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Full text of "Die treulose Witwe; eine chinesische Novelle und ihre Wanderung durch die Weltliteratur"

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IHRE WANDERUNG DURCH DIE WELTLITKRATUR 



KDUARI) GRISKHACH 



WIEN 

VERLAG VON L. ROSNER 

22, TUCHLAUUEN, 22 



1S73 



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DIE 



TREULOSE WITWE. 









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EICHTÜMER und ehren sind wie ein 
lustiger träum der fünften nachtwache; 
befbrderung des Verdienstes gleich einer 
vorüberschwebenden wölke. Selbst das fleisch 
und blut vor deinen äugen ist falsch, und liebe 
und dankbarkeit kehren sich in hass und feind- 
schaft. — Nimm nicht ein goldenes halseisen, 
deinen nacken darein zu stecken, noch ein schloss 
von edelstein, die kette an deinem fusse damit zu 
verschliessen. — Es ist eine köstliche und ruhm- 
volle Pflicht, mit einem reinen herzen, sich der 
begierde zu entäussem, und alles abzuschütteln 
was irdisch ist. — 

Diese stelle des gedichtes betitelt „der mond 
auf dem westlichen flusse" ist ein wort der 
ermahnung an das alter, das den menschen 
auffordert, sein leben zu bessern und alle losen 
grundsätze mit derwurzelauszureissen; dem aus- 

M80914 



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4 DIE TREULOSE WITWE 

schweifenden ruft es zu, halt zu machen auf 
seiner bahn. Denn da die Verwandtschaft 
zwischen vater und mutter gleichsam eine himm- 
lische ist und brüder einander gleichen wie 
•liände und.füsse, .so müssen sie, wurzel und 
2wqge,^ •«^i^Wüi: beschnitten, und nicht abge- 
schnitten ^Aypi^lei]. pie drei religionen des Con- 
Äpil^iä^srt^o-ljepix. (pdfer Tao) und des Buddha, 
obwol s^ie verscfiie'den sind, so unterlässt es doch 
keine von ihnen die kindliche pietät und die 
brüderliche achtung einzuprägen. Kinder aber und 
grosskinder stehen einen grad tiefer und haben 
nicht das gleiche recht. Das Sprichwort sagt richtig : 

Kinder und grosskinder werden ihre besondre glück- 

Seligkeit haben ; 

Erwarte nichts dass deine kinder kühe und pf er de 

werden. 

Das Verhältnis aber von gatte zu gattin, ob- 
wol in Wahrheit der rote faden rund um ihren 
nacken geschlungen ist und das scharlachband 
ihre füsse zusammenhält: was bindet sie anders 
als der reiz des fleisches? Nur mit wachs sind 
sie zusammengeleimt. Wie das Sprichwort rich- 
tig sagt: 

Gatte und gattin sind zwar vögel aus demselben haine^ 
Wenn aber der tag anbricht y so fliegt jedes seinen weg. 



DIE TREULOSE WITWE 5 

Ja, SO lieblos und leichtfertig sind die ge- 
fühle des gegenwärtigen Zeitalters! Vater und 
mutter, ältere und jüngere brüder, sie werden 
angesehen wie einander gleichgültige menschen. 
Und wenn söhne und grosskinder noch ein 
schwaches teil von Zuneigung geniessen: wie 
steht es dagegen mit der liebe zwischen mann 
und weib! Die männer sind versunken in die 
liebe des harems und doch nur zank, neid und 
streit hallt ihnen aus den gemächern der fratien 
entgegen. Wie viele haben von ihren weibern 
getäuscht unkindliche und unbrüderliche hand- 
lungen verübt! 

Ich will die geschichte Tschwang-sängs der 
auf der thönernen flöte spielte erzählen, aber 
nicht, um Uneinigkeit zwischen gatten und gattin 
zu stiften, sondern um die weit zu lehren, dass 
sie Weisheit und unweisheit unterscheide ; um die 
Wahrheit zu ergründen und vom irrtum abzu- 
grenzen; um von der ersten geburt eines Ver- 
rats anzuheben und die sünde in ihrem ganzen 
umfange darzulegen. Denn wenn die sieben 
wurzeln des tuns klar und unbefleckt sind, 
dann spriessen tugendhafte gedanken üppig auf 
und gewinnen sich geltung. Ein alter mann, 
als er einen landmann £^rünen reis in ein moor- 
feld pflanzen sah, hxC.Jxi in diese verse aus: 



6 DIE TREULOSE WITWE 

Haltend das kom in seiner hand pflanzt er den grünen 

reis in dasfeld; 
Niedergebeugt sein haupt gewahrt er dm himmd 

■wiedergespiegelt im waiser- 

Wenn die sieben wurzeln rein und unbefleckt sind, so 

wird es nachmals reis werden 
Und ein schritt zurück wird zu einem schritt vorwärts. 

Die Überlieferung berichtet, es lebte während 
der letzten jähre der regiening Tschau's ein 
grosser gelehrter, der hiess Tschwang-säng, sein 
ehrenname war Tsze-te, ein einwohner der Stadt 
Mung, im fürstentum Tsung. Er diente dem 
kaiser als beamter des Tselh-juen. 

Sein lehrer war ein sehr heiliger mann, der 
b^ründer der Taosekte, mit namen Le-urh, 
mit ehrentitel Plh-jang, welcher mit weissem haar 
geboren war und deshalb Lao-tze, das alte 
kind, hiess, 

Tschwang-säng sah beständig in den wachen 
imen seiner phantasie, dass er in einen 
metterling verwandelt wäre und über die 
tnzen und bäume des gartens flatterte. Diese 
; kehrte ihm immer wieder und er fühlte 
:rdies beim erwachen seine schultern und 
en sich bewegen, gleich einem paar flattem- 
schwingen. Das erfüllte ihn mit staunen 



DIE TREULOSE WITWE / 

und nicht lange nach diesem träume ak er eines 
tages bei Lao-tze war und sie in guter müsse des 
gesprächs pflogen, erzählte er den träum seinem 
lehrer. Dieser heilige mann, fähig alle dinge 
zu verstehen, die sich von der Vergangenheit 
zur gegenwart in den drei Stadien der existenz 
ereignen, ein ergrübler der gründe, welche die weit 
in angst halten — wusste sehr wol, dass Tschwang- 
säng im anfang, zu den zeiten des chaos, ein 
weisser Schmetterling gewesen ; dass sein erstes le- 
ben vom himmel, das zweite von den waldbäumen 
entstammte deren rühm ihre blätter und blumen 
sind; dass der weisse Schmetterling, die essenz 
der bluten sammelnd und die lieblichkeit der 
sonne und des mondes einsaugend und harrend 
bis er ihren geist in sich aufgenommen, in ewiger 
Unsterblichkeit lebte, seine schwingen entfaltend 
gleich den rädern eines wagens. In der folge 
aber wanderte er zu den Yao-tsche oder den 
Inseln der seligen, heimlich gelangte er dahin 
und saugte den blütenstaub der berühmten 
pfirsiche und wurde dabei von dem grünen 
phoenix verschluckt, welcher die blumen bewacht 
unter dem thron der mutter des westlichen 
königs. Die seele des Schmetterlings wurde 
nicht mit zerstört, sondern ihr loos war wieder- 
zuerscheinen in der weit und Tschwang-säng zu 



8 DIE TREULOSE WITWE 

werden. Und Tschwang-sängs vemunft (Tao) sollte 
das feste herz (Laa-tze) verehren und Tschwang- 
sängs Weisheit die lehre Wu-wei, der grossen 
ruhe, noch reiner machen. 

Als er von Lao-tze die Offenbarungen über 
sein früheres leben empfangen hatte, da erkannte 
er wie einer, der aus einem träume erwacht, dass 
der wind, welcher seine schultern und Seiten er- 
zittern machte, ihn an den Schmetterling erinnern 
wollte, und er begrub in sich alle weltlichen 
empfindungen von rühm und schände, er be- 
trachtete sie wie eine vorübergleitende wölke oder 
einen vorbeifliessenden ström und nicht das 
kleinste teilchen von ihnen wollte er sein eigen 
nennen. Als Lao-tze gewahrte, dass sein herz 
erwacht war, da vertraute er ihm an das ge- 
heime Vermächtnis der fünf tausend charactere 
des Tao-tlh-king, des buchs vom pfade der Ver- 
nunft und tugend er zog es aus seinem schrein 
und schenkte es ihm, es auswendig zu lernen, 
herzusagen und auszuüben. Durch dies buch 
gebildet und geläutert sollte er die macht er- 
langen, licht und schatten, seele upd leib zu 
trennen, seine göttliche natur zu entwickeln und 
in einen geist sich zu verwandeln. 

Tschwang-säng gab seinen posten als minister 
des TseÜi-juen auf, sagte Lao-tze lebewol und 



DIE TREULOSE WITWE 9 

wanderte fort, das Tao zu suchen. Obwol er 
der lehre des Lao-tze-keun anhing, so zerschnitt 
er doch das band zwischen gatten und gattin 
nicht und heiratete nacheinander drei weiber. 
Die erste war krank geworden und vor der zeit 
gestorben; von der zweiten hatte er sich ge- 
schieden wegen eines fehltritts, und die dritte, 
war eben die, von der ich erzählen will, und 
hiess Tien-sche. Sie war eine tochter aus der 
feunilie Tien, im königreiche Tse. Als Tschwang- 
säng im Staate Tse reiste, hatte ihm Tien-tsung 
aus achtung vor seinen talenten diese seine 
tochter zur ehe gegeben. Sie übertraf die ersten 
beiden frauen weit an Schönheit, ihr gesicht 
hatte die färbe eines milchweissen eiszapfens 
oder des schnees und rief liebe hervor wie ein 
engel. Obgleich er sinnlicher lust entsägt hatte, 
so war er doch ganz übernommen von ihrer 
Schönheit und entzückt von ihr wie ein fisch im 
Wasser. 

Um diese zeit sandte Wei-wang, der be- 
herrscher des königreichs Tsu, welcher von 
Tschwang-sängs tugenden vernommen, einen bo- 
ten mit hundert pfund gold, tausend stück feiner 
seide und einem leichten wagen mit vier pferden, 
um ihn als ersten minister an sich zu fesseln. „Wenn 
die kuh, welche zum opfer bestimmt ist" sagte 



10 DIE TREULOSE WITWE 

Tschwang-säng mit einem seufzer „geschmückt 
mit gestickter seide stroh und kraut wiederkäut 
und den stier am pflüge ermüdet und atemlos 
gewahrt: dann beglückwünscht sie sich selbst 
wegen ihres guten geschicks; aber wenn sie in 
den grossen tempel eintritt und messer und 
beil vor ihren äugen sieht, dann wünscht sie den 
pflüg zu ziehen, allein vergebens." Und er 
lehnte die geschenke ab und begab sich mit 
seinem weibe in den staat Sung und lebte zu- 
rückgezogen auf den Nan-hwa hügeln, im süden 
von Tao-tschau. 

Eines tages, als er unter den abhängen um- 
herwandelte, bemerkte er eine anzahl wüster 
gräber, dicht aneinandergehäuft, und er rief aus 
mit einem seufzer: „Alt und jung, weise und 
toren, ohne unterschied kehren alle hierhin zu- 
rück! Wenn der mensch in das grab gestiegen, 
wie kann er wieder zu einem menschen werden?" 
Nachdem er eine weile geseufzt, tat er einige 
schritte vorwärts und sah plötzlich ein neues 
grab, dessen hügel noch nicht trocken war und 
eine junge frau in schlichtem kleide sass da- 
neben und schwang darüber gemächlich einen 
offenen fächer. Als sie ohne nachzulassen in 
dieser beschäftigung fortfuhr, fragte er voll er- 
staunen: wer hier begraben sei und warum sie 



DIE TREULOSE WITWE II 

beständig ihren fächer über das grab schwinge? 
Die frau veränderte ihre Stellung nicht, sie fuhr 
fort zu fächern wie vorher, und lispelte einige 
Worte — Worte von denen man sagen könnte: 

Im augenblick als sie vernommen wurden^ taten sich 

tausend münder zum lachen auf; 

Und als man die warte erwogt da waren sie schänd- 
lich über die maassen, 

' — »Der in diesem grabe liegt" sagte die 
frau »ist der arme narr, mein verstorbner mann, 
er hatte das misgeschick zu sterben und hat 
seine gebeine hierhin gebettet. Während seines 
lebens war sein weib ihm alles; im tode nur 
verliess er mich, wider willen, und sprach mir 
auf dem Sterbebette als letzten wünsch aus : wenn 
ich wiederheiraten wollte, so möge ich warten, 
bis die leichenfeier beendet und die erde über 
seinem grabe trocken geworden sei. Nun fächere 
ich es, weil ich besorge, die frisch aufgeworfene 
erde werde noch lange nicht trocken werden." 

— „Diese frau" dachte Tschwang-säng bei sich, 
ein lächeln unterdrückend „ist von hastigem 
temperament; ich bin verwundert, dass sie in 
ihrem leben in so gutem einvernehmen gestan- 
den; wäre das nicht der fall gewesen, dann 
wäre eher zu dem jetzigen benehmen ein anlciss." 



12 DIE TREULOSE WITWE 

Er antwortete alsdann laut: „Wenn ihr diese 
erde gedörrt und trocken haben wollt, so ist 
das bald geschehen; aber euere handgelenke 
sind schwach und haben nicht kraft genug zu 
fächern. Ich selbst will für euch die arbeit 
übernehmen." 

— »Das glück sei mit euch" sagte die frau, 
indem sie aufstand und sich verbeugte „ich bin 
euch sehr verbunden", nahm den offenen weissen 
f ächer mit beiden händen und reichte ihn Tschwang- 
säng. Der erhob die hand, nach den Vorschriften 
der Tao-lehre, fächerte eine zeit lang über dem 
haupte des grabes und das wasser verdunstete 
und der boden wurde sofort trocken. Die frau 
lachte so, dass du ihr gesicht mit deiner hand 
hättest umspannen können. 

— „Ich habe euch die mühe gemacht, mein 
herr", sagte sie, „eure Zauberkraft anwenden zu 
müssen" und sie erhob ihre zarte hand zur seite 
ihres hauptes, zog sich eine silberne haamadel aus 
dem haar und bot sie Tschwang-säng an sammt 
dem fächer, und dankte ihm so sehr sie konnte. 
Die silberne haamadel lehnte er ab, den facher 
nahm er an, sie aber ging fröhlich von dannen. 
Tschwang-säng kehrte heim, nicht ganz ruhigen 
gemütes, und in seiner strohgedeckten halle 
blickte er auf den fächer und seufzte diese stanzen : 



DIE TREULOSE WITWE I3 

yy Es sind nicht die in zwist getrennten^ es sind jene die 

zusammen gewohnt; 

Feinde sogar ^ wenn zu einander gebracht ^ so hören sie 

leicht au/y es zu sein. 

Wie bald aber erkennt man, dass nach dem tode kein 

gefühl und keine gerechtigkeit waltet/ 

Weise glauben, gedanken und liebe während des lebens 

sind genug.^*" 

Tien-sche stand hinter ihm, hörte ihn spre- 
chen und seufzen und trat vor, ihn zu fragen 
was es gäbe. 

— „Mein meister" sagte sie — denn als 
Tao-tze (doctor der Tao-secte) wurde er jetzt 
mit „meister" angeredet — „was hat mein meister, 
dass er seufzt und von wannen kommt dieser 
fächer?" 

Er erzählte ihr alles, was sich mit der frau 
zugetragen, die das grab gefächert, und die erde 
trocken haben wollte, um sich wieder zu ver- 
heiraten. 

— „Dies ist der föcher" sagte er „der zu 
jenem zwecke gebraucht wurde und die frau 
schenkte ihn mir, weil ich ihr aufs beste nach 
meinen kräften beistand." 

Sobald Tien-sche dies hörte, geriet sie ausser 
sich vor zorn, erklärte die frau für ein wesen 
ohne schäm und tugend und mitten im ausbruch 



14 DIE TREULOSE WITWE 

ihrer Schmähungen sagte sie zu ihrem manne: „Es 
gibt wenige weiber in der weit, so gefühllos wie 
diese!" 

Tschwang-säng sprach aufs neue vier zeilen 
in versen; 

„/« ihrem leben spricht jede mit tiefster dankbarkeit! 

Nach dem tode sehnen sich alle das grab zu fächern! 

Ein bild kann dir die bunte haut destiger unddrachen 

zeigen, aber nicht ihren innern bau: 

Die kenntnis des menschlichen antlitzes ist nicht die 

kenntnis des herzens*'' 

Tien-sche wurde darüber sehr aufgebracht. 
Von alters her ist gesagt worden : „murren ver- 
kleinert die Zuneigung und ärger vergisst die 
förmlichkeiten" , und so achtete Tien-sche in 
ihrem leidenschaftlichen sprechen nicht die per- 
sonen, sondern schäumte auf und rief: „Die 
männer sind alle gleich und kein unterschied 
zwischen weisen und toren! wie kannst du 
so leichtfertig reden und auf alle weiber herab- 
sehen, als hätten sie alle ein und dieselben 
grundsätze? Siehe! fiir eine ohne tugend giebt 
es viele andre mit vortrefflichen grundsätzen. 
Bist du dir selbst keines fehlers und irrtums 
bewusst?" 

Er antwortete: „Ich will nicht in den wind 
sprechen, noch mich auf sinnloses geplauder 



DIE TREULOSE WITWE 15 

einlassen; sollte aber das unglück wollen, dass 
ich stürbe; würdest du, deren Schönheit den 
blumen und edelsteinen gleicht, nach meinem 
tode drei oder fünf jähre warten, bis du wieder 
heiratetest?" 

— „Ein getreuer minister", entgegnete sie, 
„dient nicht zwei forsten, und ein keusches 
weib heiratet niemals zum zweiten male; wann 
hat man eine tugendsame frau ihren thee in 
zwei häusern trinken oder in den betten zweier 
familien schlafen sehen? Sollte das unglück 
jenes traurige loos über mich verhängen, sprich 
nicht von ein paar jähren, denn ich werde mein 
ganzes lebenlang witwe bleiben und selbst in 
meinen träumen nur an dich denken." 

— „Du versprichst unmögliches", sagte er. 

— „Du denkst", rief Tien-sche aufgebracht, 
„dass wir frauen ganz wie ihr männer wären, 
ohne tugend und ohne gerechtigkeit; ist ein 
weib todt, so schaut ihr euch nach einem an- 
dern um ; dieser gebt ihr den scheidebrief und 
nehmt jene; das einzige was zu eurer entschul- 
digung gesagt werden kann, ist, dass die eine 
eben so vortrefflich ist wie die andere; aber 
ihr solltet bedenken, dass wir frauen immer nur 
für einen passen, wie ein sattel nur für ein 
pferd." Und Tschwang-säng sich nähernd, riss 



l6 DIE TREULOSE WITWE 

sie ihm den fachet aus der hand und zerbrach 
ihn in stücken. 

— „Du hattest nicht nötig", sagte er, „so 
leidenschaftlich zu werden; ich wünschte nur, 
du wärest so gut wie du beteuerst." 

Er sagte weiter nichts, aber einige tage 
nachher wurde er plötzlich krank. Die krank- 
heit nahm mehr und mehr zu und wurde be- 
denklich. Tien-sche seufzte und weinte zu 
häupten seines bettes, 

— „Meine krankheit geht mit reissenden 
schritten vorwärts und ich muss lebewol für 
immer sagen. Bald v/irst du bedauern, den 
facher zerbrochen zu haben; wäre er ganz ge- 
blieben, so hättest du ihn sehr gut gebrauchen 
können, mein grab zu fächern." 

— „Oh, meister", antwortete sie, „ich bitte 
dich, sprich nicht davon. Ich habe die gebrauche 
studiert und kenne sie: „einem gatten sollst 
du folgen und nicht mehr", und ich schwöre, 
dass ich nicht anders gesinnt bin. Wenn du 
mir nicht glaubst, so will ich vor deinen äugen 
sterben, um dir meines herzens aufrichtlgkeit 

xJgen." 

— „Es ist genug", sagte Tschwang-säng, „ich 
be — meine äugen werden dunkel." Ab 
üesen satz beendet, hörte sein atem auf. 



DIE TREULOSE WITWE I7 

Tien-sche berührte den körper mit der hand, 
brach in laute wehklage aus und bat die nach- 
bam uniher, ein leichentuch zu bereiten, und 
einen sarg, ihn zu begraben. 

In tiefe trauer gekleidet war Tien-sche meh- 
rere morgen in aufrichtigem leide, weinte die 
ganze nacht, und dachte beständig an die Zu- 
neigung ihres gatten, an seine freundlichkeit 
während seiner lebenszeit. Sie vernachlässigte 
schlafen, essen und trinken, als wenn sie krank 
oder vergiftet wäre. 

Als es bekannt wurde, dass Tschwang-säng 
ein zurückgezogener gelehrter gewesen, der sei- 
nen namen der weit verhalten, kamen die an- 
wohner des hügels, durch ihren besuch ihr bei- 
leid und ehrerbietung zu bezeugen ; so dass der 
platz so belebt wie ein markt war. 

Am neunten tage langte unerwartet ein junger 
und eleganter student an, dessen antlitz wie ein 
bild war und seine lippen als wenn sie mit 
drachenblut gefärbt wären, unvergleichlich schön! 
Es war ein ausserordentlich feiner junger mann; 
nach der mode gekleidet, in farbigen nankin- 
gewändem, mit einem schwarzen barett, gestick- 
ten gürtel und scharlachschuhen. Er brachte 
einen alten diener mit und gab sich für Wang- 
sien aus, den grossohn des königs von Tsu. 



l8 DIE TREULOSE WITWE 

Er hätte im letzten jähre Tschwang-säng kennen 
gelernt und wünschte von ihm unterrichtet zu 
werden und sei gerade jetzt gekommen, um ihn 
zu besuchen; nun da er ihn todt fände, könnte 
er nur seinen schmerz bezeugen und so schnell 
wie möglich seine bunten kleider ablegen. Er 
befahl alsdann seinem alten diener, die trauer- 
kleider aus dem mantelsack zu nehmen, und 
als er sie angezogen, verbeugte er sich viermal 
vor dem todtenkörper und sagte: „O Tschwang- 
säng, missgünstig war mir das Schicksal, dass 
ich dich nicht von angesicht zu angesicht ge- 
sehen und deine Unterweisung empfangen habe ! 
Hundert tage will ich trauern fiir meinen meister, 
die gefühle meiner innigen freundschaft aus- 
strömend.** Er verbeugte sich wieder viermal, 
vergoss einige thränen und verlangte Tien-sche 
zu sehen. Sie lehnte es anfangs ab ihn zu em- 
pfangen, aber der prinz liess ihr sagen: „Den 
alten gebrauchen zufolge wären gattinnen und 
geliebte von genauen freunden nicht gewohnt, 
sich zurückzuziehen. Ueberdies habe er im 
Verwandtschaftsverhältnis zu dem verstorbenen 
gestanden als sein schüler." 

Da kam Tien-sche aus dem innem des hauses 
in die halle, in welcher der todte lag, um die 
höflichkeiten des prinzen entgegenzunehmen, 



DIE TREULOSE WITWE I9 

und nachdem sie dieselben erwidert, warf sie 
einen verstohlenen blick auf ihn, und da er sehr 
schön von gestalt war, so ging es ihr durch 
und durch und sie wurde von liebe zu ihm er- 
g^ffen. Sie bedauerte, dass sie keinen diener 
habe, um ihn ins haus zu fuhren. 

