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Zwei Erzählungen
von
Sanıy Sewald.
Im unterzeichneten Verlage erſcheinen demnächſt und ſtnd
durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
Fanny Lewald's
geſammelte Werke.
Neue elegante Ausgabe.
In 30 vierzehntägigen Lieferungen & 15 Sgr.
Der vorläufige Inhalt dieſer neuen Ausgabe iſt folgender:
Meine Lebensgeſchichte. Abtheilungen.
Erſter Band: Im Vaterhauſe.
Zweiter Band: Seidensjahre.
Dritter Band: Wanderleben.
(Zujammen 9 Lieferungen.)
2. Von Geſchlecht zu Geſchlecht. Roman in 2 Abth.
Erſte Abtheilung: Der Freiherr.
Zweite Abtheilung: Der Emporkömmling.
(Beide zuſammen 12 Lieferungen.
3. Clementine. Auf rother Erde. Jenny.
Eine Lebensfrage. |
(Zujammen 9 Lieferungen.)
Verlags⸗Buchhandlung von Otto Janke
in Berlin.
Die Alnzertrennlichen.
Pflegeeltern.
Zwei Erzählungen
von
Fanny Lewald.
Das Recht der Ueberſetzung iſt vorbehalten.
Berlin, 1871.
Druck und Verlag von Otto Janke.
Die Inzertrennliden.
Fanny Lewald, Neue Erzählungen.
Erſtes Capitel.
Es war im Frühling des Jahres achtzehnhundert⸗
ſechsundſechzig. Der Krieg gegen Oeſterreich war erklärt
worden, die Truppen zum großen Theile ausgerückt, die
Stimmung in Berlin war ernſt, ohne deshalb gedrückt zu
ſein. In ganz Preußen hatte man mit Widerſtreben an
dieſen deutſchen Bruderkrieg gedacht. Die Bürger hatten
Abgeordnete an den König geſendet, um es demſelben aus⸗
zuſprechen, wie ſehr man dieſem Kriege Deutſcher wider
Deutſche abgeneigt ſei, und man wußte, daß auch der
König ſelber ihn zu vermeiden gewünſcht hatte. Nun
der Entſcheidungskampf unvermeidlich und beſchloſſen
worden war, ging man ihm wie einer traurigen Noth⸗
wendigkeit feſten Herzens und feſten Sinnes entgegen,
und es gab kaum eine Familie im Lande, die nicht
einen der Ihren zum Feldzug zu entlaſſen hatte.
Aus den Hörſälen und von den ee der
Fanny Lewald, Neue Erzählungen.
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Univerfitäten, von den Kathedern der Schulen, aus
den Gerichtshöfen und von der mediziniſchen Praxis,
aus den Comptoirs und von den Unternehmungen der
Induſtrie, ging die Landwehr, gingen die Jünglinge
und Männer zum Heere ab, und wer geſtern noch das
Kleid des friedlichen Bürgers getragen hatte, zog heute
in der Landwehr⸗Uniform in den Reihen oder an der
Spitze ſeiner Compagnie zum Sammelplatze.
Auch die ganze Mitwochs-Geſellſchaft ſtand jetzt
unter den Waffen. Sie hatte ſich einige Jahre vor⸗
her aus einer Anzahl junger Männer von den ver⸗
ſchiedenſten Berufsarten zuſammengeſetzt und keinen
anderen Zweck gehabt, als den eines regelmäßigen Zu⸗
ſammentreffens an einem beſtimmten Orte. Gerade
aber weil die Studien und die Thätgkeit der jungen
Männer ſo mannigfaltiger Art geweſen waren, hatte
es niemals an einer belebten und förderſamen Unter⸗
haltung gefehlt und jugendlicher Frohſinn hatte mit
ernſten Geſprächen in aller Zwangloſigkeit eine glück⸗
liche Abwechslung geboten. Eine längere Zeit hin⸗
durch war man der Reihe nach bei den verſchiedenen
Theilnehmern zuſammengekommen, bis ſich ihnen in
dem Doktor Claudius ein neuer Gefährte zugeſellt hatte.
Claudius war um ein Bedeutendes älter, als der
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ganze übrige Freundeskreis, von dem noch keiner fein
dreißigſtes Lebensjahr erreicht hatte. Er war von
Hauſe aus reich begütert, hatte archäologiſche und
kunſthiſtoriſche Studien betrieben und hatte ſich, obſchon
unverheirathet, in der Hauptſtadt eine Häuslichkeit ge⸗
gründet, deren edle, ſtylvolle Einrichtung, deren maß⸗
volle und doch freigebige Gaſtlichkeit von allen denen,
welche derſelben theilhaftig geworden, als ein in ſeiner
Art Unvergleichliches geprieſen wurden. Ein zufälliges
Begegnen hatte ihn mit dem Architekten Manfred zu⸗
ſammengeführt, der einer der eifrigſten Aufrechterhalter
des Vereines war; dieſer hatte ihn allmälig mit der
ganzen übrigen Geſellſchaft bekannt gemacht, und da
Claudius ſich trotz ſeiner achtundvierzig Jahre eine
große Jugendlichkeit des Sinnes und eine eben ſo leb⸗
hafte Empfindung bewahrt, hatte Manfred, als die
Reihe der Bewirthung wieder an ihn gekommen war,
es endlich gewagt, Claudius zu ſich einzuladen, der
dieſer Aufforderung freundlich nachgekommen war.
Im erſten Augenblicke hatte die Anweſenheit des
älteren Mannes etwas Befremdliches für die jungen
Leute gehabt, aber Claudius' Bildung war vielſeitig,
ſeine Erlebniſſe und ſeine Erfahrung waren reich, und
er war ſeiner und ſeiner Bedeutung ſo durchaus ge⸗
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wiß, daß er es nicht nöthig fand, ſich irgendwie gel-
tend, ſeine Bedeutung irgendwie fühlbar zu machen.
Das gab ſeinem Betragen und ſeiner Würde immer
etwas Freies und Unbefangenes, und noch ehe jener
erſte Abend vorüber gegangen war, hatte die ganze
Geſellſchaft für ihre nächſte Zuſammenkunft eine Ein⸗
ladung in ſein Haus empfangen und auch angenommen.
Ein paar Male noch hatte man ſeitdem mit dem
üblichen Wechſel des Zuſammenkunftortes fortgefahren
und Claudius war immer mit dabei geweſen; dann aber,
als er fühlte, daß der ganze Kreis der jungen Männer
ſich an ihn gewöhnt habe, hatte er den Vorſchlag ge⸗
macht, man möge ſeiner Bequemlichkeit zu Liebe und ſei⸗
nem Alter zu Ehren, ein für alle Male ſein Haus
zum Rendezvous benützen, und da er ſeiner Weiſe
nach, weiter darauf keinen Anſpruch für ſich gründete,
hatte es ihn nicht viel Ueberredung gekoſtet, dieſes An⸗
er bieten ſeinen jungen Freunden annehmbar zu machen.
Nun war man zwei Jahre lang an jedem Mit⸗
woch in ſeinem Hauſe beiſammen geweſen, die jungen
Männer waren ihm werth und werther geworden, an
Jedem von ihnen hatte er Antheil nehmen lernen, ihr
geiſtiges Streben, ihr Vorwärtskommen hatten ihn be⸗
ſchäftigt und gefreut. Er kannte ihre Lebensſchickſale,
Dem und Jenem hatte er in den Wirren und Irr⸗
thümern, die kaum einem Jünglinge erſpart bleiben,
warnend, aufklärend, berathend und helfend zur Seite
geſtanden und es hatte ſich ſo allmälig ein wahrhaft
ideales Verhältniß zwiſchen ihm und ſeinen jüngern
Freund en herausgebildet. Sie erſetzten dem Einſamen
die Familie, welche ſich zu gründen eine traurige Er⸗
fahrung ihn abgehalten hatte, und obſchon auch er die
Nothwendigkeit dieſes Krieges anerkannte, fiel es ihm
wie einem Vater ſchwer, als von ſeinen jungen Freun⸗
den einer um den anderen zu ihm kam, ihm ſein Lebe⸗
wohl zu ſagen.
Am Morgen waren die beiden Jüngſten der Ge⸗
noſſenſchaft noch bei ihm vorgeſprochen. Johannes
war Mediziner und hatte ſeine Studien nahezu been⸗
digt, Egon war Berufsſoldat und Lieutenant in der
Artillerie. Sie waren Landsleute und Beide in dem
höchſten Norden Deutſchlands heimiſch. Schon als
Knaben hatten ſie mit einander geſpielt, die Schule
und das Gymnaſium hatten ſie zuſammen beſucht, bis
Egon in das Militär getreten war; und ſie hatten es
als ein Glück begrüßt, als ihre verſchiedenen Studien
ſie in Berlin auf das Neue einander zugeführt hat⸗
ten. Man nannte ſie nur die Unzertrennlichen, ſie
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hingen mit der ſchönen Begeiſterung der Jugend an
einander, und ſie hatten Grund ſich gegenſeitig hoch
zu halten, denn ſie waren einander an glücklicher Be⸗
gabung, an Redlichkeit des Willens, an ernſtem Stre⸗
ben innerhalb ihres gewählten Berufes durchaus ähn⸗
lich; nur in ihren Glücksverhältniſſen und in dem
Grunde ihrer Charaktere waren ſie durchaus verſchieden.
Egon's Mutter ſtammte aus einer alten katho⸗
liſchen Grafenfamilie und hatte nach den Begriffen
derſelben einen nie zu verzeihenden Fehltritt begangen,
als ſie mit dem Lieutenant von Raven, der ein Pro⸗
teſtant und völlig unbemittelt war, aus dem Hauſe
ihrer Eltern entfloh. Die ganze ſtolze Familie hatte
ſich damals für immer von ihr abgewendet, und auch
das Glück ihrer jungen Jahre war ihr nicht treu ge⸗
blieben. Ihr Gatte war früh geſtorben, von drei
Kindern war ihr keines als Egon am Leben geblieben,
und all ihr Lieben und Hoffen, ja ihre ganze Aus⸗
ſicht für die Zukunft, waren an dieſen Sohn geknüpft.
Unter den ſchwerſten Entbehrungen hatte fie ihn mit
den geringen Mitteln erzogen, welche die Peuſion einer
Hauptmannswittwe ihr darboten; wenn er gegen ſeine
Altersgenoſſen in dem Kadettenhauſe zurückſtehen mußte,
hatte ſie ihn auf ſich ſelbſt und auf das ideale Leben
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hingewieſen, das Jeder in ſich trägt und Jeder in ſich
führen kann, und weil ſie ihn gegen die Verlockungen
der Welt zu ſichern gewünſcht, hatte ſie ihn ſo viel
als möglich an ſich zu feſſeln und ſeine Ehrbegriffe
zu entwickeln geſtrebt. Er war auf dieſe Weiſe früh⸗
zeitig mit dem Ernſt des Lebens vertraut geworden
er war ſittlich rein und jeder Leichtfertigkeit abhold
geblieben, aber er war auch reizbar und mißtrauiſch,
verſchloſſen und leicht verletzlich dadurch geworden,
und ſeine Ehrbegriffe gingen bis zur Ueberſpannung.
Es hatte einer ſo warmherzigen Natur, wie die ſeines
Freundes Johannes bedurft, um Egon's Herz zu er-
ſchließen. Er hatte nie einen andern Freund gehabt
als ihn, und kaum in das Jünglingsalter eingetreten,
hatte er es oftmals gegen Johannes ausgeſprochen,
daß er eigentlich ſich nicht ſelber angehöre, weil ſeiner
Mutter Schickſal völlig auf dem ſeinigen beruhe.
Um ſo unabhängiger ſtand Johannes da. Er
hatte nicht Vater und nicht Mutter; er und ſein um
zehn Jahre älterer Bruder waren früh verwaiſt, ein
Onkel hatte ihr Vermögen verwaltet, das eben groß
genug war, ihnen eine anſtändige Freiheit zuzuſichern,
und Freiheit hatte der Onkel den beiden Brüdern über⸗
haupt gelaſſen, da die gutartige Anlage der jungen
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Männer ihm keine Urſache geboten hatte, fie irgendwie
zu hindern oder ſie zu beſchränken. Beide Brüder
hatten jetzt den Feldzug mitzumachen. Der ältere war
bereits als Rath in einem Regierungskollegium ange⸗
ſtellt, aber ſie ließen keinen nahen Angehörigen zurück,
und Johannes war eben deshalb, als er in Beglei⸗
tung ſeines Egon, dem er mit der ganzen Schwär⸗
merei der Freundſchaft ergeben war, dem Doctor Clau⸗
dius ſein Lebewohl zu ſagen kam, bei weitem leichteren
Sinnes und freieren Herzens als der junge Offizier.
Der Doctor hatte aber gerade für dieſen ſtets
eine beſondere Theilnahme gehegt und der ſchwer⸗
müthige Ernſt, welcher auf der edeln Stirne des
Jünglings lagerte, erſchreckte Claudius; denn von
ſeiner antiken Bildung war ein Zug antiken Aber⸗
glaubens in die Seele des Archäologen übergegangen,
und der Schatten der Sorge, der über dem Jüngling
ſchwebte, kam Claudius wie ein Unheil verkündendes
Omen vor. Er mochte Egon mit dieſem düſtern Blick
nicht von ſich ſcheiden laſſen, es überfiel ihn auch ſel⸗
ber ein Schmerz bei der Vorſtellung, daß nun die
beiden Letzten des ganzen fröhlichen Kreiſes von ihm
gingen, und plötzlich von einem Gedanken erfaßt, rief
er, als jene bereits ihre Helme ergriffen hatten, um
a
ſich zu entfernen: „Nein! So laſſe ich Sie noch nicht
von mir. Es iſt ja heute Mitwoch und jedes Wieder—
ſehen iſt ein Ueberwinden des Todes! Was hindert
uns denn, ſammt und ſonders, da glücklicher Weiſe
Alle noch in der Stadt beiſammen ſind, noch einmal
zuſammen zu kommen? Ich ſehe Sie Alle heute Abend
noch bei mir. Die Einladungen ſchreibe ich ſofort,
und da Einige von Ihnen vorausſichtlich in ihren Fa⸗
milien feſtgehalten ſein werden, ſo will ich Sie erſt
um eilf Uhr hier bei mir erwarten. Ein paar Stun⸗
den bleiben wir dann noch beiſammen, und dann ſchei⸗
den wir. Auf heut' Abend alſo um eilf Uhr!“
Zweites Capitel.
In Claudius' Hauſe war man den ganzen Tag
hindurch auffallend geſchäftig. Arbeiter mancher Art
gingen der Dienerſchaft zur Hand, der Hausherr ſelber
überwachte mit kunſtſinnigem Auge Alles, was man
vorbereitet, und als um die feſtgeſetzte Stunde die
jungen Gäſte den Saal betraten, in welchem fie ge⸗
wohnt waren, ſich bei Claudius zu treffen, erkannten
ſie das ihnen ſo vertraute Gemach kaum wieder.
Der ganze Raum. Wände, ſo wie Fenſter, war
mit einfarbigem Stoff bekleidet, der die reiche Bilder⸗
ſammlung verhüllte, alle Möbel waren aus dem Saale
entfernt, nur den Flügel und die Büſten des Jupiter
Otricoli, des Belvederiſchen Apoll und der Venus von
Milos hatte man auf ihren gewohnten Plätzen ge⸗
laſſen, und ihnen einen Hintergrund von ſüblichen
Sträuchen und Gewächſen gegeben. Eine lange niedrige
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Tafel mit leichten Speiſen, mit Früchten und Geträn⸗
ken wohl beſetzt, nahm die Mitte des Saales ein,
Polſterſitze umgaben ſie; alle Geräthſchaften auf der
Tafel waren antik, für jeden der Geladenen ſtand der
mit Epheu bekränzte Becher auf dem Tiſch, für Jeden
lag ein Kranz bereit, und beleuchtet von dem Schein
des hellen Lichtes, das von der Decke und von den
Lampen auf den Kandelabern in den Ecken des Ge-
maches niederſtrömte, ſtand Claudius mitten in dem
Saale, ſeine Gäſte zu empfangen.
Einer um den Andern blieb betroffen ſtehen.
Man wußte ſich den Vorgang nicht zu deuten. Allen
lag der Abſchied von den Ihren noch ſchwer auf der
Seele, man war noch ſo eng verwachſen mit dem Er⸗
leben eben dieſer letzten Stunde, man hatte ſich von
Vater und Mutter, von Brüdern, von Schweſtern und
von Bräuten losgeriſſen — die Stirnen waren noch
von den Thränen der Zurückgebliebenen bethaut, man
fühlte noch die ſegnende Hand auf dem geneigten
Haupte, noch den bebenden Händedruck der Eltern,
noch die Arme der Braut, die ſich um den Nacken
des Geliebten geſchlungen — man konnte ſich in Alles
das, was in dem Zimmer des Freundes wie eine
unzeitige Komödie erſchien, nicht gleich finden, und
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ſtatt ſich aufzuthun, ſchloſſen ſich die Herzen wie die
Lippen. 5
Man mochte nicht fragen: was bedeutet das?
und man hatte auch zum Erſtaunen nicht viel Zeit,
denn man war pünktlich eingetroffen, und ſobald man
vollzählig beiſammen war, trat Claudius mitten in
den Saal hinein, die Gäſte zu begrüßen.
„Ich konnte dem Verlangen nicht widerſtehen,“
ſprach er, „noch eine Stunde mit Ihnen zu verleben,
und da wir uns vor einem Augenblicke befinden, wie
wir ihn Alle noch nicht gekannt, habe ich gemeint, wir
müßten ihn auch als einen beſonderen in uns feſt⸗
zuhalten, ihn auch durch ein äußeres Zeichen — denn
am Zeichen hält der Geiſt die Welt — von allen
ſeinen Vorgängern und Nachfolgern zu unterſcheiden
ſuchen. So oft wir hier zuſammen gewefen ſind, iſt
der Geiſt der Schönheit und der Freiheit, wie er uns
von den Alten überliefert worden, wie ihn unſere He⸗
roen: Leſſing, Goethe, Schiller, von den Alten in ſich
aufgenommen und fortgebildet haben, der Schutzgeiſt
geweſen, der uns hier verbunden hat. In uns Allen
iſt dieſer Geiſt mächtig und mächtiger geworden, und
wie verſchieden die Berufsarten und Charaktere unter
uns auch ſein mögen, in uns Allen iſt es lebendig
15
das Pflichtgefühl, welches das Gute um des Guten
wegen will und thut, und das Bedürfniß, die Schön⸗
heit und die Poeſie nicht nur im Geiſte anzuerkennen
und zu verehren, ſondern die Wirklichkeit, das Leben
und den Tod, durch Freiheit zu adeln, durch Schön—
heit zu verklären und ſie damit zur Poeſie zu erheben.
Nun denn, meine Freunde! Es iſt die Pflicht, es
iſt eine zwingende Nothwendigkeit, und es iſt zugleich
eine freie Erkenntniß, welche Sie morgen für die Er⸗
haltung der Selbſtſtändigkeit unſeres Vaterlandes in
den Kampf führen wird. Wie die Schickſalsſprüche
dem Einzelnen von Ihnen fallen werden — wer will
das vorausſehen? Aber dieſe Stunde iſt unſer! Heute
leben Sie noch Alle im Vollgefühl der Jugend und
der Kraft. Freuen wir uns deß! Scheuchen Sie von
ſich die Bilder der Wehmuth, die trüben, herzerwei⸗
chenden Gedanken, welche die letzte Stunde Ihren
Seelen etwa eingeprägt. Drücken Sie die Roſenkränze
in Ihr Haar, und laſſen Sie uns die Augenblicke,
die uns noch gemeinſam ſind, fröhlichen und freien
Herzens verbringen, in erfreulichen Gedanken, in
feſtem Glauben an den Sieg des Guten und des
Wahren, und in der Hoffnung auf ein Wiederſehen,
das wir, wenn der Kampf beendet, der Sieg errungen
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fein wird, roſenbekränzten Hauptes, vollzählig wie in
dieſer Stunde, hier in dieſem ſelben Raume feiern
wollen! Alſo auf ein fröhliches Wiederſehen nach
Kampf und Sieg!“
Er hatte bei den letzten Worten ſich den Kranz,
der auf dem Mittelplatz des Tiſches lag, in ſein vol⸗
les graues Haar gedrückt, und ſelber mit dem Schöpf⸗
kruge aus dem großen Gefäße, in welchem das flüſſige
Gold des duftenden Rheinweins erglänzte, ſeinen Becher
gefüllt. Wie er nun mit der feinen Geſtalt, mit dem
geiſtdurchleuchteten Antlitz, den Becher in der erhobe⸗
nen Rechten, unter den jungen Männern daſtand,
Einen um den Andern mit ſeinen hellen Augen freund⸗
lich begrüßend, war es, als falle jedes Bangen und
Sorgen des Momentes von ihnen ab, ja als wären
ſie ſelbſt den Bedingungen ihres ganzen bisherigen
Lebens weit entrückt, als tränken ſie den Quell der
Vergeſſenheit aus den antiken Bechern, die ſie an ihre
Lippen ſetzten.
Die Herzen wurden ihnen frei und weit, ſie
dachten nicht mehr rückwärts, nicht mehr an das, was
dem Einzelnen angehörte, nicht mehr an die Familie
und an das Vaterhaus. Vorwärts und auf das All⸗
gemeine wendeten ſich die Blicke und die Gedanken, als
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ſie, dem Beiſpiel ihres Wirthes folgend, wie er ihr
Haar bekränzten, wie er ſich lagerten auf den Pol⸗
ſtern um den dreiſchenkligen Tiſch, und weit fortge⸗
tragen in die Regionen des freien Denkens, waren
ihnen als ſie ſich trennten, weil die Regimenter mit
Tagesanbruch auf den Sammelplätzen zu erſcheinen
hatten, zwei ſchwungvolle und geiſtdurchleuchtete Stun⸗
den wie im Flug vergangen, und man ſchied mit
einem freudigen und zuverſichtlichen: auf Wiederſehen!“)
Arm in Arm gingen Egon und Johannes von
dem Feſte heim. Sie hatten ihren Weg durch den
Park zu machen. Die Nacht war warm, der Mond
durchleuchtete ſie und ſtrömte ſein Licht durch das
dichte Laub der Bäume auf die beiden Jünglinge her⸗
nieder.
„Claudius iſt doch ein prächtiger Menſch!“ ſagte
Egon, als ſie eine Weile neben einander hingegangen
waren; „und was ich am meiſten an ihm ſchätze und
ihm nachzuahmen lernen möchte, das iſt die Art und
Weiſe, mit welcher er raſch und leicht über das, was
er das Perſönliche, das Zufällige, das Vergängliche
nennt, zu dem Allgemeinen und dem verhältnißmäßig
*) Einem in Berlin von Landwehroffizieren wirklich be-
gangenen Abſchiedsfeſte nacherzählt.
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Dauernden hinwegzugehen vermag, Es iſt wahrſchein⸗
lich Keiner unter uns Allen, dem er nicht für die Cam⸗
pagne irgend Etwas mitgegeben, oder deſſen Angele⸗
genheiten hier in Obhut zu nehmen er ſich nicht er⸗
boten hätte. Es iſt ihm nichts zu gering, es iſt ihm
Alles wichtig, was den einzelnen Menſchen betrifft,
und doch vermag er es immer, über die Schickſale des
Einzelnen hinweg das große Ganze freien Sinnes in's
Auge zu faſſen. Das iſt groß und ſchön.“
„Gewiß!“ bekräftigte Johannes. „Es fiel mir
eben heute auf, wie bewegt er war, als er von uns
ſchied; aber wenn von uns Allen Keiner wiederkehrte,
würde das, ich bin des völlig ſicher, nicht den Gleich⸗
muth ſeiner Seele trüben, vorausgeſetzt, daß mit
unſerem Tode die Einigung und die Freiheit Deutſch⸗
lands gefördert worden wären; und ſo ſoll es ja auch
ſein. Das Schiller'ſche Wort iſt wahr: Setzen wir
nicht das Leben ein, nie wird uns das Leben gewon⸗
nen ſein! — Aber was ein durchgeiſtetes Feſtmahl in
ſeiner Gemeinſamkeit bedeutet, wie es dem Einzelnen
die Kraft der Geſammtheit einflößt, das habe ich bis
heut doch noch nicht gewußt; ja ich habe mich eigent⸗
lich nie ſo wie jetzt völlig frei und, ich möchte ſagen,
fo unbekümmert um Alles gefühlt, was mich ſelbſt be-
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trifft. Es hat doch Jeder von uns Menſchen, an
denen er hängt, Dinge, auf die er Gewicht legt. Ich
habe mich die Tage, wenn ich neben meinem Bruder
geſeſſen habe, wohl gelegentlich auf dem Gedanken an⸗ 8
getroffen: ob ich ihn wiederſehen würde, nachdem wir
morgen zu unſern Regimentern abgegangen ſein wer⸗
den? Heute denke ich: was kommt's darauf an! Dem
Ueberlebenden iſt die Erinnerung an den Todten un⸗
verlierbar, und fallen wir Beide, nun ſo rollen die
Welten ihre Bahnen gerade ſo weiter fort wie jetzt,
der Mond ſcheint eben ſo ſchön und die Nachtigallen
ſchlagen und locken, ſo wie in dieſer Stunde.“
Egon ſeufzte und drückte dem Freunde die Hand.
„Du haſt keine Mutter!“ ſagte er, „keine Mutter, die
einſam und kränkelnd die Minuten der Sorge ſchwer
wie Jahre auf ſich laſten fühlt. — Sieh!“ rief er,
„ich darf es ſagen, denn es fehlt mir nicht an Muth,
der Gedanke an die Mutter lähmt mir den Aufſchwung
des Geiſtes. Aus dem Becher voll hellen Weins,
zwiſchen den Roſenkränzen um Eure Häupter, habe
ich ihre weinenden Augen geſehen; mitten in den Wor⸗
ten des Feſtes, die mich emportrugen wie Euch, habe
ich doch ihren verzweifelten Ausruf gehört: ich habe
nur Dich! nur Dich! was wird aus mir, wenn Du
van, Lewald, Neue Erzählungen. 2
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nicht wiederkehrſt? — Ich ſchelte mich um dieſer
Schwäche willen; ich ſage es mir wie Du, was gilt
das Loos des Einzelnen? Ich halte mir vor, daß fie
die Frau eines Soldaten war, die Mutter eines Sol⸗
daten iſt, daß ſie gefaßt ſein müßte auf Alles, was
da kommen kann, aber ich frage mich doch ſelber immer
wieder: was wird aus ihr? — Der Gedanke, meine f
Mutter, deren ganzes Leben ſo ſchwer geweſen iſt, auf
fremde Hülfe angewieſen, in Noth und Elend zurück
zu laſſen, raubt mir alle Ruhe.“
„Egon!“ rief der Freund, „bin ich nicht da? —
Warum haſt Du mir das verborgen, da ich Dir hätte
die Laſt vom Herzen nehmen können? Mein Bruder
bedarf meiner in keinem Falle. Heute noch, gleich
wenn ich nach Hauſe komme, will ich meinen letzten
Willen zu Papier bringen. Falle ich, ſo ſoll was ich
beſitze, Dir gehören, um Dir ein freies Herz zu ſchaf⸗
fen. Kehrſt Du nicht wieder — ich habe ja nicht
Vater und nicht Mutter — ſo ſoll Deine Mutter
fortan die meine ſein; und kommen wir Beide aus
dem Felde heim, nun,“ und er ſchüttelte bei den Wor⸗
ten dem Freunde treuherzig die Hand, „dann ſind wir
Freunde und Brüder wie bisher, und Deine Mut⸗
ter hat zwei Söhne, die künftig für ſie ſorgen. Und
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nun laß uns raſch vorwärts gehen, damit ich dieſes
Teſtament noch ſchreiben kann. Dann adreſſiren wir
die Schrift an Claudius und bitten ihn, ſie zu eröff⸗
nen, wenn ich nicht wiederkehren ſollte.“
Er ſprach das mit der friſchen Entſchiedenheit,
die in ſeinem ganzen Weſen lag, Egon konnte ihm
lange Nichts erwidern, bis er endlich in die Worte
ausbrach: „Du biſt ſehr gut und ich nehme es an.
Mehr kann ich Dir nicht ſagen; aber glaube mir, ich
werde Dir es nicht vergeſſen, und was Du im Leben
immer von mir fordern magſt, mahne mich an dieſe
Stunde, und ich will es thun. Jetzt bin ich frei und
heute zum erſten Male ſchlägt mein Herz mit frohem
Schlage dem lang erſehnten Entſcheidungskampf ent⸗
gegen.
2*
Drittes Capitel.
Der Feldzug war kurz und entſcheidend geweſen,
ſchon im Herbſte kehrte der größte Theil der ſiegreichen
Truppen in die Hauptſtadt zurück, und die glückwün⸗
ſchenden Hoffnungen, welche Claudius bei dem Ab⸗
ſchiedsfeſte für ſeine jungen Freunde ausgeſprochen,
ſchienen ihnen Heil gebracht zu haben, denn es fehlte
Keiner von ihnen in den Reihen der Sieger. Aus
den furchtbaren Schlachten von Gitſchin und Trautenau,
von Sadowa und Königgrätz waren ſie theils völlig
rüſtig, theils mit mehr oder weniger leichten Verwun⸗
dungen zurückgekehrt, die für ihre Zukunft nicht das
mindeſte Bedrohliche hatten.
Sie hatten ſich Alle brav gehalten; Egon vor
Allen hatte ſich hervorgethan. Auf dem Schlachtfelde
ſelbſt war er befördert worden, der Kronprinz von
Preußen hatte ihm den Orden eigenhändig zugetheilt,
21
und wie er dann nach dem feierlichen Einmarſche der
Truppen mit ſeinem Johannes vor die Mutter hinge⸗
treten war, wie er ihr berichtet, was zwiſchen ihm
und ſeinem Freunde in jener Nacht geſchehen, und wie
die beiden hochgewachſenen, breitbrüſtigen Geſtalten
ſich zu Frau von Raven niederbeugten, ihre Hände zu
küſſen und es ihr zu wiederholen, daß nun alle Sorge
für fie verſchwinden ſolle, da Egon's Gehalt ſich ge—
ſteigert hatte, da Johannes dem Ende ſeiner medizi⸗
niſchen Prüfungen nahe ſei und dann mit ſeiner
Praxis mehr Geld verdienen werde als er brauche,
da war aus den lebensfrohen Geſichtern der jungen
Männer wie ein Strahl von neuer Jugend über das
Antlitz der ſchönen Matrone geglitten, und Johannes
hatte fröhlich ausgerufen: „Heute aber ſieht Deine
Mutter ſo jung und ſchön aus wie auf dem Bilde, das
Du von ihr aus ihrer Jugend haſt; und heute bitte
ich es mir von ihr aus, daß ſie mich an Kindesſtatt
annimmt, und daß ich auch eine Mutter an ihr be⸗
komme, die mich umarmt und Du nennt, wenn ich
ein guter Sohn bin ſo wie Du, und die mir nichts
durchgehen läßt und mich tüchtig auszankt, wenn ich
gegen irgend eines der Gebote ſündige, auf die fie
hält.“
22
Er hatte dabei nach feiner Weiſe allerlei Scherz
und Thorheit getrieben, um der Rührung und dem
Danke der Mutter vorbeugend zu wehren; und wie
Liebende einen Genuß darin finden, es einander zu
beweiſen, in weſſen Herzen die Neigung ſich früher
bewußt geregt habe, ſo gefielen die Freunde ſich darin,
es Frau von Raven zu erzählen, was der Eine dem
Andern in den Schrecken und Nöthen dieſes Feldzuges
an Treue und Hülfe geleiſtet habe, was man einander
ſchuldig geworden ſei. Jeder von ihnen vergaß des
eigenen entſchloſſenen Muthes, um vor der Frau, die
nun auch Johannes ſeine Mutter nannte, nur der
Tapferkeit und Bravheit des Andern zu gedenken.
Die Unzertrennlichen waren nun erſt recht unzertrenn⸗
lich geworden, und der Herbſt und der Winter ſahen
ſie in der einigſten Gemeinſamkeit.
Freilich hatte das Mitwochskränzchen nach dem
Feldzuge ſich nicht wieder zuſammen gefunden. Faſt
die Hälfte ſeiner Theilnehmer war durch die Forde⸗
rungen der verſchiedenen Berufsarten von der Haupt⸗
ſtadt entfernt worden; Claudius mußte aus Rückſicht
auf feine Geſundheit den Winter in einem ſüdlichen
Klima zubringen; der Bruder von Johannes, der ſchon
vor dem Kriege verlobt geweſen war, hatte ſich gleich
23
nach dem Feldzuge verheirathet, und da ſeine Frau
begütert war, ein Landhaus vor der Stadt bezogen;
aber die Unzertrennlichen fühlten ſich durch dieſe Ver⸗
änderung nicht beeinträchtigt. Sie ſtanden Beide auf
jenem angenehmen Punkte des Lebens, an welchem
die Zeit der Examina mit ihren Zwangsarbeiten und
Unſicherheiten hinter ihnen lag. Egon trat in dieſem
Winter zum erſten Male als Oberlieutenant in der
Geſellſchaft auf, man hatte ihn obenein als Hilfsar⸗
beiter in dem Generalſtab angeſtellt, er war ſorgen⸗
freier als in früheren Jahren, die Hiebwunde ent⸗
ſtellte ſeine Stirne nicht, der Vollbart, den er ſich im
Kriege hatte wachſen laſſen, ſtand ihm zu ſeinem ern⸗
ſten Geſichte trefflich an, und ſo wenig er auf Aeußer⸗
lichkeiten Werth zu legen glaubte, hob er ſich doch
ſtolzer, ſeit er die empfangenen Ordenszeichen als
Lohn für ſeine beſondere Tapferkeit auf ſeiner Bruſt
trug. — Johannes hinwiederum hatte ſeine medizi⸗
niſchen Prüfungen ſammt und ſonders beſtanden, hatte
unfern von dem Hauſe, in welchem Egon mit ſeiner
Mutter lebte, ſich eine Wohnung eingerichtet, feine Praxis
angefangen, und da er ein geſchickter Spezialiſt war, ſah
es aus, als würde er es ſchneller zu einer einträglichen
Kundſchaft bringen, als es gewöhnlich zu geſchehenpflegte.
a
Daß zwei ſolche junge Leute fich einer zuvor⸗
kommenden Aufnahme in den Kreiſen der Geſellſchaft
verſichert halten durften, verſteht ſich ganz von ſelbſt,
aber obſchon ſie Beide nicht gleichgiltig gegen die
Reize der Geſelligkeit, und noch weniger unempfindlich
für den Reiz der Schönheit waren, ging der Winter
mit ſeinen rauſchenden Vergnügungen und gingen die
zahlreichen weiblichen Bekanntſchaften an ihnen vor⸗
über, ohne daß Einer von ihnen einen tiefern Ein⸗
druck davon empfangen hätte. Zwar gefiel Johannes
ſich darin, vor der Mutter ſeiner Erlebniſſe, ſeiner
kleinen Galanterien zu gedenken, er machte auch für
ſich und für Egon Heirathsplane, aber Egon liebte
ſolche Scherze nicht. Die Liebe war für ihn ein
Heiliges, und im Grunde wußte Jeder von ihnen, daß
der Andere noch völlig freien Herzens ſei und an das
Heirathen vorläufig nicht denke.
Gegen das Frühjahr aber, als die eigentliche Zeit
der Geſellſchaften ſchon vorüber war, und die Frem⸗
den und der reiche Adel der Provinzen, den die Ver⸗
gnügungen des Winters in die Reſidenz geführt hat⸗
ten, ſich zur Abreiſe zu rüſten begannen, kam Jo⸗
hannes, der es ſich nach dem Kriege ausgewirkt hatte,
mit Frau von Raven und ihrem Sohne alltäglich die
25
Mittagsmahlzeit einzunehmen, um die gewohnte Stunde
in das Haus, und fand, daß man in dem erſten
Stockwerk, welches während des Winters von der Fa⸗
milie eines Abgeordneten eingenommen worden war,
ſich mit einer Umſtellung der Möbel beſchäftigte.
Seine gleichmüthig gethane Frage, ob die bisherigen
Bewohner das Haus etwa verlaſſen hätten, bejahte
Frau von Raven. | |
„Sie find bereits auf ihre Güter gegangen,“
ſagte ſie, „und ein Engländer hat die ganze Etage
jetzt auf Jahr und Tag gemiethet. Er muß ein ſon⸗
derbarer Kauz ſein.“
„Sonderbar ſchon dadurch, daß er ſich in dieſem
gar nicht vornehmen Stadttheile eingemiethet hat,“ ent⸗
gegnete Johannes.
„Und doch muß er ein reicher Mann ſein,“
meinte Frau von Raven. „Wie die Wirthin mir er⸗
zählte, hat er wenigſtens die Grillen eines ſolchen;
auch bringt er nicht nur eine Tochter und mehrere
Dienſtboten, ſondern vier Pferde und eine ganze Me⸗
nagerie von Hunden mit. Haben Sie einen Garten?
aber einen großen Garten und mit hohen Mauern,
daß man nicht darüber fortkann? hat er ſie gefragt,
noch ehe er die Wohnung angeſehen. Die Wirthin
26
hat alſo gemeint, daß er vielleicht einen Geiſteskranken
unterzubringen habe, und hat ihm den Schatten und
die Stille ihres Gartens angeprieſen. Oh, ſie brauchen
keinen Schatten! ſie brauchen nur viel Platz, meine
Hunde und ſie dürfen nicht entlaufen können! hat er .
ihr geantwortet. Dann hat er ſich erkundigt, wer
ſonſt noch im Hauſe wohne? ob jemand Anders in
dem Hauſe Hunde halte? ob Niemand in den Garten
kommen könne, der keine Hunde liebe? Als er dar⸗
auf über alles dieſes beruhigt worden, hat er ſich
eben ſo ſorgfältig nach der Stallung für die Pferde
umgethan, ſich eben ſo über deren beſtes Unterkommen
zu verſichern geſtrebt, und erſt als er mit der Vor⸗
ſorge für die Thiere fertig geweſen, iſt er hinaufge⸗
gangen ſich die Zimmer anzuſehen, in denen man nun
nach ſeiner Angabe Alles umſtellt und umräumt, damit
er ſich eine Badeſtube, eine Stube für ſeine gym⸗
naſtiſchen Uebungen, und ich weiß nicht, was noch
Alles, einrichten kann. Da ſie ihn endlich gefragt
hat, welches Zimmer er für ſeine Tochter beſtimme?
iſt er aus dem Hauſe in den Garten und geraden
Weges auf das kleine Gewächshaus zugegangen, in
dem man Winters die Pflanzen aufbewahrt. „Ich
will dies Haus auch haben,“ hat er geſagt, „Miß Ernsby
27
wird hier wohnen! hier iſt's warm, und hier geht die
Luft hindurch, das braucht Miß Ernsby. Sie iſt
nicht gewohnt an ſolche Häuſer, ſie iſt gewohnt an
Sonne und an viele Luft, an ſehr viel Luft!“ —
Seitdem arbeitet man ohne Unterlaß. Sie legen Tep⸗
piche in das kleine Treibhaus, ſetzen neue Glasſchei⸗
ben ein, und bringen Jalouſieen an. Es werden Pol-
ſter hineingetragen, auch ein Vogelhaus mit allerlei
Gevögel habe ich hineinbringen ſehen, und es iſt heute
eine Unruhe und eine Haſt in dem Hauſe, als ob es
brennte und man retten ſollte.“
Johannes und der inzwiſchen heimgekehrte Egon
ſahen eine kleine Weile am Fenſter ſtehend, das nach
dem Garten ging, der Raſtloſigkeit der Arbeitenden zu,
und lachten über den ſteifen Engländer, der in all der
Unruhe langſam gemeſſenen Schrittes mit den Armen
beſtimmte heilgymnaſtiſche Bewegungen ausführend,
den Mittelweg des Gartens hin und wieder ging.
Den ganzen Tag und auch die nächſten Tage
blieb man mit der Einrichtung beſchäftigt. Der Eng⸗
länder hatte während deſſen das von ihm gemiethete erſte
Stockwerk bezogen, ein Diener in regelrechteſter Klei⸗
dung mit der weißeſten Kravatte, das Haar tadellos
geſcheitelt, ging hinter den Glasfenſtern des Corridors
28
einher, während die Tapezierer fie verhingen; ein eng⸗
liſcher Kutſcher, ein engliſcher Reitknecht und ein halb⸗
wüchſiger Burſche waren in der Remiſe und in dem
Stalle beſchäftigt, nur von der Tochter, welche das
luftige, ſonnige Treibhaus bewohnen ſollte, war noch
Nichts zu ſehen. |
Die Nachbarſchaft war völlig in Aufregung ge⸗
rathen durch die Anſiedelung dieſes Engländers. Man
war derlei in dem entlegenen Stadttheile nicht gewohnt,
in welchem ſonſt Landedelleute oder Offiziere, und
überhaupt ſolche Leute ihr Quartier zu nehmen pfleg⸗
ten, welche Wagen und Pferde hielten und für eine
verhältnißmäßig geringe Miethe viel Raum zu haben
wünſchten. Da aber nichts anſteckender iſt als eine
müßige Neugier, fo wurde die Tochter der Luft, oder
die Sonnenkönigin, wie Johannes die erwartete Unbe⸗
kannte nannte, für ihn ein Gegenſtand des Scherzes,
der durch das Treiben und Handtieren in dem Gar⸗
tenhauſe immer wieder neue Nahrung erhielt.
| Nahezu eine Woche war fo hingegangen, als
Egon eines Morgens, da er dem Freunde zufällig auf
der Straße begegnete, ihn mit dem Ausrufe begrüßte:
„Sie iſt dal“
„Nun und was weiter?“ fragte der Doktor.
29
„Weiter Nichts! Geſtern Abend war das Treib⸗
haus ſchon von acht Uhr ab mit allen ſeinen Gas⸗
lampen hell erleuchtet; und gegen elf Uhr iſt ſie endlich
angekommen.“ Er lachte dazu, und meinte; „Ich habe
es jetzt recht geſehen, wie doch in Jedem von uns
ein Stück Phantaſtik ſteckt, und wie wir im Grunde
Alle des täglich gleichen bürgerlichen Lebens überdrüſ⸗
ſig ſind.“
Johannes wollte wiſſen, wie der Freund das
meine? |
„Sehr einfach!“ entgegnete der Lieutenant. „Es
gibt doch kein gewöhnlicheres und natürlicheres Er⸗
eigniß, als daß ein wohlhabender Mann ein paar
Hunde hat, Wagen und Pferde hält, es ſich auf ſeine
Weiſe bequem macht, und für ſeine Tochter, die wahr⸗
ſcheinlich ein armes, krankes Weſen iſt, ein Treibhaus
als Sommerſtube einrichtet. Aber ſolche Philiſter
ſind wir, und ſo ſind wir eingezwängt in die Regel⸗
mäßigkeit unſerer Verhältniſſe, in die immergleiche
Wohnungsweiſe und Zimmereintheilung in den Häu⸗
ſern, daß uns Menſchen anziehend werden, nur weil
ſie ſich die Freiheit nehmen, von dieſer Ordnung ab⸗
zuweichen. Ihr ſpottet manchmal über unſere regel⸗
rechte Front und über das ewige Einerlei der Uni⸗
30
form — und unſer ganzes Leben iſt nichts als eine
Uniform und eine regelrechte Front. Wer davon auch
nur um eine Linie abweicht —“
„Iſt gleich ein Deſerteur, und wird als ſolcher
von der allgemeinen Regelrichtigkeit verdammt,“ fiel
der Doktor ihm in die Rede, weil ähnliche Erörterun⸗
gen zwiſchen Egon und ſeinen Freunden ſchon öfter
vorgekommen waren; „aber,“ fügte er heiter hinzu:
„ein armes, krankes Geſchöpf iſt die Sonnenkönigin
gewiß nicht. Daß ſie eine wundervolle Schönheit iſt,
ſteht für mich feſt.“
„Durchaus nicht!“ meinte Egon, „alle Einrich⸗
tungen ſind wie für eine Kranke.“
„Wetten wir!“ rief Johannes.
„Um was?“ erkundigte ſich der Freund.
„Nun, um was anders, als um die Sonnenkö⸗
nigin ſelber? Wer recht hat, ſoll ſie haben.“
„Thorheit!“ wandte Egon ein, deſſen Ernſt ſich
nicht leicht zu ſolchen Scherzen hergab.
5 „Das würdeſt Du nicht ſagen, wenn der Vor⸗
theil nicht ſo völlig auf meiner Seite wäre; denn iſt
ſie ſchön und fällt ſie alſo mir zu, nun, ſo habe ich
eben das große Loos gezogen; und iſt ſie ein armes
krankes Geſchöpf, und Du bekommſt ſie zugetheilt, ſo
31
gewinne ich eine reiche und intereſſante Kranke an
Deiner Frau, und das iſt doch für unſer Einen auch
nicht zu verachten. Alſo wetten wir und machen wir
die Sache gleich auf friedliche Weiſe ab, denn daß
wir uns alle Beide ſterblich in ſie verlieben, das iſt
außer allem Zweifel.“
Es kam aber nicht zu einer ſolchen Wette, denn
Bekannte, welche dazwiſchen traten, unterbrachen dieſen
Scherz, und als Johannes ihn dann wieder aufnehmen
wollte, meinte der Andere: „Laß doch die Narrens⸗
poſſen! Ich kann über ſolche Dinge eigentlich nie
freien Herzens ſcherzen. Denn die Sache würde mir
ſicherlich einfallen, wenn ich vor dem Mädchen ſtände,
und der Gedanke würde mir den Verkehr mit ihm
verleiden, wenn es überhaupt zu einem ſolchen kom⸗
men ſollte, wozu ja gar kein Anlaß da iſt.“
Viertes Capitel.
Es war aber gerade, als ob die beiden Freunde
ſich mit dem Scherz an jenem Morgen ein- für alle⸗
mal genug gethan hätten; denn ſie kamen nicht wieder
auf die Engländer zurück und man hörte und ſah auch
nicht mehr viel von ihnen. Auf den Treppen und
Fluren war die alte Ruhe und Ordnung bald wieder
hergeſtellt, Frau von Raven, die überhaupt äußerſt zu⸗
rückgezogen lebte, kannte, wie das in großen Städten
meiſt der Fall iſt, von den ſämmtlichen Bewohnern
des Hauſes Niemand als die Beſitzerin, mit der ſie
einen freundlichen, aber auch nur ſeltenen Verkehr un⸗
terhielt, und die ſie in den letzten Tagen eben nicht
geſehen hatte; und die jungen Männer waren von
ihren Geſchäften hingenommen. Für Egon hatten die
Frühlingsmanöver angefangen, Johannes hatte ein
paar ſchwere Erkrankungen in der Armenpraxis, die
33
ihm oblag, und es mochten mehr als acht Tage ver-
gangen ſein, als er eines Morgens um die gewohnte
Stunde in des Freundes Stube trat, und dieſen, von
der Gardine halb verborgen, aus ſeinem dritten Stock—
werk in den Garten hinabſchauen ſah.
