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DK.
F08
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II
$B AS b54
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THE LIBRARY
OF
THE UNIVERSITY
OF CALIFORNIA
GIFT OF
JANE K- SATHER
Verlag des Bundes tur Befreiung der Ukraine
I
Die ukrainische
i/iiiniitiititumNuiiiHiiiraiiiuiniiiiiuumiiiuatiuiiiüUJUimii
Frage In historischer
iMfimiitiiHiiiJiMitiiiiiuiiikimiutJiiiiuiitFiiuiiitiuiijiiiiikiinm
Entwicklung
tiimmiimiNiiinu?iiuiihiiiitimimiiii[fmi!imiHiniii(mi[itiiiuniiiiiii
Von Michael Hruschewskyl
Professor der Lern berger Universität
Wien 1915
Druck! „Vorwirte", Wien V, Rechte Uflenxelle ST
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Gooq
m
r
Die ukrainische Frage
in historischer Entwicklung
Von Michael Hruschewskyj
Profestor der Lemberger Universitit
Wien 1915
Verlag des Bundes zur Befreiung der Ukraina — Druck: „Vorwärts"
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2>
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Von den Herausgebern.
gnSRgit gütiger Genehmigung der Redaktion der „Revue
|HJ 1J5JB& politique internationale" geben wir hiemit einen
£j9sJEp|& kurzen geschichtlichen Ueberblick über die ukra-
inische Frage heraus, der in den Nummern 11 und 12 der
genannten Zeitschrift erschien. Derselbe stammt aus der
Feder des bekannten ukrainischen Gelehrten und Führers
Professors Michael Hruschewskyj, der vor kurzem
von der russischen Regierung für seine ukrainische Tätig-
keit in Kyjiw verhaftet wurde. Wir hoffen, dass diese kleine,
aber inhaltsreiche, sachlich geschriebene Skizze in hohem
Masse zur Kenntnis der Geschichte des ukrainischen Volkes
sowie zur gebührenden Würdigung des ukrainischen Pro-
blems in der deutschen Oeffentlichkeit, welche bisher über
unser Volk und seine Bestrebungen leider sehr mangelhaft
informiert war, beitragen wird.
Es hat einst Zeiten gegeben, wo die Ukraina
und ihr Volk in Europa besser bekannt waren (17. und
18. Jahrhundert), Als aber später das ukrainische Volk von
der Weltbühne verschwand und seiner höheren Schichten
beinahe gänzlich beraubt in politischer, kultureller und
sozialer Sklaverei, in der finsteren Leibeigenschaft sein
kümmerliches Dasein fristete, geriet sein früher so be-
rühmter Name immer mehr in Vergessenheit, bis es zuletzt
unter dem falschen, ihm von den Russen aufgedrängten
Namen der „Kleinrussen" bloss für eine Abart des
russischen Volkes zu gelten begann.
Erst in der letzten Zeit ist in dieser Beziehung mit der
fortschreitenden Emanzipation unseres Volkes eine gewisse
Aenderung in der öffentlichen Meinung Europas zu ver-
zeichnen. Nicht in geringem Masse hat dazu die starke Ent-
wickelunj? jenes Teiles unseres Volkes beigetragen, dem es
vom Schicksal beschieden war, im konstitutionellen Oester-
reich zu leben.
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Jetzt, wo der Weltkrieg jedermann zwang, sich die
osteuropäischen Verhältnisse näher anzuschauen, kommen
den breiten Kreisen der europäischen Oeffentlichkeit die
nationalen Verhältnisse im Zarenreich immer mehr zum
ßewusstsein und gleichzeitig taucht aus dem Nebel des
allrussischen Konglomerates die eigenartige Individualität
unseres Volkes auf. Inwiefern sie tatsächlich eigenartig ist,
zeigt eben die Skizze des Professors Hruschewskyj. Aus
derselben ersieht der Leser, dass das ukrainische Volk
ganz selbständig ist, eine tausendjährige
Geschichte und selbständige nationale
Ueberlieferung besitzt und dass es infolge-
dessen mit dem russischen Volke weder verwechselt
noch identifiziert werden darf. Die Leser ersehen ferner,
dass unser Volk niemals auf seine Selb-
ständigkeit verzichtete und in dieser oder jener
Form stets eine Selbstbestimmung anstrebte. Im gegen-
wärtigen geschichtlichen Zeitpunkt wurden in ihm mit ver-
stärkter Gewalt die Bestrebungen wach, das fremde Joch
abzuschütteln und sich die staatliche Unabhängigkeit zu er-
kämpfen. Eben zu diesem Zwecke wurde der „Bund zur Be-
freiung der Ukraina" gegründet, der alle Unabhängigkeits-
elemente der russischen Ukraina, von denen am Schlüsse der
vorliegenden Skizze die Rede ist, vereinigt. Indem er im
gegenwärtigen Moment eine entsprechende Tätigkeit ent-
faltet, hofft der „Bund", dass im Resultat des jetzigen Welt-
krieges sich das seit Jahrhunderten angestrebte Ziel der
Ukrainer, wofür sie so viel gekämpft und gelitten haben, ver-
wirklichen, der freie ukrainische Staat seine
Auferstehung feiern wird.
Das Gesetzmässige und Natürliche dieser Bestre-
bungen der Ukraina wird nach der Lektüre der objektiv ge-
schriebenen Skizze des Professors Hruschewskyj sogar jedem
Skeptiker einleuchten. Die Leser ersehen aus ihr mit über-
zeugender Klarheit, dass die ukrainische Bewegung kein
Geistesprodukt ^eines Haufens von Phantasten, sondern eine
reale, auf geschichtlichen Grundlag en fun-
dierte Wirklichkeit ist. Es muss dabei betont wer-
den, dass diese Skizze nicht „ad hoc", unter dem Eindruck
der gegenwärtigen Geschehnisse, sondern lange vor ihnen
verf asst wurde und bloss informative Zwecke verfolgte, wie
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dies vom Verfasser selbst in der Vorrede zu seiner Arbeit
hervorgehoben wird.
Dieser Umstand war es auch gewesen, der uns unter
anderem dazu veranlasste, die Skizze von Professor Hru-
schewskyj zu veröffentlichen. Es ist eben der von ihm
erwähnte Kataklismus gekommen, auf den das
ukrainische Volk seine Hoffnungen setzte, und wir wün-
schen, dass die Völker, die an den gegenwärtigen welt-
geschichtlichen Ereignissen teilnehmen, die Wahrheit über
unser Volk und seine Bestrebungen kennen und dieselben
mit Wohlwollen, ohne Vorurteile bewerten sowie zu deren
Realisierung verhelfen mögen.
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Vorrede des Verfassers.
[er grosse europäische Krieg, der augenblicklich die
Wlelt uiiibraust, hat die ukrainische Frage zum
erstenmal in der Geschichte der letzten Jahr-
hunderte auf den Schauplatz der europäischen Politik
gebracht. Schon seit einigen Jahren hat man in gewissen
Kreisen, gleichwie in der Vorahnung der kommenden
Ereignisse, Versuche gemacht, den diesem Problem in der
Gestaltung der politischen Verhältnisse zukommenden
Einfluss abzuschätzen. In den letzten Jahren ist ein Inter-
esse für diese Frage wahrzunehmen, wie es nie vordem zum
Vorschein trat. Der vorliegende Aufsatz ist noch vor dem
Kriegsausbruch für eine speziell die nationalen Probleme be-
handelnde Eevue geschrieben worden; da das Unternehmen
nach alledem, was um ujns jetzt vorgeht, schwerlich zu-
stande kommen konnte, benütze ich mit Dank die Gast-
freundschaft der Eedaktion der „Eevue politique inter-
nationale", indem ich die Hoffnung hege, dass der vor-
liegende Aufsatz, der die Entwicklung der politischen Be-
strebungen des ukrainischen Volkes in einer historischen
Perspektive darstellt, auch im gegenwärtigen Moment zur
Aufklärung dieses der europäischen Oeffentlichkeit so
lange Zeit fast unbekannt gewesenen und doch für die
Zukunft so hochbedeutenden Problems beitragen kann*).
•) Der Kriegsausbruch hat leider das Erscheinen der bereits
im Druck begriffenen deutschen Uebersetzung meines „Grundrisses
der Geschichte des ukrainischen Volkes" verhindert. Die erste Auflage
des „Grundrisses", dem meine Vorträge in der Russischen Freien Hoch-
schule der Sozialwissenschaiten in Paris zugrunde lagen, erschien im
Jahre 1904, worauf noch drei Auflagen folgten. Wie dem „Grundriss",
so liegt auch dem vorliegenden Ueberblick das geschichtliche Material
zugrunde, welches ich in meinem grossen Werke: „Geschichte des
ukrainischen Volkes" zusammengefasst habe. Das Werk reicht bis zum
Jahre 1650 (Band VIII, erster Teil, bis zum Jahre 1638, ist 1913 er-
schienen; der zweite Teil des VIII. Bandes befindet sich im Druck).
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Allgemeine Bemerkungen. Die Periode des
Kyjiwer Staates.
iie Geschichte der ukrainischen Frage, wie sie sich
heute darstellt, reicht bis in die Mitte des 17. Jahr-
hunderts, in die Zeit der grossen ukrainischen
Volkserhebung des Jahres 1648 zurück, durch welche das
Problem des ukrainischen Staates in voller Klarheit auf-
gerollt, doch nicht zur Verwirklichung gebracht wurde, in-
dem eine Teilung der ukrainischen Länder zwischen das
moskowitische Reich und Polen erfolgte. Von diesem Zeit-
punkt an beginnt der darauffolgende Verfall des ukraini-
schen nationalen Lebens sowie die nach einer Zeitlang
wieder aufgetauchte Bestrebung des Volkes, sich national
aufzurichten, alle Hemmnisse, die der kulturellen, sozialen
und politischen Entwicklung im Wege stehen, abzuschaffen,
was zum gegenwärtigen nationalen Kampfe in den Grenzen
des russischen Reiches und der österreichischen Monarchie
führte.
Doch wurzeln die Verhältnisse, durch welche die
neueste Phase der ukrainischen Bewegung bedingt wurde,
tief in den verflossenen Jahrhunderten, und zwar nicht nur
im politischen Leben des Volkes, sondern auch in den
geographischen Eigenschaften des von dem Volke bewohnten
Territoriums, in der Lage und physischen Beschaffen-
heit sowie auch in den Bedingungen der Kolonisierung des.
Landes.
Ein weitausgedehntes, fruchtbares, gut bewässerte»
Land, wie das jetzt von den Ukrainern bewohnte Terri-
torium, welches bereits für die alten Griechen eine Korn-
kammer war, da sie von hier die wichtigsten Nahrungs-
mittel — Getreide und gesalzene Fische — in ansehnlichen
Mengen bezogen; das später, am Anfang der Neuzeit, Zen-
tral- und Westeuropa mit grossen Massen von Getreide,.
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Vieh und Holz versorgte; das Land, welches ungeheure
Vorräte an Eisen, Steinkohle, Salz und an anderen Mine-
ralien besitzt, so dass es in unserer Zeit als einer der
wichtigsten Lieferanten von Weizen, Fleisch, Zucker, Salz,
Eisen, Quecksilber und anderen Produkten für ganz Ost-
europa gilt, — dieses Land ist bereits seit altersher zu einer
ersehnten Beute geworden, die die Eroberungslust der
Nachbarn aus vielen Gründen anlockte. Seine Lage im
Zentrum einer ausgedehnten Ebene, die Zentraleuropa mit
Zentralasien verbindet, an dem grossen Wege, welchen die
Völker seit Urzeiten fast unaufhörlich durchwanderten
und auf welchem der Austausch der Kulturen und Kultur-
errungenschaften stattfand, an der Küste des Schwarzen
Meeres, das einen überaus günstigen Weg für den Verkehr
nach dem fernen Osten und Süden bietet, — all das machte
die Ukraina zu einem heissersehnten Land für alle bedeuten-
den politischen Gebilde, die in unmittelbarer Nachbarschaft,
ja mitunter weit vom Bereich der Ukraina auftauchten und
an politischer und kultureller Ausdehnung gewinnen
wollten, und das um so mehr, als die natürlichen Grenzen
des Landes auf einer grossen Länge keine beträchtlichen
Verkehrshindernisse, wie Bergrücken, tiefeingeschnittene
Täler, Wasserflächen und dergleichen, aufweisen.
Indem wir nicht zu weit ins Altertum greifen, wollen
wir nur der Bestrebungen der griechischen Staaten einer-
seits, dann Eoms, Byzanzens, der mittelalterlichen Republi-
ken Italiens, Polens, Ungarns, Litauens, der Türkei und
Russlands erwähnen, um jeden Preis in den Besitz des Lan-
des zu kommen, um die Naturschätze des Landes, seine
Handelswege und Kulturverbindungen, die bis nach
Kaukasus, Mesopotamien, Mittelasien, Persien, Indien und
China reichten, sich zunutze zu machen. Anderseits bringen
dieselbe Tendenz die Eroberer zum Vorschein, die von
Osten her gegen Westen ziehen, so die alte persische
Monarchie (Feldzüge des Darius), die Eroberungspläne des
arabischen Kalifats und der später auftretenden türkischen
Staaten in Mittelasien und Turkestan.
Und ebenso zeigte jede politische Organisation, welche
auf dem ukrainischen Territorium auftauchte, sobald sie
es zu einer gewissen Stärke gebracht hatte, das Bestreben,
ihre Besitzungen oder ihren Machtkreis auf die benachbarten
Gebiete, die sich gegen Osten und Westen hin erstrecken,
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auszudehnen. So war es mit den gotischen Königen, den
♦Kyjiwer Fürsten und den Chanen der Goldenen Horde
der Fall.
