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Full text of "Die Thiere in der indogermanischen Mythologie"

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Die  Thiere 


in  der 


indogermanischen  Mythologie 


von 


ingelo  De  Gabernatis, 

Professor  des  Ssnskrit  und  der  vergleichenden  Literatur  am  Institute  di  studii 

snperiori  e  di  perfezionamento  zu  Florenz. 


Aus  dem  Englischen  übersetzt 


von 


H.  Hartmann. 


Autorisirte,  mit  Verbesserungen  und  Zusätzen  versehene 

deutsche  Ausgabe. 


'^^V'^ 


-S 


Leipzig) 

Verlag  von  P.  W.  Qrunow. 
1874. 


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Inhalt. 


Erster  Thell. 

Die  Landtbiere. 

Kapitel  I.  Seite 

Die  Kuh  und  der  Stier 1 

§  1.  Die  Ruh  und  der  Stier  in  den  vedischen  Hymnen     ...        1 
§  2.  Die  Verehrung  des  Stiers  und  der  Kuh  in  Indien  und  die 

bezüglichen  brahmanischen  Legenden 32 

§  3.  Der  Stier  und  die  Ruh  in  der  iranischen  und  turanischon 

Sage 70 

§  4.  Der  Stier  und  die  Kuh  in  der  slawischen  Sage  .... 
§  5.  Der  Stier  und   die  Kuh   in   der  germano-skandinavischeir 

und  fränkisch-celtischen  Sage 172 

§  6.  Der  Stier  und  die  Kuh  in  der  griechischen  und  römischen 

Sage 2m 

Kapitel  II. 
Das  Pferd 2VU 

Kapitel  III. 
Der  Esel i?78 

• 

Kapitel  IV. 
Das  Schaf,  der  Widder  und  die  Ziege 312 

Kapitel  V. 
Das  Schwein,  der  wilde  Eber  und  der  Igel 339 

Kapitel  VI. 
Der  Hund 351 

Kapitel  VII. 
Die  Ratze,  das  Wiesel,  die  Maus,  der  Maulwurf,  die  Schnecke,  das 
Ichneumon 9  der  Skorpion,   die  Ameise,   die  Grille  und  dio  Heu- 
schrecke     371 

Kapitel  VIII. 
Der  Hase,  das  Kaninchen,  das  Hermelin  und  der  Biber ^^ 


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■ 


Vi 


Material  zu  CoDJekturen  Modificationen  erlitteu  haben  würden. 
Doch  die  Besorgniss^  die  immer  auf  dem  Gelehrten  lastet^  sein 
Leben  könne  ein  Ende  erreichen^  bevor  es  ihm  vergönnt  sei;  seinen 
letzten  nnd  natürlich  am  zärtlichsten  gehegten  Plan  auszuftlhren, 
nöthigte  mich,  anter  allen  Umständen  den  Fortschritt  meiner  Ar- 
beit zn  beschlennigen,  gleich  dem  Sohne  des  fabelhaften  Helden, 
der  nicht  von  Jahr  za  Jahr,  sondern  von  Tag  zu  Tag,  von  Stunde 
zu  Stunde  wuchs. 

Und  wenn  dieses  anspruchslose  Erzeugniss  eines  italienischen 
Talentes  und  seiner  Forschungen  möglicherweise  hier  und  da 
einen  erhellenden  Lichtstrahl  auf  ein  fast  noch  ganz  unerforschtes 
Gebiet  wirft,  wird  es  doch  auch  oft  genug  dem  Versuch  eines 
vorschnellen  Jünglings  gleich  scheinen  und  deutlich  eine  Früh- 
reife verrathen.  Es  war  freilich  fast  unmöglich,  sich  bei  der 
Neuheit  des  Unternehmens  von  einer  Verleitung  auf  unbekannte 
Abwege  gänzlich  freizuhalten  und  der  Versuchung  zu  widerstehen, 
zuweilen  eine  übereilte  Bemerkung  zu  machen;  doch  werde  ich 
durch  das  lebhafte  Vertrauen  getragen,  dass  das  Buch  seinem 
Leser  helfen  kann,  das  grosse  historische  Princip  zu  verstehen, 
welches  die  Entwickelung  der  Thiermythologie  beherrscht,  von 
ihrer  primären  Gestaltung  an  bis  auf  ihre  jüngste  Darstellung  in 
der  Sage,  und  zugleich  auch  in  einer  allen  Zweifeln  ein  Ende 
mischenden  Weise  darthun  wird,  wie  nothwendig  es  ist,  künftig- 
hin das,  was  in  engerem  Sinne  Mythologie  heisst,  mit  der  Er- 
forschung der  ganzen  ungeheuren  Masse  der  Volkssage,  der 
edirten  sowohl  wie  der  nicht  edirten,  die  sich  in  Gedichten,  Le- 
genden, Liedern,  Mährchen,  Sprichwörtern  und  abergläubischen 
Vorstellungen  erhalten  hat,  zu  einem  Studium  zu  verbinden. 

Es  ist  durchaus  nicht  wahr,  dass  die  alten  mythologischen 
Systeme  aufgehört  haben  zu  existiren;  sie  sind  nur  auseinander- 
gezogen und  umgebildet  worden.  Nomen  est  mutatum,  numen 
retentum.  Sein  Glanz  ist  vermindert,  weil  seine  Beziehung  auf 
den  Himmel  und  seine  himmlische  Bedeutung  verloren  gegangen 
ist,  weil  es  irdischer  geworden  ist ;  trotz  alledem  ist  seine  Lebens- 
fähigkeit noch  eine  enorme.  Man  möchte  fast  von  den  Göttern 
sagen,  wie  von  den  Reliquien  der  Heiligen  in  der  römisch-katho- 
lischen Kirche,  je  mehr  sie  getheilt  werden,  desto  mehr  verviel- 
fältigen sie  sich.  Immer  und  immer  noch  schmausen  sie  die  Am- 
brosia, die  ihnen  Unsterblichkeit  gab,  doch  nicht  im  Himmel 
allein;  denn  wie  sie  uns  ihre  Gaben  zu  Theil  werden  lassen,  so 
versorgen  wir  sie  tagtäglich  mit  dem  Brode  des  Lebens ;  und  diese 


vn 

irdische  Ambrosia;  diese  unsterbliche  Nahrung  der  Götter  ist  das 
OeheimnisS;  in  welches  die  Phantasie  sie  zu  hüllen  liebt;  von 
welchem  umwoben  sie  dem  Gemttth  des  Volkes  erhaben  und 
schrecklich  scheinen.  Nichts  klebt  fester  an  der  Erde^  keine 
.Wucherpflanze  kann  sich  weiter  ausbreiten,  als  ein  Aberglaube. 
Eine  wissenschaftliche  Wahrheit  erfordert  Jahre  und  bisweilen 
Jahrhunderte  des  Erweises,  um  in  allgemeine  Aufnahme  zu  kom- 
men, und  ihre  Verfechter  ziehen  es  leider!  nur  zu  häufig  vor, 
statt  das  Märtyxerthum  zu  leiden,  sich  der  verabscheuungswttr- 
digen  Parole  der  Papisten  zu  unterwerfen:  „Laudabiliter  se  sub- 
jeeit;"  doch  ein  Irrthum,  der  auf  einem  Gefllhl  des  Uebernattir- 
lichen  beruht,  bedarf  nicht  des  elektrischen  Drahtes,  um  von  Her- 
zen zu  Herzen  zu  zucken  und  in  der  leichtgläubigen  Welt  einen 
Wiederhall  zu  wecken,  während  die  schwere  Batterie  von  Ver- 
nunftgrttnden  eines  ganzen  Heeres  Rationalisten  nicht  genügen 
wird,  ihn  zu  vertreiben,  wo  er  sich  festgesetzt. 

Da  also  die  alten  Mythän  noch,  wenn  auch  nur  in  fragmen- 
tarischer Gestalt  existiren,  nämlich  in  den  Volkssagen  Europas, 
so  bieten  diese  Fragmente,  mit  einander  verknüpft,  ein  werthvolles 
Material  für  Vergleichung  mit  den  alten  Formen,  denen  der  Ge- 
nius der  Dichter  und  Künstler  eine  Färbung  gegeben  hat,  die  aber 
ohne  die  Hilfe  der  lebendigen  Sage  oft  nicht  leicht  z\\  erklären 
wären.  Der  alte  Mythus  giebt  uns  häufig  den  Keim  vieler  noch 
heut  umlaufenden  Sagen  und  ebenso  lösen  diese  das  Räthsel 
mehr  als  einer  alten  Personification  von  Himmelserscheinungen. 
Ihre  Beziehung  auf  einander  ist  eine  fast  unmittelbare  und  die 
Nachweisung  dieses  Umstandes  ist  gerade  das  Objekt  der  Wissen- 
schaft, zu  der  ich  hier  meinen  ersten  bescheidenen  Beitrag  liefere. 

Wie  in  der  Geschichte  der  indogermanischen  Sprachen  das 
Sanskrit  als  der  Ausgangspunkt  dient,  eine  Sprache,  welche  mehr 
als  irgend  eine  andere  ihren  Grundcharakter  bewahrt  hat,  so  sind 
es  in  der  verwickelten  Geschichte  der  Mythologie,  die  alten  ve- 
dischen  Texte,  und  besonders  der  Kigveda,  auf  welche  wir 
vor  Allem  als  auf  den  Mittelpunkt  zurückgehen  müssen,  von  wel- 
chem die  Mythologieen  anderer  indogermanischer  Völker  strahlen- 
förmig ausgehen.  Das  unzweifelhafte  Alter  dieser  literarischen 
Dokumente,  der  spontane  Charakter  ihrer  Lyrik,  ihre  Priorität  vor 
aller  epischen  und  dramatischen  Literatur,  in  welcher  die  Götter 
erst  in  sekundärer  Gestalt  auftreten,  d.  h.  in  Gesellschaft  irdischer 
Helden  und  überhaupt  der  Erde  näher  stehend  als  dem  Himmel; 
die  Möglichkeit,  dass  diese  Texte  uns   zahlreiche  Beispiele  des 


VUI 


leichten  Uebergtoges  you  Himtiielserscheiniingen  zu  dem  Bilde 
des  Gottes  liefern,  mit  einem  Wort^  die  Gleichzeitigkeit  von  Lied 
und  Schöpfung  des  Mythus,  zwingen  uns^  die  ersten  Begriffe 
indogermanischer  Mythologie  auf  dieslen  Blättern  der  Natürpodsie 
zu  suchen.  Wie  es  jedoch  unverantwortlich  wäre  zu  sagen ,  d4s 
Sanskrit  enthalte  in  sich  alle  indogermanischen  Sprachgestaltungen, 
so  dürfte  die  Behauptung  nicht  weniger  voreilig  sein^  dass  ib 
den  vedischen  Hymnen  unsere  ganze  Mythologie  gegeben  sei. 
Wir  suchen  in  ihnen  eben  einzig  und  allein  nach  alten  \aA 
anthentischien  Argumenten ,  um  nachweisen  zn  kOnnen ,  Wie  ge- 
wisse HaUptmythen  vor  der  Zerstreuung  der  Indogermanen  ge- 
stallet waren ;  ist  das  Gesetz  erwiesen,  nach  welchem  sich  di)ese 
entwickelt  haben,  so  wii'd  es  weiterhin  möglich  sein,  iuch  die 
Geschichte  derer  zu  reconstruiren ,  die  noch  bestehen,  indem  wfr 
uns  dabei  auf  die  Analogie  stützen  und  die  entsprechenden  Ma- 
terialien der  verschiedenen  Volksliteraturen  benutzen,  die  indische 
Literatur  selbst  mit  eingeschlossen,  Welche  der  vedischeki  anf  dem 
Pusse  folgte,  und  ib  welcher  wir  zuweilen  Sagen  und  mythische 
Vorstellungen  finden,  die  uns  in  Stand  setzen,  mehre  dunkle 
Stellen  der  Veden  aufzuklären  nnd  zu  ergänzen,  wie  sie  uns  auch 
nicht  selten  neue  Mythen  bieten,  deren  Spur  in  den  auf  uns  ge- 
kommenen vedischen  Hymnen  verloren  ist  Erwägehi  wir  die 
Daner  der  vedischen  Periode  nnd  die  territcAiale  Anftdehnnng, 
welche  die  Nationen,  die  die  vedischen  Hymnen  sangen,  zwei- 
tausend Jahre  lang,  Von  dem  Füsde  des  westlichen  Himalaya  bis 
an  die  Ufer  des  Ganges,  einnahmen,  so  können  ja  die  Hymnen, 
welche  wir  überkommen  haben  —  obwohl  ihre  Zahl  im  Bigvedä 
allein  mehr  als  tausend  beträgt  —  nicht  zahlreich  genannt  wer- 
den, vielmehr  haben  wir  Grund  zn  vermuthen,  dass  in  dem  Dun- 
kel des  grauen  Alterthums  und  in  diem  Wirrwarr  der  Wanderungen 
viele  andere  Ituf  ewig  verloren  gegangen  sein  mttssto.  Auch 
waren  ja  nicht  alle  Mythen  in  Liedform  gebracht-;  viele  wurden 
nur  in  d^  Familie  fortgeerbt  und  gesammelt :  daher  jene  geheimfe 
Wissenschaft,  die  sich  uns  theilweis  in  den  Exorcislnen  ntd  An- 
rufungen des  Athärvaveda  offenbart;  daher  jene  abergläubi- 
schen Vorstellungen,  die  sich  als  Familienbräuche  in  den  Gphya- 
sutras  findet;  daher  die  Fülle  von  Sägen,  die  als  Nachträge  in 
allen  Brähmanäs  enthalten  sind,  und  das  ungeheure  Material,  das 
in  den  Epen;  in  den  puranischen  Erzählungen  und  von  den  No- 
vellisten gesamäielt  ist  Dadurch  nun ,  dass  dieser  ganze  Relch- 
thum  an  mythisc(hen  Traditionen  in  die  indische  Literatur  über- 


IX     , 

gegangen  ist,  gewinnt  ditBUielbe  besondere  Wiehtigkeit  als  Mittel 
der  Vergleichnng ;  da  aber  trotz  dieser  Ueberflille  an  literariseben 
Dokumenten,  welche  sagenhafte  Stoffe  behandeln;  viele  Mythen 
gänzlich  ans  dem  Bewusstsein  und  dem  Gedächtniss  des  indischen 
Volkes  geschwunden  sind,  ohne  eine  literarische  Spnr  tn  hinter- 
lasset!; so  mtlssen  wir  bekennen^  dass  Indien,  obzwar  in  der  Oe- 
sehiehte  der  Mythologie,  wie  der  indogermanischen  Sprachent- 
wicklnng  das  an  Elementen  reichste  Oebiet,  und  darum  der 
schätzbare  Ausgangs-  und  Endpunkt  jeder  Vergleichnng^  dennoch 
nicht  als  der  einzige  concentrische  Typus  fttr  alle  Vergleichnng 
di^en  kann. 

In  manchen  Beziehungen  ist  die  griechische  Mythologie,  in 
anderen  die  slavische,  skandinavische  und  deutsche  weitaus  evi- 
denter, sie  entwickeln  das  mythische  Motiv  (das  Omndprincip), 
das  sie  mit  Indien  gemeinschaftlich  besitzen,  weit  ausfbbriicher ; 
in  einigen  Fällen  —  wie  schon  bezüglich  der  Sprachen  erwähnt 
wulrde  —  fehlt  das  indische  Element  im  Mjrtfaus  absolut,  wäh- 
rend das  europäische  eine  ausserordentliehe  Lebensfähigkeit  und 
Expansionskraft  entwickelt  Eb  genügt  hier,  zu  erwähnen,  dass 
sieh  in  Europa  ein  vollständiges  Epos  vom  Fuchs  ausbildete»  wäh- 
rend die  indische  Sage,  welche  lieber  bei  der  Schlauheit  der 
Schlange  vet^eHt,  jenem  Thiere  eine  untergeoithiete  Stelfaing 
anweist  Allerdings  kommt  hier  ttudi  die  zoologisehe  G^eosgräphi^ 
in  Betraeht,  um  die  augenfällige  Unterbrechung  in  der.  Reihe  der 
Vei^^hungen  sa  eitiären;,  indem  sie  zeigt,  wie  "es  unmöglich 
war ,  dass  in  den  indischen  Sagen  der  Fuebs,  ein  Thier,  das  in 
diesen  Gegenden  weit  weciiger  bekannt  ist,  der  vollkommenste 
Typus  weiblicher  Schlauheit  werden  sollte;  während  andrerseits 
aus  detiiselben  Grunde  d^r  Elq)hant,  der  Riesenafle,  die  Riesen- 
turteltaube,  die  eine  so  wichtige  Stelle  in  der  brahmaniiSichen 
Mjrtholegie  einnehmen,  kaum  in  den  mythischen  Legenden  Euro- 
pas einen  Platz  finden  konnten,  da  tue  in  diesen  weit  weniger 
bekannt  sind  und  darum  wen%er  geeignet  wären,  Trl^r  des 
lAten  oder  selbst  des  modificirten  mythischen  Bildes  zu  sein.  Doch 
obwohl  die  verschiedenen  Thiergestalten  hir  und  da  aus  geo- 
graphischen Ghünden  fttr  einander  eingetreten  sind,  ist  doch  diets 
mythische  Mo^v,  auf  welchem  «ie  basiren,  immer  und  überall 
dasselbe.  So  führten  die  verschiedenen  Gharakteranlagen ,  die 
verschiedenen  Bedürfiiisse  und  Tendenzen  iler  Völker,  aus  denen 
unsere  Race  "besteht,.  Umstände,  welche  Verschiedenheit  der  Wotm- 
süze  und  des  Klimas  bedin^^,   unter  Anderem  zu  dem  Resnl- 


tat,  dass  was  an  einem  Orte  geliebt  und  erwünscht  war^  an 
einem  anderen  gefürchtet  and  verabscheut  werden  musste^  und 
—  vice  versa;  dass  ein  Gegenstand  an  einem  Orte  eine  göttliche 
Oestalt  annehmen  musstC;  während  er  an  einem  anderen  als  dä- 
monisch betrachtet  wurde;  doch  die  gemeinsame  Basis  aller  die- 
ser verschiedenen  mythischen  Gestaltungen  ist  die  Beobachtung 
derselben  Himmelserscheinungen.  Ausserdem  wurde  ein  Mythus^ 
der  unter  einem  Volke  fast  vergessen  war,  von  einem  anderen, 
verwandten  in  lebhafter  Erinnerung  gewahrt,  und  immer  grösserer 
Fülle  des  Gedankens  und  Formvollendung  zugeführt  Diese  Ver- 
schiedenheit entsprang  theilweis  aus  dem  grösseren  oder  geringeren 
Eindruck,  welchen  die  Beobachtung  der  Himmelserscheinungen 
auf  das  Gemüth  hervorbrachfen,  theils  aus  den  verschiedenen 
(physischen,  socialen  und  anderen)  Lagen,  denen  sie,  in  Folge 
ihrer  Wohnsitze,  unterworfen  waren;  doch  können  wir  inmitten 
der  ungeheuren  Vermannigfaltigung  in  den  Formen,  die  jeder 
einzelne  Mythus  erlitt,  immer  ohne  viele  Schwierigkeit  die  Einheit 
ihres  Ursprungs  verfolgen  und  nachweisen. 

Indem  ich  daran  gehe,  in  drei  Büchern  die  Geschichte  der 
mythologischen  Thiere  zu  schreiben,  halte  ich  es  nicht  für  noth- 
wendig,  noch  besonders  das  ursprüngliche  Terrain  des  Mythus 
anzugeben;  denn  obwohl  das  erste  Buch  seinem  Titel  nach  die 
Landthiere,  das  zweite  die  Thiere  der  Luft,  das  dritte  die  Wasser- 
thiere  behandelt,  so  giebt  es  doch  nur  ein  einziges,  allgemeines 
Gebiet,  auf  welchem  alle  Thiere  der  uranfllnglichen  Mythologie 
erstehen,  und  nur  eine  grosse  Bühne,  auf  welcher  sie  ihre  respec- 
tiven  Bollen  abspielen.  Dies  Gebiet  ist  immer  der  Himmel,  wäh- 
rend die  Zeit,  innerhalb  deren  die  mythische  Aktion  vor  sich  geht, 
vielen  Variationen  unterworfen  ist  —  bald  ist  es  der  Tag  von 
zwölf,  bald  der  von  vierundzwanzig  Stunden,  bald  sind  es  die 
drei  Nachtwachen;  einmal  ist  es  der  Mondmonat  von  siebenund- 
zwanzig Tagen,  ein  ander  Mal  der  Sonnenmonat  von  dreissig; 
bisweilen  das  Jahr  von  zwölf  Sonnenmonaten,  und  dann  wieder 
das  von  dreizehn  Mondmonaten.  Das  mythologische  Drama  spielt 
sich  im  Himmel  ab;  doch  der  Himmel  ist  entweder  hell  oder  er 
ist  finster;  erhellt  kann  er  sein  von  der  Sonne  oder  dem  Monde, 
verdunkelt  durch  die  Finsterniss  der  Nacht  oder  durch  die  Ver- 
dichtung seiner  Dämpfe  zu  Wolken.  Weiter:  der  klare  Himmel 
nimmt  zuweilen  die  Gestalt  eines  Milchsees  an;  diese  milchige 
Gestaltung  lässt  die  Vorstellung  von  einer  Kuh  entstehen,  und 
daher  werden  die  glänzendsten  Gestaltungen  des  Himmels  oft  als' 


XI 


Herden  dargestellt.  Der  Oott,  der  den  Regen  faOen  lässt,  der 
ans  dem  höchsten  Bimmel  die  Erde  befruchtet^  erscheint  bald  als 
Widder^  bald  als  Stier;  der  Blitz,  der  wie  ein  beschwingter  Pfeil 
daherfliegt,  wird  bald  als  ein  Vogel,  bald  als  ein  geflügeltes  Ross 
dargestellt;  und  so  nehmen  all  die  beweglichen  üimmelser- 
scheinungen,  eine  nach  der  andern,  die  Gestalten  von  Thieren  an, 
indem  sie  schliesslich  bald  der  Held  selbst,  bald  das  Thier  wer- 
den, welches  dem  Helden  dienstbar  ist,  und  ohne  welches  er  nicht 
die  geringste  übernatürliche  Kraft  besitzen  würde.  In  einer 
buddhistischen  Legende  befindet  sich  eine  Stanze,  welche  sagt: 
„Auch  die  Thiere  erinnern  sich  an  früher  geleistete  Dienste  und 
veriassen  nicht,  wenn  man  sie  drum  bittet,  ja  die  Thiere  wissen, 
was  geschehen  ist/''  Andrerseits  nahm  der  bewölkte  oder  der 
düstere  Himmel  in  den  Mythen  die  Gestalt  bald  einer  Höhle  oder 
Grube,  bald  eines  Stalles,  bald  eines  Baumes,  eines  Waldes,  eines 
Felsens,  eines  Berges,  eines  Oceans  an ;  und  die  sprachliche  Ana- 
lyse zeigt  wie  natürlich  solche  Doppelbedeutungen  sind;  hatten 
diese  einmal  Wurzel  geschlagen,  so  war  nichts  natürlicher,  als 
dass  die  Höhle  mit  Wölfen ,  der  Stall  mit  Schafen ,  Kühen  und 
Pferden,  der  Baum  mit  Vögeln,  der  Wald  mit  Bothwild  und  wil- 
den Ebern,  der  Felsen  mit  Drachen,  die  über  Quellen  und  Schätze 
Wache  halten,  der  Berg  mit  Schlangen,  der  Ocean  mit  Fischen 
und  Meerungeheuem  bevölkert  wurde.  In  einer  Stanze  eines  ve- 
disehen  Hymnus  an  die  Götter  Indra  und  Agni,  einer  höchst 
kunstvollen  und  eleganten  Composition,  singt  der  Dichter,  wie 
die  beiden  Götter  nebeneinander  um  einen  gemeinsamen  Sieg 
fochten,  dessen  Preis  die  verschiedenen  Namen:  Kühe,  Wasser, 
Länder,  Licht,  Dämmerungen  fährt.  ^  Der  vedische  Dichter  giebt 
uns  in  dieser  einzigen  Stanze  ein  ganzes  mythiscnes  Drama! 

Die  Volkssage  Indiens,  selbst  die  jüngste,  hat  das  Verständ- 
niss  des  geheimen  Sinnes  des  Mythus  bewahrt,  den  zu  erfassen 
gelehrte  Inder  vielleicht  unfähig  gewesen  wären.  Im  letzten 
Buche  des  R&mäyaQa,.in  welchem  viele  Volkslegenden  zusam- 
mengestellt sind,  die  sich  auf  den  als  Roma  inkamirten  Vishnu 
beziehen,  nimmt  das  Ungeheuer  Rdva^a  dieselbe  Mannigfaltigkeit 
der  Gestaltungen  an,  wie  der  dunkle  Himmel  der  Veden,  ausge- 
nommen die  des  Tigers,  welche  die  vedischen  Texte  noch  nicht 
ausdrücklich  erwähnen,  welche  jedoch  höchst  wahrscheinlich  im- 


'  Spiegel,  Anecdota  Pälica  1,  Rasavähini  p.  61  (Leipzig  1845). 
»  Rigv.  VI,  eo,  2. 


X« 

plicite  in  delki  häafig  vorkommendeo  Epitheton :  wildes  Thier 
(mriga)  liegt;  mit  welchem  sie  das  dämonische.  Ungeheuer  bezeich- 
nen. Das  Rämäyana  sagt,  ^  dass  das  Ungeheaer  mit  zehn  Ge- 
sichtern in  den  Gestalten  eines  Tigers^  eines  wilden  Ebers,  einer 
Wolke,  eines  i^ergeis^,  eines  SeeS;  eines  Baumes ,  und  in  seiner 
eigentlichen  dämonischen  Gestalt  gesehen  wurde.  An  einer  an- 
dern Stelle^  wird  uns  erzählt,  wie  bei  dem  Auftreten  Bava^as 
die  bestürzten  Götter  sich  in  Thiere  verwandeln  —  Indrä  wird 
ein  Pfau,  Yama  eine  Krähe,  Knvera  ein  Chamäieon;  Vamna  ein 
Schwan  —  und  so  der  Wuth  des  Feindes  entrinnen.  Wir  werden 
sehen,  dass  jede  dieser  Verwandlungen  nichts  weniger  als  eine 
zirfäUige  Laune,  sondern  den  verschiedenen  Göttern  natürlich  und 
fast  nothwendig  war,  so  dass  wir  in  dieser  grossen  mythischen 
Scene  in  Wirklichkeit  nur  das  Phantasiebüd  eines  grossartigen 
Sonnenunterganges  haben.  Das  Thier  ist  der  Schatten,  welcher 
dem  Helden  folgt:  es  ist  seine  äussere  Erscheinungsform;  es  ist 
sein  Schutz.  Als  Räma  sich  auf  den  Weg  nach  dem  Himmel 
macht,  folgen  ihm  die  Bären,  die  Affen  und  alle  anderen  Thiere, 
die  unter  seiner  Botmlssigkeit  stehen ; '  als  Räma  in  den  heiligen 
Wollen  der  Sarayü  seine  göttliche  Vishnu  -  Gestalt  wieder  an- 
nimmt, erJialten  auch  die  Leiber  der  Thiere  in  jenen  Wassern 
göttliche,  herrHche  Formen.^  In  4nehren  slavisehen  Volksmäbr- 
efaen  —  besonders  russkchen  —  ist  nicht  sobald  der  Held  von 
den  Thteren,  welche  die  Baubthiere  jagen,  von  seiner  Meute 
(atiöta)  getrennt,  als  der  Zauber  gebrochen  ist  und  er  'dem  Unge- 
heuer leicht  zmsa  Opfer  fäUt.  Das  Thier  wird  mit  dem  Helden 
in  solcher  Weise  identificirt,  dass  man  oft  sagen  kann,  es  sei  der 
Held  selbst;  und  die  Volksmährchen  der  Slanren,  welche  mehr  ab 
andere  den  Charakter  primitiver  Einfachheit  bewahrt  haben, 
dürften  in  Ermangelang  eines  Heldengedichtes  auf  diese  Weise 
die  Materialien  für  ein  ganzes  Thi^repos  suppliren. 

Kein  Wunder  also,  dass  ich  nächst  den  indischen  den  sla- 
visehen Sagen  den  Haup^latz  zuwies:  die  Sprache,  die  Phan- 
tasie, der  Glaube,  die  ganze  Lebensweise  des  slavisehen  Bauern 
sind  noch  ursprünglich  und  patriarchalisch;  man  möchte  fast 
schwören,  sie  hätten  die  dreitausend  Jahre  hindurch  keine  Ver- 


»  Rämäy.  VII,  15. 
»  Rämäy.  VII,  18. 
»  Hamfty.  Vll,  114. 
*  Ramäy.  VII,  115. 


Kin 

änderong  erlitten.  Ich  weiss  nicht,  ob  es  immer  so  bleiben  wird, 
angesichts  nnd  trotz  der  Invasion  der  westlichen  Civilisation  anf 
slavischem  Boden ;  doch  die  Nation  ist  jedenfalls  eine  der  zähe- 
«ten  nnter  den  bestehenden;  welche  bis  zu  dieser  Stande  ihre 
ganze  ursprüngliche  Herbheit  und  frühe  poetische  Natur  bewahrt, 
und  zwar  sogar ,  während  sie  im  Begriff  steht^  sich  fremde  Ele- 
mente  anzueignen.  Die  Verbindung;  in  welche  die  Slaven,  nuf 
BOthgedmngeB;  mit  tatarischen  Stämmen  traten ;  störte  in  keiner 
Weise  die  Einfbmiigkeit  ihrer  ursprünglichen  Sitten^  noch  alterirte 
sie  ihre  alten  abergläubischen  Vorstellnngaii.  Höchstens  nannte 
der  slavische  Bauer  die  schwarzen  Ungeheuer;  deren  Kämpfe  mit 
den  Helden  in  den  bei  den  Slaven  besonders  beliebten  Mährchen 
ein  Hauptelement  bilden,  Tataren  oder  Türken;  wie  ja  auch  in 
den  epischen  Gedichten  der  Perser  die  Türken  die  Personifica- 
tionen  der  bösen  Geister  sind;  und  die  Saracenen  oder  Türken 
(die  oft  mit  einander  verwechselt  werden)  in  französischen  Ge- 
dichten des  Mittelalters  und  den  Volkmnäbrchen  Griechenlands; 
Ne^)ek  und  Spaniens  die  Rolle  der  schwarzen  Dämonen  spielen. 
Von  demselben  eiferaüchtigen  Bacengeist  getrieben;  verwandelt 
nicht  selten  die  Volksliteratur  der  Türken  und  Tataren  die  Götter 
und  Helden  der  Arier  in  böse  Geister  und  schreckliche  Ge^ 
spenster;  in  ganz  ähnlicher  Weise  brachte  während  der  brabma- 
nischen  Periode  der  Kastenbass  die  Schwarzen  (krishnas);  die 
Feinde  Indras  (des  Eriegsgottes  der  vediscfaen  Periode)  zu  hohen 
Wtrden  und  bekleidete  sie  mit  den  Attributen  von  Gottheiten; 
ja;  in  dieser  Zeit  wurde  der  Typus  derselben;  Krishna  selbst;  im 
Gegensatz  zu  indra  ein  hochgeehrter  Gott;  während  diteser  jetzt 
geächtet  und  (ris  ein  Dämon  verfolgt  ward.  Auch  der  sog^aonte 
cbri0ltiehe  —  toi  Grunde  heidnische  —  Glaube  hat  sdne  <schwar- 
zen  und  -rothen  Teufel ;  die  schwarzen  tragen,  im  ftegensatz  zu 
den  rothen ;  biswdlen  den  Namen  und  gemessen  die  Ehren  der 
Göttlichkeit.  Doch  ward  gew^hnlil^her  d^  liothe  Teufel  als  dn 
Gott;  der  schwarze  als  ein  Däaton  dargeetelk;  und  der  sebwarze 
ManU;  der  Türke,  der  Tatar;  der  Sägenner  dw  russischen  Volks- 
mährcheu;  der  Kohlenbrenner;  der  Bomagnuolo  (d.  h.  der  fiolz- 
haner)  und  der  Saracene  italienischer  L^enden  sind  lauter  Va- 
riationen des  Kpsh^a  oder  4ee  schwaraen  Ungeheuers  aus  dem 
grauen  AhertbniB  der  Veden. 

Es  kann  als  due  unmnstössliche  oind  unbestreitbare  Tbatsache 
faingesteOt  «werden;  dass  die  Einfälle  ^r  Tatars  in  Mitteleuropa 
gegen  Ende  des  Bfittelulters  die  «slavische  Sage  tuicht  nurnicht-alte- 


tlV 


rirten ,  sondern  sie  vielmehr  wieder  frißch  belebten ;  nnd  der  Ta- 
tar, welcher  selbst  ein  grosser  Hährchenerzähler  war,  vermehrte 
noch  den  Geschmack  des  slavischen  Banem  am  Mährchen,  brachte 
anch  keine  Veränderung  in  den  Hährchen  desselben,  geschweige 
denn  in  dem  Charakter  des  Volkes,  dem  diese  angehörten,  her- 
vor. Ausserdem  unterscheiden  sich  die  Volksmährchen  der  Ta- 
laren nicht  so  tiefgreifend  von  denen  der  Indogermanen,  dass  sie 
denselben  Etwas  wie  nenes  Blnt  einflössen  oder  in  irgend  einer 
Weise  ihre  Wesenheit,  ihre  eigentlichste  Natur  afficiren  konnten; 
im  Oegentheil,  die  tatarischen  Mährchen  sind  ja  selbst  arisch, 
oder  doch  wenigstens  indisch,  ausgenommen  geringe  Modifica- 
tionen  in  unbedeutenden  Einzelheiten,  wie  dieselben  durch  den 
tatarischen  Charakter  bedingt  sind. 

Nach  den  ausgezeichneten  Arbeiten  deutscher  Gelehrten, 
welche  in  einem  halben  Jahrhundert  durch  die  Veröffentlichung 
ihrer  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  skandinavischen  und  der 
deutschen  Sage  schon  eine  vollständige  Literatur  über  diesen 
Gegenstand  geschaffen  haben,  ist  esunnöthig,  über  die  hohe 
Wichtigkeit  der  Sagenbildung  bei  diesen  Völkern  viele  Worte  zu 
machen.  Die  Mythen,  die  Legenden,  die  Ammenmährchen ,  die 
Lieder,  Sprichwörter  und  Volksbräuche  der  skandinavo-germa- 
nischen  Race  haben  ein  ganzes  Heer  gewissenhafter  Beobachter 
und  liebevoller  Erklärer  gefunden,  welche  kaum  einen  Fuss  breit 
dieses  weiten  und  interessanten  Sagengebietes  unerforscht  liessen. 

Doch  giebt  es  einen  ganzen  Schacht  mythischer  Schätze,  der, 
wegen  unserer  eigenen  Sorglosigkeit,  bisher  ganz  unbearbeitet 
geblieben  ist:  es  ist  dies  der  Sagenschatz,  der,  in  beträchtlicher 
Tiefe  und  von  grossem  Umfange,  noch  aus  dem  dassischen  Bo- 
den Italiens  auszugraben  ist  Erst  während  der  letzten  wenigen 
Jahre  haben  ein,  zwei  Forscher  die  Existenz  dieses  Schatzes  be. 
merkt  und  Notiz  davon  genommen;  meine  Sorge  soll  es  deshalb 
sein,  bei  diesen  vergleichenden  Studien  den  Leser,  so  weit  als 
möglich,  auf  ein  Weniges  von  dem  unbekannten  und  ungeschrie- 
benen Theile  unserer  Volkssage  aufmerksam  zu  machen.  Das 
Resultat  meiner  Untersuchungen  wird  vielleicht  den  Beweis  lie* 
fem,  dass  trotz  des  Glanzes  unserer  christlichen  Kunst  und  des 
Rufes  unserer  Cirilisation  die  Basis  des  italienischen  Glaubens 
bis  jetzt  heidnisch  geblieben  ist,  so  dass  diejenigen  unter  unseren 
Hausfrauen,  welche  am  eifrigsten  in  der  Aufmerksamkeit  auf  die 
grossen  kirchlichen  Spektakel  und  in  der  Beobachtung  des  Ri* 
tuals  sind,  im  Grunde  die  eiferstlchtigsten  Wächterinnen  teuf- 


XV 

lischer  abergläubischer  VorsteUnngen  nnd  heidnischer  Fabeln  sind. 
Allerdings  herrscht  im  Toscanischen  eine  Tendenz^  die  alten  Ge- 
schichten mit  den  lasciven  Scherzen  Boccaccios  aufzuputzen  und, 
wie  es  die  Gewohnheit  dieses  Schriftstellers  war,  die  alten  Sagen 
auf  modernen  Scenen  spielen  zu  lassen,  sie  in  moderne  Garni- 
turen zu  stecken,  und  ihre  Handlung  von  modernen  Charakteren 
ausfuhren  zu  lassen ;  doch  ist  diese  Tendenz  nur  ein  paar  Erzäh- 
lern eigen,  ändert  auch  keineswegs  die  Basis  des  alten  und  all- 
gemeinen Mährchens,  sondern  lässt  sie  intakt.  Wenn  also  in 
Italien  trotz  der  skeptischen  Civilisation  der  Römer,  trotz  unanf- 
hörli(dien  Eindringens  Fremder,  trotz  des  Alpes,  der  in  Gestalt 
der  römisch-katholischen  Kirche  auf  ihm  lastete,  ein  so  grosser 
Theil  alter  Sagen  bewahrt  worden  ist,  und  zwar  lebenskräftig  be- 
wahrt worden  ist,  so  ist  es  unmöglich,  den  exceptionellen  Charakter 
dieser  Sage  zu  verkennen:  ihren  Charakter  als  den  einer  Gabe  un- 
seres Blutes  und  als  der  Race  eigen,  von  der  wir  abstammen,  mit 
der  wir  durch  die  lebendige  Erinnerung  an  Worte  verkettet  sind, 
welche  lebendige  Bilder  geworden  sind,  und  an  Bilder,  welche 
epische  Gestalten  und  abergläubische  Vorstellungen  geworden  sind. 
Unter  diesen  Bildern  oder  Figuren  sind  die  von  Thieren, 
unter  diesen  Glaubensvorstellungen  sind  die,  welche  sich  auf 
Thiere  beziehen,  die  lebendigsten  und  dauerndsten.  Die  materiell- 
sten und  sinnlichsten  Gestalten  der  primitiven  Mythologie  sind 
unter  uns  fast  intakt  bewahrt ;  der  Arier  ist  gegen  die  Himmels- 
erscheinungen gleichgiltig  geworden  und  hat  seine  ganze  Auf- 
merksamkeit der  Erde  zugewandt,  die  er  mit  denselben  Gott- 
heiten bevölkert ,  die  er  Mher  im  Himmel  verehrte.  Wie  er  es 
genflgend  findet,  vor  den  Idolen  niederzuknien,  welche  den  Gott 
darsteUen,  der  auf  die  Erde  gekommen  ist,  so  verleiht  er  den 
Thieren  der  Erde  dieselben  magischen  Eigenschaften,  die  er  einst 
den  Thieren  des  Himmels  zuschrieb;  trotz  alledem  kann  er  jedoch 
zuweilen  nicht  umhin,  die  Existenz  zweier  verschiedener  Personen 
in  einem  Thiere  zu  erkennen  — -  die  wirkliche  und  bleibende,  die 
er  aus  der  Erfahrung  kennt,  und  die  erdichtete  und  ttberlieferte, 
von  der  seine  Ahnen  ihm  erzählt  haben.  Dieser  erdichtete  Cha- 
rakter des  überlieferten  Glaubens  würde  von  dem  unwissenden 
gemeinen  Volke  leicht  erkannt  werden,  wenn  es  nur  darauf 
achten  wollte,  wie  dieselben  Eigenschaften  und  Kräfte  oft  Thieren 
der  verschiedensten  Art  beigelegt,  und  wie  dieselben  Heilkräfte 
unnnterschiedlich  für  in  einer  unb^enzten  Anzahl  von  Thieren 
existirend  gehalten  werden.    Die  unendlichen  Widersprüche,  welche 


w 


in  dem  System^  das  sich  das  Volk  yod  der  animalischen  Medicin 
zurechtgelegt  hat;  enthalten  sind^  können  nar  einzig  und  allein 
dadurch  erklärt  werden^  dass  man  sie  auf  die  äusserst  yeränder- 
liche  himmüsohe  Zoologie  zurttckfUhrt^  wo  die  Metamorphosen  der 
Tfaiere  fast  beständig  auf  einander  folgen,  und  wo  wir  mit  Blitzes- 
schnelle z.  B.  von  dem  Bilde  des  Pferdes  auf  das  des  Vogels, 
von  dem  Bilde  des  Wolfes  auf  das  der  Schlange  ttbergeheu;  nach 
fast  unmittelbaren  physischen  und  moralischen  Analogien ;  die 
nur  auf  einen  kleinen  Theil  der  €tewofanheiten  oder  des  Baues 
der  Thiere  y  die  sich  in  der  Mytiidogie  finden ;  anwendbar  sind, 
wddie  aber  genttgen,  eine  neue  Spidart  des  Mythus  und  ver- 
sefaied^ne  Qlaubensmeinungen  zu  bilden;  während  sicherlich  keine 
einzige  Anak^e  hinreichen  wttrde,  um  einen  classificirenden 
Naturforscher  zu  yeranlassen ,  Thiere  von  verschiedener  Organi- 
sation; auch  bei  einigen  zu£Uligen  Aehnlicbkeiten ;  in  diesdbe 
KlassC;  oder  auch  nur  dieselbe  Ordnung  zu  verweisen. 

Dem  vedischen  Dichter  ist  es  genug;  zu  wissen,  dass  das 
Pferd  (afva)  eigentlich  ;;der  Schnelle^  bedeutet;  um  es,  in  den 
Himmel  versetzt,  die  Gestalt  eines  nchOngeflfigelten  (suparna); 
eines  Vogels,  eines  Falken  (Qyena)  annehmen  zu  lassen.  Dem 
vedisdien  Dioliter  weckt  die  Vorstellung  eines  reissenden  Wolfes 
(^ka);  eines  falschen;  gehässigen  DdebeS;  der  Beute  davonträgt 
und  in  seine  dunkle  Höhle  schleppt;  nebst  verschiedenen  andren 
poetischen  Bildern  das  einer  Schlange  (ahi),  falsch;  dunkel,  ge- 
frässig  und  gierig.  Doch  was  in  der  Fiiaotasie  4er  Dichter  na- 
türlich ist;  kann  vor  der  Realität  der  Dinge  und  vor  der  Matur- 
wissenschaft nicht  Stand  halten;  so  wurde,  was  in  der  vedischen 
Poesie  ein  glückliches  Bild  ist;  in  unserm  Volksglauben  ein  Vor- 
urtheä;  «in  Aberglaube;  ein  verhängnissvoHer  Irrthum. 

Bevor  jedoch  solche  Vorurtheile  so  allgemein  und  tief  dem 
Oemüth  des  Volkes  eingepflanzt  werden  konnten;  musste  der  erste 
Eindruck,  der  von  den  Mythen  hervorgebracht  wurde,  ein  ausser- 
ordentlich -lebendiger  gewesen  sein.  Wir  finden  noch  sporadische 
Zttge  eines  solchen  fiindruckes  in  mandien  Scbäfeifamilien;  doch 
um  dieselben  recht  isu  verstebn,  kenne  ich  keine  bessere  Methode, 
als  «in  gewecktes  Kind  in  das  FreiC;  unter  das  ffimmelsgewölbe 
zu  führen  und  mit  ihm  einen  schönen  Sonnenuntergang  oder  das 
erste  Grauen  des  Tages  zu  beobachten.  Die  Kinder  von  Heute 
werden  die  Erfahrungen  der  Alten  —  d.  h.  tmserer  Ahnen  in  der 
Jugend  d^  Menschheit  —  wiederholen;  und  werden  uns  in  »Stand 
setzen,  gewisse  Täuschungen;  die  dem  Verstände,  ja  sogar  der 


xvn 

Phantasie  des  gelehrten  und  skeptischen  modernen  Menschen  nn- 
mi^glich  scheinen^  zu  verstehn.  Ich  för  mein  Theii,  um  noch  völ- 
liger die  Einfachheit  unserer  Ahnen  zu  realisiren^  muss  erwähnen, 
dass  ich  einen  der  lebhaftesten  Eindrücke  ^  die  jemals  auf  mich 
gemacht  wurden ,  empfing;  als  ich,  ein  kaum  vierjähriges  Kind, 
in  den  Himmel  sah.  Meine  Familie  lebte  in  einer  abgelegenen 
Gegend  des  Piemontesischen ;  die  Landschaft,  in  der  wir  wohnten, 
war  mit  Heidekraut  bedeckt  und  hatte  grosse  Aehnlichkeit  mit 
einer  russischen  Steppe;  an  einem  Herbstabend ^  die  Nacht  zog 
schon  heran,  zeigte  mir  einer  meiner  älteren  Brtlder  fiber  einem 
fernen  Berge  eine  schwarze  Wolke  von  einer  h(5chst  sonderbaren 
Gestalt,  mit  den  Worten:  „Schau'  mal  da!  das  ist  ein  hungriger 
Wolf,  der  hinter  den  Schafen  herrennt/'  Ich  weiss  nicht,  ob 
mein  Bruder  damals  nur  wiederholte,  was  er  von  den  Dorfbe- 
wohnern gehört  hatte,  oder  ob  sich  diese  himmlische  Scene  in 
seiner  eigenen  Phantasie  gebildet  hatte;  doch  ich  erinnere  mich 
sehr  wohl,  dass  er  mich  so  vollständig  von  der  Existenz  dieses 
Schafe  jagenden  Wolfes  überzeugte,  dass  ich,  in  der  Besorgniss, 
er  könne  in  Ermangelung  der  Schafe  mich  packen,  sofort  Fersen- 
geld zahlte  und  ins  Haus  stürzte.  Der  gütige  Leser  wird  diese 
persönliche  Bemerkung  verzeihen.  Ich  mache  dieselbe  nur,  um 
zu  erklären,  wie  die  Gläubigkeit,  die  wir  immer  bei  Kindern 
finden,  uns  einen  Begriff  von  der  Gläubigkeit  der  Nationen  in 
ihrer  Kindheit  geben  kann.  Als  der  Glaube  rein  war,  als 
Wissenschaft  noch  nicht  existirte,  müssen  solche  Illusionen  be- 
ständig Begeisterung  oder  Furcht  in  der  Brust  unserer  gemüth- 
vollen  Ahnen  erweckt  haben,  welche  mit  ihren  Viehherden  in  der 
freien  Luft  lebten  und  mit  Erde  und  Hinmiel  in  beständigem 
Verhältniss,  in  fortwährender  Gemeinschaft  standen.  Wir  ge- 
schäftigen Städtebewohner,  von  tausend  socialen  Fesseln  ge- 
bunden, von  tausend  Sorgen  des  öffentlichen  und  privaten  Lebens 
gedrückt,  geniessen  nie  das  reine  Glück,  unsere  Augen  zum  Him- 
mel zu  eiiieben^  es  sei  denn,  um  zu  sehen,  was  für  Wetter  wer- 
doQ  wird;  das  ist  freilich  nicht  genug,  um  uns  zum  Verständniss 
des  grossen  und  verwickelten  Epos,  das  sich  am  Himmel  abspielt 
zo  befähigen. 

Indem  ich  die  dnzelnen  Biographien  der  mythologischen 
Thi^re  beginne,  rufe  ich  nur  eine,  allerdings  ungewohnte  Muse 
an,  mir  beizustehen  und  mich  zu  inspiriren  —  die  heilige  Offen- 
heit der  Kindheit;  ich  werde  wieder  zu  meiner  Amme  gehen  und 
sie   um    Uäbrohen    bitten;    ich    werde   wieder    anfangen,    von 

B 


XVUI 

gefltigelteii  Rennern ,  von  spreehenden  V5geln,  von  spinnenden 
Ktthen  zu  träumen;  ich  werde  Alles  für  möglieb  und  natürlich 
halten:  dann  werde  ich  in  das  Freie  hinausgehn^  um  von  N^em 
den  Himmel  zu  beobachten ;  ich  werde  meine  kleine  Cordella  und 
ihre  Gespielinnen  mit  mir  nehmen^  und  sie  in  ihrer  eigenen  Weise 
die  mannigfaltigen  und  wechselnden  Erscheinungen  des  Himmels 
erklären  lassen.  Habe  ich  so  meine  erste  Eingebung  yon  der 
jungfräulichen  Kindheit  erhalten,  so  werde  ich  in  meinem  Innern 
ihre  Unschlild  um  Verzeihung  bitten,  wenn  in  das  Paradies  ihrer 
Träume  die  unreine  Bosheit  des  Satans  dringt;  und  wenn 
ich,  nachdem  ich  mich  von  ihren  poetischen  und  edlen  Ein- 
drücken und  ihren  idealen  Vorstellungen  habe  erftlllen  lassen, 
genöthigt  bin,  zurückzukehren  und  unter  das  Vieh  hinabzusteigen, 
um  seine  sinnlichen  Instinkte  herauszusuchen,  um  in  dem  Staube 
unsere  geliebten  Gottheiten  vermummt  oder  gefallen  wiederzu- 
finden, dann  müssen  meine  Kleinen  weit  von  mir  fortgehen; 
meine  Worte,  unvermeidlich  kühn,  würden  Gift  für  ihr  Herz  sein ; 
oder  aber  ich  würde  sie  bitten,  sich  in  das  Heiligthum  ihrer  glück- 
lichen Unschuld  zu  flüchten;  ich  wtlrde  nur  das  eine  Wort  zu 
ihnen  sagen  —  Mysterium! 

Florenz,  September  1872. 

Angelo  De  GubematiB. 


Vorwort  des  Verfassers  zu  der  deutschen  RearbeituDg. 


Als  ich  die  Feder  ergriff,  um  die  erste  Seite  meiner  Mytho- 
logischen Zoologie,  wie  ich  selbst  sie  betitelte,  oder  Zoo- 
logischen Mytholgie  (Zoological  Mythology),  wie  sie  mein 
verehrter  englischer  Verleger  zu  betiteln  vorschlug,  zu  schreiben, 
erwartete  ich  nichts  weniger,  als  mein  Buch  in  die  Sprache  über- 
setzt zu  sehen,  welche  ftir  künftige  2^iten  die  privilegirte  Ge- 
lehrtensprache geworden  ist.  Wenn  Italien  meine  Mutter  gewesen 
ist,  80  betrachte  ich  Deutschland  als  meine  beste  Amme.  Jeder 
Mensch  hat,  wie  der  Held  der  Sage,  in  seinem  Leben  gute  Feen, 
die  ihn  beschützen.  Auch  ich  traf  auf  meinem  beschwerlichen 
und  oft  unwegsamen  Pfade  durch's  Leben  solche  Feen ,  die  mir 


XIX 

in  dem  dnnklen  Walde  von  Ferae  ein  kleines  Lieht  zeigten^  das 
sieh  yergrösserte,  je  näher  leb  kam,  die  meinen  Math  vor  dem 
Sinken  bewahrt  haben.  Eine  dieser  Wunderbaren  Beschützerinnen 
war  mir  Deutschland.  Sobald  ich  seine  Sprache  verstand^  befand 
ich  mich  in  einer  neuen  Welt;  voll  poetischer  Reize ;  grossartig, 
glänzend.  Es  zog  zuerst  meinen  wissbegierigen  Geist  durch  den 
Reiz  seiner  Volkslieder  und  Volkssagen  an;  es  Hess  mich,  zu 
meiner  grossen  Ueberraschung,  die  Iliade  in  den  Nibelungen 
wiederfinden,  in  viel  höherem  Masse  als  in  den  lateinischen  und 
italienischen  Epen,  welche  Nachahmungen  jener  sein  wollten;  es 
flösste  mir  eine  noch  grössere  Liebe^  eine  noch  grössere  Begeiste- 
ning  für  das  Ideale  durch  jene  wunderbaren  Gestalten  ein,  welche 
seine  Dichter  in  ihren  Werken  geschaffen.  An  dem  Tage,  an 
welchem  mein  Schicksal  mir  erlaubte,  seine  wissenschaftliche 
Gastfreundschaft  zn  gemessen,  fühlte  ich  meine  Kräfte  sich  ver- 
doppeln; meine  geistigen  Fähigkeiten  entwickelten  sich  erst  jetzt, 
nachdem  sie  den  sicheren  Führer  gefunden  hatten ,  der  ihre  wil- 
den Bewegungen  und  Bestrebungen  leitete. 

Das  Gute,  was  der  Leser  in  diesem  Buche  wird  finden 
können,  welches  ich  Dank  der  wohlwollenden  Empfehlung  des 
berühmten  Gelehrten,  Hrn.  Geh.  Hofrath  Prof.  Dr.  Fleischer,  den 
Bemühungen  des  Hra.  Hartmann  und  dem  Vertrauen .  eines  ge- 
schätzten Verlegers  dem  deutschen  Publikum  vorzulegen  die  Ehre 
habe,  muss  als  das  Erzeugniss  eines  Geistes  betrachtet  werden, 
welcher,  obwohl  die  Originalität  seiner  Regungen  durchaus  wah- 
rend, der  wissenschaftlichen  Methode  tren  geblieben  ist,  welche 
seit  den  Arbeiten  von  Adalbert  Kuhn  und  Max  Müller  in  Deutsch- 
land bei  mythologischen  Forschungen  in  Anwendung  gebracht 
wird;  sollte  der  Leser  in  meinem  Werke  einige  Verirrungen  zu 
beklagen  haben,  so  bitte  ich  ihn,  nicht  die  Schuld  der  ver- 
gleichenden Mythologie  aufzubürden,  in  deren  Dienste  ich  meine 
beschwerliche  Reise  durch  die  mythologische  Thierwelt  unter- 
nommen habe,  sondern  der  Unmöglichkeit,  dass  ein  einzelner 
Forscher  auf  einem  so  weiten  Felde,  wo  es  fast  noch  kdnen  ge- 
bahnten Weg  giebt,  nicht  zuweilen  Holzwege  für  Hauptstrassen 
nimmt.  Uebrigens  habe  ich  oft  die  Erde  verlassen  und  mich  in 
höhere  Regionen  hinaufgeschwungen,  um  meine  Welt  von  oben 
zu  betrachten;  nur  auf  diese  Weise  glaubte  ich  zu  jener  allge- 
meinen Auffassung  meines  Gegenstandes  durchdringen  zu  können, 
welche  auch  im  Einzelnen  den  richtigen  Weg  leicht  finden  lässt. 
Mir  scheint  die  beste  Grundlage  der  Poesie  die  Wissenschaft, 


tx 

aber  auch  der  beste  Begleiter  der  Wissenschaft  die  Poesie  zu  sein^ 
die  ihr  als  Vorläufer,  als  Fackel  dient  Mein  höchstes  Streben 
als  Schriftsteller  ist,  Kunst  in  die  Wissenschaft  und  Wissenschaft 
in  die  Kunst  zu  bringen;  vereint  scheinen  mir  die  beiden  mäch- 
tig ;  getrennt  sprechen  sie  nur  eine  unvollkommene  Sprache  und 
haben  nur  den  halben  Wertb.  Die  Schwierigkeit  besteht  darin, 
sie  in  Einklang  zu  bringen,  und  wenn  mein  Buch  an  Schwächen 
leidet,  so  stecken  sie  ganz  gewiss  da,  wo  Poesie  und  Gelehrsam- 
keit, statt  zu  einer  harmonischen  Einheit  zu  verschmelzen,  jede 
auf  eigene  Kosten  arbeitet,  für  sich,  ohne  die  andere  zu  unter- 
stützen. 

Ich  ergreife  diese  Gelegenheit,  um  den  höchst  oompetenten 
Kritikern  zu  danken,  welche  die  Güte  gehabt  haben,  mein  Werk 
einer  gründlichen  Prüfung  zu  unterziehen  und  mich  zur  Fort- 
setzung meiner  Forschungen  zu  ermuthigen ;  ich  führe  an  in  Eng- 
land die  Herren  George  Cox,  den  Verfasser  der  Mythology 
of  the  Arian  Nations  und  W.  R.  S.  Ralston,  dem  wir  zwei 
ansehnliche  Bände  über  die  russischen  Volkslieder  und  Volks- 
mährchen  verdanken,  welche  während  und  nach  dem  Drucke  der 
englischen  Ausgabe  meines  Buches  erschienen;  in  HoUand  Hm. 
Prof.  Tiehle;  in  Belgien  Hrn.  Prof.  Liebrecht;  in  Frankreich  Hrn. 
Ernest  Renan,  der  mir  die  Ehre  erwies,  mein  Buch  dem  Institut 
vorzulegen,  Hm.  Fr.  Baudry,  der  es  im  „Temps"  empfahl,  Hm. 
Bergaigne,  der  es  in  der  „Revue  Critique"  einer  eingehenden  Be- 
sprechung untei-zog,  Hm.  Prof.  Michel  Br6al,  der  es  zu  einer 
Uebersetzung  ins  Französische  empfahl, '  und  Hm.  P.  Regnaud, 
den  jungen  Indianisten,  der  diese  Uebersetzung  untemommen 
hat ;  in  Russland  Hm.  Prof.  AI.  Wesselofl9ki ;  in  Italien  Hm.  Prof. 
G.  J.  Ascoli  und  Hm.  Prof.  P.  Mantegazza. 

Fast  alle  die  Herren,  welche  mein  Buch  kritisiren,  machen, 
indem  sie  es  empfehlen,  einige  Reserven;  die  Herren  Prof.  Lieb- 
recht,  Bergaigne,  Wesselofski  und  Ascoli  haben  mir  die  Verbes- 
semngen  angezeigt,  die  in  einer  neuen  Ausgabe  des  Werkes  an^ 
zubringen  wären.  Ich  möchte  diesen  Gelehrten  hier  meine  leb- 
hafteste und  aufrichtigste  Erkenntlichkeit  ausspreche,  für  die 
Hilfe,  die  sie  mir  zur  Vervollkommnung  dieser  Ausgabe  geleistet 
haben.  Wäre  die  Welt  an  einem  Tage  und  von  Einem  geschaffen, 
ich  zweifle,  ob  sie  so  schön  sein  würde,  wie  wir  sie  jetzt  an- 
staunen.   Es  hat  des  Zusammenwirkens  aller  Jahrhunderte  und 


i 


^  Dieselbe  wird  demoächst  bei  C.  P.  Lauriel  in  Paris  erscheinen. 


xxt 

aUer  Elemente  bedurft;  damit  sie  ein  fast  vollkommenes  Werk 
werden  konnte.  Ebenso  würde  es  heissen,  von  jeder  neuen 
Wissenschaft  zu  viel  verlangen,  wollte  man  sie  unfehlbar;  der 
Mythus  von  der  Minerva;  die  gepanzert  dem  Haupte  Jupiters  ent- 
springt, ist  eine  mondiscbe  Allegorie;  welche  uns  nur  das  Ideal 
der  Helloien  darsteUt;  sie  gründet  sich  durchaus  nicht;  wie  fast 
alle  anderen  MytheU;  auf  die  Beobachtung  einer  Erscheinung  der 
Katar«  Ich  habe  in  meinem  Buche  aus  meinem  Kopfe  gezogen; 
was  ich  ^konnte;  wie  ich  jedoch  das  Vertrauen  habe,  für  die 
Wehen  nicht  mit  der  Geburt  einer  ridiculus  mus  belohnt  zu  wer- 
den; so  bin  ich  auch  weit  von  der  Einbildung  entfernt;  etwas 
Unsterblichem  das  Leben  gegeben  zu  haben.  Ich  habe  meinen 
bescheidenen  Beitrag  zu  einem  schweren  Werke  beigesteuert;  ich 
hatte  auf  meinem  Wege  zuweilen  Glück ;  ich  ho£fe,  ihn  ein  klein 
Wenig  von  den  Hemmnissen  gesäubert  zu  haben;  auf  die  ich 
stiess;  und  lebe  der  Zuversicht;  dass  andere;  besser  vorbereitete 
und  geduldigere  Forscher  als  ich  mir  Dank  wissen  werden,  ihneU; 
»ei  es  auch  nur  ein  wenig;  die  Forschung  erleichtert  zu  haben, 
selbst  wenn  die  Folge  wäre,  dass  ich  fast  alle  meine  Angaben 
corrigirt  sehen  müsste.  Wenn  es  nie  ungenaue  Erdkarten  ge- 
geben hätte,  wir  würden  gewiss  jetzt  nicht  uns  über  vollkommene 
freuen  und  sie  bewundem  können;  die  Arbeit  des  Kartographen 
ist  immer  leichter,  wenn  ein  erster  skizzirter  Plan  vorliegt;  der 
die  Formen  und  den  allgemeinen  Charakter  einer  fast  unbe- 
kamiten  Gegend  in  der  Hauptsache  giebt  Diesen  Plan  habe  ich 
zu  geben  versucht ;  möge  mir  dieses  Wagniss  verziehen  werden. 
Ohne  die  Fehler,  welche  das  ein  wenig  abenteuerliche  Genie  des 
Christoph  Columbus  beging,  würde  es  nie  den  Erfolg,  den  Ruhm; 
den  positiven  und  beharrlichen  Geist  Amerigo  Vespuccis  gegeben 
Imben.  Jede  unbekannte  Welt  ist  fUr  den  Mann  der  Wissenschaft 
ein  America;  das  ungeheure  Ueberraschungen  für  ihn  in  petto 
hat.  America  setzt  uns,  drei  Jahrhunderte  nach  seiner  Ent- 
deckung noch  immer  in  Staunen;  welche  Wunder  wird  also  un- 
serem gespannten  Geiste  noch  eine  Wissenschaft  vorführen,  die 
gestern  erst  geboren  ist!  Wie  alles  Neue,  das  Verwunderung  er- 
r^t,  findet  auch  sie  natüriich  Ungläubige  und  Persifleurs,  welche 
sie  durch  Witzeln,  durch  geistreichelndes  Spötteln  ausser  Credit 
bringen  wollen.  Mögen  sie  lachen,  die  Lacher!  wir  woUen  ar- 
beiten, den  Schleier  zu  zerreissen,  der  uns  die  Geschichte  unserer 
Kindheit  verbirgt;  das  Licht  der  Wahrheit  wird;  muss  endlich 
dnrcbdringen !  und  wenn  alle  Welt  von  der  Schönheit  und  Grösse 


xxn 


des  Schauspiels  ergriffen  sein  wird,  dann  wird  man  sich  vielleicht 
mit  einiger  Erkenntlichkeit  der  Begeisterung  der  ersten  Olänbigen 
erinnern,  welche  es  vorgeahnt  nnd  proklamirt  hatten.  Für  den 
Angenblick  steigen  wir  in  nnser  Observatorium;  unsere  ganze 
Freude  ist,  den  Himmel  zu  fragen  und  Notizen  zu  sammeln.  Ich 
vertraue  der  Nachsicht  der  deutschen  Leser  die  ersten  'von  mir 
gesammelten  an;  könnten  sie  jetzt  am  Durchlaufen  derselben 
dasselbe  Vergnügen  finden,  wie  ich  daran,  sie  zu  Papier  zu  bringen ! 

Florenz,  August  1873. 

Angelo  De  Onbematis. 


Vorwort  zor  deotscheD  Uebersetzong. 


Die  weite  Verbreitung  und  das  allgemeine  Interesse,  welches 
in  neuerer  und  neuester  Zeit  die  Vergleichende  Mythologie  in 
Deutschland  gefunden  hat,  lässt  es  gerechtfertigt  erscheinen,  wenn 
Unterzeichneter  auf  Veranlassung  der  Verlagsbuchhandlung  dem 
Publikum  ein  Werk  in  deutschem  Gewände  bietet,  welches  eines 
der  interessantesten  Probleme  dieser  Wissenschaft,  die  Rolle, 
welche  die  Thiere  in  derselben  spielen,  in  der  gründlichsten  und 
umfassendsten  Weise,   man   kann   sagen  erschöpfend  behandelt. 

Der  Verfasser,  Angelo  De  Gubemdtis,  geb.  zu  Turin  1840,  hat 
auf  dem  Gebiete  der  indogermanischen  Sprachen  und  Literaturen, 
speciell  des  Sanskrit,  die  umfassendsten  und  gründlichsten  Stu- 
dien gemacht;  die  Früchte  dieser  Studien  liegen  in  zahlreichen 
Werken  vor,  von  denen  wir  hier  nur  eine  Uebersetzung  der  ersten 
zwanzig  Hymnen  des  Rigveda  mit  Anmerkungen,  la  vita  ed  i 
miracoli  del  dio  Indra  nel  Rigveda,  ein  Essay  über  die  vedischen 
Quellen  des  Epos,  die  Rivista  Orientale,  eine  indische  Encyklo- 
pädie,  eine  vergleichende  Geschichte  der  Hochzeitsgebräuche,  eine 
vergleichende  Geschichte  der  Bestattungsgebräuche  namhaft  ma- 
chen, während  sich  die  von  ihm  redigirte  Rivista  Contemporanea 
einer  weiten  Verbreitung  erfreut;  andrerseits  ist  er  als  Dichter  — 
Dramen  von  ihm  wurden  mit  grossem  Erfolge  in  Turin  gegeben 
—  vor  Allen  befähigt  gewesen,  in  das  Walten  des  poetisch  schaf- 
fenden Volksgeistes  einzudringen  und   den  feinen  Fäden,  welche 


XXIII 

sich  fast  durch  die  gesammte  indogermaDische  Sagenwelt  hin- 
darchziehen,  zn  folgen.  Gerade  bei  der  Behandlung  eines  sol- 
chen Stoffes  muss  der  Bearbeitende  die  Fähigkeit  besitzen ,  die 
innersten  leitenden  Gedanken  zu  erfassen  und  nach  ihnen  das 
Material  zn  ordnen  und  zu  sichten.  Der  Verfasser  besitzt  diese 
Fähigkeit  in  hohem  Grade  und  vereinigt  sie  mit  einer  Eenntniss 
der  einschlägigen  Literatur,  mit  einer  Gewandtheit  in  deren  Her- 
beiziehung und  Verwendung,  wie  sie  das  gewöhnliche  Mass  weit 
übersteigt. 

Besonders  zu  erwähnen  dürfte  noch  sein,  dass  vieles  bis  jetzt 
noch  Unbekannte  oder  doch  Unedirte  in  die  Untersuchung  ge- 
zogen worden  ist.  Der  Verfasser  hat  alle  Notizen,  die  das  ve- 
dische  Alterthum  über  die  Thiere  liefert,  gesammelt  und  erklärt; 
er  hat  ferner  zum  ersten  Male  mehre  Mythen  Indiens  bekannt 
gemacht^  über  hundert  russische  Volksmährchen  herangezogen^ 
etwa  dreissig  unedirte  italienische  Mährchen  .  benutzt;  und  hat 
endlich  mit  grosser  Genauigkeit  die  sich  durch  die  ganze  indo- 
germanische Welt  hindurchziehenden  Volkssagen  von  den  zwei 
Brüdern ;  den  drei  Brüdern,  den  zwei  Schwestern,  den  drei 
Schwestern,  Cendrillon,  der  Prinzessin,  welche  lacht,  von  dem 
Blinden  und  dem  Lahmen,  und  etwa  vierzig  andere  in  ihrer  Ent- 
wicklung und  mythischen  Bedeutung  aufgezeigt  Doch  hat  sich 
der  Verfasser,  nachdem  er  im  Anfange  seines  Werkes  sein  Sy- 
stem sowohl  theoretisch  ganz  klar  aufgestellt,  als  es  auch  an 
Beispielen  durchgeführt  hat,  späterhin  mit  Andeutungen  und  Ver- 
weisungen begnügt;  es  dem  Leser  grösstentheils  selbst  überlas- 
send; dieses  System  auf  den  einzelnen  Fall  anzuwenden.  Wer 
des  Verf.'s  Ansichten  theilt,  wird  dies  mit  Leichtigkeit  thun 
können ;  wer  nicht;  wird  ihm  Dank  vrisseu;  dass  er  dadurch  Raum 
für  die  Ansammlung  des  umfangreichsten  Materials  gewonnen  hat 

Die  Aufgabe;  die  englische  Vorlage  deutsch  wiederzugeben; 
wurde  durch  zwei  Umstände  erschwert;  einmal  ist  dieselbe  aus 
dem  italienischen  Originalmanuscript  des  Verfassers  von  nicht 
immer  glücklicher  Hand  übei*setzt;  zahlreiche  Missverständnisse 
mussten  berichtigt  werden;  dazu,  kommt  die  Uncorrektheit  des 
englischen  Druckes,  welcher  durch  Fehler  arg  entstellt  ist;  zwei- 
tens aber  brachte  es  der  Stoff  selbst  mit  sich,  dass  aus  der 
Uebersetzung  oft  eine  Neubearbeitung  werden  musste.  Die  deut- 
schen Quellen;  welche  der  Vf.  benutzt  hat,  sind  fast  überaU  nach- 
gesehen, und  ihre  Worte  an  gehöriger  Stelle  eingetragen  worden, 
wie  das  bei  einer  Vergleichung  des  Avesta  in  der  Spiegeischen 


Uebenetzang:,  der  mongolischeD  und  kalmflckiaohen  Häbrcfaen 
Dach  Jfilg,  der  ebstoiscIieD  MSbrcben  nach  KreQtzwald-Löwe  und 
anderer  Werke,  welche  der  Verf.  Id  deatscber  Gestalt  benntzt 
hat,  leicht  ersichtlich  sein  wird.  Dazu  kam  noch ,  das»  äe  Tom 
Verleger  gestellte  Frist  eine  rerhältnisamässig  knrze  war  Doch 
ist  Alies  geschehen,  was  geschehen  konnte,  um  den  Text  in  der 
angedenteten  Beziebang  nnd  in  den  Citaten  zn  einem  möglichst 
correkten  zu  machen. 

Es  bedarf  als  selbstverständlich  kaum  einer  Erwähnnag, 
daas  die  Keceosioneii ,  besonders  die  höchst  schätzenswerthe  ans 
der  Feder  de«  Hm.  Prof.  Liebrecht  in  der  Academy  (vom  14. 
JuDi  1873),  in  der  deutschen  Bearbeitung  verwerthet  worden  sind. 
Leider  kam  mir  die  L.'sche  Rec.  erst  nach  dem  Druck  der  ersten 
Bogen  ZQ  G^cht;  doch  wird  ein  Nachtrag  das  in  deuseiben 
nach  ihr  zn  Berichtigende  enthalten. 

So  dtlrfte  sowohl  das  gelehrte  Publikum  ans  diesem  Werke 
reiche  Nachweise  nnd  Belehrungen  schöpfen  ~  und  zu  denen,  welche 
fttr  ihre  speciellen  Studien  hier  reiches  Material  finden,  werden  wir 
nicht  Mos  die  Mythologen  und  Arebäologon  von  Fach,  sondern 
auch  die  Sprachforscher  nnd  vor  Allem  die  CultnrhisUHiker  in 
rechnen  haben  —  als  ancb  ein  grOsseree  Publikum  des  Intere»- 
santen  und  Lemenswerthen  viel  finden. 

Leipzig,  October  1873. 

Kartiu  Hartmann. 


'xM'  TC^KAi 


Erster  TheiL 

Die    Landthiere. 


KAPITEL  I. 
Die  Kuh  und  der  Stier« 

§  1.   Die  Kuh  und  der  Stier  in  den  vedischen  Hymnen. 

Wir  befinden  nns  anf  dem  weiten  Tafellande  Innerasiens; 
gigantische  Berge  entsenden  auf  allen  Seiten  tausend  Ströme; 
seine  ungeheuren  Weiden  und  Wälder  durchziehen  wandernde 
Hirtenstämme;  der  gopati,  der  Hirt  oder  Herr  der  Kühe,  ist 
König;  der,  welcher  die  meisten  Herden  besitzt,  am  mächtigsten. 
Die  Erzählung  beginnt  mit  einem  lieblichen  Hirtenidyll. 

Die  Zahl  der  Kühe  zu  mehren,  sie  milchreich  und  fruchtbar 
zu  machen,  sie  gut  zu  halten,  ist  der  Traum,  das  Ideal  des  tilten 
Ariers.  Der  Stier,  der  Befrachter,  ist  der  Typus  aller  männlichen 
Vollkommenheiten  und  das  Symbol  der  königlichen  Macht. 

Es  ist  natürlich,  dass  die  beiden  hervorragendsten  Thier- 
gestalten  in  dem  mythischen  Himmel  die  Kuh  und  der  Stier  sein 
mussten. 

Die  Kuh  ist  die  willige,  liebende,  treue,  segensreiche  Vor- 
sehung des  Hirten. 

Der  schlimmste  Feind  des  Ariers  ist  demnach  der,  welcher 
die  Kuh  entführt;  sein  bester,  edelster  Freund,  wer  sie  den  Händen 
des  Räubers  zu  entreissen  vermag. 

Derselbe  Gedanke  wird  nun  auf  den  Himmel  übertragen :  im 
Himmel  existirt  eine  wohlthätige,  segenspendende  Macht,  welche 
die  Kuh  heisst,  und  ein  wohlthätiger  Befruchter  dieser  Macht, 
der  Stier. 

Gabernntls,  die  Thlere.  1 


Der  fenchte  Mond/  die  feuchte  Morgenröthe ,  die  Gewitter- 
wolke, das  ganze  Himmelsgewölbe,  welches  den  belebenden  und 
erfrischenden  Regen  spendet,  alle  werden  mit  besonderer  Vorliebe 
als  die  woblthätige  Kuh  der  Fülle  dargestellt.  Der  Herr  dieser 
vielgestaltigen  Himmelskuh,  der  sie  schwängert,  sie  fruchtbar  und 
milchend  macht,  die  Frühlings-  oder  Morgensonne,  die  regen- 
gebende Sonne  (oder  MondJ,  tritt  oft  als  ein  Stier  auf. 

Um  all  das  ganz  zu  verstehen,  müssten  wir,  so  gut  wie  mög- 
lich, auf  die  Epoche  zurückgehen,  in  der  solche  Vorstellungen  von 
selbst  entstanden  sein  könnten;  da  jedoch  die  Phantasie,  wenn 
wir  ihr  so  freien  Lauf  lassen  wollten,  uns  leicht  zu  rein  imagi- 
nären Vorstellungen,  zu  einem  System  a  priori  verleiten  könnte,  so 
werden  wir  sie  als  gefährlich  und  irreführend  bei  diesen  Vor- 
untersuchungen ganz  ausschliessen  und  uns  mit  der  allerdings 
anspruchsloseren  Aufgabe  begnügen,  die  Zeugnisse  der  Dichter, 
welche  bei  der  Schöpfung  der  in  Rede  stehenden  Mythologie  selbst 
mitthätig  waren,  zu  sammeln. 

Ich  beabsichtige  nicht,  von  den  vedischen  Mythen  etwas  zu 
sagen,  was  nicht  dem  einen  oder  andern  Hymnus  des  grösste^. 
Veda  entlehnt  wäre,  sondern  nur  die  Glieder  der  Kette  zu  ordnen 
und  zusammenzuschliessen,  wie  sie  ganz  bestimmt  in  der  Vorstel- 
lung des  alten  arischen  Volkes  bestanden  und  welche  der  Ri g  ve  d  a, 
das  Werk  zahlreicher  Dichter  und  mehrer  Jahrhunderte,  uns  als 
ein  fortlaufendes  und  kunstvolles  Ganze  bietet.  Ich  werde  mich 
in  das  Thal  von  Ka^mir  oder  an  die  Ufer  des  Sindhu,  unter 
diesen  Himmel,  an  den  Fuss  dieser  Berge,  unter  diese  Ströme  ver- 
setzen, aber  in  dem  Himmel  nach  dem  in  den  Hymnen  Geiunde- 
nen  suchen,  nicht  in  den  Hymnen  nach  dem,  was  ich  in  dem 
Himmel  zu  sehen  glaube.  Ich  werde  meine  Reise  mit  einer  zu- 
verlässigen Karte  antreten,  und  diese  mit  allem  mir  zu  Gebote 
stehenden  Fleisse  befragen,  um  keinen  der  Vortheile  unbenutzt  zu 
lassen,  welche  eine  an  überraschenden  Entdeckungen  so  reiche 
Fahrt  zu  bieten  vermag.  Die  Anmerkungen  werden  demgemäss 
alle,  oder  doch  fast  alle,  aus  Worten  meines  Führers  bestehen,  so 
das»  der  gelehrte  Leser  jede  einzelne  Behauptung  leicht  selbst 
prüfen  kann.  Was  die  häufigen  Haltepunkte  betrifft,  die  wir  auf 
dem  Wege  zu  machen  haben  werden,  so  bitte  ich  den  Leser,  sie 
nicht  irgend  welcher  Willkürlichkeit  meinerseits,  sondern  den 
unvermeidlichen  Begegnissen  einer  Reise  zuzuschreiben,  die  man 
Schritt  für  Schritt  in  einer  ziemlich  unbekannten  Gegend  und  mit 
Hilfe  eines  Führers  macht,  wo  fast  Alles  zu  finden  ist,  wo  man 


jedoch,  wie  in  einem  reichen  Magazin,  leichter  den  Weg  verliert 
als  ihn  wiederfindet. 

Der  ungeheure  Himmelsraum,  welcher  die  Erde  überwölbt, 
führt,  als  die  ewige  Vorrathskammer  von  Licht  und  Regen,  als 
die  Macht,  welche  das  Gras  und  also  auch  die  Thiere,  die  es 
weiden,  wachsen  lässt,  in  der  vedischen  Literatur  den  Namen 
Aditi,  oder  die  unbegrenzte,  unerschöpfliche,  die  Ambrosiaquelle 
(amritasy  a  nab  his).  So  weit  haben  wir  noch  keine  Personi- 
fication, wie  wir  auch  noch  keinen  Mythus  haben.  Amrita  ist 
einfach  das  Unsterbliche,  und  dient  nur  zur  poetischen  Darstel- 
lung des  Regens,  des  Thaus,  der  Lichtwelle.  Aber  das  Uner- 
schöpfliche bekommt  bald  die  specielle  Bedeutung:  das,  was  ohne 
Aufhören  gemolken  werden  kann,  also  auch:  eine  himmlische 
Kuh,  die  wir  nicht  beleidigen  dürfen,  die  unverletzt  bleiben  muss.  ^ 
Indem  so  der  Himmel  als  eine  unbegrenzte  Kuh  dargestellt  wurde, 
mussten  natürlich  seine  hauptsächlichsten  und  auffallendsten  Er- 
scheinungen ihrerseits  Kinder  der  Kuh  oder  selbst  Kühe  oder 
Stiere,  und  der  Befruchter  der  grossen  Mutter  auch  Stier  genannt 
werden.  So  lesen  wir,  dass  der  Wind  (Vayu  oder  Rudra) 
aus  dem  Schoss  der  himmlischen  Kuh  die  Winde,  welche  im 
Sturm  heulen  (Maruts  und  Rudras),  hervorgehen  Hess,  die  des- 
halb Kinder  der  Kuh  heissen.  ^  Da  nun  diese  grosse  himmlische 
Kuh  die  stürmischen  lärmenden  Winde' hervorbringt,  stellt  sie  nicht 
allein  das  ruhige,  heitere,  glänzende  Firmament,  sondern  auch  die 
wolkige  und  finstere  Erzeugerin  von  Stürmen  dar.  Diese  grosse  Kuh, 
diese  ungeheure  Wolke,  welche  das  ganze  Himmelsgewölbe  ein- 
nimmt und  die  Winde  entfesselt,  ist  eine  braune,  dunkle,  scheckige 
(pri^ni)  Kuh,  und  so  heissen  auch  die  Winde  oder  Maruts, 
ihre  Söhne,  die  Kinder  der  Schecke.  Aus  der  Einheit  wurde  so 
eine  Mehrheit;  die  Wolkensöhne,  die  Winde,  sind  21;  die  Töchter, 
die  Wolken  selbst,  Schecken  (pri^nis)  genannt,  sind  auch  drei- 
mal sieben  oder  21 :  drei  und  sieben  sind  bei  den  Ariern  heilige 
Zahlen,  und  21  ist  nur  ein  Product  dieser  beiden  bedeutungs- 
vollen Zahlen,  durch  welche  häufig  die  Macht  eines  Gottes  oder 
eines  Ungeheuers  symbolisch  dargestellt  wird.  Wenn  also  pri  gn  i, 
die  gefleckte  Kuh,  die  Mutter  der  Maruts,  der  Winde,  und  der 


"  Mä  gäm  anagam  aditim  vadhißbta;  Kigv.  VIII,  90,  15. 

*  Gomätarah;  Bigv.  I,  85,  3.  —  Aditi  „mätä  rudräuäm*',  die  Mutter 
der  Rudras,  genannt;  Rigv.  VIII,  90,  15.  —  Tubhyam  (Dir,  seil.  Väyu, 
Wind)  dbenuh  sabardugba  vitjvä  vasüni  dobate  aganayo  maruto  vaksbäna- 
bbyah;  Rigv!  I,  134,  4. 

1* 


Schecken  (p  r  i  5  n  i  s) ,  der  Wolken,  ist,  so  können  wir  die  Wolken 
die  Schwestern  der  Winde  nennen.  Wir  finden  oft  drei  oder  sieben 
Schwestern;  drei  oder  sieben  BrUder  in  den  Erzählungen.  Dass 
die  Zahl  21  im  ßigveda  selbst  eine  Beziehung  auf  die  Drei  invol- 
virt,  geht  ganz  evident  daraus  hervor,  dass  ein  Hymnus  von  den 
drei  mal  sieben  gefleckten  Kühen  spricht,  welche  dem  Oott  den 
göttlichen  Trank  bringen,  während  in  einem  anderen  von  den 
Schecken  (ohne  nähere  Angabe  der  Zahl)  die  Rede  ist,  die  ihm 
drei  Seen  zu  trinken  geben.  ^  Augenscheinlich  erfllllen  hier  die 
drei  oder  sieben  oder  einundzwanzig  Schwesterkühe,  die  dem 
Gott  der  östlichen  Himmelssphäre  ihre  eigene  nährende  Milch 
spenden,  und  bei  deren  Nahrung  die  Winde,  jetzt  unverwundbar 
geworden,  anwachsen,*  die  frommen  Pflichten  gütiger  Schutz- 
geister. 

Wenn  aber  die  Winde  Söhne  einer  Kuh,  und  die  Kühe  ihre 
Ernährerinnen  sind,  so  müssen  die  Maruts  selbst  noth wendig  als 
Stiere  dargestellt  werden.  Wirklich  wird  auch  Väyu,  ihr  Vater, 
von  Stieren  getragen,  d.  h.  von  den  Winden  selbst,  die  schnell, 
wie  die  Sonnenstrahlen  beweglich,  sehr  stark  und  nicht  zu  bändi- 
gen sind ;  ^  die  Stärke  des  Windes  wird  mit  der  des  Stiers  oder 
Bären  verglichen ;  *  die  Winde ,  so  stark  wie  Stiere ,  überwältigen 
und  unterwerfen  die  dunklen  Wolken.^  Hier  werden  also  die 
Wolken  nicht  mehr  als  die  nährenden  Kühe,  sondern  unter  dem 
düsteren 3ilde  von  Ungeheuerji  dargestellt.  Die  Maruts,  welche 
im  Sturm  heulen,  sind  so  schnell  wie  der  Blitz  und  umgeben  sich 
mit  Blitzen.  Deshalb  werden  sie  auch  ihrer  glänzenden  Gewänder 
wegen  gepriesen;  und  darum  heisst  es  auch,  dass  die  röthlicbeu 


•  Imäs  ta  indra  prl^nayo  gbritam  duhataäQiram;  Rigv.  VIII,  6,  19. — 
Trir  aemäi  sapta  dhcnavo  duduhre  satjäin  ä^iram  pürvje  vyomani;  ftigv. 
IX,  70,  1.  ~  Trini  saransi  pri^najo  duduhre  va^rino  madhu;  Rigv.  VIII, 
7,  10.  —  Rämay.  I,  48  erscheiuen  die  Maruts  ebenfalls  io  der  Sie- 
benzahl. 

*  Pra  ^ansä  goshv  aghnyam  krilam  yaö  dhardho  märutam  gambhe 
rasasya  vävridhe;  Rigv.  I,  37,  5. 

'  Ime  ye  te  su  väyo  bähvogaso  'ntar  nadi  te  patayanty  ukshano 
mahi  vrädhanta  ukshanah  dhanvaii  6\d  ye  anä^avo  girä9,  6id  a^träu- 
kasah  süryasyeva  ra^mayo  dumiyantavo  hastayor  durniyantavah ;  Rigv.  I, 
135,  b. 

^  Riksho  na  vo  marutah  Qimivän  amo  dudhro  gäur  iva  bhimayuh; 
Rigv.V,  56,  3. 

^  Te  syandr^o  nokshano  *ti  shkaadanti  ^arvarih;  Rivg.  V,  52,  3. 


Winde  von  Edelsteinen  glänzen^  wie  manche  Stiere  von  Sternen.  * 
Als  solche  —  als  Bezwinger  der  Wolken  und  als  die,  die  sttlr- 
miscb  ihre  Reihen  durchbrechen  —  sind  diese  Winde,  diese 
Stiere  die  besten  Freunde,  die  mächtigsten  Helfer  des  grossen 
brüllenden  Stiers;  des  Donner-  und  Regengottes;  der  Sonne, 
welche  Wolken  und  Dunkel  verscheucht;  des  höchsten  Gottes  der 
Veden,  Indra,  des  Freundes  von  Licht  und  Ambrosia,  der  Sonne 
und  schönes  Wetter  bringt  und  uns  wohlthätigen  Thau  wie  be- 
fruchtenden Regen  sendet  Gleich  seinen  Genossen,  den  Winden, 
wird  Indra  —  die  Sonne  (und  das  glänzende  Firmament),  welche, 
im  Dunkel  verborgen,  die  Finstemiss  zu  verscheuchen  strebt,  und 
von  den  donnernden  und  blitzenden  Wolken  verdeckt,  sie  in 
Regen  aufzulösen  sucht  —  als  ein  mächtiger  Stier,  der  Stier  der 
Stiere  dargestellt,  als  ein  unbesiegbarer  Sohn  der  Kuh,  welcher 
wie  die  Maruts  brUUt.  * 

Aber  um  zum  Stier  zu  werden,  zu  wachsen,  die  Kraft  zu 
entwickeln,  welche  zur  Tödtung  der  Schlange  erforderlich  ist,  muss 
Indra  trinken ;  und  er  trinkt  den  Soma,  ^  das  Wasser  der  Stärke. 
„Trink*  und  wachse,"*  sagt  ein  Dichter  zu  ihm ,  indem  er  die 
symbolische  Libation  des  Opferkelchs  darbringt,  der  ein  Typus 
bald  des  Himmelsbechers,  bald  des  Himmelsgewölbes,  bald  der 
Wolke,  bald  der  Sonne  oder  des  Mondes  ist.  Durch  die  süsse 
Nahrung  der  himmlischen  Kuh  erlangt  Indra  eine  Schnelligkeit, 
welche  der  des  Pferdes  gleichkommt ;  ^  er  isst  und  trinkt  auf  ein 
Mal  so  viel,  dass  er  plötzlich  seine  Reife  erlangt.  Die  Götter 
geben  ihm  dreihundert  Ochsen  zu  essen  und  drei  Seen  Ambrosia  ^ 


'  Tvam  vatäir  arunÜr  yäsi;  Täittiriya  Ya^urveda  I,  3,  14.  — 
Angibhir  vy  dnagre  ke  cid  usra  iva  stribhih;  Rigv.  I,  87,  1. 

*  Vrisha  yrishabhih;  Rigv.  I,  100,  4.  —  Grishtih  sasüva  sthaviram 
tavägam  an&dbrisbyam  vrishabham  tumram  indram;  Rigv.  IV,  18,  10.  — 
Sa  mätarä  na  dadri^ana  nsriyo  nänadad  eti  marutäm  iva  svaoah;  Rigv. 
IX,  70,  6.  * 

*  VrishSyamäno  'vyinita  somam;  Rigv.  I,  32,  3.  —  Pitum  nu  stosbam 
mabo  dhaimänam  tavisbim  yasya  trito  (Trita  ist,  wie  wir  sehen  werden, 
ein  alter  ego  des  Indra)  vy  ogasa  vritram  viparvam  ardayat;  Rigv.  I, 
187,  1. 

*  Fihä  vardbasva;  Rigv.  III,  36,   3. 

^  Indro  madba  sambbritam  usriyslyäin  padvad  viveda  ^apbavan  name 
gob;  Rigv.  Ill,  39,  6. 

^  Til  ya(^  dbatä  mabisbän&m  agbo  m^  tri  sarlbsi  magbava  som- 
yäpfth  kdram  na  vi^ve  abvanta  dev4  bbaram  indräya  yad  ahim  ^agh&na; 
Rigv.  V,  i9,  8. 


1 


6 

zu  trinken,  damit  er  das  Schlangenungeheiier  zu  tödten  im  Stande 
sei.  Der  Hunger  und  Durst  der  Helden  steht  immer  zu  dem 
Wunder,  das  sie  zu  verrichten  berufen  sind,  im  Verhältniss,  und 
deshalb  stellen  die  Hymnen  des  Eigveda  und  des  Atharvaveda 
die  Wolke  oft  als  eine  ungeheure,  weitbauchige  Tonne  (k  a  b  a  n  d  h  a) 
dar,  welche  von  dem  göttlichen  Stiere  getragen  wird.  * 

Aber  wann  und  wie  entfaltet  der  Held-Stier  seine  ausserge- 
wöhnliche  Stärke?  Der  furchtbare  Stier  brüllt  und  zeigt  seine 
Kraft,  indem  er  seine  Hörner  wetzt ;^  er,  der  glänzende,  mit 
spitzen  Hörnern,  kann  ganz  allein  alle  Völker  niederrennen.  *  Was 
sind  aber  die  Hörner  des  Stieres  Indra,  des  Donnergottes? 
Augenscheinlich  die  Donnerkeile;  Indra  soll  in  der  That  die 
Donnerkeile  wetzen,  wie  ein  Stier  seine  Hörner;*  der  Donnerkeil 
Indras  soll  tausendspitzig  sein ;  ^  Indra  heisst  der  Stier  mit  tau- 
send Hörnern,  der  aus  dem  Meere  ^  aufsteigt  (oder  aus  dem  dun- 
keln Ocean  als  Donner  entsendende  oder  als  strahlende  Sonne, 
indem  die  Donnerkeile  als  Strahlen  der  Sonnenscheibe  gedacht 
werden).  Zuweilen  heisst  der  Donnerkeil  Indras  selbst  ein  Stier ' 
und  wird  von  seinen  geliebten  glänzenden  Kühen ^  gewetzt,  und 
dient  bald  dazu,  die  Kühe  der  Finsterniss  zu  entreissen,  bald  sie 
von  dem  Ungeheuer  der  Finsterniss,  das  sie  einhüllt,  zu  befreien,  * 
bald  endlich,  das  Ungeheuer  von  Wolken  und  Dunkelheit  selbst 
zu  vernichten.  Ausserdem  nimmt  Indra,  dieser  ausserordentlich 
mächtige,  gehörnte  Stier,  welcher  seine  Homer  wetzt,  um  sie  in 


^  Vasoh  kabandhamriBbabho  bibharti;  Atharvav.  IX,  4,  3. 

'  Ravati  bhimo  vrishabhas  tavishyayä  fringe  9198110  harini  vicak- 
shanah;  Rigv.  IX,  70,  7. 

'  Yas  tigma9ringo  vrishablio  na  bhima  ekah  kri8hti9  dyavayati  pra 
vi9väh;  Rigv.  VH,  19,  1.  —  Idam  namo  vrißhabhäya  evaräge  satya- 
9U8hmäya  tavase  *vadi;  Rigv.  I,  51,  15, 

*  9i9ite  vagram  te^ase  na  vansagah;  Rigv.  I,  55,  1. 

^  Abhy  enam  vagra  äyasah  sahasrabbrisbtir  ayatärdano;  Rigv.  I, 
80,  12. 

*  Sabasra9ringo  vrishabho  yah  samudrad  udadarat;  Rigv.  Vll,  55,  7. 
^  Vi  tigmena  vrisbabhcna  puro  'bhet;  Rigv.  I,  33,  13. 

*  Priya  indrasya  dhenavo  vagram  binvanti  sayakam  vasvih;  Rigv.  I, 
84,  10.  IJ.  12.  Die  Wurzel  hi  bedeutet  eigentlich  ausdehnen,  ausziehen; 
hier  scheint  „den  Arm  Indras  ausdehnen^^  zu  bedeuten:  ihn  verlängern, 
ihn  so  dünn  wie  einen  Faden  machen,  ihn  schärfen,  wetzen,  spitzen  (ital. 
affilare);  die  Kühe,  welche  spitzen  (ital.  affilanti),  sind  eine  Modification 
der  Kühe,  die  spinneu  (ital.  fiianti). 

^  Yugam  vagram  vrishabha9  dakra  indro  nir  gyotisha  tamaso  ga 
adukehat;  Rigv.  I,  33,  10. 


das  Ungeheuer  zu  stossen,  auch  als  das  Feuer,  welches  Blitze 
schleudert  und  aus  den  Wolken  und  dem  Dunkel  Lichtstrahlen 
hervorbrechen  lässt,  den  Namen  Agni  an,  und  hat  als  solcher  zwei 
Köpfe,  vier  Homer,  drei  FUsse,  sieben  Hände,  feurige  Zähne  und 
Flügel;  er  wird  von  dem  Winde  getragen  und  bläst J 

So  finden  wir  also  himmlische  Kühe,  die  himmlische 
Stiere  ernähren;  und  himmlische  Stiere  und  Kühe,  die  ihre 
Hörner  zu  einem  Kampfe,  der  im  Himmel  gefochten  wird,  ver- 
wenden. 

Versetzen  wir  uns  auf  das  Schlachtfeld  und  besuchen  wir  die 
beiden  feindlichen  Lager!  Auf  der  einen  Seite  finden  wir  die 
Sonne  (und  zuweilen  den  Mond),  den  Stier  der  Stiere  Indra,  mit 
den  Winden,  Maruts,  den  glänzenden  und  brüllenden  Stieren ;  auf 
der  andern  ein  vielgestaltig  Ungeheuer,  in  der  Gestalt  von  Wölfen, 
Schlangen,  wilden  Ebern,  Eulen,  Mäusen  und  dergleichen  mehr. 
Auf  Seiten  Indras  sind  Kühe,  die  ihm  helfen;  das  Ungeheuer  hat 
auch  Kühe,  und  zwar  entweder  solche,  die  es  dem  Indra  entrissen 
hat  und  nun  in  dunklen  Höhlen  oder  Festungen  einkerkert  und 
versteckt,  oder  solche,  mit  denen  es  als  seinen  eigenen  Weibern 
Liebesspiel  pflegt.  In  dem  einen  Falle  betrachten  die  Kühe  den 
Stier  Indra  als  ihren  Freund  und  Befreier;  in  dem  andern  sind 
sie  selbst  Ungeheuer  und  Feinde  Indras,  der  sie  bekämpft.  Mit 
einem  Wort,  die  Wolken  werden  ein  Mal  als  Freunde  der  regen- 
spendenden Sonne  betrachtet,  welche  sie  von  dem  Ungeheuer,  das 
den  Regen  zurückhält,  befreit,  und  andrerseits  als  von  der  Sonne 
angegriffen,  als  die,  welche  sie  feindlich  umringen  und  zu  ver- 
nichten streben.  Suchen  wir  in  dem  Rigveda  nach  Beweisen  für 
diesen  Doppelkampf! 

Um  mit  der  ersten  Phase  des  Conflicts  zu  beginnen,  wo 
schlägt  Indra  im  Himmel  seine  berühmtesten  Schlachten  ? 

Die  Wolken  nehmen  gewöhnlich  die  Gestalt  von  Bergen  an, 
wie  auch  in  der  Sprache  der  Veden  die  Worte  adri  und  par- 


*  ^i^ite  fringe  rakshase  vinikshe;  Rigv.  V,  2,  9.  —  Catväri  ^ringä 
trajo  asya  pada  dve  ^irshe  sapta  hastäso  asya;  Rigv.  IV, 58,  3. —  Tapur- 
garobho  vana  4  vätacodito  yüthe  na  sähvän  ava  vati  vansagah  abhi 
vra^ann  akshitam  pä^asa  ragah  sthatu^  caratham  bhayate  patatrinah; 
Rigv.  I,  58,  5.  In  dieser  Strophe  bezeichnet  jedoch  Vansagah  wahr- 
scheinlich vielmehr  den  Hengst  als  den  Stier,  wie  wir  auch  in  der  zweiten 
Strophe  denselben  Agni  mit  einem  glänzendf'n  Pferde  verglichen  finden 
(atyo  na  prishtham  prushitasya  roöate). 


8 

V  a  t  a  die  Begriffe :  Stein,  Berg  und  Wolke  ausdrücken.  *  Da  die 
Wolke  mit  einem  Stein,  Felsen  oder  Berge  verglichen  wurde,  so 
war  es  natürlich,  erstens,  sich  unter  den  Felsen  oder  Bergen 
Höhlen  vorzustellen,  die  als  Kerker  von  Kühen  mit  Ställen  ver- 
glichen werden  konnten;*  zweitens,  den  Begriff  des  Felsen  auf 
den  der  Citadelle  (ital.  rocca),  Festung,  Burg  zu  übertragen; 
drittens  von  dem  Begriff*  des  unbeweglichen  Berges  auf  den  des 
Baumes  überzugehen,  der  sich  nicht  fortbewegen  kann,  wenn  er 
sich  auch  erhebt  und  ausbreitet,  und  von  dem  Waldbaume  auf  den 
schattigen  und  ehrwürdigen  Hain. 

Daher  kämpft  der  Stier,  oder  der  Gott  Indra,  oder  die  Sonne 
des  Donners,  Blitzes  und  Regens,  bald  iii  einer  Höhle,  bald  nimmt 
er  eine  Festung  mit  Sturm,  bald  zieht  er  die  Kuh  aus  dem  Walde 
hervor  oder  bindet  sie  von  dem  Baume  los,  und  vernichtet  den 
rakshas,  das  Ungeheuer,  das  sie  gefesselt  hatte. 

Die  vedische  Poesie  preist  besonders  den  Zug  Indras  gegen 
die  "Höhle  oder  den  Berg,  in  welchem  das  Ungeheuer  (das  ver- 
schiedene Namen  führt,  und  zwar  besonders  folgende:  Vala, 
Vptra,  Qushna,  Feind,  Schwarzer,  Dieb,  Schlange,  Wolf,  wilder 
Eber)  die  Herden  der  himmlischen  Helden  verbirgt  oder  ab- 
schlachtet. 

Der  schwarze  Stier  brüllt ;  ebenso  auch  der  Donnerkeil,  d.  h. 
der  Donner  folgt  dem  Blitz,  wie  die  Kuh  ihrem  Kalbe.  ^  Die 
Marutstiere  ersteigen  den   Felsen   und  bringen  bald  durch  ihre 


'  Adri  und  par  rata  bedeuten  eigentlich  Berg,  in  den  Veden  aber 
oft:  Wolke;  unter  anderm  auch:  Baum;  aga  (eigentlich  das,  was  eich  nicht 
fortbewegt)  bedeutet  gleicherweise  Berg  und  Baum.  Daher  vielleicht  das 
italienische  Sprichwort:  Le  montagne  stanno  ferme,  ma  gli  uomini  s'in- 
contrano,  Berge  stehen  still,  aber  Menschen  begegnen  sich;  daher  der 
Ausruf  Ramas  im  Rämäyana  II,  122,  dass  sich  eher  der  Himalaya  be- 
wegen als  er  zum  Verräther  werden  würde;  daher  die  Versicherung,  die 
Macbeth,  nach  der  berühmten  Hexenprophezeiung,  geben  kann :  „That  will 
never  be;  who  can  impress  the  forest;  bid  the  tree  unfir  his  earth-bound 
root?"  (Shaksp.  Macb.  IV,  1).  Nichtsdestoweniger)  bewegt  sich  der  Wald 
nicht  selten  in  den  Mythen,  wo  die  Baum- Wolken  wandern,  und  wo  sie 
hinkommen.  Alles  mit  Schrecken  erfüllen,  wo  Helden  und  Ungeheuer  oft 
mit  den  entwurzelten  Bäumen  eines  ganzen  Waldes  kämpfen.  Vgl. 
R4mäy.  III,  3,  5  und  in  unserm  Werk  die  Kapp,  über  das  Pferd,  den 
Bären  und  den  Affen. 

'  Vragam  gaöha  gosth&nam;  Täittir.  Ya'gur.  1, 1,9;  vgl.  ^atapa- 
thabrähmana  I,  2,  3.  4. 

'  Krishno  nonäva  vrishabhah;  Rigv.  I,  79,  2.  —  Vä^reva  ridyun 
mimiti  vatsam  na  m^tk  sishakti;  Rigv.  I,  38,  8. 


V 


9 

eigenen  Anstrengungen  den  helltönenden  Felsblock  zu  Falle;* 
bald  zersplittern  sie  mit  der  eisernen  Schneide  ihres  Wagens  den 
Berg;^  der  von  den  Göttern  geliebte,  tapfere  Held  bewegt  den 
Stein ;  ^  lodra  hört  die  Kühe :  mit  Hilfe  der  Wind-Stiere  findet  er 
die  Kühe  in  der  Höhle;  mit  einer  steinernen  Waffe  versehen, 
öffnet  er  selbst  Valas  Grotte;  er  besiegt,  tödtet  und  verfolgt  die 
Diebe;  die  Stiere  brüllen;  die  Kühe  schliessen  sich  ihnen  an; 
Indra  befruchtet  die  Herde;  er  und  seine  Gemahlin  sind  zufrieden 
und  vergnügt.* 

Bei  diesem  fabelhaften  Hergange  kommen  hauptsächlich  drei 
Momente  in  Betracht:  erstens  die  Bemühung,  den  Stein  zu  heben; 
zweitens  der  Kampf  mit  dem  Ungeheuer,  das  die  Kühe  entführt 
hat;  drittens  die  Befreiung  der  Gefangenen.  Es  ist  ein  voll- 
ständiges Epos. 

Die  zweite  Art  der  Heldenthaten  Indras  in  dem  Wolken- 
himmel ist  die,  welche  die  Zerstörung  der  himmlischen  Festungen, 
der  neunzig,  neunundneunzig  oder  hundert  Städte  Qambaras, 
welche  die  Weiber  der  Dämonen  waren ,  zum  Gegenstande  hat. 
Von  diesem  Unternehmen  erhielt  Indra  den  Beinamen  puram- 
dara  (gewöhnlich  als  Städtezerstörer  erklärt),  obwohl  er  dabei 
einen  sehr  wichtigen  Waffengefahrten  hatte,  nämlich  Agni, 
d,  h.  Feuer ,  wobei  man  natürlich  an  die  Zerstörung  durch 
Feuer  denkt  ^  (das  Licht  verscheucht  die  Finsterniss). 


*  A^mänam  dit  svaryam  parvatam  girim  pra  dy^vayanti  yämabhih; 
Rigv.  V,  96,  4. 

'  Pavyä  rathanam  adrim  bhindanty  o^asa;  Rigv.  V,  52,  9.  Pavi 
ist  im  Allgemeineiv  der  eiserne  Theil,  der  eiserne  Beschlag  (eines  Pfeiles, 
einer  Lanse);  hier  scheint  es  der  eiserne  Reifen  der  Wagenräder  zu  sein, 
die  über  den  Berg  stürmen  und  ihn  zerbrechen,  wie  anch  wirklich  der  Donner 
oft  die  Vorstellung  eines-  rasselnden,  Verwüstung  anrichtenden  Wagens 
weckt 

'  Virah  karmanyah  sudaksho  yuktagravä  gayate   de^j^kämah;  Rigv. 

m,  4,  9.  '  * 

*  Ayam  ^rinve  adha  ^yann  uta  ghnann  ayam  uta  pra  krinute  yudhä 
ga^^;  Rigv.  IV,  17,  10.  —  Vilu  did  4rugatnubbir  guhä  did  indra  vahnibhih 
avinda  usriyi  anu;  Rigv.  I,  6,  5.  —  Tvam  valasya  gomato  'pävar  adrivo 
bilam;  Rigv.  I,  11,  5.  —  Vi  gobhir  adrim  äirayat;  Rigv.  I,  7,  3.  — 
Uksha  mimäti  prati  yanti  dhenavah;  Rigv.  IX,  69,  4.  —  Yad  anyäsu 
vriahabho  roraviti  so  anyasmin  yüthe  ni  dadhäti  retah;  Rigv.  Ill,  55,  17. 
—  Püshanv4n  va^rint  sam  u  patnytoadah;  Rigv.  I,  8?,  6. 

^  Indrl^i  navatim  puro  däsapatnir  adhünutam  säkam  ekena  karmana ) 
Rigv.  m,  12,  6;  TÄitt.  Yagurv.  I,  1,  14.  Vgl.  das  Kap.  über  die 
Schlange. 


10 

In  einem  Hymnus  an  Indra  kommen  zum  Schluss  die  Götter 
mit  ihren  schneidigen  Aexten,  hauen  die  Wälder  ab  und  ver- 
brennen die  Ungeheuer,  welche  die  Milch  in  den  Eutern  der  Kühe 
zurückhalten.  ^  Der  bewölkte  finstere  Nachthimmel  gestaltet  sich 
in  der  Phantasie  hier  zu  einem  grossen  Walde,  welcher  von 
Räkshasas  oder  Ungeheuern  bewohnt  wird,  die  ihn  unfruchtbar 
machen,  d.  h.  die  es  der  grossen  himmlischen  Kuh  unmöglich 
machen,  Milch  zu  geben.  Die  Kuh,  welche  Honig  giebt,  die 
Ambrosia-Kuh  der  Veden,  wird  so  durch  einen  Wald  ersetzt, 
welcher  den  Honig,  die  Götterspeise  Ambrosia,  verbirgt.  Und 
obwohl  die  vedischen  Hymnen  bei  dieser  Vorstellung  von  dem 
trüben  Wolkenhimmel  nicht  stehen  bleiben ,  sondern  gewöhnlich 
lieber  die  Dunkelheit  der  Nacht  als  einen  düstern  Wald  dar- 
stellen, so  ist  doch  die  oben  aus  den  Veden  angeführte  Stelle  der 
Beachtung  werth,  weil  sie  beweist,  dass  wenigstens  zur  Zeit  der 
Veden  ein  Mythus  existirt  hat,  der  sich  später  in  der  Thierfabel 
sehr  erweiterte.^ 

Bei  diesem  dreifachen  Kampfe  Indras  bemerken  wir  noch 
einen  sonderbaren  Zug.  Der  donnernde  Indra  bewältigt  seine 
Feinde  mit  Bogen  und  Pfeilen ;  dieselbe  Wolke ,  welche  donnert, 
brüllt  und  deshalb  eine  Kuh  genannt  wird,  wird,  als  Pfeile 
schleudernd,  zum  Bogen:  daher  haben  wir  den  Kuh-Bogen,  mit 
welchem  Indra  den  eisernen  Stein,  den  Donnerkeil  schleudert; 
auch  die  Sehne  dieses  brüllenden  Bogens  heisst  selbst  eine  Kuh ; 
dieser  Sehne  entschwirren  die  geflügelten  Pfeile,  die  Donnerkeile, 
welche  menschenfressende  Vögel  heissen;  wenn  sie  angeflogen 
kommen ,  zittert  die  ganze  Welt.  ^  Wir  werden  auf  diesen  Ge- 
danken weiter  unten  zurückkommen. 

Bis  jetzt  haben  wir  die  Kuh- Wolke  als  ein  Opfer  des  Unge- 
heuers (das  Indra  besiegt)  kennen  gelernt.  Nicht  selten  finden 
wir  jedoch  die  Wolke  selbst  oder  die  Finsterniss ,  d.  h.  die  Kuh, 
die  Festung  oder  den  Wald,  als  ein  Ungeheuer  dargestellt.  Ein 
vedischer  Hymnus  berichtet  uns,  das  Ungeheuer  Vala   hätte  die 


>  Deväsa  äyan  para^ünr  abibhran  vanä  vri^<$anto  abhi  vidbhir  ayan 
ni  ßudrvam  dadhato  vakshanäsu  yaträ  kripit»im  anu  tad  dahanti;  Rigv.X, 
28,  8. 

'  Vgl.  das  Kap.  über  den  Bären  und  den  Affen. 

»  Vrikßhe-vrikßhe  niyatä  mimayad  gäus  tato  vayah  pra  patan  püru- 
ßbädat  *  vi^vam'  bhuvanam  bhayate;  Rigv.  X,  27,  22.  -  Tvam  ayasana 
prati  vartayo  gor  divo  a^manam;  Rigv.  I,  121,  9. 


11 

Gestalt  einer  Kuh ; '  ein  anderer  stellt  die  Wolke  als  die  Kuh 
dar,  welche  die  Gewässer  bildet,  und  die  bald  einen,  bald  vier, 
acht,  neun  Ftisse  hat  und  den  obersten  Himmel  mit  Geschrei  er- 
fttUt;^  nach  einem  dritten  endlich  schleudert  die  Sonne  ihre  gol- 
dene Scheibe  nach  der  gefleckten  Kuh ;  *  die  Entführten ,  welche 
von  dem  Schlangenupgeheuer  bewacht  werden ,  die  Gewässer,  die 
Kühe  sind  Weiber  der  Dämonen  geworden;*  und  sie  müssen  bös- 
artig sein,  da  ein  Dichter  die  böseai  Geister,  die  Dämonen,  mit 
dem  Wunsche  verflucht,  dass  sie  das  Gift  dieser  Kühe  trinken 
mögen.  ^  Wir  sahen  schon ,  dass  die  Festungen  Weiber  von  Dä- 
monen und  diese  die  Besitzer  der  Wälder  sind.® 

In  dem  bewölkten  und  donnernden  Himmel  entfaltet  der 
kriegerische  Held  seine  grösste  Kraft ;  aber  es  ist  nicht  zu  leugnen, 
dass  die  meisten  und  sinnigsten  Mythen  die  Beziehungen  zwischen 
dem  Nachthimmel  (bald  dunkel,  feucht,  schrecklich,  bald  von  dem 
ambrosischen  Mondlicht  umflossen  und  mit  Sternen  besät)  und  den 
beiden  glühenden  Himmeln  —  die  beiden  glänzenden  Dämme- 
rungen des  Morgens  und  Abends  (des  Frühlings  und  Herbstes)  — 
darstellen.  Wir  haben  hier  die  allgemeine  Erscheinung,  dass 
Licht  und  Finsterniss  in  Streit  verwickelt  sind;  auch  hier  wieder 
ist  Indra  (die  Sonne)  in  einer  Wolke  verborgen,  um  das  Licht  vor- 
zubereiten, um  die  Ströme  der  Jugend  und  des  Lichts,  die  Reich- 
thümer,  die  Kühe  von  dem  Ungeheuer  der  Finsterniss  zu  be- 
freien; aber  der  Held  erreicht  sein  Ziel  erst  nach  langen,  sehr 
gefahrvollen  Wanderungen;  den  Ausschlag  geben  Schlachten,  in 
welchen  oft  eine  Heldin  die  Hauptrolle  spielt,  ausgenommen  die 
nicht  zahlreichen,  aber  recht  beachtenswerthen  Fälle,  in  welchen 
die  Wolken,  Orkane,  Stürme  von  Blitzen  und  Donnerkeilen ,  mit 


'  Brihaspatir  govapusho  valasya  nir  maggänam  na  parvano  gabhara; 
Rigv.  X,  68,  9. 

*  Gaurir  mimaya  snlilani  takshatj  ekapadi  dvipadi  sa  datushpadi  — 
asbtäpadi  navapadi  babhüvushi  sahasraksharä,  parame  yyoman;  Rigv.  I, 
164,'  41. 

^  Ut4da]>  parushe  gavi  sdraQ  dakram  hiranyayam  ny  airayat;  Rigv. 
VI,  56,  3.  —  Bergaigne  übersetzt:  „il  a  lancö  le  disque  du  soleil";  seine 
Erklämng  ist  vielleicht  der  von  mir  gegebenen  vorzuziehen. 

*  Däsapatnir  ahigopä  atishthan  niruddhä  apah  panineva  gävah; 
Rigv.  I,  32,  11. 

*  Visham  gavHm  yätudhänäh  pibantu*,  Rigv,  X,  87,  18.  —  Diese  Stelle 
kann  man  jedoch  auch  so  fassen:  ,,Die  Dämonen  der  Kühe  mögen  das 
Gift  trinken l" 

«  Rigv.  III,  12,  6.  X,  27,  22. 


12 

dem  Ende  der  Nacht  (oder  des  Winters)  zusammenfallen  and 
Indra,  die  Sonne,  die  Wojken  (oder  das  Dunkel  des  Winters) 
durchbricht,  das  nächtliche  Dunkel  zerstreut  und  die  Morgen- 
dämmerung (oder  den  Frühling)  dem  Himmel  wiederbringt.  In 
solchen  Fällen  ist  Indra  nicht  blos  der  grösste  unter  den  Göt- 
tern, sondern  zeigt  sich  auch  als  den  epischsten  unter  den  Hel- 
den; die  beiden  Himmel,  der  dunkle  und  der  bewölkte,  mit  ihren 
Ungeheuern,  und  die  beiden  Sonnen,  die  donnernde  und  die  strah- 
lende, mit  ihren  Bundesgenossen,  werden  zusammengeworfen, 
und  dann  erhält  der  Mythus  seinen  ganzen  poetischen  Zauber. 
Die  feierlichsten  Momente  der  grossen  Nationalepen  der  Arier, 
des  Rämäyana,  des  Mahäbhärata,  des  Königsbuches,  wie  auch  der 
Ilias,  des  Rolandsliedes  und  der  Nibelungen  beruhen  gerade  auf 
diesem  Zusammenfallen  der  beiden  Sonnenactionen  —  der  Nie- 
derwerfung des  finsteren  Ungeheuers  und  der  Befreiung  und 
Wiedererweckung  der  Morgendämmerung  (oder  des  Frühlings). 
Nach  einer  schon  angeführten  Stelle  des  Rigveda^  selbst  lassen 
auch  wirklich  die  Wolken  —  die  drei  mal  sieben  gefleckten 
Kühe  —  durch  ihre  Milch  an  einem  Gott  (in  dem  wir  aus  einer 
ähnlichen  Stelle  *  Indra,  die  Sonne,  erkennen)  im  östlichen  Himmel 
(^pürve  vyomani),  d.  h.  gegen  Morgen  und  bisweilen  in  der 
Frühlingszeit,  viele  der  Erscheinungen  zu  Tage  treten,  welche 
denen  der  Morgenröthe  entsprechen.  Die  Pri^nis  oder  Schecken 
sind  ohne  Zweifel  die  Wolken,  wie  die  Maruts,  die  Söhne  der 
Pri^ni,  die  Winde  sind,  welche  in  der  Sturmwolke  heulen  und 
blitzen.  Deshalb  muss  man  den  Wolkenhimmel  auf  den  Morgen 
verlegen.  Dann  wird  man  die  Pri^nis ,  welche  den  Sonnengott 
Indra  in  der  östlichen  Himmelssphäre  ernähren,  und  die  sieben 
Aögirasen,  die  sieben  Sonnenstrahlen,  die  sieben  Weisen,  welche 
am  Morgen  Hymnen  singen,  verstehen.  Der  Gesang  dieser  fabel- 
haften Weisen  kann,  meines  Erachtens,  nichts  anderes  sein, 
als  das  Krachen  der  Donnerkeile,  die  man,  wie  wir  sehen,  als 
Strahlen  der  Sounenschcibe  dachte.  Anspielungen  auf  Indra  als 
den,  der  am  Morgen  donnert,  sind  in  den  vedischen  Hymnen  so 
häufig,  dass  diese  kurze  Abschweifung  entschuldbar  ist,  von  der 
ich  nur  zu  bald  zu  meinem  eigentlichen  Thema,  der  speciellen 
Behandlung  der  mythischen  Thiere,  zurückkehren  muss,  weil  wir 
einen  weiten  Weg  zurückzulegen  haben. 


'  Rigv.  IX,  70,  1. 

*  VUl,  6,  19.    Vgl.  die  Kap.  über  das  Pferd  und  den  Kuckuk. 


13 

Auch  die  glänzende  Nacht  hat  ihre  Kühe:  die  Sterne,  welche 
die  Sonne  mit  ihren  Strahlen  in  die  Flucht  schlägt;*  ihr  Aufent- 
haltsort muss  dem  der  SonnenkUhe  benachbart  sein;  sie  heissen 
die  vielhomigen.  ^  Ihr  Wohnort  scheint  mir  der  Beachtung  werth 
zu  sein :  es  sind  die  himmlischen  Häuser,  welche  sich  bewegen,  die 
verzauberten  Hütten  und  Paläste,  welche  erscheinen,  um  wieder 
zu  verschwinden,  und  in  den  Volksmährchen  der  Arier  so  häufige 
Umgestaltungen  erfahren. 

Der  Mond  ist  gewl^hnlich  ein  männliches  Wesen;  denn  seine 
gewöhnlichsten  Namen :  6andra,  Indu  und  Soma  sind  männlichen 
Geschlechts;  da  aber  soma  Ambrosia  bedeutet,  so  kam  der 
Mond,  als  Spender  von  Ambrosia,  schon  früh  dazu,  als  milchge- 
bende Kuh  betrachtet  zu  werden;  und  wirklich  hat  das  Wort  go 
(Kuh)  im  Sanskrit  neben  verschiedenen  andern  Bedeutungen  auch 
die  von  „Mond*^  Der  Mond,  Soma,  welcher  den  Nachthimmel 
erhellt,  und  die  Regensonne,  Indra,  welcher  zur  Nacht-  oder  Win- 
terszeit das  Morgen-  oder  Frühlingslicht  vorbereitet,  werden  als 
Genossen  dargestellt;  ein  junges  Mädchen,  der  Abend  oder  Herbst 
(Dämmerung),  welches  zur  Nacht-  oder  Winterszeit  Wasser 
schöpfen  geht,  findet  in  dem  Brunnen  den  ambrosischen  Mond 
und  bringt  ihn  zu  Indra,  welcher  den  Soma  liebt.  Die  Worte 
des  vedischen  Hymnus  lauten  folgendermassen:  „Das  junge  Mäd- 
chen stieg  zum  Wasser  hinab,  fand  den  Mond  in  dem  Brunnen 
und  sagte:  *Ich  will  Dich  zu  Indra  bringen,  ich  will  Dich  zu 


'  Vi  ra^mibhih  sasrigc  j-uryo  gäh;  Rigv.  VIII,  30,  1. 

*  Tä  väm  (die  Götter  Vishnu  und  ^ladra)  väatüny  u^maei  gamadhyäi 
yatra  gävo  bhüri^rlngä  ayasal^;  Rigv.  I,  IM,  6.  Hier  bilden  alle  Sterne 
oder  Kühe  zusammen  viele  flörner;  vielleicht  wurde  aber  jeder  Stern 
(resp.  Kuh)  an  und  für  sich  als  einhornig  gedacht;  denn  die  Sterne,  wie 
der  Mond,  senden  nur  einen  Lichtstrahl.  Das  kann  man,  meines  £rach- 
tens,  aus  dem  Namen  Eka^riiiga  (Einhornig)  schliessen,  welchen  in  der 
späteren  indischen  Mythologie  eine  ganze  Keihe  von  Manen  führten,  als 
deren  oberste  Wohnungen,  als  deren  reinste  Erscheinungsform  die  Sterne 
dargestellt  werden.  Ich  bitte  indessen  den  Leser,  die  Sterne  zu  beachten, 
welche  Kühe  sind,  und  mit  den  Manen,  den  Schatten  der  Verstorbenen, 
in  Verbindung  stehen.  Denn  die  vedischen  Hymnen  geben  uns  noch  eine 
andere  höchst  interessante  Andeutung,  nämlich  dass  der  Gott  der  Nacht, 
Varuna,  Alles  sieht,  weil  er  mit  Spionen  oder  spa^as  (den  Sternen)  umge- 
ben ist  Die  Spione  Varunas  führen  uns  einerseits  auf  das  Gottesauge  des 
katholischen  Volksglaubens  in  Italien  und  ermöglichen  uns  andererseits 
das  Verständniss  des  Volksmährchens,  in  welchem  bald  die  Kuh ,  bald  die 
Ziege  die  Rolle  eines  Spions  spielt. 


14 

Qakra  bringen!   Fluthe,  o  Mond,  und  umhülle  Indra!'''^     Mond 
und  Ambrosia  liegen  beide  in  dem  Worte  Indu ,   wie  Soma ;  da- 
her ist  auch  Indra,  der  Somatrinker  par  excellence  (somapätama), 
der  beste  Freund  und  Genosse    des    ambrosischen  oder  Regen- 
mondes, tn  d  so  drängen  uns  die  Sonne  und  der  Mond  (wie  auch 
Indra  und   Vishnu)    das   Bild    zweier   Freunde,    zweier   Brüder 
(Indu  und  Indra),  und  zwar  Zwillingsbrüder,  der  beiden  A^vins 
auf;   ebenso  nicht  selten  die  beiden  Dämmerungen,  der  Morgen 
und  Abend,   der  Frühling  und  Herbst,  von  denen  jedoch  erstere 
besonders  mit  der  rothen  Sonne,  die  am  Morgen,  resp.  Frühling, 
erscheint,  in  Verbindung  gebracht  werden,  letztere  mit  dem  bleichen 
Monde,  der  sich  am  Abend  zeigt,   resp.  im  Herbst,  als  specieller 
Beherrscher  der  kalten  Jahreszeit.    Indra  und  Soma  (Indräso- 
mäu)  werden  häufiger  als  zwei  Stiere  dargestellt,  welche  zusam- 
men das  Ungeheuer  bezwingen  (rakshohanäu),  die  in  Finster- 
niss   lebenden    Ungeheuer    mit    Feuer    vertilgen.*      Das    Wort 
vrishanäu  bedeutet  eigentlich  die  Beiden,  welche   ausströmen 
lassen  oder  befruchten.    Hier  bedeutet  es  die  beiden  Stiere;  aller- 
dings werden,  da  das  Wort  vrishan  neben  Stier   noch  Hengst 
bedeutet,  die  beiden  Hengste,  Indra  und  Soma,   durch  einen  na- 
türlichen Uebergang  bald  zu  zwei  Pferden   oder  Reitern  umge- 
staltet, den  beiden  A^vins.    Daher  finden  wir  im  Volksmährchen 
neben  der  jungen  Prinzessin  den  Helden,  der  bald  die  Kühe  auf 
die  Weide  führt,    bald  als  Stallknecht  die  Pferde  wartet.     Doch 
bringen  wir  nicht  im  Voraus  Vergleich ungen,  welche  erst  weiter 
unten  ihren  Platz  haben !     Nachdem  wir  nur  noch  bemerkt  haben, 
dass  wir  im  Rigveda  den  Mond  entweder  als  Stier  oder  als  Kuh 
dargestellt  finden  (als  Indu,  Soma,  Öandra  ist  er  immer  das 
erstere;  während    die  Feraininform   Räkä   mehr   die  Vorstellung 
einer  Kuh  weckt),  wollen  wir  den  Stier  Indra  in  seiner  Beziehung 
zu  der  Kuh  Aurora  (resp.  Frühling)  betrachten. 

Fünf  Stiere  stehen  in  der  Mitte  des  Himmels  und  jagen  den 
Wolf,   welcher  die  Wasser  durchstreicht,   fort;^   der  glänzende 


*  Kauyä  vär  aväyati  somam  api  srutävidat  astam  bliaranty  abravid 
indräja  sunavai  tvä  ^akräya  sunaväi  tvä.  —  Indräyendo  pari  srava; 
Rigv.  VUI,  80,  1.  3. 

*  Indräsomll  tapatam  raksha  ubgatam  ny  arpayatam  vrishanä  tamo- 
vridhah;  Rigv.  VII,  104,  1.  —  Die  folgenden  Strophen  fuhren  den  Ge- 
genstand weiter  aus. 

^  Pandokshano  madhye  tasthur  maho  divah.  —  Te  sedhanti  patbo 
vrikam  tarautam  yahvatir  apah;  Kigv.  I,  105,  10.  11. 


15 

Vasava  bindet  die  Kuh,  welche  an  den  Füssen  gefesselt 
ist,  los.  ^ 

Wie  ist  nun  diese  Kuh  entstanden  ? 

Sie  ist  von  den  Künstlern  der  Götter ,  den  drei  R  i  b  h  u  - 
Brüdern,  geschaffen,  die  sie  aus  einer  Kuhhaut  herausziehen,  d.  h. 
sie  bilden  eine  Kuh,  und  bedecken  sie,  um  ihr  Leben  zu  geben, 
mit  dem  Felle  einer  todten  Kuh.  ^  Das  ist  so  zu  verstehen,  dass 
die  Kuh  Aurora^  am  Abend  stirbt;  die  ßibhus,  die  dreifache 
Sonne  Jndra,  d.  h.  die  Sonne  in  den  drei  Nachtwachen,  richten 
das  Fell  dieser  Kuh  zu,  indem  der  eine  Ribhu  der  todten  Kuh  das 
Fell  abzieht,  ein  zweiter  es  während  der  Nacht  zurecht  macht, 
und  der  dritte  Ribhu  am  frühen  Morgen  die  neue  Kuh,  die 
Aurora,  damit  schmückt.  Das  heisst:  Indra  zieht  in  drei  ver- 
schiedenen Momenten  dem  Mädchen,  das  er  liebt,  das  aber  wäh- 
rend der  Nacht  hässlich  geworden  war,  die  Haut  ab  und  stellt 
ihre  Schönheit  am  Morgen  wieder  her.^  Die  drei  Ribhus  lassen 
sich,  meines  Erachtens,  um  so  leichter  mit  dem  dreifachen  Indra, 
Indra-Vishnu,  der  die  Welt  mit  drei  Schritten  durchmisst,  iden- 
tificiren,  als  sie  •ebenfalls,  wie  Indra,  Stiere  genannt  werden;* 
wie  Indra  nicht  selten  ein  Falke  heisst,  so  werden  auch  sie  als 
Vögel  bezeichnet;®  endlich  verrichten  sie  zuweilen  dieselben  Wun- 
der wie  Indra.  Diese  Identificirung  der  Ribhu-Stiere,  von  denen 
wir  hier  als  Schöpfern  der  Kuh  Aurora  sprechen  (es  ist  das  die- 
selbe unfruchtbare  Kuh  des  schlafenden  Helden  Qayu,  welche  die 
A^-vins,  die  beiden  Reiter  des  Zwielichts,  durch  die  Ribhus  ver- 


*  Vasavo  gäuijam  6lt  padi  shitäm  amundatä  yagftträh;  Rigv.  IV, 
12,  6.  "       ' 

*  Taksban  dhenum  sobardugham ;  Rigv.  I,  20,  3.  —  Ni^  darraano  gam 
arinita  dhitibhih;  Kigv.  I,  167,  7.  1V,'36,  4. 

*  Um  störende  und  unnütze  Wiederholungen  zu  vermeiden,  mu8s  ich 
hier  bemerken»  dass  die  Mythen  von  Morgen  und  Abend  oft  auf  Frühling 
und  Herbat,  die  von  der  Nacht  auf  den  Winter  übertragen  sind. 

*  Diese  interossantc  Einzelheit  ist  in  den  Kap.  über  den  Wolf,  die 
Sau  und  den  wilden  Eber  (q    v.)  ausführlicher  dargestellt. 

^  Ray  im  ribhavah  sarvaviram  ä  takshata  vrishano  mandasänah;  Rigv. 
IV,  35,  6.  * 

*  Rayim  ribhavas  takshata  vayah;  Rigv.  IV,  36,  8.  —  Hier  haben  wir 
die  Kuh  v^ieder  in  Beziehung  mit  den  Vögeln,  da  die  von  den  Ribhus 
verliehenen  Reichthümer  vor  Allem  in  Kühen  bestehen.  (Ye  gomantaih 
▼ägavantam  suviram  rayim  dhattha  vasumantam  purukshum  te  agrepa 
ribhavo  mandasäna  asme  dhafta  ye  da  rätim  grinanti;  Rigv.  IV,  34,  10.) 


16 

jungten,  wieder  fruchtbar  machten),  ^  mit  dem  Stier  oder  Helden 
Indra  scheint  mir  von  der  grössten  Wichtigkeit  zu  sein,  da  sie 
uns  zu  Vielem,  was  ein  Lebenselement  der  arischen  Sagen  ist, 
den  Schlüssel  bietet. 

Die  Bibhus  sind  also  drei  Brüder.  Sie  sind  dabei,  die  Scha- 
len zu  bereiten,  welche  den  Göttern  zum  Trinken  dienen  sollen. 
Jeder  hat  eine  Schale  in  der  Hand.  Der  älteste  Bruder  fordert  die 
andern  heraus,  zwei  Schalen  aus  einer  zu  machen;  der  zweite 
masst  sich  an,  drei  aus  einer  zu  machen;  der  jüngste  Bruder 
geht  noch  weiter  und  wettet,  eine  Schale  zu  vervierfachen.  Sein 
ist  der  Sieg  und  der  grösste  Himmelsarbeiter,  der  Vulkan  der 
Veden,  Tvashtar,  lobt  ihre  kunstvolle  Arbeit.  ^  Der  jüngste  unter 
den  drei  Brüdern  ist  also  auch  der  geschickteste.  In  dem  ßig- 
veda  finden  wir  alle  drei  Brüder  Sukarma,  d.  h.  Verfertiger  schö- 
ner Arbeiten,  genannt;  und  obgleich  es  nur  von  einem,  der 
eigentlich  den  Namen  Bibhu  oder  Kibukshä  führt,  heisst, 
er  diene  dem  Gott  Indra  als  Arbeiter  (daher  auch  die  Benennung 
Ribukshä,  Eibhvan  oder  Ribhva  für  Indra  selbst),  so  stehen  doch 
die  beiden  andern  Brüder,  Vag; a  und  Vibhvan,  der  eine  in 
Diensten  aller  Götter,  der  andere  in  denen  Varunas,  des  Gottes 
der  Nacht  ^  Es  könnte  natürlich  scheinen,  in  Ribhu,  dem  Günst- 
ling Indras,  den  geschicktesten  der  drei  Brüder  zu  sehen,  der, 
wie  wir  sehen,  auch  der  jüngste  ist;  da  wir  jedoch  aus  der  Reihen- 
folge, in  welcher  die  Hymnen  die  drei  Brüder  aufzählen,  nichts 
schliessen  können  ~  sie  folgen :  Väga,  Ribhukshä,  Vibhvan ;  Väga, 
Vibhvan,  Ribhu,*  oder:  Ribhu,  Vibhvan,  Vä^a  —  und  da  wir 
auch  alle  Ribhus  mit  dem  geraeinsamen  Namen  Väga,  Väga  selbst 
mit  Indra,  und  Indra  wieder  in  seiner  dreifachen  Gestalt  als 
Ribhu,  Vibhvan  und  Väga  angerufen  finden,^  so  bleibt  es  unge- 


'  Qayave  <5ia  näsatyä  Qaöibhir  ^asuraye  staryam  pipyathur  gäm; 
Rigv.  l  116,  22.  —  Yä  ^arantä  yuva^ä  takrinotana;  Rigv.  I,  161.  7.  — 
Die  biblische  Erzählung  von  der  unfruchtbaren  alten  Sara«  die  nach  der 
Erscheinung  der  Engel  im  Hause  Abrahams  f]:uchtbar  wird,  klingt  neckisch 
an  diese  vediucbe  Erzählung  an. 

*  Gyeshtha  äha  (famasä  dvä  kareti  kaniyän  trin  krinavämety  äha 
kanishtha  aha  daturas  kareti  tvashta  ribhavas  tat  panayad  vado  va^; 
Rigv.  IV,  33,  5. 

'  Vägo  devanam  adbavat  sukarmendrasya  rlbhukshd,  varunasya  vibhvd ; 
Rigv.  IV,  33,  9.  *  '  , 

*  Te  vago  vibhvan  ribhur  indravantah;  Rigv.  IV,  33,  3. 

^  Ribhur  vibhvä  va^a  indro  no  adhemam  yagiiam  ratnadheyopa  y4ta; 
Rigv.'lV,  34,  1.  -  Pibata  väga  ribhavo;  Rigv.  IV,  34,  4. 


17 

wiss,  welches  der  eigentliche  Name  des  jüngsten  Bruders  war. 
Dagegen  scheint  festzustehen^  dass  Indra  mit  den  Eibhus  (Indra- 
vants J  zu  identificiren,  dass  der  dritte  Bruder  der  geschickteste  ist 
und  dass  die  drei  Brttder  den  Herren  des  Himmels  als  Arbeiter 
dienen.  Hier  stossen  wir  auf  ein  interessantes  Moment.  In  zwei 
Hymnen  des  Kigveda  erscheint  als  einziger  Schützer  der  Kibhus 
Indra  selbst  oder  die  Sonne  (Savitar)  unter  dem  Namen  A  g  o  h  y  a 
(d.  h.  der  sich  nicht  verbergen  kann).  Während  der  zwölf  Tage 
(der  zwölf  Nachtstunden  oder  der  zwölf  Monate),  in  welchen  sie 
Agohyas  Gaste  sind,  segnen  sie,  während  sie  schlafen,  das  Land 
in  jeder  Weise:  sie  machen  die  Felder  fruchtbar,  die  Ströme 
wasserreich  und  erfrischen  das  Gras  des  Feldes.  *  Dabei  dürfen 
wir  jedoch  nicht  vergessen,  dass  sie  die  wohlthätigen  Söhne  Snd- 
hanvans,  des  trefPlichen  Bogenschützen,  und  selbst  solche  sind, 
als  Repräsentanten  des  grossen  himmlischen  Bogenschützen,  des 
donnernden  und  regnenden  Indra;  dass  also  ihr  Schlaf  nur  ein 
Tropus  für  ihre  verborgene  Existenz  in  Finsterniss  und  nächt- 
lichem Gewölk  ist. 

Der  Eigveda  führt  jedoch  die  drei  Brüder  noch  unter  anderen 
Namen  auf,  und  besonders  unter  einem  sehr  merkwürdigen  Bilde. 
Der  dritte  Bruder  wird  nämlich  Trita,  der  Dritte,  genannt,  und 
als  solcher  auch  mit  Indra  identificirt.  So  sind  zum  Beispiel  die 
Erscheinungen  Indras  am  Himmel  drei  an  Zahl:  Abends,  Nachts 
und  gegen  Morgen ;  das  Ross  Tritas ,  das  er  von  Tama  erhalten, 
ist  bald  Yama  selbst,  bald  der  Sohn  Aditis  (die  wir  schon  als  die 
Kuh,  resp.  männlich  als  den  Sohn  der  Kuh  kennen  gelernt  haben), 
bald  Trita;  dieses  Ross^  kann  Trita  allein  bändigen,  Indra  allein 
es  reiten;  es  ist  Ambrosiafeucht  und  hat  drei  Verwandte  im 
Himmel ,  drei  in  den  Wassern ,  drei  im  Ocean ;  ^  d.  h.  der  eine 
Verwandte  ist  Tama,  der  älteste  Bruder;  der  zweite  der  Sohn  der 
Kuh  oder  der  zweite  Bruder,  der  letzte  Trita  selbst  oder  der 
jüngste  Bruder.  Dieser  Trita  wird  klug  genannt;  er  entspricht 
also  dem  dritten  Bruder,  der  vier  Becher  aus  einem  macht.    Wie 


'  Dvada^a  dyün  yad  agobyasy Stithy e  rananD  ribhayah  sasanta^ 
sukshetr^krinvanu  anayanta  eindhüu  dbanvatishthaun  osbadbir  uimuam 
Äpah;  RigV  IV,  33,  7.  —  Vgl.  Rigv.  I,  161,  11-13. 

*  Yamena  dattam  trita  enam  äyunag  indra  enam  prathamo  adby 
atiflhtbat;  Rig^*  I«  163,  2.  —  Asi  yamo  asy  adityo  arvann  asi  trito 
gahyena  vratena  asi  somena  samayä  viprikta  4bu8  te  trini  divi  band- 
bandni  trini  ta  äbur  divi  bandbanäni  trini  apsu  triny  antah  samadre; 
Rigv.  I,  163,  3.  4. 

GabernatU,  die  Tbiere.  2 


18 

kann  er  also  trotzdem  zuweilen  als  einfältig  geschildert  werden  ? 
Die  Sprache  giebt  uns  hier  die  Erklärung  an  die  Hand.  Im 
Sanskrit  bedeutet  nämlicb  bäla  sowohl  Kind  ala  eiDfältig;  der 
dritte  Bruder  erscheint  als  einfältig,  weil  er,  zumal  bei  seinem 
ersten  Erscheinen,  ein  Kind  ist,  —  und  doch  sehen  wir  ihn  auch 
als  Kiud  beständig  Wunderdinge  verrichten  und  Beweise  einer 
ßbernatUrlichen  Weisheit  geben.'  So  ist  uns  die  Bedeutung  des 
Mythus  erschlossen.  Der  älteste  Bruder,  Yama,  die  sterbende 
Sonne,  ist  trotz  all  seiner  Weisheit  und  seiner  Erfahrung  unfähig, 
aus  eigner  Eraft'die  geraubte  oder  verirrte  Prinzessin  zu  ent- 
decken und  wiederzugewinnen;  der  Sohn  der  Ruh  Aditi,  d.  b. 
Aditya,  die  Sonne  in  der  Mittemacht  oder  der  Mond,  giebt  oft 
den  Beweis,  dass  er  stark  genug  ist,  das  Dunkel  und  die  Wolken 
zu  verschencbcn  und  die  Verzauberung  zu  lösen;  gewöhnlich  ist 
es  aber  die  dritte,  die  Morgensonne,  Indra  in  seiner  dritten  Ge- 
stalt, Vishnu,  der  seinen  dritten  Schritt  macht, '  der  dritte  Bruder, 
Trita,  der  den.  Sieg  zu  gewinnen  und  die  ganze  MorgenrÖthe 
von  dem  Ungeheuer  der  Nacht  zu  befreien  scheint  Das  scheint 
mir  Alles  ganz  klar  zu  sein. 

Trita  trinkt  wie  Indra  das  Wasser  der  Stärke  und  reissf 
hierauf  das  Ungeheuer  in  Stücke;^  der  Sieg  des  jungen  Helden 
muss  von  ihm  in  derselben  Weise,  wie  von  Indra,  seiner  glän- 
zenderen und  erhabeneren  Erscheiaungefonn,  errungen  werden. 
Nachdem  aber  Trita  oder  Ttäitaua  das  Ungeheuer  der  Wasser 
getöiltet  hat,  fitrebtct  er,  dase  die  Wasser  selbst  ihn  verschlingen 
könnten;  als  er  dem  Ungeheuer  den  Kopf  abgehauen,  haben  ibu 
einige  Feinde  in  die  Wasser  gedräckt.  *  Die  Sonne  hat  das 
Ungeheuer,  wclclies  die  Wasscrqueüe  verschlossen  hielt,  besiegt  — 

>  Zu  d«r  Bildung  und  Verbreitung  diespr  Anschauung  hat  vifllt'icbt 
noch  die  Beziehung  zwischen  bäla,  Kind,  einfaltig,  und  baln,  stark,  bei- 


'  Der  dreigestaltige  Viehnu  wird  oft  im  Rigveda  und  im  Ya^rreda 
besprochen.  U'T  drille  Schritt  Visbnii't  fällt  zwisehmi  die  Kühe  mit  den 
groasen  oder  vielen  Hörnern;  Gamadhye  gävo  yiiira  bhfiri  (riiigä  ayäsa^ 
aträ  'ha  lad  urugäyasya  vishnoh  parntnam  padam  nva  bhäti  l>tifireb; 
Täittiriya  Yiigurv.  I.  3,  6. 

»  Rigv.  T,  187,  I.  Die  Stelle  wurde  schon  citirt,  als  von  dem  Wasser 
der  Stärke  die  Ucde  war. 

*  Na  nä  garan  nadyo  mätritamä  däsä  yad  im  BusRmnbdham  avadhuh 
(iro  y»4  BBja  trüitaiio  vitakshat;  Higv.  I,  I.W,  .'i.  Wir  werdi'n  mehr  ala 
einmal  Gelegenheit  haben,  auf  einen  analogen  Mythus  bezüglich  Indras 
zuraukzukoiuiiien. 


19 

sie  hat  die  Wasser  entfesselt;  bat  aber  selbst  die  Wolken  nicht 
durchbrechen  können;  sie  bat  die  Prinzessin ;  die  Dämmerung; 
die  sie  erbeuten  sollte,  von  dem  finstem  Ungeheuer  befreit,  lässt 
sich  aber  selbst  noch  nicht  blicken.  Wer  sind  denn  nun  die 
FeindC;  die  den  jungen  Helden  in  den  Brunnen,  in  das  Meer  ge- 
worfen haben?  Wie  wir  sahen,  hat  Trita  zwei  Brüder;  sie  sind 
es,  welche  in  einem  Anfalle  von  Eifersucht  wegen  seiner  Ge- 
mahlin, der  Aurora,  und  der  Beichthtimer,  die  sie  ihm  aus  dem 
Beiche  der  Finstemiss  mitbringt,  ihren  Bruder  in  dem  Brunnen 
eingeschlossen  halten.  Diese  ganze  Erzählung  finden  wir  in 
einem  einzigen,  aber  höchst  beredten  Vedaverse.  Der  kluge  Trita 
ruft  aus  dem  Brunnen  um  Hilfe  (r  e  b  h  a  t  i) ;  ^  und  die  beiden  Reiter 
der  Dämmerung,  die  AQvins,  kommen,  den  Rufenden  (rebha), 
der  von  den  Wassern  bedeckt  und  umwogt  ist ,  zu  befreien.  ^  In 
einem  ajadem  Hymnus  scheint  der  Retter  Brihaspati,  der  Herr 
der  Andacht,  zu  sein,  der  auf  den  Ruf  Tritas  zu  den  Göttern 
aus  ELleinem  Grosses  macht,  ^  d.  h.  dem  jungen  Helden  einen 
Weg  bahnt,  aus  dem  Brunnen  zu  entkommen  und  sich  in  voller 
Glorie  zu  zeigen. 

Wenn  in  den  vedischen  Hymnen  Trita,  der  dritte,  geschick- 
teste und  beste  Bruder,  von  den  beiden  anderen  verfolgt  wird ,  so 
ist  es  interessant,  die  Form  zu  beobachten,  welche  dieser  Mythus 
in  der  Volkssage  der  Hindus  angenommen  hat:  „Drei  Brüder, 
Ekata  (d.  h.  der  erste),  Dvita  (d.  h.  der  zweite)  und  Trita 
(d.  h.  der  dritte)  reisten  in  einer  Wüste;  von  Durst  gequält,  kamen 
sie  zu  einem  Brunnen,  aus  welchem  der  jüngste,  Trita,  Wasser 
heraufholte  und  es  den  älteren  gab.  Zum  Lohne  warfen  sie  ihn 
in  den  Brunnen,  um  seinen  Antheil  für  sich  zu  verwenden,  be- 
deckten den  Rand  mit  einem  Wagenrade  und  Hessen  ihn  darin. 
In  seiner  Noth  flehte  er  zu  den  Göttern,  ihn  zu  befreien  und 
entrann  durch  ihre  Gnade/'^ 


'  Tritas  tad  vedäptyah  sa  ^ämitv^ya  rebhati;  Rigv.  I,  105,  9.  — 
Gämitvä  ist  zunScbst  Leibesverwandtschaft,  dann  Verwandtschaft  im 
AUgemeinen.  Rebha  oder  der  Rufer,  als  lield  dargestellt,  ist  Niemand 
anders  als  dieser  Trita  äptya. 

*  Bebham  nivritam  sitam  adbhyah;  Kigv.  I,  112,  5. 

*  Tritab  küpe  'vahito  devän  havata  ütaye  tad  chu^räva  bribaspatih 
krinyann  anhüranftd  um;  Kigv.  I,  105,  17. 

*  Nitimaä^an,  citirt  bei  Wilson,  Kigvcda-äambitä  vol.  I.  — 
(Weil  ich  Wilson  citirt  habe,  glaubten  gewisse  englische  Kritiker,  welche 
der  vergleichenden  Mytiiologie  feindlich  gegenüberstehen,  diese  so  inter- 

2* 


20 

So  haben  wir  die  drei  BrUder,  deren  jüngster  Trita  ist,  in 
nahe  Verwandtschatl  mit  den  drei  Kibhns  gebracht,  und  sowohl 
die  ersteren  ale  die  letzteren  in  eine  eben  so  nahe  Beziehang  zu 
den  drei  Erecbeinnngsformea  Indras.  Wir  haben  schon  gesagt, 
dass  die  Kibbua  die  Kuh  geschaffen  haben;  ebenso  sendet 
U^anä  Kävyä,  der  von  Indra  beschützte  begierige  Weise,  ein 
andrer  Harne  für  den  Sonnenhelden  des  Morgens,  die  Kühe  vor 
sieb  her;  •  und  Indra  selbst  ist  der  einzige  Herr  der  Kühe,  dereinzige 
wirkliche  himmlische  Hirt;^  oder  vielmehr,  er  ist  es,  der  die 
SoDoe  und  die  Aurora  erzeugt,*  oder,  wie  es  in  einem  andern 
Hymnne  heisst,  der  die  Pferde  nnd  die  Sonne  und  die  Knb  der 
Fülle  giebt.  * 

Bier  ist  also  die  Aurora  deutlich  die  Kah  der  Fülle;  sie  ist 
femer  die  milchgebende  und  glänzende  Knb,  in  der  sich  alleAn- 
muth  und  Lieblichkeit  findet; '  endlich  sind  tisrä  und  ashä  zwei 
Worte,  zwei  Benennungen ,  welche  ohne  Unterschied  Aurora  und 
Kuh  als  die  rothe  oder  glänzende  bedeuten.  Die  Identität  der 
Anrora  mit  der  Kuh  in  dem  mythischen  Himmel  der  Veden  ist 
also  eine  Gewissheit. 

Ein  andrer  Name,  welchen  die  milcbgebende  Enh  im  Rigveda 
ausser  dem  gewöhnlichen  Üsfaä  annimmt,  ist  SttS,  welche  Indra 
auch,  wie  die  Anrora,  vom  Himmel  herabsteigen  läset,  und  welche 
von  dem  Sonnengott  Füsban,"  dem  Ernährer,  dem  Befrachter, 
der  in  einem  Hymnus  mit  einem  kampflustigen  Büffel  verglichen 
wird ,  ^  gemolken  werden  muss.  Dieser  Indra,  der  Beschützer  und 
Freund  Sitäs,  bereitet  also  Vishnu,  der,  als  Räma,  sein  Weib  Sita 


psBante  Erzählung  aei  schon  erklärt  worden  und  der  Verf.  habe  aicfats 
welter  gethitu,  als  etwas  Aogeiioiiinii  nca  reproducirt ;  infolge  desacu  haben 
sie  meine  Erklärung  gebilligt  üi^r  Verf.  nendpt  eich  nun  an  die,  welche 
aich  ematlich  mit  solchen  Studien  befaesen,  in  der  Uuüuung,  ihre  Unpar- 
teilichkeit werda  ihm ,  wenn  anders  diese  Entdeckung  überhaupt  etwas 
Vcrdienstlicbes  hat,  das  Verdienst  derselben  luerkennen.) 

>  A  gä  ägad  u^hdA  kArja^  sadft;  Rigv.  I,  83,  b. 

*  Fatir  gaväm  abhavad  eka  indrah;  Bigv.  111,  itl,  4. 

>  Ga^ätia  sfiryam  ushftsam;  Rigv.  Ill,  82,  tt. 

*  Sas&natj&ä    uta   säryam   satAnendrah   saaSua    purubbo^s&m    gtm; 
9igv.  Ill,  M,  9. 

'  Mahi  ^otir  nihitam  vakahauftEU  ämB  pakvani  ijarali  bibhrati  giuh 
vji^Tani  STAilma  sambfaritam  usri^ayAm;  Rigv.  Itl,  30,  14. 

*  Indral}  sitäm   ui  grihnätu  lAm   päshftou    yaifhatu    at   nalli   pa;asva,ti 
dubflm  uttaräm-uttaiftm  samAm;  Rigv.  IV,  öT,  7. 

'  Mridha  usLtru  na;  Ißigv.  I,  138,  2. 


21 

beechlltzt,  yor.    und  gerade  die  ^ibhus  sind  wie  die  Schöpfer,  so 
auch  die  Schützer  der  Kuh.  ^ 

Aber  Indra^  dessen  specielles  Geschäft  es  ist,  za  blitzen,  za 
donnern,  das  Ungeheuer  der  Finstemiss  zu  bekämpfen  und  das 
Licht  vorzubereiten,  figurirt  in  der  Vorstellung  des  Volkes  ge- 
wöhnlich als  die  Sonne,  unter  den  drei  Namen:  Sfirya,  Rita 
und  Savitar. 

In  Bezug  auf  die  Morgenröthe  ist  die  Sonne  bald  Vater, 
bald  Gatte,  bald  Sohn,  bald  Bruder.  Als  gleichzeitig  mit  der 
Morgenröthe  von  Indra  gezeugt,  ist  sie  Bruder;  als  der  Morgen- 
röthe  folgend  und  sie  umfassend,  ist  sie  Gatte;  als  einfach  nach 
der  Morgenröthe  erscheinend,  ist  sie  Sohn;  und  als  die  Kuh  oder 
die  Aurora  vor  sich  her  sendend,  ist  sie  Vater.  Alle  vier 
Beziehungen  der  Sonne  zu  der  Aurora  werden  im  Bigveda 
erwähnt 

In  einem  Hymnus  heisst  es,  dass  der  reine  Glanz,  mit  wel- 
chem die  Aurora  die  Schatten  der  Nacht  verjagt,  der  Milch  einer 
Kuh  gleiche,  ^  d.  h.  das  weissliche  Licht  des  Tagesanbruchs  geht 
im  östlichen  Himmel  dem  rosigen  Licht  der  Aurora  voran.  Die 
Aurora  ist  die  Kuh-Amme  und  die  Mutter  der  alten  Sonne;  bei 
dem  Schall  des  Hymnus  zum  Preise  der  Morgendämmerung  er- 
wachen die  beiden  Reiter  des  Zwielichts ,  die  A^vins.  ^  Zwei 
Ktlbe  ~  [d.  h.  die  beiden  Dämmerungen,  Abends  und  Morgens, 
verwandt  mit  den  beiden  Reitern,  dem  Abend-  und  Morgen-Reiter, 
die  wir  auch  am  Morgen  zusammen  finden,  und  zwar  den  einen 
weiss,  den  andern  roth,  den  einen  in  Verbindung  mit  dem  Tages- 
anbruch, den  andern  mit  der  Aurora,  und  die  deshalb  zuweilen 
mit  den  beiden  Morgendämmerungen  identificirt  werden  können, 
nämlich  der  weissen  (alba)  oder  Tagesaubruch ,  und  der  rothen 
(Aurora),  resp.  von  einem  andern  Gesichtspunkt  aus  betrachtet, 
der  Monddämmerung  und   der  Sonnendämmerung]  —  lassen  der 


'  Yat  aamvaüram  ribhavo  gäm  arakshan  yat  samvatsam  pbhavo  mft 
apin^an;  Rigv.  IV,  33,  4. 

*  U8h&  n&  rftmir  arun&ir  apornute  maho  ^yotishft  ^u6at&  goangLasA; 
9igv.  n,  34,  12. 

*  Dhenuh  pratnasja  kftmjam  duhänäntah  putra9  darati  dakshinäjä^^- 
&  djotaDim  vabati  ^ubhrajrftmoshasah  stomo  a^vinftr  a^gah;  Rigv.  III, 
58,  1. 


22 

iDue  Milch  zutropfeD ,  im  Himmel. '  Die  MorgenrStbe  ist  die 
otter  der  KUhe.* 

Wie  die  Sonne  nabt,  feiem  sie  die  himmlischen  Kubc,  welche 
indeln,  ohne  von  Stanb  bedeckt  zu  werden,  mit  Liedern.  ■  Die 
then  Strahlen  der  HochBonne  fliegen  und  treflen  die  Sonnen- 
he. ^  Die  sieben  weisen  AUgirasen  (die  sieben  Sonnen- 
'ahlen,  oder  auch  sonst  der  Äfigiras,  die  siebensfrahlige  Sonne, 
e  ein  anderer  Hymnus'  sagt)  feiern  in  ihren  Gesängen  die 
ihherden,  welche  der  auf  dem  Bergesgipfel  erscheinenden  Aurora 
gehören. «  Werfen  wir  nun  noch  einen  genaueren  Blick  auf 
s,  was  von  der  Aurora  gesagt  wird,  die  mit  den  EUhen  auf 
m  Berge  erseheint.  Es  ist  die  Sonne,  welche  die  ÄÜgirasen  in 
Bud  setzt,  den  Berg  zu  spalten,  mit  den  EUhen  zu  brUUec  und 
h  mit  dem  Glanz  der  Aurora  zu  umgeben.'  Die  Aurora,  die 
ichter  des  Himmels,  die  glänzende,  erscheint;  gleichzeitig  ent- 
idct  die  Sonne  die  Kühe.*  Die  Aurora  wird  von  rothen  glSn- 
iden  Kühen  gefahren,  während  die  Sonne,  der  kämpfende 
genecblltü,  die  Feinde  tödtet. "  Die  Aurora  erbricht  das  Ge- 
igniss  der  KUhe;  diese  jubeln  der  Aurora  zu,"*  welche  nun 
ä  der  Finsterniflfl  hervortritt,  wie  KUhe  aus  ihrem  Stall. ' '  Wie 
r  Sonnenheld,  Indra,  der  Wächter  oder  Hirt  von  Pferden  und 
hen  ist,''  so  wird  die  Aurora  im  Kigveda  oft  als  a^vävati 
i  gomati,  d.  h.  als  die  an  Pferden  und  KUhen  reiche  und 

■  RitSja  dhenfl  pHTame  dubate;  Rigv.  IV,  23,  10. 
'  Gavam  maiä;  Rigv.  V,  45.  2. 

*  ArenATfta  tu^a  &  «admaa  dhenavah  svaranti  tä  upar&t&ti  süryam; 
5T.  1,  iöl,  5. 

'  Ud  apaptaan  aranA  bhanava  vrithä  m&yago  arushir  gä  ajmkshata; 
5V.  I,  di,  5. 

>  Yenä  navagvc  aiigire  da^agve  aaptäsye  revati  rcTadÜBha;  Kigv.lV, 
4.  —  Die  Sonno  aoll  auch  von  sieben  at^höneD  Pferden  geiogen  werden. 
;v.  I,  60,  9.  —  Vgl.  das  folgende  Kap. 

•  Ta  UBho  adrieäuo  gotrl  gaväm  aiigiraao  grinnnli;  Rigv.  VI,  65,  5- 

''  Riten&driiii  vy  h9hii  bhidautah  aam  angiraeo  navanta  gobhih  fänam 
ah  pari  ahadann  UBhasam;  Rigv.  IV,  3,  II. 

■  Praty  u  adarfy  ftyat;  uiihantl  dahilA  divab  -~  Ud  narijäh  Bri^ate 
fah  aai^a;  Rigv.  VlI,  81,   1,  2. 

»  Vaiianti  eim  arunSso  rufanto  gflva^  subhagSm  urvjyft  pralhfinim 
^te  (firo  aateva  yatrfln  bädhate;  Rigv.  VI,  64,  3. 

"  Rugad  drilhllni  dadad  usrijAnäm  piati  gAva  UEbaesm  vgva^anla; 
;t.  VlI,  7h,Y. 

"  Gävo  na  vragaih  yj  ushft  av"r  tamal;;  JRigv.  I,  92,  4. 

'*  Yo  aQv&DAiii  ja  gaväm  gopaliVi  ^'gv-  I,  101,  4. 


23 

von   ihnen  begleitete  gepriesen.     Die  Aurora  hält  die  Herde  der 
rothen  Kühe  zusammen  und  begleitet  sie  immer.  ^ 

So  sind  wir  von  dem  Hirtenhelden  zu  der  Hirtenheldin  auf 
dem  Berge  gekommen.  Die  Hirtin  Aurora  entschleiert  ihren 
Körper  im  Osten  und  folgt  dem  Pfade  der  Sonne ,  ^  welche  uns 
in  folgendem  Bäthsel  als  ein  wunderbarer  Kuhhirt  dargestellt 
wird:  „Ich  habe  einen  Hirten  gesehen,  der  niemals  seinen  Fuss 
auf  den  Boden  setzte  und  doch  kam  und  ging  auf  den  Pfaden, 
und  der,  dieselbe  und  doch  verschiedene  Strassen  wandelnd ,  zwi- 
schen den  Welten  rundum  geht."  ^  Die  Sonne  wandelt  im  Aether- 
rund  und  setzt  nie  einen  Fuss  nieder;  denn  sie  hat  keinen;  und  sie 
wandert  dieselbe,  und  doch  verschiedene  Strassen  am  Himmel, 
d.  b.  glänzende  am  Tage,  finstere  bei  Nacht.  Die  Pointe  des 
Käthsels  liegt  in  dem  inneren  Widerspruch,  und  das  schöne  Mäd- 
chen ist  der  Pi-eis,  der  fllr  den,  welbher  ^es  durch  seine  Thaten 
16st,  ausgesetzt  ist.  Ein  ähnliches  Räthsel  wird  im  Eigveda  den{ 
Mitra,  der  Sonne,  und  Varuna,  der  Nacht,  aufgegeben.  Es 
lautet  folgendermassen :  „Der  erste  von  denen,  die  zu  Fiisse  gehen 
(padvatinäm),  kommt  ohne  Füsse  (apäd)";  und  die  beiden 
göttlichen  Helden  werden  gefragt:  „Wer  von  Euch  Beiden  hat  es 
errathen?^^^  Der  dieses  Bäthsel  löst;  ist  jedenfalls  Mitra,  die 
Sonne,  welcher  die  Aurora  erkennt,  das  Mädchen,  welches  kommt 
mit  Gebrauch  der  Füsse,  obgleich  es  keine  zu  haben  scheint ;  denn 
sie  kommt  auf  einem  Wagen,  dessen  Bäder  Füsse  zu  sein  schei- 
nen, und  welcher  derselbe  glänzende,  schnelle  Wagen  ist, ^  der 
von  den  Bibhus  den  beideu  Agvins  (bald  als  zwei  Greise,  die  von 
den  Bibhus  wieder  verjüngt  werden,  bald  einfach  als  zwei  schöne 
Jünglinge  dargestellt)  geschenkt  wurde;  diesen  Wagen  besteigt 
sie  mit  Hilfe  der  AQvins,  und  die  Tochter  der  Sonne  ist  beim 
Wettrennen  die  erste,  welche,  unter  dem  enthusiastischen  Beifall 


'  Yonkte  gavftm  aronänäm  anikam;  Bigv.  I,  124,  11.  —  Esha  gobhir 
arunebbir  yugänä;  Bigv.  V,  8t),  3. 

'  AvishkrinyäDä  tanvam  purastat  ritasya  pantbäm  anv  eti;  Bigv.  V, 
80,  4.  ' 

'  ApaQyam  gopäm  anipadyamänam  ä  da  parä  da  patbibbiQ  darantam 
sa  sadhricib  sh  vishucir  vasäna  ä  varivarti  jbhuvanesbv  antab;  Bigv.  X, 
177,  3. 

*  Apäd  eti  pratbamä  padvatiDäm  kaa  tad  väm  diketa;  Bigv.  1, 152,  3. 

^  Batbam  je  dakral^i  suvritam;  Bigy.  IV,  33,  ^.  —  Taksban  nftsatyä- 
bbyäm  parf^iränaih  sukbam  ratbam;  Bigv.  l,  20,  3. 


* 


24 

der  Götter,  das  Ziel  erreicht. '  Zuweilen  stellen  die  Hymnen  an 
die  Aurora  diesen  grossen  Wagen  als  der  östlichen  Aurora  ge- 
hörig dar,  die  hundert  Wagen  lenkt,  und  die  der  Reihe  nach 
den  unsterblichen  Göttern  in  den  Wagen  an  ihre  Seite  hilft. '^ 
Die  Aurora  wird  als  die  erste  von  denen,  die  jeden  Tag  am  öst- 
lichen Himmel  erscheinen,  als  die  erste,  welche  den  Tagesanbruch 
weiss,'  naturgemäss  als  eine  der  schnellsten  unter  denen,  die 
während  der  Nacht  Gäste  des  Sonnenftirsten  sind,  dargestellt  und 
hinterlässt  bei  ihrem  Fluge  nach  oben  keine  Fussspuren,  ebenso- 
wenig wie  ihre  Kühe ,  welche  nicht  von  Staub  bedeckt  werden, 
eine  Eigenschaft,  die  im  indischen  Glauben  die  Götter  von  den 
Sterblichen  unterscheidet;  denn  die_ersteren  wandeln  im  Himmel, 
die  letzteren  auf  Erden.  Das  Wort  apäd  (pad  und  pad  a 
sind  synonym)  kann  auch  wirklich  nicht  nur  die  bezeichnen,  die 
keine  Füsse  hat,  sondern  auch  die,  die  keine  Fussspuren  (d.  h. 
das,  was  das  Mass  des  Fusses  hat)  hinterlässt,  oder  ferner,  die 
keine  Schuhe  anhat;  diese  hat  die  Morgenröthe  nämlich  offenbar 
verloren,  denn  der  Prinz  Mitra  findet,  als  er  dem  schönen  jungen 
Mädchen  folgt,  einen  Pantoffel,  der  ihre  Fussspur,  das  Mass  ihres 
Fusses,  zeigt,  und  zwar  eines  so  kleinen  Fusses,  wie  ihn  kein 
ander  Weib  hat,  eines  fast  unerfindlichen,  fast  unbemerkbaren 
Fusses,  der  uns  wieder  zu  der  Vorstellung  von  der,  die  gar  keine 
Füsse  hat,  zurückführt.  Die  Erzählung  von  dem  verlorenen  Pan- 
toffel und  dem  Prinzen,  der  dem  Fuss  nachspürt,  der  ihn  eigent- 
lich tragen  sollte,  der  Mittelpunkt,  um  den  sich  das  Volksmähr- 
chen  von  Cinderella  dreht,  scheint  mir  ganz  und  gar  auf  der 
doppelten  Bedeutung  von  apäd  zu  beruhen,  d.  h.  die  keine  Füsse 
hat  oder  doch  nicht  was  das  Mass  des  Fusses  hat,  d.  i.  entweder 
die  Fussspur  oder  den  Pantoffel;  oft,  wie  in  der  Geschichte  von 
Cinderella,  kann  überdies  der  Prinz  die  Flüchtige  nicht  einholen, 
weil  ein  Wagen  sie  davonträgt. 

Das  Wort  apäd,  das  wir  bis  hieher  auf  die  Heldin  ange- 
wendet gefunden  haben,  erlitt  aber  auch  auf  den  Helden  Anwen- 


*  Yuvo  ratham  duhitä  süryasya  saha  9riyä  näsalyüvrinita;  Rigv.  I, 
117,  13.  —  A  väm  rafham  duhitä  süryasya  kärsbmevätishthad  arvatä  gayanti 
vi^vc  devft  anv  amanyanta  hridbhih;  Rigv.  I«  116,  17. 

*  Yuktvä  ratham  upa  devän  ayätana;  Rigv.  I,  161,  7.  —  Prithö  ratho 
dakbhlDilya  ayogy  äinam  deväso  amritäso  asthuh;  Rigv.  I,  123,  1.  —  Devi 
girä  rathftnäm;  Rigv.  I,  48,  3.  —  Qatam  rathebhih  subhagosbä  iyam  vi 
yftty  abhi  männshän;  Rigv.  I,  48,  7. 

'  Gänäty  ahnah  pratbamasya;  Rigv.  I,  123,  9. 


25 

dntigy  nnd  gab  einem  andern  Volksmährchen  das  Leben,  dessen 
njythiscbe  Elemente  uns  der  Rigveda  bietet.  Wir  haben  schon 
die  Sonne  als  anipadyam  äna,  d.  h.  als  die,  die  nie  ihren 
Fnss  zur  Erde  setzt,  gesehen;  leicht  kam  man  dazu,  sie  als  eine 
Sonne  ohne  Füsse  oder  als  einen  lahmen  Helden  zu  denken  und 
darzustellen,-  oder  als  einen  lahmen  Helden,  der  während  der 
Nacht  durch  die  Bosheit  der  Hexe,  des  Abenddunkels/  noch  er- 
blindete. In  einem  Hymnus  sind  der  Blinde  und  der  Lahme 
nicht  ein,  sondern  zwei  Wesen,  welche  Indra  gnädig  leitet;*  in 
einem  andern  ist  es  eine  Person,  Namens  Parävyi^,  welche  die 
beiden  Agvins,  die  beiden  Freunde  der  Dämmerung,  in  Stand 
setzen,  zu  gehen  und  zu  sehen. ^  Der  Lahme,  der  sehen  kann, 
zeigt  dem  Blinden,  der  gehen  kann,  den  Weg,  oder  der  Lahme 
trägt  den  Blinden;  Indra,  die  verborgene  Sonne,  leitet  den  Blin- 
den und  den  Lahmen;  oder,  der  Blinde  und  der  Lahme,  im 
Walde  verirrt,  helfen  einander;  am  Morgen  machen  die  ÄQvins, 
die  beiden  Reiter  und  Freunde  der  Aurora,  mit  dem  Wasser  der 
Sehkraft  und  der  Stärke  (d.  h.  nachdem  Päravrig,  der  blinde 
Lahme,  die  verborgene  Quelle  der  jungen  Mädchen  der  Dämme- 
rung entdeckt  hat,  *  mit  der  Ambrosia  der  Aurora,  mit  der  Aurora 
selbst)  den  Blinden  sehend  und  den  Lahmen  gehend,  d.  h.  sie 
stürmen  wieder  in  die  obere  Luftschicht  hinaus,  jetzt  zur  glän- 
zenden Sonne  umgestaltet,  die  sich  auf  ihre  himmlische  Reise 
macht.  Oben  wurde  bemerkt,  dass  der  Held  durch  die  Bosheit 
und  Zauberkunst  der  Abend-Aurora  blind  und  lahm  wird.  Diese 
Behauptung  war  auch  nicht  üngegiUndet;  denn  der  vedische 
Hymnus,  in  welchem  Indra  den  Blinden  und  den  Lahmen,  d.  h. 
sich  selbst  oder  die  Sonne,  in  der  dunkeln,  langsam  verstreichen- 
den Nacht  leitet,  ist  ganz  derselbe  Hymnus,  in  welchem  seine 
heldische  und  mannhafte  That,  die  Vernichtung  der  Tochter  des 
Himmels,  gepriesen  wird.    Die  Sonne  Indra  rächt  sich  am  Mor- 


'  Anu  dvä  ^abitä  nsyo  *ndhain  ^ronam  <^a  yritrahan;  Rigv.  IV,  30, 19. 

^  Sakbabhdd  a^vinor  asbfth;  Rigv.  IV,  52,  2.  —  Parävri^am  prändham 
^ronam  dakshasa  etave  krithah;  Rigv.  1,  112,  8.  —  Ich  verlasae  bier  die 
Hypothese,  die  ich  vor  sieben  Jahren  in  dem  kleinen  Boche:  „La  vita 
ed  i  miracoli  del  dio  Indra  nel  Rigveda^^  pp.  ?2  und  24  auf- 
stellte, und  nach  welcher  der  Held  Parävri^  der  Blitzstrahl  aus  dem  Wol- 
kendunkel ist,  während  ich  jetzt  in  dem  blinden  Lahmen  die  Sonne  in  dem 
Dunkel  der  Nacht  (resp.  des  Winters)  erblicke. 

'  Sa  vidvftn  apagoham  kaninftm  ävir  bhavann  udatishthat  par&vfik 
prati  ^rona^  sthäd  vy  anag  adashta;  Rigv.  II,  15,  7. 


y 


26 

gen  an  der  Morgen-Aurora  fllr  das  ihm  von  der  schönen,  aber 
trenlosen  Abend-Aurora  angethane  Unrecht. 

Denn  die  Aurora  besitzt  unter  andern  Gaben  auch  die  der 
Zauberei;  als  die  Ribhus  die  Kuh  Morgen-Aurora  schufen,  indem 
sie  ihr  das  Fell  der  Kuh  Abend-Aurora  tiberzogen,  gaben  sie  ihr 
Proteuseigenschaften  (Vigvarüpä),  nnd  daraufhin  wird  die 
Aurora  selbst  auch  Hexe  oder  Zauberin  (May in!)  genannt.^ 
Diese  Aurora,  diese  Amazone,  diese  vedische  Medea,  welche  ihren 
Gatten,  oder  Bruder,  den  Sonnenhelden,  verrätherisch  in  einen 
feurigen  Ofen  stösst  und  ihn  so  blind  und  lahm  macht,  wird  am 
Morgen  für  das  Verbrechen  am  Abend  bestraft.  Der  Held  be- 
siegt sie,  tiberwindet  ihre  Bezauberung  und  vernichtet  sie.  Der 
vedische  Hymnus  singt:  „Eine  mannhafte  und  heldische  That  hast 
Du  vollbracht,  o  Indra!  denn  ein  Unheil  stiftendes  Weib,  die 
Tochter  des  Himmels  hast  Du  gezüchtigt!  Die  wachsende  Tochter 
des  Himmels,  die  Aurora,  o  Indra,  hast  Du  vernichtet!  von  dem 
in  Stticke  zertrümmerten  Wagen  sttirzte  die  Aurora,  zitternd,  weil 
der  Stier  sie  geschlagen !"  ^  Hier  erscheint  das  mythische  Thier 
wieder  auf  derselben  Stufe  mit  den  Helden,  und  an  die  Stelle  des 
Bildes  von  dem  Helden  und  der  Heldin  wird  das  von  der  Kuh 
und  dem  Stier  gesetzt.  * 

Die  Sonne  und  die  Aurora  suchen  sich  also  nicht  immer  nur 
aus  Zuneigung  auf,  noch  wird  die  gehässige  Rolle  immer  von 
der  Aurora  gespielt.  Auch  die  Sonne  erscheint  ihrerseits  als  böse 
Verfolgerin.  Ein  vedischer  Hymnus  räth  der  Aurora,  ihr  Gewebe 
nicht  zu  weit  auszuspinnen,  damit  die  Sonne  nicht,  wie  ein  Räu- 
ber in  feindlicher  Absieht,  Feuer  anlege  und  sie  verbrenne.  *  Ein 
andrer  Hymnus  erzählt  uns,  dass  der  Schöne  der  Schönen  folgt, 
der  Bruder  der  Schwester,  wie  ein  Liebhaber.^  —  Die  Aurora 
flieht  vor  der  Sonne,  ihrem  Bruder,  aus  Scham,  und  ihr  Bruder 

'  Rigv.  V,  48,  l. 

*  Etad  ghed  uta  viryam  indra  dakartha  päun^yam  striyam  yad 
durhanäyuvnm  vaihir  duhitaram  divah  diva^  did  ghä  duhitaram  mahän 
inahiyamänäm  ushäsain  indra  sam  pinak  aposhä  anasah  sarat  sampishtäd 
aba  bibhjushi  ni  yat  siin  ^i^natbad  vrishä;  Ri'gv.  IV,  30,  8 — 11. 

^  Die  beiden  ArniQ  Indras  sollen  die  Kühe  erobern;  Gogitä  bahn; 
Rigv.  I,  102,  6. 

*  Vy  udhä  duhitar  divo  mä  diram  tanuthä  apah  net  tvä  stenam  yathä 
ripum  tapftti  süro  ardishä;  Rigv.  V,  79,  9.  —  Vgl  das  Kapitel,  das  von 
der  Spinne  handelt. 

*  Bhadro  bhadrayä  sacamäna  ftgftt  svasäram  gdro  abhy  eti  pasd&t; 
Rigv.  X,  3,  3. 


27 

verfolgt  sie,  von  einem  tbierischen  Triebe  getrieben.  Scbliesslicb 
zeigt  uns  ein  dritter  Hymnus  den  vedischen  Vulkan ,  den  Grob- 
sebmied  der  Götter,  die  Sonne  Tvasbtar,  aueh  die  allgestaltige 
Sonne  (Savitä  Vi^varüpas)  genannt,  als  Vater  der  Saranyü 
(ein  andrer  Name  für  Aurora),  selbst  allgestaltig  wie  ibr  Vater 
(und,  wie  die  Kub,  der  dreifacben  Verwandlung  unter  den  Hän- 
den Tvashtars,  d.  h.  der  drei  Ribbus,  unterzogen),  der  sieb 
selbst  zu  einem  andern  Wesen  umschafft,  nämlicb  der  Sonne 
Vi  V  as  van  t,  um  die  Aurora  beiratben  zu  können.  Saranyü,  die 
zufällig  bemerkt,  dass  Vivasvant  ihr  Vater,  nur  in  anderer  Ge- 
stalt, ist,  schafft  ein  ibr  ganz  ähnliches  Weib  und  entflieht  auf 
dem  Wagen,  der  von  selbst  fliegt,  und  den  sie  früher  von  ihrem 
Vater  zum  Geschenk  erhalten  hatte,  und  nun  verwandelt  sich 
Vivasvant,  um  sie  einzuholen,  in  ein  Pferd.  ^ 

Zuweilen  aber  sind  an  der  Entfremdung  zwischen  der  Sonne 
und  der  Aurora,  dem  jungen  Ehepaar,  nicht  persönliche  Antipa- 
thieen  schuld,  sondern  der  Bescbluss  des  Fatums,  der  durch  die 
Ränke  von  Ungeheuern  wirkt.  Die  beiden  Schönen  sind  im 
Grunde  durch  die  Bande  gegenseitiger  Liebe  geeint;  denn  bald 
befreit  die  Sonne  die  Aurora,  bald  umgekehrt;  und  wir  haben 
schon  gesehen,  wie  die  Aurora  aus  ihren  Kühen  der  Sonne  ambro- 
sische Milch  zutropfen  liess,  und  wie  die  Sonne  die  Etthe  der 
Aurora  befreite.  In  einem  Hymnus  steigt  das  göttliche  Mädchen, 
die  Aurora,  im  Osten  herauf,  mit  keckem  Blick ,  lächelnd,  ihren 
Busen  entblössend,  glänzend,  dem  Gotte  zu,  welcher  sich  dar- 
bringt, und  anders  noch  welcher  sich  opfert  *,  das  bedeutet,  Q  u  n  a  h  - 
^epa,  der  Sonne,  zu,  welcher  sie  in  drei  Versen  eines  andern 
Hymnus^  anfleht  Das  wohlbekannte  Mährchen  im  Aitareya- 
Brähmana  werde  ich  kurz  mittheilen.  Die  Aurora  hat  auch 
das  Verdienst,  mit  ihrem  reinen  und  reinigenden  Glanz  die  Thore 
der  dttstem  Höhle  geöffnet,  die  Feinde,  die  Schatten  der  Nacht, 
bezwungen,  und  die  in  dem  Dunkel  verborgenen  Schätze  an's 
Licht  gebracht  zu  haben  (hier  haben  wir  wieder  die  Medea,  aber 
diesmal  in  einer  gütigen  Gestalt);    sie  weckt  die  Schläfer  und 


'  Vgl,  Rigv.  X,  17  und  Max  Müller,  lectures  on  the  science  ofl,  sec. 
ser.,  481—486.  Deutsche  Ausgabe,  2.  Bd.  p.  446—549.  Vgl.  das  Kapitel 
über  das  Pferd,  wo  Saranyü  wieder  als  Stute  vorkommt. 

*  Kanyeva  tanyft  ^ä^adlUiän  (arepasä  tanvä  ^ä^adänd;  RigT-  I}124,  6), 
eshi  devi  dcvam  iyakehamäniTn  samsTnajaroftoä  yuvatih  purastäd  ävir 
vakshAnsi  krimiphe  vibhäti;  Rigv.  I,  123,  10. 

'  Rigv!  i,  30,  20— 1'2. 


28 

Alles ;  was  Leben  h^t,  zur  Tbätigkeit,  also  unter  den  lebendigen 
Schläfern  auch  ihren  Sohn,  die  Sonne ^  den  ein  Hymnus  als  am 
Busen  der  nächtlichen  Finsterniss  in  tiefen  Schlaf  versunken  dar- 
stellt ;  sie  ist  der  Heiland  der  Sterblichen  /  d.  h.  sie  beschützt 
die  Sterblichen  vor  dem  Tode  und  erweckt  sie  wieder;  sie  sieht 
Alles  und  weiss  Alles  vorher.  *  Die  Erweckerin  ist  auch  die  Er- 
wachte, die  Erhellerin  auch  die  Erhellte  oder  die  Weise;  und  die 
Erhellte  oder  Glänzende  ist  auch  die  Schöne.  Erst  schwach  und 
düsterblickend;  ist  sie  durch  die  Gnade  Indras  und  der  A^vins 
geheilt  und  wieder  zu  Stärke  und  Helle  gelangt. '  Dunkel  aber 
war  sie  zuerst  deshalb,  weil  ihre  Mutter,  die  Nacht,  die  Schwarze 
ist;  sie,  die  Weisse,  ist  von  der  Schwarzen  geboren.* 

Während  der  Nacht  war  das  junge  Mädchen  blind;  es  erhält 
seine  Sehkraft  durch  die  Gnade  eines  Weisen  wieder,  der  sich, 
von  Indra  beschützt,  eine  andere  Erscheinungsform  Indras,  in 
dasselbe  verliebt  hat.  Wie  wir  oben  gesehen,  sind  es  die  A<;vins, 
die  mit  der  Aurora  auch  der  Sonne  die  Sehkraft  wiedergeben; 
hier  ist  es  die  Sonne,  welche  die  Aurora  sehend  macht,  ihr  Glanz 
verleiht;  und  sie,  die  erst  blinde,  dann  sehende,  wird  die  Schütze- 
rin der  Blinden  und  die  Erhalterin  des  Gesichtes ,  ^  wie  die  hlg. 
Lucia,  die  jungfräuliche  Märtyrerin  in  der  christlichen  Mythologie. 
Physische  Wahrheit  und  mythische  Erzählung  befinden  sich  in 
vollständiger  Uebereinstimmung. 

Die  Nacht  ist  bald  die  Mutter,  bald  die  Schwester  der  Mor- 
genröthe;  aber  die  düstere  Nacht  ist  zuweilen  ihre  Stieftnutter, 
zuweilen  ihre  Halbschwester.    Es  giebt  ein  Räthsel,  welches  die 


'  Vy  ü  vra^sya  tamaso  dvftrocfhantir  avran  dhudayah  pftvakäh; 
Rigy.  IV,  51,  2.  ~  Apa  dvesho  b&dbamäDfi  taiüänsy  usbft  divo  duhit& 
^otish&gät;  Rigy.  V,  80,  5.  —  Spftrb&  vasüni  tamasäpagülbft  ävish 
krinvanty  ashtso  vibhdtih;  Kigv.  1, 123,  6.  —  Sasato  bodhayanti;  Rigv.  I, 
124,  4.  —  Vi^vam  giram  6aiHse  bodbayaDÜ;  Rigv.  1,  92,  9.  —Martyatrft; 
Rigv.  I,  123,  8. 

'  Vi^väni  devt  bhuvanäbbidaksbyd ;  Rigv.  I,  92,  6.  —  Pragänati; 
Rigv.  I,  124,  3. 

'  Ueber  Gbosbä,  gebeilt  von  den  A^tIiib  (Rigv.  I,  117,7),  und  Ap&lä, 
gebeilt  von  Indra  (Rigv.  VIII,  80),  siebe  Genaueres  in  dem  Kap.  über 
das  Schwein. 

^  gukrä  kriehnftd  a^anisbt«  Qvit!d!;  Rigv.  J,  123,  9. 

'  Yasyänaksbä  dubitä  ^tväsa  kas  täm  vidväÄ  abbi  manyite  andbftm 
kataro  menifta  prati  tarn  mu<Säte  ya  im  vabäte  ya  imvftvareyftt;  Rigv.  X, 
27,   11.  —    Vritrasya  kaninikä   'si  i^aksbusbpA    ati;    Tiittir.   Ya^urv. 

1,2.1. 


29 

glänzende  Nacht  und  die  Aurora  als.  zwei  verschieden  schöne 
preist,  welche  zusammen  wandeln^  von  denen  aber  die  eine  geht^ 
während  die  andere  kommt. '  In  einem  andern  Hymnus  heisst  es 
von  ihnen:  ;,Die  herrlich  geschmückte  naht;  die  weisse  Aurora 
kommt;  die  schwarze  bereitet  für  sie  die  Wohnung.  Wenn  die 
eine  Unsterbliche  die  andere  getrofien,  so  erscheinen  die  beiden 
abwechselnd  am  Himmel.  Einer  und  ewig  ist  der  Pfad  der  bei- 
den Schwestern ;  sie  wandeln  ihn,  eine  hinter  der  andern^  geleitet 
von  den  QOttem ;  sie  treffen  nicht  zusammen  und  stehen  nie  still  — 
die  beiden  guten  Ernährerinnen;  Nacht  und  Aurora,  einig  im 
Sinu;  verschieden  an  Gestalt/^ ^  Diese  beiden,  deren  Farben 
ewig  wechseln;  nähren  ein  und  dasselbe  Kind  (die  Sonne). '  Die 
Nacht  ist  jedoch  wirkliche  Schwester  der  Aurora  nur  als  mond- 
helle Nacht;  als  finstre  Nacht  dagegen  nur  Halbschwester.  Diese 
Schwester  schickt  in  einem  Hymnus  die  Aurora  weit  fort;  weil 
sie  glänzt;  um  von  ihrem  Gatten  gesehen  zu  werden ;  ^  und  ihre 
Halbschwester;  die  Nacht;  muss  ihren  Platz  der  älteren  oder  besse- 
ren Schwester  einräumen;^  da  das  Wort  gyeshtha  nicht  nur 
den  Aeltesteu;  sondern  auch  den  Besten  bezeichnet.  Wir  haben 
schon  gesehen;  dass  die  Aurora  zuerst  erscheint;  als  solche  und 
als  diC;  welche  am'  Abend  der  Nacht  vorhergeht  (die  Abend- 
Aurora),  ist  sie  die  erstgeborene;  die  älteste,  erfahrenste;  beste; 
während  sie  unS;  von  einem  andern  Gesichtspunkte  auS;  als  die 
Kleine,  die  gross  wird,  und  in  diesem  Falle  als  jüngere  Schwester 
der  Nacht  (der  Morgendämmerung)  dargestellt  wird.  Die  Däm- 
merungen oder  Auroren  erhalten  den  Beinamen  Arbeiterinnen;^ 
ganz  wie  die  gute  Schwester;  im  Verhältniss  zu  der  schlechten; 
immer  die  arbeitsame  ist;  die  eine  wunderbare  Arbeit  macht;  näm- 
lich das  rosige  Gewand  spinnt  oder  webt.  Aber  die  Auroren  sind 
nicht  nur  die  Arbeiterinnen;  sie  sind  auch  die  Reinen ,  Reinigen- 


'  Apänyad  ety  abhy  auyad  eti  vishurüpe  ahani  sam  darete;  Kigy.  1, 
123,7. 

'  Ku^advatsä  ru^ati  9yetyftgftd  fträig  u  krishnä  sadanäny  asyäh  samä- 
nabandhü  aon^ite  anüdi  dyävä  varnam  darata  äminäne  samäno  adhvft  svasror 
ananta8  tarn  anyftnyft  darato  deva9i8hte  na  methete  na  tasthatuh  sumeke 
naktoshäsä  samanasä  virüipe;  Bigv.  I)  113,  2,  3. 

*  Naktoshfiaft  varnam  ämemy&ne  dhäpayete  9i9um  ekam  samidi;  Kigy.  I, 
96,  5.  * 

*  Vyürnyati  diyo  antftn  abodby  apa  syasäram  sanutar  yuyoti  praminati 
mannshyä  yugftoi  yoshä  gärasya  dakshasä  yi  bbäti;  Rigv.  1,  92,  11. 

*  Sya8&  syasre  ^ftyasyäi  yonim  äräik;  Rigy.  I,  124,  8. 

*  Närir  apasah;  Rigv.  I,  92,  3. 


30 

den  und  Säubernden;  ^  hieraus  kann  man  verstehen,  wie  es  der 
jüngsten  Schwester  unter  Auderm  obliegen  konnte,  das  Korn 
während  der  Nacht  zu  reinigen  und  zu  säubern  und  alles  Unreine 
daraus  zu  entfernen,  wobei  sie  zuweilen  von  einer  guten  Fee, 
zuweilen,  in  der  späteren  Ausbildung  des  Mythus,  von  der  Jung- 
frau Maria,  die,  allem  Anscheine  nach,  der  Mond  ist,  unter- 
stützt wird. 

Eine  besondere  Eigenschaft  der  jüngeren  Schwester  ist,  dass 
sie  ihre  Reize  nur  den  Blicken  ihres  Gatten  enthüllt.  Das  Weib 
Aurora  offenbart  sich  dem  Auge  seines  Gemahls ;  ^  in  ihrem  Glänze 
mit  den  Strahlen  der  Sonne  vereint,  ^  richtet  sie  wie  ein  Weib 
die  Wohnung  der  Sonne  zu.  ^  Sehr  glänzend,  wie  ein  Weib,  das 
von  der  Mutter  geschmückt,  enthüllt  sie  ihren  Leib;^  wie  eine 
Badende,  welche  sich  zeigt,  entschleiert  die  Leuchtende  ihren 
Körper;*^  sie  schmückt  sich  wie  eine  Tänzerin;  entblösst,  wie  eine 
Kuh,  ihre  Brust;'  sie  entfaltet  ihre  glänzenden  Gewänder ;8  all- 
glänzend, schönen  Antlitzes,  lacht  sie;^  und  er,  der  die  Aurora, 
die  schöne  Prinzessin,  welche  erst,  während  der  Nacht,  nicht  lachte, 
zum  Lachen  gebracht  hat,  heirathet  sie:  die  Sonne  heirathet  die 
Aurora. 

Die  himmlische  Hochzeit  findet  Statt  tmd  die  Feierlichkeit 
wird  mit  minutiöser  Genauigkeit  im  85sten  Hymnus  des  10. 
Buches  der  Rigveda  geschildert.  Aber  die  Ehe  der  beiden 
Himmlischen  wird  immer  nur  unter  Bedingungen  geschlossen ; 
diese  Bedingungen  werden  immer  angenommen  und  nachher  ver- 
gessen ;  bald  bricht  der  Gatte  durch  Verlassen  seines  Weibes  das 
gegebene  Versprechen,  bald  umgekehrt.    Eine  dieser  zeitweiligen 


'  gudayah  pavakäh;  Rigv.  iV,  öl,  '2. 

^  Yosbä  ^ärasya  dakshasä  vibhäti;  Rigv-  !>  ^^i  11^* 

*  YatamäDä  ra^mibhih  süryasya;  Rigv.  I,  123,  12.  —  Vyu(^bantS 
ra^mibhih  süryasya;  Rigv.  I,  124,  ö. 

^  Ritasya  yosbä  na  minäti  dbäma;  Rigv.  I,  123,  9. 

*  SusamkäyÜ  mäfrimrisbteva  yosbä  vis  tanvamkrinusbedri^e  kam;  Rigv. 
1,123,  11. 

*  Esbä  ^ubhrft  na  tanvo.vidäQordbvtvasnäti  drigaycno  asthät;  Rigv.  V, 
80,  5. 

^  Adbi  pegäusi  vapate  nritür  iväpornute  vaksba  usreva  bar^abam; 
Rigv.  1,92,  4. 

'  Bbadrä  vasträ  tanvate;  Rigv*.  I,  134,  4. 

*  Smayate  vibbäti  supratikä;  Rigv.  I,  92,  6.  Ueber  die  Bedeutung 
dieses  Lachens  vgl.  noch  das  in  §  5  über  den  Kukuk,  die  Kuh  und  den 
Fisch,  welcher  lacht,  Bemi^rkto  und  das  Kap.  über  die  Fische. 


31 

Entfremdungen  zwischen  Mann  und  Frau  wird  im  ßigveda  durch 
den  poetischen  Mythus  von  der  Dämmerung  Urva^t  und  ihrem 
Gemahl  Purürava  (ein  Name  der  Sonne)  dargestellt.  Urvagi 
sagt  von  sich  selbst:  ;Jch  bin  angelangt  wie  die  erste  der 
Auroren;"^  darauf  verlässt  Urvagi  plötzlich  ihren  Gatten  Purürava, 
weil  er  ein  zwischen  ihnen  getroffenes  Uebereinkommen  bricht. 
Wir  werden  weiter  unten  in  diesem  Kapitel  Genaueres  über  dieses 
Uebereinkommen  erfahren.  Ausserdem  tröstet  sie  ihn,  nachdem 
sie  ihm  vor  ihrer  Trennung  einen  Sohn  geschenkt,  damit,  dass 
sie  ihm  erlaubt,  zu  kommen  und  sie  im  Himmel  wiederzufinden, 
d.  h.  damit,  dass  sie  der  Sonne  die  Unsterblichkeit  verleiht, 
welche  sie  selbst  besitzt.  Am  Morgen  geht  die  Aurora  vor  der 
Sonne  her;  diese  folgt  ihr  zu  dicht  und  sie  verschwindet,  hinter- 
lässt  aber  einen  Sohn,  d.  i.  die  neue  Sonne.  Am  Abend  geht 
auch  die  Aurora  der  Sonne  voran ;  diese  folgt  ihr  wiederum  und 
sie  verliert  sich  bald  in  einen  Wald,  bald  in  das  Meer.  Dieselbe 
Erscheinung,  eine  Scheidung  von  Mann  und  Frau,  eine  Trennung 
von  Bruder  und  Schwester,  die  Flucht  einer  Schwester  vor  ihrem 
Bruder  oder  auch  einer  Tochter  vor  ihrem  Vater,  bietet  sich  täg- 
lich (und  jährlich)  zweimal  am  Himmel.  Bisweilen  nimmt  eine 
Hexe  oder  das  Ungeheuer  der  nächtlichen  Dunkelheit  die  Stelle 
der  glänzenden  Braut  oder  der  Aurora  neben  der  Sonne  ein ;  und 
in  diesem  Falle  wird  die  Aurora,  die  schöne  Braut,  in  einen 
Wald  gelockt,  um  gctödtet  oder  in  das  Meer  geworfen  zu  werden, 
welchen  Gefahren  sie  jedoch  immer  entrinnt.  Bisweilen  schleudert 
die  Hexe  Nacht  Bruder  und  Schwester,  Mutter  und  Sohn,  Sonne 
und  Aurora,  zugleich  in  die  Meereswogen,  denen  sie  beide  ent- 
kommen, um  am  Morgen  wiederzuerscheinen. 

All  diese  wechselnden  Gestaltungen  einer  mythischen  Dar- 
stellung werden  selbst  wieder  Sagen,  wie  wir  das  noch  klarer  im 
Einzelnen  sehen  werden,  wenn  uns  das  Studium  der  verschiede- 
nen Thiere,  die  dabei  in  Betracht  kommen,  Gelegenheit  dazu 
bieten  wird.  Vorläufig  beschliessen  wir  hier  unsere  Aufzählung 
alles  dessen,  was  sich  in  den  Hymnen  des  Rigveda  irgendwie  auf 
den  Stier  und  die  Kuh  bezieht,  und  überlassen  dem  Leser  das 
Verständniss  dafür,  wie  natürlich  der  Uebergang  von  dem  Stier 
zu  dem  schönen  Helden-Prinzen  und  von  der  Kuh  zu  dem  schönen 
Mädchen,  der  reichen  Prinzessin,  der  tapfern  Heldin,  der  weisen 
Fee    ist.     Denn   wiewohl   wir   in  den   mythischen   Hymnen   des 

'  Pi4krami*^ham  ushasftm  ugriyeva;  Higv.  X,  95,  2. 


s 

J 


32 

Rigveda  wenig  mehr  als  AndeutangeD;  als  Abrisse  der  vielen 
Volksmährchen  haben^  auf  die  wir  uns  bezogen^  so  sind  dieselben 
doch  so  zahlreich  und  so  deutlich;  dass  es  mir  fast  unmöglich 
scheint,  sie  zu  verkennen.  Um  das  zu  beweisen,  wird  es  jedoch 
nöthig  sein,  weiterhin  zu  zeigen,  welche  Gestalt  die  mythologischen 
Ideen  und  Figuren  bezüglich  der  Thiere,  die  in  den  vedischen 
Hymnen  verstreut  sind,  in  den  Sagen  der  Hindus  angenommen 
haben. 


§2.    Die  Verehrung   des  Stiers    und   der  Rnji  in   Indien  und 
die  bezüglichen  brfthroanischen  Legenden. 

Ganz  wie  die  Wichtigkeit  der  Viehzucht  fttr  das  ursprüng- 
liche Hirtenleben  der  Arier  die  Neigung  des  arischen  Geistes  er- 
klärty  die  wandelnden  Himmelserscheinungen  zu  erfassen,  die  zu- 
erst als  lebende  Wesen,  als  Stiere  und  Kühe  betrachtet  wurden, 
so  Hess  die  Heiligung  dieser  Thiere,  welche  den  himmlischen  Er- 
scheinungen und  den  Göttern  beigesellt  und  mit  ihnen  identificirt 
wurden,  sehr  natürlicher  Weise  die  abergläubische  Verehrung  des 
Stieres  und  der  Kuh  entstehen,  welche  allen  arischen  Stämmen, 
ganz  besonders  aber  durch  Vermittlung  der  Bräbmanen-Priester 
den  Hindns  eigen  ist. 

Es  ist  eine  beachtenswerthe  Thatsache,  dass  die  Wörter 
vrisha,  vrishabha  und  rishabha,  welche  den  Stier  als  den 
Befruehter  bezeichnen,  im  Sanskrit  oft  für  den  Besten,  Ersten,  den 
Fürsten  gebraucht  wurden.  Daher  ist  der  Stier,  d.  h.  der  beste 
Befruchter,  in  Indien  das  heiligste  Symbol  der  königlichen  Würdi». 
Aus  diesem  Grunde  hat  der  phallische  und  zerstörende  Gott,  d<T 
königliche  (^'  i  v  a ,  welcher  G  o  k  a  r  n  a  (eigentlich  Kuhohr)  bewohnt, 
zum  Beitthier  und  zum  Sinnbild  einen  brähmanischen  Stier,  d.  h. 
einen  Stier  mit  einem  Höcker  auf  dem  Bücken ;  das  Attribut  freu- 
dig (nandin)  wird  Qiva  selbst  gegeben,  sofern  er  als  de  us 
p  h  a  1 1  i  c  u  s  der  Gott  der  Freude  und  des  Glückes  ist.  ^ 

Noch  mehr  Ehre  wird  der  Kuh  erwiesen  (wie  die  vedische 
Dämmerung  unschuldig   oder  unsträflich,   anavadyä^),   deren 


'  Ich  muBS  jedoch  bemerken,  dass  competente  Autoritäten,  wie  Weber, 
die  phänische  Verehrung  (^ivta  als  aus  dem  Glauben  der  eingeborenen 
Stämme  dravidischer  Race  hervorgegangen  betrachten. 

»  Rigv.  I,  123,  8. 


33 

Tödtang  demgemäss  als  Verbrechen  galt^  Ein  interessantes 
Kapitel  des  Aitareya-brähmana,*  über  das  Opfer  von  Thie- 
ren,  zeigt  uns,  wie  nächst  dem  Menschen  das  Pferd  das  höchste 
Opfer  war,  welches  den  Göttern  dargebracht  wnrde;  wie  später 
die  Kuh  die  Stelle  des  Pferdes,  das  Schaf  die  der  Kuh ,  die  Katze 
die  des  Schafes  einnahm,  und  endlich  vegetabilische  Producte  die 
Thiere  ganz  verdrängten  —  Abänderungen,  um  die  Götter  beim  Opfer 
zu  betrögen,  die  vielleicht  zur  besseren  Erklärung  des  Betruges  dienen, 
dessen  Opfer,  im  Völksmährchen,  immer  der  Dumme  ist;  hier  ist 
der  Gott  selbst  der  Betrogene,  und  der  Hetrtiger  der,  welcher 
unter  einem  heiligen  Vorwande,  statt  der  edelsten  und  geschätz- 
testen Thiere  gewöhnliche  und  werthlosere  und  endlich  oflenbar 
ganz  wertblose  Vegetabilien  darbringt.  In  den  Gesetzbüchern  der 
Hindus  treffen  wir  dieselbe  betrügerische  Vertausehung  von 
Thieren  unter  gesetzlichem  Vorwande  an.  „Wer  eine  Kuh  tödtet,'' 
sagt  das  Gesetzbuch  des  Yägnavalkya,  ^  „muss  einen  Monat  Busse 
thun,  das  pancagavya  (d.  h.  die  fünf  guten  Erzeugnisse  der 
Kuh,  die,  nach  Manu,^  in  Milch,  Quark,  Butter,  Urin  und 
Dünger  bestehen)  trinken,  in  einem  Stall  schlafen  und  den  Kühen 
folgen;  auch  muss  er  eine  andere  Kuh  darbringen."  So  wird, 
nach  Yägnavalkya,  ^  wer  einen  Papagei  tödtet,  durch  Darbringung 
eines  zweijährigen  Kalbes  gereinigt;  wer  einen  Kranich  getödtet, 
giebt  ein  dreijähriges  Kalb;  für  einen  getödteten  Esel,  Katze 
oder  Schaf  giebt  man  einen  Stier,  während  man  sich  yon  der 
Tödtung  eines  Elephanten  durch  fünf  schwarze  Stiere  (ntla- 
yrishas)  reinigen  muss.  Man  darf  sich  über  das  Vorkommen 
solcher  Vorschriften  (welche  an  den  Vertrag  zwischen  Jacob  und 
Laban  erinnern)  in  den  Gesetzbüchern  der  Hindus  nicht  wundem, 
wenn  in  den  Veden  selbst  ein  Dichter  Jedem,  der  dazu  geneigt 
isty  einen  seiner  Indras,  d.  h.  den  Begengott,  den  Befruchter,  für 


'  Vidiqnc  saepe,  sed  cumprimis  anno  1785  in  Malabaria  ad  flumen 
templo  celebri  Ainbalapnshe  proximum,  extra  oppidumCallurekta in  sÜTula, 
sententia  regia  Travancondis  Rama  Varmer,  quinque  viros  arbori  appensos 
et  morti  t raditos,  quod,  contra  regni  leges  et  religionis  praescripta,  volun- 
tarie  unieam  vaccam  occidcrint;  Systema  Brahroanicum,  illustr.  Fr. 
Panllinns  a.  S.  Bartbo)omaeo ,  Romae,  1795.  —  Vgl.  Mftnava-Dbar- 
ma^ftstra,    XI,  GO,    und    Yägnavalkya-Dharma^ästra,  III,  234. 

»  n,  1,  8. 

'  Paii<^gavyam  piban  goghno  mäsam  ftsita  samyatah  gosbtre^ayo  go 
*nugäini  gopradänena  ^udbyati;  Dbarm.  III,  263. 

«  Dharm.  XI,  166. 

»  Ibid.  III,  271. 

OobernaUs,  die  Thiere.  3 


^T 


34 

zehn  Kühe  zum  Verkauf  anbietet  ^  Ein  anderer  interessanter 
Vers  des  Yägiiavalkya^  sagt  uns,  dass  diejenigen  rein  ster- 
ben, welche  um  der  KUhe  oder  der  Bräbmanen  willen  vom  Blitz 
Ovler  im  Kampf  erschlagen  sind.  Die  Kuh  war  oft  der  Gegen- 
stand, um  welchen  Helden  im  Himmel  fochten;  der  Brahmane 
wünschte,  der  Gegenstand  des  Kampfes  von  Helden  auf  Erden 
zu  sein. 

Wir  entnehmen  den  Hausregeln  (Gyihyasöträni),  mit  wel- 
cher Verehrung  der  Stier  und  die  Kuh  als  die  Symbole  der  Fülle 
in  einer  Familie  behandelt  wurden.  In  ÄQvaläyanas  Haus- 
regeln'  finden  wir  das  Stierfell  neben  dem  Hausherdc  ausgebrei- 
tet, das  VP^eib  darauf  sitzend  und  den  Mann,  indem  er  die  Gattin 
umarmt,  ausrufend:  „Möge  der  Herr  aller  Wesen  uns  Kinder 
schenken!":  Worte,  die  dem  vedischen  Hochzeitshymnus  entlehnt 
sind. ^  Wir  haben  oben  gesehen,  wie  die  Ribhus  aus  dem  Fell 
einer  todten  Kuh  eine  neue  und  schöne  schufen,  oder  mit  andern 
Worten,  wie  sie  aus  dem  Abenddunkel,  das  sie  in  der  Nacht  aus- 
spannten, die  Morgendämmerung  gestalteten.  Dieses  Kuhfell 
spielt  auch  im  Volksglauben  eine  wichtige  Rolle;  eine  ausser- 
ordentliche Geschmeidigkeit,  die  Fähigkeit  endloser  Dehnbarkeit 
wird  ihm  zugeschrieben,  und  aus  diesem  Grunde  wird  es  als  ein 
Symbol  der  Fruchtbarkeit  angenommen,  auf  welches  das  Weib 
sich  setzen  muss,  um  Mutter  zu  werden.  Das  Kuhfell  (g  o  c  a  r  m  a  n) 
ist  im  Mahäbhärata^  das  Gewand  des  Gattes  Vishnu;  und  das 
gocarman,  in  Riemen  geschnitten,  die  dann  mit  einander  verbun- 
den wurden,  diente  früher  in  Indien  dazu,  den  Umfang  eines 
Grundstücks  zu  messen ;  ^  daher  weckte  das  Kuhfell  die  Vorstel- 
lung einer  Art  von  Unendlichkeit.  Weiter  unten  werden  wir  es 
in  den  Mährchen  des  Westens  ausserordentlich  oft  verwendet 
finden;  ja,  wir  finden  es  schon  in  den  Hymnen  der  vediSvhen 
Epoche  angewandt,  um  einen  Leichnam  zu  bedecken,  wobei  das 


'  Ka  imam  da^abbir  mamendram  krinäti  dhenubbih;  Rigv.  IV,  24,  10* 
«  Dbarm.  Ill,  27. 

•  Gribyasüträni  I,  8,  9.  -  Uebcrdies  borrscbte  die  Sitte,  bei  Ge- 
lo^eobeit  ein«T  Heirath  den  Rrähmanen  Kübe  zu  g«'brii ;  Rärnfty.  I,  74 
giebt  König  Da9aratba  bei  der  JHocbzcit  seines  Sohnes  4iK),0()U  Kühe. 

*  A  nah  pra^äih  gnnayatu  pragäpatih;  Rigv.  X,  85,  43. 

*  Godarmavasano  banh ;  XI  il,  1228. 

•  Vgl.  Bötblingk  u.  Roth,  Sanskrit  Wörterb.  s.  v.  godarman. 


35 

Feuer  aDgerufen  wird*,  es  nicht  zu  verzehren,  fast  als  ob  das 
Kuhfell  die  Kraft  besässe,  den  Todten  wiederzuerwecken.  * 

Die  Kuh  war  als  Symbol  der  Pnichtbarkeit  auch  Geföhrtin 
der  Frau  während  der  Schwangerschaft.  Agvaläyana  ^  erzählt, 
wie  im  dritten  Monat  der  Gatte  seiner  Fran  von  der  sauren  Milch 
einer  trächtigen  Kuh  zu  trinken  geben  niusste  und  darin  zwei 
Bohnen  und  ein  Gerstenkorn;  der  Mann  musste  dann  sein  Weib 
drei  Mal  fragen :  „Was  trinkst  Du  ?"  und  sie  drei  Mal  antworten  : 
„Männliche  Nachkommenschaft."  Im  vierten  Monat  musste  sich 
die  Frau  nach  AQvaläyapa  wieder  auf  das  Stierfell  setzen  nahe 
am  Opferfeuer,  wobei  sie  wieder  den  Gott  Pra^äpati,  den 
Herrn  aller  Wesen,  anriefen;  der  Mond,  als  himmlischer  Stier 
und  Kuh,  wurde  eingeladen,  bei  der  Geburt  gegenwärtig  zu  sein;* 
und  während  der  vedischen  Epoche  war  ein  Stier  die  Gabe,  welche 
für  den  Priester  genügte.  Im  vedischen  Alterthum  Hess  man 
weder  Stiere  noch  Ktlhe  oline  besonderes  Augurium,  das  wir  auch 
in  A(valäyanas  ^  Uausregeln  tiberkommen  haben ,  auf  die  Weide 
gehen ;  die  Ktihe  sollten  Milch  und  Honig  geben,  für  das  Wachs- 
thum  und  die  Kraft  dessen,  der  sie  besass.  Hier  haben  wir  wie- 
der die  Kühe  nicht  allein  als  die  wolilthätigen,  sondern  auch-als 
die  starken,  welche  dem  Helden  oder  der  Heldin,  die  sie  zur 
Weide  führen,  helfen. 

Aber  obgleich  das  Erblicken  schöner  Kühe  bei  Tage  ein 
glückliches  Vorzeichen  ist,  ist  ihre  Erscheinung  im  Traum  ein 
böses  Omen;  denn  in  diesem  Falle  sind  es  natürlich  die  schwar- 
zen Ktihe,  die  Schatten  der  Nacht,  oder  die  dunklen  Wasser  des 
nächtlichen  Oceans.  Bereits  im  Kigveda  kommt  die  Dämmerung 
oder  die  glänzende  Kuh,  den  vorerwähnten  Sonnenhelden,  Trita 
äptya,  von  dem  bösen  Schlaf  zu  erlösen,  den  er  unter  den  Kühen  ^ 


»  Grihyas.  IV,  3. 

*  Grihyns.  I,  13.  —  Der  Commentator  Näräyuna,  von  Stenzler  in 
seiner  Ucberüetznug  dt-s  A<}\h\.  eitirt,  erklärt,  wie  die  zwei  Bohnen  und 
das  Gerstenkorn  dunli  ibre  Gestalt  die  männlichen  Zeugungstheile  be- 
seichnen. 

'  Grihyas.  I,  14. 

*  Grihyas.  II,  10.  —  Der  heilige  Antonius  (Patron  derThiere)  des  ve- 
dischen Glaubens  war  der  Gott  Rndra,  der  Wind,  dem  man,  wenn  das 
Vieh  von  ein<>r  Krankheit  betrofien  wurde,  in  der  Mitte  eines  Gchäges  von 
Kühen  opfern  musste.  —  Vgl   dasselbe  Grihyas.  IV,  8. 

^  Tad  da  goshu  dutfhvHpnyam  yad  däsrae  duhitar  divn^  tritäya  tad 
vibhftvary  äptyftya  parä  vahänehoso  va  ütaya^  suütayo  va  ütayal^;  Kigv. 
VIII,  47,  14. 

3» 


36 

der  Nacht  schläft.  AQvaiayana  nun  räth  uns,  weon  wir  ^en 
bösen  Traum  haben,  die  Sonne  anzuflehen,  das  Nahen  des  Mor- 
gens zu  beschleunigen,  oder  noch  lieber  den  fQnfzeiligen  Hymnus 
an  die  Dämmerung  herzusagen,  auf  den  wir  schon  Bezug  ge- 
nommen haben  und  welcher  mit  den  Worten  beginnt:  „Und  gleich 
einem  bösen  Traum  unter  den  Ktihen'^  Hier  ist  die  Vorstellung 
noch  nicht  eine  ganz  abergläubische;  und  wir  wissen,  was  mit 
den  Kühen,  die  uns  im  nächtlichen  Schlaf  umgeben,  gemeint  ist, 
wenn  uns  der  Bath  gegeben  wird,  die  Sonne  und  die  Dämmerung 
anzurufen,  zu  kommen  und  uns  von  ihnen  zu  befreien. 

Eine  (wahrscheinlich  schwarze)  Kuh,  oft  eine  schwarze  Ziege, 
wurde  zuweilen  auch  bei  den  Leichenfeierlichkeiten  der  Hindus 
geopfert,  wie  um  zu  prophezeien,  dass  wie  die  schwarze  Kuh,  die 
Nacht,  die  milchigen  Feuchtigkeiten  der  Aurora  hervorbringt,  so 
der,  welcher  das  Reich  der  Finstemiss  durch  wandelt  hat,  in  der 
Lichtwelt  wieder  auferstehen  wird.  Wir  haben  schon  die  schwarze 
Nacht  als  die  Mutter  der  weissen  und  glänzenden  Aurora  ge- 
sehen. Ich  bespreche  unten  noch  ein€ki  andern  vedischen  Passus, 
in  welchem  ein  Dichter  offen  seine  Verwunderung  ausspricht^ 
warum  die  Kühe  Indras,  die  schwarzen  sowohl  wie  die  hellen  (die 
schwarzen  Wolken  sowohl  wie  die  weissen  und  rethen),  beide 
weisse  Milch  geben  sollen.  ^  Sogar  das  nächtlich  düstere  Reich 
Yamas,  des  Todesgottes,  hat  seine  Kühe  mit  schwarzer  Farbe, 
die  jedoch  nichtsdestoweniger  Milch  geben;  und  so  kommt  die 
schwarze  Kuh  der  Leichenopfer  dazu,  als  Symbol  der  Aufer- 
stehung zu  gelten. 

In  gleicher  Weise  ist  das  viaticum  oder  der  Vorrath  von 
Speise,  den  man  dem  Todten  auf  die  Reise  mit  giebt,  ein  Sym- 
bol seiner  Auferstehung.  Da  die  Reise  als  eine  kurze  betrachtet 
wird,  so  ist  der  Speisevorrath,  welcher  ihn  auf  seiner  Fahrt  nach 
dem  Todtenreiche  ernähren  soll,  ein  beschränkter,  und  jeder  todte 
Held  führt  ihn  bei  sich,  gewöhnlich  nicht  so  sehr  zur  eigenen 
Verwendung,  als  um  sich  den  Eintritt  in  das  Todtenreich  zu 
sichern.  Aus  diesem  Grunde  wird  sogar  in  Afvaläyanas  Haos- 
regeln  anempfohlen,  dem  Todten  das  höchste  Symbol  der  Kraft, 
die  Nieren  des  bei  dem  Leichenopfer  getödteten  Thieres  (oder^  in 
Ermangelung    eines   Opferthieres ,   wenigstens    zwei   Reis-  oder 


*  Paya^  krishndsu  ra9ad  rohinishu;  Rigv.  I,  62,  9.   —   Vgl.  Rigv.  I, 
123,  9.  '      ' 


37 

Meblkuchen),  in  die  Hände  za  legen,'  damit  er  sie  den  beiden 
Gerben,  den  beiden  Jungen  der  Hündin  Saramä,  in  den  Raeben 
werfe,  so  dass  sie  den  Abgesebiedenen  unverletzt  in  das  Todten- 
reicb  eingeben  lassen;  und  bier  finden  wir  das  Ungebeuer  der 
Volksmäbrcben,  in  dessen  Haas  der  Held,  nacb  Bestebung  vieler 
Gefabren,  eintritt,  indem  er  auf  den  Ratb  einer  gtitigen  Fee  oder 
eines  guten  alten  Mannes  den  beiden  Hunden,  welcbe  die  Pforte 
bewacben,  etwas  giebt,  was  ihren  Hunger  besebwiebtigt.  Aus  einer 
interessanten  Stelle  in  dem  Veda,.  einem  Leicben-Hymnus,  lässt 
sieb  scbliessen,  dass  das,  was  man  einem  Todten  gab,  eigentlieb 
eine  Kub  sein  sollte:  „Die  Reiskörner  (dieselben  erinnern  an  die 
beatige  kutjä  bei  den  Russen)  sind  eine  Kub  geworden,  der  Sesam 
ist  ibr  Kalb  geworden;  und  sie  sollen  in  Yamas  Reicb  Deinen 
anerscböpflicben  Unterbalt  bilden/' 

Die  vom  Leiebenbegängniss  Zurttekgekebrten  müssen  den 
testicalos  des  Priapus,  ein  Feuer,  die  Exeremente  einer  Kub,  ein 
Gerstenkorn,  ein  Sesamkom  und  Wasser  berübren  —  lauter  Sym- 
bole der  Frucbtbarkeit,  welcbe  die  Berübrung  eines  Leicbnams 
vicUeicbt  vemicbtet  haben  konnte. 

Die  vediscben  Hymnen  baben  uns  die  bauptsäcblicben  mythi- 
schen Gestaltungen  und  Verriebtungen  der  Kub  und  des  Stiers 
gezeigt;  wir  baben  auch  gesehen,  wie  die  bräh manischen  Ge- 
setzbücher die  Verehrung  dieser  Thiere  sanctionirt  baben  und  wie 
eifersüchtig  die  Familientradition  der  Hindus  sie  bewahrt  hat. 
Wir  wollen  jetzt  aus  dem  Aitareya-brähmana  ersehen,  wie 
die  Br&hroanen  selbst,  and  zwar  die  der  Zeit  unmittelbar  nacb 
den  Veden  angebörigen,  den  Kuhmythus  interpretirten. 

Wir  haben  im  vediscben  Himmel,  wie  er  sich  in  den  Hymnen 
des  Rigveda  wiederspiegelt,  drei  Kühe  unterschieden :  die  Wolken- 
kab,  die  Mondkuh  und  die  Aurorakuh.  Diese  drei  Kühe,'  beson- 
ders die  erste  und  dritte,  werden  auch  im  Aitareya-br&hmana 
genau  von  einander  geschieden. 

Es  erzählt  uns,  wie  die  go  pri§ni,  die  gefleckte  oder 
scheckige  Kub  des  Rigveda,  angerufen  werden  muss,  das  Land 
frachtbar  zu  machen^  (oder  dass  man  einen  Hymnus  an  die 
Wolke  singen  muss,  sie  möge  die  Weiden  und  Felder  mit  Regen 
befruchten),  und  wie  man  dem  Vi^vakarman  (dem  Alles  Wir- 
kenden), welcher  in  den  Gott  Indra  verwandelt  wird,  als  er  den 


"  Grihyas.  IV,  3. 
•  V,  4,  23. 


38 

Dämon  Vritra , '  da«  Ungeheuer,  daa  den  Regen  in  der  Wolke 
zurüekhält,  tödtet^  einen  Stier  opfern  muss. 

Es  zeigt  uns  den  Vollmond,  Bäkä,  verbunden  mit  der 
Aurora,  als  eine  Quelle  der  Fülle  ;^  und  ebenso  die  Aurora  mit 
der  Kuh.  ^  Ausflihrlich  erzählt  es ,  dass  die  charakteristische  Ge- 
stalt der  Aurora  die  rothe  Kuh  ist,  weil  sie  mit  den  rothen  Kühen 
geht  ^  Nachdem  die  Götter  die  Kühe  in  der  Höhle  entdeckt 
haben,  öffnen  sie  die  Höhle  bei  der  dritten  Libation  des  Morgens;^ 
zugleich  mit  den  Kühen  treten  auch  die  Götter,  die  ädityas, 
heraus;  daher  ist  ädityänäm  ayanam,  das  Hervorkommen 
der  Götter,  gleichbedeutend  mit  gaväm  ayauam,  dem  der 
Kühe.  Die  Kühe  treten  heraus,  wenn  sie  ihre  Homer  haben,  und 
schmücken  sich.  ^ 

Die  Aurora  ist  eine  Kuh  mit  glänzenden  und  goldenen  Hör- 
nern. Wenn  die  Kuh  Aurora  hervorkommt,  bringt  Alles,  was 
von  ihren  Hörnern  fallt.  Glück.  Daher  werden  im  Mahäbbärata^ 
die  von  Mataüga,  einem  heiligen  Einsiedler,  empfangenen  Wohl- 
thaten  mit  den  Segnungen  des  gaväm  ayana  verglichen.  Um  diese 
Vergleichung,  ohne  Bezugnahme  auf  die  Veden,  zu  verstehen, 
muss  man  sich  die  heutigen  Gebräuche  Indiens  vergegen- 
wärtigen, wo  es  bei  der  Feier  des  neuen  Sonnenjahres  oder  der 
Geburt  des  Hirtengottes  Krishna  (der  während  der  Kacht  schwarz 
ist,  aber  am  Morgen  unter  den  Kühen  der  Dämmerung  oder  un- 
ter den  Kuhhüterinnen  glänzend  wird)  ^  Brauch  ist,  gegen  Ende 
des  December  den  Brahmanen  Kühe  zu  geben,  Geschenke  von 
Külien  und  Kälbern   auszuwechseln,  einander  mit  Milch  zu  be- 


■  ludro  väi  vritram  hatvä  vi<^vakarraäbhavat ;  IV,  3,  2V. 

*  lU,  2,  37.  ' 

'  Ushase  darum  yoshäl^  sä  räkä  so  eva  txishtup  gavtj  (uirum  ya  gäuh 
sä  äiuiväli  (der  Neumond)  so  eva  ^«gati;  III,  2,  48. 

*  Abhüd  ushä  ru^atpai^'ur  ityushaso  rüpatn;  I,  *^,  18  —  Gobhiraiunäir 
ushä  ügitnadhävut  tasmäd  ushasyagatäyäui  arunaui  ivaeva  prabhätyuehaso- 
rüpam-,  IV,  2,  9. 

*  Ait.-brahm.  VI,  4,  24. 

*  Ait.-brahm.  IV,  3,  17. 
'  ni,  8080. 

^  Die  Apotheose  Krisbnas  ist  ein  Factum,  welches  der  brähmanischcn 
Periode  angehört.  Krishna  ist  der  populärste  der  Götter  dieser  Epoche, 
und  es  iai  höchst  wahrscheinlich,  dass  die  eingeborenen  Schwarzen  Indiens 
bedeutend  zu  der  VolksthümÜchkeit  des  Cultus  des  schwarzen  Gottes  bei- 
getragen haben,  beinahe  wie  in  Afrika  die  äthiopische  Jungfrau  ange* 
betet  wurde. 


39 

spreugeil,  eine  seböne  Milelikah  zu  sclimttcken,  sie  mit  Blrnuen 
zu  bekränzen,  ihre  Hörner  zu  vergolden  oder  bunt  zu  bemalen,  sie 
mit  Blumen,  Früehteu  und  kleinen  Kuehen  zu  überladen  und  sie 
dann  von  dem  Dorfe  mit  Pauken  und  Trompeten  wegzujagen,  so 
dass  sie  erschreckt  mit  Ungestüm  davonflieht.  Die  Kuh  verliert 
bei  der  Flucht  ihren  Schmuck,  und  da  er  für  einen  segenbringen- 
den Schatz  gilt,  wird  er  von  den  Gläubigen  sorgfältig  aufgelesen 
und  als  heilige  Reliquie  aufbewahrt.  ^ 

Im  Aitareya-brähmana=^  ist  die  Sonne  von  den  Kühen  gebo- 
ren (gogä),  ist  sie  der  Sohn  der  Kuh  Aurora;  als  die  Mutter  der 
Sonne  nährt  sie  dieselbe  natürlich  mit  ihrer  Milch ;  daher  heisst  es 
ebenda  ^  auch,  dass  die  Götter  Mitra  und  Varuna,  vermittelst  der 
geronnenen  Milch,  aus  dem  Trank  der  Götter  das  berauschende 
Gift  nahmen,  welches  die  langzungige  Hexe  (Dirghagihvl)  hinein- 
gegossen hatte.  Diese  geronnene  Milch  ist  dasselbe  Milchmeer, 
in  welchem  Gesundkräuter  sind  und  welches  die  Götter  im  Rämä- 
yana,  Mähabhärata  und  den  Puränas  schütteln,  um  Ambrosia  zu 
bereiten:  von  dem  Meere  und  den  Kräutern  ist  schon  in  einem 
vedischen  Hymnus  die  Rede.*  Aber  im  Himmel,  wo  die  ambro- 
sische Milch  und  die  Gesundkräuter  hervorgebracht  werden,  giebt 
es  Götter  und  Dämonen;  und  die  Milch,  welche  das  eine  Mal  der 
Regen,  ein  anderes  Mal  Ambrosia  ist,  befindet  sich  bald  in  der 
Wolke,  bald  im  Monde  (auch  Oshadhipati,  Herr  der  Kräuter 
genannt),  bald  rings  um  die  Dämmerung.  Hanumant,  welcher 
im  Rämäyana  das  Heilkraut  suchen  geht,  um  die  Seelen  der 
balbtodten  Helden  zu  beleben,  sucht  es  bald  zwischen  dem  Berge 
„Stier''  (rishabha)  und  dem  himmlischen  Berge  Käiläsa,  bald 
zwischen  dem  Berge  Lunus  ^Candra)  und  dem  Berge  „Becher" 
(Drona);  und  der  Berg,  auf  welchem  das  von  Hanumant  ge- 
suchte Kraut  wächst,  heisst  selbst  Kraut  (oshadhi)  oder  der, 


»Vgl.  Weber,  über  die  Krislinagainäshtain  i,  Berlin^r868; 
Li'lnde  fran9ai8e,  par  Kugone  Buruouf,  Paris  1828;  The  Hiündöioav 
London  1834,  vol.  I.  i'^  "   •'  •       ' 

MV,  3,  20.  .^  .xy«-^^.r.u..^ 

•  I,  3,  22.  ff    ^o-ii«  -»ib  ji'»il<M!i-^/ 

♦  Mahiiiäm  payo  'sy  oshadhit  am  rasah;  Taittir.  ta'i\Pr'^.lA\'m^^ 
Kshirodam  8ftgar»m  Barve  inathiilniHh  sahitä  '-^ayit(h  ^iföUäli^flMth^  sa- 
inÄhritya  prakfthipya  ^h  talHstatah;  Ränfft^.f','^«.«  ^uilv^t'^ÜÜy/di  e 
Herabkunft  des  Feuers  und  des  ^*Hfe»ir^h!l^*i,"lifeHteA859.(-'^*^^ 


40 

welcher  mit  Wohlgerüchen  erfreut  (Gandhamädana),*  zwei 
synonym  gebrauchte  Worte.  .  Hier  wird  das  milchige,  ambrosische 
und  heilende  Nass  als  nicht  von  einer  Kuh,  sondern  von  einem 
Kraut  hervorgebracht  angesehen.  Die  Götter  und  Dämonen 
streiten  im  Himmel  um  den  Besitz  dieses  Krautes,  wie  um  die 
Ambrosia;  der  einzige  Unterschied  ist,  dass  die  Götter  beide  ge- 
messen, ohne  sie  zu  verderben,  während  die  Dämonen  sie  beim 
Trinken  vergiften,  d.  h.  sie  breiten  Dunkel  über  das  Licht,  sie 
bewegen  sich  in  der  Finsterniss,  in  den  dtistern  Wassern,  in  dem 
schwarzen  Nass,  das  aus  dem  Kraut  selbst  herausfliesst,  welches 
durch  die  Berührung  mit  ihnen  vergiftet  wird,  umher,  so  dass  sie 
wiederum  das  Gift  einsaugen.  Andrerseits  sind  die  Gandhar- 
vas,^  ein  amphibienartiges  Geschlecht,  in  welchem  ein  Mal  die 
Natur  der  Götter,  ein  ander  Mal  die  Dämonenuatur  prädominirt 
und  das  bald  fttr  die  Götter,  bald  für  die  Dämonen  Partei  nimmt, 
einfach  Wächter,  welche,  wie  gegen  Diebe,  Wache  halten  und  die 
Wohlgerüche  und  Heilkräuter,  die  ihnen  selbst  eignen,  wie  die 
gesunden  oder  ambrosischen  Wasser,  die  Ambrosia,  die  ihren 
Weibern,  den  Nymphen  angehört,  bewachen.  Sie  sind,  mit  einem 
Wort,  die  frühesten  Repräsentanten  des  geniessenden  und  eifer- 
süchtigen Eigenthümers.  Wir  haben  schon  im  Kigveda  die  dä- 
monischen Ungeheuer  einander  anrufen  hören,  das  Gift  der  himm- 
lischen Kühe  zu  saugen;  und  wir  haben  gesehen,  dass  das  Aita- 
reya-brähmana  eine  Hexe  beschuldigt,  die  göttliche  Ambrosia  ver- 
giftet zu  haben;  wir  haben  ferner  beobachtet,  dass  ein  vedischer 
Hymnus  schon  die  ambrosische  Milch  und  das  Heilkraut  verbin- 
det und  dass  in  der  brähmanischen  Kosmogonie  die  Milch  und 
das  Kraut,  von  dem  sie  kommt,  zusammen  erscheinen,  welches 
Kraut  wohlthätig  oder  verderblich  ist,  je  nachdem  es  die  Götter 
oder  die  Dämonen  geniessen;  nach  all  dem  ist  das  interessante 
Hindu-Sprichwort  leicht  verständlich:  „Das  Gras  giebt  den  Kühen 
die  Milch,  die  Milch  den  Schlangen  das  Gift".  ^    Wirklich  ist  es 

'  Der  Gandham^dana  wird  besonders  von  den  Gandharvas  be- 
wacht, ein  Wort,  das  ans  gandha,  Wohlgemch,  und  arva,  einer,  der 
vorgeht  (dann  das  Pfei*d),  von  der  Wrz.  arv  (Erweiterung  von  riv.)  zu- 
sammengesetzt zu  sein  scheint ;  demgemäss  würden  sie  also  die  sein,  welche 
in  den  Wohlgerüchen  gehen,  wie  die  von  ihnen  geliebten  und  gehüteten 
Nymphen  die  sind,  welche  in  den  Wassern  gehen  (apsarasas).  Vgl.  das 
Kap.  über  den  fiseL 

*  Vgl.  ß&mäy.  VI,  82.  83. 

'  Bötblingk,  Indische  Sprüche,  122,  Theil  I.  (2.  Aufl.  Petersboig 
1870.)  ~  Vgl.  Mahäbh.  I,  1143-1145. 


41 

die  Milch  der  Dämmernngskah  nnd  der  Mondkuh,  welche  die 
Schlangen  der  Finsterniss,  die  dämonischen  Schatten  der  Nacht, 
vernichtet. 

Doch  ist  der  Gedanke  des  Heilkrautes  in  ein  anderes,  den 
indogermanischen  Volksmährchen  sehr  geläufiges  Bild  eingeklei- 
det, welches  sich  sogar  in  den  vedischen  Hymnen  findet.  Die 
Kuh  bringt  die  Sonne  und  den  Mond  hervor;  die  Kreisgestalt, 
die  Scheibe  der  Sonne  und  des  Mondes,  ruft  wechselweise  die 
Vorstellung  eines  Ringes,  eines  Edelsteines  und  einer  Perle  her- 
vor; und  Savitar,  die  Sonne,  der,  welcher  den  Saft  giebt  und 
der  Erzeuger,  wird  in  einem  vedischen  Hymnus  als  der  ange- 
föhrt,  welcher  unsterblichen  Saft  hat,  welcher  die  Perle  giebt.  * 
Die  Feuchtigkeit  der  Kuh  ist  auf  das  Kraut,  von  diesem  auf  die 
Perle  übergegangen;  und  die  Natürlichkeit  dieser  Gestalt  ist  un- 
serer modernen  Vorstellungsart  ganz  adäquat,  denn  wenn  wir  die 
Vorzüglichkeit  und  den  Werth  eines  Diamanten  oder  eines  andern 
Edelsteines  hervorheben  wollen,  so  sagen  wir:  es  ist  ein  Stein 
von  reinstem  Wasser.  Sogar  der  Perlenmond  und  die  Perlen- 
sonne haben,  von  ihren  ambrosischen  Feuchtigkeiten,  ein  schönes 
.Wasser.  Im  Ramäyana*  sehen  wir,  im  Augenblick  der  Erzeu- 
gung von  Ambrosia  aus  dem  brausenden  Milchmeere,  neben  dem 
Gesundkraut  den  Edelstein  Käustubha,  denselben,  den  wir 
später  auf  der  Brust  des  Sonnen-  oder  Mondgottes  Vishnu  finden 
und  der  zuweilen  sein,  Nabel  ist;  weshalb  auch  Vishnu  im  Ma- 
bäbhärata^  mit  dem  Namen  ratnanäbha,  d.  h.,  der  eine  Perle 
als  Nabel  hat,  angeredet  wird,  wie  die  Sonne  in  ähnlicher  Weise 
mit  dem  Namen  Manigriöga,  d.  h.  einer,  der  Homer  von 
Perlen  hat.  *  Im  Rämäyana  ^  erscheinen  das  glänzende  Kraut  und 
die  Sonnenscheibe  zusammen  auf  dem  Gipfel  des  Berges  Gandha- 
mädana;  er  riecht  es  nicht  eher  als  bis  der  Sonnenhcld  Laksh- 
mana,  von  den  eisernen  Fesseln  befreit,  sich  vom  Boden  er- 
bebt, d.  h.  kaum  hat  die  Sonne  ihre  Scheibe  gebildet  und  einem 
himmlischen  Edelstein  gleich  zu  glänzen  begonnen,  als  der  Son- 


'  Abhi  tyam  devaih  savitäram  ^yoh  kavikratum  arcämi  satyasavasam 
ratoadhäm  abhi  priyam  matim;  Täitt.  Yagurv.  I,  2,  6. 

•  I,  46. 

»  XIII,  7034. 

*  Hariv.  12,  367. 

'  Amhya  tasya  ^ikhare  so  'pa9yat  paramdushadhim  drishtvä  dotpäta- 
yämAsa  Ti^alyakaranuh  9abbäin.  —  Vi9alyo  niru^h  ^ighramudatisbthan- 
mahitaiät;  VI,  83. 


42 

neiibeld,  den  die  Ungehcnet  während  der  Naclit  bezwungen  batten, 
siegreich  aufsteigt  Aof  dem  Bergosgipfel  drückt  die  Sonne 
Känia  mit  einem  ßergmctall,  das  an  Farbe  der  jnngen  Sonne 
gleicht, '  ein  äimmemdes  Mal  auf  die  Stirne  der  Dämmerung 
Stlä,  wie  uDi  sie  wiedererkennen  zu  können,  d.  b.  er  aetzt  aicb 
auf  die  Stirn  der  Aurora  oder  Dämmerung.  Als  die  Sonne  Eäma 
von  der  Dämmerung  Sita  getrennt  wird,  sebickt  er  ibr  zur  Wie- 
dererkennung, als  ein  Symbol  seiner  Scheibe,  seinen  eigenen 
Ring,  welcher  in  dem  berühmten  Ringe,  den  König  Dushmanta 
der  schönen  QakuntaU,  der  Tochter  der  Nymphe,  gicbl,  nnd 
an  welchem  allein  die  verlorene  Braut  von  dem  jungen  und  ver- 
gessltcbeii  König  wiedererkannt  werden  kann,  wicderersebeint. 
Sita  schickt  durch  Hanumant  als  Zeichen  der  WiedErerkeanung 
den  flimmernden  Sebmuck  an  Räma  zurUck,  den  er  ibr  eines 
Tages  an  einem  lauschigen  Plätzeben  zwischen  den  nor  ihnen 
allein  bekannten  Bergen  auf  die  Stirn  gedruckt  hat.  Dieser  Wie- 
dererkennnngsring,  diese  magische  Perle  kehrt  in  den  Hiudu- 
Mährcheii  oll  wieder.  Es  mögen  hier  die  beiden  berühmtesten 
Iteispiele  genügen. 

Aurora,  welche  die  Perle  besitzt,  wird  die  an  Perlen  Reiche, 
und  selbst  zu  einer  Perlenquelle;  die  Perle  ist  aber,  wie  wir  oben 
gesellen,  nieiit  blos  die  Sonne,  sondern  auch  der  Mond.  Der 
Mond  ist  der  Freund  der  Aurora;  er  tröstet  sie  am  Abend  unter 
ihren  Verfolgungen;  er  überhäuft  sie  während  der  Nacht  mit 
ßescheoken.  begleitet  und  leitet  sie  und  failft  ihr  den  Gatten 
finden. 

Im  Rämäyana  finde  ich  den  Mond  bäuäg  als  eine  giltige 
Fee,  welche  der  Dämmerung  Sita  zu  Hitfe  kommt;  denn  ais 
rag;anikara  (Erhellor  der  Nacht]  nimmt  der  Mond  eine  freund- 
liche Gestalt  an.  Wir  haben  schon  bemerkt,  dass  der  Mond  in 
Indien  gewöhnlich  ein  männllcbes  Wesen  ist;  aber  als  Vollmond 
und  Neumond  erhält  er,  sogar  in  den  Veden,  eine  weibliche  Be- 
nenonng.  In  einem  vedischen  Hymnus  wird  Räkä,  der  Voll- 
mond, aufgefordert,  mit  einer  unzerbrecblicben  Nadel  zu  nähen.  * 
Hier  haben  wir  den  Mond  als  eine  wunderbare  Arbeiterin  perso- 


'  Sa  nighrishäiigulim  tkxno  dbänte  munah^ilägirän  ^skara  tilakam 
patnyll  laliltit  rudirnth  tadft  bftlftrkaBHrnavHTnonA  t«nn  sft  giridhutnnä  lalftte 
viniviBli|hc 'im  8a<^>iiiidb<'vii  iiiviibliävat ;  Käuiar.  II,  llJg. 

*  Hivyatii  Hpnli  nfiiJyAiÜitdyHmllDayA  dad&tu  viihid  ^taitftyani  ukthyam; 
?igv.  il,  3A4. 


43 

Dificirt;  eine  goldfiDgrige,  gate  Fee ;  and  als  solche  finden  wir  sie 
im  Käniäyana  wieder,  in  der  Gestalt  der  alten  Anasüyä,  welche 
die  danke!  gewordene  Sita  (denn  Sita  ist,  wie  das  vedische  Mäd- 
chen, während  der  Nacht  oder  des  Winters,  wenn  sie  verborgen 
ist,  finster  und  hässlich)  im  Walde  mit  einer  göttlichen  Salbe  be- 
streicht, ihr  ein  Blumengewinde,  verschiedene  Schmucksachen  und 
zwei  schöne  Gewänder  giebt,  die  immer  rein  sind  (d.  h.  nicht 
den  Boden  streifen,  wie  die  Kühe  der  vedischen  Dämmerung,  die 
sich  nicht  mit  Staub  bedecken)  und  an  Farbe  der  jungen  Sonne 
gleichen;*  in  all  dem  erscheint  die  Fee  Mond  als  während  der 
Nacht  für  die  Aurora  arbeitend,  ihre  glänzenden  Gewänder 
zurechtmachend  die  beiden  Gewänder,  deren  eines  fllr  dön 
Abend,  deren  anderes  für  den  Morgen  ist,  das  erste,  sil- 
bern, das  Mondgewand,  das  zweite,  golden,  das  Sonnen- 
gewand —  damit  sie  ihrem  Gemahl  Räma  oder  der  Sonne 
Vishnu  gefalle,  welcher  erfreut  ist,  sie  so  geschmückt  zu  sehen. 
Auch  in  der  Svayamprabhä  trefl'en  wir  den  Mond  als  eine 
gute  Fee,  welche  von  dem  goldenen  Palaste  aus,  den  sie  für  ihre 
Freundin  Hemä  (die  Goldene)  bewahrt,  einen  Monat  lang  Hanu- 
mant  und  seine  Genossen,  die  beim  Suchen  nach  der  Dämmerung 
Sita  den  Weg  verloren  haben,  in  der  grossen  Höhle  leitet.  Um 
aus  dieser  Höhle  herauszukommen,  ist  es  noth wendig,  die  Augen 
zu  scfaliessen,  um  nicht  ihren  Eingang  zu  sehen;  alle  Genossen 
Hanumants  sind  heraus;  nur  Tara,  der  wie  der  Mond  glänzt,-* 
wünscht  zurückzukehren.  Der  Mond  lässt  sich  auch  in  den  güti- 
gen Feen  Trigäta,  Suramä  und  Saramä  wiedererkennen, 
welche  der  Sita  anzeigen ,  dass  ihr  Gatte  bald  kommen  und  sie 
ihn  bald  sehen  wird.  Die  erste  träumt,  als  die  Ankunft  Rämas 
naht,  dass  die  Ungeheuer,  in  gelbem  Gewände,  in  einem  See  von 
Kuhmilch  spielen ;  ^  wie  Suramä  der  SftÄ  das  Nahen  Rämas  ver- 
kündet, glänzt  Sita  in  eigener  Schönheit,  wie  die  anbrechende 
Dämmerung ;  ^  endlich  verkündet  auch  Saramä  (die  mit  Suramä 
identisch   zu   sein   scheint),   welche  Sita  ihre  Zwillingsscbwester 

'  Tatah  ^ubbam  sä  taranärkasamiiibbam  gataklainä  vasrayugam  sadil 
malam  srago  'ngarägam  da  vibhüshanäoi  da  prasannadctä  gagrihe  tu 
mäithili;  Rämäy.  III,  5. 

•  Käinay.  IV,  50-53. 

'  Pitäinitv&sitft   vasträi^  kridanto   goniaye  hrade;  Rätn&y.  V,  27.  - 
Vgl.  VI,  23. 

*  SitäiQUvftda  ha  dipyamänäm  svayft  lakshmyäeafidbyämäutpfttikimiva; 
Rämäy.  V,  52. 


44 

(sahodarä)  nennt;  die  in  die  Unterwelt  eindringende,  wie  der 
Mond  Proserpina;  der  Sita  ihre  naliende  Befreiung  durch  Bama.  * 
Was  die  Tri^ätä  betrifft;  so  erkennt  man  unschwer  in  ihr  den 
Mond;  wenn  man  sich  erinnert;  dass  Trigätä  ein  häufig  vorkom- 
mender Name  für  die  Abendsonne;  den  aufsteigenden  Mond;  Qiv^, 
ist;  welcher  mit  dem  Mond  als  Diadem  dargestellt  wird,  weshalb 
er  auch  den  Namen  Gandracäda  fUhrt.  Suramä  halte  ich  für 
eine  nicht  mythische;  sondern  rein  orthographische  und  ungenauere 
Variation  von  Saramä;  auf  deren  Verwandtschaft  mit  dem  Monde 
wir  in  dem  Kapitel  über  den  mythischen  Hund  näher  eingehen 
werden. 

So  haben  wir  eine  Mond-Fee.  Aber  wir  finden  den  Mond 
an  andern  Stellen  im  Ramäyana  mit  seinem  gewöhnlichen  männ- 
lichen Namen  bezeichnet.  Dadhimukha;  der  Hüter  des  Honig- 
waldes;  in  welchem  die  die  Sita  begleitenden  Helden  sich  er- 
götzen, soll  von  Gott  Lunus  gezeugt  sein.'  *  Und  der  Mond,  wel- 
cher dem  Hanumant  bei  seinem  Suchen  nach  Sita  beisteht;  soll 
wie  ein  weisser  Stier  mit  einem  spitzen,  vollen  Horn  glänzen,^ 
wobei  wir  auf  den  Mond  als  ein  gehörntes  Tbier  und  auf  die 
cornucopia  zurückkommen.  Femer  finden  wir  dasselbe  Mondhom 
wieder  in  der  Stadt  Qriögavera,  wo  erst  der  Sonnenheld Rama, 
dann  sein  Bruder  Bharata;  gastlich  aufgenommen  werden,  als  die 
Sonne  von  Guha,  dem  König  der  schwarzen  NishädaS;  der  auch 
die  Farbe  einer  schwarzen  Wolke  hat,  *  verfinstert  wird ;  ^  und 
Räma  und  Bharata  nehmen  am  Morgen  von  Guha,  der  immer  in 
den  Wäldern  wandeln  soll,  ^  Abschied. 

Es  erübrigt;  noch  klarere  Beweise  beizubringen;  dass  im 
Ramäyana  Räma  die  Sonne,  und  Sita  die  Dämmerung  oder 
Aurora  ist. 

Ohne  in  Anschlag  zu  bringen,  dass  Räma  die  populärste  Per- 
sonification Vishnus  und  Vishnu  oft  der  Sonnenheld  ist  (obwohl 
er  auch  nicht  selten  mit  dem  Monde  identificirt  wird),  woUen  wir 


*  Bamartha  gatanam  gantumapivä  tvam  ras&talam  —  Adirammokebyase 
site;  Rärnfty.  VI,  9.  10. 

*  Säumyal^  somfitxnaga^ ;  Ramäy.  VI,  6. 

s  Sita^  kakudväniva  ttksbna^ringo   rarä^   dandral^ii   paripürna^f ingal^ ; 
Ramfty.  V,  11.  —  Vgl.  V,  20.' 

*  Babbäu  nashtaprabhal^  süryo  ra^ani  <^äbhyavartata ;  Bamäy.  H,  92. 
^  Nishädarägo  gubn^  sanflämbudatulyavarnah ;  Käoofty.  II,  48. 

«  Sadä  vanagoöarah;  Rämäy.  II,  9a 


45 

sehen,  wie  Räma  sich  im  Bämäyana  manifestirt  und  was  er  thut, 
um  seine  Sonnennattir  zu  documentiren. 

Das  beste  Mittel,  das  zu  beweisen,  ist,  meines  Erachtens,  za 
zeigen,  wie  Räma  dieselben  Wander  als  Indra  verrichtet.    Räma 
giebt,  wie  Indra,  schon  in  der  Jugend  ausserordentliche  Beweise 
seiner  Stärke;  Räma  führt,  wie  Indra,  seine  grössten  Thaten  aus, 
während  er  selbst  verborgen  ist,  besiegt,  wie  Indra,  das  Unge- 
heuer,  befreit  Sttä  und  geniesst  die  Gesellschaft  seines  Weibes. 
Das  grosse  Epos  von  Räma  beginnt  erst,  als  er  in  die  Wälder 
geht,  wie  Indra  in  die  Wolken  und  Schatten.     Indra  hat  die 
Winde  (Marnts)  zum  Beistand;  Räma  hat  seine  bedeutendste  Hilfe 
an  Hannmant,  dem  Sohne  des  Windes  (Märutätmaga);^   Hanu- 
mant  ergötzt  sich   mit  den  Ungeheuern,  wie  der  Wind  mit  den 
Bogenschtitzcnwolken  des  tausendäugigcn  Indra;  ^  und  Räma  soll 
auf  Hanumants  Rücken  sitzen,   wie  Indra  auf  dem  Elephanteu 
Airavata.     Der  Elephant    mit    seinem    Rüssel   wird    in    der 
brähmanischen  Tradition  nicht  selten  an  die  Stelle  des  gehörnten 
Stieres  der  Veden  gesetzt.  *     Doch   erscheint  der  Sjtier  Indra  in 
dem  Stiere  Räma  wieder,  und  die  Affen,  welche  Räma  beistehen, 
haben  wenigstens  den  Schwanz  der  vedischen  Kühe  behalten,  wo- 
her ihr  Gattungsname  goläfiguläs  (die  Kuhschwänze   haben). ^ 
Der  Bogen,  mit  welchem  Räma  die  Ungeheuer  schiesst,  ist  aus 
einem  Horn  gemacht,  woher  sein  Name  ^ärngadhanvat  (der 
mit  dem  Horn  schiesst) ;  *  Räma  empfängt  den  Schauer  der  feind- 
lichen Pfeile,  wie  ein  Stier  auf   seine  Hörner  den    reichlichen 
Herbstregen.«      Sita    selbst   nennt   Räma    und    seinen    Bruder 
Laksbmana  sinharshabhäu,^  oder  den  Löwen  und  den  Stier, 
die   so   häufig  in  der   Mythologie   in   Anbetracht  ihrer  gleichen 
Stärke  verbunden  werden;  daher  der  Schrecken  des  Löwen,  als 
er  den  Stier  brtUlen  höit,  im  ersten  Buche  des  Pancatantra, 

»  Räinfty.  IV,  1. 

*  Saha&i&kBhadhanQshmadbbiA  toyadäiriva  m&rutah;  Raroäy.  V,  40. 

'  Käuiäy  y,  73.  Im  Rämäyana  selbst  wird  Räma,  von  Kummer  über- 
wältigt, bald  mit  einem  Stier  (V,  34),  bald  mit  einem  Elephanten,  der  von 
einem  Löwen  gequält  wird,  verglichen  (V,  37). 

*  R&mfty.  VI,  105. 

*  R&mfty.  VI;  102. 

*  ^ftradam    stbülaprishatam    ^ringabbyäm    govrisho    yalha;    Rämäy. 

III,  3i. 

'  RftmÄy.  V,  28.  —  Das  Ungeheuer  Kabandba  redet  hier  beide  mit 
dem  Namen  Vrishabhaskandhäu  an,  d.  h.  die,  welche  Stierschultern 
haben.    Rämäy.  III,  74. 


46 

und  all  dco  zahlreichen  orientalischen  nnd  occidentalischen  Be- 
arbeitungen dieses  Baches.  Indra  hat  seine  Kämpfe  im  bewölk- 
teu;  regnerischen  nnd  düsteren  Himmel;  dieser  ist  auch  der  Kampf- 
platz Rämas.  Die  Namen  der  Ungeheuer  des  Bämäyana,  wie 
z.  r>.  Vidyu^^iva  (der  von  Donnerkeilen  lebt),  Va^rodart 
(die  Donnerkeile  im  Magen  hat).  In  drag  it  (der  Indra  durch 
Zauberkünste  besiegt),  Meghanäda  (Donnerwolke)  ^  und  andere, 
zeigen  uns  die  Natur  des  Kampfes.  Auf  dem  Kampfplatze  Hamas 
ist  der  hilfreiche  Ileld  bald  ein  Stier  (rishabha),  bald  ein  Kuh- 
auge (gaväksha),  bald  gavaya  (bos  gavaeus)  und  Wesen 
mit  ähnlichen  Namen,  die  uns  an  die  vedischen  Gottheiten  mahnen. 
Indra  schlägt  den  himmlischen  Ocean  mit  Blitzen;  Räma,  ein 
indischer  Xerxes,  züchtigt  die  See  mit  brennenden  Pfeilen.^ 
Indra  setzt  im  liig^eda  über  das  Meer  und  kommt  über  neun- 
uudneunzig  Ströme;  Uäma  überschreitet  den  Ocean  auf  einer 
Brücke  von  Bergen,  welche  Hanumant,  der  Sohn  des  Windes, 
ausserordentlich  geschickt  trägt;  die  Winde  tragen  die  Wolken, 
die  wii-  in  der  Sprache  der  \'eden  als  Berge  dargestellt  gesehen 
haben.  Und  dass  hier  von  Wolken,  nicht  von  wirklichen  Bergen 
die  Rede  ist,  schliessen  wir  aus  der  Beobachtung,  dass  während 
die  Thierarmee  Ramas  die  Brücke  über  den  Ocean  schlägt  oder 
die  Winde  die  Wolken  in  den  Himmel  tragen,  die  Sonne  die 
müden  Affen-Arbeiter  nicht  brennen  kann,  weil  Wolken  aufstei- 
gen und  sie  bedecken,  Regen  lallt  nnd  der  Wind  bläst  ^  Der 
Platz,  wo  sich  dieser  Kampf  des  Epos  abspielt,  ist  augenschein- 
lich derselbe  wie  der  des  mythischen  Kampfes  Indras.  Und  im 
Rämäya^a  finden  wir  aller  Orten  die  Aehnlichkeit  der  Kämpfen- 
den mit  den  schwarzen,  den  brüllenden,  vom  Winde  getragenen 
Wolken.  Der  Wald,  den  Räma  durchschneidet,  wird  mit  einer 
Wolkengruppe  verglichen.^  Der  Name  Nachtwanderer  (rasa- 
nt (^  a  ra),  den  im  Ramäyana  häufig  das  Ungeheuer  führt,  mit 
welchem  Räma  kämpft,  weist  deutlich  darauf  bin,  dass  bei  Nacht 
gekämpft  wird«  Wenn  wir  lesen,  dass  die  Uexe  Qfirpanakhä 
im  Winter  kommt,  um  Räma  zu  verführen,  während  er  im  Walde 


'  Kam &y.  VII,  36-38. 

«  Rämay.  V.  93. 

>  Qraiitamtu  na  tapet  sürja^  kathan<Sidvftuaräaapi  abhr&ni  ^a^nire 
digbhyas  dhadayitva  raveh  prabliäm  pravavarshu  da  par^anyo  maruttt^da 
<^ivo  vuvau;  Uämaj.  V,  95. 

*  Käoiay.  Ill,  77. 


47 

ist^'  und da8 Ungeheuer  Eumbhakarna  nach  sectismonatlichem 
Schlaf  erwacht,  wie  eine  Regenwolke,  welche  gegen  Ende  des 
Sommers  (tap ante)  sich  erhebt, ^  so  beweist  dieser  Umstand, 
dasft  das  Epos  von  Räma,  ausser  dem  nächtlichen  Kampfe  der 
Sonne  gegen  das  Dunkel,^  auch  den  grossen  jährlichen  Kampf 
der  Sonne  im  Winter  zur  Befreiung  des  Frühlings  umfasst. 
Ueberall  und  immer  handelt  es  sich  um  einen  Kampf  der  Sonne 
gegen  das  Ungeheuer  der  Finstemiss.  Bäma  sagt,  ganz  am  An> 
fange  des  Gedichtes,  zu  seinem  Bruder  Lakshmana;  „Siehe,  o 
Lakshmana,  Märica  ist  mit  seinen  Begleitern  hierher  gekommen, 
donnerähnlich  lärmend,  und  mit  ihm  der  nächtliche  Wanderer 
Subuhu;  Du  sollst  sie,  einer  Masse  finstrer  Wolken  gleich,  in 
einem  Nu  von  mir  zerstreut  sehen,  wie  Wolken  vom  Winde".  ^ 
Hier  finden  wir  fast  den  ganzen  Kampf  Indras. 

Aehnliche  Schlachten  in  den  Wolken  finden  sich  in  mehren 
anderen  Episoden  des  Rarariyana.  Der  Pfeil  Ramas  trifl^t  das 
Ungeheuer  Khar  a  (das  Esel-Ungeheuer),  wie  einen  grossen 
Bären  der  Donnerkeil  Indras.^  Helden  und  Ungelieuer  kämpfen 
mit  Steinen  und  Felsstäcken  von  dem  grossen  Berge  und  stürzen 
Bergen  gleicb  auf  die  Erde  herunter.  Das  Ungeheuer  Rävana 
raubt  Sita  mit  dem  Zauber  des  Windes  und  Sturmes. '  Helden 
und  Ungeheuer  kämpfen  mit  Baumstämmen  aus  dem  grossen 
Walde;  ja,  diese  selbst  werden  Ungeheuer,  betheiligen  sich  am 
Kampfe,  strecken  ihre  wunderbaren  Arme  aus  und  verschlingen 
die  Helden  in  ihren  Höhlen.  Und  hier  kommen  wir  zu  der  in- 
teressanten Erzählung  von  Kabandha,  in  welcher  wir  die 
kämpfenden  Wälder  und  Bäume  wie  das  vom  göttlichen  Stier 
getragene  Fass  der  Veden  wiederfinden.  Die  Dänavas  oder 
Dämonen  erscheinen  im  Mahäbhiirata^  auch  in  der  Gestalt  von 
tönenden  Fässern,  im  Rumäyana  heisst  der  oberste  der  Dämonen 
(dänavottama)  Kabandha  (Fass  und  Rumpf),  wird  mit 
einer  schwarzen  Donnerwolke  verglichen  und  als  ein  ungeheurer 


»  Räinäy.  III,  23. 

*  Bamäy.  VI,  37. 

'  Pa^ya  lakshmana  märidam  maba9anisama8vanam  Bapadanugamä- 
yäntam  subähum  da  ni9ä<^aib  etävadya  ina}ä  pa^ya  Dilän<5ana(^ayopa- 
inäu  asinin  kshano  samädhütävanilcnämbudäviva ;  Ramay.  I,  33. 

*  Qakrencva  vinirmokto  vagrastamvaropari ;  Kamay.  111,35. 

^  Mäyftroäi^ritya  vipul&m  vätadurdinasamknläni;  Rftmäy.  III,  73. 
'  Te  nikrittabhugaskandhäs  kavandhäkriti  ekadar^anäl;  nadanto  bhilira- 
vitnnädännäpatanti  sma  dänaväs;  Mbh.  III,  H06. 


V 


48 

Rumpf  mit  einem  grossen  gelben  Auge  und  einem  farchtbaren 
Alles  verschlingenden  Munde  in  der  Brust  dargestellt.  ^  Das 
Ungeheuer  Rabandha  zieht  mit  seinen  langen  Armen  die  beiden 
Brüder  Räma  und  Lakshmana  an  sich  (diese  werden  im  Ra- 
mäyana^  öfters  mit  den  beiden  A^vins^  die  sich  in  Allem  einan- 
der gleichen;  verglichen).  Kama  und  Lakshmana,  d.  h.  die  A<;- 
vinSy  die  Morgen-  und  Abend-,  die  Frühlings-  und  Herbst-Sonne, 
die  beiden  Dämmerungen,  welche  an  einer  Stelle  des  Rämäyai^a 
die  beiden  Ohren  Rämas  heissen,  hauen  dem  Ungeheuer  Eabandha 
die  beiden  langen  Arme  ab,  worauf  der  Rumpf,  unfähig,  sich 
länger  zu  halten,  zu  Boden  stürzt  Das  gefallene  Ungethüm  er- 
zählt dann  den  beiden  Brüdern,  dass  es  einst  ein  schöner  Geist 
war;  dass  aber  Indra  durch  einen  Fluch  eines  Tages  Kopf  und 
Schenkel  ihm  in  den  Leib  drückte;  nachdem  seine  Arme  von  den 
beiden  Brüdern  zerrissen  sind,  wird  das  Ungethüm  von  dem  auf 
ihm  lastenden  Fluche  erlöst,  nimmt  wieder  die  Gestalt  eines  glän- 
zenden Dämonen  au  und  steigt  in  lichtem  Glänze  himmelwärts. 
Hier  haben  wir  die  allglänzende  Sonne,  in  der  Wolke  einge- 
schlossen ;  sie  ist  das  gelbe  Auge,  der  brennende  Mund  Kabandhas 
und  bildet  zusammen  mit  der  Wolke  ein  grässlicbes  Ungeheuer; 
der  Held  kommt,  ihre  Ungeheuergestalt  zu  vernichten,  und  sie 
dankt  ihm;  denn  so  wird  sie  der  herrliche  Gott,  das  glänzende 
Wesen,  der  schöne  Prinz,  der  sie  vorher  war.  Rama,  der  Kabandha 
von  der  Gestalt  eines  Ungeheuers  befreit,  indem  er  ihm  die 
Arme  abhaut,  ist  die  Sonne  Rama,  welche  aus  dem  finstern 
Walde  heraustritt  und  den  Himmel  im  Osten  und  Westen  erhellt. 
Rama  als  Befreier  Kabandhas  ist  einfach  die  Sonne,  die  sich  von 
dem  Dunkel  und  den  Wolken,  die  sie  umgeben,  befreit  Auch 
haben  in  der  That  die  meisten  Mythen  ihren  Ursprung  in  der 
Mannigfaltigkeit  der  Namen,  welche  dieselbe  Himmelserscheinnng 
führt.  Jede  Benennung  wächst  zu  einer  getrennten  Persönlich- 
keit an  und  die  verschiedenen  Persönlichkeiten  kämpfen  mit  ein- 


>  Atha  tatra  mabdghoram  vikritam  tarn  mahoddhrayam  vivriddbama- 
^irogrivam  kabandhamudare  mukham  romabhirni<^itam  tiksbnftinnab&giriini- 
voddbritam  nilamegbanibbam  gborani  meghasttinltanisyanam  mabatft  däti- 
piiigena  vipulenfijatena6i  ekeDorasi  dirgbena  na7anenätidar9iiiä;  K&mfty. 
ILI,  74.  —  Das  eico  gelbliche  Auge  Kabandbas  erinnert  aas  an  Väi9tavana 
mit  einem  gelbUchen  Auge  (ekapingbeksbana),  während  ihm  das 
andere*  Auge  von   der  Göttin  Parvati  ausgebrannt  worden  ist.      Kämäy. 

VII,  la 

*  I,  49;  II,  7  et  passim. 


49 

ander.  So  wird  der  Held,  welcher  sich  selber  befreit,  zum  Be- 
freier eines  Helden,  wird  als  eine  von  dem  Helden  verschiedene 
Persönlichkeit  betrachtet;  die  Ungeheuer-Gestalt,  welche  den  Hel- 
den einhüllt,  ist  oft  der  auf  ihm  selbst  lastende  Fluch ;  der  Held, 
welcher  diese  Ungeheuer-Gestalt  zu  tödten  kommt,  ist  sein  Wohl- 
thäter.  * 

Diese  Anschauung  von  dem  Ungeheuer,  das  dem  Helden, 
welcher  es  tödtot,  dankt,  stimmt  mit  dem  tiberein,  was  wir  bei 
mehren  andern  Gelegenheiten  im  Rämäyana  finden,  wie  bei 
dem  Hirsche  Märiöa,*  der  von  Räma  getödtet  in  lichtem 
Glänze  wieder  zum  Himmel  aufsteigt;  bei  dem  Meerungeheuer, 
das  Hanumant  vernichtet,  und  dem  er  seine  ursprüngliche  Gestalt, 
die  einer  himmlischen  Nymphe,  wiedergiebt;  bei  der  alten  Qavari, 
die  nach  dem  Anblick  Rämas  sich  dem  Feuertode  preisgiebt  und 
jung  und  schön  himmelan  steigt  (das  in  den  Veden  häufig  vor- 
kommende junge  Mädchen,  die  Dämmerung,  die,  während  der 
Nacht  hässlich,  von  Indra,  der  ihre  hässliche  Haut  abzieht,  am 
Morgen  ihre  Schönheit  wieder  erhält),  einer  episodischen  Variation 
des  späteren  Schicksals  der  Sita  selbst,  die,  in  der  Gewalt  des 
Ungeheuers  Rävana  hässlich,  ihre  Schönheit  durch  den  Feuertod 
wiedererlangt,  durch  welchen  sie  ihrem  Gemahl  Räma  ihre  Un- 
schuld beweist  und  wieder  als  junges  Mädchen  glänzt,  gleich  der 
jungen  Sonne,  geschmückt  mit  brennendem  Golde  und  ein  rothes 
Gewand  tragend ;  ^  und  als  Räma  naht  (wie  die  junge  Dämme- 
rung, als  sie  ihren  Gatten  sieht),  gleicht  sie  dem  ersten  Licht 
(Pralfhä) ,  der  Gattin  der  Sonne.  *  Diese  Sita ,  die  Tochter  des 
(janaka  (des  Erzeugers),  welchen  das  Täittirtya  Brähmana 
Savitar^  oder  die  Sonne  nennt,  scheint  mir  niemand  anders  als 
die  Dämmerung,  die  Tochter  des  Lichtes,  Indras,  des  Gottes  der 
Veden,  zu  sein,  piese  stellen  auch  wirklich  zuweilen  Süryä,  die 
Tochter  der  Sonne,  als  die  Geliebte  des  Mondes  (welcher  dann 


'  Vgl.  das  Kap.  über  den  Wolf.  —  In  der  fünften  Erzahlang  des 
Panöatantra  erklärt  der  als  Vishnu  verkleidete  Weber,  dass  er  nicht  selbst 
die  Feinde  tödten  wolle,  weil  sie,  von  ihm  getödtet,  gerades  Wegs  zum 
Himmel  aufsteigen  würden. 

*  III,  40  sqq. 

*  Tanmädityasamkä9äm  taptakäiidanabhdshitllm  raktämbaradharäm 
bftläm;  Rämfty.  VI,  iO'6.  —  lieber  das  Gewand  Sitäs  lesen  wir  an  einer 
andern  Stelle,  dass  es  glänzt,  „wie  das  Licht  der  Sonne  auf  dem  Gipfel 
eines  Berges'*  (Süryaprabheva  9ftilägre  tasy&l^  käusheyamuttamam;  IV,  58). 

*  R&m&y.  VI,  99. 

»  Vgl  Weber,  üeber  das  R&mftyana,  Berlin  1870,  p.  9. 

GobemAtii,  die  Thiere.  4 


50 

ein  männliches  Wesen  ist)  dar;  öfter  aber  finden  wir  als  Liebes- 
paare die  Dämmerung  und  die  Sonne,  die  schöne  Heldin  und  den 
glänzenden  Sonnenhelden ,  während  der  Mond  gewöhnlich  der 
Bruder  oder  die  mitleidige  Scliwester  des  Helden  und  der  Hel- 
din ist,  der  gute  Alte,  die  in  die  Zukunft  schauende  Fee,  die  gute 
Alte,  die  sie  in  ihren  Unternehmungen  unterstützt;  obwohl  wir 
auch  die  Dämmerung  als  Schwester  und  Helferin  der  Sonne  fin- 
den. Die  buddhistische  Tradition  der  Räma- Legende,  wie  sie 
von  Weber  *  erläutert  wird,  stellt  Sita  als  die  Schwester  der  beiden 
Brüder  Räma  und  Lakshraana  dar,  die  in  eine  zwölfjährige  Ver- 
bannung gehen,  um  den  Verfolgungen  ihrer  grausamen  Stief- 
mutter (die  Käikeyi  des  Rämäyana  ist  ein  wirres  Bild  von 
ihr)  zu  entrinnen,  ebenso  wie  die  Dämmerung  der  Veden  mit  den 
A^vins  in  Verbindung  steht;  und  dieselbe  Tradition  lässt  den 
Räma  schliesslich  am  Ende  seiner  Verbannung  seine  eigene 
Schwester  Sita  heirathen,  wie  die  Sonne  die  Dämmerung.  Dass 
Sita  nicht  von  einem  Weibe  geboren,  sondern  aus  dem  Boden  er- 
standen ist  als  ein  Mädchen  von  himmlischer  Schönheit,  zur  Be- 
lohnung für  oie  Tapferkeit  bestimmt,  ^  schliesst  nicht  nur  nicht 
ihre  Verwandtschaft  mit  der  Dämmerung  aus,  sondern  bestätigt 
sie  sogar;  denn  wir  haben  die  Dämmerung  von  dem  Berge  auf- 
steigen sehen  als  Tochter  des  Lichts  und  der  Sonne,  welche  die 
junge  Sonne  zur  Braut  gewinnt  als  Lohn  für  ihre  Geschicklich- 
keit als  Bogenschütz  gegen  die  Ungeheuer  der  Dunkelheit;  und 
wir  haben  gesehen,  dass  die  Dämmerang  nur  ihren  vorbestimmten 
Gatten  heirathet,  ihr  vorbestimmter  Gatte  aber  derjenige  ist, 
welcher  die  grössten  Wunderthatcn  verrichtet,  ihr  den  verlorenen 
Schmuck  wiedergiebt  und  ihr  am  meisten  ähnelt.  Sahen  wir 
doch  eben  die  alte  Qavari  und  die  häusliche  Sita  sich  beim  An- 
blick der  Sonne  Räma  im  Feuer  von  jedem  •menschlichen  Unge- 
mach befreien  und  noch  einmal  schön  und  glücklich  werden  I 

Freilich  ist  die  Eintracht  zwischen  dem  mythischen  Ehepaare 
nicht  dauernder  und  stichhaltiger  als  sie  es  bei  irdischen  zu  sein 
pflegt.  Räma  ist  sehr  zu  Misstrauen  geneigt.  In  sein  Reich 
Ayodhyä  zurückgekehrt,  überlässt  er  sich  Grübeleien,  was  seine 
Unterthanen  zu  der  Wiedernahme  seiner  Gattin  sagen  mögen, 
nachdem  sie  in  den  Händen  des  Ungeheuers  gewesen  (sie  waren 


»  Vgl.  Weber,  Ueber  das  Rämftyana,  Berlin  1870,  p.  1. 
*  Virya9alkä  da  me  kanyä  divyarüpä  gunänvita  bhütalftdotthit^  pürvam 
nämnä  sitetyayoni^;  Ramäy.  I,  68. 


51 

bei  dem  ersten  Feueropfer  Sitäs  nicht  zugegen);  Räma  theilt  sei- 
nen Argwohn  der  Sita  mit  und  tadelt  den  bösen  Leumund  der 
Bürger,  der  ihn  wachgerufen  hat ;  sie  unterwirft  sich  zum  zweiten 
Mal  der  Läutei-ung  durch  Feuer  ^  aber  von  seinem  unablässigen 
Misstrauen  beleidigt,  flieht  sie  ihren  Gatten  und  zieht  auf  einem 
von  Schlangen  (p  a  ii  n  a  g  d  s)  gezogenen  Lichtwagen  wieder  unter 
die  Erde  (was  einfach  Folgendes  zu  bedeuten  scheint:  die  Dämme- 
rung, resp.  Frtthling,  heirathet  die  Sonne  am  Morgen,  oder  sie 
bleibt  den  ganzen  Tag  resp.  Sommer  in  seinem  Reich,  und  geht 
am  Abend  resp.  im  Herbst  in  die  Schatten  der  Nacht  resp.  des 
Winters  ein).  ^  Ein  Misstrauen  des  Gatten  veranlasst  sein  Weib, 
ihn  zu  verlassen. 

So  haben  wir  im  Rigveda  Urva^t,  die  erste  der  Dämme- 
rungen, vor  der  Sonne  Purflravas  fliehen  sehen.  Im  Soma- 
deva*  verliert  der  König  Purüravas  seine  Urva^t,  weil  er  im 
Himmel  hat  verlauten  lassen,  dass  sie  bei  ihm  war;  in  Eälidäsas 
Drama  Vikramorvafi  erhält  der  König  Purüravas  von  Indra 
für  die  Hilfe  beim  Kampf  Urva^i  zur  Gemahlin  und  verspricht, 
bis  zur  Geburt  eines  Kindes  bei  ihr  zu  bleiben;  der  König  wirft 
bald  nach  der  Heirath  mit  Urvagi  seine  Blicke  auf  eine  andere 
Nymphe  Udakavat!  (die  Feuchte),  Urvagl  flieht  entrüstet;  sie 
will  sich  in  einen  Wald  verbergen  und  wird  in  ein  Reptil  ver- 
wandelt In  der  brähmanischen  Tradition  des  Ya^urveda, 
letzt  von  Max  Müller  in  seinen  'Oxford  Essays'  mitgetheilt,  ver- 
liert Purflravas  Urvajl  aus  den  Augen,  weil  er  sich  vor  ihr  ohne 
seinen  königlichen  Schmuck  oder  gar  nackt  hat  sehen  lassen. 

Wir  finden  noch  eine  andere  ähnliche  Erzählung  im  Mahäbhä- 
rata.'  Der  weise  und  glänzende  Qäntanu  geht  an  den  Ufern 
der  Gaögä  auf  die  Jagd  und  verliebt  sich  in  eine  schöne  Nymphe, 
die  er  dort  findet.  Die  Nymphe  erhört  sein  Bitten  und  willigt 
ein,  bei  ihm  zu  bleiben,  unter  der  Bedingung,  dass  er  nie  etwas 
Missliebiges  zu  ihr  sage,  was  sie  auch  thun  oder  anstiften  möge ; 
der  veriiebte  König  geht  auf  die  verhängnissvolle  Bedingung  ein. 
Sie  leben  glücklich  zusammen ;  denn  der  König  giebt  der  Nymphe 
in  allen  Stücken  nach.  Im  Laufe  der  Zeit  werden  ihnen  acht 
Söhne  geboren;  die  Nymphe  hat  bereits  sieben  in  den  Fluss  ge- 
worfen und  der  König,  obgleich  innerlich  bektlmmert;  wagt  nicht, 


'  RftmAy.  VH,  101  106. 

>  Kathä  sarit  sägara  HI,  17. 

»  I,  3888-8965. 

4* 


52 

ihr  etwas  zu  sagen;  aber  als  sie  im  Begriff  ist,  den  letzten  hinein- 
zuwerfen, besfehwört  sie  der  König,  es  nicht  zu  thun  und  fragt; 
wer  sie  ist.  Die  Nymphe  bekennt,  dass  sie  die  Gaügä  selbst 
personificirt  ist  und  dass  die  acht  Kinder  ihrer  Liebe  menschliche 
Personificationen  der  acht  göttlichen  Vasus  sind,  welche,  in  die 
Gafigä  geworfen;  von  dem  Fluch  der  Menschengestalt  erlöst 
werden.  Der  einzige  Vasu,  welcher  lieber  unter  den  Menschen 
bleiben  will,  ist  Dyäu  (der  Himmel)  in  der  Gestalt  des  Eunuchen 
Bhishma,  den  Qantanu  nicht  in  das  Wasser  werfen  lassen  wollte. 
Dieser  Fluch  triflit  die  Vasus,  weil  sie  den  reuigen  Apus  die  Kuh 
der  Fülle  geraubt  haben.  Wir  werden  einen  Mährchenstoff,  wel- 
cher diesem  von  Qäntanu  analog  ist,  in  mehren  europäischen 
Volksmährchen  finden,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  hier  ge- 
wöhnlich der  Gatte  seine  neugierige  Genossin  verläset  Die 
indische  Sage  liefert  uns  jedoch  auch  ein  Beispiel  von  dem  Gatten, 
der  sein  Weib  verlässt,  in  dem  weisen  Garatkaru,  der  die  Schwester 
des  Schlaugenkönigs  unter  der  Bedingung  heirathet,  dass  sie  nie 
etwas  zu  seiner  Unzufriedenheit  thut. '  Eines  Tages  schläft  der 
Weise;  der  Abend  kommt  heran;  er  sollte  aufgeweckt  werden, 
um  sein  Abendgebet  zu  vemchten;  wenn  er  es  nicht  thut,  so  thut 
er  nicht  seine  Pflicht  und  sie  würde  Unrecht  thun,  wenn  sie  ihn 
nicht  warnte.  Weckt  sie  ihn  aber,  so  wird  er  in  Zorn  gerathen. 
Was  soll  sie  thun?  sie  wählt  das  letztere;  der  Weise  erwacht, 
wird  zornig  und  verlässt  sie,  nachdem  sie  ihm  einen  Sohn 
geschenkt.  ^ 

Das  Glühen  des  Himmels  am  Morgen  und  Abend  weckte  die 
V'orstellung  bald  eines  glänzenden  Hochzeitsf^stes ,  bald  eines 
Feuers.  In  diesem  Feuer  wird  bisweilen  die  Hexe,  welche  das 
Heldenpaar  verfolgt,  verbrannt,  bisweilen  werden  Held  und  Hel- 
din selbst  darin  geopfert.  Das  Opfer  der  Qavari  und  Sita,  die 
von  der  Sonne  befreit  weixlen,  entspricht  ganz  dem  des  Qunah- 
9epa,  der  im  liigveda  von  der  Dämmerung  erlöst  wird.  Die  Ge- 
schichte von  ^unah^epa  ist  schon  von  ß.  Roth  ^  und  Max  Mtlller  * 
aus  dem  äitareya-brähmana  übersetzt  und  so  allgemein  zugänglich 
gemacht    worden.      Ich    verweise  den   Leser   auf  diese    Ueber- 


'  'Apriyan<^a  ua  kartavyam  kritc    ^äiuam   lya^amyaham,'  sagt  Garat- 
karu; Mbh.  I,  1871. 

«  Mbh,  I,  1870-1911. 

»  Indische  Studien  I,  pp.  467—464.  II,  pp.  111—128. 

*  History  of  ancient  Sanskrit  Literature. 


53 

Setzungen,  wie  auch  auf  die  englische  Uebersetzung,  die  M.  Hang 
von  dem  ganzen  aitareya  gegeben  hat.  Ich  werde  daher  hier 
nur  einen  kurzen  Abriss  davon  geben,  mit  einigen  gelegentlichen 
auf  diesen  Gegenstand  bezüglichen  Bemerkungen. 

König  Hari^candra  hat  keine  Söhne;  der  Gott  Varuna,  der 
Bedecker,  der  Dtistere,  Feuchte,  der  König  der  Wasser,  *  nöthigt 
ihm  das  Versprechen  ab,  was  ihm  geboren  werde,  ihm  zu  opfern. 
Der  König  verspricht's;  ein  Kind  wird  geboren  und  der  Rothe 
(Rohita)  genannt.  Varuna  fordert  es;  der  Vater  bittet  ihn,  zu 
warten,  bis  das  Kind  die  Zähne  verloren  hat ;  dann  bis  seine 
ersten  Zähne  ausgefallen  sind;  dann  bis  es  im  Stande  ist,  eine 
Rüstung  zu  tragen.  Augenscheinlich  will  der  Vater  warten,  bis 
der  Sohn  selbst  stark  genug  ist,  sich  gegen  seinen  Verfolger 
Varuna  zu  vertheidigen.  Varuna  fordert  darauf  dringender  und 
Hari^ndra  theilt  selbst  seinem  Sohne  mit,  dass  er  geopfert  wer- 
den müsse.  Rohita  nimmt  seinen  Bogen  und  flieht  in  die  Wäl- 
der, wo  er  von  der  Jagd  lebt.  Dieser  erste  Theil  der  Erzählung 
entspricht  ganz  den  zahlreichen  europäischen  Volksmährchen,  in 
denen  bald  der  Teufel,  bald  das  Wasserungeheuer,  bald  die 
Schlange  von  einem  Vater  den  Sohn  fordert,  der  ihm  eben  ohne 
sein  Wissen  geboren  worden  ist.  Der  zweite  Theil  der  Erzäh- 
lung von  ^unah^epa  zeigt  uns  den  Helden  im  Walde;  er  hat  sei- 
nen Bogen  mitgenommen,  und  wie  im  Rämäyana  Räma,  der  kaum 
in  den  Wald  eingetreten,  gleich  zu  jagen  beginnt,  wird  Rohita 
Jäger^und  jagt  die  sechs  Jahre  lang,  die  er  sich  im  Walde  auf- 
hält. Seine  Jagd^ist  jedoch  erfolglos;  er  streicht  herum  auf  der 
Suche  nach  Jemandem,  der  statt  seiner  dem  Varuna  zum  Opfer 
fallen  könnte ;  endlich  findet  er  den  Brähmanen  A^garta,  welcher 
einwilligt,  seinen  zweiten  Sohn  ^unahgepa  für  hundert  Kühe  zu 
geben.  Der  erste,  der  dem  Vater,  und  der  dritte,  der  der  Mutter 
besonders  lieb  ist,  können  nicht  geopfert  werden;  so  wird  der 
zweite  Sohn  dem  Varuna,  dem  finstem  Gott  der  Nacht,  überlassen, 
der,  wie  Yama,  alle  Wesen  mit  seinen  Fesseln  bindet  Wir  haben 


'  Varuna,  der  Gott  der  Nacht,  hat  wie  diese  eine  Doppelgestalt:  bald 
ist  er  das  düstere  Meer,  bald  das  leuchtende  Milchmeer  ohne  Mond.  Er 
wird  als  das  letztere  im  7.  Buche  des  Ramayana  (canto  27)  dargestellt, 
in  welchem  der  Sonnenheld,  nachdem  er  die  himmlische  Stadt  Varunas  be- 
treten, die  immer  milchende  Kuh  findet  (payah  ksharantäm  satatam  tatra 
gam  da  dadar^  sah),  von  wo  der  weissstrahlendc  Mond  aufsteigt,  von  wo 
auch  Ambrosia  und  Nectar  kommen  (yata^dandrah  prabbavati  Qitara^mih  ~~ 
jasmädamritamutpannam  sudhä  däpi). 


54 

schon  beobachtet,  wie  der  mittlere  Sohn  der  Sohn  der  bimmlischeD 
Kuh  Aditi  ist,  die  versteckte  Sonne,  die  Sonne  während  der  Dnn* 
keiheit  der  Nacht  oder  mit  andern  Worten,  die  von  Varu^as 
Fesseln  gebundene  —  und  es  ist  sein  eigener  Vater,  der  ihn  mit 
diesen  Fesseln  bindet.  Seine  Opfemng  beginnt  am  Abend.  Wäh- 
rend der  Nacht  ruft  er  alle  Götter  an.  Endlich  gewährt  ihm 
Indra,  von  deinem  Preise  geschmeichelt,  einen  goldenen  Wagen^ 
anf  welchem  Qunah^epa  unter  Preisgesängen  an  die  A^vins  und 
mit  Hilfe  der  Dämmerung,  von  Varunas  Fesseln  eriöst,  befreit 
wird.  Diese  Fesseln  Varunas,  die  das  Opfer  halten,  welches  vom 
eigenen  Vater  hingegeben  wird,  helfen  uns  zum  Verständniss  des 
zweiten  Theils  der  europäischen  Volkssage  von  dem  Sohne,  der 
gegen  seinen  Willen  vom  Vater  dem  Dämon  geopfert  wird;  denn 
Qnnah^epa  nimmt  gegen  Ende  der  europäischen  Erzählnng  die 
Gestalt  eined  Pferdes,  Varuna  die  eines  Dämons  an,  und  die  Fee* 
sein  Varunas  sind  der  Zaum  des  Pferdes,  den  der  thörichte  Vater 
zugleich  mit  dem  als  Pferd  gestalteten  Sohne  dem  Dämon  ver- 
kauft ;  ^  die  schöne  Tochter  des  Dämons  (die  Weisse,  welche,  wie 
gewöhnlich,  aus  dem  schwarzen  Ungeheuer  hervorkommt),  befreit 
den  in  ein  Pferd  verwandelten  Jüngling;  wie  in  der  vedischen 
Erzählung  von  Qunah^pa,  ist  augenscheinlich  die  Dämmerung  das 
junge  Mädchen,  welches  betreit.*  Varuna  heisst  im  Rämäjana 
der  Gott,  welcher  einen  Strick  in  Händen  hat  (pa^ahasta); 
seine  Wohnung  befindet  sich  anf  dem  Berge  Asta,  wo  die  Sonne 
untergeht  und  der  unantastbar  ist,  weil  er  brennt,  in  einem  unge* 
heuren  Palast,  dem  Werke  Vigvakarmans ,  mit  hundert  Zimmern, 
von  Nymphen  bevölkerten  Seen  und  goldenen  Bäumen.*  Offen- 
bar ist  Varuna  hier  nicht  eine  verschiedene  Erscheinungsform, 
sondern  nur  ein  anderer  Name  des  Gottes  Yama,  des  pa^in  oder 
mit  einem  Stricke  versehenen,  des  Fesselers  -mx  £^0x17»';  denn 
wir  halten  die  zauberische  Entfaltung  goldenen  Glamses  am 
Abendhimmel  nicht  sowohl  ftir  das  Werk  der  Senne  selbst,  als 
far  hervorgebracht  von  dem  finstem  Gott,  der  au<  dem  Berge 
thront,  den  Sonnenhelden  ein8chlies:^t  und  überrumpelt,  und  ihn  in 


*  Vgl.  das  Kap.  über  das  Pferd. 

*  Im  Räm&yana  (I,  68)  ist  der  B(;frei(^  Indra,  der  auch  «m  Atta» 
reya  viel  für  Qunah^epa  thiit. 

*  Te^as4  gharmadah  sadä  —  Prisäda^atasambddham  nirmitam  vi^Fa- 
karmani  ^obfaitam  padmtiiibhi9<^  kändanai9<$a  mah&dmm&ib  nilayall^  P^^^- 
basUsya  varunasya  mah4tmana^;  Rämay.  IV,  43. 


55 

sein  Reieb  schleppt.  HariQcandra  nad  Agigarta,  Rohita  und  Qu- 
nah^epa  sind  meines  Erachtens  verscbiedene  Namen  für  nicht 
blos  dieselbe  Himmelserscheinong,  sondern  sogar  dieselbe  my- 
thische Persönlichkeit.  Harigdandra  wird  in  den  Erzählungen  als 
Sonnenkönig  gefeiert;  sein  Sohn  Robita^  der  Rothe,  ist  sein  alter 
egO;  wie  sein  Nachfolger  Qunahfepa.  Harigcandra  femer;  welcher 
dem  VaroQa  seinen  Sohn  zu  opfern  verspricht;  scheint  sich,  wenn 
ttberbaapt;  nur  wenig  von  Agigarta  zu  unterscheiden;  der  den  sei- 
nigen zum  Opfer  verkauft.  *  Das  Ramäya^a  *  giebt  uns  für  den- 
selben unnatürlichen  Vater  ^  einen  dritten  Namen  in  ViQvämitra; 
der  von  seinen  eigenen  Söhnen  verlangt,  sich  statt  Qunah^paS; 
der  unter  seinem  Schutz  steht,  zu  opfern;  und  sie  bei  ihrer  Wei- 
gerung verflucht. 

Die  Variation  derselben  Erzählung;  welche  wir  im  Harivanga^ 
finden;  beweist  diese  Uebereinstimmungen  und  fügt  eine  neue  und 
höchst  beachteiiswertbe  hinzu.  Vifvämitras  Weib  beschliesst  wegen 
ihrer  Armuth  ihren  mittleren  Sohn  für  hundert  Kühe  zu  verkaufen 
und  hält  ihn  daraufhin  mit  einem  Strick  gefesselt;  wie  einen 
Sklaven.  Der  Orossvater  Rohitas,  Harigöandras  Vater,  TrigafLkU; 
streift  durch  die  Wälder  und  befreit  diesen  Sohn  ViQvämitraS; 
dessen  Familie  er  fortan  beschützt  und  erhält  Die  Thaten 
Tri^fkkus,  welcher  Vasishta  um  die  Erlaubniss  bittet;  bei  leben- 
digem Leibe  in  den  Himmel  zu  steigen;  und  der  durch  Vi^vAnritras 
Gnade  statt  dessen  die  Gunst  erlangt;  einem  Sternbild  gleich  in 


^  Der  Verf.  hat  versucht,  diesen  Mythus  in  einem  italienischen  Drama 
(enthalten  in  seinen:  ,,Drami  Indiani",  Florenz  1872)  darzustellen,  welches 
den  Titel  fuhrt:  M&yä  oder  die  Täuschung.  Der  Verf.  hat  den  Mythus 
zu  dem  M'ahrchen  von  dem  reichen  Bruder  (Hari^dandra)  und  dem  armen 
Dmdor  (A^i^rta,  der  Ausgehungerte)  in  Beziehung  gesetzt;  in  A^garta 
bat  er  ferner  die  älteste  Form  des  Typus  gefunden,  auf  welchem  Shakespeare 
seinen  grossartigen  Kaufmtmn  von  Venedig  aufgebaut  hat.  Die  Grausam« 
keit  Shylocks  erklärt  sich  theilweise  aus  der  Knche  gegen  die  Käubor  der 
Tochter;  so  macht  auch  Agigarta  in  meinem  Drama  den  reichen  HariQ- 
dao<}ra  zum  armen  Manne,  um  seinen  Sohn  zu  rächen,  der  geopfert  wer* 
den  sollte. 

*I,64. 

'  Die  puranische  Erzählung  liefert  ein  Beispiel  von  einem  andern  Vater 
solcher  Art  in  Hiranyaka^ipu ,  der  seinen  Sohn  PrahlUda  verfolgt,  ihn  auf 
verschiedene  Arten  zu  tödten  versucht  und  endlich  in  das  Meer  schleudert ; 
Prmhläda  preist  Visb^u  und  wird  befreit—  Vgl  Vishnu  Puraua,  übstzt 
▼.  Wilson  I,  17—20.  London  1864. 

«  Kap.  XII,  Id. 


56 

der  Luft  schwebend  zu  bleiben,  werden  auch  seinem  Sohne  Ha- 
ri^öandra  zugeschrieben;  so  können  wir,  ohne  Widerspruch  ftirch- 
ten  zu  müssen,  behaupten,   dass   wie  Tri^aflku  nur  ein  andrer 
Name  für  seinen  Sohn  Harigcandra,  so  Harigcandra  nur  ein  solcher 
für  seinen  Sohn  Rohita  ist,  und  dass  also  der  Trigafiku  des  Hari- 
vanga  mit  dem  Rohita  des  Aitareya  identisch  ist,  jedoch  mit  dem 
Unterschiede,    dass  Trigaöku   den   zum  Opfer  bestimmten  Sohn 
kauft,  um  ihn  zu  befreien,   während   ihn  Rohita  kauft,   um  sich 
selbst  zu  befreien.      Aber  die  ersten   hundert  Kühe,  die  er  von 
Tri^a&ku  erhalten,  sind  für  Vigvämitra  nicht  genug,  und  die  Beute 
bei  seinen  Jagden  im  Walde  reicht  nicht  aus,  die  Familie  zu  er- 
halten, ein  Umstand,  der  ganz  eben  so  schwer  auf  ihm  lastet,  als 
wenn  es  seigene  Familie  wäre ;  er  beschliesst  nun,  um  Vi^vamitra, 
dessen  Sohn,  und  wir  können  wohl  noch  hinzufftgen,  sich  selbst 
zu  retten,  das  schöne  und  sehr  hoch  geschätzte  Weib  Vasishtas 
(die  sehr  Glänzende)  zu  opfern.    Ich  habe  gesagt :  das  Weib  Va- 
sishtas, aber   der  Harivan^a  sagt  ganz  genau:  es  war  die  Kuh 
Vasishtas,  welche  getödtet  wurde;  wir  wissen  jedoch  aus  dem 
Rämäyana,  ^  dass  diese  Kuh  Vasishtas,  diese  kämadhuk  oder  ka- 
madhenu,  welche  nach  Belieben  alles  Gewünschte  giebt,  diese  Kuh 
der  Fülle,  von  Vasishta,   unter   dem   Namen   Qabalä    als    sein 
eigen  Weib  gehalten  wird.     Vi^vämitra  ist  lüstern  nach  ihr;  er 
verlangt  sie  von  Vasishta  und  bietet  hundert  Kühe  fttr  sie,  genau 
der  Preis,  den  er  im  Harivan^a  von  Trigafiku  für  seinen  eigenen 
Sohn  erhält.    Vasishta  antwortet,   dass  er  sie  nicht  für  hundert, 
noch  für  tausend,  ja  sogar  nicht  für  hunderttausend  Kühe  geben 
werde;    denn  ^abalä  ist  sein  Edelstein,  sein  Schatz,  sein  Alles, 
sein  Leben.  *    Vi^vamitra  entführt  sie ;  sie  kehrt  zu  den  Ftlssen 
Vasishtas  zurück  und  brüllt;  ihr  Brüllen  ruft  Armeen  hervor,  die 
ihrem  eigenen  Körper  entspringen ;  die  hundert  Söhne  Vigvämitras 
werden  von  ihnen  zu   Asche  verbrannt.  .  Diese  Armeen,   die  aus 
Visishtas  Kuh  herauskommen,  erinnern  uns  wieder  an  die  vedische 
Kuh,  aus  der  beschwingte  Pfeile  oder  Vögel  hervorkommen,  vor 
denen  die  Feinde  mit  Entsetzen  erfüllt  werden.    Vasishta  ist  eine 
Erscheinungsform   indras;   seine  Kuh  ist  hier  die  Regenwolke. 
Vicvämitra,  welcher  dem  Vasishta  die  Kuh  zu  entreissen  strebt, 
nimmt  in  den  indischen  Sagen  oft  ungeheuerliche  Gestalten  an  und 


1 1,  54—56. 

*  Etadeva  bi  me  ratnametadeva  hi  me  dhanam  etadya  hi  sarvasvam 
etadeva  hi  ^ivitam;  Rämäy.  1.  c. 


57 

ist  fast  immer  bösartig,  tückisch  'und  rachsüchtig.  Seine  von  Va- 
sisbta  zn  Asche  verbrannten  hundert  Söhne  mahnen  uns,  von 
einem  Gesicitspunkte  aus,  an  die  hundert  Städte  Qambaras,  die 
von  Indra  zerstört  werden,  und  die  hundert  bösen  Dhritaräshtris 
des  Mahabh&rata ;  daher  auch  sein  Name  Vicjvämitra,  der  auch 
„der  Feind  Aller*'  (vigva-amitra)  bedeuten  kann  und  so  mit 
seinem  fast  dämonischen  Charakter  gut  stimmen  würde. 

Diese  Erzählung  von  Vasishtas  Kuh,  deren  Verwandtschaft 
mit  der  Sage  von  Qunahgepa  nicht  zu  bezweifeln  ist,  führt  uns 
auf  die  Thiergestalten  von  Helden  und  Heldinnen  zurück,  von 
denen  wir  ausgingen.  In  der  Erzählung  von  Vasishta  spielt  die 
Kubwolke,  die  Kuh  ^abalft  oder  die  Gefleckte,  im  Epos  die  Rolle 
der  Kuh  Aditi,  der  pri^ni  (Schecke),  mit  der  wir  schon  in  den 
vedischen  Hymnen  vertraut  wurden.  Diese  Kuh  ist  gegen  den 
Gott  oder  den  Helden  oder  den  weisen  Vasishta  gütig,  wie  es  die 
pri^ni  gegen  den  Gott  Indra  ist  Wir  haben  aber  im  Rigveda 
selbst  die  Wolke  als  die  Feindin  des  Gottes  gefunden  und  als 
eine  weibliche  Erscheinungsform  des  Ungeheuers,  als  seine 
Schwester  dargestellt  gesehen.  Diese  Schwester  versucht  gewöhn- 
lich den  Gott  zu  verführen  mit  dem  Versprechen,  das  Ungeheuer 
ihren  Bruder  ihm  in  die  Hände  zu  liefern  und  sie  hat  zuweilen 
Erfolg,  wie  die  Hexe  Hidimbä  im  Mahäbhärata,  welche  ihren 
Bruder,  das  Ungeheuer  Hidimba,  dem  Helden  Bhima  überliefert, 
der  sie  dafür  heirathet.  Andrerseits  haben  die  Versuche  Qürpa- 
nakhäs,  der  Schwester  des  Ungeheuers  Rävana,  keinen  Erfolg; 
sich  selbst  verschönernd,  sucht  sie  die  Zuneigung  des  Helden 
Räma  zu  gewinnen;  als  sie  aber  von  ihm  und  Lakshmana  ver- 
lacht wird,  entstellt  sTe  sich,  stösst  Wehrufe  aus  gleich  einer 
Wolke  in  der  Regenzeit  ^  und  wiegelt  ihren  Bruder  auf,  Räma  zu 
vernichten. 

Dasselbe  Wolkenungeheuer  findet  sich  auch  im  Rämäyana 
unter  dem  Namen  Dundubhi  in  der  Gestalt  eines  furchtbaren  Büf- 
fels mit  spitzen  Hörnern.  *  Der  Büflfel  wird,  als  wildes  Thier,  oft 
zur  Darstellung  des  bösen  Princips  gewählt,  ebenso  wie  der  Stier, 
der  Mehrer  der  Rinderherden,  zum  Bilde  des  guten  benutzt  wird. 


*  Nao&da  vividhdn  nädän  yathä  prävrishi  toyadah;  Rämäy.  III,  24. 

*  Dhärayan  inahishsm  rüpam  tiksLna^ringo  bhayavahah:  Rllm4y.  IV,  9. 
—  Weiter  unten  (IV,  46)  heisst  der  Büffel  der  Bruder  Dundubhi8  und  soll 
die  Stärke  von  tausend  Schlangen  (balam  nägasahasrasya  dharayau)  oder 
Eiephanten  (das  Wort  naga  bedeutet  beides)  besitzen. 


58 

Dieser  lM*(ilieiide  Büffel,  daher  aaeh  sein  Name  Dandubhi  (Pauke), 
klopft  mit  seinen  beiden  Hörnern  an  das  Tbor  der  Höhle  ^  des 
Sohnes  Indras  (Bälins);  des  Affenkönigs.  Bälin  fasst  jedoch 
Dundnbhi  bei  den  Hörnern,  wirft  ihn  zn  Boden  und  tödtet  ihn. 

Dundu  ist  auch  ein  Name,  der  dem  Vater  Erishnas,  dem 
Schwarzen,  beigelegt  wird,  welcher  im  Bigveda  noch  ein  Dämon 
ist  und  erst  später  der  Gott  der  Kühe  und  Kuhhirten,  ein  go- 
vinda  oder  Hirt  xor'  i^oxqv  wird.^  Indra,  sein  Feind  in  den 
Veden,  wurde,  als  er  aus  dem  Himmel  gefallen  war,  einer  der 
volksthümlichsten  Götter ;  ja  zuweilen  die  volksthümlichste  Form 
der  Gottheit  Im  Mahäbhärata  zum  Beispiel  ist  er  fast  der  de  us 
ex  machina  in  den  Kämpfen  zwischen  den  Pändavas  und  den 
Dhärtarashtras  und  bietet  viele  Analogien  mit  dem  Zeus  der 
Iliade,  sofern  Indra  nur  in  den  Episod^a  eine  Bolle  spielt,  wobei 
der  Begenspender  und  Donnerer  oft  über  dem  Schwarzen,  welcher 
das  Licht  vorbereitet  und  schlendert,  vergessen  wird.  Doch  Indras  F^ül 
beginnt  schon  in  den  Veden  selbst.  Im  Ya^nrveda  erscheint 
Vi^varüpa,  der  Sohn  Tvashtars,  welched  Indra  tödtet,  als  nicht» 
Geringeres  denn  als  der  purohit^  oder  Hohepriester  der  Götter 
und  Sohn  einer  Tochter  der  Asuras ;  er  hat  drei  Köpfe,  von  denen 
einer  Ambrosia,  der  zweite  den  geistigen  Trank,  der  dritte  Spdse 
einnimmt.  Indra  haut  dem  Vigvarfipa  die  drei  Köpfe  ab  aus 
Bache  an  dem  einen,  welcher  seine  Ambrosia  trinkt ;  er  wird  des* 
halb  angeklagt,  einen  Brähmanen  getödtet  zu  haben  und  als  ein 
brahmanicide  verschrien.  ^  Im  Aitareya-brähmaiyLa^  wird  die 
Schuld  Indras  in  dieser  Beziehung  bestätigt;  auch  die  K  aus  hi- 
taki-Upanishad  spielt  darauf  an.  Im  siebenten  Buch  des 
Bamayana  wird  sogar  das  vielgestaltige*  Ungeheuer  Eäva^a  als 
ein  grosser  Büsser  dargestellt,  den  Brähman  mit  höchster  Gnade 


'  ^rlngabhyamalikbaD  darpat  taddväram;  Rämay.  IV,  9.  —  Vgl  die 
beiden  Kapp,  über  das  Pferd  und  den  Aficn. 

•  Ich  halte  mich  bei  dicBcni  brftbnianischen  Gott  nicht  länger  auf,  da 
die  Erzählung  von  ihm  jetzt  verbreitet  ist.  Vgl.  übrigens  für  die  Ver- 
wandtsohaft  KrishnM  mit  den  Ktlhen,  den  Kuhhirten  und  der  Kuhmagd 
das  ganze  5.  Buch  des  Vishnu  Pur&na,  übers,  von  H.  WilsoA,  und 
Gayadevas  Gitagovinda  ed.  Lassen,  Bonn  1836. 

'  Vi^varüpo  väi  tväshtrah  purohito  devänäm  dsit  svasriyo  'sur^am 
tasya  trini  ^irsbäny  «sant  —  Indras  tosya  vagram  ädEya  ^irsh^y  aödhinad 
yat  somapänam  —  Brahma-hatyam  upä  'grihnat  —  Tam  bhüt^ny  abhy 
akro^n  brahmahann  iti;  Täittiriya   Samhitl,  ed.  Weber  11,  5,  1 — 6. 

♦  VII,  5,  28. 


60 

«rfbllt;  im  secbsten  Bache  schlägt  Hanamant,  der  Sohn  des  Win- 
de8>  dem  Rävanidischen  Ungeheuer  Trigiras  (dem  Dreik(Vpfigen) 
die  drei  Köpfe  ab,  wie  einst  Indra  dem  Ungeheuer  Vritra,  dem 
Sohne  Tvashtars;  ^  und  er  schlägt  alle  drei  Köpfe  zugleich  ab 
(samas);  wie  der  Held  der  europäischen  Volksmährchen  mit 
einem  Schlage  die  drei  Köpfe  der  Schlange  des  Zauberers  ab- 
hauen muss ;  sonst  ist  er  machtlos  und  zu  Nichts  iUhig.  Das  Un- 
gdieuer,  wie  der  Held ,  scheint  eine  besondere  Beziehung  zu  der 
Zahl  drei  zu  haben :  daher  die  drei  Köpfe  des  Tri^iraS;  wie  auch 
die  drei  Brttder  von  Laflkä  —  Räyana,  der  älteste  Bruder^  welcher 
regiert;  Kumbhakarna,  der  zweite  Bruder,  welcher  schläft ;  Vibhis- 
hmsL,  der  dritte^  um  den  sich  die  beiden  Anderen  nicht  kümmern; 
der  aber  allein  gerecht  und  gut  ist^  und  der  allein  die  Gabe  der 
Unsterblichkeit  erhält.  ^  Wir  haben  hier  augenscheinlich  die  drei 
vediscben  Brttder  wieder;  die  beiden  ältesten  in  Dämonengestalt^ 
den  jüngsten  als  Freund  des  göttlichen  Helden,  welcher  durch  den 
Sieg  B4mas  über  das  Ungeheuer  Havana  das  Reich  Liafikä  ge- 
winnt. Was  die  Brüder  R&ma  und  Lakshmana,  wie  die  Brüder 
B&Un  und  Sagriva  betrifft ,  so  gehören  sie  in  die  Geschichte  von 
d«n  Zwillingen,  auf  welche  im  nächsten  Kapitel  näher  eingegangen 
werden  wbrd,  obwohl  Hanumant,  der  Sohn  des  Windes,  ihnen  in 
d^  RoUe  des  starken  Bruders  Beistand  leistet 

Die  drei  interessanten  Heldenbrüder  treten  noch  hervorragen- 
der im  Mahabhärata  auf,  wo  von  den  Pändavas,  den  fünf  Brü- 
dern, drei  auf  einer  Seite  stehen,  nämlich  Yudhishthira,  Sohn  des 
Gottes  Yama,  der  weise  Bruder;  Bhtma  (der  Schreckliche)  oder 
Vrikodara  (Wolfsbauch),  Sohn  des  Väyu  (des  Windes),  der  starke 
Bruder  (eine  andere  Form  Hanumants,  mit  welchem  zusammen  er 
sich  auch  im  Mahabhärata  auf  dem  Berge  Gandhamädana  findet); 
und  Arguna  (der  Glänzende),  der  Sohn  Indras,  der  geschickte, 
glückliche,  siegreiche  Bruder,  der  die  Braut  heimführt.  Der  erste 
Bruder  giebt  den  besten  Rath;  der  zweite  beweist  die  grtisste 
Stärke;  der  dritte  erobert  die  Braut  und  führt  sie  heim.  Es  sind 
genau  die  drei  vedischen  l^ibhu-Brüder ,  Ekata,  Dvita  und  Trita, 
in  denselben  Beziehungen  zu  einander  und  mit  denselben  Naturen ; 


'  Sa  taeya  khangena  maha^ir^liisi  kapih  samas  tarn  sukundaläm 
kruddhalji  pracid<^hcda  tadä  hanumäms  tvasbträtmagasyeva  ^iränsi  ^akrah; 
Bam4y.  VII,  50. 

*  R&mfty.  YU^  10. 


60 

nar  ist  die  Erzählung  erweitert.^  Was  ihre  andern  Brüder ^  von 
einer  andern  Matter  geborene  Zwillinge  ^  Nakula  and  Sahadeva^ 
betrifft^  so  sind  sie  Söhne  der  Agvins  und  wiederholen  im  Mahäb- 
harata  sehwach  die  l'haten  der  himmlischen  Zwillinge.  Bhima 
oder  Vrikodara,  der  zweite  Brader,  wird  als  der  stärkste  be- 
trachtet (balavatam  ^reshtha),  weil  er  unmittelbar  nach  seiner 
Geburt,  d.  h.  als  kaum  die  Mutter  von  ihm  entbunden  ist  (wie 
der  Marut  der  Veden)  den  Felsen  zerbricht,  auf  den  er  fällt,  die 
Fesseln,  sobald  er  mit  ihnen  gebunden,  zerreisst  (wie  Hanumant, 
als  er  der  Gefangene  Ravanas  wird),  seine  Brüder  während  der 
Nacht  trägt  (wie  Hanumant  Räma  trägt) ,  als  er  aus  dem  auf  An- 
stiften des  gottlosen  Duryodhana  brennenden  üause  (d.  h.  von  dem 
glühenden  Abendhimmel)  flieht,  und  weil  er  im  Schlangenreiche,  in 
welches  Duryodhana  ihn  stürzt  (d.  h.  der  Nacht),  das  Wasser  der 
Stärke  trinkt.  Eine  Schlange,  die  Bhfma  zu  nützen  wünscht,  sagt  zu 
Vasuki,  dem  Schlangenkönig:  „Lass  ihm  so  viel  Stärke  verliehen  wer- 
den, als  er  aus  dem  Brunnen,  in  dem  die  Kraft  von  tausend  Schlangen 
liegt,  trinken  kann.^'^  Bhima  trinkt  auf  einen  Zug  den  ganzen  Brunnen 
aus  und  mit  ähnlicher  Fertigkeit  schlürft  er  der  Reihe  nach  acht 
Brunnen  ein.  ^  Der  Erstgeborene  der  Pändavas  ist  seinem  Vater 
Yama,  dem  Gott  der  Gerechtigkeit,  Dharmaräga,  theuer  und  heisst 
auch  selbst  Dharmaräga;  als  er  sich  anschickt,  zum  Himmel  auf- 
zusteigen, folgt  ihm  der  Gott  Yama  in  Gestalt  eines  Hundes: 
durch  seine  Schlauheit  im  Räthsel  rathen  rettet  er  seinen  Bruder 
Bhima  vor  dem  Schlangenkönige.  Der  dritte  Bruder,  Ar^una,  der 
Sohn  Indras,  ist  der  Benjamin  des  höchsten  Gottes  der  Veden. 
Indra  empfängt  ihn  mit  Festlichkeiten  im  Himmel,  wohin  Arguna 
gekommen,  um  ihn  zu  treffen.  Arguna  ist  ein  untrüglicher  Bogen- 
schütz,  wie  Indra;  wie  dieser  nimmt  er  mehre  Mal  den  Räubern 
oder  Feinden  die  Kühe  wieder  ab ;  und  wie  Indra  erobert  er  seine 
Braut;  er  ist  unter  dem  Beistande  aller  Himmlischen  geboren;  er 
ist  unbesiegbar  (agaya) ;  er  ist  der  beste  Sohn  (varah  putra) ;  *  er 


*  Mbh.  I,  4990.  —  Vgl.  auch  die  drei  phallischen  und  Sonnenbrüder 
der  Erzählung  von  ^^nah^epa. 

«  I,  4775. 

'  Balam  nägasahasraeya  yasmin  kun4e  pratishlhiUim  yävatpivati  b41o 
*yam  tävad  asmäi  pradiyatam  —  ekocdhvftsättatah  kundam  duna^;  Mbh. 
I,  5030.  50.'i2.  —  Eine  ähnliche  Erzählung  findet  sich  wieder  im  dritten 
Buch  des  Mahäbhärata,  unter  der  Gestalt  eines  undurchdringlichen  Wal- 
des, in  welchem  der  Schlangenkönig  Bhima  einschliesst« 

«  Mbh.  J,  4777. 


61 

allein  von  den  drei  Brttdem  hat  Mitleid  mit  seinem  Herren  Drona 
und  befreit  ihn  von  einem  Seenngeheuer.  * 

Aber  noch  eine  andere  Einzelheit  zeigt  die  Aehnlichkeit 
zwischen  den  drei  Pändava-Brtidern  und  den  drei  Brüdern  des 
Veda;  nämlich  ihre  Wohnung,  die  im  Palaste  des  Königs  Virata 
verborgen  ist,  im  vierten  Buche  des  Mahäbhärata.  Sie  sind,  wie 
Räma^  aus  dem  Reiche  verwiesen  und  fliehen  vor  der  Verfolgung 
ihrer  Feinde  bald  in  die  Wälder,  bald,  wie  die  Ribhus,  als  Arbei- 
ter verkleidet  in  den  Palast  Virätas,  dem  ihre  Gegenwart  Segen 
aller  Art  bringt. 

Wir  treffen  diese  drei  Brüder  in  einer  Episode  des  ersten 
Buchs  des  Mahäbhärata  wieder  in  den  drei  Schülern  Dhäumyas.  * 
Der  erste  Schüler,  Upamanyo,  führt  seines  Lehrers  Kühe  auf  die 
Weide  und  weigert,  sich  aus  peinlicher  Rücksicht  auf  seines 
Meisters  Interesse,  nicht  allein  ihre  Milch,  sondern  sogar  den 
Schaum  ihres  Mundes  zu  trinken  und  fastet,  bis  er,  dem  Hunger- 
tode nahe,  ein  Blatt  der  arkapaträ  (eigentlich  Sonnenblatt, 
aristolochia  indica)  kaut,  als  er  plötzlich  blind  wird.  Er 
irrt  umher  und  fällt  in  einen  Brunnen;  er  singt  eine  Hymne  an 
die  AQvins  und  sie  kommen  sofort,  ihn  zu  befreien.  Der  zweite 
Bruder,  üddälaka,  legt  sich  wie  ein  Wehr,  um  den  Lauf  der 
Wasser  aufzuhalten.  Der  dritte  Bruder  ist  Veda,  er,  der  sieht 
und  weiss,  dessen  Schüler  Utaüka  selbst  die  Gestalt  eines  Helden 
hat.  Uta&ka  wird,  wie  der  vedische  Trita  und  der  Panda va 
Arguna,  von  Indra  beschützt.  Er  wird  von  dem  Weibe  seines 
Lehrers  gesandt,  um  König  Päushyas  Gemahlin  die  Ohrringe  ab- 
zunehmen. Er  macht  sich  auf,  trifft  auf  dem  Wege  einen  riesigen 
Stier  und  einen  Reiter,  der  ihm  befiehlt,  die  Excremente  des  Stie- 
res zu  essen,  wenn  er  Erfolg  haben  will,  und  spült  sich,  nachdem 
er  es  gethan,  den  Mund  aus.  Er  stellt  sich  darauf  König  Päushya 
vor  und  unterrichtet  ihn  von  seiner  Botschaft ;  der  König  bezeich- 
net ihm  die  Ohrringe,  aber  warnt  ihn  vor  Takshaka,  dem  Schlangen- 
könige. Utaüka  sagt,  dass  er  sich  nicht  vor  ihm  fürchtet  und 
bricht  mit  den  Ohrringen  auf;  als  er  sie  aber  am  Ufer  niederlegt, 
um  zu  baden,  kommt  Takshaka  in  der  Gestalt  eines  nackten 
Bettlers,  reisst  sie  schnell  an  sich  und  läuft  mit  ihnen  davon. 
UtafLka  verfolgt  ihn;  Takshaka  nimmt  aber  seine  Schlangenge- 
stalt an,  bohrt  sich  in  die  Erde,   und  verschwindet   darunter; 


•  Mbh.  I,  5300-5304. 

>  I,  6H0-828.  ..^^^«A 


OF  THl  \ 

UNIVERSITY  ^ 


Pa 


62 

Utaftka  versucht  der  Schlange  zu  folgen,  kann  aber  in  das  Loch 
nicht  eindringen,  welches  dem  vedischen  Felsen  entspricht,  unter 
dem  das  Ungeheuer  seine  Beute  hält.  Indra  sieht,  wie  er  sieb 
vergeblich  abmüht  und  sendet  seine  Waflfe,  damit  sie  dem  Utafika 
helfe ;  diese  Waffe  oder  Keule  dringt  ein  und  öflfnet  die  Höhle.  ^ 
Diese  Keule,  diese  Waflfe  Indras  ist  augenscheinlich  der  Donner- 
keil. >  Uta&ka  steigt  in  das  an  unendlichen  Wundern  reiche 
Schlangenreich  hinab.  Indra  erscheint  an  seiner  Seite  wieder  in 
der  Gestalt  eines  Pferdes  *  und  nöthigt  den  König  Takshaka,  die 
Ohrringe  zurückzugeben;  dann  besteigt  Utaüka  das  Koss,  um 
schneller  zu  seines  Meisters  Gemahlin  zurückzukommen;  er  er- 
fahrt, dass  der  auf  dem  Wege  von  ihm  gesehene  Reiter  kein  An- 
derer als  Indra  selbst,  sein  Ross  der  Gott  des  Feuers,  Agni,  der 
Stier  Indras  Ross  oder  der  Elephant  Airavata,  die  Excremente 
des  Stieres  die  Ambrosia  waren,  welche  ihn  im  Schlangenreiche 
unsterblich  machte.  In  einer  andern  Episode  desselben  ersten 
Buches  des  Mahäbhärata*  finden  wir  Indra  wiederum  mit  der 
Suche  nach  den  Ohrringen  beschäftigt,  d.  h.  nach  dem  ausseror- 
dentlich fleischigen  Theil,  der  vom  Ohr  Karnas,  des  Kindes  der 
Sonne,  herabhängt,  das  gleich  nach  seiner  Geburt  auf  den  Wassern 
verlassen  worden  war.  Wir  sahen  oben,  wie  die  beiden  AQvins 
im  liamäyana  auch  als  die  beiden  Ohren  Vishnu  Rämas  darge- 
stellt werden  (wie  Sonne  und  Mond  seine  Augen  sein  sollen); 
daher  scheinen  mir  diese  mythischen  Ohrringe,  begehrt  und  be- 
schützt von  Indra,  nichts  anderes  als  die  beiden  A(vins  zu  sein, 
die  beiden  glänzenden   Dämmerungen   (in  Verbindung  mit  der 


'  Tarn  kli^yamäuamindro  'paQyatsa.vagram  preshaj^mäsa  —  gad<5häsya 
brähmanasya  sähayyaih  kurusliveti  —  atha  va^ram  dandakäshthamanupra- 
vi^ya  tadvilamadärayat;  Mbh.  I,  704—795. 

*  Id  einer  Erzählung  der  tibetischen  Baddhisten,  mitgetheilt  von  Prof. 
Schiefner  in  seiner  interessanten  Abhandlung,  lieber  Indras  Donner- 
keil (Petersb.  1848),  finden  wir  zwei  tapfere  Helden,  die  auf  dem  Berge 
Gridhraküta  (Geierspitze)  in  Gegenwart  ihres  Meisters  sich  mühen,  den 
vagra  (d.  h.  die  Wafie  in  Form  eines  Keils,  den  Hebel ,  den  Donnerkeil 
Indras)  zu  heben,  aber  vergebens.  Va^rapäni  bringt  allein  es  fertig,  den 
va^ra  mit  der  rechten  Hand  zu  heben.  Räma  erprobt  in  ähnlieher  Weise 
seine  Stärke  im  Rämäynna,  indem  er  einen  Bogen,  den  vor  ihm  Niemand 
hat  bewegen  können,  aufhebt  und  in  Stücke  bricht. 

"  Vgl.  das  folg.  Kap.  • 

«  I,  2772—2783. 


63 

Sonne  und  dem  Monde);  an  denen  Indra  und  noch  mehr  als  er 
die  Aurora,  sein  Weib,  so  viel  Gefallen  findet  ^ 

Im  Gommentar  Buddhagoshas  zu  dem  buddhistischen  Dhamma- 
pada  finden  wir  wieder  die  drei  Brüder;  die  beiden  ältesten  wer- 
den dargestellt  als  fliehend  vor  der  Verfolgung  ihrer  grausamen 
Stiefmutter ;  der  dritte  Bruder,  Süriya  (Sürya,  die  Sonne)  geht  sie 
einzuholen.  Der  älteste  räth  oder  befiehlt,  der  zweite  leiht  seine 
Hilfe,  der  jüngste  ficht.  Der  zweite  und  dritte  Bruder  fallen  in 
einen  Brunnen,  in  die  Gewalt  eines  Ungeheuers;  der  erstgebome 
rettet  sie  durch  seine  Erfahrung,  wie  im  Mahäbhärata  Yudhish- 
thira  durch  seine  Schlauheit  im  Räthselrathen  den  zweiten  Bruder 
von  den  Fesseln  des  Schlangenungeheuers  befreit 

Diese  Art,  den  Helden  durch  Vorlegung  einer  Frage  oder 
eines  Häthsels  zu  befreien,  ist  in  den  indischen  Erzählungen  sehr  ge- 
wöhnlich. Sogar  im  Panöatantra^  befreit  sich  ein  Brahmane, 
der  in  die  Gewalt  eines  ihm  auf  die  Schultern  springenden  Wald- 
ungeheuers geräth,  durch  die  Frage,  warum  seine  FUsse  so  weich 
sind.  Das  Ungeheuer  bekennt,  dass  es  wegen  eines  Gelübdes 
nicht  die  Erde  mit  seinen  Füssen  berühren  darf.  Der  Brahmane 
wendet  sich  dann  zu  einem  heiligen  Teiche;  das  Ungeheuer 
wünscht,  ein  Bad  zu  nehmen  und  der  Brahmane  wirft  es  hinein; 
das  Ungeheuer  befiehlt  ihm,  dazubleiben,  bis  es  gebadet  und 
seine  Gebete  gesagt  hat  Der  Brahmane  benutzt  diese  Gelegen- 
heit, um  zu  entwischen,  wohl  wissend,  dass  das  Ungeheuer  ihn 
nicht  einholen  kann,  weil  es  seine  Füsse  nicht  auf  die  Erde  setzen 
darf.  Es  ist  die  gewöhnliche  Verwundbarkeit,  Schwachheit  oder 
Unvollkommenheit  des  Helden  resp.  des  Ungeheuers  an  den  Füssen, 
und  wenn  von  einem  Thiere  die  Rede  ist,  am  Schwänze.^ 

Das  Mahäbhärata  hat  uns  die  drei  vedischen  Brüder  gezeigt, 
von  denen  der  jüngste  in  den  Brunnen  gefallen  ist;  es  bietet 
uns  auch  in  der  Hexe  (asuri)  Qarmishthä,  Vpshaparvans  des  Dä- 


■  An  den  Mythus  von  den  geraubten  Ohrringen  schliesst  sich  fast 
immer,  sogar  in  den  Volksmährchen,  die  Gaschichte  von  dem  Pferde  an, 
welche  sich  immer  speciell  auf  die  A^vins  bezieht,  wie  die  vom  Stier  auf 
ludra.  In  den  puraniscbcn  Erzählungen  erhält  Krishna  von  der  Erde  die 
Ohrringe  Aditis  (die  wir  schon  als  Kuh  kennen),  während  er  die  Prinzessin 
aus  dem  Naraka  befreit.  —  Vgl.  Vishnu  PurÄna  V,  29. 

*  V,  17. 

*  Vgl.  die  Kapp,  über  den  Wolf,  den  Fuchs  und  die  Schlange,  wie 
auch  die  friihere  Erörterung  über  die  vedischen  Bfithsel,  wo  die  Sonne 
anipadyamftna  genannt  wird. 


64 

moiienkönigs  Tocbter  und  der  Nymphe  Devayäni,  Qukras  Toch- 
ter, die  sich  die  Eigenschaft  Indras  als  des  Kegenspenders  an- 
masst,  *  die  beiden  streitenden  Schwestern  des  Veda,  die  gute  und 
die  böse.  Im  Rämäyana^  wird  die  Hexe  Qärpanakhä,  welche 
Räma  verführt;  um  Sitäs  Stelle  an  seiner  Seite  einzunehmen;  mit 
Qarmishthä;  welche  Nähusha  verführte;  verglichen.  Im  Mahäbhä- 
rata  verkleidet  sich  Qarmishthä  als  Devayäni;  welche  sie  in  einen 
Brunnen  wirft.  Yayäti,  Sohn  König  Nahushas,  geht  auf  die  Jagd ; 
da  er  dürstet;  macht  er  bei  dem  Brunnen  Halt;  aus  dessen  Grunde 
glänzt  ein  junges  Mädchen  herauf;  gleich  einer  Feuerflamme.  ^ 
Der  Prinz  nimmt  sie  an  der  rechten  Hand  und  zieht  sie  herauf; 
weil  nun  bei  der  Heirath  die  Braut  an  der  rechten  Hand  genom- 
men wird;  ^  soll  der  Prinz  Yayäti  die  Devayäni  heirathen.  Sobald 
sie  jedoch  sein  Weib  ist;  sucht  Qarmishthä  ihren  Gatten  zu  ver- 
führen, mit  dem  sie  sich  verbindet.  Zwei  Söhne  werden  von 
Devayäni  geboren;  Yadu  und  Turva^a,  Indra  und  Vishnu  ähnlich 
(eine  neue  Erscheinungsform  der  Zwillinge,  der  beiden  Agvins); 
drei  werden  von  Qarmishthä  geboren;  DuhyU;  Anu  und  Puru;  und 
auch  hier  ist  der  dritte  Bruder  der  berühmteste  und  tapferste. 
Auf  diese  Weise  hängt  die  Episode  mit  der  eigentlichen  Erzäh- 
lung des  iMahäbhärata  zusammen;  ein  und  derselbe  allgemeine 
Mythus  zerfällt  in  unendlich  viele  Sondererzählungen.  Wie  die 
Genealogie  der  Götter  und  Helden  unbegrenzt  ist,  finden  wir  hier 
eine  unbegrenzte  Zahl  von  Gestalten,  die  derselbe  Mythus  an- 
nimmt, und  von  Namen  desselben  Helden.  Jeder  Tag  gab  im 
Himmel  einem  neuen  Helden  und  einem  neuen  Ungeheuer  das 
Leben,  die  einander  vernichten,  um  später  wieder  in  mehr  oder 
weniger  herrlicher  Gestalt  wiederaufzuleben;  je  nach  ihren  mehr 
oder  weniger  glücklichen  Namen. 

Aus  demselben  Grunde  erkennen  die  Söhne  immer  ihre  Väter 
wieder;  ohne  sie  auch  nur  einmal  gesehen  oder  von  ihnen  gehört 
zu  haben:  sie  erkennen  sich  selbst  in  ihren  Vätern  wieder.  So 
setzen  die  Söhne  Qakuntaläs  und  Urvagts  ihre  Mutter  in  Stand, 
den  verlornen  Gatten,  und  ihren  Vater,  sein  Weib  wiederzufinden. 
So  wendet  sich  in  der  Episode  von  Devayäni  und  Qanmshthä  die 
erstere,  als  sie  zu  erfahren  wünscht,  wer  der  Vater  der  drei  Göt- 


'  Ah«m  galam  yimundämi  pragänäm  hitakämyajä;  Mbh.  I,  3317. 

*  III,  23.  24. 

*  Dadar^a  rä^  tftm  tatra  kanyamagni9ikhämiva;  Mbh.  I,  3294. 

*  Mbh.  I,  3379-3394. 


65 

tersöhnen  so  ähnlichen  Söhne  Qarmishthäs  sei;  an  diese  und  sie 
nagen  es  ihr  sogleich. 

Dieses  Fehltritts  halber  ist  Tayäti  verdammt;  noch  jung;  alt 
asu  werden.  Er  ersucht  nun  die  beiden  ältesten  der  drei  SöhnC; 
die  ihm  Qarmishthä  geschenkt;  das  Alter  ihres  Vaters  auf  sich  zu 
nehmen ;  sie  weigern  sich ;  jedoch  der  dritte  Sohn  Furu  willigt  aus 
Ehrfurcht  vor  seinem  Vater  ein ;  an  seiner  Statt  alt  zu  werden 
und  ihm  seine  Jugend  zu  überlassen.  Nach  tausend  Jahren  giebt 
König  Yayäti;  des  Lebens  müde,  seinem  Sohne  Puru  die  Jugend 
Eurück;  übergiebt  ihm,  obgleich  er  der  jüngste  ist;  das 
Reich;  weil  er  der  einzige  von  den  Dreien  war;  der  den  väter- 
lichen Willen  ehrte;  und  verstösst  die  beiden  ältesten  Brüder.  ^ 

Zuweilen  wird  jedoch  der  b|inde  alte  Vater  von  seinen  Söhnen 
ganz  verlassen.  So  wird  der  alte  Dirghatama  (von  der  weiten 
Finstemiss);  von  Geburt  an  blind,  von  seinem  Weibe  und  seinen 
Söhnen  der  Nahrung  beraubt  und  in's  Wasser  geworfen,^  aber 
ein  heroischer  König  rettet  ihU;  damit  er  für  ihn  seinem  Weibe 
Söhne  zeuge.  Wir  haben  in  Dirghatama  und  Yayäti  König  Lear 
im  Embryo. 

In  derselben  Erzählung  von  Dirghatama  finden  wir  eine  Ver- 
wechslung von  Weibern.  Königin  Sudeshnä  schickt;  statt  selbst 
zu  geheu;  ihre  Dienerin,  ihre  Milchschwester;  Dirghatama  zur  Um- 
armung. '  In  der  schlauen  Sudeshnä  haben  wir  eine  alte  Varia- 
tion von  Königin  Berta. 

Auch  sonst  kommen  häufig  Blinde  in  den  indischen  Erzählungen 
vor.  Ich  führe  hier  nur  Andhaka  (den  Blinden)  und  Vrishni 
(das  Schaf;  den  Lahmen)*  an,  die  im  HarivanQa*  als  die  bei- 
den Söhne  Mädris  erscheinen.  Wir  wissen  jedoch  aus  dem  Ma- 
häbhärata,  dass  die  beiden  Söhne  Mädris  eine  menschliche  Incar- 
nation der  himmlischen  Zwillinge,  der  AQvins  sind;  und  hier 
kommen  wir  wieder  auf  den  blinden  Lahmen  des  Veda  zurück; 
den  Sonnenhelden  in  seiner  Zwillingsgestalt,  die  beiden  von  Indra 
beschützten  und  die  Dämmerung  begleitenden  Agvins. 


>  Mbh.  I,  3435-3545. 

*  Mbh.  I,  4193-4211. 
»  Mbh.  I,  4211—4216. 

*  Wir  werden  in  dem  Kap.  über  das  Lamm  und  die  Ziege  die  lahme 
Ziege  finden. 

*  190a 

Gmbenatif ,  die  Thiere.  5 


66 

Das  Panöatantra^  stellt  den  Blinden  and  den  Buckligen  ^ 
in  Vereinigung  mit  der  dreibrüstigen  Prinzessin  dar  (d.  h.  der 
dreifachen  Schwester,  der  Aurora  am  Abend^  in  der  Nacht  und  am 
Morgen,  indem  die  Brust  der  Nacht  die  mangelhafte,  ungestalte 
ernährt,  welche  der  Morgen  wegfegt).  Der  Bucklige  leitet  den 
Blinden  mit  einem  Stabe;  sie  beide  heirathen  die  dreibrttstige 
Prinzessin.  Der  Blinde  erhält  durch  den  Dunst  des  Giftes  einer 
schwarzen  Schlange^  das  in  Milch  gekocht  ist  (das  Dunkel  der 
Nacht  resp.  des  Winters  yermischt  mit  der  Helligkeit  des  Mond- 
lichtes  und  Tagesanbruchs  resp.  des  Schnees)  die  Sehkraft  wie- 
der; dann  nimmt  er,  ein  kräftig  gebauter  Mann,  den  Buckligen 
bei  den  Beinen  und  schlägt  seinen  Buckel  gegen  die  dritte,  ttber- 
flüssige  &:ust  der  Prinzessin.  Beide  treten  in  die  respectiven 
Körper  zurück ;  ^  so  helfen  und  heilen  einander  der  Blinde ,  der 
Krüppel  und  die  dreibrüstige  Prinzessin;  die  beiden  A^vins  und 
die  Aurora  (oder  der  Frühling)  erscheinen  wieder  zusammen  in 
Schönheit  Die  Aerius  und  die  Aurora  treten  auch  zusammen 
aus  den  ungeheuecgestalten  Schatten  der  Nacht  heraus;  die  A$- 
vins  streiten  um  die  Aurora,  die  erlöste  Braut,  um  wdebe  auch 
die  Brüder  streiten^  wie  wir  bald  und  im  nächsten  Ki^itel  sehen 
werden. 