„Komm ſchnell! ehe ſie fortgeht!“ rief er, ſich zu
Johannes wendend, „ſolch ein Mädchen habe ich noch
nicht geſehen!“
Im nächſten Augenblicke war der Freund an
ſeiner Seite, und auch er glaubte ein Phantaſiegebilde
vor ſich zu haben, als er die junge Schönheit ſah,
welche in der Hängematte unter den Platanen ruhte.
Die Bäume fingen eben erſt an ihre Blätter zu
entfalten, das volle Sonnenlicht fiel alſo auf die
ſchlanke Geſtalt der Ruhenden hernieder, und man
konnte jeden Zug des reizenden, von langen, ſchwar—
zen Locken reich umwallten Geſichtes unterſcheiden.
Alle Formen deſſelben waren ſchön, aber fremdartig
wie die ganze Erſcheinung ſelber. Man hätte nicht
jagen können, daß dies Mädchen eine Brünette ſei,
denn ihre Haut war weiß, indeß es fehlte ihren Wan-
gen jede Röthe, und die großen, dunklen Augen und
das dunkle Haar machten ſie noch bleicher ausſehen.
Sie hatte die Arme unter dem Kopfe e die
Fanny Lewald, Neue Erzählungen.
34
Füße zierlich gekreuzt, und ſah ungeblendet von dem
hellen Lichte zu dem Himmel empor, an welchem leich⸗
tes ſchimmerndes Gewölk fliehend und ziehend vorüber⸗
ſchwebte.
„Ja,“ rief Johannes, nachdem er ſie eine Weile
betrachtet hatte, „das iſt eine Schönheit; aber die iſt
nicht in unſerer europäiſchen Welt zu Hauſe; dahinter
ſteckt, wenn auch im dritten, vierten Gliede, ein an⸗
deres Blut.“ Und noch einmal hinſchauend und ſie
wieder betrachtend, ſagte er: „Wie ſie wohl heißen
mag?“ |
„Ich habe mich ſchon die ganze Zeit gefragt,“
entgegnete ihm Egon, „was ſie wohl denken mag? —
Denn ſo regungslos wie jetzt, lag fie ſchon vor zwei
Stunden da, als ich nach Hauſe kam.“
„Was ſie denken mag?“ fiel ihm Johannes ein.
„Nun, ſie wird ſich wohl verwundern über die kahlen
Bäume, über den fahlblauen Himmel und den bleichen
Sonnenſchein, die man ihr hier für Frühling ausgiebt.
Sie ſucht ja mit den ſchönen Augen offenbar nach
etwas. Sie ſucht die Lianen und Bananen und die
großen Schmetterlinge und die Lory's und die Papa⸗
geien ihrer Urwälder, unter denen ſie aufgewachſen iſt.
Wie kann man ſolch ein Weſen auch zwiſchen die
35
Hinterhäuſer und Schornſteine einer großen nordiſchen
Stadt einſperren? Was ſoll ſie hier? Für ſolch ein
Weſen iſt ja unſer Sommer hier ein wahres Gift!
Die hat den Süden und die Alpen nöthig, die muß
mindeſtens nach Südtyrol!“
Der Lieutenant konnte ſich des Lachens nicht er⸗
wehren. „Gib doch Deine Conſultationen nicht um⸗
ſonſt!“ ſagte er ſcherzend. „Du ſollteſt kurzen Prozeß
machen. Geh' hinunter, ſchicke Deine Karte hinein
und ſtelle es dem Vater menſchenfreundlich vor, daß
ſeine Tochter im Sommer hier nicht bleiben darf.
Du thuſt damit vielleicht ein gutes Werk, und wenn
wir den reizenden Anblick auch verlieren, ſo erfahren
wir doch, wie ſie heißt, und am Ende nimmt man
Dich als Reiſedoktor in die Alpen mit.“
„Wenn ich auch nicht Viſite machen gehe,“ gab
Johannes ihm zur Antwort, „ſo brauchen wir doch
hier nicht im Verſteck zu liegen. Zieh' die verdamm⸗
ten Vorhänge zurück. Wer im offenen Garten in der
Hängematte liegt, muß ſich's gefallen laſſen, daß man
ihn betrachtet, und im Grunde ſind wir doch auch ein
hübſcher Anblick und beſſer als die leere Wand!“ —
Er ſchob damit die Gardine fort, legte ſich in das
Fenſter und fing, da die Schöne dieſes in ihrer träu⸗
9%
[97
36
meriſchen Verſunkenheit nicht gewahrte, eines der mun⸗
teren Frühlingsliedchen zu ſingen an, deren wir Deutſche
ſo gar viele und ſo ſchöne haben.
Die heiter jubelnde Melodie, die friſche Stimme
des Doktors überraſchten das junge Mädchen. Es
richtete ſich auf, legte die Hände um die emporgezogenen
Kniee, und daſitzend wie ein Kind, und arglos wie ein
Kind zu dem fremden Manne in die Höhe hinſehend,
ſchien es zu erwarten, daß der Sänger fortfahren
werde zu ſingen. Aber er verſtummte plötzlich und
mit einem kurzen: „Komm, laß uns gehen!“ ver⸗
ließ er das Fenſter und zog den Freund mit ſich
hinweg. |
Der günſtige Zufall, welcher meift ein treuer Ge⸗
fährte der Jugend zu ſein pflegt, kam auch der Neu⸗
gier unſerer Freunde ſchnell genug entgegen. Gleich
am folgenden Tage, als Johannes Mittags aus der
Wohnung der Frau von Raven hinunterkam, traf er
auf der Treppe einen ſeiner Univerſitätslehrer, der
durch die Behandlung von Bruſtkranken berühmt war.
Er hatte einen berathenden Beſuch in der engliſchen
Familie gemacht, begrüßte den jungen Doktor, welcher
ein beſonderer Günſtling von ihm war, und forderte
ihn auf, mit ihm zu fahren, ſo weit ihre Wege dieſel⸗
37
ben wären; und wie ein Wort das andere gab, kam
man auch auf die Engländer zu ſprechen.
Der Profeſſor erzählte, daß der Vater gleich nach
ſeiner Ankunft bei ihm geweſen ſei und ihn aufgefor⸗
dert habe, die Behandlung ſeiner Tochter zu über⸗
nehmen. Johannes fragte, was ihr fehle, ob fie bes
denklich krank ſei? —
„Sie iſt eigentlich gar nicht krank,“ entgegnete
der Profeſſor, „aber man iſt auf dem beſten Wege, ſie
umzubringen. Der Vater iſt ein reicher Mann, der
in Weſtindien ſein Vermögen gemacht und dort eine
Kreolin von ſpaniſcher Abkunft geheirathet hat. Die
Frau iſt, wie er mir ſagt, noch jung an einer Herz⸗
krankheit geſtorben und hat ihm vier Kinder hinterlaſſen.
Den einzigen Sohn und die älteſte Tochter hat er bald
nach der Mutter Tode verloren, ſie hatten Beide das
ſiebzehnte Jahr noch nicht erreicht. Als ihm dann auch
die zweite Tochter mit vierzehn Jahren ſtarb, hat er
Weſtindien verlaſſen, um ſich womöglich ſein letztes Kind
zu retten. In England hat er ſich ſofort an einen ihm
empfohlenen Arzt gewendet, und iſt, bei der Manie der
Engländer für Wunderkuren, einem Charlatan in die
Hände gefallen, einem jener Abhärtungs⸗Wütheriche,
deſſen Regime der Vater ſich und die Tochter unter⸗
38
warf. Die robuſte und zähe Natur von Herrn Ernsby
hat ſich dabei ſehr gut befunden und er iſt dadurch in
ſeinem Glauben an die Unfehlbarkeit des Wundermannes
nur befeſtigt worden. Man hat das Mädchen die letzten
Winter hindurch auf der Inſel Wight ſchwimmen, reiten,
turnen laſſen, es Wind und Wetter ausgeſetzt, es mit
Waſſerkuren maltraitirt, und iſt plötzlich höchlich er⸗
ſtaunt geweſen, als es in Ohnmachten und Fieber ver⸗
fallen iſt. Herzkrankheit und Abzehrung! haben die
Herbeigerufenen geſchrieen, und da man dem Vater bei
dieſer Gelegenheit meinen Namen genannt hat, ſo hat
er mir das Kind hierhergebracht.“
„Und Sie meinen alſo, daß es mit ihr Nichts
auf ſich habe?“
„Bei vernünftigem Verfahren ganz und gar Nichts.
Die ſchöne Ramonna iſt kaum fünfzehn Jahre alt, aber
ſie hat die Frühreife der Tropen, in denen ſie geboren
und erwachſen iſt, und bei der Fülle und Schönheit
eines fertigen Weibes iſt ſie aufrichtig und natürlich
wie ein Kind. Nun hatte man ſie plötzlich in eine ihr
ganz fremde Welt verſetzt, ſie nach der trägen Ruhe,
an die ſie gewöhnt geweſen war, übermäßig angeſtrengt,
und ihr dann ſchließlich den Glauben an ihren nahen
Tod gegeben. Sie hat mich in der That gerührt.
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Als ich ihr nach der Unterſuchung Muth zuſprach, Jah
ſie mich an, als wolle ſie ſich überzeugen, ob ſie mir
wohl glauben dürfe; dann nahm ſie meine Hände,
küßte ſie, ehe ich's nur hindern konnte, und ſagte:
„Sie ſind alle geſtorben: meine Mutter, mein Bru⸗
der, meine Schweſtern! Es war ſchrecklich, mein theu⸗
rer Doktor! Laſſen Sie mich nicht ſterben, lieber Dok⸗
tor! ich bin ja noch ſo jung!“ — Es war wirklich
rührend das ſchöne exotiſche Geſchöpf! und es könnte
gar nichts Geſcheidteres für das Mädchen geſchehen, als
wenn der Vater ſeiner Wege ginge und die Tochter
irgend einer verſtändigen Frau zur Pflege und zur
Erziehung übergäbe, damit ſie Ruhe und maßvolle Zer⸗
ſtreuung hätte und durch gleichmäßige Beſchäftigung
von ſich ſelber abgezogen würde.“
Der Profeſſor befahl darauf dem Kutſcher anzu⸗
halten, weil der Doktor in der Gegend einen Beſuch
zu machen hatte. Er ſagte ſeinem jungen Collegen
Lebewohl und Johannes ging und dachte an Ramonna.
Es kam ihm vor, als ſei ſie eine ganz Andere
geworden, ſeit er ſie mit ihrem Namen zu nennen
wußte, ſeit er über ihre Vergangenheit unterrichtet
war. Es ärgerte ihn, daß der Feldzug ihn um die
Ausſicht gebracht hatte, bei dem Profeſſor als Aſſiſtenz⸗
40
arzt einzutreten. Er hätte dann das ſchöne Mädchen
täglich ungezwungen ſehen und ſprechen können, und
wie hätte er über ſie wachen, ſie behüten wollen! —
Er konnte an dem Tage nicht bei ſeiner Arbeit blei⸗
ben, ſeine Phantaſie ließ ihm keine Ruhe. Er ſah
Ramonna unter den Palmen ihrer Heimath, an den
ſchimmernden Ufern ihres Vaterlandes, dann wieder
fiel es ihm ein, der Profeſſor werde dem Engländer
vermuthlich zu einem Aufenthalt in dem Süden von
Europa rathen und der reiche Mann könne vielleicht
einen eigenen Reiſearzt verlangen. Wenn man ihn
dazu erwählte! |
Er lachte über fich ſelber, als er ſich in dieſen
Luftſchlöſſern erging, aber es war eine Heiterkeit in
ſeinem Herzen, als leuchtete mit Einem Male eine an⸗
dere, ſchönere Sonne von dem Himmel nieder, und
doch zog es ihn urplötzlich mit einer Sehnſucht, die
er nie zuvor gefühlt hatte, nach dem Süden, nach den
Tropen hin, in denen die Wunderblume Ramonna auf⸗
gewachſen war. Er fühlte ſich der Proſa des täglichen
Lebens ganz entrückt, es war ihm märchenhaft zu
Muthe. Er hätte ſich thöricht ſchelten mögen, wäre
er nicht ſo heiter geweſen. Aber ſonderbar genug, er
hätte von dieſem Zuſtande zu Niemand ſprechen mögen;
41
und als er Abends an dem gewohnten Zuſammen⸗
kunftsorte den Freund nicht antraf, war ihm ſelbſt
dies erwünſcht. Die ganze Nacht hindurch träumte
er von Ramonna. Bald ſchaukelte er ſie wie ein Kind
in ihrer Hängematte, dann ſaß er als Arzt an ihrem
Sterbebette und ſie küßte ihm die Hände wie dem
Profeſſor, und bat ihn, ihr das Leben zu erhalten,
und er ſchloß ſie in ſeine Arme, ſie zu beleben, und
als das noch nicht helfen wollte, nahm er das Herz
aus ſeiner Bruſt und ſetzte es in die ihre.
Er war ganz wüſt und wirr, als er am Mor-
gen aufwachte und er wurde nicht beruhigt, als gleich
in der Frühe Egon bei ihm erſchien.
„Stelle Dir vor,“ ſagte Egon, „welch einen ſon⸗
derbaren Antrag man meiner Mutter geſtern noch ges
macht hat. Du warſt kaum fortgegangen, als die Ge⸗
heimräthin, der das Haus gehört, zu uns heraufkam
und die Mutter zu ſprechen begehrte. Sie ſagte, der
Arzt habe dem Engländer den Rath ertheilt, die Toch⸗
ter durch leichte Beſchäftigung zu zerſtreuen und ihr
eine fortdauernde, ſanfte und fie nicht aufregende Ge-
ſellſchaft zu geben. Nun wolle das Mädchen Unter⸗
richt in feinen Handarbeiten nehmen, möchte auch ein
wenig zeichnen, da ſie dieſes in England angefangen
42
habe, und da fie noch kein Deutſch verſteht und zufäl⸗
lig meine Mutter vor einiger Zeit geäußert hat, daß
ihr doch bisweilen die einſamen Stunden recht fühl⸗
bar würden, fo iſt die Geheimräthin auf den Gedan⸗
ken gekommen, ob meine Mutter, die ja des Engliſchen
völlig mächtig und ein wahres Genie in allen künſt⸗
lichen Arbeiten iſt, nicht täglich einige Stunden bei den
Engländern zubringen wolle?“
„Und ſie hat es angenommen?“ rief Johannes
mit einer Neidempfindung, die ſeinem Tone etwas
Herbes gab.
„Meinſt Du, daß ſie es nicht hätte thun ſollen?“
fragte Egon.
„Sie hat es alſo angenommen?“ wiederholte Jener.
„Noch nicht! Sie hat vorläuſig nur zugeſagt, daß
ſie die Familie beſuchen wolle; und finden ſie gegen⸗
ſeitig Gefallen an einander, ſo kann der Verſuch ja
gemacht werden. Es erwächſt dann für die Mutter
vielleicht eine Zerſtreuung und, was ſie ja immer gern
gehabt hat, um mir Freiheit zu laſſen, auch ein vor⸗
übergehender Erwerb daraus. Aber ſie muß erſt zu⸗
ſehen. Der Engländer iſt offenbar ein Sonderling,
und mit reichen Sonderlingen muß man doppelt auf
ſeiner Hut ſein.“
45
Johannes entgegnete darauf Nichts. Das fiel
dem Freunde auf. Er verlangte, daß Jener offen ſeine
Meinung ausſprechen ſollte, das konnte Johannes nicht.
Er meinte nur, es gefalle ihm nicht recht; und da Egon
ihm einwendete, das ſei doch kein vernünftiger Grund,
und man müſſe wiſſen, weshalb Einem eine Sache
nicht gefalle, wurde Johannes gegen ſeine Gewohnheit
ſo verdrießlich, daß er es endlich für nöthig fand, ſich
mit einer ſchlafloſen Nacht und mit Kopfweh zu ent⸗
ſchuldigen.
Fünftes Capitel.
Ein paar Wochen ſpäter lagen die Verhältniſſe
ganz anders. Frau von Ravens Bekanntſchaft mit der
jungen Kreolin war für beide Theile erfreulich ausge⸗
fallen. Ramonna war ohne die Liebe einer Mutter
aufgewachſen, die Majorin hatte nie eine Tochter ge-
habt, das ſchöne junge Mädchen zog ſie an, und da
ſie ſelber eine zarte und leicht erregbare Natur beſaß,
wußte ſie am Beſten, wie man eine ſolche zu behan⸗
deln habe.
Anfangs hatte fie dem Vater nichts weiter zuge⸗
ſagt, als Ramonna, wenn ſie könnte, täglich zu beſu⸗
chen und ſie ein paar Stunden dabei zu unterrichten;
aber die Zahl dieſer Stunden war allmälig vermehrt
worden, Frau von Raven hatte ſich mit der Zeit be⸗
reit finden laſſen, die junge Fremde auf ihren Spa⸗
zierfahrten zu begleiten, Morgens gelegentlich mit ihr
45
einen Gang in das Freie zu machen oder ihr eine der
Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen, und beiden
Frauen that dies äußerſt wohl. Es war unverkenn⸗
bar, daß Ramonna ſich erholte, daß ſie heiterer wurde,
und es war daher nur ganz natürlich, daß der Vater
auf den Rath des Arztes, daran dachte, der Tochter
die ihr zuſagende Pflege und Geſellſchaft dauernd zu⸗
zuſichern, beſonders da ihm ſelber die Möglichkeit dar⸗
aus erwuchs, mit ſeinen Hunden und Pferden Meilen
weit in der Gegend herumzuſtreifen. Noch ehe alſo der
Monat zu Ende gegangen war, hatte Frau von Raven
ſich bereit erklärt, die ganzen Tage mit dem Mädchen
zuzubringen, das ihr immer lieber wurde, je länger
ſie es kannte.
Eine völlige Veränderung in allen ihren Gewohn⸗
heiten war davon die nächſte Folge, und ihre eigene
Häuslichkeit wurde natürlich dadurch umgeſtaltet. Da
ſie mit den Engländern auch die Mahlzeiten einnahm,
waren Egon und Johannes genöthigt, außer dem Hauſe
zu ſpeiſen. Der Lieutenant ſchloß ſich ſelbſtverſtänd⸗
lich der Tafel ſeines Regiments an, Johannes beſuchte
ein anderes Speiſehaus, und wie der Erſtere gelegent-
lich von ſeinen Kameraden für die Abendſtunden in
Beſchlag genommen wurde, ſo kam der Doktor nun
46
auch öfter mit feinem verheiratheten Bruder und deſſen
junger Frau zuſammen, und Egon und Johannes
waren endlich darüber ganz verwundert, wie die Tage
hinſchwanden, ohne daß ſie einander begegneten. Aller⸗
dings hatte man ſich dann nur um ſo mehr zuſagen, aber
Johannes fragte gewöhnlich nur nach Frau von Raven,
nicht nach der Kreolin; Egon zögerte ebenſo, das Ge—
ſpräch auf ſie zu bringen, bis er, in der Regel, kurz
ehe man ſich trennte, plötzlich von ihr zu ſprechen
anfing.
Eines Tages jedoch, als er vom Dienſt heim⸗
kehrte, trat er eilig und offenbar in angeregter Stim⸗
mung bei dem Freunde ein, und noch ehe er den Helm
abgelegt und den Säbel abgeſchnallt hatte, ſagte er:
„Geſtern Abend bin ich bei den Engländern geweſen!“
„Du hatteſt alſo vorher einen Beſuch gemacht?
Das haſt Du mir nicht geſagt.“
„Nein!“ entgegnete Egon, „ich bin vorher nicht
dort geweſen. Ich hatte das eben um der Verhält⸗
niſſe willen, in denen meine Mutter zu den Leuten
ſteht, vermieden. Es paßte mir nicht, mich ihnen halb⸗
wegs zwangsweiſe aufzunöthigen. Vorgeſtern hat aber
Herr Ernsby meine Mutter gefragt, ob ſie ſich ent⸗
ſchließen könnte, ſeine Tochter nach der Schweiz zu
47
begleiten, wo ſie eine Badekur gebrauchen ſoll, und
meine Mutter hat Bedenken gehegt, dies ohne eine
Rückſprache mit mir zuzuſagen. Als ſie mich genannt
hat, iſt Herr Ernsby plötzlich aufmerkſam geworden,
wie wenn er zum erſten Male von mir reden hörte,
obſchon Du wohl denken kannſt, daß die Mutter mei⸗
ner auch vorher Erwähnung gethan haben wird.“
„Glauben Sie, daß der Lieutenant dawider ſein
könnte?“ hat er mit jener Theilnahme gefragt, die er
immer an den Tag legt, wo es die Wünſche ſeiner
Tochter gilt.
„Die Mutter hat entgegnet, daß ihre Geſundheit
nicht zuverläſſig, daß ſie des Reiſens nicht gewohnt ſei.
„Sie ſollen jegliche Bequemlichkeit haben, und
Durward, der ein vorzüglicher Courier iſt, ſoll mit
Ihnen gehen!“ hat er erwidert. „Bringen Sie mir
den Lieutenant her, ich bitte ſie darum! ich will ſel⸗
ber mit ihm ſprechen. Ramonna muß in dieſes Bad
gehen und Ramonna will nicht gehen ohne Sie!“
„Und wollen Sie Ihre Tochter denn nicht ſelbſt
begleiten?“ hat ſie ihn gefragt.
„Ich möchte nicht, und der Profeſſor will's auch
nicht,“ hat er ihr entgegnet. „Der Profeſſor hat mir
gerathen, in den hohen Norden zu gehen und ich möchte
48
den hohen Norden kennen lernen, weil ich den tiefen
Süden kenne. Alſo bringen Sie mir Ihren Sohn,
Madame! ich will mit Ihrem Sohne ſprechen.“
„Nun?“ fiel ihm Johannes ungeduldig in die Rede.
„Nun?“ verſetzte der Andere, „ich bin denn dort
geweſen, und meine Mutter macht im Hochſommer die
Reiſe mit.“
„Und das iſt Alles?“ fragte der Doktor noch
einmal.
„Was ſoll's denn weiter ſein?“ ſprach Egon mit
einer Gleichgiltigkeit, die auffallend gegen ſeine frühere
Erregtheit abſtach. „Für meine Mutter wird die Reiſe
unter den günſtigen Bedingungen, unter denen ſie ge⸗
macht wird, vorausſichtlich ſehr heilſam ſein, und ich
könnte ihr dieſe Badekur nicht bieten. Sie wird alſo
mit Ramonna gehen, aber ich hoffe, wenn ſie im Herbſte
wiederkehren, hat man meiner Mutter nicht mehr nöthig.“
Er brach plötzlich ab, Johannes wußte nicht, was
er davon denken ſollte. Er erkundigte ſich, ob der
Freund irgend eine Unannehmlichkeit mit dem Englän⸗
der gehabt habe, Egon verneinte dieſes. So entſtand
ein Schweigen zwiſchen ihnen, bis Johannes ſagte:
„Du biſt verſtimmt, geſtehſt mir das nicht und kamſt
doch heiter zu mir.“
49
„Nun denn ja! ich bin verſtimmt, ich bin unzu⸗
frieden und bin ärgerlich, aber nur auf mich allein.
Ich hätte die Mutter nicht reiſen laſſen ſollen — und
ich gehe auch nicht wieder in das Haus.“
„Man hat Dich alſo irgendwie gekränkt, verletzt?“
„Verletzt? Oh nein! das hätte ich abzuwehren ge⸗
wußt,“ entgegnete Egon, und ſeine dunkeln, tiefliegen⸗
den Augen nahmen den ſtolzen Ausdruck an, der ſein
Geſicht oft finſter ausſehen machte; „der ganze Vor⸗
gang war mir läſtig, war nicht nach meinem Sinne.“
„Was war Dir denn entgegen?“ fragte ihn Jo⸗
hannes.
Egon ging im Zimmer auf und ab. Er wollte
ſprechen und brachte es nicht zum Wort. Endlich,
als er ſich von dem Freunde abgewendet hatte, ſo daß
dieſer ſein Geſicht nicht ſehen konnte, ſagte er: „Du
kennſt mich, und ich weiß, Du tadelſt die Empfindlich⸗
keit an mir, die Du einmal, ich habe den Ausdruck
nicht vergeſſen, die Ueberſpanntheit der Armen genannt,
und damals ſpottend als eine beſondere Hyperäſtheſie
eine Ueberreizung des Ehrgefühls, bezeichnet haſt. Du
magſt Recht haben in dieſer Anſicht; das ändert aber
für mich in der Sache nichts. Seit ich denken kann,
iſt meine Mutter genöthigt geweſen, einen ir ihres
Fanny Lewald, Neue Erzählungen.
50
Unterhaltes und des meinen, mit der Geſchicklichkeit
ihrer Hände zu erarbeiten. Das hat ſie indeſſen nicht
abhängig gemacht, und der Nothwendigkeit, für mich zu
ſorgen, habe ich ſie enthoben, ſobald ich dieſes nur
zu thun vermochte. Jetzt, von dieſen Engländern wird
ſie abhängig. So höflich der Vater ſeine Wünſche
auch ausſpricht, er rechnet doch darauf, daß ſie als
Befehle angeſehen und vollzogen werden; wie kindlich
auch Ramonna ſich an meine Mutter anſchmiegt, ſie
würde höchlichſt erſtaunt ſein, wenn ſie auf eine ernſte
Zurechtweiſung oder auf einen beſtimmten Widerſtand
ſtieße; und meine Mutter ſelber hat, weil ſie für per⸗
ſönliche Dienſte Geld von ihnen nimmt, gegen dieſe
Leute eine Rückſicht, eine Verbindlichkeit, die mir un⸗
erträglich ſind.“ |
„Deine Mutter iſt ja immer ſehr verbindlich!“
wendete ihn zu beſänftigen, Johannes ein. |
„Nicht in dieſer Weiſe!“ fuhr der Aufgeregte in
ſeinem Unmuth fort. „Dem Mädchen iſt nicht zu
widerſtehen! ſagt ſie, und es iſt wahr, ſie iſt unwider⸗
ſtehlich, wenn ſie Einen mit der Kindeszuverſicht ihrer
wundervollen Augen anſieht. Als ſie mich fragte: Sie
werden die Mama gewiß nicht hindern, mit mir zu
gehen; denn Sie ſind geſund und ich bin krank! da hätte
51
ich nicht Nein ſprechen können, und wenn ich ſelber
wer weiß wie krank geweſen wäre. Aber gerade das
macht mir das Mädchen unheimlich. Der Gedanke,
einmal von ein paar ſchönen Augen abhängig, von
einem ſolchen Kinde um meinen rechten freien Willen
gebracht werden zu können, iſt mir ſtets verhaßt ge⸗
weſen. Ich werde froh ſein, wenn ich ſie unter Weges
weiß, und froher, wenn dies ganze Abenteuer erſt vor⸗
über ſein wird!“
Johannes lachte hell auf über die Entrüſtung
ſeines Freundes. „Wie ſich die Kinderkrankheiten bei
Erwachſenen doch in ſonderbaren Formen zeigen!“ rief
er. „Verliebtſein äußert ſich bei Dir als eine Art
von Grimm!“
„Du irrſt!“ entgegnete ihm Egon ſehr beſtimmt,
„und Du ſollteſt mich doch kennen. Wann war ich
je verliebt? — Es hat mir ein Mädchen beſſer gefal⸗
len als ein anderes, ich habe Dieſe und Jene ſchön.
gefunden, im Verkehr mit ihr Vergnügen gehabt; aber
verliebt? — das weißt Du, das war ich nie; und
mich in eine ſogenannte reiche Erbin zu verlieben, um
die ich entweder ohne Hoffnung ſchmachten, oder die
glauben würde, mir gegenüber um ihres Reichthums
willen die Herrin ſpielen zu dürfen — dazu bin
4 *
52
ich nicht gemacht! Dazu taugen meine Elemente
nicht.“ N
„Und regnet's Brei, ihm fehlt der Löffel!“ brummte
Johannes ſcherzend vor ſich hin.
Der Andere fragte, was er damit ſagen wolle?
„Für Dich nichts! denn wer einmal die Elemente
zu einem Cato in ſich trägt, der muß auch danach
handeln, das iſt richtig. Glücklicherweiſe habe ich ſie
nicht und ich ſinne und ſinne nur darüber nach, ob
ich nicht irgend etwas beſitze: eine Tante, oder eine
Couſine, oder ſonſt irgend eine gute Fee, die mir, wie
Deine Mutter Dir, einen angenehmen freien Eintritt
zu der ſchönen Ramonna eröffnen könnte. Leider bin
ich in dem Punkte ſolcher lieben weiblichen Angehörigen
nur gar nicht gut verſehen. Es wird mir alſo nichts
übrig bleiben, als mich einfach durch Deine Mutter
vorſtellen zu laſſen, und ich weiß auch ſchon die Form
dafür. Der Profeſſor verlangt ja, daß Ramonna Zer⸗
ſtreuung haben ſoll; nun ich will mich gern anbieten,
ſie ſo zu amüſiren, daß ſie an nichts mehr denken
ſoll, als nur an mich!“
„So thu's, wer hindert Dich daran!“ meinte
Egon achtlos, und es hatte damit für das Erſte ſein
Bewenden.
53
Es war aber gar nicht lange nachher, als der
Profeſſor ſeinen Schüler rufen ließ, der ihn unwohl
und zu Bette fand.
„Ich habe einen Auftrag für Sie,“ ſagte der
Kranke, „Sie ſollen mich vertreten, bis ich wieder auf
den Füßen bin. Ich werde genöthigt fein, bis zum
Ende der Woche das Haus zu hüten, mein Aſſiſtenz⸗
arzt iſt zu ſeiner Hochzeit fortgereiſt. Ein Verzeichniß
von den Beſuchen, die Sie für mich machen ſollen,
habe ich geſchrieben; ſetzen Sie ſich her, damit ich
Ihnen die nöthigen Mittheilungen mache, dann nehmen
Sie meinen Wagen und bringen mir ſpäter den Be⸗
richt!“
Solch ein Auftrag von einem berühmten Arzte
kommt jedem jungen Praktiker erwünſcht; aber Johan⸗
nes hatte noch ein beſonderes Vergnügen an demſel⸗
ben, denn nachdem die Reihe der ſchwer darniederlie⸗
genden Kranken, welche als die Erſten auf der Liſte
ſtanden, durchgeſprochen waren, gelangte der Profeſſor,
mit dem Auge über das Verzeichniß fortgleitend und
über die einzelnen Beſuche dem jungen Collegen
flüchtige Anweiſungen gebend, endlich auch an den Na⸗
men Ernsby. „Ueber dieſe Leute,“ ſagte er, „haben
wir neulich ſchon geſprochen, ſo viel ich mich erinnere.
54
Der Vater hält darauf, daß ich die Tochter möglichſt
oft beſuche, und er iſt ein Mann, dem man dieſes
Vergnügen machen kann. Fahren Sie hin, bleiben
Sie eine Viertelſtunde dort, Sie kennen ja ohnehin,
wie Sie mir ſagten, die Geſellſchafterin des Fräuleins,
die Majorin von Raven, die eigentlich der wahre Arzt
des Mädchens iſt; verſichern Sie dem Vater und der
Tochter, daß ſich dieſe ganz wohl befindet, und dieſer
Beſuch wird Sie ohne Frage ſchadlos halten für die
Langeweile mancher vorher zu machenden Viſite.“
Er ſah dabei nach ſeiner Uhr, draußen ſchlug es
zehn Uhr, mit dem letzten Schlage fuhr ſein Wagen
vor das Haus, und Johannes verabſchiedete ſich und
machte ſich auf den Weg.
Sechstes Capitel.
Es war hoher Mittag, als er durch den wohl—
bekannten Hausflur in den Garten ſchritt und an das
Treibhaus kam, das in ſeiner jetzigen umgewandelten
Geſtalt kaum noch als ein ſolches zu erkennen war.
Die Fenſter waren ausgehoben und durch Vorhänge
von leichtem farbigem Strohgeflecht erſetzt, blühende
Rankengewächſe bekleideten die Pfoſten zwiſchen den⸗
ſelben, ſchöne, ſüdliche Pflanzen verdeckten die mit Ta⸗
peten bekleidete Hinterwand. Ampeln voll Blumen
hingen von den Decken nieder, und eine jener Einrich⸗
tungen, wie man ſie in Gartenſälen liebt, war mit
dem höchſten Luxus in dem Raume hergerichtet wor⸗
den, den weithin ausgeſpannte Zelttücher vor der zu
ſtarken Einwirkung der Sonne wahrten. Alle Möbel,
alle Geräthſchaften in dem improviſirten Gartenſaale
waren modiſch und doch hatte das Ganze durch die
56
Polſterlager und durch die Art der Aufſtellung und
Zuſammenſtellung der einzelnen Dinge etwas durchaus
Fremdartiges. Hier ſchaukelten ſich ein paar feuer⸗
rothe Vögelchen, die ſelber wie Blumen ausſahen, in
einem von Blumen umſtellten Bauer, dort ſaß ein
ganz kleiner Affe auf einem Ständer und verſuchte,
mit den klugen Augen neugierig umherblickend, ſeine
Zähne an einer großen Nuß, und hart an der Schwelle
hatte ſich einer der großen afrikaniſchen Hunde gela⸗
gert. Es ſchien ihm in der Hitze einmal recht wohl
zu ſein, gerade ſo wie den beiden Schildkröten, die
mit lang vorgeſtrecktem Halſe ſich mühſam aufrichtend
und die kurzen, dicken Füße nach Kräften hebend, die
Schwelle zu erklimmen und über ſie hinweg in die
volle freie Sonne hinaus zu kommen ſtrebten.
Oben an der Seite des Treibhauſes, an welcher
ſich ſonſt die eigentliche Eingangsthüre befunden, die
man ebenfalls ausgehoben hatte, ſo daß man dort ſich
in einem friſchen Luftdurchzug befand, hatte man einen
Tiſch aufgeſtellt, an welchem die beiden Frauen ſaßen.
Frau von Raven hatte ein Buch in der Hand, Ramonna
ſchrieb, was Jene ihr diktirte.
Johannes hatte ſich mit dem Bemerken melden
laſſen, daß er in Stellvertretung des Profeſſors käme,
57
und Ramonna's erſte Frage galt alfo dem Befinden
des von ihr verehrten Mannes. Als ſein Stellvertre⸗
ter ſie über daſſelbe beruhigt hatte, und ſich nach ihrem
Ergehen zu erkundigen begann, kreuzte ſie die beiden
entblößten Arme auf dem Tiſche, und ſich weit vor⸗
beugend, ſo daß ſie mit dem ſchönen, feinen Kopfe
dem jungen Manne bedeutend näher kam, ſagte ſie:
„Ah, ich glaube, der Profeſſor hat Sie nur hierher ge⸗
ſchickt, um nicht mehr ſelber anhören zu müſſen, was
er ſchon gehört hat; und es iſt ja auch genug, daß ich
der guten Mama und dem Profeſſor Langeweile mache.
Ihnen klage ich nicht, mein Herr!“
Johannes entgegnete ihr, daß ſie ihm damit ein
Zeichen ihres Mißtrauens gäbe, daß er dem Profeſſor
Bericht über ſie zu bringen habe, und daß er ſie alſo
bitten müſſe, ihm ſeine Fragen zu beantworten. Auch
Frau von Raven redete ihr in dem Sinne zu. Indeß
Ramonna hörte nicht darauf. Sie ſah den Doktor
lächelnd an, ſchüttelte das Haupt und ſprach ein kur⸗
zes, beſtimmtes: „Nein!“ aus, dem ſie dann noch ein⸗
mal die Worte hinzufügte: „Ihnen klage ich nicht!“
Von jedem andern Kranken würde ſolches Betra—
gen dem jungen Arzte unangenehm geweſen ſein, aber
Ramonna gegenüber fühlte er Nichts als die Gewalt
58
ihrer fremdartigen Schönheit, und er wußte es ja auch,
daß er in dieſem Mädchen weniger einer Kranken, als
den phantaſtiſchen Einbildungen eines verwöhnten Kin⸗
des zu begegnen habe. Er konnte ſich nicht ſatt ſehen
an der klaren Stirne und den fein gezeichneten Brauen.
Der Blick ihrer großen Augen drang ihm mit ſeinem
ſanften Glanze bis in das Herz. Sie war in der
Nähe noch ſchöner, als aus der Ferne, von der er ſie
zuvor geſehen hatte. Alles an ihr war eigenartig und
beſonders. Selbſt der loſe, weiße Morgenanzug, der
die Arme und den Hals und den zierlichen Anſatz des
Halſes an die Bruſt halb verhüllte und halb zeigte,
während ein feuerrother Shawl das Gewand um den
ſchlanken Leib zuſammengürtete, und eine feuerrothe
Salvia mitihren traubenförmigen Blüthen in Ramonna's
ſchwarzem Haar erglänzte, gab dem Mädchen durch
die Art und Weiſe, wie ſie ihn trug, ein ſo fremdes
Anſehen, daß Johannes vor ihr wie vor einem Bilde
ſich in ein entzücktes Betrachten verlor, und ſich faſt
gewaltſam zu der Frage aufraffen mußte, wie er ſich
ihre Weigerung, ihm Rede zu ſtehen, deuten ſolle.
„Denken Sie gar nicht darüber nach, und deuten
Sie ſie gar nicht; das iſt ja gar nicht nöthig!“ rief
die ſchöne Kreolin, als ſie bemerkte, daß Frau von Ra⸗
59
ven mit ihrem Verhalten nicht zufrieden war. „Deus
ten Sie meine Weigerung gar nicht — denn ich will ſie
Ihnen ſelber deuten,“ ſprach ſie mit einem bezaubern⸗
den Lächeln; „Ihnen klage ich nicht, denn Sie ſind
fröhlich!“
Frau von Raven ſowohl als der Doktor waren
überraſcht von dieſer Antwort. „Iſt das ein Grund,
mir nicht zu vertrauen,“ erkundigte ſich Johannes.
„O nein!“ verſetzte ſie, und ſchüttelte das Köpf⸗
chen; „aber es iſt ein Grund, Ihre gute Laune nicht
zu ſtören. Sie ſehen fröhlich aus und ſind es auch.“
Ihre Freundin fragte, woher ſie das wiſſe.
„Woher ich's weiß? — Ich ſehe es und habe es
gehört! —“ und ſich zu Johannes wendend, ſprach
ſie: „Ich habe Sie ſingen hören, ein ſchönes Lied,
gleich in den erſten Tagen, nachdem wir in dies Haus
gekommen waren. Oben an Herrn Egon's Fenſter
haben Sie geſungen. Ich habe die fröhliche Melodie
behalten und ich ſinge ſie mir oft, obſchon ich damals
darüber weinen mußte; denn damals glaubte ich, ich
würde noch in dieſem Frühling ſterben, und wenn ich
Schönes hörte oder ſah, ſo weinte ich darüber, daß
ich's verlaſſen ſolle.“
„Aber jetzt — jetzt glauben Sie das hoffentlich
60
nicht mehr?“ rief Johannes, der ſich wie in einem
Zauberreiche fühlte.
Ihr Geſicht war ernſthaft geworden, ſie ſah ihn
prüfend an. „Am Tage glaube ich es nicht — aber
in der Nacht, wenn das böſe Herzklopfen mich erfaßt,
daß ich nicht ſchlafen kann, da glaube ich doch noch
oft, daß ich den Morgen nicht mehr ſehen werde.“
„Scheuchen Sie dieſe Beſorgniß von ſich, wie
einen böſen Traum der Nacht!“ rief der Doktor mit
großer Wärme. „Sie ſind nicht krank, Sie werden
leben —“
Ramonna unterbrach ihn. „Der Profeſſor ſagt
das auch,“ verſetzte ſie, „und die Mama hier ebenſo,
aber ſie ſehen immer ſo nachdenklich dabei aus!“
Frau von Raven meinte, ſie und der Profeſſor
wären eben ernſthaft.
„Das weiß ich!“ ſprach Ramonna, „aber wenn
meine letzte Schweſter, wenn Juanita in unſerm Hei⸗
mathlande die Aerzte fragte, ob ſie leben bleiben würde,
ſo ſagten ihr die alten Herren auch mit ſolchem ern⸗
ſten Geſichte: „Ja!“ — und ſie iſt doch geſtorben.
Das kann ich nicht vergeſſen, und darum glaube ich
auch dem Profeſſor nicht.“
„Nun,“ rief Johannes, „wollen Sie mir denn
61
glauben, der ich nicht allzu viel älter bin, als Sie, und der
das Leben liebt, wie Sie? Wollen Sie mir glauben,
wenn ich Ihnen verſichere, daß für Sie nicht das Ge:
ringſte mehr zu befürchten iſt? daß Sie leben bleiben,
geſund leben bleiben werden, wenn Sie rur gar nicht
mehr an Ihr Sterben denken wollen? Ihre Ge—
ſchwiſter ſind dem Klima der Tropen erlegen. Hier
in Europa iſt die Luft für Sie geſund; Sie müſſen
in Europa bleiben, und Sie fühlen ja auch ſelber,
daß es Ihnen gut geht und daß es Ihnen alle Tage
beſſer gehen wird? — Wollen Sie mir das glau⸗
ben?“
„Ja! das will ich!“ gab ſie ihm zur Antwort.
Er war aufgeſtanden und ſchickte ſich zum Gehen
an, denn er machte ſich innerlich zum Vorwurf, daß
er mit ſeiner Lebhaftigkeit ſeiner ärztlichen Würde zu
nahe getreten ſei. Als er ſchon den Hut genommen
hatte, rief Ramonna ihn zurück. N
„Melden Sie dem Profeſſor,“ ſprach ſie, „daß ich
heute viel beſſer bin! Und ich danke Ihnen, Doktor!
Ich bin ſicher, Sie glauben, was Sie ſagen, Sie ha—
ben mir ſehr wohl gethan. Ich danke Ihnen!“ —
Damit reichte ſie ihm die kleine, ſchmale Hand hin,
und er mußte machen, daß er fortkam, um ihr nicht
62
zu ſagen, wie fie ihn bezaubert habe und wie fie ihm
der Inbegriff aller Holdſeligkeit bedünke.
Was die anderen Kranken von ihm gedacht haben
mochten, die er an dem Mittage im Auftrage des Pro⸗
feſſors noch beſucht, das fing er ſich erſt zu fragen
an, als der und jener von ſeinen eigenen Patienten
ſich bei ihm erkundigte, was ihm denn geſchehen ſei,
und weshalb er ſo gar vergnügt ausſähe? Er konnte
auch vor dem Profeſſor, als er mit ſeinen Berich⸗
ten bis zu der engliſchen Familie gekommen war,
es nicht zurückhalten, wie überraſchend die Anmuth
der jungen Kreolin ihm geweſen ſei.
Der Profeſſor hörte das wohlgefällig an. „Meine
Praxis,“ ſagte er, „ſcheint unter Amors ganz beſon⸗
derem Schutze zu ſtehen, ſchade nur, daß ich ſelber davon
nicht mehr profitiren kann. Mein Aſſiſtent hatte ſich
bei dem Beſuch meiner Kranken die reizende Tochter
einer ſehr reichen Wittwe aus den Rheinprovinzen an⸗
geeignet, Sie ſcheinen auf die ſchöne Weſtindierin gleich
im Sturmſchritt loszugehen, und ich traue Ihnen zu,
daß Sie ihr die Todesgedanken zu vertreiben wiſſen
würden.“
Zu des jungen Doktors ganz beſonderer Genug⸗
thuung wollte aber der Hüftſchmerz ſeines verehrten alten
63
Lehrers nicht fo ſchnell weichen, als man es erwartet
hatte. Die Vertretung bei deſſen Kranken war alſo
fortzuſetzen, und noch ehe eine Woche vergangen war,
hatte Frau von Raven durch die zufällige Erwähnung,
wie Johannes ein Jahr vor dem Feldzuge eine Reiſe nach
dem hohen Norden von Schweden und Norwegen gemacht
habe, eine nähere Bekauntſchaft zwiſchen dieſem und dem
Vater ihrer jungen Pflegebefohlenen herbeigeführt.
Herr Ernsby beſaß die ganze unermüdliche Frage⸗
ſeligkeit der reiſenden Engländer, er wünſchte neben
ſeinem Murray und ſeinen ſonſtigen Handbüchern noch
wo möglich die ſelbſtgemachten Erfahrungen eines ihm
bekannten Mannes zu benutzen, und er war alſo augen⸗
blicklich bei der Hand, den jungen Arzt ſeiner Tochter,
ſo oft derſelbe in das Haus kam, um alle Dinge zu
befragen, die er ſeit einigen Wochen alltäglich in ſeinen
Handbüchern nachgeleſen hatte. Da nun der Doktor
nicht Zeit hatte, in den Vormittagsſtunden dieſe Reiſe⸗
berathungen zu ertheilen, erſuchte der Engländer ihn,
eine Abendſtunde dazu feſtzuſetzen, und was konnte
Johannes Beſſeres verlangen, als Abends an dem
Theetiſch der Familie neben Ramonna zu ſitzen, mit
ihr und Frau von Raven in dem Wege um den Raſen⸗
platz ſpazieren zu gehen, und wenn das ſchöne Mäd⸗
64
chen ihn darum bat, fein Partner für eine Partie Feder⸗
ball zu ſein, oder ihm eines jener deutſchen Volkslieder
am Klaviere vorzuſingen, die zu hören die junge Kreolin
immer wieder wünſchte?
Egon erfuhr das Alles von ſeiner Mutter ſowohl
als von dem Freund, aber er äußerte ſich nicht dar⸗
über. Die Aufforderung der Fremden, ſich ebenfalls
zum Thee bei ihnen einzufinden, welche ſeine Mutter
ihm brachte, lehnte er unter einem annehmbaren Vor⸗
wande ab, und erſt als der Freund ihn fragte, ob er
danach nicht wenigſtens den üblichen Höflichkeitsbeſuch
zu machen denke, entgegnete der Lieutenant kurz und
abweiſend, er liebe es nicht, ſich benutzen zu laſſen.
Johannes wollte wiſſen, was das heißen ſolle.