— „Obwohl mein meister dahin ist", sagte er, 
„kann ich nicht aufhören an seine freundlichkeit 
zu denken und ich bitte um die erlaubnis, eine 
zeit lang hier als gast unter deinem dache ver- 
weilen zu dürfen, erstlich um an den leichen- 
feierlichkeiten meines meisters teil zu nehmen 
und sodann um zu sehen, ob er einige Schrif- 
ten hinterlassen hat. Sein schüler bittet um 
die gunst, einen blick darauf zu werfen, um 
seiner letzten lehren teilhaftig zu werden.** 

— „Wo kann nicht die gerechtigkeit eines ver- 
trauten freundes auch für lange zeit wohnen?" 
sagte Tien-sche. 

Sie bereitete alsdann das mahl und ihre 
beiderseitigen seufzer verschmolzen mit einan- 
der. Nach dem essen nahm Tien-sche die 
bücher ihres verstorbenen gemahls, das Nan- 
hwa-ldng, den klassiker des südlichen blumen- 
hügels, und das Tao-tih-king, das buch von 
dem pfade und der tugend und überreichte sie 

freigebig dem prinzen. Wang-sien wiederholte 

2* 



20 DIE TREULOSE WITWE 

ihr seinen dank und suchte dann in der stroh- 
gedeckten halle einen platz für die gedächtnis- 
tafel des todten aus. Schweigend verbeugte er 
sich an der linken seite des todtenbettes. Täg- 
lich kam Tien-sche an die seite des todten- 
bettes, unter dem vorwand hier den verstorbnen 
zu bejammern, in Wahrheit aber, um sich mit 
Wang-sien zu unterhalten. Täglich wurde ihre 
liebe stärker; ihre blicke kamen und gingen, 
und ihre gefuhle konnte sie nicht mehr unter- 
drücken. Er war freilich nur halb, sie aber voll- 
ständig bezaubert. Hätte sie in dieser einsam- 
keit einen fehltritt begangen, kein ärgemis noch 
gerede wäre zu befurchten gewesen, da ihr gatte 
eben in den sarg gelegt WcU-; indessen wenn 
ein weib einem manne zugetan ist, so ist es 
ihr unmöglich, ihm ein wort davon zu sagen. 

Nachdem sie sich einige tage im zäum ge- 
halten — es war noch nicht ein halber monat 
— konnte diese frau ihr herz nicht bändigen 
gleich einer affin, und ihre empfindungen nicht 
niederhalten, wie ein hund oder ein pferd. Heim- 
lich rief sie den alten diener des prinzen in ihr 
zimmer, gab ihm guten wein zu trinken, machte 
ihn durch schmeichelhafte worte geschmeidig 
und fragte endlich voll höflichkeit: 

— „Ist euer herr verheiratet oder nicht?" 



DIE TREULOSE WITWE 21 

— „Er ist noch nie verheiratet gewesen", 
sagte der alte mann. 

— „Hat euer herr schon jemand gewählt, den 
er heiraten will?" fragte Tien-sche weiter. 

— Der alte, welcher schon fast betrunken war, 
sagte: „Mein herr hat erklärt, dass wenn er 
eine so berühmte Schönheit bekommen könnte 
wie ihr seid, erhabne frau, so wären alle seine 
wünsche erfüllt." 

— „Ist es Wahrheit, dass er das sagte", rief die 
witwe voll Ungeduld, „oder willst du mich be- 
trügen?" 

— „Ein alter Chinese wie ich", sagte der die- 
ner, „der zu hohen jähren gekommen, würde 
nicht wagen lügen zu erzählen." 

— „Ich möchte dich als Zwischenträger ge- 
brauchen", sagte die witwe, „willst du es auf 
dich nehmen, und meine Verheiratung mit dei- 
nem herm zu stände bringen?" 

— „Er hat die sache schon mit mir be- 
sprochen^, versetzte der alte diener, „und er- 
klärte es für eine ausgezeichnete Verbindung, 
nur macht ihn das verwandtschaftsverhältnis 
zwischen meister und schüler bedenklich und er 
furchtet den tadel der weit." 

— „Aber euer herr hatte ja eigentlich gar kei- 
nen verkehr mit meinem verstorbenen gemahl. 



22 DIE TREULOSE WITWE 

noch hörte er persönlich seinen Unterweisungen 
zu: es wird daher die Verwandtschaft zwischen 
meister und schüler nicht verletzen; übrigens 
ist der hügel sehr abgelegen, das wohnhaus 
einsam, die benachbarten landhäuser entfernt, 
niemand ist da, seine bemerkungen zu machen. 
Du musst über diese Schwierigkeiten weggehen. 
Inzwischen bitte ich dich, diesem fröhlichen 
weine zuzusprechen." 

Der alte diener liess es sich nicht zweimal 
sagen und als er im begriff war zu gehen, rief 
sie ihn wieder zurück und sagte: 

— „Sollte er einwilligen, so frage nicht dar- 
nach ob es tag oder nacht ist, sondern komm 
sofort in mein zimmer und bringe mir die künde, 
davon: voll angst und aufregung werde ich dich 
hier erwarten." 

Als er fortgegangen WcU-, ging sie zu dem 
orte wo der leichnam lag und rang ihre 
bände voll bangen, dass es ihr nicht gelingen 
möchte mit dem roten faden den schönen 
fuss des jungen mannes zu binden, sie ver- 
mochte nicht sich zur ruhe zu begeben und 
stand in der einsamkeit unerträgliche angst 
aus. In der dämmerung der nacht ging sie 
wieder in die Sterbekammer und vernahm atem- 
züge an der linken seite des todtenlagers, wel- 



DIE TREULOSE WITWE 23 

chen ein echo von dem köpfende des sarges 
antwortete. Sie fuhr zitternd vor furcht zurück 
und rief aus: 

— „Es ist der abgeschiedene geist, der wieder 
zum Vorschein kommt!" zog sich hastig in ihre 
kammer zurück und nahm eine lampe, um nach- 
zusehen. Da war es aber der alte diener, der 
im rausche am tisch neben dem bette des 
todten eingeschlafen war: aber sie wagte ihn 
nicht zur rede zu stellen oder aufzuwecken, 
sondern kehrte still in ihre kammer zurück und 
die nachtwachen und die minuten zählend ver- 
brachte sie den rest dieser nacht. 

Am nächsten morgen sah sie zwar den alten 
diener draussen auf und abgehen, aber nicht zu 
ihr kommen, um ihr die antwort auf ihre an- 
trage zu bringen. Sie fühlte die äusserste Un- 
geduld und rief ihn herein ins zimmer. 

— „Es kann nicht sein! es kann nicht sein!" 
sagte der mann. 

— „Warum nicht?" fragte sie, „war es nicht 
deutlich genug, was ich euch gestern abend er- 
klärte?« 

— „Ich sagte ihm alles", erwiderte der alte 
mann, „und was mein herr darauf sagte, war 
sehr richtig. Er meinte, an eurer Schönheit und 
eigenschaften wäre nichts auszusetzen, und weil 



24 DIE TREULOSE WITWE 

er noch nicht die Unterweisungen eures ge- 
mahls als seines meisters empfangen, so erhöbe 
sich auch daraus keine Schwierigkeit; aber es 
sind drei ungünstige umstände vorhanden, die 
ich euch bekannt machen muss." 

— „Welches sind sie?" sagte sie atemlos 
vor aufregung. 

— „Zu allererst", antwortete der alte diener, 
„sagte mein herr folgendes: ,als ich hier er- 
schien, stand der leichnam in der halle, wo 
er noch steht, ich furchte, dass, wenn ich 
mitten in der trauerzeit mit ihr zur ehe schritte, 
wir weder herzliches glück, noch vergnügen ge- 
messen würden; zweitens haben sie in glück- 
licher ehe gelebt, und da er zudem ein berühm- 
ter weiser der Tao-sekte war, meine gelehr- 
samkeit aber sicherlich der seinigen nicht gleich- 
kommt, so bin ich bange, der Verachtung 
ausgesetzt zu sein; drittens ist mein gepäck 
zurück und noch nicht in meine hand gekom- 
men, womit sollte ich die kosten der hochzeits- 
gaben und feste bestreiten? und niemand ist 
hier, von dem ich leihen könnte' — das sind 
die drei gründe, aus denen die Verbindung nicht 
zu Stande kommen kann." 

— «Aus diesen drei umständen", antwortete 
Tien-sche, „erwachsen nicht die mindesten 



DIE TREULOSE WITWE 25 

Schwierigkeiten: ein todter körper ist nicht die 
quelle des lebens, hinter dem hause ist ein 
kleiner stall, ich kann ihn durch einige leute 
dorthin tragen lassen — und so wäre ein hin- 
demis gehoben; fürs zweite, so mag mein ver- 
storbener mann ein berühmter weiser der Tao- 
sekte gewesen sein: aber in seinen handlungen 
war er nicht durchaus zuverlässig, denn er liess 
es sich einfallen, sich von seinem vorigen weibe 
zu scheiden; mögen andere seine leere tugend 
preisen und der könig von Tao seinen hohlen 
namen begehren, der ihm grosse geschenke 
schickte, um ihn zum minister zu gewinnen, er 
aber war sich seiner schwachen kräfte und ge- 
ringen talente bewusst und nahm hierher seine 
Zuflucht. Vor einigen monaten, als er unter 
dem hügel umherstreifte, begegnete er einer 
frau mit einem fächer, welche ein grab fächerte 
und wartete bis es trocken war, um wieder zu 
heiraten. Der narr sprach und scherzte mit 
ihr, nahm ihren fächer und fächerte selbst für 
sie das grab und kehrte dann mit dem fächer 
nach hause, wo ich ihn nahm und in stücke 
schlug. Deswegen brach er einige tage später, 
als er auf dem todtenbette lag, in einen wah- 
ren sfrom von Schmähungen gegen mich aus. 
Wo war seine Zuneigung? Er kaon sich mit 



26 DIE TREULOSE WITWE 

der Jugend und ausgezeichneten gelehrsamkeit 
eures Herrn nicht messen, der den rang eines 
königsgrossohns hat, während ich die tochter 
Tien-tsungs bin. Unser stand ist gleich. Dass 
er grade jetzt hier angekommen, ist ein ereig- 
nis, das der himmel selbst eintreten Hess, weil 
er unsere Verbindung gewollt hat Was end- 
lich drittens die ausgaben fiir die brautgeschenke 
und die hochzeitsfestlichkeit anlangt, so bin ich 
die herrin des hauses; niemand ist vorhanden, 
der eine morgengabe fordern könnte. Noch 
weniger kommen die kosten der hochzeit in 
betracht: ich werde sie sogleich herbeischaffen. 
In meinem Privatzimmer liegen zwanzig unzen 
Silber, ich werde sie deinem herrn geben, um 
sich neue kleider dafür anzuschaffen. Geh wie- 
der hin und sag ihm, dass es jetzt zeit sei, 
wenn er die ehe zu vollziehen wünsche — heute 
abend ist die günstige stunde dazu." 

Der alte diener nahm die zwanzig unzen 
Silber und kehrte zu dem prinzen zurück, dem 
nun nichts anderes übrig blieb, als seine ein- 
willigung zu erklären. Der alte brachte der 
frau diese antwort zurück, und sie war so 
selig wie der himmel und so glücklich wie die 
erde. Sie warf ihre trauerkleider ab und 'nahm 
ihre vergnqgte miene wieder an, ihren lippen 



DIE TREULOSE WITWE 2/ 

gab sie ihr rot zurück, und in neue bunte ge- 
wänder gekleidet bat sie den alten diener, einige 
männer herbeizurufen, die in der nähe des 
hügels wohnten, um die leiche ihres verstorbnen 
mannes in die verfallene hütte hinter dem hause 
zu tragen, die halle zu reinigen und das hoch- 
zeitsfest zu bereiten. Eine ode bezeugt: 

Der schöne Jüngling und die witwe haben verschiedene 

anziehungskraft 

Und JVang'Sien, der seinen entschluss ändert^ ist 

gleichfalls wankelmüthig^ 

Wer spricht von Einem sattelßir Einp/erd? 

Am abend ist der einzige gedanke an den eingeladenen 

bräutigam ! 

Tmx nacht richtete sie das brautgemach her 
und ordnete in der halle die lichter und kerzen. 
Der prinz hatte seinen knöpf und schärpe an- 
gelegt, und beinkleider; die braut hatte ein ge- 
sticktes untergewand und beinkleider an. So 
stand das paar mitten unter blumen und 
kerzen, schimmernd wie edelstein und gold, 
ihre Schönheit kann nicht beschrieben werden. 
Als die ceremonien vorbei waren, nahm jeder 
aufs zärtlichste die hand des andern und sie 
traten in die brautkammer ein und waren im 
b^^ff sich zurückzuziehn, um zur ruhe zu gehen. 

In diesem augenblick sträubten sich desprinzen 



28 DIE TREULOSE WITWE 

augenbrauen plötzlich nach aufwärts; er konnte 
sich keinen zoll weit bewegen; wollte er sich 
aufrichten, so fiel er wieder nieder; und die 
bände auf seine brüst gepresst konnte er nur 
sagen, dass sein herz ihn unerträglich schmerze. 
Tien-sche, welche den prinzen wirklich liebte, 
war tödtlich erschrocken über diesen zufall, sie 
ging auf ihn zu, umarmte ihn und rieb ihn mit 
ihren bänden. Er war unfähig zu sprechen, 
Speichel schäumte aus seinem munde und er 
schien plötzlich sein bewusstsein zu verlieren. 
Eiligst erschien der alte diener. 

— „Hat er je in seinem leben schon solche 
anfalle gehabt?" sagte Tien-sche. 

— Ja", sagte der alte diener, „vielleicht ein- 
mal in zwei oder drei jähren — keine medicin 
vermag sie irgend zu heilen; nur ein ding in 
der weit kann ihn wieder gesund machen." 

— „Was gebrauchst du? sprich!" forschte 
sie inständig. 

— „Der arzt", antwortete er, „verschrieb 
ein aussergewöhnliches mittel; das mark aus 
dem hirn eines lebendigen mannes muss ge- 
nommen und in wein gekocht werden. Wenn 
er das verschluckt, so hört das übel auf. Als 
er zuerst von dieser krankheit heimgesucht 
wurde, hat sein fürstlicher vater, der könig von 



DIE TREULOSE WITWE 29 

Tsu, einen Verbrecher im gefängnis tödten 
und sein gehim ausnehmen lassen; aber wie 
kann er hier in den bergen so geheilt werden?" 

— „Das gehim eines lebendigen kann ich 
ihm freilich nicht verschaffen", sagte Tien-sche, 
„aber wird das eines todten mannes nicht den 
selben dienst tun?" 

— «Der arzt erklärte", versetzte der alte 
diener, „dass wenn jemand noch nicht neun und 
vierzig tage todt gewesen und sein gehim noch 
nicht vertrocknet oder verfault ist, so kann man 
auch von diesem gebrauch machen." 

— „Mein mann", sagte die witwe, „ist erst 
zwanzig tage todt, könnten wir nicht den sarg 
aufbrechen und sein gehim nehmen?" 

— „Ich besorge nur", antwortete er> „dass 
ihr das nicht gem tun werdet" 

-r- „Ich und der prinz", nahm sie das wort, 
„sind mann und weib — eine frau dient ihrem 
gatten mit ihrem leibe, und wenn sie dabei 
selbst ihres lebens nicht schont, wie kann es 
unrecht sein, von dem körper des todten ge- 
brauch zu machen?" 

Sie befahl ihm alsdann, des prinzen zu war- 
ten, während sie nach einem beile suchte. Sie 
fand es, und das beil in ihrer rechten hand. 



30 DIE TREULOSE WITWE 

die lampe in der linken ging sie in das hinter- 
haus, setzte die lampe oberhalb des sarges nie- 
der und streifte sich die ärmel auf. Mit beiden 
bänden erfiob sie die waffe und den festen blick 
auf das köpfende des sarges gerichtet, die zahne 
zusammenbeissend, und ihre kräfte sammelnd, 
Hess sie das eisen mit voller gewalt niederfallen. 
Aber wie schwer war es für die schwache un- 
geübte kraft eines weibes einen sarg aufzu- 
brechen! Tschwang-säng hatte ihrindess bei leb- 
zeiten befohlen, ihm nur einen billigen sarg zu 
geben, und so war der deckel nach einund- 
dreissig schlagen zertrümmert und durch noch 
einige mehr wurde die wohnung des todes 
vollends gewaltsam geöffnet. 

Als sie noch keuchend und atemlos da- 
stand, bemerkte sie, dass Tschwang-säng im 
sarge einen leisen seufzerausstiess, den deckel ganz 
wegschob und zu ihrem erstaunen sich aufrecht 
hinsetzte. Obwol sie entschlossenen Charakters 
war, kam doch weibische furcht über sie; ihre 
kniee schlotterten, ihr herz glich einer umsin- 
kenden lampe und verwirrt ergriff sie die flucht. 
Ohne daran zu denken, Hess sie das beil hart 
zu boden fallen und Tschwang-säng rief: „Hilf mir 
auf, frau!" Sie konnte nicht umhin ihm aus dem 
sarg zu helfen und er trug das Hcht, während sie 



DIE TREULOSE WITWE 3I 

folgte und mit ihm in die kammer trat. Da sie 
aber wusste, dass der prinz und sein diener da- 
rin waren, so machte sie für einen schritt vor- 
wärts immer zwei zurück. 

Als sie indessen eintraten und sie eine er- 
klärung geben wollte, waren der prinz und sein 
diener nirgends zu sehn. Obwol erstaunt, warf 
sie alle furcht hinweg und sagte listig zu Tschwang- 
säng: 

— „Nach eurem tode verfiel ich in nachdenken 
tag und nacht, und da ich ein geräusch in eurem 
sarge hörte, so begann ich an die geschichten 
aus alter zeit von denen zu denken, deren seele 
wiedergekehrt ist; und da ich erwartete dass 
auch ihr zum leben zurückkehren würdet, so 
nahm ich das beil und brach euem sarg auf. 
Ich muss sagen, das glück hat mich besonders be- 
günstigt! es ist wirklich so gekommen: himmel 
und erde sei gepriesen!" 

— „Besten dank, frau," sagte ihr gemahl, „für 
deine zarte rücksicht, aber etwas kommt mir 
sonderbar vor. Wie geht es zu, dass du diese 
gestickten ärmel und beinkleider trägst, da du 
doch in trauer bist?" 

— „Da ich den sarg öffnen wollte," sagte sie, 
„um eine glückseligkeit zu erblicken, so durfte 
ich keine färbe von böser Vorbedeutung an mir 



2,2 DIE TREULOSE WITWE 

haben und ich legte daher diese gestickten klei- 
der an als ein freudiges Vorzeichen." 

— „Sehr gut," sagte Tschwang-säng, „aber es 
ist noch etwas. Wie kommt es, dass mein sarg 
sich nicht in dem schlafraum befand, sondern in 
eine verfallene scheune geworfen war? ist das 
ein glückliches Vorzeichen?" 

Sie hatte kein wort darauf zu erwidern. 

Tschwang-säng warf auch einen blick auf die 
gläser und den wein, aber erfrug sie nicht darüber. 
Er bat sie nur ihm etwas wein zum trinken zu 
wärmen. 

Er entkorkte eine grosse flasche und trank 
mehrere becher, während die frau noch 
nicht durchaus darüber beruhigt war wie die 
Sachen stünden, aber doch hoffte, dass der alte 
herr sie wieder zu seinem weibe annehmen 
würde. Ehrerbietig reichte sie ihm den wein 
und bot all ihre kunst und anstelligkeit auf, mit 
süssen Worten und holden reden, ihn zu betören, 
dass er sich zur ruhe lege. Er aber wurde 
immer trunkener und schrieb diese vier verse 
auf ein blatt weisses papier nieder: 

Vormals 7varst du eine feindin, tag für tag für mich 

besorgt und beschäftigt^ 

In derzeit liebte ich dich, du hast nicht desgleichen getan» 



DIE TREULOSE WITWE 33 

Wollte ich wieder mit dir leben ^ wie ein mann mit 

seinem weibe^ 

So würde ich befürchten^ dass dein beil den deckel 

meiner seele einschlägt/ 

Als sie diese vier zeilen erblickte, wurde ihr 
gesicht rot von schäm übergössen, das wort er- 
stickte ihr in der kehle und sie blieb sprachlos. 

Er schrieb weiter diese vier verse nieder: 

Welche liebe hctben gatte und gattin zu einander^ die 
zusammen geschlafen haben hundert nachte? 

Sobald sie ein neues gesicht erblicken^ vergessen sie das 
alte^ 

Und können mit eigner hand das beil ergreifen um 
den Sargdeckel zu öffnen* 

Wie können sie Quarten bis das grab trocken ist? 

— „Ich will dich die beiden sehen lassen," 
sagte er, und er reckte seinen finger aus und 
seine frau sah Wang-sien und den alten diener 
im begriff einzutreten. Sie geriet in schrecken 
und wandte sich ab, sie nicht zu sehen; da be- 
wegte Tschwang-säng sein haupt im kreise und 
Wang-sien und der diener verschwanden. Wie 
ging das zu? Tschwang-säng wusste das geheim- 
nis sein wesen in zwei zu teilen, er verstand 
die kunst, den körper und sein Schattenbild zu 
trennen. 

Da erkannte die frau, dass sie keine mög- 

3 



34 DIE TREULOSE WITWE 

lichkeit mehr zu entrinnen hatte. Ausser sich 
vor aufregung riss sie ihren gestickten gürtel 
vom leibe, knüpfte ihn an einen balken und 
hängte sich selbst. In einem augenblick gab sie 
den geist auf. Dies war ein wirklicher tod und 
Tschwang-säng als er sah, dass sie völlig todt war, 
schnitt er sie ab und warf sie in den einge- 
schlagenen sarg. Dann sang er, auf den sarg 
gelehnt, mit der thönemen flöte seinen gesang 
begleitend: 



Das grosse nichts hat keine gefühle — es brachte mich 
und dich hervor. 

Wäre ich nicht ihr gatte gewesen^ wie hätte sie mein 
weib geivesen sein können ? 

Durch blossen zu/all sind wir uns begegnet^ der zu- 
sammenhang unsres lebens ist zu ende. 

Es ist kein verdienst der menschen vereinigt oder ge- 
trennt zu werden. 

Wenn die herzen durch das leben oder den tod gerührt 
werden^ dann erscheint dasgefühl in wah- 
rer aufrichtigkeit. 

Ohne den tod was würde sich ereignet herben ? 

Als sie geboren wardy hat die geheimnisvolle auswahl 
sie ausgewählt ; da sie starb, kehrt sie in 
das leere zurück, 

Sie wollte meineti tod beweinen und schwang ein breites 
beil über mir. 



DIE TREULOSE WITWE 35 

Ich will Über ihren iod trauern und sie mit einem Hede 
besänftigen. 

Als das geräusch des heiles begann^ kehrte ich zum 
leben zurück; wenn das lied zu ende ist^ 
wird sie es merken. 

Weh! weh! Ich zerbreche diese thönerne flöte y denn 
ich werde nicht mehr auf ihr spielen. 

Was ist siel wer bin ich? 