Die  Sonne  und  die  Aurora  fliehen  vor  einander;  dieses  Schau- 
spiel ist  von  der  Phantasie  des  Volkes  verschiedenartig  dargestellt 
worden;  mit  am  gewöhnlichsten  ist  das  Bild  eines  schönen  Mäd- 
chens^ das  durch  rascheren  Lauf  dem  Prinzen  entwischt.  Dies 
Begebniss,  das  schon  im  Bigveda  beschrieben  wird,  kommt  wieder 
im  Mahäbhärata  vor^  in  der  Erzählung  von  dem  Liebesverhält- 
niss  der  jungfräulichen  Tapatl,  der  Tochter  der  Sonne  (der  glän- 
zenden und  brennenden  Aurora,  und  auch  des  Sommers,  glühend 
wie   Dahanä),    mit    dem    König   Samvara^a,    dem   Bärensohne 


'  V,  12. 

■  Das  Woit  badhira  bedeutet  Wer  den  Btrckligen,  Verkrüppelten, 
nicht  den  Tanben  (von  der  W.  badh  oder  vadh,  verwunden,  schneiden); 
sehr  erklärlich,  dass  hier  der  Name  von  des  blinden  Mannes  Gefährten 
Mantharaka,  eigentlich  der  Langsame,  ist.  Die  krumme  und  dietaogsame 
Linie  entsprechen  sich;  und  der  Gekrümmte,  der  nicht  aufrecht  stehen 
kann,  kann  eben  so  wohl  der  Bucklige  sein  als  der  Krüppel^  der  Lahme. 
—  Vgl.  das  Kap.  über  die  Schildkröte. 

'  Ueber  die  Geschichte  von  dem  Buckligen,  der  den  Blinden  verräth, 
in  demselben  Volksmährchen,  vgl.  das  nächste  Kap. 

*  I,  6527, 


67 

(rikshapotn^  et&e  Art  Indra).  Der  König  Ssmvarana  kommt  mit 
seinem  Gefolge  su  Pferde  bei  dem  Berge  an,  nm  zu  jagen;  er 
bindet  sein  Pferd  an  und  beginnt  die  Jagd^  als  er  auf  dem  Berge 
dm  schöne  Mädchen ,  die  Tochter  der  Sonne  erblickt,  die,  mit 
Zierrathen  bedeckt,  sonnengleich  glänzt;  er  erklärt  ihr  seine 
Uebe  und  wflnsebt,  sie  sich  za  eigen  zu  machen;  sie  antwortet 
keine  Silbe,  sondern  flieht  und  verschwindet,  wie  der  Blitz  in  den 
Wolken;^  der  König  kann  sie  nicht  einholen,  weil  sein  Pferd 
während  der  Jagd  vor  Hunger  und  Durst  umgekommen ,  er  sucht 
vergeblieh  d«m  Wald  durch;  da  er  sie  nicht  sieht,  wirft  er  sich 
athemlos  zu  Boden.  Wie  er  so  liegt,  erscheint  das  schöne  Mäd- 
chen wieder,  naht  ihm  und  weckt  ihn ;  er  spricht  ihr  wieder  von 
Liebe  nnd  sie  antwortet,  er  mttsse  ihren  Vater,  die  Sonne,  fragen ; 
dann  verseh windet  sie,  immer  noch  ganz  unschuldig,  schnell  nach 
oben  (drdhvam).  Der  König  föUt  in  Ohnmacht;  sein  Minister 
bespritzt  ihn  mit  dem  Wasser  der  Gesundheit  und  bringt  ihn  zum 
Bewusstsein,  er  aber  weigert  sich,  den  Berg  zu  verlassen,  ent- 
Iftsst  seine  Jagdgenossen  und  erwartet  die  Ankunft  des  grossen 
pnrobita  Vasishtha,  durch  dessen  Vermittlung  er  die  Sonne  um 
ihre  Tochter  TapatI  als  Gemahlin  bittet;  die  Sonne  willigt  ein 
nnd  Vasishtha  fUhrt  dem  Samvarana,  zum  dritten  Male,  das  schöne 
Mädchen  a|p  rechtmässige  Gattin  zu.  Die  Beiden  leben  gltlcklich 
zusammen  auf  dem  Berge  ihrer  Liebe;  so  lange  aber  König 
Samvarana  mit  Tapati  auf  diesem  Berge  weilt,  fällt  kein  Regen 
auf  die  Erde,  weshalb  der  König,  aus  Liebe  zu  seinen  Unter- 
thaaeo,  in  seinen  Palast  zurückkehrt;  Indra  ergiesst  nun  den 
R^^  und  beginnt  wieder  die  Erde  zu  befruchten. ' 

Wir  sagten  vorhin,  dass  Vasishtha  selbst  es  regnen  Hesse 
(abhyavarshata).  Die  Erwähnung  Vasishthas  erinnert  uns 
an  die  besond^s  Regen  gebende,  wolkige  und  lunare  Function 
seiner  Kub  Kädmadbeau,  deren  wunderbare  Erzeugnisse  wiederum 
im  Mahäbhärata  geschildert  werden.'  Ausser  Milch  und  Am- 
brosia liefert  sie  Kräuter  und  Edelsteine,  auf  welche,  als  einan- 
der analoge  Erzeugnisse  in  der  Mythologie,  wir  schon  Bezug  ge- 
nommen haben. 

Die   Kuh   Vasishthas   wird,   ausser  ihrem  Schwanz,  wegen 


■  Sändiminiva  ^bhreshu  tatrdevftntavadhiyata ;  Mbh.  1,6567. 
'  Tasinianripati^ltrdüle  pravishte  nagaram   puna^  pravavarsha  sahas- 
r^kffaa^  ^anyäni  ^anayaiiprabfaoh ;  Mbh.  I,  6629.  6630. 
»  I,  6651-6772. 

5* 


X 


68 

ihrer  Brttste,  ihrer  Homer  und  sogar  ihrer  in  einer  Spitze  endi- 
genden Ohren  gepriesen,  woher  ihr  Name  ^afiknkarnä  (dessen 
Masculinform  gewöhnlich  auf  den  Esel  angewandt  wird).  Und 
im  Mahäbharata  ist  auch  der  weise  ViQvämitra  nach  dieser  wun- 
derbaren Kuh  lüstern;  die  Kuh  brüllt  und  tröpfelt  Feuer  aus 
ihrem  Schwänze;  ihrem  Leibe  entsprossene  Armeen  zerstreuen  die 
des  Sohnes  Gadhis.  Vi^vämitra  rächt  sich  dann  auf  andere  Art 
an  den  Söhnen  Vasishthas;  so  z.  B.  isst  er  sie  kannibalischer 
Weise.  * 

Vasishtha  kann  die  ihm  dadurch  verursachte  Pein  nicht  er- 
tragen :  er  versucht  sich  von  dem  Gipfel  des  Berges  Meru  zu 
stürzen,  aber  er  fällt,  ohne  sich  zu  verletzen ;  er  stürzt  sich  in  das 
Feuer,  aber  ohne  sich  zu  verbrennen;  endlich  springt  er  in  das 
Meer,  ohne  jedoch  zu  ertrinken.  Diese  drei  Wunder  werden  jeden 
Tag  von  dem  Sonnenhelden  verrichtet,  der  sich  von  dem  Berge 
in  den  finstern  Ocean  der  Nacht  stürzt,  nachdem  er  durch  den 
brennenden  Abendhimmel  hindurch  gegangen. 

Vasishtha  erlöst  schliesslich  mit  Hilfe  bezauberten  Wassers 
das  Ungeheuer  Vigvämitra  von  seinem  Fluche;  und  der  letztere 
ist  nicht  so  bald  von  dem  Dämon,  der  ihn  besass,  befreit,  als  er 
wiederum  beginnt,  den  Wald  mit  seinem  Glänze  zu  erhellen ,  wie 
die  Sonne  eine  Dämmerungswolke  erhellt.  Die  Freundschaft,  Feind- 
schaft und  Rivalität  zwischen  Vasishtha  und  Vigvämitra  scheinen 
nur  eine  Version  derer  zwischen  den  A^vins  zu  sein,  die  wir  spe- 
ciell  im  nächsten  Kapitel  schildern  werden. 

Indessen,  wird  der  Leser  denken,  es  ist  hohe  Zeit,  diesen 
Theil  unsrer  Arbeit  über  die  mythische  Kuh  Indiens  zu  schliessen. 
Wir  hätten  leicht  noch  viel  weitläufiger  sein  können ,  hätte  es  in 
unserer  Absicht  gelegen,  alle  Sagen  und  Erzählungen,  in  denen 
die  Kuh  eine  mehr  oder  minder  bedeutende  Rolle  spielt,  Glied 
für  Glied   in  eine  Kette  zusammenzuschliessen.      Es  ist  jedoch 


'  Wir  sahen  in  dem  vorigen  Paragraphen,  wie  der  Gott  Varuna  das 
Opfer  der  Sonne  ^unah^epa  verlangt;  in  Persien  hat  Mithra  thoilweise 
den  Charakter  des  indischen  Varuna  angenommen,  d.  h.  specieÜ  der  Sonne 
in  dem  Augenblicke,  wo  sie  sich  in  die  Nacht  stürzt  und  verbirgt.  Der 
indische  Mitra  ist  die  Sonne  am  Tage  im  Gegensatze  zu  Varuna,  dem 
Herren  der  Nacht;  Varuna  verschlingt  alle  Abend  Mitra,  Mitra  ersetzt 
und  folgt  alle  Morgen  dem  Vai-una.  In  Persien  sind  die  beiden  Götter  in 
einen  zusammengefallen,  der  sehr  dem  indischen  Qiva  ähnelt.  Wie  Va- 
runa die  Sterne  als  Spione  hatte,  so  auch  Mithra  im  Avesta.  Wie  Varuna 
sich  mit  Yama  deckt,  so  Mithra  mit  Yima. 


69 

besser,   Halt  zu  machen,    wenn  wir  nicht  durch  weitere  Wande- 
rungen das  wesentliche  Ziel  unseres  Werkes  aus  dem  Auge  ver- 
lieren und  uns  nicht  in  die  Gefahr  begeben  wollen,  von  den  auf 
Tbiere  bezüglichen  Erzählungen  zu  solchen,  die  sich  auf  Menschen 
beziehen,  abzuschweifen;   ausserdem  glauben  wir  den  Hauptsatz 
dieses  Kapitels  gendgend  bewiesen  und  gezeigt  zu  haben,  wie  die 
Uauptmytheu  der  Veden  in  den  späteren  indischen  Sagen  nicht  nur 
beibehalten,  sondern  sogar  weiter  entwickelt  sind.    Es  ist  ja  nicht 
unsere  Schuld,  wenn  wir  von  Kühen  so  oft  zu  Prinzessinnen ,  von 
Stieren  zu  Prinzen  übergehen ;  der  Mythus  selbst  involvirt  und  in- 
dicirt  diese  Umgestaltungen.    Daher  finden  wir   den  Stier  Indra, 
der  die  Kühe  erobert,  in  einen  Eroberer  und  Verflihrer  von  Wei- 
bern verwandelt;   den  Stier  Wind,   der  Indra  bei  der  Eroberung 
der  Kühe  unterstützt,  in  den  Schänder  von  hundert  Jungfrauen ;  * 
wir  lesen  von  dem  Stier  und  Gott  Rudra,  als  Gatten  Umäs,  der 
hundert  Jahre  unaufhörlich  Befriedigungen  der  Sinnlichkeit  ergeben 
ist;   dass   der  Sohn   des  Stieres  oder  des   Windes,   Hanumant 
Wunder  von  Kraft  und  Stärke  verrichtet  um  eines  schönen  Weibes 
willen,  und  als  Belohnung  seines  Eifers  von  König  Bharata  hun 
dert  tausend  Kühe,  sechszehn  Weiber  und  hundert  Dienerinnen^ 
erhält    Was  hätte  Hanumant  mit  so  vielen  Weibern  und  Mädchen 
thun  können,  wenn  er  einfach  ein  Stier  wäre?  oder  was  hätte  er 
mit   so  vielen  Kühen  thun  können,  wenn  er  ein  Aflfe  gewesen 
wäre?    Diese  Widersprüche  sind  es,  welche  die  Mythologie  von 
der  Schaar  zahlreicher  alter  Pedanten  als  eine  eitle  Wissenschaft 
haben  verdammt  werden  lassen;  während  gerade  sie  im  Gegen- 
theil  es  sind,  die  sie  in  unsem  Augen  zu  dem  Range  einer  mäch- 
tigen Wissenschaft  erheben.     Der,  welcher  uns  die  Züge  Hanu- 
mants  überliefert  hat,  erzählt  uns  auch  sorgfi^fig,  wie  er  das  Ver- 
mögen  hatte,   seine   Gestalt    beliebig  zu   verändern;  und   diese 
Fähigkeit,  die  dieser  Persoüification  einer  Himmelserscheinung  bei- 
gelegt  wird,   ist  die  Frucht  einer  der  naivsten  aber  richtigsten 
Beobachtungen  der  jungfräulichen  und  grossartigen  Natur. 


'  Der  hundert  Töchter  König  Ku^anabhaa  und  der  Nymphe  Ghritädi, 
die  in  geronnener  Milch  geht,   uns  an  die  mythische  Kuh   erinnernd.  — 

Vgl.  Kämfty.  I,  85. 

*  Vgl.  Virgil,  Aeneis  I,  65—75,  wo  Juno  dem  Aeolus  die  Nymphe 

Deiopea  giebt. 


70 


§  8.    Der  Stier  und  die  Kuh  io  der  iranisciien  und 

turaniscben  Sage. 

Wenn  wir  uns  von  Indien  westwärts  wenden,  finden  wir  auf 
der  einen  Seite  die  iranischen,  auf  der  andern  die  turanischeo 
Sagen.  Wir  können  uns  nicht  auf  europäisches  Gebiet  begeben, 
ohne  wenigstens  den  allgemeinen  Charakter  einer  jeden  von  Bei- 
den anzugeben. 

In  der  persischen  Kosmogonie  ist  der  Stier  (gäus  aevo 
dato)  eins  der  ersten  unter  den  geschafienen  Wesen;  er  ist  so 
alt  wie  die  Elemente.  Es  ist  überdies  wohlbekannt,  welch  bok^ 
Bedeutung  unter  den  Persem  dem  Stier  bei  den  Mysterien  des 
Sonnengottes  Mithra  beigelegt  wurde,  der  als  ein  schöner  Jüng- 
ling, in  der  Linken  die  Homer  eines  Stiers,  in  der  Rechten  das 
Opfermesser,  dargestellt  wird.  Mithra,  der  den  Stier  opfert,  ist 
genau  der  Sonnenheld,  der  sich  selbst  am  Abend  opfert  Wirk- 
lich versiebt  in  der  persischen  Tradition  Mithra,  wie  der  Yama 
der  Hindus,  das  Amt  eines  Gottes  der  Todten  und  hat  als  scrfcher, 
wie  Yama,  eine  Ungeheuergestalt,  findet  sich  auch  im  Ya^na 
mit  tausend  Ohren  und  zehntausend  Augen  dargestellt. 

Wie  in  Indien,  wird  auch  in  Persien  der  (Jrin  der  Kuh  bei 
Reinigungsceremonieen  angewandt,  während  deren  er  getrunken 
wird. '  Wir  haben  schon  in  der  Geschichte  von  Utaüka  gesehen, 
wie  die  Excremente  des  Stieres,  von  denen  sich  Utaflka  nährte, 
Ambrosia  selbst  waren;  und  es  ist  in  der  That  Alles  wohlthätig, 
was  von  der  Küh  der  Fülle  (dem  Monde,  der  Wolke  und  der 
Aurora)  und  von  dem  göttlichen  Stier  (dem  Monde  und  der  Sonne) 
gegeben  wird.  Der  mythische  Glaube  war  naturalistisch,  wenn 
auch  nicht  nach  unseim  Geschmack,  sobald  wir  auf  der  Deutung 
nach  dem  Buchstaben  bestehen. 

Und  gerade  in  der  persischen  Tradition  selbst  besteht  schon 
eine  Unterscheidung  zwischen  gewöhnlichen  Stieren  oder  Ochsen 
und  geheiligten  oder  bevorrechteten.  Diese, Unterscheidung  zeigt 
sich  in  der  Erzählung  von  Gemshid,  dessen  Stiere  alle  von  dem 
Teufel  verschlungen  wurden,  so  lange  sie  durch  keine  Zauber- 
bräuche beschützt  waren;  während  dic^^er  auf  nimmer  Wiedersehn 
verschwand,  als  ihm  ein  rother  Ochse  in  altem,  d.  h.  starkem, 
mit  Knoblauch  und  Raute  (wegen  ihrer  Kraft  bei  Beschwörungen 


'  Anquetil   du  Perron,   Zendavesta,  11,  p.  545. 


n 

berflbmO  angemachtem  Weinessig  gekocht,  gegeben  wurde.  ^  Die 
Raute  ist  wahrscheinlich  die  fabelhafte  Pflanze,  die  nach  dem 
Glauben  der  Zend-Tradition  dem  See  Vöuru-Kasha  entsprungen 
ist,  aus  welchem  Ahura  Mazda  die  Wolken  zieht,  aus  welchem 
alles  Gesundwasser  sich  ableitet  und  welcher  dem  Milchsee  der  indi- 
schen Tradition  entspricht,  in  welchem  die  Ambrosia  geschüttelt  wird. 

So  erinnert  uns  die  Trauercypresse  Kishmars  (von  {^ara- 
tbustra  mit  einem  Zweige  von  dem  Baume  des  Paradieses  ge- 
pflanzt) ,  unter  der  mehr  als  zweitausend  Ktthe  und  Schafe  weiden 
kennen,  und  deren  unzählige  Vögel  die  Luft  verfinstern,  das 
Lieht  der  Sonne  verdunkeln ,  an  den  himmlischen  Wald  der  Ve- 
den,  in  welchem  der  Hirten -Held  und  der  Jäger -Held  umher- 
streifen und  sich  verirren. 

Die  Vorstellung  des  Trauerbaumes  ruft  in.  uns  die  des  persi- 
schen Berges  Arezfira  oder  Demävend  wach^  wo  die  D&nonen 
zusammenkamen,  um  Bös^  zu  planen  und  wo  das  Thor  der 
Hölle  war. « 

Das  Zendwort  a^ma,  welches  Stein  und  Himmel  bedeutet, 
bietet  uns  in  dieser  doppelten  Bedeutung  den  Schltissel  zu  der 
Erklärung  des  Mythus.  Sofern  dieser  Stein  schwarz  ist,  ist  er 
von  böser  Vorbedeutung ;  sofern  er  glänzt,  ist  er  ein  Edelstein  oder 
giebt  den  Edelstein  (den  Mond  oder  die  Sonne);  deshalb  ist  auch 
nach  dem  Minokhired  der  Himmel  aus  Edelstein  gemacht»' 

So  steht  dem  Berge  der  Dämonen  (wo  die  Sonne  untergeht) 
in  der  persischen  Tradition  der  glänzende  Berg  gegenüber,  aus 
welchem  die  Helden  und  Könige  geboren  werden  (oder  von  wel- 
chem Sonne  und  Mond  aufgehen)^  weil  Haoma  (der  Soma  der 
Hindus;,  der  ambrosische,  goldene,  Heil  bringende  Gott,  der  ihnen 
die  göttliche  Nahrung  bringt,  dort  geboren  ist*  und  weil  der  hei- 


'  Misit  itaqne  Dens  justissimos  citissime  Angelum  Behman  quasi  esset 
famos  (jabendo):Ito  et  bovem  rubrum  accipieus  mactato  in  nomine  Dei 
qui  prudentiam  dat;  eumque  coquito  in  aceto  veteri,  et  cave  accurate  fa- 
cias, allio  ac  rutä,  superadditis;  et  in  nomine  Dei  ex  olla  effuudito ;  deinde 
coram  eo  adpone  ut  comedat.  Cumque  portiunoulam  panis  in  iliud  friasset, 
Diabolus  iUe  maledictns  inde  aufugit,  abiit,  evanuit  et  disparuit,  nee  deinde 
illum  aliquis  postea  yidit;  Sadder  p.  94.  —  Die  russischen  Bauern  glau- 
ben noch,  dass  ein  Hausteufel,  der  damavoi,  in  den  Stall  dringt,  der  wäh- 
rend der  Nacht  auf  Pferde  und  Ochsen  springt  und  sie  schwitzen  und 
dürr  werden  lässt.  —  Vgl.  über  den  Damavoi  auch  Ralston,  songs  of 
the  Russian  people,  London  1872  pp.  119—139. 

*  Vgl  Spiegel,  Aresta  toI.  II.  Einl.  XU  sq. 

*  Vgl.  Spiegel,  Avesta  vol.  U,  21.  Anm.  8. 


72 

lige  Vögel,  der  anf  diesem  Berge  wohnt,  sie  mit  Ambrosia  nährt, 
weshalb  der  Ysl^usl^  Haoma  auffordert,  auf  dem  Wege  der  Vögel 
zu  wachsen. 

In  einer  ziemlich  dunklen  Stelle  der  Gäthä  Ahunaivati, 
die  durch  das  Bundehesh  gesichert  ist,  beklagt  sich  die  Seele 
des  Stiers  (oder  der  Kuh,  jenachdem),  der  durch  den  Bösen  sei- 
nes Körpers  beraubt  ist,  gegen  den  höchsten  Schöpfer,  dass  er 
ohne  Schutz  gegen  die  Angriife  seiner  Feinde  sei  und  dass  er 
keinen  unbezwingbaren  Beschirmer  habe.  Ahura  Mazda  scheint 
ihm  nur  geistige  Hilfe  angedeihen  lassen  zu  wollen;  aber  der 
Stier  erklärt  sich  fortwährend  für  unbefriedigt,  bis  Zarathustra, 
der  Vertheidiger,  nachgiebt  und  er  wirksame  Gnadengaben,  in 
deren  Besitz  sich  allein  Ahura  Mazda  befindet,  empfängt.^  Za- 
rathustra selbst  ist' auch  auf  einem  Berge  geboren ;  ^  während  sein 
Sohn  Qaoshyang,  .der  Befreier,  aus  dem  Wasser  herauskommt. 

Eine  heilige  Kuh  oder  wenigstens  eine  Hündin,  welche  die 
Kühe  bewacht  (paguvaiti)  scheint  neben  einer  guten  Fee  im 
Vendidad  selbst*  die  Ftihrerin  der  Seelen  über  die  von  Ahura 
Mazda  geschaffene  Brücke  Ginvat  in  das  Reich  der  Seligen  zu 
sein.  Die  Kuh,  als  Führerin  der  im  Reiche  des  Todes  verirrten 
und  auf  die  Brücke  gestellten  Seelen^  ist  wahrscheinlich  der 
Mond;  die  Hündin  (auch  der  Mond)  erinnert  uns  an  die  Saramä 
der  Hindns,  die  Hündin,  welche  den  Helden  beisteht,  die  sich  im 
nächtlichen  Walde  oder  der  finstern  Höhle  verirrt  haben.  ^  In 
demselben  Kapitel  lesen  wir  nach  Schilderungen  der  Brücke  das 
Lob  der  guten  Qaoka,  die  viele  Augen  besitzt  (gleich  dem  brah- 
manischcn  Indra,  als  Weib  verkleidet,  mit  tausend  Augen,  und 
nach   dem  Abenteuer   von  Ahalyä  mit  tausend  Uterus'  —  der  in 


»  X,  11. 

«  XXIX. 

»  Vgl.  Spiegel,  A  vest  a  vol.  II.  p.  VIII. 

*  XIX,  99—101.  Spiegel  übersetzt:  „Mit  dem  Hunde,  mit  Entschei- 
dung, mit  Vieh,  mit  Stärke,  mit  Tugend,  diese  bringt  die  Seelen  der  Bei- 
nen über  den  Haraberezaiti  hinweg:  über  die  Brücke  Chinvat  bringt  sie 
das  Heer  der  himmlischen  Yazatas.** 

^  Von  Kühen  und  Kälbern  als  Leichengabe  wird  in  dem  Khorda 
A  vest  a  (LI,  15,  Spiegels  Uebers.)  gesprochen 

*  Ein  Hund  tröstet  den  Stier,  welcher  bei  dem  persischen  Leichen- 
Opfer  geopfert  wird,  ein  Hund  leistet  gewöhnlich  den  sterbenden  Personen 
Beistand,  wie  um  sie  zu  versichern,  dass  der  Hund  Sirius  am  Himmel  oder 
der  Mond  sie  in  dio  Wohnung  der  Seligen  führen  würde. 


73 

der  Nacht  Tcrstcckte  Gott,  der  durch  tausend  Sterne  auf  die  Welt 
herabschaut,  eine  Erscheinungsform  des  allsehenden  Varunai;  nach 
Qaoka  lesen  wir  von  dem  glänzenden  Veretragbna  (der  dem  Vri- 
trahan  entspricht,  eigentlich  der  Vernichter  des  Alles  bedeckenden 
Dunkels);  und  nach  ihm  von  dem  glänzenden  Sterne  Tistar^  der 
als  ein  Stier  mit  goldenen  Nägeln '  erscheint,  was  mederum  sich 
auf  den  Mond  beziehen  muss,  da  die  Gähs,  welche,  nach  Anque- 
til,  „Bont  occupies  a  filer  des  robes  pour  les  justes  dans  le  ciel^, 
gleich  den  KUhen  und  Madonnen  in  unsern  Volksmährchen,  von 
der  Fee  oder  wenigstens  von  den  Sternen,  die  ihre  Krone  bilden, 
nicht  sehr  verschieden  sein  können.  Das  Khorda  Avesta 
feiert  in  seinen  Hymnen  zum  Preise  Mithras  die  vollkommene 
Freundschaft,  welche  zwischen  der  Sonne  und  dem  Monde  herrscht, 
und  besingt  den  Mond  unmittelbar  nach  dem  Sonnengotte  Mithra 
und  den  glänzenden  Tistar  unmittelbar  nach  dem  Monde,  dessen 
Licht  von  dem  Sternbild  Tistrja  ausgehen  soll. 

Wir  können  so  die  Bedeutung  von  Geusurva  (Seele  des  Stie- 
res oder  der  Kuh)  errathen,  dessen  Seele  nicht  blos,  sondern 
auch  Körper  im  Ya^na*  angerufen  wird.  Die  GeusuiTa  er- 
scheint im  Yafna  selbst^  als  die  Bosch titzerin  des  vierzehnten 
Tages  des  Monats  oder  des  Vollmondes,  als  eine  volle  Kuh  be- 
trachtet. Und  wenn  es  im  Khorda  Avesta^  heisst,  dass  man 
der  Geusurva  nicht  opfern  darf,  wenn  die  Daevas  oder  Dämonen 
ihre  Uebelthaten  ausüben,  so  scheint  mir  das  deutlich  genug  dar- 
auf hinzuweisen,  dass  das  Opfer  bei  zunehmendem,  nicht  bei  ab- 
nehmendem Monde  stattfinden  sollte.     So  besitzt  Asha  Vahista, 


'  Vgl.  auch  den  Tiatrya  „mit  gesuudeu  Augen*'  im  Khorda  Avesta 
(Spiegel  p.  9)  und  das  ganze  Tistar  Yast  im  Khorda  Avesta XXIV. 
Wenn  Tistar  der  Mond  ist,  so  würde  Tistrya  scheinen,  um  dieselben  Pflich- 
ten wie  die  gute  Fee  zu  erfüllen  -  d.  h.  den  verirrten  Helden  vermittelst 
ihrer  guten  Augen,  ihrer  trefflichen  Sehkraft  und  ihres  Glanzes  den  Weg 
zu  zeigen.  Die  Kuh  Vasbhthas  bei  den  Hindus,  welche  alles  Gute  giebt 
und  dann  in  den  Wolken  gegen  Vi9v4mitra  kämpft,  würde  bisweilen  der 
▼ou  der  Krgenwolke  verhüllte  Mond  zu  sein  scheinen;  so  können  wir  den 
Charakter  des  Sternes  Tistrya  als  Regenspenders  erklären ;  derselbe  reg- 
nete nämlich,  nach  dem  Bundehesh,  zehn  Tage  und  zehn  Nächte,  und 
vernichtete  so  die  Ungeheuer  von  Dürre,  die  der  Dämon  Agro-mainyu  er- 
schaffen hatte. 

*  XXXIX,  1. 
»  XVU,  25. 

*  Spiegeb  Uebert.  p.  149.  —  Vgl.  die  drei  Litaneien  fur  Leib  und 
Seele  der  Kuh  in  den  Fragmenten  dess.  Bandes  p.  254 


74 

der  uns  an  den  Vasisbtha  der  Hindns  nnd  seine  Wnnderknh  erin- 
nert; die  Macht;  Krankbek,  Nordwinde,  kuns;  Uebel  aller  Art 
wegznbesehwOren,  ^  nur  wenn  Agro-mai^yus  ohne  Hilfe  erscheint. 

Wir  haben  in  der  Legende  von  UtajOLka  gesehen,  wie  der 
Jüngling,  2l\b  er  auf  dem  Wege  ist,  um  die  Ohrringe  der  Königin 
KU  nehmen,  einen  Stier  triöt,  von  dessen  Exerementen  er  als  von 
Ambrosia  isst;  dafis  dieser  Ambrosia-Stier  neben  Indra  steht,  wie 
Indra  and  Soma  susammen  angerufen  werden;  und  wir  bemerk- 
ten, dass  ans  diesem  mythischen  Glauben  die  abergläubische  Sitte 
der  Hindus  hervorging,  sich  durch  die  Excremente  einer  Kuh  zu 
reinigen.  Diese  Gewohnheit  ging  nach  Persien  über,  und  das 
Khorda  Ayesta^  hat  die  Formd,  die  von  dem  Gläubigen  re- 
citirt  werden  muss,  während  er  in  seinen  Händen  den  Urin  eines 
Ochsen  oder  einer  Kuh  hält,  um  sein  Gesicht  damit  zu  waschen: 
—  „Gebrochen,  gebrochen  sei  der  Satan  Ahriman,  dessen  Han- 
deln und  Thun  verflucht  ist.  Sein  Handebi  und  sein  Thun  möge 
nicht  (zu  uns)  gelangen.  Die  dreiunddreissig  Amshaspands 
(die  unsterblichen  Heiligen,  welche  den  dreiunddreissig  vedischen 
Devas  entsprechen)  und  Ormazd  seien  siegreich  und  rein/'  Es 
heisst,  diese  heilbringende  Formel  wurde  zum  ersten  Male  von 
Yima  angewendet,  als  er  Ahriman  bertthrt  hatte,  um  durch  List 
den  Takhmo  Urupa,  den  der  Dämon  verschluckt,  aus  seinena 
Körper  zu  befreien,  und  in  Folge  dessen  einen  Ausschlag  auf  der 
Hand  bekam.  Schliesslich  ist  es  interessant,  dass  der  Mond  im 
Zend  anter  Anderm  auch  gaoöithra  heisst,  d.  h.  der,  welcher 
den  Stiersamen  besitzt,  danach  dem  Bundehesh  der  Same  de« 
Urstiers  in  den  Mond  überging,  welcher  ihn  reinigte  und  mit  ihm 
andere  Thiere  (pouru  Qaredho)  zeugte. 

Was  die  Aurora  betrifit,  so  scheint  es  unzweifelhaft,  dass  sie 
im  alten  Persien  durch  die  Ardvi  Qfira  Anähita,  die  erhabene,  die 
starke,  die  unschuldige  oder  reine  (nach  der  Interpretation  Spie- 
gels) dargestellt  wurde;  sie  fährt  auch  auf  einem  Wagen,  der 
von  vier  weissen,  von  ihr  selbst  gelenkten  Rossen  gezogen  wird ; 
sie  bat  einen  Schleier,  eine  Krone  und  Armbänder  von  Gold, 
schöne  Ohrringe  (die  vedischen  A9vins),  ein  Gewand  von  Biberfell 
und  vorstehende  Brüste;  sie  ist  schön  und  ein  gutes  junges  Mäd- 
ehen,  das  Männer  und  Weiber  beschützt.  Sie  wird  oft  im  Khorda 
Avesta,  gleich  der  vedischen  Aurora,  angerufen,  die  Dämonen 

*  Khorda  Avesta,  Spiegels  Uebers.  Eml.  X. 

*  Spiegels  Uebers.  p.  4. 


75 

zq  boBciiwörea  und  den  Helden,  welche  mit  ihnen  kämpfen,  bei- 
auBtehen;  sie  selbst  hat  die  Stärke  von  tausend  Männern  und  ist 
eine  wunderbare  Heldin ,  gldch  der  vedischen  Amazone,  mit  der 
ladra  kämpfte;  ihr  Leib  ist  mit  einem  Gürtel  amschlungen.  Die 
Wahrschetnlichkeit  dieser  Yergleiehang  wird  fast  zur  Gewissheit, 
wenn  man  einen  Hymnus  des  Khorda  Avesta,^  auch  nur  in 
der  Uebersetzung  Spiegels  liest,  der  doch  yielleicht  eine  kleine 
Aenderang  angebracht  hätte ,  hätte  er  in  der  Ardvi  Qftra  Anähita 
die  Morgenröthe  erkannt  In  diesem  Hymnus  fliegt  der  siegreiche 
und  mächtige  Thraetaona  in  der  Gestalt  eines  Vogels  drei  Tage 
und  drei  Nächte  lang,  was  uns  an  den  flilehtigen  Indra  des  Big- 
T«da  erinnert,  der  nach  seinem  Siege  durch  die  Ströme  watet; 
mn  Ende  der  dritten  Nacht  kommt  er  bei  der  Aurora  an  und  er- 
sucht die  Ardvi  Qüra  Anähita  (d.  i.,  wie  es  uns  scheint,  die  Mor- 
giMiröthe  selbst,  erhaben,  mächtig  und  unschuldig),  ihm  zu  Hilfe 
zu  keiamen,  damit  er  die  Wasser  durchschreiten  und  in  seiner 
Wohnung -den  Boden  betreten  könne.  Darauf  erscheint  Ardvi  Qflra 
Anähita  in  der  Gestalt  eines  schönen,  starken  und  glänzenden 
Mädchens,  mit  einem  goldnen  Diadem  und  goldnen  Schuhen 
(▼gl.  das  Yast  XXI,  19)  an  den  Füssen  (das  ist  vielleicht  ein 
«weiter,  schwächerer  Schatten  von  Ginderellas  Schuhen);  das 
0chöne  Mädchen  nimmt  ihn  bei  dem  einen  Arm  (der  Vogel  ist, 
wie  es  seheinty  ein  Held  geworden)  und  giebt  ihm  Gesundheit 
und  Stärke  zurttck ;  diese  Gewissheit  wächst  noch ,  wenn  ebenso 
wie  die  vedtsche  Aurora  die  erste  von  den  Ankommenden  ist  und 
mit   ihrem   Wagen   das  Wettrennen   gewinnt,   die   so  genannte 


'  ,^ie8er  opferte  der  frühere  Vifra-naväza,  als  ihn  aufrief  der  sieg- 
reiche, starke  Thraetaona,  in  der  Gestalt  eines  Vogels,  eines  Kahrkä^ 
Dieser  flog  dort  während  dreier  Nächte  hin  za  seiner  eigenen  Wohnung, 
nicht  abwärts,  nicht  abwärts  gelangte  er  genährt.  Er  ging  hervor  gegen 
die  Morgenröthe  der  dritten  Nacht,  der  starken,  beim  Zerfliessen  der 
Morgenrothe  und  betete  zur  Ardvi  Qüra,  der  fleckenlosen:  Ardvf  9^^ 
fleckenlose!  eile  mir  schnell  zu  Hülfe,  bringe  nun  mir  Beistand,  ich  will 
dir  tausend  Opfer  mit  Haoma  und  Fleisch  versehene,  gereinigte,  wohl  aus- 
gesuchte, bringen  hin  zu  dem  Wasser  Ragha,  wenn  ich  lebend  hinkomme 
au  der  von  Ahura  geschaffenen  Erde,  hin  zu  meiner  Wohnung.  Es  lief 
herbii  Ardvi  Qüra,  die  fleckenlose,  in  Grestalt  eines  sckönen  Mädchens, 
eines  sehr  kräftigen,  wohlgewachsenen,  aufgeschürzten,  reinen,  mit  glän- 
sendem  Qesiohte,  edlen,  unten  am  Fusse  mit  Schuhen  bekleidet,  mit  gold- 
aem  Diadem  auf  dem  Scheitel.  Diese  ergriff  ihn  am  Arme,  bald  war  das, 
nicht  lange  dauerte  es,  dass  er  hinstrebte  kräftig  zur  von  Ahura  geschaf* 
fenen  Erde,  gesund,  so  unverletst  als  wie  vorher,  zu  seiner  eignen  Woh- 
nung;*' Khorda  Avesta,  Spiegels  Uebers.  pp.  51.  52. 


76 

Ardhvi  Qüra  Anäbita  imKbordaAyesta  als  die; .^^welcbe  zu- 
erst den  Wagon  fllbrt'S  ^  erscheint;  es  wird  auch  eropfoblen^  ibr 
bei  Tagesanbruch,  vor  Sonnenaufgang ,  Opfer  zu  bringen.^  Wir 
haben  in  den  Veden  die  Aurora  und  die  Sonne  Räthsel  aufgeben 
und  lösen  sehn;  der  Sonnenheld  der  Hindus  befreit  sich  von  dem 
Ungeheuer  durch  Aufgeben  und  Lösen  unlösbarer  llüthsel ;  in  der- 
selben Weise  bittet  der  Held  YaQto  Fryanananm  im  A  vest  a 
(Kb.  Av.  p.  54)  die  Ardvi  Qfira  Anahita,  ihm  bei  der  Lösung  von 
neunundneunzig  Uäthseln  zu  helfen,  damit  er  sich  von  dem  Unge- 
heuer Akhtya  befreien  könne. 

Dazu  kommt,  dass  Ardvi  Qfira  Anähita  gleich  der  vedischen 
Aurora  eine  Spenderin  von  Kühen  und  Pferden  ist  und  dass  ihr 
diese  Thiere  von  den  Gläubigen  dargebracht  werden.  Die  Aurora 
selbst  wird  bei  der  Aufrufung  im  sechsten  Gebete  des  Khorda 
A  vest  a  ebenfalls  „erhaben^'  genannt  und  als  die  mit  schnellen 
glänzenden  Rossen  begabte  gepriesen.^  Der  Umstand;  dass  wir 
die  Anäbita  von  vier  weissen  Rossen  gezogen  finden;  gleich  dem 
Sonneu-Mithra,  lässt  vollends  keinen  Zweifel  an  dieser  Identität. 
Und  wenn  die  Aurora  im  A  vest  a  nicht  völlig  als  Kuh  darge- 
stellt ist;  so  schliessen  wir  aus  der  Verehrung  Mithras,  der  von 
dem  ersten  Strahl  des  Tageslichtes  bis  Mittag  verehrt  wurde,  dass 
sie  so  aufgefasst  wurde.  Mithra  erhält  oft  das  Epitheton  ;,Ue- 
sitzer  weiten  Weidelandes^' ;  die  Morgensonne  ist  also  ein  Hirten- 
gott; und  wenn  das,  so  sind  wir  gezwungen;  uns  die  persische 
Aurora  auch,  wenn  nicht  als  eine  Kuh,  so  doch  wenigstens  als 
eine  Kubhirtin  zu  denken. 

Aber  Mithra  ist  nicht  ein  Gott  rein  idyllischer  Thaten,  er  ist 
auch  ein  Held;  das  Vendidad^  preist  ihn  als  den  ;;Siegreich- 


'  Spiegels  Uebers.  p.  45. 

*  Spiegel  sagt  (Kh.  Av.  p.  55) :  „Vom  Aufgang  der  Sonne  bis  Tages- 
anbruch**, was  er  in  Anm.  *  erklärt:  „Vom  Sonnenaufgang  bis  Mitter- 
nacht** ;  das  ist  unseres  Erachtens  ebenso  wenig  stichhaltig  als  der  daraus 
gezogene  Scfaluss,  dass  das  Opfer  „den  ganzen  Tag  hindurch**  yerrichtet 
werden  sollte.  Zarathustra  würde  nicht  nöthig  gehabt  haben,  die  Gdttin 
nach  der  genauen  Opferzeit  zu  fragen,  wenn  sie  ihm  hätte  so  allgemein 
autworteu  wollen.  Wozu  am  Mittag,  bei  hellem  Sonnenschein  beten,  dass 
die  Dunkelheit  verscheucht  werden  möge?  —  Wenn  irgend  eine  Zwei- 
deutigkeit vorliegt,  so  kann  sie  meines  Erachtens  nur  in  der  ziemlich  häu- 
figen Verwechslung  dei:  jungfräulichen  Aurora  und  der  Fee  üond 
bestehen. 

'  VgL  Khorda  Avesta,  Spiegeb  Uebers.  pp.  7.  27. 

♦  XIX,  52. 


77     . 

sten  der  Siegreichen".  Die  Beute  seines  Sieges,  den  er  wesent- 
lich seinen  unmittelbaren  Vorgängern  Veretraghna  (Vritrahan) 
und  Qraosha  verdankt ,  ^  müssen  die  Ktibe  der  Aurora  gewesen 
sein,  ohne  welche  seine  ungeheuren  Weideländer  keinen  Nutzen 
für  ihn  gehabt  haben  würden.  Und  wirklich  heisst  es,  dass  Mithra 
Herdenbesitzer  in  den  Stand  setze,  ihre  verirrten  Rinder  wieder- 
zufinden. ^ 

Aber  Mithra  ist  nicht  der  einzige  hervorragende  Held  des 
A  vest  a.  Ausser  ihm  spielt  darin  der  obengenannte  Veretraghna, 
mit  all  «einen  Erscheinungsformen  zweiter  und  dritter  Klasse, 
eine  wichtige  Rolle.  Bald  ist  dieser  Veretraghna,  welcher  zahl- 
reiche Analogieen  zu  dem  Indra  der  Veden  bietet,  der  den  Vritra 
getödtet,  wie  Indra  ein  Held,  bald  ein  Pferd,  bald  ein  Vogel,  bald 
ein  Widder,  bald  ein  wilder  Eber,  und  bald  ein  Stier.  *  Wie  der 
Stier  Indra  im  Bigveda  dem  Trita,  Träitana  und  Kavya  U<^ana* 
beisteht,  so  hilft  im  A  vest  a  der  Stier  Veretraghna,  der  an  der 
Natur  eines  Thrita  ^  theilnimmt,  welcher  reich,  glänzend  und  stark 
ist  und  wie  Indra  Krankheiten  mit  Hilfe  des  Hüters  der  Metalle  heilt 
(die  gewöhnliche  Beziehung  zwischen  dem  Helden  und  der  Zau- 
berperle), dem  Thraetaona,  der  die  Schlange  Dahäka  (Azhi  Da- 
häka)  und  den  Helden  Kava  Uga  tödtet;  von  letzterem  ist  Kava 
Hao^rava  nicht  eine  andere  Erscheinungsform,  sondern  nur  ein 
anderer  Name.  Der  Thrita  und  Thraetaona  des  Zend  sind  be- 
sondere interessant,  weil  sie  uns,  wenn  auch  nur  unbestimmt,  an 
den  vedischen  Mythus  von  den  drei  Brüdern  erinnern.  Nur  nennt 
das  A  V  e  s  t  a  Thrita  und  Thraetaona  als  zwei  verechiedene  gött- 
liche Helden;  es  setzt  Thraetaona  an  die  zweite  Stelle  unter  den 
drei  Brüdern;  und  wie  im  Mahäbhärata  der  zweite  Bruder,  der 
starke  Bhfma,  in  das  Wasser  fallt,  während  der  dritte  Bruder, 
Ar^na,  Andere  durch  seine  Tapferkeit  von  dem  Seeungeheuer 


'  Vgl.  das  Kapitel  über  den  Hahn. 

*  Vgl  KJiorda  Avesta,  Spiegeb  Uebers.  Eint  XXV  und  das  ganze 
wichtige  Mihr  Yast  oder  Sammlang  von  Hymnen  zu  Ehren  Mithras, 
Khorda  At.  XXVL 

>  Vgl.  Kh  Av.  b.  Sp.  Einl.  XXXHI  und  das  [Bahrim  Yast  ibid. 
XXX,  7.  Dort  sagt  er  von  sich  selbst:  „An  Stärke  bm  ich  der  Stärkste 
Q.  s.  w.^  Weiter  unten  heisst  es,  dass  Stärke  dem  Stiere  (oder  der  Kuh) 
gehört. 

*  In  einem  Hjmnus  nennt  sich  sogar  Indra  selbst  U^uft  mit  Hinzu- 
fügung  der  Benennung  kavi;  Ahaih  kaYiru9an&;  Rigv«  IV,  26,  1. 

»  Vendidad  XXI,  i\. 


TO 

beireit,  so  ist  es  im  A  vest  a  Thraetaona;  der  ao«  den  Wassern 
behrorkommt,  oder  welcher  der  Sohn  Athvyas  (Aptjas)  ist  Aber 
Jeder  kana  den  Pankt  sehen  ^  wo  sich  die  beiden  Held^dbrttder 
berühren;  ja  identisch  sind.  Bhtma  ist  es,  der  ans  den  Wassera 
herauskommt,  und  Argfana,  der  ihm  heraushilft,  d.  k.  der  seine 
eigene  Stärke  entwickelt,  welche  in  Bbiaut  dargestdlt  ist;  so  ist 
das  Subject  und  seine  specielle  Lebensäusserung,  die  das  Object 
wurde,  in  eine  Person  verschmolzen.  Sie  werden  miteiaander  ver- 
wechselt, sofern  Thraetaona,  der  Sohn  des,  der  in  Wasser  wohnt, 
oder  der  den  Wassern  entsteigt  und  den  Dämon  tödtet,  idei^sch 
mit  Thrita,  dem  dritten,  sein  muss,  welcher  die  Kraft  besite^  dä- 
monische Krankheiten  zu  heilen.  Thraetaona,  der  Schlangen- 
tödter,  and  Thrita,  welcher  die  Uebelthäter  vernichtet,  finden  sich,, 
mit  etwas  anderem  Aeussem,  in  demselben  Heldenabenteuer  wie- 
der. Kaum  ein  Augenblick  vergeht  zwiaehen  der  Zeit,  als  der 
Held  ein  C^fer  war,  und  dem  Triumph  Veretraghnia,  Thraetao- 
nas  oder  Thritas,  des  Helden,  bei  seiner  eigenen  Befreimng. 

Im  Ya^na^  finden  wir  drei  Männer,  welche  durch  ihre 
Frömmigkeit  die  Gunst  des  Gottes  Haoma  (Soma,  Mondgott, 
Mond,  guter  Zauberer,  gute  Fee)  gewinnen.  Der  erste  ist  Vi- 
vaghäo,  der  zweite  Athvya  und  der  dritte  Thrita,  wodurch  wir 
auf  den  Schluss  geführt  werden,  dass  Vivaghäo  der  älteste,  Athvjft 
der  zweite  und  Thrita  der  jüngste  Bruder  ist.  Wegen  ikrer 
Frömmigkeit  bekommen  sie  Söhne;  der  Sohn  Vivaghäos  ist  Yima 
(der  vedische  Yama),  der  weise,  der  glückliche,  der  bimmlieche; 
der  Sohn  Athvyas  ist  Thraetaona,  der  Kämpfer,  der  das  Unge- 
heuer vernichtet;  der  dritte,  Thrita,  der  nützllcfaste  genannt,  hat 
zwei  Söhne,  Urväkshya  und  Kere^S^pa,  die  uns  an  die  A^vina 
erinnern.  '  Athvyas  Sohn  und  Thrita  werden  in  eine  Person^ 
Thraetaona  oder  Thrita,  zusammengeworfen;  diese  bildet  niii 
Urväkshya  und  Kercf^ä^pa,  wie  der  vedische  Indra  mit  den  bei- 
den A^vins,  ein  neues  Triumvirat  Die  Geschichten  von  den  drei 
und  den  zwei  Brüdern  scheinen  sogar  im  Mythus  schon  in  ein- 
ander verwebt  zu  sein,  wie  sie  es  sicher  später  im  Mährchen  sind. 
Den  drei  Brüdern  entsprechen  übrigens  im  A  vest  a  die  drei 
Schwestern,  die  itei  Töchter  Zarathostras  und  Hvövis:  Freni, 
Thriti  and  Pouruöi^ta.  >    D^e  erste  scheint  dem  Yama,  die  zweite 


>  Kap.  IX. 

>  Vgl.  Farvardin  Yaat  io  Khorda  Avesta  XXIX,  30  (189)  bei 
Spiegel 


79 

dem  Aptya  und  seinem  Sobne  Thraetaona  (oder  Tkrha),  dte 
dritte,  die  glänzende,  schöne  (als  Airröra)  den  beiden  schönen 
ReHerbrttdern,  Urväkshya  and  Kere^ft^pa  (den  Af^ins)  zu  ent- 
sprecoen. 

Der  Sonnenheld  befreit  sich  aus  seinen  Bedrängnissen  und 
triumpfatrt  ttber  seine  Feinde,  nicht  sowohl  durch  Waffengewalt, 
als  durch  seine  angeborene  Stärke  and  Kühnheit.  Diese  ausser- 
gewöhnliche  Kraft,  mit  der  er  sich  tummelt,  von  der  er  fortge- 
tragen  wird,  und  die  ihn  unwiderstehlich  macht,  ist  der  Wind, 
der  im  A  vest  a  von  dem  Helden  unter  dem  Namen  Raman  ange- 
rufen whrd.  Der  Wind  ist  nach  dem  A  vest  a  nicht  allein  der 
Schnellste  der  Schnellen,  sondern  auch  der  Stärkste  der  Starken 
(wie  die  Maruts,  Hanumant  oder  Bhtma,  Winde  oder  Söhne  des 
Windes  bei  den  Hindus).  Im  A  vest  a  kämpft  er,  sichert  den 
Helden  den  Sieg  und  ist  Weibern  und  Mädchen  lieb.  (Ebenso 
fühlt  Sita  eine  Neigung  für  Hanumant ,  und  Hidimbä  giebt  unter 
allen  Pändavas  dem  Bhima  den  Vorzug.)  Uebrigens  rufen  im 
A  vest  a  Mädchen  den  Wind  an,  um  einen  Mann  zu  bekommen. ' 

Ein  Hymnus  des  Eigveda  preist  jedoch  eine  Art  von  Streit 
zwischen  den  Marut- Winden  und  dem  Gotte  Indra,  der  aus  Eifer- 
sucht entstanden  ist  und  aus  dem  Indra  siegreich  hervorgeht.    In- 


*  Vgl  Khorda  Aresta  bei  Sp.  Einl  XXXIV  und  das  Räm  Yast 
ib.  XXXI,  40.  Die  57.  Strophe  scheint  ein  durchaus  vedischer  Hymnus  an 
die  Maruts  su  sein;  der  Wind  wird  als  der  Stärkste  der  Starken,  der 
Schnellste  der  Schnellen,  mit  Waften  und  goldnen  Zierrathen,  goldenem 
Rade  und  goldenem  Wagen  gepriesen;  seine  goldenen  Schuhe  und  Gürtel 
zeigen  ausserdem  seine  Sympathie  und  Verwandtschaft  mit  der  Ardvl^^ra 
Anihha,  die  in  der  Gestalt  Auroras  in  der  55.  Strophe  angezogen  wird. 
Die  Weiber  lieben  die  Starken,  die  Kühnen,  selbst  die  Gewaltsamen;  die 
Winde  sind  die  Starken,  Kühnen,  Heftigen;  Hanumant,  der  AflFe  oder  der 
B5r,  der  Sohn  des  Windes,  liebt  die  Weiber  und  wird  von  ihnen  geliebt. 
Za  dieser  mythologischen  Vorstellung  hat  wohl  auch  das  sehr  natürHcbe 
Wortspiel  mit:  rakshas  „das  weiberrstibende  Ungeheuer**  (weshalb  maa 
in  Indien  eine  Ehe  aus  Zwang  eine  Ehe  mtch  Art  der  Rakshas*  nannte) 
and  r  i  k  s  h  a  (ursus),  „der,  welcher  presst^S  beigetragen.  Der  Wind  ist  ein  sehr 
indiscreter  Geselle,  der  überall  hingeht,  Alles  besuchen,  Alles  sehen,  Alles 
boren,  die  Geheimnisse  junger  Mädchen  überraschen  kann;  das  ist  es 
auch,  warum  Panda t.  I,  5  der  verliebte  Weber  bedauert,  dass  in  das 
Frauengelnach ,  ausgenommen  der  Wind,  Niemand  eindringen  kann  (ka- 
nyfintiäipure  v&yuih  muktvä  mftnyasya  prave^o  *sti);  das  ist  es,  warum  in 
derselben  Erzählung  sein  Freund,  der  Zimmermann  (eigentlich  rathakara, 
Wagenbauer)  einen  Vogel  aus  dem  Hols  des  Baumes  väyu^  (eigentlich: 
Windsohn)  fabrizirt,  auf  welchem  der  Weber,  als  Vislmu  veiiileidet,  m 
das  Zimmer  seiner  geliebten  Prin^si^  eindringt. 


80 

teresBant  ist  es ,  in  der  persischen  Tradition  *  dieselbe  Eifersucht 
zwischen  dem  Winde  (väta)  nnd  dem  Sohne  ThritaS;  dem  Helden 
Kerega^pa,  zu  finden.  Ein  böser  Geist  belügt  den  Wind,  dass 
Eeregä^pa  sich  damit  brttstC;  ihm  an  Kraft  überlegen  zu  sein. 
Darauf  beginnt  der  Wind  in  so  furchtbarer  Weise  zu  heulen  und 
zu  rasen,  dass  Nichts  ihm  Widerstand  leisten  kann  und  die 
stärksten  Bäume  zerspalten  oder  entwurzelt  werden,  bis  Kere^pa 
kommt  und  ihn  dermassen  in  seine  Arme  presst,  dass  er  aufhö- 
ren muss.  Dieser  interessante  Mythus  ist  ein  Bild  des  lauten 
Pfeifens  der  Helden  und  Ungeheuer  in  Feenmährchen,  mit  welehen 
endlich  kurzer  Process  gemacht  wird,  ähnlich  wie  in  der  perw- 
schen  Erzählung;  das  führt  uns  auch  auf  die  Vermuthung,  dass 
Thractaona  die  Schlange  Dahäka  nur  dadurch  besiegte,  dass  e^ 
sie  an  den  dämonischen  Berg  Demävend  band. '  Diese  Art  den 
Feind  durch  Binden  zu  besiegen,  kommt  ziemlich  oft  in  den  per- 
sischen Erzählungen  und  im  A  vest  a  selbst'  vor,  und  wird  auch 
in  den  Traditionen  der  Hindus  erwähnt  Die  Pfeile,  welche  die 
Ungeheuer  auf  die  Helden  des  Ramäyana  schleudern,  fesseln 
dieselben;  der  Gott  Yama  und  der  Gott  Varuna  binden  ihre 
Opfer;  der  erste  schnürt  die  Fesseln  fest  zusammen  (d.  h.  die 
Abendsonne  verkürzt  ihre  Strahlen);  der  zweite  bindet  und  um- 
hüllt mit  Dunkel,  was  Yama  eingeschnürt.  Der  Sonnenstn^l, 
der  sich  verkürzt,  der  Schatten,  der  heraufzieht,  sind  Bilder  des 
Heldenumstrickers ;  während  der  sich  verlängernde  Sonnenstrahl, 
der  Donnerkeil,  welcher  alle  Himmel  durchmisst,  den  Helden  dar- 
stellt, welcher  das  Ungeheuer  umfasst,  fest  zusammenpresst  und 
erwürgt 

Der  Bogen  Mithras  ist  aus  tausend  Bogen  gemacht,  ans  den 
zähen  Sehnen  einer  Kuh  wohlgefertigt;  diese  Bogen  schlendern 
im  A  vest  a  auch  tausend  Pfeile,  die  mit  Geierfedcm  befiedert 
sind.  ^  Das  fuhrt  uns  wieder  auf  den  vedischen  Mythus  von  den 
Vögeln,  die  aus  der  Kuh  kommen,  zurück. 


>  Vgl.  Khorda  Avesta  p.  LXIX. 

*  Vgl.  ib.  p.  LXI. 

*  Denn  Verethraghna,  der  ron  Ahura  geschafiene,  hält  die  Hände  sa- 
rück  der  furchtbaren  Kampfesreiben ,  der  verbündeten  Länder  und  der 
mithratrügenden  Menschen;  er  umhüllt  ihr  Gesicht,  verhüllt  ihre  Ohren, 
nicht  lässt  er  ihre  Füsse  ausschreiten,  nicht  sind  sie  mächtig;  Khorda 
Avesta  XXX,  63  bei  Sp. 

*  Vgl  das  Mihr  Yast,  Kh.  Av.  XXVI,  12a  129. 


8i 

DUr  ^r  Bogen  als  ehie  Kuh  betrachtet  wird^  so  wetzt  diese 
Kuh  ihre  Hörner;  daher  preist  das  Khorda  Avesta  die  gehörnten 
PMte  des  Bogens  Mithras^  d.  h.  die  Homer  der  Kah^  welche 
Waffm^  geworden  sind  oder  die  Donnerkeile. 

Die  Enählang  von  den  beiden  Brüdern  hängt  mehr  mit  dem 
Mythus  von  dem  Pferde  als  mit  dem  von  der  Kah  oder  dem 
Oebsen  aosAmmen.  Aber  sofern  sie  nns  die  beiden  BrUder  als 
den  efaieii  arm  nnd  den  andern  reich  darstellt,  wird  der  Reich- 
Ibiim  doreh  den  Ochsen  symbolisirt.  Wenn  ich  mich  nicht  irre, 
so  finden  sich  jedoch  im  A  y  e  s  t  a  hintereinander  zwei  Helden  ge- 
priesen (die  ich  deshalb  für  Brüder  halte),  welche  ihren  Ursprang 
ai»  dieser  Erzäkhing  herleiten;  der  eine  beisst  Qrlraokhsan  (oder 
der  einen  schönen  Ochsen  hat),  der  andere  Eere^^aokhsan  (der 
dne»  magern  Ochsen  hat).  Da  das  A  vest  a  anf  diesen  Gegen- 
tCaiid  oieht  genaner  eingeht,  so  wage  ich  nicht,  darauf  zu  be- 
stehen ;  kann  jedoch  nicht  umhin  zu  bemerken,  dass  Kere^aokhsan 
von  den  zwei  Brüdern  der  tapferere  war,  wie  auch  von  den  bei- 
den Brüdern  Urväksha  (ein  Wort,  das  wohl  den  Besitzer  des 
fittcn  Pferdes  bezeichnet,  and  mit  JJrvägpa  synonym  ist^)  und 
Kare^lfpa  (der  mit  dem  dürren  Pferde)  der  zweite  der  ruhm- 
reiche Held  ist;  wie  wir  auch  in  den  russischen  Volksmährchen 
des  dritten  Bruder,  obgleich  er  für  einen  Schwachkopf  gehalten, 
▼on  deft  Andern  verachtet  wird,  und  den  schlechtesten  Gaul  im 
Stfldle  rettet,  nachher  als  den  glücklichsten  Helden  finden  werden. 
Kere^fijQpa  rächt  seinen  Bruder  Urväksha  an  Hitäfpa,  als  dessen 
Beileotang  ^iegeP  „das  gebundene  Pferd'^  angiebt,  das  aber 
ebenso  gut  mit  „der,  welcher  das  gebundene  Pferd  hält''  wieder- 
gegeben werden  kann ;  das  würde  uns  wieder  auf  die  Erzählung 
▼on  dem  Zaum  und  dem  Held-Pferde  zurückfuhren,  welches  der 
Dämon  an  sich  selbst  gebunden  festhält,  wie  wir  schon  oben  bei 
der  EnäUnng  von  dem  Opfer  des  von  der  Aurora  befreiten  Qu- 
naäfepa  bemerkt  haben. 

Es  ist  ungewiss,  ob  wir  die  Aurora  oder  den  Mond  in  der 
sogenannten  Ashi  Vaguhi  des  Avesta  wiedererkennen  dürfen,  der 
Erhabenen  (gleich  Ardv!  Qära  Anähita),  welche  auf  dem  hohen 
Berge  erscheint,  reich,  schön,  glänzend,  goldäugig,  wohlthätig,  der 
Spenderin  von  Vieh,  Nachkommenschaft  und  Wohlstand,  welche 


'  Vgl  dkg  Mihr  Ysft,  Eh.  At.  XXVI,  128.  129. 

*  Urrftktha  heiMt  sndi  der  Versammelnde;  Rb.  Av.  XI,  8  bei  Sp. 

•  Kh.  Av.  p.  155. 

OvWmatii»  die  Thl«re.  ß 


82 

die  Dämonen  vernichtet,  Wagen  lenkt,  und  im  Asbi  Tast^  von 
dem  Sohne  des  Feuchten,  Thraetaona,  angerufen  wird,  damit  sie 
ihm  das  dreiköpfige  Schlangennngeheuer  Dahäka  besiegen  helfe. 
Da  nun  Thraetaona,  der  an  Sieg  und  an  Ochsen'  Reiche,  ein$ 
wohlbekannte  Erscheinungsform  des  Sonnenhelden  Hithra  ist,  so 
ist  es  interessant  zu  sehen ,  wie  die  Heldin ,  die  sogenannte  Asbi 
Vaguhi  (die  Aurora  oder  der  Mond,  wie  die  drei  Worte  Ardvi 
Qüra  Anähita  einfache  Namen  der  Aurora  sind),  die  denselben 
obersten  Gott  zum  Vater  hat,  drei  Brüder  besitzt,  von  denen  der 
erste  Qraosha,  der  fromme,  der  zweite  Rasbnu,  der  starke,  der 
dritte  Mithra,  der  siegreiche  ist. 

Sie  wird  übrigens  selbst  als  von  Feinden  zu  Pferde  verfolgt 
dargestellt;  und  bald  ist  es  ein  Stier,  bald  ein  Schaf,  bald  ein 
Bind,  zuweilen  eine  Juogfrau,  weiche  sie  vor  ihren  Verfolgern  ver- 
birgt Ungewiss,  wohin  sie  sich  wenden,  ob  sie  zum  Himmel  auf- 
steigen, oder  in  die  Erde  kriechen  soll,  wendet  sie  sich  an  Ahura 
Mazda,  der  antworte!,  dass  sie  keins  von  beiden  thun,  sondern 
sich  in  die  Mitte  der  Wohnung  eines  schönen  Königs  begeben 
solle. '  Wie  kann  man  in  ihr  den  Mond  oder  die  Aurora  verken- 
nen, die  dem  Pfade  der  Sonne,  ihres  Gatten  folgt,  die  auf  dem 
Gipfel  der  hohen  Berge  erscheint? 

Andere  Umstände  von  gleichem  mythologischen  Interesse 
dürften  sich  wohl  im  A  vest  a  finden  lassen,  das  in  Anbetracht 
der  Ungewissheit  der  Uebersetzung  der  Origio  altexte  bisher  mei- 
nes Erachtens  von  den  Mythologisten  zu  sehr  vernachlässigt  wor- 
den ist.  Obwohl  Anquetil,  Bumouf,  Benfey,  Spiegel^  Haug,  Kos- 
sowicz  und  Alle,  die  ihre  Talente  und  Kenntni(ise  auf  die  Inter- 
pretation der  Zendtexte  verwandt  haben,  in  den  dunkleren  Stellen 
auseinandergehen,  bleiben  doch  noch  viele,  deren  Interpretation 
zuverlässig  ist  und  in  denen  die  gelehrten  Uebersetzer  überein- 
stimmen, welche  interessante  mythologii:che  Daten  bieten  und  uns 
in  jedem  Falle  aus  dem  A  vest  a  einen  Embryo  von  Mythologie 


»  Kh.  Av.  XXXIII  bei  Sp. 

*  Mögest  da  reich  an  Rindern  sein  wie  (der  Sohn)  des  Athvyänischen 
(Clanes);  Kh.  Av.  XL,  4  bei  Sp. 

*  Soll  ich  sum  Himmel  au&teigen,  soll  ich  in  die  Erde  lu-icchen?  Ünr- 
auf  entgegnete  Ahura  Mazda:  Schöne  Ashi,  vom  Schöpfer  geschaffene ! 
Steige  nicht  zum  Uimmel  auf,  krieche  nicht  in  die  Erde;  gehe  du  hieher 
in  die  Mitte  der  Wohnung  eines  schonen  Königs ;  Kh.  Av.  XXXIII,  59.  60,- 
bei  Sp.  —  Vgl.  XXXIV,  3  sq.,  wo  der  schöne  Gemahl  der  schönen  Ashi 
und  sein  reiches  Laud  gepriesen  werden. 


[ 


8a 

extrahiren  lassen^  ganz  so  wie  ein  Embryo  von  Orammatik  schon 
daraas  extrahirt  worden  ist  Die  kurzen  Bemerkungen  ^  welche 
ich  eben  Aber  den  Mythus  von  der  Kuh  und  dem  Stier  im  Avesta 
gemacht  habe,  scheinen  mir  vollständig  zu  gentlgen,  um  den  dar- 
aus gezogenen  Schluss  zu  rechtfertigen ,  dass  die  Kuh  und  der 
Stier  dieselben  Gestalten  annahmen ,  dieselben  Mythen  und  Glau- 
benssätze erzeugten  in  Persien  wie  in  Indien,  wiewohl  in  einer 
schwächeren  und  unbestimmteren  Gestalt. 

Der  Soünenheld  Persiens  tritt  im  Kostüm  der  historischen 
Erzählung  wieder  im  Cyrus  (KvQog)  des  Herodot  und  Ktesias  auf; 
der  erstere  schildert  uns  das  Kind,  das  von  seinen  Eltern  ausge- 
setzt, gerettet  und  (wie  der  Karna  der  Hindus,  das  Kind  der 
Sonne,  und  Krishna)  unter  den  Hirten  auferzogen  wird,  wo  es 
einige  2ieit  ausserordentliche  Proben  seiner  Tapferkeit  ablegt;  der 
letztere  zeigt  uns  den  jungen  Helden,  der  seine  Braut  Amytis,  die 
Tochter  des  Astyages,  erringt 

Endlich  erscheint  derselbe  Held  in  mehren  glänzenden  und 
herrlichen  Gestalten  im  Shahname. 

Wie  im  Kigveda  Trita  oder  Träitana,  im  Avesta  Thrae- 
taona  (welchem  Tbrita  entspricht)  die  grosse  That  vollbringen, 
das  Ungeheuer,  und  specieller  die  Schlange  zu  ti^dten,  so  ist  Fe- 
ridun,  das  persische  Synonym  fttr  Thraetona  (nach  dem  laut- 
lichen Debergange  desselben  in  Phreduna),  in  der  späteren  persi- 
schen Sage  der  Held,  welcher  bei  dem  Kampfe  gegen  das  Unge- 
heuer am  meisten  hervortritt.  Ich  werde  mich  bei  den  Thaten 
Feriduns  und  seiner  mythischen  Bedeutung  nach  der  gelehrten 
Abhandlung  R.  Roths  darüber  (Zeitschr.  der  Deutschen  Morgen- 
ländischen Ges.  Bd.  II  p.  216  ff.)  und  der  hochverdienten  Abhand- 
lung M.  Br^als  über  den  Mythus  von  Hercules  und  Cacus  nicht 
aufhalten,  sondern  mich  damit  begnügen,  aus  der  Erzählung  von 
Feridun  die  Episode  seines  Alters  anzuführen,  welche  uns  an  den 
vedischen  Mythus  von  den  drei  Brüdern  erinnert. 

Der  grosse  König  Feridun  hat^drei  Söhne,  Seim,  Tür  und 
Ire^  (Seim,  Tür  und  Er  sind  auch  die  Söhne  Thraetaonas);  er 
theüt  die  Welt  in  drei  Theile  und  giebt  den  Westen  dem  erst- 
geborenen, den  Norden  dem  zweiten,  während  er  Iran  für  den 
jüngsten  zurückbehält  Die  beiden  ältesten  sind  eifersüchtig  und 
eröffiien  dem  Vater  ihre  Absicht,  ihm  den  Krieg  zu  erklären, 
wenn  er  nicht  den  jüngeren  Bruder  Ire^  aus  dem  Palaste  ver- 
Btösst  Feridun  erwiedert  ihre  gottlosen  Drohungen  mit  stolzen 
Vorwürfen  und  warnt  unterdessen  den  jungen  Ireg  vor  der  Gefahr, 

6» 


in  der  er  sich  befindet.  Der  Jüngling  seblägt  vor,  er  wolle  selbet 
zn  seinen  Brttdem  gehen,  um  sie  zum  Frieden  zu  stimmen;  8«iD 
Vater  wiU  ihn  nicht  gehen  lassen  ^  willigt  aber  doch  endlkb  eia 
nnd  giebt  ihm  einen  Brief  an  die  beiden  Brüder  mit,  worin  er 
ihn  als  seinen  liebsten  Sohn  ihrer  Obhut  empfiehlt,  ire^  iaagt 
bei  der  Wohnung  seiner  Brüder  an;  ihre  Soldaten  sehen  ihn  nod 
können  ihre  Augen  nicht  von  ihm  abwenden,  als  ob  sie  i«  ibia 
schon  ihren  Herren  erkennten.  Da  räth  Seim,  d«r  dltesle,  Tfir, 
dem  zweiten,  dem  starken,  Ire^  zu  tödten.  Tür  stttrst  «ich  auf 
den  wehrlosen  Ire^  und  durchbohrt  seine  Brust  mit  einem  Dolobe; 
Ireg  wird  später  von  dem  Sohne  seiner  Tochter  (welehe  naob 
seinem  Tode  von  einem  Mädchen,  das  er  schwanger  zurückge- 
lassen hatte,  geboren  ist),  dem  Helden  Minucehr,  welober  Seim 
und  Tür  tödtet,  gerächt 

Der  Held,  welcher  auf  Minuöehr  fofgt,  ist  Sal,  der  Sohn 
Sams,  der  mit  weissen  Haaren  geboren  und  deshalb  von  seinem 
Vater  auf  dem  Berge  Albnrs  ausgesetzt  worden  ist,  wo  ihn  j^och 
der  Vogel  Simurg  ernährt  und  rettet.  Sal  beweist  seine  Welk- 
heit vor  Minudehr  dadurch,  dass  er  sechs  astronomische  Rätbsd 
löst,  welche  ihm  König  Minucehr  aufgiebt  Der  König:  Jässt  ihn 
in  Festgewänder  kleiden;  um  auch  seine  Stärke  zu  erproben,  for- 
dert er  ihn  auf,  mit  den  Reitern  ein  Turnier  zu  rennen;  SäT  tÄt 
siegreich,  und  erhält  ein  anderes  Ehrengewand  und  nnz&Wig* 
königliche  Geschenke ,  worauf  er  Rudabe,  die  Tochter  des  Kött^ 
Mihrab  heirafhet. 

Sal  zeichnet  sich,  wie  Minudehr,  bei  seinen  Kriegen  gegen 
die  widei-spenstigen  Turanier,  die  Drachen  und  die  Ungeheuer 
aus,  bei  denen  er  als  seinen  Haupthelfer  den  mächtigen  Helden 
Rustem  bei  sich  hat,  dessen  Waffe  eine  mit  einem  Stierkopf* 
versehene  oder  eine  gehörnte  Keule  ist  (der  Held  ist  der  Stier, 
die  Donnerkeile  sind  seine  Hörner),  und  dessen  Ross  so  stark  ist, 
dass  es  ganz  allein  mit  einem  Löwen  kämpft  und  ihn  besiegt, 
während  Rustem  schläft.  Der  Held  selbst  tödtet  einen  Drachen 
und  eine  in  ein  schönes  Weib  verwandelte  Zauberin,  die  jedocft 
ihre  Ungestalt  wieder  annimmt,  sobald  der  Held  den  Namen  de* 
Ewigen  ausspricht.  Er  donnert  gleich  einer  Wolke,  ist  finster 
und  schildert  sich  selbst  als  „die  Donnerwolke,  die  Blitzeskeole 


'  Die  Stierkopfkeule  in  der  Rechten  schwingend;  Schack,  HeldetT' 
agen  yon  Flrdasi  IX,  2«. ->  VgL  y,  a 


65 

Mfeleodeit''.  1     Er  biodet  den  Halden  Aolad  und  jQ^higt  ihn,  m 
wbi^ckm,  wo  die  Dämonen  den  JK^nig  Kawus  gefangen  balteiv 
weleber  in    ihrem   Beicbe   der  Finsterniss   blind  geworden  ist 
Kawns  berichtet  dann   Rnstem,    dass   zur  Wiedereilangong  d^r 
Sehkraft  «eine  Augen  mit  drei  Tropfen  Bluts  von  dem  erschlage- 
nen jßämon  .Sefid  gesalbt  werden  müssen,   worauf  Bostem  ans- 
sieht,  nm  den  Dämon  zn  tödten.     Die  Dämonen  können  nur  bei 
Ti^  besiegt  werdra;  wenn  es   hell  ist;  schlafen  sie  und  dann 
können  si^  unschädlich  gemacht  werden ;  sagt  Anlad  zu  Bustem ; 
dtfsliaib  begwat  Rnstem  sein  Unternehmen  nicht  eher,  als  bis  die 
fik^nne  nm  Mittagshimmel  steht;  ^  dann  donnert  und  blitzt  er  anf 
dj#  Dämonen  los.    Gleich  einer  Sonne  zieht  er  gegen  den  Berg 
(•h^eZweifel,  gegen  Sonnenuntergang),  wo  der  Dämon  Sefidsitzt  und 
^koflimt  an  einen  höllengleichen  Schlund^'^  aus  welchem  dar  eben 
worn  Sehlaf  erwachte  £efid  in  Gestalt  eines  schwarzen  Biesen 
btrvorspringt.      Der   Biese,    einem    Ungeheuern    Berge   gleich, 
ffißhmngji  einen  Felsblock,  wie  ein  Mühlstein  gross,  Und  stürzt, 
«D  wie  der  Banch,  ai^.  Bustem  los^    Bustem  schlägt  das  Unge- 
heuer auf  di^  FUsse  nad  haut  einen  davon  ab ;  der  lahme  Biese 
setet  den  Kampf  fort,  bis  Bustem  endlich  mit  ihm  ringt,  ihn  in 
di#  Li^  hebt,  dann  ihn  mehre  Male  zu  Boden  schleudert  und  ihn 
so  tMtet    Er  wirft  den  Leichnam  Sefids  in  die  Berghöhle^  wäh- 
BMid  «ein  Blut  cUe  Erde  tränkt  und  dem  Fürsten  Eawus  seine 
Sciifcrftft  und  seinen  Glanz  wiedergiebt     Der  Mythus  ist  schön 
und  ansdrui^voU.     Wie  aus  der  schwarzen,  giftigen  Schlange 
weisse,  gesunde  Mileh  kommt,  so  giebt  das  von  dem  schwarzen 
Ungeheuer  vergossene  Blut  dem  erblindeten  Prinzen  die  Sehkraft 
wieder:  die  reihe  Aurora  ist  hier  als  das  Blut  des  vom  Sonnen- 
halden vernichteten  nächtlichen  Ungeheuers  dargestellt. 

Wir  richten  an  den  freundliche»  Leser  die  Bitte,  die  per- 
flisohe  Vergkiehnng  des  vom  Dämon  geschleuderten  Felsen  mit 
daem  Mühlsteine  zu  beachten,  da  sie  für  die  Erklärung  eines 
Abem^ubens  von  Bedeutung  ist,  welcher  noch  jetzt  im  Occident 
besieht,  näjalich  dass  der  Teufel  unter  den  Mühlstein  geht,  um 
sttine  bösen  Absichten  auszuführen.  Der  Stein  oder  Berg,  der 
v«ft  den  Wassern  gebrochen  wurde,  wurde  natürlicher  Weise  mit 


>  Schack  ib.  IV,  5,  5. 

*  „Die  Diwe  (Dämonen)  pflegen  um  Mittagszeit  zur  Ruhe  sieb  lu 
lm(Bf^n;  4im  i«t  die  Stande  sie  na  besiegen.^'  —  Nicht  eher  schreitet  Bustem 
sa  der  That,  bis  sich  die  Sonne  hoch  eriioben  hat;  Schftok  ib.  17,  5,  7. 


,86 

einem  von  dem  Wasser  getriebenen  Mühlsteine  verglichen;  die 
Dämonen  bewohnen  dies  schlachtenreiche  Gebirge^  um  die  Wasser 
zu  bewachen ;  so  ziehen  der  Teufel;  der  Böse^  die  Kobolde  Mtthlen 
als  ihre  Wohnungen  vor. 

Rustem  ficht  im  Schahname  viele 'siegreiche  Schlachten 
gegen  den  Turanier  Afrasiab  und  andere  dämonische  Wesen,  im 
Dienste  verschiedener  Heldenkönige,  noch  dazu  mit  epischen  Be- 
gebnissen, die  fast  alle  gleichartig  sind.  Jedoch  sein  Kampf  gegen 
seinen  Sohn  Sohrab  hat  einen  völlig  anderen  Charakter. 

Rustem  geht  auf  die  Jagd.  Im  Walde  berauben  ihn  tür- 
kische Banditen  seines  unschätzbaren  Rosses,  während  er  schläft ; 
er  bricht  dann,  einsam  und  traurig,  nach  der  Stadt  Semengam 
auf,  indem  er  der  Spur  seines  Pferdes  folgt  Als  er  aus  dem 
Walde  auftaucht,  bemerken  der  König  von  Semengam  und  seine 
Höflinge  die  Erscheinung  als  ob  es  die  Sonne  wäre,  die  durch 
Morgenwolken  bricht.  ^  Der  König  empfängt  Rustem  sehr  gast- 
freundlich, und  wie  um  das  Mass  seiner  Freundschaft  voll  zu 
machen,  schickt  er  bei  Nacht  seine  ausserordentlich  schöne  Toch- 
ter Tehmime  in  Rustems  Schlafeimmer.  Der  Held  und  die  Schöne 
trennen  sich  am  Morgen;  Rustem  lässt,  bevor  er  scheidet,  eine 
Perle  der  Wiedererkennung  zurück.  Wenn  ihrer  Liebe  eine  Toch- 
ter geboren  wird,  so  soll  sie  dieselbe  als  Amulet  im  Haar,  wenn 
ein  Sohn,  so  soll  er  sie  an  seinem  Arme  tragen  und  er  wird  ein 
unbesiegbarer  Held  werden.  Nach  neun  Monaten  schenkt  Teh- 
mime dem  Sohrab  das  Leben ;  im  Alter  von  einem  Monat  scheint 
er  ein  Jahr  alt,  mit  drei  Jahren  spielt  er  mit  Waflen,  mit  fünfen 
beweist  er  einen  Löwenmuth  und  mit  zehn  besiegt  er  alle  seine 
Genossen  und  fi-agt  seine  Mutter  nach  seinem  Vater,  mit  der 
Drohung,  sie  zu  tödten,  wenn  sie  es  ihm  nicht  sage.  Kaum  er- 
fährt Sohrab,  dass  er  Rustems  Sohn  ist,  als  ihn  das  Verlangen 
ergreift,  König  von  Iran  zu  werden  und  Kawus  vom  Throne  zu 
stossen;  er  beginnt  seine  Verfolgung  der  iranischen  Helden  mit 
der  Erstürmung  des  weissen  Schlosses  (des  weissen  Morgenhim- 
mels, der  alba),  das  von  einer  schönen  kriegerischen  Prinzessin, 
Gurdaferid,  die  den  iranischen  Kriegern  lieb  ist,  vertheidigt  wird, 
Sohrab  erobert  und  zerstört  das  weisse  Schloss,  aber  im  Augen- 
blicke des  Triumphes  verschwindet  die  kriegerische  Jungfrau.  Der 
alte  Held  Rustem  zieht  nun  gegen  seinen  eigenen  Sohn  Sohrab ; 


■  Ist's   Rastern?    ist   es   nicht  Die  [Sonne,   die  durch   Morgenwolken 
bricht?  Schack,  Heldens.  v.  Pird.  VI,  2. 


der  letztere  wirft  ibn  nieder,  aber  Rustem  seinerseits  verwandet 
ihn  tödtlieh.  In  dem  auf  dem  Berge  niedergeschlagenen  alten 
Rastern  ist  anschwer  die  untergehende  Sonne  zu  erkennen;  in 
dem  von  Rastern  verwundeten  Sobrab  ebenfalls  die  Sonne,  welche 
stirbt;  und  wirklich  bietet  die  sterbende  Sonne  eine  andere  Er- 
sefaeinnng  als  die  neue  Sonne ;  welche  am  Himmel  aufigeht  und 
triumphirt:  diese  beiden  Erscheinungen  konnten  den  Gedanken 
eines  Kampfes  zwischen  der  alten  und  der  jungen  Sonne ,  bei 
welchem  beide  geopfert  werden ,  entstehen  lassen.  In  der  That, 
Rustem  ftlhlt,  als  er  Sohrab  tödtlich  verwundet,  dass  er  sich  selbst 
verwundet ;  er  verflucht  seine  That  und  schickt  sofort  nach  einem 
heilenden  Balsam;  doch  mittlerweile  stirbt  Sohrab.  Der  Einzige, 
welcher  die  junge  Sonne  vernichten  konnte ,  war  die  alte  Sonne ; 
die  Sonne  wird  alt  und  stirbt;  Rustem  allein  konnte  Sohrab 
tödten.  Mit  dem  Tode  Sohrabs  wird  auch  der  Ruhm  Rustems 
verdunkelt;  er  zieht  sich  in  die  Einsamkeit  zurück  und  die  be- 
deutendste Periode  seines  epischen  Lebens  erreicht  ihr  Ende. 
Damach  Erscheint  er  nur  in  episodi^chcu  Kämpfen  oder  Unter- 
nehmungen wieder;  wie  z.  B.  als  er  an  Turan  Feuer  anlegt, 
worin  er  Hanumant,  dem  Verbrenner  Laükäs  gleicht;  femer  bei 
der  Befreiung  des  jungen  Helden  Bishen,  der  von  den  Turaniem 
gefangen  genommen  und  eingekerkert  worden  war;  bei  der 
Tödtung  des  mächtigen  und  widerspenstigen  Turaniers  Afrasiab; 
und  bei  seinem  eigenen  Tode  durch  einen  Hinterhalt,  der  von 
jungen  Nebenbahlem  des  alten  Löwen  gelegt  ist,  der  noch  im 
Tode  an  seinen  Feinden  Rache  nimmt. 

Gerade  im  Palaste  des  Kawus  (des  Schützlings  Rustems) 
spielt  sich  ein  grossartiges  Drama  ab.  Sijavush,  dem  Sohne 
König  Kawus',  wird  von  der  Königin  Mutter  Sudabe,  die  in  Liebe 
zu  ihm  entbrennt,  nachgestellt.  Der  Jüngling  verachtet  diese 
liebe,  worauf  sie  ihn  bei  König  Kawus  als  ihren  Verführer  an- 
klagt Als  der  Vater  die  Vertheidigung  seines  Sohnes  zum  Be- 
weise seiner  Unschuld  hört,  kann  er  der  Königin  keinen  Glauben 
schenken;  und  sie  sinnt  auf  ein  anderes  Mittel,  den  jungen  Sya- 
Vusfa  zu  vernichten.  Sie  complottirt  mit  einer  Sklavin;  einer 
Zauberin ;  und  beredet  sie,  zwei  kleine  giftige  Ungeheuer  zu 
schaffen,  die  sie  offen  als  die  Kinder  Sijavushs  proklamirt.  Sija- 
vnsh  unterwirft  sich  zum  Beweise  seiner  Unschuld  willig  der 
Feuerprobe ;  er  stürzt  sich  auf  seinem  Rappen ,  nachdem  er  noch 
seinen  zitternden  Vater  umarmt,  in  die  Flammen ,  Ross  und  Rei- 
ter kommen  unversehrt  aus  dem  ungeheuren  Brande  unter  dem 


88 

Beifall  aller  Zuschauer  heraus.  Der  E@iiig  giebt  mm  Befidd,  ^ 
annatürliche  Königin  z«  erwttrgen;  aber  «ein  Sehn  Sijacrwh  «ahott- 
tet  za  ihren  Gunsten  ein ,  und  Sndabe  darf  leben  bleiben^  fiibrt 
jedoch  fort,  den  jungen  Prinzen  zu  verfolgen ,  bis  l>ei  dem  Tode 
SijaTUsbs  Bustem,  der  ihn  als  seinen  eigen^i  Sohn  4Kler  als  sein 
anderes  Selbst  beweint,  ihn  zuerst  durch  Tödtung  Sndab^  rfieht, 
derentwegen  Sigayush  genötfaigt  gewesen  war,  sich  niM^h  Vmuk 
zu  begeben,  und  dann  dadurch,  dass  er  Tonn  iiekriegt,  wo  äüa- 
yusb '  nach  einem  sehr  bewegten  Leben  in  «die  Oewalt  seiMi 
Schwiegaraters  Afrasiab  gefallen  und  get5dtet  werden  war. 

Das  Weib  Sijavushs,  mit  Kamen  Ferengis,  wird  wiähMNid 
ihrer  Schwangerschaft  von  Piran  gastfeeiindlich  aufgenommen  usd 
giebt  dem  Helden  Kai  Khosru  das  Leben ;  kaum  ist  er  geboren,  als 
er  den  Hiiten  des  Berges  anvertraut  wird.  Sobald  eririeben  Jahr  alt 
ist,  ist  seine  Lieblingsbeschäftigung,  den  Bogen  zu  spannen;  mit 
zehn  Jahren  kämpft  er  gegen  wilde  Eber,  Bäreii;  Löwen  und  Ti- 
ger einzig  mk  seinem  Schäferstabe.  Als  Afrasiab  den  Jansen 
Hirten  sieht,  fragt  er  ihn  nach  seinen  Scbafen  und  den  fried- 
lichen Beschäftigungen  der  Hirten;  der  Knabe  erzälilt  thn»  aor 
Erwiederung  Geschichten  von  gcharfrahnigen  U^wien  und  aadem 
wilden  Thieren,  vor  denen  er  sich  nicht  ftlrchtet  Sobald  er  dm 
Mannesalter  erreicht  hat,  flieht  er  aus  Turan,  von  den  TuraoiBm 
verfolgt;  er  gelangt  an  das  Ufer  eines  Flusses,  wo  der  Fährmaim 
unerfüllbare  Bedingungen  fUr  die  Ueberfahrt  stellt;  worauf  «r,  wie 
Feridun,  unversehrt  auf  seinem  Ross  die  Fluth  durchschneideit 
(es  ist  die  Sonne,  welche,  ohne  sich  zu  benetzen,  den  trtthen  imd 
düsteren  Ocean  durcheilt);^  endlich  in  Iran  angelangt,  wirf!  er 
als  der  ktinftige  König  festlich  begrOssi  Seine  Regierang  be- 
ginnt; er  weist  verschiedenen  Helden  verschiedene  Arbeiten  an; 
unter  denselben  befindet  sich  auch  sein  Bruder  Firud,  der  Y(Wl 
einer  andern  Mutter  stammt  und  von  dem  ein  dnziges  Kopfhaar 
mehr  Kraft  besitzen  soll  als  viele  Krieger  (ein  Strahl  der  Sonne 
g^ttgt,  die  Dunkelheit  zu  durchbrechen).  Eines  Abends  jed^ 
bei  Sonnenuntergang  wird  Firud  in  seinem  Schlosse  auf  dem  Beige 
von  'einer  Schaar  von  Feinden  umringt  und  getödtet,  nacUem 
er  sein  Pferd  verloren  und  seine  Mutter  Cerire  geträimit  liat,  dass 
ein  Feuer  Berg  und  Schloss  verzehrt  habe.    Seine  Mutter  Ceriw 


'  Diese  That  scheiDt  dem  Fahnnann  selbst  übernatürlich  eu  sein,  ao 
dass  er  sagt:  „In  Wahriieit,  Menschen  kann  man  sie  nieht  heissen^. 
Behack,  Epische  Dichtungen  des  Fird.  III,  27. 


(die  Aibettd-Aanra)  stUrzt  «ich  mit  ihrtn  Diemlinnea  in  di« 
£lim»M  and  Jtirb;  aaeh.  Kai  Kfaoaru  bew^eiBt  dem  Y^UBt  sei- 
MS  Bmdecs  Firnd  die  ganze  Nacht  hindurch,  bis  der  Hahn  kräht ; 
ak  lier  Morgen  konoa^  besehliesat  er,  Um  za  rächen. 

Dacnacb  Yei^ebt  Eat  Ehosms  Leben  unter  Kämpfen,  die  von 
seinen  Briden  gegen  die  Taranier  geführt  werden.  Erst  gegen 
4m  finde  seiner  Tage  wird  er  ein  reamüthiger  König;  er  will 
mnht  länger  aevie  Ufiterthuiea  kämpfen  lassen  and  sdne  einzige 
fieaofaälkignng  iat  Beten;  er  nimmt  von  seinem  Volke  and 
aetnen  Töctem  friedlich  Abaefaied,  ateigt  auf  einen  Berg 
fluid  vüfflobwiadet  in  einem  Sturme,  ohne  eine  Spar  zurttck- 
SBlaaaen.  b  äfailicher  Weise  verschwinden  die  Helden  Yndhishthira, 
CffüB  nnd  Bimialas  (am  nicht  von  dem  biblischen  Moses,  noch 
flMniger  ^n  Chnatus  ku  sprechen;  Vergleiohnngen  solcher  Art, 
ItobeMiaandintettangM  indogermanischer  and  eemitisdier  Sagen 
wtlrden  ein  za  umfangreiches  Material  bieten.  Läugnen  lässt  sieh 
mkmt  nieht,  idasa  die  Erzählangen  von  der  Schlange,  von  Noah, 
f  w  Ahcaham  and  aeinem  wiedergewonnenen  Weibe,  von  Abrahaa 
4md  aeinem  Sohne  laaac,  tou  Joseph  und  sdnen  Brüdern,  v«a 
Ji^ana,  won  Job  und  anderen  späteren  biblischen  Beiden,  durch 
äone  myl^che  oder  aatnonomisohe  Bedeutung  zahlreiche  Analo- 
Ciioen  mit  den  indogermanischen  Legenden  bieten);  in  ähnlicher 
WieiAa  wird  cbe  ahe  Sonne,  nttde  am  Himmel  zu  herrseben  und 
jlnr  Leben  laag  zu  kämpfen,  jeden  AJ^end  auf  den  Bergesgipfeln 

Das  Seil  ab  na  me  enthält  ausser  den  kurz  mitgetheiken 
zaiilreicbe  andere  Erzählungen;  eine  der  beachtenswertbeaten  ist 
aonder  Zwdfel  ^e  von  Isfendiar,  welcher  mit  seinem  Bruder 
Biabateat  aussiebt,  seine  beiden  Schwestern  zu  befreien,  die  v^m 
xlem  toranischen  Könige  Ardahasp  in  einer  Veste  gefangen  gehal- 
ten  werden.  Die  sieben  Abenteuer  Mendiars,  d.  h.  sein  Zusam- 
awnfrefen  mit  (dem  Wolf,  dem  Löwen,  dem  Drachen,  der  Hexe 
(die  Mch  v^rsebönt,  aber  nicht  sobald  mit  dem  bezauberten 
Halaband  lafendiars  [der  Sonnenscheibe]  gebunden  ist,  als  sie 
wieder  alt  und  hässlich  wird),  dem  Biesenvogel,  dem  Sturm  und 
dem  Strom,  welche  Gefahren  er  sämmtlich  siegreich  überwindet, 
«ind  in  analoger  Form  Reproductionen  der  sieben  Abenteuer 
Bustema. 

Endlich  wurde  die  an  ausserordentlichen  Abenteuern  reiche 
Erzählung  von  Iskander  oder  Iskender  (der  Name  Alexanders  des 
Grossen)  höchst  volksthümlich  in  Fersien  und  kam  ohne  Zweifel 


90 

▼on  da  mit  allen  ihren  Reizen* nach  Enropa.  Die  Kühnheit,  das 
Glück,  der  Ruhm  and  die  Macht  des  grossen  Eroberers  waren  die 
Gründe,  warnm  sich  um  seinen  Namen  so  viele  wunderbare  6e^* 
schiebten  rankten ,  welche  ohne  epische  Einheit,  zerstreut,  durch 
die  Welt  schweiften.  Um  einen  ruhmreichen  und  unvergess- 
lichen  Helden  aufzustellen,  wurden  die  Heldenthaten  vieler  anony- 
mer oder  fast  vergessener  zusammengeschweisst.  Das  persische 
Iskendername  Nizämis  geht,  wie  sein  Name  besagt,  ganz  auf 
die  Verherrlichung  der  Thaten  des  macedonischen  Helden,  deren 
berühmteste  die  Befreiung  der  von  den  Russen  gefangenen  Prin- 
zessin Nushäbe  und  die  Fahrt  nach  der  Quelle  des  Lebens  und 
der  Unsterblichkeit  sind,  die  jedoch  Iskander  nicht  finden  kann. 
Aus  Persien  kam  dieselbe  Erzählung  später  mit  neuen  Einklei- 
dungen nach  Aegypten,  Armenien  und  Griechenland,  von  wo  aus 
sie  sich  im  Mittelalter  über  fast  das  ganze  westliche  Europa  ver- 
breitete. * 

Als  einer  Brücke  zwischen  den  Traditionen  der  Hindus  und 
Perser  und  andererseits  der  Türken  oder  Tartaren,  werden  wir 
uns  dreier  Werke  bedienen:  der  türkischen  Uebersetzung  des 
Tuti-Name,^  das  selbst  eine  Uebersetzung  und  theilweis  eine 
Paraphrase  der  ^uka-Saptatt  der  Hindus,  d.  h.  der  70  Ge- 
schichten von  dem  Papagei  ist;  der  mongolischen  Mährchen  von 
Siddhi-kflr  und  der  mongolischen  Geschichte  von  Ardshi- 
Bordshi  Khan,'  von  denen  das  erste  eine  Paraphrase  der 
Vetäla-Paicavinjatl  der  Hindus,  d.  h,  der  fünfundzwanzig 
von  dem  Vetäla  (einer  Art  Dämon),  und  das  zweite  eine  solche 
des  Vikrama-(^aritra  (Abenteuer  des  Yikramäditya)  der  Hindus  ist. 

Wir  sahen  im  Aitareya-Brähmana  den  Vater,  der  sei' 
nen  Sohn  zu  opfern  bereit  ist  und  im  Mahäbhärata  den  Sohn, 
welcher  seine  Jugend  hingiebt,  damit  sein  Vater  lebe.  Im  Tuti- 
N  a  m  e  ^  rüstet  sich  der  treue  Merdi  6änbäz,  sein  Weib  und  seine 
Söhne,  nachher  auch  sich  selbst  zu  opfern,  um  das  Leben  des 
Königs  zu  verlängern;  aber  als  er  so  seine  Ergebenheit  und 
Treue  bewiesen,  wird  er  von  Gott  zurückgehalten,  das  grausame 


■  Vgl.  Spiegel,  Die  Alezandersage  bei  den  Orientalen, 
Leipz.  1851  y  und  Zacher,  Pseudocallisthenes,  Forsokangen  zur 
Kritik  und  Geschichte  der  ältesten  Aufzeichnungen  der 
Alexandersage,  Halle  1867. 

*  Georg  Rosens  Uebersetzung,  Leipz.  Brockhaus  1858.  2  Bde. 
'  Bernhard  Jülgs  Uebersetzung,  Innsbruck  1867.  1868. 

*  I,  5. 


Opfer  ansznftlbreD   und  empfängt    yom  Könige  zahllose  Wohl- 
thaten. 

In  der  Geschichte  von  dem  Goldschmied  und  dem  Tischler 
hat  das  Tuti-Name^  die  beiden  Brüder  oder  Freunde,  von 
denen  der  eine  schlecht,  reich  und  habgierig  ist,  während  der  an- 
dere um  das  ihm  geschuldete  Geld  betrogen  wird,  weil  er,  ob- 
wohl in  Wirklichkeit  verständig,  für  einen  Dummkopf  gehalten 
wird.  Der  Tischler  rächt  sich  an  dem  Goldschmied  durch  eine 
List,  die  wir  in  der  Erzählung  von  dem  Bären  geschildert  finden 
werden,  und  gewinnt  kraft  seiner  Verschlagenheit  das  Geld  wie- 
der, welches  ihm  sein  Bruder  oder  Freund  weggenommen  hatte. 

In  der  interessanten  Erzählung  von  Merhuma^  lesen  wir  von 
der  Frau,  die  von  ihrem  Schwager,  der  sie  verführen  will,  ver- 
folgt wird.  Um  ihre  Weigerung  zu  strafen,  lässt  er  sie  in  der 
Abwesenheit  seines  Bruders  steinigen;  da  sie  unschuldig  ist, 
rettet  sie  Gott  vom  Tode;  von  einem  Beduinen  beherbergt,  wird 
sie  von  dessen  schensslicbem  Sklaven  versucht;  zurückgewiesen 
klagt  er  sie  als  an  dem  Tode  des  kleinen  Sohnes  des  Beduinen 
sehnldig  an,  den  er  selbst  getödtet;  das  schöne  Weib  flieht,  sie 
befreit  einen  zum  Tode  verurtheilten  Jüngling,  der  sie  seinerseits 
verführen  will.  Daranf  schifft  sie  sich  ein;  auf  der  See  verlieben 
sich  alle  Seeleute  in  sie  und  wünschen  sie  zu  besitzen;  sie  ruft 
den  Gott  mi,  welcher  Pharao  ertrinken  Hess  und  Noah  aus  dem 
Wasser  rettete.  Die  Wogen  beginnen  zu  stürmen;  ein  Blitz  fährt 
nieder  und  brennt  alle  Insassen  des  Schiffs  mit  Ausnahme  des 
schönen  Weibes  zu  Asche;  sie  landet  heil  und  gesund  am  Ufer 
(es  ist  die  Aurora,  die  aus  dem  finstem  Ocean  der  Nacht  auf- 
steigt; die  sie  verfolgenden  Ungeheuer  werden  von  den  Blitzen 
and  Sonnenstrahlen  zu  Asche  gebrannt);  dann  flüchtet  sie  sich  in 
^n  Kloster,  in  welchem  sie  die  Unglücklichen  pflegt,  die  Lahmen 
heilt,  und  die  Blinden  sehend  macht.  Unter  den  letzteren  befin- 
det sich  ihr  Verfolger,  der  Bruder  ihres  Gatten;  sie  verzeiht  ihm 
und  giebt  ihm  sein  Augenlicht  wieder;  ebenso  heilt  sie  alle  ihre 
übrigen  Verfolger.  Es  ist  kaum  nöthig,  den  Leser  daran  zu  erin- 
nern, wie  diese  orientalische  Erzählung,  die  sich  aus  dem  Mythus 
von  der  verfolgteli  und  befreienden  Aurora  entwickelte,  den  wir 
in  den  vedischen  Hymnen  kennen  gelernt  haben,  in  zahlreichen 


*  I,  6, 

»  Tati   Name  I,  7. 


«3 

westiüchcm  ^ol^snäbrclen  wieddiTerscbein^  4erea  )^mrvwB9geoäsA% 
Gestalten  Crescentia  und  Genoveya  siacL 

Die  Aurora  tritt  aus  dem  finstern  Ocean  heraus  und  wird  von 
der  Sonne  geheirathet;  diese  himmlische  Hochzeit  Hess  das  Yolks- 
mährchen  ^  von  dem  Könige  entstehen  ^  welcher  die  Gegenwart 
des  Meeres  mit  seinen  Perlen  bei  seiner  Hochzelt  wünscht;  die 
Perlen  der  bräutlichen  Aurora  werden  flir  aas  dem  Meere  der 
Nacht  kommend  gehalten.  Das  Meer  sendet  als  Hochzeitsgabe 
dem  Könige  ,^ein  Schmuckkästlein  voll  Sdelgestein  ~  eine  Lade 
mit  Kleidern^  kostbar  und  fein  —  ein  Ross,  das  dal)in  wie  der 
Morgenwind  fUhrt  ~  und  Gold,  eine  Kiate^voü,  pxUfiiteinbe- 
währt".  — 

Die  weise  Awon  figurirt  wieder  in  4er  üeschichte  ymk  der 
^^geistreichen  Königstochter^,^  welche  vermittelst  eines  RHihrnis 
die  Räuber  entdeckt,  die  während  der  Nacht  die  für  den  König 
bestimmten  kostbaren  Edelsteine  gest(^len  haben. 

Die  Aurora  verleiht  der  erblindeten  Sonne  Glans  «id  S^Ih 
kraft.  Die  Geschichte  von  der  dreibrttstigen  PrinzesMn,  die,  wäik* 
rend  sie  auf  die  Vergiftung  des  blinden  Mames  eimit,  um  nage*' 
stört  die  Neigungen  ihres  jungen  schönen  Liebhabeni  g^icoiwi 
zu  können,  Reue  fäUt,  weich  wird  und  ihm  das  Augealieht  wie^ 
dergiebt,  erscheint  in  ziemlich  unvollständiger  Gestalt  im  Taü^ 
Name^  wieder. 

Das  Mädchen,  das  an  ein  Scheusal  von  Mann  veAeivathat 
ist,  dem  es  entflieht,  um  einem  schönen  jungen  Liebhaber  «u  fol- 
gen, welcher  es,  am  Ufer  eines  Flusses  angelangt,  «einer  S^ob^ 
thttmer  beraubt,  es  nackend  veriässt  und  auf  das  andere  Ufer  Qbeiw 
setzt,  worauf  es  sich  in  sein  Schicksal  ergiebt  iindBU  seinem  G^ 
mahl,  dem  Ungeheuer,  zurttckzukehren  bescbliesst/  fitettt  4iie 
Abend- Aurora  dar,  die  vor  dem  Ungeheuer  der  Nacht  flieht,  um 
ihrem  Liebhaber,  der  Sonne,  zu  folgen,  welche  am  Morgen,  oaek- 
dem  sie  sich  mit  ihrem  Glänze  geschmtlckt,  sie  am  Ufer  4m 
finstem  Oceans  zurücklässt  und  davoneilt,  so  dass  die  Aurm^ 
genöthigt  ist,  am  Abend  sich  wieder  mit  ihrem  Oeraahl,  dem  Un- 
geheuer, ^Q  vereinigen.    Es  ist  überdies  als  fttr  den  vorliegenden 


'  Tuti-Nam«  I,  13. 

'  Tuti-Name   I,    14.    —    Vgl.  Afanassieff,    Narodnija    ruskija 
Bkaeki  VI,  23. 
»  II,  27. 
•  U,  16. 


:^*" 


99 

FftU  trfehtff,  ittteresfirattty  dea  Ansdruck  tn  beachten,  dessen  s^tch 
der  Jttngfrag,  der  mit  dem  schOnen  Weibe  entfliebl,  bedient,  mn 
»eine  Furcht  rot  Entdeckung  auszudrücken.  Er  sagt:  „Ohne 
Zweifel  wird  der  Gemahl  sie  aufsuchen  lassen  und  sftsse  ich  a;uf 
den  ERJmero  de*  Ochsen  (des  Mondes),  er  würde  mich  ausfindig 
machen".  Die  Gösehichte  von  Äwei  jungen  Leuten,  die  auf  einem 
SWer  fliehen  und  von  dem  Ungeheuer  verfolgt  werden,  taucht  in 
dtem  rnssisct^n  Volksmährchen  wieder  auf.  Mit  den  Hörnern  des 
Stieres  meinf  der  Jüngling  die  hervorragendste  und  am  meierten 
in  die  Augen  fallende  Situation. 

Ferner  ist  es  die  Aurora,  die  von  dem  schönen  Mädchen* 
dargestellt  wird,  da«  Vater,  Mutter  und  Bruder,  ohne  von  einan- 
der zu  wissen,  mit  dtei  Jünglingen  verschiedenen  Berufs  verlobt 
haften.  Die  drei  jungen  Männer  streiten  um  sie,  doch  ehe  der 
StreH  evtdchieden,  stirbt  das  Mädchen.  Die  drei  gehen  dann,  ihr 
Gtnb  zu  besuchen;  einer  zieht  den  Leichnam  heraus,  der  zweite 
ffifdet,  das»  noch  Leben  darin  ist  und  der  dritte  schlägt  sie  mit 
etnem  Kntttel  und  richtet  sie  lebend  auf,  worauf  der  Streit  wieder 
Mfgenommen  wird.  Sie  flieht  und  zieht  sich  in  ein  lebendiges 
CPraft,  ein  Kloster,  zurück.  In  der  vdksthümlichsten  Gestalt  die- 
ser Erzähhing  tiieiien  sie  die  drei  Gesellen  oder  Brüder,  welche 
um  die  Braut  kämpfen;  die  Aurora  wird,  sobald  die  Sonne,  ihr 
wahrer  Liebhaber  und  rechtmässiger  Bewerber,  erscheint,  in  Stücke 
zeiTiskfen. 

Aus  dem  Dunkel  ersteht  Licht,  ans  dem  Alten  Junges,  aus 
Tod  Leben ;  anns  dem  Staube  eines  Todtenschädels  wird  ein  wun- 
derbaretr  Kind  geboren,  das  falsche  Perlen  von  echten,  Ehrlose 
toxt  Ehrenbaiten  ^  zu  unterscheiden  weiss  (die  Morgensonne  kann 
zwischen  Lieht  und  Finstemiss  unterscheiden);  der  weise  Knabe 
(die  junge  Senne)  ist  ier  Bruder  des  weisen  Mädchens  (der 
jungen  Aurora).  Das  Fleisch  eines  getödteten  Brabmanen  ver- 
wandelt sieh    in  eiuer  aofdem  Erzählung  des  Tuti-Name  in 

Wir  haben  gesehen,  dass  die  Aurora  und  die  Sonne  Mutter 
md  Sohn,  Bruder  and  Schwester,  Liebender  mnd  Geliebte  sind. 
Die  Sonne  stirbt  am  Abend  eines  schmählichen  Todes,  wird  ge- 
opfert und  an  einem  Galgen  aufgehängt,  und  weiht  mit  sich  selbst 


'  Tuti-Name  II,  19. 

«11,21. 

«11,28. 


ihre  Mutter  oder  Geliebte  dem  Tode.  Alt  und  voIkstbUmlich  ist 
die  Erzählung,  welche  von  dem  Räuberssohne  spricht^  der,  als  er 
sein  Leben  am  Galgen  enden  soll^^  seiner  Mutter,  die  ihm  das 
Leben  gegeben  und  ijiu  unter  Schmerzen  aufgezogen  hat,  die  Nase 
abbeisst.  Im  Tut i- Name ^  ist  es  der  junge  Verführer  (und 
Räuber  dazu),  der  wegen  seines  Ehebruchs  zum  Tode  verurtheilt, 
noch  einmal  vor  seinem  Tode  die  Geliebte  zu  sehen  und  zu  küssen 
wünscht  und  seine  Rache,  als  sie  es  thut,  durch  eine  ähnliche 
Beleidigung  befriedigt.  Beachtenswerth  ist,  wie  selbst  in  dem 
Volksmährchen  der  Hindus  die  Erzählung  von  dem  Ehebrecher 
mit  der  von  einem  Diebe  zusammengeworfen  ist;  der  Ehebrecher 
wird  schliesslich  ins  Wasser  geworfen  (die  Sonne  und  die  Abend- 
Aurora  fallen  in  den  finstem  Qcean  der  Nacht). 

In  der  nächsten  Erzählung  ist  es  der  böse  Mann,  welcher, 
auf  einer  Reise  mit  seiner  reichen  Frau,  um  den  Wohnort  zu 
wechseln,  sie  ihrer  Habe  beraubt  und  sie  dann  in  einen  Brunnen 
wirft,  um  ihre  Juwelen  und  Kleider  in  Besitz  zu  nehmen.  Dieser 
Reichthum  dauert  jedoch  nicht  lange;  er  verarmt  und  geht  betteln 
bis  er  sein  Weib  wiederfindet,  das  durch  göttliche  Hilfe  aus  dem 
Brunnen  gerettet  und  aufs  Neue  mit  Kleidern  und  Juwelen  gleichen 
Werthes  versehen  worden  war.  Der  Gatte  bringt  einige  Zeit  bei 
seinem  Weibe  zu  und  tritt  dann  wieder  mit  ihr  eine  Reise  an; 
er  kommt  wieder  an  den  bewussten  Brunnen  und  wirft  sie  wie 
vorher  hinein,  uro  allein  die  ihr  abgenommenen  Kostbarkeiten 
zu  geniessen.  (Die  Bedeutung  der  Mythe  ist  klar ;  es  ist  die  Sonne, 
weiche  die  glänzende  Aurora  in  das  finstere  Wasser  der  Nacht  wirft.) 
Ein  König  verliebt  sich  in  die  schöne  Mahrüsa;^  seine  Rath- 
geber  halten  ihn  mit  Gewalt  von  der  Geliebten  ab,  worauf  er  in 
Einsamkeit  sich  abhärmt  und  stirbt.  Das  schöne  Mädchen  vereint 
sich  ihm  im  Grabe  (Romeo  und  Julie,  die  Abend-Aurora  und  die 
Sonne  sterben  zusammen). 

'  Die  Erzählung  von  den  drei  Brüdern ,  den  Ribhus,  begegnet 
uns  im  Tuti-Name^  wieder,  mit  einzelnen  andern,  die  wir  schon 


^  Diese  Erzählung  war  in  Italien  schon  im  15.  Jahrhundert  sehr  be- 
kannt; sie  wurde  dem  Philosophen  und  Gelehrten  Fontane  von  seiner 
Mutter  erzählt,  wie  ich  aus  seiner  Biographie  ersehe,  die  vor  zwei  Jahren 
Prof.  Tallarigo  (Sanseverino-Marche)  herausgegeben  hat.  Noch  heut  er- 
zählt man  sie  im  Piemontesischen. 

*  II,  21. 
»II,  25. 

*  II,  24. 


96 

kennen.  Der  erste  Bruder  ist  der  weise ,  der  zweite  ist  ein  Ver- 
fertiger von  Talismanen  (unter  Anderm  kann  er  ein  Pferd  machen^ 
das  in  einem  Tage  so  weit  länft^  als  andere  in  dreissig) ;  der  dritte 
und  jtlngste  Bruder  ist  der  unübertreffliche  Bogenschütze.  Die  drei 
ziehen  aus,  um  nach  dem  schönen  Mädchen  zu  suchen^  das  bei 
Nacht  aus  dem  Hause  seines  Vaters  geflohen  ist.  Der  erste  Bru- 
der entdeckt  durch  seine  Weisheit,  dass  das  Mädchen  von  den 
Feen  auf  einen  Inselberg,  zu  dem  Menschen  nicht  gelangen  kön- 
neoy  entfuhrt  worden  ist.  Der  zweite  schafft  ein  wunderbares 
Thier^  um  über  die  dazwischenliegenden  Gewässer  zu  setzen 
(Gbristophorns  oder  Bhima).  Bei  dem  In^^elberge  angekommen^ 
kämpft  der  dritte  und  jüngste  Bruder  mit  dem  Dämonen,  dem 
Herren  der  Feen^  besiegt  ihn  und  befreit  das  schöne  Mädchen^ 
das  darauf  seinem  Vater  zurückgebracht  wird.  Dann  entsteht 
zwischen  den  drei  Brüdern  der  gewöhnliche  Streit,  welcher  die 
Braut  besitzen  soll.  ^ 

In  den  Veden  finden  wir  den  Himmel  und  den  Mond  als 
einen  Becher  dargestellt.  Von  dem  kleinen  Becher  der  Fülle 
(dem  Monde)  kommt  man  leicht  zu  dem  wunderbaren  kleinen 
Töpfchen  (dem  Monde),  in  welchem  die  gutherzige  aber  arme 
Hausmutter  der  Pändavas  im  Mahabharata  noch  Ueberfluss 
an  Vegetabilien  findet;  nachdem  ihre  Mittel  der  Gastfreundschaft 
für  den  als  Bettler  verkleideten  Kpshi^a  erschöpft;  sind  —  zu  dem 
Töpfchen,  aus  dem  man  Alles  nehmen  kann,  was  man  wünscht. 
Im  Tuti-Name^  findet  ein  Holzhauer  zehn  Zauberer  um  einen 
Krug,  aus  dem  sie  Speise  und  Trank,  soviel  sie  nur  begehren, 
beransnehmen ;  sie  essen  und  unterhalten  sich  vortrefflich;  der- 
Holzhauer  gefällt  ihnen  und  sie  geben  ihm  auf  seine  Bitte  den 
Krag.  Er  lädt  einst  seine  Freunde  zu  einem  Festmahl  in  seinem 
Hause  ein ;  da  er  sich  vor  Freude  nicht  zu  lassen  weiss ,  setzt  er 
das  Geföss  auf  den  Kopf  und  beginnt  zu  tanzen.  Das  Töpfchen 
fimt  zur  Erde  und  bricht  in  Stücke;  sein  Glück  hat  ein  Ende 
(die  Greschichte  von  Perrette,  dem  Milchmädchen). 

Eine  Variation  des  kleinen  Bechers  ist  der  hölzerne  Napf 
(der  Mond);  um  den  sich  zwei  Brüder  (die  beiden  A(vins)  streiten, 
Hl  der  Geschichte  des  Königs  von  China ,  *  und  aus  dem  man  alle 
Speisen  und  Getränke  nehmen  kann,  die  man  nur  begehrt,  wie 
wir  auch  in  derselben  Geschichte  Zauberschuhe  finden,    die  uns 


«  H  26. 

»  II,  28. 


9» 

in  einem  Angenblick  dahin  bringen^  wobin  wir  nns  wllnsebeii.  — 
Das  führt  nns  auf  die  fittehtige  Anrora  der  Veden  zurttek^  dto 
schnellste  im  Wettlanf,  und  anf  die  Volksmährchen  von  GiiklefeUay 
die  von  dem  Prinzen  erst  eingeholt  und  wiedergefxinden  wird;  al* 
sie  ihren  bezauberten  Pantoffel  rerlorm  hat.  Neben  dem  Nitpf 
and  den  Zaaberschuhen  finden  wir  in  den  Volksmährchen  den 
gefüllten  kleinen  Beutel,  der  nie  leer  wird  (eine  andere  Fenn  de» 
Bechers  der  Fülle)  und  ein  Schwert,  das,  aas  der  Scheide  geso- 
gen, in  einer  Wüste  eine  schöne,  reiche  und  grosse  Stadt  er- 
stehen lässt;  welche  jedoch  verschwindet,  sobald  das  Schwert 
wieder  in  die  Scheide  gesteckt  wird  (der  Sonnenstrahl  ist  das  ge- 
zogene Schwert,  das  die  glänzende  Stadt  der  reichen  Aurora  er- 
stehen lässt;  kaum  verschwindet  der  Sonnenstrahl  oder  kaum  ist 
das  Schwert  eingesteckt,  als  die  wunderbare  Stadt  sich  in  Nichte 
auflöst).  Der  Rest  der  Erzählung  ist  ebenfalls  interessant,  weil 
er  auf  drei  Männer  die  wohlbekannte  Fabel  von  den  Thierett, 
die  um  die  Beute  kämpfen,  anwendet  (wie  die  drei  Brüder  am 
das  wiedergefundene  schöne  Mädchen  kämpfen).  Die  Tkiere 
können  sie  nicht  in  gleiche  Theile  theilen;  sie  appeUiren  an  das 
Urtheil  eines  Mannes,  der  grade  vorbeigeht;  er  theilt  sie  so  güM, 
dass  die  Thiere  ihm  noch  später  immer  dankbar  sind  nd  ihm  in 
jeder  Gefahr  beistehen.  Die  Erzähking  des  Tnti-Name  streift 
an  diese  Gestaltung  der  Mythe^  verlässt  sie  jedoch  bald  um  einef 
anderen  beliebteren  willen,  nämlich  der  von  dem  Dritten,  welcher 
zu  zwei  Streitenden  kommt  und  die  Beute  für  sieh  nimmt  Der 
junge  Abenteurer  versucht  dem  Streite  der  beiden  Brüder  über 
die  Theilung  der  Börse,  des  Napfes,  des  Schwertes  und  d^  wo»- 
derbaren  Schuhe  ein  Ende  zu  machen :  er  zieht  die  Schuhe  selbst 
an  und  fliegt  mit  den  drei  andern  bestrittenen  Gegenständen  da- 
von (die  beiden  A^vins,  Dämmerungen,  streiten  um  den  Mond  and 
auch  um  die  Aurora,  wie  wir  deutlicher  im  nächsten  Kapitel 
sehen  werden ;  die  Sonne  macht  ihrem  Streite  ein  Ende^  indem  tie 
selbst  sie  heirathet). 

Wir  sind  schon  bekannt  mit  den  Kibhus  der  Veden,  die  aus 
einem  Becher  vier  machen.  Wahrscheinlich  von  dieser  Erzählung 
hängt  die  von  den  vier  Brüdern  ab  (im  Tuti-Name  ^),  weiche 
dort,  wo  die  auf  ihre  Turbane  gehefteten  Siegel  hinfallen,  vier 
Minen  finden;  der  eine  eine  Kupfermine ,  der  zweite  eine  Silber^ 
mine,  der  dritte  eine  Goldmine  (auch  hier  ist  wieder  der  dritte 

>  U,  29. 


97 

Brader  der  begflnstigte) ,  der  vierte  nnr  eine  EiseniDine.  Dad 
Si^el  scheint  die  Sonne  selbst  zu  sein,  die  vier  Minen  beziehungs- 
weise der  Kupferhimmel  am  Abend;  der  Silberhimmel  in  der 
Hondnaoht,  der  Ton  der  Morgenröthe  goldige  Morgenhimmel;  und 
der  Eisenhimmel  des  Tages,  der  graue  oder  azurblaue.  Das 
Wort  nil  a  bedeutet  im  Sanskrit  sowohl  azurblau  wie  schwarZ; 
und  zwischen  azurn  und  schwarz  liegt  grau,  die  Eisenfarbe. 

Von  den  drei  BrOdem  ist  oft  der  erfahrenste;  der  die  Räthsel 
ktet,  der  älteste;  und  in  der  Erzählung  des  Tuti-Name^  er- 
klärt der  älteste  der  drei  Brtlder;  warum  alte  liCute  weisse  Haare 
haben,  damit;  dass  diese  Weisse  ein  Symbol  der  Klarheit  ihrer 
Gedanken  seL 

Gehen  wir  jetzt  zu  den  kalmiikischen  und  mongolischen 
Erzählungen  des  Siddhi-kür  über;  deren  Ursprung;  wie  wir  oben 
gesagt;  auch  bei  den  Hindus  zu  suchen  ist. 

In  der  ersten  Erzählung  haben  sich  die  drei  Brüder;  indem 
sie  erst  drei  Paare  bilden;  in  sechs  aufgelöst  Die  Nachtzeit  wird 
in  drei;  in  sechS;  in  sieben  (sechs  plus  einem  ausserordentlichen; 
erst  später  geborenen);  in  neun  (drei  mal  drei);  in  zwölf  (drei  mal 
Tier)  Theile  getheilt.  Daher  findeb  wir  neben  dem  Ungeheuer  mit 
drei;  sechs,  sieben;  neun  oder  zwölf  Köpfen  bald  drei;  bald  sechs, 
sieben;  nenu;  zwölf  Heldenbrtlder.  Der  letzte  Kopf  (oder  die  letz- 
ten zwei;  drei  oder  vier  Köpfe)  des  Ungeheuers;  der  entscheidende; 
ist  am  schwersten  und  gefährlichsten  abzuhauen;  der  letzte  Bru- 
der ist  der,  welcher  ihn  abschlägt  und  siegt.  In  der  ersten  kal- 
mükischen  Erzählung  des  Siddhi-kür  trennen  sich  sechs  Brüder 
oder  Gesellen  da;  wo  die  Mündungen  mehrer  Flü£fse  sich  vereini- 
gen ;  jeder  zieht  von  hier  aus  an  einem  andern  Flussarme  hinauf; 
seinen  Unterhalt  zu  suchen.  Der  erste  kommt  um;  der  zweite 
entdeckt  vermittelst  seiner  Weisheit  (er  hat  Theil  an  der  Weisheit 
des  ersten,  mit  dem  er  eine  Gruppe  bildet)  den  Ort,  wo  der  Ver- 
storbene begraben  ist;  der  dritte ;  der  starke ;  zertrümmert  den 
Fels,  unter  dem  der  erste  todt  verborgen  ist;  der  vierte  erweckt 
ihn  wieder  zum  Leben  durch  einen  Heiltrank;  wie  Bhima,  der 
starke  Held  des  Mahäbhärata,  wiederaufersteht;  als  er  das  Wasser 
der  Gesundheit  und  Stärke  trinkt;  der  fünfte  Bruder  fertigt  einen 
Wundervogel;  den  der  sechste  mit  allerlei  Farben  bestreicht  In 
diesen  Vogel  steigt  der  erste,  fliegt  zu  seiner  Braut,  entführt  sie, 
indem  er  sie  in  den  Wandervogel  mit  einsteigen  lässt;  und  kehrt 


'  It  29. 

OubenMÜt,  die  Ttüere. 


98 

zu  seinen  Geführten  zarück.  Als  diese  das  reizend  schöne  Weib 
sehn ,  erglühe^  sie  von  heftigem  Verlangen  nach  ihr ;  jeder  von 
ihnen  beanspracht  sie;  sie  streiten  hin  und  her  und  können  nicht 
eins  werden.  Schliesslich  tödten  sie  die  arme,  unter  dem  Rufe 
,;hau  ZU;  hau  zul^'  mit  dem  Messer  Stücke  von  ihr  abschneidend, 
indem  alle  sie  nehmen  wollen.  Wir  kennen  schon  die  mythische 
Bedeutung  dieser  Erzählung. 

Die  dritte  und  vierte  kalmükische  Erzählung  fahren  deutlich 
den  Stier  und  die  Kuh  ein.  In  der  dritten  verbindet  sich  ein 
Mann,  der  nichts  als  eine  einzige  Kuh  besitzt,  selbst  mit  ihr,  um 
sie  zu  befruchten.  Aus  dieser  Vereinigung  geht  ein  Wesen  her- 
vor, mit  dem  Leibe  eines  Mensclien,  dem  Kopfe  eines  Rindes,  da- 
bei langgeschwänzt.  Der  Stier-Mensch  (Minotauros)  geht  in  den 
Wald,  wo  er  nacheinander  drei  Menschen  findet  —  einen  schwarz- 
farbigen, einen  grttnfarbigcn  und  einen  weissfarbigen  —  die  sich 
ihm  anschliessen.  Der  Stier-Menscli  überwindet  die  Bezauberung 
einer  zwergartigen  Hexe;  seine  drei  Gefährten  lassen  ihn  an 
einem  Seile  in  eine  Tiefe  hinab,  auf  deren  Grunde  die  Leiche 
der  Hexe  unter  Gold  und  Edelsteinen  liegt.  Als  er  ihnen  die 
Schätze  hinaufgereicht  hat,  lassen  sie  ihn  in  der  Felsenkluft 
zurück ;  er  entkommt  'jedoch  und  trifft  ein  reizendes  Mädchen, 
das  aus  einer  Quelle  Wasser  geholt;  indem  sie  dahin  wandelt, 
sieht  er  mit  Verwunderung,  wie  unter  jedem  ihrer  Tritte  immer 
eine  Blume  nach  der  andern  hervorsprosst.  Ihr  folgend,  gelangt 
er  in  den  Götterhimmel,  unterstützt  die  Götter  in  ihrem  Kampfe 
gegen  die  Schumnu  (Dämonen)  und  stirbt  bei  diesem  Unterneh- 
men. Diese  Erzählung;  indischen  Ursprungs,  in  welcher  der  Stier 
und  die  Kuh  die  Stelle  des  Helden  und  des  Mädchens  einneh- 
men, scheint  mir  zu  den  umfassendsten  Vergleichungen  zu  be- 
rechtigen. 

Wir  haben  schon  die  wohlthätigen  Eigenschaften  des  Kuh- 
mists gesehn.  In  der  vierten  Erzählung  findet  sich  unter  den  Ex- 
crementen  einer  Kuh  der  Lebenstalisman  des  Chänes,  ein  kost- 
barer Edelstein,  den  die  Tochter  des  Königs  verloren;  marga- 
rita  in  sterquilinio.  Die  Perle  ist  das  Secret  der  Kuh. 
Die  Mond-Kuh  und  die  Aurora-Kuh  sind  reich  an  Perlen;  sie 
sind  selbst  Perlen,  gleich  der  Sonne;  die  Sonne  kommt  aus  dex 
Aurora,  die  Perle  aus  der  Kuh. 

Gegenstand  der  siebenten  Erzählung  sind  die  drei  Schwestern, 
welche  täglich  abwechselnd  die  Büffel  auf  der  Weide  hüten.  Die 
älteste  Schwester   schläft  eines   Tages  beim  Hüten  ein  und  ein 


99 

Büffel  verläuft  sich.  Als  sie  ihn  suchen  geht^  kommt  sie  an  ein 
verzaabertes  Schloss,  voller  Gold  and  Edelstein ;  doch  ist  Niemand 
daselbst;  nur  ein  grosser,  weisser  Vogel  sitzt  aaf  einem  kostbaren 
Tisch.  Dieser  will  sie  den  Büffel  finden  lassen,  wenn  sie  seine 
Frau  werden  will.  Sie  geht  daraaf  nicht  ein,  sondern  kehrt  zu- 
rück. Dasselbe  geschieht  mit  der  mittleren  Tochter.  Die  jüngste 
Tochter  willigt  ein,  ihn  zn  heirathen.  Gelegentlich  stellt  es  sich 
heraus,  dass  der  Vogel  ein  schöner  Ritter  ist  (eine  Form  Lohen- 
grins). Da  sie  jedoch  auf  den  Rath  einer  Hexe  das  Vogelhaus 
verbrennt,  verliert  sie  ihn  und  kann  ihn  nicht  ^wiedergewinnen, 
bis  sie  ein  neues  Vogelhaus  gebaut  hat.  Wir  werden  die  Sonne 
In  den  vedischen  Hymnen  als  Vogel  sehen;  die  Aurora  ist  das 
ans  Flammen  gemachte  Bauer  dieses  göttlichen  Vogels.  Als  das 
Vogelhaus  am  Morgen  verbrannt  wird,  trennen  sich  die  Aurora 
und  die  Sonne;  sie  treffen  sich  am  Abend  wieder/ als  das  Bauer 
wiederhergestellt  ist 

Ein  andrer  schöner  Mythus  von  analoger  Bedeutung  findet 
sich  in  der  achten  Erzählung  wieder.  Ein  Holzkünstler  und  ein 
Maler  sind  einander  feindlich  gesinnt;  der  Maler  macht  den  Kö- 
nig glauben,  dass  sein  (des  Königs)  verstorbener  Vater  ihn  (den 
Maler)  zu  sich  in  den  Himmel  beschieden  und  ihm  ein  Schreiben 
an  seinen  Sohn  (den  regierenden  Chan)  mitgegeben  habe.  In 
diesem  Schreiben  steht:  „Sende  unseren  Holzkünstler  herauf,  um 
mir  einen  Klostertempel  hier  zu  errichten.  Die  Art  und  Weise 
heraufzukommen,  weiss  der  Maler."  Der  König  befiehlt  dem  Holz- 
kttnstler,  sich  nach  dem  Götterreiche  aufzumachen.  Der  Maler 
bezeichnet  als  den  Weg  hinaufzukommen  einen  Scheiterhaufen, 
auf  dem  er  den  Holzkünstler  verbrennen  will.  Dieser  weiss  sich 
jedoch  geschickt  aus  der  Affaire  zu  ziehen ;  er  verbirgt  sich  einen 
ganzen  Monat  lang;  dann  geht  er  zum  Chan,  sagt,  er  sei  im  Göt- 
terrciche  gewesen  uqd  präsentirt  einen  Brief  des  Verstorbenen, 
mit  dem  Befehle ,  den  Maler  hinaufzuschicken ,  um  den  Kloster- 
tempel zu  malen.  Heraufkommen *^  solle  er  nur  nach  der  vorigen 
Weise.  Der  König  dringt  auf  die  Befolgung  des  Befehls  und  der 
hinterlistige  Maler  kommt  elend  um.  Die  Morgensonne  taucht 
heil  und  gesund  aus  den  Flammen  der  Morgen- Aurora  auf;  die 
Abendsonne  passirt  dieselben  Flammen  und  stirbt. 

Die  zehnte  Erzählung  bietet  uns  den  Mythus  von  den  beiden 
Brüdern,  dem  reichen  habsüchtigen  und  bösen  und  dem  armen 
tugendhaften.    Die  Erzählung  endet  analog  der  von  dem  sterben- 

7* 


100 

den  Ehebrecher;  der^  wie  wir  im  Tnti-Name  saben^  seiner  Her- 
rin die  Nase  abbeisst. 

Die  eilfte  Erzählung  ist  eine  Variation  der  von  dem  Lieben- 
den oder  Gatten,  welcher  sein  Weib  verlässt  oder  tödtet,  nachdem 
er  es  seiner  Reichthttmer  beraubt:  aber  statt  des  Wassermeeres 
haben  wir  hier  das  Sandmeer,  die  Sandwüste;  in  welcher  das 
junge  Mädchen,  in  eine  Kiste  eingeschlossen,  vergraben  wird, 
derselben  Kiste,  die  in  andern  Volksmährchen  auf  der  Oberfläche 
des  Wassers  umhertreibt.  *  Sie  wird  jedoch  von  einem  jungen 
Prinzen  gefunden  und  fortgenommen,  und  statt  ihrer  ein  Tiger  in 
den  Kasten  gesteckt ;  der  unwürdige  Gatte  wird,  als  er  die  Kiste 
fortnehmen  will,  von  demselben  zerrissen.  Die  unfruchtbare  Nacht 
ist  eine  weite  Wüste,  ein  Wasser-,  ein  Sandmeer;  der  Sonnen- 
prinz befreit  die  Aurora  aus  dem  Wasser,  dem  Brunnen  oder  der 
Wüstenhöhle;  der  Tiger  tödtet  das  Gatten-Ungeheuer. 

In  der  zwölften  Erzählung  stiehlt  ein  Dieb  dem  Chan  sdneii 
Lebenstalisman;  er  wirft  den  Edelstein  zu  Boden  und  die  Folge 
davon  ist,  dass  dem  Fürsten  die  Nase  so  heftig  blutet,  dass  er 
stirbt.  Die  Nase  ist  der  hervorragendste,  sichtbarste  und  glän- 
zendste Theil  des  Gesichtes;  sie  ist  der  Edelstein  des  Sonnen- 
fttrsten.  Die  Sonne  fällt  in  der  Nacht  auf  den  Berg;  der  Edel- 
stein fällt  auf  die  Erde;  dem  Prinzen  blutet  die  Nase;  er  hat 
seine  Nase  auf  die  Erde  gestossen  und  sie  blutet.  Der  Sonnen- 
prinz stirbt  und  der  Abendhimmel  färbt  sich  roth,  blutig  roth: 
die  Sonne,  die  am  Abend  ihr  Blut  verliert,  stirbt  (geht  unter). 

Den  dreizehn  kalmükischen  Erzählungen  folgen  zehn  mon- 
golische; im  Ganzen  dreiundzwanzig,  von  denen  jedoch  die  sechs- 
zehnte verloren  ist. 

Die  vierzehnte  erzählt  uns  von  dem  reichen  und  habsüchtigen 
Manne,  dessen  armer  Bruder  in  der  Verzweiflung  in  den  Wald 
geht,  um  sich  das  Leben  zu  nehmen;  unbemerkt  belauscht  er  dort 
die  Däkinis  (Geister)  und  setzt  sich  in  Besitz  eines  diesen  gehö- 
rigen Hammers  und  Sackes;  schlägt  man  mit  dem  Hammer  auf 
den  Sack,  so  kommt  Alles,  was  man  wünscht,  aus  dessen  Innerem 
zum  Vorschein.  So  wird  der  arme  Bruder  reich  und  wird  von 
dem  andern  beneidet,  der  in  der  HofFnung,  dasselbe  Glück  zu 
haben,  an  dieselbe  Stelle  geht,  da  er  sich  jed(»ch  nicht  verbirgt, 
von  den  Kobolden  gesehen  wird,  die  ihn  ilir  den  halten,  welcher 


'  Vgl.  auch  das  Kapitel  über  das  Schwein,  wo  wir  die  Mythen  and 
Legenden,  die  sich  auf  Verkleidungen  beziehen,  auseinandersetsen  werden« 


101 

den  Hammer  nnd  den  Sack  gestohlen,  aus  Rache  ihm  die  Nase 
lang  ziehen  and  ihm  nenn  Knoten  in  dieselbe  knüpfen.  Auf  diesen 
Mythus  lässt  sich  vielleicht  der  italienische  Ausdruck:  „restare 
con  uno  o  due  palmi  di  naso'^  (mit  ein  oder  zwei  Nasenlängen 
znrttckbleiben)  zurückführen;  d.  h.  ausgelacht  werden  und  zwar 
mit  der  Geberde,  von  welcher  Verspottung  begleitet  und  die  an 
den  Verspotteten  gerichtet  wird,  indem  man  eine  oder  beide  Hände 
an  di§^  Nasenspitze  setzt.  *  Der  arme,  jetzt  reiche  Bruder  besucht 
den  Unglückliehen  mit  der  Knotennase  und  bringt  mit  seinem 
Hammer  die  Knoten  fort.  Er  hat  schon  acht  weggebracht  und 
nur  einer  bleibt  noch,  als  er  auf  Ansuchen  seiner  Schwägerin  ab- 
lässt;  diese  cntreisst  ihm  nämlich  den  Hammer,  um  den  neunten 
Knoten  selbst  zu  lösen;  ^sie  schwingt  den  Hammer  nach  seinem 
Beispiel,  schlägt  aber,  da  sie  den  Massstab  nicht  kennt ^  ihrem 
Manne  die  Stirn  entzwei,  so  dass  er  stirbt. 

In  der  siebzehnten  mongolischen  Erzählung  besitzen  ein  alter 
Mann  und  eine  alte  Frau  neun  Kühe.  Da  der  Alte  ein  Liebhaber 
von  Fleisch  ist,  so  pflegt  er  alle  Kälber,  sobald  sie  zur  Welt  ge- 
kommen sind,  zu  schlachten  und  zu  verzehren;  die  Alte  aber 
pflegt  sich  nur  von  Milch  und  Butter  zu  nähren.  Als  der  Alte 
alle  Kälber  gegessen,  denkt  er,  eine  Kuh  mehr  oder  weniger  wird 
meinen  Wohlstand  nicht  beeinträchtigen;  so  argumentirend  ver- 
zehrt er  alle  Kühe  bis  auf  eine,  die  er  aus  Rücksicht  auf  die 
Liebhaberei  seiner  Alten  aufspart.  Eines  Tages  aber,  als  die  Alte 
nicht  zu  Hause  ist,  kann  er  der  Versuchung  nicht  widerstehen 
und  schlachtet  die  letzte  Kuh.  Jene  kommt  zurück,  wird  böse  und 
verlässt  ihn,  worauf  er  ihr  ein  Euter  der  Kuh  nachwirft.  Die 
Frau  hebt  dasselbe  in  dankbarem  Andenken  an  die  geliebte  Milch 
und  Butter  auf,  geht  damit  auf  den  Berg  und  schlägt  dort  mit 
dem  Kuheuter  an  den  Fels,  an  welchem  es  haften  bleibt;  als  sie 
daran  melkt,  strömt  Milch  heraus  und  sie  gewinnt  Butter  in  reich- 
licher Menge.  Einstmals  denkt  sie:  „Mein  Alter  könnte  vielleicht 
Hungers  sterben"  und  wirft  ihm  einen  Schlauch  mit  Butter  durch 
den  Kamin,  als  er  gerade  damit  beschäftigt  ist,  Asche  zu  essen. 
In  dieser  Aufmerksamkeit  erkennt  der  Alte  die  Liebe  seines  Wei- 
bes und  beschliesst  sofort,  ihren  Fussspuren   im  Schnee  während 


'  Vgl.  auch  die  ital.  Redensart:  menare  uno  pel  naso  (Jemanden  an 
der  Nase  f&hren);  soviel  wie:  mit  Jemandem  mächen,  was  man  Lust  hat; 
eine  zu  lange  Nase  würde  also  ein  Zeichen  von  Dummheit  sein ;  vgl.  ferner 
die  deutsche  Redensart:  Jemandem  eine  Nase  drehen,  und:  Jemanden 
nasführen. 


102 

der  Nacht  zn  folgen.  Er  kommt  auf  den  Berg,  sieht  das  Enh- 
euter,  isst  es  und  nimmt  die  Butter  mit  fort.  Die  Alte  wandert 
umher,  bis  sie  zu  einem  Rudel  Hirschkühe  kommt,  die  frei  weiden 
und  sicb^  statt  zu  fliehen,  melken  lassen.  Wieder  denkt  sie  an 
ihren  Mann  und  wirft  Hirschbutter  durch  den  Bauchfang.  Der 
Alte  folgt  ihr  im  Schnee,  findet  sie  bei  den  Hirschkühen  und 
tödtet  dieselben  in  seiner  Leideüschaft  für  Fleisch.  Die  Alte  fährt 
fort,  umherzuwandem  und  stösst  dies  Mal  auf  eine  Höhle  von 
wilden  Thieren,  die  von  einem  Hasen  bewacht  wird.     Der  Hase 

*  _ 

schützt  sie  vor  den  wilden  Thieren;  sie  fasst  nun  den  Entschluss^ 
ihrem  Mann  einen  WildschlMgel  zu  bringen  und  wirft  ihn  durch 
den  Rauchfang  hinab,  während  er  wie  früher  mit  einem  Löffel 
die  Asche  in  Portionen  eintheilt.  Er  folgt  ihr  und  kommt  zn  der 
Höhle  der  wilden  Thiere,  die  Beide  zerreissen. 

Die  achtzehnte  mongolische  Erzählung  ist  zu  indecent,  als 
dass  sie  hier  eine  Stelle  finden  könnte;  es  möge  die  Bemerkung 
genügen,  dass  wir  in  ihr  eine  komische  Variation  der  Amazone 
haben  und  dass  sich  dieses  Mannweib  Sfirya  (die  Sonne)  —  Ba- 
gatur  (dem  das  russische  bagatir  oder  Held  entspricht)  nennt 

In  der  zwanzigsten  Erzählung  finden  wir  ein  Kalb  und  ein 
Löwenjunges,  von  einer  Löwin  mit  derselben  Milch  aufgezogen.  * 
Als  sie  gross  geworden  sind,  begiebt  sich  der  Löwe  in  einen  Wald, 
das  Kalb  aber  auf  die  Sonnenseite  eines  Berges;  sie  begegnen 
sich  als  gute  Freunde  und«  Brüder  und  trinken  ans  demselben 
Wasser.  Dieses  gute  Einvernehmen  wird  jedoch  durch  ihren  treu- 
losen Onkel,  den  Fuchs,  gestört,  welcher  dem  Löwen  einredet, 
der  Stier  beabsichtige,  ihn  zu  tödten  und  auch  bemerkt,  dass, 
wenn  der  Stier  am  nächsten  Morgen  den  Boden  mit  seinen  Hör- 
nern aufwühlt  und  laut  brüllt,  dies  das  Zeichen  sei,  dass  er  im 
Begriff  stehe,  seine  Absicht  auszuführen;  er  erzählt  darauf  dem 
Stier,  der  Löwe  hege  die  gleiche  Absicht  gegen  ihn.  Als  die  bei- 
den Brüder,  Stier  und  Löwe,  am  Morgen  zu  demselben  Wasser 
geben,  nähern  sie  sich  einander  mit  Misstrauen,  gerathen  in  Streit 
und  tödten  einander,  während  der  Fuchs  allein  den  Vortheil  bat. 
Diese  Gestalt  der  Geschichte  von  den  beiden  Dämmerungen  (den 
A(vins)  werden  wir  im  nächsten  Kapitel  noch  näher  be- 
leuchten. 

Der  Anfang  der  einundzwanzigsten  mongolischen  Erzählung 


'  Vgl.  auch  die  Kapp,  über  den  Löwen  un*!  den  Fuchs. 


VX-^ 


103 

bietet  uns  eine  neue  Analogie  zu  der  Fabel  von  Perrette.  *  Arme 
Eltern  finden  einen  Klumpen  Schafwolle;  sie  pflegen  Rath  und 
beschliessen,  aus  der  Wolle  einen  Rock  zu"  machen  und  für  den 
Rock  einen  Esel  zu  kaufen  und  ihren  Jungen  darauf  zu  setzen. 
^Und  wenn  wir  doch  einmal  kaufen,"  sagt  die  Frau,  „so  muss 
eine  Eselin  genommen  werden;  'wenn  von  ihr  ein  Junges  zur 
Welt  gebracht  wird,  so  werden  es  ihrer  zwei."  Der  kleine  Bursche 
schreit  gleich,  werde  ein  kleiner  Langohr  geboren,  so  wolle  er 
darauf  reiten,  worauf  seine  Mutter  antwortet:  „Du  wirst  den 
Rücken  des  jungen  Esels  zerbrechen;"  sie  begleitet  diese  Worte 
mit  der  Bewegung  eines  Stockes  und  schlägt  dem  Kinde  den 
Kopf  ein,  so  dass  es  stirbt ;  damit  haben  auch  die  schönen  Pläne 
der  armen  Eltern  ein  Ende. 

In  der  letzten  Geschichte  des  Siddhi-kür,  die  sich  an  die 
drei  Fabeln  von  den  dankbaren  Thieren,  den  Verkleidungen  und 
der  lachenden  Prinzessin  anschliesst,  gebraucht  ein  Mann  die 
Hörner  seines  todten  Büflels,  um  die  Wuraeln,  von  denen  er  sich 
in  der  Verbannung  nährt,  auszugraben. 

Auch  die  Geschichte  von  Ardshi-Bordshi  enthält  mehre 
interessante  Erzählungen. 

Sie  beginnt  damit,,  dass  die  Kinder,  die  des  Königs  Ktthe 
httten,  von  dem  Gipfel  eines  Hügek  aus  einen  allgemeinen  Wett- 
lnuf  anzustellen  pflegen.  Der  Erste ,  welcher  an  das  Ziel  kommt, 
wird  für  diesen  Tag  von  seinen  Gefährten  wie  ein  König  geehrt 
und  benimmt  sich  und  spricht  Recht  an  dem  Platze,  wo  der  Wett- 
lauf Statt  findet,  wie  ein  wirklicher  König ;  ja,  er  entscheidet  wie 
ein  Gerichtshof  letzter  Instanz  über  Fälle,  die  von  dem  grossen 
König  des  Landes  nicht  recht  geprüft  worden  sind.  Er  entlarvt 
und  überführt  Räuber  und  falsche  Zeugen,  die  von  dem  König  als 
unschuldig  losgesprochen  worden  sind,  und  schickt  einen  Boten 
an  den  König,  indem  er  ihm  empfiehlt,  in  Zukunft  bei  seinen 
Urtbeilen  vorsichtiger  zu  sein  oder  aber  auf  seine  königliche 
Würde  zu  verzichten.  Der  grosse  König  wundert  sich  über  die 
ausserordentliche  Klugheit  des  Königs  der  Kinder  und  schreibt 
seinen  übernatürlichen  Scharfsinn  dem  magischen  Einfluss  des 
Berges  zu,  wo  die  Kinder,  die  die  Kühe  hüten,  spielen.  Bei  einer 
andern  Gelegenheit  entdeckt  der  König  der  Kinder  durch  seine 
Schlauheit  einen  bösen  Dämon  in  Jemandem,  den  der  König  für 


'  Vgl.   über  die  Geschichte  von  Perrette   den   interessanten  Aufsatz 
[.  Müllers  in  der  Contemporary  Review,  1870. 


104 

den  rechtmässigen  Sohn  seines  Ministers  gebalten  hatte.  Die  Ent- 
deckung geschieht  vermittelst  einer  Aufforderung  an  des  Ministers 
wirklichen  Sohn  und  sein  dämonisches  Pendant^  auf  der  Stelle  in 
einen  kleinen  Krug  zu  kriechen.  Der  wirkliche  Sohn  kann  es 
nicht;  aber  der  dafür  gehaltene  verkleinert  sich  und  geht  in  den 
Krug  hinein,  worauf  der  Kipderkönig  die  Oeffnung  sofort  mit 
einem  Diamanten  vei'siegelt  und  dem  grossen  König  für  seine 
Sorglosigkeit  einen  neuen  Verweis  zukommen  lässt.  Der  grosse 
König  besucht  darauf  die  Kinder,  und  als  man  die  ihnen  zum 
Königsspiel  dienende  Httgelhöhe  umgräbt^  kommt  aus  dem  Innern 
ein  goldener  Thron  zum  Vorschein;  auf  den  32  goldenen  Stufen 
stehen  32  Holzfiguren^  auf  jeder  Stufe  eine  befestigt  (der  Mond  m 
seinen  Phasen).  Der  grosse  König  lässt  den  Thron  in  seinen 
Palast  bringen  und  versucht;  ihn  zu  besteigen;  die  Holzfiguren 
halten  ihn  zurtlck  und  eine  von  ihnen  erzählt  ihm,  dass  das  einst 
der  Thron  des  Gottes  Indra  und  später  des  Königs  Vikraoaadity« 
war.  Der  grosse  König  verneigt  sich  ehrerbietig  und  eine  der 
Puppen  beginnt  die  Geschichte  Vikramädityas  zu  erzählen. 

Die  Geschichte  Vikramädityas ,  welche  die  Puppe  erzählt^  geht 
zurück  auf  ein  kluges  Kind^  welches  die  Gattin  des  Königs  Gan- 
dharva  geboren^  nachdem  sie  einen  Brei  aus  in  Rüböl  gekochter 
und  in  einer  Porzellanvase  mit  Wasser  verdünnter  Erde  (dessen 
Bodensatz  eine  Dienerin  isst)  gegessen  hatte.  Der  junge  Vikra- 
mäditya  lernt  alle  Künste ;  eingeschlossen  die  Kunst  zu  stehlen^ 
welche  ihm  von  den  erfahrensten  Räubern  beigebracht  wird,  wie 
auch  jede  Art  von  Betrug  in  Handel  und  Wandel;  dnreh  Betrug 
gelangt  er  in  den  Besitz  eines  bezauberten  Edelsteines,  der  in  der 
rechten  Hüfte  eines  Leichnams  steckt,  und  eines  Knaben,  der  die 
Fähigkeit  besitzt,  die  Sprache  der  Wölfe  zu  verstehen  und  sich 
Sohn  der  Wölfe  nennt,  in  Wirklichkeit  aber  an  der  Landstrasse 
von  dem  Mädchen  geboren  ist,  welches  den  Bodensatz  des  Breis 
gegessen  hatte;  dieses  Kind  wird  nun  von  seiner  Mutter  gesäugt 
und  wird,  obwohl  zuerst  ungestfjt,  im  Laufe  der  Zeit  sehr  schön. 
Vikramäditya  tödtet  später  den  König  der  Dämonen  im  Kampfe, 
wobei  es  beach tenswerth  ist,  dass  so  viel  neue  Dämonen  zum 
Kampfe  erstehen,  als  Stücke  sind,  in  die  der  Held  den  Dämon 
haut,  bis  sich  der  Held  seinerseits  vervielfacht  und  jedem  Dämon 
einen  aus  ihm  entstandenen  Löwen  gegenüberstellt.  VikraipA- 
ditya  besteigt  einen  Thron,  auf  dem  die,  die  vor  ihm  darauf  ge- 
sessen, Alle  nach  einer  vierundzwanzigstündigen  Regierung  um- 
gekommen waren,  weil  sie  unterlassen  hatten,  während  der  Nacht 


106 

die  ttbUeben  Opfer  darzubringen;  VikramAdityaerrallt  mit  seinem  Ge- 
nossen, dem  Sohn  des  Wolfs,  die  heilige  Pflicht  und  entrinnt  dem  Tode. 
In  derselben  Erzählung;  welche  uns  an  die  Kibhus  und  die 
vier  Becher  und  die  Kuh  erinnert,  arbeiten  vier  junge  SchÄfer, 
ein^  nach  dem  andern,  an  demselben  Stück  Holz;  einer giebt  ihm 
die  allgemeine  Gestalt  einer  Frau ;  der  zweite  trägt  gelbe  Farbe 
Mrf;  der  dritte  verleiht  die  Züge,  die  der  weiblichen  Gestalt  eigen- 
thttmtieh  sind,  und  der  vierte  haucht  der  Figur  Leben  ein;  dann 
streiten  sie  sich  um  sie.  Der  Fall  wird  vor  den  K(Vnig  gebracht; 
ein  Weiser  spricht  sich  dahin  aus:  „Derjenige,  der  die. Figur  zu- 
erst gemacht  hat,  ist  der  Vater;  der  die  Farbe  aufgetragen,  ist  die 
Mutter;  der  die  charakteristischen  Züge  hinzugefügt  hat,  ist  der 
Lama  (Priester);  der  ihr  das  Leben  einhauchte,  wie  sollte  der  nicht 
ihr  Mann  sein?'^  So  werden  aus  den  Vier  Drei,  indem  die  ersten 
Beiden  ein  Paar  bilden. 

Folgt  die  Erzählung  von  der  Frau,  die  ihren  Mann  bei  den 
FttfiscB  nimmt  und  ihn  in  einen  Brunnen  stösst,  weil  sie  eine  me- 
lodische Stimme,   vielleicht  ein  Echo  ihrer  eignen,  hört,  die  sie 
bezaubert;  als  sie  nun  jene  liebliche  Stimme  aufsucht,  sieht  sie 
einen  am  Rücken  und  Hals  mit  Wunden  und  Beulen  bedeckten 
Mann,   der  sich  so  lieblich  vernehmen  lässt,  und  beklagt  ihren 
verlorenen  Gatt^.     In  der  Tbiermythologie  entspricht  die  Fabel 
von  dem  Hunde,  der,  beim  Anblick  seines  eigenen  Schattens,  das 
Fleisch  in  den  Floss  fallen  lässt,  dieser  Erzählung,  die  wir  jedoch 
hier   nur  wegen  ihrer  Verwandtschaft  mit  den  ähnlichen  Erzäh- 
lüDgen  von  der  Frau,  die  ihren  Mann  tödtet  und  von  dem  Mann, 
der  seine  Frau  tödtet,    indem  er  sie  ins  Wasser  wirft,    und  die 
schon  in  denvedischen  Hymnen  unbestimmt  angedeutet  sind,  anfuhren. 
Die  letzte  Evzählung,  die   in   der  Geschichte  von  Ardsbi 
Bords  hi   enthalten  ist,    zeigt  uns  andrerseits  ein  zu  geiUlliges 
Weib.    Em  König  hat  eine  Tochter,  „Sonnenschein^^  geheissen,  die 
voa  Niemandem  angesehen  werden  darf.    Die  Tochter  bittet  einst 
um   die  Erlaubniss,  am  fünfzehnten  des  Monats  (bei  Vollmond) 
ausgeben  und  sich  in  der  Stadt  umsehen  zu  dürfen;  es  wird  ge- 
währt, der  König  befiehlt  jedoch  Allen,  an  diesem  Tage  zu  Haus 
zu  bleiben  und   alle  Thüren   und  Fenster  zu  schliessen;  Todes- 
strafe  steht  auf  der  Uebertretung   dieses  Gebotes.     (Aehnliches 
konunt  in  der  britischen  Erzählung  von  Godiva,  der  Gräfin  von 
Mercia,  ans  dem  eilften  Jahrhundert  vor,)     Ein  Minister,  Ssaran 
(„Mond^O  mit  Namen,  kann  seine  Neugierde  nicht  bezwingen  und 
beobachtet  sie  von  einem  Söller  aus;  das  Mädchen  lädt  ihn  durch 


■  1 


106 

Zeichen  ein,  zu  ihr  zu  kommen ;  das  Weib  des  neugierigen  Mi- 
nisters deutet  ihm  die  Zeichen  und  drängt  ihn,  dem  schönen  Mäd- 
chen nachzugehen,  indem  sie  ihm  beim  Abschied  eine  Perle  der 
Wiedererkennung  giebi  Sonnenschein  und  Mond  treffen  sich 
unter  einem  Baume  und  bringen  die  Nacht  bis  zum  Sonnenauf- 
gang in  Liebesspiel  hin.  Eine  der  mit  der  Bewachung  der  Prin- 
zessin betrauten  Personen  entdeckt  diese  Intrigue,  wirft  Beide  ins 
Gefängnis^  und  denunzirt  sie  dem  König;  das  Weib  des  Ministers 
Ssaran  wird  vermittelst  der  Perle  in  Kenntniss  gesetzt,  dass  ihr 
Mann  in  Gefahr  ist;  sie  trifft  ihn,  verkleidet  und  verwandelt  ihn, 
und  bringt  eine  Eidesformel  bei,  mit  welcher  Sonnenschein  schwört; 
dass  es  ein  Ungeheuer  war,  welches  sie  umarmt  hat;  da  dies  dem 
Könige  und  seinen  Höflingen  unmöglich  scheint,  so  werden  der 
Minister  Ssaran  und  Sonnenschein  freigesprochen.  (Die  Aurora 
oder  die  Sonne  ist  während  der  Nacht  verborgen  und  Niemand 
sieht  sie,  Niemand  darf  sie  sehn;  der  Gott  Lunus  zeigt  sich; 
er  weih  während  der  Nacht  bei  der  Sonne  oder  der  Aurora,  die 
Niemand  während  der  Nachtsehen  kann;  der  Gott  Lunus  verwandelt 
sich  darauf,  so  dass  er  unkenntlich,  unsichtbar  wird;  der  Schul- 
dige schleicht  sich  davon  und  entrinnt;  es  scheint  also  unmög- 
lich, dass  der  Gott  Lunus,  der  nicht  mehr  zu  sehen  ist,  bei  dem 
Licht  der  Sonne  gewesen  sei;  nachdem  ihre  Liebe  ein  Ende  er- 
reicht, die  Buhlen  getrennt  sind,  glaubt  man  nicht  mehr  an  ihre 
Schuld,  ihre  Unschuld  wird  anerkannt  und  die  Sittlichkeit  der 
Mythe  sich  selbst  überlassen.) 

Da  jedoch  die  kalmttkischen  und  mongolischen  Erzählungen 
von  Siddhi-kür  und  die  Geschichte  Ardshi-Bordsbis  nur 
Paraphrasen  von  indischen  Mäbrchen  sind,  so  dürften  sie  allein 
die  Abstammung  der  mündlichen  turko-finnischen  Tradition  im 
eigentlichen  Sinne  von  den  Thierfabeln  der  arischen  Mythologie 
nicht  hinreichend  beweisen.  Wir  müssen  uns  also  wohl  oder  übel 
in  andern  Gegenden  nach  Beweisen  für  ihren  Einfluss  umsehen. 

Eine  turanische  Erzählung  aus  dem  Süden  Sibiriens^  ver- 
schweisst  mehre  mythische  Stoffe,  mit  denen  wir  schon  bekannt 
geworden  sind,  miteinander. 

Arme  alte  Leute  haben  drei  Söhne;  die  drei  Söhne  gehen 
auf  den  Berg  träumen;  die  beiden  ältesten  träumen  von  Reich* 
thümem,  der  dritte  träumt,   dass  seine  Eltern  magere  Kameele 


'  Radlofi,  Proben  der  Volksliteratur  der  türkischen  Stämme 
SSüdsibiriens. 


107 

and  seine  Brüder  zwei  hungrige  Wölfe  sind,  die  ins  Gebirge  da- 
Yonlanfen,  während  zu  seiner  rechten  Seite  die  Sonne  ^  za  seiner 
linken  der  Mond,  nnd  auf  seine  Stirn  der  Morgenstern  scheint. 

Der  Vater  befiehlt  den  Brüdern;  ihn  zu  tödten ;  sie  wagen  es 
nicht;  sie  vertreiben  ihn  nur  aas  dem  Hatise  und  tödten  statt 
seiner  einen  Hand,  dessen  Blut  sie  ihrem  Vater  bringen ,  welcher 
es  für  das  seines  Sohnes  hält  und  ihnen  seine  Zufriedenheit  aus- 
spricht Der  Jüngling  seh  weift;  umher,  bis  er  an  eine  Hütte 
kommt,  wo  ein  blinder  und  lahmer  Alter  und  eine  blinde  Alte 
aus  einer  goldenen  Schüssel  essen,  die  sich,  sobald  sie  leer  ist, 
von  selbst  mit  neuem  Fleisch  füllt  (der  Mond).  Der  hungrige 
Bursche  hatte  sich,  während  die  Alten  auf  dem  Bette  lagen,  etwas 
von  diesem  Fleisch  genommen,  doch  der  Alte  bemerkt,  als  er 
etwas  gegessen,  dass  Jemand  mit  den  Zähnen  in  das  Essen  ge- 
fahren ist;  mit  einer  Angel,  die  er  um  sich  schwingt,  fa^st  er 
den  Jüngling  beim  Rockschosse,  der  um  sein  Leben  bittet  mit  der 
Versicherung,  er  wolle  das  Auge  der  Augenlosen  und  der  Fuss 
des  Fusslosen  sein.  Das  gefällt  den  Alten  und  sie  adoptiren  ihn 
an  Sohnes  Statt;  er  macht  sich  einen  Bogen  und  einen  Holzpfeil 
und  geht  auf  die  Jagd  nach  Wild  zu  ihrem  Unterhalt  Der  Alte 
leiht  ihm  sein  eisengraues  Ross,  das  erst  einen  Tag  alt  ist,  be- 
fiehlt ihm  aber,  nicht  auf  dem  Wege  nach  Sonnenuntergang  zu 
zu  reiten,  sondern  nach  Sonnenaufgajig  hin ;  der  Jüngling  wundert 
sich,  warum  er  nicht  nach  Sonnenuntergang  reiten  solle;  „viel- 
leicht sein  Vieh,  sein  Geld,  seine  Leute  werden  dort  sein,'/  denkt 
er,  ist  nngehorsana  und  reitet  bei  Nacht  Was  das  Pferd  dann 
thut,  werden  wir  im  nächsten  Kapitel  sehn.  Der  Jüngling  be- 
kämpft und  besiegt  den  Dämon,  indem  er  seine  Oberlippe  an  den 
Himmel,  die  Unterlippe  an  die  Erde  befestigt;  der  überwundene 
Dämon  räth  ihm :  „Mein  Bauchfett  nehmend,  gürte  es  Dir  um.  In 
meinem  Innern  wird  ein  silberner  Kasten  sein,  in  diesem  ein 
goldener,  in  diesem  wieder  ein  silberner;  den  silbernen  Kasten 
nimm ;  wirf  ihn  in  den  Milchsee."  Aus  dem  aufgeschlitzten  Bauche 
des  Ungeheuers  kommen  unzählbare  Thiere,  Menschen,  Geld  und 
Sachen  heraus.  Ein  Theil  der  Leute  spricht:  „Was  für  ein  edler 
Mensch  hat  jins  von  der  schwarzen  Nacht  befreit?  Was  für  ein 
edler  Mensch  hat  uns  den  hellen  Tag  gezeigt  ?"  In  dem  innersten 
Kasten  findet  der  Jüngling  ein  zusamraengeknotetes  weisses  Tuch, 
das  er  in  die  Tasche  steckt  Aus  dem  Kasten  kommt  viel  Geld, 
Volk  und  Leute  nimmt  der  Jüngling.  Alle  Sachen,  alles  Geld 
nimmt  er.    Das  weisse  Vieh  treibt  er  vor  sich  her  und  kehrt  heim. 


108 

Zu  Hause  «cblafen  der  Alte  und  die  Alte.  Der  Jüngling  maeht 
das  weisse  Tuch  auf  und  findet  darin  die  Angen  der  Alten  zu  je 
zweien  eingebunden;  er  setzt  sie  ihnen  ein;  dann  setzt  er  sich  mit 
gekreuzten  Beinen  zur  Seite  des  Feuers  und  raucht  Tabak.  Jetzt 
stehen  die  Alten  auf  mit  sehr  hellen,  sehr  schönen  Augen,  und 
umarmen  den  Jüngling.  Der  Alte  verleiht  ihm  darauf  die  Fähig- 
keit;  sich  in  einen  Fuchs,  einen  Wolf,  einen  Löwen,  einen  Geier 
und  andere  Thiergestalten  ganz  nach  Belieben  zu  verwandeln. 
Der  Jüngling  geht,  um  zu  freien,  nach  der  Residenz  des  Fürsten 
Ai-Kan;  dieser  verspricht  dem  seine  Tochter  zu  geben,  der  ihm 
den,  bei  einem  Ausritt  vergessenen,  goldenen  Handschuh  bringt. ' 
In  der  Gestalt  eines  Geiers  macht  sich  der  Jüngling  auf,  ihn  zu 
holen ;  er  gewinnt  die  Tochter  des  Ai-Kan,  welche  den  Handschuh 
bat  und  zu  ihm  sagt:  „Du  bist  mein  Mann.^'  Nach  verschiedenen 
andern  Verwandlungen,  in  deren  einer  die  beiden  mageren  Kameele 
wiedererscheinen,  d.  h.  seine  beiden  Eltern,  nimmt  er  sich 
schliesslich  noch  eine  andere  Frau,  die  Tochter  des  Kün-Kan  und 
lebt  bald  bei  der  einen,  bald  bei  der  andern,  welcher  er  das 
Fleisch  seines  eigenen  mörderischen  Vaters  zu  essen  giebt.  Keca- 
pituliren  wir  die  Momente  dieser  höchst  significanten  Erzählung:  — 
1.  Die  Vorbedeutung,  der  Traum  auf  dem  Berge;  2.  Die  drei  Brüder, 
von  denen  zwei  den  dritten,  zum  Glück  bestimmten  tödten  wollen ; 
3«  Der  Lahme  und  der  Blinde  im  Walde;  4«  Die  Jagd  des  Helden; 
5.  Der  Kampf  mit  dem  Ungeheuer  der  Nacht;  6.  Die  Schätze, 
geistige  und  materielle,  welche  aus  dem  Ungeheuer  herauskommen ; 
7.  Das  Vieh  in  Verbindung  mit  dem  Milchsee;  8.  Der  Uebergang 
des  Helden  von  dem  Milehsee  an  den  Kamin,  von  der  Alba  zu 
der  Aurora,  von  dem  weisslichen  Himmel  zu  dem  rötblichen; 
9.  Das  Erwachen  der  Schläfer  und  die  Wiederherstellung  des  Ge- 
sichts bei  dem  Blinden,  während  er  am  Feuer  sitzt,  während  sich 
die  Sonne  mit  der  Aurora  vereinigt;  10.  Die  Verwandlung  des 
Helden  selbst;  11.  Erlangung  der  Braut  durch  Beschaffung  der 
goldenen  Handschuhe;  12.  Seine  Heirath  mit  zwei  Frauen;  13. 
Seine  Rache  an  dem  ihn  verfolgenden  Vater.  Die  Erzählung  ist 
an  sich  ein  episches  Gedicht  und  wir  können  nur  bedauern,  dass 
ihr  die    altaischen  Mährchenerzäbler   keine  kunstvollere  Gestalt 


I  Prof  Schiefner  (bei  Riidiofi,  Proben  etc.  Vorwort  p.  XII)  hat  mit 
dieser  Stelle  echou  eine  von  Ahlquist  in  seinem  Versuch  einer  Moksha* 
Mordwin'isoben  Grammatik  (p.  97)  yeröffentlichten  EkväÜtUiig  vei^ 
glicbeni 


109 

gaben  als  die^  in  welcher  sie  in  der  vorzüglieben  Radioffischen 
Sammlung  vorliegt. 

Eine  andere  interessante  tnranische  Erzählung  in  derselben 
Sammlung;  die  mehre  Spuren  des  ursprünglichen  Mythus  an  sicli 
trägt,  ist  eine  Version  der  Erzählung  von  dem  Helden,  welcher 
das  ihm  von  seinem  Schwiegervater  aufgegebene  Räthsel  löst  und 
80  sein  Weib  gewinnt  Ein  Vater  hat  drei  Söhne;  der  erstge- 
borene träumt,  dass  ein  Wolf  ihre  Kuh  gefressen  hat;  er  sieht 
nach  und  findet  es  richtig  (die  Aurora  vernichtet  die  Nacht).  Wir 
haben  schon  gesehen,  dass,  wie  der  dritte  Bruder  das  kluge  Kind 
ist,  so  der  erstgebome  oft  das  Geheimniss,  Räthsel  zu  lösen,  be- 
sitzt. Der  Vater  der  drei  Brüder  denkt  daran,  für  seinen  ältesten 
Sohn  ein  Weib  herzuschaflfen.  „Auf  die  Freite  ging  er,  zum 
Brautvater  kam  er,  der  Brautvater  sagte:  *Mit  Pelz  komme  nicht! 
Ohne  Pelz  komm'  auch  nicht!  wenn  Du  so  kommst,  werde  ich 
(Dir)  meine  Tochter  geben*/'  Der  Sohn  näht  am  Morgen  den 
Pelz  aus  einem  Netz ;  der  Alte  zieht  diesen  Pelz  an  und  der  Braut- 
vater weiss  nicht,  hat  jener  einen  Pelz  oder  hat  er  keinen.  Der 
Brautvater  giebt  ihm  noch  ein  Räthsel  auf:  „Den  Weg  betritt 
nicht,  vom  Wege  weich'  nicht  ab!  ohne  Pferd  komm'  nicht,  mit 
einem  Pferd  komm'  auch  nicht!  Wenn  Du  so  kommst,  werde  ich 
(Dir)  meine  Tochter  geben."  Der  Sohn  löst  das  Räthsel  und  der 
Alte  reitet  zum  Brautvater,  indem  er  auf  dem  Rande  des  Weges 
geht  und  einen  Stock  zum  Pferde  macht  und  darauf  reitet.  Da 
giebt  der  Brautvater  die  Tochter. 

Schiefher '  giebt  eine  finnische  Variation  derselben  Erzählung. 
Ein  König  stellt  öinem  Häuslerknaben  die  Aufgabe,  zur 
Stadt  zu  kommen  „weder  bei  Tage  noch  bei  Nacht,  weder  auf 
dem  Wege,  noch  am  Rande  des  Weges,  weder  zu  Ross  noch  zu 
Fuss,  weder  bekleidet  noch  nackt,  weder  innerhalb  noch  ausser- 
halb." Der  Knabe  macht  sich  eine  Decke  aus  einem  Ziegenfell, 
geht  zur  Stadt  auf  dem  Boden  eines  Grabens,  an  einem  Fuss  ein 
Sieb,  an  dem  andern  eine  Bürste,  und  dies  in  der  Morgendämme- 
rung, und  setzt  sich  auf  die  Thür  der  Vorhalle,  das  eine  Bein  nach 
innen,  das  andre  nach  aussen  haltend. 

Das  war  der  Humor  und  die  Weisheit  unsrer  Väter ;  Scharf- 
sinn wurde  nach  der  Geschicklichkeit  im  Lösen  astronomischer 
Räthsel   bemessen.     Jetzt    haben  die  Räthsel  eine  andre  Gestalt 


1 


'  RadloflF,  Proben  etc.  Vorwort  p.  XIII. 


110 

angenommen;  es  sind  Züge  der  Diplomatie,  Liebeshieroglyphen, 
ethische  Fragen,  metaphysische  Nebeicien,  die  wir,  die  Männer 
des  Fortschritts,  lösen  müssen ;  aber  in  der  Abneigung,  unser  Zu- 
rückstehen an  Scharfsinn  gegen  die  Kinder  der  Erzählungen  anzu- 
erkennen, möchten  wir  uns  gern  selbst  tiberreden,  dass  die  neuen 
Räthsel  schwieriger  sind  als  die  alten. 

Bei  den  vedischen  Räfhseln ,  welche  sich  die  Aurora  und  die 
Sonne  einander  aufgeben,  haben  wir  gesehen,  wie  sie  am  Morgen 
durch  die  Hochzeit  des  Rathers  und  der  Ratherin  gelöst  wurden. 
So  lösen  auch  in  den  beiden  eben  angeführten  Räthseln  der  Sohn 
des  alten  Mannes  und  das  Kind  das  Räthsel  am  Morgen.  Was 
das  Sieb,  die  Bürste  und  den  Graben  betrifft,  so  sind  sie  mythische 
Staffirung  von  grossem  Interesse  und  augenfälliger  Bedeutung. 
Der  nächtliche  Himmel  ist  der  grosse  Graben;  den  Nachthinimel 
zu  fegen ,  müssen  wir  eine  Bürste  habeo ;  das  gute  Korn  während 
der  Nacht  von  dem  schlechten  zu  sondern,  wie  die  grausame 
Stiefmutter  befiehlt,  müssen  wir  ein  Sieb  haben;  das  Kind  Sonne 
langt  in  der  Dämmerung  auf  dem  Boden  des  Grabens  an  der 
Thorschwelle  des  königlichen  Palastes  an  und  bietet  der  jung- 
fräulichen Aurora  (der  vedischen  Reinigerin  oder  Putzerin)  die 
Bürste  und  das  Sieb  an.  Die  Sonne  ist  beim  Zwielicht  weder 
drin  noch  draussen.  In  der  zweiten  schottischen  Geschichte  Camp- 
beils befiehlt  der  Riese  dem  Helden  unter  Anderm,  in  einem  Tage 
die  sieben  Jahre  lang  nicht  gereinigten  Ställe  zu  reinigen  (He- 
rakles und  Augias). 

Doch  bleiben  wir  bei  unsrem  Gegenstande;  der  Weg  ist  weit! 

Eine  mongolische  Sage,  die  in  der  mongolischen 
Chrestomathie  von  Popow*  enthalten  ist,  spricht. von  einem 
Knaben,  der  ohne  Sattel  auf  dem  schwarzen  Ochsen  reitet 

Wir  sahen  oben  die  Kuh,  welche  der  Wolf  frisst:  in  einer 
andern  altaischen  Erzählung  finden  wir  eine  Alte,  die  ihre  sieben 
azur  (dunkel)  farbigen  Kühe  sieben  Wölfen  preisgiebt,  damit  die 
letzteren  das  Kind  Kan  Pttdäi  verschonen,  welches  sie  an  dem 
Fusse  eines  Brunnens  gefunden  hatte;  mittlerweile  ist  das  Kind, 
das  zweihundert  Hasen  verzehrt  hat,*  stark  geworden  und  zer- 
bricht seine  eiserne  Wiege  (der  eiserne  Nachthimmel  ist  die  Wiege 
der  jungen    Sonne);    aus  den  Hörnern    von   sechs  Steinböcken 


*  Kasan  I83ß,  S.  19,  angeführt  von  Schiefner  in  dem  Vorwort  tn  Rad- 
ioff •  Proben  etc.  p.   XII. 

*  Vgl.  über  die  Bedeutung^  die9e8  M^'thus  das  Knp.  Über  den  Hasea« 


l 


Ill 

macht  sich  der  Jüngling  einen  Bogen;  aus  dem  Fell  eines  riesi- 
gen Seethieres  (der  dttstem  Wolke)  macht  er  eine  Sehne  für  den 
Bogen  (die  Bogensehne  heisst  auch  bei  den  Hindus  go  d.  h.  Kuh, 
wie  eine  Wolke  am  Himmel  und  als  ob  sie  aus  dem  Fell  einer 
Kuh  gemacht  wäre);  er  reitet  auf  dem  azurnen  Kalbe  (dem 
dunklen  Kalbe,  welches  unsere  Aufmerksamkeit  auf  den  schwar- 
zen Ochsen  zurüeklenkt  und  uns  seh  Hessen  lässt,  das  riesige  Thier 
sei  eine  Kuh  gewesen),  bezwingt  und  zähmt  es;  er  kommt  dann 
an  ein  Schneefeld,  auf  welchem  ein  heisser  schwarzer  Wind  weht 
und  wo  er  die  sieben  Wölfe  findet;  er  bindet  sie  seinem  Kalbe 
an  den  Schwanz  und  schleift  sie  auf  der  Erde,  bis  sie  sterben. 
Der  Knabe  setzt  seine  Jagd  auf  wilde  Thiere  fort;  er  tödtet  die 
schwarzen  und  fetten ;  die  gelben  und  magern  lässt  er  frei.  „Der 
Jüngling  geht  hinaus  an  des  schwarzen  Meeres  Mitte,  an  des 
schwarzen  Meeres  Flusse  baut  er  ein  schwarzes  Schloss.  Die  Alte 
(die  ihn  aufgezogen)  und  das  blaue  (i.  e.  dunkelfarbige)  Kalb 
bringt  er  dort  hinein/'  Darauf  vertauscht  der  junge  Kan  Püdäi 
sein  Kalb  mit  einem  Pferde.  Wir  werden  im  nächsten  Kapitel 
sehen,  was  er  mit  seinem  Pferde  macht;  es  genüge  hier  die  Be- 
merkung, dass  er  schliesslich  den  schwarzen  Stier  trifft,  den  Herrn 
des  Altai.  Die  Seele  des  schwarzen  Stiers  flüchtet  sich  in  einen 
rothen  Faden  in  der  Mitte  des  Regenbogens  (in  dem  Volksglauben 
des  Orients  war  der  Regenbogen  eine  Brücke,  ein  Pfad,  über  den 
die  Seelen  der  Sterblichen  schritten) ;  der  junge  Kan  Püdäi  durch- 
bohrt sie  mit  seinen  Pfeilen.  Er  erobert  das  weisse  Vieh ,  tödtet 
das  Ungeheuer  Kara  Kula  und  kehrt,  dessen  Weib  und  Tochter 
mitnehmend,  heim;  sieben  Tage  lang  ist  Schmausen  und  Trinken 
und  Festfreude  im  Hause  Kan  Püdäis.  Jedoch  wird  nicht  gesagt, 
dass  er  die  Tochter  und  das  Weib  Kara  Kulas  geheirathet  habe. 
Kan  Püdäi  ist  im  Gegentheil  sterblich  in  Tämän  Oekö,  des  Him- 
mels Kind,  verliebt  (duhitar  divas  oder  Tochter  des  Himmels  ist 
der  Name,  welchen  gewöhnlich  die  Aurora  in  den  vedischen  Hymnen 
fuhrt}  und  steigt,  um  sie  zu  holen  und  sie  zu  seinem  Weibe  zu 
machen,  in  den  dritten  Himmel  auf  (es  ist  die  dritte  Stufe  Vish^us; 
es  ist  der  dritte  Bruder,  die  Sonne  der  dritten  Nachtwache, 
welche  den  Sieg  über  das  finstere  Ungeheuer  davonträgt).  Um 
der  Tochter  des  Himmels  würdig  zu  werden,  hat  Kan  Püdäi  zwei 
Ungeheuer  zu  tödten,  Asche  auf  das  Siegesfeld  zu  streuen  und 
das  weisse  Vieh  fortzutreiben,  die  drei  Bären  zu  fangen,  die  drei 
schwansblauen  Stiere  zu  nehmen  und  sie  drei  Hügel  verschlucken 
zu  lassen,  den  Tiger  zu  nehmen  und  ihm  das  Kraut  dreier  6e- 


112 

birge  za  esnen  zu  geben ,  den  Wallfisch  im  Mauen  Meere  bo 
tödten  (lauter  verschiedene  Gestaltungen  eines  und  desselben 
mythischen  Kampfes) ;  und  schliesslich  auf  dem  Bergesgipfel  mit 
dem  goldhaarigen  Ungeheuer  Andalma  zu  spielen.  Er  bekommt 
darauf  die  Braut  und  kehrt  mit  ihr  in  sein  eigen  Land  zorttck,  wo 
er  jagt;  Kriege  fUhrt  und  alle  seine  Feinde  besiegt,  bis  er  alt 
wird;  dann  verlässt  er  AUe^  ausgenommen  seine  alte  Lebensge- 
fährtin (die  alte  Sonne  und  die  alte  Aurora  trefien  sich  am  Abend 
wieder). 

Hier  haben  wir  augenscheinlich  die  richtige  ThiermTthologie« 
In  der  verwickelten  Erzählung  von  Ai-Kan  haben  wir  in  dem 
Brnder  Altyu  Ayak,  welcher  in  einem  goldenen  Kasten  schläft 
und  erwacht,  um  Ai-Kan  zu  helfen,  eine  Figur,  welche  wenn  auch 
nicht  identisch  ist,  doch  Aehnlichkeit  hat  mit  der  des  schlafenden 
Kumbhakarna  (Muschelohr)  im  Rämäyajjta,  der  erwMht,  um  R&- 
vana  zu  helfen.  Wir  haben  den  berauschenden  Trank,  der  dem 
Helden  Kraft  giebt,  welcher  drei  Mal  vom  Tode  erweckt  wird, 
das  letzte  Mal  nachdem  er  von  Hunden  gefressen  worden  ist;  die 
Wölfe,  welche  Sary-Kan  oder  den  schönhaarigen  Fürsten  ver 
schlingen;  den  Helden  (die  Sonne),  welcher  die  ihm  von  den  bei- 
den Brüdern  (den  A^vins)  gegebene  Frau  (die  Aurora)  schlägt; 
Hund  und  Kater  in  Freundschaft ;  den  goldenen  Napf,  in  welchem 
der  schlafende  Brnder  Ai-Kans  eingeschlossen  ist  und  welcher 
ins  Meer  ßlllt;  die  dankbaren  Thiere,  welche  nach  dem  Napf 
suchen,  der  sich  im  Magen  eines  Fisches  findet  (ans  dem  Wall- 
fisch des  nächtlichen  Oceans  kommt  der  Edelstein  heraus);  und 
das  daraus  folgende  Erwachen  des  schlafenden  Altyn  Ayak. 

Das  Folgende  ist  aus  einer  altaischen  Sage  in  der  Radioff- 
sehen  Sammlung  * :  --  Ein  Chan  schickt  sein  Heer  aus ,  am  ein 
Volk  jenseits  des  Meeres  zu  bekriegen.  Sie  kommen  an  ein  un- 
absehbares blaues  Meer ;  jenseits  desselben  steht  ein  hoher,  kahler 
Stein;  sie  setzen  über  und  finden,  dass  der  Felsen  ein  kleines 
Mädchen  ist.  Dieses  ist  die  Beherrscherin  des  jenseits  des  Meeres 
gelegenen  Landes.  Ihre  Unterthanen  wollen  sich  auf  einen  Krieg 
nicht  einlassen ;  sie  schickt  die  über  das  Meer  gekommenen  Feinde 
fort,  indem  sie  ihnen  Gold,  Silber,  schöne  Seide,  goldene  Näpfe^ 
schöne  Pfeifen,  wie  auch  die  eine  Vorderhälfte  ihres  Pelzes  giebt 
Diese  kehren  zum  Chan  zurück,  welcher  die  eine  vordere  Pelz- 
hälfte den  Schneidern  giebt,  um  zu  erfahren,  ftlr  wie  viel  Menschen 


>  Theil  I,  Ueber9etiuBg  p.  194  fi. 


113 

sie  hinreiche ;  die  eine  vordere  Pelzhälfte  reicht  für  acht  Menschen 
hin.-  In  diesem  wunderbaren  Pelze^  in  dem  zauberhaften  Mädchen 
und  in  den  Kriegern,  die  über  das  Meer  fahren,  haben  wir  ganz 
unverkennbar  den  Schleier  der  jungfräulichen  Aurora  der  Veden, 
die  vor  der  Sonne,  ihrem  Gemahl,  ihren  Busen  entblösst,  und  das 
Meer,  ttber  welches  der  Sonnen-Kämpfer  fährt  und  aus  welchem 
er  auftaucht,  um  zu  der  Aurora  zu  kommen  —  haben  wir  femer 
ganz  unverkennbar  das  goldene  Fiiess,  Jason,  Medea,  die  Argo- 
nauten der  hellenischen  Sage.  * 

In  der  finnischen  Mythologie  der  Kalevala '  haben  wir  eben- 
falls auf  dem  Berge  „die  gute  und  reine  Wirthin,  die  Gabenreiche" ; 
durch  die  goldenen  Fenster  ihrer  Burg  werden  „die  Geberiunen, 
des  Wildprets  Spenderinnen"  erblickt;  in  dieser  finnischen  Dai- 
stellung  haben  wir  jedoch  meines  Erachtens  nicht  das  heldische 
Mädchen  A%rora  zu  erkennen,  sondern  den  Mond,  Diana  die  Jä- 
gerin (das  germanische  „Helljäger^O  >  die  auch  auf  dem  Berges- 
gipfel erscheint,  von  den  Sternen  des  nächtlichen  Waldes  umge- 
ben, in  welchem  sich  die  wilden  Vögel  finden,  die  sie  deshalb  auf 
den  Helden  verschwenden  kann. 

Die  Finnen  verehren  einen  Donnergott,  vereinigt  mit  den 
Wolken,  welcher  als  Schwert  den  Donnerkeil  hat  und  Ukko- 
heisst,  den  Vater  Väinämöinens,  des  tapfeni  und  weisen  Helden, 
der  schon  im  Mntterleibe  spricht,  schon  als  Kind  Wunderthaten 
verrichtet  und  Sonne  Mond  und  Sterne  schafft. 

Dieses  Heldenkiud  begegnet  uns  wieder  in  ihrem  „kleinen 
Gott"  (pikku  niiesj,  welcher,  obwohl  gleich  dem  indischen 
Vishnu  nur  eine  Spanne  lang,  dennoch  eine  Kupferrüstung  trägt 
und  eine  Axt  mit  einem  ellenlangen  Kupferschaft  handhabt.  Die 
Axt  selbst  ist  grösser  als  der  Mann,  der  damit  eine  Eiche  nieder- 
haut, welche  bis  dahin  kein  menschliches  Wesen  zu  fallen  ver- 
mochte.   Der  Sonnenheld  ist  klein ;  aber  sein  Strahl,  sein  Donner- 

*  Rune,  7.  —  Vgl.  CasU*^!!.  Kleinere  Schriften,  Petersburg  1H62, 
und  die  deutsche  Ucbersetzung  der  Kalevala  von  Schiefner,  Hei- 
singfors  1852. 

*  Ich  finde  bei  Castr^n  (Kl.  Sehr.  p.  25)  denselben  Ukko  mit  dem 
Worte  Kave(KayeUkko)  verbunden.  Ich  möchte  mit  Vorbehalt  an  die  finni- 
schen Sprachforscher  die  Frage  richten,  ob«  da  Ukko  eine  finnische  Form 
der  Gottheit  ist,  welche  die.  Hindus  Indra  nannten  und  wie  der  von  Indra 
beschützte  Held,  der  Held,  in  welchem  Indra  reproducirt  ist,  in  der  vedi- 
schen  (und  iranischen)  Sage  Kavya  U^anä  oder  sogar  U^anä  Kavi 
heisst,  die  Worte  Kave  Ukko  nicht  einige  Verwandtschaft  mit  dem  Na- 
men des  vcdischen  und  iranischen  Helden  haben  können? 

Gobernaüa,  dl«  Tbitre.  b 


114 

keil,  seine  Waffe,  seine  Hand  verlängern  sich,  dehnen  sieh  so  weit 
aus,  wie  es  der  Zwergbeld  wünschen  kann,  um  den  Feind,  wel- 
cher hier  den  wohlbekannten  Anblick  eines  Baumstammes  oder 
eines  dunklen  Waldes  bietet,  zu  vernichten.  Der  Holzhauer  ist 
deshalb  eine  Lieblingsfigur  in  der  Volkssage.  Und  der  Umstand, 
dass  Yäinämöinen,  alt  und  wahrhaft,  in  der  Ealevala^  vermit- 
telst des  kleinen  Gottes  die  wunderbare  Eiche  fällt,  zeigt  uns, 
dass  dieser  kleine  Gott  eine  neue  und  jflngere  Gestalt,  ein  jünge- 
rer und  siegreicher  Bruder,  oder  eine  Selbstemeuerung  des  Eel- 
denkindes  Väinämöinen  ist,  welcher  sein  eintägiges  Leben  gelebt 
hat.  Das  tapfere  Sonnenkind  des  Morgens  ist  der  erfahrene 
Sonnengreis  des  Abends  geworden;  da  aber  diese  alte  Sonne  nicht 
stark  genug  ist,  den  Eichbaum  zu  fällen,  der  Sonne  und  Mond 
lAit  seinen  Zweigen  verdunkelt,  so  ist  sie  genöthigt,  wieder  ein 
Kind  zu  werden,  um  die  erforderliche  Stärke  zu  entwickeln ;  sie 
braucht  einen  jüngeren  Bruder,  einen  Held  oder  „kleinen  Gotf', 
um  sie  von  den  bösen  Schatten  des  Waldes  der  Nacht  zu  befreien. 
Zu  dem  Ende  werden  auch  die  Sonne  und  der  Mond  angerufen, 
den  Wald  zu  erhellen,  und  ebenso  auch  der  grosse  Bär  (der  mitt- 
lere Bruder)  —  (in  der  K  a  1  e  v  a  1  a  ist  unter  den  drei  Helden  der 
Bär  Ilmarinen  derjenige,  welcher  die  gr(5s8te  Stärke  zeigt  und 
welcher  die  Jungfrau  zur  Braut  gewinnt)  —  damit  er  durch  seine 
Stärke  den  Baum  entwurzele.  Aber  den  Baum  entwurzeln  ist 
Alles,  was  Bären  thuu  können,  während  Väinämöinen  ihn  umge- 
hauen zu  sehen  wünscht;  und  so  wird  dieses  Unternehmen  dem 
Zwerg-Gotte  anvertraut.  So  finden  wir,  ohne  ausdrückliche 
Nennung  ihrer  Namen,  die  drei  Brüder  in  der  durchaus  mytholo- 
gischen Epopöe  der  Finnen  beschrieben. 

Dem  Zwerge  zur  Seite,  erhebt  sich  kraft  des  Gegensatzes  in 
der  finnischen  Mythologie  die  Idee  eines  Riesen,  eines  Titanen, 
der  sich  damit  belustigt,  Felsen  und  Berge  aufzuheben  und  zn 
schleudern.  Die  Wolke,  das  Ungeheuer  der  Dunkelheit,  wird  als 
ein  Berg  dargestellt;  das  Ungeheuer,  das  diese  Gegend  bewohnt, 
bedient  sich  wieder  beim  Kampfe  dieses  Berges  selbst  als  Waffe. 
Der  Wolkenberg  bewegt  sich;  ein  Riesenungeheuer  bewegt  ihn; 
der  zweite  Bruder,  der  starke,  der  Sohn  der  Kuh,  der  Bär,  spielt 
mit  ihm,  schüttelt,  schleppt  und  wirft  ihn  wie  eine  Waffe.  Solche 
mythischen  Kämpfe  müssen  in  dem  Zeitalter,  in  welchem  die  grössere 


'  Väiaämöinen,  alt  und  wahrhaft,  könnt*  durch  ihn  die  Eiche  faUen; 
Kai.  24.  bei  Gastrin,  Kl.  Sehr,  p   233. 


1*6 

Zahl  der  Mythen  cöncipirt  and  geschaffen  wnrde,  um  80  natür- 
licher  erscheinen,  als  wir  es  als  das  Zeitalter  kennen,  welches  die 
Archäologen  die  Steinzeit  nennen.  Die  Sonne,  als  Zwerg,  ver- 
nichtet die  weite  Wolke,  die  weite  Finsterniss,  die  als  ein  Riese 
angesehen  wird. 

Doch  nicht  immer  wird  im  Himmel  gekämpft ;  auch  Ruhe 
herrscht;  sogar  die  wilden  Thi^«  des  finstem  Waldes  werden 
zahm  und  halten  an  sich ;  Musik  fällt  die  Seele  mit  Friedensge- 
fllhlen.  So  werden  sogar  die  kriegerischen  Oandharvas  des  indi- 
schen Olymp  in  geschickte  Musiker  umgewandelt,  welche  die 
Himmelsbewohner  zur  Bewunderung  hinreissen.  Der  Gesang  der 
Sirenen  fesselt  und  verführt  den  Reisenden;  die  Lyra  des  Orpheus 
zieht  Berge,  Bäume  und  Thiere  hinter  sich  her;  die  Harfe  Väi- 
nämOinens  in  der  Kalevala  lässt  den  Wolf  seine  Grausamkeit, 
den  Bären  seine  Wildheit,  den  Fisch  seine  Kälte  vergessen.  Und 
zwar  ist  es  Schmerz,  welcher  zuerst  Gesang  eingiebt;  die  erste 
Stanze  des  Dichters  Välmtki  hatte  ihren  Ursprung  in  dem  Leid, 
das  er  fühlte,  als  er  einen  seines  Gefährten  beraubten  Vogel  sah. 
Orpheus  (die  thracische  Sonne)  singt  und  spielt  aus  Kummer, 
als  die  Sehlange  (der  Schatten  der  Nacht)  seine  süsse  Braut 
Eurydice  (die  Morgenröthe)  in  die  finstem  Gegenden  geworfen  hat 
und  erregt  das  Mitleid  der  Dämonen;  auch  die  Harfe  Väinä- 
mOieoe  ist  «in  Kind  der  Sorge.  ^ 

Das  f^pos  der  Finnen  enthält  ausserdem  mehre  andere  mit 
der  arischen  Sage  verwandte  Mythen;  —  so  z.  B.  die  Wiederer- 
weckung des  Helden;  die  Eroberung  des  Mädchens  durch  Beweis 
von  Heldenmuth;  die  heroisch  gewonnene  und  dann  in  Stücke 
zerschnittene  Braut;  den  Becher  der  Fülle  oder  das  Füllhorn 
(Sampo);  die  goldene  Wiege;  das  wunderbare  Schifl,  in  dem  der 
Held  fiber  das  Meer  flibrt;  die  drei  Schwestern,  von  denen  eine 
schwars^,  eine  weisse  und  eine  rothe  Milch  giebt  (die  Nacht,  die 
Alba  oder  Mond  und  die  Aurora);  das  undurchdringliche  Hemd; 
der  Zauberer,  der  Kinder  von  Gold  und  Silber  liiacht ,  und  andere 
von  untergeordneter  Wichtigkeit;^  aber  sämmtlich  Argumente  für 


*  Nur  au8  Trauer  ward  die  Harfe,  nur  aus  Kummer  sie  geschaffen; 
harten  Tagen  ist  die  Wölbung,  ist  das  Stimmfaolz  zu  verdanken;  nur  Vcr- 
druss  spannt  ihre  Saiten,  andre  Mühsal  macht  die  Wirbel;  Kantcletar, 
I,  bei  Caströn,  Kl.  Sehr.  p.  277. 

*  Eine  derselben  ist  der  mythische  Ursprung  des  armen,  bösen  Eisens, 
der  in  der  Kalevala  beschrieben  wird  (vgl.  Gastrin,  KI.  Sehr.  p.  288  ff);  das 
raythiache  Eisen  ist  dir  bewölkte  oder  finstere  Himmel.     Die  Schilderung, 

8* 


N 


416 

die  Behauptaug,  dass  die  tnranische  und  die  arisebe  Race^  in 
ihren  benachbarten  Wohnsitzen,  ursprünglich  einander  viel  ähn- 
licher waren,  als  sie  es  jetzt  theils  wegen  der  Verschiedenheit 
der  Sprache;  theils  wegen  der  verschiedenen  Stufen  der  Civilisa- 
tion scheinen. 

Ich  habe  den  finnischen  Sampo  soeben  als  Becher  der  Fülle 
oder  cornucopia  genannt;  ei-  giebt  in  der  That  wunderbare  Fülle 
Jedem;  der  ihn  besitzt  und  wohin  er  immer  fällt.  Er  ist  gebildet  aus 
der  Feder  eines  Schwanes  oder  einer  Ente  (der  Schwan  und  die 
Ente  werden;  wie  sich  zeigen  wird,  in  der  Sage  mit  einander 
verwechselt  und  die  Ente  ist.  wie  die  Henne,  ein  Symbol  der 
Fülle);  einem  Wollenflöckchen ,  einem  Getreidekom  ujid  einem 
Spindelsplitter,  offenbar  lauter  Symbolen  der  Fülle;  und  er  wird 
so  gross,  dass  er  von  einem  hunderthörnigen  Ochsen  fortgeschafft 
werden  muss  (wobei  wir  an  die  Hörner  der  spinnenden  Kuh  er- 
innert werden).  Der  Ochse  trägt  Ueberfluss  auf  seinen  Hörnern, 
er  spendet  Ueberfluss  von  seinen  Hörnern.  Das  Füllhorn  liegt 
meiner  Meinung  nach  unverkennbar  implicite  in  diesen  mythischen 
Daten. 

Dasselbe  Verhältuiss  der  MytheU;  das  wir  zwischen  dem  fin- 
nischen Epos  und  den  verschiedenen  arischen  Sagenkreisen  ge- 
funden haben;  lässt  sich  auch  zwischen  den  letzteren  und  den 
ehstnischen  Volksmährchen  wahrnehmen.  In  der  Sammlung  von 
Friedr.  Kreutzwald  ^  finden  wir  zahlreiche  Beweise  4tir  dieses 
Wechselverhältniss. 

In  der  ersten  Erzählung  treten  in  einer  Waldhütte  drei 
Schwestern  auf;  von  denen  die  jüngste  die  schönste  ist.  Die  alt« 
HexC;  ihre  Stiefmutter,  lässt  ihnen  keinen  Augenblick  Ruhe;  sondern 
Tag  für  Tag  müssen  sie  am  Spinnrocken  sitzen  und  Goldflachs 
zu  Garn  spinnen.  Das  fertige  Garn  verwahrt  die  Alte  in  einer 
geheimen  Kammer.  Im  Sommer  entfernt  sich  einst  die  ^ItC; 
nachdem  sie  den  Mädchen  Gespinnst  auf  sechs  Tage  ausgetheiit 
)iat.  Während  ihrer  Abwesenheit  findet  ein  junger  Prinz,  der  sich 
im  Walde  verirrt  hat;  seinen  Weg  zu  der  Hütte  und  verliebt  sich 


trägt  die  unverkennbaren  Züge  der  Originalität,  doch  sind  die  Mythen, 
uuf  welche  sie  zurückgeht,  den  Indogermanen  bekannt;  wie  z.  H.  der  Ho- 
nig, welcher  Gift  wird. 

*  Ehstnisehe  Mährchen,  aufgezeichnet  von  Friedr.  Kreutzwitld,  aus  dem 
Ehstnischen  übersetzt  von  F.  Löwe,  mit  Anm.  von  A.  Schiefner  und  H. 
Köhler,  Halle,  18Gf). 


117 

in  die  jüngste  Schwester;  die  Beiden  öflfhen  sich  im  Angesichte 
des  Mondes  ihr  Herz  and  fuhren  süsse  Gespräche  beim  Glanz  der 
Sterne.  Unterdess  wird  von  Seiten  des  Königs  Alles  aufgeboten, 
am  den  verirrten  Sohn  zu  finden;  der  Wald  wird  nach  allen  Sei- 
ten durchsucht  und  der  Prinz  endlich  am  dritten  Tage  gefunden. 
Ehe  er  scheidet^  gelobt  er  der  Jüngsten  heimlich^  dass  er  in  kur- 
zer 2ieit  wiederkommen  und  dann,  sei  es  im  Guten  oder  mit  Ge- 
walt, sie  mit  sieh  nehmen  und  zu  seiner  Gemahlin  machen  wolle. 
Bald  darauf  kehrt  die  Alte  zurück,  findet,  dass  die  Jüngste  ihre 
Arbeit  schlecht  gemacht  hat,  flucht  und  droht,  dem  Jüngling  den 
Hals  zu  brechen,  wenn  er  wiederkommen  sollte.  Das  Mädchen 
ist  unglücklich.  Früh  am  Morgen,  als  Alles  noch  schläft,  verlässt 
sie  heimlich  das  Haus.  Zum  Glück  hatte  sie  als  Kind  von  der 
Ahen  die  Vogelsprache  gelernt.  Sie  sieht  in  der  Nähe  auf  einem 
Fichtenwipfel  einen  Raben;  sie  ruft:  „Lieber  Lichtvogel, 
klügster  des  Vogelgeschlechts !  willst  Du  mir  zu  Hilfe  kommen  ?^^ 
Der  Vogel  bejaht  und  das  Mädchen  schickt  ihn  als  Boten  an  den 
Königssohn,  um  ihn  zu  warnen  und  ihn  zu  bitten,  nicht  mehr  zu- 
rückzukommen wegen  der  grässlichen  Drohungen  der  Mutter;  der 
Prinz  lässt  ihr  durch  den  Raben  Zeit  und  Ort  eines  Zusammen- 
treffens angeben;  sie  treffen  sich  in  der  neunten  Nacht  nach  der 
Verabredung  zwischen  dem  zweiten  und  dritten  Hahnenschrei  unter 
einem  Baum  und  beim  Frühroth  fliehen  sie.  Die  alte  Hexe  schickt 
ein  Hexenknäuel  von  neunerlei  Arten  gemischter  Hexenkräuter 
hinter  ihnen  her,  das  sie  unter  Flüchen,  Verwünschungen  und 
Zaubersprüchen  mit  dem  Winde  davon  ziehen  lässt.  Dieses 
Hexenknäuel  trifft  das  Pferd  des  Prinzen,  der  eben  auf  einer 
schmalen  Brücke  über  einen  tiefen  und  breiten  Strom  reitet. 
Das  Ross  bäumt  und  die  Jungfrau  gleitet  vom  Sattel  herab  jäh- 
lings in  den  Fluss.  Der  Prinz  verfällt  aus  Gram  in  eine  schwere 
Krankheit.  Durch  das  Essen  eines  mit  Zauberkräutern  ange- 
machten Schweinefleischkuchens  lernt  der  Prinz  die  Vogelsprache. 
£r  schickt  zwei  Schwalben  als  Boten  an  den  alten  Zauberer  in 
Finnland,  um  Bescheid  von  ihm  zu  holen,  wie  es  wohl  möglich 
wäre,  eine  in  eine  Teichrose  verwandelte  Jungfrau  wieder  zu 
einem  Menschenbilde  zu  machen;  als  eine  solche  schaukelt  näm- 
lich die  JnngiVau  auf  der  Wasserfläche,  da  wo  sie  hineingefallen 
war.  Ein  Adler  bringt  ihm  vom  Zauberer  in  Finnland  folgenden 
Bescheid:  „Gehet  an  das  Ufer  des  Flusses,  werfeteure  Kleider 
ab  und  schmiert  euch  den  Körper  über  und  über  mit  Schlamm 
ein;  dann  rufet;  'Aus  dem  Mann  ein  Krebs I*  Geht  dann,  als  Krebs, 


118 

in  die  Tiefe, des  Fkisseg^  löst  die  Wurzeln  des  Teicbröschens  and 
hängt  euch  an  ein  Zweiglein  der  Wurzel  an ;  treibt  dana  mit  dem 
Strom  fort;  bis  ihr  in  derMäbe  eines  Steines  an  das  Ufer,  kommt. 
Beim  Sieine  müsst  ihr  die  Worte  ausstosaen:  ^Aus  der  Teichrose 
die  Jungfrau,  aus  dem  Krebs  der  Mannl^'  Eine  Krähe  ermuntert 
den  JttngHng,  dem  Rathe  des  Zauberers  zu  iolgen.  Er  geht  an 
den  FIuss;  Teicbröschm  singt  wie  gewöhnliek  seinen  Klaggeaang; 
der  Jüngling  thut  nach  der  Vorschrift  des  Zauberers;  Alks  ge- 
lingt; Beide  kommen  glücklich  ans  Ufer,  aber  —  nackt  Da 
kommt  eine  prächtige,  sechsspännige  Kutsche  mit  allem  Nöthigen 
angefahren.  Prächtig  geschmückt  fahren  sie  grades  Wegs  z«r 
Stadt  und  vor  die  Kirchenthtir.  Nach  sofortiger  Trauung  wird 
ein  sechswöehentliches  Hochzeitsfest  in  Sana  and  Braus  veran- 
staltet Die  Alte  wird  vergiftet,  die  Schwestern  ans  ihrer  Ge- 
fangenschaft erlöst;  das  Hexenhaus  in  Brand  gesteckt.  Eine 
Katze,  in  welche  eine  HelfersheiferiD  der  Alten  bei  dem  Raube 
der  (b*ei  Mädchen,  dreier  Priusesainaen ,  voa  dieser  verwandet 
ist  [vielleicht  nur  eine  andere  Erscheinungsform  der  Alten  selbst], 
wird  ins  Feuer  geworfen.  In  cter  heimliehen  Kammer  d«8  Hau- 
ses werden  fünfzig  Fuder  Goldgam  gefunden,  die  unter  die 
Schwestern  vertheilt  werden. 

In  der  dritten  ehstnischen  Erzählung  bringt  eineFrau,  GoUmuttar 
geheissen,  nach  zehnjähriger  Unfimchtbarkeit  durch  Anwendung  der 
ibr  von  einem  Zwerge  vorgeschriebenen  Mittel,  Drillinge  Bur  Welt, 
welche  drei  weltberühmte  Männer  werden.  Der  erste  Bruder  ist 
Scharfauge  (d^r  weise  Bruder),  der  sweite,  Flinkhaad,  hat 
einen  geschickten  Arm  (der  starke  Bruder),  d^  dritte  ist  Sehne}l- 
f  u  ss  (die  Schnelligkeit  ist  eine  charakteristisehe  Eigenschaft  des 
dritten  Bruders,  Ar^na,  im  Mahäbhärata). 

Eine  Variation  der  Geschichte  von  der  jtlngsten  Schwester 
und  der  von  dem  Zwerge  ist  die  von  dem  siebenjährigen  Mäd- 
chen, dem  klugen  Mädchen  (der  Aurora),  in  dem  vierten  ehstni- 
schen Mährchen,  das  von  der  Stiefmutter  verfolgt  wird  und  einst 
sich  in  dem  verzauberten  Walde  (der  Nacht)  verirrt.  Dort  glaubt 
sie  sich  im  Himmel ;  in  einem  Hause  aus  Glas  und  Edelsteinen 
wird  sie  von  einer  schöngekleideten  Frau  (dem  sehönhaarigeB 
Monde)  aufgenommen.  Das  Mädchen  bittet  die  giddene  Frau, 
die  Herde  hüten  zu  dürfen,  gleich  der  Kuhmagd  Aurora.  In  der 
Geschichte  von  Ardshi-Bordshi  haben  wir  die  kluge  Puppe 
gesehen.  Diese  Gestalt  des  klugen  Mädchens,  das  Mädchen  mil 
Holzbekleiduug,  begegnet   uns  wieder  iu  dem  elistuiscben  Mähr- 


119 

chen;  ein  Zwerg  macht  nämlich  auf  Befehl  der  schönen  Frau  ein 
Abbild  van  dem  Mädchen^  eine  Pappe  aus  Lehm,  drei  Strömlingen, 
Brod;  einer  schwarzen  Schlange  und  einem  Tropfen  von  dem  Blute 
des  Mädchens.  Diese  Puppe  wird  dann  in  einen  Holzkorb  gelegt ; 
den  nächsten  Morgen  ist  sie  ein  vollständiges  Ebenbild  des  Mäd- 
chens, wird  mit  dessen  Kleidern  bekleidet  und  statt  seiner  zu  der 
bösen  Stiefmutter  geschickt,  der  sie  als  PrOgelklotz  dient  Aus 
dem  Waldbaum  oder  Holzkorb  Nacht;  mit  dem  Saft  der  schwar- 
zen Schlange  Nacht  und  dem  Blut  des  Mädchens  Abend-Aurora 
ersteht  das  Mädchen  Morgen- Aurora,  die  kluge,  sprechende  Puppe, 
die  Puppe,  die  die  Bäthsel  räth.  Das  Mädchen,  das  aus  dem 
Walde  kommt,  wird  als  eine  hölzerne  Puppe  dargestellt;  häufiger 
ist  die  Pappe  der  Mond,  die  weise  Fee,  die  aus  dem  Walde 
kommt  In  derselben  Erzählung  haben  wir  das  Zauberstäbchen, 
mit  welchem  der  Zwerg  aus  einem  Granitblock  einen  goldenen 
Hahn  hervorzaubert,  bei  dessen  erstem  Krähen  aus  selbigem 
Block  ein  langer  gedeckter  Tisch,  bei  dessen  zweitem  Krähen 
Stühle  und  Schüsseln  mit  Speisen  herausspringen  und  wie  der 
Wind  zum  Esstiseh  fliegen.  Die  Geschichte  endet  mit  der 
gewöhnlichen  Heirath  zwischen  dem  schönen  Mädchenund  einem 
Königssobn,  der  von  der  Jagd  zurückkehrt  (oder  der  Sonne, 
die  aus  dem  Walde  der  Nacht  herauskommt  und  als  von  wilden 
Thieren  angefallen  betrachtet  wird). 

In  dem  sechsten  ehstnischen  Mährchen  findet  das  arme  Mäd- 
chen eine  Frau  in  weissen  Kleidern  (den  Mond),  mit  Gold  ge- 
schmückt, die  auf  einem  Steine  an  einer  Quelle  sitzt  Diese  kün- 
digt ihr  an,  dass  bald  ein  Mann  um  sie  freien  werde,  so  arm 
wie  sie  selbst;  „aber/'  sagt  die  gute  Pathe  Fee  —  denn  in  den 
Mährchen  wird  die  Pathe  Fee  als  gut,  wie  die  Stiefinutter  als 
böse  hingestellt  —  „mach  dir  deshalb  keine  Sorge!  ich  will  euch 
Glück  bringen  und  euch  forthelfen.^'  Sie  nennt  sich  selbst  „die 
oberste  Wasäerbeherrscherin'',  die  heimliche  Gemahlin  des  ältesten 
Sohnes  des  Windkönigs,  und  sie  richtet  die  Verbrecher,  die  vor 
ihr^i  Riditerstuhl  gebracht  werden  (Proserpina  odeir  Persephon6). 

In  dem  siebenten  Mährchen  geht  ein  neunjähriger  Knabe,  der 
dritte  Sohn  zweier  armen  Leute,  aus,  um  Kuhhirt  zu  werden ;  sein 
Herr  behandelt  ihn  gut,  aber  seine  Herrin  giebt  ihm  mehr 
Schläge  als  Brod.  Eines  Tages  hat  der  junge  Kuhhirt  das  Un- 
glück, eine  Kuh  zu  verlieren;  er  sucht  den  ganzen  Wald  nach 
ihr  durch,  doch  vergebens.  Er  kehrt  etwas  nach  Sonnenunter- 
gang mit  dem  Vieh  heim.     Das  spähende  Auge  der  Herrin  ent- 


120 

deckt  sofort,  das»  eine  Kuh  fehlt;  gie  schlägt  den  Knaben  nn- 
baimherzig  und  schickt  ihn  fort,  die  Kuh  zu  suchen^  mit  der 
Drohung,  ihn  todt  zu  schlagen,  wenn  er  ohne  sie  heimkomme. 
Er  durchstreift  den  Wald  die  ganze  Nacht;  als  aber  die  Sonne 
sich  am  andein  Morgen  aus  dem  Schosse  der  Morgenröthe  erho- 
ben hat,  ist  sein  Entschluss  gefasst,  von  Hanse  fortzubleiben  und 
nicht  zu  seiner  Verfolgerin  zurückzukehren  (die  junge  Morgen- 
sonne flieht  vor  der  alten,  bösen  Nacht).  Am  Abend  findet  der 
Knabe  einen  alten  Zwerg  (den  Mond),  der  ihm  folgenden  Rath 
giebt :  „Wenn  morgen  die  Sonne  aufgeht,  so  merke  dir  genau  die 
Stelle,  wo  sie  emporstieg.  In  dieser  Richtung  musst  du  wandern, 
so  dass  dir  die  Sonne  jeden  Morgen  ins  (xesicht  und  jeden  Abend 
in  den  Nacken  scheint.  Deine  Kraft  wird  von  Tage  zu  Tage 
wachsen.  Nach  sieben  Jahren  wird  ein  mächtiger  Berg  vor  dir 
stehen,  der  so  hoch  ist,  dass  sein  Gipfel  bis  an  die  Wolken  reicht. 
Dort  wird  dein  künftiges  Glttck  bltlhen.  (Wie  kann  man  besser 
den  Lauf  des  Sonnenhelden  oder  der  Sonne  in  der  Nacht  bezeich- 
nen? Der  Held,  um  auf  die  Morgensonne  zu  zu  gehen,  muss 
nothwendig  die  Abendsonne  hinter  sich  haben.)  Nimm  meinen 
Brodsack  und  mein  Fässchen,  du  wirst  darin  täglich  so  viel  Speise 
und  Trank  finden,  als  du  bedarfst.  Aber  httte  dich  davor,  jemals 
ein  Krümchen  Brod  oder  ein  Tröpfchen  vom  Trank  unnütz  zu 
vergeuden,  sonst  könnte  deine  Nahrungsqnelle  leicht  versiegen. 
Einem*  hungrigen  Vogel  und  einem  durstigen  Thiere  darfst  du 
reichlich  geben:  Gott  sieht  es  gern,  wenn  ein  Geschöpf  dem  an- 
dern Gutes  thut  Auf  dem  Grunde  des  Brodsacks  wirst  du  ein 
zusammengerolltes  Klettenblatt  finden;  das  mnsst  du  sehr  sorg- 
fältig in  Acht  nehmen.  Wenn  du  auf  deinem  Wege  an  einen 
FIuss  oder  einen  See  kommst,  so  breite  das  Klettenblatt  auf  dem 
Wasser  aus,  es  wird  sich  sofort  in  einen  Nachen  verwandeln  und 
dich  über  die  Flut  tragen.  (Dieses  EJettenblatt  ist  eine  neue 
Erscheinungsform  des  Bechers.)  —  Wir  wissen,  wie  die  Hindus 
ihren  Gott  als  auf  einem  Lotosblatt  in  der  Mitte  der  Wasser 
schwimmend  betrachteten,  und  wie  Padmaga  (von  der  Lotosblume 
oder  der  Wasserrose,  die  sich  während  der  Nacht  schliesst,  ge- 
boren) einer  der  Namen  Brahmans  war;  hier  haben  wir  den  Gott 
oder  Helden,  der  sich  in  der  Blume  einschliesst,  aus  der  er  später 
herauskommt.  In  den  Kapiteln  über  die  Schlange  und  den  Frosch 
werden  wir  wieder  sehen,  wie  der  Gott  sich  zuweilen  in  einer 
Ungeheuergestalt  in  diese  Blume,  die  Rose,  einschliesst,  in  Folge 
f.incB  Fluches,   vou   dem   er   durch  ein   schönes  Mädchen   befreit 


121 

werden  soll.  Wir  sahen,  wie  das  ehjstnische  Mädchen,  das  durch 
den  Fluch  der  Alten  ins  Wasser  gestürzt  wurde,  in  eine  Wasser- 
rose oder  Lotosblume  verwandelt  und  von  dem  jungen  Prinzen 
befreit  wurde.  —  Der  ehstnische  Knabe  kommt  an  einen  kleinen 
See;  er  wirft  das  Blatt  hinein,  und  es  wird  ein  Zauberboot,  das 
ihn  an  das  andere  Ufer  bringt.  Mittlerweile  ist  er  gross  und 
stark  geworden.  Am  Fusse  des  Berges,  den  er  endlich  erreicht, 
sieht  er  eine  Schlange,  eine  Kröte  und  einen  Adler,  alle  drei  von 
ungeheuren  Dimensionen;  hinter  ihnen  her  jagt  ein  Mann  auf 
einem  schwarzen  Pferde,  das  mit  Windesschnelle  fliegt,  als  ob  es 
Flttgel  an  den  Füssen  hUtte.  Dieser  Mann  erschlägt  Schlange 
und  Kröte,  des  Adlers  aber  kann  er  nicht  habhaft  werden.  Dann 
nimmt  er  den  jungen  Mann  in  sein  Haus  auf,  und  weist  ihm  als 
seine  Arbeit  an,  dafür  zu  sorgen,  dass  die  in  einem  Felsenkeller 
angeketteten  bösen  Hunde  sich  nicht  unterhalb  der  Thttr  mit  den 
Pfoten  lierausgraben,  was  das  Ende  der  Welt  herbeiflihren  würde. 
So  oft  die  Hunde  ein  Loch  ausgraben,  muss  von  einem  aus  mäch- 
tigen Felsblöcken  aufgethürmten  Berge  immer  wieder  ein  neuer 
Stein  hingewälzt  werden.  Diese  Steine  aber  werden  auf  einer  mit 
sechs  Paar  Ochsen  bespannten  Fuhre  fortgeschafft,  auf  welche  sie, 
mit  einem  Zauberstabe  berührt,  von  selbst  rollen.  Schliesslich 
sehnt  sich  jedoch  der  Jüngling  nach  Gesellschaft  anderer  Menschen, 
stiehlt  auf  des  Adlers  Rath  seinem  Herren  das  windschnelle  Ross, 
macht  sieh  mit  seinem  Ersparten  auf  demselben  auf  und  davon, 
freit  ein  Weib  und  lebt  glücklich  und  zufrieden. 

In  dem  achten  ehstnischen  Mährchen  ist  ebenfalls  der  dritte 
Bruder  der  schlaue.  „Schlaukopf^'  bekommt  bei  dem  Tode 
des  Vaters  nichts  von  dem  Erbe,  sondern  wird  von  den  beiden 
älteren  Brüdern  noch  überdies  mit  höhnischen  Worten  zur  Thür 
hinausgeworfen.  Allein  und  bettelarm  macht  er  sich  auf  die 
Wanderschaft  durch  die  Welt,  sein  Glück  zu  suchen.  Er  trifft 
ein  junges  Weib,  das  kläglich  weint,  weil  sie  ihr  Mann  alle  Tage 
schlägt;  sie  kann  nämlich  nicht  die  von  ihm  in  räthselhafter  Weise 
geforderten  Dinge  beschaffen.  Der  Jüngling  löst  der  Friu  (dem 
Monde)  das  Räthsel  und  erhält  daftlr  von  ihr  zum  Danke  Vor- 
rath  für  die  Reise.  Darauf  geht  er  in  die  Königsstadt.  .Dort 
will  der  König  ein  Sommerfest  veranstalten ;  Niemand  will  aber 
die  Herstellung  des  Festes  übernehmen,  weil  bei  früheren  Festen 
ein  Zauberer  dieselbe  vernichtet  und  so  den  Hersteller  um  den 
Kopf  gebracht  hat.  Schlaukopf  erbietet  sieh,  die  Vorbereitungen 
für   das   Fest  zu    treffen.     Am  Morgen  des  ej-stcn  Festtages  er- 


122 

scheint  ein  kleiner  alter  Mann  (der  Zauberer) ,  der  demttthig 
bittet,  die  Festspeisen  und  das  Getränk  schmecken  za  dttrtoi. 
Schlaukopf  verlangt  ein  Pfand  von  dem  Alten,  dass  kein  Schaden 
entstehe,  wenn  er  ihn  die  Speisen  kosten  lasse  und  zwar  verlangt 
er  den  schönen  goldenen  Ring,  den  er  am  Ringfinger  der  linken 
Hand  des  Alten  gesehen  hat.  Den  Zauberer  stachelt  die  Ltlstem- 
heit  so  sehr,  dass  er  endlich  seinen  Ring  (in  dem  die  Zauber- 
kraft steckt)  zum  Pfände  giebt.  Schlaukopf  lässt  den  nun  ohn- 
mächtigen Alten  binden,  verspottet  ihn  und  lässt  ihn  endlich  noch 
von  sieben  starken  Männern  mit  tüchtigen  Knütteln  verarbeiten. 
Von  ihren  harten  Schlägen  reisst  der  Strick,  an  dem  das  Männ- 
lein aufgehängt  war,  es  ßUlt  herunter  und  verschwindet  unter  der 
Erde.  Schlaukopf  folgt  ihm;  denn  er  besitzt  ja  den  Zauberring. 
(Dieser  ist  der  gewöhnliche  Diskus,  Lasso  oder  Zttgel,  welcher 
sich  bald  in  den  Händen  des  Helden,  bald  in  denen  des  Unge- 
heuers befindet)  Schlaukopf  kommt  auf  seinem  unterirdischen 
Gange  in  eine  Kammer,  in  welcher  er  den  wohlbekannten  Alten 
mit  drei  jungen  Mädchen  sitzen  sieht  Als  sich  der  Hausherr 
schlafen  gel^  hat,  befreundet  er  sich  mit  dra  Mädchen,  bleibt 
die  Nacht  bei  ihnen  und  erfährt  durch  sie,  dass  der  Alte  noch 
zwei  ganz  besondere  Dinge  besitze,  ein  bertthmtes  Schwert  und 
eine  Gerte  vom  Ebereschenbaum  (eine  Zauberruthe).  Er  stiehlt 
dieselben  und  indem  er  mit  der  Qerte  tlber  das  Meer  eine  Brücke 
schlägt,  kehrt  er  in  die  Königsstadt  zurück.  Dort  findet  er  jedoch 
Alles  ganz  anders  als  er  gehofll  hatte.  Seines  Bedünkens  war  er 
nicht  länger  als  zwei  Nächte  in  der  unterirdischen  Behausung  des 
Alten  gewesoi ;  jetzt  ze^t  sich  aber,  dass  jede  Nacht  Jahreslänge 
gehabt  hat  ^  Während  dieser  Zeit  sind  seine  beiden  Brüder  in 
die  Dienste  des  Königs  getreten,  der  eine  als  Kutscher,  der  an- 
dere als  Kammerdiener;  beide  sind  reiche  Lieute,  denn  sie  haben 
den  Lohn  bekommen,  den  Schlaukopf  für  die  Herstellung  (tes 
Festes  erhalten  sollte.  Schlaukopf  sieht  sich  jetzt  nach  einem 
neuen  Dienste  um:  der  königliche  Koch  nimmt  ihn  als  Küchen- 
jungen an  und  er  muss  alle  Tage  den  Braten  am  Spiesse  drehen.  — 
Im  Viräta-Parva  des  Mahäbhärata  ist  es  der  zweite  Bru- 
der,  der  sich  als  Koch  verkleidet,  um  gute  Saucen  und  nahr- 
hafte Speisen  für  den  Könige  dessen  Ga«t  er  ist,  zu  bereiten ;  der 


*  Das  ist  die  Erscheinung «  die  in  der  Wintersonnenwende  am  Weih- 
nachtsabend und  am  Nenjahrstage  eintritt,  an  weichem  wir  ans  einem  Jahr 
in  ein  anderes  treten;  in  einer  Nacht  werden  wir  ein  Jahr  älter. 


123 

ältere  Brader  verkleidet  sich  als  Brahmano.  als  weiser  Rathgeber ; 
der  dritte  Bruder,  Argunay  der  bebende;  scbneUe,  giebt  voT;  ein 
Eonncb  za  sein,  wird  für  eine  Frau  eingetanscbt  and  lebrt  im 
Gyftaoeum  Tanz,  Musik  und  Gesang.  (Von  den  zwei  Söhnen  der 
A^yins  wird  einer  Stallknecht^  der  andere  Kuhhirt.)  —  Seine  Brü- 
der verachten  ihn  wegen  dieser  geringen  Handtbiemng  und  da 
er  ihnen  erzählt  hat^  er  babe  in  der  Unterwelt  Gänse  und  Enten 
mit  goldenem  und  silbernem  Gefieder  gesehen ,  sp  bitten  sie  den 
König,  er  möge  ihren  jüngsten  Bruder  doch  hinschicken,  damit 
er  die  silbernen  Vögel  herbringe.  Er  löst  diese  Aufgabe  mit 
Hilfe  eines  Zauberers  und  bringt  die  Vögel  in  einem  Sack  aus 
Spini^ewebe,  der  die  Thiere  so  fest  hält,  dass  keines  heraus 
kann.  In  demselbra  Sack  bringt  Schlaukopf  bei  einer  zweiten 
Expedition,  die  ihm  der  König  beföhle,  viele  goldene  und  sil- 
berne Hauageräthe  aus  der  Unterwdt  Als  Belohnung  verlangt 
er  von  dem  König  nur,  dass  er  seine  Tochter,  die  Prinzessin, 
Abends  heimlich  hinter  die  Thür  schicke,  vm  zu  hören,  was  seine 
Brüder  untereinander  sprechen.  Diese  hört,  wie  die  Beiden  ttber- 
milthiger  und  lügenhafter  Weise  prahlen,  die  Liebesgunst  der 
Prinzessin  bis  zum  Ud>erdruss  genossen  zu  haben*  Roth  vor 
Sebam  und  Zorn  erzählt  sie  dem  Vater  das  Gehörte  und  dieser 
lässt  die  Beiden  hinrichten,  während  er  Schlaukopf  zu  seinem 
Rathgeber  ernennt  Als  ein  feindliches  Heer  ins  Land  fällt, 
macht  es  Sehlaukopf  mit  seinem  aus  der  Unterwelt  geholten 
Schwerte  nieder  und  wird  Schwiegersohn  des  Königs. 

Daa  neunte  ehstnische  Mährchen  führt  uns  dea„Donner- 
sohn'^  vor,  welcher  seine  Seele  an  den  Teufel  verkauft,  unter  der 
Bedingung,  dass  der  Letztere  ihm  sieben  Jahre  dient  Die  be- 
stimmte Zeit  ist  fast  abgelaufen;  der  Donnersohn  vrill  ihm  ent- 
riimen  und  benutzt  eine  Gelegenheit,  die  sich  zufällig  Uetet  Der 
Teufel  sieht  eine  schwarze  Wolke,  das  Anzeichen  eines  nahenden 
schweren  (Zwitters ;  er  fürchtet  sich,  kriecht  unter  einen  ^ein  und 
bittet  den  Donnersohn,  ihm  Gesdlschaft  zu  leisten.  Dieser  willigt 
ein ;  er  sieht,  wie  der  Teufel  aus  Furcht  bei  jeder  Erschütterung 
die  Fäuste  gegen  die  Ohren  drückt  und  die  Augen  fest  zukneift; 
kalter  Schweiss  bedeckt  seine  zitternden  Glieder  and  er  kann 
kein  Wort  hervorln'ingen.  Der  Teufel  verspricht  deu  Donnersohn 
nicht  nur  die  Rückgängigmachung  des  Seelenkaufs,  sondern  ihm 
sogar  noch  drei  Seelen  zu  geben,  wenn  er  ihn  von  dieser  grass« 
liehen  Plage  befreie,  indem  er  „dem  alten  Papa''»  dem  Donner* 
gott,  dem  Vater  der  Wolken,  das  Donnergeräth  heimlich  weg- 


424 

nehme  (dieses  ist  zngicicl)  ein  musikalisches  Instrument).  Das 
Donnerwerkzeug  wird  auch  glttcklich  entwendet  und  vom  Teufel 
in  der  Hölle  in  eiserner  Kammer  hinter  sieben  Schlössern  ver- 
schlossen. Natürlich  bricht  üb^  die  Welt  in  Folge  dessen  eine 
grosse  Dttrre  herein,  in  der  Alles  hinwelkt;  der  Donnersohn  be- 
reut den  dem  Teufel  geleisteten  Dienst ;  er  findet  Mittel  und  Wege, 
dem  alten  Wolkenvater  Botschaft  zu  schicken,  wo  sein  Donner- 
geräth  festgehalten  wird.  Der  Donnerer  verwandelt  sich  in  einen 
Knaben  und  verdingt  sich  bei  einem  Fischer  als  Sommerarbeiter, 
weil  er  weiss,  4ass  der  Teufel  häufig  an  den  See  kommt,  um 
Fische  zu  stehlen.  Er  überrascht  ihn  beim  Diebstahl  und  mit 
Hilfe  eines  Zauberers  ßlngt  er  ihn,  worauf  der  Fischer  und  der  * 
Knabe  den  Burschen  gründlich  durchprügeln,  bis  er  ein  hohes 
Lösegeld  zu  zahlen  verspricht,  welches  abzuholen  Fischer  und 
Knabe  mit  ihm  in  die  Hölle  gehn.  Im  Höllenhofe  werden  sie  herr- 
lich aufgenommen  und  ihnen  ein  prächtiges  Fest  bereitet.  Der 
Knabe  sagt  eines  Morgens  heimlich  zum  Fischer:  „Wenn  Du 
heute  wieder  bewirtfaet  und  geehrt  wirst,  so  bitte  Dir  aus,  dass 
man  das  Instrument  bringe,  welches  in  der  Eisenkammer  hinter 
sieben  Schlössern  liegt."  Der  Teufel  zeigt  sich  willig,  holt  das 
Instrument,  bringt  aber,  als  er  darauf  zu  spielen  anfängt,  durch- 
aus nichts  Besseres  heraus  als  das  Geschrei  einer  Katze  oder  das 
Gequieke  eines  Ferkels.  Der  Fischer  sagl  lachend:  „Mein  Hü- 
terknabe  würde  es  besser  machen.^  Der  Teufel  glaubt  es  natür- 
lich nicht  und  giebt  lachend  dem  Knaben  den  „Dudelsack".  Als 
dieser  die  Röhre  an  den  Mund  setzt,  erbeben  die  Wände  der 
Hölle,  der  Teufel  und  sein  Gesinde  fallen  ohnmächtig  hin  und 
liegen  wie  todt  da.  Der  Knabe  verwandelt  sich  wieder  in  den 
alten  Vater  Donnerer  und  tritt  eilig  die  Heimkehr  in  den  Himmel 
au.  Er  bläst  das  Donnerinstrument  und  die  Regenpforten  thnn 
sich  auf,  die  dürre  Erde  zu  tränken.  Die  Beschreibung  des  Ge- 
witters, die  in  vielen  vedisohen  Hymnen  vorkommt,  ist  der  Keim 
dieses  interessanten  Mythus.  Der  Trommel-  oder  Pauken-Donner 
ist  ein  gewöhnliches  Bild  in  der  indischen  Poesie  und  die  Gan- 
dharvas,  die  musikalischen  Krieger  des  indischen  Olymp,  haben 
kein  anderes  Instrument  als  den  Donner.  Die  Muschel  der  krie- 
gerischen Pändavas  im  Mahäbhärata  und  das  berühmte  Ro- 
landshorn  (das  sich  von  dem  goldenen  Horn  Odins  herleitet)  sind 
epische  Reminiscenzen  des  Donners.  Orpheus,  der  in  der  Hölle 
die  Leier  spielt  und  die  Thiere  zähmt,  ist  eine  hellere  und  voll- 
kommoere  Erscheinungsform  dieses  ehstniscben  Donnergottes,  der 


/ 


.V 


126 

in  der  Hölle  den  Dndel^ack  spielt.  Es  ist  auch  beachten&wertb^ 
wie  in  Uebereinstimmung  mit  dem  Üirten-Dndelsack  in  dem  zehn- 
ten ebstniseben  Mährchen^  das  eine  Variation  des  vorhergebenden 
ist;  der  in  einen  mächtigen  Knaben  verwandelte  Oott  ein  kleiner 
Scbäfer  oder  Kubbirt  genannt  wird  —  ein  anderes  interessantes 
Factum,  das  seine  Identität  mit  Orpbens  vollständig  sichert.  *  Die 
Zauberflöte  ist  eine  Variation  desselben  himmlischen  musikalischen 
Instrumentes,  bie  Zauberflöte,  der  Dudelsack  oder  die  Wunder- 
pfeife, kommt  wieder  vor  in  dem  dreiundzwanzigsten  ehstniseben 
Mäbrchen,  in  welchem  der  gute  Tiidu  vermittelst  derselben  und 
ihrer  Zauberkraft  Reichtbümer  erlangt.  Die  Zauberharfe  Gnnnars 
in  der  Edda  wirkt  dieselben  Wunder. 

Ofl^enbar  ist  das  Zwergungeheuer  ein  Lieblingsthema  der 
ebstnischen  Sage ,  wie  es  auch  oft  in  der  indischen  und  germa- 
nischen, ferner  in  der   fränkisch-lateinischen  Karlssage  erscheint. 

Das  eilfte  Mährchen  führt  uns  drei  Zwergbrüder  vor,  die  sich 
um  das  von  ihrem  Vater  hinterlassene  Erbe  streiten,  bestehend  in 
einem  Wunderhut,  der  den  Träger  Alles  sehen  lässt,  während  er 
selbst  nach  Belieben  sichtbar  oder  unsichtbar  sein  kann  (dieser 
Hut  ist  aus  menschlichen  Nägelschnitzeln  gefertigt);-  in  einem 
Paar  Bastschuhen,  die  den  Besitzer  in  einem  Augenblick  bringen, 
wohin  er  will  (wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass  Cinderella,  als  sie 
den  Pantoffel  verliert,  von  dem  prinzlichen  Bräutigam  eingeholt 
wird) ;  und  in  einem  Stock,  vor  desse^n  Schlägen  Alles  schwinden 
muss;  denn  er  ist  noch  mächtiger  als  der  Donnerkeil  (es  ist  der 
Donnerkeil  selbst).  Die  drei  Brüder  bleiben  dabei,  dass  diese 
drei  Gegenstände,  wenn  sie  wirklich  von  Nutzen  sein  sollen, 
Einem  gehören  müssen ;  doch  wer  soll  dieses  Vorrecht  geniessen  ? 


'  In  einem  schwedischen  Volkslicde  ist  die  Jungfrau  Gundela,  welche 
wunderbar  die  Harfe  spielt,  und  für  ihr  Spiel  vom  König  verlangt,  dass  er 
sie  heirathe,  auch  eine  Schäferin.  —  Vgl.  Schwedische  Volkslieder 
der  Vorzeit,  übertragen  von  Warren?,  Leipzig,  Brockhaus  1857. 

*  Vgl.  die  Anmerkung  von  F.  Löwe  zu  dieser  Stelle  in  seiner  Ucber- 
setzung  der  Rreutzwaldschen  Sammlung  p.  143  f. '  —  [Dieser  Mythus  ist, 
wenn  ich  ihn  nicht  falsch  verstehe,  leicht  zu  erklären:  am  Abend  verliert 
die  Sonne  ihre  Strahlen;  der  Lowe,  der  Held,  verliert  seine  Nägel;  diese 
Nägel  liest  das  dämonische  Ungeheuer  auf  und  macht  daraus  einen  Hut 
(die  Finstemiss  der  Nacht  oder  die  Wolken),  dessen  Träger  sieht  ohne 
gesehen  zu  werden.  Der  Zauberer,  der  mit  geschlossenen  Augen  sieht, 
ist  eine  interessante  Variation  dieses  Themas.] 


lE,\n  Mann  kommt  dazn,  am  den  Streit  tn  schlichten  und  thut  so, 
als  ob  er  der  Zauberkraft  dieser  drei  Dinge  misstrane;  er  will  sie 
selbst  erst  probiren.  Die  drei  Gimpel  geben  sie  ihm.  Der  Mann 
nimmt  sie  ihnen  fort  und  die  drei  Zwerge  haben  Masse^  über  die 
Wahrheit  des  Sprichwortes  nachzudenken:  ^^Dnobns  litigantibns 
tertius  gandet",  oder  wenigstens  Aber  die  in  diesem  Falle  gebo- 
tene Variation:  „Tribus  litigantibns  quartus  gandet** 

In  dem  dreisehnten  ehstnischen  Mährchen  wird  die  Ans- 
nahmestellnng  des  dritten  Bruders  erklärt ,  indem  uns  erzählt 
wird,  er  sei  der  Sohn  eines  Königs,  aber  drei  Tage  nach  der 
Geburt  von  einer  Hexe  mit  einem  Bauemsohne  vertauscht  wor- 
den. Der  Letztere  stirbt  in  dem  Palaste  schon  im  ersten  Monate, 
während  der  Königssohn  in  der  Hütte  aufwächst ,  und  in  jeder 
Handlung  seine  königliche  Abstammung  erweist,  besonders  aber 
seinem  vermeintlichen  Vater  immer  gehorsam  ist  Hier  haben 
wir  die  Erzählung  von  dem  Helden,  der  auf  den  Bergen  ausge- 
setzt wird,  unmittelbar  mit  der  von  dem  dritten  Bruder  verbun- 
den. Dieser  dritte  Bruder,  der  sich  allein  gegen  den  Vater  ehr- 
furchtsvoll benimmt  und  allein  drei  Nächte  bei  seinem  Grabe 
wacht,  erlöst  auch  die  Prinzessin,  die  auf  einem  hohen  Glasberge 
sieben  Jahre  und  sieben  Tage  geschlafen  hat,  woftir  er  sie  zur 
Gemahlin  erhält  Wir  haben  den  Aurora-Wecker  in  den  vedi- 
schen  Hymnen  gesehn  —  die  Sonne  und  die  Aurora  wecken  ein- 
ander: die  Sonne  sendet  die  Aurora  fort;  die  Aurora  zieht  die 
Sonne  heraus.  Der  Mythus  erzeugt  sich  jeden  Tag  von  Neuem, 
und  bezeichnet  in  seiner  Gesammtheit  eine  tägliche  Lichterschei- 
nung am  Himmel.  In  nordischen  Gegenden,  wo  der  Gegensatz 
zwischen  Winter  und  Frtthling  gross  und  deshalb  der  von  dem 
Aufhören  der  Vegetation  im  Herbst  hervorgebrachte  Eindruck 
mehr  frappirt,  nahm  die  Erde  auch  die  Gestalt  einer  todteu 
jungen  Prinzessin  an;  aber  da  ein  allwissender  Zauberer  gesagt 
hat :  „Die  Jungfrau  ist  nicht  todt,  sondern  nur  milde",  so  legt  der  zur 
Befreiung  bestimmte  dritte  Bruder  seine  armen  Kleider  ab,  und 
kleidet  sich  erst  in  Eisenfarbe,  dann  in  Silberfarbe,  endlich  in 
Goldfarbe,  und  reitet  auf  seinem  Goldpferde  den  Berg  von  Glas 
oder  Eis  hinan,  von  welchem  er  den  schönen  Frtthling  bringt.  Der 
Himmel,  im  Herbste  grau,  im  Winter  schneeweiss,  im  Frühling 
golden,  entspricht  dem  grauen  Abendhimmel,  dem  silbernen  Nacht- 
himmel und  dem  goldenen  Morgenhimmel.  Der  Frtthling  ist  die 
Dämmerung  des  Jahres ;  der  ursprttngliche  Mythos  ist  nur  erwei- 
tert; die  letzte  Stunde  des  Tages  weckt  die  Aurora;  der  letzte 


12t 

Monat  des  Sonnenjabres  weckt  den  Frühling.     Die  Anweodang 
des  Mythus  vom  Tage  auf  das  Jahr  ist  höchst  einfach. 

Im  vierzehnten  Mährchen  verirrt  sich  der  König  des  Qold- 
landes  in  dem  von  wilden  Thieren  bewohnten  Walde  und  kann 
sich  nicht  herausfinden.  Ein  Fremder  (ohne  Zweifel  der  Teufel) 
führt  ihn  heraus^  nachdem  der  König  ihm  zum  Eigenthum  ver- 
sprochen, was  ihm  zuerst  entgegenkommen  wird.  ^  Das  Erste, 
was  ihm  an  der  Pforte  entgegen  kommt,  ist  die  Amme  mit  dem 
königlichen  Säugling,  der  dem  Vater  die  Aermchen  entgegen- 
streckt Der  König  lässt  sein  Kind,  einen  schmucken  Knaben, 
gegen  die  Tochter  eines  Bauern  vertauschen.  Der  Königssohn 
wächst  am  Herde  armer  Leute  auf,  während  der  Teufel  das  kleine 
Bauemmädchen  holt.  Der  Prinz  wächst  zum  Jüngling  heran  und 
als  er  erfährt,  wie  er  gerettet  ist,  beschliesst  er,  das  arme  Kind 
zu  befreien.  Er  legt  heimlich  die JTracht  «ines  Bauemknechtes 
an ,  lädt  einen  Sack  Erbsen  aaf  die  Schulter  und  geht  in  jenen 
Wald,  wo  sein  Vater  sich  vor  achtzehn  Jahren  verirrt  hatte.  Er 
verirrt  sich  ebenfalls  und  der  Fremde  erscheint  auch  ihm,  mit 
dem  Anerbieten,  ihm  den  rechten  Weg  zu  zeigen,  wenn  er  ihm 
die  Erbsen  in  dem  Sacke  geben  wolle,  welche  sich  der  Prinz  nach 
seiner  Aussage  von  seinem  Wirth  ausgebeten  hat,  um  sie  den 
Todtenwächtem  seiner  vergangene  Nacht  gestorbenen  Tante  vor- 
zusetzen. -—  Diese  Hülsenfrucht  bei  Leichenceremonien  geht  auf 
einen  sehr  alten  Brauch  zurück.  Die  vediscben  Ceremoniale  er- 
wähnen sie  schon  in  Verbindung  mit  Leicbenfeierlichkeiten ;  iihd 
bei  den  Oriechen  brachte  der  Todte  Vegetabilien  mit  zur  Hölle, 
sei  es  um  passiren  zu  dürfen,  sei  es  als  Beisevorrath.  Im  Pie- 
montesischen  herrscht  noch  am  zweiten  November  (Alleiseelentag) 
der  Brauch,  eine  grosse  Vertheilnng  von  Schminkbohnen  an  die 
Armen  zu  veranstalten,  die  für  die  Seelen  der  Abgeschiedenen 
beten.  Vegetabilien,  Erbsen,  Wicken  und  Schminkbohnen  sind 
Symbole  der  Fülle,  und  auf  diesen  Glauben  lassen  sich  auch  die 
zahlreichen  indogermanischen  Mährchen  beziehen,  in  denen  Bohnen 
erwähnt  werden,  die  sich  im  Topfe  vermehren,  oder  Erbsen,  die 
bis  zum  Himmel  wachsen  und  an  deren  Stengel  der  Held  zum 
Himmel  klettert.  Die  Vegetabilien,  die  zur  Einführung  in  das 
Reich  des  Todes  eri'orderlich  sind,  und  die  Erbsen,  vermittelst 


'  Wer  denkt  hiebci  nicht  an  Jephta?  Doch  ist  es  in  der  biblischen 
firsählung  der  Gott,  hier  der  Teufel,  dem  das  grSssliche  Opfer  gebracht 
wird.  A.  d.  Urbrrs, 


128 

deren  der  Held  in  den  Himmel  gelangt ,  sind  Variationen  dessel- 
ben mythischen  Themas.  In  der  indischen  Sage  haben  wir  ausser 
den  Erbsen  oder  Scbminkbohnen  den  Kürbis»  als  [Symbol  der 
FttUe,  der  sich  unendlich  vermehrt  oder  zum  Himmel  aufisteigt 
Das  Weib  des  Helden  Sagara  gebiert  einen  Kttrbiss,  aus  dem 
später  sechzigtausend  Söhne  herauskommen.  Die  Schminkbohne, 
die  Erbse,  die  Wicke,  die  gewöhnliche  Bohne  und  der  Kttrbiss 
sind  auch  Symbole  der  Fortpflanzung,  nicht  allein  wegen  der 
Leichtigkeit,  mit  der  sie  sich  mehren,  sondern  auch  wegen  ihrer 
Gestalt.  Wir  haben  in  den  vedischen  Geremonialen  gesehen, 
welche  Organe  durch  die  beiden  Bohnen  dargestellt  werden;  wir 
werden  im  Kapitel  über  den  Esel  sehen,  wie  die  Namen,  welche 
die  Oeschlechtstheile  flihren,  auch  zur  Bezeichnung  von  Narren 
verwandt  werden.  Nun  ist  es  beachtenswerth,  dass  das  Sanskrit- 
wort m  ä  s  b  a  (oder  Schminld>ohne)  auch  den  Närrischen,  Dummen 
bezeichnet,  ebenso  wie  im  Piemontesischen  ein  bon  homme  Bohne 
genannt  wird.  So  bedeutet  auch  der  Kürbiss,  der  Fruchtbarkeit 
bezeichnet,  im  Italienischen  Dummheit.  Was  die  Bohnen  betrifft, 
so  habe  ich  schon  in  meinem  Werke  über  die  Hochzeitsgebräuche 
auf  ihre  symbolische  Bedeutung  aufmerksam  gemacht  und  die 
russische  und  piemontesische  Sitte  angeführt,  eine  schwarze  und 
eine  weisse  Bohne  in  den  Kuchen,  den  man  am  Epiphaniastage 
isst,  zu  stecken,  deren  eine  das  Männliche,  während  die  andere 
das  Weibliche  bezeichnet,  eine  den  König  und  die  andere  die 
Königin.  Die  Beiden,  welche  die  Bohnen  finden,  kttssen  sich  mit 
frohen  Vorahnungen.  Da  alle  diese  Vegetabilien  gewöhnlich  den 
Mond  personificiren,  der,  wie  wir  wissen,  als  ein  Spender  der  Fülle 
betrachtet  wird  und  der  mit  seiner  Gestalt  eines  sich  drehenden 
Balles  gut  durch  die  sich  drehende  Erbse  dargestellt  werden  kann, 
so  müssen  wir  die  Lösung  der  Hauptmythen,  die  sich  auf  Vege- 
tabilien beziehen,  in  dieser  Personification  suchen.  —  Der  junge 
Prinz  des  ehstnischen  Mährchens  tritt  in  die  Dienste  des  Frem- 
den, in  der  Absicht,  das  Mädchen  zu  erlösen,  das  ihn  befreit  und 
achtzehn  Jahre  lang  seine  Stelle  bei  diesem  eingenommen  hat. 
Er  folgt  ihm  also,  lässt  aber  je  nach  zehn  und  fünfzehn  Schritten 
immer  eine  Erbse  aus  dem  Sack  auf  den  Boden  fallen,  um  den 
Weg  zurück  zu  finden.  Er  wird  einen  sonderbaren  und  wilden 
unterirdischen  Weg  geführt,  wo  Grabesstille  herrscht  —  es  ist 
auch  wirklich  das  Reich  des  Todes  ~,  wo  die  Vögel  und  andere 
Thiere  einen  Laut  von  sich  geben  zu  wollen  scheinen ,  ohne  dass 
jedoch  etwas  hörbar  wird,  und  wo  das  Wasser  ohne  zu  rauschen 


129 

fliegst  Die  Angst  Bcbnttrt  dem  Eönigssohne  das  Herz  zu  iu  dieser 
aDbeimlichen  stillen  Welt.  Ans  dem  Reiche  des  Schweigens  ge- 
langen sie  in  das  des  betäubenden  Geräusches.  Der  Prinz  glaubt 
das  Dröhnen  einer  Sagemühle  zu  hören^  in  der  ein  paar  Dutzend 
Sägen  arbeiten,  der  Wirth  aber  sagt :  „Die  alte  Grossmutter  schläft 
schon,  sie  schnarcht/^  Endlich  kommen  sie  zu  dem  Hofe  des 
Wirthes,  wo  er  das  schöne  Mädchen  findet;  jedoch  die  Anweisung 
erhält;  nie  zu  sprechen.  Im  Stalle  findet  er  ein  weisses  Pferd  und 
eine  schwarze  Kuh  mit  einem  weissköpfigen  Kalbe.  Er  erhält 
den  Befehl;  diese  Kuh  zu  melken;  bis  kein  Tropfen  Milch  mehr 
im  Euter  zuräekbleibt;  das  wttrde  ihm  jedoch  ohne  das  Mädchen 
nicht  möglich  gewesen  sein,  auf  dessen  Rath  er  der  Kuh  droht; 
die  Zitzen  mit  einer  gltlhenden  Zange  zusammenzukneifen;  falls 
sie  sich  nicht  völlig  ansmelken  lüsst.  Ein  ander  Mal  soll  er  das 
Kalb  auf  die  Weide  fuhren;  nur  durch  einen  seidenen  Zaaber- 
fadeu;  den  ihm  das  Mädchen  giebt  und  dessen  eines  Ende  er  an 
das  linke  Vorderbein  des  Kalbes,  dessen  anderes  Ende  er  an 
die  kleine  Zehe  seines  linken  Fusses  bindet;  kann  er  das  Durch- 
gehen des  Kalbes  verlitlten  und  es  am  Abend  wieder  in  den  Stall 
fuhren.  —  Der  kleine  Finger  ist,  obwohl  der  kleinste;  der  am  meisten 
bevorrechtete  unter  den  fünfen.  Er  weiss  Alles ;  und  im  Piemon- 
tesischen  pflegen  die  Mütter,  wenn  sie  ihren  Kindern  glauben 
machen  wollen,  dass  sie  in  Verbindung  mit  einem  gcheininiss- 
vollen  Späher  stehen,  der  Alles,  was  sie  thun,  sieht,  dieselben 
mit  den  Warten  einzuschüchtern:  ;;Mein  kleiner  Finger  sagt  mir 
Alles."  "  Schliesslich  beschliessen  die  beiden  jungen  Leute  zu 
fliehen;  nachdem  er  dem  weissköpfigen  Kalbe  den  Schädel  ge- 
spalten hat;  aus  seinem  Gehirn  fällt  ein  rothes  Zauberknäulchen 
heraus,  das  wie  eine  kleine  Sonne  leuchtet.  Er  wickelt  es  behut- 
sam in  ein  Tuch;  aus  welchem  jedoch  das  Mädchen  einen  kleinen 
Tüeil  wieder  heraus  wickelt,  damit  es  gleich  einer  Laterne  ihren 
Pfad  erhelle.  Sie  fliehu;  indem  der  Jüngling  an  den  ausgestreuten 
Erbsen  den  Weg  wieder  erkennt.  Der  Alte  schickt  böse  Geister 
liinter  den  Entflohenen  her.  Mittelst  des  Zauberknäulchens  (oder 
Edelsteins),  das  dreimal  in  der  Hand  umgedreht  wird  mit  einem 
Zauberspruch,  verwandeln  sich  diese  erst  in  ein  Bächlein  und 
ein  Fischlein,  dann  in  einen  wilden  Rosenstrauch  und  eine  Plüthe 
daran,  zuletzt  in  ein  Lüftchen  und  ein  Mücklein,  so  dass  sie  den 
Verfolgern  entgeh  u;  endlich  kommen  sie  an  den  grossen  Stein, 
der  den  Eingang  zu  der  unterirdischen  Welt  bedeckt;  auch  er 
rauss  dem  Knäulchen  weichen  und  —  sie  sind  auf  der  Erde,  ^'c- 

Qnhernatii,  die  Thiere.  **  9 


130 

rettet!  Das  rothe Knäulcben  verschafft  ihnen  königliche  Gewänder^ 
in  denen  sie  sich  aller  Welt  zeigen.  Sie  heirathen  sich  und  der 
Prinz  nimmt  den  Platz  seines  nnterdeSs  verstorbenen  Vaters  ein. 

Ich  halte  es  kanm  fUr  nothwendig,  dem  Leser  den  Sinn  dieser 
lichthellen  mythischen  Erzählung  zu  erklären.  Die  schwarze  Kuh, 
die  das  Kalb  mit  dem  weissen  oder  glänzenden  Kopte  hervor- 
bringt, ist  eine  vedische  Antithese;  die  wir  schon  gesehen  haben;  > 
die  Kuh  (Nacht)  bringt  das  Kalb  (den  Mond)  hervor.  Der  Prinz 
nimmt  das  kleine  rothe  Knäuel  aus  dem  Kalbe;  durch  dieses 
Knäuel  wird  das  Mädchen  aus  den  Reichen  der  Finsterniss  be- 
freit. Das  kleine  Knäuel  rückt  den  Stein  fort;  die  Sonne  und 
die  Aurora  kommen  zusammen  aus  dem  Berge  heraus,  nachdem 
sie  zusammen  im  Reiche  der  Schatten  gewandelt  sind;  die  Sonne 
befreit  die  Aurora.  Diese  Erzählung  vereinigt  mit  einander,  und 
zwar  in  richtiger  Reihenfolge,  mehre  Mythen  analogen  Charakters, 
die  selbstständig  entstanden  sind. 

Die  drei  nächsten  Mährchen  schildern  andere  Fahrten  des 
Sonnenhelden  zum  Himmel  oder  in  der  Hölle  und  finden  einen 
Abschluss  von  derselben  Bedeutung.  In  dem  achtzehnten  Mähr- 
chen finden  wir  den  verzauberten  Ring,  Salomos  Ring  ^  geheisseu, 


'  Eine  ähnliche  Antithese  findet  sich  in  einem  ungarischen  Sprich- 
wort, das  mir  mein  gelehrter  Freund  Graf  Geza  Kuun,  zugleich  mit  an- 
dern Notizen  über  abergläubische  Vorstellungen,  die  mit  den  Thiercu  zu* 
sammenhängen,  bei  den  Ungarn,  mitgetheilt  hat.  Dieses  Sprichwort  lautet: 
„Sogar  eine  schwarze  Kuh  giebt  weisse  Milch."  Die  schwarze  Kuh  kommt 
auch  in  zwei  andern  ungarischen  Sprichwörtern  vor,  von  denen  das  eine: 
yfiie  schwarze  Kuh  ist  ihm  nicht  auf  die  Fersen  getreten^*  bedeutet,  dass 
Jemanden  kein  Unglück  betroffen  hat;  es  ist  die  gewöhnliche  verwundbare 
Ferse,  die  Achillesferse,  für  welche  zuweilen,  wie  wir  in  den  Kapp,  über 
den  Fuchs  und  die  Schlange  sehen  werden,  der  Schwanz  oder  das  äusserste 
Uintertheil  eintritt.  Das  andere  Sprichwort  lautet:  „Im  Dunkeln  sind  alle 
Kühe  schwarzes  scheint  aber  keine  mythische  Bedeutung  zu  haben. 

*  Ueber  die  Sage  von  Salomo  hat  soeben  ein  junger  russischer  Ge- 
lehrter, Prof.  Alex.  Wesselofski  ein  beachtenswerthes  Werk  unter  dem 
Titel:  Slavianskiya  skaszaniyoi  o  Salomonie  i  Kitovrassie  i 
szapadniya  legendi  o  Morolfie  i  Merlinie  (Petersburg  1872)  ver- 
öffentlicht. Der  Verf.  untersucht  zuerst  die  Gestalt  der  Sage  in  den  asia- 
tischen, dann  in  den  slavischen,  talmudischen,  altpersischen,  muhammeda- 
nischen  und  europäischen  Quellen,  indem  er  zugleich  die  Bedeutung  ge- 
wisser mittelalterlicher  Uäresieen  klar  darlegt:  er  geht  sodann  auf  die 
in  Kusslaud  seit  Ende  des  XV.  Jahrhunderts  bekannte  Sage  von  Salomo 
und  Kitovras  ein,  deren  griechischen  Ursprung  er  nachweist,  indem  er  das 
Wort   Kitovras    mit    Kentauros   zusammenbringt,    eine    Ableitung,    deren 


131 

tneder,  den  der  junge  Held  suchen  gebt;  als  er.ihn  findet,  der 
Höllenjnngfrau  abnimmt  und  sieh  an  den  Finger  steckt,  erlangt 
er  plötzlich  solche  Stärke,  dass  er  einen  Felsen  mit  einem  Faust- 
schlag in  Splitter  schlagen  kann.  Das  kleine,  eben  beschriebene 
rothe  Knäuel  des  Mährchens,  welches  den  Felsen  aufhebt,  und 
dieser  Bing,  welcher  den  Stein  zersplittert,  stellen  dasselbe  Object 
des  Mythus  dar,  nämlich  die  Sonne,  den  Sonnenball,  die  Sonnen- 
scheibe. 

Das  einundzwanzigste  Mährchen  zeigt  uns  den  herzhaften 
Helden,  der  ein  Schloss  von  Dämonen  beireit  und  so  einen  Schatz 
gewinnt;  Reichthnm  ist  die  Belohnung  der  Tapferkeit. 

Das  zwanzigste  ehstnische  Mährchen  ist  eine  Variation  der 
ausserordentlich  volksthttmlichen  Erzählung  von  Blaubart,  der  seine 
Weiber  umbringt.  Das  ehstnische  Qattenungeheuer  hat  bereits 
eilf  getödtet  und  ist  eben  im  Begriff,  es  mit  der  zwölften  eben 
so  zu  machen,  um  sie  far  den  Besuch  des  heimlichen,  gegen 
sein  ausdrückliches  Verbot  mit  dem  goldenen  Schlüssel  (vielleicht 
dem  Monde)  geöflftieten  Zimmers  zu  bestrafen,  als  ein  Jüngling, 
der  früher  Gänsejunge  war,  der  Freund  ihrer  Kindheit,  sie  be- 
freit. Aus  dem  Gegenstande  selbst  und  den  in  diesem  Mährchen 
angewandten  Ausdrücken  können  wir  den  Ursprung  des  schreck- 
lichen charivari  bei  den  Hochzeiten  der  Wittwer  oder  Wittwen 
entdecken.  Dieser  wilde  Brauch  soll  nicht  nur  die  Begierde  des 
oder  der  Alten,  die  zum'  zweiten  Male  heirathet,  verspotten,  son- 
dern auch  das  Mädchen,  welches  den  einen,  oder  den  Jüngling, 
welcher  die  andere  heirathet,  vor  der  Möglichkeit  eines  ähnlichen 
Geschickes,  wie  es  den  ersten  Mann  resp.  Frau  betroffen,  warnen. 
Wenn  also  das  Weib  a  p  a  t  i  g  h  n  i  (die  ihren  Mann  nicht  tödtet) 
dem  vedischen  Gatten  angepriesen  wird,  so  müssen  wir  das  so 
verstehen,  dass  die  patighnt  (oder  Mörderin  ihres  Gatten)  eine 
Wittwe  ist,  die,  als  des  Mordes  verdächtig.  Niemand  heirathen 
darf.    Deshalb  musste  sich,  um  sich  von  diesem  Argwohn  zu  be- 


Wahrscheiolichkeit  er  auch  sprachwissenschaftlich  begründet.  Im  zweiten 
Thdle  seines  Werkes  bespricht  der  Verf.  den  occi dentalischen  Moralf 
(Marioifos)  nach  den  Arbeiten  von  Rembie,  und  stellt  ihn  einerseits  mit 
dem  italienischen  Bertoldo  zusammen,  während  er  andrerseits  die  Beziehung 
zwischen  Markoiis  und  Merkur  eröffnet  Das  siebtntcKap.  ist  dem  Merlin 
gewidmet  Das  achte  und  letzte  beschäftigt  sich  mit  der  indischen  DäkinT 
und  der  Königin  von  Saba.  Eine  deutsche  oder  englische  Uebersetzung 
dieser  wichtigen  Studien  des  Petersburger  Professors  wäre  höchst  wün- 
schenswerth. 

or  THf 

UNIVERSITY 

or 


182 

freien^  ein  ehrbares  Weib  bei  den  Hindus  (wie  Ondran  in  der 
Edda)  nach  dem  Tode  ihres  Gatten  in  das  Feuer  stürzen:  die 
AbendrOthe  stirbt  nach  dem  Tode  der  Sonne  ebenfalls. 

In  dem  zweiundzwanzigsten  Mährchen  haben  wir  noch  ein- 
mal den  Mythus  von  dem  Königssohne  ^  der  als  Hirtenknabe  auf- 
wächst. Eine  niobtswttrdige  alte  Hexe  stiehlt  auf  Veranlassung 
der  Stieftnutter  das  Kind  aus  dem  Palast  und  bringt  es  in  ein 
einsames  Waldgehöft^  wo  es  aufgezogen  wird.  Dann  kommt  der 
Prinz  in  den  Dienst  eines  Banerwirthes  als  Httterknabe.  Einst 
trifft  er  einen  alten  Mann^  der  den  Knaben  und  seine  Herde  be- 
trachtend sagt :  y^Du  scheinst  mir  nicht  zum  Httterknaben  geboren 
zu  sein.^'  Der  Knabe  erwiedert,  er  wisse  wohl,  dass  er  zum 
Herrscher  geboren  sei  und  hier  vorerst  das  Geschäft  des  Herrschens 
erlerne:  „Geht  es  mit  den  Vierftlsslern  gut,  so  rersuche  ich  wei- 
terhin mein  Geschäft  auch  wohl  mit  den  Zweifässlem/'  Der 
Schäfer  ist  also  ein  kleiner  König;  ein  guter  Schäfer  wird  ein 
guter  König  werden.  Ein  andres  Mal  verlangt  eine  vorbeifahrende 
stolze  deutsche  Frau  ein  Körbchen  mit  frischgepflttckten  Erdbeeren 
von  ihm.  Als  sie  ihm  mit  Gewalt  genommen  werden  sollen, 
wehrt  er  sich  wacker.  Zur  Strafe  wird  er  in  den  Dienst  einer 
sehr  bösen  Bauerwirthin  als  Httterknabe  gethau,  die  ihn  sehr 
schlecht  behandelt  Aus  Rache  sperrt  er  ein  Dutzend  Wölfe  in 
eine  Höhle,  wo  er  ihnen  alle  Tage  ein  Thier  von  seiner  Herde 
vorwirft;  der  Wirthin  aber  antwortet  er  immer  auf  die  Frage 
nach  dem  fehlenden:  „Die  Wölfe  haben's  zerrissen!^'  Schliesslich 
lässt  er  das  böse  Weib  selbst  von  den  Wölfen  zerreissen ,  die  es 
mit  Haut  und  Haaren  verschlingen,  so  dass  nichts  weiter  ttbrig 
bleibt;  als  Zunge  und  Herz  (die  Sonne);  diese  beiden  taugen 
nicht  einmal  den  wilden  Bestien,  weil  sie  zu  giftig  sind.  Acht- 
zehn Jahr  alt  tritt  der  Prinz  bei  einem  Gärtner  in  Dienst,  in 
dessen  junge  blühende  schöne  Tochter  er  sich  grenzenlos  verliebt. 
Er  wird  von  seinem  königlichen  Vater  wiedergefunden;  dieser 
will  ihm  jedoch  nicht  erlauben,  die  Gärtnerstochter  zu  heiratheu, 
Hondern  haut  den  Verlobungsring  der  Beiden  mit  dem  Schwerte 
in  zwei  Stücke.  Nur  wenn  die  beiden  Hälften  des  Ringes  zur 
rechten  Zeit  von  selbst  so  in  einander  schmelzen,  dass  kein  Auge 
die  Stelle  entdecken  kann,  wo  der  Ring  durchgehauen  war,  will 
er  glauben,  dass  Gott  sie  fttr  einander  geschaffen  hat  —  In  einem 
toscaniBchen  Mährchen  giebt  das  schöne  Mädchen  dem  dritten 
Bruder  ihr  Halsband.  Das  junge  Paar  verliert  einander;  ihr 
Wiederüudeu  und  Wiedererkennen  findet   Statt,   als  die   beiden 


133 

Tbeile  des  HaiBbandes  sich  mit  einander  vereinigen.  Der  Branch 
des  Tranrings  hat  einen  mythischen  Ursprung.  Die  Sonnen-  nnd 
znwcilen  auch  die  Mondscheibe  ist  der  Ring,  welcher  das  himm- 
lische Ehepaar  eint.  —  Als  sich  nach  verschiedenen  Abentenem 
der  beiden  jnngen  Leute  des  ehstnischen  Mährchens  die  beiden 
Hälften  ihres  Ringes  vereinigen ,  hat  ihr  Missgeschick  ein  Ende; 
sie  heirathen  sich  nnd  leben  glücklich;  während  die  gransame 
Stiefmutter,  die  mittlerweile  verwittwet  ist,  aus  dem  Reiche  Ver- 
stössen wird. 

Das  letzte  ehstnische  Mährchen  erzählt  von  der  ausserordent- 
lichen Geburt  eines  schönen  Prinzen  und  einer  schönen  Prinzessin 
au  demselben  Tage.  Die  Prinzessin  wird  in  einem  Vogelei  ge- 
tragen, wie  ein  Kleinod  an  dem  Busen  der  Königin  ruhend;  sie 
hat  zuerst  die  Gestalt  einer  lebendigen  Puppe  nnd  später  erst, 
nachdem  sie  einige  Zeit  in  dem  warmen  Wollkorbe  gelegen  hat, 
wird  ein  wirkliches  Mädchen  ans  ihr.  Während  diese  Verände- 
mng  mit  ihr  voigeht,  giebt  die  Königin  noch  ein^m  schönen  Kna- 
ben das  Leben.  Die  beiden  Kinder  werden  als  Zwillinge  be- 
trachtet nnd  zusammen  getauft  Zu  d^  Taufe  der  Kinder  kommt 
als  Pathin  in  einer  prächtigen  sechsspännigen  Kutsche  ein  junges 
Weib  in  rosenrothen  goldgestickten  Gewändern,  das  gleich  der 
Sonne  glänzt  und  das,  als  es  den  Schleier  fallen  lässt,  gleich  der 
schönen  Helena,  die  Beistehenden  mit  Bewunderung  und  Staunen 
erfüllt.  Die  Mutter  stirbt  bald  und  hinterlässt  das  Glttckskörb- 
chen  mit  den  Eierschalen  ihrer  Tochter.  Vermittelst  des  kleinen 
Zauberkörbchens  nnd  durch  Aussprechen  einiger  Zauberworte 
kann  das  Mädchen  Alles  finden,  was  es  sucht  oder  begehrt.  Der 
Prinz,  ihr  vermeintlicher  Zwillingsbruder,  und  das  Mädchen  hei- 
rathen sich  schliesslich,  nachdem  sie  erfahren,  dass  sie,  obwohl 
Beide  königlicher  Abkunft,  doch  Kinder  verschiedener  Väter  sind ; 
das  kleine  Glttckskörbchen  aber  verschwindet  auf  geheimnissvolle 
Weise. 


§  4.    Der  Stier  und  die  Kuh  in  der  slaviscben  Sage. 

Nachdem  wir  bisher  einen  allgemeinen  Abriss  der  Grenzen 
zwischen  der  turanischen  nnd  slavischen  Sage  gegeben  haben,  ist 
es  jetzt  Zeit,  an  das  Studium  der  slaviscben  Sage  selbst  zu  gehen, 
so  weit  sie  mit  dem  Mythus  von  dem  Stier  und  der  Kuh  zu 
thun  bat 


134 

Die  raBsiscben  Bauern  und  Hirten  pflegen  zu  behaupten,  dass 
das  Wetter  sehön  wird>  wenn  sich  eine  rothe  Kuh  an  die  Spitze 
der  Heerde  stellt,  dass  es  aber  regnen  oder  schlechtes  Wetter 
werden  wird,  wenn  die  erste  Kuh,  welche  am  Abend  in  den  Stall 
zurückkehrt ,  eine  schwarze  ist.  Wir  wissen  bereits,  was  die 
schwarze  und  die  rothe  Kuh  in  der  Sprache  der  Veden  bedeuten. 
Die  Morgen-  und  Abend- Aurora ,  d.  h.  die  rothen  Kühe,  ver- 
sprechen schönes  Wetter;  die  Wolke  (oder  schwarze  Kuh)  zeigt 
nasses  Wetter  an.  Im  Piemontesischen  pflegt  man  bei  einer  schönen 
Abendröthe  zu  sagen: 

„R0880  di  Bcra, 
Buon  tempo  si  spera/* 
(Bei  Abendroth  hoftt  man  auf  schönes  Wetter.) 

Verfolgen  wir  jetzt  die  russische  Sage  bezüglich  der  Kuh 
und  des  Stieres  in  zwei  der  vielen  unschätzbaren  Sammlungen 
von  Volksmährchen,  die  schon  in  Russland  gedruckt  worden  sind, 
wie  auch  in  den  berühmten  Krilofi'schen  Fabeln.  ^ 

Wir  werden  mit  den  Mährchen  und  Fabeln  beginnen,  in 
denen  die  Kuh  oder  der  Stier  ausdrücklich  erwähnt  wird.  Sie 
zeigen  uns  den  Stier,  welcher  den  Helden  und  die  Heldin  beschützt, 
den  Stier,  welcher  den  Helden  bereichert,  den  Stier,  der  verkauft 


*  Diese  letzteren  sind  auch  ins  Englische  übersetat  und  erläutert  wor- 
den von  W.  R.  S.  Baiston,  M.  A.  Während  des  Druckes  der  englischen 
Ausgabe  meiner  Mythologie  Hess  Herr  Ralston  in  London  bei  Ellis  und 
Green  (*in  höchst  interessantes  Werk  erscheinen,  unter  dem  Titel:  The 
Songs  of  the  Russian  people  as  illustrative  of  Slavonic  mythology 
and  Russian  social  life.  Das  Ganze  ist  in  sechs  Kapitel  getheilt;  Kap.  1  ist 
eine  zugleich  populär  gehaltene  und  instructive  Einleitung ;  Kap.  2  wendet 
sich  zu  der  slavischen  Mythologie ;  Kap.  3  handelt  von  den  mythischen  und 
rituellen  Gesängen;  Kap.  4  von  den  Hochzeitsliedem ;  Kap.  5  von  den 
Todtengesängen;  Kap.  6  beschäftigt  sich  mit  der  Hexerei  und  Magie  in 
Russland.  Das  Narodnija  Skaski  sabrannija  selskimi  uditeliami,  isdanie 
A.  A.  Erlenwein  (Moskwa  1863)  und  das  umfangreichere:  N.  Aphanasicva, 
Narodnija  ruskijaskaski,  Isd.  2  (Moskwa  1860.  1861 .)  sind  noch  nicht 
in  andere  europäische  Sprachen  übersetzt  worden.  Diese  beiden  Werke 
enthalten  vielleicht  nur  den  fünften  Theii  der  Matenalien,  deren  Samm- 
lung aufmerksame  russische  Beobachter  in  den  ungeheuren  Länderstrichen, 
welche  die  Russen  inne  haben,  in  diesem  Jahrhundert  besorgt  haben.  Da 
jedoch  unter  allen  Sammlungen  die  Afanassieffsche  die  wichtigste  ist,  so 
habe  ich  dem  europäischen  Publikum  mit  der  Mit!heilung  des  werthvoUen 
Inhaltes  derselben  einen  Dienst  zu  erweisen  geglaubt. 


135 

wird;  den  dankbaren  Stier,  den  Stier,  der  sich  opfert,  den  ver- 
folgten Stier,  den  dämonischen  Stier;  die  Kuh,  welche  spinnt,  die 
wohlthätige  Kuh,  den  Sohn  der  Kuh,  die  Vögel,  welche  aus  der  Kuh 
hervorkommen,  das  Kuhfell,  das  ein  Seil  wird,  an  dem  man  zum 
Himmel  hinaufklettert,  die  vertauschte  Kuh,  die  dämonische  Kuh, 
die  Kuhhömer.'  Hier  haben  wir  also  auch  wieder  die  Doppel- 
gestalt der  vedischen  Kuh :  die  dunkelfarbige  (Wolke  und  Finster- 
niss),  gewöhnlich  ungeheuerartig,  und  die  glänzende  (Mond  und 
Aurora),  gewöhnlich  göttlich  und  wohlthätig. 

Ein  specielles  Characteristicum  des  Stiers  und  der  Kuh  ist 
ihre  Fähigkeit  zu  trinken.  Wir  sahen  schon,  wie  viel  der  Stier 
Indra  (die  Sonne  in  der  Wolke  oder  in  der  Nacht)  trinken 
konnte.  In  dem  dritten  Mährchen  des  ersten  Buches  bei  Afanas- 
sieff,  führt  die  Hexe,  welche  das  gute  Mädchen  verfolgt,  als  dieses 
ein  Tuch  ausbreitet  und  so  einen  Strom  entstehen  lässt,  damit  die 
Hexe  sie  nicht  einholen  könne,  den  Stier  vorwärts,  damit  er  den 
Strom  austrinke  (eine  Form  des  indischen  Agastya,  welcher  im 
Mahäbhärata  ^  das  Meer  ausschlürft).  Doch  weigert  sich  der  Stier, 
der  den  Strom  wohl  trocken  legen  könnte,  es  zu  thun,  weil  er 
dem  guten  Mädchen  zur  Dankbarkeit  verpflichet  ist.  Das  Wasser, 
aus  dem  dieser  Stier,  resp.  Kuh,  welcher  der  Hexe  gehört,  trinkt, 
hat  die  Eigenthümlichkeit ,  den  Menschen,  der  davon  trinkt,  in 
ein  Kalb  zu  verwandeln;^  ja  sogar  aus  der  Klaue  des  Stieres 
zu  trinken  genügt  schon,  ihn  in  ein  Kalb  zu  verwandeln.  ^  Das 
Wasser,  welches  aus  der  Klaue  des  dämonischen  Stieres  hervor- 
kommt, ist  das  Gegentheil  von  dem  Wasser  der  Hippokrene,  das 
ans  den  Hufen  des  göttlichen  Pferdes  der  Griechen,  des  Pegasos, 
fliesst. 

Im  zweiten  Buche  bei  Afanassieff  findet  sich  ein  Mährchen, 
welches  von  der  Vertauschung  der  Thiere  in  ganz  derselben 
Reihenfolge  wie  im  Aitareya-brähmana  spricht,  d.  h.  dass 
für  Gold  ein  Pferd,  für  das  Pferd  eine  Kuh,  für  die  Kuh  eine 
Ziege  oder  ein  Schaf  eingetauscht  wird.  Der  russische  Bauer 
geht  mit  seinem  unglücklichen  Tauschgeschäft  weiter:  er  verhan- 
delt das  Schaf  ftir  ein  junges  Ferkel,  das  Ferkel  für  eine  Gans, 
die  Gans  für  eine  Ente,  die  Ente  ftir  einen  kleinen  Stock,  mit 
dem  er  einige  Kinder  spielen  sieht;  er  nimmt  den  Stock  für  seine 


>  III,  8805  ff. 
»  A  fan.  II,  29 
»  IV,  45. 


136 

Frau  Diit  nach  Han^e  nnd  sie  schlägt  ihn  damit.  In  dem  zwölften 
Mähreben  des  fünften  Buches  bei  Afanaosieff  verbandelt  auch  ein 
alter  Mann  zuerst  die  goldenen  Strümpfe  und  silbernen  Strumpf- 
bänder, die  er  im  Himmel  vom  lieben  Gott  bekommen,  für  ein 
Pferd,  das  Pferd  für  einen  Stier,  den  Stier  für  ein  Lamm ;  zuletzt 
handelt  er  eine  kleine  Nadel  ein,  die  er  verliert.  Im  zweiten 
Mährchen  des  sechsten  Buches  wird  dasselbe  närrische  Verfahren 
dem  dritten  Bruder,  dem  dummen,  (welcher  in  vier  anderen  rus- 
sischen Variationen  derselben  Erzählung  der  schlaue  ist)  beigelegt; 
er  bat  nämlich  erfahren,  dass  im  Himmel  die  Kühe  billig  sind, 
giebt  seine  Kuh  fttr  eine  Fliege,  seinen  Ochsen  für  eine  Pferde- 
iliege  und  steigt  zum  Himmel  auf. 

Doch  sind  im  Allgemeinen  der  Stier  und  die  Kuh  der  Anfang 
des  Glückes  fttr  die  Helden  der  Volksmährchen. 

In  dem  zweiundfunfzigsten  Mährchen  des  fünften  Buches  hat 
der  dritte  Bruder,  der  wabrheitliebende  Narr,  der  Glück  hat, 
alu  einziges  Erbe  von  sdnem  Vater  einen  Stier;  er  geht,  ihn  zu 
verkaufen  und  kommt  bei  einem  alten  dürren  Baume  vorbei,  der 
knarrt;  er  denkt,  der  Baum  will  seinen  Stier  kaufen,  giebt  ihn, 
und  verspricht,  nach  dem  Gelde  wiederzukommen.  Als  er  wieder- 
kommt, ist  der  Stier  fort ;  er  fordert  sein  Geld,  und  als  er  keine 
Antwort  bekommt,  schickt  er  sich  an,  den  Baum  mit  seiner  Axt 
niederzuhauen,  wobei  ein  Schatz,  den  einige  Räuber  im  Baume 
verborgen  hatten,  zum  Vorschein  kommt;  ^  der  Mann  nimmt  ihn 
und  trägt  ihn  nach  Hause.  In  einer  Variation  dieses  Mährchens, 
in  der  Erlenweinscben  Sammlung, ^  versucht  der  dritte  Sohn 
des  Müllers  seinen  Stier  zu  melken,  da  er  sieht,  wie  der  zweite 
Bruder  die  Kuh  melkt;  als  er  die  Erfahrung  macht,  dass  seine 
Anstrengungen  vergeblich  aind,  so  bescbliesst  er,  ein  so  ausser- 
ordentlich nutzloses  Thier  zu  verkaufen. 

In  dem  vierunddreissigsten  Mährchen  des  fünften  Buches 
treffen  wir  wieder  die  beiden  Brüder,  einen  reich  und  knickerig, 
den  andern  arm ;  der  arme  borgt  sich  von  einem  Nachbar  zwei 
Stiere  und  wird  von  der  Armuth  (gore)  zu  einem  Stein  geflihrt, 
unter  welchem  er  eine  mit  Gold  gefüllte  Höhle  findet.    Der  arme 


'  Etwas  Achnlichcs  findet  sich  scüod  in  den  Aesopischen  Fabeln  (21.  cd. 
del  Furia,  Florenz  18()9):  der  Mann  betet  zu  einem  hölzernen  Götterbilde 
{^livov  9e6v)y  es  möge  ihn  reich  macheu;  die  Statue  antwortet  nicht;  er 
zerbricht  sie  und  Gold  kommt  zum  Vorschein. 

^  Siebentes  Mährchen. 


137 

Mann  füllt  seinen  Wagen  und  erzählt,  als  er  herauskommt,  dem 
Geizhals,  dass  es  dadrinnen  noeh  viel  mehr  giebt.  Jener  geht 
hinein,  nm  zu  sehen;  der  expauper  versehiiesst  den  Eingang  mit 
dem  Steine  und  kehrt  heim.  ^ 

Der  Stier  und  die  Kuh  bringen  jedoch  nicht  aliein  dem  Hel- 
den Beichthflmer,  sondern  helfen  ihm  auch  in  Gefabren.  In  dem 
eilften  Mährehen  bei  Erieuwein*  will  Iwan  Tzarewiö  oder  der 
Prinz  Johann  —  der  Name  des  Lieblingshelden  der  slavischen 
Volkssage  (er  ist  der  dritte  Bruder,  der  stärkste,  der  das  meiste 
Glttck  hat,  der  siegreiche,  der  klügste,  nachdem  er  der  närrischste 
gewesen  ist)  —  vor  der  Schlange  fliehen,  weiss  aber  nicht  wie 
und  setzt  sich  weinend  auf  einen  Baumstamm.  Der  Hase  kommt, 
ihn  davonzutragen,  wird  aber  von  der  Schlange  getödtet;  der 
Wolf  kommt ,  wird  aber  ebenfalls  getödtet.  Schliesslich  kommt 
der  Stier  und  trägt  ihn  fort.  Als  Iwan  bei  seiner  Wohnung  an- 
langt, hat  sich  der  Ochse  in  zwei  Theile  getheilt ;  ein  Theil  muss 
unter  die  heiligen  Bilder  gestellt  werden,  welche  eine  Ecke  jedes 
Zimmers  in  russischen  Häusern  zieren,  der  andere  Theil  unter  das 
Fenster;  Iwan  muss  dann  scharf  spähen,  bis  zwei  Hunde  und 
zwei  Bären  erscheinen,  welche  ihm  auf  der  Jagd  dienen  und 
seine  Stärke  sein  wollen. 

In  dem  siebenundzwanzigsten  Mährchen  des  fünften  Buches 
werden  Iwan  Tzarewiö  und  die  schöne  Helene  von  einem  unge- 
heuren Bären  mit  eisernen  Borsten  verfolgt;  sie  fliehen  auf  einem- 
Stier  (dem  Monde)  und  Iwan  reitet,  auf  Rath  des  Stieres,  mit 
dem  Gesicht  nach  der  Seite,  von  welcher  der  verfolgende  Bär 
wahrscheinlich  kommen  wird,  damit  dieser  sie  nicht  überrasche. 
Als  Iwan  den  Bären  kommen  sieht,  wendet  sich  der  Stier  um 
und  reisst  ihm  die  Augen  aus;  der  blinde  Bär  folgt  ihnen  nach, 
doch  setzen  die  auf  dem  Rücken  des  Stieres  Fliehenden  über 
einen  Strom,  in  welchem  der  Bär  ertrinkt.  Iwan  und  Helene 
fühlen  Hunger;  der  Stier  befiehlt  ihnen,  ihn  zu  zerschneiden  und 
zu  essen,  aber  seine  Knochen  aufzubewahren  und  sie  zusammen- 
zuschlagen; aus  den  so  behandelten  Knochen  ersteht  ein  Zwerg, 
von  der  Grösse  eines  Fingernagels,  doch  mit  einem  ellenlangen 
Barte;  er  hilft  Iwan  die  Milch  einer  Wölfin,  einer  Bärin  und 
einer  Löwin  finden,  bis  er  von  dem  brennenden  Vogel,  dessen 
Eier  er  stehlen  wollte,  verschluckt  wird.    (Der  Bär  scheint  hier 


'  Vgl.  auch  Af  an.  V,  19. 

<  Vgl.  auch  Erlenw.  28  and  Afan.  III,  24. 


138 

ein  nächtliches  Ungeheuer  za  sein;  der  Stier  ist  das  Ross  der 
Sonne  in  der  Nacht,  der  Mond;  der  Stier-Mond  wird  geopfert; 
darauf  erscheint  eine  kleine  Sonne  mit  langen  Strahlen,  der  Zwerg 
mit  dem  langen  Barte,  ein  alter  ego  Iwans,  der  sein  Leben  in 
dem  Brande  des  Phoenix  oder  der  Abend-Aurora  endet.)  Iwan  ist 
vom  Tode  bedroht,  als  der  Zwerg  stirbt,  doch  wird  ihm  in  diesem 
kritischen  Augenblick  von  den  wilden  Thieren  geholfen,  die  er 
gezähmt  und  gefUttert  hatte  und  die  ihn  aus  der  Gefahr  befreien. 
Diese  wurden  ihm  nämlich  nach  dem  Tode  des  Stieres,  seines 
Befreiers  gegeben ,  von  welchem  selbst  sie,  als  er  in  Stücke  ge- 
schnitten wurde,  geboren  wurden  (die  wilden  Thiere  des  Waldes 
der  Nacht  werden  geboren,  sobald  die  Abendsonne  geopfert  ist). 

Dasselbe  Thema,  etwas  variirt,  begegnet  uns  wieder  in  dem 
folgenden,  achtundzwanzigsten  Mährchen;  nur  dass  an  die  Stelle 
von  Iwan  und  Helene  Iwan  und  Marie,  die  Sonne  und  die 
Aurora  der  Christen,  getreten  sind.  Neben  der  Wohnung  Iwans 
und  Maries  erhebt  sich  ein  Scheiterhaufen ,  auf  welchem  sich  der 
Stier  opfert  Die  Knochen  des  Stiers  werden  in  drei  Furchen 
gesät;  die  erste  Furche  trägt  ein  Pferd,  die  zweite  einen  Hund, 
auf  der  dritten  wächst  ein  Apfelbaum.  Iwan  steigt  auf  das  Pferd, 
der  Hund  folgt  ihm;  er  jagt  junge  Wölfe  und  Bären,  die  er 
später  zähmt  und  abrichtet,  die  Schlange  zu  tödten,  welche  seinen 
Hund  in  einer  Höhle  eingeschlossen  und  seine  Schwester  entführt 
hat;  er  erzwingt  sich  den  Eingang  zu  dem  Orte,  wo  sein  Hund 
verborgen  ist,  dadurch  dass  er  den  Riegel  der  Thttr  mit  drei 
kleinen  Zweigen  des  Apfelbaumes  schlägt;  der  Riegel  bricht  in 
Stücke,  die  Thür  springt  auf,  der  Hund  ist  befreit;  der  Hund, 
der  Wolf  und  der  junge  Bär  wttrgen  dann  die  Schlange  und 
Iwan  befreit  Prinzessin  Marie. 

Im  sechsten  Buche  (54.  Mährchen)  erhält  Jung  Marie, 
die  verfolgt  wird,  wunderbare  Hilfe  von  einer  Kuh.  Ein  altes 
Weib  hat  drei  leibliche  Töchter  (eine  einäugige,  eine  zweiäugige 
und  eine  dreiäugige)  und  eine  Stieftochter,  Namens  Marie;  ihre 
eigenen  drei  Töchter  thun  nichts  und  essen  viel;  die  Stieftochter 
muss  schwer  arbeiten  und  bekommt  nur  wenig  zu  essen.  Die 
Stiefmutter  giebt  ihr  fünf  Pfund  Wolle,  die  sie  in  einer  einzigen 
Nacht,  während  sie  die  Kuh  auf  die  Weide  führt,  spinnen,  weben 
und  bleichen  soll.  Das  Mädchen  geht  zur  Weide,  umarmt  ihre 
Schecke,  lehnt  das  Köpfchen  an  ihren  Nacken  und  beweint  ihr 
traurig  Loos.  Da  sagt  die  Kuh:  „Schönes  Kind,  kriech  in  eins 
von  meinen  Ohren  und  komm  zum  andern  wieder  heraus,  so  wird 


139 

Alles  fertig  sein!"  —  In  der  italienischen  Version  dieses  Mälir- 
ehens  *  s^nnt  die  Knh  mit  ihren  Hörnern  fUr  das  gute  Mädchen, 
während  es  die  Alte  oder  die  Madonna  kämmt.  Ich  glanbe  schon 
gesagt  zn  haben,  dass  ich  in  dieser  guten  Alten,  Fee  oder  Ma- 
donna den  Mond  wiederfinde.  Der  Mond  wird,  wie  die  Sonne, 
in  Beziehung  mit  der  Aurora,  und  besonders  der  Abend-Aurora, 
welche  er  begleitet,  gedacht;  der  Mond  ist  die  Wirthin,  die  Füh- 
rerin, die  Schtttzerin  des  Helden  und  der  Heldin  des  Abends, 
welche  sich  in  der  Nacht  verirren  und  verfolgt  werden;  nach  der 
Abend-Aurora  erscheint  der  weisse  Mond,  ganz  ebenso  wie  die 
Morgen-Aurora  von  der  glänzenden  Sonne  abgelöst  wird.  Wir 
sahen,  dass  die  vedisohe  Aurora  den  Namen  Reinigerin,  Schmtt- 
ckerin  führt ;  von  dieser  Bezeichnung  zu  dem  Bilde  der  Kämmerin 
oder  Schmttckerin  des  Kopfes  der  alten  Madonna  ist  der  Ueber- 
gang  leicht ;  ^  von,  d.  h.  nach  der  Aurora  kommt  der  Mond  hervor, 
glänzend  und  rein,  am  schönen  und  heiteren  Himmel;  und  darum 
fallen  Perlen  von  dem  Kopfe  der  Madonna;  doch  als  andrerseits 
nicht  das  schöne  Mädchen,  die  Aurora,  kommt,  als  die  Stiefmutter 
eine  ihrer  eigenen  Töchter  zu  der  Alten  auf  die  Weide  schickt, 
fällt  garstiges  Ungeziefer  von  dem  Haupte  der  alten  Fee  oder 
Madonna,  sofern  der  Mond  sich  unter  den  Schatten  der  wolkigen 
und  schwarzen  Nacht  nicht  in  seinem  Glänze  zeigen  kann.  Die 
russische  Erzählung  zeigt  uns,  wie  die  gütige  Kuh  des  guten 
Mädchens,  welche  dasselbe  liebkost  und  ihm  Wohlthaten  erweist, 
und  die  Madonna  oder  gute  Alte  der  italienischen  Sage,  die  für 
das  sorgliche  Kämmen  ihres  Haares  dankbar  ist,  identisch  sind. 
In  dem  fünfunddreissigsten  Mährchen  des  fünften  Buches  dagegen, 
wo  die  Kuh  in  dämonischer  Gestalt  erscheint,  und  der  Held  Iwan, 
verdammt  aus  einem  Prinzen  ein  Kuhhirt  zu  werden,  sie  unter 
dem  Schwänze,  den  sie  dazu  aufhebt,  küssen  muss,  treffen  wir 
eine  alte  Hexe,  welche  an  den  weissen  Brüsten  des  schönen  Mäd- 
chens saugt,  während  das  letztere  das  Ungeziefer  auf  ihrem  Kopfe 
jagen  muss ;  in  der  Hexe  wie  in  der  Kuh,  welche  so  ungebührlich 
den  Schwanz  aufhebt,  können  wir  die  finstere  Nacht  wieder- 
erkennen, eine  Erklärung,  die  durch  den  Umstand  als  durchaus 


*  Vgl.  die  erste  Erzähluog  io  meiner  Sammlung:  No  veil  ine  di 
Santo  Stefano  di  Calcinaia,  Torino  18B9.  Ich  kenne  auch  eine 
piemontesische  Version,  die  von  dieser  toscanischcu  nur  wenig  abweicht. 

*  In  der  £rzählun^  bei  Afan.  II,  27  kämmt  die  schöne  Prinzessin  am 
ßee  den  jüngsten  Sohn  des  Tzaren,  welcher  schlafen  geht. 


140 

richtig  bewiesen  wird;  dass  der  Held-Hirt  Katoma;  der  gesehnittekte. 
der  schnelltUssige ;  sebliesslieb  der  unversebämten  Kat^das  Fell 
abzieht  (die  Morgensonne,  der  Hirt  der  glänzenden  Kübe^  zieht 
der  sehwarzfarbe^ien  Kuh  der  finsteren  Naeht  das  Fell  ab).  Doeb 
kehren  wir  zu  der  viernndfunfzigsten  Erzäblang  zarttek.  —  Als 
die  Stiefmutter  siebt  y  dass  das  Mädehen  Alles ;  was  ihm  aufge- 
tragen ist,  fertig  gemaeht  bat;  schöpft  sie  Verdacht;  dass  ihr  Je- 
mand hilft;  und  schickt  die  nächste  Nacht  ihre  erste  Tochter;  die 
nur  ein  Auge  bat;  die  Stieftochter;  die  zur  Weide  gebt,  zu  beob- 
achten. Jung  Marie  'sagt  zu  ihr:  ;;Auge;  schlaf!"  und  sofort 
schläft  ihre  Stiefschwester  ein,  so  dass  die  Kuh  ihr,  ohne  dass  Je- 
mand es  bemerkt;  helfbn  kann.  Die  zweite  Nacht  wird  die  zweite 
Tochter,  die  zweiäugige,  mitgeschickt;  Marie  sagt  zweimal  zu 
ihr:  „Auge,  schlaf!"  und  Alles  geht  wie  vorher.  Die  dritte  Nacht 
gebt  die  dreiäugige  Schwester  mit;  Marie  vergisst  das  dritte 
Auge  und  sagt  nur  zweimal :  „Auge,  schlaf !"  und  so  sieht  denn 
die  dritte  Schwester  mit  dem  Auge,  das  sie  offen  behalten,  ^  was 
die  Kuh  mit  Marie  tbut,  und  erzählt  am  Morgen  Alles  ihrer 
Mutter,  die  befiehlt,  dass  die  Kuh  getödtet  wird.  Marie  warnt 
die  Kuh,  und  die  Kuh  nimmt  ihr  das  Versprechen  ab,  kein  Fleisch 
von  ihr  zu  essen,  die  Knochen  zu  nehmen,  im  Garten  zu  säen 
und  sie  zu  begiessen.  Das  Mädchen  thut  es;  nie,  so  hungrig  sie 
auch  sein  mag,  isst  sie  von  dem  Fleisch;  sie  sucht  nur  die 
Knochen  zusammen.  Aus  den  im  Garten  gesäten  Knochen  er- 
wächst ein  wunderbarer  Apfelbaum,  mit  goldenen  Blättern  und 
silbernen  Zweigen,  welche  die  drei  Töchter  der  Stiefmutter  stechen 
und  verwunden,  während  sie  dagegen  dem  schönen  Mädchen 
Aepfel  geben,  welche  dasselbe  dem  reichen  jungen  Herrn,  der 
es  zur  Frau  nimmt,  anbieten  kann.  In  dem  folgenden  filnfund- 
funfzigsten  Mäbrcbeu;  das  nur  eine  Variation  des  vorhergehenden 
ist;  heisst  das  Mädchen  Marie  und  ihr  Gatte  Iwan  Tzarewic ;  wenn 
Marie  auf  die  Weide  gebt  und  wenn  sie  zurückkehrt;  pflegt  sie 
vor  dem  rechten  Fusse  der  Kuh  niaderzuknieen.  Als  die  getödtete 
Kuh  in  der  Gestalt  eines  Baumes  wieder  auflebt;  wimmelt 
er  von  Vögeln,  welche  für  Könige  und  Bauern  in  gleicher 
Weise  singen  und  die  süssen  Frtlcbte  auf  Marions  Teller  fallen 
lassen. 

Die  Aepfel,  die  Hörner  wachsen  lassen,  und  die,  welche  jung 
und  schön  machen,  deren  in  dem  sechsunddreissigsten  Mährchen 

'  Vgl.  das  Kapitel  über  die  Ziege. 


141 

des  fünften  Buches  and  wieder  im  letzten  Buche  der  A  fan  as - 
sie  ff  sob  en  Sammlnng  Erwähnung  geschieht,  wie  sie  auch  in 
anderen  europäischen  Variationen  desselben  Themas  wiederkehren^ 
hängen  meines  Erachten»  mit  dem  Mythus  von  dem  Abend-  und 
Morgenhimmel  und  der  Mondnacht  in  der  Gestalt  eines  Apfel- 
baumes zusammen.  In  dem  funfeehnten  Mährchen  der  Erlen- 
weinschen  Sammlung  kommt  der  dritte  Bruder,  der  unver- 
meidliche Iwan^  zu  einem  Apfelbaum;  welcher  rothc  A^fel  hat, 
und  isst  vier  von  ihnen ,  worauf  auf  seinem  Kopfe  vier  Homer 
wachsen  und  zwar  von  solcher  Höhe,  dass  er  nicht  in  den  Wald 
gehen  kann;  er  geht  zu  einem  Apfelbaum;  der  weisse  Frttchte 
trägt,  und  die  vier  Homer  verschwinden.  (Der  Sonnenheld  nähert 
sich  am  Abend  dem  Baume  mit  den  rothen  Aepfelu,  der  Abend- 
Aurora,  und  sofort  wird  er  entstellt;  Hörner  wachsen  auf  seinem 
Kopfe,  er  verliert  sich  in  dem  Schatten  der  Nacht;  beim  Mond- 
licht und  der  alba  nähert  er  sich  dem  Baume  mit  den  weissen 
Aepfeln,  verliert  seine  Homer  und  wird  wieder  jung  und  schön.) 
In  dem  siebenundfunfzigsten  Mährchen  des  sechsten  Buches 
bei  Afanassieit  wird  Iwan  Tzarewic  mit  den  Aepfeln,  welche  dem, 
der  sie  isst,  die  Jugend  wiedergeben,  von  der  Schwester  der  Sonne 
beschenkt,  zu  deren  Wohnung  er  in  folgender  Weise  emporge- 
hoben wird:  Iwan  (die  Sonne)  liat  zur  Schwester  (ohne  Zweifel 
Halbschwester)  eine  Schlangen-Hexe  (Nacht),  die  bereits  seinen 
Vater  und  seine  Mutter  verschlungen  hat  (<lie  Sonne  und  die  Abend- 
Aurorä,  welche  die  Nacht  erschaffen  und  von  ihr  vernichtet  wer- 
den); die  Hexe  verfolgt  den  kleinen  Bmd^  Iwan  und  will  ihn 
verzehren;  er  flieht  und  sie  holt  ihn  in  der  Nähe  der  Wohnung 
der  Schwester  der  Sonne  (der  Aurora,  der  wirklichen  Schwester 
Iwans)  ein.  Die  Hexe  macht  Iwan  den  Vorschlag,  sich  zusam- 
men auf  der  Wage  zu  wiegen.  Iwan  nimmt  Sen  Vorschlag  an, 
worauf  die  Hexe  auf  die  eine  Wagschale,  Iwan  auf  die  andere 
steigt;  sobald  jedoch  die  Hexe  ihren  Foss  auf  die  Wagschale 
setzt,  Überwiegt  sie  Iwan  so  beträchtlich,  dass  dieser  zum  Himmel, 
der  Wohnung  der  Schwester  der  Sonne,  emporgeschleudert  wird, 
wo  er  bewillkommnet  und  gastlich  aufgenommen  wird.  (Ein 
schöner  Mythus,  dessen  Bedeutung  ganz  klar  ist  Iwan  ist  die 
Sonne,  die  Aurora  seine  Schwester;  am  Morgen  ziehen  sich  die 
Schatten  der  Nacht  nahe  der  Wohnung  der  Aurora,  d.  h.  im  Osten, 
hinab  und  die  Sonne  steigt  zum  Himmel  auf;  das  ist  die  my- 
thische Wage.  So  wiegt  auch  in  der  christlichen  Mythe  St.  Mi- 
chael Mettscheuseelen :  die,  welche  schwer  wiegen,  sinken  in   die 


142 

< 

Hölle  hinunter,  die,  welche  leicht  befanden  werden,  steigen  mta 
himmlischen  Paradiese  auf.) 

Durch  Vermittlung  der  Schwester  der  Sonne  rettet  sich  Iwan 
vor  der  Hexe.  In  einem  anderen  Mährchen  bei  Afanassieff 
(V,  37)  läSBt  derselbe  Iwan,  durch  Vermittelung  der  Schwester  des 
Helden  Nikanore,  die  Ktthe,  denen  er  nacheilt,  goldene  Hörner 
und  Schwänze,  so  wie  Flanken  von  Sternen  haben;  später  tödtet 
er  mit  Hilfe  des  Helden  Nikanore  in  Person  (der  Sonne,  d.  h. 
seiner  selbst)  die  Schlange. 

Wir  sahen  schon  den  wolkigen  und  finstem  Himmel  in  den 
vedischen  Gedichten  bald  als  eine  schwarze  Kuh,  bald  als  einen 
Stall  voll  Stieren  und  Kühen  dargestellt.  Der  schwarze  Stier  resp. 
Kuh  der  Nacht  wird  als  dämonisch  betrachtet.  In  einem  Mähr- 
chen bei  Afanassieff  (V,  50)  finden  wir  den  Teufel  in  Gestalt 
eines  Stieres,  welcher  brüllt  und  mit  seinen  Hörnern  die  Erde 
aufwühlt,  indem  er  einen  Hochzeitszug  anhält.  Aus  einem  Stier 
verwandelt  er  sich  in  einen  Bären,  dann  in  einen  Hasen,  dann 
in  eine  Krähe,  um  der  Heirath  Hindernisse  in  den  Weg  zu  legen, 
bis  ihn,  als  er  sich  in  seiner  Teufelsgestalt  zeigte  ein  Kriegsheld 
blendet,  während  er  trinkt.  Eine  Variation  dieses  Kriegshelden 
ist  der  dritte  Sohn  des  Bauern  (V,  9),  welcher  so  stark  ist,  dass 
er  mit  einem  Fingerschnippchen  den  Stier  und  den  Bären  todt 
hinfallen  macht  und  darauf  mit  einem  Ruck  ihnen  das  Fell  ab- 
zieht. Derselbe  Held  vermiethet  sich  bei  einem  Kaufmann,  dem 
er  zwei  Jahre  lang  für  die  Erlaubniss  dienen  will,  ihm  nach  Ab- 
lauf der  Dienstzeit  einen  Nasenstüber  ttnd  einen  Kniff  appliciren 
zu  dürfen.  Der  Kauftnann  denkt,  er  wird  die  Dienste  des  Man- 
nes umsonst  geniessen,  bezahlt  sie  aber  mit  seinem  Leben.  Der 
Kaufmann  spielt  in  Volksmärchen  selten  eine  gute  Rolle.  —  Er 
und  der  Knicker  sind  synonym  —  der  Knicker  ist  das  Unge- 
heuer, welches  Schätze  verborgen  hält;  und  deshalb  werden,  wie 
wir  schon  aus  den  vedischen  Hymnen  selbst  sahen,  die  Feinde 
der  Götter,  die  Ungeheuer,  welche  die  Schätze  rauben  und  ver- 
stecken, als  panis  oder  Kauf  leute,  Betrüger,  Räuber  oder  Knicker 
dargestellt  Die  Gangbarkeit  dieser  Bezeichnung  als  eines  Schimpf- 
wortes muss  zum  Theil  in  dem  UebelwoUen  seinen  Grund  haben, 
mit  welchem  die  priesterlichen  Opferer  der  letzten  vedischen  Pe- 
riode die  Kaufleute  betrachteten,  in  denen  sie  nur  eine  Bande 
von  Geizhälsen  sahen,  weil  sie  in  Folge  ihres  Wanderlebens  ihnen 
weder  Kühe  noch  Stiere  für  Opfer  zu  geben  hatten,  sondern 
ihr  ganzes  Vermögen   bei    sich   trugen  und  den   befruchtenden 


143 

Regen  des  Gottes  Indra  zur  Vermehrung  ihrer  Habe  nicht  be- 
nöthigten. 

Der  himmlische  Stier  tritt  ans  der  Nacht  oder  den  nächtlichen 
Ställen  hervor^  entweder^  wie  wir  sahen,  um  dem  Helden  zu  helfen^ 
um  geopfert  zu  werden,  um  vor  Verfolgung  zu  fliehen,  oder  weil 
er  von  einem  schlauen  Diebe  gestohlen  worden  ist 

In  einer  der  Kriloffsohen  Fabeln  schickt  Gott  eine  schreck- 
liche Seuche  unter  die  Thiere,  an  welcher  sie  in  grosser  Anzahl 
sterben.  Sie  gerathen  darüber  so  in  Schrecken,  dass  sie  ihre 
Wohnungen  verlassen  und  ziellos  hin  und  her  wandern.  Der  Wolf 
frisst  nicht  länger  das  Schaf;  der  Fuchs  lässt  die  Hühner  in  Uuhe. 
Die  Turteltauben  hören  auf,  sich  verliebt  anzugirren.  Da  hält 
der  Löwe  einen  Rath  der  Thiere  und  ermahnt  sie  alle,  ihre  Sün- 
den zu  beichten.  Der  schlaue  Fuchs  versucht,  den  Löwen-Richter 
za  beruhigen,  indem  er  ihm  versichert,  obwohl  er  einige  Schafe 
gestohlen,  habe  er  damit  doch  kein  Unrecht  begangen,  und  so 
rechtfertigt  er  seine  Räubereien;  dasselbe  thut  auch  der  Bär,  der 
Tiger,  der  Wolf  und  alle  die  bösesten  unter  den  Thieren.  Darauf 
kommt  auch  der  einfältige  Stier  und  bekennt,  er  habe  dem  Prie- 
ster ein  wenig  Heu  gestohlen.  Dieses  Verbrechen  erscheint  so 
nichtswürdig,  dass  der  Rath  der  Thiere  decretirt,  der  Stier  müsse 
als  Opfer  dargebracht  werden.  * 

Bisweilen  verlässt  dagegen  der  Stier,  sei  es  weil  er  die 
schlechte  Behandlung  von  Seiten  seines  Herrn  nicht  ertragen  kann, 
sei  es  um  nicht  getödtet  oder  von  dem  dummen  Sohne,  welcher 
Geld  braucht,  um  zu  heirathen,  verkauft  zu  werden,  eine  Gefalir, 
von  der  er  eine  düstere  Vorahnung  hat,  mit  anderen  Thieren  den 
Stall,  baut  eine  Hütte  oder  isbä  und  schliesst  sich  in  derselben 
ein.  ^  Er  hat  das  Lamm,  die  Gans,  den  Hahn  oder  sonst  andere 
zahme  Thiere  bei  sich.  Der  Fuchs  geht  vorbei,  hört  den  Hahn 
krähen  und  ruft  schnell  seine  Freunde,  den^  Bären  und  den  Wolf,  zu 
Hilfe.  Der  Bär  öfinet  die  Thür  und  der  Fuchs  macht  sich  hinein; 
der  Stier  aber  bearbeitet  ihn  mit  den  Hörnern,  das  Lamm  drängt 
ihn  von  der  Seite  und  der  Hahn  hackt  ihm  die  Augen  aus;  so 
machen  sie  dem  unwillkommenen  Eindringling  den  Garaus.  Der 
Wolf,  der  aus  Neugierde,  zu  sehen  was  vorgeht,  hineingeht,  hat 
dasselbe  Schicksal,  und  der  Bär,  der  der  letzte  ist,  kommt  allein 

'  Bei  Lafontaine,  Fables  VII,  1,  wird  der  Esel  geopfert. 

*  Afau.  IV,  20 — 22.  ~  lu  einem  litauischen  Liede,  welches  die  Hoch- 
zeit des  Wolfes  schildert,  erscheint  der  Stier  als  Ilolzhauer.  ühland, 
Schriften  zur  Gesch.  der  Dichtung  und  Sage  III,  75. 


144 

mit  Muh*  und  Notb  und  nacb  mancherlei  argen  Hisshandlnngen 
mit  beiler  Haut  davon.  In  einer  anderen  Variation  desselben 
Mäbrcbens  stirbt  der  Bär  ans  Furcht;  der  dumme  Sohn  nimmt 
sein  Fell  und  macht  es  zu  Geld;  darauf  kehren  der  Stier  und 
seine  Gefährten,  nachdem  so  die  Gefahr;  verkauft  zu  werden, 
glücklich  vorüber  ist,  heim.  Der  Kampf  zwischen  den  zahmen 
und  den  wilden  Thieren,  aus  welchem  die  erstereu  siegreich 
hervorgehen,  ist  eine  thierbildlicbe  Darstellung  des  Sieges,  den 
die  Helden  (die  Sonne  und  die  Aurora)  ttber  die  Ungeheuer  der 
Finsterniss  davontragen. 

Das  Mährchen  von  dem  HeI4en-Diebe  ist  gewölmlich  mit  der 
EutfUhining  von  seines  Herrn  Pferde  verbunden;  doch  nicht  selten 
wird  der  Held,  wie  das  Ungeheuer,  ein  Räuber  von  Kühen  und 
Ochsen. 

Der  Dieb  Iwan  (Afan.  V,  6)  wird  aufgefordert;  seinem 
Herrn  einen  schwarzen  Stier  oder  Ochsen  zu  stehlen,  welcher 
an  den  Pflug  gespannt  ist;  wenn  es  ihm  gelingt,  so  soll  er  hun- 
dert Rubel  bekommen;  wenn  nicht,  hundert  Schläge.  Um  den 
Diebstahl  ausführen  zu  können,  wendet  Iwan  folgendes  Mittel 
an:  er  nimmt  einen  Hahn,  rupft  ihn  und  steckt  ihn  lebendig  unter 
eine  Erdscholle.  Die  Ackersleute  kommen  mit  den  Ochsen ;  wäh- 
rend sie  pflügen,  fährt  der  Hahn  auf;  sie  verlassen  den  Pflug, 
um  ihm  naclizurennen ,  worauf  Iwan  erscheint,  der  sich  hinter 
einem  Strauche  versteckt  hatte.  Er  schneidet  einem  Ochsen  den 
Schwanz  ab,  steckt  ihn  einem  andern  Ochsen  ins  Haul  und  macht 
sich  dann  mit  dem  schwarzen  Ochsen  fort.  Die  Ackersleute 
haben  den  Hahn  nicht  einholen  können,  kommen  zurück  und 
schliessen  daraus,  dass  statt  dreier  Thiere  nur  noch  zwei  da  sind, 
dass  ein  Ochse  den  schwarzen  Ochsen  gefressen  hat  und  nun 
auch  anfängt;  den  Schwanz  des  anderen,  scheckigen  Ochsen  zu 
verzehren.  Bei  Afan.  V,  21  stiehlt  der  Zwerg- Knabe  dem 
Priester  einen  Ochsen  und  isst  seine  Kaidaum  n. ' 

Von  der  Kuh  wird  der  Held  geboren ;  unter  einer  verfaulten 
Kuh,  die  in  einen  Graben  (eine  Ei'scheinungsform  des  nächtlichen 
Oceans)  geworfen  ist,  liegt  Iwan  Tzarewic;  ein  Vogel  nimmt  das 
Wasser  fort  und  Iwan  Tzarewi6  (die  neue  Sonne)  kommt  hervor.  ^ 
In  einem  anderen  Mährchen  bei  Afauassieff  isst  die  Fuchs- 
Heldin,  die  Gefährtin  des  Wolfes,  als  der  Wolf  abwesend  ist,  die 

*  Vgl.  das  Kap    übiT  den  Wolf. 

*  Afan.  V,  41. 


145 

Eingeweide  des  Kalbes,  ihres  gemeinsamen  Eigenthnms  (das  sie 
von  Kubhirten  eingetauscht  hatten  fUr  einen  Kuchen ;  der  mit 
ihren  Excrementen  besudelt  war,  wie  ja  gewöhnlich  die  Excre- 
mente  der  Anfang  von  BeichthUmern  sind);  sie  stopft  dann  das 
Kalb  oder  die  Kuh  mit  Stroh  und  Sperlingen  aus  und  macht  sich 
davon.  Der  Wolf  kommt  zurück;  wundert  sich,  dass  die  Kuh 
sollte  so  viel  Stroh  gefressen  haben,  dass  es  herauskommt,  und 
zieht  das  Stroh  heraus.  Die  Vögel  fliegen  davon,  das  Kalb  fällt 
um  und  der  Wolf  flieht  erschreckt.  *  Mit  diesen  beiden  Mythen 
hängen  zwei  andere  zusammen:  die  von  dem  Sohn  der  Kuh  und 
die  von  der  Himmelfahrt  vermittelst  des  Kuhfells. 

Der  König  hat  keine  Söhae;  er  ßlngt  einen  Hecht,  welchen 
die  Köchin  abwäscht,  und  giebt  das  schmutzige  Wasser  der  Kuh 
zu  trinken.  Den  Fisch  aber  geben  sie  dem  schwarzen  Mädchen 
zu  der  Königin  zu  tragen.  Das  schwarze  Mädchen  isst  auf  dem 
Wege  ein  Stück  davon  und  die  Königin  isst  das  Uebrige.  Nach 
Ablauf  von  neun  Monaten  geben  die  Kuh,  das  Mädchen  und  die 
Königin  jede  einem  Sohne  das  Leben.  Die  drei  Söhne  gleichen 
einander  vollständig;  doch  der  Sohn  der  Kuh,  der  Held  Sturm, 
ist  der  stärkste  von  den  drei  Brüdern  und  verrichtet  die  schwie- 
rigsten Tbaten.  In  einer  andern  Version  desselben  Mährchens 
(bei  Afanassieff  V,  54)  giebt  statt  der  Kuh  die  Hündin  dem 
stärksten  der  drei  Brüder  das  Leben.  ^  In  dem  neunzehnten 
Mährchen  bei  Erlen  we  in  finden  wir  stiM^t  der  Kuh  und  der 
Hündin  die  Stute;  der  stärkste  Bruder  ist  hier  der  Sohn  des 
schwarzen  Mädchens,  der  Burgräuber  oder  Held  Sturm  (Burya- 
Bagatir).  In  dem  dritten  Mährchen  bei  Erlen  wein  erscheint 
Iwan  Tzarewid  als  der  Sohn  des  schwarzen  Mädchens.  Da  in 
zahlreichen  andern  russischen  Mäbrchen  Iwan  Tzarewic,  ge- 
wöhnlich der  dritte  Bruder,  nicht  allein  als  der  scblaueste, 
sondern  auch  als  der  stärkste  der  drei  Brüder  erscheint, 
so  sind  wir  veranlasst,  in  den  drei  Brüdern^  dem  Sohne  des 
schwarzen  Mädchens,  dem  Sohne  der  Kuh  und  dem  Sohne  der 
Königin,  welche  abwechselnd  dieselben  Heldenthaten  verrichten, 
ein  und  dieselbe  Sonnengestalt  zu  finden,  deren  Mutter,  Nacht, 
bald  als  eine  Königin,  bald  als  eine  Kuh  (wir  sahen  ja  eben 
Iwan  Tzarewiö  aus  der  verfaulten  Kuh  entstehen),  bald  als  eine 

*  Afao.  IV,  1.  —  In  einer  andern  Venion  desselben  Mythus,  auf 
weiche  wir  schon  in  den  vedischen  Hymnen  angespielt  finden,  kommen  die 
Vogd  aus  einem  Pferde. 

'  VgL  auch  die  Kapp,  über  den  Fisch  und  den  Aal. 

Qabematli,  die  Thier«.  10 


146 

schwarze  Sklavin  dargestellt  wird  (die  Neger  •  Waschfrau ,  die 
Sarazenin  italienischer  Märchen  [Holda];  der  gereinigte  Fisch, 
welchen  das  schwarze  Mädchen  trägt,  ist  vielleicht  ein  Bindeglied 
zwischen  der  Vorstellung  der  russischen  Sage  und  der  des  ita- 
lienischen Mährchens). 

In  dem  zweiten  Mährchen  des  ftlnften  Buches  bei  A  fan  as- 
sie  ff  steigt  der  dritte  Bruder;  der  schlaue,  vermittelst  der  Felle 
seiner  Etthe  und  Ochsen,  welche  er  in  Riemen  schneidet,  zum 
Himmel  auf;  so  denkt  in  einer  Variation  desselben  Mährchens 
der  dritte  Bruder  sich  an  dem  Euhfell,  welches  in  Riemen  ge- 
schnitten und  an  die  Enden  des  Himmels  befestigt  ist,  herabzu- 
lassen, als  er  auf  dem  Wege  bemerkt,  dass  der  Riemen  nicht 
lang  genug  ist.  Einige  Bauern  dreschen  Getreide  und  das  Häck- 
sel erhebt  sich  hoch  in  die  Luft;  er  versucht  aus  dem  Häcker- 
ling ein  Seil  zu  machen,  doch  der  Strick  reisst  und  er  fällt  auf 
die  Erde.  Diese  glückliche  Erklimmung  des  Himmels,  der  ein 
höchst  unglückliches  Herabkommen  folgt,  wird  oft  mit  sonder- 
baren Einzelheiten  in  russischen  Volksmährchen  erzählt,  wozu  ein 
merkwürdiges  Wortspiel  in  der  Sprache  nicht  wenig  beigetragen 
haben  mag :  „Wer  aufsteigt,  steigt  nicht  herab",  ^  d.  h.  wenn  Je- 
mand etwas  thut,  so  kann  er  nicht  zu  gleicher  Zeit  das  Gegen- 
theil  thun.  Diese  höchst  einfache  Wahrheit  wurde  später  modi- 
fidrt,  indem  man  die  Zeiten  veränderte:  „Wer  hat  hinaufsteigen 
können,  wird  nicht  wieder  herunterkommen  können".  Das  ist 
nur  theilweise  wahr  und  bedeutet,  dass  wir  im  Traum  zwar  nur 
eines  dünnen  Fadens  bedürfen,  um  hoch  zu  steigen,  dass  aber 
der  Fall  ein  heftiger  ist,  wenn  wir  aus  der  Traumwelt  wieder 
in  die  der  Wirklichkeit  herabsteigen  wollen;  wir  kommen  mit 
bleiernen  Schwingen  unten  an,  mit  den  Athembeschwerden ,  die 
uns  im  Traume  bedrücken,  wenn  wir  aus  einer  Höhe  mit  pein- 
licher Langsamkeit  herabzufallen  glauben.  Und  wie  wir  am  Ende 
des  Traumes,  nach  dem  Fall  vom  Himmel,  lebendig  erwachen,  so 


^  Vgl.  Adami  Olearii  Peraianische  Keisebeschreibung  p.  362  (in  der 
Ausgabe  vom  1696);  ,, Von  dem  Berg  Kilissim  berichten  die  Perser,  dass  es 
mit  ihm  eine  solche  Beschaffenheit  hatte:  Wer  hinaufgienge,  kähme  nicht 
wieder  herunter;  Schach  Abas  hätte  einsten  mit  Verhcissung  grossen  Geldes 
einen  hinaufgeschicket,  der  hätte  zwar  oben  ein  Feuer  angezündt,  dass 
man  sehen  können,  er  wäre  hinauftkommen,  wäre  aber  mit  seinem  Hunde, 
welchen  er  bey  sich  gehabt,  nicht  wieder  heruntorgangen."  [Olearius 
bemerkt  richtig,  dass  sich  diese  Fabel  aus  dem  türkischen  Sprichwort: 
Kim  gedir  gelmiz  („Wer  hingehet,  kompt  nicht  herunter")  entwickelt  habe.) 


147 

berichtet  auch  die  Erzählung  von  dem  Helden,  der  vom  Himmel 
fiel;  nicht,  dass  er  todt  ist;  sondern  nur,  dass  seine  Träume  todt 
sind.  Er  ist  nur  unglücklich,  als  er  zum  zweiten  Male  das  Herab- 
kommen mit  grösserer  Wucht  versucht 

Während  Raisonnements  solcher  Art  wohl  zur  Verbreitung 
der  Mythen  beigetragen  haben,  ist  doch  ihre  Bildung  meines 
Erachtens  viel  mehr  aus  lebendiger  Naturanscbauung  als  aus 
Verstandesthätigkeit  hervorgegangen,  und  wie  die  Bilder  der  My- 
thologie fast  alle  himmlische  sind,  so  sehe  ich  immer  und  überall 
in  dem  dritten  Bruder  oder  dem  Alten  anderer  Versionen  dieses 
Mährchens,  welcher  zum  Himmel  aufsteigt  und  vermittelst  des 
Kuhfells  wieder  herabkommt,  die  Sonne.  Der  Alte,  der  in  den 
Himmel  steigt,  nachdem  die  Kuh  gestorben  ist,  thut  es  auch  ver- 
mittelst einer  Pflanze  von  Todesvorbedeutung,  die  in  wunderbarer 
Weise  aofwäebst. 

Ein  alter  Mann  und  eine  alte  Frau  haben  eine  Tochter;  sie 
isst  Bohnen  und  lässt  eine  davon  auf  die  Erde  fallen ;  eine  Pflanze 
(der  Mond)  wächst  auf,  die  bis  an  den  Himmel  reicht.  Der  Alte 
klettert  hinauf  und  kommt  wieder  zurück.  Er  versucht  sein 
Weib  in  einem  Sacke  mit  hinaufzunehmen,  doch  kann  er  die  Last 
nicht  erhalten,  lässt  sie  fallen  und  die  Frau  stirbt ' 

Neben  der  Wohnung  eines  alten  Mannes  wächst  Kohl,  der 
in  gleicher  Weise  bis  zum  Himmel  aufschiesst  Der  AHe  klettert 
hinauf,  macht  ein  Loch  in  den  Himmel  und  isst  uud  trinkt  sich 
voll.  Er  kommt  dann  zurück  und  erzählt  Alles  seiner  Frau;  sie 
wünscht  auch,  hinaufzukommen;  als  sie  auf  halbem  Wege  sind, 
lässt  der  Alte  den  Sack  fallen,  die  Alte  stirbt  und  der  Mann  be- 
stattet sie,  indem  er  den  Fuchs  als  Leichenbitter  bestellt  ^ 

Andere  Versionen  desselben  Mährchens  bieten  uns  statt  des 
Kuhfells,  des  Kohls  und  der  Bohnenstange,  die  Erbsenpflanze,  ja 
sogar  die  Eiche,  die  bis  zum  Himmel  aufwächst.  ^ 


■  Afan.  IV,  9  ^  In  der  sehr  bekannten  englischen  Erzählung  von 
Jack  und  der  Bohnenstange  wird  der  Biese  durch  denFall  vom  Him- 
mel getodtet,  als  Jack  die  Bohnenstange  unten  abschneidet. 

^  A  fan.  IV,  7.  —  Vgl.  das  Kapitel  über  den  Fuchs. 

»  Afan.  V,  12  und  VI,  2.  -  Vgl.  die  Kapp,  über  die  Ziege,  den  Fuchs, 
den  Wolf  und  die  Ente,  wo  sich  andere  Episoden  dieser  Erzählung  wieder- 
finden. —  Bei  A  fan.  V,  12  steigt  der  Alte  lum  Himmel  auf,  um  Gott 
anzurufen,  ihn  für  die  Erbsen  zu  entschädigen,  die  er  von  der  Spitze  der 
Erbsen  pflanze  abgenommen  hat;  Gott  giebt  ihm  dafür  Strümpfe  von  Gold 
und  Strumpfbänder  von  Silber. 

10» 


148 

Von  der  Tranerpflanze  —  einem  Symbol  zugleich  der  Fülle 
und  der  Auferstehang;  wie  wir  schon  bemerkten  — ,  an  welcher 
der  Held  zum  Himmel  aufsteigt,  wo  er  Beichthum  und  Ueberflnss 
an  Speisen  findet;  war  der  Uebergang  zu  der  Erbse ,  die  sich 
rund  umdreht;  sich  kugelt;  und  von  welcher  der  Held  Dreh-Erbs- 
chen  (der  Sohn  des  Erbsenkönigs)  geboren  wird;  sehr  nattlrlich. 

In  dem  zweiten  Mäbrchai  des  dritten  Buches  bei  A  fan  as  • 
sief '  erscheint  Dreh-Erbschen  als  der  dritte  der  Brüder,  als  der 
jüngste  Bmder;  der  seine  Schwester  und  seine  beiden  Brüder  von 
dem  Ungeheuer  befreit.  Doch  binden  ihn  die  undankbaren  Brü- 
der (Tielleicht  lüstern  nach  dem  Hfidcheu;  das  hier  Schwester 
heisst;  virtuell  aber  mit  der  beireiten  und  von  den  drei  Brüdern 
umstrittenen  Braut  zahlreicher  indo-germanischer  Mährchen  iden* 
tisch  ist)  an  eine  Eiche  und  gehen  allein  nach  Hause.  Dreh- 
Erbsehen  entwurzelt  die  ganze  Eiche  und  geht  davon.  Er  tödtot 
darauf    drei    Schlangenungeheuer   und    deren   Schlangenweiber. 

In  dem  drdssigsten  Mährchen  des  zweiten  Buches  wird  dieser 
Kampf  gegen  die  Schlangen,  männliche  wie  weibliche;  dem  Iwan 
zugeschrieben.  Er  zieht  mit  seinen  Brüdern  gegen  die  zwölf- 
köpfige Schlange  und  tödtet  mit  seinem  eisernen  Stocke  neun 
Köpfe  allein;  die  drei  übrigen  mit  Hilfe  seiner  beiden  Brüder. 
Darauf  verfolgt  die  Schlangenmutter  mit  ihren  drei  Töchtern  die 
drei  Brüder  und  besonders  Iwan.  Sie  lässt  dieselben  ein  schönes 
Kissen  auf  der  Erde  finden;  IwaU;  der  eine  List  vermuthet, 
schlägt  erst  auf  das  KisseU;  aus  welchem  darauf  Blut  hervorquillt 
(in  der  Erzählung  von  Dreh-Erbschen  wendet  der  Held  die  Ge- 
fahr dadurch  ab;  dass  er  das  Zeichen  des  Kreuzes  mit  seinem 
Schwerte  macht;  als  Blut  herauskommt).  Die  Schlange  versucht 
sie  dann  durch  einen  Apfelbaum  mit  goldenen  und  silbernen 
Aepfeln.  Die  Brüder  wollen  einige  abpfltkken;  Iwan  jedoch 
schlägt  erst  den  Baum  und  Blut  fliesst  heraus.  Sie  kommen  dann 
zu  einem  schönen  Brunnen;  die  Brüder  wollen  daraus  trinken; 
Iwan  schlägt  den  Brunnen  und  wieder  fliesst  Blut  Das  Kissen; 
der  Apfelbaum  und  der  Brunnen  waren  die  drei  Töchter  der 
Schlange.  Darauf  stürzt  sich  die  Schlange,  welche  die  Brüder 
nicht  hat  täuschen  können;  auf  Iwan ;  dieser  entschlüpft  mit  seinen 
Brüdern  in  eine  SchmiedC;  die  mit  zwölf  Eisenthüren  verschlossen 
ist;  die  Schlange  leckt  an  den  Thüren,  um  sich  einen  Eingang 


Vgl.  auch  V,  'i4. 


149 

za  erzwingen ;  und  ihre  Zunge  wird  von  rotbgltthenden  Zangen 
(den  Sonnenstrahlen)  gepackt. 

In  dem  vierte  Mährchen  bei  Erlen  wein  begegnen  uns  die 
drei  Brüder  wieder  mit  interessanten  mythischen  Namen.  Eine 
Frau  bringt  drei  Söhne  zur  Welt:  einen  am  Abend,  der  deshalb 
Vedernik  oder  der  Abendliche  heisst;  den  zweiten  um  Mittemacht, 
der  Poluttocnik  oder  der  Mittemächtige  genannt  wird ;  den  dritten 
bei  der  Morgenröthe,  der  den  Namen  Svetazör  oder  der  Hell- 
sehende ftihrt.  Die  drei  BrOder  sind  binnen  vier  Stunden  erwachsen. 
Der  tapferste  von  ihnen  ist  Svetazör^  der  letzte.  Seine  Stärke  zu 
erproben,  geht  er  zu  dem  Grobscl^mied  und  fordert  eine  Eisenkeule, 
die  zwölf  Pud  (480  Pfund)  wiegt;  er  schleudert  sie  in  die  Luft 
und  fängt  sie  mit  der  flachen  Hand  auf,  wobei  die  Keule  zer- 
bricht. Er  lässt  sich  eine  zwanzig  Pud  (800  Pfund)  schwere 
bringen ;  wirft  sie  in  die  Höhe  und  fängt  sie  mit  einem  Knie  auf, 
sie  zerbricht  ebenfalls.  Endlich  nimmt  er  eine  dreissig  Pud 
(1200  Pfund)  schwere,  wirft  sie  in  die  Höhe  und  ftngt  sie  mit 
seiner  Stirn  auf;  sie  biegt  sich,  aber  bricht  nicht  Svetazör  macht 
sie  wieder  gerade  und  nimmt  sie  mit,  als  er  mit  seinen  beiden 
Brttdem  die  drei  Töchter  des  Tzaren  befreien  geht,  welche  von 
drei  Zauberem  in  die  drei  Schlösser  von  Kupfer,  Silber  und  Gold 
entfährt  worden  sind.  Svetazör  trinkt  das  Wasser  der  Stärke, 
empfängt  von  der  ersten  Prinzessin  ein  kupfemes  Ei,  von  der 
zweiten  ein  silbernes,  von  der  dritten  ein  goldenes  und  befreit 
die  drei  Prinzessinnen.  Als  die  beiden  Brüder  sehen,  dass  die 
dritte  Prinzessin  schöner  als  die  beiden  and^n  ist,  denken  sie, 
der  jfingste  Brader  will  sie  fär  sich  behalten,  und  werfen  ihn  ins 
Wasser.  Svetazör  streift  in  der  Unterwelt  umher  und  befreit  die 
Tochter  eines  anderen  Tzaren,  indem  er  ein  Ungeheuer  tödtet 
und  unter  einem  Felsen  begräbt  Ein  Soldat  rühmt  sich  vor  dem 
Tzaren,  diese  Heldenthat  vollbracht  zu  haben.  Svetazör  fordert 
den  Kriegsmann  auf,  seine  Stärke  und  somit  die  Wahrheit  seiner 
Behauptung  dadurch  zu  erweisen,  dass  er  den  Felsen  aufbebt. 
Er  bringt  es  nicht  fertig  und  Svetazör  gewinnt  bei  dieser  Kraft- 
probe, worauf  der  Soldat  auf  Befehl  des  Tzaren  hingerichtet  wird. 
Darnach  wird  Svetazör  von  einer  Krähe,  der  er  das  Leben  gerettet 
hat,  in  die  Welt  des  Lebens  geführt  unter  der  Bedingung,  dass 
er  ihr  auf  dem  Wege  etwas  zu  essen  giebt  Svetazör  muss 
schliesslich  die  Krähe  mit  seinem  eigenen  Fleische  fttttem,  kommt 
jedoch  gesund  und  munter  mit  seinem  ganzen  Fleische  in  der 
Oberwelt  an,  wo  er  mit  dem  kupfernen,  silbemen  und  goldenen 


150 

Ei  die  Schlösser,  die  aas  diesen  Metallen  bestehen;  entstehen  lässt ; 
in  diesen  finden  sich  der  Ring;  der  Pantoffel  und  das  Kleid,  welche 
die  drei  Prinzessinnen  von  ihren  Liebhabern  gefordert  hatten,  in- 
dem sie  bei  dieser  Gelegenheit  ihren  verlorenen  Sevtazör  wieder- 
zusehen hofften.  Darauf  beginnt  Svetazör  die  Terrasse  dos  gol- 
denen Schlosses  auszufegen.  Die  dritte  Prinzessin  drückt  das 
Verlangen  aus,  ihn  zum  Gatten  zu  haben.  Die  Hochzeit  wird  ge- 
feiert, Svetazör  verzeiht  seinen  beiden  älteren  Brüdern  und  giebt 
ihnen  die  beiden  älteren  Schwestern  seiner  Braut.  (Die  Knpfer- 
prinzessin  ist  die  Abend-Aurora,  die  Silberprinzessin  ist  der  Silber- 
mond und  die  Goldprinzessin  ist  die  Morgen-Aurora,  mit  der  sich 
Svetazör,  der  hellsehende,  der  glänzende,  die  Sonne,  vermählt.) 