Die slawische Kolonisation, welche sich auf diesem
Territorium in dem 6. bis 8. Jahrhundert besonders rege
entwickelte, brachte dasselbe in Besitz der südlichen
Gruppe der ostslawischen Stämme, aus denen sich später
der ukrainische Volksstamm herausbildete*). Diese Stämme
liessen sich damals in den Gegenden am Mittel- und Unter-
lauf des Dniepr, des südlichen Bug und Dniestr nieder,
besetzten auch einen grossen Teil des Dongebietes, von wo
sie, wie überhaupt von den Küsten des Schwarzen Meeres,
im Laufe des 9. und 10. Jahrhunderts durch die Ungarn
und dann Pazinaken verdrängt wurden. Der auf die Periode
der kolonisatorischen Expansion folgende Prozess der
sozialen und politischen Entwicklung brachte es zur Bil-
dung eines Staates im Dnieprgebiet mit
Kyjiw (Kiew) als Zentrum. Der Kyjiwer Staat,
nachdem er das Stadium einer Abhängigkeit von
Chasaren, den normannischen (warägischen) Gefolgschaften
und von Byzanz überwunden und diese vom Osten,
Korden und Süden her kommenden Beeinflussungen zu
einem festen Staatsgefüge zusammengeschmolzen hatte,
tritt in 9. und 10. Jahrhundert in eine Periode reger
Aktivität, eines grossen Expansionsdranges über, indem
er bestrebt ist, sich der Handelswege in Osteuropa
zu bemächtigen und ostslawische wie auch sonstige
Stämme, die im Bereich dieser Wege angesiedelt waren,
•) Die Bezeichnung „Ukraina", „ukrainisch", die erst in letzter
Zeit sich in Bezug auf das ukrainische Volk auf dem ganzen von ihm
bewohnten Gebiet eingebürgert hat, wird jetzt auch in Bezug auf die ver-
schiedenen Phasen der historischen Entwicklung des Volkes in der ge-
samten ununterbrochenen Ausdehnung seiner Geschichte gebraucht. In
den Geschichtsquellen kommt diese Bezeichnung zuerst im 12. J a h r-
hundert vor, wobei mit diesem Termin die Grenzmarken des dama-
ligen ukrainischen Territoriums bezeichnet werden. Die Ereignisse des
17. bis 19. Jahrhunderts, die die östliche Ukraina zum Zentrum des
politischen und kulturellen Lebens des ukrainischen Volkes gemacht
haben, brachten es dazu, dass die Bezeichnung schliesslich zu einem
allgemeinnationalen Namen des Volkes wurde und die Benennungen:
„Kleinrussen", „Südrussen" verdrängte. Der uralte, hergebrachte Name
»Russj", der sich ursprünglich auf den südlichen, ukrainischen Stamm
bezog, wurde durch andere Benennungen ersetzt, sobald das nördliche,
grossrussische Volk begann, sich diesen Namen beizulegen.
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Seiner Herrschaft zu unterwerfen. In diesem Streben war
Kyjiw genötigt, gegen einen ernsten Nebenbuhler zu
kämpfen, gegen Nowgorod, den nördlichen Herd nor-
mannischer Einflüsse, wo sich wichtige politische und Han-
delsinteressen konzentrierten. Aus den ersten Seiten der
J£yjiwer Chronik (10. Jahrhundert) klingt nur zu oft der
"Widerhall dieses Wettbewerbes und der Kämpfe, aus denen
Xyjiw immer siegreich hervorging. Die Kyjiwer Fürsten
Swjatoslaw (gestorben 972), Wolodymyr (Wladimir) der
Grosse (gestorben 1015) dpd Jaroslaw (gestoben 1054)
haben der Hegemonie Kyjiws und der Ukraina im System
des Kyjiwer oder des „ruthenischen" Staates feste Stützen
geschaffen*).
Ihre Besitzungen erstreckten sich von der Kubanj-
mündung bis zum San im Westen und reichten im Norden bis
zu den Grossen Seen und Ausflüssen der Wolga, lue wich-
tigsten Zentren, die diese entlegenen Länder beherrschten,
waren die ukrainischen Städte im Stromgebiet des Dniepr:
Kyjiw? Tschernyhiw, Perejaslawl. Euer hat das politische
und kulturelle Leben Osteuropas jener Zeit seinen Mittel-
punkt gehabt. Das Christentum, für welches von Wolodymyr
dem Grossen um das Jahr 990, und zwar in byzantinischer
Form, feste Grundlagen geschaffen wurden, sowie die
byzantinische Hierarchie und Literatur und die byzantinische
Kunst haben die Grundlagen der neuen Kyjiwer Kultur
gelegt, die Schritt um Schritt mit dem Recht des Kyjiwer
Staates, von den südlichen ukrainischen Zentren aus, sich
den Weg gegen Ost und Nord in die weiss- und grossrussi-
schen sowie in die finnischen Lande, wenn wir die jetzt ge-
läufige Terminologie gebrauchen wollen, bahnte.
Doch war diese Hegemonie der ukrainischen Zentren
im Dnieprgebiet nicht dauerhaft. Durch den Andrang der
tatarischen Horden, der im 11. und 12. Jahrhundert an-
dauerte, wurden gerade die Gebiete Kyjiws und Perejaslawls
besonders schwer betroffen. Durch diesen Andrang wurden
die wirtschaftlichen Grundlagen, die die Macht und Be-
deutung dieser Zentren geschaffen hatten, zugrunde ge-
•) Die Herkunft des Wortes „Russj" bleibt bi9 jetzt unaufgeklärt.
Es unterliegt allerdings keinem Zweifel, dass im 11. und 12. Jahrhundert,
wahrscheinlich auch früher, dieser Name auf das engste an Kyjiw und
sein Gebiet gebunden war.
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richtet. Die nördlichen und nordöstlichen Lande waren in
dieser Hinsicht in einer viel günstigeren Lage.
Die slawischen Kolonien am Finnischen Meerbusen und
an dem Oberlauf der Wolga, wo sich ein neues ostslawisches
Volk — die Grossrussen — herausbildete und zur Geltung
kam, sind unter Führung der Fürsten aus der jüngeren
(Perejaslawer) Linie der Kyjiwer Dynastie um die Mitte
des 12. Jahrhunderts zu einem kraftvollen Fürstentum ge-
worden, dessen Herrscher in der zweiten Hälfte des Jahr-
hunderts tatkräftig daranschreiten, die Hegemonie Kyjiws
zu untergraben und auf den Trümmern des Kyjiwer Staates
ihre Oberherrschaft aufzurichten. Zu diesem Zwecke werden
die Zwistigkeiten der ukrainischen Fürsten geschickt ge-
nährt, gegen die Kyjiwer Fürsten ihre jüngeren Ver-
wandten aufgehetzt und Kyjiw selbst ein völliger Buin
bereitet, indem der Handel und der Wohlstand dieses Staates
unterwühlt und sein Ansehen untergraben werden. Das war
die Nebenbuhlerschaft des neuentstandenen grossrussischen
Staates (aus dem später das Grossfürstentum Moskau ent-
stand) mit seiner ukrainischen Metropole — eine Neben-
buhlerschaft, die wirklich zur Zerrüttung und zum Unter-
gang des Kyjiwer politischen Systems und dessen alten
Zentrums nicht wenig beigetragen hat, was Anfang des
13. Jahrhunderts schon ganz deutlich zum Vorschein tritt.
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Das Halytsch-Wolhynische Reich. Ukraini-
sche Fürstentümer Litauens und der voll-
kommene Verfall des ukrainischen Staats-
wesens.
|er Untergang des Kyjiwer Staates bedeutete aller-
dings nicht, dass das staatliche Leben der Ukraina
zugrunde gerichtet wurde. Die Rolle, welche die
Kyjiwer Fürsten im politischen Leben der Ukraina
gespielt hatten, versuchten zuerst die Fürsten von Tscher-
nyhiw zu übernehmen, deren Besitztümer nicht so arg
durch den mongolischen Ueberfall hergenommen wurden
wie die Länder von Kyjiw und Perejaslawl. Doch wurden
diese Bestrebungen von keinem Erfolg gekrönt, da der
Mongoleneinfall des Jahres 1239, der mit einer ungeheuren
Wucht im Dnieprgebiöt gewütet hatte, auch das Fürstentum
von Tschernyhiw um seine letzten Kräfte gebracht hat.
Bedeutend grössere Voraussetzungen dazu, um zur Kraft-
entwicklung und zum politischen Ansehen zu gelangen,
besass das Fürstentum von Halytsch-Wolhynien, welches
um die Wende des 12. Jahrhunderts (1199) durch Ver-
einigung des Fürstentums Wladimir in Wolhynien mit
dem Fürstentum Halytsch in den Händen des Fürsten
Koman, eines Sprossen der älteren Linie des Kyjiwer
Fürstenhauses, entstanden ist.
Der tatarische Andrang hatte schon in vorangegan-
genen Jahrhunderten eine Wanderung der ukrainischen Be-
völkerung vom Süden und Osten her nach Wolhynien und
den Karpathenländern hervorgerufen. Der Mongoleneinfall
unter Anführung des Batu hat diese Verlegung des
wirtschaftlichen und kulturellen Lebens aus dem Dniepr-
gebiet nach den westlichen Ländern besiegelt. Durch
diese Wanderung wird die Tatsache erklärt, weshalb der
Westen im 12. und 13 Jahrhundert zur Kraft und
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Bedeutung aufgeblüht ist. Fürst Roman und sein Sohn
Danylo (Daniel) streben, nachdem sie hier festen Fuss ge-
setzt hatten, danach, auch die östlichen ukrainischen Länder
unter ihre Herrschaft und ihren Einfluss zu bringen, doch
scheitern diese Versuche an dem Widerstand der Goldenen
Horde, die die Bewegung ukrainischer Stadtgemeinden gegen
das Fürstenregime anfachte und sich bemühte, der weiteren
Machtentfaltung der Fürsten von Halytsch-Wolhynien ent-
gegenzusteuern. Gegen die Politik dieser Fürsten waren
auch Ansprüche Polens und Ungarns gerichtet, die schon
längst darauf hinarbeiteten, die westlichen Gebiete der
ükraina an sich zu reissen. Die Pläne des Danylo, einen
Bund zum Kampfe gegen die Tataren zustande zu bringen,
scheiterten an der Gleichgültigkeit der westlichen Nach-
barn. Diese Pläne haben dem Fürsten nur die Königs-
krone aus den Händen des Papstes eingebracht
(12 5 2), seinen Plan musste er aber vorläufig fallen lassen.
Der Staat von Halytsch-Wolhynien existierte beinahe
noch ein Jahrhundert darauf, und hier hatte das kulturelle
und politische Leben der Ukraina seine Zuflucht. Allein die
Ostukraina blieb ausserhalb der Einflusssphäre dieses
Staates. In der Geschichte der ükraina ist dieser Zeitperiode
eine nicht zu unterschätzende Bedeutung beizumessen, da
in diesem Zeitabschnitt die vordem vorherrschend gewesenen
byzantinischen Elemente durch neue Einflüsse, die
von Westen her aus Deutschland kamen,
neutralisiert wurden. Dadurch eröffneten sich der
weiteren Entwicklung der ukrainischen Kultur recht er-
freuliche Aussichten. (Diese neuen Einflüsse vermittelten
insbesondere die auf dem deutschen Recht gegründeten
Stadtgemeinden, die Anfang des 13. Jahrhunderts in
Halytsch-Wolhynien auftreten.) Aber ein Bund Polens und
Ungarns (Vertrag 1336) hat diesem westukrainischen Staat
ein jähes Ende bereitet. Der Umsturz, der 1340 von den
halytsch-wolhynischen Bojaren angezettelt wurde, die mit
der Politik des Fürsten Georg Boleslaw unzufrieden waren
und L u b a r t, einen Fürsten litauischer Dynastie, statt
seiner einsetzen wollten, hat den Königen von Polen und
Ungarn Anlass gegeben, gegen Halytsch gemeinsam ins
Feld zu ziehen. Es begann ein hartnäckiger Kampf um die
balytseh-wolhynischen Länder, der schliesslich zu einer A n-
n e x i o n des Halytsch und des Cholmlandes durch Polen
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geführt hat, durch welche nicht nur das Land seiner staat-
lichen Unabhängigkeit beraubt, sondern auch die Stellung der
höheren ukrainischen Klassen — des Adels (Bojaren) und
des städtischen Patriziertums — untergraben wurde, und
welche die Vernichtung der alten sozialen Formen sowie
des kulturellen Lebens in diesem Lande zur Folge hatte.
Der Schlag war um so empfindlicher, da zu jener Zeit gerades
Halytsch (samt Wolhynien) der Zufluchtsort des ukrainischen
kulturellen Lebens war.
In Wolhynien, das die polnischen Angriffe abgewehrt
hatte, wurde unter der Herrschaft Lubarts (1340 bis zirka
1385) das frühere politische und nationale Leben kontinuiert.
In den ukrainischen Ländern im Dnieprgebiet entstanden
in diesem Jahrhundert ebenfalls einige grosse Fürstentümer
unter der Herrschaft der Fürsten der litauischen Dynastie,
so die Fürstentümer Kyjiw, Tschernyhiw-
Ssiwer, Turi w-P i n s k im Prypetgebiet, wo die alten
sozialen Formen, die Ueberlieferungen des Rechtes und der
I Kultur der Kyjiwer Periode, nach überstandenen Er-
/ schütterungen, allerdings in einigermassen geschwächter
Form, zum Teil sich fortentwickelten, zum Teil wieder
auflebten. Der Uebergang der ukrainischen sowie der weisä-
russischen Länder unter die Herschaft der Dynastie Ge-
d i m i n s hat sich im allgemeinen unter Beibehaltung der
alten Formen und Ueberlieferungen, unter Schonung der
Erbschaft der Kyjiwer Periode vollzogen. „Das Ueber-
lieferte wollen wir nicht antasten und keine Neuerungen
einführen" — das war das Losungswort der litauischen
Politik. Oft ist es vorgekommen, dass der Uebertritt unter
das Protektorat oder die Herrschaft der litauischen Dynastie
freiwillig erfolgte — so war es mit Wolhynien der
Fall. Die litauischen Fürsten, indem sie den Thron
des neuerworbenen Fürstentums bestiegen, traten zum
Glauben und zur Nationalität der neuen
Untertanenüber, protegierten die Kirche und die alten
Kulturtraditionen, respektierten alte Formen und Rechts-
einrichtungen, so dass das Neue nur verhältnismässig lang-
sam sich den Platz eroberte, unter dem Einfluss der allge-
meinen Verhältnisse, in denen sich die Entwicklung des
Grossfürstentums Litauen vollzog.
In diesem Rahmen der Fürstentümer, die der Gewalt
des Grossfürsten von Litauen untergeordnet waren, lebten
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die Traditionen des politischen Lebens der Ukraina, ab-
gesehen von einigen Schwankungen und Unterbrechungen,
bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts fort. Erst
nach dem Tode des S w y t r y h a j 1 o (Swidrigajlo) ,
Fürsten von Wolhynien (gestorben 1452), und des S i m e o n
Olelkowytsch,* Fürsten von Kyjiw (gestorben 1470) ,
werden die Zentral- und Ostgebiete der Ukraina endgültig
zu einfachen Provinzen des Grossfürsten-
tums Litauen. Von dieser Zeit an unterliegen die
ukrainischen Länder einer unmittelbaren Einwirkung des
sozialpolitischen Prozesses, der sich gerade um diese
Zeit infolge der immer mehr zunehmenden Annäherung
Litauens an Polen, nach erfolgter politischer Union dieser
Staaten (1385), für das ukrainische (und weissrussische)
Element, seine nationalen Interessen und Traditionen über-
aus ungünstig gestaltete. Dank dem traditionellen Konser-
vatismus des Grossfürstentums Litauen und dank dem
Prinzip der Landesautonomie, welches der Verfassung dieses
Staates zugrunde lag, wurzelten sich die neuen, immer mehr
den polnischen nachgebildeten Formen der gesellschaftlichen
Ordnung immerhin viel langsamer ein, als das in den
westlichen, dem Polen unmittelbar unterstellten Gebieten
(Halytsch [Galizien], Cholmgebiet, Podolien) der Fall war,
wo das polnische Recht schon im Jahre 1430 endgültig
eingeführt wurde. Immerhin hat das ukrainische Element
auch in Litauen den Untergang der Formen, die seine
nationalen Interessen gewissermassen wahrten, sehr schmerz-
lich zu spüren bekommen.