Als dies lied zu ende war, sang er aufs neue 
diese vier verse: 

Da du gestorben^ muss ich mich verbergen; 

Als ich todt war, musstest du freien. 

Wäre ich wirklich todt gewesen^ 

So würde gelackter den mund des volks geöffnet haben, 

Tschwang-säng brach hier in lachen aus; 
er zerschmetterte die thönerne flöte, nahm 
feuer aus der strohgedeckten halle, steckte das 
haus in brand und verbrannte den sarg zu 
asche. Das Tao-tih-king, oder das buch vom 
pfade der tugend, und das Nan-hwa-king oder 
das buch der südlichen blumen waren die ein- 
zigen dinge, die nicht von den flammen verzehrt 
wurden und einige leute aus den bergen be- 
wahrten sie auf und so gingen sie von hand zu 
hand bis auf die gegenwärtige zeit. 

3* 



36 DIE TREULOSE WITWE 

Tschwang-säng wanderte nach dem Westen und 

heiratete nicht mehr. 

Einige sagen, dass er Lao-tze am Dju-küh- 
kwan getroffen habe, und dann gestorben und 
nachdem er das grosse Tao erlangt in einen 
geist verwandelt worden sei. 

Wu-ke, der sdn wetb gstödlet, war ohne Weisheit, 
Und Kau-ling, der die abgeschiedenen beleidigt, wird 

mit recht veraektei: 
Aber siehe Tschwang-säng an! Spielend auf einer tfiö- 

Und dahin wandernd ohne sünde, er sei euer Vorbild! 



DIE 

WANDERUNG DER NOVELLE 

VON DER 

TREULOSEN WITWE 
DURCH DIE WELTLITERATUR. 




AS Friedrich Schlegel im anfange dieses 
Jahrhunderts zu Paris, wie berauscht von 
der entdeckung einer neuen weit, aus- 
rief: im Sanskrit ist eigentlich die quelle aller 
sprachen und aller gedanken und gedichte des 
menschlichen geistes; alles, alles stammt aus 
Indien, ohne ausnähme — das hat seitdem die 
besonnene forschung schritt für schritt auf das 
vielseitigste bestätigt. Die arischen stamme haben 
sich auf ihre Urheimat besonnen, über den er- 
innerungen ihrer kinderjahre gegriibelt und mit 
der vorweit die nachweit, mit der nachweit die 
vorweit beleuchtet. 

Die märchen, welche seit Jahrhunderten den 
Idndem des occidents erzählt wurden, wir wissen 
jetzt, dass die ahnen sie mitgebracht vom Hindu- 
kusch, wie Alexander die gesänge Homers in 
jenem kostbaren kästchen mit sich führte. Die 



40 WANDERUNG DURCH 

novellen, die in allen zungen des mittelalters 
umgingen, ihr grundmotiv hat meist nur einen 
Ursprung: im gemüte des ersten volksdichters im 
lande der Arya. 

Die zurückfiihrung des vielfaltigen auf seine 
einheit, dieser darwinismus der literaturgeschichte, 
darf indess die besonderheit der einzelnen species 
nicht verwischen; neben der ureinheit der Völker 
darf das nationalitätsprincip in der geschicht- 
lichen entwicklung nicht verkannt werden. Die 
literaturgeschichte, diejenige, welche von einem 
höheren Standpunkte aus in grossem überblick 
die Weltpoesie betrachten will, muss daher ver- 
gleichend sein, muss jedes dichtungswerk in 
seiner nationalen eigentümlichkeit aufzufassen 
suchen. 

Zu einem detailversuche in diesem sinne 
bietet sich die auf den vorstehenden blättern in 
einer ihrer ältesten und originellsten fassungen 
mitgeteilte novelle von der treulosen witwe 
wie von selber dar. Denn fast alle nationen 
haben diesen eminent socialen stoff bearbeitet, 
und so lernen wir aus ihren verschiedenen ge- 
staltungen den geist ebenso vieler literaturen 
kennen. 

In den Apefinineity niontag den 13. mai 1872. 



% 



DIE WELTLITERATUR 4I 

Die vorliegende novelle gibt sich, trotz welt- 
weiter Verschiedenheit, doch als zu der klasse 
gehörig zu erkennen, welche man heutzutage 
als ehebruchsromane zu bezeichnen und zu ver- 
urteilen liebt. 

Mir scheinen zu jenen novellen, in denen die 
herzensgeschichte bis zur ehe geführt wird und 
in dieser ihren alles versöhnenden schluss findet, 
die romane das ganz notwendige complement 
zu bilden, welche erzählen was denn nun aus 
jenen glücklich verheirateten paaren wird; welche 
die neuen irrungen, leidenschaften, kämpfe und 
siege schildern, die da erst anheben, wo jene 
ersten geschichten befriedigt schliessen: erst aus 
beiden novellenarten zusammen kann ein voll- 
ständiges Weltbild entstehen. 

So gewiss aber die ehe die moralische grund- 
lage der gesellschaft ist, so wird der tiefere 
ethische geist auch in diesen ehebruchsromanen 
der heiligen idee der ehe am ende zum triumphe 
verhelfen; ja, er wird die feder zu seinem werke 
nur deshalb ansetzen, um, indem er die irrwege 
beleuchtet, den königspfad der tugend zu weisen, 
wie es unsern chinesischen novellisten im ein- 
gange ausdrücklich zu sagen drängt. In der 
weiteren entwicklung dieser speciellen gattung 
der novellenliteratur finden wir freilich, dass 



42 WANDERUNG DURCH 

die italienischen und französischen novellisten 
diese ethische tendenz vielfach verleugnet haben; 
wofür aber der grösste spanische poet sie um so 
glänzender betont und durchgeführt hat. Was 
nämlich dem naiven Boqpaz und auch selbst 
dem freilich unendlich viel ernsteren Antoine de 
la Säle abgeht, das tiefe geflihl für die heilig- 
keit der ehe und der familienbande, diese grund- 
lagen eines gesunden politischen lebens, — das 
spricht^ aus jeder seite der Cervantes'schen 
novellen. Keineswegs aber, dass er, der tiefe 
kenner des menschlichen lebens und seiner 
tausend irr- und abwege, diese mit falschem 
Idealismus verhüllt und seine beiden mit der 
langweiligen glorie einer abstracten Schönheit 
und Sittlichkeit umkleidet, hätte; nein! seine 
menschen sind alle dem wirklichen leben ent- 
nommen und ihre geschicke mit jenem fast 
herben realismus geschildert, der die edleren 
bilder der niederländischen schule auszeichnet. 
Die Weltbedeutsamkeit dieser bilder, die anschau- 
lich symbolische repräsentation der ideen durch 
sie — das ist der idealismus des Cervantes. 
Antoine de la Säle entwarf in den XV joies 
mit feinster kenntniss und rücksichtslosester kühn- 
heit das schatten- und nachtbild der ehe, wie es 
ihm bei seinen landsleuten entgegengetreten 



DIE WELTLITERATUR 43 

war, er schrieb ein martyrologium der ehemänner; 
unvergesslich prägt sich dem gemüt des lesers 
der düsterpoetische refrain seiner XV capitel 
ein: ainsi est entr^ dans la nasse et y de- 
moura toujours et finira miserablement ses jours. 
Seine C nouvelles nouvelles sind wie das Bocca- 
cische decameron eine ergänzende mustersamm- 
lung angewandter falle zu jenem hohen Hede 
der ehefreuden, sie erzählen uns die tausend Ca- 
priccios, launen, toUheiten, verbrechen, schwanke, 
leiden und Verzweiflungen des „genius der gat- 
tung", um Schopenhauers ausdruck zu ge- 
brauchen.*) — Cervantes auf der andren seite lädt 



♦) Eine getreue Übersetzung der XV joyes de Manage, 
die erste deirtsche, mit einem gelehrten, reichhaltigen com- 
mentar, — ein treffliches pendant zu dem vielbewunderten, 
alle den la Säle weit überbietenden skabrositäten des Ori- 
ginals wiedergebenden Regis*schen Rabelais — wollte im 
februar 1872 zu Berlin erscheinen, als die presspolizei die 
aufläge saisiren liess. Gegenwärtig werden die Criminal- 
richter des berliner Stadtgerichts über die Sittlichkeit des 
alten schönen naiven buchs, dieses durch alle Jahrhunderte 
berühmten meisterwerks, eines französischen classikers be- 
finden, der noch kurz zuvor erst von der deutschen Wissen- 
schaft in einem ausgezeichneten aufsatze glänzend ge- 
würdigt war. (Von Ludwig Stern in Herrigs Archiv für 
neuere sprachen XL VI, p. 113 — ^218.) 



44 WANDERUNG DURCH 

uns gleichsam zur hochzeit eines durch das leben 
gereiften paares ein : ein so warmer Sonnenschein 
emstheitrer wirklicher ehefreuden liegt über seinen 
glücklich vereinten ausgebreitet. Er scheint über 
die brausenden Wasserfalle der jugendleidenschaf- 
ten hinaus, in vollem klaren ströme befriedigt 
dahinzufliessen. Seine erhabene Sittlichkeit scheint 
von all den leiden nichts zu wissen, welche nach 
dem glücklichen Schlüsse der ehe und der novelle 
bei Antoine de la Säle erst anfangen. Oder 
vielmehr, er wusste es sehr gut, aber er wusste 
auch, dass es dennoch auf erden auch wahrhaft 
reine und glückliche ehen gebe und es war sein 
vorhaben, nur auf diese das augenmerk seiner 
darstellung zu richten, um seine mitbürger durch 
die sanfte Überredung der kunst zu diesem ziele 
hinzuleiten. Dass dies seine absieht war, spricht 
er, wie der chinesische novellist, ausdrücklich 
im Vorwort der Novelas ejemplares aus. — 
Aber die Vollständigkeit der dichtung, dieses 
spiegeis der weit, will, dass neben dem Cervan- 
tes auch Boccaz und La Säle ihr recht und 
ihren ehrenplatz finden. 

Das gemeinsam auszeichnende jener alten 
romanciers ist aber unserer chinesischen novelle 
eigen, der selbe treue künstlerische realismus bis 
ins kleinste detail der dinge, der selbe keusche 



DIE WELTLITERATUR 45 

einfache stil; mit dem Cervantes allein gemein 
ist ihr das innige familien- und pietätsgefühl, 
der hohe ethische geist, der über dem ganzen 
weht aber doch den buddhistischen inspira- 
tionen gemäss mehr eine abwendung von dem 
leben überhaupt predigt, während die novellen 
des Cervantes ganz und voll diesem leben an- 
gehören und nur aus dem Don Quixote wie ein 
femer leiser rührender klang die nichtigkeit aller 
menschlichen bestrebungen, leiden und freuden 
heraustönt. 

Es ist nur ein Schriftsteller, welcher den La 
Säle und Cervantes wunderbar vereinend, begabt 
mit jener tiefen intuition, welche in das herz 
der dinge, der gesellschaft, des herzens selber 
dringt, und zugleich erfüllt mit allem wissen, 
das der menschliche geist seit den tagen jener 
beiden grossen romandichter ersonnen und ge- 
funden — es ist Honorö de Balzac, welcher 
mit dem tiefen sittlichen ernste des erhabenen 
Spaniers und zugleich das rücksichtslose secir- 
messer des La Säle in der hand die sociale 
geschichte Frankreichs in der ersten hälfte des 
XIX. Jahrhunderts schrieb. Ihm zur seite ging 
George Sand, an eigentlicher poesie ihm viel- 
leicht überlegen, aber dadurch so viel niedriger 
als jener stehend, dass sie fortgerissen von dem 



46 WANDERUNG DURCH 

feurigen ströme ihrer Subjektivität das sociale 
problem doch in weiblicher einseitigkeit behan- 
delte. George Sand ist ganz und gar ein um- 
gekehrter La Säle, sie schrieb jenes buch, welches 
La Säle am ende der XV joies ankündigte: er 
könnte und wollte nun die leiden der ehefrauen 
schreiben, welche eben so gross, ja grösser 
seien, als alle die der männer, die er soeben 
geschildert — George Sand hat das getan, ihre 
romane geben uns das martyrologium der ehe- 
frauen. Ich rede hier nur vom socialen roman, 
ich spreche daher sowenig von La Petite Fadette, 
einem objektiven meisterwerk, als ich Walter 
Scott oder Dickens zur vergleichung heranziehe. 
Balzac steht hier ganz einzig da. Dieser er- 
staunliche geist hat weder in der deutschen, 
noch englischen, noch auch nur in seiner eignen 
literatur, von Rabelais herab, seines gleichen. 
Er kann als der Vollender des socialen romans 
gelten, deren erste anfange und entfaltungen uns 
in der indisch- chinesischen novelle entgegen- 
getreten sind. Conservativ, katholisch, ein 
priester der heiligkeit der ehe und darum ihr 
gegenteil in der Wirklichkeit mit den energi- 
schen färben der Wahrheit in entsetzlicher Viel- 
seitigkeit zeichnend, kurz, seiner nation in der 
Comödie humaine wie Dante in der Divina 



DIE WELTLITERATUR 4/ 

Commedia ihr eignes bild vorhaltend — starb 
er zu anfang des Empires unter der last der 
gigantischen arbeit seines universellen genies 
erliegend. Der jüngere Dumas konnte ihn trotz 
seines grossen talents nicht ersetzen; seit Bal- 
zacs tode siechte die blute der französischen 
literatur dahin, wie endlich auch der Staat selber 
von dem germanischen anprall zertrümmert wurde. 
Das deutsche volle scheint in vielem betracht jetzt 
das erste der weit, aber wir sollen uns doch 
nicht einbilden, dass wir in der schönen literatur 
und, um bei dem vorliegenden thema zu bleiben, 
dass wir in roman und novelle auch nur von 
ferne mit den romanischen völkem uns messen 
könnten! Wenn aber uns, die wir zwar den 
lorber der lyrischen dichtung und des rhyt- 
mischen epos errungen, die kunst des Boccaz, 
La Sale, Cervantes und Balzac beschämt so gut 
wie Shakespeare, Calderon und Moliere, so wollen 
wir andrerseits nicht vergessen, und dürfen dar- 
auf stolz sein, dass der hohe ethische geist, der 
über der novelle von der treulosen witwe ruht, 
auch heute noch der unsre ist, noch heute ein 
Tacitus von uns sagen könnte: Severa illic 
matrimonia. Und wir erinnern uns gern, dass 
der geniale französische Romantiker es war, 
welcher uns die Inder des Abendlandes nannte. 



48 WANDERUNG DURCH 

Und so wäre denn, nachdem wir aus langer 
politischer ohnmacht erwacht sind, zu hoffen, 
dass dieser altarische geist auch in der literatur 
neue bluten und fruchte zeitige! 



Wie sich schon aus dieser aphoristischen 
literaturbetrachtung ergiebt, rnuss das gefiihl 
für den socialen wert und die moralische be- 
deutsamkeit der ehe, für die innigkeit und 
unverletzHchkeit des ehebandes bei den ver- 
schiedenen nationen in sehr verschiedener stärke 
ausgebildet sein. Die treue bis in den tod, 
welche sich die jungen gatten zuschwören, ist 
in der tat sehr verschieden verstanden und be- 
wahrt worden. 

Kein volk hat die idee der ehelichen treue 
tiefer gefühlt, konsequenter durchdacht und zu- 
gleich praktisch verwirklicht als das indische. 
Bei ihm war die treue bis in den tod kein leeres 
wort, denn die gattin folgte dem gatten in den 
tod. Aus dem flammenden Scheiterhaufen, auf 
dem die witwe sich freudig neben den leich- 
nam ihres gatten bettete, erhebt sich wie ein 
phönix die unsterbliche idee der ehe. 

Wenn das liebste von uns genommen ist, 
so verschmäht die seele speise und trank: dieses 



DIE WELTLITERATUR 49 

natürliche geflihl trieben die tiefen, leidenschaft- 
lichen Inder zu seiner höchsten konsequenz und 
es ergab sich der tod der frau mit dem ge- 
liebten. Nicht auch umgekehrt des mannes mit 
der gattin. Denn die frau geht ganz auf in der 
Hebe und ehe, es ist ihre einzige bestimmung; 
der mann soll auch den grössten schmerz des 
lebens überwinden, um sein dasein in krieg, 
Wissenschaft und kunst würdig zu ende zu leben. 
Die witwe, zumal wenn sie keine kinder zu er- 
ziehen hat, ist nutz- und zwecklos auf der weit. 
Aber nur die edelsten naturen sind solch völliger 
Selbstaufopferung fähig, die gemeineren kinder 
dieser erde fangen am dritten tage wieder zu 
essen an und spätestens übers jähr schwören 
sie einem andern dieselbe ewige treue, die sie 
einst dem todten geschworen. Die Inder sorg- 
ten indess dafür, dass diese niedrigere gesinnung 
wenigstens nicht die idee der ehe selbst be- 
flecke: das gesetz verbot den witwen wieder zu 
heiraten. Die Selbstverbrennung aber war eine 
freiwillige und nur die öffentliche meinung strafte 
mit tiefster Verachtung die feigen liebhaberinnen 
des lebens um jeden preis, welche den tod des 
gatten zu überleben vermochten. „Die frau, 
die sich mit verbrennen Hess, hiess Sati, die 
gute. In der kurzen zeit zwischen ihrem ent- 

4 



so WANDERUNG DURCH 

schluss ujid dessen ausfuhrung wurde sie auf 
das höchste gefeiert. Ihrer ganzen familie brachte 
sie ehre." (Theodor Benfey, Indien, in Ersch 
und Grubers Encyclopädie, 1840.) 

Bei den Chinesen kommt zwar die witwen- 
verbrennung nicht vor; allein auch sie haben 
einen ungemein zarten Familiensinn und die pietät 
zwischen eitern und kindern, wie zwischen den 
ehegatten tritt in ihrem socialen leben hochbe- 
deutsam' hervor. Wie sie den Buddhismus von 
Indien empfingen, so zeigen sie sich auch in 
ihrer ansieht von der ehe den Indern nahe- 
stehend und wahlverwandt. 

Nur noch ein arisches volk, von derselben 
tiefen idee beseelt, dass die ehe nur einmal ge- 
schlossen werde und in Wahrheit eine Verbindung 
für leben und tod sei, ist hierin zu derselben 
tödtlichen konsequenz wie die Inder fortge- 
schritten: es ist das russische Volk. Ralston in 
seinem eben erschienenen buche The Songs of 
the Russian people. (London 1872) führt von 
p. 309 — 345 todtenlieder auf, die bei der ehe- 
maligen Selbstverbrennung der witwen gesungen 
wurden. Die Russen zeigen noch heute ein 
viel innigeres familiengefiihl, überhaupt viel 
tieferes gefiihl, als irgend eine andere euro- 
päische nation. 



DIE WELTLITERATUR 51 

Aber auch die Germanen haben ihre indische 
abkunft nicht verleugnet. Den Römer Tacitus 
verwundert es aufs höchste, welche Stellung die 
frau bei den Germanen einnahm. „Tnesse quin 
etiam sanctum aliquid et providum putant nee 
aut consilia earum aspernantur aut responsa 
negligunt." Germania c. 8. Etwas heiliges und 
ahndungsvolles, weissagendes sähen die Deut- 
schen im weibe und sie horchten auf ihren rat 
und ihre ausspräche. Die römischen frauen 
waren dagegen wie die griechischen und orien- 
talischen mehr oder minder nur die obersten 
haussklavinnen. Nur die starre römische lega- 
lität, nicht die innige durchdringung mit der 
höchsten idee der liebe und ehe hatte die römi- 
schen ehen heilig gehalten. Als unter dem kaiser- 
reich jene altrömische rigorosität mehr und mehr 
in Weichlichkeit und Üppigkeit unterging, locker- 
ten sich auch die ehebande, und Tacitus hielt 
daher der sittenlosen hauptstadt das bild der 
germanischen ehen warnend und strafend vor: 

„Severa illic matrimonia, nee uUam morum 
partem magis laudaveris; nam prope soli bar- 
barorum singulis uxoribus contenti sunt. Dotem 
non uxor marito, sed uxori maritus offert.... 
non ad delicias muliebres quaesita nee quibus 

4* 



52 WANDERUNG DURCH 

nova nupta comatur, sed boves et penatum 
equum et scutum cum framea gladioque . . . at- 
que invicem ipsa (näml. uxor) armorum aliquid 
viro affert . . . . ne se mulier extra virtutum cogi- 
tationes extraque bellorum casus putet, ipsis 
incipientis matrimonii auspiciis admonetur, venire 
se laborum periculorumque sociam, idem in 
pace, idem in proelio passuram ausuramque, hoc 
juncti boves, hoc paratus equus, hoc data arma 
denuntiant: sie vivendum, sie. pereundum,'* 
(Cap. i8. 1. c.) 

„Paucissima in tarn numerosa gente adulteria, 
quorum poena praesens et maritis permissa: 
abscisis crinibus, nudatam, coram propinquis ex- 
pellit domo maritus ac per omnem vicum verbere 
agit; publicatae enim pudicitiae nuUa venia: 
non forma, non aetate, non opibus maritum in- 
venerit; nemo enim illic vitia ridet nee corrum- 
pere et corrumpi saeculum vocatur. Melius 
quidem adhuc eae civitates, in quibus tan- 
tum virgines nubunt et cum ope votoque uxoris 
semel transigitur: sie unum accipiunt maritum 
quomodo unum corpus unamque vitam .... plus- 
que ibi boni mores valent quam alibi bonae 
leges." (c. 19. 1. c.) 



DIE WELTLITERATUR 53 

„Stniem rogi nee vestibus nee odoribus cumu- 
lant: sua cuique arma quorundam igni et equus 
adjicitur . . . Lamenta ac lacrimas cito, dolorem 
et tristitiam tarde ponunt; feminis lugere hone- 
stum est, viris meminisse" (c. 27. 1 e.) 

Wir ersehen aus dieser darstellung für unsem 
zweck vor allen, dass auch bei den Germanen 
nur die Jungfrauen heirateten, also nicht die 
Witwen und noch weniger die geschiedenen, 
wegen eines fehltritts verstossenen frauen, die 
weder durch Jugend, noch Schönheit, noch reich- 
tum einen neuen mann bekamen. Semel trans- 
igitur cum voto uxoris: nur einmal wird das 
ehegelübde ausgesprochen. Wir sehen aber 
auch, dass die idee der ehe als Verbindung für 
tod und leben von Tacitus betont wird: sie 
vivendum, sie pereundum. Die frau folgt dem 
manne in die schlacht und also in den tod. 

Von der witwenverbrennung ist freilich keine 
rede. Nur das treue pferd wird auf dem Scheiter- 
haufen des germanischen kriegers mitverbrannt. 
„Es lag" sagt Rochholz (Deutscher Glaube und 
Brauch im Spiegel der heidnischen Vorzeit. 
Berlin 1867 Band I, 154) „im zwecke der heid- 
nischen todtenbestattung mit dem hingeschiede- 
nen alles ihm werte und eigene mit zu ver- 



54 WANDERUNG DURCH 

tilgen und ihm in den tod nachzusenden." So 
hingen an Siegfrieds und Brünhilds Scheiter- 
haufen zu häupten ihre beizvögel, zwei habichte. 
In den aufgeschlossenen hünengräbem fand man 
ausser den waffen, dem pferde und dem stoss- 
vogel, auch den treuen hund, der seinem herm 
in den tod gefolgt. Ja, die thiere empfinden 
den tod des geliebten eigners. Die eddische 
Gudrun erzählt von Grani, dem rosse Sigurds: 

Gramvoll ging ich mit Grani reden 

befragte das pferd mit feuchter wange, 

da senkte Grani ins gras das haupt, 

wol wusste der hengst sein herr sei todt. 

