  1875  beruht  auf  derselben  Erwägung;  es  enthält 
Strafandrohungen  gegen  die  Aufforderung  und  das  Angebot  zur  Begehung  ge- 
wisser Verbr.  und  die  Annahme  derartiger  Angebote.  Es  verdankt  seine  Ent- 
stehung dem  Umstände,  dass  1873  ein  Kupferschmied  aus  Seraing  dem  Erz- 
bischof von  Paris  brieflich  das  Anerbieten  machte,  gegen  eine  Belohnung  von 
60000  Frcs.  den  Fürsten  Bismarck  zu  ermorden.  Der  Erzbischof  sandte  den 
Brief  an  die  belgische  Regierung,  die  jedoch  ausser  stände  war,  eine  Ver- 
urteilung des  Schuldigen  herbeizuführen,  weil  seine  That  nach  richtiger  Auf- 
fassung unter  keine  Bestimmung  der  Strafgesetze  fiel.  Um  diese  Lücke  aus- 
zufüllen, wurde  auf  Betreiben  der  Regierung  das  G.  v.  1876  erlassen. 

3,  Das  G.  vpm  15.  Oktober  1881  über  die  Aufbewahrung,  den  Ver- 
kauf und  den  Transport  von  Schiesspulver,  Dynamit  und  anderen  Spreng- 
stoffen (loi  sur  les  d6p6ts,  döbits  et  transports  de  la  poudre  ä  tirer,  de  la 
dynamite  et  de  toutes  autres  substances  explosives)  bedroht  die  Nichtbefolgung 
der  erlassenen  reglementarischen  Vorschriften  mit  Gef.  von  16  Tagen  bis  zu 
2  Jahren  und  mit  Geldstrafe  von  100 — 1000  Frcs.  Wenn  die  verbotswidrige 
Handlung  den  Tod  eines  Menschen  zur  Folge  gehabt  hat,  kann  auf  Gef.  bis 
zu  5  Jahren  erkannt  werden.  Eine  königliche  Vdg.  vom  1.  Dezember  1891 
enthält   eine  Zusammenstellung  von  Ausführungsvorschriften  für  dieses  Gesetz. 

4.  Das  G.  vom  26.  Dezember  1881  bestraft  die  Aufstellung  unrichtiger 
Bilanzen  und  Geschäftsübersichten  von  Handelsgesellschaften.  Im  Sinne  dieses 
G.  existiert  eine  Bilanz  von  dem  Augenblicke  an,  wo  sie  den  Aktionären  oder 
Gesellschaftern  zur  Kenntnisnahme  vorgelegt  ist.  Wer  von  einer  gefälschten 
Bilanz  usw.  Gebrauch  macht,  wird  gleich  den\jenigen  bestraft,  der  sie  fälschlich 
angefertigt  hat.  Als  Strafe  wird  angedroht:  Zuchthaus  und  Geldstrafe  von 
26  bis  2000  Frcs. 

5.  Das  Jagdgesetz  (loi  sur  la  chasse)  vom  28.  Februar  1882  will  einen 
dreifachen  Zweck  besser  erreichen,  als  es  vordem  möglich  war:  die  Bestrafung 
des  Wilddiebstahls,  den  Schutz  der  Forstschutzbeamten  und  die  Erhaltung  des 
Wildstandes.  Den  Kammern  waren  zahlreiche  Petitionen  zugegangen,  in  wel- 
chen um  energische  Massnahmen  gegen  die  in  fortwährender  Zunahme  begrif- 
fenen Wilddiebstähle  und  die  dieser  Erscheinung  zu  Grunde  liegenden  Ursachen 
gebeten  wurde.  Der  Hauptam'eiz  für  die  Wilddiebe  bestand  in  der  Leichtig- 
keit, die  Früchte  ihrer  Verbr.  zu  verkaufen  und  die  niedrigen  Strafen,  die 
im  Falle  ihrer  Verurteilung  über  sie  verhängt  wurden.  Diesen  Ubelständen 
sucht  das  erwähnte  G.  abzuhelfen. 


§  6.    Die  übrigen  Gesetze  strafrechtlichen  Inhalts.  469 


6.  Das  Gesetz  gegen  die  Trunksucht  (loi  sur  Tivresse  publique)  vom 
August  1887  bildet  den  ersten  Schritt  der  Gesetzgebung  auf  dem  Wege  de9 
Kampfes  gegen  den  Alkoholismus.  Das  G.  bestraft  als  Verg.:  die  Trunken- 
heit, insofern  sie  öffentlich  wahrgenommen  wird;  die  Verabreichung  von  Spi 
rituosen  an  offenbar  Betrunkene  oder  solche  Personen  unter  16  Jahren,  die 
sich  nicht  unter  der  Aufsicht  eines  Erwachsenen  befinden,  seitens  der  Schank- 
wirte und  Kaufleute;  die  Aufforderung  zu  einer  Trinkwette  oder  die  Annahme 
einer  solchen,  wenn  der  Austrag  derselben  Trunkenheit  zur  Folge  gehabt  hat; 
das  Peilbieten  und  Verkaufen  von  Spirituosen  ausserhalb  der  Caf6s,  Schenken 
oder  Verkaufsstellen,  Auch  der  Verkauf  von  Getränken  und  Genussmitteln 
in  solchen  Häusern,  in  denen  gewerbsmässig  Unzucht  getrieben  wird,  ist  mit 
Strafe  bedroht. 

Übertretung  dieser  Vorschriften  wird  mit  Geldstrafe  und  Gef.  bestraft; 
für  den  Rückfall .  sind  bei  jedem  einzelnen  Delikt  besondere  Verschärfungen 
vorgesehen.  Es  kann  auch  auf  Verbot  des  Betriebes  der  Schankwirtschaft  er- 
kannt werden. 

7.  G.  über  die  Fresse.  Der  Art.  18  der  belgischen  Verfassung  beschäf- 
tigt sich  mit  der  Presse,  stellt  den  Grundsatz  der  Freiheit  derselben  auf,  ver- 
bietet die  Censur  und  die  Forderung  einer  Kaution  und  ordnet,  entgegen  den 
aUgemeinen  Regeln  von  der  Teilnahme,  an,  dass,  wenn  der  Verfasser  einer 
Schrift  bekannt  und  in  Belgien  wohnhaft  ist,  weder  der  Drucker  noch  der 
Verbreiter  strafrechtlich  verfolgt  werden  dürfen. 

Die  übrigen  auf  die  Presse  bezüglichen  Bestimmungen  enthalten:  die 
Vdg.  über  die  Presse  vom  20.  Juli  1831,  das  G.  vom  6.  April  1847  und  den 
Art.  384  des  C.  p.  v.  1867. 

Das  Eigentümliche  der  belgischen  Pressgesetzgebung  liegt  darin,  dass  sie 
eine  reine  Strafgesetzgebung  ist;  die  Anwendung  von  Präventivmassregeln  ist 
gänzlich  untersagt,  und  die  Obrigkeit  schreitet  nur  ein,  um  bereits  begangene 
Delikte  zu  bestrafen. 

Der  Begriff  des  Pressdelikts  ist  gesetzlich  nicht  fesjtgestellt.  Wissenschaft 
und  Praxis  nehmen  ein  solches  dann  als  vorliegend  an,  wenn  eine  mittels  der 
Presse  begangene,  nach  gemeinem  Recht  strafbare  Handlung  eine  missbräuch- 
liehe  Gedankenkundgebung  enthält.  Die  Geschworenen  haben  daher  die  der 
That  zu  Grunde  liegende  Verschuldung  zu  prüfen;  eine  objektiv  rechtswidrige, 
jedoch  ohne  Vorsatz  begangene  Handlung  bildet  kein  Pressdelikt.  —  So  ge- 
hören zu  denselben  namentlich:  der  böswillige  Angriff  auf  die  verbindliche 
Kraft  der  Gesetze  und  die  Aufforderung  zum  Ungehorsam  gegen  dieselben; 
der  böswillige  Angriff  gegen  die  verfassungsmässigen  Rechte  des  Königs, 
gegen  die  Unverletzlichkeit  seiner  Person,  gegen  die  Rechte  des  königlichen 
Hauses,  gegen  die  Rechte  oder  die  Autorität  der  Kammern;  der  böswillige 
Angriff  auf  die  Ehre  einer  Person ;  die  Aufreizung  zum  Zweikampf  —  voraus- 
gesetzt, dass  alle  diese  Handlungen  mittels  der  Presse  vorgenommen  werden. 
Bemerkt  sei,  dass  die  Verfassung  unter  „Presse**  die  typographische,  autogra- 
phische und  lithographische  Presse,  sowie  den  Bilder-  und  Schriftdruck  versteht. 

8.  Die  Gewerbegesetzgebung  ist  in  Belgien  noch  im  Entstehen  be- 
griffen.    Von  den  bereits  erlassenen  G.  sind  folgende  zu  erwähnen: 

a)  Das  G.  vom  21.  Oktober  1887  über  die  Auszahlung  des  Arbeits- 
lohnes (loi  sur  la  r^glementation  du  payement  des  salaires  aux  ouvriers). 

Dieses  G.  schreibt  vor,  dass  die  Arbeitslöhne  in  Metallgeld  oder  Papier- 
geld mit  Zwangskurs  bezahlt  werden  müssen,  und  zwar  diejenigen,  welche 
5  Frcs.  täglich  nicht  übersteigen,  mindestens  zweimal  monatlich;  es  untersagt 
die  Auszahlung  in  Schankwirtschaften,  Destillationen,  Verkaufsstellen  von 
geistigen   Getränken    oder   den   an    derartige  Lokale    anstossenden   Räumlicli- 


470  Belgien.  —  Die  übrigen  Gesetze  strafrechtlichen  Inhalts. 


keiten  und  verbietet  femer  den  Arbeitgebern  den  Abschloss  von  Verträgen, 
durch  welche  sich  die  Arbeiter  der  ft*eien  Verfügung  über  ihren  Lohn  begeben. 

Zuwiderbandlungen  werden  mit  Geldstrafe  von  60  bis  2000  Frcs.  bedroht. 

b)  Das  G.  vom  22.  Dezember  1889  über  die  Beschäftigung  von  Frauen, 
jugendlichen  Arbeitern  und  Kindern  in  gewerblichen  Betrieben  (loi  sur  le  tra- 
vail  des  femmes,  des  adolescents  et  des  enfants  dans  les  Etablissements  in- 
dustriels). 

Dieses  G.  untersagt  die  Beschäftigung  von  Kindern  unter  12  Jahren,  die 
Verwendung  von  Mädchen  und  Frauen  unter  21  Jahren  zu  unterirdischen 
Arbeiten  in  Gruben,  Bergwerken  und  Steinbrüchen,  femer  unter  gewissen 
Umständen  die  Beschäftigung  von  Kindern,  jugendlichen  Arbeitern,  sowie  Mäd- 
chen und  Frauen  unter  21  Jahren  mit  Arbeiten,  welche  gefährlich  sind  oder 
offenbar  ihre  Kräfte  übersteigen. 

Leiter  industrieller  Betriebe,  Aufseher  usw.,  die  das  G.  wissentlich  über- 
treten, werden  mit  Geldstrafe  bis  zu  1000  Frcs.  bedroht.  Auf  Grund  der 
Art.  269 — 274  des  C.  p.  werden  diejenigen,  welche  der  gesetzlich  organisier- 
ten Überwachung  Hindemisse  in  den  Weg  stellen,  mit  (Gefängnis  bestraft. 

9«  Steuergesetzgebung.  Das  wichtigste  G.  ist  das  vom  26.  August 
1822;  es  bildet  die  Grundlage  aller  späteren  auf  Verwaltung  der  direkten 
und  indirekten  Steuern  bezüglichen  Gesetze.  Obgleich  die  Bestimmungen 
desselben  ursprünglich  nur  für  die  Zölle  und  Verbrauchsabgaben  erlassen 
waren,  sind  sie  doch  zum  Teil  später  auch  auf  einige  Arten  der  direkten 
Steuern  ausgedehnt.  —  Zahlreiche  Abänderungen,  welche  das  G.  später  er- 
litten hat,  Ausführungsbestimmungen  und  auf  dasselbe  bezügliche  Spezial- 
gesetze erschweren  das  Studium  ungemein.  Für  die  hier  in  Betracht  kom- 
mende Materie  genügt  es,  zu  eitleren:  das  G.  vom  6.  April  1843  über  die 
Bestrafung  der  Defraudationen  (loi  sur  la  r^pression  de  la  fraude)  und  das 
G.  vom  6.  August  1849  über  die  Behandlung  der  Transit- Waren  (loi  sur  les 
marchandises  en  transit). 

Das  G.  vom  26.  August  1822  enthält  in  Kap.  XX  Art.  205—232  Be- 
stimmungen über  die  Strafen  im  allgemeinen:  Beschlagnahme,  Einziehung, 
Gef.  und  Schliessung  von  Fabriken,  Hüttenwerken  und  Werkstätten. 

Durch  die  Art.  18 — 36  des  G.  v.  1843  über  die  Bestrafung  der  Defrau- 
dationen wird  eine  grosse  Anzahl  von  Bestimmungen  des  G.  vom  26.  August 
1822  teils  abgeändert,  teils  aufgehoben.  Das  erstere  schliesst  sich  eng  an 
das  letztere  an  und  bildet  mit  ihm  gewissermassen  ein  einheitliches  Ganzes. 
Das  G.  wurde  seiner  Zeit  mit  Rücksicht  darauf  erlassen,  dass  die  erfolgte 
Erhöhung  der  Abgaben  einen  starken  Anreiz  zur  Steuerhinterziehung  bildete. 
Seitdem  hat  die  Regierung  durch  ein  Reglement  vom  27.  Februar  1852  und 
verschiedene  Verordnungen  einige  Erleichterungen  auf  dem  Gebiete  des  Steuer- 
wesens zu  Gunsten  von  Handel  und  Industrie  eintreten  lassen.  Das  G.  v.  1849 
über  den  Transitverkehr  (modifiziert  durch  die  G.  vom  3.  März  1851,  1.  Mai 
1858  und  27.  Mai  1861)  enthält  im  Kap.  V  ein  Strafensystem,  nach  wel- 
chem es  die  Übertretungen  des  G.  mit  Geldstrafen  bedroht. 

Wenn  mildernde  umstände  vorliegen  und  anzunehmen  ist,  dass  die  Ge- 
setzesübertretung nicht  in  betrügerischer  Absicht,  sondern  aus  Nachlässigkeit 
oder  Versehen  begangen  ist,  kann  die  Verwaltung  sich  mit  dem  Thäter  in 
Güte  einigen  (Art.  229  des  G.  v.  1822).^) 

Es  giebt   in   Belgien   kein   besonderes  StG.   gegen    den  Bankerutt.     Die 


*)  Vgl.  über  die  belgische  Steuergesetzgebung  den  Kommentar  zu  dem  G.  vom 
26.  August  1822  von  H.  P.  Adam.  Brüssel,  Ad.  Wahlen  &  Co.,  1837.  Code  de  contri- 
butions  directes,  douanes  et  accises.    Imprimerie  Guyot,  1871. 


§6.    Die  übrigen  Gesetze  strafrechtlichen  Inhalts.  471 


KonkursordnoDg  vom  18.  April  1851  (loi  sur  les  faillites,  banqueroutes  et 
sursis)  bestimmt  die  Begriffe  des  eiDfachen  nnd  des  betrügerischen  Bankerutts 
und  giebt  in  den  Art.  573 — 578  an,  wann  die  eine  oder  andere  Art  vorliegt. 
Die  Strafbestimmungen  gegen  den  einfachen  und  den  betrügerischen  Banke- 
rutt,  sowie  gewisse  betrügerische  Manipulationen  innerhalb  eines  Konkursver- 
fahrens, enthalten  die  Art.  489  und  490  des  C.  p. 

Der  Wucher  als  besonderes  Delikt  ist  dem  belgischen  Recht  fk*emd:  die 
Gewährung  von  Darlehn  zu  einem  höheren  als  dem  gesetzlichen  Zinsfusse  wird 
lediglich  dann,  und  zwar  als  Yertrauensmissbrauch  (abus  de  confiance)  bestraft, 
wenn  der  Darlehnsgeber  gewohnheitsmässlg  handelt  und  die  Leidenschaften 
und  Schwächen  des  Darlehnsnehmers  ausbeutet.  Dieses  ist  der  Inhalt  des 
Art.  494  des  C.  p.  —  Abgesehen  von  diesem  Falle  herrscht  völlige  Freiheit 
der  Gewährung  von  Darlehen.  Ein  G.  vom  5.  Mai  1865  spricht  aus,  dass 
der  vertragsmässige  Zinsfoss  von  den  Vertragschliessenden  beliebig  hoch  fest- 
gesetzt werden  kann. 


3.  Luxemburg. 


Die  StOgebung  des  Grossherzogtums  Luxemburg  darf  auf  Origmalität 
keinen  Anspruch  erheben:  das  Hauptstrafgesetz  bildet,  abgesehen  von  gering- 
fügigen Abänderungen,  eine  wörtliche  Wiederholung  des  belgischen  StGB.  v. 
1867,  die  Strafhebengesetze  sind  meistens  der  Gesetzgebung  der  Nachbar- 
länder entlehnt. 

Nach  der  Lostrennung  von  Frankreich  hatte  Luxemburg  zunächst  die 
französische  Gesetzgebung  beibehalten.  Indes  hatte  schon  vor  der  Annahme 
der  belgischen  StGgebung  das  französische  System  erhebliche  Abänderungen 
erfahren.  Wie  in  anderen  Ländern,  in  welche  das  französische  StGB.  Eingang 
gefunden  hatte,  war  auch  in  Luxemburg  der  Gesetzgeber  bestrebt  gewesen, 
die  dem  Repressionssystem  des  Kaiserreichs  innewohnenden  ausserordentlichen 
Härten  zu  mildem  und  durch  Einführung  der  von  der  fortschreitenden  (Zivili- 
sation und  der  Entwicklung  gewisser  Institutionen  des  öffentlichen  Lebens  ge- 
forderten Bestimmungen  zu  modifizieren. 

So  war  durch  G.  vom  9.  September  1814  und  königliche  Vdg.  vom 
20.  Januar  1815  den  Gerichten  gestattet,  im  Falle  des  Vorliegens  mildernder 
Umstände  die  Strafmasse  bei  Zuchthaus  und  Zwangsarbeit  herabzusetzen. 
Durch  königliche  Vdg.  vom  31.  Dezember  1841  und  die  G.  vom  9.  Dezember 
1861  und  10.  Januar  1863  war  diese  Befugnis  nach  und  nach  auf  alle  Strafarten 
ausgedehnt  worden.  (Memorial  du  Grand-Duch6  de  Luxembourg,  Jahrg.  1862 
I  S.  126;  Jahrg.  1863  I  S.  25.)  Jetzt  gilt  bezüglich  dieser  Materie  das  G. 
vom  18.  Juni  1879,  welches  den  Gerichten  ganz  allgemein  die  BeftLgnis  bei- 
legt, mildernde  Umstände  zu  berücksichtigen  (Pasinomie  luxembourgeoise, 
Luxemburg,  bei  Bück). 

Das  Grundgesetz  (loi  fondamentale)  v.  1815  hatte  die  Strafe  der  Ver- 
mögenseinziehung aufgehoben;  die  Verfassung  vom  17.  Oktober  1868,  welche 
die  Wiedereinführung  der  Konfiskation  für  die  Zukunft  als  unstatthaft  erklärt, 
schafit  ausserdem  die  Todesstrafe  für  politische  Delikte,  den  bürgerlichen  Tod 
und  die  Brandmarkung  (fiötrissure)  ab.  (Art.  17  und  18,)  (Ruppert:  Organi- 
sation politique,  judiciaire  et  administrative  du  Grand-Duchö  de  Luxembourg, 
Luxemburg  bei  Bück.) 

Schon  vor  der  allgemeinen  Reform  des  StR.  hatten  die  G.  vom  25.  No- 
vember 1854  betr.  die  Körperverletzungen,  Sittlichkeitsdelikte  und  den  Arrest- 
bruch (loi  sur  les  coups  et  blessures,  sur  Tattentat  aux  moBurs  et  sur  Tenl^ve- 
ment  et  la  destruction  d'objets  saisis)  und  vom  18.  Dezember  1855  über 
die  Tötimgsdelikte  (loi  sur  Tinfanticide  et  Thomicide)  Verbesserungen  ein- 
geführt, welche  den  Forderungen  der  Theorie  und  der  Praxis  entsprachen. 

Ausser  einigen  weniger  bedeutenden  G.  sind  hier  femer  zu  erwähnen 
die  G.    über  die   Eisenbahnpolizei   (sur   la   police    des   chemins   de  fer)   vom 


Luxemburg.  473 


17.  Dezember  1859;  über  die  Zuständigkeit  der  Polizeigerichte  (sur  la  compö- 
tence  des  tribunaux  de  police)  vom  20.  Januar  1863;  über  die  Presse  (sur  la 
presse)  vom  20.  Juli  1869;  über  die  Wahlen  (sur  les  ^lections)  vom  28.  Mai 
1879  (vgl.  Pasinomie  luxembourgeoise  zu  den  betreffenden  Daten). 

Die  meisten  Bestimmungen  dieser  Spezialgesetze  sind  mit  Abänderungen 
und  im  allgemeinen  milderen  Strafrahmen  aufgenommen  in  den  am  18.  Juni 
1879  veröffentlichten  C.  p.  luxembourgeois. 

Die  in  demselben  vorkommenden  Abweichungen  von  dem  Texte  des 
belgischen  StGB,  zerfallen  in  drei  Arten: 

L  solche,  welche  lediglich  eine  Textverbesserung,  nicht  aber  eine  Ab- 
änderung der  Bestimmung  enthalten; 

8.  solche,  die  den  Zweck  haben,  eine  Bestimmung  den  besonderen  Ein- 
richtungen (z.  B.  des  Gefängniswesens)  Luxemburgs  anzupassen; 

3.   solche,  die  materielle  Änderungen  herbeiführen. 

In  der  (bei  Bück  erschienenen)  amtlichen  Ausgabe  sind  diese  Abände- 
rungen kenntlich  gemacht,  indem  Abänderungen  und  Zusätze  zu  den  ent- 
sprechenden belgischen  Paragraphen,  sowl^  völlig  neue  Bestimmungen  mit 
Kursivschrift  gedruckt  sind. 

Die  wesentlichsten  Änderungen  beziehen  sich  auf  die  Behandlung  der  zu 
Zuchthaus  und  Zwangsarbeit  Verurteilten  (Art.  14),  die  Bestimmungen  über 
das  Zusammentreffen  mehrerer  strafbarer  Handlungen  (59 — 62),  bedingte  Frei- 
lassung (100),  Aufforderungen  und  Angebote  zur  Begehung  gewisser  Verbr. 
(331),  Totschlag,  begangen  um  die  Verübung  einer  Notzucht  zu  erleichtem 
oder  sich  die  Straflosigkeit  für  dieselbe  zu  sichern  (376),  Zweikampf  (426  und 
432),  Chantage  (besondere  Art  der  Erpressung)  (470),  Verheimlichung  des 
Leichnams  eines  Neugeborenen  (340),  Schamverletzung  (373),  Kindesmord 
(419),  Delikte  gegen  gesetzlich  bestehende  Körperschaften  (448)  und  Arrest- 
bruch (607). 

Diese  teils  durch  die  Erfahrung  als  zweckmässig  erkannten,  teils  durch 
die  besonderen  Verhältnisse  des  Landes  bedingten  Neuerungen  atmen  den- 
selben Geist  der  Milde  und  Gerechtigkeit  wie  das  Werk  des  belgischen  Gesetz- 
gebers von  1867.  Sie  sind  Gegenstand  eingehender  Erörterungen  in  den 
juristischen  Körperschaften  und  dem  Staatsrat  gewesen,  dessen  Äusserungen 
abgedruckt  sind  in  dem  Compte  rendu  des  s^ances  de  la  chambre  des  döput^s 
du  Grand-Duch6  de  Luxembourg,  Session  extraordinaire  du  19 — 20  juillet  1876 
et  Session  legislative  de  1876  ä  1876  (9.  November  1876  —  21.  Juni  1876, 
Schriftstücke  und  Anlagen).  Nypels,  Professor  des  StR.  an  der  Universität 
Lüttich,  war  von  der  luxemburgischen  Begierung  beauftragt,  die  in  der  Praxis 
zum  Vorschein  gekommenen  Lücken  und  Mängel  des  belgischen  StGB,  zu  be- 
zeichnen und  Abänderungsvorschläge  zu  machen.  Seine,  vom  Gesetzgeber  im 
weitesten  Umfange  berücksichtigten  Bemerkungen  sind  in  dem  erwähnten 
Compte  rendu  a.  0.  enthalten. 

Diese  vorbereitenden  Studien  mit  den  darüber  stattgehabten  Debatten 
der  luxemburgischen  Deputiertenkammer  (Compte  rendu,  sessions  legislatives  de 
1876—1877  und  1878—1879)  finden  ihre  natürliche  Ergänzung  in  den  Kom- 
missionsvorarbeiten und  den  Sitzungsberichten  der  belgischen  Kammern. 

Die  Entsch.  der  luxemburger  Gerichte  werden  in  der  „Pasicrisie  luxem- 
bourgeoise" (bei  Bück  erscheinend)  abgedruckt;  für  das  Studium  von  Spezial- 
frsLgen  ist  die  Berücksichtigung  der  belgischen  Litteratur  und  Rechtsprechung 
unumgänglich. 

Vor  und  nach  dem  C.  von  1879  ist  eine  grosse  Anzahl  von  Spezial- 
gesetzen strafrechtlichen  Inhalts  erlassen,  welche  am  Ende  der  offiziellen 
Ausgabe   des  C.    (Ausg.    v.   1879,   S.  XXXVII  flF.)   vollzählig   aufgeführt   sind. 


474  Luxemburg. 


Bezüglich  des  Wortlauts  ihrer  Bestimmungen  und  die  Verweise  auf  die  Vor- 
arbeiten gentigt  der  Hinweis  auf  die  Pasinomie  luxembourgeoise,  wo  auch  die 
nach  dem  19.  Juni  1879  erlassenen  Spezialgesetze  angegeben  sind. 

Der  geringe  Umfang  der  speziell  luxemburgischen  StR.-Litteratur  erklärt 
sich  zur  Genüge  aus  der  Abhängigkeit  seiner  Gesetzgebung  von  der  der 
Nachbarländer.  Erwähnt  seien:  Eyschen,  Le  droit  public  du  Grand-Duch6  de 
Luxembourg  (Preiburg  i.  B.,  Mohr,  1890).  Speyer,  Das  Polizeigericht.  Luxem- 
burg 1880,  bei  Schroell.  Keucker,  Le  code  de  la  pßche.  Luxemburg  1888, 
bei  Bück.  Ulveling,  Les  6trangers  dans  le  Luxembourg.  Paris  1890,  bei 
Arth.  BouBseau. 


4.  Monaco. 


Bibliographie.  Amtliche  Textausgabe  des  Code  p^nal  vom  17.  Dezember 
1874.    Monaco,  Imprimerie  du  Journal,  1875. 

Eine  besondere  Litteratur  für  das  StR.  von  Monaco  dürfte  nicht  vorhanden  sein, 
ist  auch,  wegen  der  völligen  Abhängigkeit  desselben  von  der  französischen  Gesetz- 
gebung und  Wissenschaf t,  entbehrlich.  Fortlaufende  Berichte  über  die  in  Monaco  er- 
lassenen G.  (Ordonnances  souveraines)  enthält  das  von  der  „Soci^tö  de  l^gislation 
compar^e^  zu  Paris  herausgegebene  „Annuaire  de  l^gislation  ^trang6re^.  Mitteilungen 
strafrechtlichen  Inhalts  finden  sich  in  Bd.  VII  (1877)  S.  485,  XU  (1882)  S.  729,  XIII 
[1883)  S.  489,  XV  (1885)  S.  356,  XVI  (1886)  S.  445—447,  XVII  (1887)  S.  542,  XVIII  (1888) 
S.  582,  XIX  (1889)  S.  489,  XX  (1890)  S.  462.  Diese  sind,  mit  Ausnahme  des  ersten  von 
M.  Georges  Louis  herrührenden,  sämtlich  von  Dr.  Christian  Daguin,  Advokaten  an 
der  „Cour  d'Appel'*  in  Paris  verfasst  und  bei  der  Ausarbeitung  der  folgenden  kurzen 
Skizze  benutzt. 

I.  Einleitung.  Das  selbständige  Fürstentum  Monaco  (Flächeninhalt  von 
15  Quadratkilometer  und  etwa  12000  ansässige  Einwohner)  wurde  von  Frank- 
reich, unter  dessen  Schutzherrschaft  es  bereits  seit  der  Zeit  Ludwig  des  XIII. 
gestanden  hatte,  im  J.  1792  annektiert,  erhielt  durch  den  Pariser  Frieden 
(1814)  die  Selbständigkeit  wieder  und  wurde  durch  den  zweiten  Pariser  Frieden 
vom  20.  November  1815  dem  Protektorat  des  Königreichs  Sardinien  unterstellt. 
Infolge  einer  Unruhe  in  dem  Fürstentume  liess  Karl  Albert  von  Sardinien 
1848  von  den  drei  Städten  desselben  zwei  (Mentone  und  Roccabruna)  besetzen 
und  mit  Sardinien  vereinigen,  zu  dem  sie  gehörten,  bis  sie  im  J.  1860  gleich- 
zeitig mit  der  Grafschaft  Nizza  von  Frankreich  einverleibt  wurden. 

Die  wichtigste  Grundlage  der  staatsrechtlichen  Verhältnisse  bildet  die 
am  9.  November  1865  mit  Frankreich  abgeschlossene  „Convention  relative  ä 
Tunion  douani^re  et  aux  rapports  de  voisinage".  Wichtige  Zweige  der  Verwal- 
tung werden  durch  französische  Beamte  versehen;  so  die  Erhebung  der  Zölle, 
Post-  und  Telegraphenwesen,  Münzprägung.  Abgesehen  von  diesen  freiwillig 
vorgenommenen  Beschränkungen  ist  der  regierende  Fürst  im  Vollbesitze  der  Sou- 
veränetät.  Die  Gesetze  werden  vom  Staatsrate,  der  lediglich  beratende  Stimme 
hat,  ausgearbeitet,  vom  Fürsten  unter  Gegenzeichnung  des  Staatssekretärs  er- 
lassen und  vom  „Tribunal  supörieur"  in  das  Gesetzesregister  eingetragen.  Der 
Staatsrat,  dessen  Organisation  vom  J.  1857  datiert,  besteht  aus  fünf  Mitgliedern; 
der  Vorsitzende  führt  den  Titel  Gouverneur  g^n^ral  und  ist  der  erste  Beamte 
des  Landes;  die  anderen  Mitglieder  werden  vom  Fürsten  aus  den  rechtskun- 
digen Einwohnern  des  Fürstentums  ernannt. 

Die  Gerichtsverfabsung  des  Landes  ist  einfach.  In  erster  Instanz  ent- 
scheidet der  Friedensrichter  (juge  de  paix);  das  Obergericht  (Tribunal  sup6rieur), 
dessen  Verhältnisse  durch  eine  Ordonnance  vom  10.  Juni  1859  (abgeändert  am 


476  Monaco. 


31.  Januar  1883)  geregelt  sind,  entscheidet  in  letzter  Instanz  über  die  Bemfongen 
gegen  die  Erkenntnisse  des  Friedensrichters,  sowie  in  erster  und  letzter  Instanz 
in  den  die  Zoständigkeit  desselben  überschreitenden  Sachen.  Das  Obergericht 
besteht  ans  dem  Präsidenten,  dem  Vizepräsidenten  und  drei  Mitgliedern.  Schwur- 
gerichte sind  in  Monaco  unbekannt;  bei  der  Abnrteilnng  vonVerbr.  wirken 
ansser  drei  rechtsgelehrten  Mitgliedern  des  Obergerichts  drei  aus  dem  G^meinde- 
rat  von  Monaco  genommene  Laienrichter  mit. 

Wie  es  bei  der  Lage  nnd  den  Verwaltmigsverhältnissen  des  Landes  na- 
türlich ist,  steht  auch  die  Gesetzgebung  von  Monaco,  zwar  nicht  formell-staats- 
rechtlich, aber  doch  inhaltlich  in  einem  vollständigen  Abhängigkeitsverhältnis  zu 
Frankreich.  In  der  Zeit  von  1792 — 1815  war  die  Gültigkeit  der  französischen 
Gesetze  auf  Monaco  ausgedehnt.  Nach  Wiedererlangung  der  Selbständigkeit 
wurde  eine  Gesetzgebungskommission  eingesetzt,  um  die  französischen  Ge- 
setze auf  ihre  Brauchbarkeit  für  Monaco  zu  prüfen.  Gegenwärtig  besitzt  das 
Land  eine  grosse  Anzahl  eigener  Gesetze,  von  denen  auf  strafrechtlichem 
Gebiete  die  StPO.  (C.  dlnstr.  crim.)  vom  31.  Dezember  1873  und  das  StGB, 
die  wichtigsten  sind. 

IL  Das  StGB,  vom  19.  Dezember  1874  und  sein  Verhältnis  zum 
französischen  Code  p^nal  von  1810.  Das  gegenwärtig  in  Monaco  geltende 
StGB,  ist  vom  regierenden  Fürsten  Karl  auf  Vorschlag  der  Gesetzgebungs- 
kommission und  nach  Anhörung  des  Staatsrats  am  18.  Dezember  1874  erlassen 
und  am  1.  Januar  1875  in  Kraft  getreten.  Es  ist,  abgesehen  von  wenigen, 
später  zu  erwähnenden  Einzelheiten,  eine  fast  wörtliche  Wiederholung  des 
jhranzösischen  C.  p.  von  1810  in  der  Gestalt,  die  dieser  zur  Zeit  der  Ausarbei- 
tung des  GB.  hatte.  Die  vorhandenen  Abweichungen  erklären  sich  teils  —  wie 
die  einfachere  Gestaltung  des  Strafensystems  —  aus  den  räumlichen  Verhält- 
nissen des  Fürstentums,  teils  —  wie  die  Aufnahme  civilrechtlicher  oder  press- 
rechtlicher Vorschriften  (Art.  67,  266 — 273)  in  das  StGB.  —  aus  einer  anderen 
Auffassung  über  die  gesetzgeberische  Technik.  Unterschiede,  die  auf  eine 
abweichende  Auffassung  der  Grundprinzipien  des  StR.  zurückzuführen  wären, 
sind  nicht  nachweisbar.  Im  übrigen  finden  sich  redaktionelle  Änderungen 
einzelner  Art.  und  geringe  Abweichungen  in  den  Strafandrohungen,  sowie  in 
der  systematischen  Anordnung,  von  denen  besonders  die  letzteren  nicht  immer 
als  Verbesserungen  des  Originals  bezeichnet  werden  können.  Immerhin  hat 
aber  das  GB.  vor  dem  französischen  C.  p.,  der  in  seiner  heutigen  Gestalt  nur 
noch  den  an  allen  Ecken  und  Enden  mit  Ergänzungs-  und  Abänderungsgesetzen 
aller  Art  bis  zur  Unkenntlichkeit  entstellten  Rumpf  eines  einstmals  glänzenden 
G^setzgebungswerkes  bildet,  den  nicht  zu  unterschätzenden  Vorzug  der  grösseren 
Übersichtlichkeit  und  praktischen  Brauchbarkeit. 

Das  GB.  (abgekürzt:  Mon.)  enthält  485  Art.  und  zerfällt  in  vier  Bücher. 
Ich  verweise  für  die  Analyse  desselben  im  allgemeinen  auf  den  in  diesem  Bände 
enthaltenen  Aufsatz  Albert  Rivi^res  über  das  StR.  der  französischen  Republik 
und  beschränke  mich  im  folgenden  auf  die  Hervorhebung  derjenigen  Punkte, 
in  denen  es  von  dem  französischen  StGB,  (abgekürzt:  C.  p.  fir.)  abweicht,  je- 
doch unter  Ausserachtlassung  aller  lediglich  die  Fassung  oder  das  Straftnass 
berührenden  Unterschiede. 

Buch  I.  Einleitende  Bestimmungen.  Art.  1 — 4  (Einteilung  der  Straf- 
thaten,  Versuch,  nullxmi  crimen  sine  lege)  =  C.  p.  fr.  Art.  1 — 4.  Die  Anord- 
nung des  Art.  5  des  letzteren,  dass  die  Bestimmungen  des  StGB,  auf  Militär- 
delikte keine  Anwendung  finden,  fehlt  bei  Monaco. 

Einziger  Titel:  Strafensystem  (Des  peines  en  matiöre  criminelle,  cor- 
rectionnelle  et  de  police);  enthält  die  Art.  5 — 55,  die  im  wesentlichen  den 
Art.  6 — 58   und,    soweit   sie   sich    auf  Übertretungsstrafen  beziehen,    den   Art. 


Monaco.  477 


464 — 466  des  C.  p.  fr.  entsprechen.  Jedoch  hat  Monaco  den  Vorzug  eines 
einfacheren  Strafensystems  und  kennt  weder  die  Verbannung  in  der  Form 
der  „d6portation^'  noch  die  Haft  (d6tention).  Die  Todesstrafe  ist  beibehalten, 
und  wird  in  folgenden  Fällen  angedroht:  Angriff  auf  das  Leben  oder  die 
Person  des  Fürsten,  Art.  76;  auf  das  Leben  der  Mitglieder  der  fürstlichen 
Familie,  Art.  77;  Mord,  Art.  281,  287;  Aszendententotschlag,  Art.  284,  287; 
Kindesmord,  Art.  286,  287;  Vergiftung,  Art.  286,  287;  für  gewisse  schwere 
Fälle  des  Totschlags,  Art.  289;  Brandstiftung  in  mehreren  Fällen,  Art.  441, 
442  und  Wasserverunreinigung,  wenn  dieselbe  den  Tod  eines  Menschen  ver- 
ursacht hat,  Art.  470.  —  Die  für  Frankreich  erst  durch  ein  G.  v.  1885  durch 
eine  andere  Strafe  (interdiction  de  s^jour)  ersetzte  Stellung  unter  Polizeiaufsicht 
(renvoi  sous  la  surveillance  speciale  de  la  haute  police)  ist  in  das  StGB,  von 
Monaco  übergegangen  (Art.  10,  41 — 44).  —  Die  in  Monaco  zu  Gef.,  Zuchthaus 
und  Zwangsarbeit  verurteilten  Personen  verbüssen  ihre  Strafe  in  französischen 
Anstalten  (Art.  21  des  Abkommens  von  1865). 

Buch  II  (Überschrift:  Des  personnes  punissables,  excusables 
ou  responsables,  pour  crimes  ou  pour  d61its)  zerfällt  in  drei  Kap.  und 
enthält  die  Art.  56 — 69,  die  den  Art.  59 — 74  des  C.  p.  fr.  entsprechen,  ab- 
gesehen von  folgenden  Punkten.  Nach  Art.  57  Abs.  4  wird  als  Teilnehmer 
an  einem  Verbr.  und  Verg.  auch  angesehen,  wer  zur  Begehung  desselben 
in  irgend  einer  Weise  öffentlich  mit  Erfolg  aufgefordert  hat.  Der  Art.  67 
statxuert  eine  sehr  weitgehende  Schadensersatzverbindlichkeit  für  solche  Per- 
sonen, die  zwar  bei  der  Begehung  des  Delikts  nicht  beteiligt  sind,  aber  zu 
dem  Thäter  in  einem  nahen  persönlichen  Verhältnis  stehen  (Eltern,  Vormünder, 
Lehrherren,  Schiffskommandanten  usw.).  Der  Gastwirt,  der  eine  Person  länger 
als  24  Stunden  beherbergt,  haftet,  wenn  diese  während  dieser  Zeit  ein  Delikt 
begeht,  dem  Beschädigten,  wenn  er  es  unterlassen  hat,  den  Namen  des  ersteren 
in  seine  Bt^cher  einzutragen  (Mon.  Art.  68,  C.  p.  fr.  Art.  73). 

Buch  in.  Die  einzelnen  Verbr.  und  Verg.  (Des  crimes  et  d^lits  et 
de  leur  punition);  Art.  70 — 471;  zwei  Titel. 

Erster  Titel.  Strafbare  Handlungen  gegen  den  Staat  (Crimes  et  d^lits 
contre  la  chose  publique);  Art.  70 — 279;  drei  Kap.  —  Kap.  I.  Verbr.  und 
Verg.  gegen  die  Sicherheit  des  Staates;  vier  Abschnitte.  —  1.  Abschn.  Delikte 
gegen  die  äussere  Sicherheit  des  Staates;  Art.  70 — 75  =  Art.  75,  77,  78,  80, 
82,  85  C.  p.  fr.;  jedoch  wird  das  Waffentragen  gegen  das  Fürstentum  und 
der  Landesverrat  nicht,  wie  in  Prankreich,  mit  dem  Tode,  sondern  mit  lebens- 
länglicher Zwangsarbelt  bedroht.  —  2.  Abschnitt.  Anschläge  gegen  das  Staats- 
oberhaupt und  dessen  Angehörige;  Art.  76 — 86  entsprechen  im  wesentlichen 
den  Art.  86 — 90  des  C.  p.  fr.;  der  Art.  87  enthält  eine  dem  französischen 
Bechte.  fremde  Strafandrohung  gegen  die  Beschimpfung  von  Abzeichen  der 
Obrigkeit  und  das  Tragen  gewisser  Abzeichen.  —  3.  Abschnitt.  Strafbare 
Handlungen  gegen  die  innere  Ruhe  und  Ordnung  des  Staates  (Des  crimes 
tendant  ä  troubler  Tlfitat  par  la  guerre  civile,  Tillögal  emploi  de  la  force 
arm6e,  la  d^vastation  et  le  pillage);  Art.  88 — 94  =  Art.  91 — 100  C.  p.  ff.  — 
4.  Abschnitt.  Anzeige  und  Nichtanzeige  geplanter  Angriffe  auf  die  Sicherheit 
des  Staates;  einziger  Art.  95  =  Art.  108  C.  p.  fr.  —  Kap.  II.  Angriffe  gegen 
die  Freiheit  (Attentats  k  la  libert6)  Art.  96—100  =  C.  p.  fr.  Art.  114,  117, 
119 — 121.  —  Kap.  III.  Verbr.  und  Verg.  gegen  den  öffentlichen  Frieden 
(Crimes  et  dölits  contre  la  paix  publique).  1.  Abschnitt.  Fälschungsdelikte 
(Du  faux);  die  Art.  101 — 129  entsprechen  mit  geringen  Abweichungen  den 
Art.  132 — 164  des  C.  p.  fr.;  jedoch  enthält  das  StGB,  von  Monaco  keine  Be- 
stimmungen, die  den  Art.  155 — 158  des  C.  p.  fr.,  und  umgekehrt  letztere 
keine   Vorschriften,    die  den  Art.  107   und   126  von  Monaco   entsprechen.  — 


478  Monaco. 


2.  Abschnitt.  Strafbare  Handlungen  öffentlicher  Beamten  im  Amte  (De  la  for- 
faitnre  et  des  crimes  et  d^lits  des  fonctionnaires  publica  dans  Texercice  de 
leurs  fonctions);  Art.  130— X60  =  C.  p.  fr.  Art.  166—175,  177—181,  184—186, 
188—198;  die  Art.  176,  182,  183  des  letzteren  fehlen  bei  Monaco;  Art.  187 
C.  p.  fr.  (Verletzung  des  Briefgeheimnisses)  =  Monaco  Art.  410.  ünbegreif- 
licherweise  wird  in  diesem  Abschnitt  sowohl  vom  C.  p.  fr.  (Art.  184  am  Ende) 
als  auch  von  Monaco  (Art.  157)  der  von  einer  Privatperson  begangene  Haus- 
friedensbruch behandelt.  —  3.  Abschnitt.  Störungen  der  öffentlichen  Ord- 
nung durch  Geistliche  in  Ausübung  ihres  Amtes  (Des  troubles  apport6s  k 
Tordre  public  pas  des  ministres  des  cultes  dans  Texercice  de  leur  minist^re); 
Art.  161—168  =  C.  p.  fr.  Art.  199-^206.  —  4.  Abschnitt.  Auflauf,  Wider- 
stand, Ungehorsam  und  andere  Verstösse  gegen  die  Obrigkeit  (Attroupements, 
r6sistance,  d^sob^issance  et  autres  manquements  envers  Tautoritä  publique); 
die  Art.  169 — 174  über  Auflauf  fehlen  im  C.  p.  fr.,  entsprechen  aber  dem 
französischen  Spezialgesetze  vom  9.  Juni  1848;  Art.  175 — 218  =  C.  p.  fr. 
Art.  209—216,  218—226,  228—234,  236—246,  247—257;  die  Art.  217  (auf- 
gehoben), 227,  235,  246  des  C.  p.  fr.  fehlen  bei  Monaco;  die  Art.  219—230 
behandeln  Delikte  gegen  Eisenbahnen  und  Telegraphen,  die  in  Frankreich 
durch  besondere  6.  (bezüglich  der  Eisenbahnen:  G.  vom  15.  Juli  1845)  ge- 
regelt sind  und  daher  im  C.  p.  fehlen;  Monaco  Art.  231,  232,  234—240  =  C.  p. 
fr.  Art.  258 — 264;  Monaco  Art.  233  verbietet  das  Tragen  von  Maskeraden- 
anzügen, Anzügen  ausserhalb  der  zugelassenen  Zeit,  sowie  das  Tragen  von 
religiösen  und  weltlichen  Amtstrachten  als  solchen  überhaupt.  —  5.  Abschnitt. 
Verbindungen  von  Verbrechern,  Landstreicherei,  Bettelei,  Trunkenheit;  Art. 
241—254  =  C.  p.  fr.  Art.  265—272,  274,  276—281;  die  Art.  255—258  be- 
zwecken die  Bekämpfung  der  öffentlich  zu  Tage  tretenden  Trunkenheit;  dem 
gleichen  Zwecke  dient  das  französische  Spezialgesetz  vom  23.  Januar  1873. 
—  6.  Abschnitt.  Delikte,  welche  begangen  werden  durch  Verteilung  von 
Schriften,  Bildern  oder  Druckwerken,  die  den  Namen  des  Verfassers,  Druckers 
oder  Zeichners  nicht  enthalten;  die  Art.  259 — 264  entsprechen  den  (jetzt  auf- 
gehobenen) Art.  283 — 289  des  C.  p.  fr.;  die  Art.  265—273  enthalten  erheb- 
liche Erweiterungen  der  früheren  französischen  Bestimmungen;  vgl.  über  diesen 
Abschnitt  und  das  Verhältnis  desselben  zum  französischen  Pressgesetze  vom 
29.  Juli  1881  den  Aufsatz  von  Daguin  im  Annuaire  des  l^gislations  ^trang^res 
Bd.  XIX.  S.  493  Anm.  1.  —  7.  Abschnitt.  Unerlaubte  Vereine  und  Versamm- 
lungen; Art.  274—279  =  C.  p.  fr.  Art.  291—294  in  der  durch  die  G.  vom 
10.  April  1834  und  6.  Juni  1868  hergestellten  Fassung. 

Zweiter  Titel.  Verbr.  und  Verg.  gegen  Privatpersonen  Art.  280 — 471. 
Zwei  Kap.  —  Kap.  I.  Verbr.  und  Verg.  gegen  die  Person;  7  Abschnitte.  — 
1.  Abschnitt.  Tötungsdelikte  und  Bedrohung;  Art.  280 — 295  =  C.  p.  fr. 
Art.  295 — 308  mit  unwesentlichen  Abweichungen.  —  2.  Abschnitt.  Vorsätz- 
liche Körperverletzung  und  die  anderen  vorsätzlichen  Delikte  gegen  die  Per- 
son; Art.  296—306  =  C.  p.  fr.  Art.  309—318  und  Art  101.  Die  Art.  307—313 
von  Monaco  enthalten  Strafandrohangen  gegen  den  Zweikampf,  der  nach  fran- 
zösischem Recht  straflos  ist  oder  wenigstens  nur  durch  eine  erkünstelte  und 
sehr  anfechtbare  Auslegung  des  Gesetzes  zu  einer  strafbaren  Handlung  gestem- 
pelt werden  kann;  die  von  Monaco  angedrohten  Strafen  sind  nicht  milde;  die 
Herausforderung  zum  Zweikampf  ist  nicht  strafbar;  nur  der  Zweikampf  selbst, 
d.  h.  das  Zusammentreffen  zweier,  von  Zeugen  begleiteter,  bewaffneter  Per- 
sonen auf  Grund  zuvoriger  Vereinbarung  und  die  Anwendung  von  Waffen, 
wird  bestraft:  wenn  keine  Verwundung  erfolgt  ist:  mit  Gef.  von  1 — 3  Monaten, 
wenn  eine  Verwimdung  erfolgt  ist,  je  nach  den  Folgen,  mit  Gef.  von  3  Mo- 
naten  bis   zu  3  Jahren,    wenn  der  Tod   eingetreten  ist,    mit  Gef.  von  2 — 5 


Monaco.  479 


Jahren.  Zeugen  werden  als  Teilnehmer  bestraft,  Arzte  sind  straffrei.  Von 
den  übrigen  fünf  Abschnitten  dieses  Kap.  entsprechen  die  Art.  314 — 365  (mit 
Ausnahme  der  unbedeutende  Zusätze  enthaltenden  Art.  334  und  335)  den 
Art.  319 — 366  des  C.  p.  ftr.;  die  Art.  366 — 376  von  Monaco  handeln  von  der 
Beleidigung;  von  den  entsprechenden  Art.  367 — 378  des  C.  p.  fr.  sind  nur 
noch  Art.  373,  376  und  378  in  Kraft.  —  Kap.  11.  Verbr.  und  Verg.  gegen 
das   Eigentum;    drei   Abschnitte.     Art.  377—407  =  C.  p.  fr.   Art.  379—409. 

—  Die  Art.  408 — 416  enthalten  Bestimmungen  über  die  Verletzimg  des  Brief- 
geheimnisses und  andere  Delikte  in  Bezug  auf  das  Brief^ostwesen;  für  Frank- 
reich ist  diese  Materie,  abgesehen  von  der  ungenügenden  Vorschrift  des  Art. 
187  C.  p.  (==  Monaco  Art.  410)  durch  Spezialgesetze  geregelt.  —  Die  Art. 
417 — 425  von  Monaco  über  die  Zuwiderhandltmgen  gegen  die  Bestimmungen 
betr.  die  Glücksspiele,  Verlosungen,  sowie  die  Pfandleihanstalten  und  das  Dar- 
lehnswesen,  sind  erheblich  ausführlicher  als  die  den  gleichen  Gegenstand  be- 
handelnden Art.  410  und  411  der  C.  p.  fr.  Erwähnt  sei,  dass  jeder,  der  ohne 
Erlaubnis  der  Regierung  Spielhäuser  einrichtet  oder  Lotterieen  veranstaltet, 
mit  Gef.  von  2  bis  6  Monaten  und  Geld  von  100  bis  6000  Frcs.  bestraft  wird 
(Art.  417).  Als  Wucher  (Art.  424)  gilt  die  Gewährung  eines  Darlehns  zu  einem 
Zinsfusse  von  mehr  als  6®/^  jährlich;  nur  der  gewohnheitsmässige  Wucher  ist 
strafbar  (Art.  425);  abweichend  die  französischen  G.  v.  1850  und  1886.  Die 
Art.  426—436  =  C.  p.  fr.  Art.  412—424;  die  Art.  437—440  von  Monaco  (betr. 
den  Verkehr  mit  Nahrungsmitteln  und  Arzneien)  fehlen  im  C.  p.  fr.;  die  den 
Art.  425 — 429  des  letzteren  entsprechenden  Strafandrohungen  gegen  unbefug- 
ten Nachdruck  enthält  die  für  Monaco  am  27.  Februar  1889  erlassene  „Ordon- 
nance souveraine  sur  la  protection  des  oeuvres  artistiques  et  litt^raires^  in 
Art.  17 — 26.  —  Monaco  Art.  441 — 469  (mit  Ausnahme  des  Art.  454,  welcher 
die  Beschädigung  der  für  das  Land  besonders  wichtigen  Oliven-,  Orangen- 
und  Citronenbäume  mit  schärferer  Strafe  bedroht)  entsprechen  den  Art.  434 — 461 
des  C.  p.  fr.;  Art.  470  enthält  eine  Bestimmung  gegen  Wasserverunreinigung. 

—  Monaco  Art.  471  =  C.  p.  fr.  Art.  463. 

Buch  IV.  Übertretungen.  (Contraventions  de  police.)  Sie  zerfallen 
in  drei  Klassen,  je  nachdem  sie  mit  Geldstrafe  von  1 — 5,  von  6 — 10  und  von  1 1 — 15 
Frcs.  bedroht  sind.  Der  Inhalt  der  Art.  464 — 470  C.  p.  fr.,  welcher  von  den 
Übertretungsstrafen  handelt,  ist  von  Monaco  schon  im  ersten  Buche  erledigt; 
im  übrigen  entsprechen  die  Art.  472—484  von  Monaco  den  Art.  471 — 483  des 
C.  p.  fr.  —  Der  letzte  Art.  von  Monaco  (485)  hebt  alle  dem  StGB,  wider- 
sprechenden G.  auf. 

III.  Die  übrigen  G.  strafrechtlichen  Inhalts.  Ausser  dem  StGB, 
enthalten  die  nachstehend  aufgeführten,  in  Monaco  gültigen  Gesetze  Bestim- 
mungen strafrechtlichen  Inhalts. 

1.  Die  StPO.  (C.  d'instr.  crim.)  vom  31.  Dezember  1873  (amtliche  Text- 
ausgabe Nice,  Cauvin  &  Co.,  1874)  enthält  in  Art.  14 — 22  die  von  den  meisten 
Gesetzgebern  zu  den  materiell-rechtlichen  Bestimmungen  gerechneten  Grund- 
sätze des  „internationalen  StR."  Das  G.  steht  auf  dem  Boden  des  Territoria- 
litätsprinzips; im  Auslande  begangene  Delikte  werden  nur  in  besonderen  Fällen 
bestraft,  —  Nach  Art.  22  erfolgt  die  wechselseitige  Auslieferung  von  Ver- 
brechern nach  Massgabe  der  Auslieferungsverträge;  solche  sind  abgeschlossen 
mit:  Italien  am  26.  Mai  1866,  Belgien  am  29.  Juni  1874  (vervollständigt  durch 
Erklärung  vom  30.  Dezember '1881),  Frankreich  am  8.  Juli  1876,  Holland 
am  10.  August  1876,  Spanien  am  3.  April  1882,  Russland  am  5.  September 
1883,  der  Schweiz  am  10.  Dezember  1885,  Österreich  am  22.  Februar  1886, 
England  am  17.  Dezember  1891.  Genaue  Angaben  über  den  Inhalt  der  Ver- 
^  träge  finden  sich  im  Annuaire  des  legislations  ^trangferes  von  Bd.  XII  an. 


4?J}  MfjoMco. 


Jji*:  Art.  7«>.  355,  358  und  444  der  StPO.  sfnd  spaier  d:zrch  eme  Ordon- 
luu^ee  Tom  16.  Aogoät  IhS^  abgeändert. 

&  Das  franzdnsche  G.  xom  3.  Mlrz  1S22  über  di^  GesuzMÜheit^polizei 
'loi  reUufre  ik  la  poliee  saniuüre  '•.  d€:sseii  Emfühmsg  in  Moiiae»:*  bereits  in  der 
Conrentkrii  TC»n  9.  Xorember  l>^65  in  Aussicht  genommen  war,  ist  durch 
Verfügungen  des  G^raTemeor  g^eral  Tom  21.  Jani  und  4.  Juli  1890  that- 
fachlich  in  Ktslü  gesetzL 

%m   G.  vom  29.  Aprü  1828  über  die  Ejntragmigsgebühren  und  den  Stem- 
pel  ioi  «IT  renreg;istrement  et  le  dmbre-:  die  Art.  73 — 75,  77,  »9  nnd  W  des- 
selben ftind  abgeändert  durch  das  Stempelgesetz  vom  23.  August  1S87  lOrdon 
nance  «ur  les  timbres  mobile»'. 

4.  Vdg.  Tom  4.1fai  1853  Art.  6  und  Vd^.  vom  2.  Oktober  ISSO  Art.  3  mit 
Strafbestimmungen  betr.  die  städtische  PolizeL 

j».  Ydg,  Tom  16.  Januar  1863  betr.  den  Orden  des  heiligen  Karl:  Art. 
18 — 21.  25 — 28  enthalten  die  Strafdrohungen. 

C«  Die  bereits  mehrfach  erwähnte,  mit  Frankreich  abgeschlossene  .Con- 
Tention  relative  ä  Tunion  douani^re  et  aux  rapports  de  voisinage*  vom  9.  No- 
vember 1865  enthält  in  Art.  13  und  21  Bestimmungen  über  die  Vo'busBung  der 
in  Monaco  verhängten  Freiheitsstrafen  in  französischen  Anstalten. 

7«  Vd^.  vom  6.  Juni  1867  fiber  die  allgemeine  PolizeL 

8.  Vdg.  vom  2,  Oktober  1880  und  Vdg.  vom  30.  Juli  1883  über  Vornahme 
von  Sprengungen  und  den  Verkehr  mit  explodierenden  Stoffen. 

9«  Notariatsordnung  (Ordonnance  sur  le  notariati  vom  4.  Mära  1886: 
Titel  lU:  Strafbestimmungen. 

10«  Vdg.  Die  öffentlichen  Versteigerungen  ('Ordonnance  sur  les  ventes  publi- 
ques  aux  ench^resj  vom  7.  April  1887;  Strafbestimmung  Art.  18. 

IL  Nachdrucks -Vdg.  i  Ordonnance  souveraine  sur  la  protection  des 
Oeuvres  artistiques  et  Utt^rairesj  vom  27.  Februar  1889;  Strafbestimmungen 
Titel  m,  Art.  17—26. 

12«  Vdg.  vom  18.  März  1891  betr.  die  Anwendung  der  zaia  Schutze  des 
elektrischen  Telegraphen  und  des  Briefgeheimnisses  erlassenen  Strafdrohungen 
auf  das  Telephon. 

m.  Vdg.  vom  24.  Juni  1892.  betr.  Abänderungen  des  Art.  471  C.  p. 

14.  Vdg.  vom  8.  September  1892  betr.  die  Unterdrückung  gewisser  an 
Briefmarken  und  im  Postdienste  begangenen  Betrugereien. 

IS«  Vdg.  vom  6.  Februar  1893,  Art.  5  und  6  mit  Strafdrohungen  g^en 
Übertretungen  gesundheitspolizeilicher  Anordnungen. 


K. 


DIE  IBERISCHE  HALBINSEL, 


1.  Spanien.  2.  Portugal. 

Von  Dr.  Ernst  Rosenfeld  von  J.  J.  Tavares  de  Medeiros, 

In  Halle  a/S.  Adrokat  in  Lissabon. 

Übersetzung  von  Dr.  fieorg  Cmsea  in  Hannorer.) 


Strafgesetzgebnng  der  Gegenwart.  81 


Übersicht 


1.  Spanien« 

I.  Die  geschichtliche  Entwicklung'  des  spanischen  StR.  §  1.  Das  StR.  auf  vorwiegend 
westgotischer  Grundlage.  §  2.  Die  Siete  Partidas.  §  3.  Das  gemein -spanische 
StR.  §  4.  Das  neunzehnte  Jahrhundert. 
IL  Das  geltende  spanische  StGB.  §  5.  Der  allgemeine  Teil, ^insbesondere  das  Ver- 
brechen. §  6.  Das  Strafensystem.  §  7.  Die  Verbrechen  gegen  die  Gesamtheit. 
§  8.  Die  Verbrechen  gegen  die  Einzelnen.  §  9.  Die  Übertretungen. 
III.  Das  Spezialstrafrecht.  §  10.  Press-  und  VereinsStR.  §  11.  Schutz  des  geistigen 
Eigentums.   §  12.  Das  VerkehrsStR.   §  13.  Das  ZollStR.    §  14.  Gesetze  aligemeinen 

BoiizeilichcTi  Oh&r&ktPTS 
^as  Militärstrafrecht.    §  15.  StR.  für  das  Landheer.   §  16.  Das  StR.  für  die  Marine 
V.  Das  StR.  der  Kolonieen.    §  17.  Die  afrikanischen  Besitzungen.    §  18.  Die  west- 
indischen Besitzungen.    §  19.  Die  Philippinen. 

2«  Portugal« 

I.  Ursprung  und   geschichtliche  Entwicklung  des   portugiesischen  StR     §  1.  Die 
ältere  Geschichte  des  StR.    §  2.  Die  Entstehungsgeschichte  des  geltenden  StGB. 
IL  §  3.  Litteratur-Übersicht. 

III.  Das  StGB,  vom  16.  September  1886.    §  4.  Allgemeiner  Teil.    §  5.  Der  besondere 
Teil  des  StGB. 


1.  Spaniea 


L  Die  geschiclitliche  Entwicklnng  des  spanischen  StR. 

Litteratnr.  Mabtinez  Mabina,  Ensayo  hist6rico-critico  sobre  la  antigna  legis- 
lacion  .  .  de  Leon  y  Castilla,  especialmente  sobre  . .  las  Siete  Partidas  (Madrid,  1.  ed. 
1808,  8.  ed.  1845).  Prieto,  Historia  del  Derecho  real  de  Espafia.  Madrid  1821  (1.  ed. 
1738).  Manbesa  t  Sanchez,  Historia  legal  de  Espafla,  desde  la  dominaciön  goda  hasta 
nuestros  dias.  Madrid  1841—43.  Sempere,  Historia  del  Derecho  espafiol  continaada 
hasta  nuestros  dlas.  3.  ed.  Madrid  1846  (fortgesetzte  Ausgabe  von  Moreko,  Madrid 
1847).  Marques  de  Pibal,  Lecciones  sobre  la  historia  del  gobiemo  y  legislaciön  de 
Espana,  prontmciadas  en  el  Ateneo  de  Madrid  en  los  afios  de  1841  y  1^2.    Madrid 

1880.  Antequbra,  Historia  de  la  legislaciön  espafiola,  desde  los  tiempos  mÄs  remotos 
hasta  nuestros  dias.  2.  ed.  Madrid  1884.  (1.  ed.  1849,  nuevamente  escrita  1874).  Mubo 
Mabtinez,  Recopilaciön  histörico-critica  de  la  legislaciön  de  EspaSa  desde  que  68ta  en 
el  siglo  IV  se  constituyö  en  naciön  independiente  hasta  nuestros  dias.  Ilusti'ada  con 
los  retratos  de  los  reyes  autores  de  los  respectivos  Cödi&^os.   2  Bde.    Madrid,  Gomez 

1881.  HiNOjosA,  Historia  general  del  Derecho  espaSol.  Bd.  I.  1887.  Ferreibo  Laoo  y 
Cabbbbas  y  Mabtinez,  La  legislaci6n  penal  especial.  Obra  que  comprende  la  Historia 
de  la  Legislacion  penal  de  Espana  con  todas  los  leyes  y  disposiciones  asi  comunes 
come  especiales.  Madrid,  Campuzano.  Bd. I,  I.Lieferung.  1887.  Pacheco,  El  Cödigo 
penal.  Introducciön  (S.  1 — 63);  6.  ed.  Madrid  1888.  v.  Bbaüchitsch,  Geschichte  des 
spanischen  Rechts.  Berlin  1852.  du  Bots,  Histoire  du  droit  criminel  de  rEspa&^e. 
Paris  1870.  —  Los  Cödioos  espanolbs  concordados  y  anotados.  12  Bde.  2.  ed.  Madrid, 
1872—73.  Juan  de  la  Regueba  Valdblomab,  Colecciön  general  de  Cödigos  antiguos  y 
inodemos  de  Espafia.  (Extractos)  Barcelona  1845—48.  Munoz  t  Rouebo,  Colecciön  de 
fueros  municipales  y  cartas  pueblas  de  los  reinos  de  Castilla,  Leon,  Corona  de  Aragon 
y  Navarra.  Bd.  I.  Madrid  1847.  Marcelo  Martinez  Alcübilla,  Codigos  antiguos  de 
Espana.  2  Bde.  Madrid  1885.  —  Fuebo  Juzgo  en  latin  y  castellano  cotejado  con  las 
m^s  antiguos  y  preciosos  cödices  por  la  Real  Academia  Espafiola.  Madrid  1815. 
Brttnneb,  Deutsche  Rechtsgeschichte.  Leipzig  1887.  Bd.  I,  S.  320,  402.  v.  Saviont,  Ge- 
schichte des  römischen  Rechts  im  Mittelalter.  Bd.  II,  §  25.  Bluhmb,  Zur  Textkritik  des 
Westgotenrechts  1872  (Beilage :  Pariser  Fragmente).  Gaudenzi,  Un*  antica  compilazione 
di  diritto  Romano  e  Visigoto  con  alcuni  frammenti  delle  leggi  di  Eurico.  1886.  — 
(Gonzalez),  Colecciön  de  c^dulas  etc.  concemientes  &  las  Provincias  Vascon^adas. 
Madrid  1829—30  und  Colecciön  de  privilegios  etc.  de  la  Corona  de  Castilla.  Madrid 
1830—33.  6  Bde.  Legislacion  Foral  de  Espana.  Madrid,  Nufiez,  1887 ff.  (Cabtblls  y 
DE  BAssoLS-Cataluna;  Bebges  -  Aragon ;  Castejou- Navarra;  Manba- Mallorca;  Lecanda- 
Vizcaya).  Llobente.  Noticias  histöricas  de  las  tres  Provincias  Vascongadas.  5  Bde. 
Madrid  1806 — 1808.  öobaluce,  Fueros  de  Guipiizcoa.  Madrid  1866.  Ilabbegui  y  Lapusb- 
TA,  Fuero  general  de  Navarra.  Pamplona  1869.  Repbesentaoiön  de  los  vascongados 
y  navarros  residentes  en  Madrid,  pidiendo  la  conservaciön  de  los  fueros  de  sus  pro- 
vincias. Madrid  1839.  Calatbava,  La  aboliciön  de  los  fueros  vasco-navarros.  Madrid 
1876.  Oliveb,  Historia  del  Derecho  en  Cataluna,  Mallorca  y  Valencia.  Cödigo  de  las 
costumbres  de  Tortosa.  4  Bde.  Madrid  1876 — 1881.  RuANO,"Fuero  de  Salamanca,  1870. 
—  D.  Jgnacio  Jordan  de  Asse  y  del  Rio  y  D.  Mi^el  de  Manuel  y  Rodbiguez,  El  Fuero 
viejo  de  Castilla,  sacado  y  comprobado  con  el  ejemplar  de  la  misma  obra  que  existe 
en  la  Real  Biblloteca  de  esta  corte  y  con  otros  manuscritos.  Con  notas  histöricas  y 
legales.   Madrid  1771.    Neue  Ausgabe  mit  discurso  preliminar  von  Pidal,  Madrid  1847. 

31* 


484  Spanien.  —  Die  geschichtliche  Entwicklung. 


Opuscttlos  legales  del  Rey  Don  Alfonso  el  Sabio,  publicados  por  la  Real  Academia  de 
la  Historia.  2  Bde.  Madrid  1836.  Las  Siete  Pabtidas,  herausgegeben  von  Diaz  Montalvo, 
I.Ausgabe  1491;  von  Gregorio  Lopez  (mit  Glosse),  I.Ausgabe  1555;  von  der  Academia 
de  la  Historia,  1.  Ausgabe  1807.  Llamas  y  Molina,  Comentario  critico,  juridico,  literal 
k  las  leyes  de  Toro.  Madrid,  1.  ed.  1827,  5.  ed.  1876.  Pacheco,  Comentario  histörico- 
critico  y  juridico  k  las  leyes  de  Toro.  Madrid  1862  (fortgesetzt  1876  von  Gonzalez 
y  Serrano).  Novisdca  Recopilaci6n  de  las  leyes  de  Espana,  dividida  en  12  libros  en  que 
se  reforma  la  recopilacion  publicada  por  el  Sr.  D.  Felipe  II.  en  el  aSo  1567,  reimpresa 
ültimamente  en  el  de  1775,  y  se  incorporan  las  pragmÄticas  etc.  expedidas  hasta  el 
de  1804,  mandado  formar  por  el  Sr.  D.  Carlos  IV.  Madnd  1805—7.  6  Bde.  Mabtinez 
Marina,  Juicio  critico  de  la  Novisima  Recopilacion.  Madrid  1820.  Coleccion  de  de- 
cretos  y  ördenes  (de  las  Cortes  1810—23).  10  Bde.  Madrid  1820—28.  Coleccion  de  de- 
cretosy  ördenes.  Serien:  1814—23,  1824—36,  1837—45,  1846—56,  1856-79.  Zusammen 
123  Bde.  —  Labdizabal  y  Ubibe,  Discurso  sobre  las  penas,  contraido  a  las  leyes  cri- 
minales  de  Espana,  para  facilitar  su  reforma.  Madrid,  1.  ed.  1782,  2.  ed.  1828.  Pcoa 
Y  Abaujo,  Diccionario  cronol6g^co  penal  de  toda  la  legislaciön  espaSola.  Santiago 
1842.  —  CÖDioo  PENAL  espanol  decretado  por  las  Cortes  en  8  de  Junio,  sancionado 
por  el  Rey  y  mandado  promulgar  en  9  de  Julio  de  1822.  Madrid  1822.  Discüsiön  del 
proyecto  en  las  Cortes  extraordinarias  de  1821,  und  Vabiacionbs  que  .  .  .  propone  la 
Comision  etc.  Zusammen  4  Bde.  Madrid  1822.  Pboyecto  de  Codigo  criminal  presen- 
tado  por  una  Comision  nombrada  por  el  Gobierno  de  S.  M.  1834.  Febnandez  de  la 
Hoz,  Codigo  criminal  redactado  con  arreglo  4  la  legislaciön  vigente.  1843.  Pboyecto 
de  Codigo  penal  de  1847.  Barcelona  1847.  Codigo  penal  vom  19.  März  1848  imd 
21. /22.  September  1848.  Amtliche  Ausgabe.  Madrid  1848.  Cödioo  penal  de  Espana 
vom  30.  «Juni  1850.  Ediciön  olicial  reformada,  Madrid  1850.  2.  ed.  1863.  Codigo  penal 
befobmado,  mandado  publicar  provisionalmente,  en  virtud  de  autorizaciön  concedida 
al  Gobierno  por  la  ley  de  17  de  Junio  de  1870.    Ediciön  oficial,  Madrid  1870. 

§  1.  Das  StB.  auf  Torwlegend  westgotischer  Arnndlage. 

I.  „Aus  den  Wäldern  Germaniens  und  den  Steppen  Skythiens"  ist  den 
Bewohnern  der  iberischen  Halbinsel  gleich  den  übrigen  römischen  Provinzial- 
bevölkerungen  das  wichtigste  Ferment  zur  Bildung  einer  eigenen  Nation,  eigen- 
artigen Kultur-  und  Rechtslebens  gekommen.  Der  ohne  Zweifel  höchst  assimi- 
lationsfähige  Westgotenstamm  trug  freilich  in  der  ersten  Zeit  seiner  Herrschaft 
die  strenge  Scheidung  der  Sieger  und  Besiegten  in  der  als  Personalitätsprinzip 
bekannten  Weise  in  die  älteste  spanische  Gesetzgebung  hinein.  Hierher  gehören 
die  Bruchstücke  von  Eurichs  (466 — 484)  Gesetzen  (Pariser  Fragmente),  die  von 
Gaudenzi  entdeckte  Kompilation  aus  der  Provence,  das  Breviarium  Alariehs  H. 
(484 — 507),  ein  grosser  Teil  der  unsicher  begrenzten  Leges  antiquae,  die  in 
Cördoba  verfassten  formulae  Wisigothicae.  Nach  dem  wenig  fruchtbaren  ersten 
Drittel  des  7.  Jahrhunderts  jedoch  tritt  ein  Umschwung  in  der  Gesetzgebung 
ein,  der  durch  Rekkar eds  I.  (586 — 601)  Übertritt  zur  katholischen  BJrche  in 
die  Wege  geleitet  war  und  in  dem  von  Chindasuinth  (641 — 652)  vorbereiteten, 
von  Rekkessuinth  (649 — 672)  in  der  Zeit  seiner  Alleinherrschaft  durchgeführten 
Reformwerk  der  Lex  Wisigothorum  seinen  Abschluss  findet.  Charakteristisch 
ist  die  systematische  Durcharbeitung  des  gesamten  Rechtsgebietes,  allerdings 
in  unselbständiger  Anlehnung  an  die  römischen  Vorbilder,  und  das  Aufgeben 
der  Sonderung  der  Goten  von  den  Römern.  Seit  642  wendet  sich  der  Gesetz- 
geber an  alle  seine  Unterthanen  gleichmässig.  Das  Ehehindemis  nationaler 
Abstammung  ist  beseitigt,  die  Anwendung  römischer  Rechtsquellen  (damit  auch 
des  Breviarii)  wird  verboten,  der  Preis  des  neuen  GB.  auf  6  solidi  festgesetzt 
Das  bereits  von  Rekkessuinth  •  nochmals  völlig  umgearbeitete  GB.  macht  bis 
zum  Ende  des  westgotischen  Königtums  noch  mindestens  eine  Neuredaktion 
und  verschiedene  Erweiterungen  durch  (Erwigiana  682.  Lex  Wisigothorum 
Vulgata).  Seine  jüngste  Form,  in  der  es  die  Maurenherrschaft  überdauert  hat, 
ist  die  für  Cördoba  1229  unter  Fernando  HI.  el  Santo  von  Kastilien  angefer- 
tigte altkastilianische  Übersetzung:  das  berühmte  FueroJuzgo,  Forum  Judi- 
cum  der  Spanier. 


§  1.    Das  StR.  auf  vorwiegend  westgotischer  Grundlage.  485 


II.  Dem  StR.  ist  ein  verhältnismässig  grosser  Teil  des  Fuero  Juzgo  ge- 
widmet: ausser  4  Büchern  (6. — 9.)  ziemlich  ganz  das  12.  und  Partieen  des  2. 
und  3.  Die  behandelten  Materien  sind:  falsches  Zeugnis;.  Frauenraub,  Ehe- 
bruch, Hurerei,  verbotene  Ehen,  Päderastie,  Sodomie;  Zauberei,  Wahrsagerei, 
Abtreibung,  Wunden  und  Schläge,  Tötung;  Diebstahl,^)  Menschenraub,  Gefan- 
genenbefreiung und  ungerechtes  Richten,  Urkundenfälschung,  Falschmünzen; 
Gewalt,  Brandstiftung,  Schäden  in  Feld  und  Forst,  an  Vieh  und  durch  Vieh, 
Schaden  durch  Bienen,  Diebstahl  an  Bienen;  Aufnahme  und  Unterstützung  ent* 
flohener  Sklaven,  Befreiung  von  Sklaven  und  Hülfe  zur  Selbstbefreiung,  Fahnen- 
flucht (nebst  verschiedenen  Ansätzen  zu  einem  Militärstrafrecht),  Missachtung 
kirchlichen  Asylrechts;  Ketzer-  und  Judenverfolgung,  *)  Ehrenbeleidigung.  Die 
Grundsätze,  die  der  Gesetzgeber  bisweilen  ausspricht,  wie  Gleichheit  aller  vor 
dem  Gesetz,  —  Persönlichkeit  der  Strafe,  die  mit  dem  Schuldigen  sterben  soll,  — 
Kürze  und  Unzweideutigkeit  der  Vorschriften  —  haben  ebensowenig,  wie  die 
dürftigen  Rudimente  des  allgemeinen  Teils,  über  den  konkreten  Fall  hinaus 
das  Ganze  zu  durchdringen  vermocht,  wenn  auch  die  treffende  und  sichere 
Formulierung  öfters  überrascht.  Im  Gegensatz  zu  dem  Prinzip  stösst  man 
fortwährend  auf  Ausartungen  der  römischen  Unterschiede  in  der  Behandlung 
der  nobiliores  und  humiliores:  hier  als  ome  de  mejor  guisa,  de  grand  guisa, 
poderoso  und  als  ome  de  menor  guisa,  de  vil  guisa  bezeichnet.  Noch  bevor- 
rechteter sind  einigemale  der  Hofmann  und  der  Adaling  (fijodalgo).  Am 
schlimmsten  ist  der  Sklave  dran.  Im  allgemeinen  ist  das  Verhältnis  dies,  dass 
der  Höherstehende  mehr  oder  alleine  zahlt,  während  der  Niedere  mehr  Prügel 
oder  bloss  Prügel  (azotes)  erhält.  Dies  nebst  der  Umwandlung  unbeitreib- 
licher  Geld-  in  Prügelstrafe  nach  ziemlich  festen  Sätzen  ist  für  ein  weites  Ge- 
biet der  Bestimmungen  charakteristisch.  Im  Widerstreit  mit  dem  proklamierten 
Grundsatz  ist  femer  die  Ausdrucksweise  sehr  weitschweifig,  und  Antinomieen 
wimmeln.  Als  einigermassen  durchgeführt  kann  man  allenfalls  das  wiederholt 
in  mannigfachen  Wendungen  (etwa  motiviert  mit  der  Häufigkeit  des  Verbr., 
wie  bei  der  Abtreibung)  aufgestellte  Prinzip  der  Abschreckung  ansehen.  Dem 
Geist  der  Zeit  entsprechend,  finden  sich  häufig  Todes-  und  Leibesstrafen  (Ab- 
hauen einer  Hand,  eines  Daumens,  Entmannung,  besonders  oft  Brandmarkung). 
Eigentümlich  ist  die  Hingabe  des  Verbrechers  in  die  Willkür  des  Verletzten 
(oder  seiner  Verwandten  oder  des  Königs),  der  ihn  nur  nicht  töten  darf,  öfters 
bei  Unbeitreiblichkeit  der  Geldbusse,  bisweilen  ablösbar  durch  Komposition. 
Die  Idee  der  Talion  zeigt  sich  in  einer  Reihe  von  Bestimmungen  deutlich, 
und  zwar  teils  identischer  Talion  (bei  falscher  Anschuldigung,  Zauberei!,  Ver- 
stümmelungen und  Freiheitsberaubungen,*)  Verwandtenmord,  ungerechtem  Todes- 
urteil), teils  analoger  Talion  (z.B.  bei  Päderastie,  Gefangenenbefreiung,  Un- 
vermögen, den  gehehlten  Räuber  zu  gesteilen).  Sehr  zahlreich  sind,  wie  er- 
wähnt, die  Fälle  der  Prügelstrafe  und  die  Vermögensstrafen,  in  bestimmten 
Summen  oder  als  Mehrfaches  (2-,  4-,  6-,  7-,  9-,  11-faches)  eines  Wertes,  Be- 
trages oder  einer  Sache  angedroht,  femer  in  Einziehung  des  ganzen  Vermögens 
oder  bestimmter  Sachen  (z.  B.  Karren  und  Ochsen  bei  Forstdiebstahl)  bestehend. 
Strafen  an  Ehren  und  Rechten,  Testier-  und  Zeugnisfähigkeit  sind  häufig. 

*)  Hier  eine  Reihe  von  Bestimmungen,  die  auf  Sicherung  der  Rechtspflege  durch 
allgemeine  Rechtshülfepflicht  hinauslaufen  (7,  2,  20  ff.,  auch  7,  4). 

*)  Die  ersten  Judengesetze  rühren  von  König  Sisibut  (612—620)  her,  eine  erste 
Petition  der  Juden  von  Toledo  an  König  Rekkessuinth  v.  J.  654. 

^)  Bei  vorgewandter  Unkenntnis  oder  Unzulänglichkeit  des  Rechts  sogar  darüber 
hinausschiessend  6,  4,  5 :  „Die  ganze  Gefahr  und  die  ganze  Verunehrung  und  die 
ganze  Qual  und  den  ganzen  Schaden,  den  er  dem  andern  zufügte,  erleide  er  an 
seinem  Leib  und  ausserdem  empfange  er  100  Hiebe  und  werde  entstellend  gebrand- 
markt als  Schande  für  alle  Zeiten." 


486  Spanien.  —  Die  geschichtliche  Entwicklnn^. 


Das  Urtefl  über  das  Faero  Jnzgo  lautet  sehr  verschieden.  Deutsche 
Schriftsteller  nennen  es  ein  Merkmal  gesetzgeberischer  ünnUbd^keit,  der  Sprache 
nach  von  endlosem  Schwnlst,  dem  Inhalt  nach  in  greisenhafter  Abhängigkeit 
von  rtaiischem  Mnster  nnd  imter  antüchtigem  kirchlichem  Etnflnase.  Spanier 
wieder  rühmen  das  Fnero  Jnzgo  als  nnvei^leichlieh  hoch  über  den  sonstigen 
gesetzgeberischen  Schöpfungen  des  7.  Jahrhunderts  stehend,  als  ebenbürtig  den  Ge- 
setzen Boms,  in  einigem  an  humanem  Geist  ihnen  überlegen;  seine  Denkweise  wird 
exakt,  sein  Ausdruck  klar  genannt.  Beide  Urtefle  sind  übertrieben:  in  vielen 
Pimkten  lässt  germanischer  Einfluss  sich  nachweisen  (in  den  Garantieen  bei  der 
Foltenmg  6,  1,  2.  3.;  in  der  Tarifienmg  der  Wunden  und  der  einzelnen  Glie- 
der 6,  4,  1.  3.;  in  den  Vieh-  und  Nutzpflanzentarifen  7,  2,  11.  8,  3 — 5;  in 
den  Wergeidstarifen  der  einzelnen  Lebensalter  8,  4,  16),  —  dass  er  nicht  hin- 
gereicht hat,  um  für  den  Zweck  einer  umfassenden  systematischen  Gesetz- 
gebimg das  durchgearbeitetere  Römerrecht  zu  überwinden,  wer  wollte  das  ver- 
wunderlich finden?  Ebenso  ist  ohne  weiteres  zuzugeben,  dass  es  oft  schwer 
hält,  aus  frömmelnder  Salbaderei  den  Kern  einer  Vorschrift  herauszufinden; 
aber  gelegentlich  laufen  auch  feine,  jedes  Gesetzgebers  würdige  Aussprüche 
unter.  Besonders  hoch  zu  veranschlagen  ist  der  durch  die  Westgotensatzimgen 
sieh  ziehende  Anklang  an  moderne  staatsrechtliche  Auffassung.  Die  Strafe  ist 
kein  Paktieren  der  Eünzelnen,  von  Sippenfeindschaft  und  Blutrache  ist  im  Fuero 
Jnzgo  keine  Spur.  Hier  redet  der  König  eines  in  straffer  Einheit  zusammen- 
gehaltenen Landes  zu  seinen  ünterthanen:  das  Bild  wird  nicht  durch  das 
Streben  mächtiger,  anmasslich  dem  Herrscher  sich  gleich  stellender  Grosser 
(neos  hombres,  Qjosdalgo)  gestört.  Damit  war  ein  Grundstein  zu  wahrem 
staatlichem  StR.  gelegt,  und  mit  Recht  kann  Pacheco  das  Fuero  Jnzgo  „un 
verdadero  cödigo"  —  „ein  wirkliches  Gresetzbuch"  nennen. 

III.  Das  ändert  sich  gründlich  in  der  Folgezeit.  Nach  dem  Sturze  der 
westgotischen  Monarchie  und  der  Entstehung  vieler  kleiner  Königreiche  im 
Norden  Spaniens  brechen  in  der  Zeit  der  Partikulargesetze,  der  lokalen  Fueros, 
alle  bisher  unterdrückten  Äusserungen  germanischen  Individualitätsgefühls  her- 
vor und  der  Kampf  gegen  sie  überdauert  weit  das  Mittelalter.  Zwar  wird 
die  Einheitlichkeit  der  spamschen  Nation  in  der  Hinsicht  nie  in  Frage  gestellt, 
dass  man  auf  den  Unterschied  zwischen  Goten  und  Römern  zurückkäme,  — 
vielmehr  ist  die  Verschmelzung  eine  durchgreifende  und  endgültige;  aber 
mächtig  regt  sich  das  Personalitätsprinzip  wieder  gegenüber  Juden  und  Mauren 
und  in  jedem  der  neuen  Einzelstaaten  und  Fuerogebiete  gegen  alle  nicht  Ein- 
heimischen. Die  Monarchie  wird  wieder  wesentlich  zu  dem  Stande  altgermani- 
schen Heerkönigtums  herabgedrückt;  unter  dem  Adel  (den  infanzones,  ricos 
hombres,  fijosdalgo,  caballeros),  ist  der  König  nur  der  erste,  oft  in  seiner 
freien  rechtlichen  Beweglichkeit  beschränkteste ;  ihm  sagen  gleich  den  übrigen 
Standesgenossen  die  herrschsüchtigen  Grossen  Fehde  an.  Gerichtliche  Zwei- 
kämpfe und  Gottesurteile,  Sippenfeindschaft  und  Abkauf  der  Bache  durch 
Zahlung  des  geteilten,  ein-  oder  mehrfachen  Wergeides  kennzeichnen  die  Straf- 
rechtsquellen. Nimmt  man  hinzu,  dass  jeder  grosse  Lehnsmann  zxmi  Selbst- 
herrscher seines  Territoriums,  jede  Stadt  zur  Militärrepublik  sich  auszubilden 
bestrebt  ist;  dass  alle  diese  Jahrhunderte  eine  einzige  Schlacht  gegen  die 
sarazenische  Fremdherrschaft  darstellen,  —  so  ist  das  unübersehbare  Chaos 
kapriziöser  Vorschriften  verständlich,  in  dem  „das  StR.  eine  Lotterie  und  das 
Verfahren  ein  Kampfspiel  oder  eine  lächerliche  Versuchung  des  Himmels" 
wird.     (Pacheco.) 

Deuten  wir  nun  kurz  für  die  Hauptteile  des  heutigen  Spaniens  die  Etappen 
der  EntWickelung  an,  und  zwar  für  die  ausserkastilianischen  Länder  auch  über 
die  hier  zunächst  behandelte  Periode  hinaus. 


§  1.    Das  StR.  auf  vorwiegend  westgotischer  Grundlage.  487 


Das  früheste  Zeugnis  für  den  oligarchischen,  dem  Königtum  feindseligen 
Geist  legt  das  meist  tendenziös  bis  in  die  Zeiten  von  Pelagius  und  Inigo  Arista 
hinaufgerückte  Fuero  von  Sobrarbe  (in  der  Landessprache  um  1030)  ab,  das 
den  Ausgangspunkt  der  Entwickelung  für  Aragonien  und  Navarra  bildet,  wo- 
bei von  letzterem  wieder  die  baskischen  Provinzen  nicht  zu  trennen  sind.  Jn 
Aragonien,  wo  der  Gegensatz  zwischen  Königtum  und  Adel  am  schärfsten  war 
und  zu  wiederholten  Demütigungen  des  ersteren  führte,  bis  seit  1348  die  Mon- 
archie zu  erstarken  anfing,  wurde  die  erste  G8.  von  Jakob  I.  auf  den  Cortes 
von  Huesca  1247  veranstaltet.  Das  dem  StB.  gewidmete  Buch  8  der  Obser- 
vancias  wird  um  1400  von  Martin  Didad  d'Aux  neu  kompiliert.  Der  starr- 
sinnige Unabhftngigkeitsgeist,  vor  dem  sogar  noch  Philipp  II.  in  der  Affaire 
Perez  zurückweichen  musste,  wurde  erst  von  Philipp  V.  gebrochen,  der  nach 
einem  verunglückten  Aufstande  den  Aragoniern  ihre  Fueros  und  Privilegien 
nahm  und  sie  völlig  unter  kastilisches  Recht  stellte  (1707).  —  Länger,  und 
am  längsten  unter  allen  spanischen  Provinzen,  hielt  das  Sonderrecht  sich  in 
Navarra  und  den  Baskenbezirken,  in  der  sogenannten  Espafia  foral.  Navarra, 
an  das  Fuero  von  Sobrarbe  sich  anlehnend  und  seit  1076  bestimmter  unter 
aragonischem  Einfiuss,  erhielt  eine  erste  Sammlung  seiner  Leyes  y  Fueros  1237 
in  dem  Codex  dlplomaticus  Theobaldsl.,  dessen  Besserung  1330  Philipp  d'Evreux 
unternahm,  bis  im  zweiten  Drittel  des  16.  Jahrhunderts  ein  Fuero  reducido 
(Redaktoren:  Pasquier  und  Otalora)  zu  stände  kam,  das  durch  die  Neusamm- 
lungen V.  1735  und  1815  ergänzt  wurde.  Die  Baskenländer,  deren  unabhän- 
gige Sonderstellung  Llorente  sich  ohne  grossen  Erfolg  bemüht  hat,  als  erst 
ziemlich  modemer  Zeit  angehörig  zu  erweisen,  finden  den  Abschluss  der  Ent- 
wicklung in  Biscaya  mit  dem  GB.  v,  1452,  reformiert  1527,  und  der  vollen 
Durchführung  einheitlicher  Gesetzgebung  1632;  in  Guipüzcoa  mit  der  Fuero- 
sammlimg  von  Tolosa  1375,  umredigiert  1463,  vermehrt  1526  und  1583  und 
der  neuen  Kompilation  v.  1692  (1696);  in  Alava,  das  Kastilien  am  nächsten 
stand  und  teilweise  dem  Fuero  Real  (S.  489  ff.)  unterlag,  mit  dem  GB.  v.  1463, 
feierlich  bestätigt  1483  (1488).  Erst  das  19.  Jahrhundert  sah  das  Ende  der 
stolzen  Espafia  foral,  die  in  den  letzten  Resten  sogar  noch  dem  gegenwärtigen 
StGB,  trotzen  konnte.  Der  den  Karlistenkrieg  v.  1839  im  wesentlichen  be- 
endende Vertrag  von  Vergara  raubte  den  Navarresen  und  Basken  ihre  Sonder- 
rechte grossenteils,  —  der  Karlistenfeldzug  von  1875/76,  in  dem  ihr  Land  den 
Herd  des  Aufstandes  bildete,  nahm  sie  ihnen  vollends  (G.  vom  19.  Juli  1876 
und  7.  Mai  1877).  —  Zur  Krone  Aragonien  gehören  femer  Katalonien  (Usatici 
Barcinonenses  1068,  mit  bewusster  Ablehnung  des  Fuero  Juzgo),  die  Balearen 
(Fuero  von  Mallorca,  1230  unter  Jakob  L,  ausgezeichnet  durch  die  Beseitigung 
des  gerichtlichen  Zweikampfes)  und  Valencia  (Fueros  oder  Fürs  von  Valencia, 
am  stärksten  unter  römischem  Einfiuss).  Diese  Sonderrechte  sind  mit  den 
aragonischen  untergegangen. 

Weit  wichtiger  für  die  Rechtsentwicklung  sind  die  Länder  der  Krone 
Kastilien,  teils  durch  das  etwa  doppelt  so  grosse  Areal,  teils  weil  hier  der 
Gedanke  der  Rechtseinheit  am  zähesten  festgehalten  und  immer  wieder  in 
Gesetzgebungswerken,  die  mit  der  Prätension  der  Allgemeingültigkeit  auf- 
traten, durchzuführen  versucht  wurde.  Die  Entwicklimg  von  Leon  und  Ka- 
stilien ist  dabei,  abgesehen  von  der  Vereinig^ungszeit  1037 — 1157,  etwas  ge- 
trennt, bis  das  Jahr  1230  die  Verbindung  zu  einer  unlöslichen  machte.  Für 
ersteres  (und  Asturien,  Galicien,  Portugal)  ist  der  Ausgangspunkt  Alfonso  V. 
von  Leon,  der  1003  das  Fuero  Juzgo  bestätigt  und  1020  das  Fuero  Leonös  er- 
lässt.  In  Kastilien  bestätigt  Alfonso  VI.  (el  Viego)  1076  das  auf  Ferdinand 
Gonzalez  (um  923)  zurückgeführte  Fuero  von  Sepijiveda  und  stellt  in  dem  1085 
wiedereroberten  Toledo   die  kastilischen  Christen  unter  das  Fuero  Juzgo  — 


488  Spanien.  —  Die  geschichtliche  Entwicklung. 


andere  Bevölkenrngsklassen  haben  ihre  besonderen  Fneros.  Mit  der  Zeit  wurde 
das  Verleihen  von  Sonderrechten  an  die  wiedereroberten  oder  nengegrtindeten 
Städte  —  etwa  in  Leon  an  Salamanca,  Zamora,  Bono  Bnrgo  de  Caldelas,  Ca- 
ceres;  in  Eastilien  an  Bnrgos  (nm  lOdO),  Madrid,  Talavera  (1118),  Escalona, 
Lara  (1130),  Baeza,  Cuenea  (1177),  Santander  (1190)  —  zum  förmlichen 
System,  in  dem  der  Gedanke  der  Einheitlichkeit  dadurch  festgehalten  wurde, 
dass  man  entweder  durch  gleichlautende  Verleihungen  ein  GB.  zu  verallge- 
meinem suchte  (so  Alfonso  VII.  el  Emperador  sein  Fuero  general),  oder  dass 
man  die  Berufung  nach  Toledo  vor  das  westgotische  Forum  gehen  Hess. 
Namentlich  der  erste  Weg  ist  deijenige,  den  auch  noch  Alfonso  X.  zur  Durch- 
fährung seiner  Reformwerke  (S.  490,  496)  einschlagen  musste.  Seit  Fernando  ni. 
el  Santo  (1217 — 1252)  bedient  die  Gesetzgebung  sich  der  Vulgärsprache  statt 
der  lateinischen. 

IV.  Während  der  grösseren  Hälfte  des  Mittelalters  herrschte  infolge  der 
geschilderten  Verhältnisse  im  spanischen  StR.  die  äusserste  Uneinigkeit  and 
Zerrissenheit,  und  zwischen  gleichzeitigen  oder  benachbarten  Satzungen  be- 
standen die  schreiendsten  Dissonanzen.  Einerseits  ausgesuchte  Grausamkeit, 
andererseits  nachsichtigste  Milde.  Die  Mörder  werden  in  Escalona  gehängt, 
in  Toledo  gesteinigt,  in  Cuenea  lebendig  begraben;  in  Logrono  und  in  Saha- 
gun  haben  sie  500  solid!  zu  zahlen,  in  N^'era  zahlt  der  Mörder  eines  Edel- 
manns 250,  eines  unedlen  100,  eines  Mauren  12^/,  solidi,  d.  h.  in  letzterem 
Falle  soviel  wie  bei  Tötung  eines  Esels.  In  N^'era  bezeichnen  übrigens  diese 
Summen  das  f^edum,  wie  denn  dieses  Fuero  nur  die  Beziehungen  des  Mon- 
archen zu  den  Gemeindegliedem  regelt,  während  Wergeid  und  Busse  deren 
innerer  Vereinbarung  überlassen  ist.  Mannigfach  sind  verstünmielnde  Strafen : 
in  Cuenea  schneidet  man  dem  Badedieb  die  Ohren  ab,  in  Soria  bricht  man 
dem  Fälscher  die  Zähne  aus;  dem,  der  seinen  Pflegevater  schlägt,  hackt  man 
in  Fuentes  die  Faust  ab,  der  auf  dem  Ehebruch  ertappten  Frau  schlitzt  man 
in  Plasencia  die  Nasenlöcher  auf.  Man  wütet  geradezu  mit  Strafdrohungen 
gegen  den,  der  die  Rechtsverfassung  zu  brechen  unternimmt;  doch  es  sieht 
mehr  nach  einem  Schreckgespenst  aus,  wenn  das  Fuero  Leon6s  von  solchem 
Verbrecher  sagt:  Evulsis  oculls,  fracta  manu,  pede  et  cervice,  fusis  intestinis, 
percussus  lepra  una  cum  gladio  anathematis  in  aetema  damnatione  cum  dia- 
bolo  et  angelis  ejus  luat.  Fast  unverständlich  sind  uns  femer  die  Strafen 
der  Insolvenz:  häufig  genug  ist  Hungertod  dem  angedroht,  der  seine  Geld- 
strafe nicht  zahlt. 

Die  Ungleichheit  wird  durch  die  thatsächlich  sehr  oft  eintretende  Straf- 
losigkeit ungeheuer  gesteigert.  Teils  begiebt  sich  der  Verbrecher  in  den  Schutz 
eines  Rico-hombre,  der  in  seinen  antimonarchischen  Bestrebungen  sich  auf  die 
Abenteurer  und  Verbrecher  recht  eigentlich  stützte;  teils  stellt  ihn,  wie  den 
Mörder  in  Leon,  eine  Frist  von  9  Tagen,  während  deren  er  nicht  ergriffen 
wurde,  gegen  die  staatliche  Reaktion,  oder  das  Asylrecht  auch  gegen  die 
Blutrache  sicher.  Dazu  kommt  die  gewaltige  Einschränkung  des  StR.  durch 
die  Privatvereinbarungen  und  die,  freilich  immer  häufiger  vom  Staat  genau 
geregelten,  Privatfehden  (rieptos  y  desafios,  das  Vorfordem  und  Ausheischen). 
Gerichtliche  Zweikämpfe  und  Ordalien  beherrschen  vielfach  die  Beweislehre; 
in  Aragonien  ist  das  römische  Verfahren  (die  pesquisa,  inquisitio)  für  den 
Regelfall  verboten.  Mit  der  krassesten  Ungleichheit  werden  die  Stammes-  oder 
Gemeindefremden  behandelt:  in  Sepülveda  wird  für  die  Tötung  eines  Auswär- 
tigen nur  */g  der  Busse  entrichtet.  Der  Vernichtungskrieg  gegen  Juden  und 
Mauren  setzt  sich  bis  ins  18.  Jahrhundert  fort. 

Das  Urteil,  dass  die  Jahrhunderte  nach  dem  Fuero  Juzgo  einen  jähen 
Rückschritt  bedeuten,  ist  einleuchtend  und  allgemein;  ^nicht  einmal  mehr  von 


§  1.    Das  StR.  auf  vorwiegend  westgotischer  Grundlage.  489 


gesundem  Instinkt,  geschweige  von  wissenschaftlichen  Ideeen,  sind  die  Gesetz- 
geber geleitet"  —  so  etwa  drückt  sich  Pacheco  aus.  Von  der  neu  erwachen- 
den Barbarei  ist  auch  die  Blutrache  wieder  heraufgeführt  und  zersetzt  vollends 
jede  soziale  Ordnung. 

Y.  Nominell  ist  dabei  das  Fuero  Juzgo  die  gemeinsame  Gesetzgebung 
Spaniens  geblieben,  wie  das  für  Eastilien  aus  dem  Gesagten  hervorgeht  und 
auch  für  Aragonien  und  Navarra  bis  zum  13.  Jahrhundert  ziemlich  ausgemacht 
ist.  Nachdem  aber  die  Entwickelung  des  Nationalcharakters  durch  das  stür- 
mische Hervorbrechen  altgermanischer  Vorstellungen  eine  ganz  andere  Rich- 
tung genommen  hatte,  musste  die  Unzulänglichkeit  der  Lex  Wisigothorum  sich 
herausstellen,  und  die  dem  erstarkten  Nationalgefühl  entgegenkommende  Ober- 
setzung ins  Altkastilianische  musste  dieses  Schicksal  sogar  beschleunigen.  Um 
so  befremdender  muss  es  anmuten,  dass  zu  einer  Zeit,  wo  die  gleich  zu  be- 
sprechenden neuen  G^meinrechte  sich  bereits  unverrückbar  festgesetzt  hatten, 
wo  sogar  die  Siete  Partidas  bereits  zu  anerkannter  Geltung  durchgedrungen 
waren,  noch  immer  ohne  jeden  Zweifel  auch  das  Fuero  Juzgo  in  der  Praxis 
angezogen  wurde.  Ja  noch  mehr,  es  überlebte  die  Nueva  Recopilaciön  (1567) 
und  deren  letzte  Auflage  (1775)  und  galt  in  thesi  noch  in  unserm  Jahrhun- 
dert; denn  eine  Cödula  Karls  lU.  v.  1778  weist  das  Hofgericht  in  Granada 
an,  im  Vorzug  vor  den  Siete  Partidas  das  Fuero  Juzgo  anzuwenden,  da  ihm 
niemals  derogiert  sei.  Diese  Erscheinung  ist  m.  E.  nur  aus  dem  Fehlen  fester 
staatsrechtlicher  Begriffe,  insbesondere  des  der  Gesetzeskraft,  zu  erklären; 
einen  solchen  Rechtszustand,  in  dem  der  Satz:  lex  posterior  derogat  priori, 
nicht  existiert,  in  dem  über  die  gleiche  Materie  die  yerschiedensten  Gesetze 
nebeneinander  bestehen,  für  den  Richter  zu  alternativer  Auswahl,  vermögen 
wir  uns  freilich  kaum  vorzustellen.  Der  einzig  richtige  Ausweg  war  daher 
der  des  Ordenamiento  de  AlcalÄ  von  1348  (1.  1  tit.  28),  bei  der  Festsetzung 
des  Rangverhältnisses  zwischen  den  gemeinen  Gesetzgebungen  und  den  ört- 
lichen Sonderrechten  das  Fuero  Juzgo  in  der  Masse  der  letzteren  ohne  £lr- 
wähnung  verschwinden  imd  ihr  Schicksal  teilen  zu  lassen;  denn  formell  war 
es  einfach  zum  Sonderrecht  von  Cördoba  geworden. 

VI.  Die  Könige  des  12.  Jahrhunderts,  trotzdem  sie  gegen  die  Banden  der 
Räuber  und  der  Aufrührer  gelegentlich  mit  äusserster  Grausamkeit  zu  Felde  zogen, 
sie  sotten  und  schunden,  verbrannten  und  von  Türmen  stürzten,  trugen  im 
Kampfe  mit  dem  ungeheuer  angewachsenen  Verbrechertum  nennenswerte  Er- 
folge nicht  davon.  Erst  nachdem  die  Siege  Ferdinands  III.  die  feste  terri- 
toriale Grundlage  eines  grossen  Reiches  geschaffen  hatten,  konnte  sein  Sohn 
Alfonso  X.^)  an  dessen  inneren  Ausbau  gehen,  durch  die  Gesetzgebungswerke, 
die  dem  vielwissenden  Herrscher  den  Beinamen  des  Weisen  (el  Sabio)  ein- 
brachten. Auf  seinem  Wirken  ruht  die  weitere  Rechtsentwicklung  Kastiliens 
imd  damit  Spaniens. 

Sein  erstes  Unternehmen  war,  das  Recht  seines  Reiches,  das  neben  den 
Fu^ros  grösstenteils  auf  Einzelentscheidungen  (fazafias)  und  Willküren  (alve- 
drios)  ruhte,  in  einem  einheitlichen,  der  Hauptsache  nach  dem  bisherigen 
Rechtszustande  sich  anschliessenden  GB.  zusammenzufassen:  dies  GB.  ist  das 
1255  abgeschlossene  Fuero  Real  (Forum  regale),*)  dessen  Veröffentlichung  in 
der  schon  angedeuteten  Weise  durch  Verleihung  als  Munizipalrecht  an  einzelne 


^)  Er  selbst  nennt  sich  „Alonso  el  Nono^,  indem  der  nur  Le6n  beherrschende 
Alfonso  IX.  (1188—1230)  nicht  mitgezählt  wird.  Bekanntlich  war  er  während  des 
Interregnums  eine  Zeit  lang  deutscher  Kaiser. 

')  Andere  Namen  sind:  Fuero  de  las  Leyes,  Libro  de  los  Concejos  de  Castiella, 
Fuero  de  Libro,  Fuero  de  Castilla,  Flores  de  las  Leyes.  Da  es  auf  wesentlich  west- 
gotischer Grundlage  ruht,  so  gehört  es  in  unsern  §  1. 


490  Spanien.  —  Die  geschichtliche  Entwicklung. 


Stadtobrigkeiten  (Concejos)  erfolgte,  so  in  den  J.  1255 — 61  an  Aguilar  de 
Campö,  Sab^gun,  Soda,  Burgos,  Yalladolid,  Escalona.  Doch  scheint  es  auch 
an  einer  feierlichen  Promulgation  nicht  gefehlt  zu  haben,  und  wir  müssen  bis 
1270  das  Fuero  Real  als  im  ganzen  Reiche  Alfons  X.,  also  in  Castilla,  Toledo, 
Leon,  Galicia,  Sevilla,  Gördoba,  Murcia,  Jaen,  Badojoz,  Baeza  und  Algarbe, 
in  Kraft  stehend  betrachten.  In  gewissem  Betracht  nennt  Pacheco  mit  Recht 
das  Fuero  Real  ein  unglückliches  GB.;  es  steht  dem  weltberühmten  sieben- 
teiligen GB.  Alfons  X.,  den  Siete  Partidas,  zeitlich  zu  nahe,  als  dass  nicht  für 
die  geschichtliche  Betrachtung  sein  bescheideneres  Verdienst  verdunkelt  werden 
müsste.  Die  Mitwelt  dachte  anders.  Sie  fand  im  Fuero  Real  ein  ihren 
Sitten  und  Gewohnheiten,  ihrem  Streben  und  Sehnen  entgegenkommendes  GB., 
das  auf  volles  Verständnis  stiess  und  warmblütige  Empfindungen  (der  Freund- 
schaft oder  des  Hasses)  auslöste.  Die  auf  tiefer  Forschung  und  immenser 
Gelehrsamkeit  beruhenden  Siete  Partidas,  in  denen  der  König  die  Linien  eines 
Rechts  der  Zukunft  vorzeichnete,  blieben  der  damaligen  Zeit  fremd,  ihnen 
wurde  nur  ein  mit  Verachtung  untermischter  stumpfer  Widerstand  entgegen- 
gesetzt. 

Das  Fuero  Real  ist  in  allen  gedruckten  Ausgaben  von  Erläuterungen  zu 
einzelnen  seiner  Bestimmungen,  den  252  „Gesetzen  des  Gerichtsbrauches" 
(Leyes  del  Estilo  oder  Declaraciones  de  las  leyes  del  Fuero  Real)  begleitet. 
Es  sind  dies  oft  sichtlich  an  konkrete  Einzelfälle  sich  anlehnende  Rechts- 
sprüche aus  der  Praxis.  Die  Leyes  del  Estilo,  die  sich  hohen  Ansehens  in 
der  Wissenschaft  und  bei  den  Gerichten  erfreuten,  auch  in  der  Novlsima 
Recopilaciön  berücksichtigt  sind,  rühren  also  von  keinem  König  und  keinen 
Gortes  her,  insbesondere  nicht  von  Alfonso  X.  Vielmehr  stammen  sie  aus 
etwas  späterer  Zeit,  wie  aus  der  Benutzung  und  Anführung  römischen^)  und 
kanonischen  Rechts,  der  Siete  Partidas  und  des  Speculum  judiciale  des 
Durantis  erhellt. 

VII.   Das  StR.  ist  in  Buch  IV  enthalten  (doch  vgl.  passim  I,  2—7.  II,  3.  8. 

III,  1.  8.  10.),  dessen  StofTanordnung  gänzlich  systemlos  ist.  Am  meisten  an- 
gedroht sind  Todesstrafen  (bisweilen  mit  Bezeichnung  der  Art:  Feuer,  Hängen; 
bei  verräterischem  und  Meuchelmord  mit  Schleifung  zur  Richtstatt)  und  Geld- 
strafen (Tarif  für  Verletzungen  in  IV,  5,  3,*)  für  Schmähungen  in  IV,  3,  2,*) 
allenfalls  Verbannung.  Der  Zahlungsunfähige  wird,  was  auch  als  Hauptstrafe 
oft  vorkommt,  in  die  Verfügungsgewalt  oder  Sklaverei  des  Verletzten  oder 
des  Königs  übergeben;  doch  kommt  auch  contrainte  par  corps  mit  Begren- 
zung auf  1  Jahr  vor.  Verstümmelnde  Strafen  sind  bei  einzelnen  Delikten  an- 
gedroht, so  Augenausstechen  (dem  begnadigten  HochveiTäter  I,  2,  1);  Hand- 
abhauen, (bei  Urkundenfälschung  dm*ch  einen  Notar  IV,  12,  1;  s.  II,  3,  3;  femer 
beim  ersten  grossen  Diebstahl,  wenn  der  Dieb  den  neunfachen  Wert  nicht 
erstatten  kann  IV,  5,  6;  hier  auch)  Ohrenabschneiden ;  Entmannung  (neben 
Hängen    bei   Sodomiterei   IV,  9,  2);    Zähneausbrechen    (dem    falschen    Zeugen 

IV,  12,  3);  Brandmarkung  (dem  Geistlichen,  der  das  Siegel  des  Königs  fälscht 
IV,  12,  2).  Sehr  charakteristisch  für  den  Abstand  vom  Fuero  Juzgo  einerseits 
und  für  die  den  Sonderrechten  kraftvoll  entgegentretende  Monarchie  andrer- 


*)  So  wird  in  1.  57  Estilo  beim  Raufhandel  der  Paragraph  Sed  si  plures  servum 
(1.  11  §  2)  D.  ad  legem  Aquiliam  (9,  2)  citiert. 

*)  Höchstmass  bei  Realkonkurrenz  ist  das  volle  Wergeid  von  500  solidi,  das 
auch  bei  allen  fahrlässigen  Tötungen  in  IV,  17  angedroht  ist.  Von  diesen  Summen 
fallen  '/g  an  den  König,  '^/g  an  den  Verletzten  oder  seine  Erben. 

*j  Dazu  1.  83  Estilo.  Fallen  in  einem  Zank  mehrere  Schimpfworte,  so  tritt  nur 
die  Strafe  des  schwerstgeahndeten  ein.  Auch  Aufrechnung  findet  statt.  Vgl.  1.  11 
Leyes  Nuevas. 


§  1.    Das  StR.  auf  rorwiegend  westgotischer  Grundlage.  491 


seits,  ist  IV,  21 :  De  los  rieptos  y  desaflos.  Ausgehend  von  dem  unter  Alfons  VII. 
el  Emperador  in  N^'era  1128  abgeschlossenen  Freundschafts-  und  Treuebund 
der  F\josdalgo,  wird  eine  von  der  Überzeugung  des  Gottesgnadentums  der 
Monarchie  getragene  Regelung  der  Fehdeansagung,  des  Treubruchs  (alevosfa), 
des  Verfahiens  darüber  vor  dem  König  und  des  etwaigen  als  Gottesurteil  auf- 
gefassten  Zweikampfs  gegeben.^) 

Die  Sprache  des  GB.  ist  wenig  knapper  als  die  des  Fuero  Juzgo;  fast 
nie  erspart  uns  der  Gesetzgeber  seine,  oft  religiöser  Überzeugung  entlehnten 
Gründe.  Das  harte  Urteil  8emperes,  der  das  GB.  konfuse  nennt,  halte  ich 
nicht  für  ungerecht.  Ein  Verdienst  des  Fuero  Beal  soll  nicht  unerwähnt 
bleiben:  die  ersten  Anfänge  eines  Offizialverfahrens.  Bei  offenkundigen  Ver- 
brechen hat  der  Alkalde  ohne  Anklage  einzuschreiten;  auch  sonst  kann  er 
oder  der  König  eine  abgebrochene  Untersuchung  weiterführen  (IV,  20,  8.  10). 

VIII.  Die  Edelleute  von  Kastilien  und  Burgos  widersetzten  sich  energisch 
dem  Fuero  Beal  und  verlangten  auch  weiterhin  nach  ihrem  „alten'^  GB.,  ihren 
Rechtssprüchen  und  Willküren  zu  leben,  den  Königen  gegenüber  in  stolzer 
Koordination.  Dieses  Fuero  „Viejo^*  (auch  Fuero  de  los  F\josdalgo,  de  las 
fazafias,  de  alvedrio  bezeichnet)  geht  nach  sagenhafter  Überlieferung  —  die 
Karls  V.  (I.)  Zeitgenosse  Espinosa  und  nach  ihm  andere  Gelehrte  aufrecht 
erhielten  —  auf  ein  Fuero  general  des  Comes  Castüiae  Don  Sancho  Garcia 
(t  1035)  zurück  und  soll  von  Ferdinand  I.  1050  in  Goyanca  bestätigt  sein. 
Diese  Ansicht  wurde  auf  missverstandene  Wendungen  in  einigen  Sonderrechten 
und  auf  den  Beinamen  Sanchos  „de  los  buenos  fueros^^  (mit  den  guten  Rechten), 
der  sich  indess  auf  die  Privilegienverleihung  an  eroberte  Grenzstädte  bezieht, 
gestützt,  ist  aber  seit  Marina  als  widerlegt  anzusehen.  Vielmehr  sind  die 
Quellen  des  Fuero  Viejo  verschiedene  Ordnungen,  insbesondere  die  von  N^jera 
(1128),  und  Gewohnheitsrecht,  Urteilssprüche;  seine  Abfassung  fällt  in  die  Zeit 
Alfonsos  Vin.  (1188 — 1214),  trotz  dessen  Veto  es  in  Wirksamkeit  gesetzt 
wurde.  Alfonso  X.  el  Sabio  wollte  es  durch  das  Fuero  Real  abschaffen,  doch 
der  Adel  zwang  ihn  1270  und  1272  mit  Waffen  in  der  Hand,  in  Burgos  und 
Kastilien  den  alten  Zustand  fortbestehen  zu  lassen.  Die  uns  bekannte  Redak- 
tion ist  die.  von  Pedro  IV,  el  Cruel  1356  vorgenommene  Umarbeitung,  deren 
Geltung  man  trotz  einiger  Zweifel  für  die  Folgezeit  bis  zu  einem  nicht  recht 
zu  präzisierenden  Verschwinden  annehmen  muss. 

Der  grösste  Teil  des  Inhalts  ist  staatsrechtlich  und  giebt  ein  getreues 
Bild  des  turbulenten  Adels  im  Verhältnis  zum  Suverän,  zu  den  Genossen  und 
den  Vasallen  im  13.  und  14.  Jahrhundert.  Das  Buch  II  enthält  das  StR.: 
doch  auch  hier  hat  alles  mehr  oder  minder  den  Zweck,  Rechte  und  Pflichten 
der  Fijosdalgo  zu  verdeutlichen.  Scharf  hebt  sich  dabei  eine  ältere,  die  Unab- 
hängigkeit der  Grossen  begünstigende  Schicht  gegen  jüngere  auf  Vermehrung 
der  königlichen  Macht,  insbesondere  Richtergewalt,  gerichtete  Bestimmungen 
ab.  Der  ersteren  gehören  die  interessanten,  an  nordische  Rechte  gemahnen- 
den Vorschriften  über  den  vogelfreien  Verbrecher  an  und  die  alten  Urteile 
mit  vollem  Thatbestand  über  Talion  bei  schwerer  Körperverletzung  (I,  5,  14) 
und  über  die  Bestrafung  der  Notzucht  (II,  2,  2.  3).  Die  unheilbaren  Antino- 
mieen,  der  Mangel  an  Einheitlichkeit  musste  es  dem  Fuero  Viejo  unmöglich 
machen,  sich  lange  als  Ganzes  in  Kraft  zu  erhalten;  doch  ist  es  bis  zum  Aus- 
gange des  15.  Jahrhunderts  noch  wiederholt  bestätigt  worden. 


*)  Du  Boys,  S.  196,  drückt  sich  dahin  aus,   es  sei  dieser  Gegenstand  im  Fuero 
Real  behandelt  „comme  une  esp^ce  de  proc^dure  barbare,  d^bris  d'un  autre  ftge^. 


492  Spanien.  —  Die  geschichtliche  Entwicklung. 


§  2.    Die  Slete  Partidas. 

I.  Unmittelbar  nach  dem  Abschlüsse  des  Fuero  Real,  das  Alfonso  el 
Sabio  später  noch  durch  27  Gesetze  und  17  Mandate  und  Responsen,  die 
Leyes  Nuevas,  ergänzte,  begab  er  sich  an  das  grosse  Hauptwerk  seines  Lebens. 
War  schon  seit  Beginn  des  13.  Jahrhunderts  durch  die  Begründung  der  Uni- 
versitäten Palencia  (1209)  und  Salamanca  (1222)  ein  internationalerer  Zug  in 
das  spanische  Geistesleben  hineingekommen,  so  musste  es  unter  einem  Herr- 
scher, der  jedem  Wissenschaftszweige  Interesse  entgegentrug  und  in,  wie  es 
scheint,  auch  interkonfessioneller  Vorurteilslosigkeit  Gelehrten  jedes  Schlages 
eine  Freistatt  bot,  natürlich  erscheinen,  wenn  man  auch  in  das  Rechtsleben 
die  Fortschritte  der  römischen  und  kanonischen  Jurisprudenz  hineinbrachte. 
E&  kam  hinzu,  dass  dies  bei  dem  Kampfe  zwischen  Fueros  particulares,  Fuero 
Viejo  und  Fuero  Real  politisch  ein  neutrales  Gebiet  war,  das  mit  seinem 
universellen  Anstrich  den  Stoff  für  eine  einheitliche  Gesetzgebung  zu  gewähren 
versprach.  Endlich  handelte  Alfonso  in  Verfolg  der  Wünsche  und  Vorarbeiten 
seines  Vaters,  der,  die  Unzulänglichkeit  des  Fuero  Juzgo  erkennend,  den 
Plan  eines  siebenteiligen  GB.  in  dem  Entw.  gebliebenen  Septenario  auszuführen 
begonnen  hatte.^)  Auf  dieser  Grundlage  entstanden  in  den  Jahren  1256 — 1265 
(20.  August)  die  Siete  Partidas,  die  demnach  als  gesetzgeberische  Festlegung 
der  Resultate  damaliger  römischrechtlicher  Wissenschaft  einen  Bruch  mit  der 
westgotischen  Vergangenheit  und  die  bedeutendste  Wendung  der  spanischen 
Strafrechtsentwicklung  darstellen. 

Während  früher  heftiger  Streit  darüber  herrschte,  ob  der  König  selbst 
die  Partidas  geschrieben  oder  doch  einheitlich  redigiert  habe,  erscheint  es 
uns  heute  als  selbstverständlich,  dass  er  seinen  Tribonian  und  Theophilus 
hatte.  Als  Mitarbeiter  haben  wir  etwa  anzusehen:  den  Erzieher  des  Königs, 
Doktor  Jacome  Ruiz  (Micer  Jacobo  de  las  leyes),  Verfasser  einer  Summa 
legum;  den  Archidiakon  von  Zamora,  Fernando  Martinez,  der  als  Gesandter  zu 
Gregor  X.  ging;  imd  den  Maestre  Roldan,  der  1276  zur  Bekämpfung  der 
Spielwut  die  strengen,  sehr  kasuistisch  gehaltenen,  aber  bald  in  Vergessenheit 
geratenen  Verordnungen  wider  die  Spielhäuser  (Ordenanzas  de  las  Tafurerias, 
44  Gesetze)  verfasste. 

Die  7  (in  tituli  und  leges  zerfallenden)  Teile  enthalten  der  Reihe  nach: 
Kirchenrecht;  Staatsverfassung;  Rechtsverfassung,  Verfahren  und  Sachenrecht ; 
Ehe-,  Familien- und  Statusrecht;  Obligationenrecht;  Erbrecht;  Strafrecht.  Doch 
sind  von  strafrechtlichem  Interesse  auch  andere  Titel,  so  I,  9  (Exkommuni- 
kation), I,  11  (Asyle),  I,  18  (Sacrilegium),  11,  13 — 19  (Treuepflichten  gegenüber 
dem  König,  seiner  Familie,  seinen  Beamten  usw.),  II,  28  (Strafrecht  im  Kriege), 
III,  7  (gerichtliche  Vorladungen),  III,  27  (Urteilsvollstreckung),  IV,  3  (heimliche 
Ehen),  und  einzelne  Gesetze,  so  III,  11,  26 — 29.  16,  42  (Meineid)  und  V,  5,  22 
(Verkauf  von  Waffen  an  Ungläubige). 

II.  Die  Siete  Partidas  dürften  das  früheste  GB.  sein,  das  einen  unver- 
kennbaren Ansatz  zur  Ausbildung  eines  allgemeinen  Teils  des  StR.  zeigt 
(tit.  VII,  31.  Von  den  Strafen)^).     Natürlich  sind  aber  noch  sehr  viele  Fragen, 

^)  Den  ersten  Entw.  der  Siete  Partidas  erblickt  die  Academia  de  la  Historia 
und  mit  ihr  verschiedene  Autoren  in  den  unvollständigen  fünf  Büchern  des  Esp^culo. 
Marina  setzte  den  Esp^culo  sogar  zeitlich  vor  das  Fuero  Real.  Angesichts  der  Wider- 
sinnigkeiten, zu  denen  diese  Ansicht  führt,  und  angesichts  der  Beschaffenheit  der 
einzigen  Handschrift  kann  ein  Zweifel  nicht  bestehen,  dass  wir  es  hier  mit  einer  für 
die  Praxis  bestimmten  Privatarbeit  aus  der  2.  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  zu  thun 
haben. 

^)  Die  folgenden  Anführungen  aus  diesem  Titel,  sowie  aus  VII,  1  (von  den  An- 
klagen) beziehen  sich  also  auf  das  ganze  Gebiet  strafbarer  Handlungen. 


§  2.    Die  Siete  Partidas.  493 


namentlich  Rechtswidrigkeit,  Schuld,  Teilnahme,  teils  nur  angedeutet,  teils 
rein  kasuistisch,  insbesondere  bei  Behandlung  der  Tötungen  (VII,  8)  ge- 
regelt. 

1.  Die  Verbr.  —  gelegentlich  in  der  Einleitung  zu  P.  VII  ohne  erhellende 
Absicht  einer  Definition  beschrieben  als  „böse  Thaten,  begangen  zum  Behagen 
des  einen  Teils  und  zum  Schaden  und  Verunehrung  des  andern"  —  werden 
in  VII,  31,3  äusserlich  nach  dem  Mittel  der  Ausführung  gruppiert.  Wichtiger 
ist  jedoch  die  verschiedentlich  vorschwebende  Absonderung  der  schwersten  Ver- 
brechensfälle (Hochverrat,  Mord,  Frauenraub  und  Notzucht)  von  minder  schweren. 
Zurechenbarkeit  der  That  wird  verlangt  und  daher  jede  Anklageerhebung 
gegen  Wahnsinnige,  Rasende  und  Blödsinnige  ausgeschlossen  (VII,  1,  9;  doch 
Haftung  der  schlecht  überwachenden  Verwandten  wegen  Kulpa,  vgl.  heutiges 
StR.);  ebenso  gegen  Kinder  unter  10*/^  Jahren  allgemein,  gegen  solche  unter 
14  Jahren  bei  Verbr.,  die  auf  luxuria  („Üppigkeit")  zurückzuführen  sind  (und 
bei  Sodomiterei  VII,  21,  2);  Alter  unter  17  Jahren  wirkt  immer  als  Strafmin- 
derungsgrund  (VII,  31,  8).  Noch  das  heutige  StR.  unterscheidet  drei  Stufen 
jugendlichen  Alters.  Trunkenheit  ist  kasuistisch  behandelt;  bei  Majestäts- 
beleidigung befreit  sie  von  Strafe,  bei  Tötung  tritt  die  sonst  für  fahrlässige 
Tötungen  verwendete  Strafe  ein.  —  Subjektiv  muss  mit  Vorsatz  gehandelt 
sein  (VII,  31,  3:  a  sabiendas  con  mala  intencion  —  seien ter  cum  mala  inten- 
tione),  wobei  unbestimmter  Vorsatz  zu  genügen  scheint  (arg.  VII,  17,  5:  straflos 
ist  das  Zusammenliegen  mit  einem  Weib,  das  verheiratet  ist,  wenn  man  dies 
nicht  weiss,  sich  auch  keine  Gedanken  darüber  macht,  dass  sie  es  sei).  Die 
Fahrlässigkeit  ist  nicht  als  allgemeiner  Begriff  aufgestellt;  bei  den  Tötungen 
sind  Einzelfälle  erörtert  und  durch  gleiche  Strafe  verbunden.  Die  Definitionen 
yon  dolus  und  culpa  (VII,  33,  11)  beziehen  sich  nur  auf  das  Civilrecht.  Der 
Vollendung  steht  der  Versuch  gleich.  VII,  31,  2  bemüht  sich,  an  Beispielen 
die  Grenze  zwischen  dem  blossen  bösen  Gedanken  (mal  pensamiento)  und  dem 
Anfang  der  Verwirklichung  (comenzar  ä  meter  en  obra)  zu  ziehen.  Nur  bei 
minder  schweren  Verbr.  wirkt  Rücktritt  straf  befreiend  (kasuistisch  vgl.  VII,  2,  5 
Anzeige  des  Mitschuldigen  bei  Staatsverschwörung).  Die  Teilnahme  ist  nirgend 
im  Zusammenhang  behandelt;  doch  werden  wiederholt  neben  den  Hauptthätem 
(fazedores)  die  Auftrag-  oder  Ratgebenden,  Beihelfenden,  Einverstandenen, 
Hehler  mit  gleicher  Strafe  bedroht,  vgl.  auch  die  „Regel  der  alten  Weisen" 
in  VII,  34,  19,  und  unten  S.  506  Anm.  Bemerkenswert  ist  bei  Diebstahl  die  Rück- 
sichtnahme auf  den  ursächlichen  Zusammenhang  (VII,  14,  18:  nur  so  viel  büsse 
er  doppelt,  als  durch  seine  Hülfe  gestohlen  ist  und  nicht  mehr).  —  Einige 
Male  zeigen  sich  Wirkungen  der  Verjährung:  der  5  Jahre  lang  nicht  verfolgte 
Dieb  kann  nicht  mehr  zum  Tode  verurteilt  werden  (VII,  14,  18);  bei  Ehebruch 
muss  binnen  5  Jahren  Anklage  erhoben  werden,  bei  gewaltsamem  binnen  30 
(Vn,  17,  4);  die  Busse  bei  Raub  verjährt  in  einem  annus  utilis  (VII,  13,  3). 

2.  In  der  Strafe  werden  zwei  Elemente  unterschieden:  ein  emendierendes, 
dem  Verletzten  ein  Gut  zuführendes  —  Busse  (pecho),  und  ein  eigentlich 
pönales,  dem  Thäter  ein  Übel  zufügendes  —  Züchtigung  (escarmiento).  VII,  31,  4 
stellt  eine  wenig  gelungene  Stufenleiter  der  Strafen  nach  ihrer  relativen  Schwere 
auf.  Das  Strafensystem  ist  sehr  umfänglich.  Etwa  gleich  häufig  werden  Ver- 
mögensstrafen und  Lebensstrafen  angedroht  sein,  je  in  über  40  Fällen.  Bei 
der  Todesstrafe  ist  meist  die  Art  nicht  näher  bezeichnet.  Etwa  je  30  Male 
werden  Leibesstrafen  (Verstümmelung,  Brandmarkung,  Prügel)  und  Freiheits- 
strafen angedroht.  Letztere  sind  meist  Verbannung,  lebenslänglich  und  zeit- 
lich; selten  lebenslängliche  Ketten-  und  Eisen-  oder  Arbeitsstrafe  in  den 
Werkstätten  des  Königs,  letztere  auch  zeitlich.  Für  Teilnahme  am  Sakrament 
der  Ketzer   ist   alternativ  Einsperrung   im  Gefängnis    bis   zur  Besserung  und 


494  Spanien.  —  Die  gpeschichtliche  Entwicklung. 


Bekehrung  angedroht  (VII,  26,  2),  während  sonst  der  Grundsatz  der  l.  8  §  9 
Dig.  de  poenis  48,  19  festgehalten  wird  (carcer  ad  continendos  homines,  non  ad 
puniendos  haberi  debet  —  vgl.  P.  VII,  29,  11.  31,  4).  Strafe  an  Ehren  und 
Rechten  sind  wie  noch  heute  häufig  (eigenartig  ist  die  Mindergeltung,  menos 
valere,  der  Grundlage  nach  Satisfaktionsunfähigkeit)  (tit.  VU,  5).  Daneben  stehen 
vielfach  absolut  unbestimmte  und  seltener  relativ  bestimmte  Straf drohungen; 
doch  auch  bezüglich  der  andern  hat  der  Richter  eine  gewisse  Freiheit,  sodass 
sich  schon  eine  Strafzumessungslehre  entwickeln  musste,  deren  Grundzüge, 
wie  heute,  im  allgemeinen  Teil  (VII,  31,  8)  behandelt  sind.  Der  richterlichen 
Freiheit  in  Auswahl  der  Strafart  und  des  Vollstreckungsmodus  —  ein  dem 
heutigen  spanischen  StR.  völlig  entgegengesetztes  Prinzip  —  setzt  nur  VII,  31,  6 
Schranken:  es  werden  gewisse  Strafmittel  absolut  verboten,  die  aber  der  Gesetz- 
geber selbst  bisweilen  androht  (vgl.,  dazu  1.  8  §  1.  1.  25  §  1  Dig.  48,  19). 

in.  Von  den  beiden  Elementen  der  Strafe  wird  kriminal-politisch  bereits 
das  erstere,  die  Busse  (gelegentlich  charakterisiert  durch  die  Rachefunktion, 
venganza),  als  etwas  dem  staatlichen  Ahndungsrecht  Fremdes  empfunden;  das 
Wesen  der  Strafe  liegt  im  escarmiento,  dessen  Zweck  der  Gesetzgeber  in 
doppeltem  sieht  (tit.  VII,  1):  1.  porque  los  fazedores  resciban  la  pena  que 
merescen,  damit  die  Verbrecher  die  Strafe  empfangen,  die  sie  verdienen; 
2.  porque  los  otros  que  lo  oyeren  ayan  miedo  oder  se  espanten  oder  sc  guarden 
despues  de  fazer  atales  cosas,  damit  die  andern,  die  es  hören,  Furcht  haben, 
oder:  sich  entsetzen,  oder:  sich  fortan  hüten,  solche  Dinge  zu  thun  (also 
Generalprävention).  Der  Schwerpunkt  liegt  dabei  in  ersterem:  es  erscheint 
mit  der  rechten  Gerechtigkeit,  der  justicia  derecha  (tit.  II,  28)  unvereinbar, 
dass  ein  Verbrecher  imgestraft  bleibe.  Den  Massstab  giebt  unverkennbar  der 
gelegentlich  bis  zur  Talion  sich  steigernde  Gedanke  der  Wiedervergeltung  ab. 
In  der  Regel  wird  Strafe  nie  ohne  Schuld  verhängt,  und  die  grössere  Zähig- 
keit der  bösen  Gesinnung  ist  Grund  zur  strengeren  Bestrafung  des  Rückfalls. 
Bisweilen  wirkt  aber  auch  der  schwere  Erfolg  qualifizierend  (z.  B.  VII,  10,  8). 
Strafe  ohne  Schuld  trifft  die  Söhne  des  Hochverräters  (VII,  2,  2  unter  Modi- 
fikationen gleich  der  Lex  quisquis,  c.  6  Cod.  9,  8).  Die  staatliche  Natur  des 
StR.  ist  nicht  immer  gewahrt,  bei  Strafen  an  Hals  und  Hand  gilt  Privatver- 
einbarung (avenencia  VII,  1,  22:  guisada  cosa  es  e  derecha  que  todo  ome  pueda 
redemir  su  sangre  —  es  ist  ziemlich  einem  jeglichen,  dass  er  sein  Blut  erlösen 
mag)^);  bei  Ehebruch  wirkt  die  Verzeihung  des  Ehemannes  straftilgend,  bei 
Grabschändung  haben  die  Verwandten  die  Wahl  zwischen  peinlicher  Anklage 
und  Busse  (pecho). 

IV.  Die  Tötungen  behandelt  Tit.  8.  1.  Er  teilt  sie  ein  (1.  1)  in  a)  Un- 
gerechte Tötungen  (tortizeramente),  ohne  Unterschied  der  Person  des  Verletzten 
bestraft  am  fidalgo  mit  lebenslänglicher  Verbannung  (deportatio  in  insulam), 
am  humilior  mit  dem  Tod  (2.  15).  Hervorgehoben  sind  die  Unterlassung  der 
Sklaven,  ihrem  Herrn  zu  helfen ;  der  fälschlich  auf  eine  Kapitalstrafe  erkennende 
Richter  und  der  falsche  Zeuge  in  solchem  Prozess ;  der  Gehülfe,  der  dem  Mörder 
(oder  Selbstmörder)  die  Waffen  liefert  (16.  11.  10).  Erschwerte  Fälle  sind 
Tötung  mit  traiciön  oder  aleve  (15:  nach  spanischem  Gewohnheitsrecht,  fuero 
de  Espafia,  vgl.  V,  stets  Todesstrafe  —  Keim  des  heutigen  gemeinspanischen 
Assassinats) ;  Verwandtenmord  (12:  culeus,  ebenso  für  den  helfenden  Extraneus, 
ebenso  für  Vorbereitungshandlungen  zum  Giftmord  am  Vater),  Giftmord  (7:  der 
Giftkäufer  und  -Verkäufer  werden  mit  dem  Tode  bestraft;  bei  Vollendung  dam- 
natio  ad  bestias,  vgl.  1.  3  §  5  Dig.  48,  8).  b)  Gerechtfertigte  Tötungen.  Haupt- 
fall Notwehr  (tomando  sobre  si,  2 :  non  ha  de  esperar  que  el  otro  le  fiera  pri- 

')  Deutscher  Klagspiegel  bei  Stintzing,  Populäre  Litteratur,  S.  401. 


§  2.    Die  Siete  Partidas.  495 


meramente  —  ist  auch  mit  seiner  Gegenwehr  bis  er  geschlagen  wird  zu  warten 
nit  schuldig).  Erlaubt  ist  femer  die  Tötung  der  Gattin,  Tochter,  Schwester, 
die  auf  unehelichem  Beischlaf  betro£fen  wird;  des  bewaffneten  nächtlichen 
Diebes;  des  der  Festnahme  sich  widersetzenden  Deserteurs;  des  nächtlichen 
Brandstifters,  des  für  famosus  (ladron  conoscido),  des  Käubers  auf  offenem 
Weg.  Straflos  ist  die  Entmannung  zu  Heilzwecken  (13.).  c)  Zufällige  Tötungen. 
An  sich  straflos,  doch  muss  der  Urheber  des  Todes  einen  Reinigungseid  leisten, 
auch  mit  boni  homines  beweisen,  dass  er  gegen  den  Getöteten  keine  Feind- 
schaft hegte.  Vermag  er  eines  nicht,  so  ist  er  wegen  des  möglichen  Verdachtes 
nach  dem  arbitrium  judicis  zu  strafen  (4.).  Hierher  zieht  das  GB.  auch  die 
kulposen  Tötungen,  die  kasuistisch  im  Anschluss  an  Digestenbeispiele  (so  1. 
si  putator  31  D.  ad  legem  Aquiliam  9,  2)  abgehandelt  sind.  Der  Baumputzer,  der 
den  Wamungsruf  unterlässt;  der  Reiter,  der  nicht  in  der  Bahn  bleibt;  der 
Schlafwandler,  der  die  andern  von  seiner  üblen  Gewohnheit  nicht  benach- 
richtigt; der  Trunkene;  der  unwissende  Arzt  und  Chirurg;  der  Vater,  Seilor 
oder  Lehrmeister,  der  das  Züchtigungsrecht  überschreitet  —  sie  alle  werden, 
wenn  sie  einen  Menschen  ums  Leben  bringen,  auf  fünf  Jahre  nach  einer  Insel 
verbannt.*)  Dem  Chirurg,  der  bewusst  einen  Eunstfehler  begeht;  dem  Apo- 
theker, der  ohne  ärztlichen  Auftrag  gefährliche  Arzeneien  verabfolgt,  ist  der 
Tod  angedroht  (5.  6.  9).  2.  Gewisse  gefährliche  Handlungen  sind  gleichgestellt 
a)  den  vorsätzlichen  Tötungen :  Abtreibung  der  „schon  lebenden"  Frucht,  Ent- 
mannung, Verabfolg^ng  einer  Waffe  an  einen  Selbstmörder  (8.  13.  10);  b)  den 
kulposen:  Abtreibung  der  „noch  nicht  lebenden"  Frucht;  Unterlassung  der 
Warnung  des  Vaters,  gegen  den  ein  Bruder  einen  Mordplan  hegt  (8.  12). 

V.  Zwei  für  die  spanische  Strafrechtsentwicklung  höchst  wichtige  Be- 
griffe sind  traiciön  und  aleve  —  Verräterei  und  Treulosigkeit.  Die  letztere 
als  Bruch  des  zwischen  den  Fidalgos  bestehenden  Treuebundes  ist  bereits  oben 
erwähnt  (S.  491),  ihre  schwersten  Formen  werden  als  traiciön  bezeichnet.  Par- 
tida VII,  2,  1  zählt  14  Arten  von  Verräterei  auf  —  Hinarbeiten  auf  den  Tod 
oder  die  Entthronung  des  Königs,  Verbtlndung  mit  den  Feinden  zum  Kriege, 
Abfall  und  Anreizung  zum  Aufstande  usw.  —  und  schliesst  mit  den  Worten: 
„Und  allgemein  sagen  wir,  wenn  eines  der  vorbezeichneten  Vergehen  begangen 
wird  gegen  den  König  oder  seine  Herrschaft  oder  wider  das  gemeine  Wohl 
des  Landes,  so  heisst  das  traiciön  im  eigentlichen  Sinne,  und  wenn  es  gegen 
andere  Menschen  verübt  wird,  so  heisst  es  aleve,  nach  spanischem  Gewohn- 
heitsrecht." Die  traiciön  musste  danach,  namentlich  da  sie  als  Übersetzung 
des  Ausdrucks  laesae  majestatis  crimen  verwandt  wird  und  ihrem  Begriff  auch 
die  Verletzung  aller  im  Verfassungsrechte  aufgezählten  Treuepflichten  wider 
den  König  unterstellt  wird  (II,  13 — 19),  in  den  Begriff  der  Staatsverbrechen, 
des  Hoch-  und  Landesverrats  sich  auflösen.  Die  heute  sogenannte  alevosia 
dagegen  wird  zu  einer  allgemein  erschwerenden  Art  der  Ausführung  eines 
Delikts  —  ursprünglich  das  Handeln  gegen  die  Person  des  im  Gefühl  der 
Rechtssicherheit  sorglosen  Anderen  ohne  Fehdeansagung,  dann  überhaupt  alles 
durch  Feigheit  und  Hinterlist  gekennzeichnete  Handeln,  heute  nach  der  Legal- 
definition (spanisches  StGB.  10  Z.  2)  bei  Verbrechen  gegen  die  Person  die  Anwen- 
dung von  Mitteln,  Arten  und  Weisen  der  Ausführung,  die  unmittelbar  und 
besonders  darauf  hinauslaufen,  die  Ausführung  ohne  Risiko  für  die  Person  des 
Thäters,  wie  es  aus  einer  etwaigen  Verteidigung  des  Angegriffenen  folgen 
könnte,  zu  sichern.  Die  Praxis  rechnet  hierher  insbesondere  auch  das  Handeln 
gegen  einen  Blinden,  einen  Greis  oder  ein  Kind.  Es  ist  für  die  auf  spanischer 
Grundlage  ruhenden  StR.  eigentümlich,  dass  die  mit  alevosia  ausgeführte  Tötung 


*)  Dem  Arzt  wird  auch  die  Befugnis  zu  praktizieren  entzogen. 


496  Spanien.  —  Die  geschichtliche  Entwicklung. 


allein  oder  mit  andern  Erschwerungen  den  Mordbegrifif  (asesinato)  konstituiert 
(spanisches  StGB.  Art.  418  Z  1.  vgL  oben  IV). 

VI.  Suchen  wir  ohne  weiteres  Eingehen  auf  Einzelheiten  ein  zusammen- 
fassendes Urteil  über  das  StR.  der  Siete  Partidas  zu  gewinnen,  so  wird  man 
wohl  sagen  dürfen,  dass  dieses  6B.  in  dem  Masse  wie  kein  anderes  Spanien 
auf  die  Höhe  der  wissenschaftlichen  Anschauungen  der  Zeit  hob.  Auch 
Mabina  stimmt  dahin  ein,  dass  man  hier  die  Kraft;  und  das  Mark  finde,  dessen 
die  meisten  Gesetzgebungswerke  dieser  Zeit  und  der  folgenden  Jahrhunderte 
ermangeln.  Sempebe  hat  den  nicht  ganz  zu  entkräftenden  Einwand,  dass  in 
dem  GB.  ein  zu  starker  Ultramontanismus  herrsche  und  dass  dem  Dekretalen- 
recht  zu  viel  Raum  gegeben  werde.  Es  mag  richtig  sein,  dass  gerade  diese 
Tendenz  für  Spanien  in  den  folgenden  Zeiten  verhängnisvoll  wurde,  —  für 
Alfons  X.  hatte  sie  nur  einen  augenblicklichen  politischen  Wert,  um  im  Streit 
um  die  deutsche  Kaiserkrone  den  Papst  auf  seine  Seite  zu  ziehen.  Jedenfalls 
kann  die  Würdigung  der  strafrechtlichen  Seite  hierdurch  nicht  gestört  werden, 
indem  nur  die  Vorschriften  über  Juden,  Mauren  und  Ketzer  dem  kanonischen 
Recht  angepasst  sind.  Pacheoo,  der  überhaupt  die  7.  Partida  weit  geringer 
bewertet  als  die  anderen,  hat  mannigfache,  zum  Teil  auf  handgreifliche  Mis- 
verständnisse  zurückgehende  Einwendungen;  vornehmlich  scheint  er  die  Straf- 
bestimmungen zu  hart  zu  finden.  Indessen  wird  dies  durch  die  Notwendig- 
keit energischer  Bekämpfung  des  mächtig  angewachsenen  Verbrechertums  voll- 
auf gerechtfertigt.  Du  Boys  vermisst  in  der  Sprache  die  Präzision  xmd  Knapp- 
heit; es  sei  mehr  Lehrbuch  als  Gesetz.  Ich  vermag  in  letzterem  kaum  einen  Tadel 
zu  sehen:  die  Ausführungen  ruhen  meist  auf  einer  fein  durchdachten  Disposition, 
die  den  Überblick  erleichtert;  der  nie  (wie  im  Fuero  Juzgo  und  Real)  in  kon- 
fuse Redereien  ausartende,  sondern  stets  wissenschaftliche  Ton  bringt  sofort 
die  ratio  legis  dem  Verständnis  nahe.  Bei  der  Vorbildung  des  Gros  damaliger 
Richter  dürfte  darin  ein  Vorzug  liegen.  Trotz  aller  Einschränkungen  gilt  eben, 
was  schliesslich  auch  Pacheco  zugiebt:  „Hätten  Alfonso  und  seine  Mitarbeiter 
eine  ebenso  gute  StGgebung  geschafi'en,  wie  sie  eine  bürgerliche  schufen,  so 
wären  sie  nicht  nur  grosse  Gesetzgeber  und  bedeutende  Männer  gewesen, 
sondern  wir  hätten  ein  mysteriöses  Wunderwerk,  ein  nicht  zu  entzifferndes 
Phänomen  vor  uns." 

§  3.  Das  gemein -spanische  StR. 

I.  Als  Alfonso  el  Sabio  1284  starb,  galten  die  Siete  Partidas  noch  nicht 
als  Gesetz.  Eine  Publikation  würde  sie  in  unlöslichen  Widerspruch  zum  Puero  Real 
gestellt  haben,  dessen  Geltung  unbedingt  vorgeschrieben  war.  Wenn  sich  trotz- 
dem das  Ordenamiento  de  AlcalÄ  dahin  ausdrückt,  Alfonso  X.  hätte  die  Par- 
tidas einzuhalten  befohlen  (mandö  ordenar),  so  zielt  dies  nur  darauf,  dass  der 
König  an  einige  Städte  Abschriften  verteilen  und  seinen  Richtern  das  GB.  als 
Anweisung  zum  Rechtsprechen  zukommen  liess.  Dieser  gewissermassen  theo- 
retische Wert  steigerte  sich  in  der  Folgezeit,  ohne  dass  die  nächsten  Könige 
den  Weg  zur  Vereinheitlichung  energischer  beschritten  hätten.  Jetzt  beginnen 
die  sechs  Jahrhunderte  der  gesetzbuchlosen  Zeit:  es  werden  mehr  oder  weniger 
umfangreiche  Ordnungen  (Ordenamientos),  aus  Einzelbestimmungen  bestehend, 
erlassen,  und  ab  und  zu  werden  die  unendlich  vielen  Spezialgesetze  in  der 
Mosaikarbeit  von  Sammlungen  (Recopilaciones)  zusammengefasst.  Somit  reiht 
sich  an  die  westgotisch-nationale  und  an  die  römisch-wissenschaftliche  Epoche 
eine  chaotische  Epoche,  in  der  die  Gesetzgebung  von  Fall  zu  Fall  entscheidet, 
völlig  unter  der  Herrschaft  des  Augenblicks  Gesetze  erlässt  und  des  einheit- 
lichen Grundgedankens  entbehrt. 


§  3.    Das  gemein -spanische  StR.  497 


II.  Wenn,  man  bezweifeln  zu  müsBen  geglaubt  hat,  ob  die  Partidas  über- 
haupt gegolten  haben,  d.  h.  Gesetz  gewesen  sind,  so  erbringt  den  bündigen  Gegen- 
beweis die  erste  der  erwähnten  Ordnungen,  das  1348  von  den  durch  17  Städte 
beschickten  Gortes  erlassene,  später  unzählige  Male  bestätigte  Ordenamiento 
de  Alcalä.  Die  Quellen  dieses  GB.  Alfonsos  XI.  (el  Justiciero)  sind  die  Gortes 
von  Villa-Real,  die  Ordnung  von  N^era,  z.  T.  die  Partidas,  femer  die  Ord- 
nungen von  Valladolid  1325  und  Segovla  1347.  Inhaltlich  macht  das  G.  den 
missglückten  Versuch,  zwischen  den  Fueros  und  den  Siete  Partidas  einen  Mittel* 
weg  zu  finden:  der  Widerstreit  zwischen  der  Partikulargesetzgebung  und  dem 
monarchischen  Gemeinrecht  bleibt  bestehen.  Von  strafrechtlichem  Interesse 
sind  die  Titel  20  (Amtsdelikte  des  Richters,  Gefangenwächters  usw.),  21  (Ehe- 
bruch und  Hurerei),  22  (Tötung),  23  (Wucher),  30  (Wegnahme  und  Zerstörung 
fremder  Schlösser  und  Häuser),  31  (Pflichten  des  Vasallen  gegen  den  König), 
32  (Zusammenrottung;  femer  traiciön  und  rieptos,  beides  wörtlich  aus  den 
Partidas).  Der  Tit.  22  stellt  gegenüber  dem  Gewohnheitsrecht  einiger  Orte 
fest,  1.  dass  die  asechanza  (ausgespähte,  mit  gedungenen  Helfern  verübte 
Tötung  —  noch  jetzt  manchen  südromanischen  GB.  eigentümlich)  als  er- 
schwerter Fall,  auch  wenn  es  bloss  zu  Schlägen  gekommen,  2.  dass  der  Tot- 
schlag im  Raufhandel  (pelea)  mit  dem  Tode  zu  bestrafen  sei. 

Die  grosse  Bedeutung  des  Ordenamiento  liegt  auf  der  formellen  Seite,  in 
der  sogenannten  ley  de  prelaciön  (Vorzugsgesetz,  1.  1  tit.  28),  wodurch  den  Siete 
Partidas  Gesetzeskraft  verliehen  wurde.  1.  Danach  sollen  in  erster  Linie  die 
(wenigen)  Bestimmungen  des  Ordenamiento  selber  gelten;  wo  sie  nicht  zu- 
reichen, kommen  die  Fueros  zur  Anwendung,  mit  Ausnahme  derer,  a)  die  der 
König  etwa  bessert  oder  ändert,  b)  die  gegen  Gott,  c)  die  gegen  die  Vernunft 
Verstössen»  In  dritter  Linie  stehen  die  Siete  Partidas,  denen  hier  mit  vollem 
Bewusstsein  und  ausdrücklich  zum  ersten  Mal  Gesetzeskraft  verliehen  wird; 
die  verhältnismässige  Länge  der  betreffenden  Ausführungen  zeigt,  wie  sehr 
dem  König  dies  am  Herzen  lag.  Sie  haben  zu  gelten  in  allem,  worin  sie 
nicht  dem  Ordenamiento  und  den  Fueros  widersprechen;  d.  h.  also,  subsidiär 
galt  das  römische  Recht,  wie  es  1265  kodifiziert  wurde.  2.  Wo  die  Fidalgos 
nebst  ihren  Vasallen  nach  einem  Fuero  de  albedrio  (dem  Fuero  Viejo)  sich 
richten,  soll  es  dabei  bleiben.  In  den  rieptos  und  desafios  soll  es  nach  der 
Gewohnheit  gehalten  werden,  wie  sie  massgebend  in  Tit.  32  des  Ordenamiento 
festgestellt  ist.  3.  Alle  nötigen  Auslegungen,  Erläuterungen,  Besserungen,  Er- 
gänzungen  der  G.,  jede  Lösung  von  Widersprüchen  innerhalb  eines  G.  sind 
vom  König  einzuholen. 

ni.  Begreiflicher  Weise  herrschte  trotzdem  bald  wieder  Wirrnis,  nament^ 
lieh  da  in  dem  folgenden  Jahrhundert  an  die  StGgebung  neue  Aufgaben  heran- 
traten. Es  waren  Einführirngsverbote  (von  Wein  aus  Aragonien,  Navarra, 
Portugal)  und  Ausfuhrverbote  (von  Pferden,  Gold,  Silber)  mit  Strafsanktionen 
zu  versehen,  und  vor  allem  war  eine  energische  Bekämpfung  des  überhand 
nehmenden  Bettler-  und  Landstreicherwesens  (rufflanes,  gleich  den  italienischen 
bravi  im  Sold  von  Caballeros)  von  nöten.  Bereits  1433  verlangten  die  Gortes 
von  Madrid  von  König  Johann  II.  eine  Sammlung  der  geltenden  G.  unter 
Ausscheidung  der  überflüssigen  und  Sonderung  der  provisorischen  von  den 
bleibenden.  Diese  Bitte  wurde  1458  unter  Heinrich  IV.  wiederholt.  Aber  erst 
unter  Isabellas  Regierung,  als  durch  ihre  Vermählung  mit  Ferdinand  II.  von 
Aragonien  ganz  Spanien  vereint  war,  dachte  man  an  Abhülfe.  Alfonso  Diaz 
de  Montalvo,  leider  damals  schon  ein  überalter  Mann  (geboren  1405),  wurde  1480 
mit  der  Zusammenstellung  beauftragt  und  legte  1483  eine  Sammlung  von  1163  G. 
in  115  Titeln  und  8  Büchern  vor,  die  die  königliche  Genehmigung  fand.  Dies 
sind  die  Ordenanzas  Reales  de  Castilla,  auch  als  Ordenamiento  Real  oder  Ordena- 

Strafgesetzgebnng  der  Gegenwart.  I.  32 


498  Spanien.  —  Die  geschichtliche  Entwicklung. 


miento  de  Montalvo  bezeichnet,  gedruckt  zuerst  1485  in  Huete.  Sie  enthalten 
die  Hauptsätze  des  Fuero  Real,  das  Ordenamiento  de  Alcalä  und  die  geltenden 
späteren  G.,  Ordnungen  und  Pragmatiken,  vielfach  übrigens  wörtliche  Wieder- 
gaben aus  den  Siete  Partidas;  das  StE.  ist  in  den  19  Titeln  des  8.  Buches 
enthalten,  Montalvo  vollendete  sein  Lebenswerk  durch  Veranstaltung  der 
ersten  gedruckten  Ausgabe  der  Siete  Partidas  (Sevilla  1491),  zu  denen  er 
ebenso  wie  zum  Fuero  Real  einen  Kommentar  schrieb.  Seine  Arbeit  bildete 
bis  1567  das  Haupthülfsbuch  der  Gerichte,  obwohl  sie  alle  Fehler  der  späteren 
Recopilaciones  teilte. 

IV.  Zur  Aufklärung  einiger  Dunkelheiten  im  Ordenamiento  de  Montalvo 
erbaten  sich  1502  die  Cortes  von  Toledo  ein  GB.  Die  von  Isabella  dem 
Dr.  Paläcios  Rubios  anvertraute  sorgfältige  Revision  hatte  die  83  Leyes  de  Toro 
(Leges  Taurinae),  publiziert  1505  auf  den  in  Toro  abgehaltenen  Cortes,  zum 
Ergebnisse.  Dieses  hochbertihmte  und  sehr  oft,  von  Gomez  bis  auf  Pacheco, 
kommentierte  GB.  ist  fast  ausschliesslich  civilrechtlichen  Inhalts  und  berührt 
das  StR.  nur  in  leyes  80 — 83  über  Ehebruch  und  falsches  Zeugnis.  Wichtig 
ist  ley  1,  worin  die  ley  de  prelaciön  wiederholt  und  dahin  ergänzt  (und  ver- 
schlechtert) wird,  dass  in  erster  Linie  neben  dem  Ordenamiento  de  Alcalä  und 
dem  gegenwärtigen  G.  alle  Ordnungen  und  Pragmatiken  der  bisherigen  und 
künftigen  Könige  gelten  sollen. 

V.  Es  folgten  wieder  60  Jahre  des  Stillstandes  der  Gesetzgebung.  Trotz- 
dem Isabella  {f  1504)  in  ihrem  Testamente  die  Notwendigkeit  eines  kurzen 
und  möglichst  vollständigen  GB.  betont  hatte,  trotzdem  fortwährend  die  Peti- 
tionen der  Städte  sich  erneuerten  (1532,  1548,  1552,  1560,  1563),  trotzdem  das 
ganze  Sehnen  der  Zeit  nach  einem  grossen,  nationalen,  alle  früheren  ab- 
schaffenden GB.  ging,  —  konnte  Karl  I.,  der  zur  gleichen  Zeit  in  Deutschland 
auf  stets  wiederholte  Petitionen  hin  die  Peinliche  Halsgerichtsordnung  erlassen 
hatte,  für  seine  Spanier  keine  Hülfe  finden.  Und  als  Philipp  11.  endlich  1667 
zu  einer  Sammlung  schritt,  griff  man  doch  wieder  auf  die  fehlerhafte  Methode 
Montalvos  zurück  und  benutzte  einfach  dessen  Werk  und  die  ähnlichen 
Arbeiten  von  Juan  Ramirez  1503  und  Miguel  de  Eguia  1528.  Das  Kesultat 
war  eine  grosse  Enttäuschung:  es  war  kein  neues  Kleid,  sondern  man  hatte 
wieder  die  alten  Flicken,  nur  buntscheckiger,  weniger  übersichtlich,  unbrauch- 
barer aneinander  gesetzt.  Das  war  die  Nueva  Recopilaciön,  die  in  den 
folgenden  Jahrhunderten  wiederholt  neu  herausgegeben  wurde,  zuletzt  1775. 
Das  StR.  ist  in  Buch  VIII  enthalten,  wo  Tit.  23  von  den  Tötungen  handelt, 
auf  die,  um  ein  Urteil  doch  in  etwas  zu  ermöglichen,  ein  Blick  geworfen 
werden  soll.  Grundlage  sind  wieder,  wie  schon  bei  Montalvo,  die  Bestimmungen 
des  Fuero  Real  (IV,  17)  über  entschuldigte  und  zufällige  Tötungen,  über  Mord 
mit  traiciön  oder  aleve,  über  Raufhandel.  Andere  G.  qualifizieren  Tötung 
am  Hof  des  Königs  (Entblössen  des  Schwertes  wird  mit  Abhauen  der  Hand 
gestraft),  Tötung  mittels  Brandstiftung,  mit  Pfeilen,  beim  Raub,  mittels  Feuer- 
waffen. Bei  allen  letzteren  Arten  tritt  ein  fiskalischer  Zug  hervor:  ausnahmslos 
wird  die  Einziehung  des  halben  Vermögens  (oder  eines  Drittels)  für  die  könig- 
liche Kammer  angeordnet. 

Die  schärfste  Kritik  an  den  oft  untereinander,  oft  innerlich  widerspruchs- 
vollen G.  der  Nueva  Recopilaciön  hat  Marina  (im  Juicio  Gritico)  geübt:  „Ver- 
kannt ist  das  eigentümliche  Verdienst  der  Partidas.  Statt  dem  zu  folgen, 
was  an  ihnen  der  Bewunderung  so  wert  ist,  dem  schönen  System  und  der 
feinen  Methode,  —  haben  die  Gesetzgeber  den  Stil  der  ältesten  Kompilationen 
wieder  aufgenommen,  die  successiv  und  durch  Anhäufung  gebildet  waren. 
In  einem  solchen  Agglomerat,  in  dem  unendlichen  Wust  alter  und  neuer  G. 
nach  Plan,  Ordnung,   Methode  zu  suchen,   das  wäre  das  gleiche,   als  wollte 


§  4.    Das  neunzehnte  Jahrhundert.  499 


man  an  den  ärmlichen  Käthen  eines  Dorfes  die  Gesetze  der  Architektur  dar* 
legen." 

VI.  Erst  nach  2^/^  Jahrhunderten  nahm  die  Gesetzgebung  wieder  einen 
Anlauf.  Karl  IV.  beauftragte  1798  D.  Juan  de  la  Reguera  Valdelomar  mit 
der  Abfassung  eines  Gß.  Dem  tüchtigen  Kritiker  des  Bestehenden  gelang  die 
Schaffung  eines  Werkes  für  die  Zukunft  nicht.  Die  mit  Spannung  erwartete 
Novisima  Recopilaciön  v.  1805  war  lediglich  eine  erweiterte  und  womöglich 
verschlechterte  Nueva.  Das  noch  kapriziöser  in  12  Bücher  eingeteilte  Werk 
enthält  in  den  42  Titeln  des  letzten  StB.  und  Strafprozesse  Die  wichtigsten 
Änderungen  des  Strafensystems  —  Aufkommen  der  G  aleren-  und  anderer 
Freiheitsstrafen  —  gehören  noch  dem  Zeitalter  Philipps  n.  an.  Marina,  der 
mit  dem  bereits  angeführten  schonungslosen  Urteil  auch  gegen  die  Novisima 
Recopilaciön  auftrat,  wurde  deswegen  gerichtlich  verfolgt.  (Sein  Buch  Juicio 
critico  erschien  1820.)  Zur  Novisima  Recopilaciön  erschien  noch  ein  Suple- 
mento  1808. 

YIL  Dies  auch  in  sämtliche  spanische  Kolonieen  eingeführte,  somit  gemein- 
spanische StR.,  das  im  Mutterland  (mit  der  kurzen  Unterbrechung  v.  1822  bis 
1823)  bis  1848  galt,  kann  in  seiner  ganzen  tollen  Disharmonie,  in  der  es  — 
ein  Stück  sich  überlebt  habenden  Mittelalters  —  zu  dem  Geist  des  19.  Jahr- 
hunderts stand,  nicht  besser  charakterisiert  werden,  als  mit  den  berühmten, 
von  jedem  Schriftsteller  über  spanisches  StR.  angeführten  Sätzen  Paohbcos: 
„Alle  Abgeschmacktheiten,  alle  Grausamkeiten,  die  unserer  StG gebung  seit 
sechs  Jahrhunderten  anhafteten,  sie  alle  sind  in  ihrer  ganzen  Roheit  bis  in 
unser  Jahrhundert  gelangt.  Die  Folter  nur  ist  von  den  Cortes  1812  und  vom 
König  Ferdinand  1817  abgeschaf^;  worden.  Mit  der  Vermögenskonfiskation 
indessen  räumten  nur  jene  auf.^)  Die  Auspeitschung  (los  azotes),  die  Brand- 
markung, die  Verstümmelung  standen  auch  femer  in  Kraft,  und  wir  alle 
haben  die  erste  dieser  drei  Strafen  vollziehen  sehen;  wenn  die  anderen  beiden 
nicht  angewendet  wurden  (was  ich  nicht  weiss),  so  war  das  eine  Wirkung  der 
ungebundenen  Willkür  der  Richter,  dieses  seltsamen  Dogmas  unserer  neueren 
StGB.  Die  Todesstrafe  traf  diejenigen,  die  in  irgend  einem  Teile  des  König- 
reiches ö  Schafe  oder  den  Wert  einer  Peseta  (=  1  frc.)  in  Madrid  raubten; 
und  in  diesem  Punkte  stand  die  Androhung  nicht  nur  in  den  Gesetzen,  sondern 
man  führte  auch  bis  vor  wenigen  Jahren  diese  Gesetze  mit  drakonischer  Strenge 
aus.  Die  Sodomie  und  die  Ketzerei  waren  gleichfalls  todeswürdige  Verbr., 
und  die  Scheiterhaufen  der  Inquisition  entflammten  sich  mehr  als  einmal  für 
Hexen  und  für  judaisierende  Sektierer." 

§  4.  Das  neunzehnte  Jahrhundert 

•-•  —- — 

I.  Mit  mächtigerer  Sehnsucht  als  je  und  mit  einer  durch  die  Zeitereig- 
nisse der  französischen  Revolution  und  der  erschütternden  Kämpfe  im  Innern 
gesteigerten  Spannkraft  ging  man  seit  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  daran,  aus 
der  chaotischen  Epoche  sich  loszuringen.  Während  aus  früherer  Zeit  nur  der 
Strafgesetzentwurf  des  Ministers  Marques  de  la  Casefiada  (1752  unter  Ferdi- 
nand VI.)  bekannt  ist,  ruhte  jetzt  das  Kodifikationsbestreben  nicht  mehr.  Hätte 
Jos6  Bonaparte  (6.  Juni  1808  bis  11.  Dezember  1813)  länger  in  Spanien  regiert, 
so  würde  er  seinen  Plan,  die  französischen  G.  hier  einzuführen,  sicher  ver- 
wirklicht haben.  Immerhin  gab,  wie  es  ja  nicht  anders  sein  konnte,  Napo- 
leons Code  p6nal  das  Hauptvorbild  ab  für  das  während  der  ersten  kon- 
stitutionellen Periode    von    den  Cortes    erlassene  StGB.      Entworfen  von    dem 


*)  d.  h.  also,  nach  1823  bestand  sie  wieder  im  StR.  fort,  vgl.  §  4,  I. 

32* 


500  Spanien.  —  Die  geschichtliche  Entwicklung. 


früheren  Jostizminister  Calatrava,  wurde  es  in  wenigen  Monaten  durchberaten 
und  trat  am  9.  Juli  1822  in  Kraft.  Seine  Dauer  war  nur  ^j^  Jahre.  Die  Reak- 
tion Ferdinands  VII.  beseitigte  alle  Cortesbeschlüsse  vom  7.  März  1820  bis  zum 
1.  Oktober  1823. 

n.  EinTitulo  preliminar  (13  Kap.,  §§1—187)  stellt  den  allgemeinen  Teil 
dar,  in  dem  sich  auch  Anklagerecht,  Kontumazialverfahren,  Begnadigung  und 
Entschädigung  Unschuldiger  finden  (Kap.  7.  8.  10.  12.).  In  vielem  Wesent- 
lichen sind  schon  die  Züge  des  heutigen  spanischen  StR.  sichtlich.  Zweiteilung 
der  strafbaren  Handlungen  in  delitos  (mit  malicia)  und  culpas  (ohne  malicia). 
Versuch  und  Vorbereitung  bleiben  trotz  Aufnahme  der  französischen  Fassung 
ungetrennt;  Entschlussfassung  und  -äusserung  sind  straflos,  die  aus  letzterer 
hervorgehobenen  „Verbindung"  und  „Vorschlag"  (conjuraciön  und  proposiciön) 
sind  im  besonderen  Teile  einigemale  unter  Strafe  gestellt  Rücktritt  macht 
den  Versuch  als  solchen  straflos.  Über  Thäter  (autores),  Teilnehmer  (cöm- 
plices),  Helfer  und  Förderer  (auxiliadores  y  fautores).  Verheimlicher  und  Heh- 
ler (receptadores  y  encubridores)  sind  sehr  komplizierte  Bestimmungen  vor- 
handen, die  überall  in  eine  kasuistische  Aufzählung  hinauslaufen,  ohne  dass 
in  einer  Definition  das  diesen  Fällen  Gemeinsame  zum  Begriff  zusammengefasst 
würde;  — wie  diese  Sucht,  nie  die  Begriffsmerkmale  zu  geben,  sondern  durch 
eine  vermeintlich  lückenlose  Aufzählung  den  Umfang  des  Begriffes  zu  er- 
schöpfen, überhaupt  dem  GB.  v.  1822  eigentümlich  ist.  Zurechnung  ist  aus- 
geschlossen bei  völlig  unwiderstehlichem  Zwang,  bei  Kindern  unter  7  Jahren, 
bei  Jugendlichen  ohne  discernimiento  unter  17  Jahren,  und  während  der  Zeit 
nicht  voller  Geisteskräfte  (Trunkenheit  nicht).  Verjährung  ist  nur  für  die 
Verfolgping  zugelassen  und  wird  durch  ein  neues  Verbr.  unterbrochen. 

Das  Strafensystem  unterscheidet  11  Arten  körperlicher,  13  unkörperlicher 
und  2  von  Vermögensstrafen.  Zur  Strafausmessung  (Strafmehrungs-  und  -min- 
derungsgründe,  §§  106,  107)  dient  eine  künstliche  Arithmetik,  bei  der  die  un- 
teilbaren Strafen  übergrossen  Dauern  teilbarer  gleich  gesetzt  werden.  Das  Resultat 
der  Bestimmungen  über  die  drei  Grade  jeder  Strafe  lässt  sich  unter  Zusammen - 
Ziehung  des  Inhaltes  mehrerer  Art.  am  kürzesten  folgendermassen  ausdrücken : 
sind  die  beiden  Grenzen  des  Strafrahmens  a  und  b  (a  <[  b) ,  so  ist  der  Straf- 

/                N   ^     ^           ^.     6a  +  b    ,         .   ,           3a  4- 2b 
rahmen   des    ersten    (untersten)   Grades  a  bis  -^ — ,  des  mittleren   ^ 

3a-f4b  ^  ^ 

bis ,   des  obersten  Grades  4  b  bis  b.     Ein  Einsetzen  von  Zahlen   er- 

b 

giebt,  dass  bei  verschieden  weiten  Deliktsstrafrahmen  die  Gradstrafrahmen  bald 
sich  berühren,  bald  ineinander  übergreifen,  bald  auseinander  klaffen.  Noch 
komplizierter  wird  das  durch  die  herabgesetzten  Strafrahmen  für  Versuch 
(i— i);  ^ür  Teilnahme  (i— 1),  Förderung  (i— |),  Hehlerei  (1— i),  und  durch 
die  hiermit  sich  wieder  kreuzenden  Herabsetzungen  für  Jugendliche  mit  dis- 
cernimiento {{ — i)  und  für  nicht  völlig  unwiderstehlichen  Zwang  (^ — |).  — 
Über  Rückfall  imd  teilweisen  Erlass  der  noch  nicht  ganz  verbüssten  Strafe 
wegen  guter  Führung  finden  sich  bemerkenswerte  Bestimmungen  (Kap.  5.  9.). 
in.  Das  gleiche  Übermass  von  Distinktionen  ohne  das  Vermögen  begriff- 
licher fester  Fassung  beherrscht  den  besonderen  Teil  (Teil  I:  Verbr.  gegen  die 
Gesellschaft,  9  Titel,  §§188—604;  Teil  II:  Verbr.  gegen  die  Einzelnen,  3  Titel, 
§§  605 — 816).  Ein  besonders  einleuchtendes  Beispiel  dafür  ist  die  Behand- 
lung der  Verbr.  gegen  die  innere  Sicherheit  des  Staates,  wo  Rebellion  und 
Sedition  in  je  drei  Klassen,  daneben  Tumult,  Auflauf,  Parteiungen  und  son- 
stiger Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt  in  einfach  unübersehbarer  und  prak- 
tisch doch  nicht  auseinander  zu  haltender  Weise  unterschieden  werden.  So- 
wohl dieses  Herzählen  von  immer  neuen  Alternativen  und  die  Besorgnis,  durch 


§  4.    DiEts  neunzehnte  Jahrhundert.  501 


irgend  einen  abstrakteren  Ausdrack  eine  etwas  weitere  Auslegung  zu  gestatten, 
als  namentlich  die  Behandlung  der  Strafzumessungslehre  beweisen,  dass  der 
Gesetzgeber,  durchaus  im  Geiste  des  Aufklärungszeitalters,  darauf  ausging, 
dem  Richter  des  Rechts  (juez  de  derecho)  jedwede  Willkür  abzuschneiden. 
Ähnliche  Graduationen  und  Abstufongen  der  Strafe  (escalas  graduales,  escala- 
miento)  charakterisieren  übrigens  auch  das  heutige  System,  in  dem  sogar  die 
Würdigung  der  erschwerenden  und  mildernden  Umstände  dem  Riditer  noch 
einschneidender  beschränkt  ist.  Dem  StGB.  v.  1822  kann  man  den  Vorwurf 
nicht  ersparen,  dass  seine  Satzungen  zu  sehr  vom  grünen  Tische  aus  diktiert 
sind;  zudem  erweckt  es  den  bestimmten  Eindruck,  dass  es  mit  äusserster  Hast 
gearbeitet  worden  ist.  Es  würde  sich  darum  bei  längerem  Bestehen  trotz 
seiner  zum  Teil  grossen  Milde  kaum  als  brauchbar  erwiesen  haben. 

IV.  Auch  der  Reaktion,  die  wieder  mit  dem  alten  Elend  der  Novisima 
Recopilaciön  weiter  wirtschaftete,  konnte  die  Notwendigkeit  eines  StGB,  nicht 
verborgen  bleiben.  Ferdinand  VIT.  beauftragte  1829  eine  Kommission  mit  Ab- 
fassung eines  Entw.,  der  erst  nach  des  Königs  Tode  1834  den  Cortes  vorgelegt 
wurde,  und  den  Pachbco  mit  den  Worten  „gearbeitet  von  der  absoluten 
Monarchie  für  die  absolute  Monarchie"  kennzeichnet.  Ein  zweiter,  von  einer 
anderen  Kommission  im  J.  1839/40  abgeschlossener,  durch  knappe  Fassung 
sich  auszeichnender  Entw.  ist  nicht  zur  Beratung  in  den  gesetzgebenden 
Körperschaften  gelangt.  Da  setzte  endlich  im  J.  1843  die  provisorische  Regie- 
rung von  Barcelona  auf  Initiative  von  Joaquin  Lopez  eine  Kommission  unter 
dessen  Vorsitz  ein,  der  die  berühmtesten  Rechtslehrer  Spaniens  angehörten,  — 
so  Cortina,  Garcia  Goyena,  Bravo  Murillo,  Castro  y  Orozco,  Pacheco,  Perez 
y  Hemandez,  Ortiz  de  Ziifiiga.  Leider  besitzen  wir  weder  ihre  Sitzungs- 
protokolle, noch  die  Kammerdebatten,  da  man  offizielle  Tachygraphen  nicht 
hatte.  Das  Ergebnis  war  das  StGB.  v.  1848,  am  19.  März  von  der  Königin 
Isabella  U.  publiziert,  in  Kraft  seit  dem  1.  Juli,  und  in  einigem  berichtigt 
durch  die  königliche  Vdg.  vom  21.  und  22.  September.  Das  GB.  (494  Art.) 
behandelt  den  allgemeinen  Teil  (Buch  I)  in  6  Titeln  (Art.  1 — 127),  den  beson- 
deren nach  der  Zweiteilung  in  Verbr.  (delitos)  und  Übertretungen  (faltas)  in 
Buch  II  (Titel  I—VllI,  Verbr.  gegen  die  Gesamtheit,  Art.  1—322;  Titel  IX— JLV, 
Verbr,  gegen  die  Einzelnen,  Art.  323 — 467)  imd  Buch  III  (2  Klassen  von  Über- 
tretungen, Art.  468 — 479  und  480 — 494).  Seine  Quellen  sind  ausser  dem  GB. 
V.  1822  und  dem  gemeinspanischen  StR.,  insbesondere  den  Siete  Partidas,  der 
französische  C.  p.  (wohl  nur  in  wenigem),  nach  Pachecos  Mitteilung  vor  allem 
das  StGB,  von  Brasilien  (1830)  und  von  Neapel  (1819),  die  namentlich  für  die 
Formulierung  vieler  Rechtsgedanken  schlechthin  massgebend  waren.  Die  Re- 
gierung hatte  sich  im  Einf.G.  Art.  2  einen  Besserungsvorschlag  auf  Grund  der 
zu  sammelnden  Erfahrungen  binnen  3  Jahren  vorbehalten  und  schon  durch 
königliche  Vdg.  vom  30.  Juni  1850  wurde  eine  Revision  als  ediciön  reformada 
verkündet  (eine  2.  amtliche  Ausgabe  erfolgte  1863).  Das  GB.  umfasste  nun- 
mehr 506  Art.:  Buchl  wie  bisher;  Buch  II,  Titel  I— VIII  wi€f> bisher;  Titel  IX 
bis  XV,  Art.  323—480;  Buch  III,  Art.  481—505  und  Schlussbestimmung.  In 
dieser  Gestalt  blieb  es  20  Jahre  lang  und  rief  eine  grosse  Litteratur  hervor, 
die  für  die  Jetztzeit  keineswegs  das  Interesse  verloren  hat,  da  das  heutige 
StGB,  nur  eine  abermalige,  allerdings  genauere  Umarbeitung  des  v.  1850  ist. 
Insbesondere  ist  der  berühmteste  der  Kommentare,  der  von  Joaquin  Fran- 
cisco Pacheco,  noch  heute  unentbehrliche  Grundlage  für  die  Praxis  und  das 
Studium  des  StGB. 

V.  Der  Gedanke  einer  neuen  Umarbeitung  wurde  durch  die  politischen 
Wechselfälle  des  Herbstes  1868  heraufgeführt.  Wie  seit  Anfang  des  Jahrhun- 
derts jede  Verfassungsänderung  Umformungen  auf  dem  Rechtsgebiete  und  h  - 


502  Spanien.  —  Das  geltende  Spanische  StGB. 


sonders  im  StR.  nach  sich  zog,  so  erschien  anch  jetzt  in  Anlehnung  an  die 
demokratisch -progressistische  Verfassong  vom  1.  (6.)  Juni  1869  ein  EIntw.  zur 
Reform  des  StGB.,  ansgearbeitet  vom  Jostizminister  Montero  Rios.  Durch  6. 
vom  17.  Jonl  1870  wurde  von  den  konstituierenden  Cortes  dessen  vorläufige 
Beobachtung  angeordnet  und  der  somit  geschaffene  Cödigo  penal  reformado 
wurde  am  30.  August  vom  Regenten  Serrano  publiziert.  Die  Durchberatung 
und  Veröffentlichung  war  aber  mit  solcher  Hast  geschehen,  dass  das  GB.  viele 
Flüchtigkeits-,  Druck-  und  Redaktionsfehler  enthielt.  Noch  kurz  ehe  König 
Amadeus  am  2.  Januar  1871  in  Madrid  eintraf,  wurde  daher  durch  Vdg.  des 
Regenten  vom  1.  Januar  1871  der  Justizminister  beauftragt,  eine  neue  Ausgabe 
des  Cödigo  zu  veranstalten,  die  die  in  der  Vdg.  des  Näheren  aufgezählten 
Verbesserungen  enthielt  Den  Cortes  ist  trotz  eines  dahin  gehenden  Ver- 
sprechens der  definitiv  festgestellte  Text  nicht  mehr  zur  Beratung  mitgeteilt 
worden.  Ein  späteres  Abänderungsgesetz  vom  17.  Juli  1876  betraf  unwichtige 
Punkte.^)  Dies  ist  die  heutige  Gestalt  des  spanischen  StGB.  (Buch  I:  All- 
gemeiner Teil,  Art.  1—135;  Buch  11:  Verbr.,  Art.  136— 583:  Buch  HE:  Über- 
tretungen, Art.  584 — 626.) 

VI.  An  der  weiteren  Vervollkommnung  des  spanischen  StR.  wird  eifrig 
fortgearbeitet,  und  in  der  ersten  Hälfte  des  verfiossenen  Jahrzehnts  brachte, 
wie  in  Italien,  fast  jeder  Justizminister  einen  neuen  Entw.  ein.  Am  17.  Juni 
1880  legte  Bugallal  den  Cortes  den  ersten  derartigen  Entw.  vor  und  erneuerte 
ihn  am  31.  Januar  1881;  dann  folgte  Manuel  Alonso  Martinez  mit  seinem  Entw. 
vom  11.  April  1882;  endlich  Francisco  Silvela  am  29.  Dezember  1884  (Proyecto 
de  Cödigo  penal,  gedruckt  1885,  Madrid,  Garcia).  Einen  anderen  Weg 
schlug  1886  wieder  der  genannte  Alonso  Martinez  ein;  er  brachte  am  19.  No- 
vember den  Entw.  eines  G.  betr.  die  Grundlagen  der  Reform  des  StGB.  tLey 
estableciendo  bases  para  la  reforma  del  Cödigo  penal)  in  10  Art.  im  Senat 
ein.  Dort  wurde  der  Entw.  auf  15  Art.  gebracht  und  ging  so  dem  Kongresse 
am  28.  Februar  1887  zu.*)  Dasselbe  Projekt  tauchte  auch  noch  in  den  Sitzungs- 
perioden 1887.88  und  1888/89  auf,  ist  aber  seitdem  —  wie  es  scheint  —  wieder 
ganz  von  der  Tagesordnung  verschwunden.  Sollte  über  kurz  oder  lang  die 
Frage  nach  der  Reform  des  StGB,  in  Spanien  akut  werden,  so  wird  man  wohl 
in  erster  Linie  auf  den  Entw.  Silvela  zurückgreifen.  Er  steht  fast  durch- 
gängig mit  dem  geltenden  GB.  auf  gleichem  Boden,  und  vielfach  disponiert 
er  das  Bestehende  nur  besser  und  formuliert  es  klarer.  Vieles,  insbesondere 
das  Straff nsystem  und  die  Bemessung,  ist  vereinfacht,  jedoch  ohne  Aufgabe 
des  Prinzipes.  Die  bedeutendsten  Neuerungen  finden  sich  in  der  Teilnahme- 
lehre, und  bei  der  Regelung  der  Verantwortlichkeit  von  Körperschaften  (s.  u.). 

n.  Das  geltende  spanische  StGB. 

Litteratui^  Empfehlenswerteste  Ausgabe  Medixa  und  Mailvxon.  Leyes  penales 
de  Espana  (in  der  Biblioteca  manual  de  Derecho  espanol  ,  2.  ed.  Madrid  1S91.  Abklla, 
Los  codi^os  espanoles  vigentes  en  la  Peninsula  y  Ultramar.  Madrid  IS90.  Marti,  Cod. 
p.  de  l'^To.  reformado  segün  las  disposiciones  legales  promulgadas  hasta  el  dia  y 
ampliado  con  un  apendice.  9.  ed.  Valencia  1?<>9.  Die  von  der  Redaktion  der  Zeit- 
schrift El  Toxs^rLTOB  de  los  Ayuntamientos  y  de  los  Juzgados  Municipales  (Ratgeher  der 
Gemeinderäte  und  Munizipalgerichtshöfe  i  fast  jährlich  veranstalteten  Ausgaben.  12.  ed. 
Madrid  l'^V^o.    Von  älteren  Werken  sind  noch  heute  unentbehrlich  und  werden  immer 


*)  In  §  ßU'^  wurden  die  Übertretungen  des  Betretens  fremder  Grundstücke  etwas 
abgeändert,  und  ferner  wurde  §  ^0»P  kleinster  Diebstahl.  Mundraub,  Holzdiebstahl) 
ans  den  Übertretungen  unter  die  Verbr.  nach  $  5:^1*  versetzt.  In  §  ^30  ist  das  Citat 
des  we«rorefaHenen  §  6u6*  fälschlich  stehen  geblieben. 

-•  In  dieser  Gestalt  hat  ihn  S.  Mayer,  Gerichtssaal  Bd.  40  S.  272,  besprochen. 


§  5.    Der  allgemeine  Teil|  insbesondere  das  Verbrechen.  503 


wieder  aufgelegt:  Pacheco,  Estudios  de  Derecho  penal.  Lecciones  pronunciadas  en 
el  Ateneo  de  Madrid  en  1839  y  1840.  Madrid,  1.  ed.  1842,  5.  ed.  1887,  und  Pacheco, 
£1  Cödigo  penal  concordado  v  comentado.  Madrid  3  Bde.  1.  ed.  1848,  6.  ed.  1888 
(letztere  Bd.  III — V  der  im  Verlag  von  Tello  herausgegebenen  Obras  Juridicas  de 
Pacheco).  Dazu  der  das  Werk  für  den  heutigen  Richter  unmittelbar  brauchbar 
machende  Anhang  von  Gonzalez  t  Serrano:  Ap^ndice  a  los  comentarios  del  Cödigo 

ßenal  de  Pacheco,  ö  sea  El  Nuevo  C6digo,  comentadas  las  adiciones  que  contiene. 
[adrid,  Jubera.  1.  ed.  1870,  4.  ed.  1889.  Sonst  sind  von  Werken  über  das  StGB.  1850 
zu  nennen:  Castro  y  Orozco  und  Ortiz  de  Zuniga,  C6digo  penal  explicado  para  la 
comün  inteligencia  y  föcil  aplicaciön  de  sus  disposiciones.  Granada  184S.  Vizmanos 
und  Alvarbz  MARTÜnsz,  Comentarios  al  nuevo  Cödigo  penal.  2.  ed.  Madrid  1848.  2  Bde. 
VicENTE  Y  Caravantes,  Cödigo  penal  reformado,  comentado  novisimamente.  Madrid 
1851.  AüRioLEs  MoNTERO,  Instituciones  del  Derecho  penal  espafiol,  escritas  con  arreglo 
al  nuevo  Cödigo.  Madrid  1849  (auch  in.  der  Biblioteca  de  Jurisprudencia  y  Legislacion). 
Saavedra  mid  Colmenareb,  Gran  cuadro  sinöptico  del  Derecho  penal  de  Espana.  Ma- 
drid 1848.  Castillo- Valero,  Observaciones  criticas  sobre  el  Cödigo  penal  de  Espa&a. 
Madrid  1860.  Hernandbz  de  la  Rua,  Cödigo  penal,  con  notas  y  observaciones.  Madrid 
1863.  Rada  y  Drloado,  Cödigo  penal  con  formularios  y  un  diccionario  del  Cödigo. 
Madrid  1867.  —  Über  das  StGB.  1871  sind  folgende  Werke  zu  nennen:  Hauptdar- 
stellung Luis  SiLVELA,  El  Derecho  penal  estudiado  en  principios  y  en  la  legislacion 
vigente  en  Espana.  2  Bde.  Madrid  1874,  1879.  Hauptkommentar  Viada  y  Vilaseca, 
Cödigo  penal  usw.,  concordado  y  comentado  para  su  mejor  inteligencia  y  fäcil  apli- 
caciön,  con  una  multitud  de  ejemplos  y  cuestiones  prÄcticas  extractadas  de  la  juris- 

grudencia  del  Tribunal  Supremo  en  materia  de  casaciön  criminal.  4  Bde.  1.  ed. 
arcelona,  Granada  1874,  1876.  4.  ed.  Madrid  1890.  Sodann  Ramön  Ramiro  Rueda, 
Elementos  de  Derecho  penal  con  arreglo  al  programa  de  esta  asignatura  en  la  Uni- 
versidad  de  Santiago.  2.  ed.  Santiago  1889  (seinen  Zuhörern  gewidmetes  Lehrbuch). 
Groizard  y  Gomez  de  LA  Serna,  El  Cödigo  penal  de  1870  concordado  y  comentado. 
3  Bde.  Burgos  1870—1883.  AzcütIa,  La  ley  penal.  Estudios  prä,cticos  sobre  la  inter- 
pretaciön,  inteligencia  y  aplicaciön  del  Cödigo  de  1870,  en  su  relaciön  con  los  de 
1848  y  1850,  con  nuestras  antiguas  ley  es  patrias  y  con  las  principales  legislaciones 
extranjeras.  Madrid  1876.  Varela,  Derecho  penal  espanol.  Madrid  1878.  Crespo, 
Exposiciön  del  Derecho  penal  espanol  segün  los  principios  de  la  filosofia  y  los  proyec- 
tos  presentados  &  las  Cortes  para  su  reforma.  Madrid  1886.  Läget- Valdeson,  Thöorie 
du  Cödigo  penal  espafiol  compar^e  avec  la  lögislation  f^an<;aise.  2.  ed.  Paris  1881.  — 
Sammlung  von  Entsch.  in  der  Jurisprudencia  criminal,  Colecciön  completa  de  las  sen- 
tencias  dictadas  por  el  Tribunal  Supremo  eii  los  recursos  de  casaciön  y  competencias 
en  materia  criminal,  desde  la  instalaciön  de  sus  Salas  segunda  y  tercera  en  1870. 
Herausgegeben  in  der  Biblioteca  juridica  de  la  Revista  general  von  Pantoja.  Bd.  1 
bis  37,  Madrid  1871 — 88  u.  if.  Martinez  Alcubilla,  Diccionario  de  la  jurisprudencia 
penal  de  Espana.  Anhang  zu  dem  alle  paar  Jahre  herausgegebenen  Diccionario  de 
la  Administraciön  espanola.  Von  sonstigen  Zeitschriften  ist  zu  erwähnen  die  Revista 
General  de  Legislacion  y  Jurisprudencia,  begründet  von  Jos6  Reus  y  Garcia,  jetzt 
herausgegeben  von  Manresa  y  Navarro.  Bd.  1—81.  Madrid  1853 — 1892.  Boletin  de 
la  Revista  general.  Periödico  oficial  del  ilustre  Colegio  de  Abogados  de  Madrid. 
Bd.  74  ff.,  Madrid  1885  ff.  Revista  de  Antropolooia  Crdonal,  begründet  von  Taladriz. 
Bd.  I,  Madrid  1888.  7-  Die  Monographieenlitteratur  ist,  ausser  der  über  Gefängnis- 
wissenschaft und  über  die  Todesstrafe,  sehr  geringfügig;  zu  erwähnen  sind  die  folgen- 
den über  die  Übertretungen  (Buch  III.  des  StGB.),  über  Duelle,  Selbstmord  und  Staats- 
verbrechen: MiRETE,  Tratado  general  sobre  faltas.  Alicante  1848.  Montaut  y  Trigüeros, 
Delitos  y  faltos,  ö  sea  estudio  sistemÄtico  del  libro  III  del  Cödigo  penal,  con  la  juris- 
prudencia del  Tribunal  Supremo  en  materia  de  faltas.  Madrid  1879.  Pastor,  Los 
desafios,  su  origen  etc.  Madrid  1840.  Alvarez  Martinez,  Ensayo  histörico-filosöfico-legal 
sobre  el  duelo.  Madrid  1847.  Alvarez  Arenas,  Cuestiones  ülosöfico-politico- legales 
sobre  los  delitos  del  suicidio  y  del  duelo.  Madrid  1859.  Sierra  Valenzüela,  Duelos, 
rieptos  y  desafios.  Madrid  1878.  Prax,  El  suicidio,  consideraciones  filosöficas.  Madrid 
1875.    RivERA  Deloado,  El  criterio  legal  de  los  delitos  politicos.    Madrid  1873. 

§  5.    Der  allgemeine  Teil,  Insbesondere  das  Yerbrechen. 

I.  GB.  Art.  1  teilt  die  strafbaren  Handlungen  in  Verbr.  und  Übertretungen 
(delitos  und  faltas),  und  dieser  Zweiteilung  entspricht  durchaus  der  besondere 
Teil,  wo  die  Verbr.  in  Buch  II,  die  Übertretungen  in  Buch  III  abgehandelt  werden. 
Trotzdem   stellt  GB.  Art.  6   eine  —  nach   der  unwissenschaftlichen  Definition 


504  Spanien.  —  Das  geltende  spanische  StGB. 


durch  die  Strafen  dem  französischen  Recht  entlehnte  —  Dreiteilung  auf,  indem 
die  Verbr.  in  schwere  nnd  weniger  schwere  gespalten  werden.  Angewendet 
ist  diese  Unterteilnng  nnr  in  6B.  Art  8  Z.  1,  Abs.  2.  3:  gegen  den  Geistes- 
kranken, der  ein  delito  grave  begangen  hat,  mnss  auf  Unterbringung  in  eine 
Irrenanstalt  erkannt  werden;  —  in  GB.  Art.  74,  wo  eine  besondere  Art  von 
Hehlern  im  Fall  eines  delito  grave  mit  lebenslänglicher,  sonst  aber  mit  zeit- 
licher spezieller  Amtsunfähigkeit  bedroht  ist;  und  in  GB.  Art  581,  wo  sie  zur 
Strafabstufung  innerhalb  der  Fahrlässigkeit  dient.  Im  übrigen  hat  die  angeb- 
liche Dreiteilung  keinen  Wert,  auch  keinen  prozessualen;  mit  Becht  nennt  sie 
daher  Pacheco  überflüssig:  dass  es  Abstufungen  in  der  Schwere  der  Straf- 
thaten  gebe,  sei  ja  leicht  einzusehen,  man  könne  aber  ebensogut  tausend 
ELategorieen  machen.  In  der  That  Hessen  sich  mit  dem  gleichen  Recht  auch 
die  Übertretungen  in  2  Klassen  teilen;  denn  bei  Übertretungen  gegen  die 
Person  und  das  Eigentum  ist  auch  die  fehlgeschlagene  Übertretung  (falta 
finstrada)  strafbar,  bei  den  übrigen  nicht  (Art.  5).  Als  wäre  das  GB.  sich 
seines  Versteckspiels  bewusst,  sagt  es  in  Art.  6  mit  einer  von  den  Kommen- 
tatoren wohl  bemerkten  Ausdrucksweise:  Übertretungen  sind  die  und  die 
Handlungen,  dagegen:  als  schwere  (weniger  schwere)  Verbr.  werden  die  und 
die  angesehen,  —  gleichsam  einen  geringeren  Grad  der  Wirklichkeit  be- 
zeichnend. Zu  beachten  ist  auch  die  feine  Abstufung,  wonach  die  schweren 
Verbr.  durch  affliktive  Strafen  geahndet,  die  weniger  schweren  Verbr.  durch 
korrektioneile  zurückgedrängt  werden,  während  für  die  Übertretungen  dasG. 
leichte  Strafen  anzeigt.  Nach  Pacheco  soll  darin  ein  Hinweis  auf  die  Straf- 
zwecke der  Vergeltung,  —  der  Besserung,  —  der  Mahnung  liegen.  —  (Den 
gleichen  Zwitterstandpunkt,  wie  das  GB.,  nimmt  auch  der  Entw.  Silvela  ein). 
n.  Die  Definition  der  strafbaren  Handlungen  in  Art.  1  geht  nur  auf  vor- 
sätzliche Handlungen  und  Unterlassungen,  —  das  G.  redet  von  willentlich, 
voluntario.  Diese  Fassung  bezieht  sich  auf  die  Absicht  (intenciön)  oder,  wie 
sich  die  Schriftsteller  mit  Vorliebe  ausdrücken  (auch  der  Entw.  Silvela  thut 
es)  auf  die  Boshaftigkeit  (malicia).  Diese  synonymen  Bezeichnungen  wendet 
auch  die  Sprache  des  G.  öfters  an;  desgleichen  entscheidet  der  Höchste  Ge- 
richtshof^) in  diesem  Sinne.  Für  den  Fall,  dass  die  Absicht  nicht  voll  be- 
wiesen ist,  aber  auch  das  Gegenteil  nicht  feststeht,  enthält  GB.  Art.  1  §  2  eine 
Präsumtion  für  das  Vorliegen  der  Absicht.  Es  ist  unstreitig,  dass  diese  Prä- 
sumtion durch  Gegenbeweis  entkräftet  werden  kann.  Wenn  sich  das  vorge- 
setzte und  das  ausgeführte  Übel  nicht  decken,  so  sind  zu  beachten  einerseits 
GB.  Art.  1  §  3 :  „Wer  willentlich  ein  Verbr.  oder  eine  Übertretung  begeht,  verfällt 
in  strafrechtliche  Verantwortlichkeit,  auch  wenn  das  ausgeführte  Übel  von  dem  vor- 
gesetzten verschieden  war"  nebst  den  Strafanwendungsvorschriften  Art  65:  ist 
das  ausgeführte  Übel  das  schwerer  strafbare,  so  tritt  die  Strafe  des  vorgesetzten  im 
höchsten  Grade  ein;  ist  das  vorgesetzte  Übel  das  schwerer  strafbare,  so  tritt  die 
Strafe  des  ausgeführten  im  höchsten  Grade  ein,  es  liege  denn  in  den  AusftLhrungs- 
handlungen  der  schwerer  strafbare  Versuch  oder  die  Fehlschlagung  des  vor- 
gesetzten Übels,  alsdann  ist  der  höchste  Grad  der  Versuchs-(Fehlschlagungs-) 
strafe  anzuwenden;  —  und  andererseits  GB.  Art.  9,  Z.  3:  „Ein  mildernder 
Umstand  ist  der,  dass  der  Thäter  nicht  die  Absicht  hatte^  ein  Übel  von  so 
grosser  Schwere  zu  verursachen,  wie  das,  welches  er  herbeiführte."  Im  GB. 
von  1850  bezog  sich  Art.  1  §  3  (entsprechend  den  in  romanischen  GBB.  öfter 


*)  Der  Höchste  Gerichtshof  (Tribunal  Suprepio)  ist  gemäss  dem  GerVerfG.  (Ley 
orgänica  del  Poder  judicial)  Art.  279  fr.  zuständig,  und  zwar  für  Revisionen  und 
Nichtigkeitsrekurse ;  in  letzteren,  soweit  Verletzungen  des  materiellen  StR.  in  Betracht 
kommen,  der  zweite  Senat  (Sala  segunda). 


