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Full text of "Die Unzertrennlichen. Pflegeeltern. Zwei Erzählungen"

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Zwei Erzählungen 


von 


Sanıy Sewald. 


Im unterzeichneten Verlage erſcheinen demnächſt und ſtnd 
durch alle Buchhandlungen zu beziehen: 


Fanny Lewald's 


geſammelte Werke. 
Neue elegante Ausgabe. 
In 30 vierzehntägigen Lieferungen & 15 Sgr. 


Der vorläufige Inhalt dieſer neuen Ausgabe iſt folgender: 


Meine Lebensgeſchichte. Abtheilungen. 


Erſter Band: Im Vaterhauſe. 
Zweiter Band: Seidensjahre. 
Dritter Band: Wanderleben. 


(Zujammen 9 Lieferungen.) 


2. Von Geſchlecht zu Geſchlecht. Roman in 2 Abth. 


Erſte Abtheilung: Der Freiherr. 
Zweite Abtheilung: Der Emporkömmling. 


(Beide zuſammen 12 Lieferungen. 


3. Clementine. Auf rother Erde. Jenny. 
Eine Lebensfrage. | 


(Zujammen 9 Lieferungen.) 


Verlags⸗Buchhandlung von Otto Janke 


in Berlin. 


Die Alnzertrennlichen. 
Pflegeeltern. 
Zwei Erzählungen 


von 


Fanny Lewald. 


Das Recht der Ueberſetzung iſt vorbehalten. 


Berlin, 1871. 
Druck und Verlag von Otto Janke. 


Die Inzertrennliden. 


Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 


Erſtes Capitel. 


Es war im Frühling des Jahres achtzehnhundert⸗ 
ſechsundſechzig. Der Krieg gegen Oeſterreich war erklärt 
worden, die Truppen zum großen Theile ausgerückt, die 
Stimmung in Berlin war ernſt, ohne deshalb gedrückt zu 
ſein. In ganz Preußen hatte man mit Widerſtreben an 
dieſen deutſchen Bruderkrieg gedacht. Die Bürger hatten 
Abgeordnete an den König geſendet, um es demſelben aus⸗ 
zuſprechen, wie ſehr man dieſem Kriege Deutſcher wider 
Deutſche abgeneigt ſei, und man wußte, daß auch der 
König ſelber ihn zu vermeiden gewünſcht hatte. Nun 
der Entſcheidungskampf unvermeidlich und beſchloſſen 
worden war, ging man ihm wie einer traurigen Noth⸗ 
wendigkeit feſten Herzens und feſten Sinnes entgegen, 
und es gab kaum eine Familie im Lande, die nicht 
einen der Ihren zum Feldzug zu entlaſſen hatte. 

Aus den Hörſälen und von den ee der 


Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 


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Univerfitäten, von den Kathedern der Schulen, aus 
den Gerichtshöfen und von der mediziniſchen Praxis, 
aus den Comptoirs und von den Unternehmungen der 
Induſtrie, ging die Landwehr, gingen die Jünglinge 
und Männer zum Heere ab, und wer geſtern noch das 
Kleid des friedlichen Bürgers getragen hatte, zog heute 
in der Landwehr⸗Uniform in den Reihen oder an der 
Spitze ſeiner Compagnie zum Sammelplatze. 

Auch die ganze Mitwochs-Geſellſchaft ſtand jetzt 
unter den Waffen. Sie hatte ſich einige Jahre vor⸗ 
her aus einer Anzahl junger Männer von den ver⸗ 
ſchiedenſten Berufsarten zuſammengeſetzt und keinen 
anderen Zweck gehabt, als den eines regelmäßigen Zu⸗ 
ſammentreffens an einem beſtimmten Orte. Gerade 
aber weil die Studien und die Thätgkeit der jungen 
Männer ſo mannigfaltiger Art geweſen waren, hatte 
es niemals an einer belebten und förderſamen Unter⸗ 
haltung gefehlt und jugendlicher Frohſinn hatte mit 
ernſten Geſprächen in aller Zwangloſigkeit eine glück⸗ 
liche Abwechslung geboten. Eine längere Zeit hin⸗ 
durch war man der Reihe nach bei den verſchiedenen 
Theilnehmern zuſammengekommen, bis ſich ihnen in 
dem Doktor Claudius ein neuer Gefährte zugeſellt hatte. 

Claudius war um ein Bedeutendes älter, als der 


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ganze übrige Freundeskreis, von dem noch keiner fein 
dreißigſtes Lebensjahr erreicht hatte. Er war von 
Hauſe aus reich begütert, hatte archäologiſche und 
kunſthiſtoriſche Studien betrieben und hatte ſich, obſchon 
unverheirathet, in der Hauptſtadt eine Häuslichkeit ge⸗ 
gründet, deren edle, ſtylvolle Einrichtung, deren maß⸗ 
volle und doch freigebige Gaſtlichkeit von allen denen, 
welche derſelben theilhaftig geworden, als ein in ſeiner 
Art Unvergleichliches geprieſen wurden. Ein zufälliges 
Begegnen hatte ihn mit dem Architekten Manfred zu⸗ 
ſammengeführt, der einer der eifrigſten Aufrechterhalter 
des Vereines war; dieſer hatte ihn allmälig mit der 
ganzen übrigen Geſellſchaft bekannt gemacht, und da 
Claudius ſich trotz ſeiner achtundvierzig Jahre eine 
große Jugendlichkeit des Sinnes und eine eben ſo leb⸗ 
hafte Empfindung bewahrt, hatte Manfred, als die 
Reihe der Bewirthung wieder an ihn gekommen war, 
es endlich gewagt, Claudius zu ſich einzuladen, der 
dieſer Aufforderung freundlich nachgekommen war. 
Im erſten Augenblicke hatte die Anweſenheit des 
älteren Mannes etwas Befremdliches für die jungen 
Leute gehabt, aber Claudius' Bildung war vielſeitig, 
ſeine Erlebniſſe und ſeine Erfahrung waren reich, und 


er war ſeiner und ſeiner Bedeutung ſo durchaus ge⸗ 
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wiß, daß er es nicht nöthig fand, ſich irgendwie gel- 
tend, ſeine Bedeutung irgendwie fühlbar zu machen. 
Das gab ſeinem Betragen und ſeiner Würde immer 
etwas Freies und Unbefangenes, und noch ehe jener 
erſte Abend vorüber gegangen war, hatte die ganze 
Geſellſchaft für ihre nächſte Zuſammenkunft eine Ein⸗ 
ladung in ſein Haus empfangen und auch angenommen. 

Ein paar Male noch hatte man ſeitdem mit dem 
üblichen Wechſel des Zuſammenkunftortes fortgefahren 
und Claudius war immer mit dabei geweſen; dann aber, 
als er fühlte, daß der ganze Kreis der jungen Männer 
ſich an ihn gewöhnt habe, hatte er den Vorſchlag ge⸗ 
macht, man möge ſeiner Bequemlichkeit zu Liebe und ſei⸗ 
nem Alter zu Ehren, ein für alle Male ſein Haus 
zum Rendezvous benützen, und da er ſeiner Weiſe 
nach, weiter darauf keinen Anſpruch für ſich gründete, 
hatte es ihn nicht viel Ueberredung gekoſtet, dieſes An⸗ 
er bieten ſeinen jungen Freunden annehmbar zu machen. 

Nun war man zwei Jahre lang an jedem Mit⸗ 
woch in ſeinem Hauſe beiſammen geweſen, die jungen 
Männer waren ihm werth und werther geworden, an 
Jedem von ihnen hatte er Antheil nehmen lernen, ihr 
geiſtiges Streben, ihr Vorwärtskommen hatten ihn be⸗ 
ſchäftigt und gefreut. Er kannte ihre Lebensſchickſale, 


Dem und Jenem hatte er in den Wirren und Irr⸗ 
thümern, die kaum einem Jünglinge erſpart bleiben, 
warnend, aufklärend, berathend und helfend zur Seite 
geſtanden und es hatte ſich ſo allmälig ein wahrhaft 
ideales Verhältniß zwiſchen ihm und ſeinen jüngern 
Freund en herausgebildet. Sie erſetzten dem Einſamen 
die Familie, welche ſich zu gründen eine traurige Er⸗ 
fahrung ihn abgehalten hatte, und obſchon auch er die 
Nothwendigkeit dieſes Krieges anerkannte, fiel es ihm 
wie einem Vater ſchwer, als von ſeinen jungen Freun⸗ 
den einer um den anderen zu ihm kam, ihm ſein Lebe⸗ 
wohl zu ſagen. 