In  dem  sechsten  Mährcheu  des  ersten  Buches  wird  dieselbe 
Unternehmung  von  dem  dritten  Bruder,  Iwan,  ausgeftlhrt.  Das 
Ungeheuer,  welches  die  drei  Schwestern  entführt,  ist  ein  Wasser- 
ungeheuer, eine  Fischotter.  Von  seinen  Brüdern  in  der  Unterwelt 
verlassen,  wird  Iwan  von  einem  grossen  Sturme  überrascht;  er 
erbarmt  sich  einiger  junger  Vögelchen,  welche  sich  baden,  und 
steckt  sie  unter  seinen  Rock,  worauf  die  dankbare  Mutter  der 
Vögel  ihn  auf  die  Oberwelt  zurückbringt.  In  dem  fünfzehnten 
Mährchen  bei  Erlen  wein  ist  der  dritte  Bruder  der  schlaue, 
welcher  durch  eine  List  und  vermittelst  seiner  Börse,  die  sich 
von  selbst  füllt,  seinen  beiden  Brüdern  die  Schnupftabaksdose 
stiehlt,  aus  welcher  so  viele  Armeen  hervorkommen,  als  gewünscht 
werden,  und  den  Rock,  weicherden,  der  ihn  trägt,  nnsichtbar 
macht.  (Beides  Darstellungen  der  Wolke  oder  der  Nacht,  aus 
welcher  Reichthümer,  Sonnenstrahlen,  Donnerkeile  und  Waffen 
hervorgehen  und  welche  den  Helden  verbirgt,  d.  h.  ihn  unsicht- 
bar macht)  In  dem  vierundfUnfisigsten  Mährchen  des  fünften 
Buches  bei  Afanassieff  ist  Iwan,  der  Held,  der  von  seinen 
Brüdern  geopfert  wird,  der  starke,  der,  welcher  die  drei  Prinzes- 
sinnen befreit,  die  drei  Ringe  besitzt,  und  sie  dem  Goldschmied 
giebt,  von  dem  sie  gefertigt  wurden,  der  sie  aber  nicht  machen 
kann,  woran  er  erkannt  wird. 

Iwan  Tzarewic  wurde,  sofern  er  von  einer  Kuh  geboren 
war,  noth wendig  als  ein  Stier  dargestellt;  der  Stier  zeigt  einen 
Theil  seiner  Kraft  im  Trinken;  Iwan  Tzarewic  trinkt  auf  einen 
Schluck  ganze  Fässer  Wein  von  wunderbarer  Stärke.  In  dieser 
Fähigkeit  gleicht  er  Indra,  dem  grossen  Somatrinker,  nnd  dem 
Trinker  Bhima,  dem  zweiten  Pändava- Bruder. 

Der  dritte  Bruder  ist  bald  Prinz  Iwan  (Iwan  Tzarewic,  Iwan 


151 

Karolieviö;  Iwan  Kralievic),  bald  der  dumme  Iwan  (Iwan  durak), 
Iwan  der  kleine  Narr  (Iwan  Dnraciok).  Doch  macht,  wie  schon 
bemerkt,  der  Narr  gewöhnlich  sein  Glück,  entweder  weil  das 
Himmelreich  denen  gehört,  die  geistig  arm  sind,  oder  weil  die 
Dummheit  Iwans  nur  eine  vorgebliche  ist,  oder  auch  weil  der 
Narr  weise  wird.  In  einem  Mährchen,  das  bei  Afanassieff  ^ 
mitgetheilt  ist,  ist  der  Narr  auch  faul  und  filhrt  den  Namen  Emil. 
Emil  wird  mit  einem  Fass  geschickt,  Wasser  zu  holen;  er 
geht  aber  nur  auf  das  Versprechen  seiner  Schwester,  dass  er  zur 
Belohnung  ein  Paar  rothe  Stiefeln  bekommen  soll.  —  Von  diesem 
Wunsche  des  Heldenknaben  und  des  Heldenmädchens  ist  in  vielen 
Volksliedern,  und  unter  anderen  auch  in  einem,  noch  unveröffent- 
lichten piemontesischen  die  Rede.  In  dem  siebzehnten  Mährchen 
des  fünften  Buches  bei  Afanassieff  ^  tödtet  die  Schwester  ihren 
Bruder,  Klein  Hans,  um  selbst  seine  rothen  Erdbeeren  (wie  in  dem 
ebstnischen  Mährchen)  und  seine  rothen  Schuhchen  zu  besitzen. 
Auf  seinem  Grabe  wächst  ein  schönes  Rohr;  ein  Hirt  macht  sich 
eine  Flöte  daraus,  welche,  an  die  Lippen  gesetzt,  folgende  Klage 
hören  lässt: 

„Lieber,  Heber,  kleiner  Schäfer,  spiele; 

Zerreisse  nicht  mein  Herz! 

Mein  Schwesterchen,  das  mich  verrathen 

Um  die  rothen  Beerlein,  um  die  rothen  Schuhlein  !*^ 

Als  die  Schwester  die  Flöte  an  die  Lippen  setzt,  sagt  diese 
statt  „kleiner  Schäfer*'  —  „Schwesterlein,  Du  hast  mich  ver- 
rathen !*'  ^  und  so  wird  ihr  Verbrechen  entdeckt.  Diese  kleinen 
rothen  Schuhe  sind  einfach  eine  Variation  der  Pantoffeln,  welche 
von  der  flüchtigen  Aurora  verloren  und  von  der  Sonne  wieder- 
gefunden werden  und  die  Beide  zu  tragen  wünschen.  (Ich 
führe    auf    diesen    Mythus    den    Ursprung    des     europäischen 


'  V,  55.  —  Vgl.  auch  VI,  2ii.  —  Vgl.  die  Contes  et  Proverbcs 
populaires  recueillis  en  Armagnac  par  Blad^  (Paris  1867),  wo 
der  Dumme  und  Faule  wieder  unter  dem  Namen  Joau  Lou  Pigre  vor- 
kommt 

^  Vgl.  auch  die  beiden  Versionen  A  fan.  VI,  25. 
'  Po  malu,  malu,  sestritze,  grai 
Nie  vraszi  ti  mavö  serdienkä  vkrai! 
Ti-8z  mini  szradila 

Sza  krasni  yagodki,  sza  dorvonni  dobotki. 
Vgl.  auch  das  Kapitel  über  den  Pfau- 


152 

Brancbs  zurück^  dass  junge  Mädchen  gegen  Neujahr  den  Schuh 
werfen^  um  zu  wissen,  ob  sie  sich  im  nächsten  Jahre  verheirathen 
werden  und  mit  wem.  ^)  Der  Pantoffel ,  welchen  das  Mädeheu; 
Klein  Marie  (Masha,  die  Marion  piemont^sischer  und  franzö- 
sischer MährcbenX  verliert  und  der  von  dem  Prinzen  gefunden 
wird,  kommt  auch  in  den  russischen  Mährehen  vor.  In  dem 
dreissigsten  des  sechsten  Buches  bei  Afanassieff  probirt 
Klein  Maries  ältere  Schwester  den  Schuh  an;  er  ist  zu  klein; 
der  Fuss  will  nicht  bineingehn.  Klein  Maries  Stiefmutter  befiehlt 
ihrer  Tochter^  die  grosse  Zehe  abzuschneiden,  die  nicht  hinein- 
will; der  Schuh  sitzt  und  die  Boten  des  Prinzen  nehmen  die 
älteste  Schwester  mit;  doch  zwei  Tauben  fliegen  ihnen  nach  und 
rufen:  ,yBl\it  auf  ihrem  Fuss!  Blut  auf  ihrem  Fuss!'^  (wieder 
eine  Anspielung  auf  die  rotfaen  Schuhe ;  das  Blut  giebt  ihnen  hier 
diese  Farbe.)  Die  Täuscliung  wird  entdeckt  und  die  älteste 
Schwester  zurtickgeschickt;  der  Prinz  lässt  seine  wahre  und  vor- 
bestimmte Braut;  Klein  Marie^  holen.  (Es  ist  dies  die  gewöhn- 
Vertauschung  von  Weibern,  ttber  die  ich  in  meinem  ,,£s8ay  über 
die  vergleichende  Geschichte  der  Hochzeitsgebräuche"  einige  Be- 
merkungen gemacht  habe  und  zu  deren  volksthtlmlichsten  Bei- 
spielen die  Geschichte  von  der  Königin  Berta  *  gehört)  Die  rus- 
sische Klein  Marie  ist,  wie  Cinderella,  zuerst  von  hässlichem 
Aeussern  und  dann  schön«  In  dem  russischen  Mährchen  wird 
das  Mädchen  schön  dadurch,  dass  es  auf  den  Ofen  steigt.  Sita 
kommt  heraus,  schön  in  ihrer  Unschuld,  durch  das  Feuer  wan- 
delnd; die  Morgen- Aurora  erscheint  nur  schön,  wenn  sie  durch 
die  Flammen  des  östlichen  Himmels  geht  Der  Ofen  ftthrt  uns 
wieder  auf  die  unterbrochene  Erzählung  von  dem  närrischen  und 
faulen  Emil  (oder  Iwan)  zurtlck.  —  In  Folge  des  Versprechens 


'  Am  Epiphaniasfestc ,  das  auch  ein  Fest  für  Mann  uud  Frau  ist, 
bringt  die  gute  Fee  gewöhnlich  dem  Kinde,  dem  Manne  und  der  Frau 
einen  Stiefel  oder  Strumpf  voll  Geschenken.  Dieser  Hochzeitsstiefei  be- 
gegnet uns  wieder  in  der  englischen  Sitte,  einen  Schuh  hinter  ein  neuver- 
mähltes Paar  zu  werfen.  £ine  andere  Bedeutung  wurde  im  Volksglauben 
den  Pantofieln  beigelegt,  die  weggeworfen  werden.  Statt  die  Schuhe  der 
Heldin  zu  sein,  welche,  abgelegt,  den  vorbestimmten  Gemahl  anziehen  und 
leiten,  werden  sie  auch  als  die  alten  Schuhe  betrachtet,  welche  der  Teufel 
zurücklässt,  als  er  flieht  (sein  Schwanz,  der  sich  verräth). 

*  In  der  Bertasage  handelt  es  sich  ebenfalls  um  eine  Unvollkommen- 
heit  des  Fusses;  aber  hier  hat  Berta  selbst  den  grossen  Fuss,  nicht  ihre 
Nebenbuhlerin. 


153 

der  rotben  Stiefeln  geht  er  mit  dem  Fasse  zam  Brunnen,  Wasser 
an  holen.  In  dem  Brunnen  fängt  er  einen  Heebt^  der  ihn  bittet, 
ihm  die  Freiheit  zu  schenken^  und  ihm  daftlr  verspricht,  ihn  glttck- 
lieh  zu  machen.  In  seiner  Faulheit  hat  Emil  in  diesem  Augen- 
blicke nur  den  Wunsch,  bei  der  Fortschaffung  des  Fasses  unter- 
stützt zu  werden;  der  dankbare  Hecht  bringt  das  Wunder  zu 
Stande,  dass  das  mit  Wasser  gefällte  Fass  von  selbst  geht  (Ich 
habe  schon  versucht,  diesen  Mythus  zu  erklären :  die  Wolke  wird 
in  den  vedischen  Hymnen  als  ein  Fass  dargestellt;  sie  bewegt 
sich  von  selbst;  das  Fass  desgleichen;  der  Held  bleibt,  so  lange 
er  in  d^  Wolke  eingeschlossen  ist,  närrisch;  das  Fass  des  Nar- 
ren geht  von  selbst.)  Emil  wird  dann  geschickt,  Holz  zu  hauen; 
dank  dem  dankbaren  Hechte  genttgt  es  ihm,  seine  Axt  zu 
schicken,  die  das  Holz  von  selbst  abhaut;  dieses  schichtet  sich 
auf  dem  Wagen  auf,  welcher,  ohne  von  irgendwem  gezogen  zu 
werden,  vorwärts  gebt,  indem  er  Alles,  was  ihm  in  den  Weg 
kommt,  niederreisst ;  sie  versuchen,  seinen  Lauf  aufzuhalten,  als 
der  Stamm  einer  Eiche  sich  von  dem  Wagen  loslöst  und  wie 
ein  Stock  die  Strasse  fegt  (lauter  sonderbare  Variationen  des 
wandelnden  Waldes  resp.  Wolke).  Der  Tzar  läast  ihn  an  den 
Hof  laden  und  verspricht  ihm,  da  er  seine  schwache  Seite,  die 
Vorliebe  für  Sachen  von  rother  Farbe  kennt ,  ein  rothes  Kleid, 
einen  rotben  Hut  und  rothe  Stiefeln.  Als  des  Tzaren  Boten  kom- 
men, wärmt  sich  Emil,  wie  sein  alter  ego  Iwan  Durak  (der  Narr) 
am  Ofen ;  da  er  jede  Anstrengung  scheut,  so  erhält  er  vom  Hechte 
die  Gunst,  vom  Ofen  selbst  an  den  Hof  des  Tzaren  getragen  zu 
werden.  Des  Tzaren  Tochter  verliebt  sich  in  ihn ;  der  Tzar 
schliesst  das  junge  Paar  in  einem  Fasse  ein  (dem  gewöhnlichen 
Wolkenfasse,  das  in  Gestalt  einer  kleinen  Kiste  in  andern  Er- 
zählungen vorkommt,  eine  Variation  des  hölzernen  Rockes)  und 
wirft  sie  in*s  Meer.  Emil,  der  im  Fasse  betrunken  gewoi*den, 
schläft;  die  Prinzessin  weckt  ihn  und  bittet  ihn,  sie  zu  retten: 
vermittelst  des  Hechtes  kommt  das  Fass  an  eine  schöne  Insel, 
wo  es  aufbricht;  Emil  wird  schön,  reich  und  glücklich  mit  der 
jungen  Prinzessin  in  einem  schönen  Palaste.  (Die  Aurora  und  die 
Abendsonne  werden  mit  einander  in  den  Ocean  der  Nacht  ge- 
worfen, bis  sie  auf  der  glücklichen  Insel  des  Ostens  landen,  wo 
sie  zusammen  in  all  ihrem  Glänze  wiedererscheinen.)  Einer  der 
bekanntesten  Streiche  des  Narren  ist  der,  dass  er  den  Wein  aus 
dem  Fasse  auf  die  Erde  auslaufen  lässt ,  als  er  allein  zu  Hause 
gelassen  wird;  auch  in  dem  russischen  Mährchen  lässt  Iwan  das 


i 


154 

Bier  in  dem  offenen  Fasse  gähreu  (Indra  maebt  mit  seinem  Blitze 
ein  Loch  ii»  das  Wolken-Fass  und  der  Regen  fliesst  heraus.  ^) 

Der  Narr  Iwan  hat  Glück  durch  die  Lebenden^  aber  ebenso 
auch  durch  die  Todten.  Dafür  ^  dass  er  drei  Nächte  an  dem 
Grabe  seines  Vaters  gewacht  hat;  segnet  ihn  dessen  Schatten  und 
sein  Glück  föngt  an;^  doch  da  die  Todten  Glück  bringen  (ein 
Glaube^  der  jedenfalls  immer  von  den  Erben  reicher  Leute  fest- 
gehalten worden  ist),  so  speculirt  der  dritte  Bruder  auf  den 
Leichnam  seiner  eigenen  Mutter.  Wir  wissen  nicht;  ob  er  das 
ans  reiner  Dummheit  oder  mit  einer  versteckten  und  weitgehenden 
Absicht  thut;  die  sich  allerdings  aus  der  Leichtigkeit  schiiessen 
lässt;  mit  der  er  die  Rolle  des  Narren  mit  der  eines  schlauen 
Ränkeschmieds  vertauscht  (der  erste  Brutus  der  Volkssage).  In 
dem  siebzehnten  Mährchen  bei  Erlenwein  bewachter,  nachdem 
er  durch  den  Verkauf  seines  Ochsen  an  den  Baum  und  dessen 
Umhauen  einen  Schatz  an  sich  gebracht,  sein  Geld  beständig  und 
schläft  darauf.  Seine  Brüder  wissen  das  und  beschliessen  ihn 
zu  todten.  Gerade  diese  Nacht  aber  betraut  der  dritte,  närrische 
Bruder  seine  Mutter  mit  der  Bewachung  des  Schatzes;  die  Brü- 
der kommen  und  todten  aus  Versehen  ihre  Mutter  statt  seiner. 
Er  droht;  sie  der  Gerechtigkeit  zu  überliefern;  sie  bestechen  ihn 
mit  hundert  Rubeln,  Stillschweigen  zu  bewahren.  Darauf  nimmt 
der  dritte  Bruder  den  Leichnam  seiner  Mutter  und  legt  ihn  mitten 
auf  die  Landstrasse,  damit  ihn  ein  Kaufmann  mit  seinem  AVagen 
überfahre ;  das  geschieht  auch  und  er  beschuldigt  den  Kaufmann 
des  Mordes,  bis  der  letztere  ihm  noch  hundert  Rubel  giebt,  damit 
er  es  nicht  weitersage.  Er  kommt  dann  bei  Nacht  mit  dem 
Leichnam  seiner  Mutter  in  ein  Dorf  und  stellt  ihn  gegen  die 
Thür  eines  Bauernhauses;  dann  klopft  er  ans  Fenster;  der  Bauer 
()fiTiet  die  Thür;  der  Körper  fällt  zu  Boden  und  der  Bauer  tritt 
darauf;  worauf  der  sogenannte  dumme  Sohn  laut  schreit,  jener 
habe  seine  Mutter  getödtet,  und  sich  nur  durch  hundert  Rubel 
beschwichtigen  lässt  Darauf  todten  die  beiden  älteren  Brüder, 
welche  es  höchst  praktisch  finden,  mit  Leichnamen  zu  speculiren^ 
und  sein  Glück  zu  machen;  ihre  Weiber  und  gehen  mit  deren 
Leichnamen  in  die  Stadt,  werden  aber  sofort  festgenommen  und 
in  sichern  Gewahrsam  gebracht. 

Das  Gesetz  des  Atavismus   gilt  bei   der  Fortpflanzung  der 


'  Vgl.  Afau.  V,  4  uud  das  Kap.  über  den  Storch. 
»  Vgl.  A  fan.  II,  25.  II,  528.  IV,  47.  V,  37. 


155 

Helden  mythischer  Erzählungen  nicht  minder  wie  für  einfache 
irdische  Sterbliche.  Von  einem  dummen  Vater  wird  ein  kluger 
8ohn  gezeugt,  welcher  wieder  einen  dummen  Sohn  hat.  Ich  kann 
mir  bis  jetzt  diese  wunderbare  Erscheinung  der  Naturgeschichte 
nicht  erklären;  ihr  Auftreten  in  der  Mythologie  ist  jedoch  un- 
schwer zu  verstehen.  Dem  glänzenden  Tage  folgt  die  finstere 
Nacht  und  dieser  wieder  der  glänzende  Tag ;  auf  Sommer  folgt 
Winter  und  auf  Winter  Sommer;  auf  weiss  schwarz  und  auf 
schwarz  weiss;  auf  heiss  kalt  und  auf  kalt  heiss. 

So  ist  denn  auch  in  Legenden  der  Sohn  gewöhnlich  einfältig, 
wenn  die  Mutter  verständig  ist  —  und  umgekehrt.  ^ 

In  dem  ftliiften  Mährchen  des  sechsten  Buches  bei  Afanas- 
sief  kommt  ein  Soldat  in  das  Hans  einer  Frau,  während  ihr 
Sohn  auf  Reisen  ist,  und  macht  sie  glauben,  dass  er  soeben  aus 
der  Hölle  zurückgekehrt  sei,  wo  er  ihren  Sohn  damit  beschäftigt 
gesehen  habe,  die  Störche  auf  die  Weide  zu  führen,  denselben 
auch  in  grossem  Geldmangel  angetroffen  habe ;  der  Soldat  erzählr, 
er  sei  im  Begriff,  in  die  Hölle  zurückzukehren,  und  würde  sich 
glücklich  schätzen,  Alles  mitzunehmen,  was  die  Frau  ihrem  Sohne 
schicken  wollte.  Die  Leichtgläubige  giebt  ihm  etwas  Geld,  mit 
dem  Auftrage,  es  schleunigst  in  die  Hölle  zu  bringen  und  ihrem 
armen  Kinde  zu  geben.  Der  Soldat  verschwindet  und  kurz 
darauf  kommt  der  Sohn  nach  Hause;  die  Mutter  ist  höchlich  er- 
staunt über  sein  Erscheinen  und  erzählt  ihm,  wie  sie  getäuscht 
worden  ist;  er  wird  ärgerlich  und  verlässt  das  Haus  wieder  mit 
dem  Schwur,  nie  wieder  zu  kommen,  bis  er  Jemanden  findet,  der 
noch  närrischer  ist  als  seine  Mutter.  Er  ist  ein  schlauer  Dieb; 
er  stiehlt  einer  Dame,  während  ihr  Gemahl  abwesend  ist,  ein 
Schwein  sammt  seinen  kleinen  Ferkeln  und  bringt  sie  in  sicheren 
Gewahrsam;  der  Mann  kommt  heim,  vernimmt,  was  vorgefallen 
ist,  und  verfolgt  den  Dieb  mit  Pferd  und  Wagen.  Der  Räuber 
hört  ihn  kommen,  kauert  sich  auf  die  Erde,  nimmt  seinen  Hut 
ab  und  thut  so,  als  ob  er  damit  einen  Vogel  bedecke,  der  ihm 
entschlüpfen  wolle.  Der  Mann  kommt  und  fragt  ihn,  ob  er  den 
Räuber  gesehn ;  der  letztere  antwortet,  er  habe  ihn  wohl  gesehn, 
der  sei  aber  schon  eine  gute  Strecke  voraus,  und  der  Strassen, 
auf  denen  er  einzuholen  sei,  seien  viele  und  verschlungene.    Der 


'  Die  m^re  uotte  ist  io  Frankreich  sprichwörtlich  geworden,  wo  im 
16.  Jahrhundert  Pierre  Gringore  eine  satirische  Komödie:  Le  jeu  de  Mere 
Sötte  schrieb,  in  welcher  die  M^re  Sötte  die  katholische  Kirche  ist. 


156 

Mann  bittet  den  Räuber,  dem  Flttebtigen  nachzujagen;  jener 
nimmt  erst  Anstand ,  weil  er  unter  seinem  Hute  einen  Falken 
habe,  der  seinem  Herrn  dreihundert  Rubel  koste  und  entwischen 
könne.  Der  Mann  verspricht  nun,  Acht  zu  geben  und,  falls  der 
Falke  entfliegen  sollte,  die  dreihundert  Rubel  zu  bezahlen.  Der 
Dieb  traut  seinem  Versprechen  nicht  und  verlangt  die  dreihundert 
Rubel  als  Caution;  er  erhält  sie  auch  und  macht  sich  mit  dem 
Wagen,  den  Pferden  und  den  dreihundert  Rubeln  auf  und  davon. 
Der  GenasHihrte  wartet  bis  zum  Abend,  indem  er  den  Hut  wohl 
in  Acht  nimmt;  schliesslich  aber  verliert  er  die  Geduld,  muss 
sehen,  was  denn  eigentlich  unter  dem  Hute  steckt,  und  findet 
nichts  als  —  einen  Beweis  seiner  eignen  Dummheit.  ^ 

Iwan  (Hans),  und  noch  öfter  Vaniusha  (Häuschen,  der  Gio- 
vannino  italienischer  Mährchen),  zeichnet  sich  nicht  allein  durch 
seine  Diebsstreiche,  sondern  auch  durch  seinen  Muth  aus.  Um 
die  Rolle  eines  Diebes  spielen  zu  können,  wie  sie  Häuschen  in 
allen  indogermanischen  Mährchen  spielt,  ist  nicht  allein  Geschick- 
lichkeit, sondern  auch  Muth  erforderlich;  daher  erlangt  er,  wie 
der  Ritter  Bayard,  den  Ruf  eines  Ritters  ohne  Furcht  und  Tadel. 
Der  Held  Iwan  ist  bald  ein  Königssohn,  bald  der  Sohn  eines 
Kaufmannes,  bald  der  eines  Bauern;  die  Kaufleute  wünschten 
nicht  minder  als  die  Bauern,  sich  den  volksthttmlichsten  Helden 
der  Sage  anzueignen.  In  dem  sechsundvierzigsten  Mährchen  des 
fünften  Buches  können  weder  die  Schatten  der  Nacht  noch  Bri- 
ganten  noch  der  Tod  den  Helden  in  Furcht  setzen;  er  entsetzt 
sich  jedoch  und  stirbt,  indem  er  ins  Wasser  fällt,  als  der  kleine 
jersh  (der  Barsch)  auf  seinen  Magen  springt,  während  er  in 
seinem  Fischerbote  eingeschlafen  ist.  In  dem  toscanischen  Mähr- 
chen ^  stirbt  der  furchtlose  Held  Giovannino,  nachdem  er  Gefahren 
aller  Art  getrotzt,  an  dem  Schrecken,  den  ihm  der  Anblick  seines 
eigenen  Schattens  einjagt.  Ebenso  ergreift  im  Kigveda  der 
Gott  Indra  nach  der  Tödtung  der  Schlange  Abi  die  Flucht,  er- 


'  Eine  ähnliche  Geschichte,  die  ich  jedoch  in  Anbetracht  ihrer  inde- 
ccuten  Einzelheiten  in  meiner  Sammlung  der  Novell  ine  di  8anto8te- 
fano  di  Calcinaia  nicht  publiciren  konnte,  wird  auf  den  Hügeln  von 
SSi^na  bei  Florenz  erzählt,  wie  auch,  mit  einigen  Aeudcrungen,  im  Piemon- 
tesischcu.  —  Vgl.  eine  mssiBche  Version  derselben  Erzählung  in  dem  Ka- 
pitel über  die  Henne. 

'  Novelline  di  Santo  Stefano  di  C.  22. 


157 

schreckt  von  seinem  eigenen  Schatten  oder;  wahrscheinlich,  dem 
seines  todten  Feindes.  ^ 

Folgende  Helden  sind  ebenfalls  Variationen  des  Prinzen  Iwan, 
Iwans  des  Kuhsohnes  ^  des  Bärensobnes,  des  Kanfmannssohnes, 
des  schlauen:  —  erstens  der  kleine  Alexis  PapoviC;  der  Sohn 
des  Priesters  (es  ist  bekannt^  dass  die  russischen  Priester  nicht 
zum  Cöiibat  verbunden  sind);  welcher  Tugaria,  den  Sohn  der 
Schlange;  durch  Gebet  tödtet;  d.  h.  dadurch;  dass  er  zu  der 
Mutter  Gottes  betet ^  der  schwarzen  Wolke  zu  befehlen;  Segeu- 
tropfen  auf  des  Ungeheuers  Flttgel  fallen  zu  lassen;  worauf  der 
Sohn  der  Schlange;  wie  der  vedische  Ahi;  als  Indra  den  Strömen 
einen  Weg  bahnt;  sofort  zu  Boden  f&Ut;^  zweitens  Baldak;  Bo- 
ris* SohU;  der  siebenjährige  Knabe ;  der  es  fertig  bringt;  dem 
Sultan  ins  Gesicht  zu  speien  —  (ich  habe  schon  in  der  Vorrede 
bemerkt;  dass  der  Tttrkenherrscher  in  der  slavischen  Sage^  wie 
in  der  persischen,  der  Repräsentant  des  Teufels  ist;  der  Dämon 
riecht;  als  der  Held  naht;  Menschenfleisch  in  indischen;  Christen- 
fleisch  in  orientalischen  Erzählungen,  ^  und  Bussenfleisch  in  ras- 
sischen Mährchen)  ^-  der  aber  später  des  Sultans  Gefangener 
wird;  weil  er  der  dritten  Tochter  des  letzteren  mit  einem  Stern 
unter  seiner  Ferse  erscheint,  oder  seine  Ferse  zeigt  (welche  der 
verwundbare  Theil  sowohl  des  Helden  wie  des  Ungeheurs  ist); 
drittens  Basil  Bes-ciastnoi;  der  auf  Befehl  seines  Schwiegervaters 
in  das  Schlangenreich  geht;  um  ein  Geschenk  von  ihm  zu  erhalten; 
mit  Abenteuern ;  die  denen  des  jungen  Plavaöek  in  böhmischen 
Elrzählungen  ähnlich  sind;  als  er  die  drei  goldenen  Haare  des 
alten  Vsieveda  (des  Allsehendeu;  der  vedischen  Sonne  Vi^vaveda) 
suchen  geht ;  *  viertens  der  dritte  Bruder;  welcher  für  zwei  Säcke 


*  Vgl.  das  Kapitel  über  die  Fische. 

'  A  fan.  VI,  59.  —   V,   11   versteht  er   dagegeu  wacker  zn    kämpfen. 
^  In  England  riecht  das  Ungeheuer  das  Blut  eines  EngfeänderSf  wie  in 
den  bekannten  Zeilen  in  Jack  the  Giant-Killer: 

„Fe  fo  fum, 

I  smell  the  blood  of  an  Englishman! 

Be  he  alive,  or  be  he  dead, 

ril  grind  his  bones,  to  make  my  bread.*' 

„Fe  fo  fum, 

Ich  rieche  englisch  Blut! 

Sei  er  lebend,  sei  er  todt. 

Ich  mahr  seine  Knochen,  zu  machen  mein  Brod.*' 
^  Vgl.  Teza,  I  tre  Capelli  d*oro  del  Nonno  äatutto,  Bologna 
18GÜ. 


158 

Fliegen  und  MUcken,  die  er  gefangen  hat,  gutes  Vieh  eintausebt.  ^ 
Derselbe  Held  führt  auch  den  Namen  Klein  Thomas  Berennikoff; 
auf  einem  Auge  blind,  tödtet  er  eine  Armee  von  Fliegen  und 
rühmt  sich,  eine  Armee  von  Helden  getödtet  zu  haben ;  er  gewinnt 
so  unverdienter  ^eise  den  Ruf  ein  Held  zu  sein  und  ist  glück- 
lich^ eine  Gelegenheit  zu  haben,  seine  Tapferkeit  zu  beweisen 
durch  die  Tödtung  eines  Schlangenungeheuers,  das*  aus  Tollkühn- 
heit beide  Augen  schliesst,  als  es  sieht,  dass  Thomas  nur  eins 
hat;  darauf  vernichtet  er  ein  Heer  Chinesen  mit  einem  Baum- 
stamme, der  von  seinem  unbezähmbaren  Pferde  entwurzelt  ist, 
welches  ein  wirklicher  Held  an  den  Baum  gebunden  hatte;  ^  fünf- 
tens der  schlaue  Schuft,  Klein  Thomas  (Thomka;  die  Quacksalber 
im  Piemontesischen  pflegen  den  Namen  Tommasino  dem  kleinen 
Teufel  zu  geben,  welchen  sie  aus  einer  Phiole  beschwören),  der 
durch  Verkleidungen  den  Priester  betrügt  und  bestiehlt  ;^  sechs- 
tens  der  dritte  Bruder,  welcher  sich  von  der  Hexe  nicht  zum 
Schlafen  bringen  lässt  (wie  wir  oben  die  dritte  Schwester  sahen, 
die  eins  ihrer  drei  Augen  offen  behält) ;  ^  siebentens  der  berttebtigte 
Räuber,  Klimka,  •'^  welcher  vermittelst  einer  Pauke  (in  indischen 
Mälirchen  einer  Trompete)  seine  GompliceO;  die  Räuber,  erschreckt, 
ihnen  ihr  Geld  nimmt  und  dann  einem  Herrn  sein  Pferd,  sein 
Schmuckkästchen  und  sogar  seine  Frau  stiehlt;  achtens  der  Ko- 
sak, welcher  das  Mädchen  aus  den  Flammen  rettet  und  sie  in 
sein  goldenes  Haus  bringt;  auch  sind  noch  zwei  andere  Mädchen 
da  (wohl  verstanden,  die  eine  im  Silberhause  und  die  andere  im 
Kupferhause);  von  diesen  drei  Mädchen  erhält  der  Kosak  ein 
Hemd,  das  ihn  unverwundbar  macht,  ein  Schwert,  welches  die 
wunderbarsten  Wirkungen  beim  Abschlachten  von  Menschen  hat, 
und  eine  Börse,  die,  wenn  man  sie  schüttelt,   Geld  ausschüttet;^ 


'  Afao.  11,  7. 

*  Afan.  V,  11. 

'  Afan.  V,  7.  8. 

*  Afan.  IV,  4G. 

*  V,  6.  Erlenwein  7. 

*  Erlenwein  5.  —  In  dem  ersten  Mährchen  bei  Erlenwein  nimmt 
der  Jüngstgeborene,  Hänschen  (Vaniusha),  streitenden  Bauern  durch  List 
er&t  einen  wunderbaren  Bogen  weg,  dann  einen  Hut,  der  den  Träger  un- 
sichtbar macht,  und  endlich  einen  Zaubermantcl,  der  von  selbst  fliegt.  Er 
verspricht  nämlich,  sie  gleich  zu  vertheilen,  und  lässt  sich  lür  diesen  Dienst 
je  hundert  Rubel  im  Voraus  bezahlen;  «r  wirft  dann  die  Gegenstände 
weit  fort  und   sagt,  daes  der  sie  haben  solle,  der  sie  finden  kann;  Alle 


159 

neuntens  der  bertthmte  Ilia  Muromietz  (EliaR  von  Marom\  am 
welchen  sich,  wie  um  Svetazör  und  Svyatogor  (heiliger  Berg), 
Dobrynia  Nikitid  und  die  Helden  Wladimirs  ein  ganzes  russisches 
Heldengedicht  dreht.  ^ 

Andere  Variationen  desselben  Helden  sind  der  Sohn  des 
Kaufmanns^  der  dem  Teufel  zur  Erziehung  übergeben  wird  und 
von  diesem  Künste  aller  Art  lernt;  der  Knabe  Basil;  der  die 
Sprache  der  Vögel  versteht  und  seine  Eltern  sich  dienstbar  macht ; ' 
der  Kaufmann  oder  Bauemsohn,  ^  welcher  ein  Vermögen  erwirbt, 
weil  er  guten  Rath  dem  Gelde  vorzieht;  der  tugendhafte  Arbeits- 
manU;  der  für  seine  Arbeit  nur  drei  Kopeken  erhält;  durch  deren 
Verwendung  auf  gute  Werke  er  jedoch  schliesslich  in  Stand  ge- 
setzt wird;  die  Tochter  des  KönigS;  oder  die  Prinzessin;  welche 
nicht  lachte;  zu  heiräthen.^ 

Die  Erzählung  von  dem  Helden  Iwan  hat  noch  andere  inte- 
ressante Gestaltungen;  welche  den  schönen  vedischen  Mythus  von 
den  beiden  A(vins  wiederspiegeln;  die  den  Unglücklichen  in  ihr 
fliegendes  Wagenschiff  aufnehmen.  Bei  Afanassieff  (VI;  27) 
wird  der  dritte  Bruder  für  närrisch  gehalten  und  von  seinen 
Eltern  schlecht  behandelt;  die  ihn  schlecht  kleiden  und  nähren. 
Der  König  erlässt  einen  Aufruf;  wer  immer  ein  fliegendes  Schiff 
machen  könne ;  solle  seine  Tochter  zur  Frau  bekommen.  Die 
Mutter  schickt  ihre  drei  Söhne  aus,  das  noth wendige  Zaubermittel 
zu  suchen;  dem  dritten  Sohne  giebt  sie  nur  etwas  Schwarzbrod 
und  Wasser;  während  die  beiden  ältesten  mit  schönem  Weissbrod 
nnd  etwas  Branntwein  versehen  ausziehen.  Der  Narr  trifft  auf 
dem  Wege  einen  armen  alten  Mann,  grüsst  ihn  und  beginnt  seine 
karge  Mahlzeit  mit  ihm  zu  theilen;  der  Alte  verwandelt  sein 
Schwarzbrod  in  Weissbrod  und  sein  Wasser  in  Branntwein,  und 


suchen;  er  allein  findet.  (So  verbirgt  Ar^na  im  Mahäbhärata  seine 
wunderbaren  Wafien  in  einem  Baumstamme,  in  welchem  er  allein  sie  finden 
kann.) 

'  Vgl.  Scbiefher,  Zur  russischen  Heldensage,  Petersb.  1861.  In 
einem  bei  Kaiston  (The  Songs  of  the  Russian  people)  angeführten 
russischen  epischen  Volksgedichte  wird  der  Held  Svyatogor  folgendermassen 
beschrieben :  „Dort  kommt  ein  Ueld,  grösser  als  die  hohen  Wälder,  deren 
Haupt  an  die  flüchtigen  Wolken  reicht,  auf  seinen  Schultern  einen  kr}* 
sfallnen  Kasten  tragend." 

«  Afan.  VI,  41. 

>  V,  31.  Erlenw.  16. 

*  V,  32. 


160 

rätfa  ihm  dann ,  in  den  Wald  zu  geben ,  das  Zeichen  des  Kreuzes 
an  den  ersten  Baum  zu  machen>  den  er  finde^  und  ihn  mit  seiner 
Axt  zu  schlagen ;  dann  sich  auf  den  Boden  zu  werfen  und  liegen 
zu  bleiben,  bis  er  erwache;  er  werde  ein  Schiff  fertig  vor  sich 
sehn:  ^^Setze  Dich  hinein/'  fttgte  der  Alte  hinzu,  „und  fliege,  wo- 
hin Dein  Befehl  Dich  treibt,  und  auf  dem  Wege  nimm  so  Viele 
zu  Dir,  als  Du  triffst/'  >  Dieses  Oefährt  ist  überreich  beladen  mit 
Speise  und  Trank;  der  junge  Mann  nimmt  mehre  dttrftige  Bettler 
auf,  und  zwar  nimmt  er  nur  arme  Leute,  keinen  einzigen  Reichen.  ^ 
Doch  diese  Armen  beweisen  später  dem  Helden  ihre  Dankbar* 
keit  und  stehen  ihm  in  andern  Abenteuern  bei,  die  der  Tzar  ihm 
auferlegt,  um  auf  diese  Weise  einen  Schwiegersohn  so  plebejischen 
Ursprungs  los  zu  werden.  Eine  dieser  neuen  Aufgaben  besteht 
darin,  dass  er  zwölf  Ochsen  essen  und  auf  einen  Zug  vierzig  Fass 
Wein  austrinken  soll;  dabei  helfen  ihm  Essen  (Abi^alo)  und 
Trinken  (Apiväio),  denen  er  in  seinem  Wagen-Schiffe  Unterhalt 
gegeben  hatte  und  welche  statt  seiner  essen  und  trinken.  ^  End- 
lich kommt  er,  um  die  junge  Prinzessin  zu  freien  und  sie  zu  hei- 
rathen.  (Der  Held  Sonne  wird  in  den  Wagen  der  Afvnis  aufge- 
nommen, welche  er  in  der  Gefahr  angerufen  hat,  gerettet  und 
heirathet  die  Aurora.) 

In  einer  Variation  dieser  Erzählung  wird  ein  fünfzehnjähriger 
Prinz,  der  von  seinen  Eltern  verloren  worden  ist,  vermittelst  eines 
Räthsels  wiedergefunden,  welches  sie  aufgeben  und  welches  or 
allein  lösen  kann.  ^  In  den  vedischen  Hymnen  ist  es  bald  die 
Aurora,  das  schöne  Mädchen,  welches  den  Helden  Sonne  rettet, 
und  bald  der  Held  Sonne,  welcher  das  schöne  Mädchen,  die 
Aurora,  befreit.  In  dem  einundvierzigsten  Mährchen  des  sechsten 
Buches  bei  Afanassiefi  stellt  sich   ein  kleines  siebenjähriges 


'  QadiB  V  nievö,  i  leti  kuda  nadobno;   da  po  daroghic  zabiräi  k  sebi^ 
vsitikovo  V8trie<5navo. 

^  Na  karabli^  niet  ni  adnayo  päna,  a  V8i6  cörnio  ludi. 

'  Vgl.  Af  an.  V,  23.  —  Eis  kommt  in  der  Gestalt  eines  alten  Mannes, 
das  siedende  Bad  zu  versuchen,  in  welches  der  König  des  Meeres  den 
jungen  Helden  werfen  lassen  will;  als  Eis  das  Bad  versucht  hat,  geht  der 
junge  Held  hinein,  ohne  irgendwelchen  Schaden  zu  nehmen.  —  Die  Trink- 
probe kehrt  in  grandioser  Gestalt  in  Snorris  Edda  (Gylfag  4Q)  wieder  in 
dem  Kampfe  zwischen  Utgardloki  und  Thor,  den  Becher  zu  leeren,  einer 
abweichenden  Gestaltung  der  indischen  Erzählung  von  Agastya,  der  das 
Meer  trocken  legt 

*  A  fan.  V,  42. 


161 

MSdch'en  (semilietka)  dem  Tzaren  vor,  der  dasselbe  heirathen 
muss,  sofern  es  das  aufgegebene  Räthsel  löst,  indem  es  auf  einem 
Hasen  reitend  ankommt  (dem  Thiere,  welches  den  Mond  dar- 
stellt) ,  mit  einer  Wachtel  an  die  Hand  gebunden.  *  Auch  sie 
weiss,  wie  die  Aurora,  Alles,  auch  sie  beschützt  den  Armen  gegen 
den  Reichen,  den  Unschuldigen  gegen  den  Schuldigen.  Der 
Zwerg  Allwis  ist  eine  Erscheinungsform  dieses  Kindes.  AUwis 
ist  der  allwissende  Mann  der  Edda,  welcher  alle  Fragen,  die  ihm 
von  dem  Gotte  Thor  vorgelegt  werden,  beantwortet,  um  dessen 
Tochter  zu  bekommen ;  als  er  mit  der  Beantwortung  dieser  drei 
Fragen  fertig  ist,  bricht  der  Tag  an  und  die  Sonne  scheint. 

Das  seltsame  Mädchen  von  sieben  Jahren  (die  Aurora)  führt 
uns  auf  die  wunderbare  Puppe  (gewöhnlich  den  Mond)  zurück. 
Es  sind  drei  Puppen  (der  hölzerne  Schrein  von  Marion  d*bo8ch 
oder  die  hölzerne  kleine  Marie  der  piemontesischen  Erzählung,  der 
finstere  Wald  der  Nacht,  der  Baum,  welcher  die  glänzenden  Schätze 
der  Abend- Aurora  birgt;  eine  andere  Variation  desselben  Mythus 
in  Bezug  auf  die  Sonne ),  welche  die  drei  glänzenden  Gewänder 
der  Sterne,  des  Mondes  und  der  Sonne  verbergen,  die  dem  schö- 
nen Mädchen,  der  Tochter  des  Priesters  gehören  (einer  Variation 
der  vedischen  Aurora,  duhitar  divas,  oder  Tochter  des  Himmels). 
Es  sind  die  drei  Puppen,  welche  das  schöne  Mädchen  in  Stand 
setzen,  unter  die  Erde  zu  verschwinden  und  so  den  Verfolgungen 
ihres  Vaters  und  Verführers  (in  andern  Versionen  ihres  Bruders) 
zu  entgehen,  und  welche  mit  ihr  hinabgehen,  als  alte  Weiber  an- 
gezogen, und  in  einen  Wald  eintreten,  wo  sich  neben  einer  Eiche 
das  Haus  einer  Prinzessin  befindet,  die  einen  jungen  und  schönen 
Sohn  hat.  *  In  einer  Variation  dieses  Mährchens  ^  wird  das  Mäd- 
chen nicht  vom  Vater  verfolgt,  sondern  von  der  bekannten  grau- 
samen Stiefmutter,  tHr  welche  sie  den  Weizen  von  der  Gerste 
sondern  und  am  Brunnen  Wasser  holen  muss  (gleich  dem  vedischen 
Mädchen  Apalä) ;  sie  geht  drei  Mal  glänzend  gekleidet  zur  Kirche 
(die  die  Stelle  des  Ballsaales  anderer  Mährchen  vertritt),  wo  sie 
drei  Mal  von  einem  schönen  Prinzen  gesebn  wird;  zwei  Mal  folgt 


*  Vgl.  die- Kapp,  über  den  Hasen  und  die  Wachtel 

«  Afan.  VI,  28  und  II,  31. 

»  Afan.  VI,  20.  -  Vgl.  1,  3  und  II,  31,  wo  wir  den  Prinzen  finden, 
welcher  drei  Mal  das  verkleidete  Mädchen,  das  ihm  dient,  schlägt,  wit*  in 
dem  toscanischen  Mährchen  von  dem  höliemen  Giebel  (der  Puppe),  der 
dritten  in  meiner  Sammlung  Novelline  di  iJto  Stefano  di  (yul- 
c  i  D  a  i  a. 

Goberaatbi,  dU  Thier«.  ^l 


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1 


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er  ihr  und  zwei  Mal  verschwindet  sie;  das  dritte  Mal  hat  der 
Prinz  Gummi  (in  andern  Versionen  Pech)  auf  den  Boden  ge- 
strichen; die  flüchtige  verliert  in  Folge  dessen  ihren  goldenen 
Panto£FeI,  den  der  Prinz  aufhebt  nnd  allen  Mädchen  anprobirt, 
bis  er  seine  Braut  findet.  In  einem  andern  Mährchen,  *  in  wel- 
chem die  Verwandtschaft  der  Aurora  mit  den  beiden  A^vins  in 
wunderbarer  Klarheit  zu  Tage*  tritt,  ^  webt  das  von  der  Stief- 
mutter verfolgte  Mädchen  vermittelst  seiner  redenden  Zauberpuppe 
(d.  h.  des  Mondes,  der  vedischen  Räkä,  sehr  klein,  aber  sehr 
klug,  in  dem  hölzernen  Gewände,  in  dem  Walde  der  Naöht,  ein- 
geschlossen) ein  so  feines  Gewand,  dass  es  sich  wie  ein  Faden 
durch  ein  Nadelöhr  ziehen  lässt  (ganz  wie  des  Mädchens  Füssc 
sehr  klein  sind,  sind  es  auch  die  Hände  der  Puppe).  Das 
Wunderkleid  wird  dem  Tzaren  gebracht,  aber  Niemand  findet 
sich,  der  daraus  ein  Hemd  flir  den  Tzaren  nähen  könnte.  ^  Nur 
das  Mädchen  bringt  es  vermittelst  der  Puppe  zu  Stande;  der 
Tzar  wünscht  das  Mädchen,  das  eine  so  ausserordentliche  Ge- 
schicklichkeit besitzt,  zu  sehen  und  geht  es  suchen ;  er  ist  erstaunt 
über  ihre  Schönheit  und  heirathet  sie.  Im  Rigveda  webt  die 
Aurora  ein  Kleid  für  ihren  Gemahl,  die  Sonne. 

Dasselbe  Mädchen  (die  Aurora),  das  wir  hier  nur  als  ein 
gutes,  schönes,  kluges  und  gewandtes  Mädchen  finden,  erscheint 
in  anderen  Mährchen  bei  Afanassieff  als  eine  Heldenjungfrau 
wieder.  Im  siebenten  Mährchen  des  ersten  Buches  verkleidet  sie 
sich  als  Mann  und  hat  den  Tzar  drei  Mal  zum  Besten.  Im  vier- 
zehnten Mährchen  desselben  Buches  besiegt  und  bindet  sie  unter 
dem  Namen  „Anastasia  die  Schöne"  die  Schlange  und  entdeckt 
das  Geheimniss,  wie  dieselbe  getödtet  werden  kann.  Unter  dem 
Namen  Helena  oder  Klein-Helene  ist  sie  die  Schützerin  ihres 
kleinen  Bruders  Ivanusca  (Häuschen)*  und  seine  Pührerin  durch 
die  Welt;  als  der  Knabe  durch  die  Bezauberung  einer  Hexe  in 
ein  Lamm  oder  Böckchen  verwandelt  wird  (in  einem  canavc- 
sischen  Mährchen  im  Piemontesischen  werden  die  sieben  Mönche, 
die  Brüder  des  muthigen  Mädchens,  in  sieben  Schweine  verwan- 
delt), empfiehlt  sie  ihn  der  Sorge  des  Prinzen,  ihres  Gemahls, 
damit  sie  das  Teufelswerk  der  Hexe  zerstören  könne.     Dasselbe 


»  IV,  44. 

^  Vgl.  das  nächste  Kapitel. 

'  Vgl.  das  Kapitel  über  die  Spinm>. 

*  Afan.  II,  29  und  IV,  4.^ 


163 

Mädchen  findet  sieh  wieder  als  die  hochweise  Basilia  (Vasilica 
Premudraia),  die  dem  jungen  Helden  zu  Hilfe  eilt,  weil  er  ihr 
auf  ihre  Bitte  das  Gewand,  das  er  gestohlen,  während  sie  im 
See  badete,  wieder  zustellt.  Aus  Dankbarkeit  dafür  verrichtet 
sie  auch  für  ihn  die  Arbeiten,  die  ihm  der  König  der  Wasser 
auferlegt  hat,  und  heirathet  ihn  schliesslich  nach  mancherlei 
Wechselfällen.  *  Sie  erscheint  noch  einmal  als  das  königliche 
Mädchen  CTzar-dievitza),  das  drei  Mal  mit  seinen  Schiffen  über 
das  Meer  gefahren  kommt,  um  den  geliebten  Iwan  wegzuholen ;  * 
und  ich  rechne  zu  den  Heldenmädchen  auch  die  Tochter  des 
Schäfers  im  neunundzwanzigsten  Mährchen  des  fünften  Buches, 
das  ich  im  Auszug  folgen  lasse.  Es  war  einmal  ein  König,  der 
konnte  kein  Mädchen  finden,  das  seinen  Ansprüchen  an  Schön- 
heit vollständig  genügt  und  seinen  Geschmack  befriedigt  hätte. 
Eines  Tages  kommt  er  von  der  Jagd  zurück  (der  Sonnenheld  triflt 
die  Aurora,  seine  Braut,  immer,  wenn  er  von  der  Jagd  in  dem 
Walde  der  Nacht  zurückkehrt);  da  trifft  er  eine  Schäferstochter, 
welche  die  Heerde  auf  die  Weide  treibt,  so  schön,  dass  man 
ihresgleichen  vergeblich  in  der  ganzen  Welt  suchen  würde.  Er 
verliebt  sich  in  sie  und  verspricht  ihr,  sie  zu  seiner  Frau  zu 
mächen,  aber  unter  der  Bedingung,  dass  sie  niemals  etwas  ihm 
Missliebiges  sagen  wolle,  was  er  auch  immer  thue;  das  arme  ver- 
liebte Kind  willigt  ein,  die  Hochzeit  wird  gefeiert  und  das  Paar 
lebt  ein  Jahr  lang  glücklich  zusammen.  Ein  Knabe  wird  ihnen 
geboren;  da  sagt  der  König  wild  zu  ihr,  der  Knabe  müsse  ge- 
tödtet  werden,  damit  es  nie  heissen  möge,  der  Thronerbe  sei  der 
Sohn  einer  Schäferin.  Das  arme  Weib  ergiebt  sich  in  ihr  Loos 
mit  den  Worten:  „Dqr  Wille  des  Königs  geschehe.*'  Ein  zweites 
Jahr  vergeht  und  eine  Tochter  wird  geboren.  Der  König  sagt, 
auch  diese  müsse  sterben,  da  sie  nie  eine  Prinzessin  werden 
könne,  sondern  immer  ein  Bauermädchen  bleiben  würde.  Die 
unglückliche  Mutter  beugt  sich  zum  andern  Mal  unter  den  Willen 
des  Königs,  welcher  jedoch  Sohn  und  Tochter  nicht  dem  Scharf- 
richter überliefert,  sondern  zu  seiner  Schwester  bringt,  damit  sie 
bei  dieser  alle  Pflege  erhalten,  welche  ihrem  königlichen  Stande 
gebührt.  Jahre  vergehen;  die  Kleinen,  Prinz  und  Prinzessin, 
wachsen  schön,  gesund,  gut  und  glücklich  heran.  Da  stellt  der 
König  sein  Weib  zum  letzten  Male  auf  die  Probe.    Er  schickt  sie 


'  V,  23. 

«  V.  42. 


164 

in  den  Kleidern  einer  Schäferin  nach  Hanse,  indem  er  ihr  zu 
verstehen  giebt;  dass  sie  lange  genug  bei  ihm  gelebt  habe.  Dann 
befiehlt  er  ihr  zurückzukehren;  die  Zimmer  herzurichten  und  der 
neuen  Braut  aufzuwarten^  die  er  an  ihre  Stelle  setzen  will;  die 
Schäferstochter  gehorcht^  ohne  zu  murren.  Die  neue  Braut  kommt 
an  und  man  setzt  sich  zur  Tafel;  man  isst^  trinkt  und  ist  lustig; 
die  Schäferstochter  muss  Alles  sehen  und  hören  und  doch  schwei- 
gend dienen;  endlich  fragt  sie  der  König:  „Nun,  ist  meine  Braut 
nicht  schön?*'  worauf  das  unglückliche  Weib  mit 'übermenschlicher 
Anstrengung  antwortet:  „Wenn  sie  Dir  schön  scheint,  so  scheint 
sie  es  mir  noch  mehr."  Da  ruft  der  König  im  höchsten  Glück  aus : 
„Kleide  Dich  wieder  in  Deine  königlichen  Gewänder  und  setze 
Dich  an  meine  Seite;  Du  bist  mein  Weib  und  sollst  es  ewig 
bleiben,  mein  einziges  Weib;  diese  meine  vorgebliche  Braut  ist 
Deine  Tochter  und  dieser  schöne  Jüngling  Dein  Sohn!"  Die  arme 
Heldin  hat  die  letzte  Prüfung  ihrer  Tugend  bestanden  und  triumphirt. 

Aber  mit  der  Tugend  der  Sagenheldin  ist's  nicht  immer  so 
weit  her.  Oft  wird  die  gute  Frau,  Schwester  oder  Jungfrau  durch 
Berührung  mit  der  schlechten  verdorben.  Wir  sahen  schon,  wie 
die  schöne  Aurora,  das  mitleidige  und  wohlthätige  Mädchen,  in 
den  vedischen  Hymnen  selbst  die  üebelthäterin  wird,  welche  der 
Gott  Indra  stürzt  und  vernichtet.  Die  Amazonen  der  Griechen, 
die  schönen  und  stolzen  Heldenweiber,  werden  auch  verfolgt,  be- 
kämpft und  besiegt  von  den  griechischen  Helden.  Die  russischen 
Erzählungen  liefern  auch  zahlreiche  Beispiele  von  der  Leichtig- 
keit, mit  der  der  Gute  in  den  Dämon,  der  Held  in  das  Ungeheuer, 
die  schöne  Heldin  in  die  mächtige  und  unheilstiftende  Zauberin 
ausartet. 

Die  gute  Schwester  Helene,  diese  sorgsame  Wächterin  ihres 
Bruders  Hans,  wird  schliesslich,  als  sie  eine  Leidenschaft  für  das 
Ungeheuer  fasst,  die  treulose  Verfolgerin  dieses  Bruders.  (Die 
Abend-Aurora  wird  als  eine  Freundin  des  Ungeheuers  der  Nacht 
dargestellt,  welche  mit  demselben  gegen  ihren  Bruder,  die  Sonne, 
conspirirt;  und  jeder,  der  den  sinistern  Anblick  beachtet,  welchen 
oft  der  röthliche  Abendhimmel  bietet,  wird  diese  Erdichtung  sehr 
natürlich  finden.  Ich  habe  oben  gesagt,  dass  ein  piemontesisches 
Sprichwort  bei  einem  rothen  Abend  schönes  Wetter  für  den 
folgenden  Tag  prophezeit;  ebenso  ist  aber  im  Piemontesischen 
auch  der  Glaube  weit  verbreitet,  dass  das  Abendroth  Blut  be- 
deutet und  dass  seine  blutige  Röthe  Krieg  verkündet.  Gewiss 
bedeutet  es  Krieg,  aber  einen  mythischen  —  den  Krieg,  in  wel- 


<s^' 


165 

chem  der  Held  bei  seinem  Kampfe  gegen  das  Ungeheuer  unter- 
liegt und  Blut  vergiesst.  Und  zwar  ist's  ein  Weib,  das  den  Hel- 
den vernichtet.  Ein  Pendant  zu  der  biblischen  Delilah  findet  sich 
in  allen  indogermanischen  Volkssagen;  die  vedische  Aurora,  die 
2:>cb wester  Rävanas  im  Rämäyana,  die  Schwester  Hidimbas  im 
Mahäbhärata,  die  hellenische  Dejanira,  Ariadne,  Medea,  die 
Amazonen,  Helena,  die  slavische  Helena,  Anna  das  Sabinerweib, 
die  scandinavischen  Walkiries,  Freya,  Idun,  Brunhilt,  Gudrun,  die 
germanische  Krimhilt  —  Alle  sind  Erscheinungsformen  einer  und 
derselben  Heldin,  bald  im  Lichte  einer  Heiligen,  bald  in  dem 
einer  Hexe  betrachtet. 

In  dem  russischen  Mährchen  bei  Afanassieff  V,  27  kommt 
das  flüchtige  Geschwisterpaar,  Iwan  Tzarewii  und  Helene  die 
ausserordentlich  schöne  (Prekra^na),  in  ein  Räuberhaus,  nachdem 
sie  der  Stier  von  dem  Bären  gerettet  hat.  Ihr  Stier  wird  zu 
einem  Zwerge,  tödtet  alle  Räuber  und  schliesst  ihre  Leichname 
in  einem  Zimmer  ein,  das  er  Helenen  zu  betreten  verbietet;  diese 
aber  beachtet  das  Verbot  nicht,  geht  hinein,  sieht  den  Kopf  des 
Räuberhauptmanns  und  verliebt  sich  in  ihn;  vermittelst  des 
Lebenswassers  erweckt  sie  ihn  vom  Tode  und  verschwört  sich 
mit  ihm,  ihren  Bruder  Iwan  zu  vernichten,  indem  sie  von  ihm 
die  Ausführung  von  Tbaten  fordert,  bei  denen  der  Tod  unver- 
meidlich scheint;  sie  befiehlt  ihm  nämlich,  die  Milch  einer  Wölfin, 
dann  die  einer  Bärin,  endlich  die  einer  Löwin  zu  bringen.  Iwan 
verrichtet  alle  diese  Thaten  mit  Hilfe  seines  Zwerges.  Wir  sahen 
schon,  wie  Weisses  aus  Schwarzem  kommt;  die  Milch  der  Wölfin, 
Bärin  und  Löwin  ist  die  alba  luna  oder  der  weisse  Morgen- 
himmel, der  von  dem  Sonnenhelden  wiedergebracht  wird.  Iwan 
wird  dann  ausgesandt,  die  Eier  des  brennenden  Vogels  (Szar- 
ptitza)  zu  holen.  Iwan  geht  mit  seinem  Zwerge  (d.  h.  dem  Monde, 
oder  er  macht  sich  selbst  zum  Zwerge,  mit  andern  Worten,  er 
macht  sich  unsichtbar);  der  Vogel  wird  wüthend  und  verschluckt 
den  Zwerg  (d.  h.  der  rothe  Abendhimmel,  der  brennende  Vogel 
oder  Phönix,  verzehrt  den  Mond  oder  die  Sonne  mit  seinen 
Flammen.  ^)  Iwan  kommt  zu  seiner  Schwester  ohne  die  Eier 
zurück,  worauf  sie  droht,  ihn  im  Bade  zu  verbrennen.  Mit 
Hilfe  der  Wolf-,  Bären-  und  Löwenjungen  zerreisst  Iwan 
(auch  Iwan  der  Sohn  der  Wölfin,  Bärin,  Löwin,  d.  h.  der 
von   der  Wölfin,   Bärin,   Löwin  „Nacht"  geborene)  den  Räuber 

'  Vgl.  dag  Kapitel  über  den  Adler,  dep  Geier  und  den  Falken, 


\  . 


1«6 

und  bindet  seine  Schwester  (wie  die  vedische  Kuh)  an  einen 
Baum  (die  Aurora  verliert  sich  fast  immer  in  einen  Baum  oder 
das  Wasser).  Darauf  wünscht  Iwan  eine  Heldin  zu  heirathen. 
[Zwei  Mythen  sind  hier  in  dem  Mährchen  vereinigt,  die  in  einer 
und  derselben  Himmelserscbeinung  ihn»n  Ursprung  haben,  indem 
dieselbe;  in  verschiedenen  fast  i  nmittelbar  aufeinanderfolgenden 
Augenblicken  beobachtet,  zweifach  erscheint.  Die  Morgensonne 
kommt  und  schlägt  ihre  Schwester,  die  Aurora,  in  die  Flucht, 
treibt  sie  in  den  Wald  der  Nacht  zurück  und  bindet  sie  an  den 
Baum;  die  Morgensonne  geht  unversehrt  durch  die  Flammen 
hindurch  (wie  der  Sifrit  der  Nibelungen),  besiegt  und  unter- 
wirft die  Aurora,  macht  sie  sich  zu  eigen  und  heirathet  sie.]  Er 
kämpft  zuerst  mit  ihr  und  sticht  sie  glücklich  mit  seiner  Lanze 
vom  Pferde.  Die  erste  Nacht  -  d.  h.  als  der  Abend  kommt, 
umarmt  und  drückt  sie  ihn  so  fest  und  mit  solcher  Gewalt  an 
sich,  dass  er  sich  nicht  loswinden  kann  (die  Abend-Aurora  um- 
hüllt und  umschliesst  die  Sonne;  es  ist  der  berühmte  Hochzeits- 
gürtel, der  Gürtel  der  Stärke  des  Gottes  Thor,  das  Hemd  des 
Nessus).  Schliesslich  jedoch  gegen  Morgen  siegt  Iwan  und  wirft 
(wie  Sifrit  in  den  Nibelungen)  das  Heldenmädchen  nieder  (die 
Morgensonne,  wie  Indra,  wiift  die  Aurora  nieder).  Er  denkt 
dann,  seine  Schwester  Helene  zu  befreien,  welche  an  den  Baum 
gebunden  ist,  um  sie  mit  sich  zu  nehmen;  doch  sie  drückt,  unter 
dem  Vorwande  ihm  die  Haare  zu  kämmen,  eines  Todten  Zahn 
ihm  in  den  Kopf.  Iwan  ist  nahe  daran,  zu  sterben.  Hier  er- 
scheint der  ursprüngliche  Mythus  von  der  Sonne  und  Aurora  als 
Bruder  und  Schwester  wieder,  und  der  erst  in  zweiter  Linie 
stehende  von  Mann  und  Frau  wird  vergessen.  Das  Löwenjunge 
kommt  herbei  und  zieht  den  Zahn  heraus;  der  Löwe  ist  daran, 
zu  sterben,  als  der  junge  Bär  herzuläuft  und  ihn  wieder  heraus- 
zieht. Er  kommt  auch  dem  Tode  nahe;  da  kommt  der  Fuchs, 
der  gegen  Ende  des  Mährchens  die  Rolle  aufnimmt,  welche  in 
der  Mitte  der  junge  Wolf  gespielt  hat  (wie  in  indischen  Mähr- 
chen der  Schakal  an  Stelle  des  Fuchses  gesetzt  wird),  wirft,  da 
or  schlauer  ist,  des  Todten  Zahn  ins  Feuer  und  rettet  sich  so  — 
d.  h.  der  Sonnenheld,  welcher  durch  die  Flammen  schreitet,  tritt 
aus  den  Schatten  heraus,  die  ihn  während  der  Nacht  umhüllten. 
Helene  wird  an  den  Schwanz  eines  Pferdes  gebunden  (des  Sonnen- 
pferdes Iwans  selbst)  und  wird  so  vernichtet  (wenn  die  Sonne 
am  Morgen  hervorkommt,  verliert  sich  die  Aurora  hinter  ihr. 
Dieselbe  Erzählung  von  Iwans  treuloser  Schwester,    deren 


167 

mythische  Bedeutang  mir  klarer  als  gewöhnlich  zu  sein  scheint, 
tritt  auch  in  anderen  Gestaltungen  in  russischen  Mährchen  wie- 
der auf. 

Als  Iwan  mit  seiner  Schwester  auf  der  Reise  nach  dem  Reiche 
ist,  wo  alle  Leute  sterben  ^  (d.  h.  nach  der  Nacht),  giebt  ihm  eine 
Fee  ein  Tuch,  durch  dessen  Schütteln  eine  Brücke  über  einen  Strom 
gelegt  werden  kann,  —  (ist  diese  Brücke  die  Milchstrasse,  die 
Brücke  oder  Strasse,  die  von  den  Seelen  eingeschlagen  werden 
muss  im  altpersischen  Glauben  und  nach  der  Lehre  des  Neu- 
platonikers  Porphyrins,  wie  aucli  im  deutschen  Glauben?)  —  je- 
doch mit  der  Anweisung,  seine  Schwester  es  nie  sehen  zu  lassen, 
wenn  er  es  schüttelt.  Iwan  laugt  mit  seiner  Schwester  im  Reiche 
der  Todteu  an;  sie  kommen  an  einen  Strom,  an  dessen  jen- 
seitigem Ufer  eine  Schlange  ist,  welche  die  Fähigkeit  besitzt,  sich 
in  einen  schönen  Jüngling  zu  verwandeln;  Iwans  Schwester  ver- 
liebt sich  in  ihn,  nimmt,  von  ihm  verleitet,  unter  dem  Vorwande, 
die  schmutzige  Wäsche  zu  was(5hen,  das  Zaubertuch  fort  und 
schüttelt  es;  eine  Brücke  entsteht,  auf  welcher  die  Schlange  über 
den  Fluss  kommt  und  sich  mit  dem  Mädchen  verschwört,  in  der 
Absicht,  Iwans  Untergang  herbeizuführen.  Sie  verlangen  von 
Iwan  die  stehende  Milch,  welche  er  bringt;  sodann  das  Mehl, 
welches  hinter  zwölf  Thüren  liegt.  Iwan  geht  mit  seinen  Raub- 
thieren  hin,  nimmt  das  Mehl  und  bringt  es  fort,  doch  seine  Thiere 
bleiben  eingeschlossen;  seine  Kraft  nimmt  ab  und  die  Schlange, 
prahlend,  dass  sie  ihn  nicht  länger  zw  fürchten  habe,  schickt  sich 
an,  ihn  zu  verschlingen.  Iwan  bittet,  auf  Rath  einer  Krähe,  um 
2ieit  und  hält  so  lange  hin,  bis  seine  Thiere  die  zwölf  Thore 
dni*chgenagt  haben,  ihm  zu  Hilfe  kommen  und  die  Schlange  zer- 
reissen.  Die  Knochen  der  Schlange  werden  im  Feuer  verbrannt, 
die  Asche  in  die  vier  Winde  verstreut  und  die  Schwester  an 
einen  Steinpfeiler  gebunden  (an  den  Felsen  oder  Berg,  auf  wel- 
chem die  Aurora  aufsteigt,  dann,  wenn  die  Sonne  aufsteigt,  er- 
blassend). Iwan  stellt  etwas  Heu  und  einen  Eimer  Wasser  neben 
sie,  damit  sie  etwas  zu  essen  und  zu  trinken  hat,  und  auch  einen 
leeren  Eimer,  um  ihn  mit  ihren  Thränen  zu  füllen;  wenn  sie  das 
Heu  gegessen,  das  Wasser  getrunken  und  das  Gefass  mit  iliren 
Thränen  gefüllt  hat,  so  soll  das  ein  Zeichen  sein,  dass  ihr  Gott 
vergeben  hat;  dann  will  auch  Iwan  ihr  vergeben.»  Mittlerweile 
geht   Iwan   in  ein  Reich,  wo   nichts  als  Trauer  ist,   weil    eine 

•  Afan   VI^52. 


168 

zwölfköpfige  Schlange  alle  Leute  umbringt  (der  gewöhnliche 
Nachthimmel ;  wo  bald  der  Held  Sonne ;  bald  die  Heldin  Aurora 
sich  opfert)  und  des  Königs  Tochter  das  nächste  Opfer  ist.  Iwan 
haut;  mit  Hilfe  seiner  Meute ,  die  Schlange  in  Stücke  und  geht 
dann,  auf  den  Knieen  der  Königstochter  zu  schlafen.  Während 
er  schläft;  geht  gegen  Morgen  ein  Wasserträger  vorbei^  haut  ihm 
den  Kopf  ab  und  stellt  sich  dem  König  als  den  Retter  der  Prin- 
zessin vor,  die  er  zum  Weibe  verlangt.  Die  Raubthiere  kommen, 
entdecken  die  Krähe  auf  Iwans  Leichnam  und  schicken  sich  an, 
sie  zu  verzehren,  als  die  Krähe  um  ihr  Leben  bittet;  sie  willigen 
ein  und  verlangen  dafür,  sie  solle  nach  dem  Wasser  des  Lebens 
und  Todes  suchen,  durch  welclies  Iwan  wiedererweckt  wird;  der 
Betrug  des  Wasserträgers  wird  enthüllt  und  Iwan  heirathet  die 
Prinzessin,  die  er  von  dem  Ungeheuer  erlöst  hatte.  Dann  geht 
er  zu  seiner  Schwester  und  findet,  dass  sie  das  Heu  gegessen, 
das  Wasser  getrunken  und  den  halben  Eimer  mit  Thränen  ge- 
füllt hat.    Er  verzeiht  ihr  und  nimmt  sie  mit  sich. 

In  einem  andern  Mährchen  ^  finden  wir  statt  der  treulosen 
Schwester  die  treulose  Mutter  (wahrscheinlich  Stiefmutter),  welche, 
um  mit  einem  Dämon  Liebe  pflegen  zu  können,  Krankheit  fingirt 
und  von  Iwan  das  Herz  erst  des  dreiköpfigen,  dann  des  sechs- 
köpfigen, endlich  des  zwölf köpfigen  Ungeheuers  verlangt  Iwan 
erfüllt  ihre  Forderungen.  Er  wird  dann  in  ein  heisses  Bad  ge- 
schickt, um  ihn  zu  schwächen.  Iwan  geht  und  ihm  wird  von 
dem  Ungeheuer  der  Kopf  abgehauen  Doch  seine  beiden  Söhne 
rufen  Iwan  wieder  ins  Leben,  indem  sie  seinen  Körper  mit  einer 
Wurzel  reiben;  der  dämonische  Liebhaber  von  Iwans  Mutter 
stirbt,  sobald  der  Held  wieder  auflebt.  In  den  beiden  Söhnen 
Iwans  erkennen  wir  den  Mythus  von  den  beiden  Agvius  wieder, 
den  himmlischen  Aerzten,  welche  dei)  Sonnenbelden  wieder  zum 
Leben  erwecken. 

In  einem  andern  Mährchen  ^  wird  Iwan  Karolieviö  (des  Kö- 
nigs Sohn)  von  seinem  eigenen  Weibe  mit  dem  Tode  bedroht; 
diese  fingirt  Krankheit,  verlangt,  wie  gewöhnlich,  die  Milch  einer 
Wölfin,  einer  Bärin  und  einer  Löwin  und  dann  den  bezauberten 
Staub  (Gold-  oder  Mehlstaub),  welcher  unter  des  Teufels  Mühle 
hinter  zwölf  ThUren  liegt  Iwan  kommt  heraus,  aber  seine  Thiere 
bleiben    drin.    Er  kehrt   zurück  und  findet  sein  Weib   bei   der 


•  Afaii.  VI,  <ia 
»  VI,  51. 


169 

Schlange y  dem  Sohn  der  Schlange;  er  singt  das  Todeslied,  er 
singt  es  drei  Mal;  *  bei  dessen  Aiiliören  wird  die  Schlange  nieder- 
geworfen und  die  Thiere,  welche  die  Kraft,  sich  zu  befreien, 
wiedergewinnen,  kommen  heraus  und  zerreissen  die  Schlange; 
mit  ihr  wird  auch  das  treulose  Weib  zu  Tode  gebracht. 

Iwans  treuloses  Weib  kommt  wieder  iii  dem  fünfunddreissig- 
sten  Mährchen  des  fünften  Buches  vor,  unter  dem  Namen  Anna 
die  sehr  Schöne  (PreckraQuaia).  Sie  hat  Iwan  Tzarewii5  gegen 
ihren  Willen  geheirathet,  weil  sie  ein  ihr  von  ihm  aufgegebenes 
Räthsel  nicht  lösen  konnte;  sie  liebt  ihn  nicht  und  verlangt,  um 
ihn  zu  vernichten,  einen  ausserordentlichen  Beweis  seiner  Tapfer- 
keit von  ihm ;  ^  bei  diesem  ist  Iwan  durch  Hilfe  seines  Beschützers, 
Katoma,  siegreich,  so  dass  Anna  in  seine  Hände  fällt.  Doch 
wohl  wissend,  dass  Iwans  Stäi'ke  nicht  in  ihm  selbst,  sondern  in 
seinem  Beschützer  liegt,  weiss  sie  Iwan  zu  bewegen,  diesen  fort- 
zuschicken, nachdem  sie  ihn  seiner  Fttsse  beraubt  hat.  Anna 
schickt  dann  Iwan  mit  den  Kühen  auf  die  Weide.  Der  lahme 
Katoma  findet  im  Walde  einen  blinden  Mann,  der  ebenfalls  seine 
Blindheit  Anna  verdankt;^  sie  werden  Freunde,  verbinden  sich 
und  entführen  ein  schönes  Mädchen,  damit  es  ihre  Schwester  sei; 
doch  eine  Hexe  kommt  und  lässt  sich  von  dem  Mädchen  das 
Haar  kämmen,  während  sie  an  seiner  Brust  saugt  (wir  müssen 
hier  daran  erinnern,  dass  in  der  indischen  Erzählung  das  Mäd- 
chen drei  Brüste  hat  oder  an  der  Brust  unvollkommen  ist,  ebenso 
wie  die  Hexe  das  russische  Mädchen  durch  das  Saugen  an  seiner 
Brust  schädigt).  Das  arme  Mädchen  wird  dürr  und  hässlich,  bis 
die  alte  Hexe  bei  ihrer  Uebelthat  von  den  beiden  Helden  über- 
rascht, von  ihnen  wie  von  einem  steinernen  Berge  überfallen  und 
so  zusammengedrückt  wird,  dass  sie  um  Gnade  schreit.  Darauf 
verlangen  sie  von  ihr,  sie  solle  ihnen  zeigen,  wo  sich  der  Brunnen 
des  Lebens  und  der  Heilung  befindet.    Die  Alte  führt  sie  in  einen 


'  In  dem   Mährchen  VI,   52   wird  Iwan  daran,   dass  er  wunderbare 
Weisen  auf  einer  Flöte  spielt,  von  der  Prinzessin,  die  er  von  dem  Unge- 
heuer befreit  hatte,  wiedererkannt 
'  Vgl.  das  nächste  Kapitel. 

'  Ich  finde  den  Blinden  und  den  Lahmen  in  folgendem  Epigramm  des 
Ausonius  Burdigalensis  wieder: 

„Insidens  caeco  graditur  pede  claudus  utroque; 

Quo  caret  olteruter,  sumit  ab  alterutro. 
Caecus  nam  que  pedes  claudo  gressumque  mi  nistrat, 
At  claudus  caeco  lumina  pro  pedibUs. 


170 

dichten  Wald  und  zeigt  ihnen  einen  Brunnen.  Sie  werfen  erst 
einen  trocknen  Zweig  hinein,  der  sofort  Feuer  fangt;  sie  drohen, 
die  alte  Hexe  zu  tödten,  und  zwingen  sie^  sie  an  einen  andern 
Brunnen  zu  führen,  in  den  sie  wieder  ein  dürres  Reis  werfen;  es 
grünt!  Dann  reibt  der  eine  seine  Augen,  der  andere  seine  Füsse 
mit  dem  Wasser  und  beide  werden  wieder  gesund  und  stark.  Sie 
werfen  die  Hexe  in  den  Feuerbrunuen.  Katoma  geht,  als  Schäfer 
verkleidet,  den  Helden  Iwan  von  der  dämonischen  Kuh  zu  be- 
freien, welche  ihren  Schwanz  aufhebt,  und  giebt  ihm  seine  Stärke 
und  seinen  Glanz  wieder.  Es  ist  wieder  der  vedische  Mjrthus 
von  den  beiden  AQvins,  die  sich  mit  der  Aurora  vereinigen,  die 
den  Blinden  und  den  Lahmen,  d.  h.  sich  selbst,  lieilen  und  den 
vielgestaltigen  Sonnenhelden  retten. 

Schliesslich  treffen  wir  das  blinde  Mädchen,  das  wir  in  den 
vcdischen  Hymnen  gefunden  haben,  in  der  russischen  Sage  wie- 
der. ^  Eine  Dienerin  nimmt  ihrer  jungfräulichen  Herrin ,  die  sie 
vermittelst  eines  Krautes  zum  Schlafen  gebracht  hat,  die  Augen 
aus  und  heirathet  den  König  an  ihrer  Statt.  Die  Jungfrau  er- 
wacht und  hört,  aber  sieht  nicht;  ein  alter  Schäfer  nimmt  sie  in 
sein  Haus  auf;  während  der  Nacht  näht  sie,  obwohl  blind,  eine 
Krone  für  den  Tzaren  und  schickt  den  Alten  an  den  Hof,  sie 
für  ein  Auge  zu  verkaufen  (dies  ist  eine  Variation  von  Königin 
Berta  im  Walde).  Die  Dienerin,  die  jetzt  Königin  geworden  ist, 
kann  der  Schönheit  der  Krone  nicht  widerstehn,  nimmt  eins  von 
den  Augen  der  Jungfrau  aus  ihrer  Tasche  und  giebt  es  dem 
Alten.  Das  Mädchen  steht  mit  der  Morgenröthe  auf,  wäscht  ihr 
•  Auge  in  ihrem  eigenen  Speichel  (d.  h.  dem  Thau.  Im  Tosca- 
nischen  glauben  die  Bauern,  dass  Jeder,  der  am  Johannistage 
vor  Sonnenaufgang  sein  Gesicht  im  Thau  wäscht,  das  ganze  fol- 
gende Jahr  keine  Krankheit  bekommen  wird),  steckt  es  in  die 
Augenhöhle  und  sieht.  Sie  näht  dann  eine  andere  Krone  und 
gewinnt  in  derselben  Weise  das  andere  Auge  bei  der  nächsten 
Morgenröthe  wieder.  Da  erföhrt  die  Dienerin-Königin,  dass  sie 
lebt,  und  lässt  sie  von  gemietheten  Mördern  in  Stücke  hauen.  Wo 
die  Jungfrau  begraben  liegt,  ersteht  ein  Garten  und  ein  Knabe 
zeigt  sich.  Der  Knabe  geht  in  den  Palast  und  rennt  hinter  der 
Königin  her,  wobei  er  solchen  Spektakel  macht,  dass  sie  sich  ge- 
nöthigt  sieht,  um  ihn  zum  Schweigen  zu  bringen,  ihm  das  Herz 
der  Jungfrau  zu  geben,   welches  sie  verborgen   gehalten  hatte. 

'  A  fan.  V,  39. 


171 

Der  Knabe  ist  nihig  und  rennt  davon;  der  König  folgt  ihm  und 
befindet  sich  vor  der  wiedererstandenen  Jungfrau.  Er  heirathet 
sie;  die  Dienerin  aber  wird  geblendet,  an  die  Schwänze  von 
Pferden  gebunden  und  so  zerrissen.  Wie  die  deutsche  Genoveva 
und  die  indische  Qaknntalä  wird  das  russisehe  Weib  von  dem 
Gemahl  vermittelst  eines  Knaben  wiedererkannt.  Dieser  ist  die 
junge  Sonne,  welche  die  alte  in  Stand  setzt,  wiedergeboren  zu 
werden,  wiederzuerstehn  und  noch  einmal  jung  zu  sein ;  er  ist  der 
Sohn,  der  in  den  indischen  Erzählungen  seinem  Vater  das  Augen- 
licht wiedergiebt  und  dadurch  natürlicherweise  ihm  das  Mittel 
an  die  Hand  giebt,  sein  Weib  wiederauerkennen ,  das  er  ver- 
gessen oder  Verstössen  oder  verloren  hatte,  je  nach  den  verschie- 
denen Gestaltungen,  welche  der  himmlische  Mythus  von  der  Tren- 
nung von  Mann  und  Frau  angenommen. 

Ich  würde  diese  Vergleichung  gern  auf  dem  Gebiet  der  mehr 
westlich  wohnenden  slavischen  Völkerschaften  weiterführen ;  *  ducli 
kann  es  nicht  meine  Absicht  sein,  diesen  bescheidenen  Band 
durch  eine  vollständige  Sammlung  der  hierher  gehörigen  Erzäh- 
lungen in  eine  Bibliothek  zu  verwandeln;  auch  ist  dies  für  mei- 
nen Zweck  nicht  nothwendig,  da  ich  dadurch  doch  dem,  was  ich 
bisher  gesammelt,  um  zu  beweisen,  wie  die  Thiermythologie  in 
der  slavischen  Sage  dieselbe  ist,  die  sie  im  indischen  Alterthum 
war,  keine  grössere  Beweiskraft  geben  würde.  Ich  bin  speciell 
auf  die  russischen  Sagen  deshalb  genauer  eingegangen,  weil  sie 
wegen  der  Unkenntniss  der  Sprache,  die  schön  und  des  Studirens 
wohl  werth  ist,  nur  wenig  bekannt  und  bei  den  vorliegenden 
Untersuchungen  von  der  höchsten  Wichtigkeit  sind.  Täusche  ich 
mich  nicht  ganz,  so  glaube  ich  bis  zu  diesem  Punkte  hier  von 
allen  wesentlicheren  Erzählungen,  die  sich  in  der  östlichen  indo- 
germanischen Welt  im  Anschluss  an  den  Mythus  von  der  Kuh 
und  dem  Stier  entwickelt  haben,  Rechenschaft  gegeben  zu  haben; 
jetzt  mich  nach  Westen  wendend,  kann  ich  wohl  wagen,  schneller 
vorzugehen,  da  wir  uns  auf  einem  uns  schon  vertrauten  Gebiete 

'  Wer  geuauere  UntersuchuDgen  über  die  slavische  Sage  anstellen 
will,  kann  sich  mit  Nutzen  unter  anderen  in  folgenden  Werken  Raths  er- 
holen; —  Schwenk,  Mythologie  der  Slavcn;  Hanuscb,  Slavische 
Mythologie;  Woycicki,  Polnische  M  äh  rcbcn;  Schleicher,  Littau- 
ische  Mährchen;  Wensig,  W  ests  lavischer  Mähr  chenschatz; 
Kapper,  Die  Gesänge  der  Serben;  Chodzko,  Contes  des  Pays  ans 
et  des  PatresSIavee  ;  Teza,  I  tre  Capelli  d*oro  del  Nonno  Sat- 
**  utto  (ein  bÖhmisclus  Mäbrchen);  Mi^kieviö,  Cauti  Popnlari  Illirici, 


172 

befinden.  Es  schien  mir  für  eine  genaue  Vergleich ung  unum- 
gänglich nothwendig,  den  Charakter  der  orientalischen  Sage  zu 
tixiren  und  genau  festzustellen^  damit  es  dem,  der  sich  mit  diesen 
Studien  befasst^  leicht  ist^  die  unzähligen  Sagen  und  Erzählungen 
zu  classlficireu;  welche  schon  im  westlichen  Europa  gesammelt 
und  in,  zwar  von  einander  verschiedenen,  doch  verhältnissmässig 
leicht  zugänglichen  Sprachen  veröffentlicht  worden  sind.  Ist  es 
mir  geglückt,  dem  Leser  das  Verständniss  der  hei-vorragenderen 
Quellen  der  Sagen  und  ihrer  wahrscheinlichsten  Bedeutungen  zu 
eröffnen,  so  werde  ich  mit  mehr  Muth  und  grösserem  Vertrauen 
an  die  folgenden  Untersuchungen  gehen. 


§.5.     Der  Stier  und  die  Kuh  in  der  germanu>8kaudinuviBchen 

uud  fränkisch-celtischeu  Sage. 

Die  gemiano-skandinavischen  und  fränkisch-celtischen  Sagen 
werden  hier  unter  eine  Rubrik  gebracht,  da  sie,  besonders  im 
Mittelalter,  in  enger  und  fortlaufender  Beziehung  zu  einander 
standen. 

In  beiden  Sagenkreisen  begegnen  wir  häufig  dem  vedischen 
Stier,  der  aus  dem  Meere  kommt,  und  dem  Stier,  welcher  das 
Mädchen  entfährt.  Der  Stier,  der  aus  dem  Meere  kommt,  findet 
sich  in  irischen  und  in  deutschen  Legenden.  Nach  einer  deut- 
schen Sage,  von  der  verschiedene  Variationen  existiren,  erhielt 
ein  Kuhhirt  täglich  sein  Mittagessen  und  jeden  Sonntag  ein  rei- 
nes Hemde  von  einem  bunten  Stier,  der  aus  dem  See  heraufstieg.  * 
Ein  Stier  zeugt  am  Meeresufer  mit  der  schlafenden  Königin  den 
König  Meroveus,  den  ersten  der  Merovinger;  vielleicht  deshalb 
finden  wir  einen  goldenen  Stierkopf  auf  dem  Grabe  König  Chil- 
dericbs  dargestellt.     Karl  Simrock  ^  fand  eine  ähnliche  Erzählung 


'  Kuhn  und  Schwartz,  Norddeutsche  Sagen,  Mährchen  und 
Gebräuche,  p.  256  f.  u.  501. 

^Handbuch  der  deutschen  Mythologie,  mit  Einschluss  der 
nordischen,  2.  Aufl.  p.  437.  —  Wir  lesen  auch  bei  Bginhard  (Vita  Carol i 
Magni);  ,,Quocunque  eundum  erat,  carpento  ibat,  quod  bubus  junctis  et 
bubulco  rustico  more  agente  trahebatur.'*  —  Der  Stier  ist  ein  Symbol  der 
Fortpflanzung;  der  Mann,  der  den  Stier  fürchtet,  ist  ein  dummer  und 
lächerlicher  Eunuch.  So  heisst  es  in  einer  Lit.  Remiss,  ann.  1397  (bei  Du 
Cange);  ,,Le  suppliant  lui  dist,  ]Sudet^  vous  ayez  un  toreau  qui  purte  les 


173 

audi  in  Spanien.  Der  Stier,  welcher  das  Mädchen  trägt,  dem  wir 
schon  in  den  mssiBch.en  Mährchen  begegnet  sind,  erscheint  wieder 
in  dem  norwegischen  Mäbrchen '  von  Käthe  Holzmantel 
(Dasent),  welche  mit  der  Macht  des  Wunsches  begabt  ist. 

Bei  der  Fahrt  Gylfes  in  Snbrris  Edda  finden  wir,  dass  die 
Kuh  Audhumla,  die  Kuh  der  Fülle,  die  Erzeugerin  des  höchsten 
skandinavischen  Gottes,  Odins,  ist,  wie  die  des  höchsten  vedischen 
Gottes,  Indras.  Die  Kuh  A^adhnmla  nährt  mit  ihrer  Milch  Ymir, 
den  ersten  der  Riesen.  Sie  leckt  den  Salzberg  von  Eis  (den 
ehstnischen  Eisberg,  die  zwölf  Spiegel  der  russischen  Prinzessin, 
durch  weicherer  junge  Held  Iwan  hindurchdringt,  um  sie  zu 
küssen).  Aus  dem  Eise,  welches  die  Kuh  geleckt  hat,  kommt  erst 
das  Haar,  dann  der  Kopf,  dann  der  ganze  Körper  des  Helden 
Buri  hervor.  (Die  Sonne  erhebt  sich  ganz  allmählich  von  dem 
Berge  des  Ostens,  von  der  Kuh-Aurora  angezogen,  erwärmt,  und 
zeigt  zuerst  einige  wenige  Strahlen,  dann  ihre  Scheibe  und  dann 
sich  selbst  in  all  ihrem  Glanz  und  ihrer  Macht;  und  was  die 
Sonne  täglich  thut,  thut  sie  in  grösserem  Massstabe  einmal  des 
Jahres,  indem  sie  aus  dem  Eise  des  Winters  durch  die  lauen 
Lüfte  des  Frühlings  wieder  aufsteigt.)  Von  Buri,  der  schon  bei 
seiner  Geburt  stark  ist,  wird  Bör  gezeugt,  dem  Bestla,  die  Tochter 
des  Riesen  Bölthom,  drei  Söhne,  Odin,  Wili  und  We  schenkt 
(die  gewöhnlichen  drei  Brüder  der  Sage),  welche  den  drei  Söhnen 
des  Mannus  io  der  deutschen  Sage,  Inguis,  Istio  und  Irminius, 
entsprechen.  Der  schwedische  König  Eistein  hat  eine  grosse  Ehr- 
furcht vor  der  Kuh  Sibilia  und  pflegt  sie  mit  in  die  Schlacht  zu 
nehmen,  damit  sie  durch  ihr  Brüllen  die  Feinde  erschrecke.  (Das 
Brüllen  der  Kühe  spielt  in  den  Kämpfen  des  vedischen  Helden 
Indra  eine  wichtige  Rolle.  Im  Panöatantra  jagt,  wie  wir  be- 
merkten, das  Brüllen  des  Stieres  den  Löwen  in  Schrecken.)  Der 
skandinavische  König  Oegwaldr  wird  überall  von  einer  heiligen 
Kuh  begleitet,  deren  Milch  er  trinkt  und  mit  welcher  er  begraben 
zu  werden  wünscht.  Im  Rigveda  befruchtet,  wie  wir  sahen,  der 
Held  Indra  die  Kuh,  und  der  Donnerkeil  des  Gottes,  der  die 
Wolke  durchdringt,  nimmt  die  Gestalt  eines  Phallus  an.    Später 


geu8  et  ne  osent  aler  aux  champs  pour  luy;  leqnel  Eudet  luy  respondis: 
as  ta  nom  Jehannot?*'  Faire  Joban  heisst  eine  Frau,  qnae  marito  fidem 
non  servat  (eine  Abart  der  mongolischen  Sürya  Bagatur). 

'  Siehe    Cox,   Mythology    of  the  Aryan   Nations,    I  p.  438,   bei  Be- 
sprechung des  griechischen  Mythus  von  Zeus  und  der  Europa. 


174 

wurde  als  ein  Symbol  des  Rathen-Phallns ,  der  Zweig  oder  die 
Kuthe  des  Baumes  palä^  genommen,  mit  welcher  die  Knb  ge- 
schlagen wurde,  um  sie  fruchtbar  zu  machen ;  eine  solche  Zauber- 
ruthe  ist  bis  heutigen  Tages  in  Deutschland  im  Schwange,  wo  in 
vielen  Gegenden  die  Sitte  herrscht,  die  Kuh  zu  schlagen,  in  dem 
Glauben,  das  werde  sie  fruchtbar  machen.  ^ 

Mit  dem  Kopf  des  schönsten  der  Ochsen  des  Riesen  Hymir 
an  seiner  Angel  geht  in  Snorris  Edda  der  Gott  Thor  die  unge- 
heure Schlange  von  Midgard  aus  der  Tiefe  des  Meeres  fischen 
und  tödtet  sie  auf  dem  Meeresgestade.  (So  setzt  im  Rämayana 
Hanumant  uuf  das  gegenüberliegende  Ufer  des  Sees  über,  indem 
er  den  Körper  des  Seeungeheuers  überschreitet,  das  er  bersten 
macht;  so  tödtet  Indra  die  Schlange  Ahi  auf  dem  Berge.) 

Der  skandinavische  Held  hat  also  auch  Beziehungen  zu  Ktthen, 
obwohl  sein  Leben  weit  mehr  einen  kriegerischen  als  einen  länd- 
lichen Charakter  trägt;  er  klagt  deshalb  Loki  an  und  schmäht 
ihn  dabei,  dass  er  acht  Winter  unter  der  Erde  mit  dem  Melken 
der  Kühe,  wie  ein  Weib,  beschäftigt,  zugebracht  habe.  (Es  ist 
bekannt,  dass  das  skr.  d  u  h  i  t  a  r  (i.  e.  Tochter)  bedeutet :  die,  welche 
melkt.)  Statt  Kühe  zu  melken,  verzehrt  der  skandinavische  Held 
Stiere.  Wir  finden  mehr  als  einmal  in  den  Edden  die  Helden 
mit  Braten  von  Ochsen  beschäftigt.  Atli,  der  Gemahl  Gudruns, 
rühmt  sich,  mehre  Ochsen  getödtet  und  sie  mit  ihr  verzehrt  zu 
haben.  Gudrun,  die  skandinavische  Medea,  giebt  Atli  die  Herzen 
seiner  beiden  Söhne  zu  essen,  mit  der  Versicherung,  es  seien 
Kälberherzen.  Der  (Jott  Thor,  als  die  Göttin  Freya  verkleidet, 
trinkt  drei  Fässer  Meth  und  isst  einen  ganzen  Stier,  als  er  auf- 
bricht, um  seinen  wunderbaren  Hammer  wiederzugewinnen.  Das 
Stier-  oder  Kuhhorn  spendet  femer  nicht  allein  dem  Helden  Meth, 
noch  auch  dient  es  blos  dazu,  seine  Freunde  zu  Hilfe  zu  rufen 
und  den  Feind  niederzuwerfen;  es  bildet  auch  den  Bogen  des 
Helden,  der  demgemäss  in  der  Vilkina  Saga^  auch  den  Namen 
Hornbogen  führt  und  als  solcher  dem  grössten  Helden,  Thidrek 

'  Vgl.  Kuhn,  Die  Herabkunft  des  Feuers  und  des  Götter- 
tranks, p.  181  sqq.  —  Vgl.  Du  Gange,  Glossarium  med.  et  inf.  la- 
tin, s.  V.  Acanuizare:  Quicunque  acauuizaverit  vaccam  vel  bovem,  ei  bos 
vel  vacca  fecerit  damnum  casu  fortuito,  dum  aeannizatur,  cujus  est,  amit* 
tat  ipsum  bovem  vel  vaccam,  nisi  acannizatur  causa  nuptiarum;  Fori  Os- 
cae  Jocobi  L  Regia  Arag.  fol.  16;  und  ebenfalls  bei  Du  Gange:  „Ut  in 
anserem  ludendo  baculos  torquere  in  usu  fuit,  ita  et  in  bovem.** 

'  W.  Grimm,  Die  deutsche  Heldensage,  2.  Ausg.  Nr.  102.  182. 


J 


175 

oder  EWtrich  beisteht  und  der  Vater  des  berühmten  Helden  Sigurd 
(Stfrit,  Siegfried)  ist.  Schliesslich  werden  die  Hörner  als  eine 
so  bedeutende  Waffe  des  Stiers  und  der  Kuh  betrachtet,  dass  ein 
zugleich  slavischeS;  deutsches  und  italienisches  Sprichwort  sagt: 
„Einer  bösen  Kuh  giebt  Gott  kurze  Homer**  (damit  sie  kein  Un- 
heil anrichte ;  oder  vielmehr,  weil  sie  dieselben  abnutzt);  der 
Kuh  die  Homer  abhauen,  bedeutet  in  einem  deutschen  Sprichwort: 
eine  Schwierigkeit  Überwinden;  und  den  Stier  oder  die  Kuh  bei 
den  Hörnern  packen,  bedeutet^  sie  entwaffnen  [durch  rasches  und 
muthiges  Vorgeh n  einen  Feind  oder  eine  Gefahr  überwinden]. ' 

In  dem  grönländischen  Gedicht  auf  Atli  in  Sömunds  Edda 
sagt  Högni,  dass,  wenn  Rinder  getödtet  werden,  viel  Blut  gesehn 
wird,  und  dass,  wenn  Jemand  von  Adlern  träumt,  Ochsen  nicht 
fem  sind.  In  Snorris  Edda  verhindert  ein  Adler  auf  dem  Gipfel 
des  Baumes,  unter  welchem  Odin,  Loki  und  Hönir  einen  Ochsen 
kochen  wollen,  dass  das  Fleisch  gekocht  wird,  bis  die  Helden 
darein  willigen,  ihm  einen  Theil  davon  zu  geben.  Der  Adler 
trägt  jedoch  nicht  weniger  als  die  beiden  Lenden  und  die  beiden 
Schultern  des  Ochsen  davon.  Der  Adler  bat  in  der  Edda  den- 
selben dämonischen  Charakter,  wie  er  in  andem  Sagen  der  Krähe, 
dem  Trauerstorch  und  dem  Geier  beigelegt  wird:  er  sucht  nach 
Ochsen;  wenn  man  also  von  Adlem  träumt,  so  ist  das  ein  Wink, 
dass  ein  Ochse  in  der  Nähe  ist^  ebenso  wie  es  heisst,  dass  die 
Anwesenheit  eines  Geiers  das  Zeichen  der  Nähe  einer  Leiche  ist. 

Eine  deutsche  Sage^  lässt  eine  Schlacht  beginnen,  „sobald 
eine  rothe  Kuh  über  eine  gewisse  Brücke  geführt  ist.'  Wir  er- 
innem  an  das  russische  Mäfarcben  von  dem  Mädchen,  das  ver- 
mittelst des  Zaubertuches  seines  Bmders  eine^  Brücke  über  den 
^  Strom  schlägt,  welche  das  Scblangennngeheuer  in  der  Gestalt 
eines  schönen  Jünglings  überschreitet,  um  sie  zu  nehmen;  wie 
der  Bruder  in  dem  Kampfe  gegen  das  Ungeheuer,  zu  dem  er  ge- 
zwungen wird,  geopfert  wird,  da  dieses  ihn  durch  List  entwaffnet, 
und  wie  der  Kampf  zwischen  dem  Helden  und  dem  Ungeheuer 
beginnt,  als  die  Jungfrau,  die  Brücke  überschreitend,  den  Helden, 
ihren  Bmder  verlässt,  der  in  dem  ungleichen  Streite  tUllt  und 
sein  Blut  vergiesst.  Ich  habe  schon  bemerkt,  dass  im  Volks- 
glauben  die  blutige  Abendsonne  eine  Vorbedeutung  von  Krieg 


'  Vgl.  in  dem  Kapitel  über   die  Ziege   and   den  Bock    Mebres   üher 
mythische  Homer. 

Kuhn  und  Schwartz  p.  497. 


i16 

ist  und  dass  die  rothe  Kab  der  deutschen  Sage  nichts  andera 
als  diesen  Himmel  darstellt.  Was  die  Brücke  betrifit,  so  scheint 
eine  interessante  Bemerkung  bei  Kuhn  und  Schwartz  ^  die  Ver- 
muthung  zu  bestätigen^  die  ich  bei  Gelegenheit  des  slavischen 
Mährchens  andeutete;  d.  h.  dass  sie  die  Milchstrasse  darstellt; 
aus  dieser  Bemerkung,  in  welcher  die  Identität  der  Brücke  der 
rothen  Kuh,  die  den  Beginn  einer  Schlacht  bestimmt,  und  der 
skandinavischen  himmlischen  Birröst  statuirt  wird  (wie  diese 
wohl  auch  zwischen  ihr  und  der  persischen  Brücke  Oinvant  anzu- 
nehmen ist);  ersehe  ich  auch;  dass  im  Friesischen  die  MUchstrasse 
Kau-pat  (Kuh-pfad)  heisst.  '  Das  heisst:  es  ist  anzunehmen,  dass 
die  rothe  Abendkuh  während  der  Nacht  die  Milchstrasse  entlang 
geht,  indem  sie  ihre  Milch  darüber  spritzt;  woher  vielleicht  das 
deutsche  Sprichwort  kommt :  ;;Rothe  Rühe  geben '  auch  weisse 
Milch"*  —  gleich  dem  andern;  das  wir  schon  in  Indien  gäng 
und  gebe  sahen  und  das  wir  in  der  turanischen  Sage  wieder 
trafen,  das  ferner  als  deutsches,  slavisches  und  italienisches 
Sprichwort  existirt:  Auch  eine  schwarze  Kuh  giebt  weisse  Milch."  ^ 
—  (Der  Ursprung  dieser  Sprichwörter  kann  einfach  aus  der  Beob- 
achtung gewöhnlicher  schwarzer  Kühe  abgeleitet  werden,  welche 
weisse  Milch  geben;  nichts  natürlicher  als  das  Erstaunen  der 
primitiven  Menschen  über  einen  solchen  Kontrast!  Doch  scheint 
es  mir  nicht  unmöglich,  dass  dasselbe  Sprichwort  auf  den  Him- 
mel angewandt  worden  ist;  wenn  nicht  sogar  im  Himmel  sein 
Ursprung  zu  suchen  ist;  die  schwarze  Nacht  bringt  die  Jilba  oder 
weisse  Morgendämmerung  und;  können  wir  hinzufügen,  den 
Silbermond  und  die  Milchstrasse  hervor.) 

Da  meines  Erachtens  das  MädcheU;  welches  in  den  slavischen 
Mäbrchen  die  Brücke  überschreitet,  ganz  unzweifelhaft  identisch 
mit  der  rothen  Kuh  ist,  welche  das  Gleiche  in  der  deutschen  Sage 
thut;  und  wenn  ich  nvit  der  Identiiicirung  des  Mädchens,  das  mit 
dem  Bruder  nach  dem  Todtenreich  reist,  mit  der  Abend-Aurora 
und  der  untergehenden  Sonne  nicht  einen  MissgrifT  gethan  habe, 


*  Diese  Brücke  wird  keine  andere  sein,  als  die  bimmliscbe  Bifröst, 
deren  er  hütet,  eine  Vermuthung,  die  noch  an  Wahrscheinlichkeit  gewinnt, 
wenn  man  den  friesischen  Namen  der  Milchstrasse  „Kaupat,  der  Kuhpfad,** 
hinzu  nimmt;  denn  Milcbetrasse  und  Regenbogen  berühren  einander 
sehr  nahe;  dieser  ist  die  Tagesbrücke  zwischen  Göttern  und  Menschen, 
jene  die  nächtliche.    Kuhn  und  Schwartz  a.  a.  O. 

*  Wander,  Deutsches  Sprichwörter- Lexicon,  Leipz.  1870. 
»  ibid. 


177 

80  dUrrten  sich  hier  noch  einige  andere  deutsche  Sprichwörter 
anfuhren  lassen^  die  man  als  in  der  allgemein  europäischen  Sage 
von  der  Kuh  begründet  ansehen  kann  und  die  sämmtlich  einen 
solchen  Schluss  gerechtfertigt  erscheinen  lassen.  Es  sind  folgende : 
„Wenn  die  Kuh  gestohlen  ist,  verwahrt  man  den  Stall.  —  Wer 
eine  Kuh  verloreu  und  den  Schwanz  zurück  erhält,  hat  nicht  viel, 
aber  mehr  als  nichts.  —  Die  Kuh  könnte  mit  dem  Schwänze  bis 
an  den  Himmel  reichen,  wenn  er  nur  lang  genug  wäre.  *  —  Die 
Kuh  beim  Schwanz  fassen.  —  Die  schwarze  Kuh  hat  ihn  gedrückt. 
—  Eine  Kuh  kann  keinen  Hasen  erlaufen.  —  Die  Kuh  überläuft 
einen  Hasen.  —  Nicht  alle,  die  Hörner  -blasen,  jagen  Hasen.  — 
Wenn  die  Kühe  lachen.  —  Wie  eine  blinde  Kuh  eine  Erbse  fin- 
det. —  Den  sollt'  man  i^  einer  alten  Kuhhaut  herumfahren.  — 
Soll  die  Kuhmagd  spinnen,  wird  man  wenig  Garn  gewinnen.  — 
Man  würde  eher  einer  Kuh  spinnen  lehren."^  —  Vgl.  auch  das 
altfranz.  Sprichwort:  „Une  vache  ne  sceit  que  Ini  vault  sa  queue 
jusques  eile  Ta  perdue".  — 

Wenn  man  alle  diese  deutschen  Sprichwöiier  in  Erwägung 
zieht,  «o  ist  «meines  Erachtens  unschwer  in  ihnen  eine  Erinnerung 
an  die  alten  Mythen,  mit  denen  wir  schon  vertraut  sind,  zu  er- 
kennen. Wenn  wir  bedenken,  dass  fast  jedes  Sprichwort  vielerlei 
Spielarten  hat,  ja  sogar  oft  in  sein  gerades  Gegentheil  umge- 
schlagen ist,  und  da  wir  in  diesen  Spielarten  die  uranfängliche 
Geschichte  einer  grossen  Anzahl  sonderbarer  Sprichwörter  ver- 
folgen können,  so  kann  die  Behauptung  nicht  übereilt  erscheinen, 
dass  besagte  Geschichte  im  Aligemeinen  ihren  Ursprung  in  einem 
Mythus  hat.  Gar  nicht  zu  sprechen  von  dem  klar  zu  Tage  lie- 
genden Umstand,  dass  dasselbe  Sprichwort  auf  verschiedene 
Thiere  angewandt  wird,  und  zwar  nicht  allein  von  verschiedenen 
Völkern,  sondern  in  der  mündlichen  Ueberlieferung  desselben 
Volkes,  verweise  ich  den  Leser  auf  das,  was  ich  in  der  Vorrede 
zu  diesem  Bande  über  den  Gegensatz,  den  Widerspruch,  der  in 
verschiedenen  abergläubischen  Vorstellungen  liegt,  Ji)emerkt  habe. 
Wie  dieser  Widerspruch,  kann  auch  der  zwischen  vielen  Sprich- 
wörtern nur  erklärt  und  gehoben  werden,  wenn  man  sie  auf  das 
Gebiet  der  Mythologie  zurückführt,  auf  welchem  eine  unbegreif- 


'  Vgl.  das  beliebte  euglische  Scherzräthsel :  ,,Wie  viel  Ruhschwänze 
würden  erforderlich  sein,  dass  sie  an  den  Himmel  reichen?  —  Einer,  wenn 
er  lang  genug  wäre.^^ 

•  Wander,  ibid.  II,  1666—1695. 

Gabernatb,  die  Ttilere.  12 


178 

liehe  Anzahl  von  Mythen  aus  Widersprüchen,  Gegensätzen  ent- 
steht, und  nur  aus  ihnen  entstehen  kann;  d.  h.  aus  den  contrasti- 
renden  Gestaltungen,  in  welchen  sieh  Himmelserscheinungen  dem- 
selben Beobachter,  geschweige  verschiedenen,  zeigen.  Die  ver- 
gleichende Geschichte  mythischer  Sprichwörter  soll  noch  geschrie- 
ben werden;  vielleicht  ist  es  augenblicklich  noch  nicht  möglich, 
sie  zugleich  umfassend  und  streng  wissenschaftlich  zu  behandeln. 
Vorgängiges  Studium  der  Einzelheiten  ist  für  das  Verständniss 
eines  Sprichworts  wie  einer  Volkssitte,  eines  Aberglaubens,  einer. 
Legende  oder  eines  Mythus  durchaus  erforderlich,  und  dieses  Stu- 
dium erfordert  Zeit  und  Mühe;  denn  eine  umfassende,  genaue, 
bis  ins  Einzelnste  gebende  Erklärung  eines  Sprichworts  kann  die 
Entwickelung  einer  ganzen  epischen  Geschichte  involviren.  Ich' 
will  mir  hier  nicht  aumassen,  das  Räthsel  der  oben  citirten 
deutschen  Sprichwörter  zu  lösen,  sondern  nur  andeuten,  welches 
mir  der  Weg  zu  sein  scheint,  um  ihrer  wahrscheinlichsten  Lösung 
sich  zu  nähern.  Bei  dem  Studium  eines  Sprichworts  ist  es  noth- 
wendig,  grosses  Gewicht  auf  die  Betonung  zu  legen.  Von  den 
verschiedenen  Betonungen,  mit  welchen  ein  altes  Öprichwort  ur- 
sprünglich gesprochen  und  später  wiederholt  wurde,  als  es  von 
Zunge  zu  Zunge  ging,  von  Volk  zu  Volk  wanderte,  hängt  ein 
grosser  Theil  der  Bedeutungsveränderung  gerade  bei  den  inter- 
essantesten der  Sprichwörter  ab,  welche  wir  als  ein  Erbtheil 
arischer  üeberlieferung  überkommen  haben.  Ein  Sprichwort  war 
zum  Beispiel  anfänglich  eine  einfache  Aussage!,  der  einfache  Aus- 
druck eines  natürlichen  mjrthischen  Bildes ;  im  Lauf  der  Zeit  blieb 
der  Ausdruck,  der  Mythus  wurde  vergessen;  so  schien  sich  der 
Ausdruck  auf  etwas  Fremdes,  Sonderbares  zu  beziehen  und  wurde 
als  eine  zweifelnde  Frage  ausgesprochen ;  bald  wurde  er  als  eine 
Ableugnung  von  etwas  Unmöglichem  benutzt  und  wurde  ein  Mittel 
der  Satire.  So  können  viele  Sprichwörter,  die  satirisch  geworden 
sind,  ursprünglich  nichts  mehr  und  nichts  weniger  als  mythische 
Aussagen  gewesen  sein. 

„Den  Stall  verwahren,  wenn  die  Kuh  gestohlen  ist."  In  Eng- 
land haben  wir  in  dem  Sprichwort  statt  der  Kuh  ein  Mädchen: 
„Wenn  Deine  Tochter  gestohlen  ist,  schliesse  das  Pfeflferthor^* 
(Peppergate,  Name  eines  kleinen  Tbores  der  Stadt  Chester,  wel- 
ches zu  schliessen  der  Bürgermeister  befohlen  haben  soll,  als 
seine  Tochter  entführt  war).  Das  Sprichwort  dient  jetzt  dazu, 
sich  über  die  lustig  zu  machen,  welche  ihr  Eigenthum  in  gute 
Obacht  nehmen   wollen,   nachdem  es  ihnen   gestohlen  ist;   doch 


UNIVERSITY 

or 

hatte  es  vielleicht  nicht  immer  dieselbe  Bedeutung.  Wir  sind 
schon  durch  die  indische  Sage  mit -dem  Helden  bekannt,  welcher 
das  schöne  Mädchen  aus  dem  Gefängriiss  befreit,  und  sahen,  wie 
sie,  kaum  frei,  von  ungerechten  Brüdern  oder  Genossen  fortge- 
führt wird,  nachdem  diese  den  rechtmässigen  Eigenthümer  der 
Kuh  oder  des  Mädchens  in  die  Höhle  gesperrt,  ans  welcher  sie 
herauskam ;  wie  die  räuberischen  Brüder  das  Thor  des  Stalls  oder 
der  Höhle  schlössen,  nachdem  sie  das  Mädchen  entführt.  Der 
gefangene,  in  nächtliches  Dunkel  eingeschlossene  Held  nahm  in 
der  Mythologie  oft  die  Gestalt  eines  Narren  an.  Von  der  Vor- 
stellung des  Schliessens  der  Stallthür  hinter  dem  Helden  durch 
die  Räuber  seiner  Kuh,  scheint  mir  der  Uebergang  zu  dem  Helden, 
der  sich  in  der  Höhle  verliert,  der  närrisch  wird,  zu  dem  Bauern, 
der  die  Stallthür  schliesst,  als  die  Kuh  gestohlen  ist,  oder  zu  dem 
Bürgermeister  von  Chester,  der,  in  der  Stadt  eingeschlossen,  das 
Pfefferthor  schliesst,  durch  welches  das  Mädchen  entführt  wurde, 
natürlich. 

„Wer  eine  Kuh  verloren  und  den  Schwanz  zurück  erhält,  hat 
nicht  viel,  aber  mehr  als  nichts."  Dies  Sprichwort  scheint  mir 
ebenfalls  einen  mythischen  Sinn  und  Ursprung  zu  haben.  Ich 
habe  schon  bemerkt,  dass  der  Schwanz,  die  Ferse,  die  Füsbc, 
d.  h.  die  unteren  und  hinteren  Extremitäten,  das  mythische  Thier 
verrathen;  wir  werden  uns  davon  noch  fester  überzeugen,  wenn 
wir  zu  der  Untersuchung  der  Sagen  gelangen,  die  sich  auf  den 
Wolf,  den  Fuchs  und  die  Schlange  beziehen.  Die  Fussstapfe  ist 
es,  die  in  sämmtlichen  europäischen  Sagen  das  schöne  Mädchen 
bei  seiner  Flucht  verräth;  als  der  Räuber  Cacus  dem  Hercules 
die  Ochsen  stiehlt,  sucht  der  Held,  um  sie  wiederzugewinnen, 
nach  ihren  Fussspuren.  Doch  damit  diese  nicht  erkannt  würden^ 
hat  der  schlaue  Dieb  die  Ochsen,  statt  beim  Kopf,  beim  Schwanz 
genommen^  und  sie  rückwärts  gehen  lassen.  Daher  bedeutet: 
„am  Schwänze  fassen"  den  falschen  Weg  einhalten  und  wird 
ebensowohl  auf  den  Esel  wie  auf  die  Kuh  angewandt  In 
Deutschland  erzählt  man,  dass  einst  eine  Kuh  in  eine  Grube  fiel, 
aus  der  keiner  von  den  Umstehenden  sie  zu  befreien  wagte.  Der 
Bauer,  dem  die  Kuh  gehörte,  kam  herbei  und  fasste  sie,  nach 
den  Einen,  furchtlos  bei  den  Hörnern,  während  er  sie,  nach  An- 


'  Livius  I:  Quia  si  agendo  armentum  in  speluncam  compulisset,  ipsa 
vestigia  qnaerentem  dominum  eo  deductura  crant,  aversos  boves  eximium 
quemque  pulchritudiue  caudis  in  speluncam  traxit. 

12* 


180 

deren,  am  Schwänze  herauszerrte;  daraus  erklärt  sich  das  Doppel- 
sprichwort: bei  den  Hörnern  fassen,  d.  h.  von  der  rechten  Seite 
etwas  anfassen,  und  am  Schwänze  fassen,  oder,  wie  wir  sagten, 
etwas  am  falschen  Ende  anfassen.  Aber  der  Bauer  konnte  seine 
Kuh  nur  entweder  bei  den  Hörnern  packen  oder  am  Schwänze, 
je  nachdem  sie  gefallen  war;  war  sie  mit  dem  Kopf  zuerst  ge- 
fallen, so  konnte  sie  nur  am  Schwänze  herausgezogen  werden; 
war  sie  dagegen  mit  dem  Schwanz  vorne  hineingefallen,  so 
konnte  er  sie  nur  herausholen,  indem  er  ihre  Hörner  packte.  Die 
Kuh -Aurora  wird  von  dem  Wolf,  Bären,  wilden  Eber  oder 
Schlange:  Nacht  überrascht,  bei  den  Schultern  gepackt  und  ver- 
schlungen (aus  diesem  Grunde  empfiehlt  in  dem  russischen  Mähr- 
chen der  Stier  dem  von  seiner  Schwester  begleiteten  fiüchtigen 
Helden,  sein  Gesicht  nach  der  Kichtung  gewandt  zu  halten,  aus 
welcher  man  das  verfolgende  Ungeheuer  erwarten  kann).  Das  Un- 
geheuer (die  Dunkelheit  oder  die  Wolke)  greitt  die  Kuh  am  Schwanz 
und  verschlingt  sie  oder  zerrt  sie  in  seine  Höhle.  Diese  Kuh,  die 
der  Held  aus  der  Höhle  befreien  will,  kann  er  nur  dann  bei  den 
Hörnern  packen,  wenn  er  auf  demselben  Wege  in  die  Höhle  ein- 
dringt, auf  welchem  die  Kuh  hineinkam,  d.  h.  durch  den  Rachen 
des  Ungeheuers;  doch  wie  das  Ungeheuer  den  Helden  von  hinten 
zu  überraschen  sucht,  so  verwundet  auch  er  es  oft  von  hinten, 
hält  es  beim  Schwanz  und  zieht  es  so  aus  der  Höhle,  Grube  oder 
dem  Schlamme  lieraus  —  seine  gefallene  Kuh.  In  einer  indit^chen 
Fabel  im  zweiten  Buch  des  Paüdatantra  haben  wir  die  Er- 
zählung von  einem  Schakal,  der,  um  ein  Geltistchen  seines  Weibes 
zu  befriedigen,  dem  Stiere  ganze  Jalire  lang  lolgt,  in  der  HoflF- 
nung,  dass  dessen  herabhängende  Testikeln  eines  oder  des  an- 
dern Tages  abfallen.  In  einem  Witz  des  Poggius  und  bei  Les- 
sing ^  finden  wir  denselben  Gegenstand  besprochen ;  eine  Variation 
davon   giebt   das  deutsche   Sprichwort:    „Wenn   auch  der  Kuh- 


'  Poggius,  Facetiae,  Krakau  1592,  angeführt  von  Benfey  in  der 
Einleitung  zu  seinem  Paiidatantra  p.  8*^3:  ),Quift  testiculi  raei  quadra- 
ginta  anuos  pependerant  casuro  similes  et  nunquam  ceciderant/*  —  Lessing 
(XI,  432  der  Lachmann-Maltzahnschen  Ausg )  „De  vulpe  quadam  asini  tes- 
ticulos  manducandi  cupida/^  —  Bei  Aldrovandi,  De  Quadrupedibus 
bisulcis  I  (Bologna  1642)  lesen  wir:  „Meuibrum  t^iuri  in  accto  macera- 
tum  et  iiiitum,  splendidam,  teste  secto^  facit  faciem;  Kasis  ait,  genitale 
tauri  rubri  aridum  tritum  et  aurei  pondere  propinatum  mulicri,  fnstidium 
coitus  afierre;  e  contrario  quidam  recentiores,  ut  in  viris  Veuerem  exciteut, 
tauri  membrum  ceteris  hujus  facultatibus  admiscent.^* 


181 

schwänz  wackelt;  so  fallt  er  doch  nicht  ab."  ^  In  der  Hoflftiung 
darauf  rennt  der  Wolf  oder  der  Fuchs  hinter  dem  Schwanz  der 
Kuh  oder  des  Stieres  her.  Folgender  komische  Zug  eines  piemon- 
tesischen  Mährchens,  das  ich  in  meiner  Kindheit  hörte,  klingt 
noch  lebhaft  in  mir  nach :  ein  Knabe,  der  die  Schweine  auf  die 
Weide  trieb,  schnitt  ihnen  die  Schwänze  ab,  steckte  sie  in  den 
Morast  und  machte  sich  mit  den  Thieren  davon.  Als  der  Be- 
sitzer der  Schweine  ihre  Schwänze  sah,  musste  er  denken^  dass 
sie  in  dem  Schlamme  versunken  wären.  Er  zerrt  an  den 
Schwänzen,  die  ihm  in  den  Händen  bleiben,  während  er  die  Kör- 
per nicht  herausfischen  kann.  In  einem  nissischen  Mährchen  bei 
Afanassieff*  lesen  wir,  dass  der  schlaue Klein-Thomas (Thomka, 
Fomka)  den  Priester  um  sein  Pferd  (in  andern  Versionen  um 
seinen  Esel)  betrügt,  indem  er  dessen  Schwanz  abschneidet  und 
ihn  in  den  Schlamm  eines  Morastes  steckt.  Er  macht  den  Prie- 
ster glauben,  dass  sein  Pferd  in  den  Morast  gefallen  ist;  der 
Priester,  um  es  herauszureissen,  thut  einen  gewaltigen  Ruck  und 
fallt  natürlich,  den  Schwanz  in  der  Hand,  auf  den  Rücken;  Tom 
redet  ihm  ein,  dass  er  den  Schwanz  selbst  abgerissen  hat,  und 
rätb  ihm,  zufrieden  zu  sein,  dass  er  wenigstens  noch  so  viel  von 
dem  verlorenen  Thiere  wieder  hat.  In  dem  siebenundfunfeigsten 
gälischen  Mährchen  bei  CampbelP  versucht  ein  Priester  ein  er- 
trinkendes Schaf  aus  dem  Wasser  herauszuziehen,  doch  nur  der 
Schwanz  kommt  heraus,  und  der  Erzähler  fügt  hinzu:  „Wenn  der 
Schwanz  nicht  herausgekommen  wäre,  so  würde  die  Geschichte 
länger  sein.".  So  hat  der  Besitzer  der  Kuh,  deren  Schwanz  der 
Dieb  als  einen  Trost  zurückgelassen  hat,  in  Wirklichkeit  nur 
wenig;  doch  auch  dieses  Wenige  ist  Etwas;  denn  gerade  so  wie 
der  Schuh,  den  das  flüchtige  Mädchen  zurücklässt,  obwohl  nur 
von  geringem  Werth,  den  Helden  in  Stand  setzt,  sie  zu  recogno- 
sciren,  so  hat  in  dem  Schwanz  seiner  Kuh  der  Besitzer  etwas  in 
Händen,  um  sich  damit  auf  die  Suche  zu  machen  und  sein  ver- 
lornes Eigenthum  wiederzufinden ;  entweder  weil  der  Schwanz 
eines  Thieres  gleichsam  sein  Schatten  ist  und  dazu  dient,  es  auf- 
zuspüren, wie  der  Schuh  das  Mädchen  verräth,  indem  er  die 
Fussspur  zeigt;  oder  aber  weil  schwanzlose  Kühe  offenbar  ge- 
stohlene sind.    (In  dem  Mythus  von  Cacus,  in  welchem  Hercules 


'  Wander,  Deutsches  Sn^i-ohwörter-.Lexicon. 

»  V,  8. 

'  Erwähnt  Ton  Köhler  im  Orient  und  Occident 


182 

den  gestohlenen  Ocbsen  dnrch  die  Fussspurcn  auf  die  Spar 
kommt,  nnd  Cacus  sie  an  den  Schwänzen  zieht,  sind  vielleieht 
der  mythische  Schuh  und  der  verlorene  Schwanz  vereinigt.  Es 
ist  möglich,  dass  die  Ochsenschwänze  dem  Cacus  in  den  Händen 
blieben,  als  er  sie  in  die  Höhle  zog;  und  dass  sie,  von  dem  Diebe 
fortgeworfen  und  von  Hercules  gefunden,  ihm  als  Führer  zum 
Wiederfinden  seiner  Ochsen  gedient  haben.  Es  ist  auch  möglich, 
dass  der  von  Hercules  verfolgte  Cacus  nicht  Zeit  hatte,  die  Ochsen 
ganz  hineinzutreiben,  so  dass  ihre  Schwänze  noch  herausragten 
und  sie  verriethen.  Bezüglich  der  römischen  Cacus-Sage  sind 
das  eben  nur  Hypothesen  und  ich  habe  sie  deshalb  in  Parenthese 
geschlossen;  was  aber  das  oben  erwähnte  russische  Mährchen  be- 
triflft,  so  finden  wir  den  Pferdeschwanz  vom  Diebe  abgeschnitten, 
und  da  wir  in  dem  Kapitel  über  den 'Fuchs  den  Fuchs  kennen 
lernen  werden,  der  sich  dadurch  verräth,  dass  er  den  Schwanz 
nicht  einzieht,  woher  auch  das  Sprichwort  kommt:  „cauda  de 
vulpe  testatur'',  sind  die  beiden  oben  beigebrachten  Vermuthungen 
allen  Spuren  nach  nicht  so  unglaublich.  Bei  Pausiinias^  befreit 
sich  der  Held  Aristomenes,  der  in  eine  tiefe  Cisterne  geworfen 
worden  ist,  auf  wunderbare  Weise  vermittelst  eines  Adlers,  nach- 
dem ein  Fuchs  einen  Weg  gebahnt  hat.  Der  Fuchsschwanz  hat 
eine  so  zauberhafte  Anziehuugskraft,  dass  nach  der  Volkssage 
der  Hahn  bei  seiner  Bewegung  herabfällt,  unfähig  dem  Zauber 
Widerstand  zu  leisten.  Nach  dem  Volksglauben  ist  der  Schwanz 
(wie  Nase  und  Mund)  der  glänzendste  Theil  des  Körpers  eines 
Thieres.  Der  grosse  Affe  Hanumant  verbrennt  mit  seipem  feurigen 
Schwanz  La£Lkä  (ebenso  wie  die  brennenden  Fuchsschwänze  des 
biblischen  Simson  die  Erntefelder  der  Philister  verbrennen).  Das 
graue  oder  schwarze  Pferd  der  Mythologie  (welches  das  weisse 
oder  rothe  Sonnenross  verschlungen  hat)  sprüht  Feuer  aus  seinem 
Munde  oder  vom  Schwänze.  Da  dieses  schwarze  Pferd  die  Nacht 
ist,  so  stellen  die  Feuer  sprühenden  Nüstern  und  Schwanz  den 
glänzenden  Abend-  und  Morgenhimmel  dar;  wenn  also  der  Schwanz 
seines  Pferdes  (das  ebenso  wie  der  Stier  und  die  Kuh  vom  Diebe 
gestohlen  ist^)  dem  mythischen  Helden  in  der  Hand  bleibt,  so 
genügt  dieser  Licht  ausströmende  Schwanz,  ihm  die  Auffindung 


'  IV,  15. 

*  Daher  wird  das  oben  erwähnte  Sprichwort:  „wenn  die  Kuh  ge- 
stohlen ist,  verwahrt  man  den  Stall'^  auch  so  angeführt,  dass  das  Pferd  an 
die  Stelle  der  Kuh  gesetzt  wird. 


mm 


183 

des  ganzen  Thieres  zu  ennöglichen,  d.  b.  der  Sonnenheld  kommt 
aus  seinem  Versteck  heraus  (Hannmant  kommt  aus  den  hinteren 
Theilen  des  Meerungeheuers,  der  Zwerg  aus  des  Wolfes  Rücken 
heraus  ^),  der  Stier  Sonne  findet  seine  Kuh  Aurora ;  der  Prinz 
Sonne  die  Prinzessin  Aurora,  der  Bauer  seinen  Esel  oder  seine 
Kuh,  Hercules  seinen  Ochsen  wieder;  das  weisse  Ross  kommt 
aus  dem  Schwanz  des  schwarzen  Rosses  heraus,  von  welchem  es 
verzehrt  worden  war,  und  steigt  dann  vermittelst  des  Schwanzes 
zum  Himmel  auf;^  der  weisse  Stier  kommt  aus  dem  schwarzen, 
die  weisse  oder  rothe  Kuh  aus  der  schwarzen;  der  Schwanz 
kommt  aus  dem  Körper;  der  Held  aus  dem  Sack  oder  dem  Ver- 
steck, in  das  er  eingesperrt  resp.  eingenäht  war.  Der  Sack  spielt 
überhaupt  in  der  Sage  von  dem  verborgenen  oder  verfolgten  Hel- 
den eine  grosse  Rolle;  dieser  Sack  ist  die  Nacht  oder  die  Wolke 
oder  der  Winter ;  der  im  Sack  eingeschlossene  und  in  den  See  ge- 
worfene Held  ist  die  Sonne.  Dieser  Held  und  die  in  einer  Kiste 
oder  einem  Fass  eingeschlossene  (auch,  im  Mythus  von  Pasipha^, 
mit  einem  Kuhfell  bedeckte)  und  den  Wogen  überlassene  Heldin 
sind  mit  einander  gleichbedeutend,  und  ebenso  sind  es  die  im 
Brunnen,  in  der  Höhle,  den  Ställen  und  sogar  in  der  Kuh  einge- 
schlossenen Helden.  Sofern  der  Sack,  in  welchen  nach  dem  oben 
angeführten  Sprichwort  der  sündige  Held  eingenäht  werden  soll, 
das  Fell  einer,  alten  Kuh  oder  einer  schwarzen  Kuh  (der  Nacht) 
ist,  kommen  die  Eier  des  Vogels  Abend,  wenn  sich  diese  schwarze 


^  Vgl.  das  Kap.  über  den  Wolf,  wo  der  Zwerg  durch  den  Rachen  in 
den  Wolf  hinein-  und  am  Schwänze  wieder  herauskommt. 

'  In  einem  russischen  Mährchen  (Afan.  VI,  2)  kommt,  als  der  alte 
Bauer  (die  alt«  Sonne)  aus  dem  Himmel  in  einen  Sumpf  (den  See  Nacht) 
fallt,  eine  Ente  (der  Mond  oder  die  Aurora)  und  macht  auf  seinem  Kopf 
ihr  Nest,  in  welches  sie  ein  El  legt;  der  Bauer  packt  ihren  Schwanz;  die 
Ente  zappelt  und  zieht  den  Bauer  aus  dem  Sumpf  (die  Sonne  aus  der 
Nacht),  und  der  Bauer  fliegt  sammt  der  Ente  und  ihrem  Ei  in  sein  Haus 
zurück  (den  Himmel,  von  dem  er  herabgefallen).  —  In  einer  Variation 
derselben  Erzählung  bei  Afan.  (beide  Erzählungen  gehen  auf  die  von 
Aristomenes  zurück)  fallt  der  Alte  vom  Himmel  in  den  Sumpf.  Ein  Fuchs 
setzt  sieben  junge  Füchse  auf  seinen  Kopf.  Ein  Wolf  kommt,  die  jungen 
Füchse  zu  fressen;  der  Bauer  packt  seinen  Schwanz;  der  Wolf  reisst  ihn 
mit  einem  Ruck  heraus,  beim  zweiten  lässt  er  seinen  Schwanz  in  der  Hand 
des  Bauern.  Der  Schwanz  des  Wolfes  Nacht  ist  die  Morgen- Aurora.  — 
In  dem  Mährchen  von  Elein-Dreh-Erbse  (Afan.  Ill,  2)  kriecht  der  junge 
Held  in  das  Pferd,  nachdem  er  ihm  sein  (schwarzes)  Fell  abgenommen  und 
es  beim  Schwanz  gefasst  hat,  d.  h.  es  wird  das  glänzende  Pferd  der  Sonne. 


184 

Kuh  auf  dieselbeD  setzt,  nm  sie  auszubrüten,  zu  Schaden;  davon 
leite  ich  das  deutsche  Sprichwort  ab:  „Wenn  sich  eine  Kuh  auf 
die  Eier  legt,  so  erwarte  keine  Hühner/*  ^  Und  als  man  beob- 
achtete, wie  die  Nacht  die  Sonne  tiberwältigt  und  sie  den  Blicken 
der  Menschen  entzieht,  fand  das  andere  Sprichwort  seine  Ent- 
stehung: „Die  schwarze  Kuh  hat  ihn  bewältigt."  ^  pje  schwarze 
Kuh  unterdrückt  nicht  allein  den  Helden,  sondern  schliesst  ihn 
auch,  wie  der  Wolf,  in  ihr  eigenes  Fell,  ^  ihren  eigenen  Sack  ein, 
d.  h.  verschlingt  ihn  —  den  Sack  füllen  ist  dasselbe  wie  den 
Körper  füllen,  ebenso:  den  Sack  leeren  dasselbe  wie  den  Körper 
leeren.  In  dem  piemontesischen  Mährchen  von  dem  Zwergkinde 
(dem  norwegischen  Schmierbock),  welches  der  Wolf  in  den  Sack 
einsperrt,  *  kommt  der  Zwerg  aus  dem  Sack  heraus,  während  der 
Wolf  seinen  Körper  entleert.  Von  zwei  russischen  Mährchen  bei 
Afanassieff,  auf  die  wir  in  dem  Kapitel  über  den  Wolf  näher 
eingehen  werden ,  zeigt  uns  das  eine  den  Wolf,  der  den  Bauer 
in  einen  Sack  steckt,  und  das  andere  den  Wolf,  der  den  Zwerg- 
Helden  in  seinen  Körper  steckt;  beide,  Bauer  wie  Zwerg,  retten 
sich.  Die  beiden  Variationen  gingen  von  der  Vergleichung  aus, 
die  sich  zwischen  dem  Körper  und  einem  Sack  bot,  welche  also 
in  der  Sprache  des  Mythus  identisch  sind.  Das  Fell  des  schwar- 
zen Stieres,  der  schwarzen  Kuh,  des  schwarzeö  oder  grauen 
Pferdes  oder  Wolfes  und  der  Sack,  der  den  Helden  oder  den 
Teufel  umhüllt,  spielen  in  der  indogermanischen  Volkssage  eine 


'  In  dem  russischen  Mährchen  vom  dummen  und  faulen  Emil,  der 
Glück  hat,  wird  der  Held  in  ein  Fass  mit  der  Heldin  eingeschlossen  und 
in  den  See  geworfen:  die  Sonne  und  die  Aurora,  zu  Gefangenen  gemacht 
und  zusammen  eingeschlossen,  durcheilen  miteinander  den  See  Nacht. 

*  Wander,  Deutsches  Sprichwörter-Lexicon. 

*  In  dem  russischen  Mährchen  bei  Afan.  V,  oiy  tödtet  der  Held  da» 
Schlangenungeheuer,  indem  er  mit  ihm  um  sein  eigenes  Fell  Hpirlt.  Für 
den  Fall,  dass  er  verlieren  sollte,  hat  er  sich  mit  sieben  Ochscnfcllen  und 
eisernen  Klauen  versehen.  Er  verliert  sieben  Mal;  jedes  Mal  glaubt  das 
Ungeheuer  ihn  in  dir  Gewalt  zu  haben,  doch  immer  macht  ihm  der  Held 
weiss,  dass  das  Ochsen  feil  sein  eigenes  sei.  Schliesslich  verliert  die  Schlange 
und  der  Held  zieht  ihr  wirklich  mit  seinen  eiseriien  Klauen  das  Fell  ab, 
worauf  sie  stirbt.  Dem  Ungeheuer  den  Sack  oder  das  Fell  abnehmen,  das 
Fell  des  Schlangenungeheuers,  der  Ziege,  des  Schweins,  des  Frosches  etc. 
verbrennen,  den  Zaubermantel  oder  die  Zauberkappe,  in  welche  der 
Held  gehüllt  ist,  verbrennen   heisst  dasselbe,   wie:   das  Ungeheuer  tödten. 

*  Siehe  das  Kapitel  über  den  Wolf. 


185 

grosse  Kolle.  ^  Aus  dem  Sack  des  Leichenstorches  (der  Nacht) 
kommen  in  einem  russischen  Mährchen  *  zwei  junge  Helden  (die 
Agvins),  die  üeberwinder  ihrer  Feinde,  heraus,  welche  das  Tisch- 
tuch der  Fülle  (Aurora)  ausbreiten,  und  ein  Pferd,  das  Gold  fallen 
lässt  (die  Sonne).  Der  in  dem  Sack  oder  dem  Kuhfell  einge- 
schlossene und  in  das  Wasser  geworfene  Held  entrinnt  dem  Schiff- 
bruch in  eben  der  Weise  wie  jene  Seefahrer  des  Chinesischen 
Meeres,  die  Benjamin  von  Tudela  in  seinen  Reisen  beschrieben 
hat,  und  welche,  wie  er  sagt,  bei  einem  Schiffbruch  sich  dadurch 
retteten,  dass  sie  sich  mit  dem  ganzen  Fell  einer  Kuh  oder  eines 
Ochsen  bedeckten;  denn  die  Adler  hielten  sie  für  wirkliche  Thiere, 
nahmen  sie  in  ihre  Klauen  und  brachten  sie  ans  Land.  Das 
Schiff  mit  dem  Bttffelfell  findet  sich  in  Volksmährchen  wieder. 
Es  ist  dies  offenbar  eine  Erinnerung  an  die  mythische  Abstam- 
mung (von  welcher  vielleicht  später  die  Idee  der  Tortur  abge- 
leitet wurde,  wie  in  dem  berühmten  Stier  des  Fhalaris,  in  welchem 
Viele  ein  Symbol  des  Wassergottes  sehen,  wie  in  dem  Stierfell, 
in  welches  der  Tetrarch  Acarnides,  von  Memnon  besiegt,  eingenäht 
wurde,  *  und  wie  im  Mittelalter  nach  den  Chroniken  der  grau- 
same Herzog  von  Spalato,  Euroia,  den  Präfecten  Kaiser  Sigis- 
munds,  Paulus  Chuporus,  in  ein  Ochsenfell  einnähen  Hess,  um 
sich  dafür  zu  rächen,  dass  ihn  jener  aus  Verachtung  mit  Brüllen 
wie  ein  Ochse  begrtisst  hatte).  Ebenso  verhält  es  sich  mit  dem 
celtischen  Helden  Brian,  *  dem  vorgeblichen  Narren,  der  auf  die 
Dummheit  der  als  weise  renommirten  Leute  spekulirt.  Als  einer 
von  diesen  sogenannten  Weisen,  den  er  betrogen,  vorschlägt,  ihn 
in  einem  Sack  ins  Wasser  zu  werfen,  lässt  er  durch  einen 
witzigen  Einfall  einen  Andern  seinen  Platz  einnehmen,  während 
er  selbst  mit  einer  ganzen  Heerde  Rindvieh  an  das  Ufer  zurück- 
kommt In  den  übrigen  celtischen,  slavischen,  deutschen  und 
italienischen  Variationen  dieser  Erzählung  fängt  das  Glück  des 
vorgeblichen  Narren  damit  an,  dass  er  einige  Münzen  in  das  Fell 
seiner  todten  Kuh  steckt  und  es  dann  zu  einem  sehr  hohen  Preise 
verkauft,  indem  er  es  fttr  eine  Börse  ausgiebt,  die,  so  oft  sie  ge- 


*  Für  die  deutsche  Sage  vgl.  Simrock,  Handbuch  der  deutschen 
Myth.  p.  199. 

>  Afan   II,  17. 

'  Acarnidfs  insutus  pelle  juvenci;  Ovid,  Ibis. 

*  Köhler,  Ueber  T.  P.  Campbell's  Sammlung  gälischer 
Mährchen  im  Orient  und  Occident.  —  Vgl.  Nr.  80  der  Novel  Un^ 
di  San  Stefano  di  Üalcinaia. 


I 

i 


186 

schüttelt  wird,  Gold  giebt,  während  er  nach  einer  andern  Version 
mittelst  einer  leichten  Täuschung  Jemandem  einredet,  sein  Esel 
oder  Pferd  gebe  Gold  und  Silber,  und  viel  Geld  dafür  bekommt. 
Mit  der  Kuh  hängen  auch  die  beiden  Hörner  zusammen,  durch 
deren  Blasen  er  seine  Frau,  die  sich  todt  stellt,  in's  Leben  zurück- 
ruft ;  diese  Hörner  weiss  er  seinen  Brüdern  oder  Geführten  so  an- 
zupreisen, dass  sie,  die  sich  selbst  für  ungeheuer  schlau  halten 
und  vermittelst  der  Hörner  mit  Leichen  zu  spekuliren  denken,  ^ 
sie  ihm  theuer  abkaufen  und  anfangen  die  Leute  todtzuschlagen, 
wodurch  sie  sich  selbst  ins  Unglück  stürzen.  Ich  habe  oben  ge- 
sagt, dass  der  Sack,  in  welchen  der  Held  gemeiniglich  gesperrt 
wird,  mit  der  Kiste  identisch  ist,  in  welche  die  Heldin  gewöhn- 
lich wegen  ihrer  Schönheit  eingeschlossen  wird,  d.  h.  in  welcher 
die  schöne  Heldin  ihren  Glanz  verbirgt  oder  in  welcher  die  rothe 
Kuh,  die  Abend-Aurora,  mit  der  Sonne  sich  verliert.  Der  Inhalt 
des  vierzehnten  schottischen  Mährchens  bei  Campbell  ist  etwa 
folgender:  —  Ein  König,  dessen  erste  Gemahlin  (die  Morgen- 
Aurora)  gestorben  ist,  beschliesst  das  Weib  zu  heirathen,  dem 
die  Kleider  der  verstorbenen  Königin  gut  sitzen,  findet  aber  keine 
Einzige,  die  sie  tragen  könnte,  ausser  seiner  eigenen  Tochter 
(der  Abend- Aurora).  Sie  lässt  sich  von  ihrem  Vater  goldene  und 
silberne  Gewänder  und  Schuhe  geben  (d.  h.  sie  Erhält  von  ihrem 
Vater,  der  Sonne,  den  Glanz  der  Morgen-Aurora);  sie  schliesst 
sich  mit  diesen  in  eine  Kiste  und  lässt  sich  ins  Meer  werfen. 
Die  Kiste  treibt  auf  den  Wogen  umher  und  kommt  schliesslich 
ans  Ufer;  das  schöne  Mädchen  tritt  in  den  Dienst  eines  jungen 
Königs;  sie  zeigt  sich  mit  ihren  glänzenden  Kleidern  in  der 
Kirche ;  der  junge  König,  der  in  dieser  schönen  Prinzessin  seine 
Dienerin  nicht  wiedererkennt,  verliebt  sich  in  sie  und  eilt  ihr 
nach;  sie  flieht  und  verliert  ihren  goldenen  Schuh;  der  König 
findet  ihn  und  probirt  ihn,  um  sie  zu  entdecken,  jedem  Mädchen- 
fuss  an ;  Viele  schneiden  sich  die  Zehen  ab ,  damit,  der  Schuh 
passe,  doch  ein  Vogel  macht  den  Betrug  offenbar;  der  junge 
König  heirathet  das  schöne  Mädchen,  das  aus  der  Holzkiste  ge- 
kommen ist.  Hier  -haben  wir  nicht  allein  die  Heldin  wieder,  die 
entschlüpft,  sondern  auch  die  wandelnde  Heldin;  diese  Heldin  ist 
die  Aurora  und  die  Aurora  ist  oft  eine  Kuh.  Eine  andere  schnelle 
Kuh  rennt  im  Sprichwort  vor  dem  Hasen  (dem  springenden 
Monde)  her,  in  der  Fabel  von  der  Ameise  und  der  Heuschrecke, 


'  Köhler  a.  «  0, 


187 

von  denen  die  erstere  die  Wolke  oder  die  Nacht,  oder  Indra  oder 
die  Aurora  in  der  Wolke  der  Nacht,  oder  die  Erde,  ^  die  letztere, 
die  springende,  den  Mond  darstellt;  die  Ameise  überholt  die 
Heuschrecke  im  Wettlauf,  nicht  weil  sie  sich  schneller  vorwärts 
bewegt,  sondern  weil  die  beiden  Läufer  noth wendig  einander 
treffen  mtlssen  und  deshalb  der  eine  an  dem  andern  vorbei  muss. 
Der  englische  Kinderreim:  „Hey!  diddle,  diddle,  the  cat  and  the 
fiddle,  the  cow  jumped  over  the  moon"  geht  auf  den  Mythus 
von  der  Kuh  zurück,  die  über  den  Hasen  springt  Als  später 
die  Beobachtung  der  Himmelserscheinungen  vernachlässigt  wurde 
und  man  vergass,  dass  die  rennende  Ameise  oder  Kuh  die  Wolke 
oder  die  Sonne  oder  die  Aurora  oder  die  Erde,  und  der  sprin- 
gende Hase  oder  die  Heuschrecke  den  Mond  bedeutete,  sah  man 
nur  noch  einen  gewöhnlichen  Wettlauf  zwischen  Kuh  und  Hasen 
oder  Ameise  und  Heuschrecke  auf  irdischem  Boden;  von  dem 
Mythus  von  den  beiden  Thieren,  die  einander  im  Himmel  treffen 
und  an  einander  vorbeigehen,  wurden  nach  den  verschiedenen 
Charakteren  der  Nationen  oder  Zeitperioden  zwei  Sprichwörter 
abgeleitet  —  eins,  welches  das  langsame  und  unbesonnene  Thier 
verspottet,  das  sich  anraasst,  das  schnelle  im  Wettlauf  zu  über- 
holen, und  ein  anderes,  welches  als  Beweis  für  die  Wahrheit  des 
Satzes  dient :  „Tarde  sed  tute",  wofür  man  italienisch  sagt :  „Chi 
va  piano  va  sano  et  va  lontano"  (Wer  langsam  geht,  geht  wohl 
und  kommt  weit).  Das  erste  Sprichwort  hat  zum  Vater  das 
griechische:  „den  Hasen  mit  einem  Ochsen  jagen",  italienisch: 
„pigliar  la  lepre  col  carro"  (den  Hasen  mit  einem  Karren  jagen) ;  * 
es  bezieht  sich  auf  Mittel,  die  zu  dem  Zweck,  den  man  mit  ihnen  ^ 
erreichen  will,  in  keinem  Verhältniss  stehen.  Wenn  der  Hase 
und  die  Kuh  einander  treffen,  unterdrückt  die  letztere  den  Hasen, 


'  Zu  der  Bildung  dieses  Mythus  von  der  Kuh,  die  über  den  Mond 
geht,  kann  materiell  die  Beobachtung  einer  Mondfinsterniss  beigetragen 
haben,  bei  welcher  die  Kuh  Erde  (im  Sanskrit  bedeutet  go  sowohl  Erde 
wie  Kuh)  wirklich  über  den  Mond  pder  den  Hasen  geht.  Oder  aber:  die 
Wolke  und  die  Nacht,  als  eine  schwarze  Kuh,  geht  sehr  häufig  über  den 
Hasen  oder  Mond. 

'  Nach  russischem  Aberglauben  bedeutet  ein  Hase,  der  zwischen  den 
Bädern  des  Wagens,  in  welchem  ein  junges  Ehepaar  sitzt,  hindurchiäuft, 
Unglück;  nicht  ohne  Grund:  der  Hase  ist  der  Mond;  der  Mond  ist  der 
Beschützer  der  Heirathen;  wenn  er  Hindemisse  in  den  Weg  legt,  kann 
die  Heirath  nicht  glücklich  sein ;  folglich  wurden  iu  Indien  Hochzeiten  bei 
Vollmond  gefeiert. 


188 

wenn  sie  genötbigt  ist,  ihn  aufzuhalten;  wie  wir  oben  sahen,  dass 
sie  die  Vogeleier  zerdrückt,  statt  sie  auszubrüten.  Die  Vorstellung 
von  dem  Ochsen,  der  den  Hasen  jagt,  entstand  ganz  nattTrlich 
aus  der  Vorstellung  von  dem  Ochsen  oder  der  Kuh,  die  den 
Hasen  tiberholt.  Mit  diesen  Sprichwörtern  lässt  sich  vielleicht 
folgendes  deutsche  zusammenstellen:  „Nicht  Alle,  die  Hörner 
blasen,  jagen  Hasen",  das  seine  Spitze  gegen  die  Leute  kehrt, 
welche  auf  leichtem  Wege,  wie  durch  das  Blasen  eines  Homes, 
ein  schwieriges  Unternehmen,  wie  das  Jagen  eines  Hasen,  aus- 
ftlhren  zu  können  glauben;  ebenso  wie  man  in  Deutschland  sagt, 
dass  nicht  alle  Donnerwolken  Regen  geben,  und:  „die  Kuh  muss 
mehr  als  brüllen,  um  viel  Milch  zu  haben"  oder:  „die  Kuh,  die 
viel  brüllt,  giebt  nicht  die  meiste  Milch."  In  der  That:  eine 
Kuh,  die  viel  brüllt,  ist  nicht  gesund,  noch  auch  kann  sie  wäh- 
rend des  Brüllens  fressen  und  Milch  geben ;  so  kann  der,  der  sich 
mit  dem  Blasen  des  Horns  quält,  nicht  zugleich  hinter  dem  Hasen 
herrennen,  wie  das  italienische  Sprichwort  sagt:  „II  can  che  ab- 
baia  non  morde"  („die  Hunde,  die  bellen,  beissen  nicht"),  aus 
dem  einfachen  Grunde,  weil  er,  während  er  den  Mund  öfifeet,  um 
zu  bellen,  nicht  beissen  kann.  Andrerseits  ist  die  Henne,  welche 
gackert,  die,  welche  Eier  legt,  weil  das  Gackern  mit  dem  Munde 
der  Operation  des  Eierlegens  durchaus  nicht  im  Wege  steht;  es 
liegt  hier  keine  Collision  der  Pflichten  vor. 

Das  deutsche  Sprichwort  „Wie  eine  blinde  Kuh  eine  Erbse 
findet"  wird  jetzt  zur  Bezeichnung  einer  Unmöglichkeit  ange- 
wendet; und  doch  findet  in  dem  Mythus  die  blinde  Kuh  (oder  die 
Nacht)  wirklich  die  Erbse  oder  Bohne  (den  Mond),  welche  in 
jeder  Hinsicht  identisch  sind.  Die  Nacht  ist  den  Todten  geweiht; 
für  die  Todten  sind  essbare  Vegetabilien  —  Bohnen,  Wicken,  Erbsen 
und  Kohl  —  lunarische  Symbole  der  Auferstehung  und  Fülle.  In 
dem  neunten  Mährchen  des  vierten  Buches  bei  Afanassieff 
isst  die  Tochter  des  alten  Mannes  und  der  alten  Frau  Bohnen? 
eine  Bohne  fallt  auf  die  Erde  und  wächst  zum  Himmel  auf;  an 
dieser  Bohne  klettert  der  Alte  (die  Sonne)  zum  Himmel  hinauf 
und  sieht  Alles.  In  den  zahlreichen  Mährchen,  in  welchen  der 
junge  Held  eine  Kuh  oder  ein  Kuhfell  verkauft,  finden  wir  fast 
immer  einen  Topf  voll  Bohnen,  von  denen  er  den  Leuten  glauben 
macht,  dass  sie  sich  selbst  kochen  können,  während  er  sie  erst 
gekocht  und  sie  dann  mit  Asche  (der  Finstemiss)  bedeckt  über 
das  Feuer  gestellt  hat;  dieser  Topf  ist  der  Mond.  Die  Erzählungen 
von  dem  Topf,  welcher  der  Hausmutter  gehört,  im  Mahäbha- 


189 

rata;  und  welchen  der  Gott  Kfiscbna,  den  sie  gastfreundlich 
aufgenommen,  wieder  mit  Bohnen  füllt,  und  von  dem  Herrn,  der 
in  einer  noch  unedirten  piemontesischen  Legende,  als  armer 
alter  Mann  verkleidet,  Kieselsteine  in  den  Kessel  der  tronimen 
Wittwe  wirft,  die,  kaum  hineingeworfen,  Bohnen  werden,  invol- 
viren  denselben  Mythus.  Ebenso,  glaube  ich,  ist  ganz  offenbar 
die  Bohne  mit  der  FrHcht  der  trüchte  gemeint,  welche  nach  dem 
Mahäbhärata  der  dankbare  Mann  als  Entgelt  für  die  kleine 
schwarze  Kuh  (krishnadhenukä)  erhält,  die  er  dem  Priester 
gegeben.*  In  dem  englischen  Feenmährchcn:  „Jack  und  die 
Bohnenstange'^  tauscht  Jack  für  seine  Kuh  einige  Bohnen  ein; 
seine  Mutter  (die  blinde  Kuh)  streut  die  Bohnen  aus;  eine  schlägt 
Wurzel  und  wächst  bis  zum  Himmel  auf.  *  Vermittelst  der 
schwarzen,  der  blinden  oder  Trauerkuh,  der  Kuh  Aurora,  die 
während  der  Nacht  schwarz  oder  blind  wird,  findet  der  Held  die 
Bohne  oder  Erbse  der  Fülle  (den  Mond),  vermittelst  deren  er  am 
Morgen  wieder  sehend  und  reich  wird. 

Wir  sahen  statt  eines  schwarzen  Kuhfells  einen  Sack  zur  Be- 
zeichnung der  Nacht  verwandt;  in  ähnlicher  Weise  haben  wir 
statt  dieses  Kubfells  (das  der  Held  verkaufen  geht),  wie  auch 
der  Erbse  oder  Bohne,  den  Topf  — ■  der  arme  Held  findet  den  Mond. 
Das  slavische  Mährchen  von  dem  Töpfer,  der  reich  wird,  und  das 
von  dem  Bruder,  den  man  für  dumm  hält,  der  aber  seinen  Topf, 
in  welchem  die  Bohnen  ohne  Feuer  kochen,  um  einen  hohen  Preis 
verkauft,  sind  Variationen  desselben  Themas.  In  einem  russischen 
Mährchen  bei  Afanassieff^  nimmt  der  Krug  die  Stelle  des 
Topfes  ein,  der  seinen  Besitzer  reich  macht.  Der  arme  Bruder 
zieht  ihn  aus  dem  Wasser;  aus  dem  zerbrochenen  Kruge  kommt 
eine  Ente,  welche  den  einen  Tag  goldene,  den  andern  silberne 
Eier  legt  —  die  Sonne  und  der  Mond  (am  Morgen  brütet  die 
Aurora  den  goldenen  Tag  aus,  am  Abend  die  silberne  Nacht). 

■  Phaläiiäm  phalam  a^noti  tadä  dattva;  Mahabh.  III,  13,  423. 

*  In  der  deutschen  Sage  von  König  Volkmar  (bei  Simrock  a.  a.  O.  p. 
451)  finden  wir  die  Erbsen  in  der  Asche.  In  der  siebenten  der  Contes 
Merveilieux  von  Porchat  haben  wir  den  Topf,  in  welchem  der  Kohl 
gekocht  wird  und  aus  dem  Geld  und  Rcpphühner  herauskommen.  In  der 
sechsten  derselben  Contes  Merv.  sieht  der  mugierige  Junge  ein  Nest 
auf  einer  Ulme  und  möchte  gern  hinaufklettern ;  doch  er  findet  kein  Ende; 
der  Baum  reicht  bis  nahe  an  den  Uimmcl.  Auf  dem  Wipfel  der  Ulme 
befindet  sich  ein  Nest,  aus  welchem  ein  schönes  Mädchen  mit  herrlichen 
Haaren  (der  Mond)  herauskommt. 

»  1,53. 


190 

Wir  haben  noch  die  Sprichwörter  von  der  lachenden  und  der 
spinnenden  Kuh  zu  erklären.  Die  lachende  Aurora  (nachdem  sie 
während  der  Nacht  die  Prinzessin  gespielt  hat.  die  nie  lacht)  und 
die  spinnende  Aurora  (verwandt  mit  dem  Mond,  der  Kuh,  die  mit 
ihren  Hörnern  spinnt)  sind  uns  schon  bekannt.  Die  Aurora  lacht 
am  Morgen  im  Himmel  beim  Anblick  ihres  Gemahls;  so  lacht  in 
einer  zahlreichen  Reihe  von  slavischen,  deutschen  und  italienischen 
Mährchen  die  Prinzessin,  die  nie  lacht,  als  sie  ihren  ihr  vorher- 
bestimmten Gatten  sieht.  *  Das  Sprichwort  von  der  Kuh ,  die 
lacht,  hängt  mit  dem  von  der  Kuh,  die  spricht,  zusammen;  viel- 
leicht deshalb  bringen  Stiere  und  Kühe  (und  andere  Thiere),  die 
sprechen  und  mit  einander  Höflichkeiten  austauschen,  in  einem 
ganzen  Cyclus  von  indogermanischen  Mährchen,  welche  höchst 
gelehrt  von  Benfey  im  Orient  undOccide.nt  unter  dem'  Titel : 
„Ein  Mährchen  von  den  Thiersprachen"  besprochen  worden  sind, 
immer  den  Manu,  der  sie  versteht  und  indiscreter  Weise  ihre 
Unterhaltung  belauscht,  zum  Lachen.  Als  jedoch  der  Mann  aus- 
geplaudert, was  die  Stiere  oder  Kühe  (oder  anderen  Thiere)  zu 
einander  gesagt  haben,  stürzt  er  sich  selbst  ins  Verderben:  die 
Sprache  und  das  innere  Leben  der  Thiere  dürfen  nicht  aller  Welt 
mitgetheilt  werden;  sind  sie  überall  bekannt,  so  Ist  das  ein 
schlimmes  Vorzeichen.  Was  die  Prinzessin  des  russischen  Mähr- 
chens zum  Lachen  bringt,  ist  der  Anblick  der  Höflichkeit,  welche 
die  Thiere,  als  ob  sie  Menschen  wären,  dem  aus  dem  Sumpfe  ge- 
zogenen Manne  erweisen;  was  den  Mann,  der  die  Thiersprache 
versteht,  lachen  macht,  ist  der  Anblick  ihres  Verhaltens  zu  einan- 
der und  ihrer  Unterredung,  die  genau  so  sind  wie  bei  Menschen 
unter  ähnlichen  Verhältnissen.   Dieses  Geheimniss  verrathen  heisst 


'  In  dem  Mährchen  bei  Afan.  VI,  58  fallt  der  ehrsame  Handwerks- 
mann, als  er  seine  Augen  auf  die  Prinzessin,  die  nie  lacht,  heften  wiU,  in 
einen  Sumpf;  der  Fisch,  der  Käfer  und  die  Maus  reinigen  ihn  wieder,  aus 
Dankbarkeit;  darauf  lacht  die  Prinzessin  zum  ersten  Mal  und  heiratfaet 
den  ehrsamen  Arbeitsmann.  In  der  fünfundzwanzigsten  der  Novelline 
di  San  Stefano  findet  sich  etwas  Analog« s;  doch  reicht  das  nicht  hi^, 
die  Prinzessin  zum  Lachen  zu  bringen;  die  Adler,  die  Alles,  was  sie  be- 
rühren, nach  sich  ziehen,  sind  es,  die  das  Wunder  vollbringen,  der  Tochter 
der  Königin  ein  Lachen  abzugewinnen.  In  der  dritten  Erzählung  des 
Pentamerone  lacht  die  Prinzessin,  als  sie  Pervonto  von  dem  Bündel 
Holz  fortgetragen  sieht,  statt  dass  er  es  trägt.  *Die  russischen  Mährchen 
von  den  Enten,  die  den  Heiden  retten,  bei  Afan.  VI,  17—19,  und  dem 
treulosen  Weibe  und  seinem  Liebhaber,  die  zusammengebunden  werden, 
sind  Variationen  der  Adler  des  toscanischen  Mährchens. 


191 

sich  den  Tod  wttnachen.  Kein  Mensch  darf  wissen,  was  aer  Stier 
heimlich  zur  Kuh,  was  Soi  zu  seiner  Gebieterin  gesagt,  was  der 
König  der  Königin  ins  Ohr  geflüstert  hat.  Wer  die  Geheimnisse 
der  Venus  verletzt,  ist  des  Hochverraths  schuldig  und  verdient 
Todesstrafe  oder  bringt  wenigstens  Unglück  auf  sein  eigen 
Haupt  Wehe  der  Heldin,  wenn  der  in  einem  Thierfell  verborgene 
Held  wegen  einer  kleinen  Indiscretion,  oder  weil  sie  zu  ihren 
Schwestern  geplaudert,  sich  nackt  in  seiner  Menschengestalt  zeigt ; 
sie  verliert  ihn  und  ihre  Trennung  ist  unvermeidlich. 

Wir  sind  schon  mit  der  Wolkenkuh   und  dem  Wolkenstier 
bekannt;  die  Wolke  donnert,   der  Stier  brüllt  und  spricht.    Die 
Wolken  (vedisch  gnä  devapatni,  gnä  devi^),  die  Göttin- 
nen oder  göttlichen  und  wissenden   Weiber,    die  Fee-Göttinnen 
(Frauen  mit  ihren  Vorahnungen,  die  Frauen,  die  mehr  als  der 
Teufel  wissen),  sind  auch  prophetische  Kühe;  diese  Kühe  sprechen 
in   ihrem   Charakter   als  Feen    mit,   menschlicher   Stimme,    und 
ebenso  die  Wolkenstiere.  Daher  konnten  die  Römer  einen  Ochsen, 
der  mit  Menschenstimme  sprach,   als   ein  Angurium  betrachten. 
Man  hat  behauptet,  dass  es  ein  unglückliches  Omen  war,  doch 
ist  das  ein  Irrthum.    Nach  Livius  setzte  unter  dem  Consulate  des 
Cn.  Domitius  und  L.  Qüintius  ein  Ochse  Kom  in  Schrecken  durch 
die   Worte:   Cave  tibi,  Roma.     Diese   Worte   scheinen   eine 
schlimme  Bedeutung  zu  haben,  sind  jedoch  in  Wirklichkeit  nichts 
weiter  als  ein  freundschaftlicher  Rath   oder  eine  Mahnung,   die 
so  viel  sagen  will  als :  Achte  auf  deine  ländlichen  Beschäftigungen, 
0  Rom !  der  Donner  hat  sich  hören  lassen ,  der  den  Sommer  ver- 
kündet.   Wenn  wir  in  dem  fünften  Buche  von  Plinius'  Historia 
Naturalis  lesen,  dass  sich  der  römische  Senat,   wenn  man  er- 
fuhr, dass  ein  Ochse  mit   menschlicher  Stimme  gesprochen  hätte, 
unter  freiem  Himmel  —  sub  dio  .—  zu  versammeln  pflegte,  so 
sehe  ich  in  dieser  Anspielung  und  in  dieser  Handlungsweise  des 
Senats  nur  den  Ausdruck  des  Gedankens,   dass  das  Hören  des 
Donners  (d.  h.  des  Ochsen,  der  spricht)  ein  Zeichen  des  Sommers 
ist  und  wir  aufs  Land  geben  und  unter  freiem  Himmel  schlafen 
können.    Wenn  endlich  nach  Eusebius  ein  Ochse  sagte,  dass  bei 
dem  Tode  Cäsars  (der  bekanntlich   an   den  Iden  des  März  statt- 
hatte, d.  h.  im  Beginn  des  Frühlings)   mehr  Getreidehalme  als 
Menschen  sein  würden,  so  sehe  ich  auch  darin  eine  ganz  augen- 
fällige Verkündigung  des  nahenden  Sommers,  in  welchem  Men- 

«  Rigv.  V,  46,  ö;  V,  43,  6;  I,  61,  8. 


192 

gehen  oder  Schoitter  gewiss  nie  zn  zahlreich  und  sogar  rar  sind, 
wenn  die  Ernte  gross  ist  Der  Ochse  mit  der  Menschenstimme^ 
der  die  nahe  Ankunft  des  Sommers  kund  macht,  entspricht  dem 
Kukuk,  dessen  Rolle  in  der  Sagenwelt  wir  ein  eigenes  Kapitel 
widmen  werden.  Vor  der  Hand  führen  wir,  um  unsere  Identi- 
ticirung  zu  stützen,  hier  den  fast  sprichwörtlich  gewordenen  Vers 
Theocrits  an:  Weiber  wissen  Alles,  selbst  wie  Zeus  die  Hera 
heirathete  (oder  was  der  König  der  Königin  ins  Ohr  sagte).  Zeus, 
in  einen  Kukuk  verwandelt,  flog  auf  den  Berg  und  Hess  sich  auf 
den  Schoss  der  Hera  nieder,  welche  ihn,  um  ihn  vor  der  Kälte 
zu  schützen,  mit  ihrem  Gewände  bedeckte.  Der  Kukuk,  oder 
Zeus,  verschwindet  bald  nachdem  er  gesprochen,  d.  h.  die  Sommer- 
liebe der  Öonne  verkündet  hat.  Nach  Johanni  zeigt  sich  der 
Kukuk,  der  im  März  erscheint,  nicht  mehr;  so  büsst  der  Ochse, 
bald  nachdem  er  gesprochen  und  die  Liebe  des  Zeus  verrathen 
oder  bald  nachdem  die  Wolke  gedonnert  hat,  der  Ochse,  der  die 
geheime  Liebe  der  Sonne  in  dem  mit  Wolken  bedeckten  Himmel 
oder  die  vertraulichen  Gespräche  und  den  verstohlenen  Liebes- 
wechsel der  Thiere  enthüllt,  diese  seine  Indiscretion  mit  dem 
Tode.  Wie  die  Aurora  in  den  vedischen  Hymnen  durch  ein  Mäd- 
chen dargestellt  wird,  das  nicht  lacht  und  nur  lächelt,  als  es  den 
Gatten  sieht,'  so  wird  der  Blitz,  der  die  Wolken  zerreisst  und 
dem  Donner  vorhergeht,  mit  dem  Lachen  eines  Ochsen  oder  einer 
Kuh  oder  auch  des  Mannes,  der  ihre  Liebe  gesehn,  verglichen. 
So  lange  als  der  Himmel  nur  blitzt  oder  blos  lächelt,^  giebt  es 
kein  Unglück.  Niemand  kann  bis  dahin  wissen,  warum  der  Ochse 
oder  die  Kuh,  der  Held  oder  die  Heldin,  oder  die  dritte  Person, 
welche  zusieht,  lacht;  doch  als  der  Held  oder  die  Heldin  spricht 
und  den  Gedanken  oder  das  Sonderbare,  was  sie  oder  ihn  zum 


>  In  den  Nibelungen  grüsst  Knaihilt,  ,,diu  nie  gruozte  recken^S 
zum  ersten  Mal  den  jungen  Sifrit,  den  siegreichen  und  vorbestiinmten  Hei- 
den, und  als  sie  ihn  grüsst,  „do  erzunde  sich  sin  varwe^^ 

*  Du  Gange  s.  v.  Ab  ocellus:  Auctor  Spicil.  Dnemonolat  narrat  de 
quodam  chcco  vaccarum  custode,  quod  ».colores  et  staturam  vaccarum  sin- 
gularium  specialiter  discerneret**,  qua  facultate,  „quam  daemonum  ministe- 
rio  habuerat",  suseepto  confirmationis  sacramento  privatus  est.  Der  blinde 
Held,  welcher  sieht,  welcher  seine  Kühe  von  einander  unterscheidet,  ist 
die  Sonne  in  der  Wolke.  Kaum  hat  er  die  Firmelung  (eine  zweite  Taufe) 
erhalten,  als  er  aufhört,  seine  Kühe  zu  sehen,  aus  dem  einfachen  Grunde, 
weil  die  Wolken  in  Regen  aufgelöst  sind  oder  weil  er  selbst  sein  Geheim- 
niss  verrathen  hat. 


«  ■ 


193 

Lachen  bringt,  yerräth,  ist  der  Tod  die  Strafe  der  Indiscretion; 
die  Donnerwoike  wird  sogleich  in  Kegen  aufgelöst.    Auch  wird 
meine  Identificirung  der  Wolke,  die  blitzt  (mit  Unterscheidung 
zwischen  dem  Blitz  und  dem  Donnerkeil),  mit  der  lächelnden  Kuh 
oder  dem  Ochsen  oder  dem  Mann,  der  die  Sprache  der  Thiere 
versteht  und,  als  er  ihre  Vertraulichkeiten  sieht,  lacht,  nicht  ge- 
zwungen erscheinen,  weon  wir  bedenken,  dass  unsere  Sprache 
die  metaphorischen  Ausdrücke:  ein  Freudenstrahl,  ein  Blitz   der 
Freude  bewahrt  hat,  um  ein  Lächeln  zu  bezeichnen,  von  welchem 
wir  sagen :  es  erglänzt,  leuchtet  oder  blitzt.    Blitz  ist  das  Lächeln 
der  Wolke;  Mond  und  Aurora  sind  das  Lächeln  der  Nacht,   der 
laohende  Fisch  und  die  lachende   Prinzessin.    In   dem   neunten 
Mährchen  des  dritten  Buches  bei  Afanassieff  treffen  wir  einen 
Fisch,  der  dem  Beschauer  ins  Gesicht  lacht  (die  Wolke,  die  blitzt, 
und  auch  der  Mond,  der  aus  dem  Ocean  der  Nacht  hervorkommt) 
und  für  welchen   um  dieser  wunderbai'en  Eigenheit  willen  der 
arme  Mann  (die  Sonne  in  der  Wolke  oder  in  der  Nacht)  von 
einem  reichen  Herrn  eine  ausserordentlich  hohe  Summe,  ja  sogar 
seinen  ganzen  Reichthum  erhält  —  d.  h.  der  arme  Mann  tritt  an 
die  Stelle  des  reichen  Herrn;  die  glänzende  Sonne  nimmt   den 
Platz  der  in  der  Wolke  oder  in  der  Dunkelheit  versteckten  Sonne 
ein.    In  einem  indischen  Mährchen  (Somadeva  I,  5)  lacht  ein 
Fisch,  als  er  in  des  Königs  Zimmer  als  Weiber  verkleidete  Män- 
ner sieht     Im  Tu ti- Name  (U,  21)    lachen   die   Fische,    als 
sie  die  Prüderie  einer  Buhlerin  sehn.    Damit  hängt  auch  die  La- 
fontainesche  Fabel:  „Le  Rieur  et  les  Poissons"  (VIII,  8)  zusam- 
men.   In  der  Sage  von  Merlin  lacht  der  Zauberer  ebenfalls,  weil 
das   Weib  Julius  Caesars    mit   zwölf  als    Weiber   verkleideten 
Helden  lebt  und  weil  sich  dieser  selbst  von  Grisandole,  einer  als 
Ritter  verkleideten  Prinzessin,  hat  fangen  lassen.  ^ . 

Der  Fisch  ist  ein  Symbol  des  Phallus  (im  neapolitanischen 
Dialekt  ist  pesce,  Fisch,  der  Phallus  selbst,  im  Sanskrit  hat  der 
Liebesgott  unter  Anderm  den  Namen  makaradhvaga,  d.  h.  der 
den  Fisch  zum  Emblem  hat).  Der  Fisch,  welcher  lacht,  weil  er 
der  Zuschauer  beim  verbotenen  Liebesgenuss  gewesen,  ist  der 
Phallus  selbst  in  gaudio  Veneris.  Der  Donnerkeil  Indras  ist 
sein  Phallus,  der  die  Wolke  bricht    Bei  Ovid  ^  haben  wir  Jupiter, 


'  VgL  die  Abhandlung  über  Merlin  von  Liebrecht  und   Benfey  im 
Orient  und  Occident. 
«  Fasti  ni,  839. 

OabeniAils,  die  Thiere.  |3 


194 

der  dem  Numa  in  Räthseln  die  Mittel  zeigte  den  Donnerkeil  ^u 
bilden ; 

„Caede  caput,  dixit,  cui  rex,  Parebirous,  inquit, 

Caedenda  est  hortis  eruta  cepa  meis. 
Addidit  hie,  Hominis :  Summos,  ait  ille,  capillos* 

Postulat  hie  animam:  cui  Numa,  Piseis,  ait. 
Hisit;  et  His,  inquit,  facito  mea  tela  procures, 

0  vir  colloquio  non  abigende  meo/^ 

Per  Scherz  mit  dem  Äprilfisch  (le  poisson  d'Avril),  mit  dem 
sich  80  viele  unsrer  Damen  so  geistreich  amtisiren,  bat  eine  etwas 
anrüchige  phallische  Bedeutung.  ^  Die  Fische  des  Zodiakus  sind 
Zwillinge ;  ein  männlicher  und  ein  weiblicher  ^  die  zusammen- 
gebunden sind ;  sie  sind  von  Eros  (Amor)  und  Aphrodite  (Venus) 
geboren.  Im  Adiparva  des  Mahäbhärata  lesen  wir  von  einem 
Fisch,  der  den  Samen  eines  Mannes  verschlingt,  und  voi>  einem 
Mädchen,  das,  als  es  ihn  gegessen,  ein  Kind. zur  Welt  bringt. 
Derselbe  Mythus  kommt  auch  in  den  Volksmährchen  des 
Westens  vor. 

Noch  bleibt  die  Kuh,  welche  spinnt,  zu  erklären.  Wir  sahen 
schon,  dass  die  Kuh  mit  ihren  Hörnern  für  das  Mädchen  spinnt; 
diese  Kuh  ist  gewöhnlich  der  Mond,  welcher  während  der  Nacht 
Gold  und  Silber  spinnt.  Der  Aurora  wird  von  ihrer  Stiefmutter, 
der  Nacht,  befohlen,  sowohl  die  Kuh  (den  Mond)  zu  weiden,  als 
zu  spinnen.  Passt  die  Kuhmagd  auf  ihre  Kuh  auf  und  behütet 
sie  dieselbe  wohl,  so  wird  sie  nur  wenig  spinnen  können;  daher 
hat  das  deutsche  Sprichwort  recht,  das  sagt:  soll  die  Kuhmagd 
spinnen,  wird  man  wenig  Garn  gewinnen.  Die  gute  Kuhhüterin 
zieht  es  vor,  ihre  Kuh  gut  in  Acht  zu  nehmen,  und  erweist  ihr 
jede  Aufmerksamkeit,  damit  sie  eine  gute  Weide  finde;  darauf 
steckt  die  dankbare  Kuh  (der  Mond)  Gold  und  Silber  auf  ihre 
Homer,  um  fttr  das  Mädchen  zu  spinnen.  ^  Am  Morgen  erscheint 
das  Mädchen  auf  dem  Berge  mit  dem  Gold-  und  Silbergarn,  mit 
den  goldenen   und  silbernen  Gewändern ,  die  ihm  die  gute  Fee 


4 


*  Vgl.  das  Kapitel  über  die  Fische ;  dort  wird  auch  die  Sitte,  am  Frei- 
tag (died  Veneris)  Fische  zu  essen,  erklärt. 

'In  der  ersten  der  Novelline  di  Sto  Stefano  di  Calcinaia 
sagt  die  Kuhmagd  zu  ihrer  Kuh:  „Kuh,  meine  Kuh,  spinn'  mit  Deinem 
Mund  und  drehe  mit  Deinen  Hörnern;  ich  will  Dir  ein  Bündel  grüne 
Aeste  zurcchtmachon." 


195 

oder  die  gute  Kuh  gegeben.  ^  und  als  die  Alte  die  Kuh  tödtet, 
nimmt  das  Mädchen  ihre  Knochen  und  sät  sie  in  dem  Garten; 
statt  der  Kuh,  wächst  aber  ein  Apfelbaum  mit  goldenen  und 
silbernen  Aepfeln,  von  denen  das  Mädchen  einen  einem  jungen 
Prinzen  anbietet  und  so  zu  einem  Mann  kommt;  während  böse 
Weiber  von  dem  Apfelbaum  geschlagen  werden  oder  sich  durch 
Hörner  entstellt  finden.  Dieses  Apfelmährchen  ist  eine  Variation 
von  dem  Stern,  der  auf  dem  Berge  auf  die  Stirn  des  guten  Mäd- 
chens fällt,  und  von  den  Hörnern  oder  dem  Eselsschwanz,  die  der 
schlechten  Schwester,  welche  die  Kuh  schlecht  behandelt  oder  der 
Madonna  den  Kopf  schlecht  gekämmt  hat,  auf  der  Stirn  wachsen. 
Das  Mährchen  von  dem  guten  Mädchen  und  dem  bösen,  dem 
schönen  und  dem  hässlichcn,  schliesst  damit,  dass  die  hässliche 
und  böse  den  Platz  der  schönen  und  guten  auf  dem  Lager  ihres 
Gemahls  einnehmen  will,  gerade  wie  in  anderen  Mährchen  eine 
schwarze  Wasserfrau  die  schöne  Prinzessin  verdrängen  will;  die- 
ser Schluss  föhrt  uns  auf  die  interessante  Erzählung  von  der 
spinnenden  Berta  oder  Königin  Berta,  wie  sie  genannt  wird. 

In  der  deutschen  Mythologie  haben  wir  die  glänzende  Berchta, 
welche  spinnt,  im  Gegensatz  zu  der  finsteren  und  wilden  Holda 
am  Brunnen  (dem  Wasserweibe  der  Feenmährchen).  Die  erstere 
scheint  (ausser  dem  Monde  als  einer  weissen  Frau,  in  seiner 
Glanzzeit,  der  silbernen  Nacht)  die  Aurora,  der  Frühling  oder  die 
glänzende  Gestalt  des  Himmels  zu  sein;  die  letztere  (ausser  dem 
Monde  in  seiner  finstern  Periode,  Proserpina  oder  Persephone  in 
der  Hölle)  die  schwarze  Nacht,  der  Winter,  die  alte  Hexe.  *  Der- 
selbe Name  wird  den  mannigfaltigen  Erscheinungen  des  finsteren 
Himmels  gegeben,  ganz  so  wie  verschiedene  Erscheinungen  des 
glänzenden  Himmels  einen  entgegengesetzten  Namen  führen.  So 
liegen  in  der  Erzählung  von  Berta  oder  Berchta  Mytben,  die  sich 
auf  Sonne  und  Mond,  auf  Jahr  und  Tag  beziehen. 


'  Das  Mädchen  spinnt  für  seine  Stiefmutter;  die  Fee  giebt  dem  Mäd- 
chen glänzende  Gewänder;  das  Mädchen  webt  Gewänder  für  seineu  Ge- 
mahl: das  sind  lauter  Einzelheiten,  die  in  Eins  verschmolzen  werden.  In 
den  Nibelungen  fertigen  die  Jungfrauen  Gewänder  von  Gold  imd 
Perlen  für  den  jungen  Helden  Sifrit. 

*  Holda  oder  Frau  Holle  wird  jedes  Jahr  am  Epiphaniastage  in  Thü- 
ringen verbrannt,  an  welchem  Tage  (oder  vielleicht  besser:  in  der 
Berchtennacht  oder  Bertas  Nacht,  der  vorhergehenden  Nacht)  die  gute 
Fee  die  böse  vertreibt.  Auch  in  England  wird  die  Hexe  am  Epiphanias- 
tage verbrannt.  —  Vgl.  Reinsberg  v.  Düringsfeld,  Das  festliche  Jahr 
p.  19. 

13* 


1 


196 

Berta  spinnt ,  wie  die  Enh  der  Feenmährchen ,  Silber  nnd 
Gold.  Somit  bedeutet  der  italienische  Ausdruck:  die  Zeit,  wo 
Berta  spann,  ist  vorbei,  ^  dass  das  goldene  Zeitalter,  die  Zeit,  in 
der  Gold  in  Ueberfluss  zu  haben  war,  vorbei  ist.  Und  statt  die- 
ses Ausdruckes  bedient  man  sich  in  Italien  auch  noch  eines  an- 
dern, um  ein  Ereigniss  zu  bezeichnen,  das  in  sehr  alte  Zeit, 
eine  weit  vor  Menschengedenken  liegende  Zeit  fällt,  nämlich :  zu 
Zeiten  des  Königs  Pipin.  Da  Königin  Berta  das  Weib  Pipins 
war,  so  stimmt  natürlich  die  Zeit  dieses  Königs  mit  der  fabel- 
haften Aera  seiner  Gemahlin  fiberein,  welche  letztere  vielmehr  die 
Mutter  des  Sagenhelden  Karls  des  Grossen,  der  nach  Tnrpins 
Chronik  lange  Füsse  hatte,  und  seines  alter  ego  Orlando,  als 
des  historischen  Königs  Karls  des  Grossen  war  (eine  neue  und 
glänzende  mittelalterliche  Erscheinungsform  der  Zwillingshelden). 

Berta  hat  einen  grossen  Fuss,  wie  die  Göttin  Freya,  die 
deutsche  Venus,  welche  SchwanenfUsse  hat  Dieser  grosse  Fuss 
ist  es,  der  sie  von  andern  Weibern  unterscheidet  und  ihren  Ge- 
mahl in  Stand  setzt,  sie  wiederzuerkennen  ,•  ebenso  wie  es  der 
Fuss  oder  die  Fnssspur  ist  (die  Sonne  folgt  dem  von  der  Aurora 
eingeschlagenen  Wege),  welche  die  flüchtige  Jungfrau  verräth, 
nämlich  die  Aurora  mit  dem  ungeheuren  Wagen  (dem  ungeheuer 
breiten  Wagen,  der,  wenn  er  über  den  Hasen  geht,  ihn  zerdrücken 
kann.  Frau  Stempe  und  Frau  Trempe  und  die  grossfttssige 
Berta  sind  dieselbe  Person)  —  ungeheuer,  weil  sie  eine  weite 
Strecke  am  Himmel  einnimmt,  wenn  sie  erscheint.  Auf  dem 
Wagen  stehend,  scheint  sie  keine  Füsse  zu  haben  oder  nur  einen 
sehr  kleinen,  einen  unmerklichen  Fuss ;  doch  der  Wagen,  auf  dem 
sie  steht  und  welcher  ihren  Fuss  darstellt,  ist  um  so  grösser; 
wenn  wir  also  den  Wagen  ausser  Spiel  lassen  und  annehmen^ 
dass  sie  zu  Fusse  geht,  so  passt  der  in  dem  Mythus  von  Freya 
und  der  Bertasage  ihr  gegebene  Schwanen-,  Gänse-  oder  Enten- 
fuss  ganz  vortrefflich  zu  ihr,  sofern  sie  beim  Gehen  viel  Raum 
einnimmt.  Und  wenn  wir  sehen,  dass  der  Fuss  (die  Mythen 
sprechen  fast  immer  nur  von  einem  Fuss;  sogar  der  Teufel  ist 
lahm  oder  hat  nur  einen  Fuss)  und  der  Schwanz  eines  Tbieres 
in  der  Mythologie  oft  für  einander  gesetzt  werden,  so  können  wir 
verstehn,  wie  in  einem  russischen  Mährchen*   der  Held,  der  in 


*  Im  Pentameron  I,  9  lesen  wir:  „Passaie  lo  tiempo  che  Berta  filava; 
ma  hanno  apierto  Thaoc^e  li  gattiUe. 
»  Afan.  VI,  2. 


197 

einen  Morast  gefallen  ist;  sich  selbst  befreien  bonnte,  indem  er 
sich  an  den  Schwanz  einer  Ente  anklammerte.  Da  diese  Ente 
die  Aurora  ist  and  einen  weiten  ^  sich  ausbreitenden  Schwanz^ 
wie  einen  grossen  Fuss  hat,  so  kann  sich  der  Sonnenheld  oder 
die  Sonne  9  indem  er  sich  an  ihr  festhält ,  leicht  aus  dem  Sumpf 
Nacht  erheben.  Es  giebt  ein  deutsches  Mährchen;  ^  in  welchem 
die  weisse  Frau  oder  Berta  in  eine  Ente  verwandelt  wird.  In 
einer  andern  deutschen  Sage  ^  haben  wir  statt  der  schwanfOssigen 
Berta  die  Jungfrau  Maria  (welche,  als  Jungfrau^  die  jungfräuliche 
Aurora  darstellt,  immer  rein,  selbst  nachdem  sie  der  Sonne  das 
Leben  gegeben  hat,  gleich  der  Eunti  des  Mahäbhärata,  welche 
den  Karna  zur  Welt  bringt^  das  Eind  der  Sonne,  und  doch  noch 
eine  Jungfrau  ist  Andrerseits  personificirt  sie  gewöhnlich  als 
gute  alte  Frau,  als  Madonna  in  den  Legenden  den  Mond),  die  in 
der  Gestalt  eines  Schwanes  kommt,  den  jungen  Helden,  den  sie 
beschützt,  aus  der  Gefangenschaft  der  Ungläubigen  (Saracenen 
oder  Türken,  hier  der  schwarzen  Dämonen  oder  der  Dunkelheit 
der  Nacht)  zu  befreien  und  zu  Wasser  wie  zu  Lande  zu  entführen 
(die  Aurora  befreit  die  Sonne  aus  der  Nacht). '  Dieselbe  glän- 
,zende  Berta  nimmt  auch  in  der  deutschen  Volkssage  die  Gestalt 
der  heiligen  Lucia  an,  d.  h.  der  Heiligen,  welche,  als  sie  geblendet 
worden,  die  Patronin  der  Sehkraft  wurde.    Von  der  blinden  oder 


'  Vgl.  Simrock,  a.  a.0.p.  409  und  die  neunte  der  Novelline  di  Sto 
Stefano  di  Calcinaia,  in  welcher  das  als  altes  Weib  verkleidete  Mäd- 
chen ton  den  Gänsen  entdeckt  wird,  als  sie  das  Gewand  eines  alten  Wei- 
bes ablegt. 

'  Simrock,  a.  a.  0.  p.  410. 

*  Anch  Wuotan  rettet  den  jungen  Helden,  den  er  beschützt,  auf  einem 
Mantel;  —  es  ist  das  der  fliegende  Teppich,  Mantel,  Hut  oder  Rappe, 
welche  den  Träger  unsichtbar  macht  und  um  welche  die  drei  Brüder 
stritten,  die  auch  als  ein  Tischtuch,  das  sich  selbst  ausbreitet,  dargestellt 
wurde.  So  findet  der  arme  Mann,  der  sein  Euhfell  verkaufen  geht,  den 
Topf  der  Fülle  und  des  Reichthums.  Der  Streit  um  das  Tischtuch  ist 
derselbe  wie  der  um  den  Reichthum,  um  die  schöne  Prinzessin,  welche 
später -getheilt  oder  auch  von  einem  Vogel  oder  einer  vierten  Person,  die 
den  Lowenantheil  nimmt,  entfuhrt  wird.  Wir  dürfen  nicht  die  Fabel  von 
den  Thieren  vergesseu,  die  den  Hirsch  unter  sich  theilen  wollen,  von  dem 
der  Lowe  Alles  nimmt,  weil  er  Löwe  heisst  In  den  Nibelungen 
streiten  Schilbung  und  Nibeluug  mit  einander  um  die  Theilung  eines 
Schatzes;  sie  bitten  Sifrit  ihn  zu  theilen;  Sifrit  löst  die  Frage,  indem  er 
sie  beide  tödtet  und  sich  den  Schatz  selbst  nimmt,  wie  auch  die  Kappe, 
die  ihren  Träger  unsichtbar  macht  (Tarnkappe). 


198 

schwarzen  Kuh  Nacht  wird  die  glänzende  Kuh  Morgen  geboren^  die 
Aurora;  welche  selbst  Alles  sieht  und  uns  Alles  sehen  lässt.  Aus 
demselben  Grunde,  aus  welchem  die  Kuh  oder  Ente,  Berta,  der 
heiligen  Lucia  geweiht  ist,  deren  Gestalt  sie  annimmt,  ist  der 
Stier  (die  Sonne)  dem  hlgen.  Lukas  geweiht,  dessen  Fest  deshalb 
in  Charlton  bei  London  mit  einer  Hornmesse  oder  Ausstellung 
von,  gewöhnlich  geschmückten  und  parfUmirten  Hörnern  gefeiert 
wird. 

In  der  oben  angeführten  indischen  Erzählung  des  Mahä- 
bhärata  will  die  Königin  nicht  bei  dem  alten  blinden  Mann 
schlafen,  sondern  schickt  ihre  Dienerin.  In  den  Reali  di 
Francia  wird  König  Pipin  von  seinen  Baronen  aufgefordert, 
ein  Weib  zu  nehmen,  als  er  „schon  hoch  in  Jahren  ist"  (er  ist 
eine  Erscheinungsform  des  hlgen.  Joseph).  Die  Barone  suchen 
nach  einem  Weibe  und  finden  in  Ungarn  Berta,  die  Tochter  Kö- 
nig Philipps,  „die  schönste  und  schlauste  ßitterfrau,"  oder  Berta 
mit  dem  gi*ossen  Fuss  auf  einem  schönen  und  stattlichen  Ross, 
das  die  Strasse  dahersprengt ,  während  sie  immer  lacht.  Berta 
hat  eine  Magd  Namens  Elisabeth,  die  ihr  in  Allem,  ausge- 
nommen den  Füssen,  gleicht.  König  Pipin  vermählt  sich  mit 
ihr;  als  jedoch  Berta  sieht,  dass  er  so  unansehnlich  ist,  wird  sie 
traurig,  „als  ob  sie  vor  seinem  Alter  gewarnt  wäre."  Als  der 
Abend  herankommt,  legt  sie  ihre  königlichen  Gewänder  ab  und 
Elisabeth  an,  damit  diese  ihren  Platz  einnehme  und  bei  dem 
König  schlafe.^    Daher  die  italienischen   Sprichwörter:  Dar  la 


'  Der  Roman  von  Berta  in  den  Reali  di  Francia  stimmt  in  seinem 
Fortgange  mit  den  Volksmährchen  analogen  Charakters  überein;  das 
falsche  Weib  läset  üich  wirklich  von  König  Pipin  heirathen  und  schickt 
Berta  zur  Ermordung  in  den  Wald;  die  gedungenen  Mörder  haben  Mit- 
leid mit  ihr  und  lassen  ihr  das  Leben.  In  dem  Walde  an  einen  Baum 
gebunden  (gleich  der  vedischen  Kuh),  wird  Berta  von  einem  Jäger  ge- 
funden; aus  Dankbarkeit  arbeilet  sie  (spinnt  und  webt  ohne  Zweifel),  da- 
mit der  Jäger  ihre  Arbeit  in  Paris  um  einen  hohen  Preis  verkaufe.  Unter- 
dessen träumen  ihr  Vater  und  ihre  Mutter,  dass  sie  von  Bären  und  Wölfen 
umgeben  ist,  welche  sie  zu  verschlingen  drohen,  und  dass,  als  sie  sich  des- 
halb in  das  Wasser  stürzen  will,  ein  Fischer  sie  rettet  (im  Traum  hat  das 
Wasser  die  Stelle  des  Waldes  und  der  Fischer  die  des  Jägers  eingenom- 
men). König  Pipin  geht  in  den  Wald,  findet  sie,  erkennt  sie  wieder  und 
heirathet  sie,  während  Elisabeth  lebendig  verbrannt  wird.  Die  Vertauschang 
der  Weiber  kommt  auch  in  einer  reizenden  Form  (mit  einer  Variation  der 
Episode  von  der  in  den  Brunnen  geworfenen  Schönen)  in  der  zwölften  der 
Contes  Merveilleux  Porchats  (Paris  1863)  vor. 


199 

Berta"  (die  Berta  geben)  und  „Pigliar  la  Berta"  (die  Berta  greifen), 
in  der  Bedeutung:  verspotten  und  verspottet  werden.  Doch  sagt 
man  auch  statt  des  ersteren:  ;,Dar  la  madre  d'Orlando'^  (die 
Mutter  Orlandos  geben).  Die  Reali  di  Francia  berichten  uns, 
dass  König  Pipin  von  Elisabeth  zwei  bö^e  Bastards,  Lanfroi  und 
Olderigi,  von  Berta  Karl  den  Grossen  und  eine  andere  Berta,  die 
Mutter  Orlandos  hatte;  jedoch  steht  das  italienische  Sprichwort 
der  mythischen  Wahrheit  vielleicht  näher,  wenn  es  in  Pipins  Weib 
selbst  die  Mutter  Orlandos  erkennt,  so  dass  Karl  der  Grosse  und 
Orlando  Brüder  sind ;  und  wirklich  verrichten  sie  auch  mehre  Tbaten, 
welche  in  der  Sage  von  den  beiden  Brüdern  erwähnt  werden.  In  der 
sogenannten  Chronik  Turpins  ^  sagt  Karl  der  Grosse,  als  Orlando 
stirbt,  dass  Orlando  sein  rechter  Arm  war  und  er  nichts  weiter 
auf  der  Erde  ohne  ihn  zu  suchen  hat;  doch  lebt  er  lange  genug, 
den  Tod  Orlandos  zu  rächen,  und  nach  dieser  Bache  erreicht  das 
Heldenleben  Karls  des  Grossen  mit  einem  Mal  sein  Ende.  In  dem 
Chanson  de  Boland  fühlt  Karl  der  Grosse  ebenfalls  nach 
dem  Tode  seines  Helden,  den  er  rächt,  die  Last  des  Lebens, 
weint  und  rauft  seinen  Bart,  unfähig,  diese  Einsamkeit  zu  ertragen ; 
doch  im  Chanson,  wie  in  den  Reali  di  Francia  erscheint 
Orlando  deutlich  als  der  Neffe  Karls  des  Grossen,  d.  h.  als  der 
Sohn  seiner  Schwester  Berta.  (Wie  die  vedische  Aurora  bald  die 
Mutter,  bald  die  Schwester  der  Sonne  und  der  Agvins  war,  so 
kann  Berta  mythisch  Mutter  oder  Schwester  Karls  des  Grossen 
und  dabei  doch  immer  die  Mutter  Orlandos  sein). 

Es  würde  eine  endlose  Arbeit  sein,  alle  deutschen,  skandi- 
navischen und  celtischen  Sagen  zu  sammeln,  welche  auf  eine  oder 
die  andere  Weise  mit  4em  Mythus  von  der  Kuh  und  dem  Stier 
in  Verbindung  stehn.  Die  auf  dieses  Thema  bezügliche  Literatur 
zählt  nicht  nach  Hunderten,  sondern  nach  Tausenden  von  Bänden, 
von  denen  einige,  wie  z.  B.  das  Nibelungenlied  und  die  Ge- 
dichte von  der  Tafelrunde,  an  sich  schon  fast  die  gesammte, 
so  unendlich  mannigfaltige  Welt  der  Feenmährchen  im  Reime 
umschliessen.  Ich  mnss  mich  also  auf  die  Andeutung  der  allge- 
meineren Züge  beschränken  und  es  fleissigeren  Forschern  über- 
lassen, die  Vergleichungspunkte  im  Einzelnen  und  Genaueren  auf- 


*  Uistoire  de  la  Vie  de  Charlemagne  et  de  Roland  par  Jean 
Turpin,  traduction  de  Alex,  de  Saint- Albin,  Paris  1865,  vorher  das  Chan- 
son de  Roland  Th^rouldes.  —  Vgl.  die  HistoirePoätique  de  Char- 
lemagne, par  Gaston  Paris. 


200 

zustellen.  Ich  schätze  mich,  ich  wiederhole  es,  glttcklich,  wenn 
meine  kurzen  Bemerkungen  deutlich  geüjxg  gefunden  werden,  um 
Andern  die  Mühe  zu  sparen,  den  Aufzug  des  Gewebes  au&a- 
stellen,  dessen  Einschlag  die  Vergleichungen  bilden. 

Aus  dem  bisher  Gesagten  dürften  zwei  wesentliche  Einzel- 
punkte sich  als  klar  herausgestellt  haben:  —  erstens,  dass  die 
Verehrung  des  Stieres  und  der  Kuh  weit  verbreitet  war,  sogar 
bei  nordischen  Nationen ;  ^  zweitens ,  dass  der  mythische  Stier 
und  die  mythische  Kuh  leicht  in  Held  und  Heldin  umgestaltet 
wurden. 

Der  heilige  Charakter,  welcher  der  Kuh  und  dem  Stier  bei- 
gelegt wurde,  wird  femer  zur  Evidenz  erwiesen  durch  ein  skan- 
dinavisches Lied,  in  welchem  bei  Gelegenheit  der  Hochzeit  der 
Thiere  (zwischen  Raben  und  Kranich)  das  Kalb  (vielleicht  der 
Stier)  als  Priester  erscheint  und  einen  schönen  Text  liest. '  Als 
ein  Symbol  der  Zeugungskraft  ist  der  Stier  am  besten  geeignet, 
die  Neuvermählten  einzuweihn;  so  fahrt  im  Atharvaveda  der 
Priester  die  Unerfahrenen  durch  Pormehi  ad  hoc  in  die  My- 
sterien der  Venus  ein ;  so  besassen  im  mittelalterlichen  Indien  die 
Brahmanen  das  jus  primae  noctis,  und  so  finden  wir  in  dem 
Ritual  des  mittelalterlichen  Frankreichs  noch  Bezeichnungen  des 
Priesters  als  pronubus.  Der  schöne  Text,  den  das  Kalb  oder 
der  Stier  in  dem  skandinavischen  Liede  hersagt,  muss  derselbe 
sein,  welchen,  nach  dem  von  Villemarquä  erwähnten  Ceremonial, 
der  Priester,  während  er  sie  mit  Weihrauch  bestreute,  den  Neu- 
vermählten sedentes  vel  jacentes  in  lectulo  suohersagte;' 
so  ist  es  in  einer  lateinischen  Beispielsammlung  (vermuthlich  von 
einem  englischen  Mönche  des  12.  Jahrhundert  verf.),  als  der  Wolf 


'  Liebrecht  bemerkt  in  seiner  Recension  in  der  Academy  zu  dieser 
Stelle:  Gubematis'  proof  of  this,  which  is  mostly  theoretical,  has 
received  striking  confirmation  from  facts  given  in  Holmboe's  Trewtise 
,,0m  Civaisme  i  Europa^*  (in  Vid.  Selskabets  Forhandlinger  for  1866, 
pp.  188—220,  Christiania). 

*  Uhland,  Schriften  zur  Geschichte  derDichtung  und  Sage 

m,  77. 

'  „Seigneur,  bänissez  ce  lit  et  ceuz  qui  s'y  tronvent ;  b^nissez  ees  chers 
enfants;  comme  vous  avez  bdni  Tobie  et  Sara;  daignez  les  b^r  ainsi, 
Seigneur,  afin  qu*en  votre  nom  ils  vivent  et  vieiUissent  et  multipUent, 
par  le  Christ  notre  Seigneur.  —  Ainsi  soit-U.**  Viiiemarquä,  Barias 
Breiz,  Chants  Populaires  de  la  Bretagne,  sixi^me  ^d.  Paris  1867 
p.  423. 


201 

gestorben,  der  Ochse,  welcher  das  Evangeliuin  liest.  ^  Ausser 
bd  HochKeiten  and  Leiobenbegängnissen  erscheint  der  Stier  end- 
lich auch,  wie  im  indischen  Ceremonial;  bei  der  Schwangerschaft 
Gargamelle  isst,  während  sie  Gargantna  in  ihrem  Schoosse  trägt, 
eine  ausserordentliche  Menge  Ealdannen  von  Mastochsen.  ^  Als 
sie  die  Wehen  flihlt,  tröstet  sie  ihr  Oatte  mit  einem  Banemsprich- 
wort  von  Poiton :  „Laissez  faire  enx  qaatre  beufz  de  devänt,"  und 
sie  schenkt  dann  Gargantua  das  Leben,  def  aus  ihrem  linken 
Ohre  kommt  y  ebenso  wie  wir  in  den  slavischen  Mährchen  die 
Helden  aus  den  Ohren  des  Pferdes  kommen  sahen  (oder  des  Esels 
Nacht;  der  gläna;ende  Sonnenheld  kommt  aus  den  Ohren  des 
Esels  oder  des  grauen  oder  schwarzen  Pferdes;  die  Zwillings- 
reiter kommen  aus  den  beiden  Ohren).  Rabelais  fragt,  um  diese 
ausserordentliche  Geburt  zu  erklären :  „Minerve  ne  naqnit-elle  pas 
du  cerveau  par  Taureille  de  Jupiter  ?''  Kaum  ist  Gargantua  ge- 
boren, als  er  mit  lautem  Geschrei  etwas  zu  trinken  verlangt.  Um 
ihm  Milch  zu  gebön,  werden  17913  Kühe  gebracht,  da  die  Brüste 
seiner  Mutter  nicht  genügen,  obgleich  sie,  so  oft  er  saugt,  »^qua- 
torze  oents  deux  pipes  neuf  potöes  de  laict^'  giebt  Dies  ist  der 
Biese  der  Volkssage,  den  die  gigantische  Phantasie  Rabelais'  mit 
grellen  Farben  gemalt  hat,  um  ihn  zur  Zielscheibe  einer  unge- 
heuerü  Satire  zu  machen.  Es  ist  eine  erweiterte  und  humoristische 
Wiedergabe  des  volksthttmlichen  Superiativ  ^  in  literarischer  Form, 


'  Uhland  a.  a.  0.  p.  81.  —  In  dem  französischen  Roman  Renard 
wird  dagegen  bei  dem  nahenden  Tode  des  Fuchses  das  Evangelium  von 
dem  Pferde  gelesen.  Aach  in  deutschen  Sitten  erscheint  der  Stier  als  ein 
Trauerthier.  Wenn  der  an  den  Leichenwagen  gespannte  Gemeindestier 
im  Zuge  stillsteht  und  lurückschaut ,  so  stirbt  bald  wieder  eins  der  Ge- 
meinde. Nach  einem  Volksglauben  sprechen  die  Stiere  und  andere  Stall- 
thiere  mit  einander  in  der  Christnacht.  Eine  Sage  erzählt,  dass  sich  ein 
Bauer  Weihnachten  um  Mittemacht  in  den  Futterbarren  legte,  um  lu  er- 
fahren, ob  in  dieser  hl.  Stunde  die  Stallthiere  mit  einander  reden,  vernahm, 
dass  die  beiden  Stiere  sich  besprachen,  wie  bald  sie  ihn  zu  Grabe  ziehen 
mässten,  und  im  Schreck  darüber  starb.  Es  ist  das  die  gewöhnliche  Indis- 
cretion nnd  ihre  Strafe.  —  Vgl.  Rodihplz,  Deutscher  Glaube  und 
Brauch,  Berlin  1867,  I,  164  und  Menzel,  Die  vorchristliche  Un- 
sterblichkeitslehre, Leipzig  1870.  ~  Wir  haben  die  sprechenden 
Ochsen  femer  in  Pb&dms'  Fabel  von  dem  Hirsch,  der  sich  in  den  StaU 
flüchtet  (II,  8),  wo  der  Herr  „ille  qui  oculos  centum  habet'*  genannt  wird, 

*  Elle  en  mangea  seze  mniz,  deux  bnssars  et  six  tupins;  Babelais, 
Gargantua  I,  4, 

*  Vgl.  Porchat,  Contes  Merveilleux,  Paris  1868. 


202 

dessen  mythischer  Charakter  sich  in  ^em  Fluch  enthüllt,  den  die 
von  ihm  misshandelte  alte  Zwergfee  gegen  ihn  schlendert:  ^^Eine 
Sonne  verzehrt,  um  ihre  Arbeit  zu  verrichten,  eilf  ganze  Monde; 
doch  diesmal  soll  jeder  Mond  die  Arbeit  einer  Sonne  verzehren/' 
Damit  wird  das  aufsteigende  und  absteigende  Leben  des  Sonnen- 
helden angedeutet.  Superlativ  soll  beständig  kleiner  werden,  bis 
es  scheint;  als  ob  er  nahe  daran  wäre,  vollständig  zu  verschwinden ; 
doch  in  diesem  selben  Augenblick  hat  der  Fluch  ein  Ende  und 
er  wächst  aus  einem  Zwerge  wieder  in  den  Armen  seiner  Braut 
zu  einem  Kiesen  an.  ^  So  werden  die  Tage  in  einem  fort  kürzer 
und  kürzer  bis  zur  Wintersonnenwende,  bis  Weihnachten.  Zu 
Weihnachten  wird  die  Sonne  wiedergeboren,  die  Tage  werden 
länger,  der  Zwerg  wird  gross ;  die  Sonne  wird  durch  eine  zwei- 
fache, doch  analoge  Ideenassociation  einmal  jeden  Tag  und  ein- 
mal jedes  Jahr  aus  einem  Riesen  ein  Zwerg  und  aus  einem  Zwerg 
ein  ßiese. 

Und  die  Zwerge  der  Sage  kennen  und  enthttHen  das  mythische 
Wie  und  Warum  ihrer  Umgestaltungen,  da  sie,  obwohl  Zwerge 
und  verborgen,  Alles  sehen  und  erfahren.  Von  dem  wissenden 
Zwerge  All  wis,  seinem  alter  ego  in  Miniaturausgabe,  eriUhrt 
der  mächtige  Thor  in  der  Edda  die  Namen  der  Sonne,  des 
Mondes,  der  Wolken  und  der  Winde.  Der  Mond  heisst  nach 
AUwis,  wenn  er  in  dem  Reiche  der  Hölle  ist  (in  dem  Reiche  des 
Todes,  in  der  Unterwelt,  wenn  er  Proserpina  ist),  ein  Rad,  das 
voraneilt^;  er  scheint  dann  unter  den  Zwergen  (d.  h.  in  der  glän- 
zenden Nacht,  in  welcher  die  Sonne  sich  verbirgt;  er  wird  ein 
unsichtbarer  Zwerg).  Die  Sonne  unter  den  Zwergen  (d.  h.  wenn 
sie  ein  Zwerg  ist)  spielt  mit  Dwalin  (dem  mythischen  Hirsch, 
wahrscheinlich  dem  gehörnten  Mond);  unter  den  Riesen  (d.  h. 
wenn  sie  in    der  Aurora  wieder  zum  Riesen    wird)    ist  sie  ein 


*  Bei  Porchat  wird  Superlativ,  während  er  ein  Zwerg  ist,  in  einen 
Kleiderschrank  eingeschlossen ;  er  ist  eine  männliche  Erscheinungsform  des 
hölzernen  Mädchens,  der  weisen  Puppe,  der  Sonne,  die  in  einem  Baum- 
stamm, in  dem  Baume  Nacht,  in  der  düstern  oder  Wintemacht  ver- 
borgen ist,  voll  von  Geheimnissen,  die  der  kleine  Sonneuheld  aus  seinem 
Versteck  überrascht  Der  Held  in  der  Holle  oder  der,  welcher  vom  Teufel 
erzogen  alle  Art  von  Schlechtigkeit  lernt,  ist  eine  Variation  dieser  viel- 
gestaltigen Idee.  Der  Zwerg  Porchats,  der  aus  dem  Kleiderschrank 
kommt,  stimmt  vollständig  zu  dem  Volksglauben,  der  den  Mann  im  Walde 
auf  einem  Baumstumpf  geboren  werden  lässt,  von  welchem  der  Christbaum 
eine  lebhafte  fieminiscenz  ist. 


203 

lodernder  Brand;  nnter  den  Göttern  (den  Äsen)  ist  sie  das  Licht 
der  Welt.  Die  Wolke,  berichtet  uns  Zwerg  All  wis  weiter,  ist  das 
Schiff  der  Winde,  die  Stärke  der  Winde,  der  Helm  (oder  Hut 
oder  Kappe),  welcher  seinen  Träger  unsichtbar  macht.  Der  Wind 
ist  femer  der  Wanderer,  der  Lärmer,  der  Weiner,  der  Brüller, 
der  Pfeifer  (Niemand  kann  dem  Rufen  oder  dem  Pfeifen  des  Hel- 
den der  Feenmährchen  widerstehn;  das  Brüllen  des  Stieres  macht 
den  Löwen  in  seiner  Höhle  zittern).  In  dieser  gelehrten  Lection 
über  germanisch-skandinavische  Mythologie,  die  uns  Zwerg  AUwis 
giebt,  haben  wir  eine  fernere  Rechtfertigung  für  unsere  Annahme 
des  Uebergangs  von  der  natürlichen  Himmelserscheinung  zu  ihrer 
Personificirung  als  Thier  und  zu  der  Personificirung  des  Thieres  als 
Mensch:  AUwis,  der  Alles  wusste,  hat  uns  das  Oeheimniss. enthüllt. 


§.  6.    Der  Stier  und  die  Kuh  in  der  griechischen  und 

römischen  Sage. 

Wenden  wir  uns  nach  Süden ,  um  auf  griechischem  und  rö- 
mischem Boden  die  mythischen  und  sagenhaften  Gestaltungen  des 
Stiers  und  der  Kuh  aufzusuchen,  so  finden  wir  die  Masse  schätz- 
barsten Materials,  das  hier  in  Betracht  kommt,  statt  gemindert, 
ins  Ungeheuerliche  angewachsen.  Ganz  zu  schweigen  von  den 
reichen  literarischen  Traditionen  Italiens,  des  südlichen  Frank- 
reichs und  Spaniens  im  Mittelalter  (die  nordfranzösischen  sind  oft 
nur  ein  Echo  der  celtischen  und  deutschen),  ganz  zu  schweigen 
femer  von  den  bedeutungsvollen  Traditionen  römischer  Historiker 
und  Dichter  selbst,  von  den  abergläubischen  Vorstellungen  und 
Bräuchen,  wie  von  den  noch  bestehenden  Legenden  auf  dem  halb- 
katholischen,  halbheidnischen  Boden  Italiens,  welche  sämmtlich 
mit  den  frühesten  mythischen  Vorstellungen  geschwängert  sind, 
finden  ¥rir  uns  hier  dem  kolossalen  und  glänzenden  Gebäude 
griechischer  Poesie  oder  Mythologie  selbst  gegenüber;  denn  was 
die  Grösse  und  wirkliche  Originalität  der  griechischen  Poesie 
ausmacht,  ist  eben  ihre  Mythologie ;  sie  ist  es,  welche  jedes  Kunst- 
werk des  griechischen  Genius  mit  dem  Hauche  der  Göttlichkeit 
durchweht  und  ihm  deren  Stempel  aufdrückt.  Der  Dichter  und 
der  Künstler  stehen  fast  immer  in  genauer  Wechselbeziehung  zu 
den  Gottheiten  und  darum  nehmen  sie  oft  einen  so  göttlichen, 
einen  von  Höherem  eingegebenen  Ausdruck  an.  Es  wäre  mithin 
eine  kühne  Anmassung  meinerseits,  wollte  ich  versuchen,  auf 


\i 


204 

einigen  Seiten  die  Seele,  den  Inhalt  dieser  nnendlichen  Mythologie 
im  Extract  darzustellen.  Ich  bin  zudem  so  glttcklicb,  von  der 
Verpflichtung  eines  solchen  Unternehmens  nuch  fttr  entbunden 
erachten  zu  können,  indem  ich  den  Leser  auf  die  gelehrten  ein- 
leitenden Werke  Max  Mttllers  und  George  Goxs  tlber  die  grie- 
chischen Mythen  in  ihrem  V^hältniss  zu  den  andern  Mythologien 
verweisen  kann.  Es  ist  gewiss  möglich,  gegen  die  Erklärungen 
specieller  Mythen,  die  von  diesen  beiden  hervorragenden  Gelehrten 
gegeben  sind,  Einwürfe  zu  erheben,  wie  es  ohne  Zweifel  das 
Schicksal  vieler  der  von  mir  aufgestellten  sein  würde,  wollte  ich 
mich  auf  Erörterungen  im  Einzelnen  einlassen  und  hätten  meine 
Arbeiten  das  Glttck,  einige  Beachtung  zu  gemessen.  Da  ich  mir 
mit  der  Hoffnung  schmeichle,  dass  ich  trotz  gelegentlicher  Ab- 
schweifungen, in  die  ich  mich  für  ein  paar  Minuten  vom  Wege 
ab  verloren,  die  grosse  Strasse  einhalte,  welche  allein  zu  der 
Lösung  der  grossen  Fragen  der  vergleichenden  Mythologie  führt, 
so  erkenne  ich  mit  Dank  die  Arbeiten  Max  MttUers  und  Coxs 
über  griechische  Mythologie,  die  schätzenswerthe  Abhandlung 
Michael  Br^als  ttber  römische  Mythologie,  das  unsterbliche  Werk 
Adalbert  Kuhns  über  den  indogermanischen  Mythus  von  Feuer 
und  Wasser  und  einige  andere  nützliche  Leuchtfeuer  an,  die  ihre 
Lichtstrahlen  klar  und  ungetrübt  durch  die  Wüste  werfen  und 
dem  wissbegierigen  Schiffer  auf  dem  mare  magnum  der  Mythen 
als  treue  Wegweiser  dienen.  Und  weil  das,  was  hier  noch  zu 
thun  ist,  unermesslich  ist  im  Vergleich  zu  dem  Wenigen,  was  gut 
gethan  ist,  so  werde  ich  das,  was  von  meinen  gelehrten  Vor- 
gängern (auf  welche  sämmtlich  ich  vertrauensvoll  meine  Leser 
verweise)  bewiesen  worden  ist,  als  ausgemacht  ansehn  und  mit 
meinen  eigenen  Untersuchungen  vorgehen,  wobei  ich  mich  jedoch 
durchaus  auf  das  zoologische  Gebiet  beschränke,  um  nicht  ausser 
allem  Verhältniss  die  Grenzen  dieses  einleitenden  Kapitels  zu 
überschreiten,  wdches  an  und  für  sich  schon  droht  den  Baum  zu 
beschränken,  den  meine  übrigen  Untersuchungen  in  Anspruch 
nehmen. 

„Bos  quoque  formosa  est''  sagt  Ovid  im  ersten  Buche  d^ 
Metamorphosen,  als  die  Tochter  des  Inachos  von  Jupiter  in 
eine  glänzende  Kuh  verwandelt  wird.  Der  Stier  Zeus  des  Non- 
nus  ist  auch  schön,  als  er  auf  dem  Meere  schwimmt,  indem  et  die 
schöne  Europa  trägt.  Ihre  Brüder  wundem  sich,  warum  Ochsen  ge- 
Itlstet,  Weiber  zu  heirathen;  wir  jedoch  werden  das  gar  nicht  wnndeiv 
bar  finden,  wenn  wir  bemerken,  dass  lo  und  Europa  Doppelgänge- 


205 

rinnen  eines  nnd  desselben  Thieies  sind,  oder  wenigstens  dass  lo 
and  Europa  beide  die  Gestalt  einer  Knb  annahmen  —  die  eine  als 
der  Mond  im  Besonderen, '  die  andere,  die  weitsebanende  Tochter 
Tdephaessas,  der  weitglänzenden,  <  als  ebenfalls  der  Mond  oder 
als  die  Anrora.  Im  ersten  Falle  ist  es  die  Heldin,  die  eine  Kuh 
wird;  im  zweiten  ist  es  der  Held,  der  sich  in  der  Gestalt  eines 
Stieres  zeigt. '  Diese  Gkstaltnngen  sind  jedoch  nur  zeitweilig  nnd 
nicht  in  der  Natnr  begründet,  ebenso  wie  auch  in  den  yedischen 
Hymnen  die  Darstellung  der  Aurora,  des  Mondes  und  der  Sonne 
als  Kuh  und  Stier  nur  eine  yorttbergehende  ist  Die  Kuh  und 
der  Stier  senden  ihr  Kalb  vor  sich  her;  die  Sonne,  der  Mond  und 
die  Aurora  haben  vor  sich  oder  hinter  sich  die  Dämmerung. 
Jupiter  und  Minerva  haben  den  geflügelten  Mercur  zum  Boten; 
nnd  so  konnte  Ovid  singen:^ 

„Mactatar  yacca  Minervao, 
Aliped!  vitulns,  taurus  tibi,  summe  deorum.  * 

Die  Frucht  der  Ehe  los  und  Europas  mit  Zeus  hat  eine 
Ungeheuematur,  wie  die  unheilstiftenden  Töchter  des  Danaus, 
welche,  wegen  ihrer  Verbrechen,  in  der  Hölle  verdammt  sind, 
das  berühmte  Fass  zu  füllen  (die  Wolke),  das  immer  leer  bleibt 
(das  Gegenstück  zu  dem  Becher,  der  im  skandinavischen  Mythus 
nie  leer  wird) ;  wie  femer  Minos ,  der  das  Labyrinth  bauen  Hess, 
der  Richter  der  Unterwelt ,  der  den  Minotanros  mit  Futter  ver- 
sorgte (der  ungeheuerliche  Stier  von  Marathon,  den  zuerst  Hera- 


'  *Ito  yii^  Tj  oaXijvi^  tuok  r^  rav  *A^trav  StdXexrop,     Eustatios. 

*  Vgl.   Pott,  Studien  zur  griechischen  Mythologie,  Leipzig 
1859,  und  Cox  a.  a.  0. 

»  Dionyaiaka  I,  45  flF. ;  III,  306  flF. 

*  Metam.  IV,  754. 

*  In  England  ist,  wie  B<^n  bemerkt,  der  Stier  oder  Ochse  dem  hlgen. 
Lukas  geweiht,  in  Russiand  den  Heiligen  Froh  nnd  Larer.  In  Sicilien  ist 
San  Cataldo,  Bischof  von  Taranto,  Patron  der  Ochsen.  (Die  Notizen  über 
sicilianischen  Volksglauben  in  Bezug  auf  Thiere  verdanke  ich  meinem 
lieben  Freunde  Giuseppe  Pitre.)  In  Toscana  und  andern  Provinzen  Italiens 
sind  Ochsen  und  Pferde  dem  Schutze  des  hig.  Antonius  befohlen,  des 
grossen  Patrons  der  Hausthiere.  Auf  dem  Lande  herrschte  in  Toscana 
die  Sitte,  am  17t en  Februar  Ochsen  und  Pferde  an  die  Kirchthür  zu  führen, 
um  sie  segnen  zu  lassen.  Jetzt  wird,  um  Störung  zu  vermeiden,  nur  ein 
Bündel  Heu  zur  Segnung  gebracht,  welches  dann  den  Thieren  zu  fressen 
gegeben  wird,  um  sie  vor  Schaden  zu  bewahren.  Am  Palmsonntag  wird, 
um  jedes  Uebel  fernzuhalten,  von  den  toscanischen  Bauern  Wachholder  in 
die  Ställe   gethan. 


206 

kies  bezwang;  später  Theseus  tödtete,  ist  nur  eine  spätere  Ersebei- 
nungsform  des  Minotauros),  den  Sobn  seines  Weibes  und  des 
finstern  und  feuchten  schwarzen  Stieres  Poseidon.  Selbst  Ead- 
muS;  der  Bruder  Europas,  nimmt  ein  schltmmes  Ende.  Er  steigt 
in  Oestalt  einer  Schlange  in  das  Reich  des  Todes  hinab.  Aus 
Gutem  wird  Böses  geboren  und  aus  Bösem  Gutes,  aus  Schönem 
Hässliches  und  aus  Hässlichem  Schönes,  aus  Licht  Finstemiss  und 
aus  Finsterniss  Licht,  aus  Tag  Nacht  und  aus  Nacht  Tag,  aus 
Hitze  Kälte  und  aus  Kälte  Hitze.  Jeden  Tag  und  jedes  Jahr 
erneut  sich  der  einförmige  Gegensatz;  die  Schlange  beisst  sich 
immer  wieder  in  den  Schwanz.  Ein  tarentinischer  Vers  des  Ar- 
nobius  drückt  recht  glücklich  diese  himmlischen  Wechselbezie- 
hungen  aus: 

„Taurus  draconcm  geouit  et  taurum  draco." 

So  lesen  wir  in  dem  Roman  Heliodors  (Aethiopica),  dass  die 
schwarze  Königin  Aethiopiens  einem  weissen  Sohne  das  Leben 
schenkte,  d.  h.  die  schwarze  Nacht  gebiehrt  den  weissen  Mond 
und  die  weisse  Morgendämmerung.  Weisse  Stiere  werden  dem 
Zeus  (Dyäus,  dem  Glänzenden),  schwarze  seinem  Bruder  Poseidon 
geopfert,  ja  sogar  ganz  schwarze,  *  nach  dem  homerischen  Aus- 
druck. 

Poseidon  ist  bei  Hesiod  (Theog.  453)  der  älteste  Bruder; 
bei  Homer  (II.  XV,  187)  ist  er  im  Gegentheil  der  jüngste.  Beide 
haben  Recht;  es  ist  die  Frage  nach  dem  Ei  und  der  Henne; 
was  ist  zuerst  geboren,  Finstemiss  oder  Licht?  Der  Sohn  Posei- 
dons, der  Cyclop  Polyphem,  wird  von  Odysseus  geblendet  Da 
Poseidon  den  feuchten,  wolkigen  oder  Nachthimmel  darstellt,  so 
scheint  sein  einäugiger  Sohn  dieser  Himmel  selbst  mit  dem  Solar- 
stem, dem  Auge  des  Himmels,  inmitten  der  Finstemiss  oder  der 
Wolken  zu  sein  (der  Mund  des  Fasses).  Als  Odysseus  seinen 
Sohn  blendet,  rächt  sich  Poseidon  dadurch,  dass  er  Odysseus 
verdammt,  auf  den  Wassern  umherzuirren  (d.  h.  verloren  in  dem 
Ocean  oder  den  Wolken  der  Nacht).  Insofern  ferner  Zeus,  eigent- 
lich der  Glänzende,  oft  von  Homer  als  so  schwarz  wie  die  Wol- 
ken und  als  Woikensammler  *  dargestellt  wird,  wird  er  dem  Posei- 
don, dem  presbytatos  oder  ältesten,  verähnlicht;  und  wirklich  ist 


*   Tav^oi  naftfUXav8£  der  Odyssee;    der  Commentator  erklärt,   dass  die 
Stiere  schwarz  genannt  werden,  weil  sie  die  Farbe  des  Wassers  haben. 

'  Ktlaiytyrj)i'r8(feXrjye(tira  Zev^.     Od.  XIII,  147.  153. 


207 

auch  in  den  ältesten  hellenischen  Mythen  Poseidon  wesentlich  die 
Erscheinungsform  des  Zeus  als  Regengebers.  Als  Poseidon^  in  der 
Gestalt  eines  Stieres,  Pasiphae,  die  Tochter  der  Sonne  und  der 
Gemahlin  des  Minos,  verftlhrt,  erscheint  er  in  weisser  Farbe,  nur 
dass  er  zwischen  den  Hörnern  einen  schwarzen  Flek  hat  ^  Wenn 
dieser  Fleck  auch  klein  ist,  so  genügt  er  doch  seine  finstere  Natur 
zu  verrathen.  So  ersteht  Achelous,  der  von  Herakles  in  Schlangen- 
gestalt besiegt  ist,  wieder  in  der  Gestalt  eines  kampfwüthigen 
Stieres,  dem  Herakles  ein  Horn  abbricht,  ^  welches  er  den  Aeto- 
liem  giebt,  die  davon  Fruchtbarkeit  empfangen  (das  Wasser  des 
Achelous  belTUchtet  das  von  ihm  durchschnittene  Land ;  der  Wol- 
kendrache hielt  das  Wasser  zurück;  Herakles  vernichtet  den 
Drachen,  d.  h.  die  Finstemiss,  und  dieser  erscheint  dann  wieder 
in  Stiergestalt;  als  ihm  die  Hörner  gebrochen  sind,  ist  Frucht- 
barkeit und  Fülle  die  Folge).  Dieses  Ungeheuer  erscheint  wieder 
in  den  beiden  bösen  und  schrecklichen  Stieren  des  Königs  Aietas, 
mit  kupfernen  Füssen  (TavQio  /«AxottocJ«),  welche  dunkelrothe 
Flammen  und  Kauch  athmen  und  gegen  den  Helden  Jason  in 
der  Höhle  vorgehen;  ebenso  wie  der  Affenkönig  im  Rämäyana 
den  dämonischen  Stier  besiegt,  welcher  mit  seinen  Hörnern  kämpft, 
indem  er  die  Homer  selbst  packt  und  ihn  niederwirft;  dasselbe 
thut  Jason  bei  Apollonios.  *  EJenselben  Stier  reitet  auch  der 
junge  Ampelos,  der  dem  Dionysos  theuer  ist  (welcher  ebenfalls 
die  Natur  eines  Stiers  hat,  TcevQtxpvai^i;,  aber  eines  glänzenden). 
Ampelos  lässt  sich  von  der  todbringenden  Ate  (xkcyaTif](p6Qog  "^rtf) 
tiberreden,  diesen  Stier  zu  besteigen  und  wird  von  ihm  auf  einen 
Felsen  geschleudert,  so  dass  sein  Schädel  zerbrochen  wird,  weil 
er  voll  Stolz  gegen  den  gehörnten  Mond  war,  ihn,  der  die  Ochsen 
treibt  und,  beleidigt,  eine  Bremse  schickt,  die  den  Ochsen  toll 
macht  Der  Stier  Dionysos  will  den  jungen  Bruder  Ampelos 
rächen,  indem  er  seine  Hörner  dem  bösen  und  männermordenden 


'  Signatus  tenui  media  inter  comua  nigro 
Una  fuit  labes;  caetera  lactis  erant. 

Ovidius,  De   arte  amandi. 

^  Bei  Di  od  or  liebt  Hammon  die  jungfräuliche  Amalthea,  welche  ein 
Uom  hat,  das  dem  eines  Ochsen  gleicht.  Die  Ziege  und  die  Kuh  sind  in 
den  Mythen  von  dem  Monde  und  den  Wolken  identisch;  deshalb  finden 
wir  auch  beide  in  Verbindung  mit  dem  Apfelbaum,  einer  vegetabilischen 
Form,  und  mit  dem  Füllhorn,  da  beide  Seher  und  Späher  und-Leiter  sind. 
Die  goldene  Rehkuh  ist  eine  Variation  desselben  Mondmythus. 

'Argonaut  III,  410.  1277. 


208 

Stier  in  den  Leib  8töS8t  ^  In  diesem  Mythns  werden  der  Bchwarzei 
Stier  der  Nacht  und  der  Mondstier  zusammengeworfen;  beide 
verrichten  eine  böse  That 

Aus  dem  Ocean  der  Nacht  kommt  da«  Haupt  des  Sonnen- 
und  Mondstieres  herauf ^  und  darum  heisst  bei  Euripides'  der 
Okeanos  der  Stierköpfige  (TovQcxQccvog) ;  oder  auch  das  Haupt  des 
Sonnenstieres  ragt  in  den  nächtlichen  Wald  hinein^  resp  das  des 
Mondstieres  aus  demselben  heraus.  Diese  Erscheinung  erzeugte 
mehre  poetische  Bilder.  Der  Stier  wird  von  den  Ungeheuern  der 
Nacht  verschlungen;  daher  klagt  in  den  Sieben  gegen  The- 
ben des  Aeschylus  (42)  der  Bote  die  sieben  Verzehrer  der  Stiere, 
welche  mit  ihren  Händen  das  Blut  der  Stiere  berühren,  der  Gott-  > 
losigkeit  an;  daher  fliehen  in  der  43sten  äsopischen  Fabel  die 
Hunde  entsetzt  vor  dem  Bauer,  welcher  in  seiner  Gefrässigkeit 
(wie  der  Alte  des  mongolischen  Mährchens,  der  all  seine  KUhe 
frisst),  nachdem  er  Schafe  und  Ziegen  verschlungen,  sich  anschickt, 
sogar  die  „arbeitenden  Ochsen"  zu  verzehren.'  Der  Stierkopf 
oder  sogar  der  Stier  selbst  oder  die  Milchkuh  dürfen  zwar  nicht 
gegessen,  jedoch  geopfert  werden ;  ja,  der  sie  darbringt,  ist  glttck- 
lich  (ausser  wenn  die  Gottheit  Heliogabalus  heisst,  weicher  das 
taurobolium  als  eine  ihm  zukommende  Huldigung  empfängt, 
ohne  den  frommen  Spendern  irgend  etwas  dafür  zu  verleihen.^) 
Nach  Valerius  Maximus  ^  sollte  die  Weltherrschaft  nach  einem 
Orakel  aus  der  Zeit  des  Servius  Tullins  der  Nation  gehören, 
welche  der  Diana  des  Aventinus  eine  gewisse  wunderbare  Kuh, 
die  einem  Sabiner  gehörte,  opfern  würde  (die  Aurora  oder  der 
Mond,  aus  deren  Opfer  die  Sonne  am  Morgen  hervorkommt).  Der 
Sabiner  schickt  sich  an,  sie  zu  opfern,  doch  ein  römischer  Priester 
nimmt  sie  ihm  durch  List,  während  jener  gesandt  wird,  sich  in 
dem  nahgelegenen  Wasser  zu  reinigen.  Es  ist  das  eine  zoolo- 
gische Gestaltung  des  episch-mythischen  Raubes  der  Sabinerinnen, 


'  Nonnos,  Dionys.  XT,  118  ff. 

*  Oreet  1380. 

'  'Ü^a^ofterovg  ßoas,  —  Im  Zwölften  Buche  seiner  Thiergeschichte 
schreibt  Aelian:  ,,Wenn  ein  Phiygier  einen  arbeitenden  Ochsen  tödtet,  so 
büsst  er  es  mit  dem  Leben/*  Und  Varro,  De  Re  Rustic a:  „Bob  socius 
hominum  in  rustico  opere  et  Cereris  minister.  Ab  hoc  antiqui  ita  manus 
abstineri  Toluerunt  ut  capite  sanxerint  si  quis  ocddisset 

*  Scrip tt  Uist  Aug.,  Lampridius  in  vita  UeliogabalL 
»  VII,  3. 


209  . 

des  Tausches  des  Weibes  oder  Werthstückes ,   des   im  Sack  be- 
werkstelligten Tausches. 

Bei    Ovid  \  stellt    sich    derselbe   Mythus    mit    ei^er  Varia- 
tion  ein: 

„Matre  satus  Terra,  monstrum  mirabile,  taunis 

Parte  sui  serpens  posteriore  fuit. 
Httnc  triplici  »uro  lacis  Incluserat  atris 

Parcarum  monita  Styx  violeota  trium. 
Viscera  qui  tauri  flam  mis  adolenda  dedisset, 

Sors  erat,  aetemos  vincere  posse  Deos. 
Immolat  hunc  Briareus  facta  ex  adamante  securi ; 

Et  jam  jam  flammis  exta  dsturus  erat. 
Jupiter  alitibus  rapere  imperat.    Attulit  illi 

Milvus;  et  roeriUs  venit  in  astra  suis/^ 

Wir  werden  in  den  folgenden  Kapiteln  auf  diesen  Mythus 
zurückkommen.  Das  Ungeheuer  wird  erst  getödtet,  als  sein 
Uerz^  das  es  verschlossen  hält^  fortgenommen  ist.  Bisweilen  hält 
es  dasselbe  nicht  im  eigenen  Körper^  sondern  in  einer  Ente  (der 
Aurora)  eingeschlossen,  wekbe  aus  einem  Hasen  (dem  am  Morgen 
geopferten  Monde)  bervorkommt.  -  Als  diese  Ente  geöflnet  wird, 
findet  sich  ein  goldenes  Ei  (die  Sonne).  Als  das  £i  auf'  4en 
Boden  oder  dem  Ungeheuer  an  den  Kopf  geworfen  wird,  stirbt 
das  letztere.  Die  goldene  Ente,  aus  welcher  das  Herz  des  Un- 
geheuers, die  Sonne,  hervorkommt,  ist  identisch  mit  der  Kuh, 
welche  4as  Lamm  gebiehrt  (die  Nacht  schenkt  der  Aurora,  diese 
dem  Sonnenlamm  das  Leben).  Der  Historiker  Fl.  Josephus  führt 
unter  den  Wundem,  welche  der  Zerstörung  des  jerusalemischen 
Tempels  vorhergingen,  ein  ähnlicJies  an,  welches  mitten  im  Tem- 
pel selbst  gesdiab,  als  man  eine  Kuh  zur  Opferung  dorthin  ge- 
fiibrt  hatte.  Dieses  Wundenieiehen  begiebt  sich  noch  jeden  Mar- 
gen am  mythischen  Himmel  imd  war  eine  der  juenschlichen 
Beobachtniig  schon  im  fernsten  Älterthum,  in  welchem  sie  sprich- 
wörtlich wurde,  vertraute  Erscheinung;  doch  wie  so  oft,  wurde 
das  Sprichwort,  das  einen  augeatHllig^n  Mythus  ausdrtiokte,  als 
sein  Verständniss  verloren  ging,  zur  Bezeichnung  einer  Unmög- 
lichkeit angewandt;  so  lesen  wir  denn  in  der  zweiten  Satire 
Jnvenals  (v.  122)  t 


«  Fasti  in,  ÖOO  tf. 
*  Vgl.  Das  Kap.  über  den  Hasen. 
Qnbernatl«,  die  Tbiere.  X4 


210 

„dcilicet  horreres  majoraque  monstra  putares, 
Si  mulier  vitulum  vel  si  bos  ederet  agnum?^^ 

Bei  griechischen  und  römischen  Schriftstellern  '  finden  wir  häu- 
fige Beispiele  von  dem  Opfer  eines  Stieres  kurz  vor  dem  Tode 
des  Helden,  von  dem  es  angeordnet  war,  wobei  es  als  sehr  un- 
glückliches Vorzeichen  galt,  wenn  die  Eingeweide,  und  zwar  be- 
sonders das  Herz  oder  die  Leber  fehlten.  Nachdem  wir  die 
Beobachtung  gemacht  haben,  dass  des  Ungeheuers  Herz  der 
Sonqenheld  oder  die  Sonne  selbst  ist,  können  wir  leicht  ver- 
stehen, wie  dieses  Herz  beim  Opfer  eines  Stieres  fehlen  musste, 
wenn  der  Held  seinem  Ende  naht.  In  dem  am  Abend  geopferten 
mythischen  Stier  ist  das  Herz  des  Helden  nicht  zu  finden;  das 
Ungeheuer  hat  seine  Eingeweide  gefressen,  nach  denen  dasselbe 
der  Sage  nach  besonders  lüstern  ist. 

Doch  der  Stier  lässt  sich  nicht  immer  geduldig  opfern;  er 
flieht  oft,  um  nicht  getödtet  zu  werden.  Wir  haben  in  den  rus- 
sischen Mährchen  gesehn,  wie  der  Stier,  den  sein  Eigenthümer 
zu  tödten  beabsichtigt,  in  den  Wald  flieht,  sammt  dem  Lamm 
(der  Stier  und  das  Lamm  sind  zwei  äquivalente  Erscheinungs- 
formen des  Sonnenhelden  am  Abend  und  am  Morgen)  und  den 
andern  Hausthieren.  Das  Sprichwort  Theocrits:  „Sogar  der  Stier 
geht  in  den  Wald"  *  kann  seinen  Ursprung  nirgend  anders  haben 
als  in  den  beiden  analogen  Mythen  von  dem  Monde,  welcher  durch 
den  Wald  der  Nacht  wandert,  und  der  Sonne,  welche  sich  in 
selbigem  Walde  verbirgt,  als  sie  die  Vorbereitungen  zum  Opfer 
sieht;  die  Sonne  in  der  Nacht  wird  der  Mond. 

Wir  sagten,  dass  oft  der  Stier,  weil  er  beim  Opfer  ohne  Ein- 
geweide gefunden  wird,  dem  Helden  Unheil  prophezeit;  der 
Sonnenstier  des  Abends  ist  kraftlos,  er  hat  keine  Helden-Einge- 
weide. Doch  nachdem  er  im  Walde  auf  freier  Weide  gewesen 
ist,  seine  Kräfte  im  Kampfe  mit  den  Wölfen  der  Nacht  geübt, 
durch  sein  Brüllen  (in  der  Finstemiss,  in  der  Donnerwolke)  alle 
Thiere  mit  Schrecken  erfüllt  hat,  wird  der  Stier  wiedergefunden 
und   zu   seiner  Morgenwohnung  gefiihrt,   voller  Glaoz,  wie   ein 


»  Bei  Flutarch  (vita  Marcelli),  Arriau  und  Appian  unter  den  Griechen, 
bei  Livius,  Cicero  (de  divinatione),  Plinius  dem  Aeltcren,  Julius  Capito- 
linus,  JuliuB  Obsequens  unter  den  Körnern. 

*  "Eßa  xal  nw^og  k  vXav,  XIV,  43.  Bei  Theocrit  will  das  Sprichwort 
besagen,  dass  er  andere  und  treulose  Liebesvorhältnisse  angeknüpft  Kat^ 
auch  er  ist  ein  Verräther. 


211 

geopferter  Held;  Heldeneingeweide  finden  sich  in  ihm;  aus  dem 
schwarzen  Stier,  der  gegen  Morgen  geopfert  wird,  aus  dem  Walde, 
ans  dem  Stier  der  Nacht  kommt  das  Herz,  die  Leber,  die  Lebens- 
kraft, die  Sonne,  der  Held  Sonne  heraus;  und  der  irdische  Held, 
der  sein  Opfer  beobachtet,  betrachtet  es  als  ein  gutes  Vorzeichen. 
In  diesem  Sinne  können  wir  folgende  Erzählung  des  Ammianus 
Marcellinus  auffassen:  „Decimus  (taurus)  difPractis  vincnlis,  lap- 
sus aegre  reductus  est,  et  mactatus  ominosa  signa  monstravit/'  ^ 
Während  der  Sonnenstier  im  Walde  verborgen  ist,  ist  er  schwarz, 
doch  oft  (d.  h.  in  allen  mondhellen  Nächten)  räumt  er  dem  Monde 
den  Platz  und  erscheint  in  Gestalt  eines  weissen  Stieres  resp. 
Kuh,    welcher  den    in   der    Finsterniss  verirrten   Helden   leitet. 
Thoas  heisst  der  König   der  Tauroi  (oder  Stiere)  in  Euripides' 
Iphigenia  in  Tauris,    weil  er   Flügel  an  den  Füssen  hat. 
Die  Kuh   lo  flieht  ohne  Bast  und  Ruh  in  Aeschylus'  Prome- 
theus.  Euripides  *  sagt,  dass  sie  die  Könige  der  Kadmaeer  gebahr. 
Hier  finden  wir  also  noch  einmal  die  innige  Beziehung  zwischen  lo 
und  Europa,  der  Schwester  des  Kadmus,  die  schon  oben  bemerkt 
wurde.  Kadmus,  Europas  Bruder,  vereinigt  sich  mit  lo.  Doch  lo  ist 
eine  Kuh,  und  wir  finden  eine  Kuh,  eine  wandernde  Kuh,  mit  einem 
weissen  Fleck  in  der  Gestalt  eines  Vollmondes  (den  Mond  selbst 
oder  lo),  in  der  Sage  von  Kadmus  in  Böotien   nach  Pausanias.  ^ 
Das  ist  die  gute  Fee  resp.  der  gute  Alte,  welche  den  Helden  in  den 
Volksmährchen  den  Weg  zeigt ;  es  ist  die  Kuh,  die  dem  von  dej 
Stiefmutter  verfolgten  Mädchen  beisteht,  die  Puppe,  welche  für 
die  jungfräuliche  Aurora  spinnt,  näht  und  webt.    Denn  gerade 
wie  wir  sahen,  dass   das   hölzerne   Mädchen   die  Aurora  selbst 
ist,  welche  am  Morgen  aus  dem  Walde  der  Nacht  herauskommt 
und  am  Abend  wieder  dahin  zurückkehrt,^  was  die  Mythen  von 
UrvaQl  und  Daphne  klärlich  zeigen,  so  kommt  in  ganz  gleicher 
Weise  der  Mond  ans  dem   nächtlichen  Walde  und  kehrt  wieder 


'  Rerum  gestarum  XXII.  —  Vgl.  die  Episode  von  dem  Ochsen, 
welcher  sich  in  den  Morast  oder  Sumpf  fallen  lässt,  in  den  verschiedenen 
Versionen  des  ersten  Buches  des  Pan(^atantra.  —  Die  Astrologen  stellten 
das  Qehim  unter  den  Schutz  des  Mondes  und  das  Herz  unter  den- der 
Sonne;  CeloriSi  La  Luna,  Milano  187 i. 

*  KoBfAsicov  ßaailrjae  fyeiv<tto\  Phoen.  8H5. 
'  Bolotia. 

*  In  einem  unedirten  piemontesischen  Mährchen,  welches  sehr  weit  ver- 
breitet ist,  entrinnt  das  von  Bäubern  entführte  Mädchen  deren  Händen 
und  verbirgt  sich  in  einem  Baumstamm. 

14* 


212 

dorthin  znrtick,  indem  er  sieh  auB  einem  Banm  in  eine  Kuh  und 
wieder  ans  der  Kuh  in  einen  ßanm,  ein  hölzernes  Mädchen  oder 
eine  Pnppe  verwandelt.  Einige  auf  die  Aurora  bezügliche  Mythen 
sind  auch  auf  den  Mond  anwendbar  in  Anbetracht  der  Aehnlich- 
keit  dieser  Himmelserscheinungen  (der  Sonnen-  und  der  Mond- 
stier wechseln  ebenfalls  miteinander),  da  sie  beide  aus  dem 
nächtlichen  Düster  kommen,  beide  thauige  Feuchtigkeiten  tropfen 
lassen  und  beide  der  Sonne  nacheilen;  indem  die  Aurora  die 
Befreierin  am  Morgen,  der  Mond  die  Schützerin,  Ftthrerin,  Wirtbin 
und  wohlberathende  Fee  ist,  die  ihr  (der  Sonne)  das  Gebeimniss 
lehrt,  wie  die  hinterlistigen  Anschläge  des  Ungeheuers  abzuwehren 
sind.  Herakles  setzt  über  das  Meer  auf  dem  Nacken  der  Mond- 
kuh; doch  statt  der  Kuh  finden  wir  in  dem  mythischen  Himmel 
des  Herakles  auch  den  goldenen  Becher,  der  identisch  mit  ihr 
ist  Aus  der  Mondkuh  kommt  das  Horn  der  Fülle;  von  dem 
Füllhorn  ist  der  IJebcrgang  zu  dem  Becher  leicht.  Es  heisst, 
dass  Herakles,  als  er  sich  den  Ochsen  des  Geryon,  dem  Westen, 
näherte,  sich  von  den  Sonnenstrahlen  gebrannt  fühlte  und  Pfeile 
nach  der  Sonne  schoss  (ebenso  wie  Indra  im  Kigveda  ein  Rad 
des  Wagens  Süryas,  der  Sonne,  zerbricht).  Die  Sonne  bewundert 
den  Muth  und  die  Kraft  des  Helden  und  leiht  ihm  ihren  gol- 
denen Becher,  auf  welchem  Herakles  über  das  Meer  setzt.  Nach 
dieser  That  stellt  Herakles  der  Sonne  wieder  den  Becher  zu  und 
findet  die  Ochsen. 

Der  Stier  des  russischen  Mährchens,  welcher  den  Helden  und 
die  Heldin  trägt,  erscheint  in  anderer  Gestalt  wieder,  wenn  sein 
Haupttheil  (bald  die  Eingeweide,  bald  die  Knochen,  bald  die 
Asche)  aufbewahrt  wird.  Die  Kuh,  welche  dem  Mädchen  bei- 
steht, wird,  wie  wir  schon  sahen,  ein  Apfelbaum  und  hilft  ihr 
auch  in  dieser  Gestalt  wieder.  Wir  finden  denselben  Mythus 
etwas  umgestaltet  in  Griechenland.  Bei  C  o  e  1  i  u  s  lesen  wir  in  der 
von  Aldrovandi  ^  angeführten  Stelle:  „Cum  rustici  quidam  Her- 
culi  Alexicaco  bovem  essent  immolaturi  isque  rupto  fune  profu- 
gisset  (der  zum  Opfer  bestimmte  Stier  flieht  in  den  Wald  der 
Nacht)  nee  esset  quod  sacrifiearetur,  malum  arreptum  suppositis 
quatuor  ramis  crurum  vice,  deinde  additis  alteris  duobus  ceu 
comuum  loco,  bovem  utcumque  fuisse  imitatos  idque  ridiculum 
simulacrum    pro  victima    sacrificasse    Herculi.*'     Dieser   Bericht 


'  De  Quadrupedibus  bibuIciB  I. 


213 

wird  durch  die  Angabe  des  Julias  Pollux,  ^  dass  der  Apfelbaum 
dem  Herakles  geopfert  wurde,  bestätigt.  Der  Mond  nahm  wegen 
seiner  kreisförmigen  Gestalt  ausser  der  Gestalt  einer  Erbse,  eines 
Kttrbiss  und  eines  Kohlkopfes  auch  die  eines  goldenen  Apfels 
an.  Da  er  Honig  enthält,  so  stellt  der  süsse  Apfel  treffend  den 
ambrosischen  Mond  dar.  Femer  wurde,  ebenso  wie  wir  die  Erbse, 
die  zu  Boden  fiel,  einen  Baum  werden  und  zum  Himmel  auf- 
wachsen sahen,  der  Apfel  ein  Apfelbaum,  der  Baum  mit  gol- 
denen Aepfeln,  der  sich  in  dem  Garten  der  Hesperiden  im  Westen 
findet. 

Der  Mond  nahm  ferner  ausser  der  Gestalt  einer  gehörnten 
Kuh  im  arischen  Volksglauben  auch  die  einer  Torte,  eines  Kuchens 
an,  sei  es  in  Anbetracht  seiner  Kreisgestalt,  sei  es  des  ambro- 
sischen Honigs  wegen,  den  man  als  Inhalt  des  Mondes  vermuthete 
wegen  des  Thaues  oder  Regens,  den  er  auf  der  Erde  verbreitet. 
Der  Kuchen  hat  in  der  slavischen  Sage  dieselbe  Bedeutung  wie 
die  Erbse,  Bohne  oder  der  Kohl.  Der  Stier  resp.  die  Kuh  des  Narren, 
der  fttr  eine  Erbse  verhandelt  wird,  ist  vielleicht  identisch  mit  der 
Abendsonne  oder  Abend-Aurora,  die  während  der  Nacht  fUr  deil 
Mond  verkauft  wird  oder  sonst  mit  dem  Monde  zusammentrifft. 
Die  Trauererbse  oder  Bohne,  die  Hülsenfrucht,  welche  als  Vor- 
rath  fUr  die  Reise  in  das  Reich  der  Todten  dient  und  welche 
dem  Helden  Reichthum  bringt,  ist  vielleicht  nur  der  Mond,  den 
der  Sonnenheid  während  der  Nacht  auf  dem  Wege  findet  und 
den  er  fttr  sein  Kuhfell  eintauscht.  Als  der  Held  diese  Erbse 
besitzt,  ist  er  jeder  Art  von  Glück  sicher  und  kann  zu  dem  glän- 
zenden Himmel  aufsteigen,  so  wie  auch  ans  der  düstem  Hölle, 
in  welche  das  Ungeheuer  ihn  gezogen  hat,  entrinnen.  Eine  ähn- 
liche Kraft  wird  dem  Kuchen  beigelegt,  den  wir  in  indogerma- 
nischen Bestattnngsgebräuchen  an  Stelle  der  Hülsenfrucht  finden. 

Hienach  können  wir  verstehen,  was  uns  Plutarch  in  dem 
Leben  des  Lucullus  über  die  Gyziceni  erzählt,  von  denen  er  be- 
richtet, sie  hätten  in  der  Bedrängniss  einer  Belagerung  der  Pro- 
serpina (dem  Monde  in  der  Hölle)  eine  Kuh  von  schwarzem  Teig 
dargebracht,  da  sie  keine  von  Fleisch  aufbringen  konnten;  er 
fügt  hinzu,  dass  das  Opfer  der  Göttin  genehm  war.  So  lesen 
wir  in  der  sechsunddreissigsten  äsopischen  Fabel  von  einem  Krüp- 
pel, der  den  Göttern  verspricht,  im  Falle  seiner  Heilung  hundert 
Ochsen  zu  opfern;  als  er  geheilt  ist,  macht  er,  da  er  nicht  hun- 


'  De  vocabulis  1,  bei  AldroTandi. 


214 

dert  Ochsen  von  Fleisch  besitzt;  solche  aus  Teig  und  verbrennt 
sie  auf  dem  Herde.  Doch  waren  nach  Aesop  die  Götter  damit 
nicht  zufrieden  und  suchten  ihm  einen  Streich  zu  spielen  ^  was 
ihnen  jedoch  nicht  gelang,  da  der  schlaue  Mann  ihre  List  zu 
seinem  Vortheil  ausbeutete;  denn  der  Sonnenheld  in  der  Nacht 
stellt  sich  nur  so,  als  ob  er  ein  Dummkopf  wäre,  der  er  in  Wirk- 
lichkeit nicht  ist. 

Doch   um  auf  die  Mondkuh   zurückzukommen:   wir    müssen 
der   Vollständigkeit   halber   die  Erklärung    eines    anderen    My- 
thus hinzufügen,   nämlich    des  von    den  als  reinigend   betrach- 
teten Excrementen  der  Kuh.    Der  Mond,  wie  die  Aurora  spendet 
Ambrosia;  er  wird  als  eine  Kuh  betrachtet;  der  Urin  dieser  Kuh 
ist  Ambrosia   oder  heiliges  Wasser;  wer  dieses   Wasser  trinkt, 
reinigt  sich,  wie  die  Ambrosia,  welche  von  dem  Mondstrahl  und 
der  Aurora  regnet,  die  Pfade  des  Himmels  reinigt,  säubert  und 
hell  macht  (dirghaya  dakshase),  welche  die  Schatten    der 
Nacht  verdunkeln  und  trüben.     Dieselbe  Kraft  wird  femer  dem 
Kuhdünger  beigelegt,  eine  Vorstellung,  die  ebenfalls  von  der  Kuh 
abgeleitet  und  auf  den  Mond  ebenso  wie  auf  die  Morgenaurora 
tibertragen  wird.    Diese  beiden  Kühe  werden  als  die  Erde  durch 
ihre  ambrosischen  Excremente  fruchtbar   machend  aufgefasst;  da 
diese  Excremente,  sowohl  die  des  Mondes  wie  die  der  Aurora, 
glänzend  sind,  so  werden  sie  als  reinigend  betrachtet.    Die  Asche 
dieser  Kühe  (welche  ihre  Freundin,  die  Heldin,  bewahrt)  ist  nicht 
blosse  Asche,  sondern  goldenes  Pulver  oder  goldenes  Mehl  (der 
goldene    Kuchen  erscheint  in    dem  goldenen   Mehl   oder  Pulver 
wieder,  welches  die  Hexe  in  russischen  Mährchen  von  dem  Helden 
verlangt),  das,  mit  Excrementen   vermischt,   dem  schlauen  und 
räuberischen  Helden   Glück   bringt.     Die  Asche   der   geopferten 
trächtigen  Kuh  (d.  h.  der  Kuh,  die  nach  der  Geburt  eines  Kalbes 
stirbt)  wurde  von    den  Römern   in   dem  Tempel  der  Vesta  von 
Religions  wegen  nebst  Bohnenstengeln  (die  dazu  dienten,  die  mit 
Getreide  besäte  Erde  fett  zu  machen)  als  ein  Mittel  der  Sühnung 
aufbewahrt.    Ovid^  erwähnt  diesen  Brauch: 

„Nox  abiit  oriturque  Aurora.    Palilia  poucor, 
Non  poscor  frustra,  si  favet  alma  Paies. 

Alma  Pales,  faveas  pastori  sacra  canenti, 
Prosequor  officious!  tua  festa  pio. 

Gerte  ego  de  vitulo  cinerem  stipulasque  fabales 
Saepe  tuli  plana  febnia  casta  manu.'* 


'  Fasti  IV,  721. 


215 

Die  Asche  einer  Kuh  wird  sowohl  als  Symbol  der  Äuferstehang 
wie  als  Mittel  der  Reinigung  aufbewahrt.  Was  die  Excremente 
der  Kuh  betrifit,  so  werden  sie  noch  angewandt,  das  sogenannte 
eaude  miUefleurs  zu  bereiten;  das  von  mehren  Pharmaco- 
pöien  als  ein  Mittel  gegen  verdorbene  Säfte  verordnet  wird. ' 

leb  habe  oben  den  Mythus  von  Herakles  erwähnt;  in  welchem 
dieser;  nachdem  er  auf  dem  goldenen  Becher  über  das  Meer  ge- 
setzt; die  Ochsen  am  Gestade  findet.  Diese  Ochsen  werden  bei 
Tbeocrit  in  dem  Mythus  von  König  AugiaS;  als  dem  Kinde  der 
Sonne,  so  beschrieben.  Die  Sonne,  sagt  Theocrit;  verlieh  ihrem 
Sohne  die  Ehre,  reicher  an  Herden  als  alle  übrigen  Menschen 
zu  sein.  Alle  diese  Herden  sind  gesund  und  vermehren  sich 
ohne  Grenzen;  indem  sie  immer  besser  werden.  Unter  den  Stie- 
ren haben  dreihundert  weisse  Beine  (gleich  der  Alba  des  Mor- 
gens); zweihundert  sind  roth  (gleich  den  Sonnenstrahlen)  und 
haben  gekrümmte  Hörner.  Diese  Stiere  sind  zur  Wiedererzeugung 
zu  benutzen ;  ausscjr  ihnen  sind  noch  zwölf;  die  der  Sonne  geweiht 
sind;  und  welche  gleich  Schwänen  glänzen.  Einer  von  ihnen  ist 
allen  übrigen  an  Grösse  überlegen  und  heisst  ein  Stern  oder 
Phaeton  (der  Glänzende;  ein  Epitheton  des  Helios,  der  Sonne  in 
der  Odyssee ;  des  Lenkers  des  Sonnen wagens ;  welcher  nach 
Vollendung  seines  Tageslaufes  unföhig  ist,  die  Pferde  zu  zügeln 
und  mit  dem  Wagen  in  das  Wasser  stürzt,  damit  die  brennenden 
Rosse  nicht  die  Welt  entzünden.  Statt  der  Sonnenochsen,  die 
den  Wagen  ziehen  und  am  Abend  in  den  nächtlichen  Sumpf 
fallen;  finden  wir  in  diesem  Mythus  den  Wagen  von  Pferden  ge- 
zogen, die  von  den  Wellen  begraben  werden;  doch  Phaeton,  der  sehr 
glänzende  und  herrliche  Ochse,  wie  er  von  Theocrit  dargestellt 
wird;  rechtfertigt  unsere  Identificirung  der  beiden  mythischen 
Episoden  von  dem  Ochsen  und  dem  PferdC;  welche  in  das  Was- 
ser fallen).  Der  Stier  Phaeton  des  Theocrit  sieht  HerakleS;  stürzt 
sich,  da  er  ihn  für  einen  Löwen  hält,  aui  ihn  und  versucht  ihn 
mit  seinen  Hörnern  zu  verwunden.  Die  Sonne,  als  ein  gold- 
haariger Held;  ist  ein  sehr  starker  Löwe  (Herakles,  Simson);  als 
ein  goldhörniger  Held  ist  sie  ein  sehr  starker  Stier ;  in  der  Wolke 
eingeschlossen  brüllen  und  toben  sie.  Die  beiden  Bilder  von  dem 
Sonnenlöwen  und  dem  Sonnenstier  sind  bald  in  Uebereinstimmung, 
bald   in   Zwiespalt  und  Kampf  miteinander.     Im  Rämäyana 


'  Vgl.    Ott.    Targiooi  Toszetti,    Lezioni    di    Materitt    Medica, 
Firense  1821. 


216 

fandeü  Wir  die  beiden  BeldeifbrtNier  Räma  und  Lskshnima^  eine 
epische  Gkstaltnng  cfer  beiden  AQvins,  als  Stier  und  Löwen  dar- 
gestellt. In  den  griecbtschen  Fabeln  finden  wir  häufig  den  Löwen 
und  den  Stier  znsaninren  und  später  in  Zwietracht^  w^  das  in 
der  Sage  von  dea  beideni  Heldenbrttdern  vorkoniinft.  Bei  Aesop 
und  Arian  dringt  der  vor  dem  Löwen  (d.  h.  vor  der  Sonne  in 
ihrer  Löwen-Ungeheuergestalt  am  Abend  oder  im  Herbst)  fliehende 
Stier  (vielleicht  der  Mond)  in  das  Versteck  der  Ziege  (der  Momi 
in  die  Höhle  der  Nacht)  und  wird  von  ihr  beschimpft  und  heraus- 
gefordert. In  einer  andern  äsopischen  Fabel  dagegen  ist  es  der 
Löwe,  welcher  die  Hörncr  des  Stiers  fürchtet  und  ihn  verleitet, 
sie  fahren  zu  lassen,  damit  der  Stier  seine  Beute  werden  kann.  ^ 
In  noch  einer  andern  äsopischen  Fabel,  die  aus  Syntipa  entlehnt 
ist,  tödtet  der  Stier  den  Löwen,  während  er  schläft,  mit  seinen 
Hörnern.  Bei  Phaedms  machen  der  wilde  Eber  nrit  seinen 
Hauern,  der  Stier  mit  seinen  Hörnern,  der  Esel  mit  Tritten  dem 
alten  und  schwachen  Löwen  den  Garaus.  In  Phaedrus'  Fabel  von 
dem  Ochsen  und  dem  Esel,  die  an  einem  Strange  ziehn,  fällt  der 
Ochse  bei  dem  Verla»!  seiner  Hörner  kraftlos  zu  Boden.  Aristo- 
teles tadelt  im  dritten  Buche  seiner  Partes  Animalium  den  Mo- 
tnos  des  Aesop,  der  über  den  Stier  lacht ^  weil  er  seine  Homer 
auf  der  Stirn  statt  an  den  Armen  bat^  indem  er  zeigt,  dass  die- 
selben Hn  6iner  andern  Stelle  des  Körpers  eine  unnütze  Last  und 
ihm  bet  seinen  andern  Verrichtungen  durchaus  nur  im  Wege 
sein  würden.  Der  Ochse  und  der  Löwe  wurden  auch  in  christ- 
lichen Kirchen  zusammen  gemalt.  ^ 

Um  die  Sage  von  dem  Helden  und  dem  Ochsen  weiter  zu  ver- 
folgen^ so  finden  wir  in  Herakles  als  dem  im  Dienste  des  Königs 
Augias  bei  den  Herden  Angestellten,  den  gewöhnlichen  Stall- 
meister-Helden wieder;  er  hat  die  Herden  nicht  bloss  gut  zu  be- 
wahren^ sondern  sie  auch  an  einem  Tage  gründlich  zu  säubern 
und  glänzend  zu  machen.  Von  Augias  um  den  Preis  betrogen, 
tödtet  er  ihn  und  verwüstet  sein  ganzes  Land.    Ebenso  bewacht 


'  In  einer  aus  Syntipa  eutlehuteii  äsopischen  Fabel^  welche  der  ersten 
Lokmantchen  entspricht,  kämpfen  zwei  Stiere  gegen  den  Löwen  und 
Jlcisteu  ihm  Widerstand;  der  Löwe  hetzt  sie  gegeneinander  und  zerrcisst 
sie.  In  der  sechsten  Fabel  bei  Aphtouios  sind  der  Stiere  drei,  in  der 
achten  bei  Avian  vier.  Der  Löwe  kannte  schon  den  Wahlspruch  der 
Könige :  „Divide  et  impera." 

*  Durandus,  Bational  I,  3  bei  Du  Cange. 


217 

bei  Hoioer  Apotto  ftlr  einen  bestimmten  Preis  die  Herden  König 
Laomedo&s  auf  dem  Berge  Ida  and  wird  um  deuselben  beti'ogen. 
Ebenso  fuhrt  Hermes  die  Herden  des  König  Admetus  auf  die 
Weide;  er  treibt  sie  in  die  Nähe  der  Herden  Apollos,  dem  er  hun- 
dert Stiere  and  zwölf  Kühe  stiehlt;  indem  er  die  Hunde  am  Bellen 
bindert  (wie  Herakles ,  als  er  Geryons  Ochsen  entführt).  Dieser 
Hermes,  dieser  Gott  Mereur^  der  Gott  der  Kanfleute,  dieser  Händ- 
ler und  Räuber  ist  identisch  mit  dem  schlauen  und  verschmitzten 
Dieb  der  Mährehen,  welcher  Pferde,  Zugochsen,  Kisten  und  Ohr- 
ringe dem  Könige  entwendet;  er  ist  der  Diebeheld;  aber  ein 
Schatten  unterscheidet  ihn  von  dem  räuberischen  Ungeheuer  oder 
dem  dämonisehen  Pani  der  Veden ;  der  Held ,  der  sich  verbirgt, 
und  das  Ungeheuer,  das  Dinge  versteckt  —  beide  thun  eine 
diebische  Handlung.  Als  Hermes  die  dem  Sonnengott,  der  Sonne, 
gestohlenen  Herden  forttreibt,  trägt  er  auch  Sorge,  Baumzweige 
ihnen  an  die. Schwänze  zu  binden,  welche  den  Weg  fegen  und 
so  die  Spur  der  entführten  Stiere  und  Ktthe  verwischen  sollen. 
Der  Schäfer  Battos  ^ielt  den  Spion,  obwohl  ihm  Hermes  als 
Preis  des  Schweigens  eine  weisse  Kuh  versprochen  hat.  Hermes 
prüft  ihn,  indem  er  sich  verkleidet  und  ihm  einen  Stier  und  eine 
Knh  verspricht,  wenn  er  redet.  Battos  plaudert  und  Hermes  ver- 
wandelt ihn  zur  Strafe  in  einen  Stein: 

„Vertit 
In  darufn  siilicem  qui  ouoc  qnoquc  dicitur  index*** 

Dieser  Gott  Mercur,  der  dem  Apollo  die  Stiere  stiehlt  (wie 
Herakles  die  Ochsen  des  Geryon  entführt),  ist  die  göttliche  Ge- 
stalt des  Diebes.  Seine  dämonische  Gestalt  ist  —  Gacus,  der 
Sohn  Vulcans  (wie  der  vedische  Vritra  der  Sohn  Tyashtars  ist), 
der  Feuer  speit;  ein  Riese,  der  sich  in  Finstemiss  hüllt,  bei  Ver- 
gil ;  dreiköpfig  (gleich  dem  vedischen  Ungeheuer)  bei  Properz ;  ^ 
der  im  Aventiner  Walde  eine  mit  Menschenknocheu  gefüllte  Höhle 
bewohnt  (gleich  dem  Ungeheuer  der  Feenmährchen) ;  der  donnert 
(fiammas  ore  sonante  vomit),  der  mit  Felsen  und  Baumstämmen 
kämpft,  bei  Ovid  ^  (gleich  den  Helden  in  der  indischen,  sla vischen, 
dentschen  und  homerischen  Sage);  der  dem  Herakles  die  Ktthe 
stiehlt  und  ihre  Fussspuren  verbirgt,   indem  er  sie  rückwärts  in 


»  Ovid,  Mctain.  II,  70(>. 

'  Pt^r  tria  partitos  qui  dabat  ora  sonos 

•  Fasti  I,  550. 


218 

die  Höhle  zieht ^  bei  Livius^  welcher  uns  auch  erzählt^  dass  die 
Kühe  in  der  Höhle  brüllen,  indem  sie  nach  den  Stieren  verlangen, 
von  denen  sie  getrennt  sind  (wie  in  den  vedischen  Hymnen). 
Der  Held  hört  sie,  findet  die  Höhle,  stürzt  mit  grossem  Getös  den 
Felsen  um,  den  fünf  Paar  zusammengejochte  Ochsen  kaum  hätten 
von  der  Stelle  rücken  können  (gleich  den  Marnts,  die  den  Felsen 
zerbrechen,  gleich  Indra,  der  die  Klippe  zertrümmert  und  öffnet), 
und  tödtet  mit  seiner  dreiknotigen  (trinodis)  Keule  das  Ungeheuer, 
worauf  er  die  Kühe  befreit  Der  Sonnenheld,  der  am  Abend 
Ochsen  oder  Kühe  fortführt  oder  der  sie  am  Morgen  aus  dem 
Stall  stiehlt,  ist  ein  schlauer  Räuber,  der  verdienstlich  gehandelt 
hat  und  zur  Belohnung  die  Prinzessin  Aurora  heirathet;  das 
wolkige  oder  düstere  Ungeheuer,  welches  die  Sonnenkühe  stiehlt, 
um  sie  in  der  Höhle  einzuschliessen,  aus  welcher  es  dann  Rauch 
und  Feuer  schnaubt,  ist  ein  abscheulicher  Verbrecher.  Der  gött- 
liche Dieb  stiehlt  fast  aus  Scherz,  sei  es  um  seine  Geschicklich- 
keit zu  zeigen,  sei  es  um  seine  Tapferkeit  zu  erweisen;  der  dä- 
monische Dieb  stiehlt,  weil  das  so  in  seinem  boshaften  Charakter 
liegt,  und  aus  dem  Triebe,  das  Gestohlene  zu  verschlingen,  wie 
es  der  fabelhafte  Wuim  des  Flusses  Indu  (des  vedischen  Sindhu 
oder  himmlischen  Oceans)  thut,  der  die  durstigen  Ochsen,  die  zur 
Tränke  kommen,  in  den  Abgrund  zieht  und  verschlingt.  * 

Das  Ungeheuer  der  Wolken,  das  pfeift  und  donnert,  schreckt 
nur;  andererseits  ist  der  Gott,  der  in  der  Wolke  pfeift  und  don- 
nert, der  himmlische  Musicus  par  excellence ;  sein  Instrument,  der 
Donner,  überrascht  uns  durch  seine  Wunder^  und  macht  Steine 
und  Pflanzen  zittern,  d.  h.  setzt  sie  in  Bewegung,  zumal  die  himm- 
lischen (d.  h.  Wolkenberge  und  Wolkenbäume);  es  zieht  die  wil- 
den Thiere  (des  liimmlischen  Waldes)  hinter  sich  her,  zähmt  und 
bezwingt  sie.  Der  brüllende  Stier  schreckt  sogar  den  Löwen. 
Wir  lesen  darum  auch  bei  Nonnus,  ^  dass  Dionysus  dem  Aeager, 
der  beim  Wettstreit  in  Gesang  und  Spiel  obgesiegt  hat,  einen 
Stier  als  Preis  giebt,  während  er  einen  rauhen  Ziegenbock  flir 
den  in  Bereitschaft  hält,  der  verliert;  auf  Grund  dessen  finden 
wir  in  alten  Mailänder  Kirchen  auf  den  Sänlenkapitälen  Kälber 


'  ,.Angedonncrt''  haben  fast  alle  indogerinaoischen  Sprachen  für  ,,über- 
rascht  und  erschrecktes    [So  auch  semktt.  Diail;  vgl.  arab.  sa'ika.) 

'  Dionys.  XIX,  58. 


219 

and  Stiere  als  auf  der  Leier  spielend  dargestellt.  >  Es  ist  eine 
Variation  des  Mythus  von  dem  Esel  und  der  Leier  >  welcher  die- 
selbe Bedeutung  hat.  Aus  demselben  Grunde  finden  sich  der 
Stier*und  der  Esel  zusammen  dargestellt,  weil  sie  brüllen  und 
blöken  (wie  christliche  Corybanten)  an  der  Wiege  des  neugebo- 
renen Gottes,  um  durch  ihr  Geschrei  seine  Geburt  vor  dem  alten 
Könige  oder  der  Gottheit,  welche  entthront  werden  soll,  zu  ver- 
bergen. ^  Die  Muschel  Bhimas,  das  Elephantenhorn  Orlandos, 
das  Hifthorn  taurea,  mit  welchen  Armeen  dirigirt  wurden,  leiteten 
ihren  Charakter  und  ihren  Namen  von  dem  mythischen  Stier,  dem 
Donnergott  ab.  Die  Stimme  des  Stieres  wird  bei  Euripides  mit 
der  des  Zeus  verglichen ;  ^  die  Musik,  welche  den  Helden  gefällt^ 
ist  gewiss  nicht  der  Sang  der  Casta  diva;  es  ist  das  Schreien 
des  Esels,  ^  das  Brüllen  des  Löwen,  das  Brtlllen  des  Stieres,  der 
im  Himmel  die  erste  Rolle  spielt,  und  uns  so  lange  beschäftigt 
hat,  weil  der  oberste  Gott  nach  der  EntfUhrung  Europas  seine 
Gestalt  annahm.  Auf  Erden  entkleidete  sich  Zeus  seiner  gött- 
lichen Gestalt,  und  in  der  gewöhnlich  gewählten  heldischen  Er- 
scheinungsform eines  Stieres  steigt  er  himmelwärts: 

„Litoribus  tactis  stabat  sine  comibus  uUis 
Jupiter  inque  deum  de  bove  versus  erat. 
Taurus  init  coeluin/** 

So  kehren  wir  nach  langer  Wanderfahrt  auf  dem  Gebiet  der 
Sage  zu  dem  vedischen  Stier  Indra  zurück,  von  dem  wir  aus- 
gegangen sind^  und  zu  seiner  weiblichen  Erscheinungsform,  welche, 
mit  Menschennatur  begabt,  eine  Kuh  wurde  und  als  Kuh  eine 
göttliche  Gestalt  annahm:  — 

„Quae  bos  ex  homiue,  ex  bove  faeta  Dea/'* 


'  Vgl.  Marügoy,  dictiouuaire  deb  autiquitt5s  chretieunes, 
a.  V.  veau. 

'  Bei  Phaedrus  sind)  wie  wir  schon  bemerkten,  Ocbb  und  Esel  unter 
ein  Joch  gespannt. 

•  (be  foiWi  Ji6s\  Hippolyt  1200 — 1229. 

•  Vgl.  das  Kapitel  über  den  Esel. 
»  Ovid,  Fasti  V,  615. 

•  lb.  V,  620. 


220 


KAPITEL  II. 
Das  Pferd. 

Der  Mythus  vom  Pferde  iBt  vielleicht  nicht  8o  reich  an  Sagen 
wie  der  von  dem  Stier  und  der  Kuh,  doch  keinesfalls  weniger 
interessant.  Wie  der  Reiter  der  sehtoste  Typns  des  Helden  ist, 
so  ist  in  der  Mythologie  das  Ross,  das  ihn  trägt,  das  edelste 
Thier. 

Wir  bemerkten  schon  ^  dass  sich  der  beste  der  drei  Brtlder, 
der  dritte,  der  siegreiehe,  die  Morgensonne,  in  der  Sage  vor  den 
beiden  andern  durch  seine  Schnelligkeit  ansaeichnete,  und  dass 
die  Morgendämmerung  oder  Morgen-Aurora,  die  dritte  Schwester, 
die  gute,  die  beste  von  den  dreien,  diejenige  ist,  welche  im  Wett- 
laiif  gewinnt  Es  ist  nattlrlieh,  dass  das  Lieblingsthier  des  Helden 
sein  Ross  sein  musste.  Die  beiden  indischen  Dioscuren,  d.  h.  die 
A^vins,  die  beiden  Reiter,  leiten  ihren  Namen  von  a^va,  dem 
Pferde ,  als  dem  schnellen ,  ab '  und  sie  sind  höchst  wahrschein- 
lich mit  den  beiden  schönhaarigen,  liebenswürdigen,  glänzenden 
und  feurigen  Rennern  Indras  und  Savitars  (der  Sonne)  identisch 
und  geeignet  und  würdig,  Helden  zu  tragen  - ,  identisch  mit  dep 
Rossen  Indras ,  welche  aufs  Wort  sich  schirren ,  ^  gemahnt  sind, 
Samen  ausspritzend,  den  Gurt  ftlllend  (d.  h.  wohlgenähii;),  ^  an 
den  Augen  gleich  der  Sonne,  ^  von  den  Kibhus  gemacht,  *^  welche, 
wie  die  Kuh  aus  einer  Kuh,  so  auch  das  Pferd  aus  einem  Pferde 
machten,  ^  schwarz,  mit  weissen  Füssen,  den  Wagen  mit  dem  gol- 
denen Joche  ziehend,  die  Dinge  entliüllend ;  "^  den  beiden  sich 
tummelnden,  sich  sehr  tummelnden ,  ^  den  taumelnden,  von  Soma 


'  Das  Wort  atya  hat  diesdbe  Bedeutung. 

*  Yuogautv  af<ya  kamyä  hart  vipakshasä  ratbe  ^onä  dbritthnü  nrivähasä ; 
^igv.  I,  6,  2. 

»  Vadoyugftu;  Rigv.  I,  7,  2 

*  Yukshvä  hi  ke^Q4  hari  vrisbanä  kakshyaprä  ;  Rigv.  I,  10,  3. 
^  Sura^akshasa^;  Rigv.  I,  i^,  1. 

*  lodräya  vadoyu^a  tataksbur  manasa  bari;  Rigv.  I,  20,  2. 
^  Saudbauvanä  a^vad  a^vam  atakshata;  Rigv.  I,  161,  7. 

*  Vi  gauän  cbyäva^  f^itipädo   akbyau   ratbam  hiranyapraugam  vabaii- 
tat;  Rigv.  I,  33,  5. 

'  ladro  vankü  vankutarädhi  tisb|bati;  Rigv.  1,  51,  11. 


221 

begeidtertefi,  tievor  Indra  sie  zOgelt ;  *  den  schönen,  dwreh  welche 
der  Wagen  der  A^pmas  gedankenschDell  dahinHiegt ;  ^  welche  Indra 
riehen,  wie  sie  jeden  Tag  die  Sonne  ziehen ;  ^  welche  die  bekleii 
Strahlen  der  Sonne  sind;*  welche  Fett  (Ambrosia)  -träufelnd 
wiehem ;  ^  den  sehr  reinen  Rossen  des  Stieres  ludra,  den  beransch- 
ten,  welche  den  Bimmel  erleachten,  ^  mit  Mähnen  von  der  Farbe 
eines  Pfaues,'  den  sechszig  MiU  gezäumten  (eigentlich  sechs  mal 
zwei  mal  fttnf);^  den  wohlthätigen ,  geflttgelten,  onermfldlichen, 
den  etrtschiossenen  Vemichtern  (der  Feinde).^  Das  Aitareya 
Brähmana  sagt  uns,  sds  es  die  Oötter  charakterisirt,  dass  Agni 
bei  der  Heirath  von  Soma  und  Süryä  von  Mauleseln  und  die 
Aurora  von  rothen  Kühen  (oder  Stieren)  gezogen  wird ,  dass  da- 
gegen Indra  von  Pferden  und  die  A^vins  von  Eseln  gezogen  wer- 
den; 4ie  Afvins  gewinnen  den  Preis. '^  Im  Mahäbhärata  *^  finden 
wir  einen  andern  wichtigen  Umstand,  nämlich  dass  die  A^^vins  als 
die  S5hne  einer  Stute  dargestellt  werden,  und  zwar  Tvashtrls,  der 
<4attin  Savitars  (der  Sonne) ,  welche  die  Gestalt  einer  Stute  an- 
nahm. Demnach  haben  wir  hier  die  Söhne  der  Stute,  welche  Pfierde 
und  Maulesel  sein  können,  jenachdem  sich  die  Stute  mit  einem 
Hengst  oder  einem  Esel  verband.  Hier  haben  wir  also  bereits  einen 
augenßilligen  Beweis  für  die  Identität  der  Helden,  der  A^vins ,  .mit 
den  Thieren,  den  Pferden  oder  Eseln,  welche  sie  ziehen.  Der 
It i g V e d a  kennt  das  Wort  a^vatara,  Maulesel,  noch  nicht,  zeigt 
uns  jedoch  bei  Darstellung  der  bald  von  Pferden  und  bald  von 

*  Yukghvä  madadyutä  hari;  Rigv.  I,  81,  3. 

*  Väm  a^vinä  manaso  gaviyän  raifehah  sva^vab;  Ki  gv.  I,  117,  2. 

'  A  tvft  yaöbantu  harito  na  süryam  ahä  vi^veva  süryam;  Ktgv.  J, 
130,  2. 

*  Hari  Büryasya  ketü;  Kigv.  II,  11,  6. 

^  GbritaQ^utam  sväram  asvärshtam;  Rigv.  II,  11,  7. 

*  Pra  ye  dvita  diva  ringanty  ätäh  susammrishtäso  vrishabhitsya  müruh ; 
Kigv.  III,  43,  6.  " 

^  Indra  haribhir  yähi  mayüraromabhi^;  Rigv.  III,  45,  1. 
»  Sholhä  yuktäh  panda-paiSda  vahanti;  Rigv.  Ill,  55,  18. 

*  Patatribhir  a^ramäir  avyatibbir  dansanäbbih;  Rigv.  VII,  69,  7.  Die 
A^vins  heissen  auch  dravatpäni;  Rigv.  I.  3,  1. 

*•  A^vatari  —  rathenägnir  ägfmadhävattäsäm  prägaii  äno  }oniinakü- 
layatt^mättä  na  vigäyante.  Gobhirarunäirusbä  a^imadhävattaamädutffaasya- 
gatäyämarunamivaeva  prabhätyushasorüpama^varathenendra  ä^invadhävat- 
tasmätsa  uiSöairghosha  upabdimitnkshatrasya  rüpamäindro  hi  sa  gadorbha- 
rathenä^vina  uda^yattoa9viuävä9nuvattlm^  A  it.  Br.  IV,  2,  9. 

"  Tväshtri  tu  savitur  bhäryfl  vadavarupadhärini  asöyata  mahäbhägS  sä 
uiarikahe  '9vinavubbau ;  Mbh.  I,  2599. 


222 

Eseln  gezogenen  Agvins  den  zwischen  beiden  Thiergattangen  lie- 
genden Charakter  des  ThiereS;  welches  wirklich  die  ÄQvins  zieht^ 
eines  dankelgraneu;  nur  an  seinen  Vordertheilen  weissen  Wesens. 
Die  Nacht  ist  der  Maulesel,  welcher  die  A^vins  oder  die  Dämmer- 
ungen zieht,  ebenso  wie  sie  in  dem  obenangeftlhrten  Aitareya 
Agni;  das  Feuer  oder  Licht,  zieht  oder  erweckt.  In  der  1 1  i  a  d  e  ' 
wird  von  Mauleseln  gesprochen  als  von  Thieren,  welche  geeigneter 
als  Ochsen  sind,  den  Pflug  zu  ziehen. 

Des  Helden  Ross  ist,  wie  der  Held  selbst,  Anfangs  hässlich, 
missgestalt  und  untauglich,  stellt  sich  aber  schliesslich  als  schön, 
glänzend,  heldisch  und  siegreich  heraus. 

Das  mythische  Pferd  der  Ungarn,  das  Ross  Tatos  oder  Tatos 
lo  hat  bei  der  Geburt  ein  hässliches  Aussehn,  ist  verkrüppelt  und 
mager;  deshalb  sagt  man  im  Ungarischen:  „der  Tatos  kommt  aus 
einem  verkrüppelten  Pferde'^  Es  kommt  jedoch  immer  mit  Zähnen 
zur  Welt,  ^  wenn  auch  seine  Rinnladen  bisweilen  mangeln;  es 
bricht  aus  einem  fünfeckigen  schwarzen  Ei  an  einem  Aschermitt- 
woch hervor,  nachdem  es  der  Held  sieben  Sommer  und  sieben 
Winter  unter  seinem  Arm  getragen.  Im  Mahäbhärata  ^  folgt  das 
ersterschaffene  Ross  Uccaihgrava,  der  König  der  Pferde  (und  darum 
das  Pferd  Indras),  welches  so  schnell  wie  ein  Gedanke  ist,  dem 
Pfade  der  Sonne  und  ist  glänzend  weiss,  hat  jedoch  einen 
schwarzen  Schwanz,  der  durch  die  Magie  der  Schlangen, 
welche  ihn  mit  schwarzen  Haaren  bedeckt  haben,  diese  Farbe 
erhalten  hat.  Es  ist  dies  wahrscheinlich  der  schwarze  Esels-  oder 
Pferdeschwanz,  welcher  der  hässlichen  oder  bösen  Schwester  in 
dem  europäischen  Volksmährchen  von  den  beiden  Schwestern  auf 
der  Stirn  wächst.  ^    Es  muss  auch  bemerkt  werden ,   dass  das 


»  11.  X,  352. 

*  Nach  den  gütigen  Mittheilungen  Dr.  Giuseppe  Ferraro*»,  des  jungen 
Sammlers  der  Volkslieder  und  Volksmährchen  von  Monferruto,  über  den  in 
diesem  Lande  herrschenden  Thierglauben,  herrscht  dort  der  Aberglaube, 
dass  die  Zähne  eines  Pferdes,  wenn  sie  einem  Kinde  um  den  Hals  gehängt 
werden,  das  Abwerfen  der  Zähne  bewirken  und  dass  das  Tragen  der 
beiden  Schneidezähne  eines  Pferdes  jedes  Uebel  wegzaubert. 

»  Mbh.  I,  1093-1237. 

*  VgK  die  erste  der  toscanischen  Novelline  di  San  Stefano  di 
Calcinaia.  —  Im  vorhergehenden  Kapitel  sahen  wir,  wie  die  Aepfel 
eines  gewissen  Apfelbaumes  dem,  der  von  ihnen  isst,  iJörner  wachsen 
lassen.  In  einem  noch  nicht  publicirten  italienischen  Mähreben  haben  wir 
statt   des   Apfelbaumes   den   Feigenbaum    und    anstatt   der    IlÖrner    den 


223 

Wort  UccaihgravaSy  da  es  eigentlich  den  mit  erhobenen  Ohren 
bedeutet;  besser  anf  den  Esel  als  auf  das  Pferd  passt. 


Schwanz.  Ein  alter  Mann  aus  Osimo  erzählt  es  folgendermassen :  —  Drei 
arme  Brüder,  die  nicht  eben  viel  Lu8t  zu  arbeiten  hatten,  gingen  in  die 
weite  Welt,  ihr  Glück  zu  suchen.  Auf  dem  Marsche  von  der  Nacht  über- 
rascht, schlafen  sie  unter  freiem  Himmel  ein.  Eine  Fee  kommt  in  Gestalt 
eines  hasslichen  alten  Weibes  heran  und  bietet  sich  ihnen  zur  Frau  an. 
Die  drei  Brüder  entschuldigen  sich  und  erklären,  sie  wollten  weiter  nichts 
als  ein  wenig  Geld,  um  sich  einen  vergnügten  Tag  machen  zu  können. 
Die  Fee  antwortet :  „Bagt  mir,  wonach  ihr  verlangt,  und  ihr  sollt  es  haben.^' 
Der  erste  bittet  um  eine  Börse,  die  immer  voll  Gold  ist;  der  zweite  um 
eine  Pfeife,  durch  deren  Blasen  sofort  ein  ganzes  Heer  tapferer  Kämpfer 
ftn  seine  Seite  gezaubert  wird;  der  dritte  um  einen  Mantel,  der  seinen 
Träger  unsichtbar  macht  Die  Fee  befriedigt  ihre  Wünsche  und  ver- 
schwindet dann  in  Flammen,  gleich  dem  Teufel.  Der  älteste  Bruder, 
Stephan,  geht  mit  seiner  Börse  nach  Portugal,  wo  er  spielt  und  verliert, 
jedoch  immer  reich  bleibt.  Das  kommt  der  Königin- Witt  we  zu  Ohren, 
welche  den  Fremden  zu  sehen  wünscht,  in  der  Hofinung,  sich  in  den  Be- 
sitz seines  Geheimnisses  zu  setzen;  sie  stellt  sich  in  ihn  verliebt  und  der 
Hochzeitstag  wird  bestimmt;  doch  sie  hat  schon  vor  demselben  sein  Ver- 
trauen gewonnen  und  lässt  ihn,  nachdem  sie  ihm  die  Börse  abgenommen, 
peitschen.  Stephan  kehrt  zu  seinen  Brüdern  zurück,  erzählt  ihnen  sein 
Unglück,  schlägt  ihnen  vor,  sich  an  der  Königin  zu  rächen,  und  verleitet 
sie,  ihm  die  Pfeife  zu  leihen,  welche  Armeen  ins  Dasein  ruft  Die  Königin 
beschwichtigt  ihn  und  behauptet,  sie  hatte  bis  zum  letzten  Augenblick  sein 
Erscheinen  am  Hochzeitstage  erwartet,  versichert  auch,  er  sei  ohne  ihr 
Wissen  gepeitscht  worden.  Stephan  giebt  nach  und  die  Pfeife  geht  aus 
seinen  Händen  in  die  der  Königin  über.  Er  wird  wieder  gepeitscht  und 
zwar  zweimal  so  stark  als  vorher.  Wieder  nimmt  er  seine  Zuflucht  zu 
seinen  Brüdern;  er  beschwört  sie,  ihm  den  Zaubermantcl  zu  leihen,  mit 
dessen  Hilfe  er  das  Verlorene  wiedergewinnen  wolle;  er  erhält  ihn,  aber 
—  wieder  lässt  er  sich  von  der  Königin  täuschen.  Aller  Habe  beraubt, 
irrt  er  verzweifelt  umher,  ein  Bettler.  In  der  Mitte  des  Januar  sieht  er 
einen  mit  schönen  Feigen  bedeckten  Baum ;  nach  ihnen  lüstern,  isst  er  mit 
Gier;  doch  für  jede  Feige,  die  er  verschluckt,  wächst  ihm  ein  Stückchen 
Schwanz,  so  dick  wie  eine  Boa,  an.  Er  geht  weiter,  in  noch  grösserer 
Verzweiflung,  bis  er  wieder  Feigen,  aber  von  geringerer  Grösse  findet;  er 
isst  sie  und  der  Schwanz  verschwindet.  Von  dieser  Entdeckung  höchst 
befriedigt,  füllt  er  ein  KörbcKen  mit  den  ersten  Feigen  und  kommt  als 
Landmann  verkleidet  in  den  Palast  der  Königin  von  Portugal.  Alle  Leute 
wundem  sich  über  so  schöne  frische  Früchte  im  Januar.  Die  Königin 
kauft  das  Körbchen  und  Alle  essen ;  doch  sofort  wachsen  an  ihrem  Hinter- 
theil  Schwänze.  Stephan  verkleidet  sich  nun  als  Arzt  und  heilt  viele  Leute 
mit  den  kleinen  Feigen.  Die  Königin  lässt  ihn  rufen;  er  zwingt  sie,  ihm 
erst  zu  beichten,  und  bei  der  Beichte  muss  sie  ihm  sagen ,  wo  die  drei 
Wunderdinge  aufbewahrt  sind.  Nachdem  er  sie  sich  wieder  zugeeignet, 
lässt  er  die  Königin  mit  zehn  Spannen  Schwanz  zurück  und  begiebt  sich 


I 


224 

Ebenso  mm  wie  der  Held  der  Volksmäfa  rohen ,  bevor  er  leio 
weiBer  Mann  wird,  gewöhnlich  ein  Eeel  ist,  tet  anch  das  v^m 
Sonnenhelden  gerittene  Thier,  ehe  es  ein  echtes  und  edles  Pferd 
wird,  gewöhnlich  eine  werthlose  Mähre  oder  ein  dunkelfarbiger 
Esel.  Die  Sonne  reitet  am  Anfang  der  Nacht  ein  schwarzes 
Ross,  späterhin  ein  graues  oder  auch  einen  Esel  oder  einen  Maul- 
esel, am  Morgen  dagegen  ein  weisses  und  glänzendes  Pferd,  das 
einen  schwarzen  Schwanz  hat;  oder  aber  das  schwarze  Pferd  der 
Nacht  hat  einen  weissen  Kopf  oder  weisse  Beine  oder  Vorder- 
theile,  nebst  goldenen  Ohren  und  einem  Nacken  aus  Edelsteinen.  ^ 
Das  ungeheuerliche  trojanische  Pferd  des  Epeios,  eine  Figur, 
welche  das  Pferd  der  Mythologie  darstellt,  hat  bei  Tryphiodor  dem 
Egyptier*  ebenfalls  eine  goldene  Mähne,  rothe  Augen  und  sil- 
berne Zähne. 

In  dem  dreizehnten  ehstnischen  Mährchen  bei  Kreutzwald 
kommt  der  dritte  Bruder  drei  Mal,  die  Prinzessin  von  dem  Berge 
von  Oks  (oder  Eis),  wo  sie  schläft,  zu  erlösen.  Das  erste  Mal 
hat  er  bronzefarbene  Kleidung  und  sitzt  auf  einem  bronzefarbenen 
Pferde;  das  zweite  Mal  ist  seine  und  des  Pferdes  Farbe  silbern; 
das  dritte  Mal  kommt  er  in  goldener  Rüstung  auf  goldfarbigem 
Pferde. 

In  einem  noch  nicht  publicrrten  piemonte^Hischen  Mährchen 
wird  der  junge  Prinz ,  dessen  geliebte  Prinzessin  über  das  Meer 
entführt  worden  ist,  von  einem  Adler,  den  er  mit  seinem  eigenen 
Fleisclie  füttert,  über  die  Wogen  getragen.  Jenseits  des  Meeres 
angelangt,  hört  er,  dass  die  Prinzessin  bestimmt  ist,  das  Weib  des 
Helden  zu  werden,  der  drei  Mal  im  Wettlauf  siegt;  das  erste  Mal 


reich  und  glücklich  wieder  zu  seinen  Brüdern.  —  In  dieser  Erzählung 
müssen  einige  Glieder  fehlen^  es  ist  wahrscheiolieb,  dass  die  Fee  die  Brü- 
der warnte,  ihr  Geheimniss  irgend  Jemandem  zu  verrathen.  Die  letzte 
Unternehmung  ist  jedoch  mit  viel  mehr  Wahrscheinlichkeit  von  dorn  dritten 
Bruder  aufgeführt  worden,  der  in  Feenmährchen  immer  die  Bolle  des 
Schlaukopfes  spielt,  als  von  dem  erstgeborenen,  welcher  hier  den  Dumm- 
kopf reprlisentirt  —  Polydorus  spricht  in  aeiner  Hist  Angl.  (Buch  IB)  von 
dem  Pferdescbwanz  als  Züchtigung  für  eine  Thomas,  dem  Erzbischof  V4ln 
Canterbury,  zugefügte  Beleidigung:  „Irridentes  Archiepisoopuni  caudam 
cqui  cui  insidebat  amputarunt.  At  postea  nutu  Dei  ita  acoidit,  ut  omnes 
ex  CO  hominum  genere  qui  id  facinus  fecissent,  nati  sunt  instar  brutorum 
caudati. 

'  Hiranyakarnam  manigrivam  arnas;  9igv.  I,  122,  14. 

»  '/liov  SJmhj»^  65  —  72. 


225 

erscheint  er  in  schwarzer  Kleidung  auf  schwarzem  Rosse ;  das 
zweite  Mal  in  Weiss  auf  einem  weissen  Pferde,  das  dritte  Mal  in 
Roth  auf  rothem  Pferde.  Jedes  Mal  siegt  er  und  erhält  demnach 
die  schöne  Prinzessin  zur  Gemahlin. 

So  ist  das  erste  Pferd  des  Helden  immer  dunkelfarbig,  gleich 
des  Teufels  Rossen,  gleich  Plutos  Pferden,  welche,  an  die  Dunkel- 
heit gewöhnt,  vom  Licht  erschreckt  werden ;  *  es  wird  dann  das 
graue  Pferd  der  Riesin,  das  graue  Pferd,  welches  den  todten  Si- 
gurd wittert,  in  der  Edda.  Der  Pegasus  selbst,  der  hgogiTTTtog 
des  Aratus,  wird  „halb  vollendet"  (i^^iT€l'^g)  ^  geboren,  ein  Aus- 
druck, der  mich  an  den  equus  dimidius^  des  Mittelalters  er- 
innert, mit  welchem  der  Maulesel  gemeint  ist.  Vergessen  wir 
nicht,  dass  der  equus  hemionus,  welcher  die  weiten  Steppen  Hoch- 
asiens und  die  nördlichen  Grenzen  Guzarates'  bewohnt,  eine  Esel- 
art ist,  welche  sich  besonders  durch  die  Länge  und  Schlankheit 
der  Beine  auszeichnet.  Der  indische  Aruna,  der  Wagenlenker 
der  Sonne  (oder  gar  der  Bruder  der  Sonne  selbst,  sofern  er  der 
Bruder  Garudas,  des  Sonnenvogels  ist),  soll  mit  einem  unvollkom- 
menen Körper  geboren  sein ;  *  er  kann  nur  zum  Theil  glänzend 
und  göttlich  sein.  Das  schwarze  Pferd  dagegen  hat  gewöhnlich 
eine  böse  und  dämonische  Natur;  es  ekitspricht  dem  schwarzen 
Teufel ;  die  schwarze  Farbe  selbst  ist,  nach  dem  Volksaberglauben, 
das  Ei*zeugniss  der  bösen  Natur.  '^  Jedes  Pferd  hat  nach  Meister 
Agostino  bei  der  Geburt  ein  Stück  schwarzes  Fleisch  auf  den 
Lippen,  das  von  den  Grichen  iTtTto^avig  genannt  wird:  „La  quale 
carne  dici  lo  vulgo  essere  molto  sospettosa  a  li  maleficii.'^  Meister 
Ajj:ostino   fli^t  noch   hinzu,    dass   die  Mutter  sich    weigert,   das 


'  Longa  solitos  caligine  pasci 
Tcrruit  orbis  equos;  pressis  haesere  lupatis 
Attoniti  meliorc  polo,  rursusque  verendura 
In  chaos  obliquo  pngnant  temone  reverti. 

Claudianus,  De  raptu  Proserpinae  II,  193. 

*  Phainomena  215. 

'  „Equus  Dimidius,  Mulus,  iu  chart,  ann.  1336  in  Akat.  Diplom,  num. 
H6G.     Vide  Grimm,  Antiq.   Jur.   Germ.   p.   255."    Du   Gange,   s.  v.  Eqmis. 

*  Mbh.  I,  1470.  1471. 

^  Quelli  cavaUi  che  'sono  de  pilo  morello  se  fanno  de  humore  colerico 
impero  che  e  piü  caldo  humore  et  sicco  che  non  e  lo  sangue  et  per  questo 
produce  ad  nigredine  el  pelo.  I  tre  libri  della  natura  dei  ca- 
valli  et  del  modo  di  mci^icar  le  loro  infermitk,  composti  da 
Maestro  Agostino  Columbre;  Pro  logo  6,  Vinegia,  1547. 

Oobernatis,  die  Thiere.  15 


226 

Füllen  saugen  zu  lassen,  so  lange  es  dieses  Stück  Fleisch  auf 
den  Lippen  trägt  ^  und  Manche  sagen ,  dass  die  Mutter  selbst  es 
isst.  Im  ersten  Kapitel  erwähnten  wir  den  russiöchen  damavoi, 
den  Dämon;  welcher  während  der  Nacht  auf  Kühe,  Ochsen  und 
Pferde  springt  und  sie  schwitzen  macht.  Dieser  Aberglaube  wurde 
in-  Italien  schon  im  16.  Jahrhundert  von  Meister  Agostino  be- 
kämpft/ und  darauf  lässt  sich  mit  der  höchsten  Wahrscheinlich- 
keit die,  noch  von  vielen  Stallknechten  beobachtete,  Sitte  zurück- 
führen, während  der  Nacht  im  Stall  eine  brennende  Lampe  zu 
lassen.  Der  Teufel  ftirchtet  sich  bekanntlich  vor  dem  Licht  (Agni 
heisst  rakshohan,  Ungeheuer  tödtend)  und  sein  schwarzes  Boss 
gleicherweise.  Es  bedeutet  deshalb  nach  zwei  griechischen 
Versen  2  Unglück,  wenn  man  von  schwarzen  Pferden  träumt, 
während  dagegen  von  weissen  Pferden  träumen  Glück  bedeutet. 
In  der  normannischen  Sage  von  dem  Priester  Walchelm  zeigt 
sich  diesem  in  den  ersten  Tagen  des  Januar  1091  ein  schwarzes 
Ross  und  fuhrt  ihn  in  Versuchung  auf  seinen  Rücken  zij  steigen ; 
kaum  hat  er  es  gethan,  als  es  mit  ihm  nach  der  Hölle  sprengt.  ^ 
Die  Todten  reiten  nach  dem  Volksglauben  ebenfalls  oft  auf 
schwarzen  oder  dämonischen  Pferden.  * 

Ein  sehr  Jbekanntes  russisches  Mährchen  in  Versen,  das  Ka- 
niok  Garbuiiok  oder  Klein  Buckel-Pferdchen  von  Jers- 
hoff,  fängt  folgendermassen  an:  Ein  alter  Mann  hat  drei  Söhne, 
von  denen  der  jüngste,   wie  gewöhnlich,  Iwan  Duräk  oder  Iwan 


*  Dcvennosi  corrigere  et  emendarequelli  li  quali  se  posseno  direhcre- 
tici,  impero  che  voleno  dire  che  quelle  tal  Bestie  che  portano  li  crini  ad- 
volte  et  atrezate;  et  con  loro  poco  cognoscimento  dicono  che  sono  le 
streghe  ehe  li  cavalcano  et  chiamanii  cavalli  stregari;  Agostino  a.  a.  0. 
Prologo  10.  —  Ueber  den  Damavoi  vgl.  Ralston,  The  Songs  of  the 
Russian  People  p.  120.  139. 

*  "Innovs  fxeXaivas  ov  xaXov  navtios  ßXhteiv 
"iTtTTOw  Ss  Xevxwv  OTTOie  ayykhov  ^uaig. 
Im  ToBcaniscben  bedeutet  das  Träumen  von  fliegenden  Pferden  Neuig- 
keiten ;   ohne  Zweifel  kann  dieses    fliegende  Ross    nur  auf  die  nächtliche 
Fahrt  des  Sonnenhelden  zurückgehen. 

*  Vgl.  Menzel,  Die  vorchristliche  Unst  erblichkeits- Leh  re  , 
Leipzig  1870. 

*  Die  Ungarn  nennen  die  Todtenbahre  St.  Michael's  Pferd;  neugrie- 
chische Volkslieder  stellen  den  Fährmann  der  Todten,  Charon,  zu  Pferde 
dar;  in  der  Schweiz  gilt  es  als  eine  Todesankündigung,  wenn  am  Fenster 
eines  schwer  Erkrankten  des  Abends  ein  Ross  von  der  Strasse  her  sicht- 
bar wird;  Rochholz,  Deutscher  Glaube  und  Brauch  I,  163.  1G4. 


I«?B 


227 

der  Narr  ist.  Der  alte  Mann  findet  jeden  Morgen  sein  Kornfeld 
verwüstet;  er  wünscht  den  Zerstörer  ausfindig  zu  machen  and 
schickt  seinen  ersten  Sohn  die  erste  Nacht  auf  die  Lauer.  Dieser 
hat  jedoch  zu  viel  getrunken  ^und  schläft  ein ,  ebenso  der  zweite 
Sohn  in  der  nächsten  Nacht.  In  der  dritten  Nacht  ist  Iwan  an 
der  Reihe;  er  schläft  nicht  ein.  Um  Mitternacht  sieht  er  eine 
feuerschnauhende  Stute  daherkommen.  Er  bindet  sie  an  einen 
Strick,  springt  auf  sie,  packt  sie  bei  der  Mähne  und  bezwingt 
sie;  endlich  verspricht  die  Stute,  um  loszukommen,  Iwan  eines  von 
ihren  Jungen  zu  geben,  und  führt  ihn  in  den  Stall,  wo  sich  ihre  drei 
Jungen  befinden.  Sie  giebt  Iwan  ein  kleines  buckliges  Pferdchen  mit 
langen  Ohren  (den  indischen  Uccaihgrava),  welches  fliegt  Vermittelst 
dieses  buckligen  Pferdchens  soll  Iwan  sein  Glück  machen;  als  er 
es  fortfuhrt,  folgen  ihm  die  Stute  und  die  beiden  anderen  Füllen. 
Iwans  beide  Brüder  stehlen  die  Stute  und  die  beiden  Füllen  und 
gehen,  sie  dem  Sultan  zu  verkaufen.  Iwan  trifft  wieder  mit  ihnen 
zusammen  und  die  drei  Brüder  stehen  als  Stallknechte  in  Diensten 
des  Sultans ;  einige  Zeit  darauf  rettet  sich  Iwan  durch  sein  Pferd- 
chen vor  dem  Ertrinken. 

In  dem  dritten  russischen  Mährchen  bei  Erlen  wein  wird 
der  Stute  des  Tzaren,  die  das  Wasser  getrunken  hatte,  in  wejchem 
ein  gewisser  Fisch  (in  dem  neunzehnten  Mährchen  ein  Hecht)  ge- 
gewaschen war,  ein  Hengst  geboren,  zu  derselben  Zeit  als  des 
Tzaren  Tochter  und  ihre  Magd  zwei  Helden  Iwan  Tzarevic  und 
Iwan  Dievic  —  d.  h.  Hans  des  Tzaren  und  Hans  des  Mädchens  -- 
das  Leben  schenken,  Repräsentanten  der  A^vins.  Iwan  Tzarevic 
reitet  auf  dem  Hengst.  Im  neunzehnten  Mährchen  heisst  der  Sohn 
der  Stute  Demetrius  des  Tzaren  (Dmitri  Tzarevic),  mit  Identifi- 
cirung  des  Helden  und  des  Pferdes.  In  dem  fünften  Erlen- 
weinschen  Mährchen  geht  ein  Kosak  in  den  Wald,  wo  er  in 
die  Hände  des  Feindes  fällt,  der  ihn  in  Stücke  zu  hauen,  in  einen 
Sack  zu  stecken  und  an  sein  Pferd  zu  binden  befiehlt.  Das  Pferd 
sprengt  davon  und  bringt  ihn  in  das  Haus  von  Silber  und  Gold, 
wo  er  wieder  ins  Leben  gerufen  wird.  Während  der  folgenden 
Nacht  ziehen  ihn  ein  alter  Mann  und  eine  alte  Frau,  deren  Gast 
er  ist,  um  ihn  zu  wecken,  an  dem  Kreuz,  das  er  um  den  Hals  hat, 
und  er  wird  so  in  ein  Pferd  von  Gold  und  Silber  verwandelt. 
Gegen  Abend  wird  das  Pferd  auf  Befehl  des  Tzaren  getödtet  und 
wird  (gleich  dem  Stier  und  der  Kuh)  ein  Apfelbaum  mit  goldenen 
und  silbernen  Früchten.  Der  Apfelbaum  wird  abgehauen  und 
wird  eine  goldene  Ente.    Die  goldene  Ente  ist  identisch  mit  dem 


228 

goldenen  Pferde  oder  mit  dem  wiedererweckten  Helden,  d.  h.  der 
Morgensonne.  Der  Sack  und  das  Pferd,  welche  den  in  Stücke 
gehauenen  Helden  tragen,  stellen  die  Reise  der  Sopne  in  dem 
Dunkel  der  Nacht  dar  oder  die  Reise  des  grauen  Pferdes,  des  un- 
vollkommenen Pferdes,  des  Bastard-Maulesels  oder  des  Esels. 

In  den  russischen  Mährchen  wird  femer  zwischen  dem  grauen 
und  dem  schwarzen  Pferde  ein  Unterschied  gemacht;  das  graue 
Pferd  leistet  dem  Helden  in  der  Nacht  sehr  wirksame  Hilfe,  das 
schwarze  dagegen  ist  der  Kttnder  des  Todes.  Als  im  neunten 
£rlenweinschen  Mährchen  Iwans,  des  KaufmanuBSohnes. 
Pferd  auf  die  Suche  nach  den  Pferden  der  Prinzessin  von  jenseits 
des  Meeres  geht,  erwartet  es  Iwan  am  Gestade.  Wenn  er  graue 
Pferde  hervorkommen  sehe,  so  solle  dies  das  Zeichen  sein,  dass 
sein  eigenes  Ross  lebt;  erscheinen  dagegen  schwarze  Pferde,  so 
soll  er  schliessen ,  dass  sein  eigenes  todt  ist.  Grau  ist  die  Farbe 
der  Trauer,  Schwarz  die  des  Todes. 

Bei  Afanassieff  finden  wir  neue  interessante  Data.  Iwan 
der  Dumme  lauert  während  der  Nacht  dem  Pferde  auf,  das  seines 
Vaters  Emtefelder  verwüstet  und  es  gelingt  ihm,  dasselbe  mit 
Ruthen  von  einem  Lindenbaum  zu  binden,  nachdem  es  Tabak  ge- 
rochen. Darauf  erwirbt  es  unter  Beistand  der  Schwester  des 
Helden  Nikanore  die  Fähigkeit,  die  Schwänze  von  Kühen  und 
Pferden,  wenn  es  hinter  ihnen  herrennt,  in  Gold,  wie  ihre  Homer 
oder  Mähnen  und  ihre  Flanken  in  Sterne  zu  verwandeln.  Rann 
es  ein  besseres  Bild  als  dies  vou  dem  nächtlichen  Sternenhimmel 
geben,  dessen  goldener  Schwanz  der  rothe  Abend  und  dessen, 
ebenfalls  goldene,  Vordertheile  die  Morgen-Aurora  sind  ? ' 

In  einem  andem  Mährchen  ^  haben  wir  Iwan  den  Sohn  der 
Hündin  an  Stelle  Iwans  des  Sohnes  der  Stute,  jedoch  in  derselben 
Rolle.  Iwan  der  Hündin  wird,  nachdem  er  die  drei  Prinzessinneu 
aus  dem  tiefen  Brunnen  befreit  hat,  selbst  hineingeworfen.  Das 
schwarze  Pferd  kommt  ihn  zu  befreien,  vermag  es  aber  nicht; 
das  graue  Pferd  kommt,  vermag  es  aber  ebensowenig;  das  rothe 
Pferd  kommt  und  ihm  gelingt  es,  den  Helden  herauszuziehen.  Das 
schwarze  Pferd  stellt  die  schwarze  Nacht,  das  graue  die  sich  all- 
mählich erhellende  Nacht,  das  rothe  den  rosigen  Morgen  dar, 
welcher  den  Sonnenhelden,  die  Sonne  befreit. 

Der  dritte  Brader  besteigt  ein  wunderbares  Pferd   und  ge- 


»  Afan.  V,  37. 
•  Afan.  V,  54. 


229 

langt  zuerst  zu  dem  bronzenen  SchlosS;  dann  zu  dem  silbernen, 
schliesslich  zu  dem  goldenen.  ^  Es  ist  dies  eine  Abart  desselben 
Mythus  und  stellt  in  ähnlicher  Weise  die  Sonnenfahrt  vom  Abend 
zum  Morgen  dar.  Die  nächste  mythische  Sage  spielt  jedoch  wahr- 
scheinlich vielmehr  auf  die  drei  Tage  der  Wintersonnenwende  an, 
welche  die  Sonne  zur  Rückkehr  nimmt.  Der  Held,  Theodor,  findet  ein 
eben  erst  geworfenes  Pferd,  das  die  Wölfe  ihm  zugetrieben  haben;  er 
lässt  es  drei  Dämmerungen  lang  im  Thau  weiden  (gleich  dem  un- 
garischen Tatos,  der  sich  von  goldenem  Hafer  auf  einem  Silber- 
felde nährt;  d.  h.  der  während  der  Silbemacht  oder  auch  während 
der  weissen  Dämmerung  oder  des  schneeigen  Winters  die  thauigen 
Feuchtigkeiten  des  Frühlings  oder  der  Morgen-Aurora  einsaugt). 
Den  ersten  Tag  wird  das  junge  Pferd  so  hoch  wie  ein  halber 
Baum ;  den  zweiten  höher  als  ein  Baum ,  den  dritten  Tag  ist  es 
so  hoch  wie  der  Himmel  und  trägt  den  Helden  Theodor  und  sein 
Weib  Anastasia  auf  seinem  Rücken. 

Iwan  Durak  wacht  drei  Nächte  am  Grabe  seines  Vaters.  ^ 
Sein  Vater  verkündet  ihm,  wenn  er  in  einer  Zeit  der  Noth  mit 
einem  Heldenpfiff  ein  Zeichen  geben  werde,  so  werde  ein  wunder- 
bares graues  Pferd  erscheinen,  ihm  zu  helfen,  dessen  Augen  Flammen 
sprühen  und  dessen  Nüstern  Dampf  schnauben.  Iwan  thut  es  und  das 
Ross  erscheint ;  er  geht  zu  seinem  rechten  Ohr  hinein  und  kommt  zum 
linken  wieder  heraus.  Vermittelst  dieses  Pferdes  gelingt  es  Iwan, 
drei  Mal  das  hoch  oben  an  den  Mauern  des  Palastes  aufgehängte 
Bild  der  Tochter  des  Tzaren  herabzuholen  und  er  erhält  so  die 
schöne  Prinzessin  zur  Gemahlin. 

Nach  einer  andern  Variation  dieses  Mährchens  ^  geht  Iwan, 
der  dritte  und  närrische  Bruder,  mit  dem  werthlosesten  Gaul  aus 
dem  Stalle  unter  freien  Himmel  und  ruft  das  graue  Pferd  mit 
lautem  Schrei  herbei;  er  geht  zu  einem  Ohr  in  dasselbe  hinein 
und  kommt  zum  andern  wieder  heraus.  Zwei  junge  Reiter  (die 
Agvins)  erscheinen  ihm  und  lassen  ein  Pferd  mit  goldener  Mähne 
und  Schwanz  erstehen ;  auf  diesem  Pferde  gelingt  es  Iwan ,  die 
Tochter  des  Tzaren  durch  zwölf  Spiegel  (den  Eisberg  des  ehst- 
nischen  Mährchens)  hindurch  zu  küssen,  welche  damit  seine  Ge- 
mahlin wird.  Hier  finden  wir  also  das  hässliche  Pferd,  das  von 
den  beiden  Reitern  schön  gemacht  wird;  ^vekhe  durch  die  beiden 


'  Afan.  I,  6. 

»  Ib.  n,  25.  —  Vgl.  ni,  5.    IV,  27. 

»  AfaiL  n,  28*      .      . 


230 

Ohren  des  grauen  Pferdes,  aus  denen  sie  kommen ;  dargestellt 
werden.  Diese  beiden  Reiter  geben  dem  Helden  ein  besseres 
Ross.  Wohl  verstanden :  ihr  eigen  Schlachtross  (d.  h.  das  Sonnen- 
ross)  wurde  aus  einem  hässlichen  oder  eselartigen  während  der 
Nacht  ein  schönes  und  edles ;  so  müssen  wir  auch  in  dem  Küllaros 
der  Dioskuren  wahrscheinlich  einen  Renner  erkennen  ^  der  aus 
einem  Esel  in  ein  Heldenross  verwandelt  ist. 

Bisweilen  haben  wir  jedoch  statt  des  Pferdes  nur  seinen  Kopf. 
Die  Stiefmutter  verfolgt  des  alten  Mannes  Tochter; '  die  Verfolgte 
findet  den  Kopf  einer  Stute,  welcher  sie  ersucht,  ihn  zu  bedecken ; 
schliesslich  lädt  er  sie  ein,  zum  rechten  Ohr  hineinzukriechen  und 
zum  linken  wieder  herauszukommen.  Als  sie  das  gethau,  ist  sie 
ein  ausserordentlich  schönes  Mädchen.  Die  Stiefmutter  sendet  die 
eigene  Tochter,  um  dasselbe  Verschönerungsmittel  zu  probiren; 
doch  diese  behandelt  den  Kopf  der  Stute  schlecht  und  wird  von 
ihm  verschlungen. 

Eine  ganz  besonders  deutliche  Anspielung  auf  die  A^vins  liegt 
in  der  44.  Erzählung  des  fünften  Buches  bei  Afanassieff, 
welche  mir  eine  vollgiltige  Bestätigung  der  gegebenen  Deutungen 
zu  sein  scheint.  Als  Basilika,  das  von  der  Stiefmutter  verfolgte 
Mädchen,  sich  dem  Hause  der  alten  Hexe  (baba-jega)  nähert,  »ieht 
sie  einen  schwarzen  Reiter  auf  das  Thor  desselben  lossprengen, 
ganz  schwarz  gekleidet ,  auf  einem  Rappen ,  der  unter  die  Erde 
verschwindet,  worauf  die  Nacht  hereinbricht.  ^  Als  der  Tag  zu 
erscheinen  beginnt,  sieht  Basilika  einen  weissen  Reiter  vor  sich, 
ganz  weiss  gekleidet,  auf  einem  Schimmel  mit  weisser  Schabracke. 
Die  Jungfrau  geht  weiter;  als  die  Sonne  aufzugehen  anfangt,  sieht 


'  Ib.  IV,  41.  —  lu  dem  21.  Erleuwei  u'scbeu  Mährcheu  erlangt  der 
arme  Bruder  Reich thuiu  vermittelBt  des  Kopfes  einer  Stute,  während  da> 
gegen  der  reiche  Bruder  arm  wird.  —  Bei  A  fan.  V,  21  kriecht  derZwerg- 
knabc,  der  grosse  Kraft  besitzt,  in  das  Ohr  eines  der  beiden  Pferde  beim 
Pflügen,  worauf  sie  ganz  von  allein  ihre  Arbeit  verrichten,  und  der  alte  Vater 
des  Zwerges  sich  zur  Ruhe  setzen  kann.  —  lu  dem  sechsten  kalmükischen 
Mährchon  bringt  der  Kopf  des  todten  Pferdes,  vom  Baume  gefallen,  Reich- 
thum  und  Glück  demjenigen,  welcher  ihn  fallen  lässt  und  der  einen  gol- 
denen Becher  darunter  findet :  dies  ist  eine  Erscheinungsform  der  Ambro- 
sia^  welche  aus  dem  Pferdekopf  kommt,  wie  wir  weiter  unten  finden  werden. 

■  Der  russische  Text  scheint  mir  zu  wichtig  für  die  Geschichte  der 
Mythen,  als  dass  er  hier  nicht  eine  Steile  finden  sollte:  „ledietapiät  vsad- 
nik:  sam  cornoi,  adiet  va  vsiem  <^oruom^  na  dornom  kauid;  padskakäl  k 
varötiim  babijaghi  i  is-desz,  kak  skvosz  szemlin  pravalilsia  *,  oastäla  noc/^ 


231 

« 

sie  einen  rothen  Reiter,  ganz  roth  gekleidet,  auf  einem  Fuchs.  ^ 
Der  Mythus  bedarf  keines  Commentars;  doch  wird  uns  derselbe 
noch  obendrein  in  dem  Mährchen  selbst  von  der  flexe  gegeben, 
welche  um  die  Neugierde  Basilicas  zu  befriedigen,  ihr  enthtlllt, 
dass  der  schwarze  Reiter  die  dunkle  Nacht  (noc  tiömnaja),  der 
weisse  Reiter  den  hellen  Tag  (dien  jasnoi)  und  der  rothe  Reiter 
die  kleine  rothe  Sonne  (siolnishko  krasnoje)  darstellt. 

Von  der  slavischen  zur  asiatischen  Sage  zurückkehrend  treffen 
wir  dieselben  Mythen. 

Beginnen  wir  mit  dem  dämonischen  Pferde  oder  dem  Pferde- 
dämon. Schon  der  Rigveda  kennt  ihn;  das  Ungeheuer  Yätu- 
dhana  nährt  sich  bald  von  Menschentieisch  (gleich  dem  Bucephalus 
der  Alexandersage),  bald  von  Pferdefleisch  und  bald  von  Kuhmilch. 
Wie  wir  sagten,  es  ist  wahrscheinlich,  dass  der  Brauch,  eine  bren- 
nende Lampe  in  den  Ställen  zu  halten,  eine  Art  Bann  gegen  den 
Dämon  ist;  der  Rigveda  erzählt  auch  wirklich,  dass  Agni  (d. 
h.  flammendes  Feuer)  solchen  Ungeheuern  die  Köpfe  abschlug.  * 
Doch  noch  mehr:  Der  Rigveda  liefert  uns  in  demselben  Hymnus 
den  Beweis  für  eine  andere  Ideutificirung.  Wir  sahen  im  vorigen 
Kapitel ,  wie  Rebba ,  der  Rufer ,  der  dritte  Bruder  ist ,  den  seine 
neidischen  und  treulosen  Brüder  in  den  Brunnen  warfen;  und 
wir  sahen  oben,  wie  Iwan,  welcher  ebenfalls  der  dritte  Bruder  ist, 
mit  helltönender  Stimme  das  graue  Ross  anruft,  das  ihm  helfen 
soll  und  wie  derselbe  Iwan  der  einzige  ist,  welcher  das  Pferde- 
ungeheuer entdeckt,  das  die  Saat  oder  die  Ernte  seines  Vaters 
verwtistet.  In  demselben  vedischen  Hymnus ,  wo  Agnis  Flamme 
dem  Ungeheuer,  das  die  Pferde  quält,  die  Köpfe  abschlägt,  wird 
Agni  (d.  h.  Feuer)  angerufen,  damit  der  Held  Rebha  das  Unge- 
heuer sehen  kann,  das  mit  seinen  Hufen  Verwüstung  anrichtet.  ^ 


'  Idiot  anä  i  draszit.  Vdrüg  skadet  mimo  iejft  vsadnik  sam  bieloi, 
adict  V  bielom,  kon  pod  nini  bieloi,  i  sbruja  na  kani^  bi^Iaja;  Da  dvarid 
8talo  raszvictät.  Idiot  anä  dalshe,  kak  skadet  drugoi  vsadnik;  sam  kras- 
noi,  adidt  v  krasnom  i  na  krasnom  kani(t;  stalo  vshodit  sointze. 

^  Yah  paurusbeyena  kravishä  samankte  yo  a^vyena  pa^unä  yätudhäuah 
yo  aghnyäyä  bharati  kshiram  agne  tesbäm  Qirsbäni  barasäpi  vri^a;  Rigv. 
X,  87,  16.  —  Vgl.  den  Drachcu,  der  die  Pferde  quälbt,  im  Tuti-Namo  bei 
Kodcn  II,  p.  301  ff. 

'  Tad  agne  dakshuh  prati  dhehi  rebhe  ^apbärugam  yena  pa^yasi  yatu- 
dhaiian*;  Rigv.  X,  87,  12.  —  Der  von  Viahnu  getödtete  Dämon  Hayagriva 
(d.  h.  Pferdehals)  und  Haya^iras  (d.  h.  Pferdekopf)»  *iöd  ein  anderes 
Kicseuungeheuer  Kämäy.  IV,   43.  44,    geben    immer  auf  den  vedischen 


232 

Rebha  und  Bhugyu  sind  zwei  Namen  des  Helden,  welcher  in  den 
Brnnnen  föllt,  im  Kigveda.  Wir  sahen  vorbin  in  dem  russischen 
Mährchen,  dass  Iwan,  der  dritte  Bruder,  welcher  in  den  Brunnen 
geworfen  wird,  von  dem  rothen  Pferde  befreit  wird.  Die  Agvins 
befreien  im  Rigveda  Bhngyn  aas  dem  See  vermittelst  rotbgeflU- 
gelter  Rosse.  *  Hier  ist  das  graue  und  unvollkommene  Pferd  der 
Nacht  ein  rothes  geworden.  In  demselben  vedischen  Hymnus  wird 
Rebha,  der  von  den  Wassern  überwältigte,  mit  seinem  eigenen 
Pferde  identificirt  (Iwan  ist  der  Sohn  der  Hündin  oder  der  Kuh 
oder  der  Stute),  indem  er  mit  einem  von  Bösen  verstecktem  Pferde 
verglichen  wird.  * 

Wir  sahen  oben  in  dem  russischen  Mährchen  wie  die  beiden 
Reiter,  welche  aus  dem  Ohr  des  grauen  Pferdes  herauskommen, 
dem  närrischen  Iwan,  der  ein  hässliche»  und  werthloses  Pferd 
hat,  einen  prächtigen  Zelter  geben,   mit  welchem  dieser  all  die 


a<;va-yätudhäoa  zurück.  Wir  sind  scboa  mit  dem  Dämon  bekanDt,  welcher 
wäbrood  der  Nacht  die  Pferde  schwitzen  und  dürr  werden  läset,  d.  h.  der 
»io  hässlich  macht.  In  der  römischen  Suge  wurden  Castor  und  Pollux, 
nachdem  sie  den  Römern  in  der  Schlacht  am  Ihcus  Regillus  beigestanden, 
am  ambrosischen  lacus  Jxitumae  gesehen  (Ovid,  Fasti,  I),  wo  sie  ihren 
Pfe^'den  den  Schwciss  mit  dem  Wasser  dieses  Sees  abwuschen,  welcher  sich 
in  der  Nahe  des  Tempels  der  Vesta  befand.  Darauf  spielt  Macaulay  an 
in  den  Versen: 

„And  washed  their  horses  in  the  well 
That  springs  by  Vesta's  fane>' 

—  Battle  of  the  Lake  Begillus,  39. 
Das  Heilwasser  der  Dioskuren  oder  Söhne  des  Glänzenden,  würde  hier  die 
Stelle  des  bei  Nacht  in  den  Stallen  angezündeten  Feuers  einnehmen,  wie 
auch  des  vedischen  Agni,  der  das  Pferdungeheuer  tödtet.  Mein  Freund  . 
Giuseppe  Pitr^  schreibt  mir,  dass  man  in  Sicilien  auf  den  Rücken  eines 
Esels,  Maulesels  oder  Pferdes,  wenn  es  in  einen  neuen  Stall  gehen  soll, 
Salz  streut  (eine  Form  der  christlichen  Taufe),  damit  die  Feen  es  nicht 
lahm  machen  können.  —  Der  Küllaros,  das  Heldenpferd  der  Dioskuren, 
ist  vielleicht  mit  dem  Worte  xvA^off,  lahm  und  krumm,  verwandt;  bevor  das 
Sonnenpferd  ein  Heldenross  wird,  ist  es  bucklig,  lahm,  msger  und  hässlich ; 
der  lahme  Held,  das  lahme  Pferd  (Esel  oder  Maulesel),  der  lahme  Teufel 
scheinen  mir  drei  penumbrae  des  Sonnenhelden  oder  der  Sonne  in  der 
Dunkelheit  zu  sein. 

»  Vibhir  Ühathur  rigrebhir  a9väih;  Rigv.  I,  117,  14.  —  Vgl.  Vll, 
69,  7. 

*  A^vam  nagülbam  ayvinä  durevair  rishim  narä  vrishana  rebham  apsu; 
Rigv.  I,  117,  4.  —  Die  A^vins  setzen  über  das  Meer  auf  einem  Wagen, 
der  einem  Schifi  gleicht;  dieser  Wagen  soll  die  Sonne  zur  Decke  haben 
—  rathena  8Üi7atvaca;  ^igv.  I,  47,  9. 


233 

schwierigen  Tbaten  voUbriogt,  die  ihm  ein  Recht  anf  die  Hand 
der  Königstochter  verleihen.  Es  i«t  merkwürdig,  wie  genau  der 
vedische  Mythus  mit  dieser  europäischen  Sage  tibereinstimmt.  ;,Üie 
Agvins  haben  dem,  der  ein  schlechtes  Pferd  hatte,  zu  seinem  ewigen 
Glück  ein  herrliches,  glänzendes  gegeben !^'^  In  einem  andern 
Hymnus  giebt  der  Gott  Agni  seinem  Verehrer  einen  frommen, 
treuen,  unbesiegbaren  und  sehr  ruhmreichen  Sohn,  welcher  Hel- 
den besiegt,  und  ein  schnelles,  siegreiches  und  unbezwingbares 
Ross.  ^ 

Wir  sahen  ferner,  wie  Iwan^  der  populärste  Typus  des  rus- 
sischen Heldeu;  immer  drei  Versuche  zu  machen  hat,  bevor  er  sein 
Unternehmen  auf  dem  wunderbaren  Rosse,  das  er  von  den  beiden 
Reitern  erhalten  hat,  vollbringt.  Der  Rigveda,  welcher  die  be- 
rühmten mythischen  drei  Schritte  Vishnus,  der  einen  grossen 
Leib  hat  (brihacäiarfra)  ^,  des  weitschreitenden  (urukrama)  * 
feiert;  Vishnus,  der  mit  drei  Schritten  den  ganzen  Himmelsraum 
durchmisst,  ^  verräth  in  einem  andern  Hymnus  das  Geheimniss, 
wie  Vishnu  dieses  göttliche  Unternehmen  vollbringen  konnte,  in- 
dem er  sagt,  dass  er,  als  er  mit  der  Stärke  Indras  diese  drei 
Schritte  machte^  von  den  beiden  schönhaarigen  Pferden  Indras  ge- 
zogen wurde  ^  (d.  h.  dass  die  beiden  A^vins  ihm  das  jsclmelle  und 
starke  Ross  liehen,  welches  ihn  zum  Siege  tragen  sollte).  Die 
drei  Schritte  Vishnus  entsprechen  also  den  drei  Stationen  Iwans, 
den  drei  Wetüäufen  des  jungen  Helden,  um  die  schöne  Prinzessin 
zu  gewinnen.    Vishnu  erscheint  auch  im  Rämäyana^  inmitten 


*  Yarn  a^vinä  dadathuh  <;vetain  a^vam  aghä^väya  f^^^vad  it  svasti; 
Rigv.  I,  116,  6. 

