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IHRE WANDERUNG DURCH DIE WELTLITKRATUR
KDUARI) GRISKHACH
WIEN
VERLAG VON L. ROSNER
22, TUCHLAUUEN, 22
1S73
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DIE
TREULOSE WITWE.
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EICHTÜMER und ehren sind wie ein
lustiger träum der fünften nachtwache;
befbrderung des Verdienstes gleich einer
vorüberschwebenden wölke. Selbst das fleisch
und blut vor deinen äugen ist falsch, und liebe
und dankbarkeit kehren sich in hass und feind-
schaft. — Nimm nicht ein goldenes halseisen,
deinen nacken darein zu stecken, noch ein schloss
von edelstein, die kette an deinem fusse damit zu
verschliessen. — Es ist eine köstliche und ruhm-
volle Pflicht, mit einem reinen herzen, sich der
begierde zu entäussem, und alles abzuschütteln
was irdisch ist. —
Diese stelle des gedichtes betitelt „der mond
auf dem westlichen flusse" ist ein wort der
ermahnung an das alter, das den menschen
auffordert, sein leben zu bessern und alle losen
grundsätze mit derwurzelauszureissen; dem aus-
M80914
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4 DIE TREULOSE WITWE
schweifenden ruft es zu, halt zu machen auf
seiner bahn. Denn da die Verwandtschaft
zwischen vater und mutter gleichsam eine himm-
lische ist und brüder einander gleichen wie
•liände und.füsse, .so müssen sie, wurzel und
2wqge,^ •«^i^Wüi: beschnitten, und nicht abge-
schnitten ^Aypi^lei]. pie drei religionen des Con-
Äpil^iä^srt^o-ljepix. (pdfer Tao) und des Buddha,
obwol s^ie verscfiie'den sind, so unterlässt es doch
keine von ihnen die kindliche pietät und die
brüderliche achtung einzuprägen. Kinder aber und
grosskinder stehen einen grad tiefer und haben
nicht das gleiche recht. Das Sprichwort sagt richtig :
Kinder und grosskinder werden ihre besondre glück-
Seligkeit haben ;
Erwarte nichts dass deine kinder kühe und pf er de
werden.
Das Verhältnis aber von gatte zu gattin, ob-
wol in Wahrheit der rote faden rund um ihren
nacken geschlungen ist und das scharlachband
ihre füsse zusammenhält: was bindet sie anders
als der reiz des fleisches? Nur mit wachs sind
sie zusammengeleimt. Wie das Sprichwort rich-
tig sagt:
Gatte und gattin sind zwar vögel aus demselben haine^
Wenn aber der tag anbricht y so fliegt jedes seinen weg.
DIE TREULOSE WITWE 5
Ja, SO lieblos und leichtfertig sind die ge-
fühle des gegenwärtigen Zeitalters! Vater und
mutter, ältere und jüngere brüder, sie werden
angesehen wie einander gleichgültige menschen.
Und wenn söhne und grosskinder noch ein
schwaches teil von Zuneigung geniessen: wie
steht es dagegen mit der liebe zwischen mann
und weib! Die männer sind versunken in die
liebe des harems und doch nur zank, neid und
streit hallt ihnen aus den gemächern der fratien
entgegen. Wie viele haben von ihren weibern
getäuscht unkindliche und unbrüderliche hand-
lungen verübt!
Ich will die geschichte Tschwang-sängs der
auf der thönernen flöte spielte erzählen, aber
nicht, um Uneinigkeit zwischen gatten und gattin
zu stiften, sondern um die weit zu lehren, dass
sie Weisheit und unweisheit unterscheide ; um die
Wahrheit zu ergründen und vom irrtum abzu-
grenzen; um von der ersten geburt eines Ver-
rats anzuheben und die sünde in ihrem ganzen
umfange darzulegen. Denn wenn die sieben
wurzeln des tuns klar und unbefleckt sind,
dann spriessen tugendhafte gedanken üppig auf
und gewinnen sich geltung. Ein alter mann,
als er einen landmann £^rünen reis in ein moor-
feld pflanzen sah, hxC.Jxi in diese verse aus:
6 DIE TREULOSE WITWE
Haltend das kom in seiner hand pflanzt er den grünen
reis in dasfeld;
Niedergebeugt sein haupt gewahrt er dm himmd
■wiedergespiegelt im waiser-
Wenn die sieben wurzeln rein und unbefleckt sind, so
wird es nachmals reis werden
Und ein schritt zurück wird zu einem schritt vorwärts.
Die Überlieferung berichtet, es lebte während
der letzten jähre der regiening Tschau's ein
grosser gelehrter, der hiess Tschwang-säng, sein
ehrenname war Tsze-te, ein einwohner der Stadt
Mung, im fürstentum Tsung. Er diente dem
kaiser als beamter des Tselh-juen.
Sein lehrer war ein sehr heiliger mann, der
b^ründer der Taosekte, mit namen Le-urh,
mit ehrentitel Plh-jang, welcher mit weissem haar
geboren war und deshalb Lao-tze, das alte
kind, hiess,
Tschwang-säng sah beständig in den wachen
imen seiner phantasie, dass er in einen
metterling verwandelt wäre und über die
tnzen und bäume des gartens flatterte. Diese
; kehrte ihm immer wieder und er fühlte
:rdies beim erwachen seine schultern und
en sich bewegen, gleich einem paar flattem-
schwingen. Das erfüllte ihn mit staunen
DIE TREULOSE WITWE /
und nicht lange nach diesem träume ak er eines
tages bei Lao-tze war und sie in guter müsse des
gesprächs pflogen, erzählte er den träum seinem
lehrer. Dieser heilige mann, fähig alle dinge
zu verstehen, die sich von der Vergangenheit
zur gegenwart in den drei Stadien der existenz
ereignen, ein ergrübler der gründe, welche die weit
in angst halten — wusste sehr wol, dass Tschwang-
säng im anfang, zu den zeiten des chaos, ein
weisser Schmetterling gewesen ; dass sein erstes le-
ben vom himmel, das zweite von den waldbäumen
entstammte deren rühm ihre blätter und blumen
sind; dass der weisse Schmetterling, die essenz
der bluten sammelnd und die lieblichkeit der
sonne und des mondes einsaugend und harrend
bis er ihren geist in sich aufgenommen, in ewiger
Unsterblichkeit lebte, seine schwingen entfaltend
gleich den rädern eines wagens. In der folge
aber wanderte er zu den Yao-tsche oder den
Inseln der seligen, heimlich gelangte er dahin
und saugte den blütenstaub der berühmten
pfirsiche und wurde dabei von dem grünen
phoenix verschluckt, welcher die blumen bewacht
unter dem thron der mutter des westlichen
königs. Die seele des Schmetterlings wurde
nicht mit zerstört, sondern ihr loos war wieder-
zuerscheinen in der weit und Tschwang-säng zu
8 DIE TREULOSE WITWE
werden. Und Tschwang-sängs vemunft (Tao) sollte
das feste herz (Laa-tze) verehren und Tschwang-
sängs Weisheit die lehre Wu-wei, der grossen
ruhe, noch reiner machen.
Als er von Lao-tze die Offenbarungen über
sein früheres leben empfangen hatte, da erkannte
er wie einer, der aus einem träume erwacht, dass
der wind, welcher seine schultern und Seiten er-
zittern machte, ihn an den Schmetterling erinnern
wollte, und er begrub in sich alle weltlichen
empfindungen von rühm und schände, er be-
trachtete sie wie eine vorübergleitende wölke oder
einen vorbeifliessenden ström und nicht das
kleinste teilchen von ihnen wollte er sein eigen
nennen. Als Lao-tze gewahrte, dass sein herz
erwacht war, da vertraute er ihm an das ge-
heime Vermächtnis der fünf tausend charactere
des Tao-tlh-king, des buchs vom pfade der Ver-
nunft und tugend er zog es aus seinem schrein
und schenkte es ihm, es auswendig zu lernen,
herzusagen und auszuüben. Durch dies buch
gebildet und geläutert sollte er die macht er-
langen, licht und schatten, seele upd leib zu
trennen, seine göttliche natur zu entwickeln und
in einen geist sich zu verwandeln.
Tschwang-säng gab seinen posten als minister
des TseÜi-juen auf, sagte Lao-tze lebewol und
DIE TREULOSE WITWE 9
wanderte fort, das Tao zu suchen. Obwol er
der lehre des Lao-tze-keun anhing, so zerschnitt
er doch das band zwischen gatten und gattin
nicht und heiratete nacheinander drei weiber.
Die erste war krank geworden und vor der zeit
gestorben; von der zweiten hatte er sich ge-
schieden wegen eines fehltritts, und die dritte,
war eben die, von der ich erzählen will, und
hiess Tien-sche. Sie war eine tochter aus der
feunilie Tien, im königreiche Tse. Als Tschwang-
säng im Staate Tse reiste, hatte ihm Tien-tsung
aus achtung vor seinen talenten diese seine
tochter zur ehe gegeben. Sie übertraf die ersten
beiden frauen weit an Schönheit, ihr gesicht
hatte die färbe eines milchweissen eiszapfens
oder des schnees und rief liebe hervor wie ein
engel. Obgleich er sinnlicher lust entsägt hatte,
so war er doch ganz übernommen von ihrer
Schönheit und entzückt von ihr wie ein fisch im
Wasser.
Um diese zeit sandte Wei-wang, der be-
herrscher des königreichs Tsu, welcher von
Tschwang-sängs tugenden vernommen, einen bo-
ten mit hundert pfund gold, tausend stück feiner
seide und einem leichten wagen mit vier pferden,
um ihn als ersten minister an sich zu fesseln. „Wenn
die kuh, welche zum opfer bestimmt ist" sagte
10 DIE TREULOSE WITWE
Tschwang-säng mit einem seufzer „geschmückt
mit gestickter seide stroh und kraut wiederkäut
und den stier am pflüge ermüdet und atemlos
gewahrt: dann beglückwünscht sie sich selbst
wegen ihres guten geschicks; aber wenn sie in
den grossen tempel eintritt und messer und
beil vor ihren äugen sieht, dann wünscht sie den
pflüg zu ziehen, allein vergebens." Und er
lehnte die geschenke ab und begab sich mit
seinem weibe in den staat Sung und lebte zu-
rückgezogen auf den Nan-hwa hügeln, im süden
von Tao-tschau.
Eines tages, als er unter den abhängen um-
herwandelte, bemerkte er eine anzahl wüster
gräber, dicht aneinandergehäuft, und er rief aus
mit einem seufzer: „Alt und jung, weise und
toren, ohne unterschied kehren alle hierhin zu-
rück! Wenn der mensch in das grab gestiegen,
wie kann er wieder zu einem menschen werden?"
Nachdem er eine weile geseufzt, tat er einige
schritte vorwärts und sah plötzlich ein neues
grab, dessen hügel noch nicht trocken war und
eine junge frau in schlichtem kleide sass da-
neben und schwang darüber gemächlich einen
offenen fächer. Als sie ohne nachzulassen in
dieser beschäftigung fortfuhr, fragte er voll er-
staunen: wer hier begraben sei und warum sie
DIE TREULOSE WITWE II
beständig ihren fächer über das grab schwinge?
Die frau veränderte ihre Stellung nicht, sie fuhr
fort zu fächern wie vorher, und lispelte einige
Worte — Worte von denen man sagen könnte:
Im augenblick als sie vernommen wurden^ taten sich
tausend münder zum lachen auf;
Und als man die warte erwogt da waren sie schänd-
lich über die maassen,
' — »Der in diesem grabe liegt" sagte die
frau »ist der arme narr, mein verstorbner mann,
er hatte das misgeschick zu sterben und hat
seine gebeine hierhin gebettet. Während seines
lebens war sein weib ihm alles; im tode nur
verliess er mich, wider willen, und sprach mir
auf dem Sterbebette als letzten wünsch aus : wenn
ich wiederheiraten wollte, so möge ich warten,
bis die leichenfeier beendet und die erde über
seinem grabe trocken geworden sei. Nun fächere
ich es, weil ich besorge, die frisch aufgeworfene
erde werde noch lange nicht trocken werden."
— „Diese frau" dachte Tschwang-säng bei sich,
ein lächeln unterdrückend „ist von hastigem
temperament; ich bin verwundert, dass sie in
ihrem leben in so gutem einvernehmen gestan-
den; wäre das nicht der fall gewesen, dann
wäre eher zu dem jetzigen benehmen ein anlciss."
12 DIE TREULOSE WITWE
Er antwortete alsdann laut: „Wenn ihr diese
erde gedörrt und trocken haben wollt, so ist
das bald geschehen; aber euere handgelenke
sind schwach und haben nicht kraft genug zu
fächern. Ich selbst will für euch die arbeit
übernehmen."
— »Das glück sei mit euch" sagte die frau,
indem sie aufstand und sich verbeugte „ich bin
euch sehr verbunden", nahm den offenen weissen
f ächer mit beiden händen und reichte ihn Tschwang-
säng. Der erhob die hand, nach den Vorschriften
der Tao-lehre, fächerte eine zeit lang über dem
haupte des grabes und das wasser verdunstete
und der boden wurde sofort trocken. Die frau
lachte so, dass du ihr gesicht mit deiner hand
hättest umspannen können.
— „Ich habe euch die mühe gemacht, mein
herr", sagte sie, „eure Zauberkraft anwenden zu
müssen" und sie erhob ihre zarte hand zur seite
ihres hauptes, zog sich eine silberne haamadel aus
dem haar und bot sie Tschwang-säng an sammt
dem fächer, und dankte ihm so sehr sie konnte.
Die silberne haamadel lehnte er ab, den facher
nahm er an, sie aber ging fröhlich von dannen.
Tschwang-säng kehrte heim, nicht ganz ruhigen
gemütes, und in seiner strohgedeckten halle
blickte er auf den fächer und seufzte diese stanzen :
DIE TREULOSE WITWE I3
yy Es sind nicht die in zwist getrennten^ es sind jene die
zusammen gewohnt;
Feinde sogar ^ wenn zu einander gebracht ^ so hören sie
leicht au/y es zu sein.
Wie bald aber erkennt man, dass nach dem tode kein
gefühl und keine gerechtigkeit waltet/
Weise glauben, gedanken und liebe während des lebens
sind genug.^*"
Tien-sche stand hinter ihm, hörte ihn spre-
chen und seufzen und trat vor, ihn zu fragen
was es gäbe.
— „Mein meister" sagte sie — denn als
Tao-tze (doctor der Tao-secte) wurde er jetzt
mit „meister" angeredet — „was hat mein meister,
dass er seufzt und von wannen kommt dieser
fächer?"
Er erzählte ihr alles, was sich mit der frau
zugetragen, die das grab gefächert, und die erde
trocken haben wollte, um sich wieder zu ver-
heiraten.
— „Dies ist der föcher" sagte er „der zu
jenem zwecke gebraucht wurde und die frau
schenkte ihn mir, weil ich ihr aufs beste nach
meinen kräften beistand."
Sobald Tien-sche dies hörte, geriet sie ausser
sich vor zorn, erklärte die frau für ein wesen
ohne schäm und tugend und mitten im ausbruch
14 DIE TREULOSE WITWE
ihrer Schmähungen sagte sie zu ihrem manne: „Es
gibt wenige weiber in der weit, so gefühllos wie
diese!"
Tschwang-säng sprach aufs neue vier zeilen
in versen;
„/« ihrem leben spricht jede mit tiefster dankbarkeit!
Nach dem tode sehnen sich alle das grab zu fächern!
Ein bild kann dir die bunte haut destiger unddrachen
zeigen, aber nicht ihren innern bau:
Die kenntnis des menschlichen antlitzes ist nicht die
kenntnis des herzens*''
Tien-sche wurde darüber sehr aufgebracht.
Von alters her ist gesagt worden : „murren ver-
kleinert die Zuneigung und ärger vergisst die
förmlichkeiten" , und so achtete Tien-sche in
ihrem leidenschaftlichen sprechen nicht die per-
sonen, sondern schäumte auf und rief: „Die
männer sind alle gleich und kein unterschied
zwischen weisen und toren! wie kannst du
so leichtfertig reden und auf alle weiber herab-
sehen, als hätten sie alle ein und dieselben
grundsätze? Siehe! fiir eine ohne tugend giebt
es viele andre mit vortrefflichen grundsätzen.
Bist du dir selbst keines fehlers und irrtums
bewusst?"
Er antwortete: „Ich will nicht in den wind
sprechen, noch mich auf sinnloses geplauder
DIE TREULOSE WITWE 15
einlassen; sollte aber das unglück wollen, dass
ich stürbe; würdest du, deren Schönheit den
blumen und edelsteinen gleicht, nach meinem
tode drei oder fünf jähre warten, bis du wieder
heiratetest?"
— „Ein getreuer minister", entgegnete sie,
„dient nicht zwei forsten, und ein keusches
weib heiratet niemals zum zweiten male; wann
hat man eine tugendsame frau ihren thee in
zwei häusern trinken oder in den betten zweier
familien schlafen sehen? Sollte das unglück
jenes traurige loos über mich verhängen, sprich
nicht von ein paar jähren, denn ich werde mein
ganzes lebenlang witwe bleiben und selbst in
meinen träumen nur an dich denken."
— „Du versprichst unmögliches", sagte er.
— „Du denkst", rief Tien-sche aufgebracht,
„dass wir frauen ganz wie ihr männer wären,
ohne tugend und ohne gerechtigkeit; ist ein
weib todt, so schaut ihr euch nach einem an-
dern um ; dieser gebt ihr den scheidebrief und
nehmt jene; das einzige was zu eurer entschul-
digung gesagt werden kann, ist, dass die eine
eben so vortrefflich ist wie die andere; aber
ihr solltet bedenken, dass wir frauen immer nur
für einen passen, wie ein sattel nur für ein
pferd." Und Tschwang-säng sich nähernd, riss
l6 DIE TREULOSE WITWE
sie ihm den fachet aus der hand und zerbrach
ihn in stücken.
— „Du hattest nicht nötig", sagte er, „so
leidenschaftlich zu werden; ich wünschte nur,
du wärest so gut wie du beteuerst."
Er sagte weiter nichts, aber einige tage
nachher wurde er plötzlich krank. Die krank-
heit nahm mehr und mehr zu und wurde be-
denklich. Tien-sche seufzte und weinte zu
häupten seines bettes,
— „Meine krankheit geht mit reissenden
schritten vorwärts und ich muss lebewol für
immer sagen. Bald v/irst du bedauern, den
facher zerbrochen zu haben; wäre er ganz ge-
blieben, so hättest du ihn sehr gut gebrauchen
können, mein grab zu fächern."
— „Oh, meister", antwortete sie, „ich bitte
dich, sprich nicht davon. Ich habe die gebrauche
studiert und kenne sie: „einem gatten sollst
du folgen und nicht mehr", und ich schwöre,
dass ich nicht anders gesinnt bin. Wenn du
mir nicht glaubst, so will ich vor deinen äugen
sterben, um dir meines herzens aufrichtlgkeit
xJgen."
— „Es ist genug", sagte Tschwang-säng, „ich
be — meine äugen werden dunkel." Ab
üesen satz beendet, hörte sein atem auf.
DIE TREULOSE WITWE I7
Tien-sche berührte den körper mit der hand,
brach in laute wehklage aus und bat die nach-
bam uniher, ein leichentuch zu bereiten, und
einen sarg, ihn zu begraben.
In tiefe trauer gekleidet war Tien-sche meh-
rere morgen in aufrichtigem leide, weinte die
ganze nacht, und dachte beständig an die Zu-
neigung ihres gatten, an seine freundlichkeit
während seiner lebenszeit. Sie vernachlässigte
schlafen, essen und trinken, als wenn sie krank
oder vergiftet wäre.
Als es bekannt wurde, dass Tschwang-säng
ein zurückgezogener gelehrter gewesen, der sei-
nen namen der weit verhalten, kamen die an-
wohner des hügels, durch ihren besuch ihr bei-
leid und ehrerbietung zu bezeugen ; so dass der
platz so belebt wie ein markt war.
Am neunten tage langte unerwartet ein junger
und eleganter student an, dessen antlitz wie ein
bild war und seine lippen als wenn sie mit
drachenblut gefärbt wären, unvergleichlich schön!
Es war ein ausserordentlich feiner junger mann;
nach der mode gekleidet, in farbigen nankin-
gewändem, mit einem schwarzen barett, gestick-
ten gürtel und scharlachschuhen. Er brachte
einen alten diener mit und gab sich für Wang-
sien aus, den grossohn des königs von Tsu.
l8 DIE TREULOSE WITWE
Er hätte im letzten jähre Tschwang-säng kennen
gelernt und wünschte von ihm unterrichtet zu
werden und sei gerade jetzt gekommen, um ihn
zu besuchen; nun da er ihn todt fände, könnte
er nur seinen schmerz bezeugen und so schnell
wie möglich seine bunten kleider ablegen. Er
befahl alsdann seinem alten diener, die trauer-
kleider aus dem mantelsack zu nehmen, und
als er sie angezogen, verbeugte er sich viermal
vor dem todtenkörper und sagte: „O Tschwang-
säng, missgünstig war mir das Schicksal, dass
ich dich nicht von angesicht zu angesicht ge-
sehen und deine Unterweisung empfangen habe !
Hundert tage will ich trauern fiir meinen meister,
die gefühle meiner innigen freundschaft aus-
strömend.** Er verbeugte sich wieder viermal,
vergoss einige thränen und verlangte Tien-sche
zu sehen. Sie lehnte es anfangs ab ihn zu em-
pfangen, aber der prinz liess ihr sagen: „Den
alten gebrauchen zufolge wären gattinnen und
geliebte von genauen freunden nicht gewohnt,
sich zurückzuziehen. Ueberdies habe er im
Verwandtschaftsverhältnis zu dem verstorbenen
gestanden als sein schüler."
Da kam Tien-sche aus dem innem des hauses
in die halle, in welcher der todte lag, um die
höflichkeiten des prinzen entgegenzunehmen,
DIE TREULOSE WITWE I9
und nachdem sie dieselben erwidert, warf sie
einen verstohlenen blick auf ihn, und da er sehr
schön von gestalt war, so ging es ihr durch
und durch und sie wurde von liebe zu ihm er-
g^ffen. Sie bedauerte, dass sie keinen diener
habe, um ihn ins haus zu fuhren.