Am Morgen waren die beiden Jüngſten der Ge⸗ 
noſſenſchaft noch bei ihm vorgeſprochen. Johannes 
war Mediziner und hatte ſeine Studien nahezu been⸗ 
digt, Egon war Berufsſoldat und Lieutenant in der 
Artillerie. Sie waren Landsleute und Beide in dem 
höchſten Norden Deutſchlands heimiſch. Schon als 
Knaben hatten ſie mit einander geſpielt, die Schule 
und das Gymnaſium hatten ſie zuſammen beſucht, bis 
Egon in das Militär getreten war; und ſie hatten es 
als ein Glück begrüßt, als ihre verſchiedenen Studien 
ſie in Berlin auf das Neue einander zugeführt hat⸗ 
ten. Man nannte ſie nur die Unzertrennlichen, ſie 


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hingen mit der ſchönen Begeiſterung der Jugend an 
einander, und ſie hatten Grund ſich gegenſeitig hoch 
zu halten, denn ſie waren einander an glücklicher Be⸗ 
gabung, an Redlichkeit des Willens, an ernſtem Stre⸗ 
ben innerhalb ihres gewählten Berufes durchaus ähn⸗ 
lich; nur in ihren Glücksverhältniſſen und in dem 
Grunde ihrer Charaktere waren ſie durchaus verſchieden. 

Egon's Mutter ſtammte aus einer alten katho⸗ 
liſchen Grafenfamilie und hatte nach den Begriffen 
derſelben einen nie zu verzeihenden Fehltritt begangen, 
als ſie mit dem Lieutenant von Raven, der ein Pro⸗ 
teſtant und völlig unbemittelt war, aus dem Hauſe 
ihrer Eltern entfloh. Die ganze ſtolze Familie hatte 
ſich damals für immer von ihr abgewendet, und auch 
das Glück ihrer jungen Jahre war ihr nicht treu ge⸗ 
blieben. Ihr Gatte war früh geſtorben, von drei 
Kindern war ihr keines als Egon am Leben geblieben, 
und all ihr Lieben und Hoffen, ja ihre ganze Aus⸗ 
ſicht für die Zukunft, waren an dieſen Sohn geknüpft. 
Unter den ſchwerſten Entbehrungen hatte fie ihn mit 
den geringen Mitteln erzogen, welche die Peuſion einer 
Hauptmannswittwe ihr darboten; wenn er gegen ſeine 
Altersgenoſſen in dem Kadettenhauſe zurückſtehen mußte, 
hatte ſie ihn auf ſich ſelbſt und auf das ideale Leben 


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hingewieſen, das Jeder in ſich trägt und Jeder in ſich 
führen kann, und weil ſie ihn gegen die Verlockungen 
der Welt zu ſichern gewünſcht, hatte ſie ihn ſo viel 
als möglich an ſich zu feſſeln und ſeine Ehrbegriffe 
zu entwickeln geſtrebt. Er war auf dieſe Weiſe früh⸗ 
zeitig mit dem Ernſt des Lebens vertraut geworden 
er war ſittlich rein und jeder Leichtfertigkeit abhold 
geblieben, aber er war auch reizbar und mißtrauiſch, 
verſchloſſen und leicht verletzlich dadurch geworden, 
und ſeine Ehrbegriffe gingen bis zur Ueberſpannung. 
Es hatte einer ſo warmherzigen Natur, wie die ſeines 
Freundes Johannes bedurft, um Egon's Herz zu er- 
ſchließen. Er hatte nie einen andern Freund gehabt 
als ihn, und kaum in das Jünglingsalter eingetreten, 
hatte er es oftmals gegen Johannes ausgeſprochen, 
daß er eigentlich ſich nicht ſelber angehöre, weil ſeiner 
Mutter Schickſal völlig auf dem ſeinigen beruhe. 

Um ſo unabhängiger ſtand Johannes da. Er 
hatte nicht Vater und nicht Mutter; er und ſein um 
zehn Jahre älterer Bruder waren früh verwaiſt, ein 
Onkel hatte ihr Vermögen verwaltet, das eben groß 
genug war, ihnen eine anſtändige Freiheit zuzuſichern, 
und Freiheit hatte der Onkel den beiden Brüdern über⸗ 
haupt gelaſſen, da die gutartige Anlage der jungen 


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Männer ihm keine Urſache geboten hatte, fie irgendwie 
zu hindern oder ſie zu beſchränken. Beide Brüder 
hatten jetzt den Feldzug mitzumachen. Der ältere war 
bereits als Rath in einem Regierungskollegium ange⸗ 
ſtellt, aber ſie ließen keinen nahen Angehörigen zurück, 
und Johannes war eben deshalb, als er in Beglei⸗ 
tung ſeines Egon, dem er mit der ganzen Schwär⸗ 
merei der Freundſchaft ergeben war, dem Doctor Clau⸗ 
dius ſein Lebewohl zu ſagen kam, bei weitem leichteren 
Sinnes und freieren Herzens als der junge Offizier. 

Der Doctor hatte aber gerade für dieſen ſtets 
eine beſondere Theilnahme gehegt und der ſchwer⸗ 
müthige Ernſt, welcher auf der edeln Stirne des 
Jünglings lagerte, erſchreckte Claudius; denn von 
ſeiner antiken Bildung war ein Zug antiken Aber⸗ 
glaubens in die Seele des Archäologen übergegangen, 
und der Schatten der Sorge, der über dem Jüngling 
ſchwebte, kam Claudius wie ein Unheil verkündendes 
Omen vor. Er mochte Egon mit dieſem düſtern Blick 
nicht von ſich ſcheiden laſſen, es überfiel ihn auch ſel⸗ 
ber ein Schmerz bei der Vorſtellung, daß nun die 
beiden Letzten des ganzen fröhlichen Kreiſes von ihm 
gingen, und plötzlich von einem Gedanken erfaßt, rief 
er, als jene bereits ihre Helme ergriffen hatten, um 


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ſich zu entfernen: „Nein! So laſſe ich Sie noch nicht 
von mir. Es iſt ja heute Mitwoch und jedes Wieder— 
ſehen iſt ein Ueberwinden des Todes! Was hindert 
uns denn, ſammt und ſonders, da glücklicher Weiſe 
Alle noch in der Stadt beiſammen ſind, noch einmal 
zuſammen zu kommen? Ich ſehe Sie Alle heute Abend 
noch bei mir. Die Einladungen ſchreibe ich ſofort, 
und da Einige von Ihnen vorausſichtlich in ihren Fa⸗ 
milien feſtgehalten ſein werden, ſo will ich Sie erſt 
um eilf Uhr hier bei mir erwarten. Ein paar Stun⸗ 
den bleiben wir dann noch beiſammen, und dann ſchei⸗ 
den wir. Auf heut' Abend alſo um eilf Uhr!“ 


Zweites Capitel. 


In Claudius' Hauſe war man den ganzen Tag 
hindurch auffallend geſchäftig. Arbeiter mancher Art 
gingen der Dienerſchaft zur Hand, der Hausherr ſelber 
überwachte mit kunſtſinnigem Auge Alles, was man 
vorbereitet, und als um die feſtgeſetzte Stunde die 
jungen Gäſte den Saal betraten, in welchem fie ge⸗ 
wohnt waren, ſich bei Claudius zu treffen, erkannten 
ſie das ihnen ſo vertraute Gemach kaum wieder. 

Der ganze Raum. Wände, ſo wie Fenſter, war 
mit einfarbigem Stoff bekleidet, der die reiche Bilder⸗ 
ſammlung verhüllte, alle Möbel waren aus dem Saale 
entfernt, nur den Flügel und die Büſten des Jupiter 
Otricoli, des Belvederiſchen Apoll und der Venus von 
Milos hatte man auf ihren gewohnten Plätzen ge⸗ 
laſſen, und ihnen einen Hintergrund von ſüblichen 
Sträuchen und Gewächſen gegeben. Eine lange niedrige 


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Tafel mit leichten Speiſen, mit Früchten und Geträn⸗ 
ken wohl beſetzt, nahm die Mitte des Saales ein, 
Polſterſitze umgaben ſie; alle Geräthſchaften auf der 
Tafel waren antik, für jeden der Geladenen ſtand der 
mit Epheu bekränzte Becher auf dem Tiſch, für Jeden 
lag ein Kranz bereit, und beleuchtet von dem Schein 
des hellen Lichtes, das von der Decke und von den 
Lampen auf den Kandelabern in den Ecken des Ge- 
maches niederſtrömte, ſtand Claudius mitten in dem 
Saale, ſeine Gäſte zu empfangen. 