Egon wich der Antwort aus. Er beneide den Freund
um ſeine Unbefangenheit, ſagte er und wolle ſie ihm
nicht trüben und nicht rauben. Das machte natürlich
den Doktor nur noch dringlicher, und mit jener andauern⸗
den Verſtimmung, welche ſich ſeit einiger Zeit des jungen
Offiziers bemächtigt hatte, meinte er: „Ich bin kein
Freund von Wiederholen beſonderer Geſpräche, aber es
iſt vielleicht nothwendig, daß Du erfährſt, wie Dein eng⸗
liſcher Freund Deinen Verkehr in ſeinem Hauſe an⸗
ſieht, und wie Leute ſeiner Art überhaupt über die⸗
65
jenigen urtheilen, deren Dienſte fie bezahlen.“ Er hielt
inne, als überlege er noch einmal, ob er dem Freunde
die Mittheilung machen ſolle oder nicht, dann ſprach
er: „Ramonna's Vater nennt Dich einen ſehr amüſan⸗
ten jungen Menſchen. Er freut ſich, daß feine Toch⸗
ter in Deiner Geſellſchaft ſo vergnügt iſt, er findet,
daß die Anleitung, die Du ihm für ſeine heilgymna⸗
ſtiſchen Uebungen giebſt, eine Extra⸗Bezahlung werth
iſt, daß Ramonna von Dir im Deutſchſprechen viel pro⸗
fitiren kann, und er iſt entſchloſſen, Dich für alle dieſe
verſchiedenen Dienſte, wenn ſie in drei Wochen reiſen
werden, ſo anſtändig zu bezahlen, daß Du die Abend⸗
ſtunden, welche Du jetzt für ihn und ſeine Tochter
aufwendeſt, nicht zu bereuen haben ſollſt! Und nun
verzeih mir's, wenn ich Dich mit dieſem Bericht in
Deinem Behagen etwa ſtöre. Ich meinte aber, daß
es gut ſei, wenn Du dies erführeſt!“
Zu des Lieutenants ſichtlichem Erſtaunen blieb
aber der Doktor von den Mittheilungen unberührt.
„Du ſtörſt mich in meinem Behagen ganz und gar
nicht!“ verſetze er gleichmüthig, „und ich begreife nicht,
was Dir dabei auffällt. Seine ärztlichen Dienſte be⸗
zahlt zu bekommen iſt jeder Arzt gewohnt, und je höher
er ſie ſich von den Reichen bezahlen BL um fo
Fanny Lewald, Neue Erzählungen,
66
freier kann er fie den Armen unentgeltlich leiſten.
Will ein ſehr reicher Mann mir einmal ausnahms⸗
weiſe etwas, was mir Vergnügen macht und ihm
nebenher erwünſcht iſt, noch beſonders bezahlen, fo
kann ich mir das gefallen laſſen, da er mir ſchwer⸗
lich ſagen wird, dies iſt für Ihre Morgenbeſuche und
dies iſt für die Geſellſchaft, die Sie mir am Abend
leiſteten. Nimmſt Du doch Dein Gehalt vom Kö—
nige oder vom Staate, ebenſowohl für die Paraden
und die müßigen Wachedienſte im Schloſſe, als für
den Dienſt im Kriege; Dienſt iſt Dienſt, und Sold
iſt Sold. Das ſchöne Kind der Tropen iſt mir ein
Entzücken, der Vater amüſirt mich, Deiner Mutter
bin ich angenehm, alle Theile ſind alſo gleichmäßig
befriedigt; Du aber biſt ein Thor, daß Du dieſe vor⸗
übergehende anmuthige Geſellſchaft nicht fröhlich mit
uns theilſt. Es verlangt ja dabei Niemand von Dir das
Opfer irgend einer Ueberzeugung; und drückt Dich, wie
Du ſagſt, die Abhängigkeit, in welche Deine Mutter ſich
begeben hat — obſchon ich Nichts gewahr worden bin,
was ſie im Entfernteſten verletzen könnte — nun, ſo wäre
es doppelt gerathen, daß Du Deinen Säbel, Deine
Epauletten und Deine Orden in die Wageſchale leg⸗
teſt, und mit Deiner Ehrerbietung vor der Mutter
67
auch dem Engländer die Achtung vor derſelben einflößeft,
die ihr gebührt — wenn er es je an ſolcher fehlen
laſſen ſollte, was ich nicht befürchte.“
Dieſer letzte Grund machte Eindruck auf den
Lieutenant. Er reichte dem Freunde die Hand und
meinte: „Dein Verkehr mit Menſchen aus allen Stän⸗
den macht Dich einſichtiger und weniger einſeitig als
mich, und die Lebensfreiheit, die Du von jeher genoſ⸗
ſen haſt, hat Dich nicht ſo argwöhniſch werden laſſen,
als ich es leider bin. Mir ſtecken die alten drücken⸗
den Erfahrungen noch im Blute; ich ſehe es bei jedem
Anlaß, wie mich dies befängt, wie es mich behindert, und
die Erfenntniß beſſert meinen Zuſtand nicht. Liebte ich
Dich nicht, ich könnte Dich um Deine Seelenfreiheit, um
Deine ſtete liebenswürdige Heiterkeit beneiden.“
„So laß denn doch endlich einmal alle Deine drücken⸗
den Erinnerungen zum Teufel fahren!“ rief Johannes.
„Grüble nicht über Dich, ſondern freue Dich, daß
Du jung biſt. Prüfe die Geſinnungen der Menſchen
nicht wie der Bibel⸗Gott bis auf Herz und Nieren,
was ihm ſchwer gefallen ſein muß bei dem damaligen
Zuſtande der Wiſſenſchaft, ſondern nimm die Leute
als das, was ſie ſein wollen, und vor Allem — Du
kommſt heut' in den Garten.“
5*
68
Die Worte, welche an eine Textſtelle aus dem
Mozart'ſchen Figaro erinnerten, machten Beide lachen.
„Um die beſtimmte Zeit!“ antwortete ſingend der
Lieutenant.
„Läßt mich nicht lange warten?“ intonirte Jo⸗
hannes.
„Nein!“ ſang Egon; und die Melodie des rei⸗
zenden Duettes vor ſich hinſummend, gingen ſie heiter
und guter Dinge von einander.
Siebentes Capitel.
Von da ab ſchloß ſich auch Egon der engliſchen
Familie an, und da zwei junge Männer niemals ne⸗
ben einem ſchönen Mädchen leben können, ohne un⸗
willkürlich in einen Wettſtreit der Liebenswürdigkeit
zu gerathen, ſo gewann der geſellige Verkehr an Le⸗
ben, ſeit der Lieutenant an demſelben Theil nahm.
Als nach vierzehn Tagen der Profeſſor, von ſei⸗
nem Krankenlager auferſtanden, die ſchöne Kreolin zum
erſten Male wieder beſuchte, fand er ſie heiter und
von allen ihren melancholiſchen Gedanken ganz und
gar geneſen. Er ſtand nicht an, dies in freundlich
vornehmer Beſcheidenheit ſeinen Rathſchlägen zuzu⸗
ſchreiben; er erinnerte den Vater, wie er die Prognoſe
richtig gemacht und die Geneſung vorausgeſagt habe;
unterließ dabei nicht, die verſtändige Sorgfalt ſeines
zweiten Aſſiſtenten gebührend anzuerkennen, von dem
70
er, als von einem jungen Manne aus ſehr achtungs⸗
werther und wohlhabender Familie, noch leichthin ein
paar freundliche Worte ſagte — denn der Profeſſor
war ein Mann, der gern lebte und leben ließ — und
er erklärte darnach, daß jetzt der Reiſe Ramonna's
nichts mehr im Wege ſtehe und daß man aufbrechen
ſolle, ehe die fortſchreitende Jahreszeit den Aufenthalt
in der großen Stadt unbehaglich, und die Hitze das
eigentliche Reiſen angreifend machen würde.
Herr Ernsby verlangte es gar nicht beſſer. Seit
er der Sorge um das Leben ſeiner Tochter enthoben
war, hatte ſie unverkennbar an Intereſſe für ihn ver⸗
loren. Er hatte nicht gewollt, daß auch dieſes letzte
Kind ihm ſterben ſolle, er hatte Alles daran gewendet,
Ramonna zu erhalten; jetzt war ihm dies gelungen, er
hatte ſeinen Willen durchgeſetzt, und er ſehnte ſich nach
einem neuen Gegenſtand für ſeine Willensthätigkeit.
Die gleichmäßig andauernde Pflege eines jungen Frauen⸗
zimmers war nicht ſeine Sache, eine langſame und
begrenzte Reiſe, wie man ſie für Ramonna nöthig fand,
würde ihm eine Qual geweſen ſein. Jahr und Tag
hatte er für die Tochter gelebt, es war nach ſeinem
Empfinden hohe Zeit, daß er jetzt wieder an ſich ſel⸗
ber dachte, und er hatte ſeinen Sinn darauf geſtellt,
71
den längſten Tag am Nordkap zu verleben. Die Bor-
bereitungen zu ſeiner Tochter Reiſe waren lange ſchon
getroffen worden, und vierundzwanzig Stunden nach
dem Beſuche des Profeſſors, geleitete der Vater Ra⸗
monna und ihre Beſchützerin nach der Eiſenbahn.
Draußen in dem Bahnhofe traf man Egon an,
der hinausgegangen war, um bis zum Augenblick der
Abreiſe bei ſeiner Mutter zu verweilen. Auch Johannes
hatte ſich, wie er ſagte, in ſchuldiger Höflichkeit ein⸗
gefunden, und nach ſeiner Weiſe munter, hatte er mit
Scherzen und Necken die letzte Viertelſtunde hingebracht.
Als man dann aber an den Wagen trat, als der Kou-
rier, der die Frauen begleiten ſollte, ihnen die kleinen
Handſäcke und ihre Fächer reichte, als Egon die Mut⸗
ter hineinhob, dieſe ſich mit Rührung noch einmal zu
ihm wendete und ihre Augen trocknete, da ſchien der
Gedanke des Scheidens Ramonna zum erſten Male zu
überkommen und gewaltſam zu ergreifen. Mit einer
Leidenſchaftlichkeit, welche man bis dahin niemals an
ihr wahrgenommen hatte, warf ſie ſich ihrem Vater
an die Bruſt, und unter Schluchzen und unter Thrä—
nen rief ſie: „Oh, laß mich bleiben! laß mich bei Dir
bleiben, Vater! ich kann nicht fort! ich will nicht fort
von hier! Ich ſterbe, wenn ich gehe!“
72
Man war in großer Verlegenheit. Die Umſtehen⸗
den wurden achtſam; Herr Ernsby, welchem ſolch ein
Vorgang ſehr zuwider war, ſtellte ihr verweiſend vor,
daß er ſie doch nicht nach dem Nordkap mit ſich neh⸗
men könne. Frau von Raven gab ihr zu bedenken, daß
ſie, die ſo viel älter ſei, ſich von ihrem Sohne trenne,
ohne deshalb gleich Todesahnungen zu hegen, Johan⸗
nes gab ihr ſeine Hand und ſein ärztliches Wort dar⸗
auf, daß ſie Alle ſich in kurzer Zeit und in Geſund⸗
heit wiederfinden würden, aber ſie ſah ihn gar nicht
an, und weinte leiſe fort, nachdem der Vater ſie in
den Wagen hineingehoben hatte. Endlich, als der
Zugführer bereits herantrat, die Billete einzufordern,
richtete ſie ſich auf, und ſich weit hinausbiegend zu
Egon, der ernſt und ſchweigend an dem Schlage ſtand,
rief ſie, indem ſie ihm die Hand hinreichte: „Leben
Sie wohl, Herr Egon! Sie wiſſen es, was ſcheiden heißt!“
In dem Augenblick ſchrillte aber ſchon die Pfeife — ein
ſtoßender Ruck — das junge Mädchen warf ſich weinend
in die Ecke ihres Platzes zurück, und der Zug ſauſte
davon.
„Das arme Kind! es hängt zu ſehr an mir!“
ſagte der Vater; „es iſt Zeit, daß ich ſie auf ſich ſelbſt
verweiſe. Ein Mann kann nicht blos für ſeine Toch⸗
13
ter da fein!’ Dann ſchüttelte er den jungen Männern
feſt die Hand, und ging, den Hunden pfeifend, die ihn
ſtets begleiteten, nach ſeinem Wagen. Auch die Freunde
machten ſich auf den Weg, aber ſie trennten ſich bald.
Keiner von ihnen nannte Ramonna's Namen bei dem
Gange; und auch wenn ſie in den folgenden Tagen
und Monaten zuſammenkamen, war es, als vermieden
ſie Beide von dem Mädchen zu reden, das ſie doch
die ganze Frühlingszeit hindurch ſo ſehr beſchäftigt
hatte.
Aber auch nach der Entfernung der ſchönen Kreo—
lin verlor ſich das Intereſſe für dieſelbe in Johannes
nicht. Er hatte ſich gewöhnt, ſie an jedem Tag zu
ſehen, er hatte ſeine Stunden danach eingetheilt, mit⸗
ten in ſeinen Berufsgeſchäften hatte er darauf geſon⸗
nen, ihr eine Freude, eine Zerſtreuung zu bereiten; ihr
Frohſinn, ihre wiederkehrende Zuverſicht zum Leben,
die Anmuth, mit welcher ſie ihm ſeine Fürſorge zu
danken wußte, hatten ihn immer neu beglückt; nun
war mit Einem Male eine Lücke in ſeinem Daſein
entſtanden. Er vermißte das Mädchen mehr als er je
zuvor einen Anderen vermißt. Er war unruhig bei
aller Arbeit, allem Thun, unruhiger in jeder Muße⸗
ſtunde. Es litt ihn nicht in ſeiner Wohnung, das
74
Wirthshaus, in dem er Jahre lang in fröhlichem Bi-
hagen mit ſeinen Freunden zuſammengekommen war,
erſchien ihm plötzlich unwirthlich und widerwärtig,
und doch mochte er es ſich nicht eingeſtehen, was ihm
fehle und was ihm ſeine Ruhe raube. Egon's Mit⸗
theilungen über die Denkungsweiſe von Ramonna's Va⸗
ter wirkten in dem Doktor nach. Daß der Engländer
ein Egoiſt, ein Sonderling, daß er hochmüthig und
geldſtolz ſei, das hatte Johannes freilich ſelbſt geſehen
und gewußt, es hatte ihn aber weiter nicht gekümmert.
Ramonna hatte ihm ſo ſehr gefallen, er hatte nur an
ſie, nur an den Augenblick gedacht. Bisweilen war
es wohl durch ſeinen Sinn gezogen, daß es etwas
ſehr Schönes ſein müſſe, eine ſo reizende Frau und
mit ihr zugleich ein großes Vermögen zu gewinnen,
und wie die thätig gewordene Phantaſie nicht leicht
eine Schranke findet, war er dann im Geiſte an Ra⸗
monna's Seite auf dem leuchtenden Uferſande ihrer
Heimathinſel unter Palmen und Karuben umherge⸗
wandelt. Es war das aber, ſo lange er neben dem
Mädchen gelebt hatte, weiter Nichts als ein flüchtiges
Spiel ſeiner Einbildungskraft geweſen; in der nächſten
Stunde hatte er nicht daran gedacht, ſein Herz war
eigentlich ganz frei geblieben. Jetzt indeſſen war es
75
anders. Jetzt konnte er es ſich nicht mehr verbergen,
daß er Ramonna liebte, leidenſchaftlich liebte, und —
daran zweifelte er nicht — Egon hatte von Anfang an
in ſeiner Bruſt geleſen, hatte ihn beobachtet, hatte ihn
beſſer verſtanden, als er ſich ſelbſt. Deshalb hatte
der ernſte, kluge Freund ihn auch gewarnt, deshalb
allein hatte er ihn vorſorglich auf den Charakter und
die Denkart von Ramonna's Vater hingewieſen. Aber
was hatte es ſagen wollen, daß das Mädchen Egon im
Moment des Scheidens ſo leidenſchaftlich angerufen hatte?
Sie hatte ſich bei Johannes allerdings zu ver⸗
ſchiedenen Malen nach dem Sohne ihrer Pflegerin er⸗
kundigt; und das war ihm immer aufgefallen, denn
was ſie über Egon wiſſen wollte, hätte ſie ja durch
deſſen Mutter ſtets erfahren können, die es gar nicht
beſſer forderte, als von dem Sohne zu ſprechen. Hatte
vielleicht Egons ſtolze Zurückhaltung die Neugier, die
Theilnahme des an Zuvorkommenheit gewöhnten Mäd⸗
chens aufgeregt? Hatten die Mittheilungen der Ma⸗
jorin, die in ihrem Sohne den Inbegriff aller Tu⸗
gend und aller Würdigkeit erblickte, vielleicht eine Liebe
in Ramonna's Herz entzündet, deren ſie ſich, wie Jo⸗
hannes der feinen, im Augenblick des Scheidens erſt
bewußt geworden war?
76
Möglich ift das Alles, ſagte ſich der Doktor, die
Herzenslaunen reicher und müßiger Frauen ſind ja
unberechenbar! — Aber er fand ſich mit dieſer tiefen,
durch Ueberlieferung geheiligten Erkenntniß, mit dieſer
Einſicht in die weibliche Natur nicht beruhigt, nicht
gefördert, er hatte eben nur die Feſtigkeit, dem Freunde
zu verbergen, wie aufgeregt er war. Er mochte mit
ſeinen ſiebenundzwanzig Jahren und in dem Gefühl
ſeines würdigen Berufes dem kalten, feſten Egon nicht
mehr wie der leichtfertige Falter erſcheinen, der ſich die
Flügel verbrennt im gaukelnden Spiel um die Flamme:
und daß Egon ihn gewarnt, das nöthigte ihn erſt recht
zum Schweigen. Er ging ſeinen Geſchäften nach, die
ſich im Sommer, als die alten Aerzte ihre Erholungs⸗
reiſen machten, ſehr vermehrten; er verkehrte mit ſei⸗
nen Bekannten und mit Egon ganz wie ſonſt, dieſer
ſchien die Entfernten gar nicht zu vermiſſen, und nur
das Eine fiel dem Doktor auf, daß Jener ihm von
den Briefen ſeiner Mutter wenig ſprach, daß er ſie
ihm nicht wie in andern Zeiten theilweiſe zu leſen gab.
reilich erzählte er, wo ſeine Mutter ſich befinde,
er gab auch Auskunft über dieſes oder jenes Er⸗
lebniß der beiden reiſenden Frauen, und erwähnte eines
Tages, daß Ramonna einen Gruß für ſie Beide mitten
77
in den Brief der Mutter hineingeſchrieben habe; als
Johannes dieſes Schriftſtück aber zu ſehen wünſchte,
hatte Egon es nicht bei ſich, und der Doktor kam auf
ſein Verlangen dann nicht mehr zurück, da er keine
zu große Theilnahme oder Neugier zu verrathen wünſchte.
Wo aber zwei Menſchen, die einſt ein volles und
unbedingtes Vertrauen zu einander gehegt haben, aus
welchen Gründen es auch ſein mag, ſich zu einem vor⸗
ſichtigen Schweigen gegen einander veranlaßt fühlen,
iſt eine Erkaltung eingetreten, die nothwendig und
mit Schnelle zunimmt; und Egon ſowohl als Johan-
nes waren ſich dieſer wachſenden Entfremdung auch
bewußt, obgleich man ſie noch immer als die Unzer⸗
trennlichen bezeichnete.
*
Achtes Capitel.
Es war ſchon gegen das Ende des Sommers und
die jungen Männer waren am Mittage länger und
Beide in gewiſſem Sinne aufgeſchloſſener als in der
letzten Zeit beiſammen geweſen, als ſpät am Abende
Egon noch in die Wohnung ſeines Freundes kam.
„Gut, daß ich Dich finde,“ rief er, ſowie er
eingetreten war, „ich bringe Dir eine wunderbare
Neuigkeit.“ a
Er zog dabei einen Brief hervor und reichte ihn
dem Freunde hin. Die Aufſchrift zeigte Frau von Ra⸗
vens Hand; und wenn es Johannes auffiel, daß Egon
ihm jetzt plötzlich ein Schreiben ſeiner Mutter zum Leſen
anbot, nachdem er ihm alle Briefe derſelben ſo lange
vorenthalten hatte, ſo war die Dringlichkeit, mit welcher
er ihn antrieb, von dem Inhalt Kenntniß zu nehmen,
noch viel auffallender und völlig gegen ſeine Art und
19
Weiſe. Indeß fie wurde dem Doktor ſehr erklärlich,
als er die folgenden Mittheilungen las.
„Es iſt geſtern ein Brief von Herrn Ernsby in
unſere Hände gekommen,“ ſchrieb Frau von Raven aus
dem Schweizer Kurorte, „der die arme Ramonna in
eine große Aufregung verſetzt hat, und der auch mich
nicht zur Ruhe kommen läßt, weil er mich zu einer
neuen Entſcheidung drängt, die ich ohne Deine Zu⸗
ſtimmung und ohne reifliches Ueberlegen mit Dir, nicht
faſſen kann.
„Herr Ernsby hat ſich mit einer kaum zwanzigjähri⸗
gen Norwegerin verheirathet. Ohne ſeine Tochter vorher
auch nur davon benachrichtigt zu haben, meldet er ihr
ganz plötzlich dieſe Thatſache in der Weiſe, wie man
Jemandem die Nachricht geben würde, daß man ſich
einen neuen Diener angeſchafft, oder einen neuen Wa⸗
gen gekauft habe. Er ſagt, da er die ſchmerzliche Er⸗
fahrung gemacht habe, wie wenig verläßlich die Ge—
ſundheit der Südländerinnen ſei, wolle er es jetzt mit
einer Nordländerin verſuchen. Er habe auf der Rück⸗
kehr vom Nordkap, in Bergen, in dem Hauſe des eng⸗
liſchen Conſuls, die Nichte deſſelben kennen lernen, habe
ſich mit ihr verheirathet, und da ſeine Frau, ſo wie
er den Norden, den Süden kennen lernen wolle, ſo
80
werde er mit ihr die Hochzeitsreiſe über Deutſchland,
Paris und Havre nach Cuba machen. Wolle Ramonna
mit ihnen gehen, ſo möge ſie gleichzeitig mit ihm und
ſeiner Frau am dreißigſten Auguſt in Berlin eintreffen,
um dann in einigen Tagen nach Paris aufzubrechen.
Ziehe ſie, wie er vermuthe, es jedoch vor, in Europa län⸗
ger zu verweilen, ſo könne ſie das thun, und er über⸗
laſſe ihr in dieſem Falle die Wahl ihres Aufenthalts⸗
ortes, vorausgeſetzt, daß ich bei ihr bliebe, und ganz
und gar die Sorge und Verantwortung für ſie über⸗
nähme. Chriſtina ſei ſchön und geſund, er hoffe Kin⸗
der zu bekommen, die ihn über ſeine gehabten Verluſte
tröſten könnten, und da er nun für ſich nach ſeinem
Ermeſſen und Bedürfen gehandelt habe, wolle er der
Tochter auch die gleiche Freiheit zugeſtehen.
„Das Alles hat er in ſeiner gewohnten gebiete⸗
riſchen Weiſe ausgeſprochen, und Ramonna mußte es
fühlen, wie die junge Frau und die neuen Ausſichten
in die Zukunft ihn ganz ausſchließlich beſchäftigten,
und wie ſie daneben wenig in Betracht kam. Dazu
war der Termin des Zuſammentreffens in Berlin ſo
kurz anberaumt, daß wir wirklich faſt noch in der Stunde,
in welcher der Brief uns erreicht, von hier hätten fort-
reifen und Tag und Nacht unter Weges bleiben müſ⸗
81
ſen, um am Dreißigſten in Berlin eintreffen zu können.
Das arme Kind täuſchte ſich alſo gewiß nicht, wenn
es annahm, daß der Vater es nicht mitzunehmen
wünſche; und während er der Tochter nach ſeinen Wor⸗
ten freie Wahl verhieß, war ihr dieſelbe thatſächlich
entzogen. Bei dem Schrecken und der Aufregung, in
welche der Gedanke an eine Stiefmutter und obenein
an eine ihr ganz fremde und ſo junge Stiefmutter ſie
verſetzte, konnte man nicht ſofort an die Abreiſe gehen,
und Ramonna's Klagen, daß ſie um einer Fremden
willen aus dem Herzen ihres Vaters ausgeſtoßen ſei,
daß er ſie alſo nie wirklich geliebt haben könne, daß
ſie einſam auf der Welt ſei, hatten eine erſchütternde
Wahrheit in ſich. Ich bin wie der arme tropiſche
Vogel, ſagte ſie, den ein Sturm verſchlagen hatte,
und der auf unſer Schiff herniederfiel, als wir ſchon
an der Küſte von Europa waren. Ich nahm ihn auf
und pflegte ihn — und er iſt doch geſtorben! Was
ſoll aus mir hier in Furopa werden, wenn Du, mein
Mütterchen, nicht bei mir bleibſt?
„Wir haben Herrn Ernsby geantwortet, daß wir
bis zu dem feſtgeſetzten Tage nicht bei ihm ſein können;
Ramonna hat gebeten, daß der Vater nach feinem Er⸗
meſſen über ſie entſcheiden, daß er bis zum nächſten
Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 6
82
Schiffe in Europa bleiben möge, und dabei erklärt, fie
hoffe, ich würde ſie nicht verlaſſen, wenn er ſie nicht
mitzunehmen wünſche. Wir brechen aber natürlich ſo⸗
fort auf, werden ſpäteſtens den Dritten des kommen⸗
den Monats zu Hauſe ſein, und erwarten unter We⸗
ges telegraphiſch von den Entſchließungen des neuen
Ehemannes unterrichtet zu werden.
„Daß er die Gelegenheit benutzen wird, ſich für
den Augenblick von der Geſellſchaft der Tochter frei
zu machen, deſſen bin ich ſicher; daß er mir in ſeinem
Briefe mit der großartigen Nichtachtung des Geldes,
die wir an ihm kennen, im Voraus alle Bedingungen,
die ich nur irgend machen könnte, zugeſtanden hat,
brauche ich nicht erſt zu erwähnen. Mir iſt es eine
große Herzensbefriedigung geworden, mit dem lieben
Mädchen zuſammen zu ſein, mich ſeiner wahrhaft töch⸗
terlichen Liebe zu erfreuen und es zu betrachten, wie
ſein Geiſt und ſein Herz ſich bilden und entfalten.
Die rückſichtsloſe und dabei unbewußte Selbſtſucht,
die ihr durch ihren Vater förmlich anerzogen worden
war, iſt in ihr faſt ganz erloſchen. Sie iſt ihrer Na⸗
tur nach anſchmiegend und liebevoll, und das phan⸗
taſtiſche Wünſchen, zu welchem der Reichthum ihres
Vaters ſie verleitet hat, weicht in ihr allmälig einer
83
maßvollen und weiblichen Beſchränkung. Es iſt, noch
ehe wir die Kunde von der Verheirathung ihres Va⸗
ters empfangen hatte, ſchon zum Oeftern vorgekom⸗
men, daß ſie von ihrer eigenen einſtigen Verheirathung
und von dem Glück des Familienlebens, wie ſie es
aus meinen Schilderungen kennen lernt, mit mir ge⸗
ſprochen hat. Daß ſie unter den jetzigen Verhältniſſen
ſich noch mehr als früher darauf hingewieſen fühlen
muß, an ihre Verheirathung zu denken, iſt natürlich;
daß ihr Vater dieſelbe wahrſcheinlich gerne ſehen und
die Stiefmutter ſie wünſchen wird, iſt eben ſo ſelbſt⸗
verſtändlich, und mein Amt neben meinem Pflegekinde,
denn wie ein ſolches iſt Ramonna mir in's Herz ge⸗
wachſen, wird alſo vorausſichtlich nicht lange währen,
wenn ſie bei ihren hergeſtellten Kräften dieſen Winter
in der Geſellſchaftswelt erſcheint. Es fragt ſich alſo,
ob Du mit meiner Abſicht, bei Ramonna zu bleiben,
einverſtanden biſt? Ob Du geneigt biſt, unſere Häus⸗
lichkeit für das Erſte zu entbehren? Ein großes Opfer
kann es Dich nicht koſten, da ja ohnehin die Mög⸗
lichkeit Deiner Verſetzung nahe liegt; und ich meine,
der Gedanke, daß mir in Ramonnga eine töchterliche
Liebe erwachſen iſt, müſſe Dir ſelber eine Beruhigung
ſein für die Zeiten, in denen Deine Liebe nicht mehr
6 *
84
mir allein gehören wird, für Zeiten, die ich ja ſelbſt
erſehnen muß.“ |
Die allgemeinen Auseinanderſetzungen des Briefes
waren damit zu Ende. Es folgten noch einige An⸗
deutungen, in welcher die Majorin ihren Haushalt
aufzulöfen, über die Bedingungen, welche ſie Herrn
Ernsby zu ſtellen dachte, und nachdem der Doktor
auch dieſe durchflogen hatte, gab er dem Freunde den
Brief zurück. 6
„Das ſind allerdings überraſchende Neuigkeiten,“
ſagte er mit ſtrahlenden Augen und mit glühenden
Wangen ; „aber Neuigkeiten, die man ſich gefallen laſ⸗
ſen kann, denn den Vater iſt man los!“ Er zog die
Uhr heraus und ſah nach der Stunde. „Komm!“ rief
er, „laß uns auf die Geſundheit der ſchönen Norwe⸗
gerin trinken gehen, welche das holdſeligſte aller Pa⸗
radiesvögelchen alſo flügge macht und quaſi vogelfrei
erklären läßt. Beſſer kann ich's gar nicht wünſchen.“
Aber weit entfernt, auf des Doktors gute Laune
einzugehen, ſagte Egon mit einer finſteren Beſtimmt⸗
heit: „Sprich von Ramonna nicht in dieſem Tone!“
Johannes traute ſeinen Ohren nicht. Er ſah
den Freund an, es lag etwas ihm bisher völlig Frem⸗
des in deſſen Mienen; indeß, da er nicht gewohnt
85
war, mit ihm zu rechten und da er feine Reizbarkei⸗
ten meiſt ſehr arglos hinnahm, entgegnete er: „Wahr⸗
haftig, Egon! Du wirſt pedantiſch! Du hätteſt Pre⸗
diger werden ſollen! Meinſt Du, weil Du tugendhaft
biſt, ſoll es keinen ſüßen Wein und keine Torten mehr
geben?“
„Ich bitte Dich allen Ernſtes,“ wiederholte der
Lieutenant, „laß Deine Späße, denn Du ſiehſt es,
ich bin ſehr ergriffen und nicht in der Stimmung,
auf dieſelben einzugehen. Du weißt noch nicht Alles,
was geſchehen iſt — ich habe eine Unterredung mit
dem Vater gehabt — “
„Mit welchem Vater?“ erkundigte ſich der Dok⸗
tor, dem das Betragen ſeines Freundes immer räth⸗
ſelhafter, ja unheimlich zu werden anfing.
„Mit ihrem Vater! er iſt eingetroffen auf die
Stunde, die er feſtgeſetzt hat — aber komm! laß uns
hinausgehen! es iſt heiß hier innen und die Nacht iſt
ſchön!“
Damit griff er nach ſeinem Helm, ſchnallte den
Degen wieder um, und ſie verließen zuſammen das
Zimmer und das Haus. Als ſie dann hinunter auf die
Straße kamen, ſchlug Egon gegen das Erwarten des An⸗
dern den Weg ein, der ſie nach dem Park hinüberführte,
86
und nach wenig Schritten befanden ſie ſich auf dem
großen freien Platze, auf deſſen Gartenanlagen der
Vollmond Tagesklarheit niederſtrömte.
Wie ſie nun allein und dem Geräuſch der Straße
entrückt waren, ſagte Egon:
„Ich habe den Brief meiner Mutter am Nach⸗
mittage erhalten. Als ich Abends nach Hauſe kam,
war das erſte Stockwerk erhellt, Herr Ernsby war an⸗
gelangt. Oben in meiner Stube erwartete mich eine
Karte von ihm, die mich einlud, ihn aufzuſuchen. Da
es noch nicht ſpät war, ging ich hinunter. Er ſaß
mit ſeiner Frau beim Thee. Sie iſt groß, ſtark,
ſchön, wie man ſich eine junge Brunhilde denkt. Er
ſtellte mich ihr vor, und ohne uns Zeit auch nur zu
einer Begrüßung zu laſſen, meinte er, es ſei ihm lieb,
daß ſeine Tochter nicht gekommen ſei, und daß er dar⸗
aus ſchließen könne, ſie wolle in Europa bleiben und
meine Mutter wolle mit ihr leben. Er wiederholte mir,
was er meiner Mutter einmal geſagt hatte, wie er viele
ſeiner beſten Jahre mit ſeiner kranken Frau und mit
der Sorge um ſeine Kinder verloren, nun ſei die Toch⸗
ter geſund, nun wolle er ſeines Lebens wieder froh
werden, denn der Menſch ſei um ſeiner ſelbſt willen
auf der Welt; danach müſſe man handeln und danach
87
müſſe auch feine Tochter handeln lernen. Sie ſei reich
durch das Vermögen ihrer Mutter auch ohne ihn, und er
werde ſie ſicher nicht beſchränken. Er ſei beruhigt,
wenn er ſie unter der Aufſicht meiner Mutter wiſſe.
Er laſſe die Wohnung, laſſe die Equipage zu ihrer Ver⸗
fügung, die Hunde und ſeine Leute nehme er mit, meine
Mutter, die er hoch ſchätze, werde die Einrichtung ſicher
gut beforgen, dafür kenne er fie. Aber auch mich kenne
er; er wiſſe, ein preußiſcher Offizier ſei doppelt ein
Ehrenmann, er habe das Zutrauen zu mir, daß ich
ſeiner Tochter zur Seite ſtehen würde, als wäre ſie meiner
Mutter Tochter und als gehörte fie zu mir, kurz —“
„Kurz,“ fiel ihm der Doktor mit ungeduldiger
Heftigkeit in's Wort, „er trug Dir feine Tochter an —“
„Wenn ich ihn recht verſtanden habe — ja! Es
ſcheint, er will die Sorge für ſie los ſein.“
„Und Du würdeſt Dich trotz all des Mißtrauens,
das Du gegen die Reichen hegſt, dann allenfalls er⸗
bitten laſſen, ihm die Erleichterung zu ſchaffen,“ meinte
der Doktor mit der gleichen Herbigkeit.
„Spotte nicht! wo es ſich für mich um ein Hei⸗
liges handelt!“ entgegnete der Lieutenant.
„Was willſt Du damit ſagen?“ fragte Jener.
„Muß ich Dir das erſt erklären?“ verſetzte Egon.
88
„Alſo Du, Du liebſt Ramonna!“ rief der Dok⸗
tor und faßte nach Egons Arm.
„Ja!“ ſprach dieſer und ſeine Stimme klang
dumpf, weil er ſich zwang, ſeine Erregung zu verber⸗
gen. „Ja! ich habe ſie geliebt von der erſten Stunde
an, da ich ſie geſehen; ſie iſt mein einziger Gedanke!
und ſelbſt die ganze Kraft meiner Hoffnungsloſigkeit
hat nicht ausgereicht, mich vor dieſer Liebe zu bewah⸗
ren. Weil es mir ſo leicht geweſen wäre, ihr unter
dem Schutze meiner Mutter zu nahen, habe ich es
mir verſagen müſſen, ſie zu ſehen. Mit der leiden⸗
ſchaftlichſten Eiferſucht habe ich Dich darum beneidet,
daß Du freien Herzens um ſie ſein, tändelnd Dich
an ihrer Geſellſchaft freuen könnteſt. Ich — ich hätte
das nicht vermocht. Ich mußte ſie meiden, oder vor
ihr niederſtürzen und ihr ſagen: Ich bete Deine Schön⸗
heit an!“ |
Er hielt inne, auch der Doktor ſchwieg. So
gingen ſie einmal um den Platz herum, Beide unfähig,
zu weiterer Rede, bis endlich Egon wieder anhub.
„Haſt Du kein Wort für mich?“ fragte er, der mit⸗
fühlenden Theilnahme bedürftig.
„Einen Nachtwandler darf man nicht wecken!“
entgegnete ihm Johannes kalt.
89
„Fürchte Nichts! ich bin des Bodens ziemlich
ſicher, auf dem ich mich befinde.“
„Seit wie lange?“ fragte der Doktor ſcharf.
„Ich bitte Dich!“ rief der Andere, „ſprich nicht
in dieſem Tone, wenn Du mir nicht den Mund ver⸗
ſchließen willſt; ich bin kein Träumer. Ich hatte mich
gefliſſentlich taub gemacht gegen all die lieblichen Zei⸗
chen ihrer Theilnahme, von der die Mutter mir er⸗
zählte; ich hatte es abſichtlich überhört, wenn Du mir
ſagteſt, Ramonna habe nach mir gefragt, habe verlangt,
daß ich Eure Geſellſchaft theile. Ich habe mir nicht
eingeſtanden, wie herzlich ſie mich ſtets begrüßt, wie
vertraulich ſie mit mir verkehrt hat. Ich habe das
Alles auf die Anhänglichkeit geſchoben, welche ſie für
meine Mutter hegt — bis zu der Stunde, da im
Scheiden ihr Gefühl ſie überwältigte. Von da ab
habe ich gehofft! von da ab durfte ich ja hoffen! —“
Er hielt wieder inne und ſagte dann: „Keinem der
Briefe, die ich von meiner Mutter empfangen habe,
hat ein Zeichen von Ramonna's Hand gefehlt. Es
war meiſt nur ein Wort. Ein: Auf Wiederſehen! —
Auf den Herbſt! — oder: Bald ſind wir wieder in
Berlin! — aber es war immer derſelbe Ausdruck
neigungsvoller Sehnſucht, bis ich heute dieſe Zeilen
90
von ihr empfing. Da! höre fie ſelber!“
Er trat an die große Gruppe von Laternen heran,
ſuchte aus ſeiner Brieftaſche ein kleines zuſammenge⸗
faltetes Blatt hervor und las mit unverkennbarer Be⸗
wegung die folgenden Worte: „Ich bitte Sie, mein
theurer Egon! nehmen Sie mir die liebe Mama nicht
fort und ſeien Sie nicht eiferſüchtig, weil ich fie bei
mir behalten will. Wir wollen Beide bei ihr bleiben,
wollen ſie Beide lieben, Beide ihre guten Kinder ſein,
da mein Vater mir die freie Wahl für meine Zukunft
läßt.“
Er las das mit dem Ausdruck wahren Glückes,
und es kam ihm offenbar ſehr hart an, daß der Dok⸗
tor keine zuſtimmende, keine glückwünſchende Bemer⸗
kung danach machte. Er ſteckte alſo das Blatt an
ſeinen alten Platz, und meinte, um ſich über ſein Miß⸗
behagen fortzuhelfen: „Ich ſehe, Du biſt überraſcht,
ich war es ebenſo. Nimmſt Du indeſſen dieſe Zeilen
mit den heutigen Aeußerungen des Vaters zuſammen,
die nur durch Geſtändniſſe ſeiner Tochter veranlaßt
ſein können, ſo wirſt Du begreifen, wie es in mir
ausſieht und wie mir ſchwindelt vor der Glücksaus⸗
ſicht, die ſich ſo unerwartet vor mir aufthut!“
Aber noch immer ſchwieg der Andere, und erſt
9
als Egon ihn noch einmal anrief, ſagte er wie zur
Abwehr: „Laß mich zu mir ſelber kommen! wir wol⸗
len gehen! wir wollen morgen davon ſprechen!“
„Deine Freundſchaft äußert ſich heute ſonderbar,“
meinte Egon.
„Nicht ſonderbarer als die Deine ſich bewährt
hat!“ fuhr der Doktor auf, der ſich bis dahin müh⸗
ſam überwunden hatte; „Du haſt kein ehrlich Spiel
geſpielt!““
„Johannes! nimm das Wort zurück!“ rief der
Lieutenant ſchwer getroffen.
„Das Wort drückt nur aus, was Du gethan
haſt!“ wiederholte Jener; „oder wie ſoll ich es nen⸗
nen, daß Du mich monatelang meine Bewunderung
für Ramonna, mein Entzücken über ſie ausſprechen
läßt, daß Du es ruhig mit auſiehſt, wie ich mich um
ihre Neigung und um ihres Vaters Wohlwollen be-
mühe; und Du, der Du mir wie ich Dir die vollſte
Brüderlichkeit und das vollſte Vertrauen angelobt haſt,
Du verbirgſt es mir, daß Du dieſes Mädchen liebſt.
Nur einmal wirfſt Du, um mich abzuſchrecken, einen
Stachel des Mißtrauens in mein Herz; aber Du
thuſt auch dies nur ſo zu ſagen heimlich. Du biſt
in einem beſtändigen Zuſammenhauge mit dem Mäd⸗
92
chen, das ich liebe, und ich erfahre Nichts davon;
Du nennſt Dich gekränkt durch die Stellung, in wel⸗
cher Deine Mutter neben der Fremden lebt, und be⸗
nutzeſt dieſelbe doch geſchickt für Deine Zwecke. Soll
ich etwa einen großen Akt Deiner Freundſchaft darin
ſehen, daß Du mich auf die Zukunft vorbereiteſt? —
Freilich! Du hätteſt mich ja eines ſchönen Morgens
mit der gedruckten Anzeige Deiner Verlobung über⸗
raſchen und mir dabei die Mittheilung machen können,
es werde Dir lieb ſein, wenn ich auch ferner Sorge
für Deine und Deiner Braut Gefundheit tragen wolle!“
Er lachte dabei laut und bitter auf. Das Echo
trug von dem großen Hauſe an dem andern Ende des
Platzes den Schall zurück, daß er Beiden unheimlich
wiederklang. Der Doktor wendete ſich ab und wollte
allein davon gehen, Egon aber hielt ihn zurück.
„Du darfſt ſo nicht von mir gehen!“ ſagte er.
„Du haſt mir einen Vorwurf gemacht, auf den ich
jedem Andern mit der Waffe in der Hand die Ant⸗
wort geben müßte, und den ich auch von Dir nur er⸗
tragen darf, weil er mich nicht trifft. Ich konnte
Dir nicht bekennen, was ich mir ſeloſt nicht eingeſtehen
wollte; und auch Du haſt mir es nicht geſagt, daß Du
Ramonna liebteſt.“
95
„Aber Du ſahſt es, daß ich mich um fie bewarb!“
entgegnete ihm der Doktor.
„Wie Du Dich auch um Andere in vorüber⸗
gehender Laune, wer weiß, wie oft, beworben haſt, ohne
ernſtere Plane daran zu kaüpfen. An Dir wäre es
geweſen, mir dies zu vertrauen, denn meine Freund⸗
ſchaft für Dich hätte mich in dieſem Falle vor jedem
eigenen Wunſche gewahrt!“
Er ſagte dies mit der ihm eigenthümlichen ern⸗
ſten Einfachheit und Johannes fühlte, daß der Freund
die Wahrheit ſprach; aber dieſe Erfenntriß brachte ſie
der Verſtändigung nicht näher. Es hatte ſich eine
Kluft zwiſchen ihnen aufgethan, in welcher ihre Ju⸗
gendfreundſchaft, ihre ganze ſchöne gemeinſame Ver⸗
gangenheit zu verſinken drohte, wenn das rechte, ver⸗
ſöhnende Wort nicht eben in dieſem Augenblicke ge⸗
ſprochen ward. Sie empfanden das alle Beide; indeß
in ihrer Gereiztheit und Verſtörung waren ſie unfähig,
es zu ſuchen, oder gar zu finden. Ihre Gedanken
ſchweiften rückwärts und vorwärts; ſie erinnerten ſich
all des Guten, das ſie einander ſchuldig geworden
waren, und gerade aus dieſem Boden zogen die Ge-
kränktheit und eine bittere Abneigung ihre helle Nah⸗
rung. Daß ſie, eben ſie, einander grollten, ſchnürte
94
Jedem von ihnen die Kehle zu, und nahm ihnen, die
dem Tode feſt in's Auge geſehen hatten, den rechten
höchſten Muth, den Muth der Selbſtüberwindung.
Ohne weiter ein Wort mit einander zu wechſeln, er⸗
reichten ſie das Thor und trennten ſich mit einem
kurzen, trockenen „Gute Nacht!“
Aber die Nacht war keinem von Beiden eine gute;
der Schlaf wollte keinem von ihnen kommen. Dafür
kamen ihnen wirre, wilde Gedanken; Gedanken in de⸗
nen Liebe und Haß mit einander kämpften, bis das
Gehirn davon müde ward und die ſchweren Augen⸗
lieder endlich niederfielen als der Morgen graute.
Solche Nacht hatten ſie Beide noch nicht erlebt, ſolche
Herzzerriſſenheit und ſolchen inneren Zwieſpalt noch
nicht erfahren.
Es war Jedem von ihnen am Morgen zu
Muthe wie auf einer Brandſtätte nach einem großen
Feuer. Das Haus, in dem ſie von Kindheit an
gelebt hatten, war niedergebrannt, rund um ſie her
war Alles eine Zerſtörung, ſie ſelber waren entſtellt
und geſchädigt durch das Ankämpfen gegen das fremde,
wilde Element, Jeder dachte an ſeinen Verluſt und
dachte doch auch mit Sorge und mit Mitleid an den
Andern. Wäre ein Dritter, ein Unbetheiligter dazu
95
gekommen und hätte ſie bei der Hand gefaßt und zu
einander geführt, ſo würden ſie gegangen und einan⸗
der in die Arme gefallen ſein, aber es kam kein ſol⸗
cher Helfer, und ein böſer Zufall fügte es, daß ſie
einander in den nächſten Tagen gar nicht ſahen. Der
Doktor ward zu einem Kranken über Land gerufen,
Egon zu Schießübungen nach der benachbarten Feſtung
kommandirt, und während deſſen kehrten Frau von Ra⸗
ven und Ramonna in die Reſidenz zurück.
Neuntes Capitel.
Am Abend des zweiten Tages, als der Doktor
vom Bahnhof kommend, an dem Hauſe vorüberfuhr,
in welchem die beiden Frauen wohnten, glänzte das
Licht ihm durch ihre Fenſter hell entgegen. Das be⸗
lehrte ihn über ihre Heimkehr, und wäre er ſeinem
Antriebe gefolgt, ſo würde er geraden Weges, im Reiſe⸗
rocke wie er war, hinaufgeeilt ſein, ſie willkommen zu
heißen; aber die Erinnerung an Egon und an den
Streit mit ihm, hielt ihn davon zurück.
Zu Hauſe fand er die Nöthigung noch vor der Nacht
einen Krankenbeſuch zu machen; am folgenden Morgen
hatte er das in ſeiner Abweſenheit Verſäumte nachzuholen,
und es war noch einmal Abend geworden, als er endlich
vor Ramonna's Thüre ſtehend, mit einem nicht zu über⸗
windenden Zweifel in der Seele ſich die Frage aufwarf:
„was willſt Du eigentlich jetzt hier?“ — Aber der Die⸗
97
ner, der ihn kommen ſah und ihm die Thüre öffnete,
überhob ihn der Antwort auf die ſelbſtgethane Frage
und das war ihm grade recht.