Unter der ukrainischen Aristokratie im Grossfürsten-
tum Litauen nehmen wir Anzeichen einer Opposition gegen
den neuen politischen Kurs wahr, da die Aristokratie bei
diesem Kurs, der ausschliesslich die litauisch-katholischen
Elemente begünstigte und diesen den Vorrang gab, die
ukrainischen und weissrussischen dagegen einer völligen
Verarmung und Einflusslosigkeit preisgab, sich vom poli-
tischen Leben des Grossfürstentums gänzlich ausgeschaltet
sah. Gleichwie das litauisch-polnische Element sich auf
die Solidarität des katholischen Glaubens stützt, sucht
die ukrainische Aristokratie dieser Zeit Hilfe bei den
Glaubensgenossen in Moskowitien. Auf diese Weise kam die
Verschwörung der des Kyjiwer Fürstentums enthobenen
Fürsten Olelkowytsch im Jahre 1481, die Verschwörung
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der Fürsten Hlynskys (Glinski) im Jahre 1507 und der
Uebertritt der Fürsten von Tschernyhiw zu Moskowitien
(1480 bis 1500), an welches die Besitztümer dieser Fürsten
grenzten, zustande. Gleichzeitig ruft der ukrainische Adel
Galiziens die Unterstützung der Wojewoden
von Moldau. Doch haben diese Ausbrüche nicht ver-
mocht, eine dauernde Besserung der Lage des ukrainischen
Elementes herbeizuführen. Moskowitien hat diese Auftritte,
die im Zeichen einer Unterdrückung des orthodoxen
Glaubens stattfanden, dazu benützt, um von Grenzlanden
Besitz zu ergreifen: es hat das Gebiet von Tschernyhiw und
die Stadt Smolensk besetzt und die Besetzung von Kyjiw
vorbereitet. Das konnte aber zur Erleichterung der Lage des
ukrainischen Volkes in dem polnisch-litauischen Staate in
keiner Weise beitragen.
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Die ukrainische Wiedergeburt im 16. und
17. Jahrhundert. — Das Kosakentum. —
Der Kampf gegen das polnische Regime
und der Aufstand des Chmelnyzkyj.
die Mitte des 16. Jahrhunderts und in der
zweiten Hälfte desselben ist im ukrainischen Leben
eine grosse Niedergeschlagenheit eingetreten. Die
höheren Klassen, jeder Anteilnahme an dem politischen
Leben beraubt, sahen sich gezwungen, sich mit der herr-
schenden Nation zu assimilieren. Das ukrainische Bürger-
tum war mannigfachen Drangsalierungen ausgesetzt. Die
Bauern haben ihr Eecht der Freizügigkeit und des Grund-
besitzes eingebüsst und sind zu Leibeigenen geworden. Sie
wurden für die Fronarbeiten immer mehr in Anspruch ge-
nommen und sind dadurch zur Rolle des Landgutsinventars
herabgesunken. Die orthodoxe Kirche — die in damaligen
Verhältnissen die Nation vertrat — ist in eine Abhängig-
keit von der ihr und dem Volke abgeneigten oder gar feind-
selig gesinnten Regierung geraten und befand sich infolge-
dessen in einem krisenhaften Zustand der' Auflösung. Bis
dahin ging dieser Prozess in den Grenzen des Grossfürsten-
tums Litauen in einem langsameren Tempo vor sich; von
der Mitte des 16. Jahrhunderts angefangen greift der Ein-
fluss der polnischen Einrichtungen immer heftiger um sich.
Im Jahre 1569 aber wurden fast alle ukrainischen Lande,
die dem Grossfürstentum Litauen angehörten, von dem-
selben losgerissen und der polnischen Republik unmittelbar
eingegliedert, und zwar: Wolhynien, der östliche Teil von i
Podolien, Podlassje (das Gebiet am westlichen Bug) und das *
Kyjiwer Gebiet. Der polnische Adel siedelt sich in den
neuerworbenen Gebieten massenhaft lan. Die höheren
Schichten des ukrainischen Volkes unterliegen der Polo-
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nisierung und daß ukrainische Nationalleben löst sich
langsam auf.
Der tiefgreifende Verfall hat aber in dem ukraini-
schen Volke eine Reaktion hervorgerufen und die Bestre-
bung zur nationalen Wiedergeburt erweckt. Diese
Bewegung setzt zuerst im ukrainischen Bürgertum der
Westukraina ein, das, in seinen „Brüderschaften"
vereinigt, eine moralische Wiedergeburt des Volkes fördert,
die Abschaffung der in der Kirche Platz greifenden Miss-
stände anstrebt, die Volksaufklärung und die Aufrichtung
einer nationalen Organisation unterstützt. An der Spitze
dieser Bewegung schreitet die Brüderschaft von Lemberg,
die, um das Jahr 1540 und zum zweitenmal im Jahre 1586
reorganisiert, unter ein besonderes Protektorat des Konstan-
tinopeler Patriarchen gestellt wurde.
Aber bei den Zuständen, die in der Westukraina Platz
gegriffen haben, wo nämlich der nationalukrainische Adel
zugrunde gerichtet wurde und die Union mit der römisch-
katholischen Kirche, welche von einem Teil des Episkopats
angenommen wurde (1596), eine grosse Verwirrung brachte,
konnte diese Bewegung, die eine kirchliche und nationale
Regeneration anstrebte, keinen festen Fuss fassen. Es ist
dieser Bewegung die Unterstützung und der Zufluchtsort
sehr zustatten gekommen, die sie in dem gefährlichsten
Moment. in der Ostukraina bei dem neuen sozialpolitischen
Faktor, der Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts
auftauchte — wir meinen das ukrainische Kosaken tum
— gefunden hatte.
Mit dem den türkisch-tatarischen Sprachen entlehnten
Wort „Kosak" bezeichnete man Leute, die in der Steppe
Jagd, Fischerei und das Freibeutertum trieben. Dieser Beruf
ist in der Ostukraina besonders nach den von den Krimtataren
Ende des 16. Jahrhunderts angerichteten Verheerungen,
die einen ansehnlichen Teil des Gebietes am unteren Lauf
des Dnieprstromes in eine Wüste verwandelt hatten, zur
Blüte gelangt. Diese ukrainische Miliz, die fortwährend an
der Zahl wuchs, hat in der zweiten Hälfte des 16. Jahr-
hunderts eine eigene Kriegerrepublik in der Steppe ge-
bildet, zu deren Zentrum die sogenannte „Ssitsch" geworden
ist, auf einer unzugänglichen, versumpften Insel unterhalb
der Dnieprstromschnellen, „Porohy" genannt, gelegen, daher
der Name Saporoger-Ssitsch" (Saporoger = hinter den
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„Porohy"). Von diesem Zufluchtsort aus verbreiteten die
„Saporoger" ihre Einflusssphäre allmählich auf die ukraini-
sche Bevölkerung am Unterlauf des Dniepr und sind im
Laufe der Zeit aus einer rein militärischen Macht zu
einem hochwichtigen politischen Faktor ge-
worden.
Indem die Kosaken ihre Immunität, das heisst die
Befreiung von jeder anderen Gerichtsbarkeit und Staats-
gewalt sowie von Steuern und Dienstleistungen in Bezug
auf alle diejenigen, die sich der Gewalt und der Jurisdiktion
des Saporoger-Heeres unterwerfen, proklamieren, gewinnen
sie* eine ungeheure Anziehungskraft über die Volks-
massen, die eben um das Ende des 16. Jahrhunderts aus
den westlichen und nördlichen Gebieten der Ukraina nach
Osten zuströmen, um der immer schwerer werdenden Last
der Leibeigenschaft zu entkommen. Das Kosakentum er-
achtet sich als eine unabhängige politische Macht, verhandelt
mit den Nachbarstaaten, bietet ihnen seinen Beistand und
seine Dienste an und tritt gleichzeitig als Vertreter der
nationalen Interessen des ukrainischen Volkes
auf. In dieser Eigenschaft treten die Kosaken in enge Be-
ziehungen zu den Ueberresten des seiner Nation treu ge-
bliebenen Adels und zu der Hierarchie der orthodoxen
Kirche. Unter dem Schutz der Kosaken wurde in den Jahren
1610 bis 1620 in Kyjiw die Hierarchie der orthodoxen Kirche
wieder eingesetzt, es werden daselbst Kultur- und Bildungs-
anstalten errichtet, hier beginnt eine rege kulturellnationale
Bewegung, die ihr Zentrum aus Galizien nach Kyjiw
verlegt.
Schon vom letzten Dezennium des 16. Jahrhunderts
angefangen setzten wiederholte Zusammenstösse des Kosaken-
tums mit der polnischen Regierung ein. In diesen Zusammen-
stössen neigt sich das Glück bald auf die eine, bald auf die
andere Seite und sie enden mitunter mit einem Miss-
erfolg der Kosaken und mit den Repressalien der polnischen
Regierungen gegen alle, die an der Bewegung teilgenommen
haben. Diese Misserfolge und die darauffolgenden Repressa-
lien hatten unter anderem eine massenhafte Auswanderung
der ukrainischen Kosaken und Bauern zur Folge, die sich
in die Leibeigenschaft, in die man sie zwang, nicht fügen
wollten und über die damalige moskowitische Grenze nach
den öden Gegenden am Donez und Don zogen, wo im Laufe
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dee 17. Jahrhunderts neue ukrainische Ansiedelungen, die
sogenannte „Slobidska Ukraina" — auf dem Gebiet der
heutigen Gouvernements Charkiw, Woronez und Kursk —
entsteht. Dessenungeachtet nimmt die soziale und politische
Gärung in der Ostukraina an Intensität zu und jeder neue
Zusammenstoss legt immer grössere Energie des ukrainischen
Volkes an den Tag, bis endlich eine andauernde Periode der
Repressalien (1638 bis 1647) zum Aufstand des
ukrainischen Volkes im Jahre 1648 unter An-
führung des Bohdan Chmelnyzkyj führte.
Der Aufstand hatte seinen Ausgangspunkt in den
Zwistigkeiten zwischen den Kosaken und der polnischen
Regierung gehabt, die anfangs über das gewöhnliche Mass
der häufigen Vorkommnisse dieser Art nicht hinausgingen.
Allein durch die Umstände verschiedenartiger Natur be-
günstigt und dank dem Talent des Anführers, hat der-
selbe wider Erwarten einen ungewöhnlichen Umfang an-
genommen. Die polnischen Armeen wurden in mehreren
aufeinander folgenden Schlachten besiegt und vernichtet;
der Aufstand breitete sich über die ganze Ukraina, bis an
die am äussersten Westen liegenden Gebiete aus.
Die Forderungen der Aufständischen gingen bald über
die traditionellen Grenzen der Beschwerden hinaus, die die
Kosaken und die orthodoxe Geistlichkeit vorzubringen
pflegten. Es ist der Gedanke der Befreiung
des ukrainischen Volkes in seinen ethno-
graphischen Grenzen aufgetaucht, die Idee
der Niederwerfungdes polnischen Schlach-
zizenregimes und des Wiederaufbaues des
einstigen ukrainischen Staates. Ungeachtet
der ansehnlichen Kräfte des Aufstandes, die von den Teil-
nehmern selbst auf ungefähr 300.000 Mann geschätzt
wurden, achteten es die Anführer des Aufstandes für kaum
möglich, das Werk der Befreiung ihres Volkes mit eigenen
Kräften > vollbringen zu können. Chmelnyzkyj wankte
zwischen zwei Kombinationen. Die eine Möglichkeit, im
Sinne der Pläne, die den Kyjiwer geistlichen Würdenträgern
schon längst vorschwebten, war ein Bündnis der orthodoxen
Staaten — Moskowitiens, der Ukraina, der Moldau und der
Balkanslawen — welches sich gegen Polen und die Türkei
richten sollte. Der andere Plan sah die Einverleibung der
Ukraina in das System der vasallen Staaten, gleich der
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Krim, Moldau und Trariasylvanien, unter der Oberhoheit
de* Türkei voraus. Verschiedene Umstände, nicht zuletzt
auch die Zerrüttung des türkischen Staatswesens, haben
öhmelnyzkyj bewogen, sich für Moskau zu entschliessen.
Die moskowitische Regierung hat es lange nicht gewagt,
das Protektorat über die Ukraina anzunehmen, da sie einen
Krieg mit Polen befürchtete, der schweren Niederlage ein-
gedenk, die Polen dem moskowitischen Staate Anfang des
17. Jahrhunderts zugefügt hatte. Erst im Jahre 1658 ist
die moskowitische Regierung aus ihrer Unehtschlossenheit
herausgetreten und, nachdem sie in das Protektorat über das
Kosakenheer und die Ukraina einwilligte, wurde Polen der
Krieg erklärt. Im März 1654 wurden die sogenannten
„Artikel des Bohdan Chmelnyzkyj", durch welche die Be-
ziehungen der Ukraina zum moskowitischen Staate fest-
gesetzt wurden, beschlossen. '
Die Artikel wurden in Eile, ohne allseitige und
reife Ueberlegung der Sache verfasst, so dass viele Fragen
unaufgeklärt blieben und sich überhaupt Spuren der vor-
angegangenen Verhandlungen erkennen Hessen, in denen
Chmelnyzkyj vor den zu weitgehenden Konzessionen nicht
zurüokscheute, um nur um jeden Preis die Moskowiter in
einen Krieg mit Polen zu verwickeln*).
Durch die Artikel wurde eine freie Wahl des
He t man s, eines Staatsoberhauptes des ukrainischen Staates,
wie sich dieser in den Jahren 1648 bis 1654 unter dem
Schutze des Kosakenheeres herausgebildet hatte, das Recht,
diplomatische Beziehungen zu anderen Staaten zu unter-
halten, eine vollständige Unabhängigkeit der Gerichte,
ein dem Oberbefehl des ITetmans unterstelltes ukrainisches
Kosakenheer und die Unabhängigkeit der ukrainischen
Kirche festgesetzt.
Unaufgeklärt blieb die Frage hinsichtlich der Kollo
der moskowitischen Begierung in der Zivilverwaltung der
•) Durch diese Ungewiseheit in vielen Fragen wird es erklärt, warum
die Staatsgelehrten, die ukrainischen sowie die russischen, Ober die
Qualifizierung der staatlichen Beziehungen der Ukraina zum. moskowi-
tischen Reiche, wie diese Beziehungen durch den Vertrag vom Jahre 1654
geschaffen wurden, zu keiner Einigung gelangen können. Die einen sehen
darin eine Personalunion. Manche der Gelehrten vertreten die Meinung,
dass Ukraina durch den Vertrag ein Vasalle Moskaus geworden, andere
dagegen, dass der Vertrag der Ukraina bloss eine weitgehende Landes-
autonomie gewährleistete.