'  Agnis  tuvi^ravastamain  tuvibrahmänain  uttamam  atürtam  (^rävayat- 
patim  putram  dadäti  dä^ushe  —  Aguir  dadäti  »atpatim  eäsäha  yo  yudhii 
nriUiil^  agnir  atyam  raghnshjadam getäram  aparftgttam;  Rigv.  V,  25,5.6. 

»  Rigv.  I,  155,  6. 

«  \\  154,  4. 

^  Vishnor  iiu  kam  viryani  pra  vodani  yah  parthiväni  vimame  ragänsi 
yo  askabhayad  uttaram  sadhaatham  vidakramänaa  tredhorugäyah ;  Higv. 
I,  154.  1. 

*  Yadä  tti  visbnur  ogasä  trini  padd  vidakram  kd  it  te  haryatä  hari  va- 
vakaliatuh;  Rigv.  VIII,  12,  27.  —  Ich  bin  bei  der  Ucber«etsung  dee 
Wortes  vavakshatuB  der  Angabe  des  Benfeyschen  Glosaars  zum  Säma- 
veda  gefolgt,  nach  dem  Petersbui^er  Wörterbuch  würde  zu  übersetzen 
sein :  „die  beiden  Hessen  erstarken'S  Der  Leser  kann  zwischen  beiden 
Deutungen   wählen;  das  Wesen  des  Mythus  wird  dadurch  nicht  berührt. 

^  Rämfty.  IV,  40. 


234 

des  Sees  von  flüssiger  Butter,  alle  Wesen  anziehend,  in  Gestalt 
eines  Pferdekopfes.  Der  Held  und  das  Sonnen-  oder  Mondross 
sind  identisch. 

Indra  wird  aufgefordert  sein  rechtes  und  sein  linkes  (Pferd) 
zusammenzuschirreu,  sich  berauscht  seinem  lieben  Weibe  zu 
nahn.  *  Vermittelst  des  von  den  beiden  Reitern  empfangenen 
Pferdes  erlangt  der  russische  Iwan  sein  Weib;  im  Rigveda 
wurden  die  beiden  A^vins  selbst  durch  ihren  reisseud  schnellen 
Wagen  Gatten  der  Tochter  der  Sonne.  ^  Die  Pferde  der  Sonne 
werden  so  vollständig  mit  dem  von  ihnen  gezogenen  Wagen  iden- 
tiftcirt,  dass  sie  von  ihm  abhängig,  mit  ihm  vereint,  ja  sogar  von 
ihm  geboren  genannt  werden.  ^  Die  Agvins  lassen  deshalb  ver- 
mittelst des  Pferdes  das  Weib  bald  von  dem  Sonnenhelden,  dem 
alten  Cyävana,  der  wieder  jung  gemacht  ist  (Tithon),  ^  bald  von 
der  Sonne  gefunden  werden,  bald  finden  sie  sie  selbst  (vielleicht 
den  Wagen  gleich  Pferden  ziehend).  Auch  Räma,  der  im  Rä- 
mäyana^  als  Befreier  Sitäs  dargestellt  wird,  wird  mit  dem 
Sonnenrosse,  mit  der  auf  dem  Berge  geborenen  Sonne  verglichen. 

Wir  haben  in  den  russischen  Mährchen  gesehn,  wie  der  Kopf 
des  Pferdes  dieselbe  Zauberkraft  besitzt  als  das  wunderbare 
Pferd  selbst,  das  die  beiden  Reiter  dem  Helden  Iwan  geben.  So 
steht  in  dem  vedischen  Mythus  und  in  der  entsprechenden  bräh- 
manischen  Tradition  der  Pferdekopf  Dadhyanc  in  direkter  Be- 
ziehung zu  dem  Mythus  von  den  Agvins.  Der  weise  Dadhyanö 
zeigt  sich  ergeben  gegen  die  Agvins,  denen  er,  obwohl  er  weiss, 
dass  er  die  Enthüllung,  die  er  macht,  mit  seinem  Kopfe  bezahlen 
muss,  mittheilt,  was  er  über  die  Ambrosia  oder  die  Madhuvidyä 
weiss.  Die  A^vins  schenken  ihm  für  den  verwirkten  einen  Pferde- 
kopf (seinen  eigenen),  welcher  Heldenwunder  verrichtet.  Mit  den 
Knochen  des  Dadhyanc  oder  mit  dem  Kopf  des  Pferdes  Dadhyanc 
(d.  h.  der  in  Butter  oder  Ambrosia  geht),  welcher  in  dem  ambro- 
sischen See  Qaryanävat   aufgefischt  ist   (der   Kopf  des  Pferdes 


'  Yuktas  te  astu  dakshina  nta  aavyah  ^takrato  tena  gäyäin  upa 
priyäin  mandäno  yfthy  andhaso  yogä;  Rigv.  1,  8*2,  5. 

*  Tad  ü  shu  vftm  agiram  6eti  yänain  ycna  pati  bhavathah  süryftyah; 
Rigv.  IV,  43,  6.  —  Im  folgcndea  Hymnus,  Strophe  1,  wird  die  Aurora 
bald  TochttT  der  Sonne,  bald  Kuli  genannt:  Tarn  väm  ratbaih  vayam 
adyä  hnvema   prithugrayam   a^vina  samgatim   gob  —   Tab   sury&m  vahati. 

'  Katbasya  naptyah:  Rigv.  1,  50.  9. 

*  Rigv.  I,  116,  10.* 

*  VI,  9. 


235 

Vißhnu  in  dem  See  von  Butter),  *  zerstört  Indra  die  nennandnenn- 
zig  feindlichen  Ungeheuer  (wie  Simson  die  Philister  mit  der 
Eselskinnlade).  ^  Dieser  Tausch  scheint  den  Sagen,  welche  auf 
dem  Mythus  von  den  Agvins  beruhen,  gemeinsam  zu  sein,  d.  h. 
den  Sagen  von  den  beiden  Heldenbrttdern  oder  Heldengefährten. 
Im  Tuti-Name^  werden  die  Köpfe  des  Fürsten  und  des  Brah- 
manen,  die  einander  aussei  ordentlich  ähnlich  sind,  abgeschnitten 
und  dann  wieder  angesetzt;  doch  kommt  durch  ein  Versehen  der 
Kopf  des  einen  auf  den  Körper  des  andern,  so  dass  die  Frau  des 
Prinzen  in  Verlegenheit  geräth,  mit  welchem  von  beiden  sie  zu 
thun  hat.  Diese  Vertauschung  des  Gatten  (welche  der  Ver- 
tauschung des  Weibes  in  der  im  ersten  Kapitel  erwähnten  Berta- 
sage  entspricht)  ist  in  der  Sage  von  den  beiden  Brüdern  sehr 
häufig  und  endet  oft  mit  dem  Bruch  des  zwischen  ihnen  herr- 
schenden vollkommenen  Einverständnisses.  Die  beiden  Brüder 
oder  Gesellen,  die  sich  um  die  Frau  streiten,  sind  eine  Abart  der 
Sage  von  den  drei  Brüdern,  die  nach  Befreiung  der  schönen 
Prinzessin  dieselbe  unter  sich  theilen  wollen. 

Der  ßigveda  scheint  noch  nicht  deutlich  die  beiden  Agvins 
in  Uneinigkeit  darzustellen  —  sie  sind  gewöhnlich  bei  guten 
Handlungen  vereint ;  da  wir  jedoch  den  Blinden  und  den  Lahmen 
der  Veden,  welche  durch  die  Gnade  Indras  oder  der  Agvins  selbst 
geheilt  werden,  schon  kennen;  da  wir  wissen,  dass  die  Agvins 
im  Kigveda  sich  von  Dadhyanö,  der  einen  Pferdekopf  hat,  zu 
der  Ambrosia  führen  oder  sich  zeigen  lassen,  wo  dieselbe  ist, 
wahrscheinlich  um  sich  selbst  Gesundheit  und  Stärke  zu  ver- 
schaffen; da  in  der  neunten  Strophe  des  117ten  Hymnus  des 
ersten  Buches  des  Kigveda  das  wunderbare  Pferd  der  AQvins, 
welches  das  Schlangenungeheuer  tödtet  (ahihan),  nur  eins  ist; 
da  wir  wissen,  dass  die  A^vins  rennen,  um  die  Braut  für  sich 


*  Der  See  Brähmans,  den  Hanumant  im  Kämäy.  VI,  53  besucht,  hat 
die  Gestalt  einer  Pfcrdeschnauze  (hayänana). 

^  Indro  dadhico  astabhir  vptrany  apratishkutah  gaghäna  iiavatir  uava; 
Rigv.  I,  84»  13.  14.  J,  117,  2*2;  vgl.  den  entsprechenden  Commentar  Säya- 
nas.  —  Die  Knochen  dos  Heldenpferdes  besitzen  gleiche  Kraft .  wie  dna 
Pferd  selbst;  so  sahen  wir  im  vorigen  Kapitel,  wie  der  geopferte  Stier 
(rcsp.  Kuh)  mit  erneuter  Kraft  wieder  ersteht,  als  seine  Knochen  aufbe- 
wahrt werden.  —  Vgl.  über  diesen  Gegenstand  die  interessanten  und  reich- 
haltigen Details  mit  besonderer  Beziehung  auf  den  europäischen  Volks- 
glauben bei  Rochholz,  Deutschem  Glaube  und  Brauch,  I,  219 — 253. 

•  II,  24  (p.  169). 


or   Trll 

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236 

zn  gewinnen;  and  da  wir  den  Umstand  nicht  ignoriren  können, 
das»  in  dem  Mährchen  von  dem  Lahmen  und  dem  Blinden  die- 
selben,  als  ein  Weib  auf  den  Schauplatz  der  Handlung  tritt, 
einander  Leids  anzuthun  suchen;  da  wir  ferner  wissen,  dass  von 
den  beiden  griechischen  Brüdern,  den  Diosknren,  nur  einem  ein- 
zigen von  den  Göttern  die  Unsterblichkeit  verliehen  wurde;  da 
es  uns  endlich  bekannt  ist,  dass  von  den  beiden  Brüdern  nur  der 
der  wahre  Held  ist,  welcher  vermittelst  seines  Pferdes  den  Sieg 
über  das  Ungeheuer  davon  trägt,  —  so  ist  es  klar,  dass  wenn 
wir  auch  im  Kigveda  noch  nicht  den  Mythus  von  den  beiden 
BrUdern  in  Zwietracht  finden,  wir  doch  wenigstens  in  der  Am- 
brosia und  in  der  von  ihnen  gewonnenen  Braut  den  Keim  des 
angegebenen  Mythus  haben;  denn  aus  der  Vorstellung  von  dem 
bevorrechteten  Bruder  musste  sich  sehr  natürlich  die  des  neidi- 
schen herausbilden. 

In  Hesiods  Theogonie  haben  wir  die  beiden  Brüder  Chry- 
säor  und  Pegasos,  welche  der  von  Poseidon  geschwängerten  Me- 
dusa (der  Abend-Aurora)  entspringen,  nachdem  Perseus  ihr  den 
Kopf  abgehauen  hat  Pegasos,  der  jüngere  Bruder,  wird  das 
Heldenross.  Bei  Hesiod  selbst  und  in  den  Metamorphosen 
Ovids  trägt  er  den  Donner  und  die  Donnerkeile  des  Zeus.  Der 
Held  Bellerophontes  reitet  ihn  und  besiegt  mit  seiner  Hilfe  die 
Chimäre  und  die  Amazonen;  er  wird  das  Pferd  der  Aurora,  das 
Pferd  der  Musen,  das  ambrosische  Ross.  Das  Ungeheuer  Ghimära 
erscheint  in  Hesiods  Theogonie  als  die  Tochter  Typhaons  und 
der  Echidna,  der  ungeheuerlichen  Tochter  Chrys^rs.  Deshalb 
haben  wir  in  dem  Conflict,  in  welchem  Bellerophontes  mit  der 
Chimäre  liegt,  eine  Form  des  Kampfes,  welcher  zwischen  den 
Zwillingspferden  Pegasos  und  Chrysäor,  dem  göttlichen  und  dem 
dämonischen,  geführt  wird. 

In  dem  analogen  Mythus  von  den  griechischen  Dioskuren 
(den  Söhnen  des  Glänzenden  d.  h.  des  Zeus,  ganz  wie  die  ve- 
dischen  Agvins  die  Söhne  des  glänzenden  Himmels  sind ;  ^  Zeus 
wird  mit  den  Dioskuren,  wie  Indra  mit  den  Agvins  in  Verbindung 
gebracht)  finden  wir  wieder  die  Zwillinge,  welche  kämpfen,  um 
ein  Weib  wiederzugewinnen,  das  ihnen  entführt  worden  ist,  d.  h. 
ihre  eigene  Schwester  Helena.  Einer  von  den  beiden  Brüdern  ist 
sterblich,  der  andere  unsterblich;  der  letztere  mit  seinem  sterb- 
lichen Bruder  in  der  Hölle  geht  durch  die  Nacht.    Die  Doppel- 

• 

'  Divo  napftta;  Rigy.  I,  1Ö2,  1. 


237 

gestalt  der  Sonne,  die  am  Abend  sich  in  die  Nacht  versenkt  und 
in  ihr  verliertj  welche  letztere  bald  schwarz,  bald  vom  Monde  er- 
bellt ist,  und  die  am  Morgen  in  glänzender  Gestalt  hervorkommt, 
hat  den  Mythus  von  den  beiden  Brüdern  bereichert.  Der  eine 
derselben,  der  rothe  Reiter,  steht  in  besonderer  Beziehung  zu  der 
Morgensonne ;  der  andere  hängt  innig  mit  dem  Silbermonde,  dem 
weissen  Reiter,  zusammen,  und  wenn  der  letztere  fehlt,  mit  der 
unterirdischen  Dunkelheit. 

Die  beiden  Brüder  können  ohne  Schwierigkeit  aufgefasst 
werden  als  um  den  Besitz  der  Braut  streitend,  wenn  sie  dieselbe 
zvnschen  sich  haben,  da  die  ÄQvins,  als  Mondlicht  und  Sonne 
betrachtet,  wirklich  die  Aurora  zwischen  sich  nehmen.  Der  oben 
angefllhrte  vedische  Hymnus  zeigt  uns,  wie  beide  A^vins,  auf 
dem  schnell  rennenden  Wagen  anlangend,  die  Gatten  Süryäs,  der 
Tochter  der  Sonne,  wurden.  Doch  gerade  diese  Süryä  muss  sich 
in  dem  vedischen  Hochzeitshymnus  mit  einem  Gatten  begnügen, 
welcher  Soma  heisst,  so  dass  die  Agvins  nur  den  Platz  von  Braut- 
führern einnehmen  können.  Die  A^vins  würden  also  von  der 
Hochzeit  der  Süryä  als  Hauptpersonen  ausgeschlossen  erscheinen ; 
sie  würden  uichts  weiter  als  Beisteher  sein;  und  wirklich  spielen 
sie  auch  in  den  vedischen  Hymnen  oft  diese  Rolle,  indem  sie  bald 
der  Braut  den  Gatten  zu  finden  verhelfen,  bald  den  Gatten  sein 
Weib  wiedergewinnen  lassen.  Wir  wissen  bereits,  dass  durch 
ihre  Vermittelung  Cyavana,  die  alte  Sonne  (ein  vedischer  Tithönus), 
wieder  jung  wurde  und  im  Stande  war,  die  Aurora  zu  heirathen; 
wir  wissen,  dass  sie  dem  Vandana  (eigentlich;  Gesicht)  die  Seh- 
kraft gaben,  dass  sie  den  Blinden  sehend,  ^  den  Lahmen  gehend 
machten  und  noch  manche  andere  Werke  der  Barmherzigkeit 
verrichteten,  welche  jedoch  viel  ruhmvoller  gewesen  wären,  wenn 
alle  diese  Handlungen  nicht  in  Wirklichkeit  immer  auf  eine 
Wohlthat  gegen  sie  selbst  als  Blinde,  Lahme  oder  Ertrunkene 
hinausliefen.  Es  ist  deshalb  sehr  wahrscheinlich,  dass  wenn  sie 
dem  Helden  eine  Braut  geben,  sie  sich  dieselbe  bald  als  Mond- 
bald  als  Sonnenhelden  selbst  aneignen.  Wenn  wir  also  lesen, 
dass  die  A^vins  als  Brautführer  bei  der  Hochzeit  der  Söryä  und 
des  Soma  zugegen  sind,  so  sind  wir  sehr  geneigt  zu  denken,  dass 
in  diesem  Falle  hinter  dem  Soma  einer  der  beiden  A^vins  steckt 


'  SushupväQsam  na  nirriter  upasthe  süryam  na  dasrä  tamasi  kshiyan- 
tarn  ^ubhe  mkmam  na  dar^atam  nikhätam  nd  üpathur  a9yinä  vandanfiya ; 
Rigv.  I,  117,  5. 


238 

In  Indra  und  Soma,  welche  im  R  i  g  ?  e  d  a  oft  zusammen  besungen 
werden,  haben  wir  meines  Erachtens  eben  nur  eine  andere  Er- 
scheinungsform der  Afvins,  und  dies  scheint  mir  um  so  glaub- 
hafter, als  ich  sie  beide,  gleich  den  ÄQyins,  in  einem  und  dem- 
selben Pferde  personificirt  finde,  dessen  Rücken  mit  Honig  be- 
deckt und  welches  schrecklich  und  schnell  ist,  *  und  weil  sie 
zusammen  gegen  den  yätudhäna  angerufen  werden,  den  der  Held 
Rebha  durch  Gnade  der  Agvins  glücklich  entdeckt  und  fortjagt.  ^ 
DasTiiittiriya-Br ähmana^  stellt  uns  die  Tochter  der  Sonne 
(Sävitrf)  mit  dem  Namen  Sita  dar  ^ als  verliebt  in  Soma,  der  jedoch 
ein  anderes  Weib,  die  Qraddhä  (d.  h.  Treue)  liebt,  fast  als  ob 
die  Tochter  der  Sonne,  die  Aurora,  fUr  ihn  wenigstens,  ein  Sym- 
bol der  Untreue  wäre.  Wahrscheinlich  geht  dieser  Embryo  eines 
Mythus  zurück  auf  den  Uebergang  der  Aurora  von  ihrem  Liebes- 
verhältniss  mit  dem  weissen  Reiter  (der  weissen  Dämmerung}, 
wovon  man  vennuthete,  dass  es  in  besonderer  Beziehung  zu  dem 
Monde  (Soma)  stehe,  zu  ihrem  Verhältniss  mit  dem  rothen  Reiter 
(der  Sonne)  oder  vice  versa  auf  die  Aurora,  welche  am  Abend 
den  rothen  Reiter,  die  Sonne  (bald  ihren  Vater,  bald  ihren 
Gatten)  verlässt,  um  sich  dem  weissen  Reiter^  der  weissen  Däm- 
merung, dem  König  Soma  oder  dem  Silbergott  Lunus  in  die 
Arme  zu  werfen.  Ueberdies  bemerkt  schon  Yäska  im  Nirukta,^ 
dass  die  Agvins  bald  mit  dem  Tage  und  der  Nacht,  •'^  bald  mit 
der  Sonne  und  dem  Monde  identificirt  werden. 

Wenn  wir  also  lesen,  dass  die  Agvins  die  Tochter  der  Sonne 
zur  Gemahlin  erhielten  und  dass  diese  Beide  zu  Gatten  erkor,  ^'  so 
müssen  wir  die  Stelle  cum  grano  salis  verstehen  und  schliessen. 


'  Madhuprishtham  ghoram  ayäsam  aQvam;  Bigv.  IX,  89,  4. 

='  Rigv.  Villi  104,  15-25. 

'  Angeführt  bei  Muir,  Sanskrit  texts  V,  264.  —  Soma  mit  Agni 
vereinigt  im  Rigveda,  Soma  mit  Rudra  vereinigt,  scheinen  mir  identisch 
mit  Soma  vereinigt  mit  Indra.  —  Vgl.  Muir  V,  269.  270. 

*  XII,  1  angeführt  von  Muir,  Sanskrit  texts,  V,  224. 

^  In  der  Edda  finden  wir  die  A^vins  unter  den  Gestalten  von  Nacht 
und  Tag.  Odin  nahm  Natt  und  ihren  Sohn  Dag,  gab  ihnen  zwei  Pferde 
und  zwei  Karren  und  versetzte  sie  in  den  Himmel,  um  die  Erde  in 
vierundzwanzig  Stunden  zu  umkreisen.  Natt  kam  zuerst  mit  ihrem  Pferde 
Hrimtaxe  an;  dieses  spritzt  jeden  Morgen  den  Schaum  von  seinem  Ge- 
biss  auf  die  Erde;  es  ist  der  Thau.  Das  Pferd  Dags  heisst  Skenfaxc;  die 
Luft  und  die  Erde  werden  durch  seine  Mähne  erhellt. 

•  A  väm  patitvam  sakhyäya  gagmushi  yoshävrinita  genyä  yuvam  pati; 
Rigv.  I,  119,  5. 


239 

dass  bisweilen  einer  von  ihnen  vorgezogen  wurde,  sofern  der 
vedische  Hochzeitsbymnus  von  nur  einem  Gatten  Süryäs,  Na- 
mens Soma;  spricht,  mit  welchem,  wie  bemerkt,  Yäska  einen  der 
Agvins  identificirt.  Wir  lesen  bei  Pausanias  unter  griechischen 
Sitten,  dass  die  Braut,  wenn  sie  in  das  Haus  des  Bräutigams 
geführt  wurde,  einen  Wagen  zu  besteigen  und  sich  in  die  Mitte 
desselben  zu  setzen  pflegte,  den  Bräutigam  auf  der  einen,  ihren 
nächsten  Verwandten  auf  der  andern  Seite  als  Brautführer.  Die 
Bevorzugung  des  einen  der  beiden  Brüder  vor  dem  andern  weckt 
natürlich  die  Idee  eines  Streites  zwischen  ihnen;  nichtsdesto- 
weniger weiss,  wie  gesagt,  der  Rigveda,  der  uns  doch  schon 
den  Mythus  von  dem  von  seinen  Verwandten  in  dem  Brunnen 
verlassenen  dritten  Bruder  bietet,  nichts  von  einem  offenen  Kampfe 
zwischen  den  beiden  Brüdern. 

Eine  offenbar  indische  Variation  dieses  Mythus  liegt  in  der 
wohlbekannten  Episode  des  Mahäbhärata  vor,  welche  die 
Abenteuer  Sundas  und  Upasundas  erzählt,  zweier  unzertrennlicher 
Brüder,  die  in  Liebe  und  Eintracht  mit  einander  lebten,  indem 
sich  jeder  dem  Willen  des  andern  unterordnete  und  die  ihr 
ganzes  Leben  lang  sich  gegenseitig  nichts  missliebiges  gesagt 
hatten.  Die  Götter  werden  neidisch  auf  ihre  Vortreflflichkeit,  wün- 
schen sie  zu  prüfen  und  schicken  eine  Nymphe  von  bezaubernder 
Schönheit,  sie  zu  verführen.  Jeder  der  beiden  Brüder  verlangt 
bei  ihrem  Anblick  den  ausschliesslichen  Besitz  der  göttlichen  Jung- 
frau und  sie  kämpfen  um  dieselbe.  Sie  streiten  so  lange  und  so 
verzweifelt,  dass  sie  beide  sterben.  Die  Götter,  welche  auf  die 
Trefflichkeit  der  beiden  Brüder  Sunda  und  Upasunda  neidisch 
sind,  sind  dieselben  wie  die,  welche  aus  Neid  auf  das  Gute,  das 
die  AQvins  Jedermann  thun,  sie  als  himmlische  Qudras  behandeln 
unter  dem  Vorwande,  dass  sie  sich  durch  ihre  Berührung  mit 
Menschen  verunreinigen,  und  sich  weigern,  sie  als  unrein  zu  den 
Opfern  zuzulassen.  * 

In  den  Zwillingsbrüdern  Nakula  und  Sahadeva,  den  Söhnen 
der  Agvins,  leben  die  Agvins  selbst  wieder  auf,  werden  besser  ge- 
macht, nach  dem  Ausdruck  des  ersten  Buches  des  Mahäbhä- 
rata. Der  erstgeborene,  Nakula,  ist  vielleicht  der  wirkliche  Agvin, 
welcher  das  Ungeheuer  tödtet.    Nakula  ist  der  Name,  welcher  dem 


'  Vgl.  die  Sagen  über  den  von  den'Aijvins  geheilten  Cyavana  im  (^a- 
tapatha  Brähmana  und  im  Mahäbhilrata,  angeführt  von  Muir, 
Sanskrit  texts  V,'  250  ff. 


240 

viverra  ichneumon  gegeben  wurde,  dem  Todfeinde  der 
Seblangen,  welcher  uns  auf  das  Pferd  Abiban  (Schlangent^ter) 
zurückfuhrt,  wie  das  Pferd  der  Agvins,  oder  vielleicht  vielmehr 
eines  der  Agvins,  im  Bigveda  genannt  wird.  Von  den  beiden 
Dioscuren  ist  ferner  auch  nur  einer  speciell  der  Reiter;  der  an- 
andere ist  der  Tapfere  im  'Kampf.  *  Der  sterbliche  Bruder ,  der 
welcher  in  der  Hölle  zu  bleiben  und  gegen  die  Ungeheuer  der 
Nacht  zu  kämpfen  hat,  ist  Gastor  der  Reiter.  Pollux  dagegen, 
der  starkarmige,  ist  der  unsterbliche^  die  Tagessonne,  der  welcher 
den  von  seinem  Bruder  in  der  Nacht  erfoehtenen  Sieg  sich  zu 
Nutze  macht,  bei  welchem  nächtlichen  Kampfe  die  Oandharvas 
(die  Pferde,  welche  in  den  Wohlgerttchen  wandeln)  auch  auf 
Kriegsrossen  reiten,  heldischen,  unverwundbaren,  göttlichen,  ausser- 
ordentlich schnellen,  welche  nach  Belieben  die  Farbe  ändern  — 
die  Gandharvas,  deren  Stärke  während  der  Nacht  wächst,  wie 
einer  von  ihnen  im  Mahäbharata  den  Ar^una  belehrt,  als  er 
ihm  Gandharvische  Wissenschaft  mittheilt.  ^ 

Im  Rämävana  werden  die  beiden  Brüder  R&ma  und  Lak- 
shmana  mit  den  A^vins  verglichen,  der  Sonne  und  dem  Monde, 
als  einander  ähnlieh,  und  ihre  gegenseitige  Liebe  erinnert  uns  an 
die  der  A^vins.  ^  Räma  und  Lakshmana  leben  immer  in  Frieden 
mit  einander;  hier  ist  jedoch  eine  Stelle,  die  als  Verbindungs- 
glied zwischen  dem  Mythus  von  den  beiden  freundlichen  und  dem 
von  den  beiden  feindlichen  Brüdern  dienen  könnte:  als  Rama 
allein  im  Walde  tausende  von  Ungeheuern  bekämpft,  bleibt  Lak- 
shmana mit  Sttä  in  einer  Höhle  verboi^n. 

Doch  zeigt  uns  das  Rämäyana  selbst  die  beiden  Brüder 
in  offenem  Kampfe  in  der  Sage  von  den  beiden  Brüdern  Bälin 
und  Sugrfva,  den  Kindern  der  Sonne,  schön  wie  die  beiden  A^vins, 
so  vollständig  einander  gleich,  dass  es  unmöglich  ist,  sie  von 
einander  zu  unterscheiden  und  dass  Räma,  als  er  dem  Sugriva  zu 
Gefallen  den  Bälin  tödten  will,  nicht  weiss,  welchen  er  schlagen 
soll ,  bis  Sugriva  sich  einen  Kranz  aufs  Haupt  setzt ,  als  Zeichen 
der  Wiedererkennung.  ^    Einst  waren  Bälin  und  Sugriva  innige 


'  Rigv.  I,  8,  ^2  wünschen  auch  die  Anrufer  Indras  gegen  die  Feinde, 
die  Ungeheuer  Mushtihatyayft  und  Arvatü  mit  der  Faust  und  zu  Pferde  zu 
kämpfen. 

*  M  b  h.  I,  0484-6604. 

«  Ramäy.  I,  49.    II,  7. 

*  IV,  12. 


241 

Freunde ;  doch  um  eines  Weibes  willen  wurden  sie  Todfeinde. 
Sngrtya  klagt;  Bälin^  sein  älterer  Bruder,  habe  ihn  seines  Weibes 
Rumä  beraubt;^  doch  ist  es  nicht  gewiss^  ob  nicht  yielmehr  Su- 
griva  Bälins  Weib  gestohlen.  Bälin  scheint  speciell  die  Abendsonne 
darzustellen;  das  Rämäyana^  sagt  von  ihm,  während  die  Sonne 
nicht  am  Himmel  stehe  (d.  h.  in  der  Nacht),  gehe  er  ohne  zu  er- 
müden von  dem  westlichen  nach  dem  östlichen  Ocean ;  damit  wird 
die  vermuthete  Fahrt  der  Sonne  in  dem  Ocean  der  Nacht,  in  der 
Höhle  oder  der  Dunkelheit  geschildert.  Als  Bälin  in  der  Höhle 
ist,  wird  er  von  seinem  Bruder  Sugriva  verrathen.  Als  die  beiden 
Bmder,  Bälin  und  Sugrfya,  noch  gute  Freunde  sind,  ziehen  sie  zu- 
sammen ans,  dem  Ungeheuer  Mäyävin  nachzujagen  (dem  Bruder 
Dundubhis,  welcher  im  Rämäyana'  selbst,  in  der  Gestalt  eines 
dämonischen  Bttffels  gegen  Bälin  nahe  dem  Eingang  der  Höhle 
kämpft).  Der  Mond  geht  auf,  um  ihnen  den  Weg  zu  zeigen. 
Das  Ungeheuer  entkommt  in  die  Höhle,  in  welche  Bälin  ihm  nach- 
eilend eindringt,  während  Sugrtva  draussen  bleibt  und  seine  Rttck- 
kehr  erwartet.  Nach  geraumer  Zeit  sieht  Sugriva  Blut  aus  der 
Höhle  fliessen  (in  analogen  Sagen  ist  es  statt  Blut  ein  Schatz; 
oder  auch  eine  Prinzessin  oder  schöne  Jungfrau  tritt  heraus  in 
glänzenden  Gewändern).  Das  ist  das  Blut  des  von  Bälin  ge- 
tödteten  Ungeheuers;  doch  Sugrtva  hält  es  fUr  das  seines 
Bruders  Bälin.  Er  kehrt  heim,  erklärt,  indem  er  öffentlich  seinen 
Kummer  zeigt,  dass  Bälin  todt  ist  und  lässt  sich  an  seiner  Statt 
die  Rönigskrone  aufsetzen  (vielleicht  auch  mit  der  Krone  das 
Weib  seines  Bruders  geniessend).  Mittlerweile  versucht  Bälin, 
nachdem  er  das  Ungeheuer  Mäyävin  getödtet,  aus  der  Höhle  zu 
kommen,  findet  jedoch  den  Zugang  verschlossen.  Als  den  Urheber 
dieser  abscheulichen  Handlung  vermuthet  er  seinen  Bruder  Sugrtva ; 
nach  gewaltigen  Anstrengungen  gelingt  es  ihm,  eine  Oefifhung  zu 
finden ;  er  kommt  heraus,  kehrt  heim  in  den  Palast  und  vertreibt 
Sugrtva  daraus,  den  er  auch  später  immer  verfolgt.^  Sogar  Aügada, 
Bälins  Sohn,  beschuldigt  eines  Tages  Sugriva,  gegen  den  er  aufge- 
bnuiht  ist,  einst  seinen  Bruder  Bälin  in  der  Höhle  eingeschlossen 
zu  haben,  um  sich  in  den  Besitz  seines  Weibes  zu  setzen. 

Im  Avesta  scheint  mir  der  Name  und  der  Mythus  von  Kerefä^pa 


•  IV,  7.  17. 

»  IV,  10. 

•  Rftmfty.  IV,  8. 

Gobernntl«,  nie  Tliipre.  16 


1, 


242 

f 

von  besonderem  Interesse  zu  sein.  Dem  Zendwort  kere^ägpa  ent- 
spricht sanskritisches  kri^ägya  (der  Name  eines  kriegerischen 
Rishi  und  Helden),  d.  h.  der  mit  dem  magern  Pferde.  Der  Held 
Eere^äfpa  hat  im  Avesta  einen  Bruder  Namens  Urväksha  (ein 
Wort,  das  vielleicht  gleich  urvä^pa  ist;  das  zugegeben,  würde 
urväksha  den  mit  dem  fetten  oder  grossen  Pferde  bedeuten.  >) 

Wir  bemerkten  schon,  dass  der  vedische  wie  der  slavisohe 
Held  sein  Glück  mit  einem  hüsslichen  und  schlechten  Pferde  be- 
ginnt; so  ist  auch  der  Held  Kere^agpa  von  den  beiden  Brüdern 
des  Zend-Mythus  der  gute,  heldische  und  wahrhaft  ruhmvolle. 
Doch  wird  in  einer  der  Sagen  von  EercQ&gpa  gesagt,  dass  der- 
selbe voll  Ungeduld  das  Feuer  geschlagen  habe,  weil  es  auf 
seinen  Wunsch  nicht  schnell  genug  herbeikam.  Für  diese  Sünde 
ist  er  von  den  späteren  Parsen  in  die  Hölle  gewiesen  worden '-* 
(die  Abendsonne,  welche  in  die  unterirdische  Nacht  hinabsteigt); 
der  Mythus  von  Keregägpa  und  Urväkshya  ist  augenscheinlich 
eine  persische  Gestaltung  des  Mythus  von  den  Dioskuren,  welche, 
wie  mir  scheint,  noch  einmal  in  den  beiden  Zendbrüdern  Gusta^p 
und  AQpäyaodha  (der  mit  dem  Pferde  kämpft)  wiedererscheinen. 

In  dem  Epos  Firdusis  scheinen  mir  die  beiden  Brüder  Piran 
und  Pilsem,  die  zusammen  gegen  die  Turanier  kämpfen  und  von 
denen  der  erstere  und  ältere  den  letzteren  und  jüngeren  aus  den 
Gefahren  befreit,  welchen  er  unter  den  Feinden  ausgesetzt  ist, 
Wiederverkörperungen  desselben  Mythus  zu  sein. 

Wir  finden  den  wolkigen  oder  finsteren  Nachthimmel  im  Rig- 
veda  und  im  Avesta  als  a^man  oder  Berg  von  Stein  dargestellt 
Als  die  Abendsonne  auf  den  Berg  föUt,  wird  dieser  zu  Stein  und 
der  ganze  Himmel  nimmt  die  Farbe  dieses  Berges  an.  Als  der 
Held  des  Volksmährchens  das  Ungeheuer  verfolgt,  verbirgt  sich 
letzteres  unter  einem  Felsen;  der  Held  hebt  den  Felsen  auf  und 
steigt  in  die  Höhle  hinab,  d.  h.  verbirgt  sich  selbst  in  dem  Berge 
von  Stein  oder  verwandelt  sich  in  Stein,  und  wenn  er  ein  Pferd 
hat,  erleidet  dieses  dieselbe  Umgestaltung. 

In  der  Erzählung  von  der  Merhuma,  die  gesteinigt  wird  (der 


*  Der  persische  Held  erhält  oft  den  Namen  nach  seinem  Pferde  oder 
seinen  Pferden;  daher  Namen  wie  Kere9äQpa,  Vistfi^pa,  Ar^ä9p,  Gustä^p, 
YapäQp,  Pörusha^pa,  A^päyaodha  etc. 

*  Vgl.  Spiegel,  Avesta  II,  7*2.  —  In  den  serbischen  Mäbrcben  von 
Wnck  schläft  einer  von  zwei  Brüdern,  mit  allen  seinen  Leuten  in  Stein 
verwandelt,  bis  der  andere  kommt^  ihn  zu  befreien  und  wiedersuer wecken. 


243 

iÄ  Berge  von  Stein  verlorenen  Aurora),  im  Tuti-Name*  haben 
wir  den  von  einem  Dämon  besessenen  Bruder,  welcher  das  Weib 
seines  Bruders  verführt,  während  dieser  auf  Reisen  ist.  In  der 
Erzählung  von  Mansür  im  selben  Tuti-Name^  nimmt  der 
widerwärtige  Fari  ganz  die  Gestalt  des  abwesenden  Gatten  an 
und  bringt  es  dahin,  dessen  Weib  zu  verführen.  Das  sind  zwei 
Gestaltungen  des  Mythus  von  den  Agvins. 

Das  fünfte  kalmückische  Mährchen  (indischen  Ursprungs)  ist 
ganz  unverkennbar  eine  Reproduction  des  Mythus  von  den  A^vins, 
sogar  bis  auf  die  mythischen  Namen.  Der  König,  Eun-snang 
(der  Allerleuchtende,  gleich  dem  vedischen  Vigvaveda  und  dem 
slavlschen  Vsieveda,  dem  Allseher),  hat  von  zwei  Müttern  zwei 
Söhne  —  „Sonnenschein"  (im  Jahre  des  Tigers  geboren ;  vielleicht 
im  soMeo,  im  Juli,  im  Sommer,  unter  dem  Sonneneinfluss)  und 
„Mondschein".  Die  zweite  Frau  liebt  ihren  Stiefsohn  Sonnenschein 
nicht  und  verfolgt  ihn;  doch  die  beiden  Brüder  sind  einander 
treu  ergeben  und  als  Sonnenschein  (gleich  Räma)  flieht,  begleitet 
ihn  Mondschein  (wie  Lakshmana  dem  Räma,  wie  die  weisse 
Monddämuierung  der  Sonne  im  Walde  der  Nacht  folgt).  Auf  dem 
Wege  iUllt  Mondschein  verschmachtend  nieder;  Sonnenschein  geht, 
um  Wasser  für  ihn  zu  suchen;  doch  unterdessen  stirbt  Mond- 
schein. ^  Sonnenschein  kommt  zurück  und  geräth  bei  dem  An- 
blick des  todten  Bruders  in  Verzweiflung;  ein  Eremit  hat  jedoch 
Mitleid  mit  ihm,  ruft  Mondschein  wieder  ins  Leben  und  nimmt 
die  beiden  Brüder  selbst  an  Kindesstatt  an.  Nahe  seiner  Woh- 
nung ist  ein  Reich,  wo  die  Drachen  das  Wasser  zurückhalten, 
wenn  ihnen  nicht  alljährlich  ein  Jüngling  aus  dem  Tigerjahr  vor- 
geworfen wird.  Es  kommt  heraus,  dass  Sonnenschein  diese 
Eigenschaft  hat  und  er  wird  fortgeführt  vor  den  König  dieses 
Landes.  Die  Tochter  des  Königs  verliebt  sich  in  ihn  und  bittet, 
Sonnenschein  nicht  den  Drachen  vorzuwerfen.  Der  König  ist 
wüthend  auf  seine  Tochter,  und  lässt  sie  sammt  Sonnenschein  in 
den  Sumpf  werfen,  wo  die  Drachen  sind.  ^    Das  junge  Paar  bricht 

>  I,  p.  89  ff.  bei  Rosen. 

*  II  p.  15  ff. 

*  Vgl.  eine  zoologische  Abart  dieses  Mythus  in  dem  Kapitel  über  den 
Hahn  und  die  Uenne, 

^  Es  ist  das  eine  Variation  der  Sage  Yon  der  Tzarentochter,  die  sich 

in  Emil,  den  närrischen   und  faulen,   wenn  auch  vom  Glück  begünstigten 

Jungen  verliebt,  und  welche  der  empörte  Tzar  in  einen  Sack  zu  stecken 

und  sammt   ihrem  Liebhaber   ins  Meer  zu    werfen   befiehlt,   wie   wir    im 

vorigen  Kupitel  sahen. 

16* 


244 

in  BO  rührendes  gegenseitiges  Bemitleiden  aus,  dass  die  Drachen 
gerührt  werden  und  Sonnenschein  mit  seiner  jungen  Prinzessin 
frei  ausgehen  lassen.  Befreit  finden  sie  Mondschein^  der  auch 
Gatte  der  schönen  Prinzessin  wird,  indem  die  beiden  Brüder, 
gleich  den  vedischen  A^vins,  unzertrennlich  sind.  Die  drei  Per- 
sonen (weisse  Dämmerung  oder  Mondschein,  Aurora  und  Sonne) 
kehren  zusammen  in  ihr  Geburtsland  zurück ,  wo  Sonnenscheins 
Stiefmutter  (Nacht),  als  sie  sie  ankommen  sieht,  vor  Schreck  stirbt.  , 
Hier  hat  die  Sage  ihren  ganzen  mythischen  Glanz. 

Im  sechszehnten  mongolischen  Mährchen  dagegen  hat  die 
Freundschaft  der  beiden  Gesellen  keinen  Bestand  wegen  der 
Treulosigkeit  des  einen:  auf  der  Reise  im  Walde  tödtet  der  Sohn 
des  Ministers  den  Königssohn. 

In  der 'Geschichte  von  Ardshi  Bordshi  sind  die  beiden 
Männer,  von  denen  man  nicht  weiss,  welcher  der  wirkliche  Sohn 
des  Ministers  ist,  einander  in  allen  Dingen,  in  Gestalt,  Körper- 
bes^haifenheit,  Anzug  und  Pferden  so  ähnlich,  dass  sie  nicht  von 
einander  unterschieden  werden  können;  deshalb  streiten  sie  sich 
um  den  Besitz  alier  Dinge,  auch  des  Weibes  und  der  Söhne.  Einer 
ist  dem  andern  durch  Zauberkunst  gleich  gemacht;  er  ist  der 
8ohn  eines  Dämons;  der  wunderbare  Kinderkönig  bringt  das 
Geheimniss  an  den  Tag.  ^ 

Diese  Vertauschung  von  Gatten  oder  Helden  durch  dämo- 
nische Zauberkraft  kommt  oft  in  europäischen  Feenmährchen  vor, 
wie  die  Vertauschung  von  Weibern.  Der  Dämon  ist  bald  ein 
Wasserträger,  bald  ein  Wäscher,  bald  ein  Holzhauer,  bald  ein 
Kohlenbrenner,  bald  ein  Zigeuner,  bald  ein  Saracene,  und  bald  der 
Teufel  in  propria  persona. 

Die  russischen  Feenmährchen  zeigen  uns  beide  Gestaltungen 
der  beiden  Brüder  oder  Gesellen,  d.  h.  die  Beiden^  welche  Freunde 
bleiben  usque  ad  mortem,  und  den  von  seinem  treulosen  Gesellen 
Verratheneo. 

Diese  Sage  von  den  beiden  Freunden  tritt  in  einem  Afanas- 
sieflfschen  Mäbrchen  als  Thierlegende  auf.  Das  Pferd  befreit  das 
Kind  eines  seiner  Herren  von  dem  Bären,  worauf  diese  es  aus 
Dankbarkeit  besser  füttern,  während  sie  es  vorher  vor  Hunger 
fast  hatten  sterben  lassen.  Das  Pferd  (die  Sonne)  denkt  im 
Glück  an  seinen  Gesellen  im  Unglück,  die  Katze  (den  Mond),  die 
man  auch  Hunger  leiden  lässt,   und  giebt  ihr  einen   Tbeil  von 


'  Vgl.  ol.eii  Seite   103  f. 


245 

dem,  was  es  selbst  von  seinen  Herren  erhalten.  Die  letzteren 
bemerken  es  und  behandeln  das  Pferd  wieder  schlecht,  welches 
darauf  den  Beschluss  fasst,  sich  selbst  zu  tödten,  damit  die 
Katze  es  verzehren  kann;  diese  kann  es  jedoch  nicht  über  sich 
gewinnen,  ihren  Freund,  das  Pferd  aafeufressen,  *  muss  also  auch 
sterben. 

Die  beiden  Brüder,  bei  Afanassiefl,  *  von  denen  der  eine  den 
Kopf  und  der  andere  das  Herz  einer  Ente  gegessen  hat  und 
welche  deshalb  vom  Schicksal  bestimmt  sind,  der  eine  König  zu 
sein  und  der  andere  Gold  zu  speien,  fliehen  vor  ihrer  treulosen 
Mutter  (wahrscheinlich  Stiefmutter),  von  welcher  sie  in  ihres  Va- 
ters Abwesenheit  verfolgt  werden.  Sie  treffen  einen  Kuhhirten, 
der  seine  Kühe  auf  die  Weide  treibt  und  werden  gastfreundlich 
von  ihm  aufgenommen.  Dann  ihre  Reise  fortsetzend,  kommen 
sie  an  einen  Kreuzweg,  an  welchem  eine  Säule  mit  folgender 
Inschrift  steht:  „Wer rechts  (nach  Osten)  geht,  wird  König  werden; 
wer  links  geht  (nach  Westen,  in  das  Reich  Kuveras,  der  west- 
lichen Sonne,  des  Gottes  des  Reichthums;  wenn  die  Sonne  im 
Osten  aufsteigt,  geht  der  Mond  im  Westen  unter),  wird  reich 
werden."'  Einer  geht  rechts,  und  kommt  in  ein  Land,  wo  er 
erfährt,  dass  der  alte  König  gestorben  ist  (die  alte  Sonne)  und 
dass  ihm  in  der  Kirche  die  letzten  Ehren  erwiesen  werden.  Ein 
Erlass  besagt,  dass  der,  dessen  Licht  von  selbst  leuchtet,  der 
neue  Tzar  sein  soU.  *  —  Der  vedische  Gott  besitzt  ebenfalls  die 
unterscheidende  Eigenschaft  dieses  wunderbaren  Lichtes,  nämlich 
die,  von  selbst  zu  leuchten,  sich  von  selbst  anzuzünden,  d.  h.  er 
ist  svabhänu.  —  Das  Licht  unsres  jungen  Helden  also,  der  zum 
Könige  bestimmt  ist,  zündet  sich  von  selbst  an  und  er  wird  so- 
fort Bis  der  neue  König  ausgerufen.  Die  Tochter  des  alten 
Königs  (die  Aurora)  heirathet  ihn,  indem  sie  in  ihm  ihren  vorbe- 
stimmten Gatten  erkennt  und  macht  mit  ihrem  goldenen  Ringe 
(der  Sonnenscheibe)  ein  Zeichen  auf  seine  Stirn  (wie  Räma  es 
mit  Sttä  thut).  Nachdem  der  junge  Mann  (die  Sonne)  einige  Zeit 
bei  seiner  Braut  (der  Aurora)  geweilt  hat,  wünscht  er  nach  der 


'  Wir  werden  in  Bälde  den  Hasten  (den  Mond)  finden,  der  die  Stute 
verschtingt. 

»  I,  53. 

'  Vgl.  Analogien  zu  diesem  Kreuzweg«?  und  dieser  Inschrift  bei  Köhler 
zu  den  Awarischen  Texten  ed.  Scbiefner  p.  IV. 

*  U  kavö  preside  sviedft  sama  saboi  zagaritsia,  tot  tzar  budiet. 


24f) 

Seite  hinzugehen,  nach  welcher  sich  sein  Bruder  gewandt  hatte 
(d.  h.  nach  links,  nach  Westen).  Er  durcheilt  lange  Zeit  ver- 
schiedene Länder  (d.  h.  die  Sonne  beschreibt  den  ganzen  Hira- 
melsbogen,  der  sich  über  der  Erde  wölbt)  und  findet  schliesslich 
(im  westlichen  Himmel,  zum  Untergang  der  Sonne  hin)  seinen 
Bruder,  der  in  grossem  Wohlstand  lebt.  In  seinen  Gemächern 
thürmen  sich  ganze  Berge  Gold;  wenn  er  ausspuckt,  ist  Alles 
Gold ;  es  hat  gar  keinen  Platz  mehr,  Alles  unterzubringen  *  (der 
Abendhimmel  ist  eine  Goldmasse).  Die  beiden  Brüder  ziehen 
dann  zusammen  aus,  um  ihren  armen  alten  Vater  (die  Sonne  wäh- 
rend der  Nacht)  zu  finden.  Der  jüngere  Bruder  geht  sich  eine 
Braut  suchen  (wahrscheinlich  den  silbernen  Mond),  und  die  böse 
Mutter  (die  Stiefmutter,  Nacht)  wird  verlassen.  Auch  hier  trägt 
die  Sage  einen  ganz  mythischen  Charakter.  In  den  beiden 
Brüdern  erblicken  wir  bald  Dämmerung  und  Sonne,  bald  die 
beiden  Dämmerungen,  bald  die  Frühlings-  und  Herbstlichter,  bald 
die  Sonne  und.  den  Mond,  doch  immer  die  A^vins,  immer  zwei 
Gottheiten,  zwei  himmlische  Wesen,  die  eng  mit  den  Erscheinungen 
des  Mond-  und  Sonnenlichtes  zusammenhangen. 

Hier  möge  mir  die  Bemerkung  verstattet  sein,  dass  ich  es 
für  genügend  für  meinen  Zweck  halte.  Sagen,  die  einen  gemein- 
samen Ursprung  venathen,  zusammenfassend  darzustellen;  alle 
mythologischen  Elemente  der  Sagen  zu  erklären,  übersteigt  meine 
Kräfte  und  liegt  auch  ausserhalb  des  Zieles,  das  ich  mir  gesteckt 
Ich  wähle  nur  Deutungen  aus,  die  ich  fllr  der  Wahrheit  möglichst 
nahe  kommend  halte.  Allerdings  sind  die  in  der  Mythologie  ver- 
körperten Objecto  so  beweglich,  so  vielgestaltig,  dass  sie  leicht 
sich  in  eitel  Dunst,  in  ein  Nichts  auflösen,  greift  man  sie  mit 
rauhen  Händen  an,  geht  man  ihnen  zu  scharf  zu  Leibe.  Gerade 
in  dieser  Beweglichkeit,  in  dieser  Ungewissheit  liegt  aber  ihr 
Reichthum.  Erschienen  Sonne  und  Mond  immer  am  selben  Orte, 
es  würde  keine  Mythen  geben  1  Die  Mythen,  aus  welchen  die 
grösste  Anzahl  Sagen  hervorgegangen  ist,  sind  die,  welche  auf 
den  schwankendsten  Erscheinungen  des  Himmels  beruhen.'    Der 


*  Tzelijä  kudi  zolotd  v  anbarah  nasipani ;  dto  ni  plunii't  on,  to  vsid  z6- 
lotom;  dievat  niekudä! 

*  Dieser  Gedanke  kann  nicht  besser  ausgesprochen  werden,  als  es  R. 
Roth  in  seiner  Abhandlung  über  die  Sage  von  5una^^9epa  (Indische 
Studien,  Bd.  1)  gethan  hat,  dessen  Worte  hier  einen  Platz  finden  mögen: 
„Die  Deutung  der  indischen  Sagengeschichtc  sucht  noch  die  Regeln,  nach 
welchen  sie  das  überlieferte  verworrene  Material  behanden  soll.    Eine  und 


247 

Mythus  von  den  A^vins  lässt  sich  nicht  durch  mathematische 
Beweisführungen  analytisch  zerlegen  und  zwar  gerade  auf  Grund 
der  Unbestimmtheit,,  welche  in  dem  Dämmerlicht,  dem  er  seine 
Entstehung  verdankt,  liegt.  Diese  beständige  Aufeinanderfolge 
von  Schatten,  penumbrae  und  Clairobscurs ,  von  der  schwarzen 
Dunkellieit  bis  zum  Silbermond,  vom  Silbermond  bis  zum  grauen 
Zwielicht  des  Morgens,  welches  allmählich  in  die  Dämmerung 
zerfliesst,  von  der  Dämmerung  bis  zur  Morgenröthe,  von  der 
Morgenröthe  bis  zur  Sonne;  dieselben  Veränderungen,  nur  in 
umgekehrter  Reihenfolge,  am  Abend  von  der  untergehenden  Sonne 
bis  zum  röthlichen  und  blutfarbigen  Himmel  oder  der  Abendröthe, 
von  der  Abendröthe  bis  zu  der  grauen  Dämmerung,  von  der 
grauen  Dämmerung  bis  zum  Silbermonde,  von  dem  Silbermonde 
bis  zur  tiefdttstem  Nacht  —  dieser  beständige  Wechsel  von  Farben, 
die  aufeinander  stossen,  sich  vereinigen  und  ineinander  Über- 
gehen, Hess  die  Vorstellung  von  himmlischen  Gesellen,  Freunden 
oder  Verwandten  erstehen,  welche  bald  vereint,  bald  getrennt 
sind,  bald  sich  einander  lieben,  zusammenwandeln  und  einträchtig- 
lich  hinter  einander  hergehen,  bald  kampfentbrannt  auf  einander 
losstürzen,  einander  ausplündern,  verrathen  oder  vernichten,  welche 
bald  anziehen,  bald  angezogen  werden,  bald  die  Verführer,  bald 
die  Verführten,  bald  die  Betrüger,  bald  die  Betrogenen,  bald  die 
Opfer,  bald  die  Opferer  sind.  Wo  Familie  ist,  ist  Liebe:  daher 
jene  exemplarischen  Brüder,  Gatten,  Weiber,  Söhne,  Töchter, 
Väter  und  Mütter,  die  alle  voll  Zärtlichkeit  sind:  das  ist  die 
Bildseite  der  Medaille;  wo  Verwandte  sind,  giebt  es  aber  auch 
Streit,  Brüderkämpfe  aus  verliebter  Eifersi^cht  oder  aus  Neid  auf 
Beichthum,  böse  Schwiegermütter,  Stiefmütter  und  Schwägerinnen, 
tyrannische  Väter,  treulose  Weiber :  das  ist  die  Kehrseite.  Dieser 
Gegensatz  der  Geftihle  ist  schon  beim  Menseben  schwer  psycho- 
logisch zu  erklären;  um  wie  viel  mehr,  wenn  er  in  einem  my- 
thischen Bilde  analysirt  werden  soll,  das  in  einem  schnell  auf- 


dieselbe  8age  wird  vielleicht  in  zehn  verschiedenen  Büchern  in  zchtifacher 
Form  erzählt  Glaubt  man  einen  festen  Punkt  gefunden  zu  haben,  auf 
welchen  nach  einem  Berichte  die  Spitze  der  Erzählung  zusammenläuft,  so 
streben  andere  Berichte  wieder  nach  ganz  anderem  Ziele  und  treiben  den- 
jenigen, der  einen  festen  Kern  der  Sage  fassen  will,  rathlos  im  Kreise 
herum.  Die  Widersprüche,  mit  welchen  ein  Sammler  und  Ordner  grie- 
chischer Heldensagen  zu  kämpfen  hat,  sind  lauter  Einklang  und  Klarheit 
im  Vergleiche  zu  dem  wirren  Knäuel,  in  welchen  die  Willkühr  indischer 
Poeten  die  reichen  Ueberlieferungen  ihrer  Vorzeit  zusammengeballt  hat** 


248 

leuchtenden  Blitze  der  Phantasie  eine  Thiergestalt  anninunt;  am 
sogleich  wieder  zu  verschwinden?  Deshalb  müssen  wir  uns  bei 
manchen  Mythen  mit  einer  ganz  allgemeinen  Erklärung  begnügen, 
wenigstens  so  lange  als  sich  noch  nicht  neue  und  positive  Daten 
herausstellen,  auf  welche  es  möglich  sein  wird,  wie  auf  einen 
soliden  Unterbau,  die  wahre  Natur  der  mythologischen  Einzel- 
heiten zu  basiren.  So  lange  diese  Daten  fehlen,  können  wir  dem 
Leser  nur  Wahrscheinlichkeiten,  keine  Begeln  bieten.  Was  die 
vedischen  Agvins  betrifft,  so  steht  so  viel  fest:  sie  finden  sich  in 
Verein  mit  ihrem  Weibe,  der  Aurora,  nachdem  sie  durch  die  Ge- 
fahren der  Nacht  hindurchgegangen  sind  oder  nachdem  sie  die 
von  ihnen  beschützten  Helden  —  d.  h.  ihre  eigenen  Gestaltungen  als 
Helden  —  in  Stand  gesetzt  haben,  durch  dieselben  hindurchzu- 
gehn;  sie  sind  zwei  glänzende  Reiterbrüder  und  werden  speciell 
in  den  ersten  Morgenstunden  angerufen.  Die  Deutung  des  My- 
thus in  dieser  vedischen  Gestalt  dürfte  kaum  zweifelhaft  sein. 
Der  weisse  Mond  und  die  Sonne  nehmen  die  Aurora  zwischen 
sich,  d.  h.  heiratben  sie;  oder  auch:  sie  geben  dieselbe  dem  Soma 
(mit  welchem  der  eine  der  A^vins,  das  weisse  Licht  oder  Zwie- 
licht, in  besonderer  Verwandtschaft  steht)  zur  Ehe  und  spielen 
selbst  nur  die  Rolle  von  Brautführern.  Die  Aurora,  am  Morgen 
wie  am  Abend  zwischen  der  Sonne  und  dem  Monde  stehend,  ver- 
schwindet. Man  möchte  glauben,  dass  die  Dämmerung  und  die 
Sonne  sie  zusammen  zu  gleicher  Zeit  dem  König  oder  Gott  Soma 
oder  Lunus,  ftir  welchen  die  Tochter  der  Sonne  Zuneigung  fühlt, 
darbringen.  Man  möchte  ferner  glauben,  dass  sie  speciell  mit 
dem  Zwielicht,  das  in  besonderer  Verwandtschaft  mit  Soma  steht, 
vereint  war,  indem  man  beobachtet,  wie  am  Morgen  die  Aurora 
unmittelbar  auf  das  Zwielicht  folgt,  und  verschwindet,  als  sich 
die  Sonne  zeigt,  d.  h.  wieder  mit  dem  Zwielicht  zusammentrifft 
und  die  Sonne  verlässt,  und  wie  sie  sich  am  Abend,  als  die 
Sonne  sich  verbirgt  oder  als  ihr  Gatte  abwesend  ist,  wieder  mit 
dem  Zwielicht  verbindet,  mit  dem  sie  wieder  flieht  und  ver- 
schwindet, um  am  Morgen  mit  ihm  von  Neuem  zu  erscheinen. 
Weiter:  die  Abwesenheit  der  Sonne  während  der  Nacht  beschäf- 
tigte die  Phantasie  des  Volkes  nach  mancherlei  Seiten.  Wie  sehr 
auch  die  Erscheinung  des  Himmels  mit  Rücksicht  auf  den  my- 
thischen Helden  negativ  ist  —  d.  h.  sofern  der  Held  oder  Gott 
sich  vor  den  Blicken  verbirgt  -  sucht  ihn  die  Volksphantasie 
gerade  desto  mehr  mit  positiven  Eigenschaften  zu  bekleiden  und 
seine  Grösse  zu  erhöhen.    Die  grösste  von  allen  Gottheiten  ist 


249 

die,  welche  sieh  am  wenigsten  blicken  lässt;  — -  möchten  nnr  die 
römischen  Pfaffen  diese  mythologische  Wahrheit  verstehen!  Indra 
und  Zeas  sind  gross ,  wenn  sie  sich  in  der  donnernden  und 
blitzenden  Wolke  befinden.  Die  Sonne  wird  ein  Held,  als  sie 
sich  in  der  Dunkelheit  der  Nacht  und  in  der  Wolke  verliert. 
Allerdings  wird  gerade  hier  die  Erklärung  mythischer  Einzelheiten 
bedeutend  schwieriger,  weil  die  Mjrthen  jetzt  nicht  rein  auf  einer 
äusseren  himmlischen  Erscheinung  oder  bildlichen  Darstellung 
beruhen,  sondern  meist  nur  auf  einem  subjectiven  AperQU,  einer 
individuellen  Hypothese;  und  während  das  alte  Bild,  sofern  es 
eine  auf  das  einzelne  Individuum  gar  nicht  beztigliche  Objectivi- 
tät  in  sich  trägt,  immer  wieder  mit  der  neuen  Beobachtung  der 
Himmelserscheinungen,  welche  es  hervorbrachten,  in  Einklang 
gebracht  werden  kann,  ist  die  subjective  Auffassung,  als  rein  in- 
dividuelle Phantasie,  verloren  gegangen.  Die  Klarlegung  ist  des- 
halb nur  in  den  wesentlichen  Theilen,  in  den  Hauptztlgen  mög- 
lich. Wenn  man  die  Sonne  im  nächtlichen  Himmel  verschwinden 
sah,  so  erschien  dieser  Himmel  in  den  verschiedenen  Gestaltungen 
eines  Heeres,  eines  Berges,  eines  Waldes,  einer  Höhle  oder  eines 
gefrässigen  Ungeheuers,  das  den  Helden  verschlungen.  Hat  sich 
aber  die  Sonne  nur  zufällig  verirrt  oder  ist  sie  von  der  Aurora 
und  ihrem  Dämmerungs-Liebhaber  in  schändlichem  Verein  in  die 
Nacht  gestürzt  worden,  damit  sie  in  ihrer  Liebe  ungestörter  sind  ? 
Das  ist  ein  Dilemma,  dessen  zwei  Lösungen  eine  zwiefache  Reihe 
von  Sagen  begründen,  —  von  dem  Bruder,  der  vom  Bruder  ver- 
rathen  ist,  und  vom  Helden,  der  seinem  in  die  Gewalt  der  Unge- 
heuer gerathenen  unglttcklichen  Bruder  zu  Hilfe  eilt.  Die  Tages- 
zeit, welche  die  Franzosen  so  ausdrucksvoll  mit  entre  chien 
et  loup  bezeichnen,  ist  die  grosse  epische  Stunde  des  Fuchses, 
welcher  an  der  Natur  des  Hausthieres  Hund  und  des  Raubthieres 
Wolf  theilnimmt  Es  ist  die  Stunde  des  Verraths,  der  Treulosig- 
keit, der  Zweifel  und  der  mythischen  Unbestimmtheiten.  Wer 
kann  sagen,  ob  die  Aurora  durch  einen  Unfall,  der  ihrem  Gatten 
der  Sonne  zugestossen,  zur  Wittwe  geworden  oder  ob  sie  selbst 
ihn  verrathen?  —  ob  sie  eine  keusche  und  treue  Genoveva  oder 
eine  treulose  und  ttppige  Helena  gewesen  ?  Gerade  diese  mythi- 
schen Zweifel  sind  es,  welche  das  Glück  und  den  Reiz  der  Sage 
ausmachen,  wie  sie  die  Verzweiflung  der  Mythologisten  sind.  Was 
kann  ferner  die  Sonne  thun,  wenn  sie  sich  in  der  Nacht  befindet? 
Je  nach  den  verschiedenen  Gestalten,  welche  die  Nacht  annimmt, 
sind   die   Handlungen    des  in  sie    verlorenen,  in   ihr  verirrten 


250 

Sonnenhelden  modificirt  und  diese  Modificationen  lassen  sich  ohne 
eine  zu  grosse  Anstrengung  der  Einbildungskraft  erklären ;  doch 
zuweilen  können  die  Beziehungen  zwischen  dem  Helden  und 
seinen  Gesellen  oder  Brüdern  in  der  Welt  der  Todten  nur  durch 
poetische  Träume  erfasst  werden.  Wenn  man  die  Sonne  am 
Abend  in  die  dunkle  Nacht  eintreten  und  am  Morgen  heil  und 
gesund  aus  ihr  heraustreten  sieht,  nachdem  sie  die  Dunkelheit 
verscheucht  hat,  liegt  es  sehr  nahe  zu  denken,  dass  sie  die  Nacht 
hindurch  lediglich  darauf  bedacht  war,  das  Ungeheuer  zu  tödten. 
Die  Action  des  Haupthelden  bewegt  sich  innerhalb  gewisser 
Grenzen  und  ist  darum  offen  zu  Tage  liegend;  ebenso  klar  ist 
auch  die  Beziehung,  wenn  die  Aurora  als  von  demselben  Schick- 
sal wie  ihr  Gatte  oder  Bruder,  die  Sonne,  betroffen  dargestellt 
wird.  Sie  steigen  zusammen  in  die  Nacht  hinab,  welche  sie  un- 
sichtbar macht  und  tauchen  glücklich  wieder  zusammen  aus 
ihr  auf. 

Der  Mythus  wird  reicher,  wenn  sich  die  Aurora  einem  Neben- 
buhler ihres  Gemahls  in  die  Arme  wirft,  weil  der  Charakter 
dieses  Nebenbuhlers  mannigfaltig  ist.  Bald  ist  er  ein  schlauer 
Jüngling,  welcher  dem  rechtmässigen  Gatten  gleicht,  sei  es  als 
das  Zwielicht  oder  als  Lunus;  bald  ist  er  ein  wirkliches  dämo- 
nisches Ungeheuer,  der  Dämon  selbst,  die  schwarze  Nacht.  Im 
Verhältniss  zu  der  Mannigfaltigkeit  der  Gestaltungen  und  Be- 
ziehungen, welche  des  Helden  Nebenbuhler  annimmt,  wird  der 
Mythus  verwickelter  und  seine  Deutung  schwieriger;  daher  auch 
die  Mährohenerzähler  oft  ihre  Erzählung  mit  den  Worten  zu 
unterbrechen  pflegen:  „Jetzt  wollen  wir  den  und  den  Helden 
lassen  und  auf  den  oder  jenen  andern  zurückkommen/'  Diese 
Unterbrechungen  der  Erzählung  haben  ihren  mythologischen  Grund. 
Wir  können  zum  Beispiel  verstehen,  wie  die  Aurora  oder  Tochter 
der  Sonne  aufgefasst  wurde  als  in  einem  Augenblick  weiblicher 
Schwäche  sich  in  den  Mond  verliebend ,  den  sie  auf  der  andern 
Seite  des  Himmels  sieht,  und  verlangend,  ihm  als  Braut  zuge- 
führt zu  werden.  Wir  können  verstehen,  wie  Lunus,  den  Liebes- 
glanz der  Aurora  am  andern  Ende  des  Himmels  erwiedemd, 
scheinen  musste,  sie  an  sich  zu  ziehen  und  sie  verftihren  zu  wollen. 
Wir  können  auch  verstehn,  wie  bald  der  Mond,  bald  die  Sonne 
die  Aurora  zu  verführen  und  ihrem  rechtmässigen  Gemahl  zu 
entfuhren  scheint.  In  diesen  Fällen  ist  die  Treulosigkeit  des 
Helden  oder  der  Heldin  augenfällig;  aber  wehe  dem^  der  die 
Klarlegung  oder  den  Beweis  dieser  Deutung  zu  weit  zu  treiben 


251 

sucht;  denn  wenn  der  Verführer  und  Verführte,  sei  der  Verfllhrer 
der  männliche  oder  weibliche  Theil,  als  zusammen  der  Früchte 
ihrer  Treulosigkeit  geniessend  gedacht  werden,  so  muss  der  My- 
thus ein  Ende  haben,  da  Niemand  die  Möglichkeit,  dass  Mond 
und  Aurora  zusammen  leben  oder  etwas  gemeinschaftlich  thun, 
fassen  kann,  da  Niemand  sagen  kann,  was  Aurora  und  Zwie- 
licht, ausschliesslich  dem  Morgen  und  dem  Abend  angehörige 
Erscheinungen,  welche  sich  nur  zeigen,  wenn  die  Sonne  sich  von 
dem  Berge  erhebt,  zusammen  in  der  Nacht  thuii.  Die  Erscheinung 
schwindet,  die  mythischen  Persönlichkeiten  entweichen  ebenfalls 
und  der  Mährchenerzähler  bricht  seine  Geschichte  ab,  weil  er 
keine  Daten  hat  fortzufahren.  Und  so  ist  es  mit  allen  Mythen; 
sie  lassen  sich  nur  unter  der  Bedingung  erklären,  dass  wir  nicht 
zu  viel  erklären  wollen.  Wir  müssen  uns  also  begnügen,  die 
Jungfrau  Aurora  am  Abend  entfUhrt  und  am  Morgen  vom  Helden 
Sonne  wiedergefunden  zu  sehn  oder  die  Aurora  und  die  Sonne 
zusammen  in  die  Nacht  fliehend  zu  fassen,  doch  dürfen  wir  nicht 
zu  neugierig  sein,  in  welcher  Weise  sie  es  thun.  Der  Mond  oder 
die  gute  Fee  belehrt  sie  bisweilen  über  den  Weg;  doch  in  ihre 
nächtlichen  Handlungen  ist  nur  ein  geringer  Einblick  verstattet; 
die,  welche  als  von  ihnen  in  der  Nacht  vollführt  betrachtet  wer- 
den, beziehen  sich  entweder  auf  den  Augenblick,  in  welchem  die 
Nacht  beginnt  oder  auf  den,  in  welchem  sie  ihr  Ende  erreicht. 
Während  der  Nacht  wandern  sie  umher,  bis  sie  ein  Licht  sehen 
(den  leitenden  Mond  oder  das  erlösende  Licht  des  Tages);  sie 
bleiben  in  der  ins  Wasser  geworfenen  Kiste  resp  Fass,  bis  diese 
an  das  jenseitige  Ufer  des  Meeres  oder  an  das  östliche  Ufer  ge- 
tragen wird.  Bei  ihrer  nächtlichen  Reise  spielt  der  Mond  die 
Rolle  bald  des  guten  Alten  oder  der  guten  Fee,  bald  der  guten 
Kuh  resp.  des  Stieres;  bald  des  grauen  Pferdes,  des  Rosses  der 
Nacht,  das  sie  in  drei  Stationen  zu  ihrem  Ziel  trägt,  bald  des 
Vogels,  der  sich  von  ihrem  Fleisch  nährend,  sie  an  ihren  Be- 
stimmungsort bringt;  und  bald  haben  wir  im  Gegentheil  das  Un- 
geheuer selbst  oder  die  Stiefmutter,  welche  ihnen  droht,  sie  quält 
und  verfolgt.  Der  Held  zeigt  seine  grösste  Stärke,  wenn  er  ver- 
borgen ist,  doch  dient  dieselbe  dazu,  bald  die  Kühe  zu  befreien, 
bald  die  geraubte  Braut  wiederzugewinnen,  bald  die  Ströme  zu 
entfesseln,  die  von  den  Drachen  zurückgehalten  werden,  bald  das 
Wasser  der  Gesundheit  bervorströmen  zu  lassen,  und  bald  das 
Ungeheuer  zu  vernichten  und  ihn  selbst  zu  befreien.  Der  Held 
entfaltet  seine  gewaltigsten  Kräfte,   wenn  er  mit  dem  Ungeheuer 


252 

kämpft;  doch  ist  es  zu  seiner  eigenen  Befreiung.  In  den  frühe- 
sten Epochen  der  Sage  ist  er  närrisch,  krank,  trunken,  unglück- 
lich und  versteinert;  man  kann  von  ihm  "nur  sprechen  nach  dem, 
was  sich  äusserlich  an  ihm  zeigt.  Das  Wolkcnfass  bewegt  sich ; 
es  ist  das  Fass  voll  Wasser,  das  sich  dem  Helden  zu  Gefallen 
von  selbst  bewegt;  es  lässt  Regen  auf  die  Erde  tropfen:  der 
Dumme  lässt  den  Wein  aus  dem  Fasse  laufen ;  der  Wolkenwald 
bewegt  sich;  ein  Baumstamm  haftet  sich  an  das  vom  Helden  ge- 
rittene Pferd  und  vernichtet  seine  Feinde  —  d.  h.  die  Wolke  oder 
Dunkelheit  vecschwindet  und  der  Held  tritt  siegreich  hervor.  Die 
Rolle,  die  von  dem  Sonnenhelden  in  der  Nacht  oder  in  der  Wolke 
gespielt  wird,  scheint  mir  deshalb  fast  immer  ziemlich  sicher 
erklärbar,  doch  nur  so  lange,  als  er  allein  ist  oder  doch  nur 
einen  Gesellen  hat;  wenn  der  eine  Held  sich  in  drei  oder  ftinf 
oder  sechs  verwandelt,  die  einander  begleiten,  oder  wenn  er  mit 
andern  mythischen  Personen  von  einer  der  seinigen  verwandten 
Natur  zusammentrifft  und  in  Verein  mit  ihnen  spricht  und  han- 
delt, so  verwirrt  die  Sage  den  Mythus,  zu  dessen  Erklärung  wir 
dann  oft  genöthigt  sind,  die  Bedeutung  des  Wortes  zusammen 
auf  die  Bezeichnung  bald  einer  ganzen  Nacht  bald  eines  ganzen 
Jahres  auszudehnen.  Wenn  wir  z.  B.  in  der  Sage  zwölf  alte 
Männer  um  das  Feuer  herum  finden,  so  wissen  wir,  dass  das 
Feuer  die  Sonne  ist,  um  welche  sich  die  zwölf  Monate  am  Him- 
mel im  Laufe  eines  Jahres  drehen.  Hier  ist  also  zusammen 
erwdtert  zur  Bezeichnung  der  Periode  eines  Jahres  und  der  gan- 
zen Weite  des  Himmels. 

Ich  habe  mich  zu  dieser  langen,  doch  sicher  nicht  ttberfltts- 
sigen  Abschweifung  verleiten  lassen,  um  das  russische  Mährchen 
von  den  beiden  Brüdern  zu  erklären,  von  denen  es  heisst,  dass 
sie  zusammengehn,  der  eine  nach  rechts,  der  andere  nach  links. 
Wie  man  auch  immer  die  A(vins  auffassen  mag,  als  Zwielicht 
und  Sonne,  als  Frühling  und  Herbst  oder  als  Sonne  und  Mond, 
es  ist  unmöglich  zu  begreifen,  wie  sie  in  derselben  Richtung  mar- 
schiren  können;  die  Wege,  welche  sie  einschlagen,  müssen  doch 
getrennt  sein.  Die  Sonne  und  die  Abenddämmerung  gehen  nicht 
in  entgegengesetzten  Richtungen  vor;  wohl  aber  nehmen  die 
Morgen-  und  die  Abendsonne  entgegengesetzte  Stellungen  ein, 
jedoch  nicht  zu  gleicher  Zeit;  die  Sonne  und  der  Mond  bewegen 
sich  zu  gleicher  Zeit  am  Himmel,  jedoch  nicht  gemeinschaftlich 
und  auf  demselben  Pfade,  wie  zwei  Reisegesellen.  Es  ist  also 
nothwendig,  anzunehmen;  dass  die  Reise  der  beiden  Brüder  ent- 


253 

weder  in  verschiedene  Perioden  fällt;  wenn  sie  auch  in  derselben 
Nacht  oder  an  demselben  Tage  stattfinden  mag,  oder  aber  sie 
nimmt  ihren  Ausgangspunkt  von  verschiedenen  Orten ;  obwohl 
immer  am  Himmel;  am  Abend  sieht  man  den  Mond  sich  von 
Osten  nach  Westen  bewegen,  während  die  verborgene  Sonne  von 
Westen  nach  Osten  zieht ;  wenn  die  Sonne  im  Osten  angekommen, 
geht  der  Mond  im  Westen  unter.  Die  östliche  Sonne  hat  wäh- 
rend der  Tageszeit  die  Tendenz,  ihren  Bruder  zu  finden,  der  nach 
Westen  gegangen  ist,  und  als  sie  anlangt,  sieht  sie  neben  ihrem 
Bruder  auch  dessen  ungeheure  Schätze.  Daran  knttpft  sich  die 
andere  Version  des  Mythus  von  den  AQvins:  der  arme  und  der 
reiche  Bruder.  Das  ist  wahrscheinlich  die  mttde,  durstige  und 
hungrige  Sonne,  welche  während  des  Tages  all  ihren  Reichthum 
fortgegeben  hat  und  nun  bei  ihrem  reichen  Bruder,  dem  sie  ihre 
Dienste  anbietet,  gastliche  Aufnahme  sucht;  der  letztere  jagt  sie 
fort  und  der  arme  Bruder  wandert  allein,  ärmer  und  trauriger 
denn  bevor  umher,  in  den  Wald,  wo  er  sein  Olttck  findet,  indem 
er  einen  Schatz  ausgräbt,  der  ihn  zum  reichen  Mann  macht,  wäh- 
rend sein  reicher  Bruder  im  Westen  arm  wird.  Die  Geschichte 
von  dem  Schatz  in  Verbindung  mit  den  beiden  Brüdern  und  dem 
schlauen  Diebe  war  den  Qriechen  in  der  Erzählung  von  Agamedes 
und  Trophonios  (bei  Pausanias^)  bekannt,  welche  den  Schatz 
des  Königs  Hüriens  stahlen,  wofbr  der  eine  von  den  beiden 
Brüdern   mit  seinem  Kopfe  büssen  sollte. 

Wollte   ich  die  Erzählung  von  den  beiden  Brüdern  in  ihren 
westlichen  Versionen  verfolgen,  so  könnte  ich  einen  ganzen  Band 


'  JX)  37,  3.  —  Ich  bemerke,  dass  dieselbe  List,  deren  sich  die  beiden 
Brüder  zur  Entwendung  des  Schatzes  bedienten,  auch  in  einem  noch  nicht 
publicirten  Feenmährchen  aus  dem  Piemontestschen  von  dem  unerfahrenen 
Räuber  angewandt  wird,  welcher  es  schliesslich  sehr  geschickt*  anfangt, 
dem  Bäcker  die  Brode  aus  dem  Ofen  zu  stehlen.  Der  piemonteisische  Dieb 
macht  eine  Oeffnung  von  aussen  und  trägt  so  das  Brod  davon.  Derselbe 
Dieb  stiehlt  darauf  dem  König  sein  Pferd.  Zuerst  lernt  er  sein  Handwerk 
von  dem  Räuberhauptmann.  Dieser  schickt  ihn  das  erste  Mal  aus,  am 
Wege  einigen  Reisenden  aufzulauern  und  heisst  ihn,  auf  sie  springen.  Der 
junge  Dieb  gehorcht  diesen  Anweisungen  buchstäblich;  er  wirft  die  Rei< 
senden  zu  Boden  und  springt  dann  auf  ihnen  herum,  beraubt  sie  aber 
nicht.  Das  zweite  Mal  sagt  ihm  der  Hauptmann,  er  solle  den  Reisenden 
die  quattrini  (Name  einer  sehr  kleinen  Münze,  mit  ^welchem  auch  Geld  im 
Allgemeinen  bezeichnet  wird)  abnehmen.  Der  junge  Dieb  nimmt  nur  die 
quattrini  und  lässt  den  Reisenden  ihre  Dollars  und  Napoleons.  Schliess- 
lich wird  er  jedoch  ein  Dieb  comme   11  faut. 


254 

über  diesen  Oegenstand  füllen,  der  allerdings  wirklich  solches 
Interesse  bietet;  dass  sich  ein  Gelehrter,  wenn  er  ihm  mit  der 
Erzählung  von  den  drei  Brüdern  verbindet,  an  seine  Bearbeitung 
nicht  ohne  Nutzen  machen  würde.  Dech  um  den  Bericht  ttber 
das  Pferd  wieder  aufzunehmen,  so  muss  ich  mich  hier  darauf  be- 
schränken, nur  eine  andere  interessante  Varietät  dieser  Sage  zu 
erwähnen,  die  sich  in  der  siebenten  Erzählung  des  Pentame- 
rone  bietet  * 

Es  waren  einmal  zwei  Brttder  Namens  Cienzo  und  Meo  (Vin- 
cenzo  und  Meo).  Als  sie  geboren  wurden,  kamen  auch  zwei 
verzauberte  Pferde  und  zwei  verzauberte  Hunde  zur  Welt.  Cienzo 
wandert  umher,  um  sein  Glück  zu  suchen ;  er  kommt  an  einen  Ort, 
wo  ein  Drache  mit  sieben  Köpfen  ist,  aus  dessen  Gewalt  eine  schöne 
Prinzessin  befreit  werden  muss.  So  lange  er  nicht  alle  Köpfe 
abhaut,  geht  der  Drache  und  reibt  sich  an  einem  Kraut,  das  die 
Kraft  besitzt,  den  Körper  wieder  mit  dem  abgehauenen  Kopfe 
zu  verbinden.  Cienzo  haut  sämmtliche  Köpfe  ab,  „pe  gratia  de 
lo  sole  Lione^'  (durch  Gnade  des  Löwen  Sonne  d.  h.  als  die 
Sonne  im  Zeichen  des  Löwen  ist,  welcher  dem  Tiger  des  oben- 
erwähnten indo-turanischen  Mährchens  entspricht  oder  als  der 
Sonncnheld  seine  ganze  Kraft  besitzt;  der  Löwe  und  der  Tiger 
sind  in  der  indischen  Symbolik  als  Heldentypen  gleichbedeutend 
und  sind  deshalb  im  Thierkreise  identisch).  Cienzo  heirathet  die 
von  ihm  befreite  schöne  Prinzessin,  doch  eine  Fee,  welche  im 
gegenüberliegenden  Hause  wohnt,  bestrickt  ihn  durch  ihre  Schön- 
heit, zieht  ihn  an  sich  und  fesselt  ihn  mit  ihren  Haaren.  Mittler- 
weile erfahrt  Meo  durch  vorher  verabredete  Zeichen,  dass  sein 
Bruder  Cienzo  in  Gefahr  ist  und  kommt  in  das  Haus,  in  welchem 
des  letzteren  Weib  lebt,  von  seinem  verzauberten  Pferde  und 
Hunde  begleitet.  Die  Frau  hält  ihn  für  Cienzo  (die  Erzählung 
von  den  Menechmi,  den  beiden  Brüdern,  welche  einander  in  Allem 
ähnlich  sind,  wurde  ohne  Zweifel  von  dem  griechischen  Dichter 


'  Vgl.  im  selben  Pentamerone  die  neunte  £nsählung  des  ersten 
Buches;  Nr.  18 der  Novelline  di  San  S  tefano  di  Calci  naia;  Nr.S9 
der  sicilianischen  Mährchen  von  Gonsenbach;  Nr.  60  und  85  von  Grimm's 
Kinder  und  ITausmährchen;  Nr.  10  von  Kuhn  und  Schwartz's  Mäh  r- 
chen;  Nr.  22  der  griechischen  Mährchen  in  HuLn,  Griechische  und 
Albanesische  Mährchen;  die  vierte  d(>r  von  Campbell  im  Orient 
and  Occident  mitgethcilteu ;  das  erste  Buch  des  Pancatautra  und 
ebenda  V,  12;  die  Sagen  von  NaIa  und  Pushkara,  von  Romulus  und  Kc- 
mus,  und  Cox  a.  a.  O.  1,  141.  142.  161.  281.  093  u.  a.  m. 


255 

and  später  von  Plantos  der  Volkssage  entlehnt) ,  empfängt  ihn 
festlich  nnd  nimmt  ihn  anf  ihr  Lager;  doch  der  treue  Bruder 
theilt;  um  sie  nicht  zu  berühren,  das  Betttuch  zwischen  ihnen 
und  weigert  sich  seine  Schwägerin  zu  umarmen.  —  So  legt  Sifrit, 
wie  auch  sein  skandinavisches  alter  ego  Sigurd  ein  Schwert 
zwischen  sich  und  Brfinhilt^  die  vorbestimmte  Braut  des  EönigS; 
um  sie  nicht  zu  berühren,  wenn  sie  an  seiner  Seite  liegt;  und 
als  Brünhilt  sich  auf  den  Scheiterhaufen  stürzt,  legt  sie  ebenfalls 
ein  Schwert  zwischen  sich  und  Sigurds  Leichnam.  ^  Bei  Königs- 
oder Heldenhochzeiten  galt  im  Mittelalter  ein  ähnlicher  Brauch. 
In  dem  piemontesischen,  bergamesischen  und  venezianischen  Volks- 
liede  ^  von  dem  Pilger^  der  aus  Rom  kommt,  ist  der  Pilger  von 
dem  Weibe  nur  durch  ein  Btlndel  Stroh  getrennt.  —  Gegen  Mor- 
gen sieht  auch  Meo  die  schöne  Fee  in  dem  Hause  auf  der  andern 
Seite  der  Strasse;  er  vermuthet,  dass  Cienzo  in  ihre  Netze  ge- 
fallen ist  und  geht  ihn  befreien.  Er  lässt  sie  von  seinem  ver- 
zauberten Hunde  verschlingen  und  befreit  seinen  Bruder,  den  er 
aus  dem  Schlafe  weckt.  Cienzo  erfährt,  dass  Meo  bei  seinem 
Weibe  geschlafen  und  haut  ihm  den  Kopf  ab;  doch  als  er  von 
jener  erfährt,  wie  Meo  das  Betttuch  getheilt  hatte,  bereut  er  seine 
Uebereilung,  nimmt  seine  Zuflucht  zu  dem  Kraut,  an  welchem  sich 
der  Drache  rieb,  wenn  einer  von  seinen  Köpfen  ihm  abgehauen 
war  und  befestigt  auf  diese  Weise  wieder  Meos  Kopf  an  seinen 
Körper. 

Der  Haupthelfer  jedoch  speciell  des  einen  von  den  beiden 
Brüdern,  wie  des  dritten  in  dem  Mährchen  von  den  drei  Brüdern, 
ist  sein  Pferd. 

Als  sich  der  Held  auf  das  Diebshand  werk  legt^  ist  seine 
glorreichste  That  die  Entwendung  des  königlichen  Pferdes. 

Als  der  junge  Held  von  dem  Teufel  erzogen  worden  ist,  ge- 
lingt es  ihm,  in  Gestalt  eines  Pferdes  demselben  zu  entkommen. 

Als  der  Sonnenheld  kämpft,  liegt  seine  Hauptstärke  in  seinem 
Pferde. 

Als  der  Held  stirbt,  wird  auch  sein  Pferd  geopfert. 


'  Im  Pentamerone  I,  9  thut  der  Sohn  der  Königin  ein  Gleiches 
mit  dem  Weibe  seines  Zwillingsbruders:  ^^Mese  la  spata  arraucata  comme 
staccione  ^milgo  ad  isso  ed  a  Fenizia.*' 

*  In  den  entsprechenden  Sammlungen  von  Ferraro,  Bolza  und  Wolf. 
—  Vgl  d»8  Ende  von  Nr.  28  der  Novclliue  di  San  Stefano  di  Cal- 
ci n  a  i  a. 


256 

Die  Sonne  ist  zn  gleicher  Zeit  ein  Held  und  ein  Pferd;  sie 
ist  „der  Schnelle",  a^va,  ein  Wort,  das  die  beiden  hervor- 
ragenden Eigenschaften  ebensowohl  des  Helden  wie  des  Sonnen- 
rosses  umfasst;  der  Held  stirbt,  der  Held  wird  verbrannt:  das 
Pferd  wird  ebenfalls  geopfert;  der  Held  tritt  ans  dem  Stall 
heraas ;  ebenso  das  Pferd ;  der  Held  entführt  das  Pferd.  Der  Held 
entschlttpft  dem  Dämon:  das  Pferd  rettet  den  fliehenden  Helden; 
der  Held  stttrmt  im  Kampfe  vor:  das  Pferd  ist  es,  das  ihn  an- 
dringen lässt. 

Erläutern  wir  jetzt  an  einigen  Beispielen  diese  vier  auf  den 
Mythus  von  dem  Pferde  bezüglichen  Umstände. 

Im  Mahäbhärata^  erscheint  der  Gott  Indra  in  Gestalt 
bald  eines  Beiters,  bald  eines  Pferdes.  Auf  solch  einem  Helden- 
ross  flieht  femer  der  junge  Utafika  vor  dem  Könige  der  Schlangen, 
nachdem  er  jenem  die  gestohlenen  Ohrringe  der  Königin  wieder 
abgenommen  hat.  In  dieser  Sage  liegt  eine  Beziehung  auf  mehre 
Mythen :  auf  den  von  dem  Helden  in  der  Unterwelt,  auf  den  von 
dem  Heldendieb  und  auf  die  Sage  von  dem  Pferde,  das  den 
flttchtigen  Helden  rettet,  identisch  mit  dem  Helden,  der  das  Pferd 
fortmhrt. 

In  dem  Vishnu  Puräna^  haben  wir  Kapila,  eine  Form 
Vishnus  oder  des  Sonuenhelden  (sofern  er  eine  röthliche  Farbe 
hat  oder  auch  der  Abendsonne),  welcher  das  zum  a^vamedha, 
d.  h.  zum  Opfer  bestimmte  Boss  entführt  (Mit  andern  Worten : 
das  Sonnenpferd,  das  zum  Opfer  bestimmte  Pferd  entkommt, 
ebenso  wie  wir  im  vorhergehenden  Kapitel  den  Stier  in  die  Wäl- 
der entweichen  sahen.)  Im  Bämäyana^  wird  dagegen  das 
zum  Opfer  bestimmte  Pferd  von  einer  Schlange  entftthrt  (d.  h. 
das  Ungeheuer  der  Nacht  raubt  die  Abendsonne,  während  am 
westlichen  Himmel  das  Feuer  zu  ihrer  Opferung  bereitet  wird). 
Die  Söhne  Sagaras  (die  Wolken  des  himmlischen  Oceans,  indem 
das  Wort  s  a  gar  a  Meer  bedeutet)  machen  ein  donnerähnliches 
Geräusch,  indem  sie  nach  dem  ihnen  entführten  Pferde  suchen. 
Sie  finden  es  bei  dem  Gott  Vishnu  oder  Kapila  (hier  die  Sonne, 
das  Sonnenpferd  selbst,  das  in  das  wolkige  Meer  der  Nacht  ent- 
ftthrt ist);  da  sie  ihn  fttr  den  Bänber  halten,  so  stürmen  sie  auf 
ihn  ein;  Kapila  (oder  das  Sonnenpferd)  brennt  sie,  empört,  zu 


«  I,  »»7  ff. 

*  IV,  4. 

>  I,  41—43. 


257 

Asebe.  Ibr  Keffe,  AAdamant  (4^r  mH  Strabteii  viMehend,  did 
strahlende  Morgensonne);  dagegen  befreit  das  Pfea*d  aas  dem 
Walde.  Am  Abend  wird  es  auf  den  Öpferplats  »irtteligefllbrt, 
anf  den  goldenen  Estrieb,  nachdem  es  die  Reise  um  die  Welt  ge^ 
maebt.  Ebenso  wie  wir  itn  yorhergebenden  Kapitel  sabeo,  daM 
die  Knh  resp.  der  Stier  berührt  oder  geseblag-efl  wird  ab  eia 
Vxyfzeicben  von  Fruchtbarkeit  nnd  Fttlle^  so  bertibrt  im  Räm&- 
yan  a '  Kängalyä  das  Pferd  (einen  Hengst),  nm  frtcbibar  zu  seitt, 
da  sie  Söhne  zn  haben  wttnscht  (putrakämyay^X  ^^^  ^^ 
König  nnd  die  Königin  riechen  den  Daft  des  yeitranniteB  Mar- 
kes oder  Fettes  des  Pferdes  als  ein  Zatibermittel;  das  ihnen  die 
Erfttllnng  eines  gleiehen  Wunsches  versehafifen  soH^  Auf  alle 
Fälle  mttssen  wir  immer  das  Mäbrehen  auf  den  Mythus  Ton  dMi 
Sonnenpferde  2urtlekf&hren,  welches^  gerade  als  es  geopfert  wird^ 
sich  selbst  befruchtet,  so  dass  es  am  Mo^en  wieder  ut  einer 
neuen  und  jungen  Gestalt  sich  erbeben  kann.  Und  wir  kömien 
leicht  beweisen,  dass  das  Pferd  des  a^amedha  ein  myfbifches 
Pferd  war,  da  der  a^vamedha  ursprünglich  eine  himmlische  Oere^ 
monie  War;  denn  wir  lesen  im  Bigveda,  wie  das  zum  Opier 
bestimmte  schnelle  Heldenross  von  den  Göttern  geboren  war 
und  wie  der  Vasaya  es  mit  dem  Glänze  der  Sonne  gesebmtl^l 
hatte. *  Wir  sahen  yor  Kurzem,  wie  im  Kigyeda  s^M;  es  bald 
die  A(yins  sind,  bald  Agni,  welcher  das  Heldenrosa  dem  Yothfh 
stimmten  Jüngling  giebt.  Agni  femer,  der  dem  Hddefl  ein  Pferd 
giebt,  ist  selbst  bald  ein  schönes  rotbes  Rosa  und  bald  ds  yoi*-^ 
trefflicher  ghridhnu,  ^  ein  Wort,  das  ebensowohl  den  Räuber  als 
den  Geier  (als  Raubyogei)  bezeichnet    Der  Dieb  spielt  sogar  in 


'  I,  1, 17. 

^  In  den  we0t)ichen  Mährchen  ist  es  statt  des  Ifiafkes  oder  Fette«  deir 
Plerdes  ge^öh«]idi  der  Fisch,  der  von  der  Kdnlgia  und  ihrer  Dieneriti 
^gettsen  wird,  welcher  den  beiden  Brüdern  cUts  Leben  giebt,  aas  wekhea 
drei  werdeuy  als  da«  Wasser,  in  welchem  der  Fisch  gewaschen  ist,  der 
Stute  oder  der  Hündin  zu  trinken  gegeben  wird,  von  welcher  der  äöBn 
der  Stute  oder  der  Hündin  geboren  wird.  Ich  habe  schon  versacht,  die 
IdlentitSt  des  Fisches  diit  dem  Phallus  zu  beweisen;  dass  die  Königin,  die 
Magd,  die  Stute  oder  Hündin  den  Fisch  isst  and  davon  «ehwanger  Mrd, 
scheint  mir  ein  Symbol  des  Coitus.  Dass  die  Königin  Pferdemark  oder 
Pferdefett  riecht,  scheint  dieselbe  Bedeutung  zu  haben. 

'  Vftgino  deva^ätasy«  sapte^  pravakshyämo  vidathe  vtiydni;  Bigv.  I, 
162,  1.  —  Sürftd  a^vaih  vasavo  nir  atash^a;  9igv.  I,  163^  2.  ' 

•  Sadhar  na  gridhniih;  Rigv.  I,  70>  11« 

0Hb«rnaUfl,  die  Thiere.  17 


258 

den  vedischen  Mythen  eine  Hauptrolle.    In  dem  Kriege  zwischen 
den  Dämonen  und  den  Göttern  ^   weicher  im  ersten  Buche  des 
Mahäbhärata   geschildert  wird,    herrscht   fortwährend   Streit 
zwischen  den  beiden  Parteien,  welche  sich  als  die  schlauste  bei 
der  Entwendung  des  die  Ambrosia  enthaltenden  Bechers  bewähren 
wird.    Und  der  Pferdekopf,  welcher  nach  der  indischen  Kosmo- 
gonie  genau  bei  der  Hervorbringung  der  Ambrosia  mit  dem  my- 
thischen Edelstein  geboren  ist,    die  Pferdeköpfe  von  Dadhyanc 
und  Vishnu,  die  sich  in  der  Ambrosia  finden  [deren  Mund  (Vada- 
vamukha)  man  passiren  muss,  um  in  die  Eölle  einzutreten,  wo 
man  das  Geschrei  und  Geheul  der  Gequälten,  welche  das  Wasser 
bewohnen,  hört^],   zeigen  uns,  wie  schon  im  Mythus  das  Mähr- 
chen von  der  Entwendung  der  Ohmnge  (AQvins)  oder  des  Edel- 
steins der  Königin  (der  Sonne)  oder  des  Schatzes  mit  der  Ent- 
wendung des  Pferdes  (der  Sonne  selbst)  vereinigt  gewesen  sein 
muss,  wie  es  wirklich  auch  vereinigt  zu  sein  scheint  in  der  oben- 
angeflihrten  Sage  von  Utailka,  in  welcher  Utaüka  auf  dem  gött- 
lichen Pferde  flieht,  als  er  aus  der  Hölle   die  Ohrringe  der  Kö- 
nigin  entführt,  die   ein  anderer  schlauer  Dieb,   der  König  der 
Schlangen,    wieder   seinerseits    ihm    gestohlen  hatte.     (Herodot 
schon  kannte  die  Erzählung  von  dem  schlauen  Diebe,  der  des 
Königs  Schatz  raubt  und  des  Königs  Tochter  zur  Gemahlin  er- 
hält;  er  bezieht  sie  auf  den  König  von  Aegypten,  Rampsinit) 
Als  in  der  Fabel  der  Hirsch  in  den  Wald  flieht,  verrathen 
ihn   seine  hohen  Hörner;   als   der  Stier  flieht,  furchtet   er,  dass 
seine  Homer   die   Flüchtigen   verrathen;  sogar   die   Mähne   des 
Sonnenhelden  nimmt  den  Namen  von  Hörnern  an.    Der  vedische 
Hymnus,  der  das  zum  Opfer  bestimmte  Pferd  schildert,  stellt  es 
als  goldene  Homer  tragend  und  mit  Füssen,  so  schnell  wie  der 
Gedanke  (gleich   dem  Hirsch)  versehen  dar,  dessen  Höraer  (oder 
dessen  Mähne,  gleich  den  Haaren  des  biblischen  Absalom,  der  in 
der  Sage    des    mittelalterlichen  Europa   unter   analoger   Gestalt 
wieder  auflebt)  sich   nach   allen  Seiten  ausbreiten  und   in  den 
Bäumen  des  Waldes  verfangen.  '^   Hier  haben  wir  also  das  schnell- 


*  Vikro^atäm  nädo  bhütändm  saliläukasäm  ^rüyate  bhri^ämftrttäD&m 
vi^atäm  ya4aYämukham ;  Rämäy.  IV,  40.  —  Aurva,  welcher  in  Gestalt 
eines  Pferdekopfes  das  Wasser  des  Meeres  verschluckt  und  Flammen  speit, 
ist  eine  Variation  desselben  Sonnenmythus;  Mbh.  I,  6802  ä, 

*  Hiranya^ringo'  yo  asya  pädä  mano^avä;  Rigv.  I,  163,  9.  —  Tava 
^ringani  vishthitä  puruträranyeshu  ^arbhuranä  daranti;  ib.  11.  —  Wir 
finden  den  Hirsch  in  Verwandtschaft  mit  dem  Pferde,  als  seinen  stärkeren 


259 

füßsige  Thier,  dessen  Mähne  und  Hörner  sich  in  die  Bäume  ver- 
wickeln. Ein  anderer  vedischer  Hymnus  bietet  uns  den  Helden 
Tugra,  der  sich  im  Meer  verliert,  aber  einen  Baum  umarmt  und 
durch  denselben  gerettet  wird.  *  In  Volksmährchen  rettet  sieh 
der  Held  oft  auf  einem  Baume,  sei  es  weil  die  Diebe  oder  der 
Bär  ihn  dann  nicht  sehen  können  oder  weil  er  so  im  Stande  ist, 
den  Horizont  zu  sehen ;  der  Baum  bringt  ihm  Glück ,  bald  weil 
er  dadurch  dass  er  etwas  tröpfeln  lässt  oder  ein  Geräusch  macht 
die  Diebe  erschreckt,  bald  weil  er  die  Kuhhirten  täuscht,  deren 
Vieh  er  selbst  in  Besitz  zu  nehmen  wünscht;  er  erscheint  nämlich 
bald  auf  dem  einen  Baum  und  bald  auf  einem  andern ;  die  Kuh- 
hirten fangen  an  sich  über  seine  Identität  zu  streiten;  die  einen 
behaupten,  es  sei  dieselbe  Person,  diö  anderen  erklären  das  für 
unmöglich;  sie  gehen  deshalb  eiligst  zurück,  um  beim  ersten 
Baume  nachzusehn  und  lassen  das  Vieh  unbewacht,  worauf  der 
Hddendieb  vom  Baume  herabsteigt  und  es  forttreibt  (so  bei 
Afanassieff;  der  Feind  der  Räuber  ist  gewöhnlich  selbst  ein 
ausserordentlich  schlauer  Dieb ;  Kere^ägpa  war  nicht  weniger  ein 
verschmitzter  Dieb  als  Mercur,  der  Gott  der  Diebe,  welcher  den 
Betrug  Anderer  entdeckt,  weil  er  selbst  ein  so  vollendeter  Betrüger 
ist).  In  dem  neunzehnten  mongolischen  Mährchen  (indischen 
Ursprungs)  besteigt  der  junge  Held,  nachdem  er  sich  seiner 
Sohnespflicbten  am  Grabe  des  Vaters  entledigt,  sein  stolzes  Boss, 
indem  er  einen  Baumzweig  ergreift.  Der  Baum  wird  entwurzelt 
und  mit  ihm  massacriren  das  Pferd  und  der  Held  die  Armee  des 
Königs,  dessen  Tochter  der  Held  zu  heirathen  wünscht.  In  dem 
russischen  Mährchen,  ^  das   die  Abenteuer    von    Klein   Thomas 


Nebenbuhler,  bis  der  Mensch  sich  dem  Pferde  auf  den  Rücken  setzt,  in 
der  bekannten  Fabel  bei  Horaz,  Epist.  J,  10: 

„Ceryos  equum  pugna  melior  communibos  herbis 

PeUebat,  donee  minor  in  certamine  longo 

Implorayit  opes  hominis  frenumque  recepit; 

Sed  postquam  victor  violens  discessit  ab  hoste, 

Non  equitem  dorso,  non  frenum  depulit  ore/^ 
'  lasya  samsthe  na  vrinvate  hari  samatsu  9atrayah;  Rigv.  I,  5,  4. 
*  Afan  V,  11.  Vgl.  ein  Analogon  des  falschen  Helden  auch  in  der 
fünften  Erzählung  des  Panöatantra :  Der  Weber  als  Vishnu.  An  Stelle  des 
Pferdes  mit  dem  Baumstamm,  der  die  Chinesen  tödtet,  haben  wir  in  dem 
indischen  Mährchen  den  Weber  auf  dem  hölzernen  Vogel  Garuda,  welcher 
(der  Weber)  für  den  Gott  Vishnu  gehalten  wird  und  im  Lager  der  Feinde 
Entsetzen  verbreitet. 

17* 


260 

Berennikoff^  dem  auf  einem  Auge  blinden ;  erzählt,  prahlt  der 
mile»  gloriosins,  Klein  Tom^  nachdem  er  ein  He^  Fliegea 
getödtet;  mit  dem  Heldenmnth,  den  er  bei  Niederwerfung  dner 
ganzen  Armee  leichter  Kavallerie  gezeigt  habe.  Er  trifft  zwei 
wirkliche  Hdlden^  Elias  von  Morom  und  Alexin  Papoviö  (Soh» 
des  Priesters),  welche^  als  sie  ihn  seine  Thaten  berichten  bOreo, 
ihn  sofort  als  ihren  älteren  Bruder  annehmen  und  ehren.  Die 
Tapferkeit  der  Drei  wird  bald  auf  die  Probe  gestellt;  Elias  und 
Alexin  zeigen  sich  als  wirkliche  Helden;  schliesslich  kommt  auch 
an  Klein  Tom  die  Reihe,  Zeugniss  von  seinem  Muthe  absa*\ 
legen]  er  tödtet  einen  feindlichen  Helden  mit  geschlossenen 
Augen  und  versucht  dann,  dessen  Pferd  zu  reiten,  kann  aber 
nicht.  Es  ist  eines  Helden  Ross  und  kann  nur  von  einem  Hel- 
den geritten  werden.  Endlich  bindet  er  das  Pfeatd  an  eine  Eiche 
und  klettert  auf  den  Baum,  um  von  ihm  aus  auf  den  Rücken 
des  Pferdes  zu  springen.  Das  Pferd  fühlt  die  Last  des  Reiters 
und  schlägt  so  gewaltig  aus,  dass  es  den  ganzen  Banm  aas  den 
Wurzein  reisst  und  ihn  hinter  sich  her  zerrt,  indem  es  Tom  mitten 
in  die  chinesische  Armee  hineinträgt.  Die  Chinesen  werden  von 
der  Eiche  erschlagen  und  von  dem  wüthenden  Schlacfatrosse  mit 
den  Fttssen  getreten ;  die  welche  nicht  getMiet  werden,  werden 
in  die  Flucht  geschlagen.  (Das  mythische  Holzpferd,  das  sieh 
so  veihängnissvoll  ftlr  die  Trojaner  erwies,  scheint  eine^  mythische 
Abart  dieses  Pferdes  mit  dem  ftir  die  Chinesen  so  Verhängnis»- 
vollen  Baume  zu  sein.)  Der  Kaiser  von  China  erklärt,  er  wolle 
nie  wieder  mit  einem  Helden  von  der  Stärke  Klein  Tom's  Krieg 
fuhren.  Darauf  giebt  der  König  der  Preussen,  ein  Feind  dar 
Chinesen,  aus  Dankbarkeit  und  als  Belohnung  für  seine  Tapfer- 
keit Tom  seine  eigene  Tochter  zur  Gemahlin.  Es  ist  merkwür- 
dig, dass  im  Laufe  der  Erzählung  Alexin  einmal  zu  Elias  die 
Bemerkung  macht,  dass  das  Pferd,  welches  Klein  Tom  von  Hause 
mitgebracht  hatte,  keine  der  charakteristischen  Eigenschaften  eines 
Heldenpferdes  zeigt  Alexin,  als  der  Sohn  des  Priesters,  ist  der 
weise  Held;  Elias,  der  starke,  welcher  von  seinem  neuen  Col- 
legen.  Klein  Tom,  eine  hohe  Meinung  gefasst  hatte,  antwortet 
ganz  ernsthaft,  dass  die  Stärke  eines  Helden  in  ihm  selbst  und 
nicht  in  seinem  Pferde  liege.  Die  Entwickelung  der  Geschichte 
zeigt  uns  allerdings,  dass  Alexin  Recht  hatte;  ohne  das  stolze 
Ross  des  getödteten  Helden  würde  Tom  nicht  die  Chinesen  zer- 
streut haben. 


261 

So  lesen  wir  m  einem  yedischen  Hymnos,  ^  dase  Indra,  wenn 
er  «ich  YOD  seinen  beiden  Pferden  trennt,  einem  schwachen  und 
matten  SterUiohen  gleich  wird,  dagegen  erstai^t,  wenn  er  sie 
ansehirrt  Die  Feinde  können  in  den  Schlachten  nicht  dem  An- 
griffe der  beiden  schönfarbigen  Bosse  des  Gottes  Indra  wider- 
stehn ; '  und  nicht  allein  das ;  anch  nur  ein  Theil  des  giHtlichen 
Pferdes  genügt  bisweilen,  dem  Heldengotte  den  Sieg  zü  sichern. 
Ein  anderer  Hymnns  ^  singt :  „Eines  Pferdes  Schwanz  warst  Du 
da,  0  Indra  I''  d.  h.  als  Indra  das  Schlangenungehener  besiegte. 
Mit  dem  Kopfe  des  Pferdes  Dadhyand  vernichtet  Indra  seine 
Feinde.  ^  Auf  das  Pferd  der  Agvins^  welches  das  Schlangenunge- 
haner  tödtet,  ist  schon  Bezug  genommen  worden.  Das  Sonnen- 
frferd  Dadhikra,  identisch  mit  Dadhyaiiö,  in  einem  andern  Hym- 
nufl  des  Bigveda,^  wird  als  ein  schneller  Falke,  glänzend,  an- 
stürmend, seine  Feinde  gleich  einem  Heldenfilrsten  vernichtend, 
gleich  dem  Winde  eilend  gepriesen.  Seine  Feinde  zittern,  ge- 
schreckt von  ihm  wie  von  dem  donnernden  Himmel ;  es  kämpft 
gegen  tans^nd  Feinde  —  unbesiegbar,  furchtbar  und  glänzend. 
Endlich  beisst  es  von  den  Pferden  des  Gottes  Agni,  dass  sie  die 
Feinde  tbii  ihren  Vorderfüssen  besiegen.  < 

Als Afigada  mit  dem  Ungeheuer  Naräntaka  imRämäya^a^ 
kämpfen  will,  schlägt  er  mit  seiner  Faust  dessen  grossem  und 
sehnellfElssigem  Pferde  den  Kopf  ab;  mit  dem  zweiten  Schlage, 
den  er  gegen  die  Brast  des  Ungeheuis  fuhrt^  tödtet  er  dasselbe. 

In  den  sieben  Abenteuern  Bnstems  bei  Firdusi  kämpft  des 
Helden  Pferd  gegen  das  Ungeheuer  und  treibt  es  fort,  während 
er  scUäft 


^  Apa  yor  indrah  papaya  ä  marto  na  ^a^ramäno  bibhiirän  ^ubhe  yad 
yuyu^e  taviBfafvän;  Rigv.  X,  105,  3. 

*  lasya  samsthe  na  vrinvate  hart  samatsu  ^atravah;  Rigv.  I,  5,  4. 

*  A^vyo  Täro  abhavas  tad  indra;  Rigv.  I,  32,  12;  der  indische  Com- 
mentator bemerkt,  daas  Indra  die  Feinde  fortjagte,  wie  der  Schwanz  eines 
Pferdes  die  Insekten  abschüttelt,  welche  sich  darauf  setzen,  was  sich  um 
so  mehr  von  dem  Schwänze  des  Pferdes  Indras  denken  iässt,  als  er  mit 
Milch,  Butter,  Honig  und  Ambrosia  bedeckt  ist. 

*  Rigv.  a.  a.  O*  und  I,  84,  13.  14.  Auch  Agni  wird  als  ein  geschwänz- 
tes Pferd  verehrt  (vftravantam  a^vam)  Rigv.  I,  27,  1. 

*  Rigipyam  ^yenam  prushitapsum  ä^um  darkfityam  aryo  nripatim  na 
^rara  —  vfttam  iva  dhragantam  —  uta  smäsya  tanyator  iva  dyor  righayato 
abhiyu^o  bhayante  yadä  sahasram  abhi  shim  ayodhid  durvartuh  smä  bha- 
vati  bhtma  riiSgan;  Rigv.  IV,  38,  2.  a  8. 

*  Avakrämantal^i  prapadäir  amitran;  Rigv.  VI,  75,  7. 
^  VI.  49. 


262 

Vom  BucephalnS;  dem  Pferde;  welches  Alexander  der  Grosse 
allein  bändigen  konnte  —  es  hatte  seinen  Namen  davon ,  dass 
es,  wie  man  vermnthen  mnss,  auf  dem  Kopfe  Erhöhungen  hatte, 
die  den  Hörnern  eines  Stieres  glichen  (wir  sahen  vorhin,  wie  von 
der  Mähne  des  Sonnenpferdes  als  von  Hörnern  di^  Rede  war  in 
den  vedischen  Hymnen)  —  heisst  es,  dass  es  mehre  Mal  Alexan- 
der in  der  Schlacht  rettete  und  dass  es,  obwohl  bei  einem  Ge- 
fecht in  Indien  in  den  Flanken  und  am  Kopfe  tödtlich  verwundet, 
noch  genug  Kraft  besass,  um  mit  ausserordentlicher  Schnelligkeit 
zu  fliehen  und  seinen  Herren  zu  retten,  und  dann  starb.  Plinius 
sagt,  indem  er  den  Philarcus  anführt,  dass  der  Krieger,  der  den 
Antiochus  erschlagen  hatte,  dessen  Pferd  zu  reiten  versuchte,  doch 
dass  ihn  letzteres  zu  Boden  warf,  so  dass  er  ums  Leben  kam. 

Vom  Pegasus,  dem  geflügelten  Ross,  dass  den  Helden  Belle- 
rophon über  das  Wasser  trug  und  durch  welches  der  Held  seine 
glorreichen  Siege  errang,  wissen  wir,  dass  die  Kriegsgöttin  Pal- 
las sein  Bild  auf  ihrem  Helm  trug. 

Sueton  schreibt  von  dem  Pferde  Cäsars,  dass  es  fast  mensch- 
liche Füsse  mit  Zehen  hatte  („pedibus  prope  humanis  et  in  mo- 
dum  digitoram  ungulis  fissis''),  woraus  die  aruspices  dem  grossen 
Römer  die  Weltherrschaft  prophezeiten ;  dieses  Pferd  wollte,  gleich 
dem  Bucephalus  und  jedem  Heldenrenner,  keinen  andern  Reiter 
tragen  als  seinen  Herren  —  den  grossen  Eroberer. 

Das  Pferd  Baiardo  bei  Ariost  bekämpft  die  Feinde  mit 
seinen  Fttssen.  Der  Hippogryph  Ariosts  hat  femer  die  Besonder- 
heit, gleich  dem  Pegasus  geflügelt  zu  sein  und  in  der  Luft  zu 
gehen  wie  der  Tatos  der  Ungarn.  Dep  Name  Falke,  welchen 
das  Pferd  des  deutschen  und  skandinavischen  Helden  Dietrich 
oder  Thidrek  (Theodoricus)  führt,  lässt  uns  glauben,  dass  es 
ebenfalls  geflügelt  war. 

In  der  Edda  erhält  Skimer  von  Frey  ein  Pferd,  das  seinen 
Reiter  durch  Nebel  (Wasser)  und  Flammen  trägt  und  das  Schwert, 
das  von  selbst  schlägt,  wenn  sein  Träger  ein  Held  ist  Das 
Pferd  Sigurds  oder  Sifrits  zeigt  dieselbe  Fähigkeit,  den  Helden 
unverletzt  durch  die  Flammen  zu  tragen.  Das  geschieht  am 
Morgen,  wenn  die  Sonne  heil  und  gesund  aus  den  Flammen  der 
Aurora  auftaucht;  am  Abend  dagegen,  wenn  die  Sonne  sich  in 
den  Flammen  der  Aurora  verliert  oder  wenn  der  Sonnenheld  stirbt, 
wird  sein  Pferd  ebenfalls,  wie  das  Pferd  Balders  in  der  Edda, 
auf  dem  Scheiterhaufen  verbrannt  oder  geopfert ;  die  Auferstehung 
des  todten  Pferdes  und  des   todten  Helden  finden  zu  gleicher 


263 

Zeit  Statt  Der  Pferdekopf;  der  ans  dem  Fenster  hervorragt,  wie 
er  sich  auf  altgriechischen  Gräbern  dargestellt  findet  und  in 
deutschen  Bräuchen  bewahrt  ist,  ^  ist  für  den  Menschen  ein  Sym- 
bol der  Auferstehung.  Der  Kopf  Vishnus,  UddäihQravas  und  Da- 
dhyanös  in  der  indischen  Sage  haben  dieselbe  Bedeutung.  Wer 
in  diesen  Kopf  eingeht,  findet  Tod  und  Hölle;  wer  herauskommt, 
ersteht  wieder  zu  neuem  Leben.  Der  fromme  christliche  Glaube 
an  die  Auferstehung,  welche  kommen  soll,  und  die  zahlreichen 
mittelalterlichen  europäischen  Legenden  von  todten  Helden  oder 
Jungfrauen,  welche  wiedererweckt  sind,  haben  ihren  Ursprung 
und  Grund  in  der  Beobachtung  der  jährlichen  und  täglichen 
Auferstehung  der  Sonne. 

In  dem  achtunddreissigsten  Mährchen  des  fünften  Buches 
bei  Afanassieff  erhält  der  junge  Prinz  von  einem  verzauberten 
Vogel  ein  Schlachtross  und  einen  Apfel  von  der  Farbe  der  Sonne 
zum  Geschenk.  (Der  Jüngling  giebt  den  goldenen  Apfel  einer 
schönen  Prinzessin  daftlr,  dass  er  die  Nacht  hat  bei  ihr  bleiben 
dttrfen ;  man  merke  hier  wieder  auf  die  Verwandtschaft  des  Pferdes 
und  des  Apfels,  und  wahrscheinlich  xdes  Pferdes  und  des  Stieres, 
der  Sonne  und  des  Mondes.)  In  andern  russischen  Mährchen  ist 
das  Boss  des  Helden,  Iwan  Tzarewiö,  zuerst  mit  zwölf  eisernen 
Ketten  unter  der  Erde  angebunden ;  als  Iwan  es  reitet,  zerreisst 
es  sie  sämmtlich.  ^  Das  Pferd,  welches  Iwan  der  Dieb,  wie  er- 
zählt wird,  seinem  Herrn  entführt,«  ist  in  drei  sechsfach  ver- 
riegelten Thoren  eingeschlossen;  wenn  er  es  stiehlt,  soll  er  200 
Bubel  zur  Belohnung  erhalten ;  wenn  nicht,  sollen  200  Bastonaden 
seine  Strafe  sein.  Iwan  zieht  sich  Kleider  von  seinem  Herrn 
an  und  befiehlt,  dessen  Stimme  nachahmend,  den  Stallknechten, 
ihm  sein  Lieblingspferd  zu  bringen.  Diese  lassen  sich  täuschen, 
gehorchen  und  so  führt  Iwan  das  Pferd  davon.  Schliesslich  muss 
in  einem  dritten  russischen  Mährchen*  Iwan  Tzarewiö  eines 
Helden  Pferd  bei  Gelegenheit  seiner  Hochzeit  mit  der  schönen, 
aber  bösen  Anna  reiten.  Er  nimmt  seine  Zuflucht  zu  seinem 
Lehrer  Katoma,  der  den  Beinamen  Eichenhut  tUhrt  (hier  finden 
wir  den  Helden  wieder  in  Beziehung  mit  dem  Baum  und  dem 
Pferde),  und  der  von  dem  Grobschmied  ein  Heldenpferd  anfertigen 


'  Vgl  Simrock,  Handbuch  der  deutschen  Mythologie  p.  375. 
»  A  fan.  II,  24. 

•  Ib.  V,  6. 

*  Ib.  V,  35. 


?64 

Vimii  zwW  }we^  ßrobscfamiede  (die  zwölf  Stundoa  der  Nsicbt 
oder  Adch  die  zwölf  Monate  des  Jabres)  ziehen  zwölf  Biege!  anfi 
öfifira  «swölf  Tbore  und  führen  ein  verzaubertes,  mit  zwölf  eiBemen 
Ketten  gebundenes  Pferd  heraus.  Kaum  ist  der  Lehrer  auf  desaen 
Bttekeu  gestiegen,  als  es  höher  fliegt  denn  der  Wald,  der  still 
9teht  und  niedriger  als  die  Wolke,  die  sieh  bewegt  ^  Der  Lehrer 
bändigt  es,  indem  er  sich  mit  der  einen  Hand  an  seine  M^hne 
klammcprt,  mit  der  andern  aber  es  hintereinander  mit  vier  Stttcken 
einer  vensanberten  eisernen  Säule  zwischen  die  Ohren  schlägt. 
Paa  Pferd  bittet  darauf  mit  menschlicher  Stimme  um  sein  Leben; 
die  Fähigkeit  zu  sprechen  ist  nämlich  ein  untelrscheidendes  Attri- 
but des  Heldenpferdes  (eine  Fähigkeit,  deren  es  sich  oft  bedient, 
wie  Kustems  Pferd  z.  B.,  um  den  Helden  vor  den  ihn  umringen- 
den Gefahren  zu  warnen  und  ihm  guten  Bath  zu  ertheilen;  bis- 
weüea  dagegen,  wenn  es  sich  in  der  Gewalt  des  Ungeheuers  be^ 
findet,  spielt  es  die  RoUe  eines  Spions  nach  den  Handlungen 
des  Beiden  und  hinterbringt  dieselben  dem  Ungeheuer);*  es  ver- 
spricht auch,  dem  Lehrer  den  Willen  zu  thun.  Katomai  der  das 
Herd  Hundefleisch  neunt,  befiehlt  ihm,  noch  den  nächsten  Tag 
au  bleiben,  welcher  zur  Hochzeit  bestimmt  ist,  und  wenn  der 
Bräutigam  Iwan  es  reiten  werde,  so  zu  thun,  als  ob  es  von  einer 
sohwerw  Imt  gedrückt  wärde. 

In  dem  siebenten  ehstnisdien  Mährchen  stiehlt  der  junge 
Held  dem  Herrn  (dem  Teufel  oder  dem  schwarzen  Ungeheuer 
Nacht),  in  dessen  Diensten  er  steht,  das  windschnelle  Boss;  er 
reitet  in  der  Bichtung,  wo  die  Sonne  untergeht,  muss  jedoch  das 
Pferd  an  einer  eisernen  Kette  festbinden  (es  ist  das  der  Strick 
Yamas  oder  Varunas,  des  nächtlichen  Bedeckers  oder  BinderSi 
welcher  den  vediscben  Beiden  Qunah^pa,  die  Sonne,  den  mit 
der  goldenen  Buthe,  bindet),  damit  es  nicht  davon-  und  wieder 
zorttcklaufen   kann^     Dieses    Moment    ist    höchst   inteYeasanti 

'  FoYishe  liessü  8tajä<$ayo,  ponisze  ablak^  hadtädavo. 

*  So  heisst  es  z.  B.  im  Pentamerone  ES,  7,  wo  der  K5oig  von 
Sohottland  Oerretlo  schickt,  das  Pferd  des  Ogre  za  stehlen,  der  sehn 
Meilen  T09.  ScboWand  aitf^mt  Jebt:  „Havev^  st'  Huoroo  no  bellissUno 
carallo,  che  pareTa  fatto  co  lo  penniello  e  tra  le  autre  beUizze  no  le  man- 
caTa  manco  la  parola.*'  Als  Corvetto  das  Pferd  entführt,  ruft  es  aus:  „A 
Ferta  ca  Corretto  me  ne  porta.'^  —  Vgl.  auch  das  Pentamerone  III,  1. 
—  Nicht  allein  das  Pferd,  sondern  auch  der  Wagen  hat  die  Gabe  der 
Sprache:  Bämäy.  VII,  44  spricht  der  Wagen  Pushpaka  zu  Rftma  und 
sagt  ihm,  er  sei  allein  würdig,  ihn  in  lenken. 


265 

du  ^  die  BedeptUQg  d^  Mytbus  noch  daatliober  macht.  Da 
man  9ah,  dase  di^  Sonne  am  Abend  nicht  surttckkehrt,  go  ver- 
mathcte  man,  daAS  das  Sonnenross  von  dem  Helden  gelbst,  der 
es  gestohlen,  gebunden  worden  sei. 

In  den  enropäischen  Volksmährchen  haben  wir  zuweilen  statt 
des  Beiden,  der  geinem  Herrn  das  Pferd  entfahrt,  den  Helden, 
welcher  selbst  seinem  Herrn  in  Gestalt  eines  Pferdes  davon 
läufk,  bei  seiner  Fladit  von  der  Tochter  desselben  unterstützt, 
von  des  Zauberers  oder  Dämons  Tochter  oder  der  schwarzen 
Jqngfrau  (welche  später  schön  und  glänzend  wird).  Im  unga- 
rischen Volksglauben  nimmt  die  jüngste  von  den  Töchtern  der 
H^e  (die  Aurora)  oft  die  Oestalt  des  Heldenrosses  Tatos  an. 
Sie  wird  zum  Tatos,  als  der  Held,  ihr  begegnend,  sie  mit  dem 
Zttgel  auf  die  Stirn  schlägt ;  dann  trägt  sie  ihn,  in  ein  Pferd  um- 
gestaltet, in  die  Lttffce.  In  dem  russischen  Mährchen  ^  geht  der 
Sohn  eines  Kaufmanns  zu  einem  weisen  Zauberer  in  die  Lehre, 
der  ihm  jede  Art  von  Wissen  beibringt,  unter  Anderm  auch  ihm 
lehrt,  was  die  Schafe  sagen,  wenn  sie  blöken,  die  Vögel,  wenn 
sie  singen,  und  die  Pferde,  wenn  sie  wiehern.  Endlich  kehrt  der 
junge  Mann,  nachdem  er  aUerhand  Possen  gel^nt,  heim  und 
verwandelt  sich  selbst  in  ein  Pferd,  damit  ihn  sein  Vater  auf  dem 
Markte  verkaufen  und  Geld  gewinnen  könne;  doch  warnt  er 
seinen  Vater,  den  Zttgel  nicht  aus  der  Hand  zu  lassen,  damit  er 
ni^ht  wieder  in  die  Hände  des  Zauberers  falle.  Der  Vater  ver- 
gisst  es  und  verkauft  Pferd  und  Zttgel  zusammen.  ^  Der  Zau- 
berer befestigt  das  Pferd  mit  einem  Binge  an  eine  Eiche;  die 
schwarze  Jungfrau  (dievki  6ornavke),  die  Schwester  des  Teufels, 
giebt  dem  Pferde  Hirse  und  Wassermeth;  dadurch  gewinnt  das 
Pferd  Kraft  genug,  die  Kette,  welche  es  an  den  Baum  fesselt,  zu 
zearreissen  und  läuft  davon.  Der  Teufel  folgt  ihm;  das  Pferd  wird 
ein  Fisch  und  aus  dem  Fisch  ein  Bing ;  des  Königs  Tochter  kauft 
den  Bing  und  steckt  ihn  an  den  Finger ;  während  des  Tages,  ist 
0S  ein  Bing  (die  Sonn^nscheibe)  und  während  der  Nacht  ein 
schöner  Jttngling,  der  das  Lager  der  Königstochter  theilt  (die 
Sonne  oder  der  Mond  verborgen  in  der  Dunkelheit  der  Nacht). 
Gimea  Tages  läi^st  di^  Prinzessin  den  Bing  zu  Boden  fallen  und 
er  zerbricht  in  tausend  Stttcke  (die  Abendsonne,  die  auf  den  Berg 


'  Afan.  VI,  46.  —  Vgl  auch  V,  2?  uud  Nr.  ?6  von  d^n  Novelline 
4i  Stefano  <}i  ^^n  Calcipaia. 
*  Vgl.  Kap.  I  p.  54. 


266 

fällt);  darauf  wird  der  Teufel  ein  Hahn^  um  die  Stücke  des  zer- 
broclieiien  Ringes  aufzupicken;  doch  ein  kleines  Stttckchen  fällt 
unter  den  Fuss  der  Prinzessin  und  wird  in  einen  Falken  ver- 
wandelt;  der  den  Hahn  erwürgt  und  verschlingt. 

In  dem  Zügel ^  welcher  diesen  Helden,  der  ein  Pferd  wird, 
fesselt,  glaube  ich  den  Lasso  wiedererkennen  zu  dürfen,  mit  wel- 
chem Varuna  im  Aitareya  Brähmana  den  ^unahgepa  ge- 
fesselt hält.  Im  Rigveda'  haben  wir  Sftrya,  die  Sonne,  als 
SäuvaQvya  oder  Sohn  Sva^vyas  d.  h.  dessen,  der  schöne  Pferde 
hat;  doch  da  wir  neben  SvaQvya  auch  Svagva  finden  (d.  h.  der 
ein  schönes  Pferd  hat),  so  könnte  die  Sonne  selbst  dieses  Pferd 
zu  sein  scheinen.  Die  Sage  erzählt,  dass  SvaQva,  der  keine 
Kinder  hatte,  die  Sonne  ersuchte,  ihm  welche  zu  geben  und  dass 
die  Sonne  ihm  zu  Gefallen  selbst  von  ihm  geboren  wurde.  Sva§va, 
der  ein  schönes  Pferd  und  keine  Söhne  hat,  ist  vielleicht  iden- 
tisch mit  dem  alten  Mann,  der  durch  Verkauf  des  Pferdes  seinen 
Sohn  verloren  hat;  als  die  Sonne  wiederkehrt,  kommt  auch  sein 
Sohn  zurück.  In  den  vedischen  Ausdrücken:  ohne  Pferd,  ge- 
boren ohne  Zügel,  die  Sonne  (als  ein  Renner*),  dürfte  der 
Held  als  der  bezeichnet  sein,  welcher  noch  nicht  dieses  Pferd 
oder  diesen  Zügel  hat,  ohne  welchen  er  machtlos  ist;  denn  der 
Held  wird  fast  immer  auch  zugleich  als  Reiter  gedacht. 

Dem  Reiterhelden  ist  sein  Pferd  sein  Alles;  bisweilen  ist  es 
jedoch  auch  störrisch;  dann  straft  es  der  Held.  Wir  machten 
schon  auf  den  bekannten  griechischen  Mythus  von  Phaeton  auf- 
merksam, der  mit  Ross  und  Wagen  in  das  Wasser  stürzte,  weil 
die  Pferde  die  Erde  in  Brand  zu  setzen  drohten.  Das  ereignet 
sich  jeden  Tag  gegen  Abend,  wenn  die  Sonne  untergeht;  der 
ganze  Himmel  geht  hinab;  da  wird  die  Sonne  in  den  Ocean  der 
Nacht  geworfen ;  der  Lauf  der  Sonnenrosse  ist  unterbrochen  und 
die  Räder  des  Wagens  rollen  nicht  länger.  Eine  ähnliche  Kata- 
strophe wiederholt  sich  am  Johannistage,  in  der  Sommersonnen- 
wende, in  welcher  die  Sonne  stehen  bleibt  und  zurückzugehen 
anfä,ngt,  weshalb  die  Tage  von  da  bis  Weihnachten  immer  kürzer 
werden. 

In  Deutschland^  herrscht  ein   merkwürdiger  Volksglauben, 


»  I,  61,  15. 

'  Ana9yo  gäto  aDabhi9ur  arvä;  Rigv.  I,  152,  5. 
'  Vgl.  Menzel,  Die  vorchristliche  UuBterblichkeits-Lehre, 
I,  p.  29. 


267 

demzufolge  der  Jäger^  der  am  Johannistage  einen  Schuss  in  die 
Sonne  that;  dadurch  ein  Freischtitz  wird;  d.  h.  der  fortan  nie 
mehr  fehlschiesst.  Auch  glaubt  das  Volk,  ein  Jäger ,  der  den 
frevelnden  Schuss  in  die  Sonne  gethan^  sei  dafür  verdammt  wor- 
den; ewig  jagen  zu  mttssen.  -r  In  der  Nacht  wie  auch  in  der 
Periode;  während  welcher  der  Glanz  der  äonne  abnimmt  und 
zwar  besonders  im  Herbst;  ist  der  dttstere  Wald  Himmel  angefüllt 
mit  allen  Arten  von  wilden  Thieren;  die  Sonne  tritt  in  diesen 
Wald  eiu;  wird  Mond  und  jagt  darin  die  wilden  Thiere  die 
ganze  Nacht  resp.  Jahr,  d.  h.  bis  sie  wiedergeboren  wird.  Im 
Bigveda;  wo  wir  Schwesterstuten  an  den  Sonnen  wagen  ge- 
schirrt saheU;  ^  treibt  Indra;  seinem  Lieblinge  Eta$a  zu  Gefallen; 
nachdem  er  die  Ambrosia  getrunken;  die  Wolken,  welche  hinter- 
gefallen waren ,  vor  die  fliegenden  SonnenrossC;  ^  d.  h.  er  warnt 
den  von  Pferden  gezogenen  Sonnenhelden;  sei  es  durch  die  Wolke 
im  Gewitter;  sei  es  durch  die  Dunkelheit  der  Nacht,  weiterzugehn ; 
und  er  schlägt  sogar  die  Räder  des  Sonnenwagens  selbst,  um 
seinem  einen  Weltenbrand  drohenden  Laufe  Einhalt  zu  thun.  Von 
diesen  vedischen  Daten  ist  der  Uebergang  zu  dem  Phaeton  der 
Griechen,  der  wegen  der  Pferde  in  die  Wasser  stüi-zt,  leicht. 
Der  um  seiner  Pferde  willen  getödtete  Held  ist  häufig  Gegenstand 
der  Mythologie  und  der  griechische  Name  Hippolytos  geht  auf 
diese  Todesart  zurück.  HippolytoS;  der  Sohn  des  TheseuS;  wird 
auf  der  Flucht  vor  seinem  Vater;  der  ihn  des  Incests  mit  seiner 
Stiefmutter  Phaedra  für  schuldig  hält;  aus  dem  zertrünmierten 
Wagen  geschleudert;  als  die  Wagenpferde  dem  Meere  nahen  und 
vor  Meerungeheuem  scheuen.  Es  ist  das  eine  Variation  der  Sage 
von  dem  von  seiner  Stiefmutter  verfolgten  jungen  Heldeu;  der  in 
das  Meer  geworfen  wird,  jedoch  mit  dem  beachtenswerthen  Zu- 
satZ;  dass  seine  Pferde  selbst  die  Ursache  seines  Todes  sind.  Die 
christliche  Legende  vom  heiligen  Hippolytus  hat  sich  diesen  be- 
sonderen Zug  angeeignet;  indem  sie  den  heiligen  Märtyrer,  der 
unter  den  Kaisern  Decius  und  Valerian  Präfect  war;  als  von 
Pferden  zerrissen  darstellt.  Der  Dichter  Prudentius  führt  die 
Erzählung  in  folgenden,  beiden  sonderbaren  Distichen  auS;  in 
welchen  über  St  Hippolytus  von  Seiten  des  römischen  Richters 
die  Todesstrafe  verhängt  wird: 

'  Sapta  syasära^  suvitäya  süryam  yabanti  harito  rathe;  Rigv.  VII, 
66,  15. 

'  Adha  kratvä  maghaTan  tabhyam  devk  ana  vi^ve  adadu^  somapeyam 
yat  siuyasya  harita^ patanti^  purab  satir  uparä  eta^e  ka)^:  Bigv.  V,  29,5. 


268 

„nie  BOf^iiiata  residens  cerviee,  qnis,  ioqwit 

Dicitar?  «affirmanl;  dicier  Hippolytum. 
Ergo  sit  Hippoljrtus ;  quatiat  turbetque  jugales 

Intereatque  feris  dilaceratos  equis.** 

Doch  die  Pferde,  vjelche  den  Helden  in  das  Wasser  ziehen,  sind 
dieselben,  welche  ihn  retten,  indem  sie  ihn  über  die  Tiefe  tragen, 
als  sie  den  Wagen  oder  das  Schiff  anf  dem  Meere  an  das  Ufer 
ziehen.  Die  A^vins  thun  das  Gleiche  im  Rigveda,  wo  sie  so- 
wohl sich  als  andere  Helden  auf  ihrem  Wagen,  der  mit  einem 
Schiffe  verglichen  wird;  ^  aus  den  Wogen  retten.  Held  und  Pferd 
haben  immer  dasselbe  Schicksal. 

Wenn  der  Held  naht  oder  wenn  dem  Helden  ein  glückliches 
Ereigniss  zustossen  soll,  wiehert  sein  Pferd  vor  Freude. 

Im  liigveda'  wiehert  bei  der  Ankunft  des  Oottes  Indra 
das  Pferd,  brüllt  die  Kuh,  wie  ein  Bote  zvrischen  Himmel  und 
Erde.  Das  Wiehern  dieses  Pferdes  und  das  Brüllen  dieser  Kuh 
sind  das  Donnero  der  Sonne  in  der  Wolke.  Durch  dieses  Wie- 
hern oder  Brüllen  werden  die  Menschen  benachrichtigt,  dass  der 
Heldengott  Indra  im  Himmel  seine  Schlachten  beginnt  Ein  an- 
derer Hymnus,  der  die  beiden  Pferde  Indras  awei  Strahlen  der 
Sonne  (süryasya  ketü)  nennt,  feiert  sie  als  wiehernd  und  Am- 
brosia ausspritzend, '  d.  b.  die  Sonne  lässt  Begen  aus  den  Wol- 
ken fallen;  wenn  sie  sich  am  Morgen  im  Ostßn  zei^  wiehert 
ihr  Pferd  und  lässt  Thau  auf  die  Erde  tropfen. 

Herodot  und  nach  ihm  Oppian  und  Valerias  Maximus  er- 
zählen die  mythische  Geschichte  von  Darius  Hystaspis,  der  un- 
vorhergesehener Weise  zur  Herrschaft  gelangte,  weil  er  seine  Col- 
legen  zu  dem  Beschlüsse  überredete,  dass  der  die  Krone  Empfangen 
sollte,  dessen  Pferd  zuerst  beim  Anblick  der  Sonne  wiehern  würde. 
Es  wird  berichtet,  dass  Darios,  als  er  an  Ort  und  Stelle  kam, 
sein  Pferd  eine  Stute  wittern  Hess.  ^    Wiehern  ist  das  Lachen  des 


'  A  no  nftv&  matinäm  y&tam  parftya  gantave,  ym&^äthäm  a^rinA  ratham ; 
Rigv.  I,  46,  7. 

*  Krandad  a9vo  nayamdiio  mvad  gäur  aotar  ddU>  na  rodati  darad  v&k ; 
Rigv.  I,  173,3. 

*  Gbrita^cntiiih  sväram  asvärshtam;  Rigv.  II,  11,  7. 

*  ...  in  equae  genitalem  ptirtem  depUsaam  manum,  cum  ad  earn 
locum  ventom  esset,  naribus  eqni  admovit,  quo  odore  irritatus  ante  omnes 
hinnitum  edidit,  auditoque  eo  sex  reliqui  summae  poteslatis  contümo  eqois 
dilapei  candidati,  ut  mos  est  Perstrom,  bami  prostratU  corporibos  Dariom 


269 

Pferdes.  Wir  sahen  im  vorigra  Kapitd,  wie  der  9tier  sprkbt 
und  der  Fiseb  lacht  beim  Anblick  de»  Coitna;  and  so  haben  wir 
hier,  in  der  Erzählung  von  Darius^  da»  P&rd^  das  we^^  der 
Stute  wiehert  —  Um  auf  das  Pferd  der  Mythologie  zurückzu- 
kommen, sa  widiert  das  Sosnenpferd  in  der  DoBBerwolke^  welche 
der  Stier ;  wie  eine  Kuh,  schwängert  und  der  Hengst  wie  eioe 
Stute,  und  zwar  wiehert  es  beim  Anblick  der  Aurora^  die  bald 
ats  die  Lenkerin  von  hundert  Wagen  erscheint^  (eine  runde 
Zahl,  wie  die  hunderttausend  Pferde,  welche  in  einem  anderen 
Hymnus'  der  Gott  Indra  lenkt;  eine  LiebHngszahl,  wie  die  Sieben, 
welche  auf  dieselben  Sonnenpferde,  Sonnenstrahlen  und  AQgirasen 
Anwendung  indet^)  —  weshalb  sie  sich  nüt  der  Aphrodite  Hip- 
podameta  der  Griechen  vergleicben  lässt  — ,  bald  auch  als  eine 
wirklidie  Stute*  Die  Sonne  ist  bald  eine  Lenkerin  tod  Pferden, 
bald  selbst  ein  Pferd ;  ebenso  ist  die  Aurora  baki  eine  Amasone, 
bald  eine  Lenkerin  von  Wagen,  bald  a^yäyatt  und  bald  eine 
Stute.  Wenn  die  Sonne  sieb  der  Aurora^  oder  das  Pferd  der 
Stute  niUm^  wiehert  dasselbe.  Wir  wissen,  wie  die  A^vins  sieh 
als  Sttne  der  Gemahlin  der  Soon^  Saran  jfi,  der  Toebtev  Tyash- 
tars  betrachtete»,  welche  sick  mit  der  Sonne  in  Gestalt  einer 
Stnte  vereinigte.  Mag  diese  Saranyö  die  Wolke  oder  die  Aurora 
sein,  wir  haben  in  ihr  auf  die  FUle  erne  Stute  m  sehen^  welche 
die  Sonne,  der  Sonnenheld  oder  Sonnenhengst  begattet,  um  die 
ZwilüngsheMen  zu  zeugen,  die  ans  diesem  Gtrunde  auch  die  beiden 
Sttbne  der  Stute  beissen.  ^  Wir  sahen  schon  im  vorigen  Kapitel 
einen  Helden  und  eine  Heldin,  die  ans  Eietn  ausgebrütet  w^den ; 
von  den  Dioskuren  wissen  wir,  dass  sie  aus  dem  Ei  der  Leda> 
entsprangen,  und  das  Stutenei  ist  das  Thema  eines  Mährchens 
in  der  Ukermark.^     Griechische  Schriftsteller   haben   mehre 


regem  sslatarant;  Valer.  Max.  Mem.  VII;  Hevodot  III,  87.  Herodot 
iiioMot  aaeb  auf  eine  andere  Version  dieser  Anekdote  B«eiig,  und  fügt 
bioBO,  dase  e»  beim  ersten  Tagesgrunen  bÜtzti^*  und  donnerte. 

'  Devi  ^iri  vatbftnäm;  Btgy.  I,  48^  H.  —  Qatani  rathebbi^  subbagoshft 
iyaih  vi  yftty  abbi  mftnutbftu;  I,  48,  7. 

*  Upa  tmaoi  dadbäno  dhnry  ft^dnt  sabasrfini  ^ftni  viigr»bäbu^;  Kigv. 

'*  VglBigv.  IV,  3,  11;  IV,  ia,3. 

*  Vgl.  das  Petersburger  Wörterbucb  s.  v.  a^Tin. 

'  Kubn  and  Scbwartz  p.  3d0.  —  Der  spricbwörtlicbe  Ausdruck  im 
Bngliscben:  „a  mare*B  neeVS  mit  welcbem  man  jetzt  eine  Unmögliobkeit 
b«£eicbB0t,  gnig  wabrscbekillcb  urspfünglieb  ai^  einen  wirkliehen  Mytbu« 
»nrück. 


270 

Fälle  TOD  geschlechtlicher  Vermischung  zwischen  Männern  nnd 
Staten  und  zwischen  Hengsten  und  Weibern  überliefert;  mit  ent- 
sprechenden Geburten  von  Ungeheuergestalt  NuU;  so  unnatürlich 
solche  Gebuiiien  uns  erscheinen,  befinden  sie  sich  in  der  Mytho- 
logie in  vollständiger  Harmonie  mit  der  Natur.  Im  vorigen  Ka- 
pitel sahen  wir  die  Kuh;  die  über  den  Hasen  springt;  und  erklärten 
diese  Erscheinung  durch  die  Wolke  oder  Dunkelheit;  die  den 
Mond  bedeckt  und  auch  durch  die  Erde,  die  bei  Mondfinster- 
nissen den  Mond  verdunkelt.  Bei  Herodot  und  Valerius  Maximus 
wirft  zur  Zeit  des  Xerxes  eine  Stute  einen  Hasen,  und  wir  müssen 
hier  den  Hasen  als  den  Mond  auffassen;  der  aus  der  Dunkelheit 
oder  den  Wolken  heraustritt;  wenn  wir  femer  lesen,  dass  der 
Hase  die  Stute  erstickte,  so  müssen  wir  das  so  verstehen;  dass 
er  den  Mond  bedeutet  als  die  Dunkelheit  oder  die  Wolken  zer- 
streuend (vielleicht  auch  die  Sonne  oder  die  Abend-Aurora).  Wir 
müssen  in  dieser  Weise  zu  dem  Mythus  unsere  Zuflucht  nehmen; 
um  die  Beispiele  von  Parturitionen  ohne  Coitus  zu  begreifen,  die 
sich  in  einigen  indischen  Sagen  finden  und  auf  Helden  ange- 
wendet werden,  ebenso  wie  auch  die  sonderbaren  Erörterungen 
bei  den  AlteU;  von  Aristoteles;  Varro,  Plinius,  Columella,  Solinus 
und  Augustinus  bis  herunter  auf  Albertus  Magnus  und  Aldro- 
vandi  über  Stuten,  und  zwar  besonders  spanische  und  portugie- 
sische Stuten,  welche  vom  Winde  geschwängert  sind  (bei  Oppian  ' 
die  mit  den  windigen  Füssen  genannt)  und  von  denen  auch  im 
Pentamerone^  mit  weniger  Decenz  in  Beziehung  auf  den 
Mythus  von  dem  von  dem  Baume  gefallenen  Mädchen  die 
Rede  ist 


»  Kyneg.  I,  284. 

^  II,  3.  ^Allecordatose  d^haver  'ntiso  na  vota  da  certe  stodiante,  che 
le  cavalle  de  Spagna  se'mprenano  co  lo  viento  ;**  und  die  Geschichte  Bpricht 
weiter  von  dem  Erstaunen  des  Ogre,  welcher  beim  Anblick  eines  schönen 
Mädchens  in  seinem  Garten  ,ypensaie  che  lo  shiavro  de  lo  pideto,  havesse 
'ngravedato  quarche  arvolo,  e  ne  fosse  sciuta  sta  penta  criatura;  pereo 
abbracciatala  co  gran'ammore,  decette,  figlia  mia,  parte  de  sto  cnorpo, 
sbiato  de  lo  spireto  mio,  e  chi  me  1'  havesse  ditto  mai,  che  co  va  Tcntose- 
täte,  hayesse  dato  forma  a  ssa  bella  facce?'*  Varro  schreibt  gans  emst- 
hait:  „In  faetnra  res  iucredibilis  est  in  Hispania,  sed  est  vera,  quod  in 
Lusitania  ad  Oceanum  in  ea  regione,  ubi  est  oppidum  Oljssipo  monte 
Tagro,  quaedam  e  vento  concipiunt  equae,  at  hie  gallinae  sclent,  quarum 
ova  hypanemia  appellant,  sed  ex  his  equis  qui  nati  puUi,  non  plus  trien- 
nium  vivunt'^ 


271 

I 

Auch  das  Pferd  Ariostfs  hat  eine  ähnliche  Natur : 

„Questo  h  11  destrier  che  fu  deir  Argalia 
Che  di  fiamma  e  di  veoto  era  concetto 
£  senza  fieno  e  biada  si  nutria 
De  r  aria  pura  e  Babican  fu  detto.*^ 

Das  Pferd  Ciolles  in  einem  toscanischen  Sprichwort  nährt  sich 
auch  nur  von  Wind. 

Das  Pferd  des  Dardanos,  des  Sohns  des  Zeus^  war  auch  nach 
der  Sage  vom  Winde  geboren,  was  uns  auf  die  vedischen  Maruts, 
deren  Wagen  Pferde  zu  Flügeln  haben,  und  auf  den  v  o  1  u  c  e  r 
currus  des  horazischen  Diespiter  zurückführt.*  Im  Sanskritist 
der  Ausdruck  vätä§va,  Windpferd,  sehr  gebräuchlich  zur  Be- 
zeichnung eines  sehr  schnellfüssigen  Pferdes. 

Kaum  ist  das  Pferd  Uccaih^rava  geboren,  als  es  auch 
schon  wiehert;  gleich  ihm  lacht  im  Mahäbhärata  der  Held 
A^vatthäman,  der  Sohn  Dronas  (eigentlich :  der,  welcher  in  seinem 
Pferde  Stärke  hat,  was  dasselbe  ist  wie  „Heldenpferd ^0;  sobald 
er  geboren  ist. 

Ferner,  wie  das  Pferd  durch  Wiehern  seine  Freude  über  das 
Glüek  seines  Reiters  bezeigt,  so  ist  es  nicht  nur  traurig,  sondern 
vergiesst  auch  wirklich  Thränen,  wenn  ihn  Unglück  Ireflfen  soll. 

Als  Rävana  im  Rämäyana  in  seinem  Wagen  erscheint,  um 
den  Entscheidungskampf  mit  Räma  auszufechten,  vergiessen  seine 
Renner  Thränen^  —  ein  unglückliches  Vorzeichen.  Rävana  ist 
das  Ungeheuer  des  Dunkels  und  der  Wolken ;  als  die  Wolke  sich 
zu  zertheilen  beginnt,  fallen  Regentropfen,  d.  h.  die  Pferde  des 
Ungeheuers  weinen.  Die  verrätherische  Schwester,  welche  mit  dem 
Ungeheuer  gegen  ihren  Bruder  verbündet  ist  in  russischen  Mähr- 
chen, wird  von  ihrem  Bruder,  der  das  Ungeheuer  tödtet,  dazu 
verurtheilt,   einen  ganzen  Eimer  mit  ihren  Thränen  zu  filllen.  ^ 


*  Rathebbir  a^vaparnäi^;  Rigv.  I,  88,  1.  —  Horaz,  C arm.  I,  14: 

„Namque  Diespiter, 
Igni  corusco  nubiia  dividens 
Plerumque  per  purum  tonantes 
Egit  equos,  volucremque  currum.** 
'  A^rüni  däsya  mumucurvägina^;  Bämäy.  VI,  75. 
'  In  den  entsprechenden  italienischen  Mährchen    muss    der  für  eine 
Indiscretion  bestrafte   Held  resp.  Heidin ,  bevor   er  Verzeihung   erlangt, 
sieben  Paar  eiserne  Schuhe  abnutzen  und  sieben  Flaschen  mit  Thränen 
füllen. 


272 

Diese  Thränen  sind  ebenfalls  ein  sagenbaCtos  Symbol  des  Rügens, 
welcher  fällt,  als  der  Sonnenheld  die  Wolke  zerri»seu  hat 

Sneton  schreibt  im  Leben  Cäsars,  dass  die  von  Caesar  dem 
Mars  geweihten  und  dann  nach  dem  Ueberschreiten  des  Kubicon 
in  Freiheit  gesetzten  Pferde  sich  hartnäckigst  weigerten,  zu  fres- 
sen und  reichliche  Thränen  vergossen.  ^    Es  ist  darauf  zu  achten, 
das«  diese  Erzählung  von  den  weinenden  Pferden  mit  dem  Ueber^ 
schreiten  des  Wassers   des  Rubicon  in  Verbindung  gebracht  ist 
(eines  Stromes,  den  noch  kein  Geograph  mit  Sicherheit  hat  con- 
statiren  kennen,   wahrscheinlich  weil   die  darauf  bezOgliche  Er- 
zählung eine  Fabel  mythischen  Ursprungs  ist    Wir  wissen,  wie 
sehr  mythische  Vorstellungen  dazu  neigen ,  eine  menschliehe  Ge- 
stalt anzunehmen  und  besonders  incliniren,  sich  um  grosse  histo- 
rische Persönlichkeiten  zu  gruppiren  —  Cyrus,  Alexander,  Uodmi- 
lus,  Cäsar,  Augustus,  Vespasian,  Attila,  Theodorieh  and  Karl  der 
Grosse  sind  Beweise  dafür;  und  vielleicht  wird  ein  Tag  kommen, 
an  welchem  Napoleon  I.  oder  Garibaldi  fär  manche  Volkssage, 
die  jetzt  unbestimmt  und  unstät  umherirrt,  einen  neuen  Glieds«' 
mann  abgeben).    So  heisst  es  auch,  dass  üäsars  Pferd  selbst  drei 
Tage  lang  vor  dem  Tode  des  Helden  Thränen  vergoss.    In  der 
Iliade^  wemen   die  Bosse  Achills  über  den  Tod  des  Patroklus, 
den  üektor  von  seinem  Wagen  in   den  Staub  geworfen;  in  den 
Paraleipomena  des  Quintus  Smymaeus^  weinen  die  Bosse 
Achills  bitterlich  über  den  Tod  ihres  Helden.    Es  ist  das  eine 
Variation  der  Sage  von  den  Pferden,  welche  den  Sonnenhelden 
in  die  Wasser,  den  Ocean  der  Nacht  oder  die  Wolken  hinab- 
sttlrzen,  und  der  von  den  Bossen  Poseidons.    Die  Nebel,  wekhe 
nach  Sonnenuntergang  am  Abend  die  Luft  schwäagern,  und  die 
Begengisse  bei  Tag   und  bei  Nacht,  wie  auch  die  im  Herbst, 
lassen  Thränen  zur  Erde  fallen  oder  weinen  ttber  den  (nahen)  Tod 
des  Sonnenhelden. 

Der  Morgenthau  dagegen,  der  als  Schaum  aus  dem  Munde 
des  Sonnenpferdes  kommt  oder  aus  seinem  Huf  als  Ambrosia  und 
Gesundwasser,  ist  mit  jeder  Art  Heilung  spendenden  Einflusses 
geschwängert 


^  ProximiB  diebas  equorum  greges,  qaos  in  trajiciendo  Habicone  Marti 
coaBacraverat  ac  sine  custodibus  vagos  dimiserat,  comperit  pabuio  p^rtina- 
cisshue  abstinere,  ubertimqae  flere. 

>  XVU,  426. 

>  111,  740. 


Daß  Pferd  und  der  Stier  der  Mythologie  sind  (Samen-)Au8- 
spritzer  xcw'  ifyx'^v*  Durch  eine  vedische  Strophe  —  die  in 
meinen  Augen  einer  von  den  Sprüchen  ist,  welche  hergesagt 
werden,  um  das  Zungenband  zu  lösen  — ,  die  sich  auf  die  beiden 
ausspritzenden  oder  befruchtenden  Rosse  Indras  bezieht,  zieht  sich 
ein  Wortspiel  mit  der  Wurzel  varsh  oder  vrish,  welche  zu- 
gleich ausspritzen  und  befruchten  bedeutet,  *  und  mit  dem  Buch- 
staben r,  der  fast  in  jedem  Wort  des  Verses  vorkommt.  Nicht 
allein  die  Pferde  Indras  spritzen  aus  und  befruchten;  dieselbe 
Eigenschaft  wird  auch  dem  von  ihnen  gezogenen  Wagen  beige- 
legt *  Wir  sahen  schon,  dass  das  Pferd  der  Agvins  das  Schlangen- 
ungeheuer tödtet  und  dass  der  Pferdekopf  Dadhyanc  (der  in  der 
Milch  oder  in  der  zerlassenen  Butter  wandelt,  und  der  sich  in 
einem  Milchsee  befindet)  die  Feinde  Indras  vernichtet.  Ein  ve- 
discher  Hymnus  singt,  dass  mit  dem  Schaum  der  Wasser  Indra 
dem  Schlangenungeheuer  den  Kopf  abschlägt. '  Im  Toscanischen 
heisst  der  Eeichhusten  der  Pferde-  oder  Eselshusten,*  und  man 
glaubt,  dass  die  Kinder  ditvon  geheilt  werden,  wenn  man  ihnen 
den  Schaum  von  dem  Maule  eines  Pferdes  zu  trinken  giebt  oder 
sie  aus  dem  Wasser  trinken  lässt,  aus  welchem  ein  Pferd  ge- 
trunken hat  Dieses  Heilverfahren  beruht  auf  dem  Grundsatze 
similia  similibus,  indem  der  Schaum  gegen  jenen  convulsi- 
vischen  Husten  angewandt  wird,  welcher,  wie  alle  Convulsionen, 
viel  saliva,  Schaum  in  den  Mund  bringt  Allerdings  wird  der 
Glaube  an  diese  Wundermedicin  etwas  erschüttert,  wenn  wir 
lesen,  dass  derselbe  Scbaum  auch  ein  sehr  wirksames  Mittel 
gegen  Ohrenschmerzen  ist  Plinius,  Sextus  Empiricus  und  Mar- 
cellus  bei  Aldrovandi  ^  empfehlen  ebenfalls  die  saliva  eines  Pfer- 
des als  ein  Mittel  gegen  Husten,  besonders  bei  schwindsüchtigen 


'  Vrishä  tv&  vrishanam  vardhata  dy&ur  vrish^  vrishabbyäm  vahase 
haribhy&m  sa  no  Trisha  vrisharathah  su^ipra  vrishakrato  vrishä  va^rin 
bhare  dhäb;  Rigv.  V.  36,  5.  —  Im  Piemontesischen  giebt  es  ein  Gesell- 
schaftsspiel, das  in  der  Beschreibung  der  Geschenke,  die  man  der  Braut 
Jemandes  zu  machen  denkt,  besteht,  bei  welcher  jedoch  kein  einziges 
r  vorkommen  darf.  Wer  ein  Wort  mit  einem  r  bringt,  hat  das  Spiel 
verloren. 

*  Vrishäyam  indra  te  ratha  uto  te  vrishanä  harf;  Eigv.  VIII,  13,  31. 

'  Apäm  phenena  namudeh  ^ira  indrod  avartayal^;   Eigv.  VIIL  14,  13. 

^  £r  heisst  auch  der  Hundehusten  und  darum  glaubt  man  auch  analog 
dem  Obigen,  er  werde  geheilt,  wenn  man  die  Kinder  da,  wo  ein  Hund 
getranken  hat,  trinken  lässt. 

*De  Quadrupedibus  L 

Gabcmotb,  dt«  Tliiere.  18 


274 

Patienten^  mit  dem  Bemerken,  dass  die  kranke  Person  in  drei 
Tagen  geheilt  ist,  das  Pferd  aber  stirbt,  ein  Aberglaube,  der 
seinen  Ursprung  in  dem  mythischen  Pferde  gehabt  haben  muss, 
welches  von  Ambrosia  lebt,  aber  seine  Kräfte  verliert  und  stirbt, 
als  ihm  sein  Speichel,  Schaum,  Ambrosia  oder  Than  genommen 
ist  Es  ist  bekannt,  dass  die  A^vins  neben  ihrem  Charakter  als 
glänzende  Reiter  auch  als  MenscheniVeunde  ausserordentlich  ge- 
schickte Aerzte  waren;  das  konnte  auch  nicht  anders  sein;  hatten 
sie  doch  den  Kopf  Dadhyands  in  ihrer  Gewalt,  welcher  sich  in 
der  Ambrosia  befindet  d.  h.  dessen  Schaum  Ambrosia  ist.  Die 
Dioskuren  erscheinen  ebenfalls  häufig  in  europäischen  Sagen  als 
unerwartete  und  wunderbare  Befreier.  Mit  diesem  mythischen 
Glauben  von  dem  Pferde,  das  Ambrosia  hervorbringt,  hängt  auch 
die  Verwandlung  der  Ocyrhoe  in  eine  Stute  zusammen,  weil  sie 
vorausgesagt,  dass  Aesculap  durch  die  Arzneikunde  die  Menschen 
vom  Tode  erretten  würde,  wie  sie  Ovid  im  zweiten  Buche  der 
Metamorphosen  geschildert  hat.  Aesculap  wurde  bekannt- 
lich bei  Quellen  verehrt,  deren  Wasser  man  für  heilkräftig  hielt, 
und  wurde  von  dem  Sonnengott  Apollo  beschützt;  die  beiden 
Aerzte,  die  Söhne  des  Asclepios  oder  Aesculapius,  scheinen  nichts 
weiter  als  eine  Sondergestaltung  der  Dioskuren  zu  sein. 

Doch  das  Sonnenpferd  bringt  nicht  allein  mit  seinem  Munde 
Ambrosia  hervor. 

Es  hat  grosse  Kraft  in  seinen  Hufen  (weshalb  Isidor  und 
andere  Etymologen  des  Mittelalters  den  Namen  c  a  b  a  1 1  u  s  davon 
ableiteten,  „quod  ungula  terram  cavat"')  und  bedient  sich  im 
Mythus  und  in  der  Sage  derselben  nicht  nur  zum  Kampf  gegen 
die  Feinde,  sondern  auch  um  die  Erde  aufzureissen  und  Ambro- 
sische Quellen  daraus  hervorsprudeln  zu  lassen.  Bisweilen  spritzt 
Ambrosia  aus  dem  Hufe  des  Pferdes  selbst  heraus.  Im  Big- 
V  e  d  a  2  heisst  es,  die  Pferde  Agnis  hätten  Hände  (d.  h.  Hufen  an 
den  VorderfÜssen) ,  welche  ausspritzen;  und  das  Pferd,  welches 
die  A^vins  dem  von  ihnen  beschützten  Helden  geben  (d.  h.  dem 
Sonnenhelden,  der  Morgensonne),  füllt  mit  seinem  starken  Hufe 
hundert  Krüge  mit  berauschendem  Nass.  ^  Ich  habe  nicht  nöthig 
hier  die  berühmte  Quelle  des  Pferdes  oder  Hippokrene  anzuführen. 


'  Da  Gange,  Gloss,  med.  et  inf.  lat.  s.  v.  caballns. 
*  Vrishapänayo  \y&\  Kigv.  VI,  75,  7. 

'  Kärotaräd  dhaph&d  aQvasya  vriahnnh  ^tam  kumbhau  asMdatam  su- 
räyah;  Rigv.  I,  116,  7. 


275 

welche  Bellerophons  Pegasus  ans  der  Erde  hervorsprudeln  liess, 
indem  er  mit  seinem  Haf  das  Erdreich  aufbrach  (deshalb  auch 
Ilrffaala  xqt^  genannt).  In  der  römischen  Sage  wurde  der 
Pferdehuf  an  einem  Ort  nah  dem  Lacus  Regilius  verehrt^  wo  der 
Sage  nach  die  Dioskuren  erschienen  waren.  ^  In  einem  russischen 
Mährchen  ^  gerftth  Häuschen  (lyanushka),  als  er  einen  Pferdehuf 
sieht;  in  grosse  Versuchung,  daraus  zu  trinken,  doch  widerräth 
ihm  seine  Schwester.  Dieselbe  Versuchung  tritt  wieder  an  ihn 
heran  beim  Anblick  eines  Stierhufes  und  später  dem  eines  Bockes. 
Zuletzt  kann  er  sich  nicht  mehr  halten,  er  trinkt  ans  dem  Bocks- 
huf und  wird  selbst  in  einen  Bock  verwandelt.  In  der  Spur 
eines  Pferdehufes  läuft  in  andern  Mährchen  die  Ameise  Gefahr 
zu  ertrinken;  von  einem  Menschen  gerettet,  beweist  sie  sich  im- 
mer dankbar  gegen  denselben.  ^ 

Mehre  Mythen^  die  wir  in  dem  vorigen  Kapitel  schon  als  auf 
den  Stier  bezüglich  angeftihrt  haben,  kommen  wieder  in  Ver- 
bindung mit  dem  Pferde  vor,  wie  z.  B.  die  Vögel,  welche  aus 
dem  Pferde  kommen;  der  Held,  welcher  dem  Pferde  das  Fell  ab- 
zieht, indem  er  es  am  Schwänze  packt,  um  einen  Sack  davon  zu 
machen;  das  schnelle  Ross  des  Adrastus,  welches  hinter  der 
Schildkröte  herrennt  (ein  griechisches  Sprich  wort) ;  *  das  Mondpferd 
und  das  Sonnenpferd.  Dieser  Wechsel  zwischen  Mond  und  Sonne 
und  zwischen  Stier  und  Pferd  ist  glücklich  angedeutet  worden 
von  dem  römischen  Dichter  Fulgentius: 

„Jam  Phoebus  disjungit  eqaos,  jam  Cynthia  jungit, 
Quasque  soror  liquit,  frater  pede  temperat  undas: 


'  „Oue  spot  OD  the  margin  of  Lake  Regulas  was  for  many  ages  re- 
garded with  superstitious  awe.  A  mark,  resembling  in  shape  a  horse's 
hoof,  was  discernible  in  the  volcanic  rock ;  and  this  mark  was  believed  to 
have  been  made  by  one  of  the  celestial  chargers.'*  —  Macaulay,  Battle 
of  the  Lake  Regillus,  Vorrede. 

•  Afan.  IV,  45. 

'  Die  Milch  von  weissen  Stuten,  die  nach  Olaus  Magnus  (I,  24)  jähr- 
lich von  dem  Gothenkönig  am  28.  August  zu  £hren  der  Götter,  welche 
sie  mit  grosser  Gier  aufnahmen^  auf  die  Erde  gegossen  wurde,  dürfte  eine 
Ankündigung  der  drohenden  Herbstregengüsse  sein;  das  Pferd  verliert 
seine  ambrosische  Feuchtigkeit  und  sein  Ende  steht  vor  der  Thnr. 

*  Das  griechisch-römische  Sprichwort:  „Equus  me  portat,  alit  rex,*' 
dürfte  ebenfalls  einen  mythischen  Ursprung  haben  und  auf  die  mythische 
Erzählung  von  dem  verrathenen  Blinden  zurückgehen,  der  den  verschla- 
genen Krüppel  oder  Lahmen  trägt,  welcher  letztere  sich  oft  nur  lahm  stellt, 
um  seinem  Gesellen  ein  paar  seiner  Streiche  zu  spielen. 

18» 


276 

Tum  nox  steilato  codum  circumlita  pepio 
Coerola  rorigenis  pigrescere  jusserat  alis 
Astrigeroque  nitens  diademate  luna  bicornis 
Bullarum  bijugis  conscenderat  aequora  tauris." 

Die  Götter  batten  oft  eine  Neigung  isich  in  Pferde  zu  ver- 
wandeln ;  ja  sogar;  das  Opfer  d.   b.   der  Tod  des  Gottes  wird 
durch  den  Tod  des  Pferdes  dargestellt.    Jedermann  weiss ;  dass 
Götter  und  Helden  ein  Vergnügen  daran  fanden^  sich  als  gute 
Reiter^  oder  wenigstens  als  gute  Wagenlenker  zu  zeigen.  Deshalb 
dürfte  es  schwierig  sein,  zu  sagen ;   welchem  Gott  speeiell  das 
Pferd  geweiht  ist.    Die  vedischen  A^vins,  die  vedische  Aurora, 
welche  beim  Wettlauf  in  ihrem  Wagen  siegt,  Agni,  Sävitar,  Indra, 
siegreich  und  glänzend  durch  ihre  Rosse,  der  %7titioq  noaudijiVf 
die  iTtTtela  'Adrpnrij  die  iTtTtoödfieia  'AtpQOÖitr],  die  Dioskuren,  Mars, 
Apollo,  Zeus,  Pluto   und  der  deutsche  Wuotan  (gleich  seinem 
alter  ego,  St.  Zachaeus)  zeigen  sich  nie  anders  als  zu  Pferde; 
daher  war  das  Pferd   natürlich   ihnen  Allen   geweiht.     Da  im 
christlichen  Glauben  die  unzähligen  Götter  der  Alten  unzählige 
Heilige  geworden  sind  (wenn  sie  nicht  so  unglücklich  waren,  in 
Teufel  umzuschlagen),  so  wird  nun  das  Pferd  in  seinem  Stall  dem 
Schutze  mehrer  Heiligen  anempfohlen,   von   dem    obscuren  sici- 
lischen  St.  Aloi  an  bis  zu  dem  weniger  bescheidenen  russischen 
St.  Froh  und  St  Laver,  welche  das  Pferd  sowohl  wie  auch  den 
Maulesel  und  den  Esel  unter   ihren   speciellen  Schutz  nehmen, 
ganz  zu   schweigen  von  den  berühmten  Reitern  St  Georg,  St. 
Michael,  St  Jakob,  St.  Mauricins,  St  Stephan,  St.  Vladimir  und 
St.  Martin,  die  ganz   besonders   von  Eriegsleuten  verehrt  und 
welchen  zu  Ehren  die  Hauptritterorden  Europas  gegründet  wur- 
den.   Wie  jedoch  Religionen  von  einem  Gesichtspunkt  aus  Kari- 
katuren von  Mythologieen  sind,  so  ist  nun  ein  Unterschied  zwischen 
den  mythischen  alten  Gottheiten  und  den  neuen  l^endenhaften, 
sofern   die    ersteren   zuweilen   freimüthig   die   Darbringung   des 
Thieres  in  effigie  annehmen,  wie  wir  im  vorigen  Kapitel  zu  be- 
merken Gdegenheit  hatten,  während  die  letzteren  und  ihre  Stell- 
vertreter auf  Erden  nicht   ganz   so   einfach  sind,  sondern  ihre 
Frommai  nie  in  Ruhe   lassen,   bis   sie  den  vollen  Werth  ihrer 
Gnadenbeweise  baar  und  ohne  Discont  erhalten  haben.    Im  Leben 
des  St.  Gallus  lesen  wir,  dass  zu  Zeiten  König  Pipins  (wir  wis- 
sen schon,  was  mit  diesen  Zeiten  gemeint  ist)  ein  gewisser  Willi- 
mar  bei  einer  Krankheit  im  Falle  seiner  Heilung  der  Kirche  des 
St.  Gallus  ein  Pferd  zu  schenken  versprach.   Als  er  seine  Gesund- 


277 

heit  wiedererlangt;  vergass  er  das  gegebene  Versprechen.  Als  er 
nun  eines  Tages  vor  der  Kirche  des  Heiligen  yorüberritt,  postirte 
sich  sein  Pferd  vor  die  Kirchthüre  und  war  auf  keine  Weise  von 
der  Stelle  zu  bringen,  bis  Willimar  schliesslich  die  Absicht  aus- 
sprach^ sein  Qelübde  zu  erfüllen.  In  dem  Leben  des  St.  Martin 
ist  eine  bei  weitem  lustigere  Variation  derselben  Anekdote.  Nach- 
dem König  Clodwig  Christ  geworden,  verspricht  er,  als  er  gegen 
die  Westgothen  kämpft,  dem  St  Martin  sein  Pferd,  wenn  er  ihm 
den  Sieg  verleiht  Später  bedauert  jedoch  Clodwig  gezwungen 
zu  sein,  sich  seines  guten  Streitrosses  zu  berauben  und  bietet 
dem  Heiligen  100  Goldstücke  als  Entschädigung,  wenn  er  ihm 
das  Pferd  lasse.  St.  Martin  fordert  das  Doppelte  und  der  Handel 
kommt  zu  Stande ;  doch  da  noch  etwas  häretisches  Blut  in  Clod- 
wigs  Adern  fliesst,  so  kann  er  sich  nicht  enthalten,  ein  Witzwort 
gegen  den  Heiligen  loszulassen :  „Martinus,  quantum  video,  auxi- 
Uator  est  facilis,  sed  mercator  difficilis  V  ^ 


■  Die  Fabel  bei  Pbaedras  (IV,  24)  Ton  der  Rettung  des  Dichters 
Simonides  durch  die  Dioskuren  ist  sehr  bekannt;  die  Götter  strafen  den 
Geizhals,  der  sich  weigert,  die  yersprochene  Belohnung  zu  geben,  nicht  um 
ihrer  selbst,  sondern  um  des  dem  von  ihnen  geliebten  Dichter  angethanen 
Unrechts  willen.  Es  ist  beachtenswerth,  dass  wie  uns  die  römische  Sage 
die  Pferde  der  Dioskuren  als  schwitzend  darstellt,  so  Phaedrus  die  Dios- 
kuren selbst  schildert  als: 

„Sparsi  pulyere 
Sndore  multo  difflnentes  corpore.** 


278 


KAPITEL  HL 
Der  Esel. 

Der  Esel  hat^  in  Europa  wenigstens,  das  Missgeschick  gehabt, 
unter  einem  Unglücksstern  geboren  zu  sein,  ein  Umstand,  der 
den  Griechen  und  Römern  auf  Rechnung  zu  schreiben  ist,  welche 
die  Laune  hatten,  ihn  als  eine  Art  Don  Quixote  unter  den  Thieren 
zu  bebandeln.  Sein  ganz  besonderes  Privilegium,  Schläge  zu  be- 
kommen, hat  mit  seiner  unzweifelhaft  grossen  und  unbestreitbaren 
Berühmtheit  immer  zugenommen.  Der  arme  Esel  hat  auf  Erden 
sehr  theuer  bezahlen  müssen,  und  bezahlt  beständig  immer  theurer, 
den  Flug,  welchen  ihn  die  Phantasie  der  frühesten  Zeitalter 
menschlichen  Geistes  im  Himmel  nehmen  liess.  Möchte  dieses 
Kapitel  —  wenn  keine  andere  Wirkung  —  doch  zum  Mindesten 
die  haben,  dass  dem  armen,  ttbelbeleumdeten  Thiere  ein  Paar  von 
den  Schlägen  erspart  werden,  die  man  ihm  zu  appliciren  gewohnt 
ist,  als  ob  man  dadurch  der  satirischen  Laune  unseres  Geschlechtes 
Luft  machen  wollte,  und  ad  exhilarandam  caveam. 

Der  Keim  zu  dem  Ruf  des  Esels  als  eines  dummen  und 
muthwiUigen  Thieres,  den  er  in  Griechenland  und  Italien  erlangte 
und  der  sich  dann  über  alle  Theile  Europas  verbreitete,  lässt 
sich  schon  in  den  alten  Mythen  der  Inder  finden.  Allerdings  hat 
A.  Weber ^  Hm.  Wagener  gegenüber  nachgewiesen,  dass  die 
Vorstellung  von  dem  dummen  und  eingebildeten  Esel,  vne  wir 
sie  immer  in  den  Fabehi  des  Pandatantra  finden,  in  Indien  erst 
von  den  Griechen  verbreitet  wurde  und  im  indischen  Glauben 
wie  in  indischer  Literatur  nicht  eigentlich  von  Haus  aus  liegt. 

In  Indien  war  der  Esel  nicht  ein  besonderer  Gegenstand  ded 
Gelächters,  und  zwar  vielleicht  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil 
die  orientalischen  Species  des  genus  asininum  weit  schöner  und 
edler  sind  als  die  occidentalischen.  Der  Esel  des  Orients  ist  ge- 
meiniglich feurig,  lebhaft  und  schnellfüssig,  ^  wie  er  im  Occident 


'  lieber  den  Zusammenhang  indischer  Fabeln  mit  grie- 
chischen, eine  kritische  Abhandlung  von  A.  Weber,  Berün,  1855  p. 
10  f.  26. 

*  Wenn  sich  unter  den  semitischen  Völkern  bei  den  Arabern  schon 
in  früher  Zeit  der  Esel  als  der  Typus  der  Dummheit  findet  (vgl  die  be- 


279 

gewöhnlich  langsam  und  träge,  ohne  wirkliche  Energie,  doch  sehr 
sinnlich  ist.  Denn  wenn  auch  der  Westen  (und  besonders  das 
südliche  Europa)  eine  besondere  Eselart  besitzt,  welche  uns  an 
den  asinus  multinummus  des  Yarro  erinnert  (wie  ja  auch  der 
Orieiit,  obgleich  nur  ausnahmsweise,  tieferstehende  Arten  hat),  so 
besteht  doch  die  Hauptmasse  der  Esel  in  kuropa  aus  Thieren  von 
niedrigem  Typus  und  heruntergekommener  Erscheinung  und  gegen 
diese  sind  unsere  Scherze  und  unsere  Schläge  gerichtet.  Es  ist 
das  der  sprichwörtliche  Eselstritt  nach  dem  Gefallenen ;  der  arme 
Paria  des  Westens  muss  die  Ehren,  welche  seinen  glorreichen 
mythischen  Vorfahren  des  Ostens  erwiesen  wurden,  theuer  be- 
zahlen. Wir  meinen,  dass  der  Esel,  von  dessen  Heldenthaten  wir 
berichten  hören>  derselbe  ist  als  der,  welcher  jetzt  demUthigst  den 
Packesel  spielen  muss;  und  da  wir  ihn  nicht  mehr  als  hochher- 
ziger Handlangen  fähig  ansehn,  so  vermuthen  wir,  dass  er  (un- 
gltlcklicbes  Thier!)  sich  all  diese  alten  Ruhmesthaten  aus  einem 
Eigendünkel  anmasst,  weshalb  es  keine  Schmach  giebt,  die  wir 
uns  nicht  berufen  fühlen,  ihm  anzuthun.  Gelang  es  doch  sogar 
dem  Christenthum  nicht,  ihn  von  der  Verfolgung  zu  befreien,  —  dem 
Christenthum,  welches  die  Sonne  der  Völker,  den  Erlöser  der 
Welt  zwischen  den  beiden  musikalischen  Thieren,  dem  Ochsen 
und  dem  Esel  (die  verhüten  sollten,  dass  sein  Schreien  gehört 
würde)  geboren  werden  lässt,  den  Esel  als  den  Retter  des  Gottes- 
kindes vor  seinen  Verfolgern  während  der  Nacht,  wie  auch  als 
das  von  Christus  bei  seinem  letzten  Einzüge  in  Jerusalem  gerit- 
tene Thier  darstellt  und  ihn  so  mit  mehr  als  einem  heiligen  Titel 
belegt,  der  ihm  bei  den  Frommen  hätte  etwas  mehr  Achtung 
verschaffen  sollen.  Unglücklicherweise  wurde  derselbe  berühmte 
mittelalterliche  Kirchengesang,  welcher  in  Frankreich  am  14.  Ja- 
nuar zu  Ehren  des  reichgeschmückten  Esels  am  Altar  gesungen 


kannte  Koranstelle,  in  welcher  die  Juden  „Esel,  welche  Bücher  tragen' ' 
genannt  werden,  und  besonders  S.  31  v.  18,  wo  es  heisst:  „fürwahr!  das 
widerwärtigste  Geschrei  ist  das  Geschrei  des  Esels'^,  zu  welcher  Stelle 
Beidawi  (ed.  Fl.  II  p.  114  1.  21)  bemerkt,  dass  der  Esel  ein  Sinnbild  sei 
für  Alles,  was  zu  tadeln  ist,  ganz  besonders  aber  sein  Schreien;  deshalb 
nenne  man  ihn  auch  oft  nicht  mit  seinem  gewöhnlichen,  etwas  anrüchigen, 
Namen,  sondern  man  sage  umschreibend:  „Langohr**),  so  dürfte  noch  die 
Frage  sein,  ob  nicht  diese  Anschauung  vom  Esel  auch  zu  den  Arabern 
erst  durch  Vermittelung  anderer,  nichtorientalischer  Völker  gelangt  ist.  — 
Die  Vermuthung  Pictets,  Origines  I,  p.  355  dürfte  sachlich  und  sprachlich 
kaum  haltbar  sein.  A.  d.  Uebers. 


280 


warde ,  um  die  Flucht  nach  Aegypten  za  feiern  ^  in  eine  Satire 
verdreht  Es  kann  nicht  ohne  eine  gewisse  lustige  Ausgelassen- 
heit abgegangen  sein^  wenn  Priester  und  Volk  nach  Schlnss  der 
Messe  am  Tage  des  Eselfestes  drei  Mal  ^^Hinham^'  riefen.  ^  Ehen- 
sowenig  Ehrforcht  bezeigten  ihm  die  Einwohner  von  Empoli^  wenn 
sie  ihn  am  achten  Tage  nach  dem  Feste  Corpus  Domini  — 
d.  h.  nahe  der  Sommersonnenwende  —  unter  dem  Juchzen  der 
Menge  in  der  Luft  fliegen  Hessen,  wie  auch  die  Deutschen^  welche 
in  Westphalen  den  Esel  zu  einem  Symbol  des  einfältigen  St. 
Thomas  machten/ welcher  der  letzte  von  den  Aposteln  war,  der 
an  die  Auferstehung  glaubte.  Die  Westphalen  hatten  die  Sitte, 
den  Knaben,  der  am  St  Thomas-Tage  zuletzt  in  die  Schule  kam, 
„Esel  Thomas^^  zu  nennen  (wie  er  in  Holland  „luilak^^  heisst).  ^ 


'  Der  Hymnus  lautet  bei  Du  Gange,  Gloss.  M.  et  L  L.: 


„Orientis  partibus 

Adventavit  Asinus, 

Pulcher  et  fortissimus, 

Sarcinis  aptissimus. 
Hes,  Sire  Asnes,  ear  chantez, 
Belle  bouche  rechignez, 
Vous  aurez  du  fom  assez 
Et  de  Tavoine  k  plantez, 

„Lentus  erat  pedibus 
Nisi  foret  baculus 
Et  eum  in  clunibus 
Pungeret  aculeus. 
Uez,  Sire  Asnes,  &c 

,fUic  in  eoUibus  Sichern, 
Jam  nutritus  sub  Ruben, 
Transiit  per  Jordanem, 
Saliit  in  Bethleem. 
Hez,  Sire  Asnes,  &c 

„Ecce  magnis  auribus 
Subjugalis  filius 
Asinus  egregius 
Asinorum  dominus. 
Hez,  Sire  Asnes,  &c. 

„Saitu  Tincit  hinnulos, 
Damas  et  capreolos, 
Super  dromedarios 


Velox  Madianeos. 
Hez,  Sire  Asnes,  &c 

„Aurum  de  Arabia, 
Thus  et  myrrhum  de  Saba 
Tulit  in  ecclesia 
Virtus  A^sinaria. 
Hez,  Sire  Asnes,  &c. 

„Dum  trahit  vehicula 
Multa  cum  sarcinula, 
lllius  mandibula, 
Dura  terit  pabul.a 
Hez,  Sire  Asnes,  &c 

„Cum  aristis  hordeum 
Comedit  et  carduum; 
Triticum  a  palea 
Segregat  in  area. 
Hez,  Sire  Asnes,  &c. 

„Amen,  dicas,  Asine, 

(Hie  genuflectabatur.) 
Jam  satur  de  gramine: 
Amen,  amen  itera 
Aspemare  vetera. 

Hez  va!  hez  va!  hez  va!  hez! 

Bialz,  Sire  Asne,  car  allez; 

Belle  bouche  car  chantez.*' 


Vgl.  Heinsberg  von  Düringsfeld,  Das  festliche  Jahr. 


281 

Am  WeihnacbtstagC;  beim  Carneval;  am  Palmsonntag  and  bei  den 
Processionen,  welche  auf  das  Fest  Corpus  Domini  folgen,  *  führte 
die  Kirche  oft  den  Esel  in  ihre  Ceremonieen  ein,  jedoch  mehr  um 
die  Gemüther  ihrer  Frommen  zu  erheitern  als  sie  durch  eine 
Erinnerung  an  die  Tugenden,  die  er  in  den  Evangelien  reprä- 
sentirt,  zu  erbauen,  so  dass  der  Esel  trotz  der  grossen  Dienste, 
die  er  dem  Stifter  der  neuen  Religion  geleistet,  nicht  allein  von 
der  Christenheit  keine  Wohlthat . dafür  erhielt,  sondern  vielmehr 
der  unglückliche  Gegenstand  einer  neuen  Beachtung  wurde,  welche 
seine  schon  genügend  heruntergekommene  gesellschaftliche  Stel- 
lung viel  mehr  erniedrigte  als  hob. 

So  trugen  zuerst  die  Griechen  und  Römer,  später  die  katho- 
lischen Priester  durch  ihre  Behandlung  des  Esels  dazu  bei,  den- 
selben gegen  den  lebhaften  Kampf  ums  Dasein,  der  sich  bei 
allen  übrigen  Thieren  zeigt,  gleicbgiltiger  zu  machen,  als  er  es 
sonst  gewesen  sein  würde.  Er  war  vielleicht  zu  einem  höheren 
Schicksal  bestimmt,  wenn  der  Mensch  nicht  auf  die  Erde  gekom- 
men wäre  und  allzu  hartnäckig  sich  seiner  Berufung  in  den  Weg 
gestellt  hätte.  Und  wahrscheinlich  verschlechterte  sich  die  Race 
allmählich,  weil  eben  nur  Wenige  sich  darum  bekümmerten,  das 
lächerlich  gewordene  Thier  zu  veredeln  oder  doch  die  Race  zu 
erhalten.  Wie  das  Sprichwort  sagte,  dass  es  unnütz  wäre,  dem 
Esel  den  Kopf  zu  waschen,  so  schien  es  auch  verlorene  Liebes- 
müh, sein  Aeusseres  verbessern  oder  civilisiren  zu  wollen:  der 


'  Bisweilen  nimmt  der  Maulesel  die  Stelle  des  Esels  ein.  In  Turin 
s.  B.  wird  erzählt,  dass  die  dem  Corpus  Domini  geweihte  Kirche  vor 
mehren  Jahrhunderten  errichtet  wurde  wegen  des  Wunders  mit  einem 
Maulesel,  der  einige  von  einem  gottlosen  Diebe  gestohlene  Güter  trug. 
Als  er  auf  dem  kleinen  Platze  angekommen,  wo  jetzt  die  Kirche  Corpus 
Domini  steht,  weigerte  sich  der  Esel,  weiter  zu  gehn,  und  aus  einem 
Becher,  der  sich  unter  den  gestohlenen  Gegenständen  befand,  erhob  sich 
eine  Hostie,  den  Leib  des  HeUandes  enthaltend,  in  die  Luft.  Sie  wollte 
auch  nicht  wieder  herabkommen,  bis  der  Bischof  herbeieilte  und  den  Becher 
hoch  in  die  Luft  haltend,  die  Hostie  ersuchte,  sich  wieder  in  denselben 
herabzulassen;  als  dies  Wunder  gesohehn,  wurde  auf  dem  Platze  die  Kirche 
CorpBS  Domini  errichtet,  welche  Ausgangs-  und  Endpunkt  der  feierlichen 
Procession  ist,  die  jährlich  in  Turin  an  dem  Feste  Corpus  Domini  statt- 
findet, und  an  der  noch  vor  ungefähr  zwanzig  Jahren  die  Fürsten  und 
Grosswürdenträger  des  Staates,  nebst  den  Professoren  der  Universität  in 
allem  Pomp  mittelalterlicher  Aufzüge  theilzunehmen  pflegten.  —  Li  Per- 
sien wird  das  Eselfest  beim  Nahen  des  Frühlings  gefeiert,  indem  der  Esel 
hier  das  Ende  der  winterlichen  Jahreszeit  personificirt. 


/I 


282 

physische  Verfall  des  Esels  trat  gleichzeitig  und  parallel  mit 
seinem  moralischen  ein. 

Obwohl  jedoch  erst  in  Griechenland  und  Rom  der  arme  Esel 
seines  Banges  im  Thierreiche  yollständig  entsetzt  wurde  ^  war 
doch  die  erste  Stufe  seines  Falles  schon  in  seiner  alten  asiatischen 
Heimath  ausgesprochen.    Beweisen  wir  das. 

Schon  im  Rigveda  erscheint  der  Esel  unter  zwei  verschie- 
denen Gestalten  —  einer  göttlichen  und  einer  dämonischen  ~, 
zu  denen  sich  vielleicht  eine  dritte  mittlere  oder  gandharvische 
hinzufUgen  lässt. 

Im  Rigveda  hat  der  Esel  die  Namen  gardabha  und  rä- 
sabha^  im  Sanskrit  auch  die:  khara^  cakrtvant,  cirame- 
hin  und  bäleya. 

Es  ist  wichtig,  wie  jede  dieser  Bezeichnungen  dazu  neigt, 
der  Zweideutigkeit  anheimzufallen;  und  Doppelsinn  in  Worten 
spielt  eine  grosse  Rolle  bei  Bildung  von  Mythen  und  Vorstellungen 
des  Volksglaubens.  Beginnen  wir  mit  den  Bezeichnungen  jüng- 
sten Datums. 

Bäleya  kann  den  Kindischen  bedeuten  (von  bäla  =  Kind 
und  dumm'),  wie  auch  den  Dämonischen  (von  balis;  und 
wirklich  ist  auch  bäleya  ausser  ein  Name  fttr  den  Esel,  auch 
Name  eines  Dämons). 

Giramehin  ist  der  Esel  als  longo  mingens  (eine  Eigen- 
schaft, die  auf  den  Esel,  noch  mehr  aber  auf  die  Regenwolke 
Anwendung  finden  kann). 

Cakrtvant  bedeutet  den,  der  mit  Rädern,  mit  runden 
Gegenständen  oder  Testikeln  versehen  ist  (ein  Epitheton,  das 
gleicherweise  auf  den  Esel  wie  seinen  Phallus  anwendbar  ist). 

Khar  a  bedeutet  den,  der  schreit,  wie  auch  den  hitzigen 
(und  k  h  a  r  u ,  das  dieselbe  Bedeutung  haben  sollte,  bedeutet  nach 
dem  Petersburger  Wörterbuch:  dumm  und  Pferd;  vielleicht  auch 
Esel). 

Ras  ab  ha  kommt  von  der  doppeldeutigen  Wurzel  ras,  von 
welcher  r  a  s  a  =  Flüssigkeit,  Saft,  Wasser,  Geschmack,  Same  und 
r  ä  s  a  =  Lärm,  lärmendes  GeräuBch. 

Gardabha   kommt    von   der  Wurzel  gard,*  erschallen; 


'  Dieselbe  Analogie  bietet  sich  in  dem  Sanskrit- Wort  arbhaka, 
welches  ,,klein'*  und  ,,einföltig**  bedeutet. 

*  Vgl.  die  Wurzel  gad,  von  der  wir  vielleicht  eine  imaginäre 
Zwischenform  gadarbha  neben  dem  bekannten  gardabha  und  gand- 
barb  a  oder  gandharva  ableiten  könnten. 


283 

brttllen;  doch  glaube  ich  in  dem  Worte  gardabha  die  Bedea- 
tnng  Yon  gandharba  oder  gandharva  wiedererkennen  zu 
dürfen  und  vice  versa«  Der  gardabha  erklärt  mir,  wie  der 
gandharya  als  Musiker  anfgefasst  werden  konnte,  und  der 
gandharva  (ein  Wort;  das  mir^  am  es  noch  einmal  zu  sagen, 
aus  gandha  +  arva  zusammengesetzt  scheint,  von  denen  das 
letztere  sich  aus  einem  vorauszusetzenden  r  i  v  a  entwickelt  hat,  ^ 
und  welches  bedeutet:  der  in  der  Salbe  wandelt,  der  in  dem 
Wohlgeruch  geht)  hilft  mir  das  Sprichwort:  „Asinus  in  unguento"^ 
und  die  entsprechenden  Sagen  verstehn.  Das  doppeldeutige  Wort 
r  ä  s  a  b  ha  scheint  in  seinen  beiden  Bedeutungen  den  lauttönenden 
gardabha  mit  dem  gandharba,  der  Wohlgerüche  liebt,  oder 
dem  gandharvo  apsu  (gandharva  in  dem  Wasser)  des 
Rigveda,^  dem  Wächter  der  ambrosischen  Pflanze,  *  zu  ver- 
einigen. Der  mythische  Esel  und  der  vedische  gandharva 
haben  dieselben  Eigenschaften  und  dieselben  Triebe.  Die  gan- 
dharvas  zum  Beispiel  werden  im  Aitarey  a  Br.  als  Liebhaber  von 
Weibern  dargestellt,  *  und  zwar  so  verliebt  in  dieselben,  dass  sie 
sich  um  ihretwillen  der  Ambrosia  (oder  des  Soma)  berauben 
lassen,  und  es  ist  auch  aus  der  Geschichte  von  Urva<jt  bekannt, 
wie  eifersüchtig  sie  auf  ihre  Nymphen,  die  Apsarasen  oder  die,  * 
welche  auf  dem  Wasser  (den  Wolken)  schwimmen,  sind,  und  aus 
der  Erzählung  von  Hanumant  im  Rämäyana,  wie  gierig  sie  auf 
ihre  Heilkräuter  und  Heilwasser  sind.  ^  Der  mythische  und  sagen- 
hafte Esel  hat  ebenfalls  ein  Faible  für  schöne  Mädchen;  es  ist 
unnöthig  den  Grund  dieses  Volksglaubens  anzugeben.^     Wenn 


'  Vgl.  arvan  mit  den  Wurzeln  arv,  arb,  arp,  riph,  riph,  riv, 
rinv. 

»  X,  10,  5. 

'  Gandharva  itthä  padam  asya  rakshati;  Rigv.  IX,  83,  4. 

*  Strikam&h  vai  gandharväh;  I,  27. 

^  Kahn  (Die  Herabkunft  des  F.)  hat  hiemit  schon  den  zendischen 
Qandhrawa  verglichen,  welcher  im  See  Vöuru-Kasha  den  Baum  h  o  m  (den 
vedischen  Soma)  bewacht.  Kuhn  und  Weber  haben  femer  den  vcdischen 
gandharva,  Kri^nn,  welcher  den  Räuber  des  Soma  verwundet,  mit  dem 
zendischen  Kere^äni,  welcher  den  Reichthum  zu  vernichten  strebt,  identi- 
ficirt ;  hier  würde  der  gandharva  als  ein  ungeheuerartiges  und  dämonisches 
Wesen  erscheinen. 

*  .  .  •  ut  omittam  eos,  quos  libidinis  ac  foedae  voluptatis  causa  coluisse 
nomen  illud  atque  imposuisse  suis  a  scriptoribus  notatur,  qualis  olim  Onos 
iUe  Commodi»  qualis  exsecrandns  Marci  Verotrasinus ,  qualis  et  alterius 
Onobelos,  quales,  quos  matronis  in  deliciis  fuisse  scimus.    Unde  illud  atque 


284 

Circe  dem  Odjgseas  vermittelst  einer  Salbe  einen  Eseli^opf  zu 
geben  wünscht,  so  finden  wir  eine  Anspielnng  auf  die  Liebe  des 
Esels  and  des  schönen  Weibes.  Wenn  der  Lacius  des  Apoleins, 
als  er  sich  in  einen  Vogel  zu  verwandeln  versucht  (ein  anderer 
von  den  Namen,  mit  welchen  der  Phallus  bezeichnet  wird),  statt 
dessen,  durch  die  Salbe  der  Frau  ein  Esel  wird^  so  ist  der  Esel 
ein  anderer  Name  für  den  phallischen  Vogel.  Und  wie  der  ve- 
dische  Esel  sich  am  rasa  ergötzt  (Feuchtigkeit,  Wasser,  Sperma ; 
die  beiden  Worte  rasa  und  rasa,  die  von  einer  gemeinsamen 
Wurzel  herstammen,  sind  leicht  miteinander  zu  verwechseln),  wie 
ferner  der  mythische  Esel,  als  er  die  Ambrosia  der  rosigen 
Morgen- Aurora  findet,  noch  einmal  die  glänzende  junge  Sonne 
wird,  so  wird  auch  der  Esel  des  Apuleius  wieder  zum  Lucius 
oder  dem  glänzenden  und  schönen  Jüngling,  der  er  vorher  war, 
sobald  er  eine  Gelegenheit  hat,  Rosen  zu  fressen;  er  wird  aus 
Liebe  zu  einem  Weibe  ein  Esel  und  gewinnt  bei  der  rosigen 
Aurora  seinen  Glanz  wieder.  Während  der  Nacht  bleibt  der  Held, 
der  Bezauberung  einer  schönen  Fee  unterworfen,  ein  Esel;  und 
in  der  Gestalt  eines  Esels  und  unter  einer  E^elshaut  treibt  er  die 
priapeischen  Mysterien,  woher  der  Ausdruck  in  den  Fröschen  des 
Aristophanes:  ,l'Ovog  aywv  fivim^ic^,  dieselben  Mysterien,  wie  die 
Phallagia  oder  Periphallia  Roms.  In  dem  christlichen  Mythus  ist 
dieses  Mysterium  die  Flucht  des  neugeborenen  göttlichen  Kindes 
nach  Aegypten ;  ^  in  dem  Perrault'schen  Mährchen  ist  es  das 
schöne  Mädchen^  die  Abend-Aurora,  die  von  ihrem  Vater,  der  ne 
verführen  will,  verfolgte  Jungfrau,  welche  sich  während  der  Nadit 
mit  einer  Eselshaut  vermummt.^    Das  schöne  Mädchen  überträgt 


alinm  bipedem  sibi  quaerit  asellum,  ejus  nempe  membri  causa,  quod  in 
asino  clava  a  Nicandro  dicitur;  Laut  Asini,  Lngd.  Batavorum,  ex  offi- 
cina  Elzeviriana,  p.  194. 

'  Auf  diese-  Flacht  nach  Aegypten  auf  dem  Esel  Ifiwt  sich  die  pie- 
montesische  Sitte  unter  Kindern  in  der  Mitte  der  Fastenzeit  ^  d.  h.  nah 
am  St.  Josephs-Feste  —  zurückführen,  ihren  G^pielen  bald  eine  Säge, 
bald  einen  Teufelskopf,  bald  einen  Eselskopf  anznhängen  und  dabei  die 
Worte  zu  sprechen:  ,4^'a8U  cariä  die  gnün  In  sa^  (der  Esel  sitzt  fest  und 
Niemand  weiss  es).  Femer  scheint  es  mir,  dass  sich  auf  die  christliche 
Sage  von  Joseph  und  dem  Jesuskinde,  die  von  dem  Esel  getragen  werden, 
die  bekannte  europäische  Fabel  von  dem  alten  Manne»  dem  Knaben  und 
dem  Esel  zurückführen  lässt,  deren  zahlreiche  Variationen  in  dem  Artikel 
asinus  vulgi  von  Benfey  (im  Orient  und  Occident)  nachgelesen 
werden  können. 

*  Prof.  Benfey   sagt    in  seiner   gelehrten  Einleitung  zum  PaiÖA'* 


285 

offenhar  seine  erotisehen  Sympathien  auf  den  Esel^  welcher  sie 
liebt.  Die  Früchte  solche  Liebesyerhältnisse  —  zwischen  einem 
Esel  nnd  einem  Mädchen  oder  dem  jungen  Helden  und  einer 
Eselin  —  sind  die  nngehenerlichen  Onokentauren  nnd  die  Em- 
pnsa^  bald  ein  schönes  Mädchen,  bald  der  Schrecken  der  Kinder, 
welche  mit  Eselsfttssen  dargestellt  wird,  weil  ihre  Matter  eine 
Eselin  und  ihr  Vater  Aristoxenes  in  diese  Eselin  verliebt  war. 
Bald  ist  es  die  Abend-Aurora,  bald  die  untergehende  Sonne,  bald 
sind  es  beide,  welche,  unter  der  Wolke  der  Nacht  oder  im  Win- 
ter, als  mit  einer  Eselsbaut  bedeckt  dargestellt  werden.  Kuhn 
bat  schon  die  enge,  an  Identität  grenzende  Verwandtschaft  zwi- 
schen den  gandharvas  nnd  den  griechischen  Kentauren  nachge- 
wiesen; beide  treten  uns  entgegen  in  Verbindung  mit  dem  be- 
rauschenden Trank;  doch  der  Kentauros  ist  wesentlich  ein  Hip- 
pokentauros  oder  besser :  ein  Onokentauros^  oder  Kentaur- 


tantra  p.  268,  dass  sich   die  VermummuDg  mit  einem  flseJsfell  auch  in 
einem  lateinischen  Gedichte  des  15.  Jahrhunderts  findet. 

'  „Addo  ex  Conrado  Lycosthene  in  libro  de  ostentis  et  prodigiis  banc 
iconcm  qiuim  hippokentauri  esse  credebam)  ipse  vcro  (ncscio  ex  quo)  Apo- 
tbami  Tocat^  Apotbami  (inquit)  in  aqua  morantes,  qui  una  parte  bominein, 
alia  vero  caballum  sive  equum  referunt  Sic  etiam  memoriae  tradiderunt 
muiieres  esse  capite  piano  sine  crinibus,  promissas  autem  barbas  habentes. 
Atqni  ea  descriptio  plane  ad  Onocentauros  pertinere  videtur,  quos  Aelianus 
et  Pbiles  sie  fere  delineant  Quae  vero  de  Onocentauro  fama  accepi,  haec 
sunt:  £um  homini  ore  et  promissa  barba  similem  esse,  simul  et  coilum  et 
pectus,  humanam  speciem  gerere;  mammas  distantes  tAmquam  mulieris  ex 
pectore  pendere;  humeros,  brachia,  digitos,  humanam  figuram  habere ;  dor- 
sum, ventrem,  latera,  posteriores  pedes,  asino  persimiles  et  quemadmodum 
asinum  sie  cinereo  colore  e98e\  imum  Yentrem  leviter  exalbescere :  dupilcem 
usum  ei  manus  praestare;  nam  celeritate  ubi  sit  opus  eae  manus  praecur- 
ruot  ante  posteriores  pedes;  ex  quo  fit,  ut  non  caeterorum  quadrupedum 
eursu  snperetur.  Ac  ubi  rursus  habet  neeesse  vel  cibum  capere  vel  aliud 
qnidpiam  tollere,  qui  ante  pedes  erant  manus  efficiuntur,  tumque  non  gra- 
ditur,  sed  in  sessione  quiescit:  Animal  est  gravi  animi  acerbitate;  nam  si 
capiatur,  non  ferens  servitntem,  libertatis  disiderio  ab  omni  cibo  abhorret, 
et  fame  sibi  mortem  consciscit,  licet  pullus  adhuc  fuerit.  Uaec  de  Onocen- 
tauro Pythagoram  narrare  testatur  Crates,  ex  -  Mysio  Pergamo  profectus  \^ 
Aldrovandi,  De  Qnadrupedibus,  L  In  den  indischen  Satyrn,  die 
von  Plinios,  H.  N.  VII,  geschildert  werden,  finden  wir  ähnliche  Wesen: 
,^ttat  et  satyri  subsolanis  Indorum  montibus  (Cartadulonum  dicitur  regio) 
peruicissimum  animal,  tum  quadrupes,  tum  recte  currens,  humana  effigie, 
propter  velocitatem  nisi  senes  aut  aegri  non  capiuntur/*  Offenbar  bezieht 
sich  das  auf  eine  Affenart  (wahrscheinlich  den  Orang-Outang);  da  jedoch 
der  Mythos  von  dem  Affen  sich  nicht  sehr  von  dem  vom  Esel  unterscheidet, 


286 

EseL  Die  Fabel  yon  Amor  und  Psyche  bei  Apuleius  stimmt  in 
ihrer  Verwandtschaft  mit  der  Erzählang  von  dem  Esel  vollständig 
mit  der  entsprechenden  indischen  Fabel  von  Pnrüravas  und  Ur- 
vagty  combinirt  mit  der  Erzählung  yon  den  Gandharvas,  ttberein. 
Peau  d'äne,  Psyche  und  Urva?!  sind  also  mythische  Schwestern. 
Oiebt  man  Euhn's  Beweis  fttr  die  Identität  des  gandharva 
und  des  Eentauros  zu,  so  scheint  die  Identität  des  gardabha  mit 
dem  gandharba^  und  des  Esels  mit  dem  gandharva  eine  natür- 
liche Folge.  Der  Mythus  von  dem  Kentanros^  sei  es  Hippoken- 
tauros  oder  Onokentauros ;  entspricht  nicht  minder  ahs  der  My- 
thus von  dem  gandharva  vollständig  dem  von  dem  Esel.  Der 
Kentanros  liebt  den  Wein  und  die  Weiber;  er  spielt  auf  dem 
Karren  des  Dionys  in  Verein  mit  Satyrn,  Nymphen  oder  Bac- 
chantinnen die  Leier;  er  lehrt  auf  dem  Berge  Pelion  den  beiden 
Dioskuren  Musik,'  Heilkunde  und  die  Wahrsagekunst,  lauter 
Themen,  welche  mit  leichten  Modificationen  in  den  indischen 
Sagen  von  den  gandharvas  und  in  der  Fabel  vom  Esel,  wie  wir 
später  nachweisen  werden,  wiederkehren.  —  Doch  um  auf  den 
indischen  Mythus  zurückzukommen:  ebenso   wie  der  gandharva 


80  wird,  wie  wir  sehen  werden,  sogar  der  indische  gandharva  als  Afie  dar- 
gestellt. —  „In  A.  V.  IV.  37,  11,  the  gandharvas,  a  class  of  gods,  who  are 
described  as  hairy,  like  dogs  and  monkeys,  but  as  assuming  a  handsome 
appearance  to  seduce  the  affections  of  earthly  females,  are  implored  to  de- 
uist  from  this  unbecoming  practice,  and  not  to  interfere  with  mortals,  as 
they  had  wives  of  their  own,  the  Apsarases;**  Muir,  Sanskrit  Texts  V, 
309.  —  Wir  haben  den  Affen-gandharva  und  den  Krieger-gandharva  in 
den  vedischen  Hymnen,  den  Krieger -Affen  im  Bämäyana  und  den 
K  rieger- Kentauros  und  Krieger-£sel  in  griechischen  Mythen. 

■  Wir  lesen  auch  von  dem  Esel,  der  tanst,  was  uns  an  die  gandharvas 
in  ihrer  Eigenschaft  als  himmlische  Musiker  und  Tänzer  erinnert,  welche 
den  Göttern  lehren,  wie  getanzt  wird.  Vielleicht  heisst  auch  nicht  ohne 
Grund  der  Verfasser  von  Vorschriften  für  Tänzer  und  Mimiker  Kri^ftQva: 
dieses  Wort  bedeutet  den,  der  ein  mageres  Pferd  besitzt,  resp.  dieses 
selbst.  Zwischen  dem  mageren  Pferde,  dem  Maulesel  und  dem  E^el  ist 
nur  ein  kleiner  Abstand;  noch  auch  dürfen  wir  den  Umstand  übersehen, 
daas  in  dem  gandharva  Kri^änu  wiedererkannt  wird  als  der,  welcher  mager 
werden  lässt,  was  uns  zurückfuhrt  auf  das  Ungeheuer,  weiches  Pferde  ma- 
ger werden  lässt,  das  hässliche  Pferd,  das  Pferdungeheuer,  welches  die 
goldenen  Aehren  der  Felder  zerstört,  indem  es  sie  vertrocknen  lässt, 
gleich  dem  Ungeheuer  ^ushna,  dem  Zerstörer  des  Keichthums,  gleich  dem 
zendischen  Kere^&ni.  —  In  dem  obenerwähnten  Laus  asini  sagt  der 
Autor  scherzhaft:  „Fortassis  Pegasum  fuisse  asinum;'*  in  diesem  Scherz 
liegt  eine  grosse  Wahrheit 


287 

öine  Doppelnator  hat  und  sich  ein  Mal  in  Gestalt  eines  Halb- 
gottes; ein  anderes  Mal  in  der  eines  Halbdämonen  zeigt  ^  so  hat 
der  mythische  Esel  Indiens  bald  eine  göttliche^  bald  eine  mensch- 
liche Natar.  Der  gandharva  ist  der  Wächter  von  Reichthum  und 
Wassern :  sofern  er  dieselben  gegen  den  dämonischen  Räuber  ver- 
theidigt,  sie  vor  den  Sterblichen  bewahrt  und  sie  unter  die  From- 
men vertheilt;  erscheint  er  in  einer  wohlthätigen  und  göttlichen 
Gestalt;  sofern  er  andrerseits  sie  entfuhrt  und  sie  gleich  einem 
Geizhals  verschlossen  hält,  gleicht  er  dem  fabelhaften  Ungeheuer, 
das  Brunnen  und  Schätze  bewacht,  dem  Dämon,  der  die  Wasser 
verschlossen  hält,  den  Dieben,  welche  ^hätze  zusammenscharren, 
und  dem  Teufel,  dem  Herrn  alles  Reichthums.  Aus  demselben 
Grunde  finden  wir  bereits  in  der  indischen  Sage  den  wohlthätigen 
Esel  und  sein  «bösartiges  Pendant.  Die  Sonne  (bisweilen  auch 
der  Mond)  in  der  Wolke  und  der  Dunkelheit  der  Nacht  ist  iden- 
tisch mit  dem  Schatze  in  der  Höhle,  dem  Schatze  in  der  Hölle 
und  dem  Helden  resp.  der  Heldin  in  dem  düsteren  Walde;  und 
diese  Höhle  und  Hölle  nimmt  zuweilen  die  Gestalt  eines  Esel- 
fells oder  einfach  eines  Esels  an.  Das  was  aus  der  Wolke  und 
dem  Dunkel  hervorkommt,  kommt  auch  aus  dem  Esel  heraus;  die 
Seele  des  Esels  ist  die  Sonne  oder  der  Held  resp.  die  Heldin  oder 
die  Reichthümer,  welche  er  verbirgt.  Die  A9vins  finden  sich  oft 
in  Verbindung  mit  dem  wertblosen  Pferde,  welches  später  ver- 
mittelst der  Ambrosia  selbst,  welche  es  hervorbringt,  schön  wird; 
die  gandharvas,  eine  mehr  nächtliche  und  wolkige  Erscheinungs- 
form, wenn  ich  so  sagen  darf,  des  Somien-  oder  Mondhelden, 
stehen  in  naher  Beziehung  zu  dem  Esel,  ihrem  alter  ego^  wel- 
cher die  Segnung  ewiger  Jugend  geniesst.  Die  Agvins  selbst, 
die  beiden  Reiter,  welche  dem  alten  Cyavana  die  Jugend  gegeben 
haben,  ritten  auf  Eseln,  bevor  sie  auf  Pferden  ritten.  Der  My- 
thus von  den  gandharvas  und  der  von  den  Agvins^  der  Mythus 
von  dem  Pferde  und  der  vom  Esel,  hängen  eng  zusammen;  aus 
dem  gandharva  kommt  der  a^vin,  aus  dem  mythischen  Esel 
das  Pferd  hervor.  Das  ist  zoologisch  unnatürlich,  mythologisch 
sehr  naturgemäss :  die  Sonne  kommt  bald  aus  den  grauen  Schatten 
der  Nacht,  bald  aus  der  grauen  Wolke. 

Die  vedischen  Hymnen  beschenken  uns  mit  mehren  interes- 
santen Mythen  vom  Esel. 

Der  Esel  der  A^vins  ist  schnell ;  die  Frommen  bitten  die  A9- 
vins,  als  sie  ihn  anschirren,  dass  sie  von  ihm  zum  Opfer  geführt 


288 

werden.^  In  einem  andern  Hymnns  sind,  wie  die  Acjvins  zwei, 
80  anch  ihre  Esel  zwei  an  Zahl  (räsabhäv  agvinoh).  Endlieb 
bietet  nns  die  zweite  Strophe  des  116.  Hymnns  eine  zweifache 
bezeichnende  Einzelheit,  nämlich  den  Esel,  welcher  anf  dem 
reichen  Schlachtfelde  Yamas  Tansende  besiegt  (oder  in  dem  nächt- 
lichen Kampfe,  bei  dem  Kampfe  in  der  HOlle,  in  welchem  der 
Esel  als  ein  wirklicher  Kämpfer  erscheint,  verbanden  mit  Reich- 
thttmem  and  kämpfend  am  Reichthttmer);  and  welcher  von  star- 
ken, schnellen  Schwingen  nnterstützt  wird  (womit  nns  der  Esel, 
der  fliegt,  gezeigt  wird).^ 

Der  Rigveda  stellt  »auch^den  Esel  Indras  als  schnellfUssig 
dar  ^  Doch  in  demselben  Hymnns  sehen  wir  schon  die  Kehrseite 
der  Medaille,  d.  h.  die  schnellen,  welche  den  verspotten,  der  nicht 
schnell  ist,  die  Pferde,  welche  sich  vor  den  Esel  -drängen.  *  Der 
Sonnenheld  setzt  gegen  Morgen  das  Pferd  an  Stelle  des  Esels, 
oder  erscheint  mit  Pferden,  indem  er  den  oder  die  Esel  znrilek- 
lässt.  Wir  haben  im  vorigen  Kapitel  gehört,  wie  beim  himm- 
lischen Wettlauf  der  vedischen  6?^tter  die  Esel  die  Siegespalme 
gewannen ;  doch  diese  Anstrengung  ging  über  ihre  Kräfte.  Das 
Aitareya  Brähmana  belehrt  uns,  dass  sie  durch  dieselbe  ihre 
Schnelligkeit  verloren  und  Zugthiere  wurden,  des  Honigs  beraubt, 
doch  in  ihrem  Samen  noch  grosse  Kraft  wahrend,  so  dass  der 
männliche  Esel  sich  in  zwei  Arten  fortpflanzen  kann :  in  Maul- 
eseln durch  Begattung  mit  einer  Stute,  und  in  Eseln  durch  eine 
Eselin.^  Hier  wird  also  der  Esel  schon  als  ein  Thier  von 
wesentlich  phallischer  Natur  betrachtet,  eine  Auffassung,  die  noch 
durch  das  von  Weber  erwähnte  Gebot  (Käty.  I,  1,  13)  bestätigt 
wird:  „Wer  sein  KeuschheitsgelUbde  gebrochen  hat,  opfert  einen 


>  Kad&  yogo  vägino  räsabhasya  yena  ya^äam  nftsatyopayätha^ ;  9igv. 
I,  34,  9. 

^  Vilupatmabhir  ä^uhemabhir  ya  devftDäm  vä  gütibhih  ^ft9adänft  tad 
räsabho  n&satyä  sahasram  ä^  yamasya  pradhane  gigäya. 

*  Yaträ  rathasya  brihato  nidhäoam  Timodanam  v4^do  räsabbaiya; 
Kigv.  m,  53,  5. 

*  Nävft^inam  vft^nä  häsayanti  na  gardabhatn  puro  a^vaQ  nayanti; 
Kigv.  111,  53,  23. 

'  Qardabharathcnä^vinft  uda^yatäma^vinftva^uuvätäm  yada^vinä  uda- 
^ayatama^vinävä^nuväfäm  tasmätsasrita^vo  dugdhadöhah  sarveshämetarhi 
vfthaDänämanft^ishto  retasastvasya  viryam  nfiharatftm  tasmfttsa  dviretä  vü^t; 
Alt  Br.  IV,  2,  9.' 


£aeL''  ^  Dea  Esel  ztlclitigep,  oj^eni,  lanss  dasselbe  bedeuteu  wie 
den  Leib  kasteien  und  tödten^  *  und  zwar  speeieli  den  Phallus; auch 
die  orientalische  und  occidentalische  Sitte^  Ehebrecher  zur  Strafe 
auf  einem  Esel  herumzuführen,  hat^  dieselbe  Bedeutung;  der  wirk- 
liche Märtyrer  bei  dieser  Strafe  ist  jedoch  der  Esel,  welcher  Spott 
und  Misshandlung  jeder  Art  ausgesetzt  ist  Ebenso  pflegte  ein 
ManU;  der  unter  dem  Pantoffel  seiner  Frau  stand  und  sieb  von 
ihr  schlagen  liess,  in  mehren  piemontesischen  Dörfern  noch  vor 
wenig  Jahren  zur  Schande  auf  einem  Esel  umhergeflihrt  zu  wer- 
den: ein  Mann,  der  sich  von  seiner  Frau  beherrschen  lässt  und 
sie  nicht  zwingen  kann,  rerdient,  durch  einen  Esel  gezüchtigt 
zu  werden;  er  ist  kein  Mann  und  sein  Esel,  das  Symbol  seiner 
Manneskraft,  muss  deshalb  die  Strafe  leiden^  weil  er  sich  unfähig 
gezeigt  hat,  seine  ehelichen  Rechte  zu  behaupten.  Dar  Ehebrecher 
auf  dem  Esel  und  der  einfältige^  Ehemann  auf  dem  Esel  erleiden 
Strafen  in  Gestalt  dessen,  was  den.  Phallus  repräaentirt  (d.  h.  des 
Esels):  der  eine  wird  gegeisselt,  weil  er  hat  zu  viel  thun  wollen, 
der  andere,  weil  er  nicht  hat  genug  thun  können.  Deshalb 
wurde  die  verurtheilte  Person  in  solchen  Fällen  gezwungen,  auf 
einem  Esel  zu  reiten,  das  Gesicht  dem  Schwänze  des  Thieres  zu- 
gekehrt, ein  andres  Bild,  das  noch  deutlicher  phallisch  ist;  daher 
gerade  der  Name  .der  Strafe :  „asini  caudam  im  manu  teuere/^ ' 


■  Weber,  Ueber  den  Zusammenhang  indischer  Fabeln  mit 
griechischen,  Berlin,  1855,  p.  10  f. 

^  „Ego,  inquit,  Aselle,  faciam  ut  non  calcitres  nee  te  hordeo  alam,  sed 
paleis*,  fame  te  conficiam  et  sitts  gravi  onerabo  pondere;  per  aestus  inda- 
gabo  et  frigore,  ut  cibnm  potius  quam  lasciviam  cogites."  Hieronymus, 
vita  Bilarionis.  —  St.  Paulinas  schrieb:  „Sit  fortis  aniroa  mortificans  asi- 
num  smim*'  —  Im  Italienischen  sagt  man  auch  vulgär:  il  mio  asino  für 
il  mio  corpo. 

'  A.  c  i.  m.  t.,  —  poena  seu  mulcta,  quae  reis  irrogari  solebat,  ut 
coUigitur  ex  decreto  Nepesini  populi  ann.  1184.  —  lis  et  maxime  maritis, 
qui  a  suis  vapulabant  mulieribus;  quod  eo  usque  insaniae  deventom  erat, 
ut  81  maritus  aufugisset,  proximior  vicinus  eam  ipse  poenam  luere  tene- 
retur;  quem  morem  non  omnino  periisse  audivi  Du  Gange,  welcher  auch 
mehre  Beispiele  von  einer  solchen  Züchtigung  giebt.  —  Im  Tuti-Name 
II,  '20  (p.  62  f.)  beklagt  sich  Jemand  bei  einem  frommen  Weisen,  dass  er 
seinen  Esel  verloren,  und  bittet  ihn,  denselben  für  ihn  wiederzufinden; 
dieser  weist  ihm  einen  Mann,  der  alt  geworden  ist,  ohne  Liebe  zu  kennen ; 
wer  nicht  Liebe  fühlt,  ist  ein  Dummkopf.  —  Es  ist  ein  beachtenswerther 
Umstand,  dass  der  Esel,  obwohl  gewöhnlich  als  ein  sehr  lüsternes  Thier 
betrachtet,  zuweilen  verspottet  wird,  als  unfähig,  zu  befruchten;  den  Grund 
davon  giebt  Aldrovandi  (De  Quadrupedibus  I)  folgendermassen  an: 

QaberuaiU,  die  TMere.  19 


2Ö0 

Was  das  andere  Sprichwort  betrifft,  welches  sagt :  ^^Wem  der  Esel 
gehört^  der  hält  ihn  am  Schwanz'^,  so  wird  es  erklärt  durch  die 
Erzählung  von  einem  Bauer ,  der  seinen  Esel  aus  einem  Sumpf 
zog,  indem  er  ihn  am  Schwadze  packte;  doch  auch  diese  Erzäh- 
lung scheint  eine  phallische  Bedeutung  zu  haben. 

Der  Esel  wird  also  seiner  hohen  Stellung  als  schnellfbssiger 
Renner  schon  im  Bigyeda  selbst  entsetzt.  Im  Bigveda  auch, 
wo  doch  der  Esel  als  ein  Kämpfer  beschrieben  wurde,  der  fllr 
die  Götter  ficht,  finden  wir  ihn  in  der  dämonischen  Gestalt  eines 
unangenehmen  Sängers,  welcher  die  Verehrer  des  Gottes  Indra 
erschreckt;  der  letztere  wird  deshalb  von  dem  Dichter  ersucht, 
den  Esel  zu  tödten ,  der  mit  schrecklicher  Stimme  singt  ^  Hier 
erscheint  der  Esel  schon  als  ein  wirkliches  Ungeheuer,  welches 
sogar  das  Schwert  des  Fttrsten  der  himmlischen  Helden  selbst,  der 
sich  zum  Kampfe  gegen  ihn  rüstet,  zu  kosten  würdig  ist.  Der  Esel 
ist  deshalb  schon  im  weissen  Ya^rveda  den  Ungeheuern  geweiht.^ 


Quamris  modo  libidne  maxima  pruriat,  ob  verendi  tarnen  enormitatem,  qua 
Bupra  modum  praeditus  est,  ad  generandam  admodum  segnem  esse  com- 
pertum  est,  sicuti  et  homines  qui  simili  genitalis  productione  conspicoi 
sunt,  quod  in  emissione  per  earn  longitudinem  semen  transmeans  hebetetur 
et  frigidius  fiat  Testaturque  Aelianus  inter  causus  cur  Aegyptii  asinos 
ödere,  et  hanc  quoque  accedere  putari,  quod  eum  populi  praedicti  omnes 
foecundos  ani mantes  colant,  asinus  minime  foecundans  pullus  in  honore 
sit  — Der  Missbrauch  der  sinnlichen  Vergnügungen  f&hrt  zur  Impotenz; 
das  impotente  Thier  wird  ebenfalls  IScherlich  gemacht,  als  ob  es  seine 
Fähigkeit  durch  eigenes  Verschulden,  d.  h.  durch  Missbrauch,  verloren 
hatte. 

'  Sam«  indra,  gardabham  mrina  nuvantam  päpayämuyä;  Rigv.  1,29,5. 

*  Angeführt  von  Weber,  Ueber  den  Znsammenhang  indischer 
Fabeln  mit  griechischen,  wo  der  brüllende  Esel  ebenfalls  als  von 
dorn  allgestaltigen  Ungeheuer  geboren  erscheinen  könnte:  „Entsteht,  nach 
9.  XII,  7f  1.  5m  nebst  Ross  und  Maulthier,  aus  dem  Buhm  (7a9as,  was 
jedoch  vielleicht  auch  hier  nur  einfach  Glanz  bedeutet),  welcher  dem  Ohr 
des  getodteten  Vi^varüpa  Tväshtra  entfloss,  worin  der  Bezug  auf  sein 
lautes  Geschrei  wohl  nicht  zu  verkennen  ist."*  (p.  11)  —  Wir  sahen  schon 
in  den  Kap.  1  angeführten  russischen  Mährchen,  wie  die  beiden  Reiter, 
welche  den  Helden  beschützen,  aus  den  Ohren  des  grauen  Pferdes  heraus- 
kommen und  wie  der  Held  selbst,  zum  einem  Ohre  hineingehend  und  zum 
anderen  wieder  herauskommend,  ein  Heldenross  findet  Hierin  können 
wir  vielleicht  eine  Anspielung  auf  den  iangohrigen  Esel  entdecken,  ebenso 
wie  in  der  Benennung  ft^rutkarna  oder  »das  Ohr,  welches  bort,''  die  dem 
Indra  gegeben  wird  (Rigv.  I,  10,  9),  der  langohrige  Indra  möglicherweise 
eine  Erscheinungsform  des  Iangohrigen  Midas  oder  des  langohrigen 
Esels  ist. 


tm  Itäm^yana^  ist  die  Langsamkeit  des  Esels  schon  spricli- 
wörtlicb.  Der  bescheidene  Bharata  entschuldigt  sich^  dass  er 
es  seinem  Bruder  Räma  in  der  Regierungsknnst  nicht  gleich 
thnn  könne,  ganz  wie  der  Esel  nicht  wie  das  Pferd  renne,  oder 
wie  andere  Vögel  nicht  wie  der  Geier  fliegen  könnten.  Der  my- 
thische Esel  erscheint  femer  in  diesem  Epos  ^  unter  einer  dämo- 
nischen und  höllischen  Gestalt:  Bharata  träumt,  er  sehe  seinen 
todten  Vater  Da^aratha,  wie  er  in  blutfarbigen  Gewändern  auf 
einem  von  Eseln  gezogenen  Wagen  in  das  Reich  der  Trauer 
nach  Sttden  getragen  werde ;  und  wer  im  Traum  auf  einem  esel- 
bespannten Wagen  fährt,  dem  steht  der  Tod  bevor. '  Khara,  ein 
Wort,  welches,  wie  wir  bereits  wissen,  den  Esel  bezeichnet^  ist 
auch  der  Name  eines  jüngeren  Bruders  des  grossen  Ungeheuers 
Rävana.  Rävana  selbst  wird  auf  einem  mit  Gold  und  Edelsteinen 
geschmückten  Wagen  von  Eseln  gezogen.  Diese  Esel  haben  das 
Gesicht  der  Pi^ä^ä-Üngeheuer,  *  d.  h.  Gesichter  von  Papageien, 
wie  Hanumant  uns  später  belehrt,  als  er  von  den  Ungeheuern 
spricht,  die  er  in  Laükä  gesehen,  und  von  denen  er  auch  sagt, 
dass  sie  so  schell  seien  wie  der  Gedanke.  ^  Wir  wissen,  dass 
die  Renner  Rävanas  Esel  waren,  und  deshalb  sind  die  Esel  mit 
den  Pi<;äcä-Gesichtem  und  die  Pferde  der  Ungeheuer  mit  den  Pa- 
pageiengesichtern identisch.  Das  Ungeheuer  Pi^äcä  hat  also  das 
Gesicht  eines  Papageis.  Wie  kommt  es,  dass  der  Papagei  in 
Indien  als  ein  heiliger  Vogel  gehalten  wird?  Mir  scheint,  der 
Doppelsinn  in  der  Sprache  hatte  etwas  mit  der  Bildung  dieses 
sonderbaren  mythologischen  Bildes  zu  thun.  Das  Wort  pi^äöa 
kommt,  wie  pigaflga  (d.  h.  goldfarben  und  roth)  von  der  Wur- 
zel pig,  schmücken,  wovon  auch  das  vedische  Femininum  pi^, 
Schmuck,  und  das  vedische  Neutrum  pe^a,  farbiges  Gewebe. 
Die  piQäca-Esel,  welche  den  Wagen  voll  Gold  ziehen,  sind  des- 
halb selbst,  wenigstens  im  Gesicht,  an  den  Vordertheilen,  goldene 
Esel,  oder  goldroth,  wie  die  Sonne;  wirklich  finden  wir  Khara 
(den  Brennenden)  als  Eigennamen  eines  Begleiters  der  Sonne 
und  khar&Qfu  oder  kharara^mih,    den  von  brennendem  Strahl, 


'  Qatjxh  khara  ivft^vasya  supamisyeva  pakshinah  anägantum  na  ^akto 
8011  rftgyam  tava  mahipate. 
«  Rämay.  II,  71, 
»  Vgl.  Weber,  a.  a.  0.  p.  10. 
«ßämäy.  III,  3S.  48. 
»Ib.  V.  12. 

1^ 


292 

als  Sanskritnamen  der  Sonne.    Eharaketu,  der  einen  brennenden 
Strahl  bat;  ist  anch  der  Name  eines  Ungeheuers  im  Rämäyana.  ^ 
Wir  sehen  also  bereits  den  goldenen  Esel  und  das  höllische  Un- 
geheuer mit  der  Sonne  identificirt,  und  so  kommen  wir  dem  Un- 
geheuer mit  dem  Papageiengesicht  sehr  nahe.    Im  vorigen  Ka- 
pitel beobachteten  wir^  wie  das  Sonnenross  am  Morgen  glänzend 
erscheint  zuerst  an  seinen  Vordertheilen,  —  bald  an  den  Beinen,, 
bald  im   Gesicht,   bald  an  der  Mähne,  welche  golden  genannt 
wird;  es  ist  nur  der  Kopf  des  Pferdes,  der  sich  in  der  Butter 
befindet;  von  Dadhyanc  nehmen  wir  nur  den  Kopf  in  Verbindung 
mit  der  Ambrosia  wahr.    So  wird  von  dem  nächtlichen  Esel,  detn 
dämonischen  Esel,  dem  Dämon  selbst,   dem  pi^äca  (die  pigacas 
heissen  fleischfressend  2)  nur  das  Gesicht  gesehn,  ebenso  wie  von 
den  pi^&öas  und  den  Pferden,  die  den  Ungeheuern  gehören,  nur 
der  Kopf  der  eines  Papageis  ist    Doch  wie  können  die  goldene 
Farbe  des  Esels  pi^äca  und  die  grüne  Farbe  des  Papageis  zu- 
sammenhängen?   Der  Doppelsinn    liegt   wahrscheinlich    in    den 
Worten  hari  und  bar  it,  welche  beide  im  Indischen  sowohl  grün 
wie  gelb  bedeuten.    Haris  und  hari  bezeichnen   die  Sonne  und 
den  Mond  als  gelb;   harayas  und  haritas  sind   die  Pferde  der 
Sonne;  har!  sind  die  beiden  Pferde  Indras  und  der  A^vins,  von 
denen  wir  auch  wissen,   dass   sie  gewöhnlicher  auf  Eseln  ritten. 
Wir  gelangen  so  zu  hellfarbigen  Eseln,  zu  den  Eseln,  die  golden 
sind,  wenigstens  an   ihren  Vordertheilen,  d.  h.  in  der  Morgen- 
dämmerung, wenn  nach  seinem  nächtlichen  Laufe  der  Sonnen- 
reiter auf  dem  Punkte  steht,  an  seinem  goldenen  östlichen  Be- 
stimmungsorte anzulangen,  weshalb  der  Eselskopf,  welcher  den 
göttlichen  Reiter  trägt,  durch  ihn  erhellt  wird.    Jedoch  bezeichnet 
hari  ausser   den  Sonnenhelden  als  gelb  auch   den  Papagei  als 
grün;  deswegen  wurde  der  Esel  oder  Dämon  mit  goldenem  Kopf 
mit  dem  Esel  oder  Ungeheuer  mit  dem  grünen  Kopf  oder  dem 
Papageienkopf  verwechselt    Wir  werden  in   den  Kapiteln,  die 
von  den  Vögeln  handeln,  sehen,  wie  der  Vogel  oft  an  die  Stelle 
des  Pferdes  trat  in  dem  Amte,  die  Gottheit  oder  den  Helden  zu 
tragen. 

Um  die  Besprechung  des  mythischen  Esels  der  Inder  zu 
schliessen:  es  ist  gewiss,  dass  er  im  Himmel  existirte;  eß  ist  ge- 
wiss, dass  er  im  Himmel  fliegt,  dass  er  im  Himmel  kämpft  gleich 


'  VI,  74. 

>  Kravyada)^  pi^äcai^-,  Atharvav.  Vfü,  2,  12. 


293 

einem  tapferen  Krieger^  dass  er  seine  Feinde  im  Himmel  durch 
seine  schreckliche  Stimme  schreckt^  dass  er  mit  einem  Worte  ein 
wirkliches  und  rechtmässiges  heroisches  Thier  war.  Es  ist  femer 
gewiss^  dass  er,  unter  einer  andern  Gestalt  betrachtet,  nicht  allein 
die  Helden  niederwirft,  sondern  sie  auch  in  die  Hölle  bringt,  den 
höllischen  Ungeheuern  dient  und  in  Verbindung  mit  den  Schätzen 
der  Hölle  gefunden  wird;  ebenso  fanden  wir  im  vorigen  Kapitel 
den  jungen  Helden,  welcher  in  Gestalt  eines  Pferdes  aus  dem 
Hause  des  Teufels  entflieht.  Giebt  femer  der  Leser,  wie  ich 
hoffe,  meine  Identification  des  mythischen  Esels  mit  dem  gand- 
harva  zu,  so  haben  wir  den' Esel  als  Tänzer,  als  Musiker,  den 
Esel,  der  die  Weiber  liebt  und  den  Esel  in  der  wohlriechenden 
Salbe  und  dem  berauschenden  Getränk,  dem  soma,  welcher  die 
Stelle  des  Weins  der  dionysischen  Mysterien  einnimmt,  bei  denen 
der  griechische  Esel  eine  feierliche  Rolle  spielte. 

In  den  Fabeln  des  Pancatantra  ist  der  Esel   theilweis 
nach  dem  griechischen  Typus  modellirt,   theilweise  bewahrt  er 
seinen  ursprünglichen  Charakter.    Das  vierte  Buch  zeigt  uns  den 
Esel,  der  zweimal  vom  Schakal  zum  Löwen  gelockt  wird,  indem 
der  erstere  ihn  glauben  macht,  dass  eine  schöne  Eselin  in  Liebes- 
sehnsucht seiner  harre.    Der  Esel  ist  misstrauisch  und  zeigt  Furcht, 
doch  das  Argument  der  Eselin,  auf  welchem  der  listige  Schakal 
besteht,    überwindet  seine  Zaghaftigkeit.    Er  ist  jedoch   schlau 
genug,  den  Schakal  vor  sich  her  zu  schicken,  wird  beim  Anblick 
des  Löwen  die  Verrätherei  des  Schakals  gewahr  und  flieht  mit 
solcher  Geschwindigkeit,  dass  der  Löwe  ihn  nicht  einholen  kann. 
Der  Schakal  macht  einen  neuen  Angriff  und  überzeugt  den  Esel, 
dass  er  Unrecht  daran  that,  die  schöne  Eselin  zu  verlassen,  als 
er  nahe  daran  war,  ihre  Gunst  zu  geniessen;  indem  er  so  seines 
Herzens  zarte  Saiten  rührt,  versichert  er  ihm  ferner,  die  Eselin 
werde  sich  in  das  Feuer  oder  das  Wasser  stürzen,  wenn  sie  ihn 
nicht  wiederkommen  sehe.    „Omnia  vincit  amor;''  der  Esel  geht 
zucfick  und  dies  Mal  erhascht  und  zerreisst  ihn  der  Löwe,  der 
erst  nachdem  er  seine  Waschungen  und  Gebete  verrichtet  hat,  an 
die  Verspeisung  des  Bratens  geht.    Mittlerweile  hat  jedoch  der 
Schakal  das  Herz  und  die  Obren  des  Esels  gefressen  und  redet 
dem  Löwen  ein,   das  dumme  Thier  hätte  weder   das  eine  noch 
die  andern,  weil  er  sonst  nicht  so  dumm  gewesen  wäre  an  den 
gefahrlichen  Ort  zurückzukehren,   nachdem  er  einmal  entwischt. 
Der  Löwe  zeigt  sich  vollständig  befriedigt  durch  diese  Erklärung. 
Hier  haben  wir  in   dem  Esel  eine  Mischung  von  Schnelligkeit, 


294 

Lüsternheit  and  Dammbeit^  welche  letztere  durch  die  Lüsternheit 
venursacht  ist.  Nan/ es  ist  wohl  möglich^  dass  der  Verfasser  des 
Panöatantra  darch  seine  Bekanntschaft  mit  dem  griechischen 
Esel  veranlasst  worden  ist,  dem  Esel  eine  Eigenschaft  beizulegen, 
die  in  Fabeln  indischen  Ursprungs  sonst  gemeiniglich  der  Affe 
besitzt;  doch  ist  dies  nicht  anumgänglich  nothwendig,  um  die 
Fabel,  von  der  wir  soeben  einen  kurzen  Aaszug  gaben,  zu  er- 
klären. 

Andrerseits  ist  im  vierten  Buche  des  Pandatantra  die 
Fabel  von  dem  Esel  im  Tigerfell  —  eine  unwesentliche  Variation 
des  Esels  in  der  Löwenhaut  — ,  wie  Prof.  Weber  schon  bewiepen, 
aus  der  äsopischen  Fabel  entlehnt.  Eine  andere  Fabel  im  fünften 
Buche,  welche  uns  von  dem  Esel  erzählt,  der,  ganz  närrisch  auf 
Musik,  ^  darauf  bestand  zu  singen,  so  entdeckt  und  zum  Sklaven 
gemacht  wurde,  scheint  ebenfalls  griechischen  Ursprungs  zu  sein. 
Doch  obwohl  die  Abfassung  dieser  beiden  indischen  Fabeln  in 
literarischer  Form  ihren  Ursprung  in  der  Kenntni^s  der  griechi- 
schen Literatur  hatte,  so  lässt  sich  doch  der  ursprüngliche  My- 
thus von  dem  Esel -Löwen  (hari,  das  Pferd  Indras,  bedeutet 
auch  „Löwe'O  ^od  der  von  dem  Esel-Musiker  (als  gandharva  und 
gardabha)  bis  auf  die  vedischen  Schriften  zurückverfolgen. 

In  dem  zendischen  Yagna^  finde  ich  einen  neuen  Beweis, 
welcher  mir  sehr  triftig  scheint,  für  die  von  mir  aufgestellte  Iden- 
tification des  Esels  und  des  gandharva.  Ich  habe  schon  den 
gandharva  erwähnt,  welcher  über  den  Soma  in  der  Mitte  der 
Wasser  wacht,  und  ich  bemerkte,  wie  der  gandharva  kri^anu  der 
Veden  und  der  zendische  keretäni,  der  über  den  hom  imVOuru- 
Kasha  wacht,  identisch  sind.  Doch  wird  dasselbe  Amt  im 
Ya<;na  von  einem  dreibeinigen  Esel  verrichtet  d.  h.  einem  lah- 
men Esel  (oder  dem  Sonnenpferde,  welches  während  der  Nacht 
lahm  geworden  ist,  ebenso  wie  der  Sonnenheld  lahm  wird,  oder 
einem  lahmen  Teufel),  welcher  mit  seinem  Geschrei  die  bösen 
Wesen  vertreibt  und  das  Wasser  rein  hält. 

Im  ersten  der  sieben  Abenteuer  Rustems  in  Firdusis  Schah- 


'  Vgl.  auch  Tuti-Name  II  p.  218  „Vom  Esel,  der  zur  Unzeit  schrie/* 
und  II  p.  149  „Der  Esel  in  der  Löwenhaut." 

*XLl,2a  — Vgl.  Khorda  Avesta,  SpiegePsEinleitung  p.  LlV: 
„Dort  ist  der  dreibeinige  Esel,  der  in  der  Mitte  des  Sees  steht  und  mit 
seinem  Geschrei  die  bösen  Wesen  vertreibt  und  alles  Wasser,  das  mit  un- 
reinen Wesen  und  Dingen  in  Berührung  kommt,  sogleich  reinigt/* 


295 

Name  geht  der  hungernde  Rnstem  mit  seinem  tapfem  Helden- 
rosse  auf  die  Jagd  nach  wilden  Eseln.  Die  Esel  fliehen,  doch 
des  Helden  Pferd  ist  schneller  als  sie  und  überholt  sie;  Rüstern 
fängt  einen  mit  einem  Lasso  and  kocht  ihn,  die  Knochen  fort- 
werfend. Dann  geht  er  schlafen  (dann  bezeichnet  in  den  My- 
then bisweilen  den  Zwischenraum  eines  ganzen  Tages  oder  eines 
ganzen  Jahres.  —  Der  Held  thut  fast  dasselbe  bei  seinem  zweiten 
Abentener  and  in  dem  Abschnitt  von  S  o  h  r  a  b.).  Während  Rastern 
schläft,  erscheint  ein  Löwenungeheuer,  am  den  Helden  za  über- 
fallen; doch  das  Heldenross  wirft  den  Löwen  nieder  and  reisst 
ihn  in  Stücke  mit  seinen  Hafen  and  Zähnen.  Dieser  Kampf  zwi- 
schen dem  Pferde  des  schlafenden  Helden  and  dem  Löwenange- 
heaer  ist  eine  epische  Gestalt  der  Fabel,  welche  die  Thiere  dar- 
stellt als  im  Walde  geschreckt  durch  das  Schreien  des  Esels,  und 
der  Fabel  von  dem  Löwen  selbst,  welcher  durch  des  Esels  Tritt 
getödtet  wird.  Wahrscheinlich  gaben  die  Knochen  des  todten 
Esels,  aufbewahrt,  Rustems  Ross  heroische  Kraft. 

In  den  mongolischen  Mährchen,  deren  indischen  Ursprung 
wir  bei  einer  früheren  Gelegenheit  angedeutet  haben ,  finden  wir 
zwei  andere  auf  den  Esel  bezügliche  Sagen.  Im  achtzehnten 
Mährchen  belädt  ein  närrischer  Mann  seinen  Esel  mit  Rds  und 
macht  sich  auf  die  Reise,  um  denselben  zu  verkaufen ;  er  verbirgt 
seinen  Esel  in  einer  Höhle;  einige  Kaufleute  kommen  mit  ihren 
Gütern  vorbei,  und  der  Narr  giebt  vermittelst  einer  Trompete 
einen  so  lauten  Ton  von  sich,  dass  die  Kauf  leute  in  dem  Glauben, 
es  seien  Räuber  in  der  Höhle  versteckt,  davonlaufen  und  ihre 
Güter  in  dem  Besitz  des  Esels  zurücklassen.  Hier  sind  der  Esel 
und  der  Narr  schon  identificirt.  Die  Trompete  und  das  Blasen 
des  Narren  entsprechen  dem  Schreien  des  Esels,  von  dem  wir 
bald  andere  Wunder  berichtet  finden  werden.  Der  Sinn  des  My- 
thus ist  folgender:  Der  Sonnenheld  in  der  Nacht  oder  in  der  Wolke 
oder  im  Winter  wird  dumm,  er  wird  ein  Esel;  die  Wolke  don- 
nert und  der  Donner  der  Wolke  lässt  die  Vorstellung  bald  von 
dem  Schreien  und  bald  von  dem  flatus  des  Esels  (oder  des  Nar^ 
ren),  bald  von  einer  Trompete, '  und  bald  von  einer  Pauke  ent- 
stehen. Wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass  das  Wort  dundubhi, 
welches  eigentlich  Kesselpauke  oder  Pauke  bedeutet,  auch  der 


■  Danteleser  sind  mit  der  Trompete  des  Teufeb  Malacoda  bekannt, 
Yon  welcher  derselbe  Gebrauch  gemacht  wird,  den  im  mongolischen  Mähr- 
chen  der  Narr  yon  ihr  macht* 


296 

Nftflie  eines  Ungeheuers  ist  und  dass  Dundubbt  der  Eigenname 
des  Weibes  eines  gandharva;  oder  einer  gandharrt  ist.  Das  Fell 
der  Pauke  ist  aus  einer  Eselsbaut  gemacht;  das  ist  ein  Gmnd 
mehr^  warum,  da  die  donnernde  Wolke  sehr  natttriich  mit  einer 
Pauke  verglichen  wurde,  auch  der  Donner  bald  als  ein  flatus  oris, 
bald  als  ein  flatus  ventris  des  himmlischen  Esels  oder  des  när- 
rischen Helden,  der  ihn  begleitete,  betrachtet  werden  musste. 

In  dem  zweiundzwanzigsten  mongolischen  Mährchen  haben 
wir  eine,  tfaeihs  weniger  vollständige  theils  reichhaltigere  Version 
der  Fabel  von  dem  phrygischen  K<)nig  Midas.  Ein  König,  der 
goldene  Eselsohren  hat,  lässt  jede  Nacht  seinen  Kopf  mit  gol- 
denen Kämmen  von  jungen  Leuten  kämmen,  welche  darnach  so- 
fort getödtet  werden  (dem  Esel  den  Kopf  kämmen  ist  ungefähr 
dassdbe^  wie  ihn  waschen;  doch  so  viel  er  auch  gekämmt  wird, 
die  Ohren  lassen  sich  nicht  fortbringen).  Eines  Tages  erhält  ein 
zu  den  höchsten  Ehrenstellen  bestimmter  Jüngling,  bevor  er  dem 
König  den  Kopf  kämmen  geht,  von  seiner  Mutter  einen  Kuchen, 
der  aus  ihrer  eigenen  Milch  und  Mehl  zubereitet  ist.  Der  Jüng- 
ling bietet  den  Kuchen  dem  Könige  an,  dem  er  gut  schmeckt 
und  der  dem  Jüngling  das  Leben  schenkt  nnter  der  Bedingung, 
daSB  er  keinem  Menschen ,  auch  seiner  Mutter  nicht ,  das  grosse 
Geheimniss  ausplaudert,  nämlich  was  fUr  Ohren  der  König  hat. 
Der  Jüngling  verspricht,  Stillschweigen  zu  bewahren  und  macht 
auch  wirklich  die  grössten  Anstrengungen,  das  Versprechen  zu 
halten;  doch  das  macht  ihn  ernstlich  krank,  so  krank,  dass  er 
ftlhlt,  er  muss  platzen,  wenn  er  das  Geheimniss  nicht  ausplaudern 
kann.  Seine  Mutter  räth  ihm  nun,  sein  Herz  zu  erieichtern,  in- 
dem er  es  in  einen  Spalt  der  Erde  oder  eines  Baumes  flüstert. 
Der  Jüngling  befolgt  den  Rath;  er  geht  aufs  freie  Feld,  findet 
das  Loch  eines  Eichhörnchens  und  haucht  ganz  leise  hinein: 
„Unser  König  hat  Eselsohren  f  doch  Thiere  haben  Verstand  und 
können  sprechen ;  auch  giebt  es  Menschen,  die  ihre  Sprache  ver- 
stehn.  Das  Geheimniss  geht  von  Einem  zum  Andern,  bis  der  Kö- 
nig hört,  dass  der  Jüngling  es  verrathen  hat.  Er  droht,  ihm  das 
Leben  zu  nehmen,  wird  jedoch  milder  gestimmt,  als  er  von  ihm 
eriährt,  wie  Alles  gekommen  ist,  und  verzeiht  ihm  nicht  nur, 
sondern  macht  ihn  sogar  zu  seinem  ersten  Minister.  Des  glück- 
lichen Jünglings  erste  Handlung  ist,  dass  er  eine  Kappe  in  der 
Gestalt  von  Eselsohren  erfindet,  so  dass  der  König  die  Unzierde 
verbergen  kann;  als  die  Leute  den  König  mit  dieser  Kappe  sehen, 
finden  sie  daran  so  viel  Gefallen,  dass  Alle  sie  annehmen;  so  hat 


297 

der  König  nicht  länget  nöthig^  in  Verborgenheit  und  beständiger, 
quälender  Furcht  vor  Entdeckung  zu  leben,  sondern  befindet  sich 
i'roh  und  glflcklicfa  bis  an  sein  Ende. 

Nachdem  wir  so  die  rolksthUmlichsten  asiatischen  Sagen  vom 
Esel  unter  ihren  Hauptgesichtspunkten  betrachtet  haben,  wollen 
wir  uns  an  eine  zusammenfassende  Darstellung  der  europäischen 
Sagen  machen  und  dabei  wenn  möglich  noch  kürzer  verfahren, 
umsomehr,  als  der  Leser,  der^  wie  wir  hoffen,  jetzt  den  Schlüssel 
des  Mythus  hat,  sich  leicht  selbst  wird  das  Verständniss  zahl- 
reicher analoger  Einzelheiten  der  griechisch-römischen  Sage  er- 
schliessen  können.  Ich  spreche  nur  von  der  griechisch-römischen 
Sage,  weil  der  Mythus  von  dem  Esel  unter  slavischen  und  deut- 
schen Völkern,  bei  denen  der  Esel,  wenn  überhaupt,  nur  wenig 
bekannt  ist,  keine  besondere,  unabhängige  Entwicklung  durchge- 
macht hat  In  slavischen  Ländern  wird  die  Rolle  des  Esels  ge- 
wöhnlich von  Iwan  dem  Dummen  oder  Emil  dem  Faulen,  auch 
von  dem  Bären  oder  Wolf,  wie  in  Indien  oft  von  dem  Affen  be- 
hauptet; *  Esel,  Bär,  Wolf  und  Affe  stellen  als  mythische  Thiere 
fast  identische  Erscheinungen  dar. 

Beginnen  wir  mit  der  Erzählung  von  Midas. 

Midas  erscheint  bei  Hero  dot  nicht  nur  als  König  von  Phry- 
gien,  sondern  auch  als  Stammvater  der  Phrygier.  In  Ciceros 
Tnsculanen  verirrt  sich  der  trunkene  Satyr  Silen  (ursprünglich 
eine  andere  Erscheinungsform  desselben  Midas,  da  die  Satyrn 
Eselsohren  haben),  der  Lehrer  des  Dionysus,  in  den  Rosengarten 
des  Midas,  vor  den  er  geführt  wird  und  von  welchem  er  wohl- 
wollend aufgenommen  und  gepflegt,  dann  aber  mit  Ehren  dem  Gott 
zurückgesandt  wird;  aus  Dankbarkeit  verleiht  dieser  dem  Midas 
die  Gabe,  Alles,  was  er  berührt,  in  Gold  zu  verwandeln,  ja  sogar 
die  Speise,  die  er  essen  will  und  das  Wasser,  in  dem  er  badet. 
Dieser  Mythus  ist  wahrscheinlich  complicirter  Natur.  Midas  sollte, 
wie  der  Esel,  in  Gold  verwandeln,  was  er  gegessen  hat,  d.  h. 
seine  Speise  und  sein  Getränk  in  goldene  Excremente;  er  sollte 
die  goldenen  Kornähren  befruchten,  d.  h.  im  Himmeli  die  Sonnen- 


*  Bei  Menander  (nach  GeUios)  beklagt  sich  ein  Ehemann  über  die 
UnbiU,  die  ihm  von  seiner  Frau  angethan  wird,  indem  er  das  Sprichwort 
anwendet:  „Der  Esel  unter  den  Affen/'  Die  Affen  sind  wegen  ihrer 
schamlosen  Lüsternheit  bekannt;  der  Esel,  welcher  den  Phallus  repräsen- 
tirt,  befindet  sich  oft  in  der  Lage  eines  impotenten  und  schwachen  Ehe- 
manns. 


298 

strahlen.  Cicero  selbst  führt  uns  auf  die  Vermuthongy  dass  der 
Mythus  von  Midas  in  Beziehung  steht  zn  den  Kornähren,  wenn 
er  in  seinem  ersten  Buche  de  divinatione  sagt^  dass  die 
Ameisen  dem  Midas^  als  er  noch  ein  Kind  war,  Weizenkömer  in 
den  Mund  tmgen ;  diese  sind  Symbole  der  Fülle  and  der  Frucht- 
barkeit; die  durchaus  auf  den  mj^thischen  Esel  anwendbar  sind. 
Denn  obwohl  der  gemeine  Esel  nicht  ein  privilegirter  Befruchter 
ist,  ist  doch  der  mythische  Esel  als  regengebende  Wolke  oder 
ciramehin  der  beste  Befruchter  der  Felder.  Die  Sonne  oder  das 
Gold  oder  der  Schatz  kommt  aus  der  Esel-Finstemiss  (am  Mor- 
gen) oder  der  Esel- Wolke  (im  Frühling).  Der  Esel  Lucius  wird, 
nachdem  er  die  Rosen  des  Morgens  oder  des  Ostens  gegessen, 
wieder  Lucius  der  Glänzende  (die  Sonne).  Deshalb  verwandelt 
der  Esel  Midas ,  der  sich  an  Rosen  delectirt,  ebenfalls  Alles  in 
Gold ,  was  er  isst ,  so  wie  auch  den  Thau  oder  die  ambrosische 
Quelle,  in  der  er  badet;  das  Rosige  wird  das  Goldene;  die 
Sonne  kommt  hervor  aus  der  BeriLhrung  des  Esels  Nacht  mit  der 
Aurora. 

Auch  Servius  erzählt  uns  in  seinem  Commentar  zum  sechsten 
Buche  der  Aeneis  von  den  Gentauren:  „in  floribus  stabulant'^, 
wie.  der  indische  gandharva  in  den  Wohlgerüchen.  Diese  Wohl- 
gerttche  sind  Regen  und  Thau.  Der  mit  Brod  ^  und  Blumen  ge- 
schmückte Esel  bei  dem  römischen  Vestacultus,  der  an  den  Dienst 
erinnerte,  welcher  der  Göttin  eines  Tages  durch  das  Schreien 
eines  Esels  geleistet  wurde,  das  sie  aus  dem  Schlaf  erweckte, 
als  Jemand  sie  zu  entehren  versuchte,  igt  eine  andere  Abart  des 
Mjrthus  von  der  Aurora,  welche  aus  der  Nacht  erwacht,  golden 
d.  h.  reich  an  goldenem  Hafer  und  goldenem  Weizen.  Der  Esel 
wird  "geopfert,  weil  er  vielleicht  selbst  es  gewesen  war,  der  es 
darauf  abgesehn  hatte,  die  Vesta  ihrer  Jungfräulichkeit  zu  be- 
rauben; da  er  sich  jedoch,  wie  oft  in  den  Fabeln,  durch  sein 
Schreien  verräth,  so  erwacht  Vesta  und  straft  ihn  dadurch,  dass 
sie  ihn  als  Opfer  darbringt  In  einer  Variation  derselben  Er- 
zählung im  ersten  Buche  von  Ovids  Fasti,  wo  wir  statt  der 
Vesta  die  Nymphe  Lothis  im  Schlaf  haben,  verliert  ebenfalls  der 


^  Lampsacus  huic  soll  solita  est  mactare  Priapo. 
Apta  asinl  flammis  indicis  exta  damus. 
Quem  tu  diva  memor  de  pane  monilibos  omas; 
Cessat  opus;  vacuae  conticuere  molae. 

Ovidius,  Fasti,  VL 


299 
der  sie  entehren  will,  die  Gelegenheit,  weil  Silens 


Dtempestivos  edidit  ore  aonos/' 

ron  Priap  getödtet  wird: 

Horte  dedit  poenas  auctor  clamor  is,  et  haec  est 
Hellespontiaco  victima  sacra  Deo.*^ 

kannt  ist  die  Fabel  von  dem  langohrigen  Esel,  welcher 
1,  um  zn  entscheiden,  ob  der  Kuknk  oder  die  Nach- 
ttsseste  Stimme  habe,  und  zn  Gunsten  des  ersteren 
^tfSIB  fmmmt   iUUt    Die   Nachtigall  appellirt   darauf  mit  jenem 
süssen  Sänge,  den  wir  Alle  kennen,  an  den  Menschen.  ^    In  dem 
Mythus  von  Midas  werden  dem  phrygischen  Helden  Eselsohren 
als  eine  Züchtigung  von  Apollo  verliehen,  weil  er,  zum  Richter  be- 
rufen zwischen  der  Cither  oder  Lyra  Apolls  (woher  das  Sprich- 
wort .^asinus  ad  lyram'O  und  der  Hirtenpfeife  (calamus  agrestis) 
des  Pan  (welcher  als  ein  gehörnter  und  bärtiger  Satyr  dargestellt 
wird,  mit  einem  Schwanz  und  langen  Ohren),   sein  Urtheil  dahin 
abgab,  "*  die  Panpfeife  sei   das  harmonischeste  Instrument    Midas 
verbirgt  seine  Ohren  in  einer  rothen  Kappe,  doch  der  ihn  kämmt, 
bringt  das  Geheimniss  aus  (ganz  ähnlich  wie  in  dem  mongolischen 
Mährchen) : 

„Ule  quidem  celat  turpique  onerata  padore 
Tempora  purporeis  tentat  velare  tiaris, 
Sed  solitns  longos  ferro  resecare  capillos 
Viderat  hoc  famulus:  qui  cum  nee  prodere  visum 
Dedecus  änderet,  cupiens  efierre  sub  auras, 
Nee  posset  reticere  tarnen,  secedit  humumque 


'  Auf  den  Mythus  yom  Esel  als  Musiker  und  als  musikaliscfaer  Kri- 
tiker geht  auch  das  toscanische  Kselsspiel  zurück,  welches  von  Herrn  Fan- 
fani  in  seinem  Vocabolario  deli*  Uso  Tuscano,  Firenze,  1863, 
folgendermassen  beschrieben  wird:  „Jedes  Mitglied  der  Gesellschaft  wählt 
ein  Thier,  dessen  Stimme  oder  Gesang  es  nachahmen  muss.  Der  Haupt- 
spieler steUt  den  Esel  dar  und  ist  der  König  der  übrigen  Thiere.  Wenn 
dieser,  in  der  Mitte  thronend,  eins  von  den  ihn  im  Kreise  umgebenden 
Thieren  ruft,  den  Hund  z.  B.,  so  muss  dieses  Thier  bellen;  ruft  er  den 
Hahn,  so  muss  derselbe  krähen;  ruft  er  den  Ochsen,  so  muss  der,  der  ihn 
darstellt,  brüllen,  und  so  fort  Schreit  der  Esel,  so  müssen  auch  alle  übri- 
gen Thiere  ihr  respektives  Geschrei  ausstossen.  Wer  lacht  oder  unter- 
lässt,  die  Stimme  oder  den  Gesang  des  Thieres,  das  er  darstellt,  hören  au 
lassen,  giebt  ein  Ffand.^' 


s 


300 

Effodit  et  domini  quales  aspezerit  anres 
Voce  refert  parva  terraeque  immunnurat  hatistae, 
Indiciumque  suae  vocis  tellare  regesta 
Obruit  et  scrobibus  tadtus  discedit  opertis. 
Creber  arandinibas  tremulis  ibi  surgere  lucus 
Coepit  et  at  primum  pleno  mataruit  anno 
Prodidit  agricolam:  leni  jam  motus  ab  Austro 
Obruta  verba  refert  dominique  coarguit  aures.**' 

Dieselben  Griechen,  welche  den  Esel  zum  Gegenstand  des 
Spottes  und  Gelächters  machten,  machten  den  phrygischen  König 
Midas  mit  den  Eselsohren  zum  Thema  ihrer  Satire.  Es  ist  das 
eine  einzelnstehende  Erscheinungsform  des  Kampfes  zwischen 
Griechen  und  Phrygiem  oder  Trojanern.  Apollo  ist  der  Feind 
der  Trojaner,  wie  er  der  Feind  des  phrygischen  Königs  Midas 
ist.  Die  Trojaner  und  Troja  werden  durch  den  Esel,  die 
Griechen,  welche  die  trojanische  Burg  mit  Sturm  nehmen  und 
siegen,  durch  das  Pferd  repräsentirt ;  die  Sonne  verscheucht 
die  Nacht;  der  Held  tödtet  den  Centaur;  das  Pferd  über- 
windet den  Esel,  die  Griechen  die  Trojaner;  und  jeder  kann  sehen, 
wie  der  Umstand,  dass  die  Griechen  ihre  Feinde  in  Kleinasien 
im  Esel  personificirten,  dem  Rufe  des  armen  Langohr  geschadet 
haben  muss.  Die  bitterste  und  schneidigste  Satire  ist  immer  die, 
welche  man  gegen  seine  eigenen  Feinde  richtet;  und  der  Esel 
hatte  ungltlcklicher  Weise  einst  die  Ehre,  den  Phrygier,  den  tradi- 
tionellen Feind  des  Griechen  darzustellen.  Der  Esel  trug  die 
Kosten  dieses  heldischen  Kampfes,  ebenso  wie  er  im  Mittelalter 
von  den  Einwohnern  Paduas  öflTentlich  aufgespiesst  wurde,  weil 
er  das  Unglück  gehabt  hatte,  das  heilige  Thier  auf  dem  Wappen- 
schilde der  Stadt  Vicenza  zu  sein,  mit  der  die  Paduaner  in  Un- 
frieden lebten.  * 

Im  selben  eilften  Buche  Ovids,  in  welchem  die  Verwandlung 
der  Menschenohren  des  Midas  in  Eselsohren  geschildert  ist,  wer- 
den die  neuen  Ohren  merkwürdiger  Weise  weisslich  genannt,  wie 
sie  in  dem  mongolischen  Mährchen  golden  heissen.  Dies  bestätigt 
noch  mehr  die  Deutung  des  Mythus  dahin,  dass  der  Esel  das 
Sonnenross  während  der  Nacht  ist.  Der  Kopf  und  der  Schwanz 
der  Nacht,  als  ein  Thier  gefasst,  sind  bald  die  weisslichen  oder 


«  Ovidiufl,  Met  am.  XI,  180  ff. 

'  Nach  den  Annalen  von  Padua,  citirt  von  Beraardino  Scardeone, 
bei  AldroYandl,  De  Quadrapedibus  I. 


grauen  Dämmerungen  and  bald  die  beiden  goldenen  Anroren  des 
Morgens  und  Abends.' 

,,Nec  Delius  aures 
Humanam  stolidHs  patitur  retinere  figuram, 
Sed  trahit  in  spatium  villisque  albentibus  ixnplet 
iDstabilesque  illas  facit  et  dat  posse  moveri/' 

Die  Veränderlichkeit  der  Dämmerungen  muss  sehr  gut  zu 
dem  Ausdruck  der  Beweglichkeit  von  Eselsohren  gedient  haben. 

In  der  Erzählung  von  dem  Esel^  spricht  sich  Midas,  der 
musikalische  Kritiker,  der  vorbestimmte  Esel,  zu  Gunsten  Pans 
aus;  er  thut  das  nicht  nur  wegen  der  zwischen  ihm  und  dem 
Gott  bestehenden  Blutsverwandtschaft,  sondern  auch  aus  einem 
patriotischen  Geftihl.  Pan  war  in  einem  \^alde  Arkadiens  ge- 
boren, ein  Sohn  des  Zeus  und  der  Nymphe  Kallisto ;  es  ist  be- 
kannt, dass  das  Alterthum  die  arkadischen  Esel  vor  denen  jedes 
anderen  Landes  pries.  Der  Esel  als  Musiker/  als  musikalischer 
Kritiker,  Pan  der  Musiker  und  Pan,  der  vom  Esel  vorgezogen 
wird,  sind  alle  mit  einander  identisch.  Arkadien ,  das  Land  der 
Hirtenmusik,  der  flötenden  Schäfer,  das  L^nd,  welches  dem  Italien 
des  17.  und  18.  Jahrhunderts  so  viele  unnütze  Verse  auspresste, 
das  Land  des  Satyr  Pan,  ist  das  Land  der  Esel  par  excellence. 
Arkadien  ist  der  gebirgigste  und  waldreichste  Theil  Griechen- 
lands^ und  deshalb  bevölkerten,  wenn  die  Olympier  aus  dem 
Himmel  hemiederstiegen ,  himmlische  Nymphen  und  Satyrn  die 

>  Das  deutsche  Sprichwort:  ^Wald  hat  Ohren,  Feld  hat  Gesicht**  ist 
bekannt  Vgl.  die  Variationen  dieses  Sprichworts  von  den  Ohren  des 
Waldes  bei  Uhland,  Schriften  zur  Geschichte  der  Dichtung  und 
Sage  (Stuttgart  1866)  Band  III  p.  173  Anm.  285  zu  Seite  120.  -Ich 
möchte  bei  dieser  Gelegenheit  auf  ein  italienisches  Sprichwort  aufmerksam 
machen:  „Raglio  d'asino  non  sale  in  cielo  (das  Geschrei  des  Esels  dringt 
nicht  bis  in  den  Himmel),  dessen  Ursprung  ich  erklären  zu  können  glaube. 
Der  Esel  wird,  wie  bemerkt,  am  öftesten  als  ein  diabolisches,  höllisches 
Thier  betrachtet,  und  zeigt  sich,  als  die  Sonne  in  den  dunklen  Wald  der 
Nacht  oder  des  Winters  hinabsteigt.  Da  schreit  der  Esel,  aber  sein  durch- 
dringendes Geschrei  steigt  nicht  zum  Himmel  auf,  da  dieser,  mit  Finster- 
niss  bedeckt,  von  Wolken  verschleiert,  verschwunden  ist;  am  Morgen  und 
im  Frühling  schreit  der  mythische  Esel  wieder,  beim  Anblick  der  Aurora 
und  der  schönen  Jahreszeit,  aus  Sinnlichkeit ;  doch  wegen  seines  unzeitigen 
Schreiens  wird  er  geopfert,  oder  verwandelt  sich  von  Neuem  in  das  Son- 
nenpferd oder  den  Sonnenhelden,  und  steigt  als  glänzender  Gott  zum  Him- 
mel auf;  der  Esel  nimmt  unter  den  Rosen  der  Morgen-Aurora  oder  unter 
den  Rosen  des  Frühlings  wieder  die  Gestalt  des  Lucius  an. 


502 

Wälder  and  Qaellen  Arkadiens.  Der  göttliche  Wächter  der  Am- 
brosia in  der  himmlischen  Wolke  nimmt  im  arkadischen  Walde 
die  Gestalt  des  Pan^  des  Gottes  der  Schäfer  an^  welcher  aber 
den  Honig  Wache  hält.  Der  gandharva,  welcher  im  indischen 
Olymp  mit  den  Apsarasen  tanzte  und  sang^  ist  in  Gestalt  des 
Pan  nach  Arkadien  hemiedergestiegen;  um  mit  den  Nymphen  zu 
tanzen  und  zu  singen.^  Pan^  welcher  allein  in  den  düsteren 
Wald  geht,  Pan^  welcher  die  Furcht  verjagt,  erinnert  uns  in 
seiner  Verbindung  mit  der  Erzählung  vom  Esel  einerseits  an  den 
von  Plinius  erwähnten  Aberglauben,  dass  eine  Eselshaut  auf  Kin- 
der gelegt;  die  Furcht  von  ihnen  verscheucht^  (ebenso  wie  man 
in  der  siciliscben  Provinz  Girgenti  glaubt,  dass  Schuhe  aus  Wotfs- 
fell,  Kindern  angezogen,  sie  beim  Kampfe  muthig  und  glücklich 
machen)  und  andrerseits  an  das  —  noch  nicht  veröflentlichte  — 
piemontesische  Hährchen  von  dem  herzhaften  Giovannino,  welcher 
als  Belohnung  fttr  seinen  Muth,  allein  in  die  Hölle  zu  gehen,  einen 
Esel  mitbringt,  der  Gold  fallen  lässt. '    So  verwandelte  auch  der 


'  Der  Leser  kennt  die  Sage  von  der  von  Pan  geliebten  Nymphe 
Syrinx,  welche  in  ein  Rohr  oder  Ried  verwandelt  wurde,  aus  dem  sich 
Pan  eine  Flöte  machte.  Wir  Qnden  in  der  ungarischen  Sage  das  Blatt 
des  Rohres  in  Verbindung  mit  dem  Esel.  Es  lässt  sich  auf  den  Blättern 
des  Rohrs  eine  merkwürdige  Aussackung  beachten,  die  eine  merkwür- 
dige Aehnlichkeit  mit  dem  Zeichen  von  drei  Zähnen  hat.  Dieses 
sonderbare  Zeichen  su  erklären  erzählt  das  ungarische  Volk,  der  Esel 
des  Erlösers  habe  einst  nach  dem  Blatt  eines  Rohrs  gebissen,  doch 
habe  er,  da  Christus  in  Eile  war,  das  Blatt  nicht  essen  können,  und 
so  sei  es  gekommen,  dass  die  drei  Zähne  als  Zeichen  des  Bisses. 
zurücU)lieben.  Von  jener  Zeit  an  erinnert  jedes  Rohrblatt  daran.  Von 
den  beiden  Linien,  welche  sich  an  den  beiden  Flanken  des  Esels  hinab- 
ziehen, sagt  mm  in  Ungarn,  sie  seien  von  dem  Blute  unseres  Erlösers 
verursacht.  In  Irland  herrscht  der  Volksglaube,  dass  diese  Linien  als  eine 
Erinnerung  an  Christus,  der  einmal  den  Esel  schlug,  geblieben  sind.  — 
Vgl.  die  Kapitrl  über  den  Pfau  und  den  Aal,  wo  wir  den  Held  und  die 
Heldin  wieder  in  Schilfrohr  verwandelt  finden  werden. 

^  Das  Ilrrz  oder  den  Muth  verlieren  wird  im  Italienischen  vulgär 
ausgedrückt  durch:  „Qu{  mi  casca  Tasino*^  (hier  fällt  mein  Esel).  Dieser 
Ausdruck  ist  jedoch  vielleicht  griechischen  Ursprungs;  das  Wortspiel  zwi- 
schen den  gleichlautenden  Redensarten:  „a;r*  ^ot»'*  und  „cctto  rov**  ist  be- 
kannt; durch  dieses  wurde  „vom  Esel  fallen^  und  „den  Muth  verlieren^ 
synonym. 

*  In  Antignano  bei  Livomo  hörte  ich  ein  Mährchen  von  einer  Mutter, 
die  einen  dummen  Sohn,  Namens  Pipetta  hat.  Dieser  bittet  die  Mutter 
um  einen  Quattrino  (ein  kleines  Geldstück),  um  eine  Wicke  und  später 
eine   Bohne   zu  kaufen,    weil  diese    höher   wächst;   er    hat   sie  und  sie 


303 

habßücbtige  Vespasian  die  Excremente  seines  Pferdes  in  Gold, 
indem  er  sie  verkaufte.  ^ 

Der  äsopische  Esel  erschreckt  als  er  in  den  Eaoipf  geht,  alle 
Thiere  des  Waldes  durch  sein  Schreien ;  so  überwältigt  Pan  seine 
Feinde  durch  seine  schreckliche  Stimme,  und  nach  Herodot* 
wurden  die  Athener  in  der  Heldenschlacht  bei  Marathon  durch 
die  mächtige  Stimme  des  Gottes  Pan  untersttttzt.  Wie  wir  end- 
lich Apollo  als  den  Rivalen  Pans  und  den  Feind  des  phrygischen 
Midas,  des  vorbestimmten  Esels,  ebenso  wie  auch  der  Trojaner 
sahen,  so  finden  wir  in  der  eilften  der  pythischen  Oden  Pindars 
den  Helden  Perseus  unter  den  Hyperboreern, '  Esel  essend.  *  Die 
Morgensonne  verschlingt  den  Esel  Nacht,  wie  wir  den  Sonnen- 
helden Rustem  im  Schah-Name  thnn  sahen,  als  er  die  wilden 
Esel  isst 

Doch  wir  müssen  uns  nach  mehr  mythischen  Personen  um- 
sehen, welche  mit  dem  Esel  Midas  in  Arkadien,  als  dem  Lande 
des  Pan  und  der  Esel,  in  Verbindung  stehen.  Der  Esel  Midas 
wird  als  ein  reicher  Stammvater  von  Geschlechtern  angesehen 
und  für  den  ersten  Phrygier  gehalten.    Windischmann  hat  schon 

■       —  I 

erreicht  eine  wunderbare  Höhe.  Er  klettert  an  der  Bohnenstange 
hinauf  und  kommt  an  die  Pforten  des  Paradieses,  welche  ihm  geöfinet 
werden;  doch  St.  Peter  schickt  ihn  zurück;  er  findet  darauf  den  Ein- 
gang zur  Hölle,  welche  er  zu  besuchen  wünscht  Der  Teufel  zeigt 
ihm  Alles,  was  zu  sehen  ist;  dann  spielen  sie  Beide  Karten  und  Pipetta 
gewinnt  einen  Sack  voll  Seelen.  Der  Teufel  fürchtet,  dass  Pipetta  die 
Hölle  leeren  wird,  und  lässt  ihn  mit  dem  Sack  abziehen,  giebt  ihm  auch 
noch  einen  Esel ,  der  Gold  fallen  lässt ;  er  steigt  zum  Himmel  auf  und 
Übermacht  dem  hlgen  Petrus  den  Sack  Seelen.  Die  Geschichte  endet 
mit  der  gewöhnlichen  Vertauschung  der  Esel  in  dem  Qasthause,  wo  Pi- 
petta bei  seiner  Herabkunft  von  der  Bohnenstange  schläft. 

^  Es  wird  hinzugefügt,  dass  als  Titus  seinem  Vater  diese  Habsucht 
vorwarf,  Vespasian  ihn  an  dem  Golde,  für  welches  der  Pferdedung  ver- 
kauft worden  war,  riechen  liess  und  ihn  fragte,  ob  es  schlecht  rieche.  — 
In  dem  mongolischen  Mährchen  sahen  wir  den  Dummen,  der  mit  seinem 
Esel  ausgeht  und  ihn  in  einer  Höhle  verbirgt,  nachher  eine  Karawane  von 
Kaufleuten  beraubt  —  Tzetzes  I,  128  erwähnt  ein  Dorf  in  Phrygien,  mit 
Namen:  „Eselsohren**  (v  tcX^ote  ovov  cJra),  bewohnt  von  Räubern  und  dem 
Midas  geherig;  er  meint  auch,  dass  Midas  den  Beinamen:  „der  Lang- 
ohrige**  erbalten  hat. 

*  VI,  105. 

*  KXanaß  ovatv  hmnSfißas  XI,  &1. 

*  Bei  Antonius  Liberalis  finden  wir  eine  lange  Erzählung,  aus 
welcher  wir  entnehmen,  dass  Apollo  sich  nur  den  Elsel  unter  den  Hyper- 
boreern opfern  lassen  wollte 


ä04 

(an  dea  Beispielen  Yatnas^  Timas,  MaauS;  Minos'  und  Badaman- 
thys')  die  Verbindung  zwischen  dem  reichen  Stammvater  von 
Geschlechtern  und  dem  reichen  König  pder  Richter  der  Hölle  be- 
merkt. Midas,  dem  reichen  Könige  MidaB  dem  Stammvater  und 
Midas  dem  Richter  entspricht  der  Esel,  dessen  Excremente  Gold 
sind,  der  Esel  als  Richter  und  Prophet^  der  arkadische  und  pro- 
phetische Pan.  Die  Arkadier  betrachteten  sich  nicht  nur  als  ovtox- 
Sovsg,  sondern  auch  als  TiQooiXrivoiy  älter  als  der  Mond.  Doch  werden 
sie  auch  in  dem  Lichte  von  Bewohnern  einer  höllischen  Gegend 
gesehen.  In  Arkadien  lag  der  See  Stymphalus,  dessen  dämo- 
nische Vögel  von  Herakles  erschlagen  wurden;  in  einer  wilden 
Felskluft  war  die  Quelle  des  Styx^  des  Haupthöllenstromes ,  bei 
welchem  die  Höllenbewohner  der  Griechen  zu  schwören  pflegten. 
Griechische  und  römische  Schriftsteller  pflegten  von  dem  Esel 
(und  dem  Maulesel)  zu  erzählen ,  dass  er  eine  besondere  Ab- 
neigung gegen  das  Wasser  des  Styx  als  giftig  hätte.  Dieser 
Aberglaube  auf  den  Mythus  zurückgeführt  scheint  zu  bedeuten, 
dass  der  Sonnenheld,  wenn  er  dieses  Wasser  —  das  Wasser  des 
finsteren  oder  wolkigen  Oceans  —  trinkt,  ein  dunkler  Esel  wird. 
(Wir  finden  in  russischen  Mährchen  den  Helden,  der  in  einen 
Stier,  ein  Pferd  oder  einen  Ziegenbock  verwandelt  wird,  wenn 
er  Wasser  trinkt,  aus  welchem  ein  dämonischer  Stier,  Hengst 
oder  Bock  vorher  getrunken  hat).  Aelian  schreibt  im  zehnten 
Buche  über  die  Thiere,  als  er  von  den  gehörnten  Eseln  Scythiens 
spricht,  dass  sie  in  ihren  Hörnern  das  Wasser  des  Styx  hielten. 
Eine  ähnliche  Erzählung  wird  von  Philostratus  im  drittea  Buche 
seiner  romanhaften  Biographie  des  Apollonius  gegeben,  wo  er 
von  den  fabelhaften  gehörnten  Eseln  in  Indien  spricht.  „Man 
sagt,''  so  schreibt  er,  „dass  in  dem  Marschlande  bei  dem  indischen 
Flusse  Hyphasis  viele  wilde  Esel  zu  finden  sind,  und  dass  diese 
wilden  Thiere  auf  ihrem  Kopfe  ein  Horn  haben,  mit  welchem  sie 
gleich  Stieren  tapfer  fechten^'  (es  scheint  das  eine  Reminiscenz 
an  das  indische  Rhinoceros  zu  sein);  „und  dass  die  Inder  aus 
diesen  Hörnern  Trinkbecher  machen,  indem  sie  versichern,  dass 
die,  welche  aus  diesen  Bechern  trinken,  den  ganzen  Tag  über 
von  jeglicher  Krankheit  frei  sind;  verwundet  fühlen  sie  keine 
Schmerzen ;  sie  gehen  unbeschadet  durchs  Feuer,  noch  auch  kann 
ihnen,  wenn  sie  daraus  getrunken  haben,  irgend  ein  Gift  etwas 
anhaben.^    Sie  sagen,   dass  solche  Becher  nur  Königen  gehören. 


'  lo  dem  merkwürdigen  Buche  Laus   Asini   (gedruckt  xu  Leyden 


305 

nnd  dass  kein  Anderer  als  ein  König  das  Thier  jagen  darf.  Es 
wird  erzählt,  dass  Apollonios  (der  Held  des  Romans)  dieses  TMer 
gesehen  nnd  seine  Natur  mit  Staunen  beobachtet  hatte.  Dem 
DamiS;  der  ihn  fragte ,  ob  er  an  daS;  was  gewöhnlich  von  der 
Wunderkraft  des  Bechers  erzählt  wttrde,  glaube ^  antwortete  er: 
Jch  werde  es  glauben ^  wenn  ich  erfahre,  dass  der  König  in 
diesem  Lande  unsterblich  ist*."  Und  ohne  Zweifel  würde  es  Apol- 
lonius  geglaubt  haben^  wäre  es  nicht  unmöglich  für  ihn  gewesen^ 
zu  erratheu;  dass  der  König,  welcher  sich  dieses  wunderbaren 
Bechers  bedient,  die  unsterbliche  Sonne  ist;  der  allein  es  vorbe- 
halten ist,  den  Esel  des  nächtlichen  Waldes  zu  tödten,  den  Esel, 
dessen  behaarte  Ohren  Hörnern  gleichen,  dessen  Obren  von  Gold  sind. 

Das  Horn  des  scythischen  Esels,  das  voll  stygischen  Wassers 
ist,  das  Horn  des  Esels,  das,  als  Becher  gebraucht,  den  daraus 
Trinkenden  Gesundheit  und  Glück  verleiht  (nicht  zu  sprechen  von 
Simsons  Eselskinnbacken  ^  der  Wasser  fiiessen  lässt),  erinnert 
uns  speciell  an  den  Mythus  von  dem  Füllhorn  und  den  von  der 
Ziege,  mit  welchem  die  bocksfüssigen  Satyrn  und  Faune  in  be- 
sonderer Verbindung  stehn.  Aus  diesem  Grunde  findet  sich  auch 
der  Esel  in  Verbindung  mit  Pan ;  aus  diesem  Grunde  ferner  reitet 
Silen  auf  einem  E^el  und  erscheint  in  der  Erzählung  von  Midas 
in  dessen  Rosengarten;  die  mythischen  Kentauren  oder  Onoken- 
tauren, der  Satyr,  Faun,  Esel  und  Bock  sind  Bezeichnungen  mit 
derselben  Bedeutung.  Wir  sahen,  einige  Seiten  bevor,  den  drei- 
beinigen Esel  des  Zend;  im  folgenden  Kapitel  werden  wir  die 
lahme  Ziege  finden. 

Wie  der  Esel  von  Silen  geritten  wurde,  *  so  war  er  das  dem 

bei  Elzevir)  findet  sich  folgende  Bemerkung :  „Si  quis  graviter  a  scorpione 
ictuB,  id  in  aurem  insusurret  asino,  ex  tempore  curetar.*^  —  Elliot  (Races 
of  the  N.  W.  Provinces  of  India  I,  260)  erwähnt  ebenfallB  diesen 
europäischen  Aberglauben  und  bemerkt  dazu :  „In  Indien  glaubt  man,  dass 
eine  von  einem  Skorpion  gebissene  Person  in  folgender  Weise  geheilt 
werden  kann:  Ein  junges  männliches  Büffelkalb  wird  ausgesucht,  und 
zwar  lieber  als  ein  Esel,  als  ein  reineres  Thier,  und  in  sein  Ohr  wird  fol- 
gende Zauberformel  geflüstert  (die  wahrscheinlich  gar  keinen  Sinn  hat, 
wenigstens  lassen  sich  nur  ganz  schwache  Spuren  von  Sinn  darin  ent- 
decken) ...  —  Wenn  das  gewissenhaft  ausgeführt  ist,  kommt  die  dazu 
gewählte  Person  zu  dem  Gebissenen  zurück  und  ist  sicher,  ihn  vollständig 
wiederhergestellt  zu  finden.    (Nach  Lieb  recht  in  der  Academy.) 

*  „Te  senior  turpi  sequitur  Silenus  asello 

Turgida  pampineis  redimitus  tempora  sertis 

Condita  lascivi  deducunt  orgya  mystae.'* 

Seneca,  Oedipus. 

QubernatU  die  Thiere.  20 


306 

Bacchus  und  dem  Priapus  geweihte  Thier^  deren  Mysterien  bei 
den  dionysischen  Festen  gefeiert  wurden.  Es  heisst,  dass  Bac- 
chuS;  als  er  einen  Morast  zu  passiren  hatte;  zwei  junge  Esel  traf 
und  von  einem  von  ihnen ;  der  mit  menschlicher  Sprache  begabt 
war;  auf  die  andere  Seite  geführt  wurde,  ohne  das  Wasser  zu  be- 
rühren. (Der  116.  Hynmus  des  ersten  Buches  des  Bigveda 
verdient  besonders  damit  verglichen  zu  werden.  In  demselben 
feiert  der  Dichter,  gleich  nachdem  er  die  Agvins  aLs  von  geflügel- 
ten Eseln  gezogen  dargestellt  hat,  dieselben  als  den  Helden 
Bhu^yu  aus  den  Wassern  auf  einem  Schiffe  befreiend,  welches 
sich  von  selbst  in  der  Luft  bewegt.  ^)  Dafür,  heisst  es,  versetzte 
Bacchus  aus  Dankbarkeit  die  beiden  jungen  Esel  unter  die  Sterne.  ^ 
Es  ist  das  eine  andere  Bestätigung  des  Umstandes,  dass  der  my- 
thische Esel  wirklich  die  Fähigkeit  zu  fliegen  besass;  das  Sprich- 
wort „asinus  si  volat  habet  alas''  ^  spielt  auf  diesen  Mythus  an. 
Die  Fabel  von  dem  Esel,  der  fliegen  will,  und  dem  Fluge  des 
Esels,  sind  spöttische  Anspielungen,  auf  den  irdischen  Esel  an- 
gewandt. Der  himmlische  Mythus  haftet  noch  im  Gedächtniss, 
ist  aber  nicht  mehr  verständlich.  Sobald  jedoch  der  Esel  seinen 
Flug  vollendet  hat,  stirbt  er ;  sein  Triumphschrei  ist  zugleich  sein 
Todesschrei;  deshalb  heisst  es,  dass  der  Schrei  des  Esels  nicht 
in  den  Himmel  dringen  kann;  er  rettet  den  Sonnenhelden,  geht 
aber  selbst  zu  Grunde. 

In  dem  Mythus  von  Prometheus  bei  Aelian  (VI,  5)  haben 
wir  den  Esel,  der  den  Talisman  trägt,  welcher  vrieder  jung 
macht,  und  den  Zeus  aussetzte  für  denjenigen,  welcher  den  Räu- 
ber des  himmlischen  Feuers  (Prometheus)  entdecken  würde.  Der 
Esel,  der  durstig  ist,  nähert  sich  einer^  Quelle  und  ist  im  Begriff, 
daraus  zu  trinken,  als  eine  Schlange,  welche  die  Quelle  bewacht, 
ihn  davon  zurückhält.  Der  Esel  zeigt  der  Schlange  den  Zauber, 
den  er  trägt,  worauf  diese  ihr  Alter  abstreift;  und  der  Esel,  der 
aus  der  Quelle  trinkt,  die  Fähigkeit  erlangt,  wieder  jung  zu 
werden.  Der  Esel  Nacht  wird,  wenn  er  den  Thau  der  Dämmerung 


*  Tarn  ühathar  nftubhir  fttmanvatibhir  aotarikshapradbhir  apodakib- 
hi^^5  atr.  3.  —  Vgl.  str.  4.  5. 

*  Als  Grund  für  die  dem  Esel  im  Himmel  erwiesene  Ehre  wird  auch 
folgender  andere  angegeben:  Der  Esel  und  Priapus  streiten  mit  einander, 
wer  dem  andern  überlegen  ist;  Priap  schlägt  den  £sel  und  Dionysus  ver- 
setzt den  Besiegten  aus  Mitleid  unter  die  Sterne. 

'  Laus  Attini. 


'     307 

trinkt;  jeden  Tag  wieder  jung  und  schön.  Aus  diesem  gründe 
wird;  um  es  zu  wiederholen,  diese  Jugend  als  eine  besondere 
Eigenschaft  des  Esels  gepriesen;  aus  diesdbi  Grunde  schreiben 
die  Römer  der  Eselsmilch  eine  bedeutende  kosmetische  Wirkung  zu.  ^ 

Der  mythische  Esel  scheint  jeden  Tag  zu  sterben,  sofern  er 
jeden  Tag  von  Neuem  geboren  und  wieder  jung  wird,  daher  das 
griechische  Sprichwort  nicht  von  dem  Tode  des  Elsels  im  Singular, 
sondern  von  den  Toden  spricht  (jl'Ovov  ^txvdrovgf^. 

Das  italienibche  Sprichwort  von  dem  Esel,  welcher  Wein 
trägt  und  Wasser  trinkt,  spielt  wahrscheinlich  auf  den  Esel  an, 
welcher  das  Wasser  der  Jugend  trägt  und  dann,  als  er  durstig 
ist,  aus  der  Quelle  trinkt  in  der  Prometheussage.  Der  Wein  des 
griechischen  und  römischen  Mythus  entspricht  dem  berauschenden 
Trank  oder  Soma,  an  welchem  sich  Indra  im  Rigveda  so  er- 
getzt.    Der  Esel  trägt  den  trunkenen  Silen  auf  seinem  Rtlcken. 

Die  Sonne,  welche  in  der  Wolke  mit  einer  Eselshaut  bedeckt 
ist,  trägt  den  Regen,  woher  das  griechische  Sprichwort:  „Der 
Esel  wird  beregnet"  C'Ovog  verai),  und  der  Volksglaube,  dass,  wenn 
sich  die  Ohren  des  Esels  oder  eines  Satyrn  (d.  h.  des  Esels  selbst) 
bewegen,  das  ein  Anzeichen  von  Regenwetter  (oder  Thau)  ist 
Wenn  die  Sonne  aus  den  Schatten  der  Nacht  heraustritt,  so  trinkt 
sie  die  Milch  oder  die  weisse  Feuchtigkeit  des  frühen  Morgen- 
himmels, dieselbe  schaumige  weisse  Feuchtigkeit,  welche  die  Ge- 
burt der  Aphrodite  verursachte,  dasselbe  Nass,  aus  welchem  bei 
-der  Liebe  des  Dionysos  (oder  des  Pan,  eines  Satyr  oder  des  Esels 
selbst)  und  der  Aphrodite  der  Satyr  gezeugt  wurde  —  Priapus, 
dessen  phallische  Liebe  durch  den  Esel  entdeckt  wird.  Der  Sa- 
tyr dient  aLs  ein  Bindeglied  zwischen  dem  Mythus  von  dem  Esel 
und  dem  von  dem  Bock.  Auf  Grund  dessen  (d.  h.  auf  Grund 
der  nahen  Verwandtschaft  zwischen  dem  mythischen  Esel  und 
dem  mythischen  Bock)  haben  zwei  alte  griechische  und  lateinische 
Sprichwörter  —   nämlich:  sich  um   den  Schatten   eines   Esels 


'  „Conferre  aliqaid  et  candori  in  mulierum  cute  existimatur.  Poppaea 
certe  Domitii  Neronie  conjax  quingentas  socum  per  omnia  trahens  faetas 
balnearum  etiam  solio  totum  corpus  illo  lacte  macerabat,  extendi  quoque 
cutem  credens;*^  Aldrov.  Auf  diese  Gewohnheit  spielt  Juvenal  in  der  6. 
Satire  an: 

„Atque  illo  lacte  fovetur 
Propter  quod  secum  comites  educit  aaellas 
Exul  hyperboreum  ai  dimittetur  ad  axim." 

20* 


308 

streiten  („tzsqI  ovov  OKiäg'^  und :  sich  ^^de  lana  c  a  p  r  i  n  a''  streiten 
—  dieselbe  Bedeutang:  sich  um  eine  Bagatelle  streiten  (welche 
jedoch  im  Mythus  ^    wo  das  Fell  der  Ziege  oder  des  Esels  sich 
zuweilen  in  ein  goldenes  Fliess  verwandelt;  keine  Kleinigkeit  ist)^ 
was  um  so  wahrscheinlicher  ist,  als  die  Griechen  uns  noch  ein 
anderes  Sprichwort  überliefert  haben,  in  welchem  der  Mann,  der 
zu  ernten  erwartet ^  wo  er  nicht  gesät  hat;  ausgelacht  wird  als 
einer,   der  beim  Esel  nach  Wolle  sucht  {ovov  Ttoxovg  [s.  nöxag] 
^fj^eZg)  oder  der  den  Esel  scheert  („tov  ovov  Tceigscg^^).    Wir  sahen 
in  dem  Mythus  von  Midas  den  König,  dessen  Ohren   beim  Käm- 
men seine  Eselsnatur  verrathen.    Das  piemontesische  Mährchen 
von  dem  Mädchen,   auf  dessen  Stirn  ein  Horn  oder  ein  Esels- 
schwanz wächst,  weil  es  die  gute  Fee  schlecht  gekämmt  hat,  steht 
mit  dieser  Erzählung  von  dem  Kämmen  des  langobrigen  Midas 
in  Verbindung.    Der  gekämmte  Esel  und   der  geschorene   Esel 
entsprechen  einander;   der  gekämmte  Esel    hat   goldene  Ohren, 
ebenso  wie  im  Mährchen  Gold  und  Edelsteine  von   dem  Kopfe 
der  guten  Fee  fallen,  welche  von  dem  guten  Mädchen  gekämmt 
wird.  Auf  diesen  mythischen  Glauben  lässt  sich  meines  Erachtens 
der  Ursprung  des   mittelalterlichen   Brauchs    in   der    rönuschen 
Kirche  zurückführen,  welcher  noch  zur  Zeit  Gregor  des  VII.  be- 
stand und  nach  welchem  bei  öffentlichen  Ovationen  für  den  Papst 
ein  Esel,  der  Geld  auf  dem  Kopfe  trug,  vor  ihn  gebracht  wurde.  ^ 
Sein  Schatten  verräth    den   Esel,^    nicht  minder  als   seine 
Ohren,  seine  Nase  und  sein  Schreien.    Der  Schatten  des  Esels 
und  seine  Nase  finden  sich  mit  einander  verbunden  in  der  Er- 
zählung von   dem   goldenen  Esel    bei  Apuleius,  welche,   nach- 
dem berichtet  ist,  wie  der  Esel  seinen  Kopf  zum  Fenster  hinaus- 
steckt und  dadurch  seinen  Herrn,  den  Obsthändler  oder  Gärtner 
(den  Freund  der  Wohlgerüche,  „gaudharva",  asinus  in  unguento, 
ovog  €v  ftvQqj)  verräth,  folgenderroassen  schliesst:  „Als  der  unglück- 
liche Gärtner  wiedergefunden  und  vor  die  Behörde  gestellt  ist, 
um  die  Geldstrafe  zu  bezahlen,  flihren  sie  ihn  in  ein  öffentliches 
Gefängniss  und  hören  nicht  auf,  sich,  wie  der  Esel  Lucius  sagt. 


*  y,Finitb  laudibus  surgit  quidam  archipresbiter,  retro  se  ascendit  asi- 
num  praeparatum  a  curia;  quidam  cnbicularius  tenet  in  capite  asini  baci- 
lem  cum  XX  solidis  deuarionim^^  etc.  Du  Gange,  gloss.  M.  et  I.  L.  s.  v. 
Cornomannia.  —  Wir  finden  auch  bei  Du  Gange,  dass  ein  Soldat  im 
Mittelalter  „caput  asini  pro  magnitudine  capitis  et  congerie  capillorum^^ 
genannt  wurde. 

*  Pentamerone  III,  ö  heisst  die  Nacht  „lasino  de  Tombre**. 


i 


309 

„über  mein  Gesicht  lustig  zn  machen",  Woher  auch  das  Volks- 
fprich^^oit  vom  Gesicht  und  Schatten  des  Esels  („de  prospectu  et 
i  ml  ra  asini")  kam".  Der  Esel,  welcher  seinen  Herrn,  den  Obst- 
händler oder  Gärtner,  durch  sein  Gesicht  verräth,  ist  eine  Abart 
des  Esels,  welcher  im  Walde  mit  der  Löwenhaut  bekleidet  ^  (wie 
Herakles,  der  in  einer  Löwenhaut  in  die  Hölle  geht),  sich  durch 
sein  Schreien  verräth,  und  des  Esels,  welcher  durch  sein  Schreien 
den  Priapus  entdeckt,  Priapus  den  Gärtner,  welcher  sich  in 
Gärten  (der vulva)  ergetzt,  gleich  dem  Ogre*  desPentamerone, 
der  in  seinem  Garten  ein  schönes  Mädchen  vorfindet. 

Der  Esel  kann  weder  seine  Stimme  noch  seinen  flatus  unter- 
drücken; wir  sahen  etwas  Aehnliches  schon  in  der  Erzählung 
von  Midas,  wo  der,  der  den  Esel  kämmt,  fühlt,  dass  er  platzen 
muss,  wenn  er  sich  nicht  des  Geheimnisses  von  dem  Esel  ent- 
ledigen darf.  Diogenes  Laertius  erzählt,  dass  als  die  Felder  von 
Agrigent  von  bösen  Winden  verwüstet  wurden,  welche  'die  Aehren 
vernichteten,  der  Philosoph  Empedocles  Eselsfelle  nehmen,  Säcke 
aus  ihnen  machen  und  diese  auf  die  Gipfel  der  Hügel  und  Berge 
tragen  Hess,  um  die  Winde  zu  verjagen.  Aelian,  der  ein  Geräusch 
mit  einem  andern  verwechselt ,  räth ,  dem  Esel  'einen  Stein  an 
den  Schwanz  zu  befestigen,  wenn  man  ihn  vom  Schreien  zurück- 
halten wolle.  Diese  alte  griechische  Fabel  ist  bis  heutigen  Tages 
in   Italien  sehr  volksthümlich   und  der  Erzähler  pflegt  sie  mit 


'  Pen  tarn.  II,  1  haben  wir  eine  Variation  der  andern  äsopischen 
Fabel  von  dem  Löwen,  der  sich  vor  dem  Esel  fürchtet.  Die  alte  Hexe 
sieht,  um  sich  von  dem  Löwen  zu  befreien,  den  Petrosineüa  hat  entstehen 
lassen,  einem  Esel  das  Fell  ab  und  macht  es  sich  um;  der  Löwe,  dereinen 
wirklichen  Esel  2u  sehen  glaubt,  rennt  davon.  —  In  dem  dreiaehnten  der 
sieiüschen  Mährchen,  welche  von  Frau  Laura  Gonzcnbach  gesammelt  sind 
(erschienen  in  Leipzig  bei  Brockbaus),  streiten  der  Esel  und  der  Löwe  um 
die  Beute;  der  junge  Held  theilt  sie,  ind»m  er  dem  Esel  das  Heu  giebt, 
welches  der  Löwe  im  Munde  hat  und  dem  Löwen  die  Knochen,  die  der 
Esel  im  Munde  hat.  Doch  stellt  hier  wahrscheinlich  der  Löwe  den  Hund 
dar,  nach  dem  griechischen  Sprichwort ;  „Äwl  8i8(»g  va  axv^a,  ortp  ra  oa%ea^^^ 
um  etwas  auf  verkehrte  Weise  Gethanes  zu  bezeichnen. 

'  Ebenfalls  im  Pentamerone  füttert  auf  der  Insel  der  Ogren  eine 
alte  Ogrin  eine  Anzahl  Esel,  welche  nachher  an  das  Ufer  eines  Flusses 
springen  und  die  Schwäne  stossen  und  schlagen;  hier  ist  der  Esel  dämo- 
nisch, wie  im  Rämäyana;  die  Schwäne  sind,  wie  wir  sehen  werden,  eine 
Erscheinungsform  der  glänzenden  A^vins.  —  In  der  obscönen  Literatur 
sind  die  mental  a  als  Gärtner  und  die  vulva  als  Garten  zwei  häufig  vor« 
kommende  Bilder;  vgl.  unter  Anderm  das  italienische  Gedicht,  La  Menta« 


810 

einem  Anstrich  von  Wirklichkeit  aufzuputzen,    als   ob  sie  erst 
gestern  und  unter  seinen  Bekannten  passirt  wäre. 

In  den  italienischen  Mährchen  *  wächst,  wenn  der  Esel  auf 
dem  Berge  schreit,  ein  Schwanz  auf  der  Stirn  der  hässlichen 
Tochter  der  Stiefmutter;  der  dritte  Hahnenschrei  ist  das  Zeichen 
zum  Tode  des  Ungeheuers ;  der  dritte  Schrei  oder  flatus  des  Esels 
kündigt  den  Tod  des  Narren  an.  Mit  Ende  der  Nacht  ver- 
schwindet der  Esel  und  der  Narr  verschwindet  resp.  stirbt  eben- 
falls. Das  Schreien  des  Esels  kann  nicht  bis  zum  Himmel  auf- 
steigen; nachdem  der  Esel  geschrieen,  nachdem  die  Wolke  ge- 
donnert hat,  kommt  der  Esel  auf  die  Erde  nieder,  löst  sich  in 
Regen  auf,  zerstreut  sich  und  stirbt;  der  dunkle  Esel  kann  nicht 
in  dem  glänzenden  Himmel  bleiben,  er  kann  nur  den  wolkigen, 
feuchten  oder  düsteren  Himmel  der  Hölle  bewohnen.  Die  Art  und 
Weise,  wie  der  Narr  des  Mährchens  dem  Tode  auszuweichen 
versucht,  gleicht  der,  auf  welche  man  nach  Aelian  den  Esel  vom 
Schreien  zurückhielt  In  einem  Mährchen  aus  Armagnac*  rennt 
Joan  lou  P6c  hinter  einem  Manne  her,  den  er  für  weise  hält  und 
fragt  ihn,  wann  er  sterben  werde;  der  Mann  antwortet:  „Joan 
lou  P6c,  mouriras  au  troisifemo  pet  de  toun  ase."  Der  Esel  thut 
es  zweimal;  der  Narr  versucht  das  dritte  Mal  zu  verhindern: 
„Cop  sec  s'en  angonc  cerca  un  pau  (einen  Pfahl)  bien  pounchut 
et  l'enfounc^c  das  un  märtet  dens  lou  cu  de  Tase.  Mes  Tase 
s'enfiec  tant,  e  hasconc  tant  gran  eflbrt,  que  lou  pau  sourtisconc 
coumo  no  balo  e  tufec  lou  praube  Joan  lou  P6c." 

Bei  Hero  dot  werden  die  Scythen  geschlagen,  als  die  Esel 
schreien  und  die  Hunde  bellen  zwischen  den  Zelten  des  Darius. 
Das  Schreien  des  Esels,  der  Donner  der  Wolke,  ist  ein  Orakel; 
der  Esel,  der  schreit,  ist  ein  Richter  und  ein  Prophet    In  der 


'  Vgl.  die  erste  der  Novelline  di  San  Stefano  di  Caicinaia, 
in  welcher  wir  auch  den  für  dumm  gehaltenen  dritten  Bmder  finden,  des- 
sen £8el  Gold  fallen  lässt;  den  närrischen  Pimpi,  der  seinen  Esel  beim 
Holzhauen  todtschlägt;  den  Sohn  des  armen  Mannes,  welcher  sich  damit 
belustigt,  den  Esel,  an  einen  Riemen  gebunden,  vor  sich  her  trotten  und 
ihn  dann  wieder  zurückkommen  zu  lassen ;  den  Bauer,  welcher  den  in  den 
Morast  gefallenen  Esel  herauszieht  und  welcher  dann  die  Tochter  des 
Königs  von  Russland  (die  winterliche,  die  düstere,  die  nächtliche)  heirathet, 
die  nie  gelacht  hat  und  die  er  zum  Lachen  bringt;  und  den  E^el,  welcher 
stirbt,  nachdem  er  ein  vergiftetes  Brod  gegessen. 

'Contes  et  Proverbes  populaires  recueillis  en  Arma- 
gnac,  par  J.  F.  Blad^,  Paris,  Franck. 


>'     or  THE 

UNIVERSITY 

of 

Hölle  ist  Alles  bekannt ;  der  Teufel  kennt  jede  List,  jede  Art  von 
Bosheit,  jedes  Geheimniss ;  der  Esel  in  der  Hölle  nimmt  an  seiner 
Kenntniss  Theil.  Der  Esel  Nicon  sagt  bei  Plutarch  (vita  An- 
tonii)  dem  Augustus  seinen  Sieg  in  der  Schlacht  bei  Actium  voraus ; 
dagegen  erscheint  in  der  Biographie  Alexanders  von  demselben 
Schriftsteller  ein  Esel,  welcher  mit  einem  Tritt  einen  den  Mace- 
doniem  gehörigen  grossen  Löwen  tödtet,  dem  grossen  Eroberer 
im  Lichte  einer  schlechten  Vorbedeutung.  Die  untergehende 
Abendsonne,  der  alte  Löwe,  wird  am  Abend  von  dem  Esel  Nacht 
getödtet;  am  Morgen  dagegen  verkündet  der  Esel  Nacht  dem 
Sonnenhelden,  welcher  wieder  glänzend  und  weise  wird,  sein 
Glück.  Der  Esel  kann  alle  Dinge  vorhersagen,  weil  er  Alles 
weiss;  er  weiss  Alles,  weil  er  Alles  hört  und  er  hört  Alles,  weil 
er  so  ausserordentlich  lange  Ohren  hat;  der  Esel  des  Apuleius 
sagt  von  sich  selbst:  „Recreabar  quod  auribus  praeditus  cuncta 
longule  etiam  dissita  sentiebam/'  Und  dieser  Esel,  welcher  aus 
der  Entfernung  hört,  erinnert  uns  wieder  an  den  dritten  Bruder, 
der  bald  ein  Narr  ist  und  bald  nur  für  einen  solchen  gehalten 
wird;  an  den  andalusischen  Oidin-Oidon,  hijo  del  buen  oidor 
(einen  Verwandten  des  schon  erwähnten  vedischen  Indra  ä^rut- 
karna),  des  zweiten  cuento  Caballeros, '  welcher  Alles  hört,  was 
in  den  tiefsten  Tiefen  der  HöHe  geschieht,  wo  Lucifer  sitzt,  ge- 
hörnt und  mit  langen  Ohren.  ^  Der  Held ,  welcher  mit  Lucifer 
kämpft,  denkt  nur  daran,  ihm  die  Ohren  abzuschneiden;  der 
Esel  ohne  Ohren  ist  nicht  länger  ein  Esel;  die  Ohren  des  mythi- 
schen Esels  sind  seine  Lebensorgane,  sein  Charakteristikum.  Statt 
der  Ohren  setze  dem  mythischen  Esel  Homer  auf  und  wir  haben 
den  mythischen  Bock;  nimm  die  Homer  fort  und  —  wir  haben 
bald  das  verachtete  Schaf,  bald  das  Schwein  des  Mythus:  darauf 
wollen  wir  in  den  beiden  folgenden  Kapiteln  näher  eingehen. 


'  Cuentos  y  Poesias  Populäres  AndaluceB,  coUecionados  par 
Feman  Caballero,  Leipiig,  Brockhaus  1866. 

*  f,Wald  hat  Ohren,  Feld  hat  Gesicht'^  sagt  ein  deutsches  Sprichwort 
(▼gl.  oben  p.  dOl  Anm.  1);  die  Zweige  der  Bäume  werden  mit  Ohren  und 
mit  Hörnern  verglichen.  Der  Held,  der  sich  im  Walde  verliert,  der  Held, 
der  in  die  Hölle  hinabsteigt,  die  Sonne,  welche  in  die  Nacht  sinkt  — 
Alles  dasselbe!  Man  kann  wohl  über  die  Mythologen  witzeln,  man  kann 
aber  keinesfalls  die  Richtigkeit  dieser  Thatsache  leugnen,  an  welche  sich 
eine  Menge  Mythen  anschliesst. 


312 


KAPITEL  IV. 
Bas  Beliafy  der  Widder  und  die  Ziege. 

Wenn  die  Jnngfrau  Anrora  am  Morgen  ihre  glänzende  Herde 
aus  dem  Stall  führt;  so  finden  sich  unter  derselben  weisse  Läm- 
mer;  weisse  Böekchen  und  glänzende  Schafe;  am  Abend  führt 
dieselbe  Aurora  die  Lämmer,  Böckchen  und  Schafe  zur  Httrde 
zurück.  Bei  der  Morgendämmerung  ist  diese  ganze  Herde  weiss^ 
nach  und  nach  werden  ihre  Fliesse  golden:  der  weisse,  dann  der 
goldene  Himmel  des  Ostens  (resp.  des  Westens)  bildet  diese  weisse 
und  goldene  Herde;  die  Sonnenstrahlen  sind  die  Fliesse.  Darum 
ist  die  Sonne,  welche  vor  dieser  Herde  herschreitet,  selbst  bald 
ihr  junger  Schäfer-König  und  bald  das  Lamm ,  der  Widder  oder 
der  Bock.  Wenn  die  Sonne  in  das  Reich  der  Nacht  eintritt,  geht 
der  Bock  oder  das  Lamm  zur  Httrde  zurttck  und  wird  dunkel- 
farbig; die  von  der  Nacht  oder  der  Wolke  verschleierte  Sonne 
ist  ein  dunkelfarbiger  Widder,  Bock  oder  Ziege.  In  der  Nacht, 
sagt  das  Sprichwort,  sind  alle  Ktlhe  schwarz;  dasselbe  lässt  sich 
von  den  Ziegen  sagen,  ausgenommen  den  Fall,  dass  die  Ziege, 
glänzend  und  allsehend,  aus  dem  nächtlichen  Dunkel  in  der 
Gestalt  des  Mondes  hervortritt.  Wir  müssen  also  das  Schaf  oder 
die  Ziege  unter  einem  dreifachen  Gesichtspunkt  betrachten:  am 
wichtigsten  und  interessantesten  ist  die  Erscheinung  der  Sonne, 
welche  von  der  Dunkelheit  oder  der  Wolke  verschleiert  wird;  die 
Wolke  hat  dabei  oft  eine  dämonische  Gestalt,  wie  die  des  Esels 
oder  des  Helden  in  der  Hölle;  zweitens  ist  auszugehen  von  dem 
weissgrauen,  später  goldenen  Morgenhimmel,  resp.  dem  goldenen 
und  dann  erst  weissgrauen  Abendhimmel,  welcher,  als  glänzend, 
deshalb  gewöhnlich  eine  göttliche  Erscheinungsform  des  Bockes 
ist;  an  dritter  Stelle  kommt  der  Mond  in  Betracht. 

Die  reichsten  Mythen  beziehen  sich  auf  die  in  der  Wolke 
oder  den  Schatten  der  Nacht  eingeschlossene  Sonne,  resp.  auf  die 
Wolke  oder  Finstemiss  der  Nacht,  welche  sich  um  die  Sonne 
legt.  Die  bewegliche  Dunkelheit  und  die  ziehende  Wolke  auf 
der  einen,  die  feuchte  Nacht  und  die  Regenwolke  auf  der  andern 
Seite  kamen  leicht  dazu,  als  ein  Bock  oder  ein  Widder  darge- 
stellt zu  werden.    Im  Indischen,  und  sogar  schon  in  der  Sprache 


313 

der  Veden,  bedeutet  aga,  das  eigentlich  so  viel  wie:  stossend, 
ziehend^  bewegend  (agens)  ist,  dann  auch  Bock;  der  Ziegenbock 
stösst  mit  den  Hörnern;  die  Sonne  in  der  Wolke  stösst  mit  ihren 
Strahlen,  bis  sie  den  Stall  öfihet  nnd  ihre  Homer  herauskommen.  ^ 
Der  Widder  heisst  mesha  oder  meha,  d.  h.  der  Ausspritzer» 
mingens  (gleich  dem  Esel  ciramehin),  was  dem  megha,  der 
nubes  mingens,  entspricht.  Ferner:  wie  wir  im  Griechischen 
von  al'l,*  Ziege,  a iy/g,  Ziegenfell  (Aegis)  haben,  so  wird  im  Sans- 
krit von  a  g  a ,  Ziege,  a  ^  i  n  a,  Ziegenfell,  gebildet,  und  von  m  e  s  h  a , 
Widder,  mesha  „das  Fliess  des  Schafes,  und  was  daraus  gemacht 
ist;''  das  Petersburger  Wörterbuch  vergleicht  damit  russisch 
mieh  (litthauisch  maiszas),  pellis,  Saccus. 

Sehen  wir  nun  zunächst,  wie  sich  diese  einfachen  Bilder  in 
dem  indischen  Mythus  entwickelten. 

Indra,  der  Begen-  und  Donnergott,  wird  in  der  ersten  Strophe 
eines  vedischen  Hynmus  als  ein  sehr  gepriesener,  heldischer  Wid- 
der dargestellt;*  in  der  zweiten  Strophe  als  der  eine,  welcher 
ambrosischen  Honig  ausströmen  lässt  (madacyutam) ;  in  der 
dritten  Strophe  als  den  Stall  oder  die  Hflrde  der  Kühe  den  Aflgi- 


^  Das  Petersburger  Wörterbuch  siebt  in  dem  Bock  a^a  den  „bebenden 
(agilis)".  [Vgl.  Pictet,  les  origines  I.  p.  865  sq.  „a^,  Tanimal  agile.^*]  Zur 
Erl&uterung  derselben  Analogien-  im  griecbiscben  Mytbns  wird  es  dienUch 
sein,  die  Worte  Br^als  zu  wiederholen:  „Le  verbe  grec  ataaw,  qui  sig- 
nifie  s'^ancer,  a  fait  d'une  part  le  substantif  aXl^  ch^vre  (k  cause  de  la 
nature  bondissante  de  l'animal)  6t  de  Tautre  les  mots  xarät^y  ycaraiyii^ 
temp^te  (wie  mir  scheint,  das  was  schüttelt,  was  sich  bewegen  oder  zit- 
tern macht,  sofern  ich  dabei  bleibe,  dass  a^a  nicht  sowohl  den  Beweg- 
lichen, den  der  rennt,  bedeutet,  als  vielmehr  den,  der  stosst,  schiebt,  in 
Bewegung  versetzt).  De  Ik  une  nouvelle  s^rie  d'images  et  de  fables  oü  la 
ch^vre  joue  le  role  principal.  L*^gide  avant  d'etre  un  bouclier  fait  en 
peau  de  ch^vre.  ^tait  le  ciel  au  moment  de  Torage;  Jupiter  aigiochos  ^tait 
le  dieu  qui  envoie  la  temp6te ;  plus  tard  on  traduisit  le  dien  qui  porte  ri- 
gide. Homere  semble  se  souvenir  de  la  premiere  signification,  quand  il 
nous  montre  au  seul  mouvement  du  bouclier  le  tonnerre  qui  ^lale,  Tlda 
qui  se  couvre  de  nuages  et  les  hommes  frappi^  de  terreur.'*  Baiston  ver- 
gleicht treffend  das  russische  ablakagragonniki  (Wolkenzwinger)  mit 
dem  Zeus  vefsXriYeQi'^fjs.  Rigv.  I,  10,  8  wird  in  ähnlicher  Weise  zu 
Indra  gesagt:  geshab  svarvatir  apab  sam  gä  asmabhyaih  dhünuhi. 

*  Mögen  die  Finnologen  beobachten,  ob  es  nicht  möglich,  ihr  Aija, 
einen  Namen  Ukkos,  ihres  Indra,  der  hattarojen  hallitsia,  der  Hen*  der 
Wolkenlämmer  heisst,  hieherzuziehen.  —  Vgl.  Gastrin,  Kleinere 
Schriften,  Petersb.  1862  p.  230. 

*  Mesham  puruhütam;  Rigv.  I,  51,  1.  —  Tad  indro  artham  detati 
yüthena  vpshnir  f^ti;  9^g^-  ^y  ^^t  2* 


314 

rasen  }^ffnend ;  ^  in  der  vierten  Strophe  als  die  Schlange  tödtend, 
welche  bedeckt  oder  zarückhält;  in  der  fUnften  Strophe  als  die 
Zauberer  mit  Zauberei  austreibend  und  die  starken  Städte  des 
Ungeheuers  Pipru  brechend;*  und  in  der  sechsten  Strophe  als 
unter  seinem  Fusse  das  riesengleiche  Ungeheuer  Arbuda  *  oder 
Schlangenungeheuer  zermalmend.  So  weit  haben  wir  zwei  Ge- 
staltangen  des  Mythus:  den  Widder^  welcher  ambrosischen  Honig 
ausströmen  lässt,  und  den  Widder,  welcher  das  Thor  öflhet  und 
mit  seinem  Fusse  zermalmt.  In  einem  andern  Hymnus  werden 
die  Agvins  mit  zwei  Böcken  (ageva),  mit  zwei  Hörnern  (^riflgeva) 
und  mit  zwei  schnellen  Hunden  (tarobhih)  verglichen.  *  Ein  drit- 
ter Hymnus  berichtet  uns,  dass  Indra  vermittelst  eines  Widders 
ein  Löwenungeheuer  tödtete.^ 

Hier  haben  wir  augenfällig  einen  heroischen  Bock  oder 
Widder. 

Vergleichen  wir  hiemit  andere  Sagen.  Im  EhordaAvesta^ 
finden  wir  Veretraghna  (die  zendische  Form  für  Indra  als  Vritra- 
han)  ,,mit  dem  Körper  eines  Bockes,  eines  streitbaren,  schönen, 
mit  scharfen  Klauen^^ 

In  dem  russischen  Mährchen,  welches  Afanassieff  im  vier- 
ten Buche  als  einundzwanzigstes  giebt,  tödtet  das  Lamm,  der  Ge- 
selle des  Stieres  im  Walde,  den  Wolf,  indem  es  gegen  seine 
Flanken  anrennt,  während  der  Stier  das  wilde  Thier  mit  seinen 
Hörnern  verwundet.    In  einer  Variation  dieses  Mährchens  ^  ist 


*  Tram  gotram  angirobhyo  *VTinor;  ISigv«  I,  51,  3. 

*  Tvam  mftyäbhir  apa  mäjino  'dhamalti  —  tvam  pipror  nrimanah  prft- 
ru^h  pural^^;  ?igv«  I»  51»  5- 

'  Mahantam  6id  arbudam  ni  kramil^  pad&;  I^igT*  I,  51,  6.  —  Arbada 
ist  im  Sanskrit  auch  der  Eigenname  eines  Berges  und  einer  Holle;  der 
Wolkenberg  und  die  Hölle  in  dem  wolkigen  und  nächtlichen  Himmel  sind 
schon  erwähnt  worden. 

*  Tarobhit;  Rigv.  U,  39,  3.  4. 

»  SiÄhyam  dit  petvena  gaghäna;  Rigv.  VU,  18,  17.  —  Bei  Firdusi 
finden  wir  in  den  Abenteuern  Isfendiara  zwei  gehörnte  Wölfe,  welche 
Löwen  fangen;  diese  scheinen  dämonische  Gestaltungen  des  Widders 
Indras  zu  sein,  welcher  den  Löwen  tödtet. 

*  XXX,  9.  ->  Hier  sind  die  Homer  die  Sonnenstrahlen  oder  die  Don- 
nerkeile, welche  wiederkehren  in  dem  italienbchen  Aberglauben  tou  der 
jettatura;  die  Homer  des  Bockes,  heisst  es,  und  die  rothen  Korallen- 
hömer  Tcrtreiben  den  Teufel  und  seinen  Zaubor. 

^  III,  18.  —  In  dem  Mährchen  I,  20  wird  erzählt,  dass  das  Lamm 
mit  dem  Bock  in  den  Wald  floh,  weil  ihm  sein  Herr  auf  einer  Seite  das 


315 

die  Katze  die  Bnndesgenossin  des  Lammes  gegen  den  Wolf;  das 
Lamm  stösst  heftig  auf  den  Wolf  los,  während  die  Katze  ihn 
kratzt,  bis  Blut  fliesst.  In  noch  einer  andern  Version  erscheint 
auch  der  Bock  neben  dem  Lamm;  die  Katze  flicht  Birkenrinde 
um  die  Homer  des  Bockes  und  befiehlt  dem  Lamm,  sich  daran  zu 
reiben,  um  Feuer  zu  entzünden;  Funken  sprühen,  die  Katze  holt 
Heu  und  die  drei  Gesellen  wärmen  sich.  Da  kommen  Wölfe  her- 
bei; die  Katze  aber  jagt  sie  davon,  indem  sie  ihnen  den  Bock 
als  Vogelscheuche  hinstellt  und  sie  ferner  durch  bedeutungsvolle 
Andeutungen  von  der  Kraft,  die  in  dem  Barte  des  Bockes  liege, 
in  Schrecken  setzt.  Schliesslich  haben  wir  in  den  russischen 
Mährchen  zwei  werkwürdige  Variationen  der  Fabel  von  der  Ziege, 
den  Zicklein  und  dem  Wolf.  *  Die  Ziege  ist  nahe  daran,  Junge 
zu  werfen  unter  einem  Apfelbaum.  (Wir  sahen  in  Kapitel  I  den 
Apfelbaum,  dessen  Früchte  dem,  der  sie  geniesst,  Homer  wach- 
sen lassen.  Es  ist  bekannt,  dass  im  Griechischen  fi^lov  Ziege 
und  Apfel  bedeutet,  wie  dem  indischen  Masculinum  petvas, 
Widder,  im  Neutram  petvam,  Ambrosia,  entspricht.  Der  my- 
thische Apfelbaum  ist  ambrosisch,  gleich  dem  Füllhorn  der  Ziege 
der  Mythologie ;  und  ich  glaube  auch  hier  auf  slavischem  Gebiete 
selbst  eine  Analogie  zwischen  den  rassischen  Wörtern  öblaka, 
Wolke,  Plur.  ablakd,  die  Wolken,  und  iablony,  Apfelbaum, 
Plur.  j  ä  b  1 0  g  n  a ,  die  Apfelbäume,  j  a  b  1  o  k ,  der  Apfel,  finden  zu 
dürfen.)  Der  Apfelbaum  räth  der  Ziege,  sich  an  einen  andern 
Platz  zu  begeben,  da  die  Aepfel  leicht  auf  ihre  neugeborenen 
Zicklein  fallen  und  sie  tödten  könnten.  Die  Ziege  geht  darauf 
unter  einen  gleich  schattigen  Wallnussbaum,  um  ihre  Jungen  zu 
werfen;  doch  auch  der  Wallnussbaum  räth  ihr  fortzugehen,  da 
die  Nüsse  leicht  fallen  und  ihren  Kleinen  ernstlich  Schaden  thun 
könnten ;  ^   nun  geht  die  Ziege  zu   einem  verlassenen  Zelte  im 


Fell  geDommen  hatte  (d.  h.  die  Wolle).  Die  Lämmer  erscheinen  am  Mor- 
gen  und  am  Abend  mit  glänzender  Wolle;  während  der  Nacht  werden  sie 
geschoren. 

«  Afan.  II,  4.    IV,  17. 

*  Der  Wallnussbaum  findet  sich  in  Verbindung  mit  der  Ziege  auch 
bei  Afanassieff  II,  1  in  der  Fabel  von  den  Angeklagten,  welche  die 
Schuld  von  sich  ab  und  auf  Andere  wälzen.  Der  Hahn  und  die  Henne 
sammeln  mit  einander  Nüsse;  der  Hahn  wirft  eine  und  trifft  die  Henne 
ans  Ohr;  die  Henne  weint;  ein  Bojar  fragt  sie  nach  dem  Gründe;  die 
Henne  klagt  den  Hahn  an,  der  Hahn  den  Wallnussbaum,  der  Wallnuss- 
baum die  Ziege,  die  Ziege  den  Schäfer,  der  Schäfer  die  Hausfrau,  die 


316 

Walde  (eine  andere  Erscheinungsform  der  Wolke  der  Nacht).  Als 
die  Jungen  ausgekommen  sind,  macht  sich  die  alte  Ziege  davon, 
um  Futter  zu  holen,  nachdem  sie  den  Kleinen  eingeschärft  hat, 
keine  Seele  in  das  Zelt  zu  lassen  (die  Fabel  ist  im  Westen  sehr 
bekannt,  doch  die  slavischen  Variationen  sind  besonders  interes- 
sant). Der  Wolf  kommt  uiid  sagt  das  Losungswort  wie  die  Ziege, 
um  die  Zicklein  zum  Oeflnen  zu  verleiten;  diese  merken  jedoch 
an  der  rauhen  Stimme,  dass  es  nicht  ihre  Mutter  ist  und  ver- 
weigern den  Einlass.  Der  Wolf  geht  darauf  zum  Grobschmied 
und  lässt  sich  eine  Stimme  machen,  welche  der  der  Ziege  gleicht; 
die  getäuschten  Zicklein  «flfnen  und  der  Wolf  frisst  sie  allesammt 
auf,  ausgenommen  das  kleinste,  welches  sich  unter  dem  Ofen  ver- 
birgt fdas  Lieblingpplätzchen,  an  dem  der  kleine  slavische  Held, 
der  dritte  Bruder,  der  mispgestaltete  Narr,  der  nachher  schön  und 
weise  wird,  gewöhnlich  kauert).  Die  Ziege  kommt  zurück  und 
erfShrt  von  dem  Zicklein,  das  dem  Tode  entronnen,  was  geschehen 
ist.  Sie  sinnt  auf  Rache  und  ladet  ihren  Freund  und  Gevatter 
Fuchs  nebst  dem  Wolf  zum  Mahl  ein ;  der  Wolf  hat  keinen  Arg- 
wohn und  kommt  mit  dem  Fuchs  an.  Nach  der  Mahlzeit  fordert 
die  Ziege,  um  ihre  Gäste  zu  unterhalten,  dieselben  auf,  sich  da- 
mit zu  belustigen,  über  eine  Oeflfiaung,  welche  im  Fussboden  ge- 
macht ist,  zu  springen;  die  Ziege  springt  zuerst,  dann  springt 
der  Fuchs  und  dann  der  Wolf;  letzterer  fällt  aber  hinunter  in  die 
glühende  Asche  und  wird  zu  Tode  gebrannt,  gleich  der  Hexe  in 
einigen  andern  Mährchen,  wie  die  Nacht  von  der  Morgen-Aurora, 


Hausfrau  das  Schwein,  das  Schwein  den  Wolf,  der  Wolf  den  lieben  Gott; 
über  diesen  hinaus  geht  ^s  nicht.  —  In  einem  andern  Scherz  in  Versen, 
der  darauf  berechnet  ist,  das  Gedächtniss  zu  stählen  und  die  Zunge  ge- 
schmeidig zu  machen,  bei  A  fa  n.  IV,  16,  finden  wir  die  Ziege  in  Verbindung 
mit  Haselnüssen.  Der  Ziegenbock  fängt  an  sich  zu  beklagen«  dass  die 
Ziege  mit  den  Haselnüssen  nicht  zurückkommt  (niet  kaszi  s  ariehami); 
der  Bock  schickt  den  Wolf  aus,  um  die  Ziege  zu  holen;  dann  schickt  er 
den  Bären  nach  dem  Wolf,  den  Menschen  nach  dem  Bären,  den  Eichbaum 
nach  dem  Menschen,  die  Axt  nach  dem  Eichbaum,  den  Schleifstein  nach 
der  Axt,  das  Feuer  nach  dem  Schleifstein,  das  Wasser  nach  dem  Feuer, 
die  Windsbraut  nach  dem  Wasser;  darauf  schickt  die  Windsbraut  das 
Wasser,  das  Wasser  das  Feuer,  das  Feuer  brennt  den  Schleifstein,  der 
Schleifstein  schleift;  die  Axt,  die  Axt  Hillt  die  Eiche,  der  Eichbaum,  zu 
einem  Stock  gemacht  (vgl.  Kap.  I  und  H),  schlägt  den  Mann,  der  Mann 
schiesst  auf  den  Bären,  der  Bär  kämpft  mit  den  Wölfen,  die  Wölfe  jagen 
die  Ziege,  und  hier  kommt  die  Ziege  mit  den  Haselnüssen  zurück  (rot 
kasza  s  ariehami). 


317 

der  Winter  von  dem  Frühling  verbrannt  wird;  die  Ziege  singt 
ein  wunderschönes  Te  Deum  (dndesnoi  pamin)  zu  Ehren  des 
Wolfes.  Die  andere  rassische  Version  fügt  einige  neue  und  merk- 
würdige Details  hinzu.  Die  Ziege  geht  Futter  suchen  und  lässt 
die  Zicklein  allein  zu  Haus;  sie  schliessen  die  Thür  hinter  ihr  zu. 
Sie  kommt  zurück  und  sagt :  ,;Oeffnet^  meine  Söbpe,  meine  kleinen 
Väterchen;  eure  Mutter  ist  da;  sie  bringt  etwas  Milch,  ein  halbes 
Gläschen  Milch,  ein  halbes  Horn  frischen  Käse,  ^in  halbes  Hörn- 
chen  helles  Wasser  (das  Füllhorn)."  *  Die  Zicklein  öfinen  sofort. 
Den  zweiten  Tag  geht  die  Ziege  wieder  aus;  der  Wolf,  der  die 
Worte  gehört,  versucht  sie  ebenfalls  den  Zicklein  vorzusingen; 
diese  merken  jedoch ,  dass  es  nicht  die  Stimme  der  Mutter  ist 
und  öfinen  nicht.  Den  nächsten  Tag  ahmt  der  Woli  auch  die 
Stimme  der  Mutter  nach;  die  Zicklein  öffnen  und  alle  werden 
aufgefressen,  ausgenommen  eines,  das  sich  im  Ofen  verbirgt  und 
nachher  der  Mutterziege  das  Vorgefallene  erzählt.  Die  Ziege 
rächt  sich  folgendermassen :  Sie  geht  mit  dem  Wolf  in  den  Wald 
und  kommt  an  einen  Graben,  wo  einige  Arbeiter  Hafergrütze  ge- 
kocht und  das  Feuer  brennen  gelassen  hatten.  Die  Ziege  fordert 
den  Wolf  heraus ,  über  den  Graben  zu  springen ;  der  Wolf  ver- 
sucht es  und  fällt  hinein;  das  Feuer  macbt  seinen  Bauch  platzen; 
aus  demselben  springen  die  Zicklein  heraus  und  laufen  zu  ihrer 
Mutter. 