Einer um den Andern blieb betroffen ſtehen. 
Man wußte ſich den Vorgang nicht zu deuten. Allen 
lag der Abſchied von den Ihren noch ſchwer auf der 
Seele, man war noch ſo eng verwachſen mit dem Er⸗ 
leben eben dieſer letzten Stunde, man hatte ſich von 
Vater und Mutter, von Brüdern, von Schweſtern und 
von Bräuten losgeriſſen — die Stirnen waren noch 
von den Thränen der Zurückgebliebenen bethaut, man 
fühlte noch die ſegnende Hand auf dem geneigten 
Haupte, noch den bebenden Händedruck der Eltern, 
noch die Arme der Braut, die ſich um den Nacken 
des Geliebten geſchlungen — man konnte ſich in Alles 
das, was in dem Zimmer des Freundes wie eine 
unzeitige Komödie erſchien, nicht gleich finden, und 


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ſtatt ſich aufzuthun, ſchloſſen ſich die Herzen wie die 
Lippen. 5 

Man mochte nicht fragen: was bedeutet das? 
und man hatte auch zum Erſtaunen nicht viel Zeit, 
denn man war pünktlich eingetroffen, und ſobald man 
vollzählig beiſammen war, trat Claudius mitten in 
den Saal hinein, die Gäſte zu begrüßen. 

„Ich konnte dem Verlangen nicht widerſtehen,“ 
ſprach er, „noch eine Stunde mit Ihnen zu verleben, 
und da wir uns vor einem Augenblicke befinden, wie 
wir ihn Alle noch nicht gekannt, habe ich gemeint, wir 
müßten ihn auch als einen beſonderen in uns feſt⸗ 
zuhalten, ihn auch durch ein äußeres Zeichen — denn 
am Zeichen hält der Geiſt die Welt — von allen 
ſeinen Vorgängern und Nachfolgern zu unterſcheiden 
ſuchen. So oft wir hier zuſammen gewefen ſind, iſt 
der Geiſt der Schönheit und der Freiheit, wie er uns 
von den Alten überliefert worden, wie ihn unſere He⸗ 
roen: Leſſing, Goethe, Schiller, von den Alten in ſich 
aufgenommen und fortgebildet haben, der Schutzgeiſt 
geweſen, der uns hier verbunden hat. In uns Allen 
iſt dieſer Geiſt mächtig und mächtiger geworden, und 
wie verſchieden die Berufsarten und Charaktere unter 
uns auch ſein mögen, in uns Allen iſt es lebendig 


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das Pflichtgefühl, welches das Gute um des Guten 
wegen will und thut, und das Bedürfniß, die Schön⸗ 
heit und die Poeſie nicht nur im Geiſte anzuerkennen 
und zu verehren, ſondern die Wirklichkeit, das Leben 
und den Tod, durch Freiheit zu adeln, durch Schön— 
heit zu verklären und ſie damit zur Poeſie zu erheben. 
Nun denn, meine Freunde! Es iſt die Pflicht, es 
iſt eine zwingende Nothwendigkeit, und es iſt zugleich 
eine freie Erkenntniß, welche Sie morgen für die Er⸗ 
haltung der Selbſtſtändigkeit unſeres Vaterlandes in 
den Kampf führen wird. Wie die Schickſalsſprüche 
dem Einzelnen von Ihnen fallen werden — wer will 
das vorausſehen? Aber dieſe Stunde iſt unſer! Heute 
leben Sie noch Alle im Vollgefühl der Jugend und 
der Kraft. Freuen wir uns deß! Scheuchen Sie von 
ſich die Bilder der Wehmuth, die trüben, herzerwei⸗ 
chenden Gedanken, welche die letzte Stunde Ihren 
Seelen etwa eingeprägt. Drücken Sie die Roſenkränze 
in Ihr Haar, und laſſen Sie uns die Augenblicke, 
die uns noch gemeinſam ſind, fröhlichen und freien 
Herzens verbringen, in erfreulichen Gedanken, in 
feſtem Glauben an den Sieg des Guten und des 
Wahren, und in der Hoffnung auf ein Wiederſehen, 
das wir, wenn der Kampf beendet, der Sieg errungen 


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fein wird, roſenbekränzten Hauptes, vollzählig wie in 
dieſer Stunde, hier in dieſem ſelben Raume feiern 
wollen! Alſo auf ein fröhliches Wiederſehen nach 
Kampf und Sieg!“ 

Er hatte bei den letzten Worten ſich den Kranz, 
der auf dem Mittelplatz des Tiſches lag, in ſein vol⸗ 
les graues Haar gedrückt, und ſelber mit dem Schöpf⸗ 
kruge aus dem großen Gefäße, in welchem das flüſſige 
Gold des duftenden Rheinweins erglänzte, ſeinen Becher 
gefüllt. Wie er nun mit der feinen Geſtalt, mit dem 
geiſtdurchleuchteten Antlitz, den Becher in der erhobe⸗ 
nen Rechten, unter den jungen Männern daſtand, 
Einen um den Andern mit ſeinen hellen Augen freund⸗ 
lich begrüßend, war es, als falle jedes Bangen und 
Sorgen des Momentes von ihnen ab, ja als wären 
ſie ſelbſt den Bedingungen ihres ganzen bisherigen 
Lebens weit entrückt, als tränken ſie den Quell der 
Vergeſſenheit aus den antiken Bechern, die ſie an ihre 
Lippen ſetzten. 

Die Herzen wurden ihnen frei und weit, ſie 
dachten nicht mehr rückwärts, nicht mehr an das, was 
dem Einzelnen angehörte, nicht mehr an die Familie 
und an das Vaterhaus. Vorwärts und auf das All⸗ 
gemeine wendeten ſich die Blicke und die Gedanken, als 


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ſie, dem Beiſpiel ihres Wirthes folgend, wie er ihr 
Haar bekränzten, wie er ſich lagerten auf den Pol⸗ 
ſtern um den dreiſchenkligen Tiſch, und weit fortge⸗ 
tragen in die Regionen des freien Denkens, waren 
ihnen als ſie ſich trennten, weil die Regimenter mit 
Tagesanbruch auf den Sammelplätzen zu erſcheinen 
hatten, zwei ſchwungvolle und geiſtdurchleuchtete Stun⸗ 
den wie im Flug vergangen, und man ſchied mit 
einem freudigen und zuverſichtlichen: auf Wiederſehen!“) 

Arm in Arm gingen Egon und Johannes von 
dem Feſte heim. Sie hatten ihren Weg durch den 
Park zu machen. Die Nacht war warm, der Mond 
durchleuchtete ſie und ſtrömte ſein Licht durch das 
dichte Laub der Bäume auf die beiden Jünglinge her⸗ 
nieder. 

„Claudius iſt doch ein prächtiger Menſch!“ ſagte 
Egon, als ſie eine Weile neben einander hingegangen 
waren; „und was ich am meiſten an ihm ſchätze und 
ihm nachzuahmen lernen möchte, das iſt die Art und 
Weiſe, mit welcher er raſch und leicht über das, was 
er das Perſönliche, das Zufällige, das Vergängliche 
nennt, zu dem Allgemeinen und dem verhältnißmäßig 


*) Einem in Berlin von Landwehroffizieren wirklich be- 
gangenen Abſchiedsfeſte nacherzählt. 


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Dauernden hinwegzugehen vermag, Es iſt wahrſchein⸗ 
lich Keiner unter uns Allen, dem er nicht für die Cam⸗ 
pagne irgend Etwas mitgegeben, oder deſſen Angele⸗ 
genheiten hier in Obhut zu nehmen er ſich nicht er⸗ 
boten hätte. Es iſt ihm nichts zu gering, es iſt ihm 
Alles wichtig, was den einzelnen Menſchen betrifft, 
und doch vermag er es immer, über die Schickſale des 
Einzelnen hinweg das große Ganze freien Sinnes in's 
Auge zu faſſen. Das iſt groß und ſchön.“ 
„Gewiß!“ bekräftigte Johannes. „Es fiel mir 
eben heute auf, wie bewegt er war, als er von uns 
ſchied; aber wenn von uns Allen Keiner wiederkehrte, 
würde das, ich bin des völlig ſicher, nicht den Gleich⸗ 
muth ſeiner Seele trüben, vorausgeſetzt, daß mit 
unſerem Tode die Einigung und die Freiheit Deutſch⸗ 
lands gefördert worden wären; und ſo ſoll es ja auch 
ſein. Das Schiller'ſche Wort iſt wahr: Setzen wir 
nicht das Leben ein, nie wird uns das Leben gewon⸗ 
nen ſein! — Aber was ein durchgeiſtetes Feſtmahl in 
ſeiner Gemeinſamkeit bedeutet, wie es dem Einzelnen 
die Kraft der Geſammtheit einflößt, das habe ich bis 
heut doch noch nicht gewußt; ja ich habe mich eigent⸗ 
lich nie ſo wie jetzt völlig frei und, ich möchte ſagen, 
fo unbekümmert um Alles gefühlt, was mich ſelbſt be- 