— „Obwohl mein meister dahin ist", sagte er,
„kann ich nicht aufhören an seine freundlichkeit
zu denken und ich bitte um die erlaubnis, eine
zeit lang hier als gast unter deinem dache ver-
weilen zu dürfen, erstlich um an den leichen-
feierlichkeiten meines meisters teil zu nehmen
und sodann um zu sehen, ob er einige Schrif-
ten hinterlassen hat. Sein schüler bittet um
die gunst, einen blick darauf zu werfen, um
seiner letzten lehren teilhaftig zu werden.**
— „Wo kann nicht die gerechtigkeit eines ver-
trauten freundes auch für lange zeit wohnen?"
sagte Tien-sche.
Sie bereitete alsdann das mahl und ihre
beiderseitigen seufzer verschmolzen mit einan-
der. Nach dem essen nahm Tien-sche die
bücher ihres verstorbenen gemahls, das Nan-
hwa-ldng, den klassiker des südlichen blumen-
hügels, und das Tao-tih-king, das buch von
dem pfade und der tugend und überreichte sie
freigebig dem prinzen. Wang-sien wiederholte
2*
20 DIE TREULOSE WITWE
ihr seinen dank und suchte dann in der stroh-
gedeckten halle einen platz für die gedächtnis-
tafel des todten aus. Schweigend verbeugte er
sich an der linken seite des todtenbettes. Täg-
lich kam Tien-sche an die seite des todten-
bettes, unter dem vorwand hier den verstorbnen
zu bejammern, in Wahrheit aber, um sich mit
Wang-sien zu unterhalten. Täglich wurde ihre
liebe stärker; ihre blicke kamen und gingen,
und ihre gefuhle konnte sie nicht mehr unter-
drücken. Er war freilich nur halb, sie aber voll-
ständig bezaubert. Hätte sie in dieser einsam-
keit einen fehltritt begangen, kein ärgemis noch
gerede wäre zu befurchten gewesen, da ihr gatte
eben in den sarg gelegt WcU-; indessen wenn
ein weib einem manne zugetan ist, so ist es
ihr unmöglich, ihm ein wort davon zu sagen.
Nachdem sie sich einige tage im zäum ge-
halten — es war noch nicht ein halber monat
— konnte diese frau ihr herz nicht bändigen
gleich einer affin, und ihre empfindungen nicht
niederhalten, wie ein hund oder ein pferd. Heim-
lich rief sie den alten diener des prinzen in ihr
zimmer, gab ihm guten wein zu trinken, machte
ihn durch schmeichelhafte worte geschmeidig
und fragte endlich voll höflichkeit:
— „Ist euer herr verheiratet oder nicht?"
DIE TREULOSE WITWE 21
— „Er ist noch nie verheiratet gewesen",
sagte der alte mann.
— „Hat euer herr schon jemand gewählt, den
er heiraten will?" fragte Tien-sche weiter.
— Der alte, welcher schon fast betrunken war,
sagte: „Mein herr hat erklärt, dass wenn er
eine so berühmte Schönheit bekommen könnte
wie ihr seid, erhabne frau, so wären alle seine
wünsche erfüllt."
— „Ist es Wahrheit, dass er das sagte", rief die
witwe voll Ungeduld, „oder willst du mich be-
trügen?"
— „Ein alter Chinese wie ich", sagte der die-
ner, „der zu hohen jähren gekommen, würde
nicht wagen lügen zu erzählen."
— „Ich möchte dich als Zwischenträger ge-
brauchen", sagte die witwe, „willst du es auf
dich nehmen, und meine Verheiratung mit dei-
nem herm zu stände bringen?"
— „Er hat die sache schon mit mir be-
sprochen^, versetzte der alte diener, „und er-
klärte es für eine ausgezeichnete Verbindung,
nur macht ihn das verwandtschaftsverhältnis
zwischen meister und schüler bedenklich und er
furchtet den tadel der weit."
— „Aber euer herr hatte ja eigentlich gar kei-
nen verkehr mit meinem verstorbenen gemahl.
22 DIE TREULOSE WITWE
noch hörte er persönlich seinen Unterweisungen
zu: es wird daher die Verwandtschaft zwischen
meister und schüler nicht verletzen; übrigens
ist der hügel sehr abgelegen, das wohnhaus
einsam, die benachbarten landhäuser entfernt,
niemand ist da, seine bemerkungen zu machen.
Du musst über diese Schwierigkeiten weggehen.
Inzwischen bitte ich dich, diesem fröhlichen
weine zuzusprechen."
Der alte diener liess es sich nicht zweimal
sagen und als er im begriff war zu gehen, rief
sie ihn wieder zurück und sagte:
— „Sollte er einwilligen, so frage nicht dar-
nach ob es tag oder nacht ist, sondern komm
sofort in mein zimmer und bringe mir die künde,
davon: voll angst und aufregung werde ich dich
hier erwarten."
Als er fortgegangen WcU-, ging sie zu dem
orte wo der leichnam lag und rang ihre
bände voll bangen, dass es ihr nicht gelingen
möchte mit dem roten faden den schönen
fuss des jungen mannes zu binden, sie ver-
mochte nicht sich zur ruhe zu begeben und
stand in der einsamkeit unerträgliche angst
aus. In der dämmerung der nacht ging sie
wieder in die Sterbekammer und vernahm atem-
züge an der linken seite des todtenlagers, wel-
DIE TREULOSE WITWE 23
chen ein echo von dem köpfende des sarges
antwortete. Sie fuhr zitternd vor furcht zurück
und rief aus:
— „Es ist der abgeschiedene geist, der wieder
zum Vorschein kommt!" zog sich hastig in ihre
kammer zurück und nahm eine lampe, um nach-
zusehen. Da war es aber der alte diener, der
im rausche am tisch neben dem bette des
todten eingeschlafen war: aber sie wagte ihn
nicht zur rede zu stellen oder aufzuwecken,
sondern kehrte still in ihre kammer zurück und
die nachtwachen und die minuten zählend ver-
brachte sie den rest dieser nacht.
Am nächsten morgen sah sie zwar den alten
diener draussen auf und abgehen, aber nicht zu
ihr kommen, um ihr die antwort auf ihre an-
trage zu bringen. Sie fühlte die äusserste Un-
geduld und rief ihn herein ins zimmer.
— „Es kann nicht sein! es kann nicht sein!"
sagte der mann.
— „Warum nicht?" fragte sie, „war es nicht
deutlich genug, was ich euch gestern abend er-
klärte?«
— „Ich sagte ihm alles", erwiderte der alte
mann, „und was mein herr darauf sagte, war
sehr richtig. Er meinte, an eurer Schönheit und
eigenschaften wäre nichts auszusetzen, und weil
24 DIE TREULOSE WITWE
er noch nicht die Unterweisungen eures ge-
mahls als seines meisters empfangen, so erhöbe
sich auch daraus keine Schwierigkeit; aber es
sind drei ungünstige umstände vorhanden, die
ich euch bekannt machen muss."
— „Welches sind sie?" sagte sie atemlos
vor aufregung.
— „Zu allererst", antwortete der alte diener,
„sagte mein herr folgendes: ,als ich hier er-
schien, stand der leichnam in der halle, wo
er noch steht, ich furchte, dass, wenn ich
mitten in der trauerzeit mit ihr zur ehe schritte,
wir weder herzliches glück, noch vergnügen ge-
messen würden; zweitens haben sie in glück-
licher ehe gelebt, und da er zudem ein berühm-
ter weiser der Tao-sekte war, meine gelehr-
samkeit aber sicherlich der seinigen nicht gleich-
kommt, so bin ich bange, der Verachtung
ausgesetzt zu sein; drittens ist mein gepäck
zurück und noch nicht in meine hand gekom-
men, womit sollte ich die kosten der hochzeits-
gaben und feste bestreiten? und niemand ist
hier, von dem ich leihen könnte' — das sind
die drei gründe, aus denen die Verbindung nicht
zu Stande kommen kann."
— «Aus diesen drei umständen", antwortete
Tien-sche, „erwachsen nicht die mindesten
DIE TREULOSE WITWE 25
Schwierigkeiten: ein todter körper ist nicht die
quelle des lebens, hinter dem hause ist ein
kleiner stall, ich kann ihn durch einige leute
dorthin tragen lassen — und so wäre ein hin-
demis gehoben; fürs zweite, so mag mein ver-
storbener mann ein berühmter weiser der Tao-
sekte gewesen sein: aber in seinen handlungen
war er nicht durchaus zuverlässig, denn er liess
es sich einfallen, sich von seinem vorigen weibe
zu scheiden; mögen andere seine leere tugend
preisen und der könig von Tao seinen hohlen
namen begehren, der ihm grosse geschenke
schickte, um ihn zum minister zu gewinnen, er
aber war sich seiner schwachen kräfte und ge-
ringen talente bewusst und nahm hierher seine
Zuflucht. Vor einigen monaten, als er unter
dem hügel umherstreifte, begegnete er einer
frau mit einem fächer, welche ein grab fächerte
und wartete bis es trocken war, um wieder zu
heiraten. Der narr sprach und scherzte mit
ihr, nahm ihren fächer und fächerte selbst für
sie das grab und kehrte dann mit dem fächer
nach hause, wo ich ihn nahm und in stücke
schlug. Deswegen brach er einige tage später,
als er auf dem todtenbette lag, in einen wah-
ren sfrom von Schmähungen gegen mich aus.
Wo war seine Zuneigung? Er kaon sich mit
26 DIE TREULOSE WITWE
der Jugend und ausgezeichneten gelehrsamkeit
eures Herrn nicht messen, der den rang eines
königsgrossohns hat, während ich die tochter
Tien-tsungs bin. Unser stand ist gleich. Dass
er grade jetzt hier angekommen, ist ein ereig-
nis, das der himmel selbst eintreten Hess, weil
er unsere Verbindung gewollt hat Was end-
lich drittens die ausgaben fiir die brautgeschenke
und die hochzeitsfestlichkeit anlangt, so bin ich
die herrin des hauses; niemand ist vorhanden,
der eine morgengabe fordern könnte. Noch
weniger kommen die kosten der hochzeit in
betracht: ich werde sie sogleich herbeischaffen.
In meinem Privatzimmer liegen zwanzig unzen
Silber, ich werde sie deinem herrn geben, um
sich neue kleider dafür anzuschaffen. Geh wie-
der hin und sag ihm, dass es jetzt zeit sei,
wenn er die ehe zu vollziehen wünsche — heute
abend ist die günstige stunde dazu."
Der alte diener nahm die zwanzig unzen
Silber und kehrte zu dem prinzen zurück, dem
nun nichts anderes übrig blieb, als seine ein-
willigung zu erklären. Der alte brachte der
frau diese antwort zurück, und sie war so
selig wie der himmel und so glücklich wie die
erde. Sie warf ihre trauerkleider ab und 'nahm
ihre vergnqgte miene wieder an, ihren lippen
DIE TREULOSE WITWE 2/
gab sie ihr rot zurück, und in neue bunte ge-
wänder gekleidet bat sie den alten diener, einige
männer herbeizurufen, die in der nähe des
hügels wohnten, um die leiche ihres verstorbnen
mannes in die verfallene hütte hinter dem hause
zu tragen, die halle zu reinigen und das hoch-
zeitsfest zu bereiten. Eine ode bezeugt:
Der schöne Jüngling und die witwe haben verschiedene
anziehungskraft
Und JVang'Sien, der seinen entschluss ändert^ ist
gleichfalls wankelmüthig^
Wer spricht von Einem sattelßir Einp/erd?
Am abend ist der einzige gedanke an den eingeladenen
bräutigam !
Tmx nacht richtete sie das brautgemach her
und ordnete in der halle die lichter und kerzen.
Der prinz hatte seinen knöpf und schärpe an-
gelegt, und beinkleider; die braut hatte ein ge-
sticktes untergewand und beinkleider an. So
stand das paar mitten unter blumen und
kerzen, schimmernd wie edelstein und gold,
ihre Schönheit kann nicht beschrieben werden.
Als die ceremonien vorbei waren, nahm jeder
aufs zärtlichste die hand des andern und sie
traten in die brautkammer ein und waren im
b^^ff sich zurückzuziehn, um zur ruhe zu gehen.
In diesem augenblick sträubten sich desprinzen
28 DIE TREULOSE WITWE
augenbrauen plötzlich nach aufwärts; er konnte
sich keinen zoll weit bewegen; wollte er sich
aufrichten, so fiel er wieder nieder; und die
bände auf seine brüst gepresst konnte er nur
sagen, dass sein herz ihn unerträglich schmerze.
Tien-sche, welche den prinzen wirklich liebte,
war tödtlich erschrocken über diesen zufall, sie
ging auf ihn zu, umarmte ihn und rieb ihn mit
ihren bänden. Er war unfähig zu sprechen,
Speichel schäumte aus seinem munde und er
schien plötzlich sein bewusstsein zu verlieren.
Eiligst erschien der alte diener.
— „Hat er je in seinem leben schon solche
anfalle gehabt?" sagte Tien-sche.
— Ja", sagte der alte diener, „vielleicht ein-
mal in zwei oder drei jähren — keine medicin
vermag sie irgend zu heilen; nur ein ding in
der weit kann ihn wieder gesund machen."
— „Was gebrauchst du? sprich!" forschte
sie inständig.
— „Der arzt", antwortete er, „verschrieb
ein aussergewöhnliches mittel; das mark aus
dem hirn eines lebendigen mannes muss ge-
nommen und in wein gekocht werden. Wenn
er das verschluckt, so hört das übel auf. Als
er zuerst von dieser krankheit heimgesucht
wurde, hat sein fürstlicher vater, der könig von
DIE TREULOSE WITWE 29
Tsu, einen Verbrecher im gefängnis tödten
und sein gehim ausnehmen lassen; aber wie
kann er hier in den bergen so geheilt werden?"
— „Das gehim eines lebendigen kann ich
ihm freilich nicht verschaffen", sagte Tien-sche,
„aber wird das eines todten mannes nicht den
selben dienst tun?"
— «Der arzt erklärte", versetzte der alte
diener, „dass wenn jemand noch nicht neun und
vierzig tage todt gewesen und sein gehim noch
nicht vertrocknet oder verfault ist, so kann man
auch von diesem gebrauch machen."
— „Mein mann", sagte die witwe, „ist erst
zwanzig tage todt, könnten wir nicht den sarg
aufbrechen und sein gehim nehmen?"
— „Ich besorge nur", antwortete er> „dass
ihr das nicht gem tun werdet"
-r- „Ich und der prinz", nahm sie das wort,
„sind mann und weib — eine frau dient ihrem
gatten mit ihrem leibe, und wenn sie dabei
selbst ihres lebens nicht schont, wie kann es
unrecht sein, von dem körper des todten ge-
brauch zu machen?"
Sie befahl ihm alsdann, des prinzen zu war-
ten, während sie nach einem beile suchte. Sie
fand es, und das beil in ihrer rechten hand.
30 DIE TREULOSE WITWE
die lampe in der linken ging sie in das hinter-
haus, setzte die lampe oberhalb des sarges nie-
der und streifte sich die ärmel auf. Mit beiden
bänden erfiob sie die waffe und den festen blick
auf das köpfende des sarges gerichtet, die zahne
zusammenbeissend, und ihre kräfte sammelnd,
Hess sie das eisen mit voller gewalt niederfallen.
Aber wie schwer war es für die schwache un-
geübte kraft eines weibes einen sarg aufzu-
brechen! Tschwang-säng hatte ihrindess bei leb-
zeiten befohlen, ihm nur einen billigen sarg zu
geben, und so war der deckel nach einund-
dreissig schlagen zertrümmert und durch noch
einige mehr wurde die wohnung des todes
vollends gewaltsam geöffnet.
Als sie noch keuchend und atemlos da-
stand, bemerkte sie, dass Tschwang-säng im
sarge einen leisen seufzerausstiess, den deckel ganz
wegschob und zu ihrem erstaunen sich aufrecht
hinsetzte. Obwol sie entschlossenen Charakters
war, kam doch weibische furcht über sie; ihre
kniee schlotterten, ihr herz glich einer umsin-
kenden lampe und verwirrt ergriff sie die flucht.
Ohne daran zu denken, Hess sie das beil hart
zu boden fallen und Tschwang-säng rief: „Hilf mir
auf, frau!" Sie konnte nicht umhin ihm aus dem
sarg zu helfen und er trug das Hcht, während sie
DIE TREULOSE WITWE 3I
folgte und mit ihm in die kammer trat. Da sie
aber wusste, dass der prinz und sein diener da-
rin waren, so machte sie für einen schritt vor-
wärts immer zwei zurück.
Als sie indessen eintraten und sie eine er-
klärung geben wollte, waren der prinz und sein
diener nirgends zu sehn. Obwol erstaunt, warf
sie alle furcht hinweg und sagte listig zu Tschwang-
säng:
— „Nach eurem tode verfiel ich in nachdenken
tag und nacht, und da ich ein geräusch in eurem
sarge hörte, so begann ich an die geschichten
aus alter zeit von denen zu denken, deren seele
wiedergekehrt ist; und da ich erwartete dass
auch ihr zum leben zurückkehren würdet, so
nahm ich das beil und brach euem sarg auf.
Ich muss sagen, das glück hat mich besonders be-
günstigt! es ist wirklich so gekommen: himmel
und erde sei gepriesen!"
— „Besten dank, frau," sagte ihr gemahl, „für
deine zarte rücksicht, aber etwas kommt mir
sonderbar vor. Wie geht es zu, dass du diese
gestickten ärmel und beinkleider trägst, da du
doch in trauer bist?"
— „Da ich den sarg öffnen wollte," sagte sie,
„um eine glückseligkeit zu erblicken, so durfte
ich keine färbe von böser Vorbedeutung an mir
2,2 DIE TREULOSE WITWE
haben und ich legte daher diese gestickten klei-
der an als ein freudiges Vorzeichen."
— „Sehr gut," sagte Tschwang-säng, „aber es
ist noch etwas. Wie kommt es, dass mein sarg
sich nicht in dem schlafraum befand, sondern in
eine verfallene scheune geworfen war? ist das
ein glückliches Vorzeichen?"
Sie hatte kein wort darauf zu erwidern.
Tschwang-säng warf auch einen blick auf die
gläser und den wein, aber erfrug sie nicht darüber.
Er bat sie nur ihm etwas wein zum trinken zu
wärmen.
Er entkorkte eine grosse flasche und trank
mehrere becher, während die frau noch
nicht durchaus darüber beruhigt war wie die
Sachen stünden, aber doch hoffte, dass der alte
herr sie wieder zu seinem weibe annehmen
würde. Ehrerbietig reichte sie ihm den wein
und bot all ihre kunst und anstelligkeit auf, mit
süssen Worten und holden reden, ihn zu betören,
dass er sich zur ruhe lege. Er aber wurde
immer trunkener und schrieb diese vier verse
auf ein blatt weisses papier nieder:
Vormals 7varst du eine feindin, tag für tag für mich
besorgt und beschäftigt^
In derzeit liebte ich dich, du hast nicht desgleichen getan»
DIE TREULOSE WITWE 33
Wollte ich wieder mit dir leben ^ wie ein mann mit
seinem weibe^
So würde ich befürchten^ dass dein beil den deckel
meiner seele einschlägt/
Als sie diese vier zeilen erblickte, wurde ihr
gesicht rot von schäm übergössen, das wort er-
stickte ihr in der kehle und sie blieb sprachlos.
Er schrieb weiter diese vier verse nieder:
Welche liebe hctben gatte und gattin zu einander^ die
zusammen geschlafen haben hundert nachte?
Sobald sie ein neues gesicht erblicken^ vergessen sie das
alte^
Und können mit eigner hand das beil ergreifen um
den Sargdeckel zu öffnen*
Wie können sie Quarten bis das grab trocken ist?
— „Ich will dich die beiden sehen lassen,"
sagte er, und er reckte seinen finger aus und
seine frau sah Wang-sien und den alten diener
im begriff einzutreten. Sie geriet in schrecken
und wandte sich ab, sie nicht zu sehen; da be-
wegte Tschwang-säng sein haupt im kreise und
Wang-sien und der diener verschwanden. Wie
ging das zu? Tschwang-säng wusste das geheim-
nis sein wesen in zwei zu teilen, er verstand
die kunst, den körper und sein Schattenbild zu
trennen.
Da erkannte die frau, dass sie keine mög-
3
34 DIE TREULOSE WITWE
lichkeit mehr zu entrinnen hatte. Ausser sich
vor aufregung riss sie ihren gestickten gürtel
vom leibe, knüpfte ihn an einen balken und
hängte sich selbst. In einem augenblick gab sie
den geist auf. Dies war ein wirklicher tod und
Tschwang-säng als er sah, dass sie völlig todt war,
schnitt er sie ab und warf sie in den einge-
schlagenen sarg. Dann sang er, auf den sarg
gelehnt, mit der thönemen flöte seinen gesang
begleitend:
Das grosse nichts hat keine gefühle — es brachte mich
und dich hervor.
Wäre ich nicht ihr gatte gewesen^ wie hätte sie mein
weib geivesen sein können ?
Durch blossen zu/all sind wir uns begegnet^ der zu-
sammenhang unsres lebens ist zu ende.
Es ist kein verdienst der menschen vereinigt oder ge-
trennt zu werden.
Wenn die herzen durch das leben oder den tod gerührt
werden^ dann erscheint dasgefühl in wah-
rer aufrichtigkeit.
Ohne den tod was würde sich ereignet herben ?
Als sie geboren wardy hat die geheimnisvolle auswahl
sie ausgewählt ; da sie starb, kehrt sie in
das leere zurück,
Sie wollte meineti tod beweinen und schwang ein breites
beil über mir.
DIE TREULOSE WITWE 35
Ich will Über ihren iod trauern und sie mit einem Hede
besänftigen.
Als das geräusch des heiles begann^ kehrte ich zum
leben zurück; wenn das lied zu ende ist^
wird sie es merken.
Weh! weh! Ich zerbreche diese thönerne flöte y denn
ich werde nicht mehr auf ihr spielen.
Was ist siel wer bin ich?
Als dies lied zu ende war, sang er aufs neue
diese vier verse:
Da du gestorben^ muss ich mich verbergen;
Als ich todt war, musstest du freien.