Ein  anderes  Mährchen  ^  leistet  uns  noch  mehr  Hilfe  fUr  die 
Deutung  des  Mythus;  es  führt  uns  nämlich  darauf,  in  der  Ziege 
und  ihren  Jungen  die  gehörnte  oder  mit  Strahlen  versehene  Sonne 
zu  sehen,  wie  sie  glänzend  aus  der  Wolke  oder  dem  Dunkel  oder 
dem  Ocean  der  Nacht  hervortritt,  und  in  dem  Wolf  oder  dem 
Wolfsfell,  das  aufplatzt  resp.  verbrennt  und  aus  dem  die  Zicklein 
herauskommen,  den  dunklen,  wolkigen,  feuchten  Nachthimmel. 
Statt  des  Wolfs  haben  wir  eine  Hexe,  statt  der  Ziege  eine  Frau 
und   statt  der  Zicklein   den  jungen  Vaniushka  (Häuschen);   die 

'  Ah  vi,  dietuski, 
Moi  batiuski 
Atapritessia 
Atamknitessia; 
Vasha  mat  prishlä 
Maiakä  priuieslä 
Polni  bakä  malakä, 
Polni  ragä  tvaragä 
Polni  kopitzi  vaditsi. 
*  Afau.  VI,  17. 


318 

Hexe  hat  eine  vom  Grobschmied  gefertigte  Stimme;  welche  der 
Stimme  von  Vaniushkas  oder  Thereshichas  Matter  gleicht  und 
zieht  ihn  so  an  sich.  Thereshicha  sagt;  dass  er  ursprünglich  ein 
Baumstumpf  war,  den  seine  kinderlosen  Eltern  im  Walde  aufge- 
lesen, nach  Hause  genommen  und  in  einer  Wiege  gewiegt  hatten; 
bis  er  geboren  wurde.  ^ 

Das  Ungeheuer  Wolf  oder  HexC;  welches  die  Fähigkeit  be- 
sitzt; die  Stimme  der  Ziege  nachzuahmen^  und  eine  besondere 
Vorliebe  für  Schafe  und  Ziegen  hegt  —  und  zwar  eine  so  grosse; 
dass  die  Hexe  Liho  (eigentlich  Uebel)  einige  in  ihrem  Hause  hält 
und  diejenigen;  welche  am  Morgen  herauskommen  (aus  dem 
dunklen  Himmel)  und  welche  am  Abend  zurückkehren  (in  den 
dunklen  Himmel)  als  ihr  besonderes  Eigenthum  betrachtet  wer- 
den *  —  verwandelt  oft  den  Helden  (die  Abendsonne)  in  ein  Böck- 


'  Vgl.  eine  Stelle  in  der  finnischen  Kalevala  (Schiefners  Ueber- 
Setzung  p.  131),  wo  ein  unglückliches  Mädchen  wünscht,  nicht  geboren  zu 
sein  und  folgende  Ausdrücke  gebraucht :  „Hättest  Du  lieber ,  arme  Muttor, 
Hättest  Du,  die  mich  getragen,  Hättest  Du,  die  Milch  gespendet,  Theure, 
die  Du  mich  gesäuget,  Einen  Holzklotz  eingewickelt,  Einen  kleinen  Stein 
gewaschen.  Statt  zu  waschen  Deine  Tochter,  Statt  au  wickeln  Deine  Theure 
Zu  der  Sorgen  grosser  Fülle,  Zu  der  bittern  Herzensstimmungl'*  Wir 
finden  hier  ein  Echo  der  weitverbreiteten  Sitte,  die  Stelle  eines  ver- 
lorenen oder  ersehnten  Rindes  durch  einen  Holzklotz  oder  einen  Stein  zu 
ersetzen;  vgl.  Tylor,  Early  History  of  Mankind,  2.  ed.  p.  HO.  Dar- 
aus lässt  sich  vielleicht  die  indische  Vorstellung  erklären,  nach  welcher 
alle  Kinder  aus  einem  kreisrunden  Kürbiss  kommen  (Rochholz,  Glaube 
und  Brauch  I,  135)  und  das  wallachische  Mährchen  von  Trandiafiru  (Schott, 
Nr.  23),  welcher  am  Tage  ein  Mensch  und  bei  Nacht  ein  Kürbiss  ist. 

'  Bei  A  f  a  n.  U,  32  hat  eine  solche  Stimme  dieselbe  Wirkung  wie  die 
des  Esels:  sie  erschreckjt  alle  andern  Thiere.  Jedoch  hier  ist  nur  von 
einer  Ziege,  welche  geschoren  worden  ist,  die  Kede  —  d.  h.  der  Ziege, 
welche  ihre  Haare  oder  glänzende  Wolle  verloren  hat,  der  donnei*nden 
Ziegenwolke.  —  Narodnija  iusznoruskija  Skazki  (südrussische 
Volksmährchen;  herausgegeben  von  Rudcenko,  Kiew,  1869)  I,  25  er- 
schreckt die  Ziege  mit  ihrer  Stimme  zuerst  den  Fuchs  und  dann  den  Wolf, 
bis  sie  selbst  von  der  Stimme  des  Hahns  erschreckt  wird.  (Die  Morgen- 
sonne, welche  im  Hahn  personificirt  ist,  vernichtet  die  Ziege  Nacht.) 

'  Afan.  m,  15.  —  Sie  schickt  dieselben  auf  die  Weide;  ein  junger 
Grobschmied,  der  in  ihrer  Gewalt  ist,  schlägt  folgenden  Weg  ein,  sich  zu 
befreien:  Er  zieht  seinen  Pelz  verkehrt  an,  stellt  sich  wie  ein  Schaf  und 
lässt  sich  mit  den  andern  Schafen  austreiben,  um  so  der  Hexe  zu  ent- 
wischen: Die  junge  Sonne  tritt  am  Morgen  heraus,  wie  ein  Schäfer- Held 
unter  den  Schafen.  So  befreit  sich  Odysseus  aus  der  Höhle  des  Polyphem 
mit  seinen  Genossen,  indem  er  sich  unter  der  Herde  verbirgt,  die  aus  der- 
selbeu  herauskommt. 


319 

eben  (in  die  Finsterniss  oder  Wolke  der  Nacht).  Natülircb;  da 
das  dunkle  und  wolkige  Ungeheuer  oft  als  ein  Wolf  dargestellt 
wird;  so  ist  leicht  zu  verstehen,  dass  es  wünscht;  Alles  möge  in 
ein  Lamm  oder  Zicklein  verwandelt  werden;  um  dasselbe  ver- 
zehren zu  können.  Doch  das  mythische  Lamm  oder  Zicklein;  der 
junge  Sonnenheld;  entrinnt  gewöhnlich  den  Klauen  des  WolfeS; 
den  Händen  der  Hexe  oder  der  Dunkelheit;  den  WasserU;  öder 
der  Wolke  Nacht 

Ein  vedischer  Hymnus  preist  den  starken  Püshau;  der  einen 
Ziegenbock  zum  Pferde  hat  (oder  der  ein  Ziegen-Pferd  ist)  und 
der  Liebhaber  seiner  Schwester  heisst.  Vielleicht  enthalten  diese 
Worte  den  Keim  des  russischen  Mährchens  von  Klein  HanS;  dem 
Bruder  von  Klein  Helene;  der  durch  Zauberkünste  in  ein  Zick- 
lein verwandelt  wird.  Ich  bemerkte  schon  in  Kapitel  I;  wie  He- 
lene, welche  am  Anfang  der  Erzählung  Zuneigung  Air  ihren  Bru- 
der Hans  zeigt;  ihn  am  Ende  verräth.  Der  vedische  Hymnus 
scheint  die  Vorstellung  zu  enthalten;  dass  der  Bruder  Päshan  des- 
halb in  einen  Ziegenbock  verwandelt  worden  ist  (die  SonnC; 
welche  in  die  Wolke  oder  Dunkelheit  der  Nacht  eingeht),  weil  er 
seine  Schwester  geliebt  hat  In  einem  andern  vedischen  Hym- 
nus haben  wir  die  Schwester  Yam!;  welche  ihren  Bruder  Yama 
verführt  In  europäischen  Feenmährchen  liebt  die  Schwester 
ihren  Bruder,  welcher  durch  die  Zauberkunst  einer  Hexe  bald  in 
ein  Ferkel  bald  in  ein  Böckchen  verwandelt  wird.  Bei  Afa- 
nassieff  IV;  45  wird  Ivanushka  ein  Zicklein,  nachdem  er  aus 
einem  Ziegenhuf  getrunken.  Bei  Af  anassieff  IL  29  wandern 
Ivanushka  und  Klein  Helene,  die  Kinder  eines  Tzaren,  allein  durch 
die  Welt  Ivanushka  will  trinken,  wo  Kühe,  Pferde,  Schafe  und 
Schweine  fressen  und  trinken ;  seine  Schwester  Helene  räth  ihm, 
es  nicht  zu  thun,  wenn  er  nicht  in  ein  Kalb,  ein  Füllen,  ein  Lamm 
oder  ein  Ferkelchen  verwandelt  werden  wolle;  doch  schliesslich 
wird  Hans  vom  Durst  überwältigt,  er  trinkt  gegen  den  Rath  seiner 
Schwester  da,  wo  Ziegen  trinken  und  wird  ein  Zicklein.  Ein 
junger  Tzar  heirathet  die  Schwester  und  erweist  dem  Böckchen 
jegliche  Ehre;  doch  eine  Hexe  wirft  die  junge  Königin  in  das 
Meer  (Phrixos  und  Helle;  in  andern  europäischen  Mährchen  in 
einen  Brunnen)  und  bemächtigt  sich  ihres  Platzes,  indem  sie  das 
Volk  glauben  macht,  dass  sie  Helene  sei,  das  Zicklein  aber  be- 
fiehlt sie  zu  tödten.  Dieses  rennt  an  das  Ufer  und  ruft  seine 
Schwester  um  Hilfe;  welche  aus  der  Tiefe  des  Meeres  antwortet^ 
sie  könne  nichts  thun.    Der  junge  Tzar,  welchem  die  ganze  Ge- 


320 

schichte  gemeldet  wird^  eilt,  Helene  aus  dem  Meere  zu  befreien; 
das  Böckchen  kann  wieder  frei  heromspringen  und  Alles  ist  wie- 
der grün  und  blüht,  wie  es  yorher  welkte;  die  Hexe  aber  wird 
lebendig  verbrannt.  ^ 

In  dem  fünfzigsten  Mährchen  des  sechsten  Baches  bei  Afa- 
nassieff  hat  ein  Kaufmann  drei  Töchter.  Er  baut  ein  neues 
Haus;  seine  drei  Töchter  müssen  der  Reihe  nach  eine  Kacht 
darin  zubringen  und  ihm  erzählen;  wovon  sie  geträumt  haben. 
(Der  Glaube,  dass  der  Mann,  von  welchem  ein  Mädchen  während 
der  Nacht  des  Johannistages,  des  Weihnachtstages  oder  des  Epi- 
phaniastages träumt,  bestimmt  ist,  sie  zu  heirathen,  lebt  noch 
unter  dem  Volke  in  manchen  Theilen  Europas.)  Der  ältesten 
Tochter  träumt,  sie  heirathe  einen  Eaufmannssohn;  der  zweiten 
träumt  von  einem  Edelmann  und  der  dritten  von  einem  Bock. 
Der  Vater  verbietet  der  jüngsten  Tochter,  je  aus  dem  Hause  zu 
gehen;  sie  ist  ungehorsam;  ein  Bock  erscheint  und  trägt  sie  auf 
seinen  Hörnern  davon  an  einen  felsigen  Ort.  Speichel  und 
Schleim  laufen  dem  Bock  aus  Mund  und  Nüstern;  das  gute  Mäd- 
chen empfindet  keinen  Ekel,  sondern  wischt  geduldig  dem  Bock 
den  Mund  ab.  Das  gefällt  dem  Thier,  welches  ihr  sagt,  wenn 
sie  Abscheu  gegen  ihn  verrathen  hätte,  so  würde  sie  dasselbe 
Schicksal  wie  seine  früheren  Weiber  gehabt  haben,  deren  Köpfe 
auf  einen  Pfahl  gesteckt  wären.  Die  Gänse  bringen  dem  Mäd- 
chen Nachricht  von  Vater  und  Schwestern;  sie  erzählen  ihr,  dass 
die  Hochzeit  der  ältesten  Schwester  nahe  bevorstehe;  sie  möchte 
gern  bei  dem  Feste  zugegen  sein  und  erhält  von  dem  Bock  die 
Erlaubniss  zu  gehen;  ausserdem  stellt  ihr  derselbe  drei  raben- 
schwarze Rosse  zur  Verfügung,  welche  in  drei  Sprüngen  am  Be- 
stimmungsorte anlangen  (die  drei  Schritte  Vishnus),  während  er 
selbst  auf  einem  fliegenden  Teppich  sitzt  und  sich  für  das  Hoch- 
zeitsfest in  einen  schönen  jungen  Fremdling  verwandelt.  Das- 
selbe geschieht  bei  der  Hochzeit  der  zweiten  Schwester,  bei  wel- 
cher die  dritte  Schwester  erräth,  dass  dieser  schöne  Jüngling  ihr 
eigener  Gemahl  ist.  Sie  eilt  vor  Scbluss  des  Festes  nach  Hause, 
findet  das  Bocksfell  und  verbrennt  es ;  darauf  behält  ihr  Gemahl 
für  immer  die  Gestalt  eines  schönen  Jünglings,  da  der  Zauber 
gelöst  ist.' 


'  Vgl.  die  eilfte  der  Novelline  di  San  Stefano   di  Calcinaia, 
wo  wir  das  Lamm  statt  des  Böckchens  haben. 

'  Eine  sehr  interessante  Variation  hievon  ist  in  einem  noch  nicht  ver- 


i 


321 

Das  Lamm^  der  Bock  und  das  Schaf  sind  Lieblingsgestalten 
der  Hexe.  In  dem  europäischen  Mährchen  macht  die  Hexe  den 
Prinzen  glauben,  dass  die  schöne  Prinzessin,  seine  junge  Gemahlin, 
während  seiner  Abwesenheit  nicht  wirkliche  Söhne,  sondern  Pup- 
pen zur  Welt  gebracht  hat.  In  dem  siebenten  Mährchen  des 
dritten  Buches  bei  Ä  fan  as  sie  ff  schenkt  die  junge  Königin 
während  der  Abwesenheit  des  Königs  zwei  Söhnen  das  Leben, 
deren  einer  den  Mond  auf  seiner  Stirn,  deren  zweiter  im  Genick 
einen  Stern  hat  (die  Agvins).  Die  böse  Schwester  der  jungen 
Königin  vergräbt  die  Kinder.  Da,  wo  sie  liegen,  spriesst  ein 
goldener  und  ein  silberner  Spross  hervor.    Ein  Schaf  nährt  sich 


öffentlichten  Mährchen  enthalten,  das  ich  von    einer  gewissen  Marianna 
Nesti  aus  Fucecchio  im  Toscanischen  hörte: 

Eb  war  einmal  eine  Königin,  die  hatte  einen  Sohn,  weicher  im  Alter 
von  sieben  Jahren  behext  wurde,  so  dass  er  beständig  im  Bett  liegen 
musste,  als  ob  er  des  Lebens  beraubt  wäre.  Nur  um  Mittemacht  ging  er 
aus  dem  Haus,  um  um  ein  Uhr,  bedeckt  mit  Blut,,  zurückzukehren  und  sich 
wie  todt  iD*s  Bett  zu  werfen.  Eine  Frau  hatte  regelmässig  zu  wachen,  um 
ihm  um  Mitternacht  und  um  ein  Uhr  die  Thür  zu  öffnen;  doch  keine 
hatte  vor  Entsetsen  länger  als  eine  Nacht  im  Dienst  aushalten  können. 
Id  der  Nähe  der  Stadt  lebte  eine  alte  Frau  mit  drei  Töchtern;  die  beiden 
ältesten  versuchten,  den  vorgeschriebenen  Dienst  zu  thun,  wurden  jedoch 
von  der  Furcht  überwältigt;  die  jüngste  war  muthiger  und  harrte  aus.  In 
der  ersten  Nacht  um  zwölf  Uhr  erhebt  der  Todte  einen  Arm;  sie  eilt  und 
erhebt  ihm  den  andern:  er  versucht  aufzustehen;  sie  hilft  ihm,  aus  dem 
Bett  zu  kommen.  Um  ein  Uhr  kehrt  er  blutbedeckt  zurück  und  die  Jung- 
frau fragt,  wer  ihn  in  solche  Lage  versetzt  habe;  er  antwortet  nichts, 
sondern  sinkt  wie  eine  Leiche  aufs  Bett.  Die  zweite  Nacht  folgt  sie  ihm 
und  sieht  ihn  in  eine  unterirdische  Höhle  eintreten;  er  gelangt  an  den 
Fuss  einer  Treppenflucht,  wirft  seinen  Mantel  ab  und  bleibt  so  nackt,  wie 
er  geboren  war,  ein  schöner  Jüngling  von  achtzehn  Jahren.  Auf  der 
Spitze  der  Treppe  rufen  zwei  grosse  Hexen:  „Hier  ist  erl  Komm,  Lieb- 
chen!*' Er  steigt  hinauf  und  wird  von  den  Hexen  eine  Stunde  lang  ge- 
schlagen, bb  Blut  fliesst,  indem  er  die  ganze  Zeit  Gnadenrufe  ausstösst. 
Um  ein  Uhr  lassen  sie  ihn  gehen;  er  steigt  die  Treppe  hinab,  nimmt 
seinen  Mantel  und  kommt  todt  nach  Hause.  Die  dritte  Nacht  folgt  ihm 
die  Dienerin  wieder,  nimmt  den  von  ihm  an  der  untersten  Treppenstufe 
abgelegten  Mantel  und  presst  ihn  eng  zusammen;  die  Hexen  kreischen. 
Der  Jüngling  kommt  oben  an;  doch  als  die  Hexen  versuchen  ihn  zu 
schlagen,  können  bie  den  Stock  nicht  erheben.  Das  Mädchen  bemerkt 
das,  drückt  den  Mantel  nur  noch  fester  zusammen  und  beisst  ihn;  die 
Hexen  fühlen  sich  selbst  gebissen;  darauf  läuft  das  Mädchen  in  den  Pa- 
last, lässt  ein  grosses  Feuer  anmachen  und  wirft  den  Mantel  hinein;  als 
er  verbrannt  ist,  sterben  die  beiden  Hexen,  ihre  Bezauberung  ist  vernichtet 
und  der  Prinz  heiratbct  seine  Befreierin. 

Gnhcmntls.  die  Thlero.  21 


322 

Ton  diesen  Pflanzen  und  wirft  zwei  Lämmer,  die  wieder,  das 
eine  anf  der  Stirn  den  Mond,  das  andere  im  Nacken  einen  Stern 
haben.  Die  böse  Schwester,  welche  unterdess  den  König  ge- 
heirathet  hat,  befiehlt  sie  in  Stücke  zu  reissen  und  ihre  Einge- 
weide auf  die  Strasse  zu  werfen.  Die  rechtmässige,  gütige  Kö- 
nigin aber  lässt  sie  kochen ,  isst  sie  und  schenkt  von  Neuem 
ihren  zwei  Söhnen  das  Leben,  welche  kühn  und  stark  aufwachsen 
und  welche,  vom  König  gefragt,  ihm  die  Geschichte  ihres  Ursprungs 
erzählen;  ihre  Mutter  wird  wieder  anerkannt,  und  des  Königs 
Gemahlin,  die  böse  Schwester,  wird  vom  Leben  zum  Tode 
gebracht  * 

Die  Hexe  ist  bisweilen  selbst  (als  eine  Wolf- Wolke  oder  Wolf- 
Dunkelheit)  eine  Verschlingerin  von  jungen,  glänzenden  Zicklein 
oder  Lämmern,  wie  der  Schmierbock  in  dem  norwegischen 
Mährchen.  Die  Hexe  trägt  Schmierbock  drei  Mal  in  einem  Sack 
davon;  das  erste  und  zweite  Mal  entrinnt  Schmierbock,  indem  er 
ein  Loch  in  den  Sack  macht;  doch  das  dritte  Mal  bringt  ihn  die 
Hexe  glücklich  in  ifir  Haus,  wo  sie  sich  daran  macht,  ihn  zu 
verspeisen.  Der  schlaue  Schmierbock  schmuggelt  jedoch  der  Hexe 
eigene  Tochter  an  seine  Stelle  und  klettert  in  den  Kamin,  wo  er 
sich  verbirgt  (eine  Variation  des  Ofens,  des  Ortes,  an  dem  sich 
gewöhnlich  der  junge  russische  Held  verbirgt,  ebenso  wie  sich 
auch  in  dem  toscanisclien  Mährchen  der  närrische  Pimpi  im  Ofen 
versteckt).  Von  diesem  sicheren  Plätzchen  aus  verlacht  er  die 
Hexe,  die  alle  Anstrengungen  macht,  ihn  wiederzufangen ;  er  wirft 
einen  Stein  den  Kamin  hinunter  und  tödtet  sie,  worauf  er  hinab- 
steigt, ihre  Schatzhäuser  ausplündert  und  all  ihr  Gold  davonträgt. 
Hier  heisst  der  junge  Held  ein  Bock;  in  dem  Kapitel  über  den 
Wolf  werden  wir  finden,  dass  die  Hexe  des  norwegischen  Mähr- 
ebens wirklich  den  Namen  Wolf  führt.  Diese  beiden  Daten  ver- 
vollständigen den  Mythus;  der  Wolf,  welcher  den  kleinen  Helden 
verschlingen  will,  und  die  Hexe,  welche  das  kleine  Lamm  zu  ver- 
zehren beabsichtigt,  werden  ergänzt  durch  die  Fabel,  welche  den 
Wolf  darstellt,  wie  er  am  Flüsschen  das  Lamm  verzehrt;  es  be- 
deutet das  im  mythischen  Himmel  das  wolkige  und  düstere  Un- 
geheuer, das  die  Sonne  verschlingt. 


'  In  dem  achten  Mährchen  des  ersten  Buches  des  Pentamerone 
wird  die  undankbare  junge  Frau,  RenzoUa,  von  ihrer  eigenen  Sefautsfee 
dazu  verurtheilt,  das  Gesicht  einer  gehörnten  Ziege  zu  haben,  bis  sie  Reue 
zeigt. 


323 

Wir  sahen  oben  die  Hexe,  welche  die  Stimme  der  Matter  des 
kleinen  Helden  nachahmt^  um  ihn  verzehren  zu  können,  und  den 
Wolf,  welcher  die  Stimme  der  Ziege  copirt  und  die  Zicklein  auf- 
Msst;  doch  der  Wolf  thut  mehr  als  dass  er  bloss  die  Stimme  der 
Ziege  annimmt;  er  nimmt  bisweilen  auch  ihre  Gestalt  an. 

ImRämäyana*  ist  Agamukhi,  die  Ziegengesichtige,  der 
Name  einer  Hexe,  welche  Sita  in  Stücke  gerissen.zu  sehen  wünscht. 
In  der  Sage  von  Ilvala  und  Vätäpi,^  den  beiden  Zauberbrüdem, 
welche  sich  verschwören,  den  Brahmanen  Schaden  zuzufügen, 
verwandelt  sich  Vätäpi  in  einen  Hammel  und  lässt  sich  bei  den 
Leichenceremonien  von  den  Brahmanen  opfern.  Diese,  nichts 
ahnend;  essen  sein  Fleisch;  da  ruft  Ilvala  seinem  Bruder  zu: 
„Komm  heraus,  Vätäpi !"  und  sein  Bruder  Vätäpi  kommt  aus  den 
Leibern  der  Brahmanen  heraus,  sie  zerfleischend,  bis  der  Bishi 
Agastya  allein  den  ganzen  Vätäpi  verzehrt  und  Ilvala  zu  Asche 
verbrennt.  Das  Bämäyana  erklärt  uns  selbst,  warum  bei  diesen 
Opfern  von  einem  Hammel,  und  nicht  von  einem  Widder  die  Rede 
ist,^  als  die  Geschichte  von  Ahalyä  erzählt  wird.  Es  heisst  dort, 
dass  der  Gott  Indra  eines  Tages  durch  den  Fluch  des  rishi  Gau- 
tama, mit  dessen  Weibe  Ahalyä  er  Ehebruch  getrieben  hatte,  ver- 
dammt war,  seine  Testikeln  zu  verlieren.  Die  Götter,  zum  Mit- 
leid bewogen,  nahmen  die  Testikeln  eines  Widders  und  gaben 
sie  Indra,  der  deshalb  Meshäpda  genannt  wurde ;  auf  Grund  des- 
sen, sagt  das  Rämäyana,  nähren  sich  die  Pitars  bei  den  Leichen- 
opfem  von  Hammeln  und  nicht  von  Widdern.  Diese  Sage  ist  offen- 
bar brahmanischen  Ursprungs.  Den^ Brahmanen  lag  daran,  den  Gott 
der  Krieger,  Indra,  inMisscredit  zu  bringen;  da  sie  ihn  in  den  Veden 
mesha,  Widder,  genannt  fanden,  so  erdachten  sie  die  Geschichte 
von  den  Testikeln  des  Widders,  ebenso  wie  sie  die  Benennung 
Indras  als  Sahasräksha  (d.  h.  der  mit  tausend  Augen)  boshafter 
Weise  mit  derselben  Scandalgeschichte  von  der  Verführung  Aha- 
lyäs  in  Verbindung  brachten,  und  das  Epitheton  omans  zu  einem 
höchst  anrüchigen,  den  mit  tausend  Bäuchen,  herabstimmten, 
wahrscheinlich  mit  einer  Verwechslung,  welche  aus  dem  Gleich- 
klang zwischen  den  Worten  sahasradhära,  der  Sonne  (als 
tausend  Sterne,  tausend  Strahlen  habend),  oder  sahasrängu, 
und  sahasradära,  das  eine  ganz  andere  Bedeutung  hat,  entstand. 


•  V,  25. 
« III,  16. 

»  I,  50.  Vll,  38. 

21* 


324 

In  dem  wichtigen  116.  Hymnus  dee  ersten  Buches  des  Rig- 
veda  isst  Rigrägva  (d.  h.  das  rothe  Pferd  oder  der  Held  des 
rothen  Pferdes)  hundert  Hammel,  die  der  Wölfin  gehören  (im 
folgenden  Hymnus  hundert  und  einen);  sein  Vater  blendet  ihn 
deswegen;  doch  die  beiden  wunderbaren  Aerzte,  die  Ajvins, 
geben  ihm  seine  beiden  Augen  wieder.  ^  Offenbar  ist  hier  der 
Vater  des  Sonnenhelden  das  düstere  Ungeheuer  der  Nacht  selbst; 
die  Sonne  wird  am  Abend  die  Veröchlingerin  der  Hammel^  welche 
aus  der  Wölfin  herauskommen  oder  welche  der  Wölfin  gehören; 
aus  diesem  Grunde  wird  sie,  als  der  Abend  naht,  von  dem  Wolf- 
ungeheuer geblendet.  Das  rothe  Pferd  Ri^rä^va  oder  der  Held 
des  rothen  Pferdes,  welcher  die  Hammel  der  Wölfin  isst;  gewährt 
weiteren  Aufschluss  über  den  Sühnbock,  welcher  im  Rigveda 
selbst  statt  des  Pferdes  geopfert  wird.  Es  wird  uns  in  einem 
Hymnus  berichtet,  dass  beim  Opfern  des  Pferdes  der  allgestaltige 
Bock  (ago  vigvarüpah)  dem  Pferde  voranging;^  und  das  Aita- 
reya  Brahma 9 a  spricht,  woes  diesen  Tausch  von  Thieren 
erörtert,  ebenfalls  von  dem  Bock  als  dem  letzten  zum  Opfer  be- 
stimmten Thier.  Auch  in  den  russischen  Mährchen  hat  der  Bock 
die  Kosten  der  von  dem  Menschen  verübten  Dummheiten  oder 
Schurkenstreiche  zu  tragen  und  wird  geopfert. '  Dieser  geopferte 
Ziegenbock  scheint  identisch  zu  sein  mit  dem  Esel,  welcher  in 
der  berühmten  Lafontaineschen  Fabel  die  Strafe  für  alle  Thiere 
leidet  (aus  dem  Esel  wird  in  den  Händen  des  russischen  Fabel- 


*  ^atam  mesh&u  vrikye  dakshadänam  ri^ä9vam  tarn  pitändham  dakftra 
tasma  akebi  uäsatjä  vidaksha  ädhattam  dasra  bhisha^äv  anarvan;  Rigv. 
1,  116,  16.  —  Vgl,  117,  18.  —  Hr.  Bergaigne  bemerkt  in  seiner  Anzeige 
meines  Werkes  in  der  Revue  critique  (1873  Nr.  14)  xu  der  obigen  Ueber- 
setzung  dieser  Steile:  „L*explication  du  datif  vrikye  duns  ce  passage 
semble  impossible  dans  la  traduction...;  le  sens  est,  comme  Tindique  le 
dictionnaire  de  P^tersbourg :  ,qui  a  lud  pour  la  louve . .  .*  ou  ,qai  a  oftert  en 
nourriture  a  la  louve'.*^  Wenn  ich  meine  Uebersetzung  aufgeben  müsste, 
so  würde  ich  die  zweite  der  von  Hm.  Bergaigne  vorgeschlagenen  vorziehen. 
In  diesem  FaUe  würde  Rigrä^va  von  seinem  Vater  getödtct,  vne  Sohrab 
von  seinem  Vater  Rustem  getödtet  wird,  wegen  seiner  Beziehungen  su  den 
Dämonen. 

>  Esha  dhägah  puro  a^vena  vfi^nä;  Higv.  I,  162,  3. 

'  Vgl.  A  fan.  V.  7,  wo  der  Schurke  die  Ziege  für  seine  Schwester 
ausgiebt  und  sie  tödten  lässt,  um  dem  Mörder  durch  Drohung  der  An- 
klage eine  hohe  Entschädigungssumme  abzuzwingen,  und  V,  52,  wo  einem 
Ziegenbock  der  Kopf  abgehauen  wird,  um  die  Ermordung  eines  Küsters 
durch  den  dummen  dritten  Bruder  zu  verheimlichen.  —  Vgl.  Erlcnwoin  17. 


325 

dichters  Eriloff;  der  denselben  als  ein  in  Rassland  fast  ganz  un- 
bekanntes Thier  nicht  einflihren  konnte,  ein  Stier);  wir  wissen 
bereits,  dass  der  Esel  die  Sonne  in  der  Wolke  oder  die  Sonne 
in  der  Dunkelheit  darstellt,  und  wir  sagten  aueh,  dass  in  der 
Sage  der  Esel  und  der  Narr  zusammen  sterben.  Die  Ziege  stirbt 
in  dem  russischen  Mährchen,  um  den  Narren  zu  befreien,  welcher 
nach  ihrem  Tode  nicht  länger  ein  Narr  ist,  da  seine  Narrheit  mit 
ihr  gestorben.  ^  Das  Volksmährchen  bietet  uns  noch  einen  andern 
Beweis  für  die  Identität  des  mythischen  Esels  und  der  mythischen 
Ziege.  Wir  sahen  auch  oben,  bei  dem  norwegischen  Mährchen, 
wie  die  Hexe  einen  Schatz  besitzt,  welcher  von  dem  Schmierbock 
entführt  wird,  der  sie  tödtet;  der  Zauberer  oder  der  Teufel  ist 
immer  reich.  Der  Esel,  den  der  Teufel  dem  Kleinen  Hans  giebt, 
lässt  Gold  fallen:  der  Esel  personificirt  den  Teufel.  Doch  hat 
der  Teufel,  wie  wir  bemerkten,  eine  Vorliebe,  sich  in  einem  Wid- 
der, einem  Lamm,  oder  einem  Bock  zu  verkörpern.  Ich  erinnere 
mich  noch  aus  meiner  Knabenzeit  der  Puppen,  welche  jeden  Tag 
in  dem  kleinen  Holztheater  auf  der  Piazza  Castello  in  Turin 
Volksvorstellungen  improvisirten ;  das  schliessliche  Schicksal  der 
Persönlichkeit,  welche  den  Tyrannen  darstellte,  war  gewöhnlich, 
unter  den  Schlägen  Harlekins  zu  sterben  oder  von  dem  Teufel 
in  Gestalt  eines  blökenden  Lammes  in  die  Hölle  geschleppt  zu 
werden,  welches  Lamm  ausdrücklich  deshalb  auf  die  Bühne  kam, 
um  ihn  mit  fortzuschleppen;  wie  schlugen  bei  seinem  Ver- 
schwinden die  Herzen  der  Zuschauer,  denen  der  Puppenspiel- 
direktor einen  lehrreichen  Sermon  hielt !  ^  In  dem  einundzwanzig- 


'  Die  Ziege  wird  auch  im  achten  der  von  Laura  Gonzenbach  gesam- 
melten sicilianischen  Mährchen  geopfert,  am  die  Tugendhaftigkeit  eines  treuen 
Bauern  su  bezeugen.  Das  Weib  eines  Ministers,  der  auf  den  Bauer  Veritk 
(Wahrheit)  eifersüchtig  ist,  welcher  eine  Ziege,  ein  Lamm,  einen  Widder 
und  einen  Hammel  des  Königs  zu  bewachen  hat,  beredet  diesen  zu  dem 
Glauben,  dass  ihr  Leben  verwirkt  ist  und  nur  durch  das  Opfer  des  Ham- 
mels erkauft  werden  kann.  Der  Bauer  giebt  halb  aus  Liebe,  halb  aus 
Mitleid  nach  und  willigt  in  das  Opfer.  Der  Minister  hofft,  dass  der  Bauer 
seinen  Fehltritt  verbergen  werde,  wird  jedoch  in  seiner  Erwartung  getäuscht, 
da  derselbe  im  Gegentheil  ein  freimüthiges  Bekenntniss  ablegt,  und  infolge 
desseft  dem  König  nur  noch  lieber  wird. 

*  Der  Teufel  bietet  seine  bösen  Dienste  auch  an  im  Bdlier  de 
Bochefort,  bei  Bonnafoux,  Legendes  et  Croyances  Supersti- 
tieuses  Conserv^es  dans  le  d^partement  de  la  Creuse,  Gueret 
1867,  p.  17.  —  In  einer  Badenschen  Sage,  mitgetheilt  von  Simrod^  (oben- 
genanntes Werk  p.  260;  vgl.  auch  ebenda  p.  501),  erscheint  der  Teufel  mit 
Bocksfüssen. 


326 

sten  der  von  mir  veröffentlichten  toscanischen  Mährchen  giebt 
nicht  der  Teufel,  sondern  der  kleine  Alte,  Gesö,  dem  dritten 
Bruder  statt  des  gewöhnlichen  Esels  ein  faulendes  Schaf,  das 
jedoch  die  Eigenschaft  hat,  Louisdors  fallen  zu  lassen.  Dieses 
faulende  oder  feuchte  oder  dumpfige  Schaf  stellt  noch  besser  die 
feuchte,  neblige  Nacht  und  den  feuchten  Winter  dar. 

In  dem  Volksmährchen  macht  sich  die  Ziege,  als  sie  im 
Walde  ist,  ein  besonderes  Vergnügen  daraus,  die  Augen  der 
Leute  mit  ihren  Hörnern  zu  verwunden;  davon  ist  wahrschein- 
lich der  Name  des  Reptils  a^akäva  abzuleiten,  mit  welchem  im 
Rigveda  *  beschworen  wird  als  durdrigika  oder  dem  Augenlicht 
schadend,  und  ebenso  der  Name  a^akä,  den  eine  Augenkrankheit 
bei  dem  indischen  Arzte  Sugruta  führt.  Wir  dürfen  jedoch  nicht 
den  Zusammenhang  zwischen  der  Vorstellung  einer  Haut  und  der 
einer  Ziege  vergessen,  so  dass  die  agakä  einfach  das  dünne 
Häutchen  bezeichnen  kann,  welches  bisweilen  die  Pupille  über- 
zieht und  Blindheit  zur  Folge  hat.  Dieses  Häutchen  hat  sich 
auch  auf  das  Auge  des  Sonnenhelden  gelegt  und  blendet  ihn. 
Wir  werden  in  dem  Kapitel  über  die  Kröte,  welche  in  den  My- 
then sehr  oft  die  Wolke  und  die  feuchte  Nacht  darstellt,  sehen, 
dass  die  Kröte*  die  Blindheit  nur  durch  das  Gift  verursacht, 
welches  sie  der  Sage  nach  ausschwitzt,  gleich  dem  Reptil 
agakäva. 

Doch  wie  der  Held  in  der  Hölle  Alles  erfährt  und  sieht,  so 
hat  die  Ziege,  welche  Andere  der  Sehkraft  beraubt,  selbst  die 
Eigenthümlichkeit ,  Alles  zu  sehen;  das  ist  der  Fall,  weil  die 
Ziege  als  die  in  der  Wolke  oder  der  finsteren  Nacht  eingeschlos- 
sene Sonne,  die  Geheimnisse  der  Hölle  sieht,  und  auch  weil  sie, 
als  der  gehörnte  Mond  oder  der  Sternenhimmel,  der  Spion  des 
Himmels  ist.  Wir  beobachteten  schon  im  ersten  Kapitel,  wie  das 
wunderbare  Mädchen  von  sieben  Jahren,  um  das  Räthsel,  das 
der  Tzar  aufgegeben,  zu  lösen,  auf  einem  Hasen  kommt,  welcher 
in  der  Mythologie  den  Mond  darstellt.  In  einer  Variation  dieses 
Mährchens  bei  Afanassieff^    kommt    der  königliche   Knabe 

'  VII,  50,  1.  —  In  den  Classical  Dictionary  of  Natural 
History  of  Andouin,  Bourdon  etc.  (erste  italienische  Uebersetzung, 
Venedig,  Tasso  1881)  lesen  wir:  „Goat«  species  of  ophidian  reptiles,  indi- 
genous in  Congo,  and  aisa  in  Bengal;  as  yet  unclassified  by  zoologists, 
and  which,  it  is  said,  throw  from  afar  a  kind  of  saliva  causing  blindness," 

'  Vgl.  die  lacerta  comuta  des  Pentamerone. 

•  VI,  42 


327 

statt  auf  einem  Hasen,  auf  einem  Bock,  und  wird  von  seinem 
Vatet  wiedererkannt ;  der  Bock  scheint  hier,  in  seiner  Eigenschaft 
als  Boss  des  verlorenen  Helden,  den  Mond  darzustellen,  wie  es 
der  Hase  thut. 

Wir  sprachen  schon  von  Indra  sahasräksha,  d.  h.  dem  tausend- 
äugigen;  indische  Maler  stelleji  ihn  mit  diesen  tausend  Augen 
dar,  d.  b.  als  einen  azurblauen,  mit  Sternen  besäten  Himmel. 
Indra  als  die  nächtliche  Sonne  verbirgt  sich,  verwandelt,  in  dem 
Sternenhimmel ;  die  Sterne  sind  seine  Augen.  Der  hundertäugige 
oder  ansehende  (TtavÖTVirjg)  Argus,  der  als  Wächter  über  die  Kühe 
des  Zeus  gesetzt  ist,  ist  das  griechische  Aequivalent  dieser  Ge- 
stalt Indras.  In  Kapitel  I  sahen  wir  auch  in  dem  russischen 
Feenmährchen  die  Tochter  der  Hexe,  welche  drei  Augen  hat  und 
mit  ihrem  dritten  Auge  die  Kuh  ausspionirt,  welche  dem  guten 
Mädchen  hilft.  In  dem  zweiten  Mährchen  des  sechsten  Buches 
bei  Afanassieff  sieht  der  Bauer,  als  er  an  der  Erbsenpflanze 
in  den  Himmel  geklettert  ist  und  in  ein  Zimmer  kommt,  in  wel- 
chem Gänse,  Schweine  und  Pasteten  gekocht  werden,  einen 
Ziegenbock  als  Wächter;  er  entdeckt  an  demselben  nur  sechs 
Augen,  da  der  Bock  das  siebente  Auge  auf  dem  Rücken  hat; 
der  Bauer  bringt  die  sechs  Augen  zum  Schlafen;  doch  der  Bock 
sieht  mit  dem  siebenten,  dass  der  Bauer  isst  und  trinkt,  so  viel 
er  kann,  und  setzt  den  Herrn  davon  in  Kenntniss.  In  einer  an- 
dern Variation  des  Mährchens  bei  Afanassieff/  findet  der 
alte  Mann  im  Himmel  ein  kleines  Haus,  welches  abwechselnd  von 
zwölf  Ziegen  bewacht  wird,  von  denen  eine  ein  Auge,  eine 
andere  zwei,  die  dritte  drei  Augen  hat,  und  so  fort  bis  zu  zwölf. 
Der  Alte  sagt  zu  einer  nach  der  andern :  „Ein  Auge,  zwei  Augen, 
drei  Augen  u.  s.  w.,  schlaft  V^  Am  zwölften  Tage  versieht  er  sich 
und  sagt  statt  „zwölf  Augen*'  ;;eilf'' ;  die  Ziege  mit  zwölf  Augen 
sieht  und  verräth  ihn. 

Dieses  spähende  Ziegenauge  hängt  vielleicht  zusammen  mit 
dem  Sternbild  der  Ziege  und  der  beiden  Böckchen.  Columella 
schreibt,  dass  die  Böckchen  im  Himmel  erscheinen  gegen  Ende 
des  September,  wenn  der  West-,  zuweilen  der  Südwind  weht  und 
Regen  bringt.  Nach  Servius  ist  die  Ziege,  die  sich  mit  den 
beiden  Zicklein  in  dem  -Sternbild  des  Wassermanns  befindet,  die- 
selbe Ziege,  welche  die  Amme  des  Zeus  war;  er  sagt,  dass  sie 
im  October  mit  dem  Zeichen  des  Skorpion  erscheint.    Ovid  in  der 

"  IV,  7. 


328 

Ars  amandi  und  dem  ersten  Bnche  der  Tristia,  wie  Virgil 
im  neunten  Bueh  der  Aeneis^  feiern  ebenfalls  die  Ziege  und 
die  Zicklein  des  Himmels  als  Begenbringer.  Horaz  nennt  in  der 
siebenten  Ode  des  dritten  Buches  das  Ziegengestirn  sinnlos,  rasend: 

„nie  Dothis  actus  ad  Oricum 
PoBt  insana  caprae  sidera,  frigidas 
Noctes  non  sine  multis 
InsomniB  lachrymis  agit.^ 

Wir  sahen  schon  Indra  als  einen  Widder  oder  als  eine  Begen- 
wolke;  und  der  Bock  mit  nur  einem  Fuss  (ekapäd  a^ah),  oder 
der,  welcher  nur  einen  Bocksfuss  hat,  der  den  Himmel  stützt, 
der  blitzt  und  donnert,'  ist  eine  Erscheinungsform  desselben 
Begengottes  Indra,  welcher  den  Himmel  in  der  regnerischen 
Jahreszeit  trägt.  Wir  sahen  die  Agvins  mit  zwei  Ziegen,  zwei 
Hörnern  verglichen;  jeder  also  hatte,  so  scheint  es,  nur  ein  Horn, 
nur  einen  Ziegenfnss  (daraus  lässt  sich  vielleicht  das  ekapäd 
a^ahi  erklären);  daher  einerseits  das  FttUhom,  andererseits  die 
lahme  Ziege.  *  Die  Nymphe  Galathea  (die  milchige),  die  einen 
Faun  (oder  einen  Bocksflissigep)  liebt,  scheint  eine  griechische 
Gestaltung  des  Liebesverhältnisses  Esmeraldas  und  der  Ziege  mit 
Quasimodo  zu  sein.  Die  Ziege  liebt  den^  welcher  Bocksfüsse  hat; 
der  Sonnenheld  (resp.  Heldin)  in  der  Kacht  hat  Bocksfüsse;  er 
ist  ein  Satyr^  ein  Faun,  ein  Bock,  ein  Esel;  er  ist  missgestalt 


^  DiÜer  opus,  tone  triBtis  hiems,  tunc  pleiades  instant 
Tunc  et  in  aequorea  mergitur  haedus  aqua. 
Saepe  ego  nimbosis  dubius  jactabar  ab  haedis. 
Nascitur  Oleneae  Signum  plnviale  capellae. 

Ovid. 
Quantus  ab  occasu  veniens  pluvialibus  haedis 
Verberat  imber  humnm. 

Virgil. 
*  Pävjravi  tanyatur  ekapäd  a^o  divo  dhartft;  Bigv.  X,  65, 13.  —  Vgl. 
den  aga  ekapäd,  welcher  nach  Ahirbudhnya  und  vor  Trita  angerufen  wird, 
RigY.  n,  31,  6,  und  a^äikapäd  als  Namen  Vishnus  im  Harivan^a;  der 
Leser  erinnert  sich  auch  der  ziegenfüss igen  Geschlechter  Herodots. 
'  Wir  finden  die  lahme  Ziege  resp.  Ziegenbock  auch  in  der  Sage  von 
Thor.  Der  Qott  tödtet  seine  Böcke,  zieht  ihnen  die  Felle  ab  und  nimmt 
ihre  Eoiochen,  um  sie  nach  Belieben  wieder  lebendig  machen  zu  können. 
Thialfi,  der  Sohn  des  Bauern,  bei  dem  er  wohnt,  stiehlt  den  Lenden- 
knochen eines  der  Böcke,  um  ihn  zu  verkaufen ;  daher  ist  einer  der  Böcke 
Thors  später  lahm.  —  Vgl.  zu  analogen  Sagen  die  Notizen  bei  Simrock, 
a.  a.  0.  p.  260. 


329 

und  dumm,  doch  er  intereseirt  die  gute  Fee^  welche  in  Gestalt 
einer  Ziege  (als  der  Mond  nnd  die  Milchstrasse)  ihn  in  der  Nacht 
leitet  und,  wie  die  Dämmemng  (die  weisse  Aurora)  am  Morgen, 
ihn  rettet  nnd  glücklich  macht.  In  der  deutschen  Sage  wird  der 
armen  Prinzessin,  welche  mit  ihrem  Sohne  im  Walde  verfolgt 
wird,  bald  von  einer  Ziege,  bald  von  einer  Hirschkuh  beigestanden, 
welche  dem  Kinde  Milch  giebt;  durch  dieses  Thier,  welches  als 
Führer  dient,  findet  der  Prinz  seine  verlorene  Braut  wieder.  Diese 
wegzeigende  Ziege  oder  Hirschkuh,  die  Amme  des  Heldenkindes, 
welche  Servius  in  dem  Sternbild  der  Ziege  wiedererkannte  (mit 
Beziehung  auf  Zeus,  der  wesentlich  regnerisch  isl^  wie  der  vedische 
Indra  selbst  die  Wolken  zu  Ammen  hatte),  muss  gemeiniglich 
den  Mond  dargestellt  haben.  Doch  gerade  die  Milchstrasse  des 
Himmels  (die  Seelenbrücke)  ist  die  Milch,  die  aus  der  Ziege  des 
Himmels  fliesst;  der  weisse  Morgenhimmel  ist  ebenfalls  die  Milch 
dieser  selben  Ziege.  Der  gehörnte  Mond,  *  die  Milchstrasse  und 
die  weisse  Dämmerung  werden  in  Gestalt  einer  wohlthätigen 
Ziege  dargestellt,  welche  dem  Helden  und  der  Heldin  im  Walde, 
in  der  Dunkelheit  beisteht;  während  dagegen  die  in  der  Wolke, 
der  Dunkelheit  oder  dem  nächtlichen  Sternenhimmel  eingeschlos- 
sene Sonne  (mit  den  insana  caprae  sidera)  bald  ein  guter  und 
weiser  Ziegenbock  oder  Widder  ist,  voll  guten  Rathes,  gleich 
dem  Widder,  welcher  im  Tuti-Name '  dem  Kaiser  von  Indien  mit 
seinem  Rath  zur  Seite  steht;  bald  ein  bösartiges  Ungeheuer,  ein 
dämonisches  Wesen.  Sofern  die  Ziege  Licht  und  Milch  spendet, 
ist  sie  göttlich ;  sofern  sie  die  Schönheit  des  jungen  Helden  resp. 
Heldin  verdeckt  und  ihnen  feindlich  gegenübersteht,  kann  sie  als 
dämonisch  betrachtet  werden. 

Der  Zusammenhang  zwischen  der  Ziege  und  der  Milchstrasse 
lässt  sich  auch  aus  dem  Namen  St.  Jacobs  Strasse  beweisen,  den 
das  gemeine  Volk  der  galaxia  oder  galathea  oder  Milchstrasse 
giebt;  *  und  es  ist  interessant,  dass  es,  wie  Baron  Reinsberg*  be- 
richtet, in  mehren  Gegenden  Böhmens  Sitte  ist,  am  Jacobstage 
einen  Ziegenbock  aus  dem  Fenster  zu  werfen  und  sein  Blut 
aufzubewahren,  weil  dasselbe  ein  wirksamer  Schutz  gegen  ver- 


'  In  einem  russischen  Liede  heiset  es:  „Mond !  Mond!  goldene  Hörner !" 
MI  p.  636  flF. 

'  Vgl.  Du  Gange,  s.  v.  galaxia:  „Lacteus  circulus,  qui  vulgo  dicitur 
Via  S.  Jacobi." 

*  Das  festliche  Jahr,  2te  Ausg.  p.  216. 


330 

schiedene  Rrs^nkheiteD^  z.  6.  BlntspnckeO;  sein  soli.  In  den  Le- 
zioni  di  Materia  Medica  von  Professor  Targioni-Tozzetti * 
lesen  wir  femer,  dass  das  Blut  des  Ziegenbocks  unter  keinem 
geringeren  Namen  als  m  a  n  u  s  I>e  i  bekannt  war  und  für  beson- 
ders wirksam  gegen  Ettckenquetsebungen^  Seitenstechen  und  den 
Stein  gebalten  wurde.  Allerdings  glaubte  man,  die  Steinkrankbeit 
sei  beilbar  durch  den  Stein  c  a  p  r  a  (Ziege) ,  .  der  sich  der  Sage 
nach  im  Leibe  einiger  indischer  Ziegen  fand.  Targioni-Tozzetti 
beschreibt  selbst  die  Ziegensteine  ganz  ernsthaft  folgendermassen : 
,,Diese  Steine  sind  auf  ihrer  Oberfläche  gewöhnlich  dunkelglänzend; 
wenn  man  sie  mit  den  Händen  reibt  und  erhitzt;  so  riechen  sie 
nach  Moschus.  Diesem  Stein  (dem  Bezoar-Stein ')  schrieb  man 
analeptische  und  alexipharmische  Kräfte  zU;  welche  im  Stande 
wären,  die  Wirkungen  des  Giftes  zu  paralysiren  und  vor  an- 
steckenden Krankheiten  zu  schützen,  die  Pest  nicht  ausgenommen^ 
ferner  den  Patienten  zu  retten,  indem  sie  eine  kräftige  und  heil- 
same Transpiration  verursachten.  Deshalb  wurden  diese  Steine 
theuer  verkauft.  Dieselben  Kräfte  werden  denen,  die  sieb  im 
Westen  finden,  zugeschrieben,  doch  in  viel  geringerem  Grade.*' 
Wenn  sich  die  himmlische  Ziege  in  Regen  oder  Thau  auf- 
löst, wenn  Feuchtigkeit  aus  der  Ziegen-Wolke,  der  Berg- 
Wolke,  der  Stein- Wolke  kommt,  so  sind  diese  Feuchtigkeiten 
heilbringend.  Wenn  St  Jacob,  der  mit  der  Ziege  und  dem  Regen 
verbunden  ist,  seinen  Stiefel  ausschüttet,  wie  die  Leute  im  Pie- 
montesischen  sagen,  so  wird  der  Nebel,  welcher  an  solchen  Tagen 
fällt,  von  den  Bauern  als  ein  wahrer  Segen  betrachtet,  was  er 
auch  wirklich  für  das  Land  und  speciell  für  die  Weinberge  ist. 
In  einer  Fabel  des  B  a  b  r  i  u  s  droht  der  Weinstock,  dessen  Blät- 
ter von  der  Ziege  abgefressen  werden,  derselben  damit^  dass  er 
trotzdem  Wein  geben  werde  und  dass,  wenn  der  Wein  bereitet 
sei  (d.  h.  bei  den  Dionysischen  Mysterien)  die  Ziege  den  Göttern 
geopfert  werden  werde.  Andrerseits  war  es  im  Mittelalter  Brauch, 
im  Frühling  oder  am  Ostertage  das  Agnus  Dei  in  effigie  zu 
opfern :  „Mos  erat,  ut  ex  cereo  Paschali,  qui  Sabbato  Sancto  con- 
ceptis  precibus  sacratus  fuerat,  particulae  decerperentur ,  ac  po- 
pulo  die  Dominica  post  Albas  post  sacram  Communionem  distri- 
buerentur,  unde  suffitum  in  aedibus    suis  facerent,   vel  agros  vi- 


"  Florenz,  Piatti  1821. 

'  Ueber   diesen  Stein  ygl.  ein  ganzes  Kapitel   bei  Aldrovandi,   de 
Quadrupedibus  I. 


331 

neasque  mtmirent  adversns  daemonum  praestigias  aut  contra 
fnlgura  ac  tonitma/'  ^  Am  Hexeosabbat,  hiess  es  in  Deutschland; 
verbrennen  die  Hexen  einen  Bock  und  theilen  sich  in  seine 
Asche.  * 

Die  schlane  Ziege  ist  eine  Zwiscbenform  zwischen  der  guten 
weisen  Fee  und  der  Hexe,  die  in  jeder  Art  Bosheit  zu  Hause  ist 
Ebenso  wie  der  Held,  zuerst  dumm,  vom  Teufel  Arglist  lernt,  um 
sie  nachher  gegen  den  Teufel  selbst  anzuwenden,  lässt  sich  voraus- 
setzen, dass  der  Held,  in  seiner  Ziegengestalt,  von  den  Unge- 
heuern all  jene  Schlauheit  gelernt  hat,  durch  die  er  sich  nachher 
auszeichnet.  Der  vedische  Widder,  Indra,  bedient  sich  ebenfalls 
der  Zauberei  gegen  die  Zaubererungeheuer. 

Im  zweiten  ehstnischen  Mährchen  lesen  wir,  dass  der 
Schlangenkönig  Goldschttsselchen  mit  Himmelsziegenmilch  hat; 
gelingt  es  Jemandem,  ein  Stückchen  Brod  in  diese  Milch  zu 
tunken  und  den  eingetunkten  Bissen  in  den  Mund  zu  stecken,  so 
kann  er  alles  Geheime  schauen,  was  unter  der  Decke  der  Nacht 
geschieht,  ohne  dass  die  Menschen  Kunde  davon  haben. 

In  dem  mittelalterlichen  französischen  Gedicht  von  Ysen- 
gri umtauscht  die  Ziege  den  Wolf  in  ähnlicher  Weise,  wie  der 
Bauer  im  ersten  der  AfanassiefiTschen  Mährchen  den  Bären,  und 
wie  in  italienischen  Mährchen  derselbe  Bauer  den  Teufel  betrügt. 
Die  Ziege  zeigt  eine  fuchsartige  Schlauheit,  indem  sie  die  Halme 
des  Getreides  för  sich  behält,  dem  Wolfe  aber  die  Wurzel  lässt 
Daher  in  meinen  Augen  der  Ursprung  der  piemontesischen  sprich- 
wörtlichen Bedensart :  „La  crava  a  Vk  mangiä  la  föja^^  (die  Ziege 
ass  das  Blatt),  und  sogar  das  einfache  „Mangä  la  föja'^  (das  Blatt 


*  Vgl.  Du  Gange,  s.  y.  Agnus  Dei,  wo  wir  auch  die  Verse  finden, 
mit  denen  Urban  V.  die  Schenkung  eines  Agnus  Dei  an  Johannes  Palaeo- 
logUB  begleitete.  —  Im  Oktober  feiern  die  Thüringer  das  Wettrennen  nach 
dem  Widder,  welcher,  wenn  er  eingeholt  ist,  auf  einen  grossen  Stein  ge- 
legt und  geschlachtet  wird.  Ueber  das  Laufen  nach  dem  Widder  vgl. 
auch  Villemarqu^,  Chants  populaires  de  la  Bretagne.  —  In  einem 
Volksliede,  in  welchem  England  in  Engelland  verwandelt  ist,  erscheint 
Maria,  die  Amme  Gottes,  mit  dem  weissen  Lamme: 

„Die  Himmelsthüre  wird  aufgehen; 

Maria  Gottes  Amme 

Kommt  mit  dem  weissen  Lamme/* 

'  Menzel,  Die  yorchristliche  Unsterblichkeitslebre. 

*  Prof.  Em.  Teza  hat  eine  mittelalterliche  italienische  Version  dieses 
Gedichtes  mit  Anmerkungen  herausgegeben. 


332 


essen),  in  der  Bedeutung:  schlau  sein.  ^  Ich  hörte  von  einem 
gewissen  Uliva  Seivi  zu  Antignano  (bei  Livorno)  das  Mährchen 
von  einer  Hexe,  welche  jeden  Tag  einen  Knaben  schickte,  um 
die  Ziege  auf  die  Weide  zu  führen,  mit  dem  Befehl,  Acht  zu 
geben,  dass  sie  tilchtig  fressen,  doch  das  Getreide  nicht  anrühren 
solle.    Als  die  Ziege  zurückkommt,  fragt  die  Hexe: 


),Capra,  mia  Capra  Mergolla, 
Come  86*  ben  satolla?*' 

(Ziege,  meine  Ziege  Mergolla, 
Bist  Du  ganz  satt?) 

Worauf  die  Ziege  antwortet: 

„Son  satoUa  e  cavalcata, 
Tutto  il  giomo  digiunata/* 

(leb  bin  satt  und  bin  geritten  worden; 
leb  babe  den  gansen  Tag  gefastet.) 

Darauf  wird  der  Knabe  von  der  Hexe  todt^  gemacht.  So  geht  es 
zwölf  Knaben ,  bis  der  dreizehnte ,  schlauer  als  die  andern ,  mit 
der  Ziege  schön  that  und  ihr  das  Getreide  zu  fressen  giebt; 
darauf  antwortet  die  Ziege  auf  die  Frage  der  Hexe: 

„Son  ben  satolla  e  govemata, 
Tutto  il  giomo  m*ba  pasturata.'* 

(Ich  bin  ganz  satt  und  bin  gut  gebalten  worden; 
Er  bat  mir  den  ganzen  Tag  zu  fressen  gegeben.) 

Der  Knabe  wird  gut  behandelt 

Des  Teufels  Schützling  überlistet  immer  seinen  Meister;  die 
Ziege  narrt  den  Wolf  zu  seinem  Verderben.  Wir  sahen  das  schon 
in  dem  russischen  Mährchen  und  es  bestätigt  sich  in  der  Sage 
von  Ysengrin.  Die  Bauern  von  Piemont  und  Sicilien  haben 
aus  diesem  Orunde  so  viel  Respect  vor  der  Ziege,  dass  sie  die- 
selbe für  segenbringend  für  das  Haus  halten,  bei  welchem  sie 
gehalten  wird ;  und  wenn  sie  zußlllig  einmal  bösartig  ist,  so  wird 


>  Vgl.  die  vorerwähnte  Fabel  des  Babrius,  in  welcher  sieb  der 
Weinstock  über  den  Bock  beklagt,  der  seine  BIStter  abfrisst.  —  In  dem 
italieniscben  Sprichwort:  „Salvar  la  capra  ed  i  caYoli**  wird  die  Ziege 
wieder  als  Blattfresserin  bezeichnet  —  Die  Blätter  des  Spor Apfels  heilen 
nach  norwegischem  Glauben  kranke  Ziegen,  von  denen  der  Qott  Thor  ge- 
sogen wird.  —  Vgl.  Kuhn,  Die  Uerabk.  d.  F.  u.  d.  G.  — 


333 

• 

das  dem  Teufel  selbst  in  die  Schuhe  geschoben,  der,  wie  sie 
glauben,  boshafter  Weise  Besitz  von  ihr  genommen  hat.  Vor 
einigen  Jahren  hatte  ein  Ziegenhirt  des  Val  di  Formazza  in  der 
Ossola  im  Piemontesischen  zwei  Ziegen,  die  er  für  besessen  von 
einem  bösen  Geiste  hielt ;  sie  liefen  nämlich  immer  von  der  Herde 
fort  und  verirrten  sich,  damit  sie,  wie  er  dachte,  der  böse  Geist 
endlich  in  einen  Abgrund  stürzen  könnte.  Eines  Tages  waren 
die  beiden  Ziegen  fort;  der  Hirt  sucht  eine  Weile  nach  ihnen, 
doch  vergeblich;  er  geht  und  macht  der  Maria  von  Einsiedlen 
ein  Gelübde.  Der  Zufall  ftlgt  es,  dass  in  dem  Augenblick,  als  er 
von  seiner  frommen  Pilgerfahrt  heimkehrt,  auch  seine  beiden 
Ziegen  an  die  Thür  des  Hauses  kommen;  man  erklärt  nun  sofort 
in  Formazs^  den  Vorfall  ftlr  ein  Wunder  und  er  gilt  als  solches 
in  jener  Gegend  bis  beutigen  Tages.  ^ 

Im  vorigen  Kapitel  sahen  wir  den  Esel  in  zwei  Gestalten 
dargestellt,  mit  Bezug  auf  seine  FortpflanzungsfUhigkeit,  d.  h. 
bald  als  einen  glühenden,  unersättlichen  und  kraftvollen  Befruchter, 
bald  als  einen  lächerlichen  und  impotenten  Schwächling.  Wir 
sahen  femer  den  Esel  in  enger  Verbindung  mit  den  bocksftlssigen 
Satyrn.  Die  Böeke  und  Widder  haben  ebenfalls  einen  zwei* 
fachen  und  in  innerm  Widerspruch  stehenden  Ruf.  Wir  wissen 
z.  B.,  dass  der  Gott  Thor,  der  Gott  der  Skandinavier,  welcher  in 
der  Wolke  donnert,  von  Böcken  gezogen  wird  (das  Schiff  Thors 
und  Hymirs,  die  Wolke,  heisst  in  der  Edda  ein  schwimmender 
Widder  oder  Bock,  ebenso  wie  der  vedische  Indra  als  ein  Wid- 
der dargestellt  wird;  der  Gott  Pöshan  ist  ebenfalls  Beschützer 
der  Herden  und  trägt  den  Schäferstab  als  seine  Wafie;  sein 
Wagen  wird  von  Ziegen  gezogen  und  eine  Ziege  wird  ihm 
geopfert;  der  Gott  Pfishan  war  der  beste  Führer,  den  man  auf 
einer  Reise  anrufen  konnte);  er  ist  femer  der  Schützer  der 
Ehen.  Die  skandinavische  Mythologie  scheint  also  den  Bock 
wesentlich  als  den  Be&uchter,  als  eine  Regenwolke  zu  betrachten. 
In  der  indischen  Mythologie  der  brahmanischen  Periode  verliert 
dagegen  der  Gott  Indra  seine  göttliche  Macht,  wird  dumm  und 
obscur  und  verschwindet  in  der  Widdergestalt.  Auf  einer  seiner 
Passeggiate  nel  Canavese  beobachtete  kürzlich  A.  Berto- 
lotti  in  Muraglio  einen  sonderbaren  Brauch,  der  von  den  jungen 
Leuten  der  Gegend  gepflegt  wird,  wenn  eine  projectirte  Heirath 


'  Nach  einem  Bericht  meiaes  Freundes  Valentino  Carrera,  eines  uner- 
schrockenen Alpeusteigers  und  beliebten  Dramatikers. 


334 

nicht  zn  Stande  kommt;  sie  laufen  zu  dem  Hanse  der  Brant  und 
verlangen  ungestfim^  sie  solle  ihnen  ihre  Schafe  geben,  worauf 
sie  vor  des  Bräutigams  Haus  ziehen  und  rufen:  ,;Yente  a  sarrar 
quist  motogn'^  (komm  und  sehliess  diese  Hammel  ein).  Hier 
stellt  der  Hammel  den  Ehemann^  das  Schaf  die  Frau  vor.  Bei 
Du  Gange  wird  der  Name  Ziege  (caper)  gegeben  dem  ,;in8uayis 
odor  in  pueris  cum  ad  virilitatem  accedunt^'^  Bei  A  pul  eins 
heisst  ungemessene  Lüsternheit  ;;Cohircinatio^^  Nach  Aelian  hat 
der  Bock  Lust  zur  Begattung  schon  wenn  er  sieben  Tage  alt  ist 
(nach  Columella  im  siebenten  Monate). 

Doch  ebenso  wie  der  Esel  das  dumme  Dulderthier  ist^  ist 
der  Widder  das  dumme,  ruhige.  Der  Bock,  heisst  es,  ist  ein 
gleichgiltiger  Mann,  der  seine  Ziegen  mit  andern  Böcken  ver- 
kehren lässt;  ohne  eine  Spur  von  Eifersucht  zu  zeigen;  daher  un- 
sere Ausdrücke  „gehörnte  Ziege"  und  einfach  „gehörnt'*,  um  den 
Ehemann  eines  treulosen  Weibes  zu  bezeichnen,  d.  h.  eines 
Weibes,  das  ihm  Homer  aufsetzt,  wie  sie  der  Bock  trägt,  und 
das  italienische  Sprichwort:  „E  meglio  esser  geloso  che  becco*' 
(es  ist  besser  eifersüchtig  als  ein  Bock  zu  sein).  Dieser  Ruf 
des  Bockes  steht  jedoch  allem  dem  entgegen,  was  von  der  Lüstern- 
heit desselben  bekannt  und  geschrieben  i^t  Im  Gegentheil, 
Aristoteles  sagt  ausdrücklich,  dass  zwei  Böcke,  die  mit  einander 
in  Eintracht  auf  der  Weide  gelebt  haben,  zur  Brunstzeit  heftig 
mit'einand^  kämpfen.  Ferner  ist  der  Vers  Findars  bekannt,  in 
welchem  er  Böcke  sogar  Weiber  begatten  lässt.  Es  heisst  auch, 
dass  Hermes,  oder  Zeus,  die  Gestalt  eines  Bockes  annahm,  um 
sich  mit  Penelope  zu  vereinigen,  eine  Vereinigung,  deren  Frucht 
der  grosse,  bocksfüssige  Satyr  Fan  war;  dass  Herakles  (als  Esel 
in  seinem  Löwenfell)  mit  einem  Bock  in  phallischer  Kraft  wett- 
eiferte (bei  Athenaeus  verbindet  er  sich  mit  iünfeig  Jungfrauen 
in  Zeit  von  sieben  Nächten) ;  dass  (bei  Aelian)  ein  eifersüchtiger 
Bock  den  Ziegenhirten  Crathis  mit  dem  Tode  bestrafte,  weil  er 
an  seiner  Ziege  einen  Incest  verübt  hatte.  Nichtsdestoweniger 
nannten  schon  die  Griechen  ein  unmoralisches,  ehebrecherisches 
Weib   ai^,   wie   wir  Italiener   capra.     Columella   giebt  uns   den 


*  Darauf  spielt  das  Epigramm  des  Martial  an: 

„Tarn  male  Thais  ölet,  quam  non  fuUonis  avari 

Tecta  vetus  media,  sed  modo  fracta  via. 
Non  ab  amore  receos  hircus,"  etc. 


j 


335 

4 

Schlttssel  des  Räthsels^  indem  er  bemerkt,  dass  der  Bock  durch 
den  Missbraueh  der  Venas^  die  er  zn  früh  braacbte  (wie'  der 
Esel);  schon  Vor  seinem  sechsten  Jahre  impotent  wurde,  so  dass 
er  nicht  ans  Gleichgiltigkeit ;  sondern  nur^  weil  er  nicht  anders 
kann  ^  dem  untreuen  Treiben  seiner  Ziegen  ruhig  zusiebt.  Da- 
her die  Anwendung  von  hircosus  bei  Plantus  auf  einen  alten 
Mann. 

Die  griechische  Sage  ist  eS;  welche  mehr  als  eine  andere 
den  Mythus  von  der  Ziege  und  dem  Schafe  iii  allen  ihren  Er- 
scheinungsformen —  dämonischer,  göttlicher  und  der  dazwischen 
liegenden  —  zu  einer  grösseren  Ausdehnung  entwickelt  hat. 

Das  goldene  Fliess  oder  das  Fliess  des  Schafes  oder  Wid- 
ders, welches  von  Phrixus,  dem  Sohne  der  Nephele  (Wolke),  und 
Helle  ^  nach  Colchis  gebracht  worden  war;  Jupiter  Ammon  (im 
fünften  Buche  von  Ovid's  Metamorphosen),  welcher  aus 
Furcht  vor  den  Riesen  (wie  sich  im  letzten  Buche  des  Rämä- 
y  a  9  a  die  Götter,  von  den  Ungeheuern  erschreckt,  in  verschiedene 
Thiere  verwandeln)  sich  in  Lybien  in  Gestalt  eines  gehörnten 
Widders  verbirgt;  der  Altar  Apollos  auf  der  Insel  Delos,  der  mit 
unzähligen  Hörnern  vereehen  war;  die  wolligen  Felle,  in  welchen 
nach  Strabo  (im  zehnten  Buch)  die  Iberier  Gold  sammelten,  wo- 
her nach  der  Meinung  des  griechischen  Geographen  die  Fabel 
von  dem  goldenen  Fliess  entstanden  ist;  das  goldene  Lamm,  das 
von  Atreus  gehalten  wurde,  welches  den  Thyestes  auf  den  Thron 
bringen  sollte,  und  der  Name  des  Aegisthus,  der  eine  Frucht  des 


'  Mit  diesem  Mythus  von  dem  Bruder  Phrizus  und  seiner  Schwester 
Helle,  welche  mit  dem  Schaf  über  das  Meer  durch  die  Luft  fliegeu,  hängt 
das  russische  Mährchen  von  Iwan  und  Helene  zusammen,  das  oben  erwähnt 
wurde;  Iwan  wird  in  ein  kleines  Zicklein  oder  Lamm  verwandelt  In  der 
italienischen  Variation  dieses  Mährchens  wird  die  Schwester  von  der  Hexe 
in  das  Meer  geworfen.  —  Während  Bruder  und  Schwester  auf  dem  gol- 
denen Widder  über  den  HeUespont  setzen,  fällt  Helle  in  das  Meer.  Wir 
erfahren  von  Apollonius,  im  zweiten  Buche  der  Argonaut. ,  dass  das 
Fliess  des  Schafes  erst  Gold  wurde,  als  es  bei  seiner  Ankunft  in  Colchis 
geopfert  und  an  einer  Eiche  aufgehängt  wurde.  Der  Wolkenwidder  wird 
erst  am  Morgen-  und  am  Abendhimmel  golden.  —  Das  glänzende  Fliess  lässt 
sich  vielleicht  in  der  Braut  des  Rigveda  wiedererkennen,  welche,  auf  die 
Erzählungen  von  Kakshivant Bezug  nehmend,  sagt:  „Jeden  Tag  werde  ich 
sein  (eigentlich:  bin  ich)  gleich  dem  kleineu  wolligen  Schaf  der  gandhäris 
(sarv&ham  asmi  roma^  gandhärin&m  ivdvikft),"  Rigv.  I,  126,  7.  Wie  hier 
eine  etymologische  Analogie,  so  liegt  vielleicht  auch  eine  mythbche  zwi- 
schen den  gandhäris  und  den  gandharvas  vor. 


336 

Incestes  des  Tbyest  mit  seiner  eigenen  Tochter  war;  Pan  (mit 
.  Bocksfüssen,  der  Sohn  des  Bockes  Zeus  oder  Hermes),  welcher 
im  fünften  Buche  der  Saturnalia  des  Macrobius  den  Mond 
liebt  und  seine  (d.  h.  der  Selene)  Liebesgunst  geniesst  durch  ein 
Schaf  mit  weisser,  aber  rauher  und  grober  Wolle;  Endymipn,  der 
nach  dem  Commentator  Servius  die  Liebe  der  Luna  durch  ausser- 
ordentlich weisse  Scliafe  gewinnt;  Neptun,  welcher  in  Qestalt 
eines  Widders,  im  sechsten  Buche  der  Metamorphosen,  die  schöne 
Jungfrau  Bisaltis  verführt;  die  Satyrn,  die  Faune  mit  Bocksfüssen, 
in  welche  die  Götter  sich  verwandeln,  um  Nymphen  oder  irdische 
Mädchen  zu  verführen,  wie  z.  B.  wiederum  Jupiter  in  demselben 
Buche  der  Metamorphosen: 

„Satyri  celatus  imagine  pulchram 
Jupiter  implevit  gemino  Nycteida  foeta;** 

Hermes,  der  xqtotpoqogj  der  Widder  tragende  (d.  h.  der  einen  Wid- 
der trägt,  welcher  das  Land  von  der  Pest  befreit,  eine  Form 
St.  Jacobs) ;  die  beiden  vorbestimmten  Schafe,  welche  Epimenides, 
um  die  Seuche  aus  Athen  zu  vertreiben,  nach  Diogenes  Laertius 
in  der  siebenundzwanzigsten  Olympiade  opfert;  die  meckernden 
Ziegen,  welche  König  Priamus  (in  den  Fragmenten  des  Ennius) 
opfert,  um  das  durch  böse  Träume  gedrohte  Unheil  zu  ver- 
scheuchen; das  schwarze  Schaf,  welches  dem  Pluto,  der  Proser- 
pina, den  Furien  und  allen  unterirdischen  Gottheiten  geopfert 
wird;  das  Lamm,  der  Widder  und  der  Bock,  welche  den  Parzen 
geopfert  werden  in  dem  sibyllinischen  Verse: 

„Cum  nox  atra  premit  terrain,  tectusque  latet  Sol;" 

das  weisse  Lamm,  welches  dem  Hercules,  dem  Mars,  dem  Ju- 
piter, dem  Neptun,  dem  Bacchus,  dem  Pan,  dem  Apollo  (d.  h. 
wenn  die  Sonne  scheint),  der  Ceres  (der  Göttin  der  hellfarbigen 
Kornähren),  der  Venus,  den  Göttern  und  Göttinnen,  seinen  gött- 
lichen Erscheinungsformen  geopfert  wird  (similia  similibus) ;  und 
noch  mehre  andere  mythische  Begriffe  (nicht  zu  sprechen  von  der 
sehr  volksthUmlichen  Sage  von  der  Ziege  Amalthea,  welche  den 
Zeus  mit  ihrer  Milch  nährte  und  von  demselben  für  diesen  Dienst 
unter  die  Sterne  versetzt  wurde,  unter  dem  Namen  AX^  ovqovUx 
oder  himmlische  Ziege,  nachdem  er  ihr  ein  Horn  abgenommen, 
um  aus  Dankbarkeit  den  beiden  Nymphen,  welche  ihn  beschützt 


337 

hatten,  die  Fähigkeit  zn  verleihen^  Allee,  was  sie  begehrten,  ans 
demselben  strömen  za  lassen) ;  ^  all  dies  spricht  höchst  beredt  fUr 
die  weitverbreitete  Verehrung,  welche  die  Ziege  und  das  Schaf 
sogar  im  griechisch-römischen  Alterthum  genossen,  wodurch  sie 
die  mythischen  und  legendarischen  Sagen  dieser  Nationen  mit 
vielen  Episoden  bereicherten,  und  welche  ihnen  bald  als  den 
Typen  eines  Gottes,  bald  als  denen  eines  Dämons»  bald 
auch  als  denen  eines  Mitteldinges,  wie  z.  B.  der  Satyrn,  zu  Theil 
wurde. 

Ebenso  wie  das  mythische  Pferd  vom  Abend  bis  zum  Morgen 
drei  sichtbare  Phasen  hat  —  schwarz,  grau  und  weiss  oder  roth 
—  und  wie  der  mythische  Esel  Gold  fallen  lässt  und  goldene 
Ohren  hat,  so  lassen  auch  die  Ziege  und  das  Schaf  des  Mythus, 
welche  in  der  Nacht  oder  in  der  Wolke  dunkelfarbig  sind,  Gold 
fallen  und  haben  goldene  Homer,  welche  Ambrosia  ausströmen, 
oder  haben  auch  sogar  das  Ftlllhorn  selbst.  Es  ist  immer  der- 
selbe Mythus  von  dem  wolkigen  und  wasserreichen,  dem  nächt- 
lichen und  finsteren  Himmel,  mit  seinen  beiden  düsteren  Däm- 
merungen oder  Auroren,  oder  aber  von  dem  glänzenden  himm- 
lischen Helden,  welcher  die  Nacht  oder  die  Wolke  (oder  die 
Winterszeit)  durcheilt,  verkleidet  in  der  Gestalt  verschiedener 
Thiere,  bald  aus  eigenem  Antriebe,  bald  durch  göttlichen  Fluch 
oder  diabolische  Zauberkraft  gezwungen. 

Im  dritten  Buche  der  Aristotelischen  Thiergeschichte  lesen  wir 
von  dem  Flusse  Psikros  in  Thracien,  dass  weisse  Schafe,  wenn 
sie  von  ihm  trinken,  schwarze  Lämmer  werfen,  dass  es  in  Antan- 
drien  zwei  Ströme  giebt,  deren  einer  die  Schafe  schwarz,  deren 
anderer  sie  weiss  macht,  und  dass  der  Fluss  Xanthus  oder  Ska- 
mander  die  «Schafe  schön  (oder  golden)  macht  Dieser  Glaube 
involvirt  die  drei  Verwandlungen  des  himmlischen  Helden  in  die 
drei  Böcke  oder  Widder  von  verschiedener  Natur,  von  denen  die 
Bede  war.   Die  letzte  Umwandlung  lenkt  unsere  Aufmerksamkeit 


'  Ovid  nennt  die  Ziege  „haedomm  mater  formosa  dnoniin*'  and  singt, 
dass  die  Ziege  selbst  eines  ihrer  Homer  an  einem  Baum  zerbrach,  wel- 
ches Uom  die  Nymphe  Amalthea  anfrafile  — 

ffdecentibus  herbis 
£t  plenum  pomis  ad  Jovis  ora  tulit;'* 
und  Jopiter,  als  er  Herr  des  Himmels  ist,  zor  Belohnong  — 
„Sidera  nutricem,  nutricis  fertile  comu 

Fecit,  quod  dominae  nunc  quoque  nomen  habet/' 

OabenuUlfl,  die  Thiere.  23 


338 

auf  dies  Schaf  mit  goldener  Wolle ,  das  goldene  Lamm  und  das 
Agnus  Dei,  das  Symbol  von  Glück,  Macht  und  Reichthum. 
Beichthum  an  Schafön  wurde  noch  mehr  als  Reichthum  an  Kühen 
das  Symbol  für  Reichthum  überhaupt.  Das  Horn  goss  jede  Art 
von  Schätzen  auf  die  Erde  aus  und  auf  der  Erde  selbst  wurde 
das  pecus  —  pecunia. 


339 


KAPITEL  V. 
Das  ISehweiiiy  der  wilde  £ber  und  der  Igel. 

Das  Schwein  sowohl  wie  auch  der  wilde  Eber  ist  eine  an- 
dere der  vielen  Gestalten,  welche  die  Sonne,  als  mythischer  Held, 
so  oft  in  der  Dunkelheit  der  Nacht  oder  der  Wolken  annimmt, 
und  zwar  zuweilen,- um  sich  vor  ihren  Verfolgern  zu  verbergen, 
zuweilen  um  sie  zu  vernichten,  manchmal  aber  auch  infolge  eines 
göttlichen  oder  dämonischen  Fluches.  Diese  Gestalt  ist  zuweilen 
eine  finstere  und  dämonische  Vermummung  des  Helden,  weshalb 
das  Gedicht  von  dem  Riesenweibe  Hyndla  in  der  Edda  das 
Schwein  ein  Heldenthiei*  nennt;  oft  jedoch  birgt  sie  den  Dämon 
selbst.  Wenn  der  Sonnenheld  in  das  Reich  des  Abends  eintritt, 
verschwindet  die  Gestalt  des  schönen  Jünglings  oder  glänzenden 
Prinzen,  die  er  vorher  hatte;  doch  er  selbst  stirbt  gewöhnlich 
nicht  dabei,  sondern  kleidet  sich  nur  in  eine  andere,  hässlichere, 
eine  ungeheuerliche  Gestalt.  Der  schwarze  Stier,  das  schwarze 
Ross,  das  graue  Ross,  das  bucklige  Pferd,  der  Esel  und  die  Ziege 
—  alle  sind  Formen  derselben  Verkleidung,  mit  der  vnr  schon 
bekannt  sind.  Der  tausendbäuchige  Indra,  der  seine  Testikeln 
verloren  hat,  Arguna,  der  sich  als  Eunuch  verkleidet,  Indra, 
Vishnu,  Zeus,  Achilles,  Odin,  Thor,  Helgi  und  viele  andere  my- 
thische Helden,  die  sich  als  Weiber  verkleiden,  femer  die  zahl- 
reichen schönen  Heldinnen,  welche  sich  in  Mythus  und  Sage  als 
bärtige  Männer  verkleiden  —  Alle  sind  alte  Gestalten,  unter  denen 
der  Uebergang  entweder  der  Sonne  oder  der  Abend-Aurora  in 
die  Finsterniss,  Wolke,  den  Ocean,  Wald,  die  Höhle  oder  Hölle 
Nacht  und  Winter  dargestellt  wurde.  Der  gelähmte,  geblendete, 
gebundene,  ertrunkene,  oder  in  einem  Walde  begrabene  Held 
wird  verständlich,  wenn  man  ihn  auf  die  Sonne  bezieht,  welche 
sich  den  Bergesrand  hinabstürzt,  welche  sich  in  der  Dunkelheit 
verliert,  welche  von  den  Banden  des  Dunkels  gefesselt  v^ird, 
welche  in  den  Ocean  Nacht  hinabtaucht,  oder  welche  sich  vor 
unsem  Blicken  in  dem  nächtlichen  Walde  verbirgt.  Die  leuch- 
tende und  erleuchtende  Sonne  geht ,  wenn  sie  in  der  dunklen 
Nacht  aufhört  zu  scheinen,  der  Sehkraft  verlustig,  ebenso  aber 

auch  der  Geisteskraft  —  sie  vnrd  dunmL    Der  schöne  Sonnen- 

22* 


340 

held  wird  hässlich,  wenn  mit  Beginn  der  Nacht  sein  Olanz  weicht; 
der  starke;  rothe,  gesunde  Sonnenheld,  der  in  der  Nacht  erblasst 
nnd  schwarz  wird,  wird  krank.  Wir  sagen  noch  heat  in  Italien, 
wenn  wir  die  Sonne  ihren  hellen  Schein  verlieren  und  erbleichen 
sehen:  Die  Sonne  ist  krank. 

Im  117.  Hymnos  des  ersten  Baches  des  Uigveda  heilen 
die  A^vins  die  aussätzige  Tochter  Kakshivants,  Ghoshä,  welche 
gattenlos  in  ihres  Vaters  Hause  altert,  und  finden  einen  Qatten 
für  sie;  die  Agvins  befreien  die  Aurora  aus  dem  Dnnkel  der 
Nacht  und  heirathen  sie.  ^ 

Im  achtzigsten  Hymnus  des  achten  Buches  des  Bigveda 
kehrt  derselbe  Mythus  mit  Beziehung  aof  Indra  und  vollständiger 
wieder.  Wir  bemerkten  schon  im  ersten  Buche  des  ßigveda 
das  Mädchen  Apälä,  das  von  dem  Berge  herabsteigt,  um  Wasser 
zu  holen,  den  Soma  aus  dem  Brunnen  heraufzieht  (die  Ambrosia 
oder  auch  den  Mond,  woher,  wie  mir  scheint,  der  Ursprung  des 
italienischen  Sprichwortes:  „Pescare,  or  mostrare  la  luna  nel 
ozzo%  den  Mond  im  Brunnen  fischen  oder  zeigen-,  was  dann 
corrumpirt  wurde  zur  Bezeichnung  Jemandes,  der  Unwahres  oder 
Unmögliches  erzählt),  und  bringt  ihn  zu  Indra,  dem  wohlbe- 
kannten Trinker  von  Ambrosia  (die  hier  mit  dem  Monde  oder 
Soma  indentificirt  ist).  Indra,  mit  dem  Mädchen  zuMeden,  willigt 
ein,  so  hässlich  und  missgestalt  sie  ist,  über  die  drei  himmlischen 
Stationen,  d*  h.  über  seines  Vaters  Kopf;  ihre  weite  Brust  und 
ihren  Busen  hinwegzuschreiten.  ^  In  der  letzten  Strophe  des  er- 
wähnten Hymnus  macht  Indra  ein  glänzendes  Kleid,  eine  Sonnen- 
haut, für  Apal&,  welche  dreimal  gereinigt  worden  ist,  durch  das 
Bad,  durch  den  Wagen  selbst  und  durch  die  Deichsel  von  In- 
dras  Wagen.  ^  Und  derselbe  Mythus  kehrt  noch  einmal  deut- 
licher nnd  vollständiger  in  einer  Sage  der  Brihaddevatä  wie- 
der. Apalä  ersucht  Indra,  den  sie  liebt,  ihr  eine  schöne  und  voll- 
kommene (fehlerlose,  tadellose)  Haut  zu  geben.  Als  Indra  ihre 
Stimme  hört;  schreitet  er  über  sie  mit  Kad,  Wagen  und  Deichsel; 
mit  dreimaliger  Anstrengung  nimmt  er  ihr  die  hässliche  Haut  ab ; 
Apäl&  erscheint  darauf  in  einer  schönen.    An  der  so  abgestreiften 


'  Vgl  Theü  n,  Kap.  X. 

*  Im&ni  trini  vish^pA  t4uindra  vi  rohaya  Qiras  tatasjorvarftm  äd  idam 
ma  upodare. 

*  Khe  rathasya  khe  'nasally  khe  jugasya  ^atakrato  apftlftm  indra  trish 
pAtvy  akfinoll^  sdryatvaöam* 


341 

Hant  waren  ßoi-stcn  (^alyaka) ;  oben  hatte  sie  eine  rauhe  Aossen- 
seite^  unten  war  sie  wie  die  Haut  einer  Eidechse  ^  Die  Borsten 
oder  Stacheln  auf  der  Haut  Apäläs  wecken  natürlicherweise  die 
Vorstellung  des  Igels,  des  Stachelschweines ^  des  wilden  Ebers 
und  des  borstigen  Schweines.  Die  Aurora  glänzt,  wie  der  ve- 
dische  Hymnus  singt,  nur  beim  Anblicke  ihres  (Gemahls ;  so  wird 
Apälä  mit  der  hässlichen  oder  Schweinshaut  und  Qhoshä,  das 
aussätzige  Mädchen,  jglänzend  und  gesund  durch  die  Qnade  ihres 
Gatten.  So  erscheint  Cinderella  oder  die,  welche  ein  aschfarbenes 
oder  (gleich  dem  Nachthimmel)  dunkelfarbenes  Kleid  anhat  (in 
russischen  Mährchen  heisst  Cinderella  Cernushka,  d.  i.  kleine 
Schwarze,  wie  auch:  kleine  Schmutzige),  nur  dann  ausserordent- 
lich schto,  wenn  sie  sich  im  Ballsaal  des  Prinzen  oder  in  der 
Kirche  oder  im  Kerzenglanz  oder  in  der  Nähe  des  Prinzen  be- 
findet: die  Aurora  ist  nur  dann  schön,  wenn  die  Sonne  nahe  ist 
In  dem  achtundzwanzigsten  Mährchen  des  sechsten  Buches 
bei  Afanassieff  bedeckt  sich  das  vom  eigenen  Vater  verfolgte 
Mädchen,  das  dieser  heirathen  will,  weil  er  sie  ebenso  schön 
findet  als  ihre  Mutter  (die  Abend-Aurora  ist  so  schön,  wie  die 
Morgen-Aurora),  mit  einer  Schweinshaut,  die  sie  erst  ablegt,  als 
sie  sich  mit  dem  jungen  Prinzen  vermählt  *    In  einem  anderen 


'  Sulomäm  anavadyftfigim  kam  mftm  ^akra  sutvai^m 
Tasyfts  tad  vadanam  ^ruivft  pntas  tena  parandaral|^ 
Bathadhidrena  tim  indral|^  9akafa8ya  yogasya  6a 
Prakshipya  ni^dakareha  tris  tatal^  sft  sutvadä  'bhavat 
Tasy&m  tvadi  vyapetftyftm  saryasyäm  ^alyako  'bhavat 
Uttarä  tv  abhavad  godhä  krikalä9a8  tvag  uttamft. 
Godhä  scheiot  zu  bedeuten:  „der  die  Gestalt  eines  Haares  hat^  (go 
bntuDter  anderen  Bedeutungen  auch  die  von:  Haar).  Als  Thier  erkennen 
die  WÖrterbb.   auch  in  godh&  eine  grosse  Eidechsenart.    Doch  vielleicht 
können  wir  es  auch  mit  Kröte  oder  Frosch  übersetsen;  wir  würden  dann 
auch  die  Fabel  von  dem  Frosch  verstehen,  welcher  dem  Ochsen  gleichen 
will.    Ich  bemerke  femer,  um  ein  Beispiel  von  der  Leichtigkeit  su  geben, 
mit  welcher  wir  von  dem  Ochsen  auf  den  Frosch  und  von  dem  Frosch  auf 
die  Eidechse  kommen  können,  wie  in  dem  rassischen  Mährchen  bei  Afa- 
nassieff n,  23  eine  schöne  Prinzessin  in  dnem  Frosdli  verborgen  ist; 
in  toscanischen ,  piemontesischen  und  sicilianuchen  Mährchen  ist  es  statt 
des  Frosches  eine  Kröte.    In  den  Mährchen  des  Pentamerone  ist  die 
gute  Fee  eine  lacerta  cornuta  (eine  gehörnte  Eidechse).    Auch  Qhoshä 
hat  im  Sanskrit  noch  den  Rinderen  Namen  karkata^ingi,  gehörnter  Krebs. 
In  andern  Versionen  ist  der  junge  Prinx  ein  Bock  oder  ein  Drache. 

*  Zu  dem  verfolgten  Mädchen  in  Verbindang  mit  dem  Schweine  vgL 
auch  Pentamerone  III,  lOi 


I, 


U7 

Bttdmssischen  Mährchen  >  haben  wir  statt  dessen  einen  Königs- 
sobn ,  den  sein  Vater  verfolgt  und  der  sein  väterlicbes  Haus  in 
einem  Rock  aus  Schweinshaut  verlassen  mass.  In  einem  noch 
nicht  publicirten  Montferratensischen  Mährchen^  de^en  Mittbeilung 
ich  der  Güte  des  Herrn  Dr.  Ferraro  verdanke,  wird  das  von 
seiner  Stiefinutter  verfolgte  Mädchen  dazu  verurtheilt,  in  einer 
Nacbt  eine  unermesslicbe  Anzahl  von  Aepfeln  zu  essen ;  vermit- 
telst zweier  Schweinsborsten  ruft  sie  eine  ganze  Legion  Ferkel 
herbei,  welche  die  Aepfel  statt  ihrer  verzehren. 

Was  die  Deichsel  von  Indras  Wagen  in  dem  unteren  Busen 
Apäläs  betrifft,  so  scheint  sie  mir  eine  phallisohe  Bedeutung  zu 
haben.  Indra  kann  Apäla  dadurch,  dass  er  sie  heirathete,  ge- 
heilt haben,  wie  die  A^vins  durch  einen  Gatten  die  aussätzige 
Ghoshä  heilten,  welche  in  ihres  Vaters  Hause  alt  wurde.  In  der 
zehnten  Erzählung  des  Pentamerone  heirathet  der  König  von 
Roocaforte  eine  iJte  Frau,  in  dem  Wahne,  es  sei  eine  junge.  Er 
wirft  sie  zum  Fenster  hinaus,  doch  sie  wird  in  ihrem  Fall  von 
einem  Baum  aufgehalten,  an  welchem  sie  hängen  bleibt;  die 
Feen  kommen  vorbei,  machen  sie  wieder  jung,  wie  auch  schön 
und  reich,  und  binden  ihr  Haar  mit  einem  goldenen  Bande  auf. 
Die  bejahrte  Schwester  der  alten  Frau,  welche  wieder  jung  ge- 
worden ist  (die  Nacht),  geht  zum  Barbier,  in  der  Hofiiiung,  das- 
selbe Resultat  einfach  dadurch  zu  erreichen,  dass  sie  sich  das  Fell 
abziehen  lässt,  und  wird  lebendig  geschunden.^  Nach  italieni- 
schem Glauben  ist  das  Schwein  dem  hlgen  Antonius  geweiht, 
dieser  aber  wird  auch  als  der  Beschützer  von  Ehen  gefeiert, 
gleich  dem  skandinavischen  Freyr,  dem  das  Schwein  geweiht  ist 

Die  Gefährten  des  Odysseus,  von  der  buhlerischen  Zauberin 
Circo  durch  giftige  Kräuter  in  unfläthige  Schweine  verwandelt, 
sind  nur  auf  Befriedigung  ihrer  sinnlichen  Triebe  bedacht;  darum 
sagt  Horaz  in  der  zweiten  Epistel  des  ersten  Buches: 

„Sirenum  voces,  et  Circes  pocula  nosti, 
Quae  si  cum  soeiis  stultus  cupidusque  bibisset, 
Sub  domina.  meretrice  fuisset  turpis  et  exeora 
Vixisset  canis  immundos,  vel  amica  luto  sus." 


»  Afan.  V,  38. 

'  Zu  dem  Mythus  von  den  beiden  Schwestern,  Nacht  und  Aurora, 
dem  schwarzen  Mädchen  und  dem,  welches  sich  in  schwane,  graue  oder 
Aschfarbe  kleidet,  vergleiche  auch  Pentamerone  II,  2. 


343 

Das  Schwein  ist  als  eines  der  lüsternsten  Thiere  der  Venus  ge- 
weiht; aa>)  diesem  Grande  werden  nach  den  Lehren  der  Pytha- 
goräer  lüsterne  Menschen  in  Schweine  verwandelt  and  wird  aaf 
einen  Menschen,  der  jeder  Art  von  Begierde  ergeben  ist,  die  Be- 
zeichnung „Schwein"  angewandt.  Bei  Varro  *  lesen  wir:  — 
„Nuptiarum  initio  antiqui  reges  ac  sublimes  viri  in  Hetruria  in 
conjunctione  nuptiali  nova  nupta  et  novas  maritus  primum  porcum 
immolant;  prisci  qaoque  Latini  et  etiam  Graeci  in  Italia  idem 
fecisse  videntor;  nam  et  nostrae  mulieres,  maxim  ae  nutrices  na- 
turam,  qua  feminae  sunt,  in  virginibus  appellant  porcum  et 
graece  xoIqovj  significantes  esse  dignum  insigni  nuptiamm/^  Die 
Deichsel  Indras,  die  über  den  upodara  (oder  unteren  Busen)  Apä- 
läs  fährt;  wird  durch  diese  Stelle  bei  Varro  illustrirt. 

Was  den  wilden  Eber  betrifft,  so  ist  sein  Charakter  gewöhn- 
lich dämonisch;  doch  der  Grund,  weshalb  die  indischen  Götter 
mit  dieser  Gestalt  bekleidet  wurden,  liegt  zum  grössten  Theile  in 
sprachlichem  Doppelsinn.  Das  Wort  vishnu  bedeutet:  „der,  der 
durchdringt ;''  wegen  seiner  scharfen  Hauer  heisst  in  einem  ve- 
dischen  Hymnus  *  der  wilde  Eber  vishnu  oder  der  Durchdringer. 
In  wahrscheinlich  ganz  analoger  Weise  wird  dann  in  einem  an- 
dern Hymnus  fiudra,  der  Vater  der  Maruts,  der  Winde,  als  ein 
rother,  behaarter,  schrecklicher,  himmlischer  wilder  Eber*  ange- 
rufen, während  die  Maruts  selbst  angerufen  werden,  wenn  die 
Donnerkeile  in  der  Gestalt  von  wilden  Ebern  erscheinen,  welche 
aus  den  eisernen  Zähnen  und  goldenen  Rädern  herausrennen,* 
d.  h.  getragen  von  dem  Wagen  der  Maruts,  der  Winde,  von 
denen  es  auch  heisst,  sie  hätten  Zungen  von  Feuer  und  Augen 
gleich  der  Sonne.  ^    Vishnu  selbst  bringt  im  Bigveda  auf  An- 


>  De  Re  Rnstica  II,  4. 
»Rig 7.  I,  61,  7. 

*  Divo  varftham  arusham  kapardinam  tvesham  rüpaih  namaeä  ni  hyayft- 
mahe;  Bigy.  I,  114,  5. 

*  Pa^yan  hiranyacSakrän  ayodaösfatrftn  vidhftyato  varähftn;  Bigv.  I, 
88,  5.  ' 

^  Agni^il^vä  manayal^  sürac^akshasa;  Bigv.  I,  89,  7.  —  In  der  Edda 
wird  der  Wagen  Freyrs  Yon  einem  Eber  gezogen.  Der  Kopf  des  mythi- 
schen Schweines  ist  glänzend.  In  dem  achtundzwanzigsten  Mährchen  des 
weiten  Buches  bei  Afanassieff  erhält  Iwan  Duräk  von  den  beiden 
jungen  Helden,  welche  ihm  in  wunderbarer  Weise  erscheinen,  drei  Wun- 
dergaben, d.  h.  das  Schwein  mit  goldenen  Borsten,  den  Bock  mit  goldenen 
Hörnern  und  Schwanz  und  das  Pferd  mit  Mahne  und  Schwanz  von  Gold. 


I 

■ 


344 

trieb  ladras  hundert  Ochsen,  die  milchige  Grütze  nnd  den  ver- 
nicfatenden  wilden  Eber.  ^  Deshalb  liebt  Indra  selbst  die  Gestalt 
eines  wilden  Ebers ^  welcher  im  Avesta  sein  alter  ego  ist. 
Veretraghna  tritt  in  derselben  Gestalt  auf.  Wir  wissen,  dass  die 
Sonne  (bisweilen  der  Mond)  in  Gestalt  eines  Widders  oder 
Bockes  g^en  die  Wolke  oder  die  Dunkelheit  drängt  nnd  stösst, 
bis  er  sie  mit  seinen  goldenen  Hörnern  durchbohrt;  so  entwickelt 
auch  Vishnu,  der  Durchdringe  ^  mit  seineu  schiarfen  goldenen 
Hauern  (Donnerkeilen,  Mondhömem  und  Sonnenstrahlen)  in  der 
Finstemiss  und  der  Wolke  so  grosse  Stärke,  dass  er  beide  durch- 
bricht und  glänzend  und  siegreich  heraustritt.  Nach  den  pura- 
nischen  Traditionen  zog  Vishnu  in  Gestalt  eines  wilden  Ebers  in 
seiner  dritten  Inkarnation,  als  er  den  Dämon  Hirai^yäksha  (d.  h. 
den  mit  dem  goldenen  Auge)  tödtete,  die  Erde  aus  den  Wassern 
(oder  aus  dem  Ocean  der  feuchten  und  finsteren  Nacht  des  Win- 
ters). ^  Nach  dem  Rämäyana^  nahm  Indra  die  Gestalt  eines 
wilden  Ebers  unmittelbar  nach  seiner  Geburt  an. 

Mit  dem  arkadischen  wilden  Eber  von  dem  Berge  Eryman- 
thos  ist  der  Leser  vertraut.  Herakles  tödtete  ihn  bei  seiner  drit- 
ten Arbeit,   ebenso  wie  Vishnu  bei  der  dritten  seiner  Inkama- 


*  Vi^vet  tft  visbnur  äbharad  urukramas  tveshita^  ^atam  mahishän  kshi- 
rapäkam  odanam  Yaräham  indra  emusbam;  Bigv.  VIIT,  66,  10.  —  In  der 
Thebais  des  Statius  (V,  487)  ist  ebenfalls  Tjdeus  in  den  Balg  eines  wil- 
den Ebers  gekleidet:  — 

„Terribiles  contra  setis  ac  dente  recurvo 
Tydea  per  latos  faumeros  ambire  laborant 
Exuviae,  Calydonis  bonos/* 

*  Nach  andern  Fabeln  stritten  sich  die  drei  Personen  der  Dreieinig- 
keit einst,  welchem  der  Vorrang  gebühre.  Brahman,  der  von  der  Spitze 
des  Lotus,  wo  er  sass,  Nichts  im  Universum  sah,  hielt  sich  für  das  Erste 
alles  Erschaffenen.  Er  stieg  in  den  Stamm  des  Lotus  hinab,  und  ab  er 
endlich  Nftiftyana  (Vishnu)  fand,  fragte  er  ihn,  wer  er  wäre.  „Ich  bin 
der  Erstgeborene,'^  entgegnete  Visbna ;  Brahmän  bestritt  ihm  diesen  Titel 
und  wagte  sogar,  sich  an  ihm  zu  vergreifen.  Doch  während  des  Kampfes 
warf  sich  Mahftdeva  (Qiva)  zwischen  sie  mit  dem  Rufe :  „Ich  bin  es,  der 
zuerst  geboren  ist.  Trotz  alledem  will  ich  den  als  mir  überlegen  aner- 
kennen, der  im  Stande  ist,  die  Spitze  meines  Hauptes,  oder  die  Sohle 
meines  Fusses  zu  sehen."  Vishnu  (als  verborgener  oder  unterirdischer 
Mond)  verwandelte  sich  in  einen  wilden  Eber,  bohrte  sich  durch  die  Erde 
und  drang  in  das  Reich  der  Hölle  ein,  wo  er  die  Füsse  MahAdevas  sah. 
Der  Letztere  grüsste  ihn  bei  seiner  Rückkehr  als  den  Erstgeborenen  der 
Götter;  Boumouf,  LTnde  Fran^aise. 

*  U,  119. 


345 

tionen  ein  wilder  Eber  wnrde ;  Ovid  beschreibt  ihn  sehr  schön  im 
achten  Buche  der  Metamorphosen: 

^angaine  et  igne  micant  ocoli,  riget  horrida  cerriz, 
Et  setac  densis  similes  hastiJibus  horreut 
StaDtque  velut  vallumi  velut  alta  hastilia  setae, 
Fervida  cum  rauco  latos  Stridore  per  armos 
dpama  fluit,  dentes  aeqnantor  deotibus  Indis, 
Fulmen  ab  ore  venit,  frondes  afflatibus  ardent/^ 

Der  wilde  Eber  des  Heleager  ist  eine  Spielart  gerade  dieses  Un- 
geheuers; es  ist  also  nicht  ohne  Grand;  dass^  ab  Heraklee  in 
das  Reich  der  Hölle  geht;  alle  Schatten  vor  ihm  fliehen;  ausge- 
nommen die  des  Heleager  und  der  Medusa.  Melei^r  und  He- 
rakles gleichen  einander,  werden  mit  einander  identificirt;  was 
die  Medusa  betrifit,  so  dürfen  wir  nicht  vergessen;  dass  daa 
Haupt  der  Qorgone  auf  der  Aegis  des  Zeus  dargestellt  war;  dass 
Gorgo  einer  von  den  Namen  ist;  welche  die  Pallas  ftthrte,  und 
dass  die  GorgoneU;  und  speciell  die  Medusa;  mit  dem  Guien  der 
Hesperiden  in  Zusammenhang  stehen;  in  welchem  die  goldenen 
Aepfel  wachsen. 

In  dem  einundseehszigsten  Hymnus  des  ersten  Buches  des 
Bigveda  tödtet  der  Gott,  nachdem  er  gut  gegessen  und  ge- 
trunken; mit  der  dem  himmlischen  Grobschmied  Tvashtar  gestoh- 
lenen Waffe  das  wilde  Eber-Ungeheuer;  welches  daS;  was  für  die 
Götter  bestimmt  ist;  stiehlt.^  Im  neunundneunzigsten  Hymnus 
des  zehnten  Buches  des  Bigveda  tödtet  Trita  (der  dritte  Bruder) 
durch  die  Stärke ;  die  er  von  Indra  erhalten,  das  wilde  Eber- 
Ungeheuer.*  Im  Taittiriya  Brähmana  finden  wir  eine  an-* 
dere  sehr  interessante  Stelle.  Der  wilde  Eber  hält  Wache  ttber 
den  Schatz  der  DämoneU;  welcher  in  sieben  Bergen  eingeschlossen 
ist  Indra  öffnet  mit  dem  heiligen  Kraut  glücklich  die  sieben 
Berge  ^  tödtet  den  wilden  Eber  und  entdeckt  in  der  Folge  den 
Schatz.  >  In  dem  ftinfundfiinfsägsten  Hymnus  des  siebenten  Buches 


'  Asyed  o  mfttu^  sayaneshu  sadyo  mahah  pitom  papiyftA  danr  anii& 
miishftyad  Tidmal^  pa^tam  sohiyftm  yidhyad  rarfthaih  tiro  adriia  aata; 
8tr.  7. 

*  Asya  trito  nv  o^ft  TridbAno  vipA  varftham  ayoagrayft  han;  Str.  6. 

*  Varahoyam  yamamoshah  saptanftm  giiinftm  parastftd  yittam  yedyam 
asorftDAm  yibharti,  sa  darbhapii&^am  (pUk^lam?)  nddbritya,  sapta  girin 
bhittvä  tarn  ahaaniti,  schon  angeführt  von  Wilson,  ^igv.  Sanh.  I,  164« 
-  Vgl.  TheU  U,  Kap.  VH, 


346 

de^Bigveda  zerreissen  sich  Schwein  und  Hund  einander;'  der 
Hund  und  der  Frischling  in  Uneinigkeit  ^  finden  sich  wieder  in 
der  äsopischen  Fabel. 

Im  Mahäbhärata^  nimmt  Puloman  die  Gestalt  eines  wil- 
den Ebers  an,  um  das  Weib  Bhrigus  zu  entführen;  sie  schenkt 
vor  der  Zeit  dem  Cyavana  das  Leben,  der  zur  Rache  für  seine 
Mutter  den  wilden  Eber  zu  Asche  verbrennt.  In  dem  toscanischen 
Volksmährchen  tödtet  der  dumme  Pimpi  das  Schwein ,  indem  er 
es  mit  der  Zange ;  die  er  im  Feuer  rothgltthend  gemacht  hat^ 
zwickt  und  quält.  In  dem  neunten  der  von  Frau  L.  Gonzenbach 
gesammelten  sicilianischen  Mährchen  lässt  Zafarana,  indem  sie 
drei  Schweinsborsten  auf  die  glühende  Asche  wirft;  den  alten 
Prinzen,  ihren  Gemahl,  wieder  jung  und  schön  werden;  es  ist  im- 
mer derselbe  durchsichtige  Mythus  (eine  Variation  der  Apälä). 
So  erlangt  in  dem  ersten  ehstnischen  Mährchen  der  Prinz  durch 
Essen  eines  Schweinefleischkuchens*  die  Fähigkeit,  die  Sprache 
der  Vögel  zu  verstehen ;  der  Held  eignet  sich  Arglist  an ,  wenn 
er  sie  noch  nicht  besitzt;  er  wird  schlau,  wenn  er  vorher  dumm 
war;  wir  finden  deshalb  auch  in  einem  Mährchen  bei  A  fan  as - 
sieff*  den  Wolf,  der  zuerst  vom  Hunde,  dann  voa  der  Ziege, 
endlich  von  dem  Schwein  betrogen  wird,  welches  ihn  beinahe  er- 
tränkt Der  Wolf  will  die  Jungen  des  Schweins  fressen;  dieses 
ersucht  ihn,  unter  einer  Brücke  zu  warten,  wo  kein  Wasser  ist, 
während  es  selbst,  wie  es  verspricht,  mittlerweile  die  jungen 
Ferkel  waschen  geht;  der  Wolf  wartet,  und  das  Schwein  geht, 
das  Wasser  laufen  zu  lassen ,  welches ,  als  es  unter  die  Brücke 
kommt,  das  Leben  des  Wolfes  in  Gefahr  bringt.  Daher  der  von 
Aristoteles  erwähnte  Glaube,  dass  das  Schwein  es  mit  dem  Wolf 
sehr  wohl  aufnimmt,  und  die  entsprechenden  griechischen  Fabeln. 
Diese  Schlauheit  erreicht  den  höchsten  Grad  im  Igel.  Die  Araber 
pflegen  zu  sagen :  „Der  Kämpe  der  Wahrheit  muss  besitzen :  den 
Muth  des  Hahnes,  die  Spürkraft  der  Henne,  das  Herz  des  Löwen, 
das  Ungestüm  des  wilden  Ebers,  die  Verschlagenheit  des  Fuchses, 
die  Klugheit  des  Igels,  die  Schnelligkeit  des  Wolfes,  die  Besigna- 


^  Tvam  sükarasya  dardrihi  tava  dardarta  sükarah;  Str.  4.  —  Der 
Hund  kommt  in  Verbindung  mit  dem  Schwein  auch  in  den  beiden  latei- 
nischen Sprichwörtern  vor:  „Canis  peccatum  aus  dependit*^  und  „Aliter  ca- 
tuli  longe  olent,  aliter  sues/' 

»  I,  898. 

•  Vgl.  Seite  117. 

•  IV,  13. 


347 

tion  des  Hundes  and  das  Temperament  des  Naguirs.^'  ^    Ein  dem 
Arebilochos  beigelegter  Vers  sagt: 

• 

woraus  das  Sprichwort  wurde :  „Ein  Possenstreicb  des  Igels  hat 
mehr  zu  sagen  als  viele  des  Fuchses."  In  dem  Aitareya 
•  Brähmana^  heisst  es  von  dem  Igel,  er  sei  aus  der  Kralle  des 
räuberischen  Falken  geboren.  In  den  äsopischen  Fabeln  kommt 
der  Wolf  zu  einem  Igel  und  gratulirt  sich  zu  diesem  Glück ;  doch 
der  Igel  wehrt  es  ab.  Der  Wolf  schmeichelt  ihm  und  ersucht 
ihn,  seine  Waffen  abzulegen,  doch  jener  antwortet,  in  der  Gefahr 
des  Kampfes  sei  es  unklug,  das  zu  thun.  Daher  der  verbreitete 
Glaube,  dass  der  Wolf  sich  vor  dem  Igel  fürchte;  daher  das 
Sprichwort:  „Es  ist  sehr  leicht,  den  Igel  zu  finden,  aber  sehr 
schwer,  ihn  zu  fassen."  In  einer  Fabel  des  Abstemius  erscheint 
der  Igel  als  Feind  nicht  nur  des  Wolfes,  sondern  auch  der 
Schlange;  er  spiesst  die  Viper,  die  sich  in  seine  Höhle  geflüchtet 
hat.  Diese  bittet  ihn,  hinauszugehn,  er  aber  antwortet:  „La^ 
den  hinausgehn,  der  nicht  bleiben  kann."  Der  Igel  sieht  so  aus, 
wie  ein  kleiner  wilder  Eber;  als  Feind  des  Wolfes  und  der 
Schlange  scheint  er  mir  den  Zwerg  Vish^u  und  den  wilden  Eber 
Vishnu,  den  Vertilger  der  Ungeheuer,  in  sich  zu  vereinigen ;  beide 
nehmen,  so  viel  wir  wissen,  fast  immer  in  der  indischen  Mytho- 
logie die  Gestalt  eines  Wolfes  oder  einer  Schlange  an.  Und  so- 
feme  VishnU;  wie  Indra,  ein  donnernder  und  regengebender  Gott 
ist,  in  seinem  Charakter  als  Sonne  in  der  Wolke  oder  nächt- 
licher und.  herbstlicher  Mond,  wird  auch  der  Igel  für  einen  Vor- 
boten von  Wind  und  Regen  gehalten.  Wenn  man  von  einem 
wilden  Eber  träumt,  so  ist  das^  ein  Zeichen  von  Sturm  und 
Regengüssen.  Hierauf  geht  auch  die  Fabel  von  den  Schweinen 
zurück,  welche  das  Schiff  der  Seeräuber,  von  denen  sie  gestohlen 
sind,  zum  Sinken  bringen.^  Dieser  Mythus  stellt  ganz  augen- 
fällig die  Wolken-Schweine  dar. 

Das  StachelEM)hwein  scheint  ein  Mittelding  zwischen  dem  Igel 


'  Daumas,  La  Vie  Arabe  XV  (p.  579).  Zu  naguir  bemerkt  Daumas: 
petit  animal  du  Khorassan,  teUement  robuste,  que  sa  sant^  ne  peut  Stre 
alt^räe  ui  par  les  fatigues,  ni  par  les  privations. 

>  III,  3,  26. 

'  Nach  Artemidor  bei  Aldrovandi,  De  Quadrup.  Digit  Viv.  IL 

*  Erwähnt  von  Aelian  und  Plinius. 


348 

tind  dem  wilden  Eber  zu  sein.  Nach  dem  Volksglanben  ist  die 
Asche  eines  todten  Stachelschweines^  auf  den  Kopf  gestrent,  ein 
vortreffliches  Mittel  gegen  Eahlheit  und  Ansfallen  der  Haare. 
Und  ebenso  wie  es  schwer  ist;  dem  Stachelschwein  die  Stacheln 
abzunehmen ,  so  ^^ntuntur  mnlieres  ad  discriminandos  capillos, 
nt  illos  eonservent  illaesos^  acnleis  potins  hystricnm  quam  acabus.^ 
Diese  Bemerkung  Aldrovandis  ist  insofern  besonders  interessant^ 
als  sie  uns  das  Verständniss  eines  nicht  ungewöhnlichen  Um- 
Standes  in  russischen  Mährchen  erschliesst.  Der  Held  und  die 
Heldin ;  welche  vor  dem  sie  .  verfolgenden  Ungeheuer  fliehen; 
haben  von  einem  guten  Zauberer  oder  einer  guten  Fee  einen 
Kamm  zum  (beschenk  erhalten ,  der  die  Eigenschaft  hat,  auf  die 
Erde  geworfen,  ein  dichtes  Dickicht  oder  einen  undurchdringlichen 
Wald  entstehen  zu  lassen,  welcher  den  Lauf  des  Verfolgers  auf- 
hält. ^  Es  ist  das  eine  Reminiscenz  an  das  Stachelschwein  ipit 
den  dichten  Stacheln,  an  den  borstigen  wilden  Eber,  an  die  fin- 
stere Nacht  oder  Wolke  selbst,  an  den  gehörnten  Mond,  welcher 
den  flüchtigen  Sonnenhelden  und  -heldin  vor  dem  Blicke  des  Ver- 
folgers verbirgt 

Trotz  alledem  spielen  das  Schwein  und  der  wilde  Eber  in 
der  indogermanischen  Sage  gewöhnlich  die  Rolle  des  Sünden- 
bocks  und  des  Esels  soufire-douleur.  Im  Paiicatantra  werden 
Ohren  und  Herz  des  vom  Löwen  zerrissenen  Esels  gefressen.  Bei 
Babrius  ist  an  die  Stelle  des  leichtgläubigen  E&ds  der  Hirsch  ge- 
treten (der  oft  in  den  Mythen  eine  Variation  des  närrischen  Hel- 
den ist).  In  den  Gesta  Romanorum'  verliert  der  wilde  Eber 
durch  seine  Einfältigkeit  erst  ein  Ohr,  dann  das  andere,  dann 
seinen  Schwanz;  zu  guter  Letzt  wird  er  getödtet,  und  sein  Herz 
vom  Koch  verspeist  In  Deutschland  ist  es,  wie  früher  in  Eng- 
land, Brauch,  am  Weihnachtstage  einen  geschmückten  Eberkopf 
bei  Tisch  zu  serviren,  ohne  Zweifel  als  ein  Symbol  des  finsteren 
Ungeheuer»  Winter,  welches  bei  der  Wintersonnenwende  getödtet 
worden  ist,  nach  der  die  Tage  immer  länger  und  heller  werden. 


*  A  fan.  V,  28. 

*  LXXXIII,  bei  Benfey  in  seiner  Einleitung  mm  PaÄdatantra.  — 
Die  Fabel  ist  der  dreissigsten  des  Avianos  entnommen,  wo  der  wilde  Eber 
seine  beiden  Ohren  verliert  and  dann  verspeist  wird;  dodi  der  Koch  (der 
in  der  Sage  den  schlauen  Helden  darstellt)  hat  sein  Uens  genommen,  um 
es  zu  essen:  — 

„Sed  cam  consampti  dominas  cor  qaaereret  Apri 
Impatiens,  fertur  (cor)  rapoisse  coqous/' 


349 

Aus  demselben  Grunde  gebt  das  gemeine  Volk  in  Deutschland 
am  Weihnaebtstage  oft  in  den  Schwein»tall  schlafen,  in  d^  Hoff- 
nung; dort  zu  träumen;  dieser  Traum  bedeutet  Gltlck.  Die  neue 
Sonne  wird  in  dem  Stall  des  Winter-Schweines  geboren;  auch 
der  Erlöser  wurde  in  einem  Stall  geboren;  nur  war  es  statt  des 
Schweines  der  Esel  (der  allerdings  im  Mythus  theilweise  mit 
jenem  equivalent  ist),  welcher  ihn  inne  hat.  Aus  diesem  Grunde 
auch  nin&mt  der  Teufel  im  deutschen  Aberglauben  oft  die  Gestalt 
eines  Eber-Ungeheuers  an,  das  der  Held  tödtet.  ^  Der  wilde 
Eber  wird  als  ein  aversier  (Dämon)  auch  in  dem  Roman  von 
Garin  le  Loherain*  beschrieben  — 

„Voi^  quel  aversier. 
Grant  a  le  dent  fors  de  la  gueule  un  piet 
Mult  fd  hardk  qui  a  cop  Tatendi^«" 

Der  Verfasser  der  Loci  Communes  sagt;  dass  Ferqu- 
har  IL;  König  von  Schottland;  von  einem  wilden  Eber  getödtet 
wurde;  andere  Schriftsteller  berichten  unS;  dass  sein  Tod  durch 
einen  Woll'  verursacht  war;  doch  wir  wissen  schop;  wie  im  My- 
thus Wolf  und  wilder  Eber  bisweilen  gleichwerthig  mit  einander 
sind. 

Ebenso  wie  Visb^u  sich  in  einen  wilden  Eber  verwandelte, 
lud  das  Schwein  dem  skandinavischen  Mars  heilig  war,  so  war 
der  wilde  Eber  dem  römischen  und  griechischen  Mars  heilig,  und 
Mars  nahm  sogar  selbst  die  Gestalt  eines  wilden  Eber-Ungeheuers 
an,  um  den  von  der  Venus  geliebten  jungen  Adonis  zu  tödten« 
Doch  ist  kein  Gott  oder  Heiliger  so  vollkommen,  dass  er  nicht  einmal 
im  Leben  einen  Fehltritt  begehen,  wie  auch  kein  Dämon  so  ver- 
dorben, dass  er  nicht  wenigstens  ein  Mal  Gutes  thun  sollte.  Die 
Vertreter  der  Gegensätze  wechseln  die  Rollen.  Bei  Servius  wird 
durch  den  Fangzahn  eines  wilden  Ebers  die  Binde  von  dem  Baum 
geschält,  in  welchem  Myrrha,  nach  dem  Incest  mit  ihrem  Vater 
von  Adonis  schwanger,  sich  eingeschlossen  hat  (wir  sahen,  im 
Gegensatz  dazu,  oben  Indra,  welcher  mit  einem  Ej*aut  das  Ver- 
steck des  wilden  Ebers  öfEnet,  um  ihn  zu  tödten).    Wir  haben 


^  Auch  bei  Du  Gange  f^aper  signifieat  diabolum;  Papias  M.  S.  ßitor. 
Ex  ülo  Scripturac:  ,Singulari8  aper  egressus  est  de  silva*/*  —  Vgl.  auch 
Uhland,  Schriften  zur  Geschichte  der  Dichtung  und  Sage,  III, 
141  f. 

>  n,  220  £P.  (angef.  von  Uhland). 


350 

hier  wiederum  den  blutschänderischen  Vater ^  das  Mädchen  in 
dem  Holzkleide,  den  Wald,  den  durchdringenden  Haner  des  wil- 
den Ebers,  der  den  Wald  der  Nacht  durchbricht,  und  den  jungen 
Helden  in  Stand  setzt,  herauszutreten,  den  er  jedoch  am  Abend 
aus  Eifersucht  tödtet.  Auch  in  dem  alten  schwedischen  Volks- 
glauben tödtet  der  wilde  Eber  die  Sonne,  während  sie  in  einer 
Höhle  schläft,  und  ihre  Pferde  grasen.  Zu  beachten  ist  femer 
der  Doppelcharakter  des  Hauers  des  nächtlichen  lunaren  wilden 
Ebers;  am  Morgen  ist  es  ein  lebengebender  Hauer,  der  den 
Sonnenhelden  in  Stand  setzt,  geboren  zu  werden;  am  Abend  ist 
es  ein  todverbreitender;  der  wilde  Eber  ist  wprend  der  Nacht 
lebendig,  und  die  Finsterniss  wird  von  dem  weissen  Zahn  des 
lebenden  wilden  Ebers  gespalten.  Der  lunare  wilde  Eber  (resp. 
Schwein)  wird  geopfert,  wird  am  Morgen  getödtet,  bei  der  Hoch- 
zeit des  Sonnenhelden.  Der  Zahn  dieses  todten  wilden  Ebers 
verursacht  am  Abend  den  Tod  des  jungen  Helden  (resp.  Heldin), 
oder  verwandelt  sie  auch  in  wilde  Thiere.  In  Volksmährchen 
drückt  die  Hexe,  welche  vorgiebt,  sie  wolle  dem  Helden,  resp. 
der  Heldin,  den  Kopf  kämmen,  ihm  oder  ihr  bald  eine  lange 
Nadel,  bald  eines  todten  Mannes  Zahn  in  den  Kopf  und  beraubt 
sie  so  des  Lebens  oder  doch  der  menschlichen  Gestalt.  Es  ist. 
das  eine  Reminiscenz  an  den  Fangzahn  des  wolkigen,  nächt- 
lichen oder  winterlichen  wilden  Ebers,  welcher  die  Sonne  tödtet, 
oder  sie  verwandelt,  oder  sie  zum  Schlafen  bringt. 

Ftir  die  Darstellung  der  in  Schlaf  versunkenen  Abendsonne 
bietet  sich  uns  in  dem  Mythus  von  Adonis  ein  sonderbares  Ein- 
zelmoment. Es  ist  bekannt,  dass  die  Doctoren  dem  Lattich  eine 
einschläfernde  Kraft  beilegen,  ähnlich  der  des  Mohns.  Nun  ist 
es  interessant,  bei  Nicandros  Colophonies  (angeführt  von 
Aldrovandi)  zu  lesen,  dass  Adonis  von  dem  wilden  Eber  ange- 
griflFen  wurde,  nachdem  er  Lattich  gegessen.  Ibycus,  ein  Pytha- 
goräischer  Dichter,  nennt  den  Lattich:  Eunuch,  als  den,  der 
Schlaf  bringt,  der  dumm  und  impotent  macht;  Adonis,  der  den 
Lattich  gegessen  hat,  wird  deshalb  der  Venus  durch  den  lunaren 
wilden  Eber  genommen,  da  er  Eunuch  und  unfähig  ist.  Der 
Sonnenheld  schläft  in  der  Nacht  ein  und  wird  ein  Eunuch,  gleich 
dem  indischen  Ar^una,  wenn  er  verborgen  ist:  die  Sonne  wird 
der  Mond. 


351 


KAPITEL  VI. 
Der  Hund« 

Der  Mythus  vom  Hunde  ist  einer  von  denen ,  deren  Deutung 
mehr  Zartheit,  mehr  Sorgfalt  erfordert  Wie  der  gemeine  Hund 
auf  der  Schwelle  des  Hauses  seinen  Platz  hat;  so  befindet  sieh 
der  mythische  Hund  gewöhnlich  am  Thor  des  Himmels,  Morgens 
und  AbendS;  in  Verbindung  mit  den  beiden  Agvins.  Es  war  eine 
flüchtige  Himmelserscheinung  von  der  Dauer  nur  eines  Augen- 
blicks, welcher  dem  Mythus  von  dem  Hunde  in  seinen  Haupt- 
zügen eine  entscheidende  Oestalt  gab.  Ist  dieser  Augenblick 
vorbei,  so  ändert  der  Mythus  seine  Natur.  Ich  habe  schon  auf 
den  französischen  Ausdruck:  „entre  chien  et  loup^'  als  Bezeich- 
nung des  Zwielichtes  hingewiesen ;  ^  der  Hund  geht  nur  um  einen 
Augenblick  dem  Abendzwielicht  vorher  und  folgt  dem  des  Mor- 
gens auch  nur  um  einen  Augenblick :  er  ist  mit  einem  Wort  das 
Zwielicht  in  seinem  hellsten  Augenblick.  Sofern  er  an  den 
Thoren  der  Nacht  Wache  hält,  ist  er  gewöhnlich  ein  verderbliches, 
höllisches  und  furchtbares  Thier;  sofern  er  die  Pforten  des  Tages 
hütet,  wird  er  gewöhnlich  als  ein  günstiges,  segensreiches  darge- 
stellt; und  wie  wir  sahen,  dass  von  den  beiden  Agvins  einer  zu 
dem  Monde,  der  andere  zu  der  Sonne  in  besonderer  Beziehung 
steht,  so  ist  von  den  beiden  Hunden  der  Mythologie  der  eine  spe- 
ciell  lunar,  der  andere  speciell  solar.  Zwischen  diesen  beiden 
Hunden  finden  wir  die  Hündin,  ihre  Mutter ^  welche,  wenn  ich 
mich  nicht  ganz  irre,  bald  den  wandernden  Mond  des  Himmels, 
den  leitenden  Mond,  der  den  Pfad  des  Helden  und  der  Heldin 
erleuchtet,  bald  den  Donnerkeil,  der  die  Wolke  zerreisst  und  das 
Versteck  der  Kühe  oder  der  Wasser  öflfhet,  darstellt  Wir  haben 
also  so  weit   drei  mythische  Hunde.    Der  eine^  drohende,  wird 


'  A9vx6fa)9\   Wilhelmus  Brito    sagt  in  einem    lateinischen  Verse,  den 
Du  Gange  giebt: 

„Tempore  quo  neque  nox  neque  laz_sed  utrumqne  videtur;^ 
mid  später: 

„Interqne  canem  distare  lupumque/' 
Nach  Plinios  und  Solinns  macht  der  Schatten  der  Hyäne  den  Hund  stumm ; 
d.  lu  die  Nach!  verscheucht  das  Zwielicht;  der  Mond  erbleicht 


352 

von  dem  Sonnenhelden  am  Abend  an  den  westlichen  Thoren  des 
Himmels  gefunden;  der  zweite^  tbätigere^  steht  ihm  bei  im  Walde 
der  Nacht;  wo  er  jagt;  leitet  ihn  bei  Gefahren  and  zeigt  ihm  die 
Schlupfwinkel  seiner  Feinde,  während  er  in  der  Wölke  oder 
Finstemiss  ist;  der  dritte/  am  Morgen,  ist  ruhig  und  wird  von 
dem  Helden  gefunden,  als  er  aus  dem  finsteren  Reiche  nach  dem 
östlichen  Himmel  hin  herauskommt 

Verfolgen  wir  jetzt  kurz  diese  drei  Gestalten  in  der  indischen 
Mythologie.  Ich  sagte,  dass  die  mythische  Hündin  mir  zuweilen 
den  Mond,  zuweilen  den  Donnerkeil  darzustellon  scheint  In 
Indien  wird  diese  HUndin  Saramä  genannt,  eigentlich:  die,  die 
geht,  die  rennt  oder  fliesst  Wir  sind  gewohnt,  von  dem  Hunde 
zu  sagen,  dass  er  den  Mond  anbellt,  womit  das  Volkssprichwort 
Räuber  in  Vwbindung  bringt.  Der  Hund,  der  den  Mond  anbellt,  ^ 
ist  vielleicht  derselbe  Hund^  der  bellt,  um  die  Nähe  von  Räubern 
anzuzeigen.  Im  108.  Hymnus  des  zehnten  Buches  des  Bigveda 
haben  wir  eine  dramatische  Scene  zwischen  den  Geizhälsen  oder 
Dieben  (den  Panis)  und  der  HUndin  Saramä,  der  Botin  Indras, 
welche  naoh  ihren  Schätzen  verlangt.  ^  Um  zu  ihnen  zu  gelangen, 
durchschneidet  sie  die  Wasser  der  Rasa  (dnes  Flusses  der  Unter- 
welt); der  Schatz,  welcher  in  dem  Berge  verborgen  ist,  besteht 
aus  Ktthen,  Pferden  und  mannigfaltigen  Reichthümern ;  die  Panis 
wttnschen,  dass  Saramä  als  ihre  Schwester  bei  ihnen  bleibe  und 
den  Genuss  der  Kühe  mit  ihnen  theile;  Saramä  antwortet,  sie 
köuBe  ihre  Brüderschaft  nicht  anerkennen,  da  sie  schon  die 
Schwester  Indras  und  der  schrecklichen  Aügirasen  sei.'  In  dem 
zweiundsechszigsten  Hymnus  des  ersten  Buches  entdeckt  die 
Httndin  Saramä  die  Kühe,  welche  in  dem  Felsen  verborgen  sind, 
und  emj^ngt  zum  Entgelt  von  Indra  und  den  Aügirasen  Nah- 
rung für  ihren  Sprössling;  darauf  schreien  die  Menschen  und  die 
Kühe  brüllen.  ^    Nach  der  Sonne  zu  gehend ,  auf  dem  Pfade  der 


^  Der  Hund  war  der  Jägerin  Diana  heilig,  die  wir  als  den  Mond  ken- 
nen;  daher  das  lateinische  Sprichwort:  „Delia  nota  canibus/^ 

*  Indrasya  ddtir  ishitä  dar&mi  maha  idhanti  panayo  nidhln  va^ji;  Str.  2. 

*  Ra8äy4  ataram  payftnsi;  Str.  2.  —  Ayam  nidhih  sarame  adribadhno 
gobhir  a9vehlxir  vasubhir  nyriflhtali^;  Str.  7.  —  Svasäram  tvft  ki-inaväi  md 
panar  ga  apa  te  gavftm  subhage  bha^&ma;  Str.  9.  —  Naham  yeda  bhrft- 
Iritvam  no  svas^itvam  indro  vidur  angirasa^  caghoräl^^t  Str.  10. 

*  Indrasylmgirasäm  desht^u  yidat  saramä  tanayäya  dhäaim  bpfaaspatir 
bhinad  adrirn  vidad  g&^  sam  usriyäbhir  vftva^nta  naralj^;  Str.  3, 


353 

Sonne,  findet  Saramä  die  Kühe.  ^  Als  Indra  den  Berg  aufspaltet, 
zeigt  ihm  Saramä,  vor  ihm  hergehend,  zuerst  die  Wasser.  ^  Nach- 
dem sie  sohon  im  Voraus  die  Spalte  im  Berge  gesehn  ^  zeigte  sie 
den  Weg.  Als  die  erste  fährte  sie  schnell,  nachdem  die  Rotte  der 
Lärmenden  im  Voraus  den  Lärm  gehört  hatte.'  Dieser  Lärm 
kann  sich  entweder  auf  die  Wasser,  die  tosenden  Ströme  (nadäs, 
nadts),  oder  auf  die  brüllenden  Etthe  (gavas)  beziehen.  Sofern 
nun  diese  Hündin,  welche  die  Verstecke  entdeckt,  durch  die 
Dunkelheit  der  Nacht  bricht,  scheint  sie  der  Mond,  sofern  sie  durch 
die  Wolke  bricht,  scheint  sie  der  Donnerkeil  zu  sein.  Das  Oe- 
heimniss  dieser  Doppeldeutigkeit,  liegt  in  der  Wurzel  sar.  Im 
Bigveda  sahen  wir  die  Saramä,  die  es  verschmäht^  für  die 
Schwester  der  Diebe  und  Ungeheuer  zu  gelten ;  im  Bäyämana^ 
hcisst  das  Weib  eines  der  Ungeheuer,  und  zwar  gerade  des  Bru- 
ders des  Räubers  Rävana  Saramä,  nimmt  aber  statt  die  Partei 
des  Ungeheuers,  die  Rämas  und  Sitäs,  des  geraubten  Weibes. 
Wir  haben  sohon  mehre  Mal  den  Mond  als  eine  wohlthätige  Kuh, 
als  eine  gute  Fee  oder  als  die  Madonna  gesehn.  Saramä  (wovon 
wahrscheinlich  Suramä,  eine  andere  gütige  rakshast,  wie  schon 
bemerkt,  nur  eine  ungenaue  Schreibart  ist  ^),  die  Trösterin  Sttäs, 
welche  prophetisch  ihre  nahende  Befreiung  durch  ihren  Oatten 
Räma  verkündet,  erscheint  mir  in  dem  Lichte  einer  anderen  Per- 
sonification des  Mondes.  Aus  diesem  Gründe  preist  Sita  ^  Saramä 
als  eine  Zwillingsschwester  von  sich  (sahodarä),  gütig  und  fähig 
den  Himmel  zu  durchmessen  und  einzudringen  in  die  feuchten 
Reiche  der  Unterwelt  (rasätala^);  die  gütige  Schwester  Sttäs 
kann  nur  ein  anderes  leuchtendes  Wesen  sein;  sie  ist  die  gute 
Schwester,  welche  das  vom  blutschänderischen  Vater  verfolgte 
Mädchen  des  russischen  Mährchens  (bei  A  fan.)  in  der  unter- 
irdischen Welt 'findet,  wo  sie  getröstet  und  bei  ihrer  Flucht  aus 


'  Bitam  yati  saramä  gä  avindat  ~  Bitasya  path&  saramä  yidad  gab; 
^igv.'v,  45,  7.  8. 

*  Apo  yad  [adrim  puruhüta  dardar  ävir  bhuvat  saramä  pürvyam  te; 
Kigv.  IV,  16,  8. 

'  Vidad  yadi  saramä  rugi^am  adrer  mahi  päthuh  pürvyaih  sadbijak 
kal^  agram  nayat  supady  aksharänäm  adbä  ravam  prathamä  ^äaati  gät; 
Rigv.  m,  81,  6. 

*  VI,  9. 
»  V,  62. 

*  VI,  10. 

*  VgU  die  oben  citirte  vediscbe  Stelle. 

GaberaaiU.  die  Thlen.  23 


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354 

der  Gewalt  der  Hexe  anterstützt  wird;  sie  ist  der  Mond.  Der 
Mond  ist  die  glänzende  Gestalt  des  finsteren  Nacbthimmels  oder 
des  Todten-  und  Höllenreicbes  (Saramä,  als  Mond  steht  in  Be- 
ziehung zu  den  Hunden ;  ebenso  wie  Proserpina  zum  Kerberos); 
seine  beiden  glänzenden  Grenzmauem  an  diesem  Himmel;  im 
Osten  und  im  Westen ;  sind  die  Morgen-  und  Abend-Aurora ;  die 
glänzenden  Gestalten  des  bewölkten  EUmmels  sind  dagegen  Blitz 
und  Donnerkeile.  Und  infolge  einer  dieser  glänzenden  mythischen 
Gestalten  machten  die  Griechen  (nach  Pollux  bei  Aldrovandi) 
den  Hund  zum  Entdecker  des  Purpurs^  indem  der  Hund  des  He- 
rakles zuerst  eine  Purpurschnecke  zerbissen  haben  soll.  Der 
Hund  der  äsopischen  Fabel  ^  mit  dem  Fleisch  im  Munde  ist  eine 
Variation  dieses  Mythus.  Der  rothe  Abendhimmel  erscheint  am 
Morgen  purpurn  und  am  Abend  ahs  das  Fleisch,  das  der  Hund 
in  die  Wasser  des  Oceans  der  Nacht  fallen  lässt  Im  Paüca- 
t antra  haben  wir  statt  dessen  den  Abendlöwen  (die  Abendsonne), 
welcher  im  Brunnen  (oder  in  dem  Ocean  Nacht)  einen  andern 
Löwen  (bald  den  Mond,  bald  seineu  eigenen  Schatten,  die  Nacht, 
oder  die  Wolke)  erblickt,  sich  in  das  Wasser  stürzt,  um  ihn  zu 
zerreissen  und  darin  umkommt.  Der  Hase  (der  Mond)  ist  das 
Thier,  welches  den  hungrigen  Löwen  in  den  Wassertod  lockt. 

Die  beiden  Söhne  der  Hündin  Saramä  bewahren  mehre  cha- 
rakteristische Züge  ihrer  Mutter.  Bald  wird  von  ihnen  zusam- 
men als  den  Särameyau  gesprochen;  bald  werden  sie  zusammen 


'  Im  Tuti-Name  haben  wir  statt  des  Hundes  mit  dem  Knochen  oder 
Stück  Fleisch  den  Fuchs.  Der  Hund,  der  seinen  Schatten  im  Wasser 
sieht;  der  furchtlose  Held  toscanischer  Mährchen,  der  beim  Anblick  seines 
Schattens  stirbt;  das  schwarze  Ungeheuer  (der  Schatten),  welches  in  zahl- 
reichen Mähreben  sich  statt  des  wirklichen  Helden  zur  Heirath  der  schö- 
nen Prinzessin  anbietet,  lenken  unsere  Gedanken  auf  Indra  zurück,  der 
im  Rigveda,  nachdem  er  das  Ungeheuer  überwältigt  hat,  über  die 
Ströme  davonflieht,  weil  er  etwas  sieht,  was  wahrscheinlich  der  Schatten 
des  von  ihm  getödteten  Vritra  oder  sein  eigener  Schatten  ist.  Im  Aita- 
reya  Brähm.  III,  2,  15.  H'k  20  wird  diese  Flucht  Indras  ebenfalls  er- 
wähnt, und  CS  wird  hinzugefügt,  dass  Indra  sich  verbirgt,  und  dass  die 
Pitaras  (d.  i.  die  Seelen  der  Abgeschiedenen)  ihn  wiederfinden.  Indra 
denkt,  er  habe  Vritra  getödtet,  in  Wirklichkeit  aber  hat  er  ihn  nicht  ge- 
tödtet;  darauf  verlassen  ihn  die  Götter;  die  Maruts allein  bleiben  ihm  treu 
(wie  die  Hunde  der  Hündin  Saramä  freundlich  gesinnt  sind).  Das  von 
Indra  am  Morgen  getödtete  Ung(^heuer  ersteht  wieder  am  Abtnd.  Nach 
andern  vedischen  ßerichten  ist  Indra  genöth?gt  zu  fliehen,  indt;m  er  von 
Gewissensbissen  gepeinigt  wird,  dass  er  einen  Brahmanenmord  begangen 
iialic. 


355 

erwähnt,  aber  von  einander  unterschieden;  bald  nur  einer  von 
ihnen;  der  rechtmässigere,  unter  dem  Namen  Särameya^  dessen 
Identität  mit  dem  griechischen  Hermes  oder  Hermeias  schon  von 
Ad.  Kuhn  erwiesen  ist.  Saramä  in  Verbindung  mit  den  Panis, 
den  Kaufleuten  oder  Dieben,  und  Saramä  als  die  göttliche  Botin 
giebt  uns  den  SchltlsseJ  zu  der  Sage  von  Mereur,  dem  Gott  der 
Diebe  und  Kaufleute,  und  dem  Boten  der  Götter. 

In  einem  vedischen  Hymnus  finden  wir  mit  grosser  Deutlich- 
keit die  beiden  Hunde  beschrieben,  welche  die  Pforten  der  Hölle, 
die  Wohnung  des  Ungeheuers  oder  das  Reich  der  Todten  be- 
wachen. Es  wird  dort  für  einen  Abgeschiedenen  gebetet:  „Es 
möge  ihm  vergönnt  sein,  sicher  zwischen  den  beiden  Hunden 
hindurchzukommeu ,  den  Söhnen  der  Saramä,  den  vieräugigen, 
den  gefleckten,  die  den  rechten  Pfad  einhalten,  und  zu  den  gütigen 
.  Manen  zu  gelangen"  (denn  es  giebt  auch  böse  oder  Durvidatras)? 
diese  Hunde  heissen  „die  sehr  stolzen  Wächter,  welche  den  Weg 
bewachen,  die  Menschen  beobachten,  weite  Nüstern  haben,  lang- 
rückig,  und  sehr  stark  sind,  die  Boten  Yamas;"  sie  werden  an- 
gerufen, „dass  sie  mögen  den  Anblick  der  Sonne  geniessen  lassen 
und  ein  glUcklickes  Leben  geben.'''  Doch  der  Kigved a  selbst 
zeigt  uns  schon  die  beiden  Söhne  der  Hündin  Saramä  als  die 
beiden,  welche  abwechselnd  blicken  (nacheinander),  welche  Indra 
zum  Schlafen  bringen  muss.  *^  Einer  jedoch  von  den  beiden 
Söhnen  der  Saramä  wird  besonders  angerufen  und  geflirchtet,  der 
Särameya  par  excellence.  Der  vedische  Hymnus  spricht  von 
ihm,  als  dem,  der  zurückkehrt  (punahsara)  und  stellt  ihn  dar  als 
„glänzend,  mit  röthUchen  Zähnen,  welche  scheinen  gleich  Speeren, 
in  dem  sehr  starken  Zahntieische"  und  fleht  ihn  an,  zu  schlafen 
oder  „nur  den  Räuber  oder  den  Dieb  anzubellen,  nicht  aber  die 
Sänger  von  Hymnen  zu  Ehren  Indras."  ^    Die  Hündin  Saramä  ist 


^  Ali  drava  eftrameyäu  9väiiäu  datarakshäu  ^abaldu  s&dhunä  pHthä 
Htbd  pitrint  Buvidatran  upehi  —  Yäu  te  ^vänäu  yama  rakshit^räu  daturak- 
sbäi]  pathirakähi  nridaksbasaa  ~  Urünasäv  asutripä  udumbaläu  yauiasya 
üüifiu  öarato  ^anän  anu  —  Täv  asmabbyam  dri^aye  süryäya  punar  dätUm 
asum  ady«ba  bbadram;  Rigv.  X,  14,  10 — 12. 

*  Ni  bhväpaya  mitbüdri9äu;  Kigv.  I,  29,  3.  —  Das  Peterab.  Wb.  er- 
klärt das  Wort  mith    durcb  „abwechselnd  sichtbar." 

^  Yad  argiina  särameya  datab  pi^anga  yadhase  viva  bhrft^anta  rish- 
tiya  upa  srakveshu  bapsato  ni  shu  svapa;  stenam  räya  särameya  taskaram 
va  punahsara  Btotrin  indrasya  räyasi  kirn  asmiln  dudhunäyase  ni  shu  svapa; 
Rigv.  VII,  55,  2.  3. 

23* 


356 

leidenscbaftlich  verliebt  in  ihren  Sohn;  als  Entgelt  für  ihre  Ent- 
deckang  der  Ktthe  Indras  verlangt  sie  Nahrubg  tlir  ihren  Sohn, 
Welche  Nahmng  der  Commentator  als  die  Milch  der  befreiten 
Kflhe  erklärt;  die  ersten  Strahlen  der  Morgensonne  und  die 
letzten  Strahlen  der  Abendsonne  trinken  die  Milch  der  Dämmerung 
oder  des  silbergrauen  Zwielichts.  Im  Ma.häbhärata^  verflucht 
die  Httndin  Saramä  den  König  Ganame^aya,  weil  seine  drei 
Brttder;  als  sie  das  Opfer  vollzogen  ^  den  Hund  Särameya^  der 
ebenfalls  dorthin  gegangen  war,  misshandelten  uttd  peitschten, 
obgleich  er  die  für  die  Götter  bestimmte  G^be  weder  mit  seiner 
Zunge  berührt  noch  verlangende  Blicke  darauf  gewori'en  hatte 
(wiC;  im  Gegensatze  dazU;  der  weisse  Hund  that,  welcher  beim 
Opfer  des  Atheners  Diomos  an  einem  Orte  bei  Athen  einen  Theil 
des  Opfers  stahl,  wovon  jener  Ort  deu  Namen  Kwoaa^eg  er- 
hielt).^ Dieselbe  Sage  kommt  mit  einer  leichten  Modification  im 
siebenten  Buche  des  Rämäyana^  wieder  vor.  R&ma  schickt 
seinen  Bruder  Lukshroana,  zu  sehen,  ob  es  irgendwo  im  Reiche 
Streit  zu  schlichten  giebt;  Lakshmana  kehrt  zurück  und  berichtet, 
überall  herrsche  Frieden.  Rama  sendet  ihn  wieder;  er  sieht  einen 
Hund,  der  an  der  Schwelle  des  Palastes  aufrecht  steht  und  bellt. 
Der  Name  dieses  Hundes  ist  Särameya.  Rama  lässt  ihn  in  den 
Palast  eintreten.  Der  Hund  klagt,  dass  er  ungerechter  Weise 
von  einem  Brahmanen  Schläge  bekommen  habe.  Der  Brahmane 
wird  gerufen,  erscheint,  bekennt  seine  Schuld  und  erwartet  seine 
Strafe.  Der  Hund  Särameya  schlägt  vor,  der  Brahmane  solle  zur 
Strafe  ein  Weib  nehmen  (die  gewöhnliche  sprichwörtliche  Satire 
gegen  die  Weiber)  und  Haupt  einer  Familie  werden,  au  dem- 
selben Orte,  wo  er  selbst  dieses  Schicksal  leiden  musste,  bevor 
er  die  Gestalt  eines  Hundes  annahm.  Damach  erinnert  steh 
der  Hund  Särameya  seiner  früheren  Daseinsgestalten  und  kehrt 
nach  Benares,  von  wo  er  gekommen  war,  zurück,  um  Busse 
zu  thun. 

Deshalb  sind  der  Hund  und  der  Kerberos  auch  Gestalten, 
in  welche  der  Held  des  Mythus  übergeht.  Der  indische  und  der 
pythagoräische  Glaube,  beide  lehren,  dass  die  metempsychosis  ein 
Mittel  der  Sühnung  ist;  der  Fluch  der  beleidigten  Gottheit  ist 
bald  ein  Racheakt  bald  eine  Züchtigung  für  einen  Irrthum,  den 


»  I,  657.  666. 

«  Phot.  p.  187,  24. 

*  Gesang  6". 


357 

der  Held  oder  einer  seiner  Verwandten  begangep,  und  d^r  den 
Zorn  der  Gottheit  hervorgerufen  hat.  ^ 

Bisweilen  nimmt  die  Gottheit  selbst  die  Grestalt  eines  Hundes 
aU;  um  die  Tugend  des  Helden  auf  die  Probe  zu  stellen^  wie  im 
letzten  Buche  des  Mahäbhärata,  wo  der  Gott  Yama  ein  Hund 
wird  und  dem  Yudhishthira  (dem  Sohne  Yamas)  folgt,  welcher 
ihn  mit  solcher  Zuneigung  betrachtet,  dass  er,  aufgefordert  in  den 
Wagen  der  Götter  zu  steigen,  sich  weigert,  es  zu  thun,  wenn  nicht 
sein  treuer  Hund  die  Erlaubniss  erhält,  ihn  zu  begleiten. 

Bisweilen  jedoch  ist  die  Gestalt  eines  Hundes  oder  einer 
HQndin  (da  der  (Tebergang  von  Yama,  dem  Gott  der  Hölle  in 
der  Gestalt  eines  Hundes,  zu  dem  Hund-Dämon  leicht  ist)  eine 
wirkliche  und  specifische  Erscheinungsform  eines  Dämons.  Der 
9  i  g  V  e  d  a  spricht  von  den  Hund-Dämonen,  die  den  Indra  quälen 
wollen,  welcher  ersucht  wird,  das  Ungeheuer  in  Gestielt  einer 
Eule,  einer  Fledermaus,  eines  Hundes,  eines  Wolfes,  eines  grossen 
Vogels,  eines  Geiers  zu  tödten ;  ^  es  werden  die  ÄQvins  angerufen, 
auf  jeder  Seite  die  bellenden  Hunde  zu  vernichten ; '  die  Freunde 
werden  gebeten,  den  langzungigen  und  habgierigen  Hund  (in  der 
alten  italienischen  Chronik  Giov*  Morellis  werden  Geizhälse  Cani 
del  danaro,  Geldhunde,  genannt)  zu  vernichten,  wie  die  Bhpgus 
das  Ungeheuer  Makha  getödtet  haben.  *  Und  das  Fell  der  rothen 
Hündin  ist  eine  andere  Ungeheuer-Gestalt,  in  welche  sich  jeden 
Morgen  fals  die  Aurora  am  Morgenhimmel)  in  dem  23.  mongo- 
lischen Mähreben  das  schöpe  Mädchen  kleidet,  welches  m  der 
Gewalt  des  Dn^ohenfHrsten  ist;  sie  ist  jedoch  (als  Mond)  ein 
SQhönes  M|üdc|ien  nur  bei  Nacht;  gegen  den  Tag  hin  wird  sie 
eine  rothe  Hündin  (der  Mond  überlässt  der  Aurora  seinen  Platz); 
der  Jüngling,  der  sie  geheirathet  bat,  will  die  Haut  dieser  Hün- 


'  So  hei88t  es  von  Hecuba,  der  Gattin  des  Priamus,  nachdem  sie 
grausen  Kummer  als  Weib  erlitten,  bei  Ovid: 

„Perdidit  infeliz  hominis  post  omnia  formam 

Extemasqae  novo  latratn  terroit  auras.'* 
Aach  im  Breviarium  Romanum  wird  Qi>tt  bei  den  Todtenofficien  ge- 
beten, die  Seelen  seiner  Diener  nicht  den  wilden  Thieren  zu  überliefern 
(ne  tradas  bestiis  etc.). 

*  Eta  u  tye  patayanti  ^vayfttava  indram  dipsanti  dipsavo  'dftbhyam  — 
Ulukay4tuih  ^^ulükayfttnm  ^hi  ^vayätum  uta  kokay&tam  suparnayatnm 
gridhray&tum  dfishadeva  pra  mfina  raksha  indra;  Bigv.  VII,  104,  20.  23. 

'  Gambhayatam  abhito  r&yataJ^;  Bigv  !>  l^t  ^• 

*  Apa  9vftnaih  ^athishtani^  sakhUyo  dirgho^ihvyam  —  Apa  ^vftnam 
ar&dhasam  hatä  makham  na  bbfig»va^;  ?igv-  1^«  ^^h  !•  t3* 


358 

din  verbrennen,  doch  das  Mädchen  verschwindet;  die  Sonne  holt 
die  Aurora  ein,  und  sie  verschwindet  mit  dem  Monde.  Wir  haben 
diesen  Mythus  schon  kennen  gelernt. 

Im  achtzehnten  Hymnus  des  vierten  Buches  des  Rigveda 
scheint  mir  die  dreizehnte  Strophe  eine  interessante  Einzelheit  zu 
enthalten.  Ein  Frommer  klagt  folgendermassen :  ,,In  meinem  Elend 
hatte  ich  die  Eingeweide  d^s  Hundes  gekocht ;  ich  fand  unter  den 
Göttern  keinen  Tröster;  ich  sah  mein  Weib  unfruchtbar;  der  Falke 
brachte  mir  Honig"  *.  Hier  finden  wir  den  Hund  in  Verbindung 
mit  einem  Vogel  ^.  Im  fttnfundzwanzigsten  Mährchen  des  vierten 
Buches  bei  Afanassieff  finden  wir  den  Specht,  der  seinem 
Freunde,  dem  Hunde,  Speise  und  Trank  bringt  und  ihn  nach 
seinem  Tode  rächt.  Im  einundvierzigsten  Mährchen  des  vierten 
Buches  wird  der  Hund  von  der  alten  Hexe  getödtet,  weil  er  die 
Knochen  ihrer  bösen  Tochter,  die  von  dem  Kopfe  einer  Stute  ver- 
schlungen ist,  in  einem  Sack  trägt.  Im  zwanzigsten  Mährchen 
des  fünften  Buches  haben  wir  den  Hund  in  der  Eigenschaft  eines 
Boten,  dessen  sich  das  schöne  Mädchen  bedient,  welches  die 
Schlange  geheirathet  hat;  er  bringt  ihrem  Vater  einen  Brief,  den 
sie  geschrieben  hat,  wie  auch  seine  Antwort  darauf.  In  der  Le- 
gende von  St.  Peter  dient  der  Hund  als  Bote  zwischen  Petrus  und 
dem  Zauberer  Simon ;  in  der  Legende  vom  hlgen  Roeco  bringt 
der  Hund  des  Herren  dem  Heiligen,  der  verlassen  und  krank 
unter  einem  Baume  liegt,  Brod.  Der  Name  der  Amme  des  Cyrus 
ist  Kwai,^  weshalb  Cyrus  vielleicht,  wie  Asclepios,  mit  Hundemilch 
genährt  worden  ist.  Ich  bemerkte  schon,  dass  die  Erzählung  von 
dem  Hunde  mit  dem  Mythus  von  den  Agvins,  oder,  was  dasselbe 


'  Avarty&  ^ima  &nträni  pede  na  deveshu  vivide  marditäram  apa^yam 
^äyäm  amahiyamanäm  adhä  me  ^jeno  madhv  ä  ^abbära;  J^igv.  IV,  18, 
13.  Der  Vogel,  der  Honig  bringt,  bat  bier  ofienbar  eine  pballiscbe  Be- 
deutung, wie  aucb  das  Innere  (die  Eingeweide),  der  Tbeil  der  innerbalb 
bald  des  Hundes,  bald  des  Fiscbes  und  bald  des  Esels  ist  (welche  alle 
Symbole  des  Phallus  sind),  von  den  Weibern  der  Feenroährcben  als  eine 
Delikatesse  verlangt,  gleicbbedeutend  mit  dem  vom  Vogel  gebracbten 
madbu  sein  muss. 

*  In  der  fünften  Erzählung  des  vierten  Buches  des  Pentamerone 
thut  der  Vogel  dasselbe,  was  ein  Hund  in  der  dritten  Erzählung  des  dritten 
Buches  thut;  der  Vogel  bringt  ein  Messer,  der  Hund  bringt  einen  Knochen, 
und  die  gefangene  Prinzessin  kann  mit  diesem  Messer  und  Knochen  ein 
Loch  in  das  Gefangniss  machen  und  sich  befreien. 

'  He  rod.  I,  110;  dieser  Name  ist  eine  Uebersetzung  des  medischen 
Snoatoi'  xtjv  ya(^  xvra  xaXiovai  andxa  MrjBot. 


\i 


359 

ist,  mit  dem  von  dem  Pferde  zusammenhängt;  Pferd  und  Hund 
werden  als  Renner  betrachtet:  das  Pferd  trägt  den  Helden ^  und 
der  Hund  bringt  gewöhnlich  den  Freunden  des  Helden  Nach- 
richten von  diesem,  wie  es  im  Bigveda^  die  Hündin  Saramft, 
die  Botin  der  Götter,  tbut.  Der  Held,  der  die  Gestalt  eines  Pfer- 
des annimmt,  warnt  seinen  Vater,  als  dieser  ihn  dem  Teufel  ver- 
kauft,  dem  Käufer  nicht  den  Zügel  zu  überlassen.  Im  zweiund- 
zwanzigsten Mährchen  des  fünften  Buches  bei  Afanassieff  ver- 
wandelt sich  der  junge  Mann  in  einen  ^und  und  lässt  seinen 
Vater  ihn  an  einen  grossen  Herren  verkaufen,  in  den  sich  der 
Teufel  verkleidet  hat,  giebt  ihm  aber  den  Rath,  die  Halfter  nicht 
aus  der  Hand  zu  geben.  *  Der  Herr  kauft  den  Hund  für  zwei- 
hundert Rnbel^  besteht  jedoch  darauf,  auch  die  Halfter  mit  zu 
bekommen,  und  nennt  den  Alten  einen  Dieb^  als  dieser  sich  wei* 
gert,  sie  ihm  einzuhändigen.  Der  Alte  giebt  nach,  und  der  Hund 
geräth  so  in  die  Gewalt  des  Teufels.  Doch  auf  dem  Wege  kommt 
ein  Hase  (der  Mond,  der  den  Sonnenhelden  rettet)  vorbei;  der 
Herr  schickt  den  Hund  auf  die  Jagd  nach  demselben  und  verliert 
ihn  aus  den  Augen;  der  Hund  nimmt  wieder  die  Gestalt  eines 
Helden  an  und  vereinigt  sich  mit  seinem  Vater.  In  demselben 
Mährchen  verwandelt  sich  der  junge  Mann  ein  zweites  Mal  in 
einen  Vogel  (wir  werden  in  Theil  ü,  Kapitel  X  die  A^vins  als 
Schwäne  und  Tauben  sehen),  und  ein  drittes  Mal  in  ein  Pferd. 
Im  achtundzwanzigsten  Mährchen  des  fünften  Buches  werden  ein 
Pferd,  ein  Hund  und  ein  Apfelbaum  vom  todten  Stier  geboren, 
welcher  Iwan  und  Marie  beschützt,  die  in  dem  Walde  vor  dem 
Bären  fliehen.  Auf  dem  Pferde  reitend  und  von  dem  Hunde  be- 
gleitet geht  Iwan  auf  die  Jagd.  Den  ersten  Tag  fängt  er  ein 
lebendiges  WolQunges  und  bringt  es  nach  Hause;  den  zweiten 
Tag  greift  er  einen  jungen  Bären ;  den  dritten  Tag  geht  er  wieder 
jagen,  vergisst  aber  den  Hund;  da  entftlhrt  die  sechsköpfige 
Schlange,  in  Gestalt  eines  schönen  JünglingS;  seine  Schwester^ 
legt  den  Hund  unter  Schloss  und  Riegel  und  wirft  den  Schlüssel 
in  den  See.    Iwan  kommt  heim^  bricht  auf  den  Rath  einer  Fee 

'  Im  Pentamerone  I,  7  bringt  die  versaaberte  Hündin  der  Prin- 
zessin Nachrichten  von  dem  jungen  Helden. 

*  Im  siebenten  ehstnischen  Mährchen  hält  der  Mann  mit  dem  schwar- 
zen Pferde  drei  Hunde  fest  angekettet ;  wenn  auch  nur  einer  dieser  Hunde 
frei  würde,  so  wäre  es  nicht  möglich,  die  anderen  fest  zu  halten.  —  In 
der  Edda  halt  Thrymer,  der  Fürst  der  Riesen,  die  grauen  Hunde  mit 
goldenen  Ketten  gebunden. 


360 

einen  Zweig  von  dem  Apfelbaum  und  schlägf  damit  den  Riegel 
der  Thür,  welche  den  Hund  einschlieBst ;  der  Hund  wird  so  in 
Freiheit  gesetzt  und  Iwan  lässt  Hund ;  Wolf  und  Bären  auf  die 
Schlange  los,  welche  von  ihnen  in  Stücke  zerrissen  wird,  und  ge- 
winnt seine  Schwester  yrieder.  Im  fünfzigsten  Mährchen  des 
fllnften  Buches  zerreisst  der  Hund  eines  kriegerischen  Helden  den 
Teufel;  der  zuerst  in  Gestalt  eines  Stieres^  dann  in  der  eines 
Bären  erscheint;  um  die  Hochzeit  des  Helden^  die  stattfinden  soll; 
zu  verhindern.  Im  zweiundfünfzigsten  Mährchen  des  sechsten 
Buches  zerreissen  die  Hunde,  welche  Iwan  Tzarevic  von  zwei 
Feen  erhalten  hat;  zusammen  mit  einem  jungen  WolfC;  Bären  und 
Löwen  das  Schlangenungeheuer  in  Stttcke.  Die  beiden  Hunde 
führen  uns  auf  den  Mythus  von  den  Agvins  zurück.  In  dem  drei- 
undfüiifzigsten  Mährchen  des  sechsten  Buches  haut  das  Ungeheuer 
dem  Iwan  den  Kopf  ab.  Iwan  hat  zwei  Söhne,  welche  sich  selbst 
für  von  einem  Hunde  abstammend  halten;  sie  bitten  ihre  Mutter, 
gehen  und  ihren  Vater  wieder  auferwecken  zu  dürfen.  Ein  alter 
Mann  giebt  ihnen  eine  Wurzel;  welche,  an  Iwans  Körper  geriebeU; 
ihn  wieder  ins  Leben  zurückrufen  soll;  sie  nehmen  sie  und  ver- 
wenden sie  in  der  angegebenen  Weise.  Iwan  wird  wieder  aufer- 
weckt und  das  Ungeheuer  stirbt.  Endlich  erfahren  wir  in  dem 
vierundfünfzigsten  Mäbrchen  des  fünften  Buches  bei  A  fan  as - 
sieff;  wie  die  Söhne  des  Hundes  geboren  werden;  die  Art  und 
Weise  ihrer  Geburt  ist  analog  der  in  dem  vedischen  Hymnus  er- 
wähnten. Ein  König;  welcher  keine  Söhne  hat,  hat  einen  Fisch 
mit  goldenen  Flossfedem;  er  lässt  ihn  kochen  und  der  Königin 
zu  essen  geben.  Das  Innere  des  Fisches  (der  Phallus)  wird  der 
Hündin  vorgeworfen,  die  Knochen  werden  von  der  Köchin  benagt, 
das  Fleisch  aber  isst  die  Königin.  Der  Hündin,  der  Köchin  und 
der  Königin  wird  zu  gleicher  Zeit  ein  Sohn  geboren.  Alle  drei 
Söhne  werden  Iwan  genannt  und  als  drei  Brüder  betrachtet ;  doch 
der  stärkste  (der  die  schwierigste  That  vollbringt)  ist  IwaU;  der 
Sohn  der  Hündin,  welcher  in  das  Reich  der  Ungeheuer  hinabgeht 
(wie  von  den  beiden  Dioskuren  einer  in  die  Hölle  hinabsteigt, 
gleich  den  beiden  Trauerhunden,  gelblich  und  weiss,  des  Avesta, 
welche  den  vedischen  Särameyau  vollständig  entsprechen.') 


'  ,,Einen  gelblichen  Hund  mit  vier  Augen  oder  einen  weissen  mit 
gelben  Ohren;'*  Yen  dl  dad  VIII,  41  (bei  Spiegel).  Und  Anqaetil  schil- 
dert bei  der  Beschreibung  des  Baraschnon  no  schabt  den  reinigenden 
Hund  folgendermassen:  „Le  Mobed  prend  le  baton  k  neuf  noeuds,  entre 


361 

In  demselben  Mährchen  werden  .ausser  den  drei  Heldenbrüdem 
drei  Heldenpferde  von  den  drei  Stuten  geboren,  welche  das  Wasser 
getrunken  haben ,  in  welchem  der  Fisch  vor  dem  Kochen  ge- 
waschen war;  in  anderen  europäischen  Versionen  und  in  den 
russischen  Mährchen  selbst  haben  wir  also  zuweilen  statt  des 
►  Sohnes  der  Htlndin  den  Sohn   der  Stute   (oder   der  Kuh).     Die 

beiden  A^vins  sind  bald  zwei  Pferde,  bald  zwei  Hunde,  bald  ein 
Hund  und  ein  Pferd  (bald  ein  Stier  und  ein  Löwe.)  *  Iwan  Tzarevid, 
den  das  Pferd  und  der  Hund  aus  der  Gefahr  retten,  ist  identisch 
mit  dem  vedischen  Helden,  der  Sonne,  den  die  Agyins  aus  vielen 
Gefahren  retten. 

In  den  russischen  Mährchen,  wie  auch  in  den  italienischen, 
setzt  die  Hexe  an  die  Stelle  eines,  zweier  oder  dreier  Söhne  des 
Prinzen,  welche  Sterne  auf  der  Stirn  haben  und  von  der  Prinzessin 
in  Abwesenheit  ihres  Gemahls  geboren  worden  sind,  eine,  zwei 
oder  drei  Puppen.  In  diesen  selben  Mährchen  wird  der  verfolgten 
Prinzessin  die  Hand  abgehauen.  lin  dreizehnten  Mährchen  des 
dritten  Buches  bei  Afanassieff^  beschuldigt  die  zauberische 
Schwägerin  die  Schwester  ihres  Gatten  in  dessen  Gegenwart  er- 
dichteter Verbrechen.  Der  Bruder  haut  ihr  die  Hand  ab;  sie 
wandert  in  den  Wald  und  kommt  erst  nach  Verlauf  mehrerer 
Jahre  wieder  heraus;  ein  junger  Kaufmann  verliebt  sich  in  sie  und 
heirathet  sie.  Während  der  Abwesenheit  ihres  Gemahls  schenkt 
sie  einem  Kinde  das  Leben,  dessen  Körper  ganz  von  Gold  ist 


./ 


dans  les  Keischa  et  attache  la  cuiltöre  de  fer  au  neuvi^me  noeud.  L'impar 
entre  aussi  dans  les  Keischs.  On  y  am^ne  un  chien ;  et  si  c'est  une  femme 
que  Ton  purifie,  comme  eile  doit  6tre  nue,  c^est  aussi  une  femme  qui  tient 
le  chien.  Lumpur  ayant  la  main  droite  sur  sa  t^te  et  la  gauche  sur  le 
chien,  passe  successivement  sur  les  six  premieres  pieires  et  s'y  lave  avec 
Turine  qui  lui  donne  le  Mobed."  —  Im  Kfttyäy.  Sü.  wird  ganz  ernstlich 
die  Frage  erörtert,  ob  ein  Hund,  den  man  am  Viersehnten  des  Monats 
fasten  sah,  das  aus  religiöser  Busse  that.  —  Vgl.  Muir,  Sanskrit  Texts 
I,  365. 

'  Hund  und  Pferd  tÖdten  das  Rehkuh  Ungeheuer  mit  Bissen  und 
Schlägen  und  befreien  die  beiden  Heldenbrüder  im  Pen  tamer  one  I,  9. 

*  Vgl.  auch  das  sechste  des  dritten  Buches.  —  Pentamerone  III,  2 
haut  sich  die  Schwester  selbst  die  Hände  ab,  in  welche  sich  ihr  Bruder, 
der  sie  heirathen  will,  yerliebt  hat.  —  Vgl.  die  Mittelalterlichen  Le- 
genden Ton  Santa  Uliya,  mit  Anmerkungen  begleitet  von  Prof.  Ales- 
sandro  dAncona,  Pisa  1863,  und  die  Figlia  del  Re  di  Dacia,  erklärt 
von  Prof.  Aless.  Wesselofski,  Pisa,  1866;  ausserdem  noch  das  einund- 
dreissigste  der  Grimmschen  Mährcheu. 


362 

und  welchen  die  Bilder  der  Sterne,  des  Mondes  und  der  Sonne 
bedecken.  Seine  Eltern  schreiben  an  ihren  Sohn,  um  ihm  diese 
Nachricht  mitzutheilen ;  doch  die  Schwägerin-Hexe  unterschlägt 
den  Brief  (wie  im  Mythus  von  Bellerophon)  und  schiebt  einen 
anderen  unter,  welcher,  im  Gegensatz  dazu,  die  Geburt  eines  Un- 
geheuers, halb  Hund,  halb  Bär,  ankündigt.  Der  Mann  schreibt 
zurück,  man  möchte  warten,  bis  er  zurückgekehrt  sei,  um  mit 
eigenen  Augen  den  Neugeborenen  zu  sehen.  Auch  diesen  Brief 
fängt  die  Hexe  auf  und  vertauscht  ihn  mit  einem  anderen ,  in 
welchem  er  befiehlt,  sein  junges  Weib  fortzuschicken.  Die  junge 
Frau  irrt,  ohne  Hände,  mit  ihrem  Knaben  umher.  Dieser  fällt  in 
einen  Brunnen;  sie  weint;  ein  alter  Mann  räth  ihr,  ihre  Arm- 
stümpfe in  den  Brunnen  zu  werfen;  sie  gehorcht  und  erlangt  ihre 
Hände,  wie  auch  ihren  Knaben  wieder.  Sie  findet  ihren  Gemahl, 
und  kaum  hat  sie  das  Kind  seinen  Blicken  enthüllt,  als  das  ganze 
Zimmer  mit  hellem  Glanz  erfüllt  ist  (asviatilo). 

In  einem  serbischen  Mährchen  ^  lässt  der  Vater  des  Mäd- 
chens, dem  von  der  Hexe,  ihrer  Schwiegermutter,  die  Hände  abge- 
hauen worden  sind,  durch  die  Asche  dreier  verbrannter  Haare 
von  dem  Schwänze  des  schwarzen  Hengstes  und  der  weissen  Stute 
dem  Mädchen  goldene  Hände  an  den  Armen  wachsen.  Der  Apfel- 
baum mit  goldenen  Zweigen,  den  wir  schon  erwähnt  haben,  ist 
identisch  mit  diesem  Mädchen,  das  aus  dem  Walde  (oder  ans  der 
Holzkiste)  kommt,  mit  goldenen  Händen.  Von  den  Zweigen  ist 
der  Uebergang  zu  den  goldenen  Händen,  zu  dem  schönhaarigen 
Sohn,  der  aus  dem  Baumstamme  kommt,  leicht.  ^  Die  Vorstellung 
eines  Jünglings  als  eines  Baumzweiges  ist  durch  Shakspeare 
poetisch  geworden,  der  die  Herzogin  von  Gloster  von  den  sieben 
Söhnen  Eduards  sagen  lässt: 

„£dward*8  seven  sons,  whereof  thyself  art  one, 

Were  as  seven  phials  of  his  sacred  blood, 

Or  seven  fair  branches  springing  from  one  root'*  * 

In  indischen  Mythen  wird  dem  Savitar,  nachdem  ihm  die 
Hand  abgehauen  ist,  eine  von  Gold  gegeben,  weshalb  er  sich  der 


*  Dem  dreiunddreissigsteu  der  Karadzikischen  Sammlung,  angeführt 
von  Prof  Wesselofski  in  seiner  Einleitung  zu  der  Figlia  delRe  di 
D  a  c  i  a. 

*  Vgl.  meine  kleine  Abhandhing  über  den  Albero  di  Natal e. 
s  Richard  II,  Akt  I,  Sc.  2. 


363 

BezeicbnoDg  Hiranyahasta  (d.  h.  der  Goldhandige)  erfreut.  Doch 
im  116.  und  117.  Hymnus  des  ersten  Buches  finden  wir  eine  noch 
interessantere  Angabe.  Der  Zweig  ist  die  Hand  des  Baumes ;  der 
Zweig  ist  der  Sohn,  der  sich  von  dem  mütterlichen  Baumstamm 
losmacht ;  der  goldene  Sohn  ist  identisch  mit  dem  goldenen  Zweige^ 
der  goldenen  Hand  des  Baumes.  Die  Mutter,  die  eine  goldene 
Hand  erhält;  ist  identisch  mit  der  Mutter,  welche  Hiranyahasta, 
Goldhand;  zum  Sohn  hat.  Der  vedische  Hymnus  sagt,  dass  die 
A^vins  Goldhand  als  Sohn  der  Vaclhrimatl  gaben.  ^  Das  Wort 
vadhrimatt  ist  doppelsinnig.  Das  Petersburger  Wörterbuch 
erklärt  nur:  ,;einen  unvermögenden  Gatten  habend",  doch  der 
eigentliche  Sinn  des  Wortes  ist:  „die,  die  etwas  Abgeschnit- 
tenes hat'*,  d.  h.  die  den  verstümmelten  Arm  hat,  wie  im  Feen- 
mährchen,  aus  welchem  Grunde  ihr  eine  goldene  Hand  gegeben 
wird.  Als  das  Weib  eines  Eunuchen  erhält  also  die  vedische 
Frau  von  den  Agvins  einen  Sohn  mit  einer  goldenen  Hand;  da 
sie  einen  unvollkommenen  Arm  hat,  so  empfangt  sie  nur  eine 
goldene  Hand,  wie  im  116.  Hymnus  des  ersten  Buches  dieselben 
Agvins  der  ViQpalä  das  abgerissene  Bein  durch  ein  ehernes  er- 
setzen. ^  Der  Bigveda  enthält  also  schon  den  Keim  des  höchst 
volksthümlichen  Themas  von  "dem  Mann  resp.  von  der  Frau  ohne 
Hand,  ganz  so  wie  wir  in  ihm  schon  den  Embryo  zu  den  Sagen  von 
dem  lahmen  Mann,  dem  blinden  Mann,  resp.  Frau,  von  der  häss- 
lichen  und  verkleideten  Frau  gefunden  haben. 

Doch  kehren  wir  zum  Hunde   zurück.     Neben  seiner  Behen- 
digkeit im  Laufen »  spielt  auch  seine  Stärke  im  Mythus  eine  her- 

*  9^^^^  ^  dbäsar  iva  vadbrimat  yä  hiranyahastam  a^vinav  adattam ; 
Bigv.  I,  116,  13.  —  Hiranyahastam  aQvin&raränä  putram  narft  vadbrimatyä 
adattam;  I,  117,  24.  —  Der  Hund  in  Verbindung  mit  einer  Menschenhand 
wird  erwähnt  bei  Sueton.  Vesp.  5;  dieser  Kaiser  betrachtete  es  als  ein 
gutes  Omen,  dass  einst  ein  Hund  die  Hand  eines  Mannes  in  den  Speise- 
saal brachte. 

*  Sadyo  ^angbäm  äyasim  vi^paläyai  dhane  hite  sartave  praty  adhat- 
tarn;  Str.  15. 

*  Vielleicht  aus  diesem  Grunde  geben  die  Ungarn  ihren  Hunden  die 
Namen  von  Flüssen ,  als  tüchtigen  Rennern ;  doch  führt  man  als  Grund 
davon  auch  den  Aberglauben  an  ^  dass  ein  Hund ,  der  den  Namen  eines 
Flusses  oder  eines  Wassers  überhaupt  tragt,  nie  toll  wird,  besonders  wenn 
es  ein  weisser  Hund  ist;  die  Ungarn  betrachten  nämlich  den  rothen  und 
den  schwarzen  oder  gefleckton  Hund  als  Teufelsgestalten.  —  Im  Toscaui- 
schen  muss  ein  einem  Christenmenschen  ausgerissener  Zahn  sorgfältig  ver- 
steckt werden,  damit  ihn  die  Hunde  nicht  finden  und  fressen;  hier  sind 
Hund  und  Teufel  einander  gleich  gemacht. 


364 

vorragende  Rolle.  Der  Kerberos  zeigt  eine  ausserordentliolie 
Stärke  beim  Zerreissen  seiner  Feinde.  In  den  russischen  Mähr- 
chen  ist  der  Hund  die  Stärke  des  Helden  und  ist  mit  dem  Wolf, 
dem  Bären  und  dem  Löwen  vergesellschaftet.  In  Volksmährchen 
finden  sich  bald  furchtbare  Löwen  und  bald  schreckliche  Hunde 
als  Wächter  an  den  Thoren  der  Wohnung  des  Ungeheuers.  Der 
Mönch  von  St.  Gallen  sagt  bei  Du  Cange_,  dass  die  „canes  ger- 
manici*'  so  behend  und  wild  sind,  dass  sie  allein  genügen,  Tiger 
und  Löwen  zu  jagen ;  dieselbe  Fabel  wird  bei  Du  Gange  wieder 
von  den  Hunden  Albaniens  erzählt,  welche  so  gross  und  wild  sind, 
„ut  tauros  premant  et  leones  perimant."  Der  ungeheure  Ketten- 
hund, der  auf  der  linken  Seite  des  Einganges  römischer  Häuser 
gemalt  war,  nahe  am  Zimmer  des  Thürhtiters;  der  Spruch  oave 
canem;  die  Bussübungen,  die  in  Griechenland  und  Rom  angestellt 
wurden,  zur  Zeit  der  Canicula  oder  des  Ganis  Sirius,  um  die 
üebel  zu  beschwören,  die  er  mit  der  Sonnenhitze  bringt,  in  Ver- 
bindung mit  dem  sol  leo  und  dem  entsprechenden  Fest  des 
Hundetödtens  (ioQvr]  xwoq>6vjig\  ferner  die  bellenden  Hunde,  die 
an  den  Hüften  der  Scylla  erscheinen,  ^  —  alle  sind  Reminiscenzen 
des  mythischen  Höllenhundes.  Der  Hund  als  Hausthier  wurde 
mit  dem  wilden  Thier  zusammengeworfen,  welches  gewöhnlich 
das  Ungeheuer  darstellte.  Der  Hund  ist  im  Zwielicht  kaum  vom 
Wolf  zu  unterscheiden.  Bei  Du  Gange  lesen  wir,  dass  es  im 
Mittelalter  Brauch  war,  bald  beim  Hunde,' bald  beim  Wolfe  zu 
schwören '  In  der  Gegend  um  Arezzo,  im  Toscaniscfaen,  herrscht 


^  Daher  die  Namen  „Cnnaria  Hospitia'^  and  ,,Porta  Catul^gria",  wo  ein 
Hund  geopfert  wurde,  um  die  Furie  der  Canicul»  zu  beschwichtigen;  df^- 
her  auch  der  Vera  Ovids: 

„Pro  cane  sidereo  canis  hie  imponitur  arae^S 

*  Scylla  wäscht  ihre  Hüften  in  einer  Quelle,  deren  Wasser  die  Zauberin 
Circe  behext  hat,  worauf  sich  Hundeungehener  an  ihrem  L^ibe  einstellen ; 
daher  sagt  Ovid: 

,,Scylla  venit  mediaque  tenus  descenderat  alvo, 
Cum  sua  foedari  latrantibus  inguina  monstris 
Aspicit,  ac  primo  non  credens  corporis  illas 
Esse  stti  partes  refugitque  abiitque  timetque 
Ora  protenra  canum.'* 

*  Haec  lucem  accipiunt  ab  Joinville  in  Hist.  S.  Ludovici,  dum  foedera 
inter  Imp.  Joannem  Yatatzem  et  Comanonim  Principem  inita  recenset, 
eaque  firmata  ebibito  alterius  invicem  sanguine,  hacque  adhibita  ceremonia 
quam  sie  enarrat:  ,,£t  ancore  firent-ils  autre  chose.    Car  ils  firent  passet 


365 

der  OlätibO)  dasB,  Wenn  eine  Wölfin  wirft,  sich  nnter  jbren  Jungen 
immer  ein  Hüüd  befindet;  der,  am  Leben  gelassen ^  alle  Wölfe 
ansmtten  wflrde.  Doch  die  Wölfin  weiss  das,  und  kanm  hat  sie 
den  Hnnd  bemerkt,  als  sie  ihn  ertränkt,  wenn  sie  die  Wölfe  zur 
Tränke  führt.  In  einer  Fabel  des  Abstemius  frisst  ein  Schäfer- 
hund jeden  Tag  eines  von  den  Schafen ,  statt  über  die  Herde  zu 
wachen.  Der  Schäfer  tödtet  ihn,  indem  er  sagt,  dass  er  den  Wolf, 
einen  erklärten  Feind,  dem  Hunde,  einem  falschen  Freunde  vor- 
ziehe. Diese  Unsicherheit,  diese  Confusion  von  Hund  und  Wolf 
erklärt  die  Doppelnatur  des  Hundes;  zum  Beweis  illr  diese  will 
ich  hier  zwei  noch  nicht  veröffentlichte  italienische  Mährchen  mit- 
theilen; das  erste,  das  ich  aus  dem  Munde  einer  Bauerfran  aus 
Fuceechio  habe,  zeigt  die  Httndin  als  Spion  des  Ungeheuers ;  das 
zweite  wurde  vor  ein  paar  JahrM  von  einem  piemontesischen 
Banditen  einer  BauerfVau  erzählt,  welche  ihm  Gastfreundschaft 
erwiesen  hatte,  in  Capellanuova  bei  Cavour  im  Piemontesischen. 
Die  erste  Geschichte  beisst:  Der  König  der  Mörder,  und 
lautet  folgendermassen : 

Es  war  einmal  eine  Wittwe  mit  drei  Töchtern,  die  arbeiteten 
als  Näherinnen.  Sie  sitzen  auf  einer  Terrasse,  —  da  kommt  ein 
schöner  Herr  vorbei  und  heirathet  die  älteste,  er  nimmt  sie  zu 
sich  auf  sein  Schloss  mitten  im  Walde,  nachdem  er  ihr  gesagt, 
dass  er  das  Haupt  der  Raubmörder  sei.  Er  giebt  ihr  eine  kleine, 
junge  Httndin  und  sagt:  „Das  soll  Deine  Gespielin  sein;  wenn 
Du  sie  gut  behandelst,  so  ist  es,  als  ob  Du  mich  gut  behandeltest" 
Er  zeigt  ihr  im  Schloss  alle  Zimmer  und  giebt  ihr  alle  Schlüssel ; 
jedoch  in  zwei  Zimmer,  die  er  ihr  bezeichnet,  darf  sie  nicht  ein- 
treten; thut  sie  es,  so  wird  es  ihr  schlecht  ergehn.  Der  Räuber- 
hauptmann bleibt  einen  Tag  zu  Hause;  dann  bleibt  er  drei  Tage 
aus.  Während  seiner  Abwesenheit  misshandelt  sie  das  Hündchen 
und  giebt  ihm  fast  gar  nichts  zu  essen ;  auch  wird  sie  von  der 
Neugierde  überwältigt  und  geht  sehen,  was  in  den  beiden  Zim- 
mern ist,  indem  ihr  das  Hündchen  folgt.  Da  sieht  sie  in  dem 
einen  Zimmer  Köpfe  von  Erschlagenen,  in  dem  anderen  Zungen, 
Ohren  und  dergleichen  aufgehängt.  Dieser  Anblick  erfüllt  sie  mit 
Entsetzen.  Der  Banditenhauptmann  kehrt  heim  und  fragt  die 
Httndin,  ob  sie  gut  behandelt  worden  sei ;  sie  giebt  Zeichen,  dass 


un  chien  entre  nos  gens  et  eux,  et  d^coupörent  tout  ie  chien  k  lean  es- 
pies, disans  que  ainsy  fossent-ils  d^oupez  s'ils  faiUoient  Tun  k  Tautre.*'  — 
Vgl.  bei  Da  Gange  den  Ausdruck  „cerebrare  canem.** 


366 

das  Gegentheil  der  FaJl  war,  und  berichtet  ibrem  Herrn ,  dass 
sein  Weib  in  den  verbotenen  Zimmern  war.  Er  baut  ihr  den  Kopf 
ab  und  holt  sieh  die  zweite  Schwester,  die  er  zu  sich  lockt  dnrch 
die  Einladung,  sein  Weib  zu  besuchen.  Sie  erleidet  dasselbe 
Geschick.  Darauf  holt  er  die  dritte  Schwester  und  sagt  ihr,  wer 
er  ist;  sie  antwortet:  „Es  ist  besser  so;  nun  werde  ich  mich  nicht 
mehr  vor  Dieben  fürchten."  Sie  giebt  dem  Hündchen  gut  zu 
essen,  liebkost  es  und  macht  sich  bei  ihm  beliebt;  der  Hörder- 
könig ist  zufrieden  und  die  Hündin  führt  ein  glückliches  Leben. 
Nach  einem  Monat  geht  sie,  während  er  aus  ist  und  das  Hündchen 
im  Garten  umherläuft,  in  die  beiden  Zimmer,  findet  ihre  Schwestern 
und  geht  in  die  andern  Zimmer,  wo  Salben  sind,  mit  denen  sich  abge- 
schnittene Glieder  wieder  befestigen  lassen  und  solche,  durch  welche 
man  die  Todten  wieder  zum  Lieben  bringen  kann.  Sie  erweckt  also 
ihre  Schwestern  vom  Tode,  versteckt  sie  in  zwei  grossen  Kesseln, 
die  mit  Luftlöchern  versehen  sind,  und  bittet  ihren  Mann,  diesel- 
ben ihrer  Mutter  zum  Geschenk  zu  bringen,  indem  sie  ihn  warnt, 
nicht  in  die  Kessel  hineinzuschauen;  thue  er  es  doch,  so  würde 
sie  es  sehen.  Er  nimmt  die  Kessel,  und  als  er  versucht,  hinein- 
zusehen, hört  er,  wie  er  gewarnt  ist,  nicht  eine  Stimme,  sondern 
zwei,  die  von  innen  flüstern:  „Mein  Liebchen,  ich  seh*  Dich." 
Elrsch  rocken  übergiebt  er  schleunigst  der  Mutter  die  beiden  Kessel. 
Mittlerweile  hat  sein  Weib  die  Hündin  in  siedendem  Oel  getödtet ; 
sie  bringt  alle  todten  Männer  und  Weiber  zum  Leben,  unter 
denen  auch  Carlino,  Sohn  eines  Königs  von  Frankreich  sich  be- 
findet, der  sie  heirathet.  —  Der  Mörderkönig  bemerkt  bei  seiner 
Heimkehr  den  Verrath  und  gelobt  Rache;  er  geht  nach  Paris,  lässt 
dort  eine  goldene  Säule  anfertigen,  in  welcher  ein  Mann  verborgen 
sein  kann,  ohne  dass  die  geringste  Oefinung  sichtbar  ist,  und  be- 
sticht ein  altes  Weib  aus  dem  Palast,  auf  das  Kopfkissen  des 
Prinzen  ein  Blatt  Papier  zu  legen,  das  ihn  und  alle  seine  Diener 
in  tiefsten  Schlaf  versenken  soll,  sobald  er  darauf  liegt.  Sich 
selbst  schliesst  er  in  die  Säule  ein  und  lässt  sie  vor  den  Palast 
bringen ;  die  Königin  wünscht,  sie  zu  besitzen,  und  besteht  darauf, 
sie  zu  Füssen  ihres  Bettes  zu  haben.  Die  Nacht  kommt  heran; 
der  Prinz  legt  seinen  Kopf  auf  das  Blatt,  und  er  wie  seine  Diener 
fallen  sofort  in  tiefen  Schlaf.  Der  Mörder  springt  aus  der  Säule, 
droht,  der  Prinzessin  den  Tod  zu  geben,  und  geht  in  die  Küche, 
einen  Kupferkessel  mit  Oel  zu  fällen,  um  sie  darin  zu  sieden. 
Unterdess  ruft  sie  ihren  Gatten,  ihr  zu  helfen,  doch  vergebens; 
sie  zieht  die  Glocke,  doch  Niemand  hört;   der  König  der  Mörder 


r 

I 


367 

kehrt  zurück  nnd  zieht  sie  aus  dem  Bette;  sie  packt  den  Kopf 
des  Prinzen  und  zieht  ihn  so  von  dem  Papier  fort;  der  Prinz 
und  seine  Diener  erwachen,  und  der  Zauberer  wird  lebendig 
verbrannt. 

Das  zweite  Mährchen  heisst:  Der  Zauberer  mit  den  sie- 
ben Köpfen,  und  wurde  mir  von  der  Bauerfrau  folgendermassen 
erzählt : 

Ein  alter  Mann  und  eine  alte  Frau  hatten  zwei  Kinder, 
Oiacomo  und  Carolina.  Oiacomo  hütet  drei  Schafe.  Ein  Jäger 
kommt  vorbei  und  verlangt  dieselben ;  Giacomo  giebt  sie  hin  und 
erhält  dafür  drei  Hunde,  Drossel-Eisen,  Schnell-wie-der-Wind  und 
Bin-überall ;  ausserdem  noch  eine  Pfeife.  Der  Vater  weigert  sich, 
Giacomo  wieder  in  sein  Hans  aufzunehmen;  dieser  zieht  mit  sei- 
nen drei  Hunden 'fort;  der  erste  bringt  Brod,  der  zweite  Fleisch- 
speisen, der  dritte  Wein.  Er  kommt  zu  dem  Palast  eines  Zauberers 
und  wird  gut  aufgenommen.  Als  er  seine  Schwester  bringt,  ver- 
liebt sich  der  Zauberer  in  dieselbe  und  will  sie  heirathen;  doch 
zu  diesem  Ende  muss  der  Bruder  durch  Entfernung  seiner  Hunde 
geschwächt  werden.  Seine  Schwester  stellt  sich  krank  und  ver- 
langt von  ihrem  Bruder  Mehl;  der  Müller  verlangt  einen  Hund 
{Wr  das  Mehl,  und  Giacomo  giebt  ihn  aus  Liebe  zu  seiner 
Schwester  hin;  in  ähnlicher  Weise  werden  ihm  die  beiden  andern 
Hunde  abgeschmeichelt.  Der  Zauberer  will  nun  Giacomo  erdros- 
selU;  doch  dieser  bläst  in  seine  Pfeife  und  die  Hunde  erscheinen, 
um  den  Zauberer  und  die  Schwester  zu  tödten.  Giacomo  geht 
mit  den  drei  Hunden  weiter  und  kommt  in  eine  Stadt,  in  welcher 
grosse  Trauer  herrscht,  weil  die  Tochter  des  Königs  von  dem 
siebenköpfigen  Zauberer  verschlungen  werden  soll.  Giacomo 
tödtet  vermittelst  der  drei  Hunde  das  Ungeheuer;  die  dankbare 
Prinzessin  legt  den  Saum  ihres  Kleides  um  Drossel- Eisens  Hals 
und  verspricht,  Giacomo  zu  heiratheu.  Der  Letztere,  der  in  Trauer 
um  seine  Schwester  ist,  bittet  sich  ein  Jahr  und  einen  Tag  Warte- 
zeit aus;  doch  bevor  er  fortgeht,  schneidet  er  dem  Zauberer  die 
sieben  Zungen  aus  und  nimmt  sie  mit  sich.  Das  Mädchen  kehrt 
in  den  Palast  zurück.  Der  Essenkehrer  zwingt  sie,  ihn  als  den 
Befreier  anzuerkennen;  der  König,  ihr  Vater,  willigt  darein,  dass 
er  sie  heirathet,  jedoch  die  Prinzessin  bedingt  sich  ein  Jahr  und 
einen  Tag  Wartezeit  aus.  Nach  Ablauf  dieses  Termins  kehrt 
Giacomo  heim  und  hört,  dass  die  Prinzessin  sich  verheirathen  soll. 
Er  schickt  Drossel-Eisen,  den  Essenkehrer  (den  schwarzen  Mann, 
den  Saracenen,  den  Türken,  den  Zigeuner,  das  Ungeheuer)  mit 


368 

seinem  Schwänze  zu  schlagen,  damit  sein  Halsband  bemerkt 
werde;  dann  stellt  er  sich  selbst  ab  den  wirklichen  Befreier  der 
Prinzessin  dar  und  verlangt;  dass  die  Köpfe  des  S^auberers  ge- 
bracht werden;  da  die  Zungen  fehlen ,  wird  die  List  entdeckt 
Das  junge  Paar  wird  vermählt,  der  Kaminfeger  aber  verbrannt. 
In  der  Umgegend  von  Florenz  glaubt  man,  dass  der  Wolf 
wie  auch  der  Hund,  wenn  man  von  ihnen  träumt^  ein  Vorzeichen 
von  Krankheit  oder  Tod  sind  (wie  bei  Terenz),  besonders  wenn 
man  den  Hund  im  Traume  hinter  Einem  herlaufen  sieht  oder  sich 
von  ihm  verfolgt  glaubt.     Bei  Horaz  (Ad  Galatheam  0   bedeutet 

es  Unglttek,  wenn  man  eine  trächtige  Hündin  trifit : 

* 

„Impios  parrae  recinentis  omeu 
Oucat  et  praeguans  canis.'' 

In  Sicilien  wird  St.  Veit  gebeten  ^  die  Hunde  an  der  Kette 
zu  halten: 

„Santa  Vitu,  Santu  Vitu, 
lo  tri  vuti  vi  la  dicu: 
Va\  chiamativi  a  lu  cani 
Ca  mi  voll  muzzicari/' 

Und  wenn  man  den  Hund  anbindet,  sagt  man: 

,,Santu  Vitu, 

Beddu  e  pulitu, 

Anghi  di  cira 

£  di  ferru  fi latu; 

Fi  iu  nuomu  di  Maria 

Ligu  stu  cani 

Ch*  aja  avanti  a  mia/* 

Und  wenn  man  den  Huhd  loslässt,  sagt  man  dabei: 

„Fermati,  cani 
Ca  t'  aju  ligatu."« 

In  Italien  und  Russland  bedeutet  es  Unglück  und  Tod,  wenn 
der  Hund  wie  ein  Wolf  heult,  d.  h.  den  Wolf  spielt.  Es  wird 
auch  erzählt,  ^  dass  nach  dem  BUndniss  zwischen  Cäsar,  Lepidus 
und  Antonius  Hunde  wie  Wölfe  beulten. 

»  Carm.  III,  27,  1.  2. 

*  Biblioteca  della  Tradizioni  Popolari  Siciliane,  ed.Qta8, 
Pitr^  II,  canto  811. 

*  Bei  Richardus  Dinothus  (nach  Aldrovandi). 


369 

Wenn  man  in  Sicilien  von  einem  Hunde  gebissen  wiyd,  wird 
demselben  ein  Büschel  Haare  abgeschnitten  and  in  Wein  p^t 
einer  glühenden  Löschkohle  getaucht;  dieser  Wein  wird  depi 
Mann^  der  gebissen  worden  ist,  zu  trinken  gegeben.  ^  Bei  Aldro- 
vandi  ^  lese  ich  andrerseits,  dass  die  Wunde  durch  den  Biss  eines 
tollen  Hundes  geheilt  wird^  wenn,  man  sie  mit  Wolfshaut  bedeckt. 

Der  Hund  ist  ein  Mittel  der  Züchtigung.  Unsere  italienischen 
Redensarten:  ,,menare  il  cane  per  Vaia'^  (den  Hund  um  die 
Dreschtenne  führen)  und :  ,,dare  il  cane  a  menare^'  iden  Hund  zum 
Herumführen  geben)  sind  wahrscheinlich  eine  Beminiscenz  an  die 
schimpfliche  Strafe  des  Hundetrbgens  im  mittelalterlichen  Deutsch- 
land, welche  einem  vornehmen  Verbrecher  auferlegt  wurde  und 
zuweilen  seiner  Hinrichtung  vorausging.  ^  Die  Strafe  der  Zer- 
reissung  durch  Hunde,  welche  mehr  als  einmal  auf  den  Befehl 
von  Tyrannen  in  Ausführung  gebracht  worden  ist,  hat  ihr  Proto- 
typ in  dem  bekannten  Mythus  von  Kerberos  und  den  rächenden 
Hunden  der  Hölle.  So  wird  Peirithoos,  der  Persephone  dem 
höllischen  König  der  Molosser  zu  entführen  versucht,  von  dem 
Hunde  Trikerberos  in  Stücke  zerrissen.     Euripides   wurde   nach 


'  Nach  einem  Brieie  meines  Freuudcs  Pitr^. 

*  De  Quadrap.  Dig.  Viv.  IL 

'  Du  Gange  b.  v.  can  am  ferre.  Der  Schimpf,  der  mit  dieser  Strafe 
verbunden  war ,  hat  vielleicht  eine  phallische  Bedeutung ;  der  Hund  und 
der  Phallus  erscheinen  in  Verbindung  mit  einander  in  einer  noch  nicht 
veröffentlichten  boshaften  Legende,  die  in  San  Stefano  di  Calcinaia  bei 
Florenz  erzählt  wird,  und  welche  versichert,  dass  das  Weib  nicht  aus 
einem  Manne,  sondern  aus  einem  Hunde  entstanden  ist.  Adam  war  ein- 
geschlafen; der  Hund  trog  eine  seiner  Rippen  davon;  Adam  raniyhinter 
dem  Hunde  her,  um  sie  wiederzubekommen,  brachte  jedoch  Nichts  zurück 
als  des  Hundes  Schwanz,  der  ihm  in  der  Hand  blieb.  —  Der  Schwanz  des 
Esels,  Pferdes  oder  Ferkels,  der  den  Bauern  in  der>H^nd  bleibt  in  andern 
komischen  Sagen,  kann  vielleicht  ausserdem  dass  er  als  der  sichtbarste 
Theil  zum  Zeichen  diente,  um  das  verlorene  oder  gefallene  Thier  wieder- 
zufinden, noch  eine  Bedeutung  haben,  welche  der  des  Schwanzes  von 
Adams  Hand  analog  ist.  —  Ich  hoffe,  der  Leser  wird  mir  diese  häufigen 
Anspielungen  auf  indeoente  Bilder  verzeihen;  doch  ich  bin  genothigt,  auf 
eine  Epoche  zurückzugehen,  in  welcher  der  Idealismus  noch  in  der  Wiege 
lag,  während  das  physische  Leben  noch  in  der  ganzen  Fülle  seiner  Kraft 
stand,  und  in  welcher  deshalb  Bilder  vorzüglich  von,  Diugon  von  mehr 
sinnlicher  Natur,  die  einen  tieferen  und  bleibenderen  Eindruck  machten, 
entlehnt  wurden.  Es  ist  bekannt,  dass  mit  der  Erzeugung  des  vedischen 
Feuers  durch  Reibung  zweier  Hölzer  auf  das  Männliche  und  das  Weibliche 
angespielt  wird,  so  dass  tier  grossartige  und  hochpoetische  Mythus  von 
Prometheus  seinen  Ursprung  einer  der  niedrigsten  V^ergleichungen  verdankt. 

QubematlB,  die  Thiere.  24 


I 


370 

der  VolksBago  im  Walde  von  den  rächenden  Hunden  des  Arche- 
Ihos  xertleiHeht.  Von  Domitiau  wird  erzählt,  dass  er  einen  Stern- 
deuter, der  \\m\  bei  einer  Geleg:enheit  das  Nahen  seines  Todes 
vorausgesagt  hatte,  fragte,  ob  er  denn  seine  eigene  Todesart 
könne ;  joner  antwortete,  er  werde  von  Hunden  verschlungen  wer- 
den (Tod  durch  Hunde  wird  auch  in  einer  Erzählung  des  Pen- 
tainorone  pn>pheteitK  Domitiau  befahl,  um  das  Orakel  falsch 
«u  ranohen,  ihn  in  tlklten  und  %\\  verbrennen;  doch  der  Wind 
blii^  die  Flauimon  aus.  flie  Hunde  kamen  herbei  und  versehlangen 
den  l-oiolinanu  T^oloslaus  11,  Ki^nig  von  Polen,  wird  in  der  Le- 
gtMulo  vt>m  higen  Stanislaus  von  seinen  eigenen  Hunden  auf 
einer  Wanderung  im  Walde  lerrissen,  weil  er  den  Heiligen  xu 
tvHlteu  befohlou  halte.  Das  vedisi'he  Ungeheuer  Qnshna^  derPest- 
huud  Sirius  dos  Sounenhiramels,  und  der  Hund  Kerberos  der 
nÄchtliohou  Hi>lle  sjHMen  Flammen;  sie  tüchtigen  die  Weh  mit 
wr\ierbHohon  Klammen;  und  die  heidnische  Welt  versucht  alle 
Ustfiu  Beleu  und  Beschworen,  am  sich  vor  ihren  schrecklichen 
KiuAtlsj^u  1«  bcwahrcu,  iHvh  dies^er  Hund  ist  unsterblich,  oder 
vi^flmchr  er  «engt  Nach  kommen  und  entillt  die  Menschen  von 
Xcncm  mit  Scircv^ken  in  einer  mehr  unminelbaien  ud  irdiscLen 
Octs4;jüi  iu  ^Wr  obri5iiliv\:en  W^h,  Es  wird  enihlt,  dass  vor  der 
Oetmrt  de?^  hij:>?n  lV>m:nic;:s,  »le«  berccb;ur;en  Eründers  der 
Tv^rtun»  der  M^^?«  Iw^uisin'Ma  eines  wa'rrtAft  satai::>c'iea  L-- 
Cit^r'*.  seine  MÄitcr  ^i'  reud  ;hrer  Sciwan^nerschact  it^äzä»,  jctr 
Sili:e  etftCtt  Hnud.  der  eiuec  du  Weh  in  FTtaicten  setzesnksi 
IVttcrtvRUid  tn;^.  Sv  IX^miuic^s  nuuri^^  den  IrauD  seLmer  Vzner 
lÄr  WdCr:eit^  er  wurue  dzeiÄr  Srasds^uf^ecie  H=i^i  zc?i  ss  Ju^ei 
a^:  alVu  B:,acra  \v^c  :  a  c:«er  Hizc  nri;  iea  Fewer^ruM  tiä 
,:»t  Or,s:r:5  ^4  der  erw<:;erte.  r^retr;^e  zri  icexi^rje  ?r> 
itt!e?.ec*.  >5.  IVs:;T.::JSi.  %ia*  ver^*i>ci7<frte,  Tenüetafr»  I3«i 
r;iÄ*:..>;Tt^  Vr^p^::,':^^  V'.ijur  tat  :-j:^>::.::i'ea  • -^Tir^     IVr  ; 

*xroe   5:  c-iT  c>:*>:l;:,ra  Xt^'i*  i  vC*.«?  i-^c  S'J.i'is.'  i^  i»  ^t  1\«l:- 


L 


.^7i 


KAPITEL  VII. 

Die  Katze^  das  Wiesel,  die  Maas,  der  Maolwurf,  die  Selmecke,  da» 
lehiieumou,  der  Skorpion,  die  Ameise,  die  Grille  uud  die  Heasehreoke« 

Ich  vereinige  hier  unter  einer  Rubrik  mehre  Thiere  des  My- 
thus, welche  zwar  in  Wirklichkeit  sehr  verschiedener  Natur  sind, 
jedoch  in  der  Mythologie  zu  einer  Klasse  gehören. 

Es  sind  stehlende  unjl  jagende  Thiere,  und  sie  werden  des- 
halb sehr  passend  in  die  Dunkelheit  der  Nacht  verlegt  (nakta- 
cärin  ist  im  Sanskrit  ein  Beiwort  sowohl  der  Katze  wie  des 
Diebes),  in  den  nächtlichen  Wald,  in  Verbindung  bald  mit  der 
Jägerin  Diana  oder  der  guten  Fee  Mond,  bald  mit  der  hässlichen 
Hexe;  bald  erscheinen  sie  als  die  Beschtltzer  und  Helfer,  bald 
als  die  Verfolger  des  Helden. 

Es  dürfte  hier  die  Etymologie  einiger  indischer  Wörter  bei- 
zubringen sein,  welche  auch  für  den  Leser  von  Interesse  sein 
wird.  Mär^ära,  die  Katze,  bedeutet  eigentlich:  die  sich  putzende. 
Gehen  wir  auf  den  Mythus  zurück,  so  wissen  wir  schon,  dass  eine 
der  Hauptforderungen  der  Hexe  ist,  dass  ihre  Stieftochter  ihr  das 
Haar  kämmt  oder  auch  das  Getreide  reinigt  während  der  Nacht, 
und  dass  die  gute  Fee,  die  Madonna,  während  sie  sich  ebenfalls 
das  Haar  kämmen  lässt,  Edelsteine  umberstreut,  spinnt  und  das 
Getreide  reinigt  für  das  gute  Mädchen.  Die  Hexe  der  Nacht 
zwingt  das  Mädchen  Aurora,  den  glänzenden  Weizen  des  Abends 
von  der  schwarzen  Spreu  der  Nacht  zu  sondern;  der  Mond  mit 
seinem  Silberglanze  verscheucht  die  Schatten  der  Nacht.  Der 
märgär  a  oder  Reiniger  der  Nacht,  die  weisse  Katze,  ist  der 
Mond.  Aranyamärgära  oder  Waldkatze  ist  der  Name  der  wilden 
Katze,  mit  welcher  auch  der  Luchs  identificirt  wird.  Als  weisse 
Katze,  als  der  Mond,  beschützt  sie  unschuldige  Wesen;  als  eine 
schwarze  Katze,  als  die  schwarze  Nacht,  verfolgt  sie  dieselben. 
Die  Katze  ist  ein  schlauer  Jäger ;  überdies  ist  das  Wort  m  ä  r  ^  ä  r  a 
(der  Reiniger)  leicht  mit  märgära,  welches  eigentlich  bedeutet: 
Jäger,  Sptlrer,  der  der  Spur,  dem  märga,  folgt,  oder  auch: 
Feind  des  mriga  (als  mrigäri},  zu  verwechseln;  der  Weg  ist  der 
helle,  saubere  Theil  des  Landes,  wie  der  Rand  der  weisse  oder 

reine  Theil  eines  Buches  ist.    Der  Jäger  kann  der  sein,  der  auf 

24* 


372 

dem  Rande  oder  auf  der  Spur  geht,  oder  auch :  der,  der  jagt  und 
den  mriga  oder  das  Waldthier  tödtet.  Der  Mond  (die  Jägerin 
Diana)  heisBt  im  Sanskrit  auch  mrigaräga  oder  Ebnig  der 
Waldthiere,  und  so  wie  Könige  pflegen,  beschüzt  er  zuweilen 
seine  Unterthanen,  bisweilen  verzehrt  er  sie.  Die  Mond -Katze 
verzehrt  die  grauen  Mäuse  der  Nacht. 

Nakula  ist  der  Name^  den  im  Sanskrit  das  Ichneumon,  der 
Feind  der  Mäuse,  Skorpionen  und  Schlangen  führt.  Das  Wort 
scheint  von  der  Wurzel  nag,  nak^^necare  abzuleiten  zu  sein, 
so  dass  nakula  der  Vemichter  (der  nächtlichen  Mäuse)  zu 
sein  scheint. 

Die  Maus,  müsh,  mdsha,  mfishaka,  ist  der  Dieb,  der 
Räuber;  daher  auch  der  Name  Ratte  (a  rapiendo). 

Die  indischen  Namen  der  Ameise  sind  vamra  und  vamri 
(neben  pipilaka).  Vamrf  hängt  zusammen  mit  vapä,  vapra, 
vaprt,  Ameisenlocb,  und  mit  dem  durch  Metathesis  entstandenen 
valmika  (d.  h.  Ameisen  gehörig),  was  dasselbe  bedeutet.  Das 
lateinische  formica  vereinigt  die  beiden  Formen  vamri  und 
valmika.  Die  Wurzeln  sind  vap,  in  der  Bedeutung  von  hin- 
streuen, hinwerfen,  und  vam,  auswerfen  oder  ausbrechen,  wie  das 
die  Ameisen  thun,  wenn  sie  die  kleinen  Erdhttgel  errichten. 

Im  Mahäbhärata  heisstauch  das  Schlangenloch  valmtka; 
hieraus  lässt  sich  die  Fabel  in  dem  dritten  Buche  des  Pannca- 
t antra  erklären,  in  welcher  wir  eine  Schlange  haben,  die  gegen 
Ameisen  kämpft.  Sie  tödtet  viele  von  ihnen,  doch  ihre  Zahl  ist 
so  unermesslich,  dass  sie  zuletzt  unterliegen  muss.  So  kämpft  auch 
in  dem  mythischen  Himmel  der  Veden  Indra  in  Gestalt  eines  vamra 
oder  einer  Ameise  siegreich  gegen  das  alte  Ungeheuer,  das  den 
Himmel  bestürmt.  *  Ja,  noch  mehr,  imPancatantra  stechen  und 
beissen  die  Ameisen  die  Schlange  und  tödten  sie;  so  giebt  Indra 
(der,  wie  wir  schon  sagten,  in  der  Wolke  oder  der  Nacht  eine  Ameise 
ist)  den  Ameisen  die  habsüchtige  Schlange,  den  Sohn  des  Agru,  die 
er  aus  ihrem  Versteck  zieht.  ^  Schliesslich  bietet  uns  der  Rigveda 
noch  eine  andere  sonderbare  Einzelheit  Die  beiden  A^vins 
kommen  dem  Vamra  (oder  Indra  in  seiner  Ameisengestalt,  d.  h. 


'  Vriddhasya  did  vardhato  dyäm  inakshata^  staväno  vamro  vi  gaghäna 
samdihah;  Kigv.  I,  51,  9. 

^  Vamribhi^  putram  agruvo  adänam  nive^anäd  dbariva  ä  ^abhartha; 
RigY.  IV,  19,  9.  —  Eine  Variation  ist  der  Igel,  der  die  Viper  zum  Ver- 
lassen der  Höhle  zwingt  (Kap.  V). 


I 


373 

der  Ameise)  zu  Hilfe ;  während  er  trinkt  (vamram  vipipänam). 
Die  Ameise  wirft  kleine  Erdhtigel  auf,  indem  sie  in  den  Boden 
sticht.  Die  Wnrzel  vap,  welche  werfen,  verstreuen  bedeutet,  hat 
auch  die  Bedeutung:  schneiden,  und  vielleicht:  ein  Loch  machen. 
Das  Convexe  hat  das  Concave  zur  Voraussetzung,  und  vam  ist 
fiait  vap  verwandt  (wie  somnus  mit  vTCvog,  svapna  und 
sopor).  Indra,  als  Ameise^  ist  der  Verwunder,  der  Beisser  der 
Schlange.  Er  lässt  sie  aus  ihrer  Höhle  kommen,  oder  speit  sie 
aus  (eructat);  die  beiden  etymologischen  Begriffe  finden  sich  im 
Mythus  wieder.  Die  Waffen,  mit  denen  Indra  die  Schlange  ver- 
wundet, sind  unzweifelhaft  bald  die  Sonnenstrahlen,  bald  die 
Donnerkeile.  Indra  in  der  Wolke  trinkt  den  Soma.  Die  Ameise 
trinkt,  und  während  sie  trinkt,  kommen  ihr  die  A^^vins  zu  Hilfe; 
denn  ohne  Zweifel  ist  die  Ameise,  wenn  sie  trinkt,  in  Gefahr  zu 
ertrinken.  Und  das  führt  uns  auf  die  Geschichte  von  den  dank- 
baren Thieren,  in  welcher  der  junge  Held  eine  Ameise  findet,  die 
nahe  am  Ertrinken  ist. 

Im  vierundzwanzigsten  der  von  mir  veröffentlichten  tosca- 
nischen  Feenmärchen  sieht  der  Sohn  des  Schäfers,  als  er  auf 
einen  guten  Rath,  den  er  erhalten.  Jedem,  den  er  trifft,  Gutes  zu 
thun  beschliesst,  auf  dem  Wege  einen  Ameisenhttgel ,  der  nahe 
daran  ist,  vom  Wasser  zerstört  zu  werden;  er  macht  also  einen 
Wall  darum  und  retlet  so  die  Ameisen;^  diese  ihrerseits  zahlen 
die  Schuld  zurUck.  Der  König  des  Landes  verlangt  von  dem 
jungen  Mann  dafür,  dass  er  seine  Tochter  zur  Ehe  erhält,  dass 
er  die  verschiedenen  Arten  Getreide  auf  einem  Kornboden  von 
einander  sondere;  da  marschirt  Kaptaiu  Formicola  mit  seiner 
Armee  herbei  und  besorgt  das  Geschäft.  In  andern  Versionen 
dieses  Mährchens  haben  wir  statt  der  Eindämmung  das  Blatt, 
das  der  Held  unter  die  Ameise  legt,  so  dass  sie  aus  dem  Wasser 
in  der  Fussspur  eines  Pferdes  herausschwimmen  kann,  was  uns 
das  Lotusblatt  in's  Gedächtniss  ruft,  auf  welc{)em  die  indische 
Gottheit  im  Ocean  schwimmt.  Dieses  Wasser,  in  welchem  die 
Ameise  ertrinkt,    ward  später    in  die  sprichwörtliche  Ameisen- 


*  Die  Zwerg> Einsiedler,  welche  ein  Blatt  auf  einem  Karren  fortschaften 
und  beinah*  in  dem  Wasser,  das  in  der  Fussspur  einer  Kuh  steht,  er- 
trinken, und  die  Indra  fluchen,  welcher  lächelnd  vorbeigeht,  ohne  ihnen  zu 
helfen,  im  Mahäbhärata  sind  eine  Variation  dieser  selben  Ameisen.  — 
Vgl.  die  Kapitel  über  den  Elephanten  und  über  die  Fische,  wo  wir  Indra 
haben,  der  zu  versinken  fürchtet. 


374 

milch  ^  verändert,  welche  bald  dazu  dient,  eine  Unmöglichkeit  zu 
bezeichnen,  bald,  auf  Indra,  die  mythische  Ameise  bezogen,  die 
ambrosische  und  Regen-Feuchtigkeit  darstellt.  In  dem  sechsten 
sicilianischen  Mährchen  bei  Frau  Gonzenbach  erhält  der  Knabe 
Guiseppe ;  der  den  hungrigen  Ameisen  Brodkrumen  gegeben  hat, 
von  dem  König  derselben  ein  Ameisenei  zum  Geschenk,  damit  er 
sich  desselben  in  der  Noth  bediene.  .  Als  er  eine  Ameise  werden 
will,  um  in  den  Palast  des  Riesen  einzudringen,  hat  er  nur  das 
Ameisenei  auf  die  Erde  fallen  zu  lassen  und  dabei  zu  sagen: 
„Ich  bin  ein  Christ  und  werde  eine  Ameise,"  was  dann  sofort  vor 
sich  geht.  In  demselben  Mähreben  verschafft  sich  Giuseppe 
Schafe,  um  die  Schlange  durch  deren  Geruch  anzuziehen  und  sie 
aus  ihrem  Schlupfwinkel  hervorzulocken.  Hier  kommen  wir 
augenscheinlich  wieder  auf  das  vedische  Thema  von  Indra,  wel- 
cher die  Schlange  herauslockt,  um  sie  den  Ameisen  zu  übergeben. 
In  der  achten  Erzählung  des  vierten  Buches  des  Pen  tamer  one 
zeigt  die  Ameise  dem  Mädchen  Cianna,  welches  die  Mutter  der 
Zeit  suchen  geht,  den  dritten  Theil  des  Weges;  an  der  Thtlr 
ihres  Hauses  werde  Cianna  eine  Schlange,  die  sich  in  den 
Schwanz  beisst,  finden  (das  bekannte  Symbol  des  cyklischen 
Tages  oder  Jahres  und  der  Zeit  im  Alterthum),  sie  solle  dann  die 
Mutter  der  Zeit  fragen,  auf  welche  Weise  die  Ameisen  hundert 
Jahre  leben  können.  Die  Mutter  der  Zeit  antwortet  Cianna,  die 
Ameisen  würden  daun  hundert  Jahre  leben,  wenn  sie  das  Fliegen 
lassen  können,  insofern  als  „quanno  la  formica  vo  morire,  mette 
Tascelle"  (d.  h.  die  Flügel).  Die  Ameise,  für  diesen  guten  Rath 
dankbar,  zeigt  Cianna  und  ihren  Brüdern  die  Stelle  unter  der 
Erde ,  wo  die  Diebe  ihren  Schatz  niedergelegt  haben.  Wir 
erinnern  auch  an  die  Erzählung  von  den  Ameisen,  welche  Gersten- 
körner in  den  Mund  des  königlichen  Kindes  Midas  legen,  um 
seinen  künftigen  Reichthum  anzuzeigen.  Bei  Hero  dot  (III)  und 
bei  Tzetzes^  finde  ich  die  sonderbare  Bemerkung,  dass  es  in 


'  Fa  cunto  ca  no  le  mancava  1o  latto  de  la  formica;  P  en  t  a  mo- 
ron e  1,  8. 

'  Bib  lion  IstorikonXII,  404.  —  In  der  £p ist.  Presb.  Johannis 
lesen  wir  ebenfalls:  ^^u  quadam  provincia  nostra  sunt  formicae  in  magni- 
tudine  catulorum,  habentes  VII  pedes  et  alas  IV.  Istae  formicae  ab  occasu 
so) is  ad  ortum  morantur  sub  terra  et  fodiunf  purissimum  aurum  tota  nocte 
—  quaerunt  victum  suum  tota  die.  In  nocte  autem  veniunt  homines  de 
cunctis  civitatibus  ad  colligendum  ipsum  aurum  et  imponunt  elephantibus. 
Quando  formicae  sunt  supra  terram,  nullus  ibi  audet  accedcre  propter  cru- 
delitatem  et  ferocitatem  ipsarum.** 


375 

Indien  Ameisen  giebt,  die  so  gross  wie  Füchse  sind,  und  welche 
goldene  Schätze  in  ihren  Löchern  haben ;  die  Weizenkörner  sind 
dieses  Gold.  Der  Morgen-  und  der  Abendhimmel  werden  bis- 
weilen mit  goldenen  Kornböden  verglichen;  die  Ameisen  sondern 
das  Korn  während  der  Nacht ,  indem  sie  es  von  Westen  nach 
Osten  tragen  und  es  von  allem  Unreinen  säubern,  oder  den  Him- 
mel von  den  nächtlichen  Schatten  reinigen.  Die  Arbeit,  welche 
jeden  Abend  von  der  Hexe  dem  Mädchen  Abend-Aurora  aufge- 
tragen wird;  wird  in  einer  Nacht  von  den  schwarzen  Ameisen  des 
Nachthimmels  iertig  gemacht.  Bisweilen  trifft  das  Mädchen  auf 
dem  Wege  die  gute  Fee  (den  Mond),  welche  ihr  zu  Hilfe  kommt; 
das  Mädchen,  welchem  die  Ameisen  beistehen,  begegnet  der  Mond- 
Madonna.  Doch  der  Mond  heisst  auch  der  Springer  oder  Uttpfer, 
eine  nächtliche  Eidechse;  die  Finstemiss,  die  Wolke  und  die 
dunkelfarbige  Erde  (bei  Mondfinsternissen)  sind  zu  gleicher  Zeit 
Ameisenhttgel  und  schwarze  Ameisen,  welche  über  den  Mond  oder 
vor  dem  Monde  gehn;  und  deshalb  heisst  es  in  der  Fabel,  dass 
die  Ameise  im  Wettlauf  die  Eidechse  besiegte.  Die  Eidechse, 
garabha,  Qalabba,  wird  uns  als  ein  unvorsichtiges  Thier  in 
zwei  Sprüchen  des  ersten  und  vierten  Buchs  des  Pancatantra 
dargestellt.  Die  grüne  Heuschrecke  oder  Eidechse  springt;  der 
schönhaarige  Mond  springt.  (Ich  bemerkte  schon  in  dem  Kapitel 
über  den  Esel,  wie  die  Worte  hari  und  harit  sowohl  grün  als 
schön,  und  auch  gelb  bedeuten;  im  zweiten  Gesänge  des  sechsten 
Buches  des  Rämäyai^a  heisst  es  von  dem  Affen  Qarabha,  er 
bewohne  den  Berg  <!)andra  oder  das  Mondgebirge;  Qarabha  er- 
scheint also  als  der  Mond.)  Eidechse  und  Heuschrecke  springen 
(vgl.  Kapitel  VIU);  daher  ist  die  Ameise  nicht  nur  mit  der 
Eidechse,  sondern  auch  mit  der  Heuschrecke  in  Verbindung;  die 
indische  Bezeichnung  Qarabha  bedeutet  sowohl  Heuschrecke 
(im  Sanskrit  auch  varshakari  genannt)  als  Eidechse.  In  einem 
der  Montf^rratensischen  Volkslieder,  die  von  Herrn  Ferraro  ge- 
sammelt sind,  haben  wir  die  Hochzeit  der  Heuschrecke  und  der 
Ameise;  die  Elster,  die  Maus,  der  Ortolan,  die  Krähe  und  der 
Goldfink  bringen  zur  Hochzeit  ein  wenig  gehacktes  Stroh,  ein 
Kissen,  Brod,  Käse  und  Wein.  In  den  von  Giuseppe  Tigri  ver- 
öffentlichten toscanischen  Volksliedern  finde  ich  das  Wort  grillo 
(Heimchen)  in  der  Bedeutung  von  Liebhaber  gebraucht.  Im  Ita- 
lienischen bedeutet  grillo  auch  Laune,  Caprice,  besonders  ver- 
liebte Laune ;  so  auch  im  Deutschen.   Medico  grillo  nennt  man 


376 

einen  närrischen  Arzt.  ^  Ferner  muss  die  Heuschrecke  der  Rathet 
^ar  excellence  sein.  In  Italien  pflegen  wir  am  Schluss  eines 
RäthselSy  das  wir  aufgeben,  noch  hinzuzufügen:  ^^^dovinala, 
grillo"  (rath'  es,  Grille);  dieser  Ausdruck  gebt  vielleicht  auf  den 
scheinbaren  Narren  des  Volksmährchens  zurück,  der  sich  schliess- 
lich immer  weise  zeigt.  Die  in  der  Wolke  und  dem  Dunkel  der 
Nacht  eingeschlossene  Sonne  ist  gewöhnlich  der  Dumme,  doch  sie 
ist  zugleich  auch  der  Narr,  der  im  Reiche  der  Todten  Alles  sieht, 
hört  und  lernt;  und  auch  der  Mond,  als  Heuschrecke  oder 
Eidechse  persohificirl;,  ist  ebenfalls  der  scheinbare  Narr,  der  Alles 
weiss,  sieht,  versteht  und  lehrt;  nach  dem  Monde  werden  Pro- 
gnostica  gestellt;  daher  können  dem  grillenhaften  Monde  oder  der 
himmlischen  Grille  Räthsel  aufgegeben  werden.  Im  Italienischen 
sind  die  Redensarten :  ,,aver  la  luna'*  und  „avere  il  grillo"  gleich- 
bedeutend: einen  nervösen  Anfall,  den  Spleen  haben.  Ich  finde 
auch  die  Hochzeit  von  Ameise  und  Heuschrecke  in  einem  sehr 
volksthüiblichen ,  bis  jetzt  noch  nicht  püblicirten  toscaniscfaen 
Liede.  Die  Ameise  fragt  das  Heimchen,  ob  es  sie  heirathen  will; 
wenn  nicht,  so  möge  es  sich  um  seine  eigenen  Angelegenheiten 
ktti!nmeni,  d.  h.  sie  allein  lassen.  Dann  beginnt  die  Erzählung. 
Das  Heimchen  geht  in  ein  Flachsfeld ;  die  Ameise  bittet  um  einen 
Fdden,  um  selbst  Schürzen  und  Hemden  zur  Hochzeit  zu  machen ; 
darauf  sagt  das  Heimchen,  es  wolle  sie  heirathen.  Das  Heimchen 
geht  in  ein  Wickenfeld;  die  Ameise  bittet  um  zehn  Wicken,  um 
vier  davon  in  einer  Schmorpfanne  zu  kochen,  und  sechs  auf  den 
ßratspiess  zu  stecken,  für  das  Hochzeitsmahl.  Nach  der  Hoch- 
zeit treibt  das  Heimchen  das  Geschäft  eitoes  Obsthändlers,  dann 
das  eines  Gastwirtbes;  doch  macht  es  so  schlechte  G^chäfte, 
dass  es  erst  seine  eigenen  weiten  Hosen  versetzen  muss,  und 
dann  bankrott  wird  und  seine  Frau,  die  Ameise,  schlägt;  zuletzt 
stirbt  es  im  Elend.  Da  wird  die  Ameise  ohnmächtig,  sie  wirft 
sich  aufs  Bett  und  schlägt  vor  Kummer  ihre  Brust  mit  ihrer 
Ferse  (wie  Ameisen  thun,  wenn  sie  sterben).*  Die  Hochzeit  der 
schwarzen  Ameise,  der  Finstemiss  der  Nacht,  mit  dem  Monde, 


'  Der  historische  Ursprung  dieses  Ausdrucks  wird  in  einem  Bolog- 
neser Arzt  des  zwölften  Jahrhunderts,  Namens  GriUo  gesucht.  —  Vgl. 
Fanfani,  Vocabolario  deli*  uso  Toscano  s.  v.  .,grillo". 

*  Die  Worte  des  Liedes  von  dieser  sonderbaren  Hochzeit,  das  ich  fn 
San  Stefano  di  Calcinaia  bei  Florenz  singen  hörte ,  lauten  folgender- 
massen : 


377 

der  Eidechse,  dem  Heimchea,  findet  am  Abend  statt;  das  üeiin- 
chen  stirbt,  der  Mond  erblasst,   und  die  Bcbwarze  Ameise,  die 
Nacht,  verschwindet  ebenfalls.     Im  Paoi^atantra  werden  die 
Eidecheen  dnrcb  Feuer  vernichtet    In  dem  sogenannten  E 
Alexanders  dee  Grossen    an  Olympias '  linde    ich  die  Amt 
durch  Feuer  Terscheucht,  als  sie  versuchen,  Pferde  und  Heide 
einer  Entfeniang  zo  halten.    Diese  anssergewöhnlicben  Amt 


„Urillo,  mio  grillo, 
Se  tu  vufti  nioglie,  dillo; 
Be  tu  n'  la  vuoj, 
Abbada  u,'  fatti  tuoi. 

TiafillulilHkra 

LiDfillulilalk 

„Povero  gnllo,  'u  ud  iiunipo  di  Udo, 
La  formicuccia  gne  ne  chiuxe  un  filo. 
D'un  filo  solo,  toSB  ne  vuoi  tu  fare  ? 
Orembi  e  camicie;  mi  vuo'  maritare, 
DiBse  lo  grillo ;  —  Ti  piglieTO  io. 
La  formicucciar  —  Sou  conteata  anch'  io. 
Tinfiilal'.,  Ac. 

„Povero  grillo,  '□  un  campo  di  coci ; 
La  fortnivuccia  gne  ne  chitse  dieci 
Di  dicci  aoli,  coiia  no  vuoi  tu  fare? 
Quattro  di  stufa,  a  aä  li  vuo'  girare. 
TinGllul.,  Ac. 

„Povero  grillo  facea  Turtulauo 
L'andava  a  tpaaao  col  ravanello  iu  inano; 
L'overo  grillo,  andava  a  Poutedera. 
CoD  1«  vitancie  pesava  1«  miBeria. 
Tinfillul.,  &c. 

„Poveru  grillo,  l'andiede  a  Montuboni, 
Dalla  mi:4eria  rimpegu6  i  calioai; 
Povero  grillo  facca  l'oBte  a  Colle, 
L'and6  fallilo  v.  baalon^  la  moglie, 
Tinfillul.,  &C. 

„La  fotmicaccia  andä  alU  kaUt  a  il  Porto. 
Ebbe  la  nova  che  il  sno  grillo  era  niorlo 
La  formicuccia,  qoando  eeppe  la  nova 
La  caacö  iu  terra,  stetto  svenuta  uu  'ora. 
La  formicuccia  si  buttd  su  il  letto, 
CoD  le  calcagua  si  batteva  il  petto. 
Tinfillul.,"  &C. 
■  Vgl.  Zacher,  Pfffeudo-CalÜBthenei,  UaHe  1867. 


^ 


37ft 

• 

rufen  uns  die  iTijtofivQintpieg  oder  Pferdeameisen  der  Griechen  ins 
Gedächtniss.  Die  Ameisen,  die  Insekten  des  Waldes  Nacht,  be- 
iästigen den  Helden  und  das  Sonnenross,  welche  denselben  durch- 
eilen ;  die  schwarzen  Ameisen  der  Nacht  werden  durch  das  Sonnen- 
feuer des  Morgens  verscheucht;  das  verstehen  wir  um  so  besser, 
wenn  Tzetzes  a.  a.  0.  die  indischen  Ameisen  so  gross  wie  Fttchse 
nennt;  wenn  Plinius  im.  eilften  Buche  seiner  H.  N.  sagt,  sie  hätten 
die  Farbe  von  Katzen  und  die  Grösse  ägyptischer  Wölfe;  und 
wenn  Solinus  berichtet,  dass  sie  die  Gestalt  eines  grossen  Hundes 
mit  Löwenfüssen  hätten,  mit  welchen  letzteren  sie  Gold  aus- 
graben. Aelian  nennt  sie  „Wächter  des  Goldes"  {rov  XQ^^  9^" 
IdcTTovreg).  Augenscheinlich  zeigen  sich  die  Ameisen  hier  schon 
von  einer  dämonischen  ungeheuerlichen  Seite.  Mehre  andere  alte 
Schriftsteller  haben  über  diese  indischen  Ameisen  geschrieben;  so 
Herodot,  Strabo,  Philostratus  und  Lucian.  Ich  will  hier ,  als  für 
unser  Thema  interessant,  nur  erwähnen,  dass  sie  nach  Lucian 
das  Gold  bei  Nacht  ausgraben,  und  dass  nach  Plinius  die  Ameisen 
im  Winter  Gold  ausscharren  (Nacht  und  Winter  sind  in  der  My- 
thologie oft  gleichbedeutend).  „Die  Inder  jedoch  stehlen  es  wäh- 
rend des  Sommers,  in  welcher  Zeit  die  Ameisen  wegen  der  Dünste 
in  ihren  unterirdischen  Schlupfwinkeln  verborgen  bleiben;  durch 
den  Geruch  herbeigelockt,  rennen  sie  jedoch  zuweilen  heraus  und 
schneiden  oft  die  Inder  in  Stücke,  obwohl  diese  auf  sehr  schnellen 
Kamelen  fliehen;  so  wild  und  goldgierig  sind  sie/'*  Dieses 
Ameisenungeheuer,  mit  Löwenklauen,  das  Plinius  auch  als  gehörnt 
beschreibt,  streift  sehr  nahe  an  den  mythischen  schwarzen  Skor- 
pion der  Wolken  und  der  Nacht,  den  vedischen  Vrigcika, 
welcher,  bald  ein  sehr  kleiner  Vogel  (iyattikä  ^akuntikä),  bald 
ein  sehr  kleines  Ichneumon  (kushumbhaka,  eigentlich:  der  kleine 
goldene,  vielleicht  die  junge  Morgensonne),  mit  seinem  Zahn  (a^- 
manä,  eigentlich  mit  dem  Beisser)  vernichtet,  das  Gift  ver- 
schluckend oder  fortnehmend,  wie  Krüge  das  Wasser  auf- 
nehmen, d.  h.  die  Sonnenstrahlen  zerstreuen  die  Dünste  der  in 
der  Wolke  oder  der  Finstemiss  eingeschlossenen  Sonne.  *  Hier 
erscheint  das  Ichneumon  (viverra  ichneumon)  als  der  Wohlthäter 
des  Skorpions  viel  mehr  denn  als  sein  Feind;  es  benimmt 
ihm  das  Gift,  d.  h.  es  befreit  die  Sonne  aus  dem  Zeichen  des 
Skorpions,   aus  den  Dünsten,   welche  sie   umhüllen.     Das   Ich- 


•  PliDiuß,  Hißt.  Nat.  XI,  31. 

'  Iyattikä  9akuntik&  saki  ^aghftsa  te  visham;  ^igv.  X,  191,  11. 


379 

neutnon  faeisst  im  Sanskrit  nakala.  In  der  zwölften;; Erzählung 
des  ersten  Bncbes  des  Pancatantra  sehen  wir  es  als  den  er- 
klärten Feind  der  schwarzen  Schlange^  welche  es  in  ihrer  Höhle 
tödtet.  Doch  sofern  das  Wiesel-Ichneumon  giftige  Xbi^re  beisst, 
muss  es  sich  selbst  von  dem  Gifte  befreien;  das  es  infolge  dessen 
eingesogen  hat.  Deshalb  wird  schon  im  Atharvaveda  des 
Heilkrautes  Erwähnung  gethan^  mit  welchem  sich  der  nakula  (es 
ist  dies  auch  der  Käme  des  einen  der  beiden  Söhne  der  AQvins 
im  Mahäbhärata)  von  dem  Biss  giftiger  Thiere,  d.  h. Schlangen^ 
Skorpionen  und  Mäuseungeheuer,  seiner  Feinde,  heilt.  Das  Wiesel 
(mustela),  welches  sich  nur  wenig  von  dem  Ichneumon  unter- 
scheidet, ist  im  Mythus  fast  mit  ihm  identisch.  Es  kämpft,  wie 
Aristoteles  im  neunten  Buche  seiner  Thiergeschichte  berichtet, 
ebenfalls  gegen  Schlangen,,  nachdem  es  das  berühmte  Kraut 
„Raute"  gegessen,  dessen  Geruch  den  Schlangen  unerträglich  sein 
soll.  Wie  uns  aber  sein  lateinischer  Name  besagt,  ist  es  nicht 
weniger  geschickt  als  Mäusejäger.  Der  Leser  ist  ohne  Zweifel 
mit  der  äsopischen  Fabel  von  dem  Wiesel  vertraut,  welches  den 
Menschen  um  seine  Freiheit  bittet  für  den  ihm  durch  Ausrottung 
der  Ratten  geleisteten  Dienst,  und  ebenso  mit  der  des  Phaedms 
von  dem  alten  Wiesel,  welches  im  Mehltrog  Mäuse  fängt,  indem 
es  sich  in  dem  Mehl  zusammenrollt,  so  dass  die  Mäuse  es  für 
eine  feste  Masse  halten  und  getrost  herankommen.  Der  Parasit 
des  Plautus  i*echnet  auf  ein  gutes  Mittagessen  ftlr  sich,  weil  er 
einem  Wiesel  begegnet  ist,  das  eine  ganze  Maus  mit  Ausnahme 
der  Füsse  fortschleppte  (auspicio  hodie  optumo  exivi  foras;  mus- 
tela murem  abstulit  praeter  pedes);*  da  jedoch  das  gehoffte 
Mittagessen  sich  nicht  einstellen  will,  so  erklärt  er  das  Vorzeichen 
fär  falsch  und  nennt  das  Wiesel  einen  (Jnglückspropheten,  da  es 
an  einem  und  demselben  Tage  zehn  Mal  seinen  Platz  ändert. 
Nach  dem  neunten  Buche  von  Ovids  Metamorphosen  wurde 
die  Jungfrau  Galanthis  von  der  Göttin  Lucina  (dem  Monde)  in 
ein  Wiesel  verwandelt,  weil  sie  eine  Lüge  erzählt  hatte,  indem 
sie  die  Geburt  des  Herakles  verkündigte,  bevor  sie  stattgefunden : 

„Strenuitas  antiqua  manet,  necSterga  colorem 
Amisere  suuoii  forma  est  diversa  priori; 
Quae,  quia  mendaci  parientem  juverat  ore. 
Ore  parit.** 

Der  Volksaberglaube,  welcher  das  Wiesel  sein  Junges  durch  den 
« IV,  1. 


380 

Mund  hervorbringen  lässt,  hatte  wahrscheinlich  seinen  Ursprung 
in  dieser  Fabel.  Aus  dem  Munde  kommen  unzeitige  Worte.  Simo- 
nides Amorginus  *  vergleicht  böse  Weiber  mit  Wieseln.  Der 
Mond,  welcher  die  plappernde  Galanthis  in  ein  Wiesel  verwandelt, 
scheint  identisch  za  sein  mit  dem  weissen  Monde,  der  selbst  in 
ein  weisses  Wiesel  verwandelt  wird,  dem  Monde,  der  den  nächt- 
lichen   Himmel  erforscht  und   alle   seine  Geheimnisse  aufdeckt. 

Ameisen,  Mäuse,  Maulwürfe  (wie  Schlangen)  bleiben,  im 
Gegensatz  hiezn,  gern  verborgen  und  halten  auch  ihre  Geheim- 
nisse gern  verborgen.  Das  Ichneumon,  das  Wiesel  und  die 
Katze  kommen  gewöhnlich  ans  ihren  Verstecken  heraus  und  ver- 
jaget) Jeden,  der  verborgen  ist,  indem  sie  aus  den  Verstecken 
Alles,  was  sie  können,  forttragen.  Sie  sind  sowohl  selbst  Diebe 
als  machen  sie  auf  andere  Diebe  Jagd.^ 

Der  Uebergang  von  dem  lateinischen  mnstela  za  der  sans- 
kritischen Katze  müshakäräti  oder  müshikäntakrit  ist 
jetzt  leicht. 

Im  Paniatantra  wird  die  Katze  Butterohr  (dädhikarna), 
oder:  die  mit  den  weissen  Ohren,  welche  sich  stellt,  als  bereue 
sie  ihre  Verbrechen,  aufgefordert,  als  Richter  einen  Streit  zu 
schlichten,  welcher  zwischen  dem  Sperling,  kapin^ala,  ^  und  dem 
Hasen,  slghraga  (eig.  Schnellgeher)  schwebt.  Der  Letztere  hatte 
nämlich  während  der  Abwesenheit  des  Sperlings  in  dessen  Be- 
hausung sein  Domicil  aufgeschlagen.  Butter-Ohr  löst  die  Frage, 
indem  er  sich  taub  stellt  und  die  beiden  streitenden  Parteien  er- 
sucht, näher  zu  kommen,  um  ihre  Argumente  seinen  Ohren  anzu- 
vertrauen; der  Hase  und  der  Sperling  schenken  ihm  Glanben 
und  nähern  sich;  da  macht  die  Katze  einen  Satz  und  verschlingt 
Beide.  Im  Hitopade^a/  haben  wir  statt  des  Sperlings  den 
Geier  caradgava,  den  der  Tod  ereilt,  weil  er  der  Katze  Gast- 
freundschaft erwiesen  hat,  „deren  Abstammung  er  weder,  noch 
deren  Charaktier  er  kannte"  (agnätakula^lla).  Im  Tuti-Name* 
haben  wir  statt  der  Katze  den  Luchs,  ^   der  selbst  das  von  dem 


'  Bei  Stobaeus;  ßergk,  an t hol.  lyric a,  Simon.  Am.  7,  50  &. 

*  Die  Ungarn  und  Toskaner  glauben,  dass  eine  gute  Katze  selbst  ge- 
stohlen sein  muss,  utn  ein  schlauer  Dieb  zu  sein. 

»  Nach  dorn  Pet   WB.:  Haselhuhn. 

*  I,  49. 

»  II  p.  122. 

*  Pie  Vergesslichkeit  des  Luchses  wie  die  der  Katze  ist  sprichwörtlich. 
yVerum  tu  quod  natura  lynces  insitum  habent,  ne  post  tergum  respicientes 


381 

Aflfen  bewachte  Haus  des  Löwen  zu  besitzen  wünscht;  er  erschreckt 
den  Löwen  und  schlägt  ihn  in  die  Flucht.  Im  Anvari-Suhaili^ 
finden  wir  statt  der  Katze  oder  des  Luchses  den  Leopard.  Im 
Mahäbhärata"^  finden  wir  die  Fabel  von  der  bussfertigen 
Katze  wieder.  Die  Katze  flösst  durch  die  Kasteiung,  die  sie  an 
den  Ufern  des  Ganges  ttbt,  den  Vögeln  Vertrauen  ein,  die  sich 
um  sie  versammeln,  um  sie  zu  ehren.  Nach  einiger  Zeit  ahmen 
die  Mäuse  das  Beispiel  der  Vögel  nach  und  stellen  sich  unter 
den  Schutz  der  Katze,  dass  dieselbe  sie  vertheidige.  Die  Katze 
macht  sich  aus  ihnen  jeden  Tag  ihre  Mahlzeit,  indem  sie  eine 
oder  zwei  veranlasst,  sie  an  den  Strom  zu  begleiten,  und  wird 
ausserordentlich  dick  und  fett,  während  der  Mäuse  immer  weniger 
werden.  Da  beschliesst  eine  weise  Maus,  eines  Tages  der  Katze, 
wenn  sie  zum  Strom  geht,  zu  folgen;  die  Katze  verzehrt  Beide: 
die  Maus,  die  sie  begleitet,  und  die  Spionin.  Darauf  entdecken 
die  Mäuse  den  Witz  und  räumen  schleunigst  den  gefährlichen 
Ort.  Die  büssende  Katze  ist  schon  im  Gesetzbuche  des  Manu 
sprichwörtlich. 3  In  Reineke  Fuchs  von  Göthe*  geht  der 
Kater  auf  den  bösen  Rath  des  ^chses  in  das  Haus  des  Pfaffen 
auf  Diebstahl;  als  Alle  über  ihn  herfielen,  — 


meminerint  priomm  et  mens  perdat  quod  ocali  videre  desierint,  ita  nostrae 
es  necessitudinis  penitus  oblitus;'*  so  schreibt  St.  Hieronymus  an  Chrisog. 
—  So  heisst  es  vom  Luchs  bei  Aelian ,  dass  er  seinen  Urin  mit  Sand  be- 
deckt (gleich  der  Katze),  so  dass  die  Menschen  ihn  nicht  finden  können; 
denn  in  sieben  Tagen  bildet  sich  aus  diesem  Urin  der  kostbare  Stein  Lyn- 
curion.  Die  Katze,  welche  bei  Nacht  sieht,  der  Luchs,  der  durch  undurch- 
sichtige Korper  hindurchsieht,  die  Fabel  von  Lynceus,  der  nach  Plinius 
an  einem  Tage  den  ersten  und  den  [letzten  Mond  im  Sterubilde  des  Wid- 
ders sah,  und  der  Luchs,  welcher  nach  Apollonius  durch  die  Erde  hin- 
durch sah,  was  in  der  Hölle  vorging,  rufen  uns  den  Mond  ins  Gedächtniss, 
die  weise  und  allsehende  Fee  des  Himmels,  und  den  unterirdischen  Mond. 

'  Angeführt  von  Benfey  in  der  Einleitung  zum  Pai&dat antra. 

«  V,  5421—5448. 

'  „Let  no  man,  apprised  of  this  law,  present  even  water  to  a  priest 
who  acts  like  a  cat;''  IV,  192  (Uebersetzung  von  Jones),  und  Graves' 
Chamney  Haughton,  ed.  Percival,  Madras  1863.  —  In  einem  russi- 
schen Mährchen,  welches  Afanassieff  in  seinen  Bemerkungen  zum 
ersten  Bande  seiner  .Sammlung  anführt,  stellt  sich  der  Kater  Eustachio 
als  Büsser  oder  Mönch,  um  die  Maus  zu  fressen,  wenn  sie  vorbeikommt. 
Als  bemerkt  wird,  dass  der  Kater  zu  fett  für  einen  Büsser  ist,  entgegnet 
er,  er  esse  nur,  weil  er  das  der  Erhaltung  seiner  Gesundheit  schuldig  sei. 

♦  III,  147. 


382 

„Sprang  er  wüthend  entscblossen 
Zwischen  die  Schenkel  des  Pfaffen  und  biss  und  kratzte  geföbrlich.** 

Der  Roman  du  Renard ^  lässt  das  Weib  des  Priesters, 
als  dieser  durch  den  Kater  verstümmelt  ist,  ausrufen: 

,,C'en  est  fait  de  nos  amours! 
Je  suis  veuve  sans  recours!^* 

In  demselben  Roman  lesen  wir,  als  der  Kater  Tibert,  der 
Gesandte  des  Königs  Lion  in  Mantpertuis,  wo  der  Fuchs  herrscht, 
ankommt : 

„Tibert  lui  prdsenta  la  patte*; 

II  fait  le  sainty  il  fait  la  chatte! 
Mais  k  bon  chat,  bon  rat!  Renard  aussi  le  flatte! 
II  s*entend  k  dorer  ses  paroles  de  miel! 

Si  Ton  est  saint,  Tauti'e  est  hermite; 

Si  Tun  est  chatte,  Tautre  est  mite.'* 

In  einem  noch  nicht  veröfiFentlicbten  toskanischen  Mährchen^ 
das  ich  aus  dem  Munde  der  Bauerfrau  Uliva  Seivi  habe,  die  es 
mir  in  Antignano  bei  Livomo  erzählte,  finden  wir  den  Fuchs,  der 
die  Maus  in  den  Laden  eines  Metzgers  einlädt,  der  kürzlich  ein 
Ferkel  geschlachtet  hat.  Die  Maus  verspricht,  das  Holz  zu  nagen, 
bis  das  Loch  gross  genug  ist,  dass  der  Fuchs  hindurchschlüpfen 
kann ;  der  Fuchs  isst  so  lange,  als  er  noch  durch  das  Loch  wieder 
zurück  kann,  und  macht  sich  dann  davon;  die  Maus  aber  mästet 
sich  so,  dass  das  Loch  flir  sie  zu  klein  ist ;  die  Katze  kommt  und 
frisst  sie  auf. 

Im  vierunddreissigsten  Mäbrchen  des  zweiten  Buchen  bei 
Afanassieff  kommt  die  Katze  wieder,  wie  in  Indien,  in  Ver- 
bindung mit  dem  Sperling  vor,  doch  nicht,  um  ihn  zu  verzehren ; 
im  Gegentheil,  sie  sind  gute  Freunde  und  befreien  zweimal  den 
jungen  Helden  von  der  Hexe.  Das  ist  eine  Erscheinungsform  der 
Agvins.  Im  siebenundsechszigsten  Mährchen  des  sechsten  Buches 
kehren  die  beiden  A^vins  in  der  Gestalt  eines  Hundes  und  einer 
Katze  wieder .  (bald  in  Feindschaft  miteinander ,  wie  es  ja  auch 
oft  die  beiden  mythischen  Brüder  sind,  bald  Freunde  auf  Leben 
und  Tod).  Ein  junger  Mann  kauft  für  hundert  liubel  einen  Hund 
mit  Hängeohren,  und  für  ein  weiteres  Hundert  eine  Katze  mit 


'  Uebersetzong  von  Ch.  Potvin,  Pafis  und  Brüssel  1861. 


* 
I 


383 

einem  goldenen  Schwanz ;  *  beide  pflegt  er  gut.  Mit  ferneren 
hundert  Rubeln  erwirbt  er  den  Ring  einer  todten  Prinzessin  ^  aus 
welchem  dreissig  Knaben  und  hundertundsiebzig  Helden;  die  alle 
mögliche  Wunder  verrichten,  auf  Wunsch  des  Besitzers  heraus- 
kommen können.  Durch  diese  Wunderdinge  wird  es  dem  jungen 
Mann  möglich^  die  Tochter  des  Königs  zu  freien ;  da  jedoch  die 
Letztere  ihn  vernichten  will;  macht  sie  ihn  betrunken^  stiehlt  ihm 
den  Ring  und  entflieht  in  ein  sehr  weit  entferntes  Reich.  Der 
Tzar  lässt  den  Jtlngling  ins  Gefangniss  werfen;  der  Hund  und 
die  Katze  gehen  den  verlorenen  Ring  wiederfinden.  Als  sie  über 
den  Strom  setzen  müssen^  schwimmt  der  Hund  und  trägt  die 
Katze  auf  seinem  Rücken  (der  Blinde  und  der  Lahme,  St.  Christo- 
pliorus  und  Christus).  Sie  gelangen  an  den  Ort,  wo  die  Prin- 
zessin lebt,  und  treten  in  ihre  Wohnung.  Sie  vermiethen  sich  bei 
dem  Koch  und  der  Hausmagd ;  die  Katze  jagt,  ihrem  natürlichen 
Instinct  folgend,  eine  Maus,  worauf  diese  um  ihr  Leben  bittet  und 
verspricht,  der  Katze  den  Ring  zu  bringen.  Die  Prinzessin  schläft 
mit  dem  Ringe  im  Munde;  die  Maus  steckt  i^ren  Schwanz  in 
ihren  Mund;  die  Prinzessin  spuckt  aus,  der  Ring  kommt  dabei 
heraus  und  wird  von  dem  Hunde  und  der  Katze  genommen,  welche 
den  jungen  Mann  befreien  und  die  flüchtige  Tzarentochter  zwingen, 
in  ihre  Heimath  zurückzukehren. 

In  dem  folgenden  Mährchen  bei  Afanassieff  machen  die 
beiden  altem  Schwestern,  als  die  jüngste  dem  Iwan  Tzarevic  drei 
Söhne  schenkt,  aus  Neid  den  Prinzen  glauben,  dass  sie  eine 
Katze,  einen  Hund  und  ein  gewöhnliches  Kind  zur  Welt  gebracht 
habe.  Die  drei  wirklichen  Söhne  werden  entführt;  die  Prinzessin 
wird  geblendet  und  mit  dem  untergeschobenen  Kinde  in  ein 
Fass  eingeschlossen,  welches  in  die  See  geworften  wird.  Das  Fass, 
kommt  jedoch  ans  Ufer  und  öffnet  sich ;  ^  der  untergeschobene 
Sohn  wäscht  sofort  die  Augen  der  Prinzessin  mit  heissem  Wasser 
und  sie  gewinnt  die  Sehkraft  wieder,  worauf  sie  ihre  drei  glänzen- 
den Söhne  wiederfindet,  welche  Alles,  was  ihnen  nahe  ist,  mit 
ihrem  Glänze  erhellen,  und  sich  wieder  mit  ihrem  Gatten  vereinigt. 


*  Vgl.  A  fan.  y,  32,  wo  ein  tugendhafter  Arbeiter  eine  Katze  für  eine 
Kopeke  kauft,  den  einzigen  Lohn,  den  er  sich  für  seine  Arbeit  ausbe- 
duagen  hatte;  dieselbe  Katze  kauft  der  König  für  drei  Schifte.  Mit  einer 
andern  Kopeke ,  die  er  für  eine  andere  Arbeit  erhalten ,  befreit  der  Ar- 
beiter die  Tochter  des  Königs  und  heirathet  sie. 

*  Vgl.  Analoges  in  Kap.  I,  z.  B.  Emil,  den  faulen  und  dummen  Jungen, 
und  die  blinde  Frau,  die  ihr  Gesicht  wiedererlangt. 


384 

In  einer  russischen  Variation  dieses  Mährchens  werden  die  drei 
Söhne  von  der  Hexe  in  drei  Tauben  verwandelt;  die  Prinzessin 
mit  den)  untergeschobenen  Sohn  wird  aus  der  See  gerettet  und 
flüchtet  sich  auf  ein  Eiland,  wo  auf  einer  goldenen  Süule  sitziend, 
eine  weise  Katze  Balladen  singt  und  Geschichten  en^hlt  Die 
drei  Tauben  verwandeln  sich  in  schöne  Jünglinge^  deren  Beine 
bis  zum  Knie  von  Silber,  deren  Brust  von  Gold,  deren  Stirue  dem 
Mond  gleich,  und  deren  Seiteii  von  Sternen  sind,  und  gewinnen 
ihren  Vater  und  Mutter  wieder. 

Nach  der  griechischen  Kosmogonie  scbufen  die  Sonne  und 
der  Mond  die  Thiere;  die  Sonne  schuf  den  Löwen,  der  Mond  die 
Katze.  Im  fünften  Buche  von  Ovids  Metamorphosen  nimmt 
Diana,  als  die  Götter  vor  den  Riesen  fliehen,  die  Gestalt  einer 
Katze  an. '  In  Sicilien  ist  die  Katze  der  heiligen  Martha  heilig, 
und  man  nimmt  auf  sie  grosse  Rücksicht,  um  die  heilige  Dame 
nicht  zu  reizen:  wer  eine  Katze  tödtet,  soll  sieben  Jahre  lang 
Unglück  haben.  In  dem  alten  deutschen  Glauben  wird  die  Göttin 
Freya  von  zwei  Katzen  gezogen.  Gegenwärtig  sind  Katze  und 
Maus  der  St.  Gertrude  heilig.  Im  zweiundsechszigsten  Mährchen 
des  sechsten  Buches  bei  Afanassieff  haben  wir  die  plappernde 
Katze,  welche  der  Held  Baldak  im  Gebiete  des  feindlichen  Sul- 
tans (d.  h.  in  der  winterlichen  Nac}it)  tödten  musa.  Im  achtelt 
Mährchen  des  vierten  Buches  des  Pentamerone  finden  wir 
auch  eine  Katze,  welche  die  Rolle  eines  Spions  des  Ogre  spielt; 
in  der  zehnten  Erzählung  des  Pentamerone  und  in  der  ersten 
der  Novelline  di  San  Stefano  di  Galcinaia dagegen  ent- 
hüllt die  Katze  dem  Prinzen  die  Verrätherei  der  Hexe.  Im  drei- 
undzwanzigsten Mährchen  des  vierten  Buches  bei  Afanassieff 
erscheint  der  Kater  Katotiei  als  der  Gemahl  der  Füchsin,  welche 
ihn  für  einen  Bürgermeister  ausgicbt  Vereinigt  erschrecken  sie 
den  Wolf  und  den  Bären,  ^  indem   der  Kater   auf  einen  Baum 


'  Hue  quoque  terrigenam  venisse  Typhoea  narrat, 
£t  86  mentitis  superos  celasse  figuris; 
,Daxqae  gregb^  dixit,  ,fit  Jupiter;  undc  rccurvis 
Nunc  quoque  formatus  Lybis  est  cum  cornibus  Ammon. 
Delius  in  corvo,  proles  Semeleia  capro, 
Feie  soror  Phoebi,  nivea  Satumia  vacca, 
Pisce  Venus  latuit,  Cyllenius  ibidis  alis/ 

V.  325-332. 
'  Bei  Af  an.  III,  18  erschreckt  die  Katze  den  Wolf  und  den  Bären  in 
Gemeinschaft  mit  dem  Lamm  (lil,  19  mit  dem  Ziegenbock). 


385 

hinaufklettert.  In  den  äsopischeD  Fabeln  dagegieii  streiten  sich 
Fuchs  und'  Kattse,  welches  von  ihnen  das  höherstehende  Thiec  sei ; 
die  Katxe  lässt  dtsn  Hund  den  Fnchs  fangen^  währende  sie  seUbet 
atrf  einen  Baam  klettert.  Im  dritten  Mährchen  des  zweiten;  Bnehes 
bei  Afanassieß  verbündet  sich  die  Katze  mit  dem  EUrim^,  um 
Baumrimle  zu  suchen;  sie  befreit  ihren  Kameraden  drei  Mal  von 
dem  Fuchs ^  welcher  mit  ihm  davon  gerannt  ist;  das  dritte  Mal 
befreit  die  Katze  nicht  nur  den  Bahn,  sondern  ftisst  auch  die 
vier  jungen  Fttchse.  Im  dreissigsten  MAhrchen  des  vierten  Buches 
befreit  die  Katze  Catonaievi6^  der  Sohn  Catos  (dieser  Name  ist 
ans  dem  Doppebinn  zwischen  d^i  Worten  catus  und  cato  abzu- 
leiten; im  Französischen  haben  wir  neben  chat  noch  chaton, 
chatonique  etc.)^  den  Hahn  zwei  Mal  aus  der  Gewalt  des  Fuchses, 
doch  das  dritte  Mal  verzehrt  der  Fuchs  den  armen  Vogel  In 
einer  russischen  Variationi  tödtet  die  Katze  die  fünf  kleinen 
Füchse  und  dann  den  Fuchs  selbst;  nachdem  sie  Folgendes 
gesungen : 

„Die  Katze  geht  auf  ihren  FUesen 

In  rothen  Stiefeln; 

Sie  trägt  ein  Schwert  an  der  Seite, 

Und  einen  Stock  an  der  Hüfte; 

Sie  will  den  Fache  tödten, 

Und  seine  Seele  verderben."  * 

*In  einer  andern  Variation  gehen  Katze  und  Lamm^  den 
Hahn  aus  der  Gewalt  des  Fuchses  zu  befreien.  Der  letztere  hat 
sieben  Töchter.  Die  Katze  und  das  Laham  locken  sie  durch 
Lieder  heraus  und  tödten  sie,  eine  nach  der  anderen ^  indem  sie 
sie  an  der  Stirn  verwunden;  davauf  tüdten  sie  den  Fuchs  selbst 
und  befreien  so  den  Hahn.  In  dem  Roman  vom  Fuchs  ist  die 
Katze  der  Henker  und  bindet  den  Fuchs  an  dien  Galgen. 

Im  dritten  Mähreben  des  ersten  Buches  lehrt  die  Katze  dem 
guten  Mädchen;  welchem  sie  zu  Dank  verpflichtet  ist;  weil  diese 
ihr  Schinken  zu  essen  gegeben  hat,  wie  sie  entfliehen  kann,  und 

>  ,  Jdiot  kot  na  nagäh, 
V  krasnih  sapagiUi, 
Neseiot  sablia  na  piessi^; 
A  palocku  pri  bedriö, 
Hodiet  lissu  parubit, 
leik  dushu  zagubit/* 
Der  gestiefelte  Kater  hilft  in  dem  Perraultschen  Mährchen  dem  dritten 
Bruder. 

Gubemutis,  die  Thiere.  25 


386 

t  ihr  das  Übliche  Tncb,  welches,  za  Boden  geworfen,  einen 
n  erscheinen  lässt,  and  den  Üblichen  KamiUj  welcher  in 
iher  WeiBe  einen  nndnrchdringlichen  Wald  vor  der  Hexe 
«hen  läset,  welche  dem  Mädchen  nacheilt,  am  es  zu  ver- 
ngen. 

Wir  sahen  schon  den  vedischen  Mond,  welcher  das  Hoeh- 
gewand  mit  einem  Faden  näht,  der  nicht  reisst.  In  dem 
sehen  Mährchen  bemerkten  wir  schon,  wie  die  kleine  Pnppe, 
las  gate  Mädchen  za  verpHiohten,  ein  Hemde  für  den  Tzaren 
it,  das  so  fein  ist,  dase  Niemand  ein  gleiches  herstellen  kann, 
em  berühmten  Mährchen  der  geistreichen  Madame  d'Aalnoy, 
!:!batte  Blanche  (dessen  literarische  Redaction  ganz  sicher 
eren  Datums  ist,  dessen  wesentlicher  sagenhafter  Inhalt  jedoch 
haas  alt  ist,  trotz  gewisser  Modificationen  im  Einzelnen, 
he  es  im  Laafe  der  Tradition  hat  erleiden  mllssen)  haben  wir 
ireisse  Katze  Blanchette,  schwarz  verachleiert,  welche  das  be- 
erte SchloBs  bewohnt,  aaf  einem  Affen  reitet,  spricht  und  dem 
en  Prinzen,  der  anf  einem  hölzernen  Pferde  (dem  Walde  der 
it)  reitet,  in  einer  Eichel  den  schönsten  kleinen  Band  giebt, 
jemals  anf  der  Welt  existirte,  damit  er  ihn  za  seinem  könig- 
n  Vater  bringe  —  einen  kleinen  Hand,  „plns  beaii  qae  la 
^le"  (offenbar  die  Sonne  selbst,  welche  aas  dem  goldenen 
esp.  der  Eichel  heraaskommt),  der  durch  einen  Ring  hindurcb- 

(die  Sonnenscheibe),  und  dann  ein  wunderbar  gemustertes 
1,  welches  so  dtlnn  ist,  dass  es  durch  das  Oehr  einer  kleinen 
3l  geht,  nud  in  eidem  Hirsenkom  eingeschlossen  ist,  obwohl 
ie  Länge  von  „qnatre  cents  aunes"  hat  (das  Nadelöhr,  die 
el,  das  Hirsenkorn  and  der  Ring  sind  gleichbedentende  Dar- 
ingsformen    der  Sonnenscheibe).     Diese    wunderbare  Katze 

schliesslich  selbst  ein  schönes  Mädchen,  „qui  parat  comme 
>lcil  qui  a  ^tö  qnelque  temps  envelopp^  dans  ane  nue;  ses 
eux  blouds  ätaient  ^pars  sur  ses  äpaules;  ils  tombaient  par 
les  boncles  jnsqn'ä  ses  pieds.  Sa  t£te  ätait  ceinte  de  flenrs, 
>be  d'une  l^fere  gaze  blanche,  doublte  de  taffetas  coaleur  de 
"  Die  weisse  Katze  der  Nacht,  der  weisse  Mond  räumt  am 
jen  seine  Stelle  der  rosigen  Aurora  ein;  die  beiden  Himmels- 
leinungen,  welche  einander  folgen,  scheinen  Metamorphosen 
ilbeu  Wesens  zn  sein.  Die  weisse  Katze  mit  ihrem  Eatzen- 
ge,  bevor  sie  ein  schönes  Mädchen  wird,  lädt  den  Prinzen 
bei  einer  Schlacht  zugegen  za  sein,  in  welche  sie  sich  mit 
Mäusen  einlässt.     Hiemit   können  wir  die  äsopische  Fabel 


387 

von  dem  jungen  Mann  vergleichen,  welcher,  in  eine  Katze  ver- 
liebt, die  Venus  bittet,  diese  in  ein  Weib  zu  verwandeln.  Venus 
willfahrt  ihm;  der  Jüngling  heirathet  jene;  doch  als  die  Braut 
im  Bett  ist  (d.  h.  in  der  Nacht,  als  die  Abend-Aurora  wiederum 
ihren  Platz  dem  Monde  ttberlässt,  oder  als  sie  mit  den  grauen 
Mäusen  der  Nacht  zusammentrifft),  kommt  eine  Maus  vorbei,  und 
die  Frau,  welche  noch  Etwas  von  ihrer  Katzennatur  behalten  hat, 
rennt  ihr  nach. 

Wenn  die  Sonne  in  die  Nacht  eintritt",  findet  sie  im  Sternen- 
himmel ein  bezaubertes  Schloss,  in  welchem  entweder  gar  kein 
lebendes  Wesen  zu  finden  ist,  oder  in  dem  sich  nur  die  Mond- 
Katze  umherbewegt.  Daher,  meines  Erachtens,  der  Ursprung  des 
Ausdruckes,  mit  dem  wir  in  Italien  ein  leeres  Haus  bezeichnen 
—  „Non  vi  era  neanche  un  gatto"  (es  gab  nicht  einmal  eine 
Katze  da).  Die  Katze  wird  als  Schutzgeist  des  Hauses  betrachtet. 
Das  bezauberte  Schloss  ist  immer  entweder  auf  dem  Gipfel  eines 
Berges  oder  in  einem  dunklen  Walde  gelegen  (gleich  dem  Monde). 
Dieses  Schloss  ist  die  Wohnung  entweder  einer  guten  Fee  oder 
eines  guten  Zauberers  oder  einer  Hexe  oder  eines  Schlangen- 
dämons oder  wenigstens  von  Katzen.  Der  Besuch  des  Hauses  der 
Katzen  ist  das  Thema  eines  Mäbrchens,  das  ich  mit  geringen 
Variationen  im  Piemontesischen  und  im  Toskanischen  erzählen 
hörte.  ^ 

Wir  haben  bis  hieher  nur  die  glänzende  oder  weisse  Katze 
gesehen,  den  Mond  und  das  Zwielicht,  und  zwar  gewöhnlich  als 
gütig  und  segensreich.  Doch  wenn  die  Nacht  mondlos  ist,  so 
haben  wir  nur  die  schwarze  Katze  in  dem  dichten  Dunkel 
Diese  schwarze  Katze  nimmt  dann  einen  dämonischen  Charakter  an. 


'  Im  ToskaDischen  erzählte  es  mir  die  oben  erwähnte  Uliva  Selvi 
folgendermassen :  Eine  Mutter  hat  eine  Anzahl  Kinder  und  kein  Geld; 
eine  Fee  sagt  ihr,  sie  solle  nur  auf  den  Gipfel  des  Berges  gehen;  dort 
werde  sie  in  einem  schonen  Schlosse  viele  verzauberte  Katzen  finden, 
welche  Almosen  geben.  Die  Fraa  geht  und  ein  Kätzchen  lasst  sie  ein; 
sie  fegt  die  Zimmer,  macht  das  Feuer  an,  wäscht  die  Schüsseln,  holt 
Wasser,  macht  die  Betten  und  bäckt Brod  für  die  Katzen;  endlich  kommt 
sie  vor  den  König  der  Katzen,  der  mit  einer  Krone  auf  dem  Haupte  da- 
sitzt, und  bittet  um  Almosen.  Der  grosse  Kater  zieht  die  goldene  Glocke 
an  einer  goldenen  Kette  und  beruft  die  Katzen.  Er  erfährt»  dass  die  Frau 
sie  gut  behandelt  hat,  und  befiehlt,  ihre  Schürze  mit  €k>ld8tücken  (rusponi) 
zu  füllen.  Die  böse  Schwester  der  armen  Frau  geht  ebenfalls  die  Katzen 
besuchen,  misshandelt  sie  jedoch,  und  kommt  ganz  zerkratzt,  und  mehr 
todt  als  lebendig  vor  Pein  und  Schrecken  nach  Hause  zurück. 

25^ 


1 


388 

Im  MoDtferrat  glanbt  maD,  dass  alle  Katzen,  welche  im  Monat 
Februar  auf  den  Dächern  herumlaufen,  nicht  wirkliche  Katzen 
sind,  sondern  Hexen,  die  man  todtschiessen  muss.  Aus  diesem 
Grunde  werden  schwarze  Katzen  von  den  Wiegen  von  Kindern 
femgehalten.  Derselbe  Aberglaube  herrscht  in  Deutschland.  *  Im 
Toskanischen  glaubt  man,  dass  wenn  Jemand  sterben  soll,  der 
Teufel  an  seinem  Bett  in  Gestalt  irgend  eines  Thieres  mit  Aus* 
nähme  des  Lammes,  doch  mit  Vorliebe  in  der  eines  Bockes, 
eines  Hahnes,  einer  Henne  oder  einer  Katze  vorbeigeht.  Im 
deutschen  Aberglauben^  verkündet  die  schwarze  Katze,  die 
sich  einem  Kranken  auf  das  Bett  setzt,  seinen  nahenden  Tod; 
wird  sie  auf  einem  Grabe  gesehen,  so  bedeutet  das,  dass  der  Ab- 
geschiedene in  der  Gewalt  des  Teufels  ist.  Träumt  Jemand  in 
der  Christnacht  von  einer  schwarzen  Katze,  so  ist  das  ein  Vor- 
zeichen einer  beunruhigenden  Krankheit  während  des  folgenden 
Jahres.  Aldrovandi  erzählt  von  Stefano  Cardano,  dass,  als  er 
auf  dem  Sterbebette  lag,  unerwarteter  Weise  eine  Katze  vor  ihm 
erschien,  einen  lauten  Schrei  ausstiess  und  verschwand.  Derselbe 
Aldrovandi  erzählt  uns  von  einer  Katze,  welche  einer  Frau  die 
Brust  zerkratzte;  diese  erkannte  in  ihr  ein  ttbemattirliches  Wesen 
und  starb  nach  Verlauf  weniger  Tage.  In  Ungarn  glaubt  man, 
dass  die  Katze  gewöhnlich  von  dem  Alter  von  sieben  Jahren  bis 
zu  dem  von  zwöU  eine  Hexe  wird  und  dass  Hexen  auf  Katern, 
besonders  schwarzen,  reiten ;  femer  glaubt  man,  dass  man  in  das 
Fell  der  Katze  einen  Einschnitt  in  Gestalt  eines  Kreuzes  machen 
muss,  will  man  sie  von  der  Hexe  befreien.  Die  sprichwörtliche 
„Katze  im  Sack"  enthält  wahrscheinlich  eine  Anspielung  auf  den 
Teufel.  In  der  zehnten  Erzählung  des  Pentamerone  sagt  der 
König  von  Roccaforte,  der  ein  schönes  Mädchen  zu  heirathen 
glaubte,  als  er  findet,  dass  er  eine  garstige  verschleierte  Hexe 
(die  Nacht)  geheirathet  hat:  „Questo  6  peo  nee  vole  a  chi  accatta 
la  gatta  dinto  lo  sacco."  In  Sicilien  bedeutet  das  Miauen  der 
Katze,  wenn  der  Rosenkranz  ftlr  die  Seeleute  gebetet  wird,  eine 
widrige  Fahrt. ^    Als  in  Macbeth  die  Hexen  ihren  bösen  Zauber 

'  Rocbholz,  Deatscher  Glaube  und  Brauch  I,  161. 

*  Ib.  —  Ich  finde  eine  Anspielung  auf  denselben  Glauben  auch  in 
dem  einundzwanzigsten  ehstnischen  Mährchen  (bei  Rreutzwald). 

'  £s  wird  fast  allgemein  geglaubt,  dass  es  Regen  bedeutet,  wenn  sich 
die  Katze  mit  ihrer  nassen  Pfote  hinter  den  Ohren  putit.  Und  femer 
sagt  das  lateinische  Sprichwort: 

„Catus  amat  pisces,  sed  aquas  intrare  recusal;" 


389 

gegen  den  König  vorbereiten,  beginnt  die  erste  Hexe  mit  den 
Worten : 

„Thrico  the  brinded  cat  hath  mewed.** 

In  einem  dentseben  Glauben,  den  Prof.  Rochholz  aufgezeichnet 
bat,  sind  zwei  Katzen,  die  miteinander  kämpfen,  für  einen 
Kranken  eine  Todesvorbedeutung.  Diese  beiden  Katzen  sind 
wahrscheinlich  eine  andere  Form  des  im  Piemontesischen  und  im 
Toskanischen  üblichen  Kinderspiels,  welches  das  „Seelenspiel*' 
heisst,  und  in  welchem  sich  der  Teufel  und  die  Engel  um  die 
Seele  streiten.  Von  den  beiden  Katzen  ist  die  eine  wahrschein- 
lich gutartig,  die  andere  bösartig.  Eine  irische  Sage  erzählt  uns 
von  einem  Kampfe  zwischen  Katzen,  die  sich  sämmtlich  einander 
bis  auf  die  Schwänze  vernichten.  (Eine  ähnliche  Sage  existirt 
auch  im  Piemontesischen,  doch  wird  sie  dort,  wenn  ich  nicht  irre, 
auf  Wölfe  bezogen.  [In  Deutschland  spricht  man  wohl  von  den 
bekannten  zwei  Löwen,  die  sich  einander  bis  auf  die  Schwänze 
auffressen.])  Zwei  Katzen.,  die  um  eine  Maus  kämpfen  und  sie 
dabei  entschlüpfen  lassen,  werden  auch  in  der  indischen  Sage 
erwähnt.  * 

Im  lOf).  Hymnus  des  ersten  Buches  des  Rigveda  und  im 
33.  des  zehnten  Buches  sagt  ein  Dichter  zu  Indra:  ,>Der  Gedanke 
zerreisst  mich,  der  ich  dich  preisse,  wie  Mäuse  ihre  Schwänze 
zerreissen,  indem  sie  daran  nagen''.  ^     Doch   nach   einer  andern 


und  das  ungarische  Sprichwort,  dass  die  Katze  im  Wasser  nicht  stirbt. 
VieUeicht  heisst  es  aus  diesem  Grunde,  dass  in  einem  feuchten  Herbst  die 
Katze  nur  wenig  werth  ist.  („Die  Katse  im  Herbst  und  die  Frau  im 
Frühling  sind  nicht  viel  werth.*^    Ungarisches  Sprichwort.) 

'  Polier,  Mythologie  des  Indes  U,  571. 

*  Müsho  na  ^i^oft  vy  adanti  mädhyah  stotäram  te  ^atakrato;  Bigv.  I, 
105,  8.  —  Der  Commentator  erklärt  ^i^nä  bald  durch  sutrftni,  Fäden, 
bald  lenkt  er  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers  auf  die  Sage  von  den  Mäu- 
sen, welche  an  ihren  Schwänzen  lecken,  nachdem  sie  dieselben  in  ein  Ge- 
fäss  voll  Butter  oder  einer  anderen  schmackhaften  Substanz  getaucht 
haben;  doeh  hier  kann  vyadanti  nur  bedeuten:  sie  zerreissen  durch 
Baissen,  wie  wir  kurz  vorher  den  Gedanken  haben,  der  durch  Beissen  zer- 
reisst, wie  der  Wolf  die  durstigen  wilden  Thiere  zerreisst  (mä  vyanti  ä- 
dhyo  na  trishnagam  mrigam).  —  Die  Maus  in  dem  Krug  mit  Speise vorrath 
kommt  auch  in  der  Fabel  von  der  Maus  und  den  beiden  Büssern  im 
Pan  ($  at  antra  vor,  wie  in  der  griechischen  Fabel  von  dem  Sohne  des 
Minos  und  der  Pasiphae,  welcher  eine  Maus  verfolgend  in  einen  Honig- 
krug fällt,  in  welchem  er  erstickt,  bis  er  durch  ein  Heiikraut  wieder  ins 
Leben  gerufen  wird. 


390 

änmg  ist  nicht  von  „Schwänzen",  sondern  von  ,^äden"  die 
!;  in  diesem  Falle  würden  die  Mäuse,  welche  die  Fäden 
:en,  anf  die  Fabel  rou  der  Hans  zariickgebn,  welche  bald  den 
hauten,  bald  den  LOwen  ans  dem  Netze  befreit ,  eine  Fabel, 
Q  hohes,  bis  zn  den  Veden  hinaufreicbendes  Alter  ich  im 
sten' Kapitel  zn  erweisen  snehen  werde. 
Die  zwölfte  Erzählung  des  dritten  Buches  des  Fancatantra 
iou  grossem  mythologischen  Interesse.  Aus  dem  Schnabel 
>  Falken  filichtet  sich  eine  Hans  (in  einer  andern  indischen 
I,  vor  zwei  Katzen,  die  sich  um  sie  streiten)  in  die  Hände 
i  Bflssers,  als  er. im  Strome  badet  Der  BHsser  verwandelt 
in  ein  schtiues  Mädchen  and  will  dieses  mil  der  Sonne  ver- 
,tben ;  das  Mädchen  weigert  sich  —  jene  ist  zn  heiss.  Der 
er  will  sie  darauf  mit  der  Wolke  verheirathen,  welche  die 
le  Überwindet;  das  Mädchen  erklärt,  die  sei  ihr  zu  dnnkel 
kalt    Er  schlägt  dann  vor,  sie  dem  Winde  zn  geben,  wel- 

die  Wolke  Überwindet  (im  weissen  Ya^urved a  ist  die 
)  dem  Gott  Rndra,  dem  Winde,  welcher  in  der  Wolke  hentt 
blitzt,  heilig):  das  Mädchen  schlägt  wieder  ab  —  er  ist  zu 
iderlicb.  Der  BUsser  kommt  nnn  auf  den  Gedanken,  sie  solle 
Berg  freien,  gegen  den  der  Wind  nichts  aosrichten  kann; 

sie  sagt,  er  sei  zu  hart,  und  schliesälicb  fragt  der  BUsser, 
ie  Willens  wäre,  ihre  Neigung  der  Mans  zu  schenken,  welche 
1  ein  Loch  in  den  Berg  machen  könne ;  das  Mädchen  ist  mit 
im  letzten  Vorschlage  zufrieden  und  wird  wieder  in  eine 
liehe  Maus  verwandelt,  um  die  männliche  Maus  heirathen  zu 
en.  In  diesem  schönen  Mythus  (welcher  eine  Variation  des 
ren,  schon  erwähnten,  von  dem  Katzen-Mädchen  ist,  das  noch 
audelt  seinen  Trieb,  Mäuse  zu  jagen,  bewahrt;  wird  die 
e  Umwälzung  der  vierundzwanzig  Stunden  des  Tages  darge- 
.  Die  Maus  Nacht  erscheint  zuerst;  das  Zwielicht  will  sie 
iiner  Beute  machen  ;  die  Nacht  wird  die  Aurora;  die  Sonne 
t  sich  ihr  zum  Gatten;  die  Sonne  wird  von  der  Wolke  ver- 
t,  und  die  Wolke  vom  Winde  fortgetrieben,  mittlerweile  er- 
nt  die  Abend- Aurora,  das  Mädchen,  auf  dem  Berge;  die  Maus 
it  eiBcbeint  wieder,  und  mit  ihr  wird  das  Mädchen  vertauscht 
t  in  sie  fiber).  Der  Hitopade^a  enthält  eine  interessante 
lart  desselben  Mythos.  Die  Maus  ßillt  aus  dem  Schnabel  des 
rs  und  wird  von  einem  weisen  Mann  aufgenommen,  der  sie 
line  Katze  verwandelt;  dann,  um  sie  vor  dem  Hunde  zu 
u,  in  einen  Hund,  und  endlich  in  einen  Tiger.    Als  die  Maus 


ein  Tiger  geworden  ist,  denkt  sie,  den  Weisen  zn  tödten;  dieser 
errath  jedoch  ihre  Gedankeo  and  verwandelt  sie  wieder  in 
eine  Mans.  Hier  finden  wir  denselben  Kreislauf  der  t&g- 
lieben  Himmetserscheinnngen  dargestellt.  Die  aufeinander'"' — 
dieser  Erscheinungen  Ternrsacht  bisweilen  in  den  Mythen 
Wandlungen. 

Das  bekannte  Sprichwort  von  dem  Berge,  der  die  Hau 
biert,  geht  auf  den  in  der  Eraälilung  des  Pancatantra  entbal 
Mythus  zurUck.  Wir  wissen  schon,  daes  der  Sonnenhek 
Abend  mit  dem  Sonoenpferde  in  den  Berg  eingeht  und 
wird,  und  dasB  der  ganze  Himmel  die  Farbe  dieses  Berge 
nimmt.  Aas  dem  Berge  kommen  die  Mäuse  der  Nacht, 
Schatten  der  Nacht  heraus,  welche  von  der  Katze  Mond  ani 
Katze  Zwielicht  veijagt  werden ;  die  Diebsgelüste  der  & 
entfalten  sich  in  der  Nacht.  Im  deutschen  Aberglauben  ne 
die  Seelen  der  Abgescliiedenen  die  Gestalt  70u  Mänsen  an, 
wenn  das  Haupt  eines  Hauses  stirbt,  so  heisst  es,  daes  soga 
Mäuse  das  Haus  verlassen. '  Im  Allgemeineji  wird  jedes  En 
nen  von  Mausen  als  ein  unglückliches  Vorzeichen  angesehn; 
halb  wurde  die  unheilvolle  Gertrade  als  von  Mäusen  um 
dargestellt.  In  Macbeth  droht  die  erste  Hexe,  als  sie  den  '. 
mann,  der  nach  Ateppo  segelt,  verfolgen  und  Schiffbruch  1 
lassen  will,  am  sich  an  seiner  Frau  zu  rilchen,  welche  ifa 
paar  Kastanien  verweigert  hatte,  sie  wolle  gleich  einer 
ohne  Schwanz  werden.  In  der  Historia  Sarmatiae 
Aldrovandi)  werden  die  Oheime  des  KOnigs  Popelue  n.,  wele 
mit  seiner  Frau  als  Complice  im  Geheimen  ermordet  und  ii 
See  wirft,  Mäuse  and  beissen  den  König  und  die  Kitnigi 
Tode.  Derselbe  Tod  soll  die  Strafe  des  Mii^cislauB,  SohneE 
Herzogs  Konrad  von  Polen  gewesen  sein,  weil  er  sich  unre 


'  Den  Uäuaen  pfeifen,   heiast  den  Seelen  ein  Zeiuhea  )^ben,   ui 
ihaen  abgeholt   eu   werden  i    ebenu   wie   der  EatLenftinger   zu  Hamel 
Lockpfeife  blsit,  auf  deren  Ton  alle  Mäiue  und  Kinder  der  Stadt  m: 
in  den  Berg   hineinziehen,   der   sieb   hinter   ihnen   zuschliesst.     Mäu» 
Seelen.     Die  Seele  des  auf  der  Jagd  entlieh lafe neu  Königs  Guntram  t 
achlängleinartig  ans  seinem  Hunde  hervor,  um  ho  in  einen  nlichat«n 
und  wieder  sarücksulaufeit.    Der  goethe'sche  Faust  weigert  sich  den 
mit  dem  hübscfaen  Uexenmadchen  am  Blocksberg  fortsusetzen : 
„Denn  mitten  im  Gesunge  sprang 
Ein  rotbes  Mäuschen  ibr  aus  dem  Munde." 
Rochbolz,  Deutscher  Glaube  und  Brauch,  I,  1» 


892 

Weise  das  £igentbam  von  Wittwen  und  Weisen  lui^^igiiei  hatte, 
und  des  Otto,  £rzbiBcbof«  von  Mainz  ^  weil  er  während  «iaer 
Bungersnoth  den  Kornboden  verbrannt  hatte.  Mäuse  sollen  in 
.Rom  den  ersten  Bürgerkrieg  vorbedeutet  haben,  indem  sie  das 
'Gold  im  Tempel  benagten;  uud  es  wurde  femer  behauptet,  eine 
Maus  hätte  in  einer  Falle  fünf  männliche  Mäuschen  geworfen, 
von  denen  sie  zwei  verschlungen.  Andere  Wunder,  in  denen 
Mäuse  eine  Rolle  spielen,  werden  als  in  Rom  geschehen  berichtet, 
sogar  aus  dem  Zeiten  Catos,  welcher  sie  zur  Zielscheibe  seines 
Witzes  .machte.  Jemandem,  der  ihm  erzählte,  wie  die  Mäuse  die 
Stiefel  benagt  hätten,  antwortete  er,  das  wäre  kein  Wunder; 
nvohl  wüf de  es  >ein  solches  gewesen  sein^  wenn  die  Stiefel  (caljgae) 
die  Mäuse  gefressen  hätten. 

Die  Maus  ist  in  der  Fabel  zuweilen  in  Verbindung  mit  dem 
Elephanten  und  dem  Löwen ,  welche  sie  bisweilen  verhöhnt  und 
misshandelt  (wie  im  Tuti-Name^),  und  bisweilen  unterstützt 
und  aus  ihren  Fesseln  befreit  Die  Bedeutung  des  M^hus  ist 
klar:  Der  Elephant  und  der  Liöwe  stellen  hier  die  Sonne  in  der 
Dunkelheit  dar;  am  Abend  springt  die  Maus  der  Kacht  auf  die 
beiden  Heldenthiese,  welche  dann  alt  oder  schwach  sind;  am 
Mocgen  wird  die  Sonne  aus  den  Fesseln  der  Nacht  befreit ,  und 
es  wird  vermuthet,  dass  es  die  Maus  war,  welche  die  Seile  zer- 
nagt und  den  Elephanten,  wie  im  Panctatantra,  resp.  den 
Löwen,  wie  in  der  äsopischen  Fabel^  in  Freiheit  gesetzt  hat  Wir 
sahen  oben  den  Doppelsinn,  den  das  vedische  Wort  figna  bietet, 
»welches  ganz  .ebenso  gut  durch  ,^Fl9iden^^  als  durch  y,SGhwAnz'^ 
übersetzt  werden  kann.  Es  ist  möglich,  dass  der  Schwanz  der 
nächtlichen  Ratte  am  Abend  den  alten  Sonnenlöwen  in  t  seine  ver- 
schiedenen Falten  wie  in  ein  kleines  Netz  «inhüllt,  einwickelt. 
Am  Morgen  iiagtisich  die  Ratte  ^der  Nacht  den  Schwanz  ab,  d.  h. 
zernagt  die  Fäden  des  Netzes,  welches  den  Löwen  einhüllt,  der 
sich  so  befreit  sieht 

Der  indische  Gott  GancQa,  der  Gott  der  Dichtkunst,  Bered- 
samkeit und  Weisheit,  wird  dargestellt  mit  einem  Elephantenkopf, 
und  mit  seinem  Fusse  eine  Maus  zermalmend.  So  wurde  bei  den 
Griechen  Apollo  Smintheus,  so  genannt,  weil  er  die  Mäuse  ge- 
schossen, welche  dem  Kriuos,  dem  Priester  des  Apollo  selbst,  den 
Speisevorrath  für  das  Jahr  gestohlen  hatten,  mit  einer  Maus  unter 
seinem  Fusse  dargestellt.    Wie  die  heilige  Jungfrau  die  Schlange 

'  L  p.  268  f. 


393 

mit  ihrem  Fusse  zertritt;  so  setzt  der  heidnische  Sonnengott  seinen 
Fass  anf  die  Maas  der  Naoht. 

Wenn  die  Katze  fort  ist;  tanzen  die  Mänse ;  dieses  Sprichwort 
hat  nicht  allein  auf  der  Erde  seine  volTe  Richtigkeit;  sondern  gilt 
auch  für  daS;  was  im  Himmel  vorgeht:  die  Schatten  der  Nacht 
tanzen;  wenn  der  Mond  fort  ist. 

Im  fnnfsebnten  Mährchen  des  fänften  Baches  bei  Af  a  n  a  ss  i  e  f  f 
bittet  die  Hexe-Stieimatter  ihren  alten  Mann,  seine  Tocjiter  in  den 
Wald  za  fuhren;  damit  sie  in  einer  einsamen  Hütte  spinne.  Das 
Mädchen  findet  dort  eine  kleine  Maas  ^  and  giebt  ihr  etwas  zu 
essen.  In  der  Nacht  kommt  der  Bär  and  will  mit  dem  Mädchen 
Blindekah  spielen  (englisch:  blind^man's-baff;  italienisch:  mosca- 
ciecd;  blinde  Fliege;  dieses  sehr  volksthttmliche  Spiel ;hat  offenbar 
mythischen  Ursprang  and  Bedeutang ;  jeden  Abend  belustigt  sich 
die  Sonne  am  Himmel  mit  Blindekuhspiel;  sie  blendet  sich  und 
rennt  blind  in  die  Nacht  hinein ;  wo  sie  ihre  vorbestimmte  Braut 
oder  ihr  veiloienes  Weib,  die  Aurora,  wiederfinden  muss).  Die 
kleine  Maus  naht  sich  dem  Mädchen  und  flüstert  ihr  ins  Ohr: 
;;Mädchen ;  fürchte  Dich  nicht ;  sage  zu  ihm :  ;Lass  uns  spielen' ; 
dann  lösche  das  Feuer  aus  und  verbirg  Dich  unter  den  Stein;  ich 
werde  rennen  und  die  kleinen  Glocken  läuten.^'  (Mäuse  scheinen 
eine  besondere  Voriiebe  für  Glockenton  zu  haben.  Bekannt  ist 
'  die  Fabel  von  den  Mäusen ;  welche  beschliessen ;  der  Katze  <eine 
.Glocke  umzuhängen;  um  sich  von  ihr  zu  befreien;  jedoch  keine 
wagt;  das  schwierige  und  geföhriiche  Unternehmen  auszuführen.  ^) 
£)er  Bär  glaubt;  hinter  dem  Mädchen  her  zu  rennen ,  rennt  aber 
in  Wirklichkeit  der  Maus  nach ;  die  er  nicht  fangen  kann.  Der 
Bär  mattet  sich  völlig  ab ;  und  das  Mädchen  beglückwünschend 
sagt  er  zu  ihr:  ;;Du  bist  meine  Herrin ;  Mädchen ;  im  Blindekuh- 
spiel; morgen  früh  werde  ich  Dir  eine  Herde  Pferde  und  einen 


<  Die  Maos,  die  über  das  Garn  läuft,  kommt  auch  in  der  deutschen 
Sage  vor:  —  ,,So  bildet  sie  (die  heilige  Gertrud)  der  krainische  Baucru- 
kalender,  so  wie  das  sogenannte  Gertrudenbüchlein  ab:  zwei  Mäuslein 
nagen  an  einer  flachsumwundenen  Spindel;  eine  Spinnerin  sitzt  am  Spinn- 
rade und  eine  Maus  läuft  den  Faden  hinauf.  Weder  am  St.  Gertruden- 
tag noch  in  der  Zeit  der  Zwölften,  wo  die  Geister  in  Gestalt  von  Mäusen 
erscheinen,  darf  gesponnen  werden ;*'  Rochholz,  Deutscher  Glaube  und 
Brauch  I,  158. 

*  Vgl.  Oesterley  zu  Pauli's  Schimpf  und  Ernst  c.  36  und  zu 
Kirchhofs  Wendunmuth  7, 105  —  Die  schottische  Erzählung  von  Archi* 
bald  Douglas,  mit  dem  Spitznamen  Bell  the  Cat,  ist  allbekannt. 


394 

Wagen  voll  Güter  schicken/'  (Die  Morgen-Aurora  kommt  ans 
dem  Walde,  befreit  sich  aus  den  Klanen  des  Bären,  von  der 
Hexe  der  Nacht,  und  erscheint  von  Pferden  gezogen  auf  einem 
Wagen  voll  Schätzen.    Der  Mythus  ist  ganz  durchsichtig.) 

In  zahlreichen  anderen  Sagen  haben  wir  die  dankbare  Maus, 
welche  dem  Helden  oder  der  Heldin  hilft.  Im  dreizehnten  kal- 
mttkischen  Mährchen  kommen  die  Manis,  der  Affe  und  der  Bär 
dem  Sohne  des  Brahmanen,  welcher  sie  aus  den  Händen  der 
Schurken,  die  sie  quälten,  bereit  hatte,  aus  Dankbarkeit  zu 
Hilfe,  indem  sie  die  Eiste,  in  welche  der  junge  Mann  auf  Befehl 
des  Königs  eingeschlossen  worden  war,  zernagen  und  aufbrechen; 
später  helfen  sie  ihm  unter  Beistand  der  Fische,  einen  verlorenen 
Talisman  wiedererlangen. 

Im  achtundfunfzigsten  Mährchen  des  sechsten  Buches  bei 
Afanassieff^  stehen  die  Maus,  das  Schlachtross  und  der  Fisch 
silurus  aus  Dankbarkeit  dem  ehrbaren  Arbeitsmanne  bei,  welcher 
in  einen  Sumpf  gefallen  ist,  und  reinigen  ihn ;  darüber  muss  die 
Prinzessin,  die  nie  gelacht  hat,  lachen  und  heirathet  darauf  den 
Arbeiter.  (Die  junge  Morgensonne  kommt  aus  dem  Sumpfe 
Nacht;  die  Aurora,  welche  zuerst  ein  dunkles,  böses  und  häss- 
liches  Mädchen  war,  heirathet  die  junge  Sonne,  welche  die  Maus 
aus  dem  Schlamm  befreit  hat,  wie  sie  den  Löwen  aus  dem  Netz 
erlöste.) 

Im  siebenundfunfzigsten  Mährchen  des  sechsten  Buches  bei 
Afanassieff  ist  es  die  Maus,  welche  Iwan  Tzarevic  warnt,  vor 
der  Schlangenhexe  (der  schwarzen  Nacht),  seiner  Schwester,  zu 
fliehen,  welche  schon  ihre  Zähne  wetzt,  um  ihn  zu  verzehren. 

Im  dritten  Mährchen  des  ersten  Buches  bei  Afanassieff 
helfen  die  Mäuse  dem  guten  Mädchen,  welches  ihnen  etwas  zu 
essen  gegeben  hatte,  zu  thun,  was  die  Hexe,  ihre  Stiefmutter,  ihr 
befohlen. 

Im  dreiundzwanzigsten  Mährchen  des  fünften  Buches  erschei- 
nen Maus  und  Sperling  zuerst  als  Freunde  und  Bundesgenossen. 
Doch  eines  Tages  isst  der  Sperling,  als  er  ein  Kotu  Mohnsamen 
gefunden  hat,  dasselbe  allein  auf,  ohne  seinem  (genossen  einen 
Theil  anzubieten,   weil   er   es  für  zu  klein  hält.    Die  Maus  hört 


*  Vgl.  Pentamerone  UI,  ö.  —  In  der  Ensähluug  IV,  1  stehen  die 
dankbaren  Mäuse  dem  Minec  AnieUo  bei,  der  den  verlorenen  Ring  sucht; 
sie  zernagen  nämlich  den  Finger,  an  welchem  der  Zauberer  denselben 
trägt. 


395 

davon  und  ist  empört;  sie  bricht  den  Band  und  erklärt  dem 
Sperling  den  Krieg.  Der  Letztere  versammelt  alle  Vögel  der 
Luft^  and  die  Maus  alle  Tbiere  des  Landes;  eine  blatige  Scblacbt 
beginnt  —  In  einer  anderen  rassischen  Version  dieses  Mährchens 
ist  es  die  Maus,  welche  den  Vertrag  bricht.  Sie  sammeln  zu- 
sammen Vorrath  für  den  Winter,  doch  als  sie  gegen  Ende  des 
Sommers  d^mit  fast  fertig  sind,  treibt  die  Maus  den  Sperling  aus 
und  dieser  geht  zum  König  der  Vögel;  sich  za  beklagen.  Der 
König  der  Vögel  besucht  den  König  der  Thiere  und  legt  die 
Klage  des  Sperlings  vor;  der  König  der  Thiere  ruft  darauf  die 
Maus,  sich  zu  rechtfertigen ,  welche  mit  solcher  Schlauheit  und 
solcher  Demuth  ihre  Sache  führt;  dass  sie  schliesslich  den  Herr- 
scher zu  der  Ueberzeugung  bringt,  der  Sperling  habe  Unrecht. 
Darauf  erklären  sich  die  beiden  Könige  den  Krieg  und  lassen 
sich  in  einen  furchtbaren  Kampf  ein^  der  mit  schrecklichem  Blut- 
vergiessen  auf  beiden  Seiten  geführt  wird  und  mit  der  Verwun- 
dung des  Königs  der  Vögel  endet.  (Die  nächtliche  oder  winter- 
liche Maus  vertreibt  den  Sonnenvogel  des  Abends  oder  des 
Herbstes.) 

In  der  dem  Homer  zugeschriebenen  Batrachomyomachia 
prahlt  der  Mäusekönig  Psicharpax  (Bröseldieb) ,  der  dritte  Sohn 
des  Troxartes  (Brodnager),  gegenüber  dem  Physignathos  (Pausback), 
dem  König  der  Frösche,  damit,  dass  er  den  Menschen  nicht 
fürchte,  dem  er  im  Schlafe  die  Fingerspitze  abgebissen  habe;  da- 
gegen hat  er  den  Falken  (der  im  indischen  Mährchen  die  Maus 
aus  dem  Schnabel  fallen  Hess)  und  die  Katze  zu  Feinden.  Der 
Frosch,  der  die  Maus  bewirthen  will,  lädt  sie  ein,  sich  auf  seinen 
Rücken  zu  setzen  und  so  in  seine  königliche  Wohnstätte  tragen 
zu  lassen;  zuerst  macht -der  Mauä  der  Ritt  Spass,  doch  als  der 
Frosch  sie  das  eiskalte  Wasser  fühlen  lässt,  da  vergeht  ihr  der 
Muth;'  schliesslich  beim  Anblick  einer  Schlange  vergisst  der 
Frosch  seinen  Reiter  und  rennt  davon,  indem  er  die  Maus 
über  Hals  über  Kopf  in  das  Wasser  wirft,  damit  sie  der  Schlange 
zur  Beute  falle.  Sie  erinnert  sich,  bevor  sie  das  Leben  aus- 
haucht, noch  daran,  dass  die  Götter  ein  rächendes  Auge  haben, 
und  droht  den  Fröschen  mit  der  Rache  der  Mäusearmee.  Man 
rüstet  zum  Kriege.  Die  Mäuse  machen  sich  gute  Stiefel  aus 
Bohnenschalen ;  sie  überziehen  ihre  Ktlrasse  von  Wasserlinsen  mit 
dem  Fell  einer  geschundenen  Katze;  ihr  Schild  ist  der  Mittel- 
knopf der  Lampen  (Ivx^utv  to  fuaoftqxxlo^ ^  d.  h.  wohl:  ein  Stück 
einer  kleinen  Lampe  aus  terra-cotta,  und  zwar  genauer,  der  untere 


396 

und  mittlere  Theil) ;  znr  Lanze  haben  sie  eine  Nadel  und  zum 
Helm  eine  Nussschaie.  Die  Götter  sehen  dem  Kampfe  als  neutrale 
Partei  zu^  —  Pallas  hat  nämlich  ihre  Ungeneigtheit  erklärt,  den 
Mäusen  zu  helfen,  weil  sie  das  Oel  aus  den  Lampen  gestohlen 
haben ;  welche  ihr  zu  Ehren  brannten,  und  .weil  sie  ihr  Peplum 
zernagt;  ebenso  gleicbgiltig  ist  sie  aber  auch  gegen  die  Frösche, 
weil  dieselben  sie  einst  aufgeweckt  haben,  als  sie,  müde  aus  dem 
Kampfe  zurtlcl^gekehrt,  ruhen  wollte.  In  der  Schlachf  geht's  heiss 
her;  schon  will  sie  eine  unglückliche  Wendung  für  die  Frösche 
nehmen,  als  Zeus  sich  ihrer  erbarmt  und  anfängt,  zu  blitzen  und 
seine  Donnerkeile  zu  schleudern.  Da  die  Mäuse  sich  dadurch 
nicht  schrecken  lassen,  so  schicken  die  Oötter  eine  Schaar  Krebse, 
welche  die  Mäase  in  den  Schwanz,  die  Hände  und  die  Füsse 
beissen,  und  sie  so  zur  Flucht  zwingen.  Es  ist  das  unzweifelhaft 
die  Darstellung  eines  mythischen  Kampfes.  Die  Frösche  sind, 
wie  wir  sehen  werden,  die  Wolken;  die  Nacht  trifft  die  Wolke; 
die  Maus  kämpft  mit  dem  Frosch.  Zeus,  der  Donnergott,  donnert 
und  blitzt,  um  dem  Streit  ein* Ende  zu  machen;  zuletzt  erscheint 
der  retrograde  Krebs;  die  Kämpfenden,  Frösche  und  Mäuse,  ver- 
schwinden natürlich. 

Die  Maus  wird  nie  anders  aufgefasst  als  in  Verbindung  mit 
der  nächtlichen  Dunkelheit,  und  daher  auch  mit  weiterer  Ausdeh- 
nung d^  Mythus  in  Verbindung  mit  der  Dunkelheit  des  Winters, 
aus  welcher  in  der  Folge  Licht  und  Reichthümer  hervorkommen. 
In  Sicilien  glaubt  man,  dass  wenn  ein  Zahn,  der  einem  Kinde 
ausgenommen  ist,  in  einem  Loch  versteckt  wird,  die  Maus  ihn 
fortnimmt  und  ein  Geldstück  für  das  Kind  zur  Belohnung  bringt. 
Dje  Maus  ist  dunkelfarbig,  doch  ihre  Zähne  und  Vordertheile 
sind  weiss  und  glänzend.  Die  Maus  Hiranyaka  (die  goldene) 
im  Panöat antra  ist  das  rothe  Eichhörnchen,  das  in  einer  äso- 
pischen Fabel  auf  die  Frage  dos  Fuchses,  warum  es  seine  2iähne 
wetzt,  wenn  es  nichts  zu  essen  hat,  antwortet,  es  thue  das,  um 
immer  gegen  seine  Feinde  gerüstet  zu  sein.  In  der  Edda  rennt 
das  Eichhörnchen  auf  den  Baum  Yggdrasil  und  bringt  den  Adler 
und  Nidhögg  in  Zwietracht. 

Der  Maulwurf  und  die  Schnecke  haben  dieselbe  Natur 
wie  die  graue  Maus.  Das  indische  Wort  äkhu  oder  Maul- 
wurf ;(es  ist  schon   im  Rigveda^    von    ihm    als    von    einem 

'  Al&yyasya  para^ur  nana^a  tarn  &  pavasya  (nach  Auf  rechts  Text  und 
nach  dQm  Cpmineiitator  pavasva  —  vgl.  Bollenseii,  Zur  Herstellung  des 


397 

Dämon ,  den  Indra  getödtet  bat ,  die  Rede'  bedeutet  eigentlich : 
Aushöhier. 

In  Reineke  Fuchs  erscheint  der  Maulwurf'  als  Gräber, 
als  das  Thier,  welches  die  Erde  aufwirft  und  unterirdische  Gänge 
macht;  er  ist  auch  wirklich  der  geschickteste  Grabgräber,  und 
seine  schwarze  Farbe  und  angebliche  Blindheit  befinden  sich  in 
vollkommener  Uebereinstimmung  mit  dem  Trauercharaakter,  der 
ihm  in  der  Mythologie  zugeschrieben  ist.  In  einer  Fabel  des 
Laurentius  beklagt  sich  der  Esel  zum  Maulwurf,  dass  er  keine 
Homer  habe,  und  der  AffC;  dass  er  einen  kurzen  Schwanz  habe ; 
der  Maulwurf  antwortet  ihnen : 

„Quid  potestis  hanc  meam 
Miseram  intuentes  coecitatem,  haec  conqueri?'* 

Nach  dem  griechischen  Mythus  wurde  Phineus  ein  Maulwurf, 
weil  er  auf  den  Rath  seiner  zweiten  Frau,  Idaia,  seine  beiden 
Söhne  von  der  ersten  Frau,  Cleopatra,  hatte  blenden  lassen, 
wie  auch,  weil  er  die  geheimen  Gedanken  des  Zeus  enthüllt 
hatte.  ^ 

Bei  Du  Gange  finde  ich,  dass  es  im  Mittelalter  Brauch  für 
die  Kinder  war,  sich  am  Weihnachtsabend  mit  Stangen  zu  ver- 
sammeln, um  deren  Enden  Stroh  gewickelt  war,  das  sie  anzün- 
deten, und  dann  in  den  Gärten  herumzuziehn,  schreiend : 

„Taupes  et  mnlots 
Sortez  de  nos  dos 
Sinon  je  vous  brulerai  la  barbe  et  los  os." 

Y^ir  finden  einen  ähnlichen  Ruf  in  der  siebenten  Erzählung  des 
zweiten  Buches  des  Pentamerone.  Das  schöne  Mädchen  geht 
maruzze  suchen,  und  droht  der  Schnecke,  ihr  von  ihrer  Mutter 
die  Ilörner  abschneiden  zu  lassen: 

„lesce,  iedce>  corna 

Ca  mammata  te  »corna,  ^ 
Te  scorna  'ncoppa  Tafitreco 
Che  fa  lo  figlio  mascolo/^ 

Im  Piemontesischen  pflegen  die  Kinder  zu  singen,  wenn  sie 
wollen,  dass  die  Schnecke  die  Homer  heraussteckt: 

„Lümassa,  Lümassora, 
Tira  fora  i  to  com 
Dass  no,  *  i  vad  dal  barb^ 
£  it  tje  fass  tai^f 

Veda  im  Orient  und  Occident  II,    484)   deva  soma;  akhum  did  eva 
deva  soma;  Bigv.  IX,  67,  liO. 
>  Sophocles,  Ant  ig.  973  ff. 


{\ 


Kinder  erscbrecken  die  Schnecke  mit  der  Kachriebt, 
komme,  die  Httmer  derselben    mit  einem  Liebte  zn 


„Nefl 
E  t' 

ichen  rätb  man  der  weissen  Schnecke  (la  marinella). 
Hörner  beraaezuotecken ,  wenn  sie  sieb  vor  StOs^eu 
:n  bewabren  wolle: 

„Chio^ifiola  marinella, 

Tira  fuori  le  tue  Cornelia, 

£  se  tn  non  le  tirerai 

Calci  e  pagni  tu  buacherai.'* 
icben  glaubt  man  femer,  dass  im  Monat  April  die 
:h  mit  der  Schlange  liebt,  und  deshalb  giftig  ist:  da- 
to: 

„('hi  Tuol  presto  morire 
UiiDgi  1a  chiocdola  d'  aprile."* 
:e  des  Volksaberglaubens  ist  dämonisch;  daher  wird 
cbland  von  den  Kindern  ancb  mit  dem  Namen  der 
tmde  gerufen: 

„Kuckuck,  kncknck  Gerderut 
Stak  dine  ver  Uoms  hemt''* 

Ia«a  DO  des  PiemonteBiBchen  bedeutet  „wenn  nicht",  und  Ist 
jchen  Ureprungs.  Der  piemonteaische  Dixlekt  hat  auch  diu 
Partikel  der  dcntscbeu  Sprache  entlebni.  —  In  Deutschland 
ader: 

„ScbneckbfiB,  pcckbäa. 
Stak  din  v€r  hümer  rüt, 
SüBt  ichmtt  ick  di  in'n  graven 
Da  freten  di  de  raven." 

Kuhn  und  Sdiwartz,  N.  d.  S.  M.  u.  G.  p.  453. 

Rabelais    I,   SS  Oargantaa    fünf  Pilger   in    seinem  Sa- 

lat,   bleibt  noch    einer  unter  einem  Lattichblatt  verborgen. 

gt  zu  ihm:  „Je  orois  que  c'est  Ik  une  corue  de  limasson, 

poiut.    Pourquoj?  dist  Oargantua,   Ui  sont  bono  tout  se 

,    Handbuch   der   deutschen  Mythologie,   2.    Aufl. 


399 


KAPITEL  Vni. 
Der  HMe,  das  Kaninehen,  das  Hermelin  and  der  Biber. 

Der  mythische  Hase  ist  unzweifelhaft  der  Mond.  Im  Sanskrit 
bedeutet  das  Wort  ^afa  eigentlich:  der  Springende ,  ebenso 
wie:  der  Hase,  das  Kaninchen  nnd  die  Flecke  am  Monde^  welche 
die.  Vorstellnng  eines  Hasen  wecken.  .  Daher  die  Namen  des 
Mondes:  (a^in,  der  mit  Hasen  versehene^  und  gagadhara, 
9agabhrit,  der  den  Hasen  tragende.  In  der  ersten  Erzählung 
des  dritten  Buches  des  Paridatantra  wohnen  die  Hasen  an 
der  Kttste  des  Sees  Candrasara  oder  Mondsee;  und  ihr  König; 
Vi^ayadatta  (der  unheilvolle  Gott,  der  Gott  des  Todes)  hat  die 
Mondscheibe  zum  Palast.  Als  der  Hase  mit  dem  König  der 
Elephanten  spricht,  der  die  Hasen  zertritt  (ebenso  wie  wir  das 
von  der  Kuh  sahen  in  Kapitel  I),  spricht  er  im  Namen  des  Mon- 
des. Der  Hase  macht  die  Elephanten  glauben,  dass  der  Mond 
ärgerlich  auf  sie  ist,  weil  sie  die  Hasen  mit  ihren  Füssen  zer- 
treten ;  darauf  verlangt  der  Elephant  den  Mond  zu  sehen  und  der 
Hase  führt  ihn  zu  dem  Mondsee,  wo  er  ihm  den  Mond  im  Was- 
ser zeigt  Der  Elephant,  der  sich  dem  Monde  jiähem  und  ihn 
um  Verzeihung  bitten  will,  steckt  seinen  Rüssel  ins  Wasser, 
welches  dadurch  bewegt  wird,  so  dass  der  Widerschein  des 
Mondes  getrübt  und  tausendfach  vervielfältigt  wird.  Der  Hase 
redet  dem  Elephanten  ein,  ^ass  der  Mond  noch  zorniger  ist,  weil 
er  das  Wasser  getrübt;  darauf  bittet  der  König  der  Elephanten 
um  Verzeihung  und  geht  mit  seinen  Unterthanen  weit  weg;  von 
jenem  Tage  an  leben  die  Hasen  ruhig  an  den  Ufern  des  Mond- 
sees und  werden  nicht  mehr  von  den  Klumpfttssen  ihrer  kolos- 
salen Genossen  zermalmt  Der  Mond  regiert  die  Nacht  (und  den 
Winter),  die  Sonne  regiert  den  Tag  (und  den  Sommer).  Der 
Mond  ist  kalt,  die -Sonne  heiss.  Der  Sonnen-Elephant,  -Löwe 
oder  -Stier  geht  am  Abend  hinab,  um  am  Strome,  am  See  des 
nächtlichen  Mondes  zu  trinken;  der  Hase  warnt  den  Elephanten: 
wenn  er  nicht  ablasse,  wenn  er  noch  weiter  die  Hasen  an  den 
Ufern  des  Sees  niedertrete,  so  werde  der  Mond  seine  kalten 
Strahlen  zurückziehen,  so  dass  die  Elephanten  vor  Durst  und 
Hitze   umkommen.    Die   andere  Erzählung  des   Pancatantrs^ 


400 

ist  eine  VaHation  des  Mythus,  den  wir  in  Kapitel  VI  (vom  Hunde) 
erwähnten^  von  dem  Hasen,  der  den  hungrigen  Löwen,  welcher 
ihn  verzehren  will,  ins  Verderben  führt,  indem  er  ihn  sich  in 
einen  Brunnen  stürzen  lässt.  Dieser  Mythus,  welcher  dem  von 
der  Maus  als  der  Feindin  bald  dies  Elephanten,  bald  des  Löwen, 
bald  des  Falken  analog  ist,  ist  schon  in  den  vedischen  Hymnen 
sehr  klar  angedeutet.  Im  achtundzwanzigsten  Hymnus  des  zehn- 
ten Buehes  des  Bigveda,  in  welchem  der  Fuchs  den  westlichen 
Löwen-  (den  kranken  Löwen  *)  besuchen  kommt,  in  welchem  wir 
den  Löwen  habea^  der  m  die  Schlinge  fallt  ^  (and  den  die  Maus 
am  Ab«nd  missbandelt,  am  Morgen  abec  durek  Zernagen  der  ibn 
fesselndea  Seile  befreit;  im  griechischeifr  Sprichwort  ist  es  der 
Hase,  der  den  Löwen  in  das  goldene  Netz  zieht:  j^ehtei  kxyoig, 
kiovra  xj^voiiKf  ß^%(^^\  ebenso  wie  er  ihn  im  Pancatantra  in 
den  Brunnen  lockt),  und  in  welchem  der  Hase  das  westliehe  Un- 
geheuer verschlingt'  (eine  Variation  der  griechischen  Sage  von 
dem  Hasen,  den  eine  Stute  geworfen  hat,  und  der  sofort  darauf 
seine  Mutter  verschlingt)  -  in  diesen  Hymnus  finden  wir  d^n 
Keim  mehrer  Thierfabeln  desselben  Cyehis.  Das  niedere  Thier 
besiegt  das  höhere:  um  dieses  eigenthifmliche  Momeal;  dreht  sieb 
der  ganze  Mythus ;  aus  diesem  Grunde  auch,  fäll*  der  Hund  oder 
Schakal  (caodis  aureus)  den  wilden  Eber  an,  ^  und  das  Kalb  über- 
windet den  Stier.  ^  Der  Hase  begegnet  uns  wieder  als  der  sprich- 
wörtliche Feind,  des  Löwen  (daher  das  htteinische  Sprichwort: 
„Mortuo  leoni  lepores  insultant^' oder  saltant;  der  Mond  springt 
auf  die  sterbende  Sonne)  im  letzten^  Buche  des  Bämäyana, 
wo  der  grosse  König  der  Aflfen,  B&liTi,  den  König  der  Ungeheuer, 
Bavana,  betrachtet,  wie  ein  Löwe  ^inen«  Hasen  oder  wie  der 
Vogel  Oasmda  die  Schlange.  ^ 

Bei  Aesop  finden  wir  den  Hasen,  welcher  seinen  Feind, 
den  sterbenden  Adler,  auslacht,  weil  der  Jäger  ihn  mit  einem  mit 
Adlerfedern  geschmückten  Pfeil  getroffen  hat.  In  einer  andern 
äsopischen  Fabel  rächt  sich  das  Kaninchen  an  dem  Adler,  wel- 
cher seine  Jungen  gefressen  hat,  dadurch,   dass  es  den  Baum 


'  Lopä^a^  sinham  pratyandam  atsäl^;  9^g^-  ^t  28,  4. 
^  Avaruddha^  paripadam  na  sinha^;  X,  28,  10. 

*  Qa^ah  kshuram  pratyandam  gag4ra;  X,  28,  9. 

*  Kroshtä  varäham  nir  atakta  kakshät;  X,  28,  4. 

*  VatBO  vrishabham  9d9iivftnah;  X,  28,  9. 

*  2^nha^  9a9aniivftlak8hya  gamdo  v&  bhu^aSgamam ;  Rdmäy  XXIII. 


401 

entwurzelt  und  umwirft,  auf  welchem  der  Adler  sein  Nest  hat,  so 
dass  die  jungen  Adler  getödtet  werden. 

Im  siebzehnten  mongolischen  Mährchen  ist  der  Hase  der 
Wächter  der  Höhle  der  wilden  Thiere  (oder  der  Mond,  der  mri- 
gräga  und  Wächter  des  Waldes  Nacht).  ^  In  dem  einundzwan- 
zigsten mongolischen  Mährchen  geht  der  Hase  mit  dem  Lamm 
auf  die  Reise,  am  Fünfzehnten  des  Monats,  als  der  Mond  heraus- 
kommt, und  vertheidi^  das  Lamm  gegen  den  Wolf  der  Nacht, 
welchen  letzteren  er  durch  die  Nachricht  in  Schrecken  setzt,  er 
habe  vom  Gotje  Indra  ein  Schreiben  erhalten ,  in  welchem  ihm 
(dem  Hasen)  befohlen  werde,  dem  Indra  tausend  Wolfsfelle  zu 
bringen. 

In  einer  buddhistischen  Legende  wird  der  Hase  von  Indra 
in  den  Mond  verwandelt,  weil  er  ihm  freiwillig  sein  Fleisch  zu 
essen  gegeben  hatte,  als  er,  in  einen  Pilger  verkleidet,  um  Brod 
bat.  Der  Hase,  der  ihm  nichts  weiter  bieten  konnte,  legte  sich 
übers  Feuer,  damit  Indra  seinen  Hunger  beschwichtigen  könnte.  * 

Im  A  vest  a  finden  wir  das  Hermelin  als  den  König  der 
Thiere  und  den  Biber  als  das  heilige  und  unverletzliche  Thier, 
mit  dessen  Fell  die  -reine  Ardvtgüra  bekleidet  ist  (weiss  und 
silbern  wie  die  weisse  Dämmerung,  rosig  und  golden  wie  die 
Aurora ;  wenn  nicht  Ardvtgüra,  deren  Diadem  aus  hundert  Sternen 
gemacht  ist,  auch  erklärt  werden  muss  als  den  Mond  bezeich- 
nend, welcher  bald  silbern,  bald  schön  golden  ist).  Ferner:  dass 
der  Biber  den  Mond  (die  keusche  Diana)  darstellt,  befindet  sich 
in  vollständiger  Uebereinstimmung  mit  dem  Rufe,  den  er  als 
Eunuch  (castor  a  castrando)  im,  Volksaberglau ben  geniesst ; 
daher  die  Worte  Ciceros  ttber  die  Biber, '  und  die  Verse  des 
Juvenal : 

,Jmitata8  castora  qai  se 
Eunuchum  ipse  facit  capiens  evadere  damnum 
Testiculorum,  adeo  medicatum  intelliget  unguen/** 


»  Vgl.  Seite  101  f. 

^  Vgl.  M^moires  sur  les  Contr^es  Orientales,  traduits  du 
Sanscrit  par  Hiouen  Thsang,  et  du  Chinois  par  St.  Julien,  I,  375. 

*  Redimnnt  ea  parte  corporis^  propter  quam  maxime  expetuntur;  Pro 
Aemilio  Scaur o.  Es  heisst,  dass  der  Biber,  wenn  er  von  Jägern  ver- 
folgt  wird,  seine  Testikeln  selbst  abreisst,  als  den  werthvollsten  Theil, 
dessentwegen  er  gejagt  wird,  da  der  Volksglaube  den  Testikeln  des  Bibers 
wunderbare  Heilkräfte  beilegte. 

*  XII,  35. 

Gobernailf,  die  Thiere.  26 


402 

Bei  AJdrovandi  andrerseits  erzählt  Philostratus^  dass  eine  Frau 
sieben  Mal  fehlgeboren  hatte ,  doch  das  achte  Mal  einem  Kinde 
das  Leben  schenkte,  als  ihr  Mann  unerwarteter  Weise  einen 
Hasen  aus  seinem  Busen  zog.  Obwohl  der  Mond  selbst  die 
furchtsame  und  keusche  Göttin  (oder  Eunuch)  ist;  ist  er  doch,  als 
mgengebeud,  die  faecundatrix  und  berühmt  als  über  die  Ge- 
burten wachend  und  sie  beschützend;  deshalb  hatten  die  Wehen 
einen  glücklichen  Ausgang;  wenn  der  Mond-Hase  oder  Lucina 
Beistand  leistete;  deshalb  auch  wurden  in  Indien  Ehen  nur  an 
den  vierzehn  Tagen  geschlossen,  während  deren  der  Mond  zu- 
nahm. Der  mythische  Hase  und  der  Mond  werden  beständig 
identificirt.  Aus  diesem  Grunde  giebt  beiPausanias  die  Mond- 
göttin den  Verbannten,  die  einen  geeigneten  Platz  zur  Gründung 
einer  Stadt  suchen,  den  Rath,  sie  in  einem  Myrtenhain  zu  bauen, 
in  welchen  sie  einen  Hasen  fliehen  sehen  würden.  Der  Mond  ist 
der  Wächter  des  Himmels,  d.  h.  er  schläft  mit  offnen  Augen;  das 
thut  auch  der  Hase,  wodurch  der  somnus  leporinus  sprich- 
wörtlich wurde.  Im  neunten  ehstnischen  Mährchen  heisst  es  von 
dem  Donnergott:  „gewöhnlich  schläft  er  wie  der  Hase  mit  offenen 
Augen'^  Indra,  der  den  Hasen  in  den  Mond  verwandelt,  ist 
schon  erwähnt  worden;  Indra  wird  in  der  Gestalt  des  sahasräksha 
oder  des  tausendHugigen  Gottes  ein  Eunuch;  die  tausend  Augen 
werden  eines,  der  milloculus  wird  ein  monoculus,  wenn  der 
Mond  am  Abendhimmel  glänzt;  daher  sprechen  wir  bald  von  den 
hundert  Augen  des  Argus,  bald  einfach  von  dem  Argusange,  dem 
Auge  Gottes. 

In  einem  slavischen  Mährchen  *  lacht  der  Hase  über  die 
Bärenjungen  und  spuckt  sie  an;  der  Bär  rennt  hinter  dem  Hasen 
her  und  wird  auf  der  Jagd  in  ein  dichtes  Gebüsch  gelockt,  wo 
er  gefangen  wird.  Da  der  Löwe  in  Russland  unbekannt  ist, 
wird  der  Bär  für  ihn  eingesetzt;  der  riissische  Hase  lockt  den 
Bären  in  die  Falle,  wie  der  indische  und  griechische  den  Löwen 
hineinfallen  lässt.  Dieser  Hase,  welcher  dem  Sonnenhelden  oder 
dem  Sonnenthier  des  Abends  ein  Leides  anthut,  ist  identisch  mit 
dem,  welcher  im  fünfzigsten  Mährchen  des  fünften  Buches  bei 
Afanassieff  und  in  der  russischen  Volkssage  dem  Hochzeits- 
wagen begegnet  und  für  die  Braut  und  den  Bräutigam  Unglück 
bedeutet.    Der  Mond -Hase,  die  keusche  Beschützerin  der  Ehen 

'  Augeführt  von  A  fan.   in   den   Bemerkungen  zu  dem  ersten  Bande 
der  russischen  Mährchen. 


k 


403 

und  Geburten,  die  Wohlthäterin  von  Jedermann,  darf  nicht  dem 
Wagen  begegnen;  stellt  sie  sich  der  Hochzeit  entgegen  (vielleicht 
am  Abend  und  im  Herbst)  oder  wird  der  Hase  von  dem  Wagen 
zertreten  oder  überholt  (wie  das  Sprichwort  sagt),  so  ist  das  ein 
übles  Vorzeichen,  nicht  allein  fttr  das  junge  Paar,  sondern  fttr 
Jedermann;  Sonnen-  sowohl  wie  Mondfinstemisse  wurden  im 
Volksmährchen  immer  als  unglttckbedeutend  betrachtet.  In  rus- 
sischen Volksmährchen  finden  wir  häufig  den  Hasen  unter  einem 
Baum,  oder  auf  einem  Felsen  in  der  Mitte  des  Sees  erwähnt,  wo 
eine  Ente  ist,  welche  ein  Ei  enthält;  dieses  Ei  (die  Sonnenscheibe) 
ist  an  einen  kostbaren  Stein  gebunden;  wenn  es  dem  jungen 
Helden  in  die  Hände  fällt,  stirbt  das  Ungeheuer  und  er  kann  die 
junge  Prinzessin  heirathen.  *  Das  siebenjährige  Mädchen,  welches 
^uf  einem  Hasen  reitet  und  so  durch  die  That  das  ihr  von  dem 
heirathslustigen  Tzaren  aufgegebene  Bäthsel  löst,  ist  eine  Spielart 
dieses  Mythus.  Mit  Hilfe  des  Mondes  kommen  die  Sonne  und 
die  Abend-Aurora  in  dem  Lande  des  Morgens  an,  finden  einander 
und  heirathen  sich ;  der  Mond  ist  die  Vermittlerin  der  mythischen 
Hochzeit;  der  Hase,  welcher  diese  Vermittlerio  darstellt,  darf  also 
ihnen  nicht  nur  nicht  sich  entgegenstellen,  sondern  muss  ihnen 
sogar  mit  Rath  und  That  helfen ;  am  Abend  trennt  der  Mond  die 
Sonne  von  der  Aurora;  am  Morgen  vereinigt  er  sie  vrteder. 


»  Vgl.  Afan.  I,  14.  II,  24.  V,  42. 


26^ 


404 


KAPITEL  IX. 
Die  Antilope,  der  Hirseh»  die  Hirschknli  nnd  die  Gazelle« 

Der  Hirsch  stellt  die  glänzenden  Gestalten  dar^  welche  im 
wolkigen  oder  nächtlichen  Walde  erscheinen;  das  sind  nnn  bald 
BÜti  und  Donnerkeile;  bald  die  Wolke  selbst;  welche  sich  der- 
selben entlädt;  bald  der  Mond  in  dem  Dnnkel  der  Nacht.  Der 
mjrthische  Hirsch  ist  fast  immer  entweder  ganz  glänzend  oder 
auch  gefleckt ;  wenn  er  schwarz  ist;  ist  er  von  diabolischer  Natnr 
und  stellt  den  ganzen  Nachthimmel  dar.  Bisweilen  ist  der  glän- 
zende Hirsch  eine  vom  Dämon  des  Waldes  zur  Vemicbtnng  des 
Helden  angenommene  Gestalt. 

Der  Kigveda  stellt  nns  die  Mamts  oder  Winde,  welche  in 
den  Wolken  blitzen  nnd  donnern;  als  von  Antilopen  gezogen  dar. 
Die  Mamts  ^;Sind  geboren  von  selbst  glänzend;  mit  Antilopen, 
mit  Lanzen ,  unter  Donnergepolter  nnd  Blitzeszucken".  *  ,;Sie 
haben  geschirrt  mit  einem  rothen  Joch  die  Antilopen.  ^  Die  jonge 
Schaar  der  Mamts  geht  von  selbst  und  hat  eine  Antilope  znm 
Pferde.'' 3  Die  Pferde  der  MamtS;  von  denen  wir  schon  wissen, 
dass  sie  Antilopen  sind;  heissen  geflügelt^  und  sollen  goldene 
VorderfÜsse  haben. ^  Die  Antilopen  der  Mamts  sind  glänzend.^ 
Doch  werden  die  Maruts  nicht  allein  von  Antilopen  gezogen;  sie 
tragen  auch  auf  den  Schultern  Antilopenfelle.  ^ 

Statt  jedoch  dem  Helden  zu  helfen;  verwickeln  ihn  die  Anti- 
lope,  die  Gazelle  nnd  der  Hirsch  gewöhnlich  in  Verlegenheiten 


*  Ye  prishatibhir  rishtibhiti  säkam  vä^ibhir  aD^ibhih  —  agäyanta 
svabhäoavah;  Bigv.  I,  37,  2. 

'  Upo  ratheshu  prishatir  ajugdhvam  prashtir  vahati  rohitab;   I,  39,  6. 
'  Sa  hi  svasrit  prishada^vo    yuvä  ganalji:  I,  87,  4. 

*  A  vidyunmadbhir  marutab  svarkäi  rathebhir  yätha  rishtimadbbir 
a^vaparnftib;  I,  88,  1. 

'  A9vair  hinmyapanibhi]^;  VIII,  7,  27. 

'  Qubbe  Bammi^lälji  prishatSr  ayuksbata;  III,  26,  4. 

^  Anseahu  etä^;  l^igv.  I,  166,  10.  —  Ueber  den  Gebrauch  von  ähn- 
lichen Fellen  zur  Kleidung  in  Indien  vgl.  die  lange  und  lehrreiche  Be- 
merkung von  Prof.  Max  Müller,  Rigveda-Sanhita  Translated  and 
Explained,  I,  221—223. 