§  5.    Der  allgemeine  Teil,  insbesondere  das  Verbrechen.  505 


bei  den  Tötungsdelikten  vorkommenden  Bestimmungen)  nur  auf  den  Fall,  wo 
das  Übel  eine  von  der  Person,  die  zu  verletzen  man  vorhat,  verschiedene 
Person  trifft;  Art.  9,  Z.  3  sprach  'davon,  dass  der  Thäter  nicht  das  „ganze 
Übel"  zu  verursachen  beabsichtigte;  die  Bestimmungen  des  heutigen  Art.  65 
fehlten.  Durch  die  heutige  Fassung  ist  das  bereits  tttlher  vorhandene  Dilemma 
offensichtlich  geworden;  die  Lösung  ist  gegen  Pacheco  und  den  sich  wider- 
sprechenden Oroizard  mit  Rueda  darin  zu  finden,  dass  in  Art.  9,  Z.  3  zwar 
das  verwirklichte  Übel  in  seinem  schädigenden  Umfang  über  das  gewollte 
hinausschiesst,  aber  ohne  den  Charakter  der  Strafthat  zu  ändern  (es  bleibt  der 
selbe  Art.  anzuwenden);  während  in  dem  andern  Fall  der  äusseren  Er- 
scheinung nach  ein  völlig  anderes,  selbständiges  Verbr.  zu  stände  gekommen 
ist.^)  Gerade  dieses  unterscheidende  Moment  ist  in  der  heutigen  Fassung  des 
Art.  9  etwas  verwischt,  während  in  Art.  1  die  neuere,  über  den  error  in  per-, 
söna  und  die  davon  nicht  getrennte  aberratio  ictus  hinaus  erweiterte  Aus- 
drucksweise wohl  zu  billigen  ist  (dagegen  Serrano). 

Der  Definition  nach  fallen  nicht-willentliche,  ohne  malicia  begangene 
Handlungen  nicht  unter  den  Begriff  der  Verbr.  und  Übertretungen.  Dem  ent- 
sprechend giebt  es  über  die  Fahrlässigkeit  keine  allgemeinen  Bestimmungen; 
sind  fahrlässige  Handlungen  strafbar,  so  wären  sie  etwa  als  Quasidelikt  zu  be- 
zeichnen, wie  es  manche  südromanischen  StGB.  auch,  thun  (Chile  490).  Das 
spanische  StGB,  stellt  im  Einklang  damit  an  den  Schluss  des  II.  Buches  den 
Tit.  von  der  „verwegenen  Unvorsichtigkeit"  (imprudencia  temeraria,  Art.  581), 
auf  den  im  allgemeinen  Teil  Art.  8,  Z.  8  und  Art.  86  hinleiten. ^)  Unterschieden 
ist  die  „verwegene"  von  der  „einfachen"  Unvorsichtigkeit  oder  Nachlässigkeit 
(simple  imprudencia  ö  negligencia).  Im  erstem  Falle  wird  die  That,  die  bei 
unterlaufender  malicia  ein  delito  grave  darstellen  würde,  mit  4 — 6  Monaten 
härteren  Arrestes,  6  Monaten  bis  zu  4  Jahren  2  Monaten  korrektioneilen  Ge- 
fängnisses gestraft;  würde  die  That  ein  delito  menos  grave  darstellen,  so  tritt 
1 — 4  Monat  härterer  Arrest  ein;  doch  darf  nicht  härter  als  bei  vorhandener 
Absicht  gestraft  werden.  Im  zweiten  Fall  wird  die  That,  wenn  dabei  ein 
Zuwiderhandeln  gegen  Vorschriften  (infi*acciön  de  los  Keglamentos)  stattge- 
funden hat,  mit  2 — 6  Monaten  härteren  Arrestes,  sonst  aber  (als  falta  in 
Buch  III)  mit  Geldstrafe  und  Verweis  (Art.  605,  Z.  3)  geahndet.  (Vgl.  noch 
Eisenbahn-G.  vom  23.  November  1877,  Art.  21.  22;  StGB.  Art.  20.*)  366.*)  619.®) 
Der  Entw.  Silvela  stellt  die  Fahrlässigkeit  in  den  allgemeinen  Teil,  ohne  die 
Auffassung  der  fahrlässigen  Handlungen  als  Quasidelikte  aufzugeben. 

III.  GB.  Art.  3  unterscheidet  nach  Vorgang  des  StGB,  von  Neapel  zwischen 
Vollendung  (delito  consumado),  Fehlschlagung  (delito  frustrado)  und  Versuch 
(tentativa)  des  Verbr. ;  wozu  in  Art.  4  noch  die  Verbindung  (conspiraciön)  und 
der  Vorschlag  (proposiciön)  treten,  vgl.  StGB.  1822.     An  den  Fassungen  der 


^)  Der  Entw.  Silvela  umgeht  die  Lösung:  er  überlässt  dem  Richter  die  Wahl 
zwischen  Art.  9  Z.  3  (Entw.  Art.  33  Z.  3)  und  Art.  1.  65  (Entw.  Art.  14.  89). 

')  Art.  8  Z.  8:  „Straflos  ist,  wer  bei  Ausführung  einer  erlaubten  Handlung  mit 
der  erforderlichen  Sorgfalt,  durch  reinen  Zufall  ein  Übel  verursacht,  ohne  Kulpa,  noch 
Absicht  es  zu  verursachen. '^  Liegen  nicht  alle  Kequisite  dieses  Art.  vor,  so  verweist 
Art.  85  auf  Art.  581. 

')  Schankwirte  usw.,  in  deren  Lokalen  ein  Verbr.  begangen  wird,  haften  civil- 
rechtlich  subsidiär,  falls  von  ihrer  Seite  oder  von  der  ihrer  Angestellten  eine  Zuwider- 
handlung gegen  Polizei  Vorschriften  untergelaufen  ist. 

*)  Der  aus  Nachlässigkeit  oder  unentschuldbarer  Unwissenheit  offensichtlich  un- 
gerecht urteilende  Richter  wird  mit  spezieller  Amtsimfähigkeit  von  10 — 12  Jahren 
oder  lebenslänglich  bestraft. 

^)  Clausula  generalis  für  Vermögensschädigungen,  auch  fahrlässige  einschliessend, 
8-  u.  S.  526. 


506  Spanien.  —  Das  g-ettende  spanische  SiGB. 


FehlschlagüDg  and  des  Versachs  ist  riel  hemmgearbeitet  worden:  nach  den  heu- 
tigen Worten  des  6B.  liegt  die  erstere  vor,  „wenn  der  Schuldige  alle  AnsfOhnings- 
handlangen  vornimmt,  die  als  Ergebnis  das  Verbr.  hätten  hervorbringen  müssen 
(deberian  prodaeiri  imd  es  trotzdem  nicht  hervorbringen  aas  Ursachen,  die 
vom  Willen  des  Handelnden  unabhängig  sind".  Der  Versuch  wird  dahin  be- 
schrieben, dass  „der  Schuldige  den  Anfang  der  Ausführung  des  Yerbr.  un- 
mittelbar durch  äussere  Thaten  setzt  und  dass  er  wegen  eines  Grundes  oder 
Ereignisses,  das  nicht  sein  eigenes  und  fireiwilliges  Abstehen  ist,  nicht  sämt- 
liche Ausführungshandlungen  vornimmt,  die  das  Verbrechen  hervorbringen 
müssten  (debieran)''.  Die  Praxis  bezieht  sowohl  untauglichen  Versuch  als  un- 
taugliche Fehlschlagung  unter  Art.  3  ein;  dagegen  wendet  sich  der  Entw. 
Silvela,  indem  er  schon  in  die  Definition  das  Moment  der  Tauglichkeit  auf- 
nimmt. Bei  der  Fehlschlagung  CArt.  20 f  verlangt  er,  dass  „die  Handlungen 
ihrer  Natur  nach  zur  Hervorbringung  des  Erfolges  hätten  ausreichend  sein 
können**;  beim  Versuch  (Art.  21.  Z.  1)  müssen  die  äusseren  Akte  „zur  Hervor- 
bringung des  Erfolges  notwendig"  gewesen  sein.  Daneben  aber  stellt  er  die- 
jenige Fehlschlagung,  bei  der  die  vom  Thäter  für  notwendig  gehaltenen  Hand- 
lungen ihrer  Natur  nach  unwirksam  waren,  als  zweite  Gattung  des  Versuchs 
(sie!  Art.  21,  Z.  2,  natürlich  nur  in  Rücksicht  auf  die  Straffolgen)  auf,  während 
der  absolut  untaugliche  Versuch  (tentativa)  straflos  bleibt.  Dieser  bewusst 
unlogischen  Gestaltung  dürfte  die  des  StGB,  noch  vorzuziehen  sein.  StGB. 
Art.  66,  67  ordnen  an,  dass  die  Strafe  für  Fehlschlagung  um  1,  für  Versuch 
imi  2  Stufen  geringer  sei,  als  die  für  Vollendung.  Abweichungen  hiervon 
finden  sich  im  besonderen  Teil  (Art.  137:  Landesverrat  im  Kriege  —  gleiche 
Strafbarkeit  mit  der  Vollendung;  Art  158.  163:  Mord  des  Königs  und  des 
Thronfolgers  —  gleiche  oder  geringere  Strafbarkeit;  Art.  519:  Raubmord  — 
besonderer  Strafrahmen,  höher  als  nach  Art.  66.  67;  Art.  422:  Mord  —  Mög- 
lichkeit noch  geringerer  Bestrafung  als  nach  Art.  66.  67).  Verbindung  und  Vor- 
schlag stehen  nur  kraft  ausdrücklicher  Bestimmungen  unter  einer  in  diesen  an- 
gegebenen Strafe  (Art.  139:  Landesverrat;  Art.  158.  163:  Mord  des  Königs  und 
des  Thronfolgers;  Art  249.  254:  Rebellion  und  Sedition).  Ebenso  Silvela,  nur 
dass  er  Entw.  Art.  93  die  Strafe  allgemein  relativ  bestimmt.  —  Vorbereitungs- 
handlungen sind  z.  B.  bei  Urkundenfälschung,  Art.  326 — 329,  unter  Strafe 
gestellt. 

Die  an  einer  Strafthat  Beteiligten  zerfallen  —  unter  Vereinfachung  der 
Unterscheidungen  im  StGB.  v.  1822  und  im  Anschluss  an  die  alte  gemein- 
spanische Auffassung*)  —  in  Urheber  (autores),  Teilnehmer  (cömplices)  und 
Begünstiger  (^encubridoresj.  (Art.  1 1 ,  bei  Übertretungen  ist  Begünstigung  straflos). 
Urheber  (Art  13)  ist  1«  wer  unmittelbaren  Anteil  an  der  Ausführung  nimmt; 
2.  wer  andere  zur  Ausführung  direkt  zwingt  oder  anleitet;  $•  wer  bei  der 
Ausführung  mitwirkt  durch  eine  Handlung,  ohne  die  sich  das  Verbr.  nicht 
verwirklicht  haben  würde  (Beispiele  aus  der  Praxis:  Schmierestehen;  Wehrlos- 
machen des  zu  Tötenden).  Teilnehmer  (Art.  15)  ist,  wer  sonst  durch  vorher- 
gehende oder  gleichzeitige  Handlungen  bei  der  Ausführung  mitwirkt  (In  der 
Praxis  wird  das  Erfordernis  eines  besondem  Gehülfendolus  aufgestellt.)  Be- 
günstiger (Art.  16)  ist,  wer  mit  Kenntnis  der  Vollbringung  des  Verbr.  und 
ohne  daran  beteiligt  zu  sein,  hinterher  nach  der  Ausführung  1«  entweder  sich 
die  Vorteile  des  Verbr.  nutzbar  macht  oder  den  Thätem  dazu  verhilft,  sie 
sich  nutzbar  zu  machen;  2.  oder  den  Gegenstand,  die  Hervorbringungen  oder 
Mittel  des  Verbr.  verbirgt  oder  vernichtet,  um  eine  Entdeckung  zu  verhindern ; 


*)  Die   sich   auf  die  ,,  Regel  der  alten  Weisen"    in   Partida  VII,  34,  19   berufen 
konnte,  wonach  Mlssethäter,  Ratgeber  und  Verheimlicher  gleiche  Strafe  empfangen. 


§  5.    Der  allgemeine  Teil,  insbesondere  das  Verbrechen.  507 


3.  oder  den  Schuldigen  beherbergt,  verbirgt  oder  seine  Flucht  fördert,  falls 
(a)  der  Hehler  dabei  sich  eines  Missbrauchs  öffentlicher  Amtsgewalt  schuldig 
macht,  oder  (b)  der  ThÄter  Landesverrat,  Königsmord,  Verwandtenmord,  Assassi- 
nat  begangen  hat  oder  sonst  ein  bekannter  Gewohnheitsverbrecher  ist ;  4.  oder 
wer  als  Famillenhaupt  den  Gerichtsbehörden  den  nächtlichen  Eintritt  in  seine 
Wohnräume,  um  den  darin  befindlichen  Thäter  festzunehmen,  verweigert. 
Begünstigung  der  Angehörigen  ist,  mit  Ausnahme  des  Falles  1,  straflos  (Art.  17). 
Für  die  Begünstiger  unter  3  a  droht  Art*  74  eine  bestimmte  Strafe  an  (s.  ob. 
S.  504);  im  übrigen  stehen  die  Teilnehmer  um  1^),  die  Begünstiger  um  2  Stufen 
unter  der  Strafe  des  Urhebers  des  betr.  vollendeten,  fehlgeschlagenen  oder 
versuchten  Verbrechens,  sodass  sich  daraus  5  verschiedene  Stufen  der  Be- 
strafung ergeben.  (Art.  68 — 73.)  Die  Teilnehmer  an  der  Übertretung  werden 
mit  dem  niedrigsten  Grad  der  Urheberstrafe  belegt.  —  Der  Entw.  Silvela 
stellt  die  Begünstigung  in  den  besonderen  Teil  und  ist  ausserdem  (Entw.  Art.  26, 
Z.  3  u.  Art.  90)  so  gefasst,  dass  versuchte  Anstiftung  auch  strafbar  ist  und 
dass  die  thätige  Reue  des  Anstifters  seine  Strafbarkeit  beseitigt.  Ausserdem 
trifft  Entw.  Art.  25  Bestimmungen  über  die  Bestrafung  von  Körperschaften. 

IV.  Die  Strafausschliessungsgrtinde  sind  in  Art.  8  geregelt,  dessen  Ziffern 
ich  folge.  Zunächst  kommt  der  Gesichtspunkt  mangelnder  geistiger  Fähig- 
keiten in  Betracht.  1.  Der  Blödsinnige  und  der  Geisteskranke;  ausgenommen 
das  lucidum  intervallum.  Im  Fall  eines  delito  grave  muss  Unterbringung  ins 
Irrenhaus  erfolgen,  aus  dem  der  Thäter  nur  mit  vorgängiger  Genehmigung 
desselben  Gerichtshofs  entlassen  wird;  im  Fall  eines  delito  menos  grave  kann 
das  Gericht  den  Geisteskranken  seiner  Familie  überlassen,  wenn  diese  ge- 
nügende Garantieen  für  Bewachung  bietet.  Weder  Taubstummheit  noch  Schlaf- 
wandel fällt  hierunter;  die  Schriftsteller  betrachten  in  letzterem  Falle  die  Ver- 
brechensdefinition des  Art.  1  als  unzutreffend,  weil  es  an  einer  willentlichen 
Handlung  fehle.  Obwohl  ferner  die  Trunkenheit  nur  mildernder  Umstand  ist 
(s.  u.),  so  wird  höchster,  sinnloser  Bausch  doch  gleichfalls  von  den  Kommen- 
tatoren hierhergezogen,  nötigenfalls  wieder  unter  Berufung  auf  Art.  1.^)  (Die 
Behandlung  der  geisteskranken  Sträflinge  regelt  StGB.  Art.  101  und  Königl. 
Vdg.  V.  13.  Januar  1864).  2.  Alter  unter  9  Jahren.  9.  Alter  zwischen  9  und 
15  Jahren,  wenn  es  am  Unterscheidungsvermögen  (discemimiento)  fehlte.  Der 
Jugendliche  wird  alsdann  seiner  Familie  mit  der  Verpflichtung  zur  Über- 
wachung und  Erziehung  übergeben,  oder  (wenn  es  an  geeigneten  Persönlich- 
keiten fehlt)  in  ein  Waisen-  und  Findelhaus  verbracht.  Lag  discemimiento 
vor,  so  wird  nach  Art.  86  eine  mindestens  um  zwei  Stufen  niedere  Strafe 
angewendet.  Höheres  Alter  macht  unbedingt  strafbar,  doch  ist  Alter  unter 
18  Jahren  Strafmilderungsgrund,  und  es  ist  stets  die.  nächstniedere  Strafe  an- 
zuwenden (Art.  9  Z.  2,  86  §  2).  Nicht  mehr  die  Zurechnungsfähigkeit,  wohl 
aber  die  Kechtswidrigkeit^  schliessen  die  folgenden  aus  den  Gesichtspunkten 
der  Notwehr  und  des  Notstandes  zu  erklärenden  Umstände  aus.  4.  Ver- 
teidigung der  eigenen  Person  und  Rechte,  wenn  vorliegt  a)  ein  widerrecht- 
licher Angriff,    b)  vernünftige   Notwendigkeit   des   zu   seiner  Hinderung  oder 


*)  Ausnahme  in  Art.  465  für  gewisse  Personen  bei  Sittlichkeitsverbrechen. 

*-)  Entw.  Silvela  Art.  31  Z.  3  schiebt  hier  den  Geisteszustand,  in  dem  der  Thäter 
des  Bewusstseins  seiner  Handlungen  gänzlich  beraubt  ist,  als  gleichfalls  Zurechnungs- 
unfähigkeit begründend  ein.  Bei  der  nicht  absichtlich  herbeigeführten  Trunkenheit 
kommt  Silvela  interessanter  Weise  auf  den  Standpunkt  der  Siete  Partldas  zurück, 
indem  er  die  Bestrafung  der  begangenen  Handlungen  als  imprudencia  dem  klugen 
Ermessen  des  Richters  anheimstellt. 

')  Dieser  verschiedenen  Bedeutung  ist  im  Entw.  Silvela  durch  Verweisung  in 
verschiedene  Art.  (Art.  31:  falta  de  imputabilidad ;  Art.  32:  justificaciön)  Rechnung 
getragen. 


508  Spanien.  —  Das  g^ehende  spanische  StGB. 


Abwehr  angewendeten  Mittels,  ei  keine  ausreichende  Provokation  Ton  seilen 
dessen,  der  sich  verteidigt,  i»  Verteidigung  der  Person  oder  Hechte  von 
Angehörigen^^ )  wenn  4  a)  und  h)  vorliegt  und  ci  der  Handelnde  an  der  Pro- 
vokation keinen  Teil  genommen  hat.  §.  Verteidigung  der  Person  oder  Rechte 
eines  Fremden,  wenn  4  a i  und  b;  vorliegt  und  c)  der  Verteidigende  nicht  aus 
Rache,  Gehässigkeit  oder  sonst  widerrechtlichen  Motiven  handelt.  ?•  Ver- 
ursachung eines  Schadens  an  fremdem  Eigentum,  um  ein  drohendes  Übel  zu 
vermeiden,  a)  wenn  Realität  d«  h.  nächste  Greifbarkeit  (Pacheco)  des  zu  ver- 
meidenden Cbels  vorliegt:  h)  wenn  das  zu  vermeidende  Übel  grosser  ist.  als 
das  zur  Vermeidung  verursachte;  c)  wenn  es  kein  anderes  thunliches  und 
minderschädliches  Mittel  zur  Verhinderung  giebt.  8.  Zufall,  oben  betrachtet 
(S.  505  Anm.  2);  dem  Gesetzgeber  scheint  er  dem  Notstand  ähnlich  zu  gelten. 
9«  Nötigung  durch  unwiderstehlichen  Zwang.  10«  Unüberwindliche  Furcht  vor 
einem  gleichen  oder  grosseren  Übel.  Endlich  befreit  Rechtspflicht  von  Strafbar- 
keit: 11«  Erfüllung  einer  Pflicht  oder  gesetzmässige  Ausübung  eines  Rechtes, 
Dienstes  oder  Amtes.  12.  Geschuldeter  Gehorsam.  13.  Unterlassung,  weil  man 
durch  eine  auf  dem  Gesetz  beruhende  oder  durch  eine  unüberwindliche  Ursache 
gehindert  ist.  —  Im  allgemeinen  weicht  der  Entw.  Silvela  nicht  ab;  nur  ist 
Punkt  8  in  die  Schuldlehre  gestellt  (Entw.  Art.  18;  und  Punkt  9  xmd  10 
werden  als  Ausschlussgründe  der  Zurechnungsfähigkeit  angesehen  (Elntw.  Art.  31 
Z.  6.  7).  Überschreitung  der  Notwehr  aus  Schreck  und  Bestürzung  ist  gleich- 
gestellt (Entw.  Art.  32  Z.  1  §  2). 

V.  In  Kap.  III  und  IV,  Art.  9  und  10,  zählt  das  O.  die  mildernden  und 
erschwerenden  Umstände  auf,  letztere  erschöpfend,  erstere  unter  Zulassung 
analoger  Ausdehnung  auf  gleichgeartete  Fälle  (Art.  9,  Z.  8  —  von  der  Praxis 
des  Höchsten  Gerichtshofes  sehr  eng  ausgelegt;  im  StGB  1850  waren  auch  die 
erschwerenden  Umstände  analoger  Ausdehnung  fähig).  Mildernde  Umstände: 
L  Die  Umstände  des  Art.  8,  wenn  nicht  alle  zur  Ausschliessung  der  Verantr 
wortlichkeit  in  dem  betreffenden  Fall  notwendigen  Erfordernisse  vorliegen.  Die 
Auslegung  ist  sehr  streitig;  man  trennt  nach  Pacheco  die  Umstände  des  Art.  8 
in  3  Gruppen:  a)  solche,  die  aus  einem  einzigen,  strikt  beweisbaren  Faktum 
bestehen,  das  entweder  vorliegt  oder  nicht,  wobei  es  ein  Drittes  nicht  giebt  — 
lediglich  Z.  2;  h)  solche,  die  zwar  dem  Ausdrucke  nach  einfach  sind,  aber 
doch  nicht  aus  einem  materiellen,  greifbaren  Faktum,  sondern  aus  einem  morali- 
schen (ideellen),  das  der  Verstand  von  vielen  Richtungen  her  würdigen  muss,  weil  es 
verschiedene  Grundlagen  hat,  bestehen,  also  doch  zusammengesetzt,  kompliziert 
sind  —  Z.  1,  3,  9,  10,  11,  12,  13;  c)  solche,  deren  umständliche  Erfordernisse  das 
G.  einzeln  aufzählt  —  Z.  4 — 8.  Es  ist  klar,  dass  Art.  9  Z.  1  bei  Gruppe  a  aus- 
geschlossen, bei  Gruppe  c  zugelassen  ist;  das  Kampfobjekt  ist  Gruppe  b.  Die 
Kommentatoren  behaupten  durchweg,  diese  strafausschliessenden  Umstände 
könnten  sämtlich,  wie  sie  sich  ausdrücken,  „in  mildernde  degenerieren",  — 
die  Praxis  leugnet  dies  ebenso  bestimmt.  Eine  Mittelstellung  nimmt  Rueda 
ein,  er  betrachtet  jenes  „Degenerieren"  als  möglich  bei  Z.  10,  11,  12  und  Z.  13, 
so  weit  sie  von  Hinderung  durch  eine  auf  dem  G.  beruhende  Ursache  redet; 
als  ausgeschlossen  in  den  sonstigen  Fällen.  Denselben  Standpunkt  hat  der 
P^ntw.  Silvela  Art.  33  Z.  1,  der  die  Frage  legislatorisch  löst.*)  Damit  ist  ins- 
besondere die  geminderte  Zurechnungsfähigkeit  (für  die  Fälle,  in  denen  man 
von  Geisteskrankheit  noch  nicht  sprechen  kann)  verneint,  wie  das  früher  schon 


*)  Gatte,  eheliche,  uneheliche  und  adoptive  Aszendenten,  Deszendenten  und 
Geschwister,  die  in  diesen  Graden  Verschwägerten,  sonstige  Verwandte  bis  zum 
vierten  Grad. 

-)  Nur  ist  Z.  13  ^=  Entw.  Art.  32  Z.  5  nicht  zerrissen. 


§  5.    Der  allgemeine  Teil,  insbesondere  das  Verbrechen.  509 


im  Kommentar  von  Alvarez  Martinez  geschah.  2.  Alter  unter  18  Jahren,  und 
3.  schwereres  tTbel,  als  beabsichtigt  —  schon  S.504f.  besprochen.  4.  Adäquate  Pro- 
vokation oder  Drohung.  5.  Rache  im  unmittelbaren  Anschluss  an  eine  schwere 
Verletzung  des  Thftters  oder  seiner  Angehörigen.  6*  Trunkenheit,  es  sei  denn 
diese  gewohnheitsmässig  (habitual)  oder  folge  erst  dem  verbrecherischen  Ent- 
schluss  (also  actiones  liberae  in  causa).  Oewohnheitsmässige  Trunkenheit  wirkt 
mithin  weder  strajf!niindemd  noch  strafausschliessend  —  doch  s.  o.  S.  507  zu 
Art.  8  Z.  1;  was  unter  ihr  zu  verstehen  sei,  darüber  schwieg  das  StGB.  1848, 
das  StGB.  1871  überlässt  es  dem  richterlichen  Ermessen,  während  das  StGB. 
1850  eine  der  denkbar  unglücklichsten  Definitionen  gab.^)     7.  Affekt. 

Erschwerende  Umstände  sind  unter  andern  8.  alevosia  (s.  o.  S.  495), 
3*  Gedungensein,  4.  Anwendung  von  Gift  oder  gemeingefährlichen  Mitteln  (vgl. 
13),  6.  überlegte,  unnütze  Vermehrung  des  schädigenden  Erfolges.  Femer  7. 
bewusster  Vorbedacht  (premeditaciön  conocida),  nach  der  Rechtsprechung  des 
Höchsten  Gerichtshofes  mit  der  Überlegung  nicht  zusammenfallend,  9.  Missbrauch 
der  Überlegenheit,  10.  Missbrauch  des  Vertrauens^  18.  Rückfall  (reincidencia) 
d.  h.  frühere  rechtskräftige  Verurteilung  wegen  eines  in  dem  gleichen  Tit.  des 
StGB,  enthaltenen  Verbr.  Ist  in  demselben  früheren  Urteil  über  zwei  selbst- 
ständige Verbr.  gleicher  Art  erkannt,  so  liegt  nach  dem  Höchsten  Gerichtshof 
doppelter  Rückfall  vor  (s.  u.  S.  524  zu  Art.  533  Z.  3).  21.  Einsteigen  d.  h.  Ein- 
treten auf  einem  nicht  dazu  bestimmten  Wege.  23.  Beschäftigungslosigkeit 
(ser  vago  el  culpable).  Unter  den  erschwerenden  Umständen  sind  zwei  kleine 
Gruppen  hervorzuheben:  a)  solche,  die  das  Gericht  nach  Beschaffenheit  der 
That  und  des  Thäters  als  erschwerend  ansehen  kann,  nicht  muss  —  Z.  15: 
Ausführung  bei  Nacht  oder  im  freien  Feld  (en  despoblado),  *)  oder  im  freien 
Feld  und  in  Bande  (en  cuadrilla  —  gelegentlich  beim  Raub  Art.  518  als 
Zusammenwirken  von  mehr  als  drei  bewaffneten  Missethätem  definiert),  diese 
Umstände  müssen  nach  der  Praxis  ausdrücklich  vom  Thäter  aufgesucht  sein; 
Z.  17:  frühere  Verbüssung  einer  Strafe  wegen  eines  ebenso  oder  schwerer  be- 
straften Verbr.,  oder  zwei  oder  mehrerer  gelinder  bestraften  Verbr.  (sogenannte 
reiteraciön;  reincidencia  wird  als  reiteraciön  especifica  bezeichnet),  b)  Solche, 
die  das  Gericht  nach  Beschaffenheit  der  That  auch  als  mildernde  Umstände 
ansehen  kann,  die  der  Entw.  Silvela  Art.  35  als  circunstancias  mixtas  zusammen- 
fasst:  Z.  1  dass  der  Verletzte  ein  Angehöriger  des  Thäters  ist;  Z.  5  Benutzung 
der  Presse,  Lithographie,  Photographie  u.  dgl.  —  Noch  sind  zwei  Art.  aus  der 
Strafanwendungslehre  herzuziehen,  die  der  Entw.  Silvela  richtig  einreiht,  nämlich 
Art.  79:  die  einen  Verbrechensbegriff  konstitxderenden  oder  ihm  inhärenten 
Umstände  gönnen  nie  erschwerend  wirken;  und  Art.  80:  in  einem  persönlichen 
Grunde  beruhende  strafändemde  Umstände  sind  nur  denjenigen  Urhebern, 
Teilnehmern  und  Begünstigem  zuzurechnen,  bei  denen  sie  vorliegen;  in  der 
Art  der  Ausführung  beruhende  allen,  denen  sie  bewusst  sind.  Da  sich  Art.  80 
nicht  auf  den  Fall  der  einen  neuen  Verbrechensbegriff  konstituierenden  Um- 
stände bezieht,  so  ist  dieser  streitig  und  in  widersprechenden  Entsch.  ist  der 
Extraneus  beim  Verwandtenmord  als  Begünstiger  aus  Art.  417  (parricidio),  als 
Miturheber  aus  Art.  419  (homicidio)  bestraft  worden. 


*)  „Für  gewohnheitsmässig  gilt  eine  Thatsache,  wenn  sie  drei-  oder  mehrmal  mit 
mindestens  24  Stunden  Zwischenzeit  zwischen  der  einen  und  der  andern  Handlung 
ausgeführt  wird."  Ganz  richtig  deduziert  Pacheco  daraus,  dass  ein  Gewohnheits- 
säufer ist,  wer  dreimal  in  seinem  Leben  einen  Rausch  gehabt  hat,  dagegen  nicht, 
wer  sich  alle  Tage  zweimal  betrinkt. 

«)  Das  ursprüngliche  StGB.  1870  hatte  nur  diese  Worte,  die  Vdg.  1871  fügte 
die  folgenden  hinzu.  Ob  die  Worte  „oder  im  freien  Feld**  zweimal  stehen  sollten, 
war  sehr  streitig,  —  früher  vier  Entsch.  dagegen,  jetzt  vier  dafür. 


510  SpanieiL  —  Das  gehende  spanische  StGB. 


VI.  Ausser  mehreren  bereits  erwähnten  Bestimmungen  fiber  Fälle  der 
Gesetzeskonknrrenz  handeln  die  Art.  88 — 90  von  der  Verbrechenseinheit  nnd 
-Mehrheit.  Wegen  mehrerer  Verbr.  oder  Cbertretimgen  werden  aJle  Strafen 
ToUstreckt,  die  schwersten  znerst;  die  Strafdaner  darf  den  dreifachen  Betrag 
der  erkannten  höchsten  Strafe  nnd  jedenfalls  40  Jahre  nicht  übersteigen. 
Stellt  eine  einzige  That  zwei  oder  mehrere  Verbr.  dar,  oder  ist  das  eine 
Verbr.  notwendiges  Mittel  znr  Aasführang  des  andern,  so  wird  nnr  die  Strafe 
des  schwerst  bedrohten  in  ihrem  höchsten  Grad  angewendet.  (Vgl.  StGB.  Art. 
188.  273.  279.  423.  503  und  dazu  KöoigL  Vdg.  v.  22.  April  1889.  501  §  3.  516, 
Z.  1—4.  519.  530  §  3.  579  §  2  u.  3.  585  und  276  und  dazu  KönigL  Vdg.  v.  22.  Sep- 
tember 1848,  Art.  5,  unten  S.  518:  Ley  de  Enjoiciamiento  Criminal  v.  14.  Sep- 
tember 1882  =  StPO.,  Art.  733.  912  Z.  3;  anders  G.  v.  30.  Juni  1887  Art.  10  §  4). 
VU«  Das  spanische  StGB,  enthält  ausführliche  Bestimmungen  über  die 
civilrechtliche  Verantwortlichkeit  für  Verbr.  und  Übertretungen,  die  über  die 
strafrechtliche  weit  hinausgeht  und  z.  B.  auch  die  Z.  1,  2,  3,  7,  10  Art.  8 
rstrafausschliessungsgründe)  umfasst.  Die  haftenden  Personen  bestimmt  Art. 
18—21,  den  Umfang  der  Haftung  Art.  121—128  (vgl.  Art.  24  §  2,  Art.  135). 

VUI.  Der  Bruch  der  Strafe  (el  quebrantamiento  de  la  condena),  d.  h.  das 
Unternehmen,  sich  der  Strafrollstreckung  zu  entziehen,  und  die  Begehung 
neuer  Verbr.  vor  beendeter  Strafvollstreckung  bilden  seit  Alters  ein  besonderes 
Kapitel  in  den  spanischen  Strafrechten.  Im  ersteren  Fall  werden  Freiheit 
entziehende  Strafen  erhöht,  Freiheit  beschränkende  in  Freiheit  entziehende 
verwandelt,  den  Rechte  entziehenden  Strafen  wird  eine  Geldstrafe  hinzugefügt. 
Im  letzteren,  der  Bealkonknrrenz  nahe  stehenden  Falle  wird  das  neue  Verbr. 
besonders  schwer  gestraft.     (Tit.  V,  Art.  129 — 131.) 

IX.  Das  staatliche  StR.  erlischt  durch  Tod,  Verbüssung,  Amnestie,  Be- 
gnadig^ung,  Verzeihung  des  Verletzten  bei  Antragsdelikten  und  Veij&hrung, 
die  sich  in  Verbr.- Verjährung  und  Strafverjährung  teilt  Letztere  wird  unter 
anderm  durch  Aufenthalt  in  einem  Land,  mit  dem  keine  Auslieferungsverträge 
bestehen,    und  durch  ein  neues  Verbr.  unterbrochen  (Tit.  VI,  Art.  132 — 135). 

X.  Über  das  zeitliche  Geltungsgebiet  der  Strafrechtssätze  vgl.  Art  22. 
23.  2.  Das  G.  findet  nur  auf  die  nach  seinem  Inkrafttreten  begangenen  Hand- 
lungen Anwendung;  das  mildere  G.  hat  rückwirkende  Kraft,  auch  für  den 
seine  Strafe  schon  Verbüssenden.  Fällt  eine  strafwürdige  Handlung  nicht 
unter  das  G.,  oder  ist  eine  Strafe  übertrieben  streng,  so  hat  das  Grericht  der 
Regierung  motivierten  Bericht  zu  erstatten.  Die  Analogie  ist  also  ausgeschlossen; 
ausnahmsweise  ist  sie  für  einige  Fälle  zugelassen  oder  notwendig,  vgl.  Art.  9 
Z.  3,  10  Z.  5,  76  Z.  5,  98.  —  Über  das  räumliche  Geltungsgebiet  bestimmt 
GerVerfG.  TLey  orgänica  del  Poder  judicial  v.  15.  September  1870)  Art.  333—346. 
—  Über  das  persönliche  vgl.  Constituciön  v.  30.  Juni  1876  Art.  48  (KOnig), 
Art.  46,  47  f Senatoren  und  Abgeordnete);  GerVerfG.  Art.  334  (auswärtige 
Staatfthäupter,  Gesandte  usw.).  Das  sachliche  Geltungsgebiet  berühren  StGB. 
Art.  7  und  626.     Marine-StGB.  Art.  3. 

§  6.  Das  Strafensystem. 

I.  An  der  Spitze  der  30  Strafmittel  umfassenden  Klassifikation  des  Art.  26 
Bteht  die  Todesstrafe,  angedroht,  und  zwar  stets  alternativ  mit  schwerer  Frei- 
hf'itsstrafe,  in  14  Fällen,*)  vollzogen  mittels  der  Würgschraube  (garrote)  gemäss 


*)  Art.  136,  137  (schwerster  Landesverrat  in  Vollendung,  Fehlschlagung  und 
Versuch;,  138  (einfacherer  Landesverrat),  156  (Piraterie),  153,  157,  158,  163  (Mord  des 
Königs  und  des  Thronfolgers  in  Vollendung,  Fehlschlagung  und  Versuch),  184  Z.  1.  2, 


§  6.    Das  Strafensystem.  511 


Art.  102—105.  Im  Fall  der  Begnadigung  (vgl.  G.  vom  18.  Juni  1870  über  die 
Ausübung  des  Begnadigungsrechts)  tritt  die  gesetzliche  Nebenstrafe  lebens- 
länglicher  absoluter  Amtsunfähigkeit  ein  (Art.  53). 

II.  Freiheitentziehungsstrafen.  Mit  den  Freiheitsstrafen  überhaupt  treibt 
das  spanische  8tB.  einen  förmlichen  Luxus,  wenn  man  auch  sagen  muss,  dass 
oft  an  sich  gleiche,  nur  in  der  Dauer  verschiedene  Strafen  anders  benannt 
sind,  oder  dass  hinter  der  Verschiedenheit  des  Namens  nur  eine  nicht  allzu 
grosse  Verschiedenheit  der  Vollzugsart  steckt.  Hierin  liegen  die  Elemente  der 
vom  Entw.  Silvela  versuchten  Vereinfachung  des  Strafensystems.  Von  unten 
aufsteigend  bilden  die  Freiheitentziehungsstrafen  folgende  Stufenleiter:  1 — 30 
Tage  arresto  menor  (einfacher  Arrest);  1  Monat  1  Tag  bis  6  Monate  arresto 
mayor  (schärferer  Arrest);  6  Monate  1  Tag  bis  6  Jahre  prisiön  correccional 
und  presidio  correccional  (korrektionelles  Qef.  und  korrektioneile  Festungs- 
haft); 6  Jahre  1  Tag  bis  12  Jahre  prisiön  mayor  und  presidio  mayor  (schweres 
Gef.  und  schwere  Festungshaft);  12  Jahre  1  Tag  bis  20  Jahre  reclusiön  tem^ 
poral  imd  cadena  temporal  (zeitliches  Zuchthaus  und  zeitliche  Kettenstrafe); 
endlich  reclusiön  perpetua  und  cadena  perpetua  (lebenslängliches  Zuchthaus 
und  lebenslängliche  Kettenstrafe).  Jede  der  zeitlichen  Strafen  zerfällt  zu  Straf- 
abmessungszwecken  (vgl.  oben  StGB.  1822,  S.  500)  in  3  Grade  (grado  mlnimo, 
medio  und  mäximo,  deren  Grenzen  wir  im  folgenden  mit  den  noch  den  je  niederen 
Graden  angehörenden  Zahlen  bezeichnen  (Art.  97):  1 — 10 — 20 — 30  Tage;  1 — 2 
— 4 — 6  Monate;  6  Monate  bis  2  Jahre  4  Monate  bis  4  Jahre  2  Monate  bis 
6  Jahre;  6—8 — 10—12  Jahre;  12  Jahre  bis  14  Jahre  8  Monate  bis  17  Jahre 
4  Monate  bis  20  Jahre.  Auch  bei  den  lebenslänglichen  Strafen  ist  in  gewissem 
Sinne  eine  Graduation  erreicht,  indem  im  allgemeinen  nach  30  Jahren  Begna- 
digung eintritt,  ausgenommen  den  Fall  der  Unwürdigkeit  (Art.  29  §  1),  der 
Strafheraufsetzung  (Art.  94  Z.  1)  und  des  quebrantamiento  (Art.  129  Z.  1  §  2).  — 
1.  Kettenstrafe  ist  harte  mühevolle  Arbeit  (trabajos  duros  y  penosos)  für  den 
Staat,  wobei  der  Sträfling  eine  vom  Gürtel  nach  dem  Fuss  führende  Kette 
trägt.  2.  Zuchthaus  ist  Zwangsarbeit  (trabajo  forzoso)  für  den  Staat  inner- 
halb der  Strafanstalt.  Verbüsst  werden  Kettenstrafe  und  lebenslängliches, 
nach  ministerieller  Anordnung  auch  zeitliches,  Zuchthaus  in  Ceuta,  ^Melilla, 
Alhucemas,  Pefiön  de  la  Gomera  und  auf  den  Islas  Chafarinas;  sonst  zeit- 
liches Zuchthaus  in  Cartagena,  Santofia,  San  Miguel  de  los  Reyes  de  Valencia 
und  Tari'agona.  Bei  Alter  über  60  Jahren  wird  die  Kettenstrafe  in  einer  An- 
stalt für  schwere  Festungshaft  (Burgos,  Chinchilla  usw.)  verbüsst.  Bei  Weibern 
tritt  statt  Kettenstrafe  stets  Zuchthaus  ein.'  Vgl.  über  dies  alles  und  über 
Verbüssung  bei  Alter  über  70  Jahre,  Blindheit,  Gicht,  chronischer  Krankheit 
StGB.  Art.  96,  106—110.  Königliche  Vdg.  vom  13.  Januar  1864,  13.  Dezember 
1886  und  11.  August  1888,  Art.  1,  2,  5,  7.  Nebenstrafe  ist  bei  der  lebens- 
länglichen Kettenstrafe  a)  die  Degradation:  wenn  ein  öffentlicher  Beamter  die 
That  unter  Missbrauch  seines  Amtes  begangen  hat,  so  reisst  ihm  der  Büttel 
öffentlich  auf  feierlichen  Befehl  des  Gerichtsvorsitzenden  seine  Uniform,  In- 
signien  und  Ehrenzeichen  ab  (Art.  54,  120).  Femer  b)  Kechtsverlust  (inter- 
dicciön  civil),  d.  h.  der  Thäter  büsst  seine  väterliche  Gewalt,  Vormundschaft, 
Pflegschaft,  Teilnahme  am  Familienräte  usw.  ein  (Art.  43).  Lebenslängliche 
absolute  Amtsunfähigkeit  bleibt  auch  nach  der  Begnadigung.  Nebenstrafe  bei 
zeitlicher  Kettenstrafe  ist  bürgerlicher  Rechtsverlust  und    lebenslängliche  ab- 


244,  245  (Hochverrat  und  Rebellion  an  den  Anführern  und  in  schweren  Fällen  auch 
an  Unteranführern).  361  (der  wissentlich  ungerechte  Richter  wird  mit  der  an  dem  Un- 
schuldigen wirklich  vollzogenen  Strafe  bedroht).  417  (Verwandtenmord).  418  (Assas- 
sinat).   516  Z.  1  (Raubmord).   Vgl.  Vdg.  v.  21.  Januar  1874  Art.  1,  und  S.  518  §  7,  III  2. 


512  Spanien.  —  Das  geltende  spanische  StGB. 


8olute  Amtsanfähigkeit;  bei  lebenslänglichem  Zuchthaus  nur  letzteres;  bei  zeit- 
lichem Zuchthaus  ebensolange  zeitliche  absolute  Amtsunfähigkeit  (Art.  54,  55, 
57,  60).  3.  Festungshaft  (presidio)  ist  mit  Arbeitszwang  in  der  Strafanstalt 
verbunden,  der  Arbeitsertrag  kommt  teilweise  den  Sträflingen  zu  Gute.  4,  Gef. 
ist  nur  teilweise  mit  Arbeitszwang  verbunden.  Die  Verbüssung  aller  Festungs- 
haft und  des  schweren  Gef.  geschieht  in  den  besonderen  Anstalten  in  Burgos, 
Chinchilla,  Granada,  Ocana,  Puerto  de  Santa  Maria,  San  Augustin  de  Valencia, 
Valladolid  und  Zaragoza;  das  korrektionelle  Gef.  ist  im  Bezirk  des  erkennenden 
Gerichts  (cärcel  de  la  Audiencia)  zu  verbüssen,  unter  Abtrennung  von  den 
Untersuchungsgefangenen,  eventuell  in  der  nächsten  passenden  allgemeinen 
Strafanstalt.  Bei  Weibern  tritt  statt  Festungshaft  Gef.  ein.  Vgl.  StGB.  Art.  96, 
113—115,  königliche  Vdg.  vom  11.  August  1888,  Art.  3  und  vom  15.  April  1886. 
Nebenstrafen:  bei  schwerer  Festungshaft  ebensolange  zeitliche  absolute  Amts- 
unfähigkeit, bei  korrektioneller  Amtsenthebung,  bei  Gef.  Amtsenthebung  für 
die  Zeit  der  Verurteilung  (Art.  58,  59,  62).  Die  Scheidung  zwischen  schwerer 
und  korrektioneller  Festungshaft  bezw.  Gef.  läuft,  wie  man  sieht,  nur  auf  eine 
Verschiedenheit  der  Dauer  hinaus;  dies  zeigt  wieder  die  Künstlichkeit  der 
Dreiteilung  der  strafbaren  Handlungen,  da  die  schweren  Freiheitsstrafen  als 
penas  aflictivas  die  delitos  graves,  die  korrektionellen  die  delitos  menos  graves 
charakterisieren.  5.  Schärferer  Arrest  ist  wie  Gef.  mit  teilweisem  Arbeits- 
zwang verbunden  und  wird  in  dem  dazu  bestinmiten  öfiPentlichen  Gebäude  des 
Hauptortes  des  Amtsbezirkes  (partido)  verbüsst;  Nebenstrafe:  Amtsenthebung 
für  die  Dauer  der  Verurteilung.  Einfacher  Arrest  ist  blosse  Freiheitsentziehung 
und  wird  je  nach  Anordnung  des  Urteils  im  Gemeindehause,  einem  anderen 
öffentlichen  Gebäude  oder  als  Hausarrest  verbüsst;  er  ist  nur  Übertretungs- 
strafe.    Vgl.  Art.  118,  119,  62,  26. 

in.  Freiheitbeschränkungsstrafen  sind,  sogleich  mit  Bezeichnung  der 
3  Grade  wie  oben:  6  Monate  bis  2  Jahre  4  Monate  bis  4  Jahre  2  Monate  bis 
6  Jahre  Aufenthaltsverbot  (destierro);  6 — 8 — 10 — 12  Jahre  Verschickung 
(confinamiento);  12  Jahre  bis  14  Jahre  8  Monate  bis  17  Jahre  4  Monate  bis 
20  Jahre  Landesverweisung  (extranamiento)  und  Verbannung  (relegaciön); 
endlich  lebenslängliche  Landesverweisung  und  lebenslängliche  Verbannung  mit 
oder  ohne  Begnadigung  nach  30  Jahren.  1.  Verbannung  ist  freie  Beschäftigung 
in  den  überseeischen  Landen  (Ultramar)  innerhalb  eines  angewiesenen  Bezirkes 
unter  Aufsicht  der  Behörde.  2.  Landesverweisung  ist  Austreibung  aus  dem 
spanischen  Staatsgebiet.  Nebenstrafen  sind  die  gleichen  wie  bei  den  ent- 
sprechenden Zuchthausstrafen  (ia-t.  111,  112,  56,  60).  3.  Verschickung  ist 
Überführung  zu  freiem  Aufenthalt  (wenn  der  Verurteilte  will,  zu  Militärdienst) 
nach  den  Balearen  oder  den  Kanarischen  Inseln  unter  möglichster  Rücksicht- 
nahme auf  Beruf  und  Lebensweise  des  Verurteilten.  Nebenstrafe  ist  absolute 
Amtsunfähigkeit  für  die  Dauer  der  Verurteilung  (Art.  116  §1 — 3,  61).  4.  Auf- 
enthaltsverbot ist  das  Verbot,  bestimmte  Ortschaften  und  ihren  Umkreis,  dessen 
Radius  im  Urteil  zwischen  25  und  250  km  festzusetzen  ist,  zu  betreten 
(Art.  116  §  4). 

IV.  Strafen  an  Rechten  sind  nach  der  Gradfolge:  1  Monat  bis  2 — 4 — 6 
Jahre  Enthebung  (suspensiön);  6 — 8 — 10 — 12  Jahre  spezielle  und  absolute 
Unfähigkeit  (inhabilitaciön) ;  endlich  lebenslängliche  Unfähigkeit.  Wo  diese 
Strafen  gesetzlich  als  Nebenstrafen  erscheinen,  ist  bereits  gesagt;  für  ihre 
Dauer  gilt  dann  das  dort  Bemerkte  (Art.  28  §  1,  30).  1.  Inhabilitaciön  ab- 
soluta perpetua  umfasst  a)  Verlust  aller  öffentlichen  Ehren,  Ämter  und  Stel- 
lungen, mögen  sie  auch  auf  Volkswahl  beruhen;  b)  Unfähigkeit,  solche  wieder 
zu  erlangen;  c)  Verlust  des  passiven  und  aktiven  Wahlrechts;  d)  Verlust  jedes 
Ruhegehaltes,  Wartegeldes  u.  dgl.     2«  Inhabilitaciön  absoluta  temporal  umfasst 


§  6.    Das  Straf ensvstem.  513 


a  bis  c;  b  und  c  nur  für  die  bestimmte  Zeit.  3.  Inhabilitaciön  especial  per- 
petua  und  4«  temporal,  sowie  5,  Suspension  (Enthebung)  zerfallen  in  solche 
a)  für  öflTentliche  Ämter,  b)  für  aktives  und  passives  Wahlrecht,  c)  für  ein 
bestimmtes  Gewerbe  oder  einen  bestimmten  Beruf.  Ihrem  Inhalte  nach  sind 
diese  Strafen  von  selbst  klar.  Alle  Rechtsstrafen  lassen  bei  Personen  geist- 
lichen Standes  die  von  der  Kirche  herrührenden  Ehren,  Ämter  und  Rechte 
unberührt.     Vgl.  Art.  32—42,  und  über  die  Rehabilitation  Art.  45,  46. 

V.  Sonstige  Strafarten  sind:  1.  Verweis  (reprensiön),  in  der  Gerichtssitzung 
erteilt,  und  zwar  entweder  als  öffentlicher  oder  als  privater,  d.  h.  unter  Aus- 
schluss der  Öffentlichkeit  (Art.  117).  Ersterer  ist  bei  zwei  Verbr.  öffentlichen 
Ärgernisses  (Art.  455,  456)  ausdrücklich  angedroht  und  stellt  in  den  Straf- 
skalen (s.  u.  VI)  gegenüber  dem  destierro  die  „pena  inferior"  (nächstniedere 
Strafe)  dar;  letzterer  ist  nur  Übertretungsstrafe  (Art.  689,  596,  599,  603,  605). 
Wo  Verweis  ausdrücklich  angedroht  wird,  geschieht  es  kumulativ.  2.  Geld- 
strafe, bis  zu  125  Pesetas  (frcs.)  Übertretungsstrafe;  über  2500  pesetas  gilt  sie 
als  pena  aflictiva  (Art.  27).  Bei  der  Strafausmessung  sind  die  Richter  nicht 
sowohl  an  erschwerende  und  mildernde  Umstände  gebunden,  als  an  die  Berück- 
sichtigung des  Vermögens  und  der  Leistungsfähigkeit  des  Schuldigen  (Art.  84). 
Sie  gilt  als  unterste  Strafe  sämtlicher  Strafskalen  (Art.  93  §  1).  Muss  sie  selber 
um  einen  oder  mehrere  Grade  erhöht  oder  erniedrigt  werden,  so  geschieht 
das  durch  Heraufsetzung  des  Maximums  um  ^/^  und  Herabsetzung  des  Mini- 
mums um  ^/^,  auch  wenn  der  Betrag  nicht  fest,  sondern  proportional  aus- 
gedrückt ist  (Art.  95).  Liegen  dem  Schuldigen  mehrere  Geldverpflichtungen 
ob,  so  folgen  sie  sich  in  dieser  Reihe:  a)  Schadensersatz,  b)  Schadloshaltung 
des  Staates  für  den  Betrag  an  Stempelpapier  und  sonstige  Aufwendungen, 
c)  Kosten  des  Privatklägers,  d)  übrige  Prozess-  einschliesslich  Verteidigungs- 
kosten, e)  Geldstrafe.  Ist  der  Schuldige  zahlungsunfähig,  so  tritt  wegen  der 
Geldverbindlichkeiten  unter  a,  c,  e  subsidiäre  Schuldhaft  ein,  nämlich  bei 
solchen  Freiheitsstrafen,  die  nicht  über  korrektionelle  Festungshaft  hinaus- 
gehen, Erhöhung  um  1  Tag  für  je  5  pesetas,  doch  höchstens  um  ^/g  und  nicht 
über  1  Jahr;  bei  Verweis,  Geldstrafe  oder  Bürgschaft  Haft  (detenciön)  im 
Amtsbezirksgefängnis,  für  je  5  pesetas  1  Tag,  bei  Verbr.  höchstens  6  Monate, 
bei  Übertretungen  höchstens  15  Tage  (vgl.  Art.  49 — 52,  624).  3.  Bürgschaft 
(cauciön,  in  Art.  92  cauciön  de  conducta)  legt  dem  Bestraften  die  Pflicht  auf, 
einen  sicheren  Bürgen  zu  stellen,  der  dafür  eintritt,  dass  der  Bestrafte  das 
Übel,  um  dessen  Verhütung  es  sich  dreht,  nicht  ausführen  werde,  und  sich 
anderenfalls  zur  Zahlung  einer  Summe  verpflichtet.  Erfüllt  der  Bestrafte 
diese  seine  Pflicht  nicht,  so  tritt  destierro  (Aufenthaltsverbot)  ein.  Höhe  und 
Dauer  der  Bürgschaft  bestimmt  das  Gericht  (Art.  44,  29  §  9).  Die  Bürgschaft 
ist  in  Art.  509  für  alle  Fälle  der  Bedrohung  fakultativ  zugelassen;  ausserdem 
ist  sie  in  den  Strafskalen  pena  inferior  gegenüber  dem  öff'entlichen  Verweis 
(Art.  92).  —  Als  Nebenstrafen  nennt  Art.  26  neben  der  schon  behandelten 
degradaciön  und  interdicciön  civil  4«  den  Verlust  oder  die  Einziehung  der 
Werkzeuge  des  Verbr.  und  der  durch  das  Verbr.  hervorgebrachten  Gegen- 
stände. Art.  63  ordnet  diese  Einziehung  bei  jedem  Verbr.  an,  wenn  die  Werk- 
zeuge und  Gegenstände  nicht  Unbeteiligten  gehören.  Für  Übertretungen  gelten 
Art.  622,  623.    5.  Die  Kostenzahlung  gilt  als  Nebenstrafe.    (Art.  28  §  2,  47,  48.) 

Art.  25  hebt  hervor,  dass  als  Strafen  nicht  anzusehen  sind  a)  Präventiv- 
haft und  Untersuchungsgefängnis,  b)  Enthebung  von  Dienst  und  Amt  während 
des  Verfahrens  oder  zu  Untersuchungszwecken,  c)  Geldstrafen  und  sonstige 
Zurechtweisungen  (correcciones),  die  im  Verwaltungs-  oder  Disziplinarwege  von 
Vorgesetzten  verhängt  werden,  d)  Rechtsverlust  und  Schadensersatz  nach  bür- 
gerlichen Gesetzen. 

Strafgesetzgebnng  der  Gegenwart.  I.  33 


514  Spanien.  —  Das  geltende  spanische  StGB. 


Damit  ist  das  eigentliche  Strafensystem  mit  seinen  26  Haupt-  und  4  Neben- 
strafen erschöpft.  Es  sei  noch  betr.  die  VoUstrecknng  hervorgehoben,  dass 
das  spanische  StGB,  üb^r  Einzelhaft  keine  Bestimmungen  trifft  und  dass  es 
die  vorläufige  Entlassung  nicht  kennt.  Wir  gehen  nunmehr  zu  den  höchst 
charakteristischen  Regeln  über  die  Strafausmessnng  und  die  Graduation  der 
Strafen  über. 

VI.  Wenn  der  Richter  bei  der  Strafausmessung  angewiesen  wird,  für 
gewisse  Fälle  die  nächstniedere  oder  nächsthöhere  Strafe  (pena  inferior  oder 
superior)  zu  wählen,  oder,  was  gleichbedeutend  ist:  die  Strafe  um  einen  oder 
mehrere  Grade  (grados,  besser:  Stufen)  zu  erniedrigen  oder  zu  erhöhen,  so 
braucht  er  zu  diesem  Zwecke  offenbar  eine  Stufenfolge  (Escalamiento)  der 
Strafen,  an  die  er  sich  halten  kann.  Es  sind  daher  die  Strafen  in  6  ver- 
schiedene Stufenleitern  (escalas  graduales)  eingereiht,  auf  denen  der  Richter, 
wenn  er  die  pena  inferior  oder  superior  ermitteln  soll,  von  der  dem  betreffenden 
Delikt  angedrohten  Strafe,  die  als  Stufe  in  einer  Stufenleiter  vorkommt,  aus- 
geht und  nun  um  eine  Stufe  herab-  oder  heraufsteigt.  Mehrfach  ist  eine  Stufe 
mehreren  Stufenleitern  gemeinsam,  alsdann  hält  sich  der  Richter  an  diejenige 
Stufenleiter,  deren  Stufen  in  dem  betreffenden  Abschnitt,  Titel  oder  Kap.  am 
häufigsten  vorkommen. 

Für  die  PYeiheitentziehungsstrafen  bestehen  zwei  Stufenleitern,  die  von 
der  Todesstrafe  zum  schärferen  Arrest  führen,  einerseits  auf  dem  Wege  über 
lebenslängliche  und  zeitliche  Kettenstrafe,  schwere  und  korrektionelle  Festungs- 
haft (presidio),  andererseits  auf  dem  Wege  über  lebenslängliches  und  zeitliches 
Zuchthaus  (reclusiön),  schweres  und  korrektionelles  Gef.  Die  Freiheitbeschrän- 
kungsstrafen haben  ebenfalls  zwei  Stufenleitern,  die  eine  anhebend  mit  lebens- 
länglicher und  zeitlicher  Verbannung  (relegaciön) ,  die  andere  anhebend  mit 
lebenslänglicher  und  zeitlicher  Landesverweisung  (extranamiento),  beide  fort- 
fahrend mit  Verschickung  (confinamiento),  Aufenthaltsverbot  (destierro),  öffent- 
lichem Verweis,  Bürgschaft.  Die  zwei  Stufenleitern  der  Strafen  an  Rechten 
sind  einerseits  die  absoluten,  andererseits  die  speziellen  mit  der  gemeinsamen 
untersten  Stufe:  Enthebung  (suspensiön).  Die  unterste  Stufe  aller  sechs  Stufen- 
leitern ist  die  Geldstrafe ;  wie  zu  verfahren  ist,  wenn  noch  niedriger  gegangen 
werden  soll,  ist  bereits  gesagt  (s.  o.  S.  513).  Beim  Aufsteigen  finden  einige 
Abweichungen  von  den  Stufenleitern  statt,  einmal  bei  der  Geldstrafe,  wie  schon 
oben  bemerkt;  sodann  wenn  über  die  Stufenleiter  nach  oben  hinaus  oder  zur 
Todesstrafe  geschritten  werden  müsste.  Man  steigt  dann  auf:  von  lebensläng- 
licher Landesverweisung  zu  lebenslänglicher  Verbannung,  von  dieser  zu  lebens- 
länglichem Zuchthaus,  von  diesem  und  von  lebenslänglicher  Kettenstrafe  und 
lebenslänglicher  Unfähigkeit  zu  denselben  Strafen,  wobei  dann  aber  erst  nach 
40  Jahren  die  Begnadigungsmöglichkeit  des  Art.  29  eintritt. 

Wie  bei  der  Erörterung  der  einzelnen  Strafmittel  hervorgehoben  wurde, 
zerfällt  jede  der  nach  der  Dauer  sich  berechnenden  Strafen  (penas  divisibles, 
teilbare  Strafen)  in  einen  grado  minimo,  medio  und  mäximo;  jede  derartige 
Stufe  jeder  Stufenleiter  hat  also  drei  verschiedene  Grade.  Dies  bringt  die 
Möglichkeit  der  Androhung  gewissermassen  gebrochener  Stufen  und  der  Auf- 
stellung gebrochener  Stufenleitern  mit  sich,  z.  B.  ist  gewöhnlicher  Diebstahl 
über  2500  pesetas  mit  presidio  correccional  im  grado  medio  und  mäximo  be- 
droht (Art.  531  Z.  1,  d.  h.  also  korrektioneile  Festungshaft  von  2  Jahren  4  Mo- 
naten 1  Tag  bis  zu  6  Jahren),  gewöhnlicher  Diebstahl  zwischen  500  und 
2500  pesetas  mit  presidio  correccional  im  grado  minimo  und  medio  (Art.  531 
Z.  2,  d.  h.  also  korrektioneile  Festungshaft  von  6  Monaten  1  Tag  bis  4  Jahre 
2  Monate).  Das  Aufsteigen  und  Absteigen  erfolgt  hier  zu  den  nächst  sich 
anschliessenden  Graden  derselben  Stufe  oder  zu  den  benachbarten  Graden  der 


§  6.    Das  Strafensystem.  515 


nächst  sich  anschliessenden  Stufe.  Die  pena  inferior  oder  saperior  setzt  sich 
dabei  aus  ebensoviel  Graden  dieser  Stufen  zusammen,  als  die  Ausgangsstufe 
Grade  umfasste.^)  Sind  also  die  angeführten  Diebstahlsstrafen  in  schwereren 
Fällen  nach  Art.  533  um  eine  Stufe  zu  erhöhen,  so  treten  ein:  presidio  mayor 
im  grado  minimo  und  medio  (d.  h.  schwere  Festungshaft  von  6 — 10  Jahren), 

—  bezw.  presidio  correccional  im  grado  mäxirao  bis  zu  presidio  mayor  im 
grado  minimo  (d.  h.  korrektioneile  Festungshaft  von  4  Jahren  2  Monaten  1  Tag 
bis  zu  8  Jahren  schwerer  Festungshaft).  Muss  man  für  den  Teilnehmer  (com- 
plice)  Herabsetzung  vomehmen,  so  treten  ein :  arresto  mayor  im  grado  mäximo 
bis  zu  presidio  correccional  im  grado  minimo  (d.  h.  schärferer  Arrest  von 
4  Monaten  1  Tag  bis  zu  2  Jahren  4  Monaten  korrektioneller  Festungshaft), 

—  bezw.  arresto  mayor  im  grado  medio  und  mäximo  (d.  h.  schärferer  Arrest 
von  2  Monaten  1  Tag  bis  zu  6  Monaten).  —  Zu  der  aus  drei  Graden  be- 
stehenden Strafe :  prisiön  mayor  im  grado  medio  bis  zu  reclusiön  temporal  im 
grado  minimo  (z.  B.  Art.  246  bloss  Gehorchende  bei  Rebellion  in  schwereren 
Fällen)  ist  die  pena  inferior:  prisiön  correccional  im  grado  medio  bis  zu  prisiön 
mayor  im  grado  minimo ;  die  pena  superior:  reclusiön  temporal  im  grado  medio 
bis  zu  reclusiön  perpetua  usw.  —  Vgl.  Art.  92 — 98,  68,  76,  77. 

Vn.  Wir  haben  oben  bei  Betrachtung  der  Erscheinungsformen  eines 
Verbr.  und  der  Formen  der  Beteiligung  an  einem  Verbr.  (S.  607)  gesehen, 
dass  zum  Ausdruck  der  verschiedenen  Schwere  der  Verantwortlichkeit  ftlnf 
Stufen  der  Strafe  nötig  sind. ')  Diesem  Zwecke  dienen  die  Stufen  der  Escalas 
graduales  und  diejenigen  auszurechnenden  Stufen,  die  wir  oben  als  „gebrochene^ 
bezeichnet  haben.  Innerhalb  jeder  solchen  Stufe  richtet  sich  dann  die  Strafe 
nach  den  erschwerenden  und  mildernden  Umständen,  und  diesem  Zwecke  dienen 
die  drei  Grade,  die  jede  Stufe  hat.  1.  Ftlr  die  Abstufungen  der  That  und  des 
Thäters  kommen  noch  folgende  Regeln  in  Betracht:  a)  Von  mehreren  alter- 
nativen Ausgangsstrafen  ist  immer  die  unterste  massgebend  für  die  Bestimmung 
der  pena  inferior,  b)  Besteht  die  Ausgangsstrafe  aus  einer  oder  mehreren 
unteilbaren  und  dem  grado  mäximo  einer  teilbaren  Strafe,  so  wird  die  pena 
inferior  gebildet  durch  den  grado  medio  und  minimo  dieser  teilbaren  und  den 
grado  mäximo  der  nächst  niederen.  Die  übrigen  Regeln  sind  bereits  in  die 
Darstellung  eingeflochten.  Vgl.  Art.  64 — 77.  2.  Für  die  Würdigung  der  er- 
schwerenden und  mildernden  Umstände  ist  zu  beachteü :  a)  Bei  einer  einzigen 
unteilbaren  Strafe  ist  eine  solche  ausgeschlossen;  bei  der  Geldstrafe  ist  das 
Gericht  in  der  Würdigung  frei  (o.  S.  513).  b)  Von  zwei  unteilbaren  Strafen 
ist  bei  einem  erschwerenden  Umstand,  oder  wenn  bei  vernünftiger  Kompen- 
sation die  erschwerenden  Umstände  überwiegen,  die  schwerere,'')  sonst  die 
leichtere  zu  verhängen,  c)  Alle  übrigen  Strafen  (Stufen)  müssen  je  3  Grade 
haben;  eventuell,  falls  sie  weniger  Grade  umfassen,  werden  sie  rechnungs- 
mässig  in  3  gleiche  Zeitabschnitte  aufgeteilt.    Für  die  beiden  oben  angeführten 


^)  Zwar  spricht  das  StGB,  diesen  Grundsatz  nicht  aus,  er  folgt  aber  aus  Art. 
76  Z.  4  und  5  in  Verbindung  mit  der  Rechtsprechung  des  Höchsten  Gerichtshofes 
(Urteil  des  II.  Senats  vom  30.  November  1876.) 

^)  1«  Autor  del  delito  consumado  —  Urheber  bei  Vollendung.  2«  Autor  del  delito 
frustrado,  imd  complice  del  delito  consumado  —  Urheber  bei  Fehlschlagung,  Teil- 
nehmer bei  Vollendung.  3«  Autor  de  la  tentativa,  com^ice  del  delito  frustrado  und 
encubridor  del  delito  consumado  —  Urheber  bei  Versuch,  Teilnehmer  bei  Fehlschlagung, 
Begünstiger  bei  Vollendung.  4«  Complice  de  la  tentativa  und  encubridor  del  delito 
frustrado  —  Teilnehmer  bei  Versuch,  Begünstigung  bei  Fehlschlagung.  5.  Encubridor 
de  la  tentativa  —  Begünstiger  bei  Versuch. 

*)  Ist  dies  Todes-,  lebenslängliche  Ketten-  oder  Zuchthausstrafe,  so  erfordern 
StPO.  Art.  145,  153  drei  hierfür  sich  aussprechende  Stimmen.  Die  Praxis  sieht  den 
Art.  81  §  1  Z.  1  StGB,  als  durch  diese  Bestimmungen  modifiziert  an. 

33* 


516  Spanien.  —  Das  geltende  spanische  StGB. 


Diebstahlsstrafen  ergeben  sich  also  beispielsweise  die  folgenden  Grade:  2  Jahre 
4  Monate  1  Tag  bis  3  Jahre  6  Monate  20  Tage  bis  4  Jahre  9  Monate  10  Tage 
bis  6  Jahre  korrektionelle  Festungshaft  einerseits  nnd  6  Monate  1  Tag  bis 
1  Jahr  8  Monate  20  Tage  bis  2  Jahre  11  Monate  10  Tage  bis  4  Jahre  2  Mo- 
nate korrektionelle  Festungshaft  andererseits,  d)  Für  die  Anwendung  dieser 
3  Grade  giebt  es  7  Regeln:  J.  Weder  erschwerende  noch  mildernde  Umstände 
—  grado  medio.  11.  Ein  mildernder  Umstand  —  grado  minimo.  m.  Ein 
erschwerender  Umstand  —  grado  mäximo.  JT.  Zusammentreffen  von  mil- 
dernden und  erschwerenden  Umständen  —  Kompensation  nach  vernünftigem 
Ermessen,  wobei  nicht  alle  Umstände  als  gleichwertig  anzusetzen  sind  — 
Bestimmung  nach  dem  Überwiegenden.  V.  Mehrere  und  erheblichere  mil- 
dernde Umstände  —  Übergang  zur  pena  inferior,  deren  Grad  nach  freiem 
Ermessen  zu  bestimmen.  VI.  Mehrere  erschwerende  Umstände  —  immer 
nur  grado  mäximo.  VII.  Abmessung  der  Quantität  innerhalb  des  grado 
in  erster  Linie  nach  Zahl  und  Wesenheit  der  strafändernden  Umstände,  in 
zweiter  Linie  nach  der  Schwere  des  Erfolges,  e)  Falls  zur  Begründung  eines 
strafausschliessenden  Umstandes  nur  die  kleinere  Anzahl  der  Erfordernisse 
fehlt  (Art.  8,9  Z.  1  —  o.  S.  508),  so  ist  die  Strafe  um  1  —  2  Stufen 
herabzusetzen,  nach  freiem  Ermessen  des  Gerichts.  Vgl.  zu  diesem  allen 
Art.  78—87. 

Wir  schliessen  damit  die  Darstellung  des  spanischen  Strafensystems  und 
der  Lehre  von  seiner  Anwendung.  Die  Ausführlichkeit  war  bei  diesem  charakte- 
ristischsten Punkte  unentbehrliche  Vorbedingung  für  das  Verständnis  der  süd- 
romanischen Strafensysteme  überhaupt.  Nur  das  eine  sei  noch  bemerkt,  dass 
wir  „Stufen"  und  „Grade"  streng  auseinander  gehalten  haben,  dass  aber  das 
spanische  StGB,  für  beides  den  Ausdruck  „grado"  verwendet. 

§  7.    Die  Yerbreehen  gegen  die  Gesamtlieit 

I.  Von  den  15  Tit.  des  2.  Buches  lassen  sich  die  ersten  sieben  als  Verbr. 
gegen  die  Gesamtheit  zusammenfassen.  Tit.  I  handelt  von  den  Verbr.  gegen 
die  äussere  Sicherheit  des  Staates.  Kap.  !•  Landesverrat  (traiciön,  Art.  136 — 143, 
vgl.  0.  S.  495,  506,  510  Anm.  1).  Schwerste  Fälle  sind:  die  Kriegserklärung  durch 
eine  auswärtige  Macht  herbeizuführen,  den  Feind  ins  Land  zu  geleiten,  ihm  Plätze, 
Schiffe,  Munition  in  die  Hände  zu  spielen;  Verleitung  spanischer  Truppen  zum 
Feinde  tiberzugehen,  Kriegswerbung  in  Spanien  für  eine  auswärtige  Macht 
gegen  Spanien.  Nächst  schwer  bestraft  wird  es,  im  feindlichen  Heer  Dienste 
zu  thun,  den  Feind  mit  Waffen  und  Munition  zu  versehen  oder  sonst  zu  fördern, 
ihm  Festungspläne  zu  überliefern,  die  Versorgung  der  spanischen  Truppen  mit 
Waffen  u.  a.  zu  hindern.  Pena  inferior  tritt  für  den  Ausländer  ein,  und  wenn 
das  Verbr.  sich  gegen  eine  mit  Spanien  im  Krieg  verbündete  Macht  richtet. 
Eine  kleine  Gruppe  stellen  die  Verbr.  der  Staatsminister  dar,  die  der  Ver- 
fassung zuwider  Gebietsabtretungen,  Einmarsch  fremder  Truppen,  Abschluss 
von  Allianz-  oder  Subsidienverträgen  geschehen  lassen.  Kap.  2.  betrifft  Hand- 
lungen, die  den  Frieden  und  die  Unabhängigkeit  des  Staates  gefährden:  Ver- 
kttndigung  oder  Ausführung  von  päpstlichen  Bullen  oder  Anordnungen  fremder 
Regierungen,  geringere  Fälle  des  Landesverrats,  besonders  Korrespondenz  mit 
dem  feindlichen  Land  in  Kriegszeiten  (Art.  144 — 152).  Kap.  3.  behandelt  die 
Verbr.  gegen  das  Völkerrecht  (Tötung  fremder  Staatsoberhäupter,  sonstige 
Attentate  gegen  sie,  Missachtung  ihrer  Immunität).  Voraussetzung  dieser  exzep- 
tionellen Stellung  ist  gesetzlich  verbürgte  Gegenseitigkeit  (Art.  153,  154). 
Kap.  4.  schliesst  hieran  die  Piraterie  (Art.  155,  156). 

II.  Gegen   den   inneren  Bestand   des  Staates  und  seiner  Rechtsordnung 


§  7.    Die  Verbr.  gegen  die  Gesamtheit.  517 


richten  sich  die  Verbr.  der  Tit.  II  (gegen  die  Verfassung)  und  III  (gegen  die 
öffentliche  Ordnung).  1.  Tit.  II,  Kap.  1,  Art.  157—188  M^'estätsverbr.,  Verbr. 
gegen  die  Cortes,  das  Ministerium,  die  Regierungsform.  Hierher  gehören  vor  allem 
Tötung  des  Königs  (Art.  157)  und  des  Thronfolgers  oder  Regenten  (Art.  163  s.  o. 
S.  506,  510Anm.  1);  sodann  Freiheitsberaubung,  schwere  und  minder  schwere 
Nötigung  und  Körperverletzung,  Beleidigung  und  Bedrohung  in  An-  oder  Ab- 
wesenheit, Hausfriedensbruch  —  wenn  diese  Verbr.  sich  gegen  den  König 
richten;  je  pena  inferior,  wenn  sie  sich  gegen  Thronfolger  oder  Regent  richten. 
Die  Antastung  der  Rechte  der  Cortes  zur  Einsetzung  einer  Regentschaft  wird 
an  den  Mitgliedern  der  königlichen  Familie,  den  Ministem,  Behörden,  Beamten 
mit  relegaciön  temporal  im  grado  mäximo  bis  zu  relegaciön  perpetua  gestraft. 
Verbannung  trifft  die  Minister,  wenn  der  König  gewisse  verfassungsmässige 
Pflichten  nicht  erfüllt.  Art.  167 — 177  sichern  das  Hausrecht  der  Cortes  und 
die  Sicherheit  jedes  Mitgliedes  gegen  Beleidigung,  Bedrohung,  Nötigung  oder 
Gefangenhaltung  zuwider  der  Verfassung.  Einen  ähnlichen  Schutz  geniesst  der 
Ministerrat  und  seine  Mitglieder.  Die  Verbr.  gegen  die  Regierungform  zer- 
fallen in  3  Gruppen,  deren  oberste  und  wichtigste  (Art.  181)  das  unmittelbare 
Unternehmen  umfasst,  mit  ungesetzlichen  Mitteln  die  Staatsverfassung  der  kon- 
stitutionellen Monarchie  zu  ändern,  die  Cortes,  den  König,  den  Regenten  ihrer 
verfassungsmässigen  Rechte  zu  berauben,  die  Thronfolge  zu  ändern,  den  provi- 
sorischen Regenten  an  Übernahme  dieses  Amtes  zu  hindern.  Diese  Verbr. 
können  in  2  Formen  verübt  werden,  durch  Erhebung  mit  Waffen  und  in 
offener  Feindseligkeit,  oder  ohne  solche  Erhebung.  Bei  der  ersten  Form 
werden  unterschieden  (Art.  184)  Anführer  (principales  autores),  Unteranführer 
(los  que  ejercieren  un  mando  subaltemo)  und  bloss  Gehorchende  (meros  eje- 
cutores).  Für  die  beiden  letzten  Arten  der  Teilnehmer  giebt  es  wieder  leichtere 
und  schwerere  Fälle  (wenn  ein  Kampf  mit  der  Regierungsmacht,  Eigentums- 
schäden, schwere  Misshandlungen,  Unterbrechungen  der  Telegraphen-  und 
Eisenbahnstrecken  stattgefunden  haben,  wenn  Kontributionen  eingetrieben  oder 
öffentliche  Gelder  ihrem  Zweck  entfremdet  sind).  2,  Tit.  U.  Kap.  2,  Abschnitt 
1  und  2,  Art.  189 — 235,  Verbr.  in  Bezug  auf  die  Ausübung  der  von  der  Ver- 
fassung gewährleisteten  individuellen  Rechte.  —  wenn  von  Privaten  begangen, 
Abschnitt  1  (Missbräuche  des  Versammlungsrechtes  vgl.  G.  vom  15.  Juni  1880, 
und  des  Vereinsrechtes  vgl.  G.  vom  30.  Juni  1887;  s.  u.  §  10,  II);  —  wenn  von 
Beamten  begangen,  Abschnitt  2  (ausserordentlich  ausführlich).  3.  Tit.  II,  Kap.  2, 
Abschnitt  3,  Art.  236 — 241,  Verbr..  betr.  die  freie  Ausübung  eines  Glaubens- 
bekenntnisses. Vgl.  königl.  Vdg.  vom  23.  Oktober  1876  über  die  religiöse 
Duldung,  wonach  in  Gemässheit  des  Art.  11  §  3  der  Verfassung  jede  mani- 
festaciön  publica  eines  von  der  katholischen  Staatsreligion  abweichenden  Kultus 
verboten  bleibt.  4.  Tit.  III,  Kap.  1—3,  Art.  243 — 262:  Rebellion  und  Sedition. 
Beide  sind  noch  durchaus  kasuistisch  behandelt,  wie  im  GB.  v.  1822,  nur  dass 
die  Fülle  der  Unterscheidungen  nicht  mehr  so  gross  ist.  Der  Rebellion  machen 
sich  diejenigen  schuldig,  die  sich  öffentlich  und  in  erklärter  Feindseligkeit 
wider  die  Regierung  erheben,  um  den  König  oder  Regenten  abzusetzen,  der 
Freiheit  zu  berauben  oder  zu  etwas  zu  nötigen;  um  die  Abhaltung  der  Cortes- 
wahlen  im  ganzen  Königreich  zu  hindern;  um  die  Kammern  aufzulösen,  an 
der  Beratung  zu  hindern  oder  ihnen  einen  Beschluss  abzupressen;  um  die 
Rechte  der  Cortes  zur  Einsetzung  einer  Regentschaft  zu  verletzen;  um  einen 
Teil  des  Reiches  oder  einen  Truppenteil  dem  Gehorsam  gegen  die  oberste 
Regierung  zu  entziehen;  um  in  ähnlicher  Weise  die  Rechte  der  Minister  an- 
zutasten. Der  Sedition  machen  sich  diejenigen  schuldig,  die  sich  öffentlich 
und  tumultuarisch  erheben,  um  mit  Gewalt  oder  auf  ungesetzlichem  Wege  die 
Verkündung  oder  Ausführung  der  Gesetze,  oder  die  freie  Abhaltung  der  Volks- 


518  Spanien.  —  Das  geltende  spanische  SiGB. 


wählen  in  einer  Provinz,  einem  Wahlbezirk  oder  -kreis  za  hindern;  nm  desgl. 
eine  Behörde  an  der  freien  Ansübnng  Ihrer  Befugnisse  oder  an  der  Erfollnng 
ihrer  administrativen  and  richterlichen  Obliegenheiten  zn  hindern;  nm  desgl. 
einen  Akt  des  Hasses  oder  der  Rache  an  der  Person  oder  dem  Eigentum  einer 
Behörde  oder  ihrer  Angestellten  oder  mit  einem  politischen  Zwecke  an  Privaten 
zu  begehen  n.  a.  Strafabstnfnngen  ergeben  sich  aus  der  Unterscheidung  von 
Anführern,  Unteranführem  und  bloss  Gehorchenden,  und  bisweilen  in  Anlehnung 
an  die  Bestimmungen  über  Hochverrat.  Die  Verwaltungsbehörde  hat,  ausser 
wenn  die  Aufständischen  Feuer  legen,  an  sie  2  Aufforderungen  ( intimaciones) 
zur  Auflösung  zu  erlassen;  gehorchen  sie,  so  treten  bedeutende  Straf- 
ermässigungen, z.  T.  Straffreiheit  ein.  Wenn  die  Urheber  eines  in  einem 
Aufstand  begangenen  gewöhnlichen  Verbr.  nicht  zu  ermitteln  sind,  so  haften 
die  Anführer  der  Bebellion  oder  Sedition  als  Urheber.  5.  Tit.  in,  Elap.  4 
bedroht  unter  dem  Namen  atentado  die  gewaltsamen  Angriffe  gegen  eine  Behörde 
(ohne  öffentliche  Erhebung),  Widerstand  und  Ungehorsam  gegen  die  Staats- 
gewalt; Kap.  5  unter  dem  Namen  desacato  die  Verleumdungen,  Schmähungen, 
Beleidigungen  (darunter  auch  Herausforderung  zum  Zweikampf)  gegen  einen 
Minister  oder  eine  Behörde  bei  Gelegenheit  ihrer  Amtsausübung  (Strafabstufung 
nach  Anwesenheit  oder  Abwesenheit  des  Geschmähten);  die  gleichen  Hand- 
lungen eines  Beamten  gegen  seinen  Vorgesetzten;  Kap.  6  sonstige  Störungen 
der  öffentlichen  Ordnung  (desördenes  püblicos)  z.  B.  Ruhestörung  in  der 
Gerichtssitzung,  cris  s^ditieux  (gritos  provocativos),  Gefangenenbefreiung,  Ver- 
kehrsstörung auf  Eisenbahnen  oder  Telegraphenlinien  (vgl.  das  flisenbahn- 
polizeigesetz  vom  23.  November  1877;  das  Kabelgesetz  vom  12.  Januar  1887), 
Beschädigung  öffentlicher  Monumente.  Kap.  7  enthält  erhöhte  Strafdrohungen 
gegen  die  Angestellten  einer  Behörde,  die  sich  die  Verbr.  der  Kap.  4 — 6  zu 
schulden  kommen  lassen,  und  gegen  die  Geistlichen,  die  zu  solchen  Verbr. 
aufreizen.  Vgl.  zu  diesem  allem  Art.  263 — 279.  Zu  Art.  276  (Beschädigung 
von  Monumenten)  vgl.  die  gleichartige  Übertretung  in  Art.  585  und  über  das 
Verhältnis  beider  königl.  Vdg.  vom  22.  September  1848  betr.  die  Auslegung 
des  StGB-,  Art.  5:  die  Gerichte  haben  je  nach  dem  Ergebnisse  einer  Erwägung 
der  Ausdehnung  und  des  Erfolges  der  Strafthat  vorzugehen. 

III.  Für  die  eben  behandelten  Verbr.  sind  zwei  Gesetze  von  Wichtigkeit. 
1.  G.  V.  15.  Februar  1873  über  die  politischen  Verbr.  Als  solche  sind  anzusehen 
die  Verbr.  der  Tit.  I,  Kap.  1—3,  Tit.  II,  Kap.  1,  Kap.  2,  Abschnitt  1  und  3,  Ab- 
schnitt 2  nur  in  wenigen  Art.,  Tit.  III,  Kap.  1 — 3;  Kap.  4  u.  5,  wenn  mit  Rück- 
sicht auf  den  Charakter  der  Behörde  oder  der  Amtshandlung  das  Verbr.  als 
politisches  angesehen  werden  kann.  Femer  alle  Verbr.  des  StGB.,  wenn  sie 
durch  die  Presse  begangen  werden,  es  trete  denn  Verfolgung  auf  Antrag  der 
Partei  ein ;  und  die  mit  politischen  Verbr.  in  Konnex  stehenden  Verbr.,  deren 
Bcischaffenheit,  Tendenz,  Gegenstand  und  Beziehung  zum  Hauptdelikt  zu  würdigen 
jedoch  dem  Gericht  anheimgestellt  ist,  besonders  die  Entziehung  öffentlicher  Kapi 
tauen,  die  Eintreibung  von  Waffen,  Munition,  Pferden,  Unterbrechung  der  Eisen- 
bahn- und  Telegraphenlinien,  Aufhaltung  der  Korrespondenz  und  sonstige,  die 
ein  natürliches  und  häufiges  Mittel  zur  Vorbereitung,  Verwirklichung  oder  Be- 
förderung des  Verbr.  der  Rebellion  sind.  Die  Untersuchungshaft  und  das  Gef. 
wegen  politischer  Verbr.  ist  in  gesonderten  Räumen  zu  verbüssen,  die  von  denen 
für  gewöhnliche  Verbrecher  absolut  getrennt  sind;  die  Verwaltungs-,  Militär-  und 
Gerichtsbehörden,  die  hiergegen  Verstössen,  werden  wegen  des  Amtsverbr.  der 
Freiheitsberaubung  (Art.  210—214  StGB.)  bestraft.  2.  Vdg.  vom  21.  Januar 
1874  über  Verbr.  gegen  die  öffentliche  Ordnung.  Als  solche  gelten  und  werden 
mit  dem  Tode  oder  den  in  Tit.  III,  •  Kap.  1  und  2  vorgesehenen  sonstigen  Strafen 
geahndet:  das  Ausheben  der  Eisenbahnschienen,  die  Abschneidung  des  Weges 


§  7.    Die  Verbr.  gegen  die  Gesamtheit.  519 


auf  irgend  welche  Weise,  die  Zerstörung  von  Brücken,  der  bewaffnete  Angriff 
auf  Züge,  die  Zerstörung  oder  Verschlechterung  der  Eisenbahnbaumaterialien 
und  die  übrigen  Schäden  an  Eisenbahnen,  die  der  Sicherheit  der  Reisenden 
oder  Güter  Nachteil  bringen  können.  Über  das  Verfahren  bestimmt  Art.  2, 
vgl.  G.  vom  23.  April  1870. 

IV.  Tit.  IV  behandelt  die  Fälschungen,  und  zwar  in  Kap.  1  Fälschung 
der  Namensunterschrift,  des  Namenssiegels  des  Königs,  des  Regenten,  der 
Minister,  auswärtiger  Staatshäupter  (Strafabstutung  nach  Gebrauch  innerhalb 
oder  ausserhalb  Spaniens),  des  Staatssiegels,  eines  auswärtigen  Staatssiegels, 
der  Siegel  und  Stempel  verschiedener  Behörden,  industrieller  und  Handels- 
Unternehmungen  u.  a.  Der  blosse  Gebrauch  der  verfälschten  Unterschrift  usw. 
wird  meist  eine  Stufe  niedriger  gestraft  (Art.  280—293).  Kap.  2.  Münzfälschung 
und  Münzbeschneidung  (cerceuar)  mit  Strafabstufung  danach,  ob  die  Münze 
Kurs  im  Lande  hat  oder  nicht,  aus  Gold  und  Silber  oder  Kupfer  geprägt  ist, 
von  gleichem  oder  geringerem  Wert  ist,  wie  die  echte.  Wer  in  gutem  Glauben 
falsche  Münze  eingenommen  hat  und  sie  nach  Erkenntnis  der  Unechtheit  ausgiebt, 
wird  bei  Beträgen  über  125  pesetas  mit  einer  Geldstrafe  in  2 — 3fachem  Betrage 
der  Münze  bestraft.  (Bei  Beträgen  unter  125  pesetas  liegt  nur  die  Übertretung 
des  Art.  592  Z.  2:  1 — 10  Tage  Arrest  oder  6 — 50  pesetas  Geldstrafe,  vor). 
Art.  294 — 302.  Kap.  3.  Fälschung  von  Bankbilleten ,  Kreditpapieren,  Stempel- 
papier, Telegraphensiegeln,  Postmarken  und  sonstigen  vom  Staat  verausgabten 
Gebührenmarken.  Art.  303 — 313.  Kap.  4.  Fälschung  öffentlicher,  amtlicher, 
kaufmännischer  Urkunden  (Strafabstufung  nach  der  Person  des  Thäters:  Be- 
amter, Geistlicher,  Privater;  bei  blosser  Benutzung  2  Stufen  niedriger,  vgl. 
hierzu  das  Wahlgesetz  vom  26.  Juni  1890,  Art.  85  ff.),  telegraphischer  Depeschen, 
privater  Urkunden,  von  Aufenthaltskarten  und  Zeugnissen.  Art.  314 — 325. 
Kap.  5:  Zu  Kap.  1 — 4  bedroht  Art.  326 — 329  gewisse  Vorbereitungshandlungen, 
Art.  330  bestimmt,  dass  die  Geldstrafe  das  2 — 3 fache  des  wirklichen  oder 
erhofften  Gewinnes  zu  betragen  habe,  wenn  nicht  eine  höhere  angedroht  sei. 
Kap.  6  umfasst  a)  Verheimlichung  des  Vermögens  und  des  Gewerbes,  um  den 
Einkommen-  oder  Gewerbesteuern  zu  entgehen  (Art.  331;  vgl.  über  das  Ver- 
fahren und  über  kleinere  Übertretungen  die  Instruktion  vom  12.  Mai  1888); 
b)  falsches  Zeugnis  (Strafabstufung,  ob  Civil-  oder  Kriminalsache,  ob  in  letzterer 
gleichgültig  oder  für  oder  gegen  den  Angeklagten,  endlich  9  Unterscheidungen 
nach  den  erzielten  Verurteilungen  und  je  nachdem  die  Strafe  angetreten  ist 
oder  nicht)  und  Gutachten  (hier  ist  immer  der  grado  mäximo  anzuwenden), 
geringere  Abweichungen  von  der  Wahrheit  dabei,  Produzierung  falscher  Zeugen 
oder  Urkunden  (Art.  332 — 339);  c)  falsche  Anschuldigung  bei  Gericht:  es  muss 
wegen  des  angedichteten  Verbr.  ein  Einstellungsbeschluss  vorliegen  —  Straf- 
abstufung danach,  ob  ein  delito  grave,  menos  grave  oder  eine  falta  angedichtet 
wurde  (Art.  340,  341).  Kap.  7  behandelt  Anmassung  von  Funktionen,  Eigen- 
schaften, Titeln;  unberechtigten  Gebrauch  von  Namen,  Uniformen,  Abzeichen, 
Dekorationen  (Art.  342—348). 

V.  Tit.  V  behandelt  Zuwiderhandlungen  gegen  die  G.  über  Beerdigungen, 
Grabschändung  (gegen  das  Rechtsgut  der  Pietät,  respeto  debido  ä  la  memoria 
de  los  muertos)  —  Kap.  1,  Art.  349,  350;  Verbr.  gegen  den  öffentlichen  Gesund- 
heitszustand —  Kap.  2,  Art.  351 — 357.  Tit.  VI  redet  von  Zufalls-  und  Hasard- 
spielen, Lotterieen,  Verlosungen,  Würfelspielen  —  Art.  358 — 360. 

VI.  Tit.  VII,  Art.  361—416  umfasst  in  13  Kap.  das  Beamtenstrafrecht. 
Den  Begriff  des  Beamten  bestimmt  Art.  416:  jeder,  der  durch  unmittelbare  An- 
ordnung des  Gesetzes  oder  durch  Volkswahl,  oder  durch  Ernennung  von  Seiten 
der  zuständigen  Behörde  an  der  Ausübung  öffentlicher  Amtsverrichtungen  (fun- 
ciones    püblicas)    teilnimmt.      Die    einzelnen    Gegenstände   sind:    Amtsuntreue 


520  Spanien.  —  Das  geltende  spanische  StGB. 


(prevaricaciön),  ungetreue  Bewachung  der  Gefangenen,  ungetreue  Bewahrung 
von  Urkunden,  Verletzung  von  Geheimnissen,  Ungehorsam  und  Rechtshülfe- 
verweigerung,  voreilige  und  verlängerte  Amtsausübung  und  -Nichtausübung 
(abandono),  Anmassung  von  Befugnissen  und  Titeln,  Sittlichkeitsvergehungen, 
Bestechung  (cohecho),  Veruntreuung  öffentlicher  Gelder,  Betrügereien  und  un- 
gesetzliche Erhebungen,  verbotene  Beschäftigungen.  Beamtendelikte  sind  auch 
sonst,  wie  teilweise  erwähnt,  im  Buch  II,  Tit.  I — VI  verstreut.  Auch  in  Neben- 
gesetzen kommen  mehrfach  Amtsdelikte  vor,  vgl.  königl.  Verfügung  vom 
5.  Dezember  1862  über  Rechtshülfegesuche  und  Revisionsschriften,  Art.  3,  4; 
G.  vom  15.  Februar  1873  über  die  politischen  Verbr.,  Art.  4;  Ordnung  vom 
18.  Oktober  1887  über  Sicherheits-  und  Wachtmannschaften  (Cuerpos  de  Seguri- 
dad  y  Vigiiancia)  Art.  54 ff.,  120 ff.;  Instruktion  vom  12.  Mai  1888  über  das 
Verfahren  gegen  die  Schuldner  der  Finanz  Verwaltung,  Art.  81  Z.  3 — 6;  Wahl- 
gesetz vom  26.  Juni  1890,  Art.  88,  90,  98  u.  a.  Das  Disziplinarstraftecht  findet 
sich  für  richterliche  Beamte  und  Advokaten  in  der  Ley  orgä,nica  del  poder 
judicial  (GerVerfG.  vom  15.  September  1870)  Art.  731—762;  vgl.  Ordnung  vom 
17.  April  1890  über  das  justizministerielle  Verwaltungsverfahren,  Art.  117  bis 
127.  Im  übrigen  ist  zu  vgl.  für  Notare  G.  vom  28.  Mai  1862,  Art.  41—44;  für 
Verwaltungsbeamte  G.  vom  2.  Oktober  1877  (Gemeindeordnung  —  Organizaciön 
de  los  ayuntamientos),  Art.  182  ff.,  203  und  G.  vom  29.  August  1882  (über  die 
Provinzialverwaltung)  Art.  130ff.;  für  Gefängnisbeamte  königl.  Vdg.  vom  16.  März 
1891,  Art.  43ff. 

§  8.   Die  Yerbreeheii  gegen  die  Einzelnen. 

I.  Verbr.  gegen  die  Person  —  Tit.  VIII,  Art.  417—447.  1.  Die  Tötungen. 
Erschwerte  Fälle  sind  a)  Verwandtentötung  (parricidio),  d.  h.  des  (ehelichen 
oder  unehelichen)  Vaters,  der  Mutter,  des  Sohnes,  sonstiger  Verwandter  auf- 
oder  absteigender  Linie,  des  Gatten  —  Art.  417,  Strafe:  cadena  perpetua  bis 
Todesstrafe,  vgl.  o.  S.  509  über  Behandlung  des  Extraneus;  b)  Mord  (asesinato 
vgl.  S.  494,  495,  506),  d.  h.  Tötung  mit  alevosia,  für  einen  Preis  oder  eine  ver- 
sprochene Belohnung,  mittels  Überschwenmiung,  Brandstiftung  oder  Giftes, 
mit  bewusstem  Vorbedacht  (s.  o.  S.  509),  in  der  Wut  (ensanamiento)  unter 
überlegter  und  unmenschlicher  Vermehrung  der  Schmerzen  des  Opfers  — 
Art.  418,  Strafe:  cadena  temporal  im  grado  mäximo  bis  Todesstrafe;  c)  Raub- 
mord s.  Art.  516  Z.  1.  Gewöhnlicher  B^all:  Totschlag  (homicidio)  —  Art.  419, 
Strafe:  reclusiön  temporal.  Für  die  Fälle  der  Art.  417 — 419  können  die  an 
sich  auf  Fehlschlagung  und  Versuch  stehenden  Strafen  um  eine  Stufe  herab- 
gesetzt werden  —  Art.  422.  Mildere  Fälle  sind  a)  Kindestötung  (infanticidio), 
sie  muss  geschehen,  um  die  Schande  (deshonra,  in  andern  spanischen  Gesetz- 
gebungen häufig  fragilidad)  zu  verdecken,  das  Kind  darf  noch  nicht  3  Tage 
alt  sein;  privilegiert  sind  die  Mutter  und  in  geringerem  Grade  deren  Eltern 
—  Art.  424 ;  b)  der  GehüJfe  des  Selbstmörders,  in  geringerem  Masse,  wenn  er 
selbst  die  Ausführungshandlung  vornimmt  —  Art.  421;  c)  der  Gatte,  der  seine 
Frau  beim  Ehebruch  überrascht  und  sie  oder  den  Ehebrecher  tötet;  desgleichen 
der  Vater,  der  seine  noch  nicht  23jährige  Tochter  mit  ihrem  Verführer  in 
seinem  Hause  überrascht  —  sofern  jene  Personen  die  Unzucht  nicht  angeregt 
oder  erleichtert  haben  —  Art.  438,  Strafe  destierro.  2.  Das  Abschiessen  einer 
Feuerwaffe  gegen  eine  Person  steht,  wenn  darin  nicht  Fehlschlagung  oder 
Versuch  des  parricidio,  asesinato  oder  homicidio  oder  ein  anderes  Verbrechen 
liegt,  unter  einer  besondem  Strafe  —  Art.  423.  In  der  Anwendung  dieses 
Artikels  und  in  der  Abgrenzung  seines  Gebietes  gegen  den  versuchten  Tot- 
schlag ist  die  Rechtsprechung  des  Höchsten  Gerichtshofes  sehr  kasuistisch  und 


§  8.    Die  Verbrechen  gegen  die  Einzelnen.  521 


widerspruchsvoll.  In  einer  ganzen  Reihe  von  Fällen  sind  wiederholte  Drohungen 
längere  Zeit  oder  unmittelbar  vor  dem  Abfeuern  oder  während  dessen  oder  wieder- 
holte Schüsse  nicht  als  genügendes  Anzeichen  dafür  erachtet  worden,  dass  die 
Willensrichtung  auf  Tötung  ging.  Ehe  der  Höchste  Gerichtshof  sich  ent- 
schliesst,  von  Art.  423  abzusehen,  müssen  meistens  schon  Umstände  vorliegen, 
die  den  asesinato  konstituierien.  Bewusstsein  der  Richtung  gegen  eine  be- 
stimmte Person  wird  verlangt,  sonst  liegt  nur  die  Übertretung  des  Art.  687 
vor.  3.  Abtreibung.  Art.  425 — 428.  Besondere  Strafdrohungen  gegen  Arzt 
und  Apotheker.  4«  Körperverletzungen.  Schwerste  Fälle  a)  Entmannung  — 
Art.  429,  Strafe:  cadena  temporal  bis  cadena  perpetua;  b)  absichtliche  (de 
proposito)  Verstümmelung  —  Art.  430,  Strafe:  reclusiön  temporal;  c)  beim 
Raube  die  schweren  Verletzungen  des  Art.  431,  Z.  1  und  2  —  Art.  516  Z.  2 
und  3,  Strafe  cadena  temporal  im  grado  medio  bis  zu  cadena  perpetua,  und 
cadena  temporal;  d)  bei  der  Freiheitsberaubung  schwere  Körperverletzung  — 
Art.  496,  Z.  3,  Strafe  reclusiön  temporal.  Schwere  Verletzungen  (lesiones 
graves)  sind  vier  nach  dem  Erfolg  unterschiedene  Fälle:  a)  Blödsinn,  Impotenz, 
Blindheit,  b)  Verlust  eines  Auges,  eines  wichtigen  Gliedes,  dauernde  ünfUhigheit 
zu  der  bisher  betriebenen  Arbeit,  c)  Entstellung,  Verlust  eines  minder  wich- 
tigen Gliedes,  Arbeitsunfähigkeit  über  90  Tage  (Berechnung  a  momento  ad 
momentum),  d)  Krankheit  oder  Arbeitsunfähigkeit  über  30  Tage  (Art.  431 ,  Z.  1 — 4). 
Die  Strafen  sind  bedeutend  höher,  wenn  die  Umstände  des  parricidio  oder  ase- 
sinato vorliegen.  Überschreitung  des  Züchtigungsrechts  von  selten  des  Vaters 
gegenüber  dem  Sohn  gehört  nicht  hierher.  Die  Verletzung  kann  auch  mittels 
Giftbeibringung  oder  Benutzung  der  Leichtgläubigkeit  oder  Geistesschwach- 
heit des  Verletzten  geschehen.  Privilegiert  ist  wieder  der  Fall  der  Ertappung 
auf  Unzucht  (Strafe  destierro).  Vgl.  Art.  431,  432,  438.  Minder  schwere  Ver- 
letzungen (lesiones  menos  graves)  liegen  vor,  wenn  die  Arbeitsunfähigkeit 
8 — 30  Tage  betrug  oder  ärztliche  Behandlung  von  dieser  Dauer  nötig  war. 
Die  Strafen  sind  höher  a)  bei  offenbar  beleidigender  Absicht  oder  unter  be- 
schimpfenden Umständen,  b)  wenn  Aszendenten,  Vormünder,  Lehrherren  oder 
obrigkeitliche  Personen  verletzt  wurden.  (Art.  433,  434.)  Straflosigkeit  tritt 
im  Fall  des  Art.  438  (Ertappung  auf  Unzucht)  ein.  Eigenartig  gestaltet  ist 
der  Fall  der  Verstümmelung  und  Selbstverstümmelung,  um  sich  dem  Militär- 
dienst zu  entziehen  (Art.  436).  Leichte  Verletzungen  gehören  zu  den  Über- 
tretungen :  a)  Verursachung  einer  Arbeitsunfähigkeit  oder  ärztlichen  Behand- 
lung von  1 — 7  Tagen  —  Art.  602;  b)  Verletzung  ohne  Arbeitsunfähigkeit  oder 
Notwendigkeit  ärztlicher  Behandlung  —  Art.  603  Z.  1,  vgl.  Z.  2;  c)  Schlagen 
und  Misshandeln  ohne  äussere  Verletzung  —  Art.  604,  Z.  1.  5.  Raufhandel 
(rifia  tumultuaria).  Ist  der  Tod  erfolgt,  ohne  dass  man  den  Urheber  kennt, 
so  haften  diejenigen,  die  lesiones  graves  beigebracht  haben,  mit  prisiön  mayor; 
sind  auch  diese  nicht  bekannt,  so  werden  alle,  die  Gewaltthätigkeiten  an  der 
Person  des  Erschlagenen  begangen  haben,  mit  prisiön  correccional  im  grado 
medio  und  mäximo  bestraft.  Diesen  letzteren  Personen  ist  für  den  Fall,  dass 
schwere  Verletzungen  erfolgt  sind  und  man  deren  Urheber  nicht  kennt,  die 
den  Verletzungen  entsprechende  Strafe  um  eine  Stufe  erniedrigt  angedroht. 
Art.  420.  435  und  die  Übertretungen  603  Z.  12.  6.  Zweikampf,  Art.  439—447; 
vgl.  ob.  Art.  268. 

U.  Sittlichkeitsverbr.  —  Tit.  IX,  Art.  448—466.  1.  Ehebruch  begeht  die 
Frau,  die  mit  einem  Dritten  den  Beischlaf  vollzieht;  der  Mann  nur,  wenn  er 
eine  Kebse  im  Ehehause  oder  zu  öffentlichem  Ärgernis  ausserhalb  dessen  hat. 
Die  Klage  muss  vom  Ehegatten  ausgehen,  der  auch  die  Strafe  erlassen  kann; 
das  Schicksal  des  schuldigen  Ehegatten  wird  von  dem  mitschuldigen  Dritten 
geteilt.     2.  Notzucht,   d.  h.   Beischlaf  mit    einem   Weib    oder   widernatürliche 


522  Spanien.  —  Das  geltende  spanische  StGB. 


Unzucht  mit  irgend  einer  Person,  wenn  sie  a)  dnreh  Gewalt  oder  Binschüch- 
tening  erzwungen  sind,  b)  mit  Geisteskranken  oder  Willenlosen,  c)  mit  Per- 
sonen anter  12  Jahren  geschehen.  Z»  Erregong  öffentlichen  Ärgernisses, 
darunter  auch  Abschluss  einer  Civllehe,  wenn  die  frühere  kirchliche  noch  un- 
gelöst ist.  4.  Unzucht  a)  einer  obrigkeitlichen  Person,  eines  Priesters,  Vor- 
mundes u.  a.  oder  b)  einer  andern  Person  unter  Anwendung  von  List,  mit 
einem  Mädchen  von  12 — 23  Jahren;  Unzucht  mit  der  Schwester  oder  Deszen- 
dentin ;  gewohnheitsmässige  oder  unter  Missbrauch  des  Ansehens  vorgenonmiene 
Verkuppelung  Mindeijähriger.     5«  Entführung  (rapto). 

ni.  Verbr.  gegen  die  Ehre  —  Tit.  X,  Art.  467— 482.  Es  ist  unter- 
schieden Verleumdung  (calumnia)  d.  h.  falsche  Anschuldigung  eines  Verbr., 
wegen  dessen  amtlich  eingeschritten  werden  muss,  —  und  Beleidigung  (iijuria) 
d.  h.  jede  zur  Verunehrung,  Diskreditierung  oder  Verächtlichmachung  einer 
andern  Person  vorgebrachte  Äusserung  oder  vorgenommene  Handlung.  Straf- 
abstufung nach  schweren  (z.  B.  falsche  Anschuldigung  wegen  eines  Verbr., 
das  nicht  Offizialdelikt  ist  u.  a.)  und  leichten  Beleidigniugen,  bei  letzteren  sind 
die  nichtöffentlichen  Übertretimgen  (s.  Art.  605  Z.  1).  Wahrheitsbeweis  ist  nur 
bei  Verleumdung  zugelassen. 

IV.  Verbr.  gegen  den  Personenstand,  Kindesunterschiebung,  Schliessung 
ungesetzlicher  Ehen  —  Tit.  XI,  Art.  483—494. 

V.  Verbr.  gegen  die  Freiheit  und  Rechtssicherheit  —  Tit.  XII,  Art.  495 — 514. 
1«  Einsperrung  eines  andern,  gewöhnlicher  Fall,  Art.  495.  Strafe  prisiön  mayor; 
wer  das  Gef.  hergiebt,  steht  gleich.  Bedeutend  milder  bei  Freilassung  binnen 
3  Tagen,  wenn  noch  nicht  gerichtlich  eingeschritten  ist.  Schwere  Fälle  (Strafe 
reclusiön  temporal):  a)  Dauer  der  Einsperrung  über  20  Tage,  b)  unter  An- 
massung  obrigkeitlicher  Gewalt,  c)  wenn  dem  Eingesperrten  schwere  Körper- 
verletzungen beigebracht  sind,  oder  er  mit  dem  Tode  bedroht  worden  ist. 
Am  leichtesten  ist  vorläufige  Festnahme  eines  andern  gestraft.  (Art.  497.) 
8.  Entführung  (sustracciön)  Minderjähriger,  mit  cadena  temporal  gestraft.  Die- 
selbe Strafe  trifft  dei\jenigen,  dem  die  Person  eines  Mindeijährigen  anvertraut 
war,  und  der  ihn  seinen  Eltern  oder  Vormündern  nicht  zurückliefert,  auch 
über  sein  Verschwinden  keine  genügende  Erklärung  zu  geben  vermag.  Wesent- 
lich milder  gestraft  wird,  wer  einen  über  7  Jahre  alten  Minderjährigen  ver- 
leitet, das  Haus  der  ihn  überwachenden  Personen  zu  verlassen.  3.  Eindes- 
aussetzung (abandono  de  niüo,  Art.  501);  Objekt  ein  Kind  unter  7  Jahren;  er- 
höhte Strafe,  wenn  eine  Lebensgefährdung  oder  der  Tod  des  Kindes  erfolgt 
ist.  4.  Wer  einen  Menschen  widerrechtlich  eingesperrt,  oder  einen  unter 
7  Jahre  alten  Menschen  entführt  hat  und  über  seinen  Aufenthaltsort  keine 
Rechenschaft  giebt,  auch  nicht  glaubhaft  macht,  dass  er  ihn  freigelassen  hat; 
desgl.  wer  ein  Kind  unter  7  Jahren  verlässt  und  nicht  glaubhaft  macht,  dass 
er  es  ohne  Begehung  eines  weiteren  Verbr.  in  verlassener  Lage  zurückliess, 
wird  nach  Art.  503  mit  cadena  temporal  im  grado  mäximo  bis  zu  cadena 
perpetua  gestraft.  5.  Hausfriedensbruch,  Art.  504 — 506.  6.  Bedrohung  und 
Nötigung  (amenaza  und  coacciön)  in  mehrfachen  Abstufungen,  Art.  507 — 511. 
Die  leichtesten  Fälle  sind  Übertretungen  (Art.  604  Z.  2 — 5).  7.  Enthüllung 
fremder  Geheimnisse.  Unter  Strafe  gestellt  ist  das  Ansichbringen  fremder 
Papiere,  um  die  Geheimnisse  eines  andern  zu  entdecken  (ausgenommen  der 
Gattin,  des  Sohnes,  des  Mündels);  erhöhte  Strafe  bei  Verbreitung  dieser  Ge- 
heimnisse. Etwas  schwerer  ist  der  Fall,  wo  der  Verwalter,  Angestellte  oder 
Zögling  die  Geheimnisse  seines  Prinzipals  verbreitet;  am  schwersten  gestraft 
wird  die  Verbreitung  von  Geschäftsgeheimnissen  durch  die  Angestellten  des 
betreffenden  industriellen  Unternehmens.     (Art.  512 — 514.) 

VI.  Die    Verbr.    gegen    das    Eigentum    behandelt    Tit.  XIII  in   9  Kap., 


§  8.    Die  Verbrechen  gegen  die  Einzelnen.  523 


Art.  515 — 580.  1.  An  der  Spitze  steht  der  Raub  (robo),  Art.  515 — 529.  Ihn 
begeht  (Art.  515),  wer  in  gewinnsüchtiger  Absicht  sich  einer  fremden  beweg- 
lichen Sache  mit  Gewalt  (violencia)  oder  Drohungen  (intimidaciön)  gegen  die 
Person  oder  mit  Gewalt  (fuerza)  an  Sachen  bemächtigt.  Gleichgestellt  (Art.  520) 
ist  der  Fall,  wenn  jemand  zu  betrügerischen  Zwecken  einen  Andern  mit  Ge- 
walt oder  Drohung  nötigt,  eine  öffentliche  Schrift  oder  eine  Urkunde  zu  unter- 
zeichnen, zu  überlassen  oder  auszuhändigen.  Schwerste  Fälle  des  Raubes  mit 
Gewalt  oder  Drohung  gegen  Personen  sind,  a)  wenn  aus  Veranlassung  oder 
bei  Gelegenheit  des  Raubes  ein  Totschlag  begangen  wird  (o.  S.  520,  cadena 
perpetua  bis  Todesstrafe,  für  Versuch  und  Fehlschlagung  cadena  temporal  im 
grado  mäximo  bis  zu  cadena  perpetua);  b)  wenn  der  Raub  von  absichtlich 
begangenen  Gewaltthätigkeiten  oder  Verstümmelungen  begleitet  war,  oder 
wenn  bei  Gelegenheit  oder  aus  Veranlassung  des  Raubes  eine  der  Verletzungen 
des  Art.  431,  Z.  1  (Blödsinn,  Impotenz,  Blindheit)  verursacht  worden  ist,  oder 
wenn  der  Beraubte  zur  Erlangung  eines  Lösegeldes  (bajo  rescate)  oder  über 
1  Tag  gefangen  gehalten  worden  ist  —  Strafe:  cadena  temporal  im  grado 
medio  bis  zu  cadena  perpetua;  c)  wenn  aus  Veranlassung  oder  bei  Gelegen- 
heit des  Raubes  eine  der  Verletzungen  des  Art.  431  Z.  2  (Verlust  eines  Auges 
oder  wichtigen  Gliedes  oder  Unfähigkeit  zu  der  bisher  verrichteten  Arbeit) 
verursacht  worden  ist  —  Strafe:  cadena  temporal;  d)  wenn  die  angewendete 
Gewalt  oder  Drohung  von  offenbar  unnötiger  Schwere  war,  oder  wenn  einer 
der  Thäter  einer  für  den  Raub  nicht  verantwortlichen  Person  eine  der  Ver- 
letzungen des  Art.  431 ,  Z.  3  u.  4  (Entstellung,  Verlust  eines  weniger  wichtigen 
Gliedes,  Arbeitsunfähigkeit  über  90  oder  über  30  Tage)  beigebracht  hat  — 
Strafe:  presidio  mayor  im  grado  medio  bis  zu  cadena  temporal  im  grado 
mfnimo;  e)  die  übrigen  Fälle  der  Gewalt  oder  Drohung  gegen  Personen  — 
Strafe:  presidio  correccional  bis  zu  presidio  mayor  im  grado  medio.  Eine 
zweite  Gruppe  schwerer  Fälle  bildet  der  Raub  in  einem  Wohnhause  (Definition 
Art.  523  §  1)  oder  öffentlichen  oder  zum  Gottesdienst  bestimmten  Gebäude, 
wenn  die  Thäter  in  das  Wohnhaus,  das  Gebäude  oder  eine  ihrer  Pertinenzen 
(Definition  Art.  523  §  2,  3)  gelangt  sind  a)  mittels  escalamiento  (S.  509  Art.  9 
Z.  21),  b)  mittels  Durchbrechens  von  Wand,  Boden  oder  Decke,  Auf  brechens  von 
Thüren  oder  Fenstern,  c)  unter  Anwendung  von  falschen  Schlüsseln  (Definition 
Art.  529),  Dietrichen  oder  ähnlichen  Werkzeugen,  d)  unter  Erbrechen  von 
Thüren,  Schränken,  Kästen  oder  anderen  verschlossenen  oder  versiegelten  Be- 
hältnissen, oder  unter  ihrer  Wegnahme,  um  sie  draussen  gewaltsam  zu  öffnen, 
e)  unter  angenommenem  Namen  oder  dem  Schein  einer  obrigkeitlichen  Person. 
Bei  dieser  zweiten  Gruppe  tritt  presidio  mayor  im  grado  medio  bis  zu  cadena 
temporal  im  grado  minimo  ein,  wenn  Waffen  mitgeführt  wurden  oder  der  Wert  des 
Geraubten  500  pesetas  überstieg;  um  eine  Stufe  niedere  Strafe,  wenn  eine  der  bei- 
den Bedingungen  fehlte;  um  2  Stufen  niedere,  wenn  beide  fehlten;  waren  die  ge- 
raubten Gegenstände  zum  Gottesdienst  bestimmt,  so  ist  je  der  grado  mäximo 
der  betreffenden  Stufen  anzuwenden.  Der  grado  mäximo  ist  femer  in  allen 
Fällen  der  zweiten  Gruppe  und  in  denen  der  ersten  Gruppe  unter  c  bis  e  zu 
verhängen,  wenn  der  Raub  im  freien  Felde  (en  despoblado)  und  in  Bande 
(en  cuadrilla,  Definition  Art.  518  §2:  mehr  als  drei  bewaffnete  Übelthäter)  be- 
gangen wird.  Der  Bandenführer  haftet  in  den  Fällen  der  ersten  Gruppe  auch 
bei  nur  teilweiser  Bewaffnung  der  Bande  mit  der  pena  superior.  Die  bei  einem 
derartigen  Raub  anwesenden  Missethäter  werden  als  Urheber  der  begangenen 
körperlichen  Angriffe  bestraft,  wenn  sie  nicht  nachweislich  diese  zu  hindern 
versuchten;  aus  der  gewöhnlichen  Zusammengehörigkeit  mit  einer  Bande  wird 
Anwesenheit  präsumiert  (Art.  518  §  2,  3).  Über  die  etwaige  Zuständigkeit  der 
Militärgerichte  vgl.   den  nach  verschiedenen  Urteilen   des  Höchsten   Gerichts- 


524  Spanien.  —  Das  geltende  spanische  StGB. 


hofes  noch  gültigen  (?)  Art.  8  der  Vdg.  der  Cortes  vom  17.  April  1821.  Mil- 
dere Fälle  sind  zunächst  in  ganz  bedeutendem  Masse  die  der  zweiten  Gruppe, 
wenn  der  Raub  in  einer  Pertinenz  jener  Gebäude  unter  Übersteigung  einer 
Aussenmauer  ausgeführt  ist  und  sich  auf  die  Entwendung  von  Halmfrüchten  in  der 
Gestalt  von  Nahrungsmitteln,  Früchten  oder  Holz  im  Werte  von  höchstens  25  pesetas 
beschränkt  hat.  Femer  die  nicht  unter  die  zweite  Gruppe  fallenden  Raube,  bei 
denen  die  Mittel  a  bis  d  der  zweiten  Gruppe  angewendet  sind;  erste  Straf  drohung: 
presidio  correccional  im  grado  medio  und  mäximo  für  Raub  über  500  pesetas, 
pena  inferior  für  solchen  von  25 — 500  pesetas;  zweite  Straf  drohung:  arresto 
mayor  im  grado  medio  und  mäximo  für  Raub  unter  25  pesetas,  pena  inferior, 
wenn  Nahrungsmittel,  Früchte,  Holz  geraubt  werden.  In  allen  milderen  Fällen 
tritt  für  den  zweiten  und  ferneren  Rückfall  pena  superior  ein  (Art.  527).  — 
Endlich  stellt  Art.  528  einige  Vorbereitungshandlungen  (Besitz  und  Anfertigung 
von  Dietrichen  u.  a.)  unter  Strafe.  2,  Diebstahl  (Art.  530 — 533)  begeht, 
a)  wer  in  gewinnsüchtiger  Absicht,  ohne  Gewalt  oder  Drohung  gegen  Person 
und  ohne  Gewalt  an  Sachen,  eine  fremde  bewegliche  Sache  ohne* den  Willen 
ihres  Eigentümers  wegnimmt;  b)  wer  in  gewinnsüchtiger  Absicht  sich  eine  ge- 
fundene Sache,  deren  Eigentümer  er  kennt,  aneignet;  c)  wer  den  Ertrag  oder 
den  Gegenstand  einer  von  ihm  begangenen  Sachbeschädigung  entzieht  oder 
ausnutzt  (dieser  Fall  ist  sehr  kasuistisch  geregelt,  es  fallen  nicht  hierher  die 
Übertretungen  der  Art.  607  Z.  1—3,  608  Z.  1,  610  Z.  1,  611,  613,  617  §2, 
618;  dagegen  vgl.  Art.  50  des  Jagdgesetzes  vom  10.  Januar  1879),  Strafabstufung 
nach  dem  Wert  des  Gestohlenen:  über  2500  pesetas,  500 — 2500  pesetas,  100 
bis  500  pesetas,  10 — 100  pesetas,  unter  10  pesetas;  dem  letzteren  Falle  steht 
Diebstahl  von  Nahrungsmitteln,  Früchten  oder  Holz  unter  20  pesetas  gleich.^) 
Art.  532  regelt  Fälle  gewaltsamen  oder  unbefugten  Eindringens  in  fremde 
Grundstücke  Jagens  oder  Fischens  halber.  Art.  533  setzt  die  Strafen  um  eine 
Stufe  herauf  für  den  Diebstahl  a)  gottesdienstlicher  Gegenstände  oder  aus 
gottesdienstlichen  Gebäuden,  b)  des  Bediensteten  oder  unter  grobem  Ver- 
trauensbruch, c)  im  zweiten  oder  ferneren  Rückfall.  3.  Besitzanmassung  un- 
beweglicher Sachen  oder  Rechte  unter  Gewalt  oder  Drohung  gegen  die  Person 
stellt  das  Delikt  der  usurpaciön  dar  (Kap.  3).  Hierher  ist  auch  die  Grenz- 
steinverrückung gezogen  (Art.  535).  4.  Betrügereien  (defraudaciones),  Art.  536 
bis  554,  zerfallen  in  (Abschnitt  1)  Exekutionsvereitelung,  Bankerutt  (quiebra) 
und  strafbare  Zahlungsunfähigkeit  (Strafabstufung,  jenachdem  ob  nach  den 
Bestimmungen  des  Handelsgesetzbuches  Art.  888 — 890  der  Konkursschuldner 
als  in  insolvencia  fraudulenta  oder  in  insolvencia  culpable  verfallen  erklärt 
wird)  —  Art.  536 — 546,  und  in  (Abschnitt  2)  Betrug  und  andere  Gaunereien 
(estafas  y  otros  engafios),  worunter  auch  Veräusserung  oder  Verpfändung 
einer  fremden  Sache,  Entziehung  der  eigenen  Sache  aus  dem  Besitz  des  Be- 
rechtigten, Abschluss  eines  Schein  Vertrages  zum  Schaden  Dritter,  Ausbeutung 
Minderjähriger  gebracht  sind  —  Art.  547 — 554.  5.  Kap.  5  umfasst  die  Machen- 
schaften, durch  die  der  Preis  von  Gegenständen  geändert  werden  soll:  Ab- 
haltung vom  Mitbieten  bei  Versteigerungen,  missbräuchliche  Bildung  von  Preis- 
ringen, Aussprengung  falscher  Gerüchte  usw.  —  Art.  555 — 558.  6.  Art.  559 
und  560  handeln  von  Verbr.  der  Pfandleiher  (prestamistas).  ?•  Die  gemein- 
gefährlichen Verbr.  anderer  StGB,  sind  etwa  durch  Art.  561 — 574  repräsentiert. 
Die  Brandstiftung  wird  in  den  verschiedensten  Abstufungen  (von  cadena  perpetua 
bis  zu  arresto  mayor  im  gradio  medio)  geahndet,  je  nach  der  Art  des  Objekts 
und  der  Grösse  des  angerichteten  Schadens.    Die  Gefahr  der  Weiterverbreitung 


0  Vgl.  über  das  falsche  Citat  des  Art.  601  Z.  1  und  über  den  kleinsten  Dieb- 
stahl und  den  Mundraub    o.  S.  502  Anm.  1. 


§  9.    Die  Übertretungen.  525 


wirkt  straferhöhend.  Mit  gleichen  Strafen  ist  bedroht  die  Herbeiftihining  anderer 
Unglücksfälle  (estragos):  Untergang  oder  Strandung  eines  Schiffes,  Über- 
schwemmung, Explosion,  Zugentgleisung,  Signalverstellung,  Zerstörung  tele- 
graphischer Leitungen  u.  a.  (Art.  572  vgl.  oben  S.  518/519).  Brandstiftung  an 
der  eigenen  Sache  steht  unter  Strafe,  wenn  sie  geschieht,  um  absiclitlich  einen 
Dritten  zu  schädigen,  oder  wenn  eine  solche  Schädigung  eingetreten  ist,  oder 
wenn  ein  Gebäude  in  einer  Ortschaft  angezündet  wird.  Kap.  8.  behandelt  die 
Sachbeschädigungen  (daiios),  deren  Begriff  (Art.  575)  eine  Art  clausula  gene- 
ralis zu  den  sonstigen  Vermögensverbrechen  bildet.  Art.  575 — 579.  Die  leich- 
testen Fälle  sind  Übertretungen,  vgl.  Art.  585,  616,  619.  9.  Art.  580  bestimmt 
den  Ausschluss  der  Strafbarkeit  bei  Diebstählen,  Betrügereien  und  Sach- 
beschädigungen, die  vorgenommen  werden  zwischen  Ehegatten,^)  Verwandten 
und  Verschwägerten  auf-  und  absteigender  Linie,  zusammenlebenden  Brüdern 
und  Schwägern.  Weder  die  civile  Verantwortlichkeit,  noch  die  strafrechtliche 
eines  Extraneus  werden  hierdurch  berührt. 

VII.  Tit.  XrV,  Art.  581  von  der  imprudencia  temeraria  (Fahrlässigkeit) 
ist  bereits  oben  S.  505  behandelt.     Titel  XV  s.  u.  S.  528,  §  10,  16. 

§  9.   Die  Übertretungen. 

I.  Von  den  Bestimmungen  des  allgemeinen  Teiles  werden  für  Buch  III 
einige  abgeändert  (Titel  V,  Art.  620 — 625).  So  ist  in  der  Strafzumessung  das 
Gericht  nicht  an  die  sonstigen  komplizierten  Vorschriften  gebunden,  sondern 
würdigt  den  Fall  nach  freiem  Ermessen  (vgl.  oben  S.  515).  Auf  die  Teil- 
nehmer (cömplices)  Ündet  die  Strafe  der  Urheber  (autores)  im  grado  minimo 
Anwendung.  Die  Begünstiger  (encubridores)  sind,  wie  oben  S.  506  gesagt, 
straflos.  Die  Nebenstrafe  der  Einziehung  ist  nicht  so  bindend,  wie  in  Art.  63 
(S.  513)  für  Verbr.,  vorgeschrieben;  sondern  auf  die  in  Art.  622  genannten 
Gegenstände  beschränkt  und  auch  hier  fakultativ.  Bei  Unfähigkeit,  die  Geld- 
strafe zu  zahlen  und  sonstigen  Geld  Verbindlichkeiten  aus  einer  Übertretung 
gegen  einen  Dritten  zu  genügen,  tritt  für  je  5  pesetas  ein  Tag  Arrest  ein.  In 
künftigen  Polizei-Vdgn.  dürfen  keine  höheren  Strafen,  als  die  des  III.  Buches 
angedroht  sein.  Vgl.  hierzu  die  Gemeindeordnung  (Organizaciön  de  los  Ayun- 
tamientos),  G.  vom  2.  Oktober  1877,  Art.  77  (je  nach  Grösse  des  Ortes  dürfen 
nur  Strafen  bis  zu  50,  25,  15  pesetas  ortspolizeilich  angedroht  werden).  Art  72 
§  2,  secundo.     Art.  74    Z.  1. 

II.  Unter  den  einzelnen  Übertretungen  sind  gemäss  Art.  5  §  2  als  die 
schwereren  die  gegen  Rechtsgüter  der  einzelnen  gerichteten  anzusehen,  da  bei 
ihnen  auch  die  Fehlschlagung  strafbar  ist  (s.  o.  S.  504).  1.  Titel  III,  Art.  602 
bis  605  umfasst  Übertretungen  gegen  die  Person.  Art.  602,  603  Z.  1,  2,  12, 
604  Z.  1,  2—5,  605  Z.  1  und  3  sind  bereits  oben  zu  Art.  431,  435,  474,  507  ff., 
581  angeführt.  Art.  603  Z.  2 — 8 "  bestraft  verschiedene  Übertretungen  ehelicher 
und  von  Familien-,  Vormunds-  und  Mündelpflichten.  Arrest  von  5 — 15  Tagen 
und  Verweis  erhalten  nach  Art.  603  Z.  9  diejenigen,  die  ein  Kind  unter  7  Jah- 
ren in  verlassener  und  sein  Leben  gefährdender  Lage  antreffen  und  es  nicht 
der  Behörde  oder  seiner  Familie  übergeben;  nach  Art.  603  Z.  11  diejenigen, 
die  auf  freiem  Felde  einer  Person,  die  sie  geschlagen  oder  in  Gefahr  um- 
zukommen antreffen,  nicht  zu  Hülfe  eilen,  wenn  sie  es  ohne  eigenen  Nachteil 
thun  könnten.  Ähnlich  ist  der  Fall  des  Art.  605  Z.  2:  diejenigen,  die  trotz 
Ersuchens  anderer  es  unterlassen,  diesen  zur  Vermeidung  eines  grösseren  Übels 


*)  Auch  wenn  der  andere   bereits   verstorben   ist,   aber   noch   kein  Dritter   die 
Sachen  in  Besitz  hat. 


526  Spanien.  —  Das  Spezial8traA*echt. 


die  erbetene  Hülfe  zu  gewähren,  obwohl  ihnen  daraus  kein  Nachteil  erwachsen 
konnte,  werden  mit  Geldstrafe  von  5 — 25  pesetas  und  Verweis  gestraft,  i.  Tit.  IV, 
Art.  606 — 619  behandelt  die  Übertretungen  gegen  das  Eigentum,  auch  bereits 
teilweise  erwähnt.  Der  komplementäre  Charakter  des  Übertretungsstrafrechts 
zeigt  sich  hier  besonders  deutlich.  Mit  Strafe  bedroht  werden  die  in  Buch  II 
nicht  einzureihenden  Fälle  von  Hausfriedensbruch,  Betreten  fremder  Grund- 
stücke (insbesondere  Jagens  und  Fischens  halber,  Art.  608,  609),  Sachbeschä- 
digung (insbesondere  durch  Vieh,  das  auf  iVemden  Grundstücken  Schaden  an- 
richtet, Art.  611— 613  —  zum  Teil  sehr  kleine  Geldstrafen  für  das  Stück  Vieh 
herab  bis  zu  ^/^  und  ^/g  peseta),  Brandstiftung  und  Baumschaden.  Art.  606 
straft  mit  arresto  menor  diejenigen,  die  um  Vorteils  oder  Gewinnes  willen  pro- 
phezeien und  wahrsagen  oder  in  ähnlicher  Weise  die  Leichtgläubigkeit  des 
Publikums  missbrauchen.  Art.  619  behandelt  die  fahrlässige  Vermögens- 
schädigung (s.o.  S.  505  Anm.  5,  525;  Strafe:  V« — Vi  ^^  verursachten  ab- 
schätzbaren Schadens,  sonst  5 — 75  pesetas). 

III.  Titel  1,  Kap.  1  umfasst  die  Pressübertretungen  (Zuwiderhandlungen 
gegen  Ordnungsvorschriften  des  Pressgesetzes  —  Art.  584,  s.  u.  §  10);  Kap.  2 
die  Übertretungen  gegen  die  öffentliche  Ordnung,  wovon  Art.  587  schon  be- 
handelt ist  (S.  521,  §8,  12),  während  die  übrigen  leichtere  Beschädigungen  von 
Denkmälern  und  Gemälden,^)  leichtere  Störungen  des  Gottesdienstes,  des  öffent- 
lichen Anstandes,  der  Gerichtssitzungen  u.  a.;  ferner  die  Verheimlichung  der 
Personalien  vor  der  Behörde  (Art.  590),  die  Ausübung  eines  Gewerbes,  den 
Mummenschanz,  das  Waffentragen  ohne  bestimmte  Erlaubnis  ahnden.  Titel  U 
behandelt  viele  kleine  Übertretungen  gegen  die  allgemeinen  Interessen  und 
gegen  ortspolizeiliche  Vorschriften  allgemein  vorbeugenden  Charakters,  z.  B. 
kleine  Münzdelikte  (so  Art.  592  Z.  2,  oben  S.  519,  §  7,  IV  2),  Verstösse  gegen  das 
richtige  Mass  und  Gewicht,  gegen  die  Unverfälschtheit  der  Lebensmittel,  gegen 
Verbot  von  Hazardspielen  u.  a.  —  Art.  592 — 601. 


m.  Das  Spezialstrafrecht^ 

Litteratur.  Colecciön  Leqislativa  de  EspaSa.  (Amtliche  GS.)  Madrid,  Imprenta 
de  Ministerio  de  Gracia  y  Justicia.  Bis  1891  144  Bde.  Ausgaben:  am  empfehlens- 
wertesten die  oben  citierten  Leyes  penales  de  Espana  v.  Medina  und  Maba^ön,  Madrid 
1891 :  Ap6ndice  que  conti  ene  las  Leyes,  Reales  decretos,  Reales  Orden  es,  Reglamentos 
y  Circulares  de  aplicaci6n  mas  frecuenta  en  los  Tribunales  ordinarios.  Sodann  Com- 
piLAciÖN  de  disposiciones  penales  no  comprendidas  en  el  C6digo  penal,  herausgegeben 
von  der  Redaktion  der  Zeitschrift:  El  Consultor  de  los  Ayuntamientos  etc.  Madrid 
1884.  Bravo,  Legislaciön  penal  especial.  Madrid,  Nünez.  3  Bde.  und  Anhang,  1884, 
1887.  —  Über  spezielle  Gegenstände:  Presse  —  Leyes  de  Imprenta,  Rextniön  y  Asocia- 
cioN  vigentes  en  la  Peninsula,  anotadas,  con  la  jurisprudencia  y  disposiciones  dicta- 
das  para  la  mejor  inteligen cia  de  sus  preceptos  h'asta  1><92.  Herausgegeben  von  der 
Redaktion  der  Revista  de  los  Tribunales.  Madrid,  Göngora.  2  ed.,  1892.  Bergwerke  — 
Freixa  y  Raba8Ö,  Legislaciön  de  Minas.  2.  ed.  Madrid  1892.  Sanchez  de  Ocana,  La 
Legislaciön  minera.  Madrid  1892.  Eisenbahnen  —  Colecciön  legislativa  de  ferro- 
carriles,  herausgegeben  von  der  Leitung  der  1856  gegründeten  Zeitschrift:  Gaceta 
de  los  cÄminos  de  hierro.  Madrid  1891/92.  Molto,  Legislaciön  de  ferrocarriles.  Madrid 
1891.  Steuern  und  Gebühren  —  Ordenanzas  generales  de  la  renta  de  aduanas,  Bd.  I 
=  Bd.  90  der  bei  Nünez  in  Madrid  erscheinenden  Biblioteca  judicial.  Agüt  y  Fernan- 
dez,  Legislaciön  del  impuesto  de  timbre  usw.,  concordada  con  la  antigua  renta  del 
sello  del  Estado  y  anotada  con  los  cödigos  de  comercio  y  penal.   Madrid  1882.   Forst- 


*)  Art.  585  vgl.  oben  zu  Art.  276. 

*)  Im  folgenden  ist  Ley  durch  G.,  Decreto  durch  Vdg.,  Orden  durch  Verfügung, 
Reglamento  durch  Odg.,  Ordenanzas  durch  Vorschrift  wiedergegeben. 


§  10.    Press-  und  Vereinsstrafrecht.  527 


und  Jagdrecht  —  Diaz  Rocafüll,  Legislaciön  forestal.  Madrid  1881.  Abslla,  Manual 
del  Derecho  de  Caza.  Madrid  1883  (mit  geschichtlichem  Abriss).  Ramos,  Legislacion 
de  Montes.    1888.    Bkavo,  Legislacion  de  Montes.    Madrid,  NüSez,  1892. 

§  10.  Press-  und  Yerelnsstrafrecht. 

I.  Art.  13  der  spanischen  Verfassung  bestimmt:  „Jeder  Spanier  hat  das 
Recht,  seine  Ansichten  und  Meinungen  ft*ei  zu  äussern,  sei  es  in  Worten,  sei 
es  durch  die  Schrift,  indem  er  sich  der  Presse  oder  eines  andern  ähnlichen 
Verfahrens  bedient,  ohne  einer  vorgängigen  Censur  unterworfen  zu  sein." 
1«  Die  Ausübung  dieses  Rechtes  regelt  das  Pressgesetz  vom  26.  Juli  1883,  das 
unter  Druckwerk  (Art.  1)  versteht  ,Jede  Äusserung  eines  Gedankens  auf  dem 
Wege  der  Druckerpresse,  Lithographie,  Photographie  oder  eines  andern  mecha- 
nischen Verfahrens,  das  zur  Wiedergabe  von  Worten,  Zeichen  und  Bildern  auf 
Papier,  Leinwand  oder  einem  beliebigen  andern  Stoffe  dient."  Die  Druckwerke 
zerfallen  in  Bücher  (über  200  S.),  Broschüren,  Flugblätter  (höchstens  8  S.), 
Zettel  und  Zeitschriften  (periödicos) ;  bei  den  letzteren  darf  der  zwischen  dem 
Erscheinen  zweier  Folgen  liegende  Zeitraum  nicht  30  Tage  überschreiten  (Art.  3 
§  5 ,  —  anders  die  Definition  der  Zeitschrift  im  Sinne  der  Odg.  betr.  das 
geistige  Eigentum  vom  3.  September  1880,  Art.  16). 

Für  jede  Art  von  Druckwerk  sind  zur .  Veröffentlichung  verschiedene  Er- 
fordernisse aufgestellt  (Abgabe  von  3  oder  mehr  Exemplaren  an  bestimmte 
Behörden,  Ausstellung  von  schriftlichen  Erklärungen  u.  a.);  insbesondere  für 
die  periodischen  Zeitschriften  in  Bezug  auf  die  Gründung,  die  Ausgabe  jeder 
Nummer,  die  Einstellung  des  Erscheinens  (wenn  der  Vertreter  zum  Verlust 
bürgerlicher  und  politischer  Rechte  verurteilt  ist)  —  Art.  4 — 13.  2.  Verg. 
gegen  diese  Vorschriften  sind  teils  Verbr.  nach  Art.  203 :  —  für  publicaciones 
clandestinas,  heimliche  Veröffentlichungen  (s.  Art.  18  Pressgesetz,  d.  h.  solche 
ohne  [oder  mit  falscher]  Angabe  der  Druckerei;  —  Flugblätter,  Zettel  und  Zeit- 
schriften, bei  denen  die  Veröffentlichungserfbrdemisse  nicht  beachtet  sind;  — 
einzustellende  Zeitschriften,  die  weiter  erscheinen)  haften  Urheber,  Direktoren  usw. 
In  ihrer  gleich  zu  erörternden  Reihenfolge;  für  unterlassene  Meldung  des 
Namens  des  Direktors*)  und  eventuell  des  Herausgebere  einer  periodischen 
Zeitschrift  haften  deren  Direktoren  usw.  Die  Zuwiderhandlungen  gegen  die 
übrigen  Ordnungsvorschriften  des  Pressgesetzes  werden  nach  StGB.  Art.  584 
als  Übertretung  bestraft;  der  Erlass  dieser  „correcciones"  erfolgt  im  Ver- 
waltungswege, wogegen  es  Berufung  auf  den  Rechtsweg  giebt.  Verjährung 
tritt  in  8  Tagen  ein.  Pressgesetz  Art.  19.  3.  Art.  14 — 16  regeln  die  Verpflich- 
tung zur  Aufnahme  von  Erklärungen  oder  Berichtigungen  solcher  Personen, 
die  sich  durch  eine  Veröffentlichung  verletzt  fühlen.  Die  Ausübung  des  Rechts 
dieser  Personen  und  das  an  eine  Verweigerung  der  Aufnahme  sich  anknüpfende 
Verfahren  sind  genau  geregelt,  und  ftlr  unberechtigte  Weigerung  ist  eine  Geld- 
strafe von  300  pesetas  angedroht.  4.  Die  Verantwortung  für  Pressdelikte  ist 
abweichend  von  den  sonstigen  Vorschriften  geregelt.  Nach  StGB.  Art.  12  haften 
nur  die  Urheber,  also  nicht  die  Teilnehmer  und  Begünstiger.  Urheber  ist 
(Art.  14  StGB.)  in  erster  Linie  der  wirkliche  Verfasser,  er  sei  denn  a)  nicht 
bekannt,  oder  b)  nicht  in  Spanien  wohnhaft,  oder  c)  von  strafrechtlicher  Ver- 
antwortlichkeit gemäss  Art.  8  StGB.  (s.  o.  S.  507)  frei;  in  dessen  Ermangelung 
in  zweiter  Linie  die  Direktoren  (Verleger)  unter  gleichen  Voraussetzungen;  in 
dritter  Linie  ebenso  die  Herausgeber,  in  letzter  die  Drucker,  d.  h.  Leiter  der 
Druckanstalt.  Nach  der  StPO.  Art.  816 — 823  kann  ein  in  früherer  Linie  Haftender 


*)  Oder  beim  Wechsel  in  der  Direktion  des  neuen  Direktors  (RechtsprechungV 


528  Spanien.  —  Das  Spezialstrafrecht. 


noch  im  Laafe  des  Verfahrens  statt  des  ursprünglichen  Beschuldigten  belangt 
werden;  doch  kann  anf  einen  in  ft*üherer  Linie  Haftenden  nicht  mehr  znrück- 
gegriffen  werden,  wenn  ein  ihm  Nachstehender  rechtskräftig  verurteilt  ist 
(Art.  821,  820  §  2).  Über  sofortige  Beschlagnahme  nnd  denmächstige  Ein- 
ziehung aller  Exemplare  and  des  Satzes  s.  StPO.  Art.  816,  822,  vgl.  StGB. 
Art.  63.  5.  Wie  wir  früher  sahen  (o.  S.  509),  stellt  die  Begehung  eines  Verbr. 
Termittels  der  Presse  einen  gemischten  umstand  dar,  den  die  Gerichte  als 
mildernd  oder  als  erschwerend  ansehen  können.  Es  ist  durchaus  im  Sinne 
des  G. ,  wenn  der  höchste  Gerichtshof  diesen  Umstand  bei  Beleidigungen  nie- 
mals als  mildernden  ansieht;  denn  gerade  die  Begehung  durch  die  Presse  ist 
es,  die  die  leichten  Beleidigungen  aus  Übertretungen  zu  Verbr.  macht  (Art.  605 
Z.  1,  474.  Genugthuung  durch  Urteilseinrückung  Art.  479).  Auch  die  Ver- 
öffentlichung nicht  beleidigender  Thatsachen  aus  dem  Privatleben  ist  unter 
Umständen  strafbar,  Art.  584,  Z.  2.  6.  Wird  durch  die  Presse  zur  Begehung 
eines  Verbr.  aufgefordert,  so  tritt  dessen  Strafe,  herabgesetzt  um  eine  Stufe, 
ein,  wenn  die  Aufforderung  Erfolg  hatte;  sonst  wird  sie  um  zwei  Stufen  herab- 
gesetzt —  Art.  583,  582.  Die  Ärgernis  erregende  Darstellung  der  öffentlichen 
Moral  zuwiderlaufender  Lehren  wird  nach  Art  457  mit  Geldstrafe  von  125  bis 
1250  pesetas  gestraft.  Bloss  Übercretrmgen  sind  die  Aufforderung  zum  Un- 
gehorsam gegen  Gesetz  und  Obrigkeit,  die  Verteidigung  eines  Verbr.,  die  Ver- 
letzung der  Moral,  der  guten  Sitten  und  des  öffentlichen  Anstandes  —  Art. 
584  Z.  4  (25 — 125  pesetas  Greldstrafe).  7.  Über  Benutzung  der  Presse  durch 
Justizbeamte  und  Offiziere  und  die  etwa  darin  liegenden  Amtsdelikte  s.  Ley 
orgänica  (GerVerfG.)  Art.  734  Z.  9  und  Cödigo  de  Justicia  militar  (Mil.-GB., 
unten  §  15)  Art.  329  Z.  4.  Über  die  Stellung  der  Pressvergehen  unter  den 
I>olitischen  Delikten  s.  o.  §  7,  lU  1. 

II.  Art.  13  der  Verfassung  garantiert  femer  allen  Spaniern  das  Recht, 
sich  friedlich  zu  versammeln  und  sich  für  die  Zwecke  des  menschlichen  Lebens 
in  Vereinen  zusammenzuschliessen.  1.  Als  Voraussetzungen  der  Ausübung  des 
Versammlungsrechtes  bestimmt  das  G.  vom  15.  Juni  1880  nur  die  24  Stunden 
vorher  erfolgende  schriftliche  Anzeige  an  die  Obrigkeit,  bei  Versammlungen 
anf  Strassen  und  Plätzen  deren  schriftliche  Erlaubnis.  Die  Obrigkeit  kann 
den  Versammlungen  beiwohnen  und  sie  in  den  Fällen  des  Art.  5  auflösen. 
Als  nicht  friedliche  Versammlungen  gelten  (StGB.  Art.  189)  die  unter  Verstoss 
gegen  nicht  bloss  provisorische  Polizeiverordnungen  zusammengetretenen,  die 
nächtlichen,  die  zum  grösseren  Teil  bewaffneten  und  die,  in  denen  eines  der 
Verbr.  des  StGB.  Buch  II,  Titel  III  (s.  o.  §  7,  11  4,  5)  geplant  oder  ausgeführt 
wird.  Vgl.  die  Strafbestimmungen  StGB.  Art.  189 — 197,  und  Übertretungen 
wider  die  Anzeigepflicht  Art.  597  Z.  1.  Sonst  verbotene  Versammlungen  sind 
die  im  Vorhof  des  Gebäudes  der  tagenden  Cortes  (StGB.  Art.  168.  169)  und 
die  zu  hochverräterischen  Unternehmungen  in  Beziehung  stehenden  (StGB.  Art. 
182,  186,  188).  Den  Vorschriften  des  Versammlungsgesetzes  unterliegen  nach 
seinem  Art.  7  nicht:  die  katholischen  Prozessionen,  die  Versammlungen  der 
katholischen  und  sonst  tolerierter  Religionsgesellschaften  (vgl.  königl.  Verfügung 
über  die  religiöse  Duldung  vom  23.  Oktober  1876  und  oben  §  7,  II  3),  die 
von  behördlich  genehmigten  Vereinen  und  Untemehmimgen ,  die  zu  Zwecken 
des  Theaters  und  der  Schaustellung  erfolgenden,  doch  sind  hier  die  Bestim- 
mungen der  Vdg.  vom  2.  August  1886  betr.  die  Schaustellungspolizei  und  des 
Art.  597  Z.  1  StGB,  zu  beachten.  —  Für  richterliche  Beamte  vgl.  Ley  orgänica 
Art.  7  Z.  5.  2.  Das  Vereinsrecht  ist  enthalten  im  G.  vom  30.  Juni  1887. 
S.  Art.  10  über  die  Strafbefugnis  der  Provinzialbehörden.  Verbr.  wider  dieses 
Recht  Art.  198 — 201.  Unerlaubte  Vereine  sind  a)  solche,  die  ihrem  Objekt 
oder  den  Umständen  nach  der  öffentlichen  Moral  zuwiderlaufen;  b)  solche,  die 


§  12.    Verkehrsstrafrecht.  529 


zum  Gegenstand  die  Begehung  eines  Verbr.  haben.  Die  Rechtsprechung  des 
Höchsten  Gerichtshofes  sieht  als  nicht  unter  Art.  13  der  Veifassung  fallend 
solche  Vereine  an,  die  die  Anarchie  oder  den  Kollektivismus  predigen,  da  dies 
nach  natürlichen  Gesetzen  mit  den  Zwecken  des  menschlichen  Lebens  unver- 
träglich sei.  —  Die  Verbr.,  die  öffentliche  Beamte  durch  Missachtung  des  Ver- 
eins- und  Versammlungsrechts  begehen,  s.  in  Art.  229 — 235  StGB. 

§  11.    Schutz  des  geistigen  Eigentums. 

I.  Von  dem  geistigen  Eigentum  an  wissenschaftlichen,  litterarischen  und 
künstlerischen  Werken  handelt  das  G.  vom  10.  Januar  1879  nebst  der  dazu 
ergangenen  Odg.  vom  3.  September  1880.  Über  diesen  Gegenstand  ist  femer 
der  (oben  S.  49  unter  Deutschland)  behandelte  Vertrag  (Convenio)  vom  9.  Sep- 
tember 1886  geschlossen,  betr.  die  Errichtung  eines  internationalen  Verbandes 
zum  Schutze  künstlerischer  und  schriftstellerischer  Werke,  in  Kraft  getreten 
am  5.  Dezember  1887  — ;  an  ihm  sind  ausser  Spanien  nebst  Kolonieen  be- 
teiligt Belgien,  Deutschland,  Frankreich  nebst  Kolonieen,  Grossbritannien  und 
Irland  nebst  Kolonieen,  Haiti,  Italien,  Liberia,  Schweiz,  Tunis.  Ober  den 
gleichen  Gegenstand  sind  noch  die  besonderen  Verträge  mit  Belgien  vom 
26.  Juni  1880,  Frankreich  vom  16.  Juni  1880,  Grossbritannien  vom  11.  August 
1880,  Italien  vom  28.  Juni  1880,  Portugal  vom  9.  August  1880  vorhanden, 
und  mit  Kolumbia  ist  der  Vertrag  vom  28.  November  1885,  in  Geltung  seit 
1.  Januar  1887,  geschlossen.  —  Die  Verletzung  der  geistigen  Eigentumsrechte 
anderer  (defraudaciön  de  la  propiedad  intelectual)  ist  mit  Strafen  bedroht  nach 
Art  45—49,  G.  vom  10.  Januar  1879;  Art.  52,  53,  Vdg.  vom  3.  September  1880 
unter  Hinweis  auf  den  Art.  552  StGB. 

II.  Den  Schutz  des  geistigen  Eigentums  an  gewerblichen  Erfindungen 
(propiedad  industrial)  bezweckt  das  Patent -G.  vom  30.  Juli  1878.  Die  An- 
massung  eines  Patentes  (usurpaciön)  wird  nach  Art.  49 — 52  mit  Geldstrafe  von 
200—2000,  im  Rückfalle  2001—4000  pesetas,  an  den  Teilnehmern  mit  Geld- 
strafe von  50 — 200,  im  Rückfall  201 — 2000  pesetas  gestraft.  Fälschung  von 
Patenten  unterliegt  dem  StGB.,  Buch  II.  Titel  IV,  Kap.  1  —  s.  o.  §  7,  IV  1. 
Diese  Bestimmungen  finden  gemäss  dem  Internationalen  Vertrage  vom  20.  März 
1883  betr.  Schutz  des  gewerblichen  Eigentums  auch  Anwendung  auf  die  ünter- 
thanen  von  Belgien,  Frankreich,  Guatemala,  Italien,  Niederlande,  Portugal, 
Salvador,  Schweiz,  Serbien;  nach  späteren  Beitrittserklärungen  auch  auf  die 
von  Grossbritannien,  Tunis  und  Ecuador. 

in.  Der  Schutz  der  Fabrikmarken  ist  geregelt  in  der  Königl.  Vdg.  vom 
20.  November  1850  pnd  Art.  291—293  StGB. 

§  12.    Yerkehrsstrafreeht. 

I.  In  Erfüllung  des  Internationalen  Kabel  Vertrages  vom  14.  März  1884 
(oben  S.  42/43  unter  Deutschland),  in  Spanien  verkündet  am  19.  Mai  1888,  in 
Kraft  getreten  am  1.  Mai  1888,  ist  das  G.  vom  12.  Januar  1887  über  den 
Schutz  unterseeischer  Kabel  ergangen.  Der  Bruch  oder  die  Verschlechterung 
eines  solchen  Kabels  mit  Willen  oder  aus  verschuldeter  Nachlässigkeit  (des- 
cuido  culpable),  sodass  der  telegraphische  Verkehr  ganz  oder  teilweise  xmter- 
brochen  oder  gestört  wird,  wird  nach  Art.  3  mit  prisiön  correccional  im  grado 
medio  und  mäximo  gestraft;  ausgenommen  den  Fall  des  Notstandes  für  das 
Leben  und  für  die  Sicherheit  eines  Schifl^es,  falls  die  nötigen  Vorkehrungsmass- 
regeln gegen  das  Zerreissen  oder  die  Verschlechterung  des  Kabels  getroffen 
waren;  sind  in  solchem  Fall,  um  die  Beschädigung  des  Kabels  zu  vermeiden, 

Strafgesetzgebnng  der  Gegenwart.  I.  34 


530  Spanien.  —  Das  SpeaUbt rafrecht. 


Anker,  Xetze  oder  andere  Fischereigeräte  zurückgelassen  worden,  so  haltet 
der  Kabeleigentümer  nach  Art.  6  für  Schadensersatz.  Anch  schon  für  Be- 
wegungen  nsw.  eines  Schiffes,  die  der  UnTersehrtheit  des  Kabels  gefährlich 
werden  können,  haftet  der  Führer  des  Schiffes  mit  Geldstrafe  (Art.  7».  Sind 
jene  Operationen  boshafter  Weise  ( maliciosamente ;  vorgenommen«  so  wird  das 
als  das  fehlgeschlagene  Verbr.  des  Art.  3  angesehen;  die  Boshaitigkeit  wird 
beim  zweiten  Rückfall  ohne  Zolässigkeit  eines  Gegenbeweises  präsumiert. 
Ordnungsstrafen  für  den  Fall,  dass  das  ein  Kabel  legende  oder  ausbessernde 
Fahrzeug  nicht  die  Torgeschriebenen  Signale  giebt,  oder  dass  andere  Fahr- 
zeuge diese  Signale  nicht  beachten  und  tou  ihnen  1  Seemeile,  tou  den  Kabel- 
bojen V4  Seemeile  entfernt  bleiben,  finden  sich  in  Art.  4.  Zuständigkeit  der 
Marinegericbte,  Art.  11. 

II.  Für  die  Verbr.  gegen  Eisenbahnen  ist  L  grundlegend  das  Eisenbahn- 
polizeigesetz vom  23.  November  1877:  Art.  16  Zerstörung  des  Schienenwegs 
oder  Bereitung  von  Hindernissen,  Bewirken  einer  Entgleisung;  Art.  17  subsi- 
diäre Haftung  der  Anführer  bei  einer  Rebeilion  oder  Sedition,  s.  o.  §  7,  H  4, 
m  2  zu  StGB.  Art.  243,  250  und  Vdg.  vom  21.  Januar  1874,  An.  1.  Bei 
Idealkonkurrenz  (mit  Totschlag,  Körperverletzung  u.  a.)  ist  die  schwerere 
Strafe  im  grado  mAximo  zu  verhängen  (Art.  19).  Widerstand  gegen  Bahn- 
beamte wird  nach  StGB.  263  als  atentado  gestraft  (Art.  23);  Drohung  mit  dem 
Verbr.  der  Art.  16  und  17  nach  StGB.  Art.  507,  jedoch  im  grado  mäximo, 
oder  im  grado  minimo  der  nächsthöheren  Stufe.  Art.  21  behandelt  die  fahrlässigen 
Delikte  (vgl.  StGB.  Art.  581;,  Art.  24  die  Übertretungen.  Vgl.  noch  Art.  572 
StGB,  unter  den  gemeingefährlichen  Verbr.  S«  Nähere  Ausführung  giebt  die 
Vdg.  vom  8.  September  1878  über  die  Eisenbahnpolizei,  s.  Art.  184,  180  und 
über  das  Verfahren  Art.  160 — 168.  3.  Zum  örtlichen  Geltungsgebiet  ist  zu 
vgl.  Vdg.  vom  2.  Oktober  1885  über  die  Eisenbahnen  zwischen  Spanien  und 
Portugal. 

§  13.    Das  Zollstrafreeht. 

I.  Die  Grundlage  bildet  die  königl.Vdg.  vom  20.  Juni  1852  über  Konter- 
bande und  De^audation,  deren  Art.  17 — 35  für  das  StR.  besonders  wichtig 
sind.  Die  wichtigste  Erläuterung  bilden  die  Zollvorschriften  (Ordenanzas  de 
Aduanas;  vom  19.  November  1884,  die  in  Art.  246 — 265  das  Cbertretungs- 
StR.  in  Zollsacben  sehr  ausführlich  und  kasuistisch,  häufig  unter  Androhung 
absoluter  Geldstrafen  regeln.  Vgl.  ausserdem  königl.  Vdg.  vom  16.  März  1886, 
und  Vdg.  vom  5.  Mai  1886  über  die  Staatsanwaltschaften,  Art.  59. 

IL  Die  Zolldelikte  zerfallen  in  Konterbande,  Defraudation  und  konnexe 
Delikte.  1.  Die  Fälle  der  Konterbande  werden  in  den  13  Ziffern  des  Art.  18 
aufgezählt;  sie  betreffen  der  Hauptsache'  nach  Herstellung  und  Verkauf  von 
in  Regie  genommenen  Gegenständen,  flinfuhr  solcher,  deren  Import,  Ausfuhr 
solcher,  deren  Export  verboten  ist,  nebst  Vorbereitungshandlungen  u.  a.  Strafe 
ist  Einziehung  (comiso)  der  in  Art.  24  aufgezählten  Waren,  Maschinen,  Trans- 
portmittel usw.,  und  nach  Art.  25  Geldstrafe  in  Höhe  des  drei-  bis  sechsfachen 
Wertes  des  Gegenstandes  der  Konterbande.  2«  Art.  19,  Z.  1 — 11  umfasst  die 
Defraudation,  die  im  wesentlichen  Hinterziehung  des  Eingangs-  oder  Verbrauchs* 
Zolles  und  allgemein  solche  Verletzung  von  Verwaltungsvorschriften  darstellt, 
deren  offenbare  Tendenz  es  ist,  die  Zahlung  gesetzlich  zu  entrichtender  Ge- 
bühren zu  umgehen  oder  zu  verringern.  Strafe  ist  nach  Art.  26  in  den  meisten 
Fällen  die  Einziehung  des  Gegenstandes  der  Defraudation  tmd  nach  Art.  27 
Geldstrafe  im  zwei-  bis  vierfachen  Betrage  der  hinterzogenen  Steuer.  3,  Die 
konnexen  Delikte  (Beamtenbestechung,  Widerstand  gegen  Beamte,  um  eine 
Konterbande  oder  Defraudation  durchzusetzen  u.  a.)  zählt  Art  17  und  20  auf; 


§  15.    Das  StR.  für  das  Landbeer.  531 


sie  werden  nach  den  gewöhnlichen  Gesetzen  abgeurteilt  (Art.  31).  4«  Die  Art. 
21 — 23  enthalten  eine  Abweichung  vom  allgemeinen  Teil  des  StGB.,  indem 
sie  die  erschwerenden  und  mildernden  Umstände,  die  in  Sachen  der  Konter- 
bande und  Deft*audation  zu  gelten  haben,  aufzählen  und  in  deren  Würdigung 
dem  Richter  fjreiere  Hand  lassen.  5«  Für  Geldstrafen  haften  Eltern  und  Ehe- 
gatten —  Art.  34,  36.  Uneinbringliche  Geldstrafen  werden  in  prisiön  correc- 
cional  von  höchstens  2  Jahren  verwandelt  —  Art.  28.  Liegt  der  erschwerende 
Umstand  des  Art.  22  Z.  4  (bewaffnete  Geleitung  der  Konterbande)  oder  dritter 
Rückfall  vor,  so  tiitt  neben  den  schon  erwähnten  Strafen  7  Monate  bis  3  Jahre 
presidio  correccional  ein  —  Art.  29,  36. 

§  14.    G^esetze  allgemeinen  poUzeillehen  Charakters. 

<* 

I.  G.  vom  23.  April  1870  über  die  öffentliche  Ordnung  (Belagerungs-  und 
Kriegszustand,  Aufhebung  der  verfassungsmässigen  Garantieen).  Vdg.  vom 
10.  August  1876  betr.  die  Führung  von  Waffen. 

II.  Apotheken- Odg.  vom  18.  April  1860.  —  Königl.  Verfügung  vom  31.  De- 
zember 1887  betr.  die  Fleischläden.  StGB.  Art.  356.  Königl.  Verfügung  vom 
28.  Juli  1887  betr.  alkoholische  Getränke.  —  Königl.  Verfügung  vom  27.  No- 
vember 1858  betr.  die  Gasthäuser.     StGB.  Art.  600  Z.  1. 

m.  Vdg.  vom  13.  Mai  1857  betr.  öffentliche  Fuhrwerke.  G.  vom  13.  Juni 
1879  über  das  Wasserrecht.  Königl.  Vdg.  vom  8.  Mai  1884,  das  Fo^s^StGB. 
(Legislaciön  penal  de  Montes)  darstellend. 

IV.  Jagd-G.  vom  10.  Januar  1879  (strafrechtlich  insbesondere  Art.  44  bis 
54)  vgl.  StGB.  Art.  532,  608  Z.  1  und  3,  615  Z.  2.  —  Vdg.  vom  3.  Juni  1834, 
Titel  V  ff.,  Art.  36  ff.  über  die  Fischerei  (strafrechtlich  vgl.  Art.  53—55),  vgl. 
auch  hier  die  genannten  Art.  des  StGB.,  und  zu  Art.  53  der  Vdg.  StGB.  Art. 
576  Z.  3.  S.  femer  über  die  Küstenfischerei  zwischen  Spanien  und  Portugal 
Odg.  vom  2.  Oktober  1885  und  über  den  Fischfang  in  der  Bidasoa  die  Ver- 
träge mit  Frankreich  vom  18.  Februar  1886  und  20.  September  1888. 


IV.  Das  Militärstrafreclit 

Litteratur:  Handausgaben  von  Msdina  und  Mabanöm,  Legislaciön  penal  de 
Guerra  y  Marina  (in  der  Biblioteca  manual  de  Derecho  penal).  Madrid,  Teile,  1891. 
Bacabdi,  Diccionario  de  legislaciön  militar,  ö  sea  Repertorio  general  y  completo  de 
legislaciön  militar.  4  Bde.  Barcelona  1887.  —  SÄnchez  Ocana,  Cödigo  de  Justicia 
militar,  anotado  y  coucordado  con  la  legislaciön  anterior.  Madrid  1890.  Benito  t  In- 
FANTE,  Cödigo  de  Justicia  militar.  Madrid  1891.  —  Cödigo  penal  de  la  Marina  de 
Guerra,  con  algunas  notas  y  concordancias  con  los  Cödigos  penal  comün  y  para  el 
ej breite.  (Herausgegeben  von  der  Redacciön  de  la  Revista  de  los  Tribunales.)  Ma- 
drid 1888.  RoHEBo  Y  VniLANüovA,  Cödigo  penal  de  la  Marina  de  guerra,  con  comen- 
tario  y  citas  del  Tribunal  Supremo.    Madrid  1888. 

§  15.  Das  StR.  für  das  Landheer. 

I.  Auf  das  Mil.-StGB.  vom  1.  Januar  1885  ist  das  umfassende  6B.  der 
Militärgerichtsbarkeit  vom  27.  September  1890  (Cödigo  de  Justicia  Militar)  ge- 
folgt, das  in  3  Abteilungen  (Tratados)  zerfällt»:  1.  Organisation  und  Amtsgewalt 
der  Militärgerichte.  2.  Strafgesetze.  3.  Militärprozessordnung.  Nur  die  zweite 
Abteilung  mit  ihren  11  Titeln,  Art.  171 — 339,  interessiert  uns  hier. 

n.  Titel  I — IV  stellen  den  allgemeinen  Teil  dar,  in  dem  meistens  auf 
die  Bestimmungen  des  Civil-StGB.  verwiesen  ist.    Doch  ist  zu  bemerken  1.  Den 

34* 


532  Spanien.  —  Das  Militärstrafrecht. 


im  6.  mit  Strafe  bedrohten  Handlungen  stehen  die  in  Erlassen  (bandos)  eines 
General-en-Chef  oder  Gouverneurs  eines  belagerten  oder  blockierten  Platzes 
bezeichneten  gleich  (Art.  171  §  2).  2.  In  der  Würdigung  der  Strafzumessungs- 
gründe ist  das  Gericht  frei.  Art.  172,  173.  8.  Trunkenheit  ist  nie  ein  mil- 
dernder Umstand,  Art.  173  §  2.  4.  Autoritätsmissbrauch  bei  augenblicklicher 
Erwiderung  einer  Insubordination  kann  mildernder  Umstand  sein.  (Herab- 
setzung der  Strafe  um  1 — 2  Stufen).  5.  Mord,  Totschlag,  Körperverletzung, 
Raub,  Diebstahl,  Betrug,  die  im  allgemeinen  unter  dem  Civil-StGB.  stehen, 
müssen,  wenn  eine  Beziehung  zum  Dienst  vorhanden  ist,  mit  der  angedrohten 
Strafe  im  grMo  mäximo  oder  mit  einer  um  1 — 2  Stufen  erhöhten  belegt 
werden ;  beim  Raub  steht  die  Fehlschlagung  dann  der  Vollendung  gleich ;  Not- 
zucht wird  um  1 — 2  Stufen  höher  gestraft;  Unterschlagungen  öffentlicher 
Gelder  und  Fälschungen  immer  so,  als  seien  sie  von  einem  Beamten  verübt, 
und  im  grado  mäximo.  Art.  175.  6.  Desertion  verjährt  mit  dem  50*  Lebens- 
jahr oder  Unfähigkeit  zum  Militärdienst.     Art.  217. 

III.  Das  Strafensystem  (Titel  II,  Art.  176—215)  unterscheidet  Strafen,  penas, 
und  Zurechtweisungen,  correcciones.  Erstere  zerfallen  in  militärische  Strafen 
und  gemeine  Strafen,  dazu  Nebenstrafen.  Militärische  Strafen  sind:  I.Todes- 
strafe. 2.  Lebenslängliches  militärisches  Zuchthaus  (ist  in  30  Jahren  verbüsst), 
3.  Zeitliches  militärisches  Zuchthaus.  4.  Schweres  Militärgefängnis.  5.  Dienst- 
entlassung. 6.  Korrektionelles  Militärgefängnis  von  3 — 6  Jahren.  7.  Ent- 
hebtmg  vom  aktiven  Dienst.  8.  Korrektionelles  Militärgefängnis  bis  zu  3  Jahren. 
Nebenstrafen  sind:  militärische  Degradation,  zeitliche  Dienstenthebung  (wobei 
die  Stelle  anderweit  besetzt  wird  —  Suspension  de  empleo;  oder  nicht  — 
deposiciön  de  empleo),  Überweisung  an  eine  Diszipliniertenabteilung,  Aus- 
stossung  aus  dem  Heere. 

IV.  Titel  V— IX  ist  der  besondere  Teü  für  Verbr.,  Art.  222—306.  Tit-  V 
enthält  Verbr.  gegen  die  Sicherheit  des  Vaterlandes:  Landesverrat,  Spionage, 
Verbr.  gegen  das  Völkerrecht,  Verheerung  und  Plünderung.  Tit.  VI  umfasst 
die  Verbr.  gegen  die  Sicherheit  des  Staates  und  des  Heeres:  Rebellion,  Sedi- 
tion,  Insulte  gegen  Schildwachen ,  Posten  und  bewaffnete  Macht.  Die  Verbr. 
gegen  die  militärische  Disziplin  sind  in  Titel  VII  zu  finden :  Insulte  gegen 
Vorgesetzte,  Ungehorsam,  Autoritätsmissbrauch,  Anmassung  einer  Charge. 
Titel  Vni  bezeichnet  seinen  Inhalt:  Verlassung  des  Dienstes,  Pflichtvernach- 
lässigung, Weigerung  der  Hülfe,  Verletzung  der  Pflichten  des  Postens,  Ver- 
letzung der  Residenzpflicht,  Desertion  in  mehrfachen  Abstufungen  und  Teil- 
nahmehandlungen daran,  Selbstherbeiführung  der  Unbrauchbarkeit  zum  Dienst, 
Verbr.  gegen  die  militärische  Ehre  —  als  „Verbr.  gegen  die  Zwecke  und 
Mittel  der  Thätigkeit  des  Heeres".  Titel  IX.  spricht  von  Verbr.  gegen  die 
Interessen  des  Heeres  (Betrug,  Lebensmittelverfälschung). 

V.  Titel  XI,  Art.  310— 339,  entspricht  dem  3.  Buch  des  Civil-StGB.,  er 
enthält  die  Übertretungen,  deren  Ahndungen  als  con'ecciones  bezeichnet  werden. 
Es  werden  faltas  graves  und  leves  unterschieden;  correcciones  für  erstere 
sind  beim  Offizier:  Suspension  de  empleo  von  2  Monaten  bis  1  Jahr,  Arrest 
von  2 — 6  Monaten;  beim  Gemeinen:  Versetzung  zur  Diszipliniertenabteilung 
auf  1 — 6  Jahre,  Dienstverlängerung  (recargo  en  el  servicio)  auf  2  Monate  bis 
4  Jahre,  Arrest  von  2 — 6  Monaten.  Correcciones  der  faltas  leves  sind  beim 
Offizier:  Hausarrest  bis  zu  8  Tagen,  Kasernenarrest  von  15  Tagen  bis  zu 
2  Monaten,  Warnung,  Verweis;  beim  Gemeinen:  Deposiciön  de  empleo,  Arrest 
in  3  Abstufungen  bis  zu  8,  bis  zu  15  Tagen,  bis  zu  2  Monaten,  Nachexerzieren. 
Der  mehrmalige  Rückfall  in  dieselbe  Übertretung  macht  sie  zum  Verbrechen, 
s.  hierüber  Titel  X,  Art.  307—309. 


§17.    Die  afrikanischen  Besitzungen.  533 


§  16.  Das  StBN.  fttr  die  Marine. 

Es  existiert  ein  eigenes  StGB.  v.  24.  August  1888  für  die  Marine,  in  Kraft 
getreten  am  1.  Januar  1889  (343  Art.).  Gleich  dem  Civil-StGB.  ist  es  in 
3  Bücher  geteilt,  enthält  wenig  Verweisungen  auf  jenes,  reproduziert  auch 
kurz  die  gemeinen  Verbr.  und  lässt  in  vielem,  namentlich  im  Strafensystem, 
eine  unverkennbare  Anlehnung  an  den  Entw.  Silvela  beobachten,  wie  ein 
Blick  auf  das  System  der  Graduation  der  Freiheitsstrafen  zeigen  mag.  Die 
14  Grade  sind  (Art.  36):  Zuchthaus  (reclusiön),  lebenslänglich,  zeitlich  von 
17— 20  Jahren,  von  14 — 17  Jahren,  von  12—14  Jahren,  Festung  (presidio) 
von  10 — 12  Jahren,  von  8 — 10  Jahren,  von  6—8  Jahren,  Gef.  (prisiön)  von 
4 — 6  Jahren,  von  2 — 4  Jahren,  von  V« — 2  Jahren,  Arrest  von  4 — 6  Monaten, 
von  2—4  Monaten,  von  1 — 2  Monaten,  von  1—30  Tagen.  Die  Stoffanordnung 
ist  im  allgemeinen  die  des  Civü-StGB.  Zu  Buch  III  (Übertr.-StR.)  ist  die  Ein- 
teilung  in  2  Titel  zu  bemerken,  je  nachdem  die  Übertretungen  vor  einem  Dis- 
ziplinargerichtshof abgeurteilt  werden  müssen  oder  im  Aufsichtswege  erledigt 
werden  können  (Art.  317—325,  326 — 332).  Die  Ahndungen  für  die  ersteren 
sind  als  penas,  Strafen,  die  für  die  letzteren  als  correcciones,  Zurechtweisungen, 
bezeichnet.  Zum  Verfahren  vgl.  ausser  dem  GB.  der  Militärgerichtsbarkeit 
vom  27.  September  1890  die  Vdg.  v.  30.  November  1892  und  die  zu  ihrer  Aus- 
führung erlassene,  von  besonderen  Verfahrensarten,  insbesondere  vom  sum- 
marischen Verf'ahren  handelnde  Instruktion  vom  4.  Juni  1873  (138  Art.).  Vgl. 
endlich  GerVerfG.  für  das  Oberste  Kriegs-  und  Marinegericht  (Reglamento 
orgÄnico  del  Consejo  Supremo  de  Guerra  y  Marina)  vom  17.  Dezember  1890. 


Y.  Das  StR.  der  Eolonieen. 

Litteratur.  Cacho  Nborste,  Institute  criminal  teörico-pr&ctico.  Habana  1838. 
VALD]ft8,  Diccionario  de  Legislacion  y  Jurisprudencia  criminal  en  que  se  comprenden 
todas  las  disposiciones  que  rigen  en  la  isla  de  Cuba.  Habana  1858.  REcopn.Aci6N 
de  leyes  de  los  reines  ae  las  Indias  (auf  Carlos'  II.  Befehl  veranstaltete  Sammlung) 
2.  ed.  1756.  5.  ed.  (cerregida  per  la  Sala  de  Indias  del  Tribunal  Supremo).  Madrid  1841. 
RoDRiQüEz  San  Pbdbo,  Legislacion  Ultramarina  cencordada  y  anetada.  16  Bde.  Madrid 
1865—69.  —  Ausgaben  der  StGB.:  für  Westindien  Cödigo  penal  para  las  islas  de  Cuba 
V  Puerto  Rice.  Madrid,  Centre  editerial  de  Gongera,  1886  und  Ap6ndices,  1887,  ent- 
haltend Nebengesetze.  Für  die  Philippinen:  Bbavo,  Cödigo  penal  vigente  en  las  islas 
Filipinas,  mit  Anmerkungen  und  Rechtsprechung.  Madrid  (Nunez,  Biblieteca  judicial) 
1887.  Die  in  Habana  erscheinende  ven  Ramen  J.  Cakbonell  t  Rüiz  herausgegebene 
Revista  General  de  Derecho  (Bd.  XIII  abgeschlessen  mit  1892)  bringt  auch  strafrecht- 
liche Aufsätze  und  Entsch.  des  höchsten  Gerichtshefes  in  Strafsachen. 

§  17.  Die  afrikanischen  Besitzungen. 

Die  bereits  früher  (S.  511)  als  Verbüssungsort  der  Ketten-  und  Zucht- 
hausstrafe genannten  Presidios  in  Marokko,  nebst  den  gleichfalls  dort  er- 
wähnten Islas  Chafarinas,  und  ebenso  die  als  Verbüssungsort  für  die  Ver- 
schickung (confinamiento,  S.  512 j  bezeichneten  Kanarischen  Inseln  gehören 
administrativ  zum  Hauptlande  und  unterstehen  also  dem  StGB.  v.  1871.  Die 
übrigen  afrikanischen  Besitzungen:  Fernando  Pöo,  Annobon,  Corisco,  Elobey 
und  das  Kap  San  Juan  bilden  zwar  ein  eigenes  Generalkapitanat  Guinea,  doch 
giebt  es  kein  besonderes  StGB,  für  sie.  Die  dort  ansässigen  Spanier  unter- 
stehen also  jedenfalls  dem  StGB.  v.  1871;  wie  es  mit  den  Eingeborenen  ge- 
halten wird,  ist  nicht  zu  ermitteln  gewesen. 


534  Spanien.  —  Das  StR.  der  Rolonieen 


§  18.  Die  westindischen  Besitzungen. 

Für  das  Generalkapitanat  Habana,  umfassend  die  Insel  Kuba  nnd  die 
Isla  de  PinoB,  und  das  Generalkapitanat  Puerto-Rlco,  umfassend  die  Insel 
Puerto-Rico  nebst  Cnlebra,  Culebrita  und  Vieques,  ist  durch  königliche  Vdg. 
vom  21.  Mai  1879  ein  StGB,  erlassen  worden,  das  grösstenteils  wörtlich  mit 
dem  spanischen  StGB,  übereinstinmit.  Die  auf  die  Presse  bezüglichen  Art.  sind 
fortgeblieben;  unter  den  Nebenstrafen  figuriert,  wie  im  spanischen  StGB.  v.  1850, 
die  polizeiliche  Aufsicht  (Art.  24,  42).  Im  besonderen  Teil  sind  die  Verbr.  gegen 
die  Cortes  und  die  Verbr.  der  Beamten  gegen  die  verfassungsmässig  garantierten 
Rechte  leicht  abgeändert  und  ein  wenig  vereinfacht;  stärker  umgearbeitet  sind 
die  Religionsdelikte.  In  dem  Kap.  von  Schliessung  ungesetzlicher  Ehen  ist  ein 
Art.  eingefügt  (Art.  493).  Ganz  neu  waren  die  Bestimmungen  der  Art.  415,  417, 
429  §  ult.,  430,  448,  454,  460,  461,  464,  465  §2.  539—544,  die  sich  sämtlich 
auf  die  von  Sklaven  begangenen  Verbr.  bezogen.  Doch  war  in  Puerto-Rico 
die  Sklaverei  schon  durch  G.  vom  22.  März  1873  aufgehoben  und  in  Kuba  ist 
dies  durch  G.  vom  13.  Februar  1880  geschehen.  Der  letzte  Rest,  das  Patronats- 
Verhältnis,  ist  durch  königl.  Vdg.  vom  8.  Oktober  1886  beseitigt  worden. 

§  19.  Die  PliUippinen. 

Die  Spanien  gehörigen  Inselgruppen  der  Südsee  (Generalkapitanat  Manila) 
stehen  unter  dem  Cödigo  penal  de  las  Islas  Filipinas.  Durch  die  königliche 
Vdg.  vom  4.  September  1884  und  17.  Dezember  1886  ist  das  spanische  StGB, 
dort  mit  sehr  geringen  Modifikationen  eingeführt  worden. 

Füi*  die  beiden  zuletzt  genannten  StGB.,  die  sogenannten  Cödigos  penales 
de  Ultramar,  muss  bemerkt  werden,  dass  in  ihnen  die  Höhen  der  Geldstrafen 
gegenüber  dem  spanischen  StGB,  durchweg  2^/, — 3  Mal  so  gross  sind.  Es 
stimmt  dies  überein  mit  dem  Prinzip  des  Art.  99  des  alten  StGB.  v.  1822:  in 
Ultramar  sollen  alle  angedrohten  Geldstrafen,  soweit  sie  nicht  relativ  aus- 
gedrückt sind,  verdoppelt  werden. 


2.  Portugal. 


L  Ursprung  und  geschichfliclie  Entwicklung  des  portugiesischen  StR. 

§  1.    Die  altere  aeschlehte  des  StIL 

Der  Ursprung  des  portugiesischen  StR.  reicht  bis  in  die  Zeit  vor  der 
Entstehung  des  Königreichs  Portugal  zurück.  Als  dieses  im  11.  Jahrhundert 
aus  dem  Gebiet  des  alten  Lusitanien  und  einem  Teil  des  Königreichs  Leon 
entstand,  zu  welchem  später  die  Trümmer  des  Mauren-Reiches  hinzukamen, 
galten  in  seinem  Gebiete  die  Lex  Yisigothorum  und  die  Sammlung  von  Konzils- 
beschlüssen, welche  die  Grundlage  des  in  Portugal,  Galicien  und  (nach  dem 
Beschluss  des  Konzils  von  Coyanca  v.  1060)  auch  in  Asturien  geltenden  Fuero 
de  Leon  bildeten.  Die  StG.  bildeten  damals  den  wichtigsten  Teil  der  Gesetz- 
gebung; die  Strafen  waren  Geldstrafen  oder  konnten  wenigstens  durch  solche 
ersetzt  werden.  Diese  Gesetzgebung  erfuhr  eine  bedeutende  Verbreitung  durch  die 
„Foraes",  Gesetze,  welche  nach  dem  Muster  des  Fuero  de  Leon  von  den  Königen 
und  Herren  für  ihre  Städte  erlassen  wurden.  —  Allmählich  jedoch  schritt  man 
zur  Anwendung  von  Körperstrafen,  Tod  und  Verstümmelung,  die  zweifellos 
auf  das  unter  der  Herrschaft  der  westgotischen  Gesetze  nahezu  verschwundene 
Gefühl  der  Privatrache  zurückzuführen  sind.  Dem  Wiedererscheinen  dieser 
Straftnittel  ist  wohl  hauptsächlich  das  Bedürfnis  nach  den  von  den  Königen 
Alphons  IV.  und  Peter  I.  in  ihren  G.  v.  1364  und  1385  zugesicherten  Gnaden- 
und  Asyl-Briefen  zuzuschreiben.  Der  König  Johann  I.  bereitete  eine  vollständige 
Reform  der  geltenden  Gesetze  vor,  die  jedoch  erst  unter  der  Herrschaft  seines 
Grosssohnes  Alphons  V.  im  J.  1446  abgeschlossen  wurde  und  in  den  „alphonsi- 
schen  Ordonnanzen'^  ihren  Ausdruck  fand.  Obgleich  diese  Ordonnanzen  auf 
den  Beschlüssen  der  Cortes  und  den  Sitten  und  Gewohnheiten  des  Landes  be- 
ruhten, verleugneten  sie  doch  nicht  den  Einfluss  des  römisch -kanonischen 
Rechts,  das  von  Tag  zu  Tag  erhöhte  Bedeutung  gewann,  seitdem  es  auf  der 
Universität  Coimbra  gelehrt  wurde.  Die  Einteilung  des  Stoffes  ist  bei  dem 
neuen  G.  dieselbe  gewesen,  wie  bei  den  Dekretalen,  aus  denen  mehrere  Be- 
stimmungen herübergenommen  wurden.  Die  Grundprinzipien  waren:  Ab- 
schreckung und  Rache;  das  wahre  Ziel  der  StGgebung,  die  Unterdrückung 
desVerbr.  und  die  gerechte  Ausmessung  der  Strafe  nach  Verhältnis  der  That, 
fand  keinerlei  Berücksichtigung.  Von  den  grausamen  Strafen  wurde  eine  aus- 
gedehnte Anwendung  gemacht. 

Tod,  Verstümmelung,  Verbrennung,  Brandmarkung  und  Prügelstrafe  wur- 
den für  die  geringsten  Verg.,  ja  selbst  für  Sünden  angedroht,  andererseits 
machte  man,  den  Ideeen  des  Feudal-Staates  entsprechend,  bei  der  Bestrafung 
einen  Unterschied  zwischen  Adligen  und  Nichtadligen.  Erst  unter  dem  König 
Emanuel  im  J.  1521  fand  eine  Abänderung  der  alphonsischen  Ordonnanzen  statt, 


536  Die  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


die  jedoch  die  Einteilung  des  Stoffes,  das  Strafensystem  und  die  Grundprin- 
zipien desselben  unangetastet  liess.  —  Im  J.  1603  erschienen  die  philippi- 
nischen Ordonnanzen;  auf  denselben  Quellen  beruhend,  haben  sie  dieselben 
Fehler.  Die  Definitionen  der  strafbaren  Handlung  sind  ungenau.  Die  Begriffe 
„Delikt"  und  „Sünde"  werden  nicht  auseinandergehalten.  Die  Begriflfebestim- 
niung  des  Verbrechens  der  Ma^iestätsbeleidigung  ist  ebenso  vage,  wie  in  der 
Konstitution  von  Arcadius  und  Honorius.  Das  Strafensystem  ist  barbarisch, 
grausame  Todesarten,  Prügelstrafe,  Handabhauen,  alle  Arten  der  Folter  sind 
zulässig.  Die  Ehrlosigkeit  erstreckt  sich  nicht  nur  auf  den  Thäter  selbst,  sondern 
auch  auf  seine  Verwandten.  Kurz,  diese  Ordonnanzen  fügten  zu  den  Fehlem 
ihrer  Vorgängerinnen  noch  die  Auswüchse  des  täglich  wachsenden  Despotismus 
und  die  Schrecken  des  von  Johann  ITI.  eingeführten  Inquisitions- Gerichts  hinzu. 
Das  System  der  Folter  wurde  später  durch  andere  Gesetze,  wie  die  vom  6.  De- 
zember 1612  und  vom  31.  März  1742,  durch  Einführung  der  Brandmarkung 
auf  den  Rücken  und  der  Wippe  vervollständigt. 

Indes  fanden  die  philosophische  Bewegung  des  18.  Jahrhunderts  und  die 
in  Frankreich,  Österreich,  Bayern  und  Preussen  vorgenommenen  strafrechtlichen 
Reformen  auch  in  Portugal  ein  Echo.  Nach  mehreren  fruchtlosen  Versuchen 
beauftragte  die  Königin  Maria  am  22.  März  1783  den  Gelehrten  Dr.  Paschoal 
Jos6  de  Mello  Freire,  Professor  an  der  Universität,  mit  der  Ausarbeitung  von 
Gesetzen  über  das  öffentliche  Recht  und  das  StR.  Aber  auch  die  von  diesem  her- 
vorragenden Rechtsgelehrten  nach  5  Jahren  vorgelegten  Entwürfe  vermochten 
dem  zähen  Widerstände,  den  bereits  ihre  Vorgänger  gefanden  hatten,  nicht 
Stand  zu  halten.  Man  verzichtete  auf  eine  umfassende  Verbesserung  und  be- 
schränkte sich  darauf,  durch  die  Dekrete  vom  12.  Dezember  1801  imd  11.  Januar 
1802  den  Richtern  die  Befagnis  zu  geben,  bei  schweren  Delikten  die  Todes- 
strafe durch  die  Galeerenstrafe  zu  ersetzen. 

§  2.    Die  Entstehungsgeschichte  des  geltenden  StOB. 

Die  Verfassung  v.  1822  stellte  auch  die  Grundzüge  für  ein  neues  StGB, 
fest.  Da  sie  aber  nur  vorübergehend  in  Geltung  war,  so  blieb  es  dem  Grund- 
gesetz V.  1826  vorbehalten,  eine  vollständige  Reform  der  StGgebung  herbei- 
zuführen. Dasselbe  nahm  die  Schaffung  eines  auf  der  Grundlage  der  Gerechtig- 
keit und  der  Gleichheit  beruhenden  StGB,  in  Aussicht  und  ordnete  die  sofortige 
Abschafi\ing  der  Prügelstrafe,  der  Folter,  der  Brandmarkung,  sowie  aller  grau- 
samen und  entehrenden  Strafen  an.  Es  stellte  den  Grundsatz  auf,  dass  die 
Strafe  nur  die  Person  des  Verbrechers  treffen  und  weder  die  Vermögensein- 
ziehung, noch  die  Ehrlosigkeit  der  Verwandten  des  Schuldigen  nach  sich  ziehen 
sollte.  Demselben  G.  verdankt  das  Land  auch  die  Gewissensfreiheit  und  die 
Freiheit  des  Gedankenausdrucks  durch  Wort  und  Schrift  sowie  die  Garantie 
gegen  willkürliche  Verhaftung  (habeas-corpus-Acte).  Die  letztere  beruht  auf 
der  Bestimmung,  dass  niemand,  falls  er  nicht  auf  frischer  That  betroffen  wird, 
oder  eines  schweren  Verbr.  verdächtig  ist,  verhaftet  werden  darf,  ohne  dass 
ihm  mitgeteilt  wird,  welcher  That  man  ihn  beschuldigt,  und  ohne  dass  ein 
schriftlicher  Haftbefehl  des  Richters  vorliegt.  —  Indes  verzögerten  die  bald 
darauf  eintretenden,  durch  den  Sieg  des  konstitutionellen  Systems  im  J.  1832 
abgeschlossenen  politischen  Ereignisse  und  die  sich  hieran  anschliessenden  un^ 
unterbrochenen  inneren  Wirren  die  Kodifikation  bis  zum  J.  1851.  Erst  am 
10.  Dezember  dieses  Jahres  erlangte  das  erste  portugiesische  StGB.,  ein  Werk 
der  durch  Verfügung  vom  10.  Januar  1845  eingesetzten  Kommission  von  Rechts- 
gelehrten, Gesetzeskraft.  —  Seine  Quellen  waren  das  französische  und  spanische, 
in  gewissen  Punkten  auch  das  brasilianische,  neapolitanische  und  österreichische 


§  3.    Litteratur-Übersicht.  537 


StGB.,  das  belgische  G.  über  den  Zweikampf,  einige  Bestimmungen  des  römischen 
Rechts  und  der  nationalen  Gewohnheiten,  endlich  die  Werke  von  Rossi,  Chau- 
veau  und  Faustin  H61ie.  —  Das  6.  vom  14.  Juni  1884  ist  lediglich  eine  teil- 
weise Umarbeitung  des  G-  v.  1852  und  beschränkt  sich  darauf,  die  Bestim- 
mungen desselben  mit  dem  durch  das  G.  vom  I.Juli  1867  eingeführten  System 
der  Zellengefängnisse  in  Einklang  zu  bringen.  Zu  diesem  Zwecke  schaffte  es 
die  Todesstrafe  und  alle  lebenslänglichen  Freiheitsstrafen  ab  und  änderte  einige 
Bestimmungen  über  die  zeitigen  Freiheitsstrafen,  über  die  strafrechtliche  Ver- 
antwortlichkeit im  allgemeinen  und  einzelne  Verbr.  im  besonderen.  —  Ähnliche 
Änderungen  enthält  auch  das  jetzt  geltende  StGB,  vom  16.  September  1886. 
Es  zerfällt  in  zwei  Bücher:  das  erste  enthält  die  allgemeinen  Regeln  über 
strafbare  Handlungen,  die  strafrechtliche  Verantwortlichkeit»  die  Strafen,  ihre 
Wirkung,  Zumessung  und  Vollziehung,  endlich  Übergangsbestimmungen;  das 
zweite  Buch  behandelt  die  einzelnen  Deliktsarten,  nämlich  die  Delikte  gegen 
die  Staatsregierung  und  den  Missbrauch  der  religiösen  Funktionen,  die  Delikte 
gegen  die  Sicherheit  des  Staates,  gegen  die  öffentliche  Sicherheit  und  Ordnung, 
gegen  die  Person  und  gegen  das  Eigentum. 

Aus  der  gleichen  Übergangsperiode  stammt  auch  das  Militärjustizgesetz 
vom  9.  April  1875.  Es  zerfällt  in  vier  Teile:  strafbare  Handlungen  und  Strafen, 
Gerichtsverfassung,  Zuständigkeit,  Verfahren.  Das  erste  Buch  behandelt  das 
eigentliche  Mll.-StR.  Es  enthält  allgemeine  Vorschriften  und  Bestimmungen 
über  die  Verbr.  gegen  die  Sicherheit  des  Staates,  gegen  die  militärische  Ehre 
und  den  militärischen  Mut,  gegen  die  öffentliche  Ordnung  und  die  Armee,  über 
die  bei  Ausübung  einer  militärischen  Funktion  begangenen  strafbaren  Hand- 
Ixmgen,  über  die  Verbr.  gegen  die  Sicherheit  der  Person  und  die  Verbr.  gegen 
das  Eigentum.  Dies  ist  gegenwärtig  der  Stand  der  Gesetzgebung  auf  straf- 
rechtlichem Gebiete  in  Portugal.  Von  den  portugiesischen  Eolonieen  haben 
einzelne  kein  besonderes  StR.  Die  Gerichtsverfassung  ist  mannigfaltig,  Schwur- 
gerichte und  Zellengefängnisse  giebt  es  nicht.  Im  übrigen  sind  die  Strafen 
dieselben  wie  im  Mutterlande.  Zu  bemerken  ist,  dass  die  Deportation  nur 
nach  Afrika  geschieht,  wo  die  Verurteilten  der  Aufsicht  der  Gouverneure  unter- 
stellt sind. 

n.  Litteratur-Übersicht 

§3. 

Das  erste  klassische  Werk  über  das  portugiesische  StR.  sind  die  Institutiones 
juris  criminalis  Lusitani  des  berühmten  Professors  Dr.  Paschoal  Josö  de  Melle 
Freire;  in  lateinischer  Sprache  verfasst  und  anfangs  in  Lissabon,  später  im  J.  1815 
in  Coimbra  erschienen  (184  Seiten),  wurden  sie  seit  diesem  Jahre  die  Grundlage  der 
an  der  dortigen  Rechtsfakultät  gehaltenen  Vorlesungen.  Auf  dem  römischen  Kecht, 
den  Ordonnanzen  und  der  ausländischen  Litteratur  beruhend,  war  dieses  Werk  seiner 
Zeit  mustergültig;  heute  hat  es  jedoch  nur  noch  einen  geschichtlichen  Wert.  —  Zu 
derselben  Zeit  erschien  die  systematische  Abhandlung  des  Gelehrten  Joaquim  Jos6 
Caetano  Pereira  e  Sousa,  Anwalt  am  Supplik ationshofe  zu  Lissabon  über  die  Verbr. 
und  ihre  Bestrafungen  nach  dem  geltenden  Recht  (Lissabon,  8.  Aufl.  1830.  8^  888 
Seiten).  Ebenfalls  auf  den  Ordonnanzen  und  der  späteren  Gesetzgebung  beruhend, 
verrät  dieses  Werk  eine  umfassende  Kenntnis  der  auswärtigen  Gesetzgebung  und 
Litteratur  und  ist  noch  heute  seines  geschichtlichen  Wertes  wegen  sehr  geschätzt.  — 
Ferner  sind  zu  erwähnen:  die  Vorlesungen  über  Strafrecht  des  Dr.  Basilio  Alberto 
de  Sousa  Pinto,  Professors,  dann  Rektors  der  Universität  Coimbra  (Coimbra  1863, 
1  Bd.  in  8®,  454  Seiten).  Sie  bilden  die  Fortsetzung  der  Institutiones  juris  criminalis 
und  enthalten  eine  Erklärung  des  StGB.  v.  1852.  Sie  behandeln  nach  einer  hervor- 
ragenden geschichtlichen  Einleitung  im  ersten  Buch  die  strafbaren  Handluu&^en,  ihre 
Urheber  und  deren  Bestrafung  im  allgemeinen,  im  zweiten  Buche  einige  Verbr.  im 
besonderen.  —  Als   Kommentar   zum   StGB.  v.  1852   ist   der   von   Anwalt   Dr.  Levy 


538  ^ie  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


Maria  Jordao  zu  erwähnen  (Lissabon  1854,  4  Bde.  in  8^  mit  je  300  Seiten).  Nach 
einer  ausgezeichneten  geschichtlichen  Einleitung  erklärt  der  Verfasser  die  einzelnen 
Art.  des  StGB.,  dessen  Text  uad  Quellen  er  anführt.  —  Ein  sowohl  als  Kommentar 
zum  StGB.,  wie  als  geschichtliche  und  rechtsvergleichende  Abhandlung  äusserst  wert- 
volles Werk  ist  die  Theorie  des  portugiesischen  StR.  in  ihrer  Anwendung  auf  das 
portugiesische  StGB,  unter  Berücksichtigung  der  auswärtigen  älteren  und  modernen 
Gesetzgebung  von  A.  J.  da  Silva  Ferrao,  Rat  am  höchsten  Gerichtshofe  (Lissabon 
1856,  8  Bde.  in  gr.  8*^,  jeder  zu  über  300  Seiten).  —  Femer  ist  zu  erwähnen  der  im  J. 
1864  von  Ferreira  de  Lima  und  Levy  Maria  Jordao  veröffentlichte,  auch  im 
Auslande  bekannte  Entw.  eines  StGB.  Die  diesem  vorangeschickte  Einleitung  (1  Bd. 
in  8®,  255  Seiten)  verrät  umfassende  wissenschaftliche  und  praktische  Kenntnisse.  Der 
Entw.  selbst  (1  Bd.,  200  Seiten)  enthält  einen  einleitenden  Titel  und  drei  Bücher  mit 
510  Artikeln. 