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trifft. Es hat doch Jeder von uns Menſchen, an 
denen er hängt, Dinge, auf die er Gewicht legt. Ich 
habe mich die Tage, wenn ich neben meinem Bruder 
geſeſſen habe, wohl gelegentlich auf dem Gedanken an⸗ 8 
getroffen: ob ich ihn wiederſehen würde, nachdem wir 
morgen zu unſern Regimentern abgegangen ſein wer⸗ 
den? Heute denke ich: was kommt's darauf an! Dem 
Ueberlebenden iſt die Erinnerung an den Todten un⸗ 
verlierbar, und fallen wir Beide, nun ſo rollen die 
Welten ihre Bahnen gerade ſo weiter fort wie jetzt, 
der Mond ſcheint eben ſo ſchön und die Nachtigallen 
ſchlagen und locken, ſo wie in dieſer Stunde.“ 

Egon ſeufzte und drückte dem Freunde die Hand. 
„Du haſt keine Mutter!“ ſagte er, „keine Mutter, die 
einſam und kränkelnd die Minuten der Sorge ſchwer 
wie Jahre auf ſich laſten fühlt. — Sieh!“ rief er, 
„ich darf es ſagen, denn es fehlt mir nicht an Muth, 
der Gedanke an die Mutter lähmt mir den Aufſchwung 
des Geiſtes. Aus dem Becher voll hellen Weins, 
zwiſchen den Roſenkränzen um Eure Häupter, habe 
ich ihre weinenden Augen geſehen; mitten in den Wor⸗ 
ten des Feſtes, die mich emportrugen wie Euch, habe 
ich doch ihren verzweifelten Ausruf gehört: ich habe 


nur Dich! nur Dich! was wird aus mir, wenn Du 
van, Lewald, Neue Erzählungen. 2 


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nicht wiederkehrſt? — Ich ſchelte mich um dieſer 
Schwäche willen; ich ſage es mir wie Du, was gilt 
das Loos des Einzelnen? Ich halte mir vor, daß fie 
die Frau eines Soldaten war, die Mutter eines Sol⸗ 
daten iſt, daß ſie gefaßt ſein müßte auf Alles, was 
da kommen kann, aber ich frage mich doch ſelber immer 
wieder: was wird aus ihr? — Der Gedanke, meine f 
Mutter, deren ganzes Leben ſo ſchwer geweſen iſt, auf 
fremde Hülfe angewieſen, in Noth und Elend zurück 
zu laſſen, raubt mir alle Ruhe.“ 

„Egon!“ rief der Freund, „bin ich nicht da? — 
Warum haſt Du mir das verborgen, da ich Dir hätte 
die Laſt vom Herzen nehmen können? Mein Bruder 
bedarf meiner in keinem Falle. Heute noch, gleich 
wenn ich nach Hauſe komme, will ich meinen letzten 
Willen zu Papier bringen. Falle ich, ſo ſoll was ich 
beſitze, Dir gehören, um Dir ein freies Herz zu ſchaf⸗ 
fen. Kehrſt Du nicht wieder — ich habe ja nicht 
Vater und nicht Mutter — ſo ſoll Deine Mutter 
fortan die meine ſein; und kommen wir Beide aus 
dem Felde heim, nun,“ und er ſchüttelte bei den Wor⸗ 
ten dem Freunde treuherzig die Hand, „dann ſind wir 
Freunde und Brüder wie bisher, und Deine Mut⸗ 
ter hat zwei Söhne, die künftig für ſie ſorgen. Und 


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nun laß uns raſch vorwärts gehen, damit ich dieſes 
Teſtament noch ſchreiben kann. Dann adreſſiren wir 
die Schrift an Claudius und bitten ihn, ſie zu eröff⸗ 
nen, wenn ich nicht wiederkehren ſollte.“ 

Er ſprach das mit der friſchen Entſchiedenheit, 
die in ſeinem ganzen Weſen lag, Egon konnte ihm 
lange Nichts erwidern, bis er endlich in die Worte 
ausbrach: „Du biſt ſehr gut und ich nehme es an. 
Mehr kann ich Dir nicht ſagen; aber glaube mir, ich 
werde Dir es nicht vergeſſen, und was Du im Leben 
immer von mir fordern magſt, mahne mich an dieſe 
Stunde, und ich will es thun. Jetzt bin ich frei und 
heute zum erſten Male ſchlägt mein Herz mit frohem 
Schlage dem lang erſehnten Entſcheidungskampf ent⸗ 
gegen. 


2* 


Drittes Capitel. 


Der Feldzug war kurz und entſcheidend geweſen, 
ſchon im Herbſte kehrte der größte Theil der ſiegreichen 
Truppen in die Hauptſtadt zurück, und die glückwün⸗ 
ſchenden Hoffnungen, welche Claudius bei dem Ab⸗ 
ſchiedsfeſte für ſeine jungen Freunde ausgeſprochen, 
ſchienen ihnen Heil gebracht zu haben, denn es fehlte 
Keiner von ihnen in den Reihen der Sieger. Aus 
den furchtbaren Schlachten von Gitſchin und Trautenau, 
von Sadowa und Königgrätz waren ſie theils völlig 
rüſtig, theils mit mehr oder weniger leichten Verwun⸗ 
dungen zurückgekehrt, die für ihre Zukunft nicht das 
mindeſte Bedrohliche hatten. 

Sie hatten ſich Alle brav gehalten; Egon vor 
Allen hatte ſich hervorgethan. Auf dem Schlachtfelde 
ſelbſt war er befördert worden, der Kronprinz von 
Preußen hatte ihm den Orden eigenhändig zugetheilt, 


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und wie er dann nach dem feierlichen Einmarſche der 
Truppen mit ſeinem Johannes vor die Mutter hinge⸗ 
treten war, wie er ihr berichtet, was zwiſchen ihm 
und ſeinem Freunde in jener Nacht geſchehen, und wie 
die beiden hochgewachſenen, breitbrüſtigen Geſtalten 
ſich zu Frau von Raven niederbeugten, ihre Hände zu 
küſſen und es ihr zu wiederholen, daß nun alle Sorge 
für fie verſchwinden ſolle, da Egon's Gehalt ſich ge— 
ſteigert hatte, da Johannes dem Ende ſeiner medizi⸗ 
niſchen Prüfungen nahe ſei und dann mit ſeiner 
Praxis mehr Geld verdienen werde als er brauche, 
da war aus den lebensfrohen Geſichtern der jungen 
Männer wie ein Strahl von neuer Jugend über das 
Antlitz der ſchönen Matrone geglitten, und Johannes 
hatte fröhlich ausgerufen: „Heute aber ſieht Deine 
Mutter ſo jung und ſchön aus wie auf dem Bilde, das 
Du von ihr aus ihrer Jugend haſt; und heute bitte 
ich es mir von ihr aus, daß ſie mich an Kindesſtatt 
annimmt, und daß ich auch eine Mutter an ihr be⸗ 
komme, die mich umarmt und Du nennt, wenn ich 
ein guter Sohn bin ſo wie Du, und die mir nichts 
durchgehen läßt und mich tüchtig auszankt, wenn ich 
gegen irgend eines der Gebote ſündige, auf die fie 
hält.“ 


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Er hatte dabei nach feiner Weiſe allerlei Scherz 
und Thorheit getrieben, um der Rührung und dem 
Danke der Mutter vorbeugend zu wehren; und wie 
Liebende einen Genuß darin finden, es einander zu 
beweiſen, in weſſen Herzen die Neigung ſich früher 
bewußt geregt habe, ſo gefielen die Freunde ſich darin, 
es Frau von Raven zu erzählen, was der Eine dem 
Andern in den Schrecken und Nöthen dieſes Feldzuges 
an Treue und Hülfe geleiſtet habe, was man einander 
ſchuldig geworden ſei. Jeder von ihnen vergaß des 
eigenen entſchloſſenen Muthes, um vor der Frau, die 
nun auch Johannes ſeine Mutter nannte, nur der 
Tapferkeit und Bravheit des Andern zu gedenken. 
Die Unzertrennlichen waren nun erſt recht unzertrenn⸗ 
lich geworden, und der Herbſt und der Winter ſahen 
ſie in der einigſten Gemeinſamkeit. 