Wäre ich wirklich todt gewesen^
So würde gelackter den mund des volks geöffnet haben,
Tschwang-säng brach hier in lachen aus;
er zerschmetterte die thönerne flöte, nahm
feuer aus der strohgedeckten halle, steckte das
haus in brand und verbrannte den sarg zu
asche. Das Tao-tih-king, oder das buch vom
pfade der tugend, und das Nan-hwa-king oder
das buch der südlichen blumen waren die ein-
zigen dinge, die nicht von den flammen verzehrt
wurden und einige leute aus den bergen be-
wahrten sie auf und so gingen sie von hand zu
hand bis auf die gegenwärtige zeit.
3*
36 DIE TREULOSE WITWE
Tschwang-säng wanderte nach dem Westen und
heiratete nicht mehr.
Einige sagen, dass er Lao-tze am Dju-küh-
kwan getroffen habe, und dann gestorben und
nachdem er das grosse Tao erlangt in einen
geist verwandelt worden sei.
Wu-ke, der sdn wetb gstödlet, war ohne Weisheit,
Und Kau-ling, der die abgeschiedenen beleidigt, wird
mit recht veraektei:
Aber siehe Tschwang-säng an! Spielend auf einer tfiö-
Und dahin wandernd ohne sünde, er sei euer Vorbild!
DIE
WANDERUNG DER NOVELLE
VON DER
TREULOSEN WITWE
DURCH DIE WELTLITERATUR.
AS Friedrich Schlegel im anfange dieses
Jahrhunderts zu Paris, wie berauscht von
der entdeckung einer neuen weit, aus-
rief: im Sanskrit ist eigentlich die quelle aller
sprachen und aller gedanken und gedichte des
menschlichen geistes; alles, alles stammt aus
Indien, ohne ausnähme — das hat seitdem die
besonnene forschung schritt für schritt auf das
vielseitigste bestätigt. Die arischen stamme haben
sich auf ihre Urheimat besonnen, über den er-
innerungen ihrer kinderjahre gegriibelt und mit
der vorweit die nachweit, mit der nachweit die
vorweit beleuchtet.
Die märchen, welche seit Jahrhunderten den
Idndem des occidents erzählt wurden, wir wissen
jetzt, dass die ahnen sie mitgebracht vom Hindu-
kusch, wie Alexander die gesänge Homers in
jenem kostbaren kästchen mit sich führte. Die
40 WANDERUNG DURCH
novellen, die in allen zungen des mittelalters
umgingen, ihr grundmotiv hat meist nur einen
Ursprung: im gemüte des ersten volksdichters im
lande der Arya.
Die zurückfiihrung des vielfaltigen auf seine
einheit, dieser darwinismus der literaturgeschichte,
darf indess die besonderheit der einzelnen species
nicht verwischen; neben der ureinheit der Völker
darf das nationalitätsprincip in der geschicht-
lichen entwicklung nicht verkannt werden. Die
literaturgeschichte, diejenige, welche von einem
höheren Standpunkte aus in grossem überblick
die Weltpoesie betrachten will, muss daher ver-
gleichend sein, muss jedes dichtungswerk in
seiner nationalen eigentümlichkeit aufzufassen
suchen.
Zu einem detailversuche in diesem sinne
bietet sich die auf den vorstehenden blättern in
einer ihrer ältesten und originellsten fassungen
mitgeteilte novelle von der treulosen witwe
wie von selber dar. Denn fast alle nationen
haben diesen eminent socialen stoff bearbeitet,
und so lernen wir aus ihren verschiedenen ge-
staltungen den geist ebenso vieler literaturen
kennen.
In den Apefinineity niontag den 13. mai 1872.
%
DIE WELTLITERATUR 4I
Die vorliegende novelle gibt sich, trotz welt-
weiter Verschiedenheit, doch als zu der klasse
gehörig zu erkennen, welche man heutzutage
als ehebruchsromane zu bezeichnen und zu ver-
urteilen liebt.
Mir scheinen zu jenen novellen, in denen die
herzensgeschichte bis zur ehe geführt wird und
in dieser ihren alles versöhnenden schluss findet,
die romane das ganz notwendige complement
zu bilden, welche erzählen was denn nun aus
jenen glücklich verheirateten paaren wird; welche
die neuen irrungen, leidenschaften, kämpfe und
siege schildern, die da erst anheben, wo jene
ersten geschichten befriedigt schliessen: erst aus
beiden novellenarten zusammen kann ein voll-
ständiges Weltbild entstehen.
So gewiss aber die ehe die moralische grund-
lage der gesellschaft ist, so wird der tiefere
ethische geist auch in diesen ehebruchsromanen
der heiligen idee der ehe am ende zum triumphe
verhelfen; ja, er wird die feder zu seinem werke
nur deshalb ansetzen, um, indem er die irrwege
beleuchtet, den königspfad der tugend zu weisen,
wie es unsern chinesischen novellisten im ein-
gange ausdrücklich zu sagen drängt. In der
weiteren entwicklung dieser speciellen gattung
der novellenliteratur finden wir freilich, dass
42 WANDERUNG DURCH
die italienischen und französischen novellisten
diese ethische tendenz vielfach verleugnet haben;
wofür aber der grösste spanische poet sie um so
glänzender betont und durchgeführt hat. Was
nämlich dem naiven Boqpaz und auch selbst
dem freilich unendlich viel ernsteren Antoine de
la Säle abgeht, das tiefe geflihl für die heilig-
keit der ehe und der familienbande, diese grund-
lagen eines gesunden politischen lebens, — das
spricht^ aus jeder seite der Cervantes'schen
novellen. Keineswegs aber, dass er, der tiefe
kenner des menschlichen lebens und seiner
tausend irr- und abwege, diese mit falschem
Idealismus verhüllt und seine beiden mit der
langweiligen glorie einer abstracten Schönheit
und Sittlichkeit umkleidet, hätte; nein! seine
menschen sind alle dem wirklichen leben ent-
nommen und ihre geschicke mit jenem fast
herben realismus geschildert, der die edleren
bilder der niederländischen schule auszeichnet.
Die Weltbedeutsamkeit dieser bilder, die anschau-
lich symbolische repräsentation der ideen durch
sie — das ist der idealismus des Cervantes.
Antoine de la Säle entwarf in den XV joies
mit feinster kenntniss und rücksichtslosester kühn-
heit das schatten- und nachtbild der ehe, wie es
ihm bei seinen landsleuten entgegengetreten
DIE WELTLITERATUR 43
war, er schrieb ein martyrologium der ehemänner;
unvergesslich prägt sich dem gemüt des lesers
der düsterpoetische refrain seiner XV capitel
ein: ainsi est entr^ dans la nasse et y de-
moura toujours et finira miserablement ses jours.
Seine C nouvelles nouvelles sind wie das Bocca-
cische decameron eine ergänzende mustersamm-
lung angewandter falle zu jenem hohen Hede
der ehefreuden, sie erzählen uns die tausend Ca-
priccios, launen, toUheiten, verbrechen, schwanke,
leiden und Verzweiflungen des „genius der gat-
tung", um Schopenhauers ausdruck zu ge-
brauchen.*) — Cervantes auf der andren seite lädt
♦) Eine getreue Übersetzung der XV joyes de Manage,
die erste deirtsche, mit einem gelehrten, reichhaltigen com-
mentar, — ein treffliches pendant zu dem vielbewunderten,
alle den la Säle weit überbietenden skabrositäten des Ori-
ginals wiedergebenden Regis*schen Rabelais — wollte im
februar 1872 zu Berlin erscheinen, als die presspolizei die
aufläge saisiren liess. Gegenwärtig werden die Criminal-
richter des berliner Stadtgerichts über die Sittlichkeit des
alten schönen naiven buchs, dieses durch alle Jahrhunderte
berühmten meisterwerks, eines französischen classikers be-
finden, der noch kurz zuvor erst von der deutschen Wissen-
schaft in einem ausgezeichneten aufsatze glänzend ge-
würdigt war. (Von Ludwig Stern in Herrigs Archiv für
neuere sprachen XL VI, p. 113 — ^218.)
44 WANDERUNG DURCH
uns gleichsam zur hochzeit eines durch das leben
gereiften paares ein : ein so warmer Sonnenschein
emstheitrer wirklicher ehefreuden liegt über seinen
glücklich vereinten ausgebreitet. Er scheint über
die brausenden Wasserfalle der jugendleidenschaf-
ten hinaus, in vollem klaren ströme befriedigt
dahinzufliessen. Seine erhabene Sittlichkeit scheint
von all den leiden nichts zu wissen, welche nach
dem glücklichen Schlüsse der ehe und der novelle
bei Antoine de la Säle erst anfangen. Oder
vielmehr, er wusste es sehr gut, aber er wusste
auch, dass es dennoch auf erden auch wahrhaft
reine und glückliche ehen gebe und es war sein
vorhaben, nur auf diese das augenmerk seiner
darstellung zu richten, um seine mitbürger durch
die sanfte Überredung der kunst zu diesem ziele
hinzuleiten. Dass dies seine absieht war, spricht
er, wie der chinesische novellist, ausdrücklich
im Vorwort der Novelas ejemplares aus. —
Aber die Vollständigkeit der dichtung, dieses
spiegeis der weit, will, dass neben dem Cervan-
tes auch Boccaz und La Säle ihr recht und
ihren ehrenplatz finden.
Das gemeinsam auszeichnende jener alten
romanciers ist aber unserer chinesischen novelle
eigen, der selbe treue künstlerische realismus bis
ins kleinste detail der dinge, der selbe keusche
DIE WELTLITERATUR 45
einfache stil; mit dem Cervantes allein gemein
ist ihr das innige familien- und pietätsgefühl,
der hohe ethische geist, der über dem ganzen
weht aber doch den buddhistischen inspira-
tionen gemäss mehr eine abwendung von dem
leben überhaupt predigt, während die novellen
des Cervantes ganz und voll diesem leben an-
gehören und nur aus dem Don Quixote wie ein
femer leiser rührender klang die nichtigkeit aller
menschlichen bestrebungen, leiden und freuden
heraustönt.
Es ist nur ein Schriftsteller, welcher den La
Säle und Cervantes wunderbar vereinend, begabt
mit jener tiefen intuition, welche in das herz
der dinge, der gesellschaft, des herzens selber
dringt, und zugleich erfüllt mit allem wissen,
das der menschliche geist seit den tagen jener
beiden grossen romandichter ersonnen und ge-
funden — es ist Honorö de Balzac, welcher
mit dem tiefen sittlichen ernste des erhabenen
Spaniers und zugleich das rücksichtslose secir-
messer des La Säle in der hand die sociale
geschichte Frankreichs in der ersten hälfte des
XIX. Jahrhunderts schrieb. Ihm zur seite ging
George Sand, an eigentlicher poesie ihm viel-
leicht überlegen, aber dadurch so viel niedriger
als jener stehend, dass sie fortgerissen von dem
46 WANDERUNG DURCH
feurigen ströme ihrer Subjektivität das sociale
problem doch in weiblicher einseitigkeit behan-
delte. George Sand ist ganz und gar ein um-
gekehrter La Säle, sie schrieb jenes buch, welches
La Säle am ende der XV joies ankündigte: er
könnte und wollte nun die leiden der ehefrauen
schreiben, welche eben so gross, ja grösser
seien, als alle die der männer, die er soeben
geschildert — George Sand hat das getan, ihre
romane geben uns das martyrologium der ehe-
frauen. Ich rede hier nur vom socialen roman,
ich spreche daher sowenig von La Petite Fadette,
einem objektiven meisterwerk, als ich Walter
Scott oder Dickens zur vergleichung heranziehe.
Balzac steht hier ganz einzig da. Dieser er-
staunliche geist hat weder in der deutschen,
noch englischen, noch auch nur in seiner eignen
literatur, von Rabelais herab, seines gleichen.
Er kann als der Vollender des socialen romans
gelten, deren erste anfange und entfaltungen uns
in der indisch- chinesischen novelle entgegen-
getreten sind. Conservativ, katholisch, ein
priester der heiligkeit der ehe und darum ihr
gegenteil in der Wirklichkeit mit den energi-
schen färben der Wahrheit in entsetzlicher Viel-
seitigkeit zeichnend, kurz, seiner nation in der
Comödie humaine wie Dante in der Divina
DIE WELTLITERATUR 4/
Commedia ihr eignes bild vorhaltend — starb
er zu anfang des Empires unter der last der
gigantischen arbeit seines universellen genies
erliegend. Der jüngere Dumas konnte ihn trotz
seines grossen talents nicht ersetzen; seit Bal-
zacs tode siechte die blute der französischen
literatur dahin, wie endlich auch der Staat selber
von dem germanischen anprall zertrümmert wurde.
Das deutsche volle scheint in vielem betracht jetzt
das erste der weit, aber wir sollen uns doch
nicht einbilden, dass wir in der schönen literatur
und, um bei dem vorliegenden thema zu bleiben,
dass wir in roman und novelle auch nur von
ferne mit den romanischen völkem uns messen
könnten! Wenn aber uns, die wir zwar den
lorber der lyrischen dichtung und des rhyt-
mischen epos errungen, die kunst des Boccaz,
La Sale, Cervantes und Balzac beschämt so gut
wie Shakespeare, Calderon und Moliere, so wollen
wir andrerseits nicht vergessen, und dürfen dar-
auf stolz sein, dass der hohe ethische geist, der
über der novelle von der treulosen witwe ruht,
auch heute noch der unsre ist, noch heute ein
Tacitus von uns sagen könnte: Severa illic
matrimonia. Und wir erinnern uns gern, dass
der geniale französische Romantiker es war,
welcher uns die Inder des Abendlandes nannte.
48 WANDERUNG DURCH
Und so wäre denn, nachdem wir aus langer
politischer ohnmacht erwacht sind, zu hoffen,
dass dieser altarische geist auch in der literatur
neue bluten und fruchte zeitige!
Wie sich schon aus dieser aphoristischen
literaturbetrachtung ergiebt, rnuss das gefiihl
für den socialen wert und die moralische be-
deutsamkeit der ehe, für die innigkeit und
unverletzHchkeit des ehebandes bei den ver-
schiedenen nationen in sehr verschiedener stärke
ausgebildet sein. Die treue bis in den tod,
welche sich die jungen gatten zuschwören, ist
in der tat sehr verschieden verstanden und be-
wahrt worden.
Kein volk hat die idee der ehelichen treue
tiefer gefühlt, konsequenter durchdacht und zu-
gleich praktisch verwirklicht als das indische.
Bei ihm war die treue bis in den tod kein leeres
wort, denn die gattin folgte dem gatten in den
tod. Aus dem flammenden Scheiterhaufen, auf
dem die witwe sich freudig neben den leich-
nam ihres gatten bettete, erhebt sich wie ein
phönix die unsterbliche idee der ehe.
Wenn das liebste von uns genommen ist,
so verschmäht die seele speise und trank: dieses
DIE WELTLITERATUR 49
natürliche geflihl trieben die tiefen, leidenschaft-
lichen Inder zu seiner höchsten konsequenz und
es ergab sich der tod der frau mit dem ge-
liebten. Nicht auch umgekehrt des mannes mit
der gattin. Denn die frau geht ganz auf in der
Hebe und ehe, es ist ihre einzige bestimmung;
der mann soll auch den grössten schmerz des
lebens überwinden, um sein dasein in krieg,
Wissenschaft und kunst würdig zu ende zu leben.
Die witwe, zumal wenn sie keine kinder zu er-
ziehen hat, ist nutz- und zwecklos auf der weit.
Aber nur die edelsten naturen sind solch völliger
Selbstaufopferung fähig, die gemeineren kinder
dieser erde fangen am dritten tage wieder zu
essen an und spätestens übers jähr schwören
sie einem andern dieselbe ewige treue, die sie
einst dem todten geschworen. Die Inder sorg-
ten indess dafür, dass diese niedrigere gesinnung
wenigstens nicht die idee der ehe selbst be-
flecke: das gesetz verbot den witwen wieder zu
heiraten. Die Selbstverbrennung aber war eine
freiwillige und nur die öffentliche meinung strafte
mit tiefster Verachtung die feigen liebhaberinnen
des lebens um jeden preis, welche den tod des
gatten zu überleben vermochten. „Die frau,
die sich mit verbrennen Hess, hiess Sati, die
gute. In der kurzen zeit zwischen ihrem ent-
4
so WANDERUNG DURCH
schluss ujid dessen ausfuhrung wurde sie auf
das höchste gefeiert. Ihrer ganzen familie brachte
sie ehre." (Theodor Benfey, Indien, in Ersch
und Grubers Encyclopädie, 1840.)
Bei den Chinesen kommt zwar die witwen-
verbrennung nicht vor; allein auch sie haben
einen ungemein zarten Familiensinn und die pietät
zwischen eitern und kindern, wie zwischen den
ehegatten tritt in ihrem socialen leben hochbe-
deutsam' hervor. Wie sie den Buddhismus von
Indien empfingen, so zeigen sie sich auch in
ihrer ansieht von der ehe den Indern nahe-
stehend und wahlverwandt.
Nur noch ein arisches volk, von derselben
tiefen idee beseelt, dass die ehe nur einmal ge-
schlossen werde und in Wahrheit eine Verbindung
für leben und tod sei, ist hierin zu derselben
tödtlichen konsequenz wie die Inder fortge-
schritten: es ist das russische Volk. Ralston in
seinem eben erschienenen buche The Songs of
the Russian people. (London 1872) führt von
p. 309 — 345 todtenlieder auf, die bei der ehe-
maligen Selbstverbrennung der witwen gesungen
wurden. Die Russen zeigen noch heute ein
viel innigeres familiengefiihl, überhaupt viel
tieferes gefiihl, als irgend eine andere euro-
päische nation.
DIE WELTLITERATUR 51
Aber auch die Germanen haben ihre indische
abkunft nicht verleugnet. Den Römer Tacitus
verwundert es aufs höchste, welche Stellung die
frau bei den Germanen einnahm. „Tnesse quin
etiam sanctum aliquid et providum putant nee
aut consilia earum aspernantur aut responsa
negligunt." Germania c. 8. Etwas heiliges und
ahndungsvolles, weissagendes sähen die Deut-
schen im weibe und sie horchten auf ihren rat
und ihre ausspräche. Die römischen frauen
waren dagegen wie die griechischen und orien-
talischen mehr oder minder nur die obersten
haussklavinnen. Nur die starre römische lega-
lität, nicht die innige durchdringung mit der
höchsten idee der liebe und ehe hatte die römi-
schen ehen heilig gehalten. Als unter dem kaiser-
reich jene altrömische rigorosität mehr und mehr
in Weichlichkeit und Üppigkeit unterging, locker-
ten sich auch die ehebande, und Tacitus hielt
daher der sittenlosen hauptstadt das bild der
germanischen ehen warnend und strafend vor:
„Severa illic matrimonia, nee uUam morum
partem magis laudaveris; nam prope soli bar-
barorum singulis uxoribus contenti sunt. Dotem
non uxor marito, sed uxori maritus offert....
non ad delicias muliebres quaesita nee quibus
4*
52 WANDERUNG DURCH
nova nupta comatur, sed boves et penatum
equum et scutum cum framea gladioque . . . at-
que invicem ipsa (näml. uxor) armorum aliquid
viro affert . . . . ne se mulier extra virtutum cogi-
tationes extraque bellorum casus putet, ipsis
incipientis matrimonii auspiciis admonetur, venire
se laborum periculorumque sociam, idem in
pace, idem in proelio passuram ausuramque, hoc
juncti boves, hoc paratus equus, hoc data arma
denuntiant: sie vivendum, sie. pereundum,'*
(Cap. i8. 1. c.)
„Paucissima in tarn numerosa gente adulteria,
quorum poena praesens et maritis permissa:
abscisis crinibus, nudatam, coram propinquis ex-
pellit domo maritus ac per omnem vicum verbere
agit; publicatae enim pudicitiae nuUa venia:
non forma, non aetate, non opibus maritum in-
venerit; nemo enim illic vitia ridet nee corrum-
pere et corrumpi saeculum vocatur. Melius
quidem adhuc eae civitates, in quibus tan-
tum virgines nubunt et cum ope votoque uxoris
semel transigitur: sie unum accipiunt maritum
quomodo unum corpus unamque vitam .... plus-
que ibi boni mores valent quam alibi bonae
leges." (c. 19. 1. c.)
DIE WELTLITERATUR 53
„Stniem rogi nee vestibus nee odoribus cumu-
lant: sua cuique arma quorundam igni et equus
adjicitur . . . Lamenta ac lacrimas cito, dolorem
et tristitiam tarde ponunt; feminis lugere hone-
stum est, viris meminisse" (c. 27. 1 e.)
Wir ersehen aus dieser darstellung für unsem
zweck vor allen, dass auch bei den Germanen
nur die Jungfrauen heirateten, also nicht die
Witwen und noch weniger die geschiedenen,
wegen eines fehltritts verstossenen frauen, die
weder durch Jugend, noch Schönheit, noch reich-
tum einen neuen mann bekamen. Semel trans-
igitur cum voto uxoris: nur einmal wird das
ehegelübde ausgesprochen. Wir sehen aber
auch, dass die idee der ehe als Verbindung für
tod und leben von Tacitus betont wird: sie
vivendum, sie pereundum. Die frau folgt dem
manne in die schlacht und also in den tod.
Von der witwenverbrennung ist freilich keine
rede. Nur das treue pferd wird auf dem Scheiter-
haufen des germanischen kriegers mitverbrannt.
„Es lag" sagt Rochholz (Deutscher Glaube und
Brauch im Spiegel der heidnischen Vorzeit.
Berlin 1867 Band I, 154) „im zwecke der heid-
nischen todtenbestattung mit dem hingeschiede-
nen alles ihm werte und eigene mit zu ver-
54 WANDERUNG DURCH
tilgen und ihm in den tod nachzusenden." So
hingen an Siegfrieds und Brünhilds Scheiter-
haufen zu häupten ihre beizvögel, zwei habichte.
In den aufgeschlossenen hünengräbem fand man
ausser den waffen, dem pferde und dem stoss-
vogel, auch den treuen hund, der seinem herm
in den tod gefolgt. Ja, die thiere empfinden
den tod des geliebten eigners. Die eddische
Gudrun erzählt von Grani, dem rosse Sigurds:
Gramvoll ging ich mit Grani reden
befragte das pferd mit feuchter wange,
da senkte Grani ins gras das haupt,
wol wusste der hengst sein herr sei todt.