Für  die  Rechtssprechung  der  verschiedenen  Gerichtshöfe  giebt  es 
keine  einheitliche  Sammlung,  sie  finden  sich  vielmehr  in  verschiedenen  juristischen 
Zeitschriften  zerstreut.  Besonders  wichtig  ist  die  Sammlung  von  Entsch.  des  höchsten 
Gerichtshofes  aus  allen  zur  Zuständigkeit  dieses  Gerichts  gehörenden  Gebieten.  Zu 
erwähnen  ist  hier  ausserdem  die  Ausgabe  des  StGB  mit  Anmerkungen  von  Dr.  Hen- 
ri ques  Secco,  ehemaligem  Professor  an  der  Universität  Coimbra  (Coimbra  1881, 
1,  Bd.  in  8®,  340  Seiten),  in  welcher  eine  grosse  Menge  von  Entsch.  angeführt  werden. 
Über  die  Motive  zu  den  verschiedenen  G.  strafrechtlichen  Inhalts  vgl.  man  die  im 
Staatsanzeiger  abgedruckten  Ministerialberichte  und  parlamentarischen  Verhandlungen. 


m.  Das  StGB,  vom  16.  September  1886. 

§  4.    Allgemeiner  Teil. 

Das  die  allgemeinen  Bestimmungen  enthaltende  erste  Buch  zerfällt  in  vier 
Titel:  1.  von  den  Verbr.  und  ihren  Urhebern  im  allgemeinen;  2.  von  den  Strafen 
und  ihren  Wirkungen;  3.  von  der  Strafzumessung  und  dem  Strafvollzuge; 
4.  Übergangsbestimmungen. 

1.  Einleitende  Bestimmungen.  Die  ersten  Art.  des  ersten  Titels  geben 
die  Definition  der  BegrifiTe:  Verbr.,  Verg.  und  Übertretung.  Verbr.  oderVerg. 
ist  jede  vorsätzliche  und  vom  G.  mit  Strafe  bedrohte  Handlung,  Übertretung 
jede  vorsätzliche  strafbare,  jedoch  lediglich  durch  Verletzung  oder  Nichtbeach- 
tung polizeilicher  Sicherheits-  und  Ordnungsvorachriften  begangene  That.  Die 
fahrlässige  Begehung  von  Übertretungen  wird  immer,  die  eines  Verbr.  oder 
Verg.  nur  dann  bestraft,  wenn  sie  die  Verletzung  einer  Pflicht  enthält,  oder 
die  Strafbarkeit  vom  G.  ausdrücklich  ausgesprochen  ist.  Der  Grundsatz  nullum 
crimen,  nulla  poena  sine  lege  gilt  auch  im  portugiesischen  StR. 

Rückwirkende  Kraft  hat  ein  StG.  nur  dann,  wenn  es  die  Straflosigkeit 
einer  nach  früherem  Recht  strafbaren  Handlung  oder  die  mildere  Bestrafung 
einer  nach  früherem  Recht  mit  schwerer  Strafe  bedrohten  That  anordnet,  oder 
ganz  allgemein,  wenn  es  Bestimmungen  enthält,  die  dem  Angeklagten  gün- 
stiger sind,  ohne  dass  jedoch  die  Rechte  Dritter  hierunter  leiden  dürfen. 

Der  Beginn  der  Strafmündigkeit  fällt  mit  dem  der  civilrecbtlichen  Qross- 
jährigkeit  zusammen  und  tritt  für  beide  Geschlechter  mit  dem  vollendeten 
21.  Lebensjahre  ein  (Kap.  1,  Art.  1 — 7). 

Mil.-Verbr.  und  Mil.-Verg.  ist  jedes  Delikt  gegen  das  Militäijustizgesetz 
(Militäijustizgesetz  Art.  1). 

2.  Die  strafbaren  Handlungen  im  allgemeinen.  Das  G.  be- 
straft das  vollendete,  das  fehlgeschlagene  und  das  versuchte  Delikt  (Art.  8). 
Die  Strafandrohungen  gelten  jedoch,  ausser  wo  das  G.  es  besonders  vor- 
schreibt, nur  für  die  vollendeten  Delikte  (Art.  9).     Ein  fehlgeschlagenes  Verbr. 


§  4.    Allgemeiner  Teil.  589 


liegt  vor,  wenn  der  Thäter  vorsätzlich  alle  Ausführungshandlungen  vorge- 
nommen hat,  die  die  Vollendung  der  strafbaren  Handlung  zur  Folge  gehabt 
haben  würden,  wenn  nicht  Umstände,  die  von  seinem  Willen  unabhängig 
waren,  dieselbe  gehindert  hätten  (Art.  10).  Strafbarer  Versuch  liegt  vor, 
wenn  der  Thäter  1.  vorsätzlich  gehandelt;  2.  den  Anfang  der  Ausführung  von 
Handlungen,  welche  die  Vollendung  des  Delikts  hätten  nach  sich  ziehen 
müssen,  gemacht  hat;  3.  in  der  Ausführung  unterbrochen  ist  durch  Umstände, 
welche  —  abgesehen  von  dem  Fall  des  Alt.  13  —  von  seinem  Willen  unab- 
hängig  waren;  4.  wenn  das  vollendete  Delikt  mit  „schwerer  Strafe"  („pena 
maior")  bedroht  ist.  Der  Versuch  eines  nur  mit  korrektioneller  Strafe  („pena 
correccional")  bedrohten  Vergehens  ist  nur  in  den  vom  G.  besonders  vor- 
gesehenen Fällen  strafbar  (Art.  11).  In  den  Fällen,  in  denen  weder  Ver- 
such noch  Vorbereitungs-Handlungen  zu  einem  Delikt  als  solche  für  strafbar 
erklärt  sind,  werden  diese  nur  dann  bestraft,  wenn  sie  an  und  für  sich 
eine  nach  allgemeinen  Grundsätzen  als  Verbr.,  Verg.  oder  Übertretung  straf- 
bare Handlung  bilden  (Art.  12  und  14).  —  In  den  Fällen,  in  welchen  das 
G.  das  versuchte  Delikt  dem  vollendeten  bezüglich  der  Strafbarkeit  gleich- 
stellt, ist  letzteres  strafbar,  auch  wenn  der  Thäter  freiwillig  von  der  Vollen- 
dung zurücktrat  (Art.  13). 

Verbr.  sind  nur  diejenigen  Handlungen,  welche  von  dem  StGB.,  von 
anderen  StG.  oder  von  der  Militär-Strafgesetzgebung  als  solche  bezeichnet 
sind  (Art*  16).  Militärverbr.  sind  diejenigen  Handlungen,  welche  unmittelbar 
gegen  die  Disziplin  des  Heeres  und  der  Marine  gerichtet  sind,  und  welche 
das  Militärgesetz  als  Verletzungen  der  militärischen  Pflicht  bezeichnet  und  be- 
straft, ohne  Unterschied,  ob  sie  von  Militärpersonen  oder  von  anderen  zur 
Armee  oder  Marine  gehörigen  Personen  begangen  werden.  Die  von  den  letz- 
teren Klassen  begangenen  Delikte  des  gemeinen  Rechts  werden  nach  dem 
bürgerlichen  StGB,  geahndet,  obgleich  die  Aburteilung  über  sie  den  Militär- 
Gerichten  zusteht  (Art.  16;  Militärjustizgesetz  Art.  2  und  8). 

Abgesehen  von  besonders  erwähnten  Fällen  ändert  das  StGB,  nichts  an 
den  Bestimmungen  der  Civilgesetze ,  nach  welchen  die  Begehung  oder  Unter- 
lassung gewisser  Handlungen  den  völligen  oder  teilweisen  Verlust  gewisser 
Befugnisse  oder  die  Verpflichtung  zum  Schadenersatz  zur  Folge  hat,  sowie  an 
den  Bestimmungen,  nach  welchen  in  gewissen  Fällen  wegen  einer  Handlung 
nur  der  Weg  der  Civilklage  beschritten  werden  darf  (Art.  17).  Die  analoge 
Anwendung  der  Bestimmungen  des  StGB,  ist  ausgeschlossen;  weder  aus  dem 
Gesichtspunkte  der  Gleichheit  des  Motivs  noch  der  Argumentation  a  maiori  ad 
minus  darf  ein  Thatbestand,  welcher  nicht  unter  die  Bestimmungen  des  StGB, 
fällt,  zu  einem  Delikt  gestempelt  werden  (Art.  18).  —  (Die  Art.  8 — 18  bilden 
das  Kap.  II.) 

3.  Die  Urheber  der  strafbaren  Handlung.  Die  Urheber  des  Verbr. 
sind  entweder  Thäter  oder  Gehülfen  oder  Begünstiger  (encobridores). 

Thäter  ist  1.  wer  das  Delikt  selbst  begeht  oder  an  der  Begehung 
unmittelbaren  Anteil  nimmt;  2.  wer  durch  physische  Gewalt,  Drohung,  Miss- 
brauch des  Ansehens  oder  des  Amtes  einen  anderen  zur  Begehung  zwingt, 
einerlei,  ob  der  Zwang  ein  unwiderstehlicher  war  oder  nicht;  3.  wer  durch 
Vertrag,  Geschenke,  Versprechen,  Auftrag,  Bitten  oder  irgend  welche  betrüge- 
rische Mittel  einen  anderen  zur  Begehung  bestimmt;  4.  wer  durch  Erteilung 
von  Rat  oder  AuflPorderung  einen  anderen  zur  Begehung  antreibt,  wenn  ohne 
diese  Thätigkeit  das  Delikt  nicht  begangen  sein  würde;  5.  wer  unmittelbar 
dazu  beiträgt,  die  Ausführung  eines  Delikts  zu  erleichtern  oder  vorzubereiten, 
wenn    ohne    diese   Thätigkeit    die   strafbare   Handlung    nicht    begangen    sein 


540  ^iß  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


würde.  —  Der  Widerruf  des  erteilten  Auftrages  wird  als  „besonders  mildern- 
der Umstand"  betrachtet,  wenn  er  vor  dem  Beginn  der  Ausführung,  als  „mil- 
dernder Umstand",  wenn  er  nach  Beginn  der  Ausführung  erfolgte  (Art.  19 
und  20). 

Der  Thäter,  welcher  den  Auftrag  zu  einem  Delikt  erteilt  oder  zur  Be- 
gehung desselben  angestiftet  hat,  wird  auch  als  Thäter  betrachtet:  1.  bezüg- 
lich der  zur  Durchführung  des  Delikts  notwendigen  Handlungen,  selbst  wenn 
diese  nicht  Ausführungshandlungen  sind;  2.  bezüglich  der  Überschreitung 
des  Auftrages,  welcher  sich  die  mit  der  Ausführung  beauftragte  Person  schul- 
dig macht,  wenn  diese  Überschreitung  als  wahrscheinliche  Folge  des  Auftrages 
oder  der  Anstiftung  vorhergesehen  werden  konnte  (Art.  21). 

Ge hülfe  ist  1.  wer,  ohne  unter  die  Bestinmiung  des  Art.  20  zu  fallen, 
einen  anderen  durch  Rat  oder  Zureden  unmittelbar  zur  Begehung  eines  Delikts 
veranlasst;  2.  wer  unmittelbar  dazu  beiträgt,  die  Ausführung  einer  strafbaren 
Handlung  zu  erleichtem  oder  vorzubereiten,  wenn  diese  auch  ohne  diese 
Thätigkeit  begangen  wäre  (Art.  22). 

Begünstiger  ist  1.  wer  die  Spuren  der  That  verdunkelt  oder  vernichtet, 
um  die  Strafverfolgung  zu  erschweren  oder  unmöglich  zu  machen;  2.  wer  die 
Beweismittel  der  That,  die  bei  derselben  benutzten  Werkzeuge  und  den  Gegen- 
stand einer  solchen  verbirgt,  um  die  Straflosigkeit  des  Thäters  herbeizuführen; 
3.  wer  bei  Vornahme  einer  ihm  vermöge  seines  Gewerbes,  seiner  Beschäf- 
tigung, seines  Berufs  oder  seines  Amtes  obliegenden,  auf  eine  strafbare  Hand- 
lung Bezug  habenden  Untersuchung  Thatsachen  unterdrückt  oder  verändert, 
um  dem  Schuldigen  einen  Dienst  zu  erweisen;  4.  wer  durch  Kauf,  Verpfän- 
dung, Schenkung  oder  auf  irgend  eine  andere  Weise  die  Früchte  der  That  an 
sich  bringt  oder  dem  Schuldigen  deren  Aneignung  erleichtert;  6.  wer  dem 
Thäter  Unterkommen  gewährt,  oder  seine  Flucht  begünstigt,  um  ihn  der  Be- 
strafung zu  entziehen.  Der  Ehegatte,  die  Aszendenten  und  Deszendenten,  so- 
wie Seitenverwandte  und  Verschwägerte  des  Thäters  bis  zum  dritten  Grade 
bleiben  straflos,  wenn  sie  eine  der  unter  1,  2  und  5  des  Art.  23  aufgeführten 
Handlungen  begehen. 

Wo  es  an  einem  Thäter  fehlt,  ist  auch  das  Vorhandensein  eines  Begünstigers 
oder  Gehülfen  ausgeschlossen.  Die  Bestrafung  des  Thäters  ist  jedoch  von  der 
der  anderen  Personen,  welche  bei  der  Begehung  der  That  als  Grehülfen  oder 
Hehler  mitwirkten,  unabhängig,  und  ebenso  umgekehrt  (Art.  24). 

Die  in  Bezug  auf  eine  Übertretung  gewährte  Teilnahme  oder  Hehlerei 
bleibt  straflos  (Art.  25).     (Die  Art.  14— /25  bilden  das  Kap.  lU.) 

4.  Die  strafrechtliche  Verantwortlichkeit.  Die  sich  mit  der 
strafrechtlichen  Verantwortlichkeit  beschäftigenden  Art.  26 — 53  enthalten  ausser 
einigen  allgemeinen  Bestimmungen  die  Aufzählung  der  erschwerenden  und 
mildernden  Umstände,  sowie  der  Fälle,  in  welchen  die  Verantwortlichkeit  aus- 
geschlossen ist. 

Strafrechtliche  Verantwortlichkeit  ist  die  Verpflichtung,  das  der  Gesell- 
schaft zugefügte  Übel  durch  Erleiden  der  vom  G.  angedrohten  und  von  dem 
zuständigen  Gerichte  verhängten  Strafe  zu  sühnen.  Sie  trifft  ausschliesslich  die 
Person  des  Thäters  i.  w.  S.  (Art.  26 — 28).  Sie  wird  nicht  ausgeschlossen  durch  Un- 
kenntnis des  Gesetzes,  Irrtum  über  die  Strafbarkeit  der  That,  die  Person  des 
Verletzten  oder  den  Gegenstand  der  Verletzung,  die  Überzeugung  von  der  Er- 
laubtheit des  erstrebten  Zweckes  oder  der  bestimmenden  Motive,  die  Einwil- 
ligung des  Verletzten  (abgesehen  von  den  im  G.  ausdrücklich  bestimmten 
Fällen),  die  Absicht,  ein  anderes  oder  weniger  schweres  Delikt  zu  begehen. 
Weder  Gesetzesunkenntnis  noch  Irrtum  über  die  Strafbarkeit  der  That  bilden 
je   einen   mildernden  Umstand.     Der  Irrtum  über   die  Person   des  Verletzten 


§  4.    Allgemeiner  Teil.  541 


macht  je  nach  den  Umständen  des  Falles  die  That  mehr  oder  weniger  straf- 
bar (Art.  29). 

Die  Verantwortlichkeit  und  damit  die  Strafe  ist  grösser  oder  geringer,  je 
nach  den  besonderen  persönlichen  Eigenschaften  des  Thäters,  abgesehen  von 
dem  Fall  der  Begehung  einer  Übertretung,  bei  welchem  lediglich  der  inner- 
halb  6  Monaten  erfolgte  Rückfall  einen  Strafschärfungsgrund  bildet  (Art.  30 — 33 
und  36). 

Ein  erschwerender  Umstand  liegt  vor,  wenn  die  That  begangen  ist 
mit  Überlegung;  —  infolge  von  Geschenken  oder  Versprechungen;  —  auf 
Grund  der  Weigerung  des  Verletzten,  eine  dem  Gesetze  oder  der  Moral  wider-» 
sprechende  Handlung  vorzunehmen  oder  zu  dulden;  —  in  der  Absicht,  ein 
anderes  Verbr.  auszuführen;  —  im  Anschluss  an  Beleidigungen,  Drohungen 
oder  einen  ausdrücklichen  Befehl  von  selten  des  Schuldigen;  —  nachdem 
ein  erster  Versuch  gescheitert  ist;  —  mit  mehreren  Personen  gemeinschaft- 
lich nach  zu  voriger  Verabredung;  —  aus  dem  Hinterhalt,  mittels  Überfalls, 
Missbrauchs  der  Gewalt  oder  des  Vertrauens,  oder  auf  irgend  eine  betrü- 
gerische Weise;  —  mittels  Einsteigens,  Einbruchs  oder  falscher  Schlüssel;  — 
mittels  Gift,  Überschwemmung,  Brandstiftung,  Entgleisung,  Verursachung  eines 
Schiffsbruchs  oder  verbotener  Waffen;  —  in  dem  Hause  des  Verletzten  oder 
in  dem  des  Thäters,  ohne  dass  in  dem  letzteren  FaUe  eine  Provokation  seitens 
des  Angegriffenen  stattgefunden  hat;  —  in  einer  Kirche,  einem  Gerichts- 
gebäude oder  einem  öffentlichen  Gebäude;  —  auf  einer  Landstrasse  oder  an 
einem  verlassenen  Orte;  —  zur  Nachtzeit,  falls  nicht  die  Strafbarkeit  der  That 
eine  höhere  ist,  wenn  sie  unter  Erregung  öffentlichen  Ärgernisses  begangen 
wird;  —  öffentlich,  wenn  dieser  Umstand  die  Schwere  der  That  zu  erhöhen  ge- 
eignet ist;  —  im  Ungehorsam  gegen  einen  in  der  Ausübung  seines  Amtes  befind- 
lichen öffentlichen  Beamten ;  —  bei  Gelegenheit  eines  Unglücksfalls  oder  eines 
öffentlichen  Notstandes;  —  unter  Anwendung  von  grausamen  Mitteln,  Plünde- 
rung oder  Zerstörung,  die  zur  Ausführung  der  That  nicht  erforderlich  waren; 
—  durch  einen  öffentlichen  Beamten  unter  Benutzung  seiner  amtlichen  Eigen- 
schaft; —  unter  Ausserachtlassung  einer  dem  Thäter  besonders  obliegenden 
Verpflichtung,  das  Delikt  nicht  zu  begehen,  es  zu  verhindern  oder  an  seiner 
Unterdrückung  mitzuwirken;  —  gegen  einen  Aszendenten,  Deszendenten,  Ehe- 
gatten, Verwandten  oder  Verschwägerten  bis  zum  zweiten  Grade,  Lehrer, 
Schüler,  Vormund  oder  Mündel,  Dienstherm  oder  Dienstboten  und  ganz  all- 
gemein gegen  einen  Vorgesetzten  oder  einen  Untergebenen;  —  von  einer  dem 
Opfer  durch  Alter,  Geschlecht  oder  mitgebrachte  Waffen  offenbar  überlegenen 
Person;  — unter  Ausserachtlassung  der  dem  Alter,  dem  weiblichen  Geschlecht 
oder  der  Gebrechlichkeit  des  Angegriffenen  geschuldeten  Rücksicht.  —  Ein  er- 
schwerender Umstand  liegt  femer  vor,  wenn  das  Delikt,  abgesehen  von 
seiner  unmittelbaren  Folge,  noch  weitere  Nachteile  für  den  Verletzten  zur 
Folge  hat;  —  wenn  die  Folge  der  That  dem  Angegriffenen  Schande  bringt;  — 
wenn  Rückfall,  Aufeinanderfolge  oder  Zusammentreffen  mehrerer  Strafthaten 
vorliegt.  Diese  erschwerenden  Umstände  erhöhen  die  Strafbarkeit  des  Schul- 
digen nur  insoweit,  als  dieser  sie  gekannt  hat  oder  hätte  kennen  bezw.  voraus- 
sehen müssen;  sie  bleiben  als  solche  ausser  Berücksichtigung,  wenn  sie  nach 
Vorschrift  des  G.  zum  Thatbestande  des  begangenen  Delikts  gehören  (Art.  34, 
32  und  40). 

Rückfall  liegt  vor,  wenn  der  Thäter  nach  rechtskräftiger  Verurteilung 
wegen  eines  Verbr.  ein  zweites  derselben  Art  innerhalb  des  Zeitraums  von 
8  Jahren  nach  der  ersten  Verurteilung  begeht,  mag  auch  die  wegen  des  ersten 
gegen  ihn  erkannte  Strafe  verjährt  oder  erlassen  sein.  Jedoch  liegt  Rückfall 
nicht  vor,  wenn  der  Erlass  die  Folge  einer  Amnestie  war,  wenn  nur  eines  der 


542  I^i©  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


beiden  Delikte  vorsätzlich  begangen  war,  wenn  eines  derselben  unter  das  Mili- 
tärgesetz fällt  oder  eine  der  Verurteilungen  von  einem  ausländischen  Gericht 
ergangen  war.  Andererseits  wird  Rückfall  angenommen»  wenn  der  Verurteilte 
an  der  einen  That  als  Thäter,  an  der  anderen  etwa  als  Gehülfe  beteiligt  war, 
und  wenn  auch  eine  der  beiden  strafbaren  Handlungen  nicht  zur  Vollendung 
gelangte  (Art.  35). 

Wenn  zwei  strafbare  Handlungen  derselben  Art  in  einem  Zwischenraum 
von  mehr  als  8  Jahren  begangen  werden,  oder  wenn  ein  Thäter  mehrere 
Delikte  verschiedener  Art  selbst  innerhalb  der  Zeit  von  8  Jahren  begeht,  so 
liegt  Aufeinanderfolge  von  Delikten  vor  (Art.  37). 

Das  G.  spricht  von  dem  Zusammentreffen  mehrerer  strafbarer  Hand- 
lungen, wenn  der  Thäter  bei  ein  und  derselben  Gelegenheit  mehrere  Delikte, 
oder  nach  Begehung  eines  Delikts  ein  anderes  begeht,  bevor  er  wegen  des 
ersteren  rechtskräftig  verurteilt  ist.  Der  Umstand,  dass  eine  That  von  ver- 
schiedenen rechtlichen  Gesichtspunkten  aus  strafbar  ist,  ist  nicht  geeignet, 
ein  Zusammentreffen  strafbarer  Handlungen  als  vorliegend  erscheinen  zu  lassen 
(Art.  38). 

Mildernde  Umstände  sind  die  nachstehenden:  1.  fHLhere  gute  Füh- 
rung; 2.  gute  Dienste,  welche  der  Thäter  der  menschlichen  Gesellschaft  ge- 
leistet hat;  3.  Lebensalter  unter  14,  18  oder  21,  sowie  über  70  Jahre; 
4.  voraufgegangene  Reizung  durch  den  Verletzten;  5.  die  Absicht,  einen  Nach- 
teil von  sich  abzuwenden  oder  nur  einen  geringeren  Schaden,  als  eingetreten 
ist,  zuzufügen;  6.  unvoUkommene  Kenntnis  des  durch  die  That  unmittelbar 
verursachten  Schadens;  7.  physischer  Zwang,  dessen  Überwindung  möglich 
gewesen  wäre;  8.  mangelnde  Voraussicht  oder  unvollkommene  Kenntnis  der 
Folgen  des  Delikts;  9.  freiwilliges  Geständnis  des  Verbr.;  10.  freiwilliger  Er- 
satz des  verursachten  Schadens;  11.  Befehl  oder  Rat  eines  Aszendenten,  Vor- 
mundes, Lehrers  oder  Hausvorstandes,  wenn  der  Thäter  ein  noch  unter  Gewalt 
stehender  Minderjähriger  ist;  12.  Befehl  eines  kirchlichen  Oberen,  falls  der- 
selbe nicht  die  That  straflos  macht;  13.  persönliche  Beleidigung  des  Thäters, 
seines  Ehegatten,  sowie  eines  nahen  Verwandten  oder  Verschwägerten;  14.  plötz- 
liche Aufwallung  in  gerechtem  Zorn;  15.  unüberwindliche  Furcht;  16.  Wider- 
stand gegen  den  Befehl  eines  kirchlichen  Oberen,  wenn  der  Thäter  demsel- 
ben keinen  Gehorsam  schuldig  war,  imd  wenn  die  Ausführung  des  Befehls 
ein  schwereres  Verbr.  gebildet  haben  würde;  17.  Überschreitung  der  Not- 
wehr; 18.  freiwillige  Gestellung  bei  einer  Behörde;  19.  der  Umstand,  dass  der 
Schaden  nur  gering  oder  leicht  wieder  gut  zu  machen  ist;  20.  wahrheits- 
gemässe  und  zur  Erleichterung  der  Strafverfolgung  dienende  Namhaftmachung 
der  Mitschuldigen  oder  Auslieferung  der  bei  der  That  benutzten  Werkzeuge 
mid  des  Gegenstandes  des  Verbr.;  21.  Trunkenheit,  wenn  sie  entweder  nicht 
vollständig  und  vom  Thäter  nicht  vorherzusehen  war,  einerlei,  ob  sie  der 
Fassung  des  verbrecherischen  Entschlusses  vorherging  oder  nachfolgte;  oder 
wenn  sie  nicht  vollständig  war  und  vom  Thäter,  jedoch  ohne  verbrecherische 
Absicht,  selbst  verschuldet  war  aber  der  Fassung  des  Entschlusses  vorherging; 
oder  endlich  vollständig  und  vom  Thäter,  jedoch  ohne  verbrecherische  Ab- 
sicht und  nach  Fassung  des  Entschlusses,  selbst  verschuldet  war;  22.  alle  die 
vom  G.  besonders  als  mildernd  bezeichneten  Umstände;  23.  ganz  allgemein 
alle  der  That  vorhergehenden,  sie  begleitenden  oder  ihr  nachfolgenden  Um- 
stände, die  geeignet  sind,  die  Schuld  des  Thäters,  die  That  oder  ihre  Wir- 
kung in  milderndem  Lichte  erscheinen  zu  lassen  (Art.  39).  —  Solche  Um- 
stände, welche  nach  der  Vorschrift  des  Gesetzes  zum  Thatbestand  eines 
Delikts  gehören,  können  nicht  als  mildernde  Umstände  in  Betracht  gezogen 
werden.  — 


§  4.    Allgemeiner  Teil.  543 


Die  strafrechtliche  Verantwortlichkeit  istauBgeschlossen  1.  bei  mangeln- 
der Zurecbnongsfähigkeit  des  Thäters;  2.  wenn  die  That  entschuldbar  ist 
(Art.  41).  Absolut  unzurechnungsfähig  sind  Personen  unter  10  Jahren  und 
Geisteskranke,  welche  keine  lichten  Zwischenräume  haben  (Art.  42).  Ferner 
sind  unzurechnungsfähig  1.  die  Minderjährigen  von  10  bis  zu  14  Jahren, 
welche  bei  Begehung  der  That  das  Unterscheidungsvermögen  nicht  besessen 
haben;  2.  die  Geisteskranken,  die,  obwohl  sie  zuweilen  lichte  Zwischenräume 
haben,  doch  bei  der  Begehung  der  That  sich  in  dem  Zustande  der  Umnach- 
tung befanden;  3.  diejenigen,  welche  im  Augenblick  der  Begehung  der  That 
aus  irgend  einem,  von  ihrem  Willen  unabhängigen  Grunde  vorübergehend  des 
freien  Gebrauchs  ihrer  geistigen  Fähigkeiten  beraubt  waren;  eine  Nachlässig- 
keit oder  eine  Unterlassung  wird  immer  als  ein  von  dem  Willen  des  Thäters 
abhängiger  Umstand  angesehen  (Art.  43). 

Die  That  ist  entschuldbar,  wenn  sie  begangen  ist  1.  unter  dem  Ein- 
fluss  einer  unwiderstehlichen  physischen  Gewalt;  2.  unter  dem  Einfluss  einer 
unüberwindlichen  Furcht  vor  einem  gegenwärtig  oder  unmittelbar  drohenden 
Übel,  welches  mindestens  ebenso  schwer  oder  schwerer  ist  als  das  dem  Ver- 
letzten zugefügte;  3.  auf  Grund  des  einem  rechtsmässigen  Vorgesetzten  ge- 
setzlich geschuldeten  Gehorsams,  wenn  nicht  der  Befehl  durch  die  Handlung 
selbst  oder  die  Art  ihrer  Ausführung  überschritten  ist;  4.  auf  Grund  gesetz- 
licher Vorschriften  in  Ausübung  eines  Rechts  oder  in  Erfüllung  einer  Verbind- 
lichkeit, falls  der  Thäter  die  erforderliche  Vorsicht  angewendet  hat,  oder  die 
That  sich  als  das  Ergebnis  rein  zufälliger  Umstände  darstellt;  5.  im  Zustande 
der  Notwehr.  Eine  That  ist  femer  entschuldbar,  wenn  ihre  Strafbarkeit  ledig- 
lich auf  solchen,  dem  Verletzten  oder  der  Handlung  eigentümlichen  Umstän- 
den beruhte,  welche  der  Thäter  weder  kannte,  noch  kennen  musste,  und  end- 
lich ganz  allgemein,  wenn  der  Thäter  weder  vorsätzlich  noch  fahrlässig 
gehandelt  hat  (Art.  44). 

Damit  eine  unter  dem  Einfluss  der  Furcht  begangene  Handlung  ent- 
schuldbar ist,  ist  erforderlich:  thatsächliches  Vorhandensein  des  gefürchteten 
Übels,  Unmöglichkeit,  die  Obrigkeit  um  Schutz  anzugehen  oder  von  dem 
Recht  der  Notwehr  Gebrauch  zu  machen,  oder  ein  anderes,  eine  weniger 
schwere  Verletzung  verursachendes  Mittel  anzuwenden,  Wahrscheinlichkeit  der 
Wirksamkeit  des  angewendeten  Mittels  (Art.  45). 

Das  Vorliegen  des  Falles  der  Notwehr  ist  an  drei  Vorbedingungen  ge- 
knüpft: 1.  bereits  ausgeführter  oder  drohender,  vom  Thäter  nicht  durch  Pro- 
vokation, Beleidigung  oder  Begehung  einer  strafbaren  Handlung  veranlasster, 
ungesetzlicher  Angriff  seitens  des  Verletzten;  2.  Unmöglichkeit,  den  Schutz 
der  Staatsgewalt  in  Anspruch  zu  nehmen;  3.  Notwendigkeit,  sich  des  ange- 
wendeten Mittels  zu  bedienen,  um  den  Angriff  zu  verhindern  oder  aufzuhalten 
(Art.  46). 

Das  G.  bestimmt  die  Fälle,  in  welchen  die  unzurechnungsfähigen  Geistesr 
kranken  und  Minderjährigen  ihren  Familien  übergeben  oder  in  Irrenanstalten 
bezw.  Korrektionshäusem  untergebracht  werden  sollen  (Art.  47 — 49). 

Die  durch  den  Thäter  selbst  herbeigeführte  vorübergehende  Beraubung 
des  freien  Gebrauchs  der  Vernunft  einschliesslich  der  vollständigen,  selbst 
verschuldeten  Trunkenheit  im  Augenblick  der  Begehung  der  That  hebt  die 
strafrechtliche  Verantwortlichkeit  keineswegs  auf,  selbst  wenn  diese  Zustände 
nicht  in  der  Absicht  hervorgerufen  sind,  während  derselben  das  Delikt  zu 
begehen.  Indessen  bilden  sie  einen  mildernden  Umstand  besonderer  Art  in 
folgenden  beiden  Fällen:  1.  wenn  die  Beraubung  des  freien  Gebrauchs  der 
Vernunft  oder  die  vollständige  Trunkenheit  vom  Thäter  nicht  vorhergesehen 
werden  konnte,  einerlei,  ob  sie  der  Fassung  des  verbrecherischen  Entschlusses 


544  I^i©  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


vorausging  oder  nachfolgte;  2.  wenn  dieselbe  ohne  verbrecherische  Absicht 
verursacht  ist  und  der  Fassung  des  Entschlusses  vorausging  (Art.  50).  Der 
Ausschluss  der  strafrechtlichen  Verantwortlichkeit  hat  nicht  den  der  civilrecht- 
lichen  zur  Folge,  wenn  das  G.  eine  solche  statuiert  (Art.  51). 

5.  Das  räumliche  Geltungsgebiet  der  portugiesischen  Straf- 
gesetzgebung. Falls  nicht  besondere  internationale  Verträge  entgegenstehen, 
finden  die  portugiesischen  Strafgesetze  Anwendung:  1.  auf  alle  im  Gebiete  des 
Königreichs  oder  seiner  Kolonieen  begangenen  strafbaren  Handlungen,  ohne 
Rücksicht  auf  die  Staatsangehörigkeit  des  Thäters,  falls  es  sich  nicht  um  ein 
Verg.  handelt,  das  in  einem  portugiesischen  Hafen  oder  Gewässer  an  Bord 
eines  ausländischen  Kriegsschiffes  oder  Handelsschiffes  begangen  ist,  wenn  in 
diesem  letzteren  Falle  die  That  nur  die  Schiffsbesatzung  angeht,  und  die 
öffentliche  Ruhe  im  Hafen  nicht  gestört  ist;  2.  auf  die  an  Bord  eines  portu- 
giesischen Schiffes  auf  hoher  See  oder  die  an  Bord  eines  in  einem  fremden 
Hafen  vor  Anker  liegenden  portugiesischen  Kriegs-  oder  Handelsschiffes  be- 
gangenen strafbaren  Handlungen,  wenn  die  That  nur  die  Schiffsbesatzung  an- 
geht und  eine  Störung  der  öffentlichen  Ruhe  im  Hafen  nicht  eingetreten  ist; 
3.  auf  die  von  einem  Portugiesen  im  Auslande  begangenen  Handlungen, 
welche  sich  gegen  die  innere  oder  äussere  Sicherheit  des  portugiesischen 
Staates  richten,  einschliesslich  der  Nachmachung  öffentlicher  Siegel,  portugie- 
sischer Münzen  oder  Kreditpapiere,  Noten  der  Nationalbank  oder  der  gesetz- 
lich zur  Ausgabe  von  Banknoten  autorisierten  Banken,  falls  nicht  der  Schul- 
dige bereits  von  den  Gerichten  des  Landes,  in  welchem  die  That  begangen 
wurde,  abgeurteilt  ist;  4.  auf  diejenigen  Ausländer,  welche  im  Auslände  eines 
der  vorstehend  erwähnten  Delikte  begehen,  wenn  sie  sich  auf  portugiesischem 
Gebiet  betreffen  lassen  oder  ihre  Auslieferung  erfolgt;  5.  auf  jedes  von  einem 
Portugiesen  im  Auslande  begangene  Verbr.  oder  Verg.,  wenn  a)  der  Thäter 
in  Portugal  verhaftet  wird,  b)  die  That  .durch  die  G.  des  Begehungsortes  als 
Verbr.  oder  Verg.  mit  Strafe  bedroht  ist,  c)  der  Schuldige  nicht  bereits  durch 
die  G.  dieses  Landes  abgeurteilt  ist.  Wenn  in  diesem  letzteren  Falle  die  That 
nur  mit  leichter  (korrektioneller)  Strafe  bedroht  ist,  darf  die  Staatsanwaltschaft 
die  Strafverfolgung  nur  auf  Antrag  des  Verletzten  oder  auf  ausdrückliches 
amtliches  Verlangen  des  Landes,  in  welchem  die  That  begangen  ist,  vorneh- 
men. Wenn  in  den  Fällen  No.  3  und  5  der  im  Lande  des  Begehungsorts 
bereits  verurteilte  Thäter  der  Strafverbüssung  sich  ganz  oder  teilweise  ent- 
zieht, so  kann  gegen  ihn  vor  den  portugiesischen  Gerichten  ein  neues  Straf- 
verfahren stattfinden  (Art.  53). 

6.  Die  Strafen  und  ihre  Wirkung.  Die  Strafen  zerfallen  in  schwere 
(penas  maiores),  leichte  (penas  correccionaes)  und  besondere  (penas  especiaes), 
diese  letzteren  finden  nur  auf  öffentliche  Beamte  Anwendung. 

Schwere  Strafen  sind  die  im  G.  v.  1.  Juli  1867  erwähnten,  nämlich: 
Einschliessung  in  Einzelhaft  (prisäo  maior  cellular)  auf  die  Dauer  von  8  Jahren 
mit  nachfolgender  Deportation  (degredo)  für  20  Jahre,  von  denen  nach  richter- 
lichem Ermessen  bis  zu  2  Jahren  an  dem  Deportationsorte  im  Gefängnis  ver- 
büsst  werden  können ;  Einschliessung  in  Einzelhaft  auf  die  Dauer  von  8  Jahren 
mit  nachfolgender  12 jähriger  Deportation;  Einschliessung  für  6  Jahre  mit 
10 jähriger  Deportation;  4jährige  Einschliessung  mit  8 jähriger  Deportation; 
Einschliessimg  auf  die  Dauer  von  2  bis  zu  8  Jahren  (Art.  54 — 56). 

Die  Einschliessung  in  Einzelhaft  hat  zur  Folge:  1.  vollständige  Trennung 
von  anderen  Gefangenen  bei  Tag  und  Nacht;  2.  die  Verpflichtung  zur  Arbeit 
innerhalb  der  Zelle  für  alle  Verurteilten,  mit  Ausnahme  derjenigen,  die  wegen 
ihres  hohen  Alters  oder  ihrer  Gesundheit  hierzu  ausser  stände  sind;  die  Ge- 
fangenen  dürfen  Besuche  seitens  ihrer  Verwandten,    Freunde,    der  Mitglieder 


§  4.    Allgemeiner  Teil.  545 


der  Schutzvereine  und  anderen  sich  ihrer  Belehrung  oder  Besserung  widmenden 
Personen  empfangen.  Indessen  wird  dieser  Verkehr  mit  anderen  Personen 
als  den  Oefängnisbeamten,  den  Lehrern  und  Anstaltsgeistlichen  nur  als  aus- 
nahmsweise Vergünstigung  gestattet.  —  Der  Arbeitsverdienst  der  Gefangenen 
wird  in  vier  gleiche  Teile  geteilt,  von  denen  ein  Viertel  der  Staatskasse  zufällt, 
ein  Viertel  zur  Entschädigung  des  Verletzten,  falls  eine  solche  angebracht  ist, 
ein  anderes  Viertel  für  die  Frau  und  die  Rinder  des  Gefangenen  verwendet 
wird,  während  das  letzte  Viertel  zur  Bildung  eines  Kapitals  dient,  das  dem 
Sträfling  bei  seiner  Entlassung  ausgehändigt  wird.  Das  zweite  und  dritte 
Viertel  fliesst  der  Staatskasse  zu,  wenn  es  zu  dem  Zwecke,  zu  welchem  es 
bestimmt  ist,  nicht  verwendet  wird  (G.  v.  1.  Juli  1867,  Art.  20 — 23).  Solange 
die  beabsichtigte  Gefängnisreform  nicht  durchgeführt  ist,  muss  der  Richter  im 
Urteil  angeben,  welche  Strafe  der  Verurteilte  als  Ersatz  für  die  im  G.  eigen^ 
lieh  angedrohte  zu  verbüssen  hat  (Art.  129).  Nach  Art.  57  sind  die  Ersatz- 
strafen folgende:  28jährige  Verbannung  mit  8 — lOjähriger  Einsperrung  am 
Deportationsorte;  Deportation  auf  die  Dauer  von  25,  20  und  15  Jahren,  schwere 
zeitige  Gefängnisstrafe  (prisäo  maior  temporaria);  zeitige  Verbannung  (degredo 
temporario);  Ausweisung  a^s  dem  Staatsgebiet  auf  bestimmte  oder  unbestimmte 
Zeit;  Ausschliessung  von  der  Ausübung  politischer  Rechte  auf  die  Dauer  von 
15—20  Jahren. 

Korrektionelle  Strafen  sind:  1.  Gef.  (prisäo  correccional);  2.  Auf- 
enthaltsbeschränkung oder  Eingrenzung  (desterro);  3.  zeitweiliger  Ausschluss 
von  der  Ausübung  politischer  Rechte;  4.  Geldstrafe  (multa);  5.  Verweis 
(reprensäo).  Die  Gefängnisstrafe  wird  in  den  Bezirksgefängnissen  verbüsst. 
Der  Gefangene  wird  von  anderen  Gefangenen  vollständig  getrennt  gehalten, 
und  ist,  wenn  er  für  die  Benutzung  und  seinen  Unterhalt  während  der  Straf- 
dauer bezahlt,  zur  Arbeit  nicht  verpflichtet;  soweit  die  Arbeit  für  ihn  freiwillig 
ist,  kommt  ihr  Ertrag  ihm  zu  gute.  Die  Dauer  der  Gefängnisstrafe  beträgt 
höchstens  2  Jahre  (Art.  64  und  G.  v.  1867,  Art.  33  AT.). 

Die  Strafe  der  Aufenthaltsbeschränkung  (Eingrenzung)  verpflichtet  den 
Verurteilten,  innerhalb  eines  im  Urteil  bezeichneten,  von  dem  Bezirk,  in  welchem 
die  That  begangen  ist,  verschiedenen  Bezirkes  sich  aufzuhalten  oder  den  Bezirk 
auf  die  Dauer  von  höchstens  3  Jahren  zu  verlassen.    (Art.  65.) 

Der  zu  einer  Geldstrafe  Verurteilte  hat  dem  Staat  einen  der  Höhe  seines 
Einkommens  entsprechenden  3  Jahreseinnahmen  nicht  übersteigenden,  im  Urteil 
bestimmten  Betrag  zu  zahlen.  Die  Höhe  der  Strafe  beträgt,  abgesehen  von 
den  Fällen,  in  welchen  die  Strafandrohung  des  Gesetzes  auf  eine  bestimmte 

Summe  lautet,  für  jeden  Tag  mindestens  100  Reis  (=  — r  Franken  =  0,45  Mark) 

2000 
und   höchstens  2000  Reis  (=---- Franken  =  9,07  Mark).    (Art.  67.) 

loü 

Der  Verweis  wird  in  öfi'entlicher  Gerichtssitzung  erteilt  (Art.  68). 

Die  auf  die  öffentlichen  Beamten  Anwendung  findenden  besonderen  Strafen 
sind  die  Amtsentsetzung,  die  zeitweilige  Enthebung  vom  Amt  und  die  Rüge 
(Art.  59). 

Das  Militärjustizgesetz  droht  folgende  Strafen  an:  1.  die  Todesstrafe,  die 
jedoch  thatsächlich  nicht  mehr  vollzogen  wird;  2.  Zwangsarbeit;  3.  schwere 
EinSchliessung  in  Einzelhaft;  4.  Verbannung  in  eine  Kolonie  (degredo);  5.  Ver- 
lust der  militärischen  Würde;  6.  Dienstentlassung;  7.  Festungshaft;  8.  mili- 
tärische Deportation,  d.  h.  die  Versetzung  in  eine  überseeische  Provinz; 
9.  Militärarrest  (Art.  9  ff.). 

Die  Wirkung  der  Strafen  (Art.  74 — 83).  —  Jede  Verurteilung  hat  die 
Einziehung  der  bei  der  strafbaren  Handlung  benutzten  Werkzeuge  zur  Folge, 

Strafgesetzgebiing  der  Gegenwart.  I.  35 


546  I^ie  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


ohne  dass  der  Verletzte  oder  ein  Dritter  das  Recht  hat,  sich  diese  zusprechen 
zu  lassen.  Der  Verurteilte  ist  ausserdem  verpflichtet,  1.  dem  Beschädigten  die 
ihm  genommenen  Gegenstände  oder  ihren  Wert  zu  ersetzen;  2.  ihm  auf  Ver- 
langen Schadenersatz  zu  leisten;  3.  die  Prozesskosten  und  die  Kosten  des 
Entschädigungsverfahrens  zu  tragen  (Art.  75  und  76).  —  Jede  Verurteilung  zu 
einer  „schweren  Strafe"  hat  ausserdem  zur  Folge  1.  den  Verlust  aller  von 
dem  Verurteilten  bekleideten  öflPentlichen  Ämter,  Stellungen,  der  ihm  verliehenen 
Titel,  Adelsprädikate,  Orden  und  Auszeichnungen;  2.  die  zeitige  Unfähigkeit 
zu  wählen  oder  gewählt  zu  werden;  3.  die  Unfähigkeit,  Vormund,  Pfleger, 
Sachwalter  oder  Mitglied  eines  Familienrats  zu  sein  (Art.  76  —  78). 

Die  Verurteilung  zu  einer  leichten  Strafe  bringt  diese  Folgen  nur  für  die 
Zeit  der  Strafdauer  mit  sich  (Art.  77  und  78). 

Die  Wirkung  der  Strafen  tritt  von  Hechts  wegen  ein  (Art.  83). 

7.    Strafzumessung  und  Strafvollzug  (Titel  III,  Art.  84 — 128). 

a)  Strafzumessung  im  allgemeinen.  Ohne  besondere  gesetzliche 
Vorschrift  kann  eine  Strafe  weder  verhängt  noch  durch  eine  andere  ersetzt 
werden.  —  Die  in  den  No.  2,  3  und  4  der  Art.  55  und  57  erwähnten  Strafen 
kann  der  Richter  nur  unter  den  dort  angegebenen  Bedingungen  verhängen, 
ohne  befugt  zu  sein,  ihre  Dauer  zu  erhöhen  oder  zu  ermässigen.  Dasselbe 
gilt  von  den  unter  No.  1  der  Art.  55  und  57  erwähnten  Strafen;  jedoch  kann 
der  Richter  in  diesen  Fällen  mit  Rücksicht  auf  den  Charakter  der  That,  selbst 
wenn  besonders  erschwerende  Umstände  nicht  vorliegen,  in  dem  Urteil  aus- 
sprechen, dass  der  Verurteilte  in  dem  Deportationsorte  für  die  Dauer  von 
2  bis  zu  10  Jahren  einzusperren  ist.  Wenn  die  schweren  Freiheits-  und  Depor- 
tationsstrafen die  Dauer  von  3  Jahren  nicht  überschreiten,  ist  der  Verurteilte 
nicht  verpflichtet  zu  arbeiten,  vorausgesetzt,  dass  er  in  der  Lage  ist,  seinen 
Unterhalt  selbst  zu  bestreiten.  —  Was  die  Ersetzung  der  schweren  Einzelhaft 
durch  andere  Freiheitsstrafen  betrifll;,  so  wird  die  Dauer  der  ersteren  gleich  */, 
der  Dauer  der  letzteren  gerechnet.  Schwere  Einzelhaft  gilt  gleich  '/jq  bis  zu  */, 
der  zeitigen  Deportation  von  gleicher  Dauer.  Wenn  die  Geldstrafe  neben  der 
umzuwandelnden  Strafe  anwendbar  ist,  so  kann  auf  sie  auch  im  Falle  der 
Umwandlung  erkannt  werden.  —  Wenn  eine  sich  nicht  im  Besitz  der  bürger- 
lichen Ehrenrechte  befindende  Person  ein  mit  dem  Verlust  oder  dem  zeitweiligen 
Ausschluss  von  der  Ausübung  dieser  Rechte  bedrohtes  Delikt  begeht,  so  tritt 
an  Stelle  dieser  Strafe  leichtes  Gefängnis  von  20  Tagen  bei  der  ersten  und 
von  höchstens  1  Jahr  bei  der  zweiten  Begehung  (Art.  84 — 90). 

b)  Strafzumessung  bei  erschwerenden  oder  mildernden  Um- 
ständen. —  Liegen  erschwerende  Umstände  vor,  so  kann  die  schwerste  zu- 
lässige Strafe  bis  zu  Einzelhaft  au/  die  Dauer  von  10  an  Stelle  von  8  Jahren 
erhöht  werden.  Liegen  mildernde  Umstände  vor,  so  können  die  leichten 
Strafen  bis  auf  eine  dem  Stägigen  Einkommen  entsprechende  Geldstrafe  er- 
mässigt  werden  (Art.  91  —  99). 

c)  Strafzumessung  bei  Rückfall,  Aufeinanderfolge  und  Zu- 
sammentreffen von  Delikten,  Teilnahme,  fehlgeschlagenem  Delikte 
und  Versuch.  —  Der  Rückfall  bewirkt  für  die  schweren  Strafen,  dass  an 
Stelle  der  Verbannung  teilweise  Gefängnis  tritt.  Ist  die  Verbannung  im  Einzel- 
falle nicht  angedroht,  oder  ist  sie  die  einzig  angedrohte  Strafe,  so  muss  der 
Richter  mindestens  auf  ^/g  der  höchsten  zulässigen  Strafe  beim  ersten  Rückfall 
und  auf  das  höchste  Mass  bei  jedem  späteren  Rückfall  erkennen  (Art.  100).  Bei 
der  Aufeinanderfolge  von  strafbaren  Handlungen  wird  die  schwerste  Strafe 
angewendet,  welche  von  dem  Gesetz  für  dasjenige  Delikt  angedroht  wird, 
wegen  dessen  der  Thäter  bereits  rechtskräftig  verurteilt  ist  (Art.  101).  Wenn 
es  sich  um  das  Zusammentreff'en  zweier  mit  derselben  Strafe  bedrohten  Delikte 


§  4.    Allgemeiner  Teil.  547 


handelt,  so  ist  anf  die  um  einen  Grad  schwerere  Strafe,  und  wenn  es  eine 
solche  nicht  giebt,  mindestens  auf  die  Hälfte  der  zulässigen  schwersten  Strafe 
zn  erkennen.  Sind  beide  Thaten  mit  Strafen  verschiedener  Art  bedroht,  so 
wird  die  schwerste  Strafart,  und  zwar  unter  Verschärfung,  angewendet.  Mehrere 
verwirkte  Geldstrafen  werden  stets  zusammengezählt  (Art.  102).  —  Im  Falle 
der  Teilnahme  wird  der  Gehtilfe,  welcher  bei  dem  vollendeten  Delikt  mitgewirkt 
hat,  bestraft  wie  der  Thäter  eines  fehlgeschlagenen;  der  Gehülfe,  welcher  bei 
einer  fehlgeschlagenen  Strafthat  beteiligt  war,  wie  der  Urheber  eines  Versuchs; 
der  Gehülfe,  der  bei  einem  versuchten  Delikt  mitwirkte,  wie  der  Thäter  des- 
selben, jedoch  unter  Anwendung  der  geringsten  zulässigen  Strafe.  —  Die  für 
das  fehlgeschlagene  Verbrechen  zu  verhängende  Strafe  ist  im  allgemeinen 
einen  Grad  niedriger  als  die  für  das  vollendete  angedrohte;  die  für  das  ver- 
suchte Verbrechen  zu  erkennende  ist  gleich  der  für  ein  fehlgeschlagenes  ver- 
wirkten, wenn  bei  letzterem  mildernde  Umstände  vorliegen  (Art.  103 — 106). 

d)  Strafzumessung  in  einzelnen  besonderen  Fällen.  Die  Strafe 
des  Begünstigers  richtet  sich  nach  der  des  Thäters.  Sie  besteht  in  leichtem  Gef., 
wenn  der  Thäter  eine  schwere  Strafe  verwirkt  hat,  in  leichtem  Q^f.  von 
3  Monaten  oder  mehr,  wenn  der  Thäter  selbst  leichtes  Gef.  verwirkt  hat 
(Art.  106). 

Gegen  den  noch  nicht  21  Jahre  alten  Verbrecher  kann  auf  keine  schwerere 
Strafe  als  Einzelhaft  auf  die  Dauer  von  6  Jahren  mit  Deportation  auf  die 
Dauer  von  10  Jahren  oder  auf  20jährige  Deportation  erkannt  werden.  Ist  er 
noch  nicht  18  Jahr  alt,  so  ist  das  Höchstmass  der  zulässigen  Strafe  Einzelhaft 
von  2 — 8  Jahren  oder  schweres  Gef.  oder  zeitige  Deportation;  wenn  er  das 
14.  Lebensjahr  noch  nicht  vollendet  hat  und  die  Bestimmungen  der  Art.  55 
und  57  auf  seine  That  keine  Anwendung  finden,  so  kann  er  nicht  schwerer 
bestraft  werden,  als  mit  Einzelhaft  auf  die  Dauer  von  4  Jahren  oder  zeitigem 
schweren  Gef.  oder  zeitiger  Deportation.  Ist  die  That  an  und  für  sich  bereits 
nur  mit  einer  dieser  Strafen  bedroht,  so  wird  sie  für  den  Minderjährigen  auf 
das  zulässige  Mindestmass  ermässigt  oder  in  leichtes  Gef.  umgewandelt  (Art.  108 
und  109).  Ist  die  strafbare  Handlung  nur  fahrlässig  begangen  oder  liegt  einer 
der  Fälle  des  Art.  50  vor,  so  kann  nur  auf  leichtes  Gef.  mit  entsprechender 
Geldstrafe  erkannt  werden. 

e)  Der  Strafvollzug.  —  Die  Vollstreckung  einer  Freiheitsstrafe  an 
einer  schwangeren  Frauensperson  ist  nur  zulässig,  wenn  sie  in  leichtem  Gef. 
besteht  und  darf  nicht  bis  über  den  Zeitraum  von  1  Monat  nach  erfolgter 
Niederkunft  ausgedehnt  werden  (Art.  113).  Wird  eine  strafbare  Handlung 
während  der  Vollstreckung  der  wegen  einer  früheren  That  erkannten  Strafe 
begangen,  so  wird  die  wegen  dieser  verwirkte  Strafe  mit  der  ersten  gleich- 
zeitig oder  nach  Verbüssung  derselben  vollstreckt,  wenn  dies  ausführbar  ist, 
andernfalls  wird  die  schwerste  Strafe  verschärft  (Art.  115).  — 

Die  Verpflichtung  zur  Zahlung  einer  Geldstrafe  geht  auf  die  Erben  des 
Verurteilten  über,  wenn  das  Urteil  zur  Zeit  des  Todes  des  letzteren  bereits 
rechtskräftig  war  (Art.  122).  Ist  eine  Geldstrafe  uneinziehbar,  so  tritt  an  ihre 
Stelle  Gef.,  und  zwar  1  Tag  für  je  500  Eeis. 

Alle  Strafen  mit  Ausnahme  der  Geldstrafen  sind  lediglich  gegen  die 
Person  des  Schuldigen  gerichtet;  sie  können  weder  zur  Kompensation  ver- 
wendet, noch  zum  Gegenstand  eines  Vergleichs  gemacht  werden  (Art.  123  u.  124). 

f)  Der  Untergang  der  strafrechtlichen  Verantwortlichkeit.  — 
Die  strafrechtliche  Verantwortlichkeit  erlischt  1.  durch  den  Tod  des  Schuldigen 
(abgesehen  von  der  für  Geldstrafen  bestehenden  Ausnahme);  2.  durch  Ver- 
jährung; 3.  durch  Amnestie;  4.  durch  Verzeihung  seitens  des  Verletzten  in  den 
vom  Gesetz  zugelassenen  Fällen.     Die  Verjährungsfrist   beträgt    15  Jahre   für 

35* 


548  ^i^  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


die  mit  einer  schweren  Strafe,  5  Jahre  für  die  mit  einer  leichten  Strafe  be- 
drohten Delikte,  1  Jahr  für  diejenigen  Polizeidelikte,  für  deren  Aburteilung 
der  Richter  gesetzlich  zuständig  ist.  — 

Die  Veijfthrungszeit  rechtskräftig  erkannter  Strafen  beträgt  20  Jahre  für 
schwere,  10  Jahre  für  leichte  und  1  Jahr  für  die  wegen  einer  Übertretung 
erkannten  Strafen.  —  Die  Verzeihung  des  Verletzten  hat  nur  Einfluss,  wenn 
sie  vor  Stellung  eines  Strafantrags  oder  vor  Eröffnung  des  Strafverfahrens 
gewährt  wird,  falls  nicht  das  G.  etwas  anderes  bestimmt  (Art.  125). 

Die  Strafen  endigen  durch  ihre  Verbüssung,  durch  königliche  Begnadigung 
(perdäo  real)  und  durch  Rehabilitation  (Art.  126).  In  dem  letzteren  Falle  wird 
dem  unschuldig  Verurteilten  auf  seinen  Antrag  in  einem  seine  Unschuld  aus- 
sprechenden Rehabilitationsurteil  eine  Entschädigung  für  den  durch  die  erlittene 
Strafe  verursachten  Schaden  zuerkannt,  abgesehen  jedoch  von  dem  Fall  der 
Verurteilung  zu  einer  einfachen  Geldstrafe,  in  welchem  lediglich  die  Zurück- 
erstattung des  gezahlten  Betrages  erfolgt. 

Der  Schadensersatz  und  die  Zurückzahlung  sind  von  der  Staatskasse  zu 
bewirken  Das  Rehabilitationsurteil  wird  an  drei  aufeinanderfolgenden  Tagen 
im  Staatsanzeiger  (Diario  do  Govemo)  veröff'entlicht  und  an  die  Tafel  des 
Gerichts,  welches  das  erste  Urteil  gesprochen  hatte,  sowie  des  Gerichts,  in 
dessen  Bezirk  der  Verurteilte  seinen  Wohnsitz  hat,  angeheftet  (Art.  126). 

Der  Umfang  der  aus  einer  strafbaren  Handlung  entspringenden  civll- 
rechtlichen  Verantwortlichkeit  wird  durch  die  Vorschriften  der  Art.  2367  ff.  des 
Civilgesetzbuchs  bestimmt  (Art.  127). 

Der  freigesprochene  Angeklagte  hat  keinerlei  Prozesskosten  zu  tragen; 
von  dem  Verurteilten  werden  sie  erst  eingezogen,  wenn  das  Urteil  rechts- 
kräftig geworden  ist  (Art.  128). 

g)  Übergangsbestimmungen.  —  In  diesen  wird  angeordnet,  dass 
der  Richter  bis  zur  vollständigen  Durchführung  des  oben  erwähnten  Gefängnis- 
systems im  Urteil  sowohl  die  vom  G.  angedrohten,  wie  die  an  ihre  Stelle 
tretenden  Freiheitsstrafen  anzugeben  hat  (Art.  129). 

§  5.    Der  besondere  Teil  des  St&B. 

Das  in  7  Titel  zerfallende  zweite  Buch  beschäftigt  sich  mit  den  verschiedenen 
Verbrechen  und  Vergehen,  nämlich:  den  Verbrechen  gegen  die  Staatsreligion 
und  dem  Missbrauch  kirchlicher  Ämter;  den  Verbrechen  gegen  die  Sicherheit 
des  Staates;  gegen  die  öffentliche  Ruhe  und  Sicherheit;  gegen  die  Person; 
gegen  das  Eigentum.  Die  letzten  beiden  Titel  des  Buchs  enthalten  Bestimmungen 
über  die  öffentliche  Aufforderung  zur  Begehung  einer  strafbaren  Handlung  und 
die  Polizei-Übertretungen. 

Titel  I. 

!•  Verbrechen  gegen  die  Staatsreligion.  —  Der  Mangel  an  Achtung 
gegenüber  dem  apostolischen,  römisch-katholischen  Glaubensbekenntnis,  der 
durch  öffentliche  Beleidigung,  durch  Handlungen,  Schriften,  durch  Verbreitung 
von  Irrlehren  oder  durch  Vornahme  einer  einem  anderen  Kultus  angehörenden 
Ceremonie  geäussert  wird,  wird  mit  leichtem  Gef.  auf  die  Dauer  von  1  bis  zu 
2  Jahren  und  einer  dem  Einkommen  von  3  Monaten  bis  zu  3  Jahren  ent- 
sprechenden Geldstrafe  geahndet.  Ist  der  Thäter  ein  Ausländer,  so  kann  er 
für  die  Zeit  bis  zu  12  Jahren  aus  dem  Königreich  ausgewiesen  werden.  Ist 
die  That  begangen  ohne  die  Absicht,  die  katholische  Religion  zu  schmähen 
oder  jemand  zu  einem  anderen  Bekenntnis  zu  bekehren,  so  besteht  die  Strafe 
in  einem  Verweis,    neben   welchem    auf  Gef.  von  3  bis  zu  15  Tagen  erkannt 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  549 


werden  kann.  Die  Beschimpfang  des  heiligen  Abendmahls,  sowie  gewaltsame 
Handlungen,  welche  vorgenommen  sind,  um  die  freie  Religionsübung  zu  ver- 
hindern, werden  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  oder  schwerem  Gef. 
bestraft  (Art.  130  und  131). 

Die  Beleidigung  eines  Geistlichen  während  der  Ausübung  seiner  kirch- 
lichen Funktionen  wird  ebenso  bestraft,  wie  die  gleiche,  gegen  einen  öflFent- 
lichen  Beamten  gerichtete  Handlung  (Art.  132).  Gewalt  und  Drohungen,  um 
einen  Geistlichen  an  der  Ausübung  seines  Amtes  zu  verhindern,  werden  mit 
Gef.  von  höchstens  6  Monaten  bestraft,  falls  sie  nicht  nach  allgemeinen  Grund- 
sätzen eine  schwerere  Strafe  nach  sich  ziehen  (Art.  131).  Die  unbefugte  Vor- 
nahme einer  gottesdienstlichen  Handlung  wird  mit  schwerer  Einzelhaft  von  2 
bis  zu  8  Jahren  oder  zeitiger  Verbannung  bedroht  (Art.  134). 

Der  öffentliche  Abfall  von  dem  katholischen  Glaubensbekenntnis  zieht 
den  Ausschluss  von  der  Ausübung  politischer  Rechte  auf  die  Dauer  von 
20  Jahren,  und  wenn  der  Schuldige  ein  Geistlicher  ist,  auf  unbestimmte  Zeit 
nach  sich.  Die  Wirkung  hört  auf,  wenn  der  Thäter  zum  katholischen  Glaubens- 
bekenntnis zurückkehrt  (Art.  135). 

2.  Strafbarer  Missbrauch  des  geistlichen  Amtes.  Ein  Geistlicher, 
der  seine  Amtsgewalt  in  einer  vom  G.  verbotenen  Weise  missbraucht,  wird 
mit  leichtem  Gef.  und  einer  dem  Einkommen  von  1  Monat  bis  zu  3  Monaten 
entsprechenden  Geldstrafe  belegt.  Die  Verletzung  des  Beichtgeheimnisses  oder 
die  Verleitung  einer  Beichtenden  in  unmoralischer  Absicht  zieht  schwere 
Einzelhaft  für  die  Dauer  von  4  Jahren  mit  darauf  folgender  8jähriger  Depor- 
tation oder  15jährige  Deportation  nach  sich.  Die  Vornahme  der  Eheschliessung 
ohne  Beachtung  der  vorgeschriebenen  gesetzlichen  Fönnlichkeiten  wird  mit 
leichtem  Gef.  von  1  bis  zu  2  Jahren  und  einer  dem  Einkommen  von  1  Monat 
bis  zu  3  Jahren  entsprechenden  Geldbusse  bestraft  (Art.  136).  Die  Beleidigung 
einer  öffentlichen  Behörde,  das  tadelnde  Urteil  über  die  Amtshandlung  einer 
solchen,  über  Massnahmen  der  Regierung  oder  die  geltenden  Gesetze,  die 
Leugnung  oder  Anzweiflung  der  der  Krone  in  kirchenrechtlicher  Beziehung 
zustehenden  Befugnisse,  sowie  die  Aufreizung  zu  einer  strafbaren  Handlung 
mittels  der  Predigt  oder  der  Veröffentlichung  von  Schriften  sind  mit  Gef.  von 
1  bis  zu  2  Jahren  und  einer  dem  Einkommen  von  3  Monaten  bis  zu  3  Jahren 
entsprechenden  Geldstrafe  bedroht  (Art.  137).  Die  unterlassene  Ausführung 
von  Urteilen  der  Civilgerichte,  die  Befolgung  päpstlicher  Bullen  oder  Breven, 
welche  das  gesetzliche  Placet  nicht  erhalten  haben,  werden  mit  einer  dem 
Einkommen  von  1  bis  zu  3  Jahren  entsprechenden  Geldstrafe  geahndet,  wenn 
nicht  erschwerende  Umstände  vorliegen  (Art.  138).  Die  Ausübung  kirchlicher 
Funktionen  trotz  erfolgter  Suspendierung  vom  Amte,  die  Verweigerung  der 
Sakramente  oder  einer  kirchlichen  Amtshandlung  ohne  gesetzlichen  Grund  wird 
mit  Gef.  auf  die  Dauer  von  2  bis  zu  3  Jahren  bestraft  (Art.  139).  Wer  trotz 
gesetzlichen  Verbots  in  eine  erlaubte  Religionsgemeinschaft  aufgenommen  wird, 
oder  wer  eine  solche  Aufhahme  bewirkt  oder  bei  derselben  mitwirkt,  wird  mit 
einer  dem  Einkommen  von  1  Monat  bis  zu  1  Jahr  entsprechenden  Geldstrafe 
belegt  (Art.  140). 

Titel  U. 

3.  Verbrechen  gegen  die  äussere  Sicherheit  des  Staates.  Jeder 
Portugiese,  der  gegen  sein  Vaterland  die  Waffen  trägt,  wird  zu  schwerer 
Einzelhaft  auf  die  Dauer  von  8  Jahren  mit  nachfolgender  20jähriger  Deportation 
und  nach  richterlichem  Ermessen  mit  Einsperrung  in  dem  Deportationsorte  für 
die  Dauer  von  2  Jahren  oder  an  Stelle  dieser  Strafen  mit  Deportation  für 
28  Jahre  und  8 — lOjähriger  Einsperrung  im  Deportationsorte  bestraft.     Wenn 


550  I^iß  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


der  Schuldige,  bevor  die  Kriegserklärung  erfolgte,  mit  Genehmigung  der  por- 
tugiesischen Regierung  im  Dienste  der  fremden  Regierung  stand,  so  wird  die 
Strafe  auf  6jÄjirige  Einzelhaft  mit  nachfolgender  10 jähriger  Deportation  fest- 
gesetzt (Art.  141).^) 

Der  Portugiese,  der  sich  mit  einer  fk*emden  Macht  in  Verbindung  setzt, 
um  sie  zu  bewegen,  Portugal  den  Krieg  zu  erklären,  oder  ihr  zu  diesem  Zwecke 
falsche  Thatsachen  vorspiegelt  oder  vorzuspiegeln  versucht,  wird  mit  Einzelhaft 
auf  die  Dauer  von  6  Jahren  mit  nachfolgender  10 jähriger  Deportation,  wenn 
der  Krieg  infolge  seiner  Handlungsweise  ausgebrochen  ist,  und  mit  4 jähriger 
Einzelhaft  und  nachfolgender  8  jähriger  Deportation  im  entgegengesetzten  Falle 
bestraft  (Art.  142).  —  Der  Portugiese,  welcher  einer  feindlichen  Macht  bei  der 
Ausführung  feindseliger  Handlungen  gegen  Portugal  behülflich  ist,  wird  mit 
6jähriger  Einzelhaft  und  nachfolgender  lOjähriger  Deportation  bestraft. 

Ist  der  Thäter  eines  der  vorerwähnten  Verbr.  ein  Minister  oder  ein  zur 
Vornahme  diplomatischer  Verhandlungen  mit  der  fremden  Macht  beauftragter 
Beamter,  so  wird  die  That  mit  Sjähriger  Einzelhaft  mit  nachfolgender  20jähriger 
Deportation  und  zwei-  oder  mehrjähriger  Einsperrung  am  Deportationsorte  nach 
richterlichem  Ermessen  belegt,  vorausgesetzt,  dass  es  zu  feindseligen  Hand- 
lungen gekommen  ist  (Art.  143).  Die  Verschwörung  gegen  die  äussere  Sicher- 
heit des  Staates  wird  mit  4jähriger  Einzelhaft  und  nachfolgender  Sjähriger 
Deportation,  wenn  der  Anfang  zur  Ausführung  gemacht  ist,  und  mit  2-  bis  zu 
Sjähriger  Einzelhaft  nebst  nachfolgender  zeitiger  Deportation  im  entgegen- 
gesetzten Falle  bestraft  (Art.  144).  —  Jeder  Portugiese,  der  mit  dem  Ange- 
hörigen eines  feindlichen  Landes  einen  durch  G.  oder  obrigkeitliche  Vorschrift 
verbotenen  Briefwechsel  unterhält  und  diesem,  ohne  gegen  die  Vorschrift  des 
Art.  143  zu  Verstössen,  Nachrichten  mitteilt,  welche  dem  portugiesischen  Staat 
schaden  oder  dem  feindlichen  Staat  nützen  können,  wird  mit  Gef.  von  6  Monaten 
bis  zu  2  Jahren  bestraft.  Ist  weder  für  Portugal  ein  Schaden,  noch  für  den 
feindlichen  Staat  ein  Nutzen  eingetreten,  so  beträgt  das  Höchstmass  der  Strafe 
6  Monate  Gef.  und  eine  dem  einmonatlichen  Einkommen  entsprechende  Geldstrafe 
(Art  145).  Der  Portugiese,  der  zu  einer  feindlichen  Nation  übergeht,  ohne 
sich  jedoch  an  dem  Kriege  gegen  sein  Vaterland  zu  beteiligen,  wird  mit 
leichtem  Gef.  von  1  bis  zu  2  Jahren  und  mit  einer  dem  Einkommen  von  1  Monat 
bis  zu  1  Jahre  entsprechenden  Geldstrafe  belegt  (Art.  146).  Der  Portugiese, 
der,  während  er  mit  oder  ohne  Erlaubnis  seiner  Regierung  im  Dienste  einer 
feindlichen  Regierung  steht,  nach  Ausbruch  eines  Krieges  mit  Portugal  in 
seiner  Stellung  verbleibt,  wird  aus  dem  Lande  ausgewiesen  (Art.  147). 

Wer  durch  Mittel,  welche  seitens  der  Regierung  nicht  genehmigt  sind, 
den  Staat  veranlasst,  einen  Krieg  zu  erklären  oder  Repressalien  von  selten 
einer  fremden  Macht  hervorruft,  verwirkt  schwere  Einzelhaft  von  2  bis  zu 
S  Jahren,  wenn  der  Krieg  ausgebrochen  ist  oder  die  Repressalien  erfolgt  sind, 
leichtes  Gef.  von  1  bis  zu  2  Jahren,  wenn  dies  nicht  der  Fall  ist  (Art.  148). 
Ein  Portugiese,  der  den  Spion  einer  feindlichen  Macht  in  Kenntnis  dieser 
Eigenschaft  bei  sich  aufnimmt,  wird  mit  schwerer  Einzelhaft  von  6  Jahren  und 
nachfolgender  lOjähriger  Deportation  bestraft.  Dieselbe  Strafe  trifft  den 
Fremden,  der,  während  er  in  portugiesischen  Staatsdiensten  steht,  eines  der  in 
den  vorerwähnten  Art.  (149  und  150)  aufgeführten  Verbr.  begeht.  Ein  Fremder, 
der  während  seines  Aufenthalts  im  Königreich  Portugal  eines  der  in  den 
Art.  143,  145  und  149  erwähnten  Delikte  begeht,    wird,    von    den   im  G.  be- 

*)  Wenn  in  dem  folgenden  von  mehreren  Freiheitsstrafen  nebeneinander  die 
Rede  ist,  so  ist,  falls  nicht  das  Gegenteil  ausdrücklich  gesagt  wird,  stets  anzimehmen, 
dass  dieselben  wahlweise  angedroht  sind. 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  551 


sonders  erwähnten  Fällen  abgesehen,  zu  der  einen  Grad  niedrigeren  Strafe 
verurteilt  (Art.  151).  —  Soldaten  und  die  ihnen  gleichgestellten  Personen 
werden  mit  dem  Tode  und  zuvoriger  Degradation  bestraft  (Militärjustizgesetz, 
Art.  47—49).^) 

4.  Verbrechen  gegen  die  Interessen  des  portugiesischen  Staates 
in  seiner  Beziehung  zu  auswärtigen  Mächten.  Wer  als  amtlicher  Ver- 
treter der  portugiesischen  Regierung  bei  einer  ft*emden  Macht  von  seiner 
Vollmacht  zum  Nachteil  seines  Staates  Gebrauch  macht  und  die  Würde,  die 
Interessen  oder  die  Stellung  der  portugiesischen  Nation  verletzt  >  oder  ohne 
Genehmigung  seiner  Regierung  Verträge  abschliesst,  verwirkt  Einzelhaft  von 
2  bis  zu  8  Jahren.  Gleiche  Strafe  triflPt  denjenigen,  welcher  einer  befreundeten 
oder  neutralen  Macht  von  einer  beabsichtigten  Unternehmung  oder  Unterhand- 
lung, deren  Geheimhaltung  erforderlich  war,  Mitteilung  macht  oder  derselben 
Pläne  von  Verteidigungsmitteln  ausliefert  (Art.  152  und  153). 

Jeder  Portugiese,  der  sich  im  Auslande  naturalisieren  lässt,  oder  ohne 
Genehmigung  seiner  Regierung  von  einer  fremden  Macht  ein  Amt  oder  eine 
Auszeichnung  annimmt,  wird  mit  20jährigem  Ausschluss  von  der  Ausübung 
der  politischen  Rechte  bestraft.  Leichtes  Gef.  verwirkt,  wer  bei  der  Haudels- 
oder  Kriegsmarine  einer  fremden  Macht  in  Dienst  tritt  (Art.  155).  Die  An- 
werbung oder  Besoldung  von  Mannschaften,  die  für  ausländische  Kriegsdienste 
bestimmt  sind,  sowie  die  Ansammlung  von  Waffen,  Fahrzeugen  oder  Munition 
zu  diesem  Zwecke  wird  mit  dem  Höchstmass  der  leichten  Gefängnisstrafe  und 
mit  Geldstrafe  bedroht  (Art.  156).  —  Mit  Amtsentsetzung  oder  zeitweiliger 
Amtsenthebung  oder  leichtem  Gef.  in  Verbindung  mit  einer  einem  Einkommen 
von  höchstens  6  Monaten  entsprechenden  Geldstrafe  wird  der  diplomatische 
Vertreter  des  portugiesischen  Staates  bestraft,  welcher  die  ihm  gesetzlich  ob- 
liegende Fürsorge  für  die  in  dem  Staate  seines  Aufenthaltsorts  wohnenden 
Portugiesen  ausser  acht  lässt  (Art.  157).  —  Die  ungesetzliche  Ausübung  eines 
Amtes,  dessen  Dauer  abgelaufen  war,  oder  die  Verweigerung  seiner  ferneren 
Ausübung  vor  Erledigung  der  Amtsgeschäfte  seitens  eines  diplomatischen  Ver- 
treters wird  neben  der  auf  diese  Handlungsweise  für  alle  Beamten  gesetzten 
Strafe  mit  Ausschluss  von  der  Ausübung  der  politischen  Rechte  auf  die  Dauer 
von  20  Jahren  bestraft  (Art.  158).  —  Die  Beleidigung  eines  in  Portugal  sich 
aufhaltenden  ft'emden  Staatsoberhauptes,  oder  eines  auswärtigen  Diplomaten 
oder  seiner  Angehörigen,  die  Verletzung  seiner  Wohnung  oder  der  ihm  nach 
völkerrechtlichen  Grundsätzen  zustehenden  Vorrechte,  der  Angriff  auf  die 
persönliche  Sicherheit  von  Geiseln,  Parlementären  oder  mit  einem  Geleitbrief 
versehenen  Personen  wird  mit  dem  Höchstmass  der  für  das  betr.  Delikt  all- 
gemein angedrohten  Strafe  belegt  (Art.  159).  Die  einem  fremden  Staatsober- 
haupte zugefügte  öffentliche,  durch  Worte,  Schrift  oder  öffentliche  Anheftung 
von  Zeichnungen  begangene  Beleidigung  wird  mit  leichtem  Gef.  von  höchstens 
6  Monaten  und  einer  einem  Einkommen  von  höchstens  1  Monat  entsprechenden 
Geldstrafe  belegt  (Art.  160).  Wenn  ein  Portugiese,  der  mit  Erlaubnis  der 
portugiesischen  Regierung  ein  fremdes  Schiff  befehligt,  in  Friedenszeiten  einem 
portugiesischen  Fahrzeuge  Schaden  zufügt,  wird  er  mit  Einzelhaft  auf  die 
Dauer  von  2  bis  zu  8  Jahren,  und  wenn  er  ohne  Erlaubnis  befehligte,  mit 
6 jährigem  Gef.  nebst  nachfolgender  Deportation  und  dem  Höchstmass  der 
Geldstrafe  bestraft  (Art.  161).  —  Der  Seeraub  und  das  Beutemachen  für  Rech 
nung  eines  fremden  Staatsoberhauptes  wird  mit  Sjährigem  Gef.  und  Geldstrafe 

^)  Vgl.  die  Art.  43—49  des  Militär  Justizgesetzes,  welche  die  Bestimmungen  über 
Todesstrafe  mit  zuvoriger  Degradation  und  lebenslängliches  Gef.,  sowie  die  Art  56 
bis  75,  welche  die  Vorschriften  über  die  Verbrechen  der  Feigheit  und  der  Desertion 
enthalten. 


552  r>ie  iberische  Halbinsel.  —  Portugral. 


belegt.  Ist  dabei  der  Tod  eines  Menschen  verursacht,  so  tritt  Versch&rfong 
der  Strafe  ein  (Art.  162). 

5.   Verbrechen  gegen  die  innere  Sicherheit  des  Staates. 

a)  Angriff  auf  den  König  und  seine  Familie  und  Beleidigung 
derselben.  Der  Anschlag  auf  das  Leben  des  Königs  oder  seines  unmittel- 
baren Thronfolgers  wird  mit  8jähriger  Einzelhaft  und  nachfolgender  20jähriger 
Deportation  nebst  Einsperrung  am  Deportationsorte  nach  richterlichem  Ermessen 
bestraft.  —  Der  versuchte  Anschlag  wird  dem  vollendeten  gleich  erachtet. 
Handelt  es  sich  um  einen  Regenten,  so  wird  der  vollendete  Mord  oder  der 
fehlgeschlagene  Mordversuch  mit  derselben  Strafe  belegt,  als  wenn  er  gegen 
den  König  gerichtet  gewesen  wäre,  die  Strafe  des  Versuchs  beträgt  jedoch 
höchstens  6  Jahre  Einzelhaft  mit  10 jähriger  Deportation  (Art.  163).  Der  ein- 
fache Entschluss,  eines  dieser  Verbr.  zu  begehen,  mit  darauf  folgenden  vor- 
bereitenden Handlungen  wird  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  10  Jahren  bestraft 
(Art.  164);  die  Verabredung  zu  dem  gleichen  Zweck  mit  4  Jahren  derselben 
Strafe  und  nachfolgender  8 jähriger  Deportation,  wenn  es  zu  vorbereitenden 
Handlungen  gekommen  ist,  mit  2-  bis  zu  Sjährigem  6ef.,  wenn  dies  nicht  der 
Fall  ist.  War  dieses  Verbr.  gegen  ein  Mitglied  der  königlichen  Familie  ge- 
richtet, so  tritt  Einzelhaft  von  8  Jahren  mit  20jähriger  Deportation  und  Ein- 
sperrung am  Deportationsorte  ein  (Art.  166). 

Jeder  mit  Grewalt  verübte  Angriff  auf  die  Person  des  regierenden  Königs, 
der  Königin  oder  des  unmittelbaren  Thronfolgers  hat  Einzelhaft  für  die  Dauer 
von  6  Jahren  mit  nachfolgender  lOjähriger  Deportation  zur  Folge.  Richtete 
er  sich  gegen  ein  Mitglied  der  königlichen  Familie  oder  einen  Regenten,  so 
tritt  4jährige  Einzelhaft  mit  nachfolgender  8jähriger  Deportation  ein  (Art.  167). 
—  Der  bei  einer  der  vorbezeichneten  Personen  begangene  Hausftriedensbruch 
wird  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  bestraft;  Beleidigungen  und  be- 
leidigende Handlungen,  welche  unmittelbar  gegen  sie  gerichtet  sind,  mit  leichtem 
Gef.  und  Geldstrafe;  der  einfache  Mangel  an  Ehrerbietung  mit  Gef.  bis  zu 
1  Monat  (Art.  168).  Die  öffentliche  Majestätsbeleidigung  kann  mit  6monat- 
lichem,  leichtem  G^f.  und  einer  dem  Einkommen  eines  Monats  entsprechenden 
Geldstrafe  belegt  werden;  die  Beieidig^ung  der  anderen  vorerwähnten  Personen 
nur  mit  6  Monaten  Gef.  Der  Beweis  der  Wahrheit  der  behaupteten  Thatsachen 
ist  unzulässig  (Art.  169).  Man  vgl.  in  dieser  Beziehung  die  Art.  407  ff.  des 
StGB.,  das  G.  vom  17.  Mai  1866,  die  mit  Gesetzeskraft  ausgestattete  Vdg.  vom 
29.  März  1890  und  das  G.  v.  7.  August  1890  über  die  Freiheit  der  Presse, 
in    denen    neben    leichtem   Gef.    Geldstrafe    von    30000   bis   zu    500000  Reis 

(=—  —  Franken  =  ungefähr  136,05  Mark)  und  zeitweiliges  oder  dauerades 
löü 

Verbot  des  Weitererscheinens  oder  der  Weiterverbreitung  der  Druckschrift 
angedroht  wird.  Für  die  Bezahlung  dieser  Geldstrafe  haftet  das  Druckerei- 
Inventar;  ist  die  Bestrafung  des  Tbäters  nicht  ausführbar,  so  haften  die 
Herausgeber. 

b)  Rebellion.  Wer  es  unternimmt,  die  Regierungsform  oder  die  Thron- 
folge zu  verändern,  den  König  oder  den  Regenten  abzusetzen,  oder  gefangen 
zu  nehmen,  wird  mit  Gef.  auf  die  Dauer  von  6  Jahren  mit  nachfolgender 
lOjähriger  Deportation  bestraft.  Gleiche  Strafe  trifft  denjenigen,  der  es  unter- 
nimmt, die  Einheit  des  Staates  zu  zerstören,  einen  Bürgerkrieg  oder  einen 
Aufstand  gegen  die  königliche  Gewalt  oder  das  Ministerium  zu  erregen,  oder 
einen  Angriff  auf  die  Freiheit  der  Versammlung  und  der  Beratung  der  gesetz- 
gebenden Kammern  zu  machen.  Die  Verabredung  zu  den  gleichen  Zwecken 
wird  mit  der  im  Art.  144  erwähnten  Strafe  bedroht  (Art.  170,  171  und  172). 
Wer  bei  einem  Aufstande  oder  in  einer  Menschenmenge,   die  sich  in  der  Ab- 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  553 


eicht  eines  der  vorbezeichneten  Verbr.  zu  begeben  zusammengerottet  hat,  die 
Führung  übernimmt,  femer,  wer  in  der  gleichen  Absicht  zum  Aufruhr  auf- 
wiegelt, hat  6jährige  Einzelhaft  mit  nachfolgender  8 jähriger  Deportation 
zu  gewärtigen,  die  anderen  hierbei  beteiligten  Personen  vierjährige  Einzel- 
haft mit  Sjähriger  Deportation  (Art.  173  und  174).  Wer  von  den  bei  einem 
Aufhihr  Beteiligten  freiwillig  den  Haufen  der  Aufrührer  verlässt,  bleibt 
straflos.  War  er  aber  Anführer  oder  Anstifter  zum  Aufruhr,  so  wird  die 
Strafe  auf  leichtes  Gef.  ermässigt  (Art.  175).  Ein  Straferlass  ist  fem  er  den 
Thätem  eines  der  in  den  Art.  144,  165,  172  und  174  behandelten  Delikte  zu- 
gesichert, welche  vor  Bekanntwerden  der  Thäter  oder  vor  Einleitung  eines 
Strafverfahrens  der  Obrigkeit  die  Namen  der  ersteren  angeben. 

Titel  m. 

6.    Strafbare  Versammlungen,  Aufruhr  und  Auflauf. 

a)  Allgemeine  Bestimmungen.  Die  Veranstalter  einer  jeden  ungesetz- 
lichen Versammlung  werden  mit  der  gegen  den  Ungehorsam  angedrohten 
Strafe  belegt,  ebenso  diejenigen,  welche  der  Aufforderung  zum  Auseinander- 
gehen nicht  Folge  leisten,  vorausgesetzt,  dass  nicht  ein  schwereres  Verbr.  vor- 
liegt (Art.  177).  Unter  bewaffneter  Versammlung  versteht  das  G.  eine  Ver- 
sammlung, in  der  wenigstens  zwei  Personen  Waffen  offen  tragen.  In  diesem 
Falle  sind  alle  diejenigen  Personen  strafbar,  die  Waffen  getragen  haben,  selbst 
wenn  dieselben  verborgen  waren,  vorausgesetzt,  dass  sie  dieselben  nicht  nur 
zufällig  oder  zum  Gebrauch  des  täglichen  Lebens  oder  ohne  böse  Absicht  bei 
sich  führten  (Art.  178). 

b)  Aufruhr.  Aufruhr  und  die  Zusammenrottung,  welche  ohne  Verübung 
eines  Angriffs  auf  die  innere  Sicherheit  des  Staates  unter  Vornahme  von  Ge- 
waltthätigkeiten.  Drohungen,  Beleidigungen  oder  des  Versuchs,  in  ein  öffent- 
liches Gebäude  oder  den  Dienstraum  eines  Beamten  einzudringen  erfolgt,  1.  um 
die  Ausführung  eines  Gesetzes  oder  einer  gesetzmässigen  obrigkeitlichen  Vor- 
schrift zu  verhindern,  oder  2.  um  eine  gesetzgebende  Körperschaft,  einen  Ge- 
meinde-Vorstand oder  einen  Beamten  zur  Vornahme  einer  Amtshandlung  zu 
zwingen,  ihn  an  der  Vornahme  zu  hindern  oder  bei  derselben  zu  stören,  oder 
3.  um  die  Erfüllung  irgend  einer  Verpflichtung  zu  verhindern,  oder  4.  um 
gegen  einen  Beamten  oder  das  Mitglied  einer  gesetzgebenden  Körperschaft 
einen  Racheakt  oder  eine  gehässige  Handlung  vorzunehmen  —  wird  mit  leichtem 
Gref.  bis  zu  1  Jahre,  wenn  der  Aufruhr  nicht  unter  Anwendung  von  Waffen 
stattfand,  mit  Einzelhaft  im  entgegengesetzten  Falle  bestraft.  Ist  es  weder 
zur  Vomahme  von  Gewalthandlungen  noch  zu  Drohungen  oder  Beleidigungen 
gekommen,  so  beträgt  das  Höchstmass  6  Monate,  hat  aber  der  Aufruhr  seinen 
Zweck  erreicht,  so  wird  die  Strafe  erhöht  und  schwanke  zwischen  2  und  8 
Jahren  Einzelhaft.  Die  Verabredung  zum  Zwecke  des  Aufruhrs  bewirkt  leichtes 
Gef.  von  höchstens  3  Monaten  in  Verbindung  von  Geldstrafe,  wenn  der  Auf- 
ruhr nicht  stattgefunden  hat,  im  entgegengesetzten  Falle  bildet  das  Stattfinden 
des  Aufruhrs  einen  erschwerenden  Umstand  (Art.  179). 

c)  Landfriedensbruch  (assuada).  Die  Zusammenrottung  an  einem 
öffentlichen  Orte  in  der  Absicht,  gegen  eine  Privatperson  einen  Racheakt  oder 
eine  gehässige  Handlung  vorzunehmen,  oder  dieselbe  in  der  Ausübung  ihrer 
Privatrechte  zu  stören,  oder  in  der  Absicht,  eine  strafbare  Handlung  zu  be- 
gehen, wird  mit  leichtem  Gef.  bis  zu  6  Monaten  bestraft,  wenn  die  Versamm- 
lung bewaffnet  war,  aber  ein  Anfang  der  Ausführung  nicht  stattgefunden  hat; 
war  die  Versammlung  nicht  bewaffnet,  so  wird  das  Höchstmass  auf  3  Monate 
erniedrigt.     Die  Verabredung  zu  dem  gleichen  Zweck  verwirkt  Gef.  von  hoch- 


554  I^ic  iberische  HalbinseL  —  PortugaL 


stens  3  Monaten,  jedoch  nnr.  wenn  es  znm  Beginn  der  Zosammenrottnng  oder 
ii^end  einer  vorbereitenden  Handlang  gekommen  ist  (Art.  180».*) 

7«  Beleidigung  öffentlicher  Beamten.  Die  einem  Minister,  einem 
Staatsrat,  einem  Mitgliede  der  gesetzgebende  Körperschaften,  einem  Gerichts- 
oder VerwaltnngS'Beamten,  einem  Mitgliede  der  Staatsanwaltschaft,  einem 
öffentlichen  Lehrer  oder  Mitglied  einer  öffentlichen  Prüfongs-Kommission«  einem 
Geschworenen  oder  einem  Polizei-Befehlshaber  in  Aosflbnng  Ihres  Amtes  oder 
in  Bezog  aof  dieselbe  durch  Worte,  Drohungen  oder  andere  Schm&hungen 
unmittelbar  zugefügte  Beleidigung  wird  mit  leichtem  Gef.  von  höchstens  1  Jahre 
bestraft.  Geschah  die  Beleidigung  nicht  öffentlich,  so  beträgt  das  Höchstmass 
nur  6  Monate.  Ist  der  Beleidigende  ein  öffentlicher  Beamter  und  der  Belei- 
digte sein  dienstlicher  Vorgesetzter,  so  wird  das  Höchstmass  von  1  Jahr  auf- 
recht erhalten  und  ausserdem  auf  Geldstrafe  erkannt,  selbst  wenn  die  Belei- 
digung nicht  öffentlich  erfolgte.  Die  gleiche  Strafe  wird  angedroht  für  die  in 
der  öffentlichen  Sitzung  einer  g^esetzgebenden  Körperschaft  dieser  Körperschaft 
selbst,  einem  ihrer  Mitglieder  oder  einem  Staatsminister,  einerlei,  ob  die  letzt- 
genannten Personen  anwesend  waren  oder  nicht,  femer  in  öffentlicher  Gerichts- 
sitzung dem  Gerichte  selbst  oder  einem  seiner  Mitglieder,  auch  wenn  es  ab- 
wesend war,  zugefügte  Beleidigung  (Art.  181).  Das  Höchstmass  beträgt  drei 
Monate,  wenn  ein  Polizei-  oder  Yollstreckungs-Beamter,  em  Zeuge  oder  ein 
Sachverständiger  bei  der  Ausübung  seiner  Funktionen  beleidigt  ist  (Art.  182). 

8.  Gewalthandlungen  gegen  öffentliche  Beamte.  Die  einer  der  im 
Art.  181  bezeichneten  Personen  unter  den  dort  angegebenen  Voraussetzungen 
zugefügte  thatsächliche  Beleidigung  wird  mit  leichtem  Gef.  von  1  Jahr  und 
Geldstrafe  geahndet.  Erfolgte  eine  Drohung  mit  bewaffneter  Hand  oder  unter 
Ansammlung  von  mehr  als  3  Personen  in  der  Absicht,  den  Bedrohten  unmittelbar 
anzugreifen,  so  tritt  leichtes  Gef.  in  Verbindung  mit  Geldstrafe  ein.  —  Hat 
die  Gewalnhätigkeit  Krankheit  oder  Arbeitsunfähigkeit  des  Angegriffenen  im 
Sinne  des  Art.  360  No.  1  und  4  zur  Folge  gehabt,  so  wird  die  Strafe  auf 
Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  erhöht.  Die  Strafe  der  No.  5  des  erwähnten 
Art.,  und  zwar  in  verschärfter  Form,  tritt  ein,  wenn  die  Verletzung  oder  der 
Verlust  eines  Gliedes  oder  eines  Organs  verursacht  ist  (Art.  183).  Werden 
dieselben  Handlungen  von  einer  der  im  Art.  182  erwähnten  Person  begangen, 
so  treten  die  im  Art.  359  ff.  erwähnten  Strafen  und  zwar  in  verschärfter  Form 
ein  (Art.  184).  —  Das  Ausstossen  von  beleidigenden  Rufen  gegen  die  im  Art.  181 
erwähnten  Personen  wird  mit  6monatlichem  Gef.  bestraft.  Wer  bei  einer 
öffentlichen  Feierlichkeit  oder  an  einem  öffentlichen  Orte  die  Ordnung  stört 
oder  daselbst  Rufe  ausstösst,  welche  der  Sicherheit  des  Staates  oder  der  öffent- 
lichen Ordnung  gefährlich  sind,  wird  mit  3monatlichem  leichtem  Gef.  be- 
straft. Wer  an  einem  öffentlichen  Orte  in  trunkenem  Zustande  betroffen 
wird,  macht  sich  einer  Übertretung  schuldig  und  wird  beim  erstenmale 
mit  einer  dem  Arbeitsverdienst  von  8  Tagen  gleichkommenden  Geldstrafe, 
beim  ersten  Rückfall  mit  lOtägigem  Gef. ,  beim  zweiten  Rückfall  mit  14tägigem 
Gef.  und  jedes  folgende  Mal  mit  einer  dem  Arbeitsverdienst  eines  Monats 
gleichkommenden  Geldstrafe  belegt.  Wer  die  auf  obrigkeitliche  Anordnung 
angelegten  Siegel  oder  angehefteten  Anschläge  entfernt  oder  zerreisst,  wird 
mit  leichtem  Gef.  von  3  Monaten  bestraft.  Waren  die  verletzten  Siegel  an 
Gegenstände  angelegt,  die  einer  eines  schweren  Verbr.  beschuldigten  Person 
angehörten,  so  tritt  die  höchste  zulässige  leichte  Gefängnisstrafe  ein  (Art.  185). 

*)  Vgl.  die  Art.  76—83  des  Militärjustizgesetzes  über  militärische  Revolte,  Un- 
gehorsam im  Dienst  und  Aufstand.  Die  Strafen  schwanken  zwischen  der  Todesstrafe 
für  die  Anstifter,  Gef.  von  5  bis  zu  10  Jahren  für  die  anderen  Schuldigen  und  ver- 
schärfter Dienstentlassung  für  Offiziere. 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  555 


9,  Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt.  Wer  durch  Gewalt  oder 
Drohung  einem  öffentlichen  Beamten  oder  einer  von  einem  solchen  beauftrag- 
ten Person  in  der  Ausübung  des  Amtes  zum  Zwecke  der  Vollstreckung  eines 
G.  oder  der  Vollziehung  eines  Auftrages  Widerstand  leistet,  verwirkt  1.  leichtes 
Gef.  und  eine  dem  Arbeitsertrage  von  höchstens  2  Jahren  gleichkommende 
Geldstrafe,  wenn  der  Widerstand  von  Erfolg  war,  mit  bewaflPneter  Hand  oder 
von  mehr  als  2  Personen  ausgeführt  wurde;  2.  Gef.  auf  die  Dauer  von 
2  Jahren  und  Geldstrafe  in  Höhe  des  monatlichen  Arbeitsertrages,  wenn  die 
Thäter  nicht  bewaffnet  und  weniger  als  3  Personen  waren;  3.  Gef.  auf  die 
Dauer  von  1  Jahre  in  allen  anderen  Fällen.  Die  Vorschriften  über  das  Zu- 
sammentreffen von  strafbaren  Handlungen  werden  durch  diese  Bestimmungen 
nicht  berührt  (Art.  186).  Jede  gewaltsame  Handlung,  die  in  der  Absicht  vor- 
genommen wird,  einen  Beamten  zur  Vornahme  einer  Amtshandlung,  zu  der  er 
nicht  verpflichtet  ist,  zu  zwingen,  wird,  wenn  sie  von  Erfolg  gewesen  ist,  mit 
der  gegen  den  Widerstand  angedrohten  Strafe  belegt  (Art.  187). 

10«  Ungehorsam.  Wer  sich  weigert,  eine  im  öffentlichen  Interesse 
liegende  Handlung  vorzunehmen,  zu  welcher  er  seitens  des  zuständigen  Be- 
amten mit  Recht  aufgefordert  ist,  oder  den  berechtigten  Anordnungen  eines 
öffentlichen  Beamten  oder  der  von  einem  solchen  beauftragten  Person  zu  ge- 
horchen, wird  mit  leichtem  Gef.  von  höchstens  bis  zu  3  Monaten  bestraft. 
Der  qualifizierte  Ungehorsam  wird  mit  leichtem  Gef.  von  6  Monaten  in  Ver- 
bindung mit  Geldstrafe  belegt.  Hierunter  versteht  das  G.  die  oben  erwähnte 
Weigerung,  wenn  die  Dienstleistung  verlangt  ist  im  Falle  eines  auf  frischer 
That  entdeckten  Delikts,  der  Entweichung  eines  Gefangenen,  eines  Auflaufs, 
eines  Schiffbruchs,  einer  Feuersbrunst  usw.  (Art.  188),  oder  wenn  sie  ausging 
von  einem  Geschworenen,  einem  Zeugen,  einem  Sachverständigen,  einem  Dol- 
metscher, einem  Vormund  oder  dem  Mitglied  eines  Familienrats  (Art.  189). 

11.  Entweichen  von  Gefangenen.  Wer  einen  Gefangenen  aus  der 
Gewalt  der  ihn  bewachenden  Personen  durch  Gewalt  oder  Drohungen  gegen 
dieselben  befreit  oder  zu  befreien  sucht,  wird  mit  der  gegen  den  Widerstand 
gegen  die  Staatsgewalt  angedrohten  Strafe  belegt.  Sind  betrügerische  Mittel 
angewendet,  so  kann  die  Strafe  bis  zu  einjährigem  leichten  Gef,  erhöht  werden 
(Art.  190).  Der  Gefangene,  der  vor  seiner  rechtskräftigen  Aburteilung  ent- 
weicht, wird  nach  Massgabe  der  Gefängnis-Reglements  disziplinarisch  bestraft; 
war  er  bereits  verurteilt,  so  bildet  diese  Thatsache  einen  erschwerenden  Um- 
stand (Art.  191).  Wer  einen  Gefangenen,  mit  dessen  Aufsicht  er  beauftragt 
ist,  entweichen  lässt,  oder  die  Entweichung  erleichtert,  wird  mit  schwerer 
Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  besti*aft,  wenn  der  Gefangene  mindestens  zu 
schwerem  zeitigem  Gef.  verurteilt  war.  Andernfalls  kann  die  Strafe  bis  zum 
Höchstmass  der  leichten  Gefängnisstrafe  ermässigt  werden  (Art.  192).  Jede, 
auch  die  geringste  Nachlässigkeit  des  Aufsehers  wird  mit  Gef.  von  1  Monat  bis 
zu  1  Jahre  oder  von  14  Tagen  bis  zu  6  Monaten  bestraft,  je  nachdem  der  eine 
oder  der  andere  Fall  des  Art.  192  vorliegt.  Die  Strafe  endigt  mit  der  Wieder- 
festnahme des  Entwichenen,  falls  derselbe  nicht  im  Zustande  der  Freiheit  ein 
mit  Gef.  bedrohtes  Delikt  begangen  hat  (Art.  193).  Hat  die  Flucht  mittels 
Ausbrechens,  Aussteigens,  Anwendung  falscher  Schlüssel  oder  Gewalt  statt- 
gefunden, so  trifft  den  Aufseher  schwere  Einzelhaft  von  4  Jahren  mit  nach- 
folgender 8jähriger  Deportation  oder  Gef.  von  2  bis  zu  8  Jahren  je  nach 
den  Umständen  des  Falls.  Die  gleiche  Strafe  von  2  bis  zu  8  Jahren  trifft 
deiyenigen,  der,  ohne  Beamter  zu  sein,  die  Flucht  veranlasst  oder  begünstigt,  selbst 
wenn  er  sich  darauf  beschränkt  hat,  die  Waffen  oder  Instrumente  dazu  zu  be- 
schaffen, vorausgesetzt,  dass  in  letzterem  Falle  die  Entweichung  thatsächlich 
geglückt  ist;  war  dies  nicht  der  Fall,  so  tritt  nur  leichtes  Gef.  ein.    Aszenden- 


556  Die  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


ten,  Deszendenten,  Ehegatten,  Geschwister  oder  Verschwägerte  zweiten  Grades 
des  Gefangenen  werden  nur  bestraft,  wenn  der  Entwichene  von  seinen  Waffen 
oder  Werkzeugen  gegen  eine  Person  Gebrauch  gemacht  hat  (Art.  194).  — 
Abgesehen  von  den  Fällen  des  Art.  193  werden  die  Schuldigen  für  eine  im 
Urteil  bestimmte  Zeit  unter  Polizeiaufsicht  gestellt  (Art.  195). 

Die  während  der  Verbüssung  einer  Strafe  bewerkstelligte  Flucht  ver- 
längert die  Dauer  der  ersteren  um  die  doppelte  Zeit  der  Entweichung,  voraus- 
gesetzt, dass  diese  Verlängerung  die  Hälfte  der  erkannten  Strafe  nicht  über- 
schreitet (Art.  196). 

12.  Begünstigung  von  Verbrechern.  Wer  eine  zu  einer  schweren 
Strafe  verurteilte  Person  direkt  oder  indirekt  begünstigt,  wird  mit  Gef.  bis  zu 
2  Jahren  und  einer  den  Umständen  des  Falls  angemessenen  Geldstrafe  belegt, 
wenn  er  von  der  Verurteilung  Kenntnis  hatte.  —  Handelte  es  sich  um  einen 
Angeklagten,  so  tritt  Ermässigung  der  Strafe  bis  zu  Gef.  von  1  Monat  ein, 
oder  es  wird  nur  auf  Geldstrafe  erkannt.  —  Diese  Straf  bestimmung  gilt  nicht 
für  die  im  Art.  194  erwähnten  Verwandten  und  Verschwägerten  (Art.  197). 
Wer  vorsätzlich  und  gewohnheitsmässig  Verbrecher  bei  sich  aufnimmt,  wird 
bestraft,  als  wenn  er  sich  an  der  von  dem  Verbrecher  verübten  strafbaren  Hand- 
lung als  Gehülfe  beteiligt  hätte  (Art.  198). 

13.  Verbr.  gegen  die  Ausübung  politischer  Rechte.  Wer  eine 
Wahlversammlung  an  der  Ausübung  ihrer  gesetzlichen  Befugnisse  mit  Gewalt 
verhindert,  wird,  wenn  er  Thäter  ist,  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren, 
wenn  er  nicht  Thäter  ist,  mit  leichtem  Gef.  von  6  Monaten  bis  zu  2  Jahren 
und  Ausschluss  von  der  Ausübung  politischer  Rechte  auf  die  Dauer  von 
ö  Jahren  (Art.  199)  bestraft.  Mit  Gef.  von  3  Monaten  bis  zu  2  Jahren  in  Verbin- 
dung mit  Ausschluss  von  der  Ausübung  politischer  Rechte  für  5  Jahre  wird 
bestraft,  wer  diese  Handlungen  mit  Gewalt  oder  Drohungen  gegen  eine  Privat- 
person begeht  (Art.  200).  Die  Verabredung  zu  diesem  Zwecke  wird  gleich 
dem  Verbr.  des  Auftnihrs  bestraft  (Art.  201).  Die  Beleidigung,  welche  dem 
Vorsitzenden  oder  den  Mitgliedern  eines  Wahlvorstandes  während  der  Wahl- 
handlung zugefügt  wird,  wird  wie  die  Beleidigung  des  Mitgliedes  einer 
gesetzgebenden  Körperschaft  bestraft  (Art.  202).  Die  im  Verlauf  einer  Wahl- 
handlung entdeckte  Betrügerei  in  Bezug  auf  die  Wahllisten  oder  die  Abstim- 
mung, sowie  die  Wegnahme  oder  die  Hinzufügung  einer  Liste  oder  die 
Verfälschung  des  Wahlergebnisses  wird  mit  Ausschluss  von  der  Ausübung 
politischer  Rechte  auf  die  Dauer  von  20  Jahren  und  Gef.  von  1  Jahre  bestraft, 
wenn  der  Thäter  Mitglied  des  Wahlvorstandes,  mit  5jährigem  Ausschluss 
von  der  Ausübung  politischer  Rechte  und  Gef.  bis  zu  1  Jahre,  wenn  der  Thäter 
eine  andere  Person  war  (Art.  203).  Der  Stimmenkauf  und  der  Stimmenverkauf 
wird  mit  lOjährlgem  Ausschluss  von  der  Ausübung  politischer  Rechte  und 
einer  dem  doppelten  Betrage  der  bezahlten  Summe  entsprechenden  Geldbusse 
bestraft  (Art.  204).  Die  Bestrafung  anderer  Verg.  ähnlicher  Art  erfolgt  nach 
Massgabe  der  Wahlgesetze  (Art.  206). 

14.  Verfälschung  von  Metallgeld,  Banknoten  und  Staatsschuld- 
scheinen. Wer  Gold-  oder  Silbermünzen,  die  im  Königreich  Portugal  einen 
gesetzlichen  Kurs  haben,  nachmacht,  in  Umlauf  setzt,  benutzt  oder  zum  Ver- 
kauf ausbietet,  wird  mit  Einzelhaft  von  8  Jahren  und  nachfolgender  12jähriger 
Deportation  bestraft.  Die  gleiche  Strafe  trifft  denjenigen,  der  dem  Fälscher 
oder  seinem  Ge hülfen  bei  der  Inumlaufsetzung  Beistand  leistet.  Dieselbe  Strafe 
verwirkt  femer,  wer  Noten  der  Nationalbank,  sowie  Schuldscheine  oder  Obli- 
gationen der  Staatsschuld  nachmacht.  Hat  lediglich  die  Anfertigung  stat^ 
gefunden,  so  wird  die  Strafe  auf  4  Jahre  ermässigt  (Art.  206).  Wer  ohne  Ver- 
abredung mit  dem  Fälscher  die  nachgemachten  Gegenstände  in  Verkehr  bringt 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  557 


oder  zum  Verkauf  ausbietet,  wird  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  be- 
straft (Art.  207).  Derselben  Strafe  unterliegt:  1.  wer  ohne  gesetzliche  Ge- 
nehmigung Gold-  oder  Silbermünzen,  deren  Wert  den  offiziellen  Münzen  ent- 
spricht, anfertigt,  in  Verkehr  bringt  oder  zum  Verkauf  ausbietet;  2.  wer  Münzen 
als  vollgültig  in  Verkehr  bringt  oder  verkauft,  die  er  entweder  selbst  auf 
irgend  eine  Art  verringert  hat,  oder  von  denen  er  weiss,  dass  ein  anderer, 
mit  ihm  im  Einverständnis  Handelnder  sie  verringert  hat.  Die  einfache  Ver- 
ringerung, ohne  dass  die  Münzen  in  Verkehr  gebracht  oder  verkauft  werden, 
ist  mit  leichtem  Gef.  bedroht,  ebenso  die  Vornahme  der  vorerwähnten  Hand- 
lungen, wenn  kein  Einverständnis  vorliegt  (Art.  208).  Wer  falsche  Münzen  in 
Verkehr  bringt,  wissend,  dass  sie  falsch  sind,  wird  mit  einer  Geldstrafe  belegt, 
deren  Betrag  sich  nach  seinem  Einkommen  richtet,  mindestens  dem  Einkommen 
von  14  Tagen,  höchstens  einem  solchen  von  1  Jahre  gleichkommt,  jedoch  nie- 
mals weniger  als  das  Doppelte  der  in  Verkehr  gebrachten  Münzen  beträgt 
(Art.  209).  —  Die  gleichen  Strafen  finden  auf  denjenigen  Anwendung,  der 
falsche  Münzen  in  das  Königreich  einführt.  —  Wer  Werkzeuge,  die  ausschliess- 
lich zur  Nachahmung  von  Metallgeld,  Banknoten  oder  Papiergeld  bestimmt 
sind,  anfertigt,  in  das  Inland  einführt,  zum  Verkauf  ausbietet,  verkauft,  einem 
andern  verschafft,  oder  bei  sich  verwahrt,  wird  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu 
8  Jahren  bestraft.  Die  Strafe  beträgt  nur  leichtes  Gef.  und  Geldstrafe ,  wenn 
die  Instrumente  zwar  nicht  ausschliesslich  zur  Nachahmung  bestimmt  waren, 
die  Regierung  jedoch  ihre  Anfertigung  nicht  gestattet  hatte  (Art.  210).  Die 
vorerwähnten  Strafen  werden  um  einen  oder  mehrere  Grade  ermässigt,  wenn 
es  sich  um  Münzen  aus  anderm  Metall  als  Gold  oder  Silber,  oder  um  aus- 
ländische Münzen,  die  im  Königreich  keinen  gesetzlichen  Kurs  haben,  handelt 
(Art.  211  und  212).  —  Die  Thäter  der  in  den  vorerwähnten  Art.  aufgezählten 
strafbaren  Handlungen  bleiben  straflos,  wenn  sie  vor  Vollendung  des  Verbr. 
und  vor  Beginn  einer  Strafverfolgung  wegen  derselben  der  Obrigkeit  von  dem 
Verbr.  und  den  Personen  der  Thäter  Kenntnis  geben;  jedoch  kann  der  Richter 
sie  trotzdem  für  eine  von  ihm  zu  bestimmende  Zeit  unter  Polizeiaufsicht  stellen. 
Der  Käufer  wird  in  allen  Fällen  als  Gehülfe  des  Verkäufers  bestraft  (Art.  213). 
—  Die  Weigerung,  eine  mit  Zwangskurs  versehene  Münze  in  Zahlung  zu  nehmen, 
wird  mit  einer  Geldstrafe  belegt,  welche  dem  neunfachen  Werte  der  zurück- 
gewiesenen Münze  entspricht. 

15.  Urkundenfälschung.  Die  Nachahmung  eines  Ghecks  oder  eines 
andern  in  den  vorstehenden  Art.  nicht  erwähnten  Wertpapieres,  dessen  Aus- 
gabe gesetzlich  zulässig  ist,  sowie  das  Inumlaufsetzen  oder  die  Einführung  einer 
solchen  Nachahmung  in  das  Gebiet  des  Königreichs  wird  mit  Einzelhaft  von 
4  Jahren  und  nachfolgender  8jähriger  Deportation  bestraft.  Die  Strafe  wird 
auf  Gef.  von  2  bis  zu  8  Jahren  ermässigt,  wenn  die  Ausgabe  des  verfälschten 
Wertpapieres  nur  im  Auslande  zulässig  war.  Bestand  zwischen  dem  Verfälscher 
und  demjenigen,  welcher  das  Inumlaufsetzen  vornahm,  kein  Einverständnis, 
so  findet  ebenfalls  eine  Strafermässigung  statt.  Die  Strafe  besteht  dann  lediglich 
in  leichtem  Gef.  und  Geldstrafe  (Art.  215).  Mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren 
wird  bestraft,  wer  zum  Nachteil  des  Staates  oder  einer  Privatperson  1.  auf 
einer  öffentlichen  Urkunde  oder  einer  Urkunde,  welcher  die  Beweiskraft  einer 
solchen  zukommt,  Verfügungen,  Schuldverschreibungen  oder  Quittungen  vor- 
nimmt; 2.  unter  eine  solche  Urkunde  eine  falsche  Unterschrift  setzt,  oder  auf 
einer  solchen  Urkunde  eine  Vertauschung  von  Namen  vornimmt;  3.  falsche 
Behauptungen  über  die  Wahrheit  einer  Thatsache  aufstellt,  welche  die  vorer- 
wähnten Urkunden  authentisch  beweisen  sollen,  oder  deren  Wahrheit  zu  ihrer 
Gültigkeit  erforderlich  ist;  4.  auf  einer  solchen  Urkunde  nach  Abschluss  der- 
selben einen  Zusatz  oder   eine  Veränderung  vornimmt,    in   der  Absicht,    ihren 


558  I^iö  iberische  Halbinsel.  -—  Portugal. 


Inhalt   und   ihre    Bedeutung   zu  verändern ;    6.  derartige   Urkunden   fälschlich 
anfertigt. 

Die  gleichen  Bestimmungen  gelten  auch  für  Wechsel  oder  andere  Inhaber- 
papiere, wenn  der  Schuldige  ein  öflPentlicher  Beamter  ist  und  in  Ausübung 
seines  Amtes  handelt.  —  Liegt  eine  einfache  Nachlässigkeit  vor,  so  wird  der 
Schuldige  mit  leichtem  Gef.,  und  wenn  er  öffentlicher  Beamter  ist  ausserdem 
mit  Geldstrafe  belegt  (Art.  216 — 218). 

Jede  andere  Fälschung,  sowie  der  Missbrauch  einer  Blankounterschrift 
wird  mit  leichtem  Gef.  und  Geldstrafe  belegt  (Art.  219  und  220).  —  Als  Ge- 
hülfe wird  bestraft,  wer  bei  der  Aufnahme  einer  öffentlichen  oder  Privaturkunde, 
von  deren  falschem  Inhalt  er  Kenntnis  hat,  als  Zeuge  mitwirkt  (Art.  221). 
Wer  von  einer  falschen  Urkunde  dadurch  Gebrauch  macht,  dass  er  sie  wissent- 
lich in  ein  öffentliches  Register  eintragen  oder  in  demselben  löschen  lässt, 
wird  bestraft,  als  ob  er  die  Fälschung  selbst  begangen  hätte  (Art.  222).  — 
Die  vorstehenden  Regeln  erleiden  folgende  Ausnahmen:  Mit  leichtem  Gef.  und 
Geldstrafe  wird  bestraft  1.  jeder  Arzt  und  jede  andere  gesetzlich  zur  Ausstel- 
lung von  Attesten  über  Krankheiten  oder  Verwundungen  befugte  Person,  die 
eine  falsche  Bescheinigung  ausstellt,  um  jemand  von  öffentlichen  Dienstleistungen 
zu  befreien;  2.  wer  falsche  Zeugnisse  dieser  Art  anfertigt;  3.  wer  im  Namen 
eines  öffentlichen  Beamten  eine  Bescheinigung  ausstellt,  in  welcher  zu  Gunsten 
der  darin  bezeichneten  Person  unwahre  Thatsachen  bescheinigt  oder  die  Be- 
scheinigung des  betreffenden  öffentlichen  Beamten  abgeändert  werden;  4.  der 
öffentliche  Beamte,  welcher  falsche  Bescheinigungen  ausstellt,  abgesehen  von 
der  ihn  nach  Art.  218  treffenden  Verantwortung;  5.  wer  falsche  Zeugnisse, 
wissend,  dass  sie  falsch  sind,  benutzt;  6.  der  Beamte  oder  die  Privatperson, 
welche  eine  telegraphische  Depesche  unterschiebt,  verfälscht  oder  von  einer 
solchen,  wissend,  dass  sie  falsch  ist,  Gebrauch  macht.  Jede  Fälschung  eines 
Zeugnisses  und  das  Gebrauchmachen  von  einem  solchen  seitens  einer  anderen 
Person  als  der  in  den  vorstehenden  Art.  erwähnten  wird  mit  leichtem  Gef.  von 
höchstens  3  Monaten  und  Geldstrafe  bedroht  (Art.  224).  —  Die  Verabfolgung 
eines  falschen  Passes  zu  dem  Zwecke,  jemand  der  gesetzlichen  Aufsicht  der 
Obrigkeit  zu  entziehen,  wird  mit  2jährigem  Gef.  und  der  Entlassung  des 
schuldigen  Beamten  bestraft.  Liegt  eine  einfache  Vernachlässigung  vor,  so 
tritt  Geldstrafe,  welche  dem  Einkommen  von  1  Monat  bis  zu  1  Jahr  entspricht, 
ein  (Art.  225).  —  Wer  sich  einen  falschen  Namen  beilegt,  eine  falsche  Pass- 
karte anfertigt,  eine  echte  verändert,  oder  von  einer  so  verfälschten  bezw. 
veränderten  Passkarte  Gebrauch  macht,  wird  mit  Gef.  von  2  Monaten  bis  zu 
2  Jahren  bestraft.  —  Zeugen  werden  als  Teilnehmer  bestraft  (Art.  226).  — 
Als  militärisches  Verbr.  wird  die  Urkundenfälschung  mit  zeitiger  Zwangsarbeit 
oder  Gef.  nicht  unter  2  Jahren  bestraft.  Die  Ausstellung  eines  falschen  Zeug- 
nisses seitens  eines  Militärarztes  zieht  Gef.  von  1  bis  zu  3  Jahren  nach  sich 
(Militärjustizgesetz,  Art.  85  und  86). 

16.  Verfälschung  von  öffentlichen  Siegeln,  Marken  und  Stem- 
peln. Die  fälschliche  Anfertigung  öffentlicher  Siegel,  Marken  oder  Stempel, 
sowie  ihre  Einführung  in  das  portugiesische  Gebiet,  oder  ihre  Benutzung  wird 
mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  bestraft  (Art.  228).  Die  gleiche  Straf- 
bestimmung gilt  für  Briefmarken  und  ganz  allgemein  für  diejenigen  stempel- 
pflichtigen Gegenstände,    für  welche    der  Staat  ein  Monopol  besitzt  (Art.  229). 

Die  Benutzung  falscher  Siegel  oder  Stempel,  welche  bestimmt  sind,  die 
Siegel  oder  Stempel  solcher  öffentlicher  Konirollbeamten  oder  anderer  Beamten 
nachzuahmen,  deren  Zeugnisse  öffentlichen  Glauben  besitzen,  wird  mit  G^f. 
von  1  bis  zu  6  Monaten  bestraft.  Entstammen  die  mit  dem  falschen  Abdruck 
versehenen  Gegenstände  einer  Fabrik  oder  einer  Handlung,  so  tritt  Strafe  von 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  559 


1  bis  zu  3  Monaten  ein.  Ausserdem  ist  der  Schuldige  zur  Entschädigung  des 
beschädigten  Teiles  verpflichtet.  Mit  derselben  Strafe  wird  bedroht,  wer  Gegen- 
stände unter  erdichteter  Fabrikmarke  oder  unter  der  Marke  einer  andern 
Fabrik  als  derjenigen,  in  welcher  die  Gegenstände  hergestellt  sind,  zum  Ver- 
kauf ausbietet  oder  in  Verkehr  bringt.  Femer  wer  von  Marken,  Fahrkarten 
oder  Transportscheinen,  die  bereits  benutzt  sind,  den  Entwertungsstempel  ent- 
fernt und  dieselben  nochmals  benutzt.  Die  Fälschung  der  Nummer,  des  Datums 
oder  des  Wertes  einer  Eintrittskarte  für  öffentliche  Vergnügungen  oder  Ver- 
anstaltungen, sowie  von  Lotterielosen,  das  Gebrauchmachen  oder  das  Verkaufen 
von  derartigen  Gegenständen  wird  mit  leichtem  Gef.  bestraft  (Art.  230).  Straf- 
los bleibt,  wer  einen  derartig  verfälschten  Gegenstand  benutzt,  ohne  von  der 
Fälschung  Kenntnis  zu  haben.  Wird  einer  der  erwähnten  Gegenstände  zwar 
verfälscht,  aber  nicht  benutzt,  oder  wird  durch  die  erfolgte  Benutzung  ein 
Schaden  nicht  verursacht,  so  gilt  dies  als  mildernder  Umstand.  Im  Urteil  ist 
die  Einziehung  der  bei  der  strafbaren  Handlung  benutzten  Werkzeuge,  sowie 
der  verfälschten  Gegenstände  zu  Gunsten  des  Verletzten  anzuordnen  (Art.  232).^) 

17.  Unbefugte  Führung  eines  Namens,  Titels  oder  Abzeichens. 
Mit  Gef.  von  15  Tagen  bis  zu  6  Monaten  wird  bestraft,  wer  in  der  Absicht, 
sich  der  Überwachung  der  Obrigkeit  zu  entziehen,  oder  dem  Staat  oder  einer 
Privatperson  Schaden  zuzufügen,  sich  unbefugter  Weise  eines  falschen  Namens 
bedient  (Art.  233).  Die  unbefugte  Annahme  eines  andern  Namens  unter  Um- 
gehung der  gesetzlichen  Förmlichkeiten,  jedoch  ohne  das  Vorhandensein  der 
vorerwähnten  Absicht,  wird  mit  einer  dem  Arbeitsertrage  eines  Monats  gleich- 
kommenden Geldstrafe  belegt;  ausserdem  ist  gegebenen  Falls  der  Verletzte  zu 
entschädigen  (Art,  234).  Das  unbefugte  Tragen  einer  Uniform  oder  eines 
Ordens  ist  mit  6monatlichem  Gef.  und  einer  dem  Einkommen  eines  Monats 
entsprechenden  Geldstrafe  bedroht  (Art.  235).  Die  unbefugte  Anmassung  eines 
öffentlichen  Amtes,  sowie  der  Stellung  eines  Lehrers  oder  Sachverständigen 
zieht  Gef.  von  1  bis  zu  2  Jahren  und  Geldstrafe  nach  sich  (Art.  236).  Die 
gleiche  Strafe  trifft  denjenigen,  der  unbefugter  Weise  sich  ein  Adelsprädikat 
oder  ein  ihm  nicht  zustehendes  Wappen  beilegt  (Art.  237).*) 

18*  Falsches  Zeugnis  und  falsche  Erklärungen  vor  einer  Be- 
hörde. Das  in  einer  Civil-  oder  Strafsache  über  wesentliche  Punkte  des  Ver- 
fahrens abgegebene  falsche  Zeugnis  wird  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren 
oder  derjenigen  Strafe  belegt,  zu  welcher  der  Angeklagte  verurteilt  ist,  wenn 
diese  letztere  schwerer  ist  als  8jährige  Einzelhaft.  Das  in  einer  Vorunter- 
suchung abgegebene  falsche  Zeugnis  wird  mit  der  unmittelbar  niedrigeren 
Strafe  bedroht  (Art.  238).  —  Der  Thäter  bleibt  straflos,  wenn  er  vor  dem 
Abschluss  des  Verfahrens  oder  der  Voruntersuchung  seine  Aussage  widerruft 
(Art.  239).  —  Hat  eine  Verleitung  zur  Abgabe  des  falschen  Zeugnisses  statt- 
gefunden, so  treffen  den  Verleiter  dieselben  Strafen  und  zwar  in  verschärfter 
Form  (Art.  240).  —  Dieselbe  Strafe  wird  angedroht  gegen  die  Verletzung  des 
Sachverständigen-Eides.  Jede  andere  eidlich  oder  uneidlich  abgegebene  falsche 
Aussage  zieht  den  Ausschluss  von  der  Ausübung  der  politischen  Rechte  und 
Gef.  bis  zu  6  Monaten  nach  sich  (Art.  242).  Die  Ausschliessung  kann  jedoch 
auf  die  Dauer  von  20  Jahren  erkannt  werden,  wenn  die  falsche  Angabe  in 
der  Verletzung  eines  Parteieides  bestand  (Art.  243).  —  Die  in  böswilliger  Ab- 


*)  Vgl.  die  Art.  88  und  89  des  Militärjustizgesetzes,  welche  die  Verfälschung  von 
Siegeln  und  Stempeln  mit  zeitiger  Zwangsarbeit  und  die  Benutzung  echter  Stempel 
oder  Siegel  zum  Nachteil  des  Staates  mit  Degradation  bedrohen. 

*)  Vgl.  Art.  90  des  Militärjustizgesetzes,  nach  welchem  das  unbefugte  Tragen 
von  Uniformen,  militärischen  Abzeichen  oder  Orden  mit  Gef.  von  3  Monaten  bis  zu 
2  Jahren  bestraft  wird. 


560  Die  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


sieht  erstattete,  wissentlich  falsche  Anzeige  wird  mit  Gef.  von  2  bis  zn  8  Jahren 
bestraft,  abgesehen  von  dem  Fall,  wo  die  That,  wegen  welcher  Anzeige  erstattet 
wurde,  nur  mit  leichtem  Gef.  bedroht  war  (Art.  244).  Jede  anderweitige  ver- 
leumderische Eingabe  gegen  einen  andern  zieht  Gef.  von  1  Monat  bis  zu  1  Jahre 
und  Ausschluss  von  der  Ausübung  der  politischen  Rechte  für  den  Zeitraum 
von  5  Jahren  nach  sich  (Art.  245). 

19.  Übertretung  der  Vorschriften  über  die  Beerdigungen,  Ver- 
letzung von  Gräbern  und  Verbr.  gegen  die  öffentliche  Gesundheit. 
Die  Übertretung  der  über  das  Beerdigungswesen  erlassenen  G.  und  Vdgn. 
wird  mit  leichtem  Gef.  bedroht.  Die  gleiche  Strafe  in  Verbindung  mit  Geld- 
strafe trifft  den  Arzt,  der  ohne  rechtswidrige  Absicht  den  Tod  einer  noch  am 
Leben  befindlichen  Person  bescheinigt  (Art.  246).  Die  Verletzung  von  Gräbern 
oder  Grabstätten  und  ähnliche  Handlungen  ziehen  leichtes  Gef.  und  Geldstrafe 
nach  sich.  Hat  eine  thatsächliche  Beschädigung  nicht  stattgefunden,  so  wird 
nur  auf  Geldstrafe  erkannt.  Ist  die  Handlung  derartig,  dass  sie,  an  einer 
lebenden  Person  begangen,  den  Thatbestand  eines  Delikts  gegen  das  Scham- 
gefühl oder  der  Notzucht  darstellen  würde  (vgl.  Art.  393),  so  wird  die  Strafe 
erhöht  und  zwar  auf  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  (Art.  247).  Das  Feil- 
bieten und  Verkaufen  von  Gift  oder  Abtreibungsmitteln  ohne  obrigkeitliche 
Erlaubnis  und  ohne  Befolgung  der  gesetzlichen  Förmlichkeiten  wird  mit  Gef. 
auf  die  Dauer  von  3  Monaten  und  entsprechender  Geldstrafe  belegt  (Art.  248). 
Der  Apotheker,  der  Medikamente  vertauscht  oder  verändert,  verwirkt  Gefängnis- 
strafe von  1  Monat  (Art.  249).  —  Ein  Arzt,  der  im  Falle  dringender  Not  oder 
nach  Aufforderung  seitens  eines  Beamten  seine  Dienste  verweigert,  wird  mit 
Gef.  von  2  Monaten  bis  zu  1  Jahre  bestraft  (Art.  250).  —  Die  Verfälschung 
und  der  Verkauf  von  Nahrungs-  oder  Genussmitteln  wird  mit  Gef.  von  2  Mo- 
naten bis  zu  2  Jahren  bestraft  (Art.  251).  Ausserdem  ist  die  Befolgung  der 
im  Interesse  der  Gesundheitspolizei  erlassenen  Vorschriften  vorgeschrieben 
(Art.  252).^) 

iOm  Verbotene  Waffen,  verbotene  Jagd  und  verbotener  Fisch- 
fang. Wer  Maschinen,  die  geeignet  sind,  eine  Explosion  hervorzurufen  und 
den  Tod  von  Personen  oder  die  Zerstörung  von  Gebäuden  herbeizuführen, 
anfertigt,  verkauft,  liefert  oder  bei  sich  verwahrt,  wird  mit  Einzelhaft  auf  die 
Dauer  von  4  Jahren  und  nachfolgender  Sjähriger  Deportation  bestraft.  Wer 
blanke  Waff'en  oder  Feuerwaffen  ohne  obrigkeitliche  Erlaubnis  anfertigt,  ein- 
führt, verkauft,  liefert  oder  in  Verwahrung  nimmt,  verwirkt  leichtes  Gef.  von 
6  Monaten  und  Geldstrafe.  Die  einfache  Aufbewahrung  derartiger  Gegenstände 
wird  mit  einer  dem  Arbeitsertrage  von  1  Woche  bis  zu  1  Monat  entsprechen- 
den Geldstrafe  bedroht,  falls  es  sich  nicht  um  Kunst-  oder  Schmuckgegen- 
stände handelt.  In  allen  Fällen  werden  dieWaff'en  konfisziert  (Art.  253).  Die 
Ausübung  der  Jagd  während  der  Schonzeit,  sowie  die  unerlaubte  Ausübung 
derselben  innerhalb  eines  abgeschlossenen  Besitztums  wird  mit  1  Monat  Gef. 
und  Geldstrafe  belegt  (Art.  254).  —  Dieselben  Straf bestimmungen  gelten  für 
den  unberechtigten  Fischfang  (Art.  255). 

21.  Landstreicherei,  Bettelei  und  Vereinigung  von  Verbrechern. 


^)  Vgl.  die  Vdg.  vom  21.  August  1890,  welche  auf  Grund  der  früheren  Vdm. 
vom  30.  Dezember  1868  und  4.  Oktober  1889  Bestimmungen  zur  Verhütung  der  Ein- 
schleppung der  Cholera  giebt.  Sie  bedroht  mit  Geldstrafe  von  10000—20000  Reis 
denjenigen,  der  die  gesundheitspolizeiliche  Grenze  zur  Zeit  der  Grenzsperre  durch- 
bricht, oder  einem  andern  bei  der  Durchbrechung  behülflich  ist;  der  Gegenstände, 
deren  Unbrauchbarmachung  oder  Desinfektion  vorgeschrieben  ist,  verheimlicht,  ver- 
kauft, kauft  oder  bei  ihrer  Verheimlichung  mitwirkt,  unbeschadet  jedoch  der  Vor- 
schriften der  Art.  318  und  321  des  StGB. 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  561 


Wer  ohne  festen  Wohnsitz,  sowie  ohne  Subsistenzmittel  oder  Gewerbe  betroffen 
wird,  ist,  wenn  er  nicht  nachweisen  kann,  dass  er  ohne  sein  Verschulden  in 
diesen  Zustand  geraten  ist,  für  einen  Landstreicher  zu  erklären  und  mit  leichtem 
Gef.  bis  zu  6  Monaten  zu  bestrafen,  ausserdem  während  einer  bestimmten  Zeit 
der  Regierung  zur  Verfügung  zu  stellen,  die  ihm  Arbeit  verschafft  (Art.  256). 
Die  Strafe  endigt  mit  der  Hinterlegung  eines  Pfandes  oder  dem  Angebot  einer 
Bürgschaft,  jedoch  behält  die  Regierung  das  Recht,  dem  Landstreicher  einen 
Aufenthaltsort  anzuweisen.  Die  heimliche  Entfernung  aus  diesem  zieht  die 
Verbüssung  des  Restes  der  Strafe  nach  sich  (Art.  257).  Der  Landstreicher, 
der  ohne  Grund  in  eine  Wohnung  oder  in  ein  befriedetes  Besitztum  eindringt, 
oder  sich  in  Verkleidung  oder  im  Besitz  von  Gegenständen  im  Wert  von  mehr 
als  10000  Reis,  deren  rechtmässigen  Erwerb  er  nicht  nachweisen  kann,  be- 
treffen lässt,  wird  mit  Gef.  von  1  bis  zu  2  Jahren  bestraft,  und,  wenn  er  Por- 
tugiese ist,  der  Regierung  überwiesen,  wenn  er  Ausländer  ist,  ausgewiesen 
(Art.  258  und  259).  —  Wer,  obwohl  er  imstande  ist,  sich  seinen  Unterhalt 
selbst  zu  verschaffen,  bettelt,  wird  als  Landstreicher,  wer  sich  krank  stellt, 
wer  unter  Drohungen  oder  Beleidigungen,  oder  gemeinschaftlich  mit  mehreren 
bettelt,  mit  Gef.  von  2  Monaten  bis  zu  2  Jahren  bestraft.  Hierher  gehören 
jedoch  nicht  die  Fälle,  in  welchen  Blinde  oder  Krüppel,  die  sich  nicht  allein 
bewegen  können,  mit  ihren  Angehörigen  gemeinschaftlich  betteln  (Art.  260 — 262). 
—  Die  Mitglieder  von  vertragsmässig  oder  auf  andere  Weise  gebildeten  Ver- 
einigungen, die  zum  Zwecke  der  Begehung  von  Verbr.  geschlossen  sind,  werden 
mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren,  die  Anführer  und  Anstifter  mit  schwererer 
Strafe  belegt.  Wer  einer  solchen  Vereinigung  vorsätzlich  Waffen  oder  Unter- 
kunft gewährt,  wird  als  Gehülfe  bestraft  (Art.  263). 

22.  Spiel,  Lotterieen,  Börsenspiel  und  strafbare  Handlungen 
der  Eigentümer  von  Pfandleihanstalten.  Wer  aus  dem  Spiel  seine  Haupt- 
beschäftigung und  seine  Haupteinnahmequelle  macht,  wird  als  Landstreicher 
bestraft.  Wer  sich  an  einem  Hazardspiel  beteiligt,  verwirkt  das  erste  Mal 
einen  Verweis,  die  folgenden  Male  Geldstrafe  im  Betrage  des  Arbeitsverdienstes 
von  14  Tagen  bis  zu  1  Monat.  Wer  mit  einem  Minderjährigen  spielt  oder 
einen  solchen  zum  Spiel,  zu  lasterhaften  Gewohnheiten  oder  zum  Ungehorsam 
gegen  seine  Eltern  oder  Vormünder  verführt,  wird  mit  Gef,  von  1  bis  zu 
6  Monaten  und  Geldstrafe  belegt.  Wer  die  Leitung  und  Verwaltung  von  Glücks- 
spielen innehat,  ohne  aus  denselben  sein  stehendes  Gewerbe  zu  machen,  ver- 
wirkt Gef.  von  2  Monaten  bis  zu  1  Jahre  nebst  entsprechender  Geldstrafe. 
Die  bei  dem  Spiel  benutzten  Gegenstände  und  Möbel  werden  eingezogen  und 
fallen  zur  Hälfte  dem  Staate,  zur  Hälfte  demjenigen  zu,  der  die  Einziehung 
bewirkt.  Das  G.  bedroht  femer  denjenigen  mit  Strafe,  der  durch  Anwendung 
von  Gewalt  oder  Drohungen  jemanden  zur  Teilnahme  am  Spiel  zwingt,  und 
stellt  denjenigen,  der  sich  durch  betrügerische  Mittel  den  Gewinn  beim  Spiel 
sichert,  auf  eine  Stufe  mit  dem  Dieb  (Art.  264 — 269).  —  Unbeschadet  der  Be- 
stimmungen des  G.  vom  28.  Juli  1885  ist  jede  Lotterie  verboten;  die  bei  einer 
solchen  thätigen  Veranstalter,  Unternehmer  oder  Agenten  verwirken  eine  dem 
Einkommen  von  1  bis  zu  10  Monaten  entsprechende  Geldstrafe  und  die  Ein- 
ziehung der  Lose  (Art.  270).  Geringere  Strafe  trifft  denjenigen,  welcher  Lose 
verkauft  oder  den  Verkauf  derselben  erleichtert  (Art  271  und  272).  —  Wer 
Obligationen  einheimischer  oder  fremder  Anleihen,  ähnlicher  Institute  oder 
Aktiengesellschaften  zu  liefern  oder  zu  kaufen  verspricht,  ohne  im  Augenblick 
des  Vertragsabschlusses  oder  der  Lieferung  im  Besitz  derselben  zu  sein,  wird 
mit  Gef.  von  6  Monaten  und  der  höchsten  zulässigen  Geldstrafe  bedroht.  Der 
Käufer,  der  in  Kenntnis  dieser  Umstände  gehandelt  hat,  verwirkt  die  Hälfte 
dieser    Strafe    (Art.  273).    —   Vorsteher    von    Pfandleih-Instituten,    die    nicht 

Strafgesetzgebang  der  Gegenwart.  I.  36 


562  Die  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


polizeilich   konzessioniert   sind   oder   keine   regelmässige  Bachfühning   haben, 
werden  mit  Gef.  bis  zn  3  Monaten  und  Geldstrafe  belegt  (Art.  274). 

23.  Monopol  und  Schmuggel.  Ein  Verkäufer  von  Waren,  die  zum 
Unterhalt  des  täglichen  Lebens  notwendig  sind,  wird  mit  einer  dem  Einkommen 
von  1  bis  zu  6  Monaten  entsprechenden  Geldstrafe  belegt,  wenn  er  die  in 
seinem  Besitz  befindlichen  Waren  verbirgt  oder  zu  verkaufen  weigert.  Wer 
allein  oder  durch  Verabredung  mit  mehreren  durch  betrügerische  Mittel  den 
Preis  von  Waren  herabdrückt,  um  die  Konkurrenten  zu  schädigen,  wird  mit 
einer  dem  Einkommen  von  3  Monaten  entsprechenden  Geldstrafe  belegt  (Art. 
276).  Die  Verabredung  von  Arbeitgebern  zum  Zwecke  unzulässiger  Herab- 
drttckung  der  Arbeitslöhne,  sowie  die  Vereinigung  von  Arbeitern  zur  Herbei- 
führung einer  Arbeitseinstellung  oder  einer  Lohnerhöhung  wird  mit  Gef.  bis 
zu  6  Monaten  und  Geldstrafe  von  5000 — 200000  Reis  bedroht.  In  beiden 
Fällen  muss  es  jedoch  zum  Anfang  der  Ausführung  der  erwähnten  Handlungen 
gekommen  sein.  Wer  dabei  als  Anführer  thätig  gewesen  ist,  oder  Gewalt  und 
Drohungen  angewendet  hat,  verwirkt  Gefängnisstrafe  auf  die  Dauer  von  1  bis 
zu  2  Jahren  und  Stellung  unter  Polizeiaufsicht  (Art.  277). 

Der  Schmuggel  wird  mit  einer  Geldstrafe  von  1  Million  Reis  und  Gef. 
bis  zu  1  Jahr  bestraft.  Ausserdem  trifft  den  Thäter  die  im  Civilgesetzbuch 
angedrohte  Ersatzpflicht.  —  Die  bei  der  Zahlung  der  gesetzlichen  ZöUe  und 
Gebrauchsabgaben  verübte  Hinterziehung  wird  mit  einer  Geldstrafe  belegt, 
deren  Höbe  zwischen  dem  doppelten  und  dem  fünffachen  Werte  der  hinter- 
zogenen  Beti*äge  schwankt  (G.  vom  31.  März  1885  und  Vdg.  No.  V  vom  17.  Sep- 
tember 1885). 

24.  Strafbare  Vereinigungen.  Jede  unerlaubte  Vereinigung  von  mehr 
als  20  Personen  wird  aufgelöst;  die  Mitglieder  werden,  je  nach  der  Art  ihrer 
Beteiligung,  mit  leichten  Strafen  belegt  (Art.  282).  Die  Genehmigung  wird 
nicht  erteilt  für  Vereine,  deren  Mitglieder  sich  verpflichten,  den  Zweck  und 
die  Verfassung  derselben  vor  der  Obrigkeit  geheimzuhalten.  Die  Vorsteher 
verwirken  Gef.  von  2  Monaten  bis  zu  2  Jahren,  die  Mitglieder  die  Hälfte  dieser 
Strafen.  Dieselben  bleiben  aber  straflos,  wenn  sie  der  Obrigkeit  von  dem 
Zweck  des  Vereins  freiwillig  Anzeige  machen  (Art.  283). 

25.  Verbr.  öffentlicher  Beamten  bei  Ausübung  ihres  Amtes. 
a)  Prävarikation.  Der  Richter,  welcher  aus  Abneigung  oder  Vorliebe  für 
eine  Partei  eine  ungerechte  endgültige  Entscheidung  trifft,  wird  mit  Ausschluss 
von  der  Ausübung  der  politischen  Rechte  auf  die  Dauer  von  5  Jahren  bestraft. 
Handelte  es  sich  um  die  Verurteilung  zu  einer  Strafe,  so  trifft  ihn  ausserdem 
Einzelhaft  auf  die  Dauer  von  2  bis  zu  8  Jahren,  andernfalls  die  höchste  zu- 
lässige Geldstrafe.  War  die  Entscheidung  keine  endgültige,  so  tritt  nur  Aus- 
schluss von  der  Ausübung  der  politischen  Rechte  ein.  Dieselben  Strafen  treffen 
den  Richter,  der  in  einem  schwebenden  Prozesse  einer  Partei  einen  Rat  erteilt, 
sowie  jeden  andern  öffentlichen  Beamten,  der  eine  ihm  zur  amtlichen  Er- 
ledigung überwiesene  Angelegenheit  ungerecht  entscheidet  (Art.  284).  —  Die 
Justizverweigerung  zieht  den  Ausschluss  von  der  Ausübung  der  politischen 
Rechte  nach  sich  (Art.  286).  —  Die  betrügerische  oder  wissentlich  falsche  Be- 
richterstattung eines  Beamten  an  einen  Vorgesetzten  wird  mit  Amtsentsetzung 
und  Gef.  von  6  Monaten  bestraft.  Amtsentsetzung  trifft  ebenfalls  den  Beamten, 
der  seine  Pflichten  dadurch  vernachlässigt,  dass  er  vorsätzlich  einen  Verbrecher 
nicht  verfolgt,  oder  es  unterlässt,  alle  ihm  zu  Gebote  stehenden  Mittel  anzu- 
wenden, um  die  Ausführung  eines  Verbr.  zu  verhindern  (Art.  285  und  287). 
Der  Staatsanwalt,  der  gegen  jemand  eine  Anklage  erhebt,  wissend,  dass  die 
von  ihm  angegebenen  Beweismittel  falsch  sind,  wird  wegen  P'älschung  bestraft, 
wenn  falsche  Urkunden  die  Grundlage  der  Anklage  bilden,    in    allen  übrigen 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  568 


Fällen  mit  Amtsentsetzung  und  6ef.  auf  die  Dauer  von  6  Monaten.  Mit  zeit- 
weiliger Amtsenthebung  und  der  einem  Einkommen  von  3  Monaten  bis  zu 
2  Jahren  entsprechenden  Geldstrafe  wird  belegt:  1.  der  Anwalt  oder  Sachwalter, 
der  das  Dienstgeheimnis  verletzt;  2.  der  gegen  Entgelt  oder  unentgeltlich  fun- 
gierende Bevollmächtigte,  welcher  der  Gegenpartei  einen  Rat  giebt,  oder  von 
derselben  Vorteile  annimmt;  3.  ein  Mitglied  der  Staatsanwaltschaft,  welches 
sich  der  gleichen  Handlung  schuldig  macht  (Art.  289).  —  Mit  leichtem  Gef. 
und  Geldstrafe,  abgesehen  von  der  wegen  Beleidigung  oder  Verleumdung  ver- 
wirkten Strafe,  wird  belegt:  1.  wer  ein  Geheimnis  verrät,  von  welchem  er  bei 
Ausübung  seines  Gewerbes  Kenntnis  erhalten  hat;  2.  wer  eine  Urkunde  oder 
die  Abschrift  einer  solchen  veröffentlicht,  wenn  die  Veröffentlichung  nur  mit 
Erlaubnis  desjenigen  erfolgen  durfte,  der  ihm  die  Urkunde  anvertraut  hatte 
(Art.  290). 

b)  Missbrauch  der  Amtsgewalt.  Mit  Gef.  von  3  Monaten  bis  zu 
1  Jahre  und  Geldstrafe,  je  nach  den  Umständen  des  Falls,  wird  bestraft: 
1.  der  öffentliche  Beamte,  der,  ohne  dazu  befugt  zu  sein,  eine  Verhaftung 
vornimmt  oder  vornehmen  lässt;  2.  wer  von  der  Befugnis  zur  Vornahme  einer 
Verhaftung  einen  ungesetzlichen  Gebrauch  macht;  3.  wer  einen  Gefangenen, 
zu  dessen  Ehtlassung  er  verpflichtet  ist,  im  Gef.  behält,  sowie,  wer  in  Wider- 
spruch mit  den  gesetzlichen  Vorschriften  die  Verheimlichung  oder  die  Ver- 
längerung der  Haft  eines  Gefangenen  anordnet;  4.  der  Richter,  der  sich  weigert, 
einem  gefangenen  Augeklagten  von  der  Anklageschrift,  sowie  von  dem  Namen 
des  Anklägers  und  der  Zeugen  Kenntnis  zu  geben  (Art.  291).  Mit  Ausschluss 
von  der  Ausübung  der  politischen  Rechte  und,  je  nach  den  Umständen  des 
Falls,  mit  Geldstrafe  wird  bedroht:  1.  der  öffentliche  Beamte,  der  ohne  Be- 
achtung der  gesetzlichen  Förmlichkeiten  eine  Verhaftolg  vornimmt  oder  vor- 
nehmen lässt;  2.  wer  einen  anderen  ausserhalb  des  Gefängnisses  oder  des  vor- 
geschriebenen Verwahrungsortes  selbst  gefangen  hält  oder  die  Gefangenhaltung 
anordnet;  B.  der  zuständige  Beamte,  der  sich  weigert,  die  Strafvollzugs -Be- 
scheinigung zu  erteilen;  4.  der  zur  gerichtlichen  oder  zur  Verwaltungs-Polizei 
gehörige  Beamte,  der  es  unterlässt,  eine  von  ihm  eigenmächtig  vorgenommene 
Verhaftung  zur  Kenntnis  der  vorgesetzten  Behörde  zu  bringen;  5.  jeder  mit 
der  Beaufsichtigung  von  Gefangenen  beauftragte  Beamte,  der  einen  solchen 
ohne  schriftlichen  Aufnahmebefehl  aufnimmt  (Art.  292).  Mit  Gef.  bis  zu  6 
Monaten  wird  der  Gefangenaufseher  bestraft,  der  gegen  seine  Gefangenen  sich 
einer  ungesetzlichen  Härte  schuldig  macht  (Art.  293).  Der  öffentliche  Beamte, 
der  seine  Amtsgewalt  missbraucht,  um  in  die  Wohnung  eines  Bürgers  ohne 
dessen  Erlaubnis  oder  ohne  Beobachtung  der  gesetzlichen  Förmlichkeiten  oder 
der  gesetzlichen  Voraussetzungen  einzudringen,  wird  mit  Gef.  von  6  Monaten  und 
Geldstrafe  belegt  (Art.  294).  Der  Postbeamte,  der  einen  Brief  unterschlägt 
oder  öflftiet,  oder  zu  einer  dieser  Handlungen  behiilflich  ist,  verwirkt  leichtes 
Gef.  und  Geldstrafe  (Art.  295).  Mit  Ausschluss  von  der  Ausübung  der  politi- 
schen Rechte  auf  die  Dauer  von  höchstens  5  Jahren  wird  der  Beamte  be- 
straft, der  seine  Amtsgewalt  missbraucht,  um  einen  Bürger  in  der  Ausübung 
dieser  Rechte  zu  beeinträchtigen  (Art.  296).  Der  Beamte,  welcher  berechtigt 
ist,  die  Hülfeleistung  der  bewaffneten  Macht  in  Anspruch  zu  nehmen  oder  an- 
zuordnen, wird  mit  Gef.  auf  die  Dauer  von  1  Jahre  und  Geldstrafe  bedroht, 
wenn  er  von  dieser  Befugnis  Gebrauch  macht,  um  die  Ausführung  eines 
Gesetzes  oder  einer  obrigkeitlichen  Anordnung  zu  verhindern.  Die  Strafe 
wird  auf  Einzelhaft  für  die  Dauer  von  2  bis  zu  8  Jahren  erhöht,  wenn 
er  seinen  Zweck  erreicht  (Art.  297).  Er  bleibt  straflos,  wenn  er  nach- 
weist, dass  er  lediglich  auf  Befehl  seines  Vorgesetzten  gehandelt  hat  (Art. 
298),      Wer  bei    der    Ausführung  eines   rechtmässigen   dienstlichen  Auftrages 

36* 


664  I^ie  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


unnötige    Gewaltmassregeln    anwendet,    verwirkt   Gef.    bis   zu   sechs  Monaten 
(Art.  299).*) 

Die  Verabredung  zwischen  öffentlichen  Beamten  oder  Behörden  zu  dem 
Zwecke,  die  Ausführung  von  G.  oder  Beschlüssen  zu  verhindern,  wird  mit 
Amtsentsetzung  und  6monatlichem  Gef.  bestraft  (Art.  300). 

c)  Ausschreitungen  bei  Ausübung  des  Amtes  und  Ungehorsam. 
Mit  Amtsentsetzung  und  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  wird  bestraft: 
1.  der  öffentliche  Beamte,  der  sich  in  die  Thätigkeit  der  gesetzgebenden 
Körperschaften  einmischt,  um  die  Wirksamkeit  eines  G.  zu  hindern;  2.  der 
Richter,  welcher  eine  zur  Zuständigkeit  der  Verwaltungs-Behörden  gehörige 
Verfügung  erlässt,  oder  die  Vollziehung  von  rechtmässigen  Verfügungen  dieser 
Behörden  verbietet;  3.  der  Beamte,  welcher  sich  des  im  Art.  291  No.  1  vor- 
gesehenen Verbr.  gegen  ein  Mitglied  der  gesetzgebenden  Gewalt  oder  eine  im 
Auftrage  derselben  handelnde  Person  schuldig  macht;  4.  der  Beauftragte  einer 
Verwaltungs-Behörde,  der  die  Ausübung  der  richterlichen  Gewalt  verhindert 
oder  zu  beeinträchtigen  sucht  (Art.  301).  Mit  Amtsentsetzung  und  einer  dem 
Einkommen  von  2  Jahren  entsprechenden  Geldstrafe  wird  belegt  1.  der  Rich- 
ter, der  nach  Erhebung  des  Kompetenz-Konfliktes  zwischen  dem  Gericht  und 
einer  Verwaltungs-Behörde  fortführt,  sein  Amt  auszuüben ;  2.  der  Verwaltungs- 
beamte, welcher  Funktionen  ausübt,  deren  Ausübung  nur  dem  Richter  zusteht 
(Art.  302).  Der  öffentliche  Civil-  oder  Militär-Beamte,  der  ohne  genügenden 
Grund  die  Ausführung  eines  ihm  von  der  zuständigen  Behörde  aufgetragenen 
Dienstes  verweigert,  verwirkt  Gef.  von  2  Monaten  bis  zu  1  Jahre  und  Ent- 
setzung vom  Amt  (Art.  304).  Wer  die  Übernahme  eines  Amtes,  zu  welchem 
er  im  öffentlichen  Wahlverfahren  erwählt  ist,  ohne  Dispens  seitens  der  zu- 
ständigen Behörde  verweigert,  wird  mit  einer  Geldstrafe  von  10000 — 100000 
Reis  und  2jährigem  Ausschluss  von  der  Ausübung  der  politischen  Rechte 
belegt  (Art.  305). 

d)  Unbefugte  Ausübung  eines  Amtes.  Die  Ausübung  eines 
öffentlichen  Amtes  ohne  zuvorige  Ableistung  des  Diensteides  wird  mit  Geld- 
strafe von  2000 — 10000  Reis  bedroht  (Art.  306).  Wer  ein  Amt  ausübt,  nach- 
dem er  dasselbe  niedergelegt  hat,  oder  von  demselben  enthoben  ist,  verwirkt 
Gef.  von  1  bis  zu  2  Jahren,  neben  der  Strafe  der  Fälschung,  falls  eine  solche 
begangen  ist.  Das  Gleiche  gilt  von  militärischen  Funktionen,  falls  nicht  hier 
besondere  Gesetze  Anwendung  finden  (Art.  307).  —  Das  unbefugte  Verlassen 
eines  Amtes  wird  mit  Ausschluss  von  der  Ausübung  der  politischen  Rechte 
bestraft  (Art.  308).  —  Die  Bestrafung  der  Desertion  richtet  sich  nach  den 
Vorschriften  des  Mil.-StGB.  Die  gleiche  Strafe  trifft  denjenigen,  der  einen 
Soldaten  zur  Desertion  verführt  oder  veranlasst,  wenn  die  Verleitung  Erfolg 
gehabt  hat,  andernfalls  tritt  die  für  versuchte  Desertion  angedrohte  Strafe  ein 
(Art.  309).  — 

e)  Siegelbruch  und  Entwendung  von  Aktenstücken.  Der  öffent- 
liche Beamte,  welcher  Siegel  unbefugter  Weise  ablöst,  die  auf  in  seiner  Ver- 
wahrung befindliche  Gegenstände  gelegt  sind,  verwirkt  Einzelhaft  von  2  bis  zu 
8 Jahren,  bezw.  4jährige  Einzelhaft  mit  nachfolgender  8jähriger  Deportation, 
wenn  gleichzeitig  ein  Diebstahl  vorliegt.  Ist  der  Thäter  kein  öffentlicher  Be- 
amter, so  tritt  an  Stelle  dieser  Strafen  leichtes  Gef.  und  Einzelhaft  auf  die 
Dauer  von  2  bis  zu  8  Jahren  (Art.  310).  —  Einzelhaft  wird  ferner  angedroht 
gegen  die  Entwendung  von  Urkunden  und  Aktenstücken,  abgesehen  von  dem 
Fall  einfacher  Nachlässigkeit,    in  welchem  Amtsenthebung  auf  die  Dauer  von 


^)  Vgl.  die  Art.  98  und  99   des   Militärjustizgesetzes,   welche   für   dieses  Verbr. 
Freiheitsstrafe  von  3  Monaten  bis  zu  2  Jahren  und  von  3  bis  zu  5  Jahren  androhen. 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  565 


höchstens  6  Monaten  eintritt  (Art.  311).  Ist  die  Entwendung  oder  die  Ver- 
nichtung von  einem  öflFentlichen  Beamten  bewirkt,  welchem  die  Urkunden  oder 
Aktenstücke  anvertraut  waren,  so  wird  derselbe,  wenn  er  vorsätzlich  gehan- 
delt und  einer  Privatperson  oder  dem  Staat  Schaden  zugefügt  hat,  mit  Einzel- 
haft auf  die  Dauer  von  2  bis  zu  8  Jahren  bestraft  (Art.  312). 

f)  Amtsunterschlagüng  und  Bestechung.  Der  öffentliche  Beamte, 
der  Geld,  Schuldverschreibungen  oder  bewegliche  Gegenstände,  mit  deren 
Bewachung  er  beauftragt  war,  unterschlägt  oder  die  Unterschlagung  derselben 
zulässt,  wird  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  bestraft,  wenn  der  Wert 
der  unterschlagenen  Gegenstände  600000  Reis  oder  mindestens  den  dritten 
Teil  der  von  ihm  in  einem  Male  oder  im  Laufe  eines  Monats  empfangenen 
Summe  übersteigt.  Daneben  ist  in  allen  Fällen  auf  eine  dem  Einkommen 
von  1  bis  zu  2  Jahren  entsprechende  Geldstrafe  zu  erkennen.  Handelte  es 
sich  um  Gegenstände  von  geringerem  Wert,  oder  wurde  die  That  unter  an- 
deren Umständen  begangen  (z.  B.  wenn  es  sich  um  die  Unterschlagung  einer 
zu  früh  gezahlten  Summe  oder  eines  in  Pfand  gegebenen  Gegenstandes,  oder 
um  die  vorschriftswidrige  Verwendung  öffentlicher  Gelder  handelt),  so  wird 
die  Strafe  auf  6monatliche  Amtsenthebung  in  Verbindung  mit  Geldstrafe 
in  Höhe  von  60  000  Reis  ermässigt  (Art  313).  —  Der  öflFentliche  Beamte,  der 
Drohungen  oder  Gewalt  anwendet,  um  einen  anderen  zu  zwingen,  ihm  Geld 
zu  geben  oder  gewisse  Dienste  zu  leisten,  wird  mit  8jähriger  Einzelhaft  und 
nachfolgender  12j ähriger  Deportation  bestraft.  Jedoch  kann,  je  nach  den 
Umständen  des  Falles,  die  Strafe  auf  leichtes  Gef.  ermässigt  werden  (Art.  314). 
—  Geldstrafe  in  Höhe  des  Einkommens  von  1  bis  zu  3  Jahren  triflPt  den 
öffentlichen  Beamten,  der  ohne  gesetzliche  Befugnis  willkürlich  Steuern  erhebt 
oder  einen  Teil  der  erhobenen  Steuern  nicht  in  die  Staatskasse  abführt.  Die 
gleiche  Strafe  trifft  einen  solchen,  wenn  er,  mit  der  Eintreibung  von  Steuern 
oder  anderen  Leistungen  zu  Gunsten  des  Staates  oder  einer  öffentlichen  Be- 
hörde beauftragt,  wissentlich  mehr  als  zulässig  oder  eine  überhaupt  nicht  ge- 
schuldete Steuer  oder  Leistung  eintreibt.  Die  Vorgesetzten  desselben  verwir- 
ken eine  dem  Einkommen  von  1  bis  zu  2  Jahren  entsprechende  Geldstrafe; 
verwendet  der  Schuldige  die  so  vereinnahmten  Gelder  zu  seinem  Vorteil,  so 
findet  auf  ihn  die  Bestimmung  des  Art.  313  Anwendung  (Art.  315).  —  Der 
öffentliche  Beamte,  der  in  rechtswidriger  Absicht  ohne  Erlaubnis  Vergütungen 
annimmt,  auf  deren  Empfang  er  keinen  Anspruch  hat,  wird  mit  Entlassung 
aus  dem  Amt  oder  Ausschluss  von  der  Ausübung  der  politischen  Rechte  und 
einer  dem  Einkommen  von  1  Monat  bis  zu  3  Jahren  entsprechenden  Geldstrafe 
belegt,  selbst  wenn  die  Gewährung  freiwillig  geschehen  ist,  vorausgesetzt,  dass 
nicht  ein  Fall  der  Bestechung  vorliegt  (Art  316).  —  Gef.  von  2  Jahren  und 
Geldstrafe  trifft  den  öffentlichen  Beamten,  der  in  einer  Angelegenheit,  deren 
Erledigung,  Verwaltung,  Kontrolle  oder  Beaufsichtigung  ihm  zusteht,  oder  bei 
einer  Zahlung  oder  einer  Liquidation,  mit  deren  Vornahme  er  beauftragt  ist, 
direkt  oder  indirekt  Vorteile  für  sich  erwirkt.  Das  Gleiche  gilt  für  Vor- 
gesetzte, Depositare,  Sachverständige,  Schiedsrichter,  Verteiler,  Vormünder, 
Pfleger  und  Testamentsvollstrecker  (Art.  317). 

g)  Bestechung  (peita,  suborno  und  corrup9äo).  Jeder  Beamte,  der 
für  Vornahme  einer  Amtshandlung  Geschenke  oder  Vorteile  annimmt,  wird 
mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  und  einer  dem  Einkommen  eines  Jahres 
entsprechenden  Geldstrafe  belegt,  wenn  die  Amtshandlung  eine  rechtmässige 
war  und  zur  Ausführung  gelangt  ist;  mit  Ausschluss  von  der  Ausübung  poli- 
tischer Rechte  und  Geldstrafe,  wenn  die  Handlung  nicht  ausgeführt  wurde. 
War  die  Handlung  strafbar,  so  tritt  die  für  diese  ausgesetzte  Strafe  ein.  War 
sie  gesetzmässig,  und  gehört  sie  zu  den  Amtshandlungen  des  Handelnden,  so 


566  ^i^  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


wird  dieser  mit  Ausschluss  von  der  Ausübung  aller  politischen  Rechte  fär 
1  Jahr  und  Geldstrafe  belegt. 

Das  Gleiche  gilt  von  demjenigen,  der  sich  in  derselben  Absicht  ein  öffentliches 
Amt  anmasst,  sowie  von  den  Sachverständigen,  Schiedsrichtern  und  den  an- 
deren in  Art.  317  aufgeführten  Personen,  die  ausserdem  mit  dem  Ausschluss 
vom  Amt  und  von  der  Ausübung  politischer  Rechte  bestraft  werden  (Art.  318 
und  322).  —  Ein  Richter  oder  ein  Geschworener,  der  sich  bestechen  lässt, 
verwirkt  Einzelhaft  auf  die  Dauer  von  4  Jahren  und  8jährige  Deportation; 
der  Bestechende  wird  mit  einer  Geldstrafe  in  Höhe  von  1  Million  Reis  belegt 
(Art.  319).  Den  bestochenen  Richter  oder  den  Geschworenen  trifft  die  von 
ihnen  erkannte  Strafe,  wenn  die  Bestechung  die  schärfere  Bestrafung  eines 
Angeklagten  zur  Folge  gehabt  hat  (Art.  321).  Die  vorerwähnten  Strafen 
finden  auf  den  Bestechenden  Anwendung,  abgesehen  von  dem  Fall,  wo  er 
Thäter  oder  Gehülfe  des  abzuurteilenden  Verbr.  oder  Ehegatte,  Aszendent,  Deszen- 
dent, Bruder,  Schwester  oder  im  zweiten  Grade  Verschwägerter  des  Thäters 
oder  Gehülfen  ist  (Art.  321).  Die  von  dem  Bestechenden  dem  Bestochenen 
gegebenen  Gegenstände  sind  zu  Gunsten  des  Staates  einzuziehen  (Art.  323).^) 

h)  Allgemeine  Bestimmungen.  Als  Gehülfe  des  öffentlichen  Beamten 
wird  deijenige  betrachtet,  der  in  Kenntnis  des  von  seinem  Untergebenen  be- 
gangenen Verbr.  es  unterlässt,  die  nötigen  Schritte  zu  thun,  um  die  Bestra- 
fung desselben  herbeizuführen  (Art.  324).  Als  öffentlicher  Beamter  gilt  derjenige, 
welcher  öffentliche  Funktionen  irgend  welcher  Art  ausübt,  oder  an  der  Aus- 
übung von  solchen  beteiligt  ist,  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  er  durch  Gesetz,  Wahl 
oder  Ernennung  seitens  des  Königs  oder  der  zuständigen  Obrigkeit  hierzu 
berufen  ist  (Art.  327). 

Titel  IV. 

26«   Verbr.  gegen  die  individuelle  Freiheit. 

a)  Gewaltthätigkeit  (violenciiis).  Wer  eine  Person  in  Sklaverei  bringt, 
wird  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  und  Geldstrafe  bestraft  (Art.  328). 
Wer  unbefugterweise  Gewalt  anwendet,  um  jemand  zur  Vornahme  oder  Unter- 
lassung einer  Handlung  zu  zwingen,  wird  mit  Gef.  von  1  Monat  bis  zu  1  Jahre 
und  Geldstrafe  bestraft  (Art.  329). 

b)  Einfache  Freiheits-Beraubung  (carcere  privado).  Wer  ungesetz- 
licherweise eine  Person  für  die  Zeit  von  24  Stunden  ihrer  Freiheit  beraubt  oder 
berauben  lässt,  wird  mit  Gef.  von  1  Monat  bis  zu  1  Jahr  bestraft.  Die  Freiheits- 
Beraubung  für  die  Dauer  von  weniger  als  24  Stunden  wird  als  Gewaltthätigkeit 
bestraft;  die  Strafe  wird  erhöht,  wenn  die  Freiheits-Beraubung  längere  Zeit  dauert 
und  beträgt  2  bis  8  Jahre  Einzelhaft  und  Geldstrafe,  wenn  sie  24  Tage  übersteigt 
(Art.  330).  —  Die  Strafe  beträgt  2  bis  8  Jahre  Einzelhaft  in  allen  Fällen,  wo 
der  Thäter  sich  amtliche  Befugnisse  beigelegt  oder  mit  Tod,  Marterung  oder 
Gewaltmassregeln  gedroht  hat  (Art.  331).  Die  Strafe  beträgt  8  Jahre  Einzel- 
haft mit  nachfolgender  12 jähriger  Deportation,  wenn  der  Schuldige  nicht 
nachweist,  dass  er  sein  Opfer  in  Freiheit  gesetzt  hat,  oder  sich  weigert,  den 
Aufenthaltsort  desselben  anzugeben.  —  Jede  ungesetzliche  Einsperrung  wird 
mit  Gef.  von  3  Tagen  bis  zu  1  Monat  bestraft  (Art.  332 — 335). 

27.   Verbr.  gegen  den  Personenstand. 

a)    Anmassung  eines  falschen  Personenstandes;  Eingehung  einer 


*)  Dieselben  Verbr.  werden,  wenn  von  Militärpersonen  begangen,  mit  Degrada- 
tion bestraft,  jedoch  unbeschadet  der  den  begangenen  Verbr.  entsprechenden  ver- 
wirkten schwereren  Strafen  der  zeitigen  Zwangsarbeit  und  der  Gefängnisstrafe  in 
Gemässheit  der  Art.  820,  316  und  317  des  bürgerlichen  StGB.  (Militärjustizgesetz,  Art. 
91—97.) 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  567 


Scheinehe  und  einer  ungesetzlichen  Ehe.  Wer  betrügerischerweise  sich 
den  Personenstand  eines  anderen  anmasst,  sowie  wer,  um  die  Rechte  eines 
Dritten  zu  schädigen,  den  Abschluss  einer  Ehe  vorspiegelt  oder  eine  ungesetz- 
liche Ehe  eingeht,  wird  mit  Gef.  von  2  bis  zu  8  Jahren  bestraft  (Art.  336).  Die- 
selbe Strafe  trifft  depjenigen,  der  eine  zweite  Ehe  eingeht,  bevor  die  erste 
gelöst  ist  (Art.  337).  Der  zweite  Ehegatte  wird  als  Teilnehmer  bestraft,  wenn 
er  von  dem  Bestehen  der  ersten  Ehe  des  Schuldigen  Kenntnis  hatte  (Art.  338). 

b)  Kindesunterschiebung.  Wer  ein  Kind  für  ein  anderes  oder  wer  einer 
Frau,  die  überhaupt  nicht  niedergekommen  ist,  ein  Kind  unterschiebt,  wird 
bestraft:  und  zwar  die  Frau  und  ihr  Ehegatte,  wenn  dieser  von  der  Unter- 
schiebung Kenntnis  gehabt  und  in  sie  eingewilligt  hat,  mit  Einzelhaft  von  2 
bis  zu  8  Jahren;  andere  dabei  beteiligte  Personen  nach  den  Regeln  über 
Thäterschaft  und  Teilnahme,  je  nach  den  Umständen  des  Falls.  —  Das  Gleiche 
gilt  von  der  Abgabe  falscher  Erklärungen  bezüglich  der  Vaterschaft,  der  Ge- 
burt oder  des  Ablebens  eines  Kindes,  welche  in  der  Absicht  abgegeben  werden, 
einem  anderen  Schaden  zuzufügen  (Art.  340  und  341). 

c)  Entführung  von  Minderjährigen.  Wer  mittels  Betruges  oder 
Gewalt  ein  noch  nicht  7  Jahre  altes  Kind  entführt  oder  entführen  lässt,  wird 
mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  bestraft  (Art,  342).  —  Dieselbe  Strafe 
verwirkt,  wer  ein  noch  nicht  7  Jahre  altes  Kind  verborgen  hält  oder  von 
seinem  Aufenthaltsort  entfernt  (Art.  344).  —  Die  Entführung  einer  mindeijäh- 
rigen  Person  unter  17  Jahren  wird  mit  leichtem  Gefängnis  bestraft  (Art.  343). 
Mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  wird  belegt,  wer  eine  bereits  7  Jahre, 
aber  noch  nicht  18  Jahre  alte  Person  verbirgt  oder  an  einen  andern  Ort  bringt. 
Die  Strafe  wird  auf  8jährige  Einzelhaft  mit  nachfolgender  12jähriger  Depor- 
tation erhöht,  wenn  der  Schuldige  nicht  den  Aufenthaltsort  des  Minder- 
jährigen angiebt.  Wer  eine  minderjährige  Person,  mit  deren  Beaufsichtigung 
er  beauftragt  ist,  demjenigen,  der  die  Zurückgabe  verlangen  kann,  nicht  zu- 
rückgiebt,  oder  die  Abwesenheit  des  Minderjährigen  nicht  genügend  erklärt, 
wird  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  bestraft  (Art.  344  No.  1 — 3). 

d)  Kindesaussetzung.  Wer  ein  noch  nicht  7  Jahre  altes  Kind  an 
einem  andern  Ort,  als  der  zur  Aufnahme  von  solchen  bestimmten  öffientlichon  An- 
stalt aussetzt  oder  verlässt,  verwirkt  leichtes  Gef.  und  Geldstrafe;  das  Ver- 
lassen eines  Kindes  an  einem  einsamen  Orte  wird  mit  Gef.  von  2  bis  zu 
8  Jahren  bestraft.  Wird  die  That  von  dem  ehelichen  Vater  oder  der  ehelichen 
Mutter  oder  dem  Vormund  des  Kindes  begangen,  so  tritt  ausserdem  Geldstrafe 
hinzu.  Hat  die  Aussetzung  eine  schwere  Körperverletzung  oder  den  Tod  des 
Opfers  verursacht,  so  wird  der  Thäter  mit  Gef.  auf  die  Dauer  von  8  Jahren 
bestraft  (Art.  345). 

Wer  ein  neugeborenes,  oder  ein  an  einem  einsamen  Ort  verlassenes,  noch 
nicht  7  Jahre  altes  Kind  findet,  ist  bei  Vermeidung  einer  Gefängnisstrafe  von 
1  bis  zu  2  Jahren  verpflichtet,  es  der  nächsten  Polizei-Behörde  zuzuführen 
(Art.  346).  Mit  Gef.  von  1  Monat  bis  zu  1  Jahre  und  Geldstrafe  wird  bestraft, 
wer  ein  noch  nicht  7  Jahre  altes  Kind,  mit  dessen  Ernährung  und  Erziehung 
er  beauftragt  ist,  unbefugterweise  einem  Findelhause  übergiebt  (Art.  347). 
Eltern,  die  ein  Eind  einem  solchen  Findelhause  übergeben,  obgleich  sie  in 
der  Lage  sind,  es  selbst  aufzuziehen,  werden  mit  Geldstrafe  bis  zum  Betrage 
des  Einkommens  von  1  Jahre  bestraft  (Art.  348). 

28.   Tötung  und  Vergiftung. 

Die  vorsätzliche  Tötung  wird  mit  Einzelhaft  auf  die  Dauer  von  8  Jahren 
und  nachfolgender  12jähriger  Deportation  bedroht  (Art.  349).  Die  Zuftigung 
von  Körperverletzungen  in  Tötungsabsicht  wird,  wenn  dieselbe  den  Tod  nicht 
zur  Folge  hat,  oder  wenn  der  Tod  infolge  einer  andern  zufällig  hinzugetrete- 


568  I^ie  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


nen  Ursache  erfolgte,  gleich  einem  versuchten  oder  fehlgeschlagenen  Totschlage 
bestraft  (Art.  350).  Die  Strafe  beträgt  8jährige  Einzelhaft  nebst  nachfol- 
gender 20jähriger  Deportation  mit  Einsperrung  am  Verbannungsorte,  je  nach 
richterlichem  Ermessen:  wenn  die  That  begangen  wurde  mit  Vorbedacht, 
unter  Martern  oder  grausamen  Handlungen;  um  die  Ausführung  eines  andern 
Verbr.  zu  erleichtem  oder  dessen  Straflosigkeit  zu  sichern;  wenn  derselben 
eine  andere ,  mit  Gefängnis  von  mehr  als  2  Jahren  bedrohte  strafbare  Hand- 
lung vorausging  oder  folgte;  diese  beiden  letzteren  Bestimmungen  beziehen 
sich  jedoch  nicht  auf  die  Verbr.  gegen  die  Sicherheit  des  Staates  (Art.  351). 
Vorbedacht  liegt  vor,  wenn  der  Plan,  das  Verbr.  zu  begehen,  mindestens  24 
Stunden  vor  der  Ausführung  gefasst  wurde  (Art.  352).^)  —  Die  Vergiftung 
wird  ebenso  bestraft  wie  der  Totschlag.  Sie  ist  der  Angriff  auf  das  Leben 
eines  andern,  welcher  mittelst  Substanzen  geschieht,  die  geeignet  sind,  den 
Tod  des  Verletzten  in  kürzerer  oder  längerer  Zeit  herbeizuführen,  einerlei, 
auf  welche  Weise  sie  beigebracht  wird,  und  welche  Folgen  sie  hat  (Art.  353). 
—  Wer  dem  Thäter  bei  einem  Totschlag  behülflich  ist,  wird  mit  leichtem 
Gef.  bestraft,  wenn  er  nicht  als  Werkzeug  zur  unmittelbaren  Ausführung  des 
Verbr.  gedient  hat.  In  diesem  Falle  hat  er  4jährige  Einzelhaft  mit  nach- 
folgender 8jähriger  Deportation  verwirkt  (Art.  354). 

29.  Erschwerung  der  Tötung  mit  Rücksicht  auf  die  Person  des 
Getöteten.  Die  Tötung,  welche  an  dem  Vater  oder  der  Mütter  ohne  Unter- 
schied, ob  die  Abstammung  eine  eheliche  oder  aussereheliche  ist,  sowie  femer 
an  einem  Aszendenten  begangen  wird,  wird  mit  8jähriger  Einzelhaft  nebst 
nachfolgender  20jähriger  Deportation  und,  nach  richterlichem  Ermessen,  Ein- 
sperrung am  Verbannungsorte  auf  die  Dauer  von  2  Jahren  bestraft.  Wurde 
die  Handlung  ohne  Vorbedacht  begangen,  oder  war  der  Thäter  durch  das 
Opfer  gereizt,  so  liegen  mildernde  Umstände  vor;  handelte  aber  der  Thäter 
mit  Vorbedacht,  so  werden  keinerlei  mildernde  Umstände  berücksichtigt.  Der 
Versuch  dieses  Verbr.  ist  mit  sechsjähriger  Einzelhaft  und  nachfolgender 
Sjähriger  Deportation  bedroht  (Art.  355).  —  Wer  ein  noch  nicht  8  Tage  altes 
Kind  tötet,  wird  mit  Einzelhaft  von  8  Jahren  und  nachfolgender  20jähriger 
Deportation  bestraft.  Die  Strafe  beträgt  2  bis  8  Jahre  Einzelhaft,  wenn 
die  That  von  der  Mutter  des  Kindes,  um  ihre  eigene  Ehre,  oder  von  dem 
Vater  der  Mutter,  um  die  Ehre  seiner  Tochter  zu  retten,  begangen  wird 
(Art.  356). 

30.  Abtreibung.  Die  Anwendung  von  Gewalt  oder  anderen  Mitteln, 
um  eine  Fehlgeburt  mit  oder  ohne  Einwilligung  der  schwangeren  Person  zu 
bewirken,    wird    mit    Einzelhaft   von    2  bis  zu  8  Jahren   bestraft   (Art.    358). 

.Gleiche  Strafe  trifft  die  Frau,  die  zur  Abtreibung  ihre  Einwilligung  giebt, 
oder  diese  selbst  vornimmt.  Wurde  das  Verbr.  begangen,  um  die  Ehre  der 
Schwangeren  zu  retten,  so  wird  es  mit  leichtem  Gef.  bestraft.  Gleiche  Strafe 
trifft  den  Arzt  oder  Apotheker,  der  zur  Ausführung  des  Verbr.  behülflich  ist. 

31.  Körperverletzung  und  Misshandlung.  Die  vorsätzliche  Miss- 
hatidlung  wird  mit  Gef.  bis  zu  3  Monaten  bestraft  (Art.  359).  Hat  sie  eine 
Krankheit  oder  Arbeitsunfähigkeit  des  Verletzten  zur  Folge  gehabt,  so  kann 
die  Strafe  bis  auf  die  Dauer  von  6  Monaten  erhöht  werden,  je  nach  der  Dauer 
der  Krankheit  oder  der  Arbeitsunfähigkeit.  Sie  wird  bis  zu  8  Jahren  Einzel- 
haft erhöht,  wenn  die  Handlung  eine  Verstümmelung,  Entstellung,  den  Verlust 
eines  Gliedes  oder  Organs,  des  Gebrauchs  der  Vernunft,  den  dauernden  Ver- 


^)  Nach  dem  Art.  101  des  Militärjustizgesetzes  wird  der  von  einer  Militärperson 
gegen  die  Person,  bei  welcher  sie  im  Quartier  liegt,  begangene  Totschlag  mit  Todes- 


strafe  und  Degradation  bedroht. 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  569 


lust  der  Arbeitsfähigkeit  oder  den  Tod  des  Verletzten  zur  Folge  gehabt  hat. 
In  dem  letzteren  Falle  ist  Voraussetzung,  dass  die  Handlung  nicht  in  Tötungs- 
absicht begangen  wurde  (Art.  360  und  361).^)  Trat  der  Tod  infolge  eines 
zufälligen  Elreignisses  und  nicht  infolge  der  erlittenen  Misshandlung  ein,  so 
findet  eine  Strafverschärfung  nicht  statt  (Art.  362).  —  Der  Gebrauch  von 
Feuer-  oder  Schusswaffen,  ohne  dass  ein  Mordversuch  vorliegt  oder  eine  Ver- 
wundung oder  Beschädigung  stattgefunden  hat,  wird  mit  Gef.  bis  zu  6  Monaten 
bestraft.  Die  Drohung  mit  diesen  Waffen,  sowie  Drohungen,  die  von  mehre- 
ren gemeinschaftlich  in  der  Absicht,  einen  unmittelbaren  Schaden  zuzufügen, 
ausgestossen  sind,  werden  mit  Gef.  auf  die  Dauer  von  3  Monaten  bestraft 
(Art.  363).  —  Das  Gleiche  gilt  für  diejenigen,  welche  anderen  vorsätzlich  und 
in  der  Absicht,  Schaden  zuzufügen,  Stoffe  liefern,  die  zwar  nicht  geeignet 
sind,  den  Tod  einer  Person  herbeizuführen,  aber  doch  eine  Gesundheits- 
beschädigung zur  Folge  haben  können  (Art.  364).  —  Ist  der  Verletzte  der 
Vater,  die  Mutter  oder  ein  ehelicher  Aszendent  des  Thäters,  so  erleiden  die 
angedi*ohten  Strafen  folgende  Veränderungen:  an  Stelle  von  3monatlichem 
Gef.  tritt  Gef.  auf  die  Dauer  eines  Jahres,  an  Stelle  des  leichten  Gef.  tritt 
Gef.  von  2  bis  zu  8  Jahren;  schwankte  die  Strafe  zwischen  2  und  8  Jahren, 
so  tritt  verschärftes  Gef.  ein,  in  allen  schwereren  Fällen  endlich  wird  auf  ver- 
schärftes Gef.  von  2  bis  zu  8  Jahren  erkannt  (Art.  365).  —  Die  Kastration 
wird  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  bestraft.  Hat  sie  den  Tod  des 
Verletzten  binnen  40  Tagen  zur  Folge  gehabt,  so  tritt  8jähriges  Gef.  mit 
nachfolgender  12jähriger  Deportation  ein  (Art.  366).  Wer  sich  selbst  ver- 
stümmelt, um  dem  Militärdienst  zu  entgehen,  wird  mit  Gef.  von  3  Monaten 
bis  zu  1  Jahre  bestraft.  Das  Gleiche  gilt  von  dem  Arzt,  Wundarzt  und  Apo- 
theker, welcher  sich  an  der  Handlung  beteiligt  (Art.  367).  Wer  den  Leich- 
nam des  Opfers  verbirgt,  wird  mit  Gef.  von  3  Monaten  bis  zu  2  Jahren  be- 
straft (Art.  389). 

32.  Fahrlässige  Tötung  und  fahrlässige  Körperverletzung.  •  Die 
durch  Unerfahrenheit,  Nachlässigkeit,  Ungeschicklichkeit  oder  Nichtbeachtung 
einer  Vorschrift  herbeigeführte  Tötung  wird  mit  Gef.  auf  die  Dauer  von 
1  Monat  bis  zu  2  Jahren  und  Geldstrafe  bedroht  (Art.  368).  Die  unter  den 
gleichen  Umständen  herbeigeführte  Körperverletzung  oder  Misshandlung  wird 
mit  Gef.  von  3  Tagen  bis  zu  6  Monaten  bestraft  (Art.  369). 

S3*  Besondere  mildernde  Umstände  bei  fahrlässiger  Tötung, 
bei  Körperverletzung  und  Misshandlung.  War  eine  dieser  Hand- 
limgen  ohne  Vorbedacht  oder  nachdem  der  Thäter  den  Verletzten  durch  Ge- 
walthandlungen gereizt  hatte,  begangen,  so  wird  die  ursprünglich  angedrohte 
8jährige  Einzelhaft  mit  nachfolgender  Deportation  auf  leichtes  Gef.  von  1  biß 
zu  2  Jahren  und  Geldstrafe  ermässigt;  an  Stelle  der  zeitigen  Einzelhaft  tritt 
Gef.  von  6  Monaten  bis  zu  2  Jahren;  die  Dauer  der  leichten  Gefängnisstrafe 
kaim  auf  den  Zeitraum  von  3  Tagen  bis  zu  6  Monaten  herabgesetzt  werden. 
Die  gleiche  Strafmilderung  tritt  ein,  wenn  diese  Delikte  begangen  sind,  um 
einen  am  hellen  Tage  beabsichtigten  Einbruch  in  ein  bewohntes  Haus  oder 
dessen  Nebengebäude  zu  verhindern  (Art.  371).  Der  Ehegatte,  der  seine  Ehe- 
frau beim  Ehebruch  auf  frischer  That  überrascht  und  sie  nebst  ihrem  Mit- 
schuldigen oder  einen  von  beiden  tötet  oder  gewaltsam  angreift,  wird,  wenn 
er  ihre  Verurteilung  auf  Grund  des  Art.  404  hätte  herbeiführen  können,  mit 
Ausschluss    aus    der    Gemeinde-Versammlung    (comarca)    auf    die    Dauer    von 

*)  Die  von  einer  Militärperson  verübten,  von  schweren  Folgen  nicht  begleiteten 
Misshandlungen  werden  mit  Gef.  von  3  Monaten  bis  zu  2  Jahren  bestraft,  wenn  der 
Verletzte  eine  Militärperson,  und  von  8  Monaten  bis  zu  20  Jahren,  wenn  er  der  Vor- 
gesetzte des  Thäters  ist  (Militärjustizgesetz,  Art.  100  und  102 — 105). 


570  I^ie  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


6  Monaten  bestraft.  Das  Gleiche  gilt  für  die  von  der  Ehefrau  vorgenommene 
Tötung,  wenn  der  Ehemann  mit  einer  öffentlichen  Dirne  in  der  ehelichen 
Wohnung  Ehebruch  getrieben  hatte,  ferner  für  die  Eltern  bezüglich  ihrer  noch 
nicht  21  Jahre  alten  Töchter  und  deren  Verführer,  falls  sie  nicht  selbst  die 
Verführung  begünstigt  haben  (Art.  373).  Die  für  die  Kastration  angedrohte 
Strafe  kann  nur  gemildert  werden,  wenn  der  Verletzte  sich  der  Vornahme 
unzüchtiger  Handlungen  mit  Gewalt  schuldig  gemacht  hatte.  —  Zu  beachten 
ist,  dass  wörtliche  Beleidigungen,  Schmähungen  oder  Drohungen,  welche  nicht 
die  im  Art.  366  gestellten  Bedingungen  erfüllen,  nicht  als  Provokation  im 
Sinne  des  Art.  370  anzusehen  sind.  Andererseits  bezieht  sich  aber  dieser 
Artikel  nicht  auf  den  Aszendenten-Totschlag;  in  beiden  Fällen  finden  die  Vor- 
schriften des  allgemeinen  Teils  Anwendung. 

34.  Besondere  Rechtfertigungsgründe  bei  Tötungen,  Körper- 
verletzungen und  anderen  gewaltsamen  Handlungen.  Nach  den  Vor- 
schriften der  Art.  43 — 46  liegt  eine  strafbare  Handlung  nicht  vor,  wenn  die 
Tötung,  Körperverletzung  oder  Gewalthandlung  unter  einem  der  in  Art.  41 
aufgeführten  umstände  vorgenommen  ist.  Zu  den  im  Art.  44  No.  6  erwähnten 
Fällen  gehört  auch  die  Verhinderung  eines  zur  Nachtzeit  oder  mittels  Ein- 
steigens  oder  Einbruchs  in  ein  bewohntes  Haus  oder  dessen  Nebengebäude 
versuchten  Diebstahls,  sowie  die  Verteidigung  gegen  einen  Dieb  oder  den- 
jenigen, der  mit  Gewalt  eine  Sachbeschädigung  begeht  (Art.  376 — 377).  Die 
Verteidigung  wird  jedoch  nach  den  Umständen  des  Falls  mit  leichtem  Gef. 
oder  der  Verpflichtung  zu  civilrechtlichem  Schadensersatz  bedroht,  wenn  sie 
das  zulässige  Mass  überschreitet  (Art.  378). 

35.  Bedrohung  und  Hausfriedensbruch.  Wer  mündlich  oder  schrift- 
lich einen  andern  mit  oder  ohne  Hinzufügung  einer  Bedingung  mit  der 
Begehung  eines  Verbr.  bedroht,  wird  mit  leichtem  Gef.  bis  zu  3  Monaten  und 
Geldstrafe  bis  zum  Betrag  des  Einkommens  eines  Monats  bestraft.  —  Geschieht 
die  »Bedrohung  in  der  Absicht,  den  Bedrohten  zur  Vornahme  oder  Unterlas- 
sung einer  Handlung,  zu  deren  Vornahme  oder  Unterlassung  er  gesetzlich 
nicht  verpflichtet  ist,  zu  zwingen,  so  tritt  Gef.  bis  zu  2  Monaten  ein  (Art.  379). 
Wer,  abgesehen  von  den  im  G.  vorgesehenen  Fällen,  in  die  Wohnung  eines 
andern  ohne  dessen  Einwillig^ung  eindringt,  wird  mit  Gef.  bis  zu  6  Monaten 
bestraft.  Wird  die  That  unter  Drohungen  oder  Thätlichkeiten ,  mittelst  Ein- 
steigens,  Einbruchs  oder  Anwendung  falscher  Schlüssel  begangen,  so  tritt 
leichtes  Gef.  ein;  der  Versuch  ist  strafbar.  Wer  unter  den  gleichen  Voraus- 
setzungen sich  weigert,  die  Wohnung  eines  andern  zu  verlassen,  verwirkt  Gef. 
auf  die  Dauer  von  3  Monaten,  wenn  er  keine  Gewalt  anwendet,  von  6  Monaten 
im  entgegengesetzten  Falle  (Art.  380). 

36.  Zweikampf.  Die  Herausforderung  zum  Zweikampf  wird  mit  Qef. 
von  1  bis  zu  3  Monaten  und  mit  Geldstrafe  bis  zum  Betrag  des  Einkommens 
eines  Monats  bestraft  (Art.  381).  Gleich  der  Herausforderung  wird  bestraft 
die  öffentliche  Verspottung  eines  andern  aus  dem  Grunde,  weil  derselbe  sich 
geweigert  hat,  eine  Herausforderung  zum  Zweikampf  anzunehmen  (Art.  382). 
Wer  einen  andern  antreibt,  eine  Herausforderung  anzunehmen  oder  durch 
Zufügung  einer  Beleidigung  eine  solche  hervorruft,  wird  mit  Gef.  von  1  Monat 
bis  zu  1  Jahre  und  Geldstrafe  bedroht  (Art.  383).  Wer  bei  einem  Zweikampf 
von  der  Waffe  Gebrauch  macht,  ohne  dass  es  zum  Blutvergiessen  kommt, 
verwirkt  Gefängnisstrafe  von  2  Monaten  bis  zu  1  Jahre  und  Geldstrafe  (Art.  384). 
Wer  seinen  Gegner  im  Zweikampf  tötet,  wird  mit  Gef.  von  1  bis  zu  2  Jahren 
und  der  höchsten  zulässigen  Geldstrafe  belegt;  hat  der  Zweikampf  die  Arbeits- 
unfähigkeit oder  eine  länger  als  20  Tage  dauernde  Erankheit,  sowie  den 
Verlust  eines  Gliedes  oder   eines  Organs   für   den    Verletzten   zur  Folge,    so 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  571 


beträgt  die  Strafe  Gef.  von  6  Monaten  bis  zu  2  Jahren  und  entsprechende 
Geldstrafe;  wegen  anderer  Verwundungen  wird  Gef.  und  Geldstrafe  im 
Betrage  des  Einkommens  von  3  bis  zu  18  Monaten  angedroht  (Art.  385).  Die 
Zeugen  werden,  wenn  sie  nicht  als  Thäter  oder  Teilnehmer  anzusehen  sind, 
mit  Gef.  auf  die  Dauer  von  6  Monaten  und  einer  dem  Einkommen  bis  zu 
1  Monat  entsprechenden  Geldstrafe  belegt  (Art.  386).  Die  gegen  Tötung  und 
Körperverletzung  angedrohten  Strafen  finden  Anwendung,  wenn  der  Zweikampf 
ohne  Zeugen  stattgefunden  hat,  oder  einer  der  Kämpfenden  sich  betrügerischer 
Mittel  bedient,  oder  die  hergebrachten  Regeln  überschritten  hat,  sowie  auf 
deije^^gr^i^t  ^^^  in  gewinnsüchtiger  Absicht  zum  Zweikampf  herausgefordert 
oder  zur  Annahme  der  Herausforderung  angetrieben  hat  (Art.  387). 

Ist  der  Schuldige  ein  öffentlicher  Beamter,  so  kann  gegen  ihn  auf  Amts- 
entsetzung  erkannt  werden  (Art.  388). 