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Ukraina sowie in finanziellen Angelegenheiten. In der Tat
stand es so, dass die politische und die Finanzverwaltung dem
Wirkungskreis der Hetmanen vorbehalten blieben, doch
weigerte sich die moskowitische Regierung, die Unantastbar-
keit dieser Verwaltungszweige für die Zukunft zu garan-
tieren. In dieser Frage sowie in der Frage der Kirchen-
autonomie, die die moskowitische Regierung in den „Ar-
tikeln" anerkannt, aber späterhin um jeden Preis aufzuheben
trachtete, ist es bald zu Unstimmigkeiten zwischen der
ukrainischen und der moskowitischen Regierung gekommen.
In den letzten Jahren der Regierung Chmelnyzkyjs wurde
zu einem totalen Bruch mit Moskowitien gerüstet: die ukraini-
sche Regierung rechnete auf eine Unterstützung seitens
Schwedens und es wurde bereits ein Vertrag ausgearbeitet,
in dem Schweden seine Hilfe der Ukraina zur Gewähr-
leistung einer völligen Unabhängigkeit und Unantastbarkeit
des Landes versprach. Die ukrainischen Politiker hegten
augenscheinlich den Plan, die Ukraina als einen neutrali-
sierten Staat unter dem Schutz ihrer Nachbarn auszu-
gestalten. Der Misserfolg der letzten Kampagne Chmel-
nyzkyjs und der darauffolgende Tod dieses populären
Hetmans hat der Verwirklichung dieses Planes neue Hemm-
nisse gestellt.
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Der Kampf um das ukrainische Staatswesen
im 17. und 18. Jahrhundert.
fje Bestrebungen der ukrainischen Politiker liefen den
Tendenzen der moskowitischen Regierung zuwider*
an die die Ukraina durch den Vertrag vom Jahre
1654 gebunden war. Die moskowitische Regierung vertrat
den Standpunkt, dass die von ihr der Regierung Chmel-
nyzkyjs verliehenen Vollmachten nur vorübergehender
Natur seien und allmählich eingeschränkt werden sollen,
bis schliesslich die Ukraina zu einer Provinz des moskor
witischen Staates herabsinken werde. Die ukrainischen
leitenden Männer strebten dagegen danach, die Machtvoll-
kommenheit der Hetmanenregierung, wie sie zur Zeit
Chmelnyzkyjs faktisch bestand, sicherzustellen, dieselbe zu
kräftigen und vor jedweden Eingriffen seitens der mosko-
witischen Verwaltung zu schützen. Die Fragen betreffend
das Recht der moskowitischen Regierung, die Absetzung und
die Wahl von Hetmanen zu kontrollieren, moskowitische
Wojewoden, sei es auch als Militärkommandanten, für
ukrainische Städte einzusetzen, Steuern einzuziehen und
schliesslich die Frage der Kirchenautonomie gaben wieder-
holt Anlass zu Misshelligkeiten. Während die moskowitische
Regierung jede Verwirrung in der Ukraina, jede Schwierig-
keit in der Lage der waltenden Kosakenobrigkeit (Star-
schyna) dazu ausnützte, um die Einschränkung der Frei-
heiten, welche die Ukraina genoss, durchzusetzen, erweckte
jeder Versuch in dieser Richtung bei der ukrainischen Obrig-
keit ein heisses Verlangen, die Autonomie des Landes vor
solchen Uebergriffen zu schützen. Daneben tritt ein andere*
Bestreben zum Vorschein, nämlich das Bestreben, die
Autonomie auf das ganze ethnographisch-
ukrainische Territorium zu erstrecken, die
ganze Ukraina unter die Herrschaft der Hetmanen, die sich
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zur Zeit Chmelnyzkyjs tatsächlich auf die Dnieprlande be-
schränkte, zu stellen.
Anfangs wurden in dieser Beziehung Hoffnungen auf
Schweden gesetzt; doch hat Schweden bald den Feldzug
gegen Polen eingestellt und im Jahre 1660 Frieden ge-
schlossen. Darauf entschloss sich Hetman Wyhowskyj,
um den Schutz Moskowitiens loszuwerden, einen Vertrag
mit Polen zu schliessen, wonach Polen der Ukraina,
dem „Grossfürstentum ßusj" (dem ruthenischen Gross-
fürstentum), eine weitgehende Autonomie, als einem dritten
Gliede der polnischen Union, an der Seite des Grossfürsten-
tums Litaueö. gewährleistete. („Die Union von Ha-
djatsch 1658.")
Die ukrainische Regierung hat ein Manifest erlassen,
'in dem sie den europäischen Mächten ihren Bruch mit der
: moskowitischen Begierung notifizierte und die Gründe dieses
Bruches auseinandersetzte. In diesem Manifest wurde
auf das Abkommen der moskowitischen Begierung mit
Polen, auf den Plan, die ukrainische Autonomie zu er-
drosseln, und auf die Einmischung in die internen
ukrainischen Angelegenheiten verwiesen.
Diese Wendung der ukrainischen Politik hat bei der
moskowitischen Regierung einen starken Eindruck gemacht,
so dass sie bereit war, ihre Ansprüche auf die Anteilnahme
an der inneren Verwaltung der Ukraina fallen zu lassen, ja
sogar ihren Wojewdden aus Kyjiw abzuberufen. Doch hat
sich bald die Unhaltbarkeit des neuen Vertrages heraus-
gestellt: Das stark geschwächte Polen war nicht imstande,
den Hetman energisch zu unterstützen, und die ukrainischen
Volksmassen, die die Wiederherstellung des Schlachzizen-
regiraes befürchteten, wollten von der Herstellung der Be-
ziehungen zu Polen nichts wissen. Die polnischen Kreise
haben ebenfalls keinen aufrichtigen Wunsch gehabt, die neue
Union ehrlich durchzuführen. Die Polen hielten die Kon-
zessionen der Union von Hadjatsch für übermässig, während
die ukrainischen Kreise diese Konzessionen als unzureichend
ansahen. Wyhowskyj war gezwungen, auf sein Amt zu ver-
nichten, und sein Nachfolger hat die Beziehungen zu Mos-
kowitien wiederaufgenommen. Die „Starschyna" wollte bei
dieser Gelegenheit die ukrainische Autonomie gegen Ein-
mengungen seitens der moskowitischen Regierung sicher-
stellen, doch hat sich die letztere von den Schwankungen,
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welche der Vertrag von Hadjatsck hervorgerufen hatte,
bereits erholt und ihre ursprüngliche Politik wieder er-
griffen. Die Ereignisse, welche sich während der Regierung
Wyhowskyjs zugetragen, haben die inneren Missstimmig-
keiten zwischen der regierenden oberen Klasse (der
Starschyna) und den Volksmassen sowie den demokratisch
gesinnten Elementen aufgedeckt. Die letzteren missbilligten
die Bestrebungen der „Starschyna", zu einer pri-
vilegierten Klasse zu werden, und nahmen daher ihre Politik
mit Misstrauen auf. Die moskowitische Eegierung trachtete,
diese Gegensätze auf dem sozialen Boden für ihre Zwecke
in dem Kampf gegen die autonomistischen Bestrebungen der
ukrainischen Obrigkeit auszunützen. Um die Durchführung
ihrer Politik gegenüber der Ukraina zu erleichtern, schliesst
die moskowitische Regierung mit Polen ein Kompromiss, wo-
nach die Ukraina zwischen beide Staaten geteilt wird. Durch
den Vertrag vom Jahre 1667 sind Polen die ukrainischen
Gebiete westlich vom Dniepr gesichert worden, ausgenom-
men Kyjiw mit der nächsten Umgebung, die unter der mos*
kowitischen Oberherrschaft verbleiben sollten.
Diese Teilung des ukrainischen Territoriums hat in
der Ukraina eine allgemeine Entrüstung hervorgerufen. Sie
wurde als ein Vertragsbruch, als ein Angriff gegen die wich-
tigsten Lebensinteressen des ukrainischen Volkes empfunden.
Die Empörung des Volkes gegen die moskowitische Politik
hat zum blutigen Aufstand des Jahres 1668 geführt, in dem
sich die Bevölkerung der Ostukraina wie ein Mann gegen
Agenten der moskowitischen Regierung erhob und die mos-
kowitischen Garnisonen niedermetzelte.
An die Spitze der Autonomisten, die dem alten Plan
der Vereinigung aller ukrainischen Lande zu einem
ukrainischen Kosakenstaate treu geblieben, tritt Hetman
Doroschenko (1665 bis 1676). Da Polen und Moskowitien
sich versöhnt haben, versucht er andere Allianzkombi-
nationen, wendet sich unter anderem an den Kurfürsten von
Brandenburg und entschliesat sich endlich, zum alten Plan
des Chmelnyzkyj zurückzukehren, nämlich sich auf die
Türkei zu stützen. Die Hohe Pforte nahm die Ukraina
unter ihr Protektorat als einen Vasallenstaat auf und sagte
ihre Hilfe zu, um die Ukraina in ihren ethnographischen
Grenzen, „bis Peremyschl (Przemysl) und Sambor, bis an
di« Ufer der Weichsel und des Niemen, bis Siewsk und
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Putiwl", zu befreien. Im Feldzug 1672 wurde Polen wirklich
gezwungen, seine Ansprüche welcher Art immer auf „die
Ukraina in ihren alten Grenzen" zugunsten Dorosehenkos
aufzugeben (Vertrag von Butschatsch 1072). Für das nächste
Jahr wurde ein Feldzug nach den ostukrainischen Ländern
in Aussicht genommen, um den moskowitischen Ansprüchen
das Ziel zu setzen, doch ist der Feldzug nicht zustande
gekommen, wodurch die moskowitische Regierung Zeit ge-
wann, um sich vom Bangen und Schwanken, in welches sie
geraten war, zu erholen. Anderseits erhob sich unter der
ukrainischen Bevölkerung, die gegen das Verhalten des
türkischen Heeres auf dem ukrainischen Territorium im
^ Feldzug 1672 äusserst aufgebracht war, eine entschiedene
J Opposition gegen die türkenfreundliche Politik Doro-
sehenkos. Es begann eine massenhafte Auswanderung aus den
Ländern am rechten Dnieprufer auf das Gebiet am an-
deren Ufer.
Das hat dem Doroschenko den Boden entzogen.
Seine Versuche, beim Ausgleich der moskowitischen Re-
gierung wenigstens einige Konzessionen im Sinne seiner
Pläne abzugewinnen, haben zu keinem Erfolg geführt. Doro-
schenko sah sich gezwungen, sein Amt niederzulegen, und die
zentralistische Politik der moskowitischen Regierung konnte
neue Triumphe feiern.
Es wurden wieder einige neue Einschränkungen der
ukrainischen Autonomie durchgeführt, unter anderem wurde
auch die Autonomie der ukrainischen Kirche aufgehoben*
\ Die moskowitische Herrschaft in der Ukraina schien festen
Fuss gefasst zu haben.
Diese Herrschaft wurde nur durch den Nordischen
Krieg und die Erfolge Karl XII. in Polen und Russland
erschüttert. In ukrainischen Kreisen war das Bündnis mit
dem Vorgänger Karl XII., dem Karl X., noch in frischer
Erinnerung und die Pläne, vollständige Unabhängigkeit der
Ukraina unter Beistand Schwedens herzustellen, wenngleich
dieselben sich nicht verwirklicht haben, hatten jedenfalls
viel für sich, was in Bezug auf andere politische Kombi-
nationen nicht der Fall war. Besonders heisse Autonomisten
drängten in den damaligen Hetman, den berühmten Iwan
Masepa, er dürfe unter keiner Bedingung eine so
günstige Gelegenheit unausgenützt vorübergehen lassen.
Allein der alte Hetman zögerte, da er befürchtete, sich zu
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verrechnen, und entschloss sich erst dann an der Seite
Karl XII. aufzutreten, als der schwedische König den
ukrainischen Boden betrat (1708). Der Entschluss kam aber
zu spät. Die moskowitische Armee besetzte das ukrainische
Territorium, so dass es dem Hetman nicht einmal möglich
war, alle seine Regimenter dem schwedischen Heer anzu-
schliessen. Die Bevölkerung, durch schonungslose Mass-
regelung aller derjenigen, die dem Aufstand in irgendeiner
Weise nahestanden, eingeschüchtert, bekundete völlige
Teilnahmslosigkeit. Es war bald klar, dass der Aufstand
keine Aussichten auf Erfolg habe, und viele Befehlshaber
kehrten wieder unter die Gewalt Peters des Grossen frei-
willig zurück. Nach der Niederlage bei Poltawa (1709)
flüchtete Masepa mit Karl XII., begleitet von den ihm treu
-gebliebenen Würdenträgern und Kosaken, auf das türkische
Territorium. Ihnen folgten auch Saporoger, die sich unter
Leitung des Hordijenko, eines beharrlichen Unabhängig-
keitskämpfers, Karl XII. angeschlossen hatten. Anlässlich
der Wahl eines neuen Hetmans nach dem Tode Masepas, der
infolge der durchgemachten Erschütterungen bald danach
gestorben ist, wurde im Jahre 1710 eine interessante
konstitutionelle Urkunde verfasst, durch die die Gewalt des
Hetmans und die Anteilnahme des Heeres an der Ver-
waltung des Landes normiert wurde. Doch wurde diese
Urkunde nie zum Gesetz, da es dem neugewählten Hetman
Philipp O r 1 y k mit anderen Anhängern Masepas nicht
geglückt war, in die Ukraina zurückzukehren. Der Beistand
Schwedens und der Türkei hat keine wesentlichen Erfolge
gezeitigt und die Bemühungen Örlyks, in den folgenden
Dezennien die Mächte für seine Sache zu gewinnen, blieben
erfolglos. Das Saporoger Heer vermochte es nicht, die Ver-
bannung zu ertragen, und kehrte im Jahre 1734 unter die
russische Herrschaft zurück.
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Abschaffung der ukrainischen Autonomie
und das neue Abflauen des ukrainischen
Lebens im 18. Jahrhundert.
\ enn auch die ukrainische Bevölkerung und der über-
wiegende Teil der ukrainischen Würdenträger,
von den russischen Truppen überrascht, an der
Erhebung Masepas nicht teilgenommen hatten, gab dieser
Auftritt, den die Widersacher der ukrainischen Autonomie
zu einem ungewöhnlichen Ereignis aufgebauscht haben,
Peter dem Grossen und seinen politischen Katgebern dazu
Anlass, die Politik der langsam und stufenweise vor sich
gehenden Einschränkungen der ukrainischen Autonomie,
welche von der moskowitischen Regierung bisher befolgt
wurde, aufzugeben und zu einer gewaltsamen Aufräumung
mit den ukrainischen. Einrichtungen überzugehen.