Und wenn auch nicht von rossen, so ist es
doch von hunden beglaubigt, dass sie aus gram
um ihren verstorbenen herren freiwillig sich zu
tode hungerten. Zweck- und nutzlos scheinen
sie sich auf der weit, wenn die geliebte stimme
des herrn sie nicht mehr ruft. Diese zweck-
und nutzlosigkeit der todten dinge selbst, die
beim tode des besitzers sich unwillkürlich und
gewaltsam aufdrängt, ist eben der grund, warum
die naturvölker all diese gegenstände auf dem
Scheiterhaufen mit verbrennen oder ins grab mit
hinabsenken. Nur dem todten hat das alles ge-
hört, es hat ihm gleichsam treue geschworen
DIE WELTLITERATUR 55
und will und soll nicht von ihm lassen. Es
ist ein stück von ihm.
Rührend erzählt die legende von jenem
hündlein, welches den zum tode geweihten sieben
christenbrüdem in die höhle folgte, die die heiden
hinter ihnen vermauerten. Das hündlein der
Siebenschläfer wird noch heute in der russischen
Idrche verehrt.
Und wie viel mehr als diese leblosen oder
unvernünftigen dinge gehört die gattin dem
gatten an! Wie möchte sie sich einem andern,
ja überhaupt nur der weit und dem leben wieder
zuwenden und hingeben! Wie möchte sie zu-
rückbleiben wenn der gatte in das unbekannte
land gegangen, von wo kein wandrer wieder-
kehrt, wenn der tod die höhle hinter ihm ver-
mauert! Mit dem tode des geliebten muss sie
der reinen und strengen idee nach selbst zu
leben aufhören.
Was aber die Inder im leben verwirklicht,
das stellten die Germanen wenigstens in der
göttermythe als leuchtendes symbol hin. Von
der Walküre heisst es: „sie wandelt sich, so-
bald die geläuterte empfindung des menschen
nach inhalts- und seelenvolleren göttem ver-
langt, in eine himmlische schildjungfrau um, die
nicht blos im himrpel mjt den Tbur^en und
56 WANDERUNG DURCH
riesen zwecklos kämpft, sondern die sich unter
den beiden des landes einen freund erwählet,
ihn als schutzgeist in allen gefahren umschwebt
und in seiner letzten unabwendbaren not, auf
ihre eigne Unsterblichkeit verzichtend, selber den
tod mit ihm teilt. Das Germanenweib, das
beim ehebündnis das gelübde eingeht mit ihrem
manne zu leben und zu sterben, hatte sich in
diesem eben entworfenen bilde der himmlischen
Schildjungfrauen selbst abgezeichnet." (Roch-
holz II, 290).
Wie schon die Römer und Griechen, so
stehen die romanischen Völker in einem noch
mehr ausgeprägten gegensatz gegen diese in-
disch-germanische anschauung von der ehelichen
treue. Einen der hervorragendsten historischen
gründe für diese erscheinung hat Jacob Burck-
hardt in seiner „Cultur der Renaissance (1860,
I. Aufl. p. 440) angegeben, wo er von der ita-
lienischen und französischen novellenmoral han-
delt. „Das recht des gemahls auf die treue der
frau hat hier nicht denjenigen festen boden, den
es bei den Nordländern durch die poesie und
leidenschaft der Werbung und des brautstandes
gewinnt; nach flüchtigster bekanntschaft, un-
mittelbar aus dem elterlichen oder klösterlichen
gewahrsam tritt die junge frau in die weit, und
DIE WELTLITERATUR 5/
nun erst bildet sich ihre individualität ungemein
schnell aus. Hauptsächlich deshalb ist jenes
recht des gatten nur ein sehr bedingtes . . be-
zieht sich nicht auf das herz."
Nach dieser flüchtigen Übersicht über die
Würdigung der ehe bei den verschiedenen kul-
turvölkem gehen wir an die betrachtung der
verschiedenen redactionen, welche speciell der
gegenwärtige kleine eheroman, als spiegel jener
nationalanschauungen, im laufe der zeit bei den
Völkern erfahren hat.
Was zunächst die chinesische redaction der
novelle anlangt, so wurde sie zuerst mitgeteilt
in dem buche: Description g^ographique, histo-
rique etc. de Tempire de la Chine et de la
Tartarie Chinoise. Par le P. J. B. du Halde de
la compagnie de J&us. Nouv. Edition ä la
Haye 1736. Nach der approbation des Jesuiten-
provincials dd. Paris i. avril 1733 zu schliessen
wird die erste Pariser ausgäbe 1733 erschienen
sein. Ich kenne nur den im Haag veranstalte-
ten nachdruck, nach welchem auch eine 1747
zu Rostock herausgekommene deutsche Über-
setzung gemacht wurde. Die nov^Ue steht im
tome ni, p. 401—416, ist aber nicht von du
Halde selbst, sondern vom pater Dentrecolles
ins französische übertragen. Wiederholt wurde
58 WANDERUNG DURCH
sie „avec quelques changements" im Journal
Etranger 1755. Femer in dem buche „Satire
de Petrone. Par le citoyen D*****.« Paris 1803.
Endlich in den „Contes chinois traduits par
MM. Davis, Thoms, le P. DentrecoUes etc.
puplies par Abel Remusat" Paris 1827. vol. III
N^ 3 „La Matrone du pays de Soung." Der
französische Jesuitenmissionär hatte die erzählung
aus der chinesischen novellensammlung Kin-ku-
ke-kwan, einem in zwölf abschnitte (keuen) zer-
fallenden buche übersetzt, über dessen abfas*
sungszeit ich nirgend etwas gefunden habe.
Nur ergibt sich aus dem vorkommen der be-
rühmten formel „die drei religionen sind eins",
dass die novelle jedenfalls erst lange nach der
einführung des Buddhismus entstanden ist.
Nach dieser französischen Übertragung wird
die novelle denn in Dunlops bekanntem werke
über die prosadichtungen (aus dem englischen
übertragen und vielfach vermehrt und berichtigt
von F. Liebrecht Berlin 1851) citirt und be-
merkt der deutsche herausgeber dazu p. 523:
„In diesen novellen wird auch der leser nicht,
wie sonst oft, durch zu häufige anspielungen
auf erklärung bedürfende sitten u. s. w. in dem
gesammtgenusse des ganzen gehemmt." Ich
kann nicht finden, dass dies eben ein lob ist:
DIE WELTLITERATUR 59
grade im roman, der ein Spiegelbild nationaler
sitte sein soll, müssen, je vollkommner er seiner
aufgäbe gerecht werden will, um so mehr von
jenen tausend faden nationaler eigentümlichkeit,
sitte, Sittlichkeit und unsittlichkeit eingewebt
sein, welche wieder bei jedem volke bis zur
gegenseitigen unverständlichkeit verschieden sein
können. Jenes zweifelhafte lob rührt nun aber
im gegenwärtigen falle nur von der beschaffen-
heit der französischen Übersetzung her, die
Dunlop-Liebrecht allein kannte.
Zum glück haben wir aber seitdem eine
neue wiedergäbe dieser wegen ihrer Schicksale
wie ihres wertes vorzüglichsten novelle des Kin-
ku-ke-kwan erhalten, welche ein ungenannter
Engländer im Asiatic Journal von 1840 unter
dem Titel „The impatient widow" veröffentlichte.
Auch ohne kenntnis des chinesischen urtextes
ergibt eine vergleichung des Franzosen mit dem
Engländer sofort, dass jener nur eine glatte,
lückenhafte, grade das nationale gepräge ver-
wischende paraphrase; dieser offenbar eine treue,
fast interlineare Übersetzung gegeben hat, wie
er das in dem kurzen einleitenden bericht auch
ausdrücklich versichert. Der Franzose hat sich
hier dem chinesischen autor gegenüber unge-
fähr benommen, wie Voltaire und noch mehr
Co WANDERUNG DURCH
die späteren Übersetzer (vor den Romantikem)
dem Shakespeare gegenüber, nach jenem Goethe'-
schen recepte nämlich
y^Musst all die garstgen Wörter mindern,^
Unter den garstigen Wörtern versteht der frühere
französische und leider jetzt auch deutsche falsche
idealismus aber alles was an die „unschöne Wirk-
lichkeit" nur erinnern konnte, alle kühnen aus-
brüche des poetischen realismus, an denen
Shakespeare grade so reich ist. Diese parti-
sane des siecle Louis XIV haben die tarte ä
la creme des grossen Moli^re vergessen, und
finden nur ihren Racine nachahmenswürdig, der
1697 die ratte (rat) aus seinem wappen strich,
um hinfort nur den poetischen schwan (cygne)
als ein anständiges dichterisches thier darin
weiter zu führen! Glücklicherweise haben die
französischen Romantiker zu dem ächten Shake-
speare hin und zu Moliere, Rabelais, La Säle,
Villon und dem Autor des Pathelin zurückge-
führt.
Die wie es scheint ganz unbekannt gebliebene
treffliche englische arbeit ist im vorstehenden
so treu wie möglich der deutschen spräche an-
geeignet worden.
Dass nun die quelle der treulosen witwe in
Indien zu suchen sei, ergibt sich grade aus
DIE WELTLITERATUR 6l
unsrer chinesischen redaction derselben sofort.
Gleich im eingang wird die Seelenwanderung
des helden, gleichsam als seine Vorgeschichte,
erzählt; und auch die ihm später beigelegte
fahigkeit, in andern gestalten zu erscheinen,
weist auf die Vorstellung von der metempsy-
chose hin. Diese tiefe feonception ist aber so
originell indisch, dass überall, wo sie in einer
fabel oder novelle auftritt, damit deren indische
abkunft dokumentirt wird.
Auch Theodor Benfey bemerkt im „Pant-
scha tantra. Fünf bücher indischer fabeln, mär-
chen und erzählungen (1859) I, 460 : „das vor-
kommen unsrer erzählung im mohamedanischen
Orient und selbst in China, wohin so viel
buddhistisches gedrungen ist, erweckt den ver-
dacht, dass ihre eigentliche heimat in der mitte,
in Indien, zu suchen sei. Allein ich kenne
keine indische darstellung, an die wir sie in
ihrer besonderheit anzuschliessen vermöchten."
In einer brieflichen mitteilung vom 3. februar
1872 bestätigte der genannte gelehrte diese
stelle seines buches.
Nun hatte aber schon Loiseleur Deslong-
champs in seinem „Essai sur les fables in-
diennes et sur leur introduction en Europe"
(1838) die vermisste indische quelle nachge-
62 WANDERUNG DURCH
wiesen. Es ist die geschichte der Dhumini in
dem sanskritroman Dasa-kumära-tscharita. Ein
auszug im sanskrit ist hinter Colebrookes Hito
padesa - ausgäbe zu Serampur 1804 publicirt
worden und ebenso bruchstücke einer englischen
Übersetzung unter dem titel „The adventures
of the ten youths" im Quarterly oriental Maga-
zine. Calcutta 1826. 1827. vol. VI — VIII.
Beides hat Loiseleur eingesehen und erklärt
demzufolge p. 162 note 1. c, wo er von unsrer
novelle handelt: „Le conte du Tailleur et de sa
femme dans THistoire de la Sultane de Perse
et des Vizirs traduite du turc par Petis de La-
croix et celui de Dhumini dans le Dasa-kumära-
tscharita se rattachent peut-etre encore ä cette
fiction"; und p. 174 „L'histoire du Tailleur et
de sa femme offre beaucoup d'analogie avec
Celle de Dhumini dans le poeme indien."
Adelung, bibliotheca Sanskrita (2. Auflage
St. Petersburg 1837) führt auch eine englische
Übersetzung jenes auszugs des Kumaratscharita
an, welche 1084 (muss heissen 1804) zu Seram-
pur „in Careys ausgäbe des Hitopadesa** er-
schienen sei. Die ebenerwähnte Colebrooke'sche
ausgäbe von 1804 hat nun aber Carey grade
besorgt: die Übersetzung habe ich aber nicht
darin angetroffen. Nach jenem russischen biblio-
DIE WELTLITERATUR Ö3
graphen schienen die auszüge der Oriental
Review auch im Asiatic Journal 1828 wieder-
holt zu sein. Es ist aber hier nur eine ge-
schichte aus dem Kumaratscharita mitgeteilt,
auch ein eheroman, die hochromantische ver-
fiihrungsgeschichte einer frau durch einen brah-
manen.
Der geschichte der Dhumini konnte ich selbst
leider nicht habhaft werden und begnüge mich
daher zunächst die türkische erzählung, womit
sie nach Loiseleur so viel analogie haben soll,
hier herzusetzen u. z. nach A. Kellers Ein-
leitung zu seiner ausgäbe der Sept sages. Die
türkische novelle ist enthalten in dem roman
„die vierzig veziere", welchen ein türkischer autor
unter Amurad II (1422—1451) schrieb, seiner
angäbe nach eine bearbeitung des arabischen
römans „Buch der vierzig morgen und abende"
von Scheik-Zadö.
Ein Schneider weicht, dem gegenseitigen
versprechen gemäss, nicht von dem grabe seiner
frau Gülendam. Er hat sie so geliebt, dass er
nun hier sterben will. Aber der profet Aysa
erweckt sie von den todten. Eilends geht der
mann, um ihre kleider zu holen, aber während
seiner abwesenheit folgt sie dem grade vorüber-
gehenden prinzen in dessen harem. Der gatte
64 WANDERUNG DURCH
erfährt dies später und fordert sein weib zu-
rück. Sie aber erklärt: er sei ein räuber der
sie ausgeplündert und dann lebendig begraben
habe. Der prinz will den Schneider aufknüpfen
lassen, als der profet erscheint, ihn rechtfertigt
und alles aufklärt. Nun kommt das treulose
weib an den galgen.
Wir erkennen in der tat in dieser türkischen,
oder vielmehr arabischen erzählung — denn
auch in der looi nacht (555. und 556. nacht)
wird dieselbe geschichte von einem seidenhänd-
1er und seiner frau Adileh erzählt — alle de-
mente unsrer chinesischen novelle wieder. Eine
sonderbare umkehrung ist es, dass hier der
mann von seiner begrabenen frau nicht lassen
will, wie dort die frau im prunkgemach des
hauses an seiner leiche täglich weinte und
klagte. Wie nun in der chinesischen novelle
der mann wieder zum leben ei-wacht, um sein
treuloses weib zu richten: so wird in der in-
disch-arabischen die frau wieder belebt, und
man sollte meinen, dass nun des treuen mannes
höchster wünsch erfüllt worden. Aber jetzt
beginnt hier erst das lied von der weiberun-
treue, der eigentliche zweck der novelle. Sie
will ihren lebenden mann an den galgen bringen,
um des geliebten prinzen willen; wie die chine-
DIE WELTLITERATUR 6$
sische frau dem todten das haupt spalten will,
um den lebenden vom tode zu retten.
Unendlich viel poetischer ist die chinesische
novelle in allen ihren details und jener tiefe
sittliche geist der Inder ist es, welcher die treu-
lose Tien-sche für eine handlung den tod leiden
lässt, die einer hausbackenen moral gar nicht
so todeswürdig vorkommen mag. Dass dagegen
die Gülendam von henkershand an denselben
galgen geknüpft wird, an den sie ihren mann
hatte bringen wollen, ist sogar schon dem Straf-
gesetzbuch gemäss : nur das feinste sittiiche
und künstlerische gefiihl aber konnte die chine-
sische geschichte mit dem Selbstmord der heldin
schliessen.
Erkennen wir also in der arabischen version
auch eine Variation desselben grundmotives
wieder, so möchte ich doch, angenommen dass
die geschichte von Dhumini mit der arabischen
im wesentlichen übereinstimmt, diese quelle nicht
als die einzige indische für unsre chinesische
novelle ansehn. Dazu kommt, dass über das
alter des Dasa-kumära-tscharita, oder wenigstens
der zu Serampur publicirten fassung des romans
sehr verschiedene ansichten herrschen. Cole-
brooke in den Introductory Remarks zu seiner
sanskritausgabe nennt den roman „the cele-
5
66 WANDERUNG DURCH
brated poem of Dandi" und sagt von diesem:
„this distinguished poet, famous above all other
Indien bards for the sweetness of bis language
and therefore ranked by Calidasa himself (if
tradition may be credited) next to the fathers
of Indian poetry, Valmici and Vyasa, composed
a pleasing story in harmonious verse under the
title of Dasa Cumära tscharita or adventures of
the ten youths." F. v. Bohlen aber erklärt
diesen sanskritroman, den er aber auch nur in
dem von Colebrooke publicirten auszuge ge-
kannt zu haben scheint, für sehr späten Ur-
sprungs.
Das vorkommen der Dhuminiepisode in dem
roman beweist uns zwar auch, im fall dass Bohlen
recht hätte, die ursprünglich indische idee der
novelle, wir würden dann darin aber nur eine
spätere abgeschwächte redaction derselben haben,
während die chinesische offenbar ihrer ächteft
indischen mutter ungleich näher steht. Nur die
tiefe indische ehemoral konnte an einer witwe,
welche also doch nur dem todten die treue ge-
brochen, diesen ihren posthumen ehebruch den-
noch mit dem tode ahnden. Denn eigentlich
durfte ja die witwe den tod des mannes über-
haupt nicht überleben. Dass sie sich zugleich
an dem leichnam vergehen wollte, erscheint
DIE WELTLITERATUR 67
hiebe! nur zu einem untergeordneten moment
herabgesetzt, ist nur ein besonders flagrantes
Symptom der treulosigkeit. Wir werden sehen,
dass die weniger fein fühlenden Völker grade
auf die leichenverstümmlung den grössten nach-
druck legen, als wenn die brutalen tatsachen
strafwürdiger wären, als die noch nicht ver-
körperten gedanken der sünde. Eine acht in-
dische Vorstellung liegt dagegen noch Christi
Worten zu gründe: wer ein weib ansieht ihrer
zu begehren, der hat schon mit ihr die ehe ge-
brochen!
Von der indisch -chinesischen grundform
kommen wir mit einem ungeheuren Sprunge
sogleich zu einer äusserst heterogenen und doch
sicherlich genetisch verbundenen gestaltung
unsres Stoffes, in der die geschichte am alier-
bekanntesten geworden ist: zu der Matrone von
Ephesus des Petronius.
Im uns erhaltenen iii. und 112. capitel
seines romans lässt Petron den Eumolpus auf
einem nach Tarent fahrenden schiffe diese er-
zählung zum besten geben.
Eine matrone in Ephesus wollte sich über
den tod ihres Gemahls gar nicht trösten lassen
und zufrieden geben.
. . . „Non contenta vu^ari more, funus passis
5*
68 WANDERUNG DURCH
prosequi crinibus etc. in conditorium etiam pro-
secuta est defunctum, non parentes potuerunt
mortem inedia persequentem abducere, non
propinqui; magistratus ultimo repulsi .... quin-
tum iam diem sine alimento trahebat."
Mit ihr war nur eine treue magd.
Inzwischen „imperator provinciae latrones
crucibus iussit adfigi secundum illam eandem
casulam. Der „miles, qui cruces adservabat",
sah „lumen inter monimenta et gemitum audit
und kommt aus neugier (»vitio gentis humanae
concupiit scire quis aut quid faceret") heran.
Sobald er die läge der sache sah, „cenulam
suam in monumentum adtulit coepitque hortari
lugentem, ne perseveraret in dolore supervacuo ac
nihil profuturo: omnium eundem esse exitum
et idem domicilium, et cetera quib. exulceratae
mentes ad sanitat. revocantur.
Aber sie will nicht hören und erst als die
magd „vini certe odore corrupta" sich satt ge-
gessen, überredet diese ihre herrin unter andern
auch durch ein citat: „id cinerem aut manes
credis curare sepultos?" „ipsum te jacentis corpus
ammovere debet ut vivas" Nemo invitus audit,
fährt der erzähler fort, cum cogitur aut cibum
sumere aut vivere ceterum scitis quid
plerumque soleat temptare humanam satietatem :
DIE WELTLITERATUR 69
miles aggressus est mit denselben blanditiis wie
vorher ihren entschluss, so jetzt pudicitiam eius
und „conciliante gratiam ancilla . subinde di-
cente:
„Placitone etiam pugnabis amori?" . . ne
hanc quidem partem corporis muHer abstinuit"
So lebten sie drei nachte zusammen prae-
clusis conditorii foribus, sodass die vorüber-
gehenden glauben mussten, auch die frau sei
nun gestorben.
Der miles kaufte nach kräften seines geld-
beutels nahrungsmittel. Da bemerkt er plötz-
lich dass unius cruciarii parentes den körper
geraubt und will sich nun tödten „nee expec-
taturum se judicis sententiam."
Aber mulier non minus misericors quam
pudica: „ne istud dei sinant, ut eodem tempore
duorum mihi carissimor. homin. duo funera
spectem. malo mortuum impendere quam vivum
occidere; usus est miles ingenio prudentissimae
feminae, posteroque die populus miratus est,
qua ratione mortuus isset in crucem."
Hier endet die erzählung. Im folgenden kapitel
(113) wird die Wirkung derselben auf die Zu-
hörer geschildert. Die buhlerin Tryphaena wird
rot „non mediocriter" über diese erzählung
70 WANDERUNG DURCH
und verbirgt ihr gesicht super cervicem Gito-
nis. Lichas aber der schiffskapitän, sagt wenn
der Kaiser gerecht gewesen wäre, so hätte er
„patris familiae corpus" in das grabmal zurück-
gebracht, das weib aber an das kreuz schlagen
lassen „mulierem cruci adfligere." —
Der französische Academiker Darier hat in
dieser episode des Petron ein altes milesisches
märchen vermutet, worauf die lokalisirung — Ephe-
sus — ja von selbst zu weisen schien. Da indessen
diese milesischen und sybaritischen novellen,
von deren lateinischer Übersetzung noch der
Partherfurst Surenna im lager des geschlagenen
Crassus exemplare vorfand, für uns verloren ge-
gangen sind, so lässt sich diese frage nicht
sicher entscheiden. Petronius giebt auch keine
andeutung woher er den stoff entnommen, un-
gleich dem Apuleius, der seinen roman aus-
drücklich als sermo Milesius bezeichnet. Dass
indessen Petron nicht ihr originaler erfinder ge-
wesen, steht für uns, die wir die indisch-chine-
sische und auch schon eine wenn auch späte
arabische Version kennen, fest und so werden
denn auch wol in diesem falle die kleinasiati-
schen küstenstädte die Vermittlerrolle zwischen
Orient und ocrident gespielt haben. Derselbe
Dacier machte auch in seinem „Examen de
DIE WELTLITERATUR 71
rhistoire de la matrone d'Eph^se. Lu le 20.
juin 1773 (Memoires de Tacad. Paris. 1780 p. 523
seq.) auf ein basrelief aufmerksam, das bei
Dandre Bardon, Costume des Grecs et des
Romains 11. cahier abgebildet ist und unzweifel-
haft die geschichte des Petronius darstellt.