405 

und  Gefahren.    Dieses  mythische  Thema  ist  in  zahlreichen  indi- 
schen Legenden  weiter  ansgeftlhrt. 

In  der  ersten  Scene  von  Eälid&sas  Qaknntalä  leitet  eine 
schwarzgefleckte  (krishnasära)  Gazelle  den  König  Dnshyanta  irre. 

Im  Mahäbhärata^  verfolgt  König  Partkshit  eine  Gazelle 
und  verwundet  sje  (wie  der  Gott  ^va  eines  Tages  die  Opfer- 
gazdle  verwundete) ;  er  folgt  darauf  ihrer  Spur,  verliert  sie  je- 
doch ans  den  Augen,  da  sie  den  Pfad  des  Himmels  in  ihrer  ur- 
sprünglichen (d.  b.  himmlischen)  Gestalt  eingeschlagen  hat.  In- 
dem der  König  sie , wiederzufinden  bemüht  ist,  zieht  er  sieh  den 
Tod  zu. 

In  demselben  Mahäbhärata^  stirbt  König  Pandn  in  dem 
Augenblick,  als  er  sich  mit  seinem  Weibe  Mädrt  vereinigt,  weil 
er  eines  Tages  auf  der  Jagd  eine  männliche  Gazelle  in  dem 
Augenblicke  durchbohrt  hatte,  als  sie  die  Vereinigung  mit  ihrem 
Weibchen  gemessen  wollte. 

Im  Vishnu-Puräna^  verliert  König  Bharata,  welcher 
seinen  Thron  verlassen,  um  sich  ganz  der  Busse  hinzugeben^  den 
Lohn  seines  ascetischen  Lebens,  indem  er  eine  leidenschaftliche 
Liebe  zu  einem  Reh  fasst. 

Im  Bämäyana^  wird  Martda,  der  von  einem  Dämon  be- 
sessen ist,  auf  Befehl  Bävanas,  des  Königs  der  Ungeheuer^  ein 
goldener  silbergefleckter  Hirsch,  der  vier  mit  Perlen  geschmückte 
Homer  und  eine  Zunge  so  roth  als  die  Sonne  hat,  und  verleitet 
Räma,  ihn  zu  verfolgen,  um  sein  silberfleckiges  Fell  zu  bekommen, 
auf  welchem  sich  niederzulegen  und  zu  ruhn,  Sita  den  Wunsch 
geäussert  hat.  So  gelingt  es  dem  Hirsch  (hier  ein  Aequivalent 
des  Hasen),  Käma  von  Sita  zu  trennen.  Er  stösst  dann  einen 
Klageruf  aus,  die  Stimme  Bämas  nachahmend,  um  dadurch  dessen 
Bruder  Lakshmana  zu  verleiten,  diesem  zu  Hilfe  zu  kommen  und 
Sita  allein  zu  lassen,  damit  Rävana  sie  dann  ungestraft  entführen 
könne.  Lakshmana  verlässt  sie  nur  unwillig,  weil  er  daraus, 
dass  der  Hirsch  wie  das  Sternbild  des  Hirschkopfes  (oder  Ga- 
zellenkopfes, Mrigagiras)  glänzt,  Verdacht  schöpft,  es  sei  eine 
Erscheinungsform  des  Marica,  der,  als  Hirsch,  schon  viele  andere 
Fürsten^  die  ihn  gejagt,   ins  Verderben  gestürzt  hat.    Der  Mond 


'  I,  1665. 

«  I,  3811  ff.  I,  4585  ff. 

»  II.  13  (übers,  von  Wilson). 

•  III,  40.  48.  49. 


406 

hat  im  Sanskrit  ausser  dem  Namen  Qa<;adhara  (der  den  Hasen 
trägt)  auch  den:  Myigadhara,  oder:  der  die  Gazelle  (resp.  den 
Hirsch)  trägt.  Der  Sonnenheld  Terliert  sich  im  Walde  Nacht,  als 
er  die  Gazelle  Mond  verfolgt.  Eine  dämonische  Gazelle  scheint 
sogar  im  Bigveda  aufzutreten,  wo  Indra  mit  einem  Ungeheuer 
Mriga  kämpft  und  es  tödtet.  In  der  deutschen  Sage  giebt  es 
zahlreiche  Legenden,  in  denen  der  Held,  der  den  Hirsch  jagt,  den 
Tod  erleidet  oder  in  die  Hölle  geschleppt  wird.  * 

Wie  der  Mond  ein  Hirsch  oder  eine  Gazelle  ist  und  nach 
der  Sonne  kommt,  so  wurde  bisweilen  auch  die  Vorstellung  ge- 
wonnen, dass  d^r  Sonnenheld  (resp.  Heldin)  in  einen  Hirsch 
(oder  eine  Hindin)  verwandelt  wurde. 

Im  Tuti-Name*  geht  ein  König  auf  die  Jagd,  tödtet  eine 
Antilope,  verlässt  seinen  Körper  und  begiebt  sich  in  den  der  An- 
tilope. Diese  mythische  Umkleidung  lässt  sich  doppelt  verstehen. 
Die  Abendsonne  spiegelt  ihre  Strahlen  im  Ocean  der  Nacht;  der 
Sonnenhirscb  sieht  seine  Hörner  in  der  Quelle  oder  dem  See  der 
Nacht  wiedergespiegelt  und  bewundert  &ie.  An  dieser  Quelle  sitzt 
eine  schöne  und  bezaubernde  Sirene,  der  Mond.  Diese  Quelle  ist 
die  Wohnung  des  Mondes ;  sie  verlockt  den  Heldenhirsch,  der  sich 
in  der  Quelle  bewundert,  und  vernichtet  ihn,  oder  aber  der  Hirsch 
zieht  den  Helden  zu  der  Quelle,  wo  er  ihn  den  Tod  erleiden 
lässt.*  Der  Hirsch  der  Fabel  wird,  nachdem  er  sich  in  der 
Quelle  bewundert,  von  den  Hunden  zerrissen,  welche  ihn  im 
Walde  einholen,  weil  seine  Homer  sich  in  den  Zweigen  verfangen ; 
die  Sonnenstrahlen  werden  von  den  Zweigen  des  nächtlichen 
Waldes  verhüllt.  Aktaeon,  der  in  einen  Hirsch  verwandelt  und 
von  den  Hunden  zerrissen  wird,  weil  er  Artemis  (den  Mond) 
nackend  im  Bade  gesehen  hat,  ist  eine  Spielart  derselben  Fabel. 
Bei  Stesichorus  (angeführt  von  Pausanias)  legt  Artemis  dem 
Aktaeon  ein  Hirschfell  um  und  hetzt  die  Hunde,  ihn  zu  verschlingen, 
damit  er  nicht  den  Mond  heirathen  könne.  Sonne  und  Mond 
sind  Bruder  und  Schwester;  der  Bruder  erleidet  den  Tod,  weil 
er  seine  Schwester  verführen  will.    Ein  litauisches  Lied  schildert 


■  Slmrock,  a.  a.  0.  p.  354. 

*  U,  p.  268. 

*  Oft  führt  der  Hirsch  nur  zu  einer  schönen  Frau  am  Brunnen ;  sie 
ist  aber  der  Unterwelt  verwandt  und  die  Verbindung  mit  ihr  an  die  Be- 
dingung geknüpft,  dass  die  ungleiche  Natur  des  Verbundenen  nicht  an 
den  Tag  gezogen  werde.  Simrock  a.  a.  0.  p.  356 ;  vgl.  ebenda  das  ganxe 
Kapitel  102:  Sonneneber  und  Sonnenhirscb. 


407 

den  Mond  Menas  (den  indischen  Manu)  als  den  untreuen  Gatten 
der  Sonne  (welche  weiblich  ist),  der  in  Aushrine  (die  vedische 
Usrä,  die  Morgen-Aurora)  verliebt  ist.  Der  Gott  Perkuns  tödtet 
den  Mond,  um  die  Sonne  zu  rächen.  In  einem  serbischen  Liede 
macht  der  Mond  seiner  Herrin  oder  Gemahlin,  der  Morgen-Aurora, 
Vorwtlrfe  über  ihre  Abwesenheit.  Die  Aurora  antwortet,  dass  sie 
anf  den  Höhen  von  Belgrad,  d.  h.  der  weissen  und  glänzenden 
Stadt,   im  Himmel,  auf  den  stolzen  Bergen  umhergewandert  ist. 

Der  König  des  Tu ti- Name,  der  die  Tracht  einer  Antilope 
annimmt,  scheint  eine  Spielart  des  Sonnenhelden  im  Augenblick 
des  Nahens  der  Nacht,  oder  des  Esels  in  der  Löwenhaut  zu  sein. 
Sofern  jedoch  der  indische  Mond  Mrigaräga,  König  der  wilden 
Thiere,  ebensogut  wie  der  Löwe  ist,  sofern  der  Mond  der  Sonne, 
ein  mriga  dem  andern,  ein  Löwe  dem  andern,  oder  ein  Hirsch 
dem  andern  folgt,  erscheint  der  Sonnenheld  oder  die  Sonnenheldin, 
wenn  sie  in  die  Nacht  eintreten,  in  der  Gestalt  eines  glänzenden 
Hirsches,  resp.  Hindin,  nicht  mehr  als  die  Sonne,  sondern  als  der 
Mond,  welcher,  obwohl  glänzend,  in  die  Höhle  eindringt,  mit  Dä- 
monen in  Beziehung  steht  und  selbst  dämonisch  ist. 

Artemis  (der  Mond)  wird  als  eine  jagende  Göttin  dargestellt, 
wie  sie  mit  der  Linken  eine  Antilope  zwischen  den  Hörnern  ver- 
wundet. Dieser  Göttin  wird  auch  das  Verdienst  zugeschrieben, 
die  Hirsche  ohne  Hilfe  von  Hunden  eingeholt  zu  haben,  vielleicht 
weil  sie  bisweilen  selbst  ein  Hund  ist,  indem  sie  den  Sonnenhirsch 
des  Abends  überrascht.  Die  vier  Hirsche  der  Artemis  hängen 
meines  Erachtens  mit  den  vier  Hirschen,  die  um  den  Baum  Ygg- 
drasill  wohnen,  in  der  Edda  zusammen.  Der  Hirsch  Eikthymer, 
der  die  Btätter  des  Baumes  Lerad  isst  und  dadurch  all  sein  Was- 
ser herausfiiessen  lässt,  scheint  andrerseits  auf  die  Sonne  zurttck- 
zugehen,  wie  sie  untertaucht  und  ihre  Strahlen  in  der  Wolke  ver- 
liert (auf  den  Sonnenhirsch  wird  auch   in   der  Edda  angespielt.) 

Artemis,  welche  eine  Hindin  an  Stelle  der  zu  opfernden 
Iphigenie  setzt,  scheint  auf  die  Mondhindin  als  an  die  Stelle  der 
Abend-Aurora  tretend  hinzuweisen.  Wir  erkennen  den  Mond  auch 
in  der  Hindin,  welche  nach  Aelian  und  Diodor,  Telephus,  den 
Sohn  des  Herakles  (Herakles  holt  bei  seiner  vierten  Arbeit  den 
Hirsch  mit  goldenen  Hörnern  ein)  nährte,  der  auf  Befehl  seines 
Grossvaters  im  Walde  ausgesetzt  worden  war ;  ebenso  wie  in  der, 
welche  nach  Justin  im  Walde  ihre  Milch  dem  Nefien  des  Königs 
der  Tartessier,  und  später  nach  den  Vitae  Sanctorum  dem 
verwundeten  Aegidius,  dem  Waldeinsiedler,  zu  trinken  gab.    Es 


408 

giebt  zahlreiche  mittelalterliche  Legenden,  welche  Reproductionen 
hievon  sind  und  von  dem  jungen  Helden  erzählen,  der  im  Walde 
verlassen  und  bald  von  einer  Ziege,  bald  von  einer  Hindin  ge- 
nährt wird,  derselben,  die  später  dem  königlichen  Vater  bei  der 
Wiederauffindung  seines  Sohnes,  oder  dem  prinzlichen  Gemahl 
zur  Entdeckung  der  verlassenen  Prinzessin,  seiner  Braut,  als 
Wegweiser  dient.  Wahrscheinlich  eine  derartige  Reminiscenz  an 
die  Nahrung  spendende  Hindin  des  Mythus  war  die  Ursache, 
dass,  wie  ich  bei  Du  Cange  *  lese,  silberne  Bilder  von  Hirschen 
an  alten  christlichen  Taufsteinen  angebracht  wurden. 

Unter  den  Bräuchen  der  ersten  Christen,  die  von  St  Augustin, 
St  Maximus  voi)  Turin  und  anderen  Kirchenvätern  verdammt 
werden,  war  der,  sich  am  ersten  Januar  als  Hindin  oder  als 
altes  Weib  zu  verkleiden.  Das  alte  Weib  und  die  Hindin  stellen 
hier  ganz  augenscheinlich  die  Hexe  oder  das  hässliche  Weib 
Winter  dar ;  und-  insofern  der  Winter,  wie  die  Nacht,  unter  dem 
Einfluss  des  Mondes  steht,  war  die  Verkleidung  als  Hindin  eine 
andere  Art ,  den  Mond  darzustellen.  Wenn  der  Mond  oder  die 
Sonne  scheint,  ist  die  Hindin  glänzend  und  gewöhnlich  günstig, 
ist  die  wilde  Ziege  wohlthätig  (die  wilde  Ziege,  die  Hirschkuh 
und  der  Hirsch  sind  in  den  Mythen  identisch;  dasselbe  Wort, 
mriga;  dient  in  Indien  zur  Bezeichnung  der  Sternbilder  der  Ga- 
zelle und  des  Steinbocks  oder  der  wilden  Ziege),  und  verjagt  die 
Wölfe  von  dem  schlafenden  Helden  im  Walde.  ^  Wenn  der  Him- 
mel dunkel  ist,  ist  die  Hindin  aus  einer  glänzenden  eine  schwarze 
geworden^  und  ist  als  solche  ein  höchst  unglückliches  Omen;  zu- 
weilen, in  der  Mitte  der  Nacht  oder  des  Winters,  verschwindet 
die  schöne  glänzende  Hindin,  resp.  Mond  oder  Sonne,  und  das 
schwarze  Ungeheuer  Nacht  oder  Winter  bleibt  allein  zurück.  In 
der  neunten  Erzählung  des  Pentamerone  verwandelt  sich  der 
Huorco  (rakshas  oder  Ungeheuer)  in  eine  schöne  Hindin,  um  den 
jungen  Canneloro  anzulocken,  der  sie  verfolgt,  in  der  Hoffnung, 
sie  zu  erjagen.  Doch  sie  zieht  ihn  in  die  Mitte  des  Waldes  (des 
Winters),  wo  sie  so  viel  Schnee  fallen  lässt,  „che  pareva  che  lo 
cielo  cadesse"  (die  weisse  Hindin,  in  welche  die  Hexe  das  schöne 
Mädchen  verwandelt,    in  dem   Mährchen  von  Madame  d'Aulnoy, 


*  „Cervi  .'irgentei  inter  baptisteriorum  ornamenta  iion  bemel  occur- 
runt,  quo  ad  baptismum,  quomodo  cervus  ad  fontes  aquarum,  summo  desi- 
derio  perveuiendum  esse  monstraretur/*    Du  Gange,  s.  v.  Cervus. 

•  Vgl.  Porchat,  Contes  Merveilleux,  XUI. 


409 

dtlrfte  dieselbe  Bedeutnog  haben);  darauf  wird  die  Hindin  wie 
ein  Ungeheuer,  um  den  Helden  zu  versclilingen.  Die  Periode 
welcher  der  Mond  verborgen  oder  im  Abnehmen  ist,  in  welc 
die  Nacht  dunkel  ist,  wurde  von  den  alten  Indem  als  eine  1 
glUckszeit  betrachtet,  während  die  Zeit  des  Vollmondes  oder  < 
nigstens  des  zanehmenden  Mondes  für  eine  günstige  galt.  Ae 
liehe  Vorstellungen  herrschen  in  verschiedenen  Gegenden  n 
hent  unter  dem  Landvolke.  In  einer  mteniBchen  Erzählu 
veröffentlicht  von  Movosielski,  bittet  der  Abendstem  (litanis 
vakerinne;  elarisch:  vecernitza,  die  Abend-Anrora)  seil 
Frennd  Lunns  (der  Mond  ist  im  Slavischeu  und  im  Sanil 
männlich),  ein  wenig  mit  dem  Anfgehu  zu  warten,  damit  sie 
sammen  aufgehn  können,  und  setzt  hinza:  „Wir  werden  gern« 
sehaftlicb  Himmel  nnd  Erde  erleaehten;  die  Thiere  werden 
den  Feldern  froh  sein  und  der  Wanderer  wird  ans  anf  seit 
Wege  segnen." 


KAPITEL  X. 
Der  Elephant. 

Die  ganze  mythische  Geschichte  dee  Elephanten  ist  auf  In- 
beBchränkt.  Die  Stärke  seines  Rüssels  und  seiner  Haner, 
ausserordentliche  Grösse,  die  Leichtigkeit,  mit  welcher  er 
ere  Lasten  trägt,  seine  grosse  Fruchtbarkeit,  alles  dies  trug 
iinei  mythischen  Bedeutung  bei  and  zu  seinem  Rufe  als  eines 
len  VerwQsters  des  himmlischen  dunkleo  oder  wolkigen  Wal- 
als  eines  Atlas,  eines  Weltenträgers ,  und  des  Rosses  des 
Dgottes. 

Der  Elephant  hat  sogar  im  vediechen  Himmel  eine  Stelle, 
Die  Martits,  von  Antilopen  gezogen,  werden  mit  wilden  Ele- 
ten  verglichen,  welche  Wälder  niedertreten;'  die  Homer 
Vntilopen,  die  Hauer  des  wilden  Ebers,  der  Rüssel  nnd  die 
;t  des  Elephanten  sind  gleichbedeitend,  und  werden  in  den 
enstrahlen,  in  Blitzen  and  Donnerkeileo  gesehn.  Der  Regen- 
Donnergott  Indra  wird  mit  einem  wilden  Elephanten  ver- 
en ,  der  seine  Krall  auslässt  *  —  mit  einem  wilden  Ele- 
ten,  der  in  der  Brunstzeit  sich  beständig  in  einer  fieberhaften 
Jgung  befindet. '  Der  Gott  Agni  wird  angerufen ,  hervorau- 
nen,  gleich  einem  furchtbaren  KOnig  auf  einem  Elephanten.* 
Der  Elephant  stellt  gewöhnlieh  die  Sonne  dar,  wie  sie  sieh 
T  Wolke  oder  der  Dnnkelheit  einschlieBst  oder  aus  ihr  heraus- 
nt,  Lichtstrahlen  oder  Blitzstrahlen  herrorschiessend  (die  man 
fttr  verursacht  hielt  durch  die  Reibung  an  der  Achse  des 
B  des  Sonnen  Wagens).  Die  Sonne  besucht  in  den  vier  Jahres- 
1  die  vier  Viertel  der  Erde,  Osten  und  Westen,  Süden  und 
en;  daher  vielleicht  die  indische  Vorstellung  von  vier  Ele- 
ten,  welche  die  vier  Ecken  der  Erde  tragen.*  Indra,  der 
ngott,  reitet  auf  einem  ungeheuren  Elephanten,  Airavata  oder 

Mrigä  ivs  haetiua^  khftdathä  Ttrai  yad  araoishu  taviehir  ayngdhvain ; 

.  i,  64,  7. 

Mrigo  na  basti  tavUMm  ush&nn^;  Rigv.  (V,  16,  14. 

Dana  mrigo  nn  rlranal)  punitrB  darathnm  dadho;  Kig<^.  VlII,  33,  8. 

Yahi  ra^evämavän  ibhena;  Rigi'.  iV,  4,  1. 

B&majr.  1,  42. 


411 

AiravaQa,  der  Wolke  oder  Dankelbeit  selbst,  mit  ihren  glänzenden 
Ernptionen ;  airavata  (nentr.)  nnd  airavatl  sind  ancb  Beneonungen 
des  Blitzes.     Der  Elephant  Airavaija  oder  Airavata  ist  einer  von 
den  ersten  SprOsslingen  des  Bimmels,  gezeugt  von  der  Erre{ 
des  bimmlischen  Oceans. 

Er  spielt  eine  berrorragende  Bolle  in  den  ESrnpfen  In 
gegen  die  Ungebeuer;  daher  trägt  Räva^a,  der  Ungeheo«k 
von  Laükä,  noch  die  Narben  der  Wanden,  die  er  von  dem 
phanten  Airavata  erhalten  bat,  in  dem  Kriege  zwischen 
Göttern  nnd  den  Dämonen, '  obvrobi  dieser  selbe  Havana  pr 
eines  Tages  Indra  Überwältigt  zn  haben,  welcher  anf  dem 
phanten  Airavana  ritt.* 

Doch  nicht  immer  bewahrte  der  mythische  Elephant  den 
rakter  eines  Thieres,  das  von  den  GSttem  geliebt  wird;  nach 
andere  Thiere  zn  besonderer  Gnnst  gelangt  waren,  zeigte  er 
znweilen  von  der  Seite  des  Ungeheners.  Die  Sonne  verbirgt 
in  der  Wolke,  in  dem  wolkigen  oder  näcbtlichea  Berge,  in 
Ocean  der  Nacht,  im  Herbst  oder  im  schneeigen  Winter.  D 
haben  wir  den  weissen  Elephanten  (Dhavala),  den  bOsart 
MOrder  weiser  Männer  (lishis,  der  Sonnenstrahlen);  der  Wind 
Vater  Hannmants,  in  Gestalt  eines  Affen,  zerreisst  ihn  mit  sc 
Klanen  nnd  reisst  ihm  die  Haaer  aus;  der  Elephant  fällt  ei 
Berge  gleich*  (der  Berg  von  Schnee,  oder  die  weisse  Wolke, 
sich  auf;  dieser  weisse  Elephant  und  der  weisse  Berg,  oder  '. 
ralagiri,  sind  identisch;  leicht  entstand  ein  Wortspiel  mit  n 
Elephant,  nnd  naga,  Berg  und  Baum ;  das  Wort  g  f  i  ö  g  i  n  ,  ei( 
lieh:  gehörnt,  bedeutet  Baum,  Berg  und  Elephant;  der  \ 
bricht  durch,  zerstreut  die  Wolke  und  treibt  die  Schiieelaw 
vorwärts^.  So  heisst  es,  dass  der  Afte  Sannädana  eines  T 
siegreich  ober  den  Elephnnteo  Airavata  war.*  (Der  nörd 
Pfad  des  Mondes  heisst  auch  airavatapatha.  > 

Wir  sahen  schon  den  Elephanten,  der  an  den  Ufern 
Mondsees  die  Hasen  mit  seinen  FUs-en  niedertritt  und  mit  sei 
Rüssel  das  Wasser  dieses  Sees  trübt.  Im  Rämäyana^  betrat 
es  Bharata  als  ein  unglückliches  Vorzeichen,  dass  er  vou  ei 


'  Bimijr.  Ill,  ae 

.  III,  47. 

•  V,  s. 

•VI,  8. 

'II,  7L 

412 

grossen  Elephanten  geträumt  hat;  der  in  sumpfiges  Land  gefallen 
ist«  Die  Sonne  taucht  in  den  Ocean  der  Nacht  und  der  Herbst- 
regengtlsse. 

Der  Elephant  bei  oder  in  dem  Wasser  ist  mythisch  gleich- 
bedeutend mit  der  Schildkröte;  die  an  den  Ufern  des  Sees  und 
des  Meeres  oder  in  der  Tiefe  des  Meeres  wohnt.  In  der  indischen 
Kosmc^onie  ist  es  bald  der  Elephant  und  bald  die  Schildkröte, 
welche  die  Welt  trägt.  Aus  diesem  Grunde  herrscht  eifersüchtiger 
Wettstreit  zwischen  diesen  beiden  mythischen  Thieren. 

Deshalb  wird  der  Adler,  der  König  der  Vögel,  oder  der 
Vogel  Garuda,  der  Sonnenvogel,  dargestellt  als  ein  tödtlicher 
Feind  bald  der  Sehlange,  bald  des  Elephanten  (näga  bedeutet 
ebenso  das  eine  wie  das  andere;  Airavata  ist  auch  der  Name 
eines  Schlangenungeheueis)  und  bald  der  Schildkröte.  Im  Rä- 
mäyana^  trägt  der  Vogel  Garuda  einen  Elephanten  und  eine 
Schildkröte  in  die  Lüfte  (die  entsprechenden  westlichen  Fabeln 
sind  augenscheinlich  indischen  Ursprungs),  um  sie  zu  verzehren. 
Dieselbe  Erzählung  wird  im  Mahäbhärata*  entwickelt,  wo 
zwei  Brttder  mit  einander  tlber  die  Theilung  ihrer  Güter  streiten; 
jeder  verflucht  den  andern,  und  so  wird  der  eine  ein  colossaler 
Elephant,  der  andere  eine  colossale  Schildkröte;  sie  setzen  als 
solche  ihren  Kampf  in  einem  See  erbittert  fort,  bis  der  gigantische 
Vogel  Garuda  (die  neue  Sonne)  beide  packt  und  auf  die  Spitze 
eines  Berges  trägt. 

In  der  fünfzehnten  Erzählung  des  ersten  Buches  des  Pane  a - 
t antra  finden  wir  Vögel  als  Feinde  des  Elephanten  dargestellt, 
wegen  der  Verwüstungen,  die  er  anrichtet;  der  Vogel,  die  Fliege 
und  der  Frosch  stürzen  den  Elephanten  ins  Verderben;  die  Fliege 
setzt  sich  in  eines  von  seinen  Ohren;  der  Vogel  hackt  ihm  die 
Augen  aus  und  blendet  ihn;  der  Frosch  quakt  am  Ufer  eines 
tiefen  Tümpels;  der  Elephant,  von  Durst  getrieben,  kommt  an 
denselben  und  ertrinkt. 

Der  vedische  Elephant  hat  eine  göttliche  Natur,  da  er  mit 
dem  regengebenden  Indra  zusammenhängt;  als  jedoch  Indra  fiel, 
um  Brahman,  Vishnu  und  Qiva  den  Platz  zu  räumen,  verfiel  auch 
sein  Elephant  dem  Schicksal,  eine  Beute  des  Vogels  Vishnus,  des 
Vogels  Garuda  zu  werden.  In  der  obenangeführten  Fabel  des 
Pancatantra  zieht  sich  der  Elephant  die  Rache  des  Sperlings 


»  III,  39. 
^  I,  1863  f. 


413 

zu,  weil  er  einen  Banm  entwarzelt  hat,  auf  dem  sich  das  iv<»>t 
des  Speriings  mit  seinen  Eiem  befand,  welche  letztere  natf 
zerbrechen.  Die  Legende  des  Hahäbbärata  von  dem  '' 
Gamda,  der  den  .Elephanten  in  die  Laft  trfigt,  bietet  mehri 
dere  analoge  nnd  interessante  Einzelheiten.  Der  Vogel  Gi 
fliegt  mit  dem  Elephanten  und  der  Schildkröte  davon;  aaf 
Wege  läsBt  er  sich,  ennUdet,  anf  dem  nngehenren  Ast  eines 
mes  nieder;  die  Last  ist  zn  schwer  nnd  der  Ast  bricht.  Ad 
sem  Aste  bangen,  mit  den  EOpfen  nach  unten,  zur  Strafe  i: 
Zwerg-Eremiten,  ans  den  Haaren  Brahmans  geburen;  der  ^ 
Oarnda  nimmt  den  ganzen  Ast,  sammt  den  kleinen  Eremit 
den  Schnabel  and  trägt  sie  hinanf  in  die  Lttfte,  bis  es  ihne: 
lingt,  zn  entkommen.  Diese  Zwerg-Einsiedler  auf  dem  Zi 
(welche  uns  an  die  Ameisen  erinnern)  hatten  eines  Tages  i 
geflucht,  Ka^apa  Pr^äpati  will  ein  Opfer  bringen,  nm 
Sohn  zo  erhalten,  und  befiehlt  den  GOttem,  ihn  mit  Holz  zn 
sorgen.  Indra,  gleich  den  vier  Elephanten,  welche  die 
tragen,  nimmt  auf  seine  Schaltern  einen  gaoEon  Beig  Holz, 
dieser  Last  beladen,  trifft  er  anf  dem  Wege  die-Zwerg-Einsi* 
die  ein  Blatt  in  einem  Karren  ziehen,  und  in  Gefahr  sine 
einem  Tümpel,  von  der  GrDsse  der  Klane  einer  Ruh  zn  ertri 
Statt  ihnen  za  Hilfe  zu  kommen,  laoht  Indra  and  geht  t( 
die  Zwei^-Eiosiedler,  darüber  empört,  bitten  am  die  Geburt 
Denen  Indra;  deshalb  wurde  der  Indra  der  Vögel  geboren, 
Vogel  Gamda,  das  Boss  Vtshnns,  welches  natürlicberweisi 
dem  Rosse  Indras,  dem  Elephanten,  im  Kampfe  liegt. 


T-w 


414 


KAPITEL  XI. 
Der  Affe  nnd  der  Bftr« 

Ich  stelle  hier  unter  einem  Rabmm  zwei  Thiere  von  sehr 
verschiedener  Natur  und  Bace  zusammen^  die  jedoch  in  Folge 
einiger  derb  ins  Auge  fallenden  Aehnlichkeiten^  zu  denen  wohl  noch 
Zweideutigkeiten  und  Wortspiele  kamen  ^  im  indischen  Mythus 
mit  einander  eng  verschwistert  sind.  Ich  spreche  speciell  vom 
indischen  Mythus,  weil  der  Aflfe,  der  in  Indien  so  gewöhnlich  ist, 
vielen  der  indogermanischen  Nationen  in  ihren  zerstreut  liegenden 
Wohnsitzen  lange  Zeit  unbekannt  war^  so  dass,  wenn  sie  vielleicht 
eine  dunkle  Erinnerung  an  ihn  aus  dem  Theile  Asiens,  wo  die 
arische  Mythologie  ihren  Ursprung  hat,  bewahrt  hatten,  sie  ihn 
doch  bald  vergassen,  als  sie  das  Thier  selbst,  das  die  ursprüng- 
liche mythische  Gestalt  in  der  Vorstellung  geweckt  hatte,  nicht 
mehr  vor  Augen  hatten.  Da  sie  jedoch  zähe  an  der  Substanz 
des  Mythus  festhielten,  so  setzten  sie  nach  und  nach  an  die  Stelle 
des  ursprünglichen  mythischen  Thieres,  Affe  geheissen,  im  Süden 
den  Esel,  im  Norden  oft  den  Bären.  Sogar  in  Indien  finden  wir 
bereits  Affen  und  Bären  mit  einander  verbunden.  Eine  röthliche 
Farbe  des  Fells,  Mangel  an  Symmetrie  und  Plumpheit  in  den 
Formen,  Stärke  im  Umarmen  mit  den  Vorderpfoten,  die  Fähig- 
keit zu  klettern,  der  kurze  Schwanz,  Sinnlichkeit,  Anlage  zu  Mu- 
sik und  Tanz  —  alles  das  sind  charakteristische  Eigensohalteu, 
die  sowohl  bei  Bären  als  bei  Affen  angetroffen  werden  und  bei 
ihnen  mehr  oder  weniger  hervortreten. 

Im  Kämäyana  heisst  der  weise  Gämbavant,  der  Odysseus 
des  Zuges  gegen  Laüka,  bald  König  der  Bären  (rikshapär- 
thiva), ^  bald  grosser  Affe  (mahäkapi). ^ 

Das  Wort  hari  bedeutet  schön,  golden,  röthlich,  Sonne  und 
Affe;  das  Wort  kapi  (wahrscheinlich:  der  Veränderliche)  be- 
deutet Affe  und  Sonne.  Im  Sanskrit  heisst  der  vidyut  oder 
Donnerkeil,    der  röthliche  Donnerkeil,   auch   kapilä,   von   der 


»  Rftmäy.  IV,  63. 
«  V,  55. 


■ 
4 


415 

Farbe  des  Affen.  Ar^una^  der  Sohn  Indras,  bat  zum  Abzeichen  die 
Sonne  oder  einen  Affen;  daher  sein  Name  Kapidbvaga. 

Prof.  Kuhn  nimmt  auch  an,  dass  das  Wort  riksha,  Bär 
und  Stern,  von  der  Wurzel  arc,  in  der  Bedeutung  scheinen, 
glänzen,  abzuleiten  ist  (arka  ist  die  Sonne),  wegen  der  rötb- 
lieben  Farbe  des  Bärenfells.^  Doch  lässt  sich  riksha  (wie 
ursus  und  apcvpg)  auch  von  rakshas,  das  Ungeheuer,  ableiten 
(vielleicht  als  ein  Zurückhalter,  ein  constrictor,  arctor),  so  dass 
gerade  diese  Benennung  den  Uebergangspunkt  von  der  Vor- 
stellung des  göttlichen  Bären  zu  der  des  Bären-Ungeheuers  liefert. 

Im  Bigveda  werden  die  Maruts  als  die  mächtigsten  Helfer 
Indras  geschildert;  doch  schon  ^ein  Hymnus  zeigt  sie  in  dem 
Lichte  von  Nebenbuhlern  Indras.  Der  Gott  Vishnu  ist  im  Kig- 
veda  gewöhnlich  eine  dem  Indra  sympathische  Gestalt;  nur  in 
einigen  Hymnen  erscheint  er  bereits  als  sein  Antagonist.  Im 
vorigen  Kapitel  sprachen  wir  von  dem  visbnuitischen  Vogel, 
voiv  dem  Winde,  dem  Vater  Hanumants,  und  einem  Affen,  als 
Feinden  des  Elephanten  Indras.  In  der  Sage  des  indischen  Epos 
hat  Vishnu,  in  Räma  personificirt,  die  Affen  zu  Verbündeten.  Die 
am  meisten  glänzende  und  blitzende  Erscheinungsform  des  Gottes 
ist  sehr  verschieden  von  seinen  geheimen  und  mysteriösen  Gestal- 
tungen. VisbQU,  die  Sonne,  die  Sonnenstrahlen,  der  Mond  und 
die  Winde,  die  blitzen,  sind  ein  Heer  von  goldenen  Affen,  welches 
gegen  das  Ungeheuer  kämpfen  soll.  Aus  demselben  Grunde  bat 
der  Affe  im  Gegensatz  dazu  im  Bigveda  eine  Ungeheuergestalt; 
was  diabolisch  war,  wird  im  Laufe  der  Zeit  göttlich  und  —  vice 
versa.  Im  sechsundachtzigsten  Hymnus  des  zehnten  Baches  des 
liigveda  kommt  Vishnu,  in  Kapi  (Affe)  oder  Vrishäkapi  (Affe, 
der  ausspritzt,   regengebender  Affe)  personificirt,  die  von  Indra 


'  Für  den  Zusammenhang  zwischen  den  sieben  jikshas  (rishajas,  wei- 
sen Männern,  Sternen  oder  Bären)  der  Inder  und  den  septemtriones,  den 
sieben  Sternen  der  Bärin  (AretoSf  Arkturus)  und  den  arktischen  Gegenden 
vgl.  die  interessante  Abhandlung  von  Prof.  Max  Müller  in  der  zweiten 
Serie  seiner  „Vorlesungen^'.  —  Die  sieben  rishis  «ind  identisch  mit  den 
sieben  Angirasen,  den  sieben  haris,  und  den  Maruts,  deren  sieben  sind 
(multiplicirt  mit  drei,  d.  h.  einundzwanzig).  In  den  Maruts,  wie  in  den 
haris  haben  wir  die  Affen.  Sogar  das  Weib  des  Königs  der  Ungeheuer 
heisst  Tärä  oder,  eigentlich,  der  Stern.  So  scheint  zwischen  dem  Affen 
und  dem  Stern  dasselbe  Verhältniss  zu  bestehn,  wie  zwischen  dem  Bären 
und  dem  Stern,  ein  neues  Argument  für  die  Identität  dieser  beiden  Thiere 
in  der  Mythologie. 


416 

t 

geliebten  Opfergaben  zu  vernichten.  Indra^  der  Allen  überlegen  ist, 
liaut  ihm  den  Kopf  ab^  da  er  gegen  einen  Uebelthäter  keine 
Nachsicht  üben  will.  ^  Dieser  Aflfe  ist  wahrscheinlich  die  regen- 
gebende, röthliche,  von  dem  Winde  getragene  Gewitterwolke; 
welche  Indra  mit  seinem  Donnerkeil  durchbohrt,  obwohl  diese 
selben  von  den  Winden  oder  Maruts  getragenen  Blitz-  und  Don- 
nerwolken (d.  L  die  Maruts  selbst)  im  Kigveda. gewöhnlich  als 
der  höchsten  Gottheit  beistehend  gedacht  werden*  Als  zwischen 
Vishnu  und  Indra  und  zwischen  den  Maruts  und  Indra  eine 
Differenz  entstanden  war,  nahmen  die  Maruts  für  Visbuu  Partei 
und  wurden  Aflen  wie  Vishnu,  —  das  Wort  hari,  ein  Lieblings- 
name Vish^us  (bald  Mond,  ba\d  Sonne),  bedeutet  nämlich  auch 
„Affe'^  Vishnu  umgiebt  sich  mit  schönen  röthlichen  oder  goldenen 
Affen,  oder  mit  haris  (Sonnenstrahlen  oder  blitzenden  und  don- 
nernden Wolken),  ebenso  wie  der  vedische  Indra  von  haris  ge- 
zogen wurde.  Kama  kapiratha  ist  einfach  eine  Inkarnation 
Visnus,  welcher  sich  die  Rechte  indras  mit  Gewalt  anmalst ;  dieser 
Letztere  hatte  nämlich,  wie  wir  sahen,  Vishnu  seine  haris  geliehen, 
damit  jener  seine  drei  berühmten  Schritte  machen  könne.  Offen- 
bar vergass  Vishnu,  die  Schönhaarigen  seinem  F]*eunde  wieder 
zuzustellen;  datier  geht  von  diesem  Augenblicke  an  die  Stärke 
Indras  fast  ganz  auf  Vishnu  über,  der  in  Gestalt  Rämas,  von  den 
haris  oder  rothhaarigen,  d.  h.  von  den  Affen  unterstützt,  durch 
das  Dekhan  (eine  von  Affen  dicht  bevölkerte  Gegend)  hindurch- 
eilt, zu  der  Eroberung  der  Insel  Laükä.  Das  Mahäbhärata 
belehrt  uns,  dass  Affen  und  Pferde  Hari  zur  Mutter  hatten.  ^  Die 
glänzenden  Maruts  bilden  die  Armee  Indras,  die  rothhaarigen 
Affen  und  Bären  die  Rämas,  und  die  mythische  und  sonnenhafte 
Natur  der  Affen  und  Bären  des  Ramäyana  offenbart  sich  mehre 
Male.  Der  König  der  Affen  ist  ein  Sonnengott.  Der  alte  König 
war  Bälin  benannt  und  war  der  Sohn  Indras  (Qakrasünu).  Sein 
junger  Bruder  Sugriva,  der  nach  Belieben  seine  Gestalt  verän- 
dert (kämarüpa),  der  sich  mit  Hilfe  Vishnu-Rämas  gewaltsam 
seinen  Thron  aneignete,  soll  ein  wirkliches  Kind  der  Sonne  sein 
(bhäskarasyaurasah  putrahsüryanandanah).  ^  Hier  ist  es  ganz 
klar,  dass  der  vedische  Antagonismus  zwischen  Indra  und  Vishi^u 


'  Priyft  tashtäDi  me  kapir  yyaktä  vy  adüdushat  ^iro  nv  asya  rftvisham 
na  sugam  dushkrite  bhuvam  vi^vasmftd  indra  uttarah;  Str.  Ö. 
«  I,  2628. 
»  UI,  75. 


417 

in  einer  thieriscben;  nnd  zwar  ganz  und  gar  äffischen  Gestalt  re* 
producirt  ist  Der  alte  Zeos  mnss  dem  nenen,  der  Mond  der 
Sonne,  die  Abendsonne  der  Morgensonne ;  die  Wintersonne  der 
Früblingssonne  Platz  machen ;  die  junge  Sonne  verräth  und  über- 
rumpelt die  alte.  Wir  sahen  schon,  dass  die  Erzählung  von  den 
beiden  Brttdem,  Bälin  und  Sugrtva,  eine  von  den  Formen 
ist;  welche  der  Mythus  von  den  Afvins  annimmt.  Räma, 
welcher  verrätherischer  Weise  den  alten  König  der  Aflfen,  Bälin, 
tödtet,  ist  das  Aequivalent  Vishnus,  der  seinen  Vorgänger,  Indra, 
vom  Throne  stürzt;  und  Sugriva,  der  neue  König  der  Afifen, 
gleicht  Indra,  als  er  die  geraubte  Sita  zu  finden  verspricht,  ebenso 
wie  Vishnu  in  einer  seiner  Inkarnationen  die  verlorenen  Vedas 
wiederfindet.  Auch  noch  andere  Andeutungen  von  einem  Gegen- 
satz zwischen  Indra  und  den  Afien,  welche  Räma  beistehen,  giebt 
esimRäm&yana,*  Dem  grossen  Afien  Hanumant,  von  goldrother 
Farbe  (hemapin^ala),  hat  Indra  mit  seinem  Donnerkeil  den  Kinn- 
backen zerschmettert,  und  ihn  auf  einen  Berg  fallen  lassen,  weil 
er,  noch  ein  Kind,  sich  von  einem  Berge  in  die  Luft  warf,  um 
den  Lauf  der  Sonne  aufzuhalten ,  deren  Strahlen  ihm  nichts  an- 
haben konnten.  ^ 

Die  ganze  Sage  von  dem  Affen  Hanumant  stellt  die  Sonne 
dar,  welche  in  die  Wolke  der  Dunkelheit  eintritt  und  aus  ihr 
heraustritt  Sein  Vater  soll  bald  der  Wind,  bald  der  Elephant 
der  Affen «  (kapikun^ara),  bald  ke^arin ,  die  langhaarige  Sonne, 
die  Sonne  mit  einer  Mähne,  die  Löwen-Sonne  sein  (daher  sein 
Name  keQari^ah  putra).  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  scheint 
Hanumant  der  Bruder  Sugrivas  zu  sein,  welcher  ebenfalls  der 
Sprössling  der  Sonne  ist,  der  starke  Bruder  in  der  Sage  von  den 
beiden  Brüdern  verbunden  mit  der  von  den  drei ;  d.  h.  wir  dürften 
bald  die  Brüder  Bälin,  Hanumant  und  Sugriva  haben,  bald  die: 
Räma,  Hanumant  und  Lakshmana.  Der  starke  Bruder  steht 
zwischen  den  beiden  anderen;  die  Sonne  in  der  Wolke,  in  der 
Dunkelheit  oder  im  Winter  ist  zwischen  die  Abend-  und  die 
MorgensouQc  gestellt,  oder  zwischen  die  sterbende  llerbstsonne 
und  die  junge  Früblingssonne. 

Hanumant  fiiegt;  die  Kraft  dazu  liegt  in  seinen  Seiten  und 
seinen  Hüften,  die  ihm  als  Flügel  dienen.    Hanumant  steigt  auf 


'  IV,  5. 

*  V,  2.  VII,  89. 

»V,  3. 

Qubeniatls,  di«  Thiere.  ^ 


r 

r 


n- 


418 

den  Gipfel  des  Berges  Mahendra,  um  sich  in  die  Luft  zu  stürzen ; 
indem  er  den  Berg  drückt  (ein  wahrhafter  vrishäkapi),  macht  er, 
dass  das  Wasser  aus  ihm  hervorsprudelt;  als  er  sich  bewegt, 
werden  die  Bäume  des  Berg- Waldes  mit  ihren-  Wurzeln  herausge- 
rissen und  folgen  ihm  in  seinem  Laufe ,  wie  er  die  Luft  durch- 
schneidet (hier  treffen  wir  noch  einmal  den  mythischen  Wald,  den 
mythischen  Baum,  der  sich  von  selbst  bewegt  gleich  einer  Wolke). 
Der  Wind  in  seinen  Schulterhöhlen  brüllt  wie  eine  Wolke  (gimüta 
iva  gargati)  und  der  Schatten ,  den  er  in  der  Luft  wirft ,  ähnelt 
einer  Wolkenlinie  (megharägiva  väyuputränugämini) ;  ^  er  zieht 
die  Wolken  nach  sich.  ^  So  werden  alle  epischen  Affen  des 
Rämäyana  im  zwanzigsten  Gesänge  des  ersten  Buches  mit 
Ausdrücken  geschildert,  welche  die  höchste  Aehnlichkeit  mit  denen 
haben,  die  in  den  vedischen  Hymnen  für  die  Maruts  verwandt 
sind;  schnell  wie  der  ungestüme  Wind  (väyuvegasamäs),  ihre 
Gestalt  nach  Belieben  ändernd  (kämarüpinas),  Geräusch  gleich 
Wolken  machend,  wie  der  Donner  tönend,  kämpfend,  Berggipfel 
schleudernd,  groitoe  entwurzelte  Bäume  schüttelnd,  mit  Klauen  und 
Zähnen  bewaffnet,  die  Berge  schüttelnd.  Bäume  entwurzelnd,  die 
tiefen  Wasser  aufrührend,  die  Erde  mit  ihren  Armen  zermalmend, 
sich  in  die  Lüfte  erhebend,  die  Wolken  zum  Fallen  bringend. 
So  kommt  Bälin,  der  König  der  Affen,  aus  der  Höhle,  wie  die 
Sonne  aus  der  Wolke  (toyadädiva  bhäskara).  ^ 

In  derselben  Weise  wie  wir  die  haris  oder  Rosse  Indras,  die 
gandharvas  und  den  mythischen  Esel  in  Verbindung  mit  den 
heilkräftigen  Wassern,  mit  den  Heilkräutern  und  den  Wohlge- 
rüchen  sahen,   sind  es   im  Rämäyana  die  Affen,   welche   die 


'  Uämfty.  V,  4.    V,  5. 

*  V,  55. 

'  Kämäy.  JV,  12.  V,  6.  —  Der  Afie  auf  dem  Meere  ist  aucb  in  einer 
grircbiBchen  Fabel  zu  finden,  nur  ist  der  Gegenstand  etwas  verschieden. 
Kin  Afte,  der  während  eines  Sturmes  von  einem  Sehift  gespült  worden  ist 
und  unter  dem  Vorgebirge  von  Attica  auf  den  stürmischen  Wogen  umhcr- 
gescbleudert  wird,  wird  von  einem  Delphin  für  einen  Menschen  gehalten, 
und,  da  dieses  Seetbier  eine  grosse  Zuneigung  für  das  Geschlecht  hat,  zu 
dem  der  A£fe  zu  gehören  präsumirt,  von  demselben  auf  dem  Kücken  ans 
Ufer  getragen.  Bevor  er  jedoch  festen  Grund  fassen  kann,  fragt  ihn  der 
Delphin,  ob  er  ein  Athener  ist;  der  Afte  antwortet,  er  sei  von  vornehmer 
Abstammung;  der  Delphin  fragt  ihn  weiter,  ob  er  den  Piraeus  kenne;  der 
Affe  hält  das  für  den  Namen  eines  Mannes  und  sagt,  das  sei  einer  seiner 
besten  Freunde;  der  Delphin  bemerkt  seine  Täuschung  und  lässt,  empört 
darüber,  den  Affen  wieder  ins  Meer  fallen. 


419 

Kräuter  und  heilkräftigen  Wurzeln  des  Berges,  d.  h.  des  Wolken- 
Berges  oder  des  Berges  der  Wohlgerüche  tragen. 

Die  Wolke ,  in  welcher  die  ^onne  Hanumant  durch  die  Luft 
eilt ,  wirft  einen  Schatten  auf  das  Meer ;   ein  Meerungeheuer  be- 
merkt denselben  und  zieht  durch  ihn  Hanumant  an  sich.    (Wir 
sahen  schon  den  furchtlosen  Helden,   der   von   seinem    eigenen 
Schatten  irre  geleitet  wird.)    Hanumant  ist  kämarüpa,  wie  Sug- 
rtva   und  wie  alle   anderen  Affen,   seine  Gesellen.    Als  er  sieht, 
dass    das   Ungeheuer   ihn    verschlucken    will,    dehnt    er    seine 
Oestalt  ganz  masslos  aus;  das   Ungethttm  nimmt  dieselben  gi- 
gantischen Proportionen  an;  als  es  das  thut,  wird  Hanumant  (er 
wiederholt   das  Wunder   seines  Typus  Hari   oder    des  Zwerges 
Visbnu)   so   klein  wie  ein  Daumen,   macht  sich  in  den  grossen 
Leib  des  Ungeheuers   hinein  und  kommt   auf  der  anderen  Seite 
wieder  heraus.     Hanumant  setzt  seinen  Flug  über   den  Ocean 
fort,  um  auf  die  Insel  LafLkä  zu  gelangen.    Der  Ocean  hat  Mitleid 
mit  ihm  und  erhebt,  ihm  zu  helfen,  den  Berg  Hira^yanabha,  d.  h. 
den  mit  dem  goldenen  Nabel,  den  Berg,  aus  welchem  die  Sonne 
hervorkommt ;  wirklich  sagt  Hanumant,  ^  dass   er  den  Berg  mit 
seinem  Schwänze  traf  und  ihm  die  Spitze  abbrach,  welche  gleich 
der  Sonne  glänzte,  um  sich  darauf  auszuruhen.    Hanumant  nimmt 
dann  seinen  Flug  wieder  auf  und  findet  ein  neues  Hindemiss  in 
dem  Meerungeheuer  Sinhikä  (der  Mutter  Rähu's,  des  Dämons,  der 
Sonne  und  Mond  packt  und  dadurch  die  Verfinsterung  derselben 
bewirkt).     Sie  zieht  ebenfalls  den  Schatten  Hanumants  an  sich; 
dieser  nimmt  wieder  zu  der  früheren  Kriegslist   seine  Zuflucht, 
wird  klein  und  macht  sich  in  ihren  Leib  hinein;  doch  kaum  ist 
er  darin,  so  wächst  er  zum  riesigen  Klumpen  an,  schwillt  heraus, 
zerreisst  sie,  tödtet  sie  und  macht  sich  davon,  ein  Streich,  der 
ihm  die  Huldigung  der  Vögel  einbringt,   welche  fernerhin  unge- 
straft den  Ocean  werden   kreuzen  können.^     Als  Hanumant  in 
Laükä  anlangt,  wird  er,  um  Sita  bei  dem  Mondschein  soeben  und 
finden  zu  können,  so  klein  wie  eine  Katze  (vrishadari<;aprapäna) ; 
als  er  sie  findet  und  ihr  anbietet,  sie  aus  Laükä  zu  entführen, 
kann  sie  nicht  glauben,  dass  ein  so  kleines  Thier  sollte  im  Stande 
sein,   ein   so   grosses  Unternehmen   zu  voUfttbreu;  darauf  macht 
sich  Hanumant  so  gross  wie  eine  schwarze  Wolke,  wie  ein  hoher 
Berg;  er  bricht  den  ganzen  Wald  von  A^kas  nieder,  steigt  auf 


»  V,  66. 

•  V,  8. 

27* 


420 

einen  Tempel,  der  auf  tausend  Säulen  steht,  klatscht  in  die  Hände 
und  erfüllt  ganzLaüka  mit  dem  Getöse;  er  reisst  aus  dem  Tempel 
eine  mit  Gold  geschmückte  Säule,  und  sie  um  sich  schwingend, 
weiht  er  die  Ungeheuer  einer  grossartigen  Metzelei.  ^  Der  my- 
thische Affe  und  der  mythische  Esel  gleictien  einander;  daher  die 
Analogie  zwischen  der  Sage  von  Dadhyanc  (angeführt  in  Ka- 
pitel U\  der  von  Hanumant  und  der  von  Simson.  Doch  bietet 
die  Erzählung  von  Hanumant  noch  eine  andere  merkwürdige 
Aehnlichkeit  mit  der  von  Simson.  Hanumant  wird  von  Indragit, 
dem  Sohne  Ravanas,  mit  Stricken  gebunden;  ^  er  könnte  sich  leicht 
befreien,  er  will  es  aber  nicht.  Um  ihn  zu  beschimpfen,  befiehlt 
Rävana  seinen  Schwanz  zu  verbrennen,  weil  der  Schwanz  der 
von  den  Affen  am  meisten  geschätzte  Theil  ist  (kapinäm  kila 
läÄgulam  ishtam,  woher  die  Fabel  von  dem  Affen,  der  sich  be- 
klagt, keinen  Schwanz  zu  haben).  Hanumants  Schwanz  wird 
mit  Fett  bestrichen  und  angezündet,  er  selbst  aber  darauf  in 
diesem  schimpflichen  Aufzuge  mit  Schmach  und  Hohn  durch  die 
Strassen  Lailkäs  geführt.  Da  jedoch  Sttä  die  Gnade  des  Gottes 
Agni  angerufen  hat,  verbrennt  das  Feuer  den  Schwanz  Hanu- 
mants nicht,  obwohl  es  denselben  umspielt,  und  Hanumant  ist 
dadurch  im  Stande,  sich  für  die  Misshandlung  zu  rächen ,  indem 
er  die  Hauptstadt  von  LafiLkä  in  Flammen  setzt  und  zu  Asche 
brennt.  ^  (Der  Schwanz  Hanumants,  der  die  Stadt  der  Ungeheuer 
in  Flammen  setzt,  hier  mit  Indra  identificirt,  ist  wahrscheinlich 
eine  Personification  der  Strahlen  der  Morgen-  oder  Frühlingssonne, 
welche  den  östlichen  Himmel  in  Flammen  setzt  und  den  Wohnsitz 
der  nächtlichen  oder  Winter-Ungeheuer  zerstört.)  Die  Thateu  der 
Maruts  im  Bigveda  und  die  des  Affen  Hanumant  imRämdya^a 
nehmen  solche  Dimensionen  an,  dass  sie  den  Ruf  sowohl  Indras 
wie  Rämas  verdunkeln ;  der  Erstere  würde  ohne  die  Maruts ,  der 
Letztere  ohne  Hanumant  unfähig  sein,  die  Ungeheuer  zu  über- 
winden. Sita  sieht  das  so  klärlich  ein,  dass  sie  am  Ende  des 
Gedichtes  Hanumant  ein  solches  Geschenk  macht,  dass  Räma 
recht   eifersüchtig  werden    könnte.      Hanumant  jedoch    ist   ein 


•  V,  37. 

"  V,  56. 

^  V,  50.  —  Im  Pandatanträ  V,  10  hcisst  es  dagegen,  dass  Aften 
die  Fähigkeit  besitzen,  die  Wanden  von  grindigen  oder  verbrannten  Pfer- 
den zu  heilen,  wie  die  Morgensonne  die  Dunkelheit  verjagt.  Nach  einer 
Variation  dieser  Erzählung  im  Tu ti- Name,  I.  p.  133,  kann  der  Biss 
eines  Affen  nur  durch  das  Blut  dieses  selben  Affen  geheilt  werden* 


421 

ehrenfester  und  getreuer  Ritter;  es  geoilgt  ihm;  die  Gerechtigkeit 
im  Dienste  seines  Herrn  geschützt  zu  haben;  und  er  will  keine 
Belohnung  für  die  schwierige  That,  die  er  verrichtet.  Uebrigens 
sagt  ein  indischer  Volkssprach;  dass  Affen  nicht  über  sich  selbst 
zn  weinen  pflegen ; '  sie  weinen  (rodanti)  am  Andere.  Dasselbe 
gilt  von  den  Radras,  den  Winden,  die  in  der  Wolke  weinen ;  sie 
klagen  nicht  um  sich  selbst;  ihre  Thränen  fallen  zu  Boden  in 
wohlthätigem  Regen,  welcher  unsere  Felder  befruchtet  und  die 
Hitze  unserer  Sommer  mässigt ;  nichtsdestoweniger  ftlhlen  sie  selbst 
nachher  als  Sonnenstrahlen  die  Wohlthat  des  Weinens,  d.  h.  des 
Regens.  Im  Rämäy ana  werden  Affen ,  die  in  der  Schlacht  fallen, 
durch  Regen  wieder  zum  Leben  erweckt;  wenn  die  Wolke  sich  in 
Regen  auflöst,  zeigen  sich  die  Schönhaarigen,  Goldenen,  die  haris,  die 
Sonnenstrahlen  oder  Affen  wieder  in  ihrer  ganzen  Frische  und 
Kraftfttlle.  In  Indien*  giebt  es  noch  heute  eine  Affenart  (semno- 
pitheus  entellus),  welche  als  heilig  verehrt  wird,  da  man  annimmt, 
sie  hätten  an  dem  Zuge  Rämas  theilgenommen  und  die  Insel 
La&kä  der  Frucht  der  mangifera  indica  beraubt.  Die  indische 
Volkssage,  eine  Variation  der  Episode  desRämäyana  von  dem 
Schwänze  Hanumants,  der  Laükä  verbrannte,  belehrt  uns,  dass 
ein  zum  Scheiterhaufen  verurtheilter  diebischer  Affe  das  Feuer 
löschte,  sich  aber  die  Hände  und  das  Gesicht  verbrannte,  welche 
seit  jener  Zeit  schwarz  blieben.  Wir  werden  eine  analoge  Sage 
in  dem  Kapitel  von  den  Fischen  finden. 

Wir  haben  bis  hierher  die  Affen-Wolke  gesehen,  aus  welcher 
die  Sonne  auftaucht  und  in  welche  sie  wieder  zurücksinkt.  Doch 
wir  haben  bereits  mehr  als  einmal  gesagt,  dass  die  Sonne  oft  die 
Gestalt  eines  Ungeheuers  annimmt,  wenn  sie  in  der  Wolke  oder 
der  Dunkelheit  eingeschlossen  ist.  So  erklären  wir  den  göttlichen 
Helden  Balaräma,  der  im  Vishnu  Puräna^  den  Dämon  Dvi- 
vida  vernichtet,  welcher  die  Gestalt  eines  Affen  angenommen 
hatte.  In  der  achtzehnten  Erzählung  des  ersten  Buches  des 
Pancatantra  schüttelt  ein  Affe,  während  der  Wind  bläst  und  der 
Regen  fällt,  einen  Baum,  auf  welchem  ein  Sperling  sein  Nest 
gebaut  hat,  so  dass  die  Eier  zerbrechen.  In  der  zehnten  Erzäh- 
lung des  fünften  Buches  lockt  der  König  der  Affen  vermittelst 
einer  Perlenkrone  einen  König  der  Menschen,  der  Affen  getödtet 


'  Agnstakala9iie  *pi  pritim  kurvsnti  väoaräh  ätmarthe  da  na  rodanti; 
Böhtlingk,  Indische  Sprüche,  107. 
•  V,  86. 


422 

hatte,    um   seine  Pferde  zu  heilen  (welche  von  der  Wolle  eines 
Widders  verbrannt  worden  waren,  den   der  Koch  brennend  aus 
der  Küche  gejagt  hatte),  zu  einer  von  einem  Ungeheuer  bewachten 
Quelle;   dieses  verschlingt  den  König  und  sein  Gefolge.     In  der 
eilften  Erzählung  desselben  Buches  ist  ein  Affe  auf  einem  Baume 
der  Freund  eines  der  beiden  Dämmerungs-U^igeheuer,  und  dieses 
Ungeheuer  lädt  ihn  ein,  den  Menschen  zu  verzehren;  der  Menscli 
jedoch  reagirt  und  beisst  ihn  tapfer  in  seinen  langen  Schwanz; 
da  glaubt  der  Affe,  dass  dieser  Mensch  stärker  sei  als  das  Unge- 
heuer, und  das  letztere  wiederum  hält  den  Menschen,  der  den 
Affen  mit  seinen  Zähnen  am  Schwänze  packt,  für  da«  Ungeheuer 
der  anderen  Dämmerung,   d   h.    der  Morgendämmerung.     Hier 
wird   der  Affe  mit  dem  Fuchs  zusammengeworfen,  welcher  als 
mythisches  Thier  ganz  speciell  das  Thier  der  Dämmerung  ist  und 
welchen  ebenfalls  sein  Schwanz  ins  VerdeAen  stürzt.    Der  Leser 
hat   schon  bemerkt,  wie  der  brandstiftende  Affenschwanz  Hanu- 
mants  den  Fuchsschwänzen  in   der  Simson-Sage  entspricht.    Die 
griechischen  und  lateinischen  Sprichwörter  betrachten  gemeiniglich 
den  Affen  als  ein  sehr  schlaues  Thier,  so  schlau,  dass  Hercules 
und   der  Affe   die  Vereinigung   von  Kraft  und   List   darstellen. 
Nach   Cardano   bedeutet   von    einem   Affen   träumen:    betrogen 
werden.    Nach  Lucian  war  es  ein  Vorzeichen  eines  unglücklichen 
Tages,  wenn  man  am  frühen  Morgen  einem  Affen  begegnete.    Die 
Spartaner  betrachteten  es  als  ein  höchst  sinistres  Omen,  dass  der 
Affe  des  Königs  der  Molosser  ihre  Urne  umstürzte,  als  sie  das 
Orakel  befragen  gingen.     Nach  Sueton   hielt  Nero,  als  er  sein 
Pferd  in  der  Gestalt  eines  Affen  fliehen  zu  sehen  glaubte,  das  für 
ein  Prognostikon  seines  Todes.    Der  Affe  wurde  demgemäss  in 
Hellas  und  in  Rom  gewöhnlich  als  ein  schlaues  und  dämonisches 
Thier  aufgefasst.     Andrerseits  lernt  der  Held  in  der  Wolke,  ira^ 
Dunkel  oder  in  der  Hölle  Weisheit;  und  gerade  wie  er  vordem 
nur  ein  armer  Narr  ist,  so  wird  auch  der  Affe  bisweilen  in  den 
alten  Fabeln  Südeuropas  aha  ein  einfältiges  Thier  geschildert    In 
Italien  haben  wir  ein  Sprichwort,  welches  sagt,  dass  jede  Aeffin 
ihre  Jungen   für  schön   hält;   dies  geht  auf  die  Fabel  von  der 
Aeffin  zurück,   welche  ihre  Jungen  für  die  schönsten  Thiere  auf 
der  Welt  bnlt,  weil  Jupiter,  als  er  sie  eines  Tages  herumspringen 
sah,  sich  e.eB  Lachens  nicht  enthalten  konnte. 

In  Indien  ist  die  Analogie  zwischen  dem  Affen  und  dem 
Esel  als  einem  dummen  Thiere  noch  häufiger  anzutreffen.  Im 
Pancatantra  haben  wir  die  Affen,  welche  sich  au  dem  Lichte  des 


423 

GltÜiwanns  wärmen  wollen;  ein  anderer  Affe  masst  sich  an, 
Arbeit  eines  Zimmermanns  Terbessem  zn  wollen;  er  ste 
Hände  in  den  Spalt  eines  Baamstammes,  zieht  nnbedacbl 
den  Keit,  der  den  Spalt  veranlaBate,  berans  nnd  mns 
dessen  sterben.  Im  Tati-Name*  finden  wir  eine  Vari 
Erzählnng  von  dem  E^el  und  der  Lyra,  nämlicb  die  Oi 
wie  der  hochgelehrte  Säz-Perdäz  das  Saiteninstmment  eri 
dem  er  daranf  achtet,  dass  die  getrockneten  Gedärme  eit 
vom  Winde  berührt,  angenehme  T(3ne  erschallen  las» 
Doonerwotke  ist  das  mythische  mnsikalische  Instrument 
cellence;  der  Wind  ist  es,  der  es  in  Bewegung  setzt,  de 
Tönen  bringt:  der  Held  in  der  Wolke,  gandharva,  Esel  c 
ist  ein  Musiker. 

Der  starke,  mächtige  nnd  schreckliche  Bär  der  Ma 
Winde,  in  der  stürmischen,  blitzenden  und  donnernde 
wird  schon  in  den  vediscben  Hymnen  erwähnt '  So  sc! 
in  denselben  ancb  schon  eine  Beziehung  auf  das  Sten 
Bärin  zn  finden.  '  Im  Rämäyana  *  finden  wir  im  Zusam 
damit  die  Erzählung  von  KDoig  Tri^a&ku,  welcher, 
Söhnen  Vasishthas  verflucht,  ein  Candala  wird,  bedeckt 
Feil  eines  Bären  (riksbacarmaniTäsi).  Vi^v&mitra,  de 
bnhler  Vasishthas,  verspricht,  ihn  in  den  Himmel  zn  brin| 
Indra  will  es  nicht  dulden  und  schlendert  ihn  kopfttber  I 
hinab.  Von  Vigvämitra  gehalten  bleibt  er  in  der  Luft  i 
mit  zur  Erde  gekehrtem  Haupte  und  leuchtet  in  dem  S 
von  den  sieben  Kishis  oder  weisen  Männern,  d.  b.  in  de 
bilde  des  Grossen  Bären.  Und  da  der  Bär  in  Bezi( 
dem  Polarstem ,  dem  Norden ,  den  kalten  Gegend 
Winter  nnd  den  Sternen  steht ,  so  heisst  der  M< 
insonderheit  die  kalte  Nacht  in  der  Eiszeit  regiert,  im 
riksbarä^a  nnd  r i k s h e ^ a,  oder  EUnig  der  Glt 
König  der  Sterne,  König  der  Bären.  Der  König  di 
nimmt  anch  an  dem  Znge  von  La&kä  TheU.  Der  E 
Bären  (hier  verwandt  mit  dem  Monde)  ist  der  Enni 
vermeinüicbe   Vater,  SL  Joseph,  des  Königs  der   Afii 


*  I,  p.  266  e. 

"  Riksho    Da    vu    n^ämta^    fii)ii>'ftD 
V,  V,  öß,  3. 

*  .Ami  jn  rikshä  uibitänH  »66&;  Ri.,'< 

*  KSmfty.  1,60-62. 


AU 

riva,  welcher  aber  in  Wirklichkeit  in  dem  Bueen  de» /Weibes 
des  Bären-Königs  von  der  hoobhereigen  Sonne  gezeugt  wurde.  ^ 
Angeführt  von  dem  Bären  oder  Affen  Gämbayant,  dem  König 
der  Bären  (rikshapärthiva) ,  gehen  die  Affen  in  den  Honigwaid 
(madhavana) ;  der  von  dem  Affen  Dadhimukha  (Bnttermnnd^  ge- 
zeugt von  Soma,  dem  ambrosischen  Gotte  Lunas)  bewacht  wird,^ 
and  verwüsten  und  plündern  den  Wald,  um  den  Honig  darin  zu 
geniessen. ^  In  dem  Vishnu-Puräna^  macht  sich  sogar  Bala- 
räma,  der  Bruder  des  Gottes  Krishna,  mit  dem  Spirituosen  Nass, 
das  in  einer  Baumspalte  enthalten  ist,  trunken. 

Der  Bär-Honigesser  ist  ein  ausserordentlich  volksthttmliches 
Thema  der  russischen  Sage;  der  russische  Name  dieses  Bären, 
med  vied  bedeutet:  „der  den  Honig  kennt;  ihn  zu  finden  weiss'' 
(m  i  0  d  =  sanscr.  madhu  >=  der  süsse  Honig,  Ambrosia ;  der  Bär 
in  dem  madhuvana  entspricht  dem  medvied  der  Russen). 
In  einem  slavischen  Mährchen,  das  von  Afanassieff  in  seinen  Be- 
merkungen zu  dem  ersten  Buche  der  russischen  Mährchen  ange- 
zogen wird;  wird  der  Bär,  von  dem  Hasen  getäuscht,  in  einem 
Baumstamm  eingeschlossen  gelassen.  Ein  Bauer  kommt  vorbei; 
der  Bär  bittet  denselben,  ihn  aus  dem  Baumstamm  zu  befreien, 
verspricht,  ihm  einen  Bienenstock  zu  zeigen,  und  ersucht  ihn, 
keinem  Menschen  zu  sagen,  dass  er  sich  hat  von  einem  Hasen 
anführen  lassen.  Der  Bauer  befreit  den  Bären;  der  Bär  zeigt 
den  Bienenstock;  der  Bauer  nimmt  den  Honig  und  geht  nach 
Hause.  '^  Der  Bär  folgt  ihm   und   lauscht  an  der  Thür  auf  die 


»  VI,  46, 

*  VI,  6. 

*  V,  69. 

*  V,  25. 

^  „Demetrius  MoschoYitarum  legatus  Romam  missus  DarraTit  proximis 
annis  viciniae  suae  agricolam  quaerendi  mellis  causa  in  praegrandem  et 
cavam  arborem  supeme  dcsiliisse,  eumqne  profuudo  mellis  gurgite  collo 
tenus  fuisse  immersum  et  biduo  vitam  solo  melle  sustinuisse,  cum  in  illa 
solitudine  vox  agricolae  opem  implorantis  ad  viatorum  aures  non  perve- 
niret.  Tandem  hie,  desperata  salute,  ursae  beneficio  extractus  evasit,  nam 
hujuB  ferae  ad  mella  edenda  more  humano  in  arboris  dvitatem  se  demit- 
tentis,  pellem  tergoris  manibus  comprehendit  et  inde  ab  ursa  subito  timore 
exterrita  et  retrocedeute  extractus  fuit  "  So  erzählt  diete  Pabi  1  mit  einigen 
Variationen  Aldrovandi  „teste  Paulo  Jovis";  sie  war  also  bereits  im  XVI. 
Jahrhundert  bekannt.  —  Der  Bär  wird  auch  in  den  Kriloftschen  Fabeln 
als  Uonigesser  gerühmt  —  In  einer  Fabel  des  Abstemius  wird  der  Bär, 
als  er  Huuig  sucht,  von   einer  Biene  gestochen;  er  rächt  sich,  indem  er 


425 

Unterhaltung.  Der  Baner.  erzählt^  wie  der  Bonig  vennittelsi  eines 
Bären  in  seine  Hände  gelängt  ist^  der  durch  die  List  eines  Hasen 
in  einem  Banme  gefangen  worden  sei.  Der  Bär  beschliesst,  sieh 
zu  rächen.  Eines  Tages  findet  er  den  Bauer  auf  dem  Felde  und 
ist  im  Begriff^  tiber  ihn  herzufallen  und  ihm  den  Garaus  zu 
machen ;  ^  da  erscheint  der  Fuchs  und  sagt  zu  dem  Bauer : 
;;Mann,  Du  hast  Verstand  im  Kopfe  und  einen  Knüttel  in  der 
Hand'^  Der  Bauer  versteht  die  List  sofort  Er  bittet  den  Bären, 
ihn  zuerst  seine  Andacht  verrichten  zu  lassen ;  als  Busstibung 
wolle  er  den  Bären,  in  einen  Satk  eingeschlossen,  drei  Mal  um 


die  Uoiiigscheibcn  vernichtet,  dafür  aber  fliegen  die  Bienenschwärme  gegen 
ihn  los  und  stechen  nnd  quälen  ihn  von  allen  Seiten;  der  Bär  beklagt 
dann,  wie  er  dadurch,  dass  er  nicht  gewusst  habe,  ein  leichtes  Uebel  zu 
ertragen,  sich  ein  sehr  schweres  zugezogen  habe.  —  Die  Bienen  des  italie- 
niscliin  Sprichwortes  in  Verbindung  mit  dem  Bären  gehen  ebenfalls  auf 
W  asser meth  oder  Honig  zurück.  Die  italienischen  Sprichwörter  sind  fol- 
gende: »Dar  le  pere  in  guardia  all'  orso'  (die  Bienen  in  die  Obhut  des 
Bären  geben);  „Chi  divide  la  pera  (oder  il  miele)  all*  orso  ne  ha  sempre 
men  che  parte"  (wer  die  Biene  (oder  den  Honig)  mit  dem  Bären  theilt, 
hat  weniger  als  einen  Theil,  d.  h.  der  Bär  isst  Alles)  und:  „L^orso  sogna 
pere**  (der  Bär  träumt  von  Bienen).  „Den  Bären  fangen^^  heisst  soviel 
wie  berauscht  sein  [cf.  deutsch:  einen  Affen  haben];  der  Bär  ist  in  der 
That  in  den  Sagen  oft  selbst  von  Honig  berauscht,  wie  der  vedische  Indra 
von  der  Ambrosia  und  wie  Balaräma  von  dem  Spirituosen  Nass  (vgl.  oben). 
Die  Sonne  in  der  Wolke  oder  in  der  Regen-  oder  Winterszeit  trinkt  mehr 
als  nöthig.  In  einem  Spruch  des  Pai&öatantra  I,  194  finden  wir  die 
untergehende  Sonne  mit  einem  Trunkenen  verglichen;  gleich  dem  Trun- 
kenen lässt  die  untergehende  Sonne  die  Hände  (die  Strahlen)  und  ihr  Ge- 
wand sinken  und  wird  ganz  roth.  Vgl.  auch  Ralston,  Songs  of  the 
Russian  People  p.  182. 

'  In  dem  fünfzehnten  Mährchen  bei  Afanassieff  rächt  sich  der  Bär 
an  einem  alten  Manne,  der  ihm  mit  einem  Beil  eine  seiner  Pfoten  abge- 
schnitten hatte;  er  macht  sich  eine  Pfote  aus  Lindenholz,  überrascht  den 
alten  Mann  und  die  alte  Frau  in  ihrem  Hause  und  verschlingt  sie.  In 
dem  neunzehnten  Mährchen  des  vierten  Buches  verbündet  sich  der  Bär 
mit  dem  vom  Bauer  gelähmten  Fuchs  und  mit  der  Bremse,  welche  der 
Bauer  hinter  das  Stroh  gesetzt  hatte,  um  sich  an  diesem  zu  rächen;  der 
Bauer  hatte  nämlich  dem  Bären  versprochen,  ihn  auch  mit  solchen  Flecken 
zu  bedecken,  wie  sie  das  Pferd  hätte,  ihn  aber  mit  einer  rothglühenden 
Axt  an  allen  Theilen  des  Körpers  geschlagen,  so  dass  die  Knochen  bloss 
lagen.  Diese  Fabel  hängt  vielleicht  mit  dem  indischen  Aberglauben  zu- 
sammen, dass  die  Brandwunden  eines  Pferdes  vermittelst  eines  Affen  ge- 
holt werden.  Was  die  hölzernen  Pfoten  betrifft,  so  sind  sie  unzweifelhaft 
die  Zweige  des  wolkigen  oder  nächtlichen  Waldes.  Vgl.  auch  die  „alfar 
^agrlima'S  Alvissmäl  '29. 


\ 


«r  t 


426 

da8  Feld  bernmtragen ;  darnach  k^nne  der  Bär  mit  ihm  thun,  was 
ihm  beliebe.  Der  Bär^  stolz  daranf,  von  dem  Menschen  getragen 
zu  werden,  geht  auf  den  Leim  und  kriecht  in  den  Sack;  der 
Mann  bindet  denselben  fest  zu  und  bearbeitet  ihn  so  lange  mit 
seinem  Knüttel,  bis  der  Bär  todt  ist.  ^ 

Obwohl  der  Bär  gewöhnlich  den  Glänzenden  in  der  Dunkel- 
heit darstellt,  hat  er  doch  häufig  in  der  slavischen  Sage  einen 
dämonischen  Charakter,  *  oder  aber  den  eines  Narren,  gleich  dem 
Esel.  In  dem  ersten  russischen  Mährchen  erschreckt  der  Fuchs 
den  Bären  und  befreit  dann  den  Bauer  von  ihm.  (Der  Bauer  ist 
in  den  Erzählungen  des  Landvolks  fast  immer  eine  Heldengestalt, 
welche  ein  Weiser  oder  ein  Prinz  wird.)  Der  Bauer  täuscht  sei- 
nen Gesellen,  den  Bären,  zwei  Mal:  als  sie  zusammen  Rüben 
säen,  behält  sich  der  Bauer  vor,  was  unter  der  Erde  wächst,  und 
lässt  dem  Bären,  was  oben  erscheint ;  als  sie  Weizen  säen,  nimmt 
der  Bär,  der  sehr  schlau  zu  handeln  vermeint,  was  unten  wächst, 
in  Anspruch ;  der  Bauer  soll  das  Uebrige  bekommen.  Der  Bauer 
ist  nahe  daran  von  dem  Bären  verschlungen  zu  werden,  als  der 
Fuchs  zu  seiner  Rettung  kommt. '    Im  ersten  Mährchen  des  vier- 


'  Bei  A  fan.  Ill  10  macht  eich  Nadzei,  der  Sohn  einer  Priesterstochter, 
dadurch  fiirchtbar,  dass  er  den  Wald  niederhaut  und  ohne  irgend  welche 
Hilfe  den  Bären,  der  die  Katzen  getödtet  hat,  aus  dem  Walde  hervorzieht 

'  In  einer  Schilderung  des  letzten  Sonntages  des  römischen  Carnevals 
aus  dem  XIII.  Jahrhundert  bei  Du  Gange  s.  v.  Carnelevarium  lesen 
wir:  „Occidunt  ursum,  oeciditur  diabolus,  id  est,  temptator  nostrae  carnis." 
—  In  Böhmen  herrscht  noch  der  Brauch  am  Ende  des  Carnevals  den 
Bären  zu  bringen,  d.  h.  einen  Mann,  der  als  Bär  verkleidet  mit  Stroh 
herumgeht  und  um  Bier  bittet  (oder  Wassermeth,  welcher  die  Stelle  des 
mythischen  Honigs,  resp.  Ambrosia,  vertritt).  Die  Weiber  nehmen  das 
Stroh,  um  es  an  den  Ort  zu  thun,  wo  die  Hennen  ihre  Eier  legen,  damit 
sie  besser  legen.  In  Schwaben  wird  der  Stroh-Bär  angeklagt,  eine  blinde 
Katze  getödtet  zu  haben,  und  deshalb  in  optima  forma  zum  Tode  verur- 
theiit,  nachdem  ihm  vor  seinem  Tode  von  zwei  Priestern  Trost  einge- 
sprochen worden  ist;  am  Aschermittwoch  wird  er  feierlich  verbrannt  — 
Vgl.  Beinsberg  v.  Düringsfeld,  Das  festliche  Jahr.  —  Der  Dichter 
Hans  Sachs  (angeführt  von  Simrock)  bedeckt  mit  einem  Bärenfell  zwei  alte 
Weiber,  die  dem  Teufel  dargebracht  werden  sollen. 

'  Vg).  femer  A  fan.  II,  83.  In  einem  norwegischen  Mährchen  lässt  der 
Fuchs  den  Bären  mit  seinem  Schwänze,  der  im  Wasser  eingefroren  ist, 
Fische  fangen.  Vgl.  auch  Tylor,  Early  History  of  Mankind  p.  864, 
nach  weichem  die  Geschichte  von  dem  Schwanzfischer  in  zahlreichen  an- 
deren Ländern  angetroffen  wird.  —  [Liebrecht  bemerkt  zu  der  Geschichte 
von  dem  Bauer  und  dem  Bären  in  seiner  Recension  in  der  Academy: 
„This  tale,  like  the  preceeding  one,  is  also  met  with  in  Norway  (Asbjömsen, 


427 

ten  Baches  bei  Afanaesieff  geht   der  Fuchs  nnd  bringt  den 

Winter  in  der  HCble  des  Bären  zn,  dessen  ganze 

Hennen  er  verzehrt    Der  Bär  fragt  ihn,  was  er 

Fnchs  macht   ihn  glauben,    dasB  er  Fleisch  von 

Stirn    nehme.       Der    Bär    fragt,    ob    es    gnt    ist 

Fnchs  ihm  etwas  zn  kosten  giebt;  der  Bär  versn« 

Fleisch  von  seiner  Stim  zn  nehmen  and  stirbt  dal 

Fnchs  ein  Jahr  lang  genng  zn  essen. 

Der  Roman  vom  Fnchs  zeigt  sns  anch 
Gegensatz  zum  Bären ,  den  er  verleitet ,  se 
den  Spalt  eines  Baumstammes  zn  stecken,  wie 
sehen  Affen  des  Pani^atantra  geschah.  In  i 
Mäbrchen  bei  Afanassieff  V,  2  haben  wir  i 
ses  den  Baner  nnd  statt  des  Affen  und  des  I 
nehmen  Herrn  (der  in  den  Angen  des  armen  TA 
Personification  des  Dämons  ist),  der  mit  seinen  ! 
Spalte  eines  Baumes  gefangen  wird.  Der  Baner  i 
an  dem  Herrn,  der  Anderen  einen  kleinen  Cai 
fünfzehn  Rnbel  abgekauft  hat,  sich  aber  weigert,  t 
grosse  Gans  fttr  hundert  Rubel  abzukaufen.  D 
Athlet  Milo  von  Kroton,  der  an  einem  Tage  ein 
Ochsen  zn  verzehren  pllegte,  ein  Held  der  Sage,  v 
Thieren  in  StUcke  zerrissen ,  als  er  mit  den  Hand' 
eines  Klotzes,  den  er  spaltete,  stecken  geblieben  v 

Nj  SBinÜDg,  ChrietiaDJa  1871,  Nr.  74,  3]  and  in  Germanj 
where  the  doTil  ii  the  penon  cheated.  To  Qrimm's  ret 
ma;  be  added  a  Chaucerian  tale  (Magaein  für  die  Litera' 
1884  tit.  134),  where  also  the  devii  take«  the  place  of  tl 
old  Spanish  Conde  Lucanor  c.  41,  where  ingtead  of 
mal)  appear«  and  is  cheated  by  virtae  (el  bieii)  about 
field  of  tomips.  The  author  of  Conde  Lucanor  is  kni 
ved  ft  considerable  portion  of  his  collection  of  tales  froi 
and  thus  it  happens,  that  we  find  th«  incident  in  qi 
RSckert'e  poems  (p.  16)  from  a  similar  sonrce."  Dazu  < 
merken  sein,  dass  diese  „arabischen  Quellen"  unlautere  : 
haben  eine  Thierfabel  in  dem  gewöhnlichen  Sinne  des  V 
gebildet  Es  finden  sich  Ansätze  dazu ,  nnter  denen  ni 
Stelle  Bileams  Eselin,  femer  die  Thiere  der  Simson-Sage, 
der  Proverbia  einnehmen  dürften.  Was  jedoch  bei  ai 
steilem  zu  finden  ist ,  gar  nicht  zn  sprechen  von  dem  s 
seiner  Schreibweise  nach  pseudc-arabischen  Locman,  ist 
dentaliiches  Out,  das  wie  so  vieles  Andere  in  den  Ori 
tragen  wntde.        Aim.  de*  Ucbcrs.J 


428 

Held  wechseln  im  Mythos  beständig  einander  ab.    Bei  Ä  fan  as- 
sieff  V,  4  muss  der  Bauer  wegen  der  dämonischen  Störche  und 
des  Bären  den  Tod  erleiden.     Der  Bauer  bindet  sich  an  seinen 
Wagen,  um  nicht  herabzufallen ;  das  Pferd  will  trinken  und  zieht 
den  Wagen  in  einen  Brunnen.    Der  Bär,  der  verfolgt  wird,  kommt 
vorbei,  föUt  unversehens  in  den  Brunnen,  verwickelt  sich  mit  dem 
Wagen,  und  ist  gezwungen^  um  sich  selbst  loszumachen,  Wagen, 
Bauer  und  Alles  herauszuziehen.     Bald  darauf  klettert  der  Bär 
nach  Honig  auf  einen  Baum ;   ein  anderer  Bauer  kommt  vorbei, 
sieht  den  Bären  auf  dem  Baum  und£haut  den  Baum  um,  um  das 
Thier  einzufangen;  Bär  und  Wagen  fallen  herab  und  der  Bauer 
wird  getödtet,  während  der  Bär  sich  losmacht  und  entschlüpft.  Der 
Bär^   welcher  nach  Honig  sucht,  und   der  Bär  in  dem  Brunnen 
erinnern  uns  an  den  asinus  in  unguento  und  den  Esel  in  den 
Rosen ;  der  Esel,  welcher  der  Freund  des  Gärtners  oder  des  Priesters 
der  Flora  oder  der  Pomona  ist,  in  der  Lafontaineschen  Fabel,  *  hat 
dieselbe  Bedeutung.  In  dem  achtundzwanzigsten  Mährchen  des  fünf- 
ten Buchesbei  Afanassieff  4iegt  König  Bär  in  einer  Quelle  ver- 
bolzen (wir  sahen  schon  den  indischen  Affen,  der  einen  König  in  eine 
Quelle,  in  den  Rachen  des  Ungeheuers  zieht) ;  ein  König  geht  auf 
die  Jagd ;  da  er  Durst  flihlt ,  will  er  aus  dieser  Quelle  trinken ; 
der  Bär  packt  ihn  am  Barte  und  lässt  ihn  nur  unter  der  Bedin- 
gung los,  dass  er  an  seiner  Statt  Alles  hingeben  wolle,  was  er 
zu  Hause  habe,  ohne  es  zu  wissen  (es  ist  das  eine  Variation 
der  Erzählung  von  Harigcandra).    Der  König  willigt  ein  und  er- 
fthrt  bei  seiner  Rückkehr,    dass   ihm  Zwillinge,  Namens  Iwan 
und  Marie,  geboren  sind.     Um  sie  vor  dem  Bären  zu  retten,  lässt 
ihr  Vater  sie  in  eine  unterirdische  Höhle  versenken,  die  gut  ver- 
wahrt und  sehr  tief,  auch  mit  reichlichem  Vorrath  versehen  ist 
Die  Zwillinge  wachsen  gesund  und  kräftig  heran ;  der  König  und 
die  Königin   sterben,  und  der  Bär  kommt  die  Zwillinge  holen. 
Er  findet  in  dem  Königspalaste  eine  Scheere  und  fragt  dieselbe, 
wo  sich  die  Kinder  des  Königs  befinden;  die  Scheere  antwortet: 
„Wirf  mich  auf  dem  Hofe  zu  Boden ;  wo  ich  falle ,  dort  suche." 
Die  Scheere  fällt  genau  auf  den  Platz,  wo  Iwan  und  Marie  ver- 
borgen sind.    Der  Bär  scharrt  mit  seinen  Pfoten  den  Boden  auf 
und  ist  daran,  das  junge  Geschwisterpaar  zu  verschlingen;  doch 
bitten  sie  flehentlich  um  ihr  Leben,  auch  sieht  der  Bär  die  unge- 
heuren Vorräthe  von  Hennen  und  Gänsen,   die  für  sie  aufgespei- 

»  VIII,  10. 


429 

chert  sind,  nnd  eo  schont  er  sie.  Darauf  bescbliesBt  er,  sie  in 
seine  Dienste  zu  nehmen;  ßie  machen  zwei  vergebliehe  Vers""*"" 
zu  entfliehen,  das  erste  Mal  mit  der  Hilfe  eines  Falken, 
zweite  Mal  mit  der  eines  Adlers;  schliesslich  gelingt  es  e 
Stier,  sie  zn  befreien.  Von  dem  Bären  verfolgt,  werfen  sie  i 
Kamm  zsr  Erde,  nnd  ein  nndnrchdriuglicber  Wald  spriesst  he 
der  Bär  zerreisst  nnd  verwundet  sieb  Über  nnd  fiber,  indei 
hindurch  will.  Iwan  breitet  daranf  ein  Tuch  aus ,  welches  i 
Fenersee  macht;  bei  dessen  Anblick  tritt  der  Bär,  der  sie 
verbrennen  fürchtet,  der  keine  Hitze  leiden  mag,  sondern  1 
vorzieht,  den  ROckmarsch  an. 

Im  siebennndzwanzigsten  Uährchen  des  fünften  Bnchei 
Afanassieff  verwüstet  ein  dämonischer  Bär  mit  ein 
Haaren  ein  ganzes  Königreich  nnd  verschlingt  alle  Einwo 
Iwan  Tzarevid  und  Helena  Prekrasnaia  sind  allein  tlbrig; 
der  König  lässt  sie  mit  Speisevorrath  auf  eine  sehr  hohe  • 
setzen  (eine  nene  Erscheinungsform  des  Berges  Hiranyanabba 
welchem  die  Sonne  hervorkommt,  4er  ans  der  Tiele  des  H 
aufsteigt ,  nnd  anf  welchen  sich  der  grosse  ÄfFe  Hanumant 
Der  Bär  findet  sich  auch  in  Verbindung  mit  einem  Edelste! 
Vishna-Puräna.*  ImTnti-Name*  dresairt  der  Zimmer 
zwei  junge  Bären,  ihr  Futter  von  den  Schulten)  einer  Hol; 
zu  holen,  die  ein  vollkommenes  Ebenbild  seiner  filzigen  Freu 
des  Goldschmieds  ist,  welcher  ihn  nm  einiges  Geld  betröget 
Vermittelst  der  Bären,  die  er  als  die  beiden  SUhne  dee  < 
Schmieds  darstellt,  die  ihm- fortgelaufen  wären,  erüchreckt  et 
Der  Goldschmied  versteht  die  List  des  Zimmermanns  und 
ibm  sein  Geld  zurück).  Der  berüchtigte  Bär  nähert  sich 
Bänle.  Iwan  wirft  ihm  etwas  zu  essen  hinunter;  der  Mr 
zehrt  es  nnd  geht  dann  schlafen.  ^     Während  er  schläft,  Ü 


'  IV,  la 

'  I,  e  (p.  67  fi.) 

*  lotereaiaDt  ist  diu  meTknürdige  Helehniog  über  den  Schi 
Bären  bei  Aldrovandi  ;(D  e  Qundr.  Dig.  Vir.  1):  ^Devorant  etia 
ioeunteJiyeuie  radices  iiomiDe  uubis  adhuc  ignotu,  qui  bus  per  LoDgui 
pons  Bpatium  cibi  cupidiUu  expletur  et  «omnua  conciliatur.  Nam  in 
bus  UelveticiB  aiuLt,  referente  Gesaero,  vaccarum  pssterum  emiDna 
uraum,  qai  radicem  quamdam  manibuB  proprlis  efioBaam  edebat,  i 
uni  diaceBBnm,  lUuc  ae  tranatuliage ;  radicemqae  Ülaio  degu9ta»ee,  qu 
raodnoi  ^tauto  aomtii  ,desiderio  afiectag  eat,  at  ae  conti nere  non  pc 
qain  id  vift  Btratiu  eomno  fmeretur,"  Der  Bär  als  ein  Nacht-  und  V 
thier  muBa  nothwendig  viel  Schlaf  geniesBen. 


430 

Iwan  und  Helena  aaf  einem  Pferde;  der  üär  erwacht ^  holt  sie 
eiU;  bringt  sie  zu  der  Säule  zurück  und  lässt  sich  von  ihnen 
wieder  etwas  zu  essen  hinabwerfeu,  worauf  er  wieder  schläft; 
das  junge  Geschwisterpaar  versucht  nun,  auf  dem  Bücken  von 
Gänsen  zu  entkommen;  doch  dasselbe  Schicksal  trifit  sie  wie 
vorher;  der  Bär  verbrennt  die  Gänse.  Das  dritte  Mal  kommt  ihr 
Befreier  in  Gestalt  eines  Stieres,  der  dem  Bären  mit  seinen 
Hörnern  die  Augen  ausstösst  und  ihn  in  einen  Strom  wirft,  in 
welchem  er  ertrinkt.  In  demselben  Mährchen  schickt  der  Dämon 
Iwan,  um  ihn  einem  gewissen  Tode  preiszugeben,  auf  die  Suche 
nach  der  Milch  einer  Bärin.  ^  Der  Dämon  erscheint  wiederum  in 
der  Gestalt  eines  Bären  bei  A  fan.  V,  50,  wo  der  Hund  eines 
Soldaten  ihn  in  Stücke  reisst.  Obwohl  der  Bär  selbst  dämonisch 
ist,  hilfk  doch  das  Bärenjunge  andrerseits  dem  Helden.^  Bei 
Afanassieff  VI,  11  verirrt  sich  eine  Frau,  die  Pilze  sucht,  und 
kommt  in  die  Höhle  eines  Bären  —  der  Bär  nimmt  sie  zu  sich. 
Wir  sahen  -schon  den  Bären,  der  mit  der  Maus  Blindekuh  spielt, 
in  dem  Wahn,  er  spiele  mit  dem  schönen  Mädchen.  Der  Wind 
Rudra,  und  Aeolus,  der  König  der  Winde,  sind  (vgl.  Kapitel  I) 
sterblich  vernarrt  in  schöne  Nymphen.  In  einem  norwegischen 
Mährchen  (einer  Variation  dessen  von  der  weissen  Katze)  bei 
Asbiörnsen,  ist  der  Held  als  Bär  verkleidet  und  wird  bei 
Kacht  ein  schöner  junger  Mann.  Sein  Weib  verliert  ihn  durch 
ihre  indiskrete  Neugierde,  d.  h.  weil  sie  ihn  hatte  bei  Lampen- 
licht sehen  wollen,  und  ihre  Stelle  wird  von  der  langnasigen 
Prinzessin  eingenommen,  bis  sie  mit  Hilfe  eines  goldenen  Apfels 
und  eines  Pferdes  im  Stande  ist,  ihren  Gatten  wiederzufinden. 
Im  Pen  tamer  one  II,  ti  ist  es  andrerseits  das  Mädchen  Pretiosa, 
welche,  um  den  Umarmungen  ihres  Vaters  zu  entgehen,  als 
Bärin  vermummt  in  den  Wald  flieht.  Ein  junger  Prinz,  der 
Sohn  des  Wasserkönigs,  verliebt  sich  in  sie  und  nimmt  sie  in 
den  Palast.  Der  Prinz  wird  vor  Liebe  zu  der  Bärin  ganz  krank ; 
sie  steht  ihm  bei  und  heilt  ihn.  Während  er  sie  kUsst,  wird  sie 
ein  schönes  Mädchen  („la  chiü  bella  cosa  de  lo  Munno^'j.  Wir 
erfahren    aus    zwei    mittelalterlichen   Schriftstücken,   welche   Du 


•  Vgl.  A  fan.  VI,  5.  —  Nach  der  griechischen  Sage  wurden  Paris 
und  Atalanta  mit  der  Milch  einer  Bärin  genährt. 

«  Vgl.  A  fan.  V,  27.  28.  —  Nach  Cardano  bedeutet  das  Treffen  eines 
eben  geworfenen  Bärenjungen  einen  Umschwung  des  Schicksals  lum 
Besseren. 


431 

Gange  (s.  v.  Ursas)  aufUbrt,  dass  es  bereits  im  Mittelalter  Brauch 
war,  den  Bären  herumzuführen  und  ihn  indecente  Scherze  (reiben 
zu  lassen  G>^^^  turpia  joca  cum  urso  vel  tornatricibus  ante  se 
faeere  permittat^^,  und  dass  Bärenhaare ,  in  eine  Salbe  gebeizt, 
gewöhnlich  verkauft  wurden  ;,tamquam  phylacteria  ad  depellen- 
dos  morboSy  atque  adeo  oculorum  fascinos  araoliendos/^  Die 
Athener  nannten  die  der  keuschen  Artemis,  der  Freundin  stiller 
Plätze,  geweihten  Jungfrauen  Bärinnen,  und  darauf  dürfte  wohl 
die  interessante  christliche  Legende  von  der  jungfräulichen  Heiligen 
Ursula^  zurtickzuftihren  sein,  die  Karl  Simrock  mit  der  dämoni- 
schen, Unglück,  Schlaf  und  Tod  bringenden  Holda  identificirt. 
Nimmt  man  diese  Identification  an,  so  würde  Ursula  ausserdem 
in  enger  gedanklicher  und  etymologischer  Verwandtschaft  mit  dem 
vedischen  Ungeheuer  Bikshikä  stehen. 

Um  jedoch  auf  das  russische  Mährchen  zurückzukommen,  so 
vereinigt  sich  die  Frau,  die  in  die  Höhle  des  Bären  geräth,  mit 
diesem  und  schenkt  einem  Sohne  das  Leben,  der  bis  zur  Taille 
Mensch,  von  da  ab  nach  unten  Bär  ist.  Seine  Mutter  nennt  ihn 
deshalb  Ivanko-Medviedko  (Häuschen,  der  ßärensobn;.  Dieser 
Halbmensch,  Halbbär  wird  ein  schlaues  Thier  und  betrügt  den 
Teufel,  indem  er  ihn  mit  dem  Bären  kämpfen  lässt  und  ihm  ein- 
redet, der  Bär  sei  sein  mittlerer  Bruder  (d.  h.  der  starke  Bruder). 
In  einer  dänischen  Sage  lesen  wir  von  einem  Mädchen,  das,  von 
einem  Bären  geschändet,  einem  Ungeheuer  das  Leben  giebt. 
Nach  dem  griechischen  Mythus  wird  die  Nymphe  Kalisto,  die 
Tochter  des  Könige  Lycaon,  von  Zeus  vergewaltigt,  von  der  Juno 
oder  der  Artemis  in  eine  Bärin  verwandelt,  gebiert  den  Areas 
und  wird,  sammt  ihrem  Sohne  von  Hirten  getödtet,  in  einen  Stern 
verwandelt. 

Der  schlaue  Bär  erscheint  wieder  als  Musiker  (gleich  dem 
Esel)  bei  Afanassieff  HI,  17,  wo  er  so  schön  singt,  dass  er 
die  alte  Schäferin  täuscht  und  es  ihm  gelingt,  ihre  Schafe  zu 
entfuhren.  In  einer  Anmerkung  zu  dem  neunten  ehstnischen 
Mährchen  bei  EreutzwaM  bemerkt  Herr  Löwe^  dass  der  ehstnische 
Name  des  Donnergottes  auf  ein  finnisches  Nomen  für  Bär  zurück- 
weist, wie  auch  dass  der  nordische  Donnergott,  Thunar-Thor, 
den  Beinamen  des  Bären  führte. 


'  Vgl.  Schade,  Die  Sage  von  der  Heiligen  Ursaia.  Sie  befindet 
sich  auch  unter  den  Leggende  del  Secolo  Dcciuioquarto,  boraus- 
gegeben  von  Signor  Del  Luago  in  Florens. 


432 

Der  Bär,  der  Affe,  der  Esel  and  der  Stier  bilden  in  einer 
netten  Kriloffschen  Fabel  ein  mosikalisefaes  Quartett.  Den  Bären 
lä88t  man  tanzen ,  gleich  dem  Affen ;  ^  dem  Esel  and  dem  gan- 
dharva^  seinem  mythischen  Aeqaivalent  In  gleicher  Weise  wie 
das  Eselsfell  Furcht  verjagt,  schützt  auch  das  Aage  eines  Bären, 
getrocknet  und  einem  Kinde  nm  den  Hals  gehängt,  vor  Furchte 
In  den  Heiligenlegenden,  besonders  in  denen  von  den  Einsiedlern, 
welchen  der  Bär  auf  göttliche  Eingebung  oft  seine  Höhle  ein- 
räumt, lesen  wir  von  St  Masimin,  dass  er  einen  Bären  in  einen 
Esel  verwandelte,  weil  er  einen  Esel  gefressen  hatte,  der  eine 
Last  trug. 

Bei  Lafontaine  Xu,  19  erscheint  der  Affe  als  Bote  Jupiters 
mit  dem  caduceus;  er  soll 

„Partager  an  brin  d'herbe  entre  quelques  founnis," 

während  zwei  enorme  Thiere/  der  Elephant  und  das  Rhinoceros 
um  die  Superiorität  streiten.  Der  Affe  kommt  als  Mercur,  als 
Vermittler  und  Mittelgestalt  zwischen  zwei  ähnlichen  Heldenthieren 
dem  schlauen  Fuchs  nahe,  dessen  röthliehe  Farbe  (wie  die  des 
Bären)  er  oft  theilt.  Er  ist  nicht  mehr  die  reine  schöne  Tagee- 
sonne,  und  ist  doch  noch  nicht  das  schwarze  Ungeheuer  der 
Nacht;  er  ist  zu  schwarz,  um  roth,  und  zu  roth,  um  schwarz  zu 
sein;  er  besitzt  alle  Schlauheit  der  Teufel  und  ist  mit  allen  Ge- 
wohnheiten der  Heiligen  bekannt  Der  Affe,  der  Nachahmer  dee 
Menschen,  nimmt  gleich  diesem  an  der  Natur  des  thierisch  dum- 
men Dämons  und  des  intelligenten  Gottes  Theil. 


'  „    .    .    .    il  parle,  on  Tentend,  il  sait  danser,  baller 

Faire  des  toars  de  toute  sorCe 
Passer  en  des  cerceaux." 

Lafontaine,  Fables  IX,  3. 
Bei  Lafontaine  wird  der  ASe  ferner  mit  dem  Esel  identificirt,  als 
Richter  zwischen  Wolf  und  Fuchs ,  und  später  als  in  das  Fell  des  todten 
Löwen  gehüllt  In  der  vierten  Fabel  des  eilften  Buches  lässt  Lafontaine 
den  Affen-Magister  die  Geschichte  „as^inüs  asinum  fricat'^  erschien; 
in  der  zweiten  Fabel  des  zwölften  Buches  verstreut  der  Affe  die  Schätze 
des  Knickers,  wie  er  in* der  indischen  Sage  die  Opfergaben  raubt 
'  Vgl.  Aldrovandi,  De  Quadr.  Dig.  Viv. 


4 


433 


KAPITEL  XII. 
Der  Fuchs,  der  Sehakal  und  der  Wolf. 

Von  dem  Fachs  ist  kaum  einmal  im  Bigveda  die  Rede  unter 
dem  Namen  lopä^a  (dlaiTvq^),  da  sieb  derselbe  auf  den  alten 
westlichen  Löwen  bezieht;  dieses  Wort  scheint  (gleich  lopäka^ 
„eine  Art  SchakaF';  so  das  Petersb.  WB.)  eigentlich  ^^Zerstörer, 
Verwüster*'  zu  bedeuten  (nach  Prof.  Weber:  Aasfresser).  Das 
Sanskrit  giebt  uns  auch  das  Diminutivum  lopä^ikä;  welches  als 
Schakalweibchen  und  als  Fuchs  (vulpecula)  erklärt  wird.  Der 
Fuchs  der  Sage  wird  jedoch  in  der  indischen  Ueberlieferung  ge- 
wöhnlich durch  den  Schakal  oder  canisaureus  ({rigäla^  kroshtar^ 
gomäyu;  als  Schreier)  dargestellt.  Der  Fuchs  ist  der  röthliche 
Vermittler  zwischen  dem  glänzenden  Tage  und  der  finsteren 
Nacht:  als  der  Abenddämmerungshimmel  eine  Thiergestalt  an- 
nahm, schien  keine  geeigneter  als  die  des  Fuchses  oder  Schakals, 
wegen  ihrer  Farbe  und  ihrer  Schlauheit:  die  Stunde  des  Zwie- 
lichts ist  die  Zeit  der  Ungewissheiten  und  Täuschungen.  Prof. 
Weber  spricht  in  der  Abhandlung:  Ueber  den  Zusammen- 
hang indischer  Fabeln  mit  griechischen  die Vermuthung 
auS;  dass  alle  Sehlauheiten;  die  dem  Schakal  in  indischen  Fabeln 
beigelegt  würden,  dem  Fuchs  der  griechischen  Fabeln  entlehnt 
seien.  Wir  dürfen  zwar  auf  die  Bezeichnungen  vancaka  und 
mrigadhürtak a  (Betrüger  der  Thiere),  welche  in  indischen 
Wörterbüchern  dem  Schakal  gegeben  werden,  nicht  ein  zu  grosses 
Gewicht  legen,  da  diese  Wbb.  kein  hohes  Alter  haben;  doch 
müssen  wir  zugleich  gestehen,  dass  die  Schlauheit  des  Fuchses 
vom  Volksaberglauben  ebenso  übertrieben  worden  ist,  wie  die 
Dummheit  des  Esels,  und  zwar  aus  einem  mythischen  Grunde 
wie  auch  in  Folge  der  Ueberlieferung  weit  mehr  als  durch  die 
Beobachtung  ausnahmsweiser  Eigenschaften  dieser  Thiere,  welche 
leicht  in  der  Mythologie  miteinander  identificirt  werden  konnten ; 
denn  in  dieser  genügen,  wie  ich  schon  bemerkte,  einige  wenige 
grobe  und  rein  zufällige  Aehnlichkeiten ,  um  dieselben  Himmels- 
erscheinungen von  Thieren  eines  ganz  verschiedenen  genus  dar- 
gestellt werden  zu  lassen.  So  reichen  die  behaarten,  röthlichen 
Körper  des  Bären  und  des  Affen  und  gewisse  Posituren,  die  sie 

QnbernatlB,  die  Thtera.  28 


434 

gewöhnlich  einnehmen^  hin,  um  uns  verstehen  zu  lassen,  wie  sie 
in  den  Sagen  bisweilen  für  einander  eintreten;  aus  demselben 
Grunde  werden  dem  Affen  und  dem  Bären  einige  von  den 
Heldenthaten  zugeschrieben,  die  sonst  dem  Fuchs  der  Sage  nach- 
gerühmt werden.  Wie  viel  grösser  muss  ^Iso  die  Verwirrung 
gewesen  sein,  welche  zwischen  dem  canis  vulpes  (dem  röth- 
liehen  Fuchs)  und  dem  canis  aureus  (oder  Schakal)  entstand, 
Thieren,  welche  sich  beide  gegen  Nacht  zu  zeigen  pflegen,  welche 
beide  von  kleinen  Thieren  leben,  welche  Felle  von  derselben 
Farbe  haben,  welchen  schliesslich  sehr  helle  Augen  und  mehre 
andere  zoologische  Charakteristika  gemeinsam  sind? 

Der  Fuchs  der  Sage  (resp.  der  Schakal,  sein  mythisches 
Aequivalent)  zeigt  sich,  wie  fast  alle  Gestalten  des  Mythus,  von 
zvei  Seiten.  Wenn  er  den  Abend  darstellt  und  wenn  die  Sonne 
als  ein  Vogel  (der  Hahn)  dargestellt  wird,  so  ist  der  Fuchs,  der 
sprichwörtliche  Feind  der  Küchlein,  auch  im  Himmel  der  Räuber 
und  Verschlinger  des  Hahnes  und  als  solcher  der  natürliche  Feind 
des  Mannes  oder  Helden,  welcher  sich  schliesslich  schlauer  als 
der  Fuchs  zeigt  und  seinen  Untergang  herbeiführt.  Der  Fuchs 
betrügt  den  Hahn  am  Abend  und  wird  von  ihm  am  Morgen  be- 
trogen. Er  ist  also  ein  Thier  von  dämonischer  Natur,  sowohl  als 
der  Verschlinger  oder  Verräther  der  Sonne  (des  Hahnes,  Löwen 
oder  Mannes),  in  der  Gestalt  des  rothen  westlichen  Himmels  oder 
der  Abend-Aurora,  wie  auch  als  von  der  Sonne  selbst  (dem 
Hahn,  Löwen  oder  Mann)  getödtet  oder  in  die  Flucht  geschlagen, 
in  der  Gestalt  des  rothen  östlichen  Himmels,  resp.  der  Morgen- 
Aurora.  *  Wir  sahen  schon  in  Kapitel  I  die  Aurora  als  ein  wei- 
ses und  als  ein  thörichtes  und  schlechtes  Mädchen ;  ebenso  ist  es, 
nach  ihrer  thierischjen  Metamorphose,  beim  Fuchs.  Die  Aurora  zeigt 
sich  im  Mythus  nicht  nur  von  der  Seite,  die  wir  eben  besprachen. 
Wird  sie,  der  Sonne  zugewendet,  flir  die  Tödterin  des  glänzenden 
Tages  am  Abend  gehalten  und  für  verjagt  von  demselben  am 
Morgen,  so  nimmt  sie,  als  der  Nacht  sich  zuwendend,  etwas 
Heldisches  an  und  gewinnt  unsere  Sympathieen;  sie  wird  die 
Freundin  und  Helferin  des  Sonnenhelden  oder  Sonnenthieres  gegen 

'  In  einer  deutschen  Sage  (bei  Schmidt,  Forschungen,  S.10Ö)  haben 
wir  die  Gottheit,  welche  sich  als  ein  Fuchs  freiwiUig  dem  Jäger  zum  Opfer 
anbietet;  der  Jäger  zieht  ihm  das  Fell  ab  und  die  Fliegen  und  Ameisen 
fressen  sein  Fleisch.  In  einem  russischen  Mährchen,  das  ich  im  Auszüge 
mittheilen  werde,  verzehrt  der  Wolf  den  Fuchs,  als  er  ihn  ohne  seine  be* 
haarte  Bedeckung  sieht. 


Jt 


435 

den  Wolf  oder  die  Finsteniiss  der  Nacht.  In  diesen  beiden  my- 
thischen Auffassungen  ist  die  ganze  Sagengeschicbte  des  Fuchses 
im  Wesentlichen  enthalten  und  entwickelt;  diese  ist,  so  weit  sie 
den  Westen  betrifft;  schon  von  Anderen  ausführlich  erzählt  worden. 
Ich  werde  mich  darauf  beschränken,  ihre  Hauptzttge  aus  orienta- 
lischen und  slavischen  Quellen  zu  eruiren  und  summarisch  darzur 
stellen,  um  sie  dann  kurz  mit  den  am  meisten  bekannten  Resul- 
taten der  Forschungen  über  den  westlichen  Sagenstoff  zu  ver- 
gleichen ;  habe  ich  die  Doppelnatur  des  Fuchses  in  der  Mythologie 
aufgezeigt;  habe  ich  bewiesen,  dass  die  Sonne  bald  als  ein  Held, 
bald  als  ein  Hahn  und  bald  als  ein  Löwe,  die  Nacht  als  ein 
Wolf  personificirt  wird,  so  scheint  es  mir  leicht,  mit  dieser  Deu- 
tung die  ungeheure  Mannigfaltigkeit  von  Sagenstoffen  in  Ein- 
klang zu  bringen,  auf  welche  ich  leider  wegen  des  geringen  Um- 
fangeS;  auf  den  ich  mein  Werk  beschränken  musS;  nicht  näher 
eingehen  kann. 

Im  Mah&bhärata^  gesellt  sich  ein  gelehrter  Schakal  nach 
Beendigung  seiner  Studien  zu  dem  Ichneumon,  der  Mans,  dem 
Wolf  und  dem  Tiger,  doch  nur,  um  sie  alle  zu  täuschen.  Er  lässt 
den  Tiger  eine  Gazelle  tödten  und  schickt  alle  Thiere  zur  Waschung 
vor  der  Mahlzeit.  Dann  hetzt  er  den  Tiger  gegen  die  Maus,  von  der 
er  behauptet,  sie  hätte  geprahlt,  den  Tiger  getödtet  zu  haben ;  die 
Maus  bringt  er  dazu,  ihr  Heil  in  der  Flucht  zu  suchen,  indem  er 
ihr  einredet,  das  Ichneumon  habe  die  Oazelle  gebissen  und 
dadurch  deren  Fleisch  vergiftet;  der  Wolf  giebt  Fersengeld,  als 
ihn  derlSchakal  glauben  macht,  der  Tiger  komme,  um  ihn  zu 
verschlingen ;  dem  Ichneumon  macht  er  weiss,  er  habe  die  andern 
drei  Thiere  getödtet,  so  dass  dieses  froh  ist,  als  es  entwischen 
kann;  so  verzehrt  der  Schakal  selbst  die  ganze  Oazelle  allein. 
Im  Pancatantra^  betrügt  der  Schakal  in  ähnlicher  Weise  den 
Löwen  und  den  Wolf  um  ihren  Antheil  an  einem  Kameel ;  wie  er 
den  Löwen  um  den  Esel  betrog,  sahen  wir  schon.  Im  zwanzigsten 
mongolischen  Mährchen  sät  der  Fuchs  zwischen  den  beiden  Brü- 
dern, Stier  und  Löwe,  Zwietracht,  so  dass  diese  in  der  Folge 
einander  tödten. 


'  I,  5666  ff. 

>  I,  16.  IV,  2.  Vgl.  auch  IV,  10  und  das  Kapitel  über  den  Hasen.  — 
Pai&ö.  III,  14  betrügt  der  Schakal  den  Löwen,  der  seine  Höhle  in  Besitz 
genommen  hat ;  er  bringt  den  Löwen  zum  BriUlen,  versichert  sich  so  seiner 
Anwesenheit  in  der  Höhle,  und  kann  entfliehen. 

28* 


f 
/ 


436 

Im  Rämäyana'  erBcbeint  der  Schakal  als  Freand  des 
Helden  y  sofern  er  durch  Heiden  und  Feuerspeien  fdr  das  Unge- 
heuer Ehara;  welches  sich  zum  Angrifle  gegen  R&ma  rflstet,  von 
unglücklicher  Vorbedeutung  ist.  ImKhorda-Ävesta  wird  ein 
von  Agro-Mainyus,  dem  Gott  der  Ungeheuer;  verschlungener  Held 
Takhmo-umpa,  d.  h.  starker  Fuchs,  genannt. 

Eine  der  in  mythologischem  Betracht  interessantesten  Fabeln 
ist  die  von  dem  Schakal,  welcher  in  Farben  fftllt,  blau  oder  opal- 
farbig herauskommt  und  sich  nun  flir  einen  Pfau  des  Himmels 
ausgiebt.  Die  Thiere  machen  ihn  zu  ihrem  König;  doch  er  ver- 
räth  sich  durch  seine  Stimme:  als  er  andere  Schakale  heulen 
hört;  heult  er  auch;  worauf  ihn  der  LöwC;  der  wirkliche  König 
der  Thiere ;  in  Stttcke  reisst.  ^  Es  ist  dies  eine  Variation  des 
Esels  in  der  Löwenhaut;  und  noch  mehr  der  Krähe,  die  sich  mit 
den  Federn  des  Pfaues  schmückt;  die  schwarze  Nacht  glänzt  wie 
ein  azurblauer  Himmel,  wie  sahasräksha  (eine  Benennung  Indras 
und  des  Pfaues ,  als  des  tausendäugigen  oder  tausendstemigen). 
Die  Abend- Aurora;  der  FuchS;  verwandelt  sich  in  den  Azurhimmel 
der  Nacht;  bis  am  Morgen  der  Belmg  entdeckt  wird;  und  der 
Löwe  (die  Sonne)  den  Fuchs  zerreisst;  die  Nacht  und  die  Aurora 
verscheucht. 

Das  Pan^iatantra  enthält  noch  zwei  Erzählungen,  welche 
sich  auf  den  Schakal  der  Sage  beziehen ,  nämlich  die  von  dem 
neugierigen  und  einfältigen  Sohakal,  der  bei  einem  Versuch,  das 
Fell  einer  Trommel  zu  zerreissen,  um  zu  sehen,  was  darin  steckt; 
sich  einen  seiner  Zähne  ausbeisst,  und  der  sich,  als  er  eine 
Bogensehne  verspeisen  vnll,  den  Mund  verletzt  und  stirbt;'  und 
die  von  dem  feigen  Schakal,  der  unter  Löwenjungen  aufgezogen, 
seine  Fuchsnatur  verräth,  als  er  sich  mit  den  beiden  Löwen, 
seinen  Adoptivbrttdem ;  auf  den  Elephanten  werfen  soU;  statt 
dessen  aber  das  Hasenpanier  ergreift.^    Im  Tuti-Name^  will 


•  m,  29. 

«  Vgl.  Pane  at.  I,  10.    Tuti-Name  II,  p.  146. 

-  *  I,  2.  II,  3.  —  In  dem  neunzehnten  mongolischen  MShrchen  wird  dem 
jungen  Mann,  der  für  einen  Helden  gilt,  befohlen,  der  Königin  das  Fell 
eines  gewissen  ihm  näher  bezeichneten  Fuchses  zu  bringen ;  auf  dem  Wege 
verliert  der  Jüngling  seinen  Bogen;  er  geht  zurück,  danach  zu  suchen, 
und  findet  den  Fuchs  todt,  dicht  neben  dem  Bogen,  den  er  zu  zerbeissen 
versucht,  der  ihn  aber  getroffen  und  getödtet  hatte. 

*  IV,  4. 

»  I,  p.  134  f. 


437 

sieh  der  Schakal  an  den  Papageien  rächen,  die  er  fttr  indirekt 
mitschuldig  an  dem  Tode  Beiner  Jangen  erklärt;  der  Lnchs 
kommt  dazn ,  der  erstaunt  ist ,  den  wegen  seiner  Schlauheit  be- 
rtthmten^  Schakal  in  Verlegenheit  der  Mittel  und  Wege  zur  Ver- 
nichtung der  Papageien  zu  finden.  Endlich  räth  ihm  der.Luchs^ 
sich  lahm  zu  stellen  und  sich  von  einem  Jäger  bis  zu  der  Woh- 
nung der  Papageien  verfolgen  zu  lassen,  wo  er  sich  dann  aus 
dem  Staube  machen  könne,  während  Jener  den  Papageien  Schlin- 
gen legen  und  sie  fangen  werde. 

ImTuti-Name  finden  wir  noch  mehre  andere  Einzelmomente, 
die  auf  den  Schakal  Bezug  haben  und  welche  in  die  russischen 
Mährchen  vom  Fuchs  übergehen. 

Der  Schakal  macht,  dass  der  Wolf  in  seiner  (des  Schakals)  Höhle, 
von  der  er  Besitz  genommen,  umkommt,  indem  er  den  Hirten  ruft  ^ 
In  einer  anderen  Erzählung^  verspottet  der  schlaue  Fuchs  den  ein- 
fältigen Tiger;  doch  das  Weib  erweist  sich  an  Schlauheit  auch 
dem  Fuchs  überlegen.  Ebenfalls  im  Tuti-Name^  lesen  wir 
von  dem  Freunde  des  armen  Abnl  Megd,  der  den  in  die  Tochter 
des  Königs  Verliebten  belehrt,  wie  er  reich  werden,  oder  doch  es 
scheinen  könne,  um  die  Prinzessin  heirathen  zu  können.  In  einer 
feineren  und  interessanteren  Variation  dieser  Sage  in  den  russi- 
schen Mährchen  ist  es  dagegen  der  Fuchs,  der  den  armen  Helden 
reich  macht.  Das  neunzehnte  mongolische  Mährchen,  in  welchem 
der  falsche  Held  sein  Glück  macht  durch  den  Raub  eines  ge- 
wissen ,  schon'  vorher  in  Aussicht  genommenen  Fuchses ,  ist  eine 
andere  zwischen  den  beiden  Sagenkreisen,  dem  indischen  und 
dem  russischen,  mitteninne  stehende  Gestaltung. 

Der  Name  eines  Schakals  imPancatantraist  Dadhipuccha, 
d.  h.  Butterschwanz,  mit  Butter  bestrichener  Schwanz  (die  Aurora 
ist  ambrosisch). 

In  dem  ersten  der  Afanassieff'schen  Mährchen  verzehrt 
der  Fuchs  den  Honig,  der  dem  Wolf  gehört  (was  an  den  Plauti- 


'  Tuti-Name  II,  p.  1^  f.  —  In  einem  anderen  Mährchen  desselben 
Abends  (des  23.)  des  Tuti-Name  haben  wir  den  Luchs  (lupus  cervarius), 
der  sich  in  dem  von  dem  Aften  ab  Haushofmeister  verwalteten  Wohnsitze 
des  Löwen  häuslich  niederlässt.  In  dem  Mährchen  II  p.  7  lässt  der  Fuchs 
seinen  Knochen  ins  Wasser  fallen,  um  einen  Fisch  zu  fangen  (eine  Spiel- 
art der  bekannten  Fabel  von  dem  Hunde  und  dem  Wolf  oder  Teufel  als 
Fischer). 

>  Tuti-Name  II,  p.  141  t 

»  I,  168  ff. 


438 

nischen  Sprach  erinnert :  ^^Saepe  condita  Inpomm  fiant  rapinae  vul- 
pinm'^^),  und  klagt  dann  den  Wolf  an,  ihn  selbst  verspeist  zn  haben; 
der  Wolf  schlägt  eine  ArtOottesortheilvor;  sie  sollen  zasammen  in 
die  Sonne  gehen,  und  der,  der  Honig  von  sich  giebt,  soll  schuldig  be- 
funden werden ;  sie  gehen  und  legen  sich  nieder ;  der  Wolf  schläft  ein, 
und  als  der  Fuchs  den  Honig  von  sich  giebt^  thut  er  es  auf  den  Wolf, 
der  beim  Erwachen  sich  seh  uldig  bekennt.  Bei  AfanassiefflV,  1 
bringen  Hahn  und  Henne  dem  alten  Mann  Kornähren  und  der  alten 
Frau  Mohnköpfe;  das  alte  Paar  macht  einen  Kuchen  daraus  und 
legt  ihn  ins  Freie  zum  Trocknen. '  Da  schleichen  sich  der  Fuchs 
und  der  Wolf  herbei  und  nehmen  den  Kuchen;  bei  der  Ent- 
deckung, dass  er  noch  nicht  trocken  ist,  schlägt  der  Fuchs  vor, 
zu  schlafen,  während  er  ganz  trocknet.  Während  der  Wolf 
schläft,  verzehrt  der  Fuchs  den  Honig,  der  im  Kuchen  ist,  und 
thut  Dünger  an  seine  Stelle.  Der  Wolf  erwacht,  und  nach  ihm 
auch  der  Fuchs  aus  seinem  angeblichen  Schlafe ;  er  beschuldigt 
den  Wolf,  den  Kuchen  berührt  zu  haben;  der  Wolf  betheuert 
seine  Unschuld,  und  der  Fuchs  schlägt  als  Gottesurtheil  vor,  sie 
sollen  im  Sonnenschein  schlafen;  das  Wachs  werde  schon  bei 
dem  herauskommen ,  der  den  Honig  gegessen.  ^  De^  Wolf  legt 
sich  wirklich  schlafen ;  der  Fuchs  geht  mittlerweile  zu  einem  be- 
nachbarten Bienenkorb,  isst  den  Honig  und  wirft  die  Honigschei- 
ben auf  den  Wolf,  der  aus  seinem  Schlummer  erwachend ,  sich 
schuldig  bekennt  und  verspricht,  um  sein  Vergehen  wieder  gut 
zu  machen,  dem  Fuchs  seinen  Antheil  an  der  nächsten  Beute  zu 
überlassen.  Im  Verfolg  der  Geschichte  schickt  der  Fuchs  den 
Wolf,  um  mit  seinem  Schwänze  im  See  zu  fischen;  nachdem  er 
seinen  Schwanz  hat  erstarren  lassen,  stellt  er  selbst  sich  krank 
und  lässt  sich  vom  Wolf  tragen,  indem  er  auf  dem  Wege  das 


'  Querolns  I,  2. 

*  Bei  Afanassieff  IV,  18  entschlüpft  ein  aussergewöhnlicher  Kuchen 
auB  dem  Hause  eines  alten  Mannes  und  einer  alten  Frau  und  wandert  um- 
her; er  findet  den  Hasen,  den  Wolf  und  den  Bären,  welche  ihn  Alle  essen 
wollen;  er  singt  ihnen  Allen  seine  Geschichte  vor  und  erhält  Erlaubniss, 
weiter  zu  gehn;  er  singt  sie  auch  dem  Fuchs  vor,  doch  dieser  lobt  ewar 
den  Gesang,  verzehrt  aber  den  Kuchen,  nachdem  er  ihn  auf  seinen 
Bücken  genommen  hat« 

'  Bei  Afan.  I,  14  findet  der  Held,  Theodor,  einige  Wölfe  miteinander 
um  einen  Knochen,  einige  Bienen  um  Honig,  und  einige  Krebse  um  Ca- 
viar kämpfend ;  er  macht  eine  gleiche  Theilung  und  die  dankbaren  Wölfe, 
Bienen  und  Krebse  helfen  ihm  in  der  Noth. 


439 

Sprichwort  murmelt :  ^^Der  Geschlagene  trägt  den  Nichtgeschla- 
genen/^     In   einer  Spielart   dieses  Mährchens   frisst   der   Fuchs 
des    Wolfes   Butter    und    Mehl ;    in  '  einer  ^  anderen    giebt    der 
Fachs  vor;  während  der  Nacht  zu  dem  Kaninchen  als  Geburts- 
helfer gerufen  zu  werden^  nnd  isst  die  Butter  des  Wolfes,  den  er 
nachher  beschnldigt,  sie  selbst  verspeist  zu  haben ;  um  den  Schul- 
digen zu  entdecken;  beschliessen   sie  das  Urtheil  durch  Feuer  zu 
versuchen;  der,  aus  dessen  Fell  die  Butter  herauskommen  wird, 
soll  schuldig  befunden  werden;  vorher  gehn  sie   schlafen;    der 
Fuchs  stürzt  den  Rest  der  Butter  auf  den  schnarchenden  Wolf 
um.    Bei  Afanassieff  IV;  7  verspricht  der  Fuchs  einem  alten 
ManU;  sein  Weib  wieder  ins  Leben  zurückzurufen ;  er  ersucht  ihn, 
ein  warmes  Bad  herzurichten;  Mehl  und  Honig  zu  bringen;  und 
dann  an  der  Thilr  zu  stehen,  ohne  auch  nur  ein  einziges  Mal 
sich  umzudrehen  und  nach  dem  Bade  zu  sehen;  der  Alte  thut 
es;   der   Fuchs   wäscht  die  Alte,    dann   verspeist  er  sie,  ohne 
etwas  als  die  Knochen   übrig  zu  lassen;  sodann  macht  er  aus 
dem  Honig  und  dem  Mehl  einen  Kuchen ;  den  er  sich  ebenfalls 
wohlschmecken  lässt;  nun  ruft  er  dem  Alten  zU;  die  Thttr  weit 
aufzusperren  und  —  macht;  dass  er  fortkommt     In  dem  ersten 
Mährchen  des  ersten  Buches  geht  der  AltC;  dessen  Frau  gestorben 
ist^  auf  die  Suche  nach  Leichenbittern ;  er  findet  den  Bären ;  der 
ihm  anbietet;  zu  wehklagen ;  doch  der  Alte  hält  seine  Stimme  fUr 
nicht  gut  genug;  weiter  trifft  er  den  FuchS;  der  denselben  Dienst 
verrichten  will  und  eine  gute  Probe  von  seiner  Singfertigkeit  ab- 
legt (dieses  Moment  dürfte  besser  auf  den  heulenden  Schakal  als 
auf  den  Fuchs  passen).    Der  Alte  erklärt  sich  vollständig  befrie- 
digt und  stellt  das  schlaue  Thier  zu  Füssen  des  LeichnamS;  eine 
Wehklage  zu  singeu;  während  er  selbst  das  Grab  graben  geht;  in 
Abwesenheit   des  Alten   schmaust   der  Fuchs  Alles,   was  er   im 
Hause  findet  und  das  alte  Weib  dazu.    Im  neunten  Mährchen  des 
vierten  Buches   endet  die  Fabel    anders;  der  Fuchs   thut   seine 
Schuldigkeit  als  officieller  Todtenkläger,  und  der  Alte  belohnt  ihn 
mit  einigen  Hühnchen ;  als  der  Fuchs  jedoch  mehr  verlangt;  steckt 
jener  zwei  Hunde  und  ein  Hühnchen  in  einen  Sack ;  als  der  Fuchs 
denselben  öffnet;  springen  die  Hunde  heraus  und  verfolgen  ihn; 
er  flüchtet  sich  in  seine  Höhle ;  vergisst  jedoch  den  Schwanz  ein- 
zuziehen;   der   ihn   verräth.     ;;Cauda  de   vulpe   testatur^S  sagt 
schon  das  lateinische  Sprichwort.    In  einer  Variation  des  ersten 
Mährchens  des   ersten  Buches   erhält  der  Fuchs  als  Belohnung 
dafür,  dass  er  den  Bauer  vor  dem  3ären  gerettet  hat^  einen  Sack 


440 

mit  a^ei  Hennen  und  einem  Hunde.  Der  Hnnd  verfolgt  den 
Fuchs,  der  in  sein  Loch  kriecht^  und  dann  seine  Fttsse  fragt;  was 
sie  getban  haben;  sie  antworten ^  dass  sie  weggelaufen  wären; 
auf  dieselbe  Frage  geben  ihm  seine  Augen  und  Ohren  die  Ant- 
wort,  dass  sie  gesehen  und  gehört  hätten;  der  Schwanz  endlicb 
(hier  mit  dem  Phallus  identificirt)  antwortet  verwirrt,  er  hätte 
sich  zwischen  seine  Beine  gelegt;  um  ihn  zu  Falle  zu  bringen. 
Darauf  steckt  ihn  der  Fuchs  zur  Strafe  aus  der  Höhle  heraus;  der 
Hund  zieht  daran  den  ganzen  Fuchs  aus  seinem  Bau  und  zerreisst 
ihn.  Im  vierten  Mährchen  des  dritten  Buches  befreit  der  Fuchs 
den  Bauer  nicht  von  dem  BäreO;  sondern  von  dem  Wolf;  da* 
Bauer  betrügt  ihn  darauf  in  derselben  Weise,  indem  er  Hunde  in 
den  Sack  steckt ;  der  Fuchs  entwischt,  lässt  aber  seinen  Schwanz, 
zur  Strafe  daftlr,  dass  er  ihm  bei  der  Flucht  hinderlich  ist,  im 
Maule  des  Hundes  zurück;  darnach  ertrinkt  der  Fuchs,  indem  er 
in  ein  Fass  voll  Wasser  fällt  (ebenso  der  Pallus,  vgl.  das  Kapitel 
über  die  Fische),  und  der  Bauer  zieht  ihm  das  Fell  ab.  In  einem 
andern  russischen  Mährchen,  welches  Afanassieff  in  den  An- 
merkungen zu  dem  ersten  Buche  seiner  Sammlung  erwähnt,  rettet 
der  Fuchs  den  Bauer  vor  dem  Bären  und  verlangt  dafür  dessen 
Nase,  wird  jedoch  von  dem  Bauer  so  in  Furcht  gejagt,  dass  er 
sich  eiligst  davonmacht.  In  einem  slawischen  Mährchen,  auf  wd- 
ches  ebenda  Bezug  genommen  wird,  macht  der  Vogel  Bein  Nest, 
nach  dessen  Eiern  der  Fuchs  ein  Gelttstchen  hat;  der  Vogel  in- 
struirt  den  Hund,  welcher  den. Fuchs  verfolgt;  der  letztere,  von 
seinem  Schwanz  verrathen,  hält  das  gewöhnliche  Zwiegespräch 
mit  seinen  Füssen,  Ohren  und  dem  Schwänze.  Im  zweiundzwan- 
zigsten Mährchen  des  dritten  Buches  fällt  der  Fuchs  sammt  dem 
Bären,  dem  Wolf  und  dem  Hasen  in  eine  Grube,  in  der  kein 
Wasser  ist.  Die  vier  Thiere  werden  vom  Hunger  gepeinigt,  und 
der  Fuchs  schlägt  vor,  dass  einer  nach  dem  andern  seine  Stimme 
erheben  und  aus  vollem  Halse  schreien  solle ;  der,  dessen  Geschrei 
am  schwächsten  ist,  solle  von  den  Anderen  verzehrt  werden; 
Der  Hase  kommt  zuerst  an  die  Reihe,  dann  der  Wolf.  Nun  räth 
der  Fuchs  dem  Bären,  seine  Tatzen  in  die  Seiten  zu  stemmen 
und  so  zu  singen;  infolge  dessen  stirbt  der  Bär  und  der  Fuchs 
verzehrt  ihn.  Von  Neuem  hungrig  droht  er  einem  Vogel,  der 
seine  Jungen  füttert,  diese  zu  tödten,  wenn  er  ihm  nicht  etwas 
zu  Essen  bringe;  der  Vogel  besorgt  ihm  eine  Henne  aus  dem 
Dorfe.  Darauf  erneuert  der  Fuchs  seine  Drohungen  und  veriangt 
von  dem  Vogel  etwas  zu  Trinken;  sofort  erhält  er  Wasser  aus 


Ui 

dem  Dorfe.  Wieder  will  der  Fuchs  die  jangen  Vögelchen  am- 
briogen,  wenn  ihn  der  alte  Dicht  ans  der  Grube  befreit;  der 
Vogel  wirft  Holzscheite  hinein  und  hilft  so  dem  Fuchs  heraus. 
Darauf  verlangt  der  Fuchs  vom  Vogel,  er  solle  ihn  zum  Lachen 
bringen ;  der  Vogel  lädt  ihn  ein ,  hinter  ihm  her  zu  rennen ;  als 
sie  zu  dem  Dorfe  kommen,  schreit  er:  ^^Frau,  Frau,  bring  mir  ein 
Stück  Talg''  (babka,  babka,  priniessi  mniä  sala  kussök);  die 
Hunde  hören  das  Geschrei,  kommen  herbei  und  machen  dem 
Fuchs  den  Garaus.  Im  vierundzwanzigsten  Mährchen  des  dritten 
Buches  rettet  wiederum  der  Fuofas  den  Bauer  vor  dem  Wolf; 
diesen  hat  nämlich  der  Bauer  in  einen  Sack  eingeschlossen,  um 
ihn  vor  der  Verfolgung  der  Jäger  zu  schützen.  Kaum  ist  der 
Wolf  ausser  Gefahr,  als  er  den  Bauer  fressen  will,  mit  dem  Be- 
merken: „Alte  Gastfreundschaft  wird  vergessen.''^  Der  Bauer 
ersucht  ihn,  doch  das  Urtheil  des  ersten  Vorübergehenden  abzu- 
warten; der  Erste,  dem  sie  begegnen,  ist  eine  alte  Stute,  die 
ihres  Alters  wegen  aus  dem  Stall  fortgeschickt  worden  ist,  nach- 
dem sie  lange  ihrem  Herrn  gedient  hat;  sie  findet  die  Ansprüche 
des  Wolfes  ganz  gerecht.  Der  Bauer  bittet  den  Wolf,  doch  noch 
auf  einen  zweiten  Passanten  zu  warten ;  das  ist  ein  alter  schwarzer 
Hund,  der  nach  langen  Diensten  aus  dem  Hanse  geworfen  ist, 
wdl  er  nicht  einmal  mehr  bellen  kann;  er  stimmt  d^  Entschei- 
dung der  Stute  bei.  Der  Wolf  lässt  sich  erbitten,  noch  auf  einen 
dritten  und  entscheidenden  Richter  zu  warten;  sie  treffen  den 
Fuchs,  der  zu  einer  sehlauen  Kriegslist  seine  Zuflucht  nimmt;  er 
stellt  sich,  als  ob  er  an  der  Möglichkeit  zweifle,  dass  ein  so 
grosses  Thier  wie  der  Wolf  in  einen  so  kleinen  Sack  gehe. 
Höchlich  entrüstet  über  so  ungerechtes  Misstrauen,  beweist  der 
Wolf,  dass  er  die  Wahrheit  gesagt,  kriecht  wieder  in  den  Sack 
und  wird  von  dem  Bauer  so  lange  geprügelt,  bis  er  todt  ist 
Doch  beweist  sich  der  Bauer  selbst  gegen  den  Fuchs  undankbar, 
indem  er  sagt,  dass  alte  Gastfreundschaft  zu  vergessen  sei 
(eigentlich:  die  gastliche  Aufnahme  mit  Brod  und  Salz,  hlieb- 
sol).  In  dem  achten  Mähreben  des  vierten  Buches  bringt  der 
Fuchs  auf  seinem  Rücken  ein  Mädchen,  das  sich  im  Walde  verirrt 
hat  und  das  er  weinend  auf  einem  Baume  fand,  zu  seinen  Eltern 
zurück.  Die  Alten  jedoch  sind  dem  Fuchs  nicht  dankbar;  denn 
auf  seine  Bitte  um  eine  Henne  als  Belohnung  stecken  sie  ihn 


'  Vgl.  Lou  loup  penjat  in  den  Contes  de  rArmagnac,  gesam« 
melt  von  Blad^,  Paris  1867,  p.  9. 


442 

mit  eineiu  Hnude  zusammen  in  einen  Sack ;  der  Rest  des  Mähr- 
chens ist  dem  Leser  schon  bekannt  In  dem  dreiundzwanzigsten 
Mährchen  des  vierten  Buches  heirathet  der  Fuchs  die  Katze  und 
jagt  den  Bären  und  den  Wolf  in  die  Flucht.  Wir  haben  schon 
den  Fuchs  des  russischen  Mährchens  erwähnt,  welcher  den  Wolf 
schickt;  mit  seinem  Schwänze  Fische  zu  fangen ,  wobei  der 
Schwanz  erfriert.  In  einem  norwegischen  Volksmährchen  wird 
statt  des  Wolfes  der  Bär  auf  diese  Weise  von  dem  Fuchs  be- 
trogen. In  einem  serbischen  Mährchen  hören  wir  von  einem 
Fuchs,  welcher  von  einem  Wagen  drei  Käse  stiehlt,  und  nachher 
von  dem  Wolf  gefragt  wird,  wo  er  sie  gefunden  habe.  Der  Fuchs 
antwortet,  im  Wasser.  Der  Wolf  will  auch  Käse  fischen,  und 
lässt  sich  vom  Fuchs  zu  einer  Quelle  führen,  in  deren  Wasser  sich 
der  Mond  spiegelt;  diesen  bezeichnet  der  Fuchs  als  Käse;  der 
Wolf  müsse  nur  das  Wasser  auflecken,  um  dazu  zu  kommen.  Der 
Wolf  leckt  und  leckt,  bis  ihm  das  Wasser  zu  Mund,  Nase  und 
Ohren  herauskommt  (wahrscheinlich  weil  er  in  der  QueUe  ertrank). 
Der  Wolf,  das  schwarze  Ungeheuer  der  Nacht,  nimmt  die  Stelle 
der  Krähe  in  Verbindung  mit  dem  Käse  (dem  Monde)  und  dem 
Fuchs  ein;  das  serbische  Mährchen  selbst  sagt  uns,  was  der  Käse 
darstellt  ^).  In  einem  russischen  Mährchen ,  das  im  Jahre  1860 
von  Podsniesznik  publicirt  und  in  den  Anmerkungen  zu  dem 
ersten  Buche  der  Afanassieffschen  Sammlung  angeführt  ist, 
wird  der  Fuchs  von  einem  Bauer  getödtet,  dem  er  Fische  ge- 
stohlen hat;  der  Bauer  zieht  ihm  das  FeU  ab  und  geht  davon. 
Da  kommt  der  Wolf  und  wehklagt  beim  Anblicke  seines  Pathen 
ohne  Fell  über  dessen  Leichnam  nach  der  vorgeschriebenen  Gere- 
monie,  dann  —  Msst  er  ihn.  Wir  sahen  den  Fuchs  schon  als 
Leichenbitter  und  als  Geburtshelfer.  Bei  Afanassieff  III,  20 
will  der  Fuchs  als  Grobschmied  arbeiten.  In  anderen  russischen 
Mährchen  haben  wir  den  Fuchs-Beichtvater  und  den  Fuchs-Arzt; 
endlich  ist  der  Fuchs  als  Pathe  ein  sehr  beliebtes  Thema  der 
russischen  Mährchen.  In  einem  derselben^  erscheint  der  Fuchs 
als  Heirathsvetmittler  zwischen  zwei  jungen  Männern  und  zwei 
Prinzessinnen.    Doch  vor  AUem  ist  der  Fuchs   dadurch  berühmt. 


'  Vgl.  den  englischen  Ausdruck,  den  man  vom  Monde  gebraucht: 
„made  of  green  cheese^*  (aus  grünem  Käse  gemacht);  es  ist  dies  der  schon 
früher  besprochene  Zusammenhang  zwischen  Grün  und  Gelb. 

'  Siehe  das  russische  Historische  und  Juridische  Archiv  Ka- 
la« so  ffs  Nr.  i. 


\ 


443 

dass  er  die  Heirath  des  armen  Bnhtan  Buhtanoyi(5  nnd  seiner 
alter  ego,  Koszma  Skorobogatoi  (i.  e.  Cosimo  der  Schnell-reich-ge- 
wordene)  mit  der  Tochter  des  Tzaren  zu  Stande  gebracht  hat. 
Buhtan  besitzt  nur  fttnf  Kopeken.  Der  Fuchs  hat  sie  gewechselt 
und  bittet  den  Tzaren ;  ihm  einige  Scheifel  zu  leihen;  um  damit 
das  Geld  zu  messen.  Diese  Scheffel  werden  jedes  Mal  zu  klein 
befunden  und  grl^ssere  gefordert^  bei  deren  Benutzung  der  schlaue 
Fuchs  immer  Sorge  trägt,  eine  kleine  Münze  auf  dem  Boden 
zu  lassen.  Der  Tzar  ist  tlber  den  Reichthum  Buhtans  erstaunt, 
und  der  Fuchs  verlangt  die  Tochter  des  Tzaren  für  Buhtan  zur 
Gemahlin.  Doch  dieser  will  den  Bräutigam  erst  sehen.  Wie  ihn 
anziehen?  Der  Fuchs  lässt  nun  Buhtan  in  den  Sumpf  nahe  bei 
des  Königs  Palast  fallen;  während  sie  über  eine  kleine  Brücke 
gehen.  Er  geht  darauf  zu  dem  Tzaren,  berichtet  ihm  das  Un- 
glück, und  bittet  ihu;  für  Buhtan  einen  Anzug  zu  leihen.  Buhtan 
legt  ihn  an  und  betrachtet  unablässig  dieses  sein  neues  Aeus- 
seres.  Als  der  Tzar  darüber  erstaunt  ist,  beeilt  sich  der  Fuchs 
zu  bemerken,  dass  Buhtan  nie  vorher  so  schlechte  Kleider  ange- 
habt hat;  und  nimmt  die  erste  Gelegenheit  wahr,  Buhtan  vor 
einem  so  verdächtigen  Auftreten  zu  warnen.  Darauf  starrt  Buh- 
tan immerfort  nur  die  goldene  Tafel  an;  dem  darüber  verwun- 
derten Tzaren  erklärt  der  Fuchs,  in  Buhtans  Palast  fänden  sich 
solche  Tafeln  nur  im  Badezimmer;  mittlerweile  giebt  er  auch 
Buhtan  einen  Wink,  sich  doch  mehr  umzusehen.  Die  Hochzeit 
wird  gefeiert,  und  die  Braut  heimgeführt  Der  Fuchs  läuft  voraus ; 
doch  statt  sie  in  Buhtans  ärmliche  Hütte  zu  führen,  bringt  er  sie 
•in  ein  verzaubertes  Schloss,  nachdem  er  durch  einen  listigen 
Streich  die  Schlange,  die  Krähe  und  den  Hahn  daraus  vertrieben.  ^ 
—  Dem  armen  Kuszinka  sind  nur  ein  Hahn  und  fünf  Hennen 
geblieben.  Er  föngt  den  Fuchs  durch  Ueberraschung,  als  derselbe 
im  Begriff  ist,  seine  Hennen  zu  fressen,  lässt  sich  jedoch  durch 
dessen  Bitten  bewegen,  ihn  frei  zu  lassen.  Der  dankbare  Fuchs 
verspricht,  ihn  in  Cosimo  den  Schnell-reich-gewordenen  zu  ver- 
wandeln. Der  Fuchs  geht  in  den  Park  des  Tzaren  und  trifft 
den  Wolf;  der  ihn  fragt,  wie  er  so  fett  geworden  sei;  er  ant- 
wortet; er  habe  im  Schlosse  des  Tzaren  bankettirt  Der  Wolf 
drückt  den  Wunsch  aus,  ebenfalls  dorthin  zu  gehen;  und  der 
Fuchs  räth  ihm,  vierzig  mal  vierzig  (also  1600)  Wölfe  einzuladen. 
Der  Wolf  folgt  seinem  Bath  und   bringt  sie  alle  zu  dem  Palast 


*  Afan.  IV,  10. 


U4 

de»  TzareO;  worauf  der  Fuchs  dem  Tzaren  erzählt;  Cosimo  der 
Seh nell-reieh-ge wordene  sehicke  ihm  die  Wölfe  zum  Geschenk.  Der 
Tzar  ist  Über  den  grossen  Reich tb um  Cosimos  erstaunt;  der  Fuchs 
wendet  dieselbe  List  noch  zweimal  an;  mit  den  Bären  und  den 
Mardern.  Darnach  bittet  er  den  Tzaren,  ihm  einen  silbernen 
Scheffel  zu  leihen,  da  Cosimos  goldene  alle  voll  Geld  seien.  Der 
Tzar  giebt  ihm  einen,  und  als  ihn  der  Fuchs  zurückschickt,  lässt 
et  ein  paar  kleine  Münzen  auf  dem  Boden  zurUck  und  ersucht 
den  Tzaren,  seine  Tochter  dem  Cosimo  zur  Ehe  zu  geben.  Der 
Tzar  entgegnet,  erst  müsse  er  den  Bewerber  selbst  sehen.  Der 
Fuchs  lässt  den  Cosimo  ins  Wasser  fallen  und  stafürt  ihn  mit 
vom  Tzar  geliehenen  Kleidern  aus,  der  ihn  mit  grossen  Ehrenbe- 
zeigungen empfängt.  Nach  einiger  Zeit  giebt  der  Tzar  den 
Wunsch  zu  erkennen,  Cosimos  Aufenthaltsort  zu  besuchen.  Der 
Fuchs  geht  voraus,  und  findet  auf  dem  Wege  Herden  von  Schafen, 
Schweinen,  Kühen  und  Kamelen.  Er  fragt  alle  Hirten,  wem  die* 
selben  gehören,  und  erhält  überall  zur  Antwort:  „Dem  Schlangen- 
Lanzenreiter^^  Der  Fuchs  befiehlt  ihnen,  zu  sagen,  dass  sie  Co- 
simo dem  Scbnell-reich-gewordenen  gehörten,  sonst  würden  sie 
von  König  Feuer  und  Königin  Loszna '  Alles  zu  Asche  gebrannt 
sehen.  Er  kommt  zu  dem  Palast  von  weissem  Stein,  in  welchem 
der  König  Schla&gen-Lanzenreiter  lebt.  Er  jagt  ihn  in  Schrecken 
und  zwingt  ihn,  sich  in  den  Stamm  eines  Eichbaumes  zu  flüchten, 
wo  er  verbrannt  wird.  Cosimo,  der  Schnell-reich-gewordene  wird 
Beherrscher  aller  Besitzungen  des  Schlangen-Lanzenreiters  und 
geniesst  sie  mit  seiner  Braut.  ^  (Ich  habe  nicht  nöthig,  mich  bei 
der  mythologischen  Bedeutung  dieses  Mährchens  aufzuh^ten;^ 
die  von  Feuer  verzehrte  Schlange  findet  sich  in  den  primi- 
tivsten Mythen;  hier  scheint  der  canis-vulpes,  die  rothe  Hün- 
din, der  Fuchs  theilwds  die  Rolle  der  vedischen  Boten-Htlndin  zu 
spielen.) 

Im  ersten  Mährchen  Afanassieffs  jagt  der  Fuchs  statt 


'  £b  ist  vielleicht  beachtenswerth,  dass  im  piemontesischen  Dialekt  der 
BUtK  1  o  8  2  n  a  heisst. 

*  Afan.  IV,  11.  Im  Pentamerone  II,  4  ist  es  statt  des  Fuchses 
die  Katze,  welche  den  Pippo  Gagliufo  reich  macht  und  vor  ihm  her  rennt. 
£ben80  wie  sich  in  den  russischen  Mährchen  der  Mann  undankbar  gegen 
den  Fuchs  zeigt,  so  verflucht  im  Pentamerone  die  Katze  schliesslich 
den  undankbaren  Pippo  Gagliufo,  dem  sie  Wohlthaten  erwiesen  hatte.  In 
der  folgenden  Erzählung  bietet  sieh  der  Fuchs  der  jungen  Braut,  die  ihren 
verlorenen  Gemahl  sucht,  zum  Gefährten  an. 


V 


445 

der  Schlange  den  Hasen  aus  seinem  Wohnsitze.  Der  Fuchs  hat 
ein  Haus  von  Eis,  der  Hase  eins  von  Holz.  Beim  Nahen  des 
Frühlings  schmilzt  das  Haus  des  Fuchses ;  da  dringt  er  unter  dem 
Vorwand  sich  zu  wärmen  in  des  Hasen  Haus  ein  und  jagt  den 
Besitzer  fort  Der  Hase  weint  und  die  Hunde  kommen^  um  den 
Fuchs  wegzujagen;  doch  der  ruft  von  seinem  Sitze  am  Ofen  aus, 
wenn  er  herausspringe,  so  werde  Jeder,  den  er  zu  fassen  be- 
komme, in  tausend  Sttlcke  gerissen  werden;  daraofhin  laufen 
die  Hunde  erschrocken  davon.  Der  Bär  kommt,  dann  der  Stier; 
doch  auch  ihnen  jagt  der  Fuchs  Schrecken  ein.  Schliesslich  er- 
scheint der  Hahn  mit  einer  Sense  und  fordert  ihn  laut  auf,  heraus- 
zukommen, falls  er  nicht  zerschnitten  werden  wolle.  Der  er- 
schrockene Fuchs  springt  heraus  und  wird  mit  der  Sense  zer- 
fleischt. In  einem  anderen  kleinrussischen  Mährchen,  in  den  An- 
merkungen Afanassieffs  zu  dem  ersten  Buche  seiner  Samm- 
lung, ist  dagegen  der  Fuchs  das  Opfer,  welches  die  behaarte 
Ziege  aus  seinem  Wohnsitze  vertreiben  will.  Mehre  Thiere,  Wolf, 
Löwe  und  Bär  bieten  ihre  Hilfe  an;  doch  nur  dem  Hahn  allein 
gelingt  es,  den  Eindringling  wieder  herauszutreiben.  Hier  erscheint 
der  Hahn  als  der  Freund  des  Fuchse»  und  der  Feind  der  Ziege. 
Bei  Afanassieff  HI,  23  vertheidigt  der  Fuchs  das  Schaf  gegen 
dto  Wolf,  der  es  beschuldigt,  sich  in  sein  Fell  gehüllt  zu  haben, 
und  stürzt  durch  seine  Schlauheit  den  Wolf  ins  Verderben.  IV,  3 
retten  Katze  und  Lamm  den  Hahn  vor  dem  Fuchs;  diese  Wider- 
sprüche erklären  sich  durch  die  zwiefache  mythische  Bedeutung, 
die  wir  oben  dem  Fuchs  zugewiesen  haben,  und  durch  seine 
Doppelnatur  als  Abend-  und  als  Morgen- Aurora.  Am  Abend  be- 
trügt er  gewöhnlich  den  Helden,  am  Morgen  das  Ungeheuer.  Bei 
Afanassieff  IV,  2  ersucht  der  Fuchs  den  Hahn,  vom  Baume 
herabzukommen,  um  ihm  zu  beichten.  Der  Hahn  thut  es  und 
soll  eben  vom  Fuchs  verspeist  werden ;  da  schmeichelt  er  diesem 
so,,  dass  er  ihn  entschlüpfen  lässt.  (Der  Sonnenhahn,  in  der 
Nacht  in  Gewalt  des  Fuchses,  entwischt  ihm  und  kommt  am 
Morgen  wieder  hervor.)  Das  Mährchen  IV,  3  giebt  uns  den  inter- 
essanten Text  der  Worte,  mit  denen  der  Fuchs  den  Hahn  be- 
trügt: 

^Uähncheti,  Hähnchen, 

Mit  dem  goldenen  Eämmofaen, 

Mit  dem  Butterkopf, 

Mit  der  Stirn  Ton  geronnener  Milcht 

Zeig*  Dich  am  Fenster; 


446 

Ich  geb'  Dir  etwas  Uaferschleim 
In  einem  rothen  Löffel/* ' 

Vom  Fuchs  gefangen,  ruft  der  Hahn  den  Beistand  der  Katze 
an  nnd  schreit:  ,,Mieh  bat  der  Fachs  fortgeschleppt;  er  trag  mich; 
den  Hahn ;  in  den  finst^n  Wald,  in  ferne  Lande ^  in  fremde 
Lande,  aaf  die  dreimalneante  (siebenandzwanzigste)  Erde,  in  das 
dreissigste  Königreich;  Katze  Catonaieyi6,  rette  mich!'^ 

Die  Schelmenstreiche  des  Fachses  sind  jedoch  weit  mehr  im 
Occident  als  im  Orient  berühmt.  Ein  Sprichwort  sagt,  dass,  am 
aU  die  hinterlistigen  Schurkereien  des  Fachses  aufzuschreiben, 
alle  in  Ghent  fabricirten  Stoffe,  als  Pergament  verwandt,  nicht 
ausreichen  würden.  Dieses  Sprichwort  rechtfertigt  mich,  wenn 
ich  nur  wenig  davon  sage,  weil  ich  nicht  so  viel  sagen  darf,  als 
ich  wünschte.  Griechen  und  Römer  ergehen  sich  in  unzähligen 
Betrachtungen  über  die  Schlauheit  und  die  Falschheit  des  Fuchses. 
Der  cynische  Maccbiavelli  stellt  im  18.  Kapitel  des  „Principe^' 
den  Grundsatz  auf,  ein  guter  Fürst  müsse  zwei  Thieren  nach- 
ahmen, dem  Fuchse  und  dem  Löwen  (d.  h.  müsse  Schlauheit  und 


'  „Pietushök,  pietusbök, 

Zalatöi  grebesbök, 

Mäsliannaja  galovka,  * 

Smiatanij  lobök; 

Vigbliani  v  oshko; 

Dam  tebie  kashki, 

Na  krasDoi  loszkie/* 
lu  einem  noch  nicht  veröfientlicbten  toscaniscben  Mäbrcben,  das  leb 
in  Antignano  bei  Livomo  enäblen  borte,  will  ein  Uabncben  mit  seinem 
Vater  (dem  Hahn)  in  die  Maremma  geben,  um  Futter  zu  sucben.  Sein 
Vater  rätb  ibm,  es  nicht  zu  tbun,  aus  Furcbt  vor  dem  Fuchs;  doch  das 
Küchlein  ist  eigensinnig;  auf  dem  Wege  triftt  es  den  Fucbs,  der  es  auf- 
fressen will,  als  das  Hübnchen  ibn  bittet,  es  docb  in  die  Maremma  geben 
zu  lassen,  wo  es  fett  werden,  Eier  legen ,  Junge  ausbrüten  und  so  dem 
Fucbse  mit  einem  viel  gebaltreicberen  Aiahle  aufwarten  werde,  als  es  jetzt 
könne.  Der  Fucbs  ist  zufrieden.  Das  Hübncben  brütet  bundert  Junge 
aus;  als  sie  gross  geworden  sind,  machen  sie  sich  auf  den  Heimweg;  jedes 
Ton  ihnen  trägt  eine  Aebre'  im  Schnabel,  nur  das  jüngste  nicht.  Auf  dem 
Wege  treffen  sie  den  Fucbs,  der  auf  sie  wartet;  verwundert  beim  AnbUck 
der  Tbiere,  die  aUe  Stroh  im  Schnabel  baben,  fragt  er  die  Alte,  was  sie 
denn  tragen.  „Lauter  Fuchsschwänze,^'  entgegnet  diese;  der  Fucbs  giebt 
Fersengeld.  —  Den  Fuchsschwanz  in  Verbindung  mit  Komäbren  finden 
wir  in  der  Sage  von  Simson;  der  brandstifbende  Fucbs  findet  sich  auch 
bei  Ovid,  Fasti  IV,  705.  —  Bei  Sextus  Empiricus  lesen  wir,  dass 
ein  Fuchsschwanz,  einem  schwachen  Elbemann  an  den  Arm  gehängt,  dem- 
selben von  grossem  Nutzen  ist. 


447 

Kraft  besitzen),  doch  besonders  dem  Fuchse;  und  dies  entspricht 
der  Sentenz,  welche  von  Plutarch  (in  den  Moralia)  dem  Lysander 
beigelegt  wird ;  „Wo  das  Löwenfell  nicht  genügt,  kleide  dich  in 
das  des  Fuchses".  Aristoteles  betrachtet  im  nennten  Buche  der 
Tbiergeschichte  den  Fuchs  ebenfalls  als  den  Freund  der 
Schlange;  wahrscheinlich  wegen  der  Analogie,  welche  zwischen 
ihnen  in  Bezug  auf  Falschheit  nach  einem  andern  griechischen 
Sprichwort  besteht,  welches  sagt:  „Wer  triumphiren  will,  muss 
sich  mit  der  Stärke  des  Löwen  und  der  Klugheit  der  Schlange 
waffiien".    Ein  sprichwörtlich  gewordener  lateinischer  Vers  sagt: 

„Vulpes  amat  fraudem,  lupus  agnam,  femina  laudem/^ 

Es  giebt  in  der  griechiscUen  und  römischen  Fabelwelt  kaum 
ein  Thier,  welches  nicht  vom  Fuchs  betrogen  wird;  nur  dem 
Fuchs  allein  gelingt  es  nicht,  den  Fuchs  zu  täuschen.  Bei  Aesop 
versucht  ein  Fuchs,  der  in  einer  Falle  seinen  Schwanz  verloren 
hat,  die  anderen  Füchse  von  der  Nutzlosigkeit  dieses  Anhängsels 
zu  überzeugen;  diese  jedoch  entgegnen,  er  würde  ihnen  eine 
solche  Belehrung  gar  nicht  haben  zukommen  lassen,  wenn  er 
nicht  selbst  recht  gut  wüsste,  dass  der  Schwanz  ein  nützliches 
Glied  ist  Der  Fuchs  betrügt  den  Esel,  den  er  dem  Löwen  zur 
Beute  fallen  lässt  (wie  im  Pandatantra) ;  er  betrügt  den -Hasen, 
den  er  dem  Hunde  in  die  Hände  spielt;  dieser  kommt  jedoch  bei 
Verfolgung  des  Hasen  um  Hase  und  Fuchs ; '  er  betrügt  die  Ziege, 
welche  er  in  den  Brunnen  lockt  und  darin  ihrem  Schicksal  über- 
lässt;  er  täuscht  auf  mehrfache  Weise  bald  den  Hahn,  bald  den 
Wolf;  und  er  spielt  sogar  dem  mächtigen  Könige  der  Thiere 
seine  Streiche,  wobei  er  jedoch  auch  zuweilen  Unglück  hat.  Eine 
schöne  Fabel  des  Thomas  Morus  zeigt  uns  das  Gegenstück  zu 
der  griechischen  Fabel  von  dem-  Fuchs  und  dem  kranken 
Löwen,  d.  h.  den  kranken  Fuchs,  der  von  dem  Löwen  besucht 
wird: 

„Dum  jacet  aogusta  vulpes  aegrota  caveraa, 

Ante  fores  blando  constitit  ore  leo.  * 
Etquidy  amica,  vale.    Cito  me  lambeute  valebis, 

Nescis  in  lingua  vis  mihi  quanta  niea. 

'  So  kann  im  Mjrthus  der  üund  des  Kephalos  durch  eine  Bestimmung 
ded  Schicksals  den  Fuchs  nicht  einholen;  weil  jedoch  andrerseits  durch 
eine  Bestimmung  des  Schicksals  auch  Niemand  dem  Hunde  des  Kephalos 
entrinnen  kann,  so  werden  Beide,  Hund  und  Fuchs,  auf  den  Befehl  des 
Zeus  in  Steine  verwandelt  (die  beiden  Auroren  oder  die  untergehende 
Sonne  und  der  untergehende  Mond). 


I 


i 


448 

Lingua  tibi  medica  est,  vulpes  ait,  at  nocet  illnd, 
Vicinos  quod  habet  tarn  bona  lingua  malos/' 

Wenn  wir  nun  gar  in  das  Mittelalter  kommen;  so  entwickelt 
sich  die  Fabel  von  dem  Fuchs  in  solcher  Mannigfaltigkeit;  dass 
das  Studium  aller  Phasen,  die  sie  durchmacht;  das  Thema  eines 
besondern  Werkes  werden  mttsste.^  Es  genüge  hier  die  Bemer- 
kung; dasS;  um  die  Idee  des  Fuchses  als  des  Typus  jeder  Art 
von  Bosheit  und  Schlauheit  in  Flandern  und  in  der  Folge  in 
Frankreich  und  Deutschland  populär  zu  machen;  es  der  Priester 
ist;  welcher  meistentheils  die  menschliche  Verkörperung  des  männ- 
lichen Reinart  ist.  Die  Procession  du  Renart  ist  berühmt; 
es  war  eine  Farce,  von  Philipp  le  Bei  1313  bei  (Gelegenheit  seines 
Streites  mit  dem  Papste  Bonifacius  VIII.  ersonnen  und  von  den 
Pariser  Scholaren  in  Scene  gesetzt.  Die  Hauptperson  war  ein  in 
ein  Fuchsfell  gehüllter  und  darüber  eiü  Chorhemd  tragender  Mann, 
dessen  Hauptbeschäftigung  es  war,  Hühnchen  zu  jagen.  Diese 
Gestalt  der  Satire  gegen  die  Kirche  geht  jedenfalls  auf  frühere 
Zeiten  zurück,  bis  auf  die  Epoche  der  ersten  Differenzen  zwischen 
Kirche  und  Reich  im  XI.  Jahrhundert,  in  welchem  zwei  lateinische 
Gedichte  auftauchten,  Reinardus  Vulpes  und  Ysengrimus; 
mit  dem  Schisma  von  England  und  der  Reformation  des  XVI. 
Jahrhunderts  wurde  jedoch  Reinardus  Vulpes' entschieden 
ein  römischer  Fuchs.  Die  Feinheit  und  Vollkommenheit  des 
Gedichtes,  welches  S.  Naylor,  sein  englischer  Uebersetzer,  die 
„unheilige  Schriit  der  Welt''  nennt,  vermehrte  noch  die  Popularität 
des  Fuchses  und  machte  ihn  noch  sprichwörtlicher.  Die  Haupt- 
themen des  Gedichtes  waren  sphon  da,  nicht  allein  in  mündlicher, 
sondern  auch  in  schriftlicher  Uebcrliefernng;  sie  wurden  geordnet 
und  gruppirt,  und  dem  Fuchse  ward  eine  menschlichere,  eine 
boshaftere,  ja,  eine  noch  heuchlerischere  und  pfäffischere  Natur 
denn  bev*or  gegeben;  leider  jetzt  nur  mehr  denn  je  — 

„Urbibus  et  castris  regnat  et  ecclesiis." 

Macchiavelli,  St.  Ignazio  di  Loyola    und  St  Vincenzo  de'  Paoli 


'  Diese  Arbeit  ist  allerdings  fast  schon  vollständig  besorgt,  wenigstens 
was  den  fränkisch-germanischen  Theil  betri£ft,  in  der  gelehrten  und  inter- 
essanten Einleitung  (pp.  5 — 163),  welche  Ch.  Potvin  seiner  gebundenen 
Uebersetzung  des  Roman  duEenard  (Paris,  Bohu^;  Bruzelles,  Lacroiz, 
1861)  vorausgeschickt  hat.  Ich  höre,  dass  Prof.  Scbiefher  vor  drei  Jahren 
in  Petersburg  Vorlesungen  über  das  Mährchen  vom  Fuchs  gehalten  hat, 
weiss  jedoch  nicht,  ob  dieselben  publicirt  worden  sind. 


449 

haben   dafür  gesorgt  ^  seinen  Typus  über   die    ganze  Welt  zu 
verbreiten. 

Der  Wolf  ist  besser,  wenn  er  ein  Wolf  ist,  denn  dann  wissen  ^ 
wir  wenigstens,  was  er  will ;  wir  wissen,  dass  er  unser  Feind  ist, 
und  sind  infolge  dessen  auf  unserer  ßut;  doeb  auch  er  verkleidet 
sich  bisweilen  durck  Betrug  und  Zauberei  als  Schaf,  als  Schäfer, 
Mönch  oder  Bttsser,  gleich  Ysengrim,  und  hat  von  diesem  Ge- 
sichtspunkt ans  nicht  wenig  Aehnlichkeit  mit  seiner  Pathe,  dem 
Fuchse;  es  ist  bekannt,  dass  unter  den  Streichen  Reinarts  auch 
eine  aussereheUche  Verbindung  mit  der  Wölfin  ist. 

Schon  im  Bigveda  finden  wir  mehre  interessante  mythische 
Daten  über  den  Wolf;  er  ist  darin  ganz  und  gar  dämonisch,  wie 
der  erschöpfte  Vrika,  welchem  in  einem  Hymnus  die  A^vins  seine 
Kräfte  wiedergeben,  *  mir  nicht  der  Wolf,  sondern  die  Botenkrähe 
zu  sein  scheint,  welche  während  der  Nacht  den  Sonnenhelden 
tragen  moss. 

Im  Bigveda^  sagt  der  Fromme,  dass  einstmals  der  röth- 
liehe  Wolf  (welcher  hier  mit  dem  Schakal  oder  dem  Fuchs  ver- 
wechselt zu  werden  scheint)  ihn  auf  dem  Wege  kommen  sah,  und 
dass  er  erschrocken  floh ;  ^  er  ruft  die  (glänzende)  Nacht  an,  den 
Wolf,  den  Räuber  weit  fort  zu  senden,^  und  den  Gott  Pdshan 
(die  Sonne),  den  bösen  Wolf,  den  bösen  Geist,  von  dem  Pfade  der 
Frommen  zu  entfernen,  den  Wolf,  den  wegelagemden,  diebischen, 
betrügerischen,  falschen.  ^  Nachdem  der  Dichter  den  Feind  Vrika 
genannt  hat,  bittet  er,  mit  Verwünschungen,  dass  er  seinen  eignen 
Körper  zerreisse ;  ^  und  das  wilde,  zaubermächtige  Thier,  ^  welches 
Indra  tödtet,  ist  wahrscheinlich  ein  Wolf.  Doch  glaube  ich  ausser- 
dem in  dem  Kigveda  den  lupus  piscatör  der  russischen 
und  westlichen  Sage  zu  finden  (nach  Aelian  gab  es  den  Fischern 
befreundete  Wölfe  am  Palus   Maeotis).     Im  seehsundfunfzigsten 


»  Vrik^^  öi^  ^a^ün^tk  ^ktam;  Rigy.  yil,  €iÖ,  8.  —  Der  d«^k- 
bare  Wolf  und  die  dankbare  Krähe  leisten  dem  Iwan  Tzarevid  gemein- 
samen Beistand  bei  A  fan.  II,  24. 

*  Aruno  mä  sakrid  vf ika^  pathä  yantam  dadar9a  hi  u^  gihite  niddyya ; 
Rigv.  I,  105,  18.      * 

*  Yävayä  vi'ikyam  vrikam  yavaya  stenam  drmya;  Rigv.  X,  127,  6.  — 
Ein  Wolf,  im  Traum  gesehn,  kündigt  nach  Cardano  einen  Räuber  an. 

<  Yo  nah  püshann  agho  vriko  duh9eva  &dide9ati  apa  sma  tvam  patho 
^ahi  —  Paripanthinam  mashivftnam  hnra9ditam  —  Dvayftvinai^;  9^6^*  I) 
42,  2-4. 

*  Svayam  ripus  tanvam  ririshishta;  Rigv.  VI,  51,  6.  7. 

*  Mäyinam  mrigam;  Rigv.  I,  80,  7. 

Ouberufttls,  «U«  Thiere.  29 


! 


450 

Hymnus  des  achten  Buches  ruft  Matsya  (der  Fisch)  die  ädityas 
(d.  h.  die  glänzenden  Götter)  an,  ihn  und  die  Seinigen  aus  dem 
Rachen  des  Wolfes  zu  befreien.  So  müssen  wir  in  einer  andern 
Strophe  desselben  Hymnus  mit  Grund  annehmen ,  dass  es  ein 
Fisch  ist,  welcher  spricht,  wenn  sie,  die  einen  schrecklichen  Sohn 
hat  (d.  h.  die  Mutter  der  Sonne),  apgerufen  wird  als  Beschtttzerin 
vor  dem ,  der  in  den  seichten  Wassern  sie  zu  tödten  versucht.  * 
Wir  finden  auch  einen  in  seichtem  Wasser  liegenden  Fisch  aus- 
drücklich in  einem  anderen  Hymnus  erwähnt,  *  was  uns  beweist, 
dass  das  Bild  des  Fisches  ohne  Wasser,  welches  in  der  späteren 
indischen  Sage  eine  weite  Entwicklung  erfuhr,  schon  dem  vedi- 
sehen  Zeitalter  vertraut  war.  Wir  finden  den  Hund  als  dert 
Feind  des  Wolfes  in  den  indischen  Worten  vrik&ri,  vrikar&ti 
und  vrikadan^a.  (Bei  Afanassieff  IV,  13  will  der  Wolf  den 
Hund  fressen;  der  Letztere,  welcher  sich  zu  schwach  zum  Wider- 
stände fahlt,  bittet  den  Wolf,  ihm  etwas  zu  essen  zu  bringen,  damit  er 
grösser  und  dem  Gaumen  des  Wolfes  angenehm  werde;  als  er 
sich  jedoch  ordentlich  re'staurirt  bat,  ftlhlt  er  Kraft  und  jagt  den 
Wolf  in  die  Flucht.  Die  Feindschaift  des  Hundes  und  des  Wolfes 
wurde  auch  volksthfimlioh  in  den  äsopischen  Fabeln.) 

Schon  im  Rämäyana^  treffen  wir  den  sprichwörtlichen 
Ausdruck  von  den  Schafen,  die  sich  nicht  mehren,  wenn  sie  der 
Wolf  oder  Schakal  hütet  (rakshayämanä  na  vardhante  meshä 
gomäyunä). 

Im  Mahäbharata  heisst  der  zweite  der  drei  Söhne  Euntis, 
der  starke,  schreckliche  und  gefrässige  Bhima,  Wolfs  bauch 
(Vrikodara,  der  in  die  nächtliche  oder  winterliche  Dunkelheit 
eingeschlossene  Sönnenheld).  Hier  zeigt  der  Wolf  eine  heldische 
und  mitleidige  Natur,  wie  er  im  Tuti-Name,*  obwohl  sehr  aus- 
gehungert, Mitleid  mit  einem  Mädchen  hat,  welches  sich  zu  einem 
Stelldichein  begiebt;  wie  er  in  demselben  Tuti-Name^  dem 
Löwen  gegen  die  Mäuse  hilft,   und  wie  in  der  Erzählung  von 


*  Te  na  äsno  vrikftnäm  ädity^o  mumodata;  ^ig^-  ^HI*  ^9  1^*  "^ 
Parshi  dine  gabhfra  ftn  ugraputre  ^ighUnisatal^ ;  Rig^>  VIII,  56,  11. 

*  Matsyam  na  dina  udani  kshiyantam;  $igv.  X,  68,  8. 

"  III,  45.  —  In  der  22.  Nacht  des  Tat i- Name  (p.  125)  dringt  da- 
gegen der  Wolf  in  die  Höhle  des  Schakals ;  hier  sind  also  Wolf  und  Scha- 
kal schon  von  einander  unterschieden,  nämlich  als  rother  and  schwarzer 
Wolf. 

*  I,  p.  253. 

*  1,  p.  271. 


451 

Ardshi  Bordshi  der  Wolfssohn,  der  die  Sprache  der  Wölfe  ver- 
steht^ diese  den  Eaufleaten  lehrt;  bei  denen  er  lebt;  wie  die 
russische  Wölfin,  welche  ihre  Milch  dem  Iwan  Karolievic  giebt, 
damit  er  sie  der  Hese,  seinem  Weibe,  bringe,  welche  sie  von  ihm 
verlangt  hatte,  in  der  Hoffnung,  dass  er  dabei  nms  Leben  kommen 
werde ;  ^  und  wie  die  Wölfin  des  fünfzehnten  ehstnischen  Mähr- 
ebens, welche  auf  das  Oeschrei  eines  Kindes  herbeikommt  und 
es  mit  ihrer  Milch  nähK.  Das  Mährchen  erzählt  uns,  dass  die 
Mutter  des  Kindes  selbst  Wolfsgestalt  angenommen  hatte  und, 
wenn  sie  allein  war,  ihre  Wolfskleidung  auf  einen  Felsen  legte, 
um  als  nacktes  Weib  ihrem  Kinde  die  Brust  zu  reichen.  Ihr  Ge- 
mahl, davon  unterrichtet,  befiehlt,  den  Felsen  heiss  zu  machen, 
so  dass  das  Wofsfell,  wieder  darauf  gelegt,  verbrennt  und  er  so 
seine  Gattin  wiedererlangt  Die  Wölfin,  welche  den  Zwillingen 
Romulus  und  Bemus  in  der  römischen  Sage  die  Milch  giebt,  ist 
nicht  weniger  ein  Weib  als  die  säugende  Wölfin  des  ehstnischen 
Mährchens.  ^  Der  germanische  Held  Wolfdietrich,  die  Wölfe, 
welche  in  russischen  Mährchen  fOr  den  Helden  jagen,  dem  Mars 
und  dem  Thor  als  ihre  Jagdhunde  geweiht,  haben  dieselbe  segens- 
reiche Natur.  (Die  Abend-Aurora  kleidet  sich  in  der  Nacht  in 
ein  Wolfsfell,  nährt  als  Wölfin  den  neugeborenen  Sonnenhelden, 
und  legt  am  Morgen  ihr  Wolfsfell  ab  auf  den  feurigen  Felsen  des 
Ostens,  worauf  sie  ihren  Gatten  wiederfindet)  Was  uns  Solinus 
von  den  Neuri  erzählt,  nämlich,  dass  sie  sich  zu  bestimmten 
Zweiten  in  Wölfe  verwandelten,  und  was  uns  von  den  Arkadiem 
berichtet  zu  werden  pflegte,  sie  würden,  wenn  sie  über  einen  ge- 
wissen Sumpf  gingen,  auf  acht  Jahre  Wölfe,  giebt  uns  eine  neue 
Vorstellung  von  den  zoologischen  Verwandlungen  des  Sonnenhelden.  ^ 


>  Vgl.  A  fan.  VI,  51.  V,  27.  28. 

*  Es  beisst  aach,  dass  die  Amme  der  romischen  Zwillinge  eine  Bub- 
lerin  war,  weil  lupae  oder  lupanae  feminae  Namen  waren,  mit  denen 
man  solche  Weiber  beseichnete,  woher  auch  der  Name  lupanaria  för 
die  Bordelle :  „Abscondnnt  spurcas  haec  monumenta  lupas.'*  Olaos  liag- 
nus  schreibt,  dass  Wölfe,  dorch  den  Gerach  angezogen,  schwangere  Frauen 
anfielen,  daher  der  Braucht  Schwangere  nicht  ohne  Begleitung  eines  be- 
wa£fneten  Mannes  ausgehen  zu  lassen.  Die  Alten  glaubten,  dass  der  Phal- 
lus des  Wolfes,  gebraten  genossen,  die  Venus  errege. 

'  In  den  Legendes  et  Croyances  Superstitieuses  de  la 
C reuse,  ges.  von  Bonnafoux,  Gu^et  1867,  p.  27,  lesen  wir  über  den 
loup  garou,  dass  der  Wolf  Jedem  dankt,  der  ihn  verwundet.  Es  heisst, 
dass  die  in  dem  Fell  des  loup  garou  Verborgenen  verdammte  Seelen  sind : 
„Chaque  nnit  ils  sont  fore^  d'aller  chercher  la  maudite  peau  k  un  endroit 

29* 


452 

Bei  Lafontaine  ^  treibt  der  Schatten  des  Wolfes  am  Abend  das 
Schaf  in  die  Flucht.  Als  verwandelter  Held  zeigt  sich  der  Wolf 
von  einer  gtttigen^  günstigen  Seite.  Nach  Baronins  zeigte  sich 
im  Jahre  617  eine  Anzahl  Wölfe  bei  einem  Kloster  und  zerriss 
mehre  Mönche,  welche  ketzerischen  Irrlehren  anhingen.  Die  von 
Gott  gesandten  Wölfe  zerrissen  auch  die  tempelschänderischen 
Diebe  der  Armee  Francesco  Marias,  des  Herzogs  von  Urbino, 
der  den  Schatz  des  Hlgen  Hauses  von  Loreto  hatte  in  seinen 
Beutel  stecken  wollen.  Ein  Wolf  bewachte  und  schlitzte  gegen 
die  wilden  Thiere  den  Kopf  St.  Edmunds,  des  Märtyrers,  Königs 
von  England.  St.  Oddo,  Abt  von  Clugny,  wurde  auf  einer  Pilger- 
fahrt von  Füchsen  angefallen,  von  einem  Wolf  befreit  und  be- 
gleitet; so  zeigte  ein  Wolf  dem  seligen  Adam  den  Weg,  ebenso 
wie  bei  Hero  dot  die  Wölfe  den  Priestern  der  Ceres  als  Führer 
dienten.  Als  einst  ein  Wolf  zwei  Stuten  zerrissen  hatte,  welche 
einen  Karren  zogen,  wurde  er  von  St.  Eustorgius  gezwungen, 
den  Karren  an  ihrer  Stelle  zu  ziehen,  und  seinen  Befehlen  zu  ge- 
horchen. St.  Norbert  zwang  einen  Wolf,  erst  ein  Schal*,  das  er 
in  den  Klauen  hielt,  fahren  zu  lassen,  und  dann  das  Schaf  den 
ganzen  Tag  zu  hüten,  ohne  es  zu  berühren.  Wir  lesen  in  der 
Jugendgeschichte  des  syrakusischen  Herrschersund  Helden Hiero IL, 
dass  einst,  als  er  in  der  Schule  war,  ein  Wolf  ihm  seine  Schreib- 
tafel entführte,  um  ihn  zur  Verfolgung  zu  reizen;  kaum  war 
Hieron  heraus,  als  der  Wolf  in  die  Schule  zurücklief  und  den 
Lehrer  sammt  den  andern  Schülern  umbrachte. 

Sogar  nach  seinem  Tode  ist  der  Wolf  nützlich.  Die  Alten 
hielten  ein  Wolfsfell,  von  Jemandem,  den  ein  toller  Hund  gebissen, 
umgenommen,  für  ein  Zaubermittel  gegen  Wasserscheu.  Nach 
Plinius  erleichtert  Reiben  von  Wolfszähnen  am  Zahnfleisch  den 
Kindern  das  Zahnen  (was  ganz  glaublich  ist;  nur  dass  jeder  an- 
dere scharfe  Zahn  dieselbe  Wirkung  haben  würde,  indem  er  die 


coovena  et  ib  courent  ainsi  jusqu*^  ce  qu'ils  rencontrent  une  äme  chari- 
table et  courageuse  qui  les  ddlivre  en  les  blesaant/^ 


1 


1» 


devant  qu'il  füt  uuit 


11  arriva  nouvel  encombre; 
Un  loup  parat,  tout  le  troupeau  s^enfuit 
Ce  n'^it  pas  un  loup,  ce  n'eo  dtait  que  Tombre.'* 
Die  Schafe  thateo  jedoch  Recht  daran,  zu  fliehen.    In  der  Edda  sagt  die 
vierte  Schwalbe:  „Wenn  ich  des  Wolfes  Ohren  sehe,  so  denke  ich,  dass 
der  Wolf  nicht  weit  davon  ist'*    Das  Zwielicht  ist  der  Schatten  oder  das 
Ohr  des  Wolfes. 


458 

Zähne  eher  hervorkommen  lässt).  In  8icilien  ^aabt  man,  dass 
ein  Woliskopf  den  Mnth  erhöht^  wer  auch  immer  ihn  anfeetzt. 
In  der  Provinz  Girgenti  werden  flir  Kinder,  welche  die  Eltern 
gern  stark,  tapfer  and  kampflustig  aufwachsen  sehen  möchten, 
Schuhe  aus  Wolfsfell  gemacht.  Sogar  die  Thiere,  welche  von 
Personen  in  solchen  Schuhen  geritten  werden,  werden  von  ihrem 
Schmerz  geheilt.  Das  Thier  allupatu  (d.  b.  welches  einmal  von 
einem  Woli  gebissen  worden  ist)  wir4  unverwundbar,  und  fühlt 
nie  Schmerz  irgendwelcher  Art.  In  Sicilien  glaubt  man  auch, 
dass  wenn  ein  Wolfsfell  im  Freien  aufgehängt  ist,  es  Trommel- 
telle platzen  lässt,  wettn  sie  geschlagen  werden.  Dieser  Aber- 
glaube erinnert  uns  an  die  Fabel  von  dem  Fuchs,  der  sich  durch 
Zerreissen  des  Trommelfelles  oder  durch  Zerbeissen  der  Bogen- 
sehne tödtet;  die  mythische  Trommel  (d.  h.  die  Wolke)  wird  zer- 
stört, wenn  dem  Wolfe  das  Fell  abgezogen  wird.  In  einer  äso- 
pischen Fabel  empfiehlt  der  Fuchs  dem  kranken  Löwen  das 
Wolfsfell  als  Heilmittel. 

Doch  gewöhnlich  zeigt  sich  4er  Wolf  der  Sage  diabolisch; 
und  wie  der  Dämon  bald  als  ein  Meister  in  jeder  Art  von  Falsch- 
heit und  Bosheit,  bald  als  ein  Narr  dargestellt  wird,  so  auch  der 
Wolf.  Im  griechischen  Mythus  würde  Lycaon,  der  Klteig  von 
Arcadien,  ein  Wolf,  weil  er  Menschenfleisch  gegessen  halte.  Nach 
Servius  raubten  die  Wölfe  unter  dem  Volke,  welches  deswegen 
Hirpini  hiess  (im  Sabinischen  heisst  der  Wolf  hirpus),  die 
Eingeweide  des  dem  Pluto  dargebrachten  Opferthieres  und  brachten 
dadurch  eine  Pestilenz  ttber  das  Land.  Wölfe  zerrissen  den  Hel- 
den Milo  im  Walde.  Wölfe  sind  Vorboten  des  Todes;  der  loup 
garou  der  französischen  Volkssage  ist  eine  diabolische  Gestalt.  * 
In  der  Edda  wollen  die  beiden  Wölfe  Sköll  und  Hati  der  eine 
die  Sonne  und  der  andere  den  Mond  ergreifen;  der  Wolf  ver- 
schlingt  die  Sonne,  den  Vater  der  Welt,  und  gebiert  eine  Tochter. 
Er  wird  darauf  von  Vidarr  getödtet.  Hati  geht  dem  glänzenden 
Verlobten  des  Himmels  voraus;  der  Wolf  Frenis,  der  Sohn  des 
dämonischen  Lokis,  beisst,  von  den  Äsen  gefesselt,  dem  Hdden 
Tyr  die  Hand  ab,   welche  ihm  dieser  als  ein  Unterpfand  der 


'  Lou8  loups'garous  soun  gens  counio  nous  autes;  m^  an  heyt  un 
countrat  dab  lou  diable,  e  cado  s^  aoun  four^atz  de  se  cambia  en  bestios 
per  ana  au  sabbat  e  courre  touto  la  neyt.  Y  a  per  aco  un  mouy^  de 
lous  goari.  Lous  cau  tira  sang  pendent  qn*  an  perdut  la  forme  de  l*home, 
e  asta  leu  la  reprengon  per  toutjour;  Blad^,  Contes  et  Proverbes 
Populaires  recueillis  en  Armagnac,  Paris  1867,  p.  51. 


* 


454 

Treue  der  Äsen  in  den  Rachen  gesteckt  hatte.  ^  Der  Nanna  des 
Pentamerone  wird^  nachdem  er  die  Welt  durchreist  hat;  in 
die  Gestalt  eines  Wolfes  gehttUt,  und  wechselt  Charakter  und 
Farbe ;  indem  er  boshaft  wird;  die  drei  Söhne  des  Königs  der 
Finnen  gehen,  das  Wolfsthal  am  Wolfssee ^  zu  bewohnen,  und 
finden  dort  drei  spinnende  Weiber,  welche  sich  in  Schwäne  ver- 
wanden können.  Am  Weihnachtsabend  trifift  der  König  Helgi 
eine  Hexe,  die  auf  einem  Wolf  reitet  und  Schlangen  als  Zttgel 
hat*  Wölfe  fressen  einander;  der  Wolf  Sinfiölti  wird  ein 
Eunuch;  der  Wolt,  welcher  vor  dem  Helden  flieht,  ist  ein  Vor- 
zeichen des  Sieges,  ebenso  wie  der  Wolf,  welcher  unter  den  Zwei- 
gen einer  Esche  heuk.  (Das  Heulen  des  Wolfes ,  das  Schreien 
des  Esels,  das  Zischen  der  Schlange,  kttnden  den  Tod  des  dämo- 
nischen Ungeheuers  an;  dieses  Heulen  muss  nothwendig  am 
Morgen  oder  im  Frühling  stattfinden,  wenn  der  Held  seine  Kräfte 
wiedererlangt  hat,  da  die  Edda  sagt,  dass  „ein  Held  nie  gegen 
Sonnenuntergang  kämpfen  darf.")  Wenn  Gunnar  (der  Sonnen- 
held) sein  Leben  verliert,  wird  der  Wolf  Herr  des  Schatzes  und 
des  Erbes  Nifl's ;  die  Helden  braten  den  Wolf.  Alle  diese  Einzel- 
heiten der  Sage  vom  Wolf  in  der  Edda  kommen  zusammen,  um 
uns  den  Wolf  als  ein  finsteres  und  diabolisches  Ungeheuer  zu 
zeigen.  Die  Nacht  und  der  Winter  ist  die  Zeit  des  Wolfes  bei 
mittelalterlichen  Schriftstellern ;  die  Götter,  welche  nach  der  deut- 
schen Sage  in  Wolfisfellen  auftreten,  stellen  die  Sonne  dar  als 
sich  in  der  Nacht  oder  in  der  schneeigen  Winterszeit  verbergend 
(daher  der  dämonische  weisse  Wolf  eines  russischen  Mährchens  ^ 


'  Wir  sollten  vielleicht  hier  die  von  Caesarios  Heisterbaciensis  ange- 
führte Sage  hinzufügen,  nach  welcher  ein  Wolf  ein  Mädchen  in  den  Arm 
beisst  und  sie  an  einen  Ort  sieht,  wo  noch  ein  Wolf  ist;  je  mehr  sie 
schreit,  desto  wüthender  beisst  der  Wolf.  Der  andere  Wolf  hat  einen 
Knochen  in  der  Kehle,  den  das  Mädchen  herauszieht;  hier  spielt  das  Mäd- 
chen die  Rolle  des  Kranichs  oder  Storches  der  Fabel;  der  Knochen  kann 
bald  der  Mond,  bald  die  Sonne  sein. 

'  Siehe  Völundarkv.  Einl. 

*  An  einer  andern  Stelle  der  Edda  sitzt  der  Adler  auf  dem  Wolf. 
Nach  dßr  römischen  Sage  von  der  Gründung  Laviniums  sahen  die  Trojaner 
ein  sonderbares  Wunderzeichen.  Ein  Brand  wüthet  in  den  Wäldern;  der 
Wolf  bringt  trockene  Zweige  in  seinem  Munde,  um  es  besser  brennen  zu 
machen,  und  der  Adler  hilft  ihm,  indem  er  die  Flammen  mit  seinen 
Schwingen  anfacht.  Der  Fuchs  dagegen  taucht  seinen  Schwanz  ins  Was- 
ser, um  das  Feuer  damit  zu  loschen;  es  gelingt  ihm  aber  nicht 

♦  Vgl.  Afan,  III,  19. 


456 

inmitten  sieben  schwarzer  Wölfe).  Sofern  der  Sonnenheld  ein 
Wolf  wird,  hat  er  eine  göttliche  Natur;  sofern  dagegen  der  Wolf 
die  eigentliche  Gestalt  des  Teufels  ist,  ist  seine  Natur  durchaus 
bösartig.  Der  verdammte  Mensch,  der  geächtete  Verbrecher,  der 
Bandit,  der  utlagatus  oder  Vogelft*eie  trugen  nach  der  Sage 
des  Mittelalters  ein  caput  lupinum  (in  England,  wulfes- 
heofod;  in  Frankreich,  teste  loeue).  Der  Wolf  Ysengrin, 
theils  von  dem  äsopischen  Wolf,  theils  aus  skandinavischen,  in 
Deutschland,  Flandern  und  Frankreich  verbreiteten  Mythen  stam- 
mend, besitzt  viel  von  der  diabolischen  Verschlagenheit  des  Fuch- 
ses; er  wendet  gewöhnlich  gegen  die  Schafe  dieselben  Schliche 
an,  wie  der  Fuchs,  wenn  er  Hühnchen  in  die  Falle  locken  will. 
Das  französische  Sprichwort  lässt  den  Fuchs  den  Vögeln  predigen; 
das  italienische  lässt  den  Wolf,  der  die  Schafe  ködern  will,  Psal- 
men singen.  Wie  wir  Schakal  und  Fuchs  im  Orient  verwechselt 
sahen,  so  werden  in  der  occidentalischen  Sage  Reinart  und  Tsen- 
grin  bisweilen  wegen  ihrer  Schlauheit  identificirt.  Ein  neuerer 
französischer  Schriftsteller,  der  den  Wolf  beobachtet  hat,  sagt,  er 
sei  „effrayant  de  sagacity  et  de  calcul.^'  ^  Bei  A  fa  n.  II,  2  geht 
derselbe  Zauberer- Wolf,  der  die  Zicklein  durch  Nachahmung  der 
Stimme  der  Ziege  zu  täuschen  gewusst,  zu  dem  Hause  eines  alten 
Mannes  und  einer  alten  Frau,  welche  fänf  Schafe,  ein  Pferd  und 
ein  Kalb  haben.  Der  Wolf  kommt  und  fängt  an  zu  singen.  Die 
Alte  bewundert  den  Gesang  und  giebt  ihm  ein  Schaf,  dann  die 
anderen,  dann  das  Pferd,  sodann  das  Kalb  und  endlich  sich 
selbst.  Dem  allein  gebliebenen  Alten  gelingt  es  schliesslich,  den 
Wolf  fortzujagen.  In  dem  vorhergehenden  Mährchen,  in  welchem 
die  Thiere  einander  die  Schuld  zuschieben,  giebt  der  dämonische 
Wolf,  als  die  Reihe  an  ihn  kommt,  Gott  die  Schuld.  Wir  sprachen 
schon  von  dem  Wolf,  der  auf  den  Befehl  des  St.  Enstorgius  den 
Karren  an  Stelle  der  von  ihm  gefressenen  Stuten  zieht.  Bei  Afa- 
nassieff  III,  25  kommt  der  Wolf  zu  dem  schlafenden  Arbeiter 


■  Les  loups,  qui  ont  tr^  peu  d'amis  en  France,  et  qui  sont  oblig^ 
d'apporter  dans  toutes  leurs  d^arches  une  excessive  prudence,  chaasent 
presque  toujours  k  la  muette.  J'ai  dt^  plusieurs  fois  en  position  d*admirer 
la  profondeur  de  leurs  combinaisons  strat^gique;  c*est  ^frayant  de  saga- 
city et  de  calcul;  Toussenel,  L'Esprit  des  B^tes,  I.  —  Aldrovandi,  De 
Qu  ad  r  up.  Dig.  Vi  v.  II:  „Lupi  omnem  vim  ingenii  naturalem  in  ovibus 
insidiando  exercent;  noctu  enim  oyili  appropinquantes,  pedes  lambunt,  ne 
strepitum  in  gradieudo  edant,  et  fpliis  obstrepentibus  pedes  quasi  rep« 
mordeot/* 


4Ö6 

tiütl  bbriecfat  ihn;  der  Arbeiter  erwacht ^  fosst  den  WM  beim 
Sehwanze  ^  und  tödtet  ihn.  Ein  anderes  Mal  trifift  derselbe  Ar- 
beiter ^  als  er  mit  seinem  Vater  auf  die  Jagd  geht^  nachdem  er 
sich  mit  Geld  bereichert  hal^  das  in  einer  verlassenen  Mühle  ron 
drei  Rilubem  versteckt  worden  war,  wiederum  zwei  Wölfe, 
wdche  die  Pferde  fressen,  sich  dabei  aber  so  in  das  Geschirr  ver- 
wickeln y  dass  sie  selbst  den  Wagen  wieder  nach  Hause  ziehen 
müssen;  hier  haben  wir  also  das  Wunder  des  St.  Eustorgius  auf 
sein  natüiliches  mythisches  Verhältniss  zurückgeführt.  Hier  zeigt 
sich  d^  Wolf  offenbar  das  erste  Mal  als  ein  dummes  Tfaier;  der 
Dämon  lehrt  dem  kleinen  Sonnenhelden  am  Abend  seine  Künste, 
und  wird  vom  Helden  selbst  am  Morgen  verrathen;  der  Fuchs 
betrügt  den  Sonnenhahn  am  Abend,  virird  aber  am  Morgen  selbst 
ton  ihm  foetrogeii;  dem  Wolf  glückt  am  Abend  seine  böse  That, 
am  Morgen  stürzt  er  sich  selbst  ins  Verderben.  Wir  erwähnten 
schon  das  n(H*w^8che  Mährchen  von  dem  kleinen  Schmierbock, 
der,  von  der  Hexe  in  einen  Sack  gesteckt,  zweimal  ein  Loch  in 
den  Sack  macht  und  entflieht;  das  dritte  Mal  lässt  er  die  Hexe 
ihre  eigene  Tochter  frdssen.  Schmierbock  ist  der  Widder;  die 
Hexe  odejr  Nacht  steckt  ihn  in  den  Sack.  In  dem  piemonte- 
sisehen'  und  in  dem  russischen  Mährehen  haben  wir  statt  des 
Schmierbockes  Piecolino  (den  sehr  Kleinen)  und  Klein-Fingerchen 


'  Im  PiemonteBiscIien  erzählt  man  die  Anekdote ,  dass  «Jemand  eiüst 
einen  Wolf  traf,  seine  Üand  diesem  so  weit  in  den  KadieA  steckte,  dass 
sie  deki  Schwanz  anf  der  andern  Seite  erreichte,  und  dann  den  Schwanz 
dem  Wolf  durch  den  Leib  und  Hos  dem  Rachen  herauszog,  so  dass  der 
von  innen  nach  aussen  gekehrte  Wolf  starb. 

'  In  einem  sehr  populären,  aber  noch  nicht  veröffentlichten  piemon- 
tesischen  Mährchen  sitzt  Piecolino  auf  einem  Baume  und  isst  Feigen;  der 
Wolf  kommt  votbei,  und  verlangt  einige,  indem  er  droht:  „Piculin,  dame 
ihi  fig,  dass  no ,  i  te  mangiu."  Piccotino  wirft  ihm  zwei  hinunter,  die  dem 
Wolf  derb  auf  die  Nase  schlagen.  Nun  droht  der  Wolf,  ihn  zu  fressen, 
wenn  er  ihm  nicht  eine  Feige  herunterbringe;  Piecolino  gehorcht;  der 
Wolf  steckt  ihn  in  einen  Sack  und  trägt  ihn  in  sein  Haus,  wo  schon  die 
Mutter- Wölfin  wartet.  Auf  dem  Wege  überkommt  den  Wolf  jedoch  ein 
Bedürfhiss  und  er  muss  sich  etwas  seitwärts  von  der  Strasse  schlagen; 
mittlerweile  macht  Piecolino  ein  Loch  in  den  Sack,  kriecht  heraus  und 
legt  einen  Stein  an  seine  Stelle.  Der  Wolf  kommt  zurück ,  nimmt  den 
Sack  auf  die  Schultern,  stellt  aber  seine  Betrachtungen  darüber  an,  dass 
Piecolino  viel  schwerer  geworden  ist  Er  geht  nach  Hause  und  sagt  der 
Wölfin,  sie  solle  lustig  sehoi  und  in  dem  Kessel  Wasser  heiss  machen;  er 
schüttet  den  Sack  in  das  heisse  Wasser  aus;  der  Stein  macht  das  siedende 
Nass  dem  Wolf  auf  den  Kopf  spritzen »  und  er  wird  zu  Tode  verbrüht. 


< 


457 

(malcik-8  palcik,  d.  h.  der  kleine  Finger,  welcher  nach  dem  Volks- 
aberglauben der  weise  ist).  Das  russische  Mährchen  ist  folgendes  : 
Eine  alte  Frau  schneidet  sich  beim  Backen  eines  Kuchens  (des 
Mondes)  den  kleinen  Finger  ab  und  wirft  ihn  ins  Feuer.  Aus 
dem  kleinen  Finger  im  Feuer  wird  ihr  ein  zwerghafter,  aber  sehr 
starker  Sohn  geboren,  der  später  viele  Wunderthaten  verrichtet. 
Eines  Tages  verspeist  er  die  Kaidaunen  eines  Ochsen  im  Walde; 
der  Wolf  kommt  vorbei  und  verzehrt  Zwerg  und  Kaidaunen  mit 
einander.  Darauf  nähert  sich  der  Wolf  einer  Schafherde,  doch 
der  Zwa^  schreit  aus  dem  Bauehe  des  Wolfes:  ,,Schäfer,  Schäfer, 
Du  schläfst  und  der  Wolf  stiehlt  ein  Schaf."  Der  Schäfer  ver- 
jagt den  Wolf,  der  seinen  unruhigen  Oast  gern  los  werden  möchte ; 
der  Zwerg  ersucht  nun  den  Wx)lf,  ihn  zu  seinen  Eltern  nach 
Hause  zu  bringen;  kaum  sind  sie  dort  angekommen,  als  der 
Zwerg  zu  dem  Hintertheil  des  Wolfes  herauskommt  und  den  Wolf 
am  Schwänze  packt^  mit  dem  Rufe :  „Schlagt  •  den  Wolf  todt, 
schlagt  den  Grauen  todt"  Die  alten  Leute  kommen  und  tödten 
den  Wotf.  *  Der  mythische  Wolf  stirbt  bald  nach  nur  einer 
Nacht,  bald  nach  nur  einem  Winter  des  Lebens.  Es  wurden  je- 
doch dem  mythischen  Wolf  Bastardsöhne  geboren,  die,  nur  ihr 
Fell  wechselnd,  lange  Zeit  unter  den  Sterblichen  wohnten,  inmitten 
der  btlrgerliehen  €resell6chaft>  jedoch  mit  Beibehaltung  ihrer 
Wolfsgewohnheiten.  Das  französische  Sprichwort  sagt:  ^Le  loup 
alia  ä  Rome;  il  y  laissa  de  son  poil  et  rien  de  ses  coutumes." 
Die  heidnische  Wölfin  nährte  mit  ihrer  Milch  römische  Helden; 
der  katholische  Wolf,  von  Dante '  niedergedonnert,  nährt  sich  von 
ihnen  — 

,,£d  ha  natura  si  malvagia  e  ria, 
Che  mat  non  empie  la  bramosa  voglia, 
£  dopo  il  pasto  ha  piü  fame  che  pria. 

Molti  aön  gli  animali  a  cni  8*ammoglia.** 


'  Vgl.  die  bekannten  englischen  Feenmälirchen    von  Tom- Thumb 
tmd  Uop-ö*-my-Thumb. 
•  Inferno,  I. 


' 


4^8 


KAPITEL  XIU. 
Der  LVwe,  der  Tiger ,  der  Leopard ,  der  Panther  und  das  Chamäleon* 

Der  Tiger  and  der  Löwe  haben  in  Indien  gleichen  Rang  und 
sind  beide  die  höchsten  Symbole  königlicher  Stärke  and  Majestät.  ^ 
Der  Tiger  der  Menschen  and  der  Löwe  der  Menschen  sind  zwei 
AasdrttckC;  die  so  viel  als  ,,Fttrst'^  bedeaten^  da  man  den  Fürsten 
für  den  besten  Mann  hielt.  Die  Stärke  ist  es ,  welche  in  natür- 
lichen Beziehangen  Sieg  and  Ueberlegenheit  verleiht;  deshalb 
stellen  der  Tiger  and  der  Löwe,  die  Könige  der  Thiere  genannt, 
den  König  in  den  socialen  Beziehangen  anter  den  Menschen  dar. 
Der  narasinha  Indiens  hiess  im  Mittelalter  der  König  par  excel- 
lence; so  warde  aach  in  Griechenland  der  König  läiov  genannt 

Der  Mythas  von  dem  Löwen  and  dem  Tiger  ist  wesentlich 
ein  asiatischer;  nichtsdestoweniger  warde  ein  grosser  Theil  da- 
von in  Griechenland  entwickelt,  wo  Löwe  and  Tiger  za  einer 
Zeit  nicht  anbekannt  waren  and  wie  in  Indien  etwas  jenem  von 
orientalischen  Königen  hervorgebrachten  frommen  Schrecken  Aebn- 
liches  eingeflösst  haben  müssen. 

Wir  erwähnten  schon  das  vedische  Ungeheaer:  Löwe  des 
Westens,  in  welchem  wir  die  erblassende  Sonne  erkennen.  Der 
starke  Indra,  der  Tödter  des  Ungeheaers  Vritra,  wird  ebenfalls 
als  Löwe  dargestellt.  Ebenso  wie  der  jüdische  Simson  in  Ver- 
bindang  mit  dem  Löwen  gefanden  wird,  and  dieser  Löwe  mit 
Honig,  and  wie  die  Stärke  Simsons  and  die  des  Löwen  im  Haar 
ihr  Centrum  haben  soll  (mit  dem  Verlast  ihrer  Strahlen  oder 
ihrer  Mähne  verliert  die  Sonne  all  ihre  Kraft),  so  finden  wir  in 
dem  parallelen  Mythas  analoge  Umstände.  Tvashtar,  der  himm- 
lische Grobschmied  der  Inder,  welcher  bald  für  die  Götter,  bald 
für  die  Dämonen  Waffen  fertigt  (der  röthliehe  Morgen-  and  Abend- 

'  Herakles,  Hector,  Achilles  unter  den  griechischen,  Wolfdietrich  und 
einige  Andere  unter  den  Helden  der  deutschen  Sage  haben  diese  Thiere 
als  Abzeichen.  Loewe  ist  der  Name  von  Hildebrand's  Ross.  Vgl.  Die 
Deutsche  Heldensage  von  Wilh.  Grimm,  Berlin  1867.  Als  Agarista 
imd  Philipp  von  einem  Löwen  träumte,  wurde  das  als  ein  Vorzeichen  be- 
trachtet, bei  der  Ersteren  für  die  Geburt  des  Pericles,  bei  dem  Letzteren 
für  die  Alezander  des  Grossen. 


l 

i 


459  '    . 

Himmel  wird  mit  einer  gltthenden  Schmiede  verglicben;  der 
Sonnenheld  oder  die  Sonne  in  dieser  Schmiede  ist  ein  Grobschmied), 
wird  aach  in  einem  vedischen  Hymnus  ^  als  ein  Löwe  dargestellt^ 
welchem  zugewandt  (d.  h.  dem  Westen  zugewandt)  Himmel  und 
Erde  sich  freuen,  obwohl  sie  (wegen  des  Lärmens,  den  er  macht, 
als  er  zur  Welt  kommt)  zuerst  sehr  erschrocken  sind.  Die  Gestalt 
eines  Löwen  ist  eine  der  Lieblingsfiguren,  die  von  dem  Grob- 
schmied des  Mythus  und  der  Sage  geschaffen  werden. 

In  dem  Märka^deya-P. '  will  sich  dieser  selbe  Tvashtar 
(den  der  Bigveda  als  einen  Löwen  darstellt)  an  dem  Gott 
Indra  rächen,  der  (vielleicht  am  Morgen)  einen  seiner  Söhne  ge- 
tödtet  hatte,  und  schafft  einen  andern  Sohn,  V^itra  (den  Bedecker), 
indem  er  eine  Haarlocke  sich  vom  Kopfe  reisst  und  sie  in  das 
Feuer  wirft  (die  Sonne  verbrennt  jeden  Abend  in  der  westlichen 
Schmiede  ihre  Strahlen  oder  Mähne,  und  das  finstere  Ungeheuer 
der  Nacht  wird  geboren).  Indra  schliesst  mit  Vritra  einen 
Waffenstillstand  (in  russischen  Mährchen  fordern  fast  immer  Hel- 
den und  Ungeheuer  vor  dem  Kampfe  einander  auf,  zu  erklären, 
ob  sie  Krieg  oder  Frieden  haben  wollen),  bricht  aber  in  der 
Folge  den  Vertrag ;  fUr  diese  Treulosigkeit  verliert  er  seine  Stärke, 
die  auf  Märuta,  den  Sohn  des  Windes  (den  Hannmant  des 
Rämäyana;  in  einem  vedischen  Mythus  wird  die  Stimme  des 
Märuta  mit  dem  Brttllen  von  Löwen  verglichen)  ^  und  auf  die  drei 
Pä^dava-Brttder ,  die  Söhne  der  Kunti  übergeht  (damit  wird  der 
Uebergang  der  Sage  aus  dem  Veda  in  die  beiden  Hauptepen  der 
Inder  angezeigt).  So  verliert  in  demselben  Märkandeya-P. 
Indra,  als  er  Ahalyä,  die  Gattin  Gautamas,  entehrt  hat,  seine 
Schönheit  (in  andern  puranischen  Legenden  wird  er  ein  Eunuch 
oder  hat  tausend  Bäuche;  Indra  ist  mächtig  wie  die  Sonne;  er 
ist  auch  mächtig  in  der  Wolke,  vermittelst  des  Donnerkeiles; 
wenn  er  sich  aber  in  dem  heitern  und  stemenreichen  Himmel 
verbirgt,  ist  er  machtlos),  welche  auf  die  beiden  Afvins  übergeht, 
die  sich  später  in  den  beiden  Pändava-Söhnen  Mädrts  wieder  er- 


'  Ubbe  tvashtar  bibhyatur  gftyamAn&t  pratidi  sinham  prati  ^shayete; 
Rigv.  I,  95,  5. 
'      »  V. 

'  Tc  svftnino  rudriyil  varshanirnigah  si&hft  na  hesbakratavah  sudftna- 
vah;  Rigv.  III,  26,  5.  —  In  dem  böhmischen  Mährchen  vom  Grossvater 
Vsieveda  wird  der  junge  Held  von  dem  Prinzen,  der  ihn  vernichten 
will,  autfgesandt,  die  drei  goldenen  Haare  dieses  Grossvaters  (der  Sonne) 
TU  holen. 


460 

neuen,  wie  üie  Söhne  der  Dämonen  in  den  Söhnen  EMiritaräshttas 
personificirt  werden, 

TvÄfthtar,  der  Scbi^pfer  bald  göttlicher,  bald  ungeheuerlicher 
Gestalten,  Tvashtar  der  Löwe,  muss  nothwendig  Löwengestalten 
schaffen.  In  einem  toscanischen  Mährchen  feHigt  der  Orobsehmied 
einen  Löwen,  vermittelst  dessen  Argentofo  bei  Nacht  in  das 
Zimmer  dner  jungen  Prinzessin  eindringt,  mit  der  er  sich  ver- 
einigt. Im  PentameronelV,  3  kehren  die  drei  Prinzenbrüder, 
als  der  Fluch  der  Fee  vorüber  ist ,  mit  ihren  Bräuten ,  von  sechs 
Löwen  gezogen,  heim.  Dieser  Löwe- Verführer  erinnert  uns  an 
Indra^  der  ebenfalls  ein  Löwe  und  ein  Verführer  von  Weibern 
war.  Ein  Hymnus  sagt  uns,  dass  Indra  wie  ein  schrecklicher 
Löwe  kättnpft;^  in  einem  anderen  Hymnus  wird  derselbe  Löwe, 
wie  in  der  Simsonsage,  in  Verbindung  mit  Honig  betrachtet.^ 
In  der  22.  Nacht  des  Tuti-Name  zeigt  sich  der  Löwe  als  Herr 
von  Reich thdmem ;  von  einem  Jilenschen,  der  ihn  einen  König  nennt, 
geschmeichelt,  lässt  er  diesen  die  Schätze  i^ammeln,  welche  vo^ 
einer  Karawane,  die  der  Löwe  vernichtet  hat,  auf  den  Boden 
gestreut  worden  sind.  ^  Seine  Königsnatur  wird  auch  im  Rämä- 
yana^  gezeigt,  in  welchem  König  Da^aratha  sagt,  dass  sein 
Sohn  Kama,  der  Löwe  der  Menschen,'  nach  seiner  Verbannung 
verschmähen  werde,  das  Reit^h  in  Besitz  zu  nehmen,  das  Bharata 
genossen,  ebenso  wie  der  Löwe  verschmäht,  Fleisch  zu  essen,  das 
von  anderen  Thieren  beleckt  worden  ist.  Vielleicht  aus  diesem 
Grunde  bedeutet  in  der  Fabel  der  Löwenantheil  die  ganze  Beute. 
Der  Stolze  wird  der  Gewaltsame,  der  Tyrann,  und  dann  das  ün- 


*  Siüho  na  bhima  äyudhäni  bibhrat;  Rigv.  IV,  16,  14.  Vgl.  I, 
174,  3. 

'  Sinham  nasanta  inadhvo  ayäfiam  harim  ara  bam  divo  asya  patim; 
Rigv.  IX,  89,  3. 

'  In  der  griechischen  Fabel  will  Ptolemaeus,  König  von  Egypten,  an 
Alexander  als  Zeichen  der  Huldigung  Geld  senden;  der  Maulesel,  das 
Pferd,  der  Esel  und  das  Kamel  bieten  sich  freiwillig  an,  die  Säcke  zu 
tragen.  Auf  dem  Wege  treffen  sie  den  Löwen,  der  sich  ihnen  anschliessen 
will,  indem  er  sagt;  dass  er  ebenfalls  Geld  trage;  doch  an  solche  Arbeit 
nicht  gewöhnt,  bittet  er  die  andern  Vier  demüthig,  seine  Last  unter  sibk 
zu  theilen.  Sie  gehen  darauf  ein;  bald  nachher  kommen  sie  durch  ein 
herdenreiches  Land;  der  Löwe  hat  Lust,  dort  zu  bleiben  und  verlangt 
sein  Geld  surück;  doch  da  dieses  dem  der  Anderen  gleich  ist,  so  niitfmt 
er,  um  einem  Irrthum  vorzubeugen,  mit  Gewalt  sowohl  sein  eigenes  als 
das  ihre. 

•  II,  62. 


461 

geheaer.  Im  A  i  t  a  r  e  y  a  -  B  r. "  greift  die  Erde ,  voll  von  6aben 
gemacht  auf  der  rechten  Seite  —  d.  b.  hier,  auf  dem  öfttlichen 
Theile  — ,  die  von  den  ädityas  (oder  (glänzenden  Göttern)  den 
Aügirasen  (den  sieben  Sonnenstrahlen,  weisen  Männern,  dann  den 
Priestern)  dargebracht  sind,  am  Abend  die  Nationen  au  mit  weit- 
geöfinetem  Munde,  eine  Löwin  geworden  (sinhibhütvä).  Im 
Rämäyana^  wird  der  Wagen,  der  das  Ungeheuer  Indraft  trägt, 
mit  Ungestüm  von  vier  Löwen  gezogen.  Im  Tuti-Name^  haben 
wir  die  Fabel  von  dem  Löwen,  anstatt  von  dem  Wolf,  der  das 
Lamm  anklagt,  und  dem  Löwen,  der  sich  vor  dem  Esel,  dem 
Stier  (wie  in  der  Einleitung  zum  Panöatantra)  und  dem  Luchs 
ftirchtet.  Die  westliche  Löwen-Sonne  ist  bald  ungeheuerlich,  bald 
alt,  bald  krank,  bald  hat  sie  einen  Dom  im  Fnss,^  bald  ist  sie 
blind,  bald  närrisch.  Das  Löwenungeheuer,  welches  die  Wohnung 
des  Ungeheuers,  den  höllischen  Wohnsitz  bewacht,  findet  sich  in 
einer  grossen  Zahl  von  Volksmährchen.  In  der  griechischen  Sage 
begegnet  uns  das  Löwenungeheuer  mehr  als  einmal;  ein  solches 
ist  der  Löwe,  welcher  das  Land  des  Königs  von  Megara  ver- 
wüstet, der  dem  Helden  ftlr  die  Erlegung  des  Thieres  seine 
Tochter  zur  Gemahlin  geben  will;  ein  solches  ist  ferner  die 
Löwin,  welche  mit  ihrem  blutigen  Gebiss  (der  Purpur  im  Rachen 
des  Hundes  und  das  Fleisch  darin  haben  mythisch  dieselbe  Be- 
deutung) Thisbe's  Schleier  blutig  macht,  so  dass  Pyramids  sie 
für  todt  hält  und  sich  selbst  den  Tod  giebt;  als  Thisbe  das  sieht, 
tödtet  sie  sich  in  der  Verzweiflung  ebenfalls  (eine  alte  Gestaltung 
des  Todes  von  Romeo  und  Julia);  ein  solches  ist  der  von  Hera- 
kles bezwungene  nemäische  Löwe;   femer  der  Löwe  vom  Berge 


•  VI,  5,  35. 

•  V,  43 

^  I,  229. 

•  Die  Anekdote  von  Androcles  und  dem  für  dei)  ^usgezo^^nen  Dorn 
dankbaren  Löwen  wird  fast  mit  denselben  Worten  von  Mentor  dem  Syra- 
cusaner,  Helpis  von  Samos,  dem  Abt  Gerasimos,  St.  Uieronymus  und  (was 
den  blinden  Löwen  betrifit,  dem  das  Gesicht  wiedergegeben  wird)  von 
Macharios  dem  Bekenner  erzählt.  Der  Dom  in  dem  FuBse  des  Löwen  ist 
eine  zoologische  Gestaltung  des  Helden,  der  an  den  Füssen  verwundbar 
ist  Im  sechsten  der  von  Frau  Gonzenbach  herausgegebenen  sicilianischen 
Mährchen  zieht  der  Knübe  Giuseppe  einem  Löwen  einen  Dom  aus  dem 
Fuss;  der  dankbare  Löwe  giebt  ihm  eines  seiner  Haare;  durch  dieses 
Haar  kann  der  junge  Mann,  im  Falle  der  Bedrängniss,  ein  schrecklicher 
Löwe  werden,  und  als  solcher  beisst  er  dem  König  der  Drachen  den- 
Kopf  ab. 


N 


462 

OlympoS;  den  der  junge  Polydamos  ohne  Waffen  tödtet ;  ebenso 
die  Löwenungebener  mit  Menschengesichteni;  welebe  nach  Solinas 
am  Kaspiseben  Meere  wohnten;  ein  solches  war  endlich  die  Chi- 
mära,  theils  USwe,  theils  Ziege  und  theils  Drache ;  und  mehre 
andere  mythische  Gestaltungen  des  Ueberganges  der  Abendsonne 
in  das  Dtfnkel  der  Nacht 

Und  unter  dieser  Auffassung  des  Löwen  als  eines  Ungeheuers 
glaubten  die  Alten  einmttthig,  dass  er  vor  allen  Thieren  den 
Hahn  fürchte,  und  zwar  besonders  seinen  feurigen  Kamm.  Der 
Sonnenhahn  des  Morgens  vernichtet  die  Ungeheuer  gänzlich.  In 
einer  Fabel  bei  Achilles  Tatius  beklagt  sich  der  Löwe,  dass  Pro- 
metheus einem  Hahn  erlaubt  habe,  ihn  zu  schrecken,  doch  bald 
darauf  tröstet  er  sich ,  als  er  hört ,  dass  der  Elephant  yon  dem 
kleinen  Muskito  gequält  wird,  welcher  ihm  in  den  Ohren  summt. 
Auch  Lucrez  stellt  im  vierten  Buche  De  Rerum  Natura  den 
Hahn  als  gefährlichen  Samen  ausstreuend  dar: 

„Nimirum  quia  sunt  gallomm  in  corpore  quaedam 
Semina,  quae  com  sint  ocqUs  immissa  leonam 
Pupillas  interfodiont  acremque  dolorem  * 
Praebent,  ut  neqaeant  contra  durare  feroces." 

Bisweilen  geht  der  Held  oder  Gott  in  die  Gestalt  eines  Löwen 
über,  um  die  Ungeheuer  zu  besiegen,  wie  Dionysos,  ApoUon, 
Herakles  in  Griechenland,  und  Indra  und  Vishnu  in  Indien.  Als 
in  der  Legende  von  St  Marcellus  dem  Heiligen  in  einer  Vision 
ein  Löwe  als  eine  Schlange  tödtend  erschienen  ist,  wird  dies  als 
ein  Vorzeichen  tttr  den  glflcklichen  Ausgang  des  Zuges  Kaiser 
Leo's  nach  Africa  gedeutet.  Bisweilen  werden  dagegen  Held  und 
Heldin  Löwe  und  Löwin  durch  die  Rache  von  Gottheiten  oder 
Ungeheuern.  Atalanta  verlangt  von  den  Bewerbern  um  ihre 
Hand,  dass  dieselben  sie  im  Rennen  ausstechen,  und  tödtet  die, 
welche  verlieren.  Hippomenes  hat  durch  die  Gunst  der  Liebes- 
göttin drei  Aepfel  aus  dem  Garten  der  Hesperiden  erlangt  und 


'  So  schreiben  audi  die  Ahen  dem  Löwen  eine  besondere  Abneigung 
gegen  starke  Gerüche  sn»  wie  Ejnoblaueh  and  weibliche  pudenda.  Doch 
gehört  dieser  Aberglaube  in  dieselbe  Klasse  mit  dem,  welcher  der  Löwin 
Unfruchtbarkeit  zuschreibt.  Die  Weiber  des  Alterthums  betrachteten  die 
Begegnung  einer  Löwin  als  ein  Vonseidien  der  Unfruditbarkeit.  In  der 
äsopischen  Fabel  rühmen  sich  die  Füchse  vor  der  Löwin  ihrer  Fruchtbar- 
keit, während  diese  nur  ein  Junges  Eur  Welt  bringe.  ,)Ja,**  antwortet  sie, 
i,aber  es  ist  ein  Löwe.*^  Unter  dem  Zeichen  des  Löwen  wird  auch  die 
£rde  dürr,  und  folglich  unfruditbar. 


1 


i 


463 

fordert  Atalanta  zo  dem  Wettlanf  heraus;  auf  dem  Wege  wirft 
er  die  Aepfel  hin;  Atalanta  kann  der  Versnchnng,  sie  aufzulesen, 
nicht  widerstehen ,  und  Hippomenes  überholt  sie,  um  sich  dann 
mit  ihr  in  dem  der  Mutter  der  Götter  geweihten  Haine  zu  ver- 
einigen ;  die  beleidigte  Qöttin  verwandelt  das  junge  Paar  in  einen 
Löwen  und  eine  Löwin.  In  den  Gesta  Romanorum  tödtet 
ein  Mädchen,  die  Tochter  des  Kaisers  Vespasian,  den  Freier  um 
ihre  Hand  in  einem  Garten  in  Gestalt  eines  wilden  Löwen.  Em- 
pedodes  jedoch  betrachtete  die  Verwandlung  in  einen  Löwen  als 
die  beste  aller  menschlichen  Metamorphosen.  Wenn  die  Sonne 
in  das  Zeichen  des  Löwen  tritt,  erreicht  sie  den  höchsten  Grad 
von  Macht;  und  die  goldene  Krone,  welche  die  Florentiner  ihrem 
Löwen  auf  dem  Marktplatze  am  Johannistage  aufsetzten,  war 
ein  Symbol  des  Nahens  der  Jahreszeit,  die  sie  mit  dem  einzigen 
Wort  sol  Hone  bezeichnen.  Dieser  Löwe  ist  rasend  und  macht, 
wie  es  heisst,  Pflanzen  und  Thiere  rasend.  Die  heidnische  Le- 
gende erzählt  von  Prometheus  — 

„insani  leonis 
Vim  stomacho  apposiiisse  nostro.^' 

Der  mythische  Löwe,  die  Sonne,  giebt  dem  Menschen  nicht 
nur  Wuth,  Raserei,  sondern  auch  Krafbein.^ 

Der  Tiger,  der  Panther  und  der  Leopard  besitzen  mehre  von 
den  mythischen  Zttgen  des  Löwen  als  einer  verborgenen  Sonne, 
mit  welchem  sie  noch  dazu  bisweilen  in  ihrem  Charakter  von 
allgestaltigen  Thieren  verwechselt  werden.  Der  Leopard  war 
dem  Gotte  Pan  heilig,  dessen  Natur  wir  schon  kennen,  und  der 
Panther  dem  Dionysos,  weil  er  nach  der  Sage  eine  grosse  Vor- 
liebe Air  Wein  hatte  (wir  sahen  den  vedischen  Löwen  Indra  in 
Verbindung  mit  Honig  und  Indra  selbst  in  Verbindung  mit  dem 
Soma),  und  weil  die  Ammen  des  Dionysos  in  Panther  verwandelt 
waren.    Dionysos  erscheint  bald  von  Panthern  umringt,  mit  denen 


'  Horaz,  Carm.  I,  16. 

*  Sculpebant  Ethnici  auro  vel  argento  leonis  imaginem,  et  ferentes 
hnjosmodi  simalacra  generosiores  et  audaciores  ovadere  dicebantor;  idcireo 
non  est  mirum  si  Aristoteles  (in  lib.  de  Secr.  Secr.)  scripserit  annulum  ex 
auro  vel  argento,  in  quo  coelata  sit  icon  puellae  eqoitantis  leonem  die  et 
hora  soils  vagantis  in  domidlio  leonis  gestantes,  ab  omnibus  honorari; 
Aldrovandi,  De  Qu  ad  rap.  Dig.  Vi  v.  I.  —  In  den  Zeichen  des  Thier- 
krdses  kommt  Virgo  hinter  Leo;  auch  die  Christen  feiern  die  Aufnahme 
der  Jungfrau  in  den  Himmel  gegen  Mitte  Augnst,  wenn  die  Sonne  ans 
dem  Zeichen  des  Löwen  in  das  der  Jungfrau  tritt 


464 

er  Räuber  schreckt  und  in  die  Flucht  schlägt,  nnd  bald  von 
Tigern  gezogen.  Dionysos  ist  zu  gleicher  Zeit  ein  phallischer  nnd 
ein  ambrosischer  Gott,  nnd  daher  der  Gott  des  Weines;  so  hat 
in  Indien  Qiva,  der  phallische  Gott  par  excellence,  so  wie  Tvash- 
tar,  Knvera  und  Yama,  fast  mit  ihm  gleichbedeutende  Gestalten, 
den  Tiger  zu  seinem  Abzeichen  nnd  ist  mit  einem  Tigerfell  be> 
deckt.  Bs  ist  eine  sonderbare  Thatsache,  dass  in  der  indischen 
Tradition  dem  Tigerschwanz  eine  tödtende  Kraft  beigelegt  wird. 
Ein  indisches  Sprichwort  sagt,  dass  ein  Haar  ans  dem  Tiger- 
schwänze  Einem  die  Ursache  des  Todes  sein  könne,  ^  was 
uns  natürlich  die  Vorstellung  von  dem  Tiger  Mavuxvi^g  weckt, 
der  an  seinem  Schwänze  Stacheln  (jahfTQa}  hat,  welche  er  als 
Pfeile  wirft,  um  sieb  %\\  vertheidigen.  ^ 

Nachdem  wir  den  Tiger,  den  Panther  und  den  Leopard,  ge- 
fleckte nnd  allgestaltige  Thiere,  betrachtet  und  sie  mit  dem 
Löwen  verglichen  haben,  dessen  Kampf  gegen  die  Schlange  wir 
ebenfalls  erwähnten,  ist  es  natürlich,  noch  ein  paar  Worte  über 
das  Chamäleon  hinzuzufligen ,  über  dessen  Feindschaft  gegen  die 
Schlange  und  von  dessen  Heilkräften  griechische  und  römische 
Schriftsteller  so  Langes  und  Breites  geschrieben  haben.  Von  dem 
krikalä^a  oder  krikaläsa,  dem  Chamäleon,  ist  schon  in  einem 
vedischen  Brähmana  die  Rede.  In  dem  55.  Gesänge  des  letzten 
Buches  des  Rämäyana  lesen  wir,  dass  König  Nriga  verdammt 
wurde,  in  Gestalt  eines  Chamäleons  allen  Creaturen  viele  hundert 
tausend  Jahre  unsichtbar  zu  bleiben,  bis  der  Gott  Vishnu,  in  der 
Gestalt  des  Vasudeva  inkamirt,  kommen  werde,  ihn  von  diesem 
Fluche  zu  befreien,  mit  dem  er  belegt  worden  war,  weil  er 
sein  Urtheil,  in  einem  zwischen  zwei  Brähmanen  schwebenden 
Streite  über  das  Eigenthumsrecht  einer  Kuh  und  eines  Kalbes 
aufgeschoben  hatte.  In  den  Mährchen  von  den  dankbaren  Thieren 
erntet,  wie  bekannt,  der  Held  oft  ihren  Dank  daf6r,  dass  er  ihre 
Beute  in  gleiche  Theile  getheilt  hat,  während  sie  sich  mit  einander 
darüber  stritten.  Aus  dem  letzten  Buche  des  Rämäyana  er- 
fahren wir  auch,  dass  die  Gestalt  des  Chamäleons  die  ist,  welche 


>  Vgl.  Böhtlingk,  Indische  Sprüche,  2.  Aufl.  I,  1. 

*  Ktesias  bei  Phot  Bibl.  (p.  45  b.  ed.  Bekker).  Ktesias  erklärt  dieses 
Wort  als  „Verschlinger  von  Menschen^;  mit  Hilfe  des  Sanskrit  kaun  es 
nur  erklärt  werden ,  indem  man  an  Stelle  des  Anfang«-M  eines  von  den 
Wörtern  setzt,  die  „Mensch^*  bedeuten,  wie  nara,  gana,  manava,  mä- 
nusha  etc.  Antikora  dürfte  von  dem  sanskritischen  antakara  (»ider 
ein  Ende  macht,  Vemichter,  Tödter)  absuleiten  sein. 


Eayera^  der  Qoü  des  ReichtbnmS;  annahm,  als  die  Götter,  von 
dem  Anblick  des  Ungeheuers  Rävana  geschreckt,  flohen.  Wie 
Tama  and  Qiva  fast  gleichbedeutende  Gestalten  sind,  so  besteht 
zwischen  Yama  und  Kuvera  dasselbe  Verhältniss  wie  zwischen 
Pluto  und  Plutus.  Dem  Tig^r  Qitä  bntspricht  das  Chamäleon 
Kuvera ,  und  der  Chamäleoi^Gott  dee  Reichthums,  der  Feind  der 
Schlange,  hängt  in  der  Mythologie  eng  mit  dem  Löwen  Indra 
tusammen,  mit  d^fm  Löweti,  der  das  Schlang^nungeheüer  tödtet, 
ttaä  mit  deib  Löwto,  der  nach  deni  Schatze  tttstem  ist 


Onbtnwtlt,  dto  thtora.  SO 


466 


KAPITEL  XIV. 
Die  Splmne* 

Im  Toscanischen  herrscht  ein  sehr  interessanter  Aberglaube 
über  die  Spinne:  man  glaubt^  eine  Spinne;  die  man  am  Abend 
sieht,  dtlrfe  nicht  verbrannt  werden,  da  sie  Glück  bringe;  wärend 
sie,  am  Morgen  gesehn,  verbrannt  werden  müsse,  ohne  dass  man 
sie  anrührt. '  Die  Abend-  und  Morgen- Aurora  werden  mit  der 
Spinne  und  dem  Spinngewebe  verglichen ;  die  Abend- Aurora  muss 
die  Morgen-Aurora  während  der  Nacht  verfertigen.  Wir  haben 
schon  bei  einer  früheren  Gelegenheit  das  piemontesische  Sprich- 
wort angeführt:  „Rosso  di  sera,  buon  tempo  si  spera."  Wenn 
die  Sonne  im  Westen  ohne  Wolken  untergeht,  wenn  die  glän- 
zende Spinne  sich  am  westlichen  Himmel  zeigt,  so  ist  das  für 
den  nächsten  Morgen  ein  Anzeichen  schönen  Wetters.  Im  Big- 
V  e  d  a  haben  wir  darüber  mehre  interessante  Data ;  die  Aurora 
webt  während  der  Nacht  (und  heisst  deshalb  vayanti ;  ^  bisweilen 
wird  sie  von  Räkä,  dem  Vollmonde  ^  unterstützt)  das  Gewand  für 
ihren  Gemahl.  In  einem  andern  Hymnus  aber  wird  sie  gebeten, 
bald  zu  scheinen,  und  nicht  zu  lange  an  ihrer  Arbeit  zu  weben, 
damit  die  Sonne  mit   ihren  Strahlen   nicht  darauf  falle  und  es 


'  Vgl.  den  deutschen  Spruch: 

„Eine  Spinne  am  Abend 
Ist  erquickend  und  labend; 
Eine  Spinne  am  Morgen 
Bringt  Kummer  und  Sorgen.^ 
»  9fgv.  II,  38,  4.  -  Bei  A  fan.   IV,  54  lässt  der  König,   der  keine 
Kinder    hat,    das   siebenjährige   Mädchen    in   einer   einzigen    Nacht  ein 
Fischernetz  anfertigen. 

'  In  der  deutschen  Sage  haben  wir  die  Spinnerin  im  Monde:  ^Die 
Altmärkische  Sage  bei  Temme  49^  ,die  Spinnerin  im  MondeS  wo  ein  Mäd- 
chen von  seiner  Mutter  verwünscht  wird,  im  Monde  zu  sitzen  und  zu 
spinnen,  scheint  entstellt,  da  jener  Fluch  sie  nicht  wegen  Spinnens,  son- 
dern Tanzens  im  Mondschein  trifft;'^  Simrock,  Deutsche  Mythologie, 
2.  Aufl.  p.  23.  —  Vgl.  auch  Kapitel  I  und  das  über  den  Bären,  wo  wir 
von  einem  Mädchen  lesen,  das  in  der  Nacht  mit  dem  Bären  tanzt  — 
Vielleicht  ist  auch  ein  Zusammenhang  zwischen  dem  vedischen  rftkft  und 
d^axvri  anzunehmen.  [?] 


46t 

verbrenne.^  In  der  Sage  von  Odysseus  löst  Penelope  in  der 
Nacht  die  Arbeit  des  Tages  wieder  auf;  es  ist  das  eine  andere 
Seite  desselben  Mythns;  Penelope  löst^  als  Aurora  ^  am  Abend 
ihr  Gewebe  auf;  um  es  am  Morgen  wieder  von  Neuem  zu  fertigen. 
Der  Mythus  von  Arachne  (Name  der  Spinne  und  der  berühmten 
lydischen  Jungfrau,  welche  Athene,  die  Aurora,  nach  M.  Müller, 
spinnen  lehrte,  und  deren  Vater  Idmon  ein  Purpurfftrber  war), 
welche  Athene,  eifersüchtig  auf  die  Geschicklichkeit,  die  sie  sich 
im  Weben  in  Purpurfarben  erworben  hatte,  auf  die  Stirn  schlägt 
und  in  eine  Spinne  verwandelt,  ist  eine  Spielart  desselben  My- 
thus von  der  webenden  Aurora.  Wenn  die  Spinne  dunkel  wird 
und  ihr  Gewebe  finster  ist,  dann  nimmt  die  Spinne  oder  der 
Sohn  der  Spinne,  Aurnaväbha,  eine  Ungeheuergestalt  an.  Aurna- 
väbha  (ürnaväbhi,  ürnanäbbi,  ürnanabba,  als  Spinne,  kommen 
schon  in  den  vedischen  Schriften  vor)  ist  der  Name  des  finsteren 
Ungeheuers  Vritra,  welches  Indra  unmittelbar  nach  seiner  Geburt 
auf  den  Antrieb  seiner  Mutter  tödten  muss. ^  Im  Mahäbhä- 
rata*  finden  wir  zwei  Weiber,  welche  spinnen  und  weben, 
Dhatä  und  Vidhatä;  sie  spinnen  am  Webestuhl  des  Jahres,  „am 
sausenden  Webstuhl  der  Zeit'',  mit  schwarzen  und  weissen  Fäden, 
d.  h.  sie  spinnen  die  Tage  und  die  Nächte.  Wir  haben  also  eine 
gutartige,  segensreiche,  wohlthätige,  und  eine  bösartige  Spinne. 
Im  Pentamerone  V,  4  heirathet  die  junge  Parmetella 
einen  schwarzen  Sklaven,  der  ihr  zu  Dienern  Schwäne  giebt, 
„vestute  de  tela  d'oro,  che,  subeto  'ncignannola  da  capo  a  pede, 
la  mesero  'n  forma  de  ragno,  che  parcva  proprio  na  RegiQa." 
(Der  schwarze  Mann  wird  während  der  Nacht  ein  schöner  Jüng- 
Ung,  vielleicht  als  der  Mond;  sie  will  seine  Züge  sehen,  und  er 
verschwindet;  es  ist  dies  eine  Spielart  des  Mährchens  von  der 
Indiscretion  des  Weibes.)  Bei  Afanassieff  ü,  5  spannt  die 
Spinne  ihr  Netz  aus,  um  Fliegen,  Moskitos  und  Wespen  zu  fangen ; 
eine  Wespe,  die  ins  Netz  fällt,  bittet,  sie  freizulassen  in  Anbe- 
tracht der  vielen  Kinder,  die  sie  hinterlassen  würde  (dieselbe 
List  wird  von  der  Henne  gegen  den  Fuchs  angewandt  in  dem 


'  Vy  udhft  duhitar  divo  mft  diram  tanutha  apafii  net  tvft  stenam  yathft 
ripuih  tapAti  süro  aröishft;  jßigv.  V,  79,  9. 

*  Vfitram  aTftbhinad  dänum  fturnayftbham ;  Rigv.  II,  11,  18.  —  Ga^- 
Mno  nu  ^atakratur  vi  pfiöhad  iti  mfttaram  ka  ngrä^  ke  ha  ^rinvire  ftd  im 
^vasy  abravtd  &umaväbbam  ahi^uvam  te  potra  santu  Bish|aral^;  ^'gv. 
VIII,  66,  1.  2. 

•  I,  802.  825. 


4«e 

obenerwähnten  toscaniscfaen  Mäfarchen).  Die  leichtgläubige  Spinne 
lässt  sie  fliegen;  sie  warnt  nun  Wespen,  Fliegen  und  Muskitos 
vor  dem  Netze  der  Spinne.  Diese  bittet  nun  das  Heupferdchen, 
die  Motte  und  die  Wanze  (nächtliche  Thiere)  um  Hilfe  ^  welche 
verkättden^  dass  die  Spinne  gestorben  ist^  indem  sie  ihren  Geist 
am  Oalgen,  der  später  vernichtet  wurde  ^  aufgegeben  habe  (die 
Abend-Aurora  ist  in  die  Nacht  verschwunden).  Die  FüegeU; 
Moskitos  und  Wespen  kommen  wieder  hervor  und  fallen  in  das 
Netz  der  Spinne  (in  die  Morgen- Aurora.)  Bei  Afanassieff  VI^ 
18  breitet  das  schöne  Mädchen,  welches  aus  dem  Hause  der  sie 
verfolgenden  Hexe  flieht,  einen  Schleier  aus,  den  sie  mit  Hilfe 
eines  schlkien  jungen  Mädchens  (des  Mondes)  mit  Gold  gestickt 
hat;  sofort  entsteht  ein  grosses  Feuermeer,  in  welches  die  alte 
Hexe  filllt  und  verbrennt ;  und  hier  kommen  wir  auf  den  italie- 
nischen Volksglauben  zurttck,  dass  die  Spinne  am  Moi^n  ver- 
brannt werden  muss. 

Die  Spinne  ist  ein  Landthier,  doch  sie  webt  ihr  Netz  in  der 
Luft;  und  so  —  als  Mittelding  zwischen  den  Thieren  der  Erde 
und  denen  der  Luft  —  liefert  sie  uns  eine  Brücke,  welche  uns 
in  natürlicher  Weise  von  dem  ersten  Theile  unseres  Werkes  zu 
ddm  zweiten  führt.  ^  Ich  bofle^  diese  Brücke  wird  sich  als  ebenso 
genügend  erweisen  wie  der  Sack,  in  welchem  der  junge  ehst- 
nische  Held  den  Schatz  aus  der  Hölle  trägt,  ein  Sack,  der  aus 
den  Fäden  einer  Spimne  gefertigt,  aber  so  stark  ist,  dass  es  un- 
möglich ist,  ihn  zu  zerreissen.  Ulh  wünschte,  ich  hätte  in  dem 
ersten  Buche  E^was  v(hi  der  Geschicklichkeit  der  Spinne  gdiabi, 
und  ich  könnte  mit  einigen  wenigen  Fäden  aus  dem  Labyrinthe 
der  arischen  Thiersage  ein  Gewebe  spinnen,  welches,  wenn  nicht 
so  glänzend  wie  das  Arachne's,  so  doch  dauerhafter  wäre  als  das 
Penelope's. 


'  Tch  bemerke  noch,  wie  in  Krilofifs  niBsiscfaeu  Fabeln  der  Spinne  die- 
selbe  Rolle  zngetheiK  wird,  wie  im  Westen  dem  Zaankdnig  (dem  reguliw) 
und  dem  Kä£ar.  Der  Adler  trägt,  ohae  es  za  wissen,  eine  apkuie  in 
seinem  Schwanz  auf  einen  Baum,  welche  ihn  dann  mit  ihren  Netzen  um- 
spinnt.   Vogel  und  Spinne  wechseln  also  mit  einander. 


Zweiter  ThciK 

Die   Thiere   der   Luft. 


KAPITEL  I. 
Y9geL 

Der  Himmel;  besonders  bei  Nacht^  wird  bald  als  eine  Strasse 
anfgefasst,  auf  welcher  Jemand  wandern  kann,  und  wo  sich  wohl 
bisweilen  der  Wanderer  ^verirrt  oder  Andere  irreführt;  bald  als 
die  Luft  selbst;  in  welcher  Jemand  fliegt  oder  im  Fluge  getri^en 
wird;  bisweilen  mit  (Gefahr  zu  fallen;  bald  als  ein  Baum,  auf 
welchem  Jemand  spricht  oder^Nesty  baut,  bisweilen  mit  der  Ge- 
fahr; dass  die  Worte  unheilvoll  sind;  oder  dass  d\p  Nester  herab- 
fallen; und  bald  als  ein  See,  auf  welchem  Jemand  unter  Gefahr 
eines  Sehiffbraches  segelt 

Die  Himm^-AtmoBphäre  und  der  Himmel-Baum  sind  die 
Welt  dfer  Vögel  und  Insekten  des  Mythus.  Der  Gott;  der  Dämon, 
der  Held  und  das  Ungeheuer  nehmen^  wenn  sie  dieses  Gebiet 
durcheilen,  entweder  die  G^talten  geflügelter  Thiere  an,  oder 
benutzen  diesdben,  um  die  Pfade  des  Himmels  zu  ersteigen; 
oder  aber  sie  werden  von  ihnen  ins  Verderben  gefllhrt. 

Die  Sonne  und  der  Mond;  die  Sonnenstrahlen;  die  Donner- 
keite;  die  BiitzC;  die  Aurora;  die  Wolken,  welche  sich  bewegen 
und  donnero;  und  die  sich  bewegende  Finstemiss  selbst  nehmen 
oft  in  den  Mythen  die  Gestidten  fliegender  Thiere  an. 

Im  Kigveda  heisst  die  Sonne  ein  Vogel  (vi);^  die  Ayvins 


'  9igv.  I,  72,  9. 


470 

koiümen  mit  den  Rädern  des  Wageng  gleich  einem  Vogel  mit 
Federn ; »  Indra  ist  der  schöugefltigelte  Rothe ;  ^  die  Haruts  sitzen 
gleich  Vögeln  auf  dem  Grashalm ;  *  Agni  erfüllt  den  Wunsch  des 
Vogels;*  die  Schöngeflügelten  Agni's  (d.  h.  die  Donnerkeile)  er- 
scheinen als  Vernichter,  wenn  der  schwarze  Stier  gebrüllt  hat 
(d.  h.  wenn  die  schwarze  Wolke  gedonnert  hat) ;  ^  die  Anstrengun- 
gen Savitars  vernichten  nicht  die  Wälder  der  Vögel  ;^  aus  dem 
Hause  der  Aurora  kommen  die  Vögel  heraus;  "^  die  Göttinnen  und  die 
Bräute  der  Helden  werden  aufgefordert,  Männern  mit  ungestutzten 
Schwingen  zu  Hilfe  zu  kommen.^  Endlich  zeigt  uns  ein  interes- 
santer vedischer  Hymnus  die  Sonne  und  den  Mond ,  Indra  und 
Soma,  als  zwei  schöngeflügelte,  in  Freundschaft  vereinte  Vögel, 
welche  beständig  um  denselben  Baum  (d.  i.  den  Himmel)  fliegen; 
der  eine  von  diesen  isst  den  süssen  pippala,  der  andere  glänzt, 
ohne  zu  essen.  Beide,  schönbeschwingt,  singen,  wie  sie  treulich 
den  Ambrosiaschatz  hüten.  Der  Honig  dieses  Baumes  heisst 
pippala;  diesen  Honig  essen  alle  Vögel  und  auf  diesem  Baume 

bauen  sie  ihre  Nester.  * 

— — — — — »^.^«^-^—  * 

'  Vir  na  parnäih;  ^igv.  1,  183,  1. 
'  Aruna^  supama^;  Rigv.  X,  55,  6. 

*  Vayo  na  sidann  adhi  barhisbi  priye;  Rigv.  I,  85,  7. 

*  Blanmasädhano  vel^;  Rigv.  I,  96,  6. 

^  A  te  Bupamä  aminantafi  cvfti^  krisbno  non^va  vrishabho  yadidam; 
Rigv.  I,  79,  2.    ' 

*  Van&ni  vibbyo  nakur  asya  t&ni  vrat6  devasya  savitur  minanti;  Rigv. 
U,  38,  7. 

^  Ut  te  vaya^id  vasater  apaptan;  Rigv.  I,  124,  12.  ~  Bei  A  fan.  II, 
23  wirft  die  schöne  Helene,  eine  Gestaltung  der  Aurora,  als  sie  beim  Ko- 
nig auf  dem  Ball  ist,  mit  einer  Hand  Knochen,  worauf  Vögel  entstehen, 
und  mit  der  andern  Hand  Wasser,  worauf  Gärten  und  Quellen  erscheinen. 

*  Abbi  no  devir  avasft  mabal^  9armanä  nnpatnih  adbinnapatri^  saöan- 
täm;  Rigv.  I,  22,  11.  —  Wenn  die  Göttinnen  hier  mit  den  Nymphen 
identisch  sind,  so  sind  sie  vielleicht  id^tisch  mit  den  Wolken,  und  ich 
möchte  auf  diese  Stelle  die  Sage  des  Rftmftyana  (V,  56)  zurückfuhren, 
nach  welcber  die  stolzen  Berge  einst  beschwingt  (die  Wolken)  waren  und 
nach  Belieben  über  die  Erde  hinstreiften*,  Indra  mit  seinem  Donnerkeil 
schnitt  ihnen  die  Flügel  ab  und  sie  fielen  herab. 

*  Dv4  suparnä  sayugä  sakhftyft  samftnaxh  vriksham  pari  shasva^te 
tayor  anya^  pippalam  evftdv  atty  ana^nann  anyo  abhi  (S&ka^tti  —  Tatrft 
suparnä  lamritasya  bhägam  animesham  vidathäbhievaranti ;  Rigv.  I,  164, 
20.  —  Vielleicht  dürfen  wir  mit  dieser  Legende  die  beiden  Vögel  Amru 
und  Camru^  vergleichen,  von  denen  der  eine  die  Bäume  Hubis,  ükedhwo- 
bis  und  Vi^po-bis,  welche  den  Samen  aller  Bäume  enthalten,  schüttelt, 
damit  der  Same  herabfällt;  der  andere  verbreitet  ihn  (vgl.  Ehorda-Avesta 
p.  LIV). 


9 


471 


\ 


Die  Weisheit  der  Vögel  wird  in  der  arischen  Volkssage  sehr 
gertthmt.  Davon  erzählt  das  Härkandeya-P.  ^  eine  lange  und 
instruktive  Legende. 

Der  weise  (jaimini  möchte  gern  einige  Episoden  der  grossen 
Sage  des  Mähäbhärata,  die  dunkel  scheinen,  erklärt  haben. 
Er  nimmt  seine  Zuflucht  zu  dem  gelehrten  Märkandeya;  doch 
dieser  sagt,  er  könne  ihm  keinen  Aufschluss  geben,  räth  ihm  aber, 
die  Vögel,  die  Besten  der  Vögel,  die  Söhne  Dronas  zu  fragen, 
welche  das  Wesen  der  Dinge  kennen,  welche  ttber  die  heiligen 
Abhandlungen  nachdenken,  die  Vögel  Pifigäksha,  Vibodha,  Su- 
pattra  und  Sumukha,  die  seine  Zweifel  lösen  würden.  Sie  leben 
in  einer  Höhle  in  der  Mitte  der  Vindhyäs ;  er  solle  zu  ihnen  gehen  und 
sie  befragen.  Öaimini  wundert  sich,  wie  einfache  Vögel  solche  Weis- 
heit besitzen  können.  Märkandeya  erzählt  ihm  nun  ihre  Abkunft. 
Eine  Nymphe,  die  durch  ihren  Gesang  den  Büsser  Durväsa  ver- 
führt hatte,  wurde  verdammt ,  in  der  Familie  des  Vogels  Garuda 
wiedergeboren  zu  werden,  und  sechzehn  Jahre  in  der  Gestalt 
eines  Vogels  zuzubringen ,  bis  sie  nach  Geburt  von  vier  Söhnen 
von  einem  Pfeil  verwundet  werden  und  ihre  ursprüngliche  Gestalt 
wiedererlangen  sollte.  Als  Vogel  heisst  sie  Tärkshi  und  ist  mit 
dem  Vogel  Drona  vermählt,  der  weise  und  in  den  Vedas  und 
Vedäügas  wohl  unterrichtet  ist.  Tärkshi  ist  bei  der  Schlacht 
zwischen  den  Käuravas  und  den  Pändavas  zugegen;  ein  Pfeil 
trifft  sie  in  den  Leib,  aus  welchem  vier  mondgleich  glänzende 
Eier  heraus  auf  die  Erde  fallen.  Nach  der  Schlacht  nähert  sich 
der  Asket  Qamika  dem  Platze,  an  welchem  die  vier  Eier  liegen, 
iind  hört  die  jungen  Vög^lchen  cicikuci  schreien.  Der  weise 
Mann  wundert  sich ,  dass-  sie  solchem  Gemetzel  entronnen  sind, 
schliesst,  dass  sie  Brahmänen  sqn  müssen,  und  denkt,  das  ist  ein 
Umstand  von  höchst  gtlnstiger  Vorbedeutung  und  ein  Wahrzeichen 
von  hohem  Glück  (mahäbhägyapradarQini).  Er  trägt  die  Vögel 
in  sein  Haus,  und  setzt  sie  an  einen  Ort,  wo  sie  vor  Katzen, 
Mäusen,  Falken  oder  Wieseln  sicher  sind.  Die  Vögel  wachsen 
unter  der  Obhut  des  Weisen  heran  und  lernen  auch,  indem  sie 
dem  von  ihm  ertheilten  Schulunterricht  zuhören;  ihre  Dankbarkeit 
drücken  sie  ihrem  Erretter  durch  Worte  aus,  welche  sie  durch 
Uebung  deutlich  zu  artikuliren  gelernt  haben.  Nach  ihrem 
früheren  Sein  befragt,  erinnern  sie  sich,  dass  einst  ein  Weiser 
lebte;  Namens  Vipuläfvan,  Vater  von  zwei  Kindern,  Sukrisha  und 


>  Calcutta,  1851. 


472 

Tupib^ni,  uod  ^m  8ic  (^e  Vier)  Söhne  Tuipb^inw  wf^ren.  Als 
sie  bei  ihrem  V^ter  in  den  Wäldern  lebten,  kam  eipst  Indra,  der 
König  der  Götter,  zu  ihnen  in  Gestalt  eines  alten  {liesenvogels 
und  yerlangte  von  deip  gastfreundlichen  Weisen  Menschenfl^isch. 
Dieser  wundert  sich,  dass  ein  Vogel  in  ^inem  Alter,  in  welchem 
doch  jede  {i^gierdQ  erloschen  sein  sollte,  so  grausam  ist,  Men- 
schenfleisch zu  verlangen.  Doch  verlangt  er  von  seinen  eigenen 
Söhi^^  (gleich  Vicvämitra  in  der  in  Kap.  I  erwähnten  Sage  von 
^unahgepa),  dass  sie  sich  zur  Erfüllung  dieser  Pflicht  opfern. 
Zuerst  verweigern  si^  diesen  Act  der  Gastfreundschaft  nicht,  doch 
als  sie  hören,  dass  sie  von  dem  Vogel  verzehrt  werden  sollen, 
wi^dersetze^  sie  sich  ganz  energisch,  und  (bhren  unter  anderen 
Argun^^nten  das  physiologische,  oder  vielmehr  materialistische  an, 
4ass  ihre  Tugend,  wenn  sie  tugendhaft  sind,  sogleich  mit  ihren 
Leibern  verschwinden  wird,  während  sie  sich  dagegen,  um  ihre 
Tugend  lange  zu  bewahrep,  verbunden  glauben,  auch  ihre 
Existenz  sp  lange  als  möglich  hinauszuziehen  {ym  sahen  schon 
die  Katze,  welchp  ein  ähnliches  Argument  zur  Rechtfertigung 
ihrer  Fettheit  anfuhrt).  Ihr  Vater  flucht  ihnen,  über  diese  Wei- 
^rung  uAch  g^ebenen^  Versprechen  enjtrttstet,  verd^mt  sie,  als 
Thiere  wiedergeboren  zu  werden,  und  bietet  ßi^fh  grossmüthig 
selbiEit  dem  hungrigen  Vogel  an.  Indra  offenbairt  mh  in  «einer 
eigentlichen  göttlichen  Ges]i;alt  und  verschwindet,  nachdem  er  ^en 
Weisen  geae^t  Die  Söhne  bitten  ihren  Vajtier,^  sie  von  dem, 
Flnche  zu  befreien;  er  hat  Mitleid  mit  ibn^n,  k^nn  %ber  sein 
Wort  nicht  znrücknehmen ;  nnr  ^ine  MU^erui^g  4^  Strafe  steht  in 
seiner  Ma,cht.  Sie  sind  verdammt,  ihre  Thiergestalt  zu  behalten, 
werden  jedoch  entschädigt  durch  die  Gabe,  das  Geheimniss  alle^ 
Seins  zu  erschauen.  Aus  diesep  Grunde  begrttsst  sie  Qamtka, 
als  er  sie  findet,  als  Brahmanen.  Uebrigens  ist  der  Doppelsinn 
leicht  begreiflich,  wenn  wx  bedenken,  diy^  das  Wort  dvi^a,  oder 
zweimal  geboren,  „Vogel"  (d..  h.  zuerst  als  Ei,  dann  als  Thier  ge- 
boren) ebensowohl  als  „Brahmane^'  bedeutet  (der  Br^hmane  yrir4 
wiedergeboren,  indem  er  den  heiljigen  Strick,  di^  pi;aetexta  upd 
das  Sakrament  des  heiligen  O^les  ni^mt).  D\e  Etjrmologie 
kommt  uns  hior  zu  dem  Verstilndniss  dßx  Sage  z.qi  Hilfe.  Ebenso 
wie  der  Brahmane  der  weiseste  unjter  den  Menschen,  so  sind  4^ 
dvigas  oder  Vögel  die  weisesten  m^ter  den  Thieren.  Von  ihrem 
Vater,  d^m  Einsiedler,  verflucht,  gehen  nni^  d|e  Vögel  zu  dem 
Berge  Vindhya,  welcher  von  vielen  gesegneten  Strömen  bewässert 
wird,  wo  sie  als  strenge  Büsser  leben.    Auf  dem  Wege   sie  um 


Rath  zu  fragen,  hört  (^aimini  9ie  schon  in  4er  Nftbe  ihrer  Woh- 
nnng  deutlich  miteinander  sprechen.  Er  geht  näher  und  sieht  sie 
auf  dem  Gipfel  eines  Felsens  sitzen.  Er  wendet  sich  mit  liebens- 
würdigen Worten  an  sie;  die  Vögel  antworten  ihm,  da  ein  so 
weiser  Mann  sie  besucht  habe,  sei  ihr  Wunsch  erfttUt,  und  ihr 
Fluch  habe  ein  Ende.  Folgen  die  Fragen  Öaiminis  ttber  Ganär- 
dana,  Draupadi,  Baladeva  und  diefUnf  Söhne  Draupadis.  Vor 
der  Aptwort  singen  die  Vögel  eine  Art  Hymnus  an  Vishnu  und 
stellen  seine  hauptsächlichen  Inkarnationen  dar.  Im  Mahäbhä- 
rata^  gehen  die  ascetischen  Brahmanen  in  Gestalt  von  Vögeln 
den  rishi  Händavya  trösten,  der  auf  Befehl  des  Königs  gepfählt 
worden  ist,  weil  er  den  Räubern  der  königlichen  Beute  Gastfreund- 
schaft erwiesen  hat 

Vögel  wissen  Altes;  deshalb  wfrd  hauptsächlich  nach  ihnen 
gewahrsagt ;  Wahrzeichen  werden  mit  Vorliebe  a  u  s  p  i  c  i  a  oder 
auguria  genannt  Im  letzten  Buohe  des  Rämäya^a  werden 
die  Ungeheuer  durch  folgende  Vorbedeutungen  geschreckt:  — 
„Tausende  von  (Meiern  und  Enten  mit  Mäulem,  die  Flammra 
q>eien,  welche  einen  Kreis  bilden  gleich  dem  des  Todesgottes; 
die  Tauben,  die  Rothfässe,  die  s&rikas  (turdus  salicae)  wurden 
Tcrscheucht'* 

Im  A  V  e  s  t  a  erscheint  oft  Veretraghna  als  Vogel  und  als  der 
Vogelspn^he  kundig.  Eine  Vogelfeder  leistet  im  A  vest  a  dem 
Veretraghna  HUfe,  wie  bei  Firdusi  Zal  durch  das  Verbrennra 
ewer  Feder  des  Vogels  Simurg  diesen  selbst  zu  seinem  Beistande 
herbeiruft.*    Nach  einer  Sage  desKhorda-Avesta  entfloh  die 


»I,  4806. 

*  »Die  Beschwömng  vermittelst  einer  Feder  ist  gewiss  eine  alteranische 
Vorstellung.^  Rhorda-Avesta  p.  147  Anm.  1.  —  In  einem  bisher  nicht 
veröffentlichten  Montferratensischen  Mährchen,  welches  mir  Herr  Ferraro 
mittheilte,  muss  eine  Frau,  welche  im  Garten  einer  Hexe  Petersilie  ge- 
gessen hat,  dieser  ihre  Tochter  zur  Strafe  für  diese  Beleidigung  überlassen. 
Das  Mädchen  muss  dann  drei  schwere  Prüfungen  bestehen:  an  einem 
Tage  einen  Berg  Weizen  und  Hirse  in  die  einseinen  Kömer,  aus  denen 
er  besteht,  su  sondern,  an  einem  Tage  einen  Berg  Aepfel  essen,  und  an 
einem  Tage  den  Flachs  eines  Jahres  waschen,  trocknen  und  plätten.  Die 
erste  Prüfung  besteht  sie,  indem  sie  vermittebt  zweier  Vogelfedern  tausend 
Vögel  herbeiruft,  welche  das  Getreide  von  der  Hirse  sondern.  —  Im  P  e  n  - 
tameroneV,  4  streifen  sich  die  Vögel  selbst  die  Federn  ab,  um  eine 
Mi^tratze  zu  füllen,  welche  die  junge  Parmetella  hat  anfertigen  sollen.  In 
einem  toskanischen  Mährchen  wird  der  junge  Bruder  wegen  des  Besitzes 
einer  ^aenfeder  getödtet 

or    THf 


UNIVf 


I 


474 

Majestät  des  alten  Tima,  der  stolz  und  Ittgoeriseh  geworden  war 
(so  wurden  in  Indien  der  himmlische  Yama  nnd  der  glttckliche 
Qiva  unterirdische;  zerstörende  Gottheiten),  sichtbarlich  mit  dem 
Körper  eines  Vogels.^  Nach  dem  Volksaberglauben  Weissruss- 
lands  ist  der  kleine  Vogel  diedka  (der  Kleine)  der  Wächter  von 
Schätzen  und  hat  Augen  von  Feuer  und  einen  feurigen  Bart  (es 
ist  das  unzweifelhaft  eine  Darstellung  der  dämouisehen  Abend- 
sonne, Kuvera  oder  Plutos. *)  In  den  Contes  Merveilleux 
Porchat's  erscheint  der  rothe  Vogel  als  Bote. 


»  Kh.-Av.  p.  175. 

*  Bei  Afan.  V,  88  verwüstet  ein  solcher  kleiner  Vogel  während  der 
Nacht  das  Feld  eines  Herren ;  der  jüngste  der  drei  Brüder,  der  für  dumm 
gehalten  wird,  fängt  ihn  und  verkauft  ihn  dem  Könige,  welcher  ihn  hinter 
Schloss  und  Riegel  legt.  Des  Königs  Sohn  befreit  den  kleinen  Vogel,  der 
ihm  aus  Dankbarkeit  >  ein  Pferd  giebt,  welches  Schlachten  gewinnt,  und 
einen  Apfel,  durch  dessen  Hilfe  er  eine  Prinzessin  heirathen  kann.  —  V, 
22  verwandelt  sich  der  junge  Mann,  der  den  Unterricht  des  Teufels  ge- 
nossen, in  einen  Vogel,  und  sagt  zu  seinem  Vater,  er  solle  ihn  verkaufen, 
aber  den  Käfig  solle  er  nicht  fahren  lassen.  Der  Teufel  kauft  den  Vogel 
ohne  Käfig;  er  steckt  ihn  in  sein  Taschentuch  und  will  ihn  seiner  Tochter 
mitbringen ;  als  er  aber  heimkommt,  ist  der  Vogel  verschwunden.  —  V,  42 
befreit  der  König  der  Vögel  Iwan  von  der  Hexe,  welche  ihn  verzehren 
will,  und  bringt  ihn  zu  seiner  Verlobten.  Die  Hexe  reisst  dem  König  der 
Vögel  ein  paar  Federn  aus,  kann  ihn  aber  nicht  halten.  —  V,  46  lehrt 
der  Teufel  dem  jungen  Helden  die  Sprache  der  Vögel.  —  VI,  69  holt  das 
kluge  Mädchen  aus  dem  Reiche  der  Finstemiss  den  Vogel,  der  spricht, 
den  Baum,  der  singt,  und  das  Wasser  des  Lebens,  womit  sie  ihre  beiden 
älteren  Brüder,  die  von  einer  Hexe  in  einen  Brunnen  geworfen  sind,  wie- 
der ins  Leben  ruft  (die  Aurora  befreit  die  A^vins).  —  In  dem  fünften  sici- 
lianischen  Mährchen  von  Frau  Gonzenbach  holen  Bruder  und  Schwester 
aus  dem  Schlosse  der  Hexe  das  Wasser,  das  tanzt,  und  den  Vogel,  der 
spricht  Der  Vogel  erzählt  dem  Wasser,  in  Gegenwart  des  Königs,  die 
Geschichte  von  den  beiden  jungen  Leuten.  —  Im  Pentamerone  II,  5 
lehrt  der  Fuchs  der  jungen  Grannonia,  was  Vögel  sagen.  —  Im  Penta- 
merone V,  7  ist  es  der  jüngste  der  fünf  Brüder,  welcher  die  Vögel- 
sprache verstehen  lernt.  —  Bei  Pietro  de  Crescenzi  (X,  1)  finden  wir  einen 
„rex  Daucus  (Dacus?),  qui  diviuo  intellectu  novit  naturam  accipitrum  et 
falconum  et  eos  domesticare,  ad  praedam  instruere,  et  ab  aegritudinibus 
liberare.**  —  In  der  Legende  von 'St  Franciscus  von  Assisi  kann  sich  der 
grosse  Heilige  Vögeln  verständlich  machen  und  Schwalben  Schweigen  ge- 
bieten; derselbe  Heilige  macht  einen  Wolf  mild  und  zahm;  das  Wunder 
des  Orpheus  wiederholt  sich  in  zahlreichen  anderen  Legenden.  —  In  der 
Edda  hat  Atli  ein  langes  Gespräch  mit  einem  Vogel,  dessen  Sprache  er 
versteht.  —  Schliesslich  zeigt  die  ganze  Komödie  des  Aristophanes:  „"O^- 
v^§s^  die  Weisheit  und  göttliche  Macht  der  Vögel,  und,  als  Wahrsagethiere, 
ihre  innige  Beziehung  zu  den  Donnerkeilen  des  Zeus.  —  Nach  deutschem 


475 

In  der  Zal-Sage  bei  Firdasi  kommt  ein  Räthsel  vor,  was 
zwei  Gypressen  bedeuten^  eine  verwelkt,  die  andere  grünend;  erst 
baut  anf  der  einen;  dann  anf  der  anderen  ein  Vogel  regelmässig 
sein  Nest    Der  Held  Zal,  der  das  Bäthsel  löst^  sagt: 

„Die  zwei  Cjpressen  sind  die  Himmelsseiten, 

Die  beiden,  die  uns  Glück  und  Leid  bereiten; 

Der  Vogel,  der  drin  nietet,  ist  die  Sonne, 

Sie  giebt  beim  Scheiden  Schmerz,  beim  Kommen  Wonne.*** 

Im  achtzehnten  ehstnischen  Hährchen  bezeichnen  zwei  Vögel, 
die  miteinander  sprechen,  den  Ort,  wo  der  bezauberte  Ring  Salo- 
mes, den  der  junge  Held  sucht,  liegt.  Als  der  Held  den  Ring 
findet,  kann  er  sich  nach  Belieben  in  einen  Vogel  verwandeln; 
doch  die  Tochter  der  Hölle  stiehlt  ihm  den  Ring  in  Gestalt 
eines  Adlers.  Im  vierten  ehstnischen  Mährchen  wird  das  sieben- 
jährige Mädchen  von  einem  gütigen  Zauberer  in  einen  Vogel 
verwandelt^  als  sie  eine  weite  Reise  machen  soll.  In  dem  35.  der 
Mährchen  von  San  Stefano  di  Calcinaia  erschreckt  der  Teufel 
das  Weib  des  Vogelfängers  in  Gestalt  eines  ungeheuren  und  un- 
geheuerlichen Vogels.  ImPentameronelV,  5  hält  eine  Fee 
in  Gestalt  eines  Vogels  den  Arm  des  Königs  von  Alta-Marina  auf, 
als  er  im  Begriff  ist,  sein  eigenes  Weib  Portiella  zu  tödten.  Die 
Fee  war  der  jungen  Frau  dankbar,  weil  diese  die  im  Walde 
Schlafende  vor  den  lästemen  Angriffen  eines  Satyrs  gerettet  hatte, 
indem  sie  sie  weckte.  *  Der  König  schliesst  Portiella  in  ein 
lichtloses  Verliess  ein;  der  Vogel  macht  ein  Loch  in  die  Mauer 
und  bringt  ihr  Speise,  indem  er  das  Gefltlgel  aus  der  Kttche 
stiehlt  während  der  Abwesenheit  des  Kochs.  Portiella  schenkt 
einem  Sohne  das  Leben,  der  ebenfalls  von  dem  Vogel  ernährt 
wird.  Der  „oiseau  bleu,  couleur  du  temps^',  in  dem 
Mährchen  von  Madame  d'Aulnoy,  der  zur  Nachtzeit  von  der 
Cypresse  an  das  Fenster  der  eingekerkerten  schönen  Florine 
fliegt,  ist  eine  schöne  Variation  desselben  Mythus.  Mehre  russi- 
sche Mährchen  enden  mit  folgendem  Refrain :  „Kleiner  Azurblauer 
fliegt  und  sagt,  azurblau,  doch  schön.''  ^    Sofern  die  Morgen-  oder 


Glauben  lehrt  Schlangenfett  die  Vögebprache  verstehen.    S.  Simrocki  a. 
a.  O.  p.  457. 

■  Schack,  Heldensagen  von  Firdusi,  p.  122. 

*  Eine  Abart  des  Mythus  von  Priapus  (vgl.  Kapitel  III). 

*  Sinidka  letat  i  gavarft:  Sin  da  charosch.  —  Der  dunkelblaue  Vogel 
ist  ein  Symbol  des  aiorblaaen  Nacht-  oder  Winter-Himmels,  während  da- 
gegen der  hölzerne  Vogel,  nach  welchem  die  westph&Usohen  Mädchen  am 


476 

FrttblingB-Sonne  aas  dem  dankelblaaeo  Vogel  Naekt  oder  Winter 
heraacALommt;  können  ¥dr  den  italienischen  and  deatschen  Volks- 
aberglanben  verstehen;  dass  Vogekxcremente,  die  auf  Jemanden 
fallen,  Gltick  bedeuten.  Das  Excrement  des  mjrthischen  Vogels 
Nacht  oder  Winter  ist  die  Sonne.  In  Verbindang  mit  dem  Mor- 
gen oder  Frühling  betrachtet,  ist  der  dunkelfarbige  Vogel  der 
Nacht  oder  des  Winters  glttckyerheissend,  an  sich  betrachtet  oder 
in  Beziehung  auf  die  Abendsonne  oder  den  zu  Ende  gehenden 
Sommer  ist  es  ein  unheilvolle»' und  diabolisches  Th^er.  So  der 
Vogel  Kämek  der  Yasts,  welcher  seine  Flügel  ttber  alle  Sterb- 
lichen aasbreitete  und  die  Welt  finster  machte,  indem  er  das 
Sonnenlicht  nicht  herabliesa;  regnete  es,  so  fing  er  den  Kegen 
mit  seinen  Fltigehi  auf;  die  Menschen  starben,  abgesehen  von 
denen,  welche  der  Vogel  selbst  auf&ass;  in  sieben  Tagen  und 
sieben  Nächten  tödtet  ihn  der  Held  Kere^äQpa,  so  dass  er  nieder- 
fällt ;  noch  im  Fallen  tödtet  er  Menschen  und  Thiere.  ^ 

Femer  ist  der  Vogel,  welcher  Speise  bringt,  ein  fast  in  allen 
Sagen  der  indogermanischen  Völker  sehr  beliebtes  Thema.  Jeder 
hat  von  dem  Vogel  gehört,  der  (nach  Diodorus  Sicnlus)  die  von 
ihrer  Mutter  in  der  Wttste,  an  steinigem  Ort  verlassene  Semi- 
ramis  mit  geronnener  Milch  und  Käse  (dem  Mondschein),  die 
von  den  benachbarten  Schafherden  gestohlen  waren,  ernährte; 
und  derselbe  persische  Vogel  ernährt  nach  der  Legende  mehre 
andere  Kinder,  künftige  Helden  Iran%  welche  in  ähnlicher  Weise 
ausgesetzt  worden  waren;  in  der  Sage  von  Bomnlus  und  Remns 
nimmt  der  Specht  dieselbe  Stelle  ein  wie  die  säugende  Wölfin.* 
In  der  feuchten  Nacht  und  dem  feuchten  Winter  wird  der  junge 
Sonnenheld,  sich  selbst  ttberlassen,  von  Vögeln  ernährt  Die 
Nachtigall  oder  nächtliche  Sängerin  flötet  ihre  süssen  Melodieen 
aus  dem  nächtlichen  Baume,  das  Erwachen  des  jungen  Tages 
vorausverkündend;  in  der  Baum- Wolke  tobt  der  Donner,  spricht 
das  Orakel,  prophezeit  der  Vogel.     Theo^rit  nennt  die  Dichter 


St.  JobanniBtage  mit  Stöcken  werfen,  ein  Symbol  des  Pbaiius  su  sei  a 
scheint ;  die  den  Vogel  trifEt,  ist  Königin.  Der  Vogel  ist  ein  sehr  bekanntes 
Symbol  des  Phallus;  ein  phallischer  Ursprung  muss  auch  dem  Volksglauben 
zugeschrieben  werden,  dass  ein  Vogel  dadqrch  hilflos  gemacht  werden 
kann,  dass  man  ihm  Salz  auf  den  Schwanz  streut  Wird  der  Lüsternheit 
eines  Thieres  Raum  gegeben,  so  verliert  es  aUe  Energie;  nur  der  ürdhva- 
retas  ist  stark. 

'-  Khorda- Avesta  4).  LXVUl  f. 

'  Vgl.  das  Kapitel  über  den  Specht. 


,,die  Vögel  der  Mnsen'^  {Mmmiv  oQviSag).  Der  kokila  idt  der  Vogel 
der  ittdidchen  Dichter  und  lehrt  ihnen  Weisen;  diesem  Vogel  eüt- 
spricht  der  indische  Kyknos  des  Tnti-Kame,  von  dem  es 
Msst,  er  habe  unzählige  Löcher  im  Schnabel ,  ans  deren  jedem 
ein  mdodiseher  Ton  dringt. 

Der  indische  kavi,  der  römische  vates  und  der  griechische 
(uxvTig  repräsentiren  den  Sänger  und  den  Seher  in  einer  Person; 
so  sind  auch  die  Sänger  des  Waldes  zugleich  allwissende  Pro- 
pheten. Zuerst  prophezeiten  sie  nur  das  Wetter,  wie  der  Donner 
das  Gewitter  verkündet,  schliesslich  Alles.  Die  toskanischen 
Bauern  wollen  noch  heutigen  Tages  aus  dem  Oesange  der  Vögel 
errsthen ,  was  ftlr  Wetter  am  folgenden  Tage  sein  wird.  ^  Die 
Auguren ,  die  aucelli  und  die  amspices  waren  selbst  im  Mittel- 
alter noch  bewahrt,  nach  dem  Zeugniss  des  Du  Gange. '  Was  die 
Augurien  und  Auspicien  des  griechischen  und  römischen  Alter- 
thums  betrifit,  so  verweise  ich  den  Leser  auf  die  zahlrei<5ben 
gelehrten  Werke,  welche  sie  im  Besondem  behandeln.  Ich  muss 
jedoch  bemerken,  dass,  während  unter  den  Römern  das  Augurium 
noch  fbr  etwas  so  Ernstes  und  Feierliches  galt,  dass  Publius 
Claudius  und  Lucius  Junius  für  todeswtürdige  Verbrecher  gehalten 
wurden,  weil  sie  gegen  den  Willen  der  Augurien  zu  einer  Expe- 
dition aufgebrochen  waren,  die  Griechen  Augurien  und  Auspicien 
schon  ins  Lächerliche  herabgezogen  hatten.  Der  Leser  erinnert 
sich  ohne  Zweifel,  wie  in  der  Iliade  der  Held  Hector  erklärt,  dass 
er  sich  nicht  daran  kehre,  ob  die  Vögel  nach  rechts,  der  Aurora 
und  Sonne  zu,  oder  nach  links,  nach  Sonnenuntergang  zu  fliegen. 
Bei  Eusebius^  lesen  wir,  dass  Alexander  dem  Grossen,  als  er 
nach  dem  Rothen  Meere  aufbrach,  ein  Vogel  gebracht  wurde, 
damit  er  nach  dem  Brauche  das  Vorzeichen  beachte;  als  Antwort 
tödtete  Alexander  den  Vogel  mit  einem  Pfeil;  den  über  diese 
Verletzung  der  Regeln  entrüsteten  Umstehenden  entgegnete  er: 
„Welch'  eine  Narrheit  ist  das?  Wie  soll  dieser  Vogel,  der  seinen 
eigenen  Tod  durch  diesen  Pfeü  nicht  vorhersah,  das  Geschick 
unserer  Fahrt  prophezeien  ?''  Auch  in  Indien  herrschte  der  Brauch 

'  Elin  Bergbewohner  der  Provinz  Siena  sagt:  „Ich  nahm  am  dem 
Sänge  der  Vögel  wahr,  dass  sich  das  Wetter  ändern  würde;  ihre  Stimme 
erzählte  mir;  es  war  so  lustig;**  Giuliani,  Moralitk  e  Poesia  del  Vi- 
vente  Linguaggio  della  To  sc  ana  (Florenz,  1870),  p.  149. 

*  Vgl.  s.  TT.  albanellus  (haubereau)  aTis  augural  is  species, 
und  aucellus. 

*  Praepar.  ETang.  IX. 


m 

AognrieD nnd  Anspicien.  Nscb  dem  Rfimäya^a'  siod VSgel, 
man  bei  der  Hochzeit  nach  links  ziehen  liebt,  ein  Bchlimmes 
leicben;'  das«  dem  R&ma  zur  Linken  Vi^l  mit  Gesebrei 
en,  ist  fUr  ihn  die  Anktlndignng  eines  ernsten  Missgescbiokee, 
lieb  des  Banbes  der  Sttä.> 

1,76. 
■  B«i  den  BSmem  dagegen  war  der  Flog  nach  linki  ein  «ehr  gute« 
lachen;  10  heult  ea  im  Epidiona  des  Ptaatni:    „Tacete,  habet«  ani- 
I  bonam,  liqnido  exeo  foraa  aiupicio,  ave  eEniatra."    (Vielleicht  ist  je* 

dieser  Wechsel  von  rechts  and  linka  von  der  Terschiedenen  Stellung 
Beobachters  abhuogig.)  In  der  mittelalterlichen  Alexandersaga  trifft 
ander  einen  Vogel  mit  HenachengeBicbt  (eine  Harpyc)^  der  ihn  aaf- 
iit,  sich  nach  rechts  au  wenden,  «p  er  wunderbare  Diuge  sehen  werde, 
gl.  Zacher,  Pseado-Catlistfaene«,  HaUe  1667,  p.  142. 
•  B«m&7.  III,  64. 


m 


KAPITEL  IL 

Der  Falke»  der  Adler^  der  Geier,  der  PMnix,  die  Harpje,  die  NfMlit- 
eule,  die  Fledemums,  der  Greif  and  die  Sirene  (Heeijmigfer.) 

Der  heldischeste  der  Vögel  ist  der  Raubvogel;  die  Stärke 
seines  Schnabels^  seiner  Schwingen  und  Erallen,  seine  Grösse  und 
Schnelligkeit;  Hessen  ihn  als  einen  schnellen  himmlischen  Boten; 
Träger  and  Kämpfer  betrachtet  werden. 

Der  Falke ;  der  Adler  and  der  Geier;  drei  mächtige  Raub- 
vögel; spielen  gewöhnlich  in  Mythen  und  Legenden  dieselbe  Rolle ; 
die  Schöpfer  der  Mythen  hatten  von  Anfang  an  ihre  allgemeine 
Aehnlichkeit  bemerkt;  ohne  ihren  specifischen  Differenzen  irgendwie 
Rechnung  zu  tragen. 

Der  Raubvogel  ist  in  der  Mythologie  gewöhnlich  die  SonnC; 
welche  bald  in  ihrem  Glänze  scheint,  bald  sich  in  der  Wolke  der 
Dunkelheit  zeigt;  indem  sie  Blitzstrahlen;  Donnerkeile  und  Son- 
nenstrahlen hervorbrechen  lässt  Der  Blitz,  der  Donnerkeil;  der 
Sonnenstrahl  sind  bald  der  Schnabel,  bald  die  Kralle  des  Raub- 
vogels; und  bald  auch  der  ganze  Vogel  selbst 

Im  Rigveda  erscheint  der  Gott  Indra  oft  in  der  (Gestalt 
eines  Falken,  ^ena.  Indra  ist  gleich  einem  Falken,  der  schnell 
ttber  die  anderen  Falken  dahinfliegt  und,  wohlbeschwingt,  den 
Menschen  die  Götterspeise  bringt.^  Er  liegt  hinter  hundert 
eisernen  Schlössern ;  trotzdem  gelingt  es  ihm,  schnell  zu  entfliehen ;  * 
davoneilend  trägt  er  in  seinen  Krallen  die  schöne,  jungfräuliche, 
glänzende  Ambrosia;  durch  welche  das  Leben  verlängert  und  die 
Todten  wieder  zum  Leben  gebracht  werden '  (der  Regen,  welcher 
auch  mit  der  ambrosischen  Feuchtigkeit  des  Mondes  verwechselt 
wird.     In   der  ersten  Strophe   desselben  Hymnus  heisst   Indra 


*  Pra  ^yenal^  ^yenebhya  ft9upAtyft  —  AdakraySi  yat  svadhayft  sapamo 
havyam  bharan  manaye  deva^shtam:  ^igv.  IV,  26,  4.  —  Der  soma  ^ye- 
näbbfita  wird  auch  erwäbnt  Kigv.  I,  80,  2;  IV,  27;  IX,  77,  u.  ö. 

*  ^atam  mä  pura  ftyasir  araksbann  adba  ^yeno  ^vasft  nir  adiyam; 
Bigv.  IV,  27,  1. 

*  Yam  te  ^y^na^  d&mm  avrikam  padftbbarad  aninam  minam  andhasalt^ 
—  enft  vayo  vi  läry  äyur  givasa  eoft  ^agftra  bandhutA;  9igv.  X,  144,  5. 


480 

ebenfalls  Ambrosia).  ^  Der  Falke  mit  eisernen  Krallen  tödtet  die 
feindlichen  Dämonen,'  bat  grosse  Athemskraft ,  und  zieht  von 
fem  den  hunderträdrigen  Wagen. '  Doch  zittert  der  Falke,  wäh- 
rend er  die  Ambrosia  durch  die  Lüfte  trägt^  aas  Furcht  vor  dem 
Bogenschützen  E;i(änU;  ^  der  ihm  in  der  That  eine  seiner  Erallen 
(aus  welcher  nach  dem  Aitareya-Brähmana^  der  Igel  ent- 
stafid)  und  effle  seiner  Federn  abschoss,  Wdcb^  adf  die  Erde  fifel 
und  dann  ein  Baum'  wurde.  ^  fTach  dem  Siege  über  Ahi;  den 
Schlangen-Dämon,  flieht  Indra  gleich  einem  erschreckten  Falken.  ^ 
Dies  ist  die  erste  Spur  der  legendarischen  und  sprichwörtlichen 
Feindschaft  zwischen  dem  Raubvogel  und  der  Schlange.  Im 
dritten  jauche  des  Rämäyana  sagt  R&ya^a,  er  wolle  S!tä  ent- 
ftihren,  wie  der  Schönbeschwingte  die  Schlange  (snpamah 
pannagamiva). 

Doch  ist  Indra  im  Bigyeda  nicht  allein  ein  Falke,  sondern 
ebenso  auch  Agni.  Mätarifvan  und  der  Falke  erregen,  der  eine 
das  himmlische  Feuer,  der  andere  die  Ambrosia  des  Berges.  *  Der 
Wagen  der  Afvins  wird  auch  bisweilen  von  Falken,  so  schndl  wie 
himmlische  Geier,  gezogen.  ^  Sie  werden  selbst  mit  zwei  (Meiern  rer- 
glichen,  welche  um  den  Baum  schweben,  wo  sich  der  Schatz  befindet  *^ 


^  Im  Mahäbhftrata  (I,  2383)  nimmt  die  Ambrosia  die  Oestalt  von 
Sperma  an.  filü  Rdhig,  von  seined  Weibe  Girikä  fern,  denKt  an  sie; 
Sperma  entfliesst  ihm  und  fftilt  fiof  ein  Blatt.  ISin  Fft&e  entführt  das  Blatt; 
ein  anderer  Falke  sieht  es  and  streitet  mit  ilnb  im  den  Besiti  des  Blattes; 
sie  kämpfen  mit  einander  und  das  Blatt  fällt  in  da»  Wasser  der  YannnA, 
wo  die  Nymphe  Adrikft  (gieiebbedetttend  mit  QtrikA),  durch  einen  Flueh 
in  einen  Fisch  verwandelt,  das  Blatt  sieht,  das  Sperma  verzehrt,  befrachtet 
and  befreit  wird.    Tgl.  das  Kap.  übel:  die  Fische. 

*  97eiio  *yoptehtir  häixü  dlisyda;  Bigv.  X,  M,  8.  -^  Iii  d<^  russiscÜen 
Ifäii-chen  sind  Falk«  and  Uuivd  mweilen  die  mäiohtigsten.  Helfer  dias  Helden. 

*  Ghrishu^  ^enAya  kfitvana  ^a^;  ^igv.  X,  144,  3.  —  Tarn  su|*u:- 
nalji  parävata^  ^yenasya  patra  ftbharat  ^atadakram;  9i£>^*  ^  ^4^*  1* 

*  Sa  pürvyal^  pavate  yam  divas  pari  9yeno  mathftyad  ishitas  tiro  ra^al^ 
sa  madhva  ft  yavate  yevi^ina  it  kri9ftnor  astur  manasiha  bibhyash&; 
Bigv.  IX,  77,  2. 

»  lU,  8,  26. 

*  Anta^  patat  patatry  asya  parnam;  Rigv.  IV,  27,  4.  —  Vgl  Kahn, 
Die  Herabkanft  des  Feaers  a.  d.  Göttertr.  p.  188  f.  a.  p.  180  f. 

^  gyeno  na  bhttal|^;  Bigv.  I,  32,  14. 

*  Anyaifa  divo  m&tari^vA  ^abhftrftmathnftd  anyam  pari  ^yeno  ädre^; 
Bigv.  I,  93,  6. 

*  A  vftm  9yenAso  a^vinä  vahanta  ~  ye  aptoro   divytoo  na  gfidbrim; 
;v.  Ij  118,  4. 
>•  Ojidfaretk  vpkshadi  nidhimantam  adha;^9igv.  II,  39,  1. 


I 


481 

(wir  sahen  im  vorigen  Kapitel,  dass  der  Baum  der  Himmel  ist).  Die 
Maruts  werden  ebenfalls  Gridhras  oder  Geier  (nach  M*  Müller  Falken) 
genannt^  Im  Rigveda  scheipt  die  Sonne,  wenn  sie  in  das  Meer 
hinabgeht,  mit  einem  Geierauge.  *  Weil  nun  der  Sonnengott  in 
den  vedischen  Mjrthen  oft  die  Gestalt  dieses  Raubvogels  annahm, 
so  lesen  wir  im  Aitareya  Br&hmana,  dass  der  zum  Opfer 
bestimmte  Platz  dieselbe  Gestalt  hatte.  Im  Rämäya^a  finden 
wir  bei  dem  Opfer  eines  Pferdes,  dass  der  Opferplatz  die  Gestalt 
des  Vogels  Garnda  hat,  des  mächtigen  mythischen  Adlers  der 
Inder.  Schon  im  149.  Mythus  des  zehnten  Buches  des  Rigveda 
heisst  der  alte  schönbeschwingte  Sohn  der  Sonne  Savitar:  Garut- 
mant  Der  mythische  Vogel  ist  das  Aeqnivalent  des  geflügelten 
Sonnenpferdes  oder  EUppogryphes ;  und  wirklich  nennt  der  148. 
Hymnus  des  ersten  Buches  des  Rigveda,  bald  nachdem  er  die 
Falken  gepriesen,  welche  den  Wagen  der  AQvins  ziehen,  diesel- 
ben schöne  fliegende  Pferde  (a^vä  vapushah  patamgäh).  Wir  be- 
merkten, dass  von  den  beiden  Zwillingen  oder  den  beiden  Brü- 
dern einer  vor  dem  anderen  den  Vorzug  hat.  So  ist  auch  von 
den  beiden  mythischen  Geiern,  den  beiden  Söhnen  der  Vinata  in 
der  Sage  desMahäbhärata,^  nachdem  ihre  Mutter  das  Ei  vor 
der  eigentlichen  Zeit  aufgebrochen,  der  eine,  Aruna,  unvollkommen 
geboren;  seiner  Mutter  fluchend  verdammt  er  sie,  die  Sklavin 
ihrer  Nebenbuhlerin  Eadrfi  fünftausend  Jahre  hindurch  zu  sein, 
bis  ihr  anderer  Solin,  der  glänzende,  vollkommene  und  mächtige 
Sonnenvogel  Garuda  sie  zu  erlösen  kommt  Aruna  wird  der 
Wagenlenker  der  Sonne;  Garuda  ist  das  Ross  des  Gottes  Vish^u, 
das  Sonnenross,  die  Sonne  selbst,  siegreich  in  all  seinem  Glanz. 
Nicht  sobald  sind  die  beiden  Vögel  geboren,  als  auch  das  Ross 
Ucdaihgrava  erscheint,  was  wiederum  bezeichnet,  dass  Sonnenvogel 
und  Sonnenross  identisch  sind.  Gleich  dem  Falken  Indra  od^r 
dem  Falken  Indras  ist  Garuda,  der  Vogel  Vishi^us,  oder  Vishi^n 
selbst,  durstig,  trinkt  viele  Ströme,^  ninunt  den  Schlangen  die 
Ambrosia  fort,  wie  im  Rigveda  durch  einen  Ring  von  Eisen 
geschützt  Gleich  Vishnu  macht  sich  Garuda  sehr  klein,  dringt 
nnter  die  Schlangen,  bedekt  sie  mit  Staub  und  blendet  sie ;  dieser 


'  Rigv.  I,  88,  4.  —  I,   165,  2  werden  die  Maruts    ausdrücklich  mit 
Falken,  die  durch  die  Luft  fliegen,  verglichen :  ^yenän  iva  dhra^ato  antarikshe. 

*  Drapsall^  samudram   abhi   yag  ^igftti   pa^yan    gridhrasya    dakshasft; 
^igv.  X,  123,  8. 

•  I,  1078  ff. 

«  Mbh.  I,  1495. 
OabeniAtif^  Die  Thler«.  31 


482 

That  halber  nimmt  ihn  Vishnu  zu  seinem  himmlischen  Rosse.  ^ 
Der  Gott  Vishnu  zieht  auf  dem  Rtleken  des  Schönbeschwingten 
in  den  Kampf  gegen  die  Ungeheuer ;  ^  im  Zorn  wirft  er  sie  mit 
dem  Schlagen  seiner  Flügel  zu  Boden;  die  Ungeheuer  schiessen 
auf  ihu;  als  eine  andere  Erscheinungsform  des  Helden,  ihre  Pfeile, 
und  er  kämpft  für  sich  und  für  den  Helden. '  Als  der  Vogel 
Garuda  erscheint,  werden  die  Fesseln  der  Ungeheuer,  welche 
Schlangen  gleich  die  beiden  Brüder  R&ma  und  Lakshma^a  ein- 
schnüren, gelöst,  und  die  beiden  jungen  Helden  erheben  sich 
glänzender  und  stärker,  denn  bevor.  ^  Die  Nishädas  kommen  aus 
ihren  feuchten  Wohnsitzen  und  verschwinden  in  den  gähnenden 
Rachen  Garudas  zu  Tausenden,  von  Wind  und  Staub  eingehüllt.  ^ 
(Die  Morgen-  und  die  Frühlingssonne  verschlingen  die  schwarzen 
Ungeheuer  der  Nacht  und  des  Winters.) 

Bisher  sahen  wir  den  Falken,  den  Adler  (als  Garuda)  und 
den  Geier  miteinander  vertauscht;  auch  die  mythische  Genealogie 
der  Inder  bestätigt  diese  Vertauschung.  Nach  dem  Räm&yana^ 
wurde  von  Tämrä  (eigentlich  die  Röthliche;  sie  schenkte  auch 
Eräunct,  der  Mutter  der  Brachvögel,  das  Leben)  Qyeni  (das 
Falkenweibchen),  von  Qyeni  Vinatä  geboren.  Vinatä  (eigentlich : 
die  Gebogene,  Gebeugte)  legte  die  Eier,  aus  denen  Aruna  und 
Garuda  kamen  (die  beiden  Dioskuren  kamen  ebenfalls,  wie  be- 
kannt, aus  dem  Ei  der  mit  dem  Schwan  vereinigten  Leda) ;  Ga- 
ruda seinerseits  war  Vater  von  zwei  ungeheuren  Geiern,  Gatäyu 
und  Sampäti.  In  dieser  Genealogie  scheint  uns  die  aufsteigende 
Bewegung  der  Sonne  beschrieben  zu  sein,  gleich  dem  My- 
thus von  der  Sonne  Vishnu,  der  aus  einem  Zwerge  ein  Riese 
wird.  Der  Geier  datäyu  weiss  Alles,  was  in  der  Vergangen- 
heit geschehen  ist,  und  Alles,  was  noch  in  Zukunft  geschehen 
wird,  sofern  er,  gleich  der  vedischen  Sonne,  vi(vaveda  ist,  all- 
sehend, allwissend,  und  die  ganze  Erde  durchmessen  hat  Im 
Rämäyana  lesen  wir  von  dem  letzten  grimmen  Kampfe  des 
alten  Geiers  Gat&yu  mit  dem  schrecklichen  Ungeheuer  Rävana, 
welcher  die  schöne  Sita  während  der  Abwesenheit  ihres  Gatten 
Rama   entführt    Obwohl   alt   an  Jahren,   steigt  Gatäyu  in  die 

*  Mbh.  I,  1496  f. 

*  Bamäy.  Vn,  6. 
»  Ib.  VII,  7. 

*  I  b.  VI,  26. 

*  Mbh.  I,  1387  f. 

*  III,  20. 


483 

Lüfte,  am  die  Entftihrang  Sitas  durch  Rävaijia  in  einem  von 
Eseln  gezogenen  Wagen  zn  verhindern;  der  Geier  zerbricht  mit 
seinen  starken  Erallen  Bogen  und  Pfeil  RävanaS;  schlägt  und 
tödtet  die  Esel,  zertrümmert  den  Wagen,  wirft  den  Wagenlenker 
herunter^  zwingt  Rävana,  herabzuspringen ,  und  verwundet  ihn 
auf  tausenderlei  Arten;  doch  schliesslich  gelingt  es  dem  König 
der  Ungeheuer,  dem  treuen  Vogel  mit  seinem  Schwert  die  Flügel, 
Füsse  und  Flanken  zu  zerhauen;  dieser  giebt  sein  Leben  in  Pein 
und  Kummer  auf,  während  der  Dämon  das  geraubte  Weib  nach 
LafLkä  bringt. 

Soweit  finden  wir  also  in  dem  Raubvogel  immer  einen  Freund 
des  Helden  und  des  Gottes.  Ein  solcher  ist  auch  im  Rä- 
mäyana^  der  ungeheure  Geier,  welcher  sich  auf  die  Fahne  des 
Ungeheuers  Khara  setzt  und  diei^elbe  mit  Blut  bespeit,  um  ihm 
sein  Missgeschick  zu  prophezeien ;  und  ein  solcher  ist  der  ältere 
Bruder  6atäyu's,  der  Geier  Sampäti,  der,  aus  einer  Höhle  kom- 
mend, den  grossen  Afien  Hanumant  unterrichtet,  wo  Sita  gefunden 
werden  kann.  Nachdem  Sampäti  den  Hanumant  gesehen,  ge- 
winnt er  seine  eigenen  Schwingen  wieder,  welche  von  den  Sonnen- 
strahlen verbrannt  worden  waren,  als  er  einst  seinen  jüngeren 
Bruder  vor  ihnen  hatte  schützen  wollen  bei  einem  Fluge,  in  wel- 
chem sie  zu  hoch  in  das  Bereich  der  Sonne  gekommen  waren  ^ 
(eine  Variation  der  griechischen  Sage  von  Daedalus  und  Icarus, 
der  von  Hanumant,  welcher  der  Sonne  nachfliegen  wollte,  um  sie 
zu  fangen,  und  der  von  den  beiden  Afvins). 

Wenn  in  der  ganz  volksthümlichen  indischen  Sage  von  dem 
buddhistischen  König,  welcher  sich  selbst  opfert,  statt  der  Taube, 
die  bei  ihm  Gastfreundschaft  gesucht  hat,  der  Falke  als  Verfolger 
der  Taube  erscheint,  so  ist  diese  Verfolgung  nur  scheinbar;  sie 
ist  nur  eine  Probe,  auf  welche  Indra,  der  Falke,  und  Agni,  die 
Taube^  die  Tugend  des  Königs  stellen  wollen.  Nicht  sobald  sieht 
der  Falke,  dass  der  König  sich  dem  Tode  weihen  will,  als  auch 
beide,  Falke  und  Taube,  ihre  göttliche  Gestalt  annehmen  und  den 
heiligen  König  mit  Segnungen  überhäufen.  ^  Indra  und  Agni  sind 


« III,  29. 

»  RÄmäy.  IV,  58.  59. 

*  Die  zahlreichen  orientalisdien  Variationen  dieser  Sage  vgl.  bei  Ben- 
fey,  Pai&datantra,  Einleit  p.  888  f.  —  Bei  Afan  I,  5  (vgl.  I,  6)  wird 
Klein  Uana  aus  den  Tiefen  der  £rde  nach  Russland  anf  den  Flügeln  eines 
Adlers  zurückgetragen.  Wenn  der  Adler  hungrig  ist,  wendet  er  den  Kopf, 
und  Hänschen  giebt  ihm  zu  essen;  als  die  Speisevorräthe  zu  Ende  sind, 

31* 


484 

ebenfalls^  mit  einander  vereinigt,  selbst  eine  Erscheinungsform 
der  beiden  A^vins,  gleich  den  beiden  treuen  Tauben,  welche  sich 
im  dritten  Buche  des  Pancatantra  opfern. 


nährt  ihn  Hänschen  mit  seinem  eigenen  Fleische.  —  II,  27  werden  die 
beiden  jungen  Leute  auf  den  Schwingen  des  Vogels  Kolpalitza  aus  der 
Welt  der  Dunkelheit  in  die  des  Lichtes  getragen;  als  die  Vorräthe  zu 
Ende  sind,  giebt  das  Mädchen  dem  Vogel  Fleisch  von  ihrem  Schenkel  zu 
essen.  Doch  der  Jüngling,  der  das  Wasser  des  Lebens  bei  sich  hat,  heilt 
das  verliebte  Mädchen;  vgl.  auch  A  fan.  V,  23  und  V,  28,  wo  wir  statt 
des  Adlers  den  Falken  finden.  —  Dieselbe  Selbstopferung  wird  in  einem 
piemontesischen  Mährchen  (von  mir  in  der  ersten  Nummer  der  Rivista 
Orientale  angeführt)  von  einem  jungen  Prinzen  geübt,  welcher  über 
das  Meer  setzen  will,  um  die  von  ihm  geliebte  Prinzessin  zu  sehen;  das- 
selbe thut  auch  der  junge  Held  des  folgenden  noch  nicht  bekannt  ge- 
machten toskanischeu  Mährchens,  welches  ich  von  einem  gewissen  Martino 
Nardini  aus  Prato  horte :  —  „Ein  dreiköpfiger  Drache  stiehlt  während  der 
Nacht  die  goldenen  Aepfel  im  Garten  des  Königs  von  Portugal;  die  drei 
Söhne  des  Königs  wachen  während  der  Nacht:  die  beiden  ersten  schlafen 
ein,  doch  der  dritte  entdeckt  den  Dieb  und  verwundet  ihn.  Den  Tag 
darauf  folgen  die  drei  Brüder  der  Spur,  welche  das  Blut  des  Ungeheuers 
zurückgelassen  hat:  sie  kommen  an  einen  schönen  Palast,  in  welchem  sich 
eine  Cisteme  befindet;  in  diese  wird  der  dritte  Bruder  hinabgelassen;  er 
hat  eine  Trompete  bei  sich,  um  ein  Signal  zu  geben,  wann  er  heraufge- 
zogen werden  will.  Einem  dunklen  Pfade  folgend  gelangt  er  an  eine 
schöne  Wiese,  wo  drei  glänzende  Paläste  sind,  einer  von  Bronze,  einer 
von  Silber,  und  einer  von  Gold;  der  Blutspur  folgend  geht  er  in  den 
Bronzepalast;  ein  schönes  Mädchen  öfinet  ihm  das  Thor,  und  ist  erstaunt, 
warum  er  in  die  unterirdische  Welt  herabgekommen  sei ;  die  jungen  Leute 
gefallen  sich  einander  und  versprechen  sich  zu  heirathen ;  das  Mädchen  hat 
eine  Krone  von  Brillianten,  von  denen  sie  ihm  die  Hälfte  als  Pfand  giebt. 
Der  Drache  kojnmt  heim  und  sagt: 

^Ucci,  ucci 

0  che  puzzo  di  Christianucci, 

0  ce  n'^  o  ce  n*^  stati, 

O  ce  n*e  di  rimpiattati.*' 
Das  Mädchen,  welches  den  jungen  Helden  versteckt  hat,  liebkost  den 
Drachen  und  lässt  ihn  in  Schlaf  fallen.  Während  er  schläft,  bringt  sie 
den  jungen  Mann  aus  seinem  Versteck,  giebt  ihm  ein  Schwert  und  sagt, 
er  solle  dem  ungeheuer  die  drei  Köpfe  mit  einem  Schlage  abhauen.  Von 
einem  zweiten  Mädchen  unterstützt,  macht  es  der  junge  Held  in  dem  Silber- 
palaste mit  einem  fünfköpfigen  Drachen  ebenso.  Auch  dem  zweiten  Mäd- 
chen verspricht  er,  sie  zu  heirathen.  Darauf  klopft  er  an  das  Thor  des 
goldenen  Palastes,  das  von  einem  dritten  Mädchen  geöffnet  wird;  auch 
sie  fragt:  „Was  führt  Euch  her,  hierin  der  Unterwelt  Euer  Leben  zu  ver- 
lieren? Hier  wohnt  der  siebenköpfige  Drache.*'  Er  verspricht,  sie  zu  hei- 
rathen; der  Drache  will  nicht  zur  Ruhe  gehen;  doch  das  Mädchen  be- 
redet ihn  schliesslich  dazu,  worauf  die  jungen  Leute  ihm  den  Kopf  mit 


48Ö 

Der  weise  ^aeua  des  A  vest  a  hat  einen  fast  gleichen  Cha- 
rakter wie  der  vedische  Vogel  gyena.    Nach   dem  Bandehe sh 

zwei  Streichen  abbauen.  Die  drei  Mädchen,  welche  drei  von  den  Drachen 
entführte  Prinzessinnen  waren,  werden  erlöst,  und  nehmen  alle  Schätze, 
die  sie  finden  können,  zu  sich,  um  sie  auf  die  Oberwelt  zu  bringen.  Sie 
kommen  an  die  Cisterne,  der  üeld  giebt  das  Trompetensignal  und  die 
beiden  Brüder  ziehen  alle  Schätze,  wie  auch  die  drei  Mädchen  herauf; 
ihren  jungen  Bruder  aber  lassen  sie  allein  in  der  unterirdischen  Welt  und 
verschliessen  die  Cisterne  mit  einem  Stein.  Die  beiden  älteren  Brüder 
zwingen  die  drei  Prinzessinnen,  zu  erklären,  sie  seien  von  ihnen  befreit 
worden;  darauf  gehen  sie  zu  dem  König  von  Portugal  und  rühmen  sich 
dieser  angeblichen  That,  indem  sie  bemerken,  der  dritte  Bruder  sei  umge- 
kommen. Die  drei  Prinzessinnen  sind  traurig,  worüber  sich  der  König  von 
Portugal  wundert.  Die  älteren  Brüder  wollen  das  Mädchen  lieirathen, 
welches  in  dem  Bronzepalast  war;  diese  erklärt  jedoch,  sie  wolle  nur  den 
heirathen,  der  ihr  die  andere  Hälfte  der  Brilliantenkrone  bringe.  Sie 
schicken  zu  allen  (ioldschmieden  und  Juwelieren,  um  einen  zu  finden,  der 
sie  anfertigen  könne.  Mittlerweile  schreit  der  unten  verlassene  dritte 
Bruder  um  Hilfe;  ein  Adler  naht  sich  der  Grube  und  verspricht,  ihn  auf 
die  Oberwelt  zu  bringen,  wenn  er  seinen  Hunger  stillen  wolle.  Der  junge 
Held  steckt  auf  Anweisung  des  Adlers  Eidechsen  und  Schlangen  in  einen 
Sack  und  ruft  den  Adler,  nachdem  er  reichlichen  Speisevorrath  gesammelt. 
Er  befestigt  den  Sack  um  seinen  Hals,  um  dem  Adler  jedes  Mal,  wenn 
er  Nahrung  verlangt,  ein  Thier  zu  geben.  Als  sie  noch  ein  paar  Arm- 
längen von  der  Oberwelt  entfernt  sind,  ist  der  Sack  leer;  der  Jüngling 
schneidet  sich  selbst  etwas  Fleisch  ab  und  giebt  es  dem  Adler,  der  ihn 
nun  auch  ans  Ziel  bringt  Auf  die  Frage,  wie  er  seine  Heimath  erreichen 
könne,  erhält  der  Jüngling  von  dem  Adler  die  Anweisung,  er  solle  nur 
der  Landstrasse  folgen.  Ein  Holzkohlen  Verkäufer  kommt  vorbei;  unser 
Held  bietet  ihm  seine  Dienste  au,  wenn  er  ihm  zu  essen  geben  wolle. 
Jener  behält  ihn  einige  Zeit  bei  sich;  dann  empfiehlt  er  ihn  einem  alten 
Manne,  seinem  Freunde,  einem  Silberschmied.  Mittlerweile  sind  die  Diener 
des  Königs  sechs  Monate  lang  gegen  Sonnenuntergang  gewandert,  um 
einen  Süberschmied  zu  finden,  der  die  andere  Hälfte  der  Krone  anfertigen 
konnte,  doch  vergebens;  sie  wandern  nun  sechs  Monate  nach  Sonnenauf- 
gang, bis  sie  an  die  Wohnung  des  armen  Silberschmieds  kommen,  wo  der 
dritte  Bruder  Dienste  leiste\  Der  Alte  sagt,  er  könne  die  verlangte  halbe 
Krone  nicht  anfertigen;  doch  der  Jüngling  verlangt  die  andere  Hälfte  zu 
sehen,  erkennt  sie  wieder,  und  verspricht,  sie  in  acht  Tagen  ganz  zurück- 
zubringen. Nach  Ablauf  dieser  Zeit  schickt  der  König  nach  der  Krone 
und  dem  Verfertiger,  doch  der  Jüngling  sendet  statt  seiner  den  Meister. 
Die  Prinzessin  besteht  darauf,  auch  dessen  jungen  Helfer  zu  sehen;  er 
wird  geholt  und  in  den  Palast  gebracht;  der  König  erkennt  ihn  nicht 
wieder,  und  fragt  ihn,  welche  Belohnung  er  wolle ;  er  antwortet,  er  wünsche 
das,  was  die  Krone  der  Prinzessin  kostet.  Die  Letztere  erkennt  ihn; 
darauf  auch  ihr  Vater.  Der  junge  Held  heirathet  die  Prinzessin,  wie  er 
selbst  ihr  versprochen  hatte ;  die  beiden  Brüder  werden  mit  Pech  bestrichen 
und  dienen  bei  der  Hochzeit  als  Fackeln.*^ 


486 

stehen  zwei  (aenas  an  den  Thoren  der  Hölle,  welebe  den  beiden 
Falken  oder  Geiern  der  Dämmemng  in  den  Veden  entsprechen. 
Der  Vogel  mit  schlagenden  Flügeln,  in  welchen  der  Held  Thrae- 
taona  im  Eborda-Avesta  verwandelt  wird,  erinnert  uns  an 
den  kriegerischen  Geier  der  Inder  nnd  kann  als  Bindeglied  zwi- 
schen dem  zendischen  gaena  nnd  dem  persischen  Simnrg  gelten. 
Der  Vogel  Simnrg  hat  sein  wunderbares  Nest  anf  dem  Berge 
Elbnrs,  auf  einer  Spitze ;  die  in  den  Himmel  ragt  und  welche 
keines  Menschen  Auge  je  erschaut  hat.  Der  kleine  Zal  wird  auf 
diesem  Berge  ausgesetzt;  er  ist  hungrig  und  friert;  er  schreit; 
der  Vogel  Simnrg  fliegt  vorbei,  hört  sein  G^chrei  und  trägt  das 
Kind  in  sein  Nest.  .Eine  geheimnissvolle  Stimme  segnet  den 
herrlichen  Vogel,  welcher  den  Knaben  ernährt,  unterrichtet,  be- 
schützt und  stark  macht,  ihm  auch,  als  er  ihn  g^ehen  lässt,  eine 
von  seinen  Federn  giebt  mit  dem  Bemerken,  2jal  solle  nur,  wenn 
er  in  Gefahr  sei,  diese  Feder  in  das  Feuer  werfen;  sofort  werde 
er  zu  seiner  Hilfe  dasein  und  ihn  in  das  Königreich  zurück- 
tragen. ^  Er  bittet  ihn  nur,  seinen  treuen  und  liebenden  Erretter 
nie  zu  vergessen.  Darauf  trägt  er  den  jungen  Helden  in  seines 
Vaters  Schloss.  Der  König  preist  den  göttlichen  Vogel  mit  fol- 
genden Worten:  —  „0  König  der  Vögel!  Der  Himmel  hat  Dir 
Stärke  und  Weisheit  verliehen ;  Du  bist  der  Helfer  des  Bedürftigen, 
gnädig  den  Guten,  und  der  Tröster  der  Bedrängten;  möge  Deine 
Grösse  ewig  währen  !^'    In  dem  fünften  Abenteuer  Isfendiars,  bei 


'  In  einem  bisher  nicht  veröffentlichten  Montferratensischen  Mährchen 
ist  ein  blinder  König  Vater  von  drei  Söhnen;  er  würde  geheilt  werden, 
wenn  er  seine  Augen  in  Oel  mit  einer  Feder  des  Vogels  Greif,  der  anf 
einem  hohen  Berge  nistet,  baden  könnte.  Der  dritte  Bruder  hat  das  Glück, 
ihn  zu  fangen ,  durch  Hilfe  einer  alten  Frau ,  der  er  sich  gütig  erwiesen 
hat;  er  bringt  den  Vogel  Greif  seinem  Vater,  und  dieser  erlang^  sein 
Augenlicht  und  seine  Jugend  wieder.  —  Vgl.  Pentamerone  IV,  3  die 
Geschichte  f  in  welcher  ein  Falke,  d.  h.  ein  verwandelter  Prinz  ebenfalls 
dem  Bruder  seines  Weibes  eine  seiner  Federn  giebt,  die  er  in  Bedrängniss 
auf  den  Boden  werfen  soll;  und  wirklidi,  als  der  junge  Tittone  es  be- 
nöthigt,  erscheint  ein  Ueer  Falken,  um  das  von  Tittone  geliebte,  aber  ein- 
gekerkerte Mädchen  zu  befreien.  —  Pentam.  V,  5  dient  der  Falke  einem 
jungen  König  als  Wegweiser;  dieser  sucht  eine  schöne  Prinzessin,  welche 
eine  Hexe  in  Schlaf  versenkt  hat  und  welche  für  todt  gehalten  wird.  Sie 
wird  Mutter  von  zwei  Söhnen,  welche  Sonne  und  Mond  genannt  werden. 
—  In  Nr.  6  der  sicilianischen  Mährchen  bei  Frau  L.  Gonzenbach  befreit 
ein  junger  Manu  einen  Adler,  welcher  sich  in  den  Zweigen  eines  Baumes 
verfangen  hat;  durch  eine  für  diesen  Dienst  eriialtene  Adlerfeder  kann 
sich  der  junge  Mann  beliebig  in  einen  Adler  verwandeln. 


487 

Firdusi;  erscheint  dagegen  der  giganÜBche  Vogel  Simnrg  als 
dämonisch,  als  der,  der  mit  seinen  Schwingen  die  Sonnenstrahlen 
verdunkelt  (in  den  V  ö  g  e  1  n  des  Aristophanes  rufen  die  Zuschauer, 
als  eine  grosse  Zahl  Vögel  erscheint:  ,;0  Apollo,  die  Wolken !'0- 
Isfendiar  kämpft  mit  ibm  und  haut  ihn  in  Stücken. 

Während  in  der  skandinavischen  und  deutschen  Mythologie 
der  Falke  gewöhnlich  eine  glänzende  Gestalt  ist,  welche  von  den 
Helden  und  von  Freya  vorgezogen  wird,  ist  der  Adler  eine  fin- 
stere Form,  welche  mit  Vorliebe  von  den  Dämonen  oder  wenig- 
stens von  dem  Helden  oder  Gott  (gleich  Odin  ^),  der  in  der  fin- 
steren Nacht  oder  windigen  Wolke  verborgen  ist,  angenommen 
wird«  Die  Edda  erzählt  uns,  dass  die  Winde  durch  das  Flügel- 
schlägen eines  Riesen  hervorgebracht  werden,  welcher  in  Gestalt 
eines  Adlers  am  äussersten  ^  Ende  des  Himmels  sitzt ;  aquila  und 
aquilo  scheinen,  wie  etymologisch,  so  auch  mythisch  in  innigem 
Zusammenhange  zu  stehn.  In  den  Nibelungen  träumt  Krim- 
hilt,  sie  sehe  ihren  geliebten  Falken  von  zwei  Adlern  erwürgt. 

In  dem  Kapitel  über  den  Elepbanten  sahen  wir,  wie  der 
Vogel  Garuda  einen  Elephanten,  eine  Schildkröte,  einen  Baumast, 
und  Einsiedler  in  die  Lüfte  trägt.  In  der  griechischen  Variation 
desselben  Mythus  haben  wir  statt  Garuda  den  Adler.  In  der 
Edda  kochen  drei  Äsen  (Odin,  Loki  und  Hönir)  einen  Ochsen 
unter  einem  Baum;  auf  dessen  Gipfel  sitzt  ein  Adler,  der  ein 
Stück  von  dem  Fleisch  zu  haben  wünscht  Die  Äsen  willigen 
ein ;  der  Adler  nimmt  fast  den  ganzen  Ochsen  fort,  worauf  Loki, 
entrüstet,  den  Adler  mit  einem  Pfahle  verwundet;  doch  während 
das  eine  Ende  desselben  in  dem  Adler  haften  bleibt,  fährt  das 
andere  in  Lokis  Hand,  und  der  Adler  entführt  ihn  in  die  Lüfte. 
Loki  fühlt  seine  Arme  brechen  und  bittet  den  Adler  flehentlich, 
Erbarmen  mit  ihm  zu  haben;  der  Riesenvogel  lässt  ihn  los,  unter 
der  Bedingung,  dass  er  statt  seiner  Iduna  und  ihre  Aepfel  erhalte.' 


'  Im  neunten  ehstnischen  Mährehen  ist  es  der  Adler,  welcher  dem 
Donnergott  die  Botschaft  bringt,  die  ihn  in  Stand  setzt,  seine  vom  Teufel 
gestohlene  Wafie  wiederzuerlangen.  —  Im  ersten  ehstnischen  Mährchen 
erscheint  ebenfalls  der  Adler  als  der  glückverfaeissende  Bote  des  jungen 
Prinzen. 

*  In  dem  Mährchen,  La  Principessa  che  non  ride  (in  den  No- 
velline di  S.  Stef.  di  Calc.)  haben  die  jungen  Adler  dieselbe  Fähig- 
keit, Alles,  was  sie  berühren,  hinter  sich  her  zu  ziehen;  und  wir  können 
diese  ihre  Eigenthtunlichkeit  sehr  wohl  verstehn,  sofern  sie  Gestalten  der 
Winde  (oder  der  Wolken)  sind;  auch  der  Wind  sieht  Alles  hinter  sich 


488 

Bei  Afanassieff  V,  23  frisst  der  Adler  die  Sehafe  eines 
Baaeni;  nachdem  er  von  demselben  Woblthaten  empfangen.  ^^Adler'^ 
nannte  man  im  Mittelalter  gewisse  Dämonen,  von  denen  es  biess, 
sie  erschienen  in  Gestalt  eines  Adlers ,  besonders  wegen  ihres 
räuberischen  Wesens  und  ihrer  Adlernase.  ^ 

Der  Falke  dagegen,  bemerke  ich  nochmals,  erscheint  gewöhn- 
lich als  g(Htlich,  allem  Diabolischen  feindlich.  Bei  Afanassieff 
V,  22  und  VI,  46  verwandelt  sich  der  Held  in  einen  Falken, 
um  den  Hahn  zu  erwürgen,  in  den  sich  der  Teufel  nietamorpho- 
sirt  hat  (ein  russisches  Sprichwort  sagt  jedoch  vom  Teufel ,  dass 
er  mehr  gefalle  denn  der  glänzende  Falke).  ^  Wollte  man  in 
der  russischen  Volkssprache  etwas  unmöglich  bu  Erreichendes 
bezeichnen,  so  sagte  man :  „Gleich  der  Windsbraut  auf  dem  Felde, 
und  dem  glänzenden  Falken  am  Himmel.'^  Wir  wissen,  dass 
das  lateinische  accipiter  und  das  griechische  üi}ivjt%aQog 
„sohnellbeschwingt'^  bedeuten.  Bei  Afanassieff  1,  7  erscheint  der 
Falke  in  Gegensatz  zu  der  schwarzen  Krähe.  Als  es  dem  jungen 
Mädchen  gelingt,  als  Mann  verkleidet,  den  Tzaren  drei  Mal  zu 
täuschen,  sagt  sie  zu  ihm:  „Ach!  Du  Krähe,  Krähe  1  Du  hast 
nicht  verstanden,  o  Krähe,  den  Falken  in  einem  Käfig  zu  fangen/' 

Der    Falke    war    eines  der  unterscheidenden  Zeichen  des 


her,  was  ihm  in  den  Weg  kommt,  zumal  der  heftige  Nordwind  (aquilo).  — 
In  russischen  Mährchen  haben  wir  bald  die  unheilvollen  Störche,  bald  die 
wunderbaren  Gänse,  welche  die  Stelle  des  Altes  mitfortziehenden  Adlers 
einnehmen. 

'  In  dem  10.  der  sicilianischeu  Mährchen  von  Frau  Gonzenbach  dringt 
der  König  der  Räubermörder  in  das  Zimmer,  wo  das  junge  Weib  des 
Königs  schläft,  au  dem  er  sich  rächen  will.  —  Stephanus  Stephanius,  der 
Erklärer  des  Saxo  Grammaticus  schreibt,  dass  es  bei  den  Engländern, 
den  Dänen  und  anderen  nordischen  Völkern  Brauch  war,  einem  getödteten 
Feinde  zum  Schimpf  ein  Schwert  in  den  Rücken  zu  stossen,  und  zwar  so, 
dass  der  Rückgrat  auf  beiden  Seiten  durch  eine  Wunde  der  Länge  nach 
getrennt  wurde;  dann  wurden  herausgeschnittene  Fleischstreifen  an  den 
Seiten  befestigt,  um  Adlerflügel  darzustellen.  (In  russischen  Volksmährchen 
finden  wir  bei  Kämpfen  zwischen  Helden  und  Ungeheuern  häufig  An- 
spielungen auf  einen  ähnlichen  Brauch.) 

*  Panravilas  satanä  Indshe  yasnavo  sakalä,  A  fan.  VI,  16.  —  Das 
Sprichwort  kann  jedoch  einen  andern  Sinn  haben,  nämlich:  der  Teufel  in 
persona  ist  besser  als  eine  schöne  Maske,  hinter  der  etwas  Diabolisches 
steckt  Der  Teufel  nahm  bisweilen  die  Gestalt  eines  Falken  an,  wie  wir 
aus  der  Sage  von  Endo  wisseu,  der  sich  in  eine  Person  verliebte,  die  nur 
eine  Erscheinungsform  des  Teufels  war;  Guilclmus  Neubrigensis,  üist 
An  gl.  I,  19. 


r 


4S» 

mittelatteriiehen  Rittere;  sogar  Edelfrauen  hielten  Falken.  Krim- 
hilt  zieht  einen  wilden  Falken;  als  Brnnhilt  sich  auf  den  Scheiter- 
baafen  stürzt,  um  Sigurd  nicht  zu  Überleben^  lässt  sie  zwei 
Falken  und  zwei  Hunde  mit  opfern.  Auf  den  Grabroälem  mittel- 
alterUoher  Ritter  und  EdelArauen  fand  sich  nicht  selten  ein  Falke 
als  Emblem  ihres  Adels.  Nach  einem  Qesetz  vom  Jahr  818 
sollten  Scbw^  und  Falke  des  unterliegenden  Ritters  von  dem 
Sieger  respectirt  werden  imd  im  Besitze  des  Besiegten  bleiben: 
der  Falke  zum  Jagen,  dae  Schwert  zum  Kämpfen.  Bei  Du  Gange 
lesen  wir,  dass  im  Jahre  1642  Monsieur  de  Sassay  als  sein 
Feudalrecht  in  Anspruch  nahm,  „nt  nimirum  accipitrem  suum 
ponere  posbit  gsuper  altare  majus  ecclesiae  Ebraicensis  (von 
Evreux),  dum  sacra  in  eo  peragit  ocreatus  calcaribusque  instruc- 
tns  presbyter  parocbus  d'Ezy,  pulsantibus  tympanis,  oiganorum 
loco.'^  Nach  bqrgundffichem  Rechte  musste  der,  der  eines  Anderen 
Falken  zu  stehlen  versuchte,  vor  Allem  den  Falken  selbst  gewin- 
nen^ indem  er  ihm  zu  essen  gab  (sex  nncias  camis  aceipiter  ipse 
super  testones  comedat);  weigerte  sich  aber  der  Falke  zu  essen, 
so  hatte  der  Räuber  dem  Eigenthümer  Entschädigung  zu  leisten 
und  ausserdem  eine  Geldstrafe  zu  bezahlen  (sex  solido»  Uli  cujus 
aceipiter  est,  eogatuf  exsolvere;  muletae  autem  nomine  solides 
duos)*  Nach  einer  Mittheilung  meines  gelehrten  Freundes,  Graf 
Geia  Kuun,  war  der  Falke  das  Feldzeichen  Attilas.  Nach  einer 
in  der  Chronik  von  Keza  und  Buda  bewahrten  Sage  sah  Emeaa, 
als  sie  mit  Attila  sehwanger  ging,  im  Traum  einen  Falken,  der 
ihr  eine  glttckliche  Zukunft  verkttndete. 

Nicht  weniger  geehrt  war  der  Falke  im  griechischen  Alter- 
thum ;  nach  Homer  war  er  der  schnelle  Bote  Apollos ;  nach  Aelian 
der  dem  Zeus  heilige  Spion  Apollos;  nach  Porphyries  (welcher 
Jedem,  der  Wahrsagerei  treiben  will,  das  Herz  eines  Falken, 
Hirsches  oder  eines  Maulwurfes  empfiehlt)  hat  er  nach  dem  Tode 
die  Fähigkeit  zu  prophezeien.  In  der  Iliad e  wird  Apollo,  der 
von  dem  Berge  Ida  herabkommt,  mit  dem  schnellen  Falken,  dem 
Tödter  der  Tauben,  dem  schnellsten  aller  Vdgel,  vergUcben. 
Zahlreich  sind  die  abergläubischen  Vorstellungen,  die  sich  an  den 
Falken  knüpfen,  welche  Aelian  gesammelt  hat;  so  z.  B.  dass  er 
nicht  die  Herzen  der  Thiere  frisst;  dass  er  über  einem  Leichnam 
webklagt;  dass  er  Unbegrabene  einscharrt,  oder  wenigstens  ihre 
Augen  mit  Erde  bedeckt,  da  er  in  diesen  die  Sonne  wiederzu- 
sehen glaubt,  auf  welche  er  als  das  liebste  Gestirn  immer  den 
Blick  heftet;   dass  er  Gold  liebt;  dass  er  siebenhundert  Jahre 


490 

lebt;  nicht  zn  sprechen  yon  den  ausserordentlichen  Heilkräften, 
welche  immer  jedem  heiligen  Thiere  zugeschrieben  werden;  und 
welche  ganz  besonders  als  dem  heiligen  Falken  wesentlich  an- 
haftend betrachtet  werden.  Mehre  von  den  Eigenschaften  des 
heiligen  Falken  gingen  auch  auf  Falken  niederer  Art  tlber,  so 
z.  B.  auf  den  Habicht  (milvus),  ^  von  welchem  es  heisst,  dass  er 
unter  die  Sterne  versetzt  worden  sei,  weil  er  dem  Zeus  die  Ein- 
geweide des  Ungeheuers  Stier-Schlange  gebracht  habe,  und  nach 
dem  dritten  Buche  von  Ovids  Fasti,  weil  er  dem  Zeus  den  ver- 
lorenen Ring  wiedergebracht  (eine  alte  Form  des  mittelalterlichen 
Ringes  Salomos,  d.  h.  der  Sonnenscheibe):  — 

^     ,,Jupiter  alitibus  rapere  imperat,  attulit  illi, 
Milaus  et  mentis  venit  in  astra  enia/^ 

Bezüglich  des  Habichts  finden  wir  eine  Fabel,  ^  nach  welcher 
er  in  der  Todesstunde  seine  Mutter  bittet,  die  benachbarte  Statue 
des  Gottes  um  Qnade  anzuflehen,  und  besonders  um  Verzeihung 
für  den  Frevel,  den  er  oft  begangen,  indem  er  sich  auf  das  Bild 
des  Gottes  entleert  habe.  ' 

Eine  reichere  Version  dieser  Erzählung  finden  wir  in  einer 
anderen  Fabel,  welche  das  griechische  Sprichwort  illustrirt: 
yfOerov  Tuiv^Qog  fmieverai'' ;  doch  haben  wir  statt  des  Falken  den 
Käfer,  und  statt  der  Statue  den  Gott  selbst,  Zeus,  mit  Adlers- 
eiem  in  seinem  Schoosse.  Der  Käfer  (der  gastliche  Mond)  will 
den  Adler  bestrafen,  der  die  Gesetze  der  Gastfreundschaft  in  Be- 
zug auf  den  Hasen  (ebenfalls  der  Mond)  verletzt  hat,  und  ver- 
sucht seine  Eier  zu  vernichten;  der  Adler  geht  und  legt  sie  in 
den  Schoos  des  Zeus;  der  Käfer,  der  weiss,  dass  Zeus  alles  Un- 
reinliche hasst,  lässt  etwas  Koth  auf  ihn  fallen ;  Zeus  vergisst  die 
Eier,  schüttelt  sich  und  zerbricht  sie.  Hier  ist  der  Adler  mit 
Zeus  identificirt,  wie  in  den  vedischen  Hymnen  der  Falke  mit 
Indra.  In  der  ersten  von  Pindars  pythischen  Oden  spricht  der 
Dichter  von  dem  Adler  als  auf  dem  Scepter  des  Zeus  schlafend 
(ein  Donnerkeil  ist  das  wirkliche  Scepter  des  Zeus).  Der  Adler 
des  Zeus  wird  auch  als  den  Donnerkeil  in  seinen  Klauen  haltend 


*  In. Piatos  Phaedon  werden  raubgierige' Menschen  in  Wölfe  und 
Habichte  verwandelt 

*  Vgl.  Aldroyandi,  Ornith.  v.  —  An  einer  andern  Stelle  sagt  Aldro- 
V  a  n  d  i :  „Narrant  qui  res  Africanas  Uteris  mandarunt  Aquilam  marem 
aliquando  cam  Li^ia  coire . . .  producique  ac  edi  Draconeni)  qui  rostro  et 
alis  avis  speciem  referat,  cauda  serpentem,  pede  Lupum,  cute  esse  versico* 
lorem,  nee  supercilia  posse  attoUere.'* 


491 

dargestellt^  was  mit  dem  Sprach:  ^^Fulmina  sub  Jove  sunt''  in 
völligem  Einklang  steht.  Als  Zens  sich  zum  Kampfe  gegen  die 
Titanen  rüstet,  bringt  ihm  der  Adler  seinen  Pfeil  ^  aas  welchem 
Grande  Zeas  den  Adler  za  seinem  Feldzeichen  nahm.  Bei  Di o 
Cassias  lassen  die  Adler  die  goldenen  Donnerkeile  aas  ihren 
Klanen  aaf  das  Lager  der  Pompejaner  fallen  and  fliegen  zu  dem 
Lager  Cäsars,  ihm  den  Sieg  za  verkünden.  Wir  finden  bei  den 
Alten  sehr  zahlreiche  Beispiele  von  Adlern,  welche  den  Helden 
bald  Sieg,  bald  die  höchste  Macht  verkünden,  welche  sie  bald 
nähren,  bald  retten,  bald  sich  selbst  für  sie  opfern.  ^  Der  Adler 
des  Zeas,  der  königliche  Adler,  nährt  sich  nicht  von  Fleisch, 
sondern  von  Kräatem,  besonders  von  der  Feachtigkeit  dieser 
Kräuter;  daraas  verstehen  wir  den  Raab  des  Ganymedes,  des 
Schenken  des  Zeas,  welcher  von  dem  Adler  in  derselben  Weise 
entführt  wurde,  wie  der  Falke  Indras  im  Bigveda  den  Soma 
raubt.  Der  griechische  Adler  ist  gewöhnlich,  gleich  Zeus,  ein 
Spender  von  Licht,  Fruchtbarkeit  und  Glück  Plinius  erzählt  von 
einem  Adler,  welcher  unmittelbar  nach  der  Heirath  des  AugustuS, 
als  ein  Vorzeichen  der  Fruchtbarkeit  in  der  Familie,  der  Livia 
Drusilla  eine  weisse  Henne  mit  einem  Lorbeerzweige  im  Schnabel 
in  den  Schooss  fallen  Hess;  dieser  Lorbeerzweig  wurde  einge- 
pflanzt und  wuchs  zu  einem  herrlichen,  dichten  Hain  heran;  die 
Henne  aber  hatte  eine  so  zahlreiche  Nachkommenschaft,  dass 
später  das  Landhaus,  wo  sich  das  zugetragen,  die  „Hennenvilla'' 
hiess.  Sueton  macht  dazu  die  Bemerkung,  dass  im  letzten  Lebens- 
jahre des  Nero  sämmtliche  Hennen  starben  und  das  Lorbeer- 
wäldchen einging.  Wir  finden  den  Adler  in  Zusammenhang  mit 
dem  Lorbeer  auch  in  dem  Mythus  von  Amphiaraos,  dessen  Speer, 
von  dem  Adler  entflihrt  und  in  den  Boden  gesteckt,  zu  einem 
Lorbeerbaum  heranwuchs. 