Und wenn auch nicht von rossen, so ist es 
doch von hunden beglaubigt, dass sie aus gram 
um ihren verstorbenen herren freiwillig sich zu 
tode hungerten. Zweck- und nutzlos scheinen 
sie sich auf der weit, wenn die geliebte stimme 
des herrn sie nicht mehr ruft. Diese zweck- 
und nutzlosigkeit der todten dinge selbst, die 
beim tode des besitzers sich unwillkürlich und 
gewaltsam aufdrängt, ist eben der grund, warum 
die naturvölker all diese gegenstände auf dem 
Scheiterhaufen mit verbrennen oder ins grab mit 
hinabsenken. Nur dem todten hat das alles ge- 
hört, es hat ihm gleichsam treue geschworen 



DIE WELTLITERATUR 55 

und will und soll nicht von ihm lassen. Es 
ist ein stück von ihm. 

Rührend erzählt die legende von jenem 
hündlein, welches den zum tode geweihten sieben 
christenbrüdem in die höhle folgte, die die heiden 
hinter ihnen vermauerten. Das hündlein der 
Siebenschläfer wird noch heute in der russischen 
Idrche verehrt. 

Und wie viel mehr als diese leblosen oder 
unvernünftigen dinge gehört die gattin dem 
gatten an! Wie möchte sie sich einem andern, 
ja überhaupt nur der weit und dem leben wieder 
zuwenden und hingeben! Wie möchte sie zu- 
rückbleiben wenn der gatte in das unbekannte 
land gegangen, von wo kein wandrer wieder- 
kehrt, wenn der tod die höhle hinter ihm ver- 
mauert! Mit dem tode des geliebten muss sie 
der reinen und strengen idee nach selbst zu 
leben aufhören. 

Was aber die Inder im leben verwirklicht, 
das stellten die Germanen wenigstens in der 
göttermythe als leuchtendes symbol hin. Von 
der Walküre heisst es: „sie wandelt sich, so- 
bald die geläuterte empfindung des menschen 
nach inhalts- und seelenvolleren göttem ver- 
langt, in eine himmlische schildjungfrau um, die 
nicht blos im himrpel mjt den Tbur^en und 



56 WANDERUNG DURCH 

riesen zwecklos kämpft, sondern die sich unter 
den beiden des landes einen freund erwählet, 
ihn als schutzgeist in allen gefahren umschwebt 
und in seiner letzten unabwendbaren not, auf 
ihre eigne Unsterblichkeit verzichtend, selber den 
tod mit ihm teilt. Das Germanenweib, das 
beim ehebündnis das gelübde eingeht mit ihrem 
manne zu leben und zu sterben, hatte sich in 
diesem eben entworfenen bilde der himmlischen 
Schildjungfrauen selbst abgezeichnet." (Roch- 
holz II, 290). 

Wie schon die Römer und Griechen, so 
stehen die romanischen Völker in einem noch 
mehr ausgeprägten gegensatz gegen diese in- 
disch-germanische anschauung von der ehelichen 
treue. Einen der hervorragendsten historischen 
gründe für diese erscheinung hat Jacob Burck- 
hardt in seiner „Cultur der Renaissance (1860, 
I. Aufl. p. 440) angegeben, wo er von der ita- 
lienischen und französischen novellenmoral han- 
delt. „Das recht des gemahls auf die treue der 
frau hat hier nicht denjenigen festen boden, den 
es bei den Nordländern durch die poesie und 
leidenschaft der Werbung und des brautstandes 
gewinnt; nach flüchtigster bekanntschaft, un- 
mittelbar aus dem elterlichen oder klösterlichen 
gewahrsam tritt die junge frau in die weit, und 



DIE WELTLITERATUR 5/ 

nun erst bildet sich ihre individualität ungemein 
schnell aus. Hauptsächlich deshalb ist jenes 
recht des gatten nur ein sehr bedingtes . . be- 
zieht sich nicht auf das herz." 

Nach dieser flüchtigen Übersicht über die 
Würdigung der ehe bei den verschiedenen kul- 
turvölkem gehen wir an die betrachtung der 
verschiedenen redactionen, welche speciell der 
gegenwärtige kleine eheroman, als spiegel jener 
nationalanschauungen, im laufe der zeit bei den 
Völkern erfahren hat. 

Was zunächst die chinesische redaction der 
novelle anlangt, so wurde sie zuerst mitgeteilt 
in dem buche: Description g^ographique, histo- 
rique etc. de Tempire de la Chine et de la 
Tartarie Chinoise. Par le P. J. B. du Halde de 
la compagnie de J&us. Nouv. Edition ä la 
Haye 1736. Nach der approbation des Jesuiten- 
provincials dd. Paris i. avril 1733 zu schliessen 
wird die erste Pariser ausgäbe 1733 erschienen 
sein. Ich kenne nur den im Haag veranstalte- 
ten nachdruck, nach welchem auch eine 1747 
zu Rostock herausgekommene deutsche Über- 
setzung gemacht wurde. Die nov^Ue steht im 
tome ni, p. 401—416, ist aber nicht von du 
Halde selbst, sondern vom pater Dentrecolles 
ins französische übertragen. Wiederholt wurde 



58 WANDERUNG DURCH 

sie „avec quelques changements" im Journal 
Etranger 1755. Femer in dem buche „Satire 
de Petrone. Par le citoyen D*****.« Paris 1803. 
Endlich in den „Contes chinois traduits par 
MM. Davis, Thoms, le P. DentrecoUes etc. 
puplies par Abel Remusat" Paris 1827. vol. III 
N^ 3 „La Matrone du pays de Soung." Der 
französische Jesuitenmissionär hatte die erzählung 
aus der chinesischen novellensammlung Kin-ku- 
ke-kwan, einem in zwölf abschnitte (keuen) zer- 
fallenden buche übersetzt, über dessen abfas* 
sungszeit ich nirgend etwas gefunden habe. 
Nur ergibt sich aus dem vorkommen der be- 
rühmten formel „die drei religionen sind eins", 
dass die novelle jedenfalls erst lange nach der 
einführung des Buddhismus entstanden ist. 

Nach dieser französischen Übertragung wird 
die novelle denn in Dunlops bekanntem werke 
über die prosadichtungen (aus dem englischen 
übertragen und vielfach vermehrt und berichtigt 
von F. Liebrecht Berlin 1851) citirt und be- 
merkt der deutsche herausgeber dazu p. 523: 
„In diesen novellen wird auch der leser nicht, 
wie sonst oft, durch zu häufige anspielungen 
auf erklärung bedürfende sitten u. s. w. in dem 
gesammtgenusse des ganzen gehemmt." Ich 
kann nicht finden, dass dies eben ein lob ist: 



DIE WELTLITERATUR 59 

grade im roman, der ein Spiegelbild nationaler 
sitte sein soll, müssen, je vollkommner er seiner 
aufgäbe gerecht werden will, um so mehr von 
jenen tausend faden nationaler eigentümlichkeit, 
sitte, Sittlichkeit und unsittlichkeit eingewebt 
sein, welche wieder bei jedem volke bis zur 
gegenseitigen unverständlichkeit verschieden sein 
können. Jenes zweifelhafte lob rührt nun aber 
im gegenwärtigen falle nur von der beschaffen- 
heit der französischen Übersetzung her, die 
Dunlop-Liebrecht allein kannte. 

Zum glück haben wir aber seitdem eine 
neue wiedergäbe dieser wegen ihrer Schicksale 
wie ihres wertes vorzüglichsten novelle des Kin- 
ku-ke-kwan erhalten, welche ein ungenannter 
Engländer im Asiatic Journal von 1840 unter 
dem Titel „The impatient widow" veröffentlichte. 
Auch ohne kenntnis des chinesischen urtextes 
ergibt eine vergleichung des Franzosen mit dem 
Engländer sofort, dass jener nur eine glatte, 
lückenhafte, grade das nationale gepräge ver- 
wischende paraphrase; dieser offenbar eine treue, 
fast interlineare Übersetzung gegeben hat, wie 
er das in dem kurzen einleitenden bericht auch 
ausdrücklich versichert. Der Franzose hat sich 
hier dem chinesischen autor gegenüber unge- 
fähr benommen, wie Voltaire und noch mehr 



Co WANDERUNG DURCH 

die späteren Übersetzer (vor den Romantikem) 
dem Shakespeare gegenüber, nach jenem Goethe'- 
schen recepte nämlich 

y^Musst all die garstgen Wörter mindern,^ 
Unter den garstigen Wörtern versteht der frühere 
französische und leider jetzt auch deutsche falsche 
idealismus aber alles was an die „unschöne Wirk- 
lichkeit" nur erinnern konnte, alle kühnen aus- 
brüche des poetischen realismus, an denen 
Shakespeare grade so reich ist. Diese parti- 
sane des siecle Louis XIV haben die tarte ä 
la creme des grossen Moli^re vergessen, und 
finden nur ihren Racine nachahmenswürdig, der 
1697 die ratte (rat) aus seinem wappen strich, 
um hinfort nur den poetischen schwan (cygne) 
als ein anständiges dichterisches thier darin 
weiter zu führen! Glücklicherweise haben die 
französischen Romantiker zu dem ächten Shake- 
speare hin und zu Moliere, Rabelais, La Säle, 
Villon und dem Autor des Pathelin zurückge- 
führt. 

Die wie es scheint ganz unbekannt gebliebene 
treffliche englische arbeit ist im vorstehenden 
so treu wie möglich der deutschen spräche an- 
geeignet worden. 

Dass nun die quelle der treulosen witwe in 
Indien zu suchen sei, ergibt sich grade aus 



DIE WELTLITERATUR 6l 

unsrer chinesischen redaction derselben sofort. 
Gleich im eingang wird die Seelenwanderung 
des helden, gleichsam als seine Vorgeschichte, 
erzählt; und auch die ihm später beigelegte 
fahigkeit, in andern gestalten zu erscheinen, 
weist auf die Vorstellung von der metempsy- 
chose hin. Diese tiefe feonception ist aber so 
originell indisch, dass überall, wo sie in einer 
fabel oder novelle auftritt, damit deren indische 
abkunft dokumentirt wird. 

Auch Theodor Benfey bemerkt im „Pant- 
scha tantra. Fünf bücher indischer fabeln, mär- 
chen und erzählungen (1859) I, 460 : „das vor- 
kommen unsrer erzählung im mohamedanischen 
Orient und selbst in China, wohin so viel 
buddhistisches gedrungen ist, erweckt den ver- 
dacht, dass ihre eigentliche heimat in der mitte, 
in Indien, zu suchen sei. Allein ich kenne 
keine indische darstellung, an die wir sie in 
ihrer besonderheit anzuschliessen vermöchten." 
In einer brieflichen mitteilung vom 3. februar 
1872 bestätigte der genannte gelehrte diese 
stelle seines buches. 

Nun hatte aber schon Loiseleur Deslong- 
champs in seinem „Essai sur les fables in- 
diennes et sur leur introduction en Europe" 
(1838) die vermisste indische quelle nachge- 



62 WANDERUNG DURCH 

wiesen. Es ist die geschichte der Dhumini in 
dem sanskritroman Dasa-kumära-tscharita. Ein 
auszug im sanskrit ist hinter Colebrookes Hito 
padesa - ausgäbe zu Serampur 1804 publicirt 
worden und ebenso bruchstücke einer englischen 
Übersetzung unter dem titel „The adventures 
of the ten youths" im Quarterly oriental Maga- 
zine. Calcutta 1826. 1827. vol. VI — VIII. 
Beides hat Loiseleur eingesehen und erklärt 
demzufolge p. 162 note 1. c, wo er von unsrer 
novelle handelt: „Le conte du Tailleur et de sa 
femme dans THistoire de la Sultane de Perse 
et des Vizirs traduite du turc par Petis de La- 
croix et celui de Dhumini dans le Dasa-kumära- 
tscharita se rattachent peut-etre encore ä cette 
fiction"; und p. 174 „L'histoire du Tailleur et 
de sa femme offre beaucoup d'analogie avec 
Celle de Dhumini dans le poeme indien." 

Adelung, bibliotheca Sanskrita (2. Auflage 
St. Petersburg 1837) führt auch eine englische 
Übersetzung jenes auszugs des Kumaratscharita 
an, welche 1084 (muss heissen 1804) zu Seram- 
pur „in Careys ausgäbe des Hitopadesa** er- 
schienen sei. Die ebenerwähnte Colebrooke'sche 
ausgäbe von 1804 hat nun aber Carey grade 
besorgt: die Übersetzung habe ich aber nicht 
darin angetroffen. Nach jenem russischen biblio- 



DIE WELTLITERATUR Ö3 

graphen schienen die auszüge der Oriental 
Review auch im Asiatic Journal 1828 wieder- 
holt zu sein. Es ist aber hier nur eine ge- 
schichte aus dem Kumaratscharita mitgeteilt, 
auch ein eheroman, die hochromantische ver- 
fiihrungsgeschichte einer frau durch einen brah- 
manen. 

Der geschichte der Dhumini konnte ich selbst 
leider nicht habhaft werden und begnüge mich 
daher zunächst die türkische erzählung, womit 
sie nach Loiseleur so viel analogie haben soll, 
hier herzusetzen u. z. nach A. Kellers Ein- 
leitung zu seiner ausgäbe der Sept sages. Die 
türkische novelle ist enthalten in dem roman 
„die vierzig veziere", welchen ein türkischer autor 
unter Amurad II (1422—1451) schrieb, seiner 
angäbe nach eine bearbeitung des arabischen 
römans „Buch der vierzig morgen und abende" 
von Scheik-Zadö. 

Ein Schneider weicht, dem gegenseitigen 
versprechen gemäss, nicht von dem grabe seiner 
frau Gülendam. Er hat sie so geliebt, dass er 
nun hier sterben will. Aber der profet Aysa 
erweckt sie von den todten. Eilends geht der 
mann, um ihre kleider zu holen, aber während 
seiner abwesenheit folgt sie dem grade vorüber- 
gehenden prinzen in dessen harem. Der gatte 



64 WANDERUNG DURCH 

erfährt dies später und fordert sein weib zu- 
rück. Sie aber erklärt: er sei ein räuber der 
sie ausgeplündert und dann lebendig begraben 
habe. Der prinz will den Schneider aufknüpfen 
lassen, als der profet erscheint, ihn rechtfertigt 
und alles aufklärt. Nun kommt das treulose 
weib an den galgen. 

Wir erkennen in der tat in dieser türkischen, 
oder vielmehr arabischen erzählung — denn 
auch in der looi nacht (555. und 556. nacht) 
wird dieselbe geschichte von einem seidenhänd- 
1er und seiner frau Adileh erzählt — alle de- 
mente unsrer chinesischen novelle wieder. Eine 
sonderbare umkehrung ist es, dass hier der 
mann von seiner begrabenen frau nicht lassen 
will, wie dort die frau im prunkgemach des 
hauses an seiner leiche täglich weinte und 
klagte. Wie nun in der chinesischen novelle 
der mann wieder zum leben ei-wacht, um sein 
treuloses weib zu richten: so wird in der in- 
disch-arabischen die frau wieder belebt, und 
man sollte meinen, dass nun des treuen mannes 
höchster wünsch erfüllt worden. Aber jetzt 
beginnt hier erst das lied von der weiberun- 
treue, der eigentliche zweck der novelle. Sie 
will ihren lebenden mann an den galgen bringen, 
um des geliebten prinzen willen; wie die chine- 



DIE WELTLITERATUR 6$ 

sische frau dem todten das haupt spalten will, 
um den lebenden vom tode zu retten. 

Unendlich viel poetischer ist die chinesische 
novelle in allen ihren details und jener tiefe 
sittliche geist der Inder ist es, welcher die treu- 
lose Tien-sche für eine handlung den tod leiden 
lässt, die einer hausbackenen moral gar nicht 
so todeswürdig vorkommen mag. Dass dagegen 
die Gülendam von henkershand an denselben 
galgen geknüpft wird, an den sie ihren mann 
hatte bringen wollen, ist sogar schon dem Straf- 
gesetzbuch gemäss : nur das feinste sittiiche 
und künstlerische gefiihl aber konnte die chine- 
sische geschichte mit dem Selbstmord der heldin 
schliessen. 

Erkennen wir also in der arabischen version 
auch eine Variation desselben grundmotives 
wieder, so möchte ich doch, angenommen dass 
die geschichte von Dhumini mit der arabischen 
im wesentlichen übereinstimmt, diese quelle nicht 
als die einzige indische für unsre chinesische 
novelle ansehn. Dazu kommt, dass über das 
alter des Dasa-kumära-tscharita, oder wenigstens 
der zu Serampur publicirten fassung des romans 
sehr verschiedene ansichten herrschen. Cole- 
brooke in den Introductory Remarks zu seiner 
sanskritausgabe nennt den roman „the cele- 

5 



66 WANDERUNG DURCH 

brated poem of Dandi" und sagt von diesem: 
„this distinguished poet, famous above all other 
Indien bards for the sweetness of bis language 
and therefore ranked by Calidasa himself (if 
tradition may be credited) next to the fathers 
of Indian poetry, Valmici and Vyasa, composed 
a pleasing story in harmonious verse under the 
title of Dasa Cumära tscharita or adventures of 
the ten youths." F. v. Bohlen aber erklärt 
diesen sanskritroman, den er aber auch nur in 
dem von Colebrooke publicirten auszuge ge- 
kannt zu haben scheint, für sehr späten Ur- 
sprungs. 

Das vorkommen der Dhuminiepisode in dem 
roman beweist uns zwar auch, im fall dass Bohlen 
recht hätte, die ursprünglich indische idee der 
novelle, wir würden dann darin aber nur eine 
spätere abgeschwächte redaction derselben haben, 
während die chinesische offenbar ihrer ächteft 
indischen mutter ungleich näher steht. Nur die 
tiefe indische ehemoral konnte an einer witwe, 
welche also doch nur dem todten die treue ge- 
brochen, diesen ihren posthumen ehebruch den- 
noch mit dem tode ahnden. Denn eigentlich 
durfte ja die witwe den tod des mannes über- 
haupt nicht überleben. Dass sie sich zugleich 
an dem leichnam vergehen wollte, erscheint 



DIE WELTLITERATUR 67 

hiebe! nur zu einem untergeordneten moment 
herabgesetzt, ist nur ein besonders flagrantes 
Symptom der treulosigkeit. Wir werden sehen, 
dass die weniger fein fühlenden Völker grade 
auf die leichenverstümmlung den grössten nach- 
druck legen, als wenn die brutalen tatsachen 
strafwürdiger wären, als die noch nicht ver- 
körperten gedanken der sünde. Eine acht in- 
dische Vorstellung liegt dagegen noch Christi 
Worten zu gründe: wer ein weib ansieht ihrer 
zu begehren, der hat schon mit ihr die ehe ge- 
brochen! 

Von der indisch -chinesischen grundform 
kommen wir mit einem ungeheuren Sprunge 
sogleich zu einer äusserst heterogenen und doch 
sicherlich genetisch verbundenen gestaltung 
unsres Stoffes, in der die geschichte am alier- 
bekanntesten geworden ist: zu der Matrone von 
Ephesus des Petronius. 

Im uns erhaltenen iii. und 112. capitel 
seines romans lässt Petron den Eumolpus auf 
einem nach Tarent fahrenden schiffe diese er- 
zählung zum besten geben. 

Eine matrone in Ephesus wollte sich über 
den tod ihres Gemahls gar nicht trösten lassen 
und zufrieden geben. 

. . . „Non contenta vu^ari more, funus passis 

5* 



68 WANDERUNG DURCH 

prosequi crinibus etc. in conditorium etiam pro- 
secuta est defunctum, non parentes potuerunt 
mortem inedia persequentem abducere, non 
propinqui; magistratus ultimo repulsi .... quin- 
tum iam diem sine alimento trahebat." 

Mit ihr war nur eine treue magd. 

Inzwischen „imperator provinciae latrones 
crucibus iussit adfigi secundum illam eandem 
casulam. Der „miles, qui cruces adservabat", 
sah „lumen inter monimenta et gemitum audit 
und kommt aus neugier (»vitio gentis humanae 
concupiit scire quis aut quid faceret") heran. 

Sobald er die läge der sache sah, „cenulam 
suam in monumentum adtulit coepitque hortari 
lugentem, ne perseveraret in dolore supervacuo ac 
nihil profuturo: omnium eundem esse exitum 
et idem domicilium, et cetera quib. exulceratae 
mentes ad sanitat. revocantur. 

Aber sie will nicht hören und erst als die 
magd „vini certe odore corrupta" sich satt ge- 
gessen, überredet diese ihre herrin unter andern 
auch durch ein citat: „id cinerem aut manes 
credis curare sepultos?" „ipsum te jacentis corpus 
ammovere debet ut vivas" Nemo invitus audit, 
fährt der erzähler fort, cum cogitur aut cibum 

sumere aut vivere ceterum scitis quid 

plerumque soleat temptare humanam satietatem : 



DIE WELTLITERATUR 69 

miles aggressus est mit denselben blanditiis wie 
vorher ihren entschluss, so jetzt pudicitiam eius 
und „conciliante gratiam ancilla . subinde di- 
cente: 

„Placitone etiam pugnabis amori?" . . ne 
hanc quidem partem corporis muHer abstinuit" 

So lebten sie drei nachte zusammen prae- 
clusis conditorii foribus, sodass die vorüber- 
gehenden glauben mussten, auch die frau sei 
nun gestorben. 

Der miles kaufte nach kräften seines geld- 
beutels nahrungsmittel. Da bemerkt er plötz- 
lich dass unius cruciarii parentes den körper 
geraubt und will sich nun tödten „nee expec- 
taturum se judicis sententiam." 

Aber mulier non minus misericors quam 
pudica: „ne istud dei sinant, ut eodem tempore 
duorum mihi carissimor. homin. duo funera 
spectem. malo mortuum impendere quam vivum 
occidere; usus est miles ingenio prudentissimae 
feminae, posteroque die populus miratus est, 
qua ratione mortuus isset in crucem." 