37.  Sittlichkeitsdelikte. 

a)  Verletzung  der  Sittlichkeit  und  Erregung  öffentlichen  Ärger- 
nisses durch  unzüchtige  Handlungen.  Die  Erregung  öffentlichen  Ärger- 
nisses durch  Vornahme  unzüchtiger  Handlungen  wird,  wenn  die  That  durch 
öffentliche  Reden  begangen  wird,  mit  Gef.  auf  die  Dauer  von  3  Monaten  und 
einer  dem  Einkommen  bis  zu  1  Monat  entsprechenden  Geldstrafe,  wenn  sie 
durch  Veröffentlichung  von  Schriften  oder  Zeichnungen  begangen  wird  oder 
in  unzüchtigen  Handlungen  ohne  Verletzung  einer  einzelnen  Person  besteht, 
mit  Gef.  von  6  Monaten  und  Geldstrafe  in  Höhe  eines  einmonatlichen  Ein- 
kommens belegt  (Art.  420  und  390). 

b)  Vornahme  unzüchtiger  Handlungen  und  Notzucht.  Die  ge- 
waltsame Vornahme  unzüchtiger  Handlungen  an  einer  Frauensperson  wird  mit 
leichtem  Gef.  bestraft.  Die  gleiche  Strafe  findet  Anwendung,  wenn  die  That 
ohne  Gewalt,  jedoch  an  einer  noch  nicht  12  Jahre  alten  Person  begangen  ist 
(Art.  391).  Die  Verführung  einer  bereits  12,  aber  noch  nicht  18  Jahre  alten 
Jungfrau  zum  Beischlaf  wird  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  bestraft, 
ebenso  die  Erzwingung  des  Beischlafs  mit  einer  Frauensperson  ohne  Rücksicht 
auf  deren  Alter,  wenn  die  That  mit  Gewalt  unter  schweren  Drohungen  oder 
Anwendung  betrügerischer  Mittel  begangen  wurde,  oder  das  Opfer  des  Ge- 
brauchs seiner  Vernunft  beraubt  war.  Die  einfache  Notzüchtigung  einer  noch 
nicht  12  Jahre  alten  Frauensperson  wird  mit  Gef.  auf  die  Dauer  von  4  Jahren 
und  nachfolgender  8jähriger  Deportation  bestraft  (Art.  393,  394).  Die  unter 
den  in  den  vorerwähnten  Artikeln  bezeichneten  Umständen  begangene  Ent- 
führung in  unsittlicher  Absicht  wird  als  Vornahme  unzüchtiger  Handlungen 
mit  Gewalt  bestraft,  wenn  die  Vollziehung  des  Beischlafs  nicht  stattgefunden 
hat,  andernfalls  bildet  die  Entführung  einen  erschwerenden  Umstand;  ist  das 
Opfer  noch  nicht  12  Jahre  alt,  so  wird  stets  angenommen,  dass  die  Entführung 
gewaltsam  stattgefunden  hat  (Art.  395).  Die  Entführung  einer  bereits  12,  aber 
noch  nicht  18  Jahre  alten  Jungfrau  mit  deren  Einwilligung  bildet  einen  er- 
schwerenden Umstand  des  Verbr.  der  Notzucht,  wenn  die  Vollziehung  des 
Beischlafs  stattgefunden  hat,  und  wird  wie  Entführung  mit  nachfolgender  Ver- 
führung bestraft;  andernfalls  tritt  Gef.  bis  zu  1  Jahre  ein  (Art.  396  und  397). 
Die  vorerwähnten  Strafen  werden  durch  die  unmittelbar  höheren  Strafen  er- 
setzt: 1.  wenn  der  Thäter  ein  Aszendent  oder  ein  Bruder  des  Opfers,  2.  wenn 
er  dessen  Vormund,  Pfleger,  Lehrer  oder  Geistlicher,  3.  wenn  er  dessen  Haus- 
genosse oder  Verwandter  ist,  oder  auf  dasselbe  durch  seinen  Beruf  einen  be- 
sonderen Einfiuss  hatte,  4.  wenn  er  auf  das  Opfer  eine  syphilitische  oder 
venerische .  Krankheit  überträgt  (Art.  398),  —  Die  Verfolgung  dieser  Delikte 
tritt  ohne  Antrag  des  Verletzten  nur  ein  1.  wenn  das  Opfer  noch  nicht  12  Jahre 
alt  ist,    2.  wenn    die  bei  Begehung  der  That  angewendeten  Gewalthandlungen 


572  Die  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


als  Verbr.  strafbar  sind,  3.  wenn  sich  das  Opfer  in  Not  befand  (Art.  399).  — 
Wer  eine  Jungfrau  verführt  oder  genotzüchtigt  hat,  muss  sie  heiraten  oder 
ihr  eine  angemessene  Aussteuer  geben  (Art.  400). 

c)  Ehebruch.  Der  Ehebruch  der  Frau  wird  mit  Einzelhaft  von  2  bis 
zu  8  Jahren  bestraft.  Die  gleiche  Strafe  trifft  den  Mitschuldigen,  wenn  er 
wusste,  dass  die  Schuldige  verheiratet  war;  derselbe  ist  ausserdem  dem  hinter- 
gangenen  Ehemann  zum  Schadensersatz  verpflichtet;  der  Beweis  der  Schuld 
kann  nur  durch  BetreflPen  auf  frischer  That  oder  durch  Briefe  und  andere 
Schriftstücke  geführt  werden.  Die  Strafverfolgung  findet  nur  auf  Antrag  des 
verletzten  Ehegatten  statt,  derselbe  muss  gegen  beide  Schuldigen  gerichtet 
sein.  Der  Antrag  bleibt  wirkungslos,  und  das  Verfahren  wird  einstT^eilen  ein- 
gestellt, wenn  der  Ehemann  seiner  Frau  oder  ihrem  Mitschuldigen  verzeiht, 
oder  sich  mit  seiner  Frau  aussöhnt  (Art.  401  und  402).  Das  Civilurteil,  welches 
die  auf  den  Ehebruch  gestützte  Klage  abweist,  hat  auch  die  Beendigung  des 
Strafverfahrens  zur  Folge;  lautet  es  jedoch  auf  Ehescheidung,  so  wird  das 
Strafverfahren  fortgesetzt  (Art.  403).  Der  Ehemann,  der  in  der  gemeinsamen 
ehelichen  Wohnung  eine  Beischläferin  unterhält,  wird  mit  einer  dem  Einkommen 
von  3  Monaten  bis  zu  3  Jahren  entsprechenden  Geldstrafe  belegt;  die  Straf- 
verfolgung findet  nur  auf  Antrag  der  Ehefrau  und  xmter  den  Voraussetzungen 
der  Art.  401 — 403  statt.  Der  Ehemann  ist  nicht  berechtigt,  gegen  seine  Ehe- 
frau Strafantrag  zu  stellen,  wenn  er  selbst  des  Ehebruchs  überführt  wird,  oder 
seine  Frau  zur  Führung  eines  unsittlichen  Lebenswandels  veranlasst  hat  (Art.  404). 

d)  Kuppelei  (lenocinio).  Der  Aszendent,  der,  um  die  Leidenschaften 
eines  andern  zu  befriedigen,  die  Prostitution  oder  die  Verführung  seiner  Des- 
zendentin begünstigt  oder  erleichtert,  wird  mit  Gef.  von  1  bis  zu  2  Jahren, 
Geldstrafe  und  Ausschluss  von  der  Ausübung  der  politischen  Rechte  auf  die 
Dauer  von  12  Jahren  bestraft;  ist  der  Schuldige  der  Ehegatte  des  Opfers,  so 
verwirkt  er  neben  dem  Ausschluss  von  der  Ausübung  der  politischen  Rechte 
die  zeitweilige  Verweisung  aus  seinem  Aufenthaltsorte  und  eine  dem  Einkonmien 
von  3  Monaten  bis  zu  3  Jahren  entsprechende  Geldstrafe;  die  Strafe  wird  gleich- 
falls erhöht,  wenn  der  Thäter  der  Vormund  oder  Erzieher  der  verkuppelten 
Person  ist  (Art.  405).  —  Wer  den  unsittlichen  Lebenswandel  oder  die  Ver- 
führung mindeijähriger  Personen  unter  21  Jahren  gewohnheitsmässig  begünstigt 
oder  erleichtert,  wird  mit  Gef.  von  3  Monaten  bis  zu  1  Jahre,  Geldstrafe  und 
Ausschluss  von  der  Ausübung  politischer  Rechte  auf  die  Dauer  v'on  5  Jahren 
bestraft  (Art.  406). 

38,  Verbreitung  falscher  Thatsachen,  Verleumdung  und  Be- 
leidigung. —  Pressdelikte.  Die  öffentliche,  mündliche  oder  schriftliche 
Verbreitung  beleidigender  Thatsachen,  als  welche  auch  schon  die  einfache 
Weitererzählung  einer  für  den  Betroffenen  ehrenrührigen  Behauptung  angesehen 
wird,  ist  mit  Gef.  auf  die  Dauer  von  4  Monaten  und  einer  dem  Einkommen 
von  1  Monat  entsprechenden  Geldstrafe  bedroht  (Art.  407).  Der  Beweis  der 
Wahrheit  der  behaupteten  Thatsachen  wird  nur  zugelassen,  wenn  es  sich  um  Be- 
hauptungen handelt,  welche  gegen  einen  öffentlichen  Beamten  gerichtet  sind  und 
sich  auf  die  Ausübung  seines  Amtes  beziehen,  oder  wenn  sie  ^gegen  eine  Privat- 
person gerichtet  sind,  die  wegen  einer  strafbaren  Handlung  unter  Anklage 
gestellt,  aber  noch  nicht  rechtskräftig  verurteilt  ist  (Art.  408).  Die  öffentliche 
Beleidigung  zieht  Gef.  auf  die  Dauer  von  2  Monaten  und  Geldstrafe  bis  zum 
Betrage  eines  Monatseinkommens  nach  sich;  der  Beweis  der  Wahrheit  der  be- 
haupteten Thatsachen  ist  unzulässig  (Art.  410).  Die  Beleidigung  der  gesetz- 
gebenden Kammer  wird  mit  Gef.  bis  zu  6  Monaten  bestraft  (Art.  411).  War 
die  Beleidigung  nicht  öffentlich,  so  beträgt  das  Mindestmass  der  Strafe  2  Mo- 
nate (Art.  412).     Öffentliche  Thätlichkeit   in  Beleidigungsabsicht  wird    mit  der 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  573 


erschwerten  Strafe  der  Verbreitung  falscher  Thatsachen  bedroht,  falls  nicht 
nach  allgemeinen  Regeln  eine  schwerere  Strafe  verwirkt  ist  (Art.  413).  Die 
Beleidigung  eines  ehelichen  Aszendenten  oder  Deszendenten  hat  stets  die  Ver- 
urteilung zur  höchsten  zulässigen  Strafe  zur  Folge  (Art.  415).  Die  Strafver- 
folgung tritt  nur  auf  Antrag  des  Beleidigten  ein,  wenn  nicht  das  Delikt  in 
Gegenwart  eines  öffentlichen  Beamten,  eines  in  Ausübung  seiner  Funktionen 
befindlichen  Geistlichen  oder  in  einem  zum  öffentlichen  Dienst  oder  zum  Gottes- 
dienst bestimmten  Gebäude  oder  im  königlichen  Schlosse  begangen  wurde 
(Art.  416).  Richtete  sich  die  Beleidigung  gegen  das  Andenken  eines  Veratorbenen, 
so  sind  die  Aszendenten,  Deszendenten,  der  Ehegatte,  sowie  die  Erben  zur 
Stellung  des  Antrages  berechtigt  (Art.  417).  Bittet  der  Thäter  den  Beleidigten 
in  öffentlicher  Gerichtssitzung  um  Verzeihung,  so  bleibt  er  straflos,  wenn 
Letzterer  sich  damit  einverstanden  erklärt  (Art.  418).  Die  in  einer  vor  Gericht 
gehaltenen  Rede  oder  durch  Vorlage  von  Schriften  verleumderischen  oder  be- 
leidigenden Inhalts  vor  Gericht  begangene  Beleidigung  zieht  für  den  Anwalt 
oder  Sachwalter,  welcher  sich  derselben  schuldig  gemacht  hat,  die  Amtsent- 
hebung auf  die  Dauer  bis  zu  6  Monaten  nach  sich;  das  Gericht  ist  befugt,  die 
Unterdrückung  der  beleidigenden  Abschnitte  anzuordnen  (Art.  419). 

Die  Pressfreiheit  wird  geregelt  durch  das  G.  vom  17.  Mai  1866,  die 
Vdg.  vom  29.  März  1890  und  das  G.  vom  12.  August  1890.  Zur  Herausgabe 
einer  Zeitung  bedarf  es  keiner  besonderen  obrigkeitlichen  Erlaubnis;  es  genügt, 
diiss  der  Herausgeber  eine  Woche  vor  Beginn  der  Veröffentlichung  der  Ver- 
waltungsbehörde und  der  Staatsanwaltschaft  nachweist,  dass  er  im  Besitze  der 
bürgerlichen  Ehrenrechte  ist,  und  seinen  Wohnsitz  in  dem  Bezirk  hat,  in 
welchem  die  Veröffentlichung  stattfinden  soll.  Die  Verantwortlichkeit  für  den 
Inhalt  einer  Druckschrift  trifft  der  Reihe  nach:  den  Verfasser,  den  Herausgeber, 
den  Eigentümer  des  zur  Herstellung  verwendeten  Materials,  den  Verkäufer  und 
denjenigen,  der  die  Druckschrift  öffentlich  anheftet  oder  aushängt.  Der  Eigen- 
tümer des  Materials  haftet  stets  für  die  verwirkten  Geldstrafen.  Der  Heraus- 
geber ist  verpflichtet,  das  wegen  des  Inhalts  der  Druckschrift  ergangene  Straf- 
urteil zu  veröffentlichen  und  kann  mit  der  zeitigen  oder  dauernden  Unter- 
drückung der  Druckschrift  bestraft  werden. 

Versammlungen,  die  zum  öffentlichen  Gedankenaustausch  bestimmt  sind, 
müssen  von  der  Polizei  24  Stunden  vor  Beginn  genehmigt  werden;  die  Polizei 
kann  verlangen,  dass  die  Einberufer  die  Verantwortlichkeit  für  die  erfolgende 
Störung  der  öffentlichen  Ordnung  übernehmen  und  Sicherheit  für  die  etwa  zu 
erkennenden  Geldstrafen  hinterlegen;  jedoch  bleibt  trotz  dieser  Massregeln 
der  Polizei  das  Recht,  die  Versammlung  aufzulösen,  wenn  Unordnung  entsteht. 

Theatralische  Veranstaltungen  können  untersagt  werden,  wenn  sie  die 
öffentliche  Sittlichkeit  gefährden  oder  Beleidigungen  gegen  Behörden  oder 
Privatpersonen  enthalten.  Den  Verfassern  der  aufgeführten  Stücke  ist  jedoch 
gestattet,  sich  durch  Unterwerfung  unter  eine  vorherige  Censur  vor  dem  Auf- 
führungsverbot zu  sichern. 

Titel  V. 

39.  Diebstahl  und  unbefugte  Inbesitznahme  von  Grundstücken. 
Die  strafbare  Entwendung  von  beweglichen  Sachen  (furto)  wird,  je  nach  dem 
Wert  des  gestohlenen  Gegenstandes,  mit  Gef.  auf  die  Dauer  von  6  Monaten 
und  Geldstrafe,  mit  2jährigem  Gef.  und  einer  dem  Einkommen  von  6  Monaten 
entsprechenden  Geldstrafe,  mit  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren  und  einer  dem 
Einkommen  von  1  Jahre  entsprechenden  Geldstrafe  bedroht;  der  Versuch  ist 
strafbar.  —  Gleiche  Strafen  treffen  den  Eigentümer,  welcher  in  betrügerischer 
Absicht   eine   durch  Vertrag  oder  Richterspruch  ihm  gehörige,  den  Gegenstand 


574  ^e  iberische  Halbinsel.  —  PoitngaL 


einer  VerpHindiing  oder  eines  Deposinuns  bildende  bewegliche  Sache  sich  an- 
eignet oder  zerstört  (Art  422).  Wer  eine  fremde  Sache  findet,  hat  die  für 
den  Diebstahl  angedrohten  Strafen,  jedoch  in  gemilderter  Form  verwirkt,  wenn 
er  in  betrügerischer  Absicht  es  nnterU&sst,  diese  dem  Eigentümer  zurück- 
zugeben^  oder  die  gesetzlich  vorgeschriebenen  Schritte  za  thnn,  am  denselben 
von  der  Anffindimg  in  Kenntnis  zn  setzen  (Art.  423).  Der  Diebstahl  oder  die 
Zerstdrong  von  Prozessakten,  Registern  oder  Urkunden  wird  mit  Einzelhaft 
von  2  bis  za  8  Jahren  nnd  Geldstrafe  belegt;  der  Umstand,  dass  diese  Gegen- 
stände an  einem  öffentlichen  Verwahrongsorte  niedei^elegt,  oder  for  einen 
solchen  bestimmt  waren,  wirkt  erschwerend.  Dienstboten,  welche  ihrer  Dienst- 
herrschaft gehörige  oder  in  dem  von  ihnen  bewohnten  Hanse  befindliche,  einem 
Dritten  gehörige  Gegenstände  entwenden;  Lohndiener  and  Arbeiter  jeder  Art, 
die  am  Orte  der  That  regelmässig  beschäftigt  sind;  Gastwirte  and  ihre  Aaf- 
traggeber,  Schiffer,  Führer  von  Fahrwerken  oder  ihre  Aaftraggeber,  welche 
eine  ihnen  anvertraate  Sache  stehlen,  werden,  je  nach  dem  Wert  des  gestohlenen 
Gegenstandes  mit  Gref.  anf  die  Daaer  von  6  Monaten  and  Geldstrafe,  mit  Gef. 
aaf  die  Daaer  von  2  Jahren  and  einer  dem  Einkommen  von  6  Monaten  ent- 
sprechenden Geldstrafe  oder  mit  Einzelhaft  von  2  bis  za  8  Jahren  and  Greld- 
strafe  belegt  (Art.  424  and  425).  Schwerer  Diebstahl  liegt  vor:  1.  wenn  der 
Thäter  Waffen  bei  sich  führte;  2.  wenn  die  That  begangen  warde  an  einem 
einsamen  Orte  oder  zur  Nachtzeit;  oder  3.  wenn  der  Diebstahl  begangen  wurde 
von  zwei  oder  mehr  Personen;  oder  4.  in  einem  bewohnten  oder  zam  Bewohnen 
bestimmten  Gebäade,  in  einem  öffentlichen  oder  zam  Gottesdienst  bestimmten 
Gebäade  oder  aaf  einem  Kirchhofe;  5.  wenn  Gegenstände  während  des  Trans- 
ports aaf  einer  öffentlichen  Strasse  gestohlen  warden;  6.  wenn  der  Thäter  sich 
den  Titel  eines  öffentlichen  Beamten  beigelegt  oder  die  Uniform  eines  solchen 
angelegt  hatte;  7.  wenn  der  Diebstahl  mittelst  Einsteigens,  Erbrechens  von 
Behältnissen  oder  Anwendang  falscher  Schlüssel  in  einem  anbewohnten  Ge- 
bäade begangen  warde  (Art.  426).*) 

Die  im  Art.  426  erwähnten  Umstände  führen  die  Verschärfung  der  Strafe 
herbei,  lassen  jedoch  die  Wirkang  der  anderen  erschwerenden  Umstände  an- 
berührt (Art.  429).  —  Bei  allen  Diebstählen  findet,  wenn  der  Thäter  nicht 
Gewohnheitsverbrecher  ist,  die  Strafverfolgung  nur  auf  Antrag  des  Bestohlenen 
statt,  wenn  der  Wert  des  entwendeten  Gegenstandes  anter  500  Reis  beträgt; 
das  Gleiche  gilt  von  der  Entwendang  von  Früchten  zum  alsbaldigen  Verbrauch, 
die  mit  der  Strafe  des  Verweises  bedroht  ist  (Mundraub).  Wer  ein  fremdes 
Grundstück  betritt,  um  noch  nicht  abgeerntete  Früchte  za  entwenden,  ver- 
wirkt Gef.  bis  zu  6  Tagen,  wenn  der  Verletzte  Bestrafung  beantragt.  Indessen 
tritt  in  diesen  beiden  letzteren  Fällen   leichte  Gefängnisstrafe   ein,    wenn   der 


*)  Als  falscher  Schlüssel  gilt  nicht  nur  der  nachgemachte  oder  nachgeahmte, 
sondern  auch  der  rechte  Schlüssel,  der  durch  Zufall  oder  infolge  einer  List  sich  nicht 
in  Händen  des  Eigentümers  befindet,  femer  ein  Dietrich  oder  jedes  andere  zur  Er- 
öffnung eines  Schlosses  geeignete  Instrument.  —  Erbrechen  von  Behältnissen  wird  auch 
dann  als  vorliegend  angenommen,  wenn  der  erbrochene  Gegenstand  erst  ausserhalb 
des  Ortes,  an  welchem  er  sich  befand,  geöfinet  oder  erbrochen  ist  (Art.  442).  —  Wer 
sich  im  Besitz  von  Dietrichen  oder  anderen  zur  Eröffnung  von  Schlössern  geeigneten 
Instrumenten  betreffen  lässt,  wird  mit  Gef.  von  8  Monaten  und  einer  dem  Einkommen 
von  1  Monat  entsprechenden  Geldstrafe  belegt;  der  Gebrauch  dieser  Instrumente  in 
der  Absicht  Schaden  zuzufügen  zieht  leichtes  Gef.  auf  die  Dauer  von  1  Jahr  und 
Geldstrafe  bis  zum  Betrage  des  Einkommens  eines  Monats  nach  sich;  die  Anfertigung 
derartiger  Instrumente,  sowie  die  Nachmachung  und  Unbrauchbarmachung  von  Schlüs- 
seln wird  mit  leichtem  Gef.  nicht  unter  1  Jahr  und  Geldstrafe  bis  zum  Betrage  des 
Einkommens  von  6  Monaten  bestraft;  die  letztere  Strafe  wird  bis  zum  Höchstmass 
der  leichten  Gefängnisstrafe  erhöht,  wenn  der  Schuldige  Schlosser  von  Beruf  ist  (Art. 
443  und  444). 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  575 


Thäter  gewohnheitsmässiger  Dieb  ist  (Art.  430).  Der  unter  Ehegatten,  sowie 
der  von  einem  Aszendenten  zum  Nachteil  seines  Deszendenten  verübte  Dieb- 
stahl bleibt  straflos.  Ist  der  Bestohlene  der  Aszendent,  Bruder,  Schwager, 
Schwiegersohn,  Schwiegervater,  Vormund  oder  Dienstherr  des  Thäters,  so  findet  die 
Strafverfolgung  nur  auf  Antrag  statt,  dessen  Zurücknahme  zulässig  ist  (Art.  431). 
—  Gewaltsame  Handlungen  xmd  Drohungen  (roubo)  bilden  erschwerende  Um- 
stände. —  War  das  Haus,  in  welches  der  Thäter  mittelst  Einbruchs,  Einsteigens 
oder  falscher  Schlüssel  eingedrungen  ist,  zur  Zeit  der  Ausführung  des  Dieb- 
stahls bewohnt,  so  wird  der  Diebstahl  zugleich  als  Vornahme  gewaltsamer 
Handlungen  gegen  die  betreffende  Person  angesehen  (Art.  432). 

Trifft  ein  vollendeter  oder  versuchter  Diebstahl  mit  einer  Tötung  zusam- 
men, so  beträgt  die  Strafe  Einzelhaft  auf  die  Dauer  von  8  Jahren  mit  nach- 
folgender 20jähriger  Deportation  und  Einsperrung  am  Verbannungsorte  (Art. 
433);  trifft  Diebstahl  mit  Freiheitsberaubung,  Notzucht  oder  einer  der  im  Art. 
361  aufgeführten  Gewalthandlungen  zusammen,  so  beträgt  die  Strafe  6jährige 
Einzelhaft  mit  nachfolgender  lOjähriger  Deportation.  —  Mit  Einzelhaft  nicht 
unter  5  Jahren  und  4  Monaten  wird  der  Diebstahl  bestraft,  wenn  er  an  einem 
einsamen  Orte  von  mehreren  bewaffneten  Personen  begangen  ist,  und  die  von 
diesen  dem  Bestohlenen  zug-efügten  Gewalthandlungen  eine  Verwundung,  Be- 
schädigung oder  irgend  welches  Schmerzgefühl  für  denselben  zur  Folge  ge, 
habt  haben.  Der  unter  gleichen  Umständen  versuchte  Diebstahl  wird  bestraft- 
als  wenn  ein  vollendeter  Diebstahl  mit  mildernden  Umständen  vorläge  (Art. 
434).  Die  Strafe  beträgt  Einzelhaft  von  2  bis  zu  8  Jahren,  wenn  der  Dieb- 
stahl an  einem  verlassenen  Orte  durch  eine  bewaffnete  Person  begangen  ist, 
oder  wenn  derselbe  zwar  von  zwei  oder  mehr  Personen  begangen  ist,  aber 
nicht  den  Thatbestand  des  Art.  434  erfüllt  (Art.  435).  —  Derjenige,  welcher 
die  Mittbäter  vereinigt  oder  verleitet,  ihnen  Instruktionen  erteilt  oder  die  Aus- 
führung der  That  geleitet  hat,  wird  mit  einer  Strafe  belegt,  die,  je  nach  den 
Umständen  des  Falls,  zwischen  Gef.  von  5  Jahren  und  4  Monaten  und  Einzel- 
haft von  8  Jahren  mit  nachfolgender  20jähriger  Deportation  mit  oder  ohne 
Einsperrung  am  Verbannungsorie  schwankt  (Art.  436).  Strafmilderung  tritt  ein, 
wenn  der  Thäter  der  Gläubiger  des  Bestohlenen  war,  und  die  That  begangen 
hat,  um  seine  Forderung  einzutreiben  (Art.  439).  Wer  mittels  Gewalt  oder 
Drohungen  einen  andern  zur  Unterzeichnung  eines  Schuldscheines  oder  einer 
Quittung  zwingt,  wird  mit  der  Strafe  des  gewaltsamen  Diebstahls  (roubo)  be- 
legt (Art.  440).  —  Der  Diebstahl  von  zum  Gottesdienst  bestimmten  Gegen- 
ständen aus  einem  dem  gleichen  Zwecke  dienenden  Gebäude  während  der 
Vornahme  einer  gottesdienstlichen  Handlung  zieht  Erhöhung  der  Strafe  auf 
das  Höchstmass  nach  sich  (Art.  441). 

Wer  mittels  Gewalt  oder  Drohungen  ein  Grundstück,  an  welchem  er 
ungerechtfertigter  Weise  ein  Eigentums-,  Gebrauchs-  oder  Besitzrecht  zu  haben 
behauptet,  in  Besitz  nimmt,  wird  mit  leichtem  Gef.  bestraft  (Art.  445).  —  Die 
Entfernung,  Versetzung  oder  Unkenntlichmachung  von  Grenzzeichen  ohne  ge- 
richtliche Erlaubnis  und  Einwilligung  des  Eigentümers  wird  mit  Gef.  von 
1  Monat  bis  zu  1  Jahre  und  entsprechender  Geldstrafe  belegt  (Art.  446).^) 

40.  Bankerutt,  Benachteiligung  von  Gläubigern  und  Betrug 
(burla).  Der  betrügerische  Bankerutt  im  Sinne  des  Handelsgesetzbuches  wird 
mit  Einzelhaft  auf  die  Dauer  von  4  Jahren  nebst  nachfolgender  8jähriger 
Deportation  bestraft;  der  einfache,  sowie  der  durch  Fahrlässigkeit  herbei- 
geführte zieht  leichtes  Gef.  nach  sich;  die  gleiche  Strafe  trifft  den  Teilnehmer 
(Art.  447  und  448).  —  Der  Nichtkaufmann ,  welcher  seine  Zahlungen  einstellt 


i)  Vgl.  Militärjustizgesetz,  Art.  108—118. 


576  I^ie  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


und  Vermögensstücke  in  betrügerischer  Absicht  verheimlicht  oder  veräussert, 
wird  mit  Gef.  von  3  Monaten  bis  zu  2  Jahren  bestraft  (Art.  449).  —  Mit  leich- 
tem Gef.  nicht  unter  6  Monate  mit  oder  ohne  Geldstrafe  und  Ausschluss  von 
der  Ausübung  der  politischen  Rechte  auf  die  Dauer  von  2  Jahren  wird 
bestraft:  1.  wer  eine  Sache,  als  deren  Eigentümer  er  sich  ausgiebt,  veräussert, 
vermietet  oder  verpfändet;  2.  wer  eine  bewegliche  oder  unbewegliche  Sache 
an  zwei  verschiedene  Personen  verkauft;  3.  wer  einen  Gegenstand  für  zwei 
Forderungen  gleichzeitig  verpfändet,  wissend,  dass  der  Wert  desselben  nicht 
ausreicht,  um  beide  Forderungen  zu  decken;  4.  wer  eine  verpfändete  Sache 
in  betrügerischer  Absicht  als  pfandfrei  veräussert  (Art.  450).  Gleich  einem 
Diebe  wird,  je  nach  dem  Werte  des  Gegenstandes  oder  des  entstandenen  Scha- 
dens, bestraft,  wer  sich  Geld,  Schuldverschreibungen  oder  bewegliche  Gegen- 
stände aushändigen  lässt  1.  unter  Angabe  eines  falschen  Namens  oder  Bei- 
legung einer  falschen  Eigenschaft,  2.  auf  Grund  gefälschter  Urkunden,  3.  unter 
betrügerischer  Vorspiegelung  eines  nicht  vorhandenen  Unternehmens  oder  des 
nichtvorhandenen  Besitzes  von  Vermögensstücken  oder  Forderungen  oder  unter 
Benutzung  der  Hoffnung  auf  einen  zukünftigen  möglichen  Gewinn  (Art.  451). 
—  Wer  sich  zur  Abwickelung  eines  Geschäfts  einen  Gegenstand  oder  ein 
Versprechen  geben  lässt  unter  der  Vorspiegelung^  er  habe  Kredit  oder  mittel- 
baren oder  unmittelbaren  Einfluss  bei  einer  Behörde,  oder  er  müsse  einem 
öffentlichen  Beamten  eine  Belohnung  zukommen  lassen,  wird  mit  dem  zuläs- 
sigen Höchstmass  der  leichten  Gefängnisstrafe  und  einer  dem  Einkommen  bis 
zu  1  Jahr  entsprechenden  Geldstrafe  belegt,  abgesehen  von  der  wegen  Belei- 
digung etwa  verwirkten  Strafe  (Art.  452). 

41,  Vertrauensmissbrauch,  Vorspiegelung  falscher  Thatsachen 
und  andere  betrügerische  Handlungen.  Mit  der  Diebstahlsstrafe  wird 
belegt,  wer  Geld,  Schuldverschreibungen  oder  bewegliche  Sachen,  welche  ihm 
in  Verwahrung,  zur  Miete,  in  Kommission,  zur  Verwaltung,  leihweise  oder  zu 
irgend  einem  andern  bestimmten  Zwecke  mit  der  Verpflichtung  zur  Rückgabe, 
sei  es  der  Sachen  selbst  oder  ihres  Wertes,  gegeben  sind,  unterschlägt  oder 
für  sich  verwendet  (Art.  453).  —  Wer  unter  Benutzung  der  Notlage  oder  der 
Leidenschaften  eines  unter  Gewalt  stehenden  Minderjährigen  oder  entmündigten 
Verschwenders  einen  solchen  veranlasst,  eine  Verpfändung  von  Geld  oder 
beweglichen  Gegenständen  vorzunehmen,  oder  mittels  irgend  eines  anderen 
Scheinvertrages  mündliche  oder  schriftliche  Verbindlichkeiten  einzugehen  oder 
einem  Dritten  Rechte  irgend  welcher  Art  zu  übertragen,  wird  mit  leichtem 
Gef.  und  Geldstrafe  belegt  (Art.  454).  —  Die  Vorspiegelung  falscher  That- 
sachen zum  Nachteil  eines  Dritten  oder  des  Staates  wird  mit  Gef.  von  1  Monat 
bis  zu  2  Jahren  und  Geldstrafe  von  50  000 — 300  000  Reis ,  welche  von  allen 
dabei  Beteiligten  gemeinschaftlich  zu  tragen  ist,  bestraft  (Art.  455).  Gef.  von 
1  Monat  bis  zu  1  Jahre  und  Geldstrafe  verwirkt  1.  wer  einen  Käufer  über  die 
Beschaffenheit  der  ihm  verkauften  Ware  täuscht;  2.  wer  Waren  oder  Nah- 
rungs-  und  Genussmittel  verkauft,  die  in  der  Absicht,  ihr  Gewicht  oder  ihren 
Umfang  zu  vermehren,  verfälscht  oder  nachgemacht  sind,  selbst  wenn  sie 
nicht  gesundheitsschädlich  sind;  3.  wer  in  der  gleichen  Absicht  falsches  Mass 
oder  falsche  Gewichte  anwendet.  —  Die  Strafe  wird  verschärft,  wenn  der 
Thäter  ein  Juwelier  ist.  —  Die  einfache  Führung  falscher  Gewichte  oder 
Masse  wird  mit  Geldstrafe  von  1000—5000  Reis  bedroht;  falsch  sind  alle 
Gewichte  und  Masse,  die  nicht  ausdrücklich  gesetzlich  zugelassen  sind 
(Art.  456).  Der  in  Widerspruch  mit  den  über  das  Eigentumsrecht  an  litte- 
rarischen oder  künstlerischen  Werken  erlassenen  Gesetzen  oder  Bestimmungen  vor- 
genommene Nachdruck  oder  die  Nachahmung  von  solchen  wird  mit  Geldstrafe 
von  30  000 — 300  000  Reis  bedroht  und  zieht  den  Verlust  der  nachgedruckten 


§  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  577 


bezw.  nachgeahmten  Werke,  sowie  der  zur  Herstellung  benutzten  Maschinen 
usw.  nach  sich.  Die  gleiche  Bestimmung  greift  Platz,  wenn  ein  in  Portugal 
verfertigtes,  im  Auslande  nachgedrucktes  oder  nachgeahmtes  Werk  in  das 
Gebiet  des  Königreichs  eingeführt  ist.  Die  Ausstellung  eines  derartigen  Wer- 
kes zum  Verkauf  wird  mit  Geldstrafe  von  10000 — 100000  Reis  bedroht. 
Die  gleiche  Strafe  findet  auf  die  ungesetzliche  Aufführung  eines  dramatischen 
oder  musikalischen  Werkes  Anwendung  (Art.  458).  Die  betrügerische  Ver- 
letzung der  Rechte  eines  Erfinders  wird  mit  Geldstrafe  von  50  000 — 300  000 
Reis  und  Verlust  der  zur  Herstellung  benutzten  Instrumente  bedroht  (Art.  459). 
—  In  allen  diesen  Fällen  werden  die  eingezogenen  Gegenstände  dem  Ver- 
letzten als  Entschädigung  ausgeliefert,  ohne  dass  dies  jedoch  auf  die  Civil- 
klage  Einfluss  hat  (Art.  460). 

42.  Verletzung  von  Geheimnissen.  Wer  in  böswilliger  Absicht  einen 
ihm  nicht  gehörigen  Brief  oder  ein  anderes  verschlossenes  Schriftstück  öflFhet, 
wird  mit  1  Jahr  Gef.  und  einer  Geldstrafe  bis  zum  Betrage  des  Einkommens 
von  3  Monaten  bestraft,  wenn  er  vom  Inhalt  der  Schriftstücke  Kenntnis  genom- 
men und  denselben  weiu^r  verbreitet  hat;  mit  Gef.  bis  zu  6  Monaten,  wenn 
er  ihn  nicht  weiter  verbreitet,  mit  Gef.  bis  zu  3  Monaten,  wenn  er  vom  Inhalt 
keine  Kenntnis  genommen  hat.  Diese  S  traf  bestimmun  g  findet  jedoch  keine 
Anwendung  auf  Ehemänner,  Eltern  und  Vormünder  bezüglich  der  für  ihre 
Ehefrauen,  Kinder  oder  Mündel  bestimmten  Briefe.  Andererseits  wird  die 
Strafe  erhöht,  wenn  der  Schuldige  der  Dienstbote  oder  Verwalter  des  Ver- 
letzten ist,  oder  wenn  es  sich  um  Schriftstücke  einer  Verwaltungsbehörde  oder 
eines  Gerichts  handelt  (Art.  461).  —  Jede  in  einem  Geschäft  oder  einer  Fabrik 
als  Direktor  angestellte  oder  als  Arbeiter  beschäftigte  Person,  welche  zum 
Nachteil  des  Eigentümers  Betriebs-  oder  Fabrikgeheimnisse  veröfl'entlicht,  ver- 
wirkt Gef.  von  3  Monaten  bis  zu  2  Jahren  und  Geldstrafe  (Art.  462). 

43.  Brandstiftung  und  Sachbeschädigung.  Mit  Einzelhaft  von 
8  Jahren  und  nachfolgender  Deportation  von  12  Jahren  wird  bestraft,  wer 
vorsätzlich  ganz  oder  teilweise  in  Brand  setzt  oder  zerstört:  1.  ein  Fabrik- 
gebäude oder  ein  dem  Staate  gehöriges  Gebäude  oder  Bauwerk;  2.  ein  bewohntes 
Gebäude;  3.  ein  gesetzlich  zur  Versammlung  der  Bürger  bestimmtes  Gebäude; 
4.  ein  zum  Bewohnen  bestimmtes  und  in  bewohnter  Gegend  belogenes  Gebäude; 
als  Ort,  der  zum  Bewohnen  bestimmt  ist,  werden  auch  die  Wagen  eines  in 
Bewegung  befindlichen  oder  zum  Abfahren  bereiten  Eisenbahnzuges  angesehen, 
selbst  wenn  einzelne  Wagen  des  Zuges  leer  sind  (Art.  463).  Die  Strafe  beträgt 
4jährige  Einzelhaft  mit  nachfolgender  Sjähriger  Deportation,  wenn  der  Gegen- 
stand der  That  ist:  1.  ein  Schiff,  ein  Magazin  oder  irgend  ein  zum  Bewohnen 
bestimmtes  Gebäude;  2.  Getreide- Vorräte,  Waldungen,  Gehölz  oder  Weinberge 
(Art.  464).  Hat  die  Brandstiftung  den  Tod  einer  Person  herbeigeführt,  die 
sich  im  Augenblick  der  Begehung  der  That  am  Orte  derselben  befand,  so 
beträgt  die  Strafe  Einzelhaft  auf  die  Dauer  von  8  Jahren  mit  nachfolgender 
20jähriger  Deportation  mit  oder  ohne  Einsperrung  am  Verbannungsorte  (Art.  466). 
War  der  Thäter  der  Eigentümer  des  in  Brand  gesetzten  Gegenstandes,  so 
wird  er,  wenn  es  sich  um  ein  bewohntes  Gebäude  handelt,  nach  Art.  463, 
andernfalls,  vorausgesetzt,  dass  er  die  Absicht  gehabt  hat,  einen  andern  zu 
schädigen,  nach  Art.  464  bestraft.  Wurde  die  That  begangen,  um  die  Schadens- 
ersatzpfiicht  eines  Dritten  zu  begründen  oder  einen  andern  eines  ihm  zustehen- 
den Rechtes  zu  berauben,  so  tritt  Gef.  von  1  bis  zu  2  Jahren  und  entsprechende 
Geldstrafe  ein  (Art.  468).  Abgesehen  von  den  in  den  Art.  463  und  469  vor- 
gesehenen Fällen  wird  im  allgemeinen  die  vorsätzliche  Brandstiftung  mit  den 
für  die  Sachbeschädigung  unter  erschwerenden  Umständen  angedrohten  Strafen 
belegt  (Art.  470).     Die   vorstehenden  Bestimmungen   finden  auch  Anwendung 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.  I.  37 


578  I^ie  iberische  Halbinsel.  —  Portugal. 


auf  das   Versinkenlassen   von   Schiffen,    die   Herbeiführung   einer   Strandung, 
sowie  der  Explosion  einer  Mine  oder  einer  Dampfmaschine  (Art.  471). 

Die  ohne  böswillige  Absicht  begangene  Brandstiftung  wii'd,  wenn  sie 
einen  Schaden  verursacht  hat,  mit  einer  dem  Einkommen  eines  Monats  ent- 
sprechenden Geldstrafe  belegt,  vorausgesetzt,  dass  sie  auf  der  Nichtbeachtung 
einer  reglementarischen  Vorschrift  beruht  (Art.  482). 

Die  durch  Zerstörung  eines  Grebäudes  verübte  Sachbeschädigung  wird  mit 
Strafe  bedroht,  die  je  nach  der  Höhe  des  verursachten  Schadens  zwischen  Gef. 
auf  die  Dauer  von  3  Monaten  und  einer  dem  Einkommen  von  2  Wochen  ent- 
sprechenden Geldstrafe  einerseits  und  leichtem  Gef.  auf  die  Dauer  von  2  Jahren 
und  einer  dem  Einkommen  von  6  Monaten  entsprechenden  Geldstrafe  anderer- 
seits schwankt.  —  Übersteigt  der  verursachte  Schaden  nicht  die  Sunmie  von 
500  Reis,  so  tritt  die  Strafverfolgung  nur  auf  Antrag  des  Verletzten  ein. 

Wer  vorsätzlich  eine  Eisenbahnlinie  beschädigt,  oder  einen  Eisenbahn- 
transport gefährdet,  wird  mit  Einzelhaft  auf  die  Dauer  von  2  bis  zu  8  Jahren, 
und  wenn  die  That  den  Tod  eines  Menschen  zur  Folge  gehabt  hat,  auf  die 
Dauer  von  8  Jahren  mit  nachfolgender  20jähriger  Deportation  mit  oder  ohne 
Einsperrung  am  Verbannungsorte  bestraft;  ist  infolge  der  That  eine  Körper- 
verletzung oder  Krankheit  (Art.  360  und  361)  eingetreten,  so  wird  die  Strafe 
entsprechend  abgeändert.  Das  StGB,  bestraft  femer  die  Zerstörung  von 
Telegraphen-  und  Telephon-Anlagen,  sowie  die  Widersetzung  gegen  die 
Anbringung  von  solchen  (Art.  472).  —  Die  Zerstörung  oder  Beschädigung 
eines  Denkmals  oder  eines  andern  zum  öffentlichen  Schmuck  dienenden  Gegen- 
standes wird  mit  Gef.  von  2  Monaten  bis  zu  2  Jahren  und  entsprechender 
Geldstrafe  bedroht  (Art.  474).  Die  Zerstörung  von  Emtevorräten,  Weinbergen, 
Pflanzungen,  Schonungen,  Saaten  wird,  wenn  sie  vorsätzlich  und  mit  Gewalt 
oder  unter  Erregung  von  Lärm  oder  mittels  schädlicher  Substanzen  begangen  ist, 
mit  Einzelhaft  auf  die  Dauer  von  2  bis  zu  8  Jahren  bestraft  (Art.  478).  Die  vor- 
sätzliche Tötung  oder  Beschädigung  eines  einem  andern  gehörigen  Haustieres  wird 
mit  Gef.  von  1  Monat  bis  zu  1  Jahre  oder  entsprechender  Geldstrafe  belegt  (Art. 
479  und  480).  Jede  in  vorstehendem  noch  nicht  erwähnte,  zum  Nachteil  eines 
andern  begangene  Sachbeschädigung  wird  mit  Gef.  auf  die  Dauer  von  6  Monaten 
und  der  höchsten  zulässigen  Geldstrafe,  und,  wenn  keine  erschwerenden  Umstände 
vorliegen,  nur  mit  einer  dem  Einkommen  eines  Monats  entsprechenden  Geldstrafe 
belegt,  wenn  der  Beschädigte  Strafantrag  stellt  und  nicht  eine  Überti*etung  vor^ 
liegt  (Art.  481). 

Titel  VI. 

44.  öffentliche  Aufforderung  zur  Begehung  einer  strafbaren 
Handlung.  Wer  durch  öffentliche  Reden  oder  öffentliche  Verbreitung  von 
Schriften  oder  in  irgend  einer  anderen  Weise  öffentlich  zur  Begehung  einer 
bestimmten  strafbaren  Handlung  auffordert,  wird,  wenn  die  Aufforderung  ohne 
Erfolg  geblieben  ist,  mit  Gef.  von  3  Monaten  bis  zu  3  Jahren  und  Geldstrafe, 
und,  wenn  sie  Erfolg  gehabt  hat,  mit  der  für  den  Gehülfen  des  begangenen 
Verbr.  angedrohten  Strafe  belegt  (Art.  483). 

Titel  VII. 

Übertretungen.  In  Beziehung  auf  die  Übertretungen  gelten  die  Gesetze 
und  Vdgn.  der  Vervvaltungs-  und  Polizei-Behörden,  welche  das  StGB,  in  Geltung 
gelassen  hat.  Die  Vdgn.  können,  wenn  nicht  das  G.  ausdrücklich  das  Gegenteil 
bestimmt,  keine  höherere  Strafe  als  Gef.  von  1  Monat  und  Geldstrafe  von  20000 
Reis  androhen.  Die  Einziehung  der  im  Augenblick  der  Begehung  der  Über- 
tretung beschlagnahmten  Gegenstände  und  Werkzeuge  kann  nur  in  den  vom 
G.  besonders  vorgesehenen  Fällen  angeordnet  werden  (Art.  484 — 486). 


X. 


DIE  ITALIENISCHE  HALBINSEL, 


Von  Dr.  Bemardino  Alimena, 

Professor  an  der  Uniyersit&t  Neapel. 

(Überßetznng  von  Dr.  Georg  Crnsen  in  Hannover.) 


37 


Übersicht 


1*  Italien  nebst  Kolonieen« 

L  Einleitung.    %  1.   Die  geschichtlichen  und  wissenschaftlichen  Grundlagen  der  Ge- 
setzgebung.    §  2.   Die   Herstellung  der   Einheit   anf  dem  Gebiete  des  StR.  im  1 
Jahre  1><*<9.  l 

IL  Das  beute  geltende  Recht.    §  3.  Der  allgemeine  Teil  des  StGB.    §  4.  Der  beson-  , 

dere  Teil  des  StGB.  §  5.  Das  Strafverfahren.  §  6.  Die  Delikte  des  Handels- 
gesetzbuches. §  7.  Die  in  Spezialgesetzen  behandelten  Delikte.  §  d.  Das  Milit&r- 
strafrecht. 

in.  §   9.   Das  StR.  der  Kolonieen. 

IV.  §  10.   Litteratur-Cbersicht. 

2«    San  Marino« 


1.  Italien  nebst  Kolonieen. 


I.  Einleitnng. 

§  1.  Die  geschichtlichen  nnd  wissenschaftlichen  O^rundlagen  der  St&gebung. 

Man  hat  Italien  das  klassische  Land  des  StR.  genannt:  es  liess  im  Mittel- 
alter die  strafrechtliche  Praxis  aufblühen  und  wurde  im  18.  Jahrhundert,  als 
eine  einheitliche  Gesetzgebung  durch  die  Verworrenheit  seiner  politischen  Ver- 
hältnisse unmöglich  gemacht  war  und  der  Schatz  überlieferter  Wissenschaft 
nur  in  den  Universitäten  eine  Zufluchtsstätte  fand,  der  Nährboden  für  die  kühnen 
Ideeen,  denen  die  veralteten  StGesetze  bald  Platz  machen  mussten.  Mit  der  fran- 
zösischen Revolution,  die,  ohne  sich  vom  römischen  Recht  loszulösen,  die  An- 
schauungen des  Italieners  Cesare  Beccaria  verwirklichte,  sind  diese  neuen  Ge- 
danken gross  geworden.  Als  daher  die  französischen  Gesetzbücher  durch  die 
Erfolge  der  französischen  Waffen  in  allen  Ländern  Europas  Geltimg  erlangten, 
fanden  sie  in  Italien  den  Boden  wieder,  dem  sie  entstammten.  Der  juristische 
Sinn  des  italienischen  Volkes  erwachte  nach  langem  Schlummer  und  führte 
zu  neuen  gesetzgeberischen  Thaten. 

So  entstehen  im  Anfange  dieses  Jahrhunderts  in  Norditalien  die  Pro- 
getti  di  codice  penale  e  di  codice  di  procedura  penale  per  il  Regno  italico 
V.  1807  und  in  Süditalien  das  beachtenswerte  StG.  v.  1808.  Diese  G.  machen 
der  trotz  ihrer  Jugend  auf  rechtlichem  Gebiete  bereits  hervorragenden  Nation 
wie  ihren  Verfassern,  den  damals  viel  gelesenen  Schriftstellern  Romagnosi, 
Renazzi,  Cremani,  Nani  und  Lauria,  alle  Ehre. 

Nach  dem  Sturz  der  französischen  Herrschaft  erblühte  neues  gesetz- 
geberisches Leben  in  den  italienischen  Kleinstaaten,  wo  neben  wenigen  vom 
alten  despotischen  Geiste  beherrschten  Gesetzen  eine  Reihe  anderer  entstand,  in 
denen  die  grossen  Gedanken  der  Revolution  verarbeitet  waren. 

In  Sardinien  begegnen  wir  seit  1837  gesetzgeberischen  Bestrebungen, 
die  zur  SchaflPung  des  Codice  di  procedura  criminale  per  gli  stati  sardi  v.  1847 
führten.  Dieses  GB.,  das  dem  französischen  Recht  gegenüber  wesentliche  Ver- 
besserungen enthält,  bildet  einen  Triumph  der  internationalen  Rechtsauffassung, 
denn  es  bestraft  auch  die  von  Inländern  im  Auslande,  und  zwar  auch  gegen 
Ausländer,  begangenen  Delikte.  Es  enthält  eingehende  Vorschriften  über  Thäter- 
schaft  und  Teilnahme,  ZusammentreflFen  mehrerer  strafbarer  Handlungen, 
Falschmünzerei,  Zweikampf  und  die  Fälle  der  Straflosigkeit  des  Parricidiums 
und  der  Vergiftung. 

In  Toscana  stand  die  Gesetzgebung  auf  einer  hohen  Stufe;  die  Wirk- 
samkeit der  noch  in  Kraft  befindlichen  G.  v.  1786  wurde  durch  die  im  J.  1838 
erfolgte  Reform  der  Gerichtsverfassung  noch  gehoben. 


582  Italien  nebst  Kolonieen.  —  Einleitung. 


Das  StGB,  für  Parma  vom  J.  1820  führte  wichtige  Verbesserungen  ein, 
beispielsweise  durch  die  Bestimmungen  über  Thäterschaft  und  Teilnahme,  sowie 
über  den  Zweikampf. 

Den  Höhepunkt  dieser  stetig  fortschreitenden  Bewegung  bildet  die  nea- 
politanische Gesetzgebung  v.  1819;  durch  sie  wurden  der  entehrende 
Charakter  der  Strafen  beseitigt,  der  bürgerliche  Tod  abgeschafft,  die  Begriffe 
von  Mord  und  Totschlag,  die  Bedeutung  der  Ehre  beim  Kindesmord,  der 
Unterschied  zwischen  strafrechtlichem  Betrüge  und  civilrechtlicher  Übervor- 
teilung verfeinert.  Das  StGB,  ist  ein  glänzendes  Denkmal  italienischer  Wissen- 
schaft und  Praxis. 

Die  Gesetzgebung  Roms  unter  Papst  Gregor  XVI.  war  die  einzige,  die 
an  dem  allgemeinen  Fortschritt  nicht  teilnahm  und  ihre  veralteten  Prinzipien, 
insbesondere  den  Inquisitionsprozess,  vor  jedem  modernen  Luftzuge  ängstlich 
hütete. 

Die  in  dieser  Zeit  geschaffenen  italienischen  Gesetzgebungen  verdanken 
ihren  Gehalt  teils  den  französischen  Kodifikationen  v.  1808  und  1810,  teils  den 
modernen  Ideeen,  die  damals  die  juristische  Welt  bewegten.  Daraus  erklärt 
sich  der  auf  allen  Gebieten,  mit  Ausnahme  der  politischen  und  der  gegen  die 
Religion  gerichteten  Delikte,  bemerkbare  Fortschritt.  Er  zeigt  sich  in  der 
Berücksichtigung  schwieriger  Fragen,  wie  z.  B.:  der  Verantwortlichkeit  der 
Kinder  (hier  finden  sich  Anklänge  an  das  römische  Recht),  der  Lehre  vom 
Versuch,  von  den  Strafausschliessungsgründen  mit  besonderer  Berücksichtigung 
der  voraufgegangenen  Reizung  durch  den  Verletzten.  Das  Strafverfahren  wurde 
nach  französischem  Muster  abgeändert  und  verbessert;  die  Schwurgerichte  fanden 
jedoch  keine  Aufnahme. 

Wissenschaft  und  Praxis,  vor  allem  die  Rechtsprechung  des  neapolitani- 
schen und  des  florentiner  Gerichtshofes  beeilten  sich,  mit  den  Fortschritten  der 
Gesetzgebung  gleichen  Schritt  zu  halten.  Die  Wissenschaft  feierte  Triumphe, 
die  durch  die  Namen  Rossi,  Baroli,  De  Giorgi,  später  durch  Mamiani,  Mancini, 
Nicolini  und  andere  hervorragende  Schriftsteller  bezeichnet  werden. 

Seit  jener  Zeit  bilden  die  Königreiche  Sardinien,  Toscana  und  Neapel 
den  Mittelpunkt  aller  Reformbestrebungen  auf  wissenschaftlichem  und  gesetz- 
geberischem Gebiete. 

Bei  der  Darstellung  des  itÄlienischen  StR.  sind  folgende  Perioden  zu 
unterscheiden.  I.  Periode:  das  StR.  der  italienischen  Einzelstaaten  bis.  zur 
Einigung  des  Landes  im  J.  1860;  IL  Periode:  das  StR.  bis  zum  Abschluss  der 
neuen  Gesetzgebung;  III.  Periode:  das  geltende  StGB.  v.  1889. 

Unsere  Betrachtung  führt  uns  zuerst  zu  Piemont,  der  Wiege  der 
italienischen  Unabhängigkeit,  das  zunächst  die  Freiheit  erlangte  durch  die 
vom  König  Karl  Albert  verliehene  Verfassung  von  1848,  die  noch  heute  das 
(irundgesetz  des  geeinigten  Italiens  bildet.  Eine  von  der  Regierung  eingesetzte 
Kommission  nahm  Vorarbeiten  für  die  Revision  des  StGB,  in  Angriff,  ein  ziemlich 
liberales  Pressgesetz  wurde  am  26.  Mai  1848  erlassen,  durch  das  gleichzeitig 
für  die  Aburteilung  der  mittelst  der  Presse  begangenen  strafbaren  Handlungen 
Geschworenengerichte  eingesetzt  wurden;  durch  G.  vom  20.  Juni  1859  wurden 
die  für  die  letzteren  geltenden  Vorschriften  verbessert,  gleichzeitig  auch  die 
Erweiterung  ihrer  Zuständigkeit  auf  die  Aburteilung  anderer  Delikte  vor- 
geschlagen. Diesen  gesetzgeberischen  Akten  folgten  Reformen  auf  dem  Gebiete 
des  Gefängniswesens  imd  die  Schaffung  einer  Kriminalstatistik.  Das  Land 
beherbergte  damals  eine  Monge  tüchtiger  Juristen,  die  teils,  wie  Sclopis,  Vegezzi, 
Onnis,  Poletti,  Landesangehörige  waren,  teils,  wie  Mancini,  Zuppetta  und  Pisa- 
nelli,  der  Apostel  der  Schwurgerichte,  Neapel  verlassen  hatten,  um  in  Piemont 
eine  Zufluchtsstätte  vor  der  bourbonischen  Gewaltherrschaft  zu  suchen. 


§  1.    Die  geschichtlichen  und  wissenschaftlichen  Grundlagen  der  StGgebung.    583 


Für  Toscana  wurde  im  J.  1853  ein  StGB,  erlassen,  die  Frucht  sorg- 
fältigen juristischen  Nachdenkens  und  eingehenden  Studiums  der  GB.  Deutsch- 
lands und  Frankreichs.  Über  dasselbe  erschienen  Abhandlungen  von  Carmignani, 
Puccioni,  Mori  und  Buonfanti.  Das  StGB,  macht  Gebrauch  von  der  Todesstrafe, 
die  bereits  frtlher  durch  Vdg.  vom  11.  Oktober  1847  abgeschafft  gewesen,  jedoch 
durch  ein  G.  v.  1852  wieder  eingeführt  war.  Im  Gegensatz  zum  sardischen 
StGB,  verzichtet  es  auf  die  Dreiteilung  der  strafbaren  Handlungen  in  Verbr., 
Verg.  und  Übertretungen,  behandelt  vielmehr  nur  die  ersteren  beiden  Gruppen 
unter  der  Gesamtbezeichnung  „delitti"  und  überlässt  die  Regelung  der  Über- 
tretungen, wie  auch  manche  neuere  Gesetzgebungen,  einem  besonderen  G. 
Die  bereits  bei  Gelegenheit  des  sardischen  StGB,  erwähnten  Fortschritte  auf 
dem  Gebiete  des  internationalen  StR.  und  der  Lehre  von  der  Zurechnung  sind 
glücklich  verwertet,  das  Strafensystem  verbessert.  Im  übrigen  sind  bemerkens- 
wert: die  Behandlung  von  Thäterschaft  und  Teilnahme,  die  Begriffsbestim- 
mung des  fortgesetzten  Delikts,  die  Beschränkung  des  Rückfalls  auf  die  wieder- 
holte Begehung  ein-  und  desselben  Delikts  oder  gleichartiger  Delikte,  die 
Abschaffung  der  Einsperrung  als  Präventivmassregel.  Die  Strafandrohungen 
sind  im  ganzen  milde,  selbst  gegen  politische  Delikte,  und  verraten  scharfes 
Durchdenken  der  in  Frage  kommenden  Begriffe;  man  vgl.  beispielsweise  die 
Bestimmungen  über  die  Beschimpfung  des  Andenkens  Verstorbener,  Falsch- 
münzerei, Mord  und  Totschlag,  Körperverletzung,  Beihülfe  zum  Selbstmord, 
Kindesmord,  die  Eigentumsdelikte.  An  das  StGB,  schliesst  sich,  wie  bereits 
erwähnt,  ein  besonderes  Reglement  betr.  die  Übertretungen  an. 

Die  übrigen  italienischen  Staaten  haben  derartige  gesetzgeberische  Thaten 
nicht  aufzuweisen.  In  der  Lombardei  und  Venedig  galt  nicht  italienisches, 
sondern  österreichisches  Recht  und  zwar  zunächst  das  StGB.  v.  1803,  später 
das  V.  1852. 

Modena  veröffentlichte  1855  ein  StGB.,  das  jedoch  auf  irgendwelche 
Bedeutung  keinen  Anspruch  erheben  kann. 

In  Neapel  verschwanden  die  Errungenschaften  des  StGB.  v.  1819  in  den 
Wogen  der  politischen  Reaktion. 

Wenn  aber  auch  die  politischen  Verhältnisse  der  gesetzgeberischen  Thätig- 
keit  hinderlich  waren,  so  schritt  doch  die  Wissenschaft,  die  vor  den  Verfolgungen 
seitens  der  Regierungen  in  den  Universitäten  eine  sichere  Zufluchtsstätte  fand, 
unaufhaltsam  vorwärts.  So  finden  wir  auf  juristischem  Gebiete  in  ganz  Italien 
zerstreut,  eine  Reihe  glänzender  Namen:  in  der  Lombardei  und  Venedig: 
Tolomei  und  Ambrosoli;  in  Mittelitalien:  Giuliani;  in  Neapel:  Nicolini,  Ro- 
berti,  UUoa. 

Auch  das  StGB,  der  Insel  Malta  v.  1854  gehört  in  gewisser  Weise  hier- 
her, da  es  zum  Teil  die  Resultate  italienischer  Forschung  verwertet. 

Die  Wirkung  modemer  Anschauungen,  zunächst  auf  politischem  Gebiete 
bemerkbar,  äusserte  auch  auf  die  Gesetzgebung  ihren  Einfluss. 

Die  Revolution  brach  aus,  Italien  erhob  sich  unter  Führung  Karl  Alberts 
und  sah  voll  stolzer  Hoffnung  auf  Viktor  Emanuel  als  seinen  zukünftigen 
König.  Piemont  erhielt  1859  zwei  neue  GB.,  die,  im  Vergleich  zu  ihren  Vor- 
gängern, dem  früheren  StGB,  und  der  früheren  StPO.,  bedeutende  Vorzüge 
aufwiesen.  Die  Fortschritte  auf  dem  Gebiete  des  materiellen  StR.  zeigen  sich 
vor  allem  in  der  Abschaffung  der  öffentlichen  Abbitte  und  des  Prangers,  sowie 
in  den  Bestimmungen  über  die  Delikte  gegen  Religion,  Landesherm  und  Staat. 
Auch  die  Vorschriften  über  Falschmünzerei,  Sittlichkeitsdelikte  und  Zweikampf 
enthalten  manches  Neue ;  im  ganzen  sind  jedoch  die  Strafandrohungen  der  älteren 
StGB,  unverändert  geblieben. 

Die  StPO.    ist   nicht   viel   mehr   als    eine  Übersetzung   der  französischen 


584  Italien  nebst  Kolonieen.  —  Einleitung. 


V.  1808  mit  allen  ihren  Mängeln.  Immerhin  verschaffte  sie  einer  wichtigen 
Nenemng  in  Italien  Eingang:  den  Schwnrgericfaten.  Noch«  in  demselben  Jahre 
wurde  mit  der  Einführung  des  Mil.-StGB.  und  des  GerVerfG.  die  Justizreform 
zum  Abschluss  gebracht. 

Im  J.  1860  wurde  der  Sieg  der  Revolution  entschieden,  König  und  Volk 
hatten  ihr  Ziel  erreicht,  die  Freiheit  und  Einigkeit  Italiens,  der  sehnsüchtige 
Wunsch  Dantes  und  Macchiavellis  war  verwirklicht.  Mit  Jubel  sah  die  Be- 
völkerung die  verhassten  Dynastieen  verschwinden.  Da  mit  ihnen  auch  ihre 
Gesetze  untergingen,  so  hatte  die  politische  Einheit  bald  den  Wunsch  nach  ein- 
heitlicher Gesetzgebung  zur  Folge. 

In  Norditalien  und  in  einem  Teile  von  Mittelitalien  schritt  man  zur 
Einführung  der  sardischen  G.,  des  StGB,  und  der  StPO.  v,  1859;  Toscana 
und  Süditalien  jedoch  widersetzten  sich  derselben,  Toscana,  weil  es  sich 
nicht  zur  Wiederzulassung  der  bereits  durch  die  Vdg.  v.  1860  abgeschafften 
Todesstrafe  entschliessen  konnte,  Süditalien,  weil  es  auf  die  Errungenschaften 
der  neapolitanischen  G.  V.  1819  nicht  verzichten  wollte.  Während  also  in  Nord- 
italien sardisches  Recht  galt,  behielt  Toscana  sein  StGB.  v.  1853;  Süditalien 
Hess  das  sardische  StGB,  durch  eine  besondere  Eonmiission  abändern  und 
führte  es  mit  diesen  Modifikationen   durch  Dekret  vom  17.  Februar  1861   ein. 

Im  Jahre  1862  wurde  die  sardische  StPO.  fast  in  ganz  Italien,  mit  Aus- 
nahme von  Toscana,  eingeführt. 

Nur  Rom  hatte  noch  immer  keinerlei  Gemeinschaft  mit  dem  neuerstan- 
denen Italien! 

Im  neuen  Reiche  herrschte  auf  dem  Gebiete  des  Rechts  eine  reiche, 
fruchtbringende  Thätigkeit.  Ganz  besonders  wichtig  für  die  Entstehung  eines 
einheitlichen  Rechts  war  das  J.  1865,  in  dessen  Verlauf  derErlass  des  bürger- 
lichen GB.,  des  Handelsgesetzbuches  (das  1882  durch  ein  neues  ersetzt  wurde), 
des  G.  über  die  Handelsmarine,  des  GerVerfG.,  der  Civüprozessordnung  und 
der  StPO.  fällt;  die  letztere  gelangte  in  ganz  Italien,  auch  in  Toscana,  zur 
Annahme  und  enthielt  als  wichtigen  Fortschritt  gegenüber  der  französischen 
StPO.  die  Öffentlichkeit  des  Strafverfahrens. 

Als  Rom  1870  Hauptstadt  Italiens  wurde,  musste  das  Regolamento  gre- 
goriano  v.  1832  den  nunmehr  eingeführten  sardischen  Gesetzen  weichen.  Damit 
war,  abgesehen  von  der  fortdauernden  Geltung  der  drei  verschiedenen  StGB,  und 
einiger  unwichtiger  G.  die  Einheitlichkeit  auch  auf  dem  Gebiete  der  Grcsetzgebung 
hergestellt.  Den  Haupthindemngsgrund  für  die  Schaffung  eines  einheitlichen 
StR.  bildete  die  Todesstrafe,  die  in  Piemont  und  Neapel  zahlreiche  Anhänger 
hatte,  während  man  sie  in  Florenz  verabscheute.  An  diesem  Punkte,  über 
den  eine  Einigung  nicht  zu  erzielen  war,  scheiterten  alle  Anstrengungen  der 
Regierung,  des  Parlaments  und  der  Wissenschaft. 

Von  der  letzteren  wurde  indes  dieses  Zwischen  Stadium  keineswegs  unbenutzt 
gelassen.  Der  alte  juristische  Geist  des  italienischen  Volkes  war  durch  das 
frisch  pulsierende  politische  Leben  und  die  eben  errungene  Freiheit  zu  neuem 
Leben  erweckt  und  der  lebhafte  Wunsch,  der  politischen  Einheit  auch  die  völlige 
Einheit  der  Gesetzgebung  folgen  zu  lassen,  führte  zu  der  Ausarbeitung  zahl- 
reicher Entw.  eines  StGB.,  die  wertvolle  Vorarbeiten  für  das  jetzt  geltende 
G.  bildeten.  Von  Beccaria  ausgehend  entstand  eine  neue,  die  sogenannte 
„klassische  Schule"  des  StR.,  als  deren  hervorragendste  Vertreter  Mancini, 
Pessina,  Carrara,  Tolomei,  Lucchini,  Canonico,  Bnisa,  Ellero,  Nocito,  Faranda, 
Buccellati  zu  nennen  sind.  Ihre  Bedeutung  liegt  in  dem  Studium  des  Ver- 
brechens vom  juristisch-logischen  Standpunkte  aus,  während  sie  sich  mit  der 
Person  des  Verbrechers  erst  in  zweiter  Linie,  ja  man  kann  fast  sagen,  über- 
haupt nicht  beschäftigt  hat. 


§  2.    Die  Herstellung  der  Einheit  auf  dem  Gebiete  des  StR.  im  J.  1889.      585 


Gleichzeitig  sind  auch  auf  dem  Gebiete  der  Kriminalstatistik  und  des 
Gefängniswesens  bedeutsame  Fortschritte  zu  verzeichnen,  die  in  erster  Beziehung 
vor  allem  auf  Bodio,  den  Generaldirektor  des  statistischen  Amtes,  in  letzterer 
Beziehung  auf  Beltrani-Scalia,  den  Generaldirektor  des  Gefängniswesens,  zu- 
rückzuführen sind. 

Der  klassischen  Schule  folgte  bald  die  „positivistische"  oder  „anthro- 
pologische", deren  Entstehen  und  Aufblühen  durch  die  Namen  Lombroso, 
Garofalo  und  Ferri  bezeichnet  wird.  Sie  lässt  das  StR.  in  der  Kriminal- 
Soziologie  aufgehen,  studiert  den  Verbrecher  vom  biologischen  Standpunkte 
aus  und  betrachtet  das  Verbr.  vorzugsweise  als  soziale  Erscheinung. 

Aus  den  Kämpfen  zwischen  diesen  beiden  Schulen  ging  eine  neue  Rich- 
tung hervor,  die,  empirisch  in  ihrer  Methode,  kritisch  in  ihrem  inneren  Wesen, 
ein  Aufgehen  des  StR.  in  der  Kriminalsoziologie  nicht  anerkennt.  Sie  geht 
davon  aus,  dass  der  Verbrecher  zwar  eine  Anzahl  besonderer  somatischer 
Kennzeichen  aufweist,  dass  diese  aber  keineswegs  typisch  sind;  sie  würdigt 
die  Bedeutung  des  Verbrechens  als  einer  vorzugsweisen  sozialen  Erscheinung, 
ohne  im  übrigen  die  komplizierte  Natur  desselben  zu  verkennen  und  sieht  in 
der  Strafe  eines  von  den  Mitteln  der  Sozial-Hygiene. 

Zu  den  Begründern  und  Anhängern  dieser  Schule  gehören  in  Italien: 
ausser  mir,  Colajanni,  Poletti,  Vaccaro,  Camevale,  Impallomeni  und  teilweise 
auch  Morselli;  in  Deutschland:  v.  Liszt;  in  Frankreich :  Tarde  und  Lacassagne; 
in  Russland:  Drill  und  Foinitski. 

Ihre  kritischen  Bestrebungen  haben  eine  wichtige  Unterstützung  erhalten 
durch  die  Begründung  der  „Internationalen  kriminalistischen  Vereinigung" 
(Union  internationale  de  droit  pönal.  1889).^) 

§  2.  Die  HersteUung  der  Einheit  auf  dem  GeMete  des  StB.  im  J.  1889. 

Wir  haben  soeben  gesehen,  auf  welcher  wissenschaftlichen  und  geschicht- 
lichen Grundlage  das  italienische  StR.  ruht.  Die  Herstellung  der  Einheit  auf 
diesem  Gebiete  geschah  erst  1889  durch  den  Siegelbewahrer  Zanardelli,  der 
eine  systematische  Bearbeitung  der  ihm  von  seinen  Vorgängern  hinterlassenen 
Entw.  vornahm. 

Zwei  Fragen  haben  wir  zunUchst  zu  beantworten:  war  die  einheitliche 
Kodifikation  zweckmässig?  und:  welche  Schule  durfte  den  Anspruch  erheben, 
ihr  den  Stempel  ihres  Geistes  aufzudrücken? 

Die  erste  Frage  sollte  eigentlich  kaum  einer  Beantwortung  bedürfen.  Da 
in  allen  anderen  Ländern  der  Fortschritt  der  Wissenschaft  in  der  Schaffung 
neuer  StGB,  beredten  Ausdruck  gefunden  hatte,  so  durfte  Italien  nicht  zurück- 
stehen. Andrerseits  war  durch  die  Herstellung  der  politischen  Einheit  die  Ein- 
heit des  Rechts  zu  einem  notwenigen  Erfordernis  geworden,  dessen  Verwirk- 
lichung 30  Jahre  lang  nahezu  einstimmig  gewünscht  wurde.  Und  doch  muss 
auf  diese  Frage  eingegangen  werden,  weil  die  anthropologische  Schule  sie, 
unter  Berufung  auf  das  Beispiel  der  Schweiz,  in  der  ebenfalls  jeder  Kanton 
sein  besonderes  StGB,  besitzt,  verneint  hat.  Sie  behauptet,  Italien  sei  wohl 
„einig  aber  nicht  einheitlich"  und  stellt  statistische  Berechnungen  und  Über- 
sichten auf,  aus  denen  die  Verschiedenheit  der  einzelnen  Landesteile  in  Bezug 
auf  das  Lebensalter   der  Einwohner,    auf  Eheschliessung,  Stand,  Gewerbe  und 


^)  über  die  Geschichte  des  neueren  italienischen  StR.  vgl.  Pessina,  Dei  progressi 
del  diritto  penale  in  Italia  nel  secolo  XIX,  in  den  Opuscoli  di  diritto  penale,  Neapel 
1874.  Über  die  „terza  ßcuola"  Rosenfeld  in  den  Mitteilungen  der  Internationalen 
kriminalistischen  Vereinigung  IV,  1. 


586  Italien  nebst  Kolonieen.  —  Einleitung. 


die  Begehung  der  strafbaren  Handlungen  hervorgehen  soll.*)  Der  Vollständig- 
keit wegen  muss  ich  hinzufügen,  dass  auch  Carrara  sich  gegen  die  Kodifikation 
ausgesprochen  hat.  Wahrscheinlich  war  aber  dieser  Widerstand  lediglich  der 
Ausdruck  der  Besorgnis,  den  Scharfrichter  wieder  in  Toscana  seines  Amtes 
walten  zu  sehen  ;^)  wenigstens  spricht  hierfiLr  der  Umstand,  dass  er  kurz  vor 
seinem  Tode  in  einem  oflFenen  Briefe  sich  als  Anhänger  der  Einheitsbestrebungen 
bekannte.  Ihr  einziger  Gegner  ist  nunmehr  die  anthropologische  Schule,  auf 
deren  Standpunkt  kurz  einzugehen  ist. 

Nach  der  Ansicht  Lombrosos  und  seiner  Schüler  hätte  der  italienische 
Gesetzgeber  nicht  etwa  die  drei  vorhandenen  StGB,  bestehen  lassen,  sondern 
neunundsechzig  neue,  nämlich  eines  für  jeden  Regierungsbezirk,  ausarbeiten 
müssen.  Der  Hinweis  auf  die  Schweiz  beweist  für  jene  Behauptung  nichts, 
denn  die  Schweiz  ist  ein  Konglomerat  verschiedener  Volksstämme  mit  vier 
verschiedenen  Sprachen  —  Deutsch,  Französisch,  Italienisch,  Rhäto-Romanisch 
— ,  während  Italien  eine  einheitliche  Bevölkerung  mit  nur  einer  Sprache  hat. 
Andrerseits  findet  sich  der  von  Lombroso  und  Rossi  für  Italien  behauptete 
„Regionalismuß",  das  Bestehen  gewisser  Verschiedenheiten  bei  den  Bevölkerungen 
der  verschiedenen  Landesteile,  auch  in  allen  anderen  Ländern  und  genau  das- 
selbe gilt  für  die  ungleichmässige  Anteilnahme  der  verschiedenen  Bevölkerungen 
an  der  Begehung  strafbarer  Handlungen.  Auch  in  den  anderen  Ländern  hat 
die  Verschiedenheit  der  Beschäftigung,  des  Alters,  des  Familienstandes  auf  Zahl 
und  Art  der  Verbr.  erheblichen  Einfluss,  und  wer  behauptet,  dass  diese  Er- 
scheinung eine  für  Italien  spezifische  sei,  beweist  damit  nur,  dass  er  die  Unter- 
suchungen von  Mayr*s  über  die  Sterblichkeit  und  die  Berufsarten  in  Bayern, 
die  von  Quetelet  über  die  Moralstatistik  in  Frankreich  und  die  von  Guerrj»" 
über  die  gleichen  Verhältnisse  hi  England  nicht  kennt.  In  allen  Ländern  der 
Welt  finden  wir  Bezirke,  deren  Kriminalität  besonders  gross  ist,  Städte  die 
eine  aussergewöhnlich  geringe  Zahl  von  Verbr.  aufweisen,  Gegenden,  in  denen 
die  Ziffer  der  Delikte  gegen  die  Person,  der  Eigentums  vergehen  oder  der  Sitt- 
lichkeitsdelikte eine  besondere  Höhe  erreicht,  Städte  in  denen  die  Anzahl  der 
Analphabeten  auffallend  gross,  andere,  in  denen  sie  auiffallend  niedrig  ist. 
Wenn  also  die  Überzeugung  Lombrosos  von  der  Existenz  des  Regionalismus 
in  Italien  auf  diesen  statistischen  Verschiedenheiten  beruht,  so  sollte  man  meinen, 
Lombroso  müsse  dieselbe  auch  für  Frankreich  und  Deutschland  annehmen. 
Sind  doch  die  Verschiedenheiten  zwischen  Sizilien  und  der  Lombardei  nicht 
grösser  als  die  zwischen  dem  Departement  de  la  Seine  und  dem  Departement 
de  la  Creuse,  zwischen  Ostpreussen  und  Schleswig-Holstein.  Ja,  man  hat  sogar 
behauptet,  dass  in  London  die  Kriminalität  nach  den  Stadtteilen  verschieden 
sei.  In  jedem  Lande  und  zu  jeder  Zeit  finden  wir  eine  „regionalis tische" 
Litteratm'  von  der  Ilias  und  der  Aeneide  bis  auf  die  Romane  Daudet's, 
Es  ist  also  völlig  ungerechtfertigt,  von  diesen  Verschiedenheiten  als  einer 
besonderen  Eigentümlichkeit  Italiens  sprechen  zu  wollen.  Höchstens  könnte 
man  vom  pessimistischen  Standpunkte  aus  sagen,  dass  der  Regionalismus,  wenn 
er  auch  überall  vorkommt,  doch  in  Italien  als  Folge  der  unseligen  politischen 
Vergangenheit  des  Landes  besonders  fühlbar  ist.  Aber  wenn  man  auch  Lom- 
broso mit  seiner  Behauptung,  dass  Italien  zwar  ein  geeinigtes,  aber  kein  ein- 
heitliches Land  ist,  Recht  geben  will,  muss  man  dann  nicht  gerade  diese  Ein- 
heitlichkeit herbeizuführen  suchen,  indem  man  die  natürliche  Anpassung  durch 


*)  Lombroso,  Troppo  presto,  Turin  IH^S.  —  Ferri,  Sociologia  criminale  S.  334. 
Turin  1892. 

-)  Cari'ara,  Lineamenti  di  pratica  legislativa  penale  XXIV.     Turin  1882. 


§  2.    Die  Herstellung  der  Einheit  auf  dem  Gebiete  des  StR.  im  J.  1889.      587 


die  künstliche  unterstützt?  ^)  Der  Gesetzgeber  kann  und  soll  das  Land  einigen 
und  die  wichtigsten  Mittel  hierzu  sind  der  Unterricht  in  der  gemeinsamen 
Landessprache  —  das  siegreiche  Volk  zwingt  daher  stets  das  besiegte,  seine 
Sprache  anzunehmen  —  und  die  Gemeinsamkeit  der  Gesetzgebung. 

Ich  will  durchaus  nicht  leugnen,  dass  Spezialgesetze  für  jeden  Bezirk, 
für  jede  Stadt,  ja  vielleicht  für  jede  Strasse  den  gegebenen  Verhältnissen  sich 
besser  anpassen  würden  als  eine  gemeinsame  Gesetzgebung  für  das  ganze  Land 
es  vermag;  indes,  eine  derartige  Möglichkeit  kann  man  wohl  theoretisch  er- 
örtern, aber  nicht  in  der  Praxis  ausführen,  denn  die  örtlichen  Verschieden- 
heiten beschränken  sich  nicht  auf  das  Gebiet  des  StR.,  sondern  erstrecken  sich 
auf  das  gesamte  Rechtsleben,  ja  auf  die  Ginindlagen  des  Volkslebens.  Wir 
wären  dann  genötigt,  eine  Unzahl  von  Gesetzen  zu  schaffen,  die  einen  baldigen 
Zerfall  der  politischen  Einheit  unfehlbar  zur  Folge  haben  müsste.  Gewiss 
müssen  bei  einer  einheitlichen  Gesetzgebung  die  Wünsche  einzelner  Gemeinden 
wie  einzelner  Personen  dem  allgemeinen  Interesse  geopfert  werden;  aber 
dennoch  ist  sie  unentbehrlich,  denn  sie  bildet  die  notwendige  Ergänzung  der 
politischen  Einheit.  So  kann  z.  B.  die  Verfassung  für  die  verschiedenen  Be- 
zirke des  Staates  einen  verschiedenen  Wert  haben;  sie  kann  für  einige,  auf 
hoher  Kulturstufe  stehende  zu  reaktionär,  für  andere,  in  der  Entwicklung 
zurückgebliebene  zu  liberal  sein.*)  Jede  Provinz  muss  daher  Opfer  bringen: 
die  Einheit  des  Vaterlandes  ist  ein  Gut,  das  teuer  erkauft  werden  muss.  Die 
Aufgabe  des  Strafrichters  ist,  die  hierdurch  entstehenden  Härten  weniger  fühl- 
bar zu  machen.  Jedenfalls  muss  man  den  ersten  Schritt  einmal  thun,  und 
hierzu  ist  es  nie  „zu  früh". 

Ich  wende  mich  nunmehr  zur  Erörtening  der  zweiten  Frage:  „Bedeutet 
das  neue  StGB,  einen  Fortschritt?"  und  beantworte  sie  mit  „ja",  denn  es  ist 
immer  besser,  ein  StGB,  zu  haben,  als  di'ei. 

Unser  StGB,  hat  das  Geschick  gehabt,  von  den  einen  zu  hoch  erhoben 
und  von  den  anderen  zu  tief  herabgesetzt  zu  werden.  Es  bildet  weder  das 
Ideal  eines  gesetzgeberischen  Werkes,  noch  ist  es  —  wie  die  anthropologische 
Schule  und  einzelne  Klassiker  zu  wiederholen  nicht  müde  werden  — ,  eine 
Sammlung  von  Dummheiten.  Die  anthropologische  Schule  hatte  auf  ein  nach 
ihren  Grundsätzen  gearbeitetes  GB.  gehofft.  Wer  mit  mir,  wie  ich  bereits  auf 
dem  pariser  Kongresse  für  Kriminalanthropologie  ausgeführt  habe,  der  Ansicht 
ist,  dass  der  Gesetzgeber,  „auf  bleiernen  Sandalen  fortschreitend",  nur  die- 
jenigen Ideeen  praktisch  verwerten  darf,  deren  Richtigkeit  in  der  Theorie 
nicht  mehr  bestritten  wird,  kann  über  die  UnerfüUbarkeit  dieser  Forderung 
nicht  im  Zweifel  sein. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  den  Stand  der  Wissenschaft  am  Vorabend  des 
Erlasses  des  neuen  StGB.  Zu  dem  heftigen  Kampfe  zwischen  der  klassischen 
und  der  anthropologischen  Schule  erschien  eine  neue  vermittelnde  Richtung, 
die  ihren  Schwerpunkt  in  die  Kritik  verlegte.  Gleichzeitig  erfolgte  eine  all- 
gemeine Verjüngung  auf  gesetzgeberischem  Gebiete,  die  sich  von  Russland 
bis  Portugal,  von  der  argentinischen  Republik  bis  Japan  erstreckte  und  auf 
der  Verschmelzung  des  überlieferten  Stoffes  mit  modernen  Ideeen  beruhte. 
So  bildet  auch  das  italienische  StGB.,  wie  alle  Gesetze  der  Übergangszeit,  trotz 


^)  Alimena,  La  legislation  comparee  dans  ses  rapports  avec  ranthropologie, 
Tethnographie  et  l'histoire  in  den  Archives  de  ranthropologie  criminelle  et  des  sciences 
pönales  V. 

*)  Vgl.  über  diese  Frage  Ch.  Comte,  Traite  de  legislation,  Brüssel  1837.  —  Pi  y 
Margoll,  Lesnationalit^s  1879;  Donnat,  La  politique  experimentale,  Paris  1885;  Bagehot, 
Lois  scientifiques  du  developpemeut  des  nations,  Paris  1885;  Bordier,  La  vie  des  so- 
ci6tes,  Paris  1887. 


588  Italien  nebst  Kolonieen.  —  Das  heute  geltende  Recht. 


seiner  völlig  juristischen  Grundlage,  zum  Teil  einen  Kompromiss  zwischen  Altem 
und  Neuen,  zwischen  Veraltetem  und  VerfHihtem.  Die  Kriminalanthropologen 
haben  es  als  „eklektisch^'  getadelt,  ohne  zu  bedenken,  dass  der  Eklektizismus 
durch  die  Umstände  geboten  war.  Das  StGB,  ist  für  die  anthropologischen 
Heissspome  zu  veraltet,  für  einige  klassische  Juristen  zu  modern;  aber  um 
es  gerecht  zu  beurteilen,  darf  man  sich  nicht  auf  einen  einseitigen  Schul- 
standpunkt stellen. 

n.    Das  heute  geltende  Recht. 

§  3.    Der  allgemeine  Teil  des  StOB. 

Das  italienische  StGB,  verzichtet  auf  die  dem  französischen  Rechte  ent- 
lehnte Einteilung  der  strafbaren  Handlungen  in  crimes,  d^lits  und  contra- 
ventions  und  unterscheidet  lediglich  Verg.  (delitti)  und  Übertretungen  (con- 
travvenzioni).  —  Das  Problem  der  „Zweiteilung"  oder  „Dreiteilung"  hat  während 
der  Beratung  des  Entw.  zu  lebhaften  Debatten  geführt,  die  meines  Erachtens 
zu  der  geringen  Bedeutung  dieser  Frage  in  keinem  Verhältnis  stehen. 

Das  StGB,  enthält  drei  Bücher:  das  erste  handelt  von  den  strafbaren 
Handlungen  und  den  Strafen  im  allgemeinen,  das  zweite  von  den  Vergehen 
und  ihrer  Bestrafung,  das  dritte  von  den  Übertretungen.  Es  stimmt  in  dieser 
Beziehung  mit  dem  belgischen,  spanischen,  holländischen,  portugiesischen  und 
genfer  StGB,  und  dem  österreichischen  Entw.  überein,  während  es  sich  von 
denen  der  Kantone  Zürich,  Waadt  und  Basel,  die  die  Übertretungen  in  einem 
besonderen  G.  behandeln,  unterscheidet. 

Das  GB.  enthält  498  Art.,  etwa  200  weniger  als  das  aus  692  Art.  bestehende 
sardo-neapolitanische  StGB.,  und  nähert  sich  in  dem  Bestreben  nach  Bjiapp- 
heit  des  Ausdrucks  und  Vermeidung  unnötiger  Definitionen  der  in  den  deut- 
schen GB.  befolgten  Methode.  Es  versucht,  die  „natürlichen  Delikte"  von  den 
Handlungen  zu  scheiden,  die  nur  nach  positiver  gesetzlicher  Vorschrift  straf- 
bar sind,  ebenso  die  aus  gemeinen  Motiven  von  den  aus  edlen  Beweggründen 
hervorgegangenen. 

Das  erste  Buch  zerfällt  in  neun  Titel:  I.  von  der  Anwendung  der 
StG.  (Art.  1—10);  II.  von  den  Strafen  (Art.  11—30);  IIL  von  der  Wirkung 
und  der  Vollstreckung  der  Strafurteile  (Art.  31 — 4i3);  IV.  von  der  Zurech- 
nung und  den  Gründen,  welche  die  Strafbarkeit  ausschliessen  oder  vermin- 
dern (Art.  44 — 60);  V.  vom  Versuch  (Art.  61  und  62);  VI.  von  der  Beteiligung 
mehrerer  an  der  Begehung  einer  strafbaren  Handlung  (Art.  63 — 66);  VII.  von 
dem  Zusammentreffen  mehrerer  strafbaren  Handlungen  und  mehrerer  Bestra- 
fungen (Art.  67—69);  VIII.  vom  Rückfall  (Art.  80—84):  IX.  von  der  Verjährung 
der  Strafverfolgung  und  der  Strafvollstreckung  (Art.  85 — 103). 

Der  erste  Art.  enthält  den  Grundsatz:  nullum  crimen  sine  lege,  der 
zweite  die  Vorschrift,  dass  im  Falle  der  Verschiedenheit  der  Gesetze  zur  Zeit  der 
Begehung  und  der  Aburteilung  der  That  das  mildere  Gesetz  anzuwenden  ist. 

Die  Zuständigkeit  der  italienischen  Gerichte  erstreckt  sich  auf 
alle  in  Italien  und  auf  alle  von  Italienern  begangenen  Delikte,  auch  wenn 
wegen  der  letzteren  bereits  im  Auslande  eine  Verurteilung  erfolgt  ist,  voraus- 
gesetzt, dass  wegen  derselben  ein  erneutes  Verfahren  vor  italienischen  Gerich- 
ten stattfindet.  Die  Vorschriften  über  die  Bestrafung  der  von  Ausländem  im 
Auslande  begangenen  strafbaren  Handlungen  gegen  den  italienischen  Staat 
entsprechen  den  vom  Internationalen  Institut  für  Völkerrecht  gebilligten  Grund- 
sätzen. Die  Formel  über  die  Feststellung  der  Auslieferungspflicht  ist  so 
allgemein  gehalten,  dass  man  sagen  kann:  die  Auslieferung  ist  die  Regel,  die 


§  3.    Der  allgemeine  Teil  des  StGB.  589 


Nichtansliefening  die  Ausnahme.  Nicht  zulässig  ist  die  erstere  in  Bezug  auf 
italienische  Staatsangehörige  und  politische  Verbrecher. 

Die  zur  Anwendung  kommenden  Strafen  sind  folgende: 

!•  Für  Verg.  (delitti):  schweres  Zuchthaus  (ergastolo),  zeitliche  Zucht- 
hausstrafe (reclusione) ,  Gefängnis  (detenzione) ,  Beschränkung  des  Aufenthalts 
auf  einen  bestimmten  Bezirk  durch  obrigkeitliche  Anordnung  —  Eingrenzung 
—  (confino),  Ausschluss  von  der  Bekleidung  öffentlicher  Ämter  (interdizione 
dei  pubblici  uffici),  Geldstrafe  von  10  bis  10  000  Lire  (multa). 

2.  Für  Übertretungen:  Haft  (arresto),  Geldstrafe  von  einer  bis  2000 Lire 
(ammenda),  Ausschluss  von  der  Ausübung  eines  Gewerbes  oder  eines  Berufs 
(sospensione  deir  esercizio  d'una  professione  e  arte). 

Als  Nebenstrafe  findet  sich  die  Stellung  unter  Polizeiaufsicht  (vigilanza 
della  publica  sicurezza),  als  Straf ersatzmittel  der  richterliche  Verweis  (ripren- 
sione  giudiziale).^)  Der  Verfasser  hatte  auch  die  Einführung  der  bedingten 
Verurteilung  in  Vorschlag  gebracht,  jedoch  ohne  Erfolg.-). 

Das  Strafensystem  ist  einfach  und  übersichtlich.  Die  grosse  Gefahr,  die 
in  der  Aufstellung  einer  komplizierten  Auswahl  von  Strafmitteln  liegt,  mit 
denen  die  Praxis  meist  nicht  viel  anzufangen  weiss,  hat  der  Gesetzgeber 
glücklich  vermieden. 

Die  Todesstrafe,  thatsächlich  zur  Zeit  des  Erlasses  des  StGB,  bereits 
nicht  mehr  in  Anwendung,  ist  nun  auch  von  Rechts  wegen  abgeschafft.  Auf 
Grund  der  gemachten  Erfahrungen  erfolgte  die  Abschaffung  ohne  Diskussion 
und  für  alle  Delikte,  selbst  für  den  Königsmord.  Die  an  ihre  Stelle  getretene 
Strafe  des  ergastolo  besteht  in  lebenslänglicher  Zwangsarbeit  mit  Einzelhaft 
während  der  ersten  sieben  Jahre  der  Strafverbüssung.  Um  zu  verhindern, 
dass  im  Falle  des  Vorliegens  mildernder  Umstände  bei  den  mit  dieser  Strafe 
bedrohten  Delikten  eine  zu  milde  Praxis  Platz  greift,  bestimmt  das  GB,  dass 
dann  auf  die  ausserordentliche  Strafe  von  BOjährigem  Zuchthaus  erkannt 
werden  soll.  Selbstverständlich  ist  die  bedingte  Entlassung  nicht  zulässig; 
nach  Ablauf  der  Strafzeit  wird  der  Entlassene  unter  polizeiliche  Aufsicht 
gestellt.  Um  den  zu  lebenslänglicher  Einsperrung  Verurteilten  Gelegenheit 
zur  Besserung  zu  geben,  werden  sie  nach  siebenjähriger  Einzelhaft  mit  anderen 
Sträflingen  gemeinsam  beschäftigt,  jedoch  mit  der  Verpflichtung  vollständigen 
Stillschweigens  und  strenger  Trennung  während  der  Nacht.  Bei  unangemessenem 
Verhalten  des  Gefangenen  wird  ihm  diese  Vergünstigung  im  Disziplinarwege 
entzogen. 

Die  nach  irländischem  Muster  (mit  Progressivsystem)  geregelte  Verbüssung 
der  Zuchthausstrafe  (reclusione),  sowie  die  der  Gefängnisstrafe  (detenzione) 
erfolgt  in  Einzelhaft.    Arbeit  ist  obligatorisch,  die  bedingte  Entlassung  zulässig. 

Die  Freiheit  des  richterlichen  Ermessens  bei  der  Auswahl  der  Strafart 
hat  dadurch  eine  erhebliche  Einschränkung  erfahren,  dass  der  Gesetzgeber 
diese,  je  nach  den  Beweggründen  der  That,  im  voraus  bestimmt  hat.  Die 
Berücksichtigung  der  Motive,  welche  zur  Begehung  der  That  geführt  haben, 
findet  sich  ausserdem  noch  in  den  StGB,  von  Russland  (Art.  129  No.  3),  Zürich 
(§  126),  Brasilien  (Art.  16  No.  4),  nur  für  politische  Delikte  auch  in  dem  von 
Tessin  (Art.  24).  Sehr  weitgehende  Bestimmungen  enthalten  das  deutsche 
StGB.  (§  20)  und  der  österreichische  Entw.  (§  14).  Die  vom  italienischen 
Gesetzgeber   befolgte  Methode    hat  vielleicht  keine  unmittelbar   in  die  Augen 


^)  Alimena,  La  riprensione  giudlziale  e  la  sospensione  della  pena  in  der  Rivista 
penale,  Bd.  XXVII. 

^)  Alimena,  Le  projet  du  nouveau  Code  p^nal  Italien.  Paris-Lyon  1888  und  in 
den  Archives  de  rAnthropologie  criminelle  et  des  sciences  pönales,  Bd.  III. 


J 


590  Italien  nebst  Kolonieen.  —  Das  heute  geltende  Recht. 


fallenden  Vorteile,  immerhin  aber  bildet  sie  den  ersten  entscheidenden  Schritt 
auf  dem  von  der  modernen  Wissenschaft  angebahnten  Wege  zur  Anpassung 
der  Strafe  an  die  Individualität  des  Thäters  und  an  den  Charakter  seiner  That. 

Der  Verweis  ist  im  italienischen  Becht  keine  eigentliche  Strafe  ffir  bestinunte 
Delikte,  wie  im  russischen,  spanischen  und  portugiesischen  StGB.,  sondern  ein 
Strafersatzmittel,  von  dem  in  einigen  Fällen  Gebrauch  gemacht  wird,  um  die 
Gefahren  kurzzeitiger  Freiheitsstrafen  abzuwenden. 

Die  Strafen  sind  nicht  in  Grade  eingeteilt,  sondern  das  6B.  bestimmt  für 
jedes  Delikt  ein  Höchst-  und  ein  ^lindestmass;  die  Strafrahmen  sind  genügend 
weit,  um  die  ausreichende  Berücksichtigung  der  Verschiedenheit  aller  unter 
einen  Deliktsbegriff  fallenden  Handlungen  zu  ermöglichen. 

Im  Falle  der  Beleidigung  einer  Person  oder  einer  Familie  kann  der 
Richter  dem  Beleidigten  eine  Entschädigung  (Art.  38;  zuerkennen,  die  der 
„Busse"  des  deutschen  StGB.  r§§  186 — 188,  231;  entspricht.  Bei  dieser  Gelegen- 
heit will  ich  mein  Bedauern  nicht  unterdrücken,  dass  die  Gesetzgeber  noch 
immer  ein  Mindestmass  der  Freiheitsstrafen  bis  zu  3  Tagen  herunter  zulassen 
—  als  ob  nicht  längst  feststände,  dass  die  kurzzeitigen  Freiheitsentziehungen 
nicht  nur  nichts  nützen,  sondern  sogar  schaden,  indem  sie  die  Zunahme  der 
sogenannten  „kleinen  Kriminalität"  (petite  criminalit^j  befördern.  Neben  der 
Zwangsarbeit  ohne  Einsperrung  wäre  hier  ein  geeignetes  Gebiet  für  die  aus- 
gedehntere Anwendung  der  Privatstrafe.*; 

Ich  komme  jetzt  zu  dem  alten  und  doch  ewig  neuen  Problem  der  Zu- 
rechnung.*) 

Für  Verg.  gilt,  falls  nicht  das  GB.  das  Gegenteil  bestinmit,  die  Regel, 
dass  jemand  wegen  eines  solchen  nur  dann  strafbar  ist,  wenn  er  die  dasselbe 
bildende  That  gewollt  hat.  Bei  Übertretungen  braucht  die  Absicht  des  Thäters, 
dass  er  eine  rechtswidrige  That  begehen  wollte,  nicht  besonders  bewiesen  zu 
werden  (Art.  45;. 

Der  Thäter  bleibt  straflos,  wenn  er  zur  Zeit  der  Begehung  der  Hand- 
lung sich  in  einem  solchen  krankhaften  Geisteszustände  befand,  dass  ihm 
dadurch  das  „Bewusstsein  oder  die  Freiheit  seiner  Handlung"  genommen 
war:  eine  unglückliche  Bestimmung,  die  leicht  dazu  führen  kann,  der 
Willkür  Thor  und  Thür  zu  öffnen.  Steht  doch  nicht  einmal  fest,  was  unter 
„coscienza"  zu  verstehen  ist!  Das  Wort  hat,  wie  das  französische  „con- 
science",  die  doppelte  Bedeutung  „Bewusstsein"  tmd  „Gewissen".  Die  deutsche 
Sprache,  die  für  die  beiden  verschiedenen  Begriffe  auch  zwei  verschiedene 
Bezeichnungen  hat,  ist  daher  gegenüber  dem  Italienischen  und  Französischen 
im  Vorteil.  In  welchem  Sinne  ist  nun  „coscienza"  hier  zu  verstehen?  Bedeutet 
es  ganz  allgemein  „Bewusstsein"?  Es  dürfte  nur  wenig  Geisteskranke  geben, 
die  desselben  vollständig  beraubt  sind;  der  Wahnsinnige,  der  einen  anderen 
mit  dem  Dolche  durchbohrt,  kann  sehr  wohl  das  „Bewusstsein"  seiner  Hand- 
lungsweise haben;  demnach  würde  eine  grosse  Anzahl  Geisteskranker  von 
Rechts  wegen  zu  verurteilen  sein.  Oder  bedeutet  es  „Gewissen"?  Dann  hätte 
der  Gesetzgeber  sich  wohl  deutlicher  ausgedrückt.  Aber  angenommen,  es  sei 
dem  so  —  ist  der  Gesetzgeber  dann  völlig  sicher,  dass  der  nicht- geistes- 
kranke Verbrecher  ein  normales  Gewissen  hat? 

Meiner  Ansicht  nach   führt  jede   zu  ausführliche  Bestimmung  zu   prak- 


*)  Den  gleichen  Vorschlag  habe  ich  bereits  dem  internationalen  Kongress  für 
Gefängniswesen  zu  St.  Petersburg  (1890)  und  dem  intemationaleu  Kongress  für  Kri- 
minalanthropologie zu  Brüssel  (1.S92)  unterbreitet. 

*j  Über  die  Lösung  dieser  Frage,  sowie  der  mit  ihr  zusammenhängenden  Pro- 
bleme in  den  verschiedenen  Gesetzgebungen  vgl.  mein  Werk:  I  limiti  e  i  modificatori 
deil'imputabilitä.    Turin  1893. 


§  3.    Der  allgemeine  Teil  des  StGB.  591 


tischen  ü beiständen  und  ist  deshalb  zu  verwerfen;  es  empfiehlt  sich,  nach 
dem  Beispiele  Belgiens,  Spaniens,  Portugals,  auch  Hollands,  lediglich  zu  sagen : 
die  Zurechnung  ist  ausgeschlossen,  wenn  der  Angeklagte  zur  Zeit  der  Begehung 
der  That  sich  im  Zustande  einer  Geisteskrankheit  oder  krankhaften  Störung 
seiner  Geistesthätigkeit  befand. 

Die  Unterbringung  des  verbrecherischen  Geisteskranken  in  eine  Irren- 
anstalt ist  zulässig,  aber  —  was  sehr  zu  bedauern  ist  —  nicht  vorgeschrieben 
(Art.  46).- 

Wenn  die  oben  erwähnten  Zustände  krankhafter  Geistesthätigkeit  nicht 
derartig  sind,  dass  sie  die  strafrechtliche  Verantwortlichkeit  des  Thäters  völlig 
ausschliessen,  aber  doch  die  That  in  milderem  Lichte  erscheinen  lassen,  so 
tritt  verhältnismässige  Strafminderung  ein  (Art.  47). 

Eine  an  und  für  sich  strafbare  Handlung  ist  straflos,  wenn  ihre  Begehung 
auf  gesetzlicher  Vorschrift  oder  Befehl  der  zuständigen  Obrigkeit  beruht,  oder 
wenn  sie  begangen  ist  im  Zustande  der  Notwehr  oder  des  Notstandes  (Art.  49). 
Wenn  hierbei  aber  die  Schranken  der  Gesetzesvorschrift,  des  Befehls  oder  der 
notwendigen  Verteidigung  überschritten  sind,  so  tritt  lediglich  Strafminderung 
ein  (Art.  50).  Der  Entw.  ordnete  an,  dass  eine  Bestrafung  nicht  eintreten 
sollte,  wenn  die  Überschreitung  auf  Furcht  zurückzuführen  sei;  diese  Bestim- 
mung ist  jedoch  in  das  StGB,  nicht  aufgenommen  worden. 

Strafminderung  tritt  femer  ein,  wenn  die  That  in  der  Aufregung  des 
Zornes  oder  des  übermächtigen  Schmerzes  über  eine  unverschuldete  Beleidigung 
begangen  ist;  der  Grad  der  Minderung  ist  verschieden,  je  nachdem  es  sich 
um  eine  leichte  oder  um  eine  schwere  Beleidigung  handelt  (Art.  51).  Als  der 
Entw.  des  StGB,  noch  nicht  zum  Gesetz  erhoben  war,  habe  ich  darauf  aufmerk- 
sam gemacht,  dass,  nachdem  der  Begriff  der  „unwiderstehlichen  Gewalt" 
(force  irresistible)  im  StGB,  nicht  mehr  verwendet  wird,  die  Wirkungen  des 
gerechten  Schmerzes  und  des  Zornes  verschieden  zu  behandeln  seien,  da  das 
GB.  dem  verschiedenartigen  ethischen  Werte  beider  Empfindungen  Rechnung 
tragen  müsse.  Der  Umstand,  dass  diese  Warnung  unbeachtet  gelassen  ist, 
führt  häufig  zu  einer  sehr  gezwungenen  Auslegung  des  GB. 

Die  Trunkenheit  ist  bald  Strafausschliessungs-,  bald  Strafminderungs- 
grund,  bald  keines  von  beiden  (Art.  48j. 

Besondere  Vorschriften  sind  für  die  Taubstummen  erlassen  (Art.  57  und  58). 

Leider  ist  als  Beginn  der  vollen  Strafmündigkeit  die  Vollendung  des 
einundzwanzigsten  Lebensjahres  beibehalten  worden,  während  der  Entw.  die- 
selbe vom  vollendeten  achtzehnten  Jahre  an  eintreten  lassen  wollte.  Die  Zeit 
bis  zur  Strafmündigkeit  zerfällt  in  zwei  Perioden:  in  der  ersten  wird  niemals 
gestraft,  in  der  zweiten  nur  dann,  wenn  der  Thäter  das  Unterscheidungsver- 
mögen besessen  hat  (Art.  53,  54,  55,  56). 

Endlich  kennt  das  StGB,  auch  die  Einrichtung  der  „mildernden  Umstände" 
im  allgemeinen  (Art.  59). 

Wie  man  sieht,  behandelt  das  GB.  die  bislang  erwähnten  Strafausschlies- 
sungs- und  Minderungsgründe  im  allgemeinen  Teil.  Es  giebt  aber  auch  Aus- 
nahmen von  diesem  Prinzip. 

Unter  den  Begriff  der  Notwehr  fällt  nicht  die  Verteidigung  des  Eigen- 
tums, die  in  dem  von  den  Totschlagsdelikten  handelnden  Art.  376  erwähnt 
wird.  Das  GB.  statuiert  femer  zwei  besondere  Strafminderungsgründe :  1.  für 
den  Totschlag,  der  im  Augenblicke  der  Ertappung  bei  Ehebruch  oder  ausser- 
ehelichem  Beischlaf  seitens  des  Ehegatten  oder  eines  nahen  Verwandten 
begangen  wird  (Art.  377);  2.  für  die  Teilnehmer  an  einer  gemeinschaftlichen 
Tötung  oder  Köi-perverletzung,  wenn  der  eigentliche  Urheber  derselben  unbe- 
kannt ist  (Art.  378). 


592  Italien  nebst  Kolonieen.  —  Das  heute  geltende  Recht. 


Fernere  Strafmindeningsgründe  bei  besonderen  Delikten  sind:  die  voraus- 
gegangene schwere  Kränkung  oder  Schmähung  bei  dem  Zweikampf  (Art.  240) 
und  der  Beleidigung  (Art.  397);  die  Absicht,  die  eigene  Ehre  oder  die  einer 
nahen  Verwandten  zu  retten,  bei  der  Abtreibung  (Art.  385),  der  Unterschie- 
bung eines  Kindes  und  der  Unterdrückung  des  Personenstandes  eines  solchen 
(Art.  363);  die  vor  Einleitung  des  Strafverfahrens  erfolgte  Entschädigung  des 
durch  die  strafbare  Handlung  Verletzten  (Art.  432)  und  die  Geringfügigkeit 
des  Objektes  (Art.  431)  bei  den  Eigentumsdelikten;  der  geringe  Grad  der 
Gefahr  und  die  thätige  Reue  bei  gemeingefährlichen  Verbr.  (Art.  330);  die 
freiwillige  Gestellung  des  Gefangenen,  der  sich  selbst  befreit  hat  (Art.  232); 
der  Umstand,  dass  eine  Fälschung  in  der  Absicht  begangen  ist,  Beweismittel 
für  eine  wahre  Thatsache  zu  beschaffen  (Art.  282);  der  Widerruf  bei  der  Ver- 
leumdung (Art.  212,  213);  bei  dem  Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt:  der 
Umstand,  dass  der  Thäter  in  der  Absicht  handelt,  sich  oder  einen  nahen  Ver- 
wandten der  Verhaftung  zu  entziehen  (Art.  190,  191),  und  andres  mehr.  Das 
GB.  lässt  ferner  straflos:  die  Angriffe  auf  einen  öffentlichen  Beamten,  wenn 
dieser  zu  der  Handlung  dadurch  Veranlassung  gegeben  hat,  dass  er  durch 
unerlaubte  Handlungen  die  Grenzen  seiner  Amtsbefugnisse  überschritt  (Art.  199); 
Sittlichkeitsdelikte,  wenn  vor  der  Aburteilung  der  Thäter  die  Verletzte  heiratet 
(Art.  352);  den  Meineid  und  das  falsche  Zeugnis  in  gewissen  Fällen  (Art.  215  und 
216);  die  Zeugen,  die  bemüht  gewesen  sind,  den  Zweikampf  zu  verhindern 
(Art.  241). 

Mit  dem  Versuch  beschäftigt  sich  das  StGB,  nur,  insofern  es  sich  um 
den  Versuch  eines  Verg.  handelt;  der  Versuch  einer  Übertretung  ist  straflos. 
Das  GB.  hat  die  Unterscheidung  zwischen  versuchtem  und  fehlgeschlagenem 
Verg.  (delitto  tentato  —  mancato)  beibehalten.  In  beiden  Fällen  muss  jedoch 
die  Vollendung  der  That  aus  Gründen  unterblieben  sein,  die  von  dem  Willen 
des  Handelnden  unabhängig  sind;  andernfalls  —  wenn  der  Thäter  fi*eiwillig 
die  Vollendung  der  That  aufgegeben  hat  —  wird  er  nicht  wegen  eines  ver- 
suchten, sondern,  insoweit  der  zur  Ausführung  gelangte  Teil  der  That  ein 
selbständiges  Delikt  bildet,  wegen  dieses  vollendeten  Delikts  bestraft  (Art.  61). 
Mit  Recht  hat  der  Gesetzgeber  an  Stelle  der  veralteten  Formulierung  des  Ver- 
suchs als  der  „kundgegebenen  Absicht,  das  Delikt  zu  begehen",  die  Definition 
desselben  als  „Anfang  der  Ausführung"  gesetzt;  diese  ist  genauer  und  ent- 
spricht dem   deutschen  und  französischen  Recht  (commencement  d'ex^cution). 

Im  Gegensatz  zu  den  StGB,  von  Deutschland  (§  43),  Ungarn  (§  65)  und 
Holland  (§45),  die  die  Kontroverse  über  den  „unmöglichen  Versuch"  nicht 
entschieden  haben,  sowie  zum  griechischen  StGB.,  das  ihn  ausdrücklich  für 
strafbar  erklärt  (Art.  53),  lässt  das  G.  denjenigen  Versuch  straflos,  der  wegen 
des  angewandten  Mittels  nicht  zur  Vollendung  führen  kann.  Diese  Bestim- 
mung, die  auch  in  den  letzten  englischen  Entw.  (sec.  32)  Aufnahme  gefunden 
hat,  entspricht  den  überlieferten  Anschauungen  der  italienischen  Wissenschaft. 

Rückhaltloses  Lob  verdienen  die  Grundsätze,  welche  das  StGB,  über 
Thäterschaft  und  Teilnahme  aufstellt  (Art.  63).  Sie  beruhen  auf  einer 
doppelten  Unterscheidung:  einmal  zwischen  Thätem  und  Mitthätem  einerseits 
und  Gehülfen  andererseits,  zweitens  zwischen  solchen  besonderen  Umständen, 
die  in  der  Person  des  Handelnden,  und  solchen,  die  in  der  Sache  liegen. 

Bei  dem  Zusammentreffen  mehrerer  strafbaren  Handlungen  tritt 
eine  Erhöhung  der  verwirkten  Strafe  ein  (Art.  67  AT.). 

Das  GB.  kennt  zwei  Arten  des  Rückfalls:  den  Rückfall  durch  Begehung 
von  Delikten  der  gleichen  Gattung  und  den  Rückfall  durch  wiederholte 
Begehung  ein  und  desselben  Delikts.  Im  ersteren  Falle  darf  nicht  auf  das 
Mindestmass  der  angedrohten  Strafe  erkannt  werden,    im  letzteren  hängt  der 


§  4.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  593 


Grad  der  Strafschärfung  davon  ab,   ob  einmaliger  oder  wiederholter  Rückfall 
vorliegt  (Art.  80  flF.). 

Der  Schlnss  des  ersten  Baches  beschäftigt  sich  mit  dem  Erlöschen  der 
Strafklage  und  der  Aufhebung  der  Strafvollstreckung;  sie  werden 
bewirkt  durch  den  Tod  des  Schuldigen,  königliche  Begnadigung,  Verjährung, 
Rehabilitation,  Verzeihung  des  Verletzten,  freiwillige  Zahlung  bei  geringen, 
nur  mit  Geldstrafe  bedrohten  Übertretungen  (Art.  85  flf.).  Hier  ist  auf  eine 
wichtige  Neuerung  hinzuweisen.  Im  sardo-neapolitanischen  StGB,  herrschte 
infolge  ungenauer  Redaktion  Unklarheit  darüber,  ob  die  Verjährungszeit  zu 
berechnen  sei  nach  der  für  das  begangene  Delikt  in  abstracto  angedrohten 
oder  nach  der  in  concreto,  unter  Berücksichtigung  aller  begleitenden  Umstände, 
angemessenen  Strafe.  Das  neue  StGB,  hat  sich  für  die  zweite  Alternative 
entschieden. 

§  4.  Der  besondere  Teil  den  StGB. 

Das  zweite  Buch  ist  folgendermassen  eingeteilt: 

I.  Verg.  gegen  die  Sicherheit  des  Staates  (Art  104 — 138);  II.  Verg. 
gegen  die  Freiheit  (Art.  139 — 167);  III.  Verg.  gegen  die  öffentliche  Verwal- 
tung (Art.  168 — 209);  IV.  Verg.  gegen  die  Justizverwaltung  (Art.  210 — 245); 
V.  Verg.  gegen  die  öffentliche  Ordnung  (Art.  246 — 255);  VI.  Verg.  gegen 
die  öffentliche  Treue  (Art.  256—299);  VII.  Gemeingefährliche  Verg.  (Art.  300 
bis  330);  VIII.  Verg.  gegen  die  gute  Sitte  und  dieFrtmilienordnung(Art.331— 363); 
IX.  Verg.  gegen  die  Person  (Art.  364 — 401);  X.  Verg.  gegen  das  Eigentum 
(Art.  402—433). 

In  der  sorgfältigen,  auf  wissenschaftlicher  Methode  beruhenden  Anord- 
nung der  strafbaren  Handlungen  übertrifft  das  neue  StGB.  Beine  Vorgänger 
bei  weitem. 

Die  Delikte  gegen  die  innere  und  die  äussere  Sicherheit  des  Staates 
werden  nicht  getrennt,  sondern  beide  im  ersten  Titel  behandelt.  Die  Straf- 
bestimmungen gegen  den  Streik,  den  manche  StGB,  als  handelsrechtliches 
Verg.  betrachten,  finden  sich  in  dem  Titel  „Verg.  gegen  die  Freiheit",  und 
zwar  in  dem  Kapitel,  das  von  der  Freiheit  der  Arbeit  handelt.  Die  Bedrohung, 
die  fVüher  als  Delikt  gegen  die  öffentliche  Ruhe  angesehen  wurde,  findet  jetzt 
ihren  Platz  unter  den  Verg.  gegen  die  individuelle  Freiheit,  ebenso  wie  die 
Freiheitsberaubung  und  die  Nötigung.  Die  gänzlich  unhaltbare  Auffassung  der 
strafbaren  Handlungen  gegen  Gräber  als  Verstösse  gegen  die  Vorschriften 
über  die  Beerdigungen  ist  aufgegeben;  sie  werden  unter  den  Religionsdelikten 
erwähnt.  Die  fälschliche  Vorspiegelimg  einer  strafbaren  Handlung,  Verleum- 
dung, falsches  Zeugnis,  Zweikampf  sind  Verg.  gegen  die  Justizverwaltung. 
Brandstiftung  und  Verursachung  einer  Überschwemmung  (früher  als  Eigen- 
tumsdelikte betrachtet),  Nahrungsmittelvergehen  und  schwere  Delikte  gegen 
die  Eisenbahnen  gelten  als  gemeingefährliche  Verg. 

Der  erste  Titel  —  Verg.  gegen  die  Sicherheit  des  Staates  —  enthält: 
Verg.  gegen  das  Vaterland,  d.  h.  Angriffe  auf  die  nationale  Einheit  und 
Unabhängigkeit,  feindselige  Handlungen  gegen  den  Staat,  Verrat  von  Staats- 
geheimnissen, Festungs-,  Arsenal-  und  Schiflfsplänen,  Untreue  bei  dem  Abschluss 
von  Staatsgeschäften  mit  fremden  Regierungen,  Spionage,  die  Herbeiführung 
einer  Kriegsgefahr  für  den  Staat,  die  Annahme  von  Auszeichnungen,  Pensionen 
oder  anderen  Vorteilen  von  einem  mit  Italien  im  Kriege  befindlichen  Staate; 
femer  die  Verg.  gegen  die  Staatsgewalten,  nämlich:  Angriffe  aut*  den  König, 
die  Königin,  den  Kronprinzen,  den  Regenten,  strafbare  Handlungen  gegen  die 
Verfassung  und  das  Parlament,  Aufruhr,  Anraassung  eines  öffentlichen  Amtes; 
endlich  die  Verg.  gegen   auswärtige  Staaten  und  die  Oberhäupter  und  Reprä- 

Strafgesetzgebang  der  Gegenwart.  I.  38 


594  Italien  nebst  Kolonieen.  —  Das  heute  geltende  Recht. 


sentanten  derselben.  Gewisse,  gegen  verbündete  Staaten  begangene  Delikte 
werden  ebenso  bestraft,  als  wenn  sie  gegen  Italien  begangen  wären. 

Alle  diese  Delikte  werden  mit  6ef.  bestraft,  wenn  ein  politisches,  mit 
Zaebthans,  wenn  ein  gemeines  Motiv  vorliegt. 

Za  den  straf  baren  Handlungen  gegen  die  Freiheit  zählt  das  StGB.:  die 
Delikte  gegen  die  politische  Freiheit;  die  Delikte  gegen  die  Koltasfreiheit;  die 
Delikte  gegen  die  individuelle  Freiheit;  die  Delikte  gegen  die  ünverletzlich- 
keit  der  Wohnung;  die  Verletzungen  des  Briefgeheimnisses;  die  Delikte  gegen 
die  Freiheit  der  Arbeit. 

Bei  den  in  diesem  Titel  behandelten  Strafthaten  finden  sich  verschärfte 
Strafandrohungen  gegen  Staatsbeamte,  weil  diese  besonders  leicht  in  die  Lage 
kommen,  die  individuelle  Freiheit  anzugreifen.  Der  Streik  und  die  Vereini- 
gung von  Arbeitern  zur  Erzielung  von  Lohnerhöhungen  und  anderen  Vor- 
teilen werden  nicht  als  solche  bestraft,  sondern  nur  dann,  wenn  die  Streiken- 
den Gewalt  oder  Drohungen  anwenden,  um  die  anderen  an  der  Fortsetzung 
oder  Aufnahme  der  Ai*beit  zu  hindern. 

Bei  den  Verbr.  gegen  die  öffentliche  Verwaltung  kann  sowohl  eine 
Privatperson  als  ein  öffentlicher  Beamter  der  Thäter  sein.  Zu  dieser  Gruppe 
gehören:  Unterschlagung  und  Entwendung  im  Amte,  sowie  alle  sonstigen  Über- 
griffe der  öffentlichen  Beamten,  Bestechung,  Erpressung,  Missbrauch  der  Amts- 
gewalt seitens  eines  Beamten  oder  Religionsdieners,  Anmassung  öffentlicher 
Funktionen,  Titel  oder  Auszeichnungen,  Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt, 
Beamtenbeleidigung,  Verletzung  von  Siegeln  und  Entwendungen  aus  öffent- 
lichen Verwahrungsstellen.  —  Besondere  Beachtung  verdienen  die  Strafbestim- 
mungen gegen  die  Religionsdiener.  Es  lag  keineswegs  in  der  Absicht  des 
Gesetzgebers,  die  Gewissensfreiheit  anzutasten  oder  die  freie  Meinungsäusse- 
rung zu  unterdrücken,  aber  er  wollte  eine  Handhabe  schaffen,  um  diejenigen 
Priester  der  verdienten  Strafe  zu  unterwerfen,  die  unter  Missbrauch  ihres 
amtlichen  und  moralischen  Einflusses  das  Gesetz  verletzen  und  das  Volk  zur  Miss- 
achtung der  Staatseinrichtungen,  zur  Vernachlässigung  ihrer  Pflichten  gegen 
Familie  und  Vaterland  aufhetzen.  Jeder  Staat,  der  sich  nicht  selbst  dem 
Untergange  weihen  will,  hat  das  Recht  und  die  Pflicht  der  Selbstverteidigung 
gegen  diejenigen,  die  ihn  unter  dem  Deckmantel  der  Religion  zu  vernichten 
suchen.  Der  Vorwurf,  den  man  dem  GB.  daraus  gemacht  hat,  dass  es  nicht  die 
Religionsdiener  den  übrigen  Staatsbürgern  gleichgestellt,  sondern  für  sie  beson- 
ders scharfe  Strafandrohungen  geschaffen  hat,  ist  nicht  schwer  zu  entkräften. 
Werden  nicht  auch  andere  Klassen  von  Personen  wegen  eines  Delikts  um  so 
härter  gestraft,  je  grösser  für  sie  die  Versuchung  ist,  es  zu  begehen?  so  der 
Aszendent  wegen  Notzucht  an  der  Deszendentin,  der  öffentliche  Beamte  wegen 
eines  Verbr.  gegen  die  persönliche  Freiheit,  die  Hebanune  wegen  Abtreibung, 
der  Notar  wegen  Urkundenfälschung?  Man  darf  nicht  vergessen,  dass  der 
Geistliche  vermöge  seines  Standes,  des  Ansehens,  den  ihm  sein  geistliches  Amt 
verleiht,  einen  besonders  grossen  Einfluss  hat  und  dass  in  Italien  weltliche 
und  geistliche  Macht  einen  beständigen  erbitterten  Kampf  miteinander  führen. 
Selbst  Belgien,  in  welchem  die  klerikale  Partei  meist  die  Regierungspartei  ist, 
hat  besondere  Straf  Vorschriften  gegen  die  Religionsdiener,  und  zwar  viel 
härtere  als  Italien. 

Auffallend  schwer  wird  der  Widerstand  gegen  die  Staatsgewalt  bestraft. 
Öffentlicher  Beamter  ist  jeder,  der  ein  öffentliches  Amt,  sei  es  auch  nur  zeit- 
weilig und  unentgeltlich,  versieht.  Jedoch  wird  bei  der  Beamtenbeleidigung 
die  Strafe  verschieden  bemessen,  je  nachdem  sie  gegen  einen  Polizei- 
bediensteten oder  einen  anderen  öffentlichen  Beamten  gerichtet  war.  Streitig 
ist,  ob  der  Widerstand  straflos  bleibt,  wenn  er  durch  ungesetzliches  Verhalten 


^ 


§  4.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  595 


des  angegriffenen  Beamten  hervorgerufen  wurde.  In  der  Litteratur  sind  zwei 
Ansichten  vertreten;  nach  der  einen  hat  der  Unterthan  blindlings  zu  gehorchen 
und  ist  nicht  befugt,  die  Gesetzmässigkeit  der  Handlungsweise  des  Beamten 
zu  prüfen;  nach  der  anderen  wird  der  Beamte  nur  in  der  rechtmässigen  Aus- 
übung seines  Amtes  geschützt  und  verliert  diesen  Schutz,  sobald  er  seine 
Befugnisse  überschreitet.  Zweifellos  ist  die  erstere  Ansicht  eines  freien  Landes 
unwürdig.  Das  GB.  stellt  nicht  die  Person  des  Beamten,  sondern  die  Ausübung 
des  Amtes  unter  besonderen  Schutz.  Wenn  also  der  Beamte  vom  Wege  des 
Gesetzes  abweicht,  so  handelt  er  nicht  mehr  in  Ausübung  seines  Amtes  und 
verwirkt  den  besonderen  gesetzlichen  Schutz.  £s  ist  nicht  zu  bezweifeln, 
dass  diese  Au£fas8ung  die  des  GB.  ist. 

Die  Verg.  gegen  die  Justizverwaltung  umfassen:  die  Weigerung, 
gesetzliche  Pflichten  zu  erfüllen ;  die  fälschliche  Vorspiegelung  einer  strafbaren 
Handlung;  die  falsche  Anschuldigung;  die  falsche  Aussage  vor  Gericht,  wozu 
auch  die  Verleitung  eines  Zeugen  oder  Sachverständigen  zu  falscher  Aussage 
sowie  die  falsche  Ableistung  eines  Parteieides  im  Civil  verfahren  gehören;  die 
Untreue  der  Sachwalter;  die  Begünstigung;  Entweichung  eines  Gefangenen  und 
Ungehorsam  gegen  das  Strafurteil;  unerlaubte  Selbsthülfe;  Zweikampf. 

Das  GB.  bestraft  die  Herausforderung  zum  Zweikampf,  auch  wenn  sie 
nicht  angenommen  wird,  und  in  allen  Fällen  denjenigen,  der  Veranlassung  zur 
Herausforderung  gegeben  hat.  Die  Zeugen  sind  strafbar,  wenn  sie  nicht  ernst- 
lich bemüht  gewesen  sind,  den  Kampf  zu  verhindern.  Wer  beim  Zweikampf 
von  den  Waffen  Gebrauch  macht,  wird  bestraft,  auch  wenn  er  dem  Gegner 
keine  Verletzung  beibringt.  Sehr  wichtig  und  beachtenswert  sind  die  Straf- 
androhungen gegen  den,  welcher  einen  anderen  öffentlich  beleidigt  oder  der 
öffentlichen  Verachtung  aussetzt,  weil  er  eine  Herausforderung  nicht  angenom- 
men hat,  sowie  gegen  den,  welcher  die  Thatsache  der  Ablehnung  der  Forde- 
rung öffentlich  verbreitet,  oder  unter  Androhung  oder  Bezeugung  von  Ver- 
achtung oder  in  der  Absicht,  Geld  oder  andere  Vorteile  zu  erlangen,  einen 
anderen  herausfordert.  Die  Bestrafung  einer  beim  Zweikampf  erfolgten  Tötung 
oder  Körperverletzung  geschieht  nach  den  für  diese  Delikte  erlassenen  beson- 
deren Vorschriften. 

Unter  den  Verg.  gegen  die  öffentliche  Ordnung  finden  wir  die 
Aufforderung  zur  Begehung  einer  strafbaren  Handlung,  die  Verbindung  zur 
Begehung  von  solchen,  die  Aufreizung  zum  Bürgerkrieg,  die  Bildung  von 
bewaffneten  Banden  und  öffentliche  Einschüchterung. 

Als  Verg.  gegen  die  öffentliche  Treue  führt  das  GB.  auf:  die  Fäl- 
schung von  Münzen  und  öffentlichen  Kreditpapieren;  von  Siegeln,  öffentlichen 
Stempeln  und  Abdrücken  derselben;  die  Fälschung  von  öffentlichen  und  Pri- 
vat-Urkunden;  von  Pässen,  Erlaubnisscheinen,  Beglaubigungen,  Zeugnissen  und 
Erklärungen;  Betrügereien  im  Handel,  bei  der  Industrie  und  bei  Versteigerungen. 

Bei  der  Fälschung  von  Privaturkunden  finden  wir  eine  wichtige  Neuerung, 
die  eingehende  Diskussionen  hervorgerufen  hat.  Früher  pfiegte  der  Unter- 
suchungsrichter auf  Grund  einer  Bestimmung  der  neapolitanischen  Gesetz- 
gebung dem  Angeklagten  die  Frage  vorzulegen,  ob  er  die  Absicht  gehabt 
habe,  sich  der  als  verfälscht  angesehenen  Urkunde  zu  bedienen.  Verneinte 
der  Angeklagte  die  Frage,  so  war  damit  das  Verfahren  zu  Ende  und  er 
wurde  freigesprochen.  Nach  dem  neuen  StGB,  ist  dieses  Fragesystem  hin- 
fällig, weil  das  Verbr.  mit  dem  Vorzeigen  der  Urkunde  vollendet  ist.  Die 
Erklärung  des  rechtskundigen  Angeklagten,  er  habe  nicht  die  Absicht  gehabt, 
von  der  Urkunde  Gebrauch  zu  machen,  nützt  ihm  daher  ebensowenig,  wie 
dem  Dieb  die  Beteuerung,  er  sei  willens  gewesen,  die  gestohlene  Sache  dem 
Eigentümer  zurückzubringen. 

38* 


596  Italien  nebst  Kolonieen.  —  Das  heute  Gleitende  Kecht. 


Der  siebent«»  Tit(»l  enthält:  Brandstiftung,  Verursachung  einer  Über- 
schwemmung, Sinkenlassen  von  Schiffen  und  die  anderen  gemeingefährlichen 
Verg.;  die  Verg.  gepren  die  Sicherheit  der  Beförderungs-  oder  Verkehrs- 
mittel;  die  Verg.  gegen   die  öffentliche  Gesundheit  und  Ernährung. 

Der  Staat  soll  die  Verg.  gegen  die  gute  Sitte  und  die  Familien- 
ordnung bestrafen,  aber  er  muss  sich  vor  Übertreibungen  auf  diesem  Gebiete 
hüten  und  darf  nicht  soweit  gehen,  dass  seine  Vorschriften  gefährlicher  werden 
als  die  Handlungen,  für  die  sie  erlassen  sind  und  die  jungen  Mädchen  einer 
gesetzlichen  Tugendaufsicht  unterstellt  werden. 

Die  Sittlichkeitsdelikte  werden  deshalb  auch,  abgesehen  von  den  Fällen, 
in  denen  ein  öffentliches  Ärgernis  gegeben  ist  und  einigen  besonders  schweren 
Thaten,  nur  auf  Antrag  der  verletzten  Person  bestraft.  Das  GB.  unterscheidet: 
geschlechtliche  Vergewaltigung,  Schändung  Minderjähriger  und  Verletzung  des 
Sittlichkeitsgefühls;  Entführung  Minderjähriger;  Kuppelei;  Ehebruch;  Bigamie; 
Kindesunterschiebung  imd  Unterdrückung  des  Personenstandes. 

Ich  komme  nunmehr  zu  den  Verg.  gegen  die  Person. 

Als  solche  finden  wir  zunächst:  vorsätzliche  Tötung,  Körperverletzung 
mit  tötlichem  Ausgange,  Beihülfe  zum  Seibscmord,  Kindesmord  und  fahrlässige 
Tötung. 

Der  Totschlag  (vorsätzliche  Tötung  ohne  Vorbedacht)  wird  mit  Zuchthaus 
von  18 — 21  Jahren  bestraft;  mildere  Strafe  tritt  ein,  wenn  der  Tod  nicht  ohne 
die  Mitwirkung  vorher  bestehender,  dem  Thäter  unbekannter  Bedingungen 
oder  später  hinzugekommener  und  von  seinem  Handeln  unabhängiger  Ursachen 
eingetreten  wäre.  Die  vorher  bestehenden,  dem  Thäter  bekannten  besonderen 
Bedingungen  lässt  das  GB.  mit  Recht  unberücksichtigt,  denn  indem  der  Thäter 
sie  kannte,  benutzte  er  sie  bei  seiner  That  und  machte  sie  damit  zu  einem 
Faktor  seines  verbrecherischen  Vorsatzes.  Nach  einer,  jetzt  aufgegebenen, 
Theorie  der  älteren  italienischen  Strafrechtsdoktrin  wurde  fVüher  ein  Totschlag 
in  allen  Fällen  als  vorliegend  angenommen,  wenn  die  dem  Opfer  zugefügten 
Verletzungen  binnen  40  Tagen  den  Tod  herbeiführten,  jedoch  trat  Strafhiilderung 
ein  in  allen  Fällen,  in  denen  der  tötliche  Ausgang  nicht  voraussehbar  gewesen 
war.  Dagegen  geht  das  StGB,  davon  aus,  dass  in  allen  Fällen,  in  denen  der 
Vorsatz  des  Thäters  lediglich  darauf  gerichtet  war,  den  anderen  zu  verletzen, 
selbst  wenn  später  der  Tod  eintrat,  nur  ein  —  allerdings  besonders  straf- 
würdiger —  Fall  der  Körperverletzung  vorliegt.  Diese  Auffassung  verdient 
entschieden  den  Vorzug  vor  dem  alten  Dogma  der  Gleichheit  von  Totschlag 
und  Körperverletzung  mit  tötlichem  Ausgange,  denn  wenn  auch  der  Erfolg  in 
beiden  Fällen  der  gleiche  ist,  so  besteht  doch  zwischen  dem  Vorsatz  des  Thäters 
in  dem  einen  und  dem  anderen  Falle  eine  grundlegende  Verschiedenheit.  Die 
Absicht  zu  töten  ist  eine  andere,  als  die  Absicht  zu  verletzen.  Deshalb  ist 
auch  die  zeitliche  Beschränkung  von  40  Tagen  aufgegeben;  denn  wenn  der 
Thäter  einmal  den  Tötungswillen  hatte,  so  bleibt  es  sich  gleich,  ob  der  Tod 
früher  oder  später  eintritt,  ebenso  wie  umgekehrt  die  ursprüngliche  Verletzungs- 
absicht durch  den  später  eintretenden  Tod  nicht  nachträglich  in  Tötungsabsicht 
umgewandelt  wird. 

Das  GB.  zählt  mehrere  schwere  Fälle  der  Tötung  auf  (omicidi  aggravati), 
die  mit  Zuchthaus  von  22 — 24  Jahren  bestraft  werden;  hierhin  gehört  die 
Tötung,  welche  verübt  wird  an  dem  Ehegatten,  dem  Bruder,  der  Schwester, 
dem  Adoptivvater,  der  Adoptivmutter,  dem  Adoptivsöhne,  oder  einem  in  ge- 
rader Linie  Verschwägerten;  femer  die  Tötung  begangen  an  einem  Mitgliede 
des  Parlaments  oder  einem  öffentlichen  Beamten  aus  Anlass  ihrer  Funktionen; 
endlich  die  Tötung  vermittels  giftiger  Substanzen.  Die  schwersten  Arten  der 
Tötung  (omicidi  ciualificati)  werden  mit  lebenslänglichem  schwerem  Zuchthaus 


§  4.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  597 


(ergastolo)  bedroht;  zu  ihnen  rechnet  das  6B.:  die  Tötung,  welche  begangen 
wird  an  dem  Vater,  der  Mutter  und  einem  Aszendenten  oder  Deszendenten, 
und  zwar  auch  im  Falle  der  unehelichen  Verwandtschaft,  wenn  diese  gesetz- 
lich anerkannt  oder  erklärt  ist;  die  Tötung  mit  Vorbedacht;  die  aus  brutaler 
Ruchlosigkeit  oder  mit  schwerer  Grausamkeit  (brutale  malvagitA)  begangene 
Tötung;  femer  die  mittels  eines  gemeingefährlichen  Delikts  (Brandstiftung, 
Überechwemmung  usw.)  begangene;  endlich  die  Tötung,  welche  den  Zweck 
hat,  die  Vollziehung  einer  geplanten  anderen  strafbaren  Handlung  vorzube- 
reiten oder  zu  erleichtem  oder  aber  nach  Begehung  einer  solchen  die  Spuren 
der  That  zu  verwischen,  bezw.  den  Gewinn  in  Sicherheit  zu  bringen. 

Was  unter  „Vorbedacht"  (Überlegung)  zu  verstehen  ist,  überlässt  der 
Gesetzgeber,  dem  Beispiele  fast  aller  anderen  Länder  folgend,  der  Auslegung. 
Eine  Definition  dieses  Begriffes  fehlt  auch  in  dem  alten  toskanischen  StGB, 
und  in  den  geltenden  StGB,  von  Spanien,  San  Marino,  Genf,  Freiburg,  Wallis, 
Bern,  Waadtland,  Graubünden,  Glarus,  Appenzell,  Aargau,  Thurgau,  Basel- 
Land,  Basel-Stadt,  Zug,  Luzern,  St.  Gallen,  Schwyz,  Solothum,  Zürich,  Belgien, 
Luxemburg,  Holland,  Schweden,  Norwegen,  Finnland,  Dänemark,  Deutschland, 
Österreich,  Ungarn,  Bosnien,  Herzegovina,  Griechenland,  Russland,  sowie  in 
einigen  StGB.  Süd-  und  Centralamerikas. 

Auch  England,  Malta,  Indien,  die  englischen  Teile  von  Amerika,  die  Ver- 
einigten Staaten  von  Nordamerika  definieren  den  Unterschied  von  Mord  und 
Totschlag  (murder  —  manslaughter)  nicht  besonders. 

Diejenigen,  welche  unserem  StGB,  aus  der  Weglassung  dieser  Begriffs- 
bestimmung einen  Vorwurf  gemacht  haben,  können  sich  nur  auf  die  StGB, 
von  Frankreich,  Portugal,  der  Türkei,  das  ehemalige  sardo- neapolitanische 
StGB,  und  einige  andere  weniger  wichtige  berufen. 

Dem  Wesen  der  „Überlegung"  bei  den  Tötungsdelikten  muss  ich  noch 
eine  kurze  Betrachtung  widmen.  Meines  Erachtens  ist  nicht  zu  bezweifeln, 
dass  der  charakteristische  Unterschied  zwischen  „Mord"  und  „Totschlag"  in« 
den  Beweggründen  zu  suchen  ist;  ich  habe  daher  auf  Grund  eingehender 
kritischer  Betrachtung  der  für  und  gegen  die  Berücksichtigung  der  „Über- 
legung" vorgebrachten  Gründe  einen  neuen  rechtlichen  Begriff  derselben  auf- 
gestellt. Nach  meiner  Ansicht  ist  sie  die  bei  kaltem  Blute  und  bei  voller 
geistiger  Klarheit  erfolgte  Entwicklung  der  Gedanken  des  Thäters,  welche 
zur  Fassung  des  verbrecherischen  Entschlusses  führt  und  diesen  wie  den 
Charakter  des  Thäters  als  einen  ganz  besonders  boshaften  und  der  Rechts- 
ordnung feindlichen  erscheinen  lässt.^) 

Meine  in  dieser  Beziehung  angestellten  Untersuchungen  sind  nicht  ohne 
Einfiuss  auf  die  entsprechenden  Vorschriften  des  GB.  geblieben.®) 

Nicht  zu  billigen  ist,  dass  das  GB.  für  die  mit  Überlegung  ausgeführte 
Tötung  nur  eine  unveränderliche  Strafe  kennt. 

Die  mittels  hinterlistigen  Auflauerns  begangenen  Tötungen  hat  das  GB. 
aus  den  Fällen  des  eigentlichen  „Mordes"  ausgeschieden,  weil  sie  nicht  immer 
mit  Überlegung  ausgeführt  werden. 

Der  Kindesmord  ist  nicht  mehr,  wie  im  alten  StGB.,  ein  Mord  im  tech- 
nischen Sinne,  sondern  eine  gewöhnliche  Tötung,  die  ihr  charakteristisches 
Gepräge  durch  das  ihr  zu  Grunde  liegende  Motiv  der  Ehrenrettung  erhält. 
Dieses   Motiv,    das    in   vielen  anderen    StGB,  lediglich    einen  Strafmilderangs- 


^)  Alimena,  La  premeditazioue  in  rapporto  alla  psicologia,  al  diritto,  alla  legis- 
lazione  comparata.    Turin  1887. 

2)  Relazione  officiale  CXXXIX.  —  Luccbini  in  der  Rivista  penale:  Bullettino 
bibliogi-afico  (Sez.  II.  p.  787,  p.  370)  Vol.  XVII,  1,  III. 


59S  Italien  nebst  Kolonieen.  —  Das  heute  g'eltende  Recht. 


gnmd  for  die  Kindestömng  bildet,  ist  im  italienischen  Recht  Thatbeä-rands- 
merkmaJ:  —  eine  sehr  wichtige  Bestirnnrnng! 

Das  StGB,  bestraft  die  Beihülfe  zum  Selbstmord-  Verschiedene  Schrift- 
steller hanen  die  Straflosigkeit  derselben  befärwortet;  mit  Unrecht.  Allerdings 
soll  das  Gesetz  die  Beweggründe  einer  That  berücksichtigen:  wer  den  Selbst- 
mord eines  geliebten  Wesens  unterstützt  ans  aufrichtigem,  tiefem  Mitgefühl 
mit  ihm.  nm  es  vor  schwerem  Unglück  oder  tiefer  Schande  zu  bewahren,  wird 
auf  Entschuldigung  seiner  That  rechnen  können.  Die  Geschichte  ist  reich  an 
Beispielen  einer  solchen  Handlungsweise:  ich  erinnere  an  die  Gräfin  Batthyani, 
die  ihrem  Gatten  ein  Messer  zusteckte,  mit  dem  er  sich  im  Gef.  den  Tod  gab. 
an  den  Oberst  Combes,  der  seinem  in  der  Schlacht  tötlich  verwrmdeten  Kame- 
raden den  Gnadenstoss  beibrachte:  an  Olga  Protafow,  die  ihre  Freundin  Vera 
Gerebsow  durch  den  Tod  vor  einem  elenden  Leben  bewahrte;  an  den  Vater, 
von  dem  Coletia  berichtet,  dass  er  seinem  wegen  eines  politischen  Verbr.  zum 
Tode  verurteilten  Sohne  Gift  verschaflTle.  Aber  man  vergesse  nicht,  dass  alle 
diese  Fälle,  wie  auch  diejenigen,  in  denen  Liebende  sich  gegenseitig  den  Tod 
geben  Tlxonte,  die  Nero  tötete,  um  ihn  vor  der  Wut  des  Pöbels  zu  retten, 
Arria,  die  ihrem  Gemahl  Paetus  mit  den  Worten  y,non  dolef  den  Dolch  reicht, 
mit  dem  sie  sich  durchbohrt  hat»  Ausnahmen  sind,  aus  welchen  der  Gesetz- 
geber keine  allgemeinen  Schlüsse  ziehen  darf. 

Nachdem  in  Art.  371  die  Strafbarkeit  der  fahrlässigen  Töttmg  geregelt 
ist,  wendet  sich  das  GB.  zu  der  Körperverletzung.  Die  Strafbarkeit  ist  ver- 
schieden nach  den  Folgen  der  Verletzung. 

In  den  den  Tötungsdelikten  imd  den  Körperverletzungen  gemeinschaft- 
lichen Vorschriften  wird  unter  andern  die  Straflosigkeit  einer  Tötung  aus- 
gesprochen, die  an  einem  Urheber  gewisser  Eigentumsdelikte  begangen  wird. 
Die  Bestimmung  bildet  die  Ergänzung  des  Art.  über  die  Notwehr,  der  ohne 
sie  zu  bedenklichen  praktischen  Konsequenzen  führen  müsste. 

Der  Abtreibung,  der  Aussetzung  von  Kindern  und  anderen  hülflosen 
Personen,  sowie  dem  Missbrauch  des  Züchtigungsrechts  sind  besondere  Kap. 
gewidmet. 

Es  ist  ein  besonderes  Verdienst  des  StGB.,  dass  es,  wie  gegen  den  Zwei- 
kampf, so  auch  gegen  Verleumdung  und  Beleidigung  schwere  Strafen  androht 
und  die  Begehung  dieser  Delikte  durch  die  Presse  in  keiner  Weise  vor  der 
auf  anderem  Wege  erfolgten  bevorzugt.  Wenn  schwere  Beleidigungen  mit 
wenigen  Tagen  Gef.  gesühnt  werden  können,  so  ist  es  keinWimder,  dass  der 
Beleidigte  sich  mit  Waffengewalt  selbst  die  Genugthuung  zu  verschaffen  sucht, 
die  ihm  das  Gesetz  versagt.  Wer  den  Zweikampf  unterdrücken  will,  muss  des- 
halb auch  auf  eine  energische  Bestrafung  der  Beleidigung  Bedacht  nehmen. 

Auch  die  Verleumdung  oder  Beleidigung  eines  Verstorbenen  ist  strafbar 
(Art.  400;. 

Straflos  bleibt,  wer  durch  persönliche  Vergewaltigung  zur  Beleidig^ung 
hingerissen  wurde;  war  der  Beleidigte  die  bestimmende  und  ungerechtfertigte 
Ursache  der  Handlung,  so  wird  die  Strafe  ermässigt.  Bei  wechselseitigen  Be- 
leidigungen kann  der  Richter  eine  oder  beide  Parteien  für  straffrei  erklären. 
Die  „exceptio"  veritatis"*  wird  im  allgemeinen  nicht  zugelassen;  ausnahmsweise 
kann  der  Beweis  der  Wahrheit  angetreten  werden,  wenn  es  sich  um  Belei- 
digung eines  öffentlichen  Beamten  in  Bezug  auf  sein  Amt  handelt,  wenn  wegen 
der  der  beleidigten  Person  beigemessenen  Handlung  ein  Strafverfahren  schwebt 
oder  eingeleitet  wird,  endlich  wenn  der  Beleidigte  ausdrücklich  verlangt, 
dass  die  Beurteilung  sich  auch  auf  Feststellung  der  Wahrheit  oder  Unwahr- 
heit der  behaupteten  Handlung  erstreckt. 

Den  Schlusff  d<,*s  zweiten  Buches  bilden   die  Verg.  gegen  das   Eigen- 


§  4.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  599 


tum.  Sie  umfassen:  Diebstahl,  Raub  (rapina),  Erpressung,  Betrug,  Vertrauens- 
missbrauch (abus  de  confiance)  und  Unterschlagung,  Hehlerei,  unrechtmässige 
Besitznahme  und  Sachbeschädigung.  Die  Strafbestimmungen  über  Bankerutt, 
von  denen  später  die  Rede  sein  wird,  enthält  das  Handelsgesetzbuch. 

Der  Diebstahl  kann  ein  einfacher  sein  oder  unter  erschwerenden  Um- 
ständen begangen  werden.  Letztere  sind  nach  ihrer  Schwere  in  zwei  Klassen 
eingeteilt.  Als  Diebstahl  gilt  auch  die  expilatio  hereditatis,  die  Wegnahme 
von  Sachen  aus  einer  noch  nicht  angetretenen  oder  verteilten  Erbschaft  oder 
von  Sachen,  die  im  Miteigentume  des  Thäters  und  anderer  Personen  stehen. 
Der  mittels  Gewalt  oder  Drohungen  verübte  Diebstahl  (Raub)  wird  streng  ge- 
ahndet. Sehr  klar  sind  die  Bestimmungen  über  die  Erpressung.  Unter  den 
BegriflT  des  Betrugs  fallen  viele  Handlungen,  die  früher  straflos  waren,  so  die 
Ausbeutung  der  Leidenschaften  oder  der  Unerfahrenheit  Minderjähriger  und 
die  Verleitung  zur  Auswanderung  unter  Vorspiegelung  falscher  Thatsachen. 

Nach  älterem  italienischen  Recht  lag  ein  schwerer  Diebstahl  vor,  sobald 
der  Wert  der  gestohlenen  Sache  eine  bestimmte  Grenze  erreichte.  Wenn  dem- 
nach zwei  Personen  einen  Diebstahl  verübten,  so  konnte  ihre  Strafe  bedeutende 
Verschiedenheiten  aufweisen,  falls  der  eine  in  dem  von  ihm  geöffneten  Koffer 
50,  der  andere  51  Lire  gefunden  hatte.  Ein  schlauer,  im  StGB,  wohl  bewan- 
derter Verbr.  hatte  es  also  in  der  Hand,  seine  Strafe  erheblich  zu  vermindern, 
indem  er  auf  die  Mitnahme  dieser  einen  Lire  verzichtete.  Das  neue  StGB, 
hat  von  dieser  unpraktischen  Vorschrift  abgesehen  und  bestimmt,  dass  bei 
allen  Eigentumsdelikten  die  Strafe  um  die  Hälfte  bezw.  ein  Drittel  ermässigt 
werden  kann,  wenn  der  Wert  des  Objekts  gering  oder  sehr  gering  ist,  und 
umgekehrt  um  die  Hälfte  erhöht  werden  kann,  wenn  der  Wert  sehr  gross  ist. 
Die  Strafminderung  ist  unzulässig,  wenn  der  Diebstahl  im  Rückfall,  sowie  mit 
Gewalt  oder  Drohungen  begangen  ist.  Eine  Ermässigung  der  Strafe  findet 
femer  auch  statt,  wenn  der  Thäter  vor  jedem  gerichtlichen  Verfahren  die 
unrechtmässig  erworbene  Sache  oder  deren  Wert  dem  Beschädigten    erstattet. 

Das  dritte  Buch  des  StGB,  behandelt  die  Übertretungen,  Handlungen, 
die  an  imd  für  sich  nicht  auf  verbrecherischer  Gesinnung  zu  beruhen  brauchen, 
deren  Bestrafung  vielmehr  lediglich  aus  Gründen  der  gesellschaftlichen  Ord- 
nung und  der  Zweckmässigkeit  erfolgt. 

Das  Buch  enthält  vier  Titel: 

I.  Übertretungen  gegen  die  öffentliche  Ordnung  (Art.  434 — 459);  IL  Über- 
tretungen gegen  die  öffentliche  Sicherheit  (Art.  460 — 483);  HI.  Übertretungen 
gegen  die  öffentliche  Sittlichkeit  (Art.  484 — 491);  IV.  Übertretungen  gegen  den 
öffentlichen  Schutz  des  Eigentums  (Art.  492—498). 

Der  erste  Titel  behandelt:  Verweigerung  des  Gehorsams  gegen  die 
Obrigkeit;  Unterlassung  der  Berichterstattung  durch  Ärzte  und  ihnen  gleich- 
gestellte Personen;  Übertretungen  in  Bezug  auf  das  Münz wesen;  Übertretungen 
betr.  die  Ausübung  des  Buchdruckereigewerbes,  die  Verbreitung  von  Druck- 
werken und  den  Anschlag;  Übertretungen  betr.  die  Schauspiele  und  die  öffent- 
lichen Anstalten  und  Betriebe;  Anwerbungen  ohne  Erlaubnis  der  Obrigkeit; 
Bettelei;  Störung  der  öffentlichen  Ruhe  und  des  Privatfriedens;  Missbrauch 
fremder  Leichtgläubigkeit. 

Der  zweite  Titel  enthält:  Übertretungen  betr.  den  Waffengebrauch  und 
den  Verkehr  mit  Sprengstoffen;  Einsturz  und  Unterlassen  der  Ausbesserung 
von  Gebäuden;  Übertretungen  betreffend  die  Signale  und  Apparate  des  öffent- 
lichen Dienstes;  Werfen  und  gefährliches  Hinstellen  von  Gegenständen;  Unter- 
lassen der  Bewachung  geisteskranker  Personen;  Unterlassen  der  Bewachung 
oder  schlechte  Leitung  von  Tieren  oder  Gefährten;  endlich  andere  gemein- 
gefährliche Übertretungen. 


600  Italien  nebst  Kolonieen.  —  Das  heute  geltende  Recht. 


Der  dritte  Titel  behandelt:  Glücksspiel;  Trunkenheit;  Verletzung  des 
öffentlichen  Anstandes;  Tierquälerei. 

Den  Inhalt  des  vierten  Titels  bilden:  Ungerechtfertigter  Besitz  von 
Gegenständen;  unvorsichtiger  Abschluss  von  Handels-  und  Pfandgeschäften; 
unerlaubter  Verkauf  von  Schlüsseln  und  Dietrichen,  sowie  unerlaubte  Öffnung 
von  Schlössern;  Benutzung  unrichtiger  Masse  und  Gewichte. 

Ich  habe  versucht,  in  Vorstehendem  eine  kurze  Skizze  des  italienischen 
StGB,  zu  geben.  Es  ist,  wie  ich  bereits  erwähnte,  von  den  einen  über  Ver- 
dienst gelobt;  von  anderen  mit  Unrecht  getadelt  worden.  Jedenfalls  wird  man, 
wenn  man  es  als  Ganzes  betrachtet,  sagen  müssen:  es  ist  ein  würdiges  Monu- 
ment italienischen  Geistes. 

§  5.    Das  Strafverfahren. 

Unsere  StPO.  beruht  zum  Teil  auf  dem  französischen  Code  d'instruction 
criminelle.  Das  Verfahren  ist  im  ersten  Stadium  inquisitorisch,  im  zweiten 
akkusatorisch. 

Nur  die  Anklagebehörde,  die  durch  die  Staatsanwaltschaften  vertreten 
wird,  ist  berechtigt,  eine  strafbare  Handlung  zu  verfolgen  und  zwar  auch  in 
den  Fällen,  in  denen  der  Antrag  des  Verletzten  erforderlich  ist. 

Der  Urteilsfällung  geht  ein  „EröffYiungsbeschluss"  voraus.  Dieser  wird 
von  der  beschliessenden  Strafkammer  erlassen,  die  bei  den  Landgerichten 
(I.  Instanz)  die  Bezeichnung  „Camera  di-consiglio",  bei  den  Oberlandesgerichten 
(Berufungsgerichten)  die  Bezeichnung  „sezione  d'accusa"  führt.  Das  italieni- 
sche Verfahren  hat  einen  grossen  Vorzug  vor  dem  ft'anzösischen.  Während 
in  letzterem  die  Voruntersuchung  bis  zum  Erlass  des  Eröffnungsbeschlusses 
geheim  ist  und  der  Angeklagte  lediglich  das  Recht  hat,  schriftliche  Eingaben 
zu  machen,  wird  in  Italien  das  Verfahren  kontradiktorisch  mit  dem  Antrage 
des  Staatsanwalts  auf  Eröffnung  des  Verfahrens.  Wenn  der  Angeklagte  sich 
bestimmten  gesetzlichen  Bedingungen  unterwirft,  hat  er  von  diesem  Augen- 
blicke an  das  Recht  der  Akteneinsicht  und  Verteidigung.  Indes  ist  zu  erwähnen, 
dass  für  Bagatellsachen  auch  ein  abgekürztes  Verfahren  ohne  Eröffnungs- 
beschluss  zulässig  ist. 

Zur  Ausübung  der  Strafgerichtsbarkeit  sind  in  Italien  folgende  Personen 
berufen:  1.  der  Prätor  (pretore,  Friedensrichter);  2.  die  Strafkammer,  die  auch 
über  die  Berufung  gegen  den  Ausspruch  des  Prätors  erkennt;  3.  das  Ober- 
landesgericht (Appellationsgericht);  4.  das  Schwurgericht;  endlich  5.  der  Kassa- 
tionshof, dessen  Sitz  in  Rom  ist.  Da,  wie  man  sieht,  unser  Strafverfahren  nicht 
auf  der  Höhe  modemer  Wissenschaft  und  Praxis  steht, '  so  ist  seit  dem  „Ko- 
ordinationsdekret" vom  I.Dezember  1889  vielfach  von  einer  organischen  Reform 
desselben  die  Rede. 

Der  italienische  Juristentag  hat  in  seiner  zu  Florenz  im  J.  1891  ab- 
gehaltenen Sitzung  den  Wünschen  der  italienischen  Richter,  Professoren,  An- 
wälte und  Regierungsbearaten  in  einem  Beschlüsse  Ausdruck  verliehen.  Es 
wurden  als  wünschenswert  bezeichnet:  auf  Vorschlag  Cassutos:  eine  Ausdeh- 
nung der  Öffentlichkeit  der  Voruntersuchung;  aUf  meine  Anregung  hin:  die 
Abschaffung  der  eröffnenden  Strafkammern  bei  den  Landgerichten  und  Ober- 
landesgerichten, sowie  des  Eröffnungsbeschlusses  und  Ersetzung  desselben  durch 
den  „Einspruch"  des  österreichischen  Rechts;  auf  Antrag  von  De  Notter:  die 
Beteiligung  des  durch  die  That  Verletzten  am  Strafverfahren;  auf  Vorschlag 
Garofalos:  die  ausreichende  Entschädigung  der  Opfer  einer  strafbaren  Hand- 
lung und  der  unschuldig  Verurteilten;  auf  Antrag  von  Codacci-Pisanalli:  die 
Zulassung  der  actio  popularis  für  gewisse  Delikte. 


§  7.    Die  in  Spezialgesetzen  behandelten  Delikte.  601 


Wie  man  sieht,  existiert  auf  dem  Gebiete  des  Strafverfahrens  in  Italien 
eine  lebhafte  Bewegung,  die  bald  zum  Elrlasse  einer  neuen,  auf  der  Höhe  der 
modernen  italienischen  Wissenschaft  stehenden  StPO.  führen  wird. 

§  6.    Die  Delikte  des  Handelsgesetzbuches. 

Das  Handelsgesetzbuch  enthält  die  Bestimmungen  über  diejenigen  Delikte, 
welche  vorzugsweise  mit  der  Ausübung  des  Handelsgewerbes  zusammenhängen. 

Sie  zerfallen  in  drei  Gruppen: 

1.  Die  bei  der  Errichtimg  von  Handelsgesellschaften  begangenen  Delikte 
(Fälschungen,  Abschluss  von  Scheingeschäften  usw.).  8.  Die  unterlassene  Da- 
tierung, die  Falschdatierung  und  der  Mangel  genügender  Deckung  in  Metallgeld 
beim  Chekverkehr.     3.  Bankerutt  und  andere  Konkursvergehen. 

Nach  italienischem  Recht  wird,  sobald  der  Konkurs  eröffnet  ist,  seitens 
der  Staatsanwaltschaft  das  Strafverfahren  eingeleitet,  um  zu  ermitteln,  ob  eine 
strafbare  Handlung  vorliegt.  In  der  Litteratur  ist  die  Ansicht  vertreten,  dass 
ein  solches  auch  zulässig  ist  ohne  Vorliegen  einer  Konkurserklärung;  ich  halte 
sie  jedoch  für  irrtümlich,  auch  ist  sie  von  anderen  Schriftsteilem  lebhaft 
bekämpft. 

Bei  den  Konkursdelikten  sind  zuuntei*scheiden:  L  der  einfache  Bankerutt 
(Nachlässigkeiten  in  der  Buchführung  usw.  ohne  betrügerische  Absicht);  2.  der 
betrügerische  Bankerutt;  3.  strafbare  Handlungen,  die  bei  Gelegenheit  eines 
Konkurses,  nicht  von  dem  Gemeinschuldner,  sondern  von  dritten  Personen  — 
Hehlern,  Verwaltern  usw.  —  begangen  werden. 

Selbstverständlich  sind  ftlr  die  Aburteilung  dieser  Delikte  die  Straf- 
gerichte zuständig. 

§  7.    Die  In  Spezialgesetzen  behandelten  Delikte. 

Ausser  dem  StGB,  giebt  es  zahlreiche  Nebengesetze  strafrechtlichen  In- 
halts, von  denen  das  Pressgesetz  vom  26.  März  1848  und  das  G.  über  die 
öffentliche  Sicherheit  vom  30.  Juni  1889  die  wichtigsten  sind. 

Das  Pressgesetz  enthält  nachstehende  Kap.:  1.  Allgemeine  Bestim- 
mungen; 2.  Öffentliche  Aufforderung  zur  Begehung  von  strafbaren  Handlungen; 
3.  Verg.  gegen  die  Staatsreligion,  gegen  andere  Kulte  und  die  öffentliche  Sitt- 
lichkeit; 4.  öffentliche  Beleidigung  des  Königs;  5.  Öffentliche  Beleidigung  des 
Parlaments  und  fremder  Regierungen;  6.  Öffentliche  Beleidigung,  Verleumdung 
und  Verbreitung  von  Schmähschriften;  7.  Besondere  Bestimmungen;  8.  Perio- 
dische Druckschriften;  9,  Zeichnungen,  Steindrucke  und  andere  sinnbildliche 
Darstellungen.     10.  Zuständigkeit  und  Verfahren. 

Als  das  G.  erlassen  wurde,  hatte  es  noch  mehrere  Art.  über  das  Verfahren 
und  die  Zuständigkeit  der  Schwurgerichte,  die  jedoch  nach  Einführung  der 
letzteren  für  alle  schwereren  Delikte  und  der  einheitlichen  Gestaltung  des 
Verfahrens  überflüssig  geworden  sind. 

Das  G.  über  die  öffentliche  Sicherheit  enthält  vier  Titel:  I.  Bestim- 
mungen betr.  die  öffentliche  Ordnung  und  die  öffentliche  Unversehrtheit. 
Sie  beziehen  sich  auf  öffentliche  Versammlungen,  religiöse  Ceremonien  ausser- 
halb der  Gotteshäuser,  kirchliche  und  bürgerliche  Aufzüge,  Waffenansamm- 
lungen, Verhütung  von  Unglücksfällen,  Aufsicht  über  unsaubere  und  gefährliche 
Gewerbe.  —  II.  Bestimmungen  über  Theater  und  andere  Aufführungen;  öffent- 
liche Betriebe,  Schankwirtschaften,  Herbergen,  Druckereien,  öffentliche  Agen- 
turen; Gewerbe,  die  im  Umherziehen  betrieben  werden;  Arbeiter,  Dienstboten 
und  Direktoren  von  Etablissements.  —  III.  Bestimmungen,  die  sich  gegen  ge- 


602  Italien  nebst  Kolonieen.  —  Das  heute  geltende  Recht. 


fährliche  Klassen  der  Bevölkerung  richten:  Bettler,  Landstreicher,  entlassene 
Sträflinge,  auszuweisende  Ausländer.  Hier  begegnen  wir  der  Vermahnung 
(ammonizione),  die  nicht  mit  dem  Verweise  zu  verwechseln  ist,  der  bereits 
oben  erwähnten  Stellung  unter  Polizeiaufsicht  und  dem  Zwangswohnsitz  (domi- 
cilio  coatto),  der  jedoch  mit  der  Eingrenzung  nicht  identisch  ist.  —  IV.  Schluss- 
und  Übergangsbestimmungen. 

Neben  diesen  beiden  Gesetzen  giebt  es  eine  grosse  Anzahl  von  Spezial- 
gesetzen mit  Bestimmungen  strafrechtlichen  Inhalts.  Da  ihre  vollständige  Auf- 
zählung nicht  möglich  ist,  so  beschränke  ich  mich  darauf,  die  wichtigsten 
derselben  zu  erwähnen. 

Vorschriften  strafrechtlichen  Inhalts  finden  sich  in  den  G.  und  Vdgn., 
die  sich  beziehen  auf:  kohlensäurehaltige  Wasser  (Vdg.  vom  25.  September 
1870,  No.  5902);  Forsten  (6.  vom  20.  Juni  1877,  No.  3917);  Erteüung  von 
Konzessionen  seitens  der  Regierung  (6.  vom  13.  September  1874,  No.  2086); 
Gebrauchsabgaben  (G.  vom  3.  Juli  1864,  No.  1827);  Zölle  (Vdg.  vom  7.  Sep- 
tember 1862);  Auswanderung  (G.  vom  30.  Dezember  1888,  No.  5866,  dritte 
Serie);  Bierfabrikation  (Vdg.  vom  19.  November  1874,  zweite  Serie);  Reblaus 
(Phylloxera)  (G.  vom  31.  Juli  1881,  No.  380,  dritte  Serie);  Verbot  des  Umher- 
ziehens von  Kindern  (G.  vom  21.  Dezember  1873,  No.  1733,  zweite  Serie);  obli- 
gatorischen Elementarunterricht  (G.  vom  15.  Juli  1877,  No.  396,  zweite  Serie); 
Beschäftigung  jugendlicher  Arbeiter  (G.  vom  11.  Februar  1886,  No.  3657,  dritte 
Serie);  Lotto  und  Lotterieen  (Vdg.  vom  21.  November  1880,  No.  5744,  zweite 
Serie);  Münzwesen  (G.  vom  24.  August  1862,  No.  788);  Fischerei  (G.  vom  4.  März 
1877,  No.  3706,  zweite  Serie);  Masse  und  Gewichte  (G.  vom  23.  August  1890, 
No.  7088,  dritte  Serie);  Schiesspulver  (G.  vom  5.  Juni  1869,  No.  5111);  Post- 
wesen (G.  vom  5.  Mai  1862,  No.  604);  Salz-  und  Tabak-Regal  (G.  vom  15.  Juni 
1865,  No.  2397);  militärische  Requisitionen  von  Wagen  und  Pferden  (G.  vom 
30.  Juni  1889,  No.  6168,  dritte  Serie);  Anbau  von  Reis  (G.  vom  12.  Juni  1866, 
No.  2967);  Schiß's- Gesundheitspolizei  (G.  vom  31.  Juli  1859,  No.  3544);  öffent- 
liches Gesundheitswesen  (G.  vom  22.  Dezember  1888,  No.  5849,  dritte  Serie); 
Alkohol  (G.  vom  12.  Oktober  1883,  No.  1640,  dritte  Serie);  öffentliche  Arbeiten 
(G.  vom  20.  März  1865,  No.  2848);  Bergwerke  (G.  vom  20.  November  1859); 
Jagd  (G.  vom  13.  September  1874)  und  viele  andere. 

Einzelne  Straf  bestimmun  gen  enthalten  auch:  G.  betr.  die  politischen 
Wahlen  vom  24.  September  1882;  G.  betr.  die  Kommunal-  und  Provinzial- 
wahlen  vom  10.  Februar  1889;  G.  über  das  Konsulatswesen  vom  28.  Januar 
1866;  G.  über  das  Urheberrecht  vom  25.  Juni  1865  und  10.  August  1875, 
das  G.  über  das  gewerbliche  Eigentum  vom  30.  Oktober  1859  und  31.  Januar 
1864;  G.  über  die  Fabrikmarken  vom  30.  August  1868  und  G.  über  die  Handels- 
marine vom  24.  Oktober  1877.*) 

§  8.    Das  HUUtarstrafrecht 

Auf  dem  Gebiete  des  Militärstrafrechts  gelten:  das  StGB,  für  das  Land- 
heer vom  J.  1870  und  das  StGB,  für  die  Marine  vom  J.  1869. 

Jedes  derselben  zerfällt  in  zwei  Teüe,  von  denen  der  erste  von  den 
strafbaren  Handlungen  und  deren  Bestrafung,  der  zweite  von  dem  Strafver- 
fähren im  Frieden  und  im  Kriege  handelt.    In  beiden  GB.  zerfallen  die  Strafen 


^)  Alle  auf  diese  Spezialgesetze  bezüglichen  Kommentare  und  Abhandlungen 
zu  eitleren,  ist  unmöglich.  Dieselben  sind  vollständig  abgedruckt  in  der  mehrbändigen 
Sammlung:  »Le  leggi  speciali'*,  herausgegeben  von  der  Unione  tipografico-editrice 
torinese. 


§  10.    Litteratur-Übersicht.  603 


in  solche,  welche  den  Verlust  der  Zugehörigkeit  zum  Soldatenstande  wegen 
Unwürdigkeit  des  Bestraften  zur  Folge  hat,  und  solche,  mit  denen  diese  Wir- 
kung nicht  verbunden  ist.  Zu  ersteren  gehören:  die  Todesstrafe,  wenn  sie 
durch  Schuss  in  den  Rücken  vollstreckt  wird,  lebenslängliche  und  zeitige 
Zwangsarbeit,  Zuchthaus,  Degradierung,  Verlust  der  militärischen  Würde.  Zu 
letzteren  werden  gerechnet:  die  Todesstrafe,  wenn  sie  durch  Schuss  in  die 
Brust  vollzogen  wird,  militärische  Einschliessung,  Militärgefängnis,  Entlassung, 
Verlust  des  Hanges,  die  zeitweilige  Suspendierung  vom  Dienst.^) 

Zur  Zeit  ist  eine  Kommission  mit  dem  Studium  der  Reform  des  Militär- 
strafrechts beschäftigt.  Zu  bemerken  ist,  dass  die  Todesstrafe  trotz  ihrer  Ab- 
schaffung für  das  Civilstrafrecht  bestehen  bleiben  wird. 


m. 

§  9.    Das  StB.  der  Kolonleen. 

Die  Regiening  hat  in  den  afrikanischen  Kolonieen")  das  italienische  Civil- 
und  die  Mü.-StGB.  eingeführt. 

Durch  eine  königl.  Vdg.  vom  13.  Mai  1886  ist  der  Sklavenhandel  be- 
züglich der  Strafbarkeit  dem  Raube  gleichgestellt  (grassazione,  rapina).^) 

Nach  den  Vdgn.  vom  1.  Januar  und  3.  April  1890  entscheidet  in  Mas- 
sauah  das  Militärgericht  über  alle  Militärdelikte  und  die  schwereren,  das  Civil- 
strafgericht  über  die  leichteren  von  Civilpersonen  begangenen  Verbr.,  der  Vor- 
sitzende des  letzteren  über  alle  Übertretungen. 

In  Asmara  ist  ein  besonderes  Gericht  eingesetzt,  das  die  von  Civil- 
personen begangenen  schweren  Delikte  auf  Grund  des  Mil.-StGB.,  die  übrigen 
Delikte  auf  Grund  der  Gesetze  und  Gebräuche  des  Landes  aburteilt.  In  den 
letzteren  Fällen  befragt  nach  äthiopischer  Sitte  der  Gerichtsvorsitzende  vor 
Abgabe  einer  Entscheidung  die  der  Gesetze  und  Sitten  des  Landes  kundigen 
Häuptlinge,  angesehene  Personen  und  Priester  um  ihre  Ansicht. 

Die  am  häufigsten  verhängten  Strafen  sind  Einsperrung  mit  Arbeitszwang, 
Geldstrafe  und  Verbannung;  einige  Male  ist  auch  der  Tod  durch  Erschiessen 
zur  Anwendung  gebracht.  Die  Prügelstrafe,  auf  die  anfangs  erkannt  wurde, 
ist  jetzt  abgeschafft. 

Auch  in  Keren  existiert  ein  eigenes  Gericht. 

Eine  von  der  Regierung  eingesetzte  Kommission  hat  in  Anregung  gebracht, 
den  Militärgerichten  die  Jurisdiktion  über  einen  Teil  der  von  Civilpersonen 
begangenen  Verbr.  zu  nehmen  und  dieselbe  ausschliesslich  den  Civilstrafgerichten 
zu  übertragen.*) 

IV. 

§  10.    Litteratur-Übersicht. 

I.  Vorarbeiten  zum  StGB.  Progetto  di  codice  penale  presentato  dal  Ministro 
di  Grazia  e  Giustizia  e  dei  Culti  (Zanardelli).   Rom  1887.  —  Relazione  ministeriale  sul 

^)  Über  das  Militärstrafrecht  vgl.  die  von  dem  Militäranwalt  Mel  veröffentlichten 
Sammlungen. 

*)  Eritrea  (Massauah,  Assab  und  das  Protektorat  über  die  Somaliküste). 

^)  Memoria  sull'  ordinamento  politico-amministrativo  e  sulle  condizioni  economiche 
di  Massaua  presentata  del  ministro  degli  affari  esteri  (Di  Robilant).    Rom  1886. 

*)  Relazione  generale  politica  e  ammin i st rativa  della  commissione  reale  d'in- 
chiesta  suU'  Eritrea  diretta  a  S.  E.  il  Ministro  degli  affari  esteri  (Gazetta  ufficiale  del 
Regno  dltalia  1891). 


604  Italien  nebst  Kolonieen.  —  Litterat ur-Übersicht. 


libro  primo.  Rom  1887.  —  Relazione  ministeriale  sul  libro  secondo  e  snl  libro  terzo. 
Rom  1887.  —  Relazione  alla  camera  dei  depatati  (Villa).  Rom  1888.  —  Relazione  al 
senato  (Pessina,  Canonico,  Costa,  Pnccioni).  Rom  1888.  —  Discussioni  alla  Camera  dei 
Deputati  (vom  26.  Mai  bis  9.  Juni  1888).  —  Discnssioni  al  Senato  ivom  8.  bis  17.  No- 
vember 1888).  —  Proposte,  voti  ed  osservazioni  delle  commissioni  Parlamentär! ,  dei 
singoli  deputati  e  senatori  e  dei  cultori  della  scienza  (im  Druck).  —  Verbau  della 
commissione.  Rom  1889.  —  Progetto  dei  Codice  penale  con  le  modificazioni  della 
sottocommissione  e  della  commissione  di  revisione.  Rom  1889.  —  Progetto  delle  dis- 
posizioni  per  lattuazione  dei  Codice  penale.  Rom  1890.  —  Verbau  della  commissione. 
Rom  1890.  —  Relazione  dei  Ministro  a  S.  Maestä.  Rom  1889.  —  Die  "vorstehend  an- 
geführten Ausgaben  sind  die  amtlichen;  ausserdem  sind  die  Vorarbeiten  aber  auch 
von  der  Unione  tipografico-editrice  torinese  herausgegeben. 

II.  Übersetzungen.  Das  italienische  StGB,  ist  übersetzt:  in  das  Französische 
von  Lacointa  (C.  p.  dltalie,  traduit,  annote  et  preced6  d'une  introduction.  Paris  1890); 
von  Sarraute  (Le  C.  p.  pour  le  royaume  d'Italie,  traduit,  annote  et  prccedö  d'une  in- 
troduction. Paris  1890);  endlich  von  Turrel  (C.  p.  italien,  Paris  1890);  ins  Deutsche 
von  Stephan  (StGB,  für  das  Königreich  Italien.  Berlin  1890)  und  Teichmann  (Das 
italienische  StGB,  vom  30.  Juni  1889  nebst  dem  G.  über  die  öffentliche  Sicherheit  vom 
30.  Juni  1889.  Berlin  1890  im  X.  Bde.  der  „Zeitschrift  für  die  gesamte  Strafrechts- 
wissenschaft". 

III.  Kritiken  des  Entw.  Alimena,  Le  projet  du  nouveau  C.  p.  Italien.  Paris 
1888.  —  Appunti  al  nuovo  codice  penale  (mit  Beiträgen  von  Lombroso,  Garofalo  u.a.). 
Turin  1889.  —  Brusa,  Sul  sistema  penale  dei  nuovo  progetto  di  codice  in  der  „Rivista 
italiana  per  le  scienze  giuridiche"  B.  VII.  —  Benoist,  Les  principes  economiques  et  le 
nouveau  C.  p.  italien,  Journal  des  ^conomistes  1888.  —  Barzilai,  II  nuovo  codice  pe- 
nale in  der  „Rivista  di  discipline  carcerarie**  1888/89.  —  Benedikt,  Der  neue^taUenische 
StG.-Entw.   Wien  1888.  —  Bennati,  Brevi  osservazioni  sul  progetto  dei  nuovo  codice 

!)enale.  Pontremoli  1888.  —  Buccellati,  Progetto  di  codice  penale  pel  Regno  dltalia 
Akten  des  „Istituto  Lombardo**,  zweite  Folge,  Bd.  XXXI).  —  von  Buri,  Bemerkungen 
zum  Entw.  des  StGB,  (dem  Minister  handschriftlich  überreicht  und  der  Bibliothek  des 
Justizministeriums  einverleibt).  —  Castorf,  Prolezione  ad  un  corso  sui  progetti  dei 
codice  penale.  Padua  1889.  —  Carcani,  II  duello  e  il  codice  penale  in  der  „Rivista 
militare^  18H8.  —  Cavagnari,  Sul  libro  primo  dei  progetto  di  codice  penale  italiano. 
Sayona  1888.  —  Conti,  1  minorenni  delinquenti  e  il  progetto  Zanardelli  in  „Filangieri", 
XIII.  Jahrgang.  —  Cogliolo,  II  prossimo  codice  penale.  Florenz  1889.  —  Delogu,  Pro- 
getto di  codice  penale  per  il  regno  d'Italia  in  der  „Antologia  giuridica*,  II.  Jahrgang. 

—  De  Pedys,  Osservazioni  medico-legali  sul  nuovo  codice  penale.  Rom  1888.  —  Fiore, 
Considerazioni  suir  efficacia  extraterritoriale  della  sentenza  penale  straniera  nel  pro- 
getto di  codice  penale  in  dem  „Monitore  des  tribunali^  1888.  —  Garofalo,  Contro  la 
corrente.   Neapel  1888.  —  Garbasso,  Delle  contravenzioni  in  der  „Legge",  Bd.  XXVIIL 

—  Gelli,  Responsabilitä  penale  dei  duellanti.  Florenz  1888.  —  Giannelia,  Del  secondo 
progetto  Zanardelli  in  der  „Gazzetta  dei  tribunali  di  Trieste  1888.  —  von  Holtzen- 
dorff.  Die  Strafandrohungen  im  neuesten  italienischen  StG.-Entw.  im  „Gerichtssaal", 
Bd.  V,  1888.  —  Lacointa,  Le  dernier  projet  de  C.  p.  Italien.  Paris  1888.  —  v.  Liszt, 
Der  italienische  StG.-Entw.    Marburg  1888.  —  Lombroso,  Troppo  presto,  Turin  1888. 

—  Lucchini,  Critici  di  fantasia  in  der  „Rivista  penale",  Bd.  äaVII.  —  Majno,  II  pro- 
getto  Zanardelli   in   dem  „Monitore   dei   tribunali"    1888.  —  Mayer,   Der  Entw.  eines 

StG.  für  das  Königreich  Italien.   Berlin  1888.  —  Orestano,  Progetto  di  codice  penale  j 

in  dem  „Circolo  giuridico",  Jahrgang  XX.  —  Porto,  Progetto  dei  codice  penale.   Rom  j 

1888.  —  Pugliese,  11  nuovo  codice  penale  italiano.  Trani  1888.  —  Semmola,  Un  quesito 
intomo  alla  retroattivitA  dei  nuovo  codice  penale.  Neapel  1888.  —  Seuffert,  Mitteilungen 
aus  dem  Entw.  eines  StGB,  für  Italien.  Breslau  1888.  —  Stoppato,  Presunzioni  inique 
nelle  contravenzioni.  Venedig  1888.  —  Tamassia,  II  progetto  dei  codice  penale  pre- 
sentato  da  Zanardelli  (Akten  des  „Istituto  veneto",  Bd.  VI).  —  Tedeschi,  II  presente  e 
Tawenire  nell'opera  legislativa  della  codificazione  dTtalia.  Turin  1888.  —  Tolomei, 
Sui  progetti  di  codice  penale  commune  a  tutto  il  regno  (Akten  des  „Istituto  veneto*, 
Bd.  VI).  —  Tolomei,  Suü  odierna  questione  degli  abusi  dei  ministri  dei  culti  nell' 
esercizio  delle  loro  funzioni.  Padua  1888.  —  Tuozzi,  Le  prime  impressioni  dei  Pro- 
getto di  codice  penale.  Neapel  1888.  —  Torres  Campos,  El  nuevo  proyecto  de  cödigo 
penal  italiano  (Revista  de  los  tribunales,  Bd.  XVII).  —  Wahlberg,  Die  StGgebung  für 
das  Königreich  Italien.  Wien  1888.  —  Zucker  in  der  „Zeitschrift  für  das  Privat-  und 
öffentliche  Recht  der  Gegenwart,  Bd.  XV. 

IV.  Kommentare,  Abhandlungen,  Monographieen.  Arabia,  I  principi 
dei  diritto  penale  applicati  al  codice  italiano.  Neapel  1891.  —  Alimena,  La  premedi- 
tazione  in  rapporto  alla  psicologia,  al  diritto,  alla  legislazione  comparata.   Turin  1887. 

—  Derselbe,  I  limiti  e  i  modificatori  dell'  imputabilitl.    Turin  1893.  —  Bozzo,  II  codice 


§  10.    Litteratur-Übersicht.  605 


penale  italiano  e  la  sua  genesi.  Rom  1891.  —  Curcio,  Osservazioni  storiche,  statistiche, 
giuridiche  intomo  al  codice  penale  italiano.  Neapel  1890.  —  Crivellari,  II  codice 
penale  per  il  regno  d'Italia  interpretato.  Turin  1889—90.  —  Completo  trattato  teorico 
e  pratico  di  diritto  penale  secondo  il  codice  unico  del  Regno  d'Italia  pubblicato  da 
Cogliolo  con  la  coUaborazione  di  avvocati  e  professori.  Mailand  1888—91.  —  Fioretti, 
II  nuovo  codice  penale  italiano  annotato.  Neapel  1889.  —  Derselbe,  La  legitima  difesa. 
Neapel  1885.  —  Giustiniani.  Tavole  delle  referenze  degli  articoii  dei  codici  sardo 
e  toscano  col  codice  penale  per  il  regno  dltalia.  Turin  1889.  —  Impallomeni,  II 
codice  penale  italiano  illustrato.  Florenz  1890.  —  Derselbe,  I  caratteri  dei  mo- 
yenti  neir  omicidio  premeditato.  Rom  1888.  —  Lombardi,  II  codice  penale  per  il 
regno  d'Italia.  Syrakus  1889—90.  —  Lozzi,  Liberia  e  giustizia  secondo  il  nuovo 
codice  penale  e  la  scuola  positiva.  Turin  1890.  —  Masucci,  II  codice  penale  italiano. 
Neapel  1891.  —  Majno,  Commento  al  codice  penale  italiano.  Verona  1890.  —  Masse, 
Le  Code  p^ual  Italien.  Besan^on  1890.  —  Mel,  II  nuovo  codice  penale  italiano  con 
le  disposizione  transitorie  e  di  coordinamento.  Rom  1889.  —  Norcen,  II  codice 
penale  per  il  Regno  d'Italia.  Arcona  1890.  —  Nicola,  Das  neue  italienische  StGB. 
(Revue  pönale  suisse  1890).  —  Olivecrona,  Om  Zanardelli  förslag  tili  ny  Strafflag 
för  Ronungariket  Italien  och  om  de  deri  upptagna  Straff.  Kristiania-Stockholm. 
1890.  —  Pessina,  II  nuovo  codice  penale  italiano.  Mailand  1890.  —  Perrone-Ferrante, 
Del  nesso  casuale  e  della  sua  imputazione.  Palermo  1888.  —  Puglia,  Manuale  di  di- 
ritto penale  secondo  il  nuovo  codice  penale  italiano.  Neapel  1890.  —  Peratoner,  Dei 
delitti  contro  la  libertA.  Catania  1H91.  —  Pincherli,  II  codice  penale  italiano  anno- 
tato. Turin  1889—90.  —  Precone,  Dei  reati  contro  il  buon  costume.  Mailand  1892.  — 
Paoli,  Le  nouveau  code  penal  Italien  et  son  Systeme  p^nal  (La  France  judiciaire  1890). 

—  Setti,  Deir  imputabilitÄ  secondo  gli  art.  44,  45,  46,  47,  48  del  codice  penale  italiano. 
Turin  1892.  —  Stephan,  Das  neue  italienische  StGB.  (PreuÄsische  Jahrbücher  1890).  — 
Scarlata,  La  imputabilitä  e  le  cause  che  la  escludono  o  la  diminiscono.   Messina  1891. 

—  Speciale,  II  codice  penale  per  il  Regno  dltalia.  Studio  dei  progetti  comparati.  Rom 
1889—90.  —  Travaglia,  II  nuovo  codice  penale  italiano.  Rom  18?<9.  —  Tuozzi,  Corso 
di  diritto  penale  secondo  il  nuovo  codice  dltalia.    Neapel  1890. 

V.  Litteratur  über  die  Delikte  des  Handelsgesetzbuchs.  Abgesehen 
von  den  Spezialwerken  über  Handels-  und  Konkursrecht  sind  hier  zu  erwähnen: 
Alfani,  Bancarotta  in  „Digesto  italiano'^.  —  Carfora,  Del  reato  di  bancarotta  nel 
vigente  diritto  italiano.  Neapel  1887.  —  Casorati,  Della  Bancarotta  (Rivista  penale, 
Bd.  XVIR  —  Fioretti,  Le  disposizloni  penali  del  codice  di  commercio.  Neapel  1891.  — 
Lemmo,  Dei  reati  in  materia  di  fallimento.   Neapel  1890. 

VI.  Rechtsprechung.  Entsch.  werden  in  fast  allen  juristischen  Zeitschriften 
abgedruckt.  Solche  sind:  Annali  di  giurisprudenza  italiana.  —  II  foro  italiano.  — 
Rivista  penale.  —  Giurisprudenza  italiana.  —  La  corte  suprema  di  Roma.  —  La  legge. 

—  La  cassazione  unica.  —  Giurisprudenza  penale.  —  II  foro  penale.  —  Temi  veneta. 

—  La  giustizia.  —  La  pratica  legale.  —  Annuario  di  diritto  penale.  —  La  scuola 
positiva. 

Es  giebt  auch  Handbücher  der  Rechtsprechung  in  Strafsachen.  Ich  erwähne: 
Coen,  Mauale  di  giurisprudenza  sul  codice  penale  italiano,  Livorno  1891  und  Angio- 
lini,   II  Massimario  penale  della  cassazione  italiana. 


2.  San  Marino. 


Die  frühere  StGgebung  der  Eepnblik  San  Marino  war  enthalten  in  den 
Leges  statntae  Beipnblicae  Saneti  Marini.^) 

Znpetta,  Professor  an  der  Universität  Neapel,  wnrde  von  den  ^regieren- 
den Kapitänen"  mit  der  Ausarbeitung  eines  StGB,  betrant.  Der  Entw.  wnrde 
1859  veröffentlicht,  von  Giuliani  revidiert  nnd  1865  znm  G.  erhoben.  Das- 
selbe hat  nicht  die  Form  eines  GB.,  sondern,  wie  von  Pessina  and  anderen 
Schriftstellern  mit  Recht  hervorgehoben  ist,  die  einer  wissenschaftlichen  Ab- 
handlung;   es  ist,  wie  ich  hinzufügen  muss,    in   vielen  Punkten   zu   doktrinär. 

Es  zerfällt  in  zwei  Teile. 

Der  erste  behandelt  das  StG.,  die  Strafe  und  die  Strafe  im  allgemeinen 
und  ist  folgendermassen  eingeteilt: 

Erstes  Buch:  von  den  StG.  im  allgemeinen  (Art.  1 — 12^;  zweites  Buch: 
von  den  strafbaren  Handlungen  im  allgemeinen  (Art.  13 — 140);  drittes  Buch: 
von  den  Strafen  im  allgemeinen  (Art.  141 — 190). 

Den  Anfang  des  G.  bilden  Bestimmungen,  man  kann  fast  sagen,  Aus- 
einandersetzungen über  die  Grenzen  des  richterlichen  Ermessens,  die  Bestim- 
mung des  Begriffs  der  strafbaren  Handlung,  die  Bestandteile  derselben  und 
andere  Begriffe,  deren  Entwicklung  die  meisten  StGB,  der  allgemeinen  Bechts- 
lehre  überlassen. 

Die  strafbaren  Handlungen  werden  eingeteilt  in  Verbr.  (nüsfatti),  Verg. 
(delitti)  und  Übertretungen  (contrawenzioni). 

Die  Verbr.  zerfallen  ihrer  Schwere  nach  in  sieben  Klassen. 

Das  G.  berücksichtigt:  Geisteskrankheit,  verminderte  Zurechnungsfähig- 
keit, die  Verschiedenheit  der  Altersstufen,  den  rechtlichen  und  thatsächlichen 
Irrtum,  den  unwiderstehlichen  physischen  und  psychischen  Zwang. 

Der  Versuch  umfasst,  auf  Grund  überlieferter  italienischer  Auffassung, 
das  versuchte  und  das  fehlgeschlagene  Delikt. 

Die  Einrichtung  der  mildernden  Umstände  im  allgemeinen  ist  dem  G. 
unbekannt,  jedoch  finden  sich  im  einzelnen  zahlreiche  mildernde  und  er- 
schwerende Umstände. 

Rückfall  lieg^  nur  vor,  wenn  dasselbe  Delikt  mehrfach  begangen  ist  und 
hat  eine  der  Zahl  der  Wiederholungen  entsprechende  Erhöhung  der  Strafe  bis 
zu  zwei  Graden  zur  Folge. 

Beachtenswert  ist  die  in  dem  Titel  über  Thäterschaft  und  Teilnahme  ent- 
haltene Bestimmung  über  die  „korrespektive  Mitthäterschaft",  die  dann  vor- 
liegt, wenn  mehrere  Personen  sich  an  der  Begehung  einer  strafbaren  Handlung 
beteiligt  haben,  deren  Hauptthäter  unbekannt  ist.  Der  Begriff  ist  dem  älteren 
neapolitanischen  Recht  entlehnt. 

Die  Veijähmng  einer  in  Abwesenheit  des  Angeklagten  erkannten  Strafe 
wird  als  Verjährung  der  Strafverfolgung,  nicht  der  Strafvollstreckung  aufgefasst. 

*)  Delfico,  Memoire  storiche  della  repubblica  di  San  Marino.  Florenz  1842—44 
Brizzi,  Quadro  storico-statistico  della  senerissima  repubblica  di  San  Marino.  Florenz  1842. 
Fanti,  De  la  U'gislation  penale  de  la  Republique  de  Saint-Marin.  Imola  1878.  —  Zupetta, 
Teste  del  progetto  del  codice  penale  di  San  Marino.    Napoli  1867. 


San  Marino.  607 


Die  Strafen  sind  in  Grade  eingeteilt  und  sind  teils  Haupt-,  teils  Neben- 
strafen. 

Hauptstrafen  sind:  Zwangsarbeit  auf  Lebenszeit  (lavori  pubblici  a  vita) 
und  auf  bestimmte  Zeit  (lavori  pubblici  a  tempo),  lebenslängliches  Gef.  (pri- 
gione  a  vita)  und  Gef.  auf  bestimmte  Zeit  (prigione  a  tempo),  der  Ausschluss 
von  der  Ausübung  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  (interdizione)  und  Geldstrafe 
(multa)  von  5 — 500  Lire. 

Nebenstrafen  sind:  die  Aufenthaltsbeschränkung  (bando)  und  die  acces- 
sorische  Geldstrafe. 

Die  Strafe  der  Zwangsarbeit  ist  in  sieben,  die  Gefängnisstrafe  in  zwölf 
Grade  eingeteilt. 

Welche  Straf art  anzuwenden  ist,  richtet  sich  nach  den  Beweggründen 
der  That;  das  niedrige  Motiv  wird  als  straferschwerender  Umstand  betrachtet. 

Der  zweite  Teil  enthält  drei  Bücher.  Erstes  Buch:  Von  den  Verbr. 
Erste  Klasse:  Verbr.  gegen  die  Sicherheit  des  Staates  (Art.  191 — 217);  zweite 
Klasse:  Verbr.  gegen  die  gesellschaftliche  Ordnung  (Art.  218 — 405);  dritte 
Klasse:  Verbr.  gegen  die  Familienordnung  (Art.  406 — 445);  vierte  Klasse: 
Verbr.  gegen  die  einzelnen  Personen  (Art.  446 — 538).  —  Zweites  Buch:  Von 
den  Vergehen.  Erster  Titel:  Die  Verg.,  für  sich  allein  betrachtet  (Art.  539  bis 
542);  zweiter  Titel:  Zusammentreffen  von  Verbr.  und  Verg.  (Art.  543 — 548). 
—  Drittes  Buch:  Von  den  Übertretungen  (Art.  549 — 551). 

Zu  den  Verbr.  gegen  die  Sicherheit  des  Staates,  die  im  allgemeinen  mit 
Gef.  und  Geldstrafe  bedroht  sind,  gehören  sowohl  die  gegen  die  äussere,  als 
die  gegen  die  innere  Sicherheit  des  Staates. 

Zu  der  zweiten  Verbrechensklasse  gehören :  Beteiligung  am  Bürgerkriege, 
Massenmord,  Plünderung,  Verwüstung;  die  Verbr.  gegen  die  Verwaltung  der 
Republik  seitens  eines  Beamten  oder  einer  Privatperson;  die  Verbr.  gegen  die 
Justizverwaltung;  die  Verbr.  gegen  die  Religion  und  die  von  Religlonsdienem 
gegen  die  Regierung  begangenen  Verbr. ;  die  Sittlichkeitsverbrechen;  die  Verbr. 
gegen  die  öffentliche  Gesundheit;  die  Verbr.  gegen  die  von  der  Obrigkeit  in 
Bezug  auf  den  Kauf  und  Verkauf  von  Getreide  und  Früchten  erlassenen  Be- 
stimmungen; die  Verbr.  gegen  den  Handel  und  die  Freiheit  der  öffentlichen 
Versteigerungen;  die  Fälschungsverbrechen;  die  Verbr.  gegen  das  öffentliche 
Finanzwesen;  Betrug;  gemeingefährliche  Verbr.;  Anmassung  des  öffentlichen 
Ansehens;  Verletzung  der  gesellschaftlichen  Solidarität. 

Unter  den  Verbr.  gegen  die  Familienordnung  finden  wir:  Verbr.  gegen 
die  Ehe;  Verbr.  gegen  die  Familienehre;  Entführung;  Verbr.  gegen  den  Per- 
sonenstand; Abtreibung,  Kindestötung  und  Aussetzung  eines  neugeborenen 
Kindes. 

Zu  der  letzten  Klasse  von  Verbr.  gehören:  Verbr.  gegen  das  Leben; 
Verbr.  gegen  die  körperliche  Unversehrtheit  der  Personen  (ein  besonderer  Ab- 
schnitt behandelt  die  Fälle,  in  denen  sie  straflos  bleiben  oder  milder  bestraft 
werden);  Verbr.  gegen  die  persönliche  Freiheit;  Beleidigung,  Verleumdung  und 
Verbreitung  von  Schmähschriften;  Verbr.  gegen  das  Eigentum,  begangen  in 
gewinnsüchtiger  Absicht;  Verbr.  gegen  das  Eigentum,  begangen  in  gewinn- 
süchtiger Absicht. 

Als  Verg.  bezeichnet  das  StGB,  von  San  Marino  nur  die  aus  Fahrlässig- 
keit begangenen  strafbaren  Handlungen.  Ihre  Bestrafung  ist  verschieden,  je 
nachdem  sie  allein  oder  in  Verbindung  mit  Verbr.  begangen  sind. 

Die  Übertretungen  sind  in  47  Gruppen  eingeteilt.  Das  G.  hebt  aus- 
drücklich hervor,  dass  der  Nachweis  der  vorsätzlichen  Begehung  oder  der 
gesetzwidrigen  Absicht  des  Thäters  zu  ihrer  Bestrafung  nicht  erforderlich  ist. 


XI. 


GROSSBRITANNIEN. 


1.  England  und  Irland. 
2.  Schottland. 


Von 

Dr.  Ernst  Schuster, 

Barrister-at-Laif  in  London. 


Strafgesetzgebnng  der  Gegenwart.  I.  39 


f  bersicht 


1.  Bng^Uuid  mid  Irland. 

I.  Einleitung.  §  1.  Geschichtlicher  Cberblict  §  2.  Die  Quellen  und  die  Litteratnr 
des  geltenden  Stit  §  3.  Gmndsätze  über  die  Einleitung  des  Strafverfahrens. 
§  4.  Ränmliches  Geltungsgebiet  des  englischen  StR,  und  Rechtshülfe.  §  5.  Per- 
sönliches Geltnngsgebiet.    Besonderes  und  ansnahmsweises  StR, 

n.  Allgemeiner  Teil.  §  6.  a)  Das  Verbrechen,  i.  Einteilung  der  Verbrechen:  1.  nach 
ihrer  Gattung  ftreason,  felonies,  misdenieanors>;  2.  nach  der  Art  ihrer  Verfolgung 
findictable  offences  und  summarisches  Verfahren!,  ii  Das  Verbrechen  als  rechts- 
widrige Handlung.  —  Ausschluss  der  Rechtswidrigkeit:  1.  im  allgemeinen;  2.  bei 
Handlungen  unter  dem  Einflüsse  der  Gefahr  «Notwehr,  Notstand,  Nötigung«;  3.  in 
anderen  Fällen,  in.  Das  Verbrechen  als  schuldhafte  Handlung.  1.  Zurechnungs- 
fähigkeit.  2.  Schuld.  3.  Vorsatz.  4.  Irrtum.  5.  Fahrlässigkeit,  iv.  Strafaus- 
schliessungsgriinde.  1.  Wegfall  der  Strafe.  2.  Prozess Voraussetzungen.  3.  Be- 
gnadigung. V.  Der  Versuch,  vi.  Aufforderung  dncitement)  und  Komplott  (Con- 
spiracy).  vii.  Thäterschaft  und  Teilnahme.  Tili.  Handlungseinheit  und  Ver- 
brechensmehrheit. 1.  Im  allgemeinen.  2.  Die  juristische  Handlungseinheit.  3.  Das 
Kollektivdelikt.    4.  Der  Rückfall.     5.  Die  Realkonkurrenz.    §  7.   b)  Die  Strafen. 

1.  Arten.  1.  Hauptstrafen.  2.  Nebenstrafen,  ii.  Fälle  der  Strafmilderung,  iii.  Richter- 
liches Ermessen  bei  der  Strafbestimmung. 