Dasselbe wurde in den trümmern von Neros
goldnem hause in Rom entdeckt. Bei der be-
ziehung, in der der Verfasser des Satyricon zum
kaiser gestanden haben soll, könnte man hierin
eine illustration zu der durch Petron populär
gewordenen historie sehen, ungefähr wie Kaul-
bach allerlei dichtungen von Goethe illustrirt. —
Dass die Römer solche dauerhafte marmorne
illustrationen ihrer autoren liebten, beweist
übrigens das in meiner skizze der parodielite-
ratur erwähnte relief zum Virgil.
Andrerseits könnte dies basrelief, dessen ent-
stehungszeit mit Sicherheit bisjetzt nicht be-
stimmt ist, recht wol höheren alters sein und
würde dann als ein weiterer beweis dafür dienen,
dass Petronius nur eine gangbare historie in
seinen roman in neuer form verflochten habe.
Lehrreicher als die Untersuchung, auf welchen
wegen und umwegen die morgenländische fabel
dazu kam, plötzlich in der hauptstadt des
abendländischen Weltreichs aufzutauchen, an den
72 WANDERUNG DURCH
schwelgerischen tafeln des kaisers in später
klassisch gewordener prosa recitirt und an den
wänden seines lieblingspallastes als ewiges kunst-
werk aufgehängt zu werden — wichtiger ist uns
zu sehn, was der Römer aus ihr gemacht hat
Wie in der arabischen version aus dem
chinesischen hochgebildeten philosophen, dem
könige ihre töchter gaben, ein Schneider oder
Seidenhändler und die moral eine ziemlich
gewöhnliche geworden war, so ist die Sphäre,
in die Petron seine geschichte verlegt hat, die
der römischen wachtstube. Sie ist unter seinen
bänden zu einem Soldatenabenteuer geworden.
Ich sage nichts gegen die art seiner darstellung:
da ist kein wort zu viel, äjles prägnant, lapi-
darisch, anschaulich, vortrefflich, ein kleines
meisterwerk, aber völlig niederländischer schule,
während über der chinesischen novelle eine
zarte sittliche grazie schwebt, ein hauch wie
über den bildern Giottos und Fiesoles. Der
chinesische erzähler ist gewiss ganz ebenso
realistisch zu werke gegangen, er hat sich nicht
gescheut, auch die krassesten dinge einfach
natürlich zu erzählen, aber er ist doch ein
grösserer poet als dieser Römer. Er versteht
es uns die rührung mitzuteilen, welche Chwang-
säng empfindet, als er an der leiche seiner er-
DIE WELTLITERATUR 73
hängten frau seine flöte in stücken bricht und das
haus, wo er mit ihr gelebt, in brand steckt mit-
sammt ihrem sarge. Einen so tiefen poetischen
eindruck vermag Petron nicht zu erwecken. Im
einzelnen sind der Übereinstimmungen wie der
merkwürdigen abweichungen der römischen und
indisch-chinesischen Version gar manche.
Von dem verstorbnen gemahle, der bei dem
Chinesen die hauptroUe spielt, erfahren wir bei
Petron nichts, hier agirt er nur als leichnam mit.
Der Soldat, der die trauernde witwe tröstet, ist
eine wirkliche dritte person, grade wie der prinz
in der arabischen version, den die wiederaufer-
standene witwe ihrem wirklichen gemahle vor-
zieht. Von dem tiefsinnigen zuge des Chinesen,
welcher jede dritte person ausschliessend das
ehedrama nur allein zwischen den beiden ehe-
leuten abspielen lässt und indem die witwe nur
einem schattenbilde gegenüber untreu wurde, so
gleichsam nur eine sünde in gedanken bestraft
wird — ist bei dem Römer jede spur verwischt.
Die idee der metempsychose und was damit zu-
sammenhängt ist auf der weiten Wanderung der
novelle völlig abhanden gekommen. Neu musste
eben deshalb auch die Verwendung des todten
körpers zu gunsten des lebenden erfunden werden.
Wie bei dem Chinesen das gehim des scheinbar
74 WANDERUNG DURCH
todten als medicin für den todtkranken lebenden
gebraucht werden sollte, so muss bei dem Römer
der ganze leichnam als Heilmittel für den mit dem
tod bedrohten lebendigen geliebten schmählich
sich gebrauchen lassen. In beiden fällen räsonnirt
eine leichtfertige moral: was nützt den todten ihr
körper? kann ein lebender dadurch gerettet wer-
den, dann spalte dem todten die himschale oder
hänge ihn getrost an den galgen!
Aber auch Petronius lässt den entschluss der
witwe, ihren gatten an den galgen zu bringen,
doch nicht hingehen ohne ihr einen hieb dafür
zu versetzen. Non minus misericors quam pudica
sagt er mit feiner ironie. Jedenfalls aber haben
wir bei ihm wieder die vollbrachte leichenschän-
dung, wie vorher den consummirten ehebruch, bei
dem Chinesen kommt es nur zu dem versuche.
Und dennoch kann sich der Römer nicht zu dem
tragischen abschluss seiner geschichte erheben,
obwol selbst eine Tryphaena über die erzählung
erröten muss. Die einzige erinnerung an die
altrömische sittenstrenge liegt in den Worten
des schiffscapitäns , dessen empörung sich in
dem gebrauch jenes altgeheiligten ausdrucks
„pater-familias" kundgiebt. Diese soldatendime
bleibt am leben und der körper des pater familias
baumelt am galgen ! —
DIE WELTLITERATUR 75
Weit entfernt, dass wir hier in eine stets ver-
derbliche Vermischung von moral und aesthetik
gerieten, kann uns grade diese Petronische Be-
handlung eines an sich moralischen sujets be-
weisen, dass das kunstwerk sich seines grössten
ächtesten eindrucks beraubt, wenn es mit den
ewigen ideen der moral sich in Widerspruch zu
setzen wagt. Petron, indem er der moral seiner
novelle die tragische spitze abbrach, hat damit
das kunstwerk selbst zu einer blossen socialen
Studie herabgesetzt, zu einer geistreich erzählten
anekdote, zu einem lustigen unterhaltungsstück,
als welches es ja auch in der tat auf dem taren-
tiner schiffe aufgetischt wurde. Bei dem indisch-
chinesischen dichter waltet von anfang bis zu ende
die einheit der künstlerischen idee, alles hat zug,
streben, beziehung auf das eine tragische ziel, es
ist die schlänge, die sich in den schwänz beisst,
das Symbol der ewigkeit und der kunst Bei
Petron läuft das ende nicht in den anfang zurück,
die geschichte verläuft im sande, wie der Rhein
in Holland.
Mit dieser blos anekdotenhaften wiedergäbe
der Wirklichkeit, ohne die zu gründe liegende idee
anschaulich zu erfassen und konsequent zu ende
zu denken, aus zahllosen andern fällen den einen
konkreten fall zu ergänzen, zu korrigiren, erst in
76 WANDERUNG DURCH
sein richtiges licht zu setzen, mit dieser blossen
kopie des einmal vorgefallenen begnügen sich
auch in der weiteren literaturentwicklung die
romanischen novellisten sehr oft, selbst Boccaz,
und der autor des französischen Decamerons
(nämlich der C nouvelles nicht etwa der Contes de
la Reine) Antoine de la Säle. Der Inder sah
jedes einzelne geschehen sub specie aetemitatis. —
Nachdem Petron die matrone von Ephesus in
der römischen literatur eingebürgert oder vielleicht
nur ihr andenken darin erneuert hatte, begann sie
bei den späteren lateinem ein freilich ziemlich
kümmerliches dasein weiter zu fristen.
Unter den XXXII neuentdeckten fabeln des
Pseudo-Phaedrus behandelt eine des Petronius
märchen.
In Burmanns ausgäbe des Satyricons wird
auch eine aesopische fabel des Romulus Gramma-
ticus als dasselbe sujet darstellend aufgeführt.
Freilich sagt Burmann : „Carmine reddit Romulus."
Die fabeln des Romulus sind aber eine prosaüber-
Setzung des griechischen. Ich habe es nicht der
mühe wert gehalten die dem Burmann vermutlich
passirte Verwechslung des Romulus mit dem fol-
genden anonymus zu verificiren.
Die aus dem griechischen übersetzten fabeln
des Romulus versificirte nämlich später ein
DIE WELTLITERATUR ^^
anonymus, über den Lessing, kurz vor seinem
tode, sehr umständliche bibliographische Unter-
suchungen angestellt hat. Ein Lessing unbe-
kanntes manuscript dieses anonymus beschreibt
der Academiker Dacier a. a. o. und versetzt es
in das XII. Jahrhundert. Die XLIX. fabel heisst
hier „De viro et uxore", höchst mittelmässige
distichen, trocken und geistlos die behandlung.
Der schluss lautet:
„ pro furc catenat ipsa virum.
Huic merito succumbit eques, succumbit amori
lila novo : ligat hosfinnus amore thorus.
Sola premit vivosque metu, poenäque sepultos
Femina: femineum non bene finit opus."
Später gab Nivelet diesen anonymus heraus.
Aus den in den klöstem beliebten manu-
scripten des Petronius excerpirte die novelle auch
der bischof von Chartres Jean de Sarisböry für
sein buch De Nugis Curialium, wo sie im lib. VIII
cap. 2 zu finden ist. Er nennt den Petron aus-
drücklich, beruft sich aber zugleich auf einen ge-
wissen Flavianus als zeugen, dass die geschichte
wirklich in Ephesus passirt, sowie dass die frau
„impietatis suae et sceleris parricidalis et adulterii
poenas luisse." Flavianus, den der bischof öfter,
u. a. als Verfasser einer schritt De vestigiis philo-
sophorum citirt, ist ein übrigens ganz unbekannter
yS WANDERUNG DURCH
autor, der also ebenfalls, ausser Petronius, die
novelle irgendwie behandelt haben muss.
Um dieselbe zeit als der bischof von Chartres
das zeitliche segnete (f 1183), erblickte in Frank-
reich eine der allerberühmtesten novellensamm-
lungen und zwar ebenfalls in einem kloster das
licht der weit: die Historia Septem Sapientum
Romae. Dies werk wurde von dem mönche
Dam Jehans zu Haute Selve, einer abtei der
diöcese Nancy, in lateinischer spräche geschrie-
ben und ist im wesentlichen eine Übersetzung des
hebräischen buches Sandabar, welches der rabbi
Joel, auch im XII. saec. wahrscheinlich aus dem
arabischen übersetzt hatte. Der arabische ge-
schichtsschreiberMassudi, der im X. saec. p. Chr.
lebte, spricht aber von dem roman eines indischen
Philosophen, betitelt „die sieben veziere, der lehr-
meister, der jüngling und die frau des königs,"
^Dies werk heisst das Buch des Sendabad."
Das original des Originals des Rabbi Joel war also
ein indisches werk, Sandabar ist Sendabad. Es
gehört zu den in Indien erfundenen rahmener-
zählungen, in denen nämlich eine ganze reihe
einzelner geschichten künstlich in ein ganzes ver-
flochten wird. Der indische original Sendabad
ist nun noch nicht entdeckt; A. W. Schl^el
wollte (1830) eben das obenerwähnte Dasa
DIE WELTLITERATUR 79
kumara tscharita dafür ansehen, aber v. Bohlen
und Loiseleur Deslongchamps bestreiten dies
wie mir scheint mit recht. Ausser der Über-
setzung des Joel haben wir aber noch eine
griechische unter dem korrumpirten titel Syn-
tipas, welchen Dacier nach dem stil in das XI.
Jahrhundert verweisen will. Der französische
mönch machte also das abendland zum ersten
male mit den dichtungen des fernen morgen-
ländischen romantischen geistes bekannt zu der-
selben zeit, als eben die kreuzfahrer den Orient
auch politisch zu erobern suchten.
In die historia Septem Sapientum ist nun auch
unsere treulose witwe und zwar in einer wesent-
lich neuen, sehr eigentümlichen, künstlerisch be-
deutenden gestalt eingeflochten.
Sehr sonderbar trifft es sich aber, dass sowohl
in der hebräischen als der griechischen version
des indischen Sendabad grade die geschichte von
der witwe nicht enthalten ist. Dam Jehans
muss sie also anderswo gefunden haben.
Es ist nun sehr möglich, dass er die matrone
von Ephesus des Petronius gekannt, konnte auch
wol eben noch durch den bischof von Chartres
daran erinnert sein und so hinderte nichts, anzu-
nehmen, dass die witwe aus der römischen quelle
in die Septem sapientes geflossen sei. Allein
So WANDERUNG DURCH
andrerseits hat die novelle doch bei ihm eine von
der Petronischen so abweichende form ange-
nommen, dass man sich kaum des gedankens er-
wehren kann : es hätten dem mönch von Haute
Selve noch andere direktere quellen zu geböte
gestanden, aus denen er seine erzählung ge-
schöpft.
Versetzen wir uns in jene zeit.
Es war die zeit der kreuzzüge. Die franzö-
sischen Trouveurs zogen zum heiligen lande und
sogen begierig, wie einst die jonischen colonisten,
die fabeln und märchen des morgenlandes ein.
Zu hause ergötzten sich dann die französischen
barone auf ihren einsamen schlossern an den er-
zählungen der zurückgekehrten sängen Denn:
Usage est en Normandie
que qui herbergiez est qu'il die
fable ou chanson ä Thoste.
(Sacristan de Cluny.)
So entstanden, wenn auch nicht aus jenem
directen contact mit dem Orient allein, in der
letzten hälfte des XII. bis in das XIV. Jahr-
hundert die Fabliaux, von denen Le Grand in
seiner ausgäbe vortrefflich sagt: „Wir finden
daselbst meinungen, Vorurteile, sitten, die art und
weise, wie man sich gewöhnlich unterhielt, wie
DIE WELTLITERATUR 8l
man liebschaften anknüpfte und fortführte;
mit einem worte alles findet man dort und
vieles nur dort." Er rühmt die herzenskenntnis,
einfachheit und Wahrheit dieser dichtungen.
Unter diesen fabliaux nun finden wir nicht
weniger wie drei, welche die geschichte von der
witwe erzählen. Das eine teilen Barbazon etMeon,
fabliaux et contes Paris 1 808 (III, 462 cf. Le Grand,
III 328. 333) unter dem titel „de celle qui se fist
foustre sur la fosse de son mari" mit; es hat nach
A. Keller (Einleitung zu seiner ausgäbe der Sept
Sages) folgenden inhalt:
Eine frau in Flandern will ihres mannes
grab nicht verlassen. Ein ritter und sein
knappe sehen sie von weitem und letzterer
wettet mit seinem herm, er werde sie ver-
fuhren. Geht dann zu der frau und klagt: er
habe seine geliebte durch die heftigkeit seiner lieb-
kosung umgebracht. Sie wünscht auch so umge-
bracht zu werden, da ihr das leben verhasst sei.
Der ritter sieht aus der ferne lachend zu. Ich
führe dies fabliau, dem ein eigentlicher schluss
und überhaupt die pointe fehlt, nur an, weil es
mir eben zu beweisen scheint, dass nicht Petron
und die von ihm abgeleiteten darstellungen zum
Vorbild dieser französischen version gedient haben
können. Gar nichts erinnert hier an Petronius.
6
82 WANDERUNG DURCH
Die andern beiden fabliaux teilt Dacier a. a. o.
mit. Der eingang beider ist zwar mit dem
Petronius übereinstimmend, aber zu dem einen
ist ein ganz neuer schluss hinzugekommen. Hier
wird ein Zwiegespräch zwischen der dame und
dem ritter wiedergegeben, nachdem sie sich be-
reit erklärt hat, ihren todten mann an dem galgen
die stelle des gestohlenen räubers einnehmen zu
lassen. Er sagt mit verstellter furcht: lieber
wolle er sterben als den todten anrühren ; worauf
sie allein den leichnam heranschleppt. Er geht
allein hinterher. Dann bemerkt er, der räuber
habe an der stirn eine grosse wunde von zwei
pfeilen herrührend gehabt. Sie bittet, ihrem
mann mit seinem degen dieselben wunden zuzu-
fügen. Und als er dies ebenfalls nicht wagen
will, nimmt sie den degen und schlägt zu. Mit
dem allgemeinen moralspruche : hieraus könne
man ersehen, welches vertrauen die todten auf die
lebenden setzen könnten, schliesst das fabliau.
Haben wir nun schon oben gesehen, dass der
uralt-indische stoff in die arabischen märchen über-
gegangen war und noch im anfang des XV. Jahr-
hunderts aus dem arabischen ins türkische über-
tragen wurde, so steht der annähme nichts im wege,
dass zu den zeiten der kreuzzüge die trouveres, un-
bekannt mit Petronius, die geschichte, die im Orient
DIE WELTLITERATUR 83
noch SO beliebt war, als neu mit über das mittel-
meer nach Frankreich gebracht und durch sie
der mönch von Haute Selve auf seine geschichte
von der witwe geführt worden sei.
Eine priorität der fabliaux vor der historia
Septem sapientum lässt sich freilich nicht genau
konstatiren.
Der grundstein zur abtei Haute Selve wurde
am 26. mai 11 40 gelegt (LoiseleurDeslongchamps
p. 85 note 2). Die erste französische freie rhyt-
mische bearbeitung der VII. sapientes, der Dolo-
pathos des Trouv^re Hebers, der das werk „en
reverence" des späteren, 1223 zur regierung ge-
kommenen königs Louis VIII. gedichtet haben
will, ist zu anfang des XIII. Jahrhunderts verfasst.
Folglich ergiebt sich das ende des XII. Jahr-
hunderts für den mönch von Haute Selve, da
Hebers von ihm als von einem älteren Zeitgenossen
spricht. Die fabliaux begannen aber auch schon
in der letzten hälfte des XII. Jahrhunderts.
Jedenfalls aber ist der geschichte der witwe,
wie sie in den VE sapientes auftritt, gleichviel
woher sie der Verfasser entlehnte, der Stempel
des französischen geistes aufgedrückt. Wir er-
kennen dies noch mehr, wenn wir nicht die urprüng-
liche mönchslateinische redaction, sondern die
fast wörtliche, aber auch (hierin dem Dolopathos
6*
84 WANDERUNG DURCH
gleich) rhytmische Übersetzung zu gründe legen,
welche die VII meister zu ende des Xlll.jahrhunderts
(jedenfalls nachdemjahre 1284) durch einen namen-
losen trouveur erfahren haben. Diese „Romans de
sept sages" hat Adalbert Keller aus der Pariser
pergamenthandschrift im jähre 1836 musterhaft
herausgegeben. Es ist dies nach ihm die „älteste
vollständig erhaltene bearbeitung des buchs in
einer modernen spräche uncj liegt den meisten
spätem europäischen bearbeitungen zu gründe."
Nach seiner ausgäbe fuge ich hier einen aus-
zug ein.
Die einleitung, die einfligung in den grossen
erzählungsrahmen giebt CLV. In CLVI beginnt
dann die erzählung selbst:
CLVI
Ein duc de Loherainne lebte mit seiner frau
in grosser liebe. Er hielt eines tags ein messer
in der hand und sie verletzte sich aus versehen
daran und blutete ein wenig, was ihn so sehr be-
trübte, dass er nicht ass noch trank und am
andern morgen todt war. Die frau setzte sich auf
sein grab
et jure diu et saint denise
jamais dilluec( ne partira
desci au jour quelle morra.
DIE WELTLITERATUR 85
Nun kommen die verwandten [ganz wie bei
Petron], sagen
richement serois marriee —
sie aber wiederholt, refrainartig, die worte
jamais etc. Da bauen die verwandten une löge
für sie und bringen ihr holz und machen feuer.
CLVII
Drei räuber sind an den galgen (bei jenem
kirchhof) gehängt worden.
CLVIII
Ein Chevalier reitet aus sie zu bewachen. Es
ist um die zeit des Andreastages und sehr kalt.
Er sieht den ort auf dem kirchhof wo die witwe
sich aufhält und tritt ein, um sich zu wärmen,
nachdem er versprochen, ne parole de lecherie
zu sprechen. Als er warm und seine färbe
wiedergewonnen, redet er ihr zu wieder zu
heiraten
car nest el monde tel dolour
ne tempeste ne tenebrour
que tout ne couuigne oublier ;
car la mors fait tout achieuer.
Sie schwört ihren alten refrain.
86 WANDERUNG DURCH
CLX
Unterdessen haben den einen räuber seine
verwandten abgenommen. Er beschliesst sich
bei der witwe rat zu holen, die könne ihm viel-
leicht geben was ihn rette. Er erzählt es ihr
Or men convient fuir en frise;
Je natendrai pas la justiche.
CLXI
Darauf sie sofort:
Amis
Si vous me volijes amer
Et prendre a femme et epouser.
Dann wolle sie ihm guten rat geben und er
könne ruhig sein land behalten (brauche nicht
flüchtig zu werden). Als er zugestimmt, rät sie,
ihren mann an den galgen zu hängen. Beide
nehmen den körper aus dem grabe und tragen
ihn zum galgen, woran sie eine leiter stellen.
CLXII
Der ritter sagt: er könne ihn nicht hängen,
Dame — se iel pendoie tous fuis couars endeven-
roie. Sie sagt: Dann hänge ich ihn. Legt ihm
den strick um den hals und zieht ihn empor.
Der ritter aber sagt: eist est lassus (mais, par
DIE WELTLITERATUR 8/
mon Chief, il i a plus). Der räuber wäre mit
einem degen durch die rippen gestochen. Sofort
sticht sie den todten auch durch die rippen.