Hier endet die erzählung. Im folgenden kapitel 
(113) wird die Wirkung derselben auf die Zu- 
hörer geschildert. Die buhlerin Tryphaena wird 
rot „non mediocriter" über diese erzählung 



70 WANDERUNG DURCH 

und verbirgt ihr gesicht super cervicem Gito- 
nis. Lichas aber der schiffskapitän, sagt wenn 
der Kaiser gerecht gewesen wäre, so hätte er 
„patris familiae corpus" in das grabmal zurück- 
gebracht, das weib aber an das kreuz schlagen 
lassen „mulierem cruci adfligere." — 

Der französische Academiker Darier hat in 
dieser episode des Petron ein altes milesisches 
märchen vermutet, worauf die lokalisirung — Ephe- 
sus — ja von selbst zu weisen schien. Da indessen 
diese milesischen und sybaritischen novellen, 
von deren lateinischer Übersetzung noch der 
Partherfurst Surenna im lager des geschlagenen 
Crassus exemplare vorfand, für uns verloren ge- 
gangen sind, so lässt sich diese frage nicht 
sicher entscheiden. Petronius giebt auch keine 
andeutung woher er den stoff entnommen, un- 
gleich dem Apuleius, der seinen roman aus- 
drücklich als sermo Milesius bezeichnet. Dass 
indessen Petron nicht ihr originaler erfinder ge- 
wesen, steht für uns, die wir die indisch-chine- 
sische und auch schon eine wenn auch späte 
arabische Version kennen, fest und so werden 
denn auch wol in diesem falle die kleinasiati- 
schen küstenstädte die Vermittlerrolle zwischen 
Orient und ocrident gespielt haben. Derselbe 
Dacier machte auch in seinem „Examen de 



DIE WELTLITERATUR 71 

rhistoire de la matrone d'Eph^se. Lu le 20. 
juin 1773 (Memoires de Tacad. Paris. 1780 p. 523 
seq.) auf ein basrelief aufmerksam, das bei 
Dandre Bardon, Costume des Grecs et des 
Romains 11. cahier abgebildet ist und unzweifel- 
haft die geschichte des Petronius darstellt. 
Dasselbe wurde in den trümmern von Neros 
goldnem hause in Rom entdeckt. Bei der be- 
ziehung, in der der Verfasser des Satyricon zum 
kaiser gestanden haben soll, könnte man hierin 
eine illustration zu der durch Petron populär 
gewordenen historie sehen, ungefähr wie Kaul- 
bach allerlei dichtungen von Goethe illustrirt. — 
Dass die Römer solche dauerhafte marmorne 
illustrationen ihrer autoren liebten, beweist 
übrigens das in meiner skizze der parodielite- 
ratur erwähnte relief zum Virgil. 

Andrerseits könnte dies basrelief, dessen ent- 
stehungszeit mit Sicherheit bisjetzt nicht be- 
stimmt ist, recht wol höheren alters sein und 
würde dann als ein weiterer beweis dafür dienen, 
dass Petronius nur eine gangbare historie in 
seinen roman in neuer form verflochten habe. 

Lehrreicher als die Untersuchung, auf welchen 
wegen und umwegen die morgenländische fabel 
dazu kam, plötzlich in der hauptstadt des 
abendländischen Weltreichs aufzutauchen, an den 



72 WANDERUNG DURCH 

schwelgerischen tafeln des kaisers in später 
klassisch gewordener prosa recitirt und an den 
wänden seines lieblingspallastes als ewiges kunst- 
werk aufgehängt zu werden — wichtiger ist uns 
zu sehn, was der Römer aus ihr gemacht hat 
Wie in der arabischen version aus dem 
chinesischen hochgebildeten philosophen, dem 
könige ihre töchter gaben, ein Schneider oder 
Seidenhändler und die moral eine ziemlich 
gewöhnliche geworden war, so ist die Sphäre, 
in die Petron seine geschichte verlegt hat, die 
der römischen wachtstube. Sie ist unter seinen 
bänden zu einem Soldatenabenteuer geworden. 
Ich sage nichts gegen die art seiner darstellung: 
da ist kein wort zu viel, äjles prägnant, lapi- 
darisch, anschaulich, vortrefflich, ein kleines 
meisterwerk, aber völlig niederländischer schule, 
während über der chinesischen novelle eine 
zarte sittliche grazie schwebt, ein hauch wie 
über den bildern Giottos und Fiesoles. Der 
chinesische erzähler ist gewiss ganz ebenso 
realistisch zu werke gegangen, er hat sich nicht 
gescheut, auch die krassesten dinge einfach 
natürlich zu erzählen, aber er ist doch ein 
grösserer poet als dieser Römer. Er versteht 
es uns die rührung mitzuteilen, welche Chwang- 
säng empfindet, als er an der leiche seiner er- 



DIE WELTLITERATUR 73 

hängten frau seine flöte in stücken bricht und das 
haus, wo er mit ihr gelebt, in brand steckt mit- 
sammt ihrem sarge. Einen so tiefen poetischen 
eindruck vermag Petron nicht zu erwecken. Im 
einzelnen sind der Übereinstimmungen wie der 
merkwürdigen abweichungen der römischen und 
indisch-chinesischen Version gar manche. 

Von dem verstorbnen gemahle, der bei dem 
Chinesen die hauptroUe spielt, erfahren wir bei 
Petron nichts, hier agirt er nur als leichnam mit. 
Der Soldat, der die trauernde witwe tröstet, ist 
eine wirkliche dritte person, grade wie der prinz 
in der arabischen version, den die wiederaufer- 
standene witwe ihrem wirklichen gemahle vor- 
zieht. Von dem tiefsinnigen zuge des Chinesen, 
welcher jede dritte person ausschliessend das 
ehedrama nur allein zwischen den beiden ehe- 
leuten abspielen lässt und indem die witwe nur 
einem schattenbilde gegenüber untreu wurde, so 
gleichsam nur eine sünde in gedanken bestraft 
wird — ist bei dem Römer jede spur verwischt. 
Die idee der metempsychose und was damit zu- 
sammenhängt ist auf der weiten Wanderung der 
novelle völlig abhanden gekommen. Neu musste 
eben deshalb auch die Verwendung des todten 
körpers zu gunsten des lebenden erfunden werden. 
Wie bei dem Chinesen das gehim des scheinbar 



74 WANDERUNG DURCH 

todten als medicin für den todtkranken lebenden 
gebraucht werden sollte, so muss bei dem Römer 
der ganze leichnam als Heilmittel für den mit dem 
tod bedrohten lebendigen geliebten schmählich 
sich gebrauchen lassen. In beiden fällen räsonnirt 
eine leichtfertige moral: was nützt den todten ihr 
körper? kann ein lebender dadurch gerettet wer- 
den, dann spalte dem todten die himschale oder 
hänge ihn getrost an den galgen! 

Aber auch Petronius lässt den entschluss der 
witwe, ihren gatten an den galgen zu bringen, 
doch nicht hingehen ohne ihr einen hieb dafür 
zu versetzen. Non minus misericors quam pudica 
sagt er mit feiner ironie. Jedenfalls aber haben 
wir bei ihm wieder die vollbrachte leichenschän- 
dung, wie vorher den consummirten ehebruch, bei 
dem Chinesen kommt es nur zu dem versuche. 
Und dennoch kann sich der Römer nicht zu dem 
tragischen abschluss seiner geschichte erheben, 
obwol selbst eine Tryphaena über die erzählung 
erröten muss. Die einzige erinnerung an die 
altrömische sittenstrenge liegt in den Worten 
des schiffscapitäns , dessen empörung sich in 
dem gebrauch jenes altgeheiligten ausdrucks 
„pater-familias" kundgiebt. Diese soldatendime 
bleibt am leben und der körper des pater familias 
baumelt am galgen ! — 



DIE WELTLITERATUR 75 

Weit entfernt, dass wir hier in eine stets ver- 
derbliche Vermischung von moral und aesthetik 
gerieten, kann uns grade diese Petronische Be- 
handlung eines an sich moralischen sujets be- 
weisen, dass das kunstwerk sich seines grössten 
ächtesten eindrucks beraubt, wenn es mit den 
ewigen ideen der moral sich in Widerspruch zu 
setzen wagt. Petron, indem er der moral seiner 
novelle die tragische spitze abbrach, hat damit 
das kunstwerk selbst zu einer blossen socialen 
Studie herabgesetzt, zu einer geistreich erzählten 
anekdote, zu einem lustigen unterhaltungsstück, 
als welches es ja auch in der tat auf dem taren- 
tiner schiffe aufgetischt wurde. Bei dem indisch- 
chinesischen dichter waltet von anfang bis zu ende 
die einheit der künstlerischen idee, alles hat zug, 
streben, beziehung auf das eine tragische ziel, es 
ist die schlänge, die sich in den schwänz beisst, 
das Symbol der ewigkeit und der kunst Bei 
Petron läuft das ende nicht in den anfang zurück, 
die geschichte verläuft im sande, wie der Rhein 
in Holland. 

Mit dieser blos anekdotenhaften wiedergäbe 
der Wirklichkeit, ohne die zu gründe liegende idee 
anschaulich zu erfassen und konsequent zu ende 
zu denken, aus zahllosen andern fällen den einen 
konkreten fall zu ergänzen, zu korrigiren, erst in 



76 WANDERUNG DURCH 

sein richtiges licht zu setzen, mit dieser blossen 
kopie des einmal vorgefallenen begnügen sich 
auch in der weiteren literaturentwicklung die 
romanischen novellisten sehr oft, selbst Boccaz, 
und der autor des französischen Decamerons 
(nämlich der C nouvelles nicht etwa der Contes de 
la Reine) Antoine de la Säle. Der Inder sah 
jedes einzelne geschehen sub specie aetemitatis. — 

Nachdem Petron die matrone von Ephesus in 
der römischen literatur eingebürgert oder vielleicht 
nur ihr andenken darin erneuert hatte, begann sie 
bei den späteren lateinem ein freilich ziemlich 
kümmerliches dasein weiter zu fristen. 

Unter den XXXII neuentdeckten fabeln des 
Pseudo-Phaedrus behandelt eine des Petronius 
märchen. 

In Burmanns ausgäbe des Satyricons wird 
auch eine aesopische fabel des Romulus Gramma- 
ticus als dasselbe sujet darstellend aufgeführt. 
Freilich sagt Burmann : „Carmine reddit Romulus." 
Die fabeln des Romulus sind aber eine prosaüber- 
Setzung des griechischen. Ich habe es nicht der 
mühe wert gehalten die dem Burmann vermutlich 
passirte Verwechslung des Romulus mit dem fol- 
genden anonymus zu verificiren. 

Die aus dem griechischen übersetzten fabeln 
des Romulus versificirte nämlich später ein 



DIE WELTLITERATUR ^^ 

anonymus, über den Lessing, kurz vor seinem 
tode, sehr umständliche bibliographische Unter- 
suchungen angestellt hat. Ein Lessing unbe- 
kanntes manuscript dieses anonymus beschreibt 
der Academiker Dacier a. a. o. und versetzt es 
in das XII. Jahrhundert. Die XLIX. fabel heisst 
hier „De viro et uxore", höchst mittelmässige 
distichen, trocken und geistlos die behandlung. 
Der schluss lautet: 

„ pro furc catenat ipsa virum. 

Huic merito succumbit eques, succumbit amori 
lila novo : ligat hosfinnus amore thorus. 
Sola premit vivosque metu, poenäque sepultos 
Femina: femineum non bene finit opus." 

Später gab Nivelet diesen anonymus heraus. 

Aus den in den klöstem beliebten manu- 
scripten des Petronius excerpirte die novelle auch 
der bischof von Chartres Jean de Sarisböry für 
sein buch De Nugis Curialium, wo sie im lib. VIII 
cap. 2 zu finden ist. Er nennt den Petron aus- 
drücklich, beruft sich aber zugleich auf einen ge- 
wissen Flavianus als zeugen, dass die geschichte 
wirklich in Ephesus passirt, sowie dass die frau 
„impietatis suae et sceleris parricidalis et adulterii 
poenas luisse." Flavianus, den der bischof öfter, 
u. a. als Verfasser einer schritt De vestigiis philo- 
sophorum citirt, ist ein übrigens ganz unbekannter 



yS WANDERUNG DURCH 

autor, der also ebenfalls, ausser Petronius, die 
novelle irgendwie behandelt haben muss. 

Um dieselbe zeit als der bischof von Chartres 
das zeitliche segnete (f 1183), erblickte in Frank- 
reich eine der allerberühmtesten novellensamm- 
lungen und zwar ebenfalls in einem kloster das 
licht der weit: die Historia Septem Sapientum 
Romae. Dies werk wurde von dem mönche 
Dam Jehans zu Haute Selve, einer abtei der 
diöcese Nancy, in lateinischer spräche geschrie- 
ben und ist im wesentlichen eine Übersetzung des 
hebräischen buches Sandabar, welches der rabbi 
Joel, auch im XII. saec. wahrscheinlich aus dem 
arabischen übersetzt hatte. Der arabische ge- 
schichtsschreiberMassudi, der im X. saec. p. Chr. 
lebte, spricht aber von dem roman eines indischen 
Philosophen, betitelt „die sieben veziere, der lehr- 
meister, der jüngling und die frau des königs," 
^Dies werk heisst das Buch des Sendabad." 
Das original des Originals des Rabbi Joel war also 
ein indisches werk, Sandabar ist Sendabad. Es 
gehört zu den in Indien erfundenen rahmener- 
zählungen, in denen nämlich eine ganze reihe 
einzelner geschichten künstlich in ein ganzes ver- 
flochten wird. Der indische original Sendabad 
ist nun noch nicht entdeckt; A. W. Schl^el 
wollte (1830) eben das obenerwähnte Dasa 



DIE WELTLITERATUR 79 

kumara tscharita dafür ansehen, aber v. Bohlen 
und Loiseleur Deslongchamps bestreiten dies 
wie mir scheint mit recht. Ausser der Über- 
setzung des Joel haben wir aber noch eine 
griechische unter dem korrumpirten titel Syn- 
tipas, welchen Dacier nach dem stil in das XI. 
Jahrhundert verweisen will. Der französische 
mönch machte also das abendland zum ersten 
male mit den dichtungen des fernen morgen- 
ländischen romantischen geistes bekannt zu der- 
selben zeit, als eben die kreuzfahrer den Orient 
auch politisch zu erobern suchten. 

In die historia Septem Sapientum ist nun auch 
unsere treulose witwe und zwar in einer wesent- 
lich neuen, sehr eigentümlichen, künstlerisch be- 
deutenden gestalt eingeflochten. 

Sehr sonderbar trifft es sich aber, dass sowohl 
in der hebräischen als der griechischen version 
des indischen Sendabad grade die geschichte von 
der witwe nicht enthalten ist. Dam Jehans 
muss sie also anderswo gefunden haben. 

Es ist nun sehr möglich, dass er die matrone 
von Ephesus des Petronius gekannt, konnte auch 
wol eben noch durch den bischof von Chartres 
daran erinnert sein und so hinderte nichts, anzu- 
nehmen, dass die witwe aus der römischen quelle 
in die Septem sapientes geflossen sei. Allein 



So WANDERUNG DURCH 

andrerseits hat die novelle doch bei ihm eine von 
der Petronischen so abweichende form ange- 
nommen, dass man sich kaum des gedankens er- 
wehren kann : es hätten dem mönch von Haute 
Selve noch andere direktere quellen zu geböte 
gestanden, aus denen er seine erzählung ge- 
schöpft. 

Versetzen wir uns in jene zeit. 

Es war die zeit der kreuzzüge. Die franzö- 
sischen Trouveurs zogen zum heiligen lande und 
sogen begierig, wie einst die jonischen colonisten, 
die fabeln und märchen des morgenlandes ein. 
Zu hause ergötzten sich dann die französischen 
barone auf ihren einsamen schlossern an den er- 
zählungen der zurückgekehrten sängen Denn: 

Usage est en Normandie 

que qui herbergiez est qu'il die 

fable ou chanson ä Thoste. 

(Sacristan de Cluny.) 

So entstanden, wenn auch nicht aus jenem 
directen contact mit dem Orient allein, in der 
letzten hälfte des XII. bis in das XIV. Jahr- 
hundert die Fabliaux, von denen Le Grand in 
seiner ausgäbe vortrefflich sagt: „Wir finden 
daselbst meinungen, Vorurteile, sitten, die art und 
weise, wie man sich gewöhnlich unterhielt, wie 



DIE WELTLITERATUR 8l 

man liebschaften anknüpfte und fortführte; 
mit einem worte alles findet man dort und 
vieles nur dort." Er rühmt die herzenskenntnis, 
einfachheit und Wahrheit dieser dichtungen. 

Unter diesen fabliaux nun finden wir nicht 
weniger wie drei, welche die geschichte von der 
witwe erzählen. Das eine teilen Barbazon etMeon, 
fabliaux et contes Paris 1 808 (III, 462 cf. Le Grand, 
III 328. 333) unter dem titel „de celle qui se fist 
foustre sur la fosse de son mari" mit; es hat nach 
A. Keller (Einleitung zu seiner ausgäbe der Sept 
Sages) folgenden inhalt: 

Eine frau in Flandern will ihres mannes 
grab nicht verlassen. Ein ritter und sein 
knappe sehen sie von weitem und letzterer 
wettet mit seinem herm, er werde sie ver- 
fuhren. Geht dann zu der frau und klagt: er 
habe seine geliebte durch die heftigkeit seiner lieb- 
kosung umgebracht. Sie wünscht auch so umge- 
bracht zu werden, da ihr das leben verhasst sei. 
Der ritter sieht aus der ferne lachend zu. Ich 
führe dies fabliau, dem ein eigentlicher schluss 
und überhaupt die pointe fehlt, nur an, weil es 
mir eben zu beweisen scheint, dass nicht Petron 
und die von ihm abgeleiteten darstellungen zum 
Vorbild dieser französischen version gedient haben 

können. Gar nichts erinnert hier an Petronius. 

6 



82 WANDERUNG DURCH 

Die andern beiden fabliaux teilt Dacier a. a. o. 
mit. Der eingang beider ist zwar mit dem 
Petronius übereinstimmend, aber zu dem einen 
ist ein ganz neuer schluss hinzugekommen. Hier 
wird ein Zwiegespräch zwischen der dame und 
dem ritter wiedergegeben, nachdem sie sich be- 
reit erklärt hat, ihren todten mann an dem galgen 
die stelle des gestohlenen räubers einnehmen zu 
lassen. Er sagt mit verstellter furcht: lieber 
wolle er sterben als den todten anrühren ; worauf 
sie allein den leichnam heranschleppt. Er geht 
allein hinterher. Dann bemerkt er, der räuber 
habe an der stirn eine grosse wunde von zwei 
pfeilen herrührend gehabt. Sie bittet, ihrem 
mann mit seinem degen dieselben wunden zuzu- 
fügen. Und als er dies ebenfalls nicht wagen 
will, nimmt sie den degen und schlägt zu. Mit 
dem allgemeinen moralspruche : hieraus könne 
man ersehen, welches vertrauen die todten auf die 
lebenden setzen könnten, schliesst das fabliau. 

Haben wir nun schon oben gesehen, dass der 
uralt-indische stoff in die arabischen märchen über- 
gegangen war und noch im anfang des XV. Jahr- 
hunderts aus dem arabischen ins türkische über- 
tragen wurde, so steht der annähme nichts im wege, 
dass zu den zeiten der kreuzzüge die trouveres, un- 
bekannt mit Petronius, die geschichte, die im Orient 



DIE WELTLITERATUR 83 

noch SO beliebt war, als neu mit über das mittel- 
meer nach Frankreich gebracht und durch sie 
der mönch von Haute Selve auf seine geschichte 
von der witwe geführt worden sei. 

Eine priorität der fabliaux vor der historia 
Septem sapientum lässt sich freilich nicht genau 
konstatiren. 

Der grundstein zur abtei Haute Selve wurde 
am 26. mai 11 40 gelegt (LoiseleurDeslongchamps 
p. 85 note 2). Die erste französische freie rhyt- 
mische bearbeitung der VII. sapientes, der Dolo- 
pathos des Trouv^re Hebers, der das werk „en 
reverence" des späteren, 1223 zur regierung ge- 
kommenen königs Louis VIII. gedichtet haben 
will, ist zu anfang des XIII. Jahrhunderts verfasst. 
Folglich ergiebt sich das ende des XII. Jahr- 
hunderts für den mönch von Haute Selve, da 
Hebers von ihm als von einem älteren Zeitgenossen 
spricht. Die fabliaux begannen aber auch schon 
in der letzten hälfte des XII. Jahrhunderts. 

Jedenfalls aber ist der geschichte der witwe, 
wie sie in den VE sapientes auftritt, gleichviel 
woher sie der Verfasser entlehnte, der Stempel 
des französischen geistes aufgedrückt. Wir er- 
kennen dies noch mehr, wenn wir nicht die urprüng- 
liche mönchslateinische redaction, sondern die 

fast wörtliche, aber auch (hierin dem Dolopathos 

6* 



84 WANDERUNG DURCH 

gleich) rhytmische Übersetzung zu gründe legen, 
welche die VII meister zu ende des Xlll.jahrhunderts 
(jedenfalls nachdemjahre 1284) durch einen namen- 
losen trouveur erfahren haben. Diese „Romans de 
sept sages" hat Adalbert Keller aus der Pariser 
pergamenthandschrift im jähre 1836 musterhaft 
herausgegeben. Es ist dies nach ihm die „älteste 
vollständig erhaltene bearbeitung des buchs in 
einer modernen spräche uncj liegt den meisten 
spätem europäischen bearbeitungen zu gründe." 
Nach seiner ausgäbe fuge ich hier einen aus- 
zug ein. 

Die einleitung, die einfligung in den grossen 
erzählungsrahmen giebt CLV. In CLVI beginnt 
dann die erzählung selbst: 

CLVI 

Ein duc de Loherainne lebte mit seiner frau 
in grosser liebe. Er hielt eines tags ein messer 
in der hand und sie verletzte sich aus versehen 
daran und blutete ein wenig, was ihn so sehr be- 
trübte, dass er nicht ass noch trank und am 
andern morgen todt war. Die frau setzte sich auf 
sein grab 

et jure diu et saint denise 
jamais dilluec( ne partira 
desci au jour quelle morra. 



DIE WELTLITERATUR 85 

Nun kommen die verwandten [ganz wie bei 
Petron], sagen 

richement serois marriee — 

sie aber wiederholt, refrainartig, die worte 
jamais etc. Da bauen die verwandten une löge 
für sie und bringen ihr holz und machen feuer. 

CLVII 

Drei räuber sind an den galgen (bei jenem 
kirchhof) gehängt worden. 

CLVIII 

Ein Chevalier reitet aus sie zu bewachen. Es 
ist um die zeit des Andreastages und sehr kalt. 
Er sieht den ort auf dem kirchhof wo die witwe 
sich aufhält und tritt ein, um sich zu wärmen, 
nachdem er versprochen, ne parole de lecherie 
zu sprechen. Als er warm und seine färbe 
wiedergewonnen, redet er ihr zu wieder zu 
heiraten 

car nest el monde tel dolour 
ne tempeste ne tenebrour 
que tout ne couuigne oublier ; 
car la mors fait tout achieuer. 

Sie schwört ihren alten refrain. 



86 WANDERUNG DURCH 

CLX 

Unterdessen haben den einen räuber seine 
verwandten abgenommen. Er beschliesst sich 
bei der witwe rat zu holen, die könne ihm viel- 
leicht geben was ihn rette. Er erzählt es ihr 

Or men convient fuir en frise; 
Je natendrai pas la justiche. 

CLXI 

Darauf sie sofort: 
Amis 

Si vous me volijes amer 
Et prendre a femme et epouser. 
Dann wolle sie ihm guten rat geben und er 
könne ruhig sein land behalten (brauche nicht 
flüchtig zu werden). Als er zugestimmt, rät sie, 
ihren mann an den galgen zu hängen. Beide 
nehmen den körper aus dem grabe und tragen 
ihn zum galgen, woran sie eine leiter stellen. 

CLXII 

Der ritter sagt: er könne ihn nicht hängen, 
Dame — se iel pendoie tous fuis couars endeven- 
roie. Sie sagt: Dann hänge ich ihn. Legt ihm 
den strick um den hals und zieht ihn empor. 
Der ritter aber sagt: eist est lassus (mais, par 



DIE WELTLITERATUR 8/ 

mon Chief, il i a plus). Der räuber wäre mit 
einem degen durch die rippen gestochen. Sofort 
sticht sie den todten auch durch die rippen. 
Ihr refrain, wenn der ritter sich weigert dem 
leichnam böses anzutun, ist nun immer 

je le ferais 
tout maintenant sans nul delai. 