III.  Besonderer  Teil.  §  8.  a)  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  der  Ge- 
samtheit: I.  Gegen  den  Staat.  1.  Hochverrat.  2.  Staatsfeindliche  Verabredungen 
und  Verschwörungen.  3.  Persönliche  Angriffe  gegen  den  Souverän.  4.  Staats- 
feindliche Äusserungen,  ii.  Gegen  den  öffentlichen  Frieden:  1.  Öffentliche  Zu- 
sammenrottungen (unlawful  assemblies,  routs,  riotsj.  2.  Streit;  unbefugtes  Führen 
von  Waffen.  3.  Unbefugte  militärische  Übungen,  in.  Gegen  die  Autorität  der 
Staaisgewalt.  1.  Widerstand  gegen  Beamte.  2.  Entweichung  und  Befreiung  von 
Gefangenen,  iy.  Gegen  den  Gang  der  Staatsverwaltung.  1.  Amtsdelikte.  2.  Straf- 
bare Handlungen  gegen  die  Rechtspflege.  3.  Gegen  das  öffentliche  Wahl-  und 
Stimmrecht.  4.  Gegen  die  Zollgesetze,  v.  Gegen  das  Vereins-  und  Pressrecht- 
VI.  Gegen  die  Religion,  vii.  Gegen  die  Sittlichkeit,  viii.  Gegen  die  polizeilichen 
Vorschriften  zum  Schutze  der  Gesundheit,  der  öffentlichen  Wohlfahrt  und  des 
öffentlichen  Anstands.  §  9.  b)  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  des 
Einzelnen,  i.  Gegen  die  körperliche  Unversehrtheit.  1.  Tötung.  2.  Körper- 
verletzung und  Angriffe  gegen  die  Person  tassault).  3.  Gefährdung  von  Leib 
und  Leben,     ii.   Gegen   immaterielle   Rechtsgüter.     1.   Ge^en   die   Ehre   (libel). 

2.  Gegen  die  persönliche  Freiheit.  3.  Gegen  die  geschlechtliche  Freiheit.  4.  Gegen 
die  Familienrechte.  5.  Hausfriedensbruch.  6.  Bedrohung,  in.  Gegen  Individual- 
rechte. IV.  Gegen  das  Vermögen.  A.  Gegen  Sachenrechte:  1.  Diebstahl,  Unter- 
schlagung usw.  (Larceny  und  Embezzlenient).  2.  Raub.  3.  Sachbeschädigung. 
B.  Gegen  Okkupationsrechte.  C.  Gegen  Forderungsrechte:  L  Vertragsbruch. 
2.  Bankbruch  usw.  D.  Gegen  das  Vermögen  überhaupt.  1.  Betrug.  2.  Er- 
pressung. 3.  Missbrauch  der  Unerfahrenheit  und  Jugend.  4.  Sachhehlerei. 
V.  Durch  das  Mittel  des  Angriffs  gekennzeichnete  Delikte:  1.  Entfesselung  ge- 
fährlicher Naturkräfte  (Brandstiftung,  Überschwemmung,  Missbrauch  von  Spreng- 
stoffen). 2.  Störung  des  Eisenbahn-,  Schiffahrts-  und  Telegraphen  Verkehrs.  3.  Ein- 
bruch (Housebreaking  und  Burglarj).  4.  Warenfälschung  ö.  Urkundenfälschung. 
6.  Münzdelikte. 

2.  Schottland. 

I.  Einleitung.  §  1.  Quellen  und  Litteratnr.  §  2.  Übersicht  über  die  mit  dem  eng- 
lischen StR.  gemeinsamen  Bestimmungen.  §  3.  Grundsätze  über  die  Einleitung 
des  Strafverfahrens. 

II.  §  4.  Allgemeiner  Teil. 

III.  Besonderer  Teil.  §  5.  a)  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  der  Ge- 
samtheit.   §  6.  b;  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen. 


L  England  und  Irland. 


L  Einleitung. 

§  1.    eeschlchtlieher  Überblick. 

I.  Vornormannische  Zeit.  Die  angelsächsischen  G.  enthalten  nur  dürftige 
Angaben  über  Strafrechtspflege.  ^)  Die  Privatfehde  herrschte  noch  zur  Zeit  der 
Eroberung  vielfach  vor,  war  jedoch  eingeschränkt  durch  die  Bestimmungen  über 
die  verschiedenen  Gebiete  und  Zeiten,  in  welchen  und  zu  welchen  Frieden  ge- 
halten werden  musste  (Königsfriede,  grundherrlicher  Friede,  Bischofsfriede). 
Gegen  diese  Friedensstörungen  wandte  sich  die  Strafrechtspflege,  indem  sie 
dem  Verletzten  oder  seiner  Sippe  Entschädigung  (wer  bei  Tötungen,  bot  bei 
sonstigen  Verletzungen)  zuerkannte,  aber  auch  den  Schuldigen  mit  dem  Verlust 
des  Lebens  oder  eines  Gliedes  oder  wenigstens  einer  Busse  (wite)  an  den  König 
bestrafte.  Die  Klage  wurde  im  Volksgericht  gehört,  auf  Antrag  des  Verletzten 
oder  eines  Verwandten  oder  auch  auf  Antrag  der  Zehnschaft  (Tithing),  welcher 
der  Friedensstörer  angehörte.  Der  oberste  Beamte  der  Grafschaft  (shir-gerefa 
=  sheriflf)  führte  den  Vorsitz  bei  den  Verhandlungen  (daher  der  Name  SheriflTs 
Tourn).  Der  Beklagte  konnte  sich  dui'ch  Reinigungseid  oder  Gottesurteil  ver- 
teidigen. Daneben  bestand  das  Recht  des  „infangthief**,  welches  den  Grund- 
herren gestattete,  die  auf  ihrem  Gebiete  ergriffenen  Räuber  mit  dem  Tode  zu 
bestrafen. 

IL  Zeitraum  von  der  normannischen  Eroberung  (1066)  bis  zur 
Zeit  Bractons  (etwa  1240).  Wilhelm  der  Eroberer  setzte  an  die  Stelle  der 
Privatfehde  das  Duell,  das  in  der  Folge  bei  Privatklagen  (appeals)  angewandt 
wurde;  bei  der  öff'entlichen  Klage  blieb  das  Gottesurteil  vorläufig  bestehen, 
aber  der  Reinigungseid  wurde  abgeschaff't.  Die  unter  den  normannischen  Königen 
wachsende  Macht  der  königlichen  Centralgewalt  machte  sich  bald  auch  in  der 
Rechtspflege  fühlbar,  namentlich  seit  Henry  IL  die  Richter  des  Obergerichts- 
hofes (Curia  Regis)  auf  die  Rundreisen  (itinera)  sandte,  die  noch  heute  ein 
charakteristisches  Merkmal  des  englischen  Gerichtswesens  bilden.  Die  schwereren 
Strafsachen  kamen  nunmehr  nicht  mehr  bei  dem  SheriflTs  tourn,  sondern  nur  vor 
den  reisenden  Richtern  zu  Verhandlung,  und  die  betreffenden  Klagen  wurden, 
weil  der  besonderen  Gerichtsbarkeit  der  Krone  unterstehend,  Placita  coronae 
—  Pleas  of  the  Crown  genannt.  ^)  Eine  andere  normannische  Einrichtung  wurde 
nun  ebenfalls  für  die  Rechtspflege  verwertet.     Es  waren  dies  die  sogenannten 


*)  Vgl.  Sir  F.  PoUock:  Anglo-Saxon  Law,  English  Hlstorical  Review,  April  1893. 
*)  Die  hauptsächlichen  älteren  Werke   über  englisches  StR.   führen   daher  den 
Titel:  Pleas  of  the  Crown. 

39* 


612  England  und  Irland.  —  Einleitung. 


Inquests,  d.  h.  Untersuchungen  über  thatsächliche  Verhältnisse  durch  die  Ver- 
nehmung angesehener  Personen  an  Ort  und  SteUe.  Solche  Untersuchungen 
waren  nunmehr  in  jeder  Grafschaft  über  die  daselbst  begangenen  Verbr.  ab- 
zuhalten und  aus  den  zu  diesem  Zwecke  gebildeten  Kommissionen  entwickelte 
sich  das  System  der  Anklagejuries  (grand  juries),  welche  in  der  Folge  statt  der 
Gemeinden  die  öffentliche  Strafklage  einleiteten.  Allmählich  wurde  auch  die 
Urteilsfindung  von  der  eidlichen  Aussage  angesehener,  mit  den  örtlichen  Ver- 
hältnissen vertrauter  Leute  abhängig  gemacht,  denen  später  der  Befund  über 
die  Thatfragen  ganz  überlassen  wurde,  und  welche  sich  somit  zur  Urteil^'ury 
(petty  jur^^)  entwickelten.  Nachdem  durch  das  lateranensische  Konzil  die  Gottes- 
urteile beseitigt  waren,  blieben  nur  zwei  Arten  der  Beweisfülirung:  das  all- 
mählich ganz  an  Bedeutung  verlierende  Duell  und  der  Beweis  durch  das  Volk 
(per  patriam)  —  d.  h.  durch  die  Jury.  Zu  der  Zeit  Henryks  IL  ist  wahr- 
scheinlich das  Werk  des  Ranulphus  Glanvilla:  Tractatus  de  Legibus  et  CJon- 
suetudinibus  Regni  Angliae  entstanden,  das  auch  ein  kurzes  Kapitel  über  die 
vor  den  königlichen  Richtern  zu  verhandelnden  Strafsachen  hat.  Es  werden 
in  demselben  folgende  Verbr.  aufgezählt:  1.  laesa  majestas  (mors  regis  vel 
seditio  regni  vel  exercitus),  2.  occultatio  inventi  thesauri,  3.  homicidium,  das 
in  zwei  Unterabteilungen  zerfällt:  die  heimliche  Tötung  —  die  als  murdrum^) 
bezeichnet  wird  —  und  das  einfache  homicidium,  4.  incendium,  5.  roberia  (Raub), 
6.  raptus  (Notzucht)  —  wobei  bemerkt  wird,  dass  der  Thäter  sich  nur  mit 
Genehmigung  des  Königs  und  der  Eltern  durch  Ehelichung  der  Geschändeten 
der  Strafe  entziehen  kann,  7.  falsum  —  unter  welcher  Kategorie  aufgezählt 
werden:  Urkundenfälschung,  Falschmünzerei  und  Fälschung  von  Massen  und 
Gewichten.  Die  Fälschung  von  öffentlichen  Urkunden  war  als  laesa  majestas 
zu  bestrafen.  Die  Bemerkung,  dass  über  Diebstahl  und  andere  Verbr.,  die  zur 
Zuständigkeit  des  Sheriff  gehören,  eine  weitere  Erörterung  nicht  am  Platze  sei, 
da  dieselbe  nach  den  Gebräuchen  der  einzelnen  Grafschaften  abgeurteilt  werden, 
deutet  darauf  hin,  dass  erst  durch  die  Rundreisen  der  Richter  ein  einheitliches 
StR.  in  England  entstanden  ist. 

IIL  Zeitraum  von  Bracton^)  (etwa  1240)  bis  zur  Veröffentlichung 
von  Coke's  Third  Institute  (etwa  1620).  Der  unter  Henry  IIL  schrei- 
bende Bracton  ist  der  erste  Schriftsteller,  der  ausführliche  Angaben  über 
StR.  hat.  Dieselben  finden  sich  im  dritten  Buch  seines  Werkes:  De  Legi- 
bus et  Consuetudinibus  Angliae  unter  dem  Titel  „de  Corona"  und  enthalten 
auch  genaueres  über  die  Strafen.  Mit  Todesstrafe  wird  Hochverrat  (laesa 
majestas)  bestraft,  wozu  bereits  damals  Vorbereitungshandlungen  gerechnet 
werden  („si  quis  ausu  temerario  machinatus  sit  mortem  domini  regis  .... 
licet  id  quod  in  voluntate  habuerit  non  perduxerit  ad  effectura  etc.**),  und 
wobei  der  Gehülfe  ebenso  wie  der  Hauptthäter  bestraft  wird.  Zur  laesa 
majestas  wird  auch  die  Fälschung  öffentlicher  Urkunden  und  die  Falschmünzerei 
gerechnet.  Die  Unterscheidung  zwischen  homicidium  und  murdrum  ist  die- 
selbe 'vvie  bei  Glanvilla;  beide  Verbr.  sind  mit  dem  Tode  strafbar.  Körper- 
verletzung (plaga)    wird    entweder   mit    dem  Tode    oder   mit    lebenslänglicher 


^)  Murdrum  ist  der  Name  des  Strafgeldes,  welches  der  Bezirk  zu  zahlen  hatte, 
wenn  nicht  nachgewiesen  wurde,  dass  der  Getötete  ein  Angelsachse  war  —  das  soge- 
nannte „presentment  of  Englishry".  Die  besondere  Hervorhebung  der  heimlichen 
Tötung  und  ihre  Bezeichnung  mit  dem  Namen  des  Strafgeldes  hängt  wohl  mit  der 
Erinnerung  an  dieses  Verfahren  zusammen. 

*)  Über  die  Zeit  zwischen  Glanvilla  und  Bracton  geben  interessante  Aufschlüsse 
die  von  Maitland  veröffentlichten  Berichte  über  Gerichtsverhandlungen  in  der  Graf- 
schaft Gloucester  aus  dem  Anfang  des  13.  Jahrhunderts:  Pleas  of  the  Crown  of  the 
County  of  Gloucester. 


§  1.    Geschichtlicher  Überblick.  613 


VerbannuDg  bestraft;  als  schwere  Körperverletzung  gilt  die  Verstümmelung 
(mahemium  —  englisch:  maim).  Raub  (roberia)  ist  je  nach  Umständen  mit  Todes- 
strafe oder  mit  dem  Verlust  eines  Gliedes  bedroht,  böswillige  Brandstiftung^) 
(iniqua  conbustio)  mit  dem  Tode,  Notzucht  —  wenn  zugleich  Deflorieining  — 
mit  Kastration  und  dem  Verlust  der  Augen  („oculos  amittat  propter  aspectum 
decoris  et  testiculos  quia  calorem  stupri  induxerunt"),  andernfalls  mit  einer 
leichteren  körperlichen  Strafe,*)  Diebstahl  je  nach  dem  Werte  des  Objekts, 
mit  dem  Tode,  Verbannung  oder  auch  nur  mit  Prügelstrafe.')  Die  Tötung  des 
nächtlichen  Diebes  ist  dem  Verletzten  gestattet,  „si  parccre  ei  sine  periculo 
suo  non  poterit",  womit  die  Grundlage  zu  der  späteren  Lehre  von  der  Not- 
wehr gelegt  wird.  Die  schweren  Verbr.  (feloniae)  d.  h.  solche  Verbr.,  die  mit 
dem  Tode,  der  Verstümmelung  oder  Freiheitsstrafe  bedroht  sind,  müssen  vor 
die  königlichen  Richter  gebracht  werden;  für  die  anderen,  welche  als  trans- 
gressiones  bezeichnet  werden,  ist  der  SherifF  zuständig.  Als  Bracton  schrieb, 
beruhte  noch  das  ganze  StR.  auf  Gewohnheitsrecht  und  Gerichtspraxis,  doch 
beginnt  bald  nach  ihm  das  Eingreifen  der  Gesetzgebung.  Unter  den  in  den 
beiden  folgenden  Jahrhunderten  erlassenen  Gesetzen,  die  noch  heute  teilweise 
in  Kraft  sind,  sind  hauptsächlich  zu  erwähnen:  der  im  J.  1351  erlassene 
Statute  of  Treasons  —  25  Ed.  III  st.  5  cap.  2  — ,  der  die  von  Bracton  ge- 
gebene Definition  des  Hochverrats  als  Grundlage  benutzt;  femer  G.  gegen 
Personenhehlerei  (3  Ed.  I  cap.  9),  gegen  Verbreitung  falscher  politischer  Nach- 
richten (3  Ed.  I  cap.  34),  gegen  Verabredung  zu  strafrechtlicher  Verfolgung 
unschuldiger  Personen  (33  Ed.  I  —  Statute  de  conspiratoribus),  gegen  die  Ent- 
weichung aus  Gefängnissen  (23  Ed.  I  de  frangentibus  prisonara)  und  gegen 
Hausfriedensbruch  (forcible  entry  5  Ric.  II  st.  1  cap.  7).  Der  erste  Schritt 
auf  der  Bahn,  welcher  zu  der  jetzt  geltenden  Definition  des  Mords  geführt  hat, 
ist  eine  im  J.  1389  erlassene  Erklärung  Richard's  II.,  welche  verspricht,  das 
Begnadigungsrecht  im  Falle  der  Tötung  in  gewissen  Fällen,  unter  welchen 
„malice  prepense"  besonders  genannt  wird,  nicht  mehr  auszuüben.  Im  J.  1400 
wird  das  erste  G.  gegen  Ketzerei  erlassen. 

Auch  in  die  Organisation  der  strafrechtlichen  Gerichtshöfe  gi'ifiF  die  Gesetz- 
gebung des  14.  Jahrhunderts  ein.  Durch  das  Gesetz  34  Ed.  III  cap,  1  wurden 
die  Friedensrichter  —  unbesoldete,  vom  König  für  die  Zwecke  der  Friedens- 
bewahrung aus  den  Grundbesitzern  der  Grafschaft  gewählte  Beamte  —  er- 
mächtigt, in  ihren  Vlertcljahrssitzungen  (Quarter  Sessions)  Strafklagen  zu  hören, 
wenn  es  sich  um  leichtere  Verbr.  handelte  und  damit  die  noch  heute  für  die 
Strafrechtspfiege  hauptsächlich  thätigen  Courts  of  Quarter  Sessions  geschaften. 
Der  SheriflTs  Toum  wurde  in  der  Folge  allmählich  beseitigt. 

Die  strengen  Strafen,  welche  zu  Bractons  Zeit  noch  bestanden,  wurden 
im  14.  Jahrhundert  wesentlich  gemildert  durch  das  sogenannte  „benefit  of 
clergy**.  Zu  Bractons  Zeit  war  dasselbe  nur  ein  Vorrecht  der  Geistlichkeit, 
und  bestand  darin,  dass  strafrechtlich  verfolgte  Mitglieder  dieses  Standes  die 
Verweisung  des  Verfahrens  an  den  geistlichen  Gerichtshof  beanspruchen  konnten. 
Durch  ein  G.  vom  J.  1351  —  25  Ed.  III  stat.  6  —  wurde  dieses  Privileg  auf 
alle    clerici  —  geistliche    und  weltliche  —  ausgedehnt  und   eine  wohlwollende 


*)  „Incendia  fortuita  vel  negligentia  facta  .  . .  non  sie  puniuntur,  quia  civiliter 
agitur  contra  tales."  Noch  heute  ist  fahrlässige  Brandstiftung  nach  englischem  Recht 
nicht  strafbar. 

'^)  Früher  sei  in  allen  Fällen  Todesstrafe  verhängt  worden,  aber  „modernis  tem- 
poribus"  sei  dies  gemildert  worden. 

^)  Die  Definition  von  furtum  ist  „contrectatio  rei  alienae  fraudulenta  cum  animo 
furandi  invito  illo  domino  cujus  res  illa  fuerit".  Die  Ähnlichkeit  und  zugleich  der 
Unterschied  gegenüber  der  bekannten  Definition  in  1.  1  §  3  D.  47  :  2  ist  interessant. 


614  England  und  Irland.  —  Einleitung. 


Interpretation  führte  schliesslich  dahin,  dass  alle  Leute,  welche  lesen  und 
schreiben  konnten,^)  die  Eechtswohlthat  genossen;  nur  Frauen,  die  zu  keinem 
religiösen  Orden  gehörten,  und  „Bigami"  waren  ausgeschlossen.  Das  Privileg 
auch  der  wirklichen  Geistlichen  wurde  später  darauf  eingeschränkt,  dass  nur 
die  Bestimmung  der  Strafe  nach  erfolgter  Verurteilung  an  den  geistlichen 
Gerichtshof  verwiesen  werden  konnte;  dieselbe  war  ganz  dem  Ermessen  des 
Bischofs  anheimgestellt:  er  konnte  den  Schuldigen  auf  Lebenszeit  in  sein  Gef. 
einsperren  oder  ihn  mit  einer  Vermahnung  entlassen. 

Die  EntWickelung  des  StR.  in  der  zweiten  Hälfte  des  15.  und  im  16.  Jahr- 
hundert besteht  hauptsächlich  in  einer  Einschränkung  des  benefit  of  dergy. 
Zunächst  wurde  1488  durch  ein  G.  (4  Henry  VII  cap.  13)  bestimmt,  dass  Laien 
nur  einmal  von  der  Rechtswohlthat  Gebrauch  machen  komiten  und  zur  besseren 
Kontrollierung  bei  der  ersten  Inanspruchnahme  derselben  am  Daumen  zu 
brandmarken  seien.  Bei  Hochverrat  war  das  benefit  of  clergy  nie  anwendbar, 
und  durch  eine  Reihe  von  G.  unter  Heinrich  VII,  Heinrich  VIII,  Edward  VI 
und  Elizabeth  wurde  auch  Personen,  welche  wegen  Mordes,  Einbruchs,  Raubes, 
gewisser  Arten  des  Diebstahls  und  Notzucht  verurteilt  wurden,  die  Rechts- 
wohlthat entzogen.  Die  G.,  welche  das  Privileg  im  Falle  des  Mords  entziehen, 
bilden  einen  weiteren  Schritt  in  der  Entwickelung  des  heutigen  Begriffe  des 
Mords;  nur  bei  „wilfully  prepensed  murders"  soll  die  Rechtswohlthat  entzogen 
werden.*) 

Demnach  zerfallen  am  Ende  des  16.  Jahrhunderts  die  Verbr.  in  „felonies 
without  benefit  of  clergy",  „clergyable  felonies"  und  „misdemeanors".  Die 
ersteren  sind  mit  dem  Tode  strafbar,  die  zweiten  nach  Belieben  des  Bischofs, 
die  dritten  mit  geringeren  Strafen. 

Unter  den  strafrechtlichen  G.  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  sind  femer 
zu  erwähnen:  ^ie  gegen  Beamtenbestechung  (11  Henry  IV;  Coke  Third  Li- 
stitute  cap.  68),  gegen  Entführung  (3  Henry  VII  cap.  2;  Coke  cap.  12),  gegen 
widernatürliche  Unzucht  (25  Henry  VIII  cap.  6;  5  Elizabeth  cap.  17;  Coke  cap.  10) 
und  gegen  Meineid  (5  Elizabeth  cap.  9;  Coke  cap.  74)  gerichteten  Bestimmungen. 
Die  von  Coke  noch  berücksichtigte  Gesetzgebung  des  17.  Jahrhunderts  um- 
fasst  ein  G.,  welches  Bigamie  (1  Jac.  cap.  11)  und  eines,  welches  das  Ausgehen 
von  Personen,  die  Pestbeulen  haben,  mit  Strafe  bedroht  (1  Jac.  cap.  31;  Coke 
cap.  28).  Als  nach  gemeinem  Recht  straf  bare  Verbr.  erwähnt  Coke  Verleumdung 
(cap.  76)  und  die  als  unlawful  assemblies  und  riots  (vgl.  unten  §  8 II 1)  bezeichneten 
Störungen  der  öffentlichen  Ordnung  (Coke  cap.  79).  Eigentümlich  ist  das  be- 
reits bei  Britton  und  dem  Mirror  of  justices  als  felony  gekennzeichnete  Verbr.  des 
Exports  von  Silber  (Coke  cap.  35).  Eine  weitere  Entwickelung  des  StR.,  die 
vor  Coke  stattgefunden  haben  muss,  wird  durch  die  Anerkennung  des  Rück- 
falls als  straf  bestimmenden  Moments  gekennzeichnet;  so  wird  z.  B.  Fälschung 
im  Rückfalle  als  ganz  gesondertes  Verbr.  behandelt  (Coke  cap.  71,  75).  über 
Thäterachaft  und  Teilnahme  hatten  sich  ebenfalls  allgemeine  Grundsätze  aus- 
gebildet (Coke  cap.  64).  Auf  dem  Gebiete  der  strafrechtlichen  Litteratur 
während  dieses  Zeitraumes  sind  zu  erwähnen :  Staunforde,  Pleas  of  the  Crown 
(etwa  1550)  und  Lambarda,  Eirenarcha  Friedensrichter  (1579). 

IV.  Zeitraum  von  der  Veröffentlichung  von  Coke's  Third  In- 
stitute (etwa  1620)  bis  auf  die  neueste  Zeit.  Die  Gesetzgebung  schreitet 
auch  im  17.  und  18.  Jahrhundert  in  derselben  planlosen  Weise  weiter  wie 
früher;    neue  G.   gegen  strafbare  Handlungen  werden   erlassen,    wenn    durch 


*)  Auch  hiermit  wurde  es  später  nicht  sehr  genau  genommen.    Es  genügte  das 
Lesen  der  Worte  „Miserere  mei  Dens"  vgl.  Stephen,  General  View  S.  35. 

*)  Das  erste  dieser  G.  wurde  im  J.  1496  erlassen  (12  Henry  VII  cap.  7). 


§  1.    Geschichtlicher  Überblick.  615 


irgend  einen  bemerkenswerten  Vorfall  eine  Lücke  zum  Vorschein  kommt  oder 
politische  Vorgänge  die  Abänderung  besonderer  Bestimmungen  herbeiführen. 
Das  oben  unter  III  erwähnte  G.  gegen  Ketzerei,  das  unter  Henry  VIII.  wesent- 
lich abgeändert,  von  Edward  VI.  aufgehoben,  aber  von  Mary  wieder  ein- 
geführt worden  war,  wurde  von  Elisabeth  endgültig  aufgehoben,  aber  die 
bereits  im  14.  Jahrhundert  aufgestellte  Fiktion,  nach  welcher  Ketzerei  nach 
gemeinem  Recht  mit  Verbrennung  zu  bestrafen  war,  wurde  noch  im  17.  Jahr- 
hundert auiVechterhalten,  und  es  fanden  auf  Grund  derselben  unter  James  I. 
Ketzerverbrennungen  statt.  Im  J.  1677  wurde  sie  durch  das  G.  29  Gar.  2 
cap.  9  endgültig  beseitigt. 

Das  beneflt  of  clergy  wurde  einer  weitern  Reihe  von  Arten  des  Dieb- 
stahls durch  unter  Charles  II.,  William  III.,  Anna  und  George  II.  erlassene  G. 
entzogen,  sodass  schliesslich  jeder  Diebstahl,  wenn  es  sich  nicht  um  ganz  un- 
bedeutende Objekte  handelte,  mit  dem  Tode  strafbar  war.  Dabei  blieben 
gewisse  dem  Diebstahl  verwandte  Verbr.  ganz  straflos,  so  z.  B.  die  Unter- 
schlagung durch  Vertrauenspersonen,  gegen  welche  erst  im  J.  1812  ein  G. 
erlassen  wurde,  nachdem  ein  Börsenmakler  einen  Sir  Thomas  Plumer  um 
£  22000  benachteiligt  hatte  (52  Geo.  III  cap.  63). 

Die  harte  Bestrafung  der  Felonies,  welchen  das  beneflt  of  clergy  ent- 
zogen war,  wurde  allmählich  wieder  gemildert.  Schon  im  17.  Jahrhundert 
bildete  sich  die  Gewohnheit  aus,  die  zum  Tode  Verurteilten  unter  der  Be- 
dingung der  Deportation  nach  den  Kolonieen  zu  begnadigen.*)  Ein  im  J.  1768 
erlassenes  G.  (8  Geo.  III  cap.  15)  ermächtigte  sodann  die  Assisenrichter  in  den 
Provinzen,  gegen  Verurteilte,  die  vom  beneflt  of  clergy  ausgeschlossen  waren, 
die  Strafe  der  Deportation  statt  der  Todesstrafe  zu  verhängen;  bei  den  in 
London  Verurteilten  hingegen  konnte  dasselbe  Resultat  weiter  nur  auf  dem 
Gnadenwege  erreicht  werden.  Die  Strafe  der  Deportation  wurde  inzwischen 
auch  in  neueren  G.  von  vornherein  als  Strafe  bestimmt. 

Die  Reformbestrebungen,  welche  am  Ende  des  letzten  und  am  Anfange 
dieses  Jahrhunderts  auf  allen  Gebieten  sich  geltend  machten,  ergriffen  auch 
das  StR.  In  den  Jahren  1826 — 1832  wurden  eine  Reihe  von  G.  erlassen, 
die  unter  dem  Namen  Sir  Robert  Peel's  Acts  bekannt  sind,  und  welche  die 
veralteten  Teile  des  StR.  zum  grossen  Teil  beseitigten  und  die  zahlreichen  G. 
über  Diebstahl,  Verbr.  gegen  die  Person,  Fälschung  und  Falschmünzerei  in  je 
ein  G.  zusammenfassten.  Im  J.  1827  wurde  auch  das  Institut  des  beneflt  of 
clergy  gesetzlich  (7  und  8  George  IV  cap.  28)  beseitigt. 

Die  Deportationsstrafe  wurde  einer  Reihe  von  Umwandlungen  unterworfen, 
die  schliesslich  im  J.  1857  zur  Abschaffung  dieser  Strafe  und  zur  Substitution 
der  schon  früher  teilweise  angewandten  Zuchthausstrafe  führte.*) 

Unmittelbar  nach  Erlass  der  erwähnten,  von  Sir  Robert  Peel's  Ministerium 
veranlassten  Gesetzgebung  traten  verschiedene  Kommissionen  hintereinander 
zusammen,  um  weitere  Reformen  zu  beraten.  Das  Resultat  dieser  Beratungen 
sind  die  fünf  zusammenfassenden  als  Consolidation  Acts  bezeichneten  G.  vom 
J.  1861,  von  welchen  24  u.  25Vict.  cap.  96  den  Diebstahl  (mit  Einschluss  von 
Unterschlagung,  Raub,  Untreue  usw.),  cap.  97  die  Sachbeschädigung,  cap.  98 
die  Fälschung,  cap.  99  die  Falschmünzerei,  cap.  100  Verbr.  gegen  die  Person 
(Mord,  Körperverletzung,  Notzucht,  Verbr.  gegen  die  Sittlichkeit,  Verleum- 
dung usw.)  behandelt. 


*)  Die  Gewohnheit  wird  gesetzlich  anerkannt  durch  31  Car.  II  cap.  2  §§  13  und  14. 

■)  Näheres  hierüber  bei  Aschrott,  Strafensystem  und  Gefängniswesen  in  Eng- 
land, S.  39—50;  über  die  parallel  gehende  Ent Wickelung  des  Gefängnis wesens  a.  a.  0. 
S.  77-91. 


616  England  nnd  Irland.  —  Einleitung-. 


Im  J.  1878  wurde  auf  Anregung  Ton  Sir  James  Stephen  der  Yersneh 
gemacht,  das  ganze  StR.  zu  kodifizieren.  Der  Ton  diesem  —  dem  bedeutendsten 
aller  englischen  Kriminalisten  —  anf  der  Grandlage  seines  Digest  verfasste 
Entwurf  wurde  von  einer  Kommission  geprüft  nnd  in  etwas  veränderter  Gestalt 
1879  dem  Parlamente  vorgelegt,  wurde  aber,  da  sich  keine  der  politischen 
Parteien  für  eine  Reform  interessierte,  die  sich  nicht  in  leicht  verständlichen 
Schlagworten  zusammenfassen  iiess,  zu  den  Akten  gelegt. 

Welcher  Augiasstall  durch  Annahme  des  Entwurfs  gereinigt  worden  wäre, 
geht  daraus  hervor,  dass,  obwohl  durch  die  Gesetzgebung  Peel's  und  durch 
die  fünf  Gesetze  v.  1861  schon  eine  erhebliche  Beseitigung  von  Wust  be- 
wirkt war,  nach  Annahme  des  Entw.  83  G.  ganz  oder  teilweise  aufgehoben 
worden  wären. 

Unter  den  seither  erlassenen  G.  ist  ia  erster  Linie  zu  nennen:  die  Sum* 
mary  Jurisdiction  Act  v.  1879,  welche  die  Zuständigkeit  der  Friedensrichter 
und  Polizeirichter  ausdehnt  Cvgl.  unten  §  3),  die  Criminal  Law  Amendment 
Act  V.  1885,  welche  die  Bestimmungen  über  Sittlichkeitsverbrechen  wesentlich 
verschärft,  und  die  Probation  of  First  OfFenders  Act  v.  1887,  femer  die  Penal 
Servitude  Act  v.  1891,  welche  das  Minimum  der  Zuchthausstrafe  von  5  auf 
3  Jahre  reduziert. 

Eine  Kodifikationsarbeit  erscheint  jetzt  aussichtsloser  als  vor  14  Jahren. 
Weitere  Reformen  werden  in  der  Beseitigung  veralteter  Bestimmungen  und 
der  Ausfüllung  von  Lücken  bestehen,  vielleicht  auch  in  der  Einschränkung 
des  jetzt  noch  sehr  weitgehenden  Ermessens  der  Richter  in  Bezug  auf  die 
Strafbestimmung.  Eine  verbessernde  Thätigkeit  auf  der  Grundlage  durch- 
dachter und  einheitlicher  Grundsätze  ist  nicht  zu  erwarten,  da  England  zwar 
eine  strafrechtliche  Litteratur,  aber  keine  strafrechtliche  Wissenschaft  hat. 

§  2.    Die  Qnellen  und  die  Litteratur  des  geltenden  StS. 

I.  Die  Quellen.  Das  geltende  StR.  beruht  teilweise  auf  dem  gemeinen 
Rechte  (Common  Law),  teilweise  auf  Gesetz  (Statute  Law).  Das  gemeine  Recht 
ist  Gewohnheitsrecht,  das  in  den  Präjudizien  der  Gerichte  niedergelegt  ist, 
oder  Recht,  das  nach  Analogie  geltender  Bestimmungen  vom  Richter  neu  ge- 
schafi'en  wird.  Die  gesetzgebende  Befugnis  des  Richters  darf  selbstverständlich 
nur  mit  grosser  Vorsicht  ausgeübt  werden,  wird  aber  auch  in  Bezug  auf  das 
StR.  anerkannt.*)  Auf  dem  gemeinen  Rechte  beruhen  noch  heute  die  Definitionen 
der  meisten  schweren  Verbr.  (wie  z.  B.  von  Mord,  Diebstahl  usw.),  femer  auch 
einzelne  Straf  bestimmungen  (z.  B.  jede  Urkundenfälschung,  die  nicht  besonders 
in  der  Forgery  Act  erwähnt  ist,  ist  nach  gemeinem  Recht  mit  Gef.  bis  zu 
zwei  Jahren  strafbar).  Die  meisten  Strafbestinunungen  und  ein  grosser  Teil 
der  Definitionen  der  Delikte  beruhen  aber  jetzt  auf  Gesetzen,  unter  welchen 
die  oben  f§  1  IV)  erwähnten  fünf  Consolidation  Acts  aus  dem  J.  1861  die  her- 
vorragendste Bedeutung  haben.  *)  In  Bezug  auf  die  Anwendung  dieser  Rechts- 
quellen nach  Ort  und  Zeit  ist  noch  folgendes  zu  bemerken.  Das  gemeine 
englische  Recht  gilt  in  England  und  Irland;    Schottland    hat   sein  eigenes  ge- 


*j  Vgl.  die  bei  Stephen,  Digest  S.  108  citierte  Äusserung  eines  Richters  in  der 
Entsch.  in  Sachen  Miliar  v.  Tavlor  (4  Burr.  2312)  und  die  am  selben  Orte  citierte 
Billigung  dieser  Äusserung  in  der  Entsch.  in  Sachen  Jefferys  v.  Boosey,  4  House  of 
Lords  Gases  936. 

-)  Dieselben  werden  nach  der  Short  Titles  Act  v.  1892  in  Zukunft  bezeichnet 
als  Larceny  Act  1861;  Malicious  Damage  Act  1861;  Forgery  Act  1861;  Coinage  Offences 
Act  1861;  Offences  against  the  Person  Act  1861.  In  dieser  Darstellung  werden  die 
folgenden  Abkürzungen  angewandt:  L.  A.;  M.  D.  A.;  F.  A.;  C.  A.;  O.  P.  A. 


§  2.    Die  Quellen  und  die  Litteratur  des  geltenden  StR.  617 


meines  Recht.  Die  meisten  in  Kraft  stehenden  Gesetze  sind  auch  für  Irland  in 
Kraft  und  eine  grosse  Anzahl  derselben  auch  in  Schottland.  Die  nachfolgende 
Darstellung  giebt  das  englische  Recht;  eine  Darstellung  des  irischen  Rechts 
ist  nicht  nötig,  da  dasselbe  fast  ganz  mit  dem  englischen  StR.  übereinstimmt. 
(Über  das  schottische  StR.  vgl.  unten:  2.  Schottland.) 

Ein  G.,  das  nicht  ausdrücklich  bestimmt,  an  welchem  Tage  es  in  Kraft 
tritt,  tritt  an  dem  Tage  in  Kraft,  an  welchem  es  die  königliche  Genehmigung  er- 
hält (33  Geo.  III  cap.  13).  Englische  G.  werden  sehr  oft  auf  eine  bestimmte 
Zeit  erlassen  und  später  auf  bestimmte  oder  unbestimmte  Zeit  erneuert.^) 

II.  Die  Litteratur.  Die  Litteratur  hat  auf  strafrechtlichem  Gebiete 
eine  grössere  Bedeutung  als  auf  vielen  anderen  Gebieten,  indem  einige  Bücher 
eine  derartige  Autorität  erworben  haben,  dass  Citate  aus  denselben  als  Beleg 
für  die  Geltung  eines  gemeinrechtlichen  Satzes  von  den  Gerichten  gebilligt 
werden.  Derartige  Bücher  sind  das  bereits  citierte  Third  Institute  von  Coke; 
ferner  Hale*s  Pleas  of  the  Crown  (1694)  und  Hawkins'  Pleas  of  the  Crown 
(1716).  Viel  citiert  wird  ebenfalls  Foster  Report  of  Proceedings  &c.  To 
which  are  added  Discourses  upon  a  few  branches  of  the  Crown  Law  (1762). 
[Diese  Discourses  beziehen  sich  auf  Hochverrat,  Tötung  und  Beihülfe  bei 
Kapitalverbrechen.]  Blackstone's  bekannte  Commentaries  on  the  Law  of  Eng- 
land (erschienen  1765 — 1769),  die  auch  das  StR.  behandeln,  haben  ebenfalls 
noch  immer  ein  ziemliches  Ansehen,  ebenso  East,  Pleas  of  the  Crown,  2  Bde. 
(1803).  Unter  neueren  Büchern  über  das  geltende  StR.  ist  das  ausführlichste 
Russell  On  Crimes  and  Misdemeanors,  drei  starke  Bände,  5.  Aufl.  1877.  Das- 
selbe ist  ein  für  den  Praktiker  unentbehrliches  Hülfsmittel,  aber  wie  die  meisten 
ähnlichen  englischen  Werke  eine  ziemlich  systemlose  Zusammenstellung  von 
Gesetzen  und  Präjudizien.  Das  hervorragendste  strafrechtliche  Werk  ist  Sir  James 
F.  Stephen:  Digest  of  the  Criminal  Law  (in  der  Folge  nur  unter  der  Bezeich- 
nung Stephen  citiert),  4.  Aufl.  1887,  welches  namentlich  durch  die  relative^) 
Prägnanz  und  absolute  Zuverlässigkeit  seiner  Definitionen  sich  vor  allen  anderen 
Werken  auszeichnet  und  auch  eine  vollkommen  genügende  Zusammenstellung 
von  Präjudizien  enthält  (dieselben  werden  als  Beispiele  —  Illustrations  —  für 
die  einzelnen  Sätze  verwertet).  Dieses  Buch  geniesst  eine  besondere  Autorität, 
weil  der  Verfasser  als  Richter  am  Obergerichtshof  eine  grosse  strafrechtliche 
Erfahrung  hatte,  und  weil  es  auch  dem  von  demselben  Verfasser  redigierten 
oben  §  1  IV  enyähnten  Entw.  zu  einem  englischen  StGB,  (in  der  Folge  als 
„Entw."  citiert)  zur  Grundlage  gedient  hat.  Desselben  Verfassers  General  View 
of  the  Criminal  Law,  2.  Aufl.  1890,  erleichtert  das  Verständnis  des  Digest, 
giebt  aber  an  und  für  sich  keine  genügende  Übersicht  über  das  englische 
StR.  Von  den  für  Studenten  bestimmten  Büchern  ist  das  ausführlichste:  Harris, 
Principles  of  the  Criminal  Jjaw,  6.  Aufl.  1892,  entspricht  aber  nicht  den  An- 
forderungen, welche  deutsche  Leser  an  ein  Lehrbuch  zu  stellen  gewohnt  sind 
und  darf  auch  in  Bezug  auf  die  Zuverlässigkeit  seiner  Angaben  nur  mit  Vor- 
sicht gebraucht  werden.  Die  hauptsächlichen  Präjudizien  stellt  zusammen 
Warburton:  Leading  Cases  in  the  Criminal  Law  [Founded  on  Shirley's  Lea- 
ding  Cases]  1892,  jedoch  ist  diese  Sammlung  nicht  empfehlenswert,  da  sie 
weder  in  den  Geist  der  Entsch.  einzudringen  weiss,  noch  den  Versuch  macht, 
dieselben  systematisch  zu  ordnen.  Die  Geschichte  des  StR.  behandelt  Stephen 's 
History  of  the  Criminal  Law  of  England,  3  Bde.  1883;  femer,  im  Zusammen- 
hang mit  der  wirtschaftlichen  und  kulturellen  Entwickelung,  Pike:  History  of 


*)  In   derartigen   Fällen    wird    in   dieser    Darstellung   nur    das    ursprüngliche 
G.  citiert. 

*)  Bei  der  kasuistischen  Natur  des  Rechts  ist  mehr  nicht  zu  erwarten. 


618  England  und  Irland.  —  Einleitung'. 


Crime  in  England,  2  Bde.  1873 — 1876.  Über  die  Philosophie  des  StR.  han- 
delt: Jeremy  Bentham:  The  Rationale  of  Ponishments. 

Die  strafrechtlichen  Präjudizien  sind  in  einer  Reihe  von  Sammlungen  zu- 
sammengestellt, die  hier  nicht  aufgezählt  werden  können.  Von  den  noch  fort- 
laufenden Sammlungen  sind  zu  erwähnen:  die  autorisierten  Law  Reports  (be- 
ginnend im  J.  1866j,  die  anfangs  die  strafrechtlichen  Fälle  getrennt  unter  der 
Rubrik:  Crown  Cases  Reserved,  später  mit  anderen  Entsch.  zusammen  unter 
der  Rubrik  Queen's  Beuch  und  Queen's  Bench  Division  geben  ;^)  femer  Cox 
Criminal  Cases  (beginnend  1843);  und  die  Berichte  über  Strafsachen  in  den 
Wochenschriften:  Law  Journal  und  Justice  of  the  Peace.  Eine  Zusammen- 
stellung des  wesentlichen  Inhalts  (in  knapper  Form)  der  strafrechtlichen  Entsch. 
von  1756—1883  giebt  Mews:  Criminal  Digest  1884.  Eine  vortreffliche  Über- 
sicht über  den  Inhalt  der  strafrechtlichen  Gesetze  (bis  1889  inkl.)  giebt  das 
von  der  englischen  Regierung  veröffentlichte  Werk:  Chronological  Table  and 
Index  of  the  Statutes  1890  unter  der  Rubrik  Criminal  Law. 

Strafrechtliche  Monographieen  sind  nicht  sehr  zahlreich;  zu  erwähnen 
sind:  Aschrott,  Strafensystem  und  Gefängniswesen  in  England  (eine  in  jeder 
Beziehung  vorzügliche  Arbeit)  1887;  Wright,  Criminal  Conspiracies ;  Pollock 
and  Wright,  Possession  in  the  Common  Law  (die  dritte  von  Wright  —  jetzt 
Richter  des  Obergerichtshofes  —  bearbeitete  Abteilung  behandelt  die  Besitz- 
theorie im  Zusammenhang  mit  dem  Diebstahl  und  ähnlichen  Delikten).  Odgers, 
The  Law  of  Libel  and  Slander,  2.  Aufl.  mit  Supplement  1890,  behandelt  neben 
der  civilrechtlichen  auch  die  strafrechtliche  Seite  des  Gegenstandes,  welcher 
die  Verbreitung  strafbarer  schriftlicher  Äusserungen  a)  gegen  den  Staat, 
b)  gegen  die  Religion,  c)  gegen  die  Sittlichkeit,  d)  gegen  den  guten  Ruf  von 
Einzelpersonen  umfasst,  und  demnach  auch  die  Behandlung  der  Pressdelikte 
erörtert.     Das  Buch  ist  sehr  reichhaltig  und  durchaus  zuverlässig. 

§  3.    Grundsätze  Aber  die  Elnleltimg  des  Strafverfahrens. 

I.  Einleitung  der  Strafverfolgung.  Eine  Darstellung  des  englischen 
StR.  ist  nicht  verständlich  ohne  eine  Erwähnung  dieser  Grundsätze.  Dieselben 
lassen  sich  kurz  dahin  zusammenfassen,  dass  zur  Einleitung  des  Strafverfahrens 
in  der  Regel  niemand  verpflichtet  und  jedermann  berechtigt  ist,  gleichviel  ob 
er  der  Verletzte  ist  oder  nicht,  dass  aber  die  böswillige  Einleitung  des  Straf- 
verfahrens (malicious  prosecution)  dem  Angeklagten  ein  Recht  auf  Schadens- 
ersatz giebt.  Der  sogenannte  Director  of  Public  Prosecutions  übernimmt  die 
Verfolgung  im  Namen  der  Regierung  in  besonders  schweren  Fällen,  und 
meistens  wird  dieselbe  durch  die  Polizei  eingeleitet;  aber  wenn  dies  nicht  ge- 
schieht, kann  sich  niemand  beschweren,  da  derjenige,  welcher  geneigt  sein 
würde  Beschwerde  zu  führen,  ja  selbst  in  der  Lage  wäre  als  Prosecutor  auf- 
zutreten.*) Es  ist  diesem  Umstände  zuzuschreiben,  dass  eine  Reihe  von  straf- 
rechtlichen Bestinmiungen  noch  zu  Recht  bestehen,  die  gar  keine  praktische 
Bedeutung  mehr  haben.  Da  bei  einer  Verletzung  derartiger  Bestimmungen 
niemand  verpflichtet  ist,  einzuschreiten,  bleibt  eine  solche  regelmässig  un- 
bestraft und  auf  diese  Weise  sind  die  meisten  Personen  in  Unkenntnis  über 
die  fortdauernde  Gültigkeit    der  betr.  Rechtsregel;    niemand  hat  deshalb  Ver- 


^)  Wenn  bei  einem  Citat  die  Sammlung  nicht  besonders  genannt  ist,  handelt  es 
sich  stets  um  diese  Law  Reports. 

')  Der  Prosecutor  ist  nicht  der  Kläger,  denn  die  Klage  wird  stets  im  Namen 
der  Krone  geführt;  er  ist  vielmehr  die  Person,  auf  deren  Veranlassung  das  Verfahren 
eingeleitet  wird. 


§  4.    Räumliches  Geltungsgebiet  des  englischen  StR.  und  Rechtshülfe.       619 


anlassung,  sich  für  ihre  Beseitigung  durch  die  Gesetzgebung  zu  interessieren 
(Beispiele  derartiger  obsoleter  Bestimmungen  finden  sich  unten  §  8  lY  2,  unter 
c  und  §  8  V  1). 

n.  Summarisches  Verfahren  und  Indictment.  Es  giebt  verschie- 
dene Arten  der  Strafverfolgung,  unter  welchen  jedoch  nur  die  hier  dargestellte 
regelmässig  vorkommt,  es  ist  dies  das  Verfahren,  das  mit  einer  Verhandlung 
vor  einem  oder  mehreren  Friedensrichtern^)  (bezw.  in  den  Städten,  die  besoldete 
Polizeirichter  —  stipendiary  magistrates  —  haben,  vor  einem  solchen)  anfängt. 
Bei  leichten  Verg.  können  die  Beamten  (bezw.  der  Beamte),  vor  welchen  diese 
Verhandlung  geführt  wird,  die  Sache  summarisch  aburteilen,  bei  schweren 
Fällen  ist  sie  an  den  höheren  Gerichtshof  (Quarter  Sessions  oder  Assisengericht, 
bezw.  für  London  und  Umkreis:  Central  Criminal  Court)  zu  verweisen  und 
daselbst  durch  Klageschrift  (indictment)  einzuleiten.  Delikte,  bei  welchen  diese 
Verweisung  einzutreten  hat,  werden  als  indictable  offences  bezeichnet  und  bei 
einer  Verhandlung  auf  Grund  eines  indictment  haben  stets  zwölf  Geschworene 
über  die  Schuldf^age  zu  entscheiden  (zur  Verurteilung  ist  Einstimmigkeit  er- 
forderlich). Auf  Grund  der  Summary  Jurisdiction  Act  1879  können  gewisse 
Delikte,  die  an  und  für  sich  indictable  oflFences  sind,  unter  gewissen  Voraus- 
setzungen summarisch  behandelt  werden,  wenn  dies  der  Gerichtshof,  vor  welchem 
die  erste  Verhandlung  geführt  wird,  für  zweckmässig  hält.  Es  kann  dies  ge- 
schehen: 1.  im  Falle  von  Kindern  von  7 — 12  Jahren,  wenn  es  sich  nicht  um 
ein  Tötungsdelikt  handelt  und  der  Vater  oder  Vormund  keinen  Einspruch  er- 
hebt (S.  J.  A.  1879  §10);  2.  im  Falle  von  Kindern  von  12— 16  Jahren,  wenn 
es  sich  um  gewisse  Delikte  (Diebstahl  ohne  Anwendung  von  Gewalt,  Unter- 
schlagung, Sachhehlerei  usw.)  handelt  und  der  Angeklagte  es  wünscht  (daselbst 
§11);  3.  im  Falle  von  Personen  im  Alter  von  über  16  Jahren,  wenn  es  sich 
um  die  unter  2.  erwähnten  Delikte  handelt  und  der  Angeklagte  seine  Schuld 
bekennt,  oder  wenn  es  sich  um  gewisse  leichtere  Diebstahlsdelikte  handelt 
und  der  Angeklagte  die  summarische  Verhandlung  wünscht.  In  beiden  Fällen 
müssen   noch  gewisse    andere  Voraussetzungen   zutreflTen    (daselbst  §§  12 — 14). 

In  der  folgenden  Darstellung  wird  die  Bezeichnung  „summarisches  Ver- 
fahren" in  allen  Fällen  beigefügt,  wo  summarisches  Verfahren  an  und  für  sich 
eintreten  muss;  wo  sich  diese  Angabe  nicht  findet,  wird  daher  das  Verfahren 
durch  indictment  stets  angewandt,  wenn  nicht  auf  Grund  der  oben  erwähnten 
Bestimmungen  das  summarische  Verfahren  eintritt. 

§  4.    BAumliches  Oeltangsgebiet  des  englischen  StB.  und  Bechtshftlfe. 

I.  Räumliches  Geltungsgebiet.  Das  Territorialitätsprinzip  ist  im  all- 
gemeinen für  das  englische  StR.  massgebend,  d.  h.  nur  in  England  und  Wales 
(nicht  in  Schottland  oder  Irland)  begangene  Verbr.  sind  der  Regel  nach  in 
England  strafbar.  Gewisse  Verbr.  werden  indessen  ohne  Rücksicht  auf  den 
Ort  der  That  in  England  bestraft,  insofern  sie  von  einem  britischen  Unterthan 
(d.  h.  einem  Unterthan  des  englischen  Souveräns,  also  auch  von  jemand,  der 
Staatsbürger  einer  englischen  Kolonie  ist)  begangen  werden.  Es  sind  dies 
Hochverrat,  Hehlerei  im  Falle  von  Hochverrat,  die  Tötungsdelikte,  Bigamie, 
gewisse  Vorbereitungshandlungen  zu  dem  widerrechtlichen  Gebrauch  von  Spreng- 
stoffen usw.*)  (35  Henry  VIII  cap.  2;  Offences  against  the  Person  Act  §§9  und 
27;  und  vgl.  unten  §9  VI),  ferner  alle  Verbr.,    welche  von    einem  britischen 


*)  Das  Amt  wird  in  der  Regel  von  Laien  bekleidet  und  ist  ein  Ehrenamt. 
*)  Die  Bestimmungen  über  Seeraub  und  Sklavenhandel  bleiben  in  dieser  Dar- 
stellung überhaupt  unberücksichtigt. 


620       .  England  und  Irland.  —  Einleitung. 


Unterthan  auf  einem  britischen  Schiff  oder  auf  einem  nichtbritischen  Schiffe, 
zu  dessen  Mannschaft  er  nicht  gehört,  begangen  werden  (Merchant  Shippin^ 
Act  1867  §11),  und  ebenso  Verbr.  gegen  die  Person  und  gegen  das  Vermögen, 
welche  von  dem  Schiffer  oder  einem  Mitgliede  der  Mannschaft  eines  britischen 
Schiffs  während  seiner  Zugehörigkeit  zu  diesem  Schiffe  oder  spätestens  drei 
Monate  später  begangen  werden  (Merchant  Shipping  Act  1854  §  267). 

Ferner  sind  alle  Verbr.,  die  nicht  felonies  sind  (vgl.  §611)  und  von 
einem  königlichen  Staatsbeamten  in  einer  englischen  Kolonie  begangen  werden, 
in  England  strafbar  (11  William  III  cap.  12;  42  Geo.  III  cap.  85  §  1  und  vgl. 
die  Entsch.  in  Sachen  R.  v.  Shawe  5,  Maule  and  Selwyn  403). 

Endlich  sind  alle  von  britischen  europäischen  ünterthanen  in  Indien  be- 
gangenen Verbr.  in  England  strafbar  (13  Geo  III  cap.  63  §  39,  vgl.  Stephen, 
Digest  of  the  Law  of  Criminal  Procedure  art.  7). 

II.  Rechtshülfe.  1.  Anderen  Teilen  des  britischen  Reichs  gegen- 
über. Auf  Grund  der  Fugitive  Offenders  Act  sind  Flüchtlinge,  die  in  einem 
anderen  Teile  des  britischen  Reiches  eines  Verbr.  angeschuldigt  sind,  das  zu 
den  „indictable  offences"  (bezw.  einer  analogen  Klasse)  (vgl.  unten  §  6  I  2) 
gehört  und  mit  einer  Maximalstrafe  von  mindestens  1  Jahr  Gef.  und  Zwangs- 
arbeit bedroht  ist,  an  den  betreffenden  Staat  auf  Verlangen  auszuliefern,  wenn 
die  Wahrscheinlichkeit  der  Schuld  dem  zuständigen  englischen  Beamten  glaub- 
haft gemacht  wii'd. 

Wenn  das  Verfahren  gegen  den  Ausgelieferten  nicht  binnen  6  Monaten 
nach  seiner  Ankunft  eröffuet  wird,  oder  wenn  derselbe  freigesprochen  wird,  so 
kann  er  auf  Staatskosten  nach  England  zurückgesandt  werden,  wenn  dies 
der  zuständige  Beamte  für  angemessen  hält  (Fug.  Off.  Act  1881  §§  2,  9,  8). 

2.  Auswärtigen  Staaten  gegenüber.  Die  Auslieferung  von  Ver- 
brechern an  fremde  Staaten  wird  geregelt  durch  die  Extradition  Acts  von 
1870  und  1873.  Diese  G.  ermächtigen  die  englische  Regierung  in  allen  Fällen, 
in  welchen  dahin  gehende  Verträge  mit  anderen  Staaten  abgeschlossen  sind, 
durch  königliche  Vdg.  (Order  in  Council)  die  Bestimmung  zu  treffen,  dass  flüchtige 
Angeklagte  an  die  betreffenden  Staaten  wegen  gewisser  Verbr.  auszuliefern 
sind.  Die  Auslieferung  ist  jedoch  in  allen  Fällen  untersagt,  in  welchen  a)  es 
sich  um  politische  Delikte  handelt,^)  b)  es  nicht  durch  die  G.  des  betreffenden 
Staates  bezw.  durch  Vertrag  ausgeschlossen  ist,  dass  der  ausgelieferte  Flücht- 
ling wegen  eines  anderen  Verbr.  als  des  Verbr.,  wegen  dessen  seine  Auslieferung 
beansprucht  wurde,  in  Untersuchung  gebracht  wird;  c)  der  verlangte  Flücht- 
ling in  England  eine  Strafe  wegen  eines  anderen  Verbr.  abzubüssen  hat.  Ex- 
tradition Act  1870  §  3  (1 — 3).  Die  Auslieferung  kann  erfolgen  wegen  folgen- 
der Verbr.:  Tötungsdelikte,  Münzdelikte,  Fälschungsdelikte,  Delikte,  welche  auf 
Grund  der  Larceny  Act  (vgl.  unten  §  9  IV  A  1)  „indictables  offences"  sind,  Not- 
zucht, Entführung  und  Menschenraub,  Einbruch,  Brandstiftung,  Raub,  Erpressung, 
Seeraub  usw.  Meineid,  Delikte  gegen  das  Konkursrecht  (vgl.  unten  §  9  IV  C  2). 
(Extradition  Act  1870,  erster  Anhang  und  Extr.  Act  1873  §  8.) 

Auslieferungsverträge  bestehen  mit  folgenden  Staaten:  Österreich-Ungarn, 
Belgien,  Brasilien,  Kolumbia,  Dänemark,  Ecuador,  Frankreich,  Deutsches  Reich, 
Guatemala,  Haiti,  Honduras,  Italien,  Luxemburg,  Mexiko,  Niederlande,  Oraiye 
Freistaat,  Portugal,  Russland,  Salvador,  Spanien,  Schweden  und  Norwegen, 
Schweiz,  Tonga,  Transvaal,  Tunis,  Vereinigte  Staaten  von  Nord -Amerika, 
Uruguay. 

^)  Die  Frage,  unter  welchen  Umständen  ein  Mord  ein  politisches  Delikt  ist, 
wurde  im  Fall  des  Tessiners  Castioni  —  (1891)  1  Queen's  Bench  149  — ,  der  bei  den 
Unruhen  im  September  1890  den  Staatsrat  Rossi  getötet  haben  soll,  eingehend  erörtert. 
Die  Auslieferung  wurde  verweigert. 


§  5.    Persöuliches  Geltungsgebiet.    Besonderes  und  ausnahmsweises  StR.     621 


§  5.  PerAOnllches  Gfeltungsgeblet.  Besonderes  und  ausnahmsweises  StR. 

1.  Persönliche  Befreiungen.  Von  der  Herrschaft  des  StR.  sind  be- 
freit: a)  der  Souverän,  /8)  die  diplomatischen  Vertreter  auswärtiger  Staaten  und 
ihre  Familien  und  Gefolge.*) 

II.  Besonderes  StR.  1)  Militärstrafrecht.  Dasselbe  beruht  auf  der 
Regulation  of  the  Forces  Act  1881,  femer  auf  der  Army  Act  1881  und  den 
darauf  folgenden  jährlichen  Army  Acts.  Das  Verhältnis  des  Militärstrafrechts 
zum  gemeinen  StR.  wird  durch  §  162  des  zuerst  genannten  G.  dahin  bestimmt, 
dass  1.  wenn  jemand  vor  den  ordentlichen  Gerichten  wegen  eines  Delikts  ver- 
urteilt wird,  wegen  dessen  er  bereits  nach  Militärstraf^echt  verurteilt  ist,  die 
auf  Grund  des  letzteren  Urteils  bereits  vcrbüsste  Strafe  bei  der  Straf  bemessung 
zu  berücksichtigen  ist;  II.  dass,  abgesehen  von  der  unter  I.  erwähnten  Be- 
stimmung, Offiziere  und  Soldaten  den  Bestimmungen  des  gemeinen  StR.  ebenso 
wie  andere  Personen  unterworfen  sind  und  III.  dass,  wenn  jemand,  der  dem 
Militärstrafrecht  unterworfen  ist,  wegen  eines  strafrechtlichen  Delikts  bereits 
von  den  ordentlichen  Gerichten  freigesprochen  oder  verurteilt  worden  ist,  ein 
Verfahren  nach  Militärstrafrecht  wegen  desselben  Delikts  zu  unterbleiben  hat. 

2.  StR.  für  die  Flotte.  Dasselbe  beruht  auf  der  Naval  Discipline  Act 
V.  1866  und  der  Naval  Discipline  Act  v.  1884;  §  101  des  erstgenannten  G.  be- 
stimmt, dass  die  Gerichtsbarkeit  der  ordentlichen  Gerichte  durch  dasselbe  in 
keiner  Weise  beeinträchtigt  sei. 

3.  Kirchliches  StR.  Die  geistlichen  Gerichtshöfe  haben  wenigstens 
theoretisch  die  Befugnis,  auch  Laien  für  Delikte,  welche  nach  ordentlichem 
Recht  nicht  strafbar  sind  (z.  B.  Incest,  vgl.  unten  §  8  VII  4)  zu  bestrafen,  ihre 
Hauptthätigkeit  richtet  sich  aber  gegen  Geistliche  und  zwar  nicht  nur  in  Bezug 
auf  die  Verletzung  ihrer  direkten  Amtspflichten,  sondern  auch  in  Bezug  auf 
strafrechtliche  Delikte,')  unsittlichen  Lebenswandel  usw.  Dabei  steht  ihnen 
ausser  den  kirchlichen  Zwangsmitteln  auch  die  Befugnis  zu,  unter  gewissen 
Umständen  Freiheitsstrafen  zu  verhängen.  Auf  die  quasi-strafrechtliche  Gerichts- 
barkeit gegen  Geistliche  bezieht  sich  die  Clergy  Discipline  Act  v.  1892. 

4.  Strafrechtliche  Sonderbestimmungen  für  die  Universitäten 
Oxford  und  Cambridge.  Dieselben  erstrecken  sich  nicht  nur  auf  die  Studenten 
(in  Bezug  auf  Verletzungen  der  akademischen  Vorschriften),  sondern  teilweise 
auch  auf  solche  Personen,  von  welchen  ein  schlechter  Einfluss  auf  die  Studenten 
ausgeübt  wird. 

Die  Universität  Cambridge  hat  durch  ihre  akademischen  Polizeibeamten 
(Proctors)  Umschau  zu  halten  „de  .  .  .  publicis  mulieribus,  pronubis,  vagabondis 
et  aliis  personis  de  malo  suspectis"  und  kann  dieselben  auf  unbestimmte  Zeit 
in  ein  als  „Spinning  House"  bezeichnetes  Gef.  einsperren.  Derartige  Fälle 
sind  in  neuer  und  neuester  Zeit  vorgekommen  und  von  den  höheren  Gerichten 
anerkannt  worden.  Kemp  v.  Neville,  10  Common  Bench.  New  Series  523;  Ex 
parte  Hopkins,  17  Cox  Criminal  Gases  444. 

In  Oxford  besteht  keine  ähnliche  Bestimmung,  doch  sind  daselbst  Pro- 
stituierte als  solche  (auch  wenn  sie  keine  nach  gemeinem  StR.  strafbare  Hand- 
lung begangen  haben)  von  den  ordentlichen  Gerichten  zu  bestrafen  6  Geo.  IV 
cap.  97  §  3. 

III.  Ausnahmsweises  StR.,    wie  z.  B.  die  Erklärung  des  Belagerungs- 


^)  7  Anne  cap.  12  §  2.  Sowohl  die  Dienerschaft  als  das  Gesandtschaftspersonal 
ist  befreit;  auch  unbesoldete  Attaches  {Parkinson  v.  Potter,  16  Queen's  Bench  Division 
152)  und  selbst  britische  Unterthanen,  die  als  Beamte  einer  auswärtigen  Gesandtschaft 
oder  Botschaft  fungieren  (Macartney  v.  Garbutt,  24  Queen's  Bench  Division  368). 

^)  Dieselben  unterstehen  selbstverständlich  auch  den  ordentlichen  Gerichten. 


622  EngUnd  und  Iriand.  —  Alig^meiner  TeiL 


zustande«,  kommt  in  England  nicht  vor.^>  Die  jetzt  aufgehobene  Crimes  Act 
T.  1887  hatte  für  Irland  dem  Vertreter  der  Regit^rungsgewalt  Lord-Lieutenant) 
die  Befognis  gegeben,  die  Bezirke,  in  welchen  er  dies  für  nöthig  befindet,  zil 
^proklamieren",  was  eine  Reihe  von  Veränderungen  im  Strafverfahren  zur 
Folge  hatte,  und  auch  eine  besondere  Behandlung  Tcrbcaener  Vereine  ge- 
stanet,  aber  eine  Veränderung  des  materiellen  StR.  konnte  auch  dort  imter 
keinen  Umständen  eintreten. 


n.  Allgemeiner  Teil 

§  6.    a)  Das  Verfcreehen. 

L  Einteilung  der  Verbr.  1.  nach  ihrer  Gattung  itreason,  felonies 
und  misdemeanors ).  Die  Verbr.  zerfallen  in  drei  Klassen:  Treason.  felonies 
und  misdemeanors.  Als  treason  werden  nur  die  durch  den  Statute  of  Treasons 
und  die  sich  an  denselben  anschliessenden  Bestimmungen  mit  Strafe  bedrohten 
Delikte  bezeichnet  *j  'vgl.  §811»;  als  felonies  meistens  nur  schwere  Verbr..  als 
misdemeanors  alle  nicht  zu  den  beiden  erstgenannten  Klassen  gehörenden  straf- 
baren Handlungen.  Dem  Begriffe  nach  können  misdemeanors  von  felonies  nicht 
imterschieden  werden,  sondern  nur  nach  den  Folgen  und  zwar: 

a)  In  Bezug  auf  die  Strafe:  die  Maximalstrafe  für  felonies  ist  in  der  Regel 
Zuchthaus,  für  misdemeanors  in  der  Regel  Gef.  mit  oder  ohne  Zwangsarbeit, 
doch  ist  dies  nicht  immer  der  Fall,  es  giebt  eine  ziemliche  Anzahl  von  misde- 
meanors die  mit  Zuchthaus  strafbar  sind,  und  eine  allerdings  geringe  Anzahl 
von  felonies,  die  nur  mit  Gef.  strafbar  sind.*; 

Vor  1870  fiel  das  Vermögen  eines  wegen  treason  oder  felony  Verurteilten 
der  Krone  anheim.  Diese  Folge  wurde  durch  das  G.  33  und  34  Vict.  cap.  23  be- 
seitigt und  statt  dessen  bestimmt,  dass  eine  wegen  felony  zu  Zuchthans  oder  Gef. 
mit  Zwangsarbeit,  oder  Gef.  über  1  Jahr  verurteilte  Person  alle  Ämter  und 
Pensionen  verliert  und  dass  alle  wegen  treason  oder  felony  Verurteilten  zur 
Zahlung  der  Kosten  und  einer  Busse  im  Maximalbetrag  von  £  100  verurteilt 
werden  können  (33  und  34  Vict.  cap.  23  §§  1—4).*) 

b^  In  Bezug  auf  die  Voruntersuchung:  bei  Klagen  wegen  treason  und 
felony  kann:  a)  eine  Verhaftung  auf  den  blossen  Verdacht  hin  und  ohne  Ver- 
haftungsbefehl vorgenommen  werden;  h)  der  Beamte,  vor  welchem  die  erste 
Verhandlung  stattfindet  (vgl.  oben  §3i,  die  Entlassung  aus  der  Haft  gegen 
Bürgschaft  verweigern  (bei  misdemeanors  ist  der  Angeklagte  berechtigt,  gegen 
genügende  Bürgschaft  freigelassen  zu  werden). 

c)  in  Bezug  auf  die  Beurteilung  der  Beihülfe,  Begünstigung  usw.;  vgl. 
unten  unter  VII  und  §  8  IV  2. 

2.  Nach  der  Art  ihrer  Verfolgung.  (Indictable  oflTences  und  sum- 
marisch zu  behandelnde  Delikte.)  Die  Delikte,  die  von  dem  ersten  Richter, 
falls  Verdachtgründe  vorliegen,  an  den  höheren  Gerichtshof  verwiesen  werden 
müssen  (wenn  nicht  einer  der  FäUe  der  Sunmiary  Jurisdiction  Act  gegeben 
ist,  vgl.  §  3 II),  heissen  „indictable  offences"  im  Gegensatz  zu  den  Delikten,  über 


>)  Vgl.  Dicey,  Law  of  the  Constitution  S.  296  ff. 

*;  Einige  derselben  sind  zugleich  als  felonies  strafbar  (nach  11  Vict.  cap.  12)  imd 
werden  mit  dem  Ausdruck  treason  felony  bezeichnet. 

*)  In  der  im  besonderen  Teile  dieser  Darstellung  folgenden  Erörterung  der  ein- 
zelnen Delikte  findet  sich  in  allen  Fällen,  wo  die  Regel  nicht  zutrifft,  hinter  der  An'> 
gäbe  über  die  Strafe  die  Bemerkung  Jedoch  misd.*^  oder  Jedoch  felony^. 

*)  Ü^ber  die  anderen  Folgen  der  Zuchthausstrafe  vgl.  §  7  I  1. 


§  6.    Das  Verbrechen.  623 


welche  regelmässigsummarisch  verhandelt  werden  kann.*)  Der  Entw.  (vgl.  §  1  IV) 
behandelte  nur  die  indictable  offences  und  wollte  den  Unterschied  zwischen 
felonies  und  misdemeanors  beseitigen,  wodurch  es  indessen  nötig  wurde,  in 
jedem  einzelnen  Falle,  wenn  es  sich  um  eine  felony  handelte,  bei  der  Straf- 
bestimmung auch  die  oben  erwähnten  Folgen  in  Bezug  auf  die  Vorunter- 
suchung zu  erwähnen. 

IL  Das  Verbr.  als  rechtswidrige  Handlung.  1.  Der  Ausschluss 
der  Eechtswidrigkeit  im  allgemeinen.  Das  englische  Wort  für  rechts- 
widrig ist  unlawful.  Die  Zufügung  des  Adverbs  „unlawfully"  in  einem  G.  hat 
nicht  die  Bedeutung,  dass  der  Thäter  das  Bewusstsein  der  Rechtswidrigkeit 
haben  muss.  Das  Wort  findet  sich  z.  B.  in  den  fünf  Consolidation  Acts  fast 
in  allen  Fällen,  in  welchen  der  Ausschluss  der  Rechtswidrigkeit  nicht  über- 
haupt undenkbar  ist.^  Es  muss  im  einzelnen  Falle  nach  dem  Zusammenhang 
und  nach  den  Präjudizien  erwogen  werden,  ob  das  Wort  nicht  ohne  Bedeutung 
ist  oder  ob  es  nicht  eine  andere  Bedeutung  als  widerrechtlich  hat.  Das  Wort 
kann  manchmal  auch  die  Bedeutung  von  „schuldhaft 'S  oder  eine  kombinierte 
Bedeutung  haben,  wie  z.B.  in  der  Wendung  „unlawful  homicide",  wo  es  sowohl 
Rechtswidrigkeit  als  gewisse  Arten  der  Schuld  in  sich  begreift  (vgl.  unten 
§  9  II  1). 

Die  Voraussetzungen,  unter  welchen  die  Rechtswidrigkeit  nach  englischem 
Recht  ausgeschlossen  ist,  sind  teilweise  allgemeiner  Natur,  teilweise  beziehen 
sie  sich  nur  auf  besondere  Delikte.  Es  kann  deshalb  auch  über  die  Wirkung 
und  die  Grenzen  des  Ausschlusses  keine  allgemeine  Regel  aufgestellt  werden. 

2.  Ausschluss  der  Rechtswidrigkeit  bei  Handlungen  unter  dem 
Einflüsse  der  Gefahr,  a)  Notwehr  (Self-Defence).  a)  Im  allgemeinen. 
Die  Notwehr  im  Sinne  des  deutschen  StR.  wird  vom  englischen  Recht  nicht 
in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  anerkannt,  nur  gegen  gewaltsame  Angriffe  ist 
Notwehr  gestattet  und  nur  gegen  solche  gewaltsame  Angriffe,  welche  entweder 
die  Natur  einer  felony  haben,  oder  sich  direkt  gegen  die  Person  des  die  Not- 
wehr gebrauchenden  richten  (und  auch  dann  nur  unter  bestimmten  Voraus- 
setzungen). Auch  ist  Bestürzung,  Furcht  oder  Schrecken  keineswegs  in  allen 
Fällen  eine  Rechtfertigung  der  Überschreitung  der  Notwehr.  —  ß)  Tötung 
und  schwere  Körperverletzung  im  Falle  der  Notwehr.  Nicht  straf- 
bar  ist    die  vorsätzliche  Tötung    oder  Körperverletzung   in  folgenden  Fällen: 

I.  wenn  dieselbe  zur  Verhinderung  einer  felony  erfolgt,  deren  Thäter  der 
Person,  welche  ihn  tötet  oder  körperlich  verletzt,  Grund  zur  Annahme 
giebt,  er  beabsichtige  sein  Ziel  unter  Anwendung  von  Gewalt  zu  errreichen 
und  wenn  der  Zweck,  der  die  Tötung  oder  Körperverletzung  veranlasst,  auf 
andere   Weise    nicht    erreicht   werden    kann    (Stephen    art.  199,    Entw.  §54); 

II.  wenn  dieselbe  zur  Verhinderung  eines  gewaltsamen  Angriffs  gegen  die 
Person  desjenigen,  der  den  Angreifenden  tötet  oder  körperlich  verletzt,  erfolgt. 
Das  subjektive  Ermessen  genügt  in  diesem  Falle,  um  festzustellen,  wie  weit 
die  Verteidigung  gehen  darf,  insofern  dasselbe  in  gutem  Glauben  und  in  ver- 


^)  In  der  nachfolgenden  Erörterung  der  Delikte  im  besonderen  Teil  wird  bei 
den  Delikten,  die  nicht  indictable  off.  sind,  stets  bei  der  Strafbestimmung  die  Angabe: 
summ.  Verf.  beigefügt. 

'^)  Immer  trifft  dies  nicht  zu:  das  Wort  fehlt  manchmal  in  Fällen,  wo  der  Aus- 
schluss der  Rechtswidrigkeit  wohl  denkbar  ist,  z.  B.  O.  P.  A.  §  36  (Gewaltsame  Ver- 
hinderunff  eines  Geistlichen  bei  einer  gottesdienstlichen  Handlung  —  es  ist  denkbar, 
dass  ein  Vorgesetzter  dies  unter  gewissen  Umständen  für  notwendig  hält);  andrer- 
seits steht  es  in  manchen  Fällen  da,  wo  der  Ausschluss  der  Rechtswidrigkeit  ganz 
undenkbar  ist,  z.  B.  O.  P.  A.  §  32  (Vorsätzliche  Gefährdung  des  Eisenbahnbetriebes  in 
der  Absicht  die  Sicherheit  einer  Person  zu  gefährden). 


624  England  und  Irland.  —  Allgemeiner  Teil. 


ständiger  Weise  ausgeübt  wird,  und  insofern  die  folgenden  Regeln  beobachtet 
werden:  A.  Wenn  derAngriflF  so  geartet  ist,  dass  der  Tod  oder  eine  schwere 
Körperverletzung  in  offenbarer  Weise  den  Angegriffenen  unmittelbar  bedroht, 
darf  derselbe  den  Angreifer  ohne  weiteres  töten  oder  verwunden.  B.  Wenn 
jemand  in  seinem  eigenen  Hause  angegriffen  wird,  darf  er  sich  ohne  weiteres 
verteidigen  und  einen  der  Heftigkeit  des  Angriffs  entsprechenden  Grad  von 
Gewalt  anwenden.  C.  Wenn  der  Angriff  als  Widerstand  gegen  eine  recht- 
mässige Ausübung  von  Gewalt  erfolgt  (z.  B.  als  Widerstand  gegen  die  Not- 
wehr), so  darf  nicht  nur  der  unmittelbar  nötige,  sondern  auch  der  für  die 
Erreichung  des  ursprünglichen  Zweckes  nötige  Grad  von  Gewalt  angewandt 
werden  (Stephen  art.  200  [a  und  b],  Entw.  §  55  [bedeutend  vereinfacht]). 
—  y)  Andere  Formen  der  Notwehr.  Gewalt,  die  nicht  die  Form  vor- 
sätzlicher Tötung  oder  schwerer  Körperverletzung  annimmt,  darf  allen  wider- 
rechtlichen Angriffen  gegen  die  Person  des  Angegriffenen  entgegengesetzt 
werden  (Stephen  art.  200  [c]). 

b)  Notstand  (Necessity).  Dieser  Begriff  wird  anerkannt,  ist  aber  nie 
scharf  definiert  worden.  Stephen  sagt  folgendes  (art.  32):  „Eine  Handlung, 
die  an  und  für  sich  ein  Verbr.  wäre,  mag  in  einigen  Fällen  entschuldigt 
werden,  wenn  der  Angeklagte  nachweisen  kann,  dass  sie  geschah,  um  Folgen 
zu  vermeiden,  welche  dem  Thäter  oder  einer  unter  seiner  Obhut  stehenden 
Person  ein  unvermeidliches  und  nicht  wieder  gut  zu  machendes  Übel  zugefügt 
hätten  (also  nicht  ausschliesslich  Gefährdung  von  Leib  und  Leben),  dass  die 
Ausdehnung  der  That  der  Notwendigkeit  des  Falls  entsprach,  und  endlich, 
dass  das  durch  die  That  bewirkte  Übel  nicht  ausser  Verhältnis  zu  dem  ver- 
miedenen Übel  stand.  Die  Tragweite  dieses  Grundsatzes  ist  nicht  festgestellt. 
Er  geht  nicht  weit  genug,  um  die  That  schiffbrüchiger  Matrosen  zu  en^ 
schuldigen,  welche  einen  Schiffsjungen  töten,  um  sein  Fleisch  zu  essen."  Das 
am  Schlüsse  des  Artikels  stehende  Beispiel  ist  in  dem  bekannten  sogenannten 
Mignonette-Case  (R.  v.  Dudley  und  Stephens,  14  Queen's  Bench  Division  273) 
vor  die  Gerichte  gekommen^)  und  in  dem  obigen  Sinne  entschieden  worden. 

c)  Nötigung  (Compulsion)  a)  im  allgemeinen.  Die  Nötigung,  welche 
die  Rechtswidrigkeit  nach  englischem  Recht  allgemein  ausschliesst,  erstreckt 
sich  über  ein  weit  engeres  Gebiet  als  die  Nötigung  des  RStGB.  Art.  52,  indem 
sie  von  zwei  Voraussetzungen  abhängig  ist.  I.  Es  muss  gegenwärtige  Gefahr 
des  Todes  oder  einer  schweren  Verwundung  des  Genötigten  (nicht  eines 
Angehörigen)  vorliegen.  II.  Es  muss  sich  um  ein  von  mehreren  Personen 
begangenes  Delikt  handeln,  und  die  Beteiligung  darf  nur  so  weit  gehen,  dass 
im  Falle  der  Abwesenheit  der  Nötigung  Beihülfe,  nicht  aber  Mitthäterschaft 
vorhanden  gewesen  wäre  (Stephen  art.  31).  —  ß)  Bei  der  Beteiligung 
an  staatsfeindlichen  und  anderen  widerrechtlichen  Verschwör- 
ungen. In  diesem  Falle  ist  die  Nötigung  durch  Gewalt  oder  Drohungen 
ein  Entschuldigungsgrund,  wenn  der  Genötigte  spätestens  14  Tage  nach 
Leistung  des  Eides  usw.  (bezw.  im  Falle  der  Verhinderung  14  Tage  nach 
Wegfall  der  Verhinderung)  Anzeige  macht  (vgl.  unten  §  8  I  2).  Es  muss 
also  eine  Kombination  von  Nötigung  und  thätiger  Reue  vorliegen.  —  y)  Fin- 
gierte Nötigung  der  Ehefrau.  Auf  Grund  einer  Rechtsfiktion  wird 
angenommen,  dass  eine  Ehefrau  in  der  Gegenwart  ihres  Ehemannes,  wenn 
es  sich  um  die  Begehung  gewisser  Delikte  (namentlich  Diebstahl,  Unter- 
schlagung, Sachhehlerei,  Falschmünzerei  usw.)  handelt,  stets  sich  in  der  Lage 


^)  Vgl.  Herbert  Stephen:  Homieide  bv  Necessity,  Law  Quarterly  Review,  Bd.  I 
S.  51,  vgl.  auch  Simonson:  Der  Mignonette-f  all  in  England.  Zeitschr.  für  die  gesamte 
Strafrechtswissenschaft  V  367. 


§  6.    Das  Verbrechen.  ^  625 


der  Nötigung  befindet,  und  eine  Ehefrau  kann  daher  unter  solchen  Umständen 
nicht  verurteilt  werden,  wenn  nicht  der  Nachweis  geliefert  wird,  dass  sie  that- 
sächlich  nicht  gezwungen  handelte  (Stephen  art.  30;  der  Entw.  §23,  letzter 
Absatz,  wollte  die  Fiktion  beseitigen). 

3.  Ausschluss  der  Rechtswidrigkeit  in  anderen  Fällen,  a)  Aus- 
übung eines  öffentlichen  Amts  und  Vornahme  gesetzlich  vorge- 
schriebener Handlungen.  Vorsätzliche  Tötung  und  Körperverletzung  ist 
nicht  strafbar  in  folgenden  Fällen:  a)  Gesetzmässige  Vollstreckung 
einer  von  einem  zuständigen  Gerichtshof  verhängten  Strafe  (Stephen 
art.  197).  —  ß)  Verhinderung  von  treason  oder  felonies  bezw.  Er- 
greifung der  Thäter  insofern  der  Zweck  nicht  durch  andere  Mittel  erreicht 
werden  kann  (Stephen  art.  199).  —  y)  Vollstreckung  eines  Verhaftungs- 
befehls durch  Polizeibeamte  gegen  Personen,  welche  wegen  treason  oder 
felony  in  Anklagezustand  sind,  insofern  der  Zweck  nicht  durch  andere  Mittel 
erreicht  werden  kann  (Stephen  art.  199).  —  d)  Unterdrtlckung  gewalt- 
thätiger  Zusammenrottungen  (vgl.  §  8  II  1),  insofern  andere  Mittel  nicht 
genügen,  durch  Soldaten,  Polizeibearate  oder  andere  Personen  (vgl.  die  in 
der  Anmerkung^)  im  Auszug  wiedergegebene  Äusserung  des  Oberrichters 
Tindal  bei  seiner  Anrede  an  die  Geschworenen  in  Bristol,  vor  welchen  die 
Vorgänge  bei  den  Unruhen  im  J.  1832  verhandelt  wurden,  citiert  in  der 
Entsch.  in  Sachen  Phillips  v.  Eyre,   Law  Reports  6  Queen's  Bench  auf  S.  15). 

b)  Chirurgische  Operationen.  Bei  denselben  ist  die  Rechtswidrigkeit 
der  Tötung  oder  Körperverletzung  ausgeschlossen  (insofern  sachverständige 
Sorgfalt  angewandt  wird):  a)  Wenn  der  Operierte  (bezw.  im  Falle  von 
Kindern,  welche  noch  nicht  imstande  sind,  sich  ein  selbständiges  Urteil  zu 
bilden,  der  Gewalthaber)  seine  Genehmigung  erteilt.  —  ß)  Wenn  der  Operierte 
sich  in  einem  Gesundheitszustande  befindet,  welcher  die  Erteilung  der  Ge- 
nehmigung unmöglich  macht  (Stephen  art.  200). 

c)  Einwilligung  des  Verletzten.  Dieselbe  schliesst  die  Rechtswidrigkeit 
stets  aus,  wenn  nicht  einer  der  folgenden  Fälle  vorliegt:  I.  Die  Einwilligung 
zur  Tötung  oder  zu  einer  lebensgefährlichen  Körperverletzung,  ausser  im 
Fall  einer  chirurgischen  Operation  (vgl.  §  9  I  1).  II.  Die  Einwilligung  zum 
Verlust  eines  Sinnes  oder  eines  zum  Kampfe  brauchbaren  Gliedes  oder  eines 
Gliedes,  dessen  Verlust  dauernde  Körperschwäche  zur  Folge  hat,  ausser  im 
Falle  einer  chirurgischen  Operation.  (Stephen  art.  204.)  III.  Die  Einwil- 
ligung jugendlicher  Personen  (d.  h.  von  Personen  unter  13  Jahren)  zu  unzüch- 
tigen Handlungen.  (43  und  44  Vict.  cap.  45  §  2.)  IV.  Die  Einwilligung  von 
Mädchen  unter  16  Jahren  zum  ausserehelichen  Beischlaf.  (Crim.  Law  Am.  Act 
§§  3  und  4.) 

d)  Erlaubte  Selbsthülfe.  Eine  allgemeine  Regel  hierüber  kann  nicht 
aufgestellt  werden.  Die  einzige  Bestimmung,  welche  durch  die  Präjudizien 
festgestellt  scheint,  ist  die,  dass  jemand,  der  ein  fremdes  Tier,  das  sich  auf 
seinem  Grundstücke  befindet,  tötet  oder  verwundet,  eine  widerrechtliche  Hand- 


*)  „Die  Hilfe,  welche  Leute  gewähren,  die  unter  den  Anordnungen  der  Obrig- 
keit und  in  Übereinstimmung  mit  derselben  handeln,  ist  wirksamer  für  den  gewünschten 
Zweck  als  die  grössten  Bemühungen  getrennter  und  zerstreuter  Individuen,  so  wohl 
gemeint  sie  auch  sein  mögen;  aber  wenn  die  Notwendigkeit  der  Lage  unmittelbares 
Handeln  erheischt  und  es  nicht  möglich  ist,  den  Rat  oder  die  Genehmigung  der  Obrig- 
keit einzuholen,  so  ist  es  die  Pflicht  jedes  Unterthans,  allein  und  auf  eigene  Verant- 
wortlichkeit bei  der  Unterdrückung  gewaltthätiger  Zusammenrottungen  mitzuwirken, 
und  jeder  Unterthan  kann  sich  darauf  verlassen,  dass,  was  er  in  gutem  Glauben 
zur  Erreichung  dieses  Zweckes  thut,  vom  gemeinen  Recht  unterstützt  und  gerecht- 
fertigt wird." 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.  I.  40 


62Ö  Kurland  und  IrUnd.  —  Allgemeiner  TeiL 


luncr  nicht  begeht  (Daniel  v.  Janes,  2  Common  Pleas  Division  351;  Smith  v. 
Williams  —  26.  Oktober  1892.   Justice  of  the  Peace  S.  840). 

III.  Das  Verbr.  als  schuldhafte  Handlung.  1.  Zurechnungsfähig- 
keit.  SL)  In  Hinsicht  auf  die  Natur  des  Subjekts.  Em  strafinechtliches 
Verfahren  gegen  juristische  Personen  ist  nach  englischem  Recht  zulässig.*) 
Dasselbe  konmit  Indessen  nur  in  Fällen  zur  Anwendung,  in  welchen  durch 
positive  Gesetzesbestimmung  die  Form  der  Strafklage  zur  Erzwingung  gewisser, 
im  öffentlichen  Interesse  gebotener  Handlungen  (z.  B.  die  Erbauung  einer 
Brücke  oder  Strassej  aus  Zweckmässigkeitsrücksichten  eingeführt  wurde.  Da 
eine  juristische  Person  nur  durch  Vertreter  handeln  kann  und  die  Schuld  des 
Vertreters  dem  Vertretenen  nach  englischem  Recht  regelmässig  nicht  im- 
putiert werden  kann,  ist  eine  strafrechtliche  Verantwortlichkeit  der  juristi- 
schen Person  nur  in  den  Ausnahmsfallen  möglich,  in  welchen  auch  das  schuld- 
lose Delikt  bestraft  wird  (vgl.  unter  2). 

h)  In  Hinsicht  auf  das  Alter  des  Subjekts.  Die  strafrechtliche 
Zurechnungsfähigkeit  beginnt  nach  Vollendung  des  siebenten  Leben^'ahres; 
bei  Kindern  im  Alter  von  7 — 14  Jahren  muss  der  Theorie  nach  der  Nachweis 
beigebracht  werden,  dass  sie  die  erforderliche  geistige  Keife  haben,  um  Recht 
und  Unrecht  unterscheiden  zu  können.  In  der  Praxis  wird  dies  aber  bei 
Kindern  im  Alter  von  über  10  Jahren  regelmässig  olme  weiteren  Nachweis 
angenommen.-;  Eine  eigentümliche  Bestimmung  besteht  über  das  Delikt  der 
Notzucht,  indem  eine  praesumtio  juris  et  de  jure  dafür  besteht,  dass  ein  Knabe, 
der  das  14.  Lebensjahr  nicht  vollendet  hat,  zur  Begehung  dieses  Verbrechens 
physisch  unfähig  ist. 

c)  In  Hinsicht  auf  die  geistige  Gesundheit  des  Subjekts.  Nicht 
zurechnungsfähig  ist,  wer  I.  infolge  von  Geistesschwäche,  D.  infolge  von  Geistes- 
krankheit nicht  fähig  ist:  1.  die  wahre  Natur  der  That  zu  erkennen  oder 
2.  zu  wissen,  dass  die  That  wider  das  Strafrecht  oder  das  Sittengesetz  ver- 
stösst,  oder  3.  freie  Willensbestimmung  auszuüben  (mit  Ausnahme  des  Falls, 
in  welchem  der  Thäter  die  fehlende  Selbstbeherrschung  selbst  herbeigeführt 
hat)  —  Stephen  art.  27. 

Demnach  genügt  der  Mangel  intellektueller  Erkenntnis  zur  Befreiung 
auch  in  den  Fällen,  in  welchen  die  freie  Willensbestinmiung  nicht  gehemmt  ist. 

Die  Trunkenheit  ist  kein  Entschuldigungsgrund,  kann  aber  unter  Um- 
ständen in  Betracht  kommen,  wenn  der  Thatbestand  eines  Delikts  eine  bestimmte 
Absicht  oder  eine  bestimmte  Kenntnis  in  sich  begreift  (Stephen  art.  29). 

Der  Nachweis  der  Unzurechnungsfähigkeit  wegen  Geisteskrankheit  bewirkt 
übrigens  nicht  notwendigerweise  die  Freilassung.  Wenn  durch  das  Beweis- 
verfahren  festgestellt  wird,  dass  der  Angeklagte  zur  Zeit  der  in  Frage  stehenden 
Handlung  oder  Unterlassung  in  einer  Weise  geisteskrank  war,  welche  seine 
strafrechtliche  Zurechnungsfähigkeit  nach  den  oben  aufgestellten  Grundsätzen 
ausschloss,  „so  haben  die  Geschworenen,  wenn  dieselben  der  Ansicht  sind, 
dass  derselbe  der  Handlung  oder  Unterlassung,  welche  Gegenstand  der  Klage 
ist,  schuldig,  aber  zur  Zeit  der  Handlung  oder  Unterlassung  in  der  erwähnten 
Weise  geisteskrank  war",  ein  entsprechendes  Verdikt  abzugeben.  Das  Resultat 
eines  derartigen  Verdikts  ist  Einsperrung  in  einem  der  besonders  für  geistes- 
kranke Verbrecher  eingerichteten  Irrenhäuser  auf  unbestimmte  Zeit,  d.  h.  bis 
der   Staatssekretär   die  Freilassung  (bedingt   oder  unbedingt)   oder   die   Ent- 


^)  Vgl.  die  Entsch.  in  Sachen  R.  v.  Birmingham  and  Gloucester  Railway  Com- 
pany (1842)  3  Queen'8  Bench  Reports  223. 

*)  Stephen,  General  View  S.  68.  Über  das  besondere  Verfahren  bei  jugendlichen 
Personen  vgl.  oben  §  3  (2)  und  unten  §  7  II  2. 


§  6.    Das  Verbrechen.  627 


femung  nach  einem  gewöhnlichen  Irrenhause  anordnet  (Trial  of  Lunatics 
Act  1883  §2;  Criminal  Lunatics  Act  1884  §5). 

2.  Die  Schuld,  a)  Im  allgemeinen.  Eine  aus  neuer  Zeit  (1889) 
herrührende  richterliche  Äusserung  giebt  Aufschluss  über  diesen  Gegenstand. 
Dieselbe  lautet:  ,,Die  allgemeine  Eechtsregel  ist,  dass  jemand  nicht  strafrecht- 
lich verurteilt  und  bestraft  werden  kann,  wenn  nicht  nachgewiesen  werden 
kann,  dass  Schuld  (guilty  mind)^)  vorhanden  war.  Wenn  auch  die  Gesetz- 
gebung bestimmen  kann  ....  dass  strafrechtliche  Verantwortlichkeit  für  gewisse 
Handlungen  auch  ohne  Schuld  bestehen  kann,  so  ist  es  doch  in  jedem  einzelnen 
Falle  Sache  des  Klägers,  nachzuweisen,  dass  die  betreffende  Bestimmung  that- 
sächlich  diese  Bedeutung  hatte"  (Chisholm  v.  Doulton  Law  Reports  22  Queen 's 
Bench  Division  auf  S.  739).') 

Demnach  ist  der  Regel  nach  das  schuldlose  Verbrechen  nicht  strafbar. 
Die  angeblichen  Ausnahmen  lassen  sich  in  drei  Klassen  unterscheiden:  I.  Ge- 
wisse polizeiliche  Vorschriften  werden  ohne  Rücksicht  auf  Schuld  auf  dem 
Wege  der  Strafklage  erzwungen  —  auch  gegen  Korporationen,  vgl.  oben  unter  III. 
II.  In  gewissen  Fällen  wird  die  Schuld  präsumiert;  meistens  ist  die  Rechts- 
vermutung eine  praesumtio  juris  (wiez.  B.  bei  dem  Besitz  von  Werkzeugen,  die 
für  Falschmünzerei  geeignet  sind,  oder  von  SprengstoflPen  —  vgl.  §  9  V  6  und 
§  9  V  1),  und  dann  liegt  selbstverständlich  keine  Ausnahme  der  Regel  vor.  Etwas 
schwieriger  gestaltet  sich  die  Sache  bei  unwiderleglichen  Präsumtionen,  beson- 
ders, wenn  sie  das  Gesetz  nach  seinem  Wortlaut  nicht  als  Präsumtionen 
behandelt.  Der  Hauptfall  ist  die  Strafbarkeit  des  Beischlafs  mit  einem  nicht 
dreizehiyährigen  Mädchen  (vgl.  unten  §  9  II  3).  Bei  der  Erwägung  dieses 
Falls  ist  zu  berücksichtigen,  dass  auch  der  Beischlaf  mit  nicht  16jährigen 
Mädchen  strafbar  ist,  wenn  auch  in  diesem  Falle  ein  entschuldbarer  Irrtum 
entschuldigt.  Der  Gesetzgeber  konnte  daher  wohl  annehmen,  dass  der  Thäter 
des  zuerst  erwähnten  Delikts  wenigstens  die  Möglichkeit  des  zweiten  berück- 
sichtigen muss  und  dass  daher  mindestens  Fahrlässigkeit  in  allen  Fällen  vor- 
handen sein  wird.  III.  In  gewissen  Fällen  haftet  scheinbar  der  Vertretene 
für  die  Schuld  des  Vertreters.  Der  Hauptfall  kommt  vor  bei  den  Bestim- 
mungen über  die  Verantwortlichkeit  für  die  Verbreitung  staatsfeindlicher, 
gotteslästerlicher,  unzüchtiger  und  verleumderischer  Darstellungen  (vgl.  unten 
§  9  II  1).  Aber  auch  hier  handelt  es  sich  nur  um  eine  Präsumtion.  Auf  den 
ersten  Blick  entsteht  allerdings  die  Schwierigkeit,  dass  die  Schuld,  deren 
Abwesenheit  der  Vertretene  nachweisen  muss,  sich  meistens  nur  als  Fahr- 
lässigkeit konstruieren  lässt,  während  das  G.  anscheinend  nur  den  Vorsatz 
bestrafen  will.*)  Es  ist  hier  nicht  nötig,  den  Versuch  zu  machen,  diese 
scheinbare  Antinomie  zu  erklären,  da  ja  festgestellt  ist,  dass  der  Vertretene 
sich  durch  Beweis  der  Nicht-Schuld  von  seiner  Verantwortlichkeit  befreien 
kann,  und  somit  auch  sein  Delikt  nur  als  schuldhafte  Handlung  bestraft  wird. 
Dass  der  allgemeinen  Regel  nach  der  Vertretene  nicht  strafrechtlich  für  die 
Schuld  des  Vertreters  haftet,  wird  in  der  oben  citierten  Entscheidung:  Chisholm 
V.  Doulton  ausdrücklich  festgestellt. 

Die  Ausnahmen  II  und  III  fallen  somit  weg,  und  da  die  Ausnahmen, 
die   unter  I  erwähnt  sind,    nur  ein  kleines  Gebiet  umfassen,    kann   der  Satz 

^)  Das  Wort  ist  an  und  für  sich  zweideutig,  aber  dem  Zusammenhang  nach 
kann  kein  Zweifel  darüber  sein,  dass  Schuld  im  weiteren  Sinne  gemeint  war;  denn 
es  handelte  sich  um  eine  Strafklage  wegen  Fahrlässigkeit,  und  es  erfolgte  Frei- 
sprechung, weil  eine  schuldhafte  Fahrlässigkeit  nicht  nachgewiesen  war. 

'^)  Vgl.  auch  die  Entsch.  in  Sachen  R.  v.  Tolson  23  Queen's  Bench  Division 
168  (1889). 

')  Die  Unterscheidung,  welche  das  deutsche  Pressgesetz  in  dieser  Beziehung 
aufstellt  (§  20  und  §  21),  existiert  im  englischen  Recht  nicht. 

40* 


628  England  und  Irland.  —  Allgemeiner  Teil. 


aufgestellt  werden:   dass  fast  in  allen  Fällen  nur  die  schuldhafte  Handlung 
oder  Unterlassung  strafbar  ist. 

b)  Die  schuldhafte  Unterlassung.  Scbuldhafte  Unterlassungen  sind 
in  einer  Reihe  von  Fällen  strafbar,  z.  B.  bei  den  Tötungsdelikten  (vgl. 
unten  §  9  II  1),  bei  der  Gefährdung  der  Gesundheit  von  Pflegebefohlenen 
(vgl.  unten  §  9  II  2),  bei  der  bereits  oben  erwähntön  Haftung  für  strafbare 
Äusserungen  eines  Vertreters  (d.  h.  für  die  Unterlassung  der  Warnung  oder 
Aufsicht).  Es  sind  dies  lauter  einzelne  Fälle,  in  welchen  gesetzliche  Be- 
stimmungen oder  Präjudizien  eine  strafrechtlich  erzwingbare  Pflicht  zu  Hand- 
lungen unter  gewissen  Voraussetzungen  festgestellt  haben. 

c)  Der  Vorsatz.  Der  Mangel  einer  einheitlichen  Terminologie  erschwert 
die  Begriffsbestimmung  hier  ebenso  wie  bei  der  Widerrechtlichkeit  (vgl.  oben 
unter  III).  Das  Wort,  das  hauptsächlich  für  Vorsatz  angewandt  wird,  ist  ,,ma- 
lice";  das  entsprechende  Adverb  ist  „maliciously".  Die  Definition  dieses  Begriffes, 
welche  ursprünglich  von  Lord  Blackbum  formuliert  und  später  auch  von 
anderen  Richtern  anerkannt  wurde,  lautet:  „Jemand  handelt  maliciously, 
wenn  er  wissentlich  (wilfully)  etwas  thut,  von  dem  er  weiss,  dass  es  die 
Pei-son  oder  das  Vermögen  eines  anderen  schädigen  wird"  (vgl.  R.  v.  Martin, 
8  Queen's  Bench  Division  54).  Die  malice  des  englischen  Rechts  ist  daher  die 
Vorstellung  der  durch  ein  Thun  bezw.  Nicht-Thun  entstehenden  Wirkung. 
In  dem  erwähnten  Sinne  wird  das  Wort  malice  in  den  Consolidation  Acts 
meistens  angewandt.  Es  giebt  indessen  eine  Anzahl  von  Fällen,  bei  welchen 
dasselbe  eine  andere  Bedeutung  angenommen  hat.  Namentlich  ist  dies  der 
Fall  in  Bezug  auf  die  malice  aforethought,  welche  das  murder  im  Unterschied 
zum  manslaughter  kennzeichnet,  und  die  malice,  welche  bei  der  Verbreitung 
verleumderischer  schriftlicher  oder  bildlicher  Darstellungen  in  Betracht  kommt. 
In  beiden  Fällen  ist  neben  dem  Vorsatz  eine  gewisse  Absicht  entweder  nach- 
zuweisen oder  aus  gewissen  konkreten  Umständen  zu  folgern,  ehe  malice  fest- 
gestellt werden  kann.  Der  Vorsatz  wird  auch  häufig  durch  andere  Wen- 
dungen, als  das  Wort  malice  wiedergegeben,  namentlich  bei  Delikten  gegen 
das  Vermögen,  wo  die  Bezeichnungen  „fraudulently",  „falsely  and  deceitfully" 
häufig  nichts  anderes  als  vorsätzlich  bezeichnen.  Auch  die  Ausdrücke  „wilfully" 
und  „feloniously"  kommen  vor. 

Bei  vielen  Delikten  wird  eine  bestimmte  Absicht  oder  eine  bestimmte 
Kenntnis  als  Teil  des  Thatbestandes  ausdrücklich  erwähnt.  Wo  dies  geschieht, 
wird  ein  Wort  für  vorsätzlich  —  weil  selbstverständlich  —  oft  weggelassen, 
häufig  aber  auch  hinzugefügt,  ohne  den  Sinn  zu  ändern. 

Das  Bewusstsein  der  Rechtswidrigkeit  ist,  wenn  dies  nicht  aus  dem 
Wortlaut  einer  gesetzlichen  Bestimmung  mit  Klarheit  hervorgeht,  nicht  ein 
Element  des  Vorsatzes.  Ein  Ausländer,  der  in  England  den  Gegner  im  Duell 
tötet,  ist  z.  B.  wegen  Mordes  zum  Tode  zu  verurteilen,  obwohl  nach  dem  Recht 
seiner  Heimat,  dessen  allgemeine  Geltung  er  irrtümlich  annimmt,  die  Tötung 
im  Zweikampf  nicht  als  Mord  anzusehen  ist.  (Exp.  Barronet,  1  Ellis  and 
Blackburn  1.     Vgl.  auch  Stephen  art.  33  und  Entw.  §  24.) 

d)  Der  Irrtum.  Wie  wir  oben  gesehen  haben  (unter  1)  ist  in  der  Regel 
nur  das  schuldhafte  Verbr.  mit  Strafe  bedroht.  In  den  Ausnahmefällen,  in 
welchen  ein  strafrechtliches  Verfahren  *iuch  ohne  Rücksicht  auf  Schuld  ein- 
tritt, ist  selbstverständlich  der  Irrtum  unerheblich.  Ebenso  da,  wo  auf  Grund 
einer  praesumtio  juris  et  de  jure  eine  Handlung  unter  gewissen  objektiven 
Voraussetzungen  als  schuldhaft  angesehen  wird  (wie  z.  B.  der  Beischlaf  mit 
nicht  13jährigcm  Mädchen).  In  allen  anderen  Fällen  muss  selbstverständlich 
der  Irrtum  über  einen  wesentlichen  Teil  einer  Handlung  für  die  strafrechtliche 
Beurteilung  derselben  erheblich  sein. 


§  6.    Das  Verbrechen.  629 


Die  Frage  ist  im  J,  1889  vor  die  Gerichte  gekommen  imd  in  der  Entsch. 
in  Sachen  K.  v.  Tolson  eingehend  erörtert  worden  (23  Queen's  Bench  Division 
S.  168).  Es  wurde  in  dieser  Entsch.  erkannt,  dass  eine  Frau,  die  zur  zweiten 
Ehe  schreitet,  indem  sie  in  gutem  Glauben  und  unter  dem  Einflüsse  subjektiv 
berechtigter  Gründe  ihren  ersten  Mann  irrtümlich  für  tot  hält,  nicht  wegen 
Doppelehe  verurteilt  werden  kann.  Unter  den  Motivierungen  zeichnet  sich 
namentlich  die  des  Richters  Cave  durch  Klarheit  aus.  Er  sagt:  „Nach  ge- 
meinem Recht  ist  ein  ehrlicher  und  subjektiv  berechtigter  Glaube  an  das  Vor- 
handensein gewisser  Thatsachen,  deren  wirkliches  Vorhandensein  die  That, 
welche  der  Gegenstand  der  Klage  ist,  zur  erlaubten  Handlung  gemacht  hätte, 
ein  genügender  Entschuldigungsgrund  ...  So  viel  ich  weiss,  ist  nie  behauptet 
worden,  dass  solche  Entschuldigungsgründe  nicht  auch  bei  den  durch  Gesetz 
definierten  Delikten  in  gleicher  Weise  anwendbar  sind,  wenn  sie  nicht  ausdrück- 
lich oder  durch  notwendige  Folgerung  ausgeschlossen  sind." 

Eis  ist  Sache  der  Interpretation,  festzustellen,  ob  im  gegebenen  Falle  eine 
gesetzliche  Bestimmung  den  erwähnten  Entschuldigungsgrund  ausschliesst ;  eine 
Prüfung  der  Gesetze  und  Prä^judizien  ergiebt,  dass  dies  nur  in  Fällen  geschieht, 
die  zu  den  oben  erwähnten  Gattungen  (Polizeidelikte  und  gesetzliche  Prä- 
sumtionen in  Fällen,  wo  nach  der  Lage  der  Dinge  fast  stets  Schuld  vorhanden 
sein  muss)  gehören. 

Die  einzige  gerichtliche  Entsch.,  die  in  dieser  Beziehung  einige  Schwierig- 
keit verursacht,  ist  die  in  Sachen  R.  v.  Bishop  (5  Q.  B.  D.  259),  durch  welche 
jemand,  der  Geisteskranke  der  gesetzlichen  Bestimmung  zuwider  bei  sich  auf- 
nahm, verurteilt  wurde,  obgleich  er  in  gutem  Glauben  dieselben  nicht  für 
geisteskrank  hielt.  Dieser  Fall  ist  in  gewisser  Beziehung  dem  des  Beischlafs 
mit  jugendlichen  Personen  ähnlich.  Wie  dort  die  unverkennbare  Jugend  den 
Thäter  zur  Vorsicht  mahnen  muss,  so  müssen  sich  hier  auch  gewisse  Symptome 
gezeigt  haben,  die  auf  einen  gestörten  geistigen  Zustand  hindeuteten.  Das 
Recht  schreibt  in  derartigen  Fällen  summa  diligentia  vor  und  von  diesem 
Standpunkt  ist  bei  denselben  ein  entschuldbarer  Irrtum  kaum  möglich. 

e)  Die  Fahrlässigkeit.  Es  ist  bereits  oben  (unter  1)  erwähnt  worden, 
dass  unter  gewissen  Voraussetzungen  infolge  einer  gesetzlichen  Präsumtion 
die  Fahrlässigkeit  ebenso  wie  der  Vorsatz  bestraft  wird;  ausserdem  giebt 
es  noch  eine  Anzahl  von  Fällen,  in  welchen  ausdrücklich  fahrlässige  Delikte 
mit  Strafe  bedroht  sind. 

Es  gehört  hierher:  1.  fahrlässige  Tötung  (vgl.  §  9  I  1),  2.  fahrlässige 
Gefährdung  des  Eisenbahnverkehrs  (vgl.  §  9  V  2),  3.  fahrlässiges  Verhalten 
bei  der  Entweichung  von  Gefangenen  (vgl.  §  8  III  3),  4.  fahrlässige  Körper- 
verletzung  in  gewissen  Ausnahmsfällen  (vgl.  §  9  I  2). 

Der  fahrlässige  Meineid,  die  fahrlässige  Brandstiftung  und  die  fahrlässigen 
Delikte,  welche  RStGB.  Art.  326  und  329  Abs.  2  erwähnt  sind,  werden  nach 
englischem  Recht  nicht  bestraft. 

IV.  Strafausschliessungsgründe.  1.  Wegfall  der  Strafe.  Ebenso 
wie  im  deutschen  Recht,  kommen  auch  im  englischen  Bestimmungen  vor,  nach 
welchen  die  Strafbarkeit  einer  Handlung  von  äusseren  aus  der  That  selbst 
sich  nicht  ergebenden  Umständen  abhängig  ist.  Beispielsweise  sind  zu  nennen : 
die  Regel,  nach  welcher  Tötungsdelikte  als  solche  nur  bestraft  werden,  wenn 
der  Tod  des  Verletzten  spätestens  ein  Jahr  und  einen  Tag  nach  erfolgter  That 
eintritt;  ferner  die  Bestimmung,  welche  eine  Reihe  von  Handlungen  strafbar 
macht,  wenn  mindestens  vier  Monate  später  der  Konkurs  des  Thäters  eintritt 
(vgl.  unten  §  9  IV  C.  2). 

2.  Prozessvoraussetzungen,  a)  Im  allgemeinen.  Wie  aus  der 
oben  gegebenen  Darstellung   über   die  Einleitung   des  Verfahrens    erhellt,    bc- 


630  England  und  Irland.  —  Allgemeiner  Teil. 


steht  ein  Unterschied  zwischen  Antragsverbrechen  und  anderen  Verbr.  nicht  im 
englischen  Recht.  Das  einzige  Delikt,  das  nur  auf  Grund  einer  Anzeige  des 
Verletzten  vor  die  Gerichte  kommen  kann,  ist  der  Angriff  gegen  die  Person 
(assault,  vgl.  §  9  I  2);  andrerseits  kann,  wie  es  scheint,  eine  Straf  klage  gegen 
Eltern  wegen  Vernachlässigung  ihrer  Kinder  (vgl.  §  9  I  2)  nur  von  der  Armen- 
behörde veranlasst  werden  (Poor  Law  Amendment  Act  1868  §  37),  und  eine 
Strafklage  wegen  eines  Pressdelikts  ist  nur  unter  richterlicher  Genehmigung 
zulässig  (vgl.  unten  §  8  V  2).  Ferner  kann  in  allen  Phallen  der  erste  Anwalt 
der  Krone  (Attomey  General)  durch  ein  sogenanntes  „NoUe  prosequi"  die 
Einstellung  des  Verfahrens  herbeiführen,  doch  wird  dieses  Verfahren  in  der 
Praxis  fast  gar  nicht  angewandt. —  b)  Die  Verjährung.  Das  englische  StR. 
hat  weder  eine  Vollstreckungsverjährung,  noch  in  der  Regel  eine  Klagenver- 
jährung. Die  letztere  ist  in  Bezug  auf  einzelne  Delikte  gesetzlich  eingeführt; 
eine  einheitliche  Frist  besteht  dabei  nicht. 

3.  Die  Begnadigung  kann  stets  eintreten.  Dieselbe  ist  ganz  dem  Er- 
messen des  Staatssekretärs  für  das  Innere  anheimgestellt. 

V.  Der  Versuch.  Derselbe  wird  von  Stephen  art.  49  definiert  als  „eine 
Handlung,  welche  in  der  Absicht  erfolgt,  ein  Delikt  zu  begehen,  und  welche 
zu  einer  Reihe  von  Handlungen  gehört,  deren  ununterbrochene  Vollendung  das 
erwähnte  Delikt  vollenden  würde".  Der  Punkt,  an  welchem  diese  Reihe  be- 
ginnt, kann  nicht  näher  bestimmt  werden;  derselbe  hängt  vielmehr  von  den 
besonderen  Umständen  des  einzelnen  Falles  ab. 

Wenn  der  Versuch  nicht  im  einzelnen  Falle  mit  einer  besonderen  Strafe 
bedroht  ist,  so  ist  er  als  misdemeanor  mit  Gef.  zu  bestrafen  (Stephen  art  50). 
Die  Anschauungen  über  den  Versuch  am  untauglichen  Objekt  und  über  den 
Versuch  mit  untauglichen  Mitteln  haben  sich  in  den  letzten  Jahren  wesentlich 
geändert.  Das  früher  massgebende  Präjudiz  (R.  v.  CoUins,  Leigh  and  Cave  471) 
muss  jetzt  als  aufgehoben  und  die  Strafbarkeit  des  Versuchs  am  untauglichen 
Objekt  als  festgestellt  betrachtet  werden  (Reg.  v.  Ring  66  Law  Times  300, 
vgl.  auch  R.  V.  Brown,  24  Queen's  Bench  Division  357).  Ebenso  ist  die  Autorität 
der  Entsch.  in  Sachen  R.  v.  Lewis,  9  Carrington  and  Payne  523,  welche  den 
Versuch,  eine  untaugliche  Flinte  abzufeuern,  für  straflos  erklärt  durch  die 
Äusserung  des  Hauptoberrichters  Lord  Coleridge  bei  Gelegenheit  der  Entsch. 
in  Sachen  R.  v.  Duckworth  (1892),  2  Queen's  Bench  83,  wesentlich  erschüttert 
worden,  und  demnach  wird  voraussichtlich  auch  die  Strafbarkeit  des  Versuchs 
mit  untauglichen  Mitteln  anerkannt  werden,  sobald  sich  eine  Gelegenheit  findet. 

Der  Entw.  wollte  bereits  bestimmen,  dass  jedermann,  der  im  Glauben, 
dass  bestimmte  Umstände  vorliegen,  etwas  thut  oder  unterlässt,  was,  wenn  die 
betreffenden  Umstände  wirklicli  vorliegen  würden,  als  Versuch  ein  Delikt  zu 
begehen  behandelt  werden  würde,  des  Versuchs  dieses  Delikt  zu  begehen  auch 
dann  für  schuldig  zu  befinden  ist,  wenn  infolge  der  Abwesenheit  der  erwähnten 
Umstände  zur  Zeit  der  erwähnten  Handlung  oder  Unterlassung,  die  Begehung 
des  erwähnten  Delikts  in  der  beabsichtigten  Weise  unmöglich  ist. 

VI.  Aufforderung  (incitement)  und  Komplott  (conspiracy),  d.  h. 
die  Verabredung,  ein  Verbr.  gemeinschaftlich  zu  begehen,  sind  selbständige 
Verbr.,  die  auch  dann  strafbar  sind,  wenn  überhaupt  kein  anderes  Verbr. 
begangen  wird.  Beide  sind  in  Abwesenheit  anderer  Bestimmungen  als  nüs- 
demeanors  mit  Gef,  strafbar.  Die  Verabredung  ist  in  gewissen  Fällen  auch 
strafbar,  wenn  die  Handlung,  welche  der  Gegenstand  der  Verabredung  ist, 
kein  strafrechtliches  Delikt  ist,  sondern  nur  unsittliche  oder  gemeinschädlicbe 
Ziele  verfolgt  oder  auch  nur  zu  einem  civilrechtlichen  Anspruch  ex  delicto 
Anlass  giebt.  Namentlich  ist  als  misdemeanor  strafbar:  I.  die  Verabredung, 
welche  zum  Zwecke  hat,  eine  weibliche  Person  zum  ausserehelichen  Beischlaf 


§  6.    Das  Verbrechen.  631 


zu  bestimmen  (Stephen  art.  174);  II.  die  Verabredmig  zu  Handlungen,  welche 
die  Schädigung  der  Gesamtheit  oder  eines  Einzelnen  durch  hinterlistige,  aber 
nicht  mit  Strafe  bedrohte  Mittel  bezwecken  (Stephen  art.  336);  III.  jede  Ver- 
abredung zu  einem  civilrechtlichen  Delikt  oder  wenigstens  zu  einem  solchen 
civilrechtlichen  Delikt,  welches  auch  öffentliche  Interessen  bedroht  (z.  B.  die 
Verabredung  aller  Pächter  in  einem  Bezirk,  die  Zahlung  der  Pacht  zu  unter- 
lassen).*) Verabredungen  von  Arbeitern  zu  Ausständen  sind  (infolge  der  Con- 
spiracy  and  Protection  of  Property  Act  v.  1875,  welche  bestimmt,  dass  Ver- 
abredungen zu  Handlungen,  welche  das  Verhältnis  zwischen  Arbeitern  und 
Arbeitgebern  betreffen  und  an  und  für  sich  nicht  strafbar  sind,  nicht  als  straf- 
bare Conspiracies  zu  bestrafen  seien),  von  dieser  Kegel  ausgeschlossen. 

Anlass  zu  Kontroversen  haben  auch  die  Verabredungen  zur  Hemmung 
des  freien  Geschäftsbetriebes  (in  restraint  of  trade)  gegeben  (dahin  gehört  die 
sogenannte  concurrence  d^loyale);  doch  hat  die  Entsch.  des  House  of  Lords 
in  Sachen  Mogul  Steamshlp  Company  v.  Mc.  Greger  (1892)  Appeal  Gases  25 
den  Grundsatz  aufgestellt,  dass  dieselben  an  und  für  sich  nicht  widerrechtlich 
sind  und  damit  den  Gegenstand  nach  dieser  Seite  erledigt. 

Die  Bedenken  gegen  die  Strafbarkeit  von  Verabredungen  zu  an  und  für 
sich  nicht  strafbaren  Handlungen,  die  ohnehin  schon  schwerwiegend  sind, 
werden  durch  die  Unsicherheit,  mit  welcher  der  Gegenstand  von  der  gericht- 
lichen Praxis  behandelt  wird,  noch  erheblich  erhöht,  und  es  ist  wohl  anzu- 
nehmen, dass  die  Gesetzgebung  bald  eingreifen  wird. 

Die  Beteiligung  einer  grösseren  Anzahl  von  Personen  bildet  bei  verschie- 
denen Delikten  einen  Teil  des  Thatbestands;  so  z.B.  bei  dem  schweren  Fall 
der  Zusammenrottung  (riot  —  vgl.  §  8  II  1);  bei  der  Vereinigung  zum  Zwecke 
des  Schmuggels  (vgl.  §  8  IV  4)  bei  dem  nächtlichen  bewaffneten  Betreten  eines 
Grundstücks  zum  Zwecke  des  Wilddiebstahls  (vgl.  §  9  IV  B)  usw. 

VII.  Thäterschaft  und  Teilnahme.  Anstifter  und  Gehülfen  werden 
genau  in  derselben  Weise  bestraft  wie  die  Hauptthäter  (principal)  und  im 
Falle  von  treason  und  misdemeanors  auch  als  Hauptthäter  bezeichnet.  Bei 
felonies  nennt  man  den  Anstifter:  „accessory  before  the  fact"^)  und  den  Ge- 
hülfen: „principal  of  the  second  degree".  Früher  konnten  bei  einer  felony 
der  Anstifter  und  der  Gehülfe  erst  nach  der  Verurteilung  des  Hauptthäters  in 
Anklagezustand  versetzt  werden,  doch  ist  diese  Unterscheidung  durch  das  G. 
11  und  12  Vict.  cap.  46  §  1  beseitigt  worden  und  die  Behandlung  bei  felonies 
ist  jetzt  genau  dieselbe  wie  bei  anderen  Delikten. 

Vin.  Handlungseinheit  und  Verbrechensmehrheit.  1.  Im  All- 
gemeinen. Eine  Erörterung  dieses  Gegenstandes  wird  wesentlich  erschwert 
durch  die  verschiedenartigen  gesetzlichen  Einzelbestimmungen  und  ebenso  durch 
die  überaus  technischen  Eegeln  des  Strafverfahrens.  Es  lassen  sich  indessen 
einige  Hauptgrundsätze  aufstellen,  namentlich  auf  Grund  der  ausführlichen 
Urteilsbegründung  bei  der  Entsch.  in  Sachen  R.  v.  Miles  (1890),  24  Queen's 
Bench  Division  423,  welche  auch  die  früheren  Präjudizien  eingehend  bespricht. 
Demnach  kann  durch  eine  Handlung  nur  ein  Verbr.  begangen  werden,  auch 
wenn  dieselbe  Handlung  mehrere  StG.  verletzt  (vgl.  Wemyss  v.  Hopkins  Law 
Reports,    10  Queen's  Bench  378,   R.  v.  Elrington,    1  Best  and   Smith  688).     Es 


*)  Die  Strafbarkeit  der  unter  III.  erwähnten  Art  der  Verabredung  wird  vielfach 

feleugnet.  Dieselbe  ist  namentlich  mit  Rücksicht  auf  die  irischen  Verhältnisse  zur 
prache  gekommen.  Vgl.  die  Kontroverse  zwischen  Digbv  und  Butcher  in  der  Law 
Quarterly  Review  (VI,  129  fF.;  247  ff.;  363  ff.).  Vgl.  ferner  Wright,  Law  of  Criminal 
Conspiracies  1873. 

*)  „Accessory  after  the  fact**    ist   die  Bezeichnung  für  den  Hehler  (vgl.  unten 
§  8  IV  2). 


632  England  und  Irland.  —  Allgemeiner  Teil. 


muss  dabei  aber  berücksichtigt  werden,  dass,  wenn  der  Thatbestand  eines 
Delikts  aus  einer  Reihe  von  Handlungen  besteht  und  eine  dieser  Handlungen 
an  und  für  sich  den  Thatbestand  eines  anderen  Delikts  bildet,  die  Handlung, 
welche  im  Zusammenhang  mit  anderen  Handlungen  eine  verbrecherische  That 
ist,  auch  für  sich  allein  diese  Qualität  hat.  So  gehört  zu  dem  Thatbestand 
der  als  Mord  bestraften  Handlungen  und  ebenso  zu  dem  Thatbestand  der  Not- 
zucht regelmässig  eine  Handlung,  welche  auch  allein  als  widerrechtlicher  An- 
griff (Assault  vgl.  §  9  I  2)  strafbar  ist,  und  jemand,  der  wegen  eines  solchen 
Angriffs  bereits  bestraft  oder  freigesprochen  ist,  kann  wegen  des  schwereren 
Delikts  von  neuem  zur  Verantwortlichkeit  gezogen  werden  (R.  v.  Morris,  1  Crown 
Cases  Reserved  S.  90). 

2.  Die  juristische  Handlungseinheit.  Das  fortgesetzte  Verbr.  wird 
vom  englischen  Recht  nicht  als  einheitliches  Verbr.  anerkannt,  jede  einzelne 
Handlung  ist  stets  besonders  strafbar. 

Wenn  z.  B.  jemand,  um  ein  gewisses  Vermögensobjekt  sich  anzueignen, 
bei  verschiedenen  Gelegenheiten  dieselbe  Thatsache  meineidlich  aussagt,  ist 
er  für  jeden  einzelnen  Meineid  besonders  strafbar  (Castro  v.  R.,  6  Appeal  Cases 
229  —  Entsch.  des  House  of  Lords). 

Als  fortdauerndes  Verbr.  wird  es  z.  B.  angesehen,  wenn  jemand  an  einer 
Hauptgasröhre  eine  Röhre  anbringt,  die  sich  stets  neu  füllen  muss,  wenn  der 
widerrechtlich  angebrachten  Röhre  Gas  entnonmien  wird  (R.  v.  Firth,  1  Crown 
Cases  Reserved  172).  Der  Diebstahl  wird  nach  positiver  Rechtsbestimmung 
als  fortdauerndes  Verbr.  angesehen,  so  lange  die  gestohlenen  Gegenstände 
im  faktischen  oder  juristischen  Besitze  des  Diebes  bleiben*)  (Larceny  Act 
§114  (1),  vgl.  auch  R.  v.  Rogers,  1  Crown  Cases  Reserved  136). 

3.  Das  Eollektivdelikt.   Dasselbe  kommt  in  verschiedenen  Formen  vor: 
a)  Als  gewerbsmässiges  Verbr.  kann    das  Halten   unordentlicher   Häuser 

(vgl.  §  8  VIII  4)  bezeichnet  werden. 

bj  Als  gewohnheitsmässige  Delikte  werden  verschiedene  der  Landstreicherei 
beigeordnete  Handlungen  bestraft,  wenn  sie  regelmässig  vorkommen  (vgl  §  8 
VIII 9).  Hierher  gehört  auch  die  eigentümliche  Steigerung  in  der  Bezeichnung  der 
Personen,  welche  derartige  Delikte  begehen,  wenn  dieselben  öfters  vorkommen. 
Jemand,  der  im  ersten  Fall  als  „idle  and  disorderly  person"  bestraft  wird, 
erhält  im  Rückfall  die  Benennung:  „rogue  and  vagabond"  und  die  entsprechende 
Strafe,  und  wird  im  zweiten  Rückfall  als  „incorrigible  rogue"  bezeichnet  und 
bestraft. 

Als  besonders  gegen  gewohnheitsmässige  Verbrecher  gerichtet  müssen  die 
Bestimmungen  der  Prevention  of  Crime  Act  1871  angesehen  werden,  welche 
anordnen,  dass  alle  Personen,  die  zweimal  wegen  felony  und  gewisser  anderer 
Delikte  bestraft  worden  sind,  auf  7  Jahre  unter  polizeiliche  Aufsicht  gestellt 
werden  können,  und  dieselben  femer  mit  eii\jährigem  Gef.  und  Zwangsarbeit 
bedrohen,  wenn  sie  spätestens  7  Jahre  nach  der  letzten  Verurteilung:  1.  ihren 
Lebensunterhalt  anscheinend  auf  unehrliche  Weise  erwarben;  2.  bei  ihrer  Er- 
greifung einen  falschen  Namen  angaben;  3.  unter  Umständen  angetroffen 
werden,  welche  die  Absicht,  ein  Verbr.  zu  begehen,  wahrscheinlich  erscheinen 
lassen;  4.  in  einem  geschlossenen  Räume  angetroffen  werden,  ohne  sich  über 
die  Rechtmässigkeit  ihres  Aufenthalts  ausweisen  zu  können.  Prev.  of  Crime 
Act  §§  7,  8  und  20.    Vgl.  auch  Penal  Serv.  Act  1891  §  6. 

Ebenso  gehört  hierher  die  Bestimmung,  nach  welcher  bei  einer  zweiten 


*)  Die  praktische  Bedeutung  dieser  Bestimmung  besteht  in  der  Zuständigkeit 
des  Gerichts  am  Ort,  wo  die  gestohlene  Sache  sich  befindet,  so  lange  sie  im  Besitze 
des  Diebes  bleibt. 


§  7.    Die  Strafen.  633 


Verurteilung  wegen  felony  in  allen  Fällen  eine  lebenslängliche  Zuchtbausstrafe 
verhängt  werden  kann  (7  und  8  Geo.  IV  cap.  28  §  11). 

4.  Der  Rückfall.  Für  denselben  sind  in  den  einzelnen  Fällen  vielfach 
besondere  Strafen  bestimmt,  namentlich  bei  den  diebstahlähnlichen  Delikten 
und  der  Sachbeschädigung;  häufig  kommt  es  auch  vor,  dass  dasselbe  Delikt 
im  ersten  Fall  als  misdemeanor  und  im  ersten  und  zweiten  Rückfall  als  felony 
behandelt  wird.  Eine  Rückiallverjährung  kennt  das  englische  Recht  nicht 
(vgl.  z.  B.  §  9  IV  A  1  und  A  3). 

5.  Die  Realkonkurrenz.  Nach  geltendem  Recht^)  kann  für  jedes  ein- 
zelne Delikt  eine  besondere  Strafe  verhängt  werden.  Eine  Milderung  der 
Strafenhäufung  (wie  nach  RStGB.  Art.  74—79)  existiert  nur  für  den  Fall  sum- 
marischer Verurteilung  wegen  „assault",  vgl.  §  9  I  2,  in  welcher  die  Gesamt- 
strafe 6  Monate  Gef.  nicht  überschreiten  darf  (S.  J.  A.  1879  §  18). 

In  anderen  Fällen  kann  der  Richter  indessen  nach  seinem  Ermessen  be- 
stimmen, dass  die  Strafen  nicht  nacheinander,  sondern  gleichzeitig  zu  verbüssen 
sind,  was  thatsächlich  einer  Strafmilderung  gleichkommt.  (Der  Gegenstand 
wurde  bei  Gelegenheit  des  berühmten  Prozesses  gegen  Wilkes  erörtert,  siehe 
19  State  Trials  1132—1133). 

§  7.    b)  Die  Strafen.») 

I.  Arten  der  Strafen.  1.  Hauptstrafen,  a)  Die  Todesstrafe.  Die- 
selbe wird  vollstreckt  durch  Hängen  und  zwar  seit  1868  (Capital  Punishment 
Act  1868)  innerhalb  der  Mauern  des  Gefängnisses.*)  Mit  dem  Tode  ist  straf- 
bar das  als  murder  bezeichnete  Tötungsdelikt  (das  ein  weit  umfassenderes 
Gebiet  in  sich  begreift  als  der  Mord  des  deutschen  StR.,  vgl.  unten  §  9  I  1), 
der  Hochverrat  und  die  vorsätzliche  Inbrandsetzung  von  Kriegsschiffen  (vgl. 
§  8  I  1). 

b)  Die  Zuchthausstrafe.  In  Bezug  auf  die  Vollstreckung  dieser  Strafe 
sind  noch  vier  Gesetze  (16  und  17  Vict.  cap.  99 ;  20  und  21  Vict.  cap.  3 ;  27  und  28 
Vict.  cap.  47 ;  54  und  65  Vict.  cap.  69)  ganz  oder  teilweise  in  Kraft,  welche 
unter  der  Bezeichnung  „The  Penal  Servitude  Acts  1853  to  1891"  zusammen- 
gefasst  werden ;  femer  beziehen  sich  auf  dieselbe  die  Prevention  of  Crime  Acts 
V.  1871  und  1879  und  teilweise  auch  die  unten  unter  c  citierten  Prison  Acts. 

Das  Minimum  der  Zuchthausstrafe  ist  seit  1891  auf  3  Jahre  herabgesetzt 
worden.  Nach  Ablauf  einer  gewissen  Zeit  kann  die  bedingte  Entlassung  der 
Sträflinge  erfolgen.  Es  hängt  von  dem  Betragen  des  einzelnen  Sträflings  ab, 
wann  dieser  Zeitpunkt  eintritt.  Im  günstigsten  Falle  kann  bei  männlichen 
Sträflingen  etwa  ^/^,  bei  weiblichen  etwa  ^/g  der  Strafzeit  in  Abzug  kommen. 
Bei  den  zu  lebenslänglichem  Zuchthaus  Verurteilten  entscheidet  der  Staatssekretär 
auf  Grund  eines  nach  einer  Verbüssung  von  20  Jahren  auszustellenden  Berichts, 
was  in  Bezug  auf  die  weitere  Behandlung  zu  geschehen  hat.^) 

Die  Verurteilung  zur  Zuchthausstrafe  hat  (ausser  im  Falle  der  Begnadigung) 
den  Verlust  aller  Ämter  und  aller  Ansprüche  auf  Pension  usw.  und  femer  die 
Entmündigung  und  die  Ernennung  eines  Pflegers  zur  Folge  (33  und  34  Victoria 
cap.  23  §  2). 


*)  Die  früher  bestehende  anderweitige  Bestimmung  in  Bezug  auf  felonies  ist 
durch  7  und  8  George  IV  cap.  28  §  10  beseitigt. 

')  Vgl.  Aschrott,  Strafensystem  und  Gefängniswesen  in  England. 

*)  Das  G.  42  und  43  Vict.  cap.  1  §  1  enthält  weitere  Bestimmungen  über  die  Voll- 
streckung der  Todesstrafe,  die  indessen  keine  wesentliche  Änderung  bewirken. 

*)  Vgl.  Aschrott  a.  0.  S.  287  ff. 


634  England  und  Irland.  —  Allgemeiner  Teil. 


Bei  einer  Verurteilung  wegen  felony  treten  auch  die  weiteren  in  §  6  I  1 
erwähnten  Folgen  ein.  Zuchthausstrafe  kann  fast  bei  allen  schweren  Verbr. 
verhängt  werden. 

c)  Gefängnisstrafe,  a)  Im  allgemeinen.  Auf  diese  Strafe  beziehen 
sich  sieben  unter  der  Bezeichnung  „The  Prison  Acts  1865  to  1886"  zusammen- 
gefasste  Gesetze.^)  Die  Dauer  der  Gefängnisstrafe  übersteigt  nur  in  Ausnahmsfällen 
2  Jahre.  Es  kann  in  einer  Anzahl  von  Fällen  Einzelhaft  bei  dieser  Strafe  ver- 
hängt werden,  da  aber  durch  die  Prison  Act  1865  §  17  bestimmt  ist,  dass  für 
die  Trennung  der  Gefangenen  allgemeine  Vorkehrungen  zu  treffen  sind,  kommt 
eine  Verhängung  der  Einzelhaft  nicht  mehr  vor  (Stephen  art.  5*).  Es  giebt 
drei  Arten  der  Gefängnisstrafe,  die  einzeln  zu  erörtern  sind. 

ß)  Gefängnisstrafe  mit  Zwangsarbeit.  Bei  gewissen  Delikten  muss 
mit  der  Gefängnisstrafe  auch  Zwangsarbeit  angeordnet  werden  (z.  B.  bei  der 
Verurteilung  wegen  des  Haltens  eines  unordentlichen  Hauses  [Bordell,  Spiel- 
haus usw.]  —  vgl.  §  8  VIII  4  — ,  bei  gewissen  mit  der  Landstreicherei  zusammen 
hängenden  Delikten  usw.).  In  den  meisten  Fällen  ist  jedoch  die  Anwendung 
dieser  Strafverschärfung  dem  Ermessen  des  Richters  überlassen,  und  in  einigen 
kann  sie  überhaupt  nicht  verhängt  werden  (z.  B.  bei  dem  einfachen  Falle  der 
Verbreitung  verleumderischer  Darstellungen  vgl.  §  9  II  1). 

Es  giebt  eine  harte  und  eine  leichtere  Art  der  Zwangsarbeit;  welche  Art 
zu  verhängen  ist,  hängt  in  jedem  Falle  teilweise  von  allgemeinen  Regeln,  teil- 
weise von  dem  Ermessen  der  Gefängnisbehörde  ab.  Das  richterliche  Urteil 
kann  hierüber  nichts  bestimmen. 

Eine  Verurteilung  zu  mehr  als  einjähriger  Zwangsarbeit  hat  dieselbe  Wir- 
kung in  Bezug  auf  den  Verlust  von  Ämtern  usw.  wie  die  Verurteilung  zu 
Zuchthausstrafe. 

y)  Gefängnisstrafe  ohne  Zwangsarbeit  in  gewöhnlichen  Fällen. 
Auch  die  ohne  Hinzufügung  von  Zwangsarbeit  verurteilten  Gefangenen  sind 
zu  beschäftigen,  können  aber  wegen  Vernachlässigung  der  Arbeit  nur  durch 
Ändeiningen  in  der  Kost  bestraft  werden  (Prisons  Act  1865,  Anhang  I,  38). 

S)  Gemilderte  Gefängnisstrafe  (as  a  misdemeanant  of  the  first  divi- 
sion).  In  allen  Fällen,  in  welchen  nicht  Zwangsarbeit  unbedingt  vorgeschrieben 
ist,  kann  die  Einsperrung  eines  zur  Gefängnisstrafe  Verurteilten  als  misdemeanant 
of  the  first  division  angeordnet  w^erden.  Eine  in  dieser  Art  verurteilte  Person 
ist  nicht  als  Verbrecher  zu  behandeln,  sondern  den  in  Schuldhaft^)  befindlichen 
Personen  gleichzustellen.  Sie  darf  ihre  eigenen  Möbel  benutzen  und  sich  selbst 
verköstigen,  jedoch  unter  gewissen  von  der  Gefängnisbehörde  zu  bestimmenden 
Einschränkungen. 

d)  Geldstrafe  und  Busse.     In    einer    grossen  Anzahl  von  Fällen  darf 
statt  einer  Freiheitsstrafe    oder   neben    einer  Freiheitsstrafe   auf  Geldstrafe  er- 
kannt werden.    Der  BegriflT  der  Geldstrafe  ist  von  dem  der  Busse  nicht  scharf' 
getrennt,  so  ist  z.  B.  bei  einer  Verletzung  des  Urheberrechts  an  Schriftwerken 
ein  Teil  der  Strafe  dem  Eigentümer  des  Urheberrechts  auszuzahlen.^) 

Über  die  im  Fall  einer  Verurteilung  wegen  felony  zu  zahlende  Busse 
"Vgl,  oben  §  6  I  1.  Ausserdem  kommen  vielfach  Einzelbestimmungen  vor. 
Über  die  Umwandlung  der  Geldstrafen  in  Freiheitsstrafen  besteht  keine  all- 
gemein giltige  Regel. 

2.  Nebenstrafen,     a)  Unterbringung  in  eine  Besserungsanstalt 


^)  28und29Vict.  cap.  126;  29  und  30  Vict.  cap.  100;  31  und  32  Vict.  cap.  21;  40 
und  41  Vict.  cap.  21;  41  und  42  Vict.  cap.  63;  47  und  48  Vict.  cap.  51;  49  und  50  Vict. 
cap.  9. 

^)  Die  Schuldhaft  kommt  jetzt  nur  in  besonderen  Ausnahmefällen  vor. 

»)  5  und  6  Vict.  cap.  45  §  17. 


§  7.    Die  Strafen.  635 


auf  eine  Dauer  von  2 — 6  Jahren  kann  im  Falle  von  jugendlichen  Verurteilten 
als  Nebenstrafe  angeordnet  werden,  wenn  dieselben  das  16.  Lebensjahr  nicht 
vollendet  haben  und  zu  einer  Freiheitsstrafe  von  mindestens  10  Tagen  vei> 
urteilt  werden  (Reformatory  Schools  Act  1866  §  14).  Bei  guter  Aufführung 
kann  der  Leiter  der  Anstalt  den  Jugendlichen  auch  vor  Ablauf  der  Zeit  als 
Lehrling  unterbringen  oder  seine  Auswanderung  veranlassen  und  hat  in  dieser 
Beziehung  dieselben  Rechte  wie  die  Eltern  (Reformatory  and  Jndustrial  School 
Act  1891). 

b)  Stellung  unter  Polizeiaufsicht.  Dieselbe  äussert  sich  in  einer 
Anmeldungspflicht  in  gewissen  Zeiträumen  und  unter  gewissen  Umständen. 
Dieselbe  kann  auf  einen  ^Zeitraum  von  höchstens  7  Jahren  als  Nebenstrafe 
verhängt  werden,  wenn  jemand  im  Rückfall  wegen  einer  felony  oder  einem  zur 
Zahl  gewisser  schwerer  Delikte  gehörenden  anderen  Verbr.  verurteilt  wird. 
(Prevention  of  Crimes  Act  1871  §§  8  und  20;  vgl.  auch  Penal  Servitude  Act 
1891  §4.) 

c)  Verlust  der  Ehrenrechte.  Die  Verurteilung  zur  Zuchthausstrafe 
und  mehr  als  eiiyähriger  Zwangsarbeit  hat,  wie  bereits  erwähnt,  ohne  weiteres 
den  Verlust  aller  öffentlichen  Ämter  zur  Folge;  eine  ähnliche  Folge  hat  auch 
die  Konkurseröffnung  (vgl.  §  9  IV  C  1).  Eine  besonders  verhängbare  Strafe 
dieser  Art  existiert  im  englischen  Rechte  nicht. 

d)  Körperliche  Züchtigung.  Es  bestehen  über  dieselbe  folgende 
Regeln.  I.  Bei  summarischer  Verurteilung  darf  nur  einmaliges  Peitschen  an- 
geordnet werden ;  bei  Kindern  unter  14  Jahren  ist  die  Maximalzahl  der  Streiche 
zwölf  und  es  muss  eine  gewöhnliche  Rute  (birch  rod)  angewandt  werden  (25  Vict. 
cap.  18);  II.  Bei  Verurteilung  auf  Grund  der  0.  P.  A.,  der  M.  D!  A.  und  der 
L.  A.  darf  nur  einmaliges  nicht  öffentliches  Peitschen  angeordnet  werden.  Die 
Zahl  der  Streiche  und  das  Instrument  ist  dem  Ermessen  des  Gerichtshofs  über- 
lassen, welcher  das  Urteil  fällt.  Nur  männliche  Verurteilte,  welche  das 
16.  Lebensjahr  nicht  vollendet  haben,  sind  auf  Grund  dieser  Gesetze  mit  körper- 
licher Züchtigung  bedroht.  Vgl.  L.  A.  §119;  M.  D.  A.  §75;  O.  P.A.  §70. 
III.  Bei  einer  Verurteilung,  auf  welche  die  (jarrotters  Act  1863  anwendbar 
ist  (Raub  vgl.  §  9  IV  A  2  und  Knebelung  usw.  vgl.  §  9  I  3),  kann  höchstens 
dreimaliges  Peitschen  angeordnet  werden;  bei  Kindern  unter  16  Jahren  ist 
die  Maximalzahl  der  Streiche  bei  einer  Peitschung  25,  bei  Erwachsenen  50. 
Nur  männliche  Gefangene  sind  dieser  Strafe  zu  unterwerfen.  Die  Strafe  darf 
nach  Ablauf  von  sechs  Monaten  nach  der  Verurteilung  nicht  mehr  vollstreckt 
werden  (Garrotters  Act  1863  §  1).  Die  unter  I.,  IL  und  III.  erwähnten  Fälle 
bilden  die  Hauptfälle,  in  welchen  körperliche  Züchtigung  angewandt  wird  und 
die  Fälle  der  Garrotters  Act  sind  die  einzigen,  bei  welchen  dieselbe  bei  Er- 
wachsenen vorkommt  (vgl.  Aschrott  a.  0.  S.  105).  Das  letztere  G.  hat  zu  einer 
wesentlichen  Verminderung  der  Raubanfälle  beigetragen. 

e)  Die  Verpflichtung  zu  ordentlichem  Lebenswandel.  Eine  viel- 
fach statthafte  Form  der  Nebenstrafe  ist  der  Zwang  zur  Unterzeichnung  einer 
Urkunde,  durch  welche  sich  der  Verurteilte  verpflichtet,  eine  bestimmte  Summe 
zu  zahlen,  wenn  er  nicht  einen  ordentlichen  Lebenswandel  führt  oder  den 
öffentlichen  Frieden  stört.  Man  nennt  dies  „to  enter  into  recognizances  to  be 
of  good  behaviour"  oder  „to  keep  the  peace".  Das  Urteil  bestimmt  die  Höhe 
der  Summe  und  ob  die  Stellung  von  Bürgen  verlangt  wird.  (Über  die  An- 
wendung solcher  Urkunden  bei  der  bedingten  Verurteilung  vgl.  unten  unter  II  2). 

IL  Fälle  der  Strafmilderung.  1.  Im  allgemeinen.  Der  Begriff 
der  mildernden  Umstände  existiert  im  allgemeinen  im  englischen  StR.  nicht, 
doch  ist  dies  insofern  ohne  Bedeutung,  als  ohnehin  die  festgesetzten  Strafen  nur 
Maximalstrafen  sind. 


636  England  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


2.  Jugend  des  Verurteilten,  wenn  derselbe  sich  der  summarischen 
Gerichtsbarkeit  unterstellt  (vgl.  §3).  a)  Bei  Kindern  im  Alter  von  7  — 11 
Jahren,  ist  in  diesem  Falle  die  höchste  Freiheitsstrafe  1  Monat  Gef.,  die  höchste 
Geldstrafe  40  Shillings,  auch  kann  bei  Knaben  körperliche  Züchtigung  an- 
geordnet werden.     (Summary  Jurisd.  Act  1879  §  10.) 

b)  Bei  Kindern  im  Alter  von  12 —16  Jahren^)  kann  in  diesem  Falle 
höchstens  Geldstrafe  bis  zu  £  10  oder  Gef.  mit  Zwangsarbeit  bis  zu  3  Monaten, 
bei  Knaben  unter  14  Jahren  auch  körperliche  Züchtigung  angeordnet  werden. 
(Summ.  Jurisd.  Act  1879  §  11.) 

3.  Unbescholtenheit  des  Verurteilten  (bedingte  Verurteilung).  Je- 
mand, der  wegen  eines  mit  einer  Strafe  von  höchstens  2  Jahren  Gef.  bedrohten 
Verbr.  verurteilt  wird,  kann,  wenn  eine  frühere  Strafrechtliche  Verurteilung 
gegen  denselben  nicht  vorliegt,  in  Anbetracht  seiner  Unbescholtenheit  oder  in 
Anbetracht  der  geringfügigen  Natur  des  Vergehens  oder  in  Anbetracht  anderer 
mildernder  Umstände,  nur  zur  Unterzeichnung  einer  Verpflichtungsurkunde  mit 
oder  ohne  Bürgen  (vgl.  oben  unter  I  2  e)  verurteilt  werden,  durch  welche  er  sich 
bindet,  vor  dem  Gerichtshof  auf  Aufforderung  zu  erscheinen  und  sein  Urteil 
entgegenzunehmen,  in  der  Zwischenzeit  aber  den  öffentlichen  Frieden  nicht  zu 
stören  und  einen  ordentlichen  Lebenswandel  zu  führen.  Sobald  ein  eidliches 
Zeugnis  vorliegt,  dass  ein  bedingt  Verruteilter  seiner  Verpflichtung  nicht  nach- 
gekommen ist,  kann  ein  Verhaftungsbefehl  gegen  denselben  ergehen  (Probation 
of  P'irst  Offenders  Act  1887). 

4.  Unterwerfung  des  Angeklagten  unter  die  summarische  Ge- 
richtsbarkeit. Erwachsene  können,  wie  in  §  3  erwähnt  worden  ist,  sich  in 
Bezug  auf  einen  engen  Kreis  von  Delikten  ohne  weiteres  der  summarischen 
Gerichtsbarkeit  unterwerfen,  in  Bezug  auf  einen  etwas  weiteren  Kreis  nur 
insofern  sie  ihre  Schuld  bekennen.  Die  im  ersten  Falle  zu  verhängende  Maximal- 
strafe ist  3  Monate  Gef.  und  Zwangsarbeit  oder  Geldstrafe  von  £  20,  im  zweiten 
6  Monate  Gef.  und  Zwangsarbeit.     Summ.  Jur.  Act.  1879  §§  12  und  13. 

III.  Richterliches  Ermessen  bei  der  Strafbestimmung.  Nur  in 
den  Fällen,  wo  die  Todesstrafe  einzutreten  hat,  fällt  das  richterliche  Ermessen 
weg.  In  allen  anderen  Fällen  sind  die  angegebenen  Strafen  nur  Maximal- 
strafen, wobei  folgende  Grundsätze  massgebend  sind: 

1.  In  allen  Fällen,  wo  Zuchthaus  verhängt  werden  kann,  darf  der  Richter 
statt  der  Zuchthausstrafe  auf  Gef.  bis  zu  2  Jahren  mit  oder  ohne  Zwangsarbeit 
erkennen  (Penal  Servitude  Act  1891  §  1  [2]). 

2.  Die  Maximalzeit  für  die  Gefängnisstrafe  ist  in  der  Regel  zwei  Jahre. 
Wenn  Gef.  verhängt  werden  kann  und  eine  Geldstrafe  nicht  alternativ  zulässig 
ist,  muss  die  Strafe  auf  wenigstens  einen  Tag  Gef.  lauten. 


in.  Besonderer  Teil.0 

§  8.    strafbare  Handlungen  gegen  die  Kechtsguter  der  Gesamtheit. 

I.    Erster  Abschnitt.      Strafbare    Handlungen   gegen    den   Staat 


^)  Es  kann  sieh  bei  diesen  nur  um  einen  beschränkten  Kreis  von  Delikten 
handeln. 

*)  In  der  nachfolgenden  Darstellung  bedeuten  die  mitgeteilten  Strafen  die 
Maximalstrafen,  ein  zugefügtes  (P)  bedeutet,  dass  bei  männlichen  Verurteilten,  welche 
das  16.  Lebensjahr  nicht  vollendet  haben,  auch  körperliche  Züchtigung  angeordnet 
werden  darf,  ein  zugefügtes  (E),  dass  im  Fall  einer  Verurteilung  zu  Gefängnisstrafe 
Einzelhaft  verhängt  werden  darf.    Wenn   die  Maximalzeit  der  Gefängnisstrafe  mehr 


§  8.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  der  Gesamtheit.  637 


und  den  Souverän.  1.  Hochverrat,  a)  Übersicht.^)  Die  Grundlage  der 
Bestimmungen  über  den  Hochverrat  ist  noch  immer  der  1352  erlassene  Statute 
of  Treasons  (25  Edw.  III  stat.  5  cap.  2),  der  seinerseits  teilweise  eine  Wieder- 
holung der  bereits  zu  Bractons  Zeit  in  Kraft  stehenden  Bestimmungen  enthält. 
Eine  Reihe  von  Gesetzen  und  die  extensive  Interpretation  der  Gerichte  haben 
seitdem  das  Gebiet  der  als  High  Treason  mit  dem  Tode  strafbaren  Handlungen 
wesentlich  erweitert.  Nachdem  aber  ein  im  J.  1848  erlassenes  G.  (llVict. 
cap.  12)  gerade  die  Delikte,  welche  in  der  erwähnten  Weise  hinzugefügt  worden 
waren,  als  treasonable  fclonies  mit  lebenslänglicher  Zuchthausstrafe  bedroht, 
und  seitdem  das  mildere  G.  stets  angewandt  wird,  wo  es  möglich  ist,  wird 
thatsächlich  der  Statute  of  Treasons  nur  in  seiner  ursprünglichen  Einschrän- 
kung angewandt,  wenn  er  auch  theoretisch  noch  immer  auf  die  nach  dem  er- 
wähnten G.  V.  1848  strafbaren  Delikte  anwendbar  wäre.  Die  nachfolgende 
Aufstellung  der  nach  dem  Statute  of  Treasons  strafbaren  Handlungen  nimmt 
daher  auf  diejenigen,  die  in  der  Praxis  nicht  als  Kapitalverbrechen  behandelt 
werden,  keine  Rücksicht. 

b)  Hochverrat  nach  dem  Statute  of  Treasons  ist  nach  der  heutigen 
Praxis  a)  die  Veranstaltung  kriegerischer  und  aufrührerischer  Unternehmungen^) 
gegen  den  Souverän  oder  das  Parlament  und  die  Verabredung  zu  solchen 
Unternehmungen.  Stephen  art.  53,  Entw.  §  75.  —  ß)  Die  thätige  Unterstützung 
eines  öflFentlichen  Feindes.  Stephen  art.  54,  Entw.  §  75.  —  y)  Die  Kund- 
gebung der  Absicht,  sei  es  durch  Vorbereitungshandlungen,  sei  es  durch  die 
Verbreitung  geschriebener  oder  gedruckter  Äusserungen^)  —  den  Souverän 
oder  seine  Gattin  oder  den  Thronfolger  zu  töten  oder  der  Freiheit  za  be- 
rauben, und  ebenso  die  Verabredung  zu  einer  dieser  Handlungen,  insofern  sie 
sich  auf  den  Souverän  beziehen.  —  Stephen  art.  51,  Entw.  §  75.  —  d)  Der 
aussereheliche  Beischlaf  mit  der  Gattin  oder  ältesten  Tochter  des  Souveräns 
oder  der  Gattin  des  Thronfolgers.     Stephen  art.  58,  Entw.  §  75. 

Strafe  in  allen  vier  Fällen:  Todesstrafe.  Stephen  art.  60,  Entw.  §71. 
Die  Anstiftung  und  Begünstigung  wird  als  Mitthäterschaft  bestraft  (Stephen 
art.  61,  Entw.  §  75). 

Es  ergiebt  sich  aus  der  obigen  Aufstellung,  dass  High  Treason  sowohl 
Hochverrat  als  Landesverrat  einschliesst. 

c)  Treasonable  fclonies  nach  11  Viet.  cap.  12.  Hierher  gehört  die 
Kundgebung  —  sei  es  durch  Vorbereitungshandlungen,  sei  es  durch  die  Ver- 
breitung geschriebener  oder  gedruckter  Äusserungen  —  einer  der  folgenden 
Absichten : 

1.  der  Absicht,  den  Souverän  seiner  Machtbefugnisse  in  irgend  einem 
Teile  des  britischen  Reiches  zu  berauben; 

2.  der  Absicht,  durch  kriegerische  oder  aufrührerische  Unternehmungen 
den  Souverän  oder  das  Parlament  in  irgend  einem  Teile  des  britischen  Reichs 
zur  Abänderung  staatlicher  Einrichtungen  zu  veranlassen; 

3.  der  Absicht,  den  Führer  eines  fremden  Heeres  zu  einem  Angriffe 
gegen  irgend  einen  Teil  des  britischen  Reichs  zu  verleiten. 


oder  weniger  als  zwei  Jahre  ist,  ist  dieselbe  ausdrücklich  genannt;  Cef.  ohne  Zeit- 
ftngabe  bedeutet  Gef.  bis  zu  zwei  Jahren.  Wenn  bei  Gef.  Zwangsarbeit  angeordnet 
werden  muss,  so  ist  die  Strafe  nur  als  ., Zwangsarbeit"  angeführt;  wenn  die  Verhängung 
im  richterlichen  Ermessen  steht,  als  „Gef.  und  Zwangsarbeit",  wenn  Zwangsarbeit  nicht 
verhängt  werden  darf,  nur  als  „Gef." 

V)  Vgl.  Stephen,  History  11  241-285;  General  View  S.  87. 

-)  Zu  solchen  Unternehmungen  gehört  auch  die  Benutzung  von  Sprengstoffen 
in  staatsfeindlicher  Absicht,  wenn  auch  nur  wenige  Personen  dabei  beteiligt  sind. 
R.  v.  Gallagher  15  Cox.291. 

^)  Gesprochene  Äusserungen  gehören  nicht  hierher.    Stephen  art  57. 


638  England  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


Die  Verabredung  zu  einem  der  erwähnten  Unternehmen  gilt  als  Vor- 
bereitungshandlung. 

Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus.     Stephen  art.  62,  Entw.  §  79. 

d)  Andere  hochverräterische  und  landesverräterische  Hand- 
lungen: Hierher  gehören  eine  Anzahl  von  Delikten,  die  weder  als  treason, 
noch  als  treasonable  felonies  bezeichnet  werden,  nämlich:  a)  Die  vorsätzliche 
In-Brand-Setzxmg  von  Kriegsschiffen,  Materialien  zum  Bau  von  Kriegsschiffen, 
Zeughäusern  oder  Pulvermagazinen.  Strafe:  Todesstrafe.  12  Geo.  III  cap.  24. 
Stephen  art.  376,  Entw.  §  81.  —  ß)  Das  Abfeuern  von  Schiesswaffen  gegen 
Fahrzeuge,  die  zur  Kriegsflotte  oder  Zollpolizei  gehören.  Strafe:  lebensläng- 
liches Zuchthaus.  39  und  40  Vict.  cap.  36  §  193.  Stephen  art.  236  (f).  — 
y)  Die  Aufforderung  zur  Desertion  oder  Meuterei.  Strafe:  lebenslängliches 
Zuchthaus  (f).  37  Geo.  III  cap.  70  §  1 ;  7  Wül.  IV  und  1  Vict.  cap.  91  §  1 ;  Stephen 
art.  63;  Entw.  §82.  —  S)  Die  Begünstigung  von  Kriegsgefangenen  durch 
Beihülfe  zur  Entweichung  aus  der  Haft  oder  (wenn  dieselben  auf  Parole  frei- 
gelassen sind)  aus  England;  femer  die  Hülfeleistung  an  entwichene  Kriegs- 
gefangene auf  der  offenen  See,  insoweit  dieselbe  durch  britische  Unterthanen 
erfolgt.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus.  (52 Geo. III  cap.  156,  Stephen  art.  149, 
Entw.  §  81).  —  e)  Die  Auslieferung  von  Plänen,  Modellen  und  Mitteilungen, 
welche  Aufschluss  über  Festungen,  Zeughäuser  usw.  und  über  irgend  welche  Ver- 
hältnisse der  Kriegsmacht  geben,  an  andere  Personen  in  der  Absicht  der  Über- 
gabe an  einen  auswärtigen  Staat.  —  Strafe :  lebenslängliches  Zuchthaus.  Die  wider- 
rechtliche Beschaffung  oder  widerrechtliche  Übergabe  derartiger  Pläne  oder 
Mitteilungen  im  allgemeinen  ist  mit  1  Jahr  Gef.  und  Zwangsarbeit  strafbar.  Die 
Aufforderung  zu  einem  hierher  gehörigen  Delikt  ist  mit  derselben  Strafe 
bedroht,  wie  das  Hauptdelikt.  Ist  der  Thäter  ein  britischer  ünterthan,  so 
ist  er  ohne  Rücksicht  auf  den  Ort  der  Begehung  strafbar.  Official  Secrets 
Act  1889. 

2.  Staatsfeindliche  Verabredungen  und  Verschwörungen,  a)  Ein- 
facher Fall  (Seditious  conspiracy).  Als  eine  solche  wird  angesehen  jede 
Verabredung  in  der  Absicht,^)  Hass  und  Verachtung  gegen  den  Souverän,  das 
königliche  Haus,  die  Verfassung  des  Vereinigten  Königreichs,  das  Parlament 
oder  die  Rechtspflege  zu  erzeugen,  oder  britische  Unterthanen  zum  Umsturz 
staatlicher  oder  kirchlicher  Einrichtungen  auf  ungesetzlichem  Wege  zu  ver- 
leiten.  Strafe:  Gef.;  Stephen  art. 92,  Entw.  §102. 

b)  Verschwörung.  Die  Abnahme  und  Leistung  von  Eiden,  durch 
welche  sich  der  Schwörende  verpflichtet  a)  zur  Beteiligung  bei  Meuterei  oder 
anderen  staatsfeindlichen  oder  den  öffentlichen  Frieden  gefährdenden  Unter- 
nehmungen ;  ß)  zur  Mitgliedschaft  bei  einem  für  die  unter  a)  genannten  Zwecke 
gegründeten  Vereine;  y)  zum  Gehorsam  gegen  Körperschaften  oder  Personen, 
welche  nicht  gesetzlich  befugt  sind,  einen  derartigen  Gehorsam  zu  beanspruchen; 
S)    zur  Verheimlichung  hierher  gehöriger  Delikte. 

Wenn  jemand  einen  derartigen  Eid  unter  Zwang  geleistet  hat,  entgeht 
er  den  strafrechtlichen  Folgen,  wenn  er  innerhalb  14  Tagen  (oder  wenn  er 
durch  Krankheit  oder  Zwang  verhindert  war,  innerhalb  14  Tagen  nach  Weg- 
fall des  Hindernisses)  der  zuständigen  Behörde  Anzeige  macht.  Strafe:  7  Jahre 
Zuchthaus.    37  Geo.  III  cap.  123  §§  1,  2  und  5.    Stephen  art.  184,*)  Entw.  §  100. 


^)  Diese  Absicht  wird  als  staatsfeindliche  Absicht  „Seditious  Intention''  bezeichnet, 
vgl.  60  Geo.  m  xmd  1  Geo.  IV  cap.  8  §  1. 

^)  Stephen  giebt  als  Strafminimum  5  Jahre  Zuchthaus,  ist  aber  etwas  zweifel- 
haft über  diesen  Punkt.  Die  Penal  Servitude  Act  1891  §  1  (2)  bestimmt  indessen  jetzt 
allgemein,  dass,  wenn  das  G.  Zuchthaus  vorschreibt,  stets  das  Urteil  auch  auf  Gef. 
mit  oder  ohne  Zwangsarbeit  lauten  kann. 


§  8.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  der  Gesamtheit.  639 


3.  Persönliche  Angriffe  gegen  den  Souverän.  Hierzu  gehört 
a)  die  Abfeuerung  von  Waffen  oder  Sprengstoffen  in  der  Nähe  des  Souveräns 
und  jeder  Angriff  gegen  den  Souverän  durch  Schläge  oder  durch  das  Schleudern 
von  Gegenständen  und  ebenso  der  Versuch  einer  dieser  Handlungen;  ferner 
das  blosse  Zielen  gegen  den  Souverän  auch  mit  einer  nicht  geladenen  Waffe, 
in  der  Absicht,  den  Souverän  zu  verletzen  oder  zu  erschrecken  oder  die 
öffentliche  Ruhe  zu  stören;  —  ß)  die  Führung  von  Waffen  oder  sonstigen 
gefährlichen  Gegenständen  in  der  Nähe  des  Souveräns  in  der  Absicht,  die- 
selben zur  Verletzung  oder  Erschreckung  des  Souveräns  zu  benutzen.  Strafe : 
7  Jahre   Zuchthaus  (P).     5  und  6  Vict.  cap.  51  §§1—2. 

4.  Staatsfeindliche  Äusserungen.  Hierher  gehören:  a)  die  Belei- 
digung des  Souveräns  oder  der  königlichen  Würde  durch  Worte  oder  Hand- 
lungen.    Strafe:  Gef.     Stephen  art.  65; 

b)  die  Verbreitung  geschriebener  oder  gedruckter  verleumderischer 
Angaben  in  staatsfeindlicher  Absicht  (vgl.  oben  unter  2  a)  wird  als  seditious 
übel  bezeichnet.  Über  die  Verantwortlichkeit  für  die  Verbreitung  gelten  die 
gleichen  Grundsätze  wie  bei  der  Verleumdung  von  Privatpersonen  (vgl.  §  9 
ü  1).  Mündliche  Äusserungen  in  staatsfeindlicher  Absicht  (seditious  words) 
sind  in  der  gleichen  Weise  strafbar.  Strafe:  Gef.  Stephen  art.  91,  Entw. 
§102; 

c)  die  Verbreitung  geschriebener  oder  gedruckter  verleumderischer 
Angaben  gegen  auswärtige  Staatsoberhäupter  und  deren  Vertreter  ist  ebenfalls 
strafbar,  wenn  sie  in  der  Absicht  erfolgt,  den  Frieden  und  die  Freundschaft 
zwischen  dem  Vereinigten  Königreich  und  dem  von  der  verleumdeten  Person 
regierten  bezw.  vertretenen  Lande  zu  stören.  Strafe:  Gef.  Stephen  art.  99, 
Entw.  §  104. 

IL  Zweiter  Abschnitt.  Strafbare  Handlungen  gegen  den  öffent- 
lichen Frieden.  1.  öffentliche  Zusammenrottungen  (unlawful  assem- 
blies,  routs,  riots).  Strafbare  Versammlungen  und  Zusammenrottungen  stufen 
sich  bereits  nach  gemeinem  Recht  (vgl.  Coke,  3^  Jnstitute  cap.  79)  in  fol- 
gender Weise  ab: 

a)  Unerlaubte  Zusammenrottungen  (unlawful  assemblies)  heissen  Versanmi- 
lungen  von  mindestens  drei  Personen  in  der  Absicht,  entweder  ein  gewalt- 
sames Verbr.  zu  begehen  oder  einen  erlaubten  Zweck  durch  Störung  des 
öffentlichen  Friedens  zu  verfolgen.  Strafe:  Gef.  Stephen  art.  70,  Entw. 
§§84  und  86; 

b)  drohende  Zusammenrottungen  (routs)  heissen  diejenigen  unerlaubten 
Zusammenrottungen,  welche  sich  zur  Ausführung  ihres  Unternehmens  bereits 
in  Bewegung  gesetzt  haben.    Strafe:  Gef.   Stephen  art.  71,  Entw.  §§  85  und  87; 

c)  gewaltthätige  Zusammenrottungen  (riots)  heissen  diejenigen  Zusammen- 
rottungen, welche  die  Ausführung  ihres  Unternehmens  thatsächlich  begonnen 
haben.  Dabei  ist  zu  unterscheiden  zwischen:  a)  einfachem  riot  —  Strafe: 
Zwangsarbeit.  3  Geo.  IV  cap.  114,  Stephen  art.  72,  Entw.  §  8;  —  ß)  qualifi- 
ziertem riot,  d.  h.  Fortsetzung  der  Zusammenrottung  bei  einer  Beteiligung 
von  mindestens  12  Personen  nach  Verlesung  der  durch  die  Riot  Act  vor- 
geschriebenen Proklamation^),  bezw.  die  gewaltsame  Verhinderung  der  Ver- 
lesung.    Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus.      1  Geo.  I  stat.  2   cap.  5   §§  1 — 3, 


*)  Diese  Proklamation  lautet:  „Unser  Souverän  der  König  (die  Königin)  befiehlt 
allen  hier  versammelten  Personen  auseinanderzugehen  und  sich  friedlich  in  ihre 
Wohnungen  oder  zu  ihren  berechtigten  Geschäften  zu  begehen,  oder  die  Strafe  zu 
gewärtigen,  welche  das  G.  aus  dem  ersten  Regierungsjahre  des  Königs  Georg  zur 
Verhinderung  gewaltthätiger  Zusammenrottungen  verhängt.  Gott  erhalte  den  König 
(die  Königin)." 


640  England  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


Stephen  art.  73  Entw.  §§  88  und  89;  —  y)  riot,  verbunden  mit  Sachbeschä- 
digxing,  wobei  wiederum  zu  unterscheiden  ist  zwischen  aa)  einfacher  Sach- 
beschädigung. Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus;  ßß)  Beschädigung  von  Maschinen 
oder  von  öffentlichen  Gebäuden.  Strafe  •'  lebenslängliches  Zuchthaus.  24  und 
25  Vict.  cap.  97  §§  11  und  12,  Stephen  art.  74—75  Entw.  90—91. 

2.  Störung  des  öffentlichen  Friedens  durch  Streit  und  Tragen 
von  Waffen:  a)  Öffentlicher  Kampf  zwischen  zwei  oder  mehr  Personen, 
insofern  er  die  Umgebung  beunimhigt  (affray).  Strafe:  Gef.  Stephen  art.  69 
Entw.  §  96  (jedoch  mit  Veränderung  der  Strafe). 

b)  Das  unbefugte  Tragen  von  Waffen,  insoweit  es  die  Umgebung  beun- 
ruhigt. Strafe:  Gef.  2  Ed.  III  cap.  3,  1  Hawkins  Pleas  of  the  Crown  488—489. 
c)  Die  Herausforderung  zum  Zweikampf.  Strafe:  Gef.  Stephen  art.  67 
Entw.  §  97  (jedoch  unter  Veränderung  der  Strafe). 

d)  Sogenannte  prize  fights,  d.  h.  öffentliche  Faustkämpfe.  Dieselben 
werden  als  widerrechtliche  Angriffe  (assault)  bestraft,^)  und  die  Einwilligung 
der  Beteiligten  bleibt  in  anbetracht  der  Störung  des  öffentlichen  Friedens  un- 
berücksichtigt.*) 

3.  Unbefugte  militärische  Übungen.  Als  unlawful  assembly  (vgl. 
oben  unter  l)  gilt  jede  Versammlung,  in  welcher  militärische  Übungen  ohne 
gesetzmässige  Ermächtigung  veranstaltet  werden. 

Die  Beteiligung  an  derartigen  Versammlungen  ist  strafbar,  d.  h.: 

a)  die  Beteiligung  in  der  Absicht,  die  Übungen  zu  leiten  oder  die  Leitung 
der  Übungen.     Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus; 

b)  die  anderweitige  Beteiligung.  Strafe:  Gef.  und  Geldstrafe.  60  Geo.  III 
und  1  Geo.  IV  cap.  1  §  1. 

III.  Dritter  Abschnitt.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Auto- 
rität der  Staatsgewalt.  1.  Widerstand  gegen  Beamte  bei  der  Erfül- 
lung ihrer  Amtspflicht.^)     Es  gehört  hierher: 

a)  Der  Widerstand  gegen  einen  Beamten,  der  im  Begriffe  ist,  die  durch 
die  Riot  Act  vorgeschriebene  Proklamation  (vgl.  oben  unter  II  l)  zu  verlesen. 
Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (Riot  Act  §  5). 

b)  Das  Abfeuern  von  Schiesswaffen  und  die  Verstümmelung  oder 
Verwundung  von  Beamten  bei  der  Erfüllung  ihrer  Amtspflicht  im  Dienste 
der  Zollpolizei.  Strafe :  lebenslängliches  Zuchthaus  (39  und  40  Vict.  cap.  36 
§  193).  Der  einfache  Widerstand  ist  nur  mit  Geldstrafe  bedroht  (da- 
selbst §  187). 

c)  Thätlicher  Angriff  oder  Verwundung  eines  Beamten  bei  der  Erfüllung 
seiner  Amtspflicht  in  Bezug  auf  die  Erhaltung  notleidender  Schiffe  und  gestran- 
deter Waren.     Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus  (0.  P.  A.  §  37). 

d)  Verhinderung  eines  Geistlichen  bei  der  Erfüllung  seiner  Amtspflicht 
durch  Drohungen  oder  Gewalt.     Strafe:  Gef.  und  Zwangsarbeit  (0.  P.  A.  §60). 

e)  Widerstand  gegen  einen  Polizeibeamten  bei  Erfüllung  seiner  Amts- 
pflicht.    Strafe:    Gef.  und  Zwangsarbeit  (O.  P.  A.  §  38). 

f )  Ungehorsam  gegen  die  pflichtmässig  gegebenen  Befehle  von  Beamten, 


')  Vergl.  §  9  I  2. 

-)  Die  Ansicht,  dass  die  Gegenwart  bei  einem  solchen  Faustkampf  als  Anstiftung 
zu  bestrafen  ist,  wurde  bei  der  Entsch.  in  Sachen  R.  v.  Coney  (8  Queen's  Bench  Divi- 
sion 534)  von  vier  Richtern  ausgesprochen;  dieselben  wurden  indessen  von  der  (aus 
acht  Richtern  bestehenden)  Majorität  überstimmt. 

^)  Wenn  der  Widerstand  gegen  einen  Beamten  bei  der  Verhaftung  oder 
Bewachung"  eines  rechtmässig  in  seiner  Obhut  befindlichen  Gefangenen  den  Tod  des- 
selben zur  Folge  hat,  ist  der  Thäter  wegen  murder  (vgl.  §  9  I  1)  zum  Tode  zu  ver- 
urteilen. 


§  8.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  der  Gesamtheit.         641 


z.  B.  gegen  die  Aufforderung  eines  Polizeibeamten,  bei  der  Verhaftung  einer 
Person  Unterstützung  zu  leisten.*)  Strafe:  Gef.  Stephen  art.  125,  Entw.  §  115. 
2.  Entweichung  und  Befreiung  von  Gefangenen,  a)  Entwei- 
ch ung.  a)  Durch  gewaltsamen  Ausbruch  (d.  h.  unter  Verletzung  der  Sach- 
substanz des  Gebäudes).  Strafe,  falls  der  Gefangene  wegen  treason  oder  felony 
verurteilt  wird:^)  lebenslängliches  Zuchthaus,  in  anderen  Fällen  Zwangsarbeit. 
Stephen  art.  153,  Entw.  §  132,  14  und  15  Vict.  cap.  100  §  29;  —  ^)  Im  all- 
gemeinen.   Strafe:  Zwangsarbeit.   14  und  15  Vict.  cap.  100  §  29.^) 

b)  Vorsätzliche,  gewaltsame  Befreiung  o)  von  Personen,  gegen 
welche  wegen  Mord  das  Hauptverfahren  eröffnet  oder  ein  Urteil  erlassen  ist. 
Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus.  25  Geo.  II  cap.  37  §  9,  7  Will.  IV  und  1  Vict. 
cap.  91;  —  ß)  von  Personen,  welche  sich  in  Untersuchungshaft  befinden  oder 
verurteilt  sind  (ausser  in  dem  unter  a)  erwähntem  Falle):  aa)  wegen  high 
treason  —  Todesstrafe  (Stephen  art.  146);  ßß)  wegen  felony.  Strafe:  7  Jahre 
Zuchthaus  (Stephen  art.  146  und  147;  1  und  2  Geo.  4  cap.  88  §  1);  yy)  wegen 
misdemeanor.    Strafe:  Zwangarbeit  (14  und  15  Vict.  cap.  100  §29). 

c)  Begünstigung  der  Entweichung  a)  im  allgemeinen.  Strafe: 
Zwangsarbeit  (jedoch  felony).  28  und  29  Vict.  cap.  126  §  37;  —  ß)  durch  Be- 
amte, in  deren  Obhut  der  Gefangene  ist:  aa)  Vorsätzliche  Begünstigung,  wenn 
der  Gefangene  schuldig  ist:  I.  des  Hochverrats  —  Todesstrafe;  IL  einer  felony 
—  Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus;  III.  eines  misdemeanor  —  Strafe:  Zwangsarbeit. 
Stephen  art.  143;  14  und  15  Vict.  cap.  100  §  29.  ßß)  Fahrlässige  Begünstigung. 
Strafe:  Zwangsarbeit.     Stephen  art.  144,  14  und  15  Vict.  cap.  100  §  29. 

IV.  Vierter  Abschnitt.  Strafbare  Handlungen  gegen  den  Gang 
der  Staatsverwaltung.     1.    Amtsdelikte.     Hierher  gehören: 

a)  Missbrauch  der  Amtsgewalt  zum  Zwecke  der  Erpressung 
oder  zu  einem  anderweitigen  Zwecke.     Strafe:  Gef.     Stephen  art.  119. 

b)  Betrug  im  Amte.     Strafe:  Gef.     Stephen  art.  121. 

c)  Vernachlässigung  der  Amtspflicht.   Strafe:  Gef.   Stephen  Art.  122. 

d)  Verweigerung  der  Annahme  eines  obligatorischen  Ehren- 
amts, wenn  kein  genügender  Entschuldigungsgrund  vorhanden  ist.  Strafe: 
Gef.     Stephen  art.  123. 

e)  Aktive  und  passive  Bestechung  von  Richtern  und  aktive 
Bestechung  von  anderen  Beamten.    Strafe:  Gef.    Stephen  art.  126  und  127. 

f)  Kauf  und  Verkauf  von  Ämtern.  Strafe:  Gef.  und  für  den  Käufer 
Verlust  des  Amts  und  lebenslängliche  Unfähigkeit,  dasselbe  zu  bekleiden  (5  und 
6  Edw.  VI  cap.  16  §  1,  49  Geo.  III  cap.  126  §  1,  Stephen  art.  132  und  133). 

g)  Delikte  bei  der  Eheschliessung  a)  in  Bezug  auf  Mitglieder  der 
königlichen  Familie:  Die  vorsätzliche  Mitwirkung  bei  der  Eheschliessung  von 
Nachkommen  von  George  II.  (mit  Ausnahme  der  Nachkommen  von  Prinzessin- 
nen, die  sich  mit  ausländischen  Häusern  verbunden  haben),  ohne  königliche 
Genehmigung.  Strafe:  Gef.  auf  unbestimmte  Zeit.  12  Geo.  III  cap.  11,  Stephen 
art.  66.  —  ß)  In  einer  anglikanischen  Kirche:  vorsätzliche  Eheschliessung 
ohne  Beobachtung  der  gesetzlichen  vorgeschriebenen  Bedingungen  oder  unter 
Simulierung  des  geistlichen  Berufs.  Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus.  Die  Klage 
verjährt  in  3  Jahren.  4  Geo.  IV  cap.  76  §  21,  Stephen  art.  259.  y)  In  einer 
nicht-anglikanischen  Kirche  oder  auf  dem  Standesamt:  Vorsätzliche  Ehe- 
schliessung   ohne   Beobachtung  der   gesetzlich  vorgeschriebenen  Bedingungen. 

1)  Vgl.  R.  V.  Sherlock,  1  Crown  Gases  Reserved  20  (1H66). 

-)  Diese  Bestimmung  beruht  auf  dem  G.  von  Edward  II.  „De  frangentibus  pri- 
sonam.^ 

*)  In  Bezug  auf  gewisse  Gefängnisse  bestehen  Spezialbestimmungen,  vgl. 
Stephen  art.  154. 

Strafgesetzgebang  der  Gegenwart.  I.  41 


642  EDgland  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus;  die  Klage  verjährt  in  3  Jahren.  6  und  7  Will.  IV 
cap.  85  §§  39—41,  Stephen  art.  260. 

h)  Ungehorsam  eines  Offiziers  gegen  die  Anordnungen  der 
ordentlichen  Gerichte  oder  der  Polizei  in  Bezug  auf  die  Verhaftung  eines 
unter  seinem  Befehl  stehenden  Soldaten  wegen  eines  strafrechtlichen  Delikts. 
Strafe:    Gef.  Army  Act  1881  §162(3). 

2.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtspflege,  a)  Eides- 
delikte a)  im  allgemeinen.  Das  englische  Recht  bestraft  den  Meineid  nur, 
insoweit  derselbe  vor  einem  Gerichte  oder  einem  im  Auftrage  eines  Gerichtes 
handelnden  Beamten  und  in  gewissen  Angelegenheiten  vor  einem  im  Auftrage 
von  Verwaltungsbehörden  handelnden  Beamten^)  geleistet  worden  ist.  Den 
Parteieneid  als  solchen  kennt  das  englische  Recht  nicht.  Die  Parteien  in  Civil- 
prozessen  sind  berechtigt,  als  Zeugen  vernommen  zu  werden,  doch  wird,  das 
Zeugnis  in  eigener  Sache  genau  nach  denselben  Grundsätzen  beurteilt,  wie 
das  Zeugnis  in  einer  fremden  Sache.  Als  Meineid  wird  eine  wissentlich  falsche 
oder  in  wissentlicher  Unkenntnis  der  Wahrheit  erfolgende  Aussage  über  eine 
wesentliche  Thatsache,  Meinung  oder  Annahme  angesehen,  welche  unter  An- 
wendung der  Eidesform  oder  der  in  gewissen  Fällen  für  dieselbe  substituierte 
Form-)  hl  der  Absicht  erfolgt,  den  Gerichtshof  bezw.  die  Geschworenen  oder 
den  Beamten,  vor  welchem  dieselbe  abgegeben  wird,  irre  zu  führen  (vgl. 
Stephen  art.  135,  Entw.  §  119).  Ein  dem  Meineid  verwandtes  Delikt  ist  das 
Abgeben  einer  falschen  eidesstattlichen  Erklärung.  Derartige  Erklärungen 
sind  in  England  bei  einer  Reihe  von  Angelegenheiten  statthaft  und  gebräuch- 
lich. Einen  fahrlässigen  FalscheM  kennt  das  englische  Recht  nicht.  Auch 
wird  die  Thatsache,  dass  die  Angabe  der  Wahrheit  eine  strafrechtliche  Ver- 
folgung nach  sich  ziehen  konnte,  in  Bezug  auf  die  Beurteilung  des  Meineids, 
vom  Gesetze  nicht  berücksichtigt.  —  ß)  Arten  der  Eidesdelikte:  aa)  Vorsätz- 
licher Meineid  (perjury).  Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus  (jedoch  misdemeanor). 
2  Geo.  II  cap.  25  §2,  Stephen  art.  137,  vgl.  auch  Commissioners  for  Gaths 
Act  1889  §  7.  —  ßß)  Anstiftung  zum  Meineid  (Subomation  of  Perjury).  Strafe 
wie  bei  dem  Meineid.  Die  Verleitung  zum  Meineid  wäre  als  strafbare 
Aufforderung  (incitement  vgl.  oben  §  6  VI)  zu  bestrafen,  yy)  Falsche  eides- 
stattliche Erklärung.     Strafe:   Gef.     5  und  6  Will.  IV  cap.  62  §21. 

b)  Verabredung  zu  falscher  Anschuldigung.  Die  falsche  Anschul- 
digung an  und  für  sich  ist  nicht  strafbar,^)  wohl  aber  die  Verabredung  zu 
derselben  (wie  überhaupt  jede  Verabredung,  welche  die  Störung  der  Rechts- 
pflege bezweckt).  Strafe  Gef.  und  Zwangsarbeit.  14  und  löVict.  cap.  100 
§  29,  Stephen  art.  142,  Entw.  §§  126—127,  vgl.  jedoch  Wright  Conspiraces  S.  30. 

c)  Unbefugte  Beteiligung  bei  Rechtsstreitigkeiten.  Die  hierher 
bezüglichen  Bestimmungen  haben  hauptsächlich  historisches  Interesse,  indem 
sie  aus  einer  Zeit  herrühren,  in  der  mächtige  Personen,  welche  die  Lust  zum 
Prozessieren  ermutigten,  zugleich  die  Macht  hatten  den  Erfolg  zu  beeinflussen. 
Strafrechtliche  Verfolgungen    der   hier   zu  erwähnenden  Delikte  kommen  jetzt 


^)  Vgl.  z.B.  5und6Vict.  cap.  35;  Stephen  nennt  nur  den  Meineid  In  einem 
gerichtlichen  Verfahren  perjury,  Meineid  vor  Verwaltungsbehörden  hingegen  false 
swearing,  doch  liegt  zu  einer  solchen  Unterscheidung  keine  Veranlassung  vor. 

'^)  Jemand,  der  bei  seiner  Vernehmung  erklärt,  dass  er  gegen  die  Leistung  eines 
Eides  Einwendungen  erhebt  und  dafür  als  Grund  angiebt,  dass  er  ohne  religiösen 
Glauben  ist,  oder  dass  die  Leistung  eines  Eides  nach  seinem  religiösen  Glauben  nicht 
statthaft  ist,  darf  für  den  Eid  eine  in  vorgeschriebener  Form  abzugebende  feierliche 
Erklärung  (nicht  zu  verwechseln  mit  der  unten  erwähnten  eidesstattlichen  Erklärung) 
substituieren.     Oaths  Act  1888  §§  1  und  2. 

*)  Strafbar  ist  auch  die  Bedrohung  mit  einer  Anschuldigimg  zum  Zwecke  der 
Erpressung  in  gewissen  Fällen  (vgl.  §  9  IV  D  2). 


§  8.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Recbtsgüter  der  Gesamtheit.         643 


nicht  mehr  vor,  aber  die  Feststellung  ihres  Thatbestandes  ist  noch  immer  von 
Bedeutung,  weil  derselbe  zugleich  eine  Civilklage  auf  Schadensersatz  be- 
gründet^) und  weil  Verträge,  deren  Inhalt  ein  derartiges  Delikt  begründen 
würde,  nichtig  sind. 

Als  maintenance  wird  die  Unterstützung  eines  Prozesses  durch  Geldbei- 
träge usw.  bezeichnet,  an  dessen  Ausgang  der  Unterstützende  kein  pekuniäres 
Interesse  hat;  als  champerty  (campus  partitus),  wenn  dem  Unterstützenden  als 
Entschädigung  für  seine  Unterstützung  eine  Beteiligung  an  dem  in  dem  Pro- 
zesse beanspruchten  Gegenstande  zugesagt  wird.  Jemand,  der  gewohnheits- 
mässig  sich  mit  maintenance  oder  champerty  befasst,  wird  als  common  bar- 
rator  bezeichnet.  Maintenance  und  champerty  sind  als  misdemeanors  mit 
Gef.  strafbar.     Stephen  art.  141  und  Anhang  Anm.  III.*) 

d)  Verletzung  der  Anzeigepflicht,  Hehlerei  und  Begünstigung. 
Eine  Anzeigepflicht  in  Bezug  auf  beabsichtigte  Verbr.  (nach  Analogie  von 
RStGB.  Art.  139)  kennt  das  englische  Recht  nicht. 

Jemand,  der  der  Begünstigung  und  Hehlerei  im  Falle  einer  felony  schuldig 
ist,*)  wird  als  „accessory  after  the  fact"  bezeichnet,  Strafe:  Gef.  und  Zwangs- 
arbelt (jedoch  felony).  Die  Verfolgung  kann  auch  eintreten,  wenn  gegen  den 
Thäter  selbst  kein  Strafverfahren  stattfindet  (24  und  25  Vict.  cap.  94  §§  3 — 4). 
Ausserdem  kann  aber  auch  Strafe  wegen  Unterlassung  der  Anzeige  eintreten; 
im  Falle  von  Hochverrat  heisst  das  Delikt  misprision  of  treason  und  muss 
mit  lebenslänglicher  Gefängnisstrafe  bestraft  werden.  Im  Falle  anderer  felonies 
heisst  dasselbe  misprision  of  felony  und  ist  als  misdemeanor  mit  Gef.  straf- 
bar (Stephen  art.  156  und  157). 

Ebenfalls  mit  Gef.  ist  strafbar,  wer  sich  gegen  Entgelt  verpflichtet,  von 
der  strafrechtlichen  Verfolgung  einer  felony  abzustehen  (Stephen  art.  158). 

e)  Verschwörung  zur  Begehung  von  Verbr..*)  d.  h.  die  Abnahme 
und  Leistung  von  Eiden,  durch  welche  der  Schwörende  sich  verpflichtet,  zur 
Begehung  eines  mit  der  Todesstrafe  bedrohten  Verbr.  oder  gewisser  anderer 
schwerer  Verbr.  oder  die  Beihülfe  zur  Abnahme  eines  solchen  Eides.  Strafe: 
lebenslängliches  Zuchthaus. 

Im  Falle  des  Zwanges  gelten  dieselben  Bestimmungen  wie  bei  der  Leistung 
eines  der  unter  I  2b  erwähnten  Eide.     52  Geo.  III  cap.  104. 

f)  Störung  der  Rechtspflege  durch:  a)  strafbare  Beeinflussung  der 
Geschworenen  (als  „embracery"  bezeichnet).  Stephen  art.  28,  Entw.  §129(b), 
—  ß)  Versuchte  Verhinderung  der  Abgabe  von  Zeugnissen  durch  Überredung 
oder  Zwang.  Stephen  art.  142  (b).  Entw.  §  129  (a).  —  y)  Vorsätzliche  Verhin- 
derung der  Zustellung  von  Prozessschriften.  Stephen  art.  142.  Strafe  in  allen 
drei  Fällen  Gef. 

In  diesem  Zusammenhang  mag  auch  erwähnt  werden:  d)  die  Bedrohung 
oder  versuchte  oder  vollendete  Schädigung  eines  Zeugen  wegen  seines  Zeug- 
nisses vor  einer  parlamentarischen  oder  königlichen  Untersuchungskommission. 
Strafe:  Geldstrafe  bis  zu  £  100  oder  3  Monate  Gef.  (Witnesses  [Public  Jnquiry] 
Protection  Act  1892).*) 

*)  Vgl.  z.  B.  Bradlaugh  v.  Newdegate,  11  Queen's  Bench  Division  S.  1. 

'^)  Der  Entw.  berücksichtigt  diese  Delikte  nicht. 

*)  d.  h.  Jemand,  der  den  Thäter  einer  felony  wissentlich  aufnimmt  oder  unter- 
stützt in  der  Absicht,  denselben  der  Strafe  zu  entziehen  oder  seine  Verhaftung  ver- 
hindert oder  seine  Entweiehung  begünstigt.  Die  Begünstigung  von  selten  der  Ehe- 
frau ist  nicht  strafbar.     Stephen  art.  45. 

*)  Es  ist  schwer,  dieses  Verbr.  im  System  unterzubringen;  dasselbe  gehört 
eigentlich  nicht  hierher. 

*)  Anlass  zu  dieser  Bestimmung  gab  die  Entlassung  von  Beamten  durch  eine 
Eisenbahngesellschaft  infolge  des  Zeugnisses,  welches  dieselben  vor  einer  Königlichen 
Untersuchungskommission  über  Arbeiterverhältuisse  abgegeben  hatten. 

41* 


644  Eng-land  aiid  Irland.  —  Be^ouderer  TeiL 


3.  Strafbare  Handlangen  gegen  das  öffentliche  Wahl-  und 
Stimmrecht,  d.  h.  bei  den  Wahlen  zum  Parlament  and  zu.  den  Körperschaften 
and  Beamtenstellen  der  Kommanaiverwal tnng.*) 

Es  gehören  hierher:  a)  Die  Beeinflussang  bezw.  die  Verhinderang  der 
Aasübnng  des  Wahlrechts  darch  Drohang  oder  Gewalt  (andae  inflaence).  — 
Comipt  Practices  Prevention  Act  1883  §  2. 

ßt  Stimmenkaaf  imd  Verkauf  ibribery  and  treatingt  Unter  »treating'' 
ist  zu  verstehen  die  gänzliche  oder  teilweise  Zahlung  von  Speisen.  Getränken 
and  Unterhaltungen,  in  der  Absicht  die  Ausübung  des  Wahlrechts  zu  belohnen, 
zu  beeinflussen  oder  zu  verhindern  und  ebenso  die  Annahme  der  erwähnten 
Dinge  imter  den  erwähnten  Umständen  iC.  Pr.  Pr.  Act  1883  §  1"^;  anter  ^Bribery** 
die  Hingabe  oder  das  Versprechen  von  Vermögensvorteilen  oder  von  Ämtern 
in  der  Absicht  die  Ausübung  des  Wahlrechts  zu  belohnen,  za  beeinflussen 
oder  zu  verhindern  «C.  Pr.  Pr.  Act  1854  §§  2  und  3;  Representation  of  the  People 
Act  1875  §  49).  Die  Strafe  für  beide  Delikte  ist  1  Jahr  Gef.  und  Zwangsarbeit 
oder  Geldstrafe  bis  zu  £  100.  Der  Verurteilte  verliert  ausserdem  für  einen 
Zeitraum  von  7  Jahren  und  unter  gewissen  Umständen  für  immer  die  aktive 
und  passive  Wahlfähigkeit  und  die  Fähigkeit  zur  Ausübung  öffentlicher  Ämter 
fC.  Pr.  Pr.  Act  1883  §§4,  5,  6,  [1,  3,  4]:  Municipal  Corporations  Act  1882 
§§  78 — 79  —  vgl.  auch  Parliamentary  Elections  Act  1868  §  44). 

y)  Wahlfälschung  d.  h.  aa)  Fälschung  von  Stimmzetteln  and  ebenso  betrüge- 
rische Zerstörung  von  Stinmizetteln,  Hingabe  von  Stimmzetteln  an  unbefugte 
Personen  usw.  Strafe :  wenn  das  Delikt  von  einem  Im  Wahllokal  beschäftigten 
Beamten  begangen  wird  Gef.  und  Zwangsarbeit,  in  anderen  Fällen  6  Monate 
Gef.  und  Zwangsarbeit  (Ballot  Act  1872  §  3).  —  ßß)  Ausübung  des  Wahlrechts 
im  Namen  einer  andern  Person  (Personation)  und  ebenso  die  Anstiftung  und 
Beihülfe  zu  diesem  Delikt.  Strafe:  Zwangsarbeit  (jedoch  felony)  und  femer 
die  gleichen  Folgen  in  Bezug  auf  die  Wahlfähigkeit  wie  unter  ß)  erwähnt« 
(C.  Pr.  Pr.  Act  1883  §§  3,  4,  5,  6  (2—4),  BaUot  Act  1872  §  24.) 

d)  Unregelmässigkeiten  der  Wahl.  Ausser  den  erwähnten  Delikten  (unter 
welchen  die  unter  a)  ß)  und  y)  ßß)  erwähnten  mit  dem  Kollektivnamen  „cor- 
rupt  practices*^  bezeichnet  werden)  bedroht  das  G.  gewisse  Unregelmässigkeiten, 
die  unter  der  Bezeichnung  „illegal  practices'^  zusammengefasst  sind  (nament- 
lich die  Verwendung  grösserer  als  der  gesetzlich  festgestellten  Summen  für 
gewisse  mit  den  Wahlen  im  Zusammenhang  stehende  Ausgaben)  mit  einer 
Maximalgeldstrafe  von  £  100  und  gewissen  Folgen  in  Bezug  auf  die  Wahl- 
fähigkeit (C.  Pr.  Pr.  Act  1883  §10,  vgl.  auch  §11  und  Municipal  Elections 
[Corrupt  Practices]  Act  1884  §§9—11). 

4.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Zollgesetze,  a)  Einfacher 
Schmuggel.  Strafe:  Geldstrafe  (nach  Wahl  der  Behörde  auf  den  dreifachen  Wert 
der  eingeschmuggelten  Ware  oder  auf  £  100  zu  bemessen)  und  Konfiskation  der 
eingeschmuggelten  Ware.  —  (Customs  Consolidation  Act  1876  §  186.)  b)  Schmuggel 
in  Gemeinschaft  mit  mindestens  zwei  anderen  Personen.  Strafe:  Geldstrafe 
von  £  100  bis  £  500  (Customs  and  Inland  Revenue  Act  1879  §  10).  c)  Die 
Verleitung  anderer  zu  gemeinschaftlichem  Schmuggel.  Strafe:  1  Jahr  (Jef. 
(Cust.  Cons.  Act  1876  §  189).  d)  Schmuggel  durch  bewaflftiete  oder  verkleidete 
Personen.     Strafe  3  Jahre  Gef.  und  Zwangsarbeit  (Cust.  Cons.  Act  1876  §  189). 

V.  Fünfter  Abschnitt.  Strafbare  Handlungen  gegen  das  Ver- 
eins- und  Pressrecht.  1.  Gegen  das  Vereinsrecht,  a)  Unerlaubte 
Vereine  im  allgemeinen.    Als  solche  Vereine  gelten  in  erster  Linie  Vereine, 


*)  Vgl.  ausser  den  im  Text   citierten  Gesetzen  Elementar v  Education  Act  1870 
91—92;  Kl.  Ed.  Act  \HT^  §i?  6,  8,  2:^,  24;  Local  Government  Act  18^8  §  7:>. 