Wie er nun bei den Frauen eintrat, kamen ſie
ihm mit einem Male wie völlig Fremde vor, obſchon
Frau von Raven ihn mit der gewohnten mütterlichen
Freundlichkeit begrüßte. Er war nie zuvor in dieſem
Zimmer geweſen, hatte Ramonna immer nur in dem
phantaſtiſch aufgeputzten Gartenſaal unter ihren Blu⸗
men und Vögeln, in leichter, luftiger Kleidung auf
den Polſtern ruhen oder unter den Bäumen des Gar-
tens ſich frei bewegen ſehen; nun fand er ſie in einer
reichen aber doch gewöhnlichen Umgebung, dunkel und
herbſtlich gekleidet wie alle andern Mädchen. Sie
hielt eine Häkelarbeit in der Hand, wie andere Mäd⸗
chen auch, und da ſie viel geſünder ausſah und kräftiger
und ſtärker geworden war, hatte ſich ſelbſt der Aus⸗
druck ihres Geſichtes verändert. Die Augen ſahen
nicht mehr mit dem früheren, kindlich bittenden Aus⸗
druck zu ihm empor, ſie hatte bewußt oder unbewußt
von Frau von Raven eine ſichere geſellſchaftliche Haltung
angenommen, ihre Verbeugung, ihr Gruß, die Art
mit welcher ſie ihm die Hand reichte, waren nicht die
früheren. Aus dem tropiſchen elfenhaften Weſen war
Fonny Lewald, Neue Erzählungen. 0
98
ſie ein ſchönes Frauenzimmer geworden, und ihre
veränderte Erſcheinung wirkte unwillkürlich auf den
jungen Arzt zurück. Er fragte nur oberflächlich nach
ihrem Ergehen, da er jetzt nicht mehr als Stellver⸗
treter des Profeſſors bei ihr erſchien, ſie nannte ſich
vollſtändig geſund, dankte ihm, daß er früher mit
ihren melancholiſchen Grillen fo viel Nachſicht gehabt
habe, aber ſie war verlegen, war nicht zutraulich wie
ſonſt, es wollte keine rechte Unterhaltung in Gang
kommen; nur Frau von Raven ſprach mit heiterer Be⸗
friedigung von ihrer Reiſe. Als er ſich darauf er⸗
kundigte, ob Ramonna ihren Vater hier noch angetrof⸗
fen habe, verneinte ſie das, ohne ſeiner oder ihrer
Stiefmutter weiter zu erwähnen. Sie hatte überlegen,
ſchweigen, ſich beherrſchen gelernt, ſelbſt ihr Betragen
gegen ihn erſchien ihm nicht natürlich. Er wußte ſich
die Wandlung nicht zu deuten, die mit ihr vorgegan⸗
gen war. Bisweilen, wenn der warme Blick ihrer
Augen plötzlich in die ſeinen fiel, dann ſah er die
frühere Ramonna wieder und eine ſelige Hoffnung
zuckte in ihm auf; aber kaum empfunden war der
ſonnige Strahl auch ſchon erloſchen, ſo daß er ſich ſel⸗
ber und ſeiner Beobachtung nicht mehr vertraute.
Seine Leidenſchaft ſteigerte ſich an dieſer Ungewißheit.
99
Er wußte nicht, was er thun ſollte. Er wollte blei-
ben, dann wollte er gehen. Er hing an jeder ihrer
Mienen und hörte kaum, wovon ſie mit ihm ſprach,
weil ihn die Vorſtellung beſchäftigte, daß ſie eben jetzt
an Egon denken möchte. Wäre Frau von Raven nicht
dabei geweſen, hätte er Ramonna nur wenige Minuten
allein geſehen, ſo würde er ihr ſein Herz erſchloſſen
und eine Entſcheidung von ihr gefordert haben; aber
dazu kam es nicht, und ſchon wollte er ſich entfernen,
als Egon ſich melden ließ, und dem Diener aaf dem
Fuße folgend in das Zimmer trat.
Beide Frauen erhoben ſich und gingen ihm ent⸗
gegen. Die Mutter umarmte ihn, Ramonna reichte
ihm die Hand, die er an ſeine Lippen drückte. Sie
nannte ihn bei ſeinem Namen, nannte ihn ihren lie⸗
ben Freund, ſie dankte ihm mit all dem Zauber, den
auch Johannes nur zu oft empfunden hatte, für die
Selbſtloſigkeit, mit welcher er gegen ſie verfahre, ſie
zeigte ſich plötzlich frei, plötzlich munter und aufge⸗
ſchloſſen, und eine ſinnverwirrende Eiferſucht loderte in
Johannes Herzen auf, als der freudeſtrahlende Egon
ihn mit der heiteren Ruhe des Beſitzenden begrüßte,
als wäre er bereits des Hauſes Herr.
Das hatte Johannes nicht erwartet. Die Ge⸗
| 5
160
danken jagten in tollem Wirbel durch fein Gehirn.
Er ſchalt ſich einen eiteln Narren, und eine brennende
Scham, eine tiefe Empörung trieben ihn von einem
Vorſatz zu dem andern. Er wollte ſprechen und fürchtete
bei dem erſten Worte zu verrathen, was in ihm vor-
ging, dann wieder kam ihm die fröhliche Sicherheit
des Freundes wie eine gefliſſentliche Kränkung, wie
eine Herausforderung vor, und er beſchloß zu bleiben.
Aber je unbefangener Ramonna, je zuverſichtlicher Egon
ſich bezeigte, je ſchrecklicher dies Beides dem Doktor war,
um ſo mehr glaubte er ſich genöthigt, ſich zu einer Hei⸗
terkeit zu zwingen, die zu fühlen er weit entfernt war.
Er ſcherzte, er lachte, er neckte Ramonna, es gelang
ihm, ſie an ſich zu feſſeln. Endlich fing man zu
muſiziren an, und niemals war des Doktors
Stimme, niemals ſein Vortrag ſeelenvoller, hinreißen⸗
der geweſen als an dieſem Abende. Ramonna hing
wie gebannt an ſeinen Lippen, er ſah es und es
ſteigerte ſein Feuer. Die Furien der Eiferſucht wichen
von ihm vor der Gewalt der ſüßen Melodieen, die
er anftimmte, und wie Ramonna dann endlich das
Liedchen von ihm forderte, das ſie zuerſt von ihm ge⸗
hört hatte, wie er den Schlußvers jeder Strophe, das
immer wiederholte: „Du weißt's, ich liebe Dich!“
101
mit all der zärtlichen Gluth emporklingen ließ, die in
ihm brannte, da hellten Ramonna's Augen ſich völlig
wieder auf, das ſüße Lächeln, das ihn von je bezau⸗
bert hatte, ſchwebte wieder auf ihren Lippen, und
Egons Mutter mußte endlich an die vorgerückte
Stunde mahnen, denn Johannes war unerſchöpflich
im Geſang, weil er ſo unerſättlich war im Anſchauen
der Geliebten. Frau von Raven's Weiſung ſchreckte
ihn wie aus einem ſchönen Rauſche auf. Die Muſik
hatte alle Fibern ſeines Weſens aufgeregt, er hätte
nichts Gleichgültiges zu ſprechen vermocht, er nahm
plötzlich und mit wenig Worten ſeinen Abſchied und
ging raſch davon, von froher Hoffnung belebt. Egon
blieb zurück. Indeß Johannes hatte nur eine kleine
Strecke ſeines Weges hinter ſich, als Jener ſchon an
ſeiner Seite war. |
Es fiel ein feiner kalter Regen, der Herbſt brach
an, die Nacht war ſehr dunkel, Johannes konnte
Egons Angeſicht nicht ſehen, aber er hörte die Heftig⸗
keit ſeines Schrittes und hörte, daß ſein Athem kurz
ging, als er ohne alle Vorbereitung, den in ſeine
ſchwelgenden Gefühle verſunkenen Johannes, mit
den Worten anfuhr: „Du haſt es kein ehrlich Spiel
genannt, daß ich Dir meine Liebe für Ramonna nicht
102
vertraute; wie aber ſoll ich's nennen, daß Du Dich
mit Deinen Künſten in ihr Herz zu ſtehlen ſuchſt, da
Du's jetzt weißt, daß ich ſie liebe und an ihre Nei⸗
gung für mich glaube!“
Weil der Angriff ſo unerwartet kum und weil
er in ſo grellem Widerſtreit mit ſeiner Stimmung
ſtand, reizte er Johannes doppelt auf; und in dem⸗
ſelben Tone haſſenden Zornes, in welchem Jener die
Frage an ihn richtete, verſetzte er: „Nenn's wie Du
willſt!“
„So nenn' ich's ehrlos!“ ſtieß Egon ſeiner ſelbſt
vergeſſend, wild hervor.
Johannes fuhr zuſammen, aber ſie ſtanden eben
Mann gegen Mann, und kalt, als hätte er einen
Fremden ſich gegenüber, ſagte er: „Die Antwort
darauf morgen!“ Damit ſchieden ſie.
Zehntes Capitel.
Draußen ſchlug es drei Uhr und Johannes war
noch in ſeinen Kleidern. Er trat an das Fenſter und
ſah in die Nacht hinaus. Der Regen hatte nachge—
laſſen, ein ſcharfer Wind jagte die Flammen in den
Gaslaternen hin und her und trocknete die Straße.
Es war Alles ſtill, kein Wagen fuhr, kein Menſch
ging vorüber, Nichts zog ihn ab, auch nur für einige
Minuten ab, von den Gedanken, die ihn wie Furien
umdrängten, ohne daß er irgendwo den Ausweg ſah.
Er war beſchimpft! beſchimpft von ſeinem Freunde,
von dem Manne, der bis auf dieſe Stunde ſeinem
Herzen der Nächſte geweſen war; und Egon, dem er
ſich einſt in ernſter Stunde zugeſchworen hatte, dem
er gelobt hatte, ſeiner Mutter ein treuer Sohn zu
ſein, wenn der Krieg ihr den eigenen Sohn entriſſe,
Egon war nicht umgedreht an der Ecke der Straße,
war ihm nicht nachgeeilt, ihm zu ſagen: vergieb mir,
ich habe wie ein Sinnloſer gehandelt!
104
Je länger Johannes es bedachte, je rathloſer
fand er ſich vor dem Ereigniß. Vor dem Gedanken,
dem Genoſſen ſeines ganzen Lebens, dem Freunde,
denn ein ſolcher blieb ihm Egon trotz allem was zwi⸗
ſchen ihnen vorgefallen war, mit den Waffen in der
Hand gegenüber zu treten, ſchreckte er als vor einem
Unmöglichen zurück; auch Egon mußte ſo empfinden.
Aber leider hatte dieſer von Kindheit an jene unheil⸗
volle Starrheit gefliſſentlich in ſich gepflegt, die von
dem betretenen Wege, auch wenn er ein falſcher iſt,
nicht laſſen mag, und die Ehrbegriffe der Kaſte und
des Standes, denen er angehörte, hatten ihn in der
üblen Gewohnheit ſo befeſtigt, daß er dieſe Fehler ſei⸗
nes Verſtandes und ſeines Herzens als Charakterſtärke
an ſich ſchätzte. Daß Egon ihm damals vor dem
Kriege eingeſtanden, er ſcheue den Tod, weil er für
die Mutter leben müſſe, das verſchlimmerte den ge⸗
genwärtigen Konflikt und hinderte, wie Johannes die
Sinnesart des Freundes kannte, jede freiwillige Aus⸗
gleichung von deſſen Seite.
Die Stunden ſchlichen langſam an Johannes
hin, ſeine Gedanken jagten einander um ſo ſchneller.
Es war als wolle dieſe Nacht kein Ende nehmen, als
könnten die Gedanken nirgend raſten. Beſonnene
105
Ueberlegungen und wilde Phantaſiegebilde zogen in
unaufhaltſamen Wechſel durch ſein Gehirn. Er ſah
Egon entſeelt zu ſeinen Füßen — dann wieder ſah
er ihn in Ramonna's Armen — es war Pein um
Pein, Verzweiflung um Verzweiflung. Er hatte in
den blutigen Schlachten des böhmiſchen Heeres dem
Tode in's Auge ſchauen lernen, er war ihm ſeitdem
begegnet in dem Gifthauch grauſer Seuchen, und er
hatte vor der Möglichkeit eines nahen Endes feſt ge—
ſtanden im Bewußtſein ſeiner Pflicht. Aber jetzt von
dem Leben zu ſcheiden, da Ramonna in dem Licht der
Sonne athmete! zu fallen und ſie dem Manne zu
überlaſſen, der ihm das Leben nahm um ihretwillen
— oder ihn ermorden um ſie zu beſitzen? Und wie⸗
der war er in dem Zirkel, in welchem lauter Unmög⸗
lichkeiten ihn umringten, wo die Verzweiflung und
die Reue ihm in's Antlitz ſtierten, wo die Frau, die
er wie eine Mutter liebte, händeringend die flehenden
Augen zu ihm erhob. Denn wie der Ausgang dieſes
von Egon heraufbeſchworenen Kampfes immer ſein
mochte, Frau von Raven hatte die Folgen deſſelben mit
zu tragen, und ſie fielen ſchwer auf ſie, die Schuldloſe,
die vom Leben ohnehin ſo hart Geprüfte.
Mit einem Male ſtieg ein Gedanke in ihm auf,
106
es war ihm als komme er aus einem wüſten Rauſche
zu ſich. Er hätte in dem Augenblick darüber lachen
können, daß er dieſen nächſten Ausweg nicht gleich
geſehen, hätte er ſich nicht immer noch unter dem un⸗
heilvollen Bann befunden, in den die Leidenſchaft ihn
und den Freund verſtrickt. Aber er begann wie ein
Ernüchterter um ſich zu blicken und ſah plötzlich Alles in
ſeinem natürlichen Licht. Was hatten er und Egon
denn im Grunde zu entſcheiden? Ja, wie hatten ſie
ſich um eines Mädchens willen überhaupt entzweien,
ſich bis zu tödtlicher Beleidigung treiben laſſen können?
Wie durften ſie daran denken, um die Hand und um
den Beſitz eines Mädchens zu kämpfen, deſſen Neigung
und deſſen freier Wille doch vor allem Andern in
Betracht kam? deſſen Glück, falls ſie Einen von
ihnen Beiden liebte, bei dieſem beabſichtigten Zwei⸗
kampf ebenſo wie die Zukunft von Frau von Raven
auf dem Spiele ſtand. Ramonna war ja da! Von ihr,
von ihrer Neigung hing Alles ab. Beide, er und
Egon mußten vor die Geliebte treten, offen wie Män⸗
ner und wie Freunde ſprechen, und ihre Entſcheidung
gelten laſſen und ertragen, wie ſie immer fiel.
Er war völlig Herr über ſich geworden, war ge—
faßt und freien Sinnes, daß es ihm wieder wohl zu
107
Muthe wurde. Und von dem Zuge feiner offenen
warmherzigen Natur zu raſchem Handeln angetrieben,
warf er, da es Tag zu werden anfing, den Mantel
über ſeine Schultern und verließ das Haus.
Auf den Straßen war es noch leer, auch in den
Höfen der Kaſerne, in welcher Egon wohnte, ſeit
Frau von Raven im Sommer zu der Badereiſe aufge-
brochen war, regte ſich nur der Dienſt in den Stal⸗
lungen und den Remiſen. Johannes verſchaffte ſich
den Eintritt, ſtieg ſchnell die Treppen hinan und ge⸗
langte raſchen Schrittes durch die langen Korridore
bis an des Lieutenants Zimmer.
Aber wie er nun die Treppe hinaufſtieg und vor
der Thüre deſſen ſtand, der ihm das beſchimpfende
Wort in's Angeſicht geſchleudert hatte, fühlte er ſich
wie angebannt. Das, was er that, verſtieß gegen
alles Hergebrachte, verſtieß vor Allem gegen die Re—
geln, welche ſeit Jahrhunderten für Ehrenſachen und
für Ehrenhändel feſtgeſtellt und durch eine lang und
ſtreng geübte Handhabung zu einem geheiligten Geſetz
erhoben worden waren. Er, der gefliſſentlich Belei-
digte, der in dieſer Stunde ſeinen Sekundanten hätte
entſenden müſſen, dem Beleidiger die Ausforderung
zu überbringen, er ging ſelber zu ihm, zu dem Be—
108
leidiger, um aufzuklären, was die Leidenſchaft Ver⸗
wirrendes zwiſchen ſie geſtellt hatte, um Frieden zu
ſtiften, ehe einem Dritten bekannt geworden war, wohin
ſie, die Freunde geweſen waren ſo lange er nur den⸗
ken konnte, ſich verirrt hatten; und von dieſer Erinnerung,
wie von dem Bewußtſein das Rechte zu thun, über
jedes anerzogene Bedenken fortgetragen, klopfte er an
die Thüre und trat bei Egon ein.
Der Lieutenant ſaß am Tiſche und ſchrieb, die
Lichter brannten noch, es war kaum ſieben Uhr.
Ein Blick auf das Zimmer und den Freund überzeug⸗
ten den zu raſcher Beobachtung gewöhnten jungen
Arzt, daß auch Egon eine ruheloſe Nacht gehabt ha—
ben mußte. Sein Piſtolenkaſten ſtand geöffnet auf
einem Stuhle, eines der Piſtole lag auf dem Tiſch.
Als er den Doktor erblickte, fuhr er auf.
„Du hier?“ rief er und ſtrich mit der Hand das
lange dunkle Haar hinweg, das ihm wirr die bleiche
Stirn verdeckte? „Du?“ — und ſtatt dem Freunde
an die Bruſt zu fallen, wie dieſer es, ohne ſich deſſen
klar bewußt zu fein, erwartet hatte, trat er finſtern
Blicks von ihm zurück.
Das ſtimmte auch Johannes um, und machte
ihn plötzlich kalt und ſtarr. Er bereute ſeiner Ein⸗
109
gebung gefolgt zu ſein, und ſich gewaltſam zuſammen⸗
nehmend, ſprach er, ſo gemeſſen als er's konnte:
„Ich komme Dir zu ſagen, daß ich nicht auf Dich
ſchieße — im Uebrigen thu' was Du willſt.“
Statt aller Antwort reichte Egon ihm ein Blatt
hin. „Lies!“ ſagte er, ohne ihn anzuſehen.
Es lautete: „Ich habe mit mir gerungen die
lange Nacht hindurch, mich zur Entſagung zu zwingen
um Deinetwillen; ich vermag es nicht. Zwiſchen
die Nothwendigkeit geſtellt die Hand zu legen an Dich
oder an mich ſelbſt, wähle ich das Letztere!“ —
Johannes las nicht weiter. Er warf das Blatt
von ſich und faßte die Hände des Freundes. Sie
waren kalt wie die eines Todten. „Egon!“ rief er
und die Angſt ſeines Herzens beflügelte ſeine Worte,
„Egon! höre mich. Ein Wahnſinn hat uns in ſeine
wirren Strudel geriſſen, daß wir das Nächſte nicht
mehr ſahen. Zuſammen wollen wir vor ſie hintreten,
ſie ſoll wählen, ſie ſoll entſcheiden!“
Egon ſchüttelte das Haupt. „Nein!“ ſprach er,
„auf ihr junges Herz ſoll die Verantwortung nicht
fallen! denn ich jage mir die Kugel durch den Kopf,
wenn ſie nicht mein wird!“
„Das iſt Wahnſinn!“ ſtieß Johannes hervor.
110
„Möglich!“ entgegnete der Andere, „aber ich habe
dieſe Nacht Abrechnung gehalten mit dem Leben und
mit mir. Ich weiß, was ich vermag, was nicht!“
Johannes' Beſonnenheit und Geduld hielten vor
der egoiſtiſchen Entſchloſſenheit des Lieutenants kaum
noch Stand; und mit dem letzten Reſt der Faſſung,
über die er Herr war, fragte er: „Du glaubſt Dich
ihrer Liebe alſo völlig ſicher?“
„Nein!“ ſprach Egon, „nein! Das iſt's, was
mich von Sinnen bringt. Mir fehlen die Eigenſchaf⸗
ten, die Dir von je die Weiberherzen zugewendet ha⸗
ben, und ſie iſt jung! Treten wir vor ſie hin —
heute — in dieſer Stunde — Du mit dem Lächeln
des Glückes auf den Lippen, ich mit meiner düſtern
Stirne — wie ſollte ſie ſchwanken zwiſchen Dir und
mir? Ich ſah es ja, wie geſtern Dein Blick ihre
Sinne erweckte, wie er ihr das Herz im Buſen wan⸗
delte, das ſich mir zugewendet hatte. Und dennoch
fühl' ich's, weiß ich's mit unabweislicher Gewißheit,
der Gewalt meiner Liebe würde ſie nicht widerſtehen
— ohne Dich! Zieh' Dich zurück!“
„Um ſie einem Sinnloſen zu überlaſſen!“ fuhr
Johannes auf; und ohne ein Wort hinzuzufügen
ſchritt er nach der Thüre.
111
Egon vertrat ihm den Weg. „Wohin?“ fragte
er gebieteriſch.
„Ich habe mehr als meine Pflicht gethan,“ ent⸗
gegnete der Doktor, „ich bin jetzt meines Handelns
freier Herr.“
Da, noch ehe Johannes die Thüre des Zimmers
erreicht, hatte Egon die Piſtole ergriffen, und mit
einer Kälte, die dem Andern Mark und Bein erſchüt⸗
terte, ſprach er: „In dem Augenblick, in dem Du
dieſe Schwelle überſchreiteſt, iſt's gethan! Geh' dann
zu ihr, und melde, was geſchehen iſt.“
Johannes ſchleuderte ſeinen Mantel mit heftiger
Bewegung von ſich. Egon ſtand noch mit der Piſtole
in der Hand, dann ließ er fie ſinken und fiel erſchöpft
auf einen Stuhl. Der Doktor hatte ſich nach dem
Fenſter gewendet und ſah ſtumm hinaus. Es empörte
ihn, ſich auf ſolche Weiſe zwingen und beherrſchen zu
laſſen, und doch wagte er es dem Aufgeregten gegen⸗
über nicht, es zum Aeußerſten zu treiben. Ein paar
Minuten mochten ſo vergangen ſein und ſie waren
Beiden lang geworden. Da raffte Johannes ſich auf
und ſagte, an den Tiſch herantretend, an welchem
Egon ſaß, und ſich ihm feſt entgegenſtellend: „Laß
uns zu Ende kommen! Es ſteht feſt bei mir, frei⸗
112
willig gebe ich Ramonna nicht auf, es wäre Feigheit
und gegen meine Ueberzeugung, denn ein Mann von
Deiner Leidenſchaft iſt ein Unglück für ein Weib.
Entſagen willſt Du auch nicht — todtſchießen wollen
wir einander nicht — aber wenn ſie mich erwählt,
willſt Du Dir das Leben nehmen, und ich ſoll das
Bewußtſein mit mir durch das Leben ſchleppen, Dich
in den Tod getrieben, Deiner Mutter ihren Sohn ge⸗
raubt zu haben. Danach trag' ich kein Verlangen!“
Er brach ab, denn weil er ſich ſo gewaltſam zur
Ruhe zwang, ward ihm das Sprechen ſchwer, und erft
nach einer kurzen Pauſe, fügte er hinzu: „Sage Du
nun ſelber — was ſoll jetzt geſchehen?“
Da richtete der Andere ſich empor und ſprach:
„Einen Ausweg giebt es, der das Gewiſſen und das
Empfinden eines Jeden frei und unangetaſtet läßt. Wir
legen die Entſcheidung in eine höhere Hand.“
„Was ſoll das heißen?“
„Wir machen's wie die drüben jenſeits des Ozeans.
Wir looſen — und der Verlierende erſchießt ſich
ſelbſt!“ — Er hatte das mit einer Feierlichkeit ge⸗
ſprochen, die Eindruck auf den Doktor machte, obſchon
er es verlernt hatte, an eine höhere Macht zu glauben.
Es enttand eine neue Pauſe, der Doktor ging
113
in finſterem Brüten im Zimmer auf und ab, Egon
ſchnitt mit der Genauigkeit, die er in allem Thun be⸗
zeigte, zwei Papierſtreifen und ſchrieb in den einen
den Namen: „Ramonna“ hinein. Dann faltete er
ſie mit höchſter Gleichmäßigkeit zuſammen, legte ſie in
eine offene metallene Schaale, die auf feinem Schreib:
tiſch ſtand, und an Johannes herantretend, ſprach er:
„Wähle!“
Aber dieſe gebieteriſche umuthung gab Johannes
ſich ſelber wieder, und mit geſunder Lebensluſt die
Schaale von ſich ſtoßend, rief er, als ob ihm eben
aus der Fülle ſeiner Lebensluſt und Jugendkraft eine
Erleuchtung käme: „Nein! ich will nicht ſterben!
aber fort muß Einer. — Looſen wir!“
Egon ſah ihn mit ſtarrem Auge an. Die ſchwar⸗
zen Gedanken, mit denen er ſich herumgeſchlagen die
Nacht hindurch, lagen noch auf ihm und verengten
und verdüſterten ſeinen Sinn. „Ich verſtehe Dich
nicht,“ ſagte er, „Du weiſeſt meinen Vorſchlag ab
und willſt doch looſen?“
„Um Bleiben oder Gehen!“ fiel Johannes ein.
„Der Unterliegende räumt das Feld. Niemand als
der Bleibende erfährt wohin der Scheidende ji) wen—
det. Er wählt einen Aufenthalt, der ie dem ge⸗
Fanny Lewald, Neue Erzählungen.
114
wohnten Bereich der Wanderzüge liegt, und kehrt nicht
wieder, bis der Andere ihn ruft!“
Wie er die Worte ausgeſprochen hatte, leuchtete
ihre Tragweite ihm erſt völlig ein; auch Egon ermaß
ſie in ihrer ganzen Bedeutung. Sie zeigten einen
Ausweg, aber ſterben war in gewiſſem Sinne nicht ſo
ſchwer als dies Verſchwinden, das für den Offizier,
wenn es nicht vorbereitet werden konnte, zur Ent⸗
ehrung wurde; auch zögerte er in dumpfem Schwei⸗
gen. Das reizte Johannes auf. „Wähle!“ rief er
jetzt von ſeiner Seite dringend.
„Ich kann nicht deſertiren, ich bedarf acht Tage
Zeit!“ ſagte Egon.
„Die habe auch ich nöthig!“ entgegnete Ae
und ſeine Uhr herausziehend, fügte er hinzu: „Heute
in acht Tagen, um dieſe ſelbe Stunde, verläßt Einer
von uns die Stadt. Bis dahin ſieht Keiner von uns |
Ramonna wieder!“ — |
„Sei es alſo!“ ſprach Egon, und hielt dem An⸗
dern die Schaale mit den Looſen hin.
Johannes wählte und entfaltete das Blatt. — |
Dann wendete er ſich ab und verließ, ohne ein Wort
zu ſprechen, das Zimmer und das Haus.
Elftes Capitel.
Volle vierzehn Tage waren ſeitdem hingeſchwun⸗
den, als der Poſtbote dem Bruder des Doktors, während
dieſer behaglich mit ſeiner Frau bei ſeinem Frühſtück ſaß,
einen Brief von Johannes brachte. Er war aus
ihrer Vaterſtadt datirt, wohin der Doktor ſich zum
Beſuche ihrer dort lebenden Angehörigen begeben, und
von wo er zu ſchreiben verſprochen hatte. Der Rath
öffnete alſo das Couvert in aller Ruhe, aber gleich
die Kürze des Briefes fiel ihm auf, und der Inhalt
deſſelben erregte ihm die höchſte Beſtürzung.
„Wenn Du dieſe Zeilen erhältſt,“ hieß es in
dem Schreiben, „bin ich von der Heimath entfernt.
Ich war nur einen Tag bei den Unſern. Wohin ich
gehe, wann ich wiederkehre, kann ich Dir nicht ſagen;
und ich verlange es ausdrücklich, daß Du nicht das
nach forſcheſt. Verhältniſſe, die ich Dir vorläufig
8
116
nicht erklären kann, haben meinen Entſchluß beſtimmt.
Meine Entfernung iſt nothwendig und freiwillig. Alle
meine Angelegenheiten ſind geordnet. Daß keine un⸗
ehrenhafte That meinem Fortgehen zum Grunde liegt,
brauche ich Dir nicht zu verſichern. Ein Unglück, das
mir zuſtieße, würdeſt Du erfahren, ſei alſo unbeſorgt
ſo lange Du ohne Nachricht von mir biſt, und hebe
auf was mein iſt — für den Fall, daß ich es a
oder ſpäter einzufordern käme.“
Der Brief ſollte den Bruder offenbar beruhigen,
aber er wirkte das Gegentheil, und was das Uebelſte
war, es fehlte demſelben jeder Anhalt auch zu der
leiſeſten Vermuthung, über die Urſache eines fo räth⸗
ſelhaften Schrittes; denn Johannes war immer ver⸗
ſtändig und dazu auch leichtlebig geweſen. Wenn er
trotzdem einmal in eine mehr oder weniger ernſthafte
Verwicklung gerathen war, hatte er ſich mit ſeiner
einfachen Wahrhaftigkeit immer bald herausgefunden,
und es war nicht abzuſehen, was ihn zu einem ſo
folgenreichen und zugleich ſo geheimnißvollen Schritt
beſtimmt haben konnte. Natürlich war der erſte Gang
des Bruders zu dem Lieutenant. — Statt aller Ant⸗
wort aber wies dieſer ein faſt gleichlautendes Schrei⸗
ben vor, das er zu der nämlichen Stunde und von
117
dem nämlichen Orte empfangen hatte, und wie der
Rath dann lebhafter in Egon drang, bekannte dieſer,
daß in den letzten Wochen eine kleine Verſtimmung
zwiſchen ihm und Johannes obgewaltet hätte, und
daß er denſelben in den Tagen vor deſſen Abreiſe
gar nicht mehr geſehen habe. Auch Frau von Raven,
bei welcher der Bruder unter der Hand Nachricht ein⸗
zuziehen verſuchte, erwähnte, daß Johannes in der
letzten Woche nicht bei ihr geweſen ſei, fügte aber hinzu,
daß der Doktor an dem einzigen Abende, den er nach
ihrer Heimkehr bei ihr zugebracht habe, ſich von der heiter⸗
ſten Laune und liebenswürdig wie nur je erwieſen habe.
Es war für den Bruder und die näheren Be⸗
kannten des Verſchwundenen eine ſehr drückende und
ſorgenvolle Lage. Johannes hatte bis zur Stunde
ſeiner Abreiſe alle ſeine Obliegenheiten erfüllt, mit
ſeinen Freunden in gewohnter Art verkehrt, von dem
Bruder und deſſen Frau mit der Heiterkeit Abſchied
genommen, mit welcher man ſich auf eine Luſtreiſe
begiebt. An irgend eine gewaltſame That zu denken,
hatte man keinen Grund; ebenſo wenig war eine
Spur zu entdecken, daß Johannes in einen Streit
oder in einen Ehrenhandel verwickelt worden wäre.
Auf einen Liebeshandel, einen Roman, eine Entfüh⸗
1
v4
118
rung zu ſchließen war auch keine Veranlaſſung, und
während man ſich unabläſſig mit der Frage beſchäfti⸗
gen mußte: was kann denn geſchehen ſein? wagte
man doch nicht die gewöhnlichen polizeilichen Nach⸗
forſchungen zu veranlaſſen, eben weil man Johannes
als beſonnen und zuverläſſig kannte, und alſo an die
Möglichkeit denken mußte, ihn für die Zukunft zu be⸗
nachtheiligen, wenn man ſeiner Anweiſung, keine
Nachforſchungen anzuſtellen, entgegenhandelte. Man
wußte nicht, ob man eingeſtehen dürfe, daß man ſeinen
Aufenthalt und die Gründe ſeines Fortgehens nicht kenne,
daß man ſelber vor einem Räthſel ſtehe, oder ob man
die Angabe verbreiten ſolle, der Doktor habe ſich nach
erhaltener Eiagladung zur Theilnahme an einer über⸗
ſeeiſchen wiſſenſchaftlichen Reiſe, welche eben damals
im Werke war, raſch entſchloſſen; und man entſchied
ſich endlich für dies Letztere, weil man dadurch
Zeit gewann. Ob dies Vorgeben bei den Leuten
Glauben fand, das ſtand dahin, und die Ungewißheit,
in welcher die Angehörigen des Doktors und ſeine
nächſten Freunde ſich über ſein Geſchick befanden,
wurde dadurch nicht vermindert. Niemand aber ſchien
von derſelben mehr zu leiden als derjenige, deſſen
täglicher und unzertrennlicher Gefährte der Verſchwun⸗
119
dene bis dahin geweſen war, und man hatte häufig
Gelegenheit, dies zu beobachten, denn der Lieutenant
von Raven lebte in dieſem Winter mehr noch als in dem
vorigen in den Geſellſchaften der ſchönen Welt, in denen
er ſeine Mutter und deren Pflegetochter zu begleiten hatte.
Es ſah jedoch gar nicht danach aus, als ob
Egon Freude an dem Amte oder Luſt an der Gefel-
ligkeit empfände, denn ſeine finſtere Schweigſamkeit
bildete förmlich einen Gegenſatz zu der ſtrahlenden
Schönheit der jungen Kreolin und zu dem Vergnügen,
mit welchem Frau von Raven das ihr anvertraute
Mädchen als den Gegenſtand einer allgemeinen Be⸗
wunderung erblickte. Er war immer ernſthaft, immer
leicht verletzlich geweſen, jetzt war er Beides in erhöh—
tem Grade, und die gemeinſamen Bekannten von
Johannes und von ihm, bemerkten häufig, wie ſehr die
ausgleichende Weiſe des Erſtern ihnen im Verkehr mit
Egon fehlte. Daß dieſer eine Leidenſchaft für Ra⸗
monna hege, war Allen deutlich, daß die vielfache Be⸗
werbung, von der ſie überall umgeben war, ihn pei⸗
nigte, war eben ſo gewiß; aber ob er Hoffnung habe,
ihre Gunſt zu gewinnen, ob ihm dieſelbe vielleicht ſchon
zugewendet ſei, darüber waren weder feine Mitbewer⸗
ber, noch ſeine Freunde, noch gar er ſelbſt im Klaren.
120
Er hatte erreicht, was er gewollt, indeß er fand ſich
im Grunde dadurch nicht gefördert, und er durfte ſich
nicht fragen, um welchen Preis er ſeines Nebenbuhlers
ſich entledigt hatte. Wie oft er es ſich vorhalten
mochte, daß es Johannes geweſen ſei, der den Vor⸗
ſchlag zu dieſem Auswege vor dem Zuſammenſtoße ge⸗
macht, daß Johannes das Loos gezogen, und daß er
ſelber jetzt in der Ferne ſein würde, wenn die Hand
des Andern in dem entſcheidenden Augenblicke glück⸗
licher geweſen wäre, es half ihm nicht über die Reue
fort, den Freund zu dieſem Aeußerſten gedrängt zu
haben, und doch konnte er es nicht über ſich gewinnen,
ihm zu ſchreiben: „Kehre wieder!“ Wenn er in der
einen Stunde auf dem Punkte ſtand, den Verbannten
zurückzurufen, um ſich ſelber von der Verſtellung und
von den inneren Kämpfen zu erlöſen, mit welchen
das unſelige Geheimniß ihn belaſtete, ſo warfen ein
freundliches ihm Hoffnung gebendes Wort, ein Blick
Ramonna's das Alles in der nächſten Stunde wieder
über den Haufen. Die Leidenſchaft ſiegte über ſein Ge⸗
wiſſen und er blieb gefeſſelt in dem Banne, den er
ſelber über ſich heraufbeſchworen hatte.
Darüber gingen der ganze Winter und die erſte
Zeit des Frühjahrs hin, ohne daß in ſeinem Verhält⸗
124
niß zu der Pflegetochter ſeiner Mutter eine Entfchei-
dung oder auch nur eine weſentliche Aenderung einge—
treten wäre. Er ſah ſie an jedem Tage, ſie hatte ſich
mehr und mehr an ihn gewöhnt und ein herzliches Vertrauen
zu ihm gefaßt. Sie plauderte mit ihm von den Ga-
lanterieen der Männer, die ihr huldigten, und zeigte
ihm die Briefe, welche ihr am fünfzehnten jeden Monats
von ihrem Vater kamen. Der Inhalt derſelben blieb
ſich faſt beſtändig gleich. Einmal wie das andere mel-
dete ihr Herr Ernsby, daß er geſund und ſehr zufrieden
ſei, daß Frau Ernsby ſich in der Havannah ſehr wohl
befinde, und daß es bei Ramonna ſtehe, nach Hauſe
zu kommen, wenn ſie dieſes wünſche und wenn ſie
glaube, das Klima der Tropen ertragen zu können.
Sei dies Beides nicht der Fall, ſo möge ſie in Eu⸗
ropa unter dem Schutze und nach dem Rathe ihrer be—
währten Freundin ihr Leben ſo geſtalten, wie es ſie
am meiſten befriedige. Es folgten dann noch immer
ein paar Zeilen ihrer Stiefmutter, die das Gleiche
noch gleichgiltiger wiederholten, und dieſe Briefe
warfen regelmäßig einen Schatten über die Seele
des jungen Mädchens, aber fie äußerte ſich nie—
mals über das, was in ihr vorging, und Frau
von Raven hatte Recht gehabt, als fie Ramonna in
122
einem Geſpräch mit ihrem Sohne einft mit jenen
lachenden Schweizerſee'n verglichen hatte, deren ſchim⸗
mernde Oberfläche nicht vermuthen läßt, wie tief ſie
ſind, und was ſie geheimnißvoll in ihrer Tiefe bergen.
Die Frage, ob ſie ihn mit dieſer Bemerkung
warnen wolle, hatte ſich Egon bei dem Gleichniß ſei⸗
ner Mutter nothwendig aufgedrängt, aber er hatte ſie ihr
nicht vorgelegt. Sein Ehrgefühl ſträubte ſich dagegen,
die Mutter zur Vertrauten ſeiner Wünſche zu machen,
eben weil Ramonna ihrer Obhut überantwortet war,
und er war ohnehin gewiß, daß der ſcharfſichtigen
Frau, die von ſeiner Geburt an in ſeinem Herzen ge⸗
leſen hatte, nicht verborgen ſein konnte, was in ihm
vorging, wenn auch ſie in den gegebenen Verhältniſſen
es angemeſſen fand, davon zu ſchweigen und die Zeit
und die Umſtände gewähren zu laſſen.
In wenig Tagen ſollte es jährig werden, daß
Ramonna in das Haus gekommen und mit ihrer Pflege⸗
mutter bekannt geworden war. Man hatte beſchloſſen,
zu dieſem Tage das Gartenhaus wieder öffnen und
herrichten zu laſſen, wenn man es auch nicht mehr
wie in dem verwichenen Sommer dauernd zu bewoh⸗
nen meinte, und weil man vielen Familien für die
im Winter empfangene Gaſtfreundſchaft und für man⸗
123
chen geſelligen Genuß zu danken hatte, wollte man
mit dieſer Rückkehr in das zur Gartenwohnung um⸗
gewandelte Gewächshaus zugleich ein kleines Feſt für
die jungen Mädchen und jungen Männer veranſtalten,
mit denen Ramonna näher bekannt, und die ihr ange⸗
nehm geworden waren.
Die Vorbereitungen, welche man zur Aufnahme
der Geſellſchaft zu machen hatte, gaben den Frauen
viel zu ſchaffen, und führten Ramonna und Egon mehr
noch als ſonſt zuſammen. Sie wünſchte dem Garten⸗
ſaale ſo viel wie möglich ein ſüdliches Anſehen zu
geben, ſie wollte den Raſenplatz erleuchtet und blumige
Schlinggewächſe von einem Baume zu dem andern
gezogen haben. Was an natürlichen Pflanzen und
Blüthen nicht herbeizuſchaffen war, ſollte durch fünft-
liche Blumen, die bei dem Lampenlicht wohl täuſchen
konnten, erſetzt werden, ein paar Guitarren- und
Flötenſpieler ſollten, während man ſpeiſen würde,
einige ſpaniſche Nationalmelodieen ſpielen, welche Ra⸗
monna in ihrer Heimath beſonders lieb geweſen wa—
ren, und ſie nahm für alle dieſe Zurüſtungen, welche
ſie in der heiterſten Laune und mit einem ihr ſonſt
nicht gewöhnlichen Eifer betrieb, die Dieuſte Egon's
mit einer ihn entzückenden Zuverſichtlichkeit in Anſpruch.
124
Er mußte dabei fein, als fie die Zelttücher, un-
ter denen man den Thee einnehmen ſollte, vor dem
Gewächshauſe ausſpannen ließ, er mußte ihr helfen
die Zurüſtung der Tafel zu überwachen. Sie hatte
Südfrüchte und tropiſche Früchte herbeigeſchafft und
ordnete ſie ſelber mit dem ihr eigenthümlichen
Schönheitsſinn in den Körben von überſeeiſchem Ge—
flecht; ſie hing ſelber die Rankengewächſe um die
Vogelhäuſer, die man wieder in das Gartenhaus ge⸗
tragen hatte, und befehlen und ſelber ſchaffen ſtanden
ihr gleich natürlich an. Alles gehorchte ihr mit Luſt,
man ſah es dem geringſten Arbeiter an, wie ihre
Schönheit ihn beherrſchte. Wie auf die Winke einer
Feenkönigin fügte ſich Alles ihrem Willen, gelang
Alles unter ihrem Gebot, und Egon konnte ſich Fig-
weilen der Vorſtellung nicht entſchlagen, daß auch das
Wetter ihr gehorſame; denn ſeit fie angefangen, die
Vorbereitungen zu ihrem Feſte zu treffen, war die
Jahreszeit plötzlich ſo warm geworden und die Witterung
ſo beſtändig, daß der frühe Mai dem Sommer glich und
die Nächte lind waren wie in des Jahres Mitte.
Alles ließ ſich alſo auf das Beſte an, und gleich—
ſam als ob die frühe Wärme des Jahres auch
alles Andere verfrühe, traf diesmal ein Brief von
125
Herrn Ernsby bald nach dem Beginn des Monats
ein. Er meldete der Tochter, daß er Gelegenheit ge—
funden habe, ſeine Beſitzungen in einer ihm vortheil-
haften Weiſe zu verkaufen, daß Miſtreß Ernsby Aus⸗
ſicht habe, binnen kurzem Mutter zu werden, und daß
er, ſobald dieſe Hoffnung in Erfüllung gegangen ſein
werde, die Havannah zu verlaſſen und ſeinen Wohn⸗
ſitz dauernd in dem Landhauſe auf der Inſel Wight
zu nehmen denke, das er inne gehabt, als er mit Ra⸗
monna dort verweilt habe. Von dem Wunſche oder
auch nur von der Erwartung, daß ſeine Tochter ſich
dann zu ihm begeben und unter ſeinem Dache weilen
werde, ſtand in dem Brief kein Wort, wohl aber lag
ein beſonderes Schreiben an Frau von Raven in dem⸗
ſelben, deſſen Inhalt ſie ihrer Pflegetochter vorenthielt.
Herr Ernsby ſchrieb ihr ganz daſſelbe, was er der
Tochter gemeldet hatte, fügte aber, wie er ſagte, ver—
trauensvoll und ihrer umſichtigen Verſchwiegenheit ge⸗
wiß, hinzu, daß er nicht die Abſicht habe, Ramonna
bei ſeiner Ueberſiedelung nach Europa aus ihrer jebi-
gen Umgebung zu entfernen. Er habe darüber mit
ſeiner Frau geſprochen und bei dieſer ein Widerſtreben
gegen das Zuſammenſein mit der ihr an Jahren faſt
gleichen Stieftochter gefunden, die obenein früher der
126
einzige Gegenftand feiner alleinigen Sorge und an
ſeine ausſchließliche Beachtung gewöhnt geweſen ſei.
Er ſelber verhehle ſich es nicht, daß ein ſolches Ver—
hältniß für alle Theile ſeine Bedenken habe, er wünſche
deshalb auch nicht, einen Verſuch damit zu machen,
um ſo weniger, da er bei dem heirathsfähigen Alter
ſeiner Tochter vorausſichtlich doch nur von kurzer Dauer
ſein würde. Frau von Raven habe ihm in allen
ihren Briefen eine ſo verſtändige und mütterliche
Zärtlichkeit für Ramonna an den Tag gelegt, daß er
ihr geſtehen dürfe, wie deren baldige Verheirathung
ihm willkommen ſein würde, weil ſie ihn der Sorge
für ihr Wohlbefinden enthöbe. Er frage Frau von
Raven deshalb an, ob in dem Kreiſe, in welchem
Ramonna in dieſem Winter gelebt, ſich eine ſchickliche
Partie für fie geboten habe? Er wolle ſeiner Toch-
ter keinen Zwang anthun, ſie ſelber ſei reich genug,
nur ihre Neigung zu befragen, und er ſei reich genug,
ſelbſt einem ſehr reichen Manne und den Anſprüchen
der erſten Familien ein Gegengewicht in die Schaale
zu legen; aber er wünſche dieſe Angelegenheit geord—
net zu ſehen, wenn er nach Europa komme, und ein
Beſuch ſeiner verheiratheten Tochter werde dann ihm
und ſeiner Frau immer und überall willkommen ſein.
127
Er bäte Frau von Raven, Ramonna ihre Lage in die⸗
ſem richtigen Lichte vorzuſtellen, und die Sache mit
dem Geſchicke in die Hand zu nehmen, welches kluge
Frauen in ſo delikaten Angelegenheiten zu bewähren
pflegten. Er werde ſich für dieſe Erfüllung ſeiner
Wünſche dauernd als ihren Schuldner betrachten, und
es ſich angelegen ſein laſſen, ihr dieſes in zuſagendſter
Weiſe zu bethätigen.
Sie hatte den Brief eben zu Ende geleſen, als
Egon bei ihr eintrat, und noch unter dem Eindruck,
den ſie ſelber davon empfangen hatte, hielt ſie ihn
dem Sohne hin. „Lies!“ das war Alles was fie ſa—
gen konnte, aber ihre Blicke hingen unverwandt an
ihm, und wie ſeine Wange ſich vor ſtürmiſcher Er-
regung zu färben, wie ſein Auge zu leuchten begann im
Licht der Hoffnung, welches dieſes Schreiben in ſeinem
Herzen entzündete, ſtrahlte die Freude auch von ihrer
Stirne, und ohne ein Wort zu ſprechen, breitete ſie
ihm die Arme entgegen.