CLXin 

Der ritter: il i a plus: 

Der räuber hatte zwei ausgeschlagne zahne, wenn 

morgen das volk kommt, wird es sehen, dass der 

am galgen noch die zahne hat 

Sie stimmt ihren refrain an, nimmt einen stein, 

schlägt ihm zwei zahne aus, steigt von der 

leiter und kommt zum ritter: 

Amis, forment pris votre amour 
Er aber antwortet: 

Voire, dist il, or de putain 
De dame diu Id Ast euain, 
Soit eil honnis, ki que il soit, 
Ki en maluaise femme croit! 
Tost aues chelui oublie 
Ki pour vus fii ier enterre. 
Je jugeroie par raison 
Que len vous arsist en charbon. 



88 WANDERUNG DURCH 

La dame ot duel de ces nouieles 
Or est cheoite entre deus sieles. 
Aus einer französischen prosaübersetzung, 
einem velinmanuscript des XIII. Jahrhunderts, 
teilt Dacier a. a. o. unsere geschichte mit. Sie 
stimmt mit Kellers text völlig überein. Wir 
sehen, dass sich die fabliaux nur wie eine skizze, 
fast wie eine inhaltsangabe zu diesem ausge- 
führten gemälde verhalten, woraus wir noch auf 
das höhere alter jener schliessen dürfen. 

Gleich im eingange überrascht uns der franzö- 
sische novellist durch die zarte art, mit der er 
das liebesverhältniss des herzogs mit seiner frau 
andeutet. Petron hatte kein wort über den 
mann verloren. Der indisch-chinesische erzähler 
hatte allen nachdruck auf den mann gelegt und die 
novelle rührend und würdig mit ihm schliessen 
lassen. Der franzose folgt dem älteren und tieferen 
vorbilde wenigstens im eingange; ja, er erfindet hier 
noch den sehr schönen zug hinzu, dass der mann 
aus übergrosser, fast krankhaft nervöser liebe zu 
seiner frau gestorben ist. Mit acht französisch 
realistischem lokalkolorit ist die scene auf dem 
kirchhof ausgestattet. 

Die Zwiegespräche zwischen dem ritter und 
der frau sind eine weitere, durch die sehr 
glückliche einfiihrung des refrains gehobene 



DIE WELTLITERATUR 89 

ausflihrung des in dem einen fabliau schon an- 
gedeuteten. Die frau soll den becher der schände 
hier ganz leeren. Der ritter, obwol er landes- 
flüchtig werden, ja den tod fürchten musste, 
wenn der leichnam nicht an den galgen käme, 
sagt doch, er müsste ein elender sein, wenn er 
selbst den ritter aufhinge. So muss sie alles 
tun und sogar den, der aus liebe zu ihr gestorben, 
noch verstümmeln! 

Obwol nun aber die schuld der frau hier noch 
unendlich grösser e^'scheint als bei Petronius, so 
entschliesst sich der franzose noch weniger als 
der römer, der poetischen und moralischen gerech- 
tigkeit durch einen tragischen, den allein mög- 
lichen schluss genüge zu tun. Der ritter sagt ihr 
nur, von rechtswegen müsse man sie verbrennen, 
und lässt sie stehen. Und die novelle schliesst 
fast lustig mit dem Sprichwort: So hatte sich die 
frau zwischen zwei stuhle gesetzt, d. h. den 
todten hatte sie geschändet um des lebenden 
willen und der lebende Hess sie sitzen. 

Der franzose hatte aber doch ein weit feineres 
künstlerisches bewusstsein als der römische 
fabulist, welcher ganz brutal das nackte factum 
der drei nachte im mausoleum erzählt, und die 
frau dann auch später mit ihrem Soldaten ruhig 
weiter leben lässt, wenigstens keinerlei andeutung 



90 WANDERUNG DURCH 

vom gegenteil giebt. Der franzose lässt seine 
Herzogin von dem ritter nur ein eheversprechen 
erlangen, keineswegs geht es auf dem kirchhofe 
hier her wie in dem fabliau (seite 8i), und am 
ende steht die frau mit schäm und schände be- 
deckt, von gewissensbissen gequält jämmerlich 
und allein unter dem galgen, woran sie den ge- 
bracht, der aus liebe zu ihr gestorben war. Ende 
und anfang der französischen novelle sind wenig- 
stens durch die einheit der künstlerischen idee 
verbunden. Das tiefe gefiihl für die eheliche 
treue, welches dem Inder seinen schluss eingab, 
fehlte dem romanischen dichter freilich. 

Als ein hoher sittlicher dichter erscheint der 
mönch von Haute Selve aber, wenn wir ihn mit 
den französischen autoren vergleichen, die in den 
folgenden Jahrhunderten sich desselben Stoffes 
bemächtigt haben. 

Nach Burmanns Petronausgabe ist der nächste, 
der den stoff wieder behandelte, jener Pierre 
Bercheur (f 1362 als prior eines benedictiner- 
klosters zu Paris), wenn wir ihn nämlich als den 
autor der Gesta Romanorum ansehen. Nach 
Dunlop sind die Gesta Romanorum jedenfalls um 
1340 verfasst. Ich erwähne das vorkommen 
unsrer wieder lateinisch gewordenen novelle darin 
übrigens nur der Vollständigkeit halber und gehe 



DIE WELTLITERATUR 9I 

sogleich zu Eustache Deschamps über, dessen 
„Exemple contre ceuls qui se fient en amour de 
femmes" Dacier a. a. o. mitteilt. Deschamps 
gehört dem XIV. Jahrhundert an, wenigstens sah 
Dacier das datum 1393 unter einem seiner 
poeme. Dieser spätiing der trouvere lässt den 
Soldaten die witwe heiraten ! 

Qu'elle ainsi de mort le garda, 

Si la print puis par manage. 

Or ne sgai-je s'il fist que sage, 

Autant pot-il de soi attendre, 

Comme du premier qu*el fist pandre. 
Er zweifelt freilich ob sein chevalier weise 
daran tut, da es ihm später am ende ähnlich er- 
gehen könne wie dem ersten mann. Aber in 
diesem bescheidenen skrupel erschöpft sich auch 
seine moralität. 

Dieser schluss mit der fröhlichen ehe, als 
wenn alles vorhergehende ganz in der Ordnung 
gewesen wäre, flösst einen sicherlich ebenso ästhe- 
tischen wie moralischen ekel ein. Ein schnei- 
denderer, schnöderer höhn auf ehe und ehetreue 
kann gar nicht erdacht werden. Die aller- 
platteste gemeinste ansieht von der ehe wird von 
diesem französischen poeten, der den ehren- 
namen kaum verdient, zum finalen triumphe ge- 
führt. Man kann auch nicht den realistischen 



92 WANDERUNG DURCH 

einwurf machen, dass ein solcher ausgang factisch 
im leben gar wol möglich sei und wol oft vor- 
komme. Eine auf eine solche Vorgeschichte ge- 
pfropfte ehe muss die karrikatur der ächten 
liebesverbindung werden und die Vollständigkeit 
der dichtung hätte dann wenigstens verlangt, 
dass der dichter auch dies mit zeige. 

Uebrigens fehlen dem Deschamps auch alle 
die reichen poetischen details, welche seinen Vor- 
gänger auszeichnen. Dasselbe gilt ohne zweifei 
auch von der nächsten bearbeitung in den Fajbles 
d'Esope, d'Avienus et autres traduites en Frangois 
par Frere Julien des Augustins de Lyon Docteur 
en Theologie Lyon 1484 in fol. Der abb6 
Goujet citirt dies werk in seiner Biblioth^ue 
Frangoise (tome VI, p. 428) und sagt, dass der 
augustinermönch seine fabel wol aus einem 
manuscript des Petron geschöpft habe. Die 
editio princeps des Petron erschien nämlich erst 
1499 zu Venedig. Wahrscheinlicher ist aber 
diese französische fabelsammlung eine Über- 
setzung derjenigen fabeln, welche der oben schon 
erwähnte Anonymus aus dem Romulus versificirt 
hatte. Denn grade 1483 war zu Rom die erste 
gedruckte ausgäbe dieser lateinischen fabeln er- 
schienen. — Auch ganz nach Petronius erzählt die 
geschichte im XVI. Jahrhundert der Seigneur de 



DIE WELTLITERATUR 93 

Brantome, (1527 — 1614) kammerherr und tapferer 
krieger unter Charles IX und Henri III, welcher 
sein leben am Schreibtisch über seinen Memoires 
und andren büchem beschloss. Im Discours IV 
seiner Vie des dames galantes will er die ge- 
schichte auf einem lustigen diner von einem 
M. d'Aurat zuerst gehört haben, welcher sie 
wieder aus „Lempridius" hatte haben wollen. 
Später, sagt Brantome, hätte er die geschichte 
auch im „Li vre des Funörailles, tres-beau certes, 
d6d\6 ä feu M. de Savoye" gelesen. Des Petron 
erwähnt er auffallender weise mit keiner silbe. 
In seinem kreise wurde die phrase »jouer le rolle 
de nostre dame d'Eph^se" zum Sprichwort und 
an gelegenheiten, es auf junge witwen anzu- 
wenden, fehlte es nach der Versicherung des welt- 
erfahrenen autors nicht. Brantome fasst die ge- 
schichte als französischer hofmann ungefähr eben 
so auf wie der hofmann des Nero, und legt den 
hauptnachdruck darauf, dass sie „ainsi sauva son 
galand par un acte et opprobre fort vilain ä son 
mary." Er lässt die frau nämlich dem todten 
ein ohr abhauen, um ihn dem gehängten ähnlich 
zu machen. „Et certes ce fut une estrange 
tragicom^die , pleine de grande inhumanit^, 
d'offenser si cruellement son mary." Aber auf 
den treubruch selbst legt er weiter kein gewicht 



94 WANDERUNG DURCH 

und hat gleich eine historie aus der Bartholomäus- 
nacht bei der hand, wo ein soldat vor den äugen 
der frau den gemahl niederhieb und nun ver- 
langte, dass sie ihn wieder heiraten solle oder er 
tödte sie gleichfalls. „La pauvre femme, qui es- 
toit encore belle et jeune, pour se sauver la vie, 
fut contrainte faire et nopces et funerailles tout 
ensemble." Wem fällt nicht hier Shakespeares 
Richard III ein : 

ward je in solcher laun ein weib gefreit? 
Brantome findet die frau „excusable, car qu'eust 
pu faire moins une pauvre femme fragile et 
foible, ci ce n'eust est^ de se tuer elle-mesme, ou 
tendre sa belle poictrine a Tespöe du meurtrier?" 

Die Lucrecien giebt es nur in der fabel, denkt 
der liebenswürdige alte general. 

Wenn der biedere Brantome nicht mehr sein 
will, als ein chroniqueur und memoirenschreiber 
und darum auch nicht nötig hat, sich um künst- 
lerische ziele zu bekümmern : so ist es eine ganz 
andre sache mit dem berühmten conteur, zu dem 
wir jetzt kommen, mit Jean de Lafontaine 
(1621 — 1695. Die „contes" zuerst 1665.) Seine 
„Matrone d*Eph^se" unterliegt genau dem- 
selben tadel, der schon über den Deschamps 
ausgesprochen. 

Er lehnt sich durchaus an Petron an. 



DIE WELTLITERATUR 95 

„Quelle grace aura ma Matrone au prix de 
Celle de Petrone?" fragt er. Der alte klassiker 
gilt ihm als unübertreffliches muster. Er hat ihn 
aber an immoralität noch weit übertroffen. Nicht 
in dem detail der erzählung, hier ist Petron der 
meister, aber im geiste der ganzen behandlung. 
Sein conte schliesst mit folgenden werten, 
welche wol gemerkt der autor selbst als be- 
dächtig abgewogene schlussmoral spricht: 
„Cette veuve n*eut tort 
Q'au dessein de mourir 
Car de mettre au patibulaire 
Le Corps d'un mari tant aime 
Ce n'^tait pas peut-etre une si grande 

affaire. 
Mieux vaut goujat debout qu'empe- 

reur enterr^. 
Petron hatte dies nur der von ihrer Sinnlich- 
keit hingerissenen witwe in den mund gelegt: 
„malo mortuum impenderequam vivum occidere." 
Der poet Louis des vierzehnten trug es ganz naiv 
und ungescheut als gesunde und räsonnable 
moral vor. Der Inder liess die witwe den 
Scheiterhaufen besteigen, bei dem modernen 
franzosen war die idee der ehe schon soweit 
herabgekommen, dass er in der nämlichen ge- 
schichte grade die absieht der witwe, aus liebe 



96 WANDERUNG DURCH 

dem geliebten in den tod folgen zu woUep, für 
ihre einzige moralische schuld erklärte, aber 
davon dass sie den leichnam ihres gatten an den 
galgen hing, gar nur zu sagen wusste : 

Ce n'^tait pas une si grande affaire. 
Die glatte eleganz der verse, in denen diese 
gränzenlose verkehrung des edelsten zu tage 
tritt, hat in der tat etwas empörendes! Nur die 
frivolste Oberflächlichkeit hatte hier die abgründe 
des lebens gleisnerisch verschleiert. Indem diese 
hoffähige geleckte graziöse flache künstliche 
dichterei jeden starken naturlaut ängstlich mied, 
den freien wuchs der bäume im walde der poesie 
beschneidend wie die scheere des hofgärtners 
die taxushecken von Versailles, war ihr mit den 
tiefen empfindungen überhaupt auch jede empfin- 
dung für eine tiefe moral abhanden gekommen. 
Wie ehrwürdig erscheinen neben La Fontaines 
frivolen aber immer die grenzen des convenablen 
einhaltenden schlüpfrigen erzählungen, schlüpfrig, 
weil sie aus mangel an jeder naivetät die dinge 
nicht bei namen zu nennen wagten und nun in 
einem nebel geistreicher entfernter anspielungen 
das anstössige verhüllten, um es dadurch nur 
piquanter zu machen — wie ehrwürdig er- 
scheinen neben diesen raffinerien jene unsterb- 
lichen balladen Frangois Villons, welche das 



DIE WELTLITERATUR 97 

volle ächte leben, ein ganz gewiss sehr unsittliches 
leben, aber in den färben der Wirklichkeit und mit 
den rührendsten ausbrüchen der reue in ewiger 
naturwahrheit schon 200 jähre vor Lafontaine 
dargestellt hatten. 

Welch ein abfall von den fabliaux und 
trouveurgedichten, die Lafontaine so unendlich 
verschönert, von schmutz gereinigt, verbessert, 
in Vergessenheit gebracht zu haben glaubte ! 

Uebrigens hatte der gefeierte fabeldichter die 
matrone in Paris ungemein populär gemacht. 

In einem bändchen „Pikees diverses. La feste 
de Versailles du 18. juillet 1668" steht p. 34— -55 
„la veufve de Petrone." 

1682 wurde sie im pariser italienischen theater 
auf die bühne gebracht, in einem dreiactigen 
stücke von Fatonville betitelt: Arlequin Gra- 
pignan. 

1702 brachte De la Motte die Matrone 
d'Ephese auf das Th^atre Frangais, wo sie 
übrigens als Tragicom^ie schon 16 14 erschienen 
war : L'Ephesienne de Pierre Brinon. Cf. Histoire 
du theatre frangais tome IV, 188 ff. 

17 14 machte Fuselier eine komische oper 
daraus. 

Was für eine matrone von diesen oder ob eine 
neue die von Keller in den Comedies nouvelles 

7 



98 WANDERUNG DURCH 

Berlin 1753 entdeckte ist, darüber habe ich 
mir weiter kein graues haar wachsen lassen. 

Berühmt ist in Frankreich noch wegen ihrer 
stilistischen Vollendung die Übersetzung der 
Petronischen matrone, welche Saint Evremond 
(161 3 — 1703) zugleich mit einem Eloge des 
Petron geliefert. 

Und um die reihe der Petronianer mit dem 
XVni. Jahrhundert zu schliessen, führe ich R^tif 
de la Bretonne an, welcher in seinen Contem- 
poraines eine ähnliche geschichte von einem 
witwer erzählt, dann la matrone de Paris und 
endlich die matrone d'Ephese zum so und so- 
vielsten male auftischte. 

Ganz abseits von diesen zahlreichen nach- 
folgern Lafontaines steht auch in diesem falle 
jenes universellste genie des XVIII. Jahrhunderts, 
welches alle fehler und alle tugenden des siecle 
Louis le Grand noch einmal in sich vereinigte, 
zugleich aber doch, wie der grosse Moliere, zu- 
weilen als enkel und erbe jenes ächten esprit 
gaulois, wie er Villon, Antoine de la Säle, 
Rabelais und Regnier eigen war, fast wider willen 
erscheint: Voltaire. Denn in der Pucelle, 
manchen lyrischen gedichten und seinen Romans 
sind doch züge, welche wirklich der natur abge- 
lauscht sind, so sehr auch seine dramen das 



DIE WELTLITERATUR 99 

gegenteil ven Shakespeare und den alten franzö- 
sischen farcen sind. Freilich ausbrüche jenes 
tiefen vulcans der leidenschaft, der in Jean Jacques 
brüst glühte, suchen wir bei Voltaire vergebens, 
bei Rousseau vergebens jene geistvoll pessimi- 
stische Philosophie, mit der der weise von Femey 
die ganze weit umspannte. 

Nur Diderot, aber in seiner Correspondence 
inedite, nicht in den sozusagen officiellen artikeln 
der Encyclopädie, hat ihn in genuinem Pessimis- 
mus des herzens übertroffen, während Rousseau 
trotz all seiner Schicksale immer ein Optimist und 
insofern ein seichter philosoph blieb. 

Auf unsem speciellen fall zurückzukommen, 
der übrigens gewiss als ein bedeutsamer beleg 
für eine pessimistische weltansicht gelten muss, 
wie denn des indisch-chinesischen dichters schluss- 
monolog wie ein monolog Hamlets klingt — so hat 
Voltaire mit antioptimistischer Vorliebe für solche 
Stoffe den unsrigen ergriffen. Und er stellte sich 
mit seiner behandlung hundert schritte näher an 
die quelle als alle seine französischen Vorgänger. 
Er setzte die Matrone d'Eph^se in ihre alten 
orientalischen rechte ein, als er im „Zadig" ihre 
geschichte also vortrug : 



lOO WANDERUNG DURCH 

Zadigs frau Azora kommt ausser sich zu ihm, 
weil sie eine witwe hatte trösten wollen, die 
ihrem manne ein grab am ufer eines baches er- 
richtet und geschworen, so lange das wasser am 
grabmal vorbeifliesse, so lange dort zu bleiben 
— als sie aber hinkam, fand sie die frau den 
bach ableitend. Azora war ausser sich. Aber 
ce faste de vertu ne plut pas ä Zadig. 

Er zog daher seinen freund Cador, den 
Azora am meisten von seinen freunden schätzte 
ins vertrauen, und als Azora von einem zwei- 
tägigen landaufenthalt zurückkehrte, liess er sie 
mit seiner todesnachricht empfangen. Sie schwört 
mit ihm zu sterben. Cador kommt und sie 
weinen zusammen. Am morgen weinen sie 
weniger und essen zusammen. Cador erzählt 
dass der verstorbene ihm den grössten teil 
seines Vermögens vermacht und deutet an, dass 
er es mit ihr teilen möchte. „La dame pleura, 
se fächa, s'adoucit ; le souper fut plus long que le 
diner." Azora lobte den verstorbenen, aber er hätte 
doch einige fehler gehabt, die Cador nicht hätte. 

Mitten im souper wird Cador von mal de rate 
(milzsucht) befallen. Sie ist sehr besorgt und daigna 
meme toudler le cote, wo er die schmerzen hatte. 
Er erklärt nur die daraufgelegte abgeschnittne 
nase eines am tag zuvor verstorbnen könne 






DIE WELTLITERATUR TOI 



' • 



ihm helfen. Mit dem rasirmösSer^gehf Sie zurÄ 
grab ihres gatten, da der engel Asrael ihn wol 
auch ohne nase über die brücke Tschinavar 
passiren lassen würde. Zadig richtet sich im 
sarge auf, hält mit der einen hand seine nase 
fest und sagt, mit der andern das rasirmesser 
abwehrend : madame ne criez plus tant contre la 
jeune Cosrou, le projet de me couper le nez vaut 
bien celui de detoumer un ruisseau. 

Zadig erschien 1747 und der autor will im 
Epitre dedicatoire die erzählung aus einem ara- 
bischen buche haben, das aus dem chaldäischen 
übersetzt sei. Obwol nun De Haldes chinesische 
Version schon erschienen war, und er diese 
kennen konnte, glaube ich doch, dass Voltaire 
noch irgend eine andre quelle zu geböte ge- 
standen haben muss, wenn wir nicht annehmen, 
dass seine eigne erfindungskraft das capitel Le nez 
geschaffen habe. 

Dass Voltaire die orientalische lösung nicht 
beibehielt, kann uns bei ihm, der in London einen 
wahren horreur über die kirchhofsscenen im 
Hamlet empfand, nicht wunder nehmen. Er 
macht so den ehebruch und das geschwungene 
rasirmesser nur zu einem lustigen intermezzo, 
das die philosophische ehe weiter nicht unange- 
nehm unterbricht — aber mit dieser seiner 






.103 _. . . WANDERUNG DURCH 



b *• tob 



heiteren lösörtg hat es doch eine ganz andre be- 
wandtnis als mit den darstellungen desDeschamps 
und Lafontaines. Voltaire hat von vornherein 
die geschichte mit der ihm eignen skeptischen 
grazie umkleidet. Er enthält sich jedes morali- 
sirens, es kommt ihm nur auf einen beitrag zur 
geschichte des weiblichen leichtsinns an, ohne 
dass er tieferes damit bezwecken will. Auch 
handelt seine witwe nicht so schändlich wie die 
des Petron, es bleibt ja nur bei dem versuche und 
der Verlust der nase ist noch kein baumehi am 
galgen. Wir lassen uns also gern das reizende 
capitel des ironikers gefallen, er hat uns darin 
ein zierliches meisterstück gegeben, ein Vander- 
werff, der aber zugleich geistreich ist, während 
wir Petron mit einem Teniers vergleichen. 
Zwischen beiden stehen die Sieben Meister, aber 
nur der indisch-chinesische novellist gab uns 
einen Rafael und Dürer zugleich. 

Frankreich hat wirklich und in der tat Jahr- 
hunderte lang im centrum der europäischen 
culturwelt gestanden. Dante und Petrarca folgten 
den troubadouren, Boccaz den trouveurs, Wolfram 
und Gottfried von Strassburg holten ihre Stoffe 
von Frankreich. Frankreich hat einen Rabelais, 
wir nur einen Fischart. 

Dass vor allem die italienische novellen- 



DIE WELTLITERATUR IO3 

literatur, wie sie später auf Frankreich so bedeu- 
tungsvoll zurückwirkte, ihren Ursprung dort 
genommen, davon giebt auch unsre geschichte 
von der witwe zeugnis. 