Bis nun, das heisst bis 1708, hat die moskowitische
Regierung die Einsetzung der Hetmanen ihrer Kontrolle
unterstellt, indem das Heer des Rechtes verlustig wurde, die
Hetmanen eigenmächtig abzusetzen und die Neuwahl ohne
Kenntnis der moskowitischen Regierung vorzunehmen; in
wichtigeren Städten der Ukraina wurden moskowitische
Wojewoden samt Garnisonen einquartiert; der ukrainischen
Regierung wurde das Recht der diplomatischen Beziehungen
entzogen und die ukrainische Hierarchie ^urde dem Patri-
archen in Moskau untergeordnet. Die Verwaltung, Finanzen,
das Heer, die Wahl respektive die Einsetzung von Amts-
personen blieben dagegen, mindestens in Theorie, unan-
getastet. Ueber das Land regierte ein vom Heer gewählter
Hetman, dem die Heereswürdenträger (die General-Star-
schyna) zur Seite standen (die Heeresversammlung, das
höchste Regierungsorgan, wird nunmehr nur zur Wahl des
Hetmans einberufen) ; die Aemter werden teils durch die
Wahl des Heeres und der Stände, teils vom Hetman besetzt
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Nach Absetzung Masepas führte Kaiser Peter, eine
Kontrolle der autonomen ukrainischen Verwaltung ein,
welche zuerst durch russische Besidenten, dann von einem
Kollegium russischer Offiziere ausgeübt wurde, die alles,
was in die Kanzlei des Hetmans einlief und von derselben
ausging, kontrollierten. Der Kaiser begann ukrainische
Oberste (welche die Regimenter, das heisst Verwaltungs-
bezirke, in welche das Land eingeteilt war, verwalteten)
unmittelbar zu ernennen. Die Ukraina wurde durch russische
Truppen überflutet, zu deren Unterhaltung die Bevölkerung
hoch angesetzte Steuern und Abgaben leisten musste. Zum
Schluss, nach dem Tode des Hetmans Skoropadskyj (1722),
ist der Kaiser daran geschritten, die Gewalt der Hetmanen
gänzlich abzuschaffen. Die Opposition gegen diese Ver-
fügungen, welche sich unter den höheren Würdenträgern
der Hetmanverwaltung bekundete, hat Verhaftung der
Widerspenstigen und ihre Internierung zur Folge gehabt.
Nach dem Tode Peters ist die russische Regierung
selbst zur Ueberzeugung gekommen, dass die Umkehr
in der ukrainischen Politik zu gewaltsam erfolgte, und sie
hat es daher für ratsam befunden, den Eindruck des neuen
Kurses einigermassen abzuschwächen. Unter dem Druck der
Umstände hat die russische Eegierung ihre Einwilligung in
die Wahl eines Hetmans noch zweimal gegeben (in der Wirk-
lichkeit war das übrigens keine Wahl mehr, sondern eine Er-
nennung). Die Begierungszeit des letzten Hetmans Cyrill
Basumowskyj, die ziemlich lange währte, hat eine verhält-
nismässige Buhe eintreten lassen und ein ziemlich ungehin-
dertes Funktionieren der ukrainischen Obrigkeit gebracht,
dank der ausnahmsweisen Stellung, welche der Hetman bei
den regierenden russischen Kreisen, als ein Bruder des
morganatischen Gemahls der Kaiserin Elisabeth, genoss. Die
Buhepause wurde von der ukrainischen Obrigkeit dazu aus-
genützt, um in die Verwaltung einige Ordnung zu bringen —
sei es auch im Sinne ihrer Klasseninteressen — und den chao-
tischen Zustand, in den die Verwaltung durch die „Beformen*
der russischen Begierung gebracht wurde, abzuschaffen.
Allein mit der Thronbesteigung der Kaiserin Katha-
rina waren die Tage der ukrainischen Autonomie gezählt.
Die erstbeste Gelegenheit zum Vorwand nehmend (den An-
lass bildete die Petition betreffend Verleihung einer
erblichen Hetmanenwürde an die Familie Basumowskyj,
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für welche Petition Unterschriften gesammelt wurden), hat
Katharina den Rasumowskyj gezwungen, seine Würde
niederzulegen (1764), und unter Abschaffung der Ver-
waltung der Hetmanen ihren Generalgouverneur mit einem
Kollegium eingesetzt, das sich zu gleichen Teilen aus russi-
schen und ukrainischen Mitgliedern zusammensetzte.
Diese Reform hat in der Ukraina ein allgemeines
Missbehagen hervorgerufen. In den Instruktionen für
die Deputierten in die neue Gesetzgebungskommission haben
sich verschiedene Klassen und Gruppen des ukrainischen
Volkes mit einer bemerkenswerten Einmütigkeit in der For-
derung vereinigt, das Hetmanentum wieder herzustellen und
die „Artikel des Bohdan Chraelnyzkyj", die durch keinen
rechtsgültigen Akt abgeschafft worden waren, wieder als
iiismdUge der Beziehungen der Ukraina zu Bussland in Kraft
brachte Stimmung des ukrainischen Volkes vermochte es
nicht, die Kaiserin Katharina von dem gefassten Beschluss,
die Autonomie der Ukraina abzuschaffen und das Land zu
einer Provinz des Imperiums herabzusetzen, abzubringen. Im
Jahre 1775 wurde die Saporoger-Ssitsch, diese letzte Zu-
flucht der alten demokratischen Traditionen der Kosaken,
durch einen unerwarteten Ueberfall vernichtet. Im Jahre
1780 wurden die administrativen Einrichtungen der
Hetmanenzeit durch neue, mit dem russischen Imperium
gemeinsame, ersetzt, worauf auch die Abschaffung der mili-
tärischen Organisation der Kosaken in dem ehemaligen Het-
manengebiet erfolgte. Schon früher wurden Beformen der-
selben Art in der „Slobidska Ukraina" durchgeführt, die
dieselbe Organisation wie die Hetmanenukraina besass, wenn
auch dieses Gebiet in administrativer Hinsicht*) den Zentral-
•) Die Saporoger begaben sich wieder nach der Türkei (von dort
ist ein Teil der Kosaken nach Ungarn weitergewandert und hat sich im
Banat niedergelassen). Die dadurch beunruhigte russische Regierung hat
die Wiederherstellung des Saporoger Heeres beschlossen (1784) und den
Kosaken ein neues Gebiet an der Mündung des Kubanjflusses im Kau-
kasus zur Ansiedlung angeboten. Ein bedeutender Teil der Saporoger hat
diesem Ruf gefolgt und in den Neunzigerjahren des 18. Jahrhunderts wurde
das neue Schwarzemeerheer organisiert. Dieses Heer erachtet sich auch
bis jetzt als einen Nachfolger der Saporoger Tradition, wenn auch der Cha-
rakter des Heeres ein ganz anderer ist. Die anderen Kosakenmilizen Russ-
lands haben mit dem Kosakenheer der Hetmanenzeit Überhaupt gar nichts
gemein.
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stellen deslfcttöhes unmittelbar unterstellt war. Die Proteste
der Bevölkerung, 4a den Instruktionen des Jahres 1767 vor-
gebracht, blieben auÄ-^ürfolglos.
Um der Opposition der plBtisch am meisten entwickel-
ten herrschenden Klasse die Spitzfc **fceubrechen, hat die
Kaiserin das in der russischen Politik "säibewährte Mittel
ergriffen, indem sie verfügte, man solle dem YtJIkdtlarlegen,
dass ihre Reformen zum Zweck haben, das Volk fÜPT ^der
Ausbeutung seitens der Starschyna zu schützen. Das hinderte
jedoch die Kaiserin nicht, auf die Ukraina die Leibeigen-
schaft in der grausamen Form, wie diese im Imperium be-
stand, zu erstrecken (1783) und die ukrainischen Bauern der
Reste der alten Freiheiten, welche die Bauernschaft bisher
genoss, zu berauben.
Parallel mit den Massnahmen zur Unterdrückung des
politischen Lebens in der russischen Ukraina und zur Ver-
wischung aller Eigentümlichkeiten des Landes schritten
auch Unterdrückung und Vernichtung der kulturellen Selb-
ständigkeit der Ukraina. Die moskowitische Regierung hatte
ursprünglich im Sinne, das Kollegium zu Kyjiw (später
eine Akademie), das unter dem Schutze der Kosaken auf-
geblüht und zur leitenden Pflegestätte der Bildung in der
Ukraina emporgestiegen war, aufzulösen, und nur Vor-
stellungen von ukrainischer Seite, dass dieser Schritt die
äusserste Erbitterung in der ganzen Ukraina auslösen
wird, haben die Regierung von ihrer Absicht zurückgehalten.
Spätere Vorschläge der ukrainischen Kreise, die genannte
Schule in eine Universität umzugestalten und eine neue
Universität in Baturin, der damaligen Hauptstadt der
Ukraina, zu errichten (ein altes Verlangen, das in einer all-
gemeineren Form bereits in der Unionsurkunde von
Hadjatsch 1658 zum Ausdruck kam), wurden von der
Regierung abgelehnt. Die Regierung hat es vorgezogen,
dass das ukrainische Volk in Ermanglung entsprechender
höherer Schulen im eigenen Lande die jungen Leute in die
russischen Schulen im Reiche schickte; das war eine Mass-
regel, die auf Russifizierung abzielte, wie man auch der
ukrainischen Regierung nahelegte, die Eheschliessung der
Angehörigen der ukrainischen höheren Klassen mit Aus-
länderinnen zu verhindern, dagegen die Eingehung ehelicher
Bande mit den Grossrussinnen zu fördern.
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In der Geschichte der Unterdrückung des ukrainischen
kulturellen Lebens ist eine grosse Bedeutung der Unter-
stellung der ukrainischen , Kirche dem Patriarchen von
Moskau beizumessen. Bei den engen Beziehungen, welche
dazumal zwischen dem Schulwesen, dem Bücherdruck und
der Literaturproduktion einerseits und der Kirche ander-
seits in der Ukraina bestanden, wurde durch diese Massnahme
das gesamte geistige Leben des Landes einer überaus schwer-
lastenden und kleinlichen Kontrolle der Moskauer geist-
lichen Zensur preisgegeben, die dem kulturellen Leben der
Ukraina sehr empfindliche Schranken auferlegte. Aus diesen
Gründen ist auch der berühmte Ukas vom Jahre 1720 erlassen
worden, durch welchen in Kyjiw eine besondere Zensur-
behörde errichtet wurde, die zur Pflicht hatte, darauf zu
achten, dass in der Ukraina keine Bücher, mit Ausnahme
von Kirchenbüchern (und die letzteren auch nur nach alten
Auflagen und in genauer Uebereinstimmung mit den mosko-
witischen) in Druck gelegt werden, „damit kein Zwiespalt und
kein besonderes Idiom Platz greife". Durch diesen
Ukas wurde die Entwicklung des ukrainischen Schrifttums
gehemmt und dadurch wird die Tatsache erklärt, weshalb
seit dieser Zeit bis Ende des 18. Jahrhunderts kein einziges
Buch in ukrainischer Sprache oder in dem literarischen Ge-
misch der ukrainischen und kirchenslawischen Elemente,
welches vordem im literarischen Gebrauch üblich war, er-
schienen ist. Die Kyjiwer Lawra konnte nicht einmal die
Genehmigung zur Herausgabe einer ukrainischen Fibel
durchsetzen, obwohl sie darauf verwies, dass das Volk in der
Ukraina die moskowitische Fibel absolut nicht gebrauchen
will. Ueberhaupt ist es hervorzuheben, dass die äusserste
Schnüffelei der russischen Begierung all dem gegenüber,
was ati. die ukrainische Selbständigkeit erinnern konnte
*— wobei die Regierung vor grausamsten Gewalttaten
gegen höchstgestellte und verdienstvolle Persönlichkeiten
nicht zurückschreckte — auf das ukrainische Volk nieder-
schmetternd wirkte und dasselbe zwang, jede Aeusserung
seiner nationalen Bestrebungen zu unterdrücken und über-
haupt sein nationales Leben auf das geringste Minimum ein-
zuschränken. Und das Ergebnis dieser Zustände war
in der Tat eine fortschreitende nationale Entfremdung
der höheren Klassen des ukrainischen Volkes und ihre
Bussifizierung*
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Die Unterwerfung der Kirche in der Hetmanen-
ukraina dem Patriarchen von Moskau hat nicht bloss die
Ostukraina in ihrem nationalen Leben schwer betroffen. Es
wurde dadurch auch die hierarchische Einigkeit mit der
Westukraina berührt und die endgültige Einführung der
Kirchenunion in der letzteren gefördert. Das Ergebnis dieser
Massregel war, dass zu der Scheidewand, die dank den
politischen Grenzen und dank verschiedenen Wegen, welche
das gesellschaftliche und politische Leben in der östlichen
und der westlichen TJkraina einschlug, errichtet wurde, noch
die kirchliche und kulturelle Entfremdung hinzukam. Das
hat zu den Erfolgen der Polonisierung beigetragen, durch
die im Laufe des 18. Jahrhunderts das Volksleben in der
Westukraina immer enger eingeklammert wurde, während-
dem in der Ostukraina die Eussifizierung Triumphe feierte.
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Das ukrainische nationale Leben in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts.
jm Jahre 1772, bei der ersten Teilung Polens, ist die
Westukraina, das jetzige Ostgalizien, auf Grund alter
Ansprüche der ungarischen Krone auf diese Länder
der österreichischen Monarchie zugefallen; einige Jahre
später ist auch die jetzige Bukowina hinzugekommen, die
früher der Moldau gehörte. Der Uebergang der Westukraina
von Polen unter die österreichische Herrschaft hat ein neues
Wiedererwachen des nationalen Lebens im Lande zur
Folge gehabt. Die österreichische Regierung, die unlängst
Gelegenheit gehabt hatte, die traurige Lage der ukrainischen
Bevölkerung in Ungarn (Komitat Marmaros) kennen zu
lernen, hat Massnahmen zur Hebung des intellektuellen
Niveaus und zur Besserung der materiellen Lage der
griechisch-unierten Geistlichen nicht nur in Ungarn, sondern
auch in Galizien ergriffen. Bei der Bedeutung, welche der
unierten Kirche in diesem Lande im Laufe des 18. Jahr-
hunderts zukam, da diese Kirche in Galizien sich in eine
ukrainische Nationalkirche umgewandelt hatte und das
Schicksal ihrer Gläubigen in jeder Beziehung teilte, haben
diese Massnahmen wie auch die Pflege, welche die Regierung
der Hebung der Bildung der städtischen und ländlichen
Bevölkerung und der Besserung der sozialen und ökonomi-
schen Lage des Volkes angedeihen Hess, wichtige Folgen
gehabt. Wie bescheiden auch die wirklich durchgeführten
Besserungen waren und wie kurzlebig auch sich die
ruthenenfreundliche Strömung in der Politik der
Regierung erwies, so hat sie doch einen tiefen Eindruck
gemacht und das Selbstbewusstsein des ukrainischen Volkes
im Lande gehoben, indem sie dasselbe von dem Gefühl der
Hoffnungslosigkeit befreite, welches in den letzten Jahren
des polnischen Regimes Platz gegriffen hatte. Das Ergebnis
hievon war, dass auch nachdem die Regierung unter den
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Einf luss des polnischen Adels geriet und in ihrer Stellung-
nahme dem ukrainischen Element gegenüber eine peinlich
empfundene Reaktion eingetreten war, die Energie der
nationalen Bewegung nicht ins Stocken geriet und gewisse
Fortschritte im nationalen Bewusstsein und auf dem Gebiet
der nationalen Kultur in Galizien sich in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts immer mehr bemerkbar machten.