§  8.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  der  Gesamtheit.         645 


deren  Mitglieder  sich  eidlieh  zu  der  Begehung  von  Verbr.,  staatsfeindlichen 
Unternehmungen,  unbedingtem  Gehorsam  usw.  (vgl.  oben  unter  I  2  (b)  und 
IV  2  (e))  verpflichten  mtissen;  femer  Vereine  deren  Organisation  und  Zusammen- 
setzung den  Mitgliedern  teilweise  oder  ganz  geheim  bleibt  oder  die  sonstige 
geheimen  Vereinigxmgen  eigentümliche  Einrichtungen  haben,  oder  endlich  Ver- 
eine, deren  Zweck  es  ist,  die  bestehenden  Eigentumsverhältnisse  gewaltsam  zu 
ändern.  Strafe  der  Mitgliedschaft:  7  Jahre  Zuchthaus;  doch  genügt  unter 
gewöhnlichen  Umständen  das  summarische  Verfahren,  wobei  eine  Maximal- 
strafe von  3  Monaten  Gef.  oder  Geldstrafe  verhängt  werden  kann.  Die  Be- 
herbergung eines  solchen  Vereins  ist  im  ersten  Fall  mit  Geldstrafe  bis  zu 
£b,  im  Rückfall  ebenso  wie  die  Mitgliedschaft  strafbar  (39Geo.  III  cap.  79 
§§  2,  8,  9  und  13;  57Geo.  III  cap.  19  §§  25  und  28).^) 

b)  Jesuiten  und  Mönchsorden.  Die  Catholic  Emancipation  Act  von 
1830  (10  Geo.  IV  cap.  7)  bedroht  die  Jesuiten  und  die  Mitglieder  von  Mönchs- 
orden, die  nach  dem  vereinigten  Königreich  kommen  oder  im  vereinigten  König- 
reich als  Mitglieder  eines  solchen  Ordens  aufgenommen  werden,  mit  lebens- 
länglicher Verbannung,  eventuell,  wenn  ein  solcher  Mönch  später  als  3  Monate 
nach  erfolgter  Verbannung  noch  im  vereinigten  Königreich  angetroffen  wird, 
mit  lebenslänglichem  Zuchthaus.  Ein  Staatssekretär,  der  Protestant  ist,  kann 
jedoch  einem  Mönch  Erlaubnis  geben,  nicht  länger  als  6  Monate  im  vereinigten 
Königreich  zu  bleiben;  diese  Erlaubnis  kann  jederzeit  widerrufen  werden  (vgl. 
das  erwähnte  G.  §§  28  und  29,  31  und  32,  34—37). 

2.  Pressdelikte.  Die  strafrechtliche  Verfolgung  von  Äusserungen,  welche 
durch  die  Presse  verbreitet  werden,  kann  erfolgen,  wenn  eine  solche  Äusserung 
charakterisiert  werden  kann:  a)  als  staatsfeindliche  (vgl.  oben  unter  I  4), 
b)  als  gotteslästerliche  (vgl.  unten  unter  VI  1),  c)  als  unzüchtige  (vgl.  unten 
unter  VII  3),  d)  als  Verletzung  der  Ehre  einer  Person  (vgl.  §  9  II  1,  wo  auch 
die  Grundsätze  über  die  Verantwortlichkeit  erörtert  werden). 

Zeitungen  (Newspapers),  d.  h.  „Schriften,  welche  Nachrichten  über  öffent- 
liche Vorfälle  und  Bemerkungen  über  dieselben  oder  auch  nur  Ankündigungen 
bringen  und  in  regelmässigen  Zwischenräumen  von  höchstens  26  Tagen  perio- 
disch erscheinen",^)  geniessen  gewisse  Privilegien :  d.h.  eine  Verfolgung  wegen 
Äusserungen,  welche  sich  in  der  unter  a)  und  d)  erwähnten  Art  kennzeichnen 
lassen,  kann  gegen  eine  Zeitung  in  Bezug  auf  Berichte  über  Gerichtsverhand- 
lungen überhaupt  nicht,  und  in  Bezug  auf  Berichte  über  öffentliche  Versamm- 
lungen und  Versammlungen  der  mit  der  Lokalverwaltung  betrauten  Körper- 
schaften oder  königlicher  bezw.  parlamentarischer  Kommissionen,'^)  nur  dann 
eintreten,  wenn  eine  böswillige  Absicht  (vgl.  §  9  II  1)  nachgewiesen  werden 
kann  und  wenn  die  Zeitung  verweigert,  eine  Berichtigung  aufzunehmen. 

Ferner  kann  ein  strafrechtliches  Verfahren  gegen  die  für  die  Äusserungen 
in  einer  Zeitung  verantwortlichen  Personen  (vgl.  §  9  II 1)  nur  mit  richterlicher 
Genehmigung  erfolgen  (Law  of  Libel  Am.  Act  1888  §§  3  und  4,  §  8). 

VI.  Sechster  Abschnitt.  Strafbare  Handungen  gegen  die  Re- 
ligion.*) 


*)  Vgl.  auch  Stephen  Hist.  II  S.  294—296,  III  S.  363.  Diese  Bestimmungen  und 
ebenso  die  unter  b)  erwähnten  haben  augenblicklich  keine  praktische  Bedeutung,  be- 
stehen aber  weiter. 

^  Die  Definition  ist  enthalten  in  der  Newspaper  Libel  Act  v.  1881  §  1  und  be- 
stätigt in  der  Law  of  Libel  Amendment  Act  1888  §  1. 

*)  In  Bezug  auf  die  Verhandlungen  des  Parlaments  vgl.  §  9  II  1. 

*)  Die  theoretische  Auffassung  des  geltenden  Hechts  geht  von  dem  Gedanken 
aus,  dass  die  anglikanische  Kirche  zu  den  Einrichtungen  des  Staats  gehört,  und  dass 
daher  eine  Befehdung  derselben  ein  Angriff  gegen  die  Rechtsgüter  der  Gesellschaft 
ist.    Dieser  Gedanke   geht   aus   den   noch   in  Kraft   stehenden   Rechtsbestimmungen 


646  England  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


Von  praktischer  Bedeutung  sind  die  Bestimmungen  gegen:  1.  Gottes- 
lästerung, d.  h.  Äusserungen  über  Gott,  Christus,  die  Bibel  oder  das  angli- 
kanische Gebetbuch,  in  der  Absicht  Ärgernis  zu  erregen,  die  anglikanische 
Kirche  zu  beschimpfen  oder  Unsittlichkeit  zu  fördern.  Die  Verbreitung  gottes- 
lästerlicher Darstellungen  durch  Schriftwerke  usw.  wird  als  „blasphemous  libel" 
bezeichnet.  Die  Grundsätze  über  die  Verantwortlichkeit  für  die  Verbreitung 
sind  dieselben  wie  bei  dem  gewöhnlichen  libel  (vgl.  §  9  II 1).  Strafe:  Gef.,  Stephen 
art.  161,  Entw.  §  141. 

2.  Unbefugte  Handlungen  in  Bezug  auf  Leichen,  d.  h.  Unter- 
lassung oder  Verhinderung  des  Begräbnisses  oder  der  Ausgrabung.  Strafe: 
Gef.,  Stephen  art.  175  erster  und  zweiter  Absatz,  Entw.  §  158.^) 

Die  Leichenverbrennung  ist  erlaubt,  insofern  sie  in  einer  Weise  ausgeführt 
wird,  welche  weder  für  die  öffentliche  Gesundheit  schädlich  noch  anstössig 
ist.  R.  V.  Price,  12  Queen's  Bench  Division,  247,  vgl.  auch  Williams  v.  Wil- 
liams,  20  Chancery  Division  659  und  In  re  Dixon  (1892)  Probate  386. 

VII.  Siebenter  Abschnitt.  Strafbare  Handlungen  gegen  die 
Sittlichkeit.'^)  1.  Widernatürliche  Unzucht  (Buggery),  d.h.  a)  Sodomie 
(beischlafähnliche  Handlung  per  anum  —  auch  zwischen  einer  männlichen  und 
einer  weiblichen  Person),  b)  Bestialität.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus. 
Die  Strafe  des  Versuchs  ist  10  Jahre  Zuchthaus  (jedoch  misdemeanor).  —  O. 
P.  A.  §§  61  und  62,  Stephen  art.  169,  Entw.  §§  144  und  145. 

2.  Unzüchtige  Handlungen  zwischen  Personen  männlichen  Ge- 
schlechts. —  Strajfe:  Gef.  und  Zwangsarbeit.  Beihülfe,  Anstiftung  und  Ver- 
such sind  mit  der  gleichen  Strafe  bedroht.    C.  L.  A.  A.  §  11.  —  Stephen  art.  169  a. 

3.  Unzüchtige  Veröffentlichungen  und  Ausstellungen.  Hierzu 
gehört  der  öflFentliche  Verkauf  und  die  Feilbietung  oder  öffentliche  Ausstellung 


deutlich  hervor.  Dieselben  gestatten  sogar  den  geistlichen  Gerichtshöfen,  jedermann 
„wegen  Atheismus,  Gotteslästerung,  Ketzerei,  Schisma  oder  irgend  welcher  anderen 
verdammenswerten  Lehre  oder  Meinung"  (die  nicht  schon  nach  gemeinem  Rechte 
strafbar  ist)  zu  sechsmonatlichem  Gef.  zu  veruiiteilen  (29  Gar.  II  cap.  29 ;  53  Geo.  III 
cap.  127  §§  1—3,  Stephen  art.  162).  Dass  eine  derartige  Bestimmung  heutzutage  keine 
praktische  Bedeutung  mehr  hat,  bedarf  wohl  kaum  der  Erwähnung  und  dasselbe  gilt 
von  den  Bestimmungen,  welche  jeden,  der  zu  irgend  einer  Zeit  sich  zum  christlichen 
Glauben  in  England  bekannt  hat,  mit  Gef.  und  anderen  Strafen  bedroht,  wenn  er  im 
Eückfall  die  Wahrheit  der  christlichen  Lehre  (selbstverständlich  nach  der  Auslegung 
der  anglikanischen  Kirche)  oder  die  Inspiration  der  Bibel  bestreitet  (9  Will.  III 
cap.  35;  53  Geo.  III  cap.  160;  Stephen  art.  163),  und  selbst  die  imgünstige  Kritik  des 
anglikanischen  Gebetbuchs  mit  Strafe  bedrohen  (1  Elizabeth  cap.  2  §  3;  14  Car.  II 
cap.  4  §  20;  Stephen  art.  165).  Im  Text  sind  nur  die  Bestimmungen  berücksichtigt, 
die  noch  praktische  Bedeutung  haben.  Unter  denselben  hat  das  Delikt  der  Gottes- 
lästerung zu  Kontroversen  Anlass  gegeben.  W^ährend  nach  der  herrschenden  Meinung 
die  Absicht,  die  Gefühle  der  Menschheit  zu  verwunden  oder  Hass  und  Verachtung 
gegen  die  anglikanische  Kirche  zu  erzeugen  oder  die  Förderung  der  Unsittlichkeit 
zu  dem  Thatbestand  dieses  DeHktes  gehört,  ist  nach  Stephen's  Ansicht  auch  eine  in 
würdigem  wissenschaftlichem  Tone  gehaltene  Bestreitung  der  rechtgläubigen  christ- 
lichen Lehre  als  Gotteslästerung  strafbar,  vgl.  Stephen  art.  161-;  ebenso  dessen  Auf- 
satz in  der  Fortnightly  Review  März  1884.  Stephen's  Interpretation  der  Präjudizien 
ist  wahrscheinlich  richtig,  aber  es  ist  nicht  denkbar,  dass  ein  Richter  in  jetziger  Zeit 
dieselbe  zur  Grundlage  seiner  Rechtsbelehrung  an  die  Geschworenen  machen  würde. 
Vgl.  über  den  ganzen  Gegenstand  auch  Dicey,  English  Constitution,  2.  Aufl.  S.  259. 

*)  Die  Bestimmungen  über  die  Störung  des  öffentlichen  Gottesdienstes  (Strafe: 
Geldstrafe)  gehören  nicht  eigentlich  hierher.  Vgl.  52  Geo.  III  cap.  155  §  12,  Stephen  167, 
Entw.  §  143. 

0  Die  sogenannten  Sittlichkeitsdelikte  zerfallen  in  zwei  Klassen,  d.  h.  diejenigen, 
die  sich  als  Angriff  gegen  die  Geschlechtsehre  kennzeichnen  und  solche,  welche  aus- 
schliesslich deshalb  bestraft  werden,  weil  sie  in  schroffer  Weise  gegen  die  Anschau- 
ungen der  Gesellschaft  in  Bezug  .auf  die  geschlechtliche  Sittlichkeit  Verstössen.  Nur 
die  letzteren  gehören  hierher.     Über  die  ersteren  vgl.  §  9  II  3. 


§  8.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgtiter  der  Gesamtheit.  647 


von  unzüchtigen  Schriften,  Bildwerken  oder  Darstellungen  und  femer  die  Ver- 
breitung^) von  Aufforderungen  zu  Handlungen,  welche  den  allgemeinen  An- 
schauungen über  geschlechtliche  Sittlichkeit  widersti'eiten,  auch  wenn  dieselben 
in  gutem  Glauben  und  in  der  Absicht,  das  öffentliche  Wohl  zu  fördern,  er- 
folgen.*) Stephen  art.  172,  Entw.  §  147.  Wer  anstössige  Bilder  usw.  öffent- 
lich ausstellt,  kann  auch  auf  Grund  der  Bestimmungen  der  Vagrant  Act  als 
Strolch  und  Landstreicher  bestraft  werden,  vgl.  unten  VIII  9.  Durch  ein  G.  v. 
1889  ist  die  Ausstellung  unzüchtiger  Annoncen  an  Mauern,  Säulen  usw.  mit 
Geldstrafe  oder  Gef.  und  Zwangsarbeit  bis  zu  3  Monaten  bedroht  (Indecent 
Advertisements  Act  1889). 

4.  Inzest  ist  in  den  ordentlichen  Gerichtshöfen  nicht  strafbar  und  aus 
diesem  Grunde  ist  die  Gerichtsbarkeit  der  kirchlichaii  Gerichtshöfe  über  dieses 
Delikt  erhalten  geblieben.*)  (Die  aus  demselben  Grunde  ebenfalls  noch  er- 
haltene Gerichtsbarkeit  über  Ehebruch  und  stuprum  ist  seit  langer  Zeit  nicht 
mehr  ausgeübt  worden  —  vgl.  Stephen  History  II,  8.  428.)  Die  Strafe  ist 
kirchliche  Busse  und  im  Falle  des  Ungehorsams  6  Monate  Gef.  (13  Edw.  I 
stat.  4  [Circumspecte  agatis]  und  53  Geo.  III  cap.  127  §§  1 — 3.) 

VIII.  Achter  Abschnitt.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  poli- 
zeilichen Vorschriften  zum  Schutze  der  Gesundheit,  der  öffent- 
lichen Wohlfahrt  und  des  öffentlichen  Anstands.     Es  gehören  hierher: 

1.  Alle  als  common  nuisances*)  bezeichneten  Handlungen  (z.B.  Hinder- 
nisse des  öffentlichen  Verkehrs,  ungewöhnlicher  Lärm,  gesundheitsschädliche 
Gerüche  usw.).     Strafe:  Gef.   Stephen  art.  176,  187—191,  Entw.  §§  150—152. 

2.  Vorsätzliches  Feilhalten  von  verdorbenen  Getränken  und 
Ess waren.     Strafe:  Gef.     Stephen  art.  187,  Entwurf  §  153.'^) 

3.  Verletzung  der  Bestimmungen  in  Bezug  auf  ansteckende 
Krankheiten.  Eine  Reihe  hierher  gehöriger  Bestimmungen  sind  enthalten  in 
der  Public  Health  Act  1875  §§  120 — 130;  der  Infectious  Diseases  Notiflcation 
Act  1889;  der  Infectious  Diseases  Prevention  Act  1890  und  der  Public  Health 
(London)  Act  1891  §§  58—74.  Die  Strafen  sind  durchgängig  Geldstrafen  mit 
Ausnahme  des  Falles,  in  welchem  der  Vermieter  einer  möblierten  Wohnung  auf 
Befragen,  ob  innerhalb  der  letzten  6  Wochen  jemand  mit  einer  ansteckenden 
Krankheit  dieselbe  bewohnt  hat,  eine  vorsätzlich  falsche  Antwort  giebt.  In 
diesem  Falle  kann  auf  Gef.  bis  zu  einem  Monat  und  Zwangsarbeit  erkannt 
werden  (summarisches  Verfahren).  Public  Health  Act  1875  §  129;  Public 
Health  (London)  Act  §  64. 

4.  Das  Halten  unordentlicher  Häuser  (disorderly  houses).  Es  ge- 
hören dahin :  a)  Bordelle  (Common  Bawdy  Houses)  —  als  solches  gilt  auch  ein 
Teil  eines  Hauses  und  selbst  ein  einzelnes  Zimmer,  das  zur  Prostitution  ver- 
wandt  wird.     Stephen  art.   180.  —  b)  Spielhäuser   (Common  Gaming  Houses) 

^)  Über  Verbreitung  und  Verantwortlichkeit  vgl.  §  9  II  1. 

*)  Der  bekannte  Politiker  Bradlaugh  wurde  wegen  einer  Schrift  verurteilt, 
welche  zur  Anwendung  von  Präventivmitteln  im  ehelichen  geschlechtlichen  Verkehr 
aufforderte,  obgleich  die  Geschworenen  die  Frage,  ob  dies  in  gutem  Glauben  und  in 
der  Absicht,  das  öfiFentliche  Wohl  zu  fördern,  geschehen  sei,  bejahten. 

®)  Stephen  art.  170  (^)  erwähnt  ein  in  jüngster  Zeit  erfolgtes  Strafverfahren  im 
Gerichtshof  des  Bischofs  von  Chichester,  erwähnt  aber  nicht,  ob  dasselbe  zu  einer 
Verurteilung  führte. 

*)  Der  Begriff  der  common  nuisance  (wörtlich  übersetzt:  gemeinschädliche  Hand- 
lung) ist  noch  weiter  als  der  des  deutschen  groben  Unfugs.  Der  Entwurf  definiert 
dieselbe  als  „eine  widerrechtliche  Handlung  oder  Unterlassung,  durch  welche  die 
Sicherheit,  die  Gesundheit,  das  Eigentum  oder  das  Leben  oder  Wohlbehagen  der 
Gesamtheit  gefährdet  wird"  (§  150). 

^)  Auch  hier  und  in  den  meisten  folgenden  Fällen  wird  das  Delikt  als  common 
nuisance  bezeichnet. 


648  England  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


—  als  solches  gilt  ein  Haus,  das  regelmässig  für  unerlaubte  Spiele  benutzt 
wird.  Als  unerlaubtes  Spiel  gilt  jedes  Spiel,  bei  dem  einer  der  Spieler  (z.  B. 
der  Bankhalter)  bessere  Chancen  hat  als  die  anderen.    Stephen  ai*t.  181,  183. 

c)  öffentliche  Lokale  für  Wetten  (Common  Betting  Houses).    Stephen  art.  182. 

d)  Nicht  konzessionierte  Vergnügungslokale  in  der  Hauptstadt  und  ihrer  un- 
mittelbaren Umgebung  (disorderly  places  of  entertainment).  Stephen  art.  184. 
Strafe  in  den  Fällen  a — d:  Zwangsarbeit.  3  Geo.  IV  cap.  114  §  1,  Entw.  §  154, 
vgl.  auch  25  Geo.  H  cap.  36  §  8;  21  Geo.  III  cap.  49  §  2.  e)  Unordentliche  Wirts- 
häuser^) (d.  h.  Wirtshäuser,  in  welchen  regelmässig  verrufene  Personen  ver- 
kehren).    Strafe:  Gef.     Stephen  art.  185. 

5.  Die  unbefugte  Veranstaltung  von  Lotterieen.  Strafe:  Gef. 
Stephen  art.  186;  lOWül.  III  cap.  23  §  1;  42  Geo.  III  cap.  119  §  2. 

6.  Verletzung  der  Bestimmungen  zum  Schutze  der  Sonntags- 
ruhe. Es  gehört  hierher  das  jetzt  nicht  mehr  beachtete  aber  noch  rechts- 
kräftige G.  V.  1781,  welches  einen  Hausinhaber,  in  dessen  Hause  am  Sonntag 
Unterhaltungen  oder  Vorlesungen  usw.  stattfinden,  zu  welchen  der  Zutritt  nur 
gegen  Entgelt  gestattet  ist,  mit  Zwangsarbeit  bedroht  (21  Geo.  III  cap.  49)  und 
ferner  das  G.  v.  1677,  das  jede  Sonntagsarbeit  bei  Geldstrafe  verbietet  (29  Chas.  2 
cap.  7).^) 

7.  Verletzung  der  Bestimmungen  gegen  die  Tierquälerei.  Grau- 
samkeit gegen  Haustiere  ist  nach  12  und  13  Vict.  cap.  92  mit  Geldstrafe  und 
unter  gewöhnlichen  Umständen  mit  Busse  strafbar,  ebenso  das  Halten  von 
Tieren  für  grausame  Unterhaltungen  (Hahnenkämpfe  usw.).  Gewisse  grausame 
Formen  des  Sports  sind  indessen  erlaubt.  Die  schärfsten  Bestimmungen  richten 
sich  gegen  die  Verwendung  von  Tieren  zu  wissenschaftlichen  Untersuchungen. 
Wenn  dieselbe  nicht  in  Übereinstimmung  mit  den  gesetzlichen  Vorschriften 
erfolgt,  so  ist  im  ersten  Fall  Geldstrafe  bis  zu  £  50,  im  Rückfall  Geldstrafe 
bis  zu  £  100  oder  Gef.  bis  zu  3  Monaten  zu  verhängen  (summarisches  Ver- 
fahren) —  39  und  40  Vict.  cap.  77. 

8.  Verletzung  des  öffentlichen  Anstandes.  a)  Anstössige  oder 
unzüchtige  Handlungen  an  Orten,  welche  jedermann  zugänglich  sind.  Strafe: 
Gef.  —  unter  gewöhnlichen  Voraussetzungen  mit  Zwangsarbeit.  —  Stephen 
art.  171,  Entw.  §  146.  b)  Jemand,  der  das  unter  a)  erwähnte  Delikt  begeht, 
kann,  wenn  dasselbe  in  einer  Entblössung  der  männlichen  Geschlechtsteile 
besteht  und  in  der  Absicht  erfolgt,  eine  weibliche  Person  zu  beleidigen  oder 
zu  belästigen,  auch  auf  Grund  der  Vagrant  Act  (vgl.  unter  9)  als  rogue  and 
vagabond  bestraft  werden. 

9.  Die  Landstreicherei  und  ähnliche  in  der  Vagrant  Act  er- 
wähnte Delikte.  —  Eine  Anzahl  von  Verletzungen  polizeilicher  Bestimmungen 
wird  vom  englischen  Eecht  in  der  Weise  zusammengefasst,  dass  der  Thäter 
entweder  a)  als  Müssiggänger  (idle  and  disorderly  person)  oder  b)  als  Strolch 
und  Landstreicher  (rogue  and  vagabond)  oder  c)  als  unverbesserlicher  Strolch 
(incorrigible  rogue)  bestraft  wird.  Im  Falle  a)  ist  die  Maximalstrafe  1  Monat 
Gef.  und  Zwangsarbeit;  im  Falle  b)  3  Monate  Gef.  und  Zwangsarbeit  (in  beiden 
Fällen  summarisches  Verfahren),  im  Falle  c)  muss  der  Thäter  bis  zur  Ab- 
haltung der  nächsten  Quartalsitzungen  im  Gef.  bleiben  und  kann  dann  bis  zu 
eiiyähriger  Gefängnisstrafe  und  Zwangsarbeit  verurteilt  werden  (5  George  IV 
cap.  83  §§3 — 5;  Stephen  art.  195).  Zu  den  unter  a)  strafbaren  Delikten  ge- 
hört die  schuldhafte  Inanspruchnahme    der    öflTentlichen  Armenpflege,    das   ge- 


^)  Als  strafbare  Handlung  gilt  es  auch,  wenn  ein  Wirt  ohne  genügenden  Grund 
einen  zahlungsfähigen  Gast  zu  bedienen  verweigert. 

*)  Eine  Reibe  andere  G.  beziehen  sich  auf  einzelne  Gewerbe. 


§  9.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Hechtsgüter  des  Einzelnen.  649 


wohnheitsmässige  Betteln  und  ähnliche  Delikte,  zu  den  unter  b)  strafbaren  die 
Obdachlosigkeit  und  verschiedene  verdächtige  oder  anscheinend  betrügerische 
Handlungen,  die  Ausstellung  anstössiger  Bilder  usw.,  femer  die  Begehung 
eines  unter  a)  strafbaren  Delikts  im  Rückfall.  Als  unverbesserlicher  Strolch 
wifd  jemand  angesehen,  der  a)  ein  unter  b)  strafbares  Delikt  im  Rückfall  be- 
geht, ß)  aus  dem  Gef.  entweicht,  nachd^em  er  wegen  eines  unter  b)  strafbaren 
Delikts  verhaftet  worden  ist,  oder  bei  seiner  Verhaftung  wegen  eines  solchen 
Delikts  (dessen  er  später  für  schuldig  befunden  wird),  dem  Polizeibeamten,  der 
ihn  verhaftet,  gewaltsamen  Widerstand  leistet.  5  Geo.  IV  cap.  83  §§  3 — 5;  vgl. 
auch  34  und  35  Vict.  cap.  108  §§  7  und  10;  1  und  2  Vict.  cap.  38  §  2;  36  und  37 
Vict.  cap.  38  §  3;  34  und  35  Vict.  cap.  112  §  15,  Stephen  art.  192—195. 

§  9.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  RecMsgflter  des  Einzelnen. 

I.  Erster  Abschnitt.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  körper- 
liche Unversehrtheit.  1.  Die  Tötung.^)  a)  Übersicht.  Das  englische 
StR.  bestraft  nur  die  Tötung  menschlicher  Wesen  als  Tötung.^)  Als  mensch- 
liches Wesen  wird  ein  Kind  erst  angesehen,  nachdem  es  vollständig  von  der 
Mutter  getrennt  ist.  Es  ist  unerheblich,  ob  das  Kind  bereits  geatmet  hat,  oder 
ob  die  Nabelschnur  zerschnitten  ist  (Stephen  art.  218,  Entw.  166). 

Die  widerrechtliche  Tötung  ist  strafbar,  gleichviel  ob  sie  direkt  oder 
indirekt  durch  eine  schuldhafte  Handlung  oder  ob  sie  infolge  der  Unterlassung 
einer  Handlung  erfolgte,  zu  deren  Vornahme  eine  rechtliche  Pflicht  vorhanden 
war.  Solche  Pflichten  sind  nach  positiver  Rechtsbestimmung:  1.  Die  Pflicht 
des  Hausvaters,  seinen  Pflegebefohlenen  die  notwendigen  Lebensmittel  zu  ge- 
währen, bezw.  wenn  dies  nicht  möglich  ist,  bei  der  Behörde  für  Armenpflege 
die  nötigen  Schritte  einzuleiten.  Stephen  art.  213 — 215,  Entw.  §§  159 — 161. 
2.  Die  Pflicht  des  Arztes  oder  Chirurgen,  bei  lebensgefährlichen  Operationen 
sachverständige  Geschicklichkeit  und  Sorgfalt  anzuwenden.  Stephen  art.  217, 
Entw.  §  162.  3.  Die  Pflicht  der  Person,  welche  gefährliche  Vorrichtungen 
oder  gefährliche  Tiere  unter  seiner  Obhut  hat,  die  nötigen  Vorsichtsmassregeln 
anzuwenden.     Stephen  art.  216,  Entw.  §  163. 

Die  Strafbarkeit  wird  ausgeschlossen,  wenn  zwischen  der  widerrecht- 
lichen und  schuldhaften  Handlung  bezw.  Unterlassung,  welche  den  Tod  ver- 
ursacht, und  dem  Tode  ein  Zeitraum  von  mehr  als  einem  Jahre  und  einem 
Tage  liegt. 

Als  schuldhafte  Tötung  gilt  sowohl  die  vorsätzliche  als  die  fahrlässige 
Tötung  und  jede  unerlaubte  Handlung  (auch  ein  civilrechtliches  Delikt),  welche 
den  Tod  eines  Menschen  zur  Folge  hat;^)  wenn  „malice  aforethought"  (über- 
legter Vorsatz)  hinzutritt  liegt  murder  vor;  in  anderen  Fällen  manslaughter. 
„Malice  aforethought"  wird  stets  als  vorhanden  angenommen  1.  bei  vorsätz- 
licher Tötung  und  vorsätzlicher  schwerer  Körperverletzung  mit  tödlichem  Aus- 
gang, wenn  der  Thäter  nicht  durch  eine  Misshandlung  oder  schwere  Beleidigung 
zum  Zorne  gereizt  und  hierdurch  auf  der  Stelle  zur  That  hingerissen  wurde; 
2.  wenn  der  Tod  verursacht  wird  durch  eine  Handlung,  deren  Absicht  es  war, 
eine  beliebige  felony  zu  begehen,  oder  einem  Beamten  in  Kenntnis  seiner  Eigen- 


*)  Stephen  widmet  diesem  Delikte  besondere  Beachtung  (General  View  131—142, 
History  HI,  S.  23-87,  Digest  art.  196—235). 

•-)  Die  Tötung  von  Tieren  kann  je  nach  Umständen  als  Sachbeschädigung  (vgl. 
z.  B.  unten  IV  A  3  c)  oder  als  Wilddiebstahl  (unten  IV  B)  bestraft  werden. 

**)  Stephen  art.  222  giebt  eine  kasuistische  Definition  der  schuldhaften  Tötung, 
4ie  aber  nur  deshalb  nötig  ist,  weil  die  Begriffe  des  Vorsatzes  und  der  Fahrlässigkeit 
ini  englischen  Recht  nicht  genügend  festgestellt  sind. 


650  England  and  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


Schaft  bei  der  Verhaftung  und  Bewachung  von  Gefangenen  oder  der  Friedens- 
bewahrung gewaltsamen  Widerstand  zu  leisten.  Auch  in  diesen  Fällen  ent- 
schuldigt die  Reizung  zum  Zorne  unter  den  oben  erwähnten  Umständen.^) 
Stephen  art.  223 — 225.  *)  Wenn  nicht  besondere  Umstände  vorliegen,  trifft  den 
Thäter  bei  jeder  Tötung  die  Beweislast,  wenn  er  den  Thatbestand  des  muräer 
bestreitet.     Stephen  art  230. 

b)  Prüfung  der  Tötungsdelikte  des  englischen  Rechts  nach  den 
Kriterien  des  deutschen  StR.  Es  erhellt  aus  den  obigen  Elrläuterungen, 
dass  das  murder  des  englischen  Rechts  nach  deutschem  StR.  je  nach  Um- 
ständen als  eines  der  folgenden  Delikte  angesehen  würde:  1.  Mord  (RStGB. 
Art.  211),  2.  Totschlag  (RStGB.  Art.  212),  (in  den  Fällen  berechtigter  Reizung, 
deren  Ausdehnung  jedoch  nicht  so  weit  geht  als  die  der  nach  Art.  213  milder 
behandelten  Fälle  des  Totschlags,  läge  jedoch  auch  nach  englischem  Recht 
nur  manslaughter  vor).  3.  Vorsätzliche  schwere  Körperverletzung  mit  tödlichem 
Ausgang  (RStGB.  Art.  226).  4.  Eines  aus  einer  Reihe  von  Delikten*)  mit  der 
Qualifikation  des  tödlichen  Ausgangs  (einige  derselben  werden,  wenn  diese 
Qualifikation  vorhanden  ist,  auch  vom  deutschen  Rechte  strenger  beurteilt,  so 
z.B.  Raub  —  RStGB.  Art.  251;  Notzucht  daselbst  Art.  178;  Brandstiftung  da- 
selbst Art.  307  Zifi".  1 ;  vorsätzliche  Beschädigung  von  Eisenbahnanlagen  daselbst 
Art.  315  usw.).  5.  Ein  besonderer  Fall  des  Widerstands  gegen  Beamte  bei 
Erfüllung  ihrer  Amtspfiicht,  insofern  der  Tod  des  Beamten  dadurch  herbei- 
geführt wird  (RStGB.  Art.  113,  jedoch  ohne  Verschärfung  bei  herbeigeführtem 
Tode  —  in  den  meisten  Fällen  liegt  wohl  vorsätzliche  Körperverletzung  mit 
tödlichem  Ausgange  vor,  jedoch  nicht  immer). 

„Manslaughter"  wäre  eines  der  folgenden  Delikte:  1.  Totschlag  (meistens 
unter  der  Milderung  des  Art.  213).  2.  Fahrlässige  Tötung  (RStGB.  Art.  222)  — 
jedoch  nur,  wenn  ursprünglich  veranlasst  durch  eine  unerlaubte  Handlung. 
3.  Eines  aus  einer  Reihe  von  Delikten*)  mit  der  Qualifikation  des  tödlichen 
Ausgangs  (so  z.  B.  Zweikampf  —  RStGB.  Art.  206,  Freiheitsentziehung  daselbst 
Art.  239  usw.). 

c)  Strafbemessung  bei  murder  und  manslaughter.  a)  Bei  murder. 
Obligatorische  Strafe:  Todesstrafe  (O.  P.  A.  §  1,  Entw.  §  178).  Strafe  für  Ver- 
such und  Begünstigung:  10  Jahre  Zuchthaus  (E.),  O.  P.  A.  §§  11 — 15.  Der  Kinds- 
mord wird  ebenso  behandelt  wie  der  einfache  Mord.  Der  Selbstmord  wird 
insofern  dem  Mord  gleich  behandelt,  als  Anstifter  und  Gehülfe  mit  dem  Tode 
strafbar  sind,  *)  jedoch  ist  der  Versuch  nicht  als  Mordversuch  strafbar  (R.  v. 
Burgess,  Leigh  and  Cave  258),  —  vgl.  Stephen  art.  227.*)  Die  Einwilligung 
des  Getöteten  ist  kein  Strafmilderungsgrund  (auch  nicht  im  Falle  des  RStGB. 
Art.  216),  und  die  Tötung  des  Gegners  im  Zweikampf  wird  ebenso  wie  jede 
andere  rechtswidrige  Tötung  behandelt  (R.  v.  Barronet,  Dearsley  51).  ß)  Bei 
manslaughter.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.),  auch  Geldstrafe  ist  zu- 
lässig. O.  P.  A.  §  5.  Die  Frage,  ob  bei  manslaughter  Anstiftung  denkbar  ist, 
ist  nicht  entschieden.  Es  könnte  dies  jedenfalls  nur  der  Fall  sein,  wo  nach 
deutscher  Terminologie    ein  Verg.    mit   tödlichem    Ausgange    vorliegt  (z.  B.  A 

*)  Diese  Definition  giebt  in  veränderter  Form  den  Inhalt  der  Definition  von 
Stephen  wieder.  Stephen  bezweifelt  neuerdings  die  Richtigkeit  der  Ansicht,  dass  die 
Absicht,  eine  beliebige  felony  zu  begehen,  genügt.    Vgl.  General  View  S.  131. 

*)  Unter  welchen  Umständen  eine  derartige  Reizung  zum  Zorne  vorliegt,  lässt 
sich  wiederum  nur  kasuistisch  feststellen,  vgl.  die  Beispiele  zu  Stephen  art.  224  u.  22h, 

•)  D.  h.  solcher  Delikte,  die  nach  englischem  Recht  felonies  sind. 

*)  D.  h.  solcher  Delikte,  die  nach  englischem  Recht  nicht  felonies  sind. 

*)  Der  Entw.  §  183  ermässigt  die  Strafe  auf  lebenslängliches  Zuchthaus. 

•)  Der  Versuch  des  Selbstmordes  ist  jedoch  ein  misdemeanor  nach  gemeinem 
Recht  und  als  solches  mit  Gef.  strafbar. 


§  9.    Strafbare  Handliing>en  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen.  651 


überredet  B,  dem  C  ein  starkes  Brechmittel  zu  geben,  in  der  Absicht,  dem  C 
Unbehagen  zu  verursachen,  und  C  stirbt  infolge  der  Anwendung  des  Mittels). 

d)  Vorbereitungshandlungen  und  Androhung,  a)  Aufforderung 
zum  Morde  (auch  wenn  dieselbe  nicht  den  Mord  einer  bestimmten  Person  im 
Augehat).^)  Strafe:  10  Jahre  Zuchthaus  (jedoch  misd.).  0.  P.  A.  §  4.  —  ^)  Vei^ 
abredung  zum  Morde.  Strafe  10  Jahre  Zuchthaus.  0.  P.  A.  §  4.  —  y)  Androhung 
des  Mords  auf  schriftlichem  Wege.  Strafe  10  Jahre  Zuchthaus  (E.  P.).  O.  P. 
A.  §  16. 

2.  Körperverletzung  und  Angriffe  gegen  die  Person,  a)  Vor- 
sätzliche Körperverletzung,  a)  Vorsätzliche  Verwundung  oder  schwere 
körperliche  Schädigung,  wenn  dieselbe  in  der  Absicht  der  schweren  Schädigung 
oder  in  der  Absicht  des  Widerstandes  bei  einer  rechtmässigen  Verhaftung  er- 
folgt. Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).  0.  P.  A.  §  18.  —  ß)  Vorsätz- 
liche Körperverletzung,  welche  die  Verwundung  oder  schwere  körperliche 
Schädigung  des  Verletzten  herbeiführt.  Strafe:  5  Jahre  Zuchthaus  (jedoch 
misd.).     O.  P.  A.  §  20. 

b)  Körperverletzung  durch  Vernachlässigung  der  Pflicht  gegen 
Pflegebefohlene.  —  a)  Vorsätzliche  Vernachlässigung  eines  Dienstboten  oder 
Lehrlings  von  selten  der  Person,  welche  rechtlich  verpflichtet  ist,  demselben 
Nahrung,  Kleidung  oder  Obdach  zu  gewähren*)  oder  vorsätzliche  und  wider- 
rechtliche Körperverletzung  desselben,  insofern  durch  dieselbe  Lebensgefahr 
entsteht,  oder  die  Gesundheit  dauernd  geschädigt  oder  gefährdet  wird.  Strafe: 
5  Jahre  Zuchthaus  (jedoch  misd.).  0.  P.  A.  §  26.  —  ß)  Vorsätzliche  Unter- 
lassung der  Gewährung  von  Nahrung,  Kleidung,  Obdach  und  ärztlicher  Hülfe 
an  Kinder  unter  14  Jahren  von  selten  eines  der  Eltern,  unter  dessen  Obhut 
das  Kind  steht,  wenn  die  Gesundheit  des  Kindes  ernstlich  geschädigt  oder 
gefährdet  wird.  Strafe:  6  Monate  Gef.  und  Zwangsarbeit  (summ.  Verfahren). 
Bedingte  Verurteilung  ist  in  diesem  Falle  auch  statthaft.  Die  Strafverfolgung 
muss  von  der  Armenbehörde  eingeleitet  werden.  —  Poor  Law  Amendment 
Act  §  37.  —  y)  Fahrlässige  Unterlassung  der  Gewährung  von  Nahrung,  Kleidern, 
Bettzeug  und  anderen  notwendigen  Gegenständen  an  junge  Kinder  von  selten 
eines  der  Eltern  oder  des  Dienstherm  —  im  Falle  der  Fähigkeit,  diese  Gegen- 
stände zu  gewähren  —  insofern  die  Gesundheit  des  Kindes  geschädigt  wird. 
Strafe:  Gef.     Stephen  art.  264. 

c)  Angriffe  gegen  die  Person  (assault  und  assault  and  battery). 
a)  Übersicht.  Jeder  Angriff  mit  der  Absicht,  wider  den  Willen  einer  Person 
Gewalt  gegen  dieselbe  auszuüben,  wird  als  „assault"  bezeichnet,  und  wenn 
wirklich,  sei  es  auch  nur  in  ganz  unbedeutender  Weise,  Gewalt  ausgeübt  wird, 
als  „assault  and  battery".^)  ß)  Einfacher  Angriff  (Common  Assault).  Das  Ver- 
fahren kann  nur  infolge  einer  Anzeige  durch  den  Verletzten  eingeleitet  werden. 
Strafe:  2  Monate  Gef.  und  Zwangsarbeit  oder  Geldstrafe  (summarisches  Verfahren). 
O.P.  A.  §  42.  —  y)  Angriffe  in  der  Absicht  der  Störung  gewisser  Gewerbetriebe, 
nämlich :  ad)  des  Kaufs,  Verkaufs  und  Transports  landwirtschaftlicher  Produkte, 
ßß)  des  Schifferei-  und  Fischereigewerbes.  Strafe:  3  Monate  Gef.  und  Zwangs- 
arbeit (summarisches  Verfahren).    0.  P.  A.  §§39  und  40.  —  d)  Schwerere  An- 


^)  Der  in  den  Klammern  stehende  Zusatz  ist  das  Resultat  der  Entsch.  in  der 
Klage  gegen  den  bekannten  Anarchisten  Most  (7  Queen's  Beuch  Division  244),  der 
bei  der  Ermordung  des  russischen  Kaisers  Alexander  II.  dieselbe  als  gutes  Beispiel 
für  Anarchisten  in  anderen  Ländern  lobend  erwähnte. 

«)  Dieses  Delikt  ist  auch  durch  38  und  39  Vict.  cap.  86  §  6  für  strafbar  erklärt 
—  jedoch,  mit  einer  viel  leichtern  Strafe. 

')  Über  Angriffe  gegen  Beamte  vgl.  §  8  III  1,  über  unzüchtige  Angriffe  vgl. 
unten  II  3  c. 


^52  Eng^lADd  und  IrUnd.  —  Besonderer  Teil. 


griffe:  d^  h.  alle  ADgrifFe.  die  nach  der  Ansicht  des  ersten  Richters  als  schwerere 
zu  beorteilen  sied  und  femer  alle  AnorrifiTe  gegen  weibliche  Personen  und 
Kinder:  aa*  bei  5nmmaris4.-her  Venuteüung:  Strafe:  6  Monate  Gef.  und  Zwangs- 
arbeit oder  Geldstrafe.  O.  P.  A-  §  43.  fjfi  Bei  Verurteilung  vor  einem  höheren 
Gericht:  Die  Verweisung  an  das  höhere  Gericht  hat  zn  erfolgen,  wenn 
der  erste  Richter  der  Meinung  ist,  dass  der  Angriff  mit  dem  Versuch,  eine 
felony  zu  begehen,  verbunden  war  oder  s-:»n5t  Gründe  vorliegen,  die  ein  Ver- 
fahren durch  indictment  wünschenswert  erscheinen  lassen.  Strafe:  1  Jahr  Gef. 
und  Zwangsarbeit.  O.  P.  A-  ^  46  u.  47.  Entw.  §.  2(J6.  —  £i  Angriffe  in  der  Ab- 
sicht, eine  felony  zu  begehen,  oder,  eine  rechtmässige  Verhaftung  zu  verhindem. 
Strafe:  Gef.  und  Zwangsarbeit.  O.  P.  A-  §  38,  Entw.  §  2n5a.  —  C'  Angriffe, 
welche  thatsächlich  Körperverletzung  herl>eifxihren.  Strafe:  5  Jahre  Zuchthaus 
•jedoch  misd.1.     O.  P.  A.  §  47.  Entw.  §  199. 

3.  Gefährdung  von  Leib  und  Leben,  a»  Die  Aussetzung.  Die 
Aussetzung  von  Kindern  unter  zwei  Jahren,'-  in  einer  Weise,  durch  welche 
ihre  Gesundheit  gefährdet  oder  thatsächlich  dauernd  gestört  ist  oder  voraus- 
sichtlich dauernd  gestört  werden  wird.  Strafe:  5  Jahre  Zuchthaus  «jedoch 
misd.i.     O.  P.  A.  §27;  Stephen  art.  2H6,  Entw.  §226. 

bi  Die  Vergiftung  d.  h.  vorsätzliches  Beibringen  von  Gift  oder  anderen 
gesundheitsschädlichen  Stoffen :  a  i  mit  der  Absicht,  die  betr.  Person  zu  schädigen 
oder  auch  nur  zu  belästigen.-»  Strafe:  5  Jahre  Zuchthaus,  jedc'ch  misd. 
O.  P.  A-  §24:  Stephen  art.  239  h,  Entw.  §198.  /?•  In  einer  Weise,  welche  das 
Leben  der  betr.  Person  gefährdet  oder  derselben  eine  schwere  körperliche 
Schädigung  zufügt.  Strafe:  10  Jahre  Zuchthaus.  O.  P.A.  §23:  Stephen  art.  238. 
Entw.  §  197. 

et  Die  Abtreibung.  Das  englische  Recht  bestraft  nicht  die  Abtreibung 
selbst,  sondern  die  Vorbereitungshandlungen,  welche  dieselbe  zu  bewirken  be- 
absichtigen, nämlich:  ai  Die  rechtswidrige  und  vorsätzliche  Anwendung  von 
gesundheit.sgefährlichen  3Iitteln  oder  von  Instrumenten,  in  der  Absicht  eine 
Fehlgeburt  zu  l>ewirken,  gleichviel  ob  die  weibliche  Pers4:»n,  bei  welcher 
diese  Mittel  oder  Instrumente  angewandt  werden,  thatsächlich  schwanger  ist 
oder  nicht.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  E.i.  O.  P.  A.  §58,  Entw.  §§213 
und  214.  ßt  Die  rechtswidrige  Liefenmg  oder  Beschaffung  gesundheitsgefahr- 
licher  Mittel  oder  Instrumente  in  Kenntnis  ihrer  Bestimmung  als  Mittel  zur 
Bewirkung  einer  Frühgeburt,  gleichviel  ob  die  weibliche  Person,  bei  welcher 
diese  Mittel  oder  Instrumente  angewandt  werden  sollen,  thatsächlich  schwanger 
ist  oder  nicht.  Strafe:  5  Jahre  Zuchthaus  «jedoch  misd.i  O.  P.  A.  §  59, 
Entw.  §  215. 

d)  Das  sogenannte  „Garrottieren"*  und  ähnliche  Delikte,  d.h. 
der  Versuch  a»  jemanden  durch  Knebelung,  Erdrosselung  oder  ähnliche  Mittel 
oder  bi  durch  die  Anwendung  von  Betäubungsmitteln  in  einen  bewusstlosen 
Zustand  zu  versetzen,  in  der  Absicht,  den  Thäter  oder  eine  andere  Person  in 
die  Lage  zu  setzen,  ein  Verbr.  zu  begehen  id.  h.  eine  durch  indictment  ver- 
folgbare strafbare  Handlung«.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  und  im  Falle 
ai  körperliche  Züchtigung  auch  bei  Erwachsenen.  O.  P.  A.  §§  21  und  22.  Gar- 
rotters  Act  1863  §  1. 

ei  Abfeuern  von  Feuerwaffen  in  der  Absicht,  jemandem  eine  schwere 
Körperverletzung    zuzufügen    oder   einem    Beamten    bei    der  Verhaltung   oder 


')   L'ber   die   Bestimmungen  bezüglich  der  Vernachlässigung  von  Kindern   von 
2—14  Jahren  siehe  oben  unter  b. 

-;  Es  genü^rt  z.  B.  die  Absicht,  den  Geschlechtstrieb  anzureizen:   R.  v.  Wilkins, 


Leigh  and  Cave  *?0. 


§  9.     Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen.  653 


Bewachung  eines  Gefangenen  Wideratand  zu  leisten.  Strafe:  lebenslängliches 
Zuchthaus.  Der  Versuch  ist  mit  der  gleichen  Strafe  bedroht.  0.  P.  A.  §§18 
und  19,  Entw.  §  191a. 

f)  Das  Stellen  lebensgefährlicher  Fallen  (springguns,  mantraps  etc.), 
um  Eindiinglinge  von  einem  Grundstück  fern  zu  halten,  mit  Ausnahme  solcher 
Fallen,  welche  gewöhnlich  für  die  Zerstörung  schädlicher  Thiere  verwandt 
werden  und  femer  solcher  Vorrichtungen,  welche  zwischen  Sonnenuntergang 
und  Sonnenaufgang  in  Wohnhäusern  zu  deren  Schutze  angewendet  werden.  — 
Strafe:  5  Jahre  Zuchthaus  (jedoch  misd.).  0.  P.  A.  §  31  Stephen  art.  239g, 
Entw.  §  200. 

g)  Die  vorsätzliche  Hinderung  der  Errettung  schiffbrüchiger 
Personen.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).  0.  P.  A.  §17;  Stephen 
art.  230i,  Entw.  §  195. 

II.  Zweiter  Abschnitt.  Strafbare  Handlungen  gegen  immaterielle 
Rechtsgüter.  1.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Ehre,  a)  Über- 
sicht. Die  Beleidigung  als  solche  ist  nach  englischem  Recht  nicht  strafbar, 
das  einzige  Delikt  gegen  die  Ehre,  das  strafbar  ist,  ist  die  „böswillige  (mali- 
cious)"  Verbreitung  einer  Verleumdung  durch  Schrift,  Druck  oder  sonstige  dem 
Auge  wahrnehmbare  Kundgebungen  (z.  B.  Bilder,  Modelle  usw.),  welche  mit 
dem  Ausdruck  „libel"^)  bezeichnet  wird.  Als  Verleumdung  ist  für  diesen 
Zweck  jede  Darstellung  anzusehen,  welche  jemanden  verhasst,  verdächtig 
oder  lächerlich  zu  machen  geeignet  ist.  (Stephen  art.  269,  Entw.  §  227.)^) 
Strafbar  ist  die  Verbreitung  (publication)  der  Verleumdung.  Als  strafbare 
Verbreitung  gilt  jede  Handlung,  durch  welche  die  Darstellung,  welche  die 
Verleumdung  enthält,  der  verleumdeten  oder  einer  dritten  Person  bekannt 
gemacht  wird,  wenn  nicht  die  Person,  welche  die  Handlung  bewirkt  oder 
veranlasst  hat,  nachweisen  kann,  dass  ihr  der  Inhalt  der  Darstellung  un- 
bekannt war  und  dass  sie  keine  Gelegenheit  hatte,  den  Inhalt  kennen  zu  lernen. 
Handelt  es  sich  um  die  Verbreitung  einer  Zeitung  oder  eines  Buches,  so  genügt 
der  Nachweis,  dass  der  Verbreiter  nicht  wusste  und  nicht  wissen  konnte,  dass 
in  der  Zeitung  oder  dem  Buche  eine  verleumderische  Darstellung  möglicher- 
weise enthalten  sein  konnte.  Stephen  art.  270  erster  Absatz;  Entw.  §§  228, 
238  dritter  Absatz,  239  erster  Absatz.*) 

Als  Urheber  der  Verbreitung  in  einem  Falle,  wo  dieselbe  im  regelmässigen 
Verlaufe  eines  Gewerbebetriebes  erfolgte,  gilt  nicht  nur  der  Gehülfe,  welcher 
thatsächlich  die  verleumderische  Darstellung  verkauft  oder  ausgestellt  hat, 
sondern  auch  —  insofern  er  zu  einem  solchen  Verkaufe  bezw.  zu  einer 
solchen  Ausstellung  bevollmächtigt  war  —  sein  Prinzipal,  wenn  derselbe  nicht 
nachweisen  kann,  dass  im  besonderen  Falle  der  Gehülfe  zu  der  in  Frage 
stehenden  Handlung  nicht  ermächtigt  war  und  dass  er  (d.  h.  der  Prinzipal) 
die  nötige  Vorsicht  angewandt  hat  —  Stephen  art.  270  zweiter  und  dritter  Ab- 
satz. Wenn  der  Eigentümer  einer  Zeitung  die  Leitung  dem  Redakteur  über- 
lässt,  so  muss  Beweis  darüber  erhoben  werden,  ob  er  in  einem  gegebenen 
Falle  Ermächtigung  zur  Verbreitung  einer  verleumderischen  Darstellung  ge- 
geben   hat.     Wenn  nachgewiesen  wird,    dass    der  Eigentümer    dem  Redakteur 

^)  Die  Verleumdung  durch  gesprochene  Worte  heisst  „slander";  civilrechtlichen 
Anspruch  haben  sowohl  „slander**  als  „libel",  eine  strafrechtliche  Verfolgung  kann 
nur  in  Bezug  auf  „libeP  erfolgen. 

*^)  Der  Entw.  will  auch  eine  Darstellung,  deren  Absicht  es  ist,  denjenigen,  an 
den  sie  gerichtet  ist,  zu  beleidigen,  bestrafen.  Seine  Absicht  war  somit  die  Schaffung 
eines  neuen  Delikts:  der  Beleidigung  durch  Schrift,  Druck  oder  sonstige  dem  Auge 
wahrnehmbare  Darstellung. 

^)  Der  Entw.  ändert  die  Bestimmung  etwas  zu  Gunsten  der  Zeitungs  verkauf  er 
und  Buchhändler. 


654  England  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


gestattet  hat,  VerlenmduDgen  zu  verbreiten,  oder  dass  er  sich  der  Verbreitung 
von  Verleumdungen  durch  seine  Zeitung  gegenüber  gleichgültig  verhielt,  so 
gilt  dies  als  Beweis  der  Ermächtigung.  Stephen  art.  270  vierter  Absatz,  Entw. 
§280  zweiter  Absatz. 

Nur  die  böswillige  (malicious)  Verbreitung  einer  Verleumdung  ist  strafbar, 
aber  ebenso  wie  die  „malice  aforethought"  bei  den  Tötungsdelikten  ist  der 
Ausdruck  „malice"  bei  dem  „libel"  nur  eine  kurze  Bezeichnung  für  teilweise 
rein  objektive  Umstände.^)  Die  Abwesenheit  der  „malice"  wird  nämlich  nur 
unter  folgenden  Umständen  angenommen:  a)  wenn  die  behaupteten  Thatsachen 
wahr  sind  und  der  Urheber  nachweisen  kann,  dass  ihre  Verbreitung  im  öflFent- 
lichen  Interesse  geboten  war  (Stephen  art.  271,  Entw.  §  240),  ß)  wenn  die 
Verbreitung  der  Verleumdung  unter  Umständen  erfolgte,  für  welche  das  Recht 
durch  spezielle  Vorschriften  möglichst  unbeschränkte  Freiheit  der  Äusserung 
gesichert  hat.  Hierbei  sind  wieder  zwei  Fälle  zu  unterscheiden:  aa)  Verleum- 
derische Angaben,  welche  unter  keinen  Umständen  einer  strafrechtlichen  Ver- 
folgung wegen  Verleumdung  unterzogen  werden  können:  es  sind  dies  die 
im  Verlaufe  einer  gerichtlichen  Verhandlung  erfolgenden  Äusserungen  der 
Richter,  Rechtsbeistände,  Zeugen  und  Parteien  (Stephen  art.  276,  Entw. 
§  230).  ßß)  Verleumderische  Angaben,  in  Bezug  auf  welche  eine  strafrecht- 
liche Verurteüung  nur  erfolgen  kann,  wenn  nachgewiesen  wird,  dass  der 
Verbreiter  derselben  thatsächlich  von  einem  böswilligen  Motiv*)  beeinflusst 
war.  Es  gehören  hierher:  aacL)  Mitteilungen,  deren  Verbreitung  durch  eine 
gesetzliche,  sittliche  oder  soziale  Verpflichtung  oder  ein  rechtmässiges  persön- 
liches Interesse  veranlasst  wird,  wenn  der  Verbreiter  dieselben  in  gutem  Glauben 
für  wahr  hält  und  der  Inhalt  derselben  die  der  Gelegenheit  angemessenen 
Grenzen  nicht  überschreitet  (Stephen  art.  273,  Entw.  §§  237—238).  ßßß)  Tadelnde 
Urteile  über  Personen,  welche  Anteil  am  öffentlichen  Leben  nehmen,  und  über 
wissenschaftliche  oder  künstlerische  Leistungen,  insofern  ein  solches  Urteil  dem 
Urheber  desselben  aus  sorgfältig  erwogenen  Gründen  gerechtfertigt  erschien 
(Stephen  art.  274,  Entw.  §  234).  yyy)  Berichte  über  Parlamentsverhandlungen 
(3und4Vict.  cap.  951,  Stephen  art.  275,  Entw.  §232)  und  Gerichtsverhand- 
lungen (Stephen  art.  277,  Entw.  §  232).  (Über  die  besonderen  Privilegien  der 
Zeitungen  vgl.  oben  §  8  V  2.) 

b)  Besondere  Fälle  des  libel:  a)  Libel  in  Unkenntnis  der  Unwahrheit 
der  dargestellten  Thatsachen.  Strafe :  1  Jahr  Gef.  und  Geldstrafe  (Libel  Act 
1843  §  5,  Stephen  art.  278  dritter  Absatz,  Entw.  §  243).  ß)  Libel  im  Bewusst- 
sein  der  Unwahrheit  der  dargestellten  Thatsachen.  Strafe:  Gef.  und  Geldstrafe 
(a.  a.  0.  §  4,  Stephen  art.  278  zweiter  Absatz,  Entw.  §  242).  y)  Libel  oder  An- 
drohung eines  solchen  in  der  Absicht  einen  Vermögensvorteil  oder  die  Er- 
nennung zu  einem  Amte  von  dem  Bedrohten  zu  erpressen.  Strafe:  Gef. 
(dreyährig)  und  Zwangsarbeit  (a.  a.  0.  §  3,  Stephen  art.  278  erster  Absatz, 
Entw.  §241.)=^) 

2.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  persönliche  Freiheit,    a)  Die 


*)  Das  Wort  malice  hat  in  Beziehung  auf  die  Verleumdung  ein  ähnliches  Schick- 
sal gehabt  wie  die  „malice  aforethought"  bei  den  Tötungsdelikten  (vgl.  oben  I  1). 
Dasselbe  ist  nur  ein  kurzer  Ausdruck  für  die  Abwesenheit  gewisser  rein  objektiver 
Umstände. 

*)  Nach  der  gewöhnlichen  Ausdrucksweise  unterscheidet  man  zwischen  „malice 
in  law",  d.  h.  der  fingierten  „malice''  und  „malice  in  fact"  (auch  actual  malice),  d.  h. 
der  thatsächlichen  Böswilligkeit,  welche  unter  den  im  Texte  erwähnten  Umständen 
nachgewiesen  werden  muss.  Stephen  und  der  Entwurf  wenden  im  ersten  Falle  den 
Ausdruck  „indirect  motive"  an. 

=*)  Dieses  Delikt  gehört  unter  die  Kategorie  der  Nötigung  (vgl.  unten  2)  bezw. 
der  Erpressung  (IV  D  2)  und  wird  hier  nur  der  Vollständigkeit  halber  erwähnt. 


§  9.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Recbtsgüter  des  Einzelnen.  655 


Nötigung,  a)  Die  versuchte  oder  vollendete  Nötigung  durch  Bedrohung  mit 
einem  Verbr.  wird  nur  in  einem  Falle  bestraft,  nämlich  im  Falle  der  bereits 
erwähnten  Bedrohung  mit  verleumderischen  Darstellungen  in  der  Absicht,  zu 
einem  Amte   ernannt   zu  werden.    Strafe:  Oef.  (dregährig)   und  Zwangsarbeit. 

6  und  7  Vict.  cap.  96  §  3,  Stephen  278,  Entw.  §  241.^)  ß)  Die  versuchte  oder 
vollendete  Nötigung  zum  Zwecke  der  Teilnahme  bei  Ausständen  wird  durch 
folgende  Bestimmungen  betroffen. 

„Wer  in  der  Absicht,  eine  Person  zur  Unterlassung  oder  zur  Ausführung 
einer  Handlung  zu  nötigen,  welche  die  betr.  Person  berechtigt  ist  auszuführen 
bezw.  zu  unterlassen,  eines  der  folgenden  Mittel  anwendet,  nämlich:  I.Gewalt 
oder  Drohungen  gegen  die  betr.  Person  oder  ihre  Angehöiigen  oder  Beschädigung 
von  Sachen,  welche  derselben  gehören;  2.  Beharrliches  Nachfolgen  von  Ort 
zu  Ort;  S.Verstecken  von  Werkzeugen,  Kleidern  oder  anderen  von  der  betr. 
Person  benutzten  Gegenständen  oder  Hinderung  im  Gebrauch  derartiger  Gegen- 
stände; 4.  Auflauern  vor  dem  Hause  oder  der  Werkstätte,  wo  die  betr.  Person 
wohnt  oder  arbeitet  oder  ihr  Gewerbe  betreibt  oder  in  der  Nähe;  5.  Lärmen- 
des Nachfolgen  zusammen  mit  mindestens  zwei  anderen  Personen  auf  öffent- 
licher Strasse  —  wird  mit  Geldstrafe  bis  zu  £  20  oder  Gef.  und  Zwangsarbeit 
bis  zu  3  Monaten  bestraft."  (Summarisches  Verfahren  oder  Indictment).  Con- 
spiracy  and  Protection  of  Property  Act  1875  §  7. 

b)  Die  Freiheitsberaubung  und  Gefangenhaltung.  Dieselbe  kann 
in  allen  Fällen  als  Angriff  gegen  die  Person  (vgl.  oben  §117)  bestraft  werden; 
besonders  mit  Strafe  bedroht  sind  folgende  Fälle :  1.  Widerrechtliche  Einsper- 
rung in  einem  Irrenhause  oder  in  einem  Privathause  unter  Behandlung  des 
Gefangenen  als  Geisteskranken.  Strafe:  Gef.  (Lunacy  Act  1890  §315).  II.  Ein- 
sperrung einer  weiblichen  Person  unter  folgenden  Umständen:^)  a)  in  der  Ab- 
sicht, einem  Manne  oder  Männern  im  allgemeinen  Gelegenheit  zum  ausserehe- 
lichen  Beischlafe  mit  derselben  zu  geben;  ß)  in  einem  Bordell.  Strafe:  Gef. 
und    Zwangsarbeit.     (Crim.  Law  Am.  Act  1885  §8,  Stephen  art.  262  b.) 

c)  Der  Menschenraub.  Folgende  Delikte  gehören  hierher:  a)  Die  ge- 
waltsame Wegnahme  von  Menschen  in  der  Absicht,  dieselben  als  Sklaven  zu 
behandeln.  Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus.  5  Geo.  IV  cap.  113  §§  2  und  10,  Stephen 
113.  ß)  Der  Kinderraub,^)  d.  h.  aa)  die  Wegnahme  eines  Kindes,  welches  das 
vierzehnte  Lebensjahr  noch  nicht  vollendet  hat,  unter  Anwendung  von  Gewalt 
oder  List;  ßß)  die  wissentliche  Aufnahme  und  Beherbergung  eines  in  der  er- 
wähnten Art  weggenommenen  Kindes,  in  der  Absicht,  das  Kind  der  Obhut  der 
Person,  in  deren  Gewalt  dasselbe  steht,  zu  entziehen,  oder  in  der  Absicht, 
demselben  Kleidungsstücke   oder  andere  Gegenstände  wegzunehmen.     Strafe: 

7  Jahre  Zuchthaus  (P.).     O.  P.  A.  §  56,   Stephen  art.  263,  Entw.  §  222. 

3.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  geschlechtliche  Freiheit. 
a)Die  Entführung  (abduction).  Es  gehören  hierher  die  folgenden  Delikte :  a)Die 
Wegnahme  eines  unverheirateten  Mädchens,  welches  das  sechzehnte  Lebensjahr 
nicht  vollendet  hat,  aus  der  Obhut  der  Person,  unter  deren  Gewalt  dieselbe  steht, 
gleichviel  ob  mit  dem  Willen  oder  gegen  den  Willen  der  Entführten.  Die 
Thatsache,  dass  der  Entführer  Grund  hatte  anzunehmen,  dass  das  entführte 
Mädchen  das  Alter  von  16  Jahren  überschritten  hatte,  ist  kein  Entschuldigungs- 
grund,   hingegen    fällt    die  Strafbarkeit    der  Handlung   weg,    wenn    er   nicht 


*)  Die  Bedrohung  mit  Verbr.  zum  Zwecke  der  Bereicherung  wird  unten  unter 
der  Rubrik  Erpressung  {vgl.  unten  IV  D  2)  erwähnt. 

-)  Als  Mittel  der  Einsperrung  wird  auch  die  Entziehung  notwendiger  Kleidungs- 
stücke angesehen.  Eine  Frauensperson,  die  unter  diesen  Umständen  Kleidungsstücke 
entwendet,  kann  weder  civilrechtlich  noch  strafrechtlich  belangt  werden. 

'0  Über  die  Entführung  von  Mädchen  s.  unten  unter  3(a). 


656  England  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


wusste,  dass  die  Entführte  unter  der  Obhut  des  Gewalthabers  war.  O.  P.  A. 
§  55,  Stephen  art.  262,  Entw.  §  221.  Strafe:  Gef.  und  Zwangsarbeit,  ß)  Die 
Wegnahme  eines  unverheirateten  Mädchens,  welches  das  achtzehnte  Leben^'ahr 
nicht  überschritten  hat,  aus  der  Obhut  der  Person,  unter  deren  Gewalt  es 
steht,  in  der  Absicht,  einem  Manne  oder  Männern  im  allgemeinen  Gelegen- 
heit zum  ausserehelichen  Beischlafe  mit  derselben  zu  verschaffen,  wenn  der 
Entführer  nicht  Grund  hatte  anzunehmen,  dass  die  Entführte  das  achtzehnte 
Lebensjahr  überschritten  hatte.  Strafe:  Gef.  und  Zwangsarbeit.  Cr.  Law 
Am.  Act  §  7,  Stephen  art.  262  A.  y)  Die  Wegnahme  bezw.  Entführung  einer 
weiblichen  Person,  welche  eigenes  Vermögen  hat,  in  der  Absicht  der  Ehe- 
schliessung oder  des  ausserehelichen  Beischlafs  mit  derselben  in  folgenden 
Fällen :  ad)  Wenn  dieselbe  minderjährig  ist  und  durch  betrügerische  Mittel  der 
Obhut  der  Person,  unter  deren  Gewalt  sie  steht,  entzogen  wird,  ßß)  Wenn  die 
Wegnahme  bezw.  Entführung  in  gewinnsüchtiger  Absicht  erfolgt.  Strafe:  14  Jahre 
Zuchthaus.  O.  P.  A.  §  53,  Stephen  art.  261  (a,  b),  Entw.  §  219.  d)  Die  gewalt- 
same Entführung  einer  weiblichen  Person  im  allgemeinen.  Strafe:  14  Jahre 
Zuchthaus.  O.  P.  A.  §  54,  Stephen  art.  261c,  Entw.  §  218.  e)  Die  Verabredung, 
eine  weibliche  Person  der  Obhut  ihrer  Eltern  zu  entziehen  in  der  Absicht,  die- 
selbe wider  den  Willen  derselben  zur  Eingehung  der  Ehe  zu  bestimmen.  Strafe: 
Gef,     Stephen  art.  174. 

b)  Die  Kuppelei,  a)  Einfache  Kuppelei,  aa)  Die  versuchte  oder  voll- 
endete Verkuppelung  unter  Anwendung  von  Drohungen,  ßß)  Die  Anwendung 
von  Betäubungsmitteln  bei  einer  weiblichen  Person  in  der  Absicht,  einem  Manne 
den  ausserehelichen  Beischlaf  zu  ermöglichen.^)  yy)  Die  Verkuppelung  einer 
weiblichen  Person,  welche  nicht  einen  offenkundigen  unsittlichen  Lebenswandel 
führt.  I.  Wenn  dieselbe  das  21.  Lebensjahr  noch  nicht  überschritten  hat  (der 
Versuch  ist  mit  derselben  Strafe  bedroht).  IL  Unter  Anwendung  falscher  Vor- 
spiegelungen, dd)  Die  versuchte  oder  vollendete  Verleitung  einer  weiblichen 
Person:  I.  zur  Prostitution;  IL  zum  Verlassen  des  vereinigten  Königreichs  in 
der  Absicht,  sie  auswärts  in  einem  Bordell  unterzubringen;  III.  zum  Ver- 
lassen ihrer  Wohnung  im  vereinigten  Königreich  (insofern  dieselbe  kein  Bordell 
ist)  in  der  Absicht,  sie  in  einem  Bordell  unterzubringen.  Strafe:  G^f.  und 
Zwangsarbeit.  Cr.  Law  Am.  A.  §§  2  und  3,  Stephen  art.  173.  —  ß)  Gewährung 
von  Raum  zur  Ermöglichung  des  ausserehelichen  Beischlafs  mit  jugendlichen 
Pei'sonen  oder  wissentliche  Duldung  desselben  durch  den  Inhaber*)  der  dazu 
benutzten  Wohnung:  aa)  im  Falle  von  nicht  dreizehnjährigen  weiblichen  Per- 
sonen. Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus.  Cr.  Law  Am.  A.  §6.  ßß)  Im  Falle 
von  weiblichen  Personen  im  Alter  von  zwischen  dreizehn  und  sechzehn  Jahren. 
Strafe:  Gef.  und  Zwangsarbeit.  Wenn  der  Angeklagte  nachweisen  kann,  dass 
er  guten  Grund  hatte  anzunehmen,  dass  die  weibliche  Person,  um  die  es  sich 
handelt,  das  Alter  von  sechszehn  Jahren  überschritten  hatte,  so  fällt  die  Straf- 
barkeit weg.  —  y)  Verabredung  zur  Kuppelei.  Strafe:  Gef.  Stephen  art.  174, 
Entw.  §  149. 

c)  Die  Nötigung  zur  Unzucht.  Es  gehören  hierher:  a)  Die  Notzucht 
(rape),  d.  h.  die  Nötigung  einer  weiblichen  Person  zur  Duldung  des  ausserehe- 
lichen'^) Beischlafs.     Unter   den  Begriff  der  Nötigung   fallen   nach  englischem 

^)  Wenn  der  Beischlaf  thatsftchlich  vollzogen  wird,  solange  der  Zustand  der 
Betäubung  dauert,  wäre  der  Thatbestand  der  Beihülfe  zur  Notzucht  gegeben. 

■^)  Auch  ein  Vater,  der  seiner  bei  ihm  wohnenden  Tochter  gestattet,  seine 
Wohnung  zur  Ausübung  der  Prostitution  zu  benutzen,  wird  von  der  hier  erwähnten 
Bestimmung  betroffen.    R.  v.  Webster,  16  Queen 's  Bench  Division  136. 

■*)  V^.  Stephen  art.  254'.  —  Stephen  ist  jedoch  der  Ansicht,  dass  eine  gewalt- 
same Erzwingung  des  Beischlafs  von  der  eigenen  Ehefrau  unter  gewöhnlichen  Um- 
ständen als  unzüchtiger  Angriff  (s.  unter  ß)  bestraft  werden  könnte. 


§  9.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen.  657 


Recht  auch  die  Fälle,  in  welchem  die  genötigte  Person  in  einem  Zustande  der 
Bewusstlosigkeit  oder  Willenlosigkeit  war.  Durch  positive  gesetzliche  Bestim- 
mung ist  die  Erschleichung  des  Beischlaf^  durch  Erregung  der  Meinung,  dass 
der  Mann,  welcher  den  Beischlaf  verlangt,  der  Ehemann  der  missbrauchten 
weiblichen  Person  ist,  der  Notzucht  gleichgestellt  worden.^)  Strafe:  lebens- 
längliches Zuchthaus.  0.  P.  A.  §  48,  Cr.  Law  Am.  Act  1885  §  4,  Stephen  art.  253  a, 
254,  254a,  255,  Entw.  §§  207,  208.*)  ß)  Unzüchtige  Angriffe  (Indecent  assaults). 
aa)  Im  allgemeinen.  Der  BegriflP  des  assault  ist  bereits  oben  (unter  1 2  c)  definiert 
worden,  als  „ein  Angriff  gegen  eine  Person  mit  der  wirklichen  oder  schein- 
baren Absicht,  Gewalt  gegen  dieselbe  auszuüben".  Erfolgt  ein  solcher  Angriff 
in  unzüchtiger  Absicht,  so  wird  er  als  indecent  assault  bezeichnet.  Der  Begriff 
der  Gewalt  schliesst  selbstverständlich  die  Einwilligung  des  Angegriffenen  aus, 
doch  wird  auf  Grund  einer  zwingenden  gesetzlichen  Bestimmung  angenommen, 
dass  (sowohl  männliche  als  weibliche)  Kinder  unter  13  Jahren  ihre  Einwilligung 
zu  unzüchtigen  Handlungen  nicht  fireiwDlig  geben  können  (Indecent  Assault  Act 
1880).^)  ßß)  Unzüchtige  Angriffe  gegen  männliche  Personen.  Strafer  10  Jahre 
Zuchthaus.  0.  P.  A.  §  62,  Stephen  art.  242.  yy)  Unzüchtige  Angriffe  gegen 
weibliche  Personen.  Strafe:  Gef.  und  Zwangsarbeit.  0.  P.  A.  §52,  Stephen 
art.  245  c,  Entw.  204  a,  b.  y)  Ausserehelicher  Beischlaf  mit  jugendlichen  und 
geistesschwachen  weiblichen  Personen*)  wird  in  folgenden  Fällen  bestraft: 
aa)  Beischlaf  mit  weiblichen  noch  nicht  dreizehnjährigen  Personen.  Strafe: 
lebenslängliches  Zuchthaus.  Cr.  L.  Am.  Act  1885  §  4,  Stephen  art.  255b,  Entw. 
§§210  und  211  (jedoch  mit  Strafmilderung,  wenn  es  sich  um  Personen  im  Alter 
von  12 — 13  Jahren  handelt).  Der  Versuch  ist  mit  Gef.  und  Zwangsarbeit 
strafbar.  Crim.  Law  Am.  Act  §  4,  Stephen  art.  256(1).  ßß)  Beischlaf  mit  weib- 
lichen Personen  im  Alter  von  13 — 16  Jahren  und  mit  geistesschwachen  Per- 
sonen.'^) Im  ersteren  Falle  fällt  die  Strafbarkeit  der  Handlung  weg,  wenn  der 
Thäter  guten  Grund  hatte  anzunehmen,  dass  die  von  ihm  gemissbrauchte  Per- 
son das  Alter  von  16  Jahren  überschritten  hatte.®)  Strafe:  Gef.  und  Zwangs- 
arbeit. Crim.  Law  Am.  Act  §  5.  yy)  Beischlaf  mit  weiblichen  Personen,  welche 
als  Geisteskranke  in  einer  Anstalt  oder  in  einem  Privathaus  untergebracht 
sind,  wenn  von  einem  Anstaltsbeamten  oder  einer  Person,  deren  Obhut  die 
Kranke  anvertraut  ist,  vollzogen.  Strafe:  Gef.  und  Zwangsarbeit.  Lunacy 
Act  1890  §  324.    . 

4.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Familienrechte.  Hierher 
gehören  folgende  Delikte:  a)  Die  Verletzung  des  Personenstandes,  d.  h. 
a)  die  vorsätzliche  Täuschung  des  Standesbeamten  bei  der  Anzeige  von  Ge- 
burtsfällen oder  Todesfällen  und  die  Fälschung  von  Bescheinigungen  über  den 
Personenstand.  Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus.  Births  and  Deaths  Eegistration 
Act  1874  (37  und  38  Vict.  cap.  88  §40).')  ß)  Die  vorsätzliche  Entstellung  bezw. 
Unterdrückung  erheblicher  Thatsachen,  über  welche  vor  dem  Standesbeamten 


*)  Knaben  unter  14  Jahren  sind  durch  eine  praesumtlo  juris  et  de  jure  von 
der  Strafbarkeit  wegen  Notzucht  befreit  (vgl.  §  6  III  b). 

')  Der  Entw.  bedroht  den  Versuch  der  Notzucht  mit  7  Jahren  Zuchthaus  (§  209). 
Nach  geltendem  Recht  ist  keine  besondere  Strafe  für  den  Versuch  festgesetzt. 

*)  Die  Anwendung  von  List  wird  in  diesem  Falle  der  Gewalt  gleichgeachtet, 
z.  B.  jemand  überredet  ein  Mädchen  unter  der  Vorspiegelung,  er  sei  ein  Arzt,  ihm 
zu  gestatten,  sie  auszuziehen,  vgl.  Stephen  art.  241. 

*)  Es  ist  nicht  erheblich,  ob  die  betr.  Personen  unbescholten  sind  oder  nicht. 

*)  Wenn  die  geistesschwache  Person  überhaupt  nicht  imstande  ist,  ihre  Ein- 
willigung zum  Beischlaf  zu  geben,  so  wäre  das  Delikt  als  Notzucht  zu  behandeln. 

**)  Bei  Mädchen  unter  18  Jahren  ist  die  irrtümliche  Annahme  eines  höheren  Alters 
kein  Entschuidigungsgrund. 

^)  Über  die  Amtsdelikte  bei  der  Eheschliessung  vgl.  §  8  IV  1. 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.   I.  42 


658  England  und  Irland.  —  Besonderer    Teil. 


vor  Eingehung  einer  Ehe  eine  Erklärung  abzugeben  ist  und  ebenso  die  Be- 
anstandung einer  Ehe  durch  eine  vorsätzlich  falsche  Erklärung,  nach  welcher 
die  Einwilligung  des  Deklaranten  zu  der  Ehe  nötig  ist.  Strafe:  7  Jahre  Zucht- 
haus (jedoch  misd.).  19  und  20  Vict.  cap.  119  §§2  und  18.^)  y)  Die  Fälschung 
einer  zum  Zwecke  der  Eheschliessung  von  einem  Bischof  oder  von  einem 
Standesbeamten  ausgestellten  Licenz  (Marriage  Licence)  oder  einer  Bescheinigxmg 
über  eine  erfolgte  Eheschlicssung.  Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus  (E.).  Forgery 
Act  §  35,  Stephen  art.  361g. 

b)  Die  Doppelehe,*)  d.h.  die  vorsetzliche  Eingehung  einer  neuen  Ehe 
durch  einen  Ehegatten  vor  Auflösung  einer  früheren  Ehe  und  ebenso  die 
Eingehung  einer  Ehe  durch  eine  unverheiratete  Person  mit  einem  Ehegatten 
in  Kenntnis  seiner  bestehenden  Ehe.  Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus.  Nach  sieben- 
jähriger Abwesenheit  eines  Ehegatten  ist  der  andere  Ehegatte  nach  positiver 
Rechtsbestimmung  berechtigt  anzunehmen,  dass  letzterer  gestorben  ist,  wenn 
er  nicht  weiss,  dass  derselbe  während  der  erwähnten  Zeit  gelebt  hat  (präsumiert 
wird  die  Abwesenheit  dieser  Kenntnis),  es  fällt  daher  unter  diesen  Umständen 
das  Element  des  Vorsatzes  weg  und  das  Gleiche  ist  der  Fall,  wenn  —  auch  vor 
Ablauf  der  siebenjährigen  Frist  —  der  Ehegatte,  der  zur  zweiten  Ehe  schritt, 
aus  entschuldbarem  Irrtum  den  Tod  des  anderen  Ehegatten  annahm.  0.  P.  A. 
§  57,  Stephen  art.  257,  Entw.  §§  216  und  217.^) 

5.  Hausfriedensbruch.  Das  gewaltsame  Eindringen  in  ein  Besitztum, 
das  sich  im  thatsächlichen  Besitze  eines  anderen  befindet,  gleichviel  ob  der 
Eindringende  eine  Recht  auf  den  Besitz  hat  oder  nicht,  bildet  den  Thatbestand 
eines  Delikts,  das  als  „forcible  entry"  bezeichnet  wird.  Die  gewaltsame  Be- 
hauptung eines  widerrechtlich  erworbenen  Besitzes  wird  als  „forcible  detainer" 
bezeichnet.     Strafe  in  beiden  Fällen:  Gef.     Stephen  art.  79,  Entw.  §  95.*) 

6.  Die  Bedrohung.  Nur  die  Bedrohung  mit  der  Begehung  einzelner 
besonders  hervorgehobener  Delikte  wird  vom  englischen  Recht  mit  Strafe 
bedroht. 

Es  gehört  hierher:  a)  die  schriftliche  Androhung  des  Mords  (d.  h.  der 
Ermordung  einer  beliebigen  auch  dem  Bedrohten  unbekannten  Person).  Strafe: 
10  Jahre  Zuchthaus  (E.  P.).  O.  P.  A.  §  16,  Stephen  art.  234.  b)  Die  schrift- 
liche Androhung  der  Brandstiftung,  sowie  der  Tötung  oder  Verstünmielung 
nützlicher  Tiere.  Strafe:  10  Jahre  Zuchthaus  (E.).  M.  D.  A.  §  50,  Stephen 
art.  379.*^) 

III.  Dritter  Abschnitt.  Strafbare  Handlungen  gegen  Individual- 
rechte, a)  Die  Verletzung  des  Urheberrechts,  a)  An  Schriftwerken. 
Bestraft  wird  die  Impörtation  auswärtiger  Nachdrucksexemplare  und  das  vor- 
sätzliche Feilhalten  derselben.  Strafe:  Geldstrafe  im  Betrage  von  £  10  ausser 
dem  doppelten  Werte  der  importierten  Nachdrucksexemplare;    femer  Vemich- 


^)  Diese  Bestimmung  bezieht  sich  nur  auf  solche  Eheschliessungen,  in  Bezug 
auf  welche  Erklärungen  vor  dem  Standesbeamten  abzugeben  sind.  Bei  Eheschliess- 
ungen, die  in  der  englischen  Kirche  nach  dreimaligem  Aufgebot  vollzogen  werden, 
ist   eine   derartige  Erklärung  nicht  vorgeschrieben. 

^)  Der  Ehebruch  und  die  Delikte  des  StGB.  §  170  sind  nach  englischem  Recht 
nicht  strafbar. 

')  Der  Entw.  lässt  den  entschuldbaren  Irrtum  nicht  gelten.  Seit  der  Entsch.  in 
Sachen  Reg.  v.  Tolson  23  Q.  B.  D.  168  muss  indessen  die  Frage  als  erledigt  betrachtet 
werden.    Vgl.  oben  §  6  III  2  d. 

*)  Es  bestehen  eine  Reihe  gesetzlicher  Bestimmungen  über  den  Gegenstand. 
Das  älteste  noch  unverändert  in  Kraft  stehende  G.  wurde  im  J.  1381  erlassen.  (5  Ric.  II 
stat.  2  cap.  7). 

*)  Die  Androhung  von  Verleumdungen  gehört  teilweise  in  das  Gebiet  der 
Nötigung  (vgl.  oben  unter  II  2),  teilweise  in  das  der  Erpressung  (vgl.  unten  unter  IV 
D  2).    In  das  letztere  Gebiet  gehört  auch  die  Bedrohung  mit  falscher  Anschuldigung. 


§  9.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen.  659 


tung  der  letzteren.  5und6Vict.  cap.  45  §17.  ß)  An  Gemälden,  Zeichnungen 
und  Photographieen.  Bestraft  wird  die  unbefugte  Nachahmung  oder  Verviel- 
fältigung derselben,  ebenso  ihre  vorsätzliche  Importierung  oder  Feilhaltung. 
Strafe  £  10  Geldstrafe  für  jedes  Exemplar  und  Verwirkung  der  betr.  Exem- 
plare.    (25  und  26  Vict.  cap.  68  §§7,   10,   11).^) 

b)  Die  Verletzung  des  Markenrechts.  Strafbar  ist  a)  die  wider- 
rechtliche Nachahmung  einer  geschützten  Marke  oder  die  Entstellung  einer 
echten  Marke  und  ebenso  gewisse  hiermit  im  Zusammenhang  stehende  Vor- 
bereitungshandlungen, und  ebenso  die  Bezeichnung  von  Waren  oder  deren  Ver- 
packung mit  derartigen  Marken,  ß)  Das  vorsätzliche  Feilhalten  von  widei^ 
rechtlich  bezeichneten  Waren.  Strafe:  2  Jahre  Gef.  und  Zwangsarbeit  oder 
Geldstrafe.     (Merchandise  Marks  Act  1887,  50  und  51  Vict.  cap.  28  §§  2—6.) 

IV.  Vierter  Abschnitt.  Strafbare  Handlungen  gegen  Vermögens- 
rechte.    A.  Strafbare  Handlungen  gegen  Sachenrechte. 

1.  Widerrechtliche  Aneignung  von  Sachen  ohne  Anwendung  von 
Gewalt  oder  Drohungen  (larceny).  a)  Übersicht.  Kein  Teil  des  englischen 
StR.  befindet  sich  in  einem  so  chaotischen  Zustande  wie  die  Bestimmungen 
über  Diebstahl  und  Unterschlagung  (larceny).  Nach  gemeinem  Rechte  war 
larceny  die  Wegnahme  einer  fremden,  beweglichen,  einen  selbständigen 
Geldwert  habenden  Sache  in  der  Absicht  der  rechtswidrigen  Aneignung. 
Unter  Wegnahme  verstand  man  Wegnahme  aus  dem  Besitze,  wobei  aber 
vielfach  Verwirrungen  infolge  der  inkonsequenten  Anwendung  des  Begriffs 
„Besitz"  entstanden,  der  bald  als  juristischer  bald  als  faktischer  Besitz  kon- 
struiert wurde.  Ebenso  gab  das  Erfordernis  der  Beweglichkeit  zu  eigentüm- 
lichen Unterscheidungen  Anlass,  so  waren  Urkunden  über  Grundstücke  oder 
persönliche  Forderungen  (z.  B.  Banknoten)  nicht  stehlbar,  Urkunden  über  Rechte 
an  beweglichen  Sachen  wurden  hingegen  als  bewegliche  Sachen  angesehen. 
Das  Effordernis  des  selbständigen  Geldwerts  führte  ebenfalls  zu  Anomalieen, 
indem  durch  Präjudizien  ein  für  allemal  festgestellt  wurde,  dass  gewisse 
Sachen  (z.  B.  Hunde  oder  Katzen)  keinen  Geldwert  haben  und  die  Wegnahme 
derselben  daher  auch  nicht  strafbar  ist. 

Die  Strafbemessung  hing  davon  ab,  ob  der  Wert  der  gestohlenen  Sache 
einen  Shilling  überschritt  oder  nicht.  Im  letzteren  Falle  lag  kleine  larceny 
vor,  die  mit  leichten  Strafen  bedroht  war,  im  ersteren  die  als  felony  mit  dem 
Tode  bedrohte  grosse  larceny,  deren  Bestrafung  indessen  durch  das  benefit 
of  clergy  (vgl.  §  1)  eine  Zeitlang  in  unregelmässiger  Weise  gemildert  wurde. 
Die  Gesetzgebung  veränderte  diesen  Zustand  allmählich-  Das  benefit  of  clergy 
wurde  einer  Reihe  von  Arten  des  Diebstahls  allmählich  entzogen,  eine  Anzahl 
von  Sachen,  die  nach  common  law  nicht  gestohlen  werden  konnten,  wurden 
durch  G.  für  stehlbar  erklärt  und  damit  die  eigentümliche  Unterscheidung 
zwischen  larceny  at  common  law  und  larceny  by  Statute  eingeführt,  die  noch 
heute  eine  gewisse  Bedeutung  hat.  Endlich  wurden,  um  den  eigentümlichen 
Inkonsequenzen  zu  entgehen,  welche  durch  die  oben  erwähnte  VerwiiTung  über 
den  Begriff  des  Besitzes  sich  ergeben  hatten,  verschiedene  Handlungen  durch 
G.  als  larceny  bezeichnet,  welche  in  die  ursprüngliche  Definition  dieses  Delikts 
überhaupt  nicht  hineinpassen.  Unter  diesen  Umständen  hat  der  BegriflF  larceny 
eine  Ausdehnung  angenommen,  die  sich  ebenso  wie  murder  und  manslaughter 


^)  Der  strafrechtliche  Schutz  der  Werke  der  Skulptur  ist  durch  die  Patent, 
Designs  und  Trade  Marks  Act  v.  1883  aufgehoben.  Die  Verletzung  des  Urheberrechts 
an  dramatischen  Werken  und  an  musikalischen  Bestimmungen  wird  vom  StR.  nicht 
berücksichtigt.  Bei  den  im  Text  erwähnten  Delikten  fällt  die  Geldstrafe  teilweise 
oder  ganz  dem  Inhaber  des  Urheberrechts  zu.  Es  handelt  sich  aber  um  ein  rein 
strafrechtliches  Verfahren. 

42* 


660  England  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


-—  vgl.  oben  unter  II  —  durch  einen  deutschen  technischen  Ausdruck  nicht 
wiedergeben  lässt.  Es  müssen  vielmehr  in  erster  Linie  die  Handlungen  auf- 
gezählt werden,  die  als  larceny  gelten,  in  zweiter  Linie  muss  der  Begriff  der 
nach  heutigem  Rechte  stehlbaren  Sachen  näher  festgestellt  werden. 

b)  Larceny  und  Embezzlement.  Jemand  begeht  larceny  I.  wenn  er 
eine  stehlbare  Sache  (vgl.  unten  unter  d)  in  der  Absicht  widerrechtlicher 
Aneignung  auf  eine  der  folgenden  Arten  in  seinen  Gewahrsam  bringt. 
a)  Durch  Wegnahme  ohne  Genehmigung  des  rechtmässigen  Inhabers^)  — 
ohne  Rücksicht  darauf,  in  welchem  Gewahrsam  die  Sache  sich  im  Augen- 
blick der  Wegnahme  befindet;  jedoch  ist  die  Wegnahme  gefundener  Sachen 
nur  dann  als  larceny  strafbar,  wenn  der  Finder  zur  Zeit  der  Wegnahme  ent- 
weder weiss,  wer  der  rechtmässige  Inhaber  ist  oder  dies  ohne  Schwierigkeit 
hätte  ermitteln  können.  (Stephen  art.  296,  302).^)  ß)  Durch  betrügerische 
Angaben,  welche  den  rechtmässigen  Inhaber  veranlassen,  den  Gewahrsam, 
aber  nicht  das  Eigentum  zu  übertragen  (Larceny  by  a  false  pretence,^) 
vgl.  Stephen  art.  298  und  die  Entsch.  in  Sachen  Queen  v.  Russett,  1892, 
2  Queen's  Bench  312).  y)  Infolge  eines  Irrtums  des  rechtmässigen  Eigentümers, 
welcher  in  dem  Augenblick  des  in  den  Gewahrsamnehmens  dem  Diebe  bekannt 
ist.  (Stephen  art.  299.)*)  —  IL  Wenn  er  eine  stehlbare  Sache  in  einer  Weise 
in  seinen  Gewahrsam  bringt,  welche  eine  Civilklage  ex  delicto  begründen 
würde  und  später  in  widerrechtlicher  Weise  dieselbe  als  Eigentümer  behandelt. 
Stephen  art.  303.  —  III.  Wenn  er  eine  stehlbare  Sache,  die  auf  Grund  eines 
Rechtsgeschäfts  in  seinem  Gewahrsam  ist,  ^)  in  widerrechtlicher  Weise  als  Eigen- 
tümer behandelt  —  jedoch  nur  dann,  wenn  es  sich  nicht  um  eine  der  gering- 
wertigen Sachen  handelt,  deren  Diebstahl  durch  summarisches  Verfahren  ver- 
folgbar ist  (vgl.  unten  unter  e  ß).  Stephen  art.  300.  —  IV.  Wenn  er  eine 
.stehlbare  Sache,  die  er  als  Gehülfe  oder  Diener  (Clerk  orServant)*)  des  recht- 
mässigen Inhabers  in  seinem  Gewahrsam  hat,  in  widerrechtlicher  Weise  als 
Eigentümer  behandelt.  Wird  die  Sache  von  dem  Gehülfen  oder  Diener,  ehe  sie 
in    den    Besitz    des   rechtmässigen    Inhabers   gelangt   ist,    in  widerrechtlicher 


*)  Rechtmässiger  Inhaber  giebt  am  besten  den  englischen  Ausdruck  owner 
wieder;  als  owner  gilt  in  diesem  Sinne  jeder,  der  ein  besseres  Recht  auf  den  Gewahr- 
sam der  Sache  hat,  als  der  Wegnehmende  (z.  B.  der  Nichteigentümer  dem  Eigentümer 
gegenüber,  wenn  ersterer  die  Sache  auf  Grund  eines  Rechtsgeschäfts  in  seinem  Ge- 
wahrsam hat).  Einem  Fremden  gegenüber  gilt  jeder  Inhaber  als  rechtmässiger  In- 
haber (vgl.  z.  B.  die  bekannte  Entsch.  in  Sachen  Armory  v.  Delamirie,  1  Smith  Leading 
Cases,  8.  Aufl.  S.  374  und  Stephen  art.  283). 

*)  Über  den  Funddiebstahl  vgl.  ferner  Pollock  and  Wright,  Possession  in  the 
Common  Law.    London  1888.   S.  180—187. 

*)  Wenn  der  Eigentümer  durch  betrügerische  Angaben  veranlasst  wird,  das 
Eigentum  zu  übertragen,  so  liegt  ein  anderes  Delikt  vor  (Obtaining  money  or  goods 
under  false  pretences  —  vgl.  unten  unter  Dl.) 

*)  Es  ist  zweifelhaft,  ob  larceny  auch  vorliegt,  wenn  der  Empfänger  den  Irrtum 
erst  später  merkt.  In  Sachen  Queen  v.  Ashwell  (16  Queen's  Bench  Division  190,  1885) 
waren  sieben  Richter  der  Meinung,  dass  Jemand,  dem  ein  Goldstück  in  der  irrtümlichen 
Annahme  übergeben  wird,  dasselbe  sei  ein  Silberstück,  und  der  dies  erst  später  be- 
merkt, dann  aber  das  Goldstück  widerrechtlich  behält,  wegen  larcenv  zu  bestrafen 
ist,  während  die  anderen  sieben  Mitglieder  des  höchstinstanzlichen  Strafsenats  der 
gegenteiligen  Meinung  waren. 

*)  Rechtsgeschäfte,  auf  Grund  deren  der  Gewahrsam  einer  beweglichen  Sache 
dem  Nichteigentümer  übergeben  wird,  werden  als  „bailments",  der  den  Gewahrsam 
Übergebende  als  „bailor",  die  die  Sache  in  seinem  Gewahrsam  Nehmende  als  „bailee" 
bezeichnet. 

*)  Wer  in  diesem  Sinne  als  Gehülfe  und  Diener  anzusehen  ist,  kann  nur  durch 
eine  Aufzählung  von  einzelnen  Fällen  erklärt  werden,  für  welche  hier  kein  Raum  ist, 
vgl.  Stephen  art.  3U9. 


§  9.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechts  guter  des  Einzelnen.  ßßl 


Weise  angeeignet,    so  heisst   das  Delikt   nicht  larceny,   sondern   embezzlement 
(Stephen  art.  297,  309— 311).  i) 

In  allen  Fällen  ist  larceny  auch  dann  vorhanden,  wenn  der  Dieb  eine 
Sache,  deren  Miteigentümer  er  war,  sich  angeeignet  hat  (31  und  32  Vict.  cap. 
116  §  1,  Stephen  art.  301). 

c)  Vergleichung  mit  dem  deutschen  StR.  Die  unter  I.  a)  auf- 
geftlhrten  Handlungen  würden  nach  deutschem  Recht  bestraft  werden  als  Dieb- 
stahl^) (RStGB.  Art.  342),  als  Besitzentziehung  (Art.  289)  und  insofern  es  sich 
um  Funddiebstahl  handelt,  als  Unterschlagung  (Art.  246);  die  unter  I.  ß)  und 
y)  aufgeführten  als  Betrug  (Art.  263),  die  unter  IL,  III.  und  IV.  aufgeführten 
und  ebenso  embezzlement  als  Unterschlagung  (Art.  246).  Die  Gebrauchsan- 
massung  (vgl.  Art.  290)  ist  nach  englischem  Recht  nicht  strafbar  (Stephen 
art.  306). 

d)  Begriff  der  stehlbare^  Sachen.*)  Nach  gemeinem  Rechte  waren 
nicht  stehlbar:  I.  Sachen,  welche  nur  dadurch  beweglich  werden,  dass  sie 
von  einer  unbeweglichen  Sache  losgelöst  werden,  insofern  es  sich  um  das 
Wegnehmen  handelt,  welches  in  unmittelbarem  Zusammenhang  mit  der  Los- 
lösung erfolgt  (Stephen  art.  287,  Pollock  and  Wright  S.  230).  IL  Urkunden, 
welche  sich  auf  Rechte  an  unbeweglichen  Sachen  oder  persönliche  Forderungs- 
rechte beziehen  (Stephen  art.  288).  III.  Folgende  Arten  von  lebenden  Tieren: 
A.  Zahme  Tiere,  welche  nicht  zur  Arbeit,  Nahrung  oder  sonstigen  Nutzung 
verwendet  werden  (z.  B.  Hunde  oder  Katzen).  B.  Wilde  Tiere.  C.  Niedere 
Tiere  im  allgemeinen  (Stephen  art.  290,  291,  Pollock  and  Wright  231). 
IV.  Herrenlose  Sachen,  res  extra  commercium  (z.  B.  menschliche  Leichname) 
und  Sachen,  die  keinen  Geldwert  haben  (Stephen  art.  292 — 299). 

Die  Qualität  der  Stehlbarkeit  wurde  durch  G.  den  folgenden  Sachen  beigelegt: 
I.  a)  Gegenständen,  welche  in  Häusern  baulich  eingefügt  sind  (sogenannte 
fixtures)  und  mit  dem  Boden  verbundenen  Gegenständen  aus  Metall,  welche  zum 
Schutze  und  Zierrath  von  Gärten  und  öffentlichen  Plätzen  (mit  Einschluss  von 
Begräbnisplätzen)  bestimmt  sind,  ferner  auch  Thoren,  Zäunen  usw.  L.  A.  §§31, 
34,  74.  ß)  Bäumen  und  Pflanzen  (teilweise  nur  insoweit  sie  den  Wert  von 
1  Shüling  überschreiten).  (L.  A.  §§  32—34,  36—38).  IL  Gewissen  einzeln 
aufgezählten  Urkunden  über  Forderungsrechte  und  allen  Urkunden  über  Grund- 
eigentum (L.  A.  §§  27  und  30).  IIL  Hunden  und  anderen  Haustieren  (L.  A. 
§§18  und  21).  Larceny  bei  den  unter  I,  II  und  III  erwähnten  Gegenständen 
heisst  Larceny  by  Statute. 

e)  Arten  der  Larceny.  a)  Einfache  larceny.  Larceny  wird,  wenn 
es  sich  um  nach  gemeinem  Rechte  stehlbare  Gegenstände  handelt,  stets  als 
felony  behandelt,  handelt  es  sich  hingegen  um  larceny  by  Statute,  so  entscheidet 
die  Natur  des  gestohlenen  Gegenstandes,   ob  im  besonderen  Falle  eine  felony 


^)  Die  Unterscheidung  lässt  sich  am  besten  durch  folgendes  Beispiel  erläutern. 
Ein  Diener  empfängt  für  seineu  Herrn  Tafelsilber  und  eignet  sich  dasselbe  in  rechts- 
widriger Weise  an;  geschieht  dies  sofort  nach  Empfang,  so  handelt  es  sich  um  em- 
bezzlement, hat  er  das  Silber  aber  vorher  in  den  Silberschrank  gethan,  so  handelt  es 
sich  um  larceny.  Vgl.  auch  Pollock  and  Wright  a.  0.  S.  198.  Die  Strafe  für  em- 
bezzlement und  larceny  ist, genau  dieselbe  und  es  ist  ausdrücklich  bestimmt,  dass  eine 
Klage  nicht  abzuweisen  ist,  weil  ein  Fall  von  larceny  in  der  Klageschrift  irrtümUch 
als  embezzlement  bezeichnet  ist  oder  umgekehrt,  aber  die  Unterscheidung  wird  noch 
immer  aufrecht  erhalten,  vgl.  Larceny  Act  §§  67,  68,  72. 

')  Auch  der  Raub  würde  in  die  Definition  hineinpassen,  derselbe  wird  indessen 
gesondert  behandelt  (vgl.  unten  unter  2). 

8)  Die  Electric  Lighting  Act  v.  1882,  45  und  46  Vict.  cap.  56  (§  23),  behandelt  den 
unbefugten  Gebrauch  von  Elektrizität  als  larceny,  obgleich  man  dabei  weder  von 
einem  wegnehmen  noch  von  einer  Sache  sprechen  kann. 


662  England  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


oder  ein  milder  zu  behandelndes  Delikt  vorliegt;  das  Normalstrafmaximum  für 
larceny,  die  als  felony  bestraft  wird,  ist  5  Jahre  Zuchthaus  (Larceny  Act  §  4, 
Penal  Servitude  Act  1864  §2,  Penal  Servitude  Act  1891  §  1[1])  und  das  G. 
bezeichnet  larceny,  bei  welcher  dieses  Strafmaximum  anwendbar  ist,  als  simple 
larceny.     Über  den  Rückfall  vgl.  unten  unter  d). 

ß)  Milder  behandelte  Fälle.  Eine  erhebliche  Strafmilderung  tritt  ein, 
wenn  die  folgenden  Sachen  Gegenstand  der  larceny  sind,  aci)  Bäume  und 
Pflanzen,  insoweit  ihr  Wert  den  Betrag  von  £  5  (und  im  Fall  von  Bäumen 
und  Pflanzen  in  Gärten  und  Treibhäusern  von  £  1)  nicht  überschreitet,  Zäune, 
Thore  usw.  (L.  A.  §  33.)  ßß)  Thiere,  die  nach  gemeinem  Recht  nicht  stehl- 
bar sind.  (L.  A.  §  21.)  Die  Strafen  in  beiden  Fällen  wechseln  je  nach  der 
Natur    des    besonderen    Gegenstandes   zwischen   Geldstrafe   und   Gef.    bis    zu 

6  Monaten  und  das  summarische  Verfahren  ist  anwendbar.  Über  den  Rück- 
fall vgl.  unten  unter  S).  yy)  Erze  von  Metallen,  Kohlen  und  gewisse  andere 
Mineralien.  Strafe:  2  Jahre  Gef.  und  Zwangsarbeit  (E.)  (jedoch  felony)  L.  A. 
§  38.  dS)  Möbel  und  Hausgerät  in  Miethäusem,  wenn  vom  Mieter  oder  einem 
Gliede  seiner  Familie  entwendet,  insofern  der  Wert  £  5  nicht  überschreitet. 
Strafe:  Gef.  und  Zwangsarbeit  (E.  P.).     L.  A.  §  74. 

y)  Schwere  larceny.  Die  mit  schwerer  Strafe  bedrohten  Fälle  der  larceny 
lassen  sich  je  nach  dem  Grund  der  Erschwerung  wie  folgt  einteilen:  aa)  Be- 
sondere Natur  des  Gegenstandes:  I.  Urkunden  über  letztwillige  Verfügungen. 
Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).  L.  A.  §  29.  II.  Pferde,  Rindvieh 
und  Schafe.  Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus  (E.).  L.  A.  §§10  und  11.  HI.  Möbel 
und  Hausgerät  (auch  wenn  in  das  Haus  baulich  eingefügt)  in  Miethäusem, 
wenn  der  Thäter  der  Mieter  oder  ein  Mitglied  seiner  Familie  ist  und  der  Wert 
£  5  überschreitet.  Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus  (E.  P.).  L.  A.  §  74.  —  ßß)  Besondere 
Umstände  der  That:   I.  Postdiebstahl.    Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.). 

7  Will  4  und  1  Vict.  cap.  36  §§  27,  28.  II.  Diebstahl  von  der  Person.^)  Strafe: 
14  Jahre  Zuchthaus  (E.).  L.  A.  §  40.  III.  Diebstahl  und  Unterschlagung  von 
Garn  und  gewobenen  Stoffen  im  Werte  von  über  10  Shillings  während  der 
Fabrikation  oder  Zubereitung.  Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus  (E.).  L.  A.  §  62. 
IV.  Diebstahl  und  Unterschlagung  von  Waren  aus  Schiffen  oder  von  den  Lan- 
dungsplätzen. Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus  (E.).  L.  A.  §§63  und  64.  V.Dieb- 
stahl und  Unterschlagung  aus  Wohnhäusern,*)  wenn  der  Wert  des  Gegen- 
standes £b  überschreitet.  Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus  (E.).  L.  A.  §§60  und 
61.  —  yy)  Besondere  Eigenschaften  des  Thäters:  I.  Unterschlagung  bezw. 
Veruntreuung  von  Geld  oder  Wertpapieren  durch  Beamte  der  Bank  von  England 
(bezw.  der  Bank  von  Irland).  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).  L.  A. 
§  73.  II.  Unterschlagung  (bezw.  Veruntreuung)  durch  Staatsbeamte  und  Po- 
lizeibeamte utid  durch  Diener  und  Gehülfen  von  Geld  oder  anderen  den- 
selben bei  der  Ausübung  ihres  Amtes  anvertrauten  Gegenständen.  Strafe: 
14  Jahre  Zuchthaus  (E.).  L.  A.  §§  67 — 70.  III.  Unterschlagung  (bezw.  Ver- 
untreuung) durch  Bankiers,  Kommissionäre,  Makler,  Anwälte,  Kuratoren,  Be- 
amte von  Aktiengesellschaften  usw.  von  Geld  oder  anderen  denselben  bei  der 
Ausübung  ihrer  Berufsthätigkeit  anvertrauten  Objekten.  Strafe:  7  Jahre  Zucht- 
haus (E.)  —  jedoch  misdemeanor.  L.  A.  §§  76 — 85,  vgl.  auch  Bankruptcy 
Act  1890  §  27.*) 


*)  Über  den  Raub  s.  unten  unter  2. 

•)  Über  den  Einbruch  vgl.  unten  unter  V  3.  Der  Diebstahl  mit  falschen 
Schlüsseln,  der  bewafifnete  Diebstahl  und  der  Bandendiebstahl  werden  im  englischen 
Recht   nicht  besonders  behandelt. 

')  Die  technische  Bezeichnung  für  ein  derartiges  Delikt  ist  „fraudulent  breach 
of  trust".    Dasselbe  wird  nicht  als   „larceny"   oder   „embezzlement'^    bezeichnet  und 


§  9.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen.  663 


S)  Diebstahl  im  Rückfall.  Die  unter /3)  aufgeführten  milder  behandelten 
Fälle  sind  bereits  im  ersten  Rückfall  meistens  als  misdemeanors  durch  indict- 
ment  zu  verfolgen  und  mit  Strafen  von  6  Monaten  bis  zu  2  Jahren  Gef.  bezw. 
Zwangsarbeit  bedroht.  Der  Diebstahl  von  Pflanzen  usw.  aus  Gärten  oder 
Miethäusem  wird  bereits  im  ersten  Rückfall,  der  Diebstahl  von  Bäumen  usw. 
im  Werte  von  über  1  Shilling  im  zweiten  Rückfall  als  felony  behandelt  und 
als  simple  larceny  (vgl.  oben  unter  a)  bestraft  (L.  A.  §§18,  19,  21,  22,  33,  34, 
36,  37). 

Ausserdem  ist  bestimmt,  dass  bei  einer  Verurteilung  wegen  simple  larceny 
das  Strafmaximum  zu  erhöhen  ist,  wenn  der  Verurteilte  bereits  früher  ver- 
urteilt war:  I.  Wegen  felony  —  auf  10  Jahre  Zuchthaus  (E.  P.).  IL  Wegen 
eines  nach  der  Larceny  Act  als  misdemeanor  zu  behandelnden  Delikts  oder 
wegen  zweier  nach  der  Larceny  Act,  der  Malicious  Damage  Act  (Sachbeschä- 
digung usw.)  oder  anderer  (einzeln  aufgezählter)  summarisch  verfolgbarer  De- 
likte —  auf  7  Jahre  Zuchthaus  (E.  P.).     (L.  A.  §§  7,  8,  9.) 

c)  Besitz  von  Sachen  unter  verdächtigen  umständen.  Der  Besitz 
oder  die  Feilhaltung  von  Gegenständen,  welche  zu  einem  gestrandeten  Schiff 
gehören  ist  strafbar,  wenn  der  Besitzer  sich  darüber  nicht  ausweisen  kann. 
Summarisches  Verfahren.  Strafe:  6  Monate  Gef.  und  Zwangsarbeit.  L.  A. 
§§  65  und  66. 

2.  Der  Raub  (Robbery).  Der  Raub  ist  nach  englischem  Recht  eine 
Abart  des  Diebstahls,  gekennzeichnet  durch  die  Anwendung  von  Gewalt  oder 
Drohungen,  gleichviel  ob  dieselben  sich  gegen  die  Person,  das  Vermögen 
oder  den  Ruf  der  beraubten  Person  richten.  Die  englische  Robbery  begreift 
daher  sowohl  den  Raub  (RStGB.  Art.  249),  als  die  räuberische  Erpressung  (Art. 
255)  und  die  Erpressung  (Art.  253,  254)  des  deutschen  StR.  in  sich  (über  den 
englischen  Begriff  der  Erpressung  siehe  unten  unter  D  2),  insoweit  die  Erpressung 
den  Thäter  in  den  Besitz  einer  beweglichen  Sache  setzt. 

Es  ist  zu  unterscheiden: 

a)  Einfacher  Raub.  Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus.  Der  Versuch  ist  mit 
5  Jahren  Zuchthaus  strafbar.     L.  A.  §  40,  45. 

ß)  Qualifizierter  Raub,  d.  h.  Raub:  aa)  durch  jemanden,  der  Waffen  führt, 
ßß)  unter  Beteiligung  mehrerer,  yy)  unter  thatsächlicher  Anwendung  von  Gewalt. 
Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (P.).    L.  A.  §  43,  26  und  27  Vict.  cap.  44  §  1. 

y)  Angriff  (assault  vgl.  oben  unter  I  2)  in  der  Absicht  des  Raubes:  aa)  im 
gewöhnlichen  Falle.  Strafe:  5  Jahre  Zuchthaus  (E.).  L.  A.  §42;  ßß)  unter  Be- 
teiligung mehrerer.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (P.).  L.  A.  §  43,  26  und 
27  Vict.  cap.  44  §•!,  Stephen  art.  296  (zweiter  Absatz),  313. 

3.  Die  Sachbeschädigung,  a)  Einfache  Sachbeschädigung,^)  d.  h. 
vorsätzliche  und  widerrechtliche  Sachbeschädigung,  insofern  es  sich  nicht  um 
ein  Delikt  handelt,  für  welches  besondere  Vorschriften  bestehen. 

a)  Wenn  der  Schaden  mehr  als  £b  beträgt.  Strafe:  Gef.  und  Zwangs- 
arbeit.    M.  D.  A.  §  51. 

ß)  Wenn  der  Schaden  weniger  als  £  5  beträgt.  Strafe:  2  Monate  Gef. 
und  Zwangsarbeit  oder  Busse  bis  zu  £  5.  Summarisches  Verfahren.    M.  D.  A.  §  52. 

b)  Nächtliche  Sachbeschädigung,  d.  h.  vorsätzliche  und  widerrecht- 
liehe  Sachbeschädigung,  die  von  9  Uhr  abends  bis  6  Uhr  morgens  verübt  wird, 
insofern   es    sich    nicht  um  ein  Delikt  handelt,    für  welches  besondere  Bestim- 


würde  in  vielen  Fällen  auch  nach  deutschen  Begriffen  nicht  als  Unterschlagung  son- 
dern als  Untreue  (RStGB.  Art.  266)  behandelt  werden. 

^)  Diejenigen  Sachbeschädigungen,  deren  strenge  Bestrafung  dem  Grunde  zu- 
zuschreiben ist,  dass  sie  die  Sicherheit  des  Verkehrs  stören,  werden  unter  V  2  be- 
sprochen. 


664  England  und  Irland.  —  Be8onderer  Teil. 


mnngen  bestehen,   wenn   der  Schaden  mehr   als  £  5   beträgt.     Strafe:  5  Jahre 
Zuchthaus.     M.  D.  A.  §  51. 

c)  Besondere  Fälle  der  Sachbeschädigung.*)  Bei  allen  den  hier 
zu  erwähnenden  strafbaren  Handlungen  gehören  Vorsatz  und  Widerrechtlich- 
keit  zum  Thatbestand.     Es  handelt  sich  um  die  folgenden  Fälle: 

a)  Zerstöning  (bezw.  Beschädigung  in  der  Absicht  der  Zerstörung)  von 
Stoffen  und  Maschinen,  d.  h.  aa)  von  Maschinen  und  Werkzeugen,  welche  bei 
der  Spinnerei,  Weberei,  Strumpfwirkerei  und  ähnlichen  Gewerben  verwendet 
werden  und  den  Erzeugnissen  dieser  Gewerbe,  so  lange  dieselben  noch  nicht 
fertig  hergestellt  sind,  und  ebenso  das  gewaltsame  Eindringen  in  die  Fabrik- 
räume in  der  Absicht  der  Zerstörung.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E. 
P.)  M.  D.  A.  §  14.  ßß)  Von  anderen  Maschinen.  Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus 
(E.  P.).  M.  D.  A.  §  15. 

ß)  Zerstörung  bezw.  Beschädigung  von  Bergwerken.  Strafe:  7  Jahre 
Zuchthaus  (E.  P.).  M.  D.  A.  §  28. 

y)  Tötung  bezw.  Verstümmelung  oder  Verwundung  von  Tieren,  d.  h. 
aa)  von  Rindvieh  und  anderen  im  Betriebe  der  Landwirtschaft  nützlichen  Tieren 
(cattle).  Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus  (E.).  M.  D.  A.  §40.  ßß)  Von  anderen 
stehlbaren  (vgl.  oben  1  d)  Tieren.  Strafe:  6  Monate  Gef.;  im  Rückfall  1  Jahr 
Gef.  und  Zwangsarbeit.     M.  D.  A.  §  41. 

d)  Zerstörung  von  Bäumen,  Pflanzen  und  Zäunen,  d.  h.  aa)  von  Hopfen, 
der  in  Pflanzungen  an  Stangen  wächst.  Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus  (E.  P.). 
M.  D.  A.  §  19.  ßß)  Von  Bäumen  oder  Gebüschen,  insofern  der  Wert  des  Schadens 
£  5  überschreitet,  oder  insofern  sie  in  einem  Garten  oder  Park  stehen  und 
der  Wert  des  Schadens  £  1  überschreitet.  Strafe:  5  Jahre  Zuchthaus  (E.  P.). 
M.  D.  A.  §§  20  und  21.  Insofern  der  Schaden  1  Shilling  überschreitet,  aber  den 
oben  erwähnten  Wert  nicht  erreicht,  ist  das  Strafmaximum  3  Monate  Gef.  und 
Zwangsarbeit  oder  Geldstrafe  (summarisches  Verfahren  —  höhere  Strafen  bei 
dem  ersten  bezw.  zweiten  Rückfall).  M.  D.  A.  §  22.  yy)  Von  Pflanzen  I.  in 
Gärten  oder  Treibhäusern.  Strafe:  6  Monate  Gef.  und  Zwangsarbeit  oder  Geld- 
strafe (summarisches  Verfahren).  Im  Rückfall  wird  das  Delikt  als  felony  an- 
gesehen. Strafe:  5  Jahre  Zuchthaus  (E.  P.).  M.  D.  A.  §  23.  II.  An  anderen 
Orten,  insofern  dieselben  nützlich  verwendbar  sind.  Strafe:  1  Monat  Gef.  und 
Zwangsarbeit  oder  Geldstrafe,  im  Rückfall  6  Monate  Zwangsarbeit.  Summari- 
sches Verfahren.  M.  D.  A.  §24.  dd)  Von  Zäunen.  Geldstrafe;  im  Rückfall 
12  Monate  Zwangsarbeit.    Summarisches  Verfahren.     M.  D.  A.  §  25. 

e)  Demolierung  von  Häusern  und  Losreissung  baulich  befestigter  Gegen- 
stände durch  Mieter.     Strafe:  Gef.     M.  D.  A.  §  13. 

C)  Zerstörung  oder  Beschädigung  von  öffentlich  ausgestellten  oder  in 
öffentlichen  Bibliotheken  befindlichen  Büchern  und  Schriftwerken,  Kunstwerken 
oder  Denkmälern.    Strafe:  6  Monate  Gef.  und  Zwangsarbeit  (P.).   M.  D.  A.  §  39. 

B.    Strafbare  Handlungen   gegen   Okkupationsrechte.*)     Die  Be- 


')  Einzelne  Fälle  der  Sachbeschädigung  sind  mit  besonders  schweren,  andere 
mit  besonders  leichten  Strafen  bedroht.  Die  Gesetzgebung  über  diesen  Gegenstand 
ist  zum  grossen  Teil  zufälligen  Veranlassungen  zuzuschreiben.  Namentlich  auffallend 
ist  die  strenge  Bestrafung  der  Zerstörung  von  Webstühlen,  Strumpfwirkmaschinen  usw. 
Die  hierauf  bezügliche  Bestimmung  giebt  in  abgeänderter  Form,  und  unter  Ermässigung 
der  Strafe  (welche  die  Todesstrafe  war)  auf  lebenslängliches  Zuchthaus,  den  Inhalt 
des  1812  unter  dem  Einfluss  der  gewaltsamen  Handlungen  gegen  die  neu  eingeführte 
Maschinenindustrie  (die  sogenannten  Luddite  Riots)  erlasseneu  Gesetzes  wieder. 

*)  Die  Auffassung  des  Jagdrechts  als  eines  mit  dem  Grundbesitz  zusammen- 
hängenden Occupationsrechts  ist  von  der  englischen  Gesetzgebung  erst  seit  1881  an- 
eenommen  worden.  Früher  wurde  das  Jagdrecht  als  das  Monopol  einer  privilegierten 
Klasse  angesehen.     Vgl.  Stephen  Hist.  III,  275—282. 


§  9.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen.  665 


Stimmungen  gegen  die  Verletzung  des  Jagd-  und  Fischereireehts  sind  zu  zahl- 
reich, um  hier  alle  wiedergegeben  zu  werden.  Unter  den  strenger  bestraften 
Handlungen  sind  hervorzuheben. 

1.  Das  unbefugte  nächtliche  Jagen  von  Hasen,  Fasanen,  Birkhühnern, 
Moorhiihnem,  Schwarzhühnem  oder  Kaninchen.  Strafe  im  zweiten  Rückfall: 
7  Jahre  Zuchthaus  (jedoch  misd.).     9  Geo.  IV  cap.  69  §§  1,  12,  13. 

2.  Das  unbefugte  nächtliche  Betreten  eines  Grundstückes  in  Verbindung 
mit  mindestens  zwei  anderen  Personen,  in  der  Absicht  ein  unter  1.  bezeich- 
netes Delikt  zu  begehen.  Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus  (jedoch  misd.).  9  Geo.  IV 
cap.  69  §§  9,  12,  13,  Entw.  §  94. 

3.  Der  Angriff  mit  einer  Waffe  oder  einem  Stock  gegen  einen  Jagd- 
berechtigten oder  Wildhüter  usw.,  bei  der  Begehung  eines  unter  1.  erwähnten 
Delikts.     Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus  (jedoch  misd.).     9  Geo.  IV  cap.  69  §  2. 

4.  Das  unbefugte  Jagen  von  Rehen  in  einem  umhegten  Bezirk.  Strafe: 
Gef.  und  Zwangsarbeit  (E.  P.)  —  jedoch  felony.     L.  A.  §  13. 

5.  Der  gewaltsame  Angriff  gegen  einen  Wildhüter  usw.  durch  jemand, 
der  in  der  Absicht,  ein  unter  4.  erwähntes  Delikt  zu  begehen,  ein  Jagdrevier 
betreten  hat.    Strafe:  Gef.  und  Zwangsarbeit  (E.  P.),  jedoch  felony  L.  A.  §  16. 

6.  Der  unbefugte  nächtliche  Fischfang  in  der  Nähe  des  Wohnhauses  der 
zur  Fischerei  berechtigten  Person  und  ebenso  der  unbefugte  Fischfang  unter 
denselben  Umständen  bei  Tage,  insofern  er  nicht  durch  Angeln  bewirkt 
wird,  (in  welchem  Falle  nur  Geldstrafe  verhängt  werden  könnte).  Strafe:  Gef. 
L.  A.  §  24. 

Unter  den  hier  nicht  angeführten  Bestimmungen  über  denselben  Gegen- 
stand beziehen  sich  auf  Wilddieberei  L.  A.  §§  14,  15,  17;  auf  den  Fischfang 
der  Rest  des  oben  citierten  L.  A.  §  24;  auf  die  Beschädigung  von  Austerlagem 
L.  A.  §  20. 

C.  Strafbare  Handlungen  gegen  Forderungsrechte.  1.  Der 
Vertragsbruch.     Folgende  Fälle  sind  strafbar: 

a)  Der  vorsätzliche  und  böswillige  Vertragsbruch  in  Kenntnis  des  Um- 
standes,  dass  durch  denselben  voraussichtlich  Lebensgefahr  oder  eine  schwere 
Körperverletzung  entstehen  wird,  oder  dass  wertvolle  Sachen  durch  denselben 
der  Zerstörung  oder  ernstlichem  Schaden  ausgesetzt  werden.  Wenn  ein  guter 
Grund  zur  Annahme  eines  solchen  Umstandes  vorliegt,  ist  ein  Nachweis,  dass 
derselbe  thatsächlich  der  Vertragsbrüchigen  Person  bekannt  war,  nicht  nötig. 
Strafe:  £20  Geldstrafe  oder  3  Monate  Gef.  mit  Zwangsarbeit.  38und39Vict. 
cap,  86  §  5. 

b)  Der  vorsätzliche  und  böswillige  Vertragsbruch  durch  jemanden,  der 
bei  einer  öffentlichen  Gasfabrik  oder  Wasserleitungsanstalt  angestellt  ist.  Strafe: 
wie  unter  a);  38  und  39  Vict.  cap.  86  §  4. 

c)  Der  Bruch  des  Heuervertrags,  a)  Von  selten  des  Schiffers  in  gewissen 
einzeln  aufgezählten  Fällen.  Strafe:  Gef.  17  und  18  Vict.  cap.  104  §§  206— 208. 
ß)  Von  Seiten  eines  Mitglieds  der  Mannschaft,  in  gewissen  einzeln  aufgezählten 
Fällen.  Strafen:  Busse  und  teilweise  kurze  Gefängnisstrafe  (die  längste  Dauer 
derselben  ist  12  Wochen).     17  und  18  Vict.  cap.  104  §  243. 

2.  Der  Bankbruch  und  die  mit  demselben  zusammenhängenden 
Delikte,  a)  Der  Bankbruch  ist  nach  englischem  Recht  kein  strafrechtlich 
verfolgbares  Delikt.  Der  Ausdruck  „Bankruptcy"  bedeutet  „Konkursverfahren". 
Unmittelbare  Folge  der  Konkurserklärung  ist  die  Unfähigkeit,  gewisse  Ämter 
zu  bekleiden  (es  gehören  hierher  Sitz  imd  Stimme  im  Parlament,  das  Friedens- 
richteramt und  überhaupt  alle  Ehrenämter  bei  der  Kommunal  Verwaltung),  und 
diese  Unfähigkeit  wird  nur  dann  beseitigt,  wenn  der  Gemeinschuldner  seine  Ent- 
lastung (discharge)    erwirkt   und   ihm   zugleich  vom  Konkursgericht   eine  Be- 


566  England  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


scheinigung  darüber  ausgestellt  wird,  dass  der  Konkurs  durch  Unglücksfälle 
und  nicht  durch  sein  Verschulden  herbeigeführt  wurde  (Bankruptcy  Act  1883 
§§  32—34). 

b)  Delikte  des  Gemeinschuldners.  Folgende  Handlungen  sind  straf- 
bar, wenn  sie  in  betrügerischer  Absicht  erfolgen.  In  den  meisten  Fällen  wird 
eine  solche  präsumiert.  Die  Eröffnung  des  Konkurses  ist  Bedingung  der  Straf- 
barkeit. 

a)  Die  Verheimlichung  oder  Entfernung  von  Vermögensstücken  im  Werte 
von  mindestens  £  10  nach  Einreichung  des  Eröffiaungsgesuchs  oder  fHihestens 
vier  Monate  vorher.  Strafe:  Gef.  und  Zwangsarbeit.  Entweicht  der  Gemein- 
schuldner aus  England  mit  Vermögensstücken  im  Werte  von  mindestens  £  20, 
so  ist  die  Strafe  die  gleiche,  aber  das  Delikt  wird  als  felony  behandelt.  Debtors 
Act  1869  §  11  (4,  5),  §  12. 

ß)  Die  Verheimlichung  oder  Entfernung  von  Handelsbüchern  und  Ur- 
kunden oder  die  Vernichtung  oder  Fälschung  derselben  nach  Einreichung 
des  EröflFnungsgesuches  oder  fHLhestens  vier  Monate  vorher.  Strafe  wie  bei  a). 
Debtors  Act  1869  §§9—11. 

y)  Die  Verheimlichung  und  Nichtauslieferung  von  Vermögensstücken, 
Büchern  und  Urkunden  an  den  Masseverwalter  und  die  Hintergehung  des- 
selben oder  der  Gläubiger  durch  falsche  Angaben  oder  die  Unterlassung  er- 
heblicher Angaben.  Strafe  wie  bei  a).  Debtors  Act  1869  §  11  (1,  2,  3,  6,  7, 
8,  12,  16). 

S)  Die  Nichtzahlung  von  Waren  und  anderen  Sachen,  welche  frühestens 
vier  Monate  vor  Einreichung  des  EröflEnungsgesuches  auf  Kredit  gekauft  worden 
waren,  wenn  die  Gewährung  des  Kredits  durch  falsche  Darstellungen  bewirkt 
wurde.^)     Strafe  wie  bei  a).     Debtors  Act  1869  §  11  (13,   14). 

e)  Die  Verpfändung  oder  der  Verkauf  unbezahlter  auf  Kredit  gekaufter 
Waren,  insofern  dies  nicht  im  regelmässigen  Geschäftsbetrieb  und  innerhalb 
eines  Zeitraums  von  vier  Monaten  vor  Einreichung  des  Eröflfnungsgesuches 
geschieht  und  insofern  der  Gemeinschuldner  ein  Kaufmann  ist.  Strafe  wie 
bei  a).  Debtors  Act  1869  §  11  (15).  Über  a) — e)  vgl.  auch  Bankruptcy  Act 
1890  §  26  und  Bankruptcy  Act  1883  §  163. 

f)  Die  Erwirkung  von  Kredit  im  Betrage  von  mindestens  £  20  vor  er- 
folgter Entlassung  und  unter  Verschweigung  der  Konkurserklärung.  Eine  be- 
trügerische Absicht  braucht  in  diesem  Falle  nicht  nachgewiesen  zu  werden. 
Strafe  wie  bei  a).     Bankruptcy  Act  1883  §  31. 

c)  Delikte  des  Konkursgläubigers.  Als  solches  gilt  eine  in  betrüge- 
rischer Absicht  abgegebene,  in  einem  wesentlichen  Punkte  falsche  Erklärung 
in  Bezug  auf  einen  Anspruch  gegen  die  Masse.  Strafe:  1  Jahr  Gef.  und  Zwangs- 
arbeit.    Debtors  Act  1869  §  12. 

D.  Strafbare  Handlungen  gegen  das  Vermögen  überhaupt. 

1.  Der  Betrug.     Es  gehören  hierher: 

a)  Der  Erwerb  von  Sachen,  Geld  oder  Rechten  durch  arglistige 
Darstellungen  oder  Verschweigungen,*)  insofern  es  sich  nicht  um  Sachen 
handelt,  welche  nach  gemeinem  Recht  iy^L  oben  unter  Aid)  nicht  stehlbar  sind: 

a)  Einfacher  Fall.  Strafe:  5  Jahre  Zuchthaus  (jedoch  misd.),  Larceny 
Act  §§  88—90,  Entw.  §§271  und  272,  Stephen  art.  329—333. 

ß)  Schwerer  Fall.  Derselbe  liegt  vor,  wenn  die  falsche  Darstellung  darin 
besteht,  dass  der  Thäter  vorgiebt,  eine  andere  Person  zu  sein.     Dieses  Delikt 

^)  Über  die  Erwirkung  einer  Kreditgewährung  durch  Betrug  im  allgemeinen 
vgl.  unten  unter  Die. 

')  Vgl.  jedoch  oben  unter  Alb.  Falsches  Spiel  gehört  unter  diese  Rubrik  in- 
folge positiver  gesetzlicher  Bestimmung.    8  und  9  Yict.  cap.  109  §  18. 


§  9.    Strafbare  Handlung^en  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen.  QQJ 


wird  mit  dem  technischen  Ansdnick  „personation"  bezeichnet  und  meistens  im 
Znsammenhang  mit  der  Urkundenfälschung  besprochen;  dementsprechend  wird 
es  auch  in  der  Forgery  Act  1861  berücksichtigt.  Die  falsche  Darstellung  ist 
strafbar,  auch  wenn  sie  ihren  Zweck  nicht  erreicht.  Es  gehäiPt  hierher: 
ad)  Die  erwähnte  falsche  Darstellung,  wenn  sie  in  der  Absicht  der  Bereiche- 
rung erfolgt.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).  False  Personation  Act 
1874  §1.  ßß)  Die  erwähnte  falsche  Darstellung,  wenn  der  Thäter  vorgiebt,  der 
Eigentümer  gewisser  auf  den  Namen  lautender  Werte  zu  sein  und  auf  Grund 
dieser  Darstellung  eine  Übertragung  der  erwähnten  Werte  auf  einen  anderen 
Eigentümer  bewirkt  oder  zu  bewirken  versucht,  oder  Dividenden  einkassiert 
oder  einzukassieren  versucht.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).  Forgery 
Act  1861  §  3;  Forgery  Act  1870  §  21,  26  und  27  Vict.  cap.  73  §  111,  30  und 
31  Vict.  cap.  131  §  35. 

b)  Andere  betrügerische  Handlungen,  a)  Die  Verheimlichung 
von  Urkunden  über  den  Rechtstitel  an  Sachen  in  der  betrügerischen 
Absicht,  einen  Käufer  bezw.  Pfandgläubiger  zur  Genehmigung  des  Titels  zu 
veranlassen  von  selten  des  beabsichtigten  Verkäufers  oder  Pfandschuldners 
oder  seines  Anwalts.  Eine  Verfolgung  kann  nur  mit  Genehmigung  des 
Attomey-General  veranlasst  werden.  Strafe:  Gef.  und  Zwangsarbeit.  22  und 
23  Vict.  cap.  35  §  24. 

ß)  Die  Verheimlichung  letztwilliger  Verfügungen  in  betrüge- 
rischer Absicht.     Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).     L.  A.  §  29. 

y)  Die  betrügerische  Verabredung,  d.h.  die  Verabredung,  eine  Person 
oder  eine  Anzahl  von  Personen  zu  hintergehen,  selbst  wenn  die  verabredete 
Handlung  nicht  strafbar  ist.^)    Strafe:  Gef.  und  Zwangsarbeit.    Stephen  art.  336. 

c)  Betrug  gegen  Gläubiger*)  durch:  a)  Erwirkung  von  Kredit  durch 
falsche  Darstellungen. 

ß)  Weggabe  oder  Verpfändung  von  Vermögensstücken  in  der  Absicht, 
besondere  Gläubiger  oder  die  Gesamtheit  der  Gläubiger  zu  hintergehen. 

y)  Die  Verheimlichung  von  Vermögensstücken  durch  einen  Judikatsschuldner 
nach  Fällung  des  Urteils  oder  frühestens  zwei  Monate  vorher.  Strafe:  1  Jahr 
Gef.  und  Zwangsarbeit,  Debtors  Act  1869  §  13. 

2.  Die  Erpressung  (extortion)  wird  im  englischen  Recht  nicht  scharf 
von  der  Bedrohung  (vgl.  oben  unter  II  6)  unterschieden,  auch  wird  die  ver- 
suchte ebenso  wie  die  vollendete  Erpressung  bestraft.  An  dieser  Stelle  sind 
zu  erwähnen:  die  strafbaren  Fälle  der  Bedrohung  in  gewinnsüchtiger  Ab- 
sicht, d.  h. : 

a)  Die  schriftliche  widerrechtliche  Aufforderung  zur  Herausgabe  von  Ver- 
mögensgegenständen unter  Anwendung  von  Drohungen.  Strafe:  lebensläng- 
liches Zuchthaus  (E.  P.).     L.  A.  §  44. 

b)  Die  Bedrohung  mit  der  Anzeige  eines  schweren  Verbrechens')  in  der 
Absicht  von  dem  Bedrohten  einen  Vermögensanteil  zu  erlangen.  Strafe:  lebens- 
längliches Zuchthaus  (E.  P.).     L.  A.  §  46. 

c)  Die  Bedrohung  mit  einer  Verleumdung,  insofern  sie  den  Charakter 
des  libel  (vgl.  oben  unter  II  1)  hat  und  in   der  Absicht  erfolgt,  von  dem  Be- 


^)  Z.  B.  die  Verabredung,  durch  Verbreitung  falscher  Nachrichten  oder  durch 
gemeinsame  Manipulationen  (z.  B.  fingierte  Käufe)  —  vgl.  die  Entsch.  in  Sachen  Scott 
V.  Brown  —  1892  —  2  Queens  Bench  724  —  den  Kurs  von  Börsenpapieren  zu  be- 
einflussen. 

^)  Über  ähnliche  Delikte,  die  nur  bei  eintretendem  Konkurse  strafbar  sind, 
vgl.  oben  unter  C  2. 

')  Dahin  gehören  alle  Verbr.,  welche  mit  einer  Maximalstrafe  von  mindestens 
7  Jahren  bedroht  sind,  femer  gewisse  unsittliche  Angriffe. 


668  England  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


drohten  einen  Vermögensvorteil  zu  erlangen.   Strafe:  Gef.  (3  Jahre)  und  Zwangs- 
arbeit.   6  und  7  Vict.  cap.  96  §  3.     Stephen  art.  278. 

3.  Missbrauch  der  Unerfahrenheit  und  Jugend.^)  a)  Die  Vor- 
spiegelung von  Zauberkünsten,  auch  wenn  dieselbe  im  besonderen  Falle  nicht 
den  Erwerb  von  Vermögensvorteilen  bezweckt.  Strafe:  1  Jahr  Gef.  Stephen 
art.  337,  9  Geo.  2  cap.  5  §  4. 

b)  Die  Versendung  von  Aufforderungen  zum  Wetten  oder  zur  Annahme 
von  Darlehen  an  minderjährige  Personen.  Strafe:  3  Monate  Gef.  und  Zwangs- 
arbeit.    (Betting  and  Loans  [Infants]  Act  1892.     55  Vict.  cap.  4.)*) 

4.  Die  Sachhehlerei.  Die  Empfangnahme  von  Sachen  ist  unter  den 
folgenden  Umständen  strafbar: 

a)  Wenn  dieselben  aus  einem  Postdiebstahl  herrühren  und  der  Empfänger 
weiss,  dass  dieselben  gestohlen  und  mit  der  Post  versandt  wurden  oder  zur 
Versendung  mit  der  Post  bestimmt  waren.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus. 
7  Wül.  IV  und  1  Vict.  cap.  36  §  30,  Stephen  art.  359. 

b)  Die  Empfangnahme  von  Sachen,  deren  widerrechtliche  Aneignung  eine 
felony  ist  (mit  Ausschluss  der  Sachen,  die  Miteigentümern  widerrechtlich  ent- 
zogen wurden),  in  Kenntnis  der  widerrechtlichen  Aneignung.  Strafe:  14  Jahre 
Zuchthaus  (E.  P.).     L.  A.  §  91. 

c)  Die  Empfangnahme  von  Sachen,  deren  widerrechtliche  Aneignung  ein 
misdemeanor  ist,  in  Kenntnis  der  widerrechtlichen  Aneignung.  Strafe:  7  Jahre 
Zuchthaus  (E.  P.)  L.  A.  §  95. 

Der  gewerbsmässige  Betrieb  der  Hehlerei  (vgl.  RStGB.  Art  260)  wird  im 
englischen  Recht  nicht  mit  einer  besonderen  Strafe  bedroht,  auch  bestehen 
über  den  Rückfall  (vgl.  a.  0.  Art.  261)  keine  besonderen  Vorschriften. 

V.  Fünfter  Abschnitt.  Die  durch  das  Mittel  des  Angriffs  ge- 
kennzeichneten strafbaren  Handlungen.  1.  Entfesselung  gefähr- 
licher Naturkräfte,  a.  Die  Brandstiftung  (Arson).  Nur  die  vorsätzliche 
Brandstiftung  ist  mit  Strafe  bedroht.     Es  gehört  hierher: 

a)  Die  Inbrandsetzung  von  Gebäuden.  aa)  Einfacher  Fall.  Strafe: 
14  Jahre  Zuchthaus  (E.  P.).  M.  D.  A.  §  6.  ßß)  Schwere  Fälle.  Die  Inbrand- 
setzung von  I.  öffentlichen  Gebäuden  (mit  Einschluss  von  Gebäuden,  welche 
dem  Gottesdienst  dienen),  und  von  Gebäuden,  die  für  den  Betrieb  der  Eisen- 
bahnen, der  Schiffahrt  oder  der  Hafen einrichtungen  verwendet  werden.  11.  Von 
öffentlichen  Gebäuden  im  allgemeinen,  in  der  Absicht,  jemanden  zu  benach- 
teiligen oder  zu  betrügen.  III.  Von  Wohnhäusern,  wenn  mindestens  ein  Mensch 
sich  in  dem  in  Brand  gesetzten  Gebäude  befindet.  Strafe:  lebenslängliches 
Zuchthaus  (E.  P.).  M.  D.  A.  §§  1 — 5.  Der  Versuch  in  allen  Fällen  ist  mit 
14  Jahren  Zuchthaus  (E.  P.)  strafbar.     M.  D.  A.  §§  7—8. 

ß)  Die  Inbrandsetzung  von  Schiffen. *)  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus 
(E.  P.).  Der  Versuch  ist  mit  14  Jahren  Zuchthaus  (E.  P.)  strafbar.  M.  D.  A. 
§§  42,  44. 

y)  Die  Inbrandsetzung  von  Kohlenbergwerken  (und  überhaupt  von  Berg-, 
werken,  aus  welchen  Brennmaterial  gewonnen  wird).     Strafe:  lebenslängliches 


^)  Die  Ausnutzung  der  Notlage  ist  nach  englischem  Recht  nicht  strafbar.  Die 
Wuchergesetze  wurden  1854  aufgehoben,  über  die  Geschichte  derselben  vgl.  Stephen 
History  III,  193—199. 

*)  Über  die  Veranstaltung  von  Lotterieen  vgl.  §  8  VIII  8. 

*)  Als  Kuriosum  sei  erwähnt,  dass  der  Abschnitt,  unter  welchem  dieses  Delikt 
in  der  „Malicious  Damage  Act**  angeführt  wird,  „Injuries  to  Cattle  and  other  Ani- 
mals'  (Beschädigung  von  Kindvieh  usw.  und  anderen  Tieren)  überschrieben  ist.  Um- 
gekehrt wird  bei  „Stephen  Digest"  die  Verwundung  von  Vieh  unter  dem  Titel:  »Ar- 
son etc.*'  angeführt. 


§  9.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtagüter  des  Einzelnen.  gg9 


Zuchthaus  (E.  P.).    Versuch  strafbar  mit  14  Jahren  Zuchthaus  (E.  F.).   M.  D.  A. 
§§  26  und  27. 

ö)  Die  Inbrandsetzung  von  landwirtschaftlichen  Erzeugnissen,  d.  h.  aa)  Von 
Früchten  auf  dem  Feld,  Waldungen  und  Gebüschen.  Strafe:  14  Jahre  Zucht- 
haus (E.  E.).  M.  D.  A.  §  16.  ßß)  Von  Vorräten  von  landwirtschaftlichen  Er- 
zeugnissen oder  von  Bau-  und  Brennmaterial.  Strafe:  lebenslängliches  Zucht- 
haus (E.  P.).  M.  D.  A.  §  17.  Der  Vereuch  in  beiden  Fällen  ist  mit  7  Jahren 
Zuchthaus  (E.  P.)    strafbar.     M.  D.  A.  §  18. 

b)  Die  Überschwemmung,  d.h.  die  vorsätzliche  Verletzung  oder  Zer- 
störung eines  Dammes  oder  eines  anderen  Wasserbaues,  wenn  dadurch  eine 
Überschwemmung  oder  die  Gefahr  einer  Überschwemmung  entsteht.  Strafe: 
lebenslängliches  Zuchthaus  (E.  P.).     M.  D.  A.  §  30. 

c)  Missbrauch  von  Sprengstoffen,  a)  Im  allgemeinen.  Gegen  den 
Missbrauch  von  Sprengstoffen  richten  sich  bereitS  eine  Reihe  älterer  Bestim- 
mungen, namentlich  0.  P.  A.  §§  28—30,  (Stephen  art.  236  e,  f ,  237),  M.  D  A. 
§§  9,  10,  45  (Stephen  art.  377  f.,  378e);  0.  P.  A.  §  64;  M.  D.  A.  §54  (Stephen 
art.  382),  welche  indessen  zum  grössten  Teil  durch  die  viel  weitgehendere 
und  strengere  Explosive  Substances  Act  v.  1883  —  die  wohl  teilweise  dem 
deutschen  G.  v.  1884  zum  Vorbilde  gedient  hat  —  überflüssig  geworden  sind. 
Das  G.  wendet  sich  gegen  die  Herbeiführung  von  Explosionen,  gewisse  Vor- 
bereitungshandlungen und  die  Beihülfe. 

ß)  Herbeiführung  einer  Explosion.  Strafbar  ist  die  widerrechtliche  und 
vorsätzliche  Verursachung  einer  Explosion  unter  Umständen,  welche  es  wahr- 
scheinlich erscheinen  lassen,  dass  dieselbe  das  Leben  eines  Menschen  gefähr- 
den oder  eine  schwere  Sachbeschädigung  zur  Folge  haben  wird.^)  Strafe: 
lebenslängliches  Zuchthaus.     Expl.  S.  A.  §  2. 

y)  Vorbereitungshandlungen.  Als  solche  werden  bestraft:  aa)  Alle  Hand- 
lungen, welche  in  der  Absicht  der  Begehung  des  unter  ß)  erwähnten  Delikts 
bewirkt  werden,  und  ebenso  die  Verabredung  zu  diesem  Delikt.*)  ßß)  Die 
Herstellung  oder  der  Besitz  von  Sprengstoffen  oder  Maschinen,  welche  zur 
Herbeiführung  von  Explosionen  verwendet  werden,  in  der  Absicht,  dieselben 
zur  Gefährdung  von  Menschenleben  oder  zur  Verursachung  schwerer  Sach- 
beschädigung zu  benutzen.  Strafe  in  den  Fällen  aa)  und  ßß)  20  Jahre  Zucht- 
haus. Exp}.  Subst.  Act  §  3.  yy)  Die  unter  verdächtigen  Umständen  wahrgenom- 
mene Herstellung  bezw.  der  wissentliche  Besitz  von  Sprengstoffen  usw.,  wenn 
ein  erlaubter  Zweck  nicht  nachgewiesen  werden  kann.  Strafe:  14  Jahre  Zucht- 
haus.   Expl.  Subst.  Act  §  4. 

d)  Beihülfe.  Dieselbe  wird  ebenso  bestraft  wie  die  Thäterschaft.  *)  Als 
Beihülfe  gilt  auch  das  Geben  und  Sammeln  von  Geldbeiträgen,  die  Gewährung 
von  Räumlichkeiten  und  die  Lieferung  von  Material. 

2.  Strafbare  Handlungen,  welche  die  Sicherheit  des  öffent- 
lichen Verkehrs  gefährden,  a)  Gefährdung  des  Verkehrs  im  all- 
gemeinen. Es  gehört  hierher:  a)  Die  widerrechtliche  und  vorsätzliche  Zer- 
störung von  Brücken  (gleichviel  ob  dieselben  Wasser  überschreiten  oder  nicht), 
Viadukten  und  Wasserleitungen,  über  welchen  oder  unter  welchen  eine  öffent- 
liche Strasse,  eine  Eisenbahn  oder  ein  Kanal  geht,  und  ebenso  ß)  iede  wider- 
rechtliche und  vorsätzliche  Handlung,  welche  den  Verkehr  auf  Brücken,  Viadukten 


*)  Das  durch  das  deutsche  Sprengstoffgesetz  Art.  5,  dritter  Absatz,  mit  dem  Tode 
bedrohte  Delikt  wäre  nach  der  englischen  Auffassung  nach  allgemeinen  Grundsätzen 
als  Mord  zu  behandeln  (vgl.  oben  unter  II). 

*)  Wenn  die  Explosion  in  England  stattfinden  soll  und  der  Thäter  bezw.  Gehülfe 
ein  britischer  Unterthan  ist,  sind  Handlungen,  die  hierher  gehören,  strafbar,  auch 
wenn  sie  im  Auslande  bewirkt  werden. 


670  Eng-land  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


und  Wasserleitungen  und  den  darüber  oder  darunter  führenden  öffentlichen 
Strassen,  Eisenbahnen  und  Kanälen  unmöglich  oder  gefährlich  macht.  Strafe: 
lebenslängliches  Zuchthaus  (E.  F.).     M.  D.  A.  §  33. 

b)  Gefährdung  des  Eisenbahnverkehrs,  a)  Vorsätzliche  Gefährdung. 
Jede  vorsätzliche  Handlung,  welche  in  der  Absicht  erfolgt,  die  Sicherheit  einer 
Person,  welche  auf  einer  Eisenbahn  reist  oder  sich  auf  derselben  befindet,  zu 
gefährden,  oder  in  der  Absicht,  eine  Lokomotive  oder  einen  Eisenbahnwagen 
umzustürzen,  zu  hemmen  oder  zu  beschädigen,  ist  strafbar.  Strafe:  lebens- 
längliches Zuchthaus  (E.  P.).^)     O.  P.  A.  §§  32  und  33,  M.  D.  A.  §  35. 

ß)  Fahrlässige  Gefährdung.  Jede  fahrlässige  Handlung  oder  Unterlassung, 
durch  welche  die  Sicherheit  einer  Person,  welche  auf  einer  Eisenbahn  reist, 
gefährdet  wird,    ist   strafbar.     Strafe:    Gef.  und  Zwangsarbeit.     O.  P.  A.  §  34. 

c)  Gefährdung  der  Schiffahrt.  a)  Vorsätzliche  Zerstörung,  Be- 
schädigung oder  missbräuchliche  Benutzung  von  Vorrichtungen,  welche  den 
Zwecken  der  Schiffahrt  dienen.  Es  gehören  hierher  folgende  Handlungen,  in- 
sofern sie  vorsätzlich  und  widerrechtlich  sind :  aa)  Die  Zerstörung  von  Hafen-, 
Fluss-  und  Kanalbauten.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.  P.).  M.  D.  A. 
§  30  (zweite  Hälfte),  ßß)  Die  Entfernung  von  Stützen  an  Deichbauten  und 
Dämmen  am  Meer  und  an  schiffbaren  Flüssen  und  Kanälen,  yy)  Der  Miss- 
brauch von  Schleusen  und  ähnlichen  Vorrichtungen  und  jede  andere  Störung 
des  Fahinvassers,  in  der  Absicht,  die  Schiffahrt  auf  einem  Flusse  oder  Kanal 
zu  hemmen  oder  zu  verhindern.  Strafe  in  den  Fällen  ßß)  und  yy)  7  Jahre 
Zuchthaus  (E.  P.).     M.  D.  A.  §  31. 

ß)  Die  vorsätzliche  Zerstörung  und  Gefährdung  von  Schiffen,  d.  h. 
aa)  Die  vorsätzliche  und  widerrechtliche  Preisgabe  oder  Zerstörung  eines 
Schiffes,  gleichviel  ob  der  Bau  desselben  vollendet  ist  oder  nicht,  und  jede  vor- 
sätzliche und  widerrechtliche  Handlung,  welche  die  unmittelbare  Zerstörung  eines 
Schiffes  bezweckt,  z.  B.  die  Entfernung,  Verhüllung  oder  Veränderung  von 
Feuerzeichen  und  Signalen  oder  die  Aufstellung  falscher  Zeichen.  Strafe: 
lebenslängliches  Zuchthaus.  M.  D.  A.  §§  42,  43,  47.  ßß)  Die  vorsätzliche  und 
widerrechtliche  Zerstörung  von  Teilen  von  Schiffen,  welche  sich  in  einer  Not- 
lage befinden  oder  gestrandet  sind  oder  von  dem  Zubehör  solcher  Schiffe. 
Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus  (E.).  M.  D.  A.  §  49.  yy)  Die  vorsätzliche  und 
widerrechtliche  Beschädigung  vollendeter  oder  unvollendeter  Schiffe*)  in  der 
Absicht,  dieselben  zu  zerstören  oder  für  die  Schiffahrt  unbrauchbar  zu  machen, 
und  die  versuchte  oder  vollendete  Entfernung,  Veränderung  oder  Zerstörung 
von  Boten,  Bojen  und  anderen  Gegenständen,  welche  als  Zeichen  für  die  Schiff- 
ahrt dienen.    Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus  (E.  P.).     M.  D.  A.  §46. 

d)  Gefährdung  des  Telegraphendienstes.  Die  vorsätzliche  und 
widen'echtliche  Zerstörung,  Beschädigung  oder  Entfernung  von  Vorrichtungen, 
die  bei  dem  Betriebe  elektrischer  und  magnetischer  Telegraphen  verwandt 
werden,  und  die  vorsätzliche  und  widerrechtliche  Hinderung  oder  Störung  bei 
der  Aufgabe,  Beförderung  und  Ablieferung  von  Telegrammen.  Strafe:  2  Jahre 
Gef.  und  Zwangsarbeit,  unter  besonderen  Umständen  kann  summarische  Ver- 
urteilung mit  einem  Strafmaximum  von  3  Monaten  Gef.  und  Zwangsarbeit  ein- 
treten. Die  Maximalstrafe  für  den  Versuch  ist  3  Monate  Gef.  und  Zwangs- 
arbeit (summarisches  Verfahren).     M.  D.  A.  §§37  und  38. 

3.  Der  Einbruch  (housebreaking  und  burglary).  a)  Übersicht.  Das 
englische  Recht  bestraft   nicht    den  Einbruchsdiebstahl   als  solchen.     Der  Eün- 

^)  Wurde  der  Tod  eines  Menschen  herbeigeführt,  so  wäre  der  Thatbestand  von 
Murder  gegeben  (vgl.  oben  unter  II). 

*)  Insofern  dies  nicht  durch  Brandstiftung  oder  die  Anwendung  von  Spreng- 
stoffen geschieht. 


§  9.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen.  671 


bruch  des  englischen  Rechts  wird  bestraft,  ohne  Rücksicht  auf  das  Rechtsgut, 
gegen  welches  er  sich  richtet,  als  ein  besonders  gefährliches  Mittel  zur  Be- 
gehung von  Yerbr.  im  allgemeinen  und  findet  daher  an  dieser  Stelle  seinen 
richtigen  Platz. 

Der  englische  Begriff  des  Einbruchs  ist  weiter  als  der  entsprechende  Be- 
griff des  deutschen  StR.  (vgl.  v.  Liszt,  Lehrbuch,  5.  Aufl.  S.  445)  und  umfasst 

I.  jedes  gewaltsame  widerrechtliche  Eindringen  in  einen  verschlossenen 
Raum  auch  ohne  Verletzung  der  Sachsubstanz;  II.  jedes  widerrechtliche  Ein- 
dringen in  einen  umschlossenen  Raum  unter  Anwendung  von  List  oder  Droh- 
ungen, oder  im  Einverständnis  mit  einem  Hausbewohner  (Stephen  art.  315). 
Die  gewaltsame  Entweichung  aus  einem  Hause  (breaking  out)  hat  ebenfalls 
strafrechtliche  Bedeutung  und  wird  hier  der  Kürze  halber  als  Ausbruch 
bezeichnet. 

b)  Einfacher  Fall  des  Einbruchs,  d.  h.  Einbruch  in  ein  Wohnhaus 
oder  ein  im  Hofraum  eines  Wohnhauses  befindlichen  Gebäudes,  in  ein  zum 
Gottesdienst  bestimmtes  Gebäude,  eine  Schule  oder  ein  Geschäftslokal,  in  der 
Absicht  daselbst  eine  felonv^)  zu  begehen.  Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus  (E.). 
L.  A.  §§  54,  57. 

c)  Nächtlicher')  Einbruch  in  ein  Wohnhaus  oder  Ausbruch  aus  dem- 
selben, d.  h.  der  nächtliche  Einbruch  in  der  Absicht,  eine  felony  zu  begehen 
oder  der  nächtliche  Ausbruch  jemands,  der  sich  in  das  Haus  mit  der  Absicht, 
eine  felony  zu  begehen,  begeben  hatte.  Beide  Handlungen  werden  als  burglary 
bezeichnet.     Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).     L.  A.  §  52. 

d)  Einbruch  oder  Ausbruch  in  Verbindung  mit  der  Begehung 
einer  felony,  d.h.  der  Einbruch  in  eines  der  unter  b)  aufgezählten  Gebäude 
in  Verbindung  mit  der  Begehung  einer  felony  oder  der  Ausbruch  nach  Be- 
gehung einer  solchen.    Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus  (E.).    L.  A.  §§  50,  51.  55,  56. 

e)  Vorbereitungshandlungen  zum  Einbruch.  Als  solche  werden 
bestraft,  insofern  sie  zur  Nachtzeit*)  wahrgenommen  werden:  I.  Das  Tragen 
von  Waffen  in  der  Absicht  des  Einbruchs  in  ein  Gebäude.  II.  Das  Tragen 
von  Schlüsseln  und  von  zum  Einbruch  geeigneten  Werkzeugen.  III.  Die  Un- 
kenntlichmachung  der  Person  (durch  Schwärzung  des  Gesichts  oder  anderer 
Mittel),  in  der  Absicht  eine  felony  zu  begehen. 

f)  Die  widerrechtliche  Anwesenheit  in  einem  Gebäude,  in  der 
Absicht  daselbst  eine  felony  zu  begehen.  Strafe:  5  Jahre  Zuchthaus  (jedoch 
misd.);  im  Rückfall  oder  nach  vorausgegangener  Verurteilung  wegen  einer 
felony  10  Jahre  Zuchthaus.  L.  A.  §§  58  und  59,  Entw.  §§  306  und  307, 
Stephen  art.  320. 

4.  Die  Warenfälschung.  Das  Hauptgesetz  über  diesen  Gegenstand  ist 
die  „Säle  of  Food  and  Drugs  Act  1875"  (verbessert  durch  die  Säle  of  Food 
and  Drugs  Act  Amendment  Act  von  1879),  welche  bestimmt,  dass  die  vor- 
sätzliche Fälschung  von  Nahrungsmitteln  oder  Arzneimitteln  in  der  Absicht 
des  Verkaufs,  insofern  die  gefälschten  Gegenstände  gesundheitsschädlich  wer- 
den, oder  insofern  (im  Falle  von  Arzneimitteln)  ihre  Qualität  und  Stärke  be- 
einträchtigt wird,  mit  Geldstrafe  und  im  Rückfall  mit  6  Monaten  Gef.  und 
Zwangsarbeit  strafbar  ist  (§§  3 — 5). 

Verschiedene  andere  Fälle  der  Warenfälschung  werden  durch  dasselbe 
G.  mit  Geldstrafe  bedroht.    Ausserdem  giebt  es  eine  Reihe  anderer  G.,  welche 


*)  In  den  meisten  Fällen  wird  es  sich  dabei  um  Diebstahl  handeln,  jedoch  sind 
natürlich  eine  Reihe  anderer  Verbr.  denkbar  (z.  B.  Mord  oder  Notzucht). 

**)  D.  h.  zwischen  9  Uhr  abends  und  6  Uhr  morgens.    Stephen  art.  315. 
*)  D.  h.  von  9  Uhr  abends  bis  6  Uhr  morgens. 


672  England  und  Irland.  —  Besonderer  Teil. 


die  Fälschung  besonderer  Gegenstände  mit  (teilweise  sehr  hohen)  Geldstrafen 
bedrohen.^) 

5.  Die  Urkundenfälschung^)  (Forgery)  und  verwandte  Delikte. 
a)  Im  allgemeinen.  Der  Begriff  der  Fälschung  umfasst  sowohl  die  Fälschung 
im  engeren  Sinne  wie  die  Verfälschung  (Stephen  art.  356  f.).  Auch  die 
Blankettausfüllung  den  Vorschriften  des  Ausstellers  zuwider  (StGB.  Art.  269) 
wird  als  Fälschung  angesehen  (R.  v.  Hurt,  7  Carrington  and  Payne  652;  R.  v. 
Bateman,  1  Cox  Criminal  Gases  §  186).  Die  Absicht  zu  betrügen  gehört  zum 
Thatbestand  (Stephen  art.  355). 

Das  Gebrauchen  zum  Zwecke  der  Täuschung  wird  mit  dem  technischen 
Ausdrucke  to  utter  bezeichnet  (Stephen  art.  358).  Während  das  deutsche  Recht 
nur  das  Gebrauchen  gefälschter  Urkunden  bestraft  (StGB.  Art.  267,  270),  be- 
straft das  englische  Recht  sowohl  die  Fälschung  als  die  Gebrauchung  gefälschter 
Urkunden.  Zum  Thatbestand  der  Fälschung  wird  die  Absicht  des  Betrugs 
vorausgesetzt,  zum  Thatbestand  des  Gebrauchs  gefälschter  Urkunden  die  Kennt- 
nis der  Fälschung.  Die  Absicht  des  Betrugs  wird  präsumiert,  wenn  zur  Zeit 
der  Begehung  des  Delikts  eine  Person  vorhanden  war,  welche  durch  die  Be- 
nutzung der  gefälschten  Urkunde  geschädigt  werden  konnte.  Durch  den  Nach- 
weis, dass  der  Fälscher  Vorkehrungen  traf,  um  die  Schädigung  zu  verhindern, 
wird  die  Präsumtion  nicht  umgestossen  und  ebensowenig  durch  den  Nachweis 
des  Umstandes,  dass  der  Fälscher  ein  Recht  auf  den  Gegenstand  hatte,  dessen 
Erlangung  der  Zweck  der  Fälschung  war. 

Die  Fälschung  ist  ein  misdemeanor  nach  Common  Law  und  als  solches 
mit  Gef.  strafbar,  jedoch  sind  die  meisten  Fälle  durch  die  Forgery  Act  v.  1861 
(24  und  25  Vict.  cap.  98)  und  einige  ergänzende  G.  als  felonies  mit  weit  höherer 
Strafe  bedroht.  Da  indessen  einzelne  Klassen  von  Urkunden  nicht  besonders 
in  diesen  Gesetzen  erwähnt  sind  —  meistens  aus  rein  zufälligen  Ursachen  — 
mag  es  doch  zuweilen  nötig  sein,  sich  auf  die  Common  Law  zu  berufen. 

b)  Fälschung  von  Urkunden  in  betrügerischer  Absicht  bezw. 
Gebrauch  gefälschter  Urkunden  in  Kenntnis  der  Fälschung,  d.  h. 
a)  Folgender  öffentlicher  Urkunden:  aa)  Eines  Staatssiegels  oder  königlichen 
Siegels.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).  F.  A.  §  1.  ßß)  Von  Ein- 
tragungen in  die  Standesamtsregister  oder  von  Abschriften  aus  denselben.'*) 
Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).  F.  A.  §36.  y/)  Von  Eintragungen  in 
andere  öffentliche  und  gewisse  quasi-öffentliche  Register  und  Abschriften  aus 
denselben.  Strafe:  in  gewissen  Fällen  14  Jahre  in  anderen  lebenslängliches 
Zuchthaus  (E.).  F.  A.  §§  30  und  31.  SS)  Von  Gerichtssiegeln  und  gericht- 
lichen Urkunden  und  von  Abschriften  derselben.  Die  Strafen  wechseln  je  nach 
der  Urkunde  zwischen  14  Jahren  Zuchthaus  (E.),  7  Jahren  Zuchthaus  (E.) 
und  5  Jahren  Zuchthaus.    F.  A.  §§  27  bis  29,  32—34.*) 

ß)  Folgender  Wertpapiere  bezw.  Übertragungsurkunden:    aa)  Von  Bank- 


*)  Dieselben  beziehen  sich  auf  Brot,  Korn  und  Mehl  (6  und  7  William  IV  cap.  37 
§§2,  8—13,  abgeändert  durch  47  und  48  Vict.  cap.  43  §4  und  Anhang];  auf  Samen 
(Adulteration  of  Seed  Acts  1869  und  1878);  auf  Bier  (48  und  49  Vict.  cap.  51  §  8  [2]); 
auf  Kaffee  (5  Geo.  I  cap.  11  §  28,  11  Geo.  I  cap.  30  §  9  und  39);  auf  Hopfen  (7  Geo.  II 
cap.  19  §§  2  und  3);  auf  Thee  (11  Geo.  I  cap.  30  §§  5  und  39,  4  Geo.  II  cap.  14  §§  10 
und  11);  auf  Tabak  (6  und  6  Vict.  cap.  93  §§  1—4,  26  und  27  Vict.  cap.  7  §  6,  30  und  31 
Vict.  cap.  90  §  19,  41  und  42  Vict.  cap.  15  §  25  und  42  und  43  Vict.  cap.  21  §  27)  und  auf 
Butter  (50  und  51  Vict.  cap.  29  —  Margarine  Act  1887V 

*)  Als  Urkunde  (Document)  ist  nach  der  englischen  Auffassung  nur  ein  Schrift- 
stück anzusehen,  vgl.  R.  v.  Closs,  Dearsley  and  Bell  S.  460,  Entw.  §  313. 

^)  Vgl.  auch  oben  unter  II  4. 

*)  Hierher  gehört  auch  die  Fälschung  einer  Urkunde  über  Leistung  eines  Eides 
vor  einem  beauftragten  Beamten.    Vgl.  Commissioners  for  Oaths  Act  1889  §  8. 


rr  j» 


§  9.    Strafbare  Handlangen  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen.  673 


noten.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).  F.  A.  §12.  ßß)  Von  englischen 
und  indischen  Staatspapieren  und  Schatzscheinen  und  teilweise  von  den  dazu 
gehörigen  Dividendenscheinen ^)  und  Kupons.  Strafe:  lebenslängliches  Zucht- 
haus. F.  A.  §§7,  8;  Forgery  Act  1870  §  3;  25  und  26  Vict.  cap.  7  §  14;  26 
und  27  Vict.  cap.  73  §  13.  yy)  Von  Obligationen  (Debentures)  überhaupt.  Strafe: 
14  Jahre  Zuchthaus  (E.).  F.  A.  §  26.  dd)  Von  Übertragungsurkunden  bezw. 
von  Vollmachten^)  zur  Übertragung  von  auf  Namen  lautenden  Werten,  welche 
in  den  Registern  der  englischen  oder  irischen  Bank  eingetragen  sind  oder 
von  auf  Namen  lautenden  Aktien  englischer  Aktiengesellschaften.'^  Strafe: 
lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).  F.  A.  §  2.  ee)  Von  Konnossementen,  Lager- 
scheinen, Wechseln,  Anweisungen  und  Quittungen,  oder  von  Accepten,  En- 
dossements  und  anderen  Vermerken  auf  denselben,  welche  eine  Rechtswirkung 
haben.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).  F.  A.  §§  22,  23,  25.  Die  un- 
befugte Unterschrift  als  Bevollmächtigter  eines  anderen  ist  mit  einer  Maximal- 
strafe von  14  Jahren  Zuchthaus  bedroht.     F.  A.  §  24. 

y)  Folgender  anderer  Urkunden,  aa)  Von  Urkunden  über  Verträge  und 
Schuldverschreibungen  und  von  Cessionsurkunden  über  dieselben,  ßß)  Von 
letztwilligen  Verfügungen.  Strafe  in  beiden  Fällen:  lebenslängliches  Zuchthaus 
(E.).     F.  A.  §§  20  und  21. 

c)  Vorsätzliche  Benutzung  gefälschter  Urkunden  irgend  wel- 
cher Art  in  der  Absicht,  auf  Grund  derselben  Vermögensvorteile  zu  erlangen. 
Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus  (E.).     F.  A.  38. 

d)  Die  Falschbeurkundung  in  betrügerischer  Absicht. 

a)  In  Bezug  auf  Eintragungen  von  Eigentumsrechten  an  bei  der  Bank 
von  England  oder  Irland  eingetragenen  öffentlichen  Schuldverschreibungen. 
Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).     F.  A.  §  5. 

ß)  In  Bezug  auf  Eintragungen  in  den  Standesamtsregistern.  Strafe: 
lebenslängliches  Zuchthaus  (E.).     F.  A.  §  36. 

e)  Vorbereitungshandlungen  zur  Fälschung  von  Banknoten 
und  Schatzscheinen.  Das  G.  zählt  eine  Reihe  von  Handlungen,  welche  auf 
die  Anfertigung  und  beabsichtigte  Verwertung  gefälschter  inländischer  oder 
ausländischer  Banknoten  oder  von  Schatzscheinen  schliessen  lassen,  auf  (dahin 
gehört  z.  B.  der  Ankauf  nicht  ausgefüllter  Formulare,  der  Besitz  von  geeignetem 
Papier  oder  von  Platten  usw.)  und  bedroht  dieselben  mit  Strafe,  wenn  der 
Angeschuldigte  die  Abwesenheit  der  widerrechtlichen  Bestimmung  nicht  nach- 
weisen kann.  Strafe  bei  Handlungen,  die  Banknoten  betreflFen:  14  Jahre  Zucht- 
haus (E.).  F.  A.  §§13 — 19;  bei  Handlungen,  die  Schatzscheine  betreffen :  7  Jahre 
Zuchthaus  (E.).     F.  A.  §§  9—11. 

6.  Münzdelikte.*)  a)  Falschmünzerei  und  Münzverfälschung 
durch  Nachahmung: 

a)  Britischer  Gold-  und  Silbermünzen.*)  Strafe:  lebenslängliches  Zucht- 
haus (E.).     Coinage  Act  §§  2  und  3,  Entw.  §  363. 

^)  Die  Fälschung  der  nicht  einzeln  hervorgehobenen  Dividendenscheine  ist  nicht 
besonders  bedroht;  ein  Bankbeamter,  der  einen  solchen  Schein  in  betrügerischer 
Absicht  mit  einem  zu  grossen  oder  zu  kleinen  Betrage  ausfüllt,  ist  mit  7  Jahren 
Zuchthaus  strafbar  (E.).    F.  A.  §  6. 

*)  Die  Fälschung  des  Namens  eines  Zeugen  zur  Beglaubigung  einer  solchen 
Vollmacht  ist  mit  7  Jahren  Zuchthaus  strafbar.    F.  A.  §  4. 

^)  Die  Fälschung  von  Übertragungsurkunden  von  auf  Namen  lautenden  Werten, 
welche  anderswo  eingetragen  sind,  und  ebenso  die  Fälschung  von  Aktien,  die  auf 
den  Inhaber  lauten,  ist  nicht  mit  einer  besonderen  Strafe  bedroht  und  demnach  nur 
als  misdemeanor  strafbar. 

*)  Papiergeld  ist  in  England  nicht  im  Verkehr;  über  die  Fälschung  von  Bank- 
noten vgl.  oben  unter  5  b. 

*)  Mit  britischen  Münzen  ist  hier  der  Ausdruck   „The  Queen's  Current  Coin* 

Stnfgefletsgebnng^  der  Gegenwart.   I.  43 


674  England  und  Irland.  —-  Besonderer  Teil. 


ß)  Britischer  Kupfermünzen.  Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus  (E.).  C.  A.  §  14, 
Entw.  §  370  a. 

y)  Ausländischer  Gold-  und  Silbermünzen.  Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus  (E.), 
C.  A.  §  18,  Entw.  §  371  (a  und  b). 

S)  Ausländischer  minderwertiger  Münzen.  Strafe:  1  Jahr  Gef.  und  im 
Rückfall  7  Jahre  Zuchthaus  (E.)  (jedoch  misd.).     C.  A.  §  22,  Entw.  §  272. 

b)  Der  Handel  mit  nachgemachteki  Münzen. 

a)  Der  thatsächliche  oder  angebotene  Kauf  oder  Verkauf  von  nachgeahmten 
britischen  Münzen  unter  dem  Nominalwerte  oder  der  Import  von  nachgeahmten 
Gold-  und  Silbermünzen  in  Kenntnis  der  Unechtheit  ist  strafbar,  wenn  die 
Abwesenheit  der  Widerrechtlichkeit  nicht  nachgewiesen  werden  kann.  Die 
Strafen  sind  bei:  aa)  nachgemachten  britischen  Gold-  und  Silbermünzen:  lebens- 
längliches Zuchthaus  (E.),  ßß)  nachgemachten  britischen  Kupfermünzen:*)  7  Jahre 
Zuchthaus  (E.),  yy)  nachgemachten  auswärtigen  Gold-  und  Silbermünzen:-) 
7  Jahre  Zuchthaus  (E.).  Coinage  Act  §§6,  7,  14,  19,  Entw.  §§364,  371. 

ß)  Der  Export  nachgemachter  britischer  Münzen  in  Kenntnis  der  Fäl- 
schung, wenn  die  Abwesenheit  der  Widerrechtlichkeit  nicht  nachgewiesen 
werden  kann.     Strafe:    Gef.    und   Zwangsarbeit  (E.).     C.  A.  §  8,  Entw.  §  377. 

c)  Versuchte  oder  vollendete  Inverkehrsetzung  von  nachge- 
machten Münzen  in  Kenntnis  der  Unechtheit.  Dieselbe  ist  straf  bar  bei: 
a)  nachgemachten  britischen  Gold-  und  Silbermünzen  mit  1  Jahr  Gef.  und 
Zwangsarbeit  (E.),  und  wenn  der  Thäter  innerhalb  von  10  Tagen  mehr  als 
eine  Münze  in  Verkehr  bringt  mit  2  Jahren  Gef.  und  Zwangsarbeit  (E.),  im 
Rückfall  mit  lebenslänglichem  Zuchthaus  (E.),  ß)  nachgemachten  britischen 
Kupfermünzen  mit  1  Jahr  Gef.  und  Zwangsarbeit  (E.),  y)  nachgemachten  aus- 
wärtigen Gold-  und  Silbermünzen  mit  6  Monaten  Gef.  und  Zwangsarbeit,  im 
ersten  Rückfall  mit  Gef.  und  Zwangsarbeit  (E.),  im  zweiten  Rückfall  mit  lebens- 
länglichem Zuchthaus  (E.).  C.  A.  §§  9,  10,  12,  15,  20,  21,  Entw.  §§376, 
378  (a,  c). 

Über  die  Straferhöhung  im  Falle  a)  wenn  der  Thäter  eine  andere  nach- 
gemachte Münze  in  seinem  Besitz  hat,  vgl.  unter  da). 

d)  Besitz   nachgemachter   Münzen.      Strafbar   ist   der   Besitz    von: 
a)  Einer  nachgemachten  britischen  Gold-  oder  Silbermünze  in  Verbindung 

mit  dem  unter  ca)  erwähnten  Delikte.  Strafe:  2  Jahre  Gef.  und  Zwangsarbeit 
(E.),  im  Rückfall  lebenslängliches  Zuchthaus  (E.). 

ß)  Drei  nachgemachten  britischen  Gold-  oder  Silbermünzen  in  Kenntnis 
ihrer  Unechtheit  und  in  der  Absicht,  dieselben  in  den  Verkehr  zu  bringen. 
Strafe:  3  Jahre  Zuchthaus  (E.),  jedoch  misd.,  im  Rückfall  lebenslängliches 
Zuchthaus  (E.). 

y)  Sechs  nachgemachten  auswärtigen  Münzen,  wenn  die  Abwesenheit  der 
Widerrechtlichkeit  nicht  nachgewiesen  werden  kann.  Strafe:  Geldstrafe  (sum- 
marisches Verfahren).     C.  A.  §§  10—12,  23,  Entw.  §§  376a,  378b. 

e)  Die  Münzverringerung  und  die  Entstellung  von  Münzen  d.  h. 
a)  Die  Verringerung  durch  Beschneiden,  Abfeilen  usw.  von  britischen  Gold- 

und  Silbermünzen,  in  der  Absicht,  dieselben  als  vollgültig  in  den  Verkehr  zu 
bringen.     Strafe:  14  Jahre  Zuchthaus  (E.).     Coinage  Act  §  4,  Entw.  368. 

ß)  Der  widerrechtliche  Besitz   der  durch  Beschneiden   usw.   gewonnenen 


übersetzt.  Es  sind  hierunter  zu  verstehen:  Münzen,  die  in  einem  beliebigen  Teile  des 
britischen  Reichs  von  einer  königlichen  Münze  geprägt  wurden  oder  gesetzliches 
Zahlungsmittel  sind.    C.  A.  §  1. 

*)  Der  Import  ist  in  diesem  Falle  nicht  mit  Strafe  bedroht. 

-)  Der  Kauf  und  Verkauf  ist  in  diesem  Falle  nicht  mit  Strafe  bedroht,  würde 
aber  als  Inverkehrsetzung  (vgl.  unten  unter  c)  bestraft  werden. 


§  9.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen.  675 


Abfälle  von  britischen  Gold-  und  Silbermünzen   in  Kenntnis   ihres  Ursprungs. 
Strafe:  7  Jahre  Zuchthaus  (E.).     C.  A.  §  5.     Entw.  §  369. 

y)  Die  Entstellung  britischer  Münzen  durch  das  Aufstempeln  von  Namen 
oder  Worten.    Strafe:   1  Jahr  Gef.  und  Zwangsarbeit.    CA.  §16,    Entw.  §378d. 

f)  Anfertigung  und  Vertrieb  von  Maschinen  und  Werkzeugen, 
welche  der  Falschmünzerei  dienen,  d.  h.: 

a)  Die  vorsätzliche  Anfertigung  oder  Reparierung,  die  Anschaffung  und 
Veräusserung  und  der  Besitz  von  Maschinen,  Werkzeugen,  Stempeln,  Formen 
usw.,  welche  zur  Herstellung  nachgemachter  britischer  Gold-  und  Silbermünzen 
und  auswärtiger  Münzen  geeignet  sind,  wenn  die  Abwesenheit  der  Widerrecht- 
lichkeit  nicht  nachgewiesen  werden  kann.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus 
(E.).  C.  A.  §  24,  Ent.  §  365.  Bei  Maschinen  usw.,  die  zur  Herstellung  britischer 
Kupfermünzen  geeignet  sind,  ist  die  Maximalstrafe  7  Jahre  Zuchthaus  (E.). 
C.  A.  §  14. 

ß)  Die  vorsätzliche  Entfernung  einer  der  unter  a)  erwähnten  Maschinen 
und  Werkzeuge  oder  von  Münzen  oder  Edelmetallen  aus  einer  der  könig- 
lichen Münzen,  wenn  die  Abwesenheit  der  Wlderrechtlichkeit  nicht  nach- 
gewiesen werden  kann.  Strafe:  lebenslängliches  Zuchthaus.  CA.  §25,  Entw. 
§366. 

g)  Der  Münzbetrug,  d.  h.  die  widerrechtliche  Anfertigung  oder  be- 
trügerische In  Verkehrsetzung  von  Münzen  und  Metallstücken,  die  britischen 
Gold-  oder  Silbermünzen  ähnlich  sind,  in  der  Absicht,  dieselben  statt  der  ent- 
sprechenden britischen  Gold-  oder  Silbermünzen  zu  verwerten.  *)  Strafe:  1  Jahr 
Gef.  und  Zwangsarbeit  (E.).     C.  A.  §  13.     Counterfeit  Medal  Act  1883   §  2. 

h)  Gemeinsame  Bestimmung.  Bei  allen  unter  a)  bis  g)  erwähnten 
Delikten  gilt  das  Verbr.  als  vollendet,  auch  wenn  die  angefertigte,  angeschaffte 
oder  in  den  Verkehr  gebrachte  nachgemachte  Münze  oder  betrügerisch  benutzte 
Münze  sich  in  einem  noch  unvollendeten  Zustande  befindet.     C.  A.  §  30. 

*)  Es  ißt  dies  kein  eigentliches  Münzdelikt,  sondern  nur  ein  besonderer  Fall 
des  Betrugs. 


43* 


2.  Schottland. 


L   Einleitung. 

§  1.    Qaellen  und  Lltteratur. 

Das  schottische  Recht  besteht  ebenso  wie  das  englische  aus  dem  in  den 
Präjudizien  niedergelegten  gemeinen  Recht  und  dem  in  den  Gesetzen  enthaltenen 
Statute  law,  doch  umfassen  die  gesetzlichen  Bestimmungen  über  StR.  ver- 
hältnismässig nur  ein  kleines  Gebiet  und  bei  weitem  der  grösste  Teil  dieses 
Rechtszweiges  wird  von  dem  gemeinen  ungeschriebenen  Recht  beherrscht.  Die 
Gesetze  bestehen  aus  den  vor  der  Vereinigung  mit  England  (1707)  erlassenen 
schottischen  G.  und  den  seit  diesem  Zeitpunkte  erlassenen  G.  des  britischen 
Parlamentes.  Unter  letzteren  befinden  sich  wiederum  solche,  die  sich  nur  aul 
Schottland  beziehen,  andere,  die  auch  in  einem  anderen  Teile  oder  in  beiden 
anderen  Teilen  des  vereinigten  Königreiches  Geltung  haben.  Der  englische 
Statute  of  Treasons  (vgl.  England  [und  Irland]  §  8  I  1)  wurde  durch  ein  kurz 
nach  der  Vereinigung  erlassenes  G.  (7  Anne  cap.  21)  auch  für  Schottland  ein- 
geführt. Die  oben  erwähnten  zusammenfassenden  G.  von  Sir  Robert  Peel 
(vgl.  England  §  1  IV)  und  ebenso  die  Consolidation  Acts  v.  1861  mit  Ausnahme 
der  Coinage  Act  (vgl.  a.  0.)  beziehen  sich  nicht  auf  Schottland  und  infolge 
dieses  Umstandes  ist  eine  ziemlich  grosse  Anzahl  von  G.,  die  für  England  und 
Irland  aufgehoben  sind,  in  Schottland  noch  in  Kraft.*)  Da  die  Fiktion  des 
benefit  of  clergy  in  Schottland  nie  existiert  hat,  haben  selbstverständlich  die 
auf  diesen  Gegenstand  bezüglichen  Bestimmungen  daselbst  keine  Geltung,  auch 
die  G.  über  die  Abschaffung  der  Todesstrafe  bezogen  sich  teilweise  nicht  auf 
Schottland  und  daher  kam  es,  dass  vor  1887  noch  die  folgenden  Delikte 
theoretisch  mit  dem  Tode  strafbar  waren:  Raub,  Notzucht,  vorsätzliche  Brand- 
stiftung, gewisse  Arten  des  Diebstahles,  Incest  und  widernatürliche  Unzucht. 
Ein  G.  V.  1887,  dessen  Zweck  die  Reform  des  Strafprozesses  ist,  hat  (durch 
§  56)  diese  Anomalie  beseitigt  und  nur  Mord,  gewisse  Arten  des  Mordversuches 
und  Hochverrat  sind  jetzt  mit  dem  Tode  strafbar.  *) 

Die  schottischen  Schriftsteller  halten  es  für  einen  grossen  Vorzug  ihres 
StR.  vor   dem   englischen,    dass    die  Richter,    wenn   nach  ihrer  Meinung  eine 


*)  Es  gehören  hierher  4  George  II  cap.  32   und    13  Geo.  III  cap.  82  (Diebstahl': 

1  Geo.  I  stat.  2  cap.  5,  52  Geo.  III  cap.  130  und  56  Geo.  III  cap.  125  (Sachbeschädigung'; 

2  und  3  Will.  IV  cap.  4  (Unterschlagung);  2  und  3  Will.  IV  cap.  123  (Fälschung);  21  und 
22  Vict.  cap.  47  (Betrug)  usw. 

")  §  56  bestimmt  kategorisch,  dass  nur  Mord  und  gewisse  Arten  des  Mordver- 
suchs mit  dem  Tode  zu  strafen  seien;  da  aber  §  75  die  früheren  Bestimmungen  über 
Hochverrat  als  nicht  beseitigt  erklärt,  muss  die  im  Text  gegebene  Interpretation  wohl 
richtig  sein. 


§  2.    Übersicht  über  die  mit  dem  englischen  StR.  gemeinsamen  Bestimmungen.     677 


strafbare  Handlung  vorliegt,  welche  das  geltende  Recht  noch  nicht  berück- 
sichtigt hat,  ohne  weiteres  die  ihnen  gutdünkende  Strafe  verhängen  können. 
Das  Hauptbeispiel  ist  eine  Bestrafung  (Deportation)  wegen  einer  schriftlichen 
Bedrohung,  welche  in  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  erfolgte  (s.  Hume,  Com- 
mentaries,  Bd.  I  S.  12).  Doch  liegen  auch  Beispiele  aus  neuerer  Zeit  vor 
(s.  Macdonald,  Criminal  Law  of  Scotland  S.  247).  In  der  heutigen  Praxis  geht 
diese  Befugnis  wohl  schwerlich  weiter,  als  die  oben  (England  §  2  I)  erwähnte 
analoge  Befugnis  der  englischen  Richter. 

II.  Die  Litteratur.  Die  Litteratur  des  schottischen  StR.  ist  äusserst 
dürftig.  Bei  weitem  die  grösste  Autorität  hat:  Hume,  Commentaries  on  the 
Laws  of  Scotland  respecting  crimes;^zwei  starke  Quartbände;  1.  Aufl.  1797. 
Nur  der  1.  Bd.  behandelt  das  materielle  StR.^)  Vor  Hume  war  das  Haupt- 
werk: Mackenzie,  Treatise  Concerning  the  Laws  of  Scotland  in  matters 
criminal  1678.  Unter  den  neueren  Werken  sind  zu  erwähnen  Alison,  Prin- 
ciples  and  Practice  of  the  Criminal  Law  of  Scotland  1832,  2  Bde.  (von  welchen 
der  erste  materielles  StR.  behandelt)  und  femer  das  jetzt  am  meisten  benutzte 
einbändige  Werk  von  J.  H.  A.  Macdonald,  A  Practical  Treatise  on  the  Cri- 
minal Law  of  Scotland  (in  der  Folge  nur  mit  dem  Namen  des  Verfassers 
zitiert)  (2.  Aufl.  1877;  S.  1—245  behandelt  das  materielle  StR.,  S.  246— 550 
Gerichtsverfassung  und  Strafprozess),  dessen  Verfasser  jetzt  die  zweithöchste 
Richterstelle  in  Schottland  (Lord  Justice  Clerk)  inne  hat.  N.  D.  Macdonald, 
A  Manual  of  the  Criminal  Procedure  (Scotland)  Act  1887,  behandelt  die  Ver- 
änderungen, welche  das  erwähnte  G.  gebracht  hat,  dieselben  betreflFen  haupt- 
sächlich nur  den  Strafprozess.  Das  hervorragendste  unter  den  älteren  Werken 
über  das  ganze  schottische  Recht:  Erskine,  Institute  of  the  Laws  of  Scot- 
land hat  auch  einen  Abschnitt  über  StR.,  der  indessen  jetzt  nur  noch  histo- 
risches Interesse  hat.  Als  Nachschlagebuch  für  das  geltende  Recht  ist  em- 
pfehlenswert das  Rechtswörterbuch:  Bell,  Dictionary  and  Digest  of  the  Law 
of  Scotland  (letzte  Aufl.  1891),  bei  welchen  indessen  ein  allgemeiner  übersicht- 
licher Art.  über  StR.  fehlt.  Strafrechtliche  Präjudizien  sind  in  den  grossen 
allgemeinen  Sammlungen  (Court  of  Session  Cases,  Scotch  Law  Reporter 
usw.)  mitenthalten.  Ausschliesslich  strafrechtliche  Entsch.  enthalten  die  Samm- 
lungen von  Mac  Laurin  (1670—1770),  Shaw  (1848—1852)  und  Syme 
(1826  —  1829).  Die  neuesten  Entsch.  auf  dem  Gebiete  des  StR.  enthält  die 
Sammlung  von  White:  Reports  of  Cases  in  the  High  Courts  and  Circuit  Court 
of  Justiciary  (1.  Bd.  24.  Dezember  1885  bis  20.  März  1888;  2.  Bd.  20.  März 
1888  bis  13.  März  1891;  3.  Bd.  5.  März  1891  bis  23.  Mai  1893  usw.). 

§  2.   Übersicht  ttber  die  mit  dem  englisehen  StR.  gemeinsamen 

Bestimmungen. 

A.  Bestimmungen  über  Strafvollstreckung:^) 

Die  Gesetze  über  die  Einführung,  Dauer  und  Vollstreckung  der  Zucht- 
hausstrafe (Penal  Servitude  Acts,  vgl.  England  §  2  I  Ib.)  sind  auch  in  Schott- 
land gültig. 

B.  Bestimmungen  über  einzelne  Delikte: 

I.  Über  Delikte  gegen  die  Rechtsgüter  der/TCsamtheit.  In  Schott- 
land   sind  gültig    die    Bestimmungen    über   Hochverrat   nach    dem    Statute    of 


i^^:  *)  Das  Buch  wird  auch  in  den  neueren  Entsch.  als  „höchste  Autorität"  auf  dem 

^g.'  Gebiete  des  StR.  angesehen  (H. M.  Advocate  v.  M'Donald  2  White  520;  11.  August  1890). 

Hume  war  ein  Neffe  des  berühmten  Philosophen. 

'^)  Die  englischen  Bestimmungen  über  Rechtshülfe  —  vgl.  oben  England  §  4  II  — 


sind  auch  in  Schottland  giltig. 


678  Schottland.  —  Einleitung. 


Treasons  und  über  treasonable  felonies  (vgl.  E.  u.  I.  §  8  I  1  b  u.  c) ,  ebenso 
die  Bestimmnngen  über  sämtliche  a.  O.  (unter  d)  unter  der  Rubrik:  „Andere 
hochverräterische  usw.  Handlungen ^^  zusammengefasste  Delikte  und  diejenigen 
über  staatsfeindliche  Verschwörungen  (a.  0.  §  8  I  2  b)  und  persönliche  Angriffe 
gegen  den  Souverän  (a.  O.  §  8  13);  femer  auch  diejenigen  über  unbefugte 
militärische  Übungen  (§  8  II  3). 

Unter  den  Bestimmungen  über  Widerstand  gegen  Beamte  sind  die  in 
der  Riot  Act  enthaltenen  und  die  zum  Schutze  der  Zollbeamten  erlassenen 
(a.  0.  §  8  III  1  a  u.  b)  als  auch  in  Schottland  gültig  zu  erwähnen.  Die  Bestim- 
mungen über  strafbare  Handlungen  gegen  das  Wahl-  und  Stimmrecht  (a.  0. 
§8  IV  3)  sind  in  Schottland  gültig,  insoweit  sie  sich  auf  Wahlen  zum  Parla- 
ment beziehen.  Auch  die  Bestimmungen  gegen  unerlaubte  Vereine  und  Mönchs- 
orden (a.  0.  §  8  V  1)  gelten  für  Schottland. 

IL  Über  Delikte  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen.  Die 
englischen  Bestimmungen  über  die  folgenden  Delikte  sind  auch  für  Schottland 
gültig:  Entführung  von  Mädchen  unter  18  Jahren  in  unsittlicher  Absicht  (England 
§  9  13  a  ß)y  Kuppelei  (a.  0.  I  3  b),  ausserehelicher  Beischlaf  mit  Mädchen  unter 
16  Jahren  (a.  0.  I  3  c  y)  und  Verletzung  des  Urheberrechts  und  Markenrechts 
(a.  O.  III);  die  a.  0.  unter  IV  B  1 — 3  erwähnten  strafbaren  Handlungen  gegen 
das  Jagdrecht;  der  Vertragsbruch  in  den  a.  0.  unter  IV  C  1  angeführten  Fällen; 
die  unter  der  Rubrik:  Missbrauch  der  Unerfahrenheit  und  Jugend  (a.  0.  unter 

IV  D  3)  erwähnten  Delikte;  der  Missbrauch  von  Sprengstoffen,  insoweit  die 
Bestimmungen   der  Exp.  Subst.  Act    sich    gegen   denselben   richten  (vgl.  a.  0. 

V  1  c);  die  Münzdelikte  (a.  0.  V  6). 

§  3.   Ornndsätze  fiber  die  Einleitung  des  Strafverfahrens.^) 

Diese  Grundsätze  sind  wesentlich  von  den  englischen  verschieden  und 
nähern  sich  insofern  mehr  den  auf  dem  Festlande  geltenden,  als  die  Staats- 
anwaltschaft fast  ausschliesslich  die  Einleitung  des  Strafverfahrens  bewirkt. 
Hauptstaatsanwälte  sind  der  Lord  Advocate  und  der  Solicitor  General.  Die- 
selben und  ihre  vier  Vertreter  (Advocates  Depute)  haben  die  Verfolgung 
im  Hauptgerichtshof  (High  Court  of  Justiciary)  und  den  Assisengerichten 
(Circuit  Courts  of  Justiciary)  einzuleiten.  In  den  sogenannten  Sheriff  Courts, 
welche  für  die  meisten  Strafsachen  mit  den  Courts  of  Justiciary  konkurrierende 
Zuständigkeit  haben,  vertreten  die  Procurators  Fiscal  die  Staatsanwaltschaft. 
Der  Verletzte  und  seine  Angehörigen  haben  theoretisch  ebenfalls  das  Reclit, 
die  Verfolgung  einzuleiten,  jedoch  nur  mit  Genehmigung  der  Staatsanwalt- 
schaft. Im  Falle  einer  grundlosen  Verweigerung  der  Genehmigung  kann  Be- 
schwerde bei  dem  High  Court  eingelegt  werden,  doch  wird  das  Gericht  nui-  unter 
ganz  aussergewöhnlichen  Umständen  eingreifen  (vgl.  die  Entsch.  in  Sachen  Robert- 
son 2  White  468).  Thatsächlich  kommen  Privatverfolgungen  fast  gar  nicht  in 
Schottland  vor.  Antragsdelikte  existieren  im  schottischen  Recht  nicht.  Die 
Unterscheidung  zwischen  indictable  offences  und  summarisch  verfolgbaren 
Delikten  ist  dieselbe  wie  im  englischen  Recht  (vgl.  England  und  Irland  §  3  II 
und  §  6  I  1),  doch  sind  die  letzteren  meistens  nur  unbedeutende  Übertretungen. 
Bestimmungen,  wie  die  in  der  englischen  Summary  Jurisdiction  Act  1879  ent- 
haltenen, bestehen  im  schottischen  Rechte  nicht.  In  der  hier  folgenden  Dar- 
stellung ist  nur  von  indictable  offences  die  Rede. 


*)  Die  meisten  der  unter  England  §§  4  u.  5  erwähnten  Grundsätze  über  das  Gel- 
tungsgebiet des  StR.  gelten  in  analoger  Weise  auch  für  Schottland. 


§  4.     A.  Das  Verbrechen.  679 


n.  §  4.  Allgemeiner  Teil. 

A.  Das  Yerbrechen. 

I.  Einteilung  der  Verbrechen.  Eine  der  englischen  analoge  Ein- 
teilung in  felonies  und  misdemeanors  giebt  es  im  schottischen  Rechte  nicht, 
doch  ist  treason  eine  Gattung  für  sich.  Früher  waren  neben  treason  eine  An- 
zahl schwerer  Delikte  dadurch  hervorgehoben,  dass  eine  Verfolgung  wegen 
derselben  nur  in  dem  High  Court  of  Justiciary  und  den  Circuit  Courts  statt- 
finden konnte;  jetzt  sind  für  alle  Delikte  mit  Ausnahme  von  Hochverrat,  Mord 
und  Notzucht  auch  die  SheriflF  Courts  zuständig  (Criminal  Procedure  [Scotland] 
Act  1887  §56).  Jedes  Verbr.,  das  durch  indictment  verfolgt  wird,  wird 
nach  schottischem  Gebrauch  als  „iiidictable  crime"  bezeichnet,  die  summarisch 
verfolgbaren  Delikte  als  „crime  or  oflFence  punishable  on  summary  complaint" 
(C.  P.  [Scotland]  Act  1887  §  71). 