„Mutter! Mutter! Du haſt es wohl gewußt!“
rief er, und knieete neben ihr nieder, ſein Haupt wie
in ſeiner Knabenzeit an ihre treue Bruſt geſchmiegt,
„Du haſt es gewußt, daß ich ſie liebe, ſie liebte, ſeit
128
ich ſie geſehen, ſie bis zum Wahnſinn, zum Verbrechen
liebte, und doch weißt Du noch nicht Alles. —“
Er athmete tief auf, als gelte es Bande zu zer⸗
ſprengen, die ihn lang und ſchwer gedrückt, aber er
hatte die Worte kaum ausgeſprochen, als er ſie auch
ſchon bereute. Wie durfte er ſeine Mutter zur Mit⸗
wiſſerin eines Vorganges machen, den er vor ſeinem
eigenen Gewiſſen nie zu rechtfertigen vermocht hatte?
Wie durfte er fie mit der Laſt eines Geheimniſſes
beſchweren, das ſie nicht bewahren konnte, ohne zu
ſeiner Mitſchuldigen zu werden? Oder wie ſollte ſie
in dem Falle, daß ſeine Wünſche ſich erfüllten, bei
Ramonna's Vater für ihn bürgen, wenn er ihr bekannte,
wohin ſein ſelbſtſüchtige Leidenſchaft es zwiſchen ihm
und dem Freunde und Genoſſen ſeines ganzen Lebens
hatte kommen laſſen? |
Das Geheimniß und ſein Schulobewußtjein jtell-
ten ſich zwiſchen ihn und ſeine Mutter, ſie ſchloſſen ihm
den Mund; aber arglos und voll Zuverſicht, wie ſie
ſich dem Sohne gegenüber fühlte, erſchüttert durch den
Ausdruck ſeiner Leidenſchaft, befremdete ſein plötzliches
Verſtummen ſie keines Weges, und der Eintritt ihrer
Pflegetochter machte ohnehin jede weitere Mittheilung
unmöglich.
129
Allein dasjenige, was Egon eben jetzt erfahren,
und die Art, wie er davon benachrichtigt worden war,
reichten hin, feine Bruſt mit einer Glückesſicherheit
zu erfüllen, wie er ſie nie zuvor empfunden hatte.
Er zweifelte nicht daran, ſeine Mutter mußte ſich über⸗
zeugt haben, daß Ramonna's Herz noch frei ſei, daß
ſie keine andere Wahl getroffen und daß Egon alſo
Ausſicht habe, ihre Neigung zu gewinnen, ihre Hand
zu erwerben, wenn er ihr ſeine Liebe eingeſtand; und
gerade die Freiheit eines Feſtes, wie man es für den
Abend vor ſich hatte, verſprach ihm dazu eine Ge⸗
legenheit zu bieten, die er ſich nicht entgehen laſſen durfte.
Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 9
Zwölftes Capitel.
Die Geſellſchaft hatte in Scherz und heiterem Ge⸗
plauder, in Spielen, wie die rüſtige Jugend ſie im
Freien liebt, ein paar Stunden anmuthig verbracht,
dann hatte man ſich in das Gartenhaus begeben, und
die fremdartige Einrichtung des Raumes, wie die Her⸗
richtung der Tafel, an der die junge Welt ſich unter
dem Schutz von Frau von Raven niederließ, hatte die
Stimmung belebt. Man kam ſich in der ungewohn⸗
ten Umgebung ſelber als ein Anderer vor, man be⸗
wegte ſich freier, gab ſich offener als in dem Zwange
der geſchloſſenen Säle, und als dann vollends die
Muſik erklang, die fremden Weiſen ſchmeichelnd das
Ohr berührten, als man die Vorhänge von den ge⸗
fliſſentlich verhängten Fenſtern fortzog, und unter dem
milden Licht der monderhellten Frühlingsnacht der
Garten mit ſeinen von bunten Lampen vielfarbig be⸗
131
leuchteten Blumen⸗ und Rankengehängen vor den über⸗
raſchten Augen der Fröhlichen in märchenhaftem Zau⸗
ber dalag, da ſprang Alles von der Tafel auf, Alles
umringte Ramonna, Alles huldigte ihr, der ſchönen
freudeſpendenden Fee. Aber der Anblick des phantaſtiſch
geſchmückten Gartens, die erquickende Wärme der
Nacht, welche die Anderen berauſchte und alle die jun⸗
gen Herzen fröhlich klopfen machte, übten zum Erſtaunen
ihrer Gäſte eine entgegengeſetzte Wirkung auf die Her⸗
rin dieſes Feſtes aus.
Mitten in dem Scherzen und Lachen ihrer Freunde
ward ſie plötzlich ſtille, ſie vermochte kaum den Anfor⸗
derungen zu genügen, welche ihre Pflicht als Wirthin
ihr auferlegte, ſie verwehrte es unter einem Vorge⸗
ben, zum Tanze anzutreten, da man ein paar Tou⸗
ren im Freien zu machen wünſchte, ehe man ſich
trennte; und den beſorgten Fragen ihrer Pflegemutter,
wie dem Auge Egon's ausweichend, das jeder ihrer Mie⸗
nen und Bewegungen folgte, ſchien ſie es endlich wie
eine Erleichterung zu empfinden, als die letzten Gäſte
Abſchied von ihr genommen, und den Garten und das
Haus verlaſſen hatlen.
Egon hatte ihnen das Geleit gegeben. Als er in
den Garten zurückkehrte, ſtand Ramonna unter der Ve⸗
9 *²
132
randa vor dem Saale. Ihr Kleid ſchimmerte hell
im Mondſchein. Sie hatte die ſchwarze Mantille,
die ſie nach heimiſcher Gewohnheit trug, über ihr
Haupt gezogen, und ſah, den ſchönen Kopf gegen den
Pfoſten angelehnt, ſo gedankenvoll in die Nacht hinaus,
daß fie Egons Kommen erſt gewahrte, als er ſchon
in ihrer Nähe war. Es war noch warm und ſchön,
nur der Nachtwind hauchte leiſe durch die Büſche und
machte die jungen Blätter an den Bäumen zittern.
Leichte weiße Wolken flogen lichtdurchſchimmert über
den Mond dahin, ſie waren ſo dünn, daß ſie ſelbſt
die Sterne nicht verhüllten. Im Garten war es ſtill,
das Geräuſch von der Straße drang nicht mehr hier⸗
her, in dem dichten Buſche auf dem Raſenplatze fin⸗
gen die Nachtigallen zu locken und zu ſchlagen an.
Jetzt endlich war der Augenblick gekommen, jetzt
war er mit der Geliebten allein! Das Herz klopfte
ihm mächtig in der Bruſt, wie er an ſie herantrat. Sie
hob den Kopf zu ihm empor und trocknete die Augen.
„Sie weinen!“ rief er betroffen aus, und da ſie
auf ſeinen Anruf ſchwieg, fragte er ſie mit beſorgtem
Dringen: „Was haben Sie? was hat Sie mitten in
der Luſt des Feſtes bis zu ſolcher Traurigkeit gebracht?“
„Muß ich Ihnen das erſt ſagen?“ verſetzte ſie.
133
„Nicht meinen Gäſten, mir ſelber habe ich ein Ab⸗
ſchiedsfeſt gegeben. Den ganzen Tag hat's mir das
Herz belaſtet, daß ich mein Heimathland nicht wieder⸗
ſehen ſoll; und wie ich dann am Abende hier hinaus⸗
trat in das — ach! ſo ſchwache Abbild des Südens,
das ich mir hier erſchaffen, da kam die Sehnſucht
allgewaltig über mich.“ Sie hielt inne, ſchüttelte
traurig das ſchöne Haupt, und ſprach dann leiſe:
„Sie wiſſen nicht, was es heißt, unter einem frem⸗
den Himmel leben; Sie können gar nicht ahnen, wie
meine Heimath ſchön iſt. Und zu denken, daß ich nie⸗
mals wieder unter dem Dache der Palmen wandeln
werde, die unſer Haus umſtanden, daß ich nie wie⸗
der die helle Nacht verträumen ſoll beim Wellen⸗
ſchlage unſeres lichtſprühenden Meeres! — Ich kann
es noch nicht faſſen, kann's nicht glauben, nicht ver⸗
ſchmerzen!“
Sie ſetzte ſich nieder, das Haupt auf die Hand
geſtützt, er nahm an ihrer Seite Platz. Er begriff
ſie in ihrem Schmerze, und um ſie von demſelben ab⸗
zuleiten, um ſie auf den Weg zu lenken, auf welchem
er ihr von ſeinen Wünſchen ſprechen konnte, ſagte er:
„Sie ſchienen ſich aber doch hier wohl zu fühlen und die
Ueberſiedelung Ihres Vaters, die Nähe der Ihrigen —“
134
Sie ließ ihn nicht zu Ende ſprechen. „Was
wird mit der Ueberſiedelung meines Vaters und mit
feiner Nähe für mich anders? Mein Vater? —“ fie
machte eine leiſe, abwehrende Bewegung und ſagte
dann mit einer Bitterkeit, die ſie nicht beherrſchen
konnte: „Mein Vater liebt mich nicht, kann gar nicht
lieben. Ihm ſind die Menſchen nur Etwas, wenn
er ihnen gebieten, ſie zu ſeinem Willen zwingen kann.
Weil meine Geſundheit das nicht zuließ, weil er ſah,
daß ich unter der Hand ſeiner gewaltthätigen Liebe
hinſtarb wie die Mutter und die Geſchwiſter, die er
auch auf ſeine Weiſe liebte, hat er mich aufgegeben,
und ſeine junge Frau erſetzt mich ihm, erſetzt uns
Alle. Was mich liebte, was ich liebe, das ſchläft
Alles dort, jenſeits des Oceans! Alles!“ |
„Alles?“ fragte Egon, dem ihre Klagen wehe
thaten bis in's tiefſte Herz. „So iſt Ihnen denn
die Liebe meiner Mutter Nichts? So hat meine Er⸗
gebenheit, meine grenzenloſe Ergebenheit keinen, gar
keinen Werth für Sie?“
„Ach! Egon!“ rief ſie, ganz erſchrocken über die
Wirkung, welche ihre Worte auf ihn hervorgebracht
hatten, „lieber Egon! ſagen Sie das nicht wieder!“
und ſeine Hände mit warmer Herzlichkeit ergreifend,
135
fügte fie hinzu: „Sie müſſen es ja fühlen, was Sie
mir ſind, wie ſicher ich mich Ihrer fühle, daß ich ſo
vor Ihnen ſpreche! Aber ich war ſo unglücklich, den
ganzen Tag! ſo unglücklich! Und wie gut die Mutter
und Sie auch zu mir ſind — einſam bin ich doch! und
in der Fremde doch!“
„Und Sie haben nie daran gedacht, daß dieſe
Fremde Ihnen eine Heimath werden könnte?“ fragte
er und ſeine Stimme klang weich und milde an ihr Ohr.
Sie blickte ihn an, das Licht aus dem Saale fiel
hell über ſein Angeſicht, ſie ſah mit welcher Liebe ſein
Auge auf ihr ruhte, und ihre Hand auf ſeine Schul⸗
ter legend, während ſie das Köpfchen an ihn ſchmiegte,
ſprach ſie leiſe: „Ja! Egon! ich habe daran gedacht!“
„Ramonna!“ rief er mit einer Freude, die alle
ſeine Pulſe klopfen machte, „ſprich! ich bitte, ich be⸗
ſchwöre Dich!“ und er ſchloß ſie feſt in ſeine Arme.
„Ach!“ ſagte ſie, indem auch ſie ihn umſchlang,
„Du, mein Egon, Du, mein Bruder! Du haſt ihn
ja auch verloren! denn jetzt kehrt er nicht mehr zurück!“
Sie weinte bitterlich, Egon preßte ſie krampfhaft
an ſein Herz. Er war keines Wortes mächtig, er biß
die Zähne feſt zuſammen in grimmem Schmerz. Seine
136
Stirne ſank auf ihr Haupt herab, ſeine bitteren Thrä⸗
nen fielen auf ſie nieder. g
Was er in dieſem Augenblicke erlitt, erlebte, ging
faſt über eines Menſchen Kraft. Zum erſten Male
hielt er die mit Leidenſchaft Erſehnte in ſeinen Ar⸗
men, und ſie weinte an ſeinem Herzen um den Freund,
an dem er ſich verſündigt, ſie weinte um den Gelieb⸗
ten, den er ihr geraubt hatte. Und nicht eine Ahnung,
daß er ſelber ſie geliebt mit allem Feuer ſeiner Seele,
nicht die Ahnung deſſen, was er jetzt empfand, kam
in ihr junges Herz.
Ihm ſchwindelte das Hirn, er konnte keinen Ge⸗
danken feſthalten. Das ganze lange Jahr mit allen
ſeinen Freuden und Qualen, mit all ſeinen inneren
Vorwürfen und ſeiner Reue, lag wie ein Chaos vor
ihm, ein Ganzes und doch Trümmer. Von dem Gip⸗
fel ſeiner Hoffnungen, in dem Augenblicke, als er ſich
am Ziele ſeiner Wünſche geglaubt, war er hinabge⸗
ſchleudert worden in die Tiefe eines Schmerzes, dem
das Bewußtſein, wie er auch auf das geliebte Haupt
Ramonna's durch feine blinde Leidenſchaft und Selbſt⸗
ſucht Gram und Leid gehäuft, den Stachel ſchärfte.
Aber der Gedanke an ſie, an ihren Kummer und an
des Freundes nahes, ſicheres Glück, das war die Vor⸗
137
ſtellung, vor welcher er ſich endlich zu ſammeln und
zu faſſen anfing. Hätte er ſich gefolgt, dem Drange
ſeines Herzens nachgegeben, er hätte ihr zugerufen:
Johannes lebt, er lebt, er liebt Dich! in wenig Ta⸗
gen wird er zu Deinen Füßen ſein! Aber er hatte es
eben jetzt erprobt, wie jähe Wechſel der Empfindung
wirken, er durfte Ramonna ſolchem Sturm nicht aus⸗
ſetzen, er hatte auch nicht darüber zu entſcheiden, wann
und wie Johannes wiederkehren wollte.
Er richtete ſich auf und hob des Mädchens Haupt
empor, das noch an ſeinem Herzen ruhte. „Muth!
Muth, Ramonna!“ ſagte er, „und keine Thränen mehr.
Ich bin gewiß, er lebt, wir ſehen ihn wieder! —“
Aber er vermochte ſich nicht zu überwinden, er konnte
in dieſer Stunde noch nicht zu ihr ſprechen. Er blieb
eine Weile ſchweigend ſtehen, dann hüllte er ſie
feſter in die Mantille, die ihr herabgeſunken war,
und führte ſie ſchweigend durch den Garten.
Wie ſie an den erleuchteten Gehängen vorüber⸗
gingen, fingen die farbigen Lampen zu verlöſchen an
und der Thau breitete ſich wie ein feuchter grauer
Schleier über den Raſen aus. Der Mond war im
Untergehen, es ward kühl und dunkel; von der Feſtesluſt
war nichts mehr zu ſehen, als ſie an das Haus gelangten.
138
Auf der Schwelle ſtehend, reichte ſie ihm die
Hand. „Egon!“ bat ſie, „ſagen Sie mir es noch einmal!“
„Er wird wiederkommen!“ ſprach er, da ſie's
wollte; dann küßte er ihr die Hand und ging davon.
Es war vorbei. Sein Urtheil war gefällt! Was er
bisher erſtrebt, was er erhofft hatte, es mußte ver⸗
geſſen, es mußte begraben ſein für immerdar. Er kam
ſich wie geſtorben vor; aber ſeine Mutter lebte und Jo⸗
hannes und Ramonna lebten! Es galt, ſich zu erlöſen
durch ihr Glück und aufzuerſtehen als ein Gewandel⸗
ter, wenn er des Opfers werth ſein wollte, das er
von dem Freunde angenommen hatte.
Dreizehntes Capitel.
Wenige Tage ſpäter ſaß in einem der Badeorte,
welche an dem Ausfluſſe der Themſe in das Meer
gelegen ſind, ein junger Mann in ſeine Studien ver⸗
ſenkt an ſeinem Arbeitstiſche.
Es waren nahezu acht Monate ſeit ſeiner An⸗
kunft hingegangen. Im verwichenen Spätherbſt, ge⸗
rade als die letzten Badegäſte den Ort verlaſſen hatten,
war er eingetroffen, hatte ſich in einem der beſten
Häuſer eine Wohnung genommen, und an der Thüre
ein Schild befeſtigen laſſen, das ihn als einen Arzt
bezeichnete. Als einen ſolchen, und zwar als einen
ſehr geſchickten Arzt, hatte er ſich denn auch kurz dar-
auf bei einem Unglücksfall erwieſen, der ſich auf der
Straße zugetragen, und das hatte ihm bald zu einer
Kundſchaft verholfen, die ohne dieſen Umſtand vielleicht
lange hätte auf ſich warten laſſen.
| Er hatte Bücher und allerlei Apparate mitgebracht;
die Wirthin, die im Laufe der Jahre Leute aller Art
in ihrem Hauſe aufgenommen hatte und ſich als eine
große Menſchenkennerin betrachtete, merkte alſo bald,
140
daß er ein Gelehrter ſei; und da er ein ruhiger Ein⸗
wohner war, der ſeine Miethe wie alle Auslagen für ihn
auf das Pünktlichſte bezahlte, und die Wirthin obenein
bei ihren Rheumatismen unentgeltlich behandelte, hegte
ſie eine vortreffliche Meinung von ihm und von ſeinem
Charakter, obſchon er, deſſen hielt ſie ſich verſichert,
nicht aus freiem Antrieb in dem Ort verweilte. Er
mußte ein Verbannter fein, und das gaſtliche Eng
land hatte ja zu allen Zeiten Flüchtige aus fremden
Ländern ſchutzſuchend an ſeinen Ufern landen ſehen.
Sie durfte alſo ihrem Vaterlande auch nicht Schande
machen, durfte nicht fragen, was zu fragen nicht ihres
Amtes war; und doch fiel es ihr auf, daß der
Doktor niemals einen Brief erhielt, ſich niemals er⸗
kundigte, ob Briefe für ihn angekommen ſeien, während
er, ſie hatte ihn beobachtet, doch jedesmal ſehr achtſam
wurde, wenn der Poſtbote ſeine regelmäßigen zwei
Schläge mit dem Thürklopfer gegen die Hausthüre that.
An dem Tage, deſſen wir vorhin gedachten, ſaß
der Doktor am Mittage, nachdem er ſeine Kranken⸗
bejuche beendet hatte, ſchon eine geraume Zeit bei den
mikroſkopiſchen Unterſuchungen, mit denen er ſich in
den hellſten Stunden zu beſchäftigen pflegte, als auch
wieder der Poſtbote ſich vernehmen ließ. Die Wirthin,
141
welche ihm eben einen Auftrag von einem Kranken aus⸗
gerichtet hatte, war noch in ſeinem Zimmer und ſie ſah
es wieder, wie er emporblickte, nach dem Schalle horchte
und zu warten ſchien, obgleich er gar nichts ſagte. Dies⸗
mal aber mußte es wirklich mit dem Briefträger etwas
Beſonderes ſein, denn er klopfte wieder und noch einmal.
Die Wirthin ging hinaus, die Thüre zu öffnen,
aber das Mädchen hatte es bereits gethan, und von
dem Briefträger gefolgt, trat ſie mit den Worten in
das Zimmer: „Sir! der Poſtbote hat Sie zu ſprechen.“
Der Doktor ſtand auf, das Mädchen und die
Wirthin merkten es alle Beide, daß er ſich verfärbte.
„Ein empfohlener Brief für Sie, Sir!“ ſagte
der Bote.
„Wohl!“ entgegnete der Doktor und nahm ihn
ab; aber wie ruhig er ſich auch zu zeigen ſtrebte, die
Hand zitterte ihm, mit der er den Empfangsſchein
unterſchrieb. Der Briefträger ging hinaus, die Magd
ging ebenfalls. Die Wirthin wäre gern geblieben, hätte
es ſich nur machen laſſen, aber ſie wußte, was ſich ziemte,
und räumte endlich auch das Feld. Nun war Johannes
allein; allein vor der Entſcheidung ſeines Schickſals.
Der Brief kam ihm von dem Einzigen, der von
ihm und ſeinem Aufenthalte wußte.
142
„Ramonna hat entſchieden und für Dich!“ fo
ſchrieb ihm Egon. „Sie hat Dich von je geliebt.
Vor wenig Augenblicken hat ſie ſelbſt es mir geſagt.
Dich und ſie habe ich Unſeliger, in der Verblen⸗
dung meiner Selbſtſucht, um eine lange Zeit des
Glücks betrogen. Vergebt mir wenn Ihr's könnt!
Vergieb Du mir vor Allem, Du, den ich kaum noch
daran zu erinnern wage, was wir einander bis zu dem
unheilvollen Augenblick geweſen ſind.“
„Morgen werde ich um meine Verſetzung aus der
Hauptſtadt einkommen; aber ich werde nicht fortgehen,
ehe ich von Dir die Anweiſung empfangen habe, wann
Du zurückzukehren gedenkeſt und in welcher Weiſe
Deine Wiederkunft in Ausſicht geſtellt und vorbereitet
werden ſoll! Ich habe Dir gegenüber nur Pflichten
zu erfüllen, und es Dir womöglich durch die vollſte
Hingebung zu vergüten, daß ich Dich gezwungen habe,
ſo groß zu handeln als Du es gethan haſt.“
Johannes ließ das Blatt herniederfallen auf den
Tiſch. Er hatte die lange, lange Zeit hindurch ſein
Herz in feſten Banden gehalten, hatte mit der ſtillen
Pflichttreue, zu welcher ſein erhabener Beruf den Arzt
erzieht, an jedem Tage ſeine Schuldigkeit gethan, ohne
viel zurückzublicken, ohne ſich an unbeſtimmte Hoffnun⸗
143
gen zu klammern, wie ſehr ihm wünſchende Sehnſucht
bisweilen auch das Herz bewegte. Jetzt aber drängten
ſich all ſein Leben und ſein Wünſchen, ſein Leiden
und die Glückshoffnung, die ſich vor ihm aufthat, in
ein gewaltiges Empfinden zuſammen. Es war ſtärker,
als er es ertragen konnte; er ſchlug die Hände vor
ſein Angeſicht und weinte! — Und wie er dann das
Haupt emporhob und ſich fragte: weshalb denn dieſe
Thränen? da fand er, daß es der Freund ſei, dem ſie
floſſen, daß es Egon ſei, den er beweinte.
Aber draußen vor ſeinem Fenſter breitete ſich
unter dem Schein der Frühlingsſonne die prachtvolle
Weitung des Meeres aus, und leicht getragen von
feinen Fluthen zogen die weißen von friſchem Weſt⸗
winde geſchwellten Segel der Schiffe hin, winkten die
langen, ziehenden Dampfesfahnen ihn nach der Hei⸗
math zurück, wohin ihn Alles rief, Alles, was dem
Menſchenherzen theuer iſt: Liebe, Freundſchaft und ein
ehrenvoll begonnener Beruf. Und voll von der bele⸗
benden Ausſicht auf dies Glück ſchrieb er an Egon:
„Es iſt überſtanden und es iſt Alles vergeſſen,
was uns trennen könnte. Ich habe meine Zeit hier
nicht verloren. Ich bin fleißig geweſen und komme
144
mit wiſſenſchaftlichen Reſultaten zurück, die, wie ich
glaube, nicht unbedeutend ſind.“
„Wie mein Fortgehen erklärt, wie meine Rück⸗
kehr eingeleitet werden ſoll? Durch das einfache Ge⸗
ſtändniß der Wahrheit, durch das Bekenntniß, daß wir
uns lieber für eine Weile trennen, als Einer dem An⸗
dern das Leben nehmen wollten.“
„Was ich Ramonna zu ſagen habe, enthält das
Blatt, das ich dieſem Briefe beifüge. Gieb Du es
ihr. Es iſt der erſte Dienſt, den ich wieder von Dei⸗
ner Freundſchaft fordere. — Sobald ich der Sorge
für ein paar Schwererkrankte, deren Behandlung ich
übernommen habe, ledig bin, kehre ich heim. Von Dir
und Deinem Bedürfen und Empfinden allein hängt
es ab, ob ich Dich bei der Rückkunft treffe oder nicht;
aber ich hoffe, die Zeit wird nicht auf ſich warten
laſſen, in der auch wir uns wiederſehen. Bis dahin
grüße Deine Mutter, und ſage ihr, ihre beiden Söhne hät⸗
ten wieder einen neuen Feldzug, einen Feldzug gegen ihre
Leidenſchaft beſtanden, und wären nach hartem Kampfe
Beide wieder mit dem Leben davon gekommen. Das ſei
uns eine Bürgſchaft für ein langes Beiſammenbleiben, und
für eine helle Zukunft in unwandelbarer Freundſchaft.“
Ende.
Yflegeeltern.
Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 10
Erſtes Capitel.
Unter den bedeutenden Männern, die mir auf
meinem Lebenswege begegnet find, iſt mir Boris Kru⸗
pinin immer einer der anziehendſten geweſen. Er war
der einzige Sohn einer alten und reichen Bojarenfa⸗
milie und hatte nur eine viel ältere Schweſter gehabt,
deren Mann unter dem Kaiſer Nikolaus einen hohen
Poſten in der Armee bekleidete. Die Schweſter ihrer-
ſeits verſah das Amt einer Palaſtdame, oder eine ähn⸗
liche Stelle bei der Kaiſerin, und Beide hatten ſehr
in Anſehen geſtanden.
Scchon ſeit den Zeiten Peters des Großen waren
die Krupinins in Aemtern und Würden geweſen, aber
obgleich ihr Ehrgeiz ſie der Reihe nach in die Dienſte
der Czaaren geführt, hatten ſie ſich immer viel damit
gewußt und es hervorzuheben geliebt, daß ſie in dem
heiligen Rußland ſchon eine Bedeutung gehabt hätten,
10%
148
ehe noch von den Romanows die Rede geweſen wäre,
und daß fie ſich nur entſchloſſen hätten, ihren mos—
kauer Stammſitz in der Nähe des Kreml zu verlaſſen
und Peter dem Erſten nach feinem ſumpfigen Peters⸗
burg zu folgen, weil er ein Kaiſer aus ihrer Fabrik
geweſen ſei, weil ſie dazu mitgewirkt und ihren Ein⸗
fluß dazu verwendet hätten, ihn aus der Gewalt der
Strelitzen zu befreien und ihn zum Kaiſer zu erheben.
Sie führten ihre Stammtafeln bis in die fernſte Zeit
zurück, hatten von ihren Hauspopen ſeit Jahrhunder⸗
ten Familien⸗Chroniken ſchreiben laſſen, indeß die Fa⸗
milien⸗Tradition bewahrte daneben noch eine Menge
von Erinnerungen auf, von denen in den geſchriebenen
Chroniken nichts zu leſen ſtand, von denen aber auf
den Gütern in den Spinnſtuben, bei dem flackernden
Kienſpan, deſto mehr geſprochen wurde, und von denen
die leibeigene Amme und die leibeigenen Wärterinnen,
welche die Kindheit meines Freundes bewacht, auch zu
ſagen gewußt und mehr geſagt hatten, als für die leb⸗
hafte Phantaſie und die zärtliche Natur des Knaben
vielleicht gut geweſen war.
Der Knabe hatte mit blitzenden Augen zugehört,
wenn ſein Vater ihm erzählt, welche Heldenthaten
Gleb Krupinin einſt bei Pultawa unter den Augen
149
Peters verrichtet habe, und wie er nachher, als die
Czaarewna einmal auf feinem Gute fein Gaſt gewe—
ſen ſei, ſie den einen Tag mit vier gezähmten Bären,
den andern Tag mit Kameelen, und den dritten Tag
mit den ſchönſten arabiſchen Schimmeln gefahren habe,
die er alle mit ihrem koſtbaren Geſchirr der Kaiſerin
zum Geſchenk gemacht. Es gab in der Familie reiches
Silbergeſchirr und Ehrenſäbel mit Brillanten, welche
der ſchöne Jegor Krupinin von der zweiten Katha⸗
rina erhalten hatte, und eine Ausgabe von Voltaire's
Schriften, welche dieſer Dichter ſelbſt dem erklärten
Günſtlinge der Kaiſerin verehrt. Ein Krupinin war
Roſtopſchins rechte Hand geweſen, als derſelbe Mos⸗
kau in Brand geſteckt, und war in dem Gefolge Alexan⸗
ders mit den alliirten Fürſten eingezogen in Paris.
Auch auf dem Wiener Congreſſe war er dabei gewe⸗
ſen, während ſeine ſchöne und geiſtreiche Schweſter
bis an den Tod des Kaiſers Alexander in deſſen höch⸗
ſter Achtung geſtanden hatte, nachdem in ihrer Ju-
gend ein weit innigeres Verhältniß zwiſchen ihnen ob⸗
gewaltet haben ſollte.
So weit man zurückdenken konnte, immer hatten
ſeit dem erſten Peter der Glanz und die Gunſt der
Kaiſer und der Kaiſerinnen über den Krupinins ge⸗
150
leuchtet. Sie waren mit den mächtigſten Familien des
Landes verwandt und verſchwägert; nicht nur am
Hofe zu Petersburg, ſondern an allen Höfen Europa's
waren ſie wohl gelitten, denn ihnen hatte die Erlaub⸗
niß, in das Ausland zu gehen, nie gefehlt, und ſie
hatten, die Frauen ſowohl als die Männer, ſich denn
auch mit der ausgedehnteſten Sprachkenntniß jene glat⸗
ten, bequemen Umgangsformen angeeignet, in denen
die Ruſſen, wenn ſie ſie an den Tag legen wollen,
vollendete Meiſter ſind. Das ſchloß nicht aus, daß
das wilde tartariſche Blut, das von ihrem Stamm⸗
vater her in ihren Adern floß und durch die gelegent-
liche Vermiſchung mit den armeniſchen Lazajarews
nicht fanfter geworden war, gelegentlich) in heftiger
Gluth und blindem Zorne aufflammen konnte; und es
waren in der Familie gewiſſe Todesfälle vorgekommen,
über die man gerne hinwegging, wie daneben Gerüchte
von einer Menge Liebeshändel in Umlauf waren, mit
denen man auch nicht an die große Glocke ſchlug.
Einen Sohn des Hauſes hatte man einſt in der Nacht
vor ſeiner Hochzeit erdroſſelt gefunden, und am fol⸗
genden Morgen hatte man die ſchönſte Leibeigene der
Herrſchaft bei einer fürchterlichen Kälte im Garten
entkleidet und ſie ſo lange mit Waſſer übergoſſen,
151
bis ſie erfroren war. Weshalb das fo geſchehen war,
ſagte man nicht. Geſchehen aber war es; und daß der
Großvater meines Freundes einen ſeiner Muſiker hatte
zu Tode peitſchen laſſen, weil er ſeine Blicke zu des
Herrn Schweſter erhoben, die er zum Geſange ſtets
begleiten müſſen, das hatte die Leibeigene, welche Bo⸗
ris in ſeiner Kindheit gewartet, noch mit eigenen
Augen angeſehen und entſann ſich deſſen ganz genau,
obſchon ſie damals noch ein kleines Ding geweſen war.
Bei dem Vater unſeres Freundes, bei Michael
Krupinin, hatten die Leute es jedoch verhältnißmäßig
gut gehabt. Er hatte es ihnen an keinem Nöthigen
mangeln laſſen, ſie nicht mißhandelt, nicht an Fremde
in die Städte vermiethet, und ſie auch nicht verkauft.
Sowohl auf den Gütern als in dem Hauſe in Mos⸗
kau, das inmitten ſeiner Gärten mit ſeinen grünen
und vergoldeten Thürmen wie ein Palaſt da lag, war
die zahlreiche Dienerſchaft mit dem Herrn alt gewor⸗
den, und ſie hing an ihm und an dem Hauſe, obſchon
nicht viel Freude in demſelben zu finden war. Michael
| Petrowitſch, der Herr — fo nannte ihn alles, was
ihn umgab — hatte ſeine Jugend ſehr genoſſen; da⸗
für war er im Mannesalter finſter und ſtreng gewor⸗
den, und da obenein ſeine Geſundheit nicht die beſte
152
war, hatten feine Frau und fein Sohn immerfort von
ihm zu leiden gehabt. Je älter er geworden war, um
ſo mehr hatten ſeine hypochondriſchen Grillen ſich ent⸗
wickelt, und mit der Hypochondrie war ſeine Selbſt⸗
ſucht gewachſen. An jedem Morgen hatte er es be⸗
klagt, daß er ein Kranker ſei, und mit Mißgunſt auf
diejenigen geblickt, die ihres Lebens froher waren, als
er ſelbſt. Er neidete ſeinen Leuten ihren guten Appe⸗
tit, er neidete ſeiner bedeutend jüngeren Frau die er⸗
gebene Gelaſſenheit, mit welcher ſie ihre Tage hin⸗
fließen ſah, und er fühlte eine unbeſtimmte Eiferſucht
gegen den Sohn, der ſo viel länger zu leben hatte,
als er, und der nach ihm genießen ſollte, was er ſelbſt
nicht mit ſich nehmen konnte, wenn er einmal ſtarb.
Vor Allem aber war ihm die Zärtlichkeit zuwider, mit
welcher der Sohn und die Mutter an einander hin⸗
gen. Er konnte ihnen nicht verbieten, ſich zu lieben;
indeß er wollte nicht daran erinnert werden, daß er
ſelbſt ihnen nicht die gleiche Liebe einzuflößen ver⸗
mochte. Er konnte es nicht ſehen, wie glücklich ſie mit
einander waren, und deshalb mußte er ſie trennen.
Boris wurde unter dem Vorwande, daß die Mutter
ihn verwöhne, frühzeitig einer Erziehungs⸗Anſtalt in
Moskau übergeben, in der er ſich für die Univerſität
a
153
vorbereiten ſollte, und ſeitdem brachten ſeine Eltern
die Winter nicht mehr in der Stadt zu. Der Vater
behauptete, er könne die Geſellſchaft nicht wie ſonſt
ertragen; im Sommer aber mußte man nach Deutſch⸗
land in die Bäder gehen, und Boris und die Mutter
ſahen ſich auf dieſe Weiſe immer ſeltener wieder.
So lange er auf der Schule geweſen war, hatte
der Sohn die Entfernung von der Mutter ſchwer
empfunden; auf der Univerſität aber hatten ſich neue
Bekanntſchaften für ihn geknüpft, die ſeinem Geiſte
eine neue Richtung gegeben hatten. Er war in die
wiſſenſchaftlichen und politiſchen Beſtrebungen des jun⸗
gen Rußlands hineingezogen worden, und es focht ihn
nicht eben an, als er von ſeiner Mutter aus Deutſch⸗
land die Nachricht erhielt, wie die Geſundheit des Va⸗
ters einen Winteraufenthalt in den Pyrenäen noth⸗
wendig mache, und daß man alſo erſt im nächſten
Frühjahr wieder in die Heimath zurückkehren werde.
In der Lebensweiſe des Sohnes änderte das ſo
gut wie nichts. Der Winter ging ihm in der glän⸗
zenden, üppigen Geſellſchaft von Moskau, in dem
Kreiſe ſeiner Freunde ſchnell vorüber, und die Gefahr,
welche über all den Männern und Jünglingen ſchwebte,
die auch für Rußland den Eintritt in die Bahnen
154
eines freieren Staatslebens für nothwendig erachteten,
ſteigerte die Haſt, mit der man ſich dem Genuſſe des
Lebens überließ. Den und Jenen hatte die Hand
des Czaaren ſchon erreicht; der und Jener, der
noch vor wenig Wochen die Herzen der Jünglinge
mit ſeinen feurigen Worten erhoben hatte, wanderte
jetzt in Ketten die eiſige Straße, die ihn nach den
Bergwerken führen ſollte, und jeder der Zurückgeblie⸗
benen mußte ſich ſagen, daß ihn heute oder morgen
das gleiche Schickſal ereilen könnte. Man war mit
dem Allgemeinen beſchäftigt und hatte mit ſich ſelber
zu thun. Man war der nächſten Stunde niemals
ſicher, und entwarf doch weite Plane für die Zukunft;
man lebte mit großem Bewußtſein und doch wie in
einem Rauſche. In dieſem Zuſtande erhielt Boris
von ſeinem Vater gegen das Frühjahr hin plötzlich die
Nachricht, daß die Mutter nach einer Krankheit von
nur wenigen Stunden in den Eaux bonnes geſtorben ſei.
Die Kunde traf den Jüngling in das Herz, und
die eiſige Kälte, mit welcher ſein Vater ihm, als ob
er ein Fremder wäre, dieſe Mittheilung machte, hatte
noch etwas ganz beſonders Beäugſtigendes für ihn.
Der Vater ſchrieb ihm nicht, woran die Mutter ge⸗
ſtorben ſei, es war in der ganzen langen Zeit nie
*
155
die Rede davon geweſen, daß fie ſich weniger gut als
ſonſt befunden habe, man ſagte dem Sohne auch nicht,
ob ſie mit Bewußtſein verſchieden ſei, ob ſie ſeiner
noch gedacht habe. Die ganze Art und Weiſe war grau⸗
ſam. Sie behielt daneben etwas Geheimnißvolles für
den Sohn, und doch konnte er auf alle ſeine beſtimmt
geſtellten Fragen keine aufklärende Antwort von dem
Vater erlangen. |
Gegen den Sommer hin kam derſelbe von der
Reiſe heim. Er hielt ſich jedoch kaum einen Tag in
Moskau auf, und ſah den Sohn nur im Beiſein an⸗
derer Perſonen. Von dem Tode der Mutter wurde
nur in den allgemeinſten Ausdrücken geſprochen; Michael
Petrowitſch war ein Feind unnöthiger Gemüthsbewe⸗
gungen, und ſein ohnehin finſteres Geſicht verdüſterte
ſich noch mehr, als er im Laufe dieſes Tages den
Sohn im einſamen Geſpräche mit der alten Kammer⸗
frau der Todten fand. Er wußte, wovon die Beiden
mit einander zu reden hatten. Es waren aber nur
lauter vereinzelte Bemerkungen, welche die Alte dem
jungen Manne mittheilte, und doch erbebte das Herz
des Sohnes, wenn er es unternahm, ſie zuſammen
zu reihen. Er hatte die Mutter geliebt und verehrt,
er konnte ſich nicht entſchließen, an ihr zu zweifeln;
156
was aber hatte es mit dem Franzoſen auf ſich, der
beſtändig neben ſeiner Mutter geweſen war, ſeit die
Eltern in Paris mit ihm zuſammengetroffen, und was
war geſchehen, das ſeine Mutter bewogen hatte, ihr
Leben freiwillig zu enden? Er hat es nie erfahren.
Der Vater vergrub ſich von dem Zeitpunkte ſei⸗
ner Rückkehr ab, ganz auf ſeinen Gütern, er mochte
Niemanden von ſeinen Verwandten und von ſeinen
Freunden ſehen. Die leibeigene Wirthſchafterin, die
immer Einfluß auf ihn gehabt hatte, eine ſchöne und
entſchloſſene Perſon, war bald ſeine einzige Geſell⸗
ſchaft, und wurde mehr und mehr völlig ſeiner Meiſter.
Sie beſtimmte Alles, was geſchehen ſollte, und ſie
war es, welche noch weniger als ihr Herr des Sohnes
Nähe wünſchte. Seine Verbindung mit den jungen,
revolutionairen Männern, die Verhaftung eines ſeiner
Freunde boten der umſichtigen Leibeigenen den Anlaß,
ſeine Entfernung durchzuſetzen. Ohne daß man ihn
davon auch nur unterrichtet hatte, erhielt der junge
Mann eines Tages mit einem Briefe ſeines Vaters
eine Geldanweiſung auf den Banquier der Familie
nebſt dem Gouvernementspaß, der ihm die Erlaubniß
zu einer Reiſe in das Ausland ertheilte, und daneben
157
den väterlichen Befehl, von dieſer Erlaubniß einen ſo⸗
fortigen Gebrauch zu machen.
„Ich kann Dich nicht länger in der ſchlechten
und gefährlichen Geſellſchaft leben laſſen, in welche
Du in Moskau hineingerathen biſt,“ alſo ſchrieb ſein
Vater ihm, „und ich erwarte von Dir umgehend die
Nachricht, daß Du ſo ſchnell wie möglich außer Lan⸗
des gehſt. Wohin Du gehen willſt, überlaſſe ich Dei⸗
ner Wahl, den Zeitpunkt Deiner Heimkehr werde ich
beſtimmen.“
Boris ging. Seine Freunde ſelber riethen ihm dazu
und es währte lange, bis er wiederkehrte.
Er war einundzwanzig Jahre alt, als er Moskau
verließ, und er mochte etwa fünfunddreißig Jahre
zählen, als ich ihm zuerſt begegnete. Damals war
er noch ein ſchöner Mann, obgleich man ihm anſah,
daß er einer Familie angehörte, welche ſich durch viele
Geſchlechter in üppigem und raſchem Lebensgenuſſe
verweichlicht hatte. Er war hoch gewachſen, aber ſeine
Bruſt war nicht breit, und er trug ſich ein wenig ge⸗
bückt, was ihm bei feiner auffallenden Kurzſichtigkeit
für den erſten Moment etwas Schwächliches gab.
Betrachtete man ihn dann näher, oder fing er zu
ſprechen an, ſo entwickelte ſich aber ein ſolcher Aus⸗
158
druck von Kraft in feinen beweglichen Mienen, der
Ton ſeiner Stimme war ſo voll und klangreich, und
ſeine Augen leuchteten trotz der Brille, die er niemals
von ſich that, in einem ſo ſchwärmeriſchen Glanze,
daß man ihn tiefen Gefühles und einer großen Ent⸗
ſchloſſenheit fähig halten mußte, und ſich zu ihm hin⸗
gezogen fühlte, noch ehe er ſich die Mühe machte, ir⸗
gend welchen Antheil für ſich zu erregen. g
Ein eben ſolcher Gegenſatz, wie in ſeiner äußeren
Erſcheinung gab ſich, wenn man ihn näher kennen
lernte, auch in ſeinem geiſtigen Weſen kund. Ich
vermochte mich Anfangs gar nicht in ihn zu finden
und meinte oftmals, die eine oder die andere ſeiner
Aeußerungen könne nicht aus ſeiner wahren Ueberzeu⸗
gung kommen, müſſe Folge einer unwillkürlich ange⸗
nommenen Maske ſein. Ich hatte mich jedoch darin
getäuſcht, es war wirklich ein ſolches Doppelweſen in
ſeinem Charakter entwickelt. Das lange Reiſeleben,
die Bekanutſchaft mit jener ausſchließlich auf den Ge⸗
nuß geſtellten Geſellſchaft aller Nationen, hatten ihn
ſelber überſättigt, und ihm von den Menſchen in der
Maſſe eine ſchlechte Meinung gegeben. Er verſpottete
ſie und ihr Thun und Treiben und ſich ſelber mit,
und hegte dabei in ſeinem tiefen Inneren das erha⸗
159
bene Ideal einer edeln, neugeborenen Menſchheit. Er
nannte ſich blafirt, verſicherte, daß er an nichts mehr
glaube, daß ihn nichts mehr freue, und konnte von
einem freundlichen Worte, von einem ehrlichen Ge⸗
ſichtsausdrucke zu großen Opfern und Dienſten hin⸗
geriſſen werden, konnte ſich an die Spiele von Kin⸗
dern mit einem Eifer und einer Fröhlichkeit hingeben,
daß man ihn ſelber hätte für einen Knaben halten
mögen. Wenn er heute mit der größten Erbitterung
von der ruſſiſchen Regierung, und mit wahrhaftem
Zorne von den in ſeinem Vaterlande herrſchenden Zu⸗
ſtänden geſprochen hatte, konnte er ſich morgen mit
inbrünſti ger Hoffnung in den Gedanken verſenken, daß
in ſeiner Heimath ſich aus dem kräftigen, von der
Entartung der höheren Stände nicht berührten niede⸗
ren Volke ein neues Rußland erheben werde; und
während er mit einem ganz ariſtokratiſchen Sinne
auf die Erhaltung ſeines Namens und Hauſes Gewicht
legte, hörte man ihn ſagen, daß alle dieſe alten Adels⸗
geſchlechter entartet und eben deshalb dem Untergange
geweiht wären, und daß ſie auch untergehen müßten,
damit ihre dem Gemeinwohl ſchädlichen Vorurtheile
mit ihnen aus der Welt verſchwänden. — Man wurde
nicht leicht fertig mit ihm. Denn da er geiſtreich
160
war, wußte er mit großer Lebhaftigkeit die eine wie
die andere ſeiner Behauptungen zu vertheidigen und
auszuſchmücken, und wie die Mehrzahl ſeiner moskauer
Freunde in Hegel'ſcher Dialektik geſchult, war er im⸗
mer bereit, das „ſowohl als auch“ aufrecht zu erhal⸗
ten, und mit ſich ſelber im entſcheidenden Augenblicke
jene Vermittlungsverſuche zu machen, welche ſeine na⸗
türliche Liebenswürdigkeit und Güte zwiſchen ihm und
den Dritten immer leicht zu Stande kommen ließ.
Zweites Capitel.
Unſer erſtes Beiſammenſein hatte nicht lange ge⸗
währt; wir hatten jedoch gegenſeitig eine angenehme
Erinnerung davon bewahrt, und als wir uns dann
nach einer Reihe von Jahren bei einem Sommeraufent⸗
halte im Hochgebirge zufällig wieder fanden, traten wir
uns wie alte Bekannte und wie Freunde entgegen.
Boris war diesmal nicht allein, ſondern hatte
einen ſchönen, jungen Menſchen mit ſich, den er uns
als ſeinen Sohn vorſtellte, und es fiel uns gleich
beim erſten Anblicke auf, daß derſelbe nicht die ent⸗
fernteſte Aehnlichkeit mit ſeinem Vater hatte, ja, daß
er gar nicht wie ein Ruſſe ausſah. Wo man dem
jungen Manne auch begegnet wäre, überall hätte man
in ihm den Bergbewohner aus dem ſüdöſtlichen Deutſch⸗
land, den Steiermärker oder Oberbaiern erkannt, und
wenn ſchon er wie ſein Vater das nillae Fran⸗
Fanny Lewald, Neue Erzählungen.
162
zöſiſche und Engliſche mit großer Leichtigkeit hand⸗
habte, hörte man ſeinem Deutſch einen Provinzial⸗
Dialekt und gewiſſe Kehllaute an, die nur den deut⸗
ſchen Bergbewohnern eigenthümlich zu ſein pflegen.