Sie ist in Italien zuerst in den Cento novelle 
antiche behandelt worden, wo sie die no. 56 aus- 
macht und nach A. Keller folgendergestalt er- 
zählt wird : 

Der kaiser Friedrich giebt einem ritter einen 
leichnam zu bewachen. Der körper wird ge- 
stohlen. In einer nahen abtei sucht der ritter 
nach einem kürzlich begrabnen, findet dort die 
trauernde witwe, welche ihm gegen sein ehever- 
sprechen ihren verstorbenen mann gibt, nachdem 
sie ihm noch einen zahn ausgeschlagen, um ihn 
dem räuber ähnlich zu machen. Der ritter rettet 
sich durch sie das leben, hält ihr aber nicht wort. 

Man sieht, dass hier die Sieben Meister ziem- 
lich trocken excerpirt sind. Die ursprüngliche 
redaction des Novellino setzt Burckhardt noch in 
das XIII. Jahrhundert. Diese ältesten italienischen 
novellen haben nach ihm „noch nicht den witz, 
den söhn des contrastes und noch nicht die burla 
zum inhalt; ihr zweck ist nur weise reden und 
sinnvolle geschichten und fabeln in einfach 
schönem ausdruck wiederzugeben." („Cultur 
der Renaissance i. aufl. p. 155"). 



104 WANDERUNG DURCH 

Einen wesentlichen unterschied von der franzö^ 
sischen hehandlung unsrer novelle gestattet die 
redaction in den novelle antiche nicht nachzu- 
weisen. Ueberhaupt muss die romanische behand- 
lung unsres sujets im ganzen eine sehr ähnliche 
sein und erst bei der deutschen bewältigung des 
Stoffes werden wir wieder eine durchgreifende Ver- 
schiedenheit in der auffassung beobachten können. 

Ich begnüge mich daher, den novelle antiche 
die spätem italienischen Versionen einfach anzu- 
schliessen, wobei ich Dunlop und A. Keller folge. 

Jn Sercambi's aus Lucca (um 14 lo) 156 
novellen ist unter den von Gamba erst 18 16 zu 
Venedig herausgegebenen 20 die 16. die witwe 
zu Ephesus. 

In den Novellae desGeronimoMorlini (Neapel 
1520 in 4°), wovon die meisten exemplare vom 
henker verbrannt sind, finde ich in dem von 
Liebrecht mitgeteilten auszuge einen ähnlichen 
zug : De viro qui uxoris fidem periclitatus est. 
Er stellt sich todt und sie will ihn nun in einem 
netz begraben, obwol sie ihm früher herrliche 
todtenkleider versprochen hat. 

Ob Straparola, der den Morlini in seinen be- 
rühmten Tredici piacevoli notti (Venedig 1550. 
1554) besonders benutzte, auch diese novelle 
wiedergegeben, weiss ich augenblicklich nicht. 



DIE WELTLITERATUR IO5 

In Annibale Campeggi, zu anfang des XVIII. 
Jahrhunderts, erzählungen ist die zweite die witwe 
von Ephesus. 

Ebenso bearbeitete sie Eustazio Manfredi, 
sowie Lorenzo, Astemio di Macerata im Heca- 
tomythom. 

Nach Petronius erzählt sie Fortiguerras ge- 
nannt Carteromaco Ricciardetto, ges. 13 st. 90. 

Sie steht endlich in dem Libro di Novelle. 
Milano 1804. 

Die eigentliche italienische bearbeitung der 
Sieben Meister dagegen, der 1546 zu Mantua er- 
schienene „Erasto** enthält unsre novelle nicht. 

Ich habe die spanische bearbeitung dieser 
italienischen Sieben Meister „Historia del principe 
Erasto hijo del emperador Diocleziano traducida 
del Italiano por Pedro Hurtado de la Vera. En 
Amberes 1573" nicht vergleichen können und 
bin auch sonst noch leider zu unbewandert in der 
spanischen literatur, um sagen zu können, ob 
und welche behandlung unsre novelle im vater- 
lande des Cervantes gefunden. 

Der italienische Erasto wurde gleichfalls ins Eng- 
lische 1674 von Francis Kirman übersetzt, obwol 
die Engländer schon eine sehr alte metrische 
Übersetzung des ächten französischen textes 
hatten, welche Henry Weber in den „Metrical 



Io6 WANDERUNG DURCH 

romances of the the thirteenth, fourteenth and 
fiftheenth centuries, published from ancient manu- 
scripts" i8io zu Edinburg herausgab. Nach 
A. Keller ist die älteste englische bearbeitung, 
welche aber unvollendet blieb, in den Anchileck 
Ms. enthalten. Unsre novelle ist hier no. 12 und 
fuhrt den titel: the sheriff, his widowe and the 
knight. 

Auch eine schottische metrische Übersetzung 
von John Rolland existirte, welche in Edinburg 
1576 und öfter, gleichwie die englische zahlreich 
im druck erschienen war. 

In Burmanns Petronausgabe finde ich die notiz 
„Asserum Angliae regem hanc historiam in 
Anglicam linguam transtulisse, auctor est com- 
mentatorRomul. in principioComment. Erhardi." 

Ein seltsames machwerk muss nach Daciers 
beschreibung das buch sein : Matrona Ephesia 
sive Ludus serius in Petronii arbitri Matronam 
Ephesiam. Opera B. Harrisii M. A. Traduct. 
Lond. 1665 in 12°, wo es in der vorrede heisst 
„Postquam eam Graeco, Romano, Germanico, et 
Gallico cultu videram omatam ... in mentem 
mihi venit eam more AngHco etiam vestire." 

Als den jedenfalls sonderbarsten ort zur ein- 
flechtung der novelle fuhrt Dunlop das buch 
Jeremy Taylor, Rule and exercice of Holy 



DIE WELTLITERATUR IO7 

Dying" an, wo sie einen teil des V. capitels aus- 
macht „of the contingencies of death and treating 
our dead.** 

Chapmann machte zu anfang des XVIL Jahr- 
hunderts eine komödie daraus unter dem titel 
„The widows tears," welche dem XI. bände von 
Dodsleys CoUection einverleibt ist, und die 
A. W. Schlegel (Werke ed. Boecking VI, 330) 
„nicht ohne komisches talent" nennt. Was die 
englische novellistik der älteren zeit im allge- 
meinen anlangt, so sagt Dunlop mit schöner Un- 
parteilichkeit : „obwol die italienischen novellen so 
grossen einfluss auf die englische literatur aus- 
übten — es genügt auf Chaucer und Shakespeare 
hinzuweisen — so kann ich gleichwol nicht be- 
merken, dass sie originale erzeugnisse ähnlicher 
art hervorgerufen hätten. Andrerseits mag ihre 
Wirkung in Frankreich weniger eingreifend ge- 
wesen sein, wogegen sie daselbst den impuls 
gaben zu gleichen Schöpfungen von bedeutendem 
werte und berühmtheit." Dunlop meint hier die 
C nouvelles nouvelles und ihre nachfolgen 

Statt daher an den ebenaufgefuhrten eng- 
lischen bearbeitungen den mos anglicus zu 
studiren und zu expliciren, begnüge ich mich nur 
auf eine modernere version desselben näher ein- 
zugehen, welche der liebenswürdige Verfasser des 



I08 WANDERUNG DURCH 

„ Vicar of Wakefield" in seinem „Citizen of the 
World" geliefert hat. Diese briefe eines in Eng- 
land reisen Chinesen waren äusserlich eine nach- 
ahmung von Montesquieus 1721 erschienenen 
Lettres persanes. Goldsmith liess die seinigen 
zuerst im Public ledger abdrucken, 1762 er- 
schienen sie als buch, vier jähre vor dem Vicar. 
Im letter XVIII ist unsre novelle enthalten. 

Sie eröffnet mit bemerkungen, wie sie sich im 
munde des pfarrers ebenfalls vortrefflich aus- 
nehmen würden. Es gäbe viele ehen, welche im 
beginn des wandems gleich allen vorrat von liebe 
erschöpften, der für die ganze tagesreise bestimmt 
gewesen wäre. Sie hätten den rausch der 
entzückung, den nur der honigmond biete, für 
ewig und dauernd gehalten und wenn sie die 
täuschung eingesehen, so folge hass und gleich- 
gültigkeit. Wenn er daher ein neuverehelichtes 
paar aussergewöhnlich freundlich vor andern sehe, 
so denke er immer, dass sie die gesellschaft oder 
sich selbst betrügen wollten. Aber die wahre 
liebe sagt er sehr hübsch „founded in the heart, 
will shew itself in a thousand unpremeditated 
sallies of fondness." 

„Choang was the fondest husband and Hansi 
the most endearing wife in all the kingdom of 
Korea — beginnt dann die geschichte, welche im 



DIE WELTLITERATUR IO9 

wesentlichen nach der chinesischen version, wahr- 
scheinlich des p^re DentrecoUes aber doch mit 
erheblichen abweichungen erzählt wird. So 
fuhrt Choang die dame, welche das grab fächerte, 
mit sich in seine wohnung, stösst sie aber in der 
kalten und stürmischen nacht wieder hinaus, weil 
seine frau über die untreue jener witwe so ausser 
sich ist, dass sie nicht mit ihr unter einem dache 
bleiben will. Der junge Student kommt noch bei 
lebzeiten Choangs und ist zeuge des glucks der 
eheleute: „so fond an husband, so obedient a 
wife few could behold without regretting their 
Owen infelicity." Aber Choang stirbt. Hansi 
war untröstlich, aber nach einigen stunden „she 
found spirits to read his Icist will." Endlich wird 
mit allgemeiner beistimmung der familie die 
hochzeit mit dem schüler Choangs festgesetzt. 
Sein krankheitsanfall am hochzeitsabend kann 
nur durch das auf seine brüst gelegte herz eines 
todten gehoben werden. Als sie dem todten 
Choang dcis herzausreissen will, wird er lebendig, 
erfahrt von dem diener alles seit seinem scheintode 
pcissirte, und als er seiner frau ihre treulosigkeit 
vorwerfen will, findet er sie in ihrem blut 
schwimmend, sie hatte ihre schände und disap- 
pointment nicht überleben wollen. — Dass die 
änderungen Goldsmiths nicht glücklich sind, ist 



HO WANDERUNG DURCH 

leicht ZU erweisen, am criantesten ist aber der 
schluss. Choang, „unwilling that so many 
nuptial preparations should be expended in vain, " 
heiratet noch in derselben nacht die dame mit 
dem fachen „As they both were apprised of the 
faibles of each other before hand, they knew how 
to excuse them after manage. They lived toge- 
ther for many years in great tranquillity and, not 
expecting rapture, made a shift to find content- 
ment." Mit welch grausamer prosa ist diese ur- 
sprüngliche poesie hier ausgewischt worden, wie 
die farbigen heiligen eines katholischen domes 
durch die gleichmässige öde des protestantisch 
weissen kalkanstrichs übertüncht. Wie schamlos 
praktisch dieser englische praktikus, der die 
ausgaben fiir die hochzeit nicht umsonst ge- 
macht haben will! Wirtschaft, Horatio Wirt- 
schaft, die leichenschüsseln — kalte hochzeits- 
speisen! Und dann wie treu die alte regel be- 
folgt, dass ein braver roman notwendig mit 
der hochzeit schliessen muss. Und welche mora- 
lische Verbrämung dieses empörenden Schlusses! 
Diese tugendsattheit ist fast noch widerwärtiger 
als die blanke immoralität des eleganten 
Lafontaine. 

Es ist eine literarische kuriosität, dass die 
englische literatur sowie die französische mit der 



DIE WELTLITERATUR III 

petronischen form unsrer novelle anhebend, 
mit der indisch-chinesischen redaction schliesst, 
und dass diesen schluss zwei so berühmte schrift- 
steiler wie Voltaire und Goldsmith machen. 

Indem ich im vorbeigehen erwähne, dass die 
holländische literatur die novelle durch ihre 
^Hystorie uan die seuen wise mannen uanRomen. 
Te Delf 1483" in 4° besitzt, sowie auch die 
dänische eine solche Übersetzung erhalten hat, 
komme ich zum Schlüsse meiner skizze, welcher 
unsrer eignen literatur gewidmet ist. 

Auch wir überkamen den stofif von den Fran- 
zosen, speciell durch ihre Historia Septem 
Sapientum, welche sogleich auch ins deutsche 
übertragen wurde. Die erste gedruckte ausgäbe 
dieser Übersetzung erschien zu Augsburg 1473 in 
folio „Hystori von den syben weysen meystem." 
Zahllose ausgaben in vielen Städten Deutschlands 
folgten. 

Diese deutsche prosaübersetzung übertrug der 
Jurist Modius um 1570 in das lateinische zurück: 
Ludus Septem Sapientum de Astrei regii adoles- 
centis educatione etc. antehac latino idio- 
mate in lucem nunquam editus. Impressum 
Francoforti ad Moenum (s. a.). 

Es ist seltsam, dass diesem deutschen rechtsge- 
lehrten die existenz des lateinischen Originals, 



112 WANDERUNG DURCH 

welches auch durch zahlreiche gedruckte ausgaben 
schon längst verbreitet war, nicht bekannt gewesen 
zu sein scheint. Andrerseits stimmt indess der 
lateinische text des Modius keineswegs mit dem 
des mönchs von Haute Selve überein, da die 
deutsche prosaübersetzung eben keine blosse 
Übersetzung war, sondern wesentliche und wich- 
tige Veränderungen, namentlich auch mit unsrer 
geschichte von der witwe, vorgenommen hatte. 
Modius konnte daher in gewissem sinne mit recht 
sagen, dass die deutsche gestalt der Sieben 
meister noch nie ins lateinische übersetzt wor- 
den sei. 

Neben jener deutschen prosabearbeitung ver- 
fasste nun ein deutscher poet, mit namen Hans 
von Bühel, ganz wie die Trouvere jenseits des 
Rheins es auch gemacht, eine metrische Über- 
tragung des Siebenmeisterbuches. 

„Us latin zuo tiutsche hat ers geschriben." 

Unter dem titel „Dyocletianus Leben" hat 
auch diese deutsche bearbeitung herausgegeben 
Adalbert Keller (184 1), aus einer handschrift zu 
Basel. 1473 war auch schon ein alter druck 
hievon erschienen. 

Ich habe damit den text des Modius ver- 
glichen, welcher keine erheblichen abweichungen 
bietet. 



DIE WELTLITERATUR II3 

Nach Kellers ausgäbe lasse ich daher hier 
das deutsche gedieht im auszuge folgen. 

Der eingang ist wie im französischen Romans 
de Sept sages. 

„Ein wenig" blutet es auch hier, als die frau 
einen finger in das messer schlug. „Yme 
geswant und fiel nieder." (Er fiel in ohnmacht.) 
Sie bringt ihn durch wasser zu sich. Er schlägt 
die äugen auf und verlangt schnell nach einem 
priester, denn er müsse sterben, niemand könne 
ihm helfen. 

„Sit das ich gesehen han 

das min liebes blut 

der smertze min herze sterben tut." 

Die knechte laufen alle hin. Der priester 
kommt aber zu spät — 

Ym so we tett sins wibes smertz 
das ym brach sin getruwes hertz. 

Die ganze Stadt klagt. 

Die frau sagt : sie wolle kasteien ihrem 
leib, und nie einen andern nehmen — 

Pfui, da müsste sie sich doch schämen. 

Sie will nicht vom grabe weichen. Die 

freunde sagen: Es wäre der seele des ver- 

8 



114 WANDERUNG DURCH 

storbenen viel besser, wenn sie heimginge und 
almosen gäbe, als dass sie sich hier nötete und 
tödtete. 

Sie aber erklärt: Ich will aus liebe zu ihm 
sterben, wie er aus liebe zu mir gestorben. 

Da bauen ihr die freunde ein hüttlein und 
versehen sie mit essen und trinken. 

Nun war neben dem kirchhof „ein recht" 
d. h. ein galgen. Lässt sich hier der (wacht-) 
hauptmann einen dieb stehlen, so verliert er 
all sein gut und sein leben steht „in des kunges 
hand.« 

Nun hatte es sich gefiiget, dass am begräb- 
nistage des ritters auch ein dieb gefangen und 
gehangen war. — Der hauptmann reitet in der 
sehr kalten nacht zum galgen hinaus, sieht das 
licht im hüttchen und bittet einzutreten, sich 
zu wärmen. Sie sagt 

wenn er züchtig sein wollte. 

Als er warm geworden, bittet er artig, zu 
ihr einige worte sagen zu dürfen. Sie will ihn 
gern hören. Er sagt nur 

Ir sit hübsch jung und wolgebom 

und solltet heimkehren, hier nicht klagen, 



DIE WELTLITERATUR II 5 

sondern almosen geben um eures mannes sele 
willen : das wäre got genemer. Sie singt das 
alte lied, dass sie hier sterben wolle. Der ritter 
reitet fort und findet den dieb gestohlen. Er 
denkt, die fromme und heilige frau im hüttchen 
könne ihm raten. 

Sie lässt ihn auch ein und er. sagt, dass es 
ihm nun an gut und leben ginge. Sie sagt : 

Wenn du folgtest meinem mut, 
Verlörst du weder leben noch gut. 

Er sagt : er wolle folgen. 
Sie: 

Gefiele dir eins 

Das du mich nemst zu der e. 

Er will es herzlich gem. 

Nachdem dies abgemacht, sagt sie : 

Nimm meinen herm, der um meiner liebe 
willen gestorben und erst gestern begraben : und 
henke ihn an den galgen. 

Beide ziehen den todten heraus. 

Der ritter sagt aber : Dem dieb hätten zwei 
Zähne gefehlt. 

Sie: nimm einen stein und schlag sie dem 

todten aus. 

Er: „Das tun ich nicht durch den tod." 

8* 



Il6 WANDERUNG DURCH 

Denn do er lebt der fromme mann, 
guot gesellschaft hat er mir getan, 
auch wäre es einem ritter eine schände, einem 
todten ritter so etwas zu tun. 

S i e tut es, so dass im Oberkiefer kein zahn 
bleibt 

Er: Der dieb hatte auch eine wunde „in die 
swart" und waren ihm die obren abgeschnitten. 
Sie : Dann tu ihm das auch. 
Er : Nie lieber geselle mir wart 

denn er was do er lebte. 
Er schäme sich und würde keine ehre davon, 
empfahen, „wenn ein lebendiger einen 
todten schlüge." 
Sie tut es. 

Er: Noch eine grosse sorge: der dieb hatte 
wie er mit „urloup" sagen wolle, 

Die zwene, als die knaben tragen 
Zwuschent iren beinen 
nicht, da sie ihm, als er gefangen, „usgezart** 
worden. 

Sie : Verzagteren menschen sah ich noch nie 
So mir sant Helene 
Snide im heraus die zwene. 
Er: Ein man ohne sein geschirre sei wenig 
nutze : es bringe ihm keine ehre, dem todten es 
auszuschneiden. 



DIE WELTLITERATUR II7 

Sie schneidets ab und wirfts einem hunde 
vor. Sagt : nun spür 

Das du mir lieb im herzen bist 
durch dich dis beschehen ist. 

Beide hängen nun den körper auf. 

Sie : nun wollen wir zur kirche gan 
zu der eh will ich dich han. 

Er: Er hätten dem allmächtigen lieben krist 
verlobt, kein weib (me) zu nehmen. 

Die frowe erschrak und sagt : 
O ritter gut bis froeuden fro 
ich will dir wol getreuen 
du lassest es dich nicht gereuen. 

Er: O du schemliche frowe. 

Du bist die hoste ob allen wiben 
wer solt syn zit mit dir vertriben 
oder dich zu der e nemen 
Phy der must sich Schemen 
diewil du dinem e mann 
SO schemlich hast getann 
der durch liebe gestorben ist. 

Er zählt ihre laster auf, sagt, er glaube, sie 
werde dergleichen nie mer me tun und schlägt 
ihr das haupt ab. 

Diocletian sagt : die strafe sei gerecht. 



Il8 WANDERUNG DURCH 

Wie ein Holzschnitt des meisters Albrecht 
Dürer gemahnt uns dieses gedieht des Hans 
von Bühel: herbe und lieblich, etwas unge- 
schliffen, roh und derbe und doch von tiefem 
sittlichen geiste erfüllt. 

Was der Römer und Franzose nicht hatten 
über sich gewinnen können, mit der sühne der 
schuld das gemüt des hörers von dem alp einer 
so schändlichen tat zu befreien, der Deutsche 
hat moralisches und künstlerisches gewissen ge- 
nug, um allen respekt vor dem von fremder 
autorität ihm angebotenen stoff bei seite zu 
lassen und seiner heldin das fluchbedeckte haupt 
vor die fusse zu legen. Ja, die Matrone, die 
beim Petron, bei dem mönch von Haute Selve, 
bei all den trouveren des lustigen Frankreichs, 
bis auf Lafontaine herab, wenn auch nicht er- 
hobenen hauptes (bei Lafontaine freilich sogar 
stolz und gerechtfertigt!) doch ungestraft und 
mit heiler haut davongegangen war, am Schlüsse 
der geschichte: der germanische novellist schlägt 
ihr den köpf herunter. Es scheint in der tat, 
dass der indische geist, welcher allein diese ge- 
schichte tragisch enden liess, unbewusst sich 
hier auf den germanischen urenkel niedei^elassen 
hat, um ihm den einzig würdigen schluss einzu- 
geben. Ja, wir stehen den arischen ahnen noch 



DIE WELTLITERATUR II9 

immer näher als irgend ein andres volk der 
weit, nur wir konnten noch im XIX. Jahrhun- 
dert eine philosophie hervorbringen, welche mit 
dem tiefsten religionssystem der Inder so wunder- 
bar zusammenstimmt. 

Mit lieblichen zügen im einzelnen hat Hans 
von Bühel seine darstellung geschmückt. 

So die ausführliche beschreibung des todes 
des mannes. So der schöne vers: 

Ym so we tett sins wibes smertz 
das ym brach sin getruwes hertz. 

Statt dessen der französische trouveur die 
bemerkung macht: er habe keines löwen herz 
gehabt, da er bei solch einer gelegenheit, um 
solche bagatelle gestorben sei. Auch die rede 
der verwandten ist mit vortrefflichen neuen 
Zügen ausgestattet, wie die aufforderung almosen 
zu geben. Das Zwiegespräch zwischen dem 
ritter und der frau hat das meiste neue detail 
aufzuweisen. Man könnte finden, dass der 
Deutsche hier die Verstümmlung etwas zu 
sehr ins grasse und krasse gehäuft und über- 
trieben habe. Was die sämmtlichen französi- 
schen Versionen einzeln haben, die Verwundung 
mit dem degen im fabliau, das ausbrechen der 
zahne in den 7 Sages, das abhauen des obres bei 
Brantöme, das lässt Hans von Bühel seine frau 



I20 WANDERUNG DURCH 

alles zusammen vollführen und für das Voltaire'sche 
abschneiden der nase substituirt er ausserdem noch 
eine weit schrecklichere Verstümmlung und macht 
sie durch das den hunden vorwerfen noch 
schauderhafter. Vor dieser Überladung hatte 
den Franzosen sein grösserer kunstverstand für 
das detail bewahrt. Andrerseits aber musste 
der Deutsche absichtlich die leichenschändung 
um so kräftiger hervorheben, je heiliger ihm 
der todte körper von uralter zeit her gewesen 
war. Schon die Edda prophezeit: einst werden 
die nägel der todten unbeschnitten bleiben; und 
das sei der anfang des weltbrandes. Es war 
ein alter deutscher glaube geblieben, dass wenn 
der todte mit einer laus am körper begraben 
werde, dann müsse seine lieblose familie, die 
ihn nicht einmal gewaschen und das reine 
leichenhemd angetan, nachsterben. 