Als  in  Kapitel  I  des  ersten  Theiles  von  dem  Mythus  von 
der  Aurora  die  Rede  war,  erwähnten  wir  den  jungen  Helden, 
der  die  schöne  Prinzessin  am  Ufer  des  Flusses  ihrer  Kleidung 
beraubt  Im  griechischen  Mythus  finden  wir  eine  zoologische 
Version  dieser  Sage.  Aphrodite  (hier  die  Abend-Aurora)  badet 
im  Acheloos  (dem  Strome  der  Nacht);  Hermes  (das   äusserste 


'  Denen,  die  alles  das  zusammenfinden  wollen,  empfehle  ich  die  Lek- 
türe von  Aldrorandi,  Ornithologia  I,  wo  sie  eine  umfangreiche  und 
gründliche  Behandlung  der  Raubvögel  finden.  —  Vgl.  auch  Bachofen,  D  i  e 
Sage  von  Tanaquil,  Heidelberg  1870. 


492 

westliche  Licht,  and  vielleicht  sogar  der  Moi^)  verliebt  sich  in 
sie  nnd  lässt  vom  Adler  (dem  Vogel  der  Nacht)  ihr  die  Kleider 
fortnehmen ;  um  diese  wiederzuerlangen,  gewährt  ihm  die  Göttin 
Alles,  was  er  verlangt.  Bei  Strabo  finden  wir  eine  Version 
dieser  Erzählung;  welche  uns  an  das  Feenmährchen  von  Cinderella 
erinnert.  Während  Rhodope  badet,  erhascht  der  Adler  einen  ihrer 
Pantoflfeln  ans  den  Händen  der  Mägde  und  trägt  ihn  zu  dem 
Könige  von  Memphis,  der  beim  Anblick  des  Schuhs  sofort  sich 
in  den  Fuss,  der  ihn  getragen,  resp.  in  dessen  Besitzerin  verliebt; 
er  lässt  alle  Lande  nach  dem  Mädchen,  dem  der  Schuh  gehört, 
durchsuchen>  und  heirathet  Rhodope,  als  diese  sich  endlich  findet. 
Aelian  sagt,  dass  Psammetich  dieser  König  war.  Doch  ist  der 
griechische  Adler  nur  so  lange  segensreich,  als  der  Gott  Zeus,  den 
er  darstellt^  gnädig  ist;  als  Zeus  der  Tyrann  des  Himmels  wird 
und  den  Prometheus  verurtheilt,  an  einen  Felsen  gebunden  zu 
werden,  ist  es  der  Adler,  der  an  seinem  Herzen  frisst.  Und  weil 
der  Dichter  Aeschylos  den  Prometheus  verherrlichte  ^  indem  er 
ihn  die  Tyrannei  des  Zeus  verfluchen  liess,  deshalb  ohne  Zweifd 
ging  die  Sage,  dass  Aeschylos,  der  kahlköpfige  Alte,  von  einer 
Schildkröte  getödtet  wurde,  welche  der  Adler,  seinen  Kopf  für 
einen  weissen  Felsen  haltend,  aus  der  Höhe  hatte  herabfallen 
lassen,  um  jene  zu  zerbrechen  und  dann  zu  verzehren.  Der  Adl^^ 
der  nach  Theophrast  denjenigen  ^  welche  schwarze  Nieswurz 
abschnitten,  den  Tod  verkündete,  war  ebenfalls  ein  unheilvoller 
und  dämonischer  Vogel.  In  dem  achten  Buche  von  Ovids  Meta- 
morphosen wird  König  Nisus,  der  goldhaarige  (die  Abend- 
sonne)^ in  einen  Seeadler  (Nacht  oder  Winter)  verwandelt,  als 
seine  Tochter  Scylla  (Nacht  oder  Winter),  um  ihn  den  Feinden 
in  die  Hände  zu  geben,  ihn  seiner  Stärke  beraubt^  indem  sie  ihm 
die  Haare  abschneidet  (eine  augenfällige  Variation  der  Sonnen- 
sage von  Simson  und  Delila).  ^ 

Auch  der  Geier  ist  in  den  Sagen  alter  Klassiker  ein  heiliger 
Vogel;  Herodot  sagt,  dass  er  dem  Heracles  sehr  theuer  ist  (dem 
Tödter  des  Adlers,  der  an  dem  Herzen   des  Prometheus  nagt, 


*  Es  ist  sehr  zu  bi dauern,  dass  der  Verf.  solche  Parallelen  zwischen 
indogermanischer  und  semitischer  Mythologie  nicht  öfter  zieht.  Ein  weites 
Gebiet  der  Forschung  liegt  hier  noch  vor  uns.  Bahnbrechend  auf  dem- 
selben und  eine  neue  Epoche  für  die  Erklärung  der  mythischen  Bcstand- 
theile  des  Alten  Testamentes  anhebend,  dürfte  die  Arbeit  eines  jüngeren 
Gelehrten  werden,  welche  in  hoffentlich  nicht  zu  langer  Zeit  erscheinen 
wird,  A.  d.  Uebers. 


welcher  fttr  den  Helden  den  Becher  gemacht  hatte,  in  welchem 
er  im  Stande  war,  über  das  Meer  zu  8etzen);  er  kündigt  dem 
Romains^  Caesar  und  Augustus  die  Alleinherrschaft  an.  Plinius 
schreibt;  dass  verbrannte  Geierfedem  Schlangen  fliehen  machen; 
dieselben  Federn  haben  nach  Plinius  die  eigenthümliche  Fähigkeit, 
die  Geburtswehen  zu  erleichtem,  zumal,  wie  Hieronymus  (adv. 
Jovinianum  II)  schreibt,  „si  medicorum  volumina  legeris^  videbis 
tot  curationes  esse  in  vulture,  quot  sunt  membra/'^  Zwei  Geier 
(eine  Erscheinungsform  der  A$vins)  fressen  täglich  in  der  Hölle 
die  immer  wieder  wachsende. Leber  (immortalejecur  Virgils) 
des  Riesen  Tityo,  des  Beleidigers  der  dem  Jupiter  theuren  Latona 
(des  Mondes).  (Das  Ungeheuer  der  Nacht  wird  jeden  Tag  ge- 
tödet,  erhebt  sich  aber  jede  Nacht  wieder  von  Neuem.)  Die  beiden 
Jünglinge  Aegipios  und  Nephron  sind  eine  andere  Gestaltung  der 
A^vins;  sie  hassten  einander  wegen  der  Liebe,  die  Jeder  zu  der 
Mutter  des  Andern  hegte,  und  wurden  von  Zeus  in  zwei  Geier 
verwandelt,  nachdem  sich  Aegipios,  infolge  einer  List  Nephrons, 
mit  seiner  eigenen  Mutter  vereinigt  hatte.  Iphiclos  bittet  die 
VQgel  um  Rath,  wie  er  Kinder  bekommen  l^önne,  von  dem  Geier 
abwärts,  während  dieser  allein  den  Grund  anzugeben  wusste, 
warum  Iphiclos  keine  Kinder  hatte,  und  auch  allein  ihm  die 
Mittel,  zu  solchen  zu  kommen,  bezeichnen  konnte.  Philakos  hatte 
den  Iphiclos  zu  tödten  versucht;  als  es  ihm  nicht  gelungen  war, 
befestigte  er  sein  Schwert  an  einen  wilden  Birnbaum;  um  das 
Schwert  wuchs  eine  Decke  von  Baumrinde,  welche  es  den  Blicken 
der  Menschen  verbarg.  Der  Geier  zeigt  den  Platz,  wo  dieser 
Baum  wächst,  und  giebt  dem  Iphiclos  die  Anweisung,  die  Rinde 
abzunehmen,  den  Rost  von  dem  Schwerte  abzuschaben  und  ihn 
nach  zehn  Tagen  mit  einem  Trinkspruch  zu  trinken;  Iphiclos 
erhält  Nachkommenschaft. 

Der  Geier  bewahrt  also  in  der  griechisch-römischen  Sage 
gewöhnlich  den  heroischen  und  göttlichen  Charakter,  den  er  in 
der  indischen  hat,  obwohl  seine  Gehässigkeit  in  der  alten  Volks- 
phraseologie sprflchwörtlich  wurde.  Lucian  nennt  einen  grossen 
Esser  den  grössten  aller  Geier.  Femer  wurde  ihm  die  besondere 
Fähigkeit  zugeschrieben,  einen  Leichnam  zu  wittern,  sogar  schon 
vor  dem  Tode;  daher  sagt  Seneca  in  einer  Epistel  an  Jemanden, 


■  Vergleichende  Stadien  über  Volksmedicin  könnten  das  Thema  eines 
besonderen  Werkes  abgeben,  das  sehr  instructiT  und  interessant  werden 
dürfte. 


494 

der  die  Erbschaft   einer  noch  lebenden  Person   nicht  erwarten 

kann :  ^^Vnltur  es^  cadaver  exspectas^',  and  Plantos  sagt  im  T  r  u  - 

culentns  von  gewissen  Parasiten:   ^,Jam  quasi  vultarii  triduo 

prius  praedivinabant,  quo  die  esitori  sient/' 

Neben  diesen  königlichen  Raubvögeln^  welche  mythisch  wurden, 

sind  noch  mehre   mythische   Raubvögel;  die  niemals  existirten^ 

anzumerken,   so  z.   B.   der  Phönix ,   die  Harpye,  der  Greif,  die 

Strigen ,  die  Seleucidenvögel ,  die  stymphalischen  Vögel ,  und  die 

Sirenen.    Die  Volksphantasie  glaubte  lange  Zeit  an  ihre  Existenz, 

doch  gilt  von   ihnen  Allen   dasselbe,   wie  von  dem  arabischen 

Phönix : 

,,Zwar  rühmen  Alle  sein  Bestehn, 
Doch  hat  ihn  Niemand  je  gesehn.*'  ■ 

In  der  That,  Niemand  hat  sie  je  gesehen;  ein  paar  Gott- 
heiten oder  Helden  allein  nahten  sich  ihnen;  ihr  Sitz  ist  im 
Himmel,  wo  sie,  nach  ihren  verschiedenen  Naturen  und  den  ver- 
schiedenen Plätzen,  die  die  Sonne  oder  der  Mond  am  Himmel 
innehaben,  anziehen,  rauben,  verfuhren,  bezaubern  oder  vernichten. 

Der  Phönix  ist  ohne  allen  Zweifel  die  östliche  und  westliche 
Sonne;  daher  konnte  Petrarca  mit  Recht  singen: 

,,N^  'n  ciel  n^  'n  terra  h  piu  d'una  Fenice/* 

da  es  doch  nur  eine  Sonne  giebt;  und  wir  sagen,  gleich 
den  alten  Griechen,  von  einem  seltenen  Mann,  resp.  einer  solchen 
Sache,  dass  er  oder  sie  ein  Phönix  ist  Tacitus,  der  im  vier- 
zehnten Buch  die  Fabel  vom  Phönix  erzählt,  nennt  ihn  animal 
sacrum  soli;  Lactantius  sagt,  dass  er  allein  die  Geheimnisse 
der  Sonne  kennt: 

,,£t  sola  arcanis  consda,  Phoebe,  tuis,** 

und  stellt  ihn  dar  als  seinem  Vater  im  Tempel  der  Sonne  die 
letzten  Ehren  erweisend ;  Claudian  nennt  ihn  avis  Solls,  und 
beschreibt  sein  ganzes  Leben  in  einem  schönen  kleinen  Gedichtchen. 
Er  ist  im  Osten  geboren,  im  Walde  der  Sonne,  und  nährt 
sich,  bis  er  seine  volle  glänzende  Gestalt  gewonnen  hat,  von 
Thau  und  Wohlgerttchen ;  daher  sagt  Lactantius: 

„Ambrosios  libat  coelesti  nectare  rores 

Stellifero  teneri  qui  ceddere  polo. 
Hob  legit,  his  mediis  alitor  in  odoribus  ales, 

Donee  maturam  proferat  effigiem/* 


>  „Come  TAraba  Fenice; 
Che  ci  sik,  ciascan  lo  dice; 
Dove  sik,  nessun  lo  sa/' 


495 

Dann  nährt  er  sich  von  Alleni^  was  er  sieht.  Wenn  er  dem 
Sterben  nahe  ist,  denkt  er  nnr  an  seine  Neugebort: 

„Componit  bustumque  sibi  partumque  faturam**  (Claud.); 

er  soll  einen  kleinen  Wurm  in  seinem  Neste  niederlegen,  welcher : 

„Fertur  vermis  lacteus  esse  color"  (Lact.). 

Bevor  er  stirbt,  mfl;  er  die  Sonne  an: 

„Hie  sedet  et  solem  biando  clangore  salatat 

Debilior  miscetqae  preces  et  sapplice  cantu 

Praestatura  novas  vires  incendia  poscit; 

Quem  procul  abductis  vidit  cum  Phoebus  habenis, 

Stat  subito  dictisque  pium  solatur  alumnum**  (Claud.).  ^ 

Die  Sonne  löscht  den  Brandy  welcher  den  Phönix  verzehrt  und 
aus  welchem  er  wieder  erstehen  soll.  Schliesslich  wird  der  Phönix 
mit  der  Dämmerung  wiedergeboren: 

f^Atque  ubi  sol  pepulit  fulgenüs  lumina  portae, 

Et  primi  emicuit  luminis  aura  levis, 
Incipit  iUa  sacri  modulamina  fnndere  cantus, 

Et  mira  lucem  voce  eiere  novam"  (Lact.). 

Meines  Erachtens  sind  keine  Beweise  weiter  nöthig,  die 
Identität  des  Phönix  mit  der  Morgen-  und  Abendsonne,  und  in 
weiterem  Sinne,  mit  der  Herbst-  und  Frtthlingsonne  zu  erhärten. 
Was  von  ihm  im  Alterthum  und  im  Mittelalter  gefabelt  wurde, 
stimmt  vollständig  ttberein  mit  der  zweifachen  glänzenden  Er- 
scheinung der  Sonne,  welche  jeden  Tag  und  jedes  Jahr  stirbt, 
um  aus  ihrer  Asche  wiedergeboren  zu  werden,  und  der  des  Helden 
(resp.  der  Heldin),  welcher  unverletzt  durch  die  Flammen  des 
Scheiterhaufens  hindurch  schreitet 

Wenn  ich  nicht  Alles,  was  sich  auf  die  semitische  c(nd  ägyp- 
tische Mythologie  bezieht,  bei  Seite  gelassen  hätte ,  um  mich  ein- 
zig und  allein  mit  den  Mythen  der  Indogermanen  und  theilweis 
denen  ihrer  nächsten  Nachbarn,  der  Turanier,  zu  beschäftigen,  so 
hätten  interessante  Details  über  den  Cult  des  Phönix  wie  auch 
anderer  Thiere  in  Aegypten  geliefert  werden  können.  Auf  jeden  Fall 
lässt  sich  behaupten ,  dass  der  Gült  des  Phönix  zu  Heliopolis  eine 
durchsichtige  zoologische  Gestaltung  des  Sonnenmytbus  ist  Auf 
den  europäischen  Grabdenkmälern  hat  man  oft  genug  später  den 
Phönix  mit  dem  Motto:  post  fata  resurgo,  als  Symbol  der 
Unsterblichkeit  der  Seele  dargestellt. 

Die  Natur  des  Phönix  ist  dieselbe  wie  die  des  brennenden 
Vogels  (szar-ptitza)  russischer  Feenmährchen ,  welcher  den  Zwerg 


verschlackt,  der  seine  flier  stehlcD  geht  (die  Abepd-Aorora  ver- 
schluckt die  Swne).  ^ 

Der  Sonneiiyogel  des  Abends  ist  ein  Raubvogel ;  er  zieht  mit 
seiner  feuchten  Klaue  an  sich;  er  zieht  in  die  Dunkelheit  der 
Nacht ;  er  hat  die  Nacht  hinter  sich ;  seine  Erscheinung  ist  be- 
zaubernd und  sein  Blick  verlockend,  doch  der  übrige  Körper  ist 
ebenso  grässlich,  wie  seine  Nfttor. 

Vergil  und  Dante  schreiben  den  Harpyen  Weibergesichter  zu : 

^Ali  baimo  late  e  colli  e  visi  umani 

Piü  con  artigli  e  pennuto  il  gran  yentre/* 

Rutilius'  sagt,  dass  ihre  Klauen  kleberig  sind: 

i,Quae  pede  glutiueo  qaod  tetigere  trahuiit " 

Andere  gebep  ihnen  Geierleiber;  Bärenohren ,  Menschenarme  und 
FUsse,  und  die  weissen  Brüste  von  Weibern.  Servius  bemerkt, 
als  er  von  ihrem  Namen  ,;Canes  Jovis'^  spricht,  dass  ihnen  dieses 
Epitheton  gegeben  wurde,  weil  sie  die  Furien  in  Person  sind, 
„unde  etiam  epulas  apud  \rergilium  abripiunt,  quod  Furiarum  esf 
Diener  der  Rache  des  iZeus,  besudeln  sie  die  Ernte  des  König- 
Sehers  Phineus,  des  von  Apoll  begeisterten,  den  Einige  als  eine 
Gestaltung  des  Prometheus,  des  Oflfenbarers  der  Geheimnisse  des 
Zeus,  Andere  als  den  Blenaer  seiner  eigenen  Söhne  betrachten. 

Der  Raubvogel,  der  Abendsonnenvogel  wird  während  der 
Nacht  eine  Strix  oder  Hexe.  Wir  machten  schon  auf  den  Volks- 
glauben aufmerksam,  dass  die  Katze  im  Alter  von  sieben  Jahren 
eine  Hexe  wird.  Ein  alter  Aberglaube,  den  Aldrovandi  überliefert, 
erkennt  ebenfalls  Hexen  in  Katzen,  und  es  heisst  dort  auch,  dass 
sie  in  dieser  Gestalt  den  Kindern  das  Blut  aussaugen.  Dasselbe 
thun  die  Hexen  der  Volksmährchen  ^  und  die  Striges.  Während 
der  Nacht  saugen  sie  den  Kindern  das  Blut  aus,  d.  h.  die 
Nacht  nimmt  der  Sonne  die  Farbe,  das  Roth,  das  Blut  Ovid 
stellt  im  sechsten  Buche  der  Fasti  die  bösen  Striges  *folgender- 
massen  dar: 


«  Vgl.  A  fan.  V,  27. 

>  Itip.  L 

*  Theil  Ii  Kftp.  1  sahen  irir,  vie  die  Hexe  dem  «ßh^nen  Mädohen  die 
Briiste  auAi^aogt  —  Bei  Dfi  Cai^ge,  s.  y.  Amma  l<9l|en  ifir  Folgendes :  ,,l8i- 
doruB,  lib.  Xli,  cap.  Vil,  bubo  strfx  nocturna:  ,Haec  avis,  inquit  ille, 
vulgo  Amma  dicitur  ab  amando  parvulos,  unde  et  lac  praebere  dicitur 
nascentibus*  Anilem  banc  fabulam  non  habet  Papiaa  MS.  Ecclesiae  Bitu- 
rtoeMis.  Sic  enim  ille:  Amma  afis  nocturna  ab  aoiando  dicta,  baec  et 
ftäz  dioitnr  a  Stridore." 


497 

,,Nocte  volant,  paerosque  petunt  nutricb  egentes, 

£t  vitiant  cunis  corpora  rapta  suis. 
Carpere  dicantur  iactentia  viscera  rostris, 

Et  plenum  poto  sanguine  guttur  habent/* 

Festas  leitet  das  Wort  strix  a  stringendo  ab^  wegen  des 
landläufigen  Glaubens^  dass  sie  Kinder  erwürgen.  Die  Striges 
greifen  in  dem  obenerwähnten  Bache  der  Fasti  das  erst  fünf 
Tage  alte  Kind  Procas  an 

„Pectoraque  exsorbent  avidis  infantia  Unguis** 

Die  Nymphe  Crane  vertreibt  die  Hexen  mit  einer  Zanberrnthe  und 
heilt  so  die  Kinder : 

„Protioiis  arbutea  postes  ter  in  ordine  tangit 

Fronde  ter  arbutea  limina  fronde  notat. 
Spargit  aquis  aditns,  et  aquae  medicamen  habebant, 

Extaque  de  porca  cruda  bimestre  tenet.** 

Die    üblichen    Beschwörungsformeln    werden    binzugeftlgt    und 

schliesslich : 

nPost  iilud  nee  aves  cunas  violasse  feruntur, 
Et  rediit  puero  qui  fuit  ante  oolor.** 

Serenus  Sammonicus  empfiehlt  als  Schutzmittel,  wenn  die 
strix  atra  das  Kind  bedrängt,  Knoblauch,  dessen  starker  Geruch , 
wie  wir  sahen,  sogar  den  Ungeheuern  Löwen  zur  Flucht  treibt. 

Dieselbe  bösartige  und  dämonische  Natur  theilen  auch  die 
Fledermäuse  und  die  Vampyre,  welche  ich  in  den  beiden  Be- 
schwingten, die  nicht  zu  saugen  gebeten  werden,  eines  vedischen 
Hymnus  erkenne.  ^ 

Eine  analoge  Natur  hatten  die  stymphalischen  Vögel,  welche 
die  Sonnenstrahlen  mit  ihren  Schwingen  verdecken,  ihre  Federn 
als  Pfeile  gebrauchen,  Menschen  und  Löwen  verschlingen,  und 
wegen  ihrer  Klauen  furchtbar  sind : 

„Ungnibus  Arcadiae  volucres  Stymphala  colentes^*  (Lucr.); 

Heracles  und  später  die  Argonauten  scheuchten  sie  durch  das 

'  Mft  mäoi  ime  patatrini  vi  dugdhäm;  Rigv.  I,  158,  4.  —  In  Sicilien 
heisst  die  Fledermaus  taddarita  und  wird  als  eine  Gestaltung  des  Dä- 
mons betrachtet ;  um  sie  zu  fangen  und  su  tödten,  singt  man : 

ttTaddarita,  *ncanna,  'ncanna, 

Lu  dimonio  ti  'ncanna 

£  ti  *ncanna  pri  li  peni 

Taddarita,  veni,  veni.*' 
Wenn  sie  gefangen  ist,  wird  sie  beschworen,  weil  sie  gotteslästerliches  Oe- 
schrei  ausstosst.    Man  tödtet  sie  durch  Feuer,  oder  aber  heftet  sie  an  ein 
Kreus. 

0«b«ni«tli,  dl«  Thl«r«.  32 


498 

Geräusch  eines  musikalischen  Instrumentes  und  durch  Zusammen- 
schlagen ihrer  Schilde  und  Speere  zum  Fluge  auf.  Der  Vogel 
von  Seleucia^  den  Galenus  als  ^^von  unersättlicher  Gier,  bösartig, 
schlau ;  Verschlinger  von  Heuschrecken^'  beschreibt,  hat  ebenfalls 
diese  diabolische  Natur.  Wenn  unsere  Identification  der  Heu- 
schrecke mit  dem  Monde  annehmbar  ist,  so  genügt  schon  sein 
Schatten,  die  Heuschrecke  zu  tödten.  Sofern  jedoch  die  Heu- 
schrecken als  Vemichter  von  Getreide  betrachtet  werden,  werden 
die  Vögel  von  Seleucia,  welche  sie  zu  verschlingen  kommen,  für 
segenbringend  und  tlir  die  Diener  des  Zeus  gehalten. 

Die  Greife  werden  mit  einer  Doppelnatur  dargesteDt,  baicf 
als  günstig,  bald' als  bösartig.  Solinus  nennt  sie:  „alites  fero- 
cissimae  et  ultra  rabiem  saevientes.^'  Ktesias  erklärt,  dass  Indien 
Grold  in  Bergen  besitzt,  welche  von  Greifen  bewohnt  sind,  die 
vierftlssig,  so  gross  wie  Wölfe  sind,  Beine  und  Klauen  von  Löwen, 
rothe  Federn  an  der  Brust  und  an  andern  Theilen,  Augen  von 
Feuer  und  goldene  Nester  haben.  Um  des  Goldes  willen  kämpfen 
die  einäugigen  Arimaspi  mit  den  Greifen.  Da  die  Letzteren 
lange  Ohren  haben,  so  hören  sie  leicht  die  Goldräuber,  und  wenn 
sie  dieselben  fangen,  so  tödten  sie  sie  unerbittlich.  Im  griechi- 
schen Alterthum  waren  die  Greife  der  Nemesis,  der  Rachegöttin, 
heilig,  und  wurden  auf  Gräbern  dargestellt,  wie  sie  einen  Stier- 
kopf niederdrücken ;  doch  waren  sie  weit  berühmter  als  der  goldenen 
Sonne,  dem  Apollo,  heilig,  dessen  Wagen  sie  zogen  (der  Hippo- 
gryph,  der  in  mittelalterlichen  Heldengedichten  den  Helden  trägt, 
ist  völlig  gleichbedeutend  mit  ihnen).  Und  da  Apollo  die  prophe- 
tische und  wahrsagende  Gottheit  ist,  deren  Orakel  sich  auf  Be- 
fragen in  Räthseln  offenbart,  so  bedeutet  das  Wort  Greif  auch 
Räthsel:  Logogryph  ist  eine  räthselhafte  Rede,  und  griffonnage 
ist  das,  was  wir  etwa  „Erähenftlsse''  nennen. 

Was  endlich  die  Sirene  oder  Seejungfer  betrifft,  welche  ein 
Weibsgesicht  hat,  und  bald  in  einen  Vogel,  bald  in  einen  Fisch 
endigt,  nach  griechischen  Grammatikern  jedoch  oben  die  Gestalt 
eines  Sperlings,  unten  die  eines  Weibes  hat,  so  scheint  sie  viel- 
mehr ein  lunares  denn  ein  solares  Wesen  zu  sein.  Die  Sirenen 
locken  besonders  Schiffer  an,  und  fliegen  hinter  dem  Schiff  des 
schlauen  Odysseus  her,  der  sich  die  Ohren  zustopft,  weshalb  sie 
sich  verzweifelnd  ins  Meer  stürzen.  Die  Sirenen  sind  Zauberinnen 
gleich  Circe ;  darum  nennt  sie  Horaz  zusammen :  ^ 

'  Nach  einem,  bis  jetzt  noch  nicht  veröffentlichten,  sicilianischen  Mähr- 


499 

»ySirenum  voces  et  Circes  pocala  nosti/* 

PlininSy  welcher  an  ihre  Existenz  in  Indien  glaubte,  schrieb  ihnen 
die  Fähigkeit  zu,  Menschen  in  Schlaf  zu  singen,  uro  sie  dann  za 
zerreissen ;  sie  beruhigten  die  Winde  des  Meeres  durch  ihre  süssen 
Stimmen;  sie  wussten  und  offenbarten  Alles  (gleich  der  Fee  oder 
Madonna  Mond).  Manche  sagen,  dass  die  Sirenen  aus  dem 
Blute  des  von  Heracles  getödtoten  Acheloos  stammen;  Andere, 
dass  sie  Kinder  des  Acheloos  und  einer  der  Musen  sind;  Andere 
wieder,  dass  sie  einst  Mädchen  waren,  welche  Aphrodite  in  Sire- 
nen verwandelte,  weil  sie  Jungfrauen  bleiben  wollten.  In  dem 
16.  ehstnischen  Mährchen  verliebt  sich  die  schöne  Meermaid,  die 
Tochter  der  Mutter  der  Wasser,  in  einen  jungen  Helden,  mit  dem 
sie  sechs  Tage  in  der  Woche  gemeinschaftlich  zubringt;  den 
siebenten,  Donnerstag,  verlässt  sie  ihn,  um  in  die  Fluthen  zu 
tauchen,  verbietet  jedoch  dem  Jüngling,  sich  ihr  neugierig  zu 
nahen:  der  junge  Mann  ist  unfähig ,  seine  Neugierde  zu  unter- 
drücken, überrascht  das  Mädchen  im  Bade,  und  entdeckt,  dass 
sie  unten  Fisch  and  oben  Weib  ist: 

„Desinit  in  piscem  mnlier  formosa  sapeme;" 

die  Meermaid  weiss  sich  beobachtet  und  verschwindet  für  immer 
den  Blicken  des  Jtlnglings.  ^ 


chen,  welches  mir  Dr.  Ferraro  mittheiltc,  eatführte  einst  eine  Sirene  ein 
Mädchen  und  nahm  es  mit  sich  auf  die  See;  obwohl  sie  ihr  gelegentlich 
erlaubte,  auf  das  Ufer  zu  gehen,  so  machte  sie  ihr  doch  ein  Entkommen 
durch  eine  an  ihren  eigt>nen  Schwanz  befestigte  Kette  unmöglich.  Der 
Bmder  befreite  seine  Schwester,  indem  er  der  Sirene  Brod  und  Fleisch 
hinwarf,  ihren  Hunger  zu  stillen,  während  sieben  Grobschmiede  beschäftigt 
waren,  die  Kette  zu  durchfeilen. 

'  Vgl  die  Geschichte  von  der  schönen  Melusina;  femer   Pentame- 
rone  IV,  7,  wie  auch  die  Lohengrinsage  in  dem  Kapitel  über  den  Schwan. 


dl* 


500 


KAPITEL  m. 
Der  Zaunkönig,  der  Küfer  niid  das  JohanneswflrmclieB« 

Von  den  grössten  Vögeln  gehen  wir  jetzt  zu  den  kleinsten 
über;  von  dem  rex  zu  dem  regnlns  (italien.  capo  d'oro, 
Goldkopf),  und  zu  den  rothen,  goldenen  und  grünen  Käfern  (gelb 
und  grün  werden  oft  miteinander  vertauscht,  wie  schon  früher  an 
den  gleiclibedeutenden  Wörtern:  hari  und  harit  gezeigt  wurde), 
welche  mit  ihm  gleichbedeutend  sind  und  in  der  Mythologie  für 
ihn  eintfeten.  Ich  sehe  den  Zaunkönig  in  dem  sehr  kleinen 
Vogel  (iyattikä  Qakuntikä)  des  Rigveda,  welcher  da«  Gift  der 
Sonne  verschlingt.  *  In  einem  deutschen  Volksliede  betrauert  der 
Zaunkönig  die  Uebel  des  Winters,  den  er  übrigens  darsteUt  (in 
seinem  Charakter  als  Mond  absorbirt  er  die  Dünste  der  Sonne). 
Ein  schottisches  Kinderlied  feiert  des  Zaunkönigs  Testament: 

„The  wren,  she  lies  in  care's  nest, 
Wi'  meikle  dole  and  pyne.*' 

Der  Zaunkönig  (gr.  ßaackiaxog,  altd.  kunigli)  erscheint 
gleich  dem  Käfer  als  Nebenbuhler  des  Adlers.  Er  fliegt  höher 
als  der  Letztere.  In  einem  Montferratensischen  Mährchen  ^  fordern 
Adler  und  Zaunkönig  einander  heraus,  ihre  Flugkraft  zu  messen. 
Alle  Vögel  sind  anwesend.  Während  sich  der  Adler,  den  Zaun- 
könig verachtend,  stolz  in  die  Lüfte  erhebt,  und  so  hoch  fliegt, 
dass  er  bald  ermüdet  ist,  hat  sich  der  Zaunkönig  unter  eine  seiner 
Schwingen  gesetzt,  kommt,  als  er  ihn  erschöpft  sieht,  heraus,  und 
steigt,  Sieg  rufend,  noch  höher.  Plinius  sagt,  dass  der  Adler  der 
Feind  des   Zaunkönigs   ist:    „Quoniam   rex   appellatur   avium.'' 


'  Gaghftsa  te  visham;  Rigv.  I,  191,  11. 

*  Nach  Mittbeilung  meines  Freundes  Dr.  Ferraro.  —  Ein  ähnliches 
Mährchen  wird  noch  in  Pommern,  Brandenburg,  und  in  Irland  erzählt, 
mit  der  Variation,  dass  der  Storch  der  Rival  des  Adlers  im  Fliegen  ist: 
ab  der  Storch  ermüdet  herabfallt,  kommt  der  noch  nnermüdete  Zaunkönig, 
der  unter  seinen  Flügeln  verborgen  war,  hervor,  um  sich  mit  dem  Adler 
zu  messen  und  ist  siegreich.  —  In  einem  hessischen  Volksmährchen  schlägt 
der  Zaunkönig  sämmtliche,  vom  Bären  geführte  Thiere  durch  eine  List 
in  die  Flucht. 


501 

Aach  Aristoteles  erzählt;  dass  der  Adler  nnd  der  Zaunkönig  mit- 
einander kämpfen.  Die  Fabel  von  dem  '  Wettkampfe  zwischen 
dem  Adler  und  dem  Zaunkönig  war  schon  im  Alterthum  bekannt ; 
derselbe  soll  stattgefunden  haben^  als  die  Vögel  einen  König  ein- 
setzen wollten.  Der  Adler,  der  höher  als  alle  anderen  Vögel  ge- 
flogen war,  sollte  eben  als  König  proklamirt  werden ;  da  flog  der 
Zaunkönig  unter  einer  seiner  Schwingen  hervor,  setzte  sich  auf 
seinen  Kopf  und  erklärte  sich  llir  siegreich.  Der  Zaunkönig  und 
der  Käfer  scheinen  gewöhnlich  den  Mond  darzustellen,  welcher 
als  Beschtltzer  der  Ehen  bekannt  ist;  aus  diesem  Grunde  sollten 
nach  Aratos  keine  Heirathen  stattfinden,  während  der  Zaunkönig 
in  der  Erde  verborgen  war.  Wir  wissen,  wie  der  Vollmond  (ein 
phallisches  Symbol)  als  die  günstigste  Zeit  fttr  Heirathen  be- 
trachtet wurde.  Nach  Sueton  wurde  der  Tod  Cäsars  an  den 
Iden  des  März  durch  einen  Zaunkönig  vorverkündigt,  der  in  dem 
Pompejanischen  Tempel  von  mehren  andern  Vögeln  zerrissen 
wurde,  als  er  einen  Lorbeerzweig  fortrug  (ebenso  der  Adler;  aus 
dem  winterlichen  Dunkel,  welches  ganz  besonders  von  dem  Monde 
regiert  wird,  kommt  der  Frühling  hervor;  der  schwarze  Adler 
stellt  bisweilen  die  Dunkelheit  dar,  wie  der  Zaunkönig  den  Mond, 
welcher  in  der  Dunkelheit  wandert). 

Wir  sahen  im  vorigen  Kapitel  den  Käfer,  der  auf  dem  Adler 
fliegt  Plinius  sagt  von  den  persischen  Magiern,  dass  sie  Hagel, 
Heuschrecken  und  andere  ähnliche  Landplagen  fortzauberten, 
indem  mit  einem  Smaragd  „aquilae  scalperentur  aut  scarabaei.'^ 
Nach  Telesius  nennen  die  Galabrier  in  Cosentino  den  goldgrttnen 
Käfer  „Mondpferd''  (equus  lunae).  Es  ist  dies  der  heilige  Käfer, 
welcher  so  oft  auf  alten  Kameen  und  Obelisken,  wie  auf  den  Ge- 
wändern der  Mumien  dargestellt  ist.  Doch  giebt  es  einen  andern 
Käfer,  welcher  der  indogermanischen  Sage  noch  vertrauter  ist, 
nämlich  den  kleinen  und  fast  runden,  mit  rothem  Mantel  und 
schwarzen  Flecken  (Gottesktthchen).  Er  war  schon  in  Lidien 
bekannt,  wo  indragopa  (Schützling  Indras)  der  Name  eines 
rothen  Käfers  ist  In  einem  indischen  Verse  lesen  wir,  dass  der 
rothe  Käfer  herabfällt,  weil  er  zu  hoch  geflogen  ist^  (in  diesem 
Mythus  wird  das  Auf-  und  Untergehen  sowohl  des  Mondes  als 
der  Sonne  dargestellt;  vgl.  die  Sagen  von  Icaros,  Hanumant  und 
Sampati).    In  Deutschland  giebt  man  dem  rothen  Käfer  den  Rath, 


'  Atjunnatim  präpya  narah  prävära^   kitako   yatha  sa  vina<^yatya8ain* 
deham;  Böhtlingk,  Indische  Sprüche,  2.  Aufl.  Spr.  181. 


50» 

zu  fliegen,  weil  eein  Haus  in  Flammen  stehe.'     In  Rascdand 

beisst  derselbe  rotbe  Käfer  mit  sehwarzen  Flecken  ^das  Goties- 

ktthchen'^  (wir  sahen  schon  den  Kuh-Mond),  und  die  Kinder  sagen 

zu  ihm: 

fjGotteskübchen, 

Flieg  zum  Himmel, 

Gott  wird  Dir  Brod  geben.*" 

Im  Piemontesischen   heisst    derselbe  Käfer    das   Hühnchen  St 
Michaelis,  und  die  Kinder  sagen  zu  ihm: 

,,  Hühnchen  St.  Michaeb, 
-  Breite  Deine  Flägel  aus  und  flieg  zum  Himmel."  * 

Im  Toskanischen  heisst  er  luofa ,  *  und  die  Kinder  rufen  ihm  zu : 

„Lucia,  lucia, 
Metti  Tali  e  vola  yia.*' 
(Breite  Deine  Flügel  aus  und  flieg  weg.) 

Der'rothe  Käfer  mit  schwarzen  Flecken  wird  in  Sicilien  auch 
Santu  Nicola,  oder  gar  „kleine  Taube'^  (palumedda)  genannt  So 
oft  einer  von  ihren  Zähnen  ausfällt,  erwarten  die  Kinder  ein  Geschenk 

^  Dieselbe  Vorstellung  herrscht  in  einigen  Tbcilen  Englands,  wo  die 
Kinder  folgende  Worte  an  den  K&fdr  richten: 
„Cow-lady,  cow-lady,  fly  away  home; 
Your  house  is  all  burnt,  and  your  children  are  gone.*' 
Im  Englischen   heisst  er:   ladybird,  ladybug,  ladycow   und   ladyfly.    Das 
Lax\<lvolk  nennt  ihn  auch:  golden  knop  (Vgl.  Trench,  On  the  Study  of 
Words). 

'  „Boftsia  Karövka 
Paletf  na  niebo. 
Bog  dat  tibi^  hleba.«* 
>  „La  galifia  d'  San  Michel 
Büta  j  ale  e  vola  al  cieL^ 
*  Ohne  Zweifel  der  Hlgen  Lucia  heilig.    In  Tirol  giebt  nach  Beins- 
berg.  Das   festliche  Jahr,  St  Lucia  den  Mädchen,  St  Nicholas  den 
Knaben  Geschenke.    Das  Fest  der  Hlgen  Luda  wird  am  15.  September 
gefeiert;  diesen  Abend  darf  Niemand  lange  aufbleiben;  denn  wer  immer 
diesen  Abend  arbeitet,  findet  am  Morgen  die  ganze  Arbeit  vernichtet. 
Die  Nacht  der  Hlgen  Lucia  wird  sehr  gefürchtet  (die  Heilige  verliert  ihr 
Augenlicht ;  der  Sommer,  die  warme,  sonnige  Jahreszeit,  erreicht  ein  Ende ; 
der  Madonna-Mond  verschwindet,  und  wird  dann  Königin  des  Himmels, 
Wächter  des  Lichtes,  als  die  Hlge  Lucia),  und  Beschwörungsfonnelii  wer- 
den gegen  den  Alp,   Teufel   und  Hexen  in  Anwendung  gebracht     Ein 
Kreuz  wird  in   das  Bett  gelegt,  damit  keine  Hexe  hineinkann,     in  der 
Nacht  sehen  die,   welche  unter  dem  Einfluss  des  Schicksals  stehen,  nach 
eilf  Uhr  ein  Licht,  welches  sich  auf  den  Dächern  der  Häuser  langsam  hin- 
und  herbewegt  und  verschiedene  G^talten  annimmt;  aus  diesem  Licht, 
Luciescbein  geheissen,  werden  gute  und  böse  Vorbedeutungen  geiogea 


505 

von  dem  Käfer;  sie  verateeken  den  Zahn  in  einem  Loch  und 
rufen  das  Thierchen  an ;  ^  wenn  sie  dann  an  ihren  Platz  zurück- 
kommen,  so  finden  sie  gewöhnlich  eine  Münze  da,  welche  Vater 
oder  Mutter  hingelegt  hat.  Die  englische  ladycow  (coccinella 
septempunetata)  hat  in  Deutschland  mehre  Namen,  welche  Mann- 
hardt  in  seinen  „Oermanischen  Mythen^'  gesammelt  hat;  unter 
anderen  finden  wir  die :  Gottesvögelchen,  Gottespferdchen,  Marien- 
hähnehen ,  Goldhähnchen ,  Himmelsthierchen ,  Sonnenrögelchen, 
Sonnenhähnohen ,  Sonnenkälbchen ,  kleine  Sonne,  Franenktthle, 
Marienktthle,  Unser  lieben  Frauen  Kttehlein.  In  der  schwedischen 
Provinz  Upland  senden  die  Mädchen  den  Käfer  zum  Liebsten  mit 
den  Versen: 

„Jungfrau  Marie, 

Schlüsselmagd, 

Flieg  nach  Osten, 

Flieg  nach  Westen, 

Flieg  dahin,  wo  mein  Liebster  wohnt/** 

Die  Verehrung,  welche  dem  rothen  Käfer  erwicisen  wird, 
entspricht  der,  welche  der  „Feuerfliege''  (cicindela)  bewahrt  ist; 
nicht  so  gut  bebandelt  wird  jedoch  der  Feuerkäfer,  welchen 
deutsche  Kinder  im  Frühling  in  eine  Büchse  stecken  und  i^ach 
Hause  .tragen^  (das  glänzende  Qltthwürmcben ,  das  in  Qecken 
steckt,  gleich  dem  S^annkönig,  das  auch  im  Italienischen  forasiepe 
heisst,  und  um  welches  die  dummen  Mönche  des  Pancatantra 
im  Winter  herumsitzen,  um  pich  zu  wärmen).  Im  Toscanischen 
wird  dem  armen  Glühwürmchen,  welches  im  Spätfrühling  (in 
D^fitschland  etwas  später,  daher  sein  Name  Johanniswünnchen) 
erscheint,  mit  einer  Züchtigung  gedroht.  Es  scheint  mir  wahr- 
scheinlich, dass  die  Stockschläge,  welche  der  1  u  c  c  i  o  1  a  angedroht 
werden,  eine  Anspielung  auf  die  bevorstehende  landwirthschaftliche 
Operation  des  Dreschens  des  Getreides  sind;  die  Kinder  singen 
es,  wenn  sie  es  gefangen  haben,  folgendermassen  an: 


■  „Santa  Nicola,  Santa  Nicola 
Facitimi  aseiari  ossa  e  chiora.** 
(St.  Nicholas,  St  Nicholas, 
LabS  mich  Knochen  and  Münze  finden.) 

*  Nach  Mannhardt,  German.  Mythen^  p.  252,  der  den  schwedischen 
Text  and  die  deutsche  Uebersetzung  giebt. 

*  Kahn  und  Schwärt«,  N.  d.  S.  M.  a.  G«,  p.  377. 


L 


„Lttooiola,  laceiolay  vien  da  me,  » 

Ti  dar6  un  pan  del  re, ' 
Con  delP  ova  afiritellate, 
Carne  secca  e  bastonate." 

(Johannisw.y  Johannisw.,  komm'  zu  mir;  Ich  will  Dir  ein  Königs- 
brod  geben,  mit  gesottenen  Eiern ,  Speck  and  —  Schlägen.)  Es 
beisst  im  ToscaDischen ,  dass  das  Johanniswürmchen  dem  Weizen 
leuchtet,  wenn  das  Rom  in  die  Aehren  za  schiessen  beginnt;  ist 
es  ausgewachsen,  so  verschwindet  das  Johanniswürmchen.  *  Kinder 
pflegen  das  Johanniswürmchen  zu  fangen  und  es  unter  ein  Glas 
zu  stellen,  in  der  Hoffiiung,  am  Morgen  ein  (Goldstück  an  Stelle 
des  Johanniswürmchens  zu  finden.  In  Sicilien  heisst  das  Jo- 
hanniswürmchen das  Lichtchen  des  Schäfers  (cannilicchia  di 
picuraru). 

Ich  nehme  an,  dass  zu  derselben  Mytbenreihe  der  Schmetter- 
ling (vielleicht  der  schwarze  kleine  Schmetterling  mit  rothen 
Flecken)  gehört,  welcher  in  Sicilien  der  kleine  Vogel  von  guten 
Nachrichten  (occiduzzu  bona  nova)  oder  kleines  Schweinchen  des 
St.  Antonius  (purciduzzu  di  St.  Antonio)  heisst,  und  welcher  fOr 
glückbringend  gehalten  wird,  wenn  er  in  ein  Haus  kommt  Er 
wird  gebeten,  in  das  Haus  zu  kommen,  welches  dann  sofort  ge- 
schlossen wurd  ,  damit  das  Glück  nicht  hinaus  kann.  Ist  das 
Insekt  im  Hause,  so  singt  man: 

„In  Deinem  Munde  Milch  und  Honjgseim, 
Gresundheit  und  Besitz  in  meinem  Heim.*^ 

Der  Schmetterling  war  im  Alterthum  sowohl  ein  phallisches 
Symbol  (und  deshalb  hielt  ihn  Eros  in  der  Hand)  als  auch  ein 
Symbol  der  Trauer  mit  Verheissung  der  Auferstehung  und  Ver- 
wandlung ;  die  Seelen  der  Abgeschiedenen  wurden  als  Schmetter- 
linge dargestellt,  welche  von  einem  Delphin  ins  Elysium  getragen 
werden.    Der  Schmetterling  wurde  auch  oft  auf  den  sieben  Saiten 


'  Oder,  wie  es  in  einer  andern  Version  heisst: 

»,LuccioIa,  lucciola»  bassa,  bassa, 
Ti  dar6  una  materassa,'*  etc. 
(Jobannisw.,  Johannisw.,  herab,  herab,  ich  will  Dir  eine  Matratze  geben.) 
'  Auch  Plinius  schrieb  im  13.  Buch  seiner  Nat.  Bist:  „Lucent^s 
vespere  cincindelas  Signum  esse  maturitatis  pamci  et  milii/*  G.  Telesins 
schrieb  iip  XYII.  Jahrhundert  ein  elegantes  lateinisches  Gedicht  auf  das 
Johanniswürmchen  oder  cicindela. 

'  „'Ntr*  k  to  vucca  latti  e  meli, 
'Ntr'  k  mö  casa  saluti  e  beni.** 


605 

der  Leier  nod  aaf  einer  brenDenden  Fackel  dai^reetellt.    Er  stirbt, 
am  wiedei^boren  zu  werden.    Die  Pbasen  des  Mondes  scheinen 
am  Himmel  den  zoologischen  Verwaodlangen  des  S( 
zu  entsprechen. 

Andere  Käfer  —  der  grtlne  Käfer  and  der  Maik 
sitzen  ebenfalls  in  den  Feenmährchen  ansserordenti 
ItD  Fentamerone  ID,  &  kann  der  Maikäfer  (sc 
Toskanischeo  heiset  er  auch  indovinello)  die  Guit 
rettet  den  Helden  Nardiello,  nnd  bringt  die  Prinzes 
gelacht  hat,  znm  Lachen.  Dasselbe  thnt  bei  Afanas: 
der  grttne  Käfer,  der  den  in  den  Snmpf  gefall« 
reinigt 


m 


KAPITEL  IV. 

1>ie  Biene,  die  Wespe,  die  Fliegre,  die  Mtteke,  der  Mnskito,  die  Bremse 

and  die  Cieade. 

Ich  finde  die  Bienen  in  der  vediseben  lifythologiey  wo  die 
AQvins  y^den  Bienen  den  süssen  Bonig  bringen  ,^ '  wo  die  Bosse 
der  AfvinS;  verglichen  ,^t  ambrosischen  Schwänen,  unschuldig, 
goldene  Schwingen  habend,  welche  mit  der  Dämmerung  erwachen, 
im  Wasser  schwimmen,  und  sich  erfreuen/'  angerufen  werden,  zu 
kommen  „gleich  der  Honigfliege  (d.  h.  der  Biene)  zu  den  Säften/'  ^ 
Die  Götter  Indra,  E^rishi^a  und  Vishnu  wurden  wegen  ihres 
Namens  Mädhava  (d.  h.  aus  madhu  geboren,  dazu  gehörend  oder 
in  Zusammenhang  damit)  in  Indien  auch  mit  Bienen  verglichen; 
die  Biene  als  Honig  machend  und  tragend  (madhukara)  ist  speciell 
der  Mond;  als  ihn  saugend,  ist  sie  besonders  die  Sonne.  Bhra- 
mara  oder  Wanderer,  wie  man  in  Indien  die  Biene  nannte,  ist 
ebenso  auf  die  SoDue,  wie  auf  den  Mond  anwendbar.  Im  M  a  h  ä  - 
bhärata'  beisst  es,  dass  die  Bienen  den  Vemichter  des  Honigs 
(madhuhan)  tödten.  In  dem  Kapitel  über  den  Bären  sahen  wir, 
wie  der  Bär  von  den  Bienen  getödtet  wurde  (vgl.  den  Namen 
Beowulf,  der  als  „Bienenwolf'  erklärt  wird),  und  wie  er  in  Indien 
eine  Personification  Visbnus  war.  Nun  ist  es  nicht  nninteressant 
zu  erfahren,  wie  Madhuhan,  ursprünglich  der  Vemichter  des 
madhu,  ein  Name  Krishnas  oder  Vishnus  im  Mahäbhärata 
und  im  Bh&gavata-P.  wurde;  aus  madhu  (Honig)  wurde  ein 
Dämon  gemacht,  der  von  dem  Gotte  getödtet  wird  (Sonne  und 
Mond,  Sonne  und  Wolke  sind  Nebenbuhler;  der  Sonnenbär  ver- 


'  Madhu  priyam  bharatho  yat  saradbhyal^;  JKigv.  I,  11*2,  21. 

s  HaiisäBO  ye  v&m  madhumanto  asridho  idranyapansiä  ohnva  usharbadha^ 
ndapruto  mandino  mandini8pri90  madhvo  na  makshah  savanftni  gadhatha; 
Bigv.  IV.  45,  4.  Hier  giebt  makeha  in  Verbindung  mit  madhva  den 
Sinn  von  madhumaksha  und  madhumakshika,  was  Biene  bedeutet, 
und  nicht  Fliege,  wie  das  Pet  WB.  angiebt,  dessen  gelehrte  Herausgeber 
SU  dieser  leichten  Correktor  in  den  neuen  „  Verbesserungen^*  umsomehr  ver- 
anlasst sein  dürften,  als  in  diesem  Hymnus,  ebenso  wie  in  dem  I,  112  die 
Bienen  in  Zusammenhang  mit  den  A^vins  betrachtet  werden. 

»  III,  1333. 


507 

sichtet  den  Bienenetook  des  Mondes  und  der  Wolken).  ^  Vishnu 
(als  Hi»i  die  Sonne  und  der  Mond)  wird  bisweilen  als  eine  Biene 
auf  einem  Lotusblatt,  und  K^hna  mit  einer  azurfarbenen  Biene 
auf  seiner  Stirn  dargestellt  Wenn  die  Inder  Honig  aus  einem 
Bieoenstock  nehmen,  so  halten  sie  immer  in  der  einen  Hand  die 
Pflanse  ocymum  nigrum  (engl  toolsy),  welche  dem  K^sh^a  (eigent- 
lich dem  Schwarzen)  heilig  ist,  weil  eine  der  von  Kpshi^a  geliebten 
Mädchen  in  dieselbe  verwandelt  wurde.  ^ 

In  der  „Legende  von  Ibrahim  Ibn  Edhem'^  im  Tuti-Name' 
lesen  wir  von  einer  Biene,  welche  ein  Stttckchen  Brod  vom  Tische 
des  Königs  nimmt  und  einen  blinden  Sperfing  damit  fttttert. 
Mdhaaon  oder  Bienen  waren  die  Namen  der  Nymphen,  welche 
den  Zeus  ernährten;  die  Priesterinnen  der  nährenden  (}öttin  Do- 
rnet^ Messen  ebenfalls  MHujkku. 

Nach  Porphyries^  wurde  auch  der  Mond  (Seifend)  eine  Biene 
(Melissa)  genannt.  Selene  wurde  dargestellt  als  von  zwei  weissen 
Kossen  oder  zwei  Ktthen  gezogen ;  das  Horn  dieser  Kttbe  scheint 
dem  Stachel  der  Biene  lu  entsprechen.  Die  Seelen  der  Todten 
kommen,  dem  Aberglauben  nach,  in  Gestalt  von  Bienen  von  dem 
Monde  auf  die  Erde  herab.  Porphyrios  fügt  hinzu,  dass,  da  der 
Mond  der  Gipfelpunkt  des  Sternbildes  des  Stieres  sei  (als  selbst 
ein  Stier),  Bienen  für  in  dem  Cadaver  des  Stieres  geboren  ge- 
halten wtlrden.  Daher  der  Beiname  ßovyevelg,  den  die  Alten 
den  Bienen  geben.  Nachdem  Dionysos  in  Gestalt  eines  Stieres 
zerrissen  worden  war,  wurde  er  nach  denen,  welche  in  die  Diony- 
sischen Mysterien  eingeweiht  waren,  in  Gestalt  einer  Biene  wieder- 
geboren ;  daher  der  Name  Bovyeyi^  auch  dem  Dionysos  selbst  nach 
Plutarch  gegeben  wurde.  Dreihundert  goldene  Bienen  wurden  in 
Verbindung  mit  einem  Stierkopf  auf  dem  Grabmal  Childerich's, 
des  Frankenkönigs,  dargestellt     Bisweilen  finden  wir  statt  des 


'  Der  DonaergoU  (Indra)  in  GegensaU  su  den  Bienen  findet  sich  auch 
in  einer  von  Menzel  angeführten  Legende  der  Tsoberkessen.  Der  Gotl; 
vernichtet  sie;  doch  eine  von  ihnen  verbirgt  sich  unter  dem  Hemde  der 
Mutter  Gottes,  und  von  dieser  einen  stammen  aUe  anderen  Bienen  ab.  —  Nach 
dem  Volksglauben  der  Normandie  (bei  Menzel)  sind  die  Bienen  (dasselbe 
gilt  von  den  Wespen  und  Bremsen)  rachsüchtig,  wenn  man  sie  schlecht 
behandelt,  bringen  aber,  gut  gepflegt,  Glück  ins  Haus.  In  Bussland  wird 
es  für  einen  grossen  Frevel  gehalten,  eine  Biene  »u  todten* 

*  Vgl.  Addison,  Indian  Reminiscences. 

»  II,  p.  112  ff. 


50g 

Imiareii  Stieres  den  Sonnenlöwen ;  and  der  Löwe  in  Verbindung 
mit  Bienen  kam  in  den  Mysterien  Mithras  (und  in  der  Simson- 
Sage)  vor. 

Naeh  der  finnisehen  Mythologie  von  Tomasson  ^  wird  die 
Biene  gebeten:  ^^Biene^  Du  Weltvöglein,  flieg  in  die  Weite,  über 
neun  Seen,  Über  den  Mond,  über  die  Sonne^  hinter  des  Himmels 
Sterne,  neben  der  Achse  des  Wagengestims;  flieg  in  den  Keller 
des  Schöpfers,  in  des  Allmächtigen  Vorrathskammer,  bring  Arznei 
mit  Deinen  Flügeln,  Honig  in  Deinem  Schnabel,  fUr  böse  Eisen- 
wunden und  Feuerwunden/' 

Nach  einem  Volksglauben,  welcher  mit  der  tscherkessischen 
Legende  im  Einklang  steht,  stammen  die  Bienen  allein  von  allen 
Thieren  aus  dem  Paradiese  ab.*  Auch  Vergil  preist  in)  vierten 
Buche  der  Oeorgica  die  göttliche  Natur  der  Biene,  welche  ein 
Theil  des  Geistes  Oottes  ist,  niemals  stirbt,  und  allein  unter  allen 
Thieren  lebendig  in  den  Himmel  steigt  ^in  der  griechischen,  . 
römischen  und  deutschen  Volksage  personificirt  die  Biene  die 
Seele,  und  da  diese  als  unsterblich  betrachtet  wird,  so  entrinnt 
auch  die  Biene  dem  Tode):  — - 

„Esse  apibos  partem  divinae  mentis  et  haustus 
Aethereos  dixere:  Deum  namque  ire  per  omueb 
Terrasque  tractusqae  maris  coelumque  profiindum. 
Hiuc  pecudcs,  armenta)  viros,  genus  omne  ferarow, 
Quemque  sibi  tenues  nascentem  arcessere  vitas;  , 
Scilicet  hue  reddi  deinde  ac  resoluia  referri 
Omnia;  nee  morti  esse  locum;  sed  viva  volare 
Sideris  in  numerum  atque  alto  succedere  coelo.*' 


'  Bei  Menzel,  Die  vorchristliche  Unsterblichkeitslehre.  In 
diesem  Werke,  auf  das  ich  den  Leser  aufmerksam  mache,  behandelt  Men- 
zel die  Verehrung  der  Biene  und  des  Ilonigs  sehr  ausführlich. 

*  Auch  im  Engadin  glaubt  man,  dass  die  Seelen  der  Menschen  in 
Gestalt  von  Bienen  die  Welt  verlassen  und  wieder  in  dieselbe  zurück- 
kehren. Die  Bienen  werden  dort  als  Boten  des  Todes  betrachtet;  vgl. 
Rochholz,  Deutscher  Glaube  und  Brauch,  I,  147  f.  —  Wenn  Je- 
mand stirbt,  wird  die  Biene  folgendermassen  angerufen: 

„Bienchen,  unser  Herr  ist  todt, 

Verlass  mich  nicht  in  meiner  Noth." 
In  Deutschland  kauft  mau  nicht  gern  die  Bienen  eines  Verstorbenen,  da 
man  glaubt^  sie  sterben  oder  verschwinden  unmittelbar  nach  ihm :  —  „Stirbt 
der  Hausherr ,  so  muss  sein  Tod  nicht  bloss  dem  Vieh  im  Stall  und  den 
Bienen  im  Stocke  angesagt .  werden  ;*'  Simrock,  a.  a.  0.  p.  601.  —  Im 
Orient  war  es  Brauch,  grosse  Männer  in  einer  Gruft  zu  bestatten,  welche 
mit  Honig  oder  Bienenwadhs  als  Symbol  der  Unsterblichkeit  besprengt  war. 


609 

Das  Wachs  der  Bienen  mnss,  weil  es  das  Licht  der  Kerz^ 
nährt,  und  überdies  in  Kirchen  gebraucht  wird;  >  ebenfalls  mit 
zur  Vergrössemng  des  göttlichen  Ansehens  der  Bienen  und  zu 
dem  Glauben  an  ihre  Unsterblichkeit  beigetragen  haben.  Nach 
einem  Schriftstück  aus  dem  Jahre  1482  (bei  Du  Gange)  wurde 
die  heilige  Krankheit  oder  ^ignis  sacer'^  (eine  pestartige  Rose) 
durch  in  Wasser  aufgelöstes  Wachs  geheilt 

Der  Bienenstock  nimmt  an  der  göttlichen  Natur  der  Bienen 
Theil  und  lenkt  meine  Aufmerksamkeit  auf  die  madhumati  ka^a 
oder  madhoh  kagä  des  Kigveda  und  des  Atharvaveda, 
welche  den  A^vins  zugeschrieben  wird  und  bestimmt  ist,  die 
Opferbutter  zu  zerlassen,  die  eine  ähnliche  Natur  hat,  wie  der 
caduceus  Mercurs  und  die  Zauberruthe,  welche  aus  allen  Ter- 
schiedenen  Elementen  und  doch  aus  keinem  im  Besonderen  besteht, 
die  Tochter  des  Windes,  und  bisweilen  vielleicht  der  Wind  selbst ; 
die  an  im  a,  die  Seele  (die  Biene),  ist  ein  Atbem,  ein  Lüftchen, 
ein  Windhauch  {ävs^wg,  anila),  der  seinen  Ort  ändert,  aber  nie 
vergeht;  sie  sammelt  und  zerstreut  Honig  und  Wohlgerüche,  und 
—  fort  ist  sie,  veränderlich  wie  der  amerikanische  Fliegenvogel, 
der  Honig  saugt,  und  dessen  beständiges  Flügelschlägen  dem 
Summen  einer  Biene  gleicht  Bei  Du  Gange  ^  finde  ich  eine  Rede 
an  die  Mutter  der  Bienen,  welche  folgendermassen  lautet:  „Ad- 
jure te,  Mater  aviornra  per  Deum  regem  coelorum  et  per  illum 
Redemptorem  Filium  Dei  te  adjuro,  ut  non  te  altum  levare,  nee 
longo  volare,  sed  quam  plus  cito  potest  ad  arborem  venire;  ibi 
te  allocas  cum  omni  tuo  genere,  vel  cum  socia  tua,  ibi  habeo 
bona  vasa  parata,  nt  vos  ibi,  in  Dei  nomine,  laboretis,^'  etc. 

Bei  Afanassieff  V,  22  verwandelt  sich  eine  Biene  in 
einen  jungen  Helden,  um  dem  alten  Manne  zu  beweisen,  dass 
er  im  Stande  ist,  seinen  Sohn  zurückzuholen,  der  drei  Jahre 
beim  Teufel  in  der  Lehre  gewesen  ist  (der  Mond  setzt  die  alte 
Sonne  in  Stand,  die  junge  zu  finden;  er  hilft  der  Sonne  den 
Teufel  betrügen).  In  demselben  Märchen  setzt  sich  die  Schutzfee 
in  Oestalt  einer  Mücke  auf  den  jungen  Helden,  den  sein  Vater 
aus  zwölf  Helden,  welche  miteinander  die  grösste  Aehnlichkeit 


^  Der  Adel  der  Bienen  ist  vom  Paradies  entsprossen  und  wegen  der 
Sünde  des  Menschen  kamen  sie  von  da  heraus  und  Gott  schenkte  ihnen 
seinen  Segen,  und  deshalb  ist  die  Messe  nicht  zu  singen  ohne  Wachs; 
Leo,  Malberg.  Glossae. 

*£aluz.  Capitulor.  torn.  IL  p.  663,  in  oratione  ad  revocandum 
ezamen  apum  dispersum  ex  Cod.  Bis.  S.  Galli. 


510 

haben,  herauserkennen  soll.  V;  48  seiclinet  die  Mttcke  unter 
den  zwölf  einander  auBserordentlich  äbnliehen  Mädchen  die  Eine 
ans,  welche  der  junge  Held  liebt,  d.  h.  die  Tochter  des  Priesters, 
deren  sich  der  Teufel  bemächtigt  hatte,  weil  ihr  Vater  einst  ra 
ihr  gesagt  hatte:  „Der  Teufel  hol*  Dich!"»  Diese  charaktmati- 
scbe  Mttcke  rerrichtet  das  Amt  der  Fee  Mond,  d.  h.  der  Führerin 
und  Botin  des  Helden.  Wir  sahen  sehen  den  Mond  als  Gast- 
wirthin. Bei  Afanassieff  IV,  31  haben  wir  die  Fliege,  welche 
in  ihrem  Palast  (nach  in,  16  ein  Pferdekopf)  die  Laus,  den  Floh, 
den  Muskito,  das  Mäuschen,  die  Eidechse,  den  Fuchs,  den  Hasen 
und  den  Wolf  aufnimmt  und  bewirtiiet,  bis  der  Bär  dasukommt, 
und  mit  einer  Tatze  den  ganzen  Fltegenpalast  sammt  allen  den 
nächtlichen  Thieren,  die  er  enthält,  zertritt.  Wir  sahen  auch  den 
Helden,  der  seinen  Stier  fttr  eine  Pflanae  verhandelt,  die  ihm 
Glttck  bringt,  und  die  Biene,  die  aus  dem  todten  Stier  geboren 
wird.  Bei  Afanassieff  m,  7  sammelt  dagegen  der  fttr  när- 
risch gehaltene  dritte  Bruder  Fliegen  und  Muskitos  in  zwei 
Säcken,  die  er  an  eine  Eiche  hängt,  wo  er  fir  dieselben  gutes 
Rindyieh  einhandelt 

Wir  wissen,  dass  der  Mond  als  der  Richter  der  Abgeschiedenen 
im  Reiche  des  Todes  und  als  tine  allwissende  Fee  dargestellt 
wurde.  Die  emsigen  Bienen  haben  den  besonderen  Ruf  höherer 
Intelligenz.^  Bei  Phaedrus  III,  13  giebt  die  Wespe  Beweise 
derselben  Weisheit;  sie  sitzt  auf  ttom  Ricbterstuhl  als  gewissen- 
hafter Richter  zwischen  den  Prohnen  und  den  Arbeitsbienen,  die 
um  den  Honig  streiten,  welchen  die  Bienen  gesammelt  und  auf 
einer  hohen  Eiche  aufgespeichert  haben,  den  jedoek  auch  die 
Drohnen  beansprudien. 

'  Diese  Episode,  welcHe  in  sahlreichen  Feenmälirchen,  in  dem  reizenden  ^ 

indischen  Gedichte  von  Nala  und  in  einer  sehr  charakteristischen  Poesie 
des  Grafen  Alexis  Tolstoi  wiederkehrt,  knüpft  sich  an  einen  indogermani- 
sehen  Yolksbrauch,  Ton  dem  sich,  besonders  m  Italien  «nd  in  Bnssland, 
nock  Sparen  finden:  nämlich  die  Vertanschang  der  Ehegatten.  Zoweilen 
muss  der  Mann  die  verkleidete  Frau  wiedererkennen,  oder  die  falsche,  die 
ihm  statt  der  rechten  dargestellt  wird,  zurückweisen;  bisweilen  ist  es  die 
Gattin,  welche  einer  solchen  Probe  unterworfen  wird.  Wenn  die  Ehegatten 
prädestinirt  sind,  wenn  ihre  Ehe  „im  Himmel  geschlossen*^  ist,  so  müssen 
sie  sich  wiedererkennen;  tgl.  hierüber  noch  meine  Storik  eomparata 
degli  usi  nuziali  indoeuropaei,  Milan  1869. 

*  Bei  l>u  Gange:  „Apis  significat  formam  virginitatis,  site  sapien- 
tiam,  in  malo,  invasorem.^  Papias  M.  S.  Bitur.  ex  illo  forsan  officii 
Ecdesiait  in  feste  S.  Cedliae:  „Cedlia  fmmula  tua,  Domine,  qnasi  Apis 
tibi  argumentosa  deservit,**  d^. 


i 


tu 

Die  Fli^e,  die  Mlloke  und  der  Mcmkito  sind  ewar  klein, 
quälen  aber  die  schreeklichsten  Tbiere,  and  führen  sogar  bisweilen 
deren  Tod  herbei;  der  Käfer  kriecht  auf  den  Atiler,  nm  dem 
Hasen  en  entgehen ;  der  Hase  lockt  den  Elepbanten  und  den  Löwen 
in  das  Wasser ;  ^  der  Mond  lockt  die  Sonne  in  die  Nacht  und 
den  Winter;  der  Mond  überwältigt  die  Sonne;  die  Sonne  wird 
der  Strahlen  beraubt,  der  Held  veriiert  seine  Haare,  und  damit 
seine  Kräfte;  die  Fliege  fällt  ttber  den  kahlen  Kopf  des  Greises 
her  und  quält  ihn  in  jeglicher  Weise;  der  Alte  will  die  Fliege 
schilpen,  trifift  aber  nur  sich  selbst  Bei  Phaedrus  wiederum 
finden  wir  die  Fli^e  in  Streit  mit  der  landbauenden  Ameise; 
die  Fliege  prahlt,  sie  nehme  an  den  Graben,  die  man  den  Göttern 
darbringe,  Theil,  rit  wohne  zwischen  Altären,  fliege  durch  jeden 
Tempel,  sitze  auf  den  Hänptem  von  Königen,  geniesse  die  Küsse 
schöner  Frauen,  und  das  Alles,  ohne  irgend  welche  Arbeit  zu 
tfann.  Die  Ameise  antwortet  der  Fliege,  indem  sie  sie  auf  das 
Nahen  des  Winters  verweist,  für  welchen  die  Ameise,  die  schwer 
gearbeitet  hat,  Vorrath  in  Menge  besitzt,  während  die  Fliege  vor 
Kälte  und  Hunger  umkommt  Femer  sagt  die  Ameise  zur  ihr  in 
einem  charakteristischen  Verse: 

„Aestate  me  lacessis;  cum  bruma  est,  siles." 

Derselbe  Streit  wird  mit  mehr  Wahrscheinlichkeit  von  andern 
Fabeldichtem  der  lärmenden  und  faulen  Gicade  und  der  schweig- 
samen und  fleissigen  Ameise  zugeschrieben. 

Im  vorigen  Kapitel  sahen  wir  den  musikalischen  Käfer.   Wir 


^  Vgl.  die  Kapp,  über  den  Hasen,  den  Löwen  und  den  Elephant en. 
Die  Laos  und  der  Floh  haben  dieselbe  mythische  Natur  wie  der  Muskito 
und  die  Fliege.  —  In  dem  nennten  ehstnischen  Mährchen  bringt  der 
„Donnersohn'*  vermittelst  einer  Laus,  die  er  dem  Papa  Donnergott  zum 
Kitzeln  auf  cGe  Nase  setzte  diesen  dazu,  dass  er  die  Hand,  um  seine  Nase 
zu  kratzen,  von  dem  Donnerwerkzeug  fortnimmt,  das  der  Donnersohn 
packt  und  sofort  in  die  Holle  trägt.  Die  Läuse ,  welche  von  dem  Kopfe 
der  von  dem  guten  Mädchen  gekämmten  Hexe,  oder  von  dem  der  von  dem 
bösen  Mädchen  gekämmten  Madonna  fallen»  sind  schon  erwähnt  worden. 
Die  Madonna,  welche  das  Band  kämmt,  ist  auch  ein  Gegenstand  der  christ- 
lichen Sagenmalerei.  —  Im  Pentamerone  I,  5  lesen  wir  von  einem  Laus- 
Ungeheuer.  Der  König  von  Altamonte  mästet  eine  Laus  so  lange,  bis  sie 
so  gross  wie  ein  Widder  ist;  darauf  lässt  er  ihr  das  Fell  abziehn,  lässt  es 
beschmutzen,  und  verspricht  dem  seine  Tochter  zur  Frau  zu  geben,  der 
erraihen  würde,  was  das  für  ein  Fell  ist.  Der  Ogre  allein  erräth  es  und 
schleppt  das  Mädchen  fort,  welches  später  sieben  Helden  befreien,  „subito 
che  TAucielle  (die  Vögel)  gridaro:  Viva  lo  Sole.'' 


&12 

sind  versucht;  uns  die  Biene  als  musikalisch  zu  denken,  weil 
ihre  Gestalt  sehr  häufig  den  griechischen  Musen  und  Apollo  bei- 
gelegt, und  d^r  Name  ^^Biene  von  Delphi''  der  pythischen  Seherin 
(als  einer  Wolke)  gegeben  wurde.  Doch  nach  Plato  yerwandelten 
die  Musen  die  Menschen;  welche  so  in  das  Singen  vertieft  waren, 
dass  sie  darüber  Essen  und  Trinken  vergassen,  in  Cicaden.  Wenn 
dieser  Mythus  nicht  eine  satirische  Erfindung  Piatos  gegen  die 
Dichter  ist,  so  gehören  die  Bienen  als  Musen,  und  die,  welche 
durch  die  Musen  Cicaden  wurden,  in  dieselbe  mythische  Familie. 
Nach  Isidorus  entstehen  die  Cicaden  aus  dem  Speichel  des  Euckuks ; 
dieser  Glaube  drückt  figürlich  den  Uebergang  vom  Frühling  in 
die  Sommerzeit,  in  die  Herbstzeit,  die  Zeit  der  Fülle  aus.  (Nach 
Hesychius  wurde  der  Esel  in  Cypern  f^tri^  TtQwtvog,  cicada  ma- 
tura,  genannt;  die  Cicade  (als  die  Sonne)  stirbt,  und  der  Esel 
(als  Nacht  oder  Winter)  erscheint.  •  Nach  Manuel  Philes  ^  nähren 
sich  die  Cicaden  von  dem  östlichen  Thau;  vielleicht  ist  das  eine 
Beminiscenz  an  den  griechischen  Mythus,  welcher  die  Sonne 
Titbon  zum  Liebhaber  der  Aurora  macht  Die  Sonne  nährt  sich 
von  der  Ambrosia  und  ist  deshalb  unsterblich ;  sie  besitzt  jedoch 
nicht  die  Gabe  ewiger  Jugend ,  ihre  Glieder  vertrocknen ;  nachdem" 
sie  den  ganzen  lärmenden  Tag,  den  arbeitsreichen  Sommer  hin- 
durch gesungen,  stirbt  sie ;  aus  diesem  Grunde  stellte  der  griechische 
Mythus  den  alten  Tithon  als  in  eine  Cicade  verwandelt  dar.  ^  Die 
Cicade  wird  im  Frühling  aus  dem  Speichel  des  Euckuks  wieder- 
geboren, und  am  Morgen  aus  dem  Thau  der  Aurora ;  die  beiden  Be- 
richte entsprechen  einander.  Die  Cicade  des  Sommers  erscheint,  und 
der  Euckuk  des  Frühlings  verschwindet;  daher  der  Volksglaube, 
dass  die  Cicaden  mit  dem  Kuckuk  Krieg  bis  aufs  Aeusserste 
führen,  indem  sie  ihn  unter  seinen  Flügeln  angreifen ;  daher  glaubt 
man,  dass  der  Kuckuk  seine  eigene  Amme  verschlingt ;  die  Aurora 
verschlingt  die  Nacht;  der  Frühling  verschlingt  den  Winter. 

*  Ile^l  tfiaofp  iS^avrirog,  XXIV,  mit  den  BemerkangeD  des  Joachim  Ca- 
merarius. 

*  Plutarch  führt  in  der  Vita  Sullae  unter  den  Vorzeichen  des 
Bürgerkrieges  zwischen  Marius  und  Sulla  auch  das  an,  dass  ein  Sperling 
eine  Cicade  zerriss,  von  welcher  er  einen  Iheil  im  Tempel  der  Bellona 
Hess,  während  er  den  anderen  davontrug. 


513 


KAPITEL  V. 

Ber  Kueknk,  der  IteilMr,  ta»  Httselbubn,  das  Rebhuhn,  die  Nacbtlgall, 
die  Sehwaibe,  der  Hperlinir  und  der  Wiedehopf* 

Der  kokila  oder  indische  Kuckak  ist  für  den  indischen 
Dichter^  was  die  Nachtigall  flir  den  persischen  nnd  die  der  anderen 
indogermanischen  Nationen  ist  Sein  Gesang  wird  mit  den  aus- 
gesuchtesten  £pitheten  belegt;  eines  der  häufigsten  ist:  hridaya- 
grahin^  herzraubend.  Koka,  ein  Synonym  von  kokila,  kommt 
schon  in  einem  yedischen  Hymnus  vor.  >  Der  indische  Commen- 
tator erklärt  es  durch:  dakraväka,  was  so  viel  als  ^^Reiher^' 
sein  mus%  obwohl  es  die  WW.  durch  ^^anas  casarca''  wieder- 
geben. Bigv.  l,  42  und  43  kommt  ein  Vogel  vor,  der  sowohl 
an  der  Natur  des  Euckuks  wie  der  des  Reihers  oder  des  Brach- 
vogels theilhat.  A.  a.  0.  ,,lässt  der  Vogel,  schreiend,  voraus- 
sagend, was  kommen  wird,  seine  Stimme  fahren,  wie  der  Boots- 
mannn  sein  Boot;''  er  wird  angerufen,  „dass  er  von  gutem  Vor- 
zeichen sei'',  dass  „der  Falke  ihn  nicht  trefife,  noch  der  Oeier, 
noch  der  Bogenschütze  ihn  trefife  mit  Pfeilen,"  „dass  er  gegen  die 
unheilvollen  westlichen  Regionen  hin  rufe  und  segensreiche,  glttck- 
bedeutende  Worte  spreche,  dass  er  der  östlichen  Seite  des  Hauses 
zurufe  mit  segenverheissenden  Worten."  ^  In  diesem  prophetischen 
Vogel,  welcher  von  der.  B^ihaddevatä  als  kapin^ida  erklärt 
.  wird,  sieht  das  Pet  WB.  das  Haselhuhn,  welches  auch  durch  tit- 
tiri  (Rebhuhn)  gegeben  wird.  Eine  brahmanische  Sage  verwandelt 
die  Schtller  Vai^ampayanas  in  Rebhühner,  die  auf  die  Vedas  des 
Tä^avalkya  loshacken.  Die  Schtller  des  Vai^ampayana  sind 
die  Compilatoren  des  Taittiriya-Veda,  oder  Rebhuhn-Veda, 
oder  auch  schwarzen  Veda.  Die  Vedas  vertreten  in  der  orien- 
talischen Sage  Usweilen  die  Stelle  des  verzauberten  Ringes.  In 
der  westlichen  Sage  wird  der  Teufel  oder  das  schwarze  Unge- 


«  Rigv.  vn,  104,  22. 

*  Kanikrada^  ^anusham  prabruvfina  iyarti  yft<Sam  ariteva  nftvam  su- 
mangala^  da  9akiiiie  bbavftsi  mft  tvä  kft  did  abbibbft  Yi^vyäyidat.  Ma  tvä 
9yena  ud  vadhin  raa  supamo  mH  tv&  vidad  ishumftii  viro  astft;  pitryämanu 
pradi^m  kanikradat  sumangalo  bhadr&?adi  vadeha.  Ava  kranda  dakshi- 
nato  girihfinto  ramaSgalo  bbadravftdi  ^akunte;  9ig^*  H»  ^*^- 

Gubeniatis,  die  TUcre.  33 


l 


heuer  ein  Hahn,  um  die  Perle  oder  den  Ring  des  jungen  Helden 
aufzupicken.  In  den  Schriften  des  Hieronymus  und  des  Augustinus 
lesen  wir  aucb^  dass  der  Teufel  oft;  die  Gestalt  eines  Rebhuhnes 
annimmt.  ^  Das  4ndische  tittiri  erscheint  wieder  in  dem  russischen 
tieteriev  (Haselhuhn).  In  einem  Mährchen  bei  Afanassieff  II 
giebt  der  Pfau  einem  Bauer  ein  goldenes  Haselhuhn  für  ein  Ge- 
richt kiss61;  das  aus  einem  Haferkom  gemacht  ist,  welches  in 
einem  Düngerhaufen  gefunden  wurde  (eine  Variation  der  bekannten 
Fabel  von  dem  Hühnchen  und  der  Perle).  Das  Haselhuhn  findet 
das  Korn.  Bei  AfanassiefiT  V  sitzt  ein  Haselhuhn  auf  dem  Eich- 
baum, vermittelst  dessen  der  Bauer-Held  in  den  Himmel  kommen 
soll;  es  fallt  herab,  von  der  Kugel  einer  Flinte  getrofieU;  die  von 
selbst  losgegangen  ist,  weil  ein  aus  dem  Baum  hervorbrechender 
Funke  auf  das  Pulver  gefallen  ist  und  die  Ladung  hat  explodiren 
machen.  Das  Rebhuhn  und  der  Bauer  kommen  in  Volkssagen 
oft  in  Verbindung  mit  einander  vor.  Die  Schuhe,  welche  der 
Bauer  fUr  Rebhühner  nimmt,  sind  sprichwörtlich.  Odoricus  Foro- 
juliensis  spricht  in  seinem  Itinerarium  von  einem  Mann  in 
Trapezunt,  welchen  viertausend  Rebhühner  begleiten;  ging  er 
umher,  so  flogen  die  Rebhühner  über  ihm  in  der  Luft;  ging  er 
schlafen,  so  kamen  auch  die  Rebhühner  herab.  Nach  dem 
Ornithologus  ritten  die  Zwerge,  in  dem  Kriege  gegen  die 
Kraniche,  auf  Rebhühnern.  Ein  aussergewöhnlicher  Grad  von 
Intelligenz  und  prophetischer  ELraft  wird  diesen  Vögeln  zuge- 
schrieben. Aldrovandi  versichert  in  seiner  Ornithologia,  dass 
zahme  Rebhühner  laut  schreien,  wenn  Gift  im  Hause  bereitet 
wird.  Das  Rebhuhn  hiess  im  Alterthum  auch  daedal a,  sowohl 
wegen  seiner  Intelligenz  als  wegen  der  Fabel,  nach  welcher  Talos, 
der  Neffe  des  Daedalus,  der  Erfinder  der  Säge,  von  seinem  Oheim 
und  Meister  von  der  Burg  zu  Athen  herabgestürzt  und  von  den 
mitleidigen  Gittern  in  ein  Rebhuhn  verwandelt  wurde. 

Doch  um  auf  unseren  Ausgangspunkt  zurückzukommen,  d.  h. 
auf  den  indischen  kapiugala,  so  müssen  wir  bemerken,  dass  Prof. 
Kuhn  ^  in  ihm  viel  mehr  den  Kuckuk  als  das  Haselhuhn  sieht. 
Eine  Legende  der  Brihaddevatä  belehrt  uns,  dass  Indra,  be- 


*  St.  Antonius  von  Padua  sagte  von  dem  Rebhuhn:  „Avis  est  dolosa 
et  immunda  et  hypoeritas  habentes,  ut  dicit  Petrus,  oculos  plenos  adulterii 
et  incessabilis  delicti  signa.**  —  nS^dsMoe  novs^  Rebhuhn-Fuss,  bedeutet  im 
griechischen  Sprichwort  einen  betrügerischen  Fuss. 

*  Indische  Studien,  I,  117.  118. 


&15 

I  ft  « 

l^erig^  bestingen  zu  werden  ^  ein  kapin^a  wurde  und  sich  zur 
Rechten  des  weisen  Mannes  setzte,  der  durch  das  Verdienst 
seiner  Lobgesänge  in  den  Himmel  erhoben  werden  wollte;  der 
Weise  erkannte  mit  dem  Ange  des  Sehers  in  dem  Vogel  den 
Qott  und  sang  als  Lobpsalmen  die  beiden  vedischen  Hymnen,  deren 
einer  mit  dem  Worte  stntim  beginnt^  Der  Gtott  Indra  findet 
sich  wieder  in  Qestalt  eines  Enckuks,  kokila,  im  Kämäyana,^ 
wo  er  die  Nymphe  Rambhä  sendet,  den  ascetischen  Vifv&mitra 
zu  verfuhren;  um  ihre  Anziehungskraft  noch  zu  vergrössem, 
setzt  er  sich  in  Oestalt  eines  lieblich  singenden  Kuckuks  neben 
sie.  Doch  ViQvämitra  durchschaut  mit  dem  Auge  des  strengen 
Bttssers,  dass  das  eine  Versuchung  Indras  ist,  und  der  Nymphe 
fluchend,  verdammt  er  sie,  ein  Stein  im  Walde  zu  werden  und 
zehntausend  Jahre  lang  zu  bleiben. 

Theil  I,  Kap.  I  sahen  wir  schon  den  Euckuk  in  Verbindung 
mit  dem  donnernden  Zeus  und  als  den  indiscreten  Beobachter 
himmlischer  Liebesverhältnisse  und  als  Agenten  in  denselben. 
Im  Tuti-Name'  haben  wir  statt  des  Kuckuks  die  Nachtigall 
Diese  lacht  über  den  betrogenen  Vezir.  Der  König  will  wissen, 
worüber  sie  lacht,  und  Oulfischän  klärt  ihm  das  Räthsel  auf,  nicht 
sowohl  weil  er  im  Stande  ist,  die  Sprache  der  Vögel  zu  ver- 
stehen, als  vielmehr,  weil  er  von  dem  Gefängniss  aus,  in  das  er 
gesteckt  worden  war,  die  geheime  Liebe  der  falschen  Vezirslrau 
mit  dem  Oberelephantenflihrer  beobachtet  hat 

In  dem  griechischen  Mythus  von  Tereus  finden  wir  mehre 
der  bisher  genannten  Vögel  vereinigt,  dazu  noch  die  Schwalbe; 
der  Fasan  ninunt  die  Stelle  des  Rebhuhnes  ein,  und  der  Wiede- 
hopf die  des  Kuckuks.  Itys,  den  sein  Vater  Tereus,  ohne  es  zu 
wissen,  gegessen  hat,  wird  ein  Fasan;  Tereus,  der  die  Procne 
verfolgt,  wird  ein  Wiedehopf;  Procne,  die  vor  ihm  flieht,  wird  in 
eine  Schwalbe  verwandelt;  Philomela,  die  Schwester  Procnes,  der 
von  Zeus  die  Zunge  ausgeschnitten  war,  um  sie  am  Sprechen  zu 
hindern,  nahm  die  Oestalt  einer  Nachtigall  an ;  daher  sagt  Martial : 

„Flet  Philomela  nefas  incesti  Tereos,  et  quae 
Mota  puella  fdit,  garmla  fertur  avis/' 


'  Stotim  tu  panar  ev^hanam  indro  bhütrft  kapu&^al)^ 
Risher  gigamishor  ft^ftm  vaTä^e  prati  dakshinftm 
Sa  tarn  Arahena  samprekshya  (kduhushft  pakshirüpinam 
Par&bhytai  api  tushttva  sdkt&bhyftm  tu  kanikradat. 
«  I,  66. 
»  U,  p.  74  ff. 

d9» 


516 

Bezüglich  des  Wiedehopfes  sind  mehre  VorsteUangen  im 
Umlauf;  welche  denen  von  dem  Euckuk  und  der  Schwalbe  ent- 
sprechen. In  einigen  Gegenden  Italiens  heisst  er  das  Märzhähn- 
chen oder  das  Maihähncheu;  weil  er  in  diesen  Monaten  erscheint 
Er  kündigt  den  Frühling  an.  Die  Alten  sahen  seinen  Gesang 
vor  der  Reife  des  Weines  als  ein  Vorzeichen  einer  reichlichen 
und  guten  Weinernte  an.  Er  besitzt  die  Fähigkeit^  Geheimnisse 
zu  erratben;  wenn  er  schreit,  so  kündigt  er  an^  dass  Füchse  im 
Gras  verborgen  sind ;  klagt  er  seufzend ,  so  bedeutet  das  Regen ; 
vermittelst  eines  gewissen  Krautes  erschliesst  er  geheime  Plätze.  ^ 
Nach  Gardanus  siebt  der,  der  seine  Schläfen  mit  Wiedehopf blut 
bestreicht,  wunderbare  Dinge  im  Traume.  Albertus  Magnus  sagt 
uns,  dass  wenn  ein  alter  Wiedehopf  blind  wird,  seine  Jungen 
seine  Augen  mit  dem  Kraut;  das  verschlossene  Plätze  öfifnet,  be- 
streichen, und  dass  er  wieder  sehend  wird.  Es  stimmt  das  voll- 
ständig zu  einem  indischen  Mährchen  (einer  Variation  der  Lear- 
sage);  welches  Aelian  erzählt,  und  nach  welchem  ein  König  von 
Indien  mehre  Söhne  hatte;  der  jüngste  wurde  von  den  anderen 
schlecht  behandelt,  die  schliesslich  auch  ihren  Vater  misshandelten 
und  vertrieben.  Der  jüngst«  Bruder  allein  blieb  seinen  Eltern 
treu  und  folgte  ihnen;  doch  während  sie  auf  der  Flucht  waren, 
starben  sie  vor  Müdigkeit;  der  Sohn  öffnete  mit  seinem  Schwerte 
sein  eigenes  Haupt  und  begrub  darin  seine  Eltern;  die  Sonne, 
von  diesem  Anblick  gerührt,  verwandelte  den  Jüngling  in  einen 
schönen  Vogel  mit  einem  Kamm.  Doch  kann  dieser  Vogel  mit 
dem  Kamm  statt  des  Wiedehopfes  auch  die  Lerche  sein,  von 
welcher  die  Griechen  eine  ähnliche  Sage  hatten. 

Der  Kuckuk  ist  der  Vogel  des  Frühlings ;  sobald  er  erscheint, 
lassen  sich  die  ersten  Donnerschläge,  die  Verkünder  der  heissen 
Jahreszeit,  im  Himmel  hören.  Nach  Isidor  ist  es  der  Habicht,  der  den 
faulen  Kuckuk  aus  fernen  Gegenden  bringt.  Zur  Zeit  des  Plinius 
glaubte  man,  der  Kuckuk  werde  von  dem  Falken  geboren,  und  Alber- 
tus Magnus  versichert:  „Cuculus  quidam  componitur  ex  Columba  et 
Niso  sive  Sparverio;  alius  ex  Columba  et  Asture,  mores  enim  habet 
ex  utroque  composites.'^  Es  kann,  zoologisch  gesprochen,  nichts 
Verkehrteres  geben ;  doch  sofern  der  Blitz  den  Donner  trägt,  kann 
der  mythische  Falke  sehr  wohl  den  Kuckuk  tragen,  resp.  ihn  hervor- 
bringen. Femer  sind  die  Gewohnheiten  des  Kuckuks  sehr  sonder- 
bar, und  haben  nichts  mit  denen  des  Falken  und  der  Taube,  oder 

1  Vgl.  das  Kap.  über  den  Specht. 


517 

eines  anderm  Thieres  gemein.  Eb  ist  bekannt;  dass  sich  unter 
den  indischen  Namen  des  Kncknks  auch  die :  anyapashta  und 
anyabhrita  finden,  welche  bedeuten :  ^^von  einem  Anderen  genährt'^ 
(die  Krähe  heisst  anyabhrit  oder  Ernährer  Anderer,  weil  sie  die 
Eier  des  Kuckuks  pflegt,  welche  dieser  übrigens  in  die  Nester 
viel  kleinerer  Vögßl  legt).  Aus  dieser  sonderbaren  Gewohnheit 
des  Kuckuks  schloss  man  natürlich,  dass  sich  der  männliche 
Kuckuk  mit  dem  Weibchen  des  fremden  Vogels,  dem  er  später 
die  Eier  anvertraute,  begattete,  so  dass  diese  Eier  Bastardeier 
des  Weibchens,  das  sie  ausbrütet,  wären.  Wir  sahen  vorhin 
Indra  als  Kuckuk  und  als  Verführer;  Indra  als  Ehebrecher  ist 
auch  populär  in  der  Sage  von  Ahalyä,  in  welcher  der  Hahn  als 
der  indiscrete  Verräther  der  geheimen  Liebe  Indra's  erscheint. 
In  einem  Volksliede  aus  der  Bretagne  flösst  die  böse  Stief- 
mutter ihrem  Sohne  den  Verdacht  ein^  dass  sein  junges  Weib  ihn 
verräth,  mit  den  Worten :  pröservez  votre  nid  du  coucou."  * 

Der  Kuckuk  ist  die  Sonne  oder  der  Sonnenstrahl  in  der 
Pinstemiss,  oder  noch  öfter  der  Donnerkeil,  der  in  der  Wolke 
verborgen  ist.  Dätyuha  ist  einer  der  indischen  Namen  des 
Kuckuks  und  auch  der  Wolke,  aus  welcher  allein  der  Kuckuk 
der  Sage  nach  trinkt.  Als  verborgene  Sonne  ist  der  Kuckuk  bald 
ein  abwesender  Gatte,  ein  Hausherr  auf  Reisen  oder  im  Walde^ 
bald  ein  Verführer,  der  in  geheimem  Liebesverkehr  mit  dem  Weibe 
eines  Anderen  steht  In  jedem  Falle  ist  er  oft  ein  phaUisches 
Symbol  und  ergetzt  sich  deshalb  an  Mysterien.  Er  sitzt  auf  dem 
Scepter  der  Hera,  der  Beschützerin  der  Heirathen  und  Geburten, 
während  Zeus  selbst,  der  Donnerer,  ihr  ehebrecherischer  Bruder, 
yconaw^,  Kuckuk,  heisst,  weilersich,^umnicht  erkannt  zu  werden,  in 
Gestalt  eines  Kuckuks  in  Heras  Schooss  verborgen  hatte.  Daher 
wurde  der  Gesang  des  Kuckuks  als  ein  gutes  Vorzeichen  für 
jeden  Heirathslustigen  betrachtet.  In  dem  Montferratensischen 
Volksliede,  welches  bei  deü  Ostereiern  gesungen  wird,  wird  der 
Gutsherr  in  versteckter  Weise  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass 
es  Zeit  ist,  seine  Töchter  zu  verheirathen.  In  schwedischen  und 
dänischen  Volksmährchen  bringt  der  Kuckuk  dem  Ehepaare  die 
Hochzeitsnuss.  Das  Alles  nur,  weil  der  Kuckuk  eine  phallische 
Bedeutung  hat,  weil  er  Mysterien  liebt,  und  weil  er  nur  im  Früh- 
ling, in  der  Zeit  der  Liebe  erscheint.  Uebrigens  wird  auch  der 
Kuckuk  als    treuloser  Ehemann    betrachtet;    so    nennt   in    der 


'  VUlemarqud,  Barsaz  Breiz,  6.  6d.  p.  498. 


518 

Asinaria  des  Plantns  eine  Frau  ihren. Mann  cncnloS;  weil  er  es 
mit  anderen  Weibern  hält  Der  Kuekuk  ist  also  eigentlich  der 
treulose  Gatte ^  der  heimliche  Liebhaber.  Der  Kuekuk  ist  der 
Spötter;  wenn  die  Kinder  Verstecken  spielen ^  so  pflegen  sie  in 
Deutschland  und  in  Italien,  wie  auch  in  England  dem^  der  sucht, 
„Kuekuk''  zuzurufen.  Das  lateinische  Wort  cpcu,  mit  welchem 
die  Winzer ;  welche  zu  spät  kamen,  der  Verspottung  ausgesetzt 
wurden  y  der  entsprechende  piemontesische  Brauch  (vgl.  Theil  I, 
Kap.  I),  und  der  italienische  Ausdruck  cuculiarC;  fbr:  ^^lächer- 
lich  machen'^,  zeigen  den  Kuekuk  als  ein  schlaues  Thier.  Er  ist 
der  erste  der  Wandervögel,  so  heisst  es,  der  erscheint,  der  letzte, 
der  verschwindet.  In  Deutschland  glaubt  man,  dass  die  Wein- 
beeren schwer  reifen,  wenn  der  Kuekuk  noch  nach  dem  Johannis- 
tage singt.    Er  ist  der  willkommene  Bote  des  Frühlings  ^  auf  dem 


'  Daa  altenglische  Volkslied  feiert  ihn  ab  den  Bringer  des  Sommers: 
„Sumer  is  icumen  in,  Ihude  sing  cuccu.*^ 

Das  altangelsächsische  Lied  von  St.  Guthlak  macht  den  Kuekuk  sum  Pro- 
pheten des  Jahres  (geacas  gear  budon).  Das  alte  deutsche  Mailied  bewili- 
kommt  ihn  mit  den  Worten: 

„Der  Kuekuk  mit  seinem  Sänge  macht  Jedermann  froh.*^ 
Das  schottische  Volkslied  liebkost  ihn  folgendermassen : 

„The  cuckoo  *8  a  fine  bird,  he  sings  as  he  flies; 

He  brings  us  good  tidings,  he  tells  us  no  lies. 

He  sucks  little  bird's  eggs  to  make  his  voice  clear, 

An4  when  he  sings  ,cuckooS  the  summer  is  near.*^ 

Bei  Shakspeare  (Love*s  Labour  Lost,  V,  2)  stellt  die  Eule  den  Winter, 
der  Kuekuk  den  Frühling  dar:   „This  side  is  Hiems,  winter,  this  Ver,  the 
Spring;  the  one  maintained  by  the  owl,  the  other  by  the  cuckoo.'*  —  Li 
einer  mittelalterlichen  lateinischen  Belöge  (bei  Uhland,  Schriften  III) 
wird  der  Tod  des  Kuckuks  in  folgenden  Versen  beklagt: 
„Heu  cuculus  nobis  fuerat  cantare  suetns, 
Quae  te  nunc  rapuit  hora  nefanda  tuis? 
Omne  genus  hominum  Cuculum  complangat  ubique! 

Perditus  est  cuculus,  heu  perlt  ecce  mens. 
Non  pereat  Cuculus,  veniet  sub  tempore  veris 

Et  nobis  veniens  carmina  laeta  ciet. 
Quis  seit,  si  veniat?  timeo  est  submersus  in  undis, 
Vorticibus  raptus  atque  necatus  aquis.'* 

Ein  deutsches  Volkslied  zeigt  uns  den  nassen,  dann  von  der  Sonne  ge- 
trockneten Kuekuk: 

„Ein  Kuekuk  auf  dem  Zaune  sass, 
Kuekuk,  kuekuk! 
Es  regnet  sehr  und  er  ward  nass. 


519 

Lande,  wo  er  die  Bauern  zur  Arbeit  ruft.  Hesiod  sagt,  dasB  e» 
Zeit  ist  zu  pflügen,  wenn  der  Kucknk  auf  dem  Eichbaam  ruft. 

Da  jedoch  der  Kuckuk  nur  selten  sieb  zeigt,  da  er  wesentlich 
die  in  den  Wolken  verborgene  Sonne  ist,  und  da  wir  wissen,  dass 
diese  Sonne  sich  von  verschiedenen  Seiten  zeigt,  als  weiser  Held, 
der  in  Alles  eindringt,  als  unerschrockener  Held,  der  jeder  Ge- 
fahr trotzt,  als  verrathener  Held,  als  getäuschter  Gatte,  als  Ver- 
räther, als  Ungeheuer  oder  Dämon,  so  zeigt  sich  auch  der  Kuckuk 
von  einer  unangenehmen  und  unheilbringenden  Seite.  Der  Treu- 
lose, der  heimlich  die  Frau  eines  Anderen  besucht,  wird  der  ab- 
wesende Gatte,  der  auf  Reisen  ist,  der  Ehemann  im  Walde,  wäh- 
rend seine  Frau  zu  Hause  Gäste  bewirthet;  oder  auch  der  Ehe- 
mann, der  schläft,  während  seine  Frau  nur  zu  wach  ist;  daher 
der  Vers  des  Plautus : 

,^t  etiam  cubat  cuculus,  surge,  amator,  i  domum/' 

und  das  französische  cocu  (daneben  coucoul,  couqniol, 
cucuault^)  zur  Bezeichnung  des  Ehemannes  einer  treulosen 
Frau.  Bei  Aristophanes  heissen  untähige  und  unerfahrene  Männer 
TioxKvyeg.  Nach  Plinius  bringt  ein  mit  einem  Hasenfell  gebun- 
dener Kuckuk  Schlaf  (d.  h.  die  Sonne  verbirgt  sich,  der  Mond 
ersißheint,  und  die  Welt  f^llt  in  Schlat).  Nähert  sich  der  Kuckuk 
einer  Stadt  und  kommt  er  hinein,  so  bedeutet  das  Regen  (d.  h 
die  in  Wolken  verborgene  Sonne  bringt  Regen).  Bei  Plutarch 
(Vita  Arati)  fragt  der  Kuckuk  die  anderen  Vögel,  warum  sie 
vor  seinem  Anblick  fliehen,  da  er  doch  nicht  wild  sei;  die  Vögel 
antworten,  dass  sie  in  ihm  den  künftigen  Falken  fürchten.  Der 
Kuckuk,  der  sich  auf  den  Speer  Luitprand's,  des  Königs  der 
Longobarden  niederliess,  wurde  von  diesen  als  ein  Unglttckszeichen 
betrachtet,  als  ob  der  Kuckuk  ein  Unglücksvogel  wäre.  In 
Italien  sagen  wir  „die  Jahre  des  Kuckuks^',  und  im  Piemontesi- 
schen  „so  alt  wie  ein  Kuckuk'S  um  hohes  Alter  zu  bezeichnen. 
Eine  mittelalterliche  Ecloge  schreibt  dem  Kuckuk  die  Jahre  der 
Sonne  zu.  Da  Niemand  sieht,  wie  der  Kuckuk  verschwindet  (der 
Glaube,  dass  er  von  den  Cicaden  getödtet  wird,  ist  nicht  in  all- 

l>arnach  da  kam  der  Sonnenscheiii, 
Kuckuk,  kuckuk! 

Der  Kuckuk  der  ward  hübsch  und  fein.*^ 
—  Vgl.  auch  ,,die  Entstehung  des  Kuckuks"  bei  Hahn,   Albanesische 
Mähreben,  II,  144.  316. 

'  Du  Gange,  s.  v.  cuculus. 


580 

gemeine  Aufnahme  gekommen) ,  so  wird  angenommen^  dass  er 
niemals  stirbt ^  dass  es  immer  derselbe  Enckuk  ist,  der  ein  Jahr 
wie  das  andere  in  demselben  Walde  singt  Und  sofern  er  un- 
sterblich ist,  muss  er  Alles  gesehen  haben  und  Alles  wissen.  Man 
fragt  den  Knc^uk,  wie  viele  Jahre  man  noch  leben  wird.  Der 
Frager  zählt  dieselben  nach  der  Zahl  der  Schläge  des  Kuckuks. 

Wir  sagten  im  Beginn  dieses  Kapitels,  dass  der  kokila  die 
Nachtigall  der  indisehen  Dichter  ist  and  mit  dieser  vollständig 
gleichsteht.  Wir  bemerkten  soeben  aber  auch,  dass.  der  Kuckuk 
auch  eine  phallische  Bedeutung  hat  In  dem  Kapitel  iHber  den 
Esel  sahen  wir,  dass  von  diesem  häufig  dasselbe  gilt.  Diese  drei 
Thiere  finden  sich  zusammen  in  der  brannten  Fabel  von  dem 
Kuckuk,  der  sich  mit  der  Nachtigall  um  den  höheren  Rang  im 
Singen  streitet.  Der  Esel,  den  man  wegen  seiner  langen  Ohren 
fttr  den  besten  Kritikus  in  Sachen  der  Musik  hält,  erklärt  sich  flir 
den  Kuckuk.  (In  der  schönen  Krilofischen  Fabel  ist  der  von  dem 
Esel  vorgezogene  Vogel  nicht  der  Kuckuk,  sondern  der  Hahn;  die 
Nachtigall  heisst  darin  die  Sängerin  der  Liebe).  Darauf  appellirt 
die  Nachtigall  mit  melodischem  Sänge  an  den  Menschen.  ^ 

Ein  deutsches  Lied  aus  dem  XVL  Jahrhundert^  stellt  die 
Nachtigall  dem  Kuckuk  gegenüber,  indem  sie  singe,  springe  und 
immer  lustig  sei,  wenn  die  anderen  Vögelchen  schweigen. 

Nach  Pliuius  sprachen  die  Nachtigallen  der  jungen.  Cäsaren, 
der  Söhne  des  Claudius,  griechisch  und  lateinisch,  und  dachten 
darauf,  jeden  Tag  etwas  Neues  zu  lernen.  So  spricht  der  Orni- 
t  h  o  1  o  g  u  s  von  zwei  Nachtigallen,  welche  sich  im  Jahre  1 546  in 
Regensburg  stritten,  welche  am  besten  deutsch  spräche;  in  einer 
dieser  Discussionen  wurde  der  Krieg  zwischen  Karl  V.  und  den 
Protestanten  vorausgesagt.  Bei  Afanassieff  VI,  46  singt  eine 
Nachtigall  in  einem  Käfig  schmerzlich;  der  Alte,  der  sie  besitzt^ 
sagt  zu  seinem  Sohne  Basil,  er  wolle  sein  halbes  Vermögen  darum 
geben,  zu  wissen,  was  die  Nachtigall  mit  diesem  wehmttthigen 
Gesänge  sagen  wolle.  Der  Knabe,  der  die  Sprache  der  Vögel 
versteht,  sagt  seinen  Eltern  eine  Prophezeiung  der  Nachtigall  voraus, 
dass  sie  eines  Tages  ihm  dienen  würden.  Der  Vater  ist  empört ; 
eines  Tages,  als  der  Knabe  schläft,  schleppt  er  \^n  in  ein  Boot 
und  setzt  dieses  in  das  Meer.  Die  Nachtigall  verlässt  sofort  das 
Haus  und  setzt  sich  auf  die  Schulter  des  Knaben.    Ein  Schififs- 


*  Vgl  das  Kap.  über  den  Pfau. 
«  Uhland,  Schriften  lü»  25. 


521 

capitain  findet  den  Knaben  und  die  Nachtigall  nnd  nimmt  sie  zn 
sieb;  die  Naehtigall  verkündet  Sturm  nnd  Piraten.  Schliesslich 
kommen  sie  in  eine  Stadt^  wo  der  Königspalast  von  drei  Krähen 
besetzt  ist^  welche  Niemand  trotz  Mer  Bemühungen  fortjagen 
kann ;  der  König  verspricht  dem,  der  sie  vertreibt^  das  halbe  Reich 
nnd  seine  jüngste  Tochter;  wer  es  versucht,  ohne  Erfolg  zu  haben^ 
ist  dem  Tode  verfallen.  Der  Knabe  stellt  sich  auf  Anweisung 
der  Nachtigall  und  sagt  dem  König,  die  beiden  Krähen  seien  mit 
ihrem  Jungen  da,  um  einen  Bescheid  zu  erhalten  ^  ob  die  junge 
Krähe  ihrem  Vater  oder  ihrer  Mutter  gehöre  (wir  sahen  eine  ähn- 
liche indische  Legende  in  dem  Kap.  über  den  Hund).  Der  König 
sagt :  „dem  Vater'' ;  die  junge  Krähe  fliegt  mit  dem  Vater  davon, 
während  das  Weibchen  eine  andere  Richtung  nimmt  Der  Knabe 
heirathet  die  Prinzessin,  wird  ein  grosser  Herr,  erhält  die  Hälfte 
des  Reichs,  macht  Reisen,  und  ist  eine  Nacht  ohne  ihr  Wissen  der 
Gast  seiner  eigeneYi  Eltern,  die  ihm  Wasser  zum  Waschen  bringen. 
So  hat  sich  die  Prophezeiung  der  Nachtigall  erfüllt.  In  der 
russischen  Volkslegende  von  Ilia  Muromietz  (Elias  von  Hurom) 
heisst  das  räuberische  Ungeheuer,  welches  von  des  Helden  Pfeil 
getödtet  wird,  Nachtigall  (Salavöi).  Es  hat  sein  Nest  auf  zwölf 
Eichen  gebaut  und  tödtet  Alle,  die  ihm  in  den  Weg  kommen, 
durch  blosses  Pfeifen. '  In  Sömunds  Edda  sagt  der  Zwerg 
Allwis  von  dem  Winde,  er  werde  von  den  Menschen  Wind,  von 
den  Göttern  Landstreicher,  von  den  Riesen  Weiner,  von  den 
Alfen  Brttller  und  in  dem  Höllenraum,  d.  h.  in  den  unter- 
irdischen Gegenden  Pfeifer  genannt;  das  russische  dämonische 
Nachtigall-Ungeheuer  dürfte  also  als  der  Wind  in  der  Dunkelheit 
erscheinen.* 

Die  Nachtigall  wird,  gleich  dem  Kuckuk,  von  der  Sappho 
Botin  des  Zeus  genannt  (bald  die  Sonne,  bald  der  Mond,  bald 
der  Wind,  bald  der  Donner,  welcher  Regen  ankündigt).  Sie  zeigt 
sich  auch  von  einer  unhdlvollen  Seite  unter  dem  Namen  TtatdoXemQy 
Kindermörder,  den  ihr  Euripides  giebt.  In  einem  Voiksliede  der 
Bretagne '  wehklagt  die  Nachtigall,  dass  der  Monat  Mai  mit  seinen 
Blumen  vorbei  ist.  In  einem  andern  Liede  aus  der  Bretagne  scheint 
die  Nachtigall  dieselbe  phallische  Bedeutung  zu  haben,  wie  im 
Tuti-Name.  Während  der  Nacht  ist  ein  Weib  unruhig  wegen  der 
Nachtigall  (des  Mondes) ;  ihr  Gatte  hat  sie  in  einem  Netz  gefangen. 


"  Vgl.  Afan.  I,  12. 

*  Villemarqu^  Barsas  Breis,  6.  6d.  p.  392. 


-.«ri^ 


522 

und  lachte  als  er  sie  hat^  Die  Nachtigall  ist,  wie  ihr  Name  in 
den  germanischen  Sprachen  zeigt,  die  ^  Sängerin  der  Nacht^  und 
ein  nächtlicher  Vogel.  Und  als  solcher^  als  ein  Vogel,  der  im 
Verborgenen  singt,  ergetzt  die  Nachtigall  (gleich  dem  Monde)  Ver- 
liebte, welche  sie  zu  ihrem  geheimen  und  geheinmissyoUen  Boten 
in  deutschen  und  französischen  Volksliedern  machen.  Im  Penta- 
merone  V,  3  macht  das  Mädchen  Betta  einen  Kuchen,  der  die 
Gestalt  eines  schönen  Jünglings  mit  goldenen  Haaren  hat;  Dank 
der  Liebesgöttin  spricht  der  Kuchen-Jttngling  und  geht  auch,  und 
Betta  heirathet  ihn;  doch  eine  Königin  beraubt  sie  seiner.  Betta 
geht  ihn  suchen ;  eine  alte  Frau  giebt  ihr  drei  Wunderdinge,  ver- 
mittelst deren  Betta  von  der  Königin  die  Erlaubniss  erhält, 
während  der  Nacht  bei  ihrem  Knaben,  der  der  Gemahl  der  Königin 
geworden  ist,  zu  schlafen;  eines  dieser  drei  Wunderdinge  ist  ein 
goldener  Käfig  mit  einem  Vogel  aus  Edelsteinen  und  Gold,  welcher 
gleich  einer  Nachtigall  singt.  In  deutschen  Volksliedern  suchen 
Verliebte  die  Nachtigall  durch  Gold  günstig  zu  stimmen,  doch  sie 
antwortet,  sie  wisse  nicht,  was  sie  damit  anfange  solle;  die  Nachti- 
gall (gleich  dem  Kuckuk,  welcher  den  Heirathen  günstig  ist)  hilft 
bald  den  Liebenden,  bald  zwingt  sie  sie  zur  Trennung.  In  einem 
englischen  Volksliede  *  gehen  zwei  Liebende  zusammen  in  den  schat- 
tigen Wald,  wo  die  Nachtigallen  singen ;  das  Mädchen  wird  von  der 
Nachtigall  erschreckt;  doch  als  sie  ihren  Liebsten  geheirathet  hat, 
fürchtet  sie  nicht  mehr  den  finstem  Wald  noch  der  Nachtigall  Schla- 
gen. Wie  auch  die  Phantasie  der  Dichter  solche  Sagen  ausgeschmückt 
hat,  ihr  phallischer  Ursprung  lässt  sich  immer  noch  verfolgen.  Ein 
deutsches  Volkslied  sagt,  dass  die  Sonne,  d.  h.  der  Tag,  die  Nachti* 
gall  austrocknet.  Nach  Hochzeitsbräuchen  des  Volkes  ist  es  eine 
grosse  Schande,  wenn  sich  das  junge  Paar  nach  der  Brautnacht 
von  der  Sonne  im  Bett  überraschen  lässt;  daher  der  Streich,  den 
dem  jungen  Ehemann  seine  Freunde  zu  spielen  pflegen,  indem  sie 
die  Fensterladen  schliessen,  damit  die  Strahlen  der  Morgensonne 
nicht  in  das  Gemach  dringen. 

'  „Quand  il  le  tint,  se  mit  ä  rire  de  tout  son  coeur.  Et  il  T^touffa,  et 
le  jeta  dans  le  blanc  giron  de  la  pauvre  dame.  Tenez«  tenez,  ma  jeune 
Spouse,  voici  votre  joli  rossignol;  c'est  pour  vous  que  je  Tai  attrap^;  je 
suppose,  ma  belle,  qu*il  vous  fera  plaisir;**  Villemarqu^,  Barsaz  Breiz, 
6.  ^d.  p.  154. 

"  Dixon,  Ancient  Poems,  Ballads  and  Songs  of  the  Pea- 
sentry  of  England;  vgl.  auch  Ralston,  Songs  of  the  Russian 
People,  über  die  Sagen  von  Kuckuk  und  Nachtigall  in  Russland. 


523 

Die  Schwalbe  bat  dieselbe  mythisebe  Bedeutung  wie  der 
Knckuk;  sie  ist  der  frobe  Bote  des  Frttblings^  der  ans  dem 
finsteren  Winter  anftaucbt.  Zar  Winterszeit  ist  die  Scbwalbe  an- 
glückbringend;  im  Frtlbling  dagegen  segenbringend. 

Im  Piemontesiscben  beisst  die  Scbwalbe  das  Htthnchen  des  Herrn. 
In  der  Edda  ratben  sieben  Scbwalben^  eine  nacb  der  anderen^  dem 
nnentscblossenen  Sigard^  das  Ungebeaer^  welcbes  die  Schätze  be- 
wacht;  za  tödten.  Sigard  folgt  dem  Käthe  der  Schwalben,  findet 
and  erlangt  das  verborgene  Gold  and  gewinnt  sein  Weib  wieder 
(die  Sonne  beirathet  den  Frühling,  die  bltthende  and  grünende 
Erde,  wenn  die  Schwalben  kommen  and  za  singen  beginnen).  Im 
PentameronelV,  5  blendet  die  Schwalbe  die  Hexe,  welche  sie 
aas  ihrem  Neste  vertrieben  hatte  (der  Winter  zwingt  die  Schwalben, 
fortzaziehen ;  die  heisse  and  glänzende  Jahreszeit  zerstreat  die 
winterliche  Dunkelheit).  In  Deutschland  beissen  die  Schwalben 
Vögel  der  Madonna;  St.  Franciscus  nannte  die  Schwalben  seine 
Schwestern.  Im  Oberinnthal  glaubt  man,  dass  sie  dem  Herrgott 
den  Himmel  bauen  halfen.  In  Deutschland,  wie  in  Italien  werden 
die  Schwalben  als  Vögel  von  der  besten  Vorbedeutung  betrachtet ; 
es  ist  eine  Todsünde,  sie  zu  tödten,  oder  ihre  Nester  zu  zerstören. 
In  Deutschland  und  Ungarn  giebt  die  Kuh  dessen,  der  ein 
Schwalbennest  zerstört,  keine  Milch  mehr,  oder  aber  mit  Blut 
vermischte.  Es  ist  rathsam,  immer  ein  Fenster  ofien  zu  haben, 
weil  eine  Schwalbe,  die  ins  Haus  kommt,  jede  Art  von  Glück 
hineinbringt,  ebenso  glaubt  man,  dass  Gäste  Glück  ins  Haus 
bringen,  und  das  ist  ein  schöner  Glaube,  der  Jeden  ehrt  und 
eines  der  deutlichsten  Zeichen  der  geselligen  Natur  des  Menschen 
ist.  In  den  Vögeln  des  Aristophanes  werden  die  Schwalben 
mit  dem  Bau  des  Hauses  der  Vögel  betraut  Solinus  schreibt, 
dass  sogar  die  Raubvögel  die  Schwalbe,  als  einen  heiligen  Vogel, 
nicht  anrühren  dürfen.  Nach  Arrian  weckte  eine  Schwalbe,  welche 
um  den  Kopf  des  schlafenden  Alexander  schwirrte,  durch  ihr 
Zwitschern  den  grossen  Eroberer,  um  ihn  vor  den  Machinationen, 
die  in  seiner  Familie  gegen  ihn  geplant  wurden,  zu  warnen.  In 
einer  Fabel  warnt  die  Scbwalbe  die  Henne,  nicht  auf  den  Eiern 
der  Schlange  zu  sitzen.  Schwalben  wurden  im  Alterthum  bei 
Kriegen  als  Boten  gebraucht.  Nach  Plinius  giebt  der  Kopf  einer 
am  Morgen  gut  genährten  Schwalbe,  bei  Vollmond  abgeschnitten, 
in  Leinwand  gebunden  und  aufgehängt,  ein  vortreffliches  Mittel 
gegen  Kopfschmerzen  ab. 

'  Doch  antwortet  in  einer  Fabel,  in  welcher  die  Schwalbe  mit 


524 

ihrer  Schönheit  prahlt^  die  Erähe^  dass  sie  immer  gleich  schöD, 
die  Schwalbe  es  aber  nur  im  Frühling  sei.  In  einer  anderen  Fabel^ 
in  dem  Briefe  des  Hlgen  Gregorius  von  Nazianz  an  den  Prinzen 
SelensiuS;  prahlten  die  Schwalben  gegenüber  den  Schwänen  damit, 
dass  sie  vor  der  grossen  Masse  zwitschern,  während  jene  nnr  für 
sich  singen,  und  auch  das  wenig  nnd  an  abgelegenen  Orten.  Die 
Schwäne  antworten,  dass  es  besser  ist,  wenig  and  gut  einer  aus- 
gewählten Gesellschaft  vorzusingen  als  der  Allgemeinheit  viel  und 
schlecht.  Die  Griechen  rathen  in  einem  Sprichwort  den  Menschen, 
keine  Schwalben  unter  ihrem  Dache  zu  halten,  d.  h.  vor  Schwätzern 
auf  der  Hut  »u  sein.  Die  Schwalbe  beginnt  hier  offenbar,  wie  in  def 
mythischen  Tragödie  von  Tereus,  sich  von  einer  unheilvollen  Seite 
zu  zeigen,  weshalb  Horaz  sie  nenüt: 

,Jnfelix  aviö  et  Cecropiae  dorouä 
Aeternum  opprobrium.** 

Die  Schwalbe,  schön  und  segensreich  im  Frühling,  wird  häss- 
lieh  und  fast  diabolisch  in  den  anderen  Jahreszeiten.  Daher  hielten 
es  die  Alten  für  ein  schlechtes  Zeichen,  von  Schwalben  zu  träumen. 
Nach  Xenophon  ging  die  Erscheinung  von  Schwalben  der  Expe- 
dition des  Cyrus  gegen  die  Scythen  vorher  und  zeigte  so  den 
unglücklichen  Ausgang  derselben  an.  Dasselbe  Vorzeichen  geben 
die  Schwalben  dem  Darlus,  als  er  gegen  die  Scythen  zieht,  und 
dem  Antiochus,  welcher  mit  den  Parthem  kämpft.  Ks  heisst  auch, 
dass  Pythagoras  in  seinem  Hause  keine  Schwalben  haben  wollte, 
weil  sie  insektenfressend  wären.  Bei  S  u  i  d  a  s  heisst  das  puden- 
dum muliebre  x^A^cJv;  vielleicht  als  solches  wurde  die  Schwalbe 
im  Gegensatz  zum  Sperling,  der  ein  bekanntes  phallisches  Symbol 
ist,  (gleich  den  Tauben)  als  der  Venus  heilig  dargestellt. '  Der 
Sperling  zerstört  das  Nest  der  Schwalbe,  wie  ein  deutsches  Volks- 
lied diese  sagen  lässt: 

„Als  ich  auszog,  auszog, 

Hatt*  ich  Kisten  und  Kasten  voll, 

Als  ich  wiederkatD,  wiederkam, 

Uatt'  der  Sperling, 

Der  Dickkopf,  der  Dickkopf 

Alles  verzehrt" 

Die  Schwalbe  ist  auch  eine  diabolische,  finstere  Gestalt,  welche, 
durch  Bezanbernng  der  Hexe,    das  schöne  Mädchen  annimmt,  als 


'  Currum  Deae  prosequentes  gannitu  constrepenti  lasciviunt  Passeres; 
Apal^jos,  A  sin  US  Aureus  VI. 


es  sich  bei  dem  BruDDeu  (<1.  b.  bei  dem  Ocean  der  Nacbt  oder 
des  Wintere)  befindet. ' 


'  Eioe  Frau  aub  Antignano  bei  Livoroo  ereählte  mir  einst  die 
ecbichte  von  einer  schönen  Prinzessin,  welche  auf  einen  Baum  die  B 
kunft  ihres  Cratten  erirartete,  dor  ihr  Kleider  kaofen  gegangen  war.  V 
rend  sie  wartet,  kommt  eine  NegeHn  herbei,  um  Kleider  zu  waschen, 
riebt  im  Waaser  das  Spiegelbild  der  schönen  Prituessin.  Sie  veran 
sie  herabzukommen,  indem  sie  ihr  das  Haar  zu  kämmen  anbietet, 
steckt  ihr  einen  Nagel  in  den  Kopf;  die  Prinzessin  verwandelt  siel 
eine  Schwalbe.  Die  Negerin  nimmt  ihre  Stelle  bei  dem  zurückkehre) 
Gatten  ein.  Die  Schwalbe  lässt  sich  von  diesem  fangen;  ihren  I 
streichelnd  findet  er  den  Nagel  und  zieht  ihn  heraus ;  die  Schwalbe 
wieder  die  schöne  Prinxessin.  Dasselbe  Mährchen  wird  noch  aasfdhrli 
im  Pieraontesischen,  in  anderen  Theilen  Tascana's,  in  Calabrien  und  S' 
erziihlt;  doch  haben  wir  statt  der  Schwalbe  die  Taube,  wie  auch 
Tnti-Name. 


526 


KAPITEL  VI. 
l>ie  Eule,  die  Krähe,  die  Elster  und  der  Storeh. 

Die  Eule,  die  Krähe^  die  Elster  und  der  Storch  stehen  im 
Mythus  in  inniger  Beziehung  zu  einander.  Um  eine  Vorstellung 
von  dem  Ungeheuer  zu  geben,  welches  in  der  Nacht  umherwan- 
dert^  vergleicht  der  B  i  g  v  e  d  a  dasselbe  mit  einer  khargalä,  ^  was 
wahrscheinlich  eine  Eule  ist  (auch  naktacara  gen.) ;  er  weist  auch 
den  Fromn^^en  an,  den  Tod  und  den  Oott  des  Todes  durch  Be- 
schwörungsformeln zu  vertreiben,  wann  die  Eule  ihr  hässliches 
Geschrei  ausstösst  und  wann  der  kapota  oder  die  schwarze  Taube 
das  Feuer  berührt  ^  (so  lesen  wir  auch  bei  Menander :  „wenn  die 
Eule  schreit,  haben  wir  Grund,  furchtsam  zu  sein*');  im  Pan6a- 
tantra^  vergleicht  der  König  der  Ejrähen  ebenfalls  die  feindliche 
Eule,  welche  gegen  Nacht  kommt,  mit  dem  Gott  der  Todten  (dem 
Gott  Yama).  In  Ungarn  heisst  die  Eule  der  Vogel  des  Todes. 
Im  Mahäbhärata^  wird  der  Geist  des  Bösen,  welcher  hell  sieht, 
im  Trttben  fischt,  und  in  seinen  abscheulichen  Handlungen  Geschick 
und  Glück  zeigt,  mit  der  Eule  verglichen,  welche  (wahrscheinlich 
als  Mond)  jede  Gestalt  in  der  Nacht  unterscheidet.  Im  Mahäbhä- 
rata  ferner^  tödtet  die  Eule  die  Krähen  bei  Nacht,  während  sie 
schlafen.  Im  Rämäyana^  streitet  die  Eule  (als  Mond)  mit  dem 
Geier  (der  Sonne),  der  sich  ihres  Nestes  bemächtigt  hatte;  die 
beiden  Streitenden  appelliren  an  Räma,  der  jeden  von  Beiden 
fragt,  wie  lange  ihm  das  Nest  gehört  habe;  der  Geier  antwortet: 
„so  lange  die  Erde  mit  Menschen  bevölkert  ist;''  die  Eule:  „so 
lange  die  Erde  mit  Bäumen  bedeckt  ist/'  Räma  entscheidet  mit 
Recht  zu  Gunsten  der  Eule,  indem  er  bemerkt,  dass  sie  einen 
älteren  Anspruch  hat,  da  es  schon  vor  den  Menschen  Bäume  gab, 


'  Pra  yä  ^igäti  khargaleva  Daktam  apa  druhä  ianvam  gühamänft; 
Rigv.  VII,  104,  17. 

*  Yad  ulüko  vadati  mogbam  etad  yat  kapotah  padam  agn&u  krinoti, 
yasya  dütah  prahita  esha  etat  tasmfti  yamftyanamo  astu  mrityave;  Rigv.  I, 
165,4. 

»  III,  73. 

*  m,  15128,  und  Hitopa de9a  IV,  47. 

•  III,  308;  X,  38. 

•  VI,  64. 


527 

und  ist  daran,  den  Geier  zu  bestrafen,  als  er  davon  absiebt,  in- 
dem er  erfährt,  dass  der  Letztere  einst  der  König  Brahmadatta 
war,  der  von  dem  weisen  Gautama  vemrtheilt  wurde,  ein  Geier 
zu  werden,  weil  er  diesem  Büsser  einst  Fleisch  und  Fisch  zur 
Speise  angeboten  hatte.  Räma  berührt  den  Geier,  und  dieser 
nimmt  sofort  seine  menschliche  Gestalt  wieder  an.  Das  dritte 
Buch  des  Pancatantra  handelt  von  dem  Kriege  zwischen  den 
Eulen  und  den  Krähen.  Die  Vögel  sind  es  müde,  einen  König 
wie  den  Garuda  zu  haben,  der  ganz  nutzlos  ist,  an  Niemanden 
als  an  den  Gott  Vishnu  denkt  und  sich  gar  nicht  die  Beschtttzung 
der  kleinen  Vögel,  seiner  Unterthanen,  angelegen  sein  lässt;  sie 
denken  darauf,  einen  anderen  König  zu  wählen  und  wollen  diese 
Wahl  auf  die  Eule  fallen  lassen ;  ^  da  legt  die  Krähe  ihr  Veto 
ein,  von  welcher  das  Pancatantra  sagt,  sie  sei  der  schlaueste 
unter  den  Vögeln,  wie  der  Barbier  unter  den  Menschen,  der  Fuchs 
unter  den  Thieren  und  die  Bettelmönche  unter  der  Klerisei.  Der 
Krieg  zwischen  der  Eule  und  der  Krähe  (dem  Mond  und  der 
dunklen  Nacht)  ist  in  der  indischen  Sage  sehr  volksthümlich ; 
käkäri,  Feind  der  Krähe,  ist  einer  der  Sanskritnamen  der  Eule, 
und  die  käkolükikä,  der  Eulen-  und  Krähenkrieg,  wird,  wie  schon 
mehre  Mal  von  den  gelehrten  Forschern  der  Chronologie  der 
indischen  Literatur  bemerkt  worden  ist,  schon  in  der  Grammatik 
Päninis  erwähnt. 

Bei  A  fan  a  SS  ie  ff  IV,  30  isst  die  Krähe  die  Eier  der  Gänse 
und  der  Schwäne.  Die  Eule  verklagt  die  ELrähe  aus  Hass  beim 
Adler;  die  Krähe  leugnet  zwar,  wird  aber  doch  zu  Gefängniss 
verurtheilt. 

In  dem  neunten  Buche  von  des  Aristoteles  Thierge- 
schichte  finde  ich  auch,  dass  die  Krähe  mit  der  Eule  kämpft, 
deren  Eier  sie  am  Mittag  zerstört,  während  dagegen  die  Eule 
während  der  Nacht  die  Eier  der  Krähe  verzehrt.  Im  Italienischen 
bedient  man  sich  des  Ausdruckes:  „die  Eule  unter  den  Krähen'^, 
um  eine  ernste  Gefahr  zu  bezeichnen.  Bei  Tzetzes  finden  wir  auch 
eine  Fabel,  nach  welcher  die  Krähe  nahe  daran  war,  zum  König 

'  Vgl.  was  Du  Gange  aus  einem  Schriftstück  vom  Jahre  1300  anführt  : 
„Aves  elegcrunt  Regem  quemdam  avem  vocatam  Due,  et  est  aris  pulchrior 
et  major  inter  onmes  aves,  et  accidit  semel  quod  Pica  conquesta  fuerat  de 
Accipitre  dicto  Domino  Regi,  et  congregatis  avibus,  dictus  Rex  nihil  dixit 
nisi  quod  flavit  (flevit?).  Vel  (veluti)  idem  de  rege  nostro  dicebat  ipse 
Episcopus,  qui  ipse  est  pulchrior  homo  de  mundo,  et  tamen  nihil  seit 
facere,  nisi  respicere  homines/* 


528 

der  Vögel  erwählt  zu  werden^  da  sie  sich  mit  den  Federn  ge- 
schmückt hatte,  welche  anderen  Vögeln  abgefallen  waren;  da 
kommt  die  Eale  herbei  (bei  Babrins  ist  es  die  Schwalbe)^  erkennt 
eine  von  ihren  Federn,  rupft  sie  aus>  und  giebt  damit  den  andern 
Vögeln  ein  Beispiel,  welche  binnen  Kurzem  die  Krähe  ganz  kahl 
rupfen.  (Es  ist  das  eine  Variation  dßr  bekannten  Fabel  von  der 
Krähe  in  d^n  Federn  des  Pfaus,  und  derselben  in  entgßgenge- 
setztem  Sinne  genommenen  im  Pan^atantra,  wo  die  Krähe  der 
kluge,  die  Eule  der  einfältige  Vogel  ist)  Es  giebt  noch  andere 
Merkmale  der  Schlauheit,  welche  der  Eule  in  Fabeln  zugeschrieben 
wird;  so  z.  B.  sagte  sie  den  anderen  Vögeln  vorher,  dass  ein 
Bogenschütze  sie  mit  ihren  eigenen  Federn  tödten  werde,  und 
rieth  ihnen,  die  Eichen  nicht  wachsen  zu  lassen,  da  auf  ihnen  die 
Mistel  wächst,  mit  der  Vögel  gefangen  werden.  Der  deutsche 
Eulenspiegel,  der  boshafte  Possenreisser  der  Sage>  der  einen 
grossen  Hut  trägt,  gehört  wahrscheinlich  zu  derselben  mythischen 
Familie.  Die  Griechen  betrachteten  die  Eule  bIb  eine  Gestaltung 
der  Tochter  des  Nykteus,  des  Königs  von  Lesbos  (nach  Anderen 
des  Königs  von  Aethiopien ;  Nykteus  und  der  schwarze  Aethiope 
sind  Beide  die  Nacht),  welche  sich  in  ihren  Vater  verliebte  und 
ohne  sein  Wissen  bei  ihm  lag;  ihr  Vater  wollte  sie  tödten,  doch 
Athene  erbarmte  sich  ihrer  und  verwandelte  sie  in  eine  Eule,  die 
jedoch,  ihres  Verbrechens  eingedenk,  immer  das  Licht  flieht  (sie 
ist  dem  Tage  fem,  gleich  dem  Monde).  Die  Eule  war  der  Athene 
heilig,  der  Göttin  der  Weisheit,  sofern  sie  im  Dunklen  sieht;  der 
Flug  des  Nachtvogels  war  deshalb  den  Athenern  ein  Zeichen, 
dass  die  Göttin,  welche  ihre  Stadt  beschützte,  gnädig  gesinnt  war, 
daher  wurden  die  Eulen  Athens  sprichwörtlich.  Die  Eule  war 
übrigens  (nach  dem  Aberglauben  der  alten  Griechen,  den  Plinius 
erwähnt)  dem  Dionysos  feind  (als  Trunkenem,  als  leidenschaft- 
lichem Weinliebhaber;  der  Mond,  der  den  Winter  regiert,  bringt 
die  Kälte,  vermindert  die  Wärme);  daher  die  Vorschrift  der  alten 
Medicin,  dass  Euleneier,  drei  Tage  lang  in  Wein  getrunken, 
Trunkenbolde  massig  machen.  Philostratus  (in  der  Vita  A  p  o  1  - 
lonii)  geht  so  weit  zu  behaupten,  dass  man  nach  Genuss  eines 
Euleneis  eine  Abneigung  gegen  den  Wein  fasst,  noch  bevor  man 
ihn  gekostet  hat  Doch  wurde  schon  im  Alterthum  die  Eule  ge- 
wöhnlich als  der  gemeine  und  unheilbringende  Vogel  angesehn, 
der  sie  in  Wirklichkeit  ist.  Es  heisst  von  Demosthenes,  das»  er, 
bevor  er  ins  Exil  ging,  erklärte,  dass  sich  Athene  an  drd  Furcht 
^inflössenden  Bestien  ergetze:  der  Eule,  dem  Drachen  und  dem 


529 

Volke  von  Athen.  Bei  Aelian  und  bei  ApulejuB  ist  von  den 
Eulen  als  von  Unheil  verkündenden  Vögeln  die  Rede.'  Daher 
wurde  und  wird  die  männliche  Eule  besonders  in  Italien^  Bussland, 
Deutschland  und  Ungarn  als  ein  Vogel  schlechtesten  und  traurigsten 
Charakters  angesehn.  ^  In  dem  vierten  Buche  von  Vergils  Aeneis 
ist  der  Gesang  der  männlichen  Eule  verhängnissvoll : 

„Seraque  calmioibus  ferali  carmine  Bubo 
Visa  queri  et  longas  in  fletum  dueere  voces/* 

Die  Römer  reinigten  die  Stadt  mit  Wasser  und  Schwefel;  wenn 
zufällig  eine  männliche  Eule  oder  ein  Wolf  in  den  Tempel  des 
Jupiter  oder  in  das  Capitol  gerathen  war.  Nach  Silius  Italiens 
war  auch  die  Niederlage  von  Cannae  von  der  Eule  prophezeit : 

j.Obseditque  frequens  castroram  limiua  Bubo/^ 

Und  Ovid  sagt  im  zehnten  Buche  der  Metamorphosen: 

,Jgnayus  Bubo  dirum  mortalibus  omeo; 
Nam  dirae  mortis  nuntius  esse  solet/^ 

Im  fünften  Buche  wird  Ascalaphos  von  Ceres  in  eine  Eule  ver- 
wandelt und  verdammt,  Unheil  zu  verkünden,  weil  er  die  Proser- 
pina bei  Jupiter  angeklagt  hatte,  heimlich  gegen  das  Verbot  einen 
Oranataptel  gegessen  zu    haben. 


'  Bei  den  Tataren  wurden  nach  Aldrorandi  die  Federn  der  männlichen. 
Eule  als  Amulet  getragen,  wahrscheinlich  um  dadurch  die  Eule  selbst 
fernzuhalten,  ebenso  wie  in  den  vedischen  Hymnen  der  Tod  selbst  ange- 
rufen wird«  dass  er  fernbleibe.  Im  K  hör  da  Avesta  (p.  147)  verleiht 
eine  Ealenfeder  dem  Zarathustra  Kraft.  —  Wir  sind  bekannt  mit  dem  un- 
heilvoUen  Monde  in  der  Gestalt  Proserpina^s ;  die  Inder  betrachteten  Manu 
als  verwandt  mit  dem  Monde,  mit  dem  er  übrigens  auch  identificirt  wurde. 
Manu  als  der  erste  Mensch  und  der  Vater  der  Menschen  ist  auch  der  Erste 
der  Todten.  Manu  giebt  dem  Indra  den  Soma.  Die  sterbende  Sonne  wird 
in  dem  Reiche  des  Todes  mit  dem  Monde  vertauscht ;  doch  von  dem  Reiche 
des  Mondes  kommen  die  Seelen  herab,  und  zu  ihm  kehren  sie  zurück. 
Mit  Manu  hängt  Menerva  zusammen,  eine  römische  Gestaltung  der 
griechischen  Athene.  Die  Eule,  das  Symbol  der  Minerva  ist  vielleicht 
gleichbedeutend  mit  Manu  als  Mond.  Der  innige  Zusammenhang,  welcher 
zwischen  der  jungfräulichen  Aurora  und  dem  jungfräulichen  Monde  in 
Mythen  und  Sagen  besteht,  ist  bekannt ;  sie  leisten  wechselsweise  einander 
Dienste.  Athene  kann  sehr  wohl  die  beiden  klugen  Mädchen  dargestellt 
haben  —  den  Mond,  der  in  der  dunklen  Nacht  Alles  sieht;  die  Aurora, 
welche  aus  der  finsteren  Nacht  kommend  Alles  erleuchtet.  Das  Haupt  des 
Zeus,  aus  dem  die  Athene  entspringt,  scheint  eine  Gestaltung  des  östlichen 
Himmels  zu  sdn. 

Oubornatto,  die  Thlere.  34 


6ao 

Die  Gabe  der  Propbetie  ist  nach  dem  Volksglauben  bei  der 
Enle  so'gross^  dass  Albertus  Magnus  zu  seiner  Zeit  ganz  ernsthaft 
schreiben  konnte:  ;,Si  cor  ejus  cum  dextro  pede  super  dormientem 
ponatur,  statim  tibi  dicit  quidquid  fecerit,  et  quidquid  ab  eo 
interrogaveris.  Et  hoc  a  fratribus  nostris  expertum  est  moderne 
tempore/'  Als  in  Macbeth  die  Hexen  im  Kessel  das  höllische 
Gebräu  bereiten^  thun  sie  unter  anderen  hässlichen  Ingredienzien 
auch  hinein: 

„Eye  of  newt,  and  toe  of  frog, 
Wool  of  bat,  and  tongue  of  dog, 
Adder's  fork,  and  blind-worm's  sting, 
Lisard's  leg,  and  owlet's  wing.'^ 

In  Sicilien  verkünden  die  klagende  Eule,  die  krächzende 
Krähe  und  der  heulende  Hund  in  der  Nähe  des  Hauses  einem 
Kranken  den  nahen  Tod;  doch  wird  am  meisten  unter  den  Eulen 
die  gehörnte  Eule  (jacobu,  chio  vu  oder  chiö ;  der  gehörnte, 
abnehmende  Mond ;  bekanntlich  betrachtet  der  Volksaberglaube  die 
Zeit,  in  welcher  der  Mond  abnimmt,  als  besonders  unheilvoll)  ge- 
f&rchtet.  Die  gehörnte  Eule  schreit  bei  dem  Hanse  eines  Kranken 
drei  Tage  vor  seinem  Tode;  sind  keine  Kranken  im  Hause,  so 
kündigt  sie  wenigstens  ^  einem  der  Bewohner  an,  dass  er  die 
Bräune  bekommen  wird.  Wenn  die  Bauern  in  Sicilien  im  Frühling 
die  Klage  der  gehörnten  Eule  zum  ersten  Male  hören,  so  gehen 
sie  zu  ihrem  Herren  und  sagen  ihm  den  Dienst  auf;  daher  das 
Bicilische  Sprichwort : 

,,Quannu  canta  lu  chi6 

Cu  'avi  patruni,  tinta  canciar  lu  p6/' 

Der  sicilianische  Dichter  Giovanni  Meli  bezieht  sich  in  dem  kleinen 
Gedichte,  Pianto  di  Palemone  mit  folgenden  Versen  auf  die 
schlimme  Vorbedeutung  der  gehörnten  Eule : 

„Ah!  miu  patri  lu  predissi, 
£  trimava  'ntra  li  robbi, 
Ch*eu  nascivi  'ntra  recclissi 
£  chiandanu  li  jacobbi.** 

In  der  sicilianischen  Volkssage  La  Principessa  di  Carini 
hüllt  sich,  als  der  Mönch  spioniren  geht,  der  Mond  in  die 
Wolken,  und  die  gehörnte  Eule  fliegt  kreischend  durch  die  Luft: 

„Lu  jacobbu  chiancennu  svulazzau/^ 

In  mehren  deutschen  Volksliedern  beklagen  sich  die  gehörnte 
Eule  und  die  gemeine  Eule,  dass  sie  allein  und  verlassen  im 
Walde  sind.    Die   Eule  (als  der  Mond)    wird  in  der  deutschen 


i 


531 

Sage  als  nächtliche  Spinnerin  dargesteUt  ^  Auch  findet  sich  die 
unheilvolle  Eule  in  Verbindung  mit  dem  schwarzen  Raben 
erwähnt.  ^ 

Ich  bemerkte  schon  im  Kapitel  über  den  Wolf,  dass  vrika 
in  den  vedischen  Hymnen  sowohl  Wolf  wie  Krähe  bedeutet.  Beide 
stellen  die  dunkle  Nacht  dar.  Die  Eule  mit  den  gelben  Augen 
(in  Athen  hiessen  gewisse,  das  Bild  einer  Eule  tragende  Münzen 
Eulen,  und  in  Italien  werden  Goldmünzen  vulgär  Eulenaugen 
genannt)  scheint  im  Besonderen  den  Dämmerungsvogel  darzustellen 
(daraus  verstehen  wir,  warum  sie  speciell  der  Athene  heilig  war), 
und  noch  viel  öfter  die  Nacht  mit  dem  gelben  Auge  des  Mondes. 
Die  Krähe  dagegen  scheint  Repräsentantin  der  finsteren  Nacht 
oder  Wolke  zu  sein.  Die  Eule,  welche  das  Nest  der  Krähe  zerstört 
und  den  Betrug  der  mit  fremden  Federn  geschmückten  Krähe 
aufdeckt,  ist  wohl  identisch  mit  dem  Monde,  der  das  Dunkel  ver- 
scheucht, oder  dem  sahasräksha  (dem  himmlichen  Pfau),  der  die 
tausend  Augen  des  Sternenhimmels  schliesst  und  die  tausend 
Sterne  erbleichen  lässt.  Die  Eule,  als  König  der  Vögel  (wir  kennen 
auch  den  Indra-Mond  als  Mrigaräga),  scheint  gewöhnlich  identisch 
zu  sein  mit  dem  Monde,  dem  Herren  der  Nacht.  Indra  ist  oft 
der  Pfau-Gott,  der  azurblaue  nächtliche  Sternenhimmel;  doch  sind 
Blau  und  Schwarz,  wie  wir  sagten,  gleichbedeutende  Farben 
(der  azurblaue  Gott  Indra  wird  der  schwarze  Krishna;  die  Krähe 
wird  ein  Pfau),  und  werden  mit  demselben  Wort  bezeichnet ;  daher 
treten  der  blaue  und  der  schwarze  Vogel  für  einander  ein.  Nach 
Festus  war  die  Krähe  vor  dem  Pfau  der  Juno  heilig.  Der  Krähen- 
Pfau  ist  schon  im  Pan6atantra'  sprichwörtlich,  wo  wir  lesen, 
dass  der  vorschnelle  Dummkopf  eine  Krähe  für  einen  Pfau  hält. 
Die  Stimme  des  Pfaus  ist  so  schrill  wie  die  der  Krähe;  im 
Rämäyana^  lacht  das  Wasserhuhn  (^alakukkubha,  der  Reiher, 


'  „Selbst  in  sternloser  Nacht  ist  keine  Verborgenheit,  es  lauert  eine 
grämliche  Alte,  die  Eule;  sie  sitzt  in  ihrem  finstem  Kämmerlein,  spinnt 
mit  silbernen  Spindelehen  und  sieht  übel  dazu,  was  in  der  Dunkelheit  vor- 
geht. Der  Holzschnitt  des  alten  Flugblattes  zeigt  die  Eule  auf  einem 
Stühlchen  am  Spinnrocken  sitzend/* 

*  „Wenn  durch  die  dünne  Luft  ein  schwarzer  Rabe  fleucht 
Und  krähet  sein  Geschrei,  und  wenn  des  Eulen  Fraue 
Ihr  Wiggen-gwige  heult:  sind  Losungen  sehr  rauhe.** 

—  RochholZf  a.  a.  O-,  I,  p.  155. 

*  I,  175. 

*  11,5. 

84* 


532 

der  Eisvogel,  die  Ente,  der  Schwan)  über  den  Pfau,  als  er  dem 
Kuckuk  antworten  will.  So  verspottet  das  griechische  Sprichwort 
die  Krähen,  welche  mehr  geehrt  werden  als  die  Nachtigallen 
(xoQcnieg  arfdoviov  aidexTijuwTSQoi) ,  Martial  stellt  sie  den  Schwänen 
gegenüber : 

„Inter  Laedaeos  ridetur  corvus  Olores;** 

und  das  griechische  Sprichwort  macht  die  Dohle  unter  den  Musen 
(xoloiog  ev  taig  Movixxig),   wie  das  lateinische  den  „gracnlus  ad 
fides''  lächerlich.    In  einer  Variation  von  Afanassieff  VI,  46 
nimmt  die  Krähe  die  Stelle  der  prophetischen  Nachtigall  ein.  Der 
Fuchs  (Frühling,  Aurora)  nimmt  der  Krähe  (Winter,  Nacht)  den 
Käse  (den  Mond),    indem  er  sie  singen  macht.     Im  Mahäb- 
härata'  verkleidet  sich  das  Ungeheuer  Rähu  als  Gott,  um  die 
Ambrosia  der  Götter  zu  trinken;    die  Sonne  und  der  Mond  ver- 
rathen  den  Betrug ;  Rahu  wird  erkannt  und  Vishnu  schneidet  ihm 
mit  seiner  Scheibe  den  Kopf  ab;  es  ist  dies  eine  alte  Variation 
der  Fabel  von  der  Krähe  unter  den  Pfauen.    Diese  Verkleidung 
der  Krähe  erscheint  jedoch  ganz  natürlich,  wenn  wir  bedenken, 
dass  Indra  ein  Pfau  ist,  und  dass  im  Rämäyana^  eine  gewisse 
gelehrte  Krähe  (pändita)  von  Hanumant  der  Sohn  Indras  (putrah 
kila  sa  ^^rasya)  genannt  wird.    Ich  bemerkte  bei  einer  früheren 
Gelegenheit,  dass  der  vedische  Indra  in  den  indischen  Gedichten 
sich  von  einer  unheilvollen  und  bisweilen  sogar  von  einer  diabo- 
lischen Seite   zeigt.     Im   Bämäyana'   greift  eine   Krähe   die 
Sita   mit  Flügeln,    Schnabel    und   Krallen  an;   Räma  schleudert 
einen  bezauberten  Pfeil  auf  sie;  der  Vogel  stirbt  durch  göttliche 
Gnade  nicht,  doch  sieht  er  bei  seinem  schnellen  Fluge,  während 
es   aus  der  Wolke  regnet,   nichts  als  Pfeile  und   Schatten  von 
Pfeilen  in  der  Luft.     Darauf  kehrt  diese  Krähe  zu  Räma  zurück, 
um  ihn  zu  ersuchen,   sie  von  diesem  Zauber  zu  befrein;  Räma 
sagt,  dass  die  Bezauberung  ihren  vollen  Lauf  haben  müsse,  doch 
dass  er  sie  auf  einen  Theil  des  Körpers  beschränken  könne;  die 
Krähe  solle   den  Theil    auswählen,   auf  den  Räma  zielen  solle. 
Der  schlaue  Vogel  hofft,  dass  Räma  sein  Ziel  fehlen  werde,  und 
sagt,  eines  von  seinen  Augen ;  Räma  trifft  es ,   zur  grossen  Ver- . 
wunderung  Sitäs,  gegen  welche   die  Krähe  Krieg  zu  ftlhren  be- 
gonnen hatte,  nachdem   Rama   ihre  Stirn  roth  bezeichnet  hatte. 

'  I,  1152. 

•  II,  105.  V,  3. 

»  Ib. 


53 


Q 


Ich  führte  im  vorigea  Kapitd  aus  dem  Pandatantra  den 
indischen  Volksglaaben  an,  dass  die  Krähe  der  schlauste  der 
Vögel  ist,  wie  der  Fuchs  das  schlauste  Thier.  Aristoteles  sagt, 
dass  die  ^rähe  die  Freundin  des  Fuchses  sei;  im  Rämäyana 
wird  die  List,  deren  sich  in  der  westlichen  Fabel  der  Fuchs  be- 
dient, um  den  Käse  aus  dem  Schnabel  der  Krähe  zu  escamotiren, 
von  der  Dohle  (särikä  oder  gracula  religiosa)  angewandt.  Ein 
Raubvogel  hat  einen  Papagei  in  den  Klauen,  und  eine  särikä  im 
Schnabel ;  die  Dohle  sagt :  „Papagei,  beiss  den  Feind  in  den  Fuss, 
wenn  er  allein  in  der  Luft  schwebt,  und  wenn  sein  Schnabel 
mich  drückt;  da  sein  Schnabel  beschäftigt  ist  und  Dich  nicht 
beissen  kann,  so  beisse  Du  ihn,  damit  er  Dich  gehen  lasse;''  die 
Dohle  hoffte,  dass  der  Raubvogel  auch  den  Schnabel  vor  Schmerz 
öffnen  und  sie  fliegen  lassen  werde.  Bei  Plautus  wird  ein  schlauer 
Sclave  mit  einer  Krähe  verglichen.  Die  Krähe  personificirt  in  der 
indischen  Sage  auch  den  Schatten  eines  Todten ;  den  Krähen 
Speise  geben  ist  für  die  Inder  dasselbe  wie  den  Seelen  der  Todten 
Mahrung  geben;  daher  wurde  immer,  und  wird  sogar  nach  allen 
Indienreisenden  noch  heut  ein  Theil  ihrer  Mahlzeit  für  die  Krähen 
übrig  gelassen.  Auch  im  Rämäyana*  befiehlt  Räma  der  Sita 
den  Rest  der  Speise  für  die  Krähen  aufznheben.  Bei  der  Flucht 
der  Götter  vor  den  Dämonen,  die  im  letzten  Buche  des  Rä- 
mäyana  geschildert  wird,  verbirgt  sich  Indra  selbst  in  der  Ge- 
stalt eines  Pfaues,  und  Yama,  der  Gott  der  Todten,  in  der  einer 
Krähe.  In  der  griechischen  Mythologie,  bei  dem  Kampfe  gegen  die 
Riesen,  ist  es  Apollo,  der  sich  in  eine  Krähe  verwandelt,  doch  wahr- 
scheinlich in  eine  weisse,  da  weisse  Krähen  nach  griechischem  Glauben 
der  Sonne  heilig  sind.  Es  heisst,  dass  die  Krähe  einst  weiss  war, 
doch  dass  Apollo  sie  schwarz  machte,  empört  darüber,  dass  dieses 
Thier  ihm  die  unwillkommene  Nachricht  von  der  Treulosigkeit 
seiner  Dame,  der  Prinzessin  Koronis  brachte;  hier  nimmt  die 
Krähe  die  Stelle  des  Kncknks  ein.  In  einem  anderen  griechischen 
Mythus  verliert  die  Krähe  die  Gunst  der  Pallas,  weil  sie  ihr  die 
Einsicht  verschafft,  dass  Erichthonius,  welcher  der  Pallas  ans  dem 
auf  die  Erde  gefallenen  Samen   des  himmlischen  Grobschmieds 


*  II,  105;  vgl.  auch  Du  Cange,  s.  v.  corbitor.  —  In  der  deutschen 
Sage  vom  Kaiser  Friedrich  Barbarossa,  der  im  Kifihäuser  wohnt,  erwacht 
der  Kaiser  und  fragt:  „Fliegen  die  Raben  noch  um  den  Berg?*  Er  erhält 
eine  bejahende  Antwort.  Da  seufzt  er  und  legt  sich  wieder  nieder,  weil 
die  Stunde  seiner  Auferstehung  noch  nicht  da  ist. 


534 

geboren  ist,  von  den  drei  Töchtern  des  Kekrops  gefunden  worden 
ist.  Für  die  Dienste  der  Krähe  bewilligte  ihr  Yama  das  Recbt^ 
die  Lqichenspeise  zu  essen ,  weshalb  die  Schatten  der  Todtefi; 
wenn  der  Krähe  diese  Nahrung  gegeben  wird,  in  eine  bessere 
Welt  eingehen  können.  Daher  der  griechische  Fluch:  egnoQCcmg! 
Geh'  zum  Henker!  stirb I  Daher  ist  in  Indien  wie  in  Persien,  in 
Russland  wie  in  Deutschland,  in  Griechenland  wie  in  Italien  die 
Krähe  in  eminentem  Sinne  der  UnglUcksvogel  von  schlimmer 
Vorbedeutung.  Nach  Aelian  pflegten  die  Bewohner  des  alten 
Hadria  die  Dohlen  zu  beschwichtigen,  dass  sie  nicht  ihre  Felder 
verwüsteten,  indem  sie  zwei  Gesandte  zu  ihnen  schickten,  welche 
ihnen  einen  Brei  von  Od  und  Mehl  vorsetzten.  Nahmen  die 
Dohlen  die  Gabe  an,  so  war  das  ein  gutes  Zeichen.  Bei  Lambert 
von  Aschaflfenburg  sieht  ein  Wallfahrer  im  Traum  eine  schreck-  < 

liehe  Krähe,  welche  krächzend  um  Köln  herumfliegt  und  welche 
von  einem  glänzenden  Reiter  verjagt  wird;  der  Pilger  erklärt, 
dass  die  Krähe  der  Teufel ,  der  Reiter  aber  der  Hlge  Georg  ist. 
In  der  Chronik  des  Seligen  Antonius  finden  wir  stinkende,  schwarze 
Sümpfe  „in  regione  Puteolorum  in  Apulia"  beschrieben,  aus  denen 
die  Seelen  in  Gestalt  von  Vogelungeheuem  in  den  Abendstunden 
des  Sabbats  aufsteigen,  Vögel,  die  weder  fressen  noch  sich  fangen 
lassen,  sondern  umherschwirren,  bis  am  Morgen  eine  ungeheure 
Krähe  sie  zwingt,  wieder  in  das  Wasser  zu  tauchen.  In  Deutsch- 
land bedeutet  nach  Roch  holz  eine  Krähe,  die  sich  auf  das  Dach 
eines  Hauses  setzt,  in  welchem  sich  eine  Leiche  befindet,  dass  die 
Seele  des  Verstorbenen  verdammt  ist  In  Brusasco  im  Piemon- 
tesischen  singen  die  Kinder  folgenden  Vers,  indem  sie  im  Chorus 
das  Geschrei  der  Krähe  nachahmen: 

„CumaiasB,  ^ 

Porta  *1  sdiass 
Me  mari  Vh  morta 
Sut  la  porta. 

(Krähe,  bringe  den  Sieb;  meine  Mutter  ist  gestorben,  unter  der 
Thtir.  Qu6 1  —  Der  Sieb  verrichtet  hier  wahrscheinlich  denselben 
Dienst  wie  die  Wage,  auf  welcher  der  Heilige  Michael  im  pie- 
montesischen  Glauben  die  Seelen  der  Abgeschiedenen  abwiegt; 
ist  die  Seele  ohne  Sünde,  so  muss  sie  durch  den  Sieb  hindurch- 
gehen; wenn  nicht,  so  bleibt  sie  darin.  Der  Osten  und  der 
Westen  sind  die  beiden  Himmelsthore;  am  westlichen  Thor  stirbt 
die  Sonne,  mit  der  Abend-Aurora;  am  östlichen  stirbt  die  Nacht) 


536 

Id  einem  schwedischen  Volksliede  in  der  von  Warrens  übersetzten 
Sammlung  lese  ich  folgenden  Vers,  in  welchem  die  Krähe  ganz 
und  gar  die  Gestalt  eines  Ungeheuers  annimmt: 

„£^  flog  ein  Rabe  über  das  Dach, 
Hatt*  Menschenfleisch  in  den  Krallen« 
Drei  Tropfen  Blutes  träuften  herab, 
Ich  spürte,  wo  sie  gefallen.'^ 

Bei  Afanassieff  IV,  39  sagt  ein  alter  Mann,  der  einiges 
Korn  hat  auf  die  Erde  fallen  lassen,  dass  er,  wenn  die  Sonne 
es  wärmte,  der  Mond  es  beschiene  und  die  Krähe  ihm  das  Ge- 
treide aufpicken  helfen  wollte,  Jedem  eine  von  seinen  drei  Töchtern 
geben  würde.  Sonne,  Mond  und  Krähe  erhören  ihn  und  heirathen 
die  drd  Mädchen.  Einige  Zeit  danach  geht  der  Alte  seinen 
Schwiegersohn  Krähe  besuchen,  der  ihn  im  Schnabel  eine  endlose 
Leiter  hinaufträgt;  oben  lässt  die  Krähe  den  Alten  fallen  und 
er  stirbt. 

Da  Indra  oder  Zeus,  d.  h.  der  Begengott,  bald  die  Gestalt 
eines  Kuckuks,  bald  die  einer  Krähe  annimmt,  verkündet  im 
15.  Märchen  des  Siddhikttr  die  Krähe  dem  durstigen  Prinzen  die 
Nähe  von  Wasser.  Tomraaso  Badino  von  Piacenza '  erzählt  eine 
Fabel,  welche  uns  an  die  biblische  Sintfluthsage  erinnert.  Phoe- 
bus  sendet  die  Krähe  nach  Weihwasser  zum  Opfer  des  Zeus ;  ^ 
doch  die  Krähe  sieht,  als  sie  zu  dem  Brunnen  kommt,  einige 
Feigen  neben  demselben ;  statt  sich  ihres  Auftrages  zu  entledigen, 
wartet  sie,  bis  die  (phallischen)  Feigen  reifen.  Daher  wurde  die 
Krähe  als  Zögerer  (Aufschieber)  sprichwörtlich  (die  Legende  vom 
Hlgen  Athanasius  sieht  in  der  Krähe  deshalb  den  Zauderer,  weil 
sie  mit  ihrem  Geschrei  „cras^'  Bagt).  Die  Bedeutung  des  Mythus 
scheint  mir  augenfällig;  die  donnernden  Regenwolken  spenden 
gegen  Ende  Juni  Wasser,  wenn  die  ersten  Feigen  und  das  Ge- 
treide reif  sind  (bei  Plutarch,  Vita  Niciae  haben  wir  statt 
dessen  die  goldenen  Datteln) ;  die  Krähe  stellt  den  Regengott  dar ; 
wie  der  Kuckuk  den  Frühlingsregen,  so  bringt  die  Krähe  den 
Sommerregen,  und  später,  wenn  die  letzten  Feigen  reifen,  den 
Herbstregen,  der  den  Winter  ankündigt,  welcher  den  Krähen  lieb 
ist;^  80  nennt  sie  Horaz 

'  Bei    Aldrovandi,   Ornithologia.     Die  Botenkrähe   kommt  oft    in 
Sagen  vor. 

*  Bei  Plutarch   leiten  zwei  Krähen  Alexander  den  Grossen,  als  er  das 
Orakel  des  Zeus  Ammon  befragen  geht 

*  Daher  der  Name  Avis   S.   Martini,    den   auch  die  Krähe  erhalten, 


536 

„Imbrium  dirioa  aris  imminentum«*' ' 

In  einem  schwedische»  Volksliede  wird  der  Botenkrähe  Wass^- 
meth  angeboten;  sie  bittet  jedoch  um  kleine  Körner  fRr  ihre 
Jnngen.  Bei  Afanassieff  VI,  52  wird  die  Krähe  nach  dem 
Wasser  des  Lebens  und  Todes  ausgeschickt;  sie  soll  Versuche 
damit  an  sich  selbst  anstellen^  bevor  sie  es  bringt. 

Doch  aus  der  Dunkelheit  kommt  Licht,  die  Sonne;  aus  der 
schwarzen  Nacht  der  helle  Tag;  aus  der  schwarzen  Krähe  die 
weisse;  daher  finden  wir  im  ersten  ehstnischen  Mährchen  die 
Krähe  als  den  „Lichtvogel"  dargestellt,  ebenso  wie  sie  im  grie- 
chischen Mythus  dem  Apollo  heilig  war.  In  dem  sechsten  sicilia- 
nischen  Mährchen  bei  Frl.  L.  Gonzenbach  tragen  Krähen  den 
Giuseppe^  der  in  einem  aus  getrockneter  Pferdehaut  gemachten 
Sack  eingeschlossen  ist,  auf  einen  Berg,  der  mit  Diamanten  be- 
deckt ist,  und  das  Ei  einer  Krähe  tödtet  das  Riesenungeheuer, 
dem  es  auf  den  Kopf  geworfen  wird.  Im  Pentamerone  IV,  9 
sieht  ein  König  das  Blut  einer  getödteten  Krähe  auf  weissem 
Marmor,  und  wünscht  sich  eine  Braut,  die  so  weiss  ist  wie  der 
Marmor  und  so  roth  wie  das  Blut,  und  Haare  hat,  so  schwarz 
wie  Krähenfedem.  Der  närrische  Held  Iwan,  bei  Afanassieff 
IV,  9,  nennt  die  Krähen  seine  kleinen  Schwestern,  und  streut 
ihnen  die  Mahrung  aus,  welche  in  den  kleinen  Töpfchen  enthalten 
war,  die  er  zum  Verkauf  trägt.  In  deutschen  und  schwedischen 
Volksliedern,  in  denen  die  Krähe  oft  aLs  Beistand  des  schönen 
Mädchens  (der  Sonne)  erscheint,  heisst  sie  der  Bruder  der  Heldin. 
Die  Krähe  ist  der  bekannte  Bote  des  Heiligen  Oswald,  Königs 
von  England.  Die  Krähe  bringt  oft  den  Helden  Glttck,  sogar 
durch   Selbstopferung;    der   Tod   der  Nacht    und    des    Winters 


weil  sie  oft  um  den  Martinstag  kommt.  Bei  Du  Gange  und  in  dem  Ro- 
man du  Renard  finden  wir  ebenfalls,  dass  dem  Fluge  der  Krähe  Auspi- 
cien  entnommen  werden;  über  denselben  Brauch  in  Deutschland  vgL  Sim- 
rock,  a.  a.  O.  p.  546. 

>  Horaz,  Carm.  lU,  27,  10.  —  Bei  Afan.  (IV,  36)  wird  die  Dohle 
gefragt,  wohin  sie  geflogen  ist.  Sie  antwortet:  „Auf  die  Wiesen,  um 
Briefe  zu  schreiben  und  dem  Mädchen  nachiOBeufiien;''  und  das  Mäd- 
chen erhält  den  Rath,  an  das  Wasser  zu  eilen.  Sie  erklärt,  sie  furchte 
den  Krebs.  In  diesem  Mädchen,  das  sich  vor  dem  Krebse  flirohtet,  glaube 
ich  das  Zeichen  der  Jungfrau  (die  von  dem  Krebs  des  Sommers  angeiogea 
wird)  erkennen  zu  dürfen ,  der  Jungfrau ,  welche  sich  dem  Wasser,  dem 
Herbst  und  dem  Uerbatregen  nähert;  der  Jungfrau,  welche  von  der  deo 
Regen  gebenden  Krähe  geliebt  wird. 


J 


537 

bringt  wieder  Tag  und  FrtthUog;  daher  die  bertthmten  Verse 
de8  Horaz : 

^Oscioem  corvum  prece  suscitabo 

Solis  ab  ortu."* 

Mehre  der  mythischen  Charakteristika  der  Krabe ,  ja,  ihre 
Haaptzttge,  werden  anch  der  Elster  (corviis  pica)  beigelegt 
Die  blatte  Elster  scheint  als  Vogel  von  fibler  Vorbedeutung  sogar 
in  ein^n  vedischen  Hymnus  vorzukommen,  in  Verbindung  mit  der 
Auszehrung.^  Bei  Afanassieff  I,  46  stehen  die  Elstern  in 
Beziehung  su  dem  mythischen  Wasser ;  eine  Elster  wird  nach  dem 
Wasser  des  Lebens,  eine  andere  nach  dem  Wasser  der  Sprache 
ausgesandt  7  um  die  beiden  Söhne  eines  Prinzen  und  einer  Prin- 
zessin wiederzuerwecken,  welche  eine  Hexe  während  des  Schlafes 
mit  der  Hand  des  Todes  berührt  hat  Diese  heiden  Ektem 
scheinen  den  beiden  Krähen,  Huginn  und  Muninn  zu  entsprechen, 
welche  der  skandinavische  Gott  Odin  jeden  Tag  in  die  Welt 
sandte,  um  alle  dort  umlaufenden  Neuigkeiten  zu  erfahren,  die  sie 
bei  ihrer  Btlckkunft  ihm  in  die  Ohren  flüsterten.  In  einer  deut- 
schen Sage  bei  Grimm  erseheint  die  Elster  als  Bringer  der  Spring- 
wurzeL  Die  Griechen  und  Römer  betrachteten  die  Elster  als  dem 
Bacchus  heilig,  weil  sie  in  Verbindung  mit  dem  ambrosischen 
Trank  steht;  und  da  Trunkenbolde  geschwätzig  sind,  so  ist  die 
Ehsiter  wegen  ihrer  Geschwätzigkeit  berüchtigt.  Wir  sahen  die 
Dohle  unter  den  Musen;  bei  Theokrit  fordert  die  Elster  die 
Nachtigall  zum  Singkampfe  heraus;  bei  Galen  ist  sie  die  sprich- 
wörtliche Nebenbuhlerin  der  Sirene ;  die  neun  Töchter  des  Euippes 
wurden  in  Elstern  verwandelt,  weil  sie  sich  angemasst  hatten, 
mit  den  Musen  im  Singen  zu  wetteifern,  weshalb  Dante,  die 
Calliope  anrufend,  fortfahren  will,  zu  singen  — 

„con.  quel  SQOno 
Di  cai  le  Piche  mkere  aentiro, 
Lo  oolpo  lal  che  diaper^  perdoao/' 

Der  Leser  kennt  ohne  Zweifel  die  Fabel  von  Ami,  wie  sie  Ovid 
giebl,  die  in  ihrer  Goldgier  ihr  Vaterland  an  den  Feind  verrieth 
und  in  eine  Dohle  (monedula),  die  Freundin  des  Goldes,  verwan- 
delt wurde.  Im  zehnten  Buche  seiner  Geschichte  erzählt  Livtus 
die  Fabel  von  einer  Krähe,  welche  das  Gold  im  Kapitel  ass.  In 
einer  dänischen  Volksballade  wird  der  Botenkrähe  Gold   ange- 


*  Horaz,  Carm   III,  27,  11  f. 

*  Säkam  yakshma  pra  pata  ödtheoa  kikidivina;  Rigv.  X,  97,  13. 


538 

boten;  gleich  dem  Knckuk  antwortet  sie^  sie  wisse  nicht,  was 
damit  anfangen,  nnd  bittet  sich  Krähenfntter  ans.  Die  Elster 
wurde  auch  sprichwörtlich  als  Oold-  und  Silberdieb;  beides  ver- 
steckt sie;  nicht  sowohl  weil  sie  glänzende  Metalle  liebt;  als  viel- 
mehr weil  sie  alles  Helle ;  Glänzende  hasst.  Die  Krähe  und  die 
Elster  verstecken  die  Sonne  und  die  goldenen  Kornähren  in  der 
regnerischen  und  winterlichen  Jahreszeit.  In  der  deutschen  My- 
thologie ist  die  Elster  ein  Vogel  der  Unterwelt;  in  welchen  sich 
oft  Hexen  verwandeln ;  oder  auf  dem  sie  reiten.  Daher  herrscht 
auch  in  Deutschland  der  Glaube ;  dass  die  ELster  während  der 
zwölf  Tage  zwischen  Weihnachten  und  Epiphanias  (wenn  die 
Tage  wieder  länger  zu  werden  anfangen)  getödtet  werden  muss. 
Da  jedoch  jede  Art  von  Bosheit  in  der  Hölle  gelernt  wird;  wurde 
die  Bosheit  der  Elster  sogar  noch  sprichwörtlicher  als  die  der 
Krähe.  Die  Elster  bedient  sich  ihrer  höllischen  Kenntnisse  bald 
um  Uebles  zu  thun ;  als  eine  böse  Fee ;  bald  um  als  gütige  Fee 
den  Menschen  Gutes  zu  thun:  die  Farbe  der  blauen  Elster  er- 
scheint bald  glänzend;  bald  finster;  die  Mischung  von  Weiss  und 
Schwarz  in  der  Farbe  der  Elster  (wie  der  Schwalbe)  repräsen- 
tirt  die  beiden  einander  entgegengesetzten  Seiten;  von  denen  sie 
sich  im  Mythus  zeigt  Im  deutschen  Aberglauben  spricht  die 
Elster  von  dem  Nahen  des  Wolfes;  daher  häit  man  es  fär  un- 
nützen MuthwilleU;  eine  Elster  zu  tödten.  Im  russischen  Volks- 
liede  bestraft  die  Elster  den  lässigen  kleinen  Finger;  der  nicht 
zum  Brunnen  nach  Wasser  gehen  will: 

„Die  Elster,  die  Ebter, 
Hatte  die  Grütze  gekocht, 
Sie  sprang  auf  die  Schwelle, 
Sie  lud  die  Gäste  ein.'*' 

Sie  lädt  alle  Gäste  eiu;  mit  Ausnahme  des  kleinen  Fingers ;  wel- 
cher wegen  seiner  Faulheit  der  kleinste  ist;  —  wir  erwähnten 
schon  den  faulen  kleinen  Bruder;  der  sich  weigert;  Wasser  zu 
holeu;  in  Kapitel  I.  In  Bussland  glaubt  maU;  dass  eine  Elster, 
die  sich  auf  die  Schwelle  eines  Hauses  setzt,  die  Ankunft  von 
Gästen  bedeutet;  dieser  Glaube  erinnert  mich  an  die  Elster  des 


'  Sarövka,  sarövka, 
Kasha  varila 
Na  parök  skakäia, 
Gastiei  sasziväla. 


539 

Petronins :  ^^Snper  limen  antem  cavea  pendebat  aürea^  in  qua  pica 
varia  intrantes  salntabat/'  ^  . 

Wie  die  Krähe  und  die  El^er  in  der  Mythologie  in  Verbin- 
dung mit  dem  Wasser  und  mit  dem  unheilvollen  und  höllischen 
Winter  gedacht  werden,  so  stellt  der  Storch  besonders  die  reg- 
nerische und  winterliche  Jahreszeit  dar.  Der  Reiher^  schon  in 
dem  Kapitel  über  den  Knckuk  erwähnt,  bietet  mehre  der  Gha- 
rakterzttge  des  Storches  im  Mythus.  Bei  Afanassieff  IV,  9 
geht  der  Storch,  mttde  aUein  zu  leben,  zu  dem  Reiher  und  schlägt 
vor,  dass  sie  sich  heirathen.  Frau  Reiher  schickt  ihn  mit  Ver- 
achtung fort.  Doch  kaum  ist  der  Storch  weg,  als  der  Reiher 
bereut  und  seinerseits  dem  Storch  den  Vorschlag  macht;  dieser 
weigert  sich  aus  Eigensinn.  Auch  ihm  thut  es  wieder  leid  und 
er  kehrt  zum  Reiher  zurück;  das  Reiherweibchen  ist  nun  ihrerseits 
verdriesslich  und  giebt  dem  Storch  einen  Korb.  So  geht  es 
weiter;  Storch  und  Reiher  besuchen  einander  und  machen  sich 
gegenseitig  Anträge ;  bis  jetzt  aber  haben  sie  sich  noch  nicht  ge- 
heirathet.  Obwohl  diese  Fabel  eine  satirische  Bedeutung  hat, 
weist  sie  doch  implicite  auf  die  Verwandtschaft  von  Reiher  und 
Storch  hin.  Der  Reiher  und  der  Storch  sind  zwei  Vögel,  welche 
in  gleicher  Weise  das  Wasser  lieben  und  deshalb  zur  Darstellung 
vdes  wolkigen,  regnerischen,  winterlichen,  finsteren  Himmels  dienen, 
der  oft,  wie  wir  schon  sahen,  als  ein  dunkles  Meer  dargestellt 
wird.  Aus  der  Nacht,  der  Wolke  oder  dem  Winter  kommt  die 
junge  Sonne,  die  neue  Sonne,  das  Heldenkind  heraus,  das  im 
Wasser  ausgesetzt  worden  ist;  daher  der  deutsche  Einderglaube, 
dass  die  Störche  die  Kinder  aus  dem  Brunnen  bringen.  ^  Eigent- 
lich wird  jedoch  das  Heldenkind,  so  lange  es  der  Storch  noch 
im  Schnabel  hält,  als  noch  nicht  geboren  betrachtet;  es  wird  erst 
in   dem  Augenblick  geboren,   in  welchem    der  Storch,    seinen 


'  Die  Elster  ist  sprichwörtlich  als  Schwätzerin;  daher  tod  ihrem  ita- 
lienischen Namen  gaiza  das  Wort  gazze^tta  zur  Bezeichnung  der 
Zeitungen  als  Ausplauderem  von  Geheimnissen.  —  Im  Dialogus  Crea- 
turarum,  dial.  80,  heisst  es  von  der  Agazia  genannten  Elster:  „Pica  est 
avis  callidissima . . .  Uaec  apud  quemdam  venatorem  et  humane  et  latine 
loquebatur,  propter  quod  senator  ipsam  plenarie  fulciebat.  Pica  autem 
non  immemor  beneficii,  volens  remunerare  eum,  volavit  ad  Agazias,  et  cum 
eis  familiariter  sedebat  et  humane  sermocinabatur.  Agaziae  quoque  in  hoc 
plurimuro  laetabantur  cupientes  et  ipsae  garrire  humaneque  loquL^* 

*  Daher  im  Volksliede  die  Bitte  an  den  Storch,  ein  Schwesterchen  zu 
bringen ;  vgl.  Kuhn  und  Schwarz,  N.  S.  M.  u.  G.  p.  452.  Als  Brioger  von 
Kindern  ist  der  Storch  der  Feind  der  Schlange;  vgl.  Tzetzes  I,  945. 


/ 


540 

Schnabel  öffnend,  das  Kind  der  Matter  in  den  SchooM  legt.  Der 
Storch  personificirt  den  unheilvollen  Himmel,  den  Himmel,  wenn 
der  himmlische  Held,  die  Sonne,  gestorben  ist.  Daher  in  Deatsch- 
land  der  Glaube,  dass  Störche,  die  über  eine  Sehaar  Menschen 
fliegen,  den  Tod  Eines  derselben  bedeuten;  die  Wolken  and  die 
Schatten,  di^  sich  zusammenziehen,  verkünden  das  Verscheiden, 
den  Tod  der  Sonne. 

In  russischen  Mährchen  haben  wir  den  Storch  von  zwei 
Seiten  (daneben  die,  wahrscheinlich  importirte,  Fabel  von  d^u 
Storch  und  dem  Fuchs  als  Vettern,  die  einander  zum  Abendbrod 
einladen).  Bei  Afanassieff  11,  17  bittet  dn  alter  Mann  den 
Storch ,  ihm^  an  Sohnes  Stelle  zu  sein  (der  Ruf  dei^  Störche  als 
zärtlicher  Väter  und  Söhne  ist  alten  Datums  ^).  Der  Storch  giebt 
dem  Alten  einen  Sack,  aus  welchem  zwei  Jünglinge  hervor- 
kommen, die  den  Tisch  mit  einer  seideneji  Decke  bedecken  und 
ihn  mit  allerlei  schönen  Dingen  besetzen.  Eine  Pathe,  welche 
drei  Töchter  hat,  verwandelt  des  Alten  Sack,  während  er  auf 
dem  Heimwege  ist.  Von  seiner  Frau  ausgelacht  und  geschlagen 
kehrt  der  Aite  zum  Storch  zurück,  der  ihm  einen  anderen  Sack 
giebt,  aus  welchem  wieder  zwei  Jünglinge  herauskommen,  welche 
die  Leute  tüchtig  durchprügeln.  Vermittelst  dieses  Sackes  erlangt 
der  Alte  den  ersten  wieder  und  zwingt  seine  Frau  zum  Gehorsam. 
In  einer  Version  dieses  Mährchens  macht  der  Storch  dem  närri- 
schen Helden  drei  Geschenke  —  ein  Pferd,  das  sich  auf  den  Be- 
fehl stehen  zu  bleiben  in  einen  Haufen  Gold  verwandelt,  und  auf 
den  Befehl  weiter  zu  gehen  wieder  seine  frühere  Gestalt  annimmt ; 
ein  Tischtuch,  das  sich  selbst  aufdeckt  und  abdeckt,  und  ein 
Horn,  aus  dem  die  beiden  Prüge\jüngen  kommen.  Bei  Afanas- 
sieff IV,  37  heibst  es,  der  Storch  sei  der  Bruder  der  Wald- 
sehnepfe;  sie  heuen  zusammen,  sonst  thun  sie  nichts.  Wir  er- 
wähnten im  Kapitel  über  den  Bären  die  Störche,  welche  die  Ernte 
eines  Bauern  verzehren,  der  ihnen  die  Füsse  abzuschneiden  droht 
Sie  werfen  ein  Fass  Wein  um,  um  seinen  Inhalt  zu  trinken;  der 
empörte  Bauer  fasst  sie  und  bindet  sie  an  seinen  Wagen,  doch 
die  berauschten  Störche  sind  so  stark,  dass  sie  Bauer,  Wagen 
und  Pferd  in  die  Luft  heben.  Hier  zeigt  sich  der  Storch  von 
einer  diabolischen  Seite,  als  Repräsentant  der  winterlichen  Jahres- 
zeit; der  Wagen  des  Bauern  ist  der  Sonnenwagen.    Bei  A  fan  as - 

*  Vgl.  Philes  VI,  2,  und  AristophaneB  in  deo  Wolken: 
yy^Bl  %avi  vMOTTOvs  jov  Ttati^a  ndXiv  j^etpuv.^*^ 


Jl 1 


541 

sieff  VI,  5  bindet  ein  betrügerischer  Soli 
dass  er  anf  dem  KUckwege  iirdie  ander 
Störche  anf  die  Weide  führe.  Hier  habeB 
bringende  nnd  bfillische  Natnr  der  Kräht 
ten,  im  arischen  Glauben  eine  der  Gestalt 
der  Abgeschiedenen  annehmen. 


542 


KAPITEL  VII. 
Der  Speeht  und  4er  MartliiSTOfeL 

Der  Specht  hat  die  Ehre  gehabt,  sehon  von  Adalbert  Kahn 
mit  grosser  Gelehrsamkeit  behandelt  worden  zn  sein,  in  dem  treff- 
lichen Werkte  über  das  himmlische  Fener  and  Wasser,  auf  wel- 
ches ich  den  Leser  fUr  die  Hanptmythen,  die  auf  ihn  Bezug 
haben,  verweise,  d.  h.  für  die  Vergleichung  des  vedischen  Falken 
und  des  vedischen  Feuer-bhurai^yu  mit  dem  griechischen  ^oQutvevgf 
dem  römischen  picus  Feronius,  der  incendiaria  avis, 
dem  picus,  der  den  Donner  trägt,  und  dem,  der  den  Zwillingen 
Romulus  und  Remus  Speise  iHingt, '  der  sich  selbst  an  Wein 
ergetzt,  femer  mit  dem  König  Picus,  dem  Stammvater  eines  Ge- 
schlechtes, und  den  entsprechend^i  deutschen  Sagen.  Ich  werde 
hier  nur  auf  die  mythologische  Verwandtschaft  zwischen  picus 
und  corvus  pica  (picumnus  wurde  in  gleicher  Weise  auf  den 
Specht  und  die  Elster  angewandt)  aufmerksam  machen,  um  auf 
das  doppeldeutige  vedische  Wort  v^ika  zurückzukommen,  wel- 
ches Wolf  und  Krähe  bedeutet ;  daher  vielleicht  entstand  auch  die 
Verwirrung  zwischen  der  Wölfin,  welche  die  römischen  Helden 
nährt,  und  dem  Specht,  der  sich  in  derselben  Sage  als  ihr  Er- 
nährer zeigt.  Der  Specht,  die  Elster  und  der  Wolf  personificiren 
in  gleicher  Weise  den  Gott  in  der  Dunkelheit,  den  Teufel,  die 
Wolke,  den  Nachthimmel,  die  Regenzeit,  den  Winter;  aus  der 
Nacht  und  dem  Winter  erhebt  sich,  von  der  Wölfin  oder  dem 
Unglücksvogel  genährt,  die  junge  Sonne;  der  durchdringende 
Schnabel  des  Spechtes  in  der  Wolke  ist  der  Donnerkeil;  in  der 
Nacht  und  im  Winter  ist  es  bald  der  Mond,  der  die  Dunkelheit 
verscheucht,  bdd  der  Sonnenstrahl,  der  aus  dem  Dunkel  dringt. 
Der  Donnerkeil,  der  Mond  und  der  Sonnenstrahl  nehmen  femer 
in  den  Mythen  bisweilen  die  Gestalt  des  Phallus  an;  der  Specht 
als  Phallus  und  der  König  Picus  als  Stammvater  eines  Geschlechtes, 
scheinen   mir  identisch   zu   sein.    Die  römische  Legende  bringt 


'  „Lacte  quia  infantes  nescit  crevisse  ferino 
Et  picum  ezpositiB  saepe  tulisse  cibos?** 

Ovid,  Fasti,  III. 


t 


'• 


543 

picus  in  Verbindung  niit  picumnns^  pilamnas^  pilum  and 
p  ist  OF;  ebenso  wie  ein  norwegisches  Mähreben  deirKaeknk;  den 
wir  als  phallisches  Symbol  schon  kennen,  mit  Mehl  in  Verbindung 
bringt  Im  piemontesischen  Dialekt  ist  der  gemeine  Name  des 
Phallus  piciu;  im  Italienischen  haben  pinco  und  pinoio  die- 
selbe Bedeutung;  pin  ei  one  (franz.  pin  son)  ist  der  Buchfinke; 
und  p  i  n  c  0  n  e  bedeutet  einen  Karren^  aus  demselben  Grunde,  aus 
dem  der  Esel  als  phallisches  Symbol  die  personifidrte  Dummheit 
ist.  Wir  kennen  schon  Indraals  Euokuk,  als  Pferd  und  als 
Falken.  Fttr  Indra  als  Specht  bietet  uns  der  Taittirtya-Brähma^a 
eine  beachtenswerthe  Analogie.  Indra  tödtet  dort  den  wilden 
Eber,  der  in  sieben  Bergen  (den  Schatten  der  Nacht,  den  Wolken) 
eingeschlossen  ist,  indem  er  sie  durch  die  Berührung  mit  dem 
Stiel  eines  heiligen,  glänzenden  und  goldenen  Krautes  au&pringen 
lässt  (sa  darbhapin^am  uddhritya  sapta  girtn  bhittvä  ^) ;  dieser 
kann  der  Mond  in  der  Nacht  oder  aber  der  Donnerkeil  in  der 
Wolke  sein;  der  Donnerkeil  wird  in  arischen  Sagen  auch  nicht 
selten  als  eine  Zauberruthe  dargestellt  Mit  einer  goldenen  Ruthe 
verwandelt  im  siebenten  Buche  der  Aeneis  die  Zauberin  Circo 
den  weisen  König  Picus,  den  Sohn  des  Saturn  (als  Jupiter-Indra ; 
Suidas  spricht  auch  von  einem  /Z^xog  Zetig,  der  in  Greta  begraben 
ist)  in  einen  Vogel,  in  den  picus,  der  dem  Qott  der  Krieger 
(Mars-Indra)  heilig  ist;  daher  sein  Name  picus  martius,  der 
Specht,  welcher  Regen  verkttnden  soll  (gleich  Zeus  und  Indra)  — 

„Pictts  equüm  domitor,  quem  capta  capidine  conjus, 
Aurea  percussum  virga,  versa mque  yenenis, 
Fecit  avem  Circe,  sparaitque  coloribas  alas.'* 

Plinius  berichtet,  dass  der  Specht  die  Fähigkeit  besitzt,  jeden 
verschlossenen  Ort  zu  öfhen,  indem  er  ihn  mit  einem  gewissen 
Kraut  berührt,  das  mit  dem  Monde  zunimmt  und  abninunt ;  ^  dieses 


'  Vergleiche  pii&^üla  mit  pii&gala  und  piÄ^ara.  ~  Rigv.  X,  28, 
9  haben  wir  ebenfalls  den  Berg,  der  mit  einem  Erdhaufen  verschloBsen  ist : 
Adrim  logena  vy  abhedam  ärftt  Diese  Analogie  ist  um  so  beachtens- 
werther,  als  in  demselben  Hymnus,  Strophe  4,  von  dem  wilden  Eber  die 
Bede  ist. 

*  Dieselbe  Kraft,  den  Berg  vermittelst  eines  Krautes  su  öffnen,  finde 
ich  dem  Martinsvögelchen  zugeschrieben  (wahrscheinlich  ist  der  Krieger 
Martinus  ein  blosses  Pendant  des  römischen  Martius,  und  der  Mar- 
tinsvogel nichts  Anderes  als  der  Pi|cus  Martius),  in  Verbindung  mit 
der  Venus,  bei  Simrock,  a.  a.  O.  p.  415  „Schon  in  einem  Gedichte  Meister 
Altschwerts,  ed.  Holland,  S.  70,  wird  der  Zugang  zu  dem  Berge  durch  ein 


\ 


544 

Kraut  ist  vielleicht  der  Mond  selbet;  welcher  die  Verstecke  der 
Nacht  öfimct,*  oder  der  Donnerkeil;  welcher  die  Verstecke  der 
Wolken  erschliesst.  In  den  yedisohen  Hymnen  wird  Indra^  ge- 
wöhnlich der  Regen-  nnd  Donnergott^  oft  mit  dem  Soma  (Ambrosia 
und  Mond)  vereinigt;  ja  sogar  mit  ihm  identificirt.  Plinins  be- 
merkt ttberdies;  dass  wer  mit  dem  Sohnabel  eines  Speohtes  Bienen 
ans  dem  Bienenstock  nimmt;  v(m  den  Bienen  nicht  gestochen  ivird ; 
dieser  Honig  kann  der  Regen  in  der  Wolke  ebenso  wie  die  Mond- 
Ambrosia  oder  der  Than  der  Morgen-Anrora  sein;  daher  der 
Sehnabel  des  Spechtes  eb^sowohl  der  Donnerkeil  als  der  Mond- 
strahl oder  der  Sonnenstrahl.  Beownlf  (der  Bienenwolf)  wird 
ebensowohl  in  Zusammenhang  mit  dem  Specht  als  mit  dem  Bären 
gebracht;  der  ;;Bienen{ressei^^  deutscher  Sagen  oder  die  pica 
m  crops  erklärt  den  römischen  Aberglauben  und  den  Beowulf. 
Gleich  der  Krähe  hält  sich  auch  der  Specht  im  Dunkeln  auf,  deeh 
bringt  er  Wasser;  sucht  nach  Honig  und  findet  das  Licht  In  der 
Aulularia  spricht  Plautus  von  ;;pici;  qui  aureos  montes  incolunt^^ 
Sofern  die  Spechte  das  Nahen  des  Winters  verkündeten  oder  zur 
Linken  gesehen  wurden,  waren  sie  nach  dem  bekannten  Spruch 
des  Horaz:^ 

„Teqne  tiec  laevos  vetet  ire  picus^, 

Vögel  von  schlinmer Vorbedeutung.  ImOrnithologus  heisst  es, 
dass  der  grüne  Specht  (der  Mond,  nach  der  vorerwähnten  Doppel- 
deutigkeit von  h  a  r  i)  den  Winter  vorbedeutet  (der  Mond,  wie  wir 
schon  sagten;  regiert  den  Winter).  Aus  diesem  Grunde  konnte  St 
Epiphanios  den  Specht  mit  dem  Teufel  vergleichen.  Nach  Plinius 
verkündete  der  Specht,  der  sich  dem  Prätor  Lucius  Tubero  auf 
den  Kopf  setzte,  während  er  sein  Richteramt  verwaltete,  dem  Reiche 
baldigen  Untergang,  wenn  man  ihn  frei  liessC;  dem  Prätor  aber 
baldigen  Tod;  wenn  man  ihn  tödtete;  Lucius  Tubero,  von  Liebe 
zu  seinem  Vaterlande  durchdrungen,  ergriff  den  Specht,  tödtete 
ihn  und  starb  selbst  bald  darauf.  So  konnte  Plinius  die  Spechte 
mit  Rec^t  „in  auspiciis  magni'^  nennen. 

Bei  Afanassieff  IQ;  20  lässt  sich  der  Specht,  der  gewöhn- 


Kraut  gefanden,  das  der  Springwnrzel  oder  blauen  Schlüstelblume  unserer 
Ortssageu  gleicht«  Kaum  hat  es  der  Dichter  gebrochen,  so  kommt  ein 
Martiosvogelchen  geflogen,  das  guter  Vorbedeutung  zu  sein  pflegt;  diesen 
folgt  er  und  begegnet  einem  Zwerge,  der  ihn  in  den  Berg  su  Frau  Venus 
fuhrt.« 

^  Carn.  Itl,  S7. 


_. — J 


540 

lieb  als  ein  sehr  sehlauer  Vogel  ersebeint^  von  dem  Faebs  tänscben, 
der  seine  Jangen  frisst  ^  unter  dem  Verwände ,  ibnen  eine 
Kunst  zu  lehren.  IV,  25  zeigt  sieh  dagegen  der  Speeht  von  einer 
beroiseben  und  furchtbaren  Seite.  Er  scbliesst  Freundschaft  mit 
einem  alten  Hunde,  der  aus  seiner  Hütte  vertrieben  worden  ist^ 
und  bietet  ihm  seine  Dienste  als  Quartiermacher  und  Lieferant  an. 
Eine  Frau  bringt  ihrem  Manne^  der  auf  dem  Felde  arbeitet^  das 
Mittagessen.  Der  Specht  fliegt  vor  ihr  her  und  thut  so,  als  ob 
er  sich  fangen  lassen  wolle ;  um  ihm  besser  nachlaufen  zu  können^ 
stellt  die  Frau  das  Essen  auf  den  Boden  und  der  Hund  verspeist 
es  (in  einer  Variation  dieses  Mährchens  verschaff;  der  Speeht  dem 
Hunde  auf  ähnliche  Weise  Etwas  zu  trinken).  Darauf  trifiHt  der 
Hund  den  Fuchs ;  dem  Specht  (der  sich  vielleicht  der  Verrätherei 
des  Fuchses^  welcl^er  seine  Jungen  gefressen,  erinnerte)  zu  Gefallen 
rennt  er  gegen  den  Fuchs  los  und  misshandelt  ihn.  Ein  Bauer 
kommt  vorbei  und  prügelt  den  armen  Hund  zu  Tode.  Der  Specht 
wird  vor  Rachewuth  ganz  toll  und  fängt  an  auf  den  Bauer  und 
seine  Pferde  loszuhacken.  Der  Bauer  will  den  Specht  peitschen, 
statt  dessen  peitscht  er  seine  Pferde  zu  Tode.  Doch  des  Spechtes 
Rache  ist  noch  nicht  befriedigt;  er  geht  zur  Frau  des  Bauern 
und  hackt  auf  sie  ein ;  sie  will  ihn  schlagen,  schlägt  aber  statt 
dessen  ihr^  eigenen  Söhne  (es  sind  das  zwei  Variationen  des 
Mährchens  von  der  Mutter,  welche  ihren  Sohn  schlägt  und  den 
Esel  meini,  der,  wie  schon  bemerkt,  als  Phallus  dem  Spechte  ent- 
spricht. Der  Mythos  von  Silenos,  den  wir  in  Verbindung  mit  dem 
Esel  sahen,  ist  ebenfalls  schon  von  Ad.  Rabe  in  seiner  Beziehung 
auf  den  Specht  besprochen  worden.  Im  dritten  Buche  des  Pan- 
catantra  haben  wir  einen  Vogel,  der  Oold  fallen  lässt,  ein 
Charakteristikum  des  Esels  in  Feenmährchen).  Hier  hat  der  Specht 
dieselbe  Stellung,  wie  in  einem  anderen  schon  erwähnten  rus- 
sischen Mährchen  der  winterliche,  Uebel  bedeutende  Storch,  die  in 
der  Dunkelheit  der  Wolke  versteckte  Sonne. 

Der  Eisvogel,  der  Sturm  ankündigt  und  der  Vogel  St.  Mar- 
tins haben  dieselbe  winterliche  und  phallische  Natur  wie  der 
Specht.  Im  Piemontesischen  wird  ein  Dummkopf  spottweise  Mar- 
tin-Piciu  (was  uns  an  den  picus  pistor  und  den  picus  mar- 
tins erinnert)  genannt ;  der  oben  angeführte  italienische  Ausdruck 
p  i  n  c  0  n  e  hat  dieselbe  Bedeutung.  Die  Sonne,  die  sich  in  Dunkel- 
heit oder  Wolken  verbirgt,  verliert  ihre  Macht  Das  Symbol  des 
Phallus  ist  evident  Hier  beachte  die  griechische  Fabel  von  dem 
Vogel  ivy^  rer^oxvajuo^,  mit  den  vier  Strahlen,  der  langen  Zunge, 

QnbcriMtti;  dl«  ThtoM.  35 


546 

immer  veräDderlicb  (die  Franzosen  nennen  ihn  paille  en  cul).  Pan 
soll  der  Vater  eines  Mädchens  gewesen  sein,  Jynx,  welche  den 
Zeus  zu  verfuhren  versachte  und  deshalb  von  der  rachsüchtigen 
Hera  in  einen  Vogel  gleichen  Namens  verwandelt  wurde.  Bei 
Pindar  bedient  sich  Jason  dieses  Vogels^  der  Gabe  der  Aphrodite, 
um  die  Gunst  Medeas  zu  erlangen.  Bei  Theocrit  wird  dieser 
Vogel  von  verliebten  Mädchen  angerufen,  die  Liebsten  ins  Haus 
zu  ziehen;  Weiber  bedienten  sich  dieses  Vogels  bei  ihren  Unheil 
stiftenden  Liebesmysterien. 

Nach  Aristoteles,  Thiergeschichte  V,  sitzt  der  Eisvogel 
auf  seinen  Eiern  an  heiteren  Wintertagen,  weshalb  diese  rifiiqat 
aXtjo&vtvai  genannt  werden;  der  Stallt  citirt  einen  Spruch  des 
Simonides  über  diesen  Vogel :  „Wenn  Zeus  in  der  Winterszeit  zwei- 
mal sieben  warme  Tage  werden  lässt,  so  sagefi  die  Sterblichen: 
,Diese8  laue  Wetter  nährt  die  buntgezeichneten  EisvögeK"  Ovid 
erzählt,  dass  Alcyon  in  den  Vogel  dieses  Namens  (den  Eisvogel) 
verwandelt  wurde,  als  sie  um  ihren  im  Meer  ertrunkenen  Gatten 
weinte;  daher  sang  Ariost: 

,,£  8*udir  le  Alcione  alia  marina 
Dell*  antico  infortanio  lamentarse.'^ 

Die  Eisvögel  wurden  bekanntlich  von  den  Seeleuten  als  Wetter- 
propheten angesehen ;  ja  sogar  die  todten  Eisvögel  trocknete  man 
und  hängte  sie  auf,  um  sich  ihrer  als  eines  Kompasses  zu  be- 
dienen. Deshalb  hat  Shakspeare  die  Hofschranzen  mit  dem  Eis- 
vogel vergliche;],  der  in  seinen  Bewegungen  der  Richtung  des 
Windes  folgt  Dieser  Vogel,  mehre  Spechtarten,  der  Zaunkönig, 
die  Krähe  und  das  Rothkehlchen  (schottisch:  Robin  Redbreast, 
englisch  auch  ruddock  and  Robin-ruddock  genannt),  welches  „with 
charitable  bilPS  nach  dem  Ausdruck  Shakspears  in  Cymbeline> 
auf  unbegrabene  Leichen  Grabesblumen   wirft,  ^   sind  sämmtlich 


>  „Thou  shalt  not  lack 
The  flower  that's  like  thy  face,  pale  primrose;  nor 
The  azured  hare-bell,  like  thy  veins;  no,  nor 
The  leaf  of  eglantine,  whom  not  to  slander, 
Out-sweetened  not  thy  breath;  the  mddock  would, 
With  charitable  bill  (0  bill,  sore-shaming 
Those  rich-left  heirs,  that  let  their  fathers  lie 
Without  a  monument!),  bring  thee  all  this/* 

IV,  2. 
'  Vgl.  das  über  den  Wiedehopf,  den  Storch  und  die  Lerche  Gesagte. 
--  Ueber  den  Vogel  gaulus  finde  ich  bei  Du  Gange  Folgendes:  „Gaulus 


547 

Vögel,  welche  dem  St.  Martin;  dem  heiligeo  Todtengräber,  dem 
*ringer  des  Winters  heilig  sind,  der  nach  celtischen  und  deutschen 
Sagen  seinen  Mantel  mit  den  Armen  theilt.  Deutsche  Legenden 
sind  reich  an  Begebenheiten,  die  sich  an  diesen  unheilvollen  und 
winterlichen  Vogel  knüpfen,  welfetem  bald  der  norwegische  6er- 
trudenvogel,  bald  der  Kuckuk,  bald  die  avis  incendiaria  ent- 
spricht. Daher  heisst  dasselbe  Rothkehlchen,  das  in  der  deutschen 
Sagö  dem  St.  Martin  heilig  ist,  in  den  von  Viliemkrqü6  heraus- 
gegebeneü  Volksliedern  der  Bretagne  Jean  rouge-gorge  und 
ist  dem  St.  Johannes  heilig ;  doch  kann  dieser  Johannes  der  Winter- 
johannes &eiri,  dessen  Fest  am  27.  December,  d.  h.  zwei  Tage 
nach  der  Geburt  Christi,  feefeiert  wird,  in  den  Tagfen,  an  welchen 
der  HMland,  die  Sonne,  Wiedergeboren  wird  und  das  Licht  zu- 
nlmmi  Vögel  von  derselben  unheilvollen  Natur  wie  der  des 
HIgen  Mä,rtin  erscheinen  in  dem  bretägnischen  Llede  Bran  (oder 
der  Kriegsgefangene):  —  „In  Kerioan,  auf  dem  Schlachtfelde, 
steht  eine  Eiche,  die  ihre  Zweige  Ober  das  Gestade  ausbreitet; 
es  steht  eine  Eiche  auf  dem  Platze,  wo  die  Sachsen  vor  Evan  dem 
Grossen  die  Flucht  ergriffen.  Auf  dieser  Eiche  halten  beim  nächt- 
lichen Mondesglanz  Vögel  eine  Zusammenkunft,  Vögel  mit  weissem 
und  schwarzein  Gefieder  und  eineit  kleinen  Blutfleck  am  Kopfe; 
mit  ihnen  kommt  eine  alte  graue  Krähe  und  zugleich  eine  junge 
Krähe.  Beide  sind  sehr  müde  und  ihre  Flttgel  sind  nass;  sie 
kommeti  von  jenseit  des  Meeres,  sie  kommen  fernher;  und  die 
Vögel  singen  ein  so  schönes  Lied,  dass  das  gross^^  Meer  besänftigt 
schweigt  und  aufhorcht ,  dieses  Lied  singen  sie  mit  einer  Stimme, 
mit  Ausnähme  der  alten  und  der  jungen  Krähe,  sobald  die  Krähe 
gesagt  hat :  ,Singt,  Vö^elchen ;  singt,  singt,  Vögeichen  vom  Lande ; 
ihr  rtferbt  nicht  weit  von  der  Bretagne*/'  Dieselben  Trauervögel, 
die  mit  den  Todten  Mitleid  haben,  wie  der  Storch,  tragen  auch 
Sbrge  für  Neugeborene  und  bringen  das  Licht  heraus.  Das  wol- 
kige, nächtliche  oder  wiMerliche  Ungeheuer  deckt  seine  Schätze 
auf;  der  Leichfenvogel  bfegräbt  die  Todten  und  erweckt  sie  wiedet 
zum  Leben;  sein  Schüabel  dringt  durch  den  Berg,  findet  das 
Wasser  tmd  das  ^euer  und  zerreisst  den  Schleier  des  Todes ;  sein 
gläni&ender  Kopf  verscheucht  die  düsteren  Schatten. 


MeropB  a^i^  a)libu8  fnfeüfia,  unde  et  Apiastira  Vocitatur.  Pa|)iä6:  ^Meropes, 
Gentfd  avium,  idem  et  GauK,  qui  parentes  sues  recondere,  et  alere  dicttntur, 
sunt  autem  virides  et  vocantur  ApiastraeS^* 


35* 


548 


KAPITEL  VIII. 
Die  Lerche  und  die  Wachtel. 

Der  Haubenlerche  wird  id  den  Vögeln  de?  Aristophanes  der 
Name   König  gegeben,   und   es   wird  ihr   derselbe   Liebesdienst 
gegen  Leichen   beigelegt,    den  wir  schon  beim  Rothkehlchen  des 
Winters,  beim  Storch  und  beim  Wiedehopf  gefunden  haben.  Nach 
Aristophanes  war  die   Lerche  nicht   nur  das  erste  aller  Thiere, 
sondern  bestand  auch  vor  der  Erde  und  vor  den  Göttern  Zens  und 
Kronos  und  den  Titanen.    Daher  war,  als  der  Vater  der  Lerche 
starb,   keine  Erde  da,  ihn  zu   begraben;    da  begrub  die  Lerche 
ihren  Vater  in  ihrem  eigenen  Kopfe  (oder   in  ihrem  pyramiden- 
artigen Kamme).    Goropius  erklärt  den  Glauben,  dass  die  Lerche 
vor  der   Erde   existirte,   mit   der   Bemerkung,   dass   die  Lerche 
sieben  Mal  des  Tages  den  Preis  Gottes  in  den  Lüften  sang,  und 
dass  Gebet   das  Erste  war,   was   in  der  Welt   existirte.    In  der 
indischen  Kosmogonie  schafft  Pragäpati,  der  Schöpfer,  als  er  sich 
vervielfältigen  will,  zuerst  den  Stoma  oder  Hymnus.^    Det  Vater 
der  Lerche  ist  also  der  Gott  selbst.    Die  Haubenlerche  ist  identisch 
mit   der  einen  Kamm  tragenden,  d.   b.  Strahlen  entsendenden 
Sonne.    In  der  Legende  vom  Hlgen  Christophorus   sehe  ich  ein 
Wortspiel  zwischen  den  Wörtern  Christus  und  crista;  in  jedem 
Falle  sehe  ich  darin  eine  Personification  der  Sonne.    St  Christo- 
phorus trägt  in  der  Legende  Christus  und  ist  mit  der  Lerche  ver- 
bunden.   Als  Goropius  als  Kind  ein  Bild  sah,  welches  den  Hlgen 
Christophorus  darstellte,  wunderte  er   sich,  dass  die  Lerche  nicht 
vor  dem  Baum-Stabe  des  Heiligen  floh,   während  doch  vor   ihm 
die  Sperlinge  flohen,  sobald  er  sich  ihnen  näherte;  er  erhielt  die 
Antwort,  dass  die  Lerche  sich  vor  dem  Hlgen  Christophorus  des- 
halb nicht  fürchtet,  weil  sie  auf  der  Schulter  des  Heiligen  ihren 
Schöpfer,  Gott,  sieht.    Christus,  der  Vater  der  Lerche,  stirbt,  und 
die  Lerche  begräbt  ihn  in  ihrer  crista.    Ebenso  machte  ein  Wort- 
spiel aus  der  alauda  die  laudatrix  Dei;   so  scheint  mir  das 
Wortspiel  mit  crista  und  Christus  in  die  Legende  vom  Hlgen 
Christophorus    eingedrungen    zu  sein.    Im   neunzehnten    mongo- 

'  Taittirtya  Yagurv.  VII,  1,  4. 


549 

liscben  Mährchen  macht  der  arme  jnnge  Mann  sein  Glttck,  als 
er  eine  Lerche  anf  seines  Vaters  Grabe  hört^  die  sich  aal  den 
Webestahl  gesetzt  hat  Die  Lerche  ist  eine  Erscheinangsform  des 
jungen  Mannes  selbst,  der  jungen  Sonne,  welche  aas  arm  reich 
wird ;  der  Webestuhl,  auf  welchen  sich  die  Lerche  setzt,  ist  der 
Himmel.  Der  griechische  Name  der  Haubenlerche  {xo^vdog,  TcoQvdaXri) 
entspricht  dem  lateinischen  galerita.  Suetonius  erzählt  von 
Julius  Caesar :  *  ,, Ad  legiones,  quas  a  republica  acceperat,  alias 
private  sumptu  addidit,  unam  etiam  ex  Transalpinis  conscriptam, 
vocabulo  quoque  gallico  (Alauda  enim  appellabatur).'^  Die  äso- 
pischen Fabeln  von  der  Mutterlerche  mit  ihren  Jungen  und  von 
der  Lerche  und  dem  Vogelfönger  zeigen  uns  diesen  Vogel  schlau 
und  weise.  Da  die  Lerchen  den  Preis  Gottes  nur  singen,  wenn 
der  Himmel  heiter  ist,  und  da  sie  den  Morgen  und  den  Sommer 
verkünden,  *  so  stellen  sie  die  Sonne  dar,  welche  Alles  erleuchtet^ 
welche  selbst  allglänzend,  allsehend  (v  i  {  v  a  v  e  d  a)  ist,  die  goldene 
Sonne.  Im  dreizehnten  ehstnischen  Mäbrchen  soll  das  schlafende 
Mädchen  erwachen,  wenn  es  wieder  das  Sommerlied  der  Lerche 
hört.  (Hier  ist  das  Mädchen  die  Erde,  welche  im  Frühling  er- 
wacht.) 

Der  indische  Name  der  Lerche  ist  nicht  weniger  interessant  als 
der  lateinische  Alauda.  Bharadväga  oder  Lerche  kann  den 
Bringer  von  Speise  und  Gütern  ebensowohl  bedeuten  als  den 
Bringer  von  Tönen  (den  Hymnensänger)  und  den  Opferer.  In 
dieser  dreifachen  Erklärung,  welche  das  Wort  Bharadväga 
zulässt,  scheint  fast  der  ganze  Mythus  von  der  Lerche  enthalten. 
Bharadväga  wird  dann  auch  der  Name  eines  berühmten  Dichters 
und  eines  der  berühmten  mythischen  sieben  Weisen,  welcher  naeh 
der  Sage  von  einer  Lerche  mit  Nahrung  versehen  wurde,  und 
welcher  der  Sohn  des  Bphaspati,  des  Gottes  des  Opfers,  Feuer,  sein 
soll,  identisch  mit  Divodäsa,  einem  der  Lieblinge  des  Gottes  Indra, 
welcher  für  ihn  die  starken  himmlischen  Städte  Qambaras  z^^tört 
Auch  das  Taittiriya-Brähmana  zeigt  uns  den  weisen 
Bharadväga  in  Verbindung  mit  Indra.  Bharadväga  ist  alt  ge- 
worden, indem  er  drei  Stufen  des  Lebens  eines  eifrigen  Büssers 
durchmachte ;  Indra  naht  sich  dem  greisen  Weisen  und  fragt  ihn, 
wie  er  seine  Lebenszeit  anwenden  würde,  wenn   er  noch  viele 

■  Vita  Caes.  cap.  24  (ed.  Roth). 

*  Daher  enählt  Gregorius  von  Tour  bei  Du  Gange:  »^o  Ecclesia  Ar- 
verna, dum  matutinae  eelebrarentur  Vigiliae,  in  quadam  civitate  avis  Cory- 
dalus,  quam  Alaudam  vocamus,  ingressa  est.*^ 


Jahre  zu  leben  hätte.  Der  Weise  antwortet;  daßs  er  die  l^asse 
und  ernste  Beschäftigung  fortsetzen  wtt|*de.  In  den  dr^i  ^rßteq 
Stufen  seines  Lebens  hat  Bh^radvaga  di?  drei  Ved^  stjudirt  (der 
Atharvaveda  ist  erßt  später^  und  v^ird  auph  beut  90cb  nicht 
als  ein  heiliges  Buch  anerkannt).  Ip  der  vieftei^  Periode  \^rx^t 
Bharadväga.  s^rvavidyd;  Universalwis^ns^baft;  wird  t^nst^rbliob 
und  steigt  im  Vereiamit  der  Sonne  (ädf  tjasja  sayp^am)  iq  deq 
Himmel  auf. 

Die  Wachtel  steht  ebenfalls  in  inniger  Bezie)iiu^g  %\x  Her 
SommersonnC;  doch  besonders  zii  dem  Mo^ide. 

Vartikä  und  vartaka  sind  ihre  indischen  ^i^ßn,  welche  ^\p 
Lebhafte;  Schnelle;  Wachsame  (ygl.  deuteches  Wachtel)  uqA 
Pilger  (ygl.  russisches  perepiolj^a)  b^defiten.  Im  Qigyedf^ 
befreien  di^  A^yins  die  Wachtel  aus  Qufden ;  9\ß  e^löa^n  4if) 
Waclitel  yon  der  Wptb  de9  Wolfep ;  ^je  rettep  sie  aif s  dep)  Rachen 

•  

des  WolfeS;  der  sie  yer^oUingt.  *  ßei  Af^p^ssie^ff  VI,  41 
kommt  das  weise  Mädchen  auf  einem  Hasßp  m^^  ^^^^  W^htßl 
an  ihre  Band  gebunden,  und  stellt  sich  dem  T^r^n?  dessep 
Räthsel  sie  lösen  mps9>  um  ihp  zp  heirat|)^.  Diese  Wacl^t^  ist  d^ß 
Symbol  des  Tzaren  selbst  oder  der  Sonne ;  das  weise  Mädqh^p  ii^ 
die  Aurora  (od^r  f}er  fVUhlipg);  welctfe  auf  d^m  ^i^^ßp^,  d.  \\.  auf 
dem  MdudC;  die  Schatten  ^qt  Nacht  (oder  4ßs  W^p);ßrs)  durch- 
eilend der  Sonne  nahe  koipmt.  Die  Griect^en  und  ^ömer  glapb^n, 
yielleicht  w^il  sie  di^  Bemerkung  ufachteu;  das»  der  Mqqd  der 
Wfu^btel  den  ^chli^f  benimmt;  dai^  die  Wachtel  deir  Litt^na  heilig 
war,  und  berichten;  dass  Jppilier  eipe  Wachtel  wurde,  um  h|^i  der 
Latona  zu  liegep;  aus  welctier  Vereinigung  Diapi^  un^  Appllo 
(Mond  und  Soune)  heryorgingen.  ^    Andere  yers^cl^em  auph,  d$^ 


'  Vartikäm  grasitftm  amundatam;  Rigv.  I|  112,  8.  —  Amui<^taih  var- 
tik&m  anbaaal^;  I,  118,  8.  —  Asno  vrikAsya  varttkftm  abbike  yavaä  narä 
näsatyamamaktam;  I,  U6,  14.  —  Vrikai^a  <Ud  vartikäm  antar  ^yftd  jp^ya^i 
^gibhir  grasitilm  i^muj&iSatam;  ^  39,  Iß. 

*  Diese  Fabel  wird  auch  anders  erzählt:  Jupiter  wohnt  der  Latopa 
bei,  und  schändet  dann  ihre  Schwester,  Asteria,  welche  von  den  Göttern 
aus  Erbarmen  in  eine  Wachtel  verwandelt  wird.  Jupiter  wird  ein  Adler, 
um  sie  zu  fangen;  die  Gotter  verwandeln  die  Wachtel  in  einen  Btein  — 
(ygt.  die  Erzählungen  von  Indra  al^  K^cf^u^  un4  ^pih^ft,  yc\^  Ii^c^a  ^ 
Hahn  und  Ahalyft.  Es  ist  ein  Volksglauben,  dass  Wachteln,  gleich  dem 
Kranich,  wenn  sie  wandern,  kleine  Steine  fallen  lassen,  um  bei  ihrer 
Btickkehr  die  Orte,  an  denen  sie  vorbeigekommen  sind,  wiederzuerkennen) 
—  der  lange  Zeit  im  Wasser  liegt,  bis  er  auf  das  Gebet  der  Latona 
herausgenommen  wird. 


551 

die  Wivchtci  deqi  Hercules  heilig  war,  welcher  durph  den  Geruch 
einer  Wachtel  sein  Leben  wiedererlangte,  als  eei  ihm  Typhon 
geoammen  hatte.  Die  aus  der  Gewalt  des  Wolfes  befreite  Wachtel 
der  Veden  und  der  durch  die  Wachtel  von  dem  Ungeheuer 
Typhon  befreite  Hercules  sind  offenbar  zwei  analoge  Gestalten 
desselben  Mythus.  Es  herrscht  der  Glaube,  dass  hei  Aufgang  des 
Mondes  di^  ^Wachtel  schreit,  auch  dass  ihr  Kopf  nach  Einfluss  des 
Mondes  grösser  oder  kleiner  wird.  Da  die  Wachtel  die  Sonne 
darzustellen  scheint  und  die  Hitze  liebt,  so  fürchtet  sie  den  kalten* 
Mond.  Aus  diesen  mjrthischen  Beziehungen  der  Wachtel  leitete 
sich  ohne  Zweifel  die  Furcht  her,  welche  die  Alten  vor  der 
Wachtel  hatten,  die  nach  ihrem  Glauben  während  der  Nacht 
giftige  Nieswurz  ass  und  deshalb  giftig  und  epileptisch  war. 
Plutarch  berichtet  in  den  Apophthegmata,  dass  Augustus 
einen  Statthalter  von  Aegypten  mit  dem  Tode  bestrafte,  weil  er 
eine  Wachtel  gegessen  hatte,  die  den  Preis  bei  dem  Kampfe  davon 
getragen  hatte;  es  herrschte  nämlich  lange  der  Brauch,  Wachteln 
mit  einander  kämpfen  zu  lassen,  ebenso  wie  in  Athen  das  Wachtel- 
spiel eine  beliebte  Unterhaltung  war;  bei  diesem  Spiel  wurden 
mehre  Wachteln  in  einen  Kreis  gestellt,  und  wer  eine  traf,  bekam 
alle  anderen.  Nach  Artemidor  zeigten  Wachteln  ihren  Ernährern 
das  Unglück  an,  von  dem  sie  heimgesucht  werden  würden  von 
Seiten  des  Meeres.  Die  Wachtel,  welche  gegen  den  Mond  erregt 
ist  (so  schreibt  Aelian,  dass  der  Hahn  erregt  ist  und  frohlockt, 
wenn  der  Mond  aufgeht  *),  prophezeit  die  hässliche  Jahreszeit,  die 
Regen-  oder  Winterszeit,  und  zieht  auch  selbst  in  wärmere 
Gegenden.  Die  Wachtel  wacht,  wandert  und  schreit  während 
der  Nacht;  nach  der  Anzahl  der  Rufe,  die  sie  nacheinander  auf 
den  Feldern  ausstösst,  schliessen  die  toscanischen  Bauern  auf 
den  Preis  des  Getreides,  gewöhnlich  wiederholt  sie  ihren  Ruf  vier 


'  Aelian  sagt,  dass  der  Hahn  beim  Monde  in  Gunst  steht,  sei  es  weil 
er  der  Latona  in  Kindesnöthen  beistand,  oder  weil  er  gewöhnlich  (als 
Symbol  der  Fruchtbarkeit)  für  den  Erleichterer  von  Geburten  gehalten 
wurde.  Es  war  natürlich,  die  Wachtel,  ein  wachsames  Thier,  als  dem 
Monde,  dem  nächtlichen  Wächter  besonders  lieb  zu  betrachten.  —  Der 
Hahn  war  als  Neuigkeitenbringer  dem  Merkur  heib'g;  als  Heiler  vieler 
Krankheiten  dem  Aesculap;  als  Krieger  dem  Mars,  Hercules  und  der 
Pallas,  welche  nach  Pausanias  eine  Henne  auf  ihrem  Helme  trug;  als 
Vergrösserer  der  Familie  den  Laren  etc.  etc.  Sogar  die  Pfaffen  ver- 
schmähen es  nicht,  ad  majorem  Dei  gloriam  Huldigungen  in  Gestalt  von 
Hähnen,  Kapaunen  und  Hühnchen  anzunehmen. 


552 

er  mebr  Mal;  schreit  sie  drei  Ua),  so  wird  das  Getreide  billig, 
ireit  sie  öfter,  so  wird  ea  thener  sein ;  deshalb  sagt  man,  daas 
;  Wachtel  den  Preis  des  Getreides  macht  Die  Wachtel  kömmt 
t  der  Sonne  im  Frtthling  and  geht  mit  der  Sonne  im  September. 
I  Mahäbhärata'  erscheint,  als  der  Held  Bhima  von  einer 
ormen  Schlange  bedrängt  wird,  eine  Wachtel  nahe  der  Sonne, 
nkel  (pratyädityamabbäsTarä),  mit  nur  einem  Ftttgel,  einem 
Ige  nnd  einem  Fusse,  entsetzlich  anznschauen,  Blnt  spuckend 
Lktam  vamanti).  Diese  Wachtel  stellt  wohl  den  rothen  Abend- 
umel,  im  Westen,  oder  den  rothen  Himmel  am  Ende  des 
mmers  dar. 

>  111,  12437. 


553 


KAPITEL  IX. 
Der  Uakn  und  die  Henne. 

•  UlenTQvoiv  war  der  Gefahrte  und  Trabant  des  Mars. 
Als  Mars  in  Abwesenheit  des  Volcan  die  Nacht  bei  der  Venus 
zubringen  wollte,  stellte  er  den  Alektryon  als  Wächter  an  die 
Thttr.  Alektryon  jedoch  schlief  ein,  und  Mars,  von  dem  heim- 
kehrenden Gatten  überrascht,  verwandelte  aus  Zorn  den  Alektryon 
in  einen  Hahn,  damit  er  Wachsamkeit  lerne ;  daher  singt  Ausonius : 

«Ter  dara  instantis  £oi 
Signa  canit  serus  deprenso  Marte  satelles.^ 

Nach  einer  puranisotien  Legende  nahm  Indra,  der  indische  Mars, 
als  6r  in  Ahalyä,  die  Frau  des  Gautama,  verliebt  und  von  Candra 
(dem  Monde)  begleitet  war^  die  Gestalt  eines  Erikaväka  (Hahnes 
oder  Pfaus)  an  und  ging  um  Mittemacht  bei  der  Wohnung  der 
Ahalyä  singen,  während  ihr  Gemahl  abwesend  war.  Dann  ent- 
kleidete er  sich  der  Hahnsgestalt  und  liess  Candra  als  Wächter  an 
der  Thttr,  während  er  sich  mit  Ahalyä  (der  Henne)  vereinigte. 
Mittlerweile  kehrt  Gautama  heim ;  Candra  hat  die  Liebenden  nicht 
vor  seinem  Kommen  gewarnt ;  der  Heilige  verwandelt  die  Ahalyä 
in  Stein,  ttber  den  Leib  Indras  aber  streut  er  tausend  Bäuche, 
die  jedoch  von  den  mitleidigen  Göttern  später  in  tausend  Augen 
verwandelt  wurden  (sahasräksha  ist  einer  der  indischen  Namen 
Indras  und  des  Pfaues.)  Nach  einer  Variation  dieser  Sage  wird  Indra 
ein  Eunuch,  erhält  aber,  wie  wir  sahen,  als  Ersatz  die  Testikeln  eines 
Widders.  In  Aitareya-Brähmana  wird  der  Gott  Brahman 
Pra^äpati  ein  Ziegenbock  oder  ein  Behbock  (ri^ya),  um  bei  seiner 
eigenen  Tochter  Aurora  zu  liegen.  Im  Bigveda  VBl,  32 
und  33  wechseln  der  Gott  Indra  und  der  Gott  Brahman  die  Plätze. 
Indra  ist  zuerst  schön  (giprin) ;  dann  wird  er  ein  Weib  (stri  hi 
brahmä  babhüvitha).  Im  Bämäyana  (I,  49)  verurtheilt  Gau- 
tama den  Indra  zur  Kraftlosigkeit  und  Ahalyä  dazu,  im  Walde 
verborgen  zu  bleiben,  in  der  Asche  liegend  (bhasma^äyini),  bis 
Bäma  sie  befreien  kommt.  Der  Aschehimmel,  der  Steinhimmel, 
der  Wasserhimmel  sind  identisch.  Ahalyä  (die  Abend-Aurora) 
in  der  Asche  ist  der  Keim  zu  dem  Mährchen  von  Cinderella  und 
von  der  Figlia  di  Be  di  Dacia,  die  von  ihrem  eigenen,  in  sie  ver- 
liebten Vater  verfolgt  wird. 


554 

Ein  italienischer  Volksglauben;  der  schon  von  Plinins  nnd  Cola- 
niella  erwähnt  wird;  besagt,  dass  die  Eier;  auf  denen  die  Henne  sitzt, 
wenn  es  donnert;  schlecht  sind.  Umllem  abzuhelfen^  empfiehlt  PliniuS; 
in  den  Hühnerkorb  einen  ei^ern^n  Na^el  oder  auch  etwas  von  einer 
Pflugschar  aufgerissene  Erde  zu  thun.  Columella  sagt,  dass  Viele 
kleine  Lorbeerzweige  und  Knoblauchwurzeln;  nebst  eisernen  Nägeln 
hineinlegen.  Alles  das  sind  Symbole  der  schwefeligen  Donner- 
keile (Y?egen  ihres  starken  Gieruches)  und  des  ^a  eiserne  Waffe 
^ufgefassten  Dpnnerkeiles-;  d$u(  empfohlene  Mittel  ist  nach  dem 
Qrundsatze  similia  similibus;  aus  demselben  GrundC;  aus 
welcheip  zum  Teufel  gebetet  wird;  wenn  man  ihn  fem  halten 
will-  In  Sicilien  legt  maU;  w^Q"  eine  Henne  auf  den  E^ern  sitzt; 
auf  den  Boden  des  Nestes  einen  Nagel;  welcher  die  Eigenthüfi- 
lichkeit  hat;  jede  Art  voi^Oeräusph  an^nzi^en  und  zu  absorbireu; 
so  dass  ea  den  Häbnoben  nicht  s^hadpt  ^uq  scheint  es  fair 
interessant;  einen  ähnliche»  GUubm  im  ye4i9cl)eq  Alterthum  m 
finden.  In  einer  lß,tropb^,  in  weloher  d^s  Wort  an  d  &  sowohl  durch 
Bier  als  durch  Testikelp  wißiclergegc^n  werden  kanu;  wird  Indr^ 
der  Donnergott;  folgendermas^  imgerufen :  „Tbne  uns  keip  Leid; 
o  Iiidra;  vernichte  um  nicht;  nunm  uns  nipht  unsere  gpUebtep 
Frende«;  zerbnoh  nicht;  o  Grosser,  o  Starker,  unsere  Eier  (oder 
Testikeln);  verdirb  nicht  die  Früchte  unseres  Leibe».'' ^  Indra 
kaan  nicht  nur  aelbst  ein  f^unuob  werden,  soq4cm  fpr  kann  a^ch 
Andere  zn  Eunucheq  machen. 

Der  Hakn  und  die  eiedegende  Henqe  w^ren  und  siud  ^|s 
Vögel;  welo  Im  %mboie  derFfiUe  sind  uuA  dieSwue  per^oniiicirQQy 
in  Indien  und  in  Peraien  beiligf^  Thiere,  und  es  gilt  für  einep 
Frevel, sie  zu  tiidten.  Oicero  sagt  in  der  Oratio  pro  Murena, 
dass  bei  den  Alten  der;  der  ohne  Noth  ^inen  Ußbn  tödtete,  l^edue 
geringere  SUnde  beging,  deuu  der;  der  seinen  eigenen  Va.ter 
erwttrgte.  Bei  Dp  Gange  lei^eq  wir,  ^BSß  Geofi'r^  I.;  (ien^  der 
Bretagne;  bei  seinem  Aufenthalte  in  Rom  einst  von  einer  Frau 
mit  einem  8tein  erschlagen  wurde,  w^ü  Bein  Vogelfi^ke  eine 
ihrer  Hennen  getödtet  hatte.  Derselt>e  Aberglaube  in  3e%ug  stuf 
ihre  Hennen  lebt  noch  unter  vielen  Hausfrauen  in  Italien. 

Im  Ay^&^a  heisst  es:  ;;Der  Vogel,  der  dw  Kamen Parödars 
fährt;  den  die  ttbelreden4eB  Mensciien  mit  ^em  Namen  Kahrkatac 


'  M&  DO  vadhir  iiidra  ftia  para  da  mä  na^  priyä  bhoganani  pra  mos- 
hih  än(|ä  ma  no  magbavao  öbakra  nir  bken  mä  aa^  paträ  bh^  sahagftauS' 
häni;  Rigv.  I,  104,  8. 


555 

bekgi^;  dieser  Vogel  erbebt  mw  Stmmfi  bei  S^v  göttlichen 
Morgenrötbe.  Steht  auf>  ibr  Menscheii^  preiset  die  beste  Reinheit, 
vertreibet  die  DaÄvas."  (Vßodidad,  XVffl,  34-3a)  Sem 
Geschrei  verjagt  den  Diwm  de«  ^cblafe^  Busby^n^ta.  ^  Vergleicht 
doch  aach  der  ebristlicbe  Diohter  Prudenitip;  der  in  Qbristfis 
nock  ein  Symbol  der  Sonne  sieht,  diesen  mit  dem  ^ahn^  der  ja 
oristatus,  er  istiger,  cristeus  genannt  wird;^  er  bittet 
Obristos,  den  Sebiaf  atn  verspbfmeh^n,  die  Fesseln  der  Nitcbt  zju 
brechen^  die  alte  Sünde  zu  tilgen  und  da^  npne  Liebt  ^a  brii^en, 
nachdem  er  von  dem  Hahn  gesagt  hat: 

,,FerttDt  Vivantes  dt^emones, 
{jaeto4  tenebris  noctium 

Gallo  canente  ezterritos 

*  ... 

Sparsim  timere  et  cedere 

omues  credimuB 

lUo  quietis  tempore 

Quo  gaUus  ez0ultaQ8  canit 

Christum  r^disse  ex  inferis/' 

Wir  sahen  im  vorigen  Kapitel  die  Haubenlerche  in  Verbindung 
ipit  St.  Gbristophorus.  In  Deutschland  Hess  man  am  25.  Juli, 
dem  Tage,  welcher  dem  St.  Jacob  (dem  Heiligen,  der,  wie  map 
im  Piemontesischen  sagt^  die  Flasche  leert)^ '  dem  St.  Christopboras 


'  Vgl.  a.  a.  O.  und  Veudidad  XI,  fffi.  Der  Hahn  parfidars  kommt 
auch  wieder  vor  in  einem  Fragment  de*  Khorda-Avesta  (XXXIX): 
„Da,  vor  dem  Kommen  der  Morgenröthe,  spricht  dieser  Vogel  Parodara, 
der  Vogel  der  mit  Messern  verwundet,  Worte  gegen  das  Feuer  ^us.  ,Bei 
seinem  Sprechen  läuft  Bushyai&^ta  mit  langen  Händen  herzu  von  d^  nörd- 
lichen Gegend,  von  den  nördlichen  Gegenden,  also  sprechend,  also  sagend : 
^Schlafet,  o  Mensphen,  schlafet,  sündlich  Lebende,  schlafet,  die  ihr  ein 
sündiges  Leben  führt*  ^  —  Da  in  dem  Gedichte  des  Prudentius  die  Vor- 
stellungen von  Sohlaf  und  Sünde  mit  einander  verbunden  sind,  so  liegt  die 
Vermuthung  nahe,  dass  der  Dichter  in  die  Mysterien  des  Mithra  —  d.  h. 
des  Sonnenoultus  eingeweiht  war. 

'  Vgl.  Du  Gange,  s.  h.  w.  —  S.  v«  gall  in  a  führt  Du  Gange  ei^ 
altes  mittelalterliches  Glossar  an,  nach  irelchem  gallina  Christus,  Weis- 
heit und  Seele  bedeutet.  —  Der  Hahn  des  Evangeliums  verkündet  und 
verräth  Christus  drei  Mal,  in  den  drei  Nachtwachen,  welchen  bisweilen  die 
drei  Söhne  der  Sagen  entsprechen. 

*  Nach  einer  Legende  von  St  Jacobus  wallfahrten  einst  zwei  alte 
Leute  mit  ihrem  jungeu  Sohn  nach  Santiago  de  Compostella  in  Spanien. 
Auf  dem  Wege,  in  einem  Qasthofe  zu  San  Domingo  de  la  GaUada  bietet 
die  Tochter  des  Gast^rirthes  dem  jungen  Mann  ihre  Liebesgunst  an,  wird 
aber  zurückgewiesen ;  aus  Rache  steckt  sie  eine  silberne  Schüssel  in  seinen 
BeiaoBack;  er  wird  angehalten  und  frfs  Dieb  gepfählt.    Die  greisen  Eltern 


556 

and  dem  alten  Donnergott  Donar  heilig  \At,  Hähne  tanzen  and 
opferte  sie  dann.  Donar  trägt  Oerwandil  auf  seinen  Schaltern 
über  Ströme;  wie  der  Riese  Christophoras  Christas. 

Weit  verbreitet  in  Italien^  Deatschland  and  Rassland  ist  ein 
Aberglaaben,  nach  welchem  eine  Henne,  welche  kräht  wie  ein 
Hahn;  von  der  schlimmsten  Vorbedeatang  ist;  and  es  ist  die  all- 
gemeine Ueberzeagang ;  dass  sie  sofort  getödtet  werden  masS; 
wenn  man  nicht  vorher  sterben  will.  ^  Da  derselbe  Glaabe  aach 
in  Persien  existirt;  so  ist  die  darauf  bezügliche  Erörterang  Sadders 
interessant,  welcher  beweisen  will;  dass  die  Henne ;  die  kräht 
wie  ein  HahU;  nicht  getödtet  werden  darf,  weili  wenn  sie  ein 
Hahn  wird;  das  bedeatet;  dass  sie  im  Stande  sein  wird;  den 
Dämon  zu  tödten.  ^    Bei  Berücksichtigang  der  orientalischen  and 

setten  ihre  Wallfahrt  Dach  Santiago  fort;  St.  Jacob  hat  Mitleid  mit  ihnen 
und  wirkt  ein  Mirakel,  das  erst  später  als  von  ihm  herrührend  erkannt 
wird.  Auf  der  Heimkehr  kommen  sie  nämlich  wieder  nach  San  Domingo-, 
hier  finden  sie  ihren  Sohn,  den  sie  doch  hatten  pHihlen  sehen,  am  Leben, 
wofür  sie  dem  Heiligen  feierlichen  Dank  spenden.  Alle  sind  erstaunt  Der 
Präfekt  des  Ortes  ist  gerade  bei  Tafel,  als  ihm  die  Nachricht  gebracht 
wird ;  er  will  sie  nicht  glauben ,  und  meint ,  der  junge  Mann  sei  ebenso* 
wenig  am  Leben  als  das  gebratene  Federvieh,  das  eben  aufgetragen  wird. 
Kaum  hat  er  diese  Aeusserung  gcthan,  so  beginnt  der  Hahn  zu  krähen, 
bekommt  wieder  Federn,  springt  von  der  Schüssel  und  fliegt  davon.  Des 
Gastwirths  Tochter  wird  verurtheilt,  und  zu  Ehren  des  Mirakels  wird  der 
Hahn  als  ein  heüiges  Thier  geehrt  und  in  San  Domingo  die  Häuser  mit 
Hahnenfedern  geschmückt.  Ein  ähnliches  Wunder  begab  sich,  nach  Sigo- 
nio,  im  XI.  Jahrhundert  im  ßolognesischen;  doch  statt  St  Jacob  erscheinen 
Christus  und  St.  Peter  wunderthätig.  —  Vgl.  auch  die  Verwandtschaft  des 
Hlgen  Elias  (und  des  russischen  Helden  Ilya),  welcher  am  21.  Juli  gefeiert 
wird,  wann  die  Sonne  in  das  Zeichen  des  Löwen  tritt,  mit  Helios,  dem 
Sonnengotte  der  Griechen. 

^  Vgl.  das  arab.  Sprichwort:  „Wenn  eine  Henne  kräht  wie  ein  Hahn, 
so  soll  sie  geschlachtet  werden.^*  Meidani  allerdings  denkt  in  seiner  Sprich- 
wörtersammlung an  nichts  weniger,  denn  an  eine  mythologische  Deutung; 
vielmehr  bemerkt  er  nicht  unwitzig,  der  Dichter  Farazdak  habe  zuerst 
sich  dieses  Spruches  bedient  „in  Bezug  auf  ein  weibliches  Wesen,  waches 
Verse  machte.'^  A.  d.  Uebers. 

*  Dadurch  ist  jedenfalls  zu  erklären,  was  Olearius  in  seiner  „Persiaui- 
schen  Reisebeschreibung*'  (p.  295  der  Ausgabe  v.  J.  1696)  erzählt:  „1st 
jemand  unter  ihnen  (den  Einwohnern  von  Kebrabath,  einer  Vorstadt  Isfa- 
hans)  gestorben,  lassen  sie  aus  dem  Sterbehause  einen  Hahn  aufl  das  Feldt 
lauften ;  wenn  derselbe  von  einem  Fuchse  erhaschet  und  weggeführet  wird, 
halten  sie  darvor,  dass  des  Verstorbenen  Seele  ins  andere  Leben  aufge- 
nommen sei.  Wenn  aber  diese  Probe  etwa  roisslingeu  oder  wegen  anderer 
Zufälle  verdächtig  werden  möchte,  nehmen  sie  eine  andere  für  die  Hand, 


557 

enropäiscbeo  abergläubischen  Vorstellnngen  wird  nun,  hoffe  ich, 
Prof.  Spiegel  folgende  Stelle  klar  finden,  welche  ihm  etwas  dunkel 
schien:  „Qui  religione  sinceri  sunt  ludificationes  expertes,  quando 
percipiunt  ex  gallina  vociferationem  galli  non  debent  illam  gal- 
linam  interficere  ominis  causa,  quia  earn  interficiendi  jus  nullum 
habent...  Nam  in  Persia  si  gallina  fit  gallus,  ipsa  infaustum 
diabolam  franget  Si  autem  alium  gallum  adhibueris  in  auxiliuni, 
ut  cum  gallina  consortium  habeat,  non  crit  incommodum  ut  tunc 
ille  diabolus  sit  interfectus/'  Nach  einem  siciliaüischen  Sprich- 
wort darf  eine  Henne,  die  wie  ein  Hahn  kräht,  weder  fortge- 
geben noch  verkauft,  sondern  muss  von  ihrer  Besitzerin  gegessen 
werden.  * 

Bei  Afanassieff  y,  i5  krähen  die  Hähne  und  der  Teufels- 
spuk verschwindet.  Im  40.  Märchen  desselben  Buches  kräht  der 
Hahn  und  der  Teufel  verschwindet  aus  dem  Reiche,  in  welchem 
er  alle  Menschen  und  Dinge  in  Stein  verwandelte.  Nur  der  Sohn 
eines  Bauern,  der  die  ganze  Nacht  bei  brennenden  Lichtem  mit 
Gebet  zubringt,  entgeht  der  teuflischen  Bosheit;  nach  drei  solchen 
Nl^chten  kommen  alle  in  Stein  verwandelte  Menschen  wieder  zum 
Leben  und  der  fromme  junge  Bauer  heirathet  des  Königs  schöne 
Tochter. 

Bei  Afanassieff  V,  30  wird  der  Alte,  als  der  Hahn  zu 
krähen  anfängt,  plötzlich  starr  und  still.  Hierin  Hegt  vielleicht 
eine  Anspielung  auf  die  alte  Soxme  des  Abends  und  auf  das 
Krähen  des  Hahnes  am  Abend.  Der  Hahn  der  Nacht  nimmt  also 
bisweilen  eine  diabolische  Gestalt  an.  Bei  Afanassieff  V,  22 
wird  der  Teufel  ein  Hahn,  um  das  Korn  zu  fressen,  in  welches 
der  junge  Mann^  der  zuerst  ein  goldener  Ring  geworden  war, 
zuletzt  verwandelt  worden  ist  Doch  hat  dieser  Hahn  der  Nacht, 
der  dämonisch  ist,  obwohl  sein  Kamm  (die  Sonne)  immer  roth 
ist;  selbst  doch  immer  schwarze  Farbe.  Der  Hahn  ist  roth  am 
Morgen  und  am  Abend;  in  der  Nacht  ist  er  schwarz,  mit  seinem 


der  sie  mehr  trauen.  Sie  tragen  nehmlich  ihre  Leichen  mit  besten  Klei- 
dern behangen  und  mit  güldenen  Ketten  und  allerhand  Geschmeide  ge- 
ziehret  auff  den  Todtenac^er,  und  staffeln  sie  mit  hölsem  Gabeln  an  die 
Mauer;  wenn  nun  die  Vögel  des  Himmels  das  rechte  Auge  aushacken, 
wird  er  unfehlbar  dos  Himmels  würdig  geschätzet;  wird  aber  da^  linke 
Auge  aussgefressen,  so  muss  er  verdammet  sein/* 

*  La  gallina  cantatura 
Nun  si  vinni,  ne  si  duna, 
Si  la  mancia  ia  patruna« 


858 

rotbeii  tCamm  bald  hacl^  (JkibÜ,  bald  nadi  Wedteti  geWöiid^;  8ttf 
den  kleinen  Ftiäl^en  einer  Henne  ^  steht  das  vensäubette,  bewfe^- 
liche^  rassisöbe  Hütteben,  das  dii^  jnngen  Hdden  tind  aeldhmen 
auf  einer  B^ährt  im  Walde  treffen. 

ImP^ntaihäronell,  U  befiehlt  ein^  K^nigiü  die  Hfthne 
in  dkt  Stadt  zu  iMten,  dktirit  das  Gekf^he  adfUbft,  wöll  Ibte, 
solatige  Hähtie  kt-äb^ü,  iüfolgä  küier  Bteänbefüti^  ünßlbiig  H 
ihren  Söhti  wifederiuferkeütifen  und  i\i  nihanneif.  Die  Heie 
nimmt  fii6r  Selbst  ofibnbär  äi%  ^est^U  fl^  fliabotiscfato  HahniBS 
an,  der  in  dgr  l^acht  kräht.  ^ 

ImPfentäirierolife  IV,    1  füttert  flfer  atlt^  Minfee'  Aniello 


■  Tgl.  Afdn.  I,  8.  11,  30.  BisWeileii  haben  wir  statt  der  Hennenfüsse 
Hundepfoten;  vgl  V,  28. 

*  Ich  theUe  hier  ein  in  Cosenza  in  Calabrien  erzähltes  Mäh'rcheii  tütt: 
—  Ein  armes  Mädchen  ist  allein  äu^  deiA  Feld^;  sie  ^€üeki  eiii^  Räpii^zM, 
sieht  ^ideil  Btem,  g^ht  hinab  üüd  kötmnt  ün  diem  PatHst  der  Feen,  welche 
sie  li^gewlÄnen.  Sie  bittet  um  die  ErbrabniBs,  bu  ihrer  Mutter  zurück- 
kehren zu  dürfen,  und  erhält  sie  auch;  sie  erzählt  ihrer  Mutter,  dass  sie 
jede ,  Nacht  ein  Geräusch  hört,  ohne  Etwas  ^u  sehen,  und  erhält  den  Rath, 
ein  Licht  anzuzünden«  dann  werde  sie  sehen.  Den  nächsten  AbenVl  han- 
delt das  Mädchen  danach,  und  sieht  einen  sehr  schönen  Jüngling  mit  eineih 
Spie^ipf  alif  seiner  Briiöt.  D^h  dtittiMi  Abend  thüt  sie  dasselbe ,  doch  ein 
Tn>pf^n  Wachs  fällt  attf  deh  Spiegel  und  weckt  den  Jüngling  auf,  weksher 
kläglich  schreit:  ^,Du  sollst  von  hier  fortgehen.^*  Das  Mädchen  will  fort- 
gehen; die  Feen  geben  ihr  ein  grosses  Knäuel,  mit  der  Anweisung,  äüt 
die  Spitze  des  höchsten  Berges  zu  gehen  una  es  dann  sic^  selbst  ^ü  üb^- 
lassen;  wonin  es  geht,  dorthin  m^se  sie  folgen,  äiö  gehorcht  uHd  kommt 
in  eih6  Stadt,  #o  Wegeh  der  Abwedenh^it  defer  Prm^en  Tratier  herrscht; 
die  KönigiA  sieht  das  Mädchen  rom  Fenster  aus  und  lässt  sie  zu  sich 
kommen.  Nach  einiger  Zeit  schenkt  sie  einem  schönen  Knaben  das  Leben, 
und  ein  Schuhmacher,  der  bei  Nacht  arbeitet,  beginnt  zu  singen : 

„Schlaf,  schlaf,  mein  Sohn; 

Wöhh  Deine  Mutter  wüsste, 

IHss  Du  meih  Söhn  bist, 

So  würde  sie  Dich  in  eine  goldene  Wiege  legen, 

Und  in  goldene  Windeln. 

Schlaf,  schlaf,  mein  Sohn.^< 
Die  Königin  erfährt  darauf  von  dem  Mädchen,  dass  der,  der  so  singt,  der 
Prinz  ist,  welcher  bestimmt  ist,  deod  Palaste  fem  zu  bleiben,  bis  die  Sonne 
aufgeht,  ohne  dass  er  es  merkt.  Es  wird  Befehl  gegeben,  alles  Geflügel 
in  der  Stadt  zu  tödten,  und  alle  Fenster  mit  einem  diamantbesäten 
schwarzen  Schleier  zu  verhängen,  damit  der  Prinz  glaube,  es  sei  noch 
Nacht  und  den  Aufgang  der  Sonne  nicht  bemerke.  Der  Prinz  wird  auch 
wirklich  getäuscht  und  heirathet  das  Mädchen,  welches  der  Liebling  der 
Feen  ist;  sie  leben  glücklich  und  zufrieden. 


559 

einen  Hahn  sehr  gut;  da  er  jedoch  später  in  Qeldnoth  kommt, 
so  verkauft  6t  ihn  ^.wei  Zauberern;  diese  öagen  sKüeihander,  als 
sie  heimgehen,  dass  der  Hahn  sehr  werthvoll  ist,  Wegbn  deä  iti 
ihm  enthaltenen  Steines,  der  in  einem  Ringe  eingedbhlossen,  Einen 
befähige^  Alles  zn  erlangen,  was  man  begehrt;  (der  lap i Uns 
aleetoriuB,  welcher  so  grosä  wie  eine  Bohne  ist,  gleich  Orystal, 
für  Schwangere  gnt  ist  und  Müth  einflödst;  es  wird  angeführt, 
dass  der  Held  Milo  ihm  seine  ganze  Stärke  verdankte).  Minec' 
Aniello  hOrt  das,  stiehlt  den  Hahn^  t(5dtei  ihn,  nimmt  den  Stein 
und  wird  durch  denselben  wieder  jung,  in  einem  schönen  Palast 
von  Gold  und  Silben  Als  die  Zauberer  ihn  dieses  in  einem  Ring^ 
eingeschlossenen  Steines  berauben.  Wird  d€$r  junge  Mann  wieder 
alt,  und  geht  seinen  Ring  in  dem  Reiche  der  tiefen  Höhle  (de 
Pertuso  cupo),  das  von  der  Ratte  bewohnt  ist,  sübhen.  Die  Ratten 
nagen  an  dem  Finger  des  Zauberers,  welcher  den  Ring  hat; 
Minec'  Aniello  entdeckt  seinen  Ring  und  verwandelt  die  beiden 
Zauberer  in  Esel;  er  reitet  auf  einem  Esd  und  wirft  ihn  dann 
den  Berg  hinab;  der  andere  Esel  Wird  mit  Speck  beladen,  und 
den  Ratten  zum  Danke  gesaugt.  Hier  erscheint  der  Hahn  als 
nächtiiches  Thier;  d^r  Stein,  der  in  dnehi  Ringe  eingesdhlossen, 
Wunder  thut,  ist  die  Sonne,  welche  heraufkommt,  Vvenn  sie  von 
dem  Hahn  der  Nacht  angerufen  wird.  Nach  sicilianischem  Glauben 
bedeutet  Träumen  von  Bruthennen  und  Küchlein  in  unbewohnten 
und  verödeten  Häusern,  dass  Schätze  in  denselben  versteckt  sind 
und  man  sie  ausgraben  soll. 

Im  ersten  ehstnischen  Mährchen  bringt  „die  schlaue  Alte 
bald  heraus,  was  der  Dorfhahn  hinter  ihrem  Rtlcken  der  jüngsten 
Tochter  ins  Ohr  gekräht  hatte."  Im  dritten  derselben  giebt  eine 
Frau  ihrem  Mann  Abends  drei  gesottene  schwarze  Hühnereier  zu 
essen,  wodurch  sie  Mutter  dreier  Helden  wird.  Im  neunten  ehst- 
nischen Mährchen  betrügt  ein  junger  Mann  den  Teufel ,  mit  dem 
er  einen  Pakt  schliesst,  indem  er  ihm  Hahnenblut  statt  seines 
eigenen  giebt.  Im  vierten  Mährchen  kommt  ein  grosser  goldener 
Hahn  aus  einem  Felsen,  wenn  dieser  mit  einem  goldenen  Stabe 
dreimal  geschlagen  wird,  und  setzt  sich  auf  die  Spitze  des 
Steines ;  er  schlägt  mit  den  Flügeln  und  kräht ;  bei  jedem  Krähen 
kommt  eine  Wundergabe  aus  dem  Felsen:  Tisch  und  Stühle  und 
herrliche  Speisen  und  Getränke.  Im  24.  Mährchen  giebt  die  Fee 
der  Königin  ein  Körbchen  mit  einem  Vogelei  darin ;  im  muss  sie 
drei  Monate  gleich  einer  Perle  an  ihrem  Busen  tragen ;  erst  wird 
dann  eine  kleine  Puppe  geboren,  aus  der  bei  guter  Pflege  ein 


560 

wirkliches  Mädchen  wird;  zugleich  mit  dieser  Verwandlung  wird 
die  Königin  einem  schönen  Knaben  das  Leben  schenken.  Linda, 
Kaiews  Gemahlin,  in  der  finnischen  Mythologie,  ist  ebenfalls  aus 
dem  Ei  einer  Waldschnepfe  oder  eines  Haidehuhnes  geboren. 

In  Ungarn  und  Deutschland  (wo  man  einen  farbigen  Hahn 
aus  Zinn  auf  den  Giebel  hoher  Gebäude  setzt,  um  den  Wind  an- 
zuzeigen; es  ist  das  der  Wetterhahn;  Jeder  hat  schon  von  dem 
Hahn  auf  dem  St.  Marcus-Platze  in  Venedig  gehört,  der  die 
Stunden  angiebt)  herrscht  der  Glaube,  dass  man  den  Teufel  durch 
das  Opfer  eines  schwarzen  Hahnes  besänftigt  Der  rothe  Hahn 
dagegen  bedeutet  Feuer. ' 

Im  Montferrato  glaubt  man,  dass  eine  schwarze  Henne,  leben- 
dig in  der  Mitte  aufgeschlitzt,  und  auf  die  St.elle  gelegt,  wo  man 
den  Schmerz  des  mal  di  punta  ftihlt,  die  Krankheit  und  den 
Schmerz  vertreibt,  unter  der  Bedingung,  dass  nach  Abnahme  dieses 
sonderbaren  Pflasters  die  Federn' im  Hause  verbrannt  werden. 

Das  Federvieh,  das  bei  Festen  in  Essex  und  Norfolk  (wo- 
von sich  Spuren  in  dem  Schlagen  des  Napfes  durch  einen  Mann 
mit  verbundenen  Augen  beim  Mittfastenfest  in  mehren  Theilen 
Frankreichs  und  im  Remontesischen  erhalten  haben)  derjenige 
gewinnt,  dem  es  gelingt,  es  mit  verbundenen  Augen  auf  die 
Schultern  eines  Anderen  zu  schlagen  (bisweilen  ist  es  in  einen 
zwölf  oder  vierzehn  Fuss  hohen  Napf  eingeschlossen,  nach  welchem 
mit  Pfeilen  geschossen  wird '),  ist  eine  Personification  des  unheil- 
vollen Hahnes,  aus  welchem,  wenn  er  getroffen  wird,  das  tägliche 


'  lu  den  Aunalen  der  Stadt  Debreczen  aus  dem  Jahre  1564  lesen  wir 
Folgendes:  „Aetema  et  ezitialis  memoria  de  ineendio  triam  ordinum  in 
anno  praesenti:  feria  secunda  proxima  ante  fest.  nat.  Mariae  gloriosae 
ezoirta  est  flamma  et  incendinm  periculosum  in  platea  Burgondia;  eadem 
similiter  ebdomade  ezortum  est  incendinm  altera  yice,  de  platea  Csapo  de 
domo  inquilinari  Stephan!  literati,  multas  domos...  in  cinerem  redegit,  et 
quod  majus  inter  caetera  est,  nobilissimi  quoque  templi  divi  Andreae  et 
turris  tecturae  oombustae  sunt,  ex  qua  turri  et  ejus  pinnaculo,  gallus  etiam 
aerens,  a  mnltis  annis  insomniter  dies  ac  noctes  jejono  stomacho  stans  et 
in  omnes  partes  ndvigilans,  flammam  ignis  sa£ferre  non  Valens,  invitos  de- 
Tolare,  descendere  et  illam  suam  solitam  stationem  deserere  coactus  est, 
qui  gallus  tantae  ciadis  commiserescens  ac  nimio  dolore  obmutescens  de 
pinnacnlo  desiliendo,  coUo  confracto  in  terram  coincidens  et  suae  vitae 
proprlae  quoque  non  parcens,  fideU  suam  serritium  invitus  derelinquendo, 
misere  expiravit  et  vitam  suam  finivit  sie.** 

'  Reinsberg  von  Düringsfeld  bemerkt  (Das  festliche  Jahr),  dass 
bisweilen  in  Nord-Walsham,  statt  des  Hahnes  eine  Eule  genommen  wird, 
ein  anderes  uns  schon  bekanntes  Symbol  der  Trauer  und  des  Unglücks^ 


561 

Feuer  heranskommt.     Das  Opfer  eines  Hahnes  war  Braneh  in 
Indien,  Grieehenland  and  Deatschland. 

Ebenso  wie  die  Alten  pflegten,  Wachteln  miteinander  kämpfen 
zn  lassen,  so  auch  Hähne;  daher  hiess  der  Hahn  aach  Sohn  des 
MarS;  'yiQsog  vecmog.  Wir  wissen  schon,  dass  des  Hahnes  Kamm 
dem  gemahnten  Löwen  Furcht  einjagt;  Kamm  und  Mähne  sind 
gleichbedeutend,  und  wir  sahen  auch,  welche  wunderbaren  Kräfte 
dem  lapillus  alectorius  zugeschrieben  wurden.  Plutarch 
schreibt,  dass  die  Lacedämonier  dem  Mars  den  Hahn  opferten, 
um  den  Sieg  in  dem  Kampfe  davonzutragen.  Pallas  trug  den 
Hahn  auf  ihrem  Helm,  Idoroeneus  auf  seinem  Schild.  Plutarch 
sagt  ferner,  dass  die  Einwohner  von  Carien  einen  Hahn  am 
Ende  ihrer  Lanzen  zu  tragen  pflegten,  und  fuhrt  den  Ursprung 
dieses  Brauches  auf  Artaxerxes  zurück;  doch  scheint  er  noch  viel 
älter  zu  sein;  denn  die  Carier  trugen  Helme  mit  Kämmen  schon 
zur  Zeit  des  Herodot,  weshalb  die  Perser  den  Cariem  den  Namen 
„Hähne''  gaben.  Hahnenkämpfe,  die  in  England  so  volksthümlich 
wurden,  sind  auch  in  Tndien  gewöhnlich.  Philo  der  Alexandriner 
erzählt  von  Miltiades,  dass  er  vor  der  Schlacht  von  Marathon  den 
Muth  seiner  Soldaten  durch  Veranstaltung  von  Hahnenkämpfen 
anfeuerte;  dasselbe  that,  nach  Aelian,  Themistocles.  Johannes 
Goropius  (welcher  die  schnurrigen  Etymologieen  von  Danen 
und  Alanen  durch  de  Hahnen  und  All  Hahnen  giebtü) 
berichtet,  dass  die  Dänen  in  den  Krieg  zwei  Hähne  mitzunehmen 
pflegten,  einen  um  die  Stunden  anzuzeigen,  den  anderen  um  die 
Soldaten  zum  Kampfe  anzufeuern.  Du  Gange  belehrt  uns,  dass 
Hahnenduelle  auch  in  Frankreich  im  XVU.  Jahrhundert  Brauch 
waren  und  giebt  einige  Fragmente  aus  mittelalterlichen  Schriften, 
in  welchen  sie  als  ein  abergläubischer  Brauch  und  als  etwas 
Verwerfliches  verboten  werden. 

Es  ist  bekannt,  dass  die  alten  Römer,  bevor  sie  in  die  Schlacht 
gingen,  mit  Hähnen  und  anderem  Gefltlgel  Augurien  anstellten, 
obwohl  dieser  Brauch  bisweilen  verspottet  wurde.  Publius  Clau- 
dius z.  B.  soll  vor  einer  Seeschlacht  im  ersten  punischen  Kriege 
die  Auguren  befragt  haben,  um  nicht  gegen  die  Sitte  des  Landes 
zu  Verstössen ;  als  nun  die  Auguren  verkündeten ,  dass  die  Vögel 
nicht  fressen  wollten,  Hess  er  sie  ins  Meer  werfen  mit  den  Wor- 
ten: „Wenn  sie  nicht  fressen  wollen,  so  lasst  sie  trinken.'' 

Die  Verehrung,  die  dem  Hahn  und  der  Henne  erwiesen  wurde, 
erstreckte  sich  tbeilweise  auch  auf  das  Ei;  das  lateinische  Sprich- 
wort:  „Gallus   in   sterquilinio  suo  plurimum  potest",  zeigt  den 

Gubenifttit,  die  Thtere.  36 


562 

grossen  Werth  des  Eis.  Die  Perle,  nach  welcher  der  Vogel  im 
Düngerhaufen  sucht;  ist  nichts  Anderes  als  sein  eigenes  Ei;  und 
das  Ei  der  Henne  im  Himmel  ist  die  Sonne  selbst.  Während  der 
'Nacht  ist  die  himmlische  Henne  schwarz,  doch  am  Morgen  wird 
sie  weiss,  und  als  solche  ist  sie  wegen  des  Schnees  die  Henne  des 
Winters.  Die  weisse  Henne  ist  günstig  wegen  der  goldenen 
Hühner,  die  sie  ausbrütet.  Im  Montferrato  glaubt  man,  dass  die 
Eier,  die  eine  weisse  Henne  am  Himmelfahrtstage  ^  in  ein  neues 
Nest  legt,  ein  gutes  Mittel  gegen  Magen-,  Kopf-  und  Ohren- 
schmerzen sind,  wie  auch  dass  sie,  auf  ein  Kornfeld  getragen,  das 
Getreide  vor  dem  Mehlthau  oder  dem  Brande,  und  dass  sie  die 
Weinberge  vor  dem  Hagel  bewahren.  Die  Eier,  welche  zu  Ostern 
gegessen  werden  und  an  welche  sich  so  viele  Volksbräuche,  Lie- 
der und  Sprichwörter,  die  mythologisch  in  Einklang  stehen,  in 
den  verschiedenen  Ländern  Europas  knüpfen,  feiern  die  Aufer- 
stehung des  himmlischen  Eis,  eines  Symboles  der  Fülle,  ^  der 
Frtthlingssonne.  Die  Henne  der  Fabel  und  der  Mährchen,  welche 
goldene  Eier  legt,  ist  die  mythische  Henne  (die  Erde  oder  der 
Himmel),  welche  jeden  Tag  der  Sonne  das  Leben  schenkt.  Das 
goldene  Ei  ist  der  Beginn  des  Lebens  in  der  oi*phischen  und  in- 
dischen Kosmogonie ;  durch  das  goldene  Ei  beginnt  die  Welt  sich 
zu  bewegen  und  Bewegung  ist  das  gute  Princip.  Das  goldene 
Ei  bringt  den  glänzenden,  arbeitsvollen  und  segensreichen  Tag 
hervor.  Daher  ist  es  ein  vortreffliches  Vorzeichen,  mit  dem  Ei  zu 
beginnen,  welches  das  gute  Princip  darstellt;  daher  das  doppel- 
deutige lateinische  Sprichwort:  „Ab  ovo  ad  malum'',  das  „vom 
Guten  zum  Bösen",  eigentlich  aber:  „vom  Ei  bis  zum  Apfel"  be- 


'  Ein  ähnlicher  Brauch  hat  sich  noch  in  Cosentino  im  Toscanischen 
erhalten,  wo  die  Bauern  am  Himmelfahrtstage  bei  Sonnenaufgang  mitten 
auf  ihr  Feld  einen  Korb  mit  Eiern  tragen. 

^  Nicht  allein  das  Ei  der  Henne  ist  ein  Symbol  der  Fülle,  sondern 
auch  die  Knochen  des  Greflügels  dienten  in  der  Volkssage  zur  Darstellung 
der  ehelichen  Treue  und  Vereinigung.  Wenn  in  Russland  zwei  Leute 
(wohl  Mann  und  Frau)  einen  Vogel  miteinander  essen,  so  theilen  sie  den 
Brustknochen  (englisch  merry  thought);  jeder  von  ihnen  bewahrt  einen 
Theil  auf,  mit  dem  Versprechen,  an  dieses  Ereigniss  zu  denken.  Giebt 
nun  Einer  von  den  Beiden  in  der  Folge  dem  Anderen  Etwas,  so  muss  der 
Empfänger  sofort  sagen:  ,,ich  denke  daran^;  wenn  nicht,  so  sagt  zu  ihm 
der  Gebende:  „Nimm  und  denke  dran*".  Der  Vergessliche  hat  verloren. 
Ein  ähnliches  Spiel,  verde  d.  h.  Grün  genannt,  ist  im  Toscanischen  im 
Frühling  zwischen  Verliebten  üblich.  (Vgl.  die  deutsche  Sitte,  Vielliebchen 
zu  essen.) 


563 

deutete,  da  die  ROmer  ihre  Mahlzeiten  mit  hartgesottenen  ] 
zu  eröffnen  und  mit  Aepfeln  zn  bescbliessen  ptlegten  (ein  Br; 
der  noch  onter  zahlreichen  italienischen  Familien  lebt).  > 

Doch  ab  ovo  beginnen  bedeutet  auch:  „mit  dem  Anfang 
fangen".  Horaz  sagt,  dass  er  die  Beschreibung  des  trojania 
Krieges  nicht  mit  den  ZwillingseierD  beginnt : 

„Nee  gemino  bellum  TTOJftnum  orditus  ab  ovo," 
mit  einer  Anspielung  auf  das  Ei  der  Leda,  auf  welches  auch  das 
chiscbe  Sprichwort:  ^|  qW^^^?»' anspielt,  das  man  tod  einem  i 
nen  und  geputzten  Mann  sagt,  und  indem  er  sieh  aul'  die  sc 
Helena  und  ihre  beiden  glänzenden  Brtlder,  die  Dioskuren  be: 
Doch  ist  hier  der  weisse  Hahn  ein  weisser  Schwan  geworden, 
dem  im  folgenden  Kapitel  die  Rede  sein  wird. 

'  Die  Sonne  ist  ein  £i  am  Anfang  des  Tages;  aietiiTd  ein  Apfel 
am  Abend,  im  westlichen  Garten  der  Heaperiäen,  oder  findet  einen  sol 


504 


KAPITEL  X. 

t 

Die  Taube,  die  Ente,  die  Gans  und  der  Schwan* 

Sofern  es  eine  weisse  und  eine  graue  Tanbe/  eine  weisse 
und  eine  dunkel-  oder  feuerfarbige  Ente  und  Gans,  einen  weissen 
Schwan  und  den  Flamingo,  einen  rothen  und  einen  schwarzen 
Schwan  giebt,  nahmen  diese  Vögel,  Taube,  Gans,  Ente  und 
Schwan  nach  der  Verschiedenheit  der  Farbe,  die  sie  auf  Erden 
haben,  auch  mythische  Gestaltungen  an,  welche  bisweilen  einander 
entgegengesetzt  sind,  als  sie  an  den  Himmel  versetzt  wurden,  um 
Himmelserscheinungen  darzustellen.  Während  die  weissen  für 
die  mehr  poetischen  Bilder  der  Mythologie  dienten,  zeigten  sich 
die  rothen  und  die  schwarzen  bald  von  einer  guten,  bald  von 
einer  bösen  Seite,  den  Helden  bald  in  sein  Verderben  lockend^  bald 
ihm  Glück  bringend.  Die  rothen  Farben  z  B.  des  Westlichen 
Himmels  erscheinen  als  Flammen,  in  welche  die  Hexe  den  jungen 
Helden  stürzen  will,  während  die  rosigen  Tinten  des  östlichen 
Himmels  gewöhnlich  der  Scheiterhaufen  oder  Feuerofen  sind,  in 
welchem  der  Held  die  übelwollende  Hexe  verbrennt,  die  ihn  ver- 
derben will ;  aus  der  Morgendämmerung,  aus  dem  weissen  Himmel, 
aus  dem  Schnee  des  Winters,  aus  der  weissen  Erde  oder  dem 
weissen  Schwan  kommt  das  goldne  Ei  (die  Sonne)  hervor;  bald 
taucht  das  schöne  Mädchen,  bald  der  junge  Held  aus  ihnen  auf 
—  die  Aurora  und  die  Sonne,  oder  aber  der  Frühling  und  die 
Sonne.  Die  Abend-Sonne  und  -Aurora  in  der  Nacht,  die  Sonne 
und  die  grünende  Erde,  welche  sich  ihres  Farbenschmuckes  im 
Herbst  entkleidet,  verhüllen,  bedecken,  verlieren,  verirren  sich; 
ihre  lebhaftesten  Farben  werden  im  Dunkel  der  Nacht  selbst 
dunkel,  oder  von  dem  Schnee  des  Winters  bedeckt ;  der  Held  wird 
eine  dunkelfarbige  Taube  oder  ein  düsterer  Schwan,  der  das  Ge- 
wässer durchkreuzt.  Ich  habe  mehr  als  ein  Mal  bemerkt,  wie 
die  Nacht  des  Jahres  vollständig  der  Nacht  des  Tages  entspricht ; 
die  Sonne,  die  sich  in  der  Nacht  des  Abends  versteckt,  und  die 


'  Das  indische  Wort  kapota  für  Taube  bezeichnet  auch  die  graue 
Farbe  des  Spiessglases  und  die  Farbe  der  gemeinsten  Taubenart. 


565 

Sonne,  die  sich  in  der  Winter-Nacht  verhüllt,  werden  oft  durch 
dasselbe  mythische  Bild  dargestellt 

Sehen  wir  jetzt,  unter  was  flir  mythischen  Gestaltungen  die 
Taube,  die  Ente  und  der  Schwan  im  Orient  erscheinen,  um  sie 
dann  mit  westlichen  Sagen  zu  vergleichen. 

Der  Bigveda  bietet  uns  die  unheilvolle  Taube,  die  graue 
oder  dunkele,  die  Botin  nächtlicher  oder  winterlicher  Dunkelheit 
Da  man  sie  in  dem  vedischen  Hymnus  mit  der  Eule  verbunden 
fand,  so  vermuthete  man  in  ihr  einen  andern  Vogel  als  die  Taube, 
und  die  C!ommentatoren  wollten  in  dem  vedischen  kapota  viel- 
mehr den  turduB  macrurus  als  die  Taube  sehen ;  doch  scheint 
mir  diese  Deutung  unzulässig,  da  der  vedische  kapota  als  ein 
Hausvogel  und  den  Wohnungen  der  Menschen  nahe  erscheint,  was 
man  von  Drosseln  nicht,  wohl  aber  von  Tauben  sagen  kann.  Im 
Rigveda  X,  165  wird  der  kapota  als  Bote  des  unheilvollen  Nir- 
riti  oder  Todes,  und  des  Todesgottes  Yama  beschworen,  kein 
Uebel  zu  thun:  „Sei  uns  gnädig,'*  ruft  der  Dichter  aus,  „sei  uns 
gnädig,  schneller  (oder  Botschaft  bringender)  kapota;  nicht  feind- 
lich möge  uns  der  Vogel  sein,  o  Götter,  in  den  Häusern.  Wenn 
die  Eule  jenen  schlimmen  Schrei  austösst,  wenn  der  kapota  das 
Feuer  berühii;,  so  werde  geehrt  Mrityu,  Yama,  dessen  Bote  er  ist.*'  * 
Vögel  von  schlimmer  Vorbedeutung  müssen  auch  in  den  Tauben 
gesehen  werden,  welche  vor  dem  Unglücklichen  im  Pancatantra 
fliehen.  ^  In  der  buddhistischen  Legende  von  dem  König,  der  sich 
opfert,  um  sein  Wort  zu  halten,  ist  der  Falke,  der  übrigens  im 
Sanskrit  auch  den  Namen  kapotari,  Taubenfeind,  ilihrt,  die  Er- 
scheinungsform Indras,  die  von  ihm  verfolgte  Taube,  die  Agnis, 
des  Feuers.  Diese  Legende  findet  sich  wieder  im  Tuti-Name,^ 
jedoch  mit  der  Variation,  dass  Moses^ie  Rolle  des  buddhistischen 
Königs  spielt  Um  die  Pflichten  der  Gastfreundschaft  zu  erfüllen, 
„schneidet  Moses  von  seinen  heiligen  Gliedern  soviel  ab,  als  eine 
Taube  wiegt,**  um  es  dem  Habicht  zu  geben.  In  andern  indischen 
Variationen  dieser  Legende  von  dem  Helden,  *der  sich  selbst 
opfert,  finden  wir  zwei  Tauben  (im  Pancatantra),  welche  sich 
für  einander  opfern,  zwei  Tauben,  die  einander  lieben.  Hier 
haben  wir  eine  Erscheinungsform  der  beiden  A^vins,  der  beiden 
Brüder,  deren  einer  sich  für  den  andern  opfert;  die  bekannte  La- 


'  Qival^  kapota  ishito  uo   astu  anäga  devä]|^  ^akuiio  griheshu;   Str.  2, 

«  II,  9. 

»  II,  p.  32  f. 


1 


566 

fontaineBcfae  Fabel,  Les  Deux  Pigeons,  ist  eine  Reminiscenz 
an  die  orientalische  Legende.  Ebenso  ist  anch  eine  Variation  der 
Sage  von  den  beiden  Brüdern  in  der  ^  äsopischen  and  Lafon- 
taineschen  Fabel  von  der  Taube  enthalten  ^  welche  der  Ameise, 
die  in  Gefahr  za  ertrinken  ist,  einen  rettenden  Grashalm  Euwirft, 
weshalb  die  dankbare  Ameise  bald  darauf  den  Jäger,  der  die  Taube 
gefangen  bat,  in  den  Fuss  beisst,  so  dass  er  sie  wieder  fliegen 
lassen  muss.  In  dem  Kapitel,  welches  von  der  Schwalbe  handelt, 
sahen  wir  das  schöne  Mädchen  auf  dem  Baum  am  Brunnen  durch 
die  Bezauberung  der  Hexe  in  eine  Schwalbe  verwandnlt;  zahl- 
reiche andere  Sagen  geben  statt  der  Verwandlung  in  eine  Schwalbe 
die  in  eine  Taube.  ^  Das  Mährchen  von  dem  Mädchen  Filadoro 
und  der  Insel  der  Ogren  im  Pentamerone;'  ein  piemontesi- 
sches  Mährchen,  das  mein  Freund  Prof.  Alex.  Wesselofiski  in  sei- 
nem Essay  über  den  Dichter  Pucci  veröffentlicht  hat;  das  13. 
sicilianische  Mährchen  bei  FrL  Gonzenbach  (von  dem  das  zwölfte 
eine  Variation  ist);  Afanassieff  VI,  49  (mit  welchem  zu  y^- 
gleichen  ist  No  ö  der  Novell,  di  S.  Ste£  di  Calc.)  und  eine 
grosse  Anzahl  anderer  analoger  europäischer  Mährchen  behandeln 
alle  das  von  der  Hexe  in  eine  Taube  verwandelte  Mädchen:  wie 
die  Schwalbe  weiss  und  schwarz  ist,  so  erscheint  auch  diese  Taube, 
in  welche  das  Mädchen  verwandelt  ist,  bald  weiss  und  bald 
schwarz.  Nicht  minder  zahlreich  sind  die  Mäbrchen,  in  denen 
wir  statt  von  der  jungen  Prinzessin  v<m  jungen  Prinzen  lesen, 
die  in  Tauben  verwandelt  werden.  —  Ich  lasse  hier  zwei  solche 
folgen,  die  (besonders  das  zweite)  ausserordentlich  interessant 
sind.  Ich  habe  sie  von  der  Bauerfrau  Uliva  Selvi  in  Antignano 
bei  Livorno  im  Toscanischen. 

Es  war  einmal  ein  grosser  Herr;  der  hatte  zwölf  Söhne  und 
eine  Tochter;  die  war  aber  durch  Bezaub^ting  in  einen  Adl«* 
verwandelt  worden  und  wurde  in  einem  Käfig  gehalten.  Der 
Vater  geht  jeden  Tag  mit  seinen  Söhnen  zur  Messe;  jeden  Tag 
trifit  er  eine  alte  Bettelirau  und  giebt  ihr  Almosen;  eines  Tages 
jedoch  hat  er  kein  Geld  bei  sich,  kann  also  kdnes  geben;  da 
flucht  ihm  die  Alte,  er  solle  seine  zwölf  Söhne  niemals  wieder- 
sehen.    Gesagt  gethan;  die  zwölf  Söhne  werden  zwölf  Tauben 


'  Es  Bcbeint  mir,  dass  dieselbe  Verwirrung  zwischen  coluber  und 
CO lumb a  entstand,  wie  swischen  xilv^^og^  einer  Schlangenart,  und 
XeliScap,  der  Schwalbe. 

*  U,  7.  V,  9. 


507 

und  —  fort  sind  sie.  Die  verzweifelnden  Eltern  weinen,  und  ver- 
gessen in  ihrem  Schmerz  den  Adler  zu  füttern.  Dem  grossen 
Herrn  vis-ä-vis  wohnt  der  König,  der  sich  in  den  Adler  wie  in 
ein  schönes  Mädchen  verliebt ;  er  stiehlt  ihn  und  ersetzt  ihn 
durch  einen  anderen  Adler.  Nicht  weit  davon  wohnt  eine  Wasch- 
frau; die  hat  eine  sehr  schöne  Tochter,  so  schön,  dass  sie  dieselbe 
nur  bei  Nacht  aus  dem  Hause  lässt.  Sie  waschen  an  dem  von 
Pappeln  umgebenen  Brunnen;  um  Mitternacht,  als  sie  waschen, 
hören  sie  ein  Geräusch  unter  den  Pappeln  und  das  Mädchen  er- 
schrickt. Eines  Nachts  horchen  sie  und  hören,  wie  die  Tauben 
einander  erzählen,  was  ihnen  am  Tage  begegnet  ist.  Darauf  fliegen 
sie  in  einen  schönen  Garten;  das  Mädchen  folgt  ihnen ;  sie  treten  in 
einen  schönen  Palast  ein ;  die  Waschfrau  berichtet  dem  grossen  Herrn, 
was  sie  gesehen  hat ;  dieser  ist  sehr  erfreut  und  verspricht  ihr  eine 
gute  Belohnung,  wenn  sie  ihm  zeigen  wolle,  wo  seine  Söhne  schlafen 
gehn.   Vater  und  Mutter  gehen  hin;  die  Tauben  sagen:  „Wollte  uns 

unsere  Mutter  sehn ";  dann  fliegen  sie  davon.  Der  Herr  fragt  einen 

Astrologen  um  Rath,  der  ihm  die  Anweisung  giebt,  die  alte  Hexe 
durch  Versprechen  von  Almosen  in  sein  Haus  zu  locken,  sie  in 
ein  Zimmer  einzuschliessen  und  sie  durch  Gewalt  zu  zwingen,  die 
Mittel  anzugeben,  durch  welche  die  Tauben  wieder  in  Jünglinge 
verwandelt  werden,  oder  aber  sie  zu  tödten.  Die  Alte  giebt  ein 
Pulver,  das  auf  den  höchsten  Berg  geschüttet,  die  Tauben  nach 
Bause  zurückkehren  lassen  soll.  Das  Pulver  hat  die  gewünschte 
Wirkung.  Unterdess  ist  der  junge  König  immer  bei  seinem 
Adler,  worüber  seine  Mutter  ungehalten  ist.  Die  zwölf  Brüder 
trefien  eine  Fee,  die  ihnen  sagt,  wer  ihren  Adler  (ihre  Schwester) 
hat,  und  dass  sie  bald  als  ein  schönes  Mädchen  heimkehren 
wird.  Der  Adler  wird  wieder  das  schöne  Mädchen,  das  der 
König  heirathet. 

Die  andere  G^chichte  lautet  folgendermassen : 
Es  war  einmal  ein  König;  der  hatte  einen  schönen  Sohn  und 
der  war  verliebt  in  eine  schöne  Prinzessin.  Er  wird  sammt  zwei 
Dienern  von  den  Zauberern  entführt  und  in  eine  Taube  verwan- 
delt, desgleichen  die  Diener;  einer  wird  grün,  der  andere  roth, 
der  dritte  pavonazzo,  graulich-violett.  Sie  setzen  ihn  in  einen 
schönen  Palast,  wo  er  sieben  Jahre  lang  bleiben  muss.  Jeder  hat 
ein  grosses  Bassin  —  eines  ist  von  Gold,  das  andere  von  Silber, 
das  dritte  von  Bronze.  Wenn  sie  hineintauchen,  so  werden  sie 
drei  schöne  Jünglinge.  Die  Prinzessin  stirbt  mittlerweile  fast  vor 
Schmerz 9  weil  sie  nicht  weiss,  wohin  ihr  Liebster  ist;  sie  lässt 


568 

sich  das  Haar  auf  einer  Terrasse  kämmen,  da  entfuhren  die  drei 
Tauben  ihr  den  Spiegel,  das  Haarband  und  den  Kamm.  Ein 
grosses  Fest  wird  in  dieser  Stadt  gefeiert,  zu  welchem  die  Mäd- 
chen vom  Lande  bei  Nacht  gehn;  auf  dem  Wege  geht  eines  von 
ihnen  ein  wenig  abseits  kurz  vor  Tagesanbruch;  sie  sieht  ein 
goldenes  Thor,  findet  auf  der  Erde  ein  goldenes  Schlttsselchen, 
mit  welchem  sie  das  Thor  öffnet,  und  tritt  in  einen  schönen  Garten. 
Am  Ende  des  Weges  steht  ein  schönes  Schloss;  sie  findet  in  dem- 
selben die  drei  Bassins  und  sieht  die  Tauben  als  Jünglinge. 
Mittlerweile  wird  die  Tochter  des  Königs  vor  Kummer  krank  und 
liegt  allem  Anschein  nach  im  Sterben;  der  König  will  sie  um 
jeden  Preis  geheilt  sehen.  Das  Mädchen,  das  im  Palast  gewesen, 
erzählt  der  Prinzessin  Alles,  was  sie  gesehn  hat;  die  Letztere 
wird  geheilt  und  geht  mit  dem  Mädchen  in  den  Palast,  wo  sie 
einen  Tisch  für  drei  Personen  finden;  sie  verstecken  sich.  Der 
Prinz  und  die  Prinzessin  treffen  einander;  _doch  der  Erstere  ge- 
räth  darüber  in  Verzweiflung,  weil  ihre  Ungeduld  die  Bezauberung 
noch  um  sieben  Jahre  verlängert  habe,  während  von  den  ersten 
sieben  Jahren  nur  noch  drei  Tage  fehlten.  Er  wird  wieder  eine 
Taube;  sie  muss  sieben  Jahre  auf  einem  Thurm,  allen  Unbilden 
des  Wetters  ausgesetzt,  zubringen.  Sieben  Jahre  sind  um;  die 
Prinzessin  ist  so  hässlich  geworden,  dass  sie  wie  ein  Thier  aus- 
sieht; lang  hängen  die  Haare  über  die  verbrannte  Haut.  Die  Be- 
zauberung ist  zu  Ende;  er  kommt,  nach  ihr  zu  sehn;  sie  sagt: 
„Wie  viel  habe  ich  für  Dich  gelitten !"  Der  Prinz  aber  erkennt  sie 
nicht  wieder  und  verlässt  sie;  sie  bleibt  nackt  in  einem  dichten 
Walde  und  geht  ihren  Vater  suchen.  Die  Nacht  kommt  hei*an ; 
die  Prinzessin  und  ihre  Dienerin  wissen  nicht,  wohin  sie  ihre 
Zuflucht  nehmen  sollen;  sie  erklimmen  einen  Baum,  von  welchem 
aus  sie  ein  Licht  bemerken.  Sie  gehen  auf  dasselbe  zu  und 
finden  einen  schönen  kleinen  Palast;  eine  schöne  Dame,  eine  Fee, 
erscheint  und  fragt:  „Bist  Du  es,  Caroline?"  Das  war  nämlich  der 
Name  der  Prinzessin.  Doch  die  Fee  kann  keine  Nachricht  von 
dem  Prinzen  geben  und  schickt  sie  zu  einer  anderen  Fee,  ihrer 
Schwester;  doch  auch  da  dasselbe  traurige  Resultat;  die  Prin- 
zessin geht  zu  einer  dritten  Fee,  jedesmal  die  doppelte  Entfer- 
nung zurücklegend.  Die  drei  Feen  waren  drei  Königinnen,  die 
von  demselben  jungen  Prinzen  verrathen  worden  sind.  Die  dritte 
Fee  giebt  der  Prinzessin  eine  Zaubermthe;  sie  soll  zu  dem  Prin- 
zen gehen  und  ihm  das  thun,  was  er  ihr  gethan  hat,  nämlich  ins 
Gesicht  spucken.    Sie  wird  in  einem  Boot  vor  das  Schloss  des 


^ 


I 


569 

jungen  Prinzen  gebracht;   dort  zanbert  sie^  nach  Anweisung  der 
Fee^  vermittelst  der  Zauberrnthe  einen  schönen  Palast  hervor,  einen 
Palast  y  der  noch  viel  schöner  ist  als  der  des  Königs ,  mit  einem 
schönen  Brunnen.    Der  junge  König  will  sie  sehen;  er  schickt  ihr 
einen  Handkuss;  sie  schlägt  ihm  das  Fenster  vor  der  Nase  zu. 
Darauf  lädt  er  sie  zum  Gastmahl;  sie  schlägt  ab.    Er  schickt  ihr 
einen  prächtigen  Diamanten;   den   giebt  sie  ihrem  Hausmeister, 
mit  dem  Bemerken,  dass  sie  einen  viel  schöneren  hat    Er  schickt 
ihr  ein  glänzendes  Gewand,  das  sich  in  die  flache  Hand  nehmen 
lässt ;  sie  zerreisst  es  und  giebt  die  Fetzen  dem  Koch  als  Küchen- 
tücher.   Der  junge  König  wird  immer  leidenschaftlicher ;  er  sendet 
ihr  seine  beste  Uhr,  die  sie  jedoch  auch  ihrem  Hausmeister  giebt. 
Er  wird  krank  vor  Liebe  und   will   sie   absolut   heirathen.     Er 
schickt  seine  Mutter.    Die  Prinzessin  verspottet  den  Prinzen;  sie 
will  nicht  kommen,  sondern  sagt:  ,, Warum  kommt  er  nicht  selbst  ?^' 
Seine  Mutter  bittet  sie  noch  einmal,  zu  kommen.    „Er  soll  kom- 
men,''  antwortet  sie ;  endlich  willigt  sie  doch  ein,  zum  Prinzen  zu 
kommen,  wenn  von  ihrem  Palast  bis  zu  dem  des  Königs  ein  so 
dicht  bedeckter  Weg  für  ihre  Equipage  gemacht  wird,  dass  kein 
Lichtstrahl  hineindringt.     Halben  Weges  öfihet  sich  die  Decke, 
die  Sonnenstrahlen  fallen  auf  den  Weg,  und  —  verschwunden  ist 
sie.     (Vgl.   den  indischen  Mythus   von  Urva^i.)     Der  König  ist 
dem  Tode   nahe;    seine  Mutter  geht  wieder  zu   der  Prinzessin, 
welche  verlangt,  dass  man  ihn  ihr  als  Todten  auf  einer  Bahre 
bringt    Der  König  bekennt,  dass  er  vier  Mädchen  verrathen  hat, 
und  dass  er  wegen  der  Vierten  ein  so  jämmerliches  Ende  nimmt 
Die  Prinzessin  lacht  ihn  aus  und  speit  ihm  zwei  Mal  ins  Gesicht ; 
beim  dritten  Mal  steht  er  auf;  sie  versöhnen  und  heirathen  sich. 
(Der  Speichel  der  Prinzessin,  der  den  todten  Prinzen  wieder  auf- 
leben lässt,  ist  der  Thau  der  Aurora  oder  des  Frühlings,  welcher 
die  Sonne  wieder  zum  Leben  bringt.)  ^ 

Bis  bieber  ist  die  Taube  als  eine  traurige  und  diabolische 
Gestalt  erschienen,  welche  der  Held  oder  die  Heldin  annahmen, 
gezwungen  durch  fremden  2Jauber.  Einen  düsteren  Charakter 
haben  auch  die  beiden  Tauben,  welche  sich  auf  die  Raen  des 
Schiffes  setzen,  in  welchem  Gennario  seinem  Bruder  Milluccio 
einen  Falken,  ein  Pferd,  und  eine  weisse  und  rothc  Braut  mit 
schwarzen  Haaren  bringt  (eine  Variation  der  Sage  von  den  Agvins 


"  Vgl  Pentam.  II,  5.  IV,  8  und  Afan.  V,  22. 


570 

und  der  von  dem  Jüngling,  der  sich  fllr  seinen  Bruder  opfert). 
Die  beiden  Täuben  sprechen  mit  einander;  eine  sagt,  dass  6en- 
nariello  'seinem  Bruder  Milluccio  einen  Falken  bringt,  der  ihm 
unmittelbar  nach  seiner  Ankunft  die  Augen  ausreissen  werde, 
dass  aber  der,  der  Milluccio  warnen  oder  ihm  den  Falken  nicht 
bringen  sollte,  in  Stein  verwandelt  werden  würde;  dann  dass 
Gennariello  seinem  Bruder  M.  ein  Pferd  bringt,  dass  ihm  beim 
ersten  Ritt  das  Genick  brechen  werde,  mit  derselben  Prophezeiung; 
und  endlich,  dass  6.  seinem  Bruder  ein  Weib  bringt,  um  dessent- 
willen  ein  Drache  Braut  und  Bräutigam  in  der  ersten  Nacht  ihrer 
Vereinigung  verschlingen  werde,  wieder  mit  der  Warnung,  Mil- 
luccio nicht  zu  warnen.  Der  schlaue  Gennariello  haut  dem  Falken, 
bevor  er  ihn  dem  M.  giebt,  den  Kopf  ab;  dem  Pferde,  bevor  er 
es  reitet,  die  Beine ;  dem  Drachen  aber,  der  herankommt,  das 
junge  Paar  zu  verschlingen,  trennt  er  den  Kopf  vom  Rumpfe. 
Milluccio,  der  den  Drachen  nicht  gesehn,  wohl  aber  seinen  Bruder 
mit  einem  Messer  in  der  Hand  sieht,  denkt,  dieser  wolle  ihn 
tödten;  er  lässt  ihn  binden  und  verurtheilt  ihn  zum  Tode.  Genna- 
riello enthüllt  Alles  und  wird  zu  Marmor.  Milluccio  erfährt,  dass 
sein  Bruder  wieder  ins  Leben  zurückgerufen  werden  kann,  wenn 
er  den  Marmor  mit  dem  Blut  seiner  zwei  kleinen  Söhne  bestreicht ; 
er  schlachtet  seine  Kinder ;  die  Mutter  will  sich  in  der  Verzweif- 
lung aus  dem  Fenster  stürzen ;  da  sieht  sie  ihren  Vater  auf  sich 
zukommen,  der  ruft :  „Drinto  na  nugola/'  Er  erweckt  ihre  Kinder 
und  sagt,  dass  er  nur  aus  Rache  Allen  so  bittern  Schmerz  bereitet 
habe:  dem  Gennariello,  weil  er  seine  Tochter  entführt  bat;  dem 
Milluccio,  weil  er  die  Ursache  ihrer  Entführung  war;  seiner 
Tochter,  weil  sie  der  Heimath  entlaufen  ist.  Die  beiden  Tauben, 
welche  auf  den  Raen  des  Mastes  sassen,  waren  also  Boten  des 
Todes  fUr  den  Helden  und  die  Heldin,  wie  sie  andrerseits  bis- 
weilen sogar  ihre  eigene  Trauergestalt  sind.  Der  Leser  erinnert 
sich  ohne  Zweifel,  wie  unter  den  Leichenspielen  bei  der  Bestat- 
tung des  Patroclus  in  der  111  as  auch  mit  Pfeilen  nach  einer 
Taube  geschossen  wird,  die  an  dem  Mast  eines  Schiffes  aufge- 
hängt ist.  (Er  erinnert  sich  gewiss  auch  der  beiden  prophetischen 
Tauben,  welche  auf  zwei  Eichen  oder  Buchen  in  Dodona  orakelten, 
und  welche  riefen :  „Zeus  war,  Zeus  ist,  Zeus  wird  sein,  o  Zeus, 
der  grösste  der  Götter!")  Die  Taube  erscheint  hier  in  Verbindung 
mit  unheilvollen  Wassern;  bekannt  ist  die  Fabel  von  der  Taube, 
welche  den  Tod  erleidet,  indem  sie  mit  dem  Kopf  gegen  eine 


571 

Wand  stösfity  'auf  welcher  Wasser  gemalt  ist.  ^  In  der  Sage  von 
der  Königin  Rodegonda  rettet  die  heilige  Königin  in  Gestalt  einer 
Tanbe  Seelente  ans  dem  Sohiffbrueh.  Nach  ApoUonlns  leitete 
eine  Tanbe  die  Argonanten.  Es  heisst^  dass  Semiramis  nach 
ihrem  Tode  in  eine  Tanbe  verwandelt  wnrde.  Die  Taube  er- 
scheint anch  anf  christlichen  Monnmenten  als  ein  Symbol  der 
Traner;  deswegen  nnd  weil  sie  anch  oft  als  Symbol  des  ülgen 
Geistes  diente,  der  von  einem  grossen  Theil  des  Volkes  in  Italien^ 
Dentschland;  Holland  nnd  Rnssland  gehegte  Abei^lanbe,  dass  es 
Sttnde  sei,  eine  Tanbe  zn  essen.  Bekanntlich  wnrde  der  Taube 
im  Alterthnm,  besonders  in  Syrien  nnd  Palästina  grosso  Verebmng 
erwiesen. 

Bisweilen  wird  die  Gestalt  der  Tanbe  freiwillig  von  den  beiden 
jungen  liebenden  Helden  angenommen,  um  der  Verfolgung  des 
Ungeheuers  zu  entfliehen,  wie  z.  B.  in  der  6.  der  Novelline  di 
San  Stefano.  Bisweilen  ist  die  Tanbe  (gleich  der  Krähe)  die, 
welche  Menschen  nnd  Göttern  Freude  und  Gutes  bringt.  Die 
ktlnstHche  Tanbe,  gemeiniglich  die  Tanbe  der  Pazzi  genannt 
(von  dem  Namen  der  vornehmen  Florentiner  Familie,  welche  das 
Privilegium  besass),  welche  in  Florenz  am  Hlgen  Sonnabend, 
d.  h.  am  Osterabend,  von  dem  Altar  der  Kathedrale  aufsteigt,  aut 
den  kleinen  Platz  zwischen  Santa  Maria  del  Fiore  und  dem  Bap- 
tisterium  Sti  Johannis  fliegt,  dort  das  Feuerwerk  entzündet,  und 
so  die  Auferstehung  Christi  einer  Schaar  Bauern  verkttndet,  welche 
in  die  Stadt  geströmt  sind,  um  aus  dem  Fluge  der  Taube  zn 
auguriren,  ob  sie  im  folgenden  Jahr  eine  gute  Ernte  haben  werden, 
—  ist  ein  Symbol  des  Endes  des  Winters  und  des  Beginnes  des 
Frühlings.  In  den  Metamorphosen  Ovids  verwandeln  die 
Töchter  des  Anius  durch  die  Gnade  des  Bacchus  Alles,  was  sie 
anrühren,  in  Korn,  Wein  nnd  Oel^  nach  den  Worten  desselben 
Anius: 

„Tactu  natarum  cuncta  mearam 
In  segetcm  laUcemque  meri  baocamque  Minervac 
TraDsformabantur/* 

'  Es  heisfit  von  der  verwittweten  Turteltaube,  dass  sie  niemals  wieder 
aus  irgend  einem  Brunnen  mit  klarem  Wasser  trinken  will,  aus  Furcht, 
das  Bild  ihres  verlorenen  Gefährten  zu  erwecken,  indem  sie  ihr  eigenes 
im  Wasser  sieht  Die  Christen  behaupten,  dass  die  Stimme  der  Turtel- 
taube den  Schrei,  den  Seufzer,  und  später  nach  Christi  Auferstehung  den 
Freudenruf  Maria  Magdalenas  bedeutet.  Aelian  sagt,  dass  die  Turteltaube 
nicht  allein  der  Göttin  der  Liebe  und  der  Göttin  der  Ernte,  sondern  auch 
den  onbeilvoUeD  Paroen  heilig  ist. 


/ 


572 

Agamemnon  will  sie  als  Speisevorratb  für  das  Heer  mitnehmen; 
doch  die  Töchter  des  Anius  weigern  sich;  Agamemnon  will  sie 
durch  Gewalt  zwingen ;  doch  Bacchus  erbarmt  sich  ihrer  und  ver- 
wandelt sie  in  weisse  Tauben.  Bei  AfanassieffVI^öO  kommen 
zwei  Tauben  und  lesen  die  Gerste  aus  ftlr  Masba  oder  Klein- 
MariC;  das  schwarze  (comushka)  oder  hässliche  oder  schmutzige 
kleine  Mädchen,  die  verfolgte  Cinderella;  dann  lassen  sie  sie  auf 
den  Ofen  steigen  und  verwandeln  sie  in  ein  ausserordentlich 
schönes  Mädchen,  indem  sie  das  Mirakel  Indras  (und  der  Agvins) 
wiederholen,  der  dem  Mädchen  mit  der  hässlichen  Haut  die  Schön- 
heit wiedetgiebt.  Das  Feuerwerk  des  toscanischen  Volksglaubens, 
der  Ofen  und  der  Wagen  Indras  thun  dasselbe  Wunder.  Im 
Pentamerone  1,6  erhält  das  Mädchen  ZezoUa,  zu  Hause  „eine 
Katze,  ein  Kohlenmädchen''  genannt,  weil  sie  immer  das  Feuer 
hüten  muss,  und  von  ihrer  Stiefmutter  schlecht  behandelt,  durch 
die  Taube  der  Feen  von  der  Insel  Sardinien  Wohltbaten;  diese 
bringt  ihr  nämlich  eine  Pflanze,  welche  goldene  Datteln  giebt, 
einen  goldenen  Spaten,  einen  goldenen  Wassereimer  und  ein 
seidenes  Tischtuch.  Das  Mädchen  muss  die  Pflanze  pflegen,  und 
wenn  sie  einen  Wunsch  hat,  so  muss  sie  einfach  daran  denken 
zu  sagen: 

„Dattolo  mio  'naurato, 
Co  la  zappatella  d'oro  fhaggio  zappato, 
Co  lo  secchietello  d'oro  t'haggio  adacquato, 
Co  la  tovaglia  de  seta  fhaggio  asduttato; 
Spoglia  a  te,  e  vieste  a  me.^' 

Der  Dattelbaum  giebt  einige  von  seinen  Reichthümem  zum  Schmuck 
des  Mädchens  her.  So  kommt  sie,  als  der  junge  König  eine  Fest- 
lichkeit bekannt  macht,  in  königlichem  Schmuck  und  flimmert  beim 
Tanz  gleich  der  Sonne.  Als  der  Prinz  ihr  zum  ersten  Mal  folgt, 
wirft  sie  Gold  hinter  sich ;  das  zweite  Mal  Perlen ;  das  dritte  Mal 
ihren  Pantoffel ;  an  diesem  Schuh  wird  sie  wiedererkannt,  und  ge- 
heirathet  Im  22.  ehstnischen  Mährchen  setzen  sich,  als  der  junge 
prinzliche  Liebhaber  ankommt,  zwei  Tauben  auf  den  Rosenbusch, 
in  dem  die  schöne  Tochter  des  Gärtners  durch  Bezauberung  ein- 
geschlossen ist;  das  schöne  Mädchen  kommt  aus  dem  Rosenbusch 
und  heirathet  den  Prinzen,  der  die  andere  Hälfte  des  Ringes  be- 
wahrt hat,  indem  sie  ihre  Hälfte  zeigt.  In  dem  griechischen 
Mythus  spielen  Aphrodite  und  Eros ;  sie  wollen  sehen,  wer  die 
meisten  Blumen  pflückt;  der  geflügelte  Eros  gewinnt,  doch  die 
Nymphe  Peristera  hilft  der  Aphrodite;   entrüstet  verwandelt  sie 


573 

Eros  in  die  TtsQimeQa  oder  Taube,  welche  Aphrodite,  um  sie  zu 
trösten,  in  ihren  Schutz  mmmt.  Die  Tauben  ziehen  bald  den 
Wagen  der  Venus  bald  begleiten  sie  ihn  (gleich  den  Sperlingen). 
In  der  Odyssee  bringen  die  Tauben  dem  Zeus  die  Ambrosia, '  und 
in  Gestalt  einer  Taube  besiegt  Zeus  (bekanntlich  ein  alter  ego 
Indras)  die  jungfräuliche  Phthia.  Catull  .erwähnt,  indem  er  von 
Caesars  salacitas  spricht,  den  columbulus  albulus  oder  das  Venus- 
täubchen.  *  Hier,  wo  die  Taube  ein  phallisches  Symbol  wird, 
werden  wir  an  die  bekannte  mythische  Episode  von  dem  lachenden 
Vogel  oder  Fisch  erinnert  durch  das  italienische  Sprichwort:  „Eine 
Taube,  die  lacht,  will  die  Bohne  haben*^  (gesagt  von  einer  Frau, 
wenn  sie  über  ihren  Liebhaber  lacht*).  Von  der  Aphrodite  wird 
erzählt,  dass  sie  die  Aspasia  von  einem  Geschwür  durch  Hilfe 
einer  Taube  heilte  (vgl.  die  Deichsel  von  Indras  Wagen  in  der 
vedischen  Sage  von  Apälä, 

Doch  wird  im  Mythus  die  Stelle  der  Tauben  bisweilen  von 
Enten  eingenommen,  die  mit  Schwänen  vertauscht  sind. 

Das  indische  Wort  hansa  bedeutet  bald  Schwan,  bald  Ente 
(anas),  bald  Gans  (anser),  bald  Phaenicopterus.  Kein  Wunder 
also,  dass  die  Mythen  Thiere  miteinander  vertauschten,  die  unter 
dieselbe  Benennung  zusammengeworien  waren.  Russische  Mähr- 
chen sprechen  von  den  Vögeln :  Gans-schwäne  (gu^lebedi),  welche 
den  jungen  Helden  bald  entführen,  bald  ihn  retten. 

In  den  vedischen  Hymnen  wird  der  hansa  (Ente-Schwan 
oder  Gans-Schwan)  mehr  als  einmal  dargestellt    Agni  (das  Feuer), 

'  In  der  Sage  vom  HeiUgen  Remigius  ist  es  eine  Taube,  die  dem  Bi- 
schof das  Oelfläschchen  zur  Salbung  des  Königs  Chlodwig  bringt 

*  „Et  iUe  nunc  superbus  et  superfluens 

Perambalabit  omnium  cubilia, 

Ut  albulus  columbus,  aut  Adoneus? 

Ginaede  Romule^  haec  videbis  et  feres?'* 
Die  Keuschheit  und  eheliche  Treue,   die  das  Sprichwort  den  Tauben  zu- 
schreibt, wird  ihnen  hier  abgesprochen.     Catull  hat  ofienbar  genau   den 
Charakter  dieser  Thiere  beobachtet,  welche  ganz  im  Gegentheil  oft  von 
schamloser  Untreue  sind. 

*  Wir  können  hier  noch  ein  anderes  italienisches  Sprichwort  erwähnen : 
„Zwei  Tauben  mit  einer  Bohne  fangen/*  In  der  italienischen  Anatomie 
heisst  ein  Theil  des  Phallus  Bohne  (faba,  fava).  Die  Vögel  und  besonders 
die  Drosseln  und  die  Tauben  haben  nach  dem  Volksglauben  nicht  nur  die 
Fähigkeit,  andere  Vögel,  sondern  sogar  Pflanzen  zu  befruchten.  Schon 
Ad.  Kuhn  hat  auf  die  Worte  des  Plinius  Hist  Nat  XVI,  44  aufmerksam 
gemacht:  „Omnino  autem  satum  nullo  modo  nascitur,  nee  nisi  per  alvum 
avium  redditum,  maxime  palumbis  ac  turdis/* 


or  J 


574 

der  gebeten  wird,  sieh  in  den  Häasem  zugleich  mit  der  Aurora 
zu  erheben,  wird  mit  einem  Schwao  in  den  Wassern  (oder  mit 
dem  Licht  in  der  Finstemiss,  der  Sonne  in  dem  azurnen  Himmel) 
verglichen.  *  Der  Gott  Agni  wird  selbst  hansa  genannt^  der  Ge- 
nosse  (als  Donnerk^)  der  Beweglichen  (Wogen  oder  Wolken), 
in  Gemeinschaft  gehend  mit  den  himmlischen  Wassern.'  Der 
Sang  der  Gefährten  des  Bphaspati,  die  den  Ktiben  oder 
Auroren  des  Morgens  Hymnen  singen,  gleicht  dem  Sänge  der 
hansas.  ^  Die  Maruts,  mit  den  glänzenden  Leibern  (die  Winde, 
welche  blitzen,  heulen  und  donnern)  werden  mit  schwararttckigen 
hansas  verglichen^  (die  uns  an  die  schwarz-  und  weissrttckigen 
Schwalben,  schwarzen  und  weissen  Krähen,  Schwäne  erinnern). 
Die  Pferde  der  beiden  A^vins  werden  mit  hansas,  ambrosiseben, 
unschuldigen,  goldfltlgeligen  verglichen,  die  mit  der  Aurora  er- 
wachen (als  Sonnenstrahlen),  die  in  den  Wassern  schwinunen 
freudig  und  heiter.^  Bei  Afanassieff  VI,  2  macht  eine  Ente 
ihr  Nest  auf  dem  Kopfe  des  Diebes,  der  aus  dem  Himmel  in  das 
Wasser  gefallen  ist.  Die  Henne  iegt  ein  goldenes  Ei  (die  Sonne) 
in  ihr  Nest  am  Morgen  und  ein  silbernes  am  Abend  (den  Mond). 
Im  Bigveda  lese  ich,  dass  Bribu  sich  auf  den  Kopf  der  Diebe 
(Panis)  setzte,  tausend  Gaben  umherstreuend.  ^  Ich  glaube  Jn 
Bribu  einen  Vogel  und  eine  Personification  Indras  sehen  zu  dürfen. 
Biribu  wird  im  Qäflkhäyana  als  ein  takshan  dargestellt,  was  durch 
„Erbauer,  Künstler,  Zimmermann '^  erklärt  wird;  daher  wird  Bribu 
für  den  Zimmermann  der  Paji^is  gehalten.  Doch  scheint  dies  nn- 
Wabrscheinlich,  ausserdem  dass  es  auch  mit  dem  indischen  Texte 
in  Widerspruch  steht.  Der  eigentticbe,  ursprüngliche  Sinn  des 
Wortes  takshan  ist:  „der  Zerschneider;  der  in  Stücke  bricht;^' 
in  Bribu  sehe  ich  also  nicht  den  Zimmermann  der  Panis,  sondern 


'  Qvasity  apsa  hanso  na  aidan  kratvft  öetishtho  vi^m  osharbhnt; 
Bigv.  I,  65,  9. 

'  Bibhatsünftm  sayugam  hansam  Uhur  apftm  divyftnäm  sakhye  daran- 
tam;  X,  124,  9. 

'  Hansäir  iva  sakhibhir  vävadadbhir  a^manmayäni  nahani  vyasyan 
brihaepatir  abhi  kanikradad  g&;  X,  67,  8. 

*  Sasva^  cid  dhi  tanva^^  ^umbhaminft  ft  hansaso  nilaprishthä  apaptan; 
VU,  59,  7. 

^  Vgl.  das  Kapitel  über  die  Biene. 

^  Adhi  bribu^  paninam  varshishthe  mürdhann  astbät  urn^  kakslio  na 
gafigyah;  Bigv.  VI,  45,  31.  —  Bribum  sahasradätamam  sürim  sahasrasftta- 
mam;  VI,  45,  33. 


575 

ihren  Vernichter.  Da  wir  in  einem  anderen  vedischen  Hymnos ' 
Bribu  auch  in  Verbindung  mit  zwei  anderen  Vögeln^  nämlich  dem 
bharadvä^a  (der  Lerche)  und  dem  stoka  (dem  Knckuk)  finden^ 
so  bin  ich  geneigt,  auch  Bribu  für  einen  Vogel  zu  halten.  End- 
lich sehe  ich^  da  ich  Bribu  in  Verbindung  mit  Indra  finde^  in 
diesem  Vogel,  der  sich  auf  den  Kopf  der  Panis  setzt,  eine  Er- 
scheinungsform des  Gottes  Indra  selbst.  Die  Ente  legt  in  rus- 
sischen Mährchen  ihr  Ei  auf  den  Kopf  des  Räubers;  so  nimmt 
Indra  den  Panis  ihre  Schätze  vom  Kopfe.  Wir  wissen  schon  von 
den  Perlen,  welche  von  dem  Kopfe  der  guten  Fee  fallen,  die  das 
gute  Mädchen  kämmte;  wir  wissen  auch,  dass  die  mythischen 
Wasser  in  Beziehung  zu  den  Schätzen  stehen.  Wir  mtlssen  hier 
an  die  Sage  des  Rämayapa  von  dem  Ursprung  des  Ganges  erin- 
nern, der  seine  Wasser,  bevor  er  sie  auf  die  Erde  ergoss,  lange 
Zeit  auf  den  haarigen  Kopf  des  Gottes  Qiva  strömen  liess,  welcher 
eine  etwas  erhabenere  Grestaltung  des  Kuvera,  des  Gottes  des  Reich- 
thnms  ist.  ^  Wir  wissen  auch,  dass  die  Perle  und  das  Ei  in  den 
Mythen  identisch  sind. 

Der  Gott  Brahman  wird  in  der  indischen  Mythologie  auf 
einem  weissen  hansa  reitend  dargestellt. 

Im  Rämäyjaa  wird  der  Himmel  mit  einem  See  verglichen,  in 
welchem  die  glänzende  Sonne  als  goldene  Ente  herumschwimmt.  ^ 
Räma  (eine  Gestalt  der  Sonne  Vishnu),  dessen  Sprache  wie  die  eines 
liebestrunkenen  hansa  klingt,^  schleudert  mit  seinem  göttlichen 
Bogen,  einen  Pfeil,  der  durch  sieben  Palmbäume,  den  Berg  und 
die  Erde  dringt,  aus  welcher  er  später  wieder  herauskommt,  um  in 
Gestalt  eines  hansa  zu  Rama  zurückzukehren.  ^    Kabandha  der 


»  Rigv.  VI,  46. 

^  Die  Gans  findet  sich  in  Verbindung  mit  den  Räubern  bei  Af  anas- 
sieff  VI,  23.  Zwei  Diener  stahlen  dem  König  eine  werthvoUe  Perle; 
nahe  daran,  entdeckt  zu  werden,  geben  sie  die  Perle  auf  Rath  einer  alten 
Frnu  in  einem  Stück  Brod  der  grauen  Gans;  die  Gans  wird  nun  angeklagt, 
die  Perle  gestohlen  zu  haben.  Sie  wird  getödtet,  die  Perle  gefunden  und 
die  Diebe  gehen  frei  aus. 

'  V,  55.  —  Bei  A  fan.  V,  49  kommt  ein  Räthsel  vor,  in  welchem  die 
Verlobte  als  eine  Ente  dargestellt  wird.  £in  Vater  schickt  seinen  Sohn 
aus,  das  ihm  vorbestimmte  Weib  su  finden,  mit  folgendem  räthsel haftem 
Befehl:  „Geh  nach  Moskau;  dort  giebfs  einen  Teich,  in  dem  Teich  ist 
ein  Netz ;  geht  die  Ente  in  das  Netz,  so  nimm  sie;  wenn  nicht,  so  zieh  dss 
Netz  heraus."  Der  Sohn  kommt  heim  mit  der  Ente,  —  d.  h.  mit  seinem 
anvertrauten  Weibe. 

*  II,  46. 

*  IV,  11. 


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L-      V 


576 

durch  Feuer  geht  und  dadurch  seine  Ungeheuergestalt  verliert 
wird  von  hansas  gezogen,  als  er  in  den  Himmel  aufsteigt.  ^  End- 
lich sind  die  hansas  bekannt^  welche  als  Liebesboten  zwischen 
dem  Prinzen  Nala  und  der  Prinzessin  Damayanti  in  der  bertlhmten 
Episode  des  Mahäbhärata  dienen. 

Bei  Afanassieff  I;  4  ist  Häuschen  (Ivasco)  auf  einer  Eiche, 
welche  die  Hexe  benagt,  um  sich  in  seinen  Besitz  zu  setzen;  drei 
Flüge  Gänse-Schwäne  kommen  nach  einander  vorbei;  Häuschen 
bittet  sie   um  Hilfe;   der  erste  Plug  weist  ihn  ab,  ebenso  der 
zweite;   die  Vögel,  die  zu  dritt  kommen,   nehmen  ihn  auf  ihre 
Flügel  und  bringen  ihn  nach  Hause.  *   VI,  19  zeigen  sich  dagegen 
die  Gänse-Schwäne  von  einer  bösen  Seite,  indem  sie  das  Brüderchen 
von  der  unachtsamen  Schwester  .fortholen.    Das  Mäbrchen  sagt 
auch,  dass  diese  Thire  schon  lange  den  bösen  Ruf  hatten,  kleine 
Kinder  zu  rauben.    Die  Gänse-Schwäne  tragen  d6n  Knaben  in 
das   Haus    einer  Fee,  wo   er  mit   goldenen  Aepfeln  spielt.    Die 
Schwester  folgt    seinen    Spuren;    sie   fragt    einen   Ofen,   einen 
Apfelbaum  und  einen  Milchbach,  wohin  die  Vögel  ihren  Bruder 
gebracht  haben,  —  vergebens ;  schliesslich  enthüllt  ihr  der  boshafte 
kleine  Seeigel  (iosz)  das  Geheimniss.    Die  Schwester  bringt  den 
Knaben  heim,  von  den  Gänse-Schwänen  verfolgt  und  sich  während 
der  Nacht  durch  den  Bach,  den  Apfelbaum  und  den   Ofen  ver- 
bergend. 

Doch  wenn  Gänse,  Enten  und  Schwäne  bisweilen  diabolische 
Ei-scheinungsformen  der  trügerischen  Hexe  sind,  so  thun  sie  doch 
im  Allgemeinen  Gutes  und  führen  zu  Gutem.     In  einer  Variation 
von   Afanassieff  VI,   46   prophezeien   die  Gänse  Iwan   dem 
Kaufmannssohn   die  Zukunft;  Iwan   hat  nämlich    in   der  Schule 
des  Teufels  unter  Anderem  auch  die  Vogelsprache  gelernt.    Bei 
Afanassieff  VI,  60  hilft  der  Schwan,  ein  schönes   Mädchen, 
dem  unglücklichen  Danilo,   dem  der  Prinz  befohlen   hat,  einen 
Pelz  zu  nähen,  der  goldene  Löwen  zu  Knöpfen  und  Vögel  von 
jenseit  des  Meeres  zu  Knopflöchern  hat;  derselbe  Schwan  ver- 
richtet noch   andere   Wunder  für  den   geliebten  Jüngling.    Bei 
Afanassieff  IV,  46  lässt  die  alte  Hexenschlange  die  Prinzessin 
in  Abwesenheit  des  Prinzen  eine  weisse  Ente  werden.    Die  Ente 
legt  drei  Eier,  aus  denen  sie  drei  Söhne  hat,  zwei  schöne  und 
einen  missgestalteten,  aber  schlauen.  Die  Hexe  tödtet  die  beiden 


»  III,  75. 

».Vgl.  A  fan.  VI,  17. 


Söhne  im  Schlafe  und  verwandelt  sie  in  Einten ;  cter  dritte  ent- 
geht durch  seine  Seblanheit  demselben  Geschick;  die  weisse 
Ente  fliegt,  ntb  ihre  Söhne  besorgt,  Kum  Palast  des  Prinzen 
und  singt: 

,,Kr!k,  krik,  meine  SÖhnefaeii! 

Krik,  krik,  Täabcheo! 

Die  alte  Hexe  hat  euch  getödtet; 

Die  alte  Hexe,  die  hose  Schlange, 

Die  trügerische  bÖse  Schlange! 

Euer  eigener  Vater  hat  euch  geraubt, 

Euer  eigener  Vater,  mein  Gemahl; 

Sie  ertränkte  «as  in  dem  reiasenden  Strome, 

Sie  verwandelte  uns  in  kleine  weisse  Enten, 

Und  sie  selbst  lebt  in  königlichem  Prunk  !^^ 

Der  Prinz  fängt  die  Ente  und  sagt:  >, Weisse  Birke,  stec*'  dich 
hinten  schönes  Mädchen,  herv^orl"  Bei  dieser  Zauberformel  erhebt 
sich  der  Baum  hinter  ihm  und  das  schöne  Mädchen,  die  Prinzessin, 
steht  vor  ihm>  Br  zwingt  nun  die  Hexe,  die  Kinder  wieder  ins 
Leben  «u  rufen. 

Der  Tod  der  Ente  macht  bisweilen  das  Glück  des  Helden, 
oder  der  Heldin,  wegen  des  Eis,  welches  er  hervorbringt  (die 
Sonne  am  Morgen  und  der  Mond  am  Abend).  Bei  A  fan  as - 
sieff  V,  63  sucht  der  Junge  Held  auf  den  Rath  eines  unbe- 
kannten JttngHngs  unter  den  Wurzeln  einer  Birke  eine  Ente, 
welche  den  einen  Tag  (des  Morgens)  ein  goldenes  Ei,  den  anderen 
(des  Abends)  ein  silbernes  Ei  legt ;  auf  ihrer  Brust  stehen  folgende 
Worte  mit  goldenen  Lettern :  —  „Wer  ihren  Kopf  isst,  wird  König 
werden;  wer  ihr  Herz  isst.  Wird  Gold  speien/^  Er  bringt  sie 
seiner  Mutter,  die  in  Abwesenheit  des  Vaters  ein  Liebesverhältniss 
mit  einem  anderen  Herren  hat.  Der  Herr  liest  die  goldenen 
Lettern  und  räth  der  Frau,  die  Ente  zu  kochen ;  doch  die  beiden 
Söhne  kommen  ihm  zuvor ;  während  ihre  Mutter  in  der  Messe  ist, 
isst  der  Eine  den  Kopf,  der  Andere  das  Herz  der  Ente;  sie  erleben 
das,  was  in  Kapitel  H  von  Ihnen  erzählt  ist.  *  Das  goldene  Ei 
der  Ente  verursacht  den  Tod  der  Hexe  und  des  Ungeheuers  in 
zahlreichen  slavischen Mährchen.  Bei  Afanassieff  V,  33  oöen- 
bart  eine  Wundergans,  ähnlich  den  Gänsen  des  Capitols,  die  Ver- 
räther. Das  Weib  eines  reiehen  Kaufmanns  verlangt  von 
ihrem  Oemahl,  er  solle  ihr  das  Wunder  der  Wunder  verschaffen. 


'  Vgl.  eine  interessante  Variation  dieses  Mährchens  bei  Hahn,  Grie- 
chische und  Albanesisc  he  M&hrehen. 

QubenutUs,  dl«  TlUer«.  97 


578 

Er  kauft  in  der  siebenundzwanzigsten  Welt  and  im  dreissigsten 
Königreich  (welches  das  Reich  der  anderen  Nacht- Welt,  ist)  einem 
alten  Manne  eine  Gans  ab^  ^  welche,  bis  auf  die  Knochen  gekocht 
und  gegessen,  wieder  lebendig  wird.  Als  am  Morgen  der  Kauf- 
mann abwesend  ist,  lädt  seine  Frau  einen  ihrer  Liebhaber  zu 
sich  ein  und  will  zu  seinem  Empfange  die  Gans  braten.  Sie  sagt 
zu  ihr;  „Komm  her*';  die  Gans  gehorcht;  sie  befiehlt  ihr,  sich 
in  die  Bratpfanne  zu  legen;  die  Gans  weigert  sich.  Die  Frau 
steckt  sie  mit  Gewalt  hinein,  bleibt  aber  selbst  an  die  Bratpfanne 
gefesselt;^  der  Liebhaber  versucht,  sie  zu  betreien,  bleibt  aber 
ebenfalls  fest  hängen;  die  Diener  kommen  zu  Hilfe,  kleben  aber 
Alle  an  einander  an  und  Alle  zusammen  an  der  Bratpfanne,  bis 
der  Mann  erscheint,  seines  Weibes  Bekenntniss  hört,  den  Lieb- 
haber durchprügelt  und  die  Frau  von  der  Gans  befreit 

Auch  im  Pentamerone  erscheinen  Gänse  als  Enthtiller 
des  Betruges.  Wenn  Marziella  ihr  flaar  kämmt,  streut  sie  Perlen 
und  Blumenknospen  umher;  wenn  sie  geht,  so  wachsen  unter 
ihren  Füssen  Lilien  und  Veilchen ;  ^  ihr  Bruder  Ciommo  will  sie 
dem  König  als  Gemahlin  zuführen ;  doch  die  alte  Tante  setzt  ihre 
eigene  hässliche  Tochter  an  Stelle  ihrer  schönen  Nichte.  Der 
empörte  König  schickt  Ciommo,  die  Gänse  zu  hüten;  dieser  giebt 
aber  nicht  Acht  auf  sie;  doch  Marziella,  die  von  einer  Sirene 
entführt  worden  war,  kommt  aus  der  Tiefe  des  Meeres,  um  sie 
zu  füttern  „de  pasta  riale^',  und  ihnen  „Roeenwasser^'  zu  trinken 
zu  geben.  Die  Gänse  werden  fett  und  singen  bei  des  Königs 
Palast: 

„Pire,  pire,  pire : 
Assai  hello  h  to  sole  oo  la  luna; 
Aasai  chiü  bella  ^  chi  coveraa  a  ouie.^* 

Der  König  schickt  einen  Diener  nach   den  Gänsen,  und  entdeckt 


'  So  stiehlt  in  einem  norwegischen  Mährchen  das  schmutzige  Kohlen- 
mädchen den  Zauberern  wilde  Enten.  —  Im  achten  ehstnischen  Mährchen 
wird  der  dritte  Bruder  in  die  Hölle  geschickt  nach  den  Enten  und  Gän- 
sen mit  goldenen  Federn. 

'  In  einer  skandinavischen  und  italienischen  Variation  dieses  Mähr- 
chens haben  wir  statt  der  Gans  den  Adler  und  seine  Jungen,  aber  wieder 
die  Gans  im  Pentamerone  V,  1,  wo  sie  dasselbe  thut  wie  im  russischen 
Mährchen,  nur  mit  einigen  mehr  vulgären  und  wenig  decenten  Zusätzen. 

*  Das  Bild  von  den  Füssen,  die  Blumen  spriesbcn  lassen,  ist  sehr  alt; 
Kenner  der  indischen  Literatur  erinnern  sich  an  die  pushpi^yau  <iarato 
^anghe  der  Geschichte  von  ^una^^epa  im  Aitareya-Brihmana. 


579 

80  Alles;  er  will  das  schöne  Mädchen  heirathen;  doch  die^ Sirene 
hält  sie  an  einer  goldenen  Kette  gefesselt;  der  König  durchfeilt 
mit  einer  geräuschlosen  Feile  eigenhändig  die  Kette,  welche  den 
Puss  des  Mädchens  fesselt,  and  heirathet  dasselbe.  *  Einr  Gänse- 
hirt  ist  es,  der  im  zwanzigsten  ehstniscben  Mährchen  das  schöne 


'  No.  9  der  Novell,  di  S.  Stef.  di  Calc.  ist  eine  interessante  Va- 
riation hierron;  das  schöne  Mädchen,  welches  die  Gänse  füttert,  ist  in  die 
Haut  eines  alten  Weibes  verkleidet;  die  Gänse,  welche  sie  nacfet  sehen, 
rufen:  „Coc^,  la  bella  padrona  cfa*  i'  ho/*  bis  der  Prinz  den  Koch  in  das 
Zimmer  eintreten  und  die  alte  Haut  wegnehmen  lässt,  während  das  Mäd- 
chen schläft;  dann  heirathet  er  sie.  —  Das  folgende  noch  nicht  veröffent- 
lichte Mährchen  wurde  mir  von  Herrn  Greco  aus  Coeeaza  in  Calabri^n 
mitgetheilt,  und  ist  eine  Variation  des  Mährchens  aus  dem  Pentamerone: 

Sieben  Prinzen  haben  eine  sehr  schöne  Schwester.  £^n  Kaiser  be- 
schliesst,  sie  zu  heirathen,  doch  unter  der  Bedingung,  dass  er  ihre  sieben 
Brüder  enthauptet,  wenn  er  sie  nicht  nach  seinem  Geschmack  findet.  Sie 
brechen  zusammen  auf,  aber  die  Stiefmutter  sammt  ihrer  Tochter  folgt 
ihnen.  Auf  dem  Wege  ist  es  heiss,  und  der  älteste  Bruder  ruft:  „Sola- 
bella  schütze  mich  vor  der  Hitze,  denn  Du  musst  dem  König  gefallen.^ 
Die  Stiefmutter  nimmt  ihr  das  Halsgeschmeide  ab  und  legt  es  ihrer  eigenen 
Tochter  an;  so  geht  es  weiter,  durch  alle  sieben  Brüder  hindurch,  bis  die 
Stiefmutter  dem  schönen  Mädchen  Alles  abgenommen  hat;  sie  kommen 
an  einen  See;  di^  Alte  stösrt  sie  hinein;  cane  Sirene  hält  sie  mit  einer 
goldenen  Kette  am  Fuss.  Die  Prinzen  kommen  mit  der  hässlichen  Schwe- 
ster an;  der  König  heirathet  sie,  schlägt  aber  den  sieben  Brüdern  die 
Köpfe  ab.  Das  schöne  Mädchen  bittet  die  Enten  im  See  um  Nachricht 
von  ihren  Brüdern ;  die  Enten  antworten,  dass  man  die  Exekution  an  ihnen 
vollzogen  hat  Sie  weint ;  die  Thränen  werden  Perlen,  von  denen  sich  die 
Enten  nähren.  Dieses  Wunder  kommt  zu  Ohren  des  Königs;  er  folgt  den 
Enten,  fragt  das  Mädchen,  warum  sie  die  Menschen  fliehe;  sie  antwortet: 
„Ach!  wie  kann  ich,  die  ich  durch  eine  goldene  Kette  gefesselt  bin?*' 
Dann  erzählt  sie  Alles.  Der  König  erkennt  seine  Braut;  auf  des  Königs 
Bath  fragt  sie,  wie  sie  sich  nach  dem  Tode  der  Sirene  befreien  könne. 
Den  nächsten  Tag  erzählt  Solabella  dem  König,  dass  die  Sirene  nicht 
sterben  werde,  weil  sie  in  einem  kleinen  Vogel  lebt,  der  in  einem  in  ein 
Marmorgehäuse  und  sieben  Eisenhülsen  eingeschlossenem  Käfig  steckt; 
den  Schlüssel  aber  hat  sie  selbst;  stürbe  aber  die  Sirene,  so  würden  ein 
Reiter,  ein  weisses  Boss  und  ein  langes  Schwert  nöthig  sein,  die  Kette  zu 
durchschneiden.  Der  König  bringt  ihr  ein  gewisses  Wasser,  das  sie  auf 
seinen  Bath  der  Sirene  zu  trinken  giebt;  diese  fällt  in  Schlaf;  so  kann 
das  Mädchen  die  Schlüssel  nehmen  und  den  kleinen  Vogel  tödten.  Als 
das  geschehn,  stürzt  sich  das  weisse  Boss  in  den  -See  und  das  Schwert 
zerschneidet  die  Kette.  Darauf  nimmt  der  König  seine  schöne  Braut  in 
seinen  Palast,  und  die  alte  Stiefmutter  wird  in  einem  Pechhemde  ver- 
brannt; die  sieben  Brüder  werden  mit  einer  Salbe  gerieben,  welche  sie 
wieder  lebendig  macht,  und  jeder  ruft  aus:  „0!  was  für  einen  schönen 
Traum  habe  ich  gehabt!*' 

37* 


r-r'^m:: 


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\ 


580 

Mädchen  von  dem  Gatten-Ungeheuer^  dem  Frauenmörder  (Barbebleu); 
befreit. 

In  den  russischen  Mährchen  nehmen  die  Feen  (in  deutschen 
Sagen  bisweilen  auch  die  Jungfrau  Maria)  manchmal  die  Ge- 
stalt von  Gänse-Schwänen  an,  um  Über  das  Wasser  zu  setzen; 
so  spinnen  in  der  Edda  drei  Walkyren  an  den  Ufern  des  Sees, 
mit  ihren  Schwangestalten  dicht  hinter  sich.  „Die  Mädchen," 
sagt  das  Gedicht  von  Völund,  „flohen  aus  dem  Süden  über  Mork- 
ved,  damit  der  junge  AUhvit  seine  Bestimmung  erfüllen  könne. 
Die  Töchter  des  Südens  sassen  auf  dem  Gestade,  das  kostbare 
Gewand  zu  spinnen:  Eine  von  ihnen,  das  schönste  Mädchen  der 
Welt,  klammerte  sich  an  den  weissen  Busen  Egils;  Svanhvit,  die 
zweite,  trug  Schwanenfedem ;  die  dritte  umschlang  den  weissen 
Nacken  Völunds."  >  Die  Bertha  der  deutschen  Volkssage  hat  nur 
den  Fuss  der  weissen  Gans  oder  des  Schwanes  der  Walkyren 
behalten;  daher  ihr  Name:  Gänsefuss,  und:  Reine  p6dauque; 
ebenso  hat  auch  die  Göttin  Freya  nur  den  Schwanenfuss  behalten. 