Ihr refrain, wenn der ritter sich weigert dem
leichnam böses anzutun, ist nun immer
je le ferais
tout maintenant sans nul delai.
CLXin
Der ritter: il i a plus:
Der räuber hatte zwei ausgeschlagne zahne, wenn
morgen das volk kommt, wird es sehen, dass der
am galgen noch die zahne hat
Sie stimmt ihren refrain an, nimmt einen stein,
schlägt ihm zwei zahne aus, steigt von der
leiter und kommt zum ritter:
Amis, forment pris votre amour
Er aber antwortet:
Voire, dist il, or de putain
De dame diu Id Ast euain,
Soit eil honnis, ki que il soit,
Ki en maluaise femme croit!
Tost aues chelui oublie
Ki pour vus fii ier enterre.
Je jugeroie par raison
Que len vous arsist en charbon.
88 WANDERUNG DURCH
La dame ot duel de ces nouieles
Or est cheoite entre deus sieles.
Aus einer französischen prosaübersetzung,
einem velinmanuscript des XIII. Jahrhunderts,
teilt Dacier a. a. o. unsere geschichte mit. Sie
stimmt mit Kellers text völlig überein. Wir
sehen, dass sich die fabliaux nur wie eine skizze,
fast wie eine inhaltsangabe zu diesem ausge-
führten gemälde verhalten, woraus wir noch auf
das höhere alter jener schliessen dürfen.
Gleich im eingange überrascht uns der franzö-
sische novellist durch die zarte art, mit der er
das liebesverhältniss des herzogs mit seiner frau
andeutet. Petron hatte kein wort über den
mann verloren. Der indisch-chinesische erzähler
hatte allen nachdruck auf den mann gelegt und die
novelle rührend und würdig mit ihm schliessen
lassen. Der franzose folgt dem älteren und tieferen
vorbilde wenigstens im eingange; ja, er erfindet hier
noch den sehr schönen zug hinzu, dass der mann
aus übergrosser, fast krankhaft nervöser liebe zu
seiner frau gestorben ist. Mit acht französisch
realistischem lokalkolorit ist die scene auf dem
kirchhof ausgestattet.
Die Zwiegespräche zwischen dem ritter und
der frau sind eine weitere, durch die sehr
glückliche einfiihrung des refrains gehobene
DIE WELTLITERATUR 89
ausflihrung des in dem einen fabliau schon an-
gedeuteten. Die frau soll den becher der schände
hier ganz leeren. Der ritter, obwol er landes-
flüchtig werden, ja den tod fürchten musste,
wenn der leichnam nicht an den galgen käme,
sagt doch, er müsste ein elender sein, wenn er
selbst den ritter aufhinge. So muss sie alles
tun und sogar den, der aus liebe zu ihr gestorben,
noch verstümmeln!
Obwol nun aber die schuld der frau hier noch
unendlich grösser e^'scheint als bei Petronius, so
entschliesst sich der franzose noch weniger als
der römer, der poetischen und moralischen gerech-
tigkeit durch einen tragischen, den allein mög-
lichen schluss genüge zu tun. Der ritter sagt ihr
nur, von rechtswegen müsse man sie verbrennen,
und lässt sie stehen. Und die novelle schliesst
fast lustig mit dem Sprichwort: So hatte sich die
frau zwischen zwei stuhle gesetzt, d. h. den
todten hatte sie geschändet um des lebenden
willen und der lebende Hess sie sitzen.
Der franzose hatte aber doch ein weit feineres
künstlerisches bewusstsein als der römische
fabulist, welcher ganz brutal das nackte factum
der drei nachte im mausoleum erzählt, und die
frau dann auch später mit ihrem Soldaten ruhig
weiter leben lässt, wenigstens keinerlei andeutung
90 WANDERUNG DURCH
vom gegenteil giebt. Der franzose lässt seine
Herzogin von dem ritter nur ein eheversprechen
erlangen, keineswegs geht es auf dem kirchhofe
hier her wie in dem fabliau (seite 8i), und am
ende steht die frau mit schäm und schände be-
deckt, von gewissensbissen gequält jämmerlich
und allein unter dem galgen, woran sie den ge-
bracht, der aus liebe zu ihr gestorben war. Ende
und anfang der französischen novelle sind wenig-
stens durch die einheit der künstlerischen idee
verbunden. Das tiefe gefiihl für die eheliche
treue, welches dem Inder seinen schluss eingab,
fehlte dem romanischen dichter freilich.
Als ein hoher sittlicher dichter erscheint der
mönch von Haute Selve aber, wenn wir ihn mit
den französischen autoren vergleichen, die in den
folgenden Jahrhunderten sich desselben Stoffes
bemächtigt haben.
Nach Burmanns Petronausgabe ist der nächste,
der den stoff wieder behandelte, jener Pierre
Bercheur (f 1362 als prior eines benedictiner-
klosters zu Paris), wenn wir ihn nämlich als den
autor der Gesta Romanorum ansehen. Nach
Dunlop sind die Gesta Romanorum jedenfalls um
1340 verfasst. Ich erwähne das vorkommen
unsrer wieder lateinisch gewordenen novelle darin
übrigens nur der Vollständigkeit halber und gehe
DIE WELTLITERATUR 9I
sogleich zu Eustache Deschamps über, dessen
„Exemple contre ceuls qui se fient en amour de
femmes" Dacier a. a. o. mitteilt. Deschamps
gehört dem XIV. Jahrhundert an, wenigstens sah
Dacier das datum 1393 unter einem seiner
poeme. Dieser spätiing der trouvere lässt den
Soldaten die witwe heiraten !
Qu'elle ainsi de mort le garda,
Si la print puis par manage.
Or ne sgai-je s'il fist que sage,
Autant pot-il de soi attendre,
Comme du premier qu*el fist pandre.
Er zweifelt freilich ob sein chevalier weise
daran tut, da es ihm später am ende ähnlich er-
gehen könne wie dem ersten mann. Aber in
diesem bescheidenen skrupel erschöpft sich auch
seine moralität.
Dieser schluss mit der fröhlichen ehe, als
wenn alles vorhergehende ganz in der Ordnung
gewesen wäre, flösst einen sicherlich ebenso ästhe-
tischen wie moralischen ekel ein. Ein schnei-
denderer, schnöderer höhn auf ehe und ehetreue
kann gar nicht erdacht werden. Die aller-
platteste gemeinste ansieht von der ehe wird von
diesem französischen poeten, der den ehren-
namen kaum verdient, zum finalen triumphe ge-
führt. Man kann auch nicht den realistischen
92 WANDERUNG DURCH
einwurf machen, dass ein solcher ausgang factisch
im leben gar wol möglich sei und wol oft vor-
komme. Eine auf eine solche Vorgeschichte ge-
pfropfte ehe muss die karrikatur der ächten
liebesverbindung werden und die Vollständigkeit
der dichtung hätte dann wenigstens verlangt,
dass der dichter auch dies mit zeige.
Uebrigens fehlen dem Deschamps auch alle
die reichen poetischen details, welche seinen Vor-
gänger auszeichnen. Dasselbe gilt ohne zweifei
auch von der nächsten bearbeitung in den Fajbles
d'Esope, d'Avienus et autres traduites en Frangois
par Frere Julien des Augustins de Lyon Docteur
en Theologie Lyon 1484 in fol. Der abb6
Goujet citirt dies werk in seiner Biblioth^ue
Frangoise (tome VI, p. 428) und sagt, dass der
augustinermönch seine fabel wol aus einem
manuscript des Petron geschöpft habe. Die
editio princeps des Petron erschien nämlich erst
1499 zu Venedig. Wahrscheinlicher ist aber
diese französische fabelsammlung eine Über-
setzung derjenigen fabeln, welche der oben schon
erwähnte Anonymus aus dem Romulus versificirt
hatte. Denn grade 1483 war zu Rom die erste
gedruckte ausgäbe dieser lateinischen fabeln er-
schienen. — Auch ganz nach Petronius erzählt die
geschichte im XVI. Jahrhundert der Seigneur de
DIE WELTLITERATUR 93
Brantome, (1527 — 1614) kammerherr und tapferer
krieger unter Charles IX und Henri III, welcher
sein leben am Schreibtisch über seinen Memoires
und andren büchem beschloss. Im Discours IV
seiner Vie des dames galantes will er die ge-
schichte auf einem lustigen diner von einem
M. d'Aurat zuerst gehört haben, welcher sie
wieder aus „Lempridius" hatte haben wollen.
Später, sagt Brantome, hätte er die geschichte
auch im „Li vre des Funörailles, tres-beau certes,
d6d\6 ä feu M. de Savoye" gelesen. Des Petron
erwähnt er auffallender weise mit keiner silbe.
In seinem kreise wurde die phrase »jouer le rolle
de nostre dame d'Eph^se" zum Sprichwort und
an gelegenheiten, es auf junge witwen anzu-
wenden, fehlte es nach der Versicherung des welt-
erfahrenen autors nicht. Brantome fasst die ge-
schichte als französischer hofmann ungefähr eben
so auf wie der hofmann des Nero, und legt den
hauptnachdruck darauf, dass sie „ainsi sauva son
galand par un acte et opprobre fort vilain ä son
mary." Er lässt die frau nämlich dem todten
ein ohr abhauen, um ihn dem gehängten ähnlich
zu machen. „Et certes ce fut une estrange
tragicom^die , pleine de grande inhumanit^,
d'offenser si cruellement son mary." Aber auf
den treubruch selbst legt er weiter kein gewicht
94 WANDERUNG DURCH
und hat gleich eine historie aus der Bartholomäus-
nacht bei der hand, wo ein soldat vor den äugen
der frau den gemahl niederhieb und nun ver-
langte, dass sie ihn wieder heiraten solle oder er
tödte sie gleichfalls. „La pauvre femme, qui es-
toit encore belle et jeune, pour se sauver la vie,
fut contrainte faire et nopces et funerailles tout
ensemble." Wem fällt nicht hier Shakespeares
Richard III ein :
ward je in solcher laun ein weib gefreit?
Brantome findet die frau „excusable, car qu'eust
pu faire moins une pauvre femme fragile et
foible, ci ce n'eust est^ de se tuer elle-mesme, ou
tendre sa belle poictrine a Tespöe du meurtrier?"
Die Lucrecien giebt es nur in der fabel, denkt
der liebenswürdige alte general.
Wenn der biedere Brantome nicht mehr sein
will, als ein chroniqueur und memoirenschreiber
und darum auch nicht nötig hat, sich um künst-
lerische ziele zu bekümmern : so ist es eine ganz
andre sache mit dem berühmten conteur, zu dem
wir jetzt kommen, mit Jean de Lafontaine
(1621 — 1695. Die „contes" zuerst 1665.) Seine
„Matrone d*Eph^se" unterliegt genau dem-
selben tadel, der schon über den Deschamps
ausgesprochen.
Er lehnt sich durchaus an Petron an.
DIE WELTLITERATUR 95
„Quelle grace aura ma Matrone au prix de
Celle de Petrone?" fragt er. Der alte klassiker
gilt ihm als unübertreffliches muster. Er hat ihn
aber an immoralität noch weit übertroffen. Nicht
in dem detail der erzählung, hier ist Petron der
meister, aber im geiste der ganzen behandlung.
Sein conte schliesst mit folgenden werten,
welche wol gemerkt der autor selbst als be-
dächtig abgewogene schlussmoral spricht:
„Cette veuve n*eut tort
Q'au dessein de mourir
Car de mettre au patibulaire
Le Corps d'un mari tant aime
Ce n'^tait pas peut-etre une si grande
affaire.
Mieux vaut goujat debout qu'empe-
reur enterr^.
Petron hatte dies nur der von ihrer Sinnlich-
keit hingerissenen witwe in den mund gelegt:
„malo mortuum impenderequam vivum occidere."
Der poet Louis des vierzehnten trug es ganz naiv
und ungescheut als gesunde und räsonnable
moral vor. Der Inder liess die witwe den
Scheiterhaufen besteigen, bei dem modernen
franzosen war die idee der ehe schon soweit
herabgekommen, dass er in der nämlichen ge-
schichte grade die absieht der witwe, aus liebe
96 WANDERUNG DURCH
dem geliebten in den tod folgen zu woUep, für
ihre einzige moralische schuld erklärte, aber
davon dass sie den leichnam ihres gatten an den
galgen hing, gar nur zu sagen wusste :
Ce n'^tait pas une si grande affaire.
Die glatte eleganz der verse, in denen diese
gränzenlose verkehrung des edelsten zu tage
tritt, hat in der tat etwas empörendes! Nur die
frivolste Oberflächlichkeit hatte hier die abgründe
des lebens gleisnerisch verschleiert. Indem diese
hoffähige geleckte graziöse flache künstliche
dichterei jeden starken naturlaut ängstlich mied,
den freien wuchs der bäume im walde der poesie
beschneidend wie die scheere des hofgärtners
die taxushecken von Versailles, war ihr mit den
tiefen empfindungen überhaupt auch jede empfin-
dung für eine tiefe moral abhanden gekommen.
Wie ehrwürdig erscheinen neben La Fontaines
frivolen aber immer die grenzen des convenablen
einhaltenden schlüpfrigen erzählungen, schlüpfrig,
weil sie aus mangel an jeder naivetät die dinge
nicht bei namen zu nennen wagten und nun in
einem nebel geistreicher entfernter anspielungen
das anstössige verhüllten, um es dadurch nur
piquanter zu machen — wie ehrwürdig er-
scheinen neben diesen raffinerien jene unsterb-
lichen balladen Frangois Villons, welche das
DIE WELTLITERATUR 97
volle ächte leben, ein ganz gewiss sehr unsittliches
leben, aber in den färben der Wirklichkeit und mit
den rührendsten ausbrüchen der reue in ewiger
naturwahrheit schon 200 jähre vor Lafontaine
dargestellt hatten.
Welch ein abfall von den fabliaux und
trouveurgedichten, die Lafontaine so unendlich
verschönert, von schmutz gereinigt, verbessert,
in Vergessenheit gebracht zu haben glaubte !
Uebrigens hatte der gefeierte fabeldichter die
matrone in Paris ungemein populär gemacht.
In einem bändchen „Pikees diverses. La feste
de Versailles du 18. juillet 1668" steht p. 34— -55
„la veufve de Petrone."
1682 wurde sie im pariser italienischen theater
auf die bühne gebracht, in einem dreiactigen
stücke von Fatonville betitelt: Arlequin Gra-
pignan.
1702 brachte De la Motte die Matrone
d'Ephese auf das Th^atre Frangais, wo sie
übrigens als Tragicom^ie schon 16 14 erschienen
war : L'Ephesienne de Pierre Brinon. Cf. Histoire
du theatre frangais tome IV, 188 ff.
17 14 machte Fuselier eine komische oper
daraus.
Was für eine matrone von diesen oder ob eine
neue die von Keller in den Comedies nouvelles
7
98 WANDERUNG DURCH
Berlin 1753 entdeckte ist, darüber habe ich
mir weiter kein graues haar wachsen lassen.
Berühmt ist in Frankreich noch wegen ihrer
stilistischen Vollendung die Übersetzung der
Petronischen matrone, welche Saint Evremond
(161 3 — 1703) zugleich mit einem Eloge des
Petron geliefert.
Und um die reihe der Petronianer mit dem
XVni. Jahrhundert zu schliessen, führe ich R^tif
de la Bretonne an, welcher in seinen Contem-
poraines eine ähnliche geschichte von einem
witwer erzählt, dann la matrone de Paris und
endlich die matrone d'Ephese zum so und so-
vielsten male auftischte.
Ganz abseits von diesen zahlreichen nach-
folgern Lafontaines steht auch in diesem falle
jenes universellste genie des XVIII. Jahrhunderts,
welches alle fehler und alle tugenden des siecle
Louis le Grand noch einmal in sich vereinigte,
zugleich aber doch, wie der grosse Moliere, zu-
weilen als enkel und erbe jenes ächten esprit
gaulois, wie er Villon, Antoine de la Säle,
Rabelais und Regnier eigen war, fast wider willen
erscheint: Voltaire. Denn in der Pucelle,
manchen lyrischen gedichten und seinen Romans
sind doch züge, welche wirklich der natur abge-
lauscht sind, so sehr auch seine dramen das
DIE WELTLITERATUR 99
gegenteil ven Shakespeare und den alten franzö-
sischen farcen sind. Freilich ausbrüche jenes
tiefen vulcans der leidenschaft, der in Jean Jacques
brüst glühte, suchen wir bei Voltaire vergebens,
bei Rousseau vergebens jene geistvoll pessimi-
stische Philosophie, mit der der weise von Femey
die ganze weit umspannte.
Nur Diderot, aber in seiner Correspondence
inedite, nicht in den sozusagen officiellen artikeln
der Encyclopädie, hat ihn in genuinem Pessimis-
mus des herzens übertroffen, während Rousseau
trotz all seiner Schicksale immer ein Optimist und
insofern ein seichter philosoph blieb.
Auf unsem speciellen fall zurückzukommen,
der übrigens gewiss als ein bedeutsamer beleg
für eine pessimistische weltansicht gelten muss,
wie denn des indisch-chinesischen dichters schluss-
monolog wie ein monolog Hamlets klingt — so hat
Voltaire mit antioptimistischer Vorliebe für solche
Stoffe den unsrigen ergriffen. Und er stellte sich
mit seiner behandlung hundert schritte näher an
die quelle als alle seine französischen Vorgänger.
Er setzte die Matrone d'Eph^se in ihre alten
orientalischen rechte ein, als er im „Zadig" ihre
geschichte also vortrug :
lOO WANDERUNG DURCH
Zadigs frau Azora kommt ausser sich zu ihm,
weil sie eine witwe hatte trösten wollen, die
ihrem manne ein grab am ufer eines baches er-
richtet und geschworen, so lange das wasser am
grabmal vorbeifliesse, so lange dort zu bleiben
— als sie aber hinkam, fand sie die frau den
bach ableitend. Azora war ausser sich. Aber
ce faste de vertu ne plut pas ä Zadig.
Er zog daher seinen freund Cador, den
Azora am meisten von seinen freunden schätzte
ins vertrauen, und als Azora von einem zwei-
tägigen landaufenthalt zurückkehrte, liess er sie
mit seiner todesnachricht empfangen. Sie schwört
mit ihm zu sterben. Cador kommt und sie
weinen zusammen. Am morgen weinen sie
weniger und essen zusammen. Cador erzählt
dass der verstorbene ihm den grössten teil
seines Vermögens vermacht und deutet an, dass
er es mit ihr teilen möchte. „La dame pleura,
se fächa, s'adoucit ; le souper fut plus long que le
diner." Azora lobte den verstorbenen, aber er hätte
doch einige fehler gehabt, die Cador nicht hätte.
Mitten im souper wird Cador von mal de rate
(milzsucht) befallen. Sie ist sehr besorgt und daigna
meme toudler le cote, wo er die schmerzen hatte.
Er erklärt nur die daraufgelegte abgeschnittne
nase eines am tag zuvor verstorbnen könne
DIE WELTLITERATUR TOI
' •
ihm helfen. Mit dem rasirmösSer^gehf Sie zurÄ
grab ihres gatten, da der engel Asrael ihn wol
auch ohne nase über die brücke Tschinavar
passiren lassen würde. Zadig richtet sich im
sarge auf, hält mit der einen hand seine nase
fest und sagt, mit der andern das rasirmesser
abwehrend : madame ne criez plus tant contre la
jeune Cosrou, le projet de me couper le nez vaut
bien celui de detoumer un ruisseau.
Zadig erschien 1747 und der autor will im
Epitre dedicatoire die erzählung aus einem ara-
bischen buche haben, das aus dem chaldäischen
übersetzt sei. Obwol nun De Haldes chinesische
Version schon erschienen war, und er diese
kennen konnte, glaube ich doch, dass Voltaire
noch irgend eine andre quelle zu geböte ge-
standen haben muss, wenn wir nicht annehmen,
dass seine eigne erfindungskraft das capitel Le nez
geschaffen habe.
Dass Voltaire die orientalische lösung nicht
beibehielt, kann uns bei ihm, der in London einen
wahren horreur über die kirchhofsscenen im
Hamlet empfand, nicht wunder nehmen. Er
macht so den ehebruch und das geschwungene
rasirmesser nur zu einem lustigen intermezzo,
das die philosophische ehe weiter nicht unange-
nehm unterbricht — aber mit dieser seiner
.103 _. . . WANDERUNG DURCH
b *• tob
heiteren lösörtg hat es doch eine ganz andre be-
wandtnis als mit den darstellungen desDeschamps
und Lafontaines. Voltaire hat von vornherein
die geschichte mit der ihm eignen skeptischen
grazie umkleidet. Er enthält sich jedes morali-
sirens, es kommt ihm nur auf einen beitrag zur
geschichte des weiblichen leichtsinns an, ohne
dass er tieferes damit bezwecken will. Auch
handelt seine witwe nicht so schändlich wie die
des Petron, es bleibt ja nur bei dem versuche und
der Verlust der nase ist noch kein baumehi am
galgen. Wir lassen uns also gern das reizende
capitel des ironikers gefallen, er hat uns darin
ein zierliches meisterstück gegeben, ein Vander-
werff, der aber zugleich geistreich ist, während
wir Petron mit einem Teniers vergleichen.
Zwischen beiden stehen die Sieben Meister, aber
nur der indisch-chinesische novellist gab uns
einen Rafael und Dürer zugleich.
Frankreich hat wirklich und in der tat Jahr-
hunderte lang im centrum der europäischen
culturwelt gestanden. Dante und Petrarca folgten
den troubadouren, Boccaz den trouveurs, Wolfram
und Gottfried von Strassburg holten ihre Stoffe
von Frankreich. Frankreich hat einen Rabelais,
wir nur einen Fischart.
Dass vor allem die italienische novellen-
DIE WELTLITERATUR IO3
literatur, wie sie später auf Frankreich so bedeu-
tungsvoll zurückwirkte, ihren Ursprung dort
genommen, davon giebt auch unsre geschichte
von der witwe zeugnis.