Freilich hatte das Mitwochskränzchen nach dem 
Feldzuge ſich nicht wieder zuſammen gefunden. Faſt 
die Hälfte ſeiner Theilnehmer war durch die Forde⸗ 
rungen der verſchiedenen Berufsarten von der Haupt⸗ 
ſtadt entfernt worden; Claudius mußte aus Rückſicht 
auf feine Geſundheit den Winter in einem ſüdlichen 
Klima zubringen; der Bruder von Johannes, der ſchon 
vor dem Kriege verlobt geweſen war, hatte ſich gleich 


23 


nach dem Feldzuge verheirathet, und da ſeine Frau 
begütert war, ein Landhaus vor der Stadt bezogen; 
aber die Unzertrennlichen fühlten ſich durch dieſe Ver⸗ 
änderung nicht beeinträchtigt. Sie ſtanden Beide auf 
jenem angenehmen Punkte des Lebens, an welchem 
die Zeit der Examina mit ihren Zwangsarbeiten und 
Unſicherheiten hinter ihnen lag. Egon trat in dieſem 
Winter zum erſten Male als Oberlieutenant in der 
Geſellſchaft auf, man hatte ihn obenein als Hilfsar⸗ 
beiter in dem Generalſtab angeſtellt, er war ſorgen⸗ 
freier als in früheren Jahren, die Hiebwunde ent⸗ 
ſtellte ſeine Stirne nicht, der Vollbart, den er ſich im 
Kriege hatte wachſen laſſen, ſtand ihm zu ſeinem ern⸗ 
ſten Geſichte trefflich an, und ſo wenig er auf Aeußer⸗ 
lichkeiten Werth zu legen glaubte, hob er ſich doch 
ſtolzer, ſeit er die empfangenen Ordenszeichen als 
Lohn für ſeine beſondere Tapferkeit auf ſeiner Bruſt 
trug. — Johannes hinwiederum hatte ſeine medizi⸗ 
niſchen Prüfungen ſammt und ſonders beſtanden, hatte 
unfern von dem Hauſe, in welchem Egon mit ſeiner 
Mutter lebte, ſich eine Wohnung eingerichtet, feine Praxis 
angefangen, und da er ein geſchickter Spezialiſt war, ſah 
es aus, als würde er es ſchneller zu einer einträglichen 
Kundſchaft bringen, als es gewöhnlich zu geſchehenpflegte. 


a 


Daß zwei ſolche junge Leute fich einer zuvor⸗ 
kommenden Aufnahme in den Kreiſen der Geſellſchaft 
verſichert halten durften, verſteht ſich ganz von ſelbſt, 
aber obſchon ſie Beide nicht gleichgiltig gegen die 
Reize der Geſelligkeit, und noch weniger unempfindlich 
für den Reiz der Schönheit waren, ging der Winter 
mit ſeinen rauſchenden Vergnügungen und gingen die 
zahlreichen weiblichen Bekanntſchaften an ihnen vor⸗ 
über, ohne daß Einer von ihnen einen tiefern Ein⸗ 
druck davon empfangen hätte. Zwar gefiel Johannes 
ſich darin, vor der Mutter ſeiner Erlebniſſe, ſeiner 
kleinen Galanterien zu gedenken, er machte auch für 
ſich und für Egon Heirathsplane, aber Egon liebte 
ſolche Scherze nicht. Die Liebe war für ihn ein 
Heiliges, und im Grunde wußte Jeder von ihnen, daß 
der Andere noch völlig freien Herzens ſei und an das 
Heirathen vorläufig nicht denke. 

Gegen das Frühjahr aber, als die eigentliche Zeit 
der Geſellſchaften ſchon vorüber war, und die Frem⸗ 
den und der reiche Adel der Provinzen, den die Ver⸗ 
gnügungen des Winters in die Reſidenz geführt hat⸗ 
ten, ſich zur Abreiſe zu rüſten begannen, kam Jo⸗ 
hannes, der es ſich nach dem Kriege ausgewirkt hatte, 
mit Frau von Raven und ihrem Sohne alltäglich die 


25 


Mittagsmahlzeit einzunehmen, um die gewohnte Stunde 
in das Haus, und fand, daß man in dem erſten 
Stockwerk, welches während des Winters von der Fa⸗ 
milie eines Abgeordneten eingenommen worden war, 
ſich mit einer Umſtellung der Möbel beſchäftigte. 
Seine gleichmüthig gethane Frage, ob die bisherigen 
Bewohner das Haus etwa verlaſſen hätten, bejahte 
Frau von Raven. | | 

„Sie find bereits auf ihre Güter gegangen,“ 
ſagte ſie, „und ein Engländer hat die ganze Etage 
jetzt auf Jahr und Tag gemiethet. Er muß ein ſon⸗ 
derbarer Kauz ſein.“ 

„Sonderbar ſchon dadurch, daß er ſich in dieſem 
gar nicht vornehmen Stadttheile eingemiethet hat,“ ent⸗ 
gegnete Johannes. 

„Und doch muß er ein reicher Mann ſein,“ 
meinte Frau von Raven. „Wie die Wirthin mir er⸗ 
zählte, hat er wenigſtens die Grillen eines ſolchen; 
auch bringt er nicht nur eine Tochter und mehrere 
Dienſtboten, ſondern vier Pferde und eine ganze Me⸗ 
nagerie von Hunden mit. Haben Sie einen Garten? 
aber einen großen Garten und mit hohen Mauern, 
daß man nicht darüber fortkann? hat er ſie gefragt, 
noch ehe er die Wohnung angeſehen. Die Wirthin 


26 


hat alſo gemeint, daß er vielleicht einen Geiſteskranken 
unterzubringen habe, und hat ihm den Schatten und 
die Stille ihres Gartens angeprieſen. Oh, ſie brauchen 
keinen Schatten! ſie brauchen nur viel Platz, meine 

Hunde und ſie dürfen nicht entlaufen können! hat er . 
ihr geantwortet. Dann hat er ſich erkundigt, wer 
ſonſt noch im Hauſe wohne? ob jemand Anders in 
dem Hauſe Hunde halte? ob Niemand in den Garten 
kommen könne, der keine Hunde liebe? Als er dar⸗ 
auf über alles dieſes beruhigt worden, hat er ſich 
eben ſo ſorgfältig nach der Stallung für die Pferde 
umgethan, ſich eben ſo über deren beſtes Unterkommen 
zu verſichern geſtrebt, und erſt als er mit der Vor⸗ 
ſorge für die Thiere fertig geweſen, iſt er hinaufge⸗ 
gangen ſich die Zimmer anzuſehen, in denen man nun 
nach ſeiner Angabe Alles umſtellt und umräumt, damit 
er ſich eine Badeſtube, eine Stube für ſeine gym⸗ 
naſtiſchen Uebungen, und ich weiß nicht, was noch 
Alles, einrichten kann. Da ſie ihn endlich gefragt 
hat, welches Zimmer er für ſeine Tochter beſtimme? 
iſt er aus dem Hauſe in den Garten und geraden 
Weges auf das kleine Gewächshaus zugegangen, in 
dem man Winters die Pflanzen aufbewahrt. „Ich 
will dies Haus auch haben,“ hat er geſagt, „Miß Ernsby 


27 


wird hier wohnen! hier iſt's warm, und hier geht die 
Luft hindurch, das braucht Miß Ernsby. Sie iſt 
nicht gewohnt an ſolche Häuſer, ſie iſt gewohnt an 
Sonne und an viele Luft, an ſehr viel Luft!“ — 
Seitdem arbeitet man ohne Unterlaß. Sie legen Tep⸗ 
piche in das kleine Treibhaus, ſetzen neue Glasſchei⸗ 
ben ein, und bringen Jalouſieen an. Es werden Pol- 
ſter hineingetragen, auch ein Vogelhaus mit allerlei 
Gevögel habe ich hineinbringen ſehen, und es iſt heute 
eine Unruhe und eine Haſt in dem Hauſe, als ob es 
brennte und man retten ſollte.“ 

Johannes und der inzwiſchen heimgekehrte Egon 
ſahen eine kleine Weile am Fenſter ſtehend, das nach 
dem Garten ging, der Raſtloſigkeit der Arbeitenden zu, 
und lachten über den ſteifen Engländer, der in all der 
Unruhe langſam gemeſſenen Schrittes mit den Armen 
beſtimmte heilgymnaſtiſche Bewegungen ausführend, 
den Mittelweg des Gartens hin und wieder ging. 