Der Vater hing mit der größten Zärtlichkeit an
Joſef, und es war auch gar nicht möglich, ſich an der
prachtvollen, breitbrüſtigen Geſtalt des dreiundzwanzig⸗
jährigen jungen Mannes nicht zu erfreuen oder nicht mit
ihm heiter zu werden, wenn ſeine hellbraunen Augen
vor Lebensluſt und Frohſinn blitzten, und ſein Lachen
die ſchönen Zähne zwiſchen den vollen Lippen ſichtbar
machte. Dazu hatte er einen ſchnellen und ſcharfen
Verſtand, eine unbefangene Gradheit des Urtheils, und
wie der Vater früh überſättigt und ein Zweifler geweſen
war, ſo hatte der Sohn eine Zutraulichkeit und eine
Urſprünglichkeit bewahrt, welche ihm bei dem Leben in
der großen Welt nur eine beſonders glückliche Natur
oder die größte Achtſamkeit des Vaters erhalten ha⸗
ben konnte.
Joſef war offenbar des Vaters größter Stolz und
ſeine ganze Freude. Er ſprach gern von ihm, gedachte
freiwillig der Art und Weiſe, in welcher er ihn er⸗
zogen, wie er es angefangen habe, ſeines Sohnes
volles, unumſchränktes Zutrauen zu erwerben und zu
163
erhalten; und er hob es gegen uns beſonders noch
hervor, daß der junge Mann die Geſellſchaft des Va-
ters ſelbſt der von ſeinen Altersgenoſſen vorziehe.
Und hängt er denn auch an ſeiner Mutter mit
gleicher Zärtlichkeit? fragte eine junge Dame, die ſich
zufällig dabei befand, als unſer Freund einmal eben
jene Bemerkung machte.
Boris blieb die Antwort ſchuldig. Das würde
mir nun an und für ſich nicht aufgefallen ſein, da es
einem Fremden gegenüber eine von den müßigen Fra⸗
gen war, in denen eine große Anzahl von Frauen
ihrer taktloſen Zudringlichkeit den Zügel ſchießen laſſen;
aber wir hatten ſchon früher bemerkt, daß ſowohl der
Vater als der Sohn der Mutter nie erwähnten, und
wir hatten uns daraus die Lehre gezogen, ihrer und
ihres Daſeins gleichfalls nicht zu gedenken.
Unſer Verkehr war im Uebrigen durchaus be—
haglich; wir waren beſtändig zuſammen, wenn ſie nicht
Partieen in das Gebirge machten, auf welchen Boris ſeinen
Sohn regelmäßig begleitete, obſchon ſolche angreifende
Märſche ihm nicht grade heilſam ſein konnten. Er
hielt aber darauf, es dem Sohne noch gleich zu thun,
und dieſer war wiederum ſo beſorgt für ſeinen Vater,
ſuchte fo gefliſſentlich ihn zu ſchonen, daß man ſich
41°
164
wirklich ein ſchöneres Verhältniß zwiſchen Vater und
Sohn nicht vorſtellen konnte. Trotzdem behandelten die
Landsleute von Boris den jungen Mann mit einer wunder⸗
lichen Art und Weiſe, die ihm nicht entgehen konnte und
die es machte, daß er ſie vermied. Von Boris Krupinin
jedoch ſprachen ſie immer, wenn nicht mit Zuneigung,
ſo doch mit Anerkennung und mit Bewunderung ſei⸗
ner großen geiſtigen Begabung und ſeiner Klugheit.
Sie erzählten, Graf Boris habe nach dem Tode
ſeines Vaters gleich ſeinen ganzen Grundbeſitz ver⸗
kauft und ſein Vermögen aus dem Lande gezogen;
dadurch ſei er ein Millionär geblieben, während ſeine
Standesgenoſſen durch die Emanzipation der Bauern
an den Rand des Abgrundes gebracht worden wären;
und wenn die Ruſſen ſich erſt auf dieſem Meere
der Klagen eingeſchifft haben, bringt man ſie nicht ſo
bald davon zurück. — Reich ſchien Graf Boris aller⸗
dings zu ſein, und er ſelber erwähnte einmal, daß er
ſeine Güter in Rußland aufgegeben habe, aber er
dachte daneben an die Möglichkeit, daß ſein Sohn ſich
einmal in den ſüdöſtlichen Provinzen von Rußland
ankaufen könne, deren Klima der Vater für eines der
ſchönſten heilſamſten der Welt erklärte.
Eines Tages, als wir, ich weiß nicht wie, auf
165
dieſe mögliche Niederlaſſung am Schwarzen Meere zu
ſprechen kamen und ich den Grafen fragte, ob er für
die Ausführung dieſes Planes einen Zeitpunkt feſt⸗
geſetzt habe, rief er mit einer ihm nicht gewöhnlichen
Lebhaftigkeit: Einen Zeitpunkt feſtſetzen? Plane machen?
Ich mache niemals Plane, die über mehr als ein paar
Tage hinausgehen! Ein Plan iſt ein Tyrann und
beruht doch in der Regel nur auf einem augenblick⸗
lichen Einfalle, auf einem Tone, der in unſerem Ge⸗
hirne anklingt. Wie kann man ſich alſo zum Sklaven
einer Blutwelle machen? Ich mache niemals Plane,
wiederholte er lebhaft, denn ich habe es an mir ſelbſt
erfahren, wie unzuverläſſig unſer Wünſchen und wie
unbeſtändig unſer Wollen iſt. Was uns heute als
das höchſte Glück erſcheint, hat vielleicht ſehr bald all
feinen Reiz für uns verloren, und was uns heute ge—
ringfügig erſcheint, wird uns morgen wichtig. Mit
ſechszehn Jahren war ein hervorragendes Amt im
Staatsdienſte mein Ideal, mit zwanzig Jahren lechzte
ich nach Unabhängigkeit und Freiheit. Nun, ich habe
ſie genoſſen, die allervollſte Unabhängigkeit und Frei⸗
heit faſt ein Menſchenleben lang. Meine Mutter
war todt, mein Vater verlangte nicht nach mir, ich
fühlte keinen Zug zu ihm. Werthe Bekannte, ange—
166
nehme Verbindungen hatte ich, wohin ich kam, ich war
mit meinem Looſe ſehr wohl zufrieden. Als mein
Vater ſein Ende nahen fühlte, rief er mich an ſein
Sterbebett. Ich kam noch vor dem letzten Augenblicke.
Wir waren einander ſehr fremd geworden, das laſtete
in den Tagen furchtbar ſchwer auf ihm und mir, und
war doch unabänderlich. — Boris fuhr ſich mit der
Hand über die Stirn, ſchwieg eine kleine Weile und
ſetzte dann in derſelben, kurz erzählenden Weiſe ſeine
Mittheilungen fort. Ich hatte nicht die Abſicht, in
Rußland zu bleiben, ſagte er; ich wünſchte meine
Güter zu verkaufen, und das zwang mich zu einem
längeren Verweilen. Damals ſchätzte man noch bei
uns den Landbeſitz nach der Zahl der Seelen, die auf
der Scholle lebten, und ich konnte nur mit großen
Schwierigkeiten Käufer für die Güter finden, auf de⸗
nen ich den Leuten ihre Freiheit und ſo viel Grund
und Boden gegeben hatte, daß ſie ſich ſelbſt erhalten
konnten. Man hielt mich deshalb für einen Thoren,
man ſagte mir meinen Ruin voraus. Jetzt bewun⸗
dert man meine Klugheit und ſieht noch heute nicht
ein, daß ich in jenen Tagen nur meinem Gewiſſen genug
thun wollte, ohne auf die künftige Geſetzgebung des
Kaiſers zu ſpekuliren. Als ich damit zu Stande gekom⸗
167
men war, ging ich aus Rußland fort. Ich war nun
freier als je zuvor. Mich band kein liegender Beſitz,
keine Familienrückſicht, ich ſagte mir, daß ich mich
jetzt in dem erwünſchten Zuſtande befände, und ſtatt
nun dieſes glücklichen Zuſtandes froh zu werden,
fühlte ich mich plötzlich von einer Melancholie, von
einer Traurigkeit ergriffen, die durch keine Zerſtreuung
zu beſiegen waren. Ich fing an, mich zu fragen, was
ich denn mit dieſer Ungebundenheit vor den Anderen
voraus hätte, was ich thun oder erreichen könnte, das
ihnen nicht eben ſo erreichbar und möglich wäre.
Und zu meinem Erſtaunen wurde ich es inne, daß ich
nicht freier als die anderen Menſchen ſei, und daß
ich Niemanden hätte, der mich liebte, den ich liebte.
Tage und Wochen quälte ich mich mit dem Gedanken
ab, etwas auszufinden, das mir Freude machen, das
mir einen neuen Genuß bereiten und mich das Glück
meiner Freiheit fühlen laſſen könne. Es reizte mich
nichts, ich hatte Alles gehabt und genoſſen, ich lang—
weilte mich, wo ich war und was ich auch that; und
mitten in den Kreiſen, in denen ich zu leben gewohnt
war, und in denen ich mich bis dahin wohl befunden
hatte, überfiel mich der Gedanke, daß keiner dieſer
Menſchen in meinem Herzen eine weſentliche Lücke
165
laſſen würde, wenn er von der Erde ſchiede, und daß
man an dieſen Kartentiſchen eben ſo eifrig ſpielen, auf
dieſen Divans gerade ſo verlockend liebäugeln, in die⸗
ſen Sälen ganz ſo reizend tanzen und dieſelbe geiſt⸗
reich heitere oder frivol leichtſinnige Unterhaltung
führen würde, wenn man mich auch eben an dem
Tage zur Ruhe beſtattet hätte. Das Gefühl meiner
Einſamkeit wuchtete ſich lähmend und erdrückend auf
mich nieder, und der Gedanke, daß unſer alter Name
mit mir untergehen, daß nicht einmal dieſer Schatten mei⸗
nes Daſeins zurückbleiben würde, vergällte mir die Tage.
Er brach plötzlich ab. Verzeihen Sie, ſagte er,
daß ich Sie ſo lange von mir ſelber unterhalten habe.
Es iſt das auch eine häßliche Selbſtſucht, aber man
wird dieſe böſe Eigenſchaft nicht mehr los, wenn man
ſich ihr durch lange Jahre überlaſſen hat. Sprechen
wir nicht mehr davon. Es ſind alte traurige Erin⸗
nerungen. Ich mag nicht rückwärts denken, ſeit ich
mich alltäglich an der fröhlichen, blühenden Jugend
meines Joſef erfreue.
Er erhob ſich, drückte mir die Hand, als wolle
er ſich für mein Zuhören bedanken, und ging ſeinem
Sohne entgegen, der eben zum Hauſe herauskam, den
gewohnten Abendſpaziergang mit ihm zu machen. —
Drittes Capitel.
Ich konnte in den folgenden Tagen die Erinne⸗
rung an dieſe Mittheilungen nicht los werden, ſie be⸗
ſchäftigten mich ſehr lebhaft, und ich ſtellte mir im
erſten Augenblicke vor, das Boris Michailowitſch ſich
eben in jener Zeit, von der er zuletzt geſprochen, ver—
heirathet haben werde. Aber je mehr ich darüber nach-
dachte, um ſo unwahrſcheinlicher wurde mir dies.
Boris war höchſtens fünfzig oder einundfünfzig Jahre
alt, ich hatte ihn als einen Fünfunddreißigjährigen
und als einen Junggeſellen kennen lernen, und Jofef
ſtand, wie er mir ſelbſt geſagt hatte, im vierund⸗
zwanzigſten Jahre. Er konnte alſo in keinem Falle
ſein rechtmäßiger Sohn ſein, und der Umſtand, daß,
wie ich ſchon bemerkte, von der Mutter nie die Rede
war, beſtärkte mich in dieſer Ueberzeugung. Indeß
während dieſes ganzen Beiſammenſeins erwähnte un⸗
170
ſer Freund ſeiner Vergangenheit nicht wieder, und erſt
ein paar Jahre ſpäter, als er uns in unſerer Hei⸗
math aufſuchte, kam er einmal auf dieſelbe und über⸗
haupt auf ſeine Erlebniſſe zurück. Sein Sohn war
nicht mehr bei ihm, und gleich am erſten Tage, als
wir uns nach demſelben erkundigten, erfuhren wir, in
welcher Weiſe das Verhältniß zwiſchen dem Vater und
dem Sohne ſich ſeitdem entwickelt hatte. Da die Vor⸗
gänge eigenartig ſind, will ich im Zuſammenhange
nacherzählen, was ich in einzelnen Bruchſtücken da⸗
mals von unſerem Freunde mit jenem Anfluge von
Ironie zu hören bekam, die grade ihn ſo vortrefflich
kleidete, weil die Herzensgüte und Kraft ſeiner Natur
ſich darin gleichmäßig offenbarten.
Ich habe Ihnen einmal von dem Trübſinne ge⸗
ſprochen, ſagte er, von welchem ich befallen ward, als
ich merkte, daß ich nicht beſſer wäre als die Anderen
auch, und daß das von mir ſo oft verſpottete bibliſche
Wort: „Es iſt nicht gut, daß der Menſch allein ſei!“
wirklich auch auf mich ſeine Anwendung finde. Natürlich
ſagte ich mir: Du mußt ein Ende damit machen, mein
Lieber! Steige von dem Throne Deiner freien Selbſt⸗ 4
herrlichkeit hernieder, ſieh Dich in der Geſellſchaft um
und nimm Dir eine Frau, damit Du zu einer Familie
171
kommſt und Dein Name fortterbe unter den Gefchlechtern
der Menſchen! — So etwas iſt aber bei Weitem leichter ge⸗
ſagt als gethan, wenn man ſiebenunddreißig Jahre alt
geworden iſt, und die Welt und die Frauen kennen gelernt
hat. Man vernichtet, man erſchießt ſich in einem An⸗
falle von Raſerei, man ſtürzt ſich in einer Aufwallung
von großmüthiger Menſchenliebe in die Flammen,
aber man legt ſich nicht mit ruhiger Ueberlegung auf
einen Roſt, um bei kleinem Feuer allmälig gebraten
zu werden — und ſelbſt in der Hitze des Hazard—
ſpiels habe ich immer zu viel kaltes Blut gehabt, um
einen unverhältnißmäßigen Einſatz auf eine Nummer
zu riskiren. — Stand ich am Morgen auf und ſaß
vor meinem einſamen Frühſtücke, mir gegenüber ſtehend
der Diener, der nur darauf wartete, wann ich gehen
würde, um ſein eigener Herr zu ſein, ſo ſagte ich mir:
eine kleine hübſche Frau, die Dich zärtlich bäte, bei ihr
zu bleiben, und Kinder, die ſich an Deine Kniee klam⸗
merten, um Dich zurückzuhalten, würden Dir den Mor-
gen angenehmer machen. Mittags jedoch, wenn ich ein⸗
ſam auf meinem Spaziergange meinen Gedanken nach—
hing, und Abends, wenn ich mich, ſo wie es mir be—
liebte, in meinem ſtillen Zimmer meinen Studien
überließ, ſprach eine geheime Stimme in mir: Jetzt
172
—
würde Madame in das Bois de Boulogne zu fahren
wünſchen! Jetzt würde Madame noch auf dem Balle
oder in der Soirée zu bleiben begehren, Du aber
würdeſt ihr dabei Geſellſchaft leiſten müſſen, wollteſt
Du Dein Glück und Deine Ehre nicht auf's Spiel ſetzen,
wie jo mancher Andere! und bei der bloßen Vor—
ſtellung an dieſen Zwang fing Madame an, mir äußerſt
unbequem zu werden. Zudem wußte ich, die Wahr-
heit zu geſtehen, ſelbſt nicht, was für eine Frau ich
wünſchte. Die guten häuslichen Frauen — und ich
hatte deren verſchiedene gekannt — hatten nicht nur
mich, ſondern in der Regel auch ihre Männer mit der
Wichtigkeit gelangweilt, die ſie auf das Alltägliche
und Geringfügige legen zu müſſen glauben. Die Frauen
von Geiſt und von weitem Blicke hatten nur zu häufig
das ihnen Zunächſtliegende überſehen und verabſäumt
und waren für alle Welt thätig und angenehm ge⸗
weſen, nur nicht angenehm für ihren Mann und nicht
thätig für ihre Kinder; und die Frauen der ſogenann⸗
ten großen Geſellſchaft hatte ich vielfach — ſoll ich
ſagen zu meinem Vortheil oder zu meinem Nachtheil?
— von ſo leichtlebigen und fo gefälligen Manieren
gefunden, daß ich mich nicht geneigt fühlte, andere
Männer die gleichen angenehmen Erfahrungen auf
173
uteine Koſten machen zu laſſen. Darüber ging ein
Tag nach dem andern hin, meine Geſundheit und
meine Stimmung wurden nicht dadurch gebeſſert, und
weil mein Leben mich nicht freute, fing ich zu glau⸗
ben an, daß es auch nicht mehr lange damit währen
würde. Um ſo beſſer für Dich! ſagte ich mir, bis die
alten Erinnerungen wieder einmal über mich kamen
und der Untergang des alten, ſchönen Namens mir
Bedauern erregte. Es half nicht, wenn ich mir vor⸗
hielt, was dieſer und jener meiner Ahnen gegen Ge⸗
ſetz und Recht und gegen alle Menſchlichkeit ver⸗
brochen hatte. Es war ein alter Name, es war ein
ſchöner Name, es war mein Name und ich wollte ihn
erhalten wiſſen, weil es mich dünkte, als dauerte ich
in ihm ſelber fort. Aber wie das? und durch wen?
Ich konnte nicht fortleben in der gewohnten
Weiſe. Paris, ſeine Geſellſchaft, die große Welt
waren mir unerträglich geworden. Ich vermochte
nicht mehr die Luft auf den Boulevards und auf den
Promenaden zu athmen, auf denen der Leichtſinn und
das Unglück ſich feilbieten und das Laſter ſie kauft.
Ich ließ mir einen Koffer packen und reiſte fort, ohne
Bedienung, allein.
Zum erſten Mal entzückten mich die Eiſenbahnen.
174
Ich fand fie poetiſch, weil ſie mich mit Zauber⸗
ſchnelligkeit von allem demjenigen entfernten, das mir
zuwider geworden. Ich flog an den Orten vorüber,
an denen ich ſonſt mich zu erholen und zu zerſtreuen
gewohnt geweſen war. Baden und Frankfurt, Heidel⸗
berg und München blieben hinter mir zurück, bis ich
mich endlich fragen mußte; Wohin nun? — Ich hatte
keinen Plan, keinen Zweck, keine Pflicht! Ich ſtand
vor meiner Freiheit wie vor einem dunkeln, boden⸗
loſen Abgrunde, und das Einzige, was deutlich aus
ihm emporſtieg, war die Reue, die mich ergriff. Ich
bereute es, mein Vaterland verlaſſen zu haben, ſtatt
mich für daſſelbe nützlich zu machen und mitzuwirken,
wo noch ſo viel zu ſchaffen war. Aber wenn ich an
die Möglichkeit einer Heimkehr, an die Arbeit dachte,
die dort zu leiſten war, fühlte ich in mir nicht mehr den
Muth dazu. Es waren dort jüngere, friſchere Kräfte,
urſprünglichere Naturen nöthig, als ich; Naturen,
die das Glauben und Hoffen noch nicht verlernt hatten,
die noch voll Zutrauen und voll Liebe zu den Men⸗
ſchen waren, an deren Erhebung ſie arbeiten ſollten.
Wie konnte ich, deſſen Vorfahreu ſeit anderthalb
Hundert Jahren nur ihrer Selbſtbefriedigung gelebt
und Enttäuſchungen und Menſchenverachtung als Lohn
175
ihres Servilismus und ihrer Tyrannei geerntet hatten,
ich, der ich ſelbſt meine ſchönſten Jahre in geſchäfti—
gem Müßigange verträumt hatte, herniederſteigen
in die Reihen des Volkes, aus deſſen Erhebung wir
allein die Wiedergeburt der Menſchheit erwarten kön⸗
nen? — Ich war allein mit meinen Gedanken noch
unglücklicher als in der großen Welt; ich war völlig
gemüthskrank, und überſättigter und zugleich leerer
als ich, hat ſich ſchwerlich ein Menſch gefühlt.
So kam ich im Beginne der guten Jahreszeit in
den tiroler Alpen an, nahm einen Führer und ſtrich
planlos von Berg zu Thal, von Thal zu Berg. Die
Größe der Natur, die belebende Luft thaten mir gut.
Ich ward müde am Tage, ich ſchlief in der Nacht,
ich hörte auf, über mich ſelbſt nachzudenken, ich lebte,
wenn ich ſo ſagen darf, ein körperliches Leben, und zu
meinem eigenen Erſtaunen befriedigte es mich. Die
Gebirgsreiſe, welche ich mit meinem Führer zurücklegen
wollen, war beendigt, und ich mochte mich weder von
dieſer Natur, noch von dieſem Menſchen trennen.
Sein einfaches Pflichtgefühl, ſein grader Verſtand und
die Klarheit, mit welcher er die Menſchen aus unſeren
Lebenskreiſen beurtheilte, mit denen er ſeit langen
Jahren zu verkehren gehabt hatte, machten ihn mir
176
werth. Er war bedeutend älter als ich und war un⸗
verheirathet wie ich. Ohne daß ich ihn darum fragte,
erzählte er mir ſein einfaches Geſchick. Er hatte ſeine
Eltern verloren, als er in den erſten Zwanzigen ge⸗
weſen war. Der Vater und die Mutter waren raſch
nach einander geſtorben und hatten ihm einen ſpät
nachgeborenen Bruder hinterlaſſen, der bei dem Tode
der Eltern ein ganz kleiner Junge geweſen war. Den
hatte er aufgezogen, und mit dem hatte er, wie er es
nannte, für ſein Theil genug gehabt. Der Bruder
war aber ein ſchöner, friſcher Junge geweſen, der bei
Zeiten nach einer Frau verlangt und ſich denn auch
ſehr jung verheirathet hatte. Kind auf Kind waren
ihm geboren worden, und er hatte deren bereits fünf
gehabt, vier Mädchen und einen Buben, als er zu⸗
ſammen mit einem Fremden, der in zu ſpäter Jahres⸗
zeit noch eine Bergbeſteigung hatte machen Wake
um's Leben gekommen war.
Nun ſaß das arme Weib mit all den Kindern
und ich konnte ſehen, wie ich mit ihnen durchkam!
ſagte Gaſſer einfach. Sie ſind aber alle geſund und
ſtark, und weil ich ihren Vater wie mein Kind ge⸗
halten, hab' ich nun an ihnen, ſo zu ſagen, das Haus
177
voll Enkel, und habe doch mein Lebenlang kein Weib
gehabt! a
Er lachte bei den Worten herzlich, und da er ſah,
daß ich ihm mit Antheil zuhörte, ſprach er von den
Kindern mit einem Vergnügen und mit einer Liebe, als
wenn es wirklich ſeine Enkel geweſen wären. Ich wurde
neugierig, ſeine Familie kennen zu lernen. Kann ich bei
Euch ein Unterkommen finden für die Nacht? fragte
ich. — Wir haben's nicht im Brauch, entgegnete er;
unſere Betten reichen auch eben nur für uns und
werden Euch zu ſchlecht ſein! Aber wenn Ihr in der
Oberſtube die Nacht auf einer guten Streu zubringen
wollt — Betttücher haben wir — und Brod und
Kaffee iſt im Hauſe. Wollt Ihr mehr, ſo wird's zu
ſchaffen ſein. — Ich erklärte mich mit Allem im vor⸗
aus zufrieden, und als die Sonne ſchon ſtark im
Sinken war, ſtiegen wir von der Höhe in ſein Thal
hinab.
Das Haus lag mit dem Rücken hart am Berge
an. Ein paar alte Bäume ſtanden zur Seite. Ihr
breites Laubdach hielt das Waſſer in der Quelle
friſch, die aus dem Fels hervorkam. Es war Nie⸗
mand zu ſehen. Als der Hund zum Haufe heraus-
ſprang und anſchlug, ſteckte eine Frau, die nahezu
Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 12
178
vierzig Jahre haben mochte, den Kopf durch das
kleine Fenſter und trat in die Thüre, da der Alte ſie
darauf anrief. — Setze Kaffee zum Feuer und ſchicke
mir den Joſef her, ſagte er, der Herr bleibt zu Nacht!
— Die Frau ſah ihn verwundert an, that aber keine
Frage und keine Einwendung; ſie wies mit den Wor⸗
ten: Gefällt's Euch? — nach dem Hauſe, mich zum
Eintritte einzuladen, und nahm dem Alten mein Ge⸗
päck ab. f
In der Stube war's, wie's in allen ſ olchen Stuben iſt:
trübe Fenſterſcheiben, eine unerträgliche Hitze, Schwärme
von Fliegen, eine rieſige Bettſtelle, Tiſch und Bank;
und ſchon fing meine romantiſche Aufwallung mich zu
reuen an. Indeß weiter fortzugehen, war ich zu müde,
und ich mochte auch der Gaſtlichkeit meines Führers
nicht die Kränkung anthun, ſie zu verſchmähen, nach⸗
dem ich ſie gefordert hatte; als ich aber erſt die Nacht
geblieben war, blieb ich auch noch länger.
Was mich feſthielt? Zunächſt das feierliche
Schweigen, in welchem am Morgen unter dem leiſen
Hauche des Windes der Thau von den Aeſten der
Bäume niederträufte; und dann die ſanfte Stille der
Menſchen unter die ich gerathen war. Die Mutter
und ihre vier Töchter, Mädchen von vierzehn bis zu
179
achtzehn Jahren, lauter ſchöne und ſchlanke Geftalten,
gingen bei all ihren Geſchäften ſtill und ohne Haſt
umher. Sie fragten auch mich nicht, was ich wolle
und begehre; ſie brachten mir alles Beſte, was ſie hat-
ten und zu ſchaffen wußten, und ſahen ſie, daß ſie mich
damit zufrieden ſtellten, ſo ſtrahlte eine Genugthuung
aus ihren hellen Augen, daß ich ſelber mich zufrieden fühlte.
Nur Einer machte eine Ausnahme von der übrigen
Familie, aber es war ihm nicht zu widerſtehen in fei-
ner feurigen Lebendigkeit. |
Boris Michailowitſch unterbrach ſich, und fagte
dann mit einem Ausdrucke, den ich mir damals nicht
gleich zu deuten wußte: Nun, Sie haben den Bur⸗
ſchen ja vor drei Jahren kennen lernen und mögen
Sich vorſtellen, was er in ſeinem eilften Jahre geweſen
iſt! Das Ideal eines knabenhaften Antinous! Die
freie, breite Bruſt, der ſchlanke und doch ſtarke Bau
des ganzen Leibes, die weit offenen, blitzenden Augen
und das damals noch goldbraune Haar bei der ſatten
Farbe ſeiner Haut waren auffallend ſchön. Nicht mit zu
lachen, wenn er die vollen Lippen öffnete und ſeine
Zähne ſichtbar wurden, hätte man ein Cato ſein
müſſen, und er hörte nicht auf zu lachen, wie er nicht
aufhörte, zu fragen. Alles erregte ſeine Verwunde—
12*
180
rung: von meinem Reiſeplaid bis zu dem kleinſten
Geräthe in meiner Reiſetoilette. Er ging nicht von
meiner Seite, ich war der erſte Fremde, der in's Haus
kam, ich war ein Wunder für ihn; und da die Frauen
ihm, als dem Jüngſten und dem einzigen Sohne, ſei⸗
nen Willen thaten, drängte er ſie bald alle auf die
Seite, um mich ausſchließlich zu bedienen, ſoweit
ſeine Kraft und ſein Geſchick dafür ausreichten. Von
früh bis ſpät war er an meiner Seite. Er kannte
weit herum die Wege, und Gaſſer ſelber hatte mir
geſagt, daß ich mich, wenn es nicht eben hoch hinauf
gehe, der Führung des Burſchen unbedenklich über⸗
laſſen dürfe. So ſtrichen wir denn die Tage hindurch
in der Gegend umher, und ich fand mehr und mehr
Gefallen an des Knaben Geſellſchaft. Ich hatte mich
niemals mit einem Kinde andauernd beſchäftigt, nie
ein Kind genau beobachtet. Zum erſten Male trat
mir die urſprüngliche Menſchennatur, wie ſie ſich in
einem gutgearteten Kinde offenbart, rein und unver⸗
fälſcht entgegen. Die unſchuldige Freude, die auf⸗
richtige und ſtets ſchnell vorübergehende Traurigkeit
des Knaben bewegten mich zu einer Theilnahme, welche
die größten Kunſtleiſtungen der erſten Bühnenkünſtler
mir nicht mehr erregen konnten. Ich lachte mit
181
Joſef, wie ich ſeit meiner eigenen Kindheit nicht mehr
gelacht hatte; ich lehrte ihn Knabenſpiele, ich empfand
ſelbſt wieder ein Vergnügen an ihnen, und als er an
einem Mittage im Walde, während wir raſteten, an
meiner Seite auf dem Raſen einſchlief, kam eine ganz
neue und mir völlig fremde Empfindung über mich.
Ich zog den Buben an mich heran, ich legte ſein
Haupt auf meine Kniee, ich genoß an dem Anblick
dieſes ſanft ſchlafenden Knaben, den ich bewachte,
eine Freude, ich fühlte eine Wärme in meinem Her⸗
zen, deren ich mich gar nicht mehr für fähig gehalten
hatte. —
Meine Abreiſe war für den nächſten Tag beſtimmt.
Gaſſer ſollte mich zurückführen bis zu dem Punkte,
von welchem ich mit Fuhrwerk in den Bereich der
Eiſenbahnen gelangen konnte; aber als der Morgen
aubrach, als mein Gepäck zuſammengenommen wurde
und ich Allen Lebewohl geſagt hatte, umfaßte Joſef
mit beiden Armen meine Kniee und verſicherte wei-
nend und ſchreiend: ich dürfe nicht fortgehen, ich
dürfe durchaus nicht fortgehen, oder er wolle mit mir
gehen. Die Mutter, der Onkel ſuchten ihn zurückzu⸗
halten, ihn mit tröſtenden Vorſtellungen und endlich
mit drohendem Schelten zu beruhigen. — Scheltet's
182
nur, rief er, ich find' ihn ſchon aus! Wenn Ihr mich
auch zurückhalten thut, ich find' ihn ſchon aus!
Dieſe Anhänglichkeit, ja, ſelbſt ſeine leidenſchaft⸗
liche Wildheit entzückten mich. Laßt ihn noch bis
morgen Abend mit uns gehen, ſagte ich, und ſchon in
der Stunde dämmerte in mir der Gedanke auf, den
Knaben bei mir zu behalten; aber erſt die Lebhaftig⸗
keit, mit welcher er von dem Neuen ergriffen wurde,
das ihm entgegentrat, ſobald er ſeine nächſte Heimath
verlaſſen hatte, beſtimmte meinen Entſchluß. Ich
hatte auf Reiſen mitunter ſehr unterrichtete Freunde,
ſehr liebenswürdige Frauen zu Gefährten gehabt:
Keiner von ihnen allen hatte mich in ſo beſtändiger
Anregung erhalten, als dieſer von Natur begabte und
wißbegierige Knabe. Genug, um es kurz zu machen
L als wir die Berge hinter uns hatten und Gaſſer
mit ſeinem Neffen, nachdem ſie die Nacht mit mir
im Gaſthofe zugebracht, den Heimweg antreten wollte,
machte ich ihm den Vorſchlag, Joſef bei mir zu laſſen,
ſo lange ich im Lande bliebe, und verſprach, ihn, ehe
ich weitergehen würde, ſelber bei der Mutter abzulie⸗
fern oder dem Oheim anzuzeigen, wo ich ſei und von
wo er den Knaben abzuholen habe. 1
Nach kurzer Ueberlezung ging der Alte auf mein
183
Anerbieten ein. Er fand Fremde, die er in das Ge—
birge zu führen hatte, Joſef blieb bei mir, und jenes
Wohlbehagen, das ich zuerſt empfunden hatte, als ich
ihn ſchlafen ſehen, ſteigerte ſich, nun er mir allein
überlaſſen war und gleichſam mir gehörte, mit jedem
Tage. Ich hatte bis dahin nur Dienſte gefordert
und empfangen, nun fing ich an, mich in der Sorge
um den mir anvertrauten Knaben ihm unwillkürlich
dienſtbar zu machen. Ich dachte nicht mehr ganz
ausſchließlich an mich, ich hatte auch für ihn zu den⸗
ken, und während ich mir ſagte, daß es ein rein ſelbſt⸗
ſüchtiger Beweggrund geweſen ſei, der mich bewogen
habe, mir Joſef's erheiternde Geſellſchaft für einige
Tage zu ſichern, war zum erſten Male eine Zuneigung
in meiner Seele erweckt worden, die wie die Liebe
beglückte, ohne wie fie aufzuregen und zu beunruhigen.
Viertes Capitel.
Ich blieb in dem kleinen Curorte, den ich beſuchte,
länger als ich es irgend beabſichtigt hatte, und mußte
mir ſchließlich geſtehen, daß die Scheu, mich von dem
Knaben zu trennen, mich noch immer in dem Bade
feſthielt, als die ganze übrige Geſellſchaft es ſchon
zu verlaſſen begann. Ohne es zu wiſſen und zu wol⸗
len, hatte Joſef mit ſeiner Lernbegierde mich zu ſei⸗
nem Lehrer gemacht. Er wurde nicht müde zu fragen,
und jede meiner Antworten führte ihn vorwärts, wie
meine Sorgfalt für ihn neue Quellen der Zärtlichkeit
in ſeinem Gemüthe eröffnete; denn es iſt ein großer
Unterſchied in der Art und Weiſe, in welcher unſere
Liebe und die Liebe der weniger gebildeten und ver⸗
feinerten Menſchen ſich ausdrückt. Joſef war Anfangs
völlig verwundert, wenn ich ihn mit einem Liebesworte
nannte, aber es machte ſein ganzes Antlitz doch vor
185
Liebe ſtrahlen; und ſchneller noch als fein Verſtand,
entwickelte ſich in meiner Pflege ſein Herz, ſo daß
ich nicht mehr daran denken mochte, ihn von mir zu
thun oder ihn zu entbehren, denn ſeine Liebe für mich,
die ſich ganz leidenſchaftlich zeigte, war mir zu einem
wirklichen Troſte geworden.
Ich ſchrieb denn endlich an ſeinen Onkel, ob er
und die Mutter damit einverſtanden wären, mir den
Knaben zu überlaſſen, für deſſen Erziehung und für
deſſen Fortkommen ich zu ſorgen verſprach. Man
machte Anfangs Einwendungen. Nicht, daß die Mut⸗
ter ihre Liebe und ihre Scheu vor der Trennung eben
hoch angeſchlagen hätte! Man iſt es in jenen Stän-
den gewohnt, daß die Kinder ſich früh auf die eigenen
Füße ſtellen und ihres Weges gehen; aber ſie gab
es zu bedenken, daß Joſef ihr einziger Sohn ſei,
und daß ſie alſo darauf gerechnet habe, in ihm ein⸗
mal ihre Stütze zu finden. Gehe er mit mir, ſo werde
ihm natürlich gar nichts fehlen, er werde jedoch die
Seinigen vergeſſen und die Mutter bleibe dann auf
die Töchter angewieſen, die doch wohl heirathen und
alſo auch nicht ewig bei ihr bleiben würden. — Gegen
dieſe Einwendungen war nun leichtlich Rath zu ſchaf⸗
fen. Ich legte bei den Gerichten eine mäßige Summe
186
nieder, deren Zinſen Joſef's Mutter lebenslang genie⸗
ßen ſollte, und ohne von den Seinen irgend eine feſte
Zuſage zu verlangen, nahm ich nach erhaltener Zu⸗
ſtimmung ihn dann weiter mit mir fort. Ich hatte
noch keine beſtimmten Abſichten mit ihm, und hatte
ich etwa einen dunkeln Plan für ſeine Zukunft, ſo war
es der, ihn in eine Erziehungsanſtalt zu thun, wenn
es mir nicht mehr Vergnügen machen würde, ihn um
mich zu haben, und ihm dann ſpäter einen ihm an⸗
gemeſſenen Lebensweg zu eröffnen.
Indeß gleich von dem Augenblicke an, in welchem
ich mich mit ihm aus ſeinem Heimathlande entfernte,
fing die Sorge für ihn, beſtimmend auf mein eigenes
Leben einzuwirken an. Ich hatte einige Zeit in
Oeſterreich zu bleiben gedacht, aber weil ich wollte,
daß er mit der Landestracht auch den Dialekt ſeiner
Berge baldmöglichſt ablegen ſollte, ging ich mit ihm
nach dem Norden von Deutſchland und zwar zunächſt
nach einer kleineren Stadt, damit die Maſſe der neuen
Eindrücke nicht zu überwältigend auf ihn eindringen
ſollte.
Es war der erſte Winter meines Lebens, den ich
in einer faſt vollſtändigen Einſamkeit zubrachte, allein
mit meinen Studien und mit der Erziehung meines
187
Joſef beſchäftigt, und dieſe Ruhe that mir ungewöhn⸗
lich wohl. Ich fühlte nicht mehr die Raſtloſigkeit,
welche mich ſonſt von einem Orte nach dem anderen
getrieben hatte; ich ließ meinen Diener, ließ einen
Theil meiner Sachen kommen und richtete mich auf
ein längeres Verweilen ein, weil mir dies für meinen
Pflegling als das Gebotene erſchien.
Wie mir der Knabe durch ſeine Hingabe an mich
in das Herz gewachſen iſt, wie die ſchöne Entwicklung
ſeiner Eigenſchaften mich an ihn gefeſſelt hat, will
ich Ihnen nicht ausführlich beſchreiben. Ich konnte
bald nicht mehr ohne ihn ſein, denn ich dankte es ihm,
daß ich eine uneigennützige Liebe kennen lernen und
daß ich um ſeinetwillen wieder mit lebendigen Hoff⸗
nungen in die Zukunft ſah. Je älter er wurde, je
jünger fühlte ich mich in ihm und mit ihm werden.
Ich konnte es vergeſſen, mit welch verachtendem Zwei⸗
fel ich die Menſchheit betrachtet, wenn ich ſah, wie
vertrauensvoll er glaubte; und weil ich mich erinnerte,
wie die finſtere, launenhafte Herbigkeit meines Vaters
meine Jugend verbittert hatte, fing ich an, mich zu
einem Gleichmuthe und zu einer Gemeſſenheit zu ge—
wöhnen, die zu erreichen ich früher nicht für möglich,
oder auch nur für nöthig erachtet hatte.
183
Weil ich den Körper meines Pfleglings anszubil⸗
den wünſchte, wurde ich ſelbſt zu Uebungen und An⸗
ſtrengungen geführt, die ich ſeit Jahren aufgegeben
hatte. Ich machte ſtarke Wege mit ihm, ich ritt, ich
ſchwamm mit ihm, ich kräftigte mich auf's Neue, wäh⸗
rend ich ihn geſund zu erhalten ſtrebte; und wenn ſich
in ihm mit jedem Jahre mehr die Dankbarkeit gegen
mich ſteigerte, ſo wußte er nicht, ja, er konnte es nicht
einmal ahnen, was ich ihm zu danken hatte. Wäh⸗
rend er mich als ſeinen Wohlthäter betrachtete, war
er thatſächlich der meinige geworden, denn der Hin⸗
blick auf ſeine reine und ſchöne Natur hatte mir die
Liebe und das Vertrauen zu der Menſchheit wieder⸗
gegeben. }
Als er achtzehn Jahre alt geworden war und ich
ihn in die Geſellſchaft der großen Hauptſtädte ein⸗
führte, von der ich ſelbſt mich um ſeinetwillen lange
fern gehalten, genoß ich das Wohlgefallen, welches er
erregte, wie einen eigenen Triumph, denn ich durfte
mir ſagen, ſo wie Joſef jetzt iſt, iſt er mein Werk
und mein eigen; und da man ihn überall für meinen
Sohn hielt und ihn wie einen ſolchen liebte, beſchloß
ich nach reiflicher Ueberlegung endlich, ihn auch als
ſolchen anzunehmen. Ich that mir ſelber genug da⸗
189
mit, ich dachte gern daran, in ihm und durch ihn
meinen Namen erhalten und fortgepflanzt zu ſehen,
und von einem Geſchlechte fortgepflanzt zu ſehen, deſſen
Vergangenheit nicht von den ſchwarzen Erinnerungen
befleckt war, welche an dem Andenken meiner Ahnen
hafteten.
Ich war faſt achtundreißig Jahre alt geweſen,
als ich den Knaben mit mir nahm, und es ſtand bei
mir feſt, daß ich mich nicht mehr verheirathen würde,
als ich ihn in ſeinem zwanzigſten Jahre in aller Form
adoptirte. Dieſe Wendung ſeines Geſchickes hatte
Joſef natürlich nie erwarten dürfen, und ich werde es
nicht vergeſſen, wie er, als ich ihm mein Vorhaben
kund gab, in dunkler Röthe aufflammte, einen Augen⸗
blick ſprachlos vor mir ſtehen blieb, um ſich mir
dann unter hervorbrechenden Freudenthränen mit dem
Ausrufe: Ich werde Dir keine Schande machen,
mein Vater, mein geliebter Vater! an die Bruſt zu
werfen. i 8 |
Boris Michailowitſch nahm die Brille ab und
putzte ihre Gläſer mit dem Taſchentuche. Es mochte
ein feuchter Hauch die klaren Kryſtalle getrübt haben.
„Wenn es einen Gott gäbe,“ ſagte er, indem er
die Brille wieder aufſetzte und mich betrachtete, als
190 |
ob ich feine Gefühlswallung etwa wahrgenommen hätte,
wenn es einen Gott gäbe, allgütig und allmächtig,
wie der Glaube ihn ſich vorſtellt, müßte er zugleich
der Inbegriff des höchſten Glückes ſein; denn es iſt
ein wundervoll erhabenes Gefühl, ein Weſen vor ſich
zu ſehen, deſſen Glückesſchöpfer man durch ſeinen
freien Entſchluß geworden iſt. Und ich habe dieſes
Glück genoſſen, völlig ungetrübt. Sie haben es wohl
ſelbſt geſehen, als wir damals im Gebirge ſo uner⸗
wartet zuſammentrafen. Es konnte kein beglückenderes
Verhältniß zwiſchen Sohn und Vater geben, und es
war nicht meines Sohnes Schuld, daß es für eine
gewiſſe, für eine ganz kurze Zeit einmal getrübt
ward.
Vielleicht, ſo hob er mit ſeinem feinen Lächeln
an, vielleicht wiſſen Sie von den Dingen, die ich
Ihnen jetzt zu erzählen habe, eben ſo viel, als ich
ſelbſt, denn Sie ſind ſcharfſichtig, und Joſef hatte ſich
ſehr an Sie angeſchloſſen; aber hätte ich nicht immer
begriffen, welch ein mißlich Ding es um das Plane-
machen iſt, ſo hätte ich es damals lernen können, als
ich eben wieder einmal angefangen hatte, mich jener
unfruchtbaren Beſchäftigung zu überlaſſen.
Es war nämlich von dem Tage ab, an welchem
191
ich Joſef als meinen Sohn erklären laſſen, ein neues
Bedauern über die Heimathloſigkeit in mir rege ge-
worden, zu der ich mich freiwillig verdammt hatte.
Ich hatte den Unſegen dieſer Vogelfreiheit, welche uns
zu Egoiſten macht, weil ſie uns von jedem dauernden
und langſam fördernden, auf ein beſtimmtes Ziel ge⸗
richteten Zuſammenwirken mit Anderen entbindet, an
mir ſelber kennen lernen; ich wünſchte alſo meinen
Sohn davor zu wahren, und da ſich eben in dieſer
Zeit bei uns in Rußland die Aufhebung der Leibeigen⸗
ſchaft vorbereitete und vollzog, wendete ſich mein Blick
dorthin zurück, wo jetzt tüchtigen Kräften und einer
einſichtigen Menſchen⸗ und Vaterlandsliebe plötzlich
ein Feld für eine erſprießliche Thätigkeit eröffnet zu
werden ſchien. Die Güter waren in dem Augenblicke
billig, meiner Rückkehr ſtand nichts mehr im Wege,
meine Schweſter mahnte unabläſſig an dieſelbe, meine
Reiſeluſt und mein Wohlgefallen an meiner ſogenann⸗
ten Freiheit waren gering geworden, und ich betraf mich
zum Oefteren auf Träumereien, die ſich heimwärts
wendeten. Es war häufig zwiſchen mir und meinem
Sohne die Rede davon geweſen, daß ich ihm Rußland,
daß ich ihm die Orte einmal zeigen würde, in denen
ich meine Kindheit und Jugend verlebt hatte; des
192
Ruſſiſchen war er völlig Herr, und da er eine ange⸗
borene Neigung für das Leben in der freien Natur
beſaß und immer gewünſcht hatte, eine Gutswirth⸗
ſchaft zu führen, hatte ich ihn die dahin einſchlagen⸗
den landwirthſchaftlichen Studien auf NE Aka⸗
demieen treiben laſſen.
Fünftes Capitel.
So ſtanden die Sachen, und ich war noch zu
keiner Entſcheidung gelangt, als die Gräfin Alderberg
oben bei uns im Gebirge erſchien. Sie erinnern ſich
des Morgens vielleicht. Wir ſaßen vor dem Hotel
unter der Veranda beim Frühſtück, als der ſchwer
bepackte Wagen vor dem Hauſe hielt und die Gräfin,
ſo wie ſie nur den Fuß zur Erde geſetzt und mich er⸗
blickt hatte, mit der Verſicherung auf mich zueilte, daß
ſie nur hinaufgekommen ſei, um mich einmal wieder⸗
zuſehen, und um mir die Grüße meiner Schweſter zu
bringen, die vor Sehnſucht nach mir gar nicht mehr
leben könne.
Noch ehe ſie in das Haus getreten war, hatte
ich von ihr eine Reihe der auffälligſten Anekdoten er⸗
fahren, die zwiſchen dem Bottniſchen Meerbuſen und dem
Schwarzen Meere von ſchönen Lippen aus einem Saale
Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 13
194
in den andern getragen wurden, und ich konnte mich
ſchon in dieſer erſten Viertelſtunde überzeugen, daß ich
bei dieſer Colportage nicht zu kurz gekommen ſei. In⸗
deß ich kannte die lebhafte Phantaſie meiner reizenden
Landsmännin; ich wußte auch, daß ſie meine Schweſter
ſeit Jahr und Tag nicht mehr geſehen hatte, und
durfte überzeugt ſein, daß meine Anweſenheit in dem
Gebirge unmöglich ein Grund nn fein fonnte, fie
dorthin zu führen.