In ukrainischen Gebieten, die nach der Teilung Polens
unter russische Herrschaft gelangten (Wolhynien, Podolien,
das Gebiet am Westlichen Bug und das Kyjiwer Gebiet),
wurde dieser Uebergang von keiner Besserung auf dem
Gebiete des nationalen Lebens begleitet — eher umgekehrt.
Die schrankenlose Gewalt des polnischen (oder polonisierten)
Adels über den ukrainischen Bauer wurde unter dem Schutze
der russischen Behörden gefestigt und noch enger gezogen.
Die subalternen administrativen Organe waren gewöhnlich
ein williges Werkzeug in den Händen der polnischen
Aristokratie. Sogar die Versuche, an die orthodoxen und
polenfeindlichen Tendenzen der Begierung zu appellieren,
um sie zum Schutze des geknechteten ukrainischen Volkes
zu bewegen, nahmen für solche Protestanten ein trauriges
Ende, da jede Opposition gegen die Leibeigenschaft als eine
staatsgefährliche Erscheinung verpönt war. Alles, was in die
Domäne des polnischen Aristokraten nicht gehörte, also
die Schule, Kirche, Literatur, das Kulturleben wurde einer
rücksichtslosen Eussifizierung preisgegeben. Die Regierung
ging sogar daran, aus dem Gottesdienst alle landesüblichen
Eigentümlichkeiten auszumerzen, die an das Ukrainische
sich anlehnende Aussprache des Kirchenslawischen nicht
ausgenommen.
Dieser Umstand macht es erklärlich, warum die ersten
Symptome der sich aufs neue regenden nationalen Bewegung
in der russischen Ukraina im östlichen Teil, trotz der schein-
baren Eussifizierung derselben, zum Vorschein kommen.
Die Erinnerung an das ukrainische Staatsleben war
hier noch lange lebendig. Trotz aller sozialen Vorteile, die
die russische Regierung den oberen Klassen bei der Ab-
schaffung der Verfassung der Hetmanenzeit zuteil werden
Hess, war der Schmerz in den Herzen der ukrainischen In-
telligenz, die die verloren gegangene Autonomie des Landes
nicht verschmerzen konnte, sehr rege. Optimistisch ver-
anlagte Köpfe träumten von einer vom Ausland herrühren-
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den Intervention, die der Ukraina ihre Autonomie, wenn
nicht die politische Selbständigkeit zurückgeben sollte. Das
alles wurde jedoch, mit Rücksicht auf die misstrauische
Schnüffelei der russischen Administration, streng geheim-
gehalten, derartige Pläne wurden sehr selten schriftlich
aufgezeichnet und gelangten nur zufällig und lückenhaft
in die Oeff entlichkeit. So ist es erst vor kurzem bekanntge-
worden, dass einer der hervorragendsten Vertreter der
ukrainischen Aristokratie, Graf K a p n i s t, im Jahre 1791
Berlin aufgesucht hatte, um im Auftrag seiner Konpatrioten
die preussische Regierung über die Zustände in der Ukraina
aufzuklären. Er berichtete über die Unzufriedenheit unter
den Kosaken mit der Abschaffung der alten Einrich-
tungen und über die äusserste Erbitterung des ukrainischen
Volkes, das durch die „Tyrannei der russischen Regierung
und des Fürsten Potemkin" in Verzweiflung getrieben wurde.
Die Ukrainer wollten wissen, ob sie im Falle einer Erhebung
auf eine Unterstützung seitens der preussischen Regierung
rechnen dürften. Doch hat die preussische Regierung dem
Grafen K apnist eine ziemlich ausweichende Antwort
gegeben. Mit Vorstellungen gleicher Art hatten sich die
Ukrainer auch an die Regierung Frankreichs gewendet.
Spuren eines solchen Schrittes weisen die Akten der franzö-
sischen Diplomatie auf.
Es hat eine Zeitlang den Anschein gehabt, als ob die
Ordnung der alten Hetmanenzeit zurückkehren sollte.
Kaiser Paul, der die Politik seiner Mutter scharf missbilligte,
ist gleich nach seinem Regierungsantritt darangeschritten,
vieles von den Einrichtungen der Hetmanenzeit wiederher-
zustellen. Als Mann, der den Kaiser dazu bewogen hatte,
galt Minister Besborodko, ein ukrainischer Patriot.
Aber die Regierung des Kaisers Paul war von kurzer Dauer,
und sein Nachfolger Alexander kehrte zu den Prinzipien
Katharinas zurück. Er hat auch die von ihr geschaffene Ord-
nung in der Ukraina wieder in Kraft gesetzt. Als Erinne-
rung an die Hetmanenzeit ist bloss das Zivilrecht der auto-
nomen Ukraina geblieben, das bis in unsere Zeit hinein in
den Gouvernements Tschernyhiw und Poltawa geltend ist.
Die Hoffnungen auf Wiederherstellung der alten
Verfassung erwachten oftmals, als die russische Regierung
an die Werbung der Kosakenmilizen in der Ukraina schritt.
So war es im Jahre 1812 und während des polnischen Auf-
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Standes 1831, als die Behörden der Bevölkerung allerlei Er-
leichterungen in Aussicht stellten. Während des Krimkriege»
hat die Werbung von Freiwilligen eine Gärung unter den
Bauern hervorgerufen, da sie die Bückkehr der alten Ord-
nung erhofften. Alle diese Hoffnungen nahmen, gewöhnlich
ein ziemlich trauriges Ende, sie erweckten aber im ukraini-
schen Volke die politische Tradition. Die Regierung
wiederum nahm diese Erscheinungen zum Anlass, um ver-
schiedene vermeintliche Kandidaten auf die Hetmanenwürde
sowie andere wirkliche oder eingebildete Aeusserungen des
ukrainischen Irredentismus mit um so grösserem Miss-
trauen zu überwachen.
DieTraditionderKosakenzeit, die Erinne-
rung an die heldenhaften Kämpfe der Kosaken um die Un-
abhängigkeit, die idealisierten Gestalten dieser Bitter der
Freiheit und der Gleichheit, welche in der Ueberlieferung
der ukrainischen Intelligenz und in der Volkspoesie, be-
sonders in den Dnieprländern, in frischer Erinnerung fort-
lebten, weckten wirklich nicht nur patriotische Gefühle,
sondern auch politische Gedanken. DieStudienderGe-
schichte der Kosakenzeit und der Altertümer dieseij ,
Periode, die in ukrainischen Familien, Nachkommen der /
Kosakengeschlechter, mit Vorliebe betrieben wurden, di^ I
Sammlung der Denkmäler der Volksüberlieferung, die seit /
dem zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts /
sehr beliebt war, brachten diese Gestalten des nationalen
Heroenzeitalters immer wieder in Erinnerung und über-
lieferten sie von Geschlecht zu Geschlecht als ein heiliges
Vermächtnis der Vergangenheit und als eine Verheissung
der besseren Zukunft.
Die romantische Volksliebe, die, aus
Deutschland und den westlichen slawischen Ländern her-
kommend, sich unter der ukrainischen Intelligenz, besonders
seit den 1820er Jahren, verbreitete, hat das Interesse für
Tradition, Ethnographie und die Volkssprache noch mehr
verstärkt und sanktioniert, sowie überhaupt einen grossen
Einfluss auf die weitere Entwicklung der politischen und
nationalen Bestrebungen in derUkraina ausgeübt. Die Studien
der Ethnographie und der Volkssprache, die Erforschung
des Volkslebens, die Wiedergeburt der Literatur in der
Volkssprache, die um die Wende des 18. Jahrhunderts an-
setzt und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer
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neue Fortschritte macht, haben die ukrainische Intelligenz
dem Volk nähergebracht und die Entfremdung beseitigt,
welche eine der Ursachen der politischen Schwäche der
höheren ukrainischen Schichten, des Verfalles des ukraini-
schen Kulturlebens und der im 18. Jahrhundert erfolgten
Kussifizierung war. Die ukrainische Volksmasse wird in
der Auffassung der ukrainischen Intelligenz des 19. Jahr-
hunderts zur Hüterin der Schätze der nationalen Kultur, der
Kunst und der Volkspoesie von einer hohen, unerreichbaren
Schönheit. Aus dieser ästhetischen Verherrlichung des
Volkes entwickelt sich mit der Zeit der soziale und politische
Demokratismus, der in der Ueberzeugung gipfelt, daß die
soziale und nationale Wiedergeburt der Ukrainä nur im
engen Bündnis mit dem Volk, in der Hebung der Volks-
massen, in der Hingebung an die Interessen dieser Massen
ihre Grundlage finden kann.
Anderseits wird durch die Erschliessung der uner-
schöpflichen geistigen Schätze des Volkes das nationale
Selbstbewusstsein der Intelligenz unermesslich gehoben. Ein
Volk, das so gross ist, das ein riesiges Territorium bewohnt
und trotz der Ausdehnung und verschiedenartiger Hemm-
nisse, trotz politischer und religiöser Zerstückelung die ge-
meinsame nationale Eigenart, seine nur unbeträchtlich
variierende Volkssprache, seine Sitte, Ueberlieferungen und
Poesie so unberührt hergebracht hat, das Volk, welches eine
so klangvolle Sprache, die reichste Volkspoesie und Musik r
eine so prachtvolle materielle Kultur zu schaffen und auf-
zurichten verstanden hat, dieses Volk kann unmöglich zu-
grunde gehen ; es birgt das Unterpfand der Wiedergeburt in
einer besseren Zukunft in sich. Das wird zum Dogma der
ukrainischen Intelligenz, je mehr sich die oberwähnten
Strömungen und Erkenntnisse vertiefen. Aus ihrer früheren
Verworrenheit kommt die Intelligenz auf einen festen
Boden*).
*) Im Rahmen dieses Aufsatzes ist es mir unmöglich, in
nähere Erörterung der Tatsachen der literarischen und wissenschaft-
lichen ukrainischen Bewegung einzugehen. Diesem Gegenstand werde
ich vielleicht einen besonderen Aufsatz widmen, um das Problem der
ukrainischen Kultur, das heisst die ukrainische Bewegung vom Stand-
punkte der nationalen Kultur darzulegen.
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Die Entwicklung des ukrainischen politischen
Gedankens um die Mitte des 19. Jahrhunderts.
;nter den dargelegten Einflüssen bildete sich der
ukrainische politische Gedanke heraus, der, das
Sehnen nach entschwundener Unabhängigkeit und
nach den verhallten Ruhmestaten der Kosaken allmählich ab-
streifend, zu politischen Programmen und zur schöpfe-
rischen Arbeit in neuen Verhältnisen, im Geiste der An-
forderungen der Neuzeit überging. Das früheste einiger-
massen ausgearbeitete Programm ist uns aus den 1840er
Jahren bekannt. Dieses Programm wurde von der ukraini-
schen Organisation in Kyjiw, die unter dem Namen der
„Brüderschaft des Cyrill und Methodius" bekannt ist und
eine wichtige Bolle in der weiteren Bewegung spielte, auf-
gestellt. Die „Brüderschaft" wurde anfangs 1846 organisiert,
ihr gehörten die begabtesten und einflussreichsten Vertreter
der ukrainischen Intelligenz an (der Dichter Schewtschenko,
Ethnograph und Schriftsteller Kulisch, Historiker Kosto-
marow, Rechtshistoriker Hulak und andere), die einen zahl-
reichen Anhang fanden; wie eines der Mitglieder bezeugt, ist
im Laufe eines Jahres die Zahl der Mitglieder in verschiede-
nen Zentren der Ukraina, ungeachtet eines sehr konspirativen
Charakters der „Brüderschaft", auf hundert gestiegen.
Ihnen leuchtete das Ideal einer slawischen Föderation, ein
Bund der slawischen Bepubliken voran, unter denen auch die
ukrainische Republik als ein besonderes selbständiges Glied
auftritt. Die Verfassung sollte eine demokratische und
radikal-liberale sein: alle Privilegien und Standesunter-
schiede sind abzuschaffen; alles, was das Volk erniedrigt,
soll aufhören; es soll eine uneingeschränkte Freiheit des
Wortes, des Gedankens und der Religion garantiert werden;
es sind Massnahmen zur Hebung der allgemeinen und der
politischen Bildung des Volkes zu treffen. Folgende Mittel
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wurden zuerst zur Erreichung jener Ziele anempfohlen:
Schaffung einer populären Literatur für das Volk, An-
näherung an das Volk zwecks mündlicher Propaganda,
Fühlungnahme mit der Schuljugend der Mittel- und Hoch-
schulen, um die Jugend im Sinne der Ideen der „Brüder-
schaft" zu beeinflussen. Allein die praktische Betätigung der
„Brüderschaft" wurde im Keime unterdrückt, da schon im
Frühjahr 1847 die leitenden Männer der „Brüderschaft" in-
folge einer Anzeige eines Studenten, der die Gespräche der
Mitglieder der „Brüderschaft" belauscht hatte, verhaftet und
zu schweren Strafen, wie Gefängnis, Verschickung, Verbot
zu schreiben und Werke zu veröffentlichen, verurteilt
wurden.
Diese Massregelung hat einen gewissen Stillstand nicht
bloss in der Weiterentwicklung der ukrainischen politischen
Idee, sondern auch auf dem Gebiet der Kulturarbeit über-
haupt zur Folge gehabt, da die begabtesten und rührigsten
Vorkämpfer zur Untätigkeit verurteilt wurden. Als sie aus
der Verbannung zurückkehrten und ihre nationale Arbeit
wiederum in Angriff nahmen, wurden sie durch die dama-
ligen Verhältnisse (Abschaffung der Leibeigenschaft in
Kussland, Organisierung des Bauernstandes) zur Arbeit zum
Wohle des Volkes, wie Hebung der Bauernschaft, Schaffung
der populären Literatur, Errichtung der ukrainischen
Schulen, mit fortgerissen. Verfolgungen der ukrainischen
Literatur, die im Jahre 1863 unter der bekannten Losung des
damaligen Ministers des Innern Walujew: „Eine ukrainische
Sprache hat es nie gegeben, gibt es nicht und darf es nicht
geben", einsetzten, haben auch die Betätigung in dieser Rich-
tung unmöglich gemacht. Nachdem dann die Repressalien
nachgelassen hatten, wurde die kulturelle Arbeit in den
1870er Jahren wieder aufgenommen, wobei sich besonders
die Kyjiwer Organisation, die sogenannte „Hromada" (Ge-
meinde), in welcher sich die hervorragendsten Vertreter des
neuen Geschlechts der ukrainischen Intelligenz vereinigten,
hervorgetan hatte.