Den ganzen Tag und auch die nächſten Tage 
blieb man mit der Einrichtung beſchäftigt. Der Eng⸗ 
länder hatte während deſſen das von ihm gemiethete erſte 
Stockwerk bezogen, ein Diener in regelrechteſter Klei⸗ 
dung mit der weißeſten Kravatte, das Haar tadellos 
geſcheitelt, ging hinter den Glasfenſtern des Corridors 


28 


einher, während die Tapezierer fie verhingen; ein eng⸗ 
liſcher Kutſcher, ein engliſcher Reitknecht und ein halb⸗ 
wüchſiger Burſche waren in der Remiſe und in dem 
Stalle beſchäftigt, nur von der Tochter, welche das 
luftige, ſonnige Treibhaus bewohnen ſollte, war noch 
Nichts zu ſehen. | 

Die Nachbarſchaft war völlig in Aufregung ge⸗ 
rathen durch die Anſiedelung dieſes Engländers. Man 
war derlei in dem entlegenen Stadttheile nicht gewohnt, 
in welchem ſonſt Landedelleute oder Offiziere, und 
überhaupt ſolche Leute ihr Quartier zu nehmen pfleg⸗ 
ten, welche Wagen und Pferde hielten und für eine 
verhältnißmäßig geringe Miethe viel Raum zu haben 
wünſchten. Da aber nichts anſteckender iſt als eine 
müßige Neugier, fo wurde die Tochter der Luft, oder 
die Sonnenkönigin, wie Johannes die erwartete Unbe⸗ 
kannte nannte, für ihn ein Gegenſtand des Scherzes, 
der durch das Treiben und Handtieren in dem Gar⸗ 
tenhauſe immer wieder neue Nahrung erhielt. 
| Nahezu eine Woche war fo hingegangen, als 
Egon eines Morgens, da er dem Freunde zufällig auf 
der Straße begegnete, ihn mit dem Ausrufe begrüßte: 
„Sie iſt dal“ 

„Nun und was weiter?“ fragte der Doktor. 


29 


„Weiter Nichts! Geſtern Abend war das Treib⸗ 
haus ſchon von acht Uhr ab mit allen ſeinen Gas⸗ 
lampen hell erleuchtet; und gegen elf Uhr iſt ſie endlich 
angekommen.“ Er lachte dazu, und meinte; „Ich habe 
es jetzt recht geſehen, wie doch in Jedem von uns 
ein Stück Phantaſtik ſteckt, und wie wir im Grunde 
Alle des täglich gleichen bürgerlichen Lebens überdrüſ⸗ 
ſig ſind.“ 

Johannes wollte wiſſen, wie der Freund das 
meine? | 

„Sehr einfach!“ entgegnete der Lieutenant. „Es 
gibt doch kein gewöhnlicheres und natürlicheres Er⸗ 
eigniß, als daß ein wohlhabender Mann ein paar 
Hunde hat, Wagen und Pferde hält, es ſich auf ſeine 
Weiſe bequem macht, und für ſeine Tochter, die wahr⸗ 
ſcheinlich ein armes, krankes Weſen iſt, ein Treibhaus 
als Sommerſtube einrichtet. Aber ſolche Philiſter 
ſind wir, und ſo ſind wir eingezwängt in die Regel⸗ 
mäßigkeit unſerer Verhältniſſe, in die immergleiche 
Wohnungsweiſe und Zimmereintheilung in den Häu⸗ 
ſern, daß uns Menſchen anziehend werden, nur weil 
ſie ſich die Freiheit nehmen, von dieſer Ordnung ab⸗ 
zuweichen. Ihr ſpottet manchmal über unſere regel⸗ 
rechte Front und über das ewige Einerlei der Uni⸗ 


30 


form — und unſer ganzes Leben iſt nichts als eine 
Uniform und eine regelrechte Front. Wer davon auch 
nur um eine Linie abweicht —“ 

„Iſt gleich ein Deſerteur, und wird als ſolcher 
von der allgemeinen Regelrichtigkeit verdammt,“ fiel 
der Doktor ihm in die Rede, weil ähnliche Erörterun⸗ 
gen zwiſchen Egon und ſeinen Freunden ſchon öfter 
vorgekommen waren; „aber,“ fügte er heiter hinzu: 
„ein armes, krankes Geſchöpf iſt die Sonnenkönigin 
gewiß nicht. Daß ſie eine wundervolle Schönheit iſt, 
ſteht für mich feſt.“ 

„Durchaus nicht!“ meinte Egon, „alle Einrich⸗ 
tungen ſind wie für eine Kranke.“ 

„Wetten wir!“ rief Johannes. 

„Um was?“ erkundigte ſich der Freund. 

„Nun, um was anders, als um die Sonnenkö⸗ 
nigin ſelber? Wer recht hat, ſoll ſie haben.“ 

„Thorheit!“ wandte Egon ein, deſſen Ernſt ſich 

nicht leicht zu ſolchen Scherzen hergab. 
5 „Das würdeſt Du nicht ſagen, wenn der Vor⸗ 
theil nicht ſo völlig auf meiner Seite wäre; denn iſt 
ſie ſchön und fällt ſie alſo mir zu, nun, ſo habe ich 
eben das große Loos gezogen; und iſt ſie ein armes 
krankes Geſchöpf, und Du bekommſt ſie zugetheilt, ſo 


31 


gewinne ich eine reiche und intereſſante Kranke an 
Deiner Frau, und das iſt doch für unſer Einen auch 
nicht zu verachten. Alſo wetten wir und machen wir 
die Sache gleich auf friedliche Weiſe ab, denn daß 
wir uns alle Beide ſterblich in ſie verlieben, das iſt 
außer allem Zweifel.“ 

Es kam aber nicht zu einer ſolchen Wette, denn 
Bekannte, welche dazwiſchen traten, unterbrachen dieſen 
Scherz, und als Johannes ihn dann wieder aufnehmen 
wollte, meinte der Andere: „Laß doch die Narrens⸗ 
poſſen! Ich kann über ſolche Dinge eigentlich nie 
freien Herzens ſcherzen. Denn die Sache würde mir 
ſicherlich einfallen, wenn ich vor dem Mädchen ſtände, 
und der Gedanke würde mir den Verkehr mit ihm 
verleiden, wenn es überhaupt zu einem ſolchen kom⸗ 
men ſollte, wozu ja gar kein Anlaß da iſt.“ 


Viertes Capitel. 


Es war aber gerade, als ob die beiden Freunde 
ſich mit dem Scherz an jenem Morgen ein- für alle⸗ 
mal genug gethan hätten; denn ſie kamen nicht wieder 
auf die Engländer zurück und man hörte und ſah auch 
nicht mehr viel von ihnen. Auf den Treppen und 
Fluren war die alte Ruhe und Ordnung bald wieder 
hergeſtellt, Frau von Raven, die überhaupt äußerſt zu⸗ 
rückgezogen lebte, kannte, wie das in großen Städten 
meiſt der Fall iſt, von den ſämmtlichen Bewohnern 
des Hauſes Niemand als die Beſitzerin, mit der ſie 
einen freundlichen, aber auch nur ſeltenen Verkehr un⸗ 
terhielt, und die ſie in den letzten Tagen eben nicht 
geſehen hatte; und die jungen Männer waren von 
ihren Geſchäften hingenommen. Für Egon hatten die 
Frühlingsmanöver angefangen, Johannes hatte ein 
paar ſchwere Erkrankungen in der Armenpraxis, die 


33 


ihm oblag, und es mochten mehr als acht Tage ver- 
gangen ſein, als er eines Morgens um die gewohnte 
Stunde in des Freundes Stube trat, und dieſen, von 
der Gardine halb verborgen, aus ſeinem dritten Stock— 
werk in den Garten hinabſchauen ſah. 

„Komm ſchnell! ehe ſie fortgeht!“ rief er, ſich zu 
Johannes wendend, „ſolch ein Mädchen habe ich noch 
nicht geſehen!“ 

Im nächſten Augenblicke war der Freund an 
ſeiner Seite, und auch er glaubte ein Phantaſiegebilde 
vor ſich zu haben, als er die junge Schönheit ſah, 
welche in der Hängematte unter den Platanen ruhte. 

Die Bäume fingen eben erſt an ihre Blätter zu 
entfalten, das volle Sonnenlicht fiel alſo auf die 
ſchlanke Geſtalt der Ruhenden hernieder, und man 
konnte jeden Zug des reizenden, von langen, ſchwar— 
zen Locken reich umwallten Geſichtes unterſcheiden. 
Alle Formen deſſelben waren ſchön, aber fremdartig 
wie die ganze Erſcheinung ſelber. Man hätte nicht 
jagen können, daß dies Mädchen eine Brünette ſei, 
denn ihre Haut war weiß, indeß es fehlte ihren Wan- 
gen jede Röthe, und die großen, dunklen Augen und 
das dunkle Haar machten ſie noch bleicher ausſehen. 
Sie hatte die Arme unter dem Kopfe e die 


Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 


34 


Füße zierlich gekreuzt, und ſah ungeblendet von dem 
hellen Lichte zu dem Himmel empor, an welchem leich⸗ 
tes ſchimmerndes Gewölk fliehend und ziehend vorüber⸗ 
ſchwebte. 