Sie ist in Italien zuerst in den Cento novelle
antiche behandelt worden, wo sie die no. 56 aus-
macht und nach A. Keller folgendergestalt er-
zählt wird :
Der kaiser Friedrich giebt einem ritter einen
leichnam zu bewachen. Der körper wird ge-
stohlen. In einer nahen abtei sucht der ritter
nach einem kürzlich begrabnen, findet dort die
trauernde witwe, welche ihm gegen sein ehever-
sprechen ihren verstorbenen mann gibt, nachdem
sie ihm noch einen zahn ausgeschlagen, um ihn
dem räuber ähnlich zu machen. Der ritter rettet
sich durch sie das leben, hält ihr aber nicht wort.
Man sieht, dass hier die Sieben Meister ziem-
lich trocken excerpirt sind. Die ursprüngliche
redaction des Novellino setzt Burckhardt noch in
das XIII. Jahrhundert. Diese ältesten italienischen
novellen haben nach ihm „noch nicht den witz,
den söhn des contrastes und noch nicht die burla
zum inhalt; ihr zweck ist nur weise reden und
sinnvolle geschichten und fabeln in einfach
schönem ausdruck wiederzugeben." („Cultur
der Renaissance i. aufl. p. 155").
104 WANDERUNG DURCH
Einen wesentlichen unterschied von der franzö^
sischen hehandlung unsrer novelle gestattet die
redaction in den novelle antiche nicht nachzu-
weisen. Ueberhaupt muss die romanische behand-
lung unsres sujets im ganzen eine sehr ähnliche
sein und erst bei der deutschen bewältigung des
Stoffes werden wir wieder eine durchgreifende Ver-
schiedenheit in der auffassung beobachten können.
Ich begnüge mich daher, den novelle antiche
die spätem italienischen Versionen einfach anzu-
schliessen, wobei ich Dunlop und A. Keller folge.
Jn Sercambi's aus Lucca (um 14 lo) 156
novellen ist unter den von Gamba erst 18 16 zu
Venedig herausgegebenen 20 die 16. die witwe
zu Ephesus.
In den Novellae desGeronimoMorlini (Neapel
1520 in 4°), wovon die meisten exemplare vom
henker verbrannt sind, finde ich in dem von
Liebrecht mitgeteilten auszuge einen ähnlichen
zug : De viro qui uxoris fidem periclitatus est.
Er stellt sich todt und sie will ihn nun in einem
netz begraben, obwol sie ihm früher herrliche
todtenkleider versprochen hat.
Ob Straparola, der den Morlini in seinen be-
rühmten Tredici piacevoli notti (Venedig 1550.
1554) besonders benutzte, auch diese novelle
wiedergegeben, weiss ich augenblicklich nicht.
DIE WELTLITERATUR IO5
In Annibale Campeggi, zu anfang des XVIII.
Jahrhunderts, erzählungen ist die zweite die witwe
von Ephesus.
Ebenso bearbeitete sie Eustazio Manfredi,
sowie Lorenzo, Astemio di Macerata im Heca-
tomythom.
Nach Petronius erzählt sie Fortiguerras ge-
nannt Carteromaco Ricciardetto, ges. 13 st. 90.
Sie steht endlich in dem Libro di Novelle.
Milano 1804.
Die eigentliche italienische bearbeitung der
Sieben Meister dagegen, der 1546 zu Mantua er-
schienene „Erasto** enthält unsre novelle nicht.
Ich habe die spanische bearbeitung dieser
italienischen Sieben Meister „Historia del principe
Erasto hijo del emperador Diocleziano traducida
del Italiano por Pedro Hurtado de la Vera. En
Amberes 1573" nicht vergleichen können und
bin auch sonst noch leider zu unbewandert in der
spanischen literatur, um sagen zu können, ob
und welche behandlung unsre novelle im vater-
lande des Cervantes gefunden.
Der italienische Erasto wurde gleichfalls ins Eng-
lische 1674 von Francis Kirman übersetzt, obwol
die Engländer schon eine sehr alte metrische
Übersetzung des ächten französischen textes
hatten, welche Henry Weber in den „Metrical
Io6 WANDERUNG DURCH
romances of the the thirteenth, fourteenth and
fiftheenth centuries, published from ancient manu-
scripts" i8io zu Edinburg herausgab. Nach
A. Keller ist die älteste englische bearbeitung,
welche aber unvollendet blieb, in den Anchileck
Ms. enthalten. Unsre novelle ist hier no. 12 und
fuhrt den titel: the sheriff, his widowe and the
knight.
Auch eine schottische metrische Übersetzung
von John Rolland existirte, welche in Edinburg
1576 und öfter, gleichwie die englische zahlreich
im druck erschienen war.
In Burmanns Petronausgabe finde ich die notiz
„Asserum Angliae regem hanc historiam in
Anglicam linguam transtulisse, auctor est com-
mentatorRomul. in principioComment. Erhardi."
Ein seltsames machwerk muss nach Daciers
beschreibung das buch sein : Matrona Ephesia
sive Ludus serius in Petronii arbitri Matronam
Ephesiam. Opera B. Harrisii M. A. Traduct.
Lond. 1665 in 12°, wo es in der vorrede heisst
„Postquam eam Graeco, Romano, Germanico, et
Gallico cultu videram omatam ... in mentem
mihi venit eam more AngHco etiam vestire."
Als den jedenfalls sonderbarsten ort zur ein-
flechtung der novelle fuhrt Dunlop das buch
Jeremy Taylor, Rule and exercice of Holy
DIE WELTLITERATUR IO7
Dying" an, wo sie einen teil des V. capitels aus-
macht „of the contingencies of death and treating
our dead.**
Chapmann machte zu anfang des XVIL Jahr-
hunderts eine komödie daraus unter dem titel
„The widows tears," welche dem XI. bände von
Dodsleys CoUection einverleibt ist, und die
A. W. Schlegel (Werke ed. Boecking VI, 330)
„nicht ohne komisches talent" nennt. Was die
englische novellistik der älteren zeit im allge-
meinen anlangt, so sagt Dunlop mit schöner Un-
parteilichkeit : „obwol die italienischen novellen so
grossen einfluss auf die englische literatur aus-
übten — es genügt auf Chaucer und Shakespeare
hinzuweisen — so kann ich gleichwol nicht be-
merken, dass sie originale erzeugnisse ähnlicher
art hervorgerufen hätten. Andrerseits mag ihre
Wirkung in Frankreich weniger eingreifend ge-
wesen sein, wogegen sie daselbst den impuls
gaben zu gleichen Schöpfungen von bedeutendem
werte und berühmtheit." Dunlop meint hier die
C nouvelles nouvelles und ihre nachfolgen
Statt daher an den ebenaufgefuhrten eng-
lischen bearbeitungen den mos anglicus zu
studiren und zu expliciren, begnüge ich mich nur
auf eine modernere version desselben näher ein-
zugehen, welche der liebenswürdige Verfasser des
I08 WANDERUNG DURCH
„ Vicar of Wakefield" in seinem „Citizen of the
World" geliefert hat. Diese briefe eines in Eng-
land reisen Chinesen waren äusserlich eine nach-
ahmung von Montesquieus 1721 erschienenen
Lettres persanes. Goldsmith liess die seinigen
zuerst im Public ledger abdrucken, 1762 er-
schienen sie als buch, vier jähre vor dem Vicar.
Im letter XVIII ist unsre novelle enthalten.
Sie eröffnet mit bemerkungen, wie sie sich im
munde des pfarrers ebenfalls vortrefflich aus-
nehmen würden. Es gäbe viele ehen, welche im
beginn des wandems gleich allen vorrat von liebe
erschöpften, der für die ganze tagesreise bestimmt
gewesen wäre. Sie hätten den rausch der
entzückung, den nur der honigmond biete, für
ewig und dauernd gehalten und wenn sie die
täuschung eingesehen, so folge hass und gleich-
gültigkeit. Wenn er daher ein neuverehelichtes
paar aussergewöhnlich freundlich vor andern sehe,
so denke er immer, dass sie die gesellschaft oder
sich selbst betrügen wollten. Aber die wahre
liebe sagt er sehr hübsch „founded in the heart,
will shew itself in a thousand unpremeditated
sallies of fondness."
„Choang was the fondest husband and Hansi
the most endearing wife in all the kingdom of
Korea — beginnt dann die geschichte, welche im
DIE WELTLITERATUR IO9
wesentlichen nach der chinesischen version, wahr-
scheinlich des p^re DentrecoUes aber doch mit
erheblichen abweichungen erzählt wird. So
fuhrt Choang die dame, welche das grab fächerte,
mit sich in seine wohnung, stösst sie aber in der
kalten und stürmischen nacht wieder hinaus, weil
seine frau über die untreue jener witwe so ausser
sich ist, dass sie nicht mit ihr unter einem dache
bleiben will. Der junge Student kommt noch bei
lebzeiten Choangs und ist zeuge des glucks der
eheleute: „so fond an husband, so obedient a
wife few could behold without regretting their
Owen infelicity." Aber Choang stirbt. Hansi
war untröstlich, aber nach einigen stunden „she
found spirits to read his Icist will." Endlich wird
mit allgemeiner beistimmung der familie die
hochzeit mit dem schüler Choangs festgesetzt.
Sein krankheitsanfall am hochzeitsabend kann
nur durch das auf seine brüst gelegte herz eines
todten gehoben werden. Als sie dem todten
Choang dcis herzausreissen will, wird er lebendig,
erfahrt von dem diener alles seit seinem scheintode
pcissirte, und als er seiner frau ihre treulosigkeit
vorwerfen will, findet er sie in ihrem blut
schwimmend, sie hatte ihre schände und disap-
pointment nicht überleben wollen. — Dass die
änderungen Goldsmiths nicht glücklich sind, ist
HO WANDERUNG DURCH
leicht ZU erweisen, am criantesten ist aber der
schluss. Choang, „unwilling that so many
nuptial preparations should be expended in vain, "
heiratet noch in derselben nacht die dame mit
dem fachen „As they both were apprised of the
faibles of each other before hand, they knew how
to excuse them after manage. They lived toge-
ther for many years in great tranquillity and, not
expecting rapture, made a shift to find content-
ment." Mit welch grausamer prosa ist diese ur-
sprüngliche poesie hier ausgewischt worden, wie
die farbigen heiligen eines katholischen domes
durch die gleichmässige öde des protestantisch
weissen kalkanstrichs übertüncht. Wie schamlos
praktisch dieser englische praktikus, der die
ausgaben fiir die hochzeit nicht umsonst ge-
macht haben will! Wirtschaft, Horatio Wirt-
schaft, die leichenschüsseln — kalte hochzeits-
speisen! Und dann wie treu die alte regel be-
folgt, dass ein braver roman notwendig mit
der hochzeit schliessen muss. Und welche mora-
lische Verbrämung dieses empörenden Schlusses!
Diese tugendsattheit ist fast noch widerwärtiger
als die blanke immoralität des eleganten
Lafontaine.
Es ist eine literarische kuriosität, dass die
englische literatur sowie die französische mit der
DIE WELTLITERATUR III
petronischen form unsrer novelle anhebend,
mit der indisch-chinesischen redaction schliesst,
und dass diesen schluss zwei so berühmte schrift-
steiler wie Voltaire und Goldsmith machen.
Indem ich im vorbeigehen erwähne, dass die
holländische literatur die novelle durch ihre
^Hystorie uan die seuen wise mannen uanRomen.
Te Delf 1483" in 4° besitzt, sowie auch die
dänische eine solche Übersetzung erhalten hat,
komme ich zum Schlüsse meiner skizze, welcher
unsrer eignen literatur gewidmet ist.
Auch wir überkamen den stofif von den Fran-
zosen, speciell durch ihre Historia Septem
Sapientum, welche sogleich auch ins deutsche
übertragen wurde. Die erste gedruckte ausgäbe
dieser Übersetzung erschien zu Augsburg 1473 in
folio „Hystori von den syben weysen meystem."
Zahllose ausgaben in vielen Städten Deutschlands
folgten.
Diese deutsche prosaübersetzung übertrug der
Jurist Modius um 1570 in das lateinische zurück:
Ludus Septem Sapientum de Astrei regii adoles-
centis educatione etc. antehac latino idio-
mate in lucem nunquam editus. Impressum
Francoforti ad Moenum (s. a.).
Es ist seltsam, dass diesem deutschen rechtsge-
lehrten die existenz des lateinischen Originals,
112 WANDERUNG DURCH
welches auch durch zahlreiche gedruckte ausgaben
schon längst verbreitet war, nicht bekannt gewesen
zu sein scheint. Andrerseits stimmt indess der
lateinische text des Modius keineswegs mit dem
des mönchs von Haute Selve überein, da die
deutsche prosaübersetzung eben keine blosse
Übersetzung war, sondern wesentliche und wich-
tige Veränderungen, namentlich auch mit unsrer
geschichte von der witwe, vorgenommen hatte.
Modius konnte daher in gewissem sinne mit recht
sagen, dass die deutsche gestalt der Sieben
meister noch nie ins lateinische übersetzt wor-
den sei.
Neben jener deutschen prosabearbeitung ver-
fasste nun ein deutscher poet, mit namen Hans
von Bühel, ganz wie die Trouvere jenseits des
Rheins es auch gemacht, eine metrische Über-
tragung des Siebenmeisterbuches.
„Us latin zuo tiutsche hat ers geschriben."
Unter dem titel „Dyocletianus Leben" hat
auch diese deutsche bearbeitung herausgegeben
Adalbert Keller (184 1), aus einer handschrift zu
Basel. 1473 war auch schon ein alter druck
hievon erschienen.
Ich habe damit den text des Modius ver-
glichen, welcher keine erheblichen abweichungen
bietet.
DIE WELTLITERATUR II3
Nach Kellers ausgäbe lasse ich daher hier
das deutsche gedieht im auszuge folgen.
Der eingang ist wie im französischen Romans
de Sept sages.
„Ein wenig" blutet es auch hier, als die frau
einen finger in das messer schlug. „Yme
geswant und fiel nieder." (Er fiel in ohnmacht.)
Sie bringt ihn durch wasser zu sich. Er schlägt
die äugen auf und verlangt schnell nach einem
priester, denn er müsse sterben, niemand könne
ihm helfen.
„Sit das ich gesehen han
das min liebes blut
der smertze min herze sterben tut."
Die knechte laufen alle hin. Der priester
kommt aber zu spät —
Ym so we tett sins wibes smertz
das ym brach sin getruwes hertz.
Die ganze Stadt klagt.
Die frau sagt : sie wolle kasteien ihrem
leib, und nie einen andern nehmen —
Pfui, da müsste sie sich doch schämen.
Sie will nicht vom grabe weichen. Die
freunde sagen: Es wäre der seele des ver-
8
114 WANDERUNG DURCH
storbenen viel besser, wenn sie heimginge und
almosen gäbe, als dass sie sich hier nötete und
tödtete.
Sie aber erklärt: Ich will aus liebe zu ihm
sterben, wie er aus liebe zu mir gestorben.
Da bauen ihr die freunde ein hüttlein und
versehen sie mit essen und trinken.
Nun war neben dem kirchhof „ein recht"
d. h. ein galgen. Lässt sich hier der (wacht-)
hauptmann einen dieb stehlen, so verliert er
all sein gut und sein leben steht „in des kunges
hand.«
Nun hatte es sich gefiiget, dass am begräb-
nistage des ritters auch ein dieb gefangen und
gehangen war. — Der hauptmann reitet in der
sehr kalten nacht zum galgen hinaus, sieht das
licht im hüttchen und bittet einzutreten, sich
zu wärmen. Sie sagt
wenn er züchtig sein wollte.
Als er warm geworden, bittet er artig, zu
ihr einige worte sagen zu dürfen. Sie will ihn
gern hören. Er sagt nur
Ir sit hübsch jung und wolgebom
und solltet heimkehren, hier nicht klagen,
DIE WELTLITERATUR II 5
sondern almosen geben um eures mannes sele
willen : das wäre got genemer. Sie singt das
alte lied, dass sie hier sterben wolle. Der ritter
reitet fort und findet den dieb gestohlen. Er
denkt, die fromme und heilige frau im hüttchen
könne ihm raten.
Sie lässt ihn auch ein und er. sagt, dass es
ihm nun an gut und leben ginge. Sie sagt :
Wenn du folgtest meinem mut,
Verlörst du weder leben noch gut.
Er sagt : er wolle folgen.
Sie:
Gefiele dir eins
Das du mich nemst zu der e.
Er will es herzlich gem.
Nachdem dies abgemacht, sagt sie :
Nimm meinen herm, der um meiner liebe
willen gestorben und erst gestern begraben : und
henke ihn an den galgen.
Beide ziehen den todten heraus.
Der ritter sagt aber : Dem dieb hätten zwei
Zähne gefehlt.
Sie: nimm einen stein und schlag sie dem
todten aus.
Er: „Das tun ich nicht durch den tod."
8*
Il6 WANDERUNG DURCH
Denn do er lebt der fromme mann,
guot gesellschaft hat er mir getan,
auch wäre es einem ritter eine schände, einem
todten ritter so etwas zu tun.
S i e tut es, so dass im Oberkiefer kein zahn
bleibt
Er: Der dieb hatte auch eine wunde „in die
swart" und waren ihm die obren abgeschnitten.
Sie : Dann tu ihm das auch.
Er : Nie lieber geselle mir wart
denn er was do er lebte.
Er schäme sich und würde keine ehre davon,
empfahen, „wenn ein lebendiger einen
todten schlüge."
Sie tut es.
Er: Noch eine grosse sorge: der dieb hatte
wie er mit „urloup" sagen wolle,
Die zwene, als die knaben tragen
Zwuschent iren beinen
nicht, da sie ihm, als er gefangen, „usgezart**
worden.
Sie : Verzagteren menschen sah ich noch nie
So mir sant Helene
Snide im heraus die zwene.
Er: Ein man ohne sein geschirre sei wenig
nutze : es bringe ihm keine ehre, dem todten es
auszuschneiden.
DIE WELTLITERATUR II7
Sie schneidets ab und wirfts einem hunde
vor. Sagt : nun spür
Das du mir lieb im herzen bist
durch dich dis beschehen ist.
Beide hängen nun den körper auf.
Sie : nun wollen wir zur kirche gan
zu der eh will ich dich han.
Er: Er hätten dem allmächtigen lieben krist
verlobt, kein weib (me) zu nehmen.
Die frowe erschrak und sagt :
O ritter gut bis froeuden fro
ich will dir wol getreuen
du lassest es dich nicht gereuen.
Er: O du schemliche frowe.
Du bist die hoste ob allen wiben
wer solt syn zit mit dir vertriben
oder dich zu der e nemen
Phy der must sich Schemen
diewil du dinem e mann
SO schemlich hast getann
der durch liebe gestorben ist.
Er zählt ihre laster auf, sagt, er glaube, sie
werde dergleichen nie mer me tun und schlägt
ihr das haupt ab.
Diocletian sagt : die strafe sei gerecht.
Il8 WANDERUNG DURCH
Wie ein Holzschnitt des meisters Albrecht
Dürer gemahnt uns dieses gedieht des Hans
von Bühel: herbe und lieblich, etwas unge-
schliffen, roh und derbe und doch von tiefem
sittlichen geiste erfüllt.
Was der Römer und Franzose nicht hatten
über sich gewinnen können, mit der sühne der
schuld das gemüt des hörers von dem alp einer
so schändlichen tat zu befreien, der Deutsche
hat moralisches und künstlerisches gewissen ge-
nug, um allen respekt vor dem von fremder
autorität ihm angebotenen stoff bei seite zu
lassen und seiner heldin das fluchbedeckte haupt
vor die fusse zu legen. Ja, die Matrone, die
beim Petron, bei dem mönch von Haute Selve,
bei all den trouveren des lustigen Frankreichs,
bis auf Lafontaine herab, wenn auch nicht er-
hobenen hauptes (bei Lafontaine freilich sogar
stolz und gerechtfertigt!) doch ungestraft und
mit heiler haut davongegangen war, am Schlüsse
der geschichte: der germanische novellist schlägt
ihr den köpf herunter. Es scheint in der tat,
dass der indische geist, welcher allein diese ge-
schichte tragisch enden liess, unbewusst sich
hier auf den germanischen urenkel niedei^elassen
hat, um ihm den einzig würdigen schluss einzu-
geben. Ja, wir stehen den arischen ahnen noch
DIE WELTLITERATUR II9
immer näher als irgend ein andres volk der
weit, nur wir konnten noch im XIX. Jahrhun-
dert eine philosophie hervorbringen, welche mit
dem tiefsten religionssystem der Inder so wunder-
bar zusammenstimmt.
Mit lieblichen zügen im einzelnen hat Hans
von Bühel seine darstellung geschmückt.
So die ausführliche beschreibung des todes
des mannes. So der schöne vers:
Ym so we tett sins wibes smertz
das ym brach sin getruwes hertz.
Statt dessen der französische trouveur die
bemerkung macht: er habe keines löwen herz
gehabt, da er bei solch einer gelegenheit, um
solche bagatelle gestorben sei. Auch die rede
der verwandten ist mit vortrefflichen neuen
Zügen ausgestattet, wie die aufforderung almosen
zu geben. Das Zwiegespräch zwischen dem
ritter und der frau hat das meiste neue detail
aufzuweisen. Man könnte finden, dass der
Deutsche hier die Verstümmlung etwas zu
sehr ins grasse und krasse gehäuft und über-
trieben habe. Was die sämmtlichen französi-
schen Versionen einzeln haben, die Verwundung
mit dem degen im fabliau, das ausbrechen der
zahne in den 7 Sages, das abhauen des obres bei
Brantöme, das lässt Hans von Bühel seine frau
I20 WANDERUNG DURCH
alles zusammen vollführen und für das Voltaire'sche
abschneiden der nase substituirt er ausserdem noch
eine weit schrecklichere Verstümmlung und macht
sie durch das den hunden vorwerfen noch
schauderhafter. Vor dieser Überladung hatte
den Franzosen sein grösserer kunstverstand für
das detail bewahrt. Andrerseits aber musste
der Deutsche absichtlich die leichenschändung
um so kräftiger hervorheben, je heiliger ihm
der todte körper von uralter zeit her gewesen
war. Schon die Edda prophezeit: einst werden
die nägel der todten unbeschnitten bleiben; und
das sei der anfang des weltbrandes. Es war
ein alter deutscher glaube geblieben, dass wenn
der todte mit einer laus am körper begraben
werde, dann müsse seine lieblose familie, die
ihn nicht einmal gewaschen und das reine
leichenhemd angetan, nachsterben.