IL  Ausschluss  der  Rechtswidrigkeit:  1.  bei  Handlungen  unter 
dem  Einfluss  der  Gefahr. 

a)  Die  Notwehr.  Die  Notwehr  ist  bisher  in  Schottland  nur  in  solchen 
Fällen  Gegenstand  der  Erörterung  gewesen,  in  welchen  sie  die  Tötung  eines 
Menschen  zur  Folge  hatte.  Jemand  ist  nicht  strafbar,  wenn  er  einen  Menschen 
tötet:  A.  um  sich  oder  einen  anderen  aus  Lebensgefahr  zu  befreien;  B.  um 
die  Gefahr  der  Notzüchtigung  von  sich  oder  einer  anderen  abzuwenden ;  C.  um 
einen  Angriff  gegen  das  Eigentum  abzuwenden,  der  mit  Gewalt  oder  Drohung 
gegen  die  Person  verbunden  ist  (Macdonald  S.  142).  Es  ist  wohl  anzunehmen, 
dass  in  den  Fällen,  wo  Notwehr  die  Tötung  eines  Menschen  statthaft  macht, 
auch  andere  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  strafbare  Handlungen  ihre 
Widerrechtlichkeit  verlieren,  dass  z.  B.  jemand,  der,  wenn  er  sich  in  Lebens- 
gefahr bezw.  der  Gefahr  der  Schändung  befindet,  keine  widerrechtliche  Hand- 
lung begeht,  wenn  er  den  Thäter  verwundet  oder  ihm  seine  Waffe  gewaltsam 
wegnimmt  usw.;  aber  die  schottischen  Bücher  schweigen  über  diesen  Gegenstand. 

b)  Die  Nötigung.  Fälle  derselben  sind  hauptsächlich  bei  öffentlichen 
Unruhen  vorgekommen,  bei  welchen  einzelne  freigesprochen  wurden,  weil  sie 
durch  Gewalt  zur  Beteiligung  genötigt  worden  waren.  Macdonald  ist  indessen 
der  Ansicht,  dass  Fälle  denkbar  sind,  in  welchen  auch  die  von  einem  einzelnen 
ausgehende  Nötigung  die  Widerrechtlichkeit  ausschliesst,  namentlich  wenn  die 
Ehefrau  oder  ein  Kind  zu  einer  strafbaren  Handlung  genötigt  werde  (Mac- 
donald   S.  13).     Der  Begriff  des  Notstands  ist  dem  schottischen  Rechte  fremd. 

c)  Bei  der  Ausübung  eines  öffentlichen  Amtes.  Tötung  (und  dem- 
nach wohl  auch  Körperverletzung)  ist  nicht  rechtswidrig  in  folgenden  Fällen^): 
a)  bei  der  Vollstreckung  eines  Todes-Urteils;  b)  bei  der  Voll- 
streckung eines  Haftbefehls,  insofern  derselben  gewaltsamer  Widerstand 
entgegengesetzt  wird;  c)  bei  der  Unterdrückung  gewaltthätiger  Zu- 
sammenrottungen durch  Sicherheitsbeamte;*)  d)  bei  der  Ausführung 
von  Befehlen  von  Vorgesetzten  durch  Soldaten,  wenn  deren  Ungesetz- 
lichkeit nicht  augenfällig  ist.'^) 


1)  Macdonald  S.  140—142. 

*^)  Der  Grundsatz,  dass  auch  andere  Personen  keine  widerrechtliche  Handlung 
begehen,  wenn  sie  bei  der  Unterdrückung  solcher  Zusammenrottungen  thätlieh  mit- 
wirken, ist  in  Bezug  auf  das  schottische  Recht  noch  nicht  ausgesprochen  worden 
(vgl.  England  §  6  II  3  a). 

^)  Im  englischen  Recht  ist  der  Befehl  eines  Vorgesetzten  theoretisch  kein  Ent- 
schuldigungsgrund, würde  indessen  bei  der  Beurteilung  der  That  als  strafmildern- 
der Umstand  berücksichtigt  werden. 


680  Schottland.  —  Allgemeiner  Teil. 


Inwiefern  die  Einwilligung  des  Verletzten  die  Rechtswidrigkeit  aus- 
Bchliesst,  ist  nach  dem  vorliegenden  Material  schwer  zu  beurteilen.  Dass  die 
Einwilligung  von  Kindern  keine  Bedeutung  hat,  wird  in  Bezug  auf  die  Hand- 
lungen gegen  die  Geschlechtsehre  festgestellt.^) 

III.  Zurechnungsfähigkeit,  Vorsatz  und  Fahrlässigkeit. 

1.  Zurechnungsfähigkeit. 

a)  in  Bezug  auf  das  Alter.  Die  strafrechtliche  Verantwortlichkeit 
beginnt  mit  der  Vollendung  des  siebenten  Lebensjahres.*)  Die  Todesstrafe  ist 
vollstreckbar:  bei  männlichen  Verbrechern  nach  vollendetem  vierzehnten,  bei  weib- 
lichen nach  vollendetem  zwölften  Lebensjahre  (Macdonald  S.  11). 

b)  in  Bezug  auf  die  geistige  Gesundheit.  Geisteskrankheit  ent- 
schuldigt, insofern  sie  den  Thäter  verhindert,  die  Natur  der  That  oder  ihre 
ünsittlichkeit  oder  Rechtswidrigkeit  zu  erkennen.  Trunkenheit  entschuldigt 
nicht  (Macdonald  S.  11—13). 

2.  Der  Vorsatz.*)  Das  schottische  Recht  präsumiert  bei  jeder  ver- 
brecherischen Handlung,  dass  dieselbe  vorsätzlich  erfolgte  (Macdonald  S.  2), 
und  ebenso  wie  im  englischen  Recht  muss  unter  Vorsatz  die  Vorstellung  über 
die  Wirkung  einer  Handlung  oder  Unterlassung  verstanden  werden.  Wenn 
A  den  B  angreift  in  der  Absicht,  denselben  gewaltsam  zu  berauben,  oder 
ihm  eine  schwere  Körperverletzung  zuzufügen,  und  B  stirbt,  so  ist  B  des 
Mords  schuldig.  Der  allgemeine  Grundsatz  ist,  dass,  wenn  das  Ereignis, 
welches  durch  die  verbrecherische  Handlung  verursacht  wurde,  als  Folge 
dieser  Handlung  nicht  unwahrscheinlich  war,  der  Thäter  für  dasselbe  straf- 
rechtlich verantwortlich  ist  (Macdonald  S.  3).  Es  giebt  indessen  eine  An- 
zahl von  Delikten,  bei  welchen  eine  bestimmte  Absicht  einen  Teil  des  That 
bestandes  bildet. 

3.  Die  Fahrlässigkeit.  Dieselbe  wird  nur  selten  bestraft:  namentlich 
bei  der  Tötung  und  Gefährdung  des  Verkehrs  und  (im  Gegensatz  zum  englischen 
Recht)  im  Falle  der  fahrlässigen  Brandstiftung. 

IV.  Voraussetzungen  der  Strafbarkeit.  Zu  erwähnen  ist  hier  nur 
die  Klagenverjährung.  Eine  allgemeine  Klagenverjährung  besteht  nicht,  doch 
seheint  es  Regel  zu  sein,  nach  Ablauf  von  20  Jahren  vom  Zeitpunkte  der  ^'oll- 
endung  der  That  von  einer  Strafverfolgung  abzusehen,  wenn  nicht  durch 
„Sentence  of  Fugitation"*)  die  Flucht  des  Thäters  seiner  Zeit  festgestellt  'wurde 
(Macdonald  S.  273).  In  Bezug  auf  einzelne  Delikte  besteht,  ebenso  wie  im 
englischen  Recht,  eine  durch  Sonderbestimmung  festgesetzte  Klagenverjährung. 

V.  Der  Versuch.  Vor  1887  bestand  keine  allgemeine  Regel,  welche 
den  Versuch  strafbar  machte,  bei  vielen  Delikten  war  derselbe  auf  Grund 
besonderer  Bestimmungen  in  bestimmter  Weise  strafbar,  doch  musste  z.  B.  der 
Versuch  des  einfachen  Diebstahls  und  des  Einbruchs  straflos  bleiben  (Macdonald 
S.  76;  S.  74),  und  es  war  zweifelhaft,  ob  der  Versuch  der  Sachbeschädigung 
strafbar  sei  (Macdonald  S.  118).  Die  Criminal  Procedure  (Scotland)  Act  (1887) 
bestimmt  (§61),    dass  in  der  Folge  der  Versuch  eines  „indictable  crime"  all- 


M  Die  Widerrechtlichkeit  wird  in  einigen  Fällen  als  zum  Thatbestand  gehörig 
besonders  hervorgehoben,  z.  B.  bei  der  Abtreibung  (Macdonald  S.  152)  imd  der  An- 
wendung betäubender  Mittel  (Macdonald  S.  173).  In  beiden  Fällen  werden  die  Worte 
„felonious  intent''  angewandt,  es  geht  aber  aus  dem  Zusammenhang  deutlich  hervor, 
dass  „felonious^  in  dieser  Anwendung  mit  rechtswidrig  übersetzt  werden  muss. 

')  Die  englische  Präsumtion  in  Bezug  auf  Notzucht  besteht  im  schottischen 
StR.  nicht  (Macdonald  S.  169). 

•)  Der  schottische  Ausdruck  für  vorsätzlich  ist  „wilfully". 

*)  Ein  derartiges  Urteil  wird  erlassen,  wenn  der  Angeschuldigte  bei  der  Haupt- 
verhandlung abwesend  ist;  es  hat  die  Wirkung,  dass  dem  Angeschuldigten  im  Falle 
seiner  späteren  Verhaftung  die  Rechtswohlthaten  entzogen  werden.    Macdonald  S.  458. 


§  4.    A.  Das  Verbrechen.  681 


gemein  als  „indictAble  crime  ^  zu  bestrafen  ist.  Die  Straf  bestimmung  ist  dabei 
dem  richterlichen  Ermessen  tiberlassen.  Die  früher  bestehenden  besonderen 
Bestimmungen  sind  hierdurch  selbstverständlich  nicht  aufgehoben. 

VI.  Komplott  und  Aufforderung. 

a)  Komplott.  Das  Komplott  zur  Begehung  einer  strafbaren  Handlung 
ist  mit  Gef.  oder  Zuchthaus  strafbar  (Macdonald  S.  240). 

b)  Die  Aufforderung.  Die  Aufforderung  ist  in  derselben  Weise  straf- 
bar, wenn  nicht  ein  Spezialgesetz  eine  besondere  Strafe  bestimmt  (so  z.  B. 
bestimmt  das  G.  über  Postdiebstahl,  7  Will  IV  u.  1  Vict.  cap.  36,  ein  Maximum 
von  2  J.  Gef.  für  Aufforderung),  doch  erfolgt  eine  Klage  thatsächlich  nur, 
wenn  es  sich  um  die  Aufforderung  zu  einem  ernstlicheren  Verbr.  handelt  (z.  B. 
Mord,  Brandstiftung,  falsche  Anschuldigung,  s,  Macdonald  S.  241). 

VII.  Thäterschaft  und  Teilnahme.  Anstiftung  und  Teilnahme  werden 
genau  ebenso  bestraft  wie  die  That  selbst  und  der  Anstifter  und  Gehülfe 
können  auch  in  Abwesenheit  des  Hauptthäters  verfolgt  und  bestraft  werden 
(Macdonald  S.  3).  *) 

VIII.  Juristische  Handlungseinheit  usw. 

a)  Juristische  Handlungseinheit.  Über  diesen  Gegenstand  findet 
sich  nur  sehr  dürftiges  Material.  Die  Möglichkeit  eines  fortgesetzten  Verbr. 
scheint  im  schottischen  Rechte  anerkannt  zu  werden  (vgl.  Macdonald  S.  310), 
doch  wird  dasselbe  nicht  von  dem  fortdauernden  Verbr.  unterschieden  und 
ebenso  wie  dieses  als  „crimen  continuum"  bezeichnet.  Der  Diebstahl  wird 
ebenso  wie  im  englischen  Recht  (s.  England  §  6  VIII  2)  als  fortdauerndes 
Verbr.  angesehen,  solange  die  gestohlenen  Gegenstände  im  Besitze  des  Diebes 
bleiben  (Macdonald  S.  244). 

b)  Kollektivdelikte.  Die  gewohnheitsmässige  Begehung  eines  Verbr. 
wird  als  strafverschärfendes  Moment  bei  Klagen  wegen  Diebstahl  berück- 
sichtigt. Der  Angeschuldigte  wird  in  solchen  Fällen  als  „thief  by  habit  and 
repute"  bezeichnet  (Macdonald  S.  48 — 40).  Im  Falle  der  Hehlerei  kommt  die 
Gewohnheitsmässigkeit  nicht  in  Betracht  (Macdonald  S.  63). 

c)  Rückfall.  Der  Rückfall  ist  in  einer  grossen  Anzahl  von  Fällen  ein 
strafverschärfendes  Moment.  Früher  entstanden  häufig  Kontroversen  darüber, 
ob  zwei  Delikte  einander  soweit  ähnlich  sind,  dass  die  Begehung  des  zweiten 
als  Rückfall  angesehen  werden  kann  (vgl.  Macdonald  S.  15).  Jetzt  nennt  die 
Criminal  Procedure  (Scotland)  Act  1887  gewisse  Gruppen  von  Delikten,  die 
sich  so  ähnlich  sind,  dass  bei  einer  Verurteilung  wegen  eines  derselben  eine 
frühere  Verurteilung  wegen  eines  der  anderen  aus  derselben  Gruppe  bei  der 
Straf  bestimmung  zu  berücksichtigen  ist.     Solche  Gruppen   sind: 

A.  Raub,  Diebstahl,  Sachhehlerei,  Fälschung,  Betrug,  Einbruch  in  der 
Absicht  des  Diebstahls,  Angriff  in  der  Absicht  des  Raubes,  Unterschlagung, 
nächtlicher  Einbruch,  Münzdelikte  und  ebenso  der  Versuch  eines  solchen 
Deliktes  (§  63). 

B.  Alle  Delikte,  bei  welchen  körperliche  Gewalt  zum  Thatbestand  ge- 
hört (§  64). 

C.  Alle  Delikte,  bei  welchen  unzüchtiges  oder  unanständiges  Benehmen 
zum  Thatbestand  gehört  (§  65). 

Bereits  durch  ein  G.  v.  J.  1871  (33  u.  34  Vict.  cap.  112  §  18)  wurde  be- 
stimmt,   dass  bei    der  Frage,    ob   Rückfall    vorliege,    auch  Verurteilungen    in 


*)  Der  Thäter  wird  als  „actor",  der  Anstifter  oder  Gehülfe  als  „art  and  part**  be- 
zeichnet, daher  musste  die  Klagschrift  die  Worte  „actor  er  art  and  part"  enthalten, 
um  alle  Fälle  zu  decken,  doch  bestimmt  das  Gesetz  von  1887  §  7,  dass  diese  Worte 
in  der  Folge  unnötior  sind  und  eine  Anklage  wegen  eines  Verbr.  zugleich  als  eine 
Anklage  wegen  Anstiftung  oder  Teilnahme  anzusehen  ist. 


682  Schottland.  —  Allgemeiner  Teil. 


einem  anderen  Teile  des  vereinigten  Königreichs  zu  berücksichtigen  sind  (vgl. 
auch  Crim.  Proc.  [Seotland]  Act  1887  §  63—65). 

d)  Realkonkurrenz.  Ebenso  wie  im  englischen  Recht  (vgl.  England 
§  6  VIII  5)  kann  für  jedes  einzelne  Delikt  eine  besondere  Strafe  verhängt 
werden.  Auch  in  Schottland  besteht  keine  Milderung  der  Strafenhäufung  (vgl. 
Criminal  Procedure  [Seotland]  Act  1887  §  60). 

B.  Die  Strafe. 

Die  Bestimmungen  über  die  Strafen  sind  im  grossen  und  ganzen  die- 
selben wie  in  England  (vgl.  England  §  7).  Die  Todesstrafe  kann  in  denselben 
Fällen  wie  in  England  und  ausserdem  in  gewissen  Fällen  des  Mordversuchs 
verhängt  werden  (10  Geo  IV  cap.  38;  Criminal  Procedure  [Seotland]  Act  1887 
§  56)  und  wird  ebenso  wie  in  England  vollstreckt.  Schottland  eigentümlich 
ist  die  Bestimmung,  dass  der  Tag  der  Vollstreckung  im  Urteil  erwähnt  werden 
muss  und  dass  zwischen  dem  Datum  des  Urteils  und  dem  der  Vollstreckung 
südlich  vom  Flusse  Forth  mindestens  15  Tage,  höchstens  21  Tage,  nördlich 
des  erwähnten  Flusses  mindestens  20  Tage,  höchstens  27  Tage  liegen  müssen 
bezw.  dürfen  (11  Geo  IV  u.   1  Will  IV  cap.  37). 

In  Bezug  auf  die  Vollstreckung  der  Zuchthausstrafe  gelten  die  in  den 
Penal  Servitude  Acts  (vgl.  England  §  7  I  1  b)  auch  für  England  niedergelegten 
Gnmdsätze,  doch  haben  die  in  den  Prevention  of  Crime  Acts  und  33  u.  34  Vict. 
cap.  23  enthaltenen  Bestimmungen  in  Bezug  auf  die  Folgen  einer  Verurteilung 
zur  Zuclithausstrafe  in  Schottland  keine  Geltung.*)  Die  englischen  Prison  Acts  (vgl. 
a.  O.  §  7  I  1  c)  beziehen  sich  nicht  auf  Schottland.  Gefängnisstrafe  wird  mit  oder 
ohne  Zwangsarbeit  (vgl.  Prisons  — Seotland  —  Act  1877  §44)  und  mit  oder  ohne 
Einzelhaft  nach  dem  Ermessen  des  Richters  verhängt  und  überschreitet  nur  selten  die 
Zeitdauer  von  2  J.  (Macdonald  S.  16).  Die  Einzelhaft  wird,  wo  sie  in  Gesetzen  als 
statthaft  erklärt  wird,  meistens  auf  drei  Monate  i.  J.  beschränkt  und  zwar  so,  dass  nie 
mehr  als  ein  Monat  zusammen  in  dieser  Weise  verbüssi  wird  (Macdonald  S.  17). 
Geldstrafe  kami  der  Richter  auch  ohne  besondere  gesetzliche  Ermächtigung  nach 
gemeinem  Rechte  bei  weniger  schweren  Delikten  statt  Freiheitsstrafe  oder  als  Neben- 
strafe zusammen  mit  Freiheitsstrafe  verhängen  (Macdonald  S.  17).  Körperliche 
Züchtigung  ist  auch  stellenweise  statthaft,  namentlich  bei  jugendlichen  Verbrechen!. 
Über  die  Unterbringung  jugendlicher  Verbrecher  in  Besserungsanstalten  bestehen 
gleiche  Bestimmungen  wie  in  England  (vgl.  England  §  7  I  2  aj.  Die  Verpflich- 
tung zu  ordentlichem  Lebenswandel  in  der  unter  England  §  7  I  2  e  erwähnten 
Form  kommt  in  Schottland  auch  vor  und  ist  daselbst  nach  gemeinem  Rechte 
bei  Friedensstörungen  stets  statthaft  (Macdonald  S.  17).  Gegensätzlich  zum 
englischen  Recht  kennt  das  schottische  den  Begriff  der  mildernden  Umstände 
( pleas  in  mitigation).  Als  solche  mildernde  Umstände  gelten  Unbescholtenheit, 
Jugend,  Zwang  des  Ehegatten  (bei  den  Delikten  einer  Ehefrau),  Geistesschwäche, 
die  nicht  so  weit  geht,  dass  sie  die  strafrechtliche  Zurechnungsfähigkeit  auf- 
hebt usw.  (Macdonald  S.  16).  Die  bedingte  Verurteilung  nach  Massgabe  der 
Probation  of  First  Offenders  Act  1887  ist  auch  in  Schottland  zulässig  (vgl. 
England  §  7  II  3).  Das  richterliche  Ermessen  bei  der  Straf  bestimmung  geht 
in  Schottland  noch  weiter  als  in  England.  Bei  den  nach  gemeinem  Rechte 
strafbaren  indictable  crimes  —  und  ebenso  bei  den  auf  Grund  eines  G.  straf- 
baren in  Ermangelung  einer  anderweitigen  Feststellung  —  kann  Zuchthaus- 
strafe in  beliebiger  Ausdehnung  oder  Gefängnisstrafe  verhängt  worden.") 


^)  Der  Verlust  der  Ehrenrechte  kann  durch  ..sentence  of  infamy"  besonders  ver- 
hängt werden;  es  geschieht  dies  besonders  bei  Verurteilungen  wegen  Meineid  und 
Bestechung. 

*^i  Wenn  in  der  nachfolgenden  Darstellung  das  Wort  ,,regelmässig"  dem  Straf- 


§  5.    A.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  der  Gesamtheit.         683 


m  Besonderer  Teil. 

§  5.    A.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  RechtsgUter  der  Oesamthelt. 

1.  Strafbare  Handlungen  gegen  den  Staat.  Ausser  den  mit  dem 
englischen  Recht  gemeinschaftlichen  Grundsätzen  (vgl.  die  Übersicht  oben 
§  2  I)  bestehen  Strafbestimmungen  gegen  Majestätsbeleidignng  (der  schottische 
Ausdruck  ist  leasing  making  —  wohl  eine  Korruption  von  laesa  majestas)  und 
gegen  staatsfeindliche  Unternehmungen  (sedition).  Beide  haben  heute  keine 
praktische  Bedeutung  (Macdonald  S.  228 — 229). 

2.  Strafbare  Handlungen  gegen  den  öffentlichen  Frieden. 

a)  öffentliche  Zusammenrottungen.  Die  Abstufung  zwischen  un- 
lawful  assembly,  rout  und  riot  (vgl.  England  §  8  II  1)  besteht  in  Schottland 
nicht.  Eine  strafbare  Zusammenrottung  wird  als  „mobbing"  oder  „mobbing 
and  rioting"  bezeichnet.  Zum  Thatbestand  gehört  die  Mitwirkung  mehrerer, 
eine  widerrechtliche  Absicht  und  die  Bedrohung  des  öffentlichen  Friedens 
(Macdonald  S.  180 — 185).  Strafe:  Zuchthaus  oder  Gef.  Im  Falle  einer  Be- 
teiligung von  mindestens  zwölf  Personen  nach  Verlesung  der  durch  die  auch 
für  Schottland  geltende  Riot  Act  vorgeschriebenen  Proklamation  oder  der 
gewaltsamen  Verhinderung  der  Verlesung  und  ebenso  bei  der  Beschädigung 
von  Maschinen  oder  von  öffentlichen  Gebäuden  kommen  dieselben  gesetzlichen 
Strafbestimmungen  wie  die  in  den  analogen  Fällen  in  England  geltenden  zur 
Anwendung.  (Vgl.  England  §  8  II  c).  P]s  hatte  dies  früher  eine  praktische 
Bedeutung,  da  die  Todesstrafe  ursprünglich  in  der  Riot  Act  vorgeschrieben 
war.  Seit  Beseitigung  der  Todesstrafe  besteht  nach  schottischem  Recht  zwischen 
einfachem  und  qualifiziertem  Riot  in  Bezug  auf  das  Strafmaximum  kein  Unter- 
schied,    {ygl-  Macdonald  S.  185b.) 

b)  Sonstige  Störungen  des  öffentlichen  Friedens.  Da  wo  eine 
Friedensstörung  ohne  Zusammenrottung  stattfindet,  8i)richt  man  in  Schottland 
von  „rioting^)  and  breach  of  the  peace".  Strafe  regelmässig  Gef.  oder  Geld- 
strafe (Macdonald  S.  188). 

c)  Unbefugte  militärische  Übungen  sind  ebenso  wie  in  England 
(§  8  II  3)  strafbar. 

3.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Autorität  der  Staatsgewalt. 
a)    Widerstand  gegen  Beamte:    Die  unter  England  §8  III  1  a  und  b 

erwähnten  besonderen  Bestimmungen  beziehen  sich  auch  auf  Schottland.  In 
den  anderen  Fällen  hängt  der  Widerstand  gewöhnlich  mit  einem  anderen 
Delikt  zusammen  (gewaltsamer  Angriff,  Zusammenrottung,  Friedensstörung  usw.), 
welches  den  eigentlichen  Gegenstand  der  Verfolgung  bildet,  kann  aber  auch 
als  besonderes  Delikt  (Obstructing  officers  of  law)  verfolgt  werden.  Strafe 
regelmässig  Gef.  (Macdonald  S.  217).  Die  gewaltsame  Verhinderung  der  Aus- 
führung eines  gerichtlichen  Befehls  und  ebenso  die  gewaltsame  Verhinderung 
eines  Steuerbeamten  bei  der  Ausübung  seiner  Amtspflicht  wird  als  „deforcement" 
besonders  hervorgehoben  (Macdonald  S.  212  —  216). 

b)    Entweichung  und  Befreiung  von  Gefangenen.     Die  Entweichung 
aus  einem  Gef.   durch  gewaltsamen  Ausbruch   (prison  breaking)   und  der  Ein- 


mass   beigefügt   wird,   so   soll   damit   ausgedrückt    werden,   dass  sowohl   Zuchthaiis- 
als   Gefängnisstrafe   zulässig   ist,   in   der   Praxis   aber   die    ange^j^ebene    Strafe   ver- 


hängt wird. 


^)  Der  Ausdruck  riot  wird  demnach  in  Schottland  in  einem  ganz  anderen  Sinne 
als  in  England  gebraucht. 


684  Schottland.  —  Besonderer  Teil. 


bruch  in  ein  solches  in  der  Absicht,  Gefangene  zu  befreien,  sind  mit  Zuchthaus 
oder  Gef.  strafbar  (Macdonald  S.  217  —  219). 

4.  Strafbare  Handlungen  gegen  den  Gang  der  Staatsverwaltung. 

a)  Amtsdelikte.  Strafbar  sind:  Vernachlässigung  der  Amtspflicht  (Mac- 
donald S.  191),  Missbrauch  der  Amtsgewalt  (Macdonald  S.  174)  und  Bestechung 
(Macdonald  S.  206).  Diese  Delikte  scheinen  nur  bei  untergeordneten  Beamten 
vorzukommen  (Macdonald  S.  207)  und  werden  regelmässig  nur  mit  Gef.  bestraft. 
Entsetzung  vom  Amte  und  „Infamie"  kann  zu  gleicher  Zeit  verhängt  werden. 

b)  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtspflege. 

a)  Eidesdelikte:  Als  Meineid  wird  bestraft  eine  in  eidlicher  (oder  einer 
der  eidlichen  gleichgestellten)  Form  vor  einem  richterlichen  Beamten  abgegebene 
vorsätzlich  falsche  Erklärung  über  eine  wesentliche  Thatsache  (Macdonald 
S.  207  —  210).  Strafe:  Zuchthaus  oder  Gef.  Die  Verleitung  zum  Meineid 
(subornation  of  perjury)  ist  in  gleicher  Weise  strafbar  und  in  beiden  Fällen 
kann  „infamy"  verhängt  werden  (Macdonald  S.  211  —  212). 

ß)  Falsche  Anschuldigung.  Strafe:  Zuchthaus  oder  Gef.  (Macdonald 
S.  178 — 179).  Ebenso  ist  die  Verabredung  zu  falscher  Anschuldigung  strafbar 
(Macdonald  S.  240). 

y)  Begünstigung  (Personenhehlerei)  ist  nur  im  Falle  des  Hochverrats 
(auf  welchen  sich,  wie  oben  erwähnt,  die  englischen  Bestimmungen  beziehen) 
als  solche  strafbar  (Macdonald  S.  11). 

c)  Strafbare  Handlungen  gegen  das  öffentliche  Wahl-  und 
Stimmrecht.  Die  englischen  (England  §  8  IV  3  erwähnten)  Bestimmungen 
beziehen  sich  auch  auf  Schottland,  insoweit  sie  sich  auf  Wahlen  für  das 
Parlament  beziehen. 

d)  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Zollgesetze.  Auch  auf  diese 
sind  die  englischen  Bestimmungen  (vgl.  England  §  8  IV  4)  anwendbar. 

5.  Strafbare  Handlungen  gegen  das  Vereins-  und  Pressrecht. 
Die  unter  England  §  8  V  1  erwähnten  obsoleten  Bestimmungen  über  unerlaubte 
Vereine  und  Mönchsorden  sind  auch  für  Schottland  anwendbar,  aber  auch  dort 
ohne  praktische  Bedeutung.  Besondere  Bestimmungen  über  das  Pressrecht 
bestehen  in  Schottland  nicht. 

6.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Religion.  Strafrechtliche 
Verfolgungen  wegen  solcher  Delikte  kommen  in  neuerer  Zeit  nur  vor,  wenn 
es  sich  um  die  Verbreitung  von  Schriften  handelt,  welche  die  Bibel  oder  die 
christliche  Religion  beschimpfen,  tadeln  oder  verspotten.  Strafe:  Gef.  mit  oder 
ohne  Geldstrafe  oder  auch  nur  Geldstrafe  (Macdonald  S.  203 — 204). 

Die  Entfernung  einer  Leiche  aus  dem  Grabe  ist  mit  Zuchthaus  oder  Gef. 
strafbar  (Macdonald  S.  76). 

7.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Sittlichkeit. 

a)  Widernatürliche  Unzucht  d.  h.  Sodomie  (im  Gegensatz  zum  eng- 
lischen Recht  nur  zwischen  Personen  männlichen  Geschlechts)  und  Bestialität. 
Strafe:   Zuchthaus  oder  Gef.  (Macdonald  S.  200). 

b)  Unzüchtige  Handlungen  zwischen  Personen  männlichen  Ge- 
schlechts.    Strafe:  Zuchthaus  oder  Gef.  (Macdonald  S.  201). 

c)  Verbreitung  unzüchtiger  Schriften.  Strafe:  Zuchthaus  oder  Gef. 
(Macdonald  S.  203). 

d)  Ine  est  nach  den  im  Leviticus  (cap.  18)  niedergelegten  Regeln.  Strafe 
regelmässig  lebenslängliches  Zuchthaus  (G.  von  1567  cap.  14,  15;  Macdonald 
S.  198—200). 

8.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Vorschriften  zum  Schutze 
der  öffentlichen  Wohlfahrt.  Hierher  gehört  die  Regel  des  gemeinen 
Rechts,    nach  welcher    das  Halten    von  Spielhäusem    beliebig  bestraft  werden 


§  6.    B.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgtiter  des  Einzelnen.  685 


kann  (Macdonald  S.  205).  Unter  der  Rubrik  „profanity"  wird  das  Offenhalten 
eines  Ladens  am  Sonntag  bestraft  (Macdonald  S.  204).  Im  übrigen  bestehen  keine 
„indictables  crimes",  welche  den  unter  England  §8  VIII  aufgezählten  entsprechen. 

§  6.    B.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgfiter  des  Einzelnen. 

1.    Strafbare  Handlungen  gegen  die  körperliche  Unversehrtheit. 

a)  DieTötuug.  Das  schottische  Recht  unterscheidet  zwischen  murder 
und  culpable  homicide.  Murder  ist  die  Tötung  durch  eine  vorsätzliche  Hand- 
lung, gleichviel,  ob  der  Tod  eines  Menschen  beabsichtigt  war,  oder  ob  die 
Handlung  ohne  Rücksicht  auf  die  Wahrscheinlichkeit  des  tödlichen  Ausgangs 
erfolgte.  Überlegung  gehört  nicht  zum  Thatbestand  (Macdonald  S.  123).  Die 
Reizung  wird  als  strafmildernder  Umstand  nicht  berticksichtigt,  jedoch  wird  im 
Falle  eines  gewaltsamen  Angriffes  gegen  den  Thäter,  der  geeignet  ist,  denselben 
um  sein  eigenes  Leben  besorgt  zu  machen  —  insofern  die  That  nicht  nach  den 
Grundsätzen  über  die  Notwehr  (vgl.  oben  §  4)  ganz  entschuldigt  wird  —  die 
That  nicht  als  murder,  sondern  als  culpable  homicide  behandelt.  (Vgl.  Mac- 
donald S.  127.)  Als  culpable  homicide  wird  auch  die  fahrlässige  Tötung  be- 
handelt (Macdonald  S.  131).  Die  Strafe  für  murder  ist  der  Tod;  für  culpable 
homicide  und  ebenso  für  Mordversuch  Zuchthaus  oder  Gef.  (Macdonald  S.  143), 
doch  sind  gewisse  Arten  des  Mordversuchs  auf  Grund  des  G.  10  Geo.  IV 
cap.  38  (bestätigt  durch  Criminal  Procedure  [Scotland]  Act  1887  §  56)  mit 
Todesstrafe  bedroht,  nämlich  d)  das  versuchte  oder  vollendete  Abschiessen  von 
Feuerwaffen  gegen  eine  Person;  ß)  eine  der  folgenden  Handlungen,  wenn  in 
der  Absicht  verübt,  jemanden  zu  töten  oder  ihm  eine  schwere  Körperverletzung 
zuzufügen:  I.  Verwundung  durch  Stich  oder  Schnitt;  II.  Vergiftung;  III.  Ver- 
suchte Erstickung;  IV.  Versuchte  Erdrosselung;  V.  Versuchte  Ertränkung; 
VI.  Das  Aufgiessen  von  Schwefelsäure  oder  anderen  ätzenden  Flüssigkeiten. 

b)  Körperverletzung  und  Angriffe  gegen  die  Person. 

aa)  Assault.  Dieser  Begriff  bezeichnet  bereits  den  Angriff,  auch  wenn 
keine  Körperverletzung  stattgefunden  hat  (Macdonald  S.153).  Als  erschwerende 
Umstände  gelten  a)  die  Absicht  der  Tötung,  der  Notzucht  oder  Unzucht,  der 
schweren  Körperverletzung,  der  Entführung,  des  Raubes,  der  Erpressung, 
der  Nötigung  und  der  Befreiung  von  Gefangenen  (Macdonald  S.  156  — 157); 
ß)  die  Benutzung  von  Feuerwaffen  (auch  nicht  geladener)  und  der  Angriff 
durch  Stich  oder  Schnitt  und  ebenso  die  Anwendung  ätzender  Flüssigkeiten 
(Macdonald  S.  157 — 158);  y)  das  Herbeiführen  einer  schweren  Körperverletzung 
(Macdonald  S.  158);  d)  die  Begehung  der  That  in  Gegenwart  des  Souveräns, 
im  Gebiete  einer  königlichen  Besitzung,  in  einem  der  höheren  Gerichtshöfe 
oder  in  der  Wohnung  des  Angegriffenen  (im  Falle  eines  gewaltsamen  Angriffs 
würde  im  letzteren  Falle  hamesucken  —  vgl.  unten  —  vorliegen);  e)  die  Be- 
gehung der  That  gegen  Eltern,  Kinder  und  Pflegebefohlenen,  die  Ehefrau, 
eine  kranke  oder  schwangere  Person,  einen  Geistlichen,  einen  Richter,  einen 
anderen  Beamten  bei  der  Ausübung  seiner  Amtspflicht  usw.  Reizung  durch 
Worte  gilt  nicht  als  mildernder  Umstand,  wohl  aber  die  Reizung  durch  Schläge, 
insofern  gewisse  Grenzen  eingehalten  werden  (Macdonald  S.  154).  Strafe: 
Zuchthaus,  Gef.  oder  auch  nur  Geldstrafe.  Da  die  thatsächlich  erfolgte  Körper- 
verletzung ein  straferschwerender  Umstand  ist,  werden  die  meisten  in  dsw 
Gebiet  der  Körperverletzung  gehörenden  Delikte  unter  dieser  Rubrik  verfolgt. 

bb)  Stellionat.  Dieser  Ausdruck  wurde  unerklärlicherweise  früher  für 
alle  Realinjurien  angewandt,  ist  aber  jetzt  ganz  ausser  Übung  gekommen 
(Macdonald  S.  162). 

cc)   Beating  and  cursing  parents.     Ein   G.  von  1661    (cap.  20)   be- 


686  Schottland-  —  Besonderer  Teil. 


stimint,  dass  das  Schlagen  und  Verfluchen  von  Eltern  dnrch  Personen,  welche 
das  16.  Lebensjahr  überschritten  haben  nnd  sich  nicht  in  einem  Znstande 
änsserster  Reizung  befinden  (not  distracted)  mit  dem  Tode  zu  bestrafen  sind. 
Das  öfters  erwähnte  G.  von  1887  hat  die  Todesstrafe  beseitigt,  doch  kann 
noch  auf  die  höchste  Zuchthausstrafe  erkannt  werden  (Macdonald  S.  162 — 164). 

ddj  Hamesucken.  Mit  diesem  Ausdrucke  wird  ein  besonders  gewalt- 
samer Angriff,  der  in  der  Wohnung  des  Angegriffenen  stattfindet,  bezeichnet. 
Auch  dieses  Delikt  war  bis  1887  mit  dem  Tode  bedroht  und  wird  jetzt  regel- 
mässig mit  Zuchthausstrafe  bestraft  (Macdonald  S.  164  — 167). 

ee)  Vernachlässigung  der  Pflicht  gegen  Pflegebefohlene.  Die- 
selbe ist  nach  gemeinem  Rechte  mit  Zuchthaus  oder  Gef.  strafbar  (Mac- 
donald S.  171).  Das  besonders  zum  Schutze  von  Lehrlingen  erlassene  G.  (vgl. 
England  §  9  I  2b  Anm.  2),  dessen  Maximalstrafe  sechs  Monate  Gef.  und  Zwangs- 
arbeit ist,  gut  auch  für  Schottland  (38  u.  39  Vict.  cap.  86  §  6). 

c)    Gefährdung  von  Leib  und  Leben. 

aa)  Die  Aussetzung.  Dieselbe  ist  im  Gegensatz  zum  englischen  Recht 
strafbar,  auch  wenn  die  Gesundheit  des  Kindes  thatsächlich  nicht  gefährdet 
oder  geschädigt  wird.  Auch  besteht  die  Altersgrenze  von  zwei  Jahren  nicht 
im  schottischen  Recht.     Strafe:  Zuchthaus  oder  Gef.  (Macdonald  S.  172 — 173). 

bb)  Die  widerrechtliche  Anwendung  betäubender  Stoffe.  Die- 
selbe ist  strafbar,  insofern  Betäubung  eintritt  ohne  Rücksicht  auf  die  Absicht, 
in  welcher  sie  erfolgte.     Strafe:  Zuchthaus  oder  Gef.  (Macdocald  S.  173). 

ccj  Die  Verheimlichung  der  Schwangerschaft.  Ein  besonders  für 
Schottland  erlassenes  G.  (49  Geo.  III  cap.  14)  bedroht  eine  weibliche  Person, 
welche  während  der  ganzen  Zeit  der  Schwangerschaft  dieselbe  verheimlicht, 
und  bei  der  Geburt  des  Kindes  keine  Hülfe  einholt,  insofern  das  Rind  nicht 
am  Leben  bleibt,  mit  einer  Maximalstrafe  von  zwei  Jahren  Gef. 

dd)  Abtreibung.  Die  widerrechtliche  Anwendung  von  Arzneimitteln 
oder  Instrumenten  in  der  Absicht  der  Abtreibung  ist  mit  Zuchthaus  oder  Gef. 
strafbar  (Macdonald  S.  152  — 153).*) 

ee)  Das  Abfeuern  von  Feuerwaffen  ist  mit  Zuchthaus  oder  Gef. 
strafbar,  auch  wenn  dasselbe  nicht  in  strafbarer  Absicht  erfolgte. 

2.    Strafbare  Handlungen  gegen  immaterielle  Rechtsgüter.-) 

a)    Gegen  die  persönliche  Freiheit. 

aa)  Nötigung  und  Bedrohung.  Die  Bedrohung  mit  Mord,  falscher 
Anschuldigung  oder  schwerer  Sachbeschädigung  in  der  Absicht,  eine  Handlung 
oder  Unterlassung  zu  erzwingen,  ist  mit  Zuchthaus  oder  Gef.  strafbar  (Mac- 
donald S.  175 — 177).  Die  besondere,  für  den  Fall  der  Ausstände  berechnete 
Bestimmung  der  Consp.  and  Prot,  of  Pr.  Act.  1875  (vgl.  England  §9  11  2a) 
gilt  auch  für  Schottland. 

bb)  Freiheitsberaubung  und  Entführung.  Die  Wegnahme  von 
Kindern,  welche  das  Alter  der  Pubertät  nicht  erreicht  haben,  wird  als  Dieb- 
stahl bestraft  und  als  plagium  bezeichnet  (Macdonald  S.  25).  Das  mit  Zucht- 
haus oder  Gef.  strafbare  Delikt  der  „abduction"  umfasst:  Freiheitsberaubung 
und  Gefangenhaltung;  Entführung  von  Frauenspersonen  —  auch  in  der  Ab- 
sicht der  Ehelichung  und  endlich  die  gewaltsame  Entfernung  von  Wählern 
von  der  Wahlurne  oder  von  Zeugen  vom  Gerichtslokal  (Macdonald  S.  170 — 171). 
Die  Entführung  nicht  18 jähriger  Mädchen  in  unsittlicher  Absicht  ist  ebenso 
wie  in  England  strafbar  (vgl.  England  §  9  11  3). 

^)  Es  scheint  noch  kein  Fall  vorgekommen  zu  sein,  in  welchem  die  Schwangere 
selbst  wegen  Anwendung  abtreibender  Mittel  bestraft  wurde. 

^)  Ein  Delikt,  das  dem  englischen  „libel'^  entspricht  (vgl.  England  §  9  11 1),  besteht 
im  schottischen  StR.  nicht. 


§  6.    B.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Rechtsgüter  des  Einzelnen.  687 


b)  Gegen  die  geschlechtliche  Freiheit. 

aa)  Notzucht  (Rape).  Als  solche  wird  behandelt  die  Nötigung  einer 
weiblichen  Person  zur  Duldung  des  ausserehelichen  Beischlafs  und  femer  die 
Vollziehung  des  Beischlafs  mit  einer  zur  Einwilligung  unfähigen  oder  mit  einer 
nicht  12jährigen  weiblichen  Person.  Strafe  regelmässig  mindestens  20  Jahre 
Zuchthaus  (Macdonald  S.  166 — 169).  Ebenso  gehört  hierher  die  gesetzliche 
Bestimmung  übor  die  Strafbarkeit  des  ausserehelichen  Beischlafs  mit  nicht 
16jährigen  Mädchen  (England  §  9  13),  welche  auch  für  England  gilt. 

bb)  Erschleichung  des  ausserehelichen  Beischlafs.^)  Strafe: 
Zuchthaus  oder  Gef.  (Macdonald  S.  169  —  170). 

cc)  Unzüchtige  Handlungen  mit  jugendlichen  weiblichen  Per- 
sonen. Dieselben  sind  strafbar,  insofern  die  betreffende  weibliche  Person  die 
geschlechtliche  Reife  noch  nicht  erreicht  hat.  Eine  besondere  Altersgrenze  besteht 
nicht.  Als  erschwerender  Umstand  gilt  es,  wenn  der  Thäter  zu  dem  Kinde 
in  einem  Autoritätsverhältnis  steht.  Strafe:  Zuchthaus  oder  Gef.  (Macdonald 
S.  200—203). 

dd)    Die  Kuppelei  ist  ebenso  wie  in  England  strafbar  (England  §  9  II  3). 

c)  Gegen  die  Familienrechte.  Zu  erwähnen  ist  nur  die  Doppelehe, 
welche  sowohl  auf  Grund  eines  Gesetzes  (Act.  1551  cap.  19)  als  nach  gemeinem 
Rechte  strafbar  ist,  aber  regelmässig  nach  den  Bestimmungen  des  gemeinen 
Rechts  behandelt  wird.^)  Der  Ablauf  von  sieben  Jahren  ist  kein  Entschuldi- 
gungsgrund.    Strafe  regelmässig  (ief.  (Macdonald  S.  196 — 198). 

3.  Strafbare  Handlungen  gegen  Individualrechte.  Die  unter 
England  (§  9  III)  erwähntem  Bestimmungen  gelten  auch  für  Schottland. 

4.  Strafbare  Handlungen  gegen  Vermögensrechte. 
A.    Gegen  Sachenrechte. 

a)  Theft.  Das  Delikt  besteht  in  der  widerrechtlichen  Wegnahme  einer 
beweglichen  Sache  aus  dem  Gewahrsam  oder  aus  dem  juristischen  Besitze  eines 
anderen  in  der  Absicht  der  Aneignung  (Macdonald  S.  1 8).  Eine  gewinnsüchtige 
Absicht  gehört  nicht  zum  Thatbestand  (Macdonald  S.  24).  Die  Gebrauchs- 
anmassung  wird  nicht  als  Diebstahl  behandelt^)  (Macdonald  S.  22).  Als 
Diebstahl  wird  (ebenso  wie  nach  dem  englischen  Recht)  auch  die  Wegnahme 
aus  dem  juristischen  Besitze  eines  anderen  angesehen,  obgleich  sich  die  Sache 
im  Gewahrsam  des  Diebs  befindet,  oder  (wie  im  Falle  des  Funddiebstahls) 
überhaupt  nicht  im  Gewahrsam  einer  Person  ist.  Der  schottische  Diebstahl 
entspricht  daher  teilweise  dem  Diebstahl,  teilweise  der  Unterschlagung  desRStGB. 
Erschwerende  Umstände  liegen  vor:  a)  im  Falle  des  Einbruchs  (housebreaking), 
d.  h.  des  widerrechtlichen  Eindringens  in  einen  verschlossenen  Raum  auch  ohne 
Verletzung  der  Sachsubstanz*)  (Macdonald  S.  30 — 36);  ß)  im  Falle  des  öffnens 
eines  Schlosses  („opening  lockfast  places"),  gleichviel  ob  dies  durch  Gewalt 
oder   falsche  Schlüssel    oder    durch    den    wirklichen  Schlüssel  geschieht    (Mac- 

*)  Die  Erschleichung  des  Beischlafs  unter  der  täuschenden  Angabe,  der  Thäter 
sei  der  Ehemann,  wird  seit  1885  ebenso  wie  in  England  als  Notzucht  bestraft. 

*)  Viele  Schwierigkeiten  entstehen  dadurch,  dass  in  Schottland  noch  vortriden- 
tinisches  Eheschliessungsrecht  gilt. 

^)  Macdonald  meint  jedoch,  es  sei  Diebstahl,  wenn  jemand  zwar  die  Absicht  habe, 
die  Sache  zurückzugeben,  dieselbe  aber  in  heimlicher  und  arglistiger  Weise  benutze, 
z.  B.  wenn  jemand  einem  Fabrikanten  ein  Heft,  in  welchem  sich  Notizen  über  ein 
Fabrikationsgeheimnis  befinden,  wegnimmt,  um  das  Geheimnis  zu  erlernen.  Er  meint, 
da  in  diesem  Falle  das  Eigentum  an  dem  Geheimnis  weggenommen  werde,  müsse 
Diebstahl  vorliegen,  vergisst  aber  dabei,  dass  ein  GeschO  ftsgeheimnis  keine  beweg- 
liche Sache  ist.  Die  bewegliche  Sache,  d.  h.  das  Heft,  soll  ex  hypothesi  in  der  Absicht 
der  Wiedergabe  weggenommen  worden  sein. 

*)  Wenn  es  sich  um  widerrechtliches  Eindringen  in  ein  Schifl^  handelt,  wird  der 
Ausdruck  „shipbreaking*  angewandt. 


688  Schottland.  —  Besonderer  Teil. 


donald  S.  36 — 38);  y)  wenn  Kinder  ihrer  Kleider  beraubt  werden  (Macdonald 
S.  38);  6)  wenn  der  Bestohlene  durch  Betäubungsmittel  in  einen  Zustand  der 
Bewusstlosigkeit  versetzt  wird  (Macdonald  S.  38) ;  c)  wenn  der  Dieb  ein  ge- 
wohnheitsmässiger  Dieb  ist^)  (Macdonald  S.  48);  C)  wenn  der  Dieb  sich  in 
einer  Vertrauensstellung  befindet  (Macdonald  S.  51).  Auch  der  Diebstahl  ge- 
wisser Gegenstände  wird  besonders  streng  bestraft,  so  z.  B.  die  Entführung 
von  Eündem  (plagium),  die,  wie  bereits  oben  erwähnt,  als  Diebstahl  behandelt 
wird,  und  die  Wegnahme  von  Pferden,  Rindvieh  oder  Schafen  (Macdonald  S.  52). 
Auf  Grund  einer  1889  aufgehobenen  Bestimmung  (18Geo.  II  cap.  27;  51  Geo.  III 
cap.  41)  wurde  früher  ebenfalls  besonders  streng  bestraft  der  Diebstahl  von 
Waren  während  ihrer  Bearbeitung  in  Bleichwerken  oder  Druckereien.  Der 
Diebstahl  von  Austern  und  Muscheln  ist  mit  einer  Maximalstrafe  von  einem  Jahr 
Gef.  bedroht  (3  u.  4  Vict.  cap.  74;  10  u.  11  Vict.  cap.  92).  Über  den  Post- 
diebstahl gelten  dieselben  Bestimmungen  wie  im  englischen  Recht.  Im  übrigen 
ist  die  Bestimmung  der  Strafe  wie  bei  allen  gemeinrechtlichen  Delikten  ganz 
dem   Ermessen  des  Richters  überlassen.^) 

b)  Breach  of  trust  and  embezzlement.  Mit  diesem  Ausdruck  wird 
die  widerrechtliche  Aneignung  von  Sachen  bezeichnet,  welche  zwar  im  juri- 
stischen Besitz  des  Delinquenten,  aber  nicht  sein  Eigentum  sind.  Da  der 
Begriff  des  juristischen  Besitzes  nicht  genau  feststeht,  ist  es  häufig  schwierig, 
zu  ermitteln,  ob  das  hier  in  Frage  stehende  Delikt  oder  theft  vorliegt.  Un- 
zweifelhafte Fälle  des  breach  of  trust  and  embezzlement  sind :  die  widerrecht- 
liche Aneignung  einer  Sache  durch  einen  Verkaufskommissionär,  einen  Pfand- 
gläubiger, einen  Kurator  usw.  (Macdonald  S.  64 — 70).  Da  die  Strafe,  ebenso 
wie  bei  Diebstahl,  ganz  im  Ermessen  des  Richters  steht,  und  da  seit  1887 
eine  Klage  wegen  theft  zur  Verurteilung  führen  kann,  auch  wenn  nur  der 
Thatbestand  des  breach  of  trust  and  embezzlement  nachgewiesen  wird  (und 
umgekehrt)  —  Criminal  Procedure  [Scotland]  Act  1887  §59  —  hat  die  Unter- 
scheidung überhaupt  keine  praktische  Bedeutung  mehr. 

c)  Robbery  und  stouthrief.  Zwischen  diesen  beiden  Delikten  besteht 
kein  definierbarer  Unterschied.  Beide  bezeichnen  die  gewaltsame  Wegnahme 
von  Sachen.  Der  zuletzt  genannte  Ausdruck  wird  in  neuerer  Zeit  selten  an- 
gewandt und  dann  nur,  wenn  es  sich  um  Gewalt  in  grösserem  Umfang  handelt. 
Strafe  regelmässig  Zuchthaus  (bis  1887  theoretisch  Todesstrafe)  (Macdonald 
S.  53—58).  ' 

d)  Sachbeschädigung.  Dieselbe  ist  strafbar  und  wird  als  „malicious 
mischief*,  „wanton  mischief"  oder  „wilful  mischief"  bezeichnet,  wenn  sie  vor^ 
sätzlich  und  in  böswilliger  Absicht  bewirkt  wird.  Bis  1887  war  auf  Grund 
besonderer  gesetzlicher  Bestimmungen  theoretisch  mit  dem  Tode  strafbar  die 
Tötung  und  Verstümmelung  von  Vieh  und  das  Abschneiden  von  Holz  oder 
Korn  (Acts.  1581  cap.  110  —  1587  cap.  83)  und  ferner  die  Zerstörung  von 
Manufakturwaren  während  ihrer  Verarbeitung  (29  Geo.  3  cap.  46),  in  diesen 
Fällen  tritt  jetzt  Zuchthaus-  oder  Gefängnisstrafe  ein,  in  anderen  Fällen  regel- 
mässig Gef.-  oder  Geldstrafe.  Erschwerende  Umstände  sind  die  Absicht, 
Zwang  gegen  Brodherren  auszuüben  und  femer  einbrecherisches  Eindringen 
in  den  Raum,  in  welchem  die  Sachbeschädigung  verübt  wird  (Macdonald 
S.  116  —  119). 

B.  Strafbare  Handlungen  gegen  Okkupationsrechte.  Die  unter 
England  §  9  IV.  B  1 — 3  erwähnten  Bestimmungen  gelten  auch  für  Schottland. 

^)  Der  Rückfall  gilt  als  erschwerender  Umstand  bei  allen  Delikten  imd  hat  im 
Falle  des  Diebstahls  keine  grössere  Bedeutung  als  bei  anderen  Verbrechen. 

*)  Die  Unterscheidung  zwischen  gewöhnlichem  Diebstahl  und  dem  früher  mit 
Todesstrafe  bedrohtem  furtum  grave  ist  jetzt  ohne  praktische  Bedeutung. 


§  6.    B.  Strafbare  Handlungen  gegen  die  Bechtogüter  des  Einzelnen.  689 


C.  Strafbare  Handlungen  gegen  Forderungsrechte. 

a)  Der  Vertragsbruch.  Die  unter  England  §  9  C  1  erwähnten  Be- 
stimmungen gelten  auch  für  Schottland. 

b)  Der  Bankbruch  und  die  mit  demselben  zusammenhängenden 
Delikte.  Die  unter  England  §  9  C  2  b  und  c  erwähnten  Delikte  sind  in 
Schottland  mit  denselben  Strafen  wie  in  England  bedroht  (43  u.  44  Vict.  cap.  44 
§§13  und  14),  ferner  ist  mit  zwei  Jahren  Gef.  und  Zwangsarbeit  strafbar 
jemand,  dessen  Schulden  bei  der  Einreichung  des  Eröffnungsgesuchs  £200 
überschreiten  und  der  nicht  mindestens  drei  Jahre  ordentliche  Handelsbücher 
geführt  hat  (a.  0.  §  13). 

D.  Strafbare  Handlungen  gegen  das  Vermögen  überhaupt. 

a)  Der  Betrug.  Derselbe  wird  bezeichnet  als  „falsehood  and  fraud" 
oder  als  „falsehood,  fraud  and  wilful  imposition".^)  Es  gehört  hierher  die 
Amtsanmassung,  das  Auftreten  unter  falschem  Namen  oder  in  falscher  Eigen- 
schaft, falsches  Spiel,  der  Erwerb  von  Sachen,  Geld  oder  Kredit  durch  falsche 
Darstellungen  oder  durch  betrügerische  Verschweigung,  die  Falschbeurkundung, 
die  betrügerische  Zerstöning  von  Urkunden,  der  Gebrauch  falscher  Masse  und 
Gewichte,  die  Verfälschung  von  Waren  usw.  Strafe:  Zuchthaus  oder  Gef. 
(Macdonald  S.  89  —  99). 

b)  Die  Erpressung.  Die  Androhung  des  Mords,  schwerer  Sach- 
beschädigung, falscher  Anschuldigung  in  der  Absicht,  einen  Vermögensvorteil 
von  dem  Bedrohten  zu  erpressen,  ist  mit  Zuchthaus  oder  Gef.  strafbar  (Mac- 
donald S,  175  —  177). 

c)  Missbrauch  der  Unerfahrenheit  und  Jugend.  Die  unter  England 
§  9  IV  D  3  erwähnten  Bestimmungen  gelten  auch  für  Schottland. 

d)  Sachhehlerei.  Dieses  mit  dem  Ausdruck  „reset"  bezeichnete  Delikt 
besteht  in  der  widerrechtlichen  Empfangnahme  und  Verwahrung  von  Sachen, 
wenn  der  Empfänger  weiss,  dass  dieselben  durch  theft,  robbery,  breach  of 
trust  and  embezzlement  oder  durch  Betrug  erworben  worden  waren  (Criminal 
Procedure  [Scotland]  Act  1887  §  b&y)  Die  Strafe  ist  Zuchthaus  oder  Gef. 
(Macdonald  S.  60 — 64).  Gewohnheitsmässige  oder  gewerbsmässige  Hehlerei 
wird  nicht  mit  einer  höheren  Strafe  bedroht.  Über  die  Hehlerei  bei  Post- 
diebstählen gelten  dieselben  Bestimmungen  wie  in  England  (vgl.  England  §  9 
IV  4  a). 

5.  Die  durch  das  Mittel  des  Angriffs  gekennzeichneten  straf- 
baren Handlungen. 

a)    Entfesselung  gefährlicher  Naturkräfte. 

a)  Brandstiftung.  Die  Strafe  für  vorsätzliche  Brandstiftung  (wilful 
fireraising)  ist  regelmässig  Zuchthausstrafe  (vor  1887  konnte  Todesstrafe  ver- 
hängt werden),  für  fahrlässige  Brandstiftung  kann  Zuchthaus  oder  Gef.  ver- 
hängt werden. 

ß)  Missbrauch  von  Sprengstoffen.  Die  Bestimmungen  der  Explosive 
Substances  Act  von  1883  (vgl.  England  §  9  V  1  c)  gelten  auch  für  Schottland. 

b)  Gefährdung  des  öffentlichen  Verkehrs.  Über  die  vorsätzliche 
Gefährdung  des  Eisenbahnverkehrs  gelten  dieselben  Bestimmungen  wie  in 
England  (vgl.  E.  u.  I.  §  9  V  2  b).  In  Schottland  ist  noch  das  durch  die  M. 
D.  A.  für  England  aufgehobene  G.  (3  u.  4  Vict.  cap.  97)  in  Kraft.  In  Bezug 
auf  die  Sicherheit  der  Schiffahrt  sind  zu  erwähnen  die  Bestimmungen  des  Ge- 


*)  Diese  allgemeine  Bezeichnung  wird  auch  für  die  Fälschung  angewandt  (s. 
unten  unter  d.) 

^  Vor  1877  war  die  Empfangnahme  von  Waren  nur  dann  als  reset  strafbar, 
wenn  dieselbe  durch  theft  oder  robbery  erworben  waren. 

Strafgesetzgebang  der  Qegeawart.  I.  44 


690  Schottland.  —  Besonderer  Teil 


setzes  (17u.  18  Vict.  cap.  104  §  239),  welche  einen  Schiffer  oder  Matrosen,  der 
durch  vorsätzliche  Pflichtverletzung,  Vernachlässigung  seiner  Pflicht  oder 
Trunkenheit  die  Sicherheit  eines  Schiffes  gefährdet,  mit  zweijähriger  Grefängnis- 
strafe  bedroht,  und  femer  di^  Bestimmung  des  Gesetzes  (33  u.  34  Vict.  cap.  110 
§  11),  welche  für  die  Aussendung  eines  untauglichen  Seeschiffs,  wenn  nicht 
Abwesenheit  von  culpa  nachgewiesen  werden  kann,  dieselbe  Strafe  festsetzt. 

c)  Der  Einbruch.  Der  Einbruch  in  ein  Haus  in  der  Absicht  des  Dieb- 
stahls ist  mit  Zuchthaus  oder  Gef.  strafbar  (Macdonald  S.  73 — 75). 

d)  Die  Urkundenfälschung.  Dieselbe  fällt  unter  den  allgemeinen 
Begriff  von  „falsehood,  fraud  and  wilful  imposition"  (s.  o.  unter  Betrug),  wird 
aber  im  engeren  Sinne  ebenso  wie  in  England  als  forgery  bezeichnet.  Die 
Benutzung  der  gefälschten  Urkunde  in  betrügerischer  Absicht  bildet  einen  Teil 
des  Thatbestands.  Strafbar  ist  die  wissentliche  Benutzung  einer  gefälschten 
Urkunde  in  betrügerischer  Absicht,  auch  wenn  der  Urheber  der  Fälschung 
nicht  ermittelt  werden  kann.  Über  einzelne  Arten  der  Fälschung  bestehen 
besondere  gesetzliche  Bestimmungen,  namentlich  über  die  Fälschung  von 
Bonkarten  und  Postwertzeichen.  Es  sind  dies  die  für  England  seither  in  die 
Forgery  Act  aufgenommenen  Bestimmungen  (vgl.  England  §  9  V  5).  Da  indessen 
forgery  in  Sehottland  ohnehin  beliebig  bestraft  werden  kann  und  regelmässig 
mit  Zuchthaus  bestraft  wird,  kommen  die  erwähnten  Gesetze  in  Schottland 
nur  ganz  ausnahmsweise  zur  Anwendung  (Macdonald  S.  77  —  89;  99 — 100). 
Die  Falschbeurkundung  wird  als  Betrug  bestraft.  Besonders  zu  erwähnen  ist 
die  Falschbeurkundung  in  den  Standesamtsregistern,  welche  auf  Grund  des 
Gesetzes  17  u.  18  Vict.  cap.  80  §  60  mit  einer  Maximalstrafe  von  sieben  Jahren 
Zuchthaus  bedroht  ist. 

e)  Münzdelikte.  Über  dieselben  gelten  die  Bestimmungen  der  Coinage 
Act.  (vgl.  England  §  9  V  6). 


Nachträge. 

Zu  8.  617. 

Zu  den  für  Studenten  bestimmten  Büchern  ist  hinzugekommen:  Cherry, 
An  Outline  of  Criminal  Law  as  regards  OflFences  against  Individuals  1893. 

Zu  S.  651  und  8.  686. 

Unter  der  Rubrik  „Körperverletzung  durch  Vernachlässigung  der  Pflicht 
gegen  Pflegebefohlene^  ist  hinzuzufügen:  Die  vorsätzliche  Misshandlung  oder 
Vernachlässigung  von  Knaben  im  Alter  von  unter  14  und  von  Mädchen  im 
Alter  von  unter  16  Jahren  von  selten  einer  Person  im  Alter  von  über  16  Jahren, 
unter  deren  Obhut  das  betreffende  Kind  steht,  wird,  wenn  demselben  unnötiger 
körperlicher  Schmerz  oder  eine  Schädigung  der  Gesundheit  verursacht  wird, 
mit  einer  Maximalstrafe  von  2  Jahren  Gef.  und  Zwangsarbeit  bedroht.  — 
52  und  53  Vict.  cap.  44  §  1.  Die  Verwendung  von  Kindern  in  den  erwähnten 
Altersklassen  zum  Betteln  auf  den  Strassen  oder  zu  Vorstellungen  oder  dem 
Feilhalten  von  Waren  auf  der  Strasse  oder  in  Schanklokalen  zur  Nachtzeit 
und  die  Verwendung  von  nicht  zehnjährigen  Kindern  zu  diesen  Zwecken  über- 
haupt wird  mit  Geldstrafe,  eventuell  mit  dreimonatlicher  GetUngnisstrafe  und 
Zwangsarbeit  bedroht  —  ibidem  §  3. 


xn. 


DIE   TÜRKEI 


1.  Die  islamitischen  Gerichte  und  die  tflrkische 

Gerichtsverfassnng. 

Von  Sawas  Pascha, 

ehemaligem  tfirkischen  Staatsminister. 
(Übereetsnag  von  Dr.  Ctoorg  CnwMi  in  UanaoTer.) 


2.  Das  Straf  recht  der  Türkei, 

Von  Dr.  L  W.  G.  yan  den  Berg, 

Professor  des  mohammedanisohen  Rechts  in  Delft. 
(Übersetzung  von  Dr.  G«org  Crmten  in  Hannover.) 


44* 


Übersicht 


1.  Die  islamitischen  Gerichte  und  die  tftrkische  Gerichtsverfassung. 

I.  §  1.  Einleitung. 
II.  Geschichtliche  Entwicklung  der  Gerichtsverfassung.     §  2.  Die  Entstehung  und 

Arten   der   Gerichte.    §  3.   Die  Neuordnung  der   türkischen  Gerichtsverfassung. 
III.  Die  heutige  Gerichtsverfassung.   §  4.  Die  Gerichte  älteren  Stils.   §  5.  Die  Gerichte 

neueren  Stils.    §  6.  Besondere  Gerichte  für  die  in  der  Türkei  sich  aufhaltenden 

Ausländer. 

2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 

I.  Die  geschichtliche  Entwicklung  des  türkischen  StR.  §.  1.  Der  allgemeine  Charakter 
und  die  Grundlagen  des  mohammedanischen  StR.  §  2.  Das  strafrechtliche  System 
des  „Multaqä^.  §  3.  Die  Entwicklung  bis  zum  Jahre  1858. 
II.  Das  türkische  StR.  seit  1858.  a)  Das  türkische  StGB.  v.  1858.  1.  §  4.  Der  allge- 
meine Teil.  2.  §  5.  Der  besondere  Teil,  b)  Das  ausserhalb  des  türkischen  StGB. 
V.  1858  stehende  StR.  §  6.  Die  türkischen  Vdgn.  strafrechtlichen  Inhalts,  c.  Schluss- 
bemerkungen. §  7.  Theorie  und  Praxis.  ...^^ 
in.  Das  StR.  des  Vizekönigreichs  Egypten.  1.  §  8.  Das  egyptische  StR.  bis  zum  Jahre 
1883.  2.  §  9.  Das  StGB,  für  Eingebome  von  1883.  3.  §  10.  Die  egyptischen  Ver- 
ordnungen strafrechtlichen  Inhalts.    4.  §  11.  Das  StR.  für  gemischte  Gerichtshöfe. 


1.  Die  islamitischen  Gerichte  und  die  tOrkische 

Gerichtsyerfassnng. 


I  EinleitTing. 

§  1. 

« 

Die  Grundlage  der  islamitlBchen  Gerichtsverfassung  ist  auf  den  Propheten 
selbst  zurückzuführen.  Mohammed  übte  in  seiner  Hauptstadt  Medina  die  richter- 
liche Gewalt  in  eigener  Person  aus.  Wenn  die  Regierungsgeschäfte  seine 
Anwesenheit  an  anderen  Orten  erforderlich  machten,  so  übertrug  er  das 
Richteramt  den  Weisen  der  Stadt,  die  sich  dem  Islam  zugewendet  hatten. 
Nach  seiner  Rückkehr  prüfte  er  die  inzwischen  gefällten  Entscheidungen,  be- 
stätigte oder  verwarf  sie  und  erklärte  im  letzteren  Falle  seinen  Vertretern  die 
Gründe,  die  ihn  zur  Abänderung  veranlassten.  So  oft  die  Bedürfnisse  der  isla- 
mitischen Gesellschaft  eine  Umgestaltung  der  Vorschriften  des  alten  Rechts  (der 
Gesetze  von  Abraham  und  Moses)  oder  die  Einführung  neuer  Bestimmungen  nö^ 
wendig  erscheinen  Hessen,  veröffentlichte  er  dieselben,  sowie  den  ihm  in  Bezug 
hierauf  zu  teil  gewordenen  Befehl  Allahs.  Nach  mohammedanischer  AufPassung 
sind  die  vom  Propheten  gefäUten  und  die  von  seinen  Vertretern  erlassenen,  von 
ihm  bestätigten  Urteile,  sowie  die  von  ihm  ausgehenden  Gesetze  göttlichen  Ur- 
sprungs, haben  allgemein  verbindliche  Kraft  und  bilden  einen  Teil  des 
mohammedanischen  Gesetzes. 

In  den  neuen  Teilen  des  Reiches  wurde  im  Namen  des  Propheten  durch 
Beauftragte  desselben  Recht  gesprochen.  Diese  Beamten  waren  zunächst  im 
Vollbesitze  der  Regierungsgewalt  und  hatten  nicht  nur  richterliche,  sondern 
auch  militärische  und  verwaltungsrechtliche  Befugnisse.  Indes  trennte  Mohanmied, 
sobald  es  ging,  die  Justiz  von  der  Verwaltung  und  übertrug  die  ausschliess- 
liche Ausübung  der  ersteren  unabhängigen,  rechtskundigen  Männern,  die  in 
seinem  Namen  Recht  sprachen.  Sie  galten  als  „Stellvertreter  des  Propheten" 
(Sahabe) ;  ihre  Entscheidungen  waren  daher  ebenfalls  allgemein  verbindlich  und 
wurden  auf  die  Wirksamkeit  der  göttlichen  Offenbarung  selbst  zurückgeführt. 

Grundlage  der  mohammedanischen  Gesetzgebung  war  von  jeher  das 
Wort  Gottes  (Koran)  und  das  Beispiel  des  Propheten  (Sounnet),  d.  h.  seine  Lehre, 
seine  Thaten  und  seine  stillschweigende  Billigung;  man  kann  sie  als  Urquellen 
des  mohammedanischen  Rechts  bezeichnen. 

Die  Rechtsgelehrten  der  drei  ersten  islamitischen  Generationen  waren 
ermächtigt,  jede  Streitfrage  zu  entscheiden,  bezüglich  deren  eine  Entscheidung 
weder  im  Koran,  noch  durch  das  Beispiel  des  Propheten,  noch  durch  zwei 
andere  Rechtsquellen  —  den  Spruch  einer  Versammlung  von  Rechtsgelehrten 
und    die   Gesetzesanalogie  —  bereits  getroffen  war.     In    die  Versammlungen 


694  I^c  Türkei.  —  1.  Die  islamitiachen  Gerichte  und  die  rörkische  Gerichcs^eHaaBnn^. 


▼on  Kec'fatsgelehrten  'idjm^i  wnrden  während  der  drei  ersten  moh^unmedAiiischen 
Generationen  alle  Rechtskundigen  zum  Zwecke  der  Beratung  schwieriger 
Fragen  berufen.  Unter  Gesetzesanalogie  versteht  man  die  EjitBcheidnng  ein^ 
noch  nicht  entschiedenen  Frage  durch  Anwendung  eines  Eechtssatzes,  den  man 
durch  rechtliche  Analysierung  der  bereits  vorhandenen  Entsoheidimg  einer  ähn- 
lichen Frage  gefunden  hat. 

Es  giebt  also  im  ganzen  vier  Quellen  des  mohammedanischen  Rechts: 
1.  den  Koran;  2.  das  Beispiel  des  Propheten:  3.  die  Entscheidung  der  Versamm- 
lungen Rechtsgelehrter:  4.  die  (^iesetzesanalogie. 

Die  unmittel l>aren  Nachfolger  Mohammeds,  die  vier  rechten  Khalifen, 
folgten  seinem  Beispiel,  indem  sie  selbst  die  Richtergewalt  ausübten  imd  ausser- 
halb der  Reichshauptstadt  die  bedeutendsten  Rechtsgelehrten  mit  ihrer  Ver- 
tretimg betrauten.  Schwierige  Rechtsfragen  wurden  stets  dem  Rate  Sachver- 
ständiger vorgelegt,  dessen  Entscheidungen  hohes  Ansehen  genossen,  weil  diese 
Einrichtung  auf  Mohammed  selbst  zurückzufahren  war.  Man  kann  also  f&r 
di^  Zeit  vom  Auftreten  des  grossen  arabischen  Gesetzgebers  fCharii  an  bis 
an  das  Ende  der  Periode  seiner  vier  unmittelbaren  Nachfolger  sagen,  dass 
die  mohammedanischen  Gerichte  eine  doppelte  Aufgabe  hatten:  eine  gesetz- 
geberisch-juristische, als  deren  Resultat  die  Scbafiung  des  aUgemeinen 
mohammedanischen  GB.  erscheint  —  und  eine  richterliche,  die  in  Beur- 
teilung der  guten  und  bd^en  Thaten  der  Menschen  tmd  in  der  Entscheidung 
von  Prozessen  besteht. 

Nach  den  vier  rechten  Khalilen  bemächtigten  sich  die  Omejjaden  der 
Herrschaft.  Mit  ihnen  trat  eine  Änderung  der  Gerichtsverfassung  ein,  indem 
das  Grcricht  des  Propheten  aufhörte,  das  einzige  zu  sein. 

Unter  dem  zweiten  Abbasiden,  dem- Khalifen  Abu  Djafer-el-Mansor,  ge- 
langte die  Entwicklung  der  mohammedanischen  Gerichtsverfassung  zim  Ab- 
schluss.  Die  gesetzgeberische  Funktion  der  Gerichte  wurde  von  der  richter- 
lichen getrennt  tmd  beiden  ein  genau  umschriebener  Wirkimgskreis  zugewiesen. 

Die  mohanmiedanische  Gerichtsverfassimg  hat  sich  bis  in  imsere  Zeit  so 
erhalten,  wie  sie  von  den  bedeutenden  arabischen  Gesetzgebern,  den  Verfassern 
des  ersten  GB.  (Kutubi-site)  von  der  Zeit  Abu  Djafer-el-Mansurs  bis  zur 
Regierung  des  berühmtesten  aller  von  Abbas  (dem  Onkel  Mohammeds)  ab- 
stammenden Khalifen,  Harun  al  Raschid,  begründet  worden  ist.^) 


H  Geschichte  der  islamitischen  Qerichtsverfassimg. 

§  2.  Entstehung  und  Arten  der  (reriehte. 

Die  mohammedanische  (Jerichtsverfassung  hat  niemals  wesentliche  Ver- 
änderungen erlitten.  Auch  die  letzte  in  der  Türkei  erfolgte  Justizrefonn  hat 
die  von  dem  Propheten  und  den  bedeutenden  Juristen  aus  der  Zeit  kurz  nach 
der  Heglra  (622j  geschaffenen  Grundlagen  unangetastet  gelassen  und  sich 
darauf  beschränkt,  eine  neue  Art  von  Gerichten  ins  Leben  zu  rufen,  die  neben 
den  alten  wirken  sollen.  Auch  die  türkische  Grerichtsverfassung  beruht  somit 
völlig  auf  der  Lehre  Mohammeds. 

Die  neu  eingerichteten  ttirkischen  Gerichte  bilden  allerdings  ein  zusammen- 
hängendes Ganze,  das  von  den  Gerichten  alten  Stils  völlig  getrennt  ist     Nach 


N  Die  genaue  Darstellung  der  geschichtlichen  Entwicklung  der  mohammedani- 
schen Gerichtsverfassung  enthält:  SavvasPacha,  Theorie  du  droit  musulman.  Paris, 
Marchai  &  Billard,  Place  Dauphine.  1892. 


§  2.    Entstehung  und  Arten  der  Gerichte.  695 


völlig  modernen  Gnmdsätzen  zerfallen  sie  in  drei  Klassen:  Gerichte  erster 
Instanz,  Berufungsgerichte  und  Revisionsgerichte.  Aber  das  Becht,  welches 
sie  zur  Anwendung  bringen,  ist  das  alte  mohammedanische,  wenn  auch  in 
modernisierter  Fassung.  Um  sich  hiervon  zu  überzeugen,  braucht  man  nur 
einmal  den  Bericht  zu  lesen,  welchen  die  mit  der  Ausarbeitung  des  türkischen 
Civügesetzbuchs  (mödj^l^)  beauftragte  Kommission  dem  Gross-Vezierat^)  gelegent- 
lich der  Veröffentlichung  der  ersten  acht  Bücher  desselben  eingereicht  hat. 
Zu  den  Mitgliedern  dieser  Kommission  gehören  hervorragende  türkische  Juristen, 
so  z.  B.  Aladin,  Sohn  des  bedeutenden  Schriftstellers  Aladin,  Verfassers  des 
besten  Lehrbuchs  über  türkisches  Recht,  und  Nachfolger  seines  Vaters  als 
Professor.  Auch  der  Vorsitzende  der  Kommission,  Djevded  Pascha,  ist  einer 
der  besten  lebenden  Kenner  des  türkischen  Rechts;  er  ist  wiederholt  Justiz- 
und  Unterrichtsminister  gewesen  und  in  Europa  durch  seine  geschichtlichen 
Arbeiten  vorteilhaft  bekannt. 

Dank  den  prozessrechtlichen  Bestimmungen  imd  infolge  gewisser  Ein- 
richtungen, von  denen  später  (S.  703)  die  Rede  sein  wird,  ist  das  Vorkommen 
von  Kompetenzkonflikten  völlig  ausgeschlossen.  Die  beiden  Arten  von  Ge- 
richten funktionieren  ungestört  jede  in  dem  ihr  angewiesenen  Wirkungskreise, 
ohne  sich  gegenseitig  zu  durchkreuzen.  Man  kann  die  eine  Kategorie  der^ 
selben,  nämlich  diejenige,  welche  die  eigentlichen  mohammedanischen  Gerichte 
umfasst,  als  Gerichte  alten  Stils,  die  andere,  erst  kürzlich  eingeführte,  als 
Gerichte  neuen  Stils  bezeichnen. 

Die  Gerichte  alten  Stils  werden  als  heilige  Gerichte  bezeichnet, 
weil  ihre  Einsetzung  und  das  von  ihnen  angewendete  Recht  auf  göttliche 
Offenbarung  zurückgeführt  werden.  Jedes  derartige  Gericht  besteht  aus  zwei 
Faktoren:  dem  Richter  (Kadi)  und  dem  Rechtsgelehrten  (Mufti).  Ersterer 
bildet  den  erkennenden  Teil  des  Gerichts;  er  entscheidet  stets  auf  Grund 
kontradiktorischer  Verhandlung  und  erlässt  das  Urteil,  sobald  ihm  der  Rechts- 
streit spruchreif  zu  sein  scheint.  Letzterer  unterstützt  den  erkennenden  Richter 
in  der  Ausübung  seines  Amtes  durch  Aushändigung  schriftlicher  Rechtsgut- 
achten (F^tavas)  an  die  Parteien,  welche  sie  dem  Richter  überreichen,  und  zwar 
entweder  dem  Richter  erster  Instanz  gleichzeitig  mit  der  Stellung  der  Anträge, 
oder  aber  einem  Richter  höherer  Instanz  zur  Begründung  von  Rechtsmitteln 
gegen  das  erste  Urteil. 

Zur  Zeit  der  Abbasiden  war  die  Moschee  die  Amtsstelle  des  Rechts- 
gelehrten; hier  erteilte  er  dem  rechtsuchenden  Publikum  Auskunft  und  gab 
den  Parteien,  die  ihm  Prozessfälle  vortrugen,  in  einer  schriftlichen  Formel  die 
Entscheidung,  die  er  für  richtig  hielt. 

Der  Richter  sprach  im  Gerichtsgebäude  Recht.  Zu  seiner  Unterstützung 
diente  ein  Gerichtsschreiber,  der  die  Anträge  niederschrieb,  die  Rechtsgut- 
achten in  Empfang  nahm  und  den  Thatbestand  der  Civil«  oder  Strafsache  fest- 
stellte, also  die  Akten  führte.  Der  Richter  nahm  von  eingegangenen  Anträgen 
und  Gutachten  Kenntnis,  hörte  die  Parteien  an,  erhob  die  erforderlichen 
Beweise  und  fällte  dann  das  Urteil  unter  Berücksichtigung  des  Rechtsgut- 
achtens, soweit  dasselbe  auf  die  von  ihm  für  festgestellt  erachteten  Thatsachen 
Anwendung  fand.  Meistens  stimmte  das  Urteil  mit  demselben  überein,  der 
Richter  hatte  jedoch  volle  Freiheit,  anders  zu  entscheiden,  und  machte  hiervon 
insbesondere  dann  Gebrauch,  wenn  dem  Rechtsgelehrten  von  den  Parteien  die 
thatsächlichen  Verhältnisse  anders  vorgetragen  waren,  als  sie  sich  nach  den 
Ergebnissen  der  Beweisaufnahme  darstellten,  oder  wenn  er  in  der  rechtlichen 
Beurteilung  des  Falls  eine  andere'  Auffassung  hatte,  als  der  Mufti. 


1)  Dustur  (amtliches  GBl.)  Bd.  I,  S.  20. 


696  ^e  Türkei.  —  1.  Die  islamitischen  Gerichte  und  die  türkische  Gerichtsverfassung. 


Die  Einführung  der  Berufungsinstanz  im  engeren  Sinne  ist  neueren 
Datums.  In  älterer  Zeit  waren  die  Parteien  gegen  Irrtümer  des  ersten  Richters 
nur  durch  Zulassung  der  Revision  geschützt.  Die  Einlegung  derselben  er- 
folgte durch  die  Stellung  eines  Antrags  auf  Aufhebung  des  Urteils  und  be- 
wirkte eine  Nachprüfung  desselben,  die  entweder  zur  Bestätigung  oder  zur 
Aufhebung  führte.  Beruhte  die  letztere  auf  heilbaren  Mängeln  des  Urteils,  so 
wurde  die  Sache  an  den  Richter  erster  Instanz  zurückverwiesen  und  diesem 
die  Beseitigung  der  Mängel  aufgegeben.  Lagen  aber  unheilbare  Mängel  vor, 
so  wurde  das  Urteil  für  nichtig  erklärt  und  das  Verfahren  musste  von  neuem 
beginnen. 

Zur  Zeit  des  zweiten  Rhalifen  aus  dem  Geschlechte  der  Abbasiden 
(754 — 775)  erhielt  der  hervorragendste  der  damaligen  Rechtsgelehrten,  Imam- 
ebn-Iussuf,  den  Titel :  Richter  aller  Richter.  Er  war  der  höchste  rechtskundige 
Beamte  des  Reiches  und  hatte  die  Urteile  aller  anderen  Richter  zu  prüfen, 
um  sie  zu  bestätigen,  abzuändern  oder  zu  verwerfen.  Ehe  er  zu  dieser  Würde 
berufen  wurde,  war  er  ein  Rechtsgelehrter,  übte  aber  den  Beruf  eines  solchen 
ohne  amtlichen  Auftrag  aus.  Die  Vortrefflichkeit  der  von  ihm  erteilten  Aus- 
künfte, von  welchen  man  dem  Herrscher  berichtete,  wurde  die  Veranlassung 
zu  seiner  Ernennung.  Das  eigens  für  ihn  geschaffene  hohe  Amt  ist  dann  1)is 
heute  beibehalten  und  bildet  die  Spitze  des  richterlichen  Beamtentums. 

Richter  und  Rechtsgelehite  bilden  in  der  islamitischen  Gesellschaft  eine 
besondere,  in  Grade  eingeteilte  Hierarchie.  Die  Gerichte  sind  stets  nur  mit 
einem  Richter  und  einem  Gerichtsschreiber  besetzt.  Die  Bedeutung  eines  Ge- 
richts hängt  von  dem  Sitze  desselben  und  der  Anzahl  der  jährlich  zur  Abur- 
teilung gelangenden  Sachen  ab.  Die  Beförderung  von  einem  weniger  wichtigen 
Richterposten  zu  einem  bedeutenderen  erfolgt  nach  den  Fähigkeiten  und  Kennt- 
nissen der  Bewerber,  die  von  diesen  durch  Ablegung  von  Prüfungen  nachzuweisen 
sind.  Wer  sie  am  besten  besteht,  erhält  damit  die  Anwartschaft  auf  Anstellung 
in  den  grossen  Städten  und  der  Reichshauptstadt. 

Die  islamitischen  Gerichte  sind  in  Civil-  und  Handelssachen  unbeschränkt, 
in  Strafsachen  aber  nur  für  die  Aburteilung  von  Verbrechen  zuständig.  Für  die 
Aburteilung  von  Vergehen  und  Übertretungen  wurden  schon  in  der  ältesten  Zeit 
der  mohammedanischen  Gerichtsverfassung  besondere  Strafkammern  gebildet; 
ein  Vertreter  der  Verwaltungsbehörde  führte  den  Vorsitz;  unter  den  Beisitzern, 
deren  Zahl  schwankte,  befanden  sich  stets  ein  Richter  und  ein  Rechtsgelehrter, 
welche  die  Aufgabe  hatten,  die  anderen  Mitglieder  über  die  in  Betracht  kommen- 
den rechtlichen  Fragen  aufzuklären  und  so  auf  eine  sachgemässe  Urteilsfällung 
hinzuwirken.  Ausserdem  war  diesen  Gerichtshöfen  eine  ausreichende  Anzahl 
von  Gerichtsschreibern  und  Exekutivbeamten  zugeteilt.  Die  Urteile  derselben 
waren  meist  nicht  revisionsfähig,  sondern  gelangten  unmittelbar  zur  Vollstreckung. 
Diese  Strafkammern  haben  mit  geringen  Abänderungen  bis  zur  letzten  Justiz- 
reorganisation bestanden. 

Die  vorstehend  geschilderte  Gerichtsverfassung  hat  sich  während  der 
Herrschaft  der  Abbasiden  (750 — 1258)  unverändert  erhalten.  Die  Seldschuken 
und  die  übrigen  kleineren  mohammedanischen  Herrscherfamilien  (Tevaifi  moluk), 
die  nach  dem  Zerfall  des  seldschuklschen  Reiches  die  Gewalt  an  sich  rissen, 
Hessen  sie  in  vollem  Umfange  bestehen,  sodass  der  gelehrte  Reisende  Ibni 
Batuta  (geb.  1302,  gest.  1378)  in  allen  Hauptstädten  der  kleinasiatischen 
Provinzen,  die  damals  selbständige  mohammedanische  Reiche  bildeten,  die 
gleiche  Besetzung  der  Gerichte  mit  einem  Richter  und  einem  Rechtsgelehrten 
vorfand.  Auch  der  Sultan  Osman,  der  Begründer  der  ottomanischen  Dynastie, 
nahm  keine  Änderungen  vor ;  seine  Nachfolger,  vor  allem  die  Sultane  Mehmed  II 
der  Eroberer  und  Soliman  der  Grosse,  verbesserten  die  Stellung  der  Gerichte, 


§  8.    Die  Neuordnung  der  türkischen  Gerichtsrerfassung.  697 


indem  sie  die  Stellung  der  Richter  und  Rechtsgelehrten  hoben,  dem  juristischen 
Studium  ihre  besondere  Aufmerksamkeit  zuwandten  und  Gesetze  erliessen,  die 
zum  Teil  noch  heute  von  Bedeutung  sind. 

Unter  den  ottomanischen  Herrschern  ist  der  höchste  der  Rechtsgelehiten 
(Schaich-uMsl&m)  der  ständige  persönliche  Berater  des  Sultans  und  damit  der 
einflussreichste  Minister  nach  dem  Gross-Vezier  geworden.  Er  ist  der  höchste 
Justizbeamte  des  Reichs;  auf  seinen  Vorschlag  ernennt  der  Sultan  Richter  und 
Rechtsgelehrte,  setzt  sie  ab  und  befördert  sie  in  andere  Stellen.  £r  ist  aber 
gleichzeitig  auch  Minister  für  Kultus-  und  geistlichen  Unterricht,  sowie  Ober- 
vormund und  oberster  Verwalter  des  Vermögens  aller  Waisen. 

§  3.  Ble  Neuordnung  der  tflrkisehen  Gerichtsverfassung. 

Die  Wirkung  der  Änderungen,  welche  die  islamitische  Gerichtsverfassung 
im  Laufe  der  Zeit  erlitten  hat,  Hess  sich  zuerst  im  J.  1849  überblicken.  Die 
Entwicklung,  die  im  J.  1880  ihren  Abschluss  gefunden  hat,  zerfällt  in  zwei 
von  einander  verschiedene  Perioden. 

Erste  Periode.  Die  ersten  Abänderungen  der  türkischen  Gerichtsver- 
fassung sind  auf  den  allerhöchsten  Erlass  von  1839  —  hati-ch6rif  —  durch 
den  eine  allgemeine  Regierungsreiorm  anegordnet  wurde,  zurückzuführen, 
obwohl  sie  erst  10  Jahre  später  thatsächlich  erfolgten.  Sie  bewirkten  zunächst 
einen  Übergangszustand  mit  ungenügend  überlegten  und  deshalb  nicht  recht 
lebensfähigen  Einrichtungen.  Man  errichtete  nämlich  neben  den  Einzelge- 
richten älteren  Stils  (mehkeme)  besondere  Kammern  für  Handels-,  Civil-  und 
Strafsachen,  die  in  der  Hauptstadt  dem  Handels-  und  Polizeiministerium,  in 
den  Provinzen  den  obersten  Provinzialbehörden  unterstellt  und  im  Gegensatz 
zu  ersteren  „Ratskammem"  genannt  wurden.  Sie  erhielten  ausgedehnte  richter- 
liche Befugnisse  und  wurden  für  alle  drei  Instanzen  eingerichtet. 

Handelskammern.  Die  erste  Handelskammer  wurde  1849  zu  Konstan- 
tinopel im  Handelsministerium  und  als  Abteilung  desselben  unter  dem  persön- 
lichen Vorsitz  des  Ministers  errichtet.  Siebestand  aus  14  Mitgliedern,  angesehenen 
Kaufleuten,  und  zwar  7  türkischen  Unterthanen  und  7  Ausländern.  Stellver- 
treter des  Ministers  in  der  Kammer  und  thatsächlicher  Vorsitzender  war  dessen ' 
Staatssekretär  (Muavin). 

Eine  weitere  Vervollständigung  des  türkischen  Justizwesens  erfolgte  1858 
durch  die  Einrichtung  einer,  ebenfalls  dem  Handelsministerium  unterstellten, 
Gerichtsschreiberei  der  Handelskammer.  (Über  die  Zusammensetzung  und  den 
Wirkungskreis  derselben  vgl.  das  Amtliche  GBl.  [Dustur]  Bd.  I   S.  814.) 

Ein  Seegericht  wurde  in  Konstantin opel  im  J.  1863  errichtet  und  1867 
durch  eine  Gerichtssehreiberei  ergänzt  (Dustur,  Bd.  I  S.  823). 

In  den  J.  1849  und  1850  wurden  auch  die  Bezirkshauptstädte  mit 
Handelskammern  versehen,  deren  Vorsitzende  aus  den  angesehensten  türkischen 
Beamten  ausgewählt  wurden.  Die  übrigen  Mitglieder,  deren  Anzahl  sich  nach 
der  Bedeutung  des  Gerichtssitzes  richtete,  wurden  auf  Vorschlag  der  Ver- 
tretung der  Kauftnannschaft  von  der  Regierung  ernannt;  man  nahm  hierzu 
angesehene  und  gebildete,  womöglich  auch  rechtskundige  Kauf  leute ;  die  Hälfte 
derselben  waren  Mohammedaner,  die  andere  Hälfte  Angehörige  der  ver- 
schiedenen christlichen  Konfessionen  (griechisch-katholische,  römisch-katholische, 
Armenier)  und  Juden. 

Ihre  gesetzliche  Bestätigung  erhielt  die  Einrichtung  der  Handelskammern 
1850  mit  dem  Erlass  des  Handelsgesetzbuchs  (Dustur,  Bd.  I  S.  375),  ergänzt 
durch  einen  Anhang  v.  J.  1860  (Dustur,  Bd.  I  S.  445).  Der  Titel  II  dieses 
letzteren  Gesetzes  handelt  von  der  Einrichtung,  Titel  III  von  der  Zuständigkeit  der 


698  I>ie  Türkei.  —  1.  Die  islamitischen  Gerichte  nnd  die  türkische  GerichtSTerfmssnng. 


Handelskammern.    Die  Handelsprossessordnnng  ist  ein  Jahr  sp&ter  (am  10.  Rebi- 
al-evel  d.  J.  1278  der  Hegira)  erlassen.^) 

Strafkammern.  Im  J.  1850  wurde  in  Konstantinopel  eine  Strafkammer 
errichtet,  die  mit  den  bereits  früher  erwähnten,  zur  Zeit  der  Abbasiden  be- 
stehenden grosse  Ähnlichkeit  hatte,  vom  Polizeiministerinm  abhängig  war  and 
ein  Organ  desselben  bildete.  Im  J.  1857  wnrde  sie  in  drei  Unterabteilungen 
zerlegt.  Die  erste  derselben  erhielt  die  Bezeichnung:  Untersuchungs- 
kammer (Me^jlissi-tahqiq);  sie  bestand  aus  mehreren  mohammedanischen, 
christlichen  und  israelitischen  Mitgliedern;  die  türkische  Justiz  war  in  der- 
selben durch  einen  Richter  (Kadi)  und  einen  Rechtsgelehrten  (Maft!)  vertreten. 
Diese  Kammer  entschied  unter  dem  Vorsitz  des  Unteretaatssekretärs  über  die 
Aburteilung  von  Verbrechen.  Die  zweite  Abt.,  Polizeigerichtshof  (Divani  Zaptieh) 
genannt,  war  in  gleicher  Weise  zusammengesetzt,  hatte  einen  hohen,  vom 
Sultan  ernannten  Beamten  als  Vorsitzenden  und  war  erkennendes  Gericht 
für  Vergehen.  Die  dritte  Abt..  Polizeigericht  (Medjlissi  Zalitah)  war  ebenso 
eingerichtet  und  für  die  Aburteilung  der  Übertretungen  zuständig:  nur  war 
der  Vorsitzende,  obwohl  gleichfalls  vom  Sultan  ernannt,  von  niedrigerem 
Range. 

Mit  der  Vornahme  der  erforderlichen  Untersuchungshandlungen  bezüglich 
der  bei  diesen  Gerichten  anhängigen  Sachen  wurden  mehrere,  dem  Justiz- 
minister unterstehende  Untersuchungsrichter  beauftragt. 

Die  drei  vorerwähnten  Gerichte  standen,  trotz  ihrer  verschiedenartigen 
Zuständigkeit,  zu  einander  nicht  im  Verhältnis  von  Gerichten  höherer  und 
niederer  Instanz. 

Die  Spitze  dieser  Organisation  bildete  der  Polizeiminister,  unter  dessen 
dienstlicher  Aufsicht  die  Vorsitzenden  der  Kammern  standen.  Er  veranlasste 
auf  Verlangen  der  Parteien  oder  auch  von  Amts  wegen  eine  Nachprüfung  der 
von  dem  Cbertretungs-  oder  dem  Vergehensgerichtshof  gefällten  Entscheidungen 
durch  die  Untersuchungskammer.  Das  Recht  hierzu  stand  dem  Minister  nicht  auf 
Grund  eines  Gesetzes  zu,  sondern  ergab  sich  aus  seiner  persönlichen  Verant- 
wortlichkeit für  die  Urteile  dieser  Gerichte,  die  erst  dann  als  rechtskräftig 
angesehen  wurden,  wenn  sie  durch  ministerielle  Verfügung  bestätigt  waren. 
Natürlich  erliess  der  Minister  diese  nicht  eher,  als^bis  er  sich  von  der  Richtig- 
keit und  Cresetzmässigkeit  des  Urteils  überzeugt  hatte,  und  beauftragte  die 
wichtigste  Kammer  mit  der  Nachprüfung  solcher  Entscheidungen,  die  ihm  in 
irgend  einem  Punkte  zweifelhaft  erschienen.  Die  Erkenntnisse  dieser  Kammer 
unterlagen  wieder,  wie  später  noch  auszuführen  sein  wird,  der  Revision  durch 
den  höchsten  Gerichtshof  des  Reichs. 

In  den  Provinzen  wurde  seit  dem  Erlass  verschiedener  Verordnungen 
über  die  Zuständigkeit  der  Gerichte  älteren  Stils  i.  J.  1854  die  Aburteilung 
von  Verbr.  und  Verg.  den  Provinzialverwaltungsräten  übertragen,  in  denen 
der  Generalgouverneur  bezw.  die  Gouverneure  den  Vorsitz  führten.  Obwohl 
ihre  eigentlichen  Aufgaben  auf  dem  Gebiete  der  Verwaltung  lagen,  entschieden 
sie  alle  nicht  vor  die  Handelskammern  und  nicht  mehr  vor  die  Gerichte  älteren 
Stils  gehörigen  Sachen,  d.  h.  Verbr.,  Verg.  und  einige  Civilprozesse.  Diesem 
Provinzialrate  gehörten  kraft  ihres  Amtes  an:  der  Generalsteuerdirektor,  der 
oberste  Beamte  des  Verkehrswesens,  der  Richter  und  der  Rechtsgelehrte  des 
Gerichtes  älteren  Stils,  der  Bischof  und  der  Rabbiner;  hierzu  kam  noch  eine 
gleiche  Anzahl  mohammedanischer  und  andersgläubiger  Notabein. 


*)  Dustur,  Bd.  1  S.  780.  —  Eine  französische  Ubersetzuug  dieser  G.  enthält  das 
ausgezeichnete  Werk  von  Aristarchi  Bey  (ehemaligem  türkischen  Gesandten):  „Legis- 
lation Ottomane^. 


§  8.    Die  Neuordnung  der  türkischen  Gerichtsverfassung.  699 


Im  J.  1856  erfolgte  der  Erlass  des  türkischen  StGB.^)  Gleichzeitig 
wurden  in  den  wichtigsten  Provinzialstädten  einzelne  Strafgerichte  (Medjlissi 
4jinayat)  eingesetzt,  die  von  dem  Provinzialverwaltungsrat  unabhängig  waren 
und  unter  dem  Vorsitz  von  hohen  Staatswürdenträgem  tagten,  die  hierzu 
aus  der  Reichshauptstadt  gesandt  waren.  Ihre  Mitglieder  waren  teils 
Muselmänner,  teils  Andersgläubige;  sie  standen  unter  der  Dienstaufsicht  der 
Verwaltungsbehörden  und  erkannten  in  solchen  Sachen,  die  ihnen  durch 
Verfügung  des  Leiters  der  lokalen  Verwaltungsbehörde  zur  Entscheidung 
überwiesen  waren.  In  dem  Umfange,  in  welchem  diese  Strafgerichte  in 
Thätigkeit  traten,  hörten  die  Verwaltungsräte  auf,  sich  mit  Strafsachen  zu 
befassen. 

Diese  erste  Periode  der  Gerichtsverfassungsreform  hatte  also  eine  Ver- 
mehrung der  Arten  von  Gerichten  zur  Folge.  Es  bestanden  nunmehr  neben- 
einander: 1.  die  Gerichte  älteren  Stils,  2.  Handelsgerichte,  3.  Strafgerichte, 
4.  die  für  gewisse  Civilsachen  zuständigen  Verwaltungsbehörden.  Um  Kom- 
petenzkonflikte, vor  allem  zwischen  den  drei  ersten  Kategorieen,  zu  vermeiden, 
wurden  jedem  Gerichte  diejenigen  Sachen,  für  welche  es  zuständig  war,  durch 
Überweisungsverfügung  (havale)  zugeteilt.  Ftlr  den  Erlass  derselben  waren 
die  Verwaltungsbeamten  zuständig,  die  die  bei  ihnen  eingereichten  CiWl- 
und  Handelssachen,  sowie  alle  zu  ihrem  Amtskreis  gehörigen  Strafsachen 
dem  zuständigen  Gerichte  überwiesen  und  nötigenfalls  einen  ihrer  Polizei- 
beamten (qavas)  mit  der  Wahrnehmung  der  Stelle  eines  Gerichtsdieners  be- 
auftragten. 

Der  höchste  Gerichtshof.  Die  Urteile  aller  türkischen  Gerichte  sind 
revisionsfähig.  Über  die  Revision  entscheidet  das  Reichsgericht,  der  höchste  Ge- 
richtshof (Medjlisi-valai-adliye)  des  türkischen  Reiches.  Mitglieder  desselben  sind: 
1.  die  höchsten  Richter  und  Rechtsgelehrten  der  Gerichte  älteren  Stils,  2.  die 
höchsten  Staatswürdenträger,  3.  einige  hohe  Militärs  (Marschälle  und  Divisions- 
generale), deren  Amtssitz  Konstantinopel  ist.  Der  aus  den  hervorragendsten 
türkischen  Beamten  erwählte  Präsident  war  als  solcher  Mitglied  des  kaiserlichen 
Kabinetts.  Der  höchste  Gerichtshof  war  lange  Jahre  hindurch  die  wichtigste 
Staatsbehörde;  er  entschied  in  letzter  Instanz  nicht  nur  über  alle  Rechtsan- 
gelegenheiten, sondern  auch  über  alle  Fragen  aus  dem  Gebiete  der  all- 
gemeinen Staats-  und  Finanzverwaltung,  ja  selbst  der  Militär-  und  Militäijustiz- 
verwaltung. 

Der  Hauptfehler  der  in  vorstehendem  geschilderten  Justizverfassung  lag 
in  der,  übrigens  auch  den  mohammedanischen  Anschauungen  keineswegs  ent- 
sprechenden, Vermengung  richterlicher  und  administrativer  Aufgaben.  Die 
Regierung  erkannte  alsbald  diesen  Mangel  und  sorgte  für  Abhülfe.  Die 
Trennung  der  beiden  Befugnisse  und  der  Ausschluss  der  Verwaltungsbehörden 
von  jeder  Einmischung  in  die  Rechtsprechung  wurde  1866  herbeigeführt  durch 
ein  Gesetz  vom  8.  Zilhidje  d.  J.  1284  über  die  Umgestaltung  des  höchstenGe- 
richtshofes.  Dieser  wurde  nunmehr  in  zwei  von  einander  völlig  getrennte  Körper- 
schaften: den  Staatsrat  und  den  höchsten  Gerichtshof  zerlegt.  In  der  Ein- 
leitung des  Reglements  über  die  Einrichtung  des  letzteren  (Dustur,  Bd.  I  S.  325) 
wird  ausdrücklich  gesagt,  dass  jede  Einwirkmig  der  Verwaltungsbehörden  auf 
die  Justiz  von  jetzt  an  ausgeschlossen  sein  soll. 

Der  höchste  Gerichtshof  zerfällt  in  zwei  Abteilungen,  von  denen  die  eine 
Kassationshof  mit  einer  Civil-  und  einer  Strafkammer,  die  andere  Berufungs- 
gericht ist.    Beide  wirkten  eine  Zeit  lang  unter  dem  Vorsitz  des  Justizministers, 


*)  Dustur,  Bd.  I  S.  537.    Eine  ausgezeichnete  französische  Übersetzung  desselben 
enthält  das  bereits  erwähnte  Werk  von  Aristarchi  Bey,  Bd.  II  S.  212. 


700  ^^  Türkei.  —  1.  Die  islamitischen  Gerichte  und  die  türkische  Gerichtsverfassung'. 


der  hierin  von  zwei  Vizepräsidenten  unterstützt  wurde.  Alle  anderen  Gerichte, 
sowohl  in  der  Hauptstadt,  als  in  den  Provinzen,  wurden  ausdrücklich  als 
vom  Reichsgericht  abhängig  und  dem  Präsidenten  desselben  unterstehend  be- 
zeichnet. 

Die  Civil-  und  Strafgerichte  von  Konstantinopel  sind  in  den  J.  1870  und 
1871  durch  ein  G.  vom  21  Kamazan  d.  J.  1288  und  einen  Nachtrag  hierzu 
vom  21.  Rebi-ul-Akhir  1289  (Dustur,  Bd.  I  S.  353  und  357)  reorganisiert. 

Nach  Art.  2  des  Reglements  für  den  höchsten  Gerichtshof  ist  dieser  zu- 
ständig zur  Entscheidung  aller  den  allgemeinen  Gesetzen  und  Vdgn.  des  Reiches 
unterliegenden  Civil-  und  Strafsachen,  welche  1.  entweder  in  erster  Instanz  von 
diesem  Gerichte  zu  entscheiden  sind,  oder  welche  2.  nach  Erledigung  durch 
ein  Gericht  erster  Instanz  auf  dem  Wege  der  Berufung,  sei  es  durch  die 
Parteien,  sei  es  von  Amts  wegen,  vor  dieses  Gericht  gebracht  werden  können. 
Der  Zuständigkeit  des  höchsten  Gerichtshofes  sind  entzogen:  1.  die  zur  Zu- 
ständigkeit der  Gerichte  älteren  Stils  gehörigen  Sachen;  2.  diejenigen  besonderen 
Angelegenheiten,  für  welche  die  Zuständigkeit  der  Gerichte  der  nicht-moham- 
medanischen Vereinigungen  begründet  ist;  3.  die  den  Handelskammern  zur 
Aburteilung  überwiesenen  Sachen  (Handelssachen). 

Wenn  nun  auch  hiermit  theoretisch  die  Trennung  von  Justiz  und  Ver- 
waltung streng  durchgeführt  war,  so  war  doch  thatsächlich  die  Einmischung 
der  letzteren  in  die  Geschäfte  der  ersteren  noch  keineswegs  beseitigt.  Die 
Handhabe  hierzu  bot  einmal  der  Überweisungsbeschluss,  andrerseits  die  Voll- 
streckung der  von  den  Gerichten  erkannten  Strafen,  die  zunächst  in  den  Händen 
der  Verwaltungsbehörden  blieb.  Die  hierin  liegenden  Mängel  der  neuen  Ge- 
richtsverfassung  wurden  beseitigt  durch  die  Errichtung  zweier  besonderer  Be- 
hörden in  Konstantinopel,  von  denen  die  eine,  das  Überweisungsamt  (havale 
djemijeti),  die  Verteilung  der  eingehenden  Klagen  und  Anträge  an  die  zu- 
ständigen Gerichte,  die  andere,  das  Strafvollstreckungsamt  (idjra  djem\jeti),  den 
Strafvollzug  zu  besorgen  hatte.  Beide  wurden  fast  gleichzeitig  im  J.  1869  ins 
Leben  gerufen  (Dustur,  Bd.  I  S.  343  und  349). 

Auch  die  Verhältnisse  der  gerichtlichen  Exekutivbeamten  wurden  durch 
zwei  Vdgn.  (Dustur,  Bd.  I.  S.  209  und  216)  neu  geregelt.  Sie  erhielten  den 
Titel  Gerichtsdiener  (hadöme),  wurden  in  zwei  Klassen  eingeteilt  und  der 
dienstlichen  Aufsicht  eines  Direktors  und  zweier  Unterdirektoren  unterstellt. 

In  demselben  J.  (1869)  wurde  in  Konstantinopel  auch  ein  Friedensgerichts- 
hof errichtet.  Von  der  Organisation  desselben  handelt  eine  Vdg.  vom  10.  Chual 
des  J.  1292  (Dustur,  Bd.  HI  S.  183). 

Zweite  Periode.  Wenn  nun  auch  durch  die  soeben  geschilderten  Re- 
formen die  beiden  Hauptmängel  der  türkischen  Gerichtsverfassung  gehoben 
waren,  so  blieben  doch  noch  grosse  Lücken  auszufüllen.  Das  Institut  der 
Staatsanwaltschaft  fehlte  gänzlich,  Friedensgerichte  waren  nur  vereinzelt  vor- 
handen und  das  für  die  Aufnahme  von  Verträgen  so  sehr  wichtige  Notariat 
existierte  nicht.  Diesen  Cbelständen  wurde  erst  im  J.  1879  abgeholfen«  in 
welchem,  dank  der  energischen  Initiative  des  regierenden  Sultans  Abdul  Hamid 
Khan,  die  Reform  ihren  Fortgang  nahm.  Die  Arbeiten  wurden  derartig  be- 
schleunigt, dass  bereits  mit  dem  J.  1880  die  türkische  Justizreorganisation 
als  abgeschlossen  betrachtet  werden  kann. 

Es  wäre  verkehrt  anzunehmen,  dass  die  nea  geschaffenen  Einrichtungen 
mit  den  alten  Grundlagen  der  mohammedanischen  Gesetze  im  Widerspruch 
stehen.  Sie  beruhen  im  Gegenteil  auf  ihnen  und  haben  ausserdem  die  Wirk- 
samkeit der  Gerichte  älteren  Stils  völlig  unberührt  gelassen.  Im  Gegensatz 
zu  den  letzteren,  den  „heiligen  Gerichten",  d.  h.  denjenigen,  welche  zur  Auf- 
rechterhaltung der  helligen  Vorschriften  und  Institutionen  des  Islam  (arabisch: 


§  4.    Gerichte  älteren  Stils  in  der  Türkei.  701 


Sehen) ^)  berufen  sind,  bezeichnet  man.  die  neuen  Gerichte  als  „Nisamiges",*) 
d.  h.  Gerichte  neueren  Stils. 

m.  Die  heutige  Organisation  der  Gerichte. 

§  4.  eierlehte  älteren  StUs  in  der  Tfirkei. 

Die  Gerichte  älteren  Stils  sind  zuständig  für  die  Aburteilung  aller  Prozesse, 
die  in  dem  Personalstatut  der  Mohammedaner  ihren  Grund  haben,  sowie  ge- 
wisser anderer  civilrechtlicher  Materien,  deren  Entscheidung  ihnen  durch  be- 
sondere Vdgn.  überwiesen  ist.*) 

Der  Schaich-ul-Isl&m.  Die  Gesamtheit  der  Gerichte  älteren  Stils  unter- 
steht der  Leitung  des  Schaich-al-Islftm;  dieser  ist  Mitglied  des  kaiserlichen 
Kabinetts  und  der  einzige  Staatssekretär,  der  berechtigt  ist,  dem  Sultan  un- 
mittelbar, ohne  Vermittelung  des  Grossveziers  über  Angelegenheiten  seines 
Ressorts  Vortrag  zu  halten.  Er  ist  ferner  aus  der  Klasse  der  mohammedani- 
schen Weisen  (Ulemas)  der  einzige,  der  gleichzeitig  Rechtsgelehrter  (Mufti)  und 
Richter  (Kadi)  ist.  Als  Muftt  prüft  und  unterzeichnet  er  die  von  dem  zu- 
ständigen Rechtsgelehrten  erteilten  Rechtsgutachten :  als  Kadi  ist  er  Vorsitzen- 
der des  höchsten  im  Khalifat  vorhandenen  Gerichtshofes. 

Die  Gerichte  älteren  Stils  im  allgemeinen.  Die  Gerichte  älteren 
Stils  unterstehen  sämtlich  dem  Ministerium,  dessen  Leiter  der  Schaich-ul-Isläm 
ist,  und  sind  in  Konstantinopel  und  in  den  Provinzen  völlig  übereinstimmend 
organisiert.  Jedes  Gericht  ist  mit  einem  Einzelrichter  besetzt,  dem  ein  erster 
Gerichtsschreiber  zur  Unterstützung,  sowie  mehrere  üntergerichtsschreiber  bei- 
gegeben sind;  die  Zahl  der  letzteren  richtet  sich  nach  dem  Umfang  der 
Geschäfte. 

Die  Einführung  eines  geordneten  Instanzenzuges  bei  den  Gerichten  älteren 
Stils  erfolgte  1879  durch  den  Schaich-al-Islftm  Assad  EflPendi,  einen  der  hervoi^ 
ragendsten  mohammedanischen  Juristen.  Ohne  an  den  hierarchischen  Prinzi- 
pien zu  rütteln,  schuf  er  durch  die  planmässige  Zulassung  von  Revisionen  eine 
bestimmte  Rangordnung  innerhalb  dieser  Gerichte  und  erreichte  so  die  grösste 
Sicherheit  gegen  das  Vorkommen  ungesetzlicher  Urteile. 

Die  einzelnen  Gerichte  älteren  Stils.  Die  Gerichte  älteren  Stils 
zerfallen  in  zwei  Klassen:  1.  diejenigen,  welche  „in  der  Pforte  — bab —  des 
Schaich-uMsläm",  d.  h.  an  seinem  Amtssitze,  und  2.  diejenigen,  welche  ausser- 
halb desselben,  in  Konstantinopel  oder  in  der  Provinz,  tagen. 

1.  Die  in  der  Pforte  des  Schaich-al-Isläm  tagenden  Gerichte. 
Dieselben  haben  getrennte  Organe  für  die  bei  den  anderen  Gerichten  den 
Rechtsgelehrten  und  die  den  Richtern  obliegende  Thätigkeit.    Für  die  erstere  sind 


*)  Sehen  bedeutet  wörtlich:  Sitte,  Gewohnheit,  Regel,  Gesetz;  als  Ausdruck  der 
Rechtssprache  bezeichnet  er  das  mohammedanische  Recht;  er  findet  sich  fast  immer 
in  Verbindung  mit  „Scherif"  (=  heilig);  Scheri-scherif  bedeutet:  Stand  der  Richter 
älteren  Stils. 

*)  Von  „Nisan"  =  System,  Anordnung;  Nisamiges  sind  die  Gerichte  des  neuen 
Systems,  der  neuen  Ordnung. 

•)  Diese  Verordnungen  sind: 

1.  Die  neue  Verordnung  über  die  Zuständigkeit  der  Gerichte  älteren  Stils. 
Dustur,  Bd.  I  S.  301. 

2.  Der  Beschluss  des  Staatsrats  über  die  infolge  der  Urteile  der  Gerichte 
älteren  Stils  entstehenden  Streitigkeiten  wegen  der  Kosten,  Schadens- 
ersatzleistungen usw.     Dustur,  Bd.  III  S.  196. 

3.  Die  Zirkularverfügung  des  Justizministers  betr.  die  Prozesse  über  Grund- 
stücke, Grenzstreitigkeiten  usw.    Dustur,  Bd.  IV  S.  362. 


702   ^®  Türkei.  —  1.  Die  isUmitischen  Geridite  and  die  türkische  Gerichttrerfftssung'. 


zuständig:  1.  die  mit  der  Erteüung  von  Reclitsgatachten  (Fetwahane)  beanftragte 
Behörde,  2.  der  sog.  Rat  der  gesetzlichen  üntersachnngshandlungen  (Me^jlisi- 
tedqiqati'ScheriyeJ.  Die  ersterc  ist  eine  besehliessende  Behörde;  Vorsitzender 
ist  der  „F^twä-emini*',  d.  h.  wörtlich :  der  mit  der  Erteilong  von  Rechtsgatachten 
Beauftragte,  ein  Beamter  mit  dem  Range  eines  Oberrichters  (Gazi-asker).  Dmi 
zur  Seite  stehen  zwei  Abteilungsrorstände;  die  Abteilungen  bestehen  aus  mehreren 
rechtskundigen  Mitgliedern.  —  Der  letztere,  dessen  Vorsitzender  ebenfalls  den 
Rang  eines  Oberrichters  hat,  ist  gleichzeitig  Eassationshof  und  Eröffhungs- 
kammer.  Er  prüft  die  von  den  verschiedenen  Gerichten  älteren  Stils  gefällten 
Urteile  und  bestätigt  sie  oder  verwirft  sie  durch  mit  Gründen  versehene  Ur- 
teile, wenn  er  die  gesetzlichen  Vorschriften  für  verletzt  erachtet.  Handelt  es 
sich  bei  einem  aufgehobenen  Urteil  um  einen  Gegenstand  unter  5000  Piaster 
(=  1200  Francs  =  960  Markj,  so  wird  die  Sache  an  das  Gericht  erster  In- 
stanz zur  Berichtigung  des  Urteils  oder  zur  nochmaligen  Verhandlung  zurück- 
verwiesen. Anderenfalls  wird  die  Sache  einem  höheren  Gerichte  zur  Erledigung 
tiberwiesen. 

Mit  der  Erledigung  der  richterlichen  Geschäfte  sind  betraut:  1.  die  beiden 
Oberrichter;  2.  der  Richter  von  Stambul;  3.  der  unter  dem  Vorsitze  des  Schaich- 
al-Isläm  tagende  höchste  Gerichtshof. 

Die  Oberrichter.  Es  sind  zwei  Oberrichter  vorhanden,  einer  für 
Rumelien,  einer  für  Anatolien;  sie  folgen  im  Range  unmittelbar  auf  den 
Schaich-al- Islam.  Der  Amtsbezirk  des  Oberrichters  von  Rumelien  wird  ge- 
bildet durch  die  europäischen  Teile  des  türkischen  Reichs  und  den  westlichen 
Teil  von  Konstantinopel.  Er  entscheidet  in  erster  Instanz  alle  diejenigen 
Sachen,  welche  ihm  wegen  ihrer  Wichtigkeit  von  einem  besonderen  Ministerial- 
beamten  (von  welchem  später  noch  die  Rede  sein  wird)  überwiesen  werden. 
Ausserdem  erledigt  er  als  Berufungsrichter  diejenigen,  mit  deren  Aburteilung 
ihn  der  „Me^jlisi-tedqiqati-scheriye"  (der  „Rat  der  gesetzlichen  Untersuchungs- 
handlungen^j  nach  Aufhebung  des  Urteils  erster  Instanz  beauftragt.  Ihm  sind 
zwei  andere  Organe  der  Rechtsprechung  unterstellt:  der  „Mahfeti-scheriat'*/) 
d.  h.  Kammer  der  Gesetzlichkeit,  für  die  Erledigung  weniger  wichtiger,  vom 
Oberrichter  an  diesen  verwiesener  Prozesse;  und  der  „Gassami-askeri",  d.  h. 
das  Erbschaftsteilungsgericht.  Letzteres  leitet  die  Verteilung  aller  in  Konstan- 
tinopel anfallenden  Erbschaften,  sowie  der  in  den  Provinzen  anfallenden,  wenn 
der  Wert  derselben  20000  Piaster  (3600  Mark  =  4500  Francs)  übersteigt, 
überwacht  die  Aufnahme  des  Inventars  und  entscheidet  alle  dabei  entstehenden 
Streitigkeiten.  —  Der  Oberrichter  von  Anatolien  hat  die  gleichen  Amtsbefug- 
nisse für  den  östlichen  Teil  von  Konstantinopel  und  die  asiatischen  Provinzen 
des  Reichs.  Unter  ihm  steht  das  Gericht  zu  Scutari  (grosse,  auf  der  asiatischen 
Seite  gelegene  Vorstadt  von  Konstantinopel),  dessen  Kompetenz  der  des  Erb- 
schaftsteilungsgerichts  entspricht. 

Der  Richter  von  Stambul  folgt  im  Range  auf  die  beiden  Oberrichter. 
Sein  Amtsbezirk  ist  die  Stadt  Stambul  im  engeren  Sinne;  er  ist  zuständig  für 
die  Entscheidungen  aller  Ehe-,  Unterstützungs-  und  Alimenten-,  sowie  gewisser 
Patentsachen  (Gedik).  Ein  am  Amtssitze  des  Schaich-ul-Isl&m  funktionierendes 
Gericht  (Bab-Mekkemessi,  d.  h.  Hofgericht)  erledigt  die  ihm  von  dem  Richter 
von  Stambul  überwiesenen  Bagatellsachen. 

Der  unter  dem  persönlichen  Vorsitz  des  Schaich-ul-Isläm 
stehende  Gerichtshof  führt  die  Bezeichnung  „Husur",  d.  h.  G^genwärtigkeit 
wegen  der  persönlichen  Beteiligung  des  Schaich  aMsläm  an  den  Amtsgeschäften. 


*j  Mahfet  bedeutet  eigentlich:  der  dem  Herrscher  vorbehaltene  Teil  der  Moschee, 
dann  aber  auch:  der  Versammlungsort  eines  Gerichts.  • 


§  5.    Die  Gerichte  neueren  Stils.  703 


Mitglieder  desselben  sind :  die  beiden  Oberrichter,  der  Vorsitzende  der  mit  der 
Erteilung  von  Rechtsgutachten  beauftragten  obersten  Behörde,  der  Richter  von 
Stambul,  der  den  beiden  Oberrichtem  zugeteilte  Rat,  der  dem  Richter  von 
Stambul  zugeteilte  Rat,  die  Richter  von  Galata  und  von  f^ub  (beides  sind 
volkreiche  Stadtteile  von  Konstantinopel),  endlich  der  Justizministerialbeamte, 
welcher  mit  der  Vollstreckung  der  von  den  Gerichten  älteren  Stils  erlassenen 
Urteile  beauftragt  ist.  Dieser  Gerichtshof  entscheidet  in  letzter  Instanz  über 
die  von  den  Gerichten  älteren  Stils  überhaupt,  sowie  die  von  den  beiden  Ober- 
richtem und  dem  Richter  von  Stambul  in  der  Revisionsinstanz  abgeurteilten 
Sachen. 

2.  Die  ausserhalb  des  Gerichtssitzes  des  Schaich-al-Isläm  tagen- 
den Gerichte  älteren  Stils  befinden  sich  teils  in  Konstantinopel,  teils  in 
den  Provinzen  und  sind  sehr  zahlreich.  Der  Rang  der  Richter  hängt  von  der 
Bedeutung  des  Gerichtes  ab  und  ist  um  so  höher,  je  grösser  an  Zahl  und  je 
wichtiger  die  durchschnittlich  zur  Erledigung  kommenden  Sachen  sind.^) 

Die  Rechtsgelehrten  (Mufti).  Bei  jedem  Gerichte  älteren  Stils  befindet 
sich  ein  Mufti,  der  auf  Vorschlag  der  oberen  Verwaltungsbehörde  von  dem 
Schaich-aMsläm  ernannt  wird.  Sein  Amtssitz  ist  nicht  an  der  Gerichtsstelle; 
bei  der  Fällung  der  Urteile  wirkt  er  in  keiner  Weise  mit;  seine  Thätigkeit 
ist  eine  rein  juristische  und  besteht,  wie  bereits  ausgeführt  ist,  in  der  Erteilung 
von  Rechtsgutachten  an  die  Parteien,  welche  diese  entweder  dem  Richter  erster 
Instanz  zur  Benutzung  bei  der  Entscheidung  der  Sache  vorlegen  oder  zur  Be- 
gründung von  Rechtsmitteln  verwenden  wollen. 

Der  Richter  und  der  Rechtsgelehrte  sind  von  Rechts  wegen  Mitglieder  des 
Verwaltungsrates  ihres  Amtssitzes;  ihre  Thätigkeit  in  demselben  ist  aber  heute 
lediglich  eine  beratende  und  verwaltende,  kommt  deshalb  hier  nicht  in  Betracht. 

§  5.  Die  6terichte  neueren  Stils. 

Die  Gerichte  neueren  Stils  gehören  sämtlich  zum  Ressort  des  Justiz- 
ministeriums. Nach  der  völligen  Neuorganisation  i.  J.  1879  gehören  diesem 
als  Mitglieder  an:  1.  der  Justizminister,  der  Staatssekretär  und  Mitglied  des 
kaiserlich-ottomanischen  Kabinetts  ist;  2.  der  Unterstaatssekretär;  3.  der  General- 
sekretär; 4.  der  Direktor  der  Abt.  für  Civilsachen;  5.  der  Direktor  der  Abt. 
für  Strafsachen;  6.  der  Direktor  der  Abt.  für  Überweisungssachen;  7.  der  Leiter 
des  Vollstreckungswesens;  8.  der  Dezernent  für  Personalangelegenheiten;  9.  der 
Vorstand  des  Rechnungswesens;  10.  der  beratende  Ausschuss;  11.  der  Ver- 
waltungsausschuss.  Die  Vdg.  über  die  innere  Organisation  des  Ministeriums 
ist  1879  (am  29.  Djemazi-ul-Akhir  1296;  Dustur,  Bd.  IV  S.  129)  veröffentlicht. 
Die  Abt.  für  Oberweisungssachen  ist  nicht,  wie  in  der  älteren  Verfassung,  be- 
stimmt, alle  Sachen  durch  einen  Überweisungsbeschluss  bei  den  zuständigen 
Gerichten  anhängig  zu  machen,  sondern  hat  nur  die  Aufgabe,  die  Entstehung 
von  Kompetenzkonflikten  zwischen  den  Gerichten  älteren  und  neueren  Stils  zu 
vermeiden.  —  Die  Thätigkeit    des   beratenden  Ausschusses   ist   eine    lediglich 


*)  Die  mohammedanischen  Juristen  —  Richter  und  Rechtsgelehrte  —  bilden  eine 
Hierarchie,  deren  Stufenfolge  mit  der  amtlichen  Stellung,  auf  welche  die  betreffende 
Person  ein  Anrecht  hat,  in  enger  Beziehung  steht.  Ein  Beamter  erhält  den  einem 
bestimmten  Amte  entsprechenden  Titel  früher  als  dieses  Amt  selbst  und  erwirbt  viel- 
mehr durch  die  Verleihung  des  Titels  das  Recht,  das  demselben  entsprechende  Amt 
zu  bekleiden.  Wird  z.  B.  jemand  zum  Richter  der  beiden  heiligen  Städte  (Mekka 
und  Medina)  ernannt,  so  wird  durch  diese  Ernennung  zum  Ausdruck  gebracht,  dass 
der  Ernannte  befähigt  ist,  in  Mekka  oder  Medina  Richter  zu  werden;  derselbe  wird 
dann  mit  der  nächsten  dort  frei  werdenden  Richterstelle  belehnt. 


704  I^ie  Türkei.  —  1.  Die  islamitischen  Gerichte  und  die  türkische  Gerichtsverfassung. 


juristische  und  beschränkt  sich  auf  die  Beantwortung  der  von  den  Gerichten 
an  das  Ministerium  gerichteten  Anfragen  rein  rechtlicher  Natur.  Er  ist  unverant- 
wortlicher Rechtsbeirat  des  Ministers;  die  Gerichte  sind  an  seine  Entscheidung 
nicht  gebunden.  —  Der  Verwaltungsausschuss  überwacht  die  Finanzverwaltung 
des  Ministeriums  und  der  in  der  Hauptstadt  befindlichen  Gerichte. 

Die  Gerichte  neueren  Stils  im  allgemeinen.  Die  Gerichte  neueren 
Stils  sind  i.  J.  1879  durch  das  G.  v.  27.  Djemasi-ul-Akkir  1296  (Dustur,  Bd.  IV 
S.  245)  reorganisiert.  Nach  demselben  zerfallen  die  Gerichte  in  Civilgerichte, 
Strafgerichte  und  Handelsgerichte.  Das  G.  hat  die  Einrichtung  der  Friedens- 
gerichte verallgemeinert,  den  Sitz,  sowie  die  sachliche  und  örtliche  Zuständig- 
keit jedes  einzelnen  Gerichts  bestimmt,  genaue  Normen  für  die  Vorbildung 
und  die  Anstellung  der  richterlichen  Beamten  erlassen  und  die  Institutionen 
der  Staatsanwaltschaft,  sowie  der  richterlichen  Eröflfnungskammem  neu  ge- 
schaffen. Die  völlige  Sicherung  der  richterlichen  Unabhängigkeit  fällt  in  die 
zweite  Reformperiode.  Das  wichtigste  der  hierfür  in  Betracht  kommenden  Ge- 
setze ist  das  1879  erlassene  G.  vom  27.  Djemazi-ul-Akhir  (Dustur,  Bd.  IV  S.  234); 
es  schliesst  jede  Einmischung  der  Verwaltungsbehörden  in  richterliche  An- 
gelegenheiten aus,  legt  die  Zwangsvollstreckung  in  Civilsachen  in  die  Hand 
des  Richters  und  unterstellt  die  Vollstreckungsbeamten  (Gerichtsvollzieher)  der 
Dienstaufsicht  des  letzteren.  Zur  Vervollständigung  des  G.  dient  die  Zirkular- 
verfügung des  Justizministers  vom  1.  Djemazi-ul-Akhir  1296  (Dustur,  Bd.  IV 
S.  367),  die  über  die  Vollstreckung  der  civil-  und  handelsgerichtlichen  Urteile 
nähere  Anweisungen  giebt.  Dem  gleichen  Zwecke  der  Sicherstellung  der 
richterlichen  Unabhängigkeit  dienen  zwei  Erlasse  des  Gross- Veziers  aus  dem- 
selben Jahre.  Der  erste  ist  an  den  Ersten  Staatsanwalt  bei  dem  Kassations- 
hofe gerichtet  und  beauftragt  die  Staatsanwaltschaft  mit  der  Vollstreckung  der 
Strafurteile;  der  zweite  besagt,  dass  als  Voraussetzung  der  Strafvollstreckung 
die  auf  dem  Urteil  vermerkte  Rechtskraftbescheinigung  (Ischara)  des  Staats- 
anwalts genügt  und  eine  Bestätigung  des  Urteils  durch  eine  Verwaltungsbehörde 
nicht  erforderlich  sei.  Um  jeden  Zweifel  auszuschliessen,  sind  ferner  folgende 
Massregeln  getroffen:  1.  der  Erlass  von  Verfügungen  der  Verwaltungsbehörden, 
in  denen  richterliche  Urteile  bestätigt  werden,  ist  verboten;  2.  die  Über- 
weisungsbeschlüsse, durch  welche  diese  Behörden  die  bei  ihnen  eingegangenen 
Sachen  vor  die  zuständigen  Gerichte  brachten,  sind  für  überflüssig  erklärt; 
3.  es  ist  angeordnet,  dass  die  zur  Zuständigkeit  der  in  den  Hauptstädten  der 
Generalgouvernements  befindlichen  Handelsgerichte  gehörigen  Sachen  bei  diesen 
Gerichten  direkt  einzureichen  sind;  den  in  kleineren  Orten  befindlichen  Ge- 
richten werden  die  Prozesse  durch  Überweisungs Verfügung  des  Vorsitzenden 
der  Gerichte  erster  Instanz  übersandt  (Zirkularverfügungen  vom  21.  April  und 
21.  Mai  1295  [1879],  Dustur,  Bd.  IV  S.  752);  4.  endlich  ist  (durch  Zirkular- 
verfügung vom  26.  Djemazi-ul-Akhir  1296,  Dustur,  Bd.  IV  S.  747)  angeordnet, 
dass  die  Ladungen  und  Urteile  der  Civil-  und  Handelsgerichte  den  Beteiligten 
direkt  durch  die  gerichtlichen  Vollziehungsbeamten  zuzustellen  sind. 

Durch  einen  Zirkularerlass  des  Gross- Veziers  vom  26.  Djemasi-ul-Akkir 
1296  (Dustur,  Bd.  IV  S.  747)  wurde  dem  Justizminister  bekannt  gegeben,  dass 
auf  Grund  einer  kaiserlichen  Vdg.  die  in  den  Provinzen  noch  gebräuchlichen, 
zum  Teil  unzutrefiPenden  Bezeichnungen  für  die  Gerichte  neueren  Stils  all- 
gemein durch  die  Bezeichnung:  „Gericht  erster  Instanz^'  und  „Appellations- 
gericht" zu  ersetzen  seien. 

Die  einzelnen  Gerichte  neueren  Stils.  Zu  diesen  gehören:  1.  die 
Friedensgerichte,  2.  die  sogenannten,  aus  einer  Abt.  für  Civilsachen  und  einer 
Abt.  für  Strafsachen  bestehenden,  Civilgerichte. 

Wegen   des  engen  Zusammenhangs   der   Gerichtsverfassung  mit  der  ver- 


§  5.    Die  Gerichte  neueren  Stils.  705 


waltungsrechtlichen  Einteilung  des  türkischen  Reiches  will  ich  letztere  im  fol- 
genden kurz  skizzieren.  Das  ungeheuere  Grebiet  desselben  zerfällt  in  Provinzen 
(Departements),  jede  Provinz  (Vilajet)  in  Regierungsbezirke,  jeder  Regierungs- 
bezirk (Liva)  in  Unterbezirke,  jeder  ünterbezirk  (Gasa)  in  Kreise.  Der  Kreis 
(Nahiyc)  ist  die  Verwaltungseinheit  des  Reiches,  dessen  Teile  die  Dörfer  bilden. 
Die  Städte  zerfallen  ebenfalls  in  Unterabteilungen  (Stadtteile),  die  den  Kreisen 
nachgebildet  sind. 

Friedensgerichte.  Jeder  Ort  hat  ein  Friedensgericht,  bestehend  aus 
der  Versammlung  der  Gemeindeältesten.  Die  Friedensgerichte  sind  zuständig 
zur  Aburteilung  leichter  Strafthaten,  sowie  zur  Vornahme  von  Sühneversuchen 
in  Civilsachen  und  zur  Entscheidung  derselben  innerhalb  der  ihnen  durch  das 
G.  über  die  ottomanischen  Gerichte  (Dustur,  Bd.  IV  S.  245)  gezogenen  Grenzen. 
Die  Kompetenz  der  in  den  Kreishauptstädten  bestehenden  Friedensgerichte  ist 
weiter  als  die  der  übrigen. 

Provinzialgerichte  erster  Instanz.  In  jedem  Unterbezirk  und  in 
jedem  Bezirk  ist  ein  Gericht  erster  Instanz  vorhanden.  Die  in  den  Unter- 
bezirken befindlichen  bestehen  aus  einem  Vorsitzenden  und  zwei  Beisitzern, 
von  denen  der  eine  in  Strafsachen  die  Funktionen  des  Untersuchungsrichters 
wahrzunehmen  hat.  Dem  Gerichte  ist  das  erforderliche  Exekutivpersonal  bei- 
gegeben. In  den  Orten,  wo  der  Geschäftsumfang  die  Einteilung  des  Gerichts 
in  eine  Civil-  und  eine  Strafkammer  erforderlich  macht,  werden  zwei  Vor- 
sitzende und  vier  Beisitzer  ernannt.  —  Die  für  den  Regierungsbezirk  errich- 
teten Gerichte  erster  Instanz  sind  mit  einem  Vorsitzenden,  zwei  Richtern  und 
zwei  Hülfsrichtern  besetzt.  Von  'den  Richtern  führt  einer  unter  Mitwirkung 
der  beiden  Hülfsrichter  die  Geschäfte  des  Untersuchungsrichters.  Ist  das  Ge- 
richt in  zwei  Abt.  zerlegt,  so  ist  ausserdem  ein  Vizepräsident  vorhanden  und 
von  den  Hülfsrichtern  sitzt  einer  in  der  Civilkammer,  einer  in  der  Strafkammer. 
Eine  Vollstreckungsbehörde  ist  auch  diesen  Gerichten  zugeteilt. 

Die  örtliche  und  sachliche  Zuständigkeit  der  Friedensgerichte,  der  Unter- 
bezirksgerichte und  der  Bezirksgerichte,  sowie  ihr  Verhältnis  untereinander 
und  der  zwischen  ihnen  bestehende  Instanzenzug  werden  geregelt  1.  durch 
das  G.  über  die  Organisation  der  Gerichte  neueren  Stils  (Dustur,  Bd.  IV  S.  245); 
2.  durch  die  Civilprozessordnung  (ebendas.  S.  261)  und  die  StPO.  (ebendas. 
S.   136). 

Provinzial- Appellations-Gerichte.  In  jeder  Provinzialhauptstadt 
besteht  ein  Appellationsgericht  zur  Entscheidung  über  die  Berufung  gegen  die 
von  den  Gerichten  erster  Instanz  in  Civilsachen  und  in  Bezug  auf  Vergehen  ge- 
fällten Urteile,  sowie  zur  erstinstanzlichen  Aburteilung  von  Verbrechen,  wenn 
ihnen  dieselbe  durch  Beschluss  der  EröfiPnungskaramer  überwiesen  werden. 
Gegen  die  in  letzterer  Beziehung  von  ihnen  gefällten  Entscheidungen  ist  nur 
der  Rekurs  an  den  Kassationshof  zulässig. 

Neben  jedem  Appellationsgericht  funktioniert  eine  Eröffnungs-  (Anklage-) 
Kammer,  bestehend  aus  den  drei  Mitgliedern  des  am  Orte  befindlichen  Gerichts 
erster  Instanz.  Die  Entscheidungen  werden  als  in  erster  Instanz  erlassen  an- 
gesehen und  unterliegen  daher  der  Berufung. 

Die  Provinzialappellationsgerichte  bestehen  aus  einem  Präsidenten  und 
vier  Mitgliedern  (Räten)  und  können,  je  nach  den  örtlichen  Bedürfnissen,  in 
zwei  Kammern,  eine  für  Strafsachen,  eine  für  Civilsachen,  zerlegt  werden. 
In  diesem  Falle  wird  ein  Vizepräsident  ernannt  und  jede  Kammer  mit  zwei 
Räten  besetzt.  Bei  jedem  dieser  Gerichte  sind  ein  oder  zwei  Hülfsrichter, 
sowie  die  erforderliche  Anzahl  von  Gerichtsschreibern  und  Gerichtsvollziehern, 
vorhanden. 

Die  Gerichte  in  Konstantinopel    sind    ähnlich    eingerichtet,    wie  die 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.   I.  45 


706  ^10  Türkei.  —  1.  Die  islamitischen  Gerichte  und  die  türkische  Gerichtsverfassung. 


Provinzialgerichte.  Es  sind  vorhanden:  1.  zwei  Gerichte  erster  Instanz  mit 
derselben  Besetzung  wie  in  der  Provinz;  2.  ein  Appellationsgericht;  dieses 
zerfmit  in  vier  Kammern:  a)  die  Beruf ungs-Ci  vi  \  kämm  er,  die  Berufungsgericht 
für  alle  in  der  Hauptstadt  in  CivUsachen  erlassenen  erstinstanzlichen  Urteile 
ist;  b)  die  Vergehenskammer,  die  über  die  Berufung  gegen  Strafurteile  der 
Gerichte  erster  Instanz  entscheidet;  c)  die  Handelskammer;  ist  Berufungsgericht 
für  die  in  erster  Instanz  von  den  Handelsgerichten  der  Hauptstadt  erledigten 
Sachen;  d)  die  Verbrechenskammer  oder  der  Kriminalgerichtshof;  sie  ist  er- 
kennendes Gericht  erster  Instanz  für  alle  in  Konstantinopel  begangenen  Ver- 
brechen. Neben  der  letzteren  besteht  eine  aus  den  drei  Mitgliedern  der  Ver- 
gehenskammer des  Appellationsgerichts  gebildete  Eröfi^ungskammer.  Die  zur 
Ermittelung  eines  Verbrechens  vorgenommenen  Untersuchungshandlungen,  sowie 
der  Beschluss  der  Eröffnungskammer  gelten  als  richterliche  Handlungen  erster 
Instanz,  unterliegen  daher  der  Berufung. 

Staatsanwaltschaft.  Das  Institut  der  Staatsanwaltschaft  ist,  wie  be- 
reits erwähnt,  in  der  Türkei  erst  1879  geschaffen  worden.  Die  Staatsanwälte 
sind  staatlich  ernannte  Beamte,  deren  Aufgabe  es  ist,  die  Rechtsgüter  des 
Einzelnen  und  der  Gesamtheit  zu  schützen,  die  öffentliche  Ruhe  und  Sicherheit 
vor  jeder  Störung  zu  bewahren  und  für  die  richtige  Anwendung  der  Gesetze  seitens 
aller  gerichtlichen  Behörden  Sorge  zu  tragen.  Die  Staatsanwälte  unterstehen 
dem  Justizministerium,  auf  dessen  Vorschlag  sie  durch  kaiserliche  Vdg.  er- 
nannt werden.  Der  höchste  Beamte  der  Staatsanwaltschaft  ist  der  General- 
staatsanwalt bei  dem  Kassationshofe,  dem  eine  Reihe  von  Hülfsstaatsanwälten 
zur  Seite  steht.  Ein  Beamter  mit  dem  Titel  Oberstaatsanwalt  ist  bei  jedem 
Appellationsgericht  in  der  Reichshauptstadt  und  den  Bezirkshauptstädten  au- 
gestellt; ihm  ist  ein  Hülfsbeamter  beigegeben.  Bei  jedem  Gerichte  erster  In- 
stanz befindet  sich  ein  Vertreter  der  Staatsanwaltschaft  mit  dem  Titel  Hülfs- 
staatsanwalt. 

Von  der  Thätigkeit  der  Staatsanwaltschaft  in  Strafsachen  handelt  die 
StPO.  (Dustur,  Bd.  IV  S.  136),  von  der  Zuständigkeit  in  Civilsachen  das  zweite 
Kap.  des  zweiten  Titels  des  G.  über  die  Organisation  der  Gerichte  neueren 
Stils,  Art.  65  ff.  (Dustur,  Bd.  IV  S.  245).  Der  Art.  60  des  letzteren  G.  regelt 
die  dienstlichen  Verhältnisse  der  Staatsanwälte  untereinander. 

Die  Staatsanwaltschaft  hat  die  Vollstreckung  der  Urteile  zu  besorgen, 
die  von  dem  Gerichte  erlassen  sind,  bei  welchem  sie  funktioniert;  sie  kami 
hierbei  die  Hülfeleistung  sämtlicher  Polizeibeamten  in  Anspruch  nehmen.  Der 
Justizminister  und  die  ihn  in  den  Provinzen  vertretenden  Verwaltungsbeamten 
können  sich  mit  den  Gerichten  nur  durch  Vermittelung  der  Staatsanwaltschaft 
in  Verbindung  setzen. 

Das  Notariat.  Die  Einrichtung  eines  Notariats  bei  jedem  (Tcrichte 
erster  Instanz  erfolgte  1879  durch  Vdg.  vom  15.  Schaban  1296  (Dustur,  Bd.  IV 
S.  355).  Die  Notare  werden  vom  Justizminister  ernannt.  Je  nach  der  Grösse 
des  Ortes  werden  dem  Notar  ein  oder  mehrere  Hülfsnotare  beigegeben.  Die 
dienstlichen  Verhältnisse  und  Amtspflichten  der  Notare  werden  durch  die  er- 
wähnte Vdg.  geregelt. 

Handelsgerichte.  Die  Handelsgerichte  sind,  wie  bereits  erwähnt,  i.  J. 
1860  durch  das  G.  vom  9.  Schawal  1276,  die  sog.  Novelle  zum  Handelsgesetz- 
buch, reorganisiert  (Dustur,  Bd.  I  S.  445,  und  Aristarchi  Bey,  Legislation  Otto- 
mane, Bd.  II  S.  355).  Nach  Art.  2  dieses  G.  giebt  es  in  Handelssachen  zwei 
Instanzen,  von  denen  die  Handelsgerichte  die  erste,  die  Appellationsgerichte 
die  zweite  Instanz  bilden.  Je  nach  der  Grösse  des  Gerichtsortes  bestehen  die 
Handelsgerichte  aus  einer  oder  zwei  Kammern,  von  denen  eine  die  seerecht- 
lichen Angelegenheiten  erledigt.     Bei  den  aus  nur  einer  Kammer  bestehenden 


§  5.    Die  Gerichte  neueren  Stils.  707 


sind  vorhanden:  ein  Präsident,  zwei  ständige  und  vier  nicht-ständige  Richter; 
bei  den  aus  zwei  Kammern  bestehenden:  ein  Präsident,  ein  Vizepräsident  und 
für  jede  Kammer  zwei  ständige  und  zwei  nicht-ständige  Richter.  Die  ständigen 
Richter  werden  von  der  Justizverwaltung  ernannt,  die  nicht-ständigen  von  der 
Versammlung  der  angesehenen  Kaufleute  bezw.  von  der  Handelskammer,  wo 
eine  solche  vorhanden  ist,  gewählt.  In  Konstantinopel  giebt  es  zwei  besondere 
Gerichte,  von  denen  eines  für  handelsrechtliche  Sachen  i.  e.  S.,  das  andere 
für  seerechtliche  Streitigkeiten  zuständig  ist. 

Von  den  bei  allen  Handelsgerichten  gebildeten  Gerichtsschreibereien  ist 
besteht  bereits  ftUher  die  Rede  gewesen. 

Wie  bereits  erwähnt,  ist  für  jede  Provinz  ein  Appellationsgericht  vor- 
handen, das  auch  für  die  Entscheidung  über  die  Berufung  gegen  Urteile  der 
Handelsgerichte  zuständig  ist.  Bei  dem  Appellationsgericht  in  Konstantinopel 
besteht  hierfür  ein  besonderer  Handelssenat. 

Die  nicht-mohammedanische  geistliche  Gerichtsbarkeit.  Die  zu 
der  nicht-mohammedanischen  geistlichen  Gerichtsbarkeit  gehörenden  Gerichte 
unterstehen  der  höchsten  geistlichen  Obrigkeit  der  nicht-muselmännischen  Religions- 
gesellschaften:  den  Patriarchen,  Erzbischöfen,  Bischöfen,  Rabbinern  und  deren 
Stellvertretern,  die  in  der  Türkei  auch  richterliche  Befugnisse  bezüglich  personen- 
standsrechtlicher Fragen  haben  und  in  den  für  die  Entscheidung  derselben 
zuständigen  Gerichten  den  Vorsitz  führen.  In  den  Provinzen  ist  ein  solches 
Gericht  an  dem  Amtssitze  jedes  höheren  Geistlichen  vorhanden ;  gegen  die  Ent- 
scheidung desselben  ist  Berufung  an  das  in  Koiistantinopel  bei  dem  Patriarchat 
jeder  Religionsgesellschaft  gebildete  Gericht  zulässig.  Die  nicht-mohammedani- 
schen Gerichte  der  Hauptstadt  unterstehen  unmittelbar  den  höchsten  Geistlichen 
der  betreffenden  Konfessionen.  Für  das  griechisch-katholische  Patriarchat  z.  B. 
sind  vier  Gerichte  vorhanden,  die,  von  unbedeutenden  Abweichungen  abgesehen, 
den  der  modernen  Gerichtsverfassung  eigentümlichen  Instanzenzug  ebenfalls 
enthalten:  1.  Das  Gross- Vikariat  ist  Friedensgericht  für  alle  im  Erzbistum 
Konstantinopel  zwischen  Ehegatten  entstehenden  Streitigkeiten;  2.  der  kirch- 
liche Gerichtshof  ist  erkennendes  Gericht  erster  Instanz  für  alle  im  Erzbistum 
zwischen  orthodoxen  Christen  anhängigen  Verlöbnis-  und  Ehesachen;  3.  der 
ständige  gemischte  Nationalrat  besteht  aus  zwölf  Mitgliedern,  nämlich:  vier 
aus  den  Mitgliedern  des  Heiligen  Synods  genommenen  hohen  Geistlichen  (Erz- 
bischöfen) und  acht  Laien,  die  von  Vertretern  der  in  Konstantinopel  ansässigen 
Griechen  gewählt  werden.^)  Er  hat  wichtige  verwaltungsrechtliche  und  richter- 
liche Funktionen.  In  Ausübung  der  letzteren  entscheidet  er  gewisse  Prozesse 
(über  Aussteuern,  Mitgüten,  Erbschaften  u.a.m.)  in  erster  Instanz  und  ist 
ausserdem  Berufungsgericht  für  die  kirchlichen  Gerichtshöfe  in  der  Provinz. 
Der  eigentliche  Vorsitzende  ist  der  ökumenische  Patriarch,  der  jedoch  that- 
sächlich  den  Vorsitz  nur  .bei  aussergewöhnlich  wichtigen  Sachen  selbst  über- 
nimmt und  ihn  für  gewöhnlich  dem  im  Range  höchsten  kirchlichen  Mitgliede 
überlässt.  4.  Der  Heilige  Synod  bildet  die  Spitze  der  hierarchischen  Gerichts- 
barkeit. Er  besteht  aus  zwölf  dem  ökumenischen  Patriarchen  unterstehenden 
Erzbischöfen  (Metropolitanen)  und  steht  unter  dem  persönlichen  Vorsitz  des 
ersteren.  Er  ist  die  hervorragendste  Verwaltungsbehörde  der  griechisch-katho- 
lischen Kirche,  die  Hüterin  ihrer  heiligen  Lehren  und  zugleich  der  höchste 
geistliche  Gerichtshof.  Er  entscheidet  in  letzter  Instanz  alle  zur  Zuständigkeit 
der  geistlichen  Gerichte  gehörenden  Sachen. 

Die  Vdg.  über  das  griechische  und  armenische  Patriarchat,  sowie  das 
Rabbinat  finden  sich  Dustur,  Bd.  II  S.  902,  938  und  962. 

M  Die  Versammlung  derselben  tritt  jähriich  einmal  unter  dem  Vorsitz  des  öku- 
menischen Patriarchen  zusammen. 

45* 


708  Die  Türkei.  -—  1.  Die  islamitischen  Gerichte  und  die  türkische  Gerichtsverfassimg'. 


§  6.  Besondere  Gerichte  filr  die  In  der  Türkei  sieh  anfluiltenden 

Aaslinder. 

Auf  Grund  verschiedener  mit  auswärtigen  Staaten  abgeschlossener  Ver- 
träge gemessen  Ausländer  in  gewisser  Beziehung  den  Vorzug  eines  besonderen 
Gerichtsstandes.  Dabei  ist  zu  unterscheiden,  ob  es  sich  um  Konflikte  zwischen 
Ausländem  und  Ausländem  oder  zwischen  Ausländem  und  türkischen  unter- 
thanen  handelt.  Im  ersteren  Falle  geniessen  die  Ausländer  so  umfassende 
Privilegien,  dass  man  sagen  kann,  sie  haben  das  Recht  der  Exterritorialität; 
im  letzteren  Falle  unterliegen  sie  zwar  der  Zuständigkeit  der  türkischen  Ge- 
richte, die  aber  dann  besonders  zusammengesetzt  sind.  Elin  Vertreter  der  Ge- 
sandtschaft des  betreffenden  Landes  wohnt  als  Beistand  des  Ausländers  den 
Verhandlungen  bei  und  in  den  meisten  Fällea  besteht  die  Hälfte  der  Richter 
aus  Landsleuten  desselben.  —  Wenn  zwischen  zwei  Angehörigen  ein-  und  des- 
selben Staates  oder  zweier  verschiedener  Staaten  eine  civilrechtliche  Streitigkeit 
entsteht  oder  ein  Ausländer  zum  Nachteil  eines  anderen  Ausländers  eine  straf- 
bare Handlung  begeht,  so  werden  die  in  Frage  kommenden  Personen  so  an- 
gesehen, als  befänden  sie  sich  im  Gebiete  ihres  Heimatsstaates,  und  unterliegen 
demgemäss  nicht  den  türkischen  Gerichten,  sondern  den  Konsulatsgerichten. 
Letztere  bestehen  aus  einem  Vorsitzenden  und  einer  Anzahl  von  Beisitzern. 
Den  Vorsitz  führt  entweder  der  Konsul  selbst  oder  ein  anderer  Konsulats- 
beamter (Konsulatsrichter)  oder  auch  ein  mit  dem  Konsulat  in  keiner  Beziehung 
stehender  Beamter;  die  beisitzenden  Richter  wählt  der  Konsul  aus  den  an- 
gesehenen Staatsangehörigen  seines  Bezirks. 

Die  in  der  Türkei  bestehenden  Konsulatsgerichte  werden  als  Gerichte 
erster  Instanz  betrachtet.  Die  von  ihnen  in  Civilsachen  erlassenen  Urteile 
unterliegen,  den  Bestimmungen  jedes  Landes  entsprechend,  der  Berufung  an 
ein  Appellationsgericht  desselben,  welches  in  der  Türkei  durch  diejenige  Ge- 
sandtschaft vertreten  wird,  zu  deren  Bezirk  das  in  Frage  kommende  Konsulat 
gehört.^)  In  Strafsachen  ist  das  Konsulatsgericht  erkennendes  Gericht  erster 
Instanz  für  Vergehen  und  Übertretungen.  Bei  Verbrechen  (d.  h.  den  zur  Zu- 
ständigkeit der  Schwurgerichte  gehörigen  strafbaren  Handlungen)  führt  das 
Konsulatsgericht  die  Voruntersuchung  und  sendet  dann  den  Angeklagten  mit 
den  Akten  an  das  nach  den  Gesetzen  des  betreffenden  Landes  zuständige  Gericht. 
Auf  Grund  der  bestehenden  internationalen  Verträge  ist  bei  Verschiedenheit 
der  Nationalität  das  Konsulatsgericht  desjenigen  Staates  zuständig,*  welchem 
der  Beklagte  bezw.  Angeklagte  angehört. 

Die  sogenannten  gemischten  (d.  h.  zwischen  einem  Ausländer  und  einem 
türkischen  Unterthanen  anhängigen)  Prozesse  aller  Art  unterliegen  der  Ent- 
scheidung durch  die  türkischen  Gerichte,  jedoch  in  besonderen  Formen.  In 
Strafsachen  erhält  der  Angeklagte  einen  Beistand  in  Gestalt  eines  seinem 
Heimatsstaate  angehörigen  Beamten,  meistens  des  bei  der  Botschaft  oder 
dem  Konsulate  angestellten  Dolmetschers  (Dragomans).  Derselbe  wohnt  der 
gesamten  Verhandlung  bei,  nimmt  an  der  Beratung  teil  und  unterzeichnet 
das  Protokoll.  Die  gemischten  Civil-  und  Handelssachen  werden  in  den  Pro- 
vinzen vor  den  Handelsgerichten  erster  Instanz  verhandelt,  in  denen  alsdann 
zwei  Angehörige  des  in  Frage  kommenden  fremden  Staats  Sitz  und  Stimme 
haben.  Ein  solches  (jericht  besteht  mithin  aus  dem  Vorsitzenden,  zwei  türki- 
schen und  zwei  nichttürkischen  Beisitzern.  Der  Dragoman  leistet  stets  seinem 
Landsmanne  Beistand.  Die  Entscheidungen  derartiger  Gerichte  unterliegen  der  Be- 


^)  Nur   das   englische  Konsulatsgericht   in   Konstantinopel  hat   eine   erste  und 
eine  zweite  Instanz. 


§  6.    Besondere  Gerichte  für  die  in  der  Türkei  sich  aufhaltenden  Ausländer.    709 

rufung  an  die  erste  Kammer  für  Handelssachen  in  Konstantinopel.  —  Alle  in  der 
Reichshauptstadt  vorkommenden  gemischten  Civil-  und  Handelssachen  werden 
von  dem  zuletzt  erwähnten  Gericht  entschieden.  Die  Zusammensetzung  des- 
selben ist  in  diesen  Fällen  eine  so  aussergewöhnliche,  dass  man  ihm  eine  Zeit 
lang  die  Bezeichnung  „Ausnahme-Gerichtshof**  beigelegt  hatte.  Das  Gericht 
besteht  nämlich  aus  einem  Präsidenten,  zwei  türkischen  Richtern  und  einer 
gesetzlich  festgestellten  Anzahl  von  ausländischen  Richteni.  Jede  auswärtige 
Macht  ist  bei  demselben  durch  zwei  Richter  vertreten ;  diese  werden  vom  Konsul 
aus  den  ortsansässigen  angesehenen  Kaufleuten  ausgewählt,  sitzen  abwechselnd, 
d.  h.  an  den  für  jede  Nation  im  voraus  bestimmten  Tagen,  und  haben  die 
gleichen  Befugnisse,  wie  ihre  türkischen  Kollegen.  Das  Gericht  besteht  also 
aus  dem  Präsidenten  (der  in  der  Regel  ein  höherer  türkischer  Beamter  ist), 
zwei  türkischen  Richtern  und  zwei  Richtern  desjenigen  fremden  Staates,  dem 
eine  der  Parteien  angehört.  Die  Verhandlungen  finden  in  Anwesenheit  des 
betreffenden  Dragomans  statt.  Das  Gericht  ist  Berufungsgericht  für  die  in  ereter 
Instanz  vor  den  Provinzialgerichten  verhandelten  gemischten  Prozesse  und 
ausserdem  Gericht  erster  und  letzter  Instanz  für  die  in  Konstantinopel  bei  ihm 
direkt  anhängig  gemachten  Sachen.  Die  Urteile  desselben  unterliegen  nicht 
der  Kassation;  die  einzigen  dagegen  zulässigen  Rechtsmittel  sind:  der  Ein- 
spruch gegen  Versäumnisurteile,  der  Antrag  auf  Aufhebung  eines  kontradik- 
torischen Urteils  und,  vorkommenden  Falls,  der  Einspruch  Dritter. 

Der  Zuständigkeit  der  vorstehend  beschriebenen  besonderen  Gerichte  sind 
jedoch  entzogen:  1.  Mietstreitigkeiten;  2.  Streitigkeiten  über  unbewegliche 
Güter;  3.  alle  Streitigkeiten,  deren  Gegenstand  einen  Wert  von  höchstens 
1000  Piaster  (208  Mark  =«=  260  Francs)  hat.  Die  in  diese  drei  Kategorieen 
fallenden  Prozesse  werden  von  den  türkischen  Gerichten  in  Gegenwart  des 
betreffenden  Konsulatsdragomans  verhandelt. 


Es  giebt  somit  im  türkischen  Reiche  drei  völlig  verschiedene  Kategorieen 
von  Gerichten. 

Die  erste  umfasst  alle  diejenigen,  welche  unter  dem  Vorsitze  türkischer 
Beamten  stehen  und  ausschliesslich  aus  türkischen  Richtern  zusammengesetzt 
sind.  Sie  zerfallen  in  vier  Klassen:  1.  die  mohammedanischen  Gerichte  älteren 
Stils;  2.  die  staatlichen  Gerichte  neueren  Stils;  3.  die  Handelsgerichte;  4.  die 
unter  dem  Vorsitze  türkischer  Unterthanen  stehenden  geistlichen  Gerichte. 

Die  zweite  Kategorie  bilden  die  mit  der  Erledigung  der  gemischten 
Prozesse  beauftragten  besonderen  türkischen  Gerichte.  Sie  stehen  unter  dem 
Vorsitz  türkischer  Beamten,  die  Beisitzer  sind  aber  zu  gleichen  Teilen  Türken 
und  Ausländer. 

Die  dritte  Kategorie  endlich  sind  die  Konsulatsgerichte,  die,  ausschliess- 
lich aus  Ausländem  bestehend,  zwar  in  der  Türkei  funktionieren,  aber  in 
keinerlei  Beziehung  zu  der  übrigen  türkischen  Gerichtsverfassung  stehen. 


2.  Das  Strafrecht  der  Türkei 


I  Die  geschiclitliclie  Entwicklung  des  türkischen  Stra&echts. 

§  1.  Der  allgemeine  Charakter  und  die  6randlage  des  mohammedanlsehen 

Strafreehts. 

Das  geltende  Strafrecht  des  ottomanischen  Reiches  ist  eine  seltsame 
Mischung  von  mohammedanischen  Rechtslehren,  französischem  Strafrecht, 
nationalen  Eigentümlichkeiten  und  Willkür.  Eine  klare,  allgemein  verständ- 
liche Darstellung  desselben  setzt  voraus,  dass  man  sich  mit  einigen  geschicht- 
lichen Einzelheiten  vertraut  macht  und  sich  über  den  Unterschied  von 
Theorie  und  Praxis  im  mohammedanischen  Recht  klar  ist.  Dabei  darf  ich 
wohl  davon  ausgehen,  dass  die  Mehrzahl  meiner  Leser  weder  in  die  Einrich- 
tungen der  Nachfolger  des  Propheten  eingedrungen  sind,  noch  sich  mit  den 
in  der  Türkei  seit  1839  eingeführten  Reformen  eingehend   beschäftigt  haben. 

Gewöhnlich  glaubt  man  in  Europa,  dass  der  türkische  Kadi  nach  den 
Satzungen  des  Korans  entscheidet  —  oder  wenigstens  entscheiden  sollte.  Das 
ist  ein  grosser  Irrtum.  Allerdings  ist  der  Koran  für  den  Muselmann  die  wort- 
getreue und  —  im  vollen  Sinne  des  Wortes  —  unfehlbare  OflFenbarung  des 
Willens  Allahs;  er  ist,  als  das  unerschaffene  ewige  Buch,  nicht  nur  das  Gmnd- 
gesetz  für  alle  Gläubigen,  sondern  sogar  die  metaphysische  Grundlage^)  ihres 
Rechts;  in  Wirklichkeit  aber  citiert  und  interpretiert  der  Kadi  in  seinen  Entschei- 
dungen den  Text  des  Koran  ebensowenig,  wie  in  anderen  Staaten  der  Friedens- 
richter die  Artikel  der  Verfassung.  Dasselbe  gilt  von  der  Sonnah,  d.  h.  den  über- 
lieferten Aussprüchen  und  Handlungen  Mohammeds,  die  man  in  den  für  kanonisch 
geltenden  Sammlungen*)  findet.  Die  Lehren  der  Sonnah  sind,  obwohl  mit 
Rücksicht  auf  ihren  Ursprung  über  die  menschliche  Kritik  erhaben,  doch  nicht, 
wie  die  im  Koran  enthaltenen,  die  wörtliche  Wiedergabe  des  Willens  Allahs, 
sondern  nur  die  Aufzeichnung  der  persönlichen  Gedanken  des  von  ihm  erleuch- 
teten Propheten.  Hieraus  folgt  ihre  Bedeutung  als  Rechtsquelle  zweiter  KJasse; 
andererseits  ist  trotzdem  die  Sonnah,  als  Ganzes  betrachtet,  für  die  Gläubigen 
ebenfalls  metaphysische  Grundlage  des  Rechts.  Weitere  metaphysische  Rechts- 
grundlagen   sind:    die    übereinstimmenden  Entscheidungen*)   der   Männer,   die 


*)  Im  Arabischen:  a^l,  Mehrzahl  oqüI,  wörtlich  „Wurzel*',  im  Gegensatz  zu  den 
Grundsätzen  und  Lehren  des  thatsächlich  geltenden  Rechts,  arabisch:  far',  Mehrzahl 
forü',  wörtlich:  „Zweig". 

-)  Die  bekanntesten  dieser  Sammelwerke  sind  die  von  Bochärt  und  von  Moslim, 
die  beide  den  Titel  „(;ahfh"  führen.  Es  giebt  im  ganzen  sechs  kanonische  Sammlungen 
von  Überlieferungen,  die  sich  an  die  Person  des  Propheten  knüpfen;  man  nennt  sie 
in  der  Türkei  gewöhnlich  „die  sechs  verehrungswürdigen  Bücher",  arabisch:  „al-kotnb 
as-sittat  al-mu'tabarah'*. 

*)  Arabisch:  idschma'  oder  dschamä'ah. 


§  1.   Der  allgemeine  Charakter  iind  die  Grundlage  des  mohammedanischen  StR.    711 


man  als  die  mohammedanischen  Apostel  und  Kirchenväter  bezeichnen  könnte, 
und  ausserdem  die  menschliche  Vernunft.*) 

Die  in  der  Praxis  thatsächlich  zur  Anwendung  gelangenden  mohamme- 
danischen Rechtsgrundsätze  sind  in  den  Werken  der  als  Autorität  anerkannten 
Rechtsgelehrten  niedergelegt.  Die  Rechtsgelehrten  nehmen  im  Islam  ettva 
die  Stellung  ein,  die  sie  in  Rom  vor  Justinian  inne  hatten,  und  gelten 
als  Autoritäten  auf  rechtlichem  Gebiete;  sie  erftillen  den  doppelten  Beruf,  das 
vorhandene  Recht  auszulegen  und,  bei  Gelegenheit  dieser  Auslegung,  neuen 
Recht  zu  schaffen:  ihre  Schriften  haben  Gesetzeskraft.  Selbstverständlich 
mtlssen  sie  von  den  Grundsätzen  des  Koran  und  der  Sonnah  ausgehen  und 
die  bereits  erwähnten,  aus  der  Urzeit  des  Islam  stammenden  Entscheidungen 
berücksichtigen.  Ausserdem  stehen  begreiflicherweise  nicht  alle  Rechtsge- 
lehrten in  gleichem  Ansehen;  die  weniger  bedeutenden  müssen  daher,  wenn 
sie  selbst  Anspruch  auf  Autorität  machen  wollen,  die  wohl  begründeten  An- 
sichten ihrer  bedeutenderen  Fachgenossen  beachten.  Endlich  ist  nicht  zu  ver- 
gessen, dass  die  Autorität  der  muselmännischen  Juristen  nicht  auf  Anerken- 
nung durch  den  Herrscher,  wie  sie  sich  in  der  Verleihung  des  Jus  re- 
spondendi  in  Rom  ausdrückte,  sondern  lediglich  auf  der  öffentlichen  Meinung 
beruht. 

Von  diesen  Rechtsgelehnen  unterscheidet  man  in  der  mohammedanischen 
Orthodoxie  vier  Schulen,  deren  Anhänger  nach  ihren  Begründern  Hanafiten, 
Malikiten,  Schäfi'iten  und  Hanbaliten  heissen.  Diese  Schulen  erkennen  sich 
gegenseitig  als  in  gleicher  Weise  daseinsberechtigt  an.  Die  Hanafiten  sind  die 
im  ottomanischen  Reiche  amtlich  anerkannte  Schule;  zu  ihr  bekennt  sich  die 
grosse  Mehrzahl  der  in  Europa  und  Kleinasien  wohnenden  Türken,  während  die 
Schäfi'iten  in  Syrien,  Mesopotamien,  Arabien  und  Ägypten,  die  Malikiten  in  Tripolis 
überwiegen.  Die  Hanbaliten  sind  wenig  zahlreich  und  leben  zerstreut  in  den  grossen 
Städten.  Die  grundsätzliche  Meinungsverschiedenheit  zwischen  den  Schulen  be- 
zieht sich  auf  die  Frage,  welcher  Einfluss  der  vierten  Rechtsgrundlage,  d.  h. 
der  menschlichen  Vernunft,  auf  das  Recht  zu  gestatten  ist.  Alle  stimmen  darin 
überein,  dass  sie  lediglich  da  ist,  um  die  drei  anderen  Quellen  zu  erklären, 
und  in  deiyenigen  Punkten,  in  welchen  sie  nicht  unmittelbar  praktisch  brauch- 
bar sind,  zu  ergänzen.  Jede  rechtliche  Deduktion  muss  aber  von  einer  Vor- 
schrift des  Korans,  der  Sonnah  oder  der  islamitischen  Weisen  aus  den  ersten 
Zeiten  ausgehen  und  sich  als  deren  analoge  Anwendung  darstellen.  Der  Koran, 
die  Sonnah  und  die  Werke  der  Rechtsgelehrten  bilden  zusammen  das  Gesetz, 
arabisch  8chari*ah,*)  und  dasjenige  rechtswissenschaftliche  Werk,  dessen  Autorität 
in  der  Türkei  allgemein  anerkannt  ist,  führt  den  Titel  „MultaqÄ  al-Abhur", 
d.  h.  Zusammenfluss  der  Meere.  Es  ist  eine  von  Ibrfthim  al-HalabI  (f  1649) 
herrührende,  reichhaltige  Sammlung  von  Entscheidungen  der  hervorragendsten 
Juristen  aus  der  Schule  der  Hanafiten,  in  der  fast  alle  Rechtsgebiete  (Civil- 
und  StR.,  öffentliches  Recht,  Gerichtsverfassung,  Militär-,  Luxus-  und  Steuer- 
gesetzgebung, internationales  Recht)  behandelt  sind.  Das  Werk  ist  ursprüng- 
lich arabisch  geschrieben,  unter  Sultan  Mahomet  IV  aber  auch  ins  Türkische 
übersetzt  und  1824  im  Auftrage  der  Hohen  Pforte  neu  herausgegeben  worden.*) 

M  Arabisch:  qijÄs  oder  rÄY. 

-)  Die  Türken  sagen  gewöhnlich  ^Scheri",  vom  arabischen  schar'l;  es  ist  das 
nonien  relativum  von  Schar'  oder  Scharl'ah  und  bedeutet  demnach  „gesetzlich".  Da 
das  Arabische  auf  theologischem  und  rechtlichem  Gebiete  die  offizielle  Sprache  für 
die  Mohammedaner  aller  Länder  ist,  so  empfiehlt  es  sich  die  hierauf  bezüglichen  Aus- 
drücke in  der  arabischen  Form  anzuführen,  ohne  Rücksicht  auf  die  zum  Teil  ver- 
änderte türkische  Aussprache. 

'■^)  Der  Multaqa  ai-Abhur   und   die  FatwÄ,    d.  h.    die  Entscheidungen   seiner  be- 


712  I>ie  Türkei.  —  2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 


Nach  mohammedanischen  Grundsätzen  darf  der  Kadi  örtliches  Gewohn- 
heitsrecht nur  anwenden,  wenn  die  Schari'ah  eine  Entscheidung  des  fraglichen 
Falls  nicht  enthält  oder  ausdrücklich  auf  den  Ortsgebrauch  verweist.  Das 
Gleiche  gilt  von  der  gesetzgeberischen  Gewalt  des  Staatsoberhauptes:  er  darf 
sie  nur  bezüglich  derjenigen  Materien  ausüben,  über  welche  die  Schari'ah 
nicht  bereits  entschieden  hat;  er  ist  daher  auf  den  Erlass  von  Qänün,  d.  h. 
Vdgn.  beschränkt,  während  die  Weiterbildung  des  Gesetzes  im  engern  Sinn  in 
den  Händen  der  Juristen  liegt.  Der  Einfluss,  den  der  einzelne  Schriftsteller  in 
dieser  Beziehung  ausübt,  richtet  sich  nach  dem  Ansehen,  das  er  geniesst. 
Da  mm  die  Autorität  der  grossen  Juristen  der  älteren  Zeit  eine  bedeutend 
grössere  ist  als  die  unserer  Zeitgenossen,  so  ergiebt  sich  hieraus,  dass  es  eine 
Weiterentwicklung  im  mohammedanischen  Recht  kaum  giebt. 

Die  im  Vorstehenden  dargelegten  Verhältnisse  muss  man  berücksichtigen, 
um  die  jetzt  in  der  Türkei  geltende  sog.  „ßeformgesetzgebung"  richtig  zu 
würdigen.  Wie  wir  später  sehen  werden,  ist  der  erste  Art.  des  StGB.  v.  1858 
ohne  diese  Erklärung  völlig  unverständlich.^) 

Ich  wende  mich  nunmehr  zu  dem  strafrechtlichen  System  der  Hanafiten, 
wie  es  in  dem  MultaqÄ  enthalten  ist.^) 

§  2.  Das  strafrechtliche  System  des  Multaqä. 

Die  modernen  europäischen  StGBer  pflegen  in  zwei  Teile  zu  zerfallen, 
von  denen  der  erste  die  Bestimmungen  über  Strafensystem,  Strafvollzug  und 
die  Feststellung  der  GrundbegriflFe  des  StR.:  Versuch,  Rückfall,  mildernde 
Umstände,  Teilnahme,  Zurechnung,  Zusammenhang  und  Zusammentreffen  straf- 
barer Handlungen*)  enthält,  während  der  zweite  von  den  einzelnen  strafliaren 
Handlungen  und  ihrer  Bestrafung  handelt.  Dem  mohammedanischen  Rechte 
ist   eine    derartige  Trennung   des    allgemeinen  Teils   vom    besonderen   fremd. 


deutendsten  Kommentatoren  sind,  unter  Umstellung  einiger  Kapitel  und  Weglassuug 
verschiedener  Wiederholungen  und  Weitschweifigkeiten,  ins  Französische  übersetzt 
in  dem  Werke:  Tableau  g6n6ral  de  l'Empire  Ottoman  von  d'Ohsson,  Paris  1788.  Eine 
Analyse  dieses  Universalkodex  enthalten  auch  die  Lettres  sur  la  Turquie  von 
Ubicini,  Paris  1853,  zweite  Ausgabe,  Bd.  I  S.  148  ff.  Die  Revision  des  Multaqsl  v. 
J.  1824  besteht  hauptsächlich  in  der  Einfügung  der  Fatwä  (Entscheidungen)  derjenigen 
berühmten  Juristen,  die  nach  dem  Tode  al-Halabf's  lebten.  Zur  Vergleichung  des 
arabischen  Originals  des  Multaqft  mit  der  Ohssonschen  Übersetzung  habe  ich  das  in 
der  Universitätsbibliothek  zu  Leyden  befindliche  arabische  Manuskript  (No.  1081) 
benutzt. 

^)  Ausführlichere  Mitteilungen  über  das  Wesen  des  mohammedanischen  Rechts, 
das  Gesetz,  das  Gewohnheitsrecht,  die  Vdgn.  und  das  Gewicht  des  Einflusses  der  ein- 
zelnen Juristen  enthalten  folgende  Werke :  Das  bereits  erwähnte  Buch  von  d'Ohsson, 
Bd.  I  S.  1  ff.,  Bd.  V  S.  7;  Hamilton:  The  Hedäya  or  Guide,  a  commeutary  on  the  Musulman 
laws,  London  1791,  Preliminary  discourse;  Mirza  Kazem  Bey  in  dem  Journal  Asiatique, 
Jahrgang  1850  S.  lo8ff.;  Sachau:  Zur  ältesten  Geschichte  des  Muhammedanischen 
Rechts,  Wien  1870;  von  Kremer:  Kulturgeschichte  des  Orients,  Wien  1875,  Bd.  I 
S.  470  ff.;  J.  Kohler:  Zur  Geschichte  der  Islamitischen  Rechtssysteme  in  der  Zeitschrift 
für  vergleichende  Rechtswissenschaft,  Jahrgang  1884;  Syed  Ameer  Ali:  Lectures  on 
Mahommedan  Law,  Calcutta  1885,  S.  1  ff.;  van  den  Berg:  De  Beginselen  van  het 
Mohammedaansche  Recht,  3.  Aufi.,  Batavia  und  den  Haas*  1883  S.  1  ff.  (hiervon  ist 
eine  Übersetzung  ins  Russische  von  Girgass,  Petersburg  1882,  erschienen;  eine  eben- 
solche ins  Französische  von  de  France  de  Tersant  und  Damiens  erscheint  dem- 
nächst). 

')  In  der  Ohssonschen  Übersetzung  sind,  infolge  der  bereits  erwähnten  Um- 
stellung verschiedener  Kapitel,  die  Grundzüge  des  StR.  nur  schwer  aufzufinden. 

*)  Die  zuletzt  erwähnten  Begriffe  werden  allerdings  von  einigen  Gesetzgebern 
in  der  StPO.  behandelt;  sie  gehören  aber  wegen  ihrer  Einwirkung  auf  die  Schuld 
und  das  Strafmass  thatsächlich  zum  materiellen  StR. 


§  2.    Das  Btrafrechtliche  System  des  Multaqft.  713 


Die  Delikte  zerfallen  in  drei  Klassen:  Verbr.  gegen  Allah,  Angriffe  auf  die 
Person,  endlich  strafbare  Handlangen  gegen  den  öffentlichen  Frieden.^) 

Jede  dieser  drei  Klassen  wird  in  einem  besonderen  Kap.  behandelt  und 
hat  ein  eigenes  Strafensystem.  Als  allgemeine  Grundsätze  kann  man  den  drei 
Kap.  folgendes  entnehmen:  1.  der  Versuch  ist  nur  insoweit  strafbar,  als  er  an 
sich  betrachtet  den  Thatbestand  einer  selbständigen  strafbaren  Handlung  dar- 
stellt ;  2.  der  Kückfall  wirkt  nur  in  den  vom  Gesetz  ausdrücklich  angegebenen 
Fällen  straf  erhöhend;  3.  ein  mildernder  Umstand  bewirkt  gleichfalls  nur  unter 
dieser  Voraussetzung  eine  Ermässigung  der  Strafe ;  4.  einen  besonderen  Fall  der 
strafbaren  Teilnahme  kennt  das  Recht  nur  bei  Tötung,  Körperverletzung  und 
Unzucht;  in  allen  übrigen  Fällen  haftet  der  Teilnehmer  nur  für  die  von  ihm 
persönlich  begangenen  Handlungen,  die,  für  sich  allein  betrachtet,  den  That- 
bestand eines  Delikts  bilden;  5.  die  Zurechnung  wird  ausgeschlossen  durch 
Geisteskrankheit,  Minderjährigkeit,  Zwangt)  und  Irrtum;  6.  weder  der  Zu- 
sammenhang noch  das  Zusammentreffen  mehrerer  strafbarer  Handlungen  hat 
auf  das  Strafmass  Einfluss,  jede  That  wird  einzeln  abgeurteilt.  —  Die  Schwanger- 
schaft einer  verurteilten  Person  bewirkt  einen  Strafvollzugsaufschub  nur  für 
die  körperlichen,  nicht  auch  für  die  Freiheitsstrafen;  weder  die  rechtskräftig 
erkannte  Strafe  noch  die  Strafverfolgung  unterliegt  der  Verjährung. 

Verbrechen  gegen  Allah  sind: 

1.  Die  Unzucht,  d.  h.  jeder  unerlaubte  fleischliche  Verkehr  zwischen  den 
beiden  Greschlechtem ,  also  nicht  nur  Ehebruch,  Blutschande  und  Notzucht, 
sondern  auch  die  freiwillige  Vollziehung  des  Beischlafs  zwischen  zwei  erwach- 
senen unverheirateten  Personen.  Nur  die  Ehe  und  das  Eigentumsrecht  an  einer 
Sklavin  geben  dem  Manne  die  Befugnis,  mit  einer  Frau  geschlechtlich  zu  ver- 
kehren. Die  Strafe  ist:  Steinigung  oder  Geisselung  und  Verbannung,  je  nach 
den  Umständen  des  Falles;  sie  kann  aber  nur  ausgesprochen  werden,  wenn 
die  That  durch  viermaliges  Geständnis  oder  durch  das  Zeugnis  von  vier  männ- 
lichen, einwandsfreien  Zeugen  (während  sonst  nur  deren  zwei  gefordert  werden) 
erwiesen  ist.  Ausserdem  liegt  strafbare  Unzucht  nur  vor ,  wenn  der  Beischlaf 
vollständig,  und  zwar  in  normaler  Weise  vollzogen  ist. 

2.  Die  Verleumdung,  d.  h.  die  wissentlich  falsche  Anschuldigung  wegen 
Unzucht,  wenn  diese  die  Strafe  der  Steinigung  zur  Folge  gehabt  halben  würde. 
Als  wissentlich  falsch  gilt  nach  dem  Gesetz  die  Anzeige  desjenigen,  der  nicht  im 
Stande  ist,  die  gesetzlich  erforderten  Beweise  beizubringen;  jedoch  besteht 
hiervon  eine  Ausnahme  zu  Gunsten  des  Mannes,  der  seine  Ehefrau  des  Ehe- 
bruchs beschuldigt,  um  die  Ehescheidung  herbeizuführen  und  die  Vaterschaft 
des  Kindes,  mit  dem  sie  schwanger  geht,  zu  bestreiten:  er  kann  den  Mangel 
der  gesetzlichen  Beweisführung  durch  die  fünfmalige  Wiederholung  einer  Ver- 
wünschung ersetzen.     Die  Verleumdung  wii'd  mit  Geisselung  bestraft. 

3.  Der  Diebstahl,  d.  h.  die  rechtswidrige  Zueignung  eines  Gegenstandes 
im  Werte  von  mindestens  10  Silberdrachmen,  der  sich  unter  einer  seiner  Be- 
schaffenheit nach  genügend  sicheren  Bewachung  oder  an  einem  sicher  ver- 
wahrten Orte  befand.  Die  Strafe  besteht  in  Abhauen  der  rechten  Hand  und 
—  bei  vorliegendem  Rückfall  —  des  linken  Fusses.  Weitere  Rückfälle  werden 
mit  Gef.  bestraft.  Die  verstümmelnden  Strafen  finden  keine  Anwendung  bei 
den  Diebstählen,   die  begangen  werden :  auf  einem  öffentlichen  Platze,  zwischen 


*]  Die  geschichtliche  Erklärung  dieser  Dreiteilung  w^ürde  zu  weit  führen.  Es 
sei  daher  nur  angedeutet,  dass  die  drei  Klassen  den  drei  Perioden  der  Rechtsentwick- 
lung bei  den  Arabern  entsprechen,  die  durch  das  Heidentum,  die  Reformtbätigkeit 
Mohammeds  und  die  Weiterentwicklung  unter  den  Kalifen  dargestellt  werden. 

*)  In  diesem  Falle  gilt  derjenige,  welcher  den  Zwang  ausgeübt,  nicht  der  ihn 
erduldet  hat,  als  Thäter. 


714  Die  Türkei.  —  2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 


Ehegatten  oder  solchen  Verwandten,  zwischen  welchen  die  Ehe  verboten  ist, 
zwischen  Herrn  und  Sklaven,  zum  Nachteil  der  Staatskasse  oder  an  einem 
Gegenstand,  dessen  Miteigentümer  der  Dieb  ist. 

4.  Raub.  Der  Räuber,  welcher  einen  Diebstahl  unter  Vornahme  von 
Gewaltthätigkeiten  begeht,  wird  mit  Abhauen  der  rechten  Hand  und  des  linken 
Fusses,  wenn  er  aber  einen  Menschen  tötet,  mit  dem  Tode  bestraft.  Ob  im 
letzteren  Falle  der  Thäter  enthauptet  oder  gekreuzigt  werden  soll,  bestimmt 
der  Richter.  Bei  der  Kreuzigung  wird  der  Verurteilte  lebend  an  das  Kreuz 
geschlagen,  sodann  mit  der  Lanze  durchbohrt  und  darauf,  jedoch  höchstens 
drei  Tage  lang,  dem  Anblick  des  Volkes  preisgegeben. 

6.  Wein  trinken.  Der  des  Wemgenusses  überführte  Muselmann  wird  mit 
Geisselung  bestraft. 

6.  Der  Abfall  vom  mohammedanischen  Glauben.  Der  unbussfertige 
Abtrünnige  wird  mit  dem  Tode  bestraft,  weibliche  Personen  dagegen  werden  ein- 
gesperrt und  täglich  gepeitscht,  bis  sie  zum  wahren  Glauben  zurückkehren.  In 
allen  Fällen  hat  der  Abfall  vom  mohammedanischen  Glauben  den  bürgerlichen 
Tod  zur  Folge.  GrOtteslästerer  werden  ohne  Unterschied  des  Geschlechts  und 
der  Konfession  und  ohne  Gewährung  einer  Frist  zur  Reue  zum  Tode  verurteilt. 

7.  Rebellion,  d.  h.  die  Weigerung  des  Gehorsams  gegen  die  Gesetze  oder 
die  rechtmässige  Obrigkeit  seitens  eines  Muselmannes,^)  der  im  übrigen  die 
Grundlehren  des  Islam  als  richtig  und  die  Unterwerfung  unter  das  Gesetz  als 
erforderlich  anerkennt.  Der  hartnäckige  Ungehorsam  ist  mit  dem  Tode  be- 
droht; da  aber  der  Thäter  Muselmann  geblieben  ist,  so  findet  die  Strafe  des 
bürgerlichen  Todes  auf  ihn  keine  Anwendung;  auch  sollen,  wenn  mildere 
Strafen  zur  Beugung  seiner  Hartnäckigkeit  ausreichen,  diese  gegen  ihn  ver- 
hängt werden,  bevor  das  äusserste  Mittel  gegen  ihn  gebraucht  wird.*)  Eis  sei 
bemerkt,  dass  die  Kommentatoren  des  Multaqä  den  Begriff  der  Rebellion  sehr 
weit  fassen,  indem  sie  jede  aufreizende  Rede,  jede  Handlung,  welche  geeignet 
ist,  die  öflTentliche  Ordnung  zu  stören,  jede  Übertretung  der  gesetzmässigen 
Anordnungen  des  Herrschers,  die  Fälschung,  die  Amtsunterschlagung,  die  Er- 
pressung im  Amte  und  ganz  allgemein  jede  Verletzung  der  Amtspflicht  als 
Rebellion  ansehen.*)  Die  Stellung  dieses  Delikts  entspricht  also  etwa  der  des 
Crimen  laesae  maiestatis  im  römischen  Recht,  das,  ursprünglich  ein  bestimmtes 
Verbrechen  mit  eng  umgrenztem  Thatbestande,  später  der  Sammelname  für  eine 
Reihe  von  strafbaren  Handlungen  wurde.  Indes  ist  der  Begriff  der  Rebellion 
im  türkischen  Recht  ein  erheblich  weiterer.  Ich  komme  auf  dieses  Delikt 
bei  der  Besprechung  des  türkischen  StGB.  v.  1858  zurück. 

Ein  Straferlass  ist  bei  den  vorerwähnten  Strafthaten  nicht  zulässig,  ab- 
gesehen von  der  Verleumdung,  die  nur  auf  Antrag  des  Beleidigten  verfolgt 
wird,  und  der  Rebellion,  bei  welcher  das  Staatsoberhaupt  von  seinem  Be- 
gnadigungsrechte Gebrauch  machen  darf.  Den  Dieb  trifft  neben  seiner  Strafe 
die  Verpflichtung  zur  Herausgabe  der  gestohlenen  Sache  als  Schadensersatz, 
wenn  er  sie  noch  im  Besitz  hat;  die  Verbindlichkeit  erlischt,  wenn  er  zur  Zeit 
der  Klageerhebung  bereits  nicht  mehr  Besitzer  war. 


*)  Da  ein  Ungläubiger  nur  infolge  eines  Vertrages  Unterthan  eines  mohamme- 
danischen Herrschers  werden  kann,  so  bildet  die  Gehorsamsverweigerung  eines  solchen 
nicht  einen  Fall  der  Rebellion,  sondern  nur  ein  vertragswidriges  Verhalten,  das  zur 
Folge  hat,  dass  auch  die  Mohammedaner  an  die  bezüglich  der  persönlichen  Sicherheit 
des  Thäters  übernommenen  Verpflichtungen  nicht  mehr  gebunden  sind- 

-)  Dieselben  Grundsätze  gelten,  wenn  es  sich  nicht  um  den  Ungehorsam  eines 
einzelnen,  sondern  um  den  Aufstand  einer  Volksmenge  handelt,  zu  dessen  Unter- 
drückung militürisches  Einschreiten  erforderlich  ist. 

^)  Vgl.  dOhsson  a.  O.     Bd.  VI  S.  258  ff". 


§  2.    Das  strafrechtliche  System  des  MultaqA.  715 


Die  zweite  Klasse  von  strafbaren  Handlangen  bilden  die  Angriffe  auf  die 
Person:  Tötung  und  Körperverletzung.  Es  giebt  drei  Arten  von  Tötungen: 
Tötung  mit  Vorbedacht,  vorsätzliche  Tötung  ohne  Vorbedacht  und  fahrlässige 
Tötung.  Vorbedacht  ist:  der  Vorsatz,  einem  anderen  mit  einer  Waffe  oder 
irgend  einem  unter  gewöhnlichen  Umständen  zui*  Herbeiführung  des  Todes 
geeigneten  Mittel  das  Leben  zu  nehmen.  Also  gehört  auch  die  Tötung  durch 
Gift,  Verbrennen,  Ertränken,  sowie  die  Verursachung  eines  Todesurteils  durch 
Ablegung  falschen  Zeugnisses  hierher.  Vorsätzliche  (oder  wie  es  im  Arabischen 
heisst:  mit  einem  Anscheine  von  Vorbedacht  begangene)  Tötung  liegt  vor,  wenn 
der  Tod  als  zufällige  Folge  eines  gegen  eine  Person,  jedoch  ohne  Tötungs- 
absicht, gerichteten  Angriffs  eingetreten  ist.  Auch  hier  bestinmit  sich  die  Art 
der  Handlung  nach  der  Beschaffenheit  der  zur  Anwendung  gelangten  Mittel. 
Fahrlässig  endlich  ist  jede  durch  Unaufhierksamkeit,  ünerfahrenheit,  Nach- 
lässigkeit oder  Zufall  herbeigeführte  Tötung;  man  unterscheidet  demnach  vier 
Arten  der  fahrlässigen  Tötung.^) 

Gegen  vorsätzliche  mit  Vorbedacht  begangene  Tötung  ist  die  Strafe  der 
Talion  angedroht,  falls  nicht  die  Erben  des  Ermordeten  erklären,  dass  sie  mit 
einem  Wergeide  zufHeden  sein  wollen,  oder  der  Thäter  ein  Ascendent  des 
Opfers  ist  oder  ein  Herr  seinen  Sklaven  getötet  hat.  Im  letzteren  Falle  wird 
nur  auf  die  korrektioneile  Strafe  erkannt,  von  der  noch  später  die  Rede  sein 
wird;  in  den  beiden  ersteren  Fällen  kann  an  Stelle  der  Talion  das  Wergeid 
treten;  der  Betrag  desselben  ist:  1000  Goldstücke  oder  10000  Silberdrachmen 
für  einen  Mann,  die  Hälfte  für  eine  Frau.*)  Vorsätzliche  und  fahrlässige 
Tötung  haben  stets  die  Verpflichtung  zur  Zahlung  des  Wergeides  zur  Folge; 
sie  lastet  nicht  nur  auf  dem  Thäter,  sondern  auch  auf  seiner  Korporation 
und  subsidiär  seinen  Agnaten,  seinem  Stamme  oder  dem  Staate.  Ist  der  Thäter 
unbekannt,  so  haften  die  Bewohner  des  Hauses,  der  Strasse  oder  Stadtviertels, 
wo  der  Leichnam  gefunden  ist,  für  die  Bezahlung  des  Wergeides. 

Die  gleichen  Grundsätze  gelten  für  die  Körperverletzung,  jedoch  mit  dem 
Vorbehalt,  dass  die  Talion  selbst  bei  mit  Vorbedacht  begangenen  Verletzungen 
dann  keine  Anwendung  findet,  wenn  die  Herstellung  völliger  Gleichheit  zwischen 
Verletzung  und  Strafe  schwierig  oder  gar  unmöglich  sein  würde.  So  ist  z.  B. 
die  Talion  ausgeschlossen,  wenn  jemand,  der  seine  rechte  Hand  bereits  ver- 
loren hat,  einen  anderen  der  seinigen  beraubt;  denn  es  ist  nicht  zulässig,  als 
Vergeltung  für  das  Abhauen  der  rechten  Hand  dem  Thäter  die  linke  zu 
nehmen.  Auch  für  Fleischwunden  ist  die  Talion  nicht  zulässig,  weil  es  sehr 
schwer  sein  würde,  dem  Thäter  eine  Wunde  von  gleicher  Länge,  Breite  und 
Tiefe  zuzufügen.  Ihre  Anwendbarkeit  beschränkt  sich  also  auf  die  Fälle 
der  Verstümmelung  und  der  Beraubung  eines  äusseren  Organs.  Für  alle 
Verletzungen  einschliesslich  der  Abtreibung  ist  ein  Preisverzeichnis  aufgestellt. 
Als  allgemeine  Regel  gilt,  dass  das  Wergeid  für  ein  Glied  oder  Organ,  von 
welchem  man  zwei  hat,  halb  so  hoch  ist,  wie  das  Wergeid  für  Tötung;  bei 
den  Gliedern,  von  denen  der  Mensch  zehn  hat  (Finger,  Zehen),  ist  der  Betrag 
gleich  einem  Zehntel   des  Totschlags -Wergeides;  hat  die  Verletzung  den  Ver- 

*)  Unaufmerksamkeit  liegt  z.  B.  vor,  wenn  ich,  in  der  Meinung  auf  ein  Stück 
Wild  angelegt  zu  haben,  auf  einen  Mensehen  schiesse;  llnerfahrenheit,  wenn  ich  anstatt 
des  Feindes,  dem  ich  nachstellte,  den  Freund  treffe;  Nachlässigkeit,  wenn  ich  an  einem 
öffentlichen  Platze  eine  Grube  anlege,  ohne  die  erforderlichen  Vorsichtsmassregeln  zu 
treffen,  so  dass  ein  Vorübergehender  hineinfällt  und  an  den  Folgen  des  Falles  stirbt; 
Tötung  durch  Zufall  ist  es  endlich,  wenn  ein  Schlafender  beim  Umdrehen  in  der 
Schlaftrunkenheit  ein  Kind  erstickt. 

-)  Ursprünglich  wurde  das  Wergeid  in  Kamelen  entrichtet,  die  Zahlung  in  Geld 
war  nur  subsidiär  zulässig. 


716  Die  Türkei.  —  2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 


Inst  eines  nnr  einmal  vorhandenen  Gliedes,^)  der  Vernunft,  eines  der  fünf  Sinne 
oder  einer  körperlichen  oder  geistigen  Fähigkeit  veranlasst,  so  ist  das  volle 
Wergeid  zu  zahlen.  Dabei  ist  jedoch  stets  zu  beachten,  dass  bei  allen  einer 
weiblichen  Person  zugefügten  Verletzungen  sich  der  Betrag  um  die  Hälfte 
ermässigt. 

Tötung,  Körperverletzung  und  Verstünmielung  bleiben  straflos,  wenn  sie 
im  Falle  der  Notwehr,  auf  Anordnung  der  rechtmässigen  Obrigkeit,  im  Kriege 
oder  zur  Vollstreckung  eines  Urteils  ausgeführt  wurden. 

Die  für  die  obenerwähnten  Delikte  angedrohten  Strafen  können  dem 
Schuldigen  von  dem  Verletzten  oder  dessen  Erben  erlassen  werden;  die  Hand- 
lungen haben  den  Charakter  von  Civildelikten,  bei  denen  das  Wergeid  den 
an  die  Stelle  des  Schadensersatzes  tretenden  Preis  des  vergossenen  Blutes 
bildet.  Das  Staatsoberhaupt  ist  nicht  befugt  einzuschreiten,  weder,  um  den 
Thäter  zu  begnadigen,  wenn  der  Verletzte  auf  der  Talion  besteht,  noch  um 
ihn  dem  Richter  zu  überliefern,  wenn  der  zur  Stellung  des  Strafantrages  Be- 
rechtigte hiervon  Abstand  nimmt. 

Wie  bereits  oben  erwähnt  ist,  kennt  das  mohammedanische  Recht  eine 
dritte  Klasse  von  strafbaren  Handlungen:  die  Vergehen  und  Übertretungen 
gegen  den  öffentlichen  Frieden.  Der  Herrscher  und  seine  Vertreter:  die  Kadis 
und,  für  Übertretungen,  die  Leiter  der  Polizei,  haben  das  Recht  und  die  Pflicht, 
alle  Handlungen  zu  bestrafen,  die  ihrer  Ansicht  nach  gegen  die  Gesellschafts- 
ordnung Verstössen,  sei  es,  dass  sie  im  Gesetz  (Scharf 'ah)  zwar  verboten,  aber  nicht 
mit  einer  bestimmten  Strafe  bedroht,  sei  es,  dass  sie  in  einer  Vdg.  (Qänün)  des 
Landesherm  oder  einer  Anordnung  der  zuständigen  Behörde,  mit  oder  ohne 
Festsetzung  einer  bestimmten  Strafe,  verboten  sind,  sei  es  endlich,  dass  ein 
Verbot  oder  eine  Strafandrohung  überhaupt  nicht  vorhanden  ist,  die  That  aber 
nach  Ortsgebrauch  oder  nach  der  persönlichen  Ansicht  des  Beamten  strafi-echtliche 
Ahndung  verdient.  Hieraus  ergiebt  sich,  dass  die  Grundregel  des  in  Europa 
geltenden  modernen  StR.:  nullum  delictum,  nulla  poena  sine  praevia  lege 
poenali,  im  mohammedanischen  Recht  nicht  gilt.  Indes  sind  die  wegen  der 
Verg.  und  Übertretungen  gegen  den  öflTentlichen  Frieden  zulässigen  Strafen, 
wenn  auch  der  Willkür  der  Richter  überlassen,  so  doch  dem  Masse  nach  durch 
die  Schari'ah  beschränkt.  Sie  können  nur  in  Gef.,  Geisselung,  Geldstrafe 
und  richterlichem  Verweis  bestehen ;  die  Todesstrafe  ist  ausgeschlossen.  Andere 
als  die  vorstehenden  Strafen  darf  weder  das  Staatsoberhaupt  noch  irgend  ein 
Richter  selbständig  androhen.  Die  wegen  dieser  Klasse  von  Strafthaten  ver- 
hängten Strafen  können  durch  den  Herrscher  und  sogar  durch  den  Kadi 
(bezw.  in  Übertretungsfällen  durch  den  Leiter  der  Polizei)  erlassen  werden; 
jedoch  hat  dieser  Erlass  auf  den  Schadensersatzanspruch  des  Verletzten  keinerlei 
Einfluss. 