„Ja,“ rief Johannes, nachdem er ſie eine Weile 
betrachtet hatte, „das iſt eine Schönheit; aber die iſt 
nicht in unſerer europäiſchen Welt zu Hauſe; dahinter 
ſteckt, wenn auch im dritten, vierten Gliede, ein an⸗ 
deres Blut.“ Und noch einmal hinſchauend und ſie 
wieder betrachtend, ſagte er: „Wie ſie wohl heißen 
mag?“ | 

„Ich habe mich ſchon die ganze Zeit gefragt,“ 
entgegnete ihm Egon, „was ſie wohl denken mag? — 
Denn ſo regungslos wie jetzt, lag fie ſchon vor zwei 

Stunden da, als ich nach Hauſe kam.“ 

„Was ſie denken mag?“ fiel ihm Johannes ein. 
„Nun, ſie wird ſich wohl verwundern über die kahlen 
Bäume, über den fahlblauen Himmel und den bleichen 
Sonnenſchein, die man ihr hier für Frühling ausgiebt. 
Sie ſucht ja mit den ſchönen Augen offenbar nach 
etwas. Sie ſucht die Lianen und Bananen und die 
großen Schmetterlinge und die Lory's und die Papa⸗ 
geien ihrer Urwälder, unter denen ſie aufgewachſen iſt. 
Wie kann man ſolch ein Weſen auch zwiſchen die 


35 


Hinterhäuſer und Schornſteine einer großen nordiſchen 
Stadt einſperren? Was ſoll ſie hier? Für ſolch ein 
Weſen iſt ja unſer Sommer hier ein wahres Gift! 
Die hat den Süden und die Alpen nöthig, die muß 
mindeſtens nach Südtyrol!“ 

Der Lieutenant konnte ſich des Lachens nicht er⸗ 
wehren. „Gib doch Deine Conſultationen nicht um⸗ 
ſonſt!“ ſagte er ſcherzend. „Du ſollteſt kurzen Prozeß 
machen. Geh' hinunter, ſchicke Deine Karte hinein 
und ſtelle es dem Vater menſchenfreundlich vor, daß 
ſeine Tochter im Sommer hier nicht bleiben darf. 
Du thuſt damit vielleicht ein gutes Werk, und wenn 
wir den reizenden Anblick auch verlieren, ſo erfahren 
wir doch, wie ſie heißt, und am Ende nimmt man 
Dich als Reiſedoktor in die Alpen mit.“ 

„Wenn ich auch nicht Viſite machen gehe,“ gab 
Johannes ihm zur Antwort, „ſo brauchen wir doch 
hier nicht im Verſteck zu liegen. Zieh' die verdamm⸗ 
ten Vorhänge zurück. Wer im offenen Garten in der 
Hängematte liegt, muß ſich's gefallen laſſen, daß man 
ihn betrachtet, und im Grunde ſind wir doch auch ein 
hübſcher Anblick und beſſer als die leere Wand!“ — 
Er ſchob damit die Gardine fort, legte ſich in das 
Fenſter und fing, da die Schöne dieſes in ihrer träu⸗ 

9% 


[97 


36 


meriſchen Verſunkenheit nicht gewahrte, eines der mun⸗ 
teren Frühlingsliedchen zu ſingen an, deren wir Deutſche 
ſo gar viele und ſo ſchöne haben. 

Die heiter jubelnde Melodie, die friſche Stimme 
des Doktors überraſchten das junge Mädchen. Es 
richtete ſich auf, legte die Hände um die emporgezogenen 
Kniee, und daſitzend wie ein Kind, und arglos wie ein 
Kind zu dem fremden Manne in die Höhe hinſehend, 
ſchien es zu erwarten, daß der Sänger fortfahren 
werde zu ſingen. Aber er verſtummte plötzlich und 
mit einem kurzen: „Komm, laß uns gehen!“ ver⸗ 
ließ er das Fenſter und zog den Freund mit ſich 
hinweg. | 

Der günſtige Zufall, welcher meift ein treuer Ge⸗ 
fährte der Jugend zu ſein pflegt, kam auch der Neu⸗ 
gier unſerer Freunde ſchnell genug entgegen. Gleich 
am folgenden Tage, als Johannes Mittags aus der 
Wohnung der Frau von Raven hinunterkam, traf er 
auf der Treppe einen ſeiner Univerſitätslehrer, der 
durch die Behandlung von Bruſtkranken berühmt war. 
Er hatte einen berathenden Beſuch in der engliſchen 
Familie gemacht, begrüßte den jungen Doktor, welcher 
ein beſonderer Günſtling von ihm war, und forderte 
ihn auf, mit ihm zu fahren, ſo weit ihre Wege dieſel⸗ 


37 


ben wären; und wie ein Wort das andere gab, kam 
man auch auf die Engländer zu ſprechen. 

Der Profeſſor erzählte, daß der Vater gleich nach 
ſeiner Ankunft bei ihm geweſen ſei und ihn aufgefor⸗ 
dert habe, die Behandlung ſeiner Tochter zu über⸗ 
nehmen. Johannes fragte, was ihr fehle, ob fie bes 
denklich krank ſei? — 

„Sie iſt eigentlich gar nicht krank,“ entgegnete 
der Profeſſor, „aber man iſt auf dem beſten Wege, ſie 
umzubringen. Der Vater iſt ein reicher Mann, der 
in Weſtindien ſein Vermögen gemacht und dort eine 
Kreolin von ſpaniſcher Abkunft geheirathet hat. Die 
Frau iſt, wie er mir ſagt, noch jung an einer Herz⸗ 
krankheit geſtorben und hat ihm vier Kinder hinterlaſſen. 
Den einzigen Sohn und die älteſte Tochter hat er bald 
nach der Mutter Tode verloren, ſie hatten Beide das 
ſiebzehnte Jahr noch nicht erreicht. Als ihm dann auch 
die zweite Tochter mit vierzehn Jahren ſtarb, hat er 
Weſtindien verlaſſen, um ſich womöglich ſein letztes Kind 
zu retten. In England hat er ſich ſofort an einen ihm 
empfohlenen Arzt gewendet, und iſt, bei der Manie der 
Engländer für Wunderkuren, einem Charlatan in die 
Hände gefallen, einem jener Abhärtungs⸗Wütheriche, 
deſſen Regime der Vater ſich und die Tochter unter⸗ 


38 


warf. Die robuſte und zähe Natur von Herrn Ernsby 
hat ſich dabei ſehr gut befunden und er iſt dadurch in 
ſeinem Glauben an die Unfehlbarkeit des Wundermannes 
nur befeſtigt worden. Man hat das Mädchen die letzten 
Winter hindurch auf der Inſel Wight ſchwimmen, reiten, 
turnen laſſen, es Wind und Wetter ausgeſetzt, es mit 
Waſſerkuren maltraitirt, und iſt plötzlich höchlich er⸗ 
ſtaunt geweſen, als es in Ohnmachten und Fieber ver⸗ 
fallen iſt. Herzkrankheit und Abzehrung! haben die 
Herbeigerufenen geſchrieen, und da man dem Vater bei 
dieſer Gelegenheit meinen Namen genannt hat, ſo hat 
er mir das Kind hierhergebracht.“ 

„Und Sie meinen alſo, daß es mit ihr Nichts 
auf ſich habe?“ 

„Bei vernünftigem Verfahren ganz und gar Nichts. 
Die ſchöne Ramonna iſt kaum fünfzehn Jahre alt, aber 
ſie hat die Frühreife der Tropen, in denen ſie geboren 
und erwachſen iſt, und bei der Fülle und Schönheit 
eines fertigen Weibes iſt ſie aufrichtig und natürlich 
wie ein Kind. Nun hatte man ſie plötzlich in eine ihr 
ganz fremde Welt verſetzt, ſie nach der trägen Ruhe, 
an die ſie gewöhnt geweſen war, übermäßig angeſtrengt, 
und ihr dann ſchließlich den Glauben an ihren nahen 
Tod gegeben. Sie hat mich in der That gerührt. 


39 


Als ich ihr nach der Unterſuchung Muth zuſprach, Jah 
ſie mich an, als wolle ſie ſich überzeugen, ob ſie mir 
wohl glauben dürfe; dann nahm ſie meine Hände, 
küßte ſie, ehe ich's nur hindern konnte, und ſagte: 
„Sie ſind alle geſtorben: meine Mutter, mein Bru⸗ 
der, meine Schweſtern! Es war ſchrecklich, mein theu⸗ 
rer Doktor! Laſſen Sie mich nicht ſterben, lieber Dok⸗ 
tor! ich bin ja noch ſo jung!“ — Es war wirklich 
rührend das ſchöne exotiſche Geſchöpf! und es könnte 
gar nichts Geſcheidteres für das Mädchen geſchehen, als 
wenn der Vater ſeiner Wege ginge und die Tochter 
irgend einer verſtändigen Frau zur Pflege und zur 
Erziehung übergäbe, damit ſie Ruhe und maßvolle Zer⸗ 
ſtreuung hätte und durch gleichmäßige Beſchäftigung 
von ſich ſelber abgezogen würde.“ 

Der Profeſſor befahl darauf dem Kutſcher anzu⸗ 
halten, weil der Doktor in der Gegend einen Beſuch 
zu machen hatte. Er ſagte ſeinem jungen Collegen 
Lebewohl und Johannes ging und dachte an Ramonna. 