Wenn ein frisches grab einsank, ein zeichen, 
dass der todte verabsäumt worden, so muss die 
familie auch nachsterben (Rochholz I, p. 203). 

Als Otto in. in der grufl Karls des Grossen 
dem kaiser einen zahn zum andenken aus dem 
munde genommen, da erschien ihm im träume 
der kaiser, ihm ankündigend : er werde vor der 
zeit und kinderlos sterben. (Grimm, Deutsche 
Sagen. No. 475.) 



DIE WELTLITERATUR 121 

Beim wegziehen aus Weissenburg begruben 
die Zigeuner einen der ihren auf dem kirch- 
hofe, warnend, den todten nicht zu stören. 
Später aber fand man, bei ausbesserung der Idrche, 
das Zigeunergerippe. Einer der arbeiter zog einen 
zahn aus dem noch ganz zahnvollzähligen 
munde. Es blutete und bald darauf brannte 
Weissenburg ab. (Schönwerth, Oberpfälzische 
Sagen HI, 165.) 

Solches geschah wegen eines zahnes. Und 
was hatte diese treulose witwe mit dem körper 
ihres eigenen mannes, der aus liebe zu ihr ge- 
storben war, getan! 

Diese Deutschen des mittelalters wollten aller- 
dings „verbrechen, blutig, kolossal," die blosse 
treulose gesinnung genügte ihnen zur strafe nicht, 
während bei dem zarter fühlenden Inder die blossen 
sündigen gedanken ihre strafe nach sich zogen 
— wovon Goethes Legende ein so wundervolles 
beispiel bietet, wie er andrerseits im Gott und 
der Bajadere die indische gattentreue unsterblich 
verherrlichte, zum beweise, dass der indische 
geist in dichtung wie philosophie noch immer 
unter uns mächtig ist. 

Indem Hans von Bühel seine witwe von 
einer schändlichen handlung zu einer immer 
noch schändlicheren fortschreiten lässt, und dies 



122 WANDERUNG DURCH 

stets nur ganz trocken berichtet, offenbart er 
uns den ganzen paroxismus der leidenschaft, in 
dem diese frau sich befinden muss. Eben diese 
trockenheit der darstellung, diese holzschnitt- 
manier, wirkt um so ergreifender. Erst am 
Schlüsse bricht dann der ritter — hier ein lieber 
freund des verstorbenen ! — in einen lange ver- 
haltenen Strom der bittersten Schmähungen aus, 
bis er sein schwert zieht und ihr leben und die 
novelle endet. 

Grade im angesichte dieser tragisch be- 
schlossenen Version empfindet man recht deut- 
lich den fast unbegreiflichen, enormen künst- 
lerischen mangel aller jenen andern darstellungen. 
Nur in der deutschen wie in der indischen 
Version hat die novelle köpf und schwänz, hand 
und fuss. 

Es gehört sicherlich ein nicht geringerer 
ästhetischer mut dazu, diese novelle mit der 
hinrichtung zu schliessen, als es überhaupt den 
menschen Überwindung kostet, das blut seines 
nächsten zu vergiessen. Aber der dichter soll, 
wie Arthur Schopenhauer irgendwo sagt, wissen, 
dass er das Schicksal ist und daher unerbittlich 
sein wie dieses. Allein die Franzosen und 
Italiener und auch trotz oder vielmehr wegen 
grösserer heuchelei in diesem puncte, die 



DIE WELTLITERATUR 123 

Engländer sind eben in Sachen der moral nicht 
unerbittlich und so nehmen sie es auch mit der 
treulosen witwe nicht so scharf, wie der sittlichere 
Deutsche, bei dem zwar ganz gewiss dieselben 
taten vorkommen, die nämlichen ehe- und andre 
treubrüche, welcher sich aber bis auf diesen tag 
das ethische verwerfiingsurteil über seine eigne 
handlungen bewahrt hat. Er richtet seine eigne 
taten, er beschönigt sie nicht und hält nicht auch 
das unsittlichste wie Lafontaine für „pas une 
si grande affaire." 

In Frankreich und Italien gilt noch heute der 
ehebruch als etwas, das nicht blos an der tages- 
otdnung, sondern auch in der Ordnung, in der 
sittlichen Ordnung der gesellschaft mc^lich, ja 
erlaubt. 

Nicht alle deutsche autoren haben indess die 
treulose witwe mit so harter gerechtigkeit be- 
handelt wie der ehrliche Hans von Bühel. In 
einer Stuttgarter handschrift freilich, die Keller 
erwähnt, wird der decapitirte körper der frau 
noch obendrein ins wasser geworfen. Andre 
Variationen endigen aber nicht so tragisch, weil 
dazu wie gesagt ein mut gehört, den manch 
Deutsche, der ihn auf dem kampfplatze wo 
hätte, doch auf der arena der literatur leider v« 
missen lässt. 



124 WANDERUNG DLFRCH 

So fuhrt Keller an „Deutscher Esopus 1498. 
fol. 20." Hier hat der gestohlene räuber eine 
glatze. Die witwe reisst daher ihrem todten 
mann mit händen und zahnen die haare aus! 
Trotzdem wird sie hier von dem ritter nicht 
getödtet. 

In Boners fabeln ist es die 57. Boner hat 
seine fabeln, wie er am schluss selbst sagt, aus 
dem lateinischen übersetzt. Die 57. ist offenbar 
aus dem mehrerwähnten Anonymus, der die 
fabeln des Romulus versificirte. Wir wissen also 
schon, dass diese gestaltung der Petronischen 
Matrone ohne jedes verdienst ist. (Vergl. pag. yj^j 
Boners angehängte moral ist eine seichte anf- 
zählung, wie viel unheil die frauen schon an- 
gerichtet hätten, Troja zerstört, Salomon ge- 
schändet etc. 

Aus . Lassbergs Liedersaal No. 37 teilt 
Wolfgang Menzel (Deutsche' Dichtung I, 418) 
mit: „Ein weib war so frech, ihren mann, der 
sie zärtlich liebte, zu überreden, dass er sich 
einen gesunden zahn ausziehen Hess, den sie 
dann triumphirend ihrem buhlen brachte. Aber 
der buhler dachte: hat sie das dem mann ge- 
tan, wird sie mir nicht besser tun, und floh sie 
von stund an." 

Derselbe hochverdiente Verfasser bringt 



DIE WELTLITERATUR I25 

(n, 96) aus Kirchhofs Wendunmut eine sehr 
merkwürdige Umbildung unsrer novelle bei: 

„Eine witwe konnte sich von ihrem geliebten 
gatten Johannes nicht trennen, Hess sich also einen 
aus holz machen und behielt ihn alle nacht im 
bette, bis die kluge magd ihren lebendigen bruder, 
der ein hübscher bursche war, einmal statt des 
holzbildes zu ihr legte. Die frau war es auch 
zufrieden und als sie am morgen das frühstück 
nicht kochen lassen konnte, weil die magd 
sagte : es sei kein holz mehr da ; befahl sie, 
den hölzernen Johannes in den ofen zu werfen.*^ 

In den Fastnachtsspielen des Jacob Ayrer 
(f 1605) im n. teil des Opus thaeatricum wird 
ebenfalls erwähnt, dass ein bauer am hofe 
Alexanders des Grossen diesem das lied vom 
hölzernen Johannes vorsingt. 

Wie Petronius die tiefeinnige, edle und schöne 
indische novelle zu einer römischen soldaten- 
historie gemacht, so ist sie hier zu einem plat- 
ten bauemwitz geworden. Immer aber bleibt 
die erfindungskraft des menschlichen geistes be- 
wundernswert, der in so zahlreiche formen und 
Verbindungen denselben stoff eingehen hiess. 

Als ein wundersames gegenstück, woran die 
erinnerung vielleicht dem erzähler und sänger des 
hölzernen Johannes nicht entschwunden war. 



126 WANDERUNG DURCH 

erscheint uns jenes tiefpoetische, süssmelancho- 
lische waldbild, welches der hohe Wolfram von 
Eschenbach von der schönen Sigune entworfen, 
die ihres Tchionatulanders leiche einbalsamirte 
und in den zweigen einer linde neben sich auf- 
bewahrte um daneben wie eine turteltaube zu 
klagen. Und als Parcival sie überredet, den ge- 
liebten zu beerdigen, ging sie als einsiedlerin zu 
jenem berg, der Montsalvat genannt. 

Auch diese dichtung Wolframs und des 
späteren Albrecht von Scharfenberg hat schon 
ein Vorbild an dem roman des Ephesiers 
Xenophon. Im eingang des V. buchs wird die 
liebe des Aegialeus und Thelxinoe einfach und 
rührend dargestellt. Aegialeus zeigt dem Ha- 
brokomes seine einbalsamirte geliebte. Dem 
Habrokomes würde sie wie eine alte frau vor- 
kommen, ihm selbst sei sie trotz alter und tod 
noch immer die jugendlich blühende geliebte. 
Er esse und schlafe mit der leiche. „Ta? irav- 
vü^iSa«; ^vvoo), ich denke dabei an die einstigen 
voUnächte. 'Epcoc d^TjOtvo? 6pov •JjXixta? oux 

So verknüpfen sich unerklärlich die entlegen- 
sten Zeiten und dichter! 

Im i8. und 19. Jahrhundert erlahmte die 



DIE WELTLITERATUR 127 

ebengerühmte erfindungskraft, soweit sie auf 
unsre novelle gerichtet war. Christian Friedrich 
Weisse's erster dramatischer versuch war „die 
Witwe von Ephesus" , ebenso geistlos lang- 
weilig wie seine spätem. Lessing schrieb die 
ersten 8 scenen einer „Matrone von Ephesus" 
ganz nach Petron, in jener seiner Plautus und 
die Franzosen verquickenden lustspielmanier. 
Er liess sich auch später in der Dramaturgie 
(ed. Lachmann VII, 160 f.) über den stoff ver- 
nehmen : 

„Das märchen des Petron ist unstreitig die 
bitterste satire, die jemals gegen den weiblichen 
leichtsinn gemacht worden." 

Trotz dieses urteils fahrt Lessing fort: „bei 
Petron glauben wir, was sie tut würde un- 
gefähr jede frau getan haben, selbst ihren ein- 
fall, den lebendigen liebhaber vermittelst des 
todten mannes zu retten glauben wir ihr, des 
sinnreichen und der besonnenheit wegen, ver- 
zeihen zu müssen, ja wir könnten es eben des 
sinnreichen wegen für einen blossen hämischen 
Zusatz des erzählers halten, der mit einer 
giftigen spitze habe schliessen wollen." Aber 
bei de la Motte, im drama, würde der cha- • 
rakter der Matrone, der in der erzählung ein 
nicht unangenehmes höhnisches lächeln über die 



128 WANDERUNG DURCH 

vermessenheit der ehelichen liebe erweckt, — 
ekel und grässlich. 

Wir können daraus abnehmen, wie matt 
und zahm er sein stück ausgeführt haben 
würde. 

Wieland behandelte die novelle, aber seinem 
französischen grossen vorbild, Voltaire, gemäss, 
orientalisch, nämlich nach den 40 Vezieren. 

Wilhelm Heinse lieferte dagegen wol die erste 
deutsche Übersetzung der Matrone von Ephesus 
in dem ohne seinen namen erschienenen buche 
„Begebenheiten des Enkolp. Aus dem Satyri- 
con des Petron übersetzt. Rom, 1773" zwei 
bände. Später hat er in seinen briefen dies 
werk ausdrücklich als das seinige anerkannt. 
Die 48 Seiten lange vorrede zum ersten bände 
ist unterzeichnet „Geschrieben in Augsburg im 
Februar 1773 während meiner reise nach Italien 
um den Winkelmannischen Apollo zu betrach- 
ten." Das 6 Seiten lange vorwort zum zweiten 
bände beginnt : „Lesen Sie nur weiter ! was 
Sie nun lesen werden, ist eigentlich das, was 
dieses werk des Petron bei allen nationen so 
beliebt gemacht hat. Die erzählung von der 
Matrone zu Ephesus, das gedieht auf den bür- 
gerlichen krieg, die beschreibung der liebes- 
händel des Encolp mit der Circe sind immer 



DIE WELTLITERATUR 129 

bewundert, öffentlich und heimlich nachgeahmt 
und übersetzt worden. Aber darin glänzt der 
genius des Petron . . . und eben deswegen habe 
ich dieses werk übersetzt." Die erzählung selbst 
steht auf pag. 112 bis 123. In anmerkungen 
weist Heinse auf Johannes Salisberiensis und La- 
fontaine hin, welch letztrer den Petron verschönert 
habe. Zum Schlüsse macht der dichter des Ar- 
dhingello eine fiir ihn sehr charakteristische be- 
merkung. Er referirt vom Joh. Salisberiensis, 
dass nach Flavianus das weib wie eine ehe- 
brecherische mörderin bestraft worden sei, und 
fährt dann fort: „Höchst unbillig wäre das 
urteil gewesen! die alten Griechen, selbst Drako 
würde nie so einfaltiglich und grausam gestraft 
haben. Man setze sich nur an die stelle der 
Matrone! Man wird nichts unnatürliches fin- 
den." Ich setze diese stelle aus der vor mir 
liegenden Originalausgabe des seltenen buches 
her; denn leider hat Heinrich Laube dies fiir 
den jungen Heinse so bedeutsame werk, das 
ausser den vorreden auch noch zahlreiche ex- 
curse in anmerkungen von seiner feder enthält, 
von der gesammtausgabe ausgeschlossen, wäh- 
rend er doch sogar die weit weniger wichtigen 
prosaübersetzungen aus Ariost und Tasso mit- 
teilt. Von einem schriftsteiler, der wie Heinse 

9 



I30 WANDERUNG DURCH 

bei dem ausserordentlichsten genie doch nur so 
wenige fruchte desselben hinterlassen hat, ist 
jede zeile kostbar und muss konservirt werden. 
Endlich hat auch Lichtenberg die treulose- 
witwen-literatur mit einem kleinen beitrage be- 
dacht. Zur fünften platte „Industry and Idleness" 
vom Hogarth erzählt er uns folgendes vom 
„cuckoldpoint" : „die landspitze, die man hier 
in der ferne sieht, ist bekannt genug und heist 
bei den Seeleuten die hahnreispitze. Sie liegt 
gegen den ausfluss der Themse hin. Unter 
den erklärungen, die man von dem Ursprung 
dieser benennung hat, ist vielleicht folgende die 
witzigste, obgleich der einfall fiir einen aus der 
illustren familie der Matrone von Ephesus 
nicht gewandt genug ist. Man glaubt nämlich, 
däss die tiefgebeugten Strohwitwen der see- 
falirer nicht allein mit der thränentrocknung, 
sondern auch mit der regulirung des nötigen 
vikariats gewöhnlich schon völlig zu stände wären, 
wenn ihre männer beim auslaufen diese spitze 
passiren." 

In durchaus eigentümlicher weise hat Cle- 
mens Brentano das sujet behandelt in seiner 
bailade „des todten bräutigams lied." Dass 
ihm irgend ein Volkslied dabei vorgelegen, ist 
nicht unwahrscheinlich, jedenfalls hat er ein 



DIE WELTLITERATUR I3I 

Volkslied daraus gemacht, welches recht gut 
in „des Knaben Wunderhom** hätte stehen 
können. 

Die abfassung fällt in Brentanos früheste 
zeit, und nur hieraus ist die etwas sehr laxe 
moral zu erklären. Wäre er schon der dichter 
der „Romanzen vom Rosenkranz** oder der „ge- 
schichte vom braven Casperl und schönen 
Annerl" gewesen, so würde er auch dies 
unser sujet tragisch aufgefasst und behandelt 
haben. Denn das verhältniss von schuld 
und busse ist ja das eigentliche thema von 
allen dichtungen des Clemens Brentano. Es 
tritt auch in seinem „lied des todten bräutigams" 
hervor, nur dass die busse hier, — die treulose 
heldin heiratet einen armen mann, — eine niedere 
weltliche ist, während der dichter später der 
höheren, christlichen Sündentilgung allein zu 
ihrem recht verholfen haben würde. 

Der letzte, u.z.last and least ist der Deutsch- 
franzose Chamisso, in dessen Gedichten (2. Auf- 
lage 1834 p. 208 — 214) ein „Lied von der weiber- 
treue** enthalten, das sich gleich mit dem motto 
aus Lafontaines matrone d'Ephese als eine 
verwerfliche nachahmung der an sich schon 
niedrig stehenden französischen bearbeitung an- 
kündigt. Während aber Lafontaine immer noch 

9* 



132 WANDERUNG DURCH 

hofmännisch elegante manieren hat, scheint 
Chamisso in Deutschland etwas von seiner an- 
gebornen französischen feinheit zu seinem nach- 
teil eingebüsst zu haben. Wenigstens diese 
seine Matrone von Ephesus hat ohne so witzig 
zu sein wie der hölzerne Johannes nur dessen 
bäurische rohheit. Jede Strophe seines lang- 
atmigen poems schliesst anfangs mit dem refrain : 

Schrecklich plagt der hunger, 

und gegen das ende mit: 

Du lieber lieber landsknecht. 

Der hunger ist das hauptagens ia seiner auf- 
fassung der novelle, seelische motive sprechen 
bei ihm nicht mit. Der humor kann freilich 
auch das materiellste Ingredienz zu sublimer 
Wirkung verwenden, aber beim guten Qiamisso 
ist dej: humor leider ausgeblieben. 

Ungefähr gleichzeitig mit Chamisso erschien 
in München (1835) „Ein Volksbüchlein**. 2. aus- 
gäbe. Worin, nach Keller, pag. 181 enthalten 
„Von der Weiber lieb und treu. Ein Schwank. 
Nach Petron." 

So weit hatte man also die Sieben Meister, 
obwol auch diese abgekürzt als prosaisches 
Volksbuch erschienen sind, vergessen, dass selbst 



DIE WELTLITERATUR I33 

in „Volksbüchlein" wie von den gelehrten kunst- 
dichtem die geschichte nach Petron behandelt 
wurde. 

Aber die ächte, die ungeschriebene volks- 
poesie läuft noch immer neben jener andern 
her, wie einst die süssesten melodien und worte 
des deutschen Volksliedes die fade zopfige 
prosaisch bürgerliche meistersängerei akkom- 
pagnirten. 

Die geschichte von der treulosen witwe ist 
im französischen und deutschen tierepos wieder- 
holt worden. 

In den „Kinder- und Hausmärchen" ge- 
sammelt durch die brüder Grimm. 5. stark ver- 
mehrte und verb. aufl. Göttingen 1843 (die 
neueste berliner ausgäbe hat mit einer unbe- 
greiflichen pietätlosigkeit die schöne widmung 
an Bettina von Arnim und die übrigen vorreden 
weggelassen !) gehört nämlich No. 38 im I. bände 
pag. 240 — 243 ganz offenbar zu unserm 
novellenkreise. 

Grimms teilen hier zwei Versionen mit. 
In der ersten stellt sich ein alter fuchs schein- 
todt, weil er glaubte, seine frau sei ihm nicht 
treu. Die frau fiichsin ging in die kämmen 



134 WANDERUNG DURCH 

Die magd Jungfer katze empfängt die freier, 
alle werden abgewiesen, bis der rechte, nämlich 
mit neun schwänzen wie ihr verstorbner, kommt. 
Als die witwe das hörte, sprach sie voll freuden 
zur katze: 

Nun macht mir thor und thüre auf 
und kehrt den alten herrn fuchs hinaus. 

Der regte sich aber, als eben die hochzeit ge- 
feiert werden sollte, unter der bank und prügelt 
das ganze gesindel durch und jagt es samt 
seiner frau zum haus hinaus. 

In der zweiten version ist der fuchs wirklich 
gestorben. Als freier kommen wolf, hund, 
hirsch, hase, bär und alle waldtiere, denen aber 
immer eine von den guten eigenschaften des 
alten fuchses fehlt. Endlich aber kommt ein 
junger fuchs, der rote höslein und ein spitz- 
mäulchen wie der alte hat. Da heisst es: 

Katze kehr die stube aus 

und schmeiss den alten fuchs zum fenster 

hinaus. 

Bracht so manche dicke fette maus, 

frass sie immer alleine, 

gab mir aber keine. 
Schluss und lustige hochzeit. 

Im III. bände 3. aufl. Göttingen 1856 hat 



DIE WELTLITERATUR 135 

Grimm pag. ^'j hiezu angemerkt, dieses märchen 
werde vielfach in Hessen und in den Main- 
gegenden erzählt. Der alte fuchs sei in manchen 
Versionen nur schein todt, wie im alt franzö- 
sischen gedieht. 

In Hannover ist dieses märchen von einem 
löwen zu anfang dieses Jahrhunderts auch noch, 
erzählt worden, und erinnerte sich der ver- 
ehrte literaturfreund, dem ich diese notiz ver- 
danke, namentlich des in der Jugend gehörten 
Verses : 

Schmeisst den alten herm löwen zum 
fenster hinaus. 

Von einer katze wird es in Mecklenburg er- 
zählt. Die Jungfer der katze heisst hier Dörth 
(abkürzung fiir Dorothea). 

Als endlich der richtige kater kommt, ruft 
die witwe katze: „Dörth! Dörth!" 

,Fru katt?' 

„Smit aas övern tun." 

Schmeiss das aas, den leichnam des alten 
katers, übern zäun ! 

Es ist erstaunlich, wie rein sich in diesen 
lebendigen Volksüberlieferungen der uralte in- 
dische geist erhalten hat! Namentlich in der 



136 WANDERUNG DURCH 

ersten Grimmschen version, welche frappante ähn- 
lichkeit mit unsrer indisch-chinesischen novelle! 

Dass im humoristischen tierepos ein tragi- 
scher schluss nur absurd wirkte, dagegen die 
prügel sehr am orte sind, hatte der heitere 
freie volksgeist, der diese köstliche Variante zu 
jener tiefen socialen tragödie schuf, vortrefflich 
begriffen. 

Von keinem klassischen gedanken ist diese 
harzduftige waldpoesie angekränkelt. Sie ist 
ganz direkt vom Indus zum abendlande gewan- 
dert. Sie muss älter sein als das buch des 
mönchs von Haute Selve. Sie ist immer im 
geheimen nebenher gegangen, neben jenen rau- 
schenderen dichtungen der trouvere und minne- 
singer. Wie ein veilchen blühte diese Icmge 
übersehene poetische blume neben den stolzen 
prunkenden lilien und rosen. — 

Wie wunderbar ist es aber, dass jene novelle, 
welche wir als eine der frühesten geburten des 
sinnenden volksgeistes erkannten, noch heute 
auf unerklärliche weise im munde des Volkes 
fortlebt! 

Das ist die unzerstörbarkeit der künstlerischen 
ideen, die geheimnissvolle kontinuität alles geisti- 
gen lebens. Wie die herzen zweier liebenden, 



b 



DIE WELTLITERATUR I37 

die durch berge, ströme und meere getrennt 
sind, so verstehen und finden sich wieder, auch 
durch die ferne der Jahrtausende, die verwand- 
ten geister der literaturen. Denn sie sind im 
gründe eins. 

Göttingm am tage der h, Praxedes 
21, Juli f revidirt Rom den 7. nov. 
1872. 

D^' Eduard Grisebach. 



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