Ich war froh, als wir ſie unter Dach und Fach
gebracht hatten, was bei ihren nicht geringen An⸗
ſprüchen für ſich und die ſie begleitende Nichte, und
für ihre Dienerſchaft und für ihre beiden Hunde, in
dem überfüllten Hauſe keine Kleinigkeit war; und erſt
als ich im Fortgehen aus ihrem Salon die Augen
noch einmal auf ihre Nichte warf, fiel es mir auf,
welche vollendete Regelmäßigkeit die Geſichtsformen
des ſchweigſamen jungen Mädchens hatten, das ich
bis⸗ dahin vor der phantaſtiſchen Lebendigkeit der Gräfin
kaum gewahr worden war.
Ich mußte unwillkürlich lachen, als ich die Treppe
aus dem erſten Stockwerke zu meiner Wohnung hin⸗
abſtieg, denn die Herzlichkeit, mit welcher die Gräfin
mich, weil es ihr eben jetzt bequem war, ihren Vetter
195
nannte, beluftigte mich, da fo gut wie gar feine Vers
wandtſchaft zwiſchen uns vorhanden war. Anna An-
drajewna war eine Tochter von meines Schwagers
Schweſter und dadurch allerdings die Nichte meiner
Schweſter; aber wenn ich hülfsbedürftig oder in übler
Lage zu ihr gekommen wäre, hätte fie ſich unſerer ſo⸗
genannten Verwandtſchaft vielleicht weniger ſchnell er⸗
innert. Die mehr oder weniger günſtigen Umſtände,
in welchen wir uns befinden, üben nun einmal häufig
einen großen Einfluß auf das Gedächtniß vermögen und
auf den Familienſinn der lieben Unſeren aus. Ich hatte
indeß gar nichts dagegen, mit der Gräfin, die ich kurz nach
ihrer Verheirathung einmal im Auslande flüchtig ken⸗
nen gelernt hatte und die ich dann in Rußland ver-
ſchiedentlich wiedergeſehen, auf das Neue zuſammenzu⸗
treffen, und die Gefahr eines zu langen Verweilens
an demſelben Orte hatte man im Allgemeinen nie von
ihr zu fürchten.
Die Gräfin war eine geborene Fürſtin Agarew
und die Jüngſte von einem Corps von Schweſtern.
Ihr Vater war ein vortrefflicher Soldat geweſen und
frühzeitig geſtorben, ohne ſeiner Frau etwas Anderes
zu hinterlaſſen, als einen glänzenden Namen und die
Sorge für ihre Schaar von Töchtern. Man hatte
13*
196
der Wittwe alſo ein Palaſtamt bei einer der Groß⸗
fürſtinnen ausgemittelt und die ganze Schweſterſchaft
in die Krons⸗Inſtitute zur Erziehung untergebracht.
Aber in den Erziehungs-Anftalten kann man nicht f
ewig bleiben, und Anna Andrajewna, die lebhafteſte
der Schweſtern, die das regelmäßige Leben in dem
Inſtitute vermuthlich ſehr wenig nach ihrem Geſchmack
fand, wird ſich wohl bei Zeiten die Frage aufgewor⸗
fen haben, was aus ihr werden ſolle, wenn ſie ein⸗
mal mit all den glänzenden Zeugniſſen, die ihre leichte
Auffaſſungsgabe ihr eintrug, und mit ihrem großen
Namen aus dem Inſtitute werde ſcheiden müſſen.
Die älteren Schweſtern waren als Hofdamen einge⸗
ſchrieben, und damit war ihnen eine kleine Warte⸗
Penſion und eine mäßige Mitgift für den Fall ihrer
Verheirathung geſichert worden. Eine und die An⸗
dere hatte man allmälig auch an den Mann gebracht;
die übrigen hielten ſich unterdeſſen bei verſchiedenen
Verwandten auf dem Lande auf, des Augenblicks ge⸗
wärtig, der ſie bei einer eintretenden Vacanz in eine
Hofdamenſtelle und nach Petersburg rufen ſollte. Aber
weder die Briefe, welche die verheiratheten Schweſtern
aus den entlegenen Garniſonen und Stationsorten ihrer
Männer ſchrieben, noch die Schilderungen jener ande⸗
197
ren, die im Inneren des Landes auf den Gütern bei
den Verwandten wohnten, machten Anna Andrajewna
Luſt zu einem gleichen Looſe. Sie war bei all ihrer
Jugend und Lebhaftigkeit klug und eine Beobachterin;
ihr Spiegel gab ihr daneben guten Muth, und ſie
hatte es ſehr bald bemerkt, wie der alte Graf Alder-
berg, der Präſident der Prüfungs⸗Commiſſionen für
die weiblichen Erziehungs⸗Anſtalten, ſie achtſam durch
ſeine Lorgnette anſah, ſo oft er ſich zu den Examen
in dem Inſtitute einfand. Ihr gefälliges Organ, ihre
belebte Declamation, die ſie beſtändig und vorzugs⸗
weiſe an ihn richtete, erhielten jedes Mal ſein beſon⸗
deres Lob; die Dankbarkeit, mit welcher ſie dieſes auf⸗
nahm, gab dem alten Herrn eine gute Meinung von
dem Charakter des jungen Mädchens, und als Anna
die Claſſen durchgemacht hatte, war es die Vermitt⸗
lung des Generals, welche ſie als Geſellſchafterin in
das Haus ſeiner verwittweten kranken Schweſter brachte,
bei der er allabendlich ein Plauderſtündchen abzuhal⸗
ten pflegte, ehe er in die Welt und in die Theater
fuhr. Anna Andrajewna machte dort die Honneurs,
und anderthalb Jahr, nachdem ſie die Stelle bei der
Gräfin angetreten hatte, verließ das achtzehnjährige
Mädchen das Haus derſelben, und erſchien plötzlich
198
als Gräfin Alderberg an der Seite ihres hochbetagten
Gatten in der Geſellſchaft und am Hofe.
Der gute Graf, wie Anna ihn beſtändig nannte,
war das Muſter eines greiſen Ehemannes. Seine
junge Frau hatte eine völlige Herrſchaft über ihn,
Alles geſchah, wie ſie es wünſchte; man war viel auf
Reiſen, und er trieb die Rückſicht für ſie ſo weit, mit
einem plötzlichen Tode von dem Leben zu ſcheiden,
noch ehe er angefangen hatte, ſeiner reizenden Gattin
beſchwerlich zu erſcheinen. Nun hatte die ſchöne junge
Wittwe, der das ganze, ſehr bedeutende Vermögen
ihres Mannes zugeſichert worden war, völlig freie
Hand, und ſie benutzte das auf ihre Weiſe. Sie
hatte niemals lebhafte Sinne oder ein beſonders war⸗
mes Herz gehabt; ſie war alſo vor Liebeshändeln,
welche ihr und ihrem Rufe gefährlich werden konnten,
ein⸗ für allemal ſicher. Sie verlangte nach Anbetern,
nicht nach Liebhabern; man brauchte ſie nicht zu lieben,
man mußte ſie nur unterhalten, von ihr ſprechen, mit
ihr allein beſchäftigt ſcheinen und ſich ihr anſchließen,
während man ihr ihre Freiheit ließ; denn jeder Zwang
und jede Gebundenheit waren ihr, wie ſie es einem
Jeden verſicherte, ein- für allemal verhaßt, nachdem
ſie den Reiz der Freiheit erſt gekoſtet hatte. Sie
199
ſchien nur Eine Leidenſchaft zu haben: eine gewiſſe
fröhliche Eitelkeit. Sie wollte auffallen, von ſich re⸗
den machen, überraſchen, und um dies zu thun, ver⸗
fiel ſie auf einen Geiſt des Widerſpruches, der ſie
weiter und weiter trieb und ſie vielleicht zu großen
Thorheiten verleitet haben würde, hätte man ſie für
ein Muſter der Tugend gehalten, was ſie im Grunde
war. Man hatte vorausgeſagt, daß fie ſich bald wie-
der, und gewiß ſehr vortheilhaft, verheirathen werde;
das war genug für ſie, um ſie die glänzendſten Ver⸗
ehrer abweiſen zu machen. Man nahm an, daß ſie ſich
in das Leben der großen Welt ſtürzen, wieder auf Reiſen
gehen und ſich fraglos compromittiren werde — und ſie
zog ſich in Begleitung eines betagten Gelehrten auf eines
ihrer Güter zurück, um ihre Bildung zu vervollſtändigen,
die durch ihre zu frühe Heirath unterbrochen worden war.
Als die Gräfin ein Jahr nach vollendeter Trauer⸗
zeit vom Lande wieder in die Stadt zurückkam, hatte
ſie ihr prächtiges, viel bewundertes und beſungenes
Haar abgeſchnitten, weil, wie ſie ſagte, das Ordnen
ihrer langen Flechten ſie in ihren Studien geſtört
hatte; aber die unzähligen Löckchen, die ſie noch heute
trägt, ſtanden ihr bei ihrer kleinen Statur weit beſſer,
als die großen Friſuren, und zu ihrem kindlichen Ge—
200
fichte bildeten die paradoxen Einfälle, die jetzt, nach⸗
dem ſie ſich als eine gelehrte Frau betrachtete, auf
dem Boden ihres unvollſtändigen Wiſſens immer blitz⸗
ſchnell in die Höhe ſchoſſen, einen ſo beluſtigenden
Gegenſatz, daß man ſie noch reizender fand, als vor⸗
dem. Ohne daß ſie etwas Gründliches gelernt hatte,
ohne eigentlich geiſtreich zu ſein, gelangte ſie in un⸗
ſerer nur auf den Schein geſtellten großen Welt, zu
dem Rufe einer genialen Frau, weil ſie ihre wunder⸗
lichen Fragen und ihre noch wunderlicheren Behaup⸗
tungen den Leuten wie Raketen und Schwärmer ſo
plötzlich an den Kopf warf, daß grade die Ernſthaf⸗
ten und Beſonnenen, davor erſchreckend, ihre Faſſung
verloren und oftmals etwas Verſtändiges gehört zu
haben glaubten, wo im Grunde nur eine Grille aus⸗
geſprochen worden war. Aber Niemand trug ihr dies
nach, denn trotz ihrer Eitelkeit war die Gräfin keine
Egoiſtin, und ſo unvorſichtig ſie ſich, um aufzufallen,
in ihren Aeußerungen über ſich ſelbſt bisweilen gehen
ließ, war ſie unter Verhältniſſen fähig, eine gute und
ſogar eine ſehr verläßliche Freundin für Frauen und
für Männer zu ſein. Sie konnte ſich für die Schön⸗
heit einer Frau neidlos begeiſtern, und da die Gelehr⸗
ten, die ſie gefliſſentlich an ſich zog, ſich von ihr gern
201
ein Stündchen unterhalten ließen, wenn fie vom Den⸗
ken müde waren, fo fanden ſich bald auch die Geijt-
reichſten unſeres Adels und unſerer Hofleute bei Anna
Andrajewna zuſammen, bei der man ſicher war, ſchöne
Frauen und berühmte Männer anzutreffen. Es währte
denn auch gar nicht lange, bis die anſcheinend nur
ihren augenblicklichen Einfällen nachgebende junge Frau
einen der beſuchteſten Salons um ſich verſammelt,
einen gewiſſen Einfluß gewonnen hatte und zu den
Tonangeberinnen von Petersburg gezählt ward. Das
ſteigerte ſich noch, ſeit einer ihrer Anbeter ihr den
Namen einer „Göttin des Unerwarteten“ gegeben
hatte. Mit ſolchem Beinamen gewinnt eine Frau, wenn
ſie ihn anzunehmen und auszunutzen verſteht, eine be⸗
ſondere Stellung, und die Gräfin war geſcheidt genug,
dies einzuſehen. Indeß eine ſolche Auszeichnung hat
auch ihr Beſchwerliches und ihre Gefahren. Sie
mußte jetzt um ſo gefliſſentlicher immer etwas Neues,
etwas Unerwartetes in Scene ſetzen, um ihrem Bei⸗
namen zu entſprechen, und ſo kam ſie denn auch eines
Tages, als man grade mit Gewißheit ihre Heirath
mit dem damaligen franzöſiſchen Geſandten erwartete,
plötzlich mit einem zwölfjährigen, mageren und finſter
ausſehenden Mädchen, der Tochter ihrer älteſten Schwe
202
ſter, angefahren, die fie zu ſich genommen hatte, und
an der ſie ſich, wie ſie aller Welt erzählte, eine Stütze
für ihr einſames Alter erziehen wolle. Das hatte
natürlich in dem Munde einer achtundzwanzigjährigen
und ſehr lebensluſtigen Schönen äußerſt komiſch ge⸗
klungen, und meine Schweſter hatte mir davon einmal
als von einer Thorheit der Gräfin geſchrieben. Da
ich für dieſe aber keine beſondere Theilnahme hegte,
hatte ich der Thatſache nie weiter gedacht. An dem
Tage jedoch, als Anna Andrajewna mit ihrer Beglei⸗
terin bei uns oben ankam, erinnerte ich mich daran,
und als wir an dem Abende an ihrem Theetiſche
ſaßen und das ſchöne Mädchen uns den Thee bereitete,
fragte ich die Gräſin, wie man ſolch eine Frage mit
gleichgültiger Neugier einmal hinwirft: Sagen Sie mir,
ich bitte, man hat mir vor Jahren einmal geſchrieben,
Sie hätten ein häßliches und unangenehmes Mäd⸗
chen zu ſich genommen, was iſt daraus geworden?
Die Gräfin, die, ihre Cigarette rauchend, in einem
| Ruheſeſſel lag, warf den Kopf nach hinten und rief
mit lautem Lachen: O, das ſind Sie! Das bringt
Niemand zu Stande, als Sie, der Sie bei all Ihrem
Geiſte mit Ihrer himmliſchen Naivetät nicht umſonſt
das enfant terrible des Salons geheißen haben!
203
Darja Feodorowna, ich bitte Dich, mein Engel, be—
danke Dich bei Boris Michailowitſch! Das ift un—
vergleichlich, unvergleichlich — und obenein ſo ex
abrupto, und obenein gleich zum Debut! Das iſt
wahrhaft unvergleichlich!
Sie konnte der Ausrufe und des Lachens kein
Ende finden, denn das Lachen ſtand ihr ganz vorzüg⸗
lich; aber Darja Feodorowna blieb ganz gelaſſen bei
ihrer Beſchäftigung und ſagte, ihre ernſthaften Augen
ruhig auf die Tante richtend: Warum lachen Sie dar⸗
über, liebe Tante? Haben Sie doch ſelber mir oft
geſagt, daß ich ein ſehr häßliches und ſehr unliebens⸗
würdiges Kind geweſen ſei, und daß man mich ſogar
in meinem Elternhauſe deshalb hintenangeſetzt habe.
Weil man keine Augen hatte, weil man keinen
Schönheitsſinn beſaß! rief die Gräfin. Aber mit et⸗
was Scharfblick, mit etwas phrenologiſchem Scharfblick
iſt es nicht ſchwer, vorauszuſagen, was aus einem
Kinde werden wird; und wenn man dazu die richtige
Pädagogik anwendet, wenn man alle Kräfte eines Kin⸗
des gleichmäßig entwickelt, kann man nebenher eine
förmliche Umwandlung der Naturanlage bewirken. Ich
habe Darja ohne alle Verweichlichung wie einen Kna⸗
ben erzogen, und fie hat eine anbetenswerthe Geſund—
204
heit dadurch bekommen. Sie weiß nicht, was Nerven
ſind, ſie kennt — im Gegenſatz zu ihrer armen, klei⸗
nen Tante — keine Ermüdung und keinen Schwindel,
keinen Schreck und keine Ahnungen. Sie iſt wie ge⸗
feit, und ich könnte gar nicht leben ohne ſie, die überall
für mich mit ihrer Stärke eintritt, wo meine unglück⸗
lichen Nerven mich im Stiche laſſen. Komm, meine
Darja, küſſe Dein altes Kind! — Ach, Sie glauben
nicht, Boris, wie wir die Rollen getauſcht haben;
Darja iſt jetzt die Frau im Hauſe und ich bin das
Pflegekind!
Die Gräfin ſtreckte dabei ihre Arme nach Darja aus,
und ich war nahe daran, die Art und Weiſe, in wel⸗
cher die Gräfin ſich gehen ließ, geſchmacklos zu fin⸗
den; aber Darja's Gleichmuth bei der ganzen kleinen
Komödie hatte etwas Auffallendes und Anziehendes.
Sie ließ das Gebahren ihrer Pflegemutter ruhig über
ſich ergehen, wie einen Luftzug, der an uns vorüber⸗
ſtreicht. Sie wurde nicht verlegen, nicht geſchmeichelt |
durch die Erwähnung ihrer guten Eigenschaften, ſie
ſah freundlich nach der Gräfin hin, reichte Jedem von
uns ſeine Taſſe Thee, und fing an, mit mir und mit
Joſef von dem Wege zu ſprechen, den man einſchla⸗
gen müſſe, um am bequemſten den Ort im Gebirge
205
zu erreichen, nach dem die Gräfin eigentlich zu gehen
beabſichtigte. |
Als wir die Frauen dann verließen, erkundigte
ſich Joſef, für wie alt ich die Beiden hielte.
Die Gräfin muß in der Mitte der dreißiger
Jahre ſein, und danach würde Darja im neunzehnten
Jahre ſtehen, ſagte ich.
Darja iſt ſchön! meinte er; und ſie hat eine ſo
beſondere Schönheit, daß man ſie immerfort anſehen
muß, um es ſich einzuprägen, wie ſie denn eigentlich
ausſieht, um es ſich klar zu machen, worin ihre Be—
ſonderheit beſteht.
Er ſprach lange von ihr, ſie hatte offenbar einen
großen Eindruck auf ihn gemacht; auch mir war ſie
ſehr anziehend erſchienen, aber wie ausſchließlich ſie
mich beſchäftigt hatte, bemerkte ich erſt, als Joſef an⸗
fing, von all den kleinen Geſchichten zu ſprechen, mit
denen die Gräfin uns unterhalten und die ich voll⸗
kommen überhört hatte. Sie erinnern ſich Darja's zu⸗
verläſſig, denn Sie haben einmal ſelber die Beobachtung
gemacht, daß ſie wie das ideale Urbild einer byzantiſchen
Madonna ausſähe. Die ſcharf gezeichneten Brauen, die
feinen Linien der Naſe und des kleinen Mundes, die großen
Augen mit den breiten Lidern, ſelbſt ihre Hautfarbe
206
hatten etwas durchaus Fremdartiges; und dieſer Ein-
druck der Fremdartigkeit ſteigerte ſich, wenn man ſie
die Obliegenheiten des täglichen Lebens vollbringen
ſah. Mehr noch, als ihre Schönheit aber hatte ihre
ſanfte, volle Altſtimme mich entzückt. Jeder Ton der⸗
ſelben drang tief aus ihrer Bruſt empor. Sie ſprach
dabei gegen die Gewohnheit unſerer ruſſiſchen Frauen
langſam, als wolle ſie der Stimme Zeit laſſen, bei
jedem Worte in dem Ohre des Hörers auszuklingen,
und weil ſie wenig ſprach, achtete man auf dieſes We⸗
nige und konnte bemerken, daß ſie immer etwas Ver⸗
ſtändiges ſagte, immer das Schickliche und das Rich⸗
tige traf.
Sechſtes Capitel.
Wir ſahen die beiden Frauen in der Regel nur
an der Mittagstafel und wenn wir Abends den Thee
bei ihnen tranken, denn die Gräfin kam wenig in das
Freie. Es war mit ihrer leidenſchaftlichen Naturbe⸗
wunderung wie mit allem, was ſie leidenſchaftlich zu
wünſchen oder zu lieben vorgab. Sie war gewöhnlich
damit fertig, wenn fie es ausgeſprochen hatte. Es ge-
nügte ihr alſo vollkommen, zu wiſſen, daß ſie ſich in
einer Gegend befände, die von Anderen bewundert
wurde und die ſie daher auch zu bewundern habe; ſie
wich um deshalb von ihren petersburger Lebensge⸗
wohnheiten nicht ab. Sie wachte in ihren Zimmern
bei ihren ſogenannten Studien und einem höchſt aus⸗
gedehnten Briefwechſel bis tief in die Nächte hinein,
erhob ſich am Morgen erſt, wenn es Zeit war, ſich
für den Mittagstiſch anzukleiden, und zog ſich nach
208
demſelben in ihre Zimmer zurück, weil fie die Sonne
nicht ertragen zu können behauptete. Darja mußte
natürlich dieſe Lebensweiſe theilen, und ſie that das,
ohne ſich im geringſten darüber zu beſchweren. Sie
war immer gleich rückſichtsvoll für die Gräfin, gleich
zutraulich mit Joſef wie mit mir, ſtets bemüht, es uns
neben ihrer Tante bequem zu machen, und völlig ohne
jeden Anſpruch für ſich ſelbſt. Die Folge davon war,
daß man ſich bald gewöhnte, mit ihr wie mit einem
Freunde oder wie mit einer weit älteren Frau zu ver⸗
kehren, und ſie ſchien es denn auch nicht auffallend
zu finden, daß man ihr nicht wie anderen jungen
Mädchen begegnete, ihr nicht ſo huldigte, wie ihre
Schönheit es verdiente. Das war aber im Grunde
ſehr natürlich, weil die Gräfin alle Aufmerkſamkeit
für ſich begehrte, und Jeden, der in ihre Nähe kam,
völlig für ſich in Beſchlag nahm. Sie hatte deß auch
gar kein Hehl, wie denn überhaupt ihre kluge Taktik
darin beſtand, allen nachtheiligen Bemerkungen, die
man etwa über ſie hätte machen können, im voraus
die Spitze abzubrechen, indem ſie ihre Fehler lachend
eingeſtand, und alles dasjenige von ſich offen ausſagte,
was andere Frauen, wenn ſie es empfinden, vorſichtig
verbergen. Sie gab damit dem Ungewöhnlichſten und
209
Gewagteſten den Anſtrich des Unbedachten und des Harm—
loſen, während ſie ihre Rechte doch ſtets im Auge hielt.
Wiſſen Sie, Boris, ſagte ſie plötzlich eines Abends,
nachdem wir etwa vierzehn Tage beiſammen geweſen
waren, ich wundere mich an jedem Morgen, daß ich
es immer noch hier oben, in dieſem abſtracten Natur⸗
genuſſe aushalte, und jeden Abend, daß ich Sie wieder
an meinem Theetiſche ſehe; denn Beides iſt ſo durch—
aus planlos.
Ich fragte ſie, was ſie damit meine.
Ich denke, das iſt leicht verſtändlich! entgegnete
fie. Als ich hier herauf kam, geſchah es aus Neu⸗
gierde. Ich wollte ſehen, was aus Ihnen geworden
wäre; denn Sie werden es wiſſen, als ich bei Ihrer
letzten Rückkehr nach Rußland mit Ihnen zuſammen⸗
traf, hatte ich eine Leidenſchaft für Sie, und wir
Frauen vergeſſen den Mann nicht leicht, der uns ein⸗
mal Liebe eingeflößt hat.
Sie ſagte das hin mit dem Tone und der Miene,
mit welcher man erzählen würde, daß man einmal ein Klei⸗
dungsſtück beſeſſen und aufgehoben oder fortgethan habe,
und ſie ließ mir auch gar keine Zeit, ihr meine große Ueber⸗
raſchung auszudrücken, denn von dieſer vorgeblichen Leiden⸗
ſchaft hatte weder ich noch ſonſt Jemand e gehabt.
Fanny Lewald, Neue Erzählungen.
210
O, Sie haben einen weit größeren Einfluß auf
mein Leben ausgeübt, als Sie wiſſen! fuhr ſie fort;
denn nur Ihr Beiſpiel hat mich, da ich fühlte, daß
ich Ihre Neigung nie für mich gewinnen würde, ſpä⸗
ter dahin gebracht, Darja Feodorowna zu mir zu
nehmen und mir eine Tochter zu erwerben, wie Sie
Sich einen Sohn erworben hatten — durch freie An⸗
eignung. Ich glaube aber, wir haben damit Beide
eine Dummheit gemacht und ohne Vorausſicht für
uns ſelbſt gehandelt.
Dieſe Art der vertraulichen Mittheilung war mir
keinesweges angenehm. Ich weiß nicht, Anna Andra⸗
jewna, entgegnete ich, ob und wie Sie Sich in Ihrer
Wahl und in Ihren Erwartungen getäuſcht haben
mögen; ich kann Ihnen aber verſichern, daß ich mich
meines Joſef's noch an jedem Tage freue.
Ihres Joſef's! Ihres Joſef's! wiederholte ſie,
das Wort betonend. Thun Sie, Sie, der einftige
Vorkämpfer für die Emanzipation der Leibeigenen,
doch wirklich, als ob Joſef Ihr Leibeigner wäre! Wie
lange denken Sie denn, daß er noch Ihr Joſef blei⸗
ben wird? Glauben Sie, daß die Frauen keine Augen
haben, daß Sie keine Empfindung mehr haben, weil
Sie ſelbſt jetzt keinen Anſpruch mehr an dieſe
211
Empfindung zu machen belieben? Ich gebe mich
in Bezug auf Darja keinen ſolchen Einbildungen
hin. Meine Darja wird mich verlaſſen, ſobald ſich
ihr die ihr zuſagende Gelegenheit dazu bieten wird,
eines Anderen Darja zu werden, und Ihr Joſef
wird das Gleiche thun. Was wollen Sie denn auch
mit ihm machen? Sie werden alt, Boris, ſo gut
wie ich. Ihnen wird auch in nicht zu ferner Zeit
die weiche, weibliche Hand fehlen, die Ihnen die
Kiſſen zurecht legt, wenn Ihre jetzigen Rheumatismen
ſich in Gicht verwandelt haben werden. Das iſt keine
Lebensaufgabe für einen Mann, kein Amt für einen
ſolchen Antinous wie Joſef. Dazu wäre ich gut
geweſen, die es früh gelernt hat, einen alten Mann
zu pflegen, oder auch eine ſo gelaſſene Seele wie
Darja. Und auf der anderen Seite bin ich auch nicht
beſſer daran. Was nützt mir Darja eigentlich? Ein
junger Mann wie Joſef würde mir ein weit ange⸗
nehmerer, weit zweckmäßigerer Reiſegefährte ſein, als
dieſes Mädchen mit all ſeiner Liebe und Geduld. Der
lebhafte Frohſinn eines jungen Mannes hat etwas
Verjüngendes; ich bin entzückt von Joſef, ich beneide
Sie um ihn. Ich bin überzeugt, wir haben Beide
eine falſche Wahl gethan: Ihnen fehlte eine Tochter,
14*
212
mir der Sohn! Und um vor dem letzten ehrlichen
Worte nicht zurückzuſchrecken, Ihnen fehlt jetzt mehr
als je die Frau, und ich hätte vielleicht auch klüger
daran gethan, mir nach dem Tode meines alten, guten
Grafen einen jungen Mann zu nehmen. Aber man
hat die Einſicht eben nie zur rechten Zeit!
Sie brach plötzlich, und wie immer lachend, in
den ſonderbaren Bekenntniſſeu ab, nahm eine Cigarette
aus der kleinen Schachtel, die beſtändig auf ihrem Tiſche
ſtand, zündete ſie an und ſagte, während ſie den leich⸗
ten Rauch durch die feinen Naſenlöcher blies: Sehen
Sie, mein Lieber, ich tröſte mich! Man muß ſich
tröſten, wie man kann.
Sie hätte noch lange ſo fortſprechen können,
ohne von mir unterbrochen zu werden, denn ſie hatte
mich in doppeltem Sinne nachdenklich gemacht. Es
lag etwas ſehr Richtiges in ihren Worten. Ich ſel⸗
ber hatte es mir zum Oefteren vorgehalten, daß mein
bisheriges Zuſammenleben mit meinem Sohne nicht
ewig währen könne und würde. Ich hatte bei manchen
Anläſſen an ſeine einſtige Verheirathung gedacht, aber
dieſelbe bei ſeiner Jugend und ſeiner ausſchließlichen
Liebe für mich nicht eben nahe geglaubt, und grade
in dieſem Beiſammenſein mit der ſchönen Darja Feo⸗
213
dorowna hatte die Ruhe, welche er trotz feiner Be—
wunderung für ihre Schönheit ihr gegenüber bewahrte,
mich in der Beziehung ſicher gemacht. Ein paar Ge—
ſchwiſter konnten nicht zutraulicher, nicht harmloſer
mit einander umgehen, als dieſes ſchöne junge Paar.
Es hatte zu verſchiedenen Malen mich höchſt angenehm
berührt, wie fie einander in den kleinen Mühewaltun⸗
gen für die Gräfin und für mich behülflich waren,
wie ſie mit einander in dem guten Willen und der
Rückſicht für uns zu wetteifern ſchienen. Es hatte
ſich ganz unmerklich eine Art von Familienleben und
von Häuslichkeit zwiſchen uns ausgebildet, und ich
ertappte mich bisweilen auf dem Wunſche, daß dieſes
Beiſammenſein ſich zu einem dauernden geſtalten möge.
Mein Wohlgefallen an Darja wuchs mit jedem Tage;
die Gräfin behauptete, nie heiterer geweſen zu ſein,
als hier oben im Gebirge, Darja war die Anmuth
ſelber, und Joſef ſchien mehr und mehr von ihrer
Schönheit und von ihrem ſanft entſchloſſenen Weſen
hingenommen zu werden. In dieſer ruhigen Weiſe
noch ein paar Jahre auf Reiſen zu verleben, danach
Darja mit Joſef zu verheirathen und mit ihnen zu⸗
ſammen mich in der Heimath niederzulaſſen, das er—
ſchien mir eben ſo wünſchenswerth als verſtändig und
214
ausführbar; aber mitten in dieſen angenehmen Zuſtänden
fingen die Verhältniſſe zwiſchen uns ſich in einer Anfangs
kaum merklichen Weiſe zu wandeln und zu verſchieben an. |
Die Gräfin beſaß im höchſten Grade jenes Sich-
gehenlaſſen, in welchem reife Frauen ſich jüngeren
Männern gegenüber ſo wohl gefallen, und übte dieſes
auch gegen Joſef aus. Sie ſtellte ſich damit über
ihn und gleichſam außer den Bereich ſeiner freiwilli⸗
gen Huldigungen, um dadurch doppelt begehren zu
können, was ihr gut dünkte. Sie nannte ihn bei ſei⸗
nem Taufnamen, nannte ihn bisweilen auch „mein
Kind,“ und wäre er ihr Pflegeſohn wie Darja ihre
Pflegetochter geweſen, ſo hätte ſie die Beiden nicht
auf gleicherem Fuße behandeln können. Ich bemerkte
das natürlich, aber von meinen Wünſchen beherrſcht,
erregte die wachſende Vertraulichkeit zwiſchen Joſef
und der Gräfin in mir nur die Vermuthung, daß
auch Anna Andrajewna an eine Verbindung zwiſchen
unſeren Pflegekindern denke, und ich fand es in der
Ordnung, daß Joſef ſich ihr eben deshalb angenehm
zu machen ſuchte.
Indeß je länger wir beiſammen waren, deſto
ausſchließlicher nahm ſie ihn für ſich in Beſchlag;
215
ſie fing an, ihm das Gute, das fie von ihm dachte,
in das Geſicht zu ſagen, ſie ſchmeichelte ihm wie
einem Kinde und reizte ihn doch wie einen Mann,
ſo daß die Aeußerungen, welche ſie damals gegen
mich über ihr verfehltes Leben und über Joſef ge⸗
than hatte, mir allmälig in einem bedenklichen Zu⸗
ſammenhange mit ihrer jetzigen Handlungsweiſe zu
erſcheinen begannen. Ich hatte bis dahin geglaubt
— wir Männer ſind ja alle eitel, ſobald wir den
Frauen gegenüber ſtehen — Anna Andrajewna habe
ein Doppelſpiel im Sinne, und des Wittwenſtandes
wie der Geſellſchaft Darja's müde, hege fie die Ab-
ſicht, unſere Pflegekinder mit einander zu verheirathen,
um dann vielleicht ihre Freiheit mir zum Opfer zu
bringen; und ſie gefiel mir in der That jetzt beſſer, als
in früheren Zeiten, denn der Grund ihres Charakters
war ein durchweg guter. Nun aber wendeten ſich meine
Vermuthungen nach einer anderen Seite, und einmal
aufmerkſam geworden, fand ich täglich Beſtätigungen
dafür, daß nicht ich es war, auf den die Gräfin ihr
Augenmerk gerichtet hatte. Sie ließ Joſef kaum mehr
von ſich, und mit ihrem unverkennbaren Wohlgefallen
an ſeiner Geſellſchaft ſchien ihr Darja's Anweſenheit
unbequem zu werden. Sie klagte darüber, daß ihre
216
Nichte ſchwerlebig ſei, daß Darja durchaus nichts mit
ſich ſelber anzufangen wiſſe, daß ſie keine eigenen
Einfälle, keine eigenen Lebenszwecke habe, und daß
ſich an ihr eine Uebellaunigkeit bemerklich mache, die
ſich wie ein erkältender Nebel auf jede gute Stim⸗
mung der Anderen lege. Sie meinte, Darja ſei krank,
ſprach davon, ſie nach einem Curorte zu ſchicken, und
auch ich und Joſef hatten die Veränderung wahrge⸗
nommen, welche mit dem ſchönen Mädchen vorging;
aber wir hatten ſie Beide auf die ſitzende Lebensweiſe
geſchoben, zu welcher Darja neben ihrer Tante ver⸗
dammt war. Joſef hatte ſogar verſchiedene Verſuche
gemacht, Darja zu unſeren Spaziergängen heranzuzie⸗
hen; ſeine Vorſchläge waren jedoch beſtändig mit einer
auffallenden Kälte, ja, in einer höhniſchen Weiſe zu⸗
rückgewieſen worden. Er hatte das ſchwer empfunden,
hatte ſich fern von ihr gehalten; das war Darja nicht
entgangen, und es war eine Verſtimmung zwiſchen
den jungen Leuten eingetreten, die ſchnell zunahm und
nur noch ſelten durch eine Rückkehr zu dem früheren
guten Einvernehmen unterbrochen wurde. Darja
wurde immer abgeſchloſſener, die Gräfin, immer hei⸗
terer. Es war natürlich, daß Joſef ſich beſſer mit der
Tante als mit der Nichte unterhielt, und eben fo na⸗
217
türlich, daß dieſe meine Gefährtin wurde, wenn bie
beiden Anderen ein ſo vollkommenes Genüge an einan⸗
der fanden. Joſef fing über Darja im Tone der Gräfin
zu klagen an; auch er nannte ſie launenhaft und ge⸗
müthlos, auch er behauptete, daß es mit ihr ſchwer
zu leben ſein müſſe, ja, er warf ihr endlich vor, daß
ſie ihn gefliſſentlich kränke und verletze — und ich
ſah in dem Allem nur den Einfluß, den die Gräfin über ihn
gewonnen hatte, und dem ich ein Ende machen mußte.
Es iſt jedoch immer ein ſehr bedenkliches Ding, ein
ſolches Abenteuer durch eine plötzliche Trennung zu
unterbrechen, wenn die Fluth gerade im Steigen iſt;
ich verſuchte alſo, durch ein geſchicktes Laviren den
Planen der Gräfin entgegen zu ſteuern, und Joſef's
Freude an allen Bergpartieen bot mir dafür eine gute
Handhabe. Wir waren oft mehrere Tage abweſend,
und einmal eben erſt aus dem Hochgebirge heimge—
kehrt, als wir uns vorſetzten, eine der herrlichen
Mondſcheinnächte zur Beſteigung der nahen Felſen zu
benutzen und dort oben die Sonne aufgehen zu ſehen.
Als wir vor den beiden Damen davon ſprachen und
es erwähnten, wie wir danach am Morgen unſer
Frühſtück in dem Baumesſchatten des Quellgrundes
einnehmen, und zur Mittagstafel wieder zurück in un⸗
218
ferem Gafthofe fein wollten, rief Darja, einmal aus
ihrer Verſchloſſenheit hervorgehend, lebhaft aus: Ach,
eine ſolche Nacht, ein ſolcher Morgen im Freien, wie
beneide ich Sie darum!
So kommen Sie mit! fiel Joſef augenblicklich ein.
Sie aber ſchüttelte verneinend den ſchönen Kopf
und meinte, das ſei nichts für ihre Tante, ſolche An⸗
ſtrengungen ertrage und liebe ihre Tante nicht.
Machen Sie die Partie ohne die Gräfin mit! ſchlug
ich vor, weil das arme Mädchen wirklich in der herr-
lichſten Gegend wie eine halbe Gefangene lebte. Wir
brechen eine Stunde vor Mitternacht von hier auf,
und ehe die Gräfin ſich erhebt, ſind wir wieder hier
an Ort und Stelle.
Darja ſah die Tante fragend an; dieſe behauptete,
daß ſie nichts dawider habe, ihre Nichte mit uns
gehen zu laſſen, wenn ich und Joſef — ſie betonte
dieſes Letzteren Namen ganz ausdrücklich — die Be⸗
gleitung ihrer Nichte wünſchten; aber ſie war offenbar
empfindlich, und da Joſef bereits gewöhnt war, ſich
ihr zu fügen, ſagte er ſchnell entſchloſſen:
Laſſen Sie das Fräulein mit meinem Vater
gehen, ich will bei Ihnen bleiben, Frau Gräfin, wenn
ͤ— — EEE
219
Sie es nicht vorziehen, was noch viel ſchöner wäre,
uns mit dem Fräulein zu begleiten.
Die Gräfin lächelte. Sie vergeſſen, mein Kind,
entgegnete ſie, daß ich nicht jung bin, wie Sie und
Darja, und nichts weniger als abgehärtet. Ich würde
auf halbem Wege liegen bleiben.
Aber wer denkt daran, daß Sie gehen ſollen!
wendete Joſef ihr mit Eifer ein. Wir nehmen vier
Träger, die Sie abwechſelnd tragen...
Und auf dem Trageſeſſel, in dem Halblichte des
Mondſcheins, komme ich vor Schwindel um! verſicherte
die Gräfin.
Sie ſollen keinen Schwindel fühlen, Gräfin! be⸗
theuerte er. Ich werde mich immer neben Ihnen an
der Seite des Abhanges halten; und wollen Sie Sich
denn nicht tragen laſſen, ſo will ich vor Ihnen her⸗
gehen, daß Sie Sich in jedem Augenblicke auf mich
ſtützen können, während die Führer Sie halten. Der
Weg iſt obenein ohne alle und jede Gefahr. Sie
müſſen durchaus dabei ſein! — Sie und Darja Feo⸗
dorowna wiſſen ja noch gar nicht, was eine Mond-
nacht in den Bergen iſt, und wenn Ihnen dann da
oben die Elfenkönigin erſcheinen wird, jo...
Nun, was dann? unterbrach ihn die Gräfin,
220
welcher feine dringenden Bitten eben fo wohl zu ge=
fallen ſchienen, als fie mir überraſchend waren. Sie
ſah ihn dabei mit ihren ſchönen, halb geſchloſſenen f
Augen langſam taſtend an, ſo daß er die Farbe wech⸗
ſelte, und ſich zu ihr neigend, um dieſem Blicke zu
entgehen, ergriff er ihre Hand, führte ſie an ſeine
Lippen und ſagte haſtig: Wenn ſie Sie ſieht, wird
die Elfenkönigin ſagen: Ich danke ab!
Er war dabei wie erſchrocken über ſich ſelbſt und
trat ſchnell von der Gräfin wieder fort. Sie war
aber in allerbeſter Laune. |
Das iſt nicht übel für einen Anfänger! meinte
ſie. Man merkt es, Ihr Joſef iſt bei Ihnen in einer
guten Schule geweſen, Boris Michailowitſch! Nun,
Sie ſollen ſehen, daß ich nicht leicht ein Spiel ver⸗
derbe. Ich gebe mich gefangen; machen Sie mit
mir, was Sie wollen! Beſtellen Sie Führer, Träger,
wie es Ihnen gut ſcheint! Mein Teſtament iſt längſt
gemacht!
Sie erhob ſich mit den Worten von ihrem Ruhe⸗
bette, reichte ihrer Nichte die Hand und fragte, ob ſie
nicht eine kleine, willfährige Tante ſei. Indeß Darja
verzog keine Miene, ſagte kein Wort des Dankes, und
auch Joſef's Verſicherung, daß er ſich auf die nächt-
221
liche Wanderung von Herzen freue, fand bei ihr fei-
nen Wiederhall. Es war nach der heiteren Erregung
plötzlich eine noch größere Geſpanntheit in unſeren
Anfangs ſo gut geſtimmten Kreis gekommen, und
dieſe gab ſich auch am nächſten Tage dadurch kund,
daß Darja ſich ausſchließlich zu mir hielt, während
die Gräfin Joſef gar nicht mehr entbehren konnte.
Sie hatte ſich unabläſſig bei ihm über die höchſt all⸗
täglichen Vorkehrungen zu erkundigen, die für ſie und
ihre Bequemlichkeit getroffen würden, ſie nahm ihn ſo⸗
gar einmal allein in ihre Zimmer mit hinauf, um ihm
von ihrer Kammerfrau die Bergſtiefel zeigen zu laſſen,
die ſie mit ſich führte, und Joſef gab ſich mit einer
Gefliſſenheit ihrem Dienſte hin, der viel zu auffallend
war, um mir völlig natürlich zu erſcheinen.
Siebentes Capitel.
So kam denn der Vollmond und mit ihm unſere
Mondſcheinpartie heran, und ich brauche Ihnen nicht
zu ſagen, wie die Gräfin auf dem Wege meinen Sohn
für ſich in Anſpruch nahm. Anfangs verſuchte er
ſeine Aufmerkſamkeit zwiſchen ihr und uns beiden An⸗
deren zu theilen. Er war gewohnt, mir ſeinen Arm zu
bieten, wenn die Pfade ſteil anſtiegen; ich bemerkte
auch, daß er plötzlich von der Seite der Gräfin, welche
ſich tragen ließ, fortſprang, um Darja die Hand
zu reichen, ſo oft irgend ein Hinderniß auf dem Wege
oder ein tieferer Abhang bedrohlich für ſie ſein konnte,
aber ſie wies ſeine Hülfe kurz zurück.
Kümmern Sie Sich nicht um mich, ſorgen Sie
für die Gräfin, die Ihnen zu Liebe ſich überwunden
hat und mitgekommen iſt. Ich bedarf keiner Hülfe,
ich bin meiner ſehr gewiß! ſagte ſie und eilte bei den
223
Worten, da der Weg ſich eben ſenkte, mit der Xeich-
tigkeit des Rehes den ziemlich ſchmalen Pfad hinab.
Inzwiſchen hatte auch die Gräfin ſchon ängſtlich
nach ihrem Ritter gerufen, und da ich zu fürchten
anfing, daß Darja, um ihre Selbſtſtändigkeit zu be⸗
weiſen, eine Unvorſichtigkeit begehen möchte, die ihr
gefährlich werden konnte, eilte ich, ihr nachzukommen.
Als ich ſie erreichte, ſtand ſie auf der Balkenbrücke,
welche die beiden Felswände überſpannt, zwiſchen de⸗
nen der Kaltenbach zu Thale ſchießt. Sie hatte ihren
Mantel über das Geländer geworfen und ſah, den
Kopf auf den Arm geſtützt, in die flimmernde, webende
Nacht hinaus. Erſt als ich die Brücke betrat, bemerkte
ſie mein Kommen, und da ſie ihr Antlitz zu mir wen⸗
dete, jo daß das Mondlicht jeden ihrer Züge hell be-
leuchtete, fiel mir der ſchwermüthige Ausdruck in den⸗
ſelben auf. Ich ſagte ihr, daß ſie Unrecht thue, in
dem unſicheren Lichte auf dem ihr fremden Wege ſo
weit voraus zu gehen, und daß es gefährlich ſei, eine
Höhe hinab zu laufen, deren Abhang man nicht kenne.
Sie konnten Schaden nehmen, konnten ausgleiten, in
eine falſche Richtung kommen und, nicht Herr über
Ihren Lauf, elend zu Grunde gehen! warnte ich.
Was thäte das? meinte ſie. Aber mir wird nichts
224
geſchehen. Menſchen wie ich haben Glück! e ſie
ſchnell darauf hinzu.
Was ſoll das heißen? fragte ich.
Sie zögerte eine kleine Weile, dann ſagte ſie:
Meine Mutter pflegte immer zu behaupten, die Ein⸗
ſamen hätten es am beſten, deren nähme Gott ſich an.
Sind Sie denn einſam, Darja?
Sie antwortete mir auf dieſe Frage nicht, ſon⸗
dern machte ablenkend eine Bemerkung über eine
Wolke, welche in dem Augenblicke, phantaſtiſch geſtal⸗
tet, über den Mond hinwegglitt, und ich mochte ſie
nicht zu Geſtändniſſen verleiten, die gethan zu haben ſie
ſpäter bereuen konnte; aber ich nahm ihren Arm in den
meinen, und wir ſchritten nun wieder, langſam em⸗
porſteigend, die Höhe hinan. Eine Weile ſprachen
wir Beide nicht, dann, als wir einmal raſtend ſtehen
blieben, ſagte Darja plötzlich: Ich möchte nicht, daß
Sie übel von mir dächten, daß Sie mich für undank⸗
bar halten könnten; ich habe vorhin Niemandem einen
Vorwurf machen wollen; aber ich weiß ſelbſt nicht,
worin es liegt, ich bin ſeit einiger Zeit von einer
Schwermuth, von einer Traurigkeit befallen, in der
ich mich ſelbſt nicht wiederkenne. Ich glaube, die
Landeskrankheit, das Heimweh, hat ſich meiner bemächtigt.
225
Ich habe eine Sehnſucht, nach Rußland zurüdzufom-
men — eine Sehnſucht, als ob ich dorten eine Hei-
math hätte.
Und haben Sie die nicht? fragte ich, um ſie jetzt im
Strome ihrer Mittheilungen nicht ſtocken zu machen,
da ich fühlte, daß ſie ihr Bedürfniß waren.
Wo ſollte ich ſie haben? entgegnete ſie. Meine
Eltern haben mich zu meinem Beſten ſo glaubten ſie
gewiß aufgegeben. Mein Vater iſt ſeitdem geſtorben,
meine Mutter hat ſich wieder verheirathet, ich kenne
ihren Mann nicht, ich bin nie an dem Orte geweſen, an
welchem ſie jetzt mit ihm lebt. Und die Tante? —
Nun ja, ſie beſitzt ein Haus in Moskau und hat ihre
Güter, aber ſie iſt heimathlos, heimathlos in einem
Grade, der mich, an ihrer Stelle, auf die Dauer zur
Verzweiflung bringen würde. Ewig in Geſellſchaft, ewig
auf Reiſen, immer unter Fremdenzu ſein das iſt gar zu öde.