Wenn ein frisches grab einsank, ein zeichen,
dass der todte verabsäumt worden, so muss die
familie auch nachsterben (Rochholz I, p. 203).
Als Otto in. in der grufl Karls des Grossen
dem kaiser einen zahn zum andenken aus dem
munde genommen, da erschien ihm im träume
der kaiser, ihm ankündigend : er werde vor der
zeit und kinderlos sterben. (Grimm, Deutsche
Sagen. No. 475.)
DIE WELTLITERATUR 121
Beim wegziehen aus Weissenburg begruben
die Zigeuner einen der ihren auf dem kirch-
hofe, warnend, den todten nicht zu stören.
Später aber fand man, bei ausbesserung der Idrche,
das Zigeunergerippe. Einer der arbeiter zog einen
zahn aus dem noch ganz zahnvollzähligen
munde. Es blutete und bald darauf brannte
Weissenburg ab. (Schönwerth, Oberpfälzische
Sagen HI, 165.)
Solches geschah wegen eines zahnes. Und
was hatte diese treulose witwe mit dem körper
ihres eigenen mannes, der aus liebe zu ihr ge-
storben war, getan!
Diese Deutschen des mittelalters wollten aller-
dings „verbrechen, blutig, kolossal," die blosse
treulose gesinnung genügte ihnen zur strafe nicht,
während bei dem zarter fühlenden Inder die blossen
sündigen gedanken ihre strafe nach sich zogen
— wovon Goethes Legende ein so wundervolles
beispiel bietet, wie er andrerseits im Gott und
der Bajadere die indische gattentreue unsterblich
verherrlichte, zum beweise, dass der indische
geist in dichtung wie philosophie noch immer
unter uns mächtig ist.
Indem Hans von Bühel seine witwe von
einer schändlichen handlung zu einer immer
noch schändlicheren fortschreiten lässt, und dies
122 WANDERUNG DURCH
stets nur ganz trocken berichtet, offenbart er
uns den ganzen paroxismus der leidenschaft, in
dem diese frau sich befinden muss. Eben diese
trockenheit der darstellung, diese holzschnitt-
manier, wirkt um so ergreifender. Erst am
Schlüsse bricht dann der ritter — hier ein lieber
freund des verstorbenen ! — in einen lange ver-
haltenen Strom der bittersten Schmähungen aus,
bis er sein schwert zieht und ihr leben und die
novelle endet.
Grade im angesichte dieser tragisch be-
schlossenen Version empfindet man recht deut-
lich den fast unbegreiflichen, enormen künst-
lerischen mangel aller jenen andern darstellungen.
Nur in der deutschen wie in der indischen
Version hat die novelle köpf und schwänz, hand
und fuss.
Es gehört sicherlich ein nicht geringerer
ästhetischer mut dazu, diese novelle mit der
hinrichtung zu schliessen, als es überhaupt den
menschen Überwindung kostet, das blut seines
nächsten zu vergiessen. Aber der dichter soll,
wie Arthur Schopenhauer irgendwo sagt, wissen,
dass er das Schicksal ist und daher unerbittlich
sein wie dieses. Allein die Franzosen und
Italiener und auch trotz oder vielmehr wegen
grösserer heuchelei in diesem puncte, die
DIE WELTLITERATUR 123
Engländer sind eben in Sachen der moral nicht
unerbittlich und so nehmen sie es auch mit der
treulosen witwe nicht so scharf, wie der sittlichere
Deutsche, bei dem zwar ganz gewiss dieselben
taten vorkommen, die nämlichen ehe- und andre
treubrüche, welcher sich aber bis auf diesen tag
das ethische verwerfiingsurteil über seine eigne
handlungen bewahrt hat. Er richtet seine eigne
taten, er beschönigt sie nicht und hält nicht auch
das unsittlichste wie Lafontaine für „pas une
si grande affaire."
In Frankreich und Italien gilt noch heute der
ehebruch als etwas, das nicht blos an der tages-
otdnung, sondern auch in der Ordnung, in der
sittlichen Ordnung der gesellschaft mc^lich, ja
erlaubt.
Nicht alle deutsche autoren haben indess die
treulose witwe mit so harter gerechtigkeit be-
handelt wie der ehrliche Hans von Bühel. In
einer Stuttgarter handschrift freilich, die Keller
erwähnt, wird der decapitirte körper der frau
noch obendrein ins wasser geworfen. Andre
Variationen endigen aber nicht so tragisch, weil
dazu wie gesagt ein mut gehört, den manch
Deutsche, der ihn auf dem kampfplatze wo
hätte, doch auf der arena der literatur leider v«
missen lässt.
124 WANDERUNG DLFRCH
So fuhrt Keller an „Deutscher Esopus 1498.
fol. 20." Hier hat der gestohlene räuber eine
glatze. Die witwe reisst daher ihrem todten
mann mit händen und zahnen die haare aus!
Trotzdem wird sie hier von dem ritter nicht
getödtet.
In Boners fabeln ist es die 57. Boner hat
seine fabeln, wie er am schluss selbst sagt, aus
dem lateinischen übersetzt. Die 57. ist offenbar
aus dem mehrerwähnten Anonymus, der die
fabeln des Romulus versificirte. Wir wissen also
schon, dass diese gestaltung der Petronischen
Matrone ohne jedes verdienst ist. (Vergl. pag. yj^j
Boners angehängte moral ist eine seichte anf-
zählung, wie viel unheil die frauen schon an-
gerichtet hätten, Troja zerstört, Salomon ge-
schändet etc.
Aus . Lassbergs Liedersaal No. 37 teilt
Wolfgang Menzel (Deutsche' Dichtung I, 418)
mit: „Ein weib war so frech, ihren mann, der
sie zärtlich liebte, zu überreden, dass er sich
einen gesunden zahn ausziehen Hess, den sie
dann triumphirend ihrem buhlen brachte. Aber
der buhler dachte: hat sie das dem mann ge-
tan, wird sie mir nicht besser tun, und floh sie
von stund an."
Derselbe hochverdiente Verfasser bringt
DIE WELTLITERATUR I25
(n, 96) aus Kirchhofs Wendunmut eine sehr
merkwürdige Umbildung unsrer novelle bei:
„Eine witwe konnte sich von ihrem geliebten
gatten Johannes nicht trennen, Hess sich also einen
aus holz machen und behielt ihn alle nacht im
bette, bis die kluge magd ihren lebendigen bruder,
der ein hübscher bursche war, einmal statt des
holzbildes zu ihr legte. Die frau war es auch
zufrieden und als sie am morgen das frühstück
nicht kochen lassen konnte, weil die magd
sagte : es sei kein holz mehr da ; befahl sie,
den hölzernen Johannes in den ofen zu werfen.*^
In den Fastnachtsspielen des Jacob Ayrer
(f 1605) im n. teil des Opus thaeatricum wird
ebenfalls erwähnt, dass ein bauer am hofe
Alexanders des Grossen diesem das lied vom
hölzernen Johannes vorsingt.
Wie Petronius die tiefeinnige, edle und schöne
indische novelle zu einer römischen soldaten-
historie gemacht, so ist sie hier zu einem plat-
ten bauemwitz geworden. Immer aber bleibt
die erfindungskraft des menschlichen geistes be-
wundernswert, der in so zahlreiche formen und
Verbindungen denselben stoff eingehen hiess.
Als ein wundersames gegenstück, woran die
erinnerung vielleicht dem erzähler und sänger des
hölzernen Johannes nicht entschwunden war.
126 WANDERUNG DURCH
erscheint uns jenes tiefpoetische, süssmelancho-
lische waldbild, welches der hohe Wolfram von
Eschenbach von der schönen Sigune entworfen,
die ihres Tchionatulanders leiche einbalsamirte
und in den zweigen einer linde neben sich auf-
bewahrte um daneben wie eine turteltaube zu
klagen. Und als Parcival sie überredet, den ge-
liebten zu beerdigen, ging sie als einsiedlerin zu
jenem berg, der Montsalvat genannt.
Auch diese dichtung Wolframs und des
späteren Albrecht von Scharfenberg hat schon
ein Vorbild an dem roman des Ephesiers
Xenophon. Im eingang des V. buchs wird die
liebe des Aegialeus und Thelxinoe einfach und
rührend dargestellt. Aegialeus zeigt dem Ha-
brokomes seine einbalsamirte geliebte. Dem
Habrokomes würde sie wie eine alte frau vor-
kommen, ihm selbst sei sie trotz alter und tod
noch immer die jugendlich blühende geliebte.
Er esse und schlafe mit der leiche. „Ta? irav-
vü^iSa«; ^vvoo), ich denke dabei an die einstigen
voUnächte. 'Epcoc d^TjOtvo? 6pov •JjXixta? oux
So verknüpfen sich unerklärlich die entlegen-
sten Zeiten und dichter!
Im i8. und 19. Jahrhundert erlahmte die
DIE WELTLITERATUR 127
ebengerühmte erfindungskraft, soweit sie auf
unsre novelle gerichtet war. Christian Friedrich
Weisse's erster dramatischer versuch war „die
Witwe von Ephesus" , ebenso geistlos lang-
weilig wie seine spätem. Lessing schrieb die
ersten 8 scenen einer „Matrone von Ephesus"
ganz nach Petron, in jener seiner Plautus und
die Franzosen verquickenden lustspielmanier.
Er liess sich auch später in der Dramaturgie
(ed. Lachmann VII, 160 f.) über den stoff ver-
nehmen :
„Das märchen des Petron ist unstreitig die
bitterste satire, die jemals gegen den weiblichen
leichtsinn gemacht worden."
Trotz dieses urteils fahrt Lessing fort: „bei
Petron glauben wir, was sie tut würde un-
gefähr jede frau getan haben, selbst ihren ein-
fall, den lebendigen liebhaber vermittelst des
todten mannes zu retten glauben wir ihr, des
sinnreichen und der besonnenheit wegen, ver-
zeihen zu müssen, ja wir könnten es eben des
sinnreichen wegen für einen blossen hämischen
Zusatz des erzählers halten, der mit einer
giftigen spitze habe schliessen wollen." Aber
bei de la Motte, im drama, würde der cha- •
rakter der Matrone, der in der erzählung ein
nicht unangenehmes höhnisches lächeln über die
128 WANDERUNG DURCH
vermessenheit der ehelichen liebe erweckt, —
ekel und grässlich.
Wir können daraus abnehmen, wie matt
und zahm er sein stück ausgeführt haben
würde.
Wieland behandelte die novelle, aber seinem
französischen grossen vorbild, Voltaire, gemäss,
orientalisch, nämlich nach den 40 Vezieren.
Wilhelm Heinse lieferte dagegen wol die erste
deutsche Übersetzung der Matrone von Ephesus
in dem ohne seinen namen erschienenen buche
„Begebenheiten des Enkolp. Aus dem Satyri-
con des Petron übersetzt. Rom, 1773" zwei
bände. Später hat er in seinen briefen dies
werk ausdrücklich als das seinige anerkannt.
Die 48 Seiten lange vorrede zum ersten bände
ist unterzeichnet „Geschrieben in Augsburg im
Februar 1773 während meiner reise nach Italien
um den Winkelmannischen Apollo zu betrach-
ten." Das 6 Seiten lange vorwort zum zweiten
bände beginnt : „Lesen Sie nur weiter ! was
Sie nun lesen werden, ist eigentlich das, was
dieses werk des Petron bei allen nationen so
beliebt gemacht hat. Die erzählung von der
Matrone zu Ephesus, das gedieht auf den bür-
gerlichen krieg, die beschreibung der liebes-
händel des Encolp mit der Circe sind immer
DIE WELTLITERATUR 129
bewundert, öffentlich und heimlich nachgeahmt
und übersetzt worden. Aber darin glänzt der
genius des Petron . . . und eben deswegen habe
ich dieses werk übersetzt." Die erzählung selbst
steht auf pag. 112 bis 123. In anmerkungen
weist Heinse auf Johannes Salisberiensis und La-
fontaine hin, welch letztrer den Petron verschönert
habe. Zum Schlüsse macht der dichter des Ar-
dhingello eine fiir ihn sehr charakteristische be-
merkung. Er referirt vom Joh. Salisberiensis,
dass nach Flavianus das weib wie eine ehe-
brecherische mörderin bestraft worden sei, und
fährt dann fort: „Höchst unbillig wäre das
urteil gewesen! die alten Griechen, selbst Drako
würde nie so einfaltiglich und grausam gestraft
haben. Man setze sich nur an die stelle der
Matrone! Man wird nichts unnatürliches fin-
den." Ich setze diese stelle aus der vor mir
liegenden Originalausgabe des seltenen buches
her; denn leider hat Heinrich Laube dies fiir
den jungen Heinse so bedeutsame werk, das
ausser den vorreden auch noch zahlreiche ex-
curse in anmerkungen von seiner feder enthält,
von der gesammtausgabe ausgeschlossen, wäh-
rend er doch sogar die weit weniger wichtigen
prosaübersetzungen aus Ariost und Tasso mit-
teilt. Von einem schriftsteiler, der wie Heinse
9
I30 WANDERUNG DURCH
bei dem ausserordentlichsten genie doch nur so
wenige fruchte desselben hinterlassen hat, ist
jede zeile kostbar und muss konservirt werden.
Endlich hat auch Lichtenberg die treulose-
witwen-literatur mit einem kleinen beitrage be-
dacht. Zur fünften platte „Industry and Idleness"
vom Hogarth erzählt er uns folgendes vom
„cuckoldpoint" : „die landspitze, die man hier
in der ferne sieht, ist bekannt genug und heist
bei den Seeleuten die hahnreispitze. Sie liegt
gegen den ausfluss der Themse hin. Unter
den erklärungen, die man von dem Ursprung
dieser benennung hat, ist vielleicht folgende die
witzigste, obgleich der einfall fiir einen aus der
illustren familie der Matrone von Ephesus
nicht gewandt genug ist. Man glaubt nämlich,
däss die tiefgebeugten Strohwitwen der see-
falirer nicht allein mit der thränentrocknung,
sondern auch mit der regulirung des nötigen
vikariats gewöhnlich schon völlig zu stände wären,
wenn ihre männer beim auslaufen diese spitze
passiren."
In durchaus eigentümlicher weise hat Cle-
mens Brentano das sujet behandelt in seiner
bailade „des todten bräutigams lied." Dass
ihm irgend ein Volkslied dabei vorgelegen, ist
nicht unwahrscheinlich, jedenfalls hat er ein
DIE WELTLITERATUR I3I
Volkslied daraus gemacht, welches recht gut
in „des Knaben Wunderhom** hätte stehen
können.
Die abfassung fällt in Brentanos früheste
zeit, und nur hieraus ist die etwas sehr laxe
moral zu erklären. Wäre er schon der dichter
der „Romanzen vom Rosenkranz** oder der „ge-
schichte vom braven Casperl und schönen
Annerl" gewesen, so würde er auch dies
unser sujet tragisch aufgefasst und behandelt
haben. Denn das verhältniss von schuld
und busse ist ja das eigentliche thema von
allen dichtungen des Clemens Brentano. Es
tritt auch in seinem „lied des todten bräutigams"
hervor, nur dass die busse hier, — die treulose
heldin heiratet einen armen mann, — eine niedere
weltliche ist, während der dichter später der
höheren, christlichen Sündentilgung allein zu
ihrem recht verholfen haben würde.
Der letzte, u.z.last and least ist der Deutsch-
franzose Chamisso, in dessen Gedichten (2. Auf-
lage 1834 p. 208 — 214) ein „Lied von der weiber-
treue** enthalten, das sich gleich mit dem motto
aus Lafontaines matrone d'Ephese als eine
verwerfliche nachahmung der an sich schon
niedrig stehenden französischen bearbeitung an-
kündigt. Während aber Lafontaine immer noch
9*
132 WANDERUNG DURCH
hofmännisch elegante manieren hat, scheint
Chamisso in Deutschland etwas von seiner an-
gebornen französischen feinheit zu seinem nach-
teil eingebüsst zu haben. Wenigstens diese
seine Matrone von Ephesus hat ohne so witzig
zu sein wie der hölzerne Johannes nur dessen
bäurische rohheit. Jede Strophe seines lang-
atmigen poems schliesst anfangs mit dem refrain :
Schrecklich plagt der hunger,
und gegen das ende mit:
Du lieber lieber landsknecht.
Der hunger ist das hauptagens ia seiner auf-
fassung der novelle, seelische motive sprechen
bei ihm nicht mit. Der humor kann freilich
auch das materiellste Ingredienz zu sublimer
Wirkung verwenden, aber beim guten Qiamisso
ist dej: humor leider ausgeblieben.
Ungefähr gleichzeitig mit Chamisso erschien
in München (1835) „Ein Volksbüchlein**. 2. aus-
gäbe. Worin, nach Keller, pag. 181 enthalten
„Von der Weiber lieb und treu. Ein Schwank.
Nach Petron."
So weit hatte man also die Sieben Meister,
obwol auch diese abgekürzt als prosaisches
Volksbuch erschienen sind, vergessen, dass selbst
DIE WELTLITERATUR I33
in „Volksbüchlein" wie von den gelehrten kunst-
dichtem die geschichte nach Petron behandelt
wurde.
Aber die ächte, die ungeschriebene volks-
poesie läuft noch immer neben jener andern
her, wie einst die süssesten melodien und worte
des deutschen Volksliedes die fade zopfige
prosaisch bürgerliche meistersängerei akkom-
pagnirten.
Die geschichte von der treulosen witwe ist
im französischen und deutschen tierepos wieder-
holt worden.
In den „Kinder- und Hausmärchen" ge-
sammelt durch die brüder Grimm. 5. stark ver-
mehrte und verb. aufl. Göttingen 1843 (die
neueste berliner ausgäbe hat mit einer unbe-
greiflichen pietätlosigkeit die schöne widmung
an Bettina von Arnim und die übrigen vorreden
weggelassen !) gehört nämlich No. 38 im I. bände
pag. 240 — 243 ganz offenbar zu unserm
novellenkreise.
Grimms teilen hier zwei Versionen mit.
In der ersten stellt sich ein alter fuchs schein-
todt, weil er glaubte, seine frau sei ihm nicht
treu. Die frau fiichsin ging in die kämmen
134 WANDERUNG DURCH
Die magd Jungfer katze empfängt die freier,
alle werden abgewiesen, bis der rechte, nämlich
mit neun schwänzen wie ihr verstorbner, kommt.
Als die witwe das hörte, sprach sie voll freuden
zur katze:
Nun macht mir thor und thüre auf
und kehrt den alten herrn fuchs hinaus.
Der regte sich aber, als eben die hochzeit ge-
feiert werden sollte, unter der bank und prügelt
das ganze gesindel durch und jagt es samt
seiner frau zum haus hinaus.
In der zweiten version ist der fuchs wirklich
gestorben. Als freier kommen wolf, hund,
hirsch, hase, bär und alle waldtiere, denen aber
immer eine von den guten eigenschaften des
alten fuchses fehlt. Endlich aber kommt ein
junger fuchs, der rote höslein und ein spitz-
mäulchen wie der alte hat. Da heisst es:
Katze kehr die stube aus
und schmeiss den alten fuchs zum fenster
hinaus.
Bracht so manche dicke fette maus,
frass sie immer alleine,
gab mir aber keine.
Schluss und lustige hochzeit.
Im III. bände 3. aufl. Göttingen 1856 hat
DIE WELTLITERATUR 135
Grimm pag. ^'j hiezu angemerkt, dieses märchen
werde vielfach in Hessen und in den Main-
gegenden erzählt. Der alte fuchs sei in manchen
Versionen nur schein todt, wie im alt franzö-
sischen gedieht.
In Hannover ist dieses märchen von einem
löwen zu anfang dieses Jahrhunderts auch noch,
erzählt worden, und erinnerte sich der ver-
ehrte literaturfreund, dem ich diese notiz ver-
danke, namentlich des in der Jugend gehörten
Verses :
Schmeisst den alten herm löwen zum
fenster hinaus.
Von einer katze wird es in Mecklenburg er-
zählt. Die Jungfer der katze heisst hier Dörth
(abkürzung fiir Dorothea).
Als endlich der richtige kater kommt, ruft
die witwe katze: „Dörth! Dörth!"
,Fru katt?'
„Smit aas övern tun."
Schmeiss das aas, den leichnam des alten
katers, übern zäun !
Es ist erstaunlich, wie rein sich in diesen
lebendigen Volksüberlieferungen der uralte in-
dische geist erhalten hat! Namentlich in der
136 WANDERUNG DURCH
ersten Grimmschen version, welche frappante ähn-
lichkeit mit unsrer indisch-chinesischen novelle!
Dass im humoristischen tierepos ein tragi-
scher schluss nur absurd wirkte, dagegen die
prügel sehr am orte sind, hatte der heitere
freie volksgeist, der diese köstliche Variante zu
jener tiefen socialen tragödie schuf, vortrefflich
begriffen.
Von keinem klassischen gedanken ist diese
harzduftige waldpoesie angekränkelt. Sie ist
ganz direkt vom Indus zum abendlande gewan-
dert. Sie muss älter sein als das buch des
mönchs von Haute Selve. Sie ist immer im
geheimen nebenher gegangen, neben jenen rau-
schenderen dichtungen der trouvere und minne-
singer. Wie ein veilchen blühte diese Icmge
übersehene poetische blume neben den stolzen
prunkenden lilien und rosen. —
Wie wunderbar ist es aber, dass jene novelle,
welche wir als eine der frühesten geburten des
sinnenden volksgeistes erkannten, noch heute
auf unerklärliche weise im munde des Volkes
fortlebt!
Das ist die unzerstörbarkeit der künstlerischen
ideen, die geheimnissvolle kontinuität alles geisti-
gen lebens. Wie die herzen zweier liebenden,
b
DIE WELTLITERATUR I37
die durch berge, ströme und meere getrennt
sind, so verstehen und finden sich wieder, auch
durch die ferne der Jahrtausende, die verwand-
ten geister der literaturen. Denn sie sind im
gründe eins.
Göttingm am tage der h, Praxedes
21, Juli f revidirt Rom den 7. nov.
1872.
D^' Eduard Grisebach.
THIB BOOK 18 DUB ON THB XiAST DATB
YB 74857
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THE UNIVERSrnr OF CALIFORNU LIBRARY