Es kam ihm vor, als ſei ſie eine ganz Andere 
geworden, ſeit er ſie mit ihrem Namen zu nennen 
wußte, ſeit er über ihre Vergangenheit unterrichtet 
war. Es ärgerte ihn, daß der Feldzug ihn um die 
Ausſicht gebracht hatte, bei dem Profeſſor als Aſſiſtenz⸗ 


40 


arzt einzutreten. Er hätte dann das ſchöne Mädchen 
täglich ungezwungen ſehen und ſprechen können, und 
wie hätte er über ſie wachen, ſie behüten wollen! — 
Er konnte an dem Tage nicht bei ſeiner Arbeit blei⸗ 
ben, ſeine Phantaſie ließ ihm keine Ruhe. Er ſah 
Ramonna unter den Palmen ihrer Heimath, an den 
ſchimmernden Ufern ihres Vaterlandes, dann wieder 
fiel es ihm ein, der Profeſſor werde dem Engländer 
vermuthlich zu einem Aufenthalt in dem Süden von 
Europa rathen und der reiche Mann könne vielleicht 
einen eigenen Reiſearzt verlangen. Wenn man ihn 
dazu erwählte! | 

Er lachte über fich ſelber, als er ſich in dieſen 
Luftſchlöſſern erging, aber es war eine Heiterkeit in 
ſeinem Herzen, als leuchtete mit Einem Male eine an⸗ 
dere, ſchönere Sonne von dem Himmel nieder, und 
doch zog es ihn urplötzlich mit einer Sehnſucht, die 
er nie zuvor gefühlt hatte, nach dem Süden, nach den 
Tropen hin, in denen die Wunderblume Ramonna auf⸗ 
gewachſen war. Er fühlte ſich der Proſa des täglichen 
Lebens ganz entrückt, es war ihm märchenhaft zu 
Muthe. Er hätte ſich thöricht ſchelten mögen, wäre 
er nicht ſo heiter geweſen. Aber ſonderbar genug, er 
hätte von dieſem Zuſtande zu Niemand ſprechen mögen; 


41 


und als er Abends an dem gewohnten Zuſammen⸗ 
kunftsorte den Freund nicht antraf, war ihm ſelbſt 
dies erwünſcht. Die ganze Nacht hindurch träumte 
er von Ramonna. Bald ſchaukelte er ſie wie ein Kind 
in ihrer Hängematte, dann ſaß er als Arzt an ihrem 
Sterbebette und ſie küßte ihm die Hände wie dem 
Profeſſor, und bat ihn, ihr das Leben zu erhalten, 
und er ſchloß ſie in ſeine Arme, ſie zu beleben, und 
als das noch nicht helfen wollte, nahm er das Herz 
aus ſeiner Bruſt und ſetzte es in die ihre. 

Er war ganz wüſt und wirr, als er am Mor- 
gen aufwachte und er wurde nicht beruhigt, als gleich 
in der Frühe Egon bei ihm erſchien. 

„Stelle Dir vor,“ ſagte Egon, „welch einen ſon⸗ 
derbaren Antrag man meiner Mutter geſtern noch ges 
macht hat. Du warſt kaum fortgegangen, als die Ge⸗ 
heimräthin, der das Haus gehört, zu uns heraufkam 
und die Mutter zu ſprechen begehrte. Sie ſagte, der 
Arzt habe dem Engländer den Rath ertheilt, die Toch⸗ 
ter durch leichte Beſchäftigung zu zerſtreuen und ihr 
eine fortdauernde, ſanfte und fie nicht aufregende Ge- 
ſellſchaft zu geben. Nun wolle das Mädchen Unter⸗ 
richt in feinen Handarbeiten nehmen, möchte auch ein 
wenig zeichnen, da ſie dieſes in England angefangen 


42 


habe, und da fie noch kein Deutſch verſteht und zufäl⸗ 
lig meine Mutter vor einiger Zeit geäußert hat, daß 
ihr doch bisweilen die einſamen Stunden recht fühl⸗ 
bar würden, fo iſt die Geheimräthin auf den Gedan⸗ 
ken gekommen, ob meine Mutter, die ja des Engliſchen 
völlig mächtig und ein wahres Genie in allen künſt⸗ 
lichen Arbeiten iſt, nicht täglich einige Stunden bei den 
Engländern zubringen wolle?“ 

„Und ſie hat es angenommen?“ rief Johannes 
mit einer Neidempfindung, die ſeinem Tone etwas 
Herbes gab. 

„Meinſt Du, daß ſie es nicht hätte thun ſollen?“ 
fragte Egon. 

„Sie hat es alſo angenommen?“ wiederholte Jener. 

„Noch nicht! Sie hat vorläuſig nur zugeſagt, daß 
ſie die Familie beſuchen wolle; und finden ſie gegen⸗ 
ſeitig Gefallen an einander, ſo kann der Verſuch ja 
gemacht werden. Es erwächſt dann für die Mutter 
vielleicht eine Zerſtreuung und, was ſie ja immer gern 
gehabt hat, um mir Freiheit zu laſſen, auch ein vor⸗ 
übergehender Erwerb daraus. Aber ſie muß erſt zu⸗ 
ſehen. Der Engländer iſt offenbar ein Sonderling, 
und mit reichen Sonderlingen muß man doppelt auf 
ſeiner Hut ſein.“ 


45 


Johannes entgegnete darauf Nichts. Das fiel 
dem Freunde auf. Er verlangte, daß Jener offen ſeine 
Meinung ausſprechen ſollte, das konnte Johannes nicht. 
Er meinte nur, es gefalle ihm nicht recht; und da Egon 
ihm einwendete, das ſei doch kein vernünftiger Grund, 
und man müſſe wiſſen, weshalb Einem eine Sache 
nicht gefalle, wurde Johannes gegen ſeine Gewohnheit 
ſo verdrießlich, daß er es endlich für nöthig fand, ſich 
mit einer ſchlafloſen Nacht und mit Kopfweh zu ent⸗ 
ſchuldigen. 


Fünftes Capitel. 


Ein paar Wochen ſpäter lagen die Verhältniſſe 
ganz anders. Frau von Ravens Bekanntſchaft mit der 
jungen Kreolin war für beide Theile erfreulich ausge⸗ 
fallen. Ramonna war ohne die Liebe einer Mutter 
aufgewachſen, die Majorin hatte nie eine Tochter ge- 
habt, das ſchöne junge Mädchen zog ſie an, und da 
ſie ſelber eine zarte und leicht erregbare Natur beſaß, 
wußte ſie am Beſten, wie man eine ſolche zu behan⸗ 
deln habe. 

Anfangs hatte fie dem Vater nichts weiter zuge⸗ 
ſagt, als Ramonna, wenn ſie könnte, täglich zu beſu⸗ 
chen und ſie ein paar Stunden dabei zu unterrichten; 
aber die Zahl dieſer Stunden war allmälig vermehrt 
worden, Frau von Raven hatte ſich mit der Zeit be⸗ 
reit finden laſſen, die junge Fremde auf ihren Spa⸗ 
zierfahrten zu begleiten, Morgens gelegentlich mit ihr 


45 


einen Gang in das Freie zu machen oder ihr eine der 
Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen, und beiden 
Frauen that dies äußerſt wohl. Es war unverkenn⸗ 
bar, daß Ramonna ſich erholte, daß ſie heiterer wurde, 
und es war daher nur ganz natürlich, daß der Vater 
auf den Rath des Arztes, daran dachte, der Tochter 
die ihr zuſagende Pflege und Geſellſchaft dauernd zu⸗ 
zuſichern, beſonders da ihm ſelber die Möglichkeit dar⸗ 
aus erwuchs, mit ſeinen Hunden und Pferden Meilen 
weit in der Gegend herumzuſtreifen. Noch ehe alſo der 
Monat zu Ende gegangen war, hatte Frau von Raven 
ſich bereit erklärt, die ganzen Tage mit dem Mädchen 
zuzubringen, das ihr immer lieber wurde, je länger 
ſie es kannte. 

Eine völlige Veränderung in allen ihren Gewohn⸗ 
heiten war davon die nächſte Folge, und ihre eigene 
Häuslichkeit wurde natürlich dadurch umgeſtaltet. Da 