Die Tätigkeit der ukrainischen Intelligenz wandte sich
wieder der Kulturarbeit zu: der Erforschung der ukraini-
schen Denkmäler, der Geschichte, der Sprache und der
Ethnographie, der Förderung der ukrainischen Literatur,
des Theaters und der Musik sowie der Popularisierung der
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Wissenschaft in der Volkssprache. Die leitenden ukraini-
schen Kreise missbilligten die Tätigkeit der revolutionären
und terroristischen Geheimbünde, die die Rührigsten unter
der ukrainischen Jugend in einer grossen Anzahl an sich
rissen, unter anderem aus dem Grunde, weil die Revolutio-
näre zentralistisch gesinnt waren und die nationalen For
derungen der von Russland geknechteten Völker überhaupt,
des ukrainischen Volkes insbesondere nicht genügend be-
rücksichtigten. Die nationalgesinnten Ukrainer gravitierten
zu konstitutionell-liberalen Programmen, wobei man diese
Programme im Sinne des nationalen Autonomismus er-
gänzte, und legten ein besonderes Gewicht auf die wissen-
schaftlichen und kulturellen Bestrebungen der ukrainischen
Bewegung.
Trotz einer solchen Mässigung in der Gesinnung sah
die Regierung der Tätigkeit dieser ukrainischen Kreise mit
Unwillen zu, da sie eine nationalukrainische Bewegung
überhaupt verpönte, in was für loyalen und gemässigten
Formen sie sich auch immer äussern mochte. Die Re-
gierung hielt an dem Grundsatz der „Einheit des russischen
Volkes" fest, an dem Prinzip einer völligen Einheitlichkeit
der Literatursprache, der Schule, der Literatur und Kultur
für. alle ostslawischen Völker — Grossrussen, Ukrainer und
Weissrussen — so dass jede Bestrebung zur Schaffung einer
ukrainischen Literatur und Literatursprache, alles, was die
Hebung des nationalen Gefühls bei den Ukrainern fördern
könnte — somit auch die ukrainischen wissenschaftlichen
Forschungen — der Regierung unerwünscht, die „russische
Einheit" gefährdend schien. Der kulturelle Separatismus
war mach der Auffassung der Regierung bloss die erste
Stufe, die in weiterer Folge zum politischen, staatlichen
Separatismus führe. Der ukrainische kulturelle sowie auch
politische Separatismus wird der russischen Regierung zu
einem Schreckgespenst. Durch ihn wird ihre Stellungnahme
den ukrainischen Bestrebungen gegenüber bestimmt.
Daraus erklärt sich, warum sogar die bescheidene und
in politischer Einsicht ganz harmlose Tätigkeit der Kyjiwer
Ukrainer unterdrückt wurde. Die Institutionen und Press-
organe, die den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Tätigkeit
der Ukrainer bildeten, wurden unterdrückt, und im Frühling
1876 ist der berühmte Ükas erlassen worden, durch den
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das Schicksal der ukrainischen Bewegung für mehrere Jahr-
zehnte besiegelt wurde.
Danach wurde gestattet, künftighin nur historische
Denkmäler und belletristische Werke in ukrainischer
Sprache zu veröffentlichen, uüd das auch nur unter Beibe-
haltung der russischen Rechtschreibung und unter der
strengsten Aufsicht der Zensur. Ukrainische Konzerte,
Theatervorstellungen und Vorträge wurden gänzlich ver-
boten.
Diese Einschränkungen waren schon an und für sich
schwer genug, ihre Strenge wurde jedoch durch weitere
Auslegung der Zensur- und Verwaltungsbehörden noch we-
sentlich verschärft. Das Ergebnis war, dass nicht nur die
populäre und wissenschaftliche Literatur unterdrückt
wurde, was dem Sinne des Ukas entsprach, sondern
auch alle anderen Werke in ukrainischer Sprache zur
Drucklegung nicht zugelassen wurden. Man hat nur die
Veröffentlichung ganz inhaltsloser und unbedeutender
Schriften genehmigt. Dieser Zustand dauerte eine lange
Zeit, da der Ukas erst 1906 ausser Kraft gesetzt wurde. Das
Verbot betreffend die Konzerte und Theatervorstellungen
wurde bald de facto aufgehoben — auf Vorstellung der
Gubernialbehörden, die selbst zur Ueberzeugung gelangt
waren, dass das Verbot seinen Zweck verfehlt hat und nur
zur Aufreizung der Bevölkerung beiträgt — allerdings
wurden die Veranstaltungen dieser Art an überaus strenge
polizeiliche Vorschriften gebunden.
Und wirklich haben diese Einschränkungen nicht ver-
mocht, die ukrainische Bewegung in Bussland zu ver-
nichten, vielmehr im Gegenteil — sie führten eine Radikali-
sierung dieser Bewegung herbei und entzogen dem so-
genannten „Ukrainophilentum" den Boden, welches bestrebt
war, eine gemässigte, loyale Mittellinie einzuschlagen, da die
Politik der Regierung diese Richtung ebensowenig duldete
wie jedwede radikal-nationale Strömung. Es war ausge-
schlossen, die ukrainische Bewegung einfach aus der Welt
zu schaffen. Sie hat im Laufe des 19. Jahrhunderts zu viel
an kulturellen und politischen Kräften zugenommen, als
dass so etwas möglich gewesen wäre. Die Bewegung hatte
bereits bleibende Erfolge auf dem Gebiet der nationalen
Literatur und Kultur hinter sich. Sie fühlte einen festen
Boden in den Volksmassen einer 20 Millionen (zurzeit schon
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zirka 35 Millionen) zählenden Nation unter sich, die an
ihrer Nationalität hartnäckig festhielt und unerschöpfliche
Entwicklungsfähigkeiten erraten Hess, welche nur durch
äussere Bande eines reaktionären Eegimes festgehalten
wurden. Die ukrainische Intelligenz durfte ihre Pflichten
dem Volke gegenüber und ihre nationalen Ziele nicht ver-
leugnen. Wer aber in Treue ausharren wollte, der musste
zu seinem Ziele streben, ohne darauf zu achten, ab das den
regierenden Sphären lieb ist und wie sie sich demgegen-
über verhalten.
So kämpft die ukrainische Intelligenz in Russland
in den 1880er bis 1900er Jahren unaufhaltsam; fort*
indem sie trachtet, jede Möglichkeit für die nationale
Arbeit auszunützen, welche die russischen Verhältnisse ab
und zu boten. Was aber in Russland unmöglich verwirklicht
werden konnte, suchte den Weg über die Grenze auf den
Boden der österreichischen Ukraina.
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Die ukrainische Bewegung in Russland und
in Oesterreieh in den letzten Jahrzehnten.
ier Exodus der ukrainischen Männer und die Ver-
legung ihrer nationalen Tätigkeit nach der öster-
reichischen Ukraina, nach Lemberg, das zu einem
Zentrum des ukrainischen nationalen Lebens wurde, war
von einer grossen Wichtigkeit nicht nur für die ukrainische
Bewegung in Bussland, sondern auch für die nationale Ent-
wicklung der österreichischen Ukraina selbst. Schon seit
den 1860er Jahren, nach den ersten Proskriptionen des
ukrainischen Wortes in Bussland, hat dieser Zufluss zur
Erhaltung des ukrainischen nationalen Lebens in Oester-
reieh in einem sehr wichtigen, kritischen Moment in der
Entwicklung dieses Teiles des ukrainischen Volkes beige-
tragen.
Nach einer verlangsamten Bewegung des zweiten
Viertels des 19. Jahrhunderts — es war die Metternichära und
in Galizien war die Leibeigenschaft noch in voller Kraft, was
bei dem bäuerlichen Charakter des ukranischen Volkes in
Galizien ein grosses Hemmnis in der nationalen Wieder-
geburt bedeutete — kam der Lenz der österreichischen Völker,
das Jahr 1848. Die galizischen Buthenen waren damals die
Stütze der österreichischen Regierung in Galizien, was ihren
Fortschritt begünstigte. Die endgültige Befreiung der
Leibeigenen, die Anerkennung der kulturellen und po-
litischen Forderungen des ukrainischen (ruthenischen)
Volkes, die Errichtung der ersten ansehnlichen po-
litischen und kulturellen Institutionen, die wichtigen
Postulate kulturellen und politischen Charakters, welche
von den Ukrainern aufgestellt und von der Regierung
gutgeheissen wurden; die Nationalisierung der Schule, ein-
schliesslich einer ukrainischen Universität in Lemberg,
welche von der Begierung in sichere Aussicht ge-
stellt wurde — das alles hat in dem Leben der öster-
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reichischen, speziell der galizischen Ukraina eine neue
Epoche geschaffen.
Der Völkerfrühling war aber bald vorbei, viele Hoff-
nungen und Erwartungen, die man an ihn knüpfte, mussten
aufgegeben werden. In der darauffolgenden absolutistischen
Aera konnten die österreichischen Ukrainer, als ein bäuer-
liches Volk, das keine Aristokratie und keine Bureaukratie
besass, sich gegen die Konkurrenz dejr viel höher entwickelten
Polen, bei denen es eine einflussreiche Aristokratie und städ-
tische Intelligenz gab, nicht behaupten und so geschah es,
dass mit der Herstellung des Parlamentarismus und Ein-
führung der sogenannten Autonomie (Landes- und Bezirks-
autonomie) in den Sechziger jähren die gesamte Verwaltung
in Galizien in polnische Hände überging.
Konfisziert.
Das hatte ein Abflauen des vor kurzem noch so regen
nationalen Lebens unter den Ukrainern Galiziens zur Folge
und führte zu den Schwankungen in dem jungen, noch nicht
erstarkten Nationalgefühl der galizischen Ruthenen. Aus der
Psychologie der Verzweiflung an der Möglichkeit eines
selbständigen Emporkommens schiessen zum Schluss die
Keime der „russophilen" Strömung unter den Euthenen
empor. Die weniger widerstandsfähigen Elemente verliessen
unter dem Einfluss der Lockungen von der russisch-pan-
slawistischen Seite das ihrer Meinung nach schon verlorene
Banner und suchten Anschluss an die russische Kultur, die
schon herausgebildet war und auf festen Grundlagen ruhte.
Andere charakterschwache Elemente dagegen gingen in das
polnische Lager über.
Eben aus diesem Grunde war das Zuströmen der
frischen ukrainischen Kräfte, die infolge der seit 1863 ein-
setzenden Drangsalierung der ukrainischen Bewegung in
ltussland ihre Tätigkeit auf den galizischen Boden, in gali-
zische Zeitschriften und Institutionen verlegten, für das
galizische Kulturleben von einer nicht hoch genug anzu-
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schlagenden Bedeutung. Dieses Zuströmen hat den ukra-
inischen Elementen, die sich hauptsächlich aus der jungen
Generation rekrutierten und die dem im Jahre 1848 prokla-
mierten Programm treu geblieben waren, im kritischen Mo-
ment eine Stütze verliehen und ihnen geholfen, sich moralisch
aufzurichten und im politischen Leben Galiziens zur Gel-
tung zu kommen. Von 1880 angefangen ist diese „v o 1 k s-
tümliche" — wie sie genannt wurde — ukrainische
Richtung, die trotz der tiefgehenden Unterschiede, die das
Leben der österreichischen und der russischen Ukraina auf-
wies, enge Beziehungen zur ukrainischen Bewegung in
Bussland unterhielt, zur führenden Bolle in Galizien gelangt
und hat sich einen grossen Einf luss auf die Volksmassen er-
worben — was besonders in Bezug auf den linken Flügel
dieser Bichtung, die im Jahre 1890 entstandene radikale
Partei, gilt. Anderseits verdankt es die ukrainische
Bewegung in Bussland diesem engen Kontakt, dass sie galizi-
sche Hilfsquellen zu ihrer eigenen Entwicklung heran-
ziehen kann. Ukrainische Schriftsteller und Publizisten be-
teiligen sich eifrig an den galizischen Publikationen, an der
Organisierung von kulturellen und Bildungsanstalten. Den
Zeitraum 1880 bis 1905, also ein Vierteljahrhundert lang,
erscheint Galizien als ein sui generis geistiges Piemont der
ukrainischen Bewegung. Die galizischen Zeitschriften wur-
den zu einer gemeinsamen politischen Tribüne, wo die grund-
legenden Fragen, die im Leben der grossen russischen
Ukraina und der kleinen österreichischen auftauchten, er-
örtert und gelöst wurden. In den galizischen Institutionen
wurde mit vereinten Kräften der russischen und der öster-
reichischen Ukraina das gemeinsame national-kulturelle
Vermögen zusammengescharrt, wodurch die Voraussetzun-
gen für die Weiterentwicklung der ukrainischen Kultur ge-
schaffen wurden.
Es ist begreiflich, dass die ganze Bewegung, zum grössten
Teil über die Grenzen Busslands verbannt, einen unver-
söhnlichen Charakter der zentralistischen, prohibitorischen
Politik des russischen Begimes gegenüber annehmen musste.
Anderseits aber wendet sich die Bewegung mit einer
grossen Intransigenz gegen die polnische Schlachzizen-
herrschaft in Galizien. Es braucht nicht besonders her-
vorgehoben zu werden, dass die äusserst feindliche Haltung
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der russischen Kegierung all dem gegenüber, was auf den
ukrainischen Separatismus deutete — in dem weiten Sinn des
Wortes, den man diesem Termin in Kussland beizulegen
pflegte — der ukrainischen Bewegung jeden Weg zum
Opportunismus verschloss. In Oesterreich stand die polnische
Präponderanz als ein unüberbrückbares Hindernis zwischen
den Ukrainern und der Zentralregierung: jedes Kompromiss
mit der Kegierung hatte die Zustimmung der polnischen
Führer Galiziens zur Voraussetzung, was als eine Kapitulation
der ukrainischen Bewegung vor denselben gedeutet wurde.
Wenn sich unter den galizischen Politikern jemand fand,
der die Bereitwilligkeit bekundete, in dieser Richtung allzu-
,grosse Konzessionen zu machen, so rief das unvermeidlich in
den galizischen Volksmassen und unter den radikal gesinnten
russischen Ukrainern eine laute Unzufriedenheit hervor.
So war es in den 1890er Jahren, als die Führer der ukra-
inischen „Nationalpartei" ein Kompromiss mit der Kegie-
rung schlössen. Damals erhob sich unter den russischen
sowie den österreichischen Ukrainern eine entschiedene
Opposition, wodurch die Urheber des Kompromisses selbst
gezwungen wurden, dasselbe rückgängig zu machen. Eine
enge Fühlungnahme der beiden Teile der Ukrainer in diesen
Jahrzehnten und die gegenseitige Kontrolle in den Ange-
legenheiten des politischen und öffentlichen Lebens hat sich
für das nationale Leben in einem hohen Grad bewährt.