Wenn  die  Form  einer  Ente,  Gans  oder  eines  Schwanes  zer- 
stört wird,  so  bleibt  der  junge  Held  oder  die  Heldin  zurück.  In 
einer  deutschen  Sage  in  Simrocks  Deutscher  Mythologie 
finden  wir  einen  bezauberten  Jäger,  der  eine  wilde  Gans  im 
Fluge  triflft;  sie  fällt  in  einen  Busch;  er  geht  hinzu,  um  sie  auf- 
zuheben, doch  statt  ihrer  erhebt  sich  ein  nacktes  Weib  vor  ihm 
(vgl.  den  oben  besprochenen  Rosenbusch,  auf  welchem  die  Tauben 
sitzen).  Die  englische  Sitte,  am  St.  Michaelstage  eine  Gans  zu 
essen,  wird  von  der  Sage  auf  die  Zeiten  der  Königin  Elisabeth 
zurückgeführt,  welche  am  St.  Michaelstage  die  Nachricht  von  der 
Niederlage  der  Unbesiegbaren  Armada  empfing,  als  sie  eben  eine 
Gans  gegessen  hatte.  Da  jedoch  nach  Reinsberg  -  Dttringsfeld 
der  Brauch,  am  St.  Michaelstage  eine  Gans  zu  essen,  aus  den 
Zeiten  Edwards  IV.  datirt,  so  müssen  wir  schon  annehmen,  dass 
sich  auch  Königin  Elisabeth  nur  nach  einer  schon  bestehenden 
Volkssitte  richtete.^    Die  St.  Michaelsgans  kündet,   gleich  dem 


'  Die  alte  Ogrin  im  Pen  tarn  er  one  V,  9,  die  drei  schone  Mädchen 
in  drei  Citroneo  bäumen  eingeschlossen  hält  und  die  die  Esel  füttert,  welche 
die  Schwäne  an  den  Ufern  des  Flusses  schlagen,  ist  eine  Variation  des- 
selben  Mythus. 

'  Statt  der  Qänse  wurden  auch  Schwäne  zur  Feier  gegessen;  ein  la- 
teinisches Lied  des  deutschen  Mittelalters  (bei  Uhland,  Schriften  III,  71. 
158)  bietet  uns  die  Klage  des  gebratenen  Schwanes.  —  Im  Pai^datantra 
haben  wir   den  von  der  Eule  geopferten  Schwan.    Um  den  Schwan  anzu- 


581 

Eisvogel,  den  Winter  an.  Sie  wird  als  ein  Augurinm  des  Ew 
der  regnerischen  nnd  winterlichen  Jahreszeit  gegessen  j  denn 
bald  der  Waeserrogel,  der  Eisvogel,  die  Gans,  die  Ente,  oi 
der  Schwan  kein  Wasser  mehr  Sndet,  sobald  das  Meer  der  Na 
oder  der  Schnee  des  Winters  aufgetrocknet  ist,  sobald  der  Was« 
vogel  verwundet,  verspeist,  gestorben  ist,  wird  das  goldene 
gefunden,  kommt  die  Sonne  heraus,  kehrt  die  Aurora  wieder, 
scheint  der  Frllbling  wieder,  kommt  der.üeld  und  das  schi 
Mädchen  hervor.  Wenn  der  Held  oder  die  Heldin  ein  Wasservo 
wird,  •  ein  Schwan  wird,  von  einem  Schwan  gezogen  wird  oi 
auf  ihm  reitet,  so  bedeutet  das,  dass  er  über  das  Meer  des  Toi 
setzt  und  dass  er  in  das  Reich  des  Hlg.  Graal  zurückkehrt.  W( 
er  auf  dem  Schwan  zu  dem  schönen  Mädchen  kommt,  darf 
Niemand  fragen,  woher  er  kommt.  Der  Schwan  erwartet  ihn  t 
zieht  ihn  noch  einmal  in  seine  Zaubergewalt  und  in  sein  finste 
Reich,  sobald  dasselbe  von  den  Lebenden  erwähnt  wird.  ] 
Phantasie  der  celtischen  und  germanischen  Nationen  hat  in  ein 
Cyclns  zahlreicher,  bezaubernder  Sagen  diesen  Mythus  mit  ein 
feierlichen  Mysterium  umkleidet;  die  geniale  Musik  R.  Wagn 
hat  ihm  im  Lohengrin  noch  einen  neuen  Zauber  geliehen.  Loh 
grin,  der  recen's  natns,  der  von  selbst  entstandene  Hi 
langt  an  in  einem  Kabn,  der  von  einem  Schwan  gezogen  wi 
dieser  Schwan  ist  der  von  einer  Hexe  verzauberte  jOngste  Brui 
.  Elsas;  Lohengrin  kommt,  Elsa  zu  befreien  und  heifathet  : 
doch  vergisst  er  nicht,  dass  so  lange  er  bei  ihr  bleibt,  ancb 
Qual  ihres  Bruders  danre,  derselbe  in  der  Gestalt  eines  Schwa 
leiden  mass ;  wehe  dem,  der  ihn  fragt,  wer  er  ist,  woher  er 
kommen,  oder  was  jener  Schwan  bedeutet ;  denn  er  würde  df 
geoöthigt  sein,  sich  zu  erinneru,  dass  der  Schwan  auf  seine  '. 
freinng  durch  ihn  wartet.  Lohengrin  muss  entweder  seiner  Lii 
zu  Elsa  entsagen,  oder-  seine  Ritterehre  dem  Schwan  gegentll 
dessen  mysteriöse  Natur  er  kennt,  preisgeben;  er  sagt  Elsa 
tranriges  Lebewohl,  vereinigt  sie  mit  ihrem  jungen  Bruder,  t 
verschwindet  dtlster  auf  den  dunkeln  Wassern,  über  deren  mo 
belle  Tiefen  er  gekommen  war.    Das  ist  die  Sage  von  den  bei< 

locken,'  lädt  ihn  die  Trauereule,  die  ihn  tödtoD  will,  Id  eia  Lotuawäldc 
ein,  jedoch  nur,  um  ihn  in  eine  dunkle  Grube  fallen  zu  laasen,  wo 
Schwan  vw  einigen  reisenden  Kaufleuten  getödtet  wird,  die  ihn  für  i 
£ule  halten. 

'Als   Id   der  Edda   der    Held  Sigurd   stirbt,    beweinen    die   Gs 
■eines  Tod. 


582 

Brüdern;  durch  den  nordischen  Genius  zu  ihrer  vollen  poetischen, 
idealen  Schönheit  verklärt.  Die  Sonne  und  der  Mond  erscheinen 
abwechselnd  vor  der  Dämmerung  und  dem  Frühling.  Sie  sind 
getrennt,  und  einer  befreit  den  anderen  in  den  Sagen,  die  von 
dem  guten  Genius  dem  Menschen  eingegeben  sind,  wie  einer  den 
anderen  verfolgt  und  täuscht  in  anderen  von  dem  bösen  Genius 
eingegebenen  Sagen.  Wir  haben  selbst  in  den  vedischen  Hjrmnen 
die  Afvins,  die  göttlichen  Zwillinge,  bald  mit  den  Dämmerungen, 
bald  mit  der  Sonne  und  dem  Monde  identificirt,  von  Schwänen 
gezogen;  Lohengrin  ist  die  Sonne;  Elsas  Bruder  ist  der  Mond. 
Wenn  die  Abend- Aurora,  wenn  die  herbstliche  Erde  die  Sonne 
verliert,  findet  sie  den  Mond;  wenn  die  Morgen- Aurora  oder  die 
Erde  des  Frühlings  den  Mond  verliert,  so  tritt  die  Sonne  an  seine 
Stelle ;  die  Liebenden  wechseln  die  Plätze.  Ein  Schwan  verursacht 
die  Geburt  des  anderen,  trägt  den  anderen,  stirbt  fUr  ihn,  wie 
eine  Taube  für  die  andere,  und  wie  die  Dioskuren  ihr  Leben  för 
einander  hingeben.  Und  wirklich  befindet  sich  die  Sage  von  den 
Dioskuren  in  manchen  Punkten  in  wunderbarer  Uebereinstimmung 
mit  den  nordischen  Legenden  von  dem  Schwanenritter.  Zeus  wird 
ein  Schwan  und  verbindet  sich  mit  Leda,  dem  Weibe  des  Tyn- 
dareos  und  erzeugt  mit  ihr  die  Sonne  und  den  Mond,  Polydeukes 
und  Helena ;  nach  Homer  ist  nur  Helena  allein  die  Tochter  des  Zeus, 
Polydeukes  aber  und  Castor  sind  Söhne  des  Tyndareos;  nach 
Herodot  ist  dagegen  Helena  die  Tochter  des  Tyndareos,  und  da- 
mit stimmt  auch  Euripides  überein.  der  uns  sagt,  dass  die  Dios- 
kuren Söhne  des  Zeus  sind.  In  den  Heroiden  Ovids,  in  denen 
die  ursprüngliche  Tradition  schon  alterirt  ist,  gebiert  Leda,  nach- 
dem sie  sich  mit  dem  Schwan  Zeus  vereinigt,  zwei  Eier;  Helena 
kommt  aus  dem  einen.  Castor  und  Polydeukes  aus  dem  anderen. 
Offenbar  heisst  es  hier:  „tot  capita,  tot  sententiae ;^^  doch  sind 
diese  Widersprüche  weit  davon  entfernt,  den  Mythus  von  der 
Sonne,  dem  Monde  und  der  Aurora  (oder  dem  Frühling)  auszu- 
schliessen;  sie  bestätigen  ihn  vielmehr.  Es  ist  immer  schwierig, 
die  Vaterschaft  eines  Kindes  festzustellen,  dessen  Geburt  mit 
wunderbaren  Umständen  verknüpft  ist,  was  doch  gewiss  von  der 
aussergewöhnlichen  Geburt  der  Helena  und  ihrer  beiden  Brüder 
gilt.  Das>  worauf  es  hier  ankommt,  ist  das,  dass  wir  den  Schwan 
haben,  welcher  mit  der  Leda  Söhne  zeugt;  diese  Söhne,  welche 
theils  die  Natur  des  Vogels,  theils  die  des  Weibes  haben,  mtlssen 
eine  doppelte  Gestalt  annehmen,  und  werden  bald  Schwäne  gleich 
ihrem  Vater,  bald  glänzen  sie  in  der  Schönheit  ihrer  Mutter;  wenn 


583 

wir  überdies  anoebmeD,  daes  cur  ein 
von  dem  Schwan  geboren  wurde,  so  1 
Bmder  die  Helena  lieben,  ohne  sich  < 
machen. '  Noch  beror  eie  durch  die  i 
wnrde,  hatte  dies  Mädchen  Helena  Abent< 
entflihrte  sie.  Die  Dioskuren  kommen 
wie  Lohen^^in  auf  dem  Schwan  nur  Be 
ihr  Verfuhrer  beabsichtigt,  sie  zu  verde 
die  Abenteuer  der  beiden  Diosknren, 
anderen  tOdtet,  der  Sage  von  dem  Seht 
Bruder  oder  Schwager  för  den  Schwan 
So  vereinigen  Indien,  Griechenland  an 
faltigen  Gestaltungen  die  Figur  des  Sc 
von  den  beiden  BrUdern  oder  den  beid 
den  MytbuSj  Griechenland  gab  ihm  F 
ihn  mit  dem  Affekt  und  der  Energie  d 


'  Vgl.  hienu  »ucli  da«  24.  eheUiiiche  '. 
:  im  Ei  geboreo  wird  uud  in  weich«  sich 
1  der  KÖnigtu  geborener  Bruder  verliebt. 


bU 


KAPITEL  XI. 
Der  Papttgei« 

Der  Mythus  von  dem  Papagei  nahm  seinen  Ursprung  im 
Orient  und  entwickelte  sieh  fast  ausschliesslich  bei  den  orien- 
talischen Nationen. 

Ich  erwähnte  in  dem  Kapitel  tlber  den  Esel,  dass  die  Wörter 
bari  und  harit  ebensowohl  grOn  als  scbönhaarig  bedeuten,  und 
dadurch  den  epischen  Mythus  von  den  Ungeheuern  mit  Papageien- 
gesiebtem  oder  den  von  Papageien  gezogenen  Ungeheuern  ent- 
stehen Hessen.  Die  Sonnenpferde,  werden  haris  genannt,  hart 
sind  die  beiden  Eosse  Indras ;  Hari  ist  ein  Name  Indras  selbst, 
und  ganz  besonders  des  Gottes  Vishnu ;  doch  giebt  es  noch  mehre 
schönhaarige  Gestalten  am  Himmel  als  diese;  solche  sind  der 
goldene  Donnerkeil,  «welcher  durch  die  Wolke  hindurchschiesst, 
und  der  goldene  Mond,  der  Wanderer  der  Nacht.  Femer  nahmen, 
weil  grün  und  gelb  (goldfarbig)  diesen  gemeinsamen  Namen  flihren, 
alle  diese  Schönen ,  und  besonders  der  Mond,  die  Gestalt  bald 
eines  grünen  Baumes,  bald  eines  grünen  Papageis  an.  Eine  sehr 
interessante  vedisQhe  Strophe  liefert  uns  einen  evidenten  Beweis 
dafür.  Die  Sonnenrosse  (oder  die  Sonne  selbst,  Hari)  sagen,  dass 
sie  die  Färbe  hari  den  Papageien,  den  Fasanen  (oder  Pfauen ;  ^ 
Benfey  und  das  Petersburger  Wörterbuch  erklären  ropaiiäk& 
durch  Drossel)  und  den  Bäumen  verliehen  haben,  welche  deshalb 
härayas  heissen.  Wie  die  Bäume  grün  sind,  so  ^ind  auch  die 
Papageien  gewöhnlich  grün  (bisweilen  auch  gelb  und  rothj  in 
jedem  Falle  ist  die  Bezeichnung  hari  auf  sie  anwendbar). '  Der 
Mond  ist  wegen  seiner  Farbe  bald  ein  Baum  (ein  grüner),  bald 
ein  Apfelbaum  mit  goldenen  Zweigen  und  Aepieln,  bald  ein  Pa- 


'  Von  dem  Papagei  singt  Statius  in  Verbindung  mit  denselben  Vögeln, 
Sylvae  II: 

„  .  .  .  Lux  volucrum,  plagae  regnator  Eoae, 
Quam  non  gemmata  volucri  Junonia  cauda 
Vinceret,  aspectu  gelidi  non  phasidis  ales.'* 
*  Eine   pathetische  Elegie   in   Sanskrit-Distichen    von    buddhistischem 
Charakter    bietet  uns  den  ^uka    oder  Papagei,  der  sterben  will,  ab  der 
A^okabauro,  wt  Icher  immer  seine  Zuflucht  gewesen  ist,  vertrocknet  ist. 


586 

pagei  (goldoi  oder  grttn  und  glänsend).  Der  Mond  ia  dar  Nacht 
ist  die  weise  Fee,  welehe  Alles  weiss  und  Alles  lehren  kann.  In 
der  Einleitung  sum  Mah&bhärata  wird  der  Name  Papagei 
(Quka)  dem  Sohne  ErishEias  d.  h.  des  Schwanen  gegeben,  welober 
(als  Mond)  den  Ungeheuern  das  Mah&bhärata  liest  In  dem 
Kapitel  über  den  Esel  sahen  wir  den  Esel  und  das  UngehencH! 
des  Bäm&jana  mit  Papageiengesich tem.  Sofern  jedoch  der 
Esel  ein  Symbol  des  Phallus  ist,  wird  auch  der  Papagei  von  dem 
indischen  Gott  Kama,  dem  Gott  der  Liebe  (daher  auch  Qnkaväha 
genannt)  geritten.  Der  Mond  (im  Indischen  masculinum)  ist 
schon  Theil  I  Kapitel  I  als  Symbol  des  Phallus  erwähnt  worden ; 
ebenso  wie  der  Donnerkeil  die  Wolke  durchbricht,  durchbricht 
der  Mond  die  Finsterniss  der  l^acht,  enthüllt  die  Geheimnisse  der 
Nacht.  Deshalb  sehen  wir  in  der  Qukasaptati  und  anderen  in- 
dischen Mährchenbüchern ,  in  denen  der  Papagei  mit  der  Nacht 
identificirt  wird,  denselben  oft  in  Liebesgeschichten  erscheinen 
und  Liebesgeheimnisse  enthüllen. 

Manche  von  den  Mährchen  über  den  Papagei  gingen  in  den 
Occident  über,  jedenfalls  durch  literarische  Uebertragung,  d.  h. 
durch  die  arabischen  und  lateinischen  Uebersetzungen  indischer 
Mährchen  aus  dem  Mittelalter.  Ein  solches  ist  z.  B.  das  folgende, 
mir  von  Dr.  Ferraro  mitgetheilte  Montferratensische  Mährchen: 

Ein  König  zieht  in  den  Krieg;  fürchtend,  ein  anderer  König, 
welcher  sein  Nebenbuhler  ist,  werde  seine  Abwesenheit  zur  Ver- 
führung seines  Weibes  benutzen,  stellt  er  einen  seiner  Freunde, 
in  einen  Papagei  verwandelt,  ihr  zur  Seite ;  dieser  Freund  ermahnt 
sie  zur  Treue,  so  oft  der  königliche  Nebenbuhler  durch  Ver- 
mittelung  eines  alten  Weibes  die  Königin  in  Versuchung  fdbren 
will.  Die  Königin  schenkt  seinen  Ermahnungen  Gehör  und  bleibt 
bis'  zur  Rückkehr  ihres  Gemahles  treu.  Das  ist  in  wenigen 
Worten  die  Rahmenerzählung  des  indischen  Papageienbuches, 
von  welchem  das  Tu ti -Name  eine  persische  Version  ist  —  In 
einer  Variation  dieses  Mährchens,  die  ich  in  Turin  hörte,  ist  da- 
gegen das  Weib  untreu  und  bedeckt  den  Käfig  des  Papageis,  da- 
mit dieser  nichts  sehe ;  dann  brät  sie  dem  Gaste  zu  Ehren  einige 
Fische;  der  Papagei  denkt,  dass  es  regnet.  Der  Fisch  und  der 
Regen  erinnern  uns  an  den  Mythus  von  dem'  phallischen  und 
regnerischen  Kuc^uk. 

Manche  von  den  abergläubischen  Vorstellungen  der  Inder 
von  dem  Papagei  sind  schon  im  Alterthum  nach  Griechenland 
übergegangen,  und  Aelian  zeigt  sich  recht  wohl  unterrichtet  von 


586 

der  heiligen  VerehniDg,  welche  die  indischen  Brahmanen  dem- 
selben erwiesen.  Oppian  erzählt  uns  überdies  von  einem  Aber- 
glaoben,  welcher  das  über  den  wesentlich  lunaren  Charakter 
des  mythischen  Papageis  Gesagte  bestätigt ;  er  sagt,  dass  der 
Papagei  and  der  Wolf  zusammen  weiden^  weil  die  Wölfe  diesen 
grünen  Vogel  lieben;  das  bedeutet  aber  genau  dasselbe,  als  ob 
er  gesagt  hätte,  dass  die  finstere  Nacht  den  Mond  liebt. 


KAPITEL  XII. 
Der  Pfan. 

Wir  sohliessen  anaere  mythische  Fahrt  darch  das  Reich 
geäugelten  Thiere  mit  dem  Vogel,  der  alle  Farben  trägt. 

Der  heitere  nnd  stemenbesäte  Himmel  nnd  die  gtSns 
Sonne  sind  Pfanen.  Das  rabige,  azurblaue  Firmament, 
mit  taosend  glänzenden  Angen  lenchtet,  nnd  die  Sonne,  w 
in  allen  Farben  schillert,  erBcheinen  wie  ein  Pfan  in  dem  gf 
Glänze  seiner  mit  Angen  gesprenkelten  Federn.  Wenn 
Himmel  oder  die  tansendstrablige  Sonne  (BabaBräu(;a)  in 
Wolken  verborgen  oder  von  den  herbstlichen  Wassern  verhüll 
so  gleicht  sie  wiedemm  dem  Pfan,  welcher  in  dem  dui 
Theile  des  Jahres,  wie  noch  eine  grosse  Anzahl  anderer  in 
haftem  Farbenschmuck  prangender  Vugel,  sein  schönes  6e' 
ablegt  und  dunkel  und  ecbmncklos  wird;  die  Krähe,  welche 
Pfanenfedem  angelegt  hat,  kräht  wieder  mit  den  anderen  Ki 
in  traurigem  Concert.  Im  Winter  hat  der  Krähen-Pfau  N 
was  ihm  geblieben  ist,  als  das  onangenebme  und  Bchrille  Gesi 
das  dem  der  KiitheD  nicht  nnähnlich  ist.  Gewöhnlich  beic 
von  dem  Pfan,  er  babe  Engelfedero,  eine  Tenfelsstimme 
einen  Diebsgang.    Der  Eräben-Pfau  ist  sprichwörtlich.  * 

Der  Pfan  verbirgt  sich,  wenn  er  hässlich  wird;  so  aucl 
Bimmel,  und  so  die  Sonne,  wenn  die  Herbstwolken  sie  bede* 
in  den  Sommerwolken  dagegen  poltert  der  Donner,  nnd  ( 
machte  auf  die  Menschen  der  ersten  Periode  der  HenBcbheii 
Eindruck  einer  nnwiderstehlichen,  sehr  lieblichen  und  angene 
Mnsik,  indem  er  dem  melodischen  Gesänge  des  kokila 
Kuckuks)  oder  des  Wasserhuhnes  (des  Reibers,  Eisvogels 
Ente  oder  des  Schwanes)  ähnelt.  Im  Rämäyana  erscb« 
wie  schon  in  dem  Kapitel  über  den  Kncknk  bemerkt  wurd< 
Pfau  nnd  der  kokila  als  Nebenbnbler  im  Singen;  obwob 
Wasserhuhn  den  Hahn  wegen  seiner  AomassuDg  auslacht,  i 
doch  dieser  Wetteifer  kein   geringer  Beweis  für  die  mytt 

■  Vgl.  dM  Kap.  über  die  ErUie. 


5S8 

Identität  der  beiden  Vögel.  ^  Der  indische  Mythus  zeigt  uns  in 
der  That  den  Gott  Indra  (bald  Himmel^  bald  Sonne)  als  einen 
Pfau  und  als  einen  Kuckuk  (gleich  Zeus).  Wenn  der  Himmel 
blaU;  heiter  und  sternenhell  ist,  wenn  die  Sonne  mit  ihren  tausend 
Strahlen  glänzt,  oder  wenn  der  Regenbögen  seine  Farben  spielen 
lässt^  so  wird  darin  der  sahasräksha  oder  tausendäugige  Indra 
als  Pfau  gefunden;  wenn  der  Himmel  oder  die  Sonne  in  der 
Wolke  donnert  und  blitzt^  so  wird  tndra  ein  kokila,  welcher 
singt.  In  No.  20  der  Novelline  di  San  Stefano  di  Cal- 
ci n  a  i  a  stehlen  zwei  Brüder  ihrem  jüngsten  Bruder  eine  Pfauen- 
feder und  tödten  ihn  (d.  h.  sie  tödten  den  Pfau,  eben^  wie  in 
dem  russischen  Mährchen  dem  kleinen  Bruder  die  rothen  Schuhchen 
gestohlen;  er  selbst  aber  getödtet  wird).  Wo  das  Brüderchen  be- 
graben liegt,  da  wächst  ein  junges  Bäumchen;  aus  diesem  wird 
ein  Stock  und  aus  diesem  eine  Pfeife  gemacht ;  wenn  man  darein 
bläst,  so  singt  sie  das  Trauerlied  des  kleinen  Bruders,  der  uip 
einer  Pfauenfeder  willen  getödtet  worden  ist.  Wenn  der  glänzende 
Hipimel  oder  die  Sonne  in  den  Wolken  verborgen  ist,  wenn  die 
leuchtenden  Federn  des  Pfaus  abgerissen  sind,^  wenn  der  Pfau 
begrabe^  ist,  so  spricht  der  Baum,  welcher  sein  Grab  ist  (die 
Wolke),  bei  der  Rückkehr  des  Frühlings,  gleich  dem  Kirschbauqn 
d^s  Polidorus  bei  Vergil  und  dem  Stamm  des  Pier  delle  Vigue 
in  pante's  Hölle ;  der  Baum  wird  ein  Rohr,  eine  Zauberflöte^  ein 
melodischer  kpkila.  Indra-kpkila  erinnert  uns  an  Indra  den  Pfau, 
an  Indra,  dessen  Pferde  sogar  in  den  vedischen  Hymnen  „Pfaueur 
federn^'  haben,  ^  und  einen  „Pfauenschwanz/*  *  Wir  sahen  schon, 
djiss  der  Körper  Indras,  nach  seiner  Vereinigung  (als  Sonne)  mit 
Ahalyä,  mit  tausend  Bäuchen  (Wogen  oder  Wolken;  vgl.  d^ 
doppelsinnige  si^hasradh&ra  als  Beiwort   der  Sonnenscheibe, 

'  Die  rassische  Fabel  (bei  Kriloff)  zeigt  uns  den  Esel  als  Richter  zwi- 
schen 4er  Nachtigall  (dem  kokila)  und  dem  Hahn  im  Singkampfe;  im 
Sanskrit  bezeichnet  ^ikhin,  eig.  der  mit  einem  Kamm  versehene,  sowohl 
den  Hahn  als  den  Pfau;  neben  mayüra,  Pfau,  haben  wir  maydradataka, 
4en  Mßuakahii.  Mayüra  iat  aMch  der  Name  eine«  indischen  DichteiB.  — 
In  dem  Kapitel  j^kßr  den  Kuckuk  «aheu  wir  den  Kuckuk  iind  die  Naobjj- 
g^U  als  Nebenbuhler  im  Singen;  der  kokila  und  der  Pfau  haben  dieselbe 
Bedeutung. 

*  Daher  schreibt  Aldrovandi  mit  Recht,  dass  der  Raucb  der  verbrann- 
ten Pe4«rn  des  Pfaus  (d.  h.  des  himmlischen  Pfaus),  wenn  man  ihn  in  die 
Augen  ziehen  lässt,  diese  von  der  Entzündung  heilt 

'  A  mandrair  indra  haribhir  y&hi  mayüraromabhi^ ;  Rigv.  III,  45,  1. 

*  A  tvft  rathe  hitanyaye  hari  maydra^epyä;  VIII,  1,  25. 


_.  A 


589 

eigeütlich  weil  sie  tausend  verwundende  Pfeile  hat)  bedeckt  wird« 
d.  b.  mit  tausend  Augen  (Sternen  oder  Sonnenstrahlen);  daher 
seine  Namen  SahasradriQ^  Sahasranayana^  Sahasranetra  und 
Sahasräksha,  die  alle  dieselbe  Bedeutung  haben.  Der  lange 
glänzende  Schwanz  des  Pfaus  nahm  eine  phallische  Gestalt  an. 
Nach  dem  Pet.  WB.  ist  mayüre^vara  (oder  Qiva-Pfau)  der  Eigen- 
name eines  liflga  oder  Phallus,  des  bekannten  Emblems  des 
Qiva;  welches  unsere  Aufmerksamkeit  auch  auf  Mayüraratha^ 
Mayüraketu,  Qikhivähana  und  Qikidhvaga  lenkt,  lauter  Namen 
Skandas,  des  KriegsgotteS;  welcher  ebenfalls  ein  phallischer  Gott 
ist^  gleich  Mars,  dem  Liebhaber  der  Venus,  und  gleich  dem 
'  indischen  Kämadeva,  Gott  der  Liebe,  welcher  auf  dem  Papagei 
reitet,  und  uns  so  auf  das  lunare  phallische  Symbol  zurtlckführt. ' 
Der  Himmel  mit  der  Sonne  sowohl  wie  mit  dem  Monde  wird  seiner 
Kraft  beraubt,  wird  entsetzt  und  ersetzt  durch  den  unfruchtbaren 
Himmel  mit  den  Sternen  der  Nacht  oder  den  Wolken  des  Herbstes ; 
der  Phallus  fällt;  der  impotente  Himmel  bleibt  zurück  —  Indra 
der  Eunuch,  Indra  mit  tausend  Bäuchen,  Indra  der  in  die  Wogen 
der  gefleckten  Wolken  taucht,  Indra  der  W^idder,  der  regnerische 
oder  herbstliche  Indra,  Indra,  der  in  dem  Meere  des  Winters  verloren 
ist,  Indra  der  Fisch,  Indra  ohne  Strahlen,  ohne  Blitz  und  ohne 
Donner,  Indra,  der  Verfluchte,  er  der  gleich  einem  Pfau  ((ikhinj 
schön  und  glänzend  gewesen  war,  Indm  als  der  Pfau,  der  Feind 
der  Schlange  (ahidvish,  ahiripu).  Nach  dem  Tuti-Name  ver- 
kündet ein  Pfau,  von  dem  eine  Frau  träumt,  die  Geburt  eines 
schönen  Sohnes. 

Die  Griechen  waren  ebenfalls  mit  dem  Mythus  vom  Pfau 
vertraut  und  erweiterten  ihn.  Im  ersten  Buche  von  Ovids  Me- 
tamorphosen bewacht  der  hundertäugige  Argus,  welcher  Alles 
sieht  (Panoptes  und  Sohn  des  Zeus),  auf  Befehl  der  Göttin  Juno, 


'  Nach  dem  Pandatantra  (t,  175)  führen  gerade  im  Uause  des 
(Jiva  (des  phallischen  Gottes)  die  Thiere  miteinander  Krieg;  die  Seblattge 
(die  Nacht)  will. die  Maus  Pressen  (die  Maus  scheint  hier  das  graue  Z#ie- 
licht  zu  sein);  der  P£eui  (hier  wohl  der  Mond)  will  die  Schlange  ▼erzehren 
(ygl.  die  vorigen  Anmerkungen;  nach  Aelian  fand  Jemand,  d&r  dem  König 
von  Aeg7pten  einen  für  heilig  gehaltenen  Pfau  stehlen  wollte,  an  dessen 
Stelle  eine  Natter);  der  Löwe  (die  äonne)  will  wiederum  den  Pfau  fres- 
sen. (Der  indische  Name  des  Chamäleons  mayürftri,  Feind  des  Pfkus,  ist 
beAchtenswerth ;  das  Thier,  weiches  seine  Farbe  ver&ndert,  ist  der  Feind 
des  allfarbigen  Vogels;  Gtötter  und  Dämonen  sind  in  gleicher  Weise  vi^ 
varüpa  und  kämardpa). 


590 

der  glänzenden  und  stolzen  Gemahlin  Jupiters,  welcher  der  Pfau 
heilig  ist,  —  deshalb  heisst  er  auch  ayis  s.  ales  Jnnonia; 
der  Pfau  Junos  ist  Jupiter  selbst,  wie  wir  schon  sahen,  dass  Jupiters 
Kucknk  er  selbst  ist;  Argus  der  Sohn  des  Zeus  ist  Zeus  selbst,  — 
während  zwei  Augen  ruhen  (vielleicht  die  Sonne  und  der  Mond)  mit 
den  tlbrigen  (den  Sternen)  Jo^  (die  Tochter  des  Argus  selbst,  die 
Priesterin  der  Juno,  identisch  mit  Isis,  dem  Monde,  der  von  Jupiter 
geliebten).  Mercur  schläfert  den  Argus  durch  Musik  ein  und 
tödtet  den  Schlummernden.  Die  Augen  des  todten  Argus  gehen 
auf  den  Schwanz  des  Pfaus  über  (d.  h.  der  todte  Pfau  ersteht 
wieder).  Der  Pfau,  welcher  jährlich  seinen  farbenreichen  Schmuck 
verliert  und  erneuert  und  eine  sehr  zahlreiche  Nachkommen- 
schaft hat,  diente  gleich  dem  Phönix  als  Symbol  der  Unsterblich- 
keit und  als  eine  Pereonification  des  Umi^tandes,  dass  der  Himmel 
verdunkelt  und  wieder  heiter  wird,  dass  die  Sonne  stirbt  und 
wiedergeboren  wird,  dass  der  Mond  aufgeht,  verfinstert  wird,  unter- 
geht, sich  verbirgt  und  wieder  von  Neuem  aufsteigt.  Es  heisst 
von  Pythagoras,  dass  er  glaubte,  die  Seele  des  Pfaus  sei  in 
Euphorbos,  die  des  Euphorbos  in  Homer  und  die  Homers  in  ihn 
Übergegangen.  Weiter  soll  dann  aus  ihm  die  Seele  des  Pfaus  in 
den  Dichter  Ennius  gewandelt  sein,  weshalb  Persius  sagt : 

„Postquam  destituit  esse 
Maeonides  qaiotiis  pavone  ex  Pythagoraeo.** 

Wenn  der  Pfau  Zeus,  wenn  Zeus  I>yaus,  wenn  Dyaus  der  leuchtende 
und  glänzende  Himmel,  das  göttliche  Licht  ist,  welcher  von 
meinen  Lesern  möchte  dann  die  Wahrheit  des  pythagoräischen 
Glaubens  in  Abrede  stellen?  Der  Traum,  dass  wir  die  Söhne  des 
göttlichen  Lichtes  und  bestimmt  sind,  in  das  himmlische  Vater- 
land zurückzukehren,  ist  gewiss  tröstlicher  als  der  traurige  Schluss 
modemer  Wissenschaft,  die  uns  aut  bewusstlose  Vegetabilien  auf  der 
Oberfläche  der  Erde  zurückflihrt.  Der  einzige  Rückhalt  ist,  dass 
diese  selbe  häretische  Mythologie,  welche  oft  selbst  in  ihren 
gröbsten  Formen  in  unsere  ungläubige  Vernunft  einen  Strahl  der 
Hoffnung  auf  die  Unsterblichkeit  der  Seele  faUen  lässt,  dass  diese 
Mjrthologie,  welche  alles  Todte  wieder  auferweckt  und  in  neue 
Lebensgestaltungen  giesst,  uns  nicht  erlaubt,  an  eine  Ewigkeit  der 
himmlischen  Freude  zu  glauben ;  Himmel  wie  Erde  befindet  sich  in 
beständiger  Umwälzung,  und  die  Götter  des  Olymp  sind  auf  ihrem 
göttlichen  Thron  nicht  sicherer  als  unsere  Automaten  von  Königen 
aut  ihrem  irdischen.  Die  metempsychosis  endet  nicht,  wenn  die 
Seele  in  den  Himmel  eingebt ;  im  Gegentheil,  im  Himmel  trifft  sie 


&91 

das  (reschiok,  die  Boaderbarsten  and  TerechiedeosteD  Ver 
iQDgeii  zn  erleiden;  aus  der  GestaU  des  Helden  sahen  wir 
die  des  Vierflisslers  und  des  Zweifäsalers  übergehen.  Ihr 
hat  sein  Ende  noch  nicht;  die  Gottheit  oder  der  Held  mus 
noch  mehr  erniedrigen  nnd  die  untente  Stufe  der  Organisint 
der  zoologischen  Stafenleiter  einnehmen.  Der  Thier-Gott  v 
der  Gestalt  des  dummen  Fisches  seine  Sprache  verliere 
wird  wie  eine  Schlange  kriechen  oder  die  grotesken  Sp 
der  sebmntzigen  KrOte  machen. 


Dritter  Thcil. 

Die    Wasserthiere. 


—  D«r  ÜMbt,  der  heilige  oder  St.  Peten  Ftwh,  der  Eu-pfen, 
iseh,  der  HBrin;,  der  Aal,  das  tioldflgohokeit ,  der  Seei^l, 
Baneh,  der  BrasseM,  der  Delphis  und  der  Wallflseh. 

igveda  flieht  der  Gott  Indra,  nachdem  er  das  Un- 
etödtet  bat,  eoteetzt  Ober  die  nennaudneunzi^  Strttme; 
ter  Regengott  geblitzt  und  gedonnert  hat,  wird  er  durch 
es  Werk  erschreckt ;  der  vedische  Dichter  Tragt  ihn,  was 

habe;  doch  der  Gott  geht  weiter,  obne  ihm  zu  ant- 
BS  Ungeheuer  todtend,  hat  er  die  Wasser  entfesselt:  der 

hat  durch  die  Verwondung  seines  Feindes  sich  selbst 
;  des  Ungeheuers  oder  sein  eigener  Schatten  verfolgt 
Casser  wachsen  und  drohen,  ihn  zu  verschlingen.  Der 
t  ftlrchtet  aber  die  Wasser,  die  er  selbst  in  Plus»  ge- 
Indra  wurde  verdammt,  in  den  Wassern  (der  Nacht 
iViuters)  verborgen  zu  sein,  weil  er  das  Ehebett  der 
tehrt  hatte.    Der  in  den  Wassern  eingeschlossene,  der 

ist  seine  flnchwUrdigste  Erscheinungsform. '   Die  himm- 

alg  kriegeriacher  Gott  kennt  keine  Pvrcht,  oder  vielmehr  er 
'arcfat  (der  Hymnus  asgt:  „Aber  yillreih  kam  apa^ya  indra 
I  ^a^Doso  bhir  agadiihat;  ^igv.  I,  82,  14),  läatt  sich  aber 
.  einen  Spuk  tdirecken,  der  entKeder  ein  nächtlicher  äobatten 
!e  Manu  der  Feeoni&hrclies)  iit,  oder  ein  FiKh  (der  Mond), 
roD  ihm  aelbst  in  Freiheit  geaetzten  Wauern  auf  ihn  springt. 


598 

tische  Metamorphose  in  einen  Fisch  ist  wohl  die  niedrigste  Trans- 
mutation, und  deshalb  die  geftirchetste ;  der  Fisch  lebt  speciell; 
um  sich  immer  von  Neuem  zu  erzeugen;  um  also  den  Fall  des 
Gottes  nach  einem  phallischen  Verbrechen  darzustellen,  ist  er  ver- 
dammt, in  den  Wassern  zu  liegen.  Wir  wissen,  dass  der  Fischer 
in  der  Qakuntalä  in  Qakrävatära  (d.  h.  Fall  Indras)  lebt  Wir 
sahen,  wie  Latonas  Schwester,  wie  Rambhä  und  Ahalyä  nach 
ihrem  Vergehen  mit  Jupiter,  resp.  mit  Indra  Steine  in  den  Was- 
sern werden.  Der  Fich,  machtlos  und  dumm  gemacht,  wird  faul 
und  bewegungslos  gleich  einem  Stein  (Sonne  und  Mond  gehen  in 
die  Wolke  ein).  Wir  finden  das  Bild  von  dem  Stein  mit  dem  Honig 
schon  im  Bigveda^  in  enge  Verbindung  mit  dem  von  dem  Fisch 
gebracht,  welcher  In  seichtem  Wasser  liegt,  oder  von  dem  Fisch, 
der  kraftlos  gemacht  und  seiner  Lebensfähigkeit  beraubt  ist.  Die 
Legende  von  der  Nymphe  Adrikä  (von  dem  Worte*adri,  Stein, 
Felsen,  Berg,  Wolke)  bietet  dieselbe  Analogie  zwischen  der  Stein- 
Wolke,  d.  h.  dem  Stein  in  den  Wassern,  und  dem  Fisch.  Durch 
einen  göttlichen  Fluch  ist  Adrikä  in  einen  Fisch  verwandelt  und 
lebt  in  der  Yamunä.  In  diesen  Wassern  liest  sie  ein  Blatt  auf, 
auf  welches  das  Sperma  König  Uparicaras  gefallen  ist,  der  in 
Girikä  (oder  Adrikä  selbst;  die  Worte  adri  und  giri  haben  die- 
selbe Bedeutung)  verliebt  ist;  dieses  Blatt  hatte  der  Vogel  gyena, 
d.  h.  der  Falke  in  die  Wellen  der  Yamunä  fallen  lassen.  Die 
Nymphe  isst  das  Sperma,  wird  von  Fischern  gefangen  und  zum 
König  Uparicara  gebracht;  der  Fisch  wird  aufgeschnitten,  und  die 
Nymphe  nimmt  wieder  ihre  himmlische  Gestalt  an;  ein  Sohn  und 
eine  Tochter  werden  von  ihr  geboren,  Matsya  der  männliche  Fisch, 


und  ihn  entsetzt.  —  In  No.  22  der  von  mir  veröffentlichten  toskanischen 
Mährcheu  stirbt  der  junge  Held,  weicher  ohne  Furcht  alle  Gefahren  der 
Hölle  bestanden  hat,  beim  Aablick  seines  eigenen  Schattens.  (Wir  haben 
hierauf  schon  Bezug  genommen,  als  wir  von  dem  Hunde  und  dem  Löwen 
sprachen,  die  durch  ihren  eigenen  Schatten  in  den  Tod  gelockt  wurden.) 
—  Bei  A  fan.  V,  46  stirbt  der  Eaufmannssohn ,  der  sich  weder  vor  der 
Dunkelheit  noch  vor  Räubern  noch  vor  dem  Tode  fürchtete,  vor  Entsetzen, 
als  er  ins  Wasser  fällt,  weil  der  kleine  Barsch  auf  ihn  gesprungen  war, 
während  er  im  Fischerboote  schlief.  —  Leieht  ist  auch  der  Uebergang  von 
der  Vorstellung  Indras,  der  sieh  im  Soma  berauscht^  zu  der  von  dem  Fisch, 
wenn  wir  beachten,  dass  matsya  (Fisch)  eigentlich  den  Berauschten  be- 
deutet (von  der  Wurzel  mad,  berausehen). 

'  A9näpinaddham    madhu   pary    apa^yam    matsyam   na    dina   udani 
kshiyantam;  Rigv.  X,  68,  8. 

Oubwnwtb,  die  Thier«.  3^ 


594 

und  Matsyi,  der  weibliche.*  Der  männliche  wird  später  König 
der  matsyas  oder  Fische,  welche  einige  wissenschaftliche  Autori- 
täten, jedoch  meines  Erachtens  unrichtig,  mit  einer  historischen 
Nation  zu  identificiren  versucht  haben;  denn  es  genügt  nicht,  sie 
im  Mahäbhärata  als  Volk  genannt  zu  finden,  um  ihre  wirk- 
liche historische  Existenz  zu  beweisen,  da  wir  wissen,  dass  die 
ganze  Basis  des  Mahäbhärata  mythologisch  ist.  Wenn  wir 
noch  dazu  die  Matsyas  in  den  vedischen  Hymnen  finden,  so  ist 
das  ein  Grund  mehr,  auf  die  mythische  Natur  des  im  Bigveda 
in  Verbindung  mit  den  Wassern  genannten  Volkes  zu  schliessen. 
In  einer  anderen  Legende  des  Mahäbhärata  fUUt  das  Sperma 
des  Büssers  Qaradvat  (eigentlich:  der  Herbstliche  oder  der  Reg- 
nerische) bei  dem  Anblick  einer  schöqen  Nymphe  auf  das  Holz 
eines  Pfeiles ;  dieser  spaltet  sich  und  zwei  Söhne  werden  geboren, 
die  zu  dem  Kbnig  gebracht  werden ;  eine  Variation  dieser  Legende 
wird  weiter  unten  in  den  westlichen  Sagen  gefunden  werden, 
welche  mit  der  Geschichte  von  dem  Fisch  zusammenhängen.  ^ 

Den  neunundneunzig  oder  hundert  Städten  (^ambaras  (den 
Wolken),  die  von  Indra  zerstört  werden,  entsprechen  die  neun- 
undneunzig  Ströme,  über  welche  Indra  setzt.  In  dem  Vishnu- 
Puräna*  empfangt  ein  Fisch  den  Helden  Pradyumna  (eine  Be- 
nennung des  Gottes  der  Liebe),  der  von  (^ambara  in  das  Meer 
geworfen  ist,  und  setzt  ihn  in  Stand,  Mäyädevi  wiederzufinden 
und  zu  heirathen. 

König  Guha  (der  Verboi^ene?  der  Dunkle?),  der  König  der 
schwftrzen  Nishädas,  der  König  von  Qriiigavera  (worin  wir  schon 
den  Mond  erkannt  haben),  empfängt  während  der  Nacht  Räma 
an  den  Ufern  des  Ganges,  nimmt  ihn  gastlich  auf  und  setzt  ihm 
Fleisch,  Fische  und  Getränke  vor.  * 

In  der  Qukasaptati  und  im  Tuti-Name  lachen  die 
Fische  über  die  Prüderie  einer  Odaliske;  wir  sahen  schon  in 
Theil  I  Kap.  I  die  phallische  Bedeutung  des  Fisches,  welcher 
lacht. 

Im  Khorda-Avesta  finden  wir  den  scharfsehenden  Fisch 


'  Mbh.  2371-2392. 

*  Mbh.  I,  5078 — 5086.  —  In  einer  anderen  Variation  desselben  My- 
thus kommt  aus  dem  Sperma  des  weisen  Bharadvä^a,  den  dieser  bei  dorn 
Anblick  einer  Nymphe  verliert  und  in  einem  Becher  auffangt,  Drona,  dfr 
Bogenschütze  par  excellence;  I,  5103 — 5116. 

»  V,  27. 

*  Rämäy.  JI,  92. 


595 

Earo-ma^^yo  (den  späteren  Khar-mähi),  welcher  den  Weissen 
Haoma;  d.  h.  die  Ambrosia  (mit  welcher  anch  das  Sperma  iden- 
tificirt  wurde)  vor  den  AngriflFen  böser  Wesen  zu  schlitzen  hatj 

Bei  Psendo-Callisthenes  verlangt  Alexander,  als  er 
zu  der  glänzenden  Quelle  gelangt  ist,  welche  Wohlgertlche  ver- 
breitet, von  seinem  Koch  Etwas  zu  essen ;  der  Koch  wäscht  einen 
Fisch  in  dem  glänzenden  Wasser;  da  wird  der  Fisch  wieder 
lebendig  und  —  fort  ist  er;  der  Koch  trinkt  etwas  von  dem 
Wasser  des  Fisches,  und  giebt  davon  auch  der  Tocher  Alexan- 
ders, Une,  welche  durch  den  Fluch  ihres  Vaters  eine  Nereide  oder 
Meermaid  wird,  während  er  den  Koch  mit  einem  Stein  um  den 
Hals  in  das  tiefe  Meer  werfen  lässt.  Ich  habe  nicht  nöthig,  mich 
bei  der  Analogie  zwischen  dieser  Legende  und  dem  Mythus  von 
Indra.  oder  bei  der  phallischen  Bedeutung  des  Mythus  länger  auf- 
zuhalten. 

Wir  wissen  schon,  dass  phallische  und  dämonische  Bilder 
bisweilen  einander  entsprechen ;  daher  stiehlt  im  neunten  ehst- 
nischen  Mährchen  der  Teufel  den  Fischern  die  Fische;  daher 
nimmt  in  der  Edda  der  räuberische  Loki  die  Gestalt  eines  Lachses 
an,  und  fängt  den  Hecht,  in  welchen  der  Zwerg  Andvarri  sich 
verwandelt  hat.  Der  Hecht  ist  der  Wächter  des  Goldes  und  eines 
Ringes,  der  jenem  entwendet  ist;  der  Fisch  geht  in  den  Stein  und 
verktlndet,  dass  Gold  die  Ursache  des  Todes  der  beiden  Brüder 
sein  wtlrde.  Der  ambrosische  Regen,  welcher  aus  der  Wolke 
kommt,  und  der  ambrosische  Thau  sind  das  Wasser,  in  welchem 
der  Fisch  gewaschen  wird,  und  der  ambrosische  Thau  ist  das 
Wasser  oder  der  Same  des  Fisches ;  der  schönhaarige  und  silberne 
Mond  im  Ocean  der  Nacht  ist  der  kleine  Goldfisch  und  der  kleine 
Silberfisch,  welcher  die  Regenzeit,  den  Herbst,  die  Ueberschwem- 
mung  verkündet  Aus  dem  wolkigen,  nächtlichen  oder  winter- 
lichen Ocean  kommt  die  Sonne  heraus,  die  in  dem  Meer  ver- 
lorene Perle,  welche  der  Gold-  oder  Silberfisch  wieder  zu  Tage 
bringt. 

Der  kleine  Goldfisch  unsrer  Aquarien,  der  cyprinus  chry- 
soparius,  der  cyprinus  auratus,  sophore  (der  indische 
faphara,  fem.  gap  hart),  und  der  glänzende  Hecht  können 
sich  gleich  dem  Monde  ausdehnen  und  zusammenziehen.  Wir  sind 
schon  bekannt  mit  dem  Meerungeheuer,  welches  im  Rämäyana 
(gleich  der  Sirene)  aus  dem  Meere  den  Schatten  Hanumants  an- 
lockt,  und  sich   bald  sehr  klein,  bald  sehr  gross  machen  kann; 

wir  sehen  den  Zwerg  Andvarri  der  Edda,   der  sich  in  der  6e- 

3ö* 


3 


596 

stalt  eines  Hechtes  rersteckt;  wir  sind  vertraut  mit  dem  Gott 
Vishnu  oder  Hari,  der  aus  einem  Zwerge  ein  Riese  wird  (hari 
bedeutet  schönhaarig  oder  golden,  und  bezieht  sich  bald  auf  die 
SonnC;  bald  auf  den  Mond) ;  Vishnu  in  seiner  Incarnation  als 
Fisch  nimmt  zuerst  die  Gestalt  des  kleinen  Goldfisches  (^aphari) 
an ;  und  besonders  in  dieser  Gestalt  wird  Vishnu  mit  dem  Monde, 
dem  Regenten  der  Regenzeit,  identificirt.  Wie  der  Mond  in 
Vierteln  von  ausserordentlicher  Kleinheit  zu  ebensolcher  Grösse 
anwächst,  so  ist  in  der  indischen  Sintfluthsage,  wie  sie  von  den 
Commentatoren  der  Veden,  im  Mahäbh&rata  und  in  den  pura- 
nischen  Legenden  erzählt  wird,  der  Gott  Vishnu  oder  Hari  zuerst 
ein  ausserordentlich  kleiner  Fisch,  eine  Qaphart,  welcher  den  Bttsser 
Manu  ersucht,  ihn  aus  dem  grossen  Strome,  dem  Ganges,  zu 
nehmen,  wo  er  von  den  Wasser  Ungeheuern  verschlungen  zu  werden 
fllrchtet  Manu  setzt  den  kleinen  Fisch  in  das  Gefäss,  das  er  bei 
seinen  religiösen  Waschungen  benutzt;  in  einer  Nacht  wächst  der 
Fisch  (hier  offenbar  als  Mond)  so  sehr,  dass  er  nicht  mehr  in  dem 
Geföss  bleiben  kann;  Manu  setzt  ihn  in  einen  Tümpel,  dann  in 
den  Ganges ;  schliesslich  wächst  der  Fisch  so  mächtig  an,  dass  Manu, 
Vishnn  in  ihm  erkennend, .  genöthigt  ist,  ihm  vollständige  Freiheit 
im  Meere  zu  geben.  Darauf  verkündet  der  dankbare  Fisch,  dass 
in  sieben  Tagen  die  Wasser  die  Welt  überschwemmen,  und  alle 
Gottlosen  umkommen  werden ;  er  befiehlt  ihm  (wie  der  Gott  der 
Bibel  dem  Noah)  ein  Schiff  zu  bauen :  „Da  hinein  sollst  Du  gehen,'' 
sagt  Vishnu  zu  ihm  (Manu),  „mit  sieben  Weisen,  einem  Paar  von 
jeder  Thierart,  und  dem  Samen  jeder  Plauze.  Du  sollst  darin 
das  Ende  der  Nacht  Brahmans  erwarten,  und  wenn  das  Schiff 
von  den  Wogen  hin  und  hergeworfen  wird,  sollst  Du  es  durch 
eine  lange  Schlange  an  das  Horn  eines  ungeheuren  Fisches  heften, 
welcher  in  Deine  Nähe  kommen  und  Dich  über  die  Tiefen  des 
Abgrundes  hinttberleiten  wird."  Am  bestimmten  Tage  verbreiten 
sich  die  Wasser  des  Meeres  über  der  Oberfläche  der  Erde ;  der  Fisch 
erscheint,  um  das  Schiff  zu  ziehen  und  so  den  Manu  zu  retten. 
Das  Schiff  bleibt  auf  dem  Horn,  d.  h.  auf  der  Spitze  des  Berges 
sitzen.  Nun  assimilirt  sich  dieser  kleine  Goldfisch,  welcher  eine 
Incarnation  Vishnus  ist,  sobald  er  gehörnt  wird,  um  das  Schifl 
Manus  zu  ziehen,  einem  anderen  interessanten  Seethier,  dem  Seeigel 
oder  Igel  des  Ganges,  cin^umära,  was  auch  einer  der  Namen  des 
Zwerges  Vishnu  ist,  und  eigentlich  den  kleinen  Vemichter  bedeutet. 
Die  achtzehnte  Strophe  des  kostbaren  Hymnus  I,  116  im  Rig ve da 
zeigt  uns  den   gin^umära  oder  Seeigel,   welcher   zusammen  mit 


597 

einem  anderen  gehörnten  Thiere,  dem  Stiere  (wir  sahen  schon 
den  Mond  als  gehörnten  Stier)  den  Wagen  der  A^vins,  voll  von 
Reichthttmern,  zieht ;  ^  wir  wissen,  dass  der  Wagen  der  A^vins  oft 
ein  Schiff  ist.  Qinj;amära  bedeutet  im  Sanskrit  auch  den  Delphin;' 
der  Delphin  aber  und  der  kleine  Barsch,  mit  seinen  kleinen  Hör- 
nern, seinen  Stacheln  und  seinem  dtlnnen  Körper,  an  einem  Ende 
in  eine  Spitze  auslaufend,  in  russischen  Mährchen  der  Unruhige 
(kropacishko)  genannt,  stehen  in  Beziehung  zu  einander,  da  sie 
das  Kästchen  fortziehen;  der  kleine  Barsch  nimmt  die  Stelle  des 
„kleinen  Vemichters'^,  des  (in^umära,  des  Seeigels  ein,  dessen 
Stacheln  ein  sehr  interessanter  sicilianischer  Vers  mit  hundert  Rudern 
vergleicht,  mit  denen  er  rudern  muss;  sicilianische  Kinder  streuen, 
wenn  sie  ihn  gefangen  haben,  etwas  Salz  auf  ihn  und  singen  : 

„Vöcami,  vöcami,  centa  rimi, 

Vöcami,  vöcami,  centu  rimi/* 

(Rodert  für  mich,  rudert  für  mich,  hundert  Ruder.) 

Dann  bewegt  er  sich  und  die  Kinder  freuen  sich.  In  dem  klei- 
nen russischen  Gedicht  Kaniok  Garbnnok  von  Jershofi,  das 
schon  in  Theil  I  Kapitel  11  erwähnt  wurde,  muss  Iwan  för  den 
Sultan  einen  Ring  suchen,  der  in  einem  ins  Meer  gefallenen 
Kästchen  eingeschlossen  ist.  Iwan  kommt  auf  seinem  Buckel- 
Pferdchen  in  der  Mitte  des  Meeres  an ,  wo  sich  ein  Wallfisch  be- 
findet, der  sich  nicht  bewegen  kann,  weil  er  eine  Flotte  (d.  h. 
das  Sonnenschiflf)  verschluckt  hat.  Die  Rolle,  welche  hier  der 
Wallfisch  spielt,  ist  dieselbe,  wie  die  des  Meerungeheuers,  welches 
den  Hannmant  im  Rämäyana  verschluckt,  um  ihn  wieder  aus- 
zuspeien,  ganz  wie  das  der  Fall  ist  bei  dem  biblischen  Jona  (die 
Nacht  verschlingt  die  Sonne).  Hanumant  geht  in  den  Fisch 
hinein  durch  dessen  Mund  und  kommt  am  Schwänze  wieder 
heraus;  allerdings  sagt  Hanumant  selbst  in  der  Erzählung,  die  er 
im  56.  Gesänge  des  ftinften  Buches  davon  giebt,  dass  er  bei  dem 
rechten  Ohr  herausgekommen  wäre.  Ist  die  Nacht  mit  dem 
Monde  verbunden,  so  trägt  der  Stier-Mond  oder  Fisch-Mond  den 
Helden  oder  dient  ihm  als  Brücke,  statt  ihn  zu  verschlingen.  In 
russischen  Feenmährchen   ist  der  braune  Hecht  (welcher  wegen 

'  Revad  uvllha  sai^ano  ratho  väm  vrishabha^   9a  9iii9umära9  6a  yuktä. 

'  Der  Leser  wird  sich  uicht  wundem,  den  Delphin,  den  Wollfisdi  und 
den  Seeigel  hier  unter  den  Fischen  zu  finden.  Wir  sehreiben  keine  Na- 
turgeschichte, sondern  classificiren  die  Thiere  nach  den  Rubriken,  in 
welche  die  Volksphantasie  sie  gewiesen  hat,  so  roh  und  unwissenschaft* 
lieh  dieselben  auch  sind. 


598 

seiner  Farbe  die  keusche  Wittwe  genannt  wird)  *  bald  eine  Ge- 
stalt;  welche  der  Teufel  annimmt ,  um  den  jungen  Helden  zu 
fressen,  der  ein  kleiner  Barsch  geworden  ist,  *  und  bald  ein  colos- 
saler  Fisch  mit  grossen  Zähnen,  welcher  die  kleinen  Fische  um- 
bringt. ^  Bald  dagegen  dient  er  dem  Iwan  Tzarevie,  der  das 
Entenei  sucht,  welches  in  dem  Hasen  unter  der  Eiche  mitten  im 
Meere  steckt,  als  Brücke/  bald  wird  er  in  der  Quelle  (wie  der 
Mond,  der  Soma  im  Brunnen)  gefangen  von  dem  dummen  und 
faulen  Emil ;  und  weil  ihm  Emil  das  Leben  schenkt,  so  macht  er 
ihn  reich,  indem  er  mehre  Wunder  für  ihn  verrichtet*    Ein  an- 


'  Der  Hecht  bekommt  im  Frübliog  eine  bläuliche  oder  grünlich-blaue 
Farbe;  daher  der  Name  golubbi-perö  (d.  h.  mit  bläulichen  Flossen; 
im  Deutschen  wird  die  bläuliche  Farbe  hecht-grau  genannt;  im  neun- 
zehnten der  russischen  Mährchen  von  Erlenwein  werden  dem  Hecht 
goldene  Flossen  zugeschrieben),  der  ihm  auch  in  Russland  gegeben  wird. 
Golub  oder  braun,  violet  und  azurblau  ist  ein  Name,  der  in  Russland 
der  Taube  gegeben  wird;  so  sagen  wir  in  Italien,  dass  die  Taube  pavo- 
naszo  ist  (eigentlich  die  Farbe  des  Pfaus,  welcher  gewöhnlich  blau  oder 
grün  ist).  Im  Sanskrit  ist  einer  der  Namen  des  Pfaus  hari,  ein  Wort, 
das  sowohl  den  Mond  wie  die  Sonne  bezeichnet.  Nach  derselben  Analogie 
kann  der  bläuliche  oder  grünliche  Hecht  den  Mond  darstellen.  Eine  an- 
dere Analogie,  durch  eine  ähnliche  Auffassung  verursacht,  findet  sich 
wieder  in  dem  Worte  ^yäma,  welches  schwarz,  azurn,  und  auch  silbern 
bedeutet,  weshalb  es  zur  Bezeichnung  des  convolvolus  argenteus 
verwandt  wird  (wir  müssen  uns  erinnern,  dass  der  lateinische  Name  des 
Hechtes  lucius,  eigentlich  der  Glänzende,  ist).  Der  Hecht  nimmt  die 
Farbe  des  Wassers  an,  in  welchem  er  lebt;  dieses  aber  ist  dunkel,  schwarz, 
azurn,  grünlich,  silbern;  als  azurn  oder  grünlich  oder  silbem  repräsentirt 
der  Hecht  den  Mond;  als  dunkelfarbig  die  finstere  Nacht,  die  Wolke,  die 
Winterszeit.  —  Bei  A  fan.  IV,  32  erzählt  der  kleine  Barsch,  dass  der 
Hecht  einmal  glänzend  war  (d.  h>  im  Frühling)  und  dass  er  schwarz 
wurde,  nach  dem  Brande,  welcher  in  dem  See  von  Rastoff  vom  St  Peters- 
tage (20.  Juni)  bis  zum  St.  Eliastage  (20.  Juli)  statthatte  (d.  h.  im  Anfang 
des  Sommers).  Wie  wir  aus  dem  Pseudo-Callis thenes  erfahren, 
giebt  es  bei  dem  schwarzen  Steine,  welcher  Jeden,  der  ihn  berührt,  schwarz 
macht,  Fische,*  welche  in  kaltem  Wasser  und  nicht  am  Feuer  gekocht  wer- 
den. Ich  erinnere  hier  auch  an  den  gelb  und  schwarz  gefleckten  „Hecht- 
k  ö  n  i  g". 

«  Afan.  V,  22. 

»  Afan.  1,  2.  —  Vgl.  Novelline  di  San  Stef.  di  Calc.  No.  U 
und  Pentamerone  V,  8. 

*  Afan.  II,  24. 

*  Vgl.  Seite  163.  —  Afan.  V,  55.  VI,  32.  -  Es  ist  derselbe  Fisch, 
welcher  dem  Mädchen  von  dem  er  einst  gerettet  worden  ist,  und  das  von 
ihrer  Stiefmutter  verfolgt  wird,  zu  Hilfe  kommt,  tür  sie  den  Weizen  von 


599 

deres  Mal  wird  der  phallische  Hecht  mit  den  goldenen  Flossen 
gefangen ;  gewaschen,  geviertheilt  und  gebraten;  das  schmutzige 
Wasser  wird  fortgethan  und  (bei  Afanassieff)  von  der  Kuh 
oder  (bei  Erlen  wein)  von  der  Stute  getrunken ; '  einen  Theil  des 
Fisches  isst  die  schwarze  Sklavin,  als  sie  ihn  auf  die  Tafel  bringt, 
das  Uebrige  die  Königin;  daher  werden  drei  junge  Helden,  als 
Brüder  betrachtet,  zu  gleicher  Zeit  von  der  Kuh  (oder  Stute),  von 
dem  schwarzen  Mädchen  und  der  Königin  geboren.  Ein  anderes 
Mal  (wie  z.  B.  in  der  satirischen  Fabel  Kriloffs)  zieht  der  Hecht 
den  Karren  zusammen  mit  dem  Krebs  und  dem  Reiher;  und  hi^r, 
so  dürfte  es  scheinen,  sind  diese  beiden  Thiere  vielmehr  dumm 
als  intelligent,  sofern  -der  Krebs  den  Karren  auf  die  Erde  zurück- 
zieht und  der  Reiher  mit  ihm  in  die  Lüfte  steigen  will,  als  der 
Hecht  ihn  ins  Wasser  zieht.  Hier  haben  wir  die  gewöhnliche 
Uebereinstimmung  zwischen  dem  phallischen  Bilde  und  dem  des 
Einfaltspinsels.  So  wird  im  piemontesischen  Dialekt  der  Phallus 
und  der  Dummkopf  merlu  (Amsel)  genannt.  Von  dem  Worte 
merlo  (lat.  merula)  ist  der  Name  des  Fisches  merluccio 
oder  merluzzo  (gadus  merlucius,  der  Schellfisch  oder 
Kabeljau)  abgeleitet,  der  bei  den  Römern  a  s  e  1 1  u  s,  bei  den  Grie- 
chen ovloKog  heisst.  Der  Eiäel  ist  ein  bekanntes  Symbol  des 
Phallus,  und  da  Bacchus  ebenfalls  ein  phallischer  Gott  ist,  so 
lesen  wir  bei  Plinius:  „Asellorum  duo  genera^  Gallariae  minores 
et  Bacchi,  qui  non  nisi  in  alto  capiuntnr.^^  Baccalä,  der  italie- 
nische Name  des  Stockfisches,  scheint  mir  aus  den  beiden  Namen 
3^chus  und  Callaria  zusammengesetzt  zu  sein.  Im  Piemontesi- 
schen wird  ein  dummer  Mensch  ebenfalls  baccalä  genannt.  Es 
giebt  auch  einen  Fisch  merula,  der  sich  durch  seine  ausseror- 
dentliche Geilheit  buchstäblich  selbst  verzehren  soll.  ^  In  Italien 
finden  wir  folgendes  Sprichwort:  „Die  Amsel  hat  den  Po  (oder: 


der  Gerste  sondert  (gleich  der  Madonna,  der  reinigenden  Mondfee,  der 
nächtlichen  Futzerin  des  Himmels)  und  ihr  glänzende  Gewänder  giebt, 
VI,  29.  —  V,  24  finden  wir  statt  des  Hechtes  als  fecundator  den  Brassen, 
weicher  ebciifalls  „der  mit  goldenen  Finncu^^  (szlatopioravo)  genannt  wird 
und  dessen  Farben  dieselben  sind  wie  die  des  Hechtes. 

'  In  dem  neunzehnten  Mäbrchen  bei  E  r  1  e  n  w  e  i  n  und  in  einer  Spiel  • 
art  desselben  in  dem  letzten  Buche  von  Afan/s  Mährchen.  —  Ein  ähn- 
liches Mährchen  wird  im  Montferrato  erzählt,  das  jedoch  ofienbar  corrum- 
pirt  ist. 

'Vgl.  Salvianus,  Aquatilium  Animalium  Historiae,  Romae 
1564. 


600 

den  FluBs)  passirt)''  um  einen  bis  zur  Impotens  erschöpften  Mann 
zn  l)ezeicl)nen.  Die  Alten  schreiben  von  dem  Fisch,  den  die 
Griechen  x^^oo^pQvg,  die  Römer  aurata  nennen^  (^ass  er  sich 
von  den  Frauen  mit  der  Hand  fangen  lässt^  und  (nach  Athenaeus) 
der  Venus  heilig  ist.  Venus,  Aphrodite,  die  Göttin  der  Liebe^ 
stellte  in  den  Mythen  speciell  die  Aurora  und  den  Frühling  dar 
(daher  essen  wir  im  Frühling  und  am  Freitag,  dem  Tage  der 
Freya,  dies  Veneris,  Fische);  deshalb  waren  ihr  die  gemini 
pisces  heilig,  und  der  Scherz  mit  dem  poisson  d'Avril  ist, 
wie  schon  Theil  I  Kap.  I  erwähnt,  phallischen  Ursprungs.  ^  Aphro. 
dite  und  Eros,  von  Typbon  verfolgt  /  verwandelten  sich  in  Fische 
und  tauchten  in  die  Fluthen  des  Euphrat  Wir  sagten  schon,  dass 
der  Gott  der  Liebe  in  Indien  den  Fisch  zum  Zeichen  hatte.  Der 
griechische  Eros  wurde  oft  auch  statt  auf  dem  phallischen  Schmet- 
terling, auf  einem  Delphin  reitend  dargestellt;  nach  anderen  Be- 
richten reitet  er  auf  einem  Schwan  mit  Delphinen  vor  sich.  In 
einem  Epigramm  der  Anthologia  Graeca  trägt  der  Delphin 
eine  müde  Nachtigall.  In  mehren  Theilen  des  Elsass  essen  am 
Abend  des  St.  Andreastages  die  Mädchen  Häringe,  um  während 
der  Nacht  von  dem  Manne  zu  träumen,  der  ihren  Durst  stillen 
soll.  ^  Der  Fisch  julis  des  Plinius  (eine  Art  Steinfisch)  heisst 
im  Italienischen  do  nz  eil  a  (Fräulein),  speciell  in  Neapel  uüd 
Venedig  aber  menchia  di  re  (Königsphallus),  und  auch  andere 
Fische  bekommen  ihre  Namen  von  den  Zeugungstheilen.  ^  Der 
Phallus  wird  in  Neapel  U  pesce  genanüt ;  nuovo  pesce  bedeutet 
im  Italienischen  einen  dummen  Menschen.  Einen  wesentlich 
phallischen  Charakter  besitzt  ferner  der  Aal>  welchen  nach  Aga- 
tharchides  (bei  Hippolitus  SalvianuB)  die  Böotier  als  Schlachtopfer 
bekränzten  und  feierlich  den  Göttern  darbrachten,  welchen  nach 
Herodot  die  Aegypter  als  einen  göttlichen  Fisch  verehrten  and 
welchen  Athenaeus  pomphaft  die  Helena  der  Mahlzeiten  nennt. 
Der  Aal  wurde  sprichwörtlich;  die  italienischen  Redensarten: 
„den  Aal  fassen",  „den  Aal  beim  Schwänze  halten",  „wenn  der 

'  In  Deutschland  singen  die  Kinder  am  ersten  April: 
„April!  April I  April! 

Man  kann  den  Narren  schicken,  wohin  man  wiU.*^ 
^  Vgl.  Simrock,  a.  a.  0.  p.  561 :  „In  der  Mark  muss  man  zu  Neujahr 
Hirse  oder  Häringe  essen,   im  Wittenbergischen  Häringssalat,  so  hat  man 
das  ganze  Jahr  über  Geld/^ 

'  Vgl.  Salvianua,   1.   1.   —   Die  Art  gewisser  Fische  Schaum  aus  dem 
Munde  zu  spritzen,  mag  ein  phallisches  Bild  geweckt  haben. 


601 

Aal  deo  Köder  angebiseeü  hat,  so  muBS  er  dorthin,  wohin  er  ge- 
zogen  wird'S  ^^^^  ^^^  zweideutig.  Anch  die  Deutschen  haben 
ein  Sprichwort  vom  Aal,  welches  uns  an  die  Geschichte  von  dem 
Koch  erinnert,  welcher  mit  der  Tochter  Alexanders  das  Fisch- 
wasser trinkt  ^  Der  Phallus  enthüllt  Geheimnisse ,  und  deshalb 
,,erzählt  Gilbert  bei  Leibnitz  Script,  rer.  Brnnsw.  I,  987,  ein 
Frauenzimmer,  welches  Aal  gegessen,  habe  plötzlich  Alles  sehen 
können,  was  unter  Wasser  war''*  ^eine  Variation  der  Erzählung 
von  dem  Fisch^  der  lacht,  welcher  bei  Afanassieff  ni,  9  Jeden, 
der  ihn  besitzt,  reich  macht,  und  von  dem  Fisch  silurus  (dem 
Wels),  so  genannt  von  dem  griechischen  aeiw  und  ovQa,  weil  er 
seinen  Schwanz  schüttelt,  welcher  bei  Afanassieff  VI,  58  den 
Arbeiter  reinigt,  det  in  den  Sumpf  gefallen  ist  und  die  nie 
lachende  Prinzessin  zum  Lachen  bringt).  In  der  achtzehnten  der 
Novelline  di  San  Stefano  di  G.  fängt  ein  Fischer  einen  Aal 
mit  zwei  Schwänzen  und  zwei  Köpfen,  welcher  so  gross  ist,  dass 
er  ihn  nicht  allein  fortbringen  kann.  Der  Aal  spricht  und  befiehlt, 
seine  beiden  Schwänze  in  den  Garten  zu  pflanzen,  seine  Einge- 
weide der  Hündin  und  seine  beiden  Köpfe  der  Fischersfrau  zu 
geben.  Zwei  Schwerter  werden  aus  den  Schwänzen  im  Garten 
(in  der  indischen  Sage  sahen  wir  aus  dem  Holz  des  Pfeiles 
^aradyats  zwei  Söhne  geboren),  zwei  Hunde  von  der  Hündin, 
und  zwei  schöne  Jünglinge  (die  beiden  Ayvins)  von  der  Frau  ge- 
boten. In  dem  Kapitel  über  die  Taube  sahen  wir  die  beiden 
Liebenden,  als  sie  verfolgt  werden,  die  Gestalt  von  Tauben  an- 
nehmen. In  dem  14.  sicilianischen  Mährchen  bei  Frl.  L.  Gon- 
zenbach  verwandeln  sich  der  Knabe  und  das  Mädchen,  von  der 
Hexe  verfolgt,  zuerst  in  Kirche  und  Küster,  dann  in  Garten  und 
Gärtner,  dann  in  Rose  und  Rosenbusch  und  endlich  in  Brunnen 
und  AaL  In  der  vierten  der  Novelline  di  San  Stef.  wird 
das  schöne  Mädchen  von  der  Dienerin  des  Priesters  (d.  h.  von 
der  Dienerin  des  schwarzen  Mannes,  von  der  schwarzen  Frau 
oder  der  Nacht),  welche  an  dem  Brunnen  wäscht,  gebeten,  von 
dem  Baum  herabzukommen.  Das  Mädchen  folgt  der  Bitte,  wird 
in  den  Brunnen  {;eworfen  und  von  einem  ungeheuren  Aal  ver- 


'  „Bei  llans  Sachs  (Nürnb.  Ausg.  von  1560,  14»  1  ,  96)  essen  eine  Frau 
und  eine  Magd  den  für  den  Herrn  bestimmten  AhI;  eine  £ist<'r  schwatst 
es  aus;  um  sich  tu  rächen,  rupfen  die  Weiber  ihr  deu  Kopf  kahl.  Daher 
man  sprichwörtlich  von  einem  kahlen  Mönche  sagt:  Der  hat  gewiss  vom 
Aale  ausgeschwatit.*'    Menzel,   Die  vorchristliche  Unsterbl.-L. 

•Ibid. 


602 

schluDgen.  Die  Fischer  fangen  den  Aal  und  bringen  ihn  zu  dem 
Fürsten;  die  Hexe  tödtet  ihn  und  wirft  ihn  in  ein  Rohrdickicbt. 
Der  Aal  wird  darauf  in  ein  grosses  und  schönes  Rohr  verwandelt^ ' 
welches  ebenfalls  zu  dem  Prinzen  gebracht  wird,  der  es  mit 
einem  Federmesser  behutsam  öfinet  und  das  schöne  Mädchen 
herauskommen  lässt  (diese  Sage  ist  eine  Variation  der  von  dem 
hölzernen  Mädchen).  *  Diese  Gestalt  eines  diabolischen  Aales  ist 
eng  verwandt  mit  dem  Schlangennngeheuer ;  die  a  n  g  u  i  1 1  a  erin- 
nert an  den  anguis;  daher  finden  wir  im  Pentamerone  I,  9 
statt  des  Aales  als  Befrachter;  wie  in  dem  18.  toskanischen 
Mährcheu;  den  Fisch  draco  marinus  (ital.  trascina)  genannt, 
über  welchen  Volaterranus  die  sonderbare  Bemerkung  macht:  ^^Si 
manu  dextra  adripias  eum,  contumacem  renitentemque  experieriSy 
si  laeva,  subsequentem/'  —  als  ob  er  damit  sagen  wollte,  dass 
die  linke  Hand  die  des  Teufels  ist.  So  beschreibt  Oppian  die 
Hochzeit  der  murana,  Muräne  ^  mit  der  Schlange  (nach  Aelian 
und  Plinius  der  Viper).  Andere  Fische  haben  einen  wesentlich 
diabolischen  Charakter  angenommen,  wie  z.  B.  der  Fisch  äXciTtri^ 
(vulpeS;  vulpecula),  von  welchem  Aelian  erzählt,  dass  er  den 
Angelhaken  verschluckt,  um  ihn  dann  mit  seinen  eigenen  Einge- 
weiden wieder  auszuspeien;  die  rana  piscatrix,  auch  Meer- 
teufel geheissen ;  der  tQvyoivy  pastinaca  (ital.  brnco),  welcher 
nach  Oppian  mit  seinem  Stachel  Menschen  tödtet  (die  Fama  sagt, 
dass  Odysseus  mit  dem  Knochen  eines  rQvyoiv  getödtet  wurde). 
Die  Wunden  des  Seeskorpions  wurden  nach  den  Alten  durch  die 
TQlyka  (die  Meeräsche,  Seebarbe,  Rothbart,  lat.  muUus,  engl, 
red  mullet)  geheilt,  welche  nach  Athenaeus  und  Apollodor  der 
Artemis  und  der  Diana  Trivia,  dem  Monde,  heilig  war;  Plutarch 
schreibt,  dass  er  der  Diana  als  jagender  Fisch  heilig  war,  weil  er 
den  Seehasen,  der  dem  Menschen  schädlich  ist,  tödtet;  doch  sahen 
wir ,  dass  der  mythische  Hase  der  Mond  selbst  ist ;  der  Brassen, 
silurus,  glanis  oder  piscis  barbatus,  hatte  nach  Manardus 
(bei  Ippolito  Salviano)  den  Ruf,  die  Menschen  anzufallen ;  ja,  in 
einem  dieser  Fische,  welche  auch  wirklich  sehr  gefrässig  sind,  soll 
einst  eine  mit  Ringen  bedeckte  Hand  gefunden  worden  sein.    Doch 


'  Es  ist  bekannt,  dass  das  Wort  ikshvstku  auf  das  Wort  ikshu, 
Zuckerrohr,  zurückgeführt  wird.  In  dem  vierzigsten  Gesänge  des  ersten 
Buches  des  Kämäyana,  schenkt  eine  von  den  beiden  Frauen  Sagaras 
einem  Sohne  das  Leben,  welcher  sein  Gesclüecht  fortpflanzt;  die  andere 
Frau  gebiert   ein  ikshväku  (Rohr  oder  Rürbiss),    das  60000  Söhne  enthält« 


603 

diese  Binge  in  dem  Leibe  des  Fisches  (gleich  dem  Edelstein 
cimediaO  erinnern  uns  an  den  kleinen  Barsch,  die  Delphine, 
den  Wallfisch;  und  den  Ring,  der  in  das  Wasser  gefallen  ist  und 
bei  dem  Fisch  wiedergefunden  wird,  welcher  vielleicht  das  inter- 
essanteste Thema  von  Sagen  in  dem  mythischen  Cyklns  der 
Fische  ist. 

Iwan  ist,  um  wieder  auf  das  Gedicht  Jershoffs  zurückzu- 
kommen, mit  seinem  Buckel-Pferdchen  in  die  Mitte  des  Meeres 
in  die  Nähe  des  Wallfisches  gekommen,  welcher  eine  Flotte  ver- 
schluckt hat ;  *  auf  dem  Wallfisch  ist  ein  Wald  gewachsen ;  Weiber 
gehen  in  seinem  Schnurrbart  Pilze  suchen.  Iwan  theilt  ihm  seinen 
Wunsch  mit  und  der  Wallfisch  ruft  alle  Fische  zusammen,  doch 
Niemand  kann  ihm  Auskunft  geben,  ausgenommen  ein  kleiner 
Fisch,  der  kleine  Barsch,  welcher  jedoch  augenblicklich  mit  der 
Jagd  eines  seiner  Feinde  beschäftigt  ist.  Der  Wallfisch  schickt 
Gesandte  zum  Barsch,  welcher  unwillig  einen  Augenblick  vom 
Kampfe  ablässt,  um  das  Kistchen  zu  suchen;  er  findet  es,  ist 
jedoch  nicht  stark  genug,  es  aufzuheben.  Die  zahlreichen  Scharen 
der  Häringe  kommen  und  versuchen  es,  —  vergebens.  Zulezt 
heben  zwei  Delphine  das  Kistchen.  Iwan  erhält  den  ersehnten 
Ring;  des  Wallfisches  Fluch  hat  ein  Ende;  er  speit  die  Flotte 
aus  und  kann  sich  wieder  bewegen,  während  der  kleine  Barsch 
die  Verfolgung  seiner  Feinde  wieder  aufnimmt.  Dieser  Krieg  des 
Barsches  mit  seinen  Gegnern  hat  in  der  russischen  Volkssage 
seine  Herodots  und  Homere  gefunden,  die  ihn  in  gebundener  und 


'  Cimedia,  gemma,  quae  invenitur  in  cerebro  piscis;  Du  Caoge, 

8.  h.  V. 

'  Bei  A  fan.  1, 13  (eine  Variation  davon  ist  das  böhmische  Mährchen  von 
„Grosspapa  Vsieveda^*)  beklagt  sich  der  Wallfisch,  dass  alle  Fuss- 
gänger  und  Berittenen  über  ihn  fortgehen  und  ihn  bis  auf  die  Knochen 
verzehren.  Er  bittet  den  Helden  Basilius,  die  Schlange  zu  fragen,  wie 
lange  er  noch  dieses  Schicksal  erleiden  muss;  die  Schlange  antwortet,  bb 
er  die  zehn  Schifie  des  reichen  Marcus  ausgespiecn  hat.  —  Im  Peuta- 
luerone  IV,  8  lehrt  der  Wallfisch  dem  Mädchen  Cianna  den  Weg  zu  der 
Mutter  der  Zeit,  indem  er  sich  als  Belohnung  dafür  von  dem  Mädchen  nur 
Belehrung  darüber  ausbittet,  wie  er  frei  im  Meere  herumschwimmen  könne, 
ohne  an  Felsen  und  Sandbänke  zu  stossen.  Cianna  bringt  die  Antwort,  dass 
er  sich  mit  der  Seemaus  (lo  sorece  marine,  vielleicht  identisch  mit 
dem  Seeigel),  die  ihm  als  Führer  dienen  werde,  befreunden  müsse.  —  Im 
Pent  am.  V,  8  wird  das  kleine  Mädchen  im  Meer  von  einem  grossen  ver- 
zauberten Fisch  aufgefangen,  in  dessen  Bauch  sie  schöne  Gesellschaft, 
Gärten  und  einen  schönen,  mit  Allem  ausgestatteten  Palast  findet.  Der 
Fisch  trägt  das  Mädchen  ans  Ufer. 


604 

ungebandener  Rede  gefeiert  haben.  Afanassieff  giebt  im 
dritten  Buche  seiner  Mährehen^  nach  einem  Manuscript  des  vorigen 
Jahrhunderts,  die  Beschreibung  der  Aburtheilung  des  Barsches 
vor  dem  Tribunal  der  Fische.  Der  Brassen  (leq6)  klagt  den  Barsch 
an,  den  bösen  Kämpfer  (wie  der  Seeigel  der  kleine  Vemichter  ist ; 
dieser  und  der  Barsch  werden  in  russischen  Sagen  um  so  leichter 
miteinander  verwechselt,  als  der  erstere  josz,  der  letztere  jorsh 
heisst);  welcher  alle  anderen  Fische  mit  seinen  rauhen  Borsten 
verwundet,  und  sie  gezwungen  hat,  den  See  von  Rastoflf  zu  ver- 
lassen. Der  Jorsh  vertheidigt  sich  mit  der  Bemerkung,  dass  die 
Stärke  ihm  inhärire ;  er  sei  kein  Brigant,  sondern  ein  gutes  Geschöpf, 
das  überall  bekannt  sei,  hochgeschätzt  und  von  grossen  Herren 
mit  viel  Behagen  verspeist  werde.  Der  Brassen  appellirt  an  das 
Zeugniss,  welches  andere  Fische  gegen  den  kleinen  Barsch  ablegen ; 
dieser  beklagt  sich  nun,  dass  die  anderen  Fische  in  ihrem  Eigen- 
dünkel durch  den  Gerichtshof  ihn  und  seine  Gefährten  zu  Falle 
bringen  wollten,  indem  sie  aus  seiner  Kleinheit  Nutzen  zögen. 
Die  Richter  berufen  nun  die  Äalraupe  als  Zeugin.  Diese  aber 
entschuldigt  sich,  dass  sie  nicht  erscheinen  könne;  ihr  Bauch 
sei  zu  fett,  und  sie  könne  sich  nicht  bewegen;  ihre  Augen  seien 
klein  und  ihre  Sehkraft  gering ;  ausserdem  habe  sie  dicke  Lippen 
und  könne  vor  Leuten  von  Rang  und  Stand  nicht  sprechen.  Der 
Häring  legt  Zeugniss  gegen  den  Barsch  ab,  zu  Gunsten  des 
Brassen.  Unter  den  Zeugen  gegen  den  Barsch  befindet  sich  auch 
der  Stör;  er  zeigt  sich  gegen  den  Barsch  sehr  boshaft;  er  be- 
hauptet nämlich,  dieser  müsse,  wenn  er  esse,  mehr  ausspucken 
als  er  verschlucken  könne,  und  beklagt  sich,  dass  eines  Tages, 
als  er  durch  die  Wolga  in  den  See  von  Rastoflf  schwimmen 
wollte,  der  kleine  Barsch  ihn  seinen  Bruder  genannt,  ihn  aber  ge- 
täuscht habe;  um  ihn  von  dem  See  fernzuhalten,  habe  er  ihm  nämlich 
weiss  gemacht,  er  sei  auch  einst  ein  Fisch  von  solcher  Grösse 
gewesen,  dass  sein  Schwanz  dem  Segel  eines  Schiflfes  glich,  sei 
aber  so  klein  geworden,  nachdem  er  in  den  RastofiT-See  gezogen 
wäre.  Der  Stör  erzählt  nun  weiter,  er  habe  sich  dadurch  ein- 
schüchtern lassen,  und  sei  in  dem  Flusse  geblieben,  wo  seine 
Söhne  und  Gefährten  vor  Hunger  gestorben  und  er  selbst  in  die 
grösste  Noth  gerathen  wäre.  Er  bringt  ausserdem  noch  eine 
schwere  Klage  gegen  den  Barsch  vor;  dieser  hätte  ihn  nämlich 
dem  Fischer  in  die  Hände  spielen  wollen,  indem  er  ihn  beredet 
vorauszugehen,  weil  die  älteren  Brüder  vor  den  jüngeren  den 
Vorrang  hätten.    Der  Stör  gesteht,  dass  er  dieser  Schmeichelei 


f, 
h 


605 

Oehör  gab  and  in  das  Netz  ging,  das  ^r  den  Thttren  vornebmer 
Häuser  äbnlich  fand  —  gross,  wenn  man  hineingeht,  aber  klein, 
wenn  man  wieder  heraus  will;  der  Barsch  aber  habe  ihm  noch 
spöttisch  zugerufen :  ^,Leide  um  Christi  willen  !'*  Die  Auseinander- 
setaungen  des  Störs  machen  tiefen  Eindruck  auf  das  Oemtith  der 
Bichter,  welche  befehlen,  dem  Barsch  die  Knute  zu  geben  und 
ihn  zu  pfählen,  zur  Strafe  für  seine  Betrügerei;  das  Urtheil  wird 
von  dem  Krebs  mit  einer  seiner  Klauen  besiegelt  Doch  der 
Barsch,  der  den  Spruch  gehört  hat,  erklärt  ihn  (Ur  ungerecht, 
spuckt  den  Richtern  in  die  Augen,  springt  in  das  Strauchwerk 
und  entschwindet  den  Blicken  der  Fische,  welche  beschämt  und 
gekränkt  zurückbleiben. 

Bei  Afanassieff  IV,  32  finden  wir  zwei  Variationen  dieser 
Thiersage. 

Der  unruhige  Barsch  nimmt  Besitz  von  dem  Bastofif-See.  Von 
dem  Brassen  vor  Gericht  gefordert,  sagt  er  aus,  dass  vom 
St  Peterstage  bis  zu  dem  St.  Eliastage  der  ganze  See  in  Feuer 
stände,  und  fährt  als  Beweis  fär  diese  Behauptung  an,  dass  die 
Augen  der  Boche,  und  ebenso  die  Finnen  des  Barsches  von  den 
Folgen  des  Brandes  noch  roth  sind,  dass  der  Hecht  dunkelfarbig 
geworden  ist,  und  dass  die  Aalraupe  infolge  des  Brandes  schwarz 
ist  Diese  Fische,  als  Zeugen  vorgeladen,  erscheinen  entweder 
gar  nicht  oder  leugnen  die  Wahrheit  dieser  Behauptungen.  Der 
Barsch  wird  festgenommen  und  gebunden,  doch  es  fängt  an  zu 
regnen;  der  Bichtplatz  wird  morastig;  der  Barsch  entkommt, 
gelangt  von  einem  Flttsschen  in  das  andere,  endlich  in  den  Strom 
Kama,  wo  der  Hecht  und  der  Stör  ihn  finden  und  ihn  zur 
Exekution  zurückbringen. 

In  der  anderen  Version  bittet  der  Barsch,  als  er  vor  (Bericht 
gebracht  wird,  um  die  Erlaubniss,  nur  eine  Stunde  im  Bastoff- 
See  spazieren  zu  dttrfen;  nach  Ablauf  der  bestimmten  Zeit  ver- 
säumt er,  sich  zu  stellen,  quält  vielmehr  die  anderen  Fische  auf 
jegliche  Weise,  sie  stechend  und  reizend.  Die  Fische  nehmen 
ihre  Zuflucht  zu  dem  Stör,  der  den  Hecht  schickt,  damit  er  nach 
dem  Barsch  sehe;  der  kleine  Barsch  wird  zwischen  den  Steinen 
gefunden ;  er  entschuldigt  sich  damit,  dass  es  Sonnabend  sei,  und 
dass  in  seines  Vaters  Hause  ein  Fest  sei,  räth  auch  dem  Stör 
mittierweile  etwas  für  seine  Constitution  zu  thun  und  sich  zu' 
amiisiren ;  den  nächsten  Morgen,  obwohl  es  Sonntag  sei,  verspricht 
er,  sich  den  Bichtem  zu  stellen  (die  Analogie  zwischen  den  Hand- 
lungen  des   Barsches    und  denen  des  Beineke   Fuchs   ist   sehr 


.     ,',<^,<^T  J*\'^-.Jt' 


606 

beacbtenswertb).    Unterdess  macht  der  Barsch  Beinen  Gefährten 
betrunken.    Der  Sanskritname  des  Fisches,   matsya,  von  der 
Wurzel   mady   bedeutet,  wie  wir    wissen,   trunken    und   lustig, 
eigentlich:  feucht  dat.  madidus);  im  Italienischen  sind  briaco 
und  folle  bisweilen  gleichbedeutend;  im  piemontesischen  Dialekt 
sind  bagnä  (nass)  und  im  beeil  (Idiot)  Ausdrücke  von  gleicher 
Bedeutung.    Trunkenheit  bat    zwei    Seiten:  es  giebt   eine,   die 
impotent  und  dumm  macht,  und  eine,  die  heiter  anregt  und  die 
Kräfte  verdoppelt;  die  Art  der  Trunkenheit   ist  lediglich    eine 
Frage  der  Quantität  und  Qualität   des  Getränkes  und  der  Con- 
stitution des  Trinkers.    So  giebt  es  auch  zwei   Arten  von  Toll- 
heit: eine,  die  Jemanden  in  Raserei  versetzt,  für  den  dann  die 
Zwangsjacke  sich  empfiehlt;  und  eine,  die  mit  der  vollständigen 
Erschöpfung  eines  Mannes  endigt.     Wenn  Indra  betrunken   ist, 
wird  er  ein  Held;  ist    der  Hecht  betrunken,  so  ist  er  ein  Narr 
(vgl.  das  englische  mad,  das  italienische  matte,  d.  h.  wahn- 
sinnig, toll,  mit  dem  deutschen  matt,  d.  h.  erschöpft).    Als  der 
Barsch  den  Hecht  betrunken  gemacht   hat,  schliesst  er   ihn    in 
einem  Strohschober  ein,  wo  der  betrunkene  Fisch  sterben  muss. 
Da  kommt  der  Brassen  und  holt  den  kleinen  Barsch   unter   den 
Steinen  hervor,  um  ihn  vor  Gericht  zu  stellen.    Der  Barsch  ver- 
langt ein  Gottesurtheil.    Er  sagt   zu  seinen  Richtern,  sie  sollten 
ihn  in  ein  Netz  stecken;  bliebe  er  darin,    so  hätte  er  Unrecht; 
käme   er   heraus,  so  hätte  er  Recht;  der  Barsch   stösst  sich   so 
lange  in  dem  Netz  hin  und  her,  bis  er  draussen  ist.     Der  Richter 
spricht  ihn  frei  und  giebt  ihm  in  dem  See  vollständige  Freiheit; 
nun  beginnt  der  Barsch  seine  zahlreichen  Rachestflckchen  gegen 
die  kleinen  Fische,  indem  er  seine  Schlauheit  in  beständigen  An- 
strengungen, sie  zu  vemichteu,  bewährt. 

Wie  der  Betrunkene  und  der  Narr  bald  intensivere  Kraft 
•haben,  bald  sie  ganz  verlieren,  so  verdoppeln  sie  bald  ihre  Ver- 
standeskraft, bald  verlieren  sie  dieselbe  völlig.  Daher  finden  wir 
unter  den  mythischen  Fischen  sehr  weise  und  sehr  dumme.  Sehr 
populär  ist  das  Mährchen  von  den  drei  Fischen  von  verschiedener 
Intelligenz,  von  denen  sich  der  faule  und  unvorsichtige  von -dem 
Fischer  fangen  lässt,  während  seine  beiden  Gefährten  entkommen ; 
es  findet  sich  im  ersten  Buche  des  Pancatantra.  Im  fttnften 
Buche  des  Pan6atantra  kommt  eine  Variation  vor:  wir  lesen 
von  einem  Fische,  der  den  Verstand  von  Hundert  hat  (gatabuddhi), 
von  einem,  dei^  den  Verstand  von  Tausend  hat  (Sahasrabuddhi), 
und  von  dem  Frosch,  der  den  Verstand  von  Einem  hat  (Ekabuddhi); 


60? 

doch  jene  beiden  Fische  bilden  sich  nur  ein^  Verstand  tn  haben; 
der  eine  Verstand  des  Frosches  ist  besser  als  die  hundert  and 
tausend  der  Fische.  Der  Frosch  entkommt;  während  die  beiden 
Fische  den  Fischern  in  die  Hände  fallen. 

Der  kleine  Seeigel  (der  Zwerg  Vishnu  und  der  Delphin  sind 
mit  ihm  identisch^  da  das  Wort  (in^umära  im  Sanskrit  doppel- 
deutig ist)  zieht  im  Bigveda  den  Wagen  der  Beichthttmer;  in 
der  Edda  wacht  ein  Zwerg  in  Gestalt  eines  Hechtes  (lat.  1  u  c  i  u  s) 
über  Gold  und  behütet  den  Ring ;  in  russischen  Sagen  zieht  der 
kleine  Barsch  (furchtbar^  gleich  dem  josz^  durch  seine  scharfen 
Stacheln),  im  Verein  mit  den  Delphinen  das  Kästchen  aus  dem 
Meere,  welches  den  Bing  des  Sultans  enthält  Das  Horn  des 
Mondes,  welches  in  dem  Meere  der  Nacht  erscheint,  gehört  bald 
dem  Stier,  welcher  den  flüchtigen  Helden  trägt,  bald  dem  Fische 
(iapharf  an,  welcher  gross  geworden  ist,  das  Schiff  des  Manu  ins 
Schlepptau  nimmt  und  es  so  vor  dem  Schiffbruch  aus  den  Wogen 
rettet.  Bald  ist  es  der  Sonnenheld  (oder  -Heldin),  welcher  die 
Gestalt  eines  Fisches  annimmt,  um  sich  zu  retten;  bald  hilft  der 
Fisch  dem  Sonnenhelden  (resp.  der  Sonnenheldin)  beim  Entkommen ; 
bald  taucht  der  kleine  goldene  oder  glänzende  Fisch  in  das  Meer  oder 
in  den  Fluss,  um  die  Perle  oder  den  Bing  für  den  Helden  (resp.  die 
Heldin)  zu  suchen,  der  verloren  gegangen  war,  den  Bing,  ohne  den 
König  Dushyanta  seine  Braut  Qakuntalä  nicht  wieder  erkennen  kann ; 
bald  speit  er  vorn  oder  hinten  aus,  was  er  verschluckt  hat  — 
den  Helden,  die  Perle,  den  Bing  (die  Sonnenscheibe). 

Im  sechsten  Akte  der  Qakuntalä  findet  der  Fischer 
in  dem  Magen  eines  Fisches  (des  cyprinus  dentatus)  den 
mit  dem  Edelstein  geschmückten  Bing,  welchen  König  Dushyanta 
der  ^akuntalä  als  Zeichen  der  Wiedererkennung  gegeben  hatte. 
Die  Classen  cyprinus  und  perca  haben,  als  die  Stachligen 
oder  Verwundenden  in  dem  genus  Fisch,  der  Mythologie  die 
grösste  Zahl  von  Helden  geliefert ;  der  Seeigel  wird  wegen  seiner 
Stacheln  mit  ihnen  identificirt;  die  Namen  Hecht,  brechet, 
pike,  die  der  lue  ins  im  Deutschen,  Französischen  und  Eng- 
lischen fährt,  bezeichnen  seine  Fähigkeit  zu  stechen  oder  mit  seinem 
platten  und  schneidigen  Munde  zu  zerspalten  (der  Fisch  lucio- 
perca  sandra  ist  eine  Mittelform  zwischen  dem  Hecht  und  dem 
Barsch).  Das  Mondhom,  der  Donnerkeil,  der  Sonnenstrahl  haben 
dieselbe  Prärogative  wie  diese  Fische,  der  Delphin  konnte  ebenso 
wegen  der  beiden  sensenförmigen  Flossfedern,  welche  er  vom  hat, 
oder  wegen  seiner  starken  und  gekrümmten  Bückenflossfeder,  als 


608 

wegen  seiner  schwarzen  and  silbernen  Farbe  sehr  gnt  zar  Dar- 
stellung der  beiden  Mondhömer  nnd  der  Mondphasen  dienen.  So 
sind  der  Hecht  and  der  Brassen  auf  dem  Rücken  dankel  oder 
bläulich;  unten  weiss.  Der  Delphin  hat  auch  einen  platten  Hund 
nnd  scharfe  Zähne^  wie  der  Hecht.  ^  Das  Mondhoni  verkündet 
Regen;  so  verkündet  das  Erscheinen  der  sensenförmigen  Floss- 
federn  des  Delphins  auf  den  Wogen  des  Meeres  den  Seefidirem 
einen  Sturm^  warnt  sie  und  rettet  sie  vor  Schiffbruch ;  daher  kann 
er,  als  (in^nmftra,  gleich  dem  Seeigel  den  Wagen,  d.  h.  das  mit 
Reichthümera  beladene  Schiff  der  Agvins  gezogen  haben.  Der 
Delpin,  welcher  im  griechischen  Mythus  auf  Befehl  Poseidons  über 
Amphitrite  wacht,  ist  identisch  mit  dem  Delphin,  dem  Spion  des 
Meeres,  oder  dem  Monde,  dem  Spion  des  nächtlichen  und  winter- 
lichen Himmeis.  Sofern  der  Himmel  der  Nacht  oder  des  Winters 
mit  dem  Reiche  der  Todten  vei^liohen  wurde,  tragen  nach  grie- 
chischem Glauben  beide,  sowohl  der  Delphin  als  der  Mopd^  die 
Seelen  der  Todten. 

Der  cyprinus  par  excellence,  der  Karpfen  (lat.  ear- 
pus)  wird  in  Verbindung  mit  dem  Monde  in  einem  eleganten 
Oedichtehen  des  Hieronimus  Fraoaston»ei  gefeiert.  Carpus  war 
der  Name  eines  Fährmannes  des  Gardasees,  welcher  den  fliehenden 
Saturn  fttr  einen  Räuber  hielt,  welcher  Gold  forttrug,  und  ihm 
dieses  Gold  zu  entreissen  versuchte;  darauf  verfluchte  Saturn  ihn 
und  seine  Genossen  in  der  folgenden  Weise: 

,,GeiM  inimica  Deani)  dabitur  qaod  poscitis  uurum : 
Hoc  inu)  Bttb  fönte  aumm  pascetis  avarL 
Diz^r^t:  ant  illüi  yeniam  posceutibus  et  yoz 
Deficit,  et  jam  se  cemunt  mutescere  et  ora 
in  rictum  late  patulum  producta  dehiscunt, 
In  pinnas  abiere  manus;  vestisque  rigescit 
In  squamas,  caudamque  pedes  sinuantor  in  imam; 
Qui  fuerat  sabka  obdactus  formidine  mansit 
PalliduB  ore  color,  quamquam  livoris  iniqai 
Indicium  Buffusa  nigris  sunt  corpora  guttis; 
Carpus  aquas,  primus  numen  qui  laesit,  in  amplas 
Se  primus  dedit  et  fundo  se  condidit  imo.*^ 

Aus  den  bisher  von  uns  gegebenen  Vergleichungen  folgt  noth- 
wendig,  das  wiitl,  das  muss  Jeder  zugeben,  dass  die  Geschichte 

'  Kin  Aberglaube  über  den  Zitterfisch  (Torpedo),  den  Plinius  erwähnt, 
möge  hier  eine  Stelle  finden:  „Mirum  quod  de  torpedine  invenio,  si  capta 
cum  Luna  in  Libra  fuerit  triduoqae  asser vetur  sub  dio,  faciles  partus  fsL- 
Cere  postea  quoties  inferatur.^ 


600 

von  dem  Fisch,  der  das  Gold  oder  den  Edelslein  9n(;ht;  der  ihn 
findet  oder  der  ihn  in  sieh  enthält,  eine  sehr  alte  aridohe  Sage  ilt. 
In  den  vedischen  Hymnen  sehen  wir  bald  Indra  bald  die  A^vins 
die  Helden  vor  dem  Schiffbrach  retten  und  Jedermann  Reichtfantn 
bringen;  wir  sahen  amch  den  fin^nmära  (Seeigel,  Delphin  oder 
Vishnu)  den  Wagen  der  die  Reichthttmer  bringenden  A^vins  stehen. 
Die  Griechen  nannten  einen  Fisch  von  sonderbarer  Gestalt  bald 
ZsvQt  bald  x«^x«;e  (wie  auch  Hephaest  s.  Mulciber  s.  Volcanus, 
der  Metallarbeiter  heisst)  oder  Grobschmied;  daher  der  Name 
Zeus  faber,  unter  welchem  die  Römer  diesen  Fisch  kannten. 
Derselbe  hat  wirklich  eine  Ungeheuergestalt.  Sein  Nacken  ist 
bräunlich  mit  gelben  Streifen ;  der  übrige  Körper  hat  eine  silber- 
graue Farbe;  an  den  Seiten  hat  er  zwei  Flecken  vom  tiefsten 
Schwarz.  Seine  Rückenflossfeder  öflnet  sich  wie  ein  Fächer,  nach 
allen  Seiten  Strahlen  werfend,  und  mit  starken  Stacheln  versehn, 
welche  diesem  hervorragenden  Theile  das  Ansehn  eines  Kammes 
geben.  Wir  erinnern  daran,  dass  der  Hahn  und  die  Lerche  mit 
Christus  und  St  Christophorus  verglichen  wurden ;  ebenso  ging  es 
dem  Zeus  oder  faber ,  als  ebenfalls  cristatus.  ^  Die  italienische 
Legende  berichtet,  dass  jene  beiden  schwarzen  Flecken  (welche 
den  Körper  eines  Fisches  einer  Schmiede  ähnlich  machen;  daher 
der  Name  Grobschmied)  verursacht  sind  durch  die  Spuren,  welche 
St  Christophorus  eines  Tages  an  ihm  zurückliess,  als  er  Christus 
über  den  Strom  trug.  Der  Fisch,  welcher  die  crista  trägt,  und 
St  Christophorus  sind  hier  mit  einander  identisch.  Doch  noch 
mehr:  in  Rom,  in  Genua  und  in  Neapel  heisst  dieser  Fisch  der 
Fisch  St.  Peters,  weil  er  der  Fisch  sein  soll,  den  Petrus  im  Evan- 
gelium fing  und  in  dessen  Munde  (als  xaXxevg  muss  er  allerdings 
wohl  Münzen  zu  schlagen  vei*standen  haben)  durch  ein  Wunder 
Christi  St  Petrus  das  Geldstück  fand,  welches  als  Zinsgroschen 
dienen  sollte.  Ist  es  wahrscheinlich,  dass  die  in  arischen  Sagen 
so  gewöhnliche  Vorstellung  von  dem  Fisch  mit  Gold  im  Munde 
in  Judaea  umlief?  Meines  Erachtens:  nein!  wie  ja  auch  petrus 
und  petra,   mit  denen  Christus  ein  schlechtes  griechisch-latei- 


'  Du  Gange  schreibt  s.v.  citula  über  diesen  Fisch:  „Idem  forte  piscis, 
quem  GkiHi  doream  vocant  ab  aureo  latemm  colore,  nostri  et  fiispani, 
Galli  Baionenscs  jau,  i.  e.  gaUum,  a  dorsi  pinnis  surrectis  veluti  galloram 
galliaaceomm  cristis/'  Der  Fisch  Zeas  lebt  in  der  Einsamkeit;  daher 
scheint  er  mir  identisch  mit  dem  heiligen  Fisch,  df&lat,  von  welchem 
Aristot.  H.  A.  VII,  11  gesagt  wird,  er  lebe  da,  wo  es  sonst  keine  Thiere 
weiter  giebt. 

Qnbemati^  die  Thine.  39 


610 

nisches  Wortspiel  macht,  in  Verbindung  mit  dem  Fisch  ein  an- 
derer mythischer  Fall  ist,  der  mich  auf  die  arische  Welt  zurück- 
fuhrt und  mich  von  der  semitischen  fortreisst,  wie  von  dem 
kindischen  Glauben  an  die  judäische  Anthenticität  der  evange- 
lischen Geschichte,  unbeschadet  meines  Glaubens  an  die  Heiligkeit 
der  Lehre. 


i 


611 


KAPITEL  IL 
Der  Krebs» 

Im  achten  ebBtoischen  Mähreben  klagt  eine  jange  Fraa :  ;,Ich 
habe  einen  tollen  Mann,  der  mich  alle  Tage  schlägt,  wenn  ich 
seine  tollen  Launen  nicbt  befriedigen  kann.  Heute  befahl  er  mir, 
ibm  zur  Nacht  einen  Fisch  zu  kocben,  der  kein  Fiscb  sein  dürfe, 
und  der  wohl  Augen,  aber  nicht  am  Kopfe  habe.  Wo  auf  der 
Welt  soll  ich  ein  solches  Tbier  finden?"  —  „Weine  nicht,  junges 
Weibchen,"  tröstete  sie  Schlaukopf;  „Dein  Mann  will  einen  Krebs, 
der  zwar  im  Wasser  lebt,  aber  kein  Fisch  ist,  und  der  auch 
Augen  hat,  aber  nicbt  im  Kopfe." 

Wenn  die  Bonne  im  Monat  Juni  in  den  Wendekreis  einzu- 
treten scheint,  welcher  das  Zeichen  des  Krebses  (lat.  cancer; 
gr.  xccQxivog]  skrt.  karkata,  karka,  karkataka;  im  In- 
dischen heisst  das  Sternbild  des  .Krebses  karkin,  den  Krebs 
habend;  vgl.  (a^in,  den  Hasen  habend,  als  Namen  des  Mondes) 
trägt,  so  heisst  es,  dass  sie  wieder  zurückkommt ;  am  ersten  Tage 
des  Sommers  beginnen  die  Tage  länger  zu  werden,  wie  sie  am 
ersten  des  Winters  kürzer  werden;  die  Sonne  im  Juni  wurde  des- 
halb mit  einem  Krebs  verglichen,  welcher  rückwärts  geht,  oder 
wurde  dargestellt  als  von  einem  Krebs  gezogen,  welcher  in  diesem 
Falle  speciell  der  Mond  ist.  Wir  kennen  Alle  den  Mythus  von 
Heracles,  der  beim  Kampfe  mit  der  Lernäischen  Schlange  von 
dem  Krebse  gepackt  und  zurückgezogen  wurde,  den  deshalb  Hera 
in  das  himmlische  Sternbild  verwandelte.  Im  Pseudo-Cal- 
1  i  s  t  h  e  n  e  s  kehrt  Alexander  erschreckt  von  seiner  Fahrt  zur  Quelle 
der  Unsterblichkeit  um,  als  er  sieht,  dass  die  Krebse  seine  Schiffe 
zurück  in  das  Meer  ziebn.  Ebenda  finden  wir  einen  Krebs,  der 
sieben  kostbare  Edelsteine  enthält.  Alexander  hält  ihn  in  einem 
Gefasse,  das  in  einen  grossen  Käfig  eingeschlossen  ist,  an  einer 
eisernen  Kette;  ein  Fisch  zieht  den  Käfig  eine  Meile  zum  Meer; 
Alexander,  halbtodt  vor  Schreck,  dankt  den  Göttern  für  die 
Warnung,  rettet  sein  Leben  und  überzeugt  sich,  dass  es  nicht 
opportun  ist,  Unmögliches  zu  unternehmen.  In  der  siebenten  Er- 
zählung des  ersten  Buches  des  Pa^eatantra  erschreckt  dagegen 
der  alte  Kranich  den  Krebs  und  die  Fische  durch  die  Androhung 


612 

eines  Besnches  der  Oötter  in  dem  Wagen  Rohinls^  des  rothen 
Weibes  des  Ltinus,  d.  h.  im  Sternbilde  des  Wagens  oder  der  Stiere 
(dem  yieiien  Lanfe  des  Mondes),  infolge  dessen  der  Regen  zu 
fallen  aufhören,  der  Teich  austrocknen,  und  Krebse  und  Fische 
sterben  würden;  die  Fische  lassen  sich  von  dem  Kranich  täuschen, 
der  sie  auf  dem  Wege  auffrisst;  der  Krebs  dagegen  merkt  auf 
der  Hälfte  des  Weges  den  Betrug  des  Kranichs,  tödtet  ihn  und 
kehrt  in  den  Teich  zurück.  Prof.  Benfey  hat  eine  Variation  dieser 
Erzählung  in  den  buddhistischen  heiligen  und  historischen  Werken 
Ceylons  gefunden.  In  den  äsopischen  Fabeln  tödtet  der  Krebs 
die  Schlange.  Pancatantra  I,  20  verursacht  der  Krebs  zu 
gleicher  Zeit  den  Tod  der  Schlange  und  des  Kranichs  durch  das 
Ichneumon;  der  Krebs,  welcher  ein  Bischen  rückwärts,  ]und  dann 
wieder  ein  Bischen  vorwärts  geht,  verursacht,  in  den  Himmel  ver- 
setzt, bald  den  Tod  des  Sonnenhelden  und  bald  den  des  Unge- 
heuers, bald  befreit  er  den  Sonnenhelden  von  dem  Ungeheuer  und 
bald  zieht  er  ihn  ins  Wasser;  Pancatantra  V,  15  nimmt  sich 
der  junge  Held  Brahmadatta  den  Krebs  zum  Reisegefährten ;  dieser 
tödtet  die  Schlange,  welche  den  Helden  tödten  will,  als  er  in  dem 
Schatten  eines  Baumes  schläft  Dieser  mythische  Krebs,  dieses 
rothe  Thier,  welches  die  Schlange  tödtet,  ist  bisweilen  die  Sonne, 
lässt  sich  jedoch  vielleicht  noch  öfter  mit  dem  gehörnten  Monde 
vergleichen,  welcher  zunimmt  und  abnimmt,  und  den  im  Schatten 
der  Nacht  und  des  Winters  schlafenden  Sonnenhelden  vor  der 
schwarzen  Schlange  rettet,  die  seinen  Schlaf  zu  einem  ewigen 
machen  will;  Brahmadatta  erkennt  beim  Erwachen  den  Krebs 
als  seinen  Retter.  So  sahen  wir  schon  mehr  als  ein  Mal  den 
Mond  in  mehren  Gestalten  als  Retter  des  Sonnenhelden  (resp. 
-heldin)  betrachet.  Wenn  die  Sonne  am  Abend  im  Westen  herab- 
sinkt, so  muss  sie  nothwendig  wie  der  Krebs  rückwärts,  gehen, 
um  am  Morgen  auf  derselben  östlichen  Seite,,  von  der  sie  kam, 
wiederzuerscheinen ;  wenn  die  Sonne  rückwärts  geht  und  die  Tage 
kürzer  werden,  nach  der  Sommersonnenwende,  so  lenkt  auch  der 
Krebs  im  Thierkreise  seine  Schritte  zurück.  Wenn  die  Sonne 
rückwärts  geht,  regiert  der  Mond  entweder  die  Finstemiss  der 
kalten  Nacht,  oder  bringt  im  Herbst  den  Herbstregen ;  die  Hörner 
des  Mondes  und  die  des  Krebses  dienen  bald  dazu,  den  Helden 
in  die  Wasser  zu  ziehn  (am  Abend  und  nach  der  Junisonnen- 
wende), bald  ihn  aus  den  Wassern  zu  ziehn  (gegen  Dämmerung 
und  gegen  Frühling).  Die  Sonne  wird  bald  dargestellt  als  in  den 
Mond  verwandelt,  und  bald  als  vom  Monde  getäuscht  oder  gerettet. 


^T 


613 

Die  Sonne,  welche  ihre  Schritte  zurUcklenkt,  ist  ein  Krebs;  der 
Mond,  der  zurückzieht  oder  herauszieht,  ist  ebenfalls  ein  Krebs 
und  scheint  in  dieser  Beziehung  dieselbe  Stelle  einzunehmen  wie 
der  Seeigel  mit  hundert  Rudern  oder  der  Delphin  mit  der  sensenför- 
migen  Flossfeder,  welcher  den  Wagen  des  Sonnenhelden  oder 
diesen  selbst  zieht  In  der  Krilofischen  Fabel  zieht  der  ELrebs 
den  Wagen  mit  dem  Hecht  und  dem  Reiher  (der  letztere  nimmt 
hier  die  Stelle  des  Kranichs  ein,  den  wir  oben  in  Verbindung  mit 
dem  Krebse  sahen  und  welcher  im  Sanskrit  auch  karkata,  wie 
der  Krebs  genannt  wird).  Bekanntlich  erhielt  der  Seekrebs,  P  a  - 
linurus  vulgaris  seinen  Namen  von  dem  Steuermann  Palinurus, 
der  in  das  Meer  fiel.  Bei  Afanassieff  I,  14  zwicken  und  er- 
wecken dadurch  die  Krebse  den  jungen  Helden  Theodor  (Gottes- 
gabe; ein  Aequivalent  von  Brahmadatta,  Gabe  des  Gottes  Brahman), 
den  die  Hexe  eingeschläfert  hatte ;  sie  sind  dem  Helden  dankbar, 
weil  er  den  Kaviar,  um  den  sich  die  Krebse  stritten,  zu  gleichen 
Theilen  unter  ihnen  vertheilt  hatte. 

Wir  sahen  die  Herausforderung  zu  einem  Wettlauf  zwischen 
dem  Hasen  und  der  Heuschrecke;  beide  scheinen  zu  verlieren. 
Darnach  sahen  wir  die  Herausforderung  zu  einem  Wettkampf  im 
Fliegen  zwischen  dem  Adler  und  dem  Zaunkönig  oder  dem  Käfer, 
in  welchem  das  Thier,  welches  das  Symbol  des  Mondes  ist,  ge- 
winnt. So  finden  wir  auch,  da  dem  Frühling  der  Juni  oder  der 
Monat  des  Krebses  folgt,  bei  Afanassieff  IV,  5  einen  Wettlauf 
zwischen  4em  Fuchs  (der  wie  die  Dämmerungen  des  Tages,  so 
auch  die  Tag-  und  Nachtgleichen  des  Jahres  darstellt)  und  dem 
Krebs  *  (bekanntlich  wurde  der  Krebs,  Palinurus  vulgaris,  von 
den  Römern  auch  locusta  genannt).  Der  Krebs  heftet  sich  an  den 
Schwanz  des  Fuchses;  als  dieser  am  Ziele  ankommt,  wendet  er 
sich  um,  um  zu  sehen,  wie  weit  entfernt  sein  Gegner  noch  ist; 
doch  dieser  lässt  den  Schwanz  des  Fuchses  fahren,  setzt  sich 
ruhig  hin  und  bemerkt  ganz  kaltblütig,  dass  er  schon  längere 
Zeit  warte. 


'  Liebrecht  in  der  Academy  bemerkt  hierzu,  dasä  dieses  rassische 
Mährcheti,  in  welchem  der  Krebs  den  Fuchs  im  Wettlauf  durch  eine  List 
schlägt,  in  mannigfachen  Gestaltungen  wiederkehrt  im  atten  Griechenland 
(Aesop  ed.  Koraes,  No.  287),  in  Armenien  (Vartan  No.  8),  in  Arabien 
(Locmau  No.  20),  in  Siam  (vgl.  Bastian  in  Benfejs  Orient  und  Occi- 
dent III,  497)  und  in  Ceylon  (Steele's  Kusa  Jatakaya  p.  257).  -  Ueber 
das  Auftreten  indogermanischer  Thierfabeln  bei  den  Arabern  vgl.  das 
Seite  427  Bemerkte. 


614 

Im  ersten  ehstnischen  Mährchen  verhandelt  sich  der  jnnge 
Prinz  anf  den  Rath  des  Adlers  in  einen  Krebs  nnd  befreit  das  in 
eine  Teichrose  verwandelte  schöne  Mädchen;  das  seine  ursprüng- 
liche Gestalt  wieder  erhält,  nachdem  der  Prinz  gesagt  hat:  „Aus 
der  Teichrose  die  Jungfrau,  aus  dem  Krebs  der  Mann."  ^ 

Wir  sahen  schon  die  Nachtigall  nnd  den  Hirsch  als  Bilder  des 
Mondes  j  hier  finden  wir  auch  einen  Krebs  als  lunare  Gestalt.  Der 
Mond  ist  der  Wächter  der  Nacht ;  entweder  schläft  er  mit  offenen 
Augen  wie  der  Hase,  oder  er  ist  wachsam  wie  der  Hirsch ,  oder 
er  rechtfertigt,  als  Nachtigall,  das  griechische  Sprichwort  von  den 
Wächtern,  welche  weniger  als  die  Nachtigallen  schlafen  (ovS" 
oaov  di^oveg  vTtvoavoiv),  oder  er  weckt ,  als  Krebs,  mit  seinen 
Zangen  die,  welche  eingeschlafen  und  von  Gefahr  bedroht  sind.  ^ 
Bei  Plinins  finden  wir  die  Nachtigall;  den  Hirsch  und  den  Krebs 
in  Eintracht;  er  belehrt  uns,  dass  Krebsaugen  mit  Nachtigallen- 
fleisch zusammen  in  ein  Hirschleder  eingebunden  nützlich  sind, 
Einen  wach  zu  erhalten.  Der  Mond  wacht  in  der  That  nicht 
allein  selbst,  sondern  lässt  auch  die  Menschen  wachen,  oder  sie 
wenigstens  die  Schlafenszeit  aufschieben ;  femer  kennen  wir  schon 
die  Aufregung,  in  welche  sein  Erscheinen  die  Wachtel  versetzt, 
welche  nicht  schlafen  kann,  wenn  der  Mond  am  Himmel  steht 
Plinius  empfiehlt  auch  den  Flusskrebs,  in  Stücke  zerschnitten  und 
getrunken,  als  Mittel  gegen  jedes  Gift,  doch  besonders  gegen  das 
der  Kröte.  In  der  Hist.  Miracul.  Heisterbac.  lesen  wir  von 
einem  Manne  Namens  Theodorich,  mit  dem  Beinamen  Cancer,  den 
der  Teufel  in  Gestalt  einer  Kröte  verfolgte;  er  tödtet  die  diabo- 
lische Kröte  mehr  denn  ein  Mal^  doch  immer  erhebt  sie  sich 
wieder;  da  fasst  Cancer,  der  den  Teufel  erkennt,  einen  herioschen 
Entschluss,  entblösst  einen  von  seinen  Schenkeln  und  lässt  sich 
beissen;  der  Schenkel  entzündet  sich,  wird  jedoch  endlich  geheilt; 
seit  jenem  Tage  aber  ist  und  bleibt  Cancer  ein  heiliger  Mann. 
Deutscher  Aberglaube  verbindet  sich  mit  griechisch-römischem  in 
der  Betrachtung  des  Krebses  als  eines  Feindes  des  Ungeheuers; 


'  Vgl.  Seite  117  f. 

*  Wir  wissen,  dass  Luchsaugen  so  viel  als  sehr  scharfe  Augen  be- 
deuten; alte  Aerzte  empfehlen  gegen  den  Stein  oder  den  Blasengries  bald 
das  iTncurium,  den  Stein,  welcher  aus  dem  Urin  der  Luchse  entstanden 
sein  sollte,  und  bald  Krebsaugen.  Der  Mond  lerstört  mit  seinem  Licht 
den  Steinhimmel,  den  Nachthimmel;  deshalb  werden  Krebsaugen  gegen 
die  Steinkrankheit  empfohlen.  Wenn  der  Mond  nicht  am  Nachthimmel 
steht,  so  ist  der  Stein  da. 


i 


615 

wie  wir  jedoch  im  griechiBch-römiscbeii  Glauben  neben  dem  Krebse, 
welcher  erweckt ,  auch  den  Krebs  sahen^  der  den  Sonnenhelden 
zu  vernichten  sucht;  so  findet  in  dem  deutschen  Mythus  der  Tod 
des  Sonnen-  und  Tageshelden  Baidur  statt,  als  die  Sonne  in  das 
Zeichen  des  Krebses  eintritt 


616 


KAPITEL  lU. 
Die   SohildkrSte. 

Von  den  drei  Hauptbezeicbnungen  der  Schildkröte  im  Indischen, 
kürma,  kacchapa  und  ka^yapa;  scheint  ganz  besonders  die 
dritte,  in  Verbindung  mit  der  zweiten  für  die  Geschichte  der 
Mythen  von  Bedeutung  zu  sein.  Der  Ausdruck  kürma  ist  das 
gewöhnlich  gebrauchte  Wort  zur  Bezeichnung  der  wirklichen 
Schildkröte,  während  der  Ausdruck  kafyapa  mythischen  Zwei- 
deutigkeiten die  Entstehung  gab,  welche  beachtet  zu  werden 
verdienen. 

Wir  wissen  von  der  berühmten  Inkarnation  Vishnus  als  Schild- 
kröte, von  welcher  das  Kürma-Puräna  handelt.  Das  Problem 
war,  den  Ocean  von  Milch  aufzurühren,  um  Ambrosia  zu  machen ; 
das  Meer  hatte  keinen  Grund,  da  die  Erde  bis  dahin  noch  nicht 
existirte;  die  Wasser  des  Oceans  aufzurühren,  war  Etwas  von 
colossaler  Grösse  nöthig ;  die  Götter  nahmen  ihre  Zuflucht  zu  dem 
mandara,  welcher  zu  diesem  Zweck  gemacht  wurde,  als  dem 
König  der  Ruthen,  k  a  g  a  p  a ;  die  Götter  und  die  Dämonen  schütteln 
die  Ruthe  und  die  Ambrosia  kommt  heraus;  nicht  sobald  war  die 
Ambrosia  producirt,  als  die  Welt  der  belebten  Wepen  geschafien 
zu  werden  begann.  Der  Charakter  dieser  Kosmogonie  ist  wider- 
natürlich phallisch;  der  weisse  Schaum  des  Meeres  (entstanden 
aus  den  Zeugungstheilen  des  von  seinem  Sohne  Kronos  kastrirten 
Uranos),  aus  dem  Aphrodite  ersteht,  und  die  kosmische  Ambrosia 
sind  nichts  Anderes  als  das  zeugende  Sperma.  In  einer  späteren 
Periode  sah  man  in  dem  mandara  einen  Berg;  die  Worte  ka^apa 
und  kacchapa  (in  der  Folge  zu  kagyapa  umgebildet)  wurden 
verwechselt,  und  der  König  der  Ruthen  oder  der  Phallus  par 
excellence  wurde  eine  Schildkröte.  Der  mandara  (von  der  rad. 
mad,  mand,  trunken  machen,  froh  machen)  kann  jedoch  auch 
den  bezeichnen,  der  froh  macht,  den  Erreger,  Aufrührer;  wie  jedoch 
von  mad  das  Wort  m  a  t  s  y  a  kommt,  der  bald  betrunkene,  bald 
dumme  Fisch,  so  bedeutet  auch  das  Wort  mandara  eigentlich: 
träge  Und  gross,  und  hängt  eng  mit  manda  zusammen,  das  neben 
träge,  langsam,  schwach,  auch  betrunken  bedeutet,  mit  mandaka, 
närrisch,   dumm,  und  mit  mandana,  lustig;    und  so  können  wir 


L 


^    617 

yerstehen,  wie  sieb  in  dem  himmliseben  Paradiese,  in  dem  man- 
dana  oder  Erfreuenden,  der  ßanm  mandara,  der  Berauschende, 
befand.  Scbliesslich  bangt  es  mit  mantbana,  Erreger,  zusammen, 
und  ist  identiscb  mit  manthara,  das  ebenfalls  Erreger,  langsam, 
faul  bedeutet.  Docb  giebt  es  nocb  eine  andere  Analogie,  welche 
uns  das  Verständniss  das  populären  Doppelsinnes  von  ka^apa 
er8chlie«st,  das  mit  kaechapa  verwechselt  und  später  ka^yapa  oder 
Schildkröte  wurde,  nämlich  die  Analogie  von  kürma.  Als  der 
mandara  oder  mantbara  als  ein  Erzeuger  von  Ambrosia  aufgefasst 
wurde,  identificirte  man  bald  den  mantbara  selbst  (den  Langsamen, 
den  Späten,  den  Gekrümmten)  mit  der  Schildkröte;  und  wirklich 
1st  mantbara  der  Name,  den  eine  Schildkröte  im  Hitopa- 
de^a  fuhrt  und  mantharaka  der  einer  anderen  im  Soma- 
deva  und  im  Pancatantra.  Einfach  als  die  Faule  und  die 
GekrtUnmte  betrachtet,  verband  sich  sehr  natürlich  der  Begriff 
der  Schildkröte  in  der  Vorstellung  mit  diesem  Namen;  der  pri- 
mitive Mythus  wurde  verwickelt,  und  der  mandara  und  der  ka^apa, 
welche  ursprünglich  identisch  waren,  wurden  am  Ende  von 
einander  unterschieden ;  die  Wörter  verloren  im  Laufe  der  Zeit 
ihre  ursprüngliche  Bedeutung;  der  mandara  (als  der  Langsame) 
wurde  ein  Berg  (der  sich  nicht  bewegt),  und  der  kagapa  eine 
Schildkröte,  welche  den  Berg  trägt,  ungeheuer  breit,  schwer  und 
faul.  Wie  es  in  der  Mythologie  oft  vorkommt,  dass  zwei  ver- 
schiedene Persönlichkeiten  aus  zwei  Namen  hervorgehen,  die  zuerst 
auf  dasselbe  mythische  Object  oder  Wesen  angewendet  wurden, 
und  da  beide  Wörter  etwas  Schweres  bezeichnen,  so  stellte  man 
sich  vor,  dass  der  eine  schwere  Gegenstand  den  anderen  trüge, 
und  dass  die  schwere  Schildkröte,  in  welche  sich  der  Gott  Vishnu 
verwandelte,  den  schweren  Berg  hielte,  welchen  sein  (VishnusJ 
alter  ego,  Indra,  auf  ihn  gelegt  hätte.  Da  die  Begriffe  schwer 
und  gekrümmt  beide  sowohl  in  ka^apa  als  in  mandara  liegen, 
so  schickt  sich  die  Schildkröte,  als  kürma,  ganz  trefflich  zum 
Amte  eines  Trägers,  eine  {Behauptung,  die  ich  aufzustellen  wage, 
sofern  ich  in  kür-ma  dieselbe  Wurzel  wiedererkennen  zu  dürfen 
glaube,  welche  im  sanskritischen  guru,  feni.  gurvi,  Superlat. 
garisbtha  (lat.  gravis,  ans  garvis)  und  im  lateinischen  cur- 
V  u  s  erscheint.  * 

Was    die   Bezeichnung  kaechapa  anlangt,    auf  welche   das 
indische   Epitheton    der   Schildkröte  ka^yapa    zuiückzuführen 


*  Vgl.  die  Sanskrit  wurzeln  kar,  kur,  gur,  gür. 


618  - 

sein  dürfte,  so  bedeutet  sie  eigentlich :  der  Herr,  der  Wächter  der 
Gestade,  der,  der  die  Gestade  einnimmt,  und  ist  eine  höchst 
glückliche  Bezeichnung  der  Schildkröte,  wie  auch  völlig  in  Ein- 
klang mit  dem,  was  in  der  in  Theil  I  Kap.  X  von  uns  er- 
zählten Sage  von  ihr  berichtet  wird.  Beide  Thiere  (der  Elephant 
und  die  Schildkröte,  Sonne  und  Mond)  frequentiren  die  Küsten 
desselben  Sees  und  haben  eine  heftige  Abneigung  gegen  einander, 
indem  sie  in  ihren  Thiergestalten  den  Streit  fortsetzen,  der  zwischen 
ihnen  bestand,  als  sie  zwei  Menschen,  und  zwar  zwei  Brüder 
waren.  Sie  ärgern  sich  gegenseitig  und  halten  so  in  der  mythischen 
Thierwelt  den  Streit  aufrecht,  der  zwischen  den  beiden  mythischen 
Brüdern  besteht,  welche  mit  einander  i^m  das  Reich  des  Himmels 
kämpfen,  sei  es  in  der  Gestalt  der  Dämmerungen  oder  der  Tag- 
und  Nachtgleichen',  oder  von  Sonne  und  Mond,  oder  von  Däm- 
merung und  Sonne,  oder  von  Dämmerung  und  Mond,  je  nach 
einer  der  mannigfaltigen  Deutungen,  welche  sich  sämmtlich  mit 
derselben  Berechtigung  und  Wahrscheinlichkeit  dem  Mythus  von 
den  AQvins  geben  lassen,  je  nach  ihrem  Auftreten  unter  Himmels- 
erscheinungen,  die,  obwohl  verscbieden,  trotzalledem  eine  grosse 
Aehnlichkeit  haben.  In  diesem  seltsamen  mythischen  Kampfe 
zwischen  der  Schildkröte  und  dem  Elephanten,  dem  der  Vogel 
Garuda  ein  Ende  macht,  welcher  beide  in  die  Lüfte  trägt,  um 
sie  zu  verschlingen,  scheinen  jedoch  die  Schildkröte  und  der  Ele- 
phant im  Besonderen  die  beiden  Dämmerungen  des  Tages  und 
die  des  Jahres  zu  personificiren,  d.  h.  die  Tag-  und  Nachtgleichen 
oder  die  Sonne  und  den  Mond  in  der  Dämmerungstunde,  die 
Sonne  und  den  Mond  am  Tage  der  Tag-  und  Nachtgleiche,  an 
den  Ufern  des  grossen  himmlischen  Sees. 

In  der  Erzählung  von  der  Schildkröte  und  dem  Elephanten, 
die  von  dem  Vogel  Vishnus  in  die  Lüfte  getragen  werden,  im 
Mahäbhärata,  ^  kommt  noch  ein  anderer  interessanter  Umstand 
vor,  welcher  die  kosmische  Deutung  des  Mythus  von  der  Schild- 
kröte, die  ich  eben  gab,  bestätigt.  Der  göttliche  Kagyapa  wird 
darin  erwähnt;  er  wünscht,  einen  Sohn  zu  haben  und  lässt  sich 
deshalb  bei  dem  Opfer,  das  zur  Erlangung  von  Kindern  dar- 
gebracht wird,  von  den  Göttern  dienen  (die  Götter  sind  es  ja, 
welche  den  mandara,  den  Erzeuger  von  Ambrosia,  sich  herum- 
bewegen lassen).  Der  phallische  Indra  trägt  auf  seinen  Schultern 
einen  Berg  Holz,  welcher  oflenbar  dem  mandara  oder  ka^apa 

'  I,  1353—1456. 


619 

entspricht;  und  beleidigt  auf  dem  Wege  die  aus  den  Haaren  des 
Leibes  Brahmans  geborenen  Zwerg-Einsiedler  ^  d.  h.  die  Haare 
selbst;  diesem  ka^yapa  wird  der  Name  Pra^äpati  oder  Herr  der 
Zeugung  gegeben.  Wir  treffen  hier  wieder  den  ungeheuren  Phal- 
lus, welcher  die  Ambrosia  hervorbringt  (oder  den  Soma,  welchem 
Savitar,  der  Erzeuger  und  der  Herr  der  Kreaturen  entspricht^) 
und  lebende  Wesen  in  der  Welt  erzeugt.  Ka^yapa,  als  der  Er- 
zeuger betrachtet,  wurde  deshalb  mit  den  Bewegungen  der  Sonne 
und  des  Mondes,  welche  ebenfalls  Erzeuger  sind  (als  Soma  und 
Savitar),  in  Beziehung  gesetzt ;  und  in  Anbetracht  dessen  erscheint 
ka^yapa  auch  als  der  Befruchter  der  dreizehn  Töchter  Dakshas, 
welche  den  dreizehn  Monaten  des  Mondjahres  entsprechen  (Dak- 
sha^ä  ist  der  Name  eines  lunaren  Sternbildes  und  des  Weibes  eines 
phallischen  Qiva,  und  daksha^äpati  einer  von  den  indischen 
Namen  des  Mondes ;  Daksha  wird  auch  mit  Pra^äpati  identificirt ; 
deshalb  muss  sich  Ea^yapa,  wahrscheinlich  als  der  phallische 
Mond,  mit  seinen  eigenen  Töchtern  oder  mit  seinen  dreizehn 
Mondläufen  vereinigt  haben).  Von  den  dreizehn,  durch  Ea^yapa 
fruchtbar  gemachten  Weibern  wurde  Alles,  was  lebt,  geboren, 
Götter,  Dämonen,  Menschen  und  Thiere,  so  dass  in  der  Kosmo- 
gonie  des  mandara,  des  Ka^apa  und  dann  der  Schildkröte  der 
mandara,  so  oft  er  geschüttelt  wurde,  die  phallische  Ambrosia 
hervorbrachte,  von  welcher  alle  belebten  Dinge  spontan  gezeugt 
wurden. 

Doch  hatte  die  Schildkröte,  in  Verbindung  mit  dem  Monde 
genommen,  bisweilen  auch  eine  unheilvolle  Bedeutung.  Die  Seelen 
der  Todten  gehen  in  die  Welt  des  Mondes,  in  den  Himmel  der 
Nacht,  und  die  Seelen  der  Lebenden  steigen  aus  der  Welt  des 
Mondes,  d.  h.  aus  der  Nacht  herab;  Qiva,  der  Gott  des  Paradieses, 
wird  der  vernichtende  Gott;  Plutus  und  Pluto  werden  identificirt. 
So  glaube  ich  in  einer  Anmerkung  Prof.  Hang's  zu  dem  Aitareya- 
Br.  die  Schildkröte  erkennen  zu  dürfen,  als  im  Besonderen  den 
sterbenden  Mond,  den  verbrannten  Mond  darstellend,  welcher  das 
Feuer  des  Frühlings  zum  Grabe  hat,  um  dessen  Leichnam  sich 
auch  der  Mond  in  der  hier  gleichbedeutenden  Gestalt  eines 
Fisches  herumbewegt  (als  hari,  grün,  gelb)  und  welcher  selbst 
später  zum  Vorschein  kommt  Wir  wissen,  wie  Hari  oder  Vishnu, 
der  bald  die  Sonne  und  bald  den  Mond  (welche  zusammen,  wie 


'  Savitä  vai  pra8avänämi90.    A  it.  Br.  Vgl.  die  ErzähluDg  von  Qunal^- 
^pa;  er  erBchelnt  offenbar  als  eine  Gestaltung  Pragäpatis.  • 


« 


\ 


620 

Indra  und  Soma  rakshohanau  oder  Ungehcucrtödtcr  genanot  wur- 
den) darstellt,  bald  rait  der  Schildkröte,  bald  mit  dem  Vogel 
Garuda,  dem  Feinde  der  Schildkröte,  identificirt  ist.  Hier  ist  die 
Anmerkung  Prof.  Haug's:  „At  each  Atirätra  of  the  Gaväm  aya- 
nam  the  so-called  Ghayana  ceremony  takes  place.  This  coQsists 
in  the  construction  of  the  Uttara  Vedi  (the  northern  altar)  in  the 
shape  of  an  eagle.  About  1440  bricks  are  required  for  this 
structure,  each  being  coni^ecrated  with  a  separate  Yagnsmantra. 
This  altar  represents  the  universe.  A  tortoise  is  buried  alive  in 
it,  and  a  living  frog  carried  round  it  and  afterwards  turned  out." 
Ueber  das  Blut  einer  Schildkröte  als  Gegengift  gegen  das  Gilt 
einer  Kröte  ist  schon  oben  gesprochen  worden.  Die  Schildkröte 
findet  sich  auch  in  Verbindung  mit  Fröschen  in  einer  Fabel  des 
Abstemius ;  die  Schildkröte  beneidet  die  Frösche,  welche  sich  sehr 
schnell  bewegen  können,  hört  jedoch  auf,"  sich  zu  beklagen,  als 
sie  dieselben  die- Beute  des  Aales  werden  sieht. 

Einer  von  den  zehn  Sternen  des  Sternbildes  der  Schildkröte, 
das  im  nördlichen  Himmel  gelegen  ist  —  d.  h.  in  dem  wolkigen 
und  finsteren,  besonders  von  dem  Monde  regierten  Herbsthimmel 
—  wurde  von  den  Griechen  IvQa  genannt,  und  es  wurde  gefabelt, 
dass  die  Schildkröte,  aus  welcher  Hermes  die  Lyra  gemacht  hatte, 
in  dieses  Sternbild  verwandelt  worden  wäre.  Ich  mache  hier 
auch  auf  die  deutsche  Bezeiclmung  Schildkröte  aufmerksam, 
wie  darauf,  dass  die  Koribanten  ihre  geräuschvolle  Musik  und 
ihre  pyrrhischen  Tänze  mit  Pauken  und  Waffenlärm  begleiteten, 
und  dass  die  Kureten,  um  dem  Kronos  die  Geburt  des  Zeus  zu 
verheimlichen ,  mit  ihren  Lanzen  gegen  die  Schilde  schlugen.  Es 
ist  interessant,  zu  beobachten,  dass  auch  im  Sanskrit  kaccha  der 
Name  der  kleinen  Schilder  der  Schildkröte,  kadchapa  ist;  dass 
kacchapt  der  terminus  für  das  Geräusch  der  donnernden  Sarasvati 
oder  des  Donners  ist,  und  dass  mehre  vedische  Dichter  Ka^yapa 
heissen.  Nach  dem  griechischen  Mythus  erhielt  die  Schildkröte 
von  Zeus  selbst  -  d.  h.  von  dem  Regengott,  dem  Gott  der  Wol- 
ken, dem  Gott  in  Verbindung  mit  den  Schildwolken,  welche  seine 
Geburt  verbargen,  wir  können  hinzufttgen,  von  dem  Gott  Schild- 
kröte —  die  Macht,  sich  unter  Schilden  zu  verbergen  und  ihr 
Haus  bei  sich  zu  tragen.  Die  Römer  pflegten  neugeborene  Kinder 
in  einer  Sckildkrötenschale  zu  baden,  wie  in  einem  Schilde.  Mau 
prophezeite  dem  Clodius  Albinus  die  Erreichung  souveräner  Macht, 
weil  bei  seiner  Geburt  einige  Fischer  seinem  Vater  eine  unge- 
heure Schildkröte    gebracht    hatten.     Die  Schildkröte    beschützt 


621 

ZeuS;  den  neugeborenen  Kriegsgott;  die  Schildkröte  macbi^  wegen 
ihrer  Schilder^  das  neugeborene  Kind  zum  Krieger  und  verkündet 
ihm  Herrschaft;  ein  vom  Himmel  gefallener  Schild  war  für  die 
Römer  ein  Vorzeichen  der  Siege,  welche  sie  als  kriegerisches 
Volk  erringen  sollten,  so  sagt  Ovid: 

„ .  .  .  Totam  jam  sol  emerserat  orbem  : 

Et  gravis  aetberio  venit  ab  axe  fragor. 
Ter  tonuit  sine  nahe  Deus,  tria  falgura  misit. 

Credite  dicenti:  mira  sed  acta  loquor. 
A  media  coelum  regione  dehiscere  coepit*. 

Submisere  oculos  cum  dace'turba  suo. 
Ecce  leri  scutum  versatum  leniter  aura 

Oeeidit:  a  popnlo  clamor  ad  astra  venit*' 

Unter  diesem  Aspekt  wird  die  Schildkröte  der  dunkle  Mond, 
im  Gegensatz  zum  glänzenden,  der  langsame  Mond,  im  Gegensatz 
zum  springenden;  sie  wird  der  Wintermond;  bisweilen  wird  sie 
auch  bald  die  Wolke,  bald  die  Erde,  bald  sogar  die  Dunkelheit 
(als  solche  erscheint  sie  dämonisch  in  einer  deutschen  Sage,  wo 
zwei  Teufel,  welche  die  Gestalt  von  Ungeheuern  Schildkröten  an- 
genommen hatten,  die  Grundsteinlegung  des  Mersebnrger  Domes 
hindern  wollen;  die  Schildkröten  werden  mit  dem  Bann  belegt 
und  ihre  Leiber  erschlagen;  zum  Andenken  daran  sollen  die 
Schalen  dieser  Schildkröten  in  der  Kirche  aufgehängt  sein;  auch 
im  14.  Fargard  des  Vendidad  sollen  die  Schildkröten  als  dä- 
monisch getödtet  werden).  Wir  sahen  Theil  I  Kapitel  I  den 
Hasen-Mond  von  dem  Kuhwagen  überfahren  und  zermalmt,  was 
uns  die  Vorstellung  weckte  von  der  Wolke,  welche  ttbar  den 
Mond  geht,  oder  auch  die  von  der  Verfinsterung  des  Mondes 
durch  die  Erde,  welche  im  Sanskrit  auch  Kuh  genannt  wird.  Im 
Sanskrit  wird  die  Erde,  welche  aus  den  Wassern  kommt  —  eine 
Insel,  ^    wie  der  Mond    und   die  Wolke  die  Inseln  des  Himmels 


'  Es  ist  interessant«  in  den  'A^ä'ib-ul-Mablükftt  (Wunder  der 
Schöpfung),  einem  arabischen  Werke  des  XIII.  Jahrhunderts,  eine  Steile 
zu  finden,  welche  in  der  Uebersetzung  Lane^s  folgendermassen  lautet: 
„The  tortoise  is  a  sea  and  land  animal.  As  to  the  sea  tortoise  it  is  very 
enormous,  so  that  the  people  of  the  ship  imagine  it  to  be  an  island.  One 
of  the  merchants  relates  as  follows  regarding  it:  ,We  found  in  the  sea  an 
island  elevated  above  the  water,  having  upon  it  green  plants,  and  we  went 
forth  to  it,  and  dug  [holes  for  fire]  to  cook;  whereupon  the  island  moved, 
and  the  sailors  said,  „Come  ye  to  your  place,  for  it  is  a  tortoise,  and  the 
heat  of  the  fire  hath  hurt  it,  lest  it  carry  you  away.^*  By  reason  of  the 
enormity  of  its  body  it  was  as  though  it  were  an  island,  and  earth  coUec- 


622 

sind  —  auch  kfirma,  d.  h.  Schildkröte  genannt  (eigentlich  die 
Gekrümmte^  die  Bucklig«,  die  Hervorstehende;  manthara  ist  ein 
Name  der  Schildkröte,  und  Manthara  ist  der  Name  des  buckligen 
Weibes,  das  im  Rämäyana  den  Bäraa  ins  Verderben  stürzt). 
Daher  haben  wir  auch  im  Westen  neben  den  Fabeln  von  dem 
springenden  Hasen  (dem  Monde)  und  der  Kuh,  von  der  springen- 
den Heuschrecke  (dem  Monde)  und  der  Ameise,  die  Fabel  von 
dem  Hasen  und  der  Schildkröte,  welche  um  die  Wette  rennen; 
der  tjlase,  der  sich  auf  seine  Schnelligkeit  verlässt,  schläft  ein 
und  verliert,  während  die  Schildkröte  durch  ihre  Ausdauer  siegt 
Wir  sahen  schon  die  Schildkröte  in  den  indischen  Sagen  als 
den  Nebenbuhler  des  Adlers  oder  des  Vishnuitischen  Vogels 
Garuda.  Die  beiden  werden  bald  identificirt,  bald  kämpfen  sie 
miteinander  (wir  müssen  uns  daran  erinnern,  dass  auf  den  Rath 
Ka^yapas  der  Vogel  Garuda  den  Schlangen  die  Ambrosia  raubte). 
In  Griechenland  war  das  Sprichwort  von  der  Schildkröte,  welche 
den  Adler  besiegt,  schon  verbreitet;  bald  ist  es  der  Adler,  der  die 
Schildkröte  in  die  Lüfte  trägt,  oder  vielmehr  sie  fliegen  machte 
bald  ist  es  dagegen  die  Schildkröte^  welche  trotz  des  Adlers 
zuerst  anlangt.  Es  ist  interessant,  hiemit  die  siamesische  Fabel 
zu  vergleichen,  welche  A.  Bastian  im  Orient  und  Ocident  ver- 
öffentlicht hat  und  welche  augenscheinlich  indischen  Ursprungs  ist. 
Der  Vogel  Khroth,  unzweifelhaft  der  indische  Garuda,  die  Sonne, 
will  eine  Schildkröte  verzehren  (hier  wahrscheinlich  der  Mond), 
welche  an  dem  Ufer  eines  Teiches  liegt.  Die  Schildkröte  willigt 
ein,  gegessen  zu  werden,  unter  der  Bedingung,  dass  der  Khruth, 
die  Herausforderung  zu  einer  Schnelligkeitsprobe  annimmt,  wer 
am  ehesten  an  das  andere  Ufer  gelangt,  der  Vogel  durch  die 
Luft,  die  Schildkröte  durch  das  Wasser.  Der  Vogel  Khruth  geht 
daraufein;  die  Schildkröte  stellt  nun  am  ganzen  Seeufer  ihre  Freunde 
auf,  rings  herum,  jede  ein  paar  Schritt  vom  Wasser;  darauf  giebt 
sie  dem  Vogel  das  Signal  zum  Fliegen.  Wo  sich  der  Khruth  auch 
immer  niederlassen  will,  überall  findet  er,  dass  die  Schildkröte 
schon  vor  ihm  da  ist  Vielleicht  stellt  dieser  Mythus  die  Be- 
ziehung der  Sonne  zu  den  Mondläufen  dar. 

ted  upon  its  back  Id  the  length  of  time,  so  that  it  became  like  land,  and 
produced  plantsV*  Offenbar  nimmt  hier  die  Schildkröte  dieselbe  Stelle 
ein,  wie  in  der  Volkssage  der  lunare  Wallfisch  (vgl.  Kap.  I).  Vgl.  Lane, 
The  Thousand  and  One  Nights,  London  1841,  vol.  Ilf,  chap.  XX 
n.  1  und  8,  p.  80  fi.  —  Grein,  Bibliothek  der  angelsächsischen 
Poesie  (Gott.  1857)  1,  235. 


623 


KAPITEL  IV. 
Der  Frosch)  die  grrline  Eidechse  und  die  KrQte. 

So  leid  es  mir  thut,  kann  ich  doch  nicht  vollständig  der  Mei- 
nung des  berühmten  Prof.  Max  Mtiller  beistimmen  y  wenn .  er  zu 
der  Uebersetzung  eines  Hymnus  des  Rigveda  in  seiner  „His- 
tory of  Ancient  Sanskrit  Literature"  bemerkt:  „Der  103. 
Hymnus  des  siebenten  Mandala^  welcher  ein  Lobgedicht  auf  die 
Frösche  heisst,  ist  offenbar  eine  Satire  gegen  die  Priester.'*  Es 
ist  möglich,  dass  man  in  einer  späteren  Periode  zur  Verspottung 
einer  der  der  mänddkas  ähnlichen  Brahmanenschule  diesem  Hym- 
nus einen  satirischen  Sinn  unterlegte,  doch  scheint  mir  das  durch- 
aus nicht  in  der  Intention  des  yedischen  Dichters  gelegen  zu 
haben.  Prof.  Mttller  hat  selbst  in  seiner  „History*'  klärlich  ge- 
zeigt, wie  die  yedischen  Hymnen  in  den  Händen  der  Brahmanen 
gelitten  haben,  durch  eine  höchst  willkührliche  Interpretation ;  die 
interessante  Geschichte  von  dem  hypothetischen  Gotte  Kas  ist  ein 
schlagender  Beweis  dafür;  es  ist  also  möglich  und  sogar  wahr- 
scheinlich, dass  man  Versuche  machte,  diesen  yedischen  Hymnus 
als  Mittel  der  Satire  zu  benutzen,  doch  lässt  sich,  wenn  ich  mich 
nicht  täusche,  in  dem  Hymnus  selbst  keine  Spur  einer  satirischen 
Bedeutung  finden.  Vor  Allem  muss  ich  bemerken,  dass  die  Anu- 
kramanikä  des  Rigveda  den  Hymnus  eigentlich  nur  par^anya- 
stuti,  oder  Hymnus  zu  Ehren  Par^anyas,  den  Gewitterhymnus 
nennt;  zweitens  scheint  es  wenig  glaublich,  dass  ein  satirischer 
Hymnus,  der  auf  die  Carikirung  der  Priester  zielte,  in  das  siebente 
Buch  aufgenommen  sein  sollte,  welches  dem  Vasishta,  dem 
frömmsten  aller  sagenhaften  Brahmanen,  zugeschrieben  wird,  ihm, 
der  zum  Ruhme  des  Brahmanismus  und  der  Rechte  der  Priester- 
kaste einen  so  langen  und  unglücklichen  Krieg  gegen  Vifvämitra, 
den  Kämpen  der  Kriegerkaste,  führte ;  wenn  sich  also  ein  satiri- 
rischer Hymnus  gegen  die  Priester  in  dem  dem  weisen  Vi^vämitra 
zugeschriebenen  dritten  Buche  des  Rigveda  befunden  hätte,  so 
würde  ich  darin  nichts  Befremdendes  gesehn  haben,  während 
er  unter  den  von  Vasishta  geschriebenen  Hymnen  entschieden  am 
unrechten  Orte  sein  würde.  Mir  scheint  vielmehr  der  Hymnus, 
wenn  er  von  Fröschen  spricht,  nicht  auf  die  Frösche  der  Erde 


624 

sondern  auf  die  Wolken,  die  Wolken-Frösche  anzuspielen,  welche 
von  dem  regnerischen  Monde  angezogen  werden,  wenn  der  Sturm 
seine  Höhe  erreicht.  Wir  wissen,  dass  im  ttigveda  die  Weiber 
der  Götter  Hymnen  zu  Ehren  des  blitzenden  und  donnernden 
Gottes  Indra  weben,  welcher  das  Sehlangenungeheuer  getödtet 
hatte ;  das  die  Wasser  der  himmlischen  Wolke  zurückhielt;  wir 
hörten  ja  auch  in  Theil  I  Kapitel  I .  die  Kühe  freudig  brilllen  vor 
ihrem  Befreier  Indra,  welcher  seinen  Samen  auf  sie  tropfen  lässt, 
sobald  mt  aus  der  Hoble,  in  der  sie  eingeschlossen  waren,  befreit 
sind.  Die  Hymnen  10  i  und  102  des  siebenten  Buches  sind  zu 
Ehren  Indras  wie  Par^anyas  gesungen;  der  Hymnus  103  ist 
ebenfalls  ihm  zu  Ehren  gesungen,  jedoch  von  den  Wolken  des 
Himmels  selbst,  von  den  himmlischen  Fröschen,  da  der  Frosch, 
welcher  quakt,  an  den  Himmel  versetzt,  nichts  Anderes  ist  als  die 
donnernde  Wolke;  in  der  That  hat  im  Sanskrit  das  Wort  bfteka, 
welches  Frosch  bedeutet,  auch  die  Bedeutung  Wolke.  Wir  sahen, 
dass  der  Kuckuk ,  der  im  Frühling  singt  und  die  Landleute  er- 
mahnt, an  die  Arbeit  zu  gehen,  den  Donner  in  der  Wolke  per- 
sonificirt;  der  Frosch  hat  dasselbe  Amt;  er  kündet,  gleich  dem 
Donner,  das  nahende  Gewitter  an ;  mit  den  ersten  Donnerscblttgen 
meldet  sich  aber  der  Sommer,  und  so  verkündet  besonders  der 
quakende,  der  singende  Frosch  den  Sommer.  Ich  erinnere  mich, 
dass  noch  vor  wenigen  Jahren  in  Turin  die  Kinder  in  der  Hei- 
ligen Woche,  um  das  nahende  Fest  der  Auferstehung  Christi  zu 
begrüssen,  welcher  unter  Blitzeszucken  und  Donnerschlägen  starb, 
ein  hölzernes  Instrument  bliesen,  das  ein  scharfes  Gequiek  hören 
Hess,  ähnlich  dem  Quaken  eines  Frosches  und  das  deshalb  canta- 
rana  (der  Frosch  singt)  hiess.  Nach  Plinius  sterben  die  Frösche 
im  Winter  und  werden  im  Frühling  wiedergeboren;  wenn  die 
Frösche  einen  König  haben  wollen,  und  in  der  griechischen  Fabel  * 
eine  Schlange,  in  der  Kriloffschen  Fabel  einen  Reiher  ei^alten, 
so  symbolisiren  die  Schlange  und  der  Reiher  die  Herbst-  und 
Winterszeit.  Indra,  Zeus  und  Christus  werden  geboren  und 
wiedergeboren  unter  dem  G^äusch  von  musikalischen  Instru- 
menten, Schilden,  Waffen,  Winden  und  Donner,  unter  dem  Brül* 
len  der  Kühe,  dem  Meckern  der  Ziegen,  dem  Schreien  der  Esel, 


'  Vgl.  Fand.  iV,  1,  wo  der  König  der  Frösche  eine  schwarze  ächlango 
um  Hilfe  anruft,  uro  sich  an  gewissen  Fröschen  zu  rächen,  welche  seine 
Feinde  sind,  statt  dessen  aber  alle  Frösche  und  seinen  eigenen  Sohn  iu 
den  Tod  sturst. 


625 

and  dem  Quaken  der  FrOsche,  welche  Aristophanes  em  q>vli^d6v 
yivog  nennt.  Im  103.  Hymnus  des  7.  Buches  des  Bigveda 
brüllt  ein  mandüka  (Frosch  oder  Wolke)  me  eine  Kuh 
(gomäyu);  ein  anderer  wie  eine  Ziege  (agamäyu);  einer  ist  pri^ni 
oder  gefleckt;  ein  anderer  harita  oder  schönhaarig;  golden ,  roth 
(die  Wolke,  die  von  dem  Blitz  und  der  Gewalt  des  Windes  ge- 
boren ist),  und,  als  Frosch,  grün  oder  gelb;  wird  der  manddka 
oder  Frosch  an  den  Himmel  versetzt,  oder,  als  gomäyu,  mit  der 
Kuh  identificirt,  so  ist  es  kein  Wunder,  dass  in  der  Fabel  der 
Frosch  sich  einbildet,  sich  zu  der  Grösse  eines  Ochsen  aufblasen 
zu  können ;  sobald  jedoch  die  kleine  Wolke  eine  grosse  geworden 
ist,  birst  sie  schliesslich,  und  ebenso  geht  es  dem  Frosch  bei  sei- 
nem Versuch,  sich  auszudehnen  und  so  gross  wie  der  Ochse  zu 
werden.  (In  dem  18.  ehstnischen  Mährchen  finden  wir  ein  Un- 
geheuer, welches  einen  Körper  hat  wie  ein  Ochse,  und  Fttsse  wie 
ein  Frosch,)  Wenn  Indra  und  Zeus  ihre  Arbeit  in  der  himm- 
lischen Wolke  gethau  haben,  wenn  die  Wolke  zerstreut  ist,  wenn 
die  Frösche  von  Wasser  betrunken  sind,  hören  sie  auf,  zu  qua- 
ken; so  stellen  sie  in  den  Fröschen  des  Aristophanes  ihr  Gequak 
ein,  als  Dionysos  (o  Nvaalog)  den  stygischen  Sumpf  passirt  hat; 
als  dagegen  Zeus  die  Erde  mit  Wasser  überfluthet,  ziehen  sie  sich 
(Jiog  g>€vyovteg  ofißQov)  in  die  Tiefen  der  Wasser  zurück,  um  im 
Chorus  zu  tanzen  (wie  die  Apsarasen).  Sie  quaken  unaufhörlich, 
bevor  der  Regengott  ihren  Wünschen  genügt,  bevor  es  regnet 
der  Donner  lässt  sich  immer  vor  dem  Begen  und  beim  Ausbruch 
des  Gewitters  hören;  daher  wird  im  Rigveda  selbst  Indu  (der 
Mond)  als  Begenbringer  (oder  der  Regen  selbst)  angefleht)  zu 
eilen  und  pit  Indra,  dem  Regengott,  über  die  Befriedigung  des 
Wunsches  der  Frösche  zu  verhandeln.  ^  Hier  ist  es  also  speciell 
Indu ,  welcher  dem  Verlangen  der  Frösche  nach  Regen  genugthut. 
Indu  als  Mond  bringt  oder  verkündet  den  Soma,  den  Regen ;  und 
in  diesem  Punkte  wird  der  Frosch,  den  wir  zuerst  mit  der  Wolke 
identificirten,  auch  mit  dem  regnerischen  Monde  identificirt  Ein 
anderes  Charakteristikum  des  Frosches  machte  diese  Identificirung 
noch  natürlicher,  nämlich  seine  grüne  Farbe  (harit).  Harit 
(d.  h.  grün  sowohl  al»  gelb)  bezeichnete  im  Sanskrit  den  gelben 
Mond,  den  grünen  Papagei  und  —  den  Frosch.  Als  diese  Iden- 
tification bewerkstelligt  war,  konnten  die  Griechen  von  dem  Frosch 
von  der  Insel  Seriphos  (ßdrQaxog  leqitpiog)  fabeln,  welcher  stumm 


*  Vftr  in  mandüka  idhatindrayendo  pari  srava;  ^ig^*  1^?  1^^' 
QubenuUls,  die  Thtare.  ^ 


626 

war;  so  lesen  wir  in  den  Vitae  des  St.  Regnlas  und  des  St. 
Benno ,  dass  diese  beiden  Heiligen  y  als  sie  bei  der  Predigt  durch 
das  Quaken  der  Frösche  gestört  wurden,  diesen  Schweigen  befah- 
len, worauf  auch  wirklich  die  Frösche  für  immer  verstummten. 
In  Wahrheit,  die  Frösche  schweigen  (sterben  sogar,  nach  Plinius) 
im  Winter,  der  unter  dem  besonderen  Regimente  des  schweigen- 
den Mondes  steht;  der  Frosch  und  der  Mond  werden  miteinander 
vertauscht.  Bei  Ovid  wird  der  Frosch  in  den  Mythus  von  Pro- 
serpina, d.  h.  den  Mondmythus  hineingezogen;  mehre  Bauern  Ly- 
ciens  nahmen  nämlich  Froschgestalt  an,  weil  sie  das  Wasser,  aus 
welchem  Ceres  und  Proserpina  trinken  wollten,  trübten;  ihr  Qua- 
ken (Koaxen)  ist  die  Strafe*  zu  welcher  sie  von  den  Göttinnen 
verurtheilt  wurden,  weil  sie  in  jenen  Wassern  ein  gemeines  Ge- 
räusch mit  ihrem  Munde  ausgestossen  hatten. '  Ein  anderer  Be- 
weis für  die  Identität  des  Frosches  mit  dem  Moäde  ist  das  latei- 
nische Sprichwort:  „Rana  cum  gryllo",  welches  späterhin  zur 
Darstellung  zweier  entgegengesetzter  Dinge  diente,  während  die- 
selben jedoch  thatsäcblich  in  Anbetracht  ihrer  schrillen  Stimme, 
ihrer  Art  zu  hüpfen  und  ihrer  gemeinsamen  mythischen  Verbin- 
dung mit  dem  springenden  Monde,  identisch  sind.  Wir  denken 
an  den  Mond  und  die  Wolke  oder  die  nächtlichen  Schatten  bei 
dem  Kriege  zwischen  den  P'röschen  und  den  Mäusen,  welche  ein- 
ander vernichten,  bis  der  Falke  (die  SonneJ  kommt,  um  mit  der 
grössten  Unparteilichkeit  ihnen  beiden  den  Garaus  zu  machen. 
Wir  denken  femer  an  den  kleinen  Goldfisch,  den  schönhaarigen 
Mond,  und  den  Hecht,  bei  dem  Frosch,  der  im  Tu ti- Name  des 
Sultans  Ring  findet,  welcher  in  den  Strom  gefallen  war,  aus 
Dankbarkeit  gegen  den  jungen  Helden,  der  ihn  einst  vor  der 
Schlange  gerettet  hatte;  es  heisst,  dass  der  Frosch  und  die 
Schlange  zwei  Feen  waren,  welche,  von  ihrem  Fluche  befreit,  sich 
zur  Beschützung  des  jungen  Helden  (der  jungen  Sonne)  vereinigten. 
In  dem  23.  mongolischen  Mährchen  tanzt  der  goldene  Frosch  (der 
Mond) ;  die  Dohle  (die  Nacht)  entführt  ihn,  um  ihn  zu  verzehren ; 
der  Frosch  empfiehlt  ihr,  ihn  im  Wasser  abzuwaschen;  die  Dohle 
wird  hineingezogen  und  der  Frosch  entkommt  glücklich,  wie  der 


^  Eine  ähnliche  Sage  lief  um  von  der  Tarantel  (stellio).  Ceres  wollte 
trinken ;  der  Knabe  Steiles  hinderte  sie,  und  die  Göttin  verwandelte  ihn  in 
einen  stellio.  Nach  Uipian  kommt  von  stellio,  das  dann  auch  einen 
listigen,  betrügerischen  Menschen  bedeutet,  das  crimen  stellionatus 
(das  Vergehen  des  Betruges). 


627 

Barsch  rassischer  Mährchen;  dieser  Frosch  soll  die  Tochter  des 
Drachenitirsten  sein,  welcher  ttber  die  Perle  wacht.  Als  Tochter  einer 
Schlange,  erscheint  der  goldene  Frosch  (der  Mond),  wenn  er  dankel- 
farbig ist,  selbst  als  eine  diabolische  Schlange  oder  Zauberin,  und  ist 
mehr  Kröte  als  Frosch ;  dann  ist  es,  nach  Sadder,  ein  Verdienst,  die 
Frösche  zu  tödten :  „R^i^&s  ^i  interfecerit  aliquis  quicunque  fortis 
eorum  adversarius,  ejus  quidem  merita  propterea  erunt  mille  et 
ducenta.  Aquam  eximat  eamqae  removeat  et  locum  siccum  faciat 
et  tum  eas  necabit  a  capite  ad  calcem.  Hinc  Diaboli  damnum 
percipientes  maximum  flebunt  et  ploratnm  edent  copiosissimum/' 

In  der  zweiten  kalmtlkischen  Erzählung  des  Siddbikür  nehmen 
zwei  Drachen,  welche  den  Strom  zurtlckhalten,  der  die  Erde  be- 
wässert und  fruchtbar  macht,  und  welche  jedes  Jahr  einen  Menschen 
fressen,  die  Gestalt  von  Fröschen  an  (eines  gelben  und  eines  grünen), 
und  sprechen  miteinander  ttber  die  Art  und  Weise,  wie  sie  getödtet 
werden  können.  Des  Königs  Sohn  versteht  ihre  Sprache  und 
tödtet  sie,  wobei  ihm  ein  armer  Freund  hilft,  mit  dem  zusammen 
er  sich  bereichert,  doch  nur  um  später,  gleich  den  beiden  mythischen 
Brüdern,  die  gefährlichsten  Abenteuer  zu  bestehen. 

DoQh  wird  die  diabolische  Gestalt  eines  Frosches  bisweilen 
von  dem  schönen  Mädchen  (oder  aber  von  dem  schönen  Jtlngling) 
in  Folge  eines  Fluches  oder  einer  Bezauberung  angenommen. 
Sf>  bei  Afanassieff  II,  23.  Ein  Tzar  hat  drei  Söhne,  von 
denen  jeder  einen  Pfeil  abschiessen  muss;  wo  der  Pfeil  hinfällt, 
soll  jeder  sein  vorbestimmtes  Weib  finden.  Die  beiden  ältesten 
Brüder  heirathen  auf  die  Weise  zwei  schöne  Weiber;  der  Pfeil 
des  jüngsten  Bruders  Iwan  dagegen  wird  von  einem  Frosch  auf- 
gefangen, den  er  heirathen  muss.  Der  Tzar  will  sehen,  welche 
von  den  drei  Bräuten  ihrem  Zukünftigen  das  schönste  Geschenk 
machen  wird.  Alle  drei  geben  ihrem  Gemahl  ein  Hemde,  doch 
das  der  Fröschin  ist  das  schönste;  denn  während  Iwan  schläft, 
d.  h.  in  der  Nacht,  streift  sie  ihr  Fell  ab,  wird  die  schöne 
Helene  (gewöhnlich  die  Aurora,  doch  hier,  so  scheint  es,  die  gute 
Fee  Mond)  und  lässt  von  ihren  Dienerinnen  das  allerschönste 
Kleid  anfertigen;  dann  wird  sie  wieder  ein  Frosch.  Der  Tzar 
(ein  wahrhaft  patriarchalischer  Tzar !)  will  nun  sehen,  welche  von 
seinen  Schwiegertöchtern  am  besten  Brod  bäckt ;  die  beiden  ersten 
Frauen  wissen  nicht,  was  sie  thun  sollen,  und  schicken  heimlich,  um 
zu  sehn,  was  der  Frosch  thut;  dieser,  der  Alles  sieht,  versteht  den 
Streich  und  bäckt  das  Brod  absichtlich  schlecht;  dann  aber,  als  er 

allein  ist  und  Iwan  schläft,  wird  der  Frosch  wieder  die  schöne  Helene 

40* 


688 

and  lä69t  von  ihren  Dienerinnen  ein  Brod  backen^  wie  e^  ihr  Viiter 
nur  an  Feiertagen  ass.  Das  Brod  des  Frosches  wird  als  das 
beste  ausgerufen.  Schliesslieh  will  der  Tzar  sehen^  welche  von 
seinen  Schwiegertöchtern  am  Best^  tanzt  Iwan  ist  betrübt, 
weil  er  seine  Frau  flir  einen  wirklichen  Frosch  hält ;  doch  Helene 
tröstet  ihn,  indem  sie  ihn  auf  den  BaU  schickt,  wo  sie  ihn 
treffen  werde;  Iwai)  freut  sich;  dass  sein  Weib  sprechen  kann, 
und  geht  auf  den  Ball;  der  Frosch  streift  seine  Haut  ab,  wird 
noch  einmal  die  schöne  Helene,  zieht  sich  glänzend  an,  kommt 
auf  den  Ball,  und  Alle  rufen  bei  ihrem  Anblick  (wie  bei  dem  der 
homerischen  Helena):  „Wie  schönt''  Zuerst  setzen  sie  sieh  an 
die  Speisetafel ;  Helene  nimmt  Knochen  in  eine  Hand  und  Wasser 
in  die  andere;  ihre  Schv^erinnen  thun  das  Gleiche.  Darauf 
beginnt  der  Bali.  Helene  spritzt  Wasser  aus  der  einen  Hand, 
und  es  entstehen  Haine  und  Quellen ;  und  wirft  die  Knochen  aus 
der  anderen  (vgl.  die  Knochen  der  Kuh),  aus  denen  Vögel 
herausflattern  (dasselbe  wird  in  einem  Mährchen  erzählt,  das  ich 
im  Piemontesischen  als  Kind  hörte).  Mittlerweile  eilt  Iwan  heim, 
um  die  Froschhaut  zu  verbrennen.  Als  Helene  nach  Hause  kommt, 
kam  sie  nicht  wieder  Frosch  werden,  und  ist  sehr  betrübt 
darüber;  ndenn''  sagt  sie,  als  sie  am  Morgen  an  der  Seite  Iwans 
erwacbtf  ^^Iwan  Tzarevid,  Du  bist  nicht  geduldig  genug  gewesen ; 
ich  hätte  Dein  sein  können;  jetzt,  da  Gott  es  anders  will|  lebe 
wohl!  Suche  mich  in  der  siebenundzwanzigsten  Erde,  in  dem 
dreissigsten  Königreiche''  (d.  h.  wohl :  in  der  Hölle,  in  der  Nacht, 
in  welche  der  Mond  und  die  Aurora  hinabsinken,  und  aus  welcher 
der  Mond  wieder  herauskommt  und  sich  erneut,  nach  27  Tagen; 
dass  russische  Mährchen  ist  offenbar  eine  Yariation  der  Fabel  von 
Amor  und  Psyche). '  Darauf  verschwindet  sie.  Iwan  geht  seine 
Braut  in  der  Wohnung  der  Froschmutter  suchen,  welche  eine 
Ue%»  ist;  er  nimmt  ihr  die  Spindel  weg,  welche  Gold  spinnt,  und 
wirft  einen  Theil  davon  vor  sich,  einen  Theil  hinter  sich. 
Helene  erscheint  wieder,  und  das  Paar  flieht  auf  dem  Teppich, 
der  von  selbst  fliegt. 

Doch  nehmen  im  Volksmärchen  der  Held  und  die  Heldin 
durch  Bezauberung  statt  der  Gestalt  eines  schwarzen  Frosches 
auch  die  einer  Kröte  an,  und  bisweilen  die  einer  gehörnten 
Eidechse ;  ^  daher  die  Verse  Mehun's : 

'  Vgl.  auch  A  fan.  VI^  55;  Masha  (Marie),  Iwans  Weib,  ersdieint  zu- 
erst als  Gans,  dann  als  Frosch,  als  Eidechse  und  als  Spindel. 

*  Im  Pentam«   I,  8  ist  es  eiao  la^erta  cornuta  (g^örnte  Ei- 


628 

„Boter^u)r  et  coqleavrea,  virions  de  deables/' 

Sofeni  die  Kr&te  eine  dem  Dämon  eigene  Gestalt  ist^  wird  sie  ge- 
fürchtet und  gejagt;  sofern  diese  diabolische  Gestalt  dagegen 
einem  göttlichen  oder  fttrsüiehen  Wesen  aufgezwungen  ist^  wird  sie 
als  eia  heiliges  Thier  betrachtet  und  verehrt.  Im  Toscf^nisehen  wird 
es  Ton  den  Bauern  als  ein  Sacrilegium  betrachtet;  eine  Kröte  £u 
tödten.  Ein  vulgäres  toscanisches  Lied,  das  ich  in  San  Stefano  di 
Galcinaia  hörte,  sjHicht  von  der  Verwandlung  des  schönen  Mädchens 
in  eine  Kröte;  die  Mutterkröte  spricht  ihrer  Tochter  Trost  ein,  indem 
sie  ihr  Hoflnung  auf  baldige  Heirath  des  Königssohnes  macht: 

„Botta,  gragna,  > 
II  figlio  del  re  che  poco  ti  ama, 
Se  non  t*ama,  t'amerk, 
Quando  per  isposa  Ifii  favi^" 

Der  Prinz  heirathet  die  Kröte,  welche  sofort  in  ein  schönes 
Mädchen  verwandelt  wird.  Bezüglieh  der  abergläubischen  Vor- 
stellungen von  der  Kröte,  die  in  Siciiien  herrschen,  kann  ich  aus 
Briefen  meines  Freundes  Gins.  Pitr6  folgende  interessante  Notizen 
beibringen:  —  „Die  Kröte  bringt  Glück;  wer  kein  Glück  hat, 
muss  sich  mit  einer  Kröte  versehn  und  sie  in  seinem  Hause  mit 
Brod  und  Wein  füttern,  *  einer  geweihten  Nahrung,  da  Kröten,  wie 


dcchse,  der  Mond),  welche  über  das  G^chiok  des  Mädchens  RenltoUe  (der 
Aurora)  wacht. 

'  „Kröte,  es  hagelt!  Der  Sohn  des  Königs,  Der  dich  wenig  liebt,  wird, 
wenn  er  Dich  nicht  liebt,  Dich  lieben,  sobald  er  Dich  geheiraüiet  haben 
wird."  Die  Wörterbücher  haben  das  Wort  gragnare  als  Verbum  nicht; 
da  jedoch  gragnuola,  Diminutiv  von  gragna,  den  Hagel  bedeutet,  so 
hat  das  Verbum  hier  aagenscheinlich  die  Bedeutung :  es  hagelt.  In  Italien 
glaubt  man,  dass  Kröten  aus  den  ersten  dicken  Tropfen  entstehen,  welche 
beim  Beginn  eines  Gewitters  in  den  Staub  fallen. 

'  Einen  ähnlichen  Aberglauben  in  Deutschland  constatirt  Bochholz, 
Deutscher  Gl.  u.  Br.  f  p.  147:  „Auch  die  flauskröte,  Unke, 
Muhme  genannt,  wohnt  im  Hauskeller  und  hält  durdi  ihren  Einfluss  die 
hier  verwahrten  Lebensmittel  in  einem  gedeihlichen  Zustand.  Dadurch 
kommt  Wohlstiand  ins  Jijai^,  und  das  Thier  heisst  daher  Schatzkrö^.  In 
Verwechslung  mit  dem  braunschwarzen  Kellermolch  wird  sie  auch  Gmöhl 
genannt  und  soll  eben  so  oft  ihre  Farbe  verändern,  als  der  Familie  eine 
Veränderung  bevorsteht."  —  Bekannt  sind  die  mannigfachen  Vorstellungen, 
die  sich  an  den  Salamander  knüpfen,  nämlich  dass  er  der  Macht  des 
Feuers  widersteht,  dass  er  im  Feuer  lebt,  das«  er  wie  Feuer  wird:  „immo 
ad  ignem  usque  elementarem  orbi  lunari  finitimum  ascendere'*  (nach  Al- 
drovandi),  und  dass  er,  selbst  der  Haare  haar,  die  Haare  Anderer  durch 
seinen  Speichel  sum  Ausfallen  bringt,  weshalb  Martial  eine  Frau  mit 
folgendem  Verse  zur  Kahlköpfigkeit  verdammt: 


630 

behauptet  wird,  entweder  ,Herren'  oder  ,Weiber  der  Aussenwelt* 
oder  ,unbegriflfene  Genien/  oder  ,mäcbtige  Feen'  sind,  welche 
unter  einem  Fluche  leiden.  Deshalb  werden  sie  nicht  getödtet, 
noch  auch  beunruhigt;  geschieht  dieses,  so  kommen  sie  in  der 
Nacht  und  speien  Wasser  auf  die  Augen  dessen,  der  sie  gestört 
hat,  so  dass  dieselben  nie  wieder  heilen,  selbst  nicht,  wenn  er  sich 
dem  Wohlwollen  der  Santa  Lucia  empfiehlt."  Daher  schreibt  der 
Dichter  Meli  in  seinen  Fata  Galanti,  dass  er  einen  Bauer  daran 
verhinderte,  eine  Kröte  zu  tödten: 

„Jeu  ch'avia  'ntisu  da  li  mici  maggiuri 
Che  li  buffi  'un  si  divinu  ammazzari, 
Fici  in  moda  chi  Tira  e  lu  rancuri 
A  ddu  viddanu  cci  fici  passari/* 

Zur  Belohnung  ftlr  diese  Lebensrettung  erscheint  ihm  die  Kröte 
bald  nachher  in  der  Gestalt  eines  sehr  schönen  Weibes,  und  ver- 
spricht, ihm  alle  Tage  seines  Lebens  beizustehen: 

„Oh  picciotti  furtunatu! 
£a  ti  pmtiggiro  d'ora  nu'  avanti, 
Jeu  su'  dda  buffa,  chi  tu,  gratu  e  umanu 
Sarvasti  antura  da  Timpiu  viddanu/^ 

In  Cavour  im  Piemontesischen  hörte  ich  von  einer  Bauer- 
frau folgendes  .Mährchen,  in  welchem  die  Kröte  die  diabolische 
Gestalt  ist,  welche  ein  schöner  Jüngling  angenommen  hat : 

Ein  paralytischer  Mann  hat  drei  Töchter,  Catharine,  Clorinde 
und  Margaret;  er  macht  sich  auf  die  Reise,  um  einen  grossen 
Arzt  zu  consultiren,  und  fragt  seine  Töchter,  was  er  ihnen  von 
der  Reise  mitbringen  soll ;  Margaret  will  mit  einer  Blume  zufrieden 
sein.  Er  kommt  an  seinen  Bestimmungsort,  ein  Schloss ;  Alles  ist 
zu  seinem  Empfange  bereitet,  doch  der  Doctor  ist  nicht  zu  finden ; 
er  macht  sich  auf  den  Reimweg;  da  fallt  ihm  die  Blume  ein;  er 
kehrt  um,  und  will  eben  im  Schlossgarten  eine  Gänseblume 
(margerita)  pflücken,  als  ihm  eine  Kröte  warnend  den  Tod  binnen 
drei  Tagen  prophezeit,  wenn  er  ihr  nicht  eine  von  seinen  Töchtern 
zum  Weibe   giebt.    Der  Vater  setzt  diese  davon  in  Kenntniss, 


),fi[oc  salamandra  caput  aut  saeva  novacula  nudet.** 
Piinius  empfiehlt  deshalb  gegen  das  Gift,  welches  dem  Salamander  zuge- 
schrieben wird,  den  Samen  der  haarigen  und  stacheligen  Nessel  mit  einer 
Schildkrötensuppe.  Der  Salamander  des  Volksglaubens  scheint  mir  den 
Mond  darzustellen,  welcher  von  selbst  glänzt,  welcher  von  seinem  eigenen 
Feuer  lebt,  welcher  selbst  keine  Strahlen  oder  Haare  hat,  welcher  aber 
der  Sonne  die  Strahlen  oder  Haare  ausfaUeu  lässt. 


631 

und  die  jüngste  willigt  eiD;  um  ihrem  Vater  das  Leben  zu  retten. 
Ihr  Vater  wird  geheilt,  und  die  Hochzeit  findet  statt;  während 
der  Nacht  wird  die  Kröte  ein  schöner  Jüngling,  der  jedoch  seine 
Braut  waiiit,  niemals  zu  irgend  Jemandem  davon  zu  sprechen; 
thue  sie  das  doch,  so  werde  er  immer  eine  Kröte  bleiben;  er 
giebt  ihr  einen  Ring,  vermittelst  dessen  sie  Alles  erlangen  kann, 
was  sie  verlangt.  Die  Schwestern  haben  eine  Ahnung  von  dem 
Geheimniss  und  bringen  sie  zum  Plaudern ;  die  Kröte  wird  krank 
und  verschwindet;  Margaret  ruft  ihren  Gemahl  durch  den  Ring, 
—  vergebens;  da  wirft  sie  den  Ring,  als  nutzloses  Möbel,  in 
einen  Tümpel,  aus  dem  der  schöne  Jüngling  heraussteigt,  um  nie 
wieder  eine  Kröte  zu  werden;  sie  gemessen  nun  zusammen  ihr 
Glück  ungestört 

In  einem  ebenfalls  noch  nicht  veröfientlichten,  toscanischen 
Mährchen,  das  mir  die  Bauerfrau  Uliva  Selvi  in  Antignano  bei 
Livomo  erzählte,  haben  wir  statt  der  Kröte  einen  Zauberer, 
schrecklich  anzuschann.  Der  Vater  der  drei  Töchter  ist  Seemann ; 
er  verspricht  der  ersten  einen  Shawl,  der  zweiten  einen  Hut,  der 
dritten  eine  Rose  zu  bringen.  Auf  der  Rückreise  will  das  Schifif 
nicht  weiter,  weil  er  die  Rose  vergessen  hat;  er  holt  sie  aus 
einem  Garten;  ein  Zauberer  händigt  dem  Vater  die  Rose  sammt 
einer  kleinen  Büchse  ein,  um  sie  einer  seiner  Töchter  zu  geben, 
welche  der  Zauberer  heirathen  soll.  Um  Mitternacht  erzählt  der 
Vater  nach  seiner  Rückkehr  der  dritten  Tochter  Alles,  was  ihm 
begegnet  ist.  Die  kleine  Büchse  wird  geöfinet;  sie  trägt  die 
dritte  Tochter  zu  dem  Zauberer,  welcher  gerade  König  von 
Pietraverde  und  eben  ein  schöner  junger  Mann  ist  Er  zeigt 
ihr  in  dem  Palast  drei  Zimmer,  ein  rothes,  ein  weisses  und  ein 
schwarzes.  Sie  leben  glücklich  miteinander.  Mittlerweile  soll 
sich  die  älteste  Schwester  verheirathen ;  der  Zauberer  fuhrt  sein 
Weib  in  das  rothe  Zimmer;  sie  will  zur  Hochzeit  gehn  und  der 
Zauberer  willigt  ein,  warnt  sie  jedoch,  Niemandem  zu  sagen,  wer 
er  ist,  oder  irgend  Etwas,  was  sie  von  ihm  weiss,  zu  erzählen, 
widrigenfalls  sie  ihn  verlieren  würde ;  wollte  sie  ihn  dann  wieder 
haben,  so  müsste  sie  warten,  bis  er  alle  Schuhe,  die  überhaupt 
auf  der  Welt  existiren,  abgetragen  haben  würde.  Er  giebt  ihr 
ein  Kleid,  welches  man  schon  von  Weitem  rauschen  hört,  wenn 
sie  darin  geht ;  er  sagt  ihr  ferner,  wenn  ihr  die  Haarnadel  herab- 
fiele, so  solle  sie  die  Braut  dieselbe  auflesen  und  behalten  lassen, 
verbietet  ihr  auch,  irgend  Etwas,  was  man  ihr  zu  essen  oder  zu 
trinken  anbietet,  zu   berühren.     Sie   beobachtet    all   diese  Vor- 


632 

Schriften  nach  dem  Buchstaben.  Die  zweite  Schwester  soll  sich  ver- 
heirathen ;  der  Zauberer  führt  seine  Gemahlin  in  das  weisse  Zimmer 
und  giebt  ihr  dieselben  Vorschriften  wie  vordem ;  nur  soll  sie  statt  der 
Haarnadel  ihren  Brilliantring  fallen  lassen.  Der  Vater  stirbt ;  der 
Zauberer  flihrt  sein  Weib  in  das  schwarze,  das  Trauerzimmer. 
Sie  will  zu  dem  Begräbniss  gehn  und  erhält  nach  den  üblichen 
Warnungen  die  Erlaubniss  dazu;  der  Zauberer  giebt  ihr  ausser- 
dem einen  Ring;-  wenn  sie  diesen  schwarz  werden  lasse,  so 
müsse  sie  ihn  (den  Zauberer)  verlieren ;  sie  vergisst  die  Warnung 
und  verliert  ihn.  Sie  wandert  sieben  Jahre  lang  umher,  und 
Niemand  kann  ihr  Nachricht  von  dein  König  von  Pietraverde 
geben;  sie  verkleidet  sich  nun  als  Mann  und  gelangt  in  eine 
Stadt,  wo  sie  in  die  Dienste  des  königlichen  Stallmeisters  tritt; 
kaum  berührt  sie  die  Kutschen,  als  sie  auch  schon  blank  und 
sauber  sind.  Die  Königin  kommt  vorbei  und  erstaunt  über  die 
Erscheinung  des  Jünglings ;  sie  engagirt  .  ihn  erst  als  Küchen- 
jungen, dann  als  Tafeldiener,  und  endlich  als  valet  de  chambre. 
Die  Königin  verliebt  sich  so  in  den  vermeintlichen  Jüngling,  dass 
sie  ihn  um  jeden  Preis  ganz  besitzen  will,  —  vergebens!  sie 
klagt  ihn  nun  an,  dass  er  ihr  das  Leben  nehmen  wolle.  Das 
Mädchen  wird  ins  GefUngniss  geworfen,  jedoch  von  dem  König 
begnadigt  und  freigelassen.  Sie  setzt,  immer  noch  als  Mann  ver- 
kleidet, ihre  Wanderung  fort,  kommt  in  die  Hauptstadt  und  fragt 
nach  dem  König  von  Pietraverde;  man  sagt  ihr,  der  sei  längst 
gestorben,  und  zeigt  ihr  ein  Zimmer,  wo  seine  Bahre  von  Wachs- 
kerzen getragen  ist;  er  werde  nicht  erwachen,  bis  die  Kerzen 
verzehrt  sind.  Sie  geht  hinzu  und  weint;  der  König  nimmt  drei 
Haare  aus  seinem  Bart  und  empfiehlt  ihr,  dieselben  sorgfältig  zu 
bewahren.  Sie  setzt  ihre  Wanderung  fort,  immer  noch  als  Mann 
angezogen,  und  wird  wieder  von  Reitknechten  eines  Königs 
angenommen.  Die  Kunde  von  ihrer  Tüchtigkeit  gelangt  zu  den 
Ohren  des  Königs,  der  sie  in  seiner  Küche  beschäftigt.  Die 
Königin  verliebt  sich  in  sie;  —  vergebens!  Sie  verklagt  den  ver- 
meintlichen Burschen  beim  König,  der  das  Mädchen  ins  Gefäng- 
niss  wirft;  sie  wird  zum  Tode  verurtheilt,  und  das  Schaffet  wird 
hergerichtet.  Als  sie  zur  Hinrichtung  geht,  erinnert  sie  sich  der 
drei  Haare  und  verbrennt  eines;  eine  Armee  von  Kriegern 
erscheint,  die  von  dem  König  von  Pietraverde  geschickt  sind;  sie 
erschrecken  das  ganze  Volk  des  Königs,  den  sie  zwingen,  die 
Hinrichtung  bis  zum  nächsten  Tage  aufzuschieben.  Den  nächsten 
Tag  thut  sie  dasselbe  mit  demselben  Erfolge.    Den  dritten  Tag 


633 

bringt  sie  das  dritte  Haar  heraus.  Die  Kavallerie  erscheint^  dies- 
mal mit  dem  König  von  Pietraverde  selbst  als  Befehlshaber;  er 
ist  so  gekleidet;  dass  er  wie  ein  Brilliant;  wie  die  Sonne  glänzt ; 
er  befreit  das  Mädchen,  lässt  sie  als  Prinzessin  kleiden,  und  setzt 
einen  Gerichtshof  ein,  der  über  ihre  Sache  entscheidet ;  ihre  Un- 
schuld wird  festgestellt,  und  der  Königin  der  Kopf  abgeschlagen. 

Aldrovandi  erzählt  mehre  Fälle  von  Weibern,  welche  Kröten 
das  Leben  gaben.  ^ 

Wie  sich  nach  dem  doppelten  und  widersprechenden  Charakter, 
den  die  Kröte  zeigt,  erwarten  lässt,  hält  zwar  der  Volksglaube  die 
Feuchtigkeit,  welche  die  Kröte,  wenn  man  sie  reizt,  hinten  aus- 
spritzt, ftir  tödtlicji,  ja,  hält  sogar  die  Pflanzen,  über  welche  die 
Kröte  sich  bewegt  hat,  für  vergiftet;  empfiehlt  dennoch  aber  das 
Ti'agen  getrockneter  Kröten  unter  den  Achselhöhlen  als  ein  Zau- 
bermittel gegen  Pest  und  Gift.  Dieselbe  alexipharmische  Kraft 
wurde  auch  dem  sogenannten  Krötenstein  beigelegt,  welcher  der 
Sage  nach  seine  Farbe  veränderte,  wenn  sein  Träger  vergiftet 
war.  Man  glaubte,  dass  der  Krötenstein  aus  dem  Krötenkopf 
genommen  werde;  doch  die  Wissenschaft  hat  nachgewiesen,  dass 
das  von  den  Quacksalbern  als  Bufonita,  Krötenstein  verkaufte 
Amulet  aus  dem  Zahne  eines  fossilen  Fisches  gemacht  ist.  ^  Aus 
der  Kröte,  dem  schwarzen  Thiere  der  Nacht,  des  Dunkels  oder 
Winters,    kommt  die  Sonnenperle;   so  betrachten   auch  deutsche 


'  „Suessanus  tradit,  quod  bufonem  quempiam  obviam  fieri  felicissimum 
angurium  faisse  antiquitas  existimavit.  —  Anno  1553,  in  villa  quadam 
Thuringia  ad  Unstram,  a  muliere  bufo  caudatus  natus  est,  quemadmodum 
in  Hbro  de  prodigiis  et  ostentis .  habetur.  Nee  miram,  quia  Ooelius  Aura- 
lianus  et  Platearius  scribunt  mulieres  aliquando  cum  foeto  humano  bufones 
et  alia  animalia  hujus  generis  eniti.  Sed  hujus  monstrosae  eonceptionis 
causam  non  assignant.  Tradit  quidem  Platearius  illa  praesidia,  quae  ad 
provocandos  menses  commendantur,  ducere;  etiam  bufonem  fratrem  Saler- 
nitanorum  quemadmodum  aliqui  lacertum  fratrem  Longobardorum  nomi- 
uaut.  Quoniam  mulieres  Salemitanae  potissimum  in  prindpio  eonceptionis 
succum  apii  et  porrorum  potant,  ut  hoc  animal  interimant,  antequam  foe- 
tus viviscat.  Insuper  mulier  quaedam  ex  Gesnero,  recens  uupta  cum  om- 
nium opinione  praegnans  diceretur,  quatuor  animalia  bufonibus  similia 
peperit  et  optime  valuit/*  —  Aldrovandi  liest  auch  in  der  Uist.  Mirac. 
Heisterb. ,  dass  einige  Mönche  eine  lebendige  Kröte  in  einer  Henne  an 
Stelle  der  Eingeweide  fanden.  Bei  demselben  Autor  findet  ein  Pfafie  eine 
ungeheure  Kröte  auf  dem  Grunde  eines  Weinkruges;  indem  er  noch  seine 
Betrachtung  darüber  anstellt,  wie  eine  so  grosse  Kröte  durch  eine  so  kleine 
OeÖnung  gehen  konnte,  verschwindet  die  Kröte. 

*  Vgl.  TargioniTozzetti,  Lezioni  di  Materia  Me dica,Firenze,  1821. 


634 

Volksmährchen  die  Schildkröte  als  heilig  wegen  der  Perle,  die  in 
ihrem  Kopfe  enthalten  sein  soll.  In  Ungarn  heisst  es,  dass  in 
der  trockenen  Jahreszeit  die  Kröte  den  Thau  verschlackt;  man 
glaubt  ferner,  dass  der  Frosch,  gleich  der  Schlange,  im  Frühling 
einen  kostbaren  Stein  ausspeit,  welcher  der  Schlangen-  oder  der 
Froschstein  heisst.  Nach  einer  Mittheilung  des  Grafen  Geza  Knun 
werden  in  dem  Testament  eines  Bürgers  von  Kaisa  drei  goldene 
Ringe  erwähnt,  deren  einer  einen  „Froschstein"  enthält. 

Schon  oben  wurde  Ijemerkt,  dass  die  Stelle  der  Kröte  in 
Volksmährchen  bisweilen  von  der  gehörnten  Eidechse  eingenommen 
wird;  die  Eidechse  stellt  ebenfalls  die  dämonische  Gestalt,  die 
Gestalt  der  Hexe  dar.  Interessant  ist  in  dieser  Beziehung  die 
Erörterung  Karl  Simrocks  über  das  Wort  Eidechse,  dessen 
ältere  Form  Hagedisse  (d.  i.  Hexe)  ist.  Als  Hexe  wird  die 
Eidechse  im  griechischen  Mythus  von  Apollo  getödtet,  welcher 
davon  den  Beinamen  aavQOKTovog  hat.  ^  Sofern  jedoch  die  Eidech- 
sen im  Frühling  erscheinen  und  die  schöne  Jahreszeit  ankündigen, 
werden  sie  (nach  Porphyries)  als  der  Sonne  heilig,  und  deshalb 
als  von  guter  Vorbedeutung  betrachtet  'Ein  Bologneser  Sprich- 
wort sagt;  „Sanf  Agnes,  la  luserta  cor  pr'  al  paes/'  um  anzu- 
zeigen, dass  eine  schönere  Jahreszeit  beginnt,  sofern  sich  mit  dem 
Erscheinen  der  Eidechsen  am  St.  Agnestage,  d.  h.  im  Beginn  des 
März,  der  Frühling  bemerkbar  macht.  In  Sicilien  glaubt  man, 
die  kleinen  Eidechsen,  welche  San  Giuvanni  heissen,  nicht  tödten 
zu  dürfen,  weil  sie  in  der  Gegenwart  des  Herrn  im  Himmel  sind 
und  dem  Herrn  die  kleine  Lampe  anzünden  (wie  wir  schon  das 
Johanneswürmchen  dem  Getreide  Licht  geben  sahn).  Wenn  sie 
aber  doch  getödtet  werden,  so  muss  der,  der  es  thut,  damit  ihn 
nicht  ihr  Fluch  trifit,  zu  dem  Schwanz,  der  hin  und  her  wackelt, 
sagen,  dass  er  nicht  der  wirkliche  Tödter  war,  sondern  dass  der 
Hund  des  St  Matthäus  das  Verbrechen  begangen  habe: 

„Nun  fu'  ieu,  nun  fu*  ieu: 
^  _  Fu  lu  cani  di  San  Matteu." 

'  Einige  ausserordentliche  Eidechsen ,  von  denen  Aldrovandi  spricht, 
haben  eine  halb  heilige,  halb  Ungeheuematur :  ,,Praeter  illud  memorabile, 
quod  Mizaldas  recitat  accidisse  anno  Domini  1551,  mense  Julii  in  Hnngaria 
prope  pagnm  Zichsum  juxta  Theisum  fluvinm  nimirum  in  multorum  homi- 
num  alvo  lacertas  naturalibus  similes  ortas  faissc.  Interdum  contingit,  ut 
animadvertit  Schenchius,  lacertam  viridem  in  caeti  magnitudinem  excros- 
cere,  quails  aliquando  Lutetiae  visa  est.  Saepe  etiam  lacertae  duobus  et 
tribus  caudis  refertae  naseuntur,  quas  vulgus  ^udentibus  favorabiles  esse 
nugatur." 


^      or  THE 

CA'  [^cjß^  635 

Man  hält  sie  für  mächtige  Fürsprecher  bei  dem  Herren,  und  des- 
halb wärmen  sie  die  sicilischen  Kinder  in  ihrem  Busen  und  nähren 
sie  mit  in  Wasser  aufgeweichten  Brodkrumen. 

Doch  ein  besonders  heiliger  Charakter  wird  der  iacerta 
viridis  (ital.  ramarro;  sicil.  vanuzzu,  Diminut.  von  Gio- 
vanni) und  der  d(4q)lgliaiva  zugeschrieben;  von  welcher  letzteren 
die  Alten  glaubten^  dass  sie  zwei  Köpfe  habe  (wie  der  indische 
ahfrani),  indem  ihr  Schwanz  für  einen  Kopf  genommen  wurde. 
Diese  Schlangenart  wird  in  Indien  noch  heut  für  heilig  gehalten 
und  verehrt.  ^  Die  grüne  Eidechse  des  Volksaberglaubens  ist 
theils  solar  und  theils  lunar.  Das  Glühwürmchen  und  die  Wachtel 
sind;  als  Sommerthiere  der  SonnC;  als  nächtliche  Wächter  dem 
Monde  heilig;  so  erscheint  die  grüne  Eidechse,  als  ein  Sommer- 
thier,  welches  die  Schlange  des  Winters  verjagt,  speciell  in  Be- 
ziehung zu  der  Sonne;  sofern  es  jedoch  auch  die  Schlange  der 
Nacht  giebt;  nimmt  die  grüne  Eidechse  oder  der  grüne  ramarro 
die  Stelle  des  Krebs-Mondes  ein,  d.  h.  sie  weckt  den  jungen 
SonnenheldeU;  welcher  in  der  Nacht  schläft,  und  weckt  den  schla- 
fenden ManU;  damit  ihn  die  Schlange  nicht  beisse.  Der  Mond 
des  Winters  weckt  die  Sonne  des  Frühlings,  der  Mond  der  Nacht 
weckt  die  Sonne  des  Tages;  die  Mond-Eidechse  verjagt,  gleich 
dem  Mond-Krebs,  die  Schlange  oder  das  schwarze  Ungeheuer. 
Im  Piemontesischen,  Toskanischen  und  in  Sicilien  wird  die  grüne 
Eidechse  für  den  Freund  Jedermanns  gehalten;  und  wirklich 
heisst  sie  in  Sicilien  guarda  omU;  weil  man  dort  glaubt,  dass 
sie  von  Behexung  heilt,  vielleicht  wegen  des  gelben  Kreuzes, 
welches  das  Volk  auf  ihrem  Kopfe  zu  sehn  glaubt.  In  San 
Stefano  di  Calcinaia  sagt  man,  dass  die  grüne  Eidechse,  wie  ein 
Christ;  Christenmenschen  in  die  Ohren  zischt,  wenn  sich  ihm  die 
Schlange  naht:  man  erzählt  sogar  mehre  Fälle  von  Schäfern  oder 


'  Im  Mahäbh.  1 ,  981  — 1003  heisst  es ,  dass  Amphisbaenen  (dun- 
4ubhä8,  dundavas,  ndgabhritas,  meines  Eraefateus  iudentisch  mit  den  man- 
nuni  Malabars),  als  gute  Thiere,  nicht  getödtet  werden  sollen;  eine  Am- 
phisbaena  erzählt,  sie  sei  einst  der  weise  Sahasrapäd  gewesen  (eigentlich 
der  Tausendfüssige ;  die  amphisbaena  scheint  eine  Eidechse  ohne  Füsse  zu 
sein,  und  mit  einem  Schwanz,  der  die  Gestalt  ihres  Kopfes  hat,  wodurch 
der  Glaube  an  ihre  Zweiköpfigkeit  aufkam;  sie  scheint  eine  andere 
Personification  des  kreisenden  Jahres  zu  sein,  gleich  der  Schlange),  und 
sei  eine  Schlange  in  Folge  eines  Fluches  geworden,  weil  sie  einst  einen 
Brahmanen  durch  eine  nachgemachte  Schlange  aus  Gras  erschreckt  hatte; 
beim  Anblick  des  weisen  Kuru  wird  die  amphisbaena  von  diesem  Fluche 
erlöst. 


636 

BaaerO;  welche  eingeschlafen  waren  und  von  einer  über  sie  schlu- 
pfenden grünen  Eidechse  gerettet  wurden  (Aldrovandi  erwähnt  einen 
ähnlichen  Aberglauben).  Man  glaubt  femer,  dass  die  ^ne  Ei- 
dechse, gefangen  und  in  ein  Gefäss  mit  Oel  gesteckt,  das  Ra- 
marro-Oel  hervorbringt,  welches  gegen  Wunden  und  Qift  gut  sein 
soll.  In  den  Gentes  Merveilleux  Porchats  beschützt  eine 
Fee  den  armen  Laric  und  bringt  ihm  in  Gestalt  einer  dankbaren 
c  0  u  1  e  u  V  r  e ,  die  er  im  Winter  im  Schnee  erfroren  fand  und  in 
seinem  Busen  wärmte,  Glück.  Die  couleuvre  lässt  für  Laric  aus 
den  Schnäbeln  gewisser  Rebhühner  Goldstücke  fallen,  giebt  ihm 
die  Fähigkeit,  Alles  zu  linden,  was  er  braucht,  und  legt  seinem 
Weibe  eine  goldene  Kette  um.  So  entsprechen  einander  der  gol- 
dene (oder  grüne)  Fisch,  der  goldene  (oder  grüne)  Frosch  und  die 
goldene  (oder  grüne)  Eidechse  in  dem  schönen  Mythus  von  der 
guten  Mond- Fee,  welche  den  Sonnenhelden,  resp.  die  Sonnen- 
heldin  sowohl  in  der  Nacht  des  Tages  als  der  des  Jahres  be- 
schützt. 


laa«^ 


637 


KAPITEL  V. 
Die  Sehlange  and  das  Wassernngeheaer« 

Das  Tbier^  mit  welchem  ich  die  Betrachtung  der  mythischen 
Zoologie  schliesse,  ist  vielleicht  das  volksthttmiichste  der  ganzen 
Reihe.  Der  allgestaltige  Dämon  lässt  den  Gott  oder  den  Helden, 
der  in  seine  Macht  fällt,  die  verschiedensten  Thiergestalten  an- 
nehmen ;  doch  fast  immer  bewahrt  er  für  sich  als  seine  beliebteste 
und  bevorzugteste  (restalt  die  der  Schlange.  Den  Teufel,  sagt 
das  Yolkssprich wort,  kennt  man  am  Schwänze ;  und  um  zu  zeigen, 
dass  Weiber  mehr  wissen  als  der  Teufel,  fügt  es  hinzu,  dass  sie 
auch  wissen,  wo  der  Teufel  seinen  Schwanz  versteckt,  oder  wo 
er  sein  Gift  hält,  denn  sein  Gift  und  seine  Macht,  Böses  zu  thun, 
stecken  in  seinem  Schwänze.  Ein  Teufel  ohne  Schwanz  würde 
nicht  ein  wirklicher  Teufel  sein ;  sein  Schwanz  verräth  ihn,  und 
dieser  Schwanz  ist  der  Scblangensch wanz.  ^  Bei  A  f  a  n  a  s  s  i  e  f  f  V,  45 
kommt  die  Teufel-Schlange  jede  Nacht  zu  der  jungen  Wittwe 
in  Gestalt  ihres  abgeschiedenen  Gatten,  speist  mit  ihr  und  schläft 
bei  ihr  bis  zum  Morgen;  jede  Nacht  wird  diese  dttnner,  wie  eine 
Kerze  vor  dem  Feuer;  ihre  Mutter  räth  ihr  nun,  wenn  sie  bei 
Tische  sitzen,  einen  Löffel  auf  den  Boden  fallen  zu  lassen,  damit 
sie,  ihn  aufhebend,  die  Füsse  des  nächtlichen  Gastes  etwas  ge- 
nauer ansehe;  statt  seiner  Fttsse  siehr  sie  nur  einen  Schwanz. 
Darauf  geht  die  Wittwe  in  die  Kirche,  um  sich  die  Absolution 
ertheilen  zu  lassen.^ 

Die  Teufel-Schlange  erscheint  in  besonderer  Verbindung  mit 
den  unterirdischen  Wassern  (Finstemiss  der  Nacht  und  des 
Winters,  und  Wolkenhimmel);  welche  die  Schätze,  die  Perle,  den 
Sonnenhelden  oder  die  Sonnenheldin  mit  den  Wassern  der  Jugend 


'  AagustinoB,  Hom.  3ß,  sagt  von  dem  Teufel:  „Leo  et  draco  est; 
Leo  propter  impetum,  Druco  propter  insidias.'*  Im  Albanesischen  heisst 
der  Teufel  dreikj,  im  Romanischen  dracu. 

'  Ein  Sprichwort  des  Rslmäyana  sagt,  dass  „nur  eine  weibliche 
Schlange  die  Füsse  einer  männlichen  Schlange  unterscheiden  kanu^^  (V,  38: 
Ahireya  hyahe^  pädäu  vigftniyftnna  sam^aya^).  Die  Füsse  der  Schlange 
sind  wie  die  des  Teufels  (identisch  mit  dem  Phallus)  nur  für  eine  weib- 
liche Schlange  erkennbar. 


■ 


638 

nnd  des  Lebens  verbergen.  Die  Teafel  -  Schlange  ziebt  alles 
Schöne  an  sicb^  bald  um  es  zu  verschlacken;  bald  um  es  wie 
ein  Geizhals  zu  hüten.  Der  Drache  wurde  das  Symbol  des  Zurück- 
halters der  Wasser,  des  Hüters  der  Schätze,  welcher  Alles,  was 
glänzt,  verschlingt  oder  an  sich  zieht.  Nach  Du  Gange  ist 
dracns  der  Name  eines  „species  daemonum,  qui  circa Rhodanom 
fluvium  in  Provincia  visuntur  forma  hominis,  et  in  cavemis  man- 
sionem  habent/'  In  einem  alten  lateinischen  Manuskript  bei 
Du  Gange  wird  der  Teufel  hydra  oder  Wasserschlange  genannt; 
Hincmarus  Remensis  glaubt,  dass  die  Schatten  der  Dämonen  aus 
dem  Wasser  citirt  werden  können,  ^  Daher  der  in  deutschen  und 
slavischen  Ländern  so  häufige  Brauch,  —  das  Wasser  zu  segnen, 
um  die  Ungeheuer  daraus  zu  vertreiben;^  daher  auch  der  Brauch, 
den  ich  in  mehren  Theilen  Russlands  beobachtet  habe,  wo  die 
Kinder,  bevor  sie  in  den  Fltlssen  baden,  und  sobald  sie  die  Füsse 
in  das  Wasser  stecken,  tiefe  Verbeugungen  und  das  Zeichen  des 
Kreuzes  machen;  daher  wird,  nach  Du  Gange,  der  Meergott 
Neptunus  im  Mittelalter  unter  dem  Namen  Aquaticus  eine 
Personification  des  Teufels;'  daher  nimmt  auch  die  Fischotter 
(m;d^^)  in  der  Edda  einen  diabolischen  Charakter  an,  wo  die 
Äsen  ihr  das  Fell  abziehn  und  es  mit  dem  Golde  itlllen,  das  dem 
Zwerg-Hecht  Andvaijii  abgenommen  ist,  und  bei  A  f  a  n  a  s  s  i  e  f  f  1, 6, 
wo  sie  die  Thiere  der  Menagerie  eines  Tzaren  umbringt  und 
schliesslich  den  dritten  Sohn  des  Tzaren,  Iwan,  unter  einen  unge- 
heuren weissen  Stein  (den  schneeigen  Winter)  in  der  Unterwelt 
zieht,  wo  Paläste  von  Gold  nnd  Silber  und  drei  schöne  Mädchen, 


'  Tom.  I :  ,,Sunt  qui  in  aquae  inspectione  umbras  daemonum  evocant,  et 
imagiones  vel  ludificationes  ibi  videre  et  ab  iis  aliqua  audire  se  periii- 
bent."  —  Vgl.  auch  Aoguetinos,  De  Civitate  Dei,  VII:  „Ipse  Numa, 
ad  quem  nullus  Dei  propheta,  nuUus  äanctus  Angelus  mittebatur,  Hydro- 
mantiam  facere  compulsus  est,  ut  in  aqua  videret  imagines  deomm  vel 
potius  ludificationes  daemonum,  a  quibus  audiret,  quid  in  sacris  constituere 
atque  observare  deberet.  Quod  genus  divinationis  idem  Varro  a  Persis 
dicit  allatum." 

'  £r  besteht  auch  in  Rumänien,  wo  das  neue  Sonnenjahr  durch  die 
Segnung  des  Wassers  gefeiert  wird,  um  die  Dämonen»  die  es  bewohnen, 
zu  bannen. 

■  Codex  Reg.,  5600  anu.  circ.  800,  fol.  101,  bei  Du  Gange:  „Sunt 
aliqui  rustici  homines,  qui  credunt  aliquas  mulieres,  quod  vulgum  didtur 
striasy  esse  debeant,  et  ad  infantes  vel  pecora  nocere  possint,  vel  dusiolus, 
vel  Aquatiquus,  vel  geniscus  esse  debeat/*  Neptunus ,  vel  aliquis  genius, 
quia  quis  praeest  designari  videtur. 


J 


639 

Schwestern  des  Fischotter-Ungeheuers,  sind,  welches  in  dem  Meere 
schläft  and  so  schnarcht,  dass  es  die  Wogen  in  einem  Umkreise 
von  sieben  Werst  aufrührt,  bis  Iwan,  nachdem  er  das  Wasser 
der  Stärke  getrunken  hat,  dem  Ungeheuer  mit  einem  Schlage  den 
Kopf  abschlägt. 

Doch  um  denselben  Weg  auch  hier  einzuschlagen,  dem  wir 
bis  hieher  immer  gefolgt  sind,  wollen  wir  vor  Allem  die  Sagen 
von  dem  Wasserungeheuer,  dem  Drachen  oder  der  Schlange  in 
der  indischen  Mythologie  durchgehn. 

Die  wichtigste  der  Heldenthaten,  welche  der  vedische  Gott 
Indra  vollbringt,  ist,  wie  schon  bemerkt,  die,  dass  er  das  Unge- 
heuer tödtet;  der  Kampf  Indras  mit  dem  Ungeheuer  ist  das 
Thema  aller  grossen  indo-persischen,  griechisch-römischen,  turko- 
slavischen ,  skandinavo  -  germanischen  und  fränkisch  -  celtischen 
Epen,  wie  auch  der  bei  weitem  grösseren  Anzahl  derVolksmährchen, 
welche  das  wahrhafte  epische  Material  der  neuen  Epopöen  sind. 
Indra,  Vishnu,  Ahura-Mazda,  Feridun,  Apollo,  Heracles,  Eadmos, 
Jason,  Odin,  Sigurd,  und  mehre  andere  Götter  und  Helden  werden 
wegen  ihres  Kampfes  mit  der  Schlange  und  deren  Besiegung  ge- 
priesen. Gewöhnlich  erscheint  nun  in  den  vedischen  Hymnen  das 
schwarze  Ungeheuer  (krishna),  das  wachsende  Ungeheuer  (rauhin), 
das  erwachsene  Ungeheuer  (pipru),  das  Bedecker -Ungeheuer 
(vritra),  das  austrocknende  Ungeheuer  (gushna),  das  zurttck- 
haltende  Ungeheuer  (namuci)  unter  dem  Namen  und  der  Gestalt 
einer  Schlange,  oder  ist  ihr  doch  ähnlich,  *  und  neigt  sich  jeden- 
falls zu  der  Annahme  der  Schlangengestalt  wegen  seines  Geschäftes 
als  constrictor,  seiner  schwarzen  Farbe  und  anderer  charakteris- 
tischer Eigenschaften,  welche  er  gemeinschaftlich  mit  der  Schlange 
(Ahi)  besitzt. « 

Das  von  -Indra  getödtete  Ungeheuer,  das  Ungeheuer  mit  der 
schrecklichen  Stimme,  dem  Indra  mit  einem  Donnerkeil  den  Kopf 
einschlägt,   hat  gleich  der  Schlange  keine  Füsse,  keine  Hände 


'  Die  Ungeheuer,  welche  durch  Zaubertrug  in  den  Himmel  steigen, 
aber  von  Indra  getödtet  werden,  kriechen  wie  Schlangen:  Mftyäbhir 
utsiaripsata  indra  dyäm;  Rigv.  VIII,  14,  14. 

*  Arbuda,  d.  h.  das  Ungeheuer,  welches  Indra,  der  Widder  (mesha), 
während  es  liegt,  mit  seinen  Füssen  zertritt ^ (denn  ni-kram  scheint  nur 
diese  Bedeutung  zu  haben),  ist  nichts  Anderes  als  eine  Schlange;  femer 
ist  der,  dessen  Volk  die  sarpäs  oder  Schlangen  sind,  der  König  der 
Schlangen.  Mit  Arbuda  dürfte  das  lat.  rep-ere,  rept-are,  rept-ilis 
in  Verbindung  zu  bringen  sein. 


i. 


640 

und  keine  Schaltern J  Doch  die  Schlange  wird  im  Kigveda 
auch  oft  ausdrücklich  als  ein  Ungeheuer  erwähnt,  welches  die 
Wasser  zurtlckhält  und  welches  von  Indra  getödtet  wird.  Die 
Schlange,  die  Erstgeborene  der  Schlangen^  lag  auf  dem  Berge,  ^ 
lag  unter  ihrer  Mutter,  ^  hielt  zurück  die  Wasser ,  ihre  Weiber, 
eingeschlossen,  wie  ein  Geizhals  seinen  Schatz;^  ein  Geizhals 
oder  reicher  Räuber, ^  einem  Zauberer  gleichend,  stand  der 
Schlangen-Dämon  in  einer  Höhle  eingeschlossen  und  hielt  die 
Wasser  darin  zurück;  ^  er  legte  sich  nieder  und  schlief  vielleicht;' 
er  lag  bei  den  sieben  Strömen ;  ^  Indra  stört  ihn  auf;  ^  in  einem 
anderen  Hymnus  jedoch  reizt  die  Schlange  mit  lautem  Getöse 
Indra  und  stürmt  gegen  ihn  an.  ^^  Wenn  Indra  die  Schlange  mit 
dem  Donnerkeil  tödtet,  oder  sie  zertritt,  oder  sie  verbrennt,  so 
öffnet  er  den  Strom  der  Wasser  und  lässt  ihn  herausfliessen,  nach 
dem  Meere  zu;  er  lässt  die  Sonne  geboren  werden  und  findet 
die  Kühe ;  *  ^  er  zerstört  die  Bänke  des  Zauberers ,  erzeugt  die 
Sonne,  den  Tag  und  die  Dämmerung,  hält  jeden  Feind  in  einer 


^  A  päd  ahasto  apritanyad  indram  lisya  va^ram  adhi  sänäu  ^agliana; 
Rigv.  I,  32,  7.  —  Yo  vya&sam  ^abrish^ena  manyunä  yal^  9ambaram  yo 
ahan  piprum  avratam;  I,  101,  2.  —  Apädam  atiam  mahatä  vadhena  nl 
duryona  ävrinan  mpdhravädam ;  V,  32,  8. 

*  Ahann  ahim  parvate  9i9riyänam;  I,  32,  2.  —  Ahann  enam  pratha- 
ma^m  ahinäm;  I,  32,  3. 

'  Nidävayft  abhavad  Tritaraputrendro  asyä  aya  vadhar  ^abhara  —  attarft 
sür  adharah  putra  äsid  dftuuh  ^aye  sahayatsä  na  dheno^;  I,  32,  9.  Eigent- 
lich spricht  dieser  Vers  von  Vritra  und  nicht  von  Ahi;  da  jedoch  der  Be- 
decker  und  der  Constrictor  aequivalent  sind,  so  scheinen  mir  hier,  in  dem- 
selben Hymnus,  unter  zwei  analogen  Benennungen  nicht  zwei  getrennte 
Wesen  unterschieden  werden  zu  dürfen. 

*  Däsapatnir  ahigopä  atishthan  niruddhft  äpal^  panineva  gltva^;  I,  32, 
11.  —  Der  Leser  wird  sich  an  das  Sprichwort  von  dem  Stall,  den  man 
hinter  der  gestohlenen  Kuh  verwahrt,  erinnern;  vgl.  Seite  177. 

'  Av&daho  diva  ä  dasyum  u66ä;  I,  33,  7. 

*  Guhähitam  guhyam  gülham  apsu  apivritam  mäyinam  k8hi3rantam  uto  - 
apo  dyäm  tastabhvänsam  ahann  ahim  ^ura  viryena;  II,  11,  5. 

^  A9ayänam  ahim  vagrena  maghavan  vi  v^ri^öah:  IV,  17,  7. 

*  Sapta  prati  pravata  ä^ayanam  ahim  vagrena  vi  rina'  aparvau;  IV, 
19,  3. 

*  Sasantam  va^renäbodhayo  'him;  I,  103,  7. 

'®  Navantam  ahim  sam  pinag  rigishin;  VI,  17,  10. 

'*  Sa^mähina  iadro  arno  apäm  präirayad  ahihachä  samudram  aganayat 
HÜryam  vidad  gäh;  II,  19,  4.  —  Srigah  sindhünr  ahinä  ^agrasÄnän;  Rigv. 
IV,  17,  1.  —  Ahann  ahim  anv  apas  tatarda  pra  vakshanä  abhinat  parva- 
tanam;  I,  82,  2. 


641 

Entferanng/  macht  ^  dass  der  Rumpf  der  Schlange  auf  die  Erde 
fällt,  gleich  einem  Banme^  der  mit  Aexten  niedergehauen,  oder 
mit  den  Wurzeln  herausgerissen  ist,^  und  lässt  (wie  auch  in 
russischen  Mährchen  der  fleld  den  Rumpf  des  Ungeheuers,  dem 
er  den  Kopf  abgeschlagen  hat,  ins  Meer  wirft)  über  das  getödtete 
Ungeheuer  die  Wasser  gehen,  welche  "freudig  machen ;  *  die  Göt- 
ter, welche  dem  Indra  dreihundert  (nach  einem  andern  Hymnus 
nur  hundert)  Ochsen  zu  essen  und  drei  Seen  Ambrosia  zu  trinken 
gegeben  haben,  damit  er  im  Stande  sei,  AM  zu  besiegen,  sind 
erfreut  Ober  den  Sieg,  den  Indra  über  die  Schlange  errungen, 
sammt  ihren  Weibern  und  sammt  den  Vögeln;  und  nicht  nur 
diese,  sondern  auch  die  Weiber,  die  Frauen  der  Qötter,  singen 
bei  dieser  Gelegenheit  einen  Hymnus  auf  Indra.  ^ 

Wir  sahen  schon  mehre  Mal  im  Laufe  dieses  Werkes,  wie  der 
Held  oder  die  Heldin  durch  die  Tödtung  ihrer  Ungeheuergestalt 
befreit  werden;  die  Wasser  oder  Regenwolken,  welche  die  Unge- 
beuerweiber  oder  Dämonen  sind,  so  lauge  das  Ungeheuer  sie  in 
der  Dunkelheit  hält,  werden  die  glänzenden  Weiber  der  Götter, 
sobald  sie  befreit  sind ;  dasselbe  lässt  sich  von  der  Aurora  sagen, 
welche  von  dem  finsteren  oder  feuchten  Ungeheuer  Nacht  zurück- 
gehalten wird,  oder  von  dem  Frühling,  der  im  düsteren  Reiche 
des  Winters  festgehalten  wird;  solange  sie  in  der  Gewalt  des 
schwarzen  Dämons  sind,  sind  sie  schwarz  und  ungeheuerartig, 
und  leben  mit  ihm  im  höllischen  Reiche;  aus  diesem  Rdche  be- 
freit, werden  sie  schöne  Mädchen  oder  Prinzessinnen  von  blenden- 
dem Glanz.  Wenn  das  Ungeheuer  mit  dem  Grott  oder  dem  Son- 
nenhelden des  Donnerkeiles  kämpft,  so  bewaffnet  es  auch  seine 
Weiber  und  bedient  sich  ihrer  als  mächtiger  Helfer ;  ^  daher  zielt 


'  Yad  indrähan  prathama^m  ahinäm  ftn  mftyinäm  aminäh  prota 
mftyäh  —  ät  süryam  ^anayan  dy&m  uBh&sam  täditnä  9atrum  na  kilft  vivitse ; 
I,  32,  4. 

^  Ahan  vritram  vritrataram  vyansam  indro  va^ena  mahatä  vadhena 
skandl^sneiva  kuli9enä  vivriknähih  9ayata  upaprik  prithivyäh;  I,  32,  5.  — 
Ud  vriha  rakshah  sahamülam  indra  yn<f6sk  madhyam  praty  agram  ^rinthi; 
III,  20,  17. 

>  ^AJ^i'^™  mano  ruhänä  ati  yanty  äpa^;  I,  32,  8. 

^  Ana  tv&  patnir  b^ishitam  vaya^  da  vi^ve  devftso  amadann  anu  tvft; 
I,  103,  7.  —  Asmä  id  u  gnä9  did  devapatnir  indräy&rkam  abihatya  üvu^; 
I,  61,  8. 

^  Striyo  hi  däsa  Ayudhftni  dakre;  Rigy.  V,  30,  9. 

Oubeniatli,  die  Thlere.  41 


642 

auch  Indra  auf  sie  and  zerfleischt  die  scbwarzbäochigen  Hexen^ ' 
indem  er.  selbst  später  verdammt  wird,  Sabasrayoni  zu  werden. 
In  der  arischen  Volkssage  ist  es  jedoch  oft  die  Tochter,  das  Weib 
oder  die  Schwester  des  Ungeheuers,  welche  dem  Helden  Mittel 
and  Wege  zur  Tödtung  desselben  an  die  Hand  giebt.  In  rassi- 
schen dährchen  ist  eines  der  am  öftesten  empfohlenen  Mittel  zur 
Vernichtung  des  Ungeheuers,  das  in  der  unter  dem  Baum  in  der 
Mitte  des  Meeres  li^enden  Ente  befindliche  Ei  zu  nehmen  und 
es  dem  Ungeheuer  an  die  Stirn  zu  schleudern,  so  dass  dieses  so- 
fort stirbt ;  mit  *  dem  Tode  des  Ungeheuers  heirathen  die  beiden 
jungen  Liebenden,  —  die  Tochter,  Gattin  oder  Schwester  des  Un- 
geheuers und  der  junge  Held  —  einander.  Wir  sahen  eben,  dass 
sofort  nach  der  Tödtung  des  Ungeheuers  durch  Indra  die  Wasser 
herausströmen  and  die  Sopne  erscheint  In  einem  andern  vedi- 
schen  Hymnus  finden  wir  auch  den  interessanten  Umstand  mit 
dem  Ei,  welches  uns  einerseits  an  die  Themen  russischer  Volks- 
mährchen,  andrerseits  an  den,  schon  Theil  TL  Kap.  IX  erwähnten 
Aberglauben  erinnert,  dass  der  Donnerkeil  die  Eier  der  Henne 
zerbricht:  Indra  zerbricht  mit  seiner  Stärke  die  Eier  des  Unge- 
heuers,  das  die  Wasser  austrocknet,  und  gewinnt  die  glänzenden 
Wasser;^  die  Eier  zermalmend  oder  die  Testikeln  des  finstren 
Ungeheuers  verwundend,  macht  er,  dass  die  Sonne  aus  ihnen 
herauskommt,  und  infolgedessen  stirbt  das  Ungeheuer.^    Die  sym- 


■  Sa  VTitrahendra^  krishnayoni^  puramdaro  däsir  ftirayad;  II,  20,  7. 
—  Indra  der  TÖdter  des  Pipru,  Indra  puramdara,  eigentlich  der  den  Vollen 
verwundet,  der  den  VoUen  oder  Gresch wollenen  spaltet,  und  Indra  der 
Zerfleischer  der  schwarsbäuchigen  Hexen  sind  gleichbedeutend;  vgl.  was 
über  den  Donnerkeil  als  Phallus  Theil  I  Kap.  I,  wo  von  dem  Kuckuk  die 
Rede  war,  und  Theil  11  Kap.  V  gesagt  wurde.  —  Rigv.  I,  32,  9  ver- 
wundet Indra  auch  die  Mutter  des  Ungeheuers:  Indro  asyä  ava  vadhar 
gabhära. 

*  Uto  nu  4id  yao^asi  ^ushnasyd^ijani  bhedati  ^eshat  svarvatir  apai^; 
Rigv.  VIII,  40,  10.  —  :^igv.  I,  54,  10  heisst  es,  dass  der  Wolkenberg 
sich  in  den  Eingeweiden  des  Bedeckers  befindet;  man  könnte  sagen,  dass 
die  Schlange  die  Wolke  in  Gestalt  von  Eingeweiden  umwindet.  Der  Leser 
wird  sich  an  das  erinnern,  was  wir  Theil  I  Kap.  I  über  die  Eingeweide, 
das  Herz  und  die  Leber  des  Opferthieres  bemerkt  haben. 

'  Bei  A  fan.  V,  20  finden  wir  eine  sonderbare  Variation,  welche  für 
die  Geschichte  der  MyÜiologie  und  der  Sprache  von  Bedeutung  ist.  Eine 
PrinsessJA'  fvagt  die  jSdilaage,  ihren  Q«mahl,  wodurch  sein  Tod  herbeige- 
führt werden  könne;  die  Schlange  antwortet,  ihr  Tod  könne  herbeige- 
führt werden  durch  den  Helden  Nikita  Kaszemiaka,  der  in  der  That  herzu- 


643 

bolische  Darstellung  des  Sonneigahres  durch  eine  Schlange,  die 
sich  in  den  Schwanz  beisst,  ist  gleichbedeutend  mit  dem  Mythus 
von  dem  Schlangenungeheuer  ^  welches  stirbt^  als  seine  Eier  zer- 
brochen sind,  d.  h.  als  das  Licht  aus  seiner  finsteren  Httlle 
heraustritt. 

Sofern  nun  aber  weiter  aus  dem  Schlangenungeheuer,  der 
Wolke  und  der  Finstemiss,  Blitzstrahlen,  Donnerkeile,  Sonnen- 
strahlen^ Feuerzungen  hervorkommen,  nehmen  sogar  Schlangen  in 
den  vedischen  Hymnen  bisweilen  eine  göttliche  Natur  an.  Der 
vedische  Gott  des  Feuers,  Agni,  der  von  den  Wassern  Geborene 
(napäta  apäm),  Ahir-budhnya  genannt,  ist  schon  mit  dem  Ilv&atv 
oq>ig  der  Griechen  verglichen  worden.  Agni  wird  auch  mit  einer 
Schlange  mit  goldener  Kähne  >  verglichen  ^  welche  uns  an  das 
gehörnte  Ungeheuer  erinnert,  welches  austrocknet,  und  von  wel- 
chem in  einem  andern  Hymnus  als  von  Indra  getödtet  die  Rede 
ist '  Indra  selbst  wird  der,  der  die  Stärke  der  Schlange  hat, 
genannt. '  Die  Maruts  haben-  den  Zorn  der  Schlange ;  ^  und  wie 
die  Maruts  von  goldenem  Schmuck  und  Zierrath  glänzen,  so  er- 
scheinen die  Ungeheuer  mit  Gold  und  Perlen  geschmückt  ^  Im 
Aitareya-Br.^  ist  die  Schlange  Arbuda  sogar  ein  fishi,  ein 
weiser  Dichter  geworden  ^  wie  Pytho  das  Orakel  der  Weisheit  in 
Griechenland  wird,  und  die  Schlangen  stellen  den  Vedas  der 
Götter  einen  eigenen,  den  Sarpaveda,  gegenttber.  An  derselben 
Stelle  des  Aitareya-Br.  haben  wir  die  Beschreibung  eines 
Kampfes  zwischen  den  Göttern  und  einer  giftigen  Schlange,  deren 


kommt  und  das  Ungeheuer  t5dtet,  indem  er  es  in  das  Meer  taucht.  Nikita 
soil  deshalb  ICaszemiaka  heissen,  weil  seine  Beschäftigung  die  war,  Felle 
zu  serreissen.  Die  zerrissenen  Felle  (ygl.  auch  den  Jupiter  Aegiochus) 
nehmen  hier  die  Stelle  des  an  der  Schlange  zerbrochenen  Enteneis  ein 
und  der  von  Indra  zerbrochenen  Eier  des  Ungeheuers.  Im  ItaL  bedeutet 
ooccio  Scherben  eines  G^fasses,  und  in  der  Botanik  auch  Samenhülse; 
incocciarsi  bedeutet  ärgerlich  sein.  Im  Piemontesischcn  sagt  man  von 
Jemandem,  der  andere  Leute  quält,  dass  er  die  Büchsen,  und  mehr  vulgär, 
dass  er  die  Testikeln  zerbricht 

>  Hhranyake^  'hil|^;  9igv.  I,  79,  1. 

*  Vi  ^ringi^am  abhinad  <5hu8hnam  indra^;  I,  d3,  12. 

>  Ahi9ushma8attv&;  V,  33,  5. 

*  Ahimanyaval^;  I,  64,  9. 

*  Cakrfinftsa^  parinaham  prithivyä  hiranyena  maninä  ^umbhamftnft^;  I, 
33,8.  *  * 

*  VI,  1,  1. 

41* 


644 

gieriges  Auge  nach  dem  Soma  schielt,  in  dessen  Besitz  sie  gern 
gelangen  möchte.  Die  Götter  verbinden  ihr  die  Augen;  die 
Schlange  singt  einen  Vers  zum  Preise  des  Soma ;  die  Götter  singen 
als  Gegengift  mehre  Verse  und  vereiteln  den  Erfolg  des  Verses 
der  Schlange.  Auch  die  Hexe  (äsuri)  mit  der  langen  Zunge 
(Dirgha^ihvi)  ist  ohne  Zweifel  eine  Schlange,  die  Hexe,  welche 
wiederum  im  Aitareya-Br.  *  die  Morgenlibation  der  Götter  be- 
leckt und  sie  berauschend  macht.  Im  Rämäyana  wird  erwähnt, 
dass  die  langzungige  Hexe  (Dirghagihvä),  die  V^rschlingerin,  von 
Indra  getödtet  wird.  Der  Kampf  zwischen  den  Göttern  und  den 
Schlangen  um  den  Besitz  der  Ambrosia  ist  das  Thema  einer  lan- 
gen Episode  in  dem  ersten  Buche  des  Mahäbhärata. ^  Die 
Schlange  liebt  Feuchtigkeit,  Wasser,  Ambrosia  und  Regen.  Als 
Bbfma,  der  Sohn  des  Windes,  in  die  Wasser  des  Ganges  gewor- 
fen wird,  fällt  er  in  das  Reich  der  Schlangen,  welche  ihm  das 
Wasser  der  Stärke  zu  trinken  geben. ^  In  dem  Mahäbhärata 
ruft  die  Mutter  der  Schlangen,  welche  von  der  Sonne  verbrannt 
worden  sind,  den  Regen  an,  sie  wieder  zum  Leben  zu  bringen; 
Indra  verhüllt,  ihr  zu  Gefallen,  den  Himmel  mit  Wolken.*  Im 
Rämäyana  werden  statt  der  Schlangen  die  Affen  durch  den 
Regen  wiedererweckt.  Die  Frtihlingsregengüsse  erwecken  auch 
die  Erde,  welche  im  Aitareya-Br.  ^  Sarparagni  genannt  wird 
und  zuerst,  gleich  den  Schlangen,  kahl,  d.  h.  vegetationslos  war; 
sie  rief  die  himmlische  Kuh  an  und  wurde  mit  Bäumen  bedeckt 
In  der  vediscben  Kosmogonie,  die  wir  in  dem  Kapitel  über  die 
Schildkröte  darstellten,  wird  eine  sehr  interessante  Erzählung  von 
der  Art  und  Weise  gegeben,   auf  welche  der  grosse  Stock  oder 

'  I,  3,  22.  —  In  russischf^n  Mährchen  finden  wir  häufig  eine  Schlange 
oder  Hexe,  welche  mit  ihrer  Zunge  die  eisernen  Thore  zu  durchfeilen  oder 
zu  durchstechen  versucht ,  welche  die  Schmiede  einschliessen,  in  welche 
sich  der  verfolgte  Held  geflüchtet  hat^  er  zieht  von  drinnen,  von  göttlichen 
Schmieden  unterstützt,  die  Zunge  der  Hexe  mit  rotbglühenden  Zangen 
herein  und  fuhrt  so  ihren  Tod  herbei;  darauf  öfinet  er  die  Thore  der 
Schmiede,  welche  bald  den  rothen  Abend-,  bald  den  rothen  Morgenhimmel 
darstellt. 

*  I,  792  ff.  —  Vgl.  auch  das  zweite  ehstnische  Mährchen,  wo  der 
junge  1:1  eld  in  dem  Reiche  der  Schlangen  aus  dem  Becher  des  'Schlangen- 
königs selbst  Milch  trinkt. 

»  Mbh.  I,  5008  ff. 

*  I,  1283—1295. 
»  V,  4,  23. 


646 

Phallus,  der  Erzeuger  der  Welt,  züm  Umdrehn  gebracht  wird. 
Die  Schlange  Ananta  (die  Unendliche)  oder  Vasuki ,  ^  welche  die 
Berge  in  Umwälzungen  versetzt,  schlängelt  sich  darum;  der  Berg 
und  die  Schlange  sind  synonym ;  ^  es  sind  zwei  Phalli,  welche 
einander  reiben  und  den  Samen  hervorbringen  (nägalatä  oder 
Kletterschlange,  Schlangenkriecher,  ist  einer  der  indischen  Namen 
des  Phallus;  und  im  Sanskrit  bezeichnet  näga,  nägapada,  näga- 
pe<;a,  nägapä^aka  Vereinigung  in  der  Weise  von  Schlangen, 
welche  ihre  Körper  in  ihrer  ganzen  Länge  auf  einander  legen,  ^ 
ebenso  wie  Feuer  hervorgebracht  wird  durch  die  Reibung  zweier 
Stücke  Holz  —  der  arani).  Ananta  oder  Vasuki,  und  Mandara  oder 
Ka^apa,  dann  auch  Ka^yapa,  werden  miteinander  identificirt ;  und 
das  ist  um  so  wahrscheinlicher,  als  Kagyapa  auch  Vasuka  genannt 
wird  und  als  Kagyapa  selbst  in  einer  anderen  kosmogonischen 
Legende  des  Mahäbhärata  als  zwei  Weiber  befruchtend  er- 
scheint: Kadrü,  eigentlich  die  Dunkle,  und  Vinata,  ^  eigentlich  die 
Hohle,  Gekrümmte,  Geschwollene  (zwei  Bezeichnungen,  durch 
welche  in  gleicher  Weise  der  yoni  dargestellt  zu  werden  scheint), 
deren  eine  das  Ei  hervorbringt,  aus  dem  Schlangen  ausgebrütet 


1  Vgl.  KämAy.  I,  46,  und  Mbh.  I,  1053.  llöO.  —  in  dem  R&mäy. 
(Vi,  26)  sollen  die  Pfeile  der  Ungeheuer  binden,  gleich  Schlangen;  der 
Vogel  Gfiru4a  erscheint  und  die  Schlangen  machen  sich  los,  die  Fesseln 
sind  verloren.  Rilma  und  Lakshmana,  für  todt  gehalten,  stehen  stärker 
denn  bevor  wieder  auf. 

'  Wie  wir  sahen,  dass  mandara  gleichbedeutend  ist  mit  manthara, 
der  Schildkröte,  welche  nach  der  kosmogonischen  Sage  das  Gewicht  des 
Berges  trägt  oder  des  ungeheuren  Stockes,  der  den  Berg  hervorbringt,  so 
trägt  in  einer  anderen  indischen  Legende  (Mbh.  i,  i587  f.)  Ananta  das 
Gewicht  der  Welt.  —  Die  Ruthe  von  Perlen,  welche  in  Fett  gelegt,  dem 
jungen  Prinzen  Alles  verschafit,  was  er  begehrt,  scheint  dieselbe,  ursprüng- 
lich phänische  Bedeutung  xu  haben  wie  der  mandara;  es  ist  der  König 
der  Schlangen,  der  sie  dem  jungen  Prinzen  verleiht.  Das  Fett  kann  in 
dem  mythischen  Himmel  die  Milch  der  Morgendämmerung  oder  der  Regen 
der  Wolke,  oder  der  Schnee,  oder  der  Thau  sein;  sobald  der  Donüerkeil 
das  Fett  der  Wolken  berührt,  oder  sobald  der  Sonnenstrahl  die  Milch  der 
Dämmerung,  der  Sonne  berührt,  kommen  Reichthümer  heraus. 

*  Der  coitus  wird  im  Tuti-Name  auch  Schlangenspiel  genannt 
(II  p.  76).  Preller  und  Kuhn  haben  schon  die  phailische  Bedeutung  des 
caducous  (r^iTfiTTiXog)  des  Hermes  nachgewiesen,  der  bald  mit  zwei  Flügeln, 
bald  mit  zwei  Schlangen  dargestellt  wird.  Die  phallische  Schlange  ist 
die  Ursache  des  Falles  des  ersten  Menschen. 

*  Vinatä  ist  auch  der  Name  eines  weiblichen  Krankheitsdämons  im 
Mahäbhärata  (lU,  14480). 


646 

werden,  und  besonders  die  mit  menschlichen  Gtesichtenii  gleich 
den  Teufeln,  und  deren  andere  das,  welchem  Aruqa  und  Garuda 
(eine  Gestalt  der  A^vins)  entspringen.  Während  sich  im  M  a  h  &  - 
bhärata  die  Schlange  Vasuki  an  dem  Mandant  reibt  und  ihn  in 
Umdrehung  versetzt,  bilden  der  Wind,  der  Bauch  und  die  Flam- 
men, die  sie  aus  dem  Munde  bläst,  Wolken,  mit  deren  Wasser 
die  schaffenden  Götter  später  erquickt  werden.  Obwohl  dieses 
letzte  Moment  die  Schlangen  auf  die  Wohlfahrt  der  Götter  bedacht 
zeigt,  nehmen  sie  in  der  indischen  Sage  dieselbe  Stelle  ein,  wie 
Angrus  Mainyus  oder  Ahriman  in  der  persischen;  während  der 
eine  Phallus  glänzenden  Erscheinungen  und  guten  Wesen  das 
Leben  giebt,  verdanken  dem  anderen  finstere  Erscheinungen  und 
böse  Wesen  ihre  Entstehung. 

Unter  den  Erzeugnissen  des  phallisehen  und  Schlangengenius 
der  Dunkelheit  befinden  sich  die  Wolken.  Im  R&mftya^a^ 
schläft  das  Ungeheuer  Kumbhakarna  sechs  Monate  lang ;  kein  noch 
so  grosser  Lärm  von  Pauken  und  Trompeten  noch  irgend  ein 
Getös  kann  ihn  wecken;  er  wird  mit  Hämmern  geschlagen,  aber 
fühlt  nichts;  Elephanten  gehen  über  ihn,  aber  er  rtthrt  sich  nicht: 
schliesslich  genügt  das  Klirren  der  goldenen  Zierrathen  von  Wei- 
bern, um  ihn  aufzustören.  Er  erhebt  sich ;  seine  Arme  gleichen 
zwei  grossen  Schlangen  und  sein  Mund  dem  Bachen  der  Hölle. 
Er  gähnt,  und  ein  furchtbarer  Windstoss  durchzittert  die  Welt  bis 
an  ihre  Enden.  Der  Anblick  Kumbhakarnas,  als  er  sich  erhebt, 
gleicht  dem  einer  ungeheuren  regenschwangeren  Wolke  gegen 
Ende  des  Sommers,  er  ist  gehörnt  gleich  einem  Berge  und  brüllt 
gleich  einer  Donnerwolke.  Kaum  ist  er  geboren,  als  er,  durch 
den  Fluch  Brahmans  verdammt,  das  ganze  Jahr  mit  Ausnahme 
eines  einzigen  Tages  (d.  h.  im  Herbste)  zu  schlafen,  Nahrung 
verlangt,  und  Büffel,  wilde  Eber,  Männer  und  Weiber  verschlingt ; 
einst  verschluckte  er  sogar  die  zehn  Nymphen  oder  Apsarasen  (die 
Wolken,  welche  über  den  Wassern  wehen)  des  Gottes  Indra;  er 
findet,  dass  die  Welt  nicht  mit  genug  Thieren  zur  Stillung  seines 
Hungers  versehn  ist.  Als  sich  Kumbhakarna  bewegt,  um  gegen 
die  Affen  Bamas  zu  kämpfen,  zieht  er  seine  Feinde  an  sich,  um 
sie  zu  verschlingen;  er  empfängt  den  Stoss  ganzer  Berge,  ohne 
erschüttert  zu  werden.  Bäma  schlägt  ihm  einen  seiner  Arme  ab, 
dieser  aber  (oder  die  Schlange  oder  die  Wolke,  welche  abge- 
schnitten ist,   |B;leich  d^m  Stock   d^r  Mährchen,  der  von  selbst 

>  VI,  87  flF.  46. 


647 

schlägt)  fährt  forty  die  Ungeheuer  zu  massaorirefi,  fidma  hant  dem 
Kambhakarna  den  andern  Arm  ab;  aber  auch  dieser  metzelt  die 
Feinde  auf  eigene  Faust  nieder.  ^  SchliessUeb  schiesst  ihn  Räma 
in  Mund  und  Herz;  das  Unthier  fällt  und  zermalmt  in  seinem 
Fall  zweitausend  Affen  mit  seinem  riesigen  Leibe.  Hier  sehen 
wir  also  wieder  das  Ungeheuer  und  die  Schlange  in  Beziehung 
zu  den  Wolken  und  Wassern.  Die  Schlange,  d.  h.  die  Regenzeit 
oder  die  Nacht  berühren^  ist  für  den  Sonnenhelden  (oder  -heldin) 
dasselbe  wie  sterben.  Im  Mahäbh&rata^  fällt  das  Mädchen 
Pramadvarä  todt  zu  BodeU;  als  sie  unversehens  auf  dem  Wege 
mit  Aem  Fuss  auf  eine  Schlange  getreten  ist;  Ruru  bringt  sie 
wieder  zum  Leben,  indem  er  die  Hälfte  seines  eigenen  Lebens 
preisgiebt  In  dieser  Sage  personificirt  das  Jahr  oder  der  Tag 
das  Leben;  der  Sommer  opfert  sich  ftlr  den  Winter,  der  Tag  für 
die  Nacht,  die  Sonne  ftlr  den  Mond,  und  —  vice  versa.  In  der 
schönen  Sage  von  Savitrt  opfert  sich  das  Weib  und  weiht  sich  dem 
Yama,  dem  Gott  der  Todten,  um  ihrem  Gatten  treu  zu  sein.  In 
demselben  Mahäbh&rata^  fällt  der  König  Partkshit  in  die 
Gewalt  Takshakas,  des  Königs  der  Schlangen,  einer  Erscheinungs- 
form Yamas  des  Todtengottes  (auch  Ananta  genannt),  weil  er  eine 
todte  Schlange  auf  die  Schultern  eines  Brahmanen  geworfen  hatte. 
Im  R&mäyana*  heisst  es,  dass  ein  Mann,  der  im  Schlaf  in  die 
Hände  des  Todtengottes,  Yama,  gefallen  war,  von  einer  giftigen 
Schlange  gebissen  wird.  Eben  der  Strick,  mit  welchem  Yama, 
der  Todtengott,  die  Menschen  bindet,  ist  eine  Schlange.  Auf  diese 
Schlange  Yamas  mttssen  wir  das  verhängnissvolle  Halsband  mit 
sieben  Schlangen  und  hieben  Perlen  (ein  Symbol  des  Jahres,  halb 
glänzend,  halb  düster)  zurückführen,  welches  Hepbaestos  der 
Harmonia  und  dem  Kadmos  bei  Gelegenheit  ihrer  Hochzeit  gab. 
Kadmos  und  Harmonia  werden  Schlangen  und  von  den  Göttern 
in  den  Himmel  aufgenommen.  Die  Töchter  des  Kadmos  nehmen 
sämmtlich  ein  unglückliches  Ende.  Das  Halsband  kommt  später 
in  den  Besitz  der  Eryphile,  weshalb  den  Amphiaraos,  und  in  der 
Folge  auch  den  Alcmaeon  Unglück  trifft  Als  Sitd,  ^  um  den  un- 
gerechten Verdächtigungen  ihres  Gemahls  und  der  üblen  Nachrede 


>  Vgl  hierzu  TheU  I  Kap.  I.  U. 
«  I,  949,  974. 
»  I,  1671.  1980  ff. 

♦  IV,  16. 

*  Rtmfty.  VII,  101  105. 


ft46 

des  Volkea  aa  entgebea^  aus  doR  BUeken  der  Menschen  zn  ver- 
schwinden,  und  unter  die  Erde  zn  versinken  wttnscbt^  trsLff&a  sie 
die  Schlangen  (pannagäs^  die  nicht  auf  Füssen  Gehenden)  auf 
ihren  Köpfen  (vgL  in  der  christlichen  Sage  die  heilige  JnngfraU; 
welche  dem  SchlaDgen-VeriÜhrer  den  Kopf  zertritt);^  und  aus  den 
Tiefen  der  Erde  schallt  eine  Stimme  herauf:  ^^Sejiwer  ist  au  er- 
langen der  Anblick  dieses  WeibeS;  welches  in  den  drei  Welten 
wohnt;  hier  unten  weilend>  wird  sie  von  den  Schlangen  geehrt 
(pu^yate  n4gaih)  und  in  der  Welt  der  Sterbliche  von  JedenuMin ; 
Nektar  der  höher  Gepriesenen^  ist  sie  die  Sättigerin  der  Unsterb- 
lichen/^ Das  Keich  der  Nägas^  oder  die  Stadt  Bhogavati  (ein 
zweideutiges  Wort^  das  sowohl  ^^it  Schlangen  versehn^^  als  ^^mit 
Beichthümern  versehn^'  bedeutet)  ist  voll  von  Schätzen,  wie  die 
Hölle  der  westlichen  Sage.  Diese  höllische  Welt  sank  definitiv 
u  n  t  e  r  die  Erde,  als  die  Götter,  nach  ihrem  Fall,  niedrigere  Ge- 
stalten auf  der  Erde  und  auf  den  Wassern  der  Erde  annahmen; 
die  untere  Welt  wurde  das  Beich  der  Schlangen  und  der  Teufel^ 
des  vedischen  wolkigen  und  finsteren  Himmels  (Teufel  und 
Schlangen  stellt  deshalb  die  jtldische  Sage  mit  grossem  Becht  als 
gefallene  E^gel  dar).  Die  Schätze  des  HimmelS;  von  dem  wol- 
kigen oder  finsteren  Ungeheuer  Nacht  oder  Winter  vevsteckt, 
giligen  in  die  Erde  ein;  die  Beobachtung  himmlischer  E^rschei- 
nnngen  kam  dieser  Vorstellang  zu  Hilfe.  Die  wahren  mythischen 
Schätze  des  Himmels  sind  die  Sonne  und  der  Mond  in  ihrem 
Glänze ;  wenn  sie  untergehn,  so  scheinen  sie  sich  unter  der  Erde 
zu  verbergen;  der  Sonnenheld  geht  unter  die  Erde,  er  geht  in 
die  Hölle,  nachdem  er  alle  seine  Schätze  und  alle  seine  Beich- 
thümer  verloren  hat;  er  tritt  in  Armuth  seine  unterirdische  Beise 
an;  wenn  sich  die  Sonne  von  dem  Berge  erhebt,  so  scheint  sie 
aus  dem  Boden  zu  steigen ;  der  Sonnenheld  kehrt  von  seiner  Beise 
durch  die  Hölle  zurück,  er  kommt  glänzend  und  reich  zurück; 
der  höllische  Dämon  giebt  ihm  einen  Theil  der  Schätze,  die  er  be- 
sessen^ wieder,  oder  aber  der  junge  Held  gewinnt  sie  wieder  durch 
seine  Tapferkeit.  Doch  diese  Hölle  war  einst  der  feuchte,  winter- 
liche, nächtliche  Himmel  selbst,  aus  welchem  bald  die  Sonne, 
bald  der  Mond  auftaucht;  der  Held  oder  der  Gott  wurde  verdunkelt 
oder  verfinstert,  und  nahm  in  dem  Himmel  selbst  eine  finstere 
Gestalt  an;  wie  wir  schon  sagten,*  der,  der  diese  Gestalt  vernichtet, 
zerfleischt  oder  tödtet,  leistet  dem  armen,  verfluchten  Wandeijnden, 


'  Vgl.  hierüber  Theil  I,  Kap.  I  und  XU,  Theil  III,  Kap.  IV. 


649 

der  sie  trägt^  einen  Dienst.  Wir  werden  an  das  Wasser-Unge- 
bener  imRämäyana^  durch  den Oandharva ^  Tumbum  erinnert, 
welcher  in  Folge  eines  Fluches  die  Gestalt  des  Ungeheuers 
Virädha  annahm,  welches  dem  Rama  die  Sttä  entführt,  lediglich 
in  der  Absicht,  sich  von  Räma  tödten  nnd  dadurch  von  dem  Fluch 
befreien  zu  lassen,  so  dass  er  wieder  in  den  Himmel  aufsteigen 
kann.  In  ähnlicher  Weise  befreit  Hanumant  die  Ogrin  des  Sees, 
die  Ergreiferin  (grahi)  und  Verschlingerin ,  welche  einst  eine 
Nymphe  war,  ^  von  ihrem  Fluche.  Der  Körper  des  alten  Bishi 
Qarabhaliga  giebt  uns  ebenfalls  die  Vorstellung  eines  Schlangen- 
leibes., ^arabhafiga  wflnscht  sich  davon  zu  befreien,  wie  eine 
Schlange  ihre  alte  Haut  abstreift.  Er  geht  nun  in  das  Feuer; 
dieses  verbrennt  ihn ;  Qarabha&ga  kommt  aus  dem  Brande  jung, 
glänzend  und  so  flimmernd  wie  Feuer  heraus.  ^  In  der  berühmten 
Episode  von  Nala  im  Mahäbhärata^  bittet  dagegen  die 
Schlange  Karkatoka,  von  den  Flammen  umgeben,  den  Nala,  sie 
aus  denselben  zu  befreien;  sie  macht  sich  klein,  damit  Nala  sie 
forttragen  könne ;  Nala  thut  es  und  die  Sehlange  beisst  ihn ;  dar- 
auf verliert  er  seine  Gestalt,  welche  in  die  der  Schlange  übergeht. 
In  dieser  neuen  diabolischen  Gestalt  wird  Nala  unverwundbar 
und  unsichtbar.  Die  verschiedenen  Rollen,  die  das  Feuer  in  den 
Sagen  spielt,  lassen  sich  durch  Beziehung  auf  den  Sonnenhelden, 
bald  am  Morgen,  bald  am  Abend,  bald  im  Frühling,  bald  im 
Herbst  verstehn:  son  Morgen  und  im  Frühling  geht  die  Schlange 
der  Nacht  in  die  Flammen  ein  und  wird  wieder  ein  schöner  Jüng- 
ling; am  Abend  und  im  Herbst  konunt  die  Schlange  aus  den 
Flammen  der  Abend-Aurora  oder  des  Sommers  heraus  und  wird 
der  Mond,  nachdem  sie  die  Sonne  hat  verschwinden  lassen  oder 
sie  unsichtbar   und  unverwundbar  gemacht  hat.    Bei  A  fan  as - 


>  III,  8. 

'  Vgl.  das  über  die  Gandharvas  in  Theil  I,  Kap.  lU  Bemerkte. 

*  Rämfty  VI,  82.  —  Diese  Nymphe  wird  grfthi,  weil  sie  einst  einen 
heiligen  Brahmanen  mit  ihrem  Wagen  geschlagen  hatte.  Derselbe  Gruud 
wird  für  den  Fluch  angeführt,  der  den  in  eine  ungeheure  Schlange  ver- 
wandelten König  Nahusha  trifft;  diese  Schlange  quält  den  Helden  Bhima; 
sein  Bruder  Yudhisbthira  eilt  herbei  und  beantwortet  in  befriedigender  Weise 
die  abstrusen  philosophischen  Fragen,  welche  die  Schlange  an  ihn  richtet; 
diese  lässt  den  Bhima  los,  streift  ihr  Fell  ab  und  steigt  als  Nahushii 
zum  Himmel  auf ;  M  b  h.  UI,  12356  ff. 

*  K&mäy.  UI,  8. 

*  m,  2609  ff. 


650 

sieff  VI,  47  ist  ein  Jäger  (der  jagende  Sonnenheld)  im  Begriff, 
den  Ofen  zn  beizen ;  eine  Schlange  liegt  darin  und  yerspricbt,  ihn 
glücklich  zu  machen  und  ihm  die  Sprache  aller  Thiere  zu  lehren, 
wenn  er  sie  aus  dem  Feuer  ziehen  wolle.    Sie  sagt  dem  Jäger, 
er  solle  nur  das  Ende  seines  Stockes  in  das  Feuer  stecken ;  dadurch 
werde  es  ihr  möglich,  zu  entfliehn ;  der  Jäger  willigt  ein,  wird  aber 
gewarnt,  bei  Todesstrafe  Niemandem  das  Geheimniss  zu  verrathen. 
Die  Schlange  ist  in  der  indischen  Sage  nicht  blos  ungeheuer- 
lich und  bösartig,   sondern  zugleich  auch  die  gelehrte   und  die, 
die  Wissen  verleiht ;  sie  opfert  sich,  um  den  Helden  das  Wasser 
des  Lebens,  das  Wasser  der  Stärke,  das  heilkräftige  Kraut  oder 
den  Schatz  forttragen  zu  lassen ;  sie  verschont  nicht  nur,  sondern 
begünstigt  sogar  den  vorbestimmten   Helden;  sie  vernichtet  Indi- 
viduen, aber  erhält  die  Species;  sie  verschlingt  Nationen,  schützt 
jedoch  die  regenerirenden  Könige;  sie  vergiftet  Pflanzen  und  lässt 
Menschen  in  tiefen  Schlaf  fallen,   aber  giebt  in  ihrem  geheimen 
Reiche  der  Sonne  neue  Stärke,  welche  wiederum  der  Welt  jeden 
Morgen  und  jeden  Frühling  neues  Leben  giebt   In  dem  vedischen 
Himmel  ist  die  Schlange   ein   Zauberer,   der   in  jeder  Art  von 
Zauberei  erfahren  ist;  im  Reiche  der  Schlangen  gewinnt  der  ver- 
irrte junge  Held  seinen 'Glanz,  seine  Weisheit  und  seine  Sieges- 
gewalt wieder.    Daher  die  Verehrung  der  Schlange  in  Indien  als 
des   Symboles  jeder  Art   von    Wissen.     Wir  fanden   bei  einer 
früheren  Gelegenheit  die  gehörnte  oder  mit  einer  crista  versehene 
Schlange,  welche  im  Rigveda  das  Feuer  oder  den  €U)tt  Agni 
personificirt,  und  daher  konnten  wir  den  Kamm  oder  die  Mähne 
der  Sonne  verstehn,  welche  aus  der  Dunkelheit  herauskommt ;  so 
liegt  der  Gott  Hari  oder  Vishnu  auf  einer  mit  einer  crista  ver- 
sehenen  oder  mähnenköpfigen  Schlange.    Dreiköpfige  Schlangen 
oder  Drachen,  wie  sie  in  den  Mährchen  berühmt  sind,  kommen  im 
HarivauQa^   vor  und   entsprechen  dem   vedischen   Ungeheuer 
Trigiras,  d.  h.  Dreiköpfiger.    Die  crista  der  Schlange  ist  der  Gott 
Vishnu  selbst,  als  Sonnengottheit,  welche  aus  dem  Leibe  der  Schlange 
herauskommt.    Daher  wird  besonders   die  Hauben-Schlange,    im 
Malabarischen   Nalla  Pämba  genannt,   in   Indien  verehrt    „Die 
plötzliche  Erscheinung  einer  dieser  Schlangen,''  schreibt  Lazzaro 
Papi,  ^  „wird  als  ein  Vorzeichen  eines  Glücks  oder  Unglücks  be- 


*  Tri9ir8hä  iva  nägapotfts;  12,  744. 

*  Vgl.  Papi,  Lettere  sulle  Indie  Orientali,  Lucca,  1829;   diese 
Schlange  ist  die  cobra  de  capello  der  Portogisen. 


651 

trachtet  Es  ist  die  Gottheit  selbst,  die  in  dieser  Gestalt  steckt^ 
oder  diese  ist  wenigstens  ihr  Bote  nnd  die  Bringerin  von  Beloh- 
nungen oder  Zttchtignngen.  Obwohl  sie  sehr  giftig  ist,  wird  sie 
weder  getödtet,  'noch  irgendwie  bennmhigt  in  dem  Hanse,  in 
welches  sie  kommt,  sondern  respectirt,  und  von  den  Abergläu- 
bischeren sogar  geliebkost  und  angebetet.  Sie  geben  ihr  Milch 
zu  trinken  und  die  Bequemlichkeit;  an  welche  sie  gewöhnt  ist; 
sie  errichten  kleine  Hütten  fttr  sie  und  bereiten  Nester  für  sie 
unter  grossen  Bäumen.  Das  erinnert  mich  an  die  alten  Ein- 
wohner von  Preussen,  welche  mehre  Schlangen  zu  Ehren  -des 
Patriumpho  oder  Patrimpos,  ihrer  Gottheit,  mit  Milch  nährten.  Die 
Familie,  in  welcher  eine  dieser  Schlangen  ihren  Wohnsitz  auf- 
schlägt, hält  sich  fttr  glücklich  und  sicher  vor  Armuth  und  an- 
derem Missgeschick ;  stirbt  Jemand,  wie  das  nicht  selten  vorkommt, 
an  ihrem  Biss,  das  Opfer  seiner  Leichtgläubigkeit,  so  ist  das,  sagen 
sie,  eine  Strafe  Gottes,  die  ihn  für  ein  Verbrechen  trifft"  Eis  ist 
fast  derselbe  Glaube,  wie  der,  welchen  wir  im  vorigen  Kapitel  in 
Bezug  auf  die  Kröte  und  die  Amphisbaena  fanden.  In  Ungarn 
sagt  man,  wie  Graf  Geza  Kuun  mir  mittheilt,  dass  manche  Feen 
mit  einer  Sehlangenhaut  geboren  werden,  ihre  Gestalt  aber  wieder 
annehmen,  sobald  diese  Schlangenhaut  abgefallen  ist.  Es  heisst, 
dass  sich  unter  einer  Schlangenzunge  ein  kostbarer  Stein  finden 
lässt  Wenn  sich  die  Schlangen  in  der  Frühlingssonne  wärmen, 
so  blasen  sie  den  Stein  (oder  die  Sonne  selbst)  aus,  und.  ver- 
bergen ihn  in  der  Folge  unter  der  Zunge  einer  noch  grösseren 
Schlange,  des  Königs  der  Schlangen. 

Die  Schlange  beschützt  und  verwahrt  nach  dem  Volks- 
glauben die  verlorenen  Schätze,  und  behütet  die  Seele  des 
todten  Helden ;  deshalb  werden  in  Indien  die  Schlangen,  wie  die 
Krähen  unter  den  Vögeln,  als  verkörperte  Seelen  der  Todten  ver- 
ehrt. In  Deutschland  ^  verleiht  die  weisse  Schlange  (d.  h.  der 
schneeige  Winter)  Jedem,  der  von  ihr  isst  (oder  dem  sie  die 
Ohren  ausleckt),  die  Gabe,  die  Vögelsprache  zu  verstehn,  wie 
auch  die  Gabe  universaler  Kenntniss  (in  der  Christnacht,  d.  h.  in 
der  Mitte  des  Schnees  können  die,  welche  vorbestimmt  sind, 
Wunder  zu  sehn,  in  den  Ställen  die  Sprache  des  Viehs,  und  in 
den  Wäldern  die  Sprache  der  Vögel  verstehn;  der  Sage  nach  sah 
Charles  le  Gros  in  der  Christnacht  Himmel  und  Hölle  offen,  und 


■  Vgl.  Simrock,  Deutsche  Mythologie,   pp.  478.  513.  514,  und 
Bochbolz,  Deutpober  Gl.  und  Br.,  I,  146. 


652 

konnte  seine  Vorahnen  erkennen).  So  erhielten  in  Griechenland 
MelanipuS;  Gassandra  nnd  Tiresias  die  Sehergabe  durch  ihre 
BerUhrnng  mit  der  Schlange,  in  späterer  Zeit  durch  den  Python 
nnd  die  pythische  Seherin  symbolisirt^  als  die  Bewahrer  aller 
Weisheitsorakel.  In  der  skandinavischen  Mythologie  nimmt  auch 
Odin  die  Qel^talt  einer  Schlange  (ormr)  nnd  den  Namen  Ofhir 
aU;  ebenso  wie  in  der  griechischen  Mythologie  Zeus  eine  Schlange 
wird,  als  er  den  Zagreus^  den  Stierköpfigen;  einen  anderen  Zeus 
oder  einen  anderen  Dionysos  schaffen  will.  Bei  Rochholz  und 
Simrock  finden  wir  Andeutungen  derselben  Verehrung  der  Schlange 
als  eines  guten  Hansgeistes  wie  in  Indien.  Crewissen  kleinen 
Hausschlangen  wird  Milch  zu  trinken  gegeben;  sie  werden  zu 
Wächtern  über  kleine  Kinder  in  ihren  Wiegen  angestellt,  mit 
denen  sie  ihre  Nahrung  theilen ;  sie  bringen  den  Kindern,  in  deren 
Nähe  sie  sich  aufhalten,  Olück ;  es  wird  deshalb  als  ein  todwttrdiger 
Frevel  betrachtet,  sie  zu  tödten.  Es  wird  femer  gefabelt^  dass  ein 
Kind  bisweilen  mit  einer  Schlange  um  den  Hals  geboren  wird 
und  dass  beide  dann  unzertrennlich  sind  (ein  Bild  des  Jahres  und 
des  Tages,  halb  glänzend  und  halb  finster^  voneinander  nicht  zu 
trennen).  Sie  bewacht  das  Vieh  in  den  Ställen  und  besoi^  guten 
und  schönen  Mädchen  Männer^  die  ihrer  würdig  sind.  Nach  einer 
Volkssage  befinden  sich  in  jedem  Hause  zwei  Schlangen  (eine 
männliche  und  eine  weibliche),  welche  nur  erscheinen,  um  den 
Tod  des  Hansherrn,  resp.  der  Hausherrin  anzuzeigen ;  wenn  diese 
sterben,  so  hat  auch  das  Leben  der  Schlangen  ein  Ende.  Eine 
dieser  Schlangen  tödten  heisst  das  Haupt  der  Familie  tödten. 
Von  dieser  Seite,  als  Beschützer  von  Kindern,  als  Mädchenver- 
sorger,  und  mit  dem  Haupt  der  Erzeuger  der  Familie  identificirt, 
ist  die  Schlange  wiederum  eine  Erscheinungsform  des  Phallus. 
Aus  der  finsteren  Schlange  der  Nacht,  des  Winters,  ja^  aus  dem 
vom  Monde  erhellten,  nächtlichen  und  winterlichen  Himmel  taucht 
die  Tages-,  die  Frtthlingssonne,  der  Tag  und  die  warme  und 
glänzende  Jahreszeit  auf.  Der  Ogre,  Drache  oder  die  Schlange 
hält  die  Wasser  in  der  Wolke  und  die  Wasser  in  den  Strömen 
zurück,  besetzt  die  Brunnen,  liegt  an  den  Wurzeln  des  Baumes, 
welcher  Honig  giebt,  des  ambrosischen  Baumes,  des  Baumes  in 
der  Mitte  des  Milchmeeres;  wieder  werden  Baum  und  Phallus 
identificirt.  Der  phrygische  Attis,  von  Cybele  geliebt,  wird  seines 
Phallus  beraubt  und  stirbt;  Cybele  verwandelt  ihn  in  eine  Fichte 
(welche  Fichtenäpfel  trägt  und  immergrün  ist,  welche  gleich  dem 
Monde  sogar  die  Schrecken  des  Winters  übersteht),  in  welcher 


J 


653 

der  regenerirende  Phallus  personificirt  wird ;  die  Cypresse,  welche 
die  drei  Brüder  der  Feenmährchen  während  der  Nacht  hüten 
müssen,  welche  aber  nur  der  jüngste  Bruder  glücklich  von  dem 
Drachen  oder  der  Schlange  befreit,  die  sie  entführt,  wird  auch  in 
der  persischen  Sage  als  in  der  Mitte  eines  Ambrosia-Sees  be- 
iindlich  dargestellt.  Die  Schlange  stiehlt  diesen  Baum,  wie  sie  im 
indischen  Mythus  den  Göttern  die  Ambrosia  stiehlt;  sie  weiss 
sehr  wohl,  dass  auf  ihm  die  regenerirende  Kraft  des  Helden 
beruht,  den  die  Schlange  gebissen  hat;  bisweilen  stiehlt  sie  ihm 
den  Baum,  und  bisweilen  wacht  sie  über  denselben.  Aus  dem 
goldenen  Apfel  oder  aus  der  Orange  des  von  dem  Drachen  be- 
wachten Baumes  kommt  im  Volksmährchen  das  schöne  Mädchen ; 
der  Drache  hält  sie  auf  dem  Wege  ein  zweites  Mal  zurück,  indem 
er  sie  auf  einen  Baum  steigen  lässt  oder  sie  in  den  Brunnen 
wirft,  bei  welchem  das  schöne  Mädchen  ein  dunkler  Fisch  oder 
ein  dunkler  Vogel  (eine  Schwalbe  oder  eine  Taube)  wird,  um 
aus  dem  Fisch  (resp.  dem  Vogel)  wiederum  in  der  Gestalt  eines 
schönen  Mädchens  herauszukommen.  Die  Liebe  der  jungen  Prin- 
zessin zu  dem  jungen  Helden  in  russischen  Mährchen  kommt  aus 
dem  Entenei  unter  dem  Baume,  und  der  Tod  des  Schlangen- 
drachen wird  durch  dasselbe  herbeigeführt.  Hier  erscheint  das 
finstere  Ungeheuer  der  Nacht  und  des  Winters,  das  Schlangen- 
ungeheuer, in  Vormundschaft  des  Mondes,  des  Beschützers  von 
Heirathen,  als  ein  ambrosischer  und  immergrüner  Baum,  und 
gleich  der  Cypresse,  ein  Trauerbaum,  welcher  zu  gleicher  Zeit 
ein  Symbol  der  Unsterblichkeit  ist.  Aus  dem  Monde  des  Winters 
und  der  Nacht  kommen  der  Sonnenheld  des  Frühlings  und  des 
Tages,  das  Mädchen  Frühling  und  das  Mädchen  Aurora  heraus. 
Die  Schlange  will,  gleich  der  Kröte,  dem  Frosch,  dem  Fisch  und  dem 
Vogel,  den  Mond  des  Winters  und  der  Nacht  bald  für  sich,  bald 
bietet  sie  denselben  dem  jungen  Helden,  den  sie  beschützt.  Der 
Mond  erscheint,  wenn  die  Tagessonne  im  Westen  untergeht ;  daher 
wurde  der  Garten  der  Hesperiden,  wie  schon  der  Name  sagt,  für 
im  Westen  gelegen  gehalten;  der  Mond  regiert  die  nördliche 
himmlische  Gegend,  die  kalte  Jahreszeit;  aus  diesem  Grunde  ver- 
setzte ApoUodorus  diesen  selben  Garten  der  Hesperiden  in  den 
Norden,  unter  die  Hyperboräer,  wo  nach  Aelian  auch  der  Baum 
des  Vergessens  wuchs.  In  Indien  wurde  der  ambrosische  Baum, 
der  Baum  der  Unsterblichkeit,  der  Baum  von  Brahmans  Paradis, 
gleich  dem  Monde  und  Civa  (dem  Gotte  des  Paradises  und  der 
Hölle,  dem  phallischen  und  vernichtenden  Gotte),  ebenfalls  in  den 


654 

Norden  versetzt;  auf  den  Berg  Mern^  den  pballischen  und 
uranfänglichen  Berg;  bei  dem  See  dee  VergessenS;  von  einem 
Drachen  bewacht;  weil  jedoch  der  Drache  oder  die  Schlange 
öfter  Böses  als  Gutes  darstellt,  weil  Qiya,  der  Mond;  und  die 
Cypresse  sich  von  zwei  Seiten  zeigen,  phallisch  und  unheilvoll; 
paradisisch  und  infernalisch;  weil  Kagyapa^  der  grosse  UrpfaalluS; 
einander  entgegengesetzte  Dinge  in  der  Gestalt  eines  Vogels  und 
in  der  einer  Schlange  schuf,  so  werden  auch  auf  dem  Berge 
Meru  zwei  Bäume  dargestellt,  ein  Baum  des  Guten  und  ein 
Baum  des  Schlechten;  ein  Baum  des  Lebens  und  ein  Baum  des 
Todes.  *  Die  Sage  von  dem  Baume  mit  den  goldenen  Aepfeln 
oder  Feigen,  welcher  Honig  oder  Ambrosia  giebt,  welcher  von 
Drachen  bewacht  wird;  und  in  welchem  das  Leben,  das  Glück, 
der  Ruhm;  die  Stärke  und  die  Schätze  des  Helden  ihren  Anfang 
haben;  finden  sich  bei  allen  Völkern  indogermanischen  Ursprungs 
in  grosser  Anzahl;  in  Indien  wie  in  Persieu;  in  Russland  wie  in 
Polen;  in  Schweden  wie  in  Deutschland,  in  Griechenland  wie  in 
Italien  führen  Volksmythen,  Epen,  Lieder  und  Mährchen  dieses 
merkwürdige  Thema  phallischer  Kosmogonie,  seine  ursprüngliche 
Bedeutung  theilweise  nicht  kennend;  mit  sehr  mannigfachen 
Zwischenfällen  weiter  aus.  ^ 


^  Es  ist  wohl  unzweifelhaft^  dass  auch  die  alten  jüdischen  Erzählungen 
Ton  Adam  und  Eva,  dem  Paradise,  der  Schlange,  und  den  beiden  Bäumen 
(des  Lebens  und  der  Erkenntniss  des  Guten  und  Bösen)  lediglich  mytho- 
logisch zu  verstehen  sind,  und  es  wäre  wohl  Zeit,  dass  gegenüber  Leuten, 
welche  sich  auch  heute  noch  immer  dieser  Erkenntniss  verschliessen ,  die 
mythologischen  Bestandtheile  des  A.  T.s  sorgfältig  zusammengestellt  und 
ihr  mythologischer  Charakter  mit  Evidenz  nachgewiesen  würde. 

'  Vgl.  wiederum  die  Liegende  von  Adam  und  Eva,  dem  Baume,  der 
Schlange  und  dem  Sündenfall.  In  der  mittelalterlichen  Komödie  La  S  ibila 
del  Oriente  sagt  Adam  im  Sterben  zu  seinem  Sohne:  „Mira  en  cima  de 
mi  sepulcro,  que  un  arbol  nece.**  In  russischen  Mährchen  soll  der  junge 
Held  glücklich  sein,  bald  weil  er  an  seines  Vaters  Grab  gewacht  hat, 
bald  weil  er  die  väterliche  Cypresse  vor  dem  Dämon  beschützt  hat,  der  sie 
rauben  wollte.  Nach  einer  Predigt  Hermann  von  Fristlars  (vgl.  Mussafia, 
Sulla  Leggenda  del  legna  della  Croce)  soll  der  Baum,  an  dessen 
Holz  Christus  starb,  eine  Cypresse  gewesen  sein.  Dieselbe  mittelalterliche 
Legende  beschreibt  das  irdische  Paradis,  aus  welchem  Adam  vertrieben 
wurde,  und  wohin  Seth  sich  begiebt,  um  für  Adam  das  Gnadenöl  zu  er- 
langen. Der  Baum  steigt  bis  zum  Himmel  auf  und  seine  Wurzel  reicht 
bis  hinunter  in  die  Hölle,  wo  Seth  die  Seele  seines  Bruders  Abel  sieht 
Auf  der  Spitze  befindet  sich  ein  Kind,  der  Sohn  Gottes,  das  verheisseae 
Oel.    Der  Engel  giebt  dem  Seth  drei  Kömer,  welche  er  dem  Adam  in  den 


656 

Die  persische  Eosmogonie    trägt  einen  weniger  materiellen 
Charakter  als  die  indische;  ihr  Princip  ist  jedoch  dasselbe.    Ahu- 


Mund  stecken  soll;  drei  Sprossen  schiessen  auf,  welche  in  der  Höhe  einer 
Armlänge  bis  zur  Zeit  des  Moses  bleiben ;  dieser  verwandelt  sie  in  Wunder- 
ruthen und  pflanzt  sie  vor  seinem  Tode  wieder;  David  findet  sie  wieder 
und  verrichtet  mit  {ihnen  Wunder.  Die  drei  Sprösslinge  werden  eine  Pflanze, 
welche  stolz  zu  einem  Baum  aufwächst.  Salomo  will  mit  diesem  Holz  den 
Tempel  bauen;  die  Arbeiter  können  Nichts  damit  anfangen;  darauf  läset 
er  es  in  den  Tempel  bringen;  eine  Sibille  versucht,  sich  darauf  zu  setzen, 
und  ihre  Kleider  fangen  Feuer;  sie  ruft:  ,^e8us,  Gott  und  mein  Herr!'^ 
und  prophezeit,  dass  der  Sohn  Gottes  an  diesem  Holze  werde  aufgehängt 
werden.  Sie  wird  zum  Tode  verurtheilt  und  das  Holz  in  einen  Fischteich 
geworfen,  welcher  dadurch  thaumaturgische  Kräfte  erlangt;  das  Holz  kommt 
heraus,  und  man  will  eine  Brücke  daraus  machen ;  die  Königin  des  Ostens, 
Saba,  weigert  sich,  darüber  zu  schreiten,  weil  sie  eine  Vorahnung  hat,  dass 
Christus  an  diesem  Holze  sterben  werde.  Abia  lässt  das  Holz  verbrennen 
nnd  ein  Fischtümpel  erscheint  darüber.  ~  Folgendes  schreibt  ein  Schrift- 
steller, dem  man  gewiss  nicht  den  Vorwurf  der  Ketzerei  machen  wird, 
über  das  Symbol  der  Schlange  (Martigny,  Dictionnaire  des  Antiquit^s 
Chr^tiennes):  „Les  ophites,  suivant  en  cela  les  nicolaites  etles  premiers 
gnostiques,  rendirent  au  serpent  lui-m§me  un  culte  direct  d*adoration,  et 
les  manich^ens  le  mirent  aussi  ä  la  place  de  Jösus  Christ  (S.  Augustin. 
De  Haeres.  cap.  XVII.  et  XL  VI.)  Et  nous  devons  regarder  comme  ez- 
tr^ement  probable  que  les  talismans  et  les  amulettes  avec  la  figure  du 
serpent  qui  sont  arriv^  jusqu*  k  nous,  proviennent  des  h^r^tiques  de  la 
race  de  Basilide,  et  non  paa  des  paiens,  comme  on  le  suppose  commun^- 
ment**  Denjenigen,  welche  die  bewunderungswürdigen  Studien  Strauss' 
und  Renans  fortsetzen,  bleibt  es  vorbehalten,  den  versteckten  Sinn  dieses 
Mythus  aufzusuchen.  Wenn  wir  im  Stande  sein  werden,  an  semitische 
Studien  mit  derselben  freien  Kritik  zu  gehen,  wie  an  indogermanische 
Forschungen,  so  werden  wir  eine  semitische  Mythologie  bekommen;  für 
den  Augenblick  freilich  haben  eine  natürliche  Abneigung,  die  geliebten 
Vorstellungen  unserer  leichtgläubigen  Kindheit  aufzugeben,  und  mehr  denn 
Alles  ein  weniger  ehrenhaftes  Bedenken,  was  die  Welt  dazu  sagen  würde, 
Männer  von  wissenschaftlicher  Bedeutung  davon  abgehalten,  jüdische  Ge- 
schichte und  Ueberlieferung  mit  vollständiger  Unparteilichkeit  und  Strenge 
des  Urtheils  zu  prüfen  und  zu  untersuchen.  Wir  möchten  nicht  gern  als  Vol- 
tairianer  erscheinen  und  ziehen  es  vor,  unsere  Augen  zu  schlicssen,  unsere 
Ohren  zu  verstopfen  gegen  das,  was  ein  kritisches  und  positives  Studium  der 
Geschichte  uns  bietet,  was  aber  freilich  unserem  Stolz  als  Menschen  und 
unserer  Eitelkeit  als  Christen  weniger  angenehm  ist.f) 

f)  Der  Leser  möge  bedenken,  dMs  ein  Italiener  eprichtl  In  Deutschland 
ist  es  glücklicherweise  nicht  ganz  so  schlimm,  obgleich  in  Bezog  auf  Erklärung 
des  A.  Ts.  in  streng  wissenschaftlichem,  ganz  vorurtheilslosem  Sinne  aoch  bei  ans 
oft  noch  Vieles  zu  wünschen  übrig  bleibt.  Aach  in  Italien  wird  sich  hoffentlich 
dieser  in  wissenschaftlichen  Dingen  einzig  und  allein  berechtigte  Sinn  immer  mehr 
Bahn  brechen,  trotz  aller  Anstrengungen  Jener  Partei,  die  auf  die  Dauer  doch 
nicht  wird  „des  Himmels  Sonne  mit  ihren  Kutten  verhingen"  können. 


\ 


656 

ramazda  und  Angromainyas,  welche  als  die  Schöpfer  der  Welt 
die  erste  Stelle  einnehmen,  sind  zwei  in  Gegensatz  zu  einander 
stehende  männliche  Wesen.  Von  Ahuramazda  stammt  Thraetaona 
oder  Feridnn  ab,  ,,welcber  die  Schlange  (azbi)  Dahäka  (s.  Dah&k  s. 
Sohak)  schlug,  welche  drei  Rachen,  drei  Köpfe  hatte,  sechs  Augen, 
tausend  Kräfte ; welche  als  die  kräftigste  Druj  hervorge- 
bracht hatte  ABgramainyus,  hin  zu  der  mit  Körper  begabten  Welt, 
zum  Verderben  für  das  Reine  in  der  Welt/'  ^  In  der  indischen 
Sage  finden  wir  den  Vogel  Garuda  auf  Seiten  der  Götter  und  den 
Näga  oder  die  Schlange  auf  Seiten  der  Dämonen;  so  ist  auch 
in  der  persischen  Sage  der  Vogel  Simurg  auf  Seiten  der  Götter 
und  die  Schlange  oder  das  Meerungeheuer  auf  der  der  Dämonen. 
Im  Khorda-Avesta  ^  heisst  es'  von  Kere^ä^pa:  „Welcher  schlug 
die  Schlange  Qruvara,  die  Pferde  verschlingende,  Menschen  ver- 
schlingende, die  giftige,  gräuliche,  auf  welcher  das  Gift  floss 
daumesdick,  das  grttne,  auf  welcher  Kere^ä^pa  [sie  wahrscheinlich 
für  eine  Insel  haltend  ^]  in  einem  eisernen  Kessel  Speise  kochte 
um  die  Mittagszeit,  es  brannte  die  Tödtliche  und  sie  machte  sich 
davon,  hervor  vom  Kessel  sprang  sie,  hin  zum  fliessenden  Wasser 
eilte  sie,  zurück  wich  erschreckt  Kere^ägpa  der  muthige"  [vgl. 
Ya^na  IX,  34—39].  Es  scheint  eine  gewisse  Analogie  zu  herr- 
schen zwischen  diesem  Mythus  des  A  vest  a  und  dem  russischen 
Mährchen  von  dem  furchtlosen  Helden,  der,  in  einem  Fischerboot 
eingeschlafen,  in  den  Strom  iällt,  als  er  ttber  den  kleinen  Fisch 
erschrickt,  der  auf  ihn  gesprungen  ist.  (Die  Schlange  erscheint 
auch  als  Feind  des  Feuers  imKhorda-Avesta.)^  Die  Schlange 
verui*sacht  die  Krankheiten,  welche  zu  heilen  Thraetaona  gebeten 
wird ;  sie  vergiftet,  was  immer  sie  sieht  und  berührt.  Im  S  c  h  a  h  - 
Name  verschwindet  die  Sonne,  von  einem  Meerungeheuer  oder 
Krokodil  verschlungen.  Im  dritten  Abenteuer  Isfendiars  wird  der 
Held  fast  berauscht  durch  den  giftigen  Rauch  und  den  Pesthauch 
des  Drachen,  den  er  siegreich  bekämpft  hat,  und  fällt,  nachdem 
er  gesiegt,  wie  todt  hin ;  so  flieht  Indra,  nachdem  er  das  Schlangen- 
ungeheuer besiegt  hat,  mit  Entsetzen  über  die  Ströme,  gleich  einem  : 
Tollen,  Wasserscheuen,  erschreckt  von  dem  Schatten,  dem  Rauch 
oder  dem  Wasser  der  todten   Schlange,    weil  dieser  Schatten, 


'  Ya^na,  IX,  25.  27;  Khorda- A vesta  p.  LIX  f. 

«  XXXV,  40  (p.  176). 

>  Vgl.  Theil  III,  Kap.  I  und  UI. 

*  Einl.  p.  LX. 


J 


657 

welcher  vielleicht  sein  eigener  nnd  nicht  der  seines  Feindes  ist, 
ihn  in  jene  vergifteten  Wogen  zu  stürzen,  und  ihn  in  ein  Meer- 
ungeheuer  zu  verwandeln  droht;  ihn  so  seinem  Feinde  ähnlich 
machend.  In  Persien  wird  deshalb  die  Schlange  im  Allgemeinen 
als  an  dämonisches  und  ungeheuerliches  Thier,  als  die  Personifi- 
cation des  bösep  Princips  betrachtet.  Man  betet  zu  ihr,  um  sie 
fortzubeschw))ren,  um  sie  fernzuhalten.  Der  persische  Genius  hat 
nicht  die  Beweglichkeit,  die  Elasticität  des  indischen ;  seine  mjrthi- 
schen  Bilder  sind  strenger,  starrer,  und  nicht  so  vielgestaltig; 
daher  blieb  die  Schlange  in  der  persischen  Sage  das  dämo- 
nische Thier  par  'excellence.  Im  Tuti-Name  [dagegen,  wel- 
ches indischen  Ursprungs  ist,  zeigt  sich  die  Schlange  von  zwei 
Seiten.  Die  Schlange  will  den  Frosch  fressen.  (Im  Pane  a - 
tantra  III,  15  reiten  die  Frösche  auf  der  Schlange  und  springen 
vergnügt  auf  ihr  herum,  wie  die  Frösche  des  Phaedrus  auf  dem 
König  Log,  welchen  ihnen  Jupiter  zum  Spott  geschickt  hatte ;  die 
Schlange  und  die  Ruthe  werden  einander  ähnlich  gedacht)  Der 
Held  rettet  den  Frosch,  worauf  die  Schlange  ihm  Vorwürfe  m^cht, 
weil  er  ihr  so  die  Nahrung  fortnehme ;  der  Held  schneidet  darauf 
etwas  von  seinem  eigenen  Fleische  ab,  um  es  der  Schlange  zu 
geben ;  ^  die  Schlange  beschützt  den  Helden  später  immer  und 
heilt  mit  einer  Salbe  die  Königstochter,  welche  von  einer  andern 
Schlange  gebissen  worden  ist;  der  König  giebt  dem  Helden,  der 
den  Hunger  der  Schlange  gestillt  hatte,  seine  Tochter  zur  Ge- 
mahlin. Im  PaÄcatantra  HI,  10  stürzen  sich  zwei  kleine 
Schlangen,  die  mit  einander  plaudern,  selbst  ins  Verderben  und 
machen   dadurch   das  Glück   des  Helden    und  der  Heldin.    Ein 


*  £f\ie  Variation  4er  ind|schea  Legende  von  dem  Falf^en  (Indra),  der 
Taube  (Agni))  und  dem  König  yivi,  welcher  dem  Falken  etwas  von  eeinem 
eigenen  Fleische  zu  fressen  giebt,  um  die  Taube,  seinen  Gast  yor  ihm  zu 
retten.  Hier  wird  die  Schlange  mit  dem  Falken  oder  Adler  identificirt;  in 
dem  mongolischen  Mährchen  jedoch  ist  der  Drache  dem  Manne  dankbar,  der 
ihn  von  dem  Vogel  Garuda  befreit  hat;  der  König  der  Drachen  hält  Wache 
über  die  weissen  Edelsteine)  kommt  an  auf  einem  weissen  Pferde,  in  Weiss 
gekleidet  (wahrscheinlich  der  Schnee  des  Winters  oder  der  Mond);  der 
König  der  Drachen  belohnt  den  Helden,  indem  er  ihm  eine  rothe  Hündin, 
etwas  Fett  und  eine  Perlenschnur  giebt.  —  P  aii  d.  6  haben  wir  die  Schlange 
und  die  Krähe,  die  eine  am  Fusse  eines  Baumes,  die  andere  oben  auf  dem 
Wipfel  desselben;  die  Schlange  isst  die  Eier  der  Krähe  und  die  Krähe 
rächt  sich,  indem  sie  der  Königin  ein  goldenes  Halsband  stiehlt  und  es  in 
das  Loch  der  Schlange  wirft;  die  Leute  der  Königin  gehen  das  Halsband 
suchen,  finden  die  Schlange  und  tödten  sie. 

Gubematif,  die  Thiere.  42 


658 

Eönigssobn    hat  in    seinem  Leibe  .  eine  Schlange;   ohne  es    zn 
wissen,  and  wird  krank ;  in  Verzweiflung  verlässt  er  seines  Vaters 
Palast  und  gebt  betteln;  er  erhält  die  zweite  Tochter  eines  an- 
deren Königs  zur  Gemahlin,  welche  ihrem  Vater  niemals,  gleich 
ihrer  ältesten  Schwester^  gute  Worte  gegeben  hatte  (eine  Variation 
der  Sage  von  Cordelia  und  Lear);   als  eines  Tages  der  junge 
Prinz,  mit  dem  Kopfe  auf  einem  Ameisenhttgel,  Eingeschlafen  ist, 
steckt  die  kleine  Schlange,  welche  in  seinem  Körper  ist,  ihren 
Kopf  heraus,  um  etwas  frische  Luft  zu  schöpfen,  und  sieht  eine 
andere  Schlange  aus    dem  Ameisenhügel  kommen ; '  die  beiden 
kleinen  Schlangen  fangen  an,  mit  einander  zu  plaudern  und  sich 
einander  bei  Namen  zu  nennen ;  die  eine  beschuldigt  die  andere, 
den  jungen  Prinzen  durch  das  Bewohnen  seines  Leibes  zn  quälen, 
und  die  Angeklagte  muss  zwei  Krtlge  voll  Gold  zahlen,  die  unter 
dem  Ameisenhttgel  versteckt  werden;  im  Verlaufe   des  Streites 
sagt  jede  von  ihnen,   wie  leicht  es  sein  würde,  die  andere   zu 
tödten;  ein  kleines  Senfkorn  würde  genügen,  die  erste  zur  Buhe 
zu  bringen,  und  ein  wenig  heisses  Oel  die  zweite  (die  Schlange 
wird  getödtet,  indem  sie  verbrannt  wird;  die  reiche  Lanzenreiter- 
Schlange   des   russischen  Mährchens  wird   in  dem  Stamm  einer 
Eiche  verbrannt,  in  welche  sie  sich  aus  Furcht  vor  dem  Feuer 
und  dem  Blitz  geflttchet  hat) ;  versteckt  hört  das  Weib  des  Helden 
Alles,  befreit  ihren  Gatten  von  der  kleinen  Schlange  in  seinem 
Leibe  und  tödtet  die  andere  Sehlange,  um  den  Schatz,   den  sie 
verborgen  hält,  zn  nehmen.^  In  der  vierzehnten  der  No  veil  ine 
di  San  Stef.  willigt  die  jüngste  der  drei  Töchter,  um  ihren 
Vater  vor  dem  gewissen  Tode  zu  retten,  darein,  die  Schlange  zu 
heirathen,  welche  sie  auf  ihrem  Schwänze  in  ihren  Palast  trägt, 
wo  sie  dann  ein  schöner  Mann,   Namens  Sor  Fioranto,  mit  den 
rothen  und  weissen  Strtlmpfen,  wird.    Doch  sie  darf  das  Geheim- 
niss  Niemandem  verrathen.    Das  Mädchen  kann  aber  (wie  in  der 


'  Wir  sahen  schon  Theil  I  Kap*  VII,  wie  die  Ameisen  Schlangen  aus 
ihren  Hohlen  hervorkommen  machen;  in  Baiern  muss  (nach  Düringsfeld, 
Das  festl.  Jahr  p.  259)  eine  Natter,  die  im  August  gefangen  wird,  in 
einem  Gefäss  wohl  verwahrt  werden,  damit  sie  vor  Hitze  und  vor  Hunger 
stirbt;  dann  wird  sie  auf  ein  Ameisennest  gelegt,  damit  diese  Thiere  all 
ihr  Fleisch  fressen;  von  dem,  was  übrig  bleibt,  wird  eine  Art  Paternoster 
gemacht,  das  gegen  alle  Ausschläge  auf  dem  Kopfe  sehr  gut  sein  soll. 

*  Hier  haben  wir  eine  Schlange,  welche  andere  austreibt  und  ver' 
Dichtet.  In  ähnlicher  Weise  wurde  eine  Bronzeschlange,  welche  von  dem 
Erzbischof  Amolfo  im  Jahre  1001  aus  Constantinopel  gebracht  worden  war,  in 


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659 

Fabel  von  Amor  und  Psyche)  der  Versuchung,  zu  ihren  Schwestern 
zu  plaudern,  nicht  widerstehn,  und  —  ihr  Gatte  verschwindet; 
sie  findet  ihn  wieder,  nachdem  sie  sieben  Flaschen  mit  ihren 
Thränen  gefüllt  hat;  zuerst  eine  Wallnuss,  dann  ein^  Haselnuss, 
endlich  eine  Mandel  zerbrechend,  deren  jede  ein  prächtiges  Ge- 
wand enthält,  erlangt  sie  ihren  Gatten  wieder  und  wird  von  ihm 
wiedererkannt.  ^  In  einer  Variation  dieses  Mährchens  in  meiner 
kleinen  Sammlung  giebt  eine  gute  Schlangen-Fee  der  blinden 
Prinzessin  guten  Rath  und  schenkt  ihr  die  Haselnuss,  die  Mandel 
und  die  Wallnuss;  jede  enthält  eine  Wundergabe;  durch  die  erste 
gewinnt  die  Prinzessin  ein  Auge  von  dem  falschen  Weibe  wieder, 
durch  die  zweite  das  andere  Äuge,  welches  die  Schlange  an  seine 
Stelle  setzt,  und  durch  die  dritte,  eine  goldene  Henne  mit  vierund vierzig 
goldenen  Küchlein,  findet  sie  den  verlorenen  Gatten  wieder.  In  einem 
noch  nicht  publicirten  sicilianischen  Mährchen,  das  mir  Dr.  Ferraro 
mittheilte,  legt  sich  eine  Schlange  um  den  Hals  des  Königs 
Moharta,  um  ein  schönes  Mädchen  zu  rächen,  das  der  König  ver- 
lassen hatte,  nachdem  er  sie  entehrt;  um  sich  von  der  Schlange 
zu  befreien,  muss  der  König  das  Mädchen  in  aller  Form  heirathen. 
In  der  sechszehnten  der  No  veil  ine  gehen  die  drei  Söhne  des 
Königs  das  Wasser  holen,  welches  tanzt  und  springt,  und  welches 
ein  Drache  bewacht,   der  Alle,  die  sich  nahen,  verschlingt;   der 


der  Basilika  des  St  Ambrosius  zu  Mailand  verehrt ;  Einige  sagten,  dass  es  die 
Schlange  des  Aesculap,  Andere  dass  es  die  des  Moses  sei,  Andere ,  dass 
es  ein  Bild  Christi  wäre;  für  uns  genügt  es  hier,  zu  bemerken,  dass  es 
eine  mythische  Schlange  war,  vor  welche  Mailändische  Mütter  ihre  Kinder 
brachten,  wenn  sie  an  Würmern  litten,  wie  wir  aus  den  Aufzeichnungen 
San  Carlo  Boromeo*s  erfahren,  der  nach  seinem  Besuche  der  Basilika 
schreibt:  „Est  quaedam  superstitio  ibi  mulierum  pro  infantibus  morbo  ver- 
mium  laborantibus.'* 

'  Immer  sind  Cb  drei  Wundergaben,  wie  wir  drei  goldene  Aepfel,  drei 
schöne  Mädchen,  drei  rerzauberte  Schlösser  im  Reiche  der  Schlangen 
haben  (vgl.  Afan.  I,  5).  Die  Köpfe  des  Drachen  sind  in  diesem  Mährchen 
und  gewöhnlich  drei,  bisweilen  aber  auch  fünf,  sechs  (Afan.  7,  28),  sieben 
(P  e  n  t  a  m  I,  17.  A  f  a  n.  II,  27),  neun  (III,  2.  Y,  24)  oder  zwölf  (A  f  a  n,  II,  30). 
—  Afan.  n,  21  erscheint  zuerst  die  Schlange  mit  drei  Köpfen,  dann  die 
mit  sechs,  dann  die  mit  neun  Köpfen,  welche  Wasser  auswerfen  und  das 
Königreich  zu  überschwemmen  drohen.  Iwan  Tzarevid  tödtet  sie.  Afan.  11, 
22  fliegt  die  Schlange  des  schwarzen  Sees,  mit  feurigen  Flügeln,  in  den 
Qarten  des  Tzaren  und  entführt  die  drei  Töchter;  die  erste  wird  yon  der 
fünfköpfigen,  die  zweite  von  der  siebenköpfigen ,  und  die  dritte  von  der 
zwölfköpfigen  Schlange  eingeschlossen;  der  junge  Held  Frolka  Sidien 
tödtet  die  drei  Schlangen  und  befreit  die  drei  Töchter. 

42» 


660 

Drache  schläft  von  zwölf  bis  zwei  Ubr^  und  zwar  mit  offenen 
Augen ;  d.  h.,  wenn  wir  darunter  zwölf  Uhr  Mittags  verstehn,  der 
Drache  schläft,  wenn  die  Sonne  wacht;  verstehn  wir  zwölf  Uhr 
Nachts,  so  schläft  er,  wenn  der  Mond  am  Himmel  steht,  der  mit 
dem  mit  offenen  Augen  schlafenden  Hasen  verglichen  wird.  ^  Auf 
einer  alten  neapolitanischen  Vase,  die  von  Gerhard  und  Panofka 
erklärt  ist,  finden  wir  einen  Baum  und  einen  Brunnen,  eine 
Schlange  (identisch  mit  der  welche  an  den  Wurzeln  des  Baumes 
Yggdrasill  in  der  Edda  nagt),  drei  Hesperiden  und  Heracles. 
Eline  Hesperide  giebt  der  verwundeten  Schlange  in  einer  Schale 
etwas  zu  trinken,  die  zweite  pflückt  einen  Apfel,  die  dritte  ist  daran, 
einen  zu  pflücken,  und  Heracles  hat  ebenfalls  einen  Apfel  in  der 
Hand.  Der  Mythus  und  die  Erzählung  von  dem  Ogre  und  den 
drei  Orangen  stimmen  vollständig  mit  einander  überein.  ^  Das 
Mädchen  wurde  zuerst  mit  der  Schlange  identificirt  als  Tochter 
des  Drachen  und  als  weibliche  Schlange ;  sie  legt  beim  Nahen  des 
jungen  Helden  ihre  Vermummung  ab,  und  enthüllt  all  ihren  Glanz. 
In  einem  noch  nicht  veröffentlichten  Montferratensischen  Mährchen, 
das  mir  Dr.  Ferraro  mittheilte,  sieht  ein  schönes  Mädchen,  als  sie 
einen  Kohlkopf  (ein  Bild  des  Mondes)  abpfltlckt,  unter  dessen  Wur- 
zeln ein  grosses  Zimmer,  steigt  hinab,  und  findet  dort  eine  Schlange, 
welche  sie  glücklich  zu  machen  verspricht,  wenn  sie  sie  küssen 
und  bei  ihr  schlafen  wolle;  das  Mädchen  willigt  ein.  Nach  drei 
Monaten  nimmt  die  Schlange  zuerst  die  Beine,  dann  den  Leib, 
endlich  das  Gesichtt  eines  schönen  Jünglings,  eines  Königssohnes, 
an  und  heirathet  seine  junge  Retterin.  In  der  Volkssage  haben 
wir  auch  das  Gegenbild  desselben  Mythus,   nämlich  das  schöne 


'  Wenn  die  mythische  Schlange  sich  auf  das  Jahr  bezieht,  so  ent- 
sprechen die  Standen  den  Monaten,  und  die  Monate,  während  deren  die 
mythische  Schlange  schläft,  scheinen  die  Sommermonate  xu  sein. 

'Im  Pent  am.  II,  5  lässt  sich  eine  Schlange  von  zwei  Leuten,  die 
keine  Kinder  haben,  an  Sohnesstatt  annehmen ,  und  verlangt  dann  die 
Tochter  des  Königs  zur  Gkmahlin^  der  König,  der  die  Schlange  lächerlich 
machen  wiU,  verlangt,  dass  sie  alle  Obstbäume  des  königlidien  Gkirtens 
golden  werden,  den  Boden  des  Gkirtens  sich  in  kostbare  Edelsteine  ver- 
wandeln, und  seinen  ganzen  Palast  ein  Gebäude  von  Gold  werden  lässt. 
Die  Schlange  sät  Obstkeme  und  Eierschalen  in  dem  Garten;  aus  den 
ersteren  wachsen  die  verlangten  Bäume  auf;  aus  den  letzteren  wird  das 
Edelsteinpflaster;  darauf  salbt  sie  den  Palast  mit  einem  gewissen  Kraute, 
und  er  wird  zu  Gold.  Die  Schlange  holt  des  Königs  Tochter  in  einem 
goldenen,  von  vier  goldenen  Elephanten  gezogenen  Wagen,  legt  die 
Schlangenhülle  ab,  und  wird  ein  schöner  Jüngling. 


661 

Mädchen,  das  wieder  zur  Schlange  wird.  In  einer  deutschen 
Legende  *  hofft  der  junge  Held,  das  schöne  Mädchen  dnrch  drei 
Küsse  zn  befreien ;  ^  das  erste  Mal  ktlsst  er  sie  als  ein  schönes 
Mädchen,  das  zweite  Mal  als  ein  Ungeheuer,  halb  Weib  halb 
Schlange;  das  dritte  Mal  weigert  er  sich,  sie  zu  küssen,  weil  sie 
ganz  und  gar  zur  Schlange  geworden  ist. 

Wenn  der  Tag  oder  der  Sommer  stirbt,  so  zeigt  sich  die 
mythische  Schlange  (in  absolutem  Widerspruch  mit  dem,  was  die 
Naturgeschichte  lehrt ;  man  möchte  fast  sagen,  dass  die  Schlange, 
wenn  sie  aufhört  auf  der  Erde  zu  kriechen  und  die  Thiere  der 
Erde  zu  verschlingen,  die  Thiere  des  Himmels  verschlingen  geht) ; 
dann  beginnen  die  Nordwinde  zu  pfeifen,  —  und  die  Schlange, 
besonders  die  mjrthische  Schlange,  ist  ein  berühmter  Pfeifer.  Auch 
Isidorus '  identificirt  den  Basilisk  und  die  Schlange,  regulus  ge- 
heissen,  mit  dem  Zischen  selbst :  „Sibilus  idem  est  qui  et  Regulus : 
sibilo  enim  occidit  antequam  mordeat  vel  exurat/'  Bei  Afa- 
nassieff  V,  25  fordern  der  Zigeuner  und  die  Schlange  einander 
zum  Wettkämpf  heraus,  wer  am  lautesten  pfeifen  kann.  Wenn 
die  Schlange  pfeift  oder  zischt  (d.  h.  im  Herbst),  verlieren  alle 
Bäume  ihre  Blätter.  Der  Zigeuner  schlägt  die  Schlange  durch 
eine  List;  er  redet  ihr  ein,  dass  sie  den  Wirkungen  seines 
Pfeifens  nicht  werde  widerstehen  können,  wenn  sie  nicht  ihren 
Kopf  bedecke,  und  schlägt  sie  dann  unbarmherzig,  so  dass  die 
Schlange  von  der  Ueberlegenheit  des  Zigeuners  überzeugt  ist,  und 
sagt,  dass  sie  ihn  wie  ihren  älteren  Bruder  verehre.  ^  Ich  führte 
schon  im  Theil  I  Kap.  I  das  russische  Mährchen  von  Alexin,  dem 
Sohne  des  Priesters,  oder  dem  göttlichen  Alexin  an,  welcher 
gegen  Tugarin,  den  Sohn  der  Schlange  oder  den  Schlangen- 
dämon kämpft  und  die  heilige  Jungfrau  bittet,  die  Schwingen 
des  Ungeheuers  in  dem  Regeji  der  schwarzen  Wolke  zu  baden: 
von  Wasser  schwer,  werden  sie  dieses  zu  Boden  ziehen. 

Hier  kommen  wir  wieder  zuiUck  zu  dem  einfachen,  aber 
grandiosen  vedischen  Mythus,  dem  ältesten  von  allen,  von  denen 
wir  ausgingen;  wir  kehren  zur  lyrischen  Poesie  zurück,  zu  ihr. 


^  Vgl.  Mone,  Anzeig.  lU,  88. 

^  Vgl  hierzu  die  Theil  I  Kap.  l  und  H  erzählten  Mährchen. 

»  Origines  XIV,  4. 

*  Vgl.  A  fan.  VI,  10,  wo  der  schlaue  Arbeiter  zur  Belohnung  dafür, 
dass  er  den  kleinen  Teufel  im  Pfeifen  besiegt  und  dass  er  ihm  weiss  ge- 
macht hat,  dass  er  mit  einem  Stocke  die  MTolken  schlagen  könne,  das 
Geld  erhält,  welches  in  einem  Hut  bleiben  kann,  der  nie  leer  wird. 


662 

der  geoffeabarten,  gemOthyoIleD,  reieh  an  lieblichen  und  forcbt- 
en  UeberrascbuDgeii ,  voll  eines  naiven  EuthaBiaamga,  voll 
affenekräftiger  Impulse,  zu  ihr,  die  anbewnsst  einer  aenen 
UisatioD,  einem  neuen  Glauben  den  UrspruDg  gab,  noch  nobe- 
kt  von  pballiBcben  Kosmogoaien,  noch  UDdnrohbrochen  und 
[it  ihres  Reichtbums  beraubt  durch  die  nntruchtbareo  Träume 
er  ennuchenartigen  Metaphysik. 


Schluss. 

,.K  Mm«  qoei  ch«  con  lao»  lütonUa 
ÜBclto  faor  del  paU^o  t  I»  rivft 
SI  Volga  4ll'  ODd>  parlglloss  a  g<i>M, 

Cob)  I'lDlmo  mln  che  ancor  taggln 
SI  ToUa  fDdiatro  a  rinlru..." 

nnd  die  Schatten  der  mytbischeD  Ungebener  ziehen 
meinem  geistigen  Auge  vorüber  and  beecbäftigen  i 
scbreckten  Geist.  Hat  wäbrend  dieses '  meines  einsam 
baltes  anf  dem  Olymp  nur  ein  scbreckücher  Alp  aaf  m 
oder  babe  icb  das  wabre  Weeen  der  veränderlichen  Oe 
Himmels  in  ihrer  tbierischen  Erscheinangsfonn  voll 
erfaast?  Die  alte  Mythologie,  die  wir  anf  der  Scb 
lernen  pflegten,  war  voll  von  Incesteo  Jnpitere,  des 
der  Venns;  doch  es  waren  ja  clasBische  Mythen;  die 
hiessen  ja  Götter !  und  unsere  guten  Alten  quälten,  b< 
geblieben  Jagd  nach  symbolischen  '  Bedeutnugen,  il 
Witz  ab,  um  aus  jeder  olympischen  Skandalgescb 
moralische  Lektion  zn  Nutz  und  Frommen  der  lieben  i 
ziehn. .  Die  Kunst  dnrite  Jupiter  als  Stier,  als  Adler,  a 
als  Verfttbrer  in  Tbiergestalt  darstellen,  ohne  dass  dadi 
den  Anstand  gefehlt  oder  die  Heiligkeit  der  Schule  ve 
den  wäre;  und  die  jungen  Schiller  wurden  ermnntei 
rbetorischen  Exercitien  in  italienischen  oder  lateinisct 
die  Lieblingsstolfe  der  classiacheD  Mythologie  zu  behan 
sich  doch  die  ganze,  bedenklich  anrttchige  Gescbic 
Symbolik  und  moralische  Ällegorisirerei  ins  Göttliche  ' 
platonische  oder  metaphysische  Liebe  nicht  der  Sinne  i 


664 

bedarf,  um  sich  mitzutheileD;  so  waren  die  Tbiergestalten  des 
Gottes  für  unsere  alten  Lehrer  weiter  nichts  als  eitel  Symbole 
und  Allegorien,  ersonnen  und  dargestellt,  um  eine  erhabene  päda- 
gogische Weisheit  zu  verhüllen.  Doch  lange  genug  haben  wir 
uns  in  diesen  kindischen  Träumen  gewiegt ;  es  ist  endlich  an  der 
Zeit,  mit  ihnen  zu  brechen.  Es  thut  Noth,  endlich  einmal  muthig 
den  Problemen  der  Geschichte  mit  demselben  Freimuth  und  Eifer 
ins  Gesicht  zu  schauen,  mit  welchem  die  Naturforscher  in  die 
Mysterien  der  Natur  eindringen  und  den  Schleier  zerreissen ;  auch 
ist  dieser  Versuch  nicht  so  gefährlich;  haben  wir  doch  als  Be- 
weise unserer  historischen  Thesen  gewisse  positive  Data,  die  uns 
in  Sprache  und  Sage  durch  mündliche  und  schriftliche  Ueber- 
lieferung  erhalten  sind.  Wir  erfinden  nicht ;  wir  häufen  nur  auf  und 
ordnen  dann  die  Facta,  welche  sich  auf  die  allgemeine  Geschichte 
des  Volksdenkens  und  Volksempfindens  in  unserer  bevorzugten 
Race  beziehn.  Die  Schwierigkeit  besteht  nur  darin,  die  Facta  zu 
classificiren ;  die  Facta  selbst  liegen  klar  und  in  grosser  Anzahl 
vor  Augen.  Es  ist  sehr  leicht  m^lich,  sich  in  ihrer  Anordnung, 
und  daher  auch  in  ihrer  Deutung  itn  Speciellen  zu  täuschen;  ich 
meinerseits  wenigstens  bin  nicht  ohne  Bangen,  dass  ich  hier  und  da 
bei  der  Erklärung  einzelner  Mythen  einen  unglücklichen  Versuch 
gemacht  habe ;  doch  das  kann,  das  darf  in  keiner  Weise  ein  Vorurtheil 
wecken  gegen  die  Grundwahrheiten,  welche  die  vergleichende 
Mythologie  sich  als  eine  positive  Wissenschaft  constituiren  lassen, 
die  fürderhin,  wie  jede  Wissenschaft,  mit  Nutzen  streben  und 
wirken  wird.  Der  Hauptirrthum,  in  den  die  Vertreter  der  neuen 
Wissenschaft  zu  verfallen  dröhn  und  zu  dem  ich  selbst  mich  wohl 
habe  zuweilen  im  Verlaufe  dieses  Werkes  verleiten  lassen,  ist  der, 
dass  sie  ihre  Beobachtungen  auf  einen  speciellen  Lieblingspunkt 
des  Mythus  beschränken,  und  fast  alle  Mythen  darauf  zurück- 
führen, deren  Beweglichkeit  und  deren  getrennter  Geschichte,  d.  h. 
deren  Manifestationen  in  verschiedenen  Perioden  sie  nicht  genug 
Rechnung  tragen.  Der  Eine  sieht  in  den  Mythen  immer  nur  die 
Sonne,  ein  Anderer  den  Mond  in  ihren  mehrfachen  Umdrehungen, 
und  ihrem  Verhältnis»  zu  der  grünenden  und  glänzenden  Erde; 
der  Eine  sieht  die  Finstemiss  der  Nacht  in  Gegensatz  zu  dem 
Lichte  des  Tages,  ein  Anderer  dasselbe  Licht  in  Gegensatz  zu 
der  finsteren  Wolke;  der  Eine  die  Liebe  der  Sonne  mit  dem 
Monde,  ein  Anderer  die  der  Sonne  mit  der  Aurora.  Diese  ver- 
schiedenen, speciellen  und  noch  dazu  exclusiven  Gesichtspunkte, 
von   denen  aus    die  Mythen    bisher    gewöhnlich    von   gelehrten 


665 

Männern  behandelt  worden  sind,  haben  UbdwoUenden  Gregnem 
die  willkommene  Gelegenheit  geboten,  die  Wissenschaft  der  ver- 
gleichenden Mythologie  als  eine  Wissenschaft  lächerlich  su  machen, 
die  wenig  ernsthaft  ist  und  welche  ihre  Natur  nach  dem  Gelehrten, 
der  sich  mit  ihr  beschäftigt,  verändert  Doch  dieser  Einwurf  schlägt 
sich  durch  seine  eigenen  Waffen.  Denn  was  beweist  die  concordia 
discors  aller  Gelehrten  in  diesem  Fache?  Sie  beweist  meines  Er- 
achiens  nur  eins :  die  Reproduction  und  Befestigung  derselben  natür- 
lichen Mythen  unter  vielfältigen  Gestalten,  die  Darstellung  analoger 
Erscheinungen  durch  analoge  M3rthen,  und  dass  sich  die  Variationen, 
die  wir  in  den  Mährchen  treffen,  auch  in  den  Mythen  finden.  Die 
Sonne  verjagt  die  Dunkelheit  am  Tage,  der  Mond  die  Dunkel- 
heit in  der  Nacht;  beide  heissen  hari,  schlhihaarig,  golden, 
glänzend.  Indra  ist  hari ;  als  hari  ist  er  bald  mit  der  Sonne  ver- 
wandt, die  in  der  Wolke  donnert  (Jupiter  Tonans),  bald  mit  dem 
ambrosischen  Monde,  der  Regen  anzieht  (Jupiter  Pluvius);  Zeus 
räumt  seinem  Sohn  Dionysos  das  Feld,  und  sei  es  als  Sonne,  sei 
es  als  Mond,  er  ist  immer  Zeus  der  Glänzende,  Diespiter  oder  der 
Vater  des  Lichtes;  im  ersten  Falle  dringt  er  durch  die  Wolke, 
im  zweiten  durch  die  Finstemiss.  Ja  sogar  wenn  der  Mond  oder 
die  Sonne  verborgen  ist,  wenn  Zeus  oder  Dionysos  sich  in  seinen 
erhabenen  Nimbus  hüllt,  bereiten  sie  neue  glänzende  Erscheinun- 
gen vor.  So  ist  Vishnu  hari  und  als  hari  wird  er  bald  mit  der 
Sonne,  bald  mit  dem  Monde  identificirt ; .  oder  um  genauer  zu 
sprechen,  die  Sonne  hari  und  der  Mond  hari  werden  in  eine 
einzige  mythische  Persönlichkeit,  in  einen  Gott  zusammengeworfen, 
der  sie  Beide  in  verschiedenen  Momenten  repräsentirt:  in  Vishnu. 
Es  wäre  wünschenswerth,  dass  das  ganze  Gebiet  der  Mythen  in 
seiner  vollen  Ausdehnung  und  zwar  sowohl  dem  Stoffe  nach,  als  der 
2ieit  nach,  studirt  würde ;  doch  das  hindert  nicht,  dass  sich  ein  Ge- 
lehrter (wie  das  auch  die  Proff.  Kuhn,  Müller,  Br<^al  gethan  haben)  in 
Einzelforschungen  auf  einen  speciellen  Punkt  beschränkt,  um  eine 
mythologische  Thesis  zu  beweisen.  Bei  diesem  Punkte  legt  er  seinen 
Hebel  an ;  und  in  diesem  einen  Punkte  erreicht  seine  Darstellung  den 
höchsten  Grad  von  Klarheit.  Das,  was  daran  zu  viel  ist,  lässt 
sich  leicht  corrigiren;  und  die  Mythen  gehen  aus  diesen  Einzel- 
forschungen, die  von  Tag  zu  Tage  tiefer  werden,  in  helleren 
Farben  hervor.  Es  würde  eine  Uebertreibung  sein,  wollte  man 
allen  Mythen  ein  und  dieselbe  Entstehungsart  zuschreiben,  ebenso 
wie  wenn  man  unumschränkt  eine  einfache  Verwechslung  von 
Worten   fUr  den  Ursprung  aller  Mythen  ansehn  wollte.     Zwei- 


\ 


666 

dentigkeit  spielte  ohne  Zweifel  bei  der  Bildung  der  Mythen  eine 
Hauptrolle;  aber  diese  selbe  Zweideutigkeit  würde  nieht  immer 
ohne  die  Präexistenz^  so  zu  sagen,  malerischer  Analogien  mög- 
lich gewesen  sein.  Das  Kind,  das  noch  heut,  zum  Himmel  auf- 
blickend, eine  weisse  Wolke  für  einen  Schneeberg  hält,  weiss  ge- 
wiss nicht,  dass  parva4a  in  der  Sprache  der  Veden  Wolke  und 
Berg  bedeutete;  es  fährt  jedoch  fort,  seinen  elementaren  Mythus 
durch  einfache  Analogien  von  Bildern  auszufahren.  Der  Doppel- 
sinn von  Wörtern  folgte  gewöhnlich  der  Analogie  äusserlicher 
Gestalten,  wie  sie^  dem  Urmenschen  erschienen,  auf  dem  Fusse. 
Er  hatte  die  Wolke  noch  nicht  Berg  genannt,  und  doch  sah  er 
sie  schon  als  solchen.  Als  die  Verwechslung  der  Bilder  statthatte, 
wurde  die  der  Wörter  fast  unvermeidlich,  und  diente  nur  dazu, 
jene  zu  bestimmen,  ihr  in  dem  äusserlichen  Laut  eine  festere 
Form  zu  geben,  und  sie  zu  einer  Art  von  Stamm  zu  gestalten, 
aus  dem  mit  Hilfe  neuer  Beobachtungen,  neuer  Bilder,  neuer 
Zweideutigkeiten  ein  ganzer  Baum  mythischer  Genealogien 
erblühen  sollte. 

Ich  habe  mir  die  Erforschung  des  am  wenigsten  erhabenen 
Theiles  der  Mythologie  angelegen  sein  lassen.  In  dem  primi- 
tiven Menschen,  welcher  die  Mythen  schuf,  zeigt  sich  dieselbe 
zweifache  Tendenz,  die  wir  an  uns  selbst  beobachten  —  der  In- 
stinkt, der  uns  mit  den  Thieren  verbindet,  und  der  Instinkt,  der 
uns  zu  der  Erfassung  des  Göttlichen  und  des  Idealen  erhebt 
Das  ideale  Streben  wurde  das  Loos  Weniger;  materielle  Instinkte 
das  Vieler;  jenes  war  die  Verheissung  des  Fortschrittes  der 
Menschheit;  diese  repräsentirten  jene  taule,  widerstrebenhe  Ma- 
terie, die  noch  gegen  den  Fortschritt  reagirt.  Daher  Bilder  der 
erhabensten  Poesie  neben  anderen,  gemeinen  und  rohen,  welche 
uns  an  die  Verwandtschaft  des  Menschen  mit  jenem  lüsternen 
und  unverschämten  Thiere  erinnern,  von  dem  er  abstammen  soll. 
Der  Gott,  der  ein  Thier  wird,  kann  seine  Göttlichkeit  nicht  immer 
intact  bewahren ;  die  Thiergestalt  ist  die  seines  avatära,  seines  Falles, 
seines  Sinkens;  sie  ist  die  Gestalt,  die  der  Gott  oder  der  Held  gewöhn- 
lich in  Folge  eines  Fluches  oder  eines  Verbrechens  annimmt.  Der 
indische  und  der  pythagoraeische  Glaube  betrachteten  die  Annahme 
einer  Thiergestalt  als  Sühne  einer  Schuld.  Und  die  Gott-Bestie, 
die  Held-ßestie,  die  Mensch-Bestie  kann  sich  nicht  ganz  bestia- 
lischer Handlungen  enthalten.  Der  stolze  und  wilde  König  Vi^vä- 
mitra,  der  indische  Nebukadnezar,  nimmt,  als  er  in  Gestalt  eines 
Ungeheuers  durch  den  Wald  wandert,  die  Natur  der  Wald-Rak- 


667 

sfaasaS;  der  Verscfalinger  an;  die  schönen  himmlischen  Nymphen 
werden  Meerungeheuer  und  verschlingen  die  Helden,  die  sich 
ihnen  nahen.  Erst  wenn  die  Thiergestalt  getödtet  ist,  wenn  die 
Materie  abgeschüttelt  ist,  nimmt  der  Gott  oder  der  Held  seine 
göttliche  Güte,  Schönheit  und  Herrlichkeit  wieder  an.  Hier  be- 
findet sich  die  Mythologie  mit  der  Physiologie  nicht  in  Wider- 
spruch; der  Charakter  der  mythischen  Persönlichkeiten  ist  das 
Resultat  ihrer  Eörpergestalt ,  ihres  Organismus,  bis  mit  einer 
neuen  in  der  Species  stattfindenden  physischen  Verwandlung  auch 
die  moralischen  Züge  eine  Modification  erleiden;  Licht  ist  gut; 
Finstemiss  ist  böse,  gut  nur,  sofern  sie  für  Licht  einschliessend, 
verhüllend  gehalten  wird.  Aus  dem  dunklen  Holze,  das  gerieben 
und  geschüttelt  wird,  aus  dem  dunklen  Steine,  der  geschlagen 
und  ausgedehnt  wird,  kommt  der  Funke  heraus,  der  Brände  ver- 
ursacht; wenn  der  Leib  in  schnelle  Bewegung  gesetzt  wird,  so 
kommt  der  Glanz  des  Blickes,  der  Sprache,  der  Neigung,  des  Ge- 
dankens heraus:  der  Gott  bricht  durch.  Die  Substanz  an  sich 
ist  dunkel ;  wird  sie  jedoch  erregt,  so  erzeugt  sie  Licht ;  so  lange 
sie  unthätig  ist,  ist  sie  böse;  und  sie  ist  es  noch,  so 
lange  sie  alle«  Lebende  an  sich,  als  an  ein  Centrum  der  Schwere, 
anzieht.  Sofern  das  Ungeheuer  schöne  Dinge  verschlingt,  ist  es 
böse,  soweit  es  dieselben  frei  ausgehen  und  strahlen  lässt,  ist  es  gut. 
Wollet  die  Wolken,  die  Finstemiss  zerstreuen,  die  Materie,  welche 
tendirt  sich  zusammenzuziehen,  das  Leben  zu  absorbiren,  unthätig 
zu  werden,  auseinanderziehen  und  ausspannen,  —  und  das  gött- 
liche Licht  wird  hervorkommen,  das  glänzende,  vsrstandesthätige 
Leben  wird  erscheinen;  der  gefallene,  der  in  Stein  verhandelte 
Held,  der  unthätige  Substanz  geworden  ist,  wird  glänzend  und 
beweglich  wieder  in  den  göttlichen  Himmel  aufsteigen. 

Sicherlich,  ich  bin  weit  davon  entfernt,  zu  glauben,  dass  das 
die  Intention  des  Mythus  war.  Die  Moral  ist  oft  das  Anhängsel 
der  Fabel,  reicht  aber  nie  bis  zu  der  Urfabel  selbst  zurück.  Der 
elementare  Mythus  ist  ein  spontanes  Product  der  Phantasie,  nicht 
der  Reflexion.  Wenn  der  Mythus  da  ist,  dann  mögen  Kunst  und 
Religion  sich  seiner  bedienen,  als  einer  Allegorie,  für  ihre  ästhe- 
tischen und  moralischen  Endziele;  doch  der  Mythus  selbst  ist 
eines  moralischen  Bewusstseins  baar;  er  zeigt,  wie  gesagt,  nur 
mehr  oder  weniger  erhabene  Instincte.  Habe  ich  mehre  physiolo- 
gische Gesetze  mit  den  Mythen  zu  vergleichen  gesucht,  so  ge- 
schah das  nicht,  weil  ich  dem  Mythus  eine  grössere  Weisheit  bei- 
lege als  er  in  Wirklichkeit  enthält,  sondern  nur  um  darauf  hin 


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zuweisen,  dass  weit  besser  als  die  Metaphysik,  die  Natarwissenschaft 
mit  den  Kriterien  positiver  Philosophie  uns  die  Urerzeugung^  der  My- 
then und  ihre  successive  Entwicklung  in  der  Sage  erforschen  hilft. 
Ich  hatte  die  niedrigste  Seite  der  Mythologie  darzustellen,  d.  h.  den 
Gott  im  Thiere ;  sofern  nun  unter  den  verschiedenen  mythischen  Thie- 
ren,  die  ich  besprochen  habe,  mehre  den  günstigen  Charakter  und  die 
glänzende  Gestalt  des  Gottes  bewahren,  werden  sie  gewöhnlich  als 
die  Gestalt  betrachtet,  welche  die  Gottheit  annimmt,  entweder  um 
heimlich  die  verbotene  Frucht  zu  geniessen,  oder  um  eine  Strafe  fOr 
ein  früheres  Vergehen  abzubüssen;  in  jedem  Falle  geben  uns  diese 
Gestalten  nicht  gerade  ein  übermässig  hohes  Bild  von  der  göttlichen 
Vortrefflichkeit  und  Herrlichkeit.  Statt  dem  Gott  alle  Attribute  der 
Schönheit,  Güte  und  Stärke  zugleich  beizulegen,  statt  in  einem  alle 
Götter,  oder  alle  sympathischen  Gewalten  und  Gestalten  der  Natur  zu 
vereinigen,  wurde  für  jedes  Attribut  eine  neue  göttliche  Gestalt  ge- 
schahen. Und  weil  der  primitive  Mensch  viel  mehr  zu  Vergleichen 
als  zu  Abstractionen  geneigt  war  (vgl.  den  Stier,  den  Löwen,  den 
Tiger  als  Symbole  der  Stärke ;  das  Lamm,  den  Hund,  die  Taube  als 
Symbole  der  Güte  u.  a.  m.);  weil  es  aber  in  seiner  Sprache 
keine  Bindewörter  gab,  durch  welche  er  hätte  die  beiden  Glie- 
der einer  Vergleichung  verbinden  können:  deshalb  wurde  ein 
starker  König  ein  Löwe,  ein  treuer  Freund  ein  Hund,  ein  mun- 
teres Mädchen  eine  Gazelle  und  so  fort.  Wie  oft  hört  man  von 
Leuten,  die  in  einem  Augenblick  gern  an  einem  fernen  Ort  sein 
möchten:  „Ich  wünschte,  ich  könnte  ein  Vogel  werden,  um  dort- 
hin zu  kommen!'^  Sie  beqeiden  den  Vogel  nur  um  seine  Flügel, 
die  ihn  schnell  fliegen  und  wohin  gelangen  lassen,  und  würden 
gern  für  dieses  eine  alle  sonstigen  Vorzüge  hingeben.  So  opfern 
auch  im  mythischen  Himmel  Götter  ihre  glänzenden  Gestalten, 
um  ein  bestimmes  Ziel  zu  erreichen.  So  folgt  Indra,  um  den 
Edelmuth  des  Königs  Qivi  auf  die  Probe  zu  stellen,  als  Falke  der 
Taube  Agni.  Der  Mensch  der  Urzeit  schreibt  dem  Gott  nur 
Flügel  zu,  wenn  er  ein  Vogel  geworden  ist;  als  Gott  kann  er 
keine  haben.  So  muss  er  auch,  um  einen  Wagen  zu  ziehn  oder 
einen  Helden  durch  die  Lüfte  zu  tragen,  ein  Hippogryph  werden, 
d.  h.  Pferd  und  Vogel ;  fällt  er  in  das  Meer,  so  muss  er  ein  Fisch 
werden,  um  nicht  zu  ertrinken. 

Der  Gott  kann  seine  göttliche  Macht  nur  unter  der  Bedin- 
gung ausüben,  dass  er  die  Gestalten  der  Thiere  annimmt,  welche 
die  Eigenschaften,  deren  er  bei  einem  bestimmten  mythischen 
Begebniss  benöthigt,   als  Privilegium   besitzen.     Doch  in  dieser 


TliiergeHt&tt ,  in  welcher  der  Gott  eine  beaoode 
UbernatUrlicber  Weise  entwickelt,  rerduokeU  i 
grosser  Tbeil  seines  gßttliehen  Glanzes.  Obwohl 
beit  in  dieeeni  sonderbaren  and  nngificklichen 
rascbt  hat,  wird  der  Leser,  hoffe  ich,  die  armsei 
die  Gottheit  anf  vielen  Seiten  dieses  Bncbes  ge 
mir  attfbärdeai  noch  wird  er  schlecht  von  dg 
ich  ihn  vielleicht  einiger  lllnsionen  beraubt 
unvollkommene ,  doch  vielleicht  nicht  nntzlose 
macht  habe. 


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