Sie denken es nicht aus, wie ich ſie müde bin, dieſe
großen Portale der Gaſthöfe mit den kalten, die Rei⸗
ſenden gierig prüfenden Geſichtern ihrer Wir“ he und
Kellner! — Wie ich ſie müde bin, die Säle der Bade—
orte und der Reſidenzen, und die Speiſezimmer der
Hötels, und die neuen Bekanntſchaften, und alle die
Mühe und Unruhe, mit der wir uns zu entfliehen
Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 15
226
trachten! — Ach, nicht das kleinſte Haus hier ſehe
ich an, ohne zu denken: dieſe beiden Stuben unter
dem niederen Dache, dieſer Baum vor der Thüre in
dem kleinen Gitter — wie würde ich ſie lieben, wenn
ich da bleiben, wenn ich ſie alle Tage und alle Tage
ſehen, wenn ich ſie mein, meine Heimath nennen könnte,
und ſicher wäre, hier Ruhe zu finden, endlich einmal
Ruhe! Ruhe und ſtille Einkehr in mich ſelbſt!
So plötzlich wie ſie zu ſprechen angefangen hatte,
brach ſie in ihrer Rede ab. Sie war offenbar er⸗
ſchrocken über ſich ſelbſt und über den Einblick, den
ſie mir unaufgefordert in ihr Inneres und in ihr
Verhältniß zu ihrer Tante gewährt hatte, und in der
That war ich durch dieſen Herzenserguß ſeltſam über⸗
raſcht worden. Daß die beiden Frauen ſehr verſchie⸗
den geartet waren, darüber konnte Niemand ſich täu⸗
ſchen, daß aber Darja ſich unglücklich neben ihrer
Tante fühlte, hatte ich lange zu glauben angeſtanden.
Andererſeits lag in des Mädchens Verlangen nach
Raſt und Ruhe ein Etwas, das ich ſehr wohl nach
empfinden konnte, wenn ſchon dieſes Bedürfniß ſich
erſt jetzt, erſt ſpät bei mir geltend zu machen begann.
Ja, wenn ich mich in meinem tiefſten Innern fragte,
ſo war der Wunſch nach einer gleichmäßig ruhigen
227
Häuslichkeit in mir nie ſo lebhaft geweſen, als ſeit
der Anweſenheit der Gräfin, als ſeit wir die Abende
an ihrem Theetiſche in der ſanften Geſellſchaft ihrer
Nichte zubrachten. Selbſt jetzt, da ich an Darja's
Seite durch die zauberhaft ſchöne Nacht hinging, that
es mir leid, ſie nicht in ihrem ſtillen, häuslichen Walten
vor mir zu ſehen; doch hatte auch dieſer einſame
Gang mit ihr ſeinen großen Reiz für mich. Ich fand
einen beſonderen Genuß daran, ſie zu führen, ſie vor
den Unebenheiten des Weges zu warnen, es zu empfin⸗
den, wie ihr Arm ſich feſter auf den meinen zu ſtützen
begann, je weiter wir gingen; und als dann der Weg
immer ſchmaler und ſteiler wurde, als ſie ſtark anſteigend
vor mir einherſchritt, weil man nur einzeln vorwärts
kommen konnte, entzückten mich die Schönheit ihrer
Geſtalt und die anmuthige Sicherheit ihrer Bewegun—
gen auf das Neue. Ich wartete mit Spannung dar⸗
auf, ob ſie ſich nicht umwenden, ob ich ihr Antlitz
nicht wieder im Glanze des Mondſcheines vor mir
leuchten ſehen würde, und wenn ſie ſich dann mit irgend
einem Ausrufe ihrer weichen Stimme an mich richtete,
dachte ich unwillkürlich: die Gräfin hat Recht gehabt
Die Adoption eines Mädchens wäre beglückender
für mich geweſen, als die eines jungen Mannes!
15
Achtes Capitel.
Es war ein köſtlicher Augenblick, als ich mit
Darja endlich die Höhe des Berges erreicht hatte.
Die Träger mit der Gräfin, und Joſef, der ſie nicht
verlaſſen durfte, waren noch weit hinter uns zurück⸗
geblieben, wir hatten die ganze Feier des erſten Ein⸗
druckes für uns allein. Der Mond ſtand hoch im
Zenithe über uns, die Luft war ſo durchſichtig klar,
daß man die Sterne in ihrem verſchiedenen Lichte
deutlich brennen ſah, und ſelbſt auf der Höhe regte
kein Windhauch ſich. Von dem einſamen, nackten
Grat des Felſens ſahen wir hinüber zu den ſchnee⸗
bedeckten Berggipfeln jenſeit des Waſſers, und aus
dem Waſſer glänzten in zauberhaftem Wiederſcheine die
Sterne des Himmels, und die Brücke, welche die gol-
denen Mondesſtrahlen von einem Ufer nach dem an⸗
deren ſpannte, noch einmal wieder zu uns empor.
229
Die lautloſe Stille, das Alleinſein in der Natur haben
etwas Ueberwältigendes. Der Menſch ſinkt davor in
ſich zuſammen und fühlt ſich doch gleich wieder weit
über ſich hinausgehoben. Mir war dieſer Eindruck
ein vertrauter; Darja aber, die ihn zum erſten Mal
erlebte, ward davon tief erſchüttert. Sie war keines
Wortes mächtig, ſie breitete ihre Arme wie vor Ent⸗
zückung aus und ließ ſie dann leiſe niederſinken, um
die gefalteten Hände an die Bruſt zu drücken. Die
tiefe Innerlichkeit ihrer Natur gab ſich auch diesmal
wieder kund, und wie ſie ſo daſtand in anbetendem
Schauen verſunken, regten ſich in meinem Herzen eine
ſolche Zärtlichkeit und Bewunderung für ſie, daß ich
die Gräfin um ſie beneidete. Weshalb hat das Schick—
ſal mir die dauernde Nähe dieſes Mädchens verſagt,
weshalb iſt mir nicht eine Tochter wie ſie zu Theil
geworden? fragte ich mich, und wie ich meine Hand
auf ihre gefalteten Hände legte, war es, als errathe
ſie, was in mir vorging, denn ſie ergriff ſie und
drückte ſie an ihre Lippen.
Darja, ſagte ich betroffen und gerührt, Darja,
was thun Sie?
Ach, rief ſie, es iſt zu groß, zu viel, das Herz iſt
230
mir zu voll! und in Thränen ausbrechend, warf fie
ſich an meine Bruſt.
Da — lachen Sie immerhin über den Phanta⸗
ſten, über den Phantaſten, der ſich ſeiner Wärme auch
heute noch nicht ſchämt — da zuckte ein Feuer, ein
beſeligendes Feuer in meinem Herzen auf; lange, lange
Jahre verſanken vor mir, als wären ſie niemals da⸗
geweſen, ich ſchloß das ſchöne Mädchen in meine
Arme, ich küßte ſeine Stirn, ſein Haar, ich war
ſprachlos wie Darja ſelber, ich war ſo jung wie ſie,
und ich hätte, ich weiß nicht was dafür gegeben, hätte
in dem Augenblicke nicht Joſef's lauter Anruf zu uns
emporgeſchallt, wäre nicht eben jetzt die ganze Kara⸗
wane der Gräfin auf der Höhe angelangt.
Darja richtete ſich ſchnell empor, aber ich hielt
ihre Rechte noch in der meinen, und ich ſah es, wie
weich ihre Züge waren, wie liebevoll ihr Auge ſtrahlte,
als Joſef mit der Frage an ſie herantrat, ob er ihr
von der Herrlichkeit hier oben zu viel geſagt habe.
O, nein, rief ſie und reichte auch ihm die Hand,
ſo daß wir durch ſie verbunden waren, o nein!
und ich danke Ihnen, denn Ihnen ſchulde ich es, daß
mir dieſe Offenbarung der erhabenſten Natur zu Theil
231
wird! Ihnen Beiden, fette fie hinzu, und ich werde
Ihnen das auch nie vergeſſen!
Und mir dankſt Du nichts, Du Undankbare? fiel
die Gräfin ihr in die Rede. Mir, die vielleicht mit
Tagen und Tagen voll Nervenleiden dieſe tolle Unter⸗
nehmung büßen wird, die ich höchſt unnöthig und gar
nicht lohnend finden würde, hätte mir Joſef nicht ſo
gute Geſellſchaft geleiſtet. Ihren Arm, Joſef! rief
ſie, indem ſie, ſich auf ihn lehnend, einige Schritte
gegen die Vorderſeite des Felſens that. Laſſen Sie
uns ſehen, was es hier zu ſehen giebt, und gönnen
Sie Ihrem Vater und Darja, die wie für einander
geſchaffen ſind, ſich in Empfindſamkeiten zu berau⸗
ſchen. — Sie hielt ſich dabei ihr Glas vor die Augen
und ſagte, nachdem ſie ein wenig umgeblickt hatte:
Was iſt denn hier zu ſehen? Nebel, Nebel! und
der See und ein paar unbeſtimmte Berglinien, die
man am Tage weit beſſer unterſcheidet, ein klarer
Himmel, den man von unten eben ſo gut bewundern
kann, und Mondſchein, der auch überall derſelbe iſt!
In der That, das Spiel iſt den Einſatz nicht werth,
und dazu wird es kalt! Ihre verheißene Elfenkönigin
läßt ſich nicht ſehen, Joſef, und Darja's Sentimen⸗
talität fängt Sie Alle zu erfaſſen an! Das iſt lang⸗
232
weilig, meine Freunde! Laſſen Sie die Körbe öffnen,
Joſef! Gießen Sie uns von dem Milchpunſch ein,
den ich proſaiſches Weſen glücklicher Weiſe mit hinauf
beordert habe! Darja, hilf unſerm jungen Freunde,
ich bin müde, ich bin hungrig, und mich dürſtet!
Sie war offenbar höchlich zufrieden mit ſich und
der Partie, aber zum erſten Mal ſeit unſerem dies⸗
jährigen Zuſammentreffen war ſie mir nicht angenehm.
Jeder Ton, jedes ihrer Worte beleidigte mich in mei⸗
ner Stimmung. Es that mir förmlich weh, daß Darja
ihr gehorchte, ihr gehorchen mußte, und grade heute
ſchien die Gräfin ein Vergnügen daran zu haben, ihrer
Pflegetochter die Abhängigkeit fühlbar zu machen. Sie
litt es nicht, daß ich oder Joſef ihrer Nichte bei dem
Auspacken der Körbe Hülfe leiſteten, ſelbſt den Bei⸗
ſtand der Träger wies ſie mit der Bemerkung zurück,
daß ſie etwas zerbrechen könnten, daß Darja ſolche
Arbeit gut verſtehe; und ſie wußte dabei Joſef in
einer ſo berechneten Weiſe neben ſich feſtzuhalten
und an ſich zu ziehen, daß mir in dem Augenblicke
kein Zweifel über die Art ihrer Gefühle für ihn und
über ihre Plane bleiben konnte. Als dieſe Vermuthung
zuerſt in mir emporgeſtiegen, war mir die Angelegen⸗
heit ſehr mißfällig geweſen, nun erſchien ſie mir in
298
einem veränderten Lichte, und die Aeußerung der Gräfin,
daß Darja und ich wie für einander geſchaffen mwä-
ren, gewann für mich eine tiefere Bedeutung. Die
Gräfin wußte, trotz ihres beſtändigen Anſtrichs von
achtloſer Laune, in jedem beſonderen Falle ſehr wohl,
was ſie ſagte, und daß ſie bei einer ſehr feinen und
ſcharfſichtigen Beobachtungsgabe weitgreifender Plane
fähig ſei, das hatte ſie von ihrer früheſten Jugend
an bewieſen. Ich, ich allein, das fing ich jetzt zu
merken an, war ihr gegenüber bisher nicht achtſam
genug geweſen, ich hatte in einer mir jetzt ſelbſt un⸗
begreiflichen Verblendung den Eindruck, den Joſef's
Schönheit gleich von der erſten Stunde an auf fie ge⸗
macht hatte, nicht hoch genug angeſchlagen, nicht auf
ſeinen richtigen Grund zurückgeführt. Die Gräfin
war noch jung, noch blühend genug, eine Leidenſchaft
zu fühlen, die ſie für ihren greiſen Gatten nicht ge⸗
hegt haben konnte und die, durch ihre Eitelkeit und
ihre Grillen zurückgedrängt, vielleicht bis jetzt in ihr
geſchlummert haben mochte. Jetzt aber war ſie in
dem Beiſammenſein mit Joſef, deſſen kraftvolle, un⸗
entweihte Jugend für alle Frauen etwas doppelt An⸗
ziehendes beſaß, erweckt worden und erwacht, und es
war kein Grund vorhanden, der Anna Andrajewna
234
abhalten konnte, an eine neue Ehe mit einem ſolchen
jungen, ſchönen Manne zu denken. Sie war völlig
unabhängig, war eine unſerer reichſten Frauen, ſie galt
allgemein noch für begehrenswerth, für eine glänzende
Partie, und ſelbſt ihre Gegner mußten ihr dies zu⸗
geſtehen trotz aller ihrer Wunderlichkeiten und trotz
der Anekdoten, die über ſie umhergetragen wurden,
war ihr Ruf niemals angetaſtet worden. Freilich,
ſie war älter, zehn, eilf Jahre älter als mein
Pflegeſohn — aber was thut das Alter zu dem Glück
der Ehe? Eine Frau iſt immer jung, ſo lange ſie zu
gefallen weiß, und wenn ich Joſef's Vortheil im
Auge haben wollte, ſo war auch dieſer bei dem Plane
wohl gewahrt; denn in Ehen, in denen eine beträcht⸗
liche Altersverſchiedenheit obwaltet, pflegt der jüngere
Theil gewöhnlich das Heft in die Hand zu bekommen,
und um ſo ſicherer, wenn der Mann der jüngere der
beiden Gatten iſt. Freilich, in zehn, in fünfzehn Jah⸗
ren mußte der Unterſchied des Alters zwiſchen Joſef
und der Gräfin ſich ſehr bemerkbar machen; aber
wenn er an ihr Gefallen fand, wenn ſie ihn liebte,
wenn ſie in Bezug auf ihr Vermögen ſich freigebig
gegen ihn erwies, den ich natürlich ebenfalls ange⸗
meſſen auszuſtatten dachte, ſo war vom Standpunkte
der Geſellſchaft und des Herkommens gegen dieſe Ver—
bindung kaum etwas Anderes einzuwenden, als Joſef's
bürgerliche Herkunft, und das war der Gräfin Sache.
Was Joſef anbelangte? Dieſer und Jener hatte eine
ältere Frau geheirathet und man hatte eine gute,
ſchickliche Ehe mitſammen geführt. Mochte die Gräfin
zuſehen, wie ſie mit ihrem Erwählten auskommen
würde. Nur freilich die ſchöne Pflegetochter, Darja,
durfte nicht im Hauſe bleiben — und Darja wußte
um der Tante Leidenſchaft und Plan.
Daher des Mädchens Gereiztheit gegen meinen
Sohn, daher ihre Kälte gegen ihre Tante, daher ihre
Klagen über das Wanderleben, ihre Sehnſucht nach
Ruhe, ihr Verlangen, irgendwo, wenn es auch in der
Fremde wäre, eine eigene Heimath zu finden. Nun
verſtand ich Alles, und Alles ſtimmte mit meinen Ab⸗
ſichten gar wohl zuſammen. Wenn Joſef ſich wirk-
lich mit Anna Andrajewna verheirathete, konnte ich nicht
daran denken, den Dritten in ihrem Bunde zu machen;
ich blieb alſo allein — falls Darja ſich nicht entſchloß,
bei mir zu bleiben und meine Frau zu werden.
Es war mir wunderbar zu Muthe, als ich dieſen
letzten Gedanken zuerſt in meinem Innern aufkommen
fühlte. Ich ſagte mir vergeblich, daß es etwas ſpät
236
für ſolchen Vorſatz ſei, daß ich mein einundfünfzigſtes
Jahr bereits vollendet hatte, aber ich fühlte in dieſem
Augenblicke die vergangenen Jahre nicht. Ich fühlte
nur ein freudiges Hoffen in meinem Herzen, das mich
belebte wie in den Tagen der Jugend, das Blut rollte
fröhlich klopfend durch meine Adern, ich war wieder
jung, ich war glücklich, ich ſah mit wonnigem Ver⸗
trauen in die Zukunft, ich liebte Darja, weil ſie mir
dieſe Jugend wieder gab, und auch die Gräfin liebte
ich. Weshalb ſollte ſie nicht empfinden, was mich ſo
beſeligte? Weshalb ſollte ſie nicht ſo gut wie ich
ihre Neigung an die Jugend, an die Schönheit knüpfen?
Weshalb ſich nicht die Stütze einer jüngeren Kraft
für die ſpäteren Lebensjahre ſichern? Sie war dem
Grafen Alderberg einſt eine liebenswürdige Gefährtin
geweſen; ich? nun ich war fünfzehn Jahre jünger als der
Graf, und Darja war älter als die Gräfin es einſt
am Tage ihrer Hochzeit geweſen war. Mit einem
Worte — ich war nicht der Erſte, der die Welt und
alles in und anf ihr wieder einmal in roſenfarbenem
Lichte ſchaute und fie als die beſte Welt betrachtete,
weil er fie mit dem Sonnenſcheine ſeines Herzens be⸗
leuchtete.
Das Vertrauen, das wir einem Menſchen ſcheu⸗
237
ken, bindet uns an ihn; das mochte Darja auch empfin⸗
den, denn ſie nahm jetzt von ſelber meinen Arm und ihre
Augen blickten mich oftmals fragend an, als wolle ſie
meine Gedanken errathen. Sie waren nur mit ihr
beſchäftigt, und ich dachte mit großer Zuverſicht an
ſie. Ihre Wahrhaftigkeit war unbedingt. Gab ſie
mir ihr Wort, ſo durfte ich ihrer ſicher ſein; aber
wie warm mein Herz ihr auch entgegenwallte, mir
fehlte eine der herrlichſten Eigenſchaften der Jugend
— der unbedingte ſelbſtvertrauende Muth.
Ich konnte mich nicht entſchließen, gleich jetzt ihr
die entſcheidende Frage vorzulegen, ich wollte kein Wag⸗
niß beſtehen, mich nicht der Möglichkeit einer Zurück⸗
weiſung ausſetzen, ſondern erſt wenn die Gräfin und
Joſef mit einander einig geworden waren, wenn Darja
auf ſolche Weiſe von ihren bisherigen Verhältniſſen
losgelöſt und ſich ſelber überlaſſen ſein würde, wollte
ich mit meinen Anſprüchen vor ſie hintreten, und das
unverkennbare Zutrauen, die achtſame Neigung, die ſie
mir erwies, machten mich das Beſte hoffen.
Weuntes Capitel.
Ein Tag ging fo nach dem anderen hin, die drei
Wochen, welche die Gräfin, und auch die Zeit, welche
wir noch im Gebirge zu bleiben gedacht hatten, waren
bereits lange überſchritten. Die Mehrzahl der Gäſte
waren abgereiſt oder mit Zurüſtungen für die Abreiſe
beſchäftigt, es fing an, leer in dem Gaſthofe zu wer⸗
den, die Spaziergänge mußten wegen der Morgen- und
Abendkühle auf die paar ſonnigen Mittagsſtunden
eingeſchränkt werden, die Feuer brannten in den Ka⸗
minen, die Tage wurden kurz, man hatte Abends be⸗
reits viele Stunden bei der Lampe zuzubringen. Lange
konnten wir nicht mehr auf dieſer Höhe bleiben, die
ſcharfe Luft war bisweilen ſchon empfindlich, die Un⸗
gewißheit, in welcher ich mich befand, ward mir zur
Qual, und da die Anderen zu keiner Entſcheidung zu
kommen ſchienen, mußte ich endlich ſelber daran gehen,
unſere Angelegenheiten aufzuklären.
Ich hatte mir den Sonntag Morgen dafür feſt⸗
239
geſetzt, weil Darja dann immer einen einſamen Spa⸗
ziergang als Morgenandacht zu unternehmen pflegte.
Ich kannte den Weg, den ſie zu machen gewohnt war,
und wollte ſie auf demſelben treffen, um ihr meine
Wünſche auszuſprechen. Es war mir alſo ſehr will-
kommen, als eben in der Stunde die Gräfin zu uns
ſchickte, um Joſef zu einer Fahrt in die Stadt auf⸗
fordern zu laſſen; aber zu meinem Erſtaunen lehnte
er den Vorſchlag ab. Er ſagte, er habe mit einem
jungen Engländer eine Partie verabredet, und ohne
mich zu fragen, ob ich dieſelbe mitmachen oder was
ich unternehmen würde eine Rückſicht, die er ſonſt
niemals aus den Augen ſetzte, nahm er Hut und
Handſchuhe und verließ mich gleich nach dem Früh—
ſtücke. Ich ſah ihn fortgehen — aber allein.
Es war eilf Uhr, die wenigen Engländer, die
noch in dem Hauſe und den benachbarten Penſionen
lebten, kamen wohl friſirt, mit regelrecht geknüpftem
Halstuche aus ihren verſchiedenen Wohnungen hervor,
um ſich in den Speiſeſaal zu begeben, in welchem
einer ihrer geiſtlichen Landsleute den Gottesdienſt ab-
hielt. Es fehlte keiner von der kleinen Kolonie, die
von Joſef vorgegebene Verabredung war alſo eine
Ausrede geweſen. Ich ſann aber weiter nicht dar-
240
über nach, ſondern verließ ebenfalls das Haus, um Darja
aufzuſuchen, die, wie ich wußte, bereits ausgegangen war.
Der Morgen war bis dahin bewölkt und kühl
geweſen. Als dann aber die Sonne hinter dem Schnee⸗
gebirge hervorkam, das unſeren Horizont nach Oſten
abſchloß, fingen die Nebel ſich unter ihrem Zauber zu
lichten und ſich, verſchwebend, zu zertheilen an, daß
die Kühle ſich plötzlich in ſanfte, erquickende Wärme
und die Trübe in ein klares, goldiges Licht verwan⸗
delten, das fröhlich belebend in mein Herz drang.
Bergauf und hinan! ſagte ich mir mit freudigſter Zus
verſicht, während ich deu Weg hinaufſtieg, an deſſen
Ende ich Darja zu finden hoffte; aber wie lebhaft
meine Sehnſucht, ſie zu erreichen, mich auch vorwärts
trieb, ich hatte nicht mehr den raſchen ungehemmten
Schritt und die vollathmige Bruſt der Jugend. Ich
mußte zum Oefteren ſtehen bleiben, mußte ruhen; und
dieſer Abſtand zwiſchen meiner Empfindung und meiner
Kraft war mir eine unangenehme Mahnung, eine un⸗
willkürliche Einſicht und Erkenntniß, welche ich eben
jetzt mir gern ferngehalten hätte. Ich wollte ſie mir
verſcheuchen, ich ſuchte zur Rechten und zur Linken
nach dem erſehnten Gegenſtande. Auf jeder Matte
hoffte ich ſie zu ſehen, ſo oft ich um eine Ecke bog,
241
meinte ich ihrer anfichtig zu werden; aber Darja war
weit früher als ich von Hauſe fortgegangen, und ſie
war jung. Ich hatte keine Ausſicht, ſie noch auf dem
Wege zu erreichen. Unwillkürlich blieb ich hier und
dorten ſtehen, um von den ſchönen Zeitloſen, von de⸗
ren röthlichen Blüthen die grünen Abhänge ſchimmernd
bedeckt waren, einen Strauß für Darja mitzunehmen,
den ich mit dem noch friſchen Eichenlaube vermiſchte.
War doch meine Liebe für dieſes Mädchen auch ſolch
eine zeitloſe Herbſtesblume, aufgeblüht in einer Nacht,
— um zu dauern? um zu welken? — Die nächſte
Stunde mußte das entſcheiden.
Ich ging vorwärts und vorwärts. An den baum⸗
loſen Stellen des Weges brannte die Sonne heiß;
dann wieder, wenn der Baumesſchatten ſie mir barg,
ſah ich die Tropfen des Nebels noch an den Aeſten
funkeln, und ein leuchtender Sprühregen fiel auf mich
Eilenden herab, wenn ein Vogel ſich auf die Zweige
niederſenkte, oder ein Windhauch ihre Blätter zittern
machte. Je näher ich der Stelle kam, an welcher
Darja gewöhnlich zu raſten pflegte, um ſo unruhiger
klopfte mir das Herz. Ich hörte ſchon das Murmeln
der Quelle, die von der Höhe niederrieſelnd mir ent-
gegenkam. Schon ſah ich die Gruppe der Es mäch-
Fanny Lewald, Neue Erzählungen.
242
tigen Edeltannen ſtolz und freudig aus dem niederen
Gehölze emporragen. Alt wie ſie waren, lag doch
nirgends das Licht ſo herrlich ausgebreitet wie über
ihren friſchen Häuptern, denen das Schneegebirge und
der blaue Himmel einen herrlichen Hintergrund bil⸗
deten; und wie die Sonne ihnen Dauer und immer
neue Jugend verlieh, ſo hoffte auch ich auf eine lange
Zukunft und auf ſchöne, von Liebe erhellte und er⸗
wärmte Tage. Alles wurde mir zum Symbol, Alles
zum Gleichniß, denn die Liebe iſt ſo allmächtig, daß ſie
ſich Alles zu eigen macht. Die ganze Schöpfung iſt ihr nur
der Spiegel, aus dem ihr eigenes Bild ihr wiederſtrahlt.
Oben unter den Tannen, wo aus der mooſigen
Felswand die Quelle klar hervordrängt, hatte man
ein Rohr eingelegt, welches das Waſſer in einem zum
Troge ausgehöhlten Baumſtamm leitet. Ein anderer
Baumſtamm lag daneben. Wir hatten dort nach einem
warmen Tage einmal zu Vieren im Sonnenuntergange
geſeſſen und hinabgeſehen in die Thäler und über den
See hinweg nach den fernen Bergen und in die Lande
hinaus. Es waren ſchöne Stunden geweſen, aber ſie
erſchienen mir in der Erwartung des nächſten Augen⸗
blickes blaß und kalt. Und doch bangte mir vor der
Entſcheidung, die ich heraufbeſchwören wollte. Ich
243
blieb zögernd ſtehen, zögernd bog ich um die Ede;
dort mußte ich Darja finden — und ſie war auch
da — aber ſie war nicht allein.
Das Bild, das ich erblickte, war der lieblichſten
Eines. Kein Maler konnte es reizender, konnte es an⸗
muthiger denken; mir aber that es weh, weher, als
ich es mir eingeſtehen mochte, und ich durfte meinen
Schmerz nicht zeigen, durfte dem Worte, das ſich auf
meine Lippe drängte, den Laut nicht einmal geben. Um⸗
leuchtet von der goldigen Mittagsſonne, die den ganzen
Platz überfluthete, ſaß Darja an der Quelle auf dem
Baumſtamme, ſelber wie von einer Glorie umfloſſen.
Aber ſie ſah mich nicht, ſie hatte meinen Schritt
auf dem weichen, mooſigen Grunde nicht gehört.
Joſef lag zu ihren Füßen. Er hatte ihren Leib mit
ſeinen Armen umſchlungen, ihr Kopf barg ſich an
ſeiner Bruſt — Jugend und Schönheit hatten ſich
zu einander gefunden, wie es ſich gehörte. Es war
gut, es war natürlich, wie es war, und — es iſt
nicht der erſte Selbſtbetrug, nicht die erſte Enttäu⸗
ſchung meines Lebens! ſagte ich mir und hätte mich
meiner Schwachheit gern geſchämt, wäre ich die
Zeit her weniger glücklich in meinen hoffnungsreichen
Träumereien geweſen.
16*
Zehntes Capitel.
Was nachfolgt, ſagte Boris, tief Athem ſchöpfend
und mit einem Lächeln, das nicht ganz ungezwungen
war, was nachfolgt, können Sie ſich leichtlich denken. Ich
rief die Kinder an; ſie erhoben ſich und warfen ſich
Beide, ſo wie ſie mich gewahrten, in meine Arme.
Sie nannten mich ihren Vater, ſie küßten in Freuden⸗
thränen meine Hände; ich weinte auch — aber in
dem Augenblick galten meine Thränen nur mir ſelbſt
und meiner lang entſchwundenen Jugend, die ich nicht
in ſolcher Liebe genoſſen hatte und die verſunken war
für immer.
Darja gewann am erſten Sprache. O, mein
Vater, mein theurer Vater! rief ſie; Sie waren mein
Troſt und mein Hoffen, denn Sie wußten es ja ſeit
jener Nacht auf der Brücke. Ich habe es wohl
empfunden, Sie wußten, was mich von dannen trieb,
und wie ich den Gedanken gar nicht faſſen konnte, ihn
245
zu verlieren, ihn von einer Anderen geliebt zu ſehen!
Aber warum ſagten Sie es denn dem armen Joſef
nicht, daß ich ihn liebte und daß ich Alles, Alles er-
tragen könne — nur nicht ohne ſeine Liebe neben ihm
zu leben?
Sie blickte mit überwallender Zärtlichkeit zu dem
Geliebten auf; er ſchloß ſie auf's Neue in ſeine Arme.
Sie ſprachen Beide mit einer Erregung, die ſie völlig
achtlos dafür machte, wie ſehr ich durch ſie überraſcht
und wie ſehr ich erſchüttert worden war.
Der Erzähler machte eine Pauſe. Er war wär⸗
mer im Ausdrucke geworden, als er es beabſichtigt
haben mochte; nun änderte er plötzlich ſeinen Ton.
Es iſt ſonderbar und nicht eben angenehm, ſagte
er ſcherzend, ſich „lieber Vater“ von einem Munde
nennen zu hören, dem man ein weit ſüßeres Wort
zu entlocken erwartet hatte; aber ein erfahrungsreiches
Leben und die Gewohnheit der Selbſtbeherrſchung,
welche man in unſerer Geſellſchaft annimmt, ſind
treue Bundesgenoſſen und gute Stützen in ſolchen Le⸗
benslagen, und die jungen Liebenden vermißten es
nicht, daß ich ihnen meinen Antheil an ihrem Glücke
nicht mit größerer Wärme ausſprach. Sie hatten ſo
viel zu erzählen. Joſef ſagte, wie ihn Darja bezau⸗
246
bert von der erſten Stunde an, wie ihr Zutrauen ihn
ſicher über ſie gemacht habe, und wie er bemüht geweſen
ſei, die Freundſchaft und die Gunſt der Gräfin zu
gewinnen, um ſie ſeiner Werbung geneigt zu machen.
Nicht eine Sekunde habe er geſchwankt in ſeiner Liebe,
aber Darja's plötzliche Uebellaunigkeit und die Art,
in der ſie ihn gemieden, hätten ihn verdroſſen. Er
habe ſie beſtrafen wollen für die Qualen, die ſie ihm
bereitet; fröhlich und glücklich habe er ſich geſtellt,
weil er zu ſtolz und zu thöricht geweſen ſei, ihr zu
ſagen, wie ſie ſein Herz in Händen habe. Und Darja
lachte und klagte ſich an, und ſprach von ihrem Glücke
und weinte, und fragte, ob ich ſie denn auch leiden
könne, weil ſie mir doch ein Stück von meines Soh⸗
nes Herz entzöge? Und Joſef ſagte: Das ganze
Herz! — Und ſie umarmten mich wieder und wieder und
die Sonne ſchien ſo hell auf uns herab, und die
Weindroſſeln ſchoſſen an uns vorbei zu Thal, und die
neugierigen Eidechſen auf den warmbeſonnten Steinen
hoben die klugen Köpfe empor und guckten das ſchöne
Paar an, als wollten fie ſich an dem Anblicke ſolch
junger Liebe freuen. Und ich alter Geſell, was
wollte ich am Ende machen, als mich auch an ihrer
Schönheit freuen und lieben, was ſo liebenswürdig
247
war. Hatte ich es doch am Anfange ſelber ſo gewollt,
wenn ich Darja und Joſef beiſammen geſehen hatte!
War es ihre Schuld, daß ich ein paar Tage lang
vergeſſen, wie der Jugend die Welt gehört?
Joſef ließ mir keine Ruhe, ich ſollte gleich, gleich
bei unſerer Heimkehr Darja's Hand für ihn erbitten.
Das war kein leichter Auftrag, aber ich konnte es den
Kindern nicht verdenken, daß ſie der Gräfin nicht zu
nahen wünſchten, ehe ſie von dem Vorgefallenen un⸗
terrichtet war. Wie ſeelenruhig Joſef ſich auch zeigte,
er mochte in ſeines Herzensgrunde ſich doch wohl
ſagen, daß er in ſeinem Beſtreben Darja für ihre Ei⸗
ferſucht zu ſtrafen, weiter gegangen und befliſſener geweſen
ſei, als er es nöthig gehabt hatte; und wenn Darja
eben aus Eiferſucht es nicht verrieth, wie leidenſchaft⸗
lich ihre Tante ſich zu Joſef hingezogen fühlte, ſo
hegte ſie doch ſelber keinen Zweifel daran, daß die
Gräfin bisher von Joſef's Liebe für ihre Nichte keine
Ahnung gehabt hatte.
Aus einem zärtlichen Bewerber war ich alſo im Hand⸗
umdrehen zu einem Freiwerber geworden, und wollte
ich mir ſelber nicht lächerlich werden, ſo mußte ich
das Gefühl der Enttäuſchung, die Wehmuth, die ge⸗
heime Scham und den Schmerz über das Verlöſchen
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dieſes Alpenglühens meiner Jugend ſtill in mir ver⸗
ſchließen, mußte gute Miene zu dem guten Spiele
machen, und mich in meine neue Würde ſchicken.
Ich ließ mich bei der Gräfin melden und wurde
angenommen. Sie war bereits für die Mittagstafel
angekleidet und lag leſend in einem Lehnſeſſel unter
dem aufgeſpannten Zeltdache ihres Balkons. Das
weiße Kleid und der voll erblühte Roſenſtrauß an
ihrer Bruſt kleideten ſie ganz vortrefflich; ſie ſah ſel⸗
ber noch wie eine Roſe aus.
Gut, daß Sie kommen, rief ſie mir entgegen;
ich habe es heute wieder den ganzen Morgen bitter⸗
lich bereut, nicht kirchlich zu ſein. Wie glücklich ſind
alle dieſe Gläubigen, die jeden Sonntag eine neue,
ſie erhebende Herzensbefriedigung genießen, während
wir ſtarken Geiſter uns doch nicht von der Grille be-
freien können, daß der Sonntag etwas Beſonderes
ſei, uns etwas Beſonderes leiſten müſſe — und weil
er dies nicht thut, gerade am Sonntag immer einer
ganz beſonderen Langenweile anheimfallen. Und dazu
Darja's ſonntägliche Naturſchwärmerei und Joſef's
ſonntägliche Wanderluſt! Ich hätte einem Menſchen,
der mich heute gut unterhalten oder der mir auch nur
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eine Neuigkeit erzählt hätte, gleichviel welche, vor
Dankbarkeit um den Hals fallen können!
So fallen Sie mir um den Hals, Anna Andra⸗
jewna, ſagte ich — denn ich bringe Ihnen eine
Neuigkeit; und da Sie eine Frau von Wort ſind, ſo
freue ich mich über mein Glück, denn Sie ſehen heute
reizend aus!
Bravo, bravo! fiel Sie mir ein. Sie nehmen
Sich als fahrender Ritter einer Verlaſſenen an, Sie
haben Mitleid mit einer in der Wüſte der Langen⸗
weile Verſchmachtenden. Aber reden Sie, erzählen
Sie! Was wiſſen Sie?
Errathen Sie es!
Wie kann ich? meinte ſie.
Ich werde ſagen, wie Frau von Sévigny, unſer
aller Meiſter es an ihre Tochter ſchrieb: Je vous le
donne en un, je vous le donne en deux, je vous
le donne en dix, je vous le donne en cent!
Ah, rief die Gräfin, alſo handelt es ſich um eine
Verlobung? Denn auf eine Verlobung bezieht ſich
jener der Brief der Sévigny.
Um eine Verlobung, allerdings! beſtätigte ich.
In Petersburg oder im Auslande?
Wie Sie das nehmen wollen.
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Alſo es find Landsleute?
Ja und Nein.
Bekannte von uns?
Nahe Bekannte, ſehr nahe Bekannte.
Die Gräfin richtete ſich in ihrem Seſſel in die
Höhe und wurde achtſam. Sie blickte mir ſcharf
in's Auge.
Der Poſtbote iſt noch nicht gekommen, ſagte ſie,
plötzlich ernſthaft werdend. Nachrichten aus der Welt
können Sie heute noch nicht erhalten haben. Ihre Neuig⸗
keit muß alſo hier geſchehen ſein. — Sie hielt mit
einer Art von Schrecken inne; aber den Ernſt aus
ihren Mienen ſchnell verſcheuchend, ſagte ſie mit großer
Anmuth: Haben Sie ſelber mir etwa eine Ueberraſchung
bereitet, lieber Freund? ſo ſagen Sie es nur heraus,
denn hier errathen zu wollen, wäre indiscret. Sie
waren in letzter Zeit ſehr um Darja bemüht.
Sie vollendete nicht, und ich wollte ſie nicht
vollenden laſſen. Sie haben es errathen, fiel ich ihr
in's Wort, und Ihr Scharfblick hat ſich nicht getäuſcht.
Ich wünſchte Darja kennen zu lernen, wie Sie ja
auch Joſef beobachtet haben, um zu ſehen, ob er
Ihren Anſichten entſpräche, ob er der Mann ſei, dem Sie
Ihre Nichte anvertrauen könnten, und ob er Ihnen
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die Stütze zu werden vermöchte, die man in ſeinem
Schwiegerſohne zu finden hofft, wenn man keinen
eigenen Sohn beſitzt.
Die Gräfin war ſehr blaß geworden; ich ſah
ihre Lippen leiſe beben, und die kleine Hand zitterte,
als ſie den Roſenſtrauß von ihrem Buſen nahm und
ihn achtlos zu entblättern anfing.
Ich that, als bemerkte ich ihre Ueberraſchung
nicht, aber ich bedauerte ſie, denn ich hatte ja eben
erſt den gleichen Kampf durchkämpft. Um ſie der
Nothwendigkeit einer Antwort zu entheben, fuhr ich
fort zu ſprechen. Darja und Joſef ſind mit einander
einig, ſagte ich. Der Zufall ließ mich ſie finden, als
ſie eben unter den ſieben Tannen einander ihre Liebe
geſtanden hatten. Ich wollte, Sie hätten ſie geſehen,
wie ich. Ein ſchöneres Paar iſt kaum zu denken,
und ich komme nun, Sie in aller Form um Ihrer
Nichte Hand für meinen Sohn zu bitten!
Die wenigen Minuten hatten der Gräfin genügt,
ſich zu ſammeln und zu faſſen; ſie war wieder Herr
über ſich geworden. Mit ihrem gewohnten ſilberhellen
Lachen ſchlug ſie die Hände in einander. Wenn Sie
Sich ſehen könnten, Boris Michailowitſch, wenn Sie
ſehen könnten, wie dieſe feierliche Werbung Ihnen
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komiſch ſteht, Sie würden lachen, wie ich! rief fie.
Und ſie lachte wieder und wieder, und dieſes Lachen
wurde ſo nervös, daß es mich zu beänſtigen anfing.
Aber mitten in demſelben hielt ſie plötzlich inne.
Nun, ſagte ſie, und ihr Blick und ihr Ton waren weit
ſchärfer, als ſie wollte und wußte, nun, Boris, habe
ich nicht Recht gehabt, als ich neulich gegen Sie be⸗
hauptete, wir hätten beide eine Thorheit begangen, als
wir dieſe Adoptionen machten, ſtatt uns ſelber zu ver⸗
heirathen? Ihr Joſef und meine Darja werden von
uns gehen und uns das Nachſehen laſſen; denn, ich
mache Ihnen gar kein Hehl daraus, ich bin nicht ſo
ſelbſtlos, mir daran genügen zu laſſen, daß zwei An⸗
dere glücklich ſind. Aber kommen Sie, Boris, kom⸗
men Sie, umarmen Sie mich! Ich bin Ihnen die
Bezahlung für die Neuigkeit noch ſchuldig, und wir
werden ja noch nähere Verwandte werden, wenn wir
die gemeinſamen Enkel auf unſeren Knieen ſchaukeln
werden! Mein Gott, Enkel, wie das garſtig klingt!
Sie ſchüttelte ſich wie im Widerwillen und reichte
mir ihre Hand hin. Als ich ſie küßte, küßte ſie mir
die Stirne und drückte mir feſt die Hand. Wir ver⸗
ſtanden einander ohne Worte.
Am Abende ſchrieben wir unſeren gemeinſamen
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Bekannten von der Verlobung unſerer Pflegekinder;
zwei Tage ſpäter trennten wir uns. Die Hochzeit
des jungen Paares ſollte nach Neujahr in Paris voll⸗
zogen werden; dann ſollten die Neuvermählten nach
Italien gehen, und inzwiſchen wollten wir für ihre
ſpätere Niederlaſſung Sorge tragen. Und ſo iſt es
auch geſchehen.
An dem Abende, an welchem die neuen Eheleute
ſich in Paris von uns getrennt hatten, ſaß ich allein
an dem Theetiſche der Gräfin. Sie und ich fühlten
die Einſamkeit recht ſchwer. Ich hatte Anna Andra⸗
jewna nie ſo ernſt geſehen. Wir ſprachen von Dem
und Jenem; es wollte aber mit keiner Unterhaltung
glücken, und doch ſchien die Gräfin etwas auf dem
Herzen zu haben. Endlich als ich mich von ihr ver⸗
abſchiedete, fand ſie das Wort dafür.
Ich bin in Ihrer Schuld, Boris Michailowitſch,
ſagte ſie zu mir. Sie haben mir einmal einen
Freundſchaftsdienſt geleiſtet, den ich Ihnen nicht ver⸗
geſſen werde; Sie haben es mir geſchickt erſpart, vor
Ihnen zu erröthen. Ich danke Ihnen dafür. Den⸗
ken Sie gut von mir, ich bin vielleicht beſſer, als Sie
glauben; und wenn mir auch jede andere gute Eigen⸗
ſchaft gebrechen ſollte — eine habe ich für Sie — ich
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bin Ihre Freundin und ich verehre Sie! Bedürfen
Sie meiner, ſo rufen Sie mich, und ich werde ſtolz
darauf ſein, Ihnen vergelten zu dürfen!
Damit trennten wir uns. Ich hatte das in
Anna Andrajewna nicht geſucht, ſie hatte mir zum
erſten Male eine große und wahre Theilnahme abge⸗
wonnen. Im Herbſte, als Joſef mit ſeiner Frau
nach Rußland ging, um die Bewirthſchaftung der
Güter zu übernehmen: die ich im Süden für ihn ge⸗
kauft hatte, traf ich mit den jungen Leuten und mit
der Gräfin in Moskau zuſammen, und im verwichenen
Frühjahre haben Anna Andrajewna und ich gemein⸗
ſam den ſchönen Knaben aus der Taufe gehoben, den
Darja ihrem Manne geboren hat. Der Name Kru⸗
pinin hat alſo alle Ausſicht, von einem ſtattlichen
Geſchlechte weiter fortgeführt zu werden, und es be⸗
reitet ſich für uns ein freundliches Familienleben in
der Kinder Haufe vor — aber wir find des Land⸗
lebens beide nicht gewohnt, wir wollten das junge
Paar auch ſich ſelber überlaſſen, und nach einem län⸗
geren Verweilen in dem Schloſſe ſchickten die Gräfin
und ich uns zum Fortgehen an. |
Darja und Joſef zeigten ſich darüber ſehr be⸗
trübt. Der Gedanke, Dich, mein Vater, und die Tante
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fo einſam in der weiten Welt zu wiſſen, ſagte die
junge Frau, läßt mir keine Ruhe. Du haſt die Tante
oftmals eine verläßliche Freundin genannt; ihr Sinn
iſt auch gewandelt in den letzten Jahren, ſie iſt ernſt⸗
hafter geworden, und ſie ſchätzt Dich mehr als irgend
einen Anderen. Darja ſchmiegte ſich mit ſchmeicheln⸗
der Verſchämtheit an mich an. — Wenn Du dich
mit der Tante verbinden wollteſt, lieber Vater, ſagte
ſie, ſo brauchten wir uns kein Gewiſſen daraus zu
machen, daß wir jungen Leute es beſſer haben, als
Ihr Beide. Du haſt für Joſef um mich gefreit, laß
mich Deinen Freiwerber bei der Tante machen!
Darja hat Recht, bekräftigte mein Sohn, der ſich
höchſt erfahren und weiſe vorkommt, ſeit er von ſei⸗
nem Sohne ſprechen kann, und der von Darja's Ein⸗
ſicht die allerhöchſte Meinung hat, weil ſie immer ſeiner
Anſicht iſt — Darja hat Recht. Du ſelber pflegteſt es ja
ſtets zu ſagen, lieber Vater, das Verſtändige zu thun
ſei es nie zu ſpät; und wenn die Tante liebt, kann
ſie unwiderſtehlich ſein.
Sprichſt Du das aus Erfahrung? fragte ich —
und wir blieben einander, wie es ſich von ſelbſt ver⸗
ſteht, die Antwort ſchuldig; denn die Phantaſie der
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Gräfin für den jungen Mann war eine ihrer müßigen
Launen geweſen und nichts mehr. —
Damit endete unſer Freund die Mittheilungen,
die ich ihm nacherzählte.
Wenige Monate ſpäter erhielt ich einen Brief
von ihm. In ſchönen franzöſiſchen Lettern ſtanden
mitten auf dem Blatte die Worte: „Anna Andra⸗
jewna Krupinin, geb. Fürſtin Agarew und Boris
Michailowitſch Krupinin.“
Darunter aber hatte die Gräfin mit feiner Hand
geſchrieben: Die alten Pflegeeltern als junge Ehe⸗
leute, oder ſpätes Finden, treues Halten! Klingt das
nicht wie der Titel eines Schauſpiels, wie die Ueber⸗
ſchrift einer Novelle? Ich bitte Sie, liebe Freundin,
machen Sie eine Novelle aus all unſerer Thorheit und
Vernunft, aus unſerem eingebildeten Leid und aus un⸗
ſerem wahren Glück. Das ſoll meine Hochzeitsgabe
von Ihnen ſein, denn man genießt ſein Leben und
deſſen Freuden noch um viel bewußter, wenn ſie uns
in der Verklärung der Dichtung gegenüber ſtehen.“ —
Sollte ich der Bitte nicht willfahren, den Freunden
nicht den Willen thun? — Und ſo gehe dieſes Spiegelbild
ihrer Vergangenheit denn zu ihnen und auch in die Welt.
Ende.
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