Der kulturelle Fortschritt in der russischen Ukraina
ist aber allen Drangsalierungen zum Trotz sehr weit ge-
diehen. Ai^f diese Jahrzehnte zum Beispiel entfällt ein
bemerkenswerter Aufschwung des ukrainischen Theaters,
welches sich eines ungewöhnlichen Zuspruches in allen
Schichten des ukrainischen Volkes erfreut, seinen Stil und
«eine Technik zu einer Vollkommenheit bringt und der Ent-
wicklung des nationalen Selbstbewusstseins hohe Dienste
leistet. Die ukrainische schöne Literatur hat eine ansehn-
liche Reihe talentvoller und vielseitiger Schriftsteller her-
vorgebracht, von denen das Niveau des literarischen
Schaffens bedeutend gehoben wurde. Endlich ist es ge-
lungen, das Verbot, das über der für das Volk bestimmten
populärwissenschaftlichen Literatur lastete, tatsächlich auf-
zuheben und der „Petersburger Wohltätigkeitsverein"
schafft in einem kurzen Zeitraum eine ansehnliche Anzahl
von Publikationen dieser Art. Die Tagespresse und die
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wissenschaftliche ' Literatur blieben allerdings weiterhin
eine verbotene Fracht — die Abschaffung dieses Verbotes
hat erst die neue Befreiungsepoche, die nach dem Kussisch-
Japanischen Krieg hereingebrochen ist, gebracht.
Die stürmischen Jahre 1904 bis 1906 haben alle an die
Oberfläche gebracht, die in den Abgründen der rassischen
Keaktion schmachteten. Das Hauptinteresse der Bauern-
massen — dieser Grundlage des ukrainischen Volkes — bil-
dete die Agrar reform; für die Intelligenz war die
Lösung der Verfassungsfragen von vitaler Wichtigkeit. Die
ukrainische Intelligenz, welche gemeinsam mit den Wort-
führern anderer enterbten Nationen auftrat, brachte ihre
nationalen Forderungen vor, indem sie vor allem die Auf-
hebung der Verbote, die das ukrainische Wort knebelten,
verlangte. Diese Frage wurde vom Ministerkomitee erwogen
und dasselbe ist zur Ueberzeugung gelangt, dass die Ver-
bote, die auf der ukrainischen Bewegung lasten, und der
Schade, der der Aufklärung der ukrainischen Massen durch
Unterdrückung der Literatur in ihrer Muttersprache an-
gerichtet wird, sich tatsächlich durch keine Bücksichten
rechtfertigen lassen. Die Universitäten Südrusslands haben
sich auf eine Anfrage des Ministerkomitees hin in demselben
Sinn geäussert und die Petersburger Akademie der Wissen-
schaften hat sich angelegen sein lassen, in einer ausführ-
lichen Denkschrift, die sie dem Ministerkomitee unter-
breitete, die geläufige Auffassung, als ob die russische (das
heisst grossrussische) Literatursprache eine allgemein-
russische, den Grossrussen und den Ukrainern („Klein-
russen") im gleichen Masse verständliche Sprache sei, sa
dass die Ukrainer keineswegs notwendig haben, die Literatur
in ihrer Muttersprache zu schaffen, als grundsätzlich falsch
zu widerlegen. In der Denkschrift wurde positiv betont, dass
die ukrainische Literatur eine natürliche und daher notwen-
dige Erscheinung ist. Dessenungeachtet ist eine Aufhebung
der auf dem ukrainischen Wort lastenden Verbote keineswegs
erfolgt. Das geschah erst mit der Erlassung der allgemeinen
Pressordnung im Jahre 1906. Durch dieses Gesetz wurden
alle speziellen Einschränkungen für einzelne Sprachen, so-
mit auch für die ukrainische, aufgehoben.
Das Ukrainertum wurde grundsätzlich aus den Fesseln
befreit, das Bestehen von ukrainischen Zeitschriften, Ver-
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einen und sonstigen Organisationen ist möglich geworden.
Die Verfassung des Jahres 1906, trotzdem sie viele
Einschränkungen unbehoben Hess, machte
es der ukrainischen Bevölkerung möglich, ihre Vertreter zu
wählen, so dass die erste und dann auch die zweite Beichs-
duma ansehnliche ukrainische Fraktionen von Bauernabge-
ordneten aufwiesen, die übrigens infolge der Kurzlebigkeit
beider Dumas keine Zeit hatten, etwas Bedeutendes zu
leisten.
Es schien, als ob sich vor der ukrainischen Bewegung
in Kussland recht erfreuliche Aussichten breiteten. Durch
die freiheitliche Bewegung in Bussland wurde auch in
Oesterreich eine Bewegung für die Einführung des allge-
meinen Wahlrechts gefördert. Im ukrainischen Leben Gali-
ziens ging ein ungewöhnlicher Aufschwung wie nie zuvor
vor sich. Es erwachten Hoffnungen, dass die grosse Ukraina,
von den sie fesselnden Banden in Bussland befreit, eine
Stosskraft auslösen werde, die auch die übrigen ukraini-
schen Lande in der Bichtung einer Emanzipation beein-
flussen wird. Diese Hoffnungen sind nicht in Erfüllung ge-
gangen: die Beaktion war den Hoffnungen und den Ver-
sprechungen, welche den Völkern Busslands in den Jahren
1905 und 1906 gegeben wurden, auf den Fersen, und die
Ukrainer haben den Schlag besonders schwer verspürt.
Ueberaus schwer hat sie vor allem die Abänderung der
Wahlordnung getroffen, durch welche die Bauern vom
Wahlrecht tatsächlich ausgeschlossen wurden. Die ukraini-
sche Bevölkerung hat auf diese Weise ihre Vertretung in der
Beichsduma eingebüsst. Die angekündigten Freiheiten — das
Koalitionsrecht und die Pressfreiheit — sind in Wirklichkeit
ausgeblieben, und das ukrainische Buch, die ukrainische Zei-
tung, die ukrainischen Vereine werden dabei besonders
streng verfolgt.
Vom Senat und dann durch das bekannte Zirkular
Stolypins betreffend „Vereine von anderssprachigen Natio-
nen" wurde wieder der alte Grundsatz der „Einheit und
Unteilbarkeit des russischen Volkes" verkündet und jede
Betätigung im ukrainischen nationalen Sinn, sei es auch
eine rein kulturelle, als ein „schädlicher Separatismus" ver-
urteilt. Es ist ein merkwürdiger Widerspruch, wenn die
Ukrainer, die angeblich ein Teil des unteilbaren russischen
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Volkes sind, des Rechtee auf die Pflege irgendwelcher Eigen*
tümlichkeiten ihres Volkes für verlustig erklärt werden und
zugleich mit den fremdsprachigen Nationen des russischen
Reiches in eine Reihe gestellt, verschiedene Einschränkungen
zum Vorteil des „russischen" Volkes über sich ergehen lassen
sollen. Die ukrainischen Vereine, die in vorangegangenen
Jahren entstanden waren, wurden fast durchwegs aufgelöst
und die Genehmigung zur Eröffnung von neuen Vereinen
wurde nicht erteilt. Ueber die Presse, insbesondere über die
Zeitschriften, ergingen unerhörte administrative Massrege-
lungen, so zum Beispiel, dass der ukrainischen Presse de
facto f ast jede Möglichkeit, auf das flache Land zu den
Bauernlesezirkeln zu gelangen, abgeschnitten wurde. Alles,
was die leiseste Sympathie mit dem Ukrainertum andeutete,
wurde als ein Verbrechen verpönt und die rücksichtslosesten
Repressalien über die derartiger Sympathien beschuldigten
Staatsbeamten, Angestellten, Studierenden, überhaupt über
alle, denen etwas anzuhaben wäre, verhängt. Das Ukrainer-
tum in Russland musste sich in seine alten Positionen zu-
rückziehen.
Unter dem Einfluss der erlebten Enttäuschungen er-
wachte in einem Teil der ukrainischen Gesellschaft in Russ-
land die Idee der ukrainischen staatlichen Unabhängigkeit
wieder. Die Idee der „selbständigen Ukraina" tauchte in den
heimlichen Vereinigungen der ukrainischen Jugend schon
in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts auf und wird nach
den erlebten Schicksalsschlägen mit erneuter Energie auf-
gestellt, wiederum hauptsächlich von den jüngeren Kreisen
der ukrainischen Intelligenz, die darin eine radikale Lösung
der schweren Lage erblickten. Den älteren Kreisen der
ukrainischen Intellektuellen erschien jedoch diese Idee nach
wie vor unter den bestehenden Verhältnissen als eine Utopie,
da deren Verwirklichung einen grandiosen internationalen
Kataklismus zur Voraussetzung hatte. Diesen realpolitisch
denkenden Kreisen erschien es als eine leichter zu verwirk-
lichende Aufgabe, auf der bestehenden internationalen Basis
nach einer weitgehenden Autonomie der ukrainischen Ge-
biete in Russland als eines autonomen Landes in dem Rahmen
der bestehenden Staatsorganisation zu streben. Doch auch
dieser „autonomistische" Gedanke stiess in Russland auf grosse
Schwierigkeiten — nicht nur bei der Regierung und den
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nationalistischen russischen Kreisen. Auch in den russischen
fortschrittlichen Parteien, zu denen die ukrainische Intelli-
genz ihrer Weltanschauung nach in engen Beziehungen
stand, fand diese Idee keinen Beifall. Nur dank den grossen
Anstrengungen und einem bedeutenden Aufschwung des
Ukrainertums in Bussland in den letzten Jahren gelang es
bei den russischen fortschrittlichen Parteien in den letzten
Jahren (1913 und 1914) eine gewisse Aenderung in der Hin-
sicht herbeizuführen. Diese fortschrittlichen Kreise haben
wenigstens gewisse ukrainische Forderungen als gerecht-
fertigt und ihre Berücksichtigung als dem russischen Staats-
interesse entsprechend anerkannt. Einen solchen Charakter
hatten die bekannten Auftritte der sogenannten Kadetten-
partei, der Arbeitspartei („trudowyky") und der Sozial-
demokraten in der Session der Reichsduma 1913/14.
Ebenso macht sich bei den galizischen Ukrainern seit
dem Jahre .1900 eine starke Bestrebung nach dem Erlangen
einer nationalen Autonomie Ostgaliziens in dem Rahmen des
österreichischen Staates bemerkbar, diese nach einer „Tei-
lung des Landes" ip zwei Kronländer : 1. „Königreich Ga-
lizien und Lodomerien" (ukrainisch) und 2. „Grossfürsten-
tum Krakau mit den Fürstentümern Zator und Auschwitz"
(polnisch). Unter anderem stützen die österreichischen
Ukrainer dieses Postulat auf die geschichtliche Tatsache, dass
das sogenannte Ostgalizien („Königreich Galizien und Lodo-
merien") aus einem anderen staatsrechtlichen Titel und in
einer anderen Zeit als das sogenannte Westgalizien („Gross-
fürstentum Krakau" u. s. w.) von Oesterreich annektiert
wurde, wie auch dass bis zum Jahre 1809 beide Landesteile
als zwei besondere Kronländer bestanden. Selbst die parla-
mentarische Wahlreform, die zirka 30 ukrainische (gegen
76 polnische) Abgeordnete in das „Volksparlament" brachte,
und nachher die galizische Landtagswahlreform des Jahres
1914, die nach längeren Verhandlungen den Ukrainern
27 Prozent der Mandate im galizischen Landtag gab, konnten
diese Bestrebungen nach der nationalen Autonomie nicht
abschwächen. Die polnischen politischen Kreise widersetzten
sich ohne Unterschied dieser Bestrebung der galizischen
Ruthenen aufs entschiedenste.
Bei diesem Stande der Dinge ist — früher als man es
vermuten konnte — der ganz Europa umbrausende Sturm
hereingebrochen, von welchem so viele Völkerschaften eine
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radikale Aenderung ihrer Lage erhoffen und der so wichtige
Probleme lösen soll. Auch die Ukrainer haben an den Welt-
krieg grosse Hoffnungen geknüpft. Die nahe Zukunft wird
uns eine Entscheidung bringen. Jeder Kenner der osteuro-
päischen Verhältnisse muss aber im voraus sagen, dass —
wenn die ukrainische Frage durch diesen Weltkrieg nicht
gelöst werden wird — dieselbe eine Quelle neuer Erschütte^
rungen in Osteuropa bilden wird. Das ukrainische Problem
kann weder aus der Welt geschafft noch totgeschwiegen
werden. Es hat sich derart zugespitzt und ist bereits in ein
Stadium getreten, wo es nur durch eine Politik des positiven
Schaffens gelöst werden kann.
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Im Verlag des Bundes zur Befreiung der
Ukraina sind bisher folgende Broschüren
erschienen:
In deutscher Sprache :
1. M. Hmschewskyi: Sin UeberbUck der Geschichte der
ukraina. Wien 1914.
2. Der Erleg, die Okralna und die Balkanstaaten. Wien 1916.
Inhalt : Dr. L. Cehelskyj: Wie Russland die Ukraina „befreite". Die
Beziehungen der Ukraina zu den Balkanvölkern: Ukrainer und Rumänen.
Die Ukraina und Bulgarien. Die Ukraina und die Türkei. — Die Aufrufe
des Bundes zur Befreiung der Ukraina an die Rumänen, Bulgaren, Türken
und an die Öffentliche Meinung Europas. Das Programm des Bundes.
3. George Glelnow : Das Problem der Ukraina. Wien 1915.
4. M. Hmschewskyi: Die ukrainische Frage In historischer
Entwicklung. Wien 1915.
In rumänischer Sprache :
Bnssla Tarlsta — asnprltoarea popoarelor. Bukarest 1914.
In italienischer Sprache :
8. Bndnlskyl : L'Ucraina egll UcralnL Rom 1914.
W. Doroscenko: Brevl cennl del parüti polltlcl dell 9 ücralna.
Rom 1914.
In bulgarischer Sprache :
HL Hmschewskyi: Prlgled na vkralnskata lstorlfa. Sofia 1914.
Dr. L. Cehelskyf: He oswobodytelnlca a potisnica na naro-
dltl (Kak Rusia „oswobodzawa« Ukraina). Sofia 1914.
In türkischer Sprache :
Ukraina! Bnssland und die TttrkeL Konstantinopel 1915.
In tschechischer Sprache :
H. Bocikowskl: Ukrajlna a «kraflnskA otdzka. Prag 1915.
Ausserdem wurde vom Bunde zur Befreiung der Ukraina eine ganze
Reihe Flugschriften in deutscher, italienischer, schwedischer, rumänischer,
bulgarischer, franzosischer und englischer Sprache sowie mehrere Bücher in
ukrainischer Sprache herausgegeben.
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Mitteilungen das Bundes
cur Befreiung der ükralna
«tdafcttoii und Bdmtnlarnrttoa; OJian Olli,
JoacftaKtaMtritratM 79 « T#l«püoo 1 3A30
Preis per Nummer 10 Heller, manai
40 Heller, viertel jährlich K i 20, giuujahrlg 4 JC
Nachdruck mit voller Quellenangabe gestattet
Herautg aber und verantwortlicher Redakteur:
Omalan BatadirnakyJ
Redigiert vom Komitee des Bundes ^u^
Befreiung der Ukraine
ErMMId Im ZHImtbira H. NMiML Wien I, «Ml teilt II
Wistnyk Ssojusa
wyswolennja ükrajiny
Nachrichtenblatt das Bundes
zur Befreiung der Ukraina
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W o m i t in
Redigiert vom Komitee
verantworte Redakteur.
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Herausgeber und
OmaJon Bcrtachy naky]
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on the date to which renewed.
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LD 2lA-50m-S/58
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Berkeley