Streng  genommen  kann  man  noch  eine  besondere  Klasse  von  strafbaren 
Handlungen  aufstellen:  die  Verstösse  gegen  die  Ritualvorschriften  und  die 
Moral,  die,  nach  der  Schari'ah  Sühne,  Geldstrafe  und  Opfer  nach  sich  ziehen. 
Bei  vorsätzlicher  und  fahrlässiger  Tötung  ist  die  Sühne  neben  der  Zahlung 
des  Wergeides  erforderlich.  Da  aber  diese  Handlungen  von  den  Mohamme- 
danern nicht  als  zum  Gebiete  des  Strafrechts  gehörig  angesehen  werden,  so 
mögen  sie  auch  hier  unberücksichtigt  bleiben. 

Der  Multaqä  kennt  ein  besonderes  Militärstrafrecht  nicht;  der  militärische 
Ungehorsam  wird  beispielsweise,  je  nach  der  Lage  der  Sache,  entweder  einen 
Fall  der  Rebellion  oder  ein  Delikt  gegen  den  öffentlichen  Frieden  bilden. 


M  Hierzu  rechnet  man  auch  den  Verlust  des  Bartes,  des  Haupthaars  oder  der 
Jungfräulichkeit. 


§  3.    Die  Entwicklung  bis  zum  Jahre  1858.  717 


•     §  3.  Die  Entwicklung  bis  zam  Jabre  1858. 

Das  StR.,  wie  ich  es  vorstehend  in  kurzen  Zügen  ^)  geschildert  habe,  galt 
in  der  Türkei  mit  geringen  Abänderungen  bis  zum  J.  1840  —  wenigstens  im 
Prinzip,  denn  die  Praxis  wich  von  dem  Buchstaben  des  Gesetzes  erheblich  ab. 
Ich  will  hier  nicht  bei  nebensächlichen  Umständen  lange  verweilen,  z.  B.  dass 
die  Geisselung  seit  langer  Zeit  fast  vollständig  durch  die  Bastonnade  verdrängt 
war,  dass  grausame  Strafen,  wie  die  gegen  Räuber  und  Rebellen  verhängte 
Pfählung,  zur  Anwendung  gelangten,  die  sich  durch  die  Schari'ah  nicht  recht- 
fertigen lassen,  da  diese  im  Gegenteil  dem  Kadi  vorschreibt,  die  Vollziehung 
der  Todesstrafe  an  dem  Verurteilten  auf  dem  schnellsten  Wege  zu  veranlassen, 
ihm  aber  allerdings  (abgesehen  vom  Falle  der  Unzucht)  in  der  Wahl  der 
Mittel  völlig  freie  Hand  lässt.  Es  waren  noch  viel  ärgere  Übelstände  ein- 
gerissen, die  der  türkischen  Justizverwaltung  mit  vollem  Recht  den  Vorwurf 
sprichwörtlicher  Grausamkeit  und  Willkür  zugezogen  hat.  Obwohl  das  moham- 
medanische Recht  ausdrücklich  besagt,  dass  eine  Strafe  nur  von  dem  zustän- 
digen Richter  verhängt  werden  und  kein  Beamter  eines  anderen  Verwaltungs- 
zweiges sich  in  die  Geschäfte  der  Justiz  einmischen  darf,  sehen  wir  doch,  wie 
diese  Grundsätze  in  der  Türkei  seit  Jahrhunderten  von  Beamten  aller  Art 
mit  Füssen  getreten  sind.  Ferner  enthält  die  Schari'ah  ausführliche  Vorschriften 
über  das  gesetzliche  Beweisverfahren  und  den  Straf prozess ;  auch  der  Souverän 
muss,  wenn  er  in  seiner  Eigenschaft  als  Oberhaupt  der  Kadis  seines  Reiches, 
von  seiner  Befugnis,  eine  bei  einem  Gerichte  anhängige  Sache  vor  sein  Forum 
zu  ziehen,  Gebrauch  machen  will,  ebenso  wie  der  ordentliche  Richter  die  ge- 
setzlichen Formen  beachten.  Die,  oft  sogar  heimlichen,  Hinrichtungen  ohne 
vorhergegangenes  ordentliches  Verfahren,  die  von  dem  Sultan  oder  selbst  von 
Mitgliedern  seiner  Familie  und  von  seinen  Beamten  angeordnet  werden,  sind 
nach  mohammedanischem  Recht  ebenso  strafwürdig,  wie  sie  es  nach  den  Ver- 
fassungen des  westlichen  Europas  sein  würden.  Die  Ausserachtlassung  der 
gesetzlichen  Garantieen,  die  Bestechlichkeit  der  Richter,  die  Willkür  und  Un- 
ordnung der  Verwaltung,  die  Diebereien  und  Erpressungen  seitens  der  Organe 
des  Staats,  mit  einem  Worte,  die  vom  Standpunkte  der  Moral,  der  Politik  und 
des  Gesetzes  gleich  beklagenswerte  Paschawirtschaft,  unter  welcher  die  Türkei 
im  ersten  Viertel  des  neunzehnten  Jahrhunderts  zu  leiden  hatte,  findet  in  der 
Schan'ah  die  stärkste  Missbilligung. ^) 

Politische  Ereignisse,  deren  Schilderung  den  Rahmen  dieser  Abhandlung 
überschreiten  würde, •'^)  wiesen  auf  die  dringende  Notwendigkeit  zur  Vornahme 
von  Reformen  (tanzim,  Mehrzahl:  tanzimät,  wörtlich:  Organisation)  hin.  Die 
Pforte  beschloss,  sich  den  christlichen  Mächten  mehr  als  bisher  zu  nähern  und 
vor  allem  ihnen  in  der  Einrichtung  einer  geordneten  Verwaltung  und  einer 
unbestechlichen  Justiz  nachzueifern.  Die  Schwierigkeiten  waren  nicht  uner- 
heblich.    Die  geplanten  Reformen  fanden  zunächst  ihre  natürliche  Gegnerschaft 


*)  Ausführlichere  Darstellungen  findet  der  Leser  in  den  Spezialwerken  der 
Hanafitischen  Schule;  z.  B.  in  den  bereits  oben  ausgeführten  Übersetzungen  von 
d'Ohsson  und  Hamilton  und  meinem  Werke  über  die  Anfangsgründe  des  muselmän- 
nischen Rechts.  Eine  Aufzählung  der  noch  nicht  in  eine  europäische  Sprache  über- 
setzten arabischen  Schriften  dürfte  für  die  Mehrzahl  meiner  Leser  kein  Interesse 
bieten.  Diejenigen  von  ihnen,  welche  der  arabischen  Sprache  mächtig  sind,  bedürfen 
eines  besonderen  Hinweises  nicht  und  für  die  anderen  hat  er  keinen  Wert. 

«)  Vgl.  Ubicini  a.  O.  Bd.  I  S.  172,  193. 

•)  Über  die  genaue  Geschichte  der  Ereignisse,  welche  die  Reformen  in  der 
Türkei  veranlasst  haben,  vgl.  Engelhardt:  La  Turquie  et  le  Tanzimät,  Paris  1882. 


718  Die  Türkei.  —  2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 


in  dem  bösen  Willen  aller  derjenigen,  welche  an  der  Anfrechterhaltong  der 
alten  Mißswirtschaft  Interesse  hatten,  d.  h.  fast  aller  in  Amt  und  Würden  be- 
findlichen Persönlichkeiten.  Andererseits  mnsste  aber  auch  auf  die  Schari'ah 
Rücksicht  genommen  werden ;  denn  wenn  sie  auch  alle  die  in  Frage  stehenden 
Missbräuche  verdammte,  so  verhinderte  sie  doch  die  Einführung  europäischer 
Einrichtungen  und  Gesetze  selbst  in  einer  den  orientalischen  Verhältnissen  ange- 
passten  Form.  Wollte  der  Sultan  überhaupt  Anhänger  Mohanmieds  bleiben,  so 
musste  er  seine  reformatorische  Thätigkeit  beschränken  auf  diejenigen  Fragen 
untergeordneter  Natur,  deren  Regelung  die  Schari'ah  der  Lokalgesetzgebung 
überlassen  hatte,  und  auf  die  Abschaffung  der  mit  dem  Gesetz  geradezu  im  Wider- 
spruch stehenden  Übelstände,  deren  Einreissen  auf  den  allgemeinen  Niedergang 
der  politischen  und  sozialen  Gewohnheiten  zurückzuführen  war.^)  Die  Reform 
konnte  höchstens  in  der  Rückkehr  zu  den  alten  idealen  Zuständen,  nicht  aber 
in  der  Einführung  von  Neuerungen  bestehen,  und  doch  wurden  gerade  diese 
letzteren  von  Europa  energisch  verlangt. 

In  dem  ersten  Aktenstück  der  ernsthaften  Reorganisationsthätigkeit,  dem 
Chatti-Scharif  oder  der  am  3.  November  1839  erlassenen  kaiserlichen  Erklärung 
von  Gul-Chänah  (Kiosk  im  Serail)  wurden  alle  diese  Klippen  geschickt  umschifft. 
Der  Sultan  beschränkt  sich  auf  die  Aufhebung  der  auch  von  der  Schari'ah  ge- 
missbilligten  Gebräuche;  z.  B.  (um  mich  auf  das  strafrechtliche  Gebiet  zu  be- 
schränken) verbietet  er  die  willkürlichen  ohne  vorhergehendes  ordentliches  Ver- 
fahren angeordneten  Hinrichtungen,  die  Einziehung  des  gesamten  Vermögens,  die 
Ächtung  der  unschuldigen  Erben  eines  Verbrechers,  die  heimliche  Hinrichtung 
durch  Gift  u.  s.  w.  Um  nicht  bei  den  christlichen  Mächten  einen  schlechten 
Eindruck  hervorzurufen,  bediente  man  sich  zweideutiger  Ausdrücke  oder  über- 
ging wichtige  Punkte  mit  Stillschweigen.  Wenn  z.  B.  der  Chatti-Scharif  allen 
ünterthanen  des  Sultans  ohne  Unterschied  des  Bekenntnisses  völlige  Sicherheit 
für  Leben,  Ehre,  Ruf  und  Vermögen  „so  wie  es  die  Schari*ah  vorschreibt"  zu- 
sichert, so  ist  damit  keineswegs  gesagt,  dass  Leben,  Ehre  u.  s.  w.  eines  Christen 
oder  Juden  den  gleichen  Schutz  gemessen  sollen,  wie  die  eines  Mohammedaners, 
sondern  nur,  dass  die  Ungläubigen  diejenigen  Rechte  haben  sollen,  die  ihnen 
nach  der  Schari'ah  zustehen,  noch  viel  weniger  ist  aber  damit  die  politische 
Gleichheit  der  Konfessionen  ausgesprochen.  Wenn  der  Chatti-Scharif  den  Er- 
lass  einer  neuen  Strafverordnung^)  (Qänün)  in  Aussicht  stellt,  so  ist  hiermit 
wörtlich  lediglich  der  Erlass  einer  Vdg.  zum  Zwecke  der  besseren  Durch- 
führung des  bereits  geltenden  mohammedanischen  Rechts  zu  verstehen.  Wer 
aber  geneigt  sein  sollte,  die  Hohe  Pforte  deshalb  der  Doppelzüngigkeit  oder 
gar  des  Mangels  an  Würde  gegenüber  den  europäischen  Mächten  zu  beschul- 
digen, der  darf,  um  gerecht  zu  sein,  nicht  vergessen,  dass  man  der  Türkei 
nicht  zumuten  kann,  aufzuhören,  ein  mohammedanischer  Staat  zu  sein,  und  dass 
der  Islam  durch  seine  Grundlehren  von  der  Unfehlbarkeit  nicht  nur  des  Sinnes, 
sondern  auch  des  Wortlauts  des  Koran  und  der  Autorität  der  Rechtsgelehrten 


*)  In  der  Türkei  erlängt  keine  Vd^.  (Qänün)  des  Sultans  Verbindlichkeit  ohne 
die  Erklärung  (Fatwä)  des  Schaich  al-Isläm,  als  des  Leiters  der  amtlichen  Juristen, 
dass  sie  keinerlei  der  Schari'ah  widersprechende  Bestimmungen  enthält.  Vgl.  Ubicini 
a.  0.  Bd.  I  S.  87  und  oben  S.  712.  In  Art.  7  der  oktroyierten  Verfassung  für  das 
ottomanische  Reich  von  1876  bezeichnet  sich  der  Sultan  ausdrücklich  als  Vollstrecker 
der  Schari'ah  und  nimmt  die  gesetzgeberische  Gewalt  für  sich  nur  in  Bezug  auf 
Vdgn.  auf  dem  Gebiete  der  Staatsverwaltung  in  Anspruch.  Vgl.  Aristarchi  Bey:  Le- 
gislation Ottomane  (Konstantinopel  1878— 1S88)  Bd.  V  S.  8. 

-)  In  den  Übersetzungen  heisst  es  iinrichtigerweise  „StGB.*'  Das  Wort  „qänün" 
bedeutet  vielmehr  gerade,  dass  der  Multaqä  als  StGB,  in  Kraft  bleiben  und  lediglich 
zur  Ausfüllung  seiner  Lücken  eine  Novelle  erlassen  werden  soll. 


§  3.    Die  Entwicklung  bis  zum  Jahre  1858.  719 


nicht  nur  zu  einem  religiösen ,  sondern  auch  zu  einem  politischen  und  recht- 
lichen System  geworden  ist. 

Die  inl  Chatti-Scharif  *)  versprochene  neue  Strafverordnung  wurde  i.  J.  1840 
veröffentlicht.  Sie  wurde  im  Grossen  Justizrat  (Madjlisi  Ahk&m  al-^Adl^jah) 
vorbereitet  und  von  den  hervorragendsten  türkischen  Juristen  ausgearbeitet. 
Ich  erinnere  hier  nur  an  Raschid  Päschä,  den  bekannten  Vorkämpfer  der 
Reform  in  der  Türkei. 

In  der  Einleitung  wird  die  Bestimmung  des  Chatti-Scharif  wiederholt, 
dass  alle  Unterthanen  des  Sultans  ,,nach  Massgabe  der  ihnen  zustehenden 
Ansprüche"  sich  völliger  Sicherheit  für  Leben,  Vermögen  und  Ehre  er- 
freuen, dass  in  Bezug  auf  die  „gesetzlich  gewährte"  Freiheit  alle  vor  der 
Schari'ah  und  dem  Qänün  gleich  sein  sollen,  und  dass  die  Rechtspflege  ohne 
Unterschied  der  Person  ausgeübt  werden  soll.*)  Die  Vdg.,  die  dreizehn  Art. 
und  einen  Schluss  enthält,  verbietet  ausserdem  die  Vornahme  einer  heim- 
lichen Hinrichtung  ohne  vorhergehendes  Urteil,  die  Verurteilung  in  Fällen,  in 
denen  der  gesetzliche  Beweis  nicht  erbracht  ist,  die  Rebellion,  Missbrauch  der 
Amtsgewalt  gegen  Privatpersonen,  Erpressung  im  Amte,  Bestechung,  Amts- 
unterschlagung (worunter  auch  die  Weigerung  der  Reohnungsablegung  zu  ver- 
stehen ist),  die  Weigerung  eines  Beamten,  einem  anderen  Beamten  die  diesem 
gesetzlich  zukommenden  Dienste  zu  leisten,  die  Vornahme  einer  richterlichen 
Handlung  durch  einen  Verwaltungsbeamten  und  umgekehrt,  die  Verweigerung 
der  Steuerzahlung,  Ungehorsam  gegen  Polizeibeamte,  Waffengebrauch  seitens 
einer  Privatperson,  einerlei  ob  dieser  Verwundungen  oder  Tötungen  zur  Folge 
gehabt  hat,  Raub,  den  Eingriff  in  das  Ansehen  eines  Vorgesetzten,  der  in 
rechtmässiger  Ausübung  seines  Amtes  handelt,  sowie  die  Verstösse  eines  solchen 
gegen  die  ihm  von  der  dazu  befugten  Person  oder  Behörde  erteilten  schrift- 
lichen Verhaltungsmassregeln.  Alle  diese  Handlungen  sind  im  Falle  ihrer  Be- 
gehung mit  Strafen  bedroht,  ohne  dass  aber  angegeben  ist,  in  welchem  Ver- 
hältniss  diese  zu  den  auf  Grund  der  Schari'ah  verhängten  stehen.^) 

Die  Vdg.  hat  ferner  eine  Art  Nachprüfung  der  von  den  Gerichten  er- 
lassenen Todesurteile  eingeführt.  Sie  geschieht  durch  den  Schaich  al-Isläm 
oder  Oberhaupt  der  amtlichen  Rechtsgelehrten  ('olamä)  und  ist  von  dem  dem 
Sultan  als  höchstem  Richter  seines  Reiches  zustehenden  Recht  der  Revision 
unabhängig.     Ich  werde  auf  diese  Einrichtung  später  zurückkommen. 

Sehr  bemerkenswert  ist,  dass  der  Gross-Herr,  nachdem  er  in  der  Vdg. 
seinen  Beamten  die  heimliche  Hinrichtung,  z.  B.  durch  Vergiftung,  die  Erpres- 
sung im  Amte  usw.  verboten  hat,  gelobt,  dass  er  auch  seinerseits  aller  der- 
artigen Übergriffe  sich  enthalten,  mit  anderen  Worten,  seine  Unterthanen  in  Zukunft 
nicht  mehr  vergiften,  berauben  und  bestehlen  wolle  (Art.  1  und  4).  Endlich 
ist  im  Schlüsse  nochmals  wiederholt,  dass  die  Vdg.  auf  jedermann,  ohne  irgend 
welche  Rücksicht  oder  Ausnahme  Anwendung  finden  soll. 

Schon    aus    dieser    kurzen    Inhaltsangabe    kann    man    entnehmen,    dass 


*)  Einen  Abdruck  des  türkischen  Textes  des  Chatti-Schartf  und  der  Strafver- 
ordnung V.  1840  nebst  deutscher  Übersetzung  enthält  das  Werk  von  Petermann  und 
Ramis  Effendi:  Beiträge  zu  einer  Geschichte  der  neuesten  Reformen  des  osmanischen 
Reiches,  Berlin  L^42.  Eine  französische  Übersetzung  des  Chatti-Scharif  enthalten  die 
bereits  erwähnten  Werke  von  Ubicini,  Bd.  1  S.  527  ff.,  Engelhardt,  S.  257  ff.  und  Ari- 
starchi  Bey,  Bd.  II  S.  7  ff.  Eine  eingehende  Analvse  der  Vdff.  v.  1840  ffiebt  Ubicini 
a.  O.  Bd.  I  S.  167  ff.  ^  ö  e 

*)  Ubicini  a.  0.  S.  168  übersetzt  unrichtig,  „dass  alle  als  vor  dem  Gesetz  gleich 
angesehen  werden  sollen".    In  der  Türkei  giebt  es  kein  für  alle  gleiches  Recht. 

8)  Man  vgl.  z.  B.  Art.  10.  Es  ist  daher  unrichtig,  wenn  Ubicini  a.  0.  S.  164 
behauptet,  die  StGgebung  des  Multaqft  sei  durch  die  Vdg.  v.  1840  grösstenteils  ausser 
Kraft  gesetzt. 


720  IHe  Türkei.  —  2.  Daß  Strafrecht  der  Türkei. 


man  im  J.  1840  keineswegs  die  Kodifikation  des  gesamten  StR.,  sondern 
lediglich  eine  Regelung  deijenigen  Delikte  beabsichtigte,  welche  die  Schari'ah 
nach  türkischer  Anffassong  der  weltlichen  Gesetzgebung  überlassen  hatte.  Die 
Missbränche,  deren  Unterdrückung  die  Vdg.  bezweckt,  waren  von  dem  mohamme- 
danischen Recht  bereits  im  Mittelalter  verboten.  Die  Vdg.  ist  daher  nichts 
als  ein  Nachtrag  zum  Multaqä,  der  das  Hauptgesetzbuch  ^)  blieb. 

Nach  1840  trat  in  der  türkischen  StGgebung  wieder  ein  Stillstand 
ein,  der  bis  1856  dauerte.  Die  Pforte  suchte  so  viel  als  möglich  die. Miss- 
bräuche in  der  Justizverwaltung,  insbesondere  die  willkürlichen  Bestrafungen 
auszurotten,  ohne  indes  stark  genug  zu  sein,  ihre  Anordnungen  in  allen  Fällen, 
oder  auch  nur  in  den  Mauern  des  Serails*)  durchzuführen.  Nach  dem  Krim- 
kriege i.  J.  1856  sah  sich  der  Sultan  wieder  einmal  zwischen  Hammer  und 
Ambos,  oder  um  es  weniger  bildlich  auszudrücken,  zwischen  der  Schan'ah 
und  den  Vorwürfen  seiner  christlichen  Verbündeten.  Letztere  verlangten  aufs 
neue  gründliche  Reformen  und  zwar  in  europäischem  Sinne,  während  der  Sultan 
nur  Reformen  in  mohammedanischem  Sinne  in  Aussicht  stellen,  d.  h.  das  noch- 
malige Verbot  längst  vom  mohammedanischen  Recht  gemissbilligter  Handlungen 
oder  den  Erlass  von  Vdgn.  auf  dem  beschränkten  ihm  zur  Verfügung  stehenden 
Gebiet  versprechen  konnte.  Die  einfache  Gegenüberstellung  des  arabischen 
Wortes  „tanzimät"  und  des  französischen  „r^formes**  lässt  klar  werden,  dass 
beide  Parteien  über  die  zu  unternehmenden  Schritte  eine  völlig  verschiedene 
Auffassung  hatten,  und  der  Chatti-Homajün  oder  die  Erklärung  vom  18.  Februar 
1856,*)  mit  der  die  Reform  eingeleitet  wurde,  gab  einen  neuen  glänzenden 
Beweis  von  der  Fähigkeit  der  türkischen  Staatsmänner,  es  scheinbar  allen 
recht  zu  machen.  In  dieser  Erklärung,  von  der  hier  nur  die  für  das  StR. 
wichtigen  Punkte  berührt  werden  sollen,  wiederholt  der  Sultan  die  be- 
reits in  der  Erklärung  von  Gul-Chänah  gemachten  Versprechungen  und  ver- 
spricht, dass  fortan  im  Reiche  völlige  Kultusfreiheit  herrschen  soll,  ohne  aber 
die  in  der  Schan'ah  für  den  Abfall  eines  Muselmannes  von  seinem  Glauben 
angedrohten  Strafen  aufzuheben.*)  Ausserdem  spricht  er  aus,  dass  ungläubige 
vor  Gericht  als  Zeugen  zugelassen  werden  sollen,  allerdings  nur  in  den  ge- 
mischten Gerichten;*)  die  Unfähigkeit,  in  gleicher  Weise  vor  rein  mohammeda- 
nischen Gerichten  aufzutreten,  blieb  in  vollem  Umfange  bestehen;  auch  hat 
sich  der  Sultan  sehr  wohl  gehütet,  die  Zeugnisablegung  seitens  eines  Ungläu- 
bigen gegen  einen  Mohammedaner  vor  einem  gemischten  Gerichtshofe  zuzulassen. 
Die  Aussage    eines    Ungläubigen    gegen    einen    anderen    Ungläubigen  ist  aber 


*)  Dieser  ergänzende  Charakter  der  Vdg.  v.  1840  ist  beinahe  von  allen  Schrift- 
stellern, die  darüber  handelten,  verkannt  worden.  Vgl.  z.B.  Kngelhardt  S.  40:  „Dieses 
besondere  GB war  allerdings  ebenso  unvollständig  wie  unzusammenhängend.*^ 

«)  Petermann  und  Ramis  Eflfendi  a.  0.  S.  XXXVIII  Anm.  2. 

')  Die  Übersetzung  des  Chatti-Homajün  v.  1856  ist  in  den  erwähnten  Werken 
von  Engelhardt  S.  263  ff  und  Aristarchi  Bey  Bd.  II  S.  14  ff.  enthalten. 

*)  Der  Vorschlag  Englands,  die  hierauf  bezüglichen  Straf bestimmungen  auf- 
zuheben, wurde  von  der  Pforte  entschieden  abgelehnt.  Vgl.  Engelhardt  a.  O.  S.  180. 
Übrigens  ist  eine  gewisse  Kultusfreiheit,  in  den  von  der  Schart'ah  gezogenen  Schran- 
ken, stets  in  der  Türkei  sowohl  rechtlich  wie  thatsächlich  vorhanden  gewesen.  Vgl. 
Ubicini  a.  0.  Bd.  II  S.  8  ff.  Dieser  Schriftsteller  irrt  aber,  wenn  er  (S.  12  No.  1)  sagt, 
dass  die  Todesstrafe  für  den  Religionswechsel  eines  Muselmannes  abgeschafft  sei;  der 
Sultan  hat  lediglich  den  Vertretern  der  Grossmächte  mitgeteilt,  dass  er  die  deswegen 
erlassenen  Todesurteile  in  Zukunft  nicht  mehr  bestätigen  werde.  Vgl.  Aristarchi 
Bey  a.  0.  Bd.  II  S.  23. 

*)  Die  gemischten  Gerichte  entschieden  in  solchen  Civil-  und  Strafsachen,  bei 
denen  Angehörige  verschiedener  Konfessionen  beteiligt  waren.  Sie  sind  niemals  sehr 
zahlreich  gewesen  und  haben  den  in  sie  gesetzten  Erwartungen  nicht  entsprochen. 
Vgl.  Engelhardt  a.  0.  S.  242  ff.  Bei  der  späteren  Veränderung  der  Gerichtsverfassung 
sind  sie  abgeschafft  worden. 


§  8.    Die  Entwicklung  bis  zum  Jahre  1858.  721 


nach  Ansicht  der  Hanaiiten  bereits  in  der  Schari'ah  zugelassen,  ebenso  wie 
die  im  Chatti-Hom^gün  angeordnete  Öffentlichkeit  der  Gerichtssitzungen.  Femer 
versprach  der  Sultan  zwar  den  Erlass  von  Straf-,  Handels-  und  Prozessgesetzen 
für  die  gemischten  Gerichtshöfe,  ohne  aber  über  eine  etwaige  neue  Gesetzgebung 
ftlr  alle  seine  Unterthanen  etwas  zu  sagen.  In  Beziehung  auf  die  Strafgesetz- 
gebung im  allgemeinen  beschränkte  er  sich  auf  die  Entwickelung  eines  ganz 
allgemein  gehaltenen  Programms,  das  sich  sowohl  vom  Standpunkte  der  Schari'ah 
wie  von  dem  der  europäischen  Mächte  verteidigen  liess.^)  Das  Versprechen  einer 
Reform  des  Gefängniswesens,  „um  den  Rechten  der  Menschlichkeit  in  der  Rechts- 
pflege zum  Durchbruch  zu  verhelfen"  war  zu  unbestimmt  gehalten,  um  erheb- 
liche Schwierigkeiten  zu  veranlassen.  Das  Gleiche  gilt  von  dem  Verbot,  körper- 
liche Strafen  in  anderen  als  den  durch  die  Vdgn.  zugelassenen  Fällen  zu  ver- 
hängen ;  dagegen  steht  die  Abschaffung  der  Folter  vollkommen  im  Einklang  mit 
der  Schari'ah,  die  jedes  durch  sie  erpresste  Geständnis  und  jede  unter  der  Ein- 
wirkung eines  Zwanges  gemachte  Aussage  für  wertlos  erklärt.  Trotz  alledem 
muss  man  sagen:  der  Chatti-Homajün  als  Ganzes  betrachtet  ist  ein  Anzeichen 
für  das  ernstliche  Bestreben  des  Sultans,  den  Beschwerden  der  europäischen 
Mächte  soweit  nachzugeben,  wie  dieses  mit  seiner  Würde  als  Haupt  aller  recht- 
gläubigen Muselmänner  vereinbar  war.^) 

Diese  Bereitwilligkeit  ergiebt  sich  auch  aus  dem  Erlass  eines  für  alle 
Unterthanen  giltigen  StGB.  i.  J.  1858;  denn  wenn  dieses  keineswegs  den  in 
Europa  gehegten  Erwartungen  entsprach,  so  war  es  doch  ein  Beweis  für  den 
guten  Willen  des  Sultans. 

Man  versuchte  diese  Massregel  vom  mohammedanischen  Standpunkte  als 
mit  der  Schari'ah  im  Einklang  stehend  in  folgender  Weise  zu  rechtfertigen. 
In  Übereinstimmung  mit  den  oben  erwähnten  Ansichten  der  alten  Kommenta- 
toren des  Multaqä^)  erklärte  die  Pforte  zunächst,  dass  nicht  nur  die  unmittel- 
bar gegen  den  Staat,  sondern  auch  die  gegen  Privatpersonen  gerichteten  An- 
griffe wegen  der  durch  sie  herbeigeführten  Störung  der  Ruhe  der  menschlichen 
Gesellschaft  Fälle  des  Ungehorsams  bildeten.  Infolge  dessen  fallen  sie  ihrer 
Natur  nach  unter  den  Begriff  der  Rebellion  oder  wenigstens  der  Quasi-Rebellion, 
die  vom  Staate  nötigenfalls  mit  der  Todesstrafe  geahndet  werden  muss.  Als 
Quasi-Rebellion  konnte  nun  durch  kaiserliche  Vdg.  ein  grosser  Teil 'der  im 
französischen  C.  p.  enthaltenen  Delikte  unter  Strafe  gestellt  werden;  nur 
musste  man  sich  hüten:  einmal  die,  nach  der  Schari'ah,  aus  der  Tötung  und 
Körperverletzung  entspringenden  privatrechtlichen  Ansprüche*)  zu  verletzen, 
und  ausserdem,  dem  europäischen  StR.  den  in  Art.  4  des  französischen 
C.  p.  ausgedrückten  Grundsatz  zu  entlehnen,  dass  eine  Verurteilung  und 
selbst  eine  strafrechtliche  Verfolgung  nur  zulässig  ist  wegen  einer  Handlung, 
die  zur  Zeit  ihrer  Begehung  bereits  mit  Strafe  bedroht  war.*)     Infolge  dieser 


^)  Vgl.  Art.  VI,  VIII,  XI-XV  und  XXIII  des  Chatti-Homajün. 

*)  Bekanntlich  betrachtet  sich  die  Hohe  Pforte  als  rechtmässige  Nachfolgerin 
der  Kalifen  und  daher  auch  als  Oberhaupt  aller  Muselmänner,  auch  derjenigen,  welche 
nicht  türkische  Unterthanen  sind.  Vgl.  Art.  5  der  oktroyierten  Verfassung  für  das 
ottomanische  Reich  von  1876  (Aristarchi  Bey  a.  0.  Bd.  V  S.  7).  Allerdings  ist  diese 
Anschauung,  selbst  vom  Standpunkte  des  mohammedanischen  Rechts  aus,  voUkom 
men  irrig.  Vgl.  Baillie:  Is  the  Sultan  of  the  Turks  the  Caliph  of  the  Mussulmans? 
London  1877. 

3)  S.  o.  S.  714. 

*)  S.  0.  S.  715,  716. 

^)  Allerdings  verbietet  Art.  10  der  vom  Sultan  im  Jahre  1876  oktroyierten 
Verfassung  die  Verurteilung  zu  Strafe  in  anderen  als  den  gesetzlich  bestimmten  Fällen; 
wenn  aber  dasselbe  G.  dem  Richter  gestattet,  zu  verurteilen  ohne  an  einen  gesetzlich 
bestimmten  Thatbestand   gebunden  zu  sein,  so  ergiebt  sich  schon  hieraus,  dass  der 

Strafgesetzgebung  der  Gegenwart.   I.  46 


722  I>ie  Türkei.  —  2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 


letzteren  Beschränkung  blieben  die  Verbrechen  gegen  Allah^)  von  der  Reform 
unberührt,  und  gleichzeitig  überhob  man  die  Richter  der  Mühe,  die  Überein- 
stimmung einer  That  mit  dem  gesetzlichen  Thatbestande  festzustellen  und  ihre 
Urteile  in  dieser  Beziehung  ausführlich  zu  begründen;  dieses  war  nicht  un- 
wichtig, denn  in  einem  Lande  wie  die  Türkei,  wo  örtliche  Polizeiverordnungen 
fehlen  und  die  Richter  mit  wenigen  Ausnahmen  zu  ungebildet  sind,  um  einer 
solchen  Aufgabe  gewachsen  zu  sein,  hätte  die  Einführung  einer  derartigen 
Verpflichtung  notwendigerweise  schwere  Übelstände  zur  Folge  gehabt.  Be- 
züglich der  Verbr.  gegen  Allah  ist  noch  zu  bemerken,  dass  die  Nachprüfung 
der  Todesurteile  durch  den  Schaich  al-Isläm  und  die  nochmalige  Revision  durch 
den  Sultan  bei  einigem  guten  Willen  stets  Veranlassung  giebt,  diejenigen  Hin- 
richtungen, die  in  Europa  besonderen  Anstoss  erregen  würden,  wie  z.  B.  wegen 
Abfalles  vom  mohammedanischen  Glauben  oder  wegen  Vollziehung  des  Beischlafs 
in  einem  Falle,  der  weder  als  Notzucht,  noch  als  Blutschande  oder  Ehebruch 
anzusehen  ist,  zu  verhindern.  Es  ist  sogar  nicht  unwahrscheinlich,  dass  die 
türkischen  Staatsmänner  beabsichtigt  haben,  die  Todesstrafe  in  den  Fällen, 
in  denen  sie  vom  europäischen  Standpunkte  aus  zu  sehr  gemissbilligt  wurde, 
wenn  nicht  rechtlich,  so  docfi  thatsächlich  zu  beseitigen.*) 

Die  vorstehenden  Ausführungen  dürften  ausreichen,  um  eine  Vorstellung 
von  den  allgemeinen  Grundzügen  des  StGB.  v.  1858,  wie  sie  in  seinem  ersten 
Art.  niedergelegt  sind,  zu  geben.  Das  Gesetz  findet  auf  alle  türkischen  Unter- 
thanen'^)  ohne  Unterschied  der  Konfession  Anwendung;  indes  kann  sich  ein 
Nichtmohammedaner  auf  die  in  der  Scharl*ah  garantierten  Individualrechte  nur 
in  den  Fällen  berufen,  in  denen  erstere  auf  ihn  Anwendung  findet.  Da  die 
Schari'ah  von  dem  Grundsiatze  der  Geltung  des  Personalstatuts  für  die  zu  den 
Unterthanen  eines  mohammedanischen  Fürsten  gehörigen  Ungläubigen  ausgeht, 
so  sind  diese  Fälle  sehr  wenig  zahlreich;  der  in  Bezug  auf  diese  im  Individual- 
rechte im  ersten  Art.  gemachte  Vorbehalt  ist  daher  für  die  Nichtmohammedaner 
fast  bedeutungslos. 


Gesetzgeber  die  Konsequenz  aus  dem  in  Art.  10  aufgestellten  Grundsatze  nicht  ge- 
zogen hat.  Übrigens  ist  die  Verfassung  von  1876  infolge  verschiedener  politischer 
Ereignisse  niemals  in  Kraft  getreten  und  zur  Zeit  völlig  ausser  Geltung  gekommen. 
Die  auf  Grund  dieser  Verfassung  im  Jahre  1877  zusammenberufene  Generalversamm- 
lung wurde  bereits  im  folgenden  Jahre  für  immer  aufgelöst.  Vgl.  Aristarchi  Hey  a.  O. 
Bd.  V  S.  8,  Annuaire  de  legislation  6trangfere,  Jahrgang  1889  S.  866,  Lawrence:  Com- 
mentaire  etc.  (Leipzig  1868—1880)  Bd.  IV  S.  173,  195. 

M  S.  o.  S.  713,  714. 

«)  Vgl.  Engelhardt  a.  O.  S.  130  und  oben  S.  720  Anm.  4.  Trotz  alledem  bestehen 
neben  den  sogenannten  Reform-  (tanzlmftt)  oder  regelmässigen  (nizAmijah)  Gerichten, 
d.  h.  den  über  die  in  dem  StGB,  oder  besonderen  Vdgn.  geregelten  Delikte  erkennen- 
den Gerichten,  jene  Gerichte,  welche  über  die  nach  der  Scharfah  strafbaren  Hand- 
lungen urteilen,  weiter  fort.  Vgl.  Art.  87  der  bereits  oben  S.  721  Anm.  2  und  5  erwähnten 
Verfassung  von  1876  und  Aristarchi  Bey  a.  0.  Bd.  V  S.  20.  Welche  Fülle  von  Schwierig- 
keiten aus  diesem  Nebeneinanderbestehen  zweier  Arten  von  Gerichten  entstehen,  von 
denen  die  ältere,  wenigstens  in  Strafsachen,  nahezu v  öllig  überflüssig  geworden  ist, 
brauche  ich  kaum  zu  betonen.  Es  scheint,  als  ob  die  Vorsitzenden  der  Gerichte  neueren 
Stils  regelmässig  Mitglieder  auch  des  Gerichts  älteren  Stils  sind.  Vgl.  Aristarchi  Bey  a.  0. 
Bd.  VI  S.  4fF.  übrigens  ist  die  Gerichtsverfassung  der  Türkei  sehr  verwickelt;  sie  ist 
oft  abgeändert  und  beruht  in  ihrer  gegenwärtigen  Gestaltung  auf  einem  G.  von  l'^79, 
das  keineswegs  genügende  Sicherheit  gegen  willkürliche  Rechtspflege  und  Amtsmiss- 
brauch bietet.  Ausführliche  amtliche  Mitteilungen  über  die  Wirkung  der  G.  von  1879 
findet  man  in  den  dem  Englischen  Parlamente  überreichten  Reports  on  the  Admini- 
stration of  Justice  in  the  civil,  criminal  and  commercial  Courts  in  the  various  Pro- 
vinces  of  the  Ottoman  Empire.    London  1881. 

^)  Das  türkische  G.  über  die  Staatsangehörigkeit  ist  im  J.  1869  erlassen  und 
in  den  bereits  erwähnten  Werken  von  Lawrence  Bd.  III  S.  222  und  Aristarchi  Bey  Bd.  I 
S.  7ir.  abgedruckt. 


1.  §  4.    Allgemeiner  Teil  des  StGB.  723 


n.  Das  türkische  StR.  seit  1858. 

a)  Pas  tftrküiclie  StOB.  von  1858. 

1.  §  4.    Allgemeiner  Teil. 

Das  StGB.  V.  1858^)  ist  am  25.  Juli  dieses  Jahres  veröflFentlicht  und  ent- 
hält einleitende  Bestimmungen  und  drei  Bücher.*)  Die  Einleitung  zerfällt  in 
vier  Kap.:  1.  Von  den  Graden  der  strafbaren  Handlungen  und  den  Strafen 
im  allgemeinen,  sowie  von  einigen  allgemeinen  Grundsätzen;  2.  von  den  Ver- 
breehensstrafen ;  3.  von  den  Vergehens-  und  Übertretungsstrafen:  4.  von  den 
Fällen,  in  welchen  der  Angeklagte  entschuldbar,  verantwortlich  oder  straf- 
bar ist. 

Es  giebt  drei  Arten  von  Delikten:  Verbr.,  Verg.  und  Übertretungen 
(Art.  2),  je  nachdem  sie  mit  schwerer,  korrektioneller  oder  leichter  Strafe  be- 
droht sind.  Schwere  Strafen^)  sind:  Todesstrafe,  lebenslängliche  oder  zeitige 
Zwangsarbeit  und  Festungshaft,  mit  öffentlicher  Ausstellung  am  Pranger,  Ver- 
bannung auf  Lebenszeit,  Verlust  aller  öffentlichen  Grade  und  Ämter  auf  Lebens- 
zeit und  Ausschluss  von  der  Ausübung  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  (Art.  3). 
Korrektionelle  Strafen  sind:  Gef.  über  eine  Woche,  zeitige  Verbannung,  Ver- 
lust eines  öffentlichen  Amtes  und  Geldstrafe  über  100  Piaster  (Art.  4).  Leichte 
(Polizei-)Strafen  sind:  Gef,  von  24  Stunden  bis  zu  einer  Woche  und  Geldstrafe 
bis  zu  100  Piastern  (Art.  5).  In  den  gesetzlich  bestimmten  Fällen  können 
alle  diese  Strafen  kumulativ  oder  getrennt  verhängt  werden  (Art.  6).  Der 
Art.  7,  zu  dessen  &gänzung  am  27.  September  1867  eine  kaiserliche  Verord- 
nung erlassen  ist,  enthält  sehr  verwickelte  Vorschriften  über  die  Strafschärfung 
derjenigen  zu  Zwangsarbeit,  Festungshaft,  Gef.  oder  Verbannung  Verurteilten, 
welche  entfliehen  oder  während  der  Strafvollstreckung  ein  neues  Delikt  be- 
gehen. Der  Rückfall  bewirkt,  abgesehen  von  den  Fällen,  in  denen  das  Gesetz 
etwas  anderes  bestimmt,  die  Verdoppelung  der  über  den  Thäter  wegen  der 
ersten  That  verhängten  Strafe  (Art.  8);  eine  Begriffsbestimmung  des  Rückfalls 
enthält  das  StGB,  ebensowenig  wie  eine  solche  des  Versuchs.*)  Neben  der  ver- 
hängten   Strafe    besteht   unabhängig   von    dieser   der  Ersatzanspruch   des  Be- 


^)  Eine  französische  Übersetzung  des  StGB,  giebt  Aristarchi  Bey  a.  0.  Bd.  II 
S.  212  ff. ;  vgl.  auch  daselbst  Bd.  V  S.  72  ff.  Eine  französische  Ausgabe'  unter  Berück- 
sichtigung der  seit  1858  erfolgten  Abänderungen  ist  von  G.  Macrid^s  veröffentlicht 
(Konstantinopel  1883).  Das  StGB.  v.  18r>8  ist  in  der  Gesetzgebungsabteilung  des  Staats- 
rates (Madjlisi  Walä)  unter  dem  Vorsitz  von  Mahomet-Ruschdt-F&schä  ausgearbeitet. 
Europäische  Juristen  um  Rat  zu  fragen  oder  zur  Mitarbeit  aufzufordern,  hat  man 
völlig  vermieden.  Ich  verdanke  diese  Mitteilung,  wie  verschiedene  andere  (die  später 
in  den  Anmerkungen  mit  einem  Sterne  bezeichnet  sind),  den  Herren  Gescher  Effendi 
und  Gabriel  Effendi  Nuradungian,  Justizräten  der  Hohen  Pforte,  die  auf  Bitten  des 
niederländischen  Gesandten  in  Konstantinopel,  Excellenz  Ritter  Dr.  jur.  D.  A.  W.  van 
Tets  van  Goudriaan,  mir  über  verschiedene  wichtige  Punkte  bereitwilligst  Auskunft 
erteilt  haben. 

'^)  *Alle  früher  erlassenen  strafrechtlichen  Bestimmungen  einschliesslich  der 
Strafverordnung  von  1840  sind  mit  der  Veröffentlichung  des  StGB,  ausser  Kraft  ge- 
setzt. Übrigens  ist  es  in  der  Türkei  nicht  üblich,  neuen  G.  besondere  Einf.G.  beizu- 
geben. 

*)  *Alle  nach  dem  StGB,  wegen  eines  Verbr.  ergangenen  Verurteilungen  unter- 
liegen der  Nachprüfung  durch  den  Kassationshof,  der  das  Urteil  bestätigen,  aufheben 
oder  die  Sache  zur  nochmaligen  Verhandlung  an  das  erkennende  Gericht  zurück- 
verweisen kann.  , 

*)  Nur  in  wenigen  Art.  des  türkischen  StGB,  wird  das  versuchte  Delikt  dem 
vollendeten  gleichgestellt;  vgl.  z.  B.  Art.  55  und  57. 

46* 


724  Die  Türkei.  —  2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 


schädigten  (Art.  9),  dem  bezüglich  der  Zwangsvollstreckung  der  Vorrang  vor 
der  Geldstrafe  zusteht  (Art.  10).  Weigert  sich  der  Verurteilte,  Geldstrafe  und 
Schadensersatz  zu  zahlen  oder  bewegliche  Gegenstände  herauszugeben,  so  tritt 
gerichtlicher  Zwang  ein;  ist  er  dagegen  zahlungsunfähig,  so  muss  mit  der 
Beitreibung  von  Gegenständen  und  Kosten  gewartet  werden,  bis  er  in  Besitz 
der  Mittel  gekommen  ist.^)  Nur  eine  uneinziehbare  Geldstrafe  wird  in  Gef. 
umgewandelt  (Art.  11,  37,  39).  —  Die  Stellung  unter  Polizeiaufsicht,  Geld- 
strafe und  die  Einziehung  von  Gegenständen,  die  durch  dasVerbr.  oderVerg. 
hervorgebracht  sind  oder  als  Mittel  zur  Begehung  gedient  haben,  sind  Neben- 
strafen (Art.  12).  Die  erstere  ist  von  Rechtswegen  eintretende  Folge  jeder 
Verurteilung  wegen  eines  Verbr.  oder  Verg.  gegen  die  Sicherheit  des  Staates 
(Art.  13).  Ihre  Wirkung  (Art.  14)  ist  nahezu  die  gleiche  wie  im  französischen 
C.  p.  Art.  15  endlich  spricht  aus,  dass  das  StG.  keine  rückwirkende  Kraft  hat. 
Die  beiden  folgenden  Kapitel  enthalten  nähere  Angaben  über  die  vor- 
erwähnten Strafarten,  von  denen  hier  nur  die  wichtigsten  wiedergegeben  wer- 
den sollen.  Das  StGB,  sagt  nicht,  auf  welche  Weise  die  Todesstrafe  vollstreckt 
werden  soll;  nur  darf  die  Hinrichtung  erst  nach  feierlicher  Verlesung  des  sie 
gestattenden  kaiserlichen  Firman  erfolgen  (Art.  16).^)  Die  Verurteilung  zu 
Zwangsarbeit  hat  öflFentliche  Ausstellung  am  Pranger  zur  Folge;  indes  findet  diese 
Bestimmung  keine  Anwendung  auf  Personen  unter  18  Jahren  und  über  70  Jahre, 
ebensowenig  auf  Geistliche  aller  Konfessionen  (Art.  19  und  Kaiserliche  Vdg.  vom 
17.  Juni  1862).  Weder  die  Vollstreckung  der  Todesstrafe  noch  die  öflFentliche 
Ausstellung  dürfen  an  einem  Tage  stattfinden,  der  für  die  Konfession,  welcher 
der  Verurteilte  angehört,  als  Festtag  gilt  (Art.  22).  Die  Dauer  der  zeitigen 
Zwangsarbeit  und  der  zeitigen  Festungshaft  beträgt  mindestens  3  und  höch- 
stens 15  Jahre,  die  der  Gefängnisstrafe  mindestens  24  Stunden  und  höchstens 
3  Jahre,  die  der  zeitigen  Verbannung  mindestens  3  Monate  und  höchstens 
3  Jahre.  Zwangsarbeit  unterscheidet  sich  von  Gefängnisstrafe  durch  die  strengere 
Behandlung,  die  grössere  Schwere  der  Arbeit  und  durch  die  Kugeln,  welche 
den  zu  Zwangsarbeit  Verurteilten  angelegt  werden.  Den  zu  Festungshaft  Ver- 
urteilten ist  ein  gewisses  Mass  von  Freiheit  und  Verkehr  mit  der  Aussenwelt 
gestattet;  zur  Arbeit  sind  sie  nicht  verpflichtet;  die  Verbüssung  erfolgt  in 
einer  der  Staatsfestungen,  und  zwar  stets  ausserhalb  des  Wohnorts  des  Ver- 
urteilten. Die  zur  Verbannung  Verurteilten  werden  aus  ihrem  Aufenthaltsorte 
entfernt  und  an  einen  anderen  von  der  Regierung  bezeichneten  Ort  gebracht. 
(Art.  21,  23,  24,  28,  34,  35).  Die  Verurteilung  zu  Zwangsarbeit  und  zu  Festungshaft 
hat  die  civilrechtliche  Handlungsunfähigkeit  für  die  Dauer  der  Strafe  zur  Folge 
(Art.  27);^)  Zwangsarbeit,  Festungshaft  und  Verbannung  auf  Lebenszeit  ausser- 
dem den  dauernden  Verlust  aller  öffentlichen  Ämter  und  Grade;  jedoch  kann 
bei  Verurteilung  zu  zeitiger  Festungshaft  die  Regierung  den  Verurteilten  re- 
habilitieren, wenn  bewiesen  ist,  dass  er  sich  gebessert  hat  (Art.  30).  Der  vor- 
erwähnte Verlust  schliesst  auch  die  Unfähigkeit  ein,  vom  Staate  eine  Pachtung 
oder  Konzession  zu  erhalten.  Der  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  be- 
steht in  dem  Verlust  aller  öflPentlichen  Ämter  und  Grade,  der  Unfähigkeit  ein 


^)  Diese  Bestimmung  ist  darauf  zurückzuführen,  dass  nach  mohammedanischem 
Recht  ein  zahlungsunfähiger  Schuldner  civilrechtlich  nur  verfolgt  werden  kann,  wenn 
die  Insolvenz  vorsätzlich  oder  durch  grohe  Fahrlässigkeit  herbeigeführt  ist,  um  die 
Gläubiger  zu  benachteiligen. 

*)  *Es  hat  sich  der  Gebrauch  herausgebildet,  dass  die  von  den  Gerichten  neueren 
Stils  gefällten  Todesurteile  durch  Hängen,  die  von  den  Gerichten  älteren  Stils  aus- 
gehenden durch  Köpfen  vollstreckt  werden.    Vel.  S.  722  Anm.  2. 

')  Eine  Vdg.  des  Grossveziers  vom  28.  Mai  1875  regelt  die  Verwendung  de» 
Arbeitsverdienstes  und  bestimmt  den  den  Gefangenen  an  demselben  zu  gewährenden 
Anteil.    Vgl.  Aristarchi  Bey  a.  0.  Bd.  V  S.  293. 


1.  §  4.    Allgemeiner  Teil  des  StGB.  725 


öffentliches  Amt  irgendwelcher  Art  (einschliesslich  der  von  den  Gemeinden 
nnd  öffentlichen  Korporationen  verliehenen)  zu  erlangen,  Zeuge,  Prozessbevoll- 
mächtigter, Vormund^)  zu  sein  oder  die  Waffen  zu  tragen  (Art.  31).  Diese 
Unfähigkeit  ist,  je  nach  der  Dauer  der  Hauptstrafe,  zeitig  oder  dauernd;  in 
den  Fällen,  in  denen  sie  vom  Gesetz  allein  angedroht  ist,  tritt  Gef.  von  höchstens 
3  Jahren  hinzu  (Art.  32).  Die  wegen  eines  Verbr.  erlassenen  Urteile  müssen 
im  Auszuge  durch  öffentlichen  Anschlag  bekannt  gemacht  werden  (Art.  33). 
Die  Enthebung  von  einem  öffentlichen  Amte  geschieht  auf  die  Dauer  von 
3  Monaten  bis  zu  6  Jahren;  sie  bezieht  sich  nur  auf  ein  bestimmtes  Amt  und 
die  damit  verbundenen  Einkünfte  (Art.  36). 

An  der  Spitze  des  letzten  Kapitels  der  Einleitung  steht  eine  sehr  kom- 
plizierte und  völlig  unlogische  Bestimmung  über  die  jugendlichen  Verbrecher 
(Art.  40),  zu  deren  Erläuterung  und  Vervollständigung  unter  dem  25.  Mai  1874 
eine  Ministerialverfügung  erlassen  ist.  Um  den  Sinn  dieses  Artikels  richtig 
zu  erfassen,  muss  man  zunächst  beachten,  dass  im  mohammedanischen  Rechte 
die  Frage,  ob  jemand  bereits  grossjährig  ist,  ex  habitu  corporis  beantwortet 
wird;^)  man  ist  grossjährig,  wenn  die  körperlichen  Anzeichen  der  Pubertät 
sich  eingestellt  haben,  jedoch  muss  ein  Knabe  mindestens  das  zwölfte,  ein 
Mädchen  mindestens  das  neunte  Lebensjahr  vollendet  haben.  Fehlt  es  an 
körperlichen  Zeichen  der  Pubertät,  so  tritt  die  Grossjährigkeit  mit  dem  fünf- 
zehnten Lebensjahre  ein.  Das  türkische  StGB,  und  die  erwähnte  Vdg.  er- 
klären Kinder  unter  13  Jahren  für  unzurechnungsfähig;  sie  werden,  wenn  sie 
eine  strafbare  Handlung  begehen,  ihren  Eltern  gegen  Stellung  einer  Bürg- 
schaft überwiesen,  oder  wenn  eine  solche  nicht  bestellt  wird,  eingesperrt,  und 
zwar  „auf  angemessene  Zeit".  Jugendliche  Personen  zwischen  13  und  15  Jahren, 
bei  denen  die  körperlichen  Zeichen  der  Pubertät  vorhanden  sind,  werden  den 
Erwachsenen  gleich  als  völlig  strafrechtlich  verantwortlich  behandelt;  andern- 
falls werden  sie  den  Kindern  gleichgestellt,  wenn  sie  ohne  Unterscheidungs- 
vermögen gehandelt  haben;  dagegen  —  auch  für  begangene  Verbr.  —  mit 
korrektionellem  Gef.  bestraft,  wenn  das  Unterscheidungsvermögen  als  vorhan- 
den festgestellt  wird. 

Die  Zurechnungsfähigkeit  wird  ausserdem  noch  ausgeschlossen  durch 
Geisteskrankheit  und  Zwang  (Art.  41,  42).  Frauen  sind  in  gleicher  Weise 
verantwortlich  wie  Männer;  eine  schwangere  Frauensperson  soll  jedoch  der 
Krankenabteilung  des  Gefängnisses  oder  erforderlichen  Falls  dem  Ejanken- 
hause  zur  Pflege  überwiesen  werden.  (Art.  43  und  Ministerialverfügung  vom 
28.  Januar  1880.) 

Ein    gestohlener    Gegenstand   muss    auch   von    dem   gutgläubigen  Dritten 
herausgegeben  werden.'^)    (Art.  44.) 

Den  Teilnehmer  trifft  die  gleiche  Strafe  wie  den  Thäter  (Art.  45);  was 
unter  Teilnahme  zu  verstehen  ist,  sagt  jedoch  das  StGB,  nicht,  sodass  der  Art.  45 
thatsächlich  bedeutungslos  ist. 

Die  wegen  ein-  und  derselben  Strafthat  Verurteilten  haften  solidarisch 
für  Kosten,  Schadensersatz  und  Herausgabe  von  Sachen  (Art.  47). 

Das  System  der  mildernden  Umstände  ist  dem  türkischen  StGB,  fremd. 
Die  Umwandlung  einer  Strafe  durch  den  Richter  ist  nur  in  dem  im  StGB,  aus- 
drücklich bestimmten  Fällen  zulässig:    der  Richter  darf  dann  im  allgemeinen 

^)  Im  mohammedanischen  Recht  giebt  es  nur  ein  Wort  für  „Vormund"  nnd 
„Pfleger".     Vgl.  auch  Art.  27. 

^)  Für  das  römische  Recht  vgl.  Gaius  I,  196  und  pr.  J.  Quibus  modis  tutela  lini- 
tur  (I,  22). 

^)  Der  Grundsatz,  dass  bei  beweglichen  Sachen  der  thatsächliche  Besitz  einen 
genügenden  Rechtstitel  bildet,  ist  dem  mohammedanischen  Recht  unbekannt. 


726  Die  Türkei.  —  2.  Das  Straf  recht  der  Türkei. 


höchstens    um    einen  Grad   im   Strafmass    herabgehen.     Jede  andere  Strafam- 
wandlung  kann  nur  durch  Erlass  des  Sultans  erfolgen  (Art.  47).  ^) 

2.  §  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB. 

Im  folgenden  will  ich  eine  kurze  Inhaltsangabe  der  den  besonderen  Teil 
des  StR.  enthaltenden  drei  Bücher  des  türkischen  StGB,  geben.  Die  Mehrzahl 
ihrer  Artikel  ist,  wenn  auch  mit  einzelnen  Vereinfachungen  und  redaktionellen 
Änderungen,  dem  französischen  C.  p.  entlehnt.  Um  den  mir  zur  Verfügung 
stehenden  Raum  nicht  zu  überschreiten,  werde  ich  im  folgenden  im  all- 
gemeinen nur  die  unter  Strafe  gestellten  Handlungen  kurz  bezeichnen  und 
auf  Einzelheiten  nur  bei  denjenigen  Delikten  eingehen,  deren  Behandlung  vom 
französischen  Rechte  erheblich  abweicht  oder  deren  Besonderheiten  entweder  aus 
dem  Charakter  des  mohammedanischen  Rechts  oder  aus  den  Eigentümlichkeiten 
der  orientalischen  Gesellschaft  zu  erklären  sind.  Aus  dem  gleichen  Grunde 
werde  ich  auf  die  angedrohten  Strafen  nur  eingehen,  wenn  sie  von  den  in 
den  europäischen  Gesetzgebungen  gebräuchlichen  nach  Mass  und  Art  wesent- 
lich verschieden  sind. 

Das  erste  Buch  trägt  die  Überschrift:  Von  den  Verb r.  undVerg. 
gegen  den  Staat  und  deren  Bestrafung  und  zerfällt  in  16  Kapitel. 

Kap.  1.  Verbr.  und  Verg.  gegen  die  äussere  Sicherheit  des  türkischen 
Reichs.  WaflPentragen  gegen  den  Staat  seitens  eines  türkischen  ünterthanen 
(Art.  48).  Verbindung  oder  Verständigung  mit  fremden  Regierungen  (Art.  49). 
Die  Erleichterung  des  Betretens  türkischen  Gebiets  durch  den  Feind,  sowie 
die  Erteilung  schädlicher  Auskunft  über  die  politische  oder  militärische  Lage 
der  Türkei  oder  ihrer  Verbündeten  (Art.  50  und  51,  abgeändert  durch  Kaiser- 
liche Vdg.  vom  4.  Dezember  1880).  Verrat  des  Geheimnisses  einer  Abmachung, 
einer  militärischen  Unternehmung,  eines  Planes,  Entwurfs  oder  einer  militärischen 
Massregel  (Art.  52  und  53,  von  denen  letzterer  durch  die  vorerwähnte  Vdg.  ab- 
geändert ist).  Verbergen  von  Spionen  (Art.  54).  Durch  die  gedachte  Vdg.  wird 
ausser  dem  mit  Strafe  bedroht:  wer  Handlungen  begeht,  welche  die  Loslösung 
einer  Provinz  vom  Reiche  bezwecken ;  wer  sich  unter  den  Schutz  einer  fremden 
Macht  begiebt,  in  der  Absicht,  dieser  einen  Vorwand  zum  Kriege  mit  der 
Türkei  zu  geben ;  wer  fortfährt,  in  der  Armee  einer  fremden  Macht  zu  dienen, 
nachdem  zwischen  dieser  und  der  Türkei  Krieg  ausgebrochen  ist;  wer  poli- 
tische Geheimnisse  des  Reichs  verrät;  wer  Aktenstücke  und  Urkunden,  die  für 
die  Rechte  oder  Beziehungen  des  Reichs  von  Bedeutung  sind,  zerstört  oder 
beschädigt;  endlich  der  mit  einer  diplomatischen  Sendung  Beauftragte,  welcher 
sich  mit  feindlichen  Unterhändlern  ins  Einvernehmen  setzt.  Nach  dieser  Vdg. 
sind  wegen  Verbr.  und  Verg.  gegen  die  äussere  Sicherheit  des  Staates  nicht 
nur  türkische  Staatsangehörige,  sondern  auch  Ausländer  strafbar. 

Kap.  2.  Verbr.  und  Verg.  gegen  die  innere  Sicherheit  des  türkischen 
Reichs.  Vollendeter  und  versuchter  thätlicher  AngrilQf  gegen  die  Person  des 
Sultans:  vollendeter  und  versuchter  Aufruhr;  beleidigende  Reden  gegen  den 
Sultan,  vollendeter  und  versuchter  Angriff  in  der  Absicht,  eine  Änderung  der 


*)  Die  Verjährung  der  Delikte  des  StGB,  und  der  aus  ihnen  entspringenden 
privatrechtlichen  Ersatzansprüche  ist  in  der  StPO.  vorgeschrieben  (Art.  2.),  doch  selbst- 
verständlich hat  dies  keine  Beziehung  auf  die  Klagen  infolge  der  Schari'ah.  Vgl.  oben 
S.  713.  *Das  türkische  StGB,  enthält  keine  Bestimmung  für  die  Fälle  des  Zusammen- 
hangs oder  des  Zusammentreffens  von  strafbaren  Handlungen ;  nach  der  StPO.  wird  im 
letzteren  Falle  lediglich  wegen  der  schwersten  That  auf  Strafe  erkannt,  und  die  übrigen 
gelten  als  erschwerende  Umstände.  Der  Richter  hat  alsdann  auf  eine  dem  gesetz- 
lichen Höchstmass  der  Strafe  nahe  kommende  Strafe  zu  erkennen. 


2.  §  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  72? 


Regierangsform  oder  der  Thronfolge  herbeizuführen  (Art.  55  und  die  oben 
erwähnte  Vdg.);  Aufreizung  zum  Bürgerkriege  (Art.  56,  57);  Verabredung  zur 
Begehung  eines  der  vorerwähnten  Delikte  (Art.  58  und  die  Vdg.);  Erteilung 
eines  ungesetzlichen  Befehls  (Art.  59):  Aufwiegelung  von  Militärpersonen  zur 
Widersetzlichkeit,  Verwendung  von  Truppen  oder  Polizeimannschaften  gegen 
die  militärische  Aushebung  (Art.  60  und  die  Vdg.);  Brandstiftung,  Zerstörung 
und  Plünderung  von  Staatseigentum,  von  mehreren  gemeinschaftlich  oder  von 
einem  einzelnen  begangen;  Eäuberei  im  allgemeinen  (Art.  61 — 65  und  Kaiser- 
liche Vdg.  vom  14.  Februar  1861);  Aufreizung  zu  den  in  diesem  Kapitel  be- 
handelten Delikten  mittels  Reden,  öffentlicher  Anschläge  oder  Drucksachen 
(Art.  66). 

Kap.  3.  Bestechung  (Art.  62 — 81).  Bestechung  ist:  „Annahme  irgend 
eines  Gegenstandes,  welcher  gegeben  wird,  um  das  Gelingen  eines  Vorhabens 
zu  sichern".  Nur  die  gewohnheitsmässig  bei  festlicher  Gelegenheit  gegebenen 
Geschenke  und  Vergütungen  sind  erlaubt.  Die  Veräusserung  einer  beweglichen 
oder  unbeweglichen  Sache  zu  einem  offenbar  zu  niedrigen  Preise  in  der  Ab- 
sicht, sich  jemand  dadurch  zu  verpflichten,  ist  ebenfalls  Bestechung.  Das  Ver- 
bot der  Annahme  von  Geschenken  bezieht  sich  auch  auf  die  durch  eine  Mittels- 
person, insbesondere  die  Ehefrau  des  zu  Bestechenden,  gegebenen.  Die  Be- 
stechimg ist  nicht  notwendigerweise  Amtsdelikt;  sie  kann  auch  von  einem 
Zeugen  (Art.  210)  und  ganz  allgemein  von  jeder  Person,  die  irgend  einen  Ein- 
fiuss  ausübt,  begangen  werden.  Wahrscheinlich  hat  der  Gesetzgeber  hierbei 
an  die  Stammeshäupter  usw.  gedacht.  Strafbar  sind:  der  Bestechende,  der 
Bestochene  und  die  Zwischenpersonen;  ersterer  bleibt  aber  straflos,  wenn  er 
die  That  begangen  hat,  um  sein  Leben,  sein  Vermögen,  seine  Ehre,  kurz  seine 
wichtigsten  Rechtsgüter  zu  retten. 

Kap.  4.  Diebstahl  an  öffentlichen  Geldern  und  Gebührenüberhebung.*) 
Entwendung  von  öffentlichen  Geldern;  Betrug  beim  Ankauf,  Verkauf  oder  bei 
der  Anfertigung  von  Gegenständen  für  Rechnung  des  Staats,  sei  es  seitens 
eines  mit  einem  öffentlichen  Amte  oder  einer  öffentlichen  Stellung  Betrauten, 
sei  es  seitens  eines  Privatmannes,  mit  dem  Unterschied  jedoch,  dass  neben  der 
Höhe  des  der  Staatskasse  erwachsenen  Schadens  auch  die  soziale  Stellung 
des  Schuldigen  auf  das  Strafmass  erheblichen  Einfluss  hat  (Art.  82 — 84  und 
Cirkularverfügung  des  Gross -Veziers  vom  11.  Mai  1875).  Die  Ausstellung 
von  Staatsschuldverschreibungen  oder  anderen  Obligationen  der  Staatsschuld 
seitens  eines  Beamten,  seiner  Vei'wandten  oder  seiner  Dienerschaft  (Art.  85); 
die  Zurückbehaltung  des  den  im  öffentlichen  Dienste  beschäftigten  Arbeitern, 
Polizeibeamten  usw.  zukonmienden  Lohnes  durch  einen  Beamten  oder  die 
Verwendung  dieser  Personen  zu  Privatarbeiten  oder  Frohndiensten  ^  (Art.  86, 
87);  Unregelmässigkeiten  bei  der  Versteigerung  und  Zuschlagserteilung  bezüg- 
lich der  Verpachtung  der  Staatseinkünfte.  (Art.  88);  Spekulation  in  Lieferungen 
für  den  Staat  seitens  eines  Beamten  und  Verg.  der  Lieferanten  im  allgemeinen 
(Art.  89—93). 

Kap.  5.  Missbrauch  der  Amtsgewalt;  Vernachlässigung  der  Amtspflicht. 
Kein  Beamter  darf  an  ein  Gericht  oder  eine  Ratsversammlung  einen  Befehl, 
ein  Gesuch  oder  eine  Bitte  richten,  und  andererseits  kein  Gericht  oder  Rats- 
versammlung sich  auf  diese  Weise  beeinflussen  lassen  (Art.  94 — 98).  Pflicht 
Widrigkeiten  bei  der  Ausführung  von  Anordnungen  der  Regierung,  Gesetzen  oder 
Verordnungen,  sowie  bei  der  Eintreibung  der  Steuern  (Art.  99  und  Kaiserliche 


^)  Die  „coneussion"  des  französischen  StR.  ist  in  Kap.  6  unter  Strafe  gestellt. 
-)  Die   Frohndienste    sind   im    Prinzip    durch  Art.  24   der  Verfassung   von  187(5 


aufgehoben.     Vgl.  oben  S.  7'21  Anm.  5. 


728  Die  Türkei.  —  2.  Das  Straf  recht  der  Türkei. 


Vdg.  vom  18.  Februar  1861);  Handel  mit  Nahrungsmitteln  usw.  seitens  einer  Per- 
son, der  gewisse  amtliche  Befugnisse  verliehen  sind  (Art.  100);  Verzögerung  der 
Bekanntmachung  von  Anordnungen  der  Regierung  (Art.  101);  unzulässige  Milde 
oder  Nachlässigkeit  in  der  Ausführung  oder  Nichtausführung  der  Anordnung 
eines  vorgesetzten  durch  einen  untergebenen  Beamten  (Art.  102). 

Kap.  6.  Gewaltthätige  Behandlung  und  Misshandlung  einer  Privatperson 
durch  einen  öfifentlichen  Beamten:  Folterung  eines  Angeklagten  (Art.  103); 
Verurteilung  zu  einer  schwereren  als  der  gesetzlich  zulässigen  Strafe  (Art.  104); 
Hausfriedensbruch  (Art.  105);  die  Anwendung  von  Gewalt  bei  der  Vollstreckung 
an  sich  gesetzlicher  Anordnungen  (Art.  106);  Inbesitznahme  beweglicher  oder 
unbeweglicher  Sachen  durch  einen  Beamten  oder  Würdenträger  (Art.  107); 
Gebührenüberhebung  begangen  von  Beamten  oder  Steuerpächtem  in  Beziehung 
auf  Steuern,  Zehnte  usw.  oder  auf  Geldstrafen,  Frohnarbeiten  oder  auf  requi- 
rierte Leistungen  (Art.  108 — 111). 

Kap.  7.  Widerstand,  Ungehorsam  und  Beleidigung  gegen  die  Staatsge- 
walt (Art.  112 — 116).  In  diesem  Kap.  wird  auch  die  Weigerung,  trotz  rechts- 
förmlicher Vorladung  vor  einem  Gericht  oder  einer  Behörde  zu  erscheinen, 
mit  Strafe  bedroht. 

Kap.  8.  Entweichenlassen  von  Gefangenen;  Verheimlichung  von  Verbrechern 
(Art.  117 — 121).  Mit  Rücksicht  auf  die  Bestimmung  des  Art.  7^)  ist  in  diesem 
Kap.  nur  von  den  Wärtern  und  denjenigen,  welche  zur  Befreiung  Hülfe  leisteten, 
nicht  aber  von  den  Entwichenen  selbst  die  Rede. 

Kap.  9.  Siegelbruch  und  Entwendung  amtlich  verwahrter  Gegenstände 
(Art.  122  —  129).  Hier  wird  auch  die  Verletzung  des  Briefgeheimnisses  durch 
einen  Postbeamten  behandelt. 

Kap.  10.     Anmassung  von  Titeln  und  Ämtern  (Art.  130  und  131). 

Kap.  11.  Beeinträchtigung  der  Kultusfreiheit;  Beschädigung  von  Denk- 
mälern (Art.  132  und  133). 

Kap.  12.  Störung  des  Telegraphen dienstes*)  (Art.  134 — 136):  böswillige 
oder  fahrlässige  Beeinträchtigung  des  Dienstes;  Beschädigung  von  Apparaten, 
Zerreiösen  der  Drähte  usw. ;  wenn  diese  Handlungen  während  eines  Aufstandes 
begangen  werden,  sowie  bei  bewaffneten  Widerstand  gegen  die  Wiederher- 
stellung einer  Telegraphenlinie  kann  die  Strafe  bis  zu  zeitiger  Zwangsarbeit 
in  Verbindung  mit  Geldstrafe  von  50  bis  200  Gold-Medjidies  steigen. 

Kap.  13.  Anfertigung  von  Drucksachen  ohne  Genehmigung;  Veröffent- 
lichung schädlicher  Schriften;  Übertretung  der  auf  den  Schulunterricht  bezüg- 
lichen Vorschriften  (Art.  137 — 142).  Strafen:  Geldstrafe,  Gefängnis,  Schliessung 
der  Schule,  Entziehung  der  Befugnis,  zu  unterrichten.^) 

Kap.  14.  Falschmünzerei  (Art.  143 — 147).  Als  Falschmünzerei  gilt  auch 
diejenige  Färbung  einer  Münze,  durch  welche  dieser  das  Aussehen  einer  solchen 
von  höherem  Werte  gegeben  wird,  z.  B.  das  Vergolden  einer  Silbermünze. 

Kap.  15.  Fälschungsdelikte.  Fälschung  staatlicher  Kreditpapiere  (Art.  148). 
Nachahmung  amtlicher  Siegel  und  Stempel  (Art.  149  und  150).  Straffrei  bleibt, 
wer  die  in  Art.  148 — 150  bezeichneten  Verbr.  anzeigt  (Art.  151).  Fälschung 
amtlicher  Urkunden^)  durch  Beamte  oder  andere  Personen;   selbstverständlich 

1)  S.  o.  S.  723. 

'-)  Die  zur  Sicherung  des  Eisenbahnverkehrs  erlassenen  Strafvorschriften  ent- 
hält die  allgemeine  Eisenbahnpolizeiordnung  vom  28.  April  1868,  Art.  1  flF.  Vgl.  Ari- 
starchi  Bey  a.  O.  Bd.  III  S.  228  ff. 

^)  Die  Vdg.  über  den  öffentlichen  Unterricht  ist  in  dem  mehrfach  erwähnten 
Werke  von  Aristarchi  Bey  Bd.  III  S.  277  ff.,  die  über  die  Druckereien  und  die  Presse 
ebendaselbst  S.  318  ff.,  abgedruckt.  Vgl.  auch  a.  0.  Bd.  V  S.  235  ff.  und  Annuaire  de 
l^gislation  6trang6re,  Jahrgang  1889  S.  869  ff. 

*)  Amtliche  Urkunden  sind  die  von  einem  Beamten  innerhalb  seiner  Amtsbefug- 


2.  §  5.    Der  besondere  Teil  des  StGB.  729 


wird  die  in  Bezug  auf  das  Privatsiegel  eines  Beamten  verübte  Fälschung  der 
Nachahmung  seiner  Unterschrift  gleichgestellt  (Art.  152  und  153).  Gebrauch- 
machen von  gefälschten  amtlichen  Urkunden  (Art.  154).  Fälschung  von  Privat- 
urkunden ^)  und  Gebrauchmachen  von  solchen,  die  gefälscht  sind  (Art.  155); 
Fälschung  von  Reiseerlaubnisscheinen  und  Pässen,  sowie  Gebrauchen  von  ge- 
fälschten Papieren  dieser  Art  (Art.  156,  157,  169);  Fäschung  von  Gasthof s- 
registem  (Art.  158);  Fälschung  von  Krankenscheinen  (Art.  160,  161);  entschuld- 
barer Gebrauch  gefälschter  Urkunden  (Art.  162). 

Kap.  16.  Vorsätzliche  Brandstiftung  (Art.  163 — 167).  Wer  einen  anderen 
zwingt,  fremdes  Eigentum  in  Brand  zu  setzen,  wird  stets  mit  Zwangsarbeit 
bestraft.  Die  Vorschriften  über  den  Versuch  der  Brandstiftung  sind  in  der 
Cirkularverfügung  des  Gross- Veziers  vom  18.  Januar  1872  und  der  Kaiserlichen 
Vdg.  vom  30.  September  1864  enthalten;  letztere  bedroht  auch  jede  Über- 
tretung der  bezüglich  der  privaten  Pulvemiederlagen  erlassen  Vorschriften 
mit  Einziehung  und  dreijähriger  Zwangsarbeit;  ist  eine  Explosion  erfolgt,  so 
kann  die  Strafdauer  auf  15  Jahre  erhöht  werden.*)  Die  durch  Herbeiführung 
einer  Explosion  verursachte  Sachbeschädigung  ist  nicht  besonders  erwähnt 
und  daher  nur,  wie  Sachbeschädigung  im  allgemeinen,  nach  Art.  249  strafbar, 
der  die  Strafbarkeit  davon  abhängig  macht,  dass  die  beschädigte  Sache  eine 
fremde  ist.  Die  Bedrohung  mit  Brandstiftung  ist  eine  Art  der  allgemeinen 
Bedrohung  (Art.  191). 

Das  zweite  Buch  trägt  die  Überschrift:  Verbr.  und  Verg.  gegen  Privat- 
personen und  ihre  Bestrafung;  es  zerfällt  in  12  Kap.,  deren  Überschriften  und 
wichtigster  Inhalt  im  folgenden  mitgeteilt  werden  soll. 

Kap.  1.  Tötung,  Körperverletzung  und  Bedrohung  (Art.  186 — 191).  Die 
gegen  eine  Tötung  angedrohte  Todesstrafe  kann  in  allen  Fällen  durch  Annahme 
des  Wergeides  seitens  der  Erben  des  Getöteten  abgewendet  werden;  der  Staat 
darf  alsdann  nur  die  Strafe  der  Zwangsarbeit  nicht  unter  15  Jahren  zur  An- 
wendung bringen.  Nur  gewohnheitsmässige  Verbrecher,  welche  die  That  unter 
Anwendung  von  Martern  oder  Grausamkelten  begangen  haben,  werden  ohne 
Rücksicht  auf  die-  etwaige  Verzeihung  der  Angehörigen  mit  dem  Tode  bestraft. 
Die  Gehülfen  einer  mit  dem  Tode  bedrohten  Tötung  haben  zeitige  Zwangs- 
arbeit verwirkt.  Körperverletzungen  haben,  ausser  den  im  StGB,  angedrohten 
Strafen,  die  in  der  Schari'ah  festgestellte  Verpflichtung  zum  Schadenersatz 
zur  Folge.  Der  Giftmord  ist  eine  Unterart  der  vorsätzlichen  und  mit  Über- 
legung ausgeführten  Tötung.  Ascendententotschlag,  Kindsmord  und  Kastration 
sind  keine  Spezialdelikte.  —  Fahrlässige  Tötung  und  Körperverletzung  werden 
nur  bestraft,  wenn  sie  auf  Unaufmerksamkeit  oder  auf  Nichtbeachtung  von 
Vorschriften  beruhen;  in  allen  anderen  Fällen  entsteht  lediglich  die  auf  der 
Schari'ah  beruhende  Ersatzpflicht.  Körperverletzungen  unterliegen  einer 
schwereren  Strafe,  wenn  sie  einen  fehlgeschlagenen  Mordversuch  bilden.  Die 
Ausführung  nicht  nur  einer  von  der  rechtmässigen  Obrigkeit  befohlenen, 
sondern  ganz  allgemein  einer  von  einem  Vorgesetzten  angeordneten  Tötung 
wird  dem  Untergebenen  nicht  zugerechnet,  wenn  der  Befehlende  in  der  Lage 
war,  letzteren   im  Falle  der  Weigerung  töten  zu  lassen.     Die  Tötung  ist  ent- 


nisse  ausgestellten,  aber  nicht  von  der  Kaiserlichen  Regierung  selbst  ausgehenden 
Urkunden.  Der  BegriflF  der  öffentlichen  Beweisurkunde  ist  dem  mohammedanischen 
Kecht  unbekannt. 

*)  Die  Unterscheidung  zwischen  der  Fälschung  von  Handelspapieren  und  der 
von  anderen  Arten  von  Schriftstücken  findet  sich  im  StGB,  nicht,  da  das  mohamme- 
danische Recht  diese  beiden  Arten  von  Papieren  auch  sonst  nicht  unterscheidet. 

*)  Vgl.  die  Vdg.  über  den  Verkauf  von  Schiesspulver  vom  1.  November  1870; 
Aristarchi  Bev  a.  0.  Bd.  III  S.  418  fF. 


730  Die  Türkei.  —  2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 


schuldbar ;  wenn  sie  von  einem  Manne  verübt  wird,  der  seine  Ehefrau  oder 
„eine  der  Frauen  seines  Hauses"^)  beim  Ehebruch  ertappt.  Dass  dieser  Straf- 
ausschliessungsgrund  nicht  auch  für  die  von  einer  Frau  bei  gleicher  Veranlassung 
verübte  Tötung  gilt,  ist  eine  notwendige  Folge  der  Polygamie.*)  Auch  der 
an  dem  Mitschuldigen  der  Ehebrecherin  verübte  Totschlag  ist  entschuldbar. 
Der  auf  die  Bedrohung  bezügliche  Art.  191  ist  bereits  oben  erwähnt;  hinzu- 
gefügt sei,  dass  dieser  sich  auf  Drohungen  durch  Wort  oder  Schrift  bezieht 
und  dass  die  Kaiserliche  Vdg.  vom  14.  Februar  1861  für  die  mittels  Waffen 
begangene  Drohung  eine  besondere  Strafe  festsetzt. 

Kap.  2.  Abtreibung,  Verkauf  von  gefälschten  Getränken,  Abgabe  giftiger 
Stoffe,  ohne  vom  Käufer  Sicherheit  zu  verlangen.  Die  Abtreibung,  welche  als 
Folge  gewaltsamer,  aber  ohne  Abtreibungsabsicht  begangener  Handlungen  ein- 
getreten ist,  zieht  lediglich  die  auf  der  Schari*ah  beruhende  Schadensersatz- 
I)flicht  nach  sich;  im  Falle  vorsätzlicher  Vornahme  gewaltsamer  Handlungen 
oder  Beibringung  von  Medikamenten  tritt  ausserdem  eine  Bestrafung  auf  Grund 
des  StGB,  ein  (Art.  192,  193).  Das  Kap.  behandelt  ausserdem:  Beibringung 
gesundheitsschädlicher  Stoffe  (Art.  194);  Eröffnung  einer  Apotheke  seitens  einer 
Person,  die  nicht  im  Besitze  der  erforderlichen  Genehmigung  ist^)  (Art.  195); 
Verkauf  von  giftigen  oder  gesundheitsschädlichen  Getränken  oder  Stoffen,  ohne 
vom  Käufer  die  „notwendige"  Sicherheit  erhalten  zu  haben  (Art.  196). 

Kap.  3.  Sittlichkeitsdelikte.  Schamverletzung  mit  oder  ohne  Gewalt  gegen- 
über einer  Person  männlichen  oder  weiblichen  Geschlechts  (Art.  197 — 199); 
Notzüchtigung  eines  nicht  verheirateten,  jungen  Mädchens  hat  die  in  der 
Schari'ah  festgesetzte  Schadensersatzpflicht  und  Bestrafung  nach  dem  StGB. 
(Art.  200)  zur  Folge.  Kuppelei  (Art.  201);  öffentliche  Schamverletzung  (Art.  202). 
Die  Ministerialverfügung  vom  25.  März  1874  besagt,  dass  die  an  einem  Kinde 
unter  13  Jahren  vorgenommenen  unzüchtigen  Handlungen  stets,  ohne  Rück- 
sicht auf  die  etwaige  Einwilligung  des  Kindes,  als  mit  Gewalt  vorgenommen 
anzusehen  und  demgemäss  zu  bestrafen  sind.  Der  Inhalt  des  hier  behandelten 
Kap.  ist  ausserdem  durch  eine  Kaiserliche  Vdg.  vom  14.  Februar  1861  wesent- 
lich geändert.  Nach  dieser  Vdg.  wird  der  Versuch  der  Notzucht  mit  Gef. 
nicht  unter  3  Monaten  und  der  Beischlaf  mit  einem  erwachsenen  jungen  Mädchen, 
welches  der  Thäter  durch  Heiratsversprechen  getäuscht  hat,  mit  Gef.  von  einer 
Woche  bis  zu  sechs  Monaten  bestraft.  Durch  dieselbe  Vdg.  ist  auch  der  Ehe- 
bruch für  strafbar  erklärt.  Die  ehebrecherische  Frau  und  ihr  Mitschuldiger 
werden  auf  Antrag  des  Ehemannes  oder  des  Vormundes*)  zur  Verantwortung 
gezogen;  die  Anwesenheit  eines  Mannes  in  dem  Harem  eines  Muselmannes  ge- 
nügt,   um    ihn    als  Mitschuldigen  erscheinen   zu  lassen.*^)     Endlich  wird  durch 


^)  D,  h.:  seine  Konkubine;  nach  der  Schari'ah  hat  der  Mann  das  Recht,  mit 
allen  seinen  erwachsenen,  nicht  verheirateten  Sklavinnen  geschlechtlich  zu  verkehren. 

*)  Da  das  StGB,  auf  alle  türkischen  Unterthanen  Anwendung  findet,  so  gilt 
diese  Vorschrift  auch  für  Christen  und  Israeliten,  obwohl  diese  monogam  leben.  Die 
Doppelehe  ist  nach  dem  StGB,  nicht  strafbar;  nach  der  Schari'ah  dürfte  es  der  mo- 
hammedanischen Frau  jedoch  nicht  gestattet  sein,  mehrere  Männer  auf  einmal  zu 
haben. 

^)  Die  unbefugte  Ausübung  des  ärztlichen  Berufs,  sowie  jede  Übertretunff  der 
die  Ausübung  der  Heilkunde  betreffenden  Vorschriften  werden  nach  Titel  II!  der 
Vdg.  über  die  Ausübung  der  Heilkunde  vom  11.  Oktober  1861  bestraft.  (Vgl. 
Aristarchi  Bey  a.  0.  Bd.  III  S.  105  flF.) 

*)  Eine  grossjährige  Mohammedanerin,  welche  eine  Ehe  eingehen  will,  bedarf 
hierzu  stets  eines  Vormundes. 

*)  Jeder  Muselmann  darf  zur  Zeit  vier  rechtmässige  Frauen  haben,  wobei  die 
Konkubinen  (s.  o.  Anm.  1)  nicht  mitgerechnet  werden.  Nur  die  Vollziehung  des  Bei- 
schlafs mit  der  Frau  eines  anderen  (nicht  z.  B.  auch  die  in  der  Türkei  sehr  verbreitete 
Päderastie)   bildet   für   ihn    einen   Fall   des  Ehebruchs.    Für  Christen   und  Israeliten 


2.  §  5.    Der  besoudere  Teil  der  StGB.  731 


die  Vdg.  mit  Strafe  bedroht:  wer  sich  einer  jugendlichen  Person  männlichen 
oder  weiblichen  Geschlechts  gegenüber  unanständiger  Ausdrücke  bedient; 
wer  eine  solche  in  unzüchtiger  Weise  berührt;  wer  einen  zur  ausschliess- 
lichen Benutzung  durch  das  weibliche  Geschlecht  bestimmten  Ort  in  Frauen- 
kleidem  betritt. 

Kap.  4.  Ungesetzliche  Verhaftung;  Freiheitsberaubung;  Entführung  jugend- 
licher Personen;  Frauenraub.  Die  Strafen  sind:  für  ungesetzliche  Verhaftung  und 
Freiheitsentziehung:  Gef.  von  6  Monaten  bis  zu  3  Jahren,  bei  Vorliegen  er- 
schwerender Umstände:  zeitige  Zwangsarbeit;  ftlr  die  Überlassung  eines  Raumes 
zum  Zwecke  der  Freiheitsberaubung:  Gef.  von  3  Monaten  bis  zu  3  Jahren 
(Art.  203,  204);  für  Unterschiebung,  Verwechslung  und  Unterdrückung  von 
Kindern:  Gef.  von  6  Monaten  bis  zu  3  Jahren  (Art.  205);  für  Entführung  eines 
unerwachsenen  Kindes  mittels  Betrugs  oder  Gewalt:  Gef.  von  3  Monaten  bis 
zu  einem  Jahre  und,  wenn  es  sich  um  ein  unerwachsenes  Mädchen  handelt, 
zeitige  Zwangsarbeit;  für  Entführung  eines  erwachsenen  jungen  Mädchens: 
Gef.  von  3  Monaten  bis  zu  3  Jahren;  für  Entführung  einer  verheirateten  Frau: 
zeitige  Zwangsarbeit.  Der  Entführer  eines  jungen  Mädchens,  welcher  mit  der 
Entführten  die  Ehe  schliesst,  wird  nach  den  Vorschriften  des  StGB,  straflos,  jedoch 
finden  die  Bestimmungen  der  Schari'ah  *)  auf  ihn  Anwendung.  Die  Beihülfe  zur 
Entführung  eines  jungen  Mädchens  wird  mit  Gef.  von  1 — 6  Monaten  bestraft 
(Art.  206  und  Vdg.  vom  25.  März  1874). 

Kap.  5.  Meineid  und  falsches  Zeugnis  (Art.  207 — 212).  Die  Verleitung 
eines  Zeugen  zu  falscher  Aussage  bildet  eine  Art  der  Bestechung.-)  Die  thät- 
liche  Widersetzung  gegen  die  Aussage  eines  Zeugen  und  die  Erzwingung  einer 
falschen  Angabe  durch  Gewalt  werden  der  Abgabe  eines  falschen  Zeugnisses 
gleichgestellt. 

Kap.  6.  Verleumdung;  Beleidigung;  OflTenbarung  von  Geheimnissen 
(Art.  213 — 215).  Verleumdung  ist:  Behauptung  einer  bestimmten  Thatsache, 
die,  wenn  sie  wahr  wäre,  entweder  strafbar  oder  geeignet  sein  würde,  den 
Verleumdeten  bei  seinen  Mitbürgern  verächtlich  zu  machen.  Beleidigung  ist 
die  Behauptung  eines  bestimmten  Lasters.  Bei  der  Verleumdung  muss  die 
Behauptung  entweder  in  einer  Rede,  in  einer  Versammlung  oder  durch  Anschlag 
bezw.  Verteilung  von  Schriften  (auch  ungedruckten)  aufgestellt  sein.  Die 
verleumderische  Anzeige  ist  nicht  unter  Strafe  gestellt. 

Kap.  7.  Diebstahl  (Art.  216—230).  Das  StGB,  giebt  keine  Begriffsbestim- 
mung des  Diebstahls.  Diebstahl  zwischen  Ehegatten  oder  Verwandten  in  gerader 
Linie  hat  nur  Verbindlichkeit  zum  Schadensersatz  zur  Folge;  im  ersteren  Falle 
ist  jedoch  die  Strafe  verwirkt,  wenn  die  That  nach  Auflösung  der  Ehe  be- 
gangen ist.*)  Die  Straflosigkeit  erstreckt  sich  nicht  auch  auf  Entwendungen 
unter  Verschwägerten.  Ein  gewohnheitsmässiger  Dieb,  der  nicht  im  stände  ist, 
den  Schaden  zu  ersetzen,  den  er  durch  Diebstahl  zum  Nachteil  seines  Ehe- 
gatten oder  eines  seiner  Verwandten  verursacht  hat,  wird  mit  Gef.  bestraft. 
Die  erschwerenden  Umstände  sind  dieselben  wie  im  französischen  Recht;  jedoch 
hat  der  Gross- Vezier  in  einer  Cirkularverfügung  vom  11.  Mai  1875  diejenigen 
Instrumente  näher  bezeichnet,   welche   den   falschen  Schlüsseln  gleichzustellen 

bedeutet  die  fragliche  Bestimmung  des  StGB,  das  Verbot,  in  der  ehelichen  Wohnung 
eine  Beischläferin  zu  unterhalten.    Über  die  Doppelehe  s.  o.  S.  730  Anm.  2. 

')  Vgl.  o.  S  713  und  716  Anm.  1. 

'')  S.  o.  S.  727. 

^)  Der  in  Art.  216  enthaltene  Zusatz:  „ohne  Rücksicht  darauf,  ob  sie  gemein- 
schaftlich oder  getrennt  leben **,  erklärt  sich  aus  der  orientalischen  Sitte,  dass  ein 
Mann,  der  mehrere  Frauen  hat,  diesen  besondere  Häuser,  oft  sogar  verschiedene  Orte 
als  Wohnsitz  anzuweisen  pflegt.  Die  Scharf'ah  kennt  den  Begriff  der  ehelichen  Woh- 
nung (domicile  conjugalj  überhaupt  nicht. 


732  I>ie  Türkei.  —  2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 


sind  und  ausserdem  ausgesprochen,  dass  die  Öffnung  von  Thüren.  die  nur  mit 
einer  Klinke,  einen  Riegel  oder  einem  Strick  verschlossen  sind,  nicht  als  Ein- 
bruch (effraction)  im  Sinne  des  StGB,  anzusehen  sind.  Durch  Cirkularver- 
fügung  vom  3.  Juni  1873  hat  ferner  der  Gross-Vezier  entschieden,  dass  bei 
Begehung  eines  Diebstahls  die  Nacht  als  eine  Stunde  nach  Sonnenuntergang 
beginnend  angenommen  werden  soll.  Eine  Vdg.  vom  25.  März  1874  setzt  die 
Strafen  für  Versuch,  Beihülfe  und  Hehlerei  fest  und  sichert  dem  Gehülfen, 
welcher  den  oder  die  Thäter  namhaft  macht,  Straffreiheit  zu. 

Kap.  8.     Bankerutt  und  Betrug  (Art*  231 — 233). 

Kap.  9.     Unterschlagung  (abus  de  confiance)  (Art.  234 — 237). 

Kap.  10.  Beeinträchtigung  der  Freiheit  öflFentlicher  Versteigerungen;  Miss- 
bräuche im  Handelsverkehr.  Das  Kap.  behandelt:  wörtliche  oder  thätliche 
Beeinträchtigung  einer  Versteigerung*)  (Art.  238);  Massnahmen,  welche  eine 
künstliche  Erhöhung  oder  Verminderung  der  Preise  bezwecken;  die  Strafe 
wird  auf  das  Doppelte  erhöht,  wenn  es  sich  um  notwendige  Lebensbedürfnisse 
handelt  (Art.  239);  betrügerische  Handlungen  in  Bezug  auf  Beschaffenheit  und 
Quantität  der  Waren;  Benutzung  falscher  Masse  und  Gewichte  (Art.  240).  Nach- 
druck von  Büchern  zum  Nachteil  der  Verfasser  und,  ganz  allgemein,  Nachahmung 
von  Gegenständen,  für  deren  Herstellung  jemandem  ein  Privileg  erteilt  ist 
(Art.  241). 

Kap.  11.  Glücksspiele;  Lotterieen  (Art.  242,  243).  Das  StGB,  verbietet  alle 
Lotterieen,  findet  jedoch  nach  einer  Ministerialverordnung  vom  23.  Februar  1881 
auf  die  zu  wohlthätigcn  Zwecken  veranstalteten  keine  Anwendung. 

Kap.  12.  Sachbeschädigung:  Zerstörung  von  landwirtschaftlichen  Geräten, 
Viehhürden  und  Wächterhütten  (Art.  244);  Tötung  oder  Vergiftung  von  Tieren 
(Art.  245);  Zerstörung  von  Einfriedigungen  (Art.  246);  Verursachung  der  Über- 
schwemmung von  Landwegen  oder  Feldern  (Art.  247);  fahrlässige  Brand- 
stiftung (Art.  248);  Zerstörung  fremder  Gebäude,  Strassen  usw.  (Art.  249); 
Widerstand  gegen  die  Vornahme  öffentlicher  Arbeiten  (Art.  250);  Zerstörung 
von  Registern,  Urkunden  usw.  (Art.  251);  gemeinsam  verübte  Plünderungen 
und  Beschädigungen  (Art.  252);  Vernichtung  von  Erntevorräten,  Bäumen  usw. 
(Art.  253). 

Das  dritte  Buch  behandelt  die  tTbertretungen  der  Vdgn.  betr.  das  öffent- 
liche Gesundheitswesen  und  die  öffentliche  Reinlichkeit,  sowie  der  polizeilichen 
Vorschriften  (Art.  254—264  und  Kaiserliche  Vdg.  vom  16.  April  1869).  Dieses 
Buch  ist  meiner  Ansicht  nach  der  vollständigste  Teil  des  türkischen  StGB, 
und  giebt  den  Inhalt  des  vierten  Buches  des  französischen  Code  pönal  ziem- 
lich genau  wieder,  soweit  dessen  Bestimmungen  auf  orientalische  Verhältnisse 
überhaupt  anwendbar  sind.*)  Den  Inhalt  dieses  Buches  in  wenigen  Worten 
wiederzugeben,  ist  völlig  unmöglich. 

Endlich  ist  durch  die  Vdg.  vom  16.  April  1869  die  Beerdigung  an  einem 
verbotenen  Platz  mit  Gef.  von  einem  Monat  bis  zu  einem  Jahre  und  Geld- 
strafe von  1 — 10  Gold-Medjidies  bedroht;  obwohl  diese  Bestimmung  nach  dem 
Wortlaut  des  Art.  5  StGB,  nicht  die  Androhung  einer  einfachen  Polizeistrafe 
enthält,  hat  man  sie  doch  als  Zusatz  zum  letzten  Art.  des  dritten  Buches 
veröffentlicht. 

Unzweifelhaft  ist  das  türkische  StGB.,  als  Ganzes  betrachtet,  ein  wenig 
gelungenes,   unvollkommenes  Werk.     Seine  Verfasser  haben  sich   zu   eng  an 


*)  D.  h.  einer  Versteigerung  zu  Gunsten  einer  Privatperson;  die  strafbaren 
Handlungen,  welche  mit  Bezug  auf  die  Verpachtung  der  Staatseinkünfte  begangen 
werden,  sind  bereits  in  Art.  88  behandelt. 

*)  So  ist  z.  B.  Wahrsagen,  Traumdeuten  usw.  (Art.  479  C.  p.  fr.)  nicht  für  straf- 
bar erklärt. 


§  6.    Die  türkischen  Vdgn.  strafrechtlichen  Inhalts.  733 


die  Schari'ah  gehalten,  und  es  unterlassen,  auch  nur  diejenigen  Punkte  zu 
berücksichtigen,  in  denen  die  Bestimmungen  derselben,  ohne  völlig  aufge- 
hoben zu  werden,  wenigstens  verbessert  werden  konnten.  Verschiedene  Art. 
des  französischen  C.  p.  haben  keine  Aufnahme  gefunden,  obwohl  die  Schari'ah 
dieser  nicht  hinderlich  gewesen  sein  würde.  Gänzlich  tiberflüssiger  Weise 
hat  man  die  Fassung  der  französischen  Artikel  vielfach  geändert;  auch  fragt 
man  sich  mit  Becht,  weshalb  wichtige  Delikte,  wie  Landstreicherei,  Kindes- 
aussetzung, Grabschändung  u.  a.  nicht  herübergenommen  sind.  Auch  der 
Leser  wird  der  Ansicht  sein,  dass  ein  Gesetz,  dessen  Bestimmungen  durch 
Vdgn.,  ja  sogar  durch  Sendschreiben  der  Verwaltungsbehörden,  beliebig  ge- 
ändert werden  können,  kein  Gesetz  im  Sinne  der  europäischen  Rechtswissen- 
schaft ist.  Hierzu  kommt  noch,  dass  man  die  Beamten  auch  in  Strafsachen 
einer  besonderen  Verwaltungsgerichtsbarkeit  unterstellt^)  und  ihnen  durch  diese 
einschneidende  Massregel,  wenigstens  für  die  von  ihnen  gegen  Privatpersonen 
begangenen  strafbaren  Handlungen,  thatsächlich  nahezu  einen  Freibrief  ge- 
geben hat.  Man  geht  wohl  nicht  fehl,  wenn  man  in  diesen  Erscheinungen 
einen  Ausfluss  türkischer  Willkür  sieht,  die,  wie  ehemals  bei  Anwendung  der 
Schari'ah,  jetzt  noch  bei  der  Anwendung  des  StGB,  vielfach  zu  Tage  tritt. 
Der  Umstand  endlich,  dass  die  Trennung  der  richterlichen  Gewalt  von  der 
Gesetzgebungs-  und  Verwaltungsbefugnis  noch  heute  nicht  völlig  durchgeführt 
ist,  drängt  unwillkürlich  zur  Aufwerfung  der  Frage,  ob  man  nicht  besser 
gethan  hätte,  die  Schari^ah  mit  einigen  den  veränderten  Umständen  entsprechen- 
den Änderungen  beizubehalten.*) 

b)  Pas  ausserhalb  des  türkischen  StOB.  stehende  StB^ 

§  6.    Die  türkischen  Vdgn.  strafrechtlichen  Inhalts. 

Das  Spezialstrafrecht  bedarf  einer  eingehenden  Darstellung  nicht.  Mehrere 
zur  Ergänzung  des  StGB,  von  1858  erlassene  Vdgn.  (über  die  Presse,  Spreng- 
stoffe u.  a.  m.)  haben  bereits  Erwähnung  gefunden.  Ein  Militär-StGB.  ist  nicht 
vorhanden,  obwohl  Art.  51  StGB,  ein  solches  zur  Voraussetzung  hat.  Gemeinden, 
Kreise,  Regierungsbezirke  und  Provinzen  haben  ebensowenig  gesetzgeberische 
Befugnisse  wie  eine  besondere,  von  der  des  Staats  verschiedene  juristische 
Persönlichkeit.'*)  Die  für  einzelne  Orte  bestimmten  Vdgn.  gehen  ebenso  von 
der  Centralregierung  aus,  wie  die  für  das  ganze  Reich  geltenden,  falls  nicht 
im  einzelnen  Falle  den  Lokalbehörden  das  Recht  der  Gesetzgebung  ausnahms- 
weise übertragen  ist.  Infolge  dessen  ist  die  durch  örtliche  Verhältnisse  erfor- 
derte Lokalgesetzgebung  sehr  unvollkommen,  und  die  türkischen  Unterthanen 
würden  in  mancher  Beziehung  von  jeder  gesetzlichen  Beschränkung  frei  sein, 
wenn  der  Richter,  wie  bei  uns,  in  der  Bestrafung  von  Übertretungen  an  den 
Wortlaut  des  Gesetzes  gebunden  wäre.  So  ist  die  richterliche  Willkür  die  un- 
vermeidliche Folge  der  Unzulänglichkeit  der  Gesetzgebung. 

Aus  dem  vorstehend  Gesagten  ergiebt  sich  femer,  dass  die  Androhung 
von  Strafen  in  Vdgn.  der  Verwaltungsbehörden  in  keiner  Weise  gesetzlich  be- 


>)  Vdg.  vom  11.  Januar  1869;  vgl.  Aristarchi  Bey  a.  O.  Bd.  II  S.  400  ff. 

')  *Kinen  in  einer  europäischen  Sprache  verfassten  Kommentar  zum  türkischen 
StGB,  giebt  es  nicht,  dagegen  sind  mehrere  wertvolle  in  türkischer  und  arabischer 
Sprache  geschriebene  Arbeiten  über  das  moderne  türkische  StR.  vorhanden,  von 
denen  die  Werke  von  Schahbaz  EfPendi,  Djalftl  Bey,  Hatscherian  Naz&rat  Effendi  und 
Chftlid  Bey  die  bekanntesten  sind. 

*)  Vgl.  die  Vdg.  über  die  allgemeine  Verwaltung  der  Vilajets  vom  22.  Januar 
1871,  Aristarchi  Bev  Bd.  III  S.  7  AT.  und  die  Vdg.  über  die  Gemeindeverwaltimg  vom 
27.  März  1876,  ebendaselbst  Bd.  V  S.  60  ff. 


734  Die  Türkei.  —  2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 


schränkt  ist;  denn  diese  Vdgn.  sind  als  gesetzgeberische  Akte  dem  StGB,  völlig 
gleichwertig;  sie  sind,  wie  dieses,  Anordnungen  des  Staatsoberhaupts.  Wenn 
es  ihm  beliebt,  kann  er  auch  in  einer  Steuerverordnung  Todesstrafe  und 
Zwangsarbeit  androhen.  Die  für  das  gesamte  Staatsgebiet  berechneten  Vdgn. 
sind  meist  nach  europäischem,  insbesondere  französischem  und  deutschem  Muster 
verfasst  und  leiden  zum  Teil  an  dem  Fehler,  die  Besonderheiten  der  sozialen 
und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  des  Orients  nicht  genügend  zu  berücksichtigen. 
Ich  glaube  daher  von  einer  ausführlichen  Besprechung  der  in  ihnen  enthaltenen 
Straf  bestimmungen  umsomehr  absehen  zu  können,  als  diese  auf  Vollständigkeit 
keinesfalls  Anspruch  machen  könnte.  In  mehreren  Verwaltungs-Vdgn.  fehlen 
die  Strafbestimmungen  überhaupt,  sodass  auch  hier  die  Willkür  der  Richter 
ergänzend  eintreten  muss. 

Die  vorstehenden  Andeutungen  dürften  genügen,  um  einen  allgemeinen 
Begriff  der  Spezialstrafgesetzgebung  zu  geben;  wer  sie  im  einzelnen  studieren 
will,  wird  stets  auf  den  Text  derselben  zurückgehen  müssen.^) 

c)  Schlussbemerkungen. 

§  7.    Theorie  und  Praxis. 

Das  StR.,  wie  es  in  den  vorhergehenden  Seiten  geschildert  ist.  gilt  offiziell 
im  ganzen  türkischen  Reiche,  auch  in  den  Provinzen,  die,  wie  Libanon  und 
die  Inseln  Samos  und  Kreta,  eine  besondere  Organisation  haben.^)  Nur  Mekka 
macht  insofern  eine  Ausnahme,  als  dort  nicht  die  Schule  der  Hanau ten,  sondern 
die  der  Schäfi'iten  die  herrschende  ist,  und  daher  nicht  der  Multaqä,  sondern 
die  der  letzteren  Schule  angehörenden  Juristen  die  Autorität  haben. ^)  Da 
aber,  wie  wir  bereits  gesehen  haben,  die  Geltung  der  Schari'ah  teils  thatsächlich, 
teils  durch  gesetzliche  Fiktionen  zum  grossen  Teile  beseitigt  ist,  so  hat  diese 
Verschiedenheit  heute  nur  noch  geringe  Bedeutung.  Übrigens  versteht  es  sich 
von  selbst,  dass  eine  grosse  Anzahl  von  Bestimmungen  des  StGB.  v.  1858, 
z.  B.  die  auf  die  Einrichtung  der  Gefängnisse  und  die  Stellung  unter  Polizei- 
aufsicht bezüglichen,  sowie  das  ganze  dritte  Buch,  in  den  entfernteren  Teilen 
des  Reiches,  in  denen  eine  geordnete  Verwaltung  überhaupt  nicht  vorhanden 
ist,  nur  auf  dem  Papier  stehen.  Aber  selbst  in  den  übrigen  Teilen  des  Reichs 
lässt  ihre  Durchführung  in  der  Praxis  viel  zu  wünschen  übrig.  Ich  erinnere 
mich  lebhaft,  mit  welchem  Erstaunen  einige  erst  kürzlich  von  Temen  und 
Mekka  nach  Batavia  gekommene  Leute  sich  darüber  äusserten,  dass  die 
niederländisch-indische  Regierung  die  Gefangenen  mit  der  notwendigen  Nah- 
rung und  Kleidung  versah.  Wie  sie  mir  sagten,  denkt  in  der  Türkei  niemand 
daran:  jeder   muss   sich    auf  eigene   Kosten    oder    mit   Hülfe    seiner   Familie 


»)  Das  mehrfach  erwähnte  Werk  von  Aristarchi  Bey  enthält  in  Bd.  IV  S.  77  ff. 
und  Bd.  V  S.  113  ff.  die  gesamte  Verwaltungsgesetzgebung*  des  türkischen  Reichs  bis 
1S78.  Die  seitdem  erlassenen  Vdgn.  sind  lediglich  in  dem  amtlichen  türkischen  GBl. 
(Dustur)  enthalten,  abgesehen  von  einigen  wenigen,  die  im  Annuaire  de  l^gis- 
lation  ^trang^re  von  1889  S.  869  ff.  abgedruckt  sind.  Einige  wichtige  Gesetze,  wie  die 
St  PO.,  sind  sogar  überhaupt  niemals  gesetzlich  veröffentlicht,  existieren  vielmehr  nur 
in  der  Form  von  Entw.,  was  aber  die  Gerichte  durchaus  nicht  hindert,  sie  anzuwen- 
den. Vgl.  ebendaselbst  S.  x^^^.  *Die  amtliche  Gesetzessprache  ist  das  Türkische;  nur 
auf  den  Inseln  Samos  und  Kandia  (Kreta)  geschieht  die  Veröffentlichung  auch  in 
griechischer  Sprache. 

*^)  Vgl.  Aristarchi  Bey  a.  ().  Bd.  II  S.  145  ff.  und  S.  169  ff. 

^)  Die  näheren  Angaben  über  die  schäfi'itischen  Juristen  findet  der  Leser  in  der 
Vorrede  meiner  Ausgabe  und  Übersetzung  des  MinhAdsch  at-TAlibin  von  Nawawt, 
Batavia  1882—1^^4.  Das  StR.  der  Schati'iten  weicht  von  dem  der  Hanafiten  lediglich 
in  nebensächlichen  Punkten  ab.     Vgl.  Minhadsch  at-TAlibin  Bd.  III  S.  106  ff. 


1.  §  8.    Das  ägyptische  StR.  bis  zum  J.  1888.  735 


nähren  nnd  kleiden.  Selbst  in  den  meisten  grossen  Städten  sind  die  Gefäng- 
nisse in  einem  trostlosen  Znstande.  Der  in  Art.  25  und  34  StGB,  angeordnete 
Erlass  allgemeiner  Vorschriften  hat  niemals  stattgefunden;  man  gab  sich,  wie 
z.B.  aus  einer Ministerialverordnung  vom  28.  Januar  1880  hervorgeht,  der  irrigen 
Ansicht  hin,  dass  jedes  Gefängnis  eine  Krankenstation  und  getrennte  Abteilung 
für  die  zu  verschiedenen  Strafarten  Verurteilten  habe.^)  Zu  einer  durchgreifenden 
Reform  des  Gefängniswesens  fehlt  es  im  Staatsschatz  an  den  nötigen  Mitteln; 
die  feierlichen  Versprechungen,  die  die  Hohe  Pforte  in  dieser  Richtung  ab- 
gegeben hat,  haben  bislang  keinerlei  praktische  Folgen  gehabt.  Es  wäre  viel- 
leicht unrecht,  hieraus  auf  mangelnden  guten  Willen  schliessen  zu  wollen; 
vielmehr  ist  meiner  Ansicht  nach  der  Türke  besser  als  sein  Ruf;  aber  die  Um- 
stände sind  stärker  als  er.  Auch  bei  dieser  Gelegenheit  muss  ich  darauf  zu- 
rückkommen, dass  die  europäischen  Mächte,  indem  sie  von  dem  Sultan  Re- 
formen verlangten,  die  teils  undurchführbar  waren,  teils  mit  seiner  Würde  als 
Herrscher  aller  Gläubigen  im  Widerspruch  standen,  diesen  selbst  verleitet  hat, 
zu  Zweideutigkeiten  und  Ausflüchten  seine  Zuflucht  zu  nehmen,  die  bei  dieser 
Lage  der  Sache,  wenn  auch  nicht  entschuldbar,  so  doch  in  milderem  Lichte 
zu  betrachten  sind. 

Zur  Vervollständigung  dieses  kurzen  Abrisses  des  türkischen  StR.  muss 
ich  noch  erwähnen,  dass  der  auf  Grund  besonderer  Verträge'*)  ausgeübten  Kon- 
sulargerichtsbarkeit eine  Reihe  von  Personen  unterworfen  sind,  die  weder 
Landsleute  der  in  Frage  kommenden  Konsuln,  noch  überhaupt  —  infolge  von 
Abstammung  oder  Naturalisierung  —  Unterthanen  irgend  einer  europäischen 
Macht  sind.  Es  sind  die  sogenannten  „Schützlinge"  der  Konsuln,  die  der  Ge- 
richtsbarkeit der  türkischen  Gerichte  entzogen  und  —  oft  genug  auf  heimlichem 
Wege  —  der  eines  Konsulargerichts  unterstellt  sind.*) 


m.   Das  StR.  des  Vizekönigreiches  Ägypten. 

1.  §  8.    Das  ägyptische  StR.  bis  zum  J.  1883. 

Eine  besondere  Erwähnung  verdient  Ägypten.  Bald  nach  der  Annexion 
durch  das  ottomanische  Reich  i.  J.  1517  wurde  dieses  Land  eine  Art  aristo- 
kratisch-militärischer Republik,  die  von  den  Beys  oder  Häuptlingen  der  Manie- 
lukken*)  beherrscht  wurde  und  deren  Abhängigkeit  von  der  Pforte  nur  in  der 
Zahlung  eines  Tributs  zum  Ausdruck  kam.  Nach  der  Besetzung  Ägyptens 
durch  die  Franzosen  bemächtigte  sich  Mahomet  Ali  der  Gewalt  und  erlangte 
schliesslich    von    der   Pforte    seine  Anerkennung  als   Khedive^)  oder  erblicher 


^)  Vgl.  Macridfes  a.  0.  S.  92.  Der  Leser,  der  ein  getreues  Abbild  der  in  den 
Gef.  der  europäischen  Türkei  herrschenden  Zustände  kennen  zu  lernen  wünscht, 
möge  die  allerdings  oberflächliche  aber  sehr  charakteristische  Beschreibung  des  Gef. 
zu  Monastir  lesen,  die  Berard  in  seinem  Artikel  „A  travers  la  Macedoine  slave"  giebt 
(Revue  des  deux  Mondes  Bd.  CXIX  1892  S.  577).  Nur  die  unmittelbar  dem  Polizei- 
ministerium unterstellten  Gef.  der  Hauptstadt  haben  eine  gewisse  Organisation,  und 
selbst  diese  besteht  zum  Teil  nur  in  der  Theorie.  Vgl.  Aristarchi  Bev  a.  0.  Bd.  III 
S.  43  flF. 

*)  Bezüglich  der  mit  den  verschiedenen  christlichen  Mächten  abgeschlossenen 
Verträge  (Kapitulationen)  verweise  ich  auf  die  erwähnten  Schriften  von  Lawrence 
Bd.  IV  S.  119  flr.  und  Aristarchi  Bey  Bd.  II  S.  403  ff.  und  IV  S.  25flr.  Vgl.  auch  Du 
Moiron:  Les  juridictions  fran<;aises  en  Orient  et  les  tribunaux  internationaux  en 
Egvpte,  Algier  1892. 

'•")  Vgl.  Lawrence  a.  O.  Bd.  IV  S.  176  flF. 

*)  Arabisch:  mamlük,  wörtlich:  Sklave. 

»)  Türkisch:  chidlw. 


736  Die  Türkei.  —  2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 


Vizekönig  in  dem  Chatti-Scharif  vom  13.  Februar  1841.  Seitdem  verwaltet 
Ägypten  seine  inneren  Angelegenheiten  nahezu  völlig  selbständig  und  zahlt 
lediglich  der  Türkei  einen  jährlichen  Tribut.  Nur  gewissen  ausserordentlichen 
Regierungshandlungen,  wie  z.  B.  der  Aufnahme  von  Anleihen  muss  der  Sultan, 
der  ausserdem  einige  rein  formelle  Vorrechte  geniesst,  seine  Zustimmung  geben. ^) 
Mahomet  Ali  gebührt  auch  das  Verdienst,  die  Ära  der  Reformen  in  Ägypten 
eingeleitet  zu  haben,  das  seitdem  wie  kein  anderer  Teil  des  türkischen  Reiches, 
und  zwar  auch  auf  dem  Gebiete  der  Gesetzgebung,  unter  europäischem  Ein- 
flüsse steht. 

In  der  ersten  Hälfte  des  XIX.  Jahrhunderts  galt  in  Ägypten  annähernd 
dasselbe  Recht ,  wie  im  übrigen  türkischen  Reiche ,  d.  h.  in  der  Theorie  die 
Schari'ah,  in  der  Praxis  Willkür  und  Bestechlichkeit.-)  Zu  bemerken  ist,  dass 
die  Schari'ah  in  Ägypten  nach  der  Lehre  der  Hanafiten  angewendet  wurde, 
obwohl  die  grosse  Mehrzahl  der  Einwohner  Schäfi'iten  sind.  Um  die  Beach- 
tung der  herrschenden  Lehre  zu  überwachen,  schickte  der  Sultan  alljährlich 
einen  Kadi  als  Abgesandten  von  Konstantin opel  nach  Ägypten,  der  sich  nach 
einjährigem  Aufenthalt  im  Lande  an  die  Spitze  der  Pilgerkarawane  zu  stellen 
und  mit  dieser  nach  Mekka  zu  ziehen  pflegte.  Das  Amt  des  türkischen  Kadi 
in  Kairo  galt  fast  als  Sinekure,  da  nahezu  alle  Sachen  von  seinem  Stellvertreter, 
dem  N&ib,  oder  von  den  vizeköniglichen  Gerichten  (mahkamah)  oder,  in  den 
Landbezirken,  von  den  Kadis  des  Vizekönigs  erledigt  wurden.  Im  Wider- 
spruch mit  der  ausdrücklichen  Vorschrift  der  Schari  ah  verstand  der  türkische 
Kadi  gewöhnlich  nicht  einmal  die  arabische  Sprache  und  beschränkte  sich 
darauf,  auf  Kosten  der  Rechtsuchenden  sich  die  Taschen  zu  füllen.')  Die 
jährliche  Sendung  eines  Kadi  von  Konstantinopel  hat  bis  1875  stattgefunden. 

Obwohl  selbst  ein  autokratischer  Charakter,  duldete  Mahomet  Ali  bei 
seinen  Untergebenen  keinerlei  Missbräuche;  er  stellte  in  Ägypten  eine  Sicher- 
heit für  Personen  und  Sachen  her,  die  sich  von  den  in  den  übrigen  türkischen 
Provinzen  herrschenden  Zuständen  vorteilhaft  unterschied.  Schon  der  Umstand, 
dass  er  sich  mit  energischen,  wenn  auch  nicht  in  allen  Fällen  vorwurfsfreien, 
Europäern  umgab,  dass  er  bemüht  war,  nicht  nur  Kapitalien,  sondern  auch 
Industrielle,  Kaufleute  und  Beamte  aus  England  und  Frankreich  in  das  Land 
zu  ziehen,  machten  es  ihm  unmöglich,  die  Bestimmungen  der  Schari'ah  über 
die  soziale  und  politische  Minderwertigkeit  der  Ungläubigen,  vor  allem  aber 
die  gegen  den  Übertritt  eines  Mohammedaners  zu  einem  anderen  Glauben  an- 
gedrohte Todesstrafe  beizubehalten.*)  Ausserdem  darf  man  nicht  vergessen, 
dass  es  für  den  Vizekönig,  dem  der  Sultan  nur  notgedrungen  und  mit  Wider- 
streben die  nahezu  völlige  Unabhängigkeit  zugestanden  hatte,  viel  leichter  war, 
die  Schari'ah  zu  beseitigen,  als  für  den  Sultan,  der  sich  mit  Recht  oder  Un- 
recht als  Oberhaupt  aller  Gläubigen  ansieht.  Jedenfalls  konnte  Mahomet  Ali  im 
Jahre  1839,  als  er  beauftragt  wurde,  den  Chatti-Scharif  von  Gul-Chänah  zu  ver- 
öffentlichen, antworten,  dass  die  Grundsätze  dieses  Erlasses:  Gleichheit  vor  dem 
Gesetz  und  Unverletzlichkeit  des  Privateigentums,  überall  in  seinem  Lande  seit 


\)  Vgl.  von  Kremer:  Ägypten.  Leipzig  1863,  Bd.  II  S.  2;  BoreUi  Bey  und  Ruelens: 
La  l^gislation  6gyptienne  annot^e  (Brüssel,  Paris,  Cairo  1892)  Bd.  I  S.  VII  ff.  und  XV; 
Lawrence  a.  O.  Bd.  I  (1808)  S.  256;  Wheaton:  Histoire  du  Progr^  du  Droit  des  Gens, 
Bd.  II  (Leipzig  1865)  S.  252  ff.  Der  Chatti-Scharff  vom  13.  Februar  1841,  sowie  die 
späteren  auf  das  Verhältnis  Ägyptens  zur  Türkei  bezüglichen  Aktenstücke  findet  man 
in  dem  erwähnten  Buche  von  Aristarchi  Bey,  Bd.  IIS.  133  ff.  und  im  Annuaire  de  16- 
gislation  6trang(;re,  Jahrgang  1880  S.  620  ff.*^ 

-)  Vgl.  Lane:  The  modern  Egvptians,  5.  Aufl.,  London  1860,  S.  104  ff.,  HO  ff.,  120. 

«)  Vgl.  von  Kremer  a.  ().  Bd.  II  S.  74;  Lane  a.  O.  S.  112  ff. 

*)  Vgl.  von  Kremer  a.  0.  Bd.  II  S.  52,  81;  Lane  a.  0.  S.  108. 


2.  §  9.    Das  StGB,  für  die  Eingeborenen  von  1883.  737 


Jahren  anerkannt  und  durchgeführt  seien.^)  Daher  ist  auch  die  türkische 
Strafverordnung  von  1840*)  in  Ägypten  niemals  in  Kraft  getreten,  da  der 
Vizekönig  sich  weigerte,  sie  zu  veröffentlichen,  ganz  besonders  aber,  sich  die 
Nachprüfung  der  Todesurteile  durch  den  zu  Eonstantinopel  residierenden  Schaich 
al-Isldm  und  die  entgültige  Entscheidung  durch  den  Sultan  gefallen  zu  lassen. 
Diese  Neuerung  vertrug  sich  seiner  Ansicht  nach  weder  mit  der  ägyptischen 
Unabhängigkeit,  noch  mit  der  seit  Jahrhunderten  befolgten  Praxis.  Die  An- 
gelegenheit wurde  durch  einen  Vergleich  beendigt:  der  Sultan  bewilligte  dem 
Vizekönig  das  Recht,  Todesurteile  zu  bestätigen,  auf  sieben  Jahre;  nach  Ab- 
lauf dieser  Zeit  blieb  es  stillschweigend  beim  Alten.^)  Nach  Erledig^ing  dieser 
Meinungsverschiedenheit  erliess  der  Vizekönig  am  24.  Januar  1855  für  seine 
Unterthanen  ein  besonderes  StGB.,  das  von  der  Schart' ah  sich  zwar  nicht  völlig 
lossagte,  aber  doch  in  vieler  Beziehung  erheblicher  abwich  als  die  türkische 
Strafverordnung  von  1840. 

Das  ägyptische  StGB.  v.  1855  war  in  fünf  Titel  eingeteilt,  von  denen 
jeder  wieder  in  mehrere  Paragraphen  zerfällt.  Er  enthielt  in  ziemlich  naiver 
Systemlosigkeit  neben  Straf  bestimmungen  auch  Vorschriften  aus  dem  Beamten- 
Disziplinarrecht  und  sogar  civilrechtliche  Grundsätze.  Handlungen,  die  in 
Europa  als  schwere  Verbr.  gelten,  z.  B.  Falschmünzerei,  Fälschung  öffentlicher 
Urkunden,  Bestechung  und  Amtsmissbrauch,  wurden  mit  einer,  allerdings 
schweren,  aber  nur  kurzzeitigen  Gefängnisstrafe  bedroht.  Da  die  allgemeinen 
Lehren  des  StR.  nicht  kodifiziert  waren,  so  blieb  die  Ausmessung  der  Strafe  der 
Willkür  des  Richters  überlassen,  der  nur  durch  die  Festsetzung  eines  allgemeinen 
Mindest-  und  Höchstmasses  beschränkt  war.  Im  Falle  des  mit  Vorbedacht  aus- 
geführten Mordes  stand  den  Erben  des  Getöteten  auch  jetzt  noch  das  ihnen 
durch  die  Schari'ah  verliehene  Recht  des  Erlasses  der  Strafe  zu;  der  Mörder 
konnte  sich  also  durch  Erlegung  des  Blutgeldes  loskaufen.  Nur  wenn  die  That 
von  Räubern  begangen  war,  trat  im  Falle  der  Verzeihung  durch  die  Erben 
zeitige  Zwangsarbeit  ein.*) 

2.  §  9.    Das  St&B.  fflr  die  Eingeborenen  ron  1883. 

Das  türkische  StGB,  von  1858  ist  in  Ägypten  nicht  eingeführt;  vielmehr  Hess 
der  Khedive  1871  einen  Entw.  eines  neuen  StGB,  ausarbeiten,  der,  wenn  auch 
in  der  Anordnung  mit  dem  türkischen  StGB,  übereinstimmend,  sich  doch  enger 
an  den  französischen  C.  p.  anschloss.  Um  nicht  zu  ausführlich  zu  werden, 
erwähne  ich  hier  nur,  dass  der  Entw.  Artikel  über  Versuch,  Teilnahme  und 
mildernde  Umstände  enthält,  dass  die  Bestechung  nur  strafbar  ist,  wenn  es 
sich  um  einen  Beamten  handelt,  usw.*)  Dieser  Entw.  ist  die  Grundlage  des 
StGB,  für  die  gemischten  Gerichtshöfe,  von  dem  später  die  Rede  sein  wird, 
und  des  StGB,  für  die  eingeborenen  Gerichte  und  Richter  von  1883*)  geworden. 
Im  folgenden  seien  kurz  die  Punkte  berührt,  in  denen  sich  das  letztere  von 
dem  türkischen  und  dem  französischen  StGB,  unterscheidet. 

Die  Anordnung  ist  dieselbe  wie  im  türkischen  StGB.,   von  welchem   das 


')  Vgl.  Petermann  und  Ramis  Effendi  a.  0.  S.  XLIV. 

«)  S.  o.  S.  719. 

«)  Vgl.  von  Kremer  a.  0.  Bd.  II  S.  53,  54  und  68,  und  Lane  a.  0.  S.  110. 

*)  Eine  ausführliche  Analyse  des  ägyptischen  StGB*  v.  1855  enthält  das  er- 
wähnte Buch  von  von  Kremer  Bd.  II  S.  54  flf. 

*)  Der  Entw.  ist  in  französischer  Sprache  zu  Alexandria  im  Jahre  1871  ver- 
öffentlicht. 

^)  Eine  französische  Übersetzung  beider  G.  enthalten  das  erwähnte  Buch  von 
Borelli  Bey  und  Ruelens,  sowie  das  Bulletin  des  lois  et  decrets. 

Stra%esetzg^e)mng  der  Gogenwart.   I.  47 


738  I^ie  Türkei.  —  2.  Das  Strafrechs  der  Türkei. 


ägyptische  StGB,  gewissermassen  eine  durchgesehene  und  verbesserte  Ausgabe 
bildet.  Es  zerfällt  in  vier  Titel:  Einleitende  Bestimmungen;  Verbr.  und  Verg. 
gegen  den  Staat;  Verbr.  und  Verg.  gegen  Privatpersonen;  Übertretungen. 
Der  erste  Titel  hat  5  Kap.,  der  zweite  16,  der  dritte  13  und  der  vierte  nur 
ein  einziges.  Die  Kapitelüberschriften  stimmen  mit  denen  des  türkischen 
StGB,  überein.  Nur  sei  bemerkt,  dass  fahrlässige  Brandstiftung  im  türkischen 
StGB,  ein  Delikt  gegen  den  Staat,  im  ägyptischen  dagegen  ein  solches  gegen 
die  Privatperson  ist.  Der  erste  Art.  beider  Gesetze,  und  mithin  auch  ihr  grund- 
sätzlicher Standpunkt  stimmt  überein,*)  in  Wirklichkeit  aber  nimmt  das  ägyp- 
tische StGB,  auf  diesen  Standpunkt  wenig  Rücksicht.  Im  Entw.  fehlte  dieser 
Art.  1.  Der  in  Art.  4  des  französischen  C.  p.  enthaltene  Grundsatz  fehlt  auch 
im  ägyptischen  StGB.  Ein  Art.,  durch  welche  alle  früheren  G.  für  aufgehoben 
erklärt  würden,  existiert  nicht,  sodass  auch  das  ägyptische  StGB.,  theoretisch 
betrachtet,  nur  eine  Novelle  ist,  während  die  Schari'ah  das  Hauptgesetz  bleibt, 
ein  Verhältnis,  das  natürlich  jeder  Willkür  Thor  und  Thür  öflPhet.*) 

Die  gegen  Verbr.  angedrohten  Strafen  sind:  Tod,  lebenslängliche  und 
zeitige  Zwangsarbeit,  lebenslängliche  und  zeitige  Festungshaft,  lebenslängliche 
Verbannung,  dauernder  Verlust  der  Fähigkeit,  öffentliche  Würden  zu  erlangen 
und  öffentliche  Ämter  zu  bekleiden,  endlich  Ausschluss  von  der  Ausübung  der 
bürgerlichen  Ehrenrechte.  Vergehensstrafen  sind:  Gef.  nicht  unter  einer  Woche, 
zeitige  Verbannung,  Verlust  des  bekleideten  öffentlichen  Amtes  und  Geldstrafe 
von  mindestens  100  ägyptischen  Piastern.  Übertretungsstrafen  sind:  Gef.  bis 
zu  einer  Woche  und  Geldstrafe  bis  zu  100  ägyptischen  Piastern  (Art.  3 — 5). 
Von  der  jedesmaligen  Bestimmung  des  StGB,  hängt  es  ab,  ob  diese  Strafen  nur 
einzeln  oder  nebeneinander  verhängt  werden  können.  Ausserdem  werden  vom 
StGB,  in  bestimmten  Fällen  zugelassen:  Stellung  unter  Polizeiaufsicht,  Verlust 
privatrechtlicher  (nicht,  wie  im  Entw.  stand:  familienrechtlicher)  Befugnisse, 
und  Einziehung  des  bei  Begehung  der  Strafthat  benutzten  Gegenstandes  (Art.  7). 
Die  Begriffsbestimmung  und  die  Bestrafung  des  Versuchs  (Art.  8  —  11)  ist  die 
gleiche  wie  im  C.  p.  Der  Rückfall  (Art.  12—18)  zerl^llt  in  drei  Klassen.  Er 
liegt  zunächst  vor,  wenn  jemand  ein  Verg.  begeht,  nachdem  er  wegen  eines 
Verbr.  oder  Verg.  zu  Gef.  oder  Verbannung  nicht  unter  einem  Jahre  oder 
einer  schwereren  Strafe  verurteilt  war;  femer:  wenn  jemand  sich  eines  Verg. 
schuldig  macht,  nachdem  er  innerhalb  der  vorhergehenden  fünf  Jahre  zu  Gef. 
oder  Verbannung  nicht  unter  einem  Jahre  oder  zu  Geldstrafe  verurteilt  war, 
vorausgesetzt,  dass  das  später  begangene  Delikt  dem  früher  begangenen  ähnlich 
ist;  endlich:  wenn  jemand  ein  Verbr.  begeht,  nachdem  er  bereits  einmal  wegen 
eines  solchen  verurteilt  war.  Das  Unlogische  dieses  Systems  liegt  auf  der  Hand. 
Hinzugefügt  sei,  dass  die  Strafe  in  den  ersten  beiden  Fällen  das  Doppelte  des 


*)  Jedoch  giebt  es  die  zwei  Arten  von  Gerichten,  die  in  der  Türkei  vorhanden 
sind,  in  Ägypten  nicht.  Nur  sollen  die  ordentlichen  Gerichte  bei  Verbr.,  die  mit  dem 
Tode  bedroht  sind,  zuvor  das  Gutachten  des  Mufti  einholen.  Vgl.  Art.  15  der  Vdg. 
vom  14.  Juni  1883  über  die  Reorganisierung  der  für  die  Eingeborenen  bestimmten 
Gerichte.  Diese  Vdg.,  sowie  die  sie  ergänzende  vom  9.  Februar  1887  sind  im  Annuaire 
de  16gi8lation  6trang6re  von  1883  und  1887  S.  769  und  819  abgedruckt;  vgl.  o.  S.  722 
Anm.  2. 

*)  Es  könnte  auf  den  ersten  Blick  scheinen,  als  ob  die  Lücken  des  StGB,  durch 
einige  Art.  der  StPO.  (z  B.  145,  147,  153,  171)  in  verschiedenen  Punkten  ausgefüllt 
würden.  Indessen  ergiebt  sich  bei  näherer  Betrachtung,  dass  diese  Artikel  ebenso 
lediglich  auf  dem  Papiere  stehen,  wie  die  türkische  Verfassung  von  1876,  von  der 
o.  S.  721  Anm.  5  die  Rede  gewesen  ist.  Solange  nicht  die  Schari'ah  auf  dem  Gebiete  des 
StR.  formell  ausser  Kraft  gesetzt  ist,  hat  es  keinen  Sinn,  dem  Richter  vorzuschreiben, 
nur  in  den'  gesetzlich  vorgesehenen  Fällen  auf  Strafe  zu  erkennen.  Indes  enthält 
allerdings  die  StPO.  in  den  Art.  249—255  über  die  Strafverjährung  Bestimmungen, 
die  entschieden  als  ein  Fortschritt  zu  begrüssen  sind.    Vgl  o.  S.  713  und  726  Anm.  1. 


2.  §  9.    Das  StGB,  für  die  Eingeborenen  von  1883.  739 


für  das  spätere  Delikt  angedrohten  Höchstmasses  erreichen  kann  und  im  dritten 
Falle  m  derjenigen  Strafe  besteht,  die  zwei  Grade  höher  ist  als  die,  zu  welcher 
der  Thäter  verurteilt  werden  würde,  wenn  er  sich  nicht  im  Rückfall  befände. 

Kein  Todesurteil  darf  vollstreckt  werden  ohne  Genehmigung  des  Vize- 
königs, dem  in  jedem  Falle  das  Recht  der  Strafumwandlung  zusteht.  Ist  seine  Ettt- 
scheidung  nicht  binnen  14  Tagen  nach  Einsendung  der  Akten  an  ihn  eingetroffen, 
so  ist  das  Urteil  als  bestätigt  anzusehen;  dabei  ist  jedoch  zu  beachten,  dass 
ein  Todesurteil  nur  gefällt  werden  kann,  wenn  entweder  der  Angeklagte  ge- 
standen hat  oder  mindestens  zwei  Zeugen  bekundet  haben,  dass  sie  die  Be- 
gehung der  That  durch  den  Angeklagten  „gesehen"  haben  (Art.  26 — 32).*) 
Zeitige  Zwangsarbeit  und  zeitige  Festungshaft  haben  eine  Dauer  von  mindestens 
drei  und  höchstens  15  Jahren  und  ziehen  den  Verlust  der  bürgerlichen  Ehren- 
rechte nach  sich.  Personen  über  60  Jahre  und  Frauen  (nicht  auch  unver- 
heiratete weibliche  Personen)  werden  während  der  Dauer  der  Zwangsarbeit 
nicht  in  Ketten  gelegt  (Art.  32 — 39).  Die  Festungshaft  ist  in  einer  Anstalt  zu 
verbüssen,  in  welcher  Arbeitszwang  herrscht  (Art.  35);  dagegen  ist  die  Voll- 
streckung der  Verbannung  ebenso  geregelt  wie  in  der  Türkei  (Art.  38,  46). 
Die  dauernde  Unfähigkeit  zur  Bekleidung  öffentlicher  Stellungen  und  Ämter 
bezieht  sich  nicht  nur  auf  die  Stellungen  und  Ämter  i.  e.  S.,  sondern  auch  auf  die 
Fähigkeit,  vom  Staate  eine  Pachtung  oder  eine  Konzession  zu  erlangen.  Sie 
ist  die  von  Rechtswegen  eintretende  Folge  jeder  Verurteilung  wegen  eines  Verbr. 
Der  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  besteht  u.  a.  in  dem  Verlust  des 
aktiven  und  passiven  Wahlrechts,  der  Unfähigkeit,  Mitglied  einer  Körperschaft 
zu  sein,  in  einer  solchen  oder  einer  Gemeinde  ein  Amt  zu  bekleiden,  Ge- 
schworener,^) Sachverständiger,  Lehrer  oder  Aufseher  in  einer  Schule  zu  sein. 
Dieser  Verlust  ist  notwendige  Folge  jeder  Verurteilung  zu  Zwangsarbeit,  Festungs- 
haft und  Verbannung;  er  ist  dauernd  oder  auf  Zeit,  je  nach  der  Dauer  der 
Hauptstrafe,  ist  er  vom  StGB,  allein  angedroht,  so  tritt  ausserdem  Gef.  bis  zu 
3  Jahren  ein  (Art.  39 — 42).  Die  wegen  eines  Verbr.  erlassenen  Urteile  werden 
durch  öffentlichen  Anschlag  in  französischer,  italienischer  und  arabischer  Sprache 
bekannt  gemacht  (Art.  43). 

Die  wegen  eines  Verg.  zu  erkennende  Gefängnisstrafe  hat  eine  Dauer 
von  mindestens  8  Tagen  und  höchstens  3  Jahren,  die  wegen  einer  Übertretung 
zulässige  eine  solche  von  24  Stunden  bis  zu  einer  Woche;  die  Dauer  der  zei- 
tigen Verbannung  beträgt  3  Monate  bis  3  Jahre;  die  Entfernung  aus  einem 
öffentlichen  Amte  geschieht  auf  1 — 5  Jahre;  die  Höhe  der  Geldstrafe  beträgt 
bei  Verg.  101 — 10000,  bei  Übertretungen  5 — 100  ägyptische  Piaster  (Art. 
44—48). 

Bezüglich  der  Zurechnungsfähigkeit  ist  zu  bemerken,  dass  Kinder  unter 
7  Jahren  nicht  strafrechtlich  verfolgt  werden  können.  Bei  einem  Kinde  zwischen 
7  und  15  Jahren  muss  man  unterscheiden,  ob  es  bei  Begehung  der  That  im 
Besitze  des  Unterscheidungsvermögens  war  oder  nicht;  im  letzteren  Falle  wird 
es  freigesprochen,  im  ersteren  milder  bestraft,  als  ein  Erwachsener.  Die  Grund- 
sätze über  Geisteskrankheit  und  Zwang,  sowie  über  Thäterschaft  und  Teil- 
nahme entsprechen  denen  des  französischen  Rechts.  Bei  weiblichen  Angeklagten 
soll  der  Richter  nach  Vorschrift  des  StGB,  bei  Ausmessung  der  Strafe  auf  ihre 
körperlichen  und  geistigen  Verhältnisse  Rücksicht  nehmen  (Art.  56 — 69).  Auch 


^)  Das  StGB,  giebt  keine  allgemeinen  Vorschriften,  in  welcher  Weise  die  Todes- 
strafe vollzogen  werden  soll;  der  Richter  muss  daher,  wie  in  der  Türkei,  in  jedem 
Falle  eine  besondere  Anordnung  treffen. 

■^)  Für  Eingeborene  giebt  es  Schwurgerichte  in  Ägypten  nicht.  Vgl.  Borelli  Bey 
und  Ruelens  a.  O.  Bd.  I  S.  "»79  No.  1. 

47* 


740  Die  TürkeL  —  2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 


in  Beziehung  auf  die  mildernden  Umstände,  welche  unter  der  Überschrift 
„Allgemeine  Bestimmungen"  in  dem  letzten  Art.  (252)  des  StGB,  behandelt  werden, 
gelten  die  französischen  Grundsätze.^) 

Die  vorstehenden  Ausführungen  werden  genügen,  um  die  wichtigsten  Be- 
stimmungen des  ersten  Titels  des  StGB,  klar  zu  legen.  Über  die  drei  folgen- 
den Titel  kann  ich  mich  kurz  fassen.  Wie  bereits  erwähnt,  stimmt  die  Ein- 
teilung bis  auf  eine  Ausnahme  mit  der  des  türkischen  StGB.  Dagegen  finden 
sich  im  Wortlaute  der  einzelnen  Art.  manche  Verschiedenheiten,  da  das  ägyp- 
tische StGB,  sich  enger  an  den  französischen  C.  p.  anschliesst.  Jedoch  weicht 
ersteres  auch  an  manchen  Stellen  von  diesem  in  der  Anordnung  und  Verbin- 
dung der  Art.,  sowie  im  Wortlaut  und  im  Strafmass  verschiedentlich  ab,  ohne 
dass  die  Neuerungen  in  allen  Fällen  als  Verbesserungen  bezeichnet  werden 
könnten.  Als  Beispiel  sei  Art.  70  des  ägyptischen  StGB,  angeführt,  der  nicht 
nur  Jeden  Ägypter",  sondern  Jede  Person",  die  gegen  Ägypten  WaflPen  trägt, 
mit  dem  Tode  bedroht. 

Von  den  strafbaren  Handlungen  des  C.  p.  sind  ausgeschieden:  das  Kom- 
plott gegen  das  Staatsoberhaupt  oder  seine  Familie,  Unternehmungen,  welche 
eine  Veränderung  in  der  Regierungsform  oder  in  der  Thronfolge  bezwecken, 
öflFentliche  Beleidigung  des  Staatsoberhaupts  oder  seiner  Angehörigen,*)  Verbr. 
und  Verg.  in  Bezug  auf  die  Ausübung  der  bürgerlichen  Ehrenrechte,  uner- 
laubte Vereinigung  von  Beamten,  Störung  der  öffentlichen  Ordnung  durch 
Geistliche,  Bettelei,  Landstreicherei,  unerlaubte  Vereinigung,  Kindesaussetzung, 
Doppelehe,  Grabschändung  und  die  Mehrzahl  der  auf  Handel,  Industrie  und 
Kunst  bezüglichen  Delikte.  Alle  übrigen  nach  dem  französischen  C.  p.  straf- 
baren Handlungen  sind  es  mit  geringen  Ausnahmen  auch  nach  dem  ägyp- 
tischen StGB.,  nur  ist  die  Verteilung  der  Delikte  auf  die  einzelnen  Kap.  zum 
Teil  abweichend.  So  bilden  z.  B.  die  Verg.  der  Lieferanten  wie  im  türkischen 
StGB,  eine  strafbare  Handlung  gegen  den  Staat  und  werden  demgemäss  im 
rV.  Kap.  des  zweiten  Titels  unter  der  Überschrift:  „Veruntreuung  öffentlicher 
Gelder  und  Amtserpressung"  behandelt.  Nur  wenige  Art.  in  den  letzten  drei 
Titeln  des  ägyptischen  StGB,  tragen  den  besonderen  Verhältnissen  des  Orients 
Rechnung,  und  diese  sind  noch  dazu  dem  türkischen  StGB,  entlehnt.  So  ge- 
nügt beispielsweise  nach  dem  Wortlaut  des  Art.  90  und  91  die  Thatsache, 
dass  ein  Beamter  oder  ein  Beauftragter  durch  die  Veräusserung  einer  beweg- 
lichen oder  unbeweglichen  Sache  oder  infolge  des  Abschlusses  irgend  eines 
anderen  Vertrages  einen  aussergewöhnlichen  Vorteil  zugewendet  erhält,  zum 
Thatbestande  der  Bestechung;  eine  solche  liegt  auch  dann  vor,  wenn  die  Gre- 
schenke  oder  Vorteile  einem  von  dem  bestochenen  Beamten  oder  Unterhändler 
bezeichneten  Dritten  zugewendet  sind. 

Ein  von  der  Regierung  mit  dem  Verkauf,  dem  Ankauf  oder  der  An- 
fertigung irgend  welcher  Gegenstände  beauftragter  Privatmann,  der  sich  bei 
dieser  Gelegenheit  irgend  einen  unerlaubten  Vorteil  verschafft,  wird  nach 
Art.  100  mit  der  gleichen  Strafe  belegt,  wie  ein  Beamter,  der  öffentliche  Gelder 
veruntreut.  Die  Ausstellung  von  Anweisungen  auf  den  Staatsschatz  oder  von 
anderen  öffentlichen  Schuldverschreibungen  durch  einen  Beamten,  seine  Ver- 
wandten oder  seine  Diener  wird  nach  Art.  102  bestraft,  während  die  Amts- 
unterschlagung nach  Art.  103  und  104  auch  bei  Eintreibung  von  Frohndiensten, 
durch  Verwendung  staatlicher  Arbeiter  zu  Privatzwecken,  sowie  dadurch  be- 
gangen werden  kann,  dass  jemand  einem  Arbeiter  oder  Angestellten  den  Lohn, 


^)  Das  Zusammentreffen   und   der  Zusammenhang   mehrerer   strafbarer    Hand- 
lungen sind  sowohl  im  StGB,  wie  in  der  StPO.  mit  Stillschweigen  übergangen. 

'")  Vorausgesetzt,  dass  sie  nicht  durch  die  Presse  begangen  ist;  vgl.  Art.  153  ff. 


8.  §  10.    Die  ägyptischen  Verordmingen  strafrechtlichen  Inhalts.  741 


den  er  ihm  auszahlen  soll,  vorenthält,  oder  weniger  Angestellte  als  vorge- 
schrieben unterhält,  sich  aber  doch  für  die  volle  Anzahl  den  Lohn  ausbezahlen 
lässt.  Die  Verwendung  eines  Beamten  für  jemanden  durch  Bitte  oder  Em- 
pfehlung bei  einem  Richter,  ist  nach  Art.  111  als  Missbrauch  der  Amtsgewalt 
anzusehen.  Unter  den  gewaltsamen  Handlungen  öffentlicher  Beamten  gegen 
Privatpersonen  erwähnt  Art.  112  die  Folterung  eines  Angeklagten  und  Art.  122 
die  Heranziehung  zu  Frohnarbeiten,  die  weder  nach  Gesetz  noch  auf  Grund  der  An- 
ordnung einer  Behörde  dem  öflFentlichen  Wohle  dienen,  noch  im  Interesse  der 
Bevölkerung  schleunigst  vorgenommen  werden  müssen.  Gleich  dem  Falsch- 
münzer wird  nach  Art.  179  bestraft,  wer  einer  Münze  eine  andere  Färbung 
giebt,  um  sie  als  eine  solche  von  wertvollerem  Metalle  erscheinen  zu  lassen, 
und  Art,  184  erklärt  die  Nachahmung  des  Siegels  eines  öffentlichen  Beamten 
für  ebenso  strafbar,  wie  die  Fälschung  seiner  Unterschrift.  Die  Teilnehmer 
an  einem  mit  dem  Tode  bedrohten  Morde  werden  stets  nur  zu  lebenslänglicher 
Zwangsarbeit  verurteilt;  die  Erben  haben  das  Recht,  dem  Thäter  die  Strafe 
der  Talion  zu  erlassen,  die  dann  in  Zwangsarbeit  auf  Lebenszeit  oder  auf 
bestimmte  Zeit,  jedoch  nicht  unter  15  Jahren,  umgewandelt  wird  (Art.  214,  215, 
230).  Ascendententötung,  Kindsmord  und  Kastration  bilden  keine  besonderen 
Delikte.  Der  Ehemann  wird  bestraft,  nicht  wenn  er  „eine  Beischläferin", 
sondern  wenn  er  „einen  ehebrecherischen  Verkehr"  in  der  ehelichen  Wohnung 
unterhält  (Art.  255).  Das  StGB,  bestraft  die  Entführung  einer  verheirateten  Frau 
(Art.  268);  bei  der  Entführung  eines  jungen  Mädchens  bewirkt  die  Schliessung 
der  Ehe  zwischen  dem  Entführer  und  der  Entführten  den  Eintritt  völliger 
Straflosigkeit  (Art.  269).  Endlich  wird  die  Anwendung  von  Gewalt  gegen 
einen  Zeugen  um  ihn  von  einer  wahrheitsgemässen  Angabe  abzuhalten  oder 
zur  Ablegung  eines  falschen  Zeugnisses  zu  veranlassen  wie  das  falsche  Zeugnis 
selbst  bestraft  (Art.  275).  Die  Störung  des  Telegraphen-Verkehrs  (Art.  150 — 152), 
Pressdelikte  und  die  auf  den  Unterricht  bezüglichen  strafbaren  Handlungen 
(Art.  153 — 178),  sowie  die  Eröffnung  einer  Apotheke  ohne  Konzession  —  alles 
Handlungen,  die  in  vielen  Ländern  den  Gegenstand  von  Spezialgesetzen  bilden 
—  sind  im  ägyptischen  StGB.,  wie  auch  im  türkischen,  mit  Strafe  bedroht. 

Die  Übertretungen  werden  im  vierten  Titel  behandelt.  In  Bezug  auf 
diesen  gilt  ebenfalls  das  für  das  III.  Buch  des  türkischen  StGB.  Gesagte.  ^) 

3.  §  10.    Die  ägyptischen  Yerordnungen  strafrechtlichen  Inhalts. 

Neben  dem  StGB,  giebt  es  verschiedene  Vdgn.  strafrechtlichen  Inhalts; 
einzelne  derselben,  wie  die  über  die  Schiffahrt  auf  dem  Suezkanal,  über  die 
sanitÄren  Massregeln  bezüglich  der  Mekka-Pilger,  über  den  Sklavenhandel^) 
usw.,  haben  eine  internationale  Sanktion  erhalten.  Diese  letzteren  sind  natur- 
gemäss  von  bleibender  Bedeutung,  was  man  von  den  lediglich  von  der  vize- 
königlichen Regierung  und  den  Ortsbehörden  ausgehenden  nicht  sagen  kann. 
In  dieser  Beziehung  gilt  das  bereits  für  die  Türkei  Gesagte.  Da  die  Trennung 
der  Gewalten  nicht  durchgeführt  ist,  mithin  der  Khedive,  seine  Minister  und 
sogar  die  Ortsbehörden  durch  Verfügungen,  Vdgn.  und  Sendschreiben  Vor- 
schriften mit  Gesetzeskraft  erlassen  können,  ohne  dabei  anders  als  durch  ihr 
Subordinationsverhältnis  zu  dem  vorgesetzten  Beamten  beschränkt  zu  sein,  so 


*)  S.  o.  S.  782. 

*)  Vgl.  Borelli  Bey  und  Ruelens  Bd.  I  S.  XIII.  Die  Verwaltungs Verordnungen 
sind  im  Annuaire  de  16gislation  6trangöre  regelmässig  erwähnt;  nach  dieser  Samm- 
lung zu  schliessen,  scheint  die  Spezialstrafgesetzgebung  noch  unvollkommener  zu 
sein  als  in  der  Türkei,  was  aber  nach  dem  oben  S.  733  Gesagten  kaum  als  Nachteil 
anzusehen  wäre. 


742  Die  Türkei.  —  2.  Das  Strafrecht  der  Türkei. 


ist  klar,  dass  trotz  aller  eiiropäischeii  und  halbenropäischen  Formen  der  Kern 
anch  der  ägyptischen  Rechtspflege  die  Willkür  ist.*) 

4.  §  11.    Das  Straflrecht  fQr  die  gemischten  Gerichtshöfe. 

Ich  komme  mit  einigen  kurzen  Bemerkungen  auf  das  bereits  oben  er- 
wähnte StGB,  für  die  gemischten  Gerichtshöfe  zurück. 

Wie  in  den  übrigen  Teilen  des  türkischen  Reiches,  gemessen  die  Euro- 
päer auch  in  Ägypten  auf  Grund  internationaler  Verträge  das  Recht  der  Ehcter- 
ritorialität.^)  Die  Missbräuche,  die  mit  der  Befugnis  der  Konsuln  getrieben 
wurden,  Personen,  die  von  Rechtswegen  Eingeborene  waren,  vor  ihr  Gericht 
zu  ziehen,  waren  in  Ägypten  ebenso  zahlreich,  wie  in  der  Levante.*)  Ja,  die 
Verhältnisse  in  diesem  Lande,  vor  allem  das  ausserordentlich  schnelle  An- 
wachsen der  ausländischen  Einwohner  seit  der  Regierungsübemahme  durch 
Mahomet  Ali  und  die  Wichtigkeit  der  Handelsinteressen,  gaben  Veranlassung 
zu  ganz  besonders  schweren  Übelständen.  Ägypten  war  das  Gelobte  Land 
aller  schlechten  Zahler  und  böswilligen  Schuldner  geworden,  welche  die  leichte 
Möglichkeit,  von  der  einen  Gerichtsbarkeit  unter  die  andere  zu  schlüpfen, 
benutzten,  um  sich  der  Erfüllung  ihrer  Verbindlichkeiten  und  der  Vollstreckung 
der  von  ihren  ordentlicheD  Richtern  gegen  sie  gefällten  Urteile  zu  entziehen. 
Seit  langer  Zeit  war  man  darüber  einig,  dass  dieser  Zustand  nicht  länger 
fortbestehen  könne,  indes  gelang  eine  durchgreifende  Reform  erst  1875  nach 
langwierigen  diplomatischen  Verhandlungen.  Die  Ausländer  und  Schutzge- 
nossen wurden  in  Civil-  und  Handelssachen,  und  zwai*  auch  in  Bezug  auf  ihr 
Verhältnis  zu  den  Eingeborenen,  besonderen,  aus  Vertretern  der  Eingeborenen 
und  der  interessierten  europäischen  Nationen  bestehenden  Gerichten,  den  so- 
genannten gemischten  Gerichtshöfen,  unterstellt.  Gleichzeitig  wurde  ein  bürger- 
liches GB.,  ein  Handelgesetzbuch,  ein  Seehandelsgesetzbuch,  eine  Civil-  und 
Handelsprozessordnung  erlassen,  die  alle  nach  dem  Muster  der  französischen 
Gesetzgebung  gearbeitet  sind.*)  Bestrebungen,  welche  darauf  abzielten,  diesen 
Gerichten  auch  Zuständigkeit  in  Strafsachen  zu  geben,  waren  nur  zum  Teil 
erfolgreich.  Es  wurde  vereinbart,  dass  sie  lediglich  zuständig  sein  sollten  für 
die  Aburteilung  der  von  Nichtmohammedanern  begangenen  Übertretungen,  der 
Verbr.  und  Verg.,  welche  gegen  Beamte,  Richter  oder  Polizeibeamte  in  Aus- 
übung ihres  Amtes  oder  bei  Gelegenheit  der  Ausübung  desselben  begangen 
sind,  ferner  der  Verbr.  und  Verg.,  die  sich  unmittelbar  gegen  die  Vollstreckung 
gerichtlicher  Urteile  und  Aufträge  richten,  endlich  der  einem  Richter,  Ge- 
schworenen oder  Justizbeamten  als  in  Ausübung  ihres  Amtes  oder  mittels 
Missbrauchs  ihrer  Amtsgewalt  begangen  zur  Last  gelegten  Verbr,  und  Verg.*) 
Ein  StGB,  und  eine  StPO.  sind  als  Anhang  zu  dem  für  die  gemischten  Ge- 
richte geltenden  Civil-  und  Handelsgesetzbuch  erlassen  und  daher  formell  in 
Geltung;  dieselben  sind  jedoch  gerade  in  Beziehung  auf  die  Delikte,  für  deren 
Aburteilung  die  gemischten  Gerichte  zuständig  sind,  später  abgeändert.    Diese 


*)  Ebendaselbst  Bd.  I  S.  XV  ff.  Von  allen  Verwaltxmgseinheiten  hat  nur  die 
Stadtverwaltung  von  Alexandria  eine  vom  Staate  verschiedene  juristische  Persön- 
lichkeit. 

'^)  Vgl.  von  Kremer  a.  0.  Bd.  II  S.  100;  Borelli  Bev  und  Ruelens  a.  0.  Bd.  I 
S.  10;  Lawrence  a.  0.  S.  182  ff.;  Du  Moiron  a.  0.  S.  52  ff. 

3)  Vgl.  von  Kremer  a.  0.  Bd.  II  S.  101 ;  Borelli  Bey  und  Ruelens  a.  O.  Bd.  I 
S.  XIX;  L'Egvpte  et  l'Europe  par  un  ancien  Juge  Mixte,  Bd.  I  (Leiden  1882)  S.  121  ff. 

*)  Vgl.  Lawrence  a.  0.  Bd.  IV  S.  182  ff.;  Borelli  Bey  und  Ruelens  a.  0.  Bd.  I 
S.  XXI  ff.  und  XXVII  ff. 

*)  Vgl.  die  Gerichtsverfassungs-Vdg.  Titel  II  Art.  6  ff.;  Borelli  Bev  und  Ruelens 
a.  0.  Bd.  I  S.  17. 


4.  §  11.    Das  Strafrecht  für  die  gemischten  Gerichtshöfe.  743 


Delikte,  die  übrigens  selten  vorzukommen  scheinen,  werden  jetzt  nach  einer 
Zusammenstellung  von  Straf bestimmungen  abgeurteilt,  die  dem  ägyptischen 
StGB,  entnommen  und  bei  den  gemischten  Gerichten  in  Gebrauch  ist.^)  That- 
sächlich  ist  bislang  die  Strafkammer  erst  zweimal,  das  Schwurgericht  erat 
einmal  in  Thätigkeit  getreten ;  eine  gerichtliche  Polizei  ist  bei  den  gemischten 
Gerichten  nicht  vorhanden,  auch  hat  man  versäumt,  ihnen  Gefängnisse  zur  Ver- 
fügung zu  stellen.*)  Die  Strafen  werden  in  den  Konsulatsgefängnissen  ver- 
büsst;  bei  Verurteilung  zur  Todesstrafe  sind  die  Vertreter  der  fremden  Mächte 
befugt,  ihre  Angehörigen  zu  reklamieren.*) 

Unter  diesen  Umständen  erscheint  eine  genaue  Analyse  dieses  nur  auf 
dem  Papier  bestehenden,  übrigens  auch  von  dem  StGB,  für  Eingeborene  nur 
wenig  abweichenden  G.  nicht  erforderlich.  Sollte  später  die  Zuständigkeit  der 
gemischten  Gerichte  auf  alle  Strafsachen  ausgedehnt  werden,  so  müsste  jeden- 
falls das  StGB,  einer  völligen  Umarbeitung  unterzogen  werden. 


*)  Borelli  Bey  und  Ruelens  a.  0.  Bd.  I  S.  CVI  flf.  und:  Procfes  Verbaux  et  Rapport 
de  la  Commission  des  Del^gu^s  de  LL.  £E.  MM.  les  Repr^sentants  des  Puissances 
prfes  la  Sublime  Porte,  Institute  pour  Texamen  des  propositions  du  Gouvernement 
egyptien  relative  k  la  R^forme  judiciaire  en  mati^re  pönale.    Konstantinopel  1873. 

*)  Borelli  Bey  und  Ruelens  a.  0.  Bd.  I  S.  XXIII. 

»)  GerichtsverfasBungs-Vdg.  Titelll  Art.36— 38;  Borelli  Bey  und  Ruelens  Bd.  IS.  21. 


Dmck  Ton  OseAr  Brandstetter  in  Leipzig. 


Litterarischer  Anzeiger. 


Satzungen  der  Internationalen  Kriminalistischen  Yerelnlgang.  * 

Statuts  de  Tünlon  Internationale  de  Droit  P^naL 


Art.  I.     Dio   IKV.    geht    von    der   Über- 
zeugung aus,  dass  Verbrechen  und  Strafe  ebenso- 
sehr   vom    soziologischen   wie   vom  juristificben 
Standpunkte  aus  ins  Auge  gefasst  werden  müssen. 
Sie  stellt  sich  die  Aufgabe,  diese  Ansicht  und  die 
aus  ihr  sich  ergebenden  Folgerungen  in  Wissen- 
schaft   und    Gesetzgebung   zur   Anerkennung  zu 
bringen.  —  Art«  II.  Die  Vereinigung  stellt  als 
Grundlage  ihrer  Wirksamkeit  die  folgenden  Sätze 
auf:  1.  Aufgabe  der  Strafe  ist  die  Bekämpfung 
des  Verbrechens  als  sozialer  Erscheinung.    2.  Die 
Ergebnisse    der    anthropologischen    und   soziolo- 
gischen Forschungen  sind  daher  von  der  Straf- 
rocbtswissenschaft  wie  von  der  Strafgesetzgebung 
zu    berücksichtigen.    3.  Die  Strafe  ist  eines  der 
wirksamsten   Mittel    zur  Bekämpfung   des   Ver- 
brechens.    Sie  ist  aber  nicht  das  einzige  Mittel. 
Sie    darf  daher  nicht  aus  dem  Zusammenhange 
mit  den  übrigen  Mitteln  zur  Bekämpfung,   ins- 
besondere   mit    den    übrigen   Mitteln   zur   Ver- 
hütung des  Verbrechens  gerissen  werden.   4.  Die 
Unterscheidung   der  G^elegenheitsverbreche^   und 
der  Gewohnheitsverbrecher  ist  von  grundlegender 
Bedeutung  in  theoretischer  wie  in  praktischer  Be- 
ziehung; sie  hat  daher  als  Grundlage  für  die  Be- 
stimmungen   der    Strafgesetzgebung    zu    dienen. 
5.    Da   Strafrechtspflege    und    Strafvollzug   dem- 
selben Zwecke  dienen,  das  strafrechtliche  Urteil 
mithin   erst  durch  die  Vollstreckung  der  Strafe 
Inhalt  und  Bedeutung  gewinnt,  erscheint  die  dem 
heutigen  Strafrechto  eigentümliche  Trennung  des 
Strafvollzuges   von  der  Strafrechtspflege  als  un- 
richtig  und   zweckwidrig.     6.   Da  die  Freiheits- 
strafe   in   unserm   Strafcnsystem    mit  Recht   die 
erste  Stelle  einnimmt,  wird  die  Vereinigung  den 
Bestrebungen  zur  Verbesserung  der  Gefangnisse 
und   der  verwandten  Anstalten  besondere  Beach- 
tung   widmen.     7.   Die  Vereinigung  hält  jedoch 
den  Ersatz  der  kurzzeitigen  Freiheitsstrafe  durch 
andre  Strafmittel  von  gleicher  Wirksamkeit  für 
möglich  und  wünschenswert.    8.  Bei  langzeitigen 
Freiheitsstrafen  ist  die  Bemessung  der  Strafdauer 
nicht  nur  von  den  Ergebnissen  des  Strafverfahrens, 
sondern  auch  von  denjenigen  des  Strafvollzuges 
abhängig   zu   machen.     9.    Unverbesserliche    Ge- 
wohnheitsverbrecher  hat   die    Strafgesetzgebung, 
und   zwar  auch  dann,   wenn  es  sich  um  die  oft- 
malige Wiederholung  kleinerer  Vergehungen  han- 
delt,    für    eine    möglichst    lange   Zeitdauer   un- 
schädlich zu  machen.  —  Art.  III,  Die  Mitglieder 
der   Vereinigung   stimmen    den   in   Axt.  fi   auf- 
geführten Grundsätzen  bei.    Die  Aufnahme  neuer 
Slitglieder  erfolgt  auf  schriftlichen  Vorschlag  eines 
der  bisherigen  Mitglieder  durch  ßeschluss  des  ge- 
schäfteführehden  Ausschusses.  —  Art.  IX.  Jedes 
Mitglied  zahlt  einen  Jahresbeitrag  von  6  Mark. 


.  I.  L^Union  estime,  que  la  criminalit^  et  la 
r^pression  doivent  dtre  envisag^es  aussi  bien  au 
point  de  vue  social  qu'au  point  de  vue  juridique. 
EUe  poursuit  la  consdcration  de  ce  principe  et 
de  ses  consäquences  dans  la  science  du  droit 
criminel  comme  dans  les  lägislations  pönales.  — 
II.  L'Union  adopte  comme  base  fondamentale 
de  ses  travaux  les  thöses  suivantes:  1.  La  mission 
du  droit  p^nal  c^est  la  lutte  contre  la  criminalit^ 
envisag^e  comme  ph^nom^ne  social.  2.  La  science 
pönale  et  la  l^gislation  pönale  doivent  donc  tenir 
compte  des  rösultats  des  ötudes  anthropologiques 
et  sociologiques.  3.  La  peine  est  un  des  moyens 
les  plus  efficaces  dont  l'Etat  dispose  contre  la 
criminalitö.  Elle  n^est  pas  le  moyen  unique.  Elle 
ne  doit  donc  pas  dtre  isolöe  des  autres  rem^des 
Bociaux  et  notamment  ne  pas  faire  oublier  les 
mesures  präventives.  4.  La  distinction  entre  les 
dölinquants  d'accident  et  les  dölinquants  d'habitude 
est  esseatielle  en  pratique  comme  en  thöorie;  eile 
doit  etre  la  base  des  dispositions  de  la  loi  pönale. 
5.  Comme  les  tribunaux  röpressifs  et  Tadmini- 
stration  pönitentiaire  concourent  au  mdme  but, 
et  que  la  condamnation  ne  vaut  que  par  son  mode 
d'exöcution,  la  Separation 'consacröe  par  notre  droit 
moderne  entre  la  fonction  repressive  et  la  fonction 
pönitentiaire  est  irrationnelle  et  nuisible.  6.  La 
peine  privative  de  libertö  occupant  ä  juste  titre 
la  premi^re  place  dans  notre  systöme  des  peines, 
1' Union  accorde  une  attention  speciale  k  tout  ce 
qui  concerne  Tamölioration  des  prisons  et  des  in- 
stitutions  qui  s'j  rattachent.  7.  En  ce  qui  con- 
cerne toutefois  les  peines  d'emprisonnement  de 
courte  duröe,  TUnion  consid^re  que  la  Substitution 
ä  Temprisonnement  de  mesures  d'une  efflcacitö 
äquivalente  est  possible  et  dösirable.  8.  ^n  ce 
qui  concerne  les  peines  d'emprisonnement  de 
longue  duröe,  l'Union  estime  qu'il  faut  faire  dö- 
pendre  la  duröe  de  l'emprisonnement,  non  pas 
uniquement  de  la  gravitö  materielle  et  morale 
de  rinfraction  commise,  mais  aussi  des  rösultats 
obtenus  par  le  regime  pönitentiaire.  9.  En  ce 
qui  concerne  les  dölinquants  d'habitude  incorri- 
gibles,  r  Union  estime  qu'independamment  de  la 
gravite  de  Tinfraction,  et  quand  meme  il  ne  s'agit 
que  de  la  röitöration  de  petits  dölits,  le  systöme 
pönal  doit  avant  tout  avoir  pour  objectif  de 
mettre  ces  dölinquants  hors  d'ötat  de  nuire,  le 
plus  longtemps  possible.  —  HI.  Les  membres 
de  l'Union  adhörent  aux  thöses  fondamentales  ci- 
dessus  önoncöes.  La  candidature  d'un  membre 
nouveau  doit  etre  proposöe  par  öcrit  au  bureau 
par  un  membre  de  l'Union.  —  IX.  Le  taux  de 
la  cotisation  annuelle  est  flxö  ä  fr.  7.50. 


n  LiTTEBABISCHEB   ÄKZEiaEB. 


Otto  Liebmann,  Verlagsbuchhandlung, 

Buchhandlung  für  Rechts-  und  Staatswissenschaften. 

Lützowstrasse  27.     BERLIN,  W.  35.     Latzowstrasse  27. 

Die  gesamten  strafrechtlichen  Nebengesetze. 

I.  Band: 

Die  strafrechtlichen  Nebengesetze 

des  Deutschen  Reiches. 

Erläutert  von 

Dr.  M.  Stengleln, 

Reichsgerichts  rat, 
in   Verbindung  mit 

Dr.  H.  Appellus,  ^nd  I^r.  tt.  Eleinfeller, 

Staatsanwalt  in  Celle.  Professor  a.  d.  Universität  Kiel. 

1898.    PreiB:   des  Hauptwerkdi  IL  28,50,  in  eUg.  HalbfraazbuLd  M.  81, — ,   der  Boeben  enoldeiLeiLML 
«  Snppleme&thtfte  I  n&d  U  M.  2,50  beiw.  K.  1,80. 


II.  Band: 

Die  Preussischen  Strafgesetze. 

Erläutert  von 

A.  Orosehuff, 

Senatspräsidenten  beim  Kammergericht, 

Gt.  Eichhorn,  „„a  ^^*  B*  Delias, 

Kammergerichtsrat,  Amtsrichter  in  Hamm. 

Erscheint  in  3  Uefenmgen  und  wird  im  Herbst  1894  bestimmt  komplett  vorliegen. 

SnbikriptioiLfpreii  dei  Werket  M.  16, — ,  kooluteiii  X.  18, — . 

Die  Werke  umfassen  sämtliche  Strafgesetze  ausser  dem  Reichsstrafgesetzbnch  und  bilden  eine  not- 
wendige Ergänzung  zu  diesem.  Sie  verfolgen  den  Zweck,  die  zahlreichen,  noch  in  Kraft  befindlichen, 
zum  grössten  Teil  noch  gar  nicht  erläuterten  strafrechtlichen  Nebengesetze  in  ausführlicher  Kommentierang 
von  berufensten  Kräften,  gleichmässiger  Bearbeitung  und  Ausstattung  zu  vereinigen  und  somit  dem  Be- 
dürfnisse der  Juristen,  Verwaltungs-  und  Polizeibeamten  nach  praktischen  Hand-  und  Nachschlage- 
büchern entgegenzukommen. 

Die  Werke  zerfallen  in  mehrere  Abteilungen.  Band  I  enthält  insgesamt  8o,  Band  II  I02  Gese'zc. 
Die  einzelnen  Abteilungen  sind  folgende: 


Sand  X.  |  Band  H. 

j.  Gesetze  zum  Schutze  des  geistigen  Eigentums.    (7  Gesetze ) 
3.  Gesetze  über  gewerbliche  Vereinigungen.     (3  Gesetze.) 

3.  Gesetze,  das  Verkehrswesen  betreffend,    (iz  Gesetze.) 

4.  Gesetze    über    das    Gesundheitswesen    und    die    Lebens- 

mittel.   (7  Gesetze.) 

5.  Gesetze  gegen  Viehkrankheiten.    (4  Gesetze.) 

6.  Gesetze,  die  militärischen  Verhältnisse  betr.     (5  Gesetze.) 

7.  Gesetze  allgemein  polizeilichen  Charakters.    (6  Gesetze.) 


X.  Gesetze  zum  Schutze  des  Eigentums.    (3  Gesetze.) 

2.  Gesetze  zum  Schutze  des  Staates  und  der  ÖffentL  Ordnung. 
(17  Gesetze.) 

3.  Gesetze  allgemein  polizeilichen  Charakters.    (11  Gesetze.) 

4.  Polizeistrafgesetze :  I.  Baupolizei  (5  Gesetze).  U.  Bergpolizei 
(a  Gesetze).  IIL  Feld-  und  Forstpolizei  (9  Gesetze). 
lY.  Fischereipolizei  (i  Gesetz).    V.  Feuerpolizd  (a  Gesetze). 


8.  Gesetze,  das  Seewesen  betreffend,     (is  Gesetze.)  <  VI.   Gesindepolizei   (7  Gesetze).     VIL   Gesundheitspolizei 

9.  Bestimmungen  über  den  strafbaren  Bankerutt  !  (6  Gesetze).    Vtll.  Jagdpolizei  (3  Gesetze).    IX.  Markt-  u 
10.  Gewerbeordnung  und  die  Arbeiterversicherungsgesetze.  I  Gewerbepolizei  (6  Gesetze).     X.  Schulpolizei  (6  Gesetze) 

(9  Gesetze.)  '^'  «t      "      ...  ,.r.         '.    ^w,  ,« .5_„w_ri .— . 

XI.  Steuergesetze.    (8  Gesetze.) 
la.  I.  Supplement.    (4  Gesetze.) 

13.  IL  Supplement    (9  Geseue.) 

14.  Sachregister. 


XL  Wasserpolizei  (6  Geseue).   XII.  WegepoUzei  (7  Geseue). 
Steuergesetze,    (xo  Gesetze.) 
Inhaltsverzeichnis. 
Sachregister. 


Jeder  Band  bildet  ein  in  sich  abgeschlossenes  Ganzes  nnd  ist  apart  käuflich. 

Ausführliche  Prospekte  gratis  und  franko. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  des  In-  und  Auslandes,  sowie  direkt  vom  Verlage  (Abteilung  Sortiment). 


LlTT£BABX8GH£B   ANZEIGER.  III 


Otto  Liebmann,  Verlagsbuchhandlung, 

Buchhandlung  für  Rechts-  und  Staatswissenschaften. 

Lützowstrassc  27.    BERLIN,   W.  35.     Lützowstrasse  27. 

* 

Strafrechtspflege  und  Socialpolitik. 

Ein  Beitrag  zur  Refonn  der  Strafgesetzgebimg, 

auf  Grund  rechtsvergleichender  und  statistischer  Erhebungen  über  die  Polizeiaufsicht. 

Von 

Dr.  Karl  Fuhr, 

Rechtsanwalt  in  Giessen. 

1892.    860  Beiten  nebst  mohreran  Tabellen.    Preii  IL  8, — . 

Die  Arbeit  unternimmt  es  tum  erstenmale,  auf  dem  Wege  der  geschichtlichen  rechtSTergleichenden  Erforschung 
eines  Strafmittels  eine  theoretische  Grundlage  für  die  Reformbestrebungen  der  Gegenwart  xu  suchen  und  eine  organische  Ver- 
bindung derselben  mit  der  geschichtlichen  Entwickelung  des  Strafrechts  nachzuweisen;  sie  sucht  nach  neuen  Gesichtspunkten 
für  das  weitere  Studium  des  Verbrechertums,  sowie  nach  neuen  Handhaben  zu  dessen  erfolgreicher  Bekämpfung  und  enthält 
kritische  Erörterungen  und  Reformvorschläge. 


Die  Tierquälerei 


in  der 


Strafgesetzgebung  des  In-  und  Auslandes. 

Historisch,  dogmatisch  und  kritisch  dargestellt, 
nebst  Vorschlägen  zur  Abänderung  des  Reichsrechts 

von 

Dr.  jur.  R.  von  Hippel, 

Professor  an  der  Universität  zu  Strassburg. 

1891.     Preis  M.  6,—. 


Die  Lehre  von  der  Teilnahme 

und  die 

Rechtsprechung  des  Deutschen  Reichsgerichts. 


Kritische  Studien 

von 

Dp.  Karl  Birkmeyer, 

o.  ö.  Professor  der  Rechte  an  der  Universität  zu  München. 

1890.     Preis  M.  7,—. 


Die  Lehre  von  der  Idealkonkurrenz. 

Von 

Dr.  jur.  Hugo  Heinemann. 

1898.    Preis  M.  3,—. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  des  in-  und  Auslandesi  towle  direkt  vom  Verlage  (Abteilung  Sortiment). 


lY  LiTTEBABISGHEB   ANZEIGER. 


Otto  Liebmann,  Verlagsbuchhandlung, 

Buchhandlung  für  Rechts-  und  Staatswissenschaften. 

LütEowstrasse  27.    BERLIN,   W.  35.    Lützowstrasse  27. 

Die  Pflicht  des  Arztes 

zur 

Bewahrung  anvertrauter  Geheimnisse. 

Von 

Dr.  jur.  J.  Liebmann, 

Rechtsanwalt 
1890.     Preii  K.  l^BO. 


Die  Behandlung 

der 

verwahrlosten  und  verbrecherischen  Jugend 

und 

Vorschläge  zur  Reform. 

Von 

Dp.  P.  f.  Aschrott, 

Landrichter  in  Berlin. 
Der  Reinertrag  ist  zum  Besten  der  Holtzendorff-Stiftang  bestimmt. 

1898.    Pnii  M.  1,—. 


Arbeitslosigkeit  und  Arbeitsvermittlung 

in 

Industrie-  und  B[andelsstä<iten. 


Bericht 

über  den 

am  8.  und  9.  Oktober  1893  vom  Freien  Deutschen  Hochstift 

zu  Frankfurt  am  Main 

veranstalteten  sozialen  Kongress. 

1894.     PreU  M.  8,20. 


Die  Abend -Haushaltungsschule 

in  Frankfurt  am  Main, 

als  praktische  Lösung  einer  sozialen  Aufgabe. 

Von 

Dr.  Otto  Kamp, 

städtischer  Lehrer  und  Vorsitzender  des  Vereins  für  Haushaltungsschuleii  in  Frankfurt  a.  M. 

1890.     Preis  M.  2,—. 

Zu  beziehen  durch  alle  Bechhmdlungen  des  h-  und  Auslandes,  sowie  direlct  vom  Veriage  (Abteiiung  Softiment). 


LiTTEBARIBCHEB  AnZEIOEB. 


Otto  Liebmaiin,  Verlagsbuchhandlung, 

Buchhandlung  für  Rechts-  und  Staatswissenschaften. 

LUtzowstrasse  27.    BERLIN,  W.  35.    Latzowstnsse  37. 

Der  Civilprozess. 

Systematisch  bearbeitet 

für  die 

ordentlichen  Berichte  des  Preussisehen  Staates  und  für  das  Reichsgericht 

aaf  Grund  der 

ReiohBgesetzgebiiBg  und  der  Prenssisoheii  Landesgesetzgebuiig, 

sowie  der 

Vorschriften  der  Preussisehen  Landefigustiz Verwaltung 

von 

Dr.  V.  Bintelen, 

Geheimem  Ober-Justic-Rat 

189L    Proii:  broiehiert  M.  S2, — ,  gebunden  M.  28,50. 

Die  „Zeitschrift  für  Deutschen  Civilprozess**  schreibt,  dass  der 

„YeHasser  eine  Reihe  von  sehr  schätzenswerten  ZusammensteUungen  über  praktisch  wichtige  Materien 
giebt,  wie  sie  sich  in  gleicher  Vollständigkeit  und  Übersichtlichkeit  nirgends,  namentlich  anch 
nicht  in  Kommentaren,  finden''. 

Der  „Deutsche  Reichsanzeiger"  nennt  Rintelens  Bearbeitungen 

„Handbücher  im  besten  Sinne  des  Wortes.  Sie  enthalten  alle  Vorteile  der  grossen  Kommentare; 
in  manchen  Beziehungen  verdient  aber  diese  systematische  Darstellung  den  Vorzug**. 


Der  Strafprozess. 

Systematisch  bearbeitet 
von 

Dr.  V.  Bintelen, 

Geheimem  Ober-Jasdz-Rat. 

1891.    Preis:  brosehiert  X.  18,50,  gebunden  X.  18,80. 

„Der  Zweck  des  Buches,  dem  Richter  und  Rechtsanwalt  als  Handbuch,  dem  in  die 
Praxis  eintretenden  jungen  Juristen  als  Lehrbuch  zu  dienen,  darf  als  vollkommen  erreicht  an- 
gesehen werden,"  Zeitschrift  für  internationales  Privat-  und  Strafrecht. 

Das  Konkursrecht 

nebst   Anhang, 

betreffend 

die  Anfechtung  von  Rechtshandlnngen  eines  Schnldners  ausserhalb  des  Eonkursverfahrens, 

systexnatiseh  bearbeitet 

fUr  den  Preussisehen  Staat  auf  Grund  der  Reichsgesetzgebung  und  der  Preussisehen  Landesgesetzgebung 


von 


Dr.  V.  Bintelen, 

Geheimem  Ober-Jastiz-Rat 

1800.    Preii:  broiebiert  X.  5, — ,  gebunden  X.  5,80. 

Das  „Litterarische  Centralblatt"  schreibt,  dass  sich  die  Rintelenschen  Werke  als  „vortreffliche 
Hilfsbücher  für  die  Praxis  erweisen.  Ihr  Hanptwert,  welcher  sie  vor  allen  anderen  umfassen- 
den Darstellungen  auszeichnet,  besteht  in  übersichtlichen  Zusammenstellungen  eines  oft  weit 
zerstreuten  Gesetzesmaterials". 

Zu  bezieben  durch  alle  Buchhandlungen  des  In-  und  Auslandes,  sowie  direkt  vom  Veriage  (Abteilung  Sortiment). 


VI  LtTTEBABISOHEB   ANZEiaBB. 


Otto  Liebmami,  Verlagsbuchhandlung, 

Buchhandlung  für  Rechts-  und  Staatswissenschaften. 

Lütrowstras»e  27.    BERLIN,  W.  35.    Ltttzowstrassc  27. 

Das  Gefangenen-Transportwesen. 

Zum  praktischen  Gebrauch 

rar 

Gerichte,  Staatsanwaltsch&ften,  fleOnipiisbeamte,  Landratsimter,  PoUnirerwaltiiiigeii, 

imtSYonteher  etc. 

zusammengestellt  von 

C.  Eurtz, 

Amtsgerichtsrat 

1891.    Preii  g^bnndaa  K.  2,50. 

Hilfsbuch 

für 

SMollzags-,  Rechtslfe-  und  iasliefenmgs-ingelegenlieiteD. 

Enthaltend 

die  Vorschriften  über  Strafregisterführung,   Zählkartenstatistik, 
Mitteilungen  und  Ersuchen  in  Strafsachen, 

nebst  sämtlichen 

AnsliefenuigSTertrftgeii) 

ergänzt  durch  Gesetze,  Verordnungen,  ministerioUe  Erlasse,  den  Verzeichnissen  der  Gerichtsbehörden  Ostenreich -Ungarns, 

Russlands  und  der  Schweiz,  der  Konsulate  etc. 

Mit  Anmerkangen  versehen 
von 

C.  Eurtz, 

Amtsgerichtsrat 

1898.    Pr«is  kurt.  M.  4,50. 

Das  Bach  enthält  eine  Zasammenstellung  des  ganzen  behördlichen  Verkehrs  in  Sträuchen  and  ist 
zum  praktischen  Gebrauch  für  Staatsanwälte,  Untersuchungsrichter,  Rechtsanwälte,  Verwaltungsbehörden, 
Gefängnis-  und  Polizeibeamte,  Konsuln  und  auswärtige  Behörden  des  In-  and  Aaslandes  bestimmt. 

Handbuch  für  amtsrichterliche  Geschäfte. 

Zum  prakÜBohen  Gebranch  für  Richter  und  Rechtsanwälte 

bearbeitet  von 

Hermann  Jastrow, 

Amtsgerichtsrat  in  Berlin. 

1898.    PreU  IL  11,50,  in  elter.  Halbframband  K.  18,50. 

Das  Werk  enthält  das  erforderliche  Material  an  Gesetzen,  Instruktionen  etc.  ftlr  die  zahlreichen,  ansser- 
halb  der  grossen  Gesetzeskodifikationen  stehenden  Geschäfte,  verbunden  mit  den  Ergebnissen  der  Rechtsprechung 
and  mit  sonstigen  für  das  Verständnis  und  die  praktische  Handhabung  der  Gesetze  nötigen  Erläuternngen. 

Adam  Smitli, 

der  Begründer   der   modernen  Nationalökonomie. 

Sein    Leben   und    seine   Schriften. 

Von 

Dr.  KbxI  Walcker, 

Dozent  der  Staatswissenschaften  an  der  Universität  in  Leipzig. 

1890.     PreU  K.  1,50. 
Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  des  In-  und  Auibndas,  sowie  direkt  vom  Verlage  (Abteilung  Sortinient). 


LiTTEBABISOHEB   AkZEIGEB.  VII 


Otto  Liebmann,  Verlagsbuchhandlung, 

Buchhandlung  für  Rechts-  und  Staatswissenschaften. 

Lützowstrasse  27.    BERLIN,   W.  35.     Lützowstrasse  27. 

Die  Kranken-,  UnfaO-,  InYaliditäts-  nnd  ilters-Yerslchernn^esetze 

in  Einzelausgaben 

erläutert  unter  Berücksichtigung  der  Materialien  und  der  Rechtsprechung. 

Hebst  Anhängen, 

enthaltend  alle  wichtigeren  bezüglichen  Gesetze,  Verordnangen  und  Erlasse. 

Aas  dieser  Sammlnng  yon  Einzelkommentaren ,  welche  die  gesamte  Gesetzgebung  des   Deutschen 
Reiches  auf  dem  bezeichneten  Gebiete  nm£usen  wird,  sind  bisher  erschienen: 

Erster  Band: 

Krankenversicherung^sgesetz 

in  der  Fassung  vom  10.  April  1892 

und 

Oesetz  tlber  die  eingeschriebenen  SLtllf^kassen  vom  1.  Juni  1884. 

Kebst  einem  Anhange, 

enthaltend  die  Normal-Statuten  nnd  alle  wichtigeren  bezüglichen  Gesetze,  Verordnungen  und  Erlasse. 

Von 

Dr.  jur.  Oteorg  Eger, 

Regierung«  rat 

Zweite  TeniLehrte  Anflmge.    1898.    Preia  kartenniert  M.  8,50. 


Zweiter  Band: 

Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetz 

vom  22.  Juni  1889 
mit  dem  A.banderungsge@etz  vom  8.  Juni  1891. 

Nebst  einem  Anhange, 

enthaltend  alle  wichtigfren  bezüglichen  Verordnungen,  Vorschriften  und  Bekanntmachungen. 

Von 

Dr.  jur.  Georg  Eger, 

Regierungsrat. 

Zweite  yermehrte  Auflage.    1898.    Preis  kartomdert  K.  8,50. 


Gewerbeordnung  für  das  Deutsche  Reich 

in  ihrer  gegenwärtigen  Gtestaltung, 

nebst  den 

für  das  Reich  und  für  Preussen  erlassenen  Ausführungsbestimmungen  und  einem  Anhange, 
enthaltend  die  wichtigsten  bezüglichen  Gesetze  und  Verordnungen. 

Erläutert  von 

Dr.  H.  Appelius, 

Staatsanwalt. 

1898.    Flreif  elegant  geboadeii  X.  7, — . 

Die  Erläuterungen  dieses  Kommentars,  welcher  noch  sämtliche  im  Jahre  1893  hervorgerufenen  Ab- 
änderungen und  Bekanntmachungen  enthält,  erstrecken  sich  auch  auf  solche  Paragraphen,  über  welche 
Entscheidungen  noch  nicht  ergangen  sind. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  des  In-  und  Auslandes,  sowie  direkt  vom  Vertage  (Abteilung  Sortiment). 


Yni  LiTTEBABISOHEB   AnZEIGEB. 


Otto  Liebmann,  Verlagsbuchhandlung, 

Buchhandlung  für  Rechts-  und  Staatswissenschaften. 

Lützowstrasse  27.     BERLIN,  W.  55.     Lützowstrasse  27. 


Die  Reichs -Wuchergesetze 

vom  24.  Mai  1880  und  19.  Juni  1893. 

Eiiäntert  von 

Dr.  J.  Meisner, 

Oberlandesgericbtsrat  ia  Posen. 


1894.     FnU  M.  1,60. 


Die  Reichsgesetze 

zum  Schutz  des  geistigen  Eigentums. 


Erläutert  von 


Dr.  M .  Stenglein,      «nd     Dr.  H.  Appelius, 

ReichsgerichtsraL  Staatsanwaüt. 

1898.    Prell  broieh.  X.  5, — ,  ele^.  gebnndMi  M.  5,80. 


Die 

Post-,  Bahn-  und  Telegraphengesetzgebung 

des  Deutschen  Beiches. 

Erläutert  von 

« 

Dr.  M.  Stenglein, 

Reichsgerichurat 

1898.    Preif  M.  3,50. 


AVider  die  Beriafims:. 


Ein  Mahnwort  zur 
Novelle  der  Stra^rozessordniong 


von 


Dr.  M.  Stenglein, 

ReichsgerichUrat. 

1894.    Frei!  IL  —,80. 


Zu  baziehen  durch  alle  Buchhandlungen  des  bi-  und  Auslandes,  sowie  direkt  vom  Verlage  (Abteilung  Sortfaiient)i 


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Das  Preussisclie  illgemeine  Landrecht 

und  der 

Entwurf  des  Deutschen  bürgerlichen  Gesetzbuchs. 


Vergleichende  kritische  Bemerkungen 


von 


Dr.  J.  Meisner, 

Oberlandesgerichtsrac  in  Posen. 

1890.     PreU  X.  8,50. 


Das 


Recht  der  Ehescheidung  in  Deutschland. 


Von 


Dr.  jur.  Eduard  Hubrich. 


Mit  einem  Vorwort 
von 

Dr.  jur;  Philipp  Zorn, 

o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Königsberg. 

1891.    PreU  M.  8,—. 


Die  Sonderrechte  der  Aktionäre. 

Von 

Dr.  jur.  Edmund  Alezander, 

Rechtsanwalt. 

1898.     Preii  M.  4,50. 


Quellen 


zur 


Deutschen  Reichs-  und  Rechtsgeschichte. 

Zusammengestellt  und  mit  Anmerkungen  versehen 

von  .      . 

Dr.  H.  O.  Lehmann, 

o.  ö.   Professor  der  Rechte  an   der  Universität  zu  Marburg. 

189L    Preis  broteliiert  M.  8,—,  gebunden  X.  9,80. 

Die  Sammlung  nmfasst  die  deutsche  Geschichte  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zur  Gründung 
des  norddeutschen  Bundes;  mit  Stellen  aus  Cäsar  beginnt  und  mit  dem  Entwurf  zur  norddeutschen  Bundes- 
verfassung schliesst  sie. 

Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  des  In*  und  Auitamdesi  sowie  direkt  vom  Verbge  (Abteihing  Softiment). 


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Lützowstrasse  27.    BERLIN,   W.  35.     Lützowstrasse  27. 

Das  Reichsgesetz, 

betreffend  die 

Gesellschaften  mit  beschränkter  Haftung 

vom  20.  April  1892. 

Mit  einer  Einleitung  über  die  Entstehungsgeschichte  des  Gesetzes 
und  die  Charakteristik  der  neuen  GeseUschaftsform. 

Erläutert  too 

Th.  Hergenhahüy 

Oberlandesgerichtsrat  a.  I>. 

Zweite,  oATeriaderte  Auflafr*-    U98.    Preis  gebuiden  M.  8,—. 

Das  Reiclisgesetz, 

betreffend  die 

Kommandit-Gesellschaften  auf  Aktien  und  die  Ütien-Geseüschaflen 

vom  18.  Juli  1884. 

Mit  einer  Einleitung  über  die  Entwickelung  des  Aktienrechts  und  die 

Ergebnisse  des  Gesetzes. 

Erläutert  Ton 

Th.  Hergrenbahn, 

Oberlandesgericbtsrat  a.  D. 

1891.    Freie  gebunden  M.  8,50. 


Alte  und  neue  Formen 


der 


Handelsgesellschaft. 

Vortrag  in  der  Juristischen  Gesellschaft  zu  Berlin 

gehalten  den  18.  März  1892 


▼on 


Dr.  li.  Goldschmidt, 

Geheimer  Justizrat  und  ordendicher  Professor  der  Recbtswissenscbaft 

an  der  Universität  Berlin. 

1892.    PreiiM.1,^. 


^Welche  Recht©  hat  die 


Minderheit  der  Aktionäre 

gegenüber  der  Gesellschaft? 

Von 

Dr.  Jur.  Jul.  Liubszynski« 

1898.    Freie  M.  1,50. 


Zu  beziehen  durch  aHe  Buchhandlungen  des  bi-  und  Auslandes,  sowie  direkt  vom  Veriage  (Abteilung  Sortiment)i 


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Das 

Kassen-  und  EtatsT;iresen 

bei  den 

prenssischen  Justizbehörden. 

Nebst  Bämtliohen  Formularen  und  Anhängen. 

Nach  dem  amtlichen  Text  der  bis  auf  die  Gegenwart  ergangenen  ministeriellen  VerfÜgangen 

erläutert  von 

C.  Kurtz, 

Amtsgerichtsrat,  aursichtfiihrender  Richter  nnd  Kassenkurator. 
SSweite,  umffearbtiUtB  und  t«c«enllleJk  erwtUerU  Auflage, 

IxiUalt: 


[.  Instruktion  für  die  Verwaltung  der  Kassen. 
IL  Instruktion  für  die  Verwaltung  der  Etatsfonds. 
IJL  Verwaltungszwangsverfahren. 


IV.  Gebühren  .und  Registerfuhrung  der  GerichtsvolUieher. 
V.  Revisionswesen. 
VI.  Kanzlei-Reglement. 


1894.    Kartonniert  K.  5,50. 


lieber  die  rechtliche  Natur 

der 

Grundstückszusammenlegung 

und  die 

Fortf&hmng  der  Grund-  und  Hypothekenbficher 

im  Falle  einer  Zusaixiinenlesazie  der  Ghrundatacke. 

Von 

Gustav  Diez, 

Amtsrichter  in  Pössneck. 

1893.    Preif  M.  1,50. 


Das 

Verfahren  in  Zwangsverwaltungssachen 

und  die 

Geschäftsführung  der  Verwalter. 

T^aoh    dem    Preiiissisolien    Oesetze    vom    13.    Juli    1883 

und 

dar  Allffemainea  VerAgnng  vom  7.  Hin  1892, 

betr.  die  Geschäftsführung  der  Verwalter  in  diesem  Verfahren  und  die  denselben  zu  gewährende  Vergütung, 
nebst  den  dazugehörigen  Formularen,  prakt.  Beispielen,  Prozent-  und  Gerichtskostentabellen  etc. 

zusammengestellt  und  mit  Anmerkungen  versehen 

für  Amtsrichter,   Gerichtsschreiber,   Gerichtsvollzieher,   Zwangsverwalter, 

Administrationsinspektoren,  beteiligte  Behörden  etc. 

von 

C.  Kurtz, 

Amtsgerichtsrat 

1892.    Kartonniert  M.  1,30. 


Die  Pfändung 

bei  Personen^  welche  Landwirtschaft  betreiben. 

Zugleich  ein  Beitrag  zur  allgemeinen  Lehre  von  den  Pfandungsbeschränkungen. 

Von 

E.  Burlage, 

Amtsrichter. 

1893.     Prell  X.  2,20 


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Widersetzong  gegen  die  Staatsgewalt 

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Theorie 


der 


Verbrechenskonkurrenz. 

Von 

Br.  Friedrleh  l¥aelienfeld, 

Privatdozent  an  der  UniTerait&t  Marburg. 
Preis  M.  8,  bei  postfireier  ZuBendung  M.  3,20. 


Die  Rechtsverfolgung 


im 


Internationalen  Verkehr. 

Darstellung 

der  Justisorgani«ation,  des  CivilproaeMrechts,  des  Konkursrechts,  der  Erbscbaftsregulierun^ 

und  der  Konsulargerichtsbarkeit 

in  den  europäischen  und  aussereuropäischen  Staaten. 

Unter  Mitwirknng  Ton  Beebtegelehrten  heranag^geben  von 

Dr.  Franz  I^eiike,  und  Dr.  !¥•  liOewenfeld, 

Landricbter  bei  dem  Königl.  Landgeriebt  I  in  Berlin.  Beobteanwalt  bei  dem  Königl.  Landgeriebt  1  in  Berlin 

nnd  Notar. 

Bisher  erschaeoAn  die  L  und  S.  lieferung  des  I.  Bandes.    Preis  je  M.  4,  bei  postfrcier  Zusendung  M.  4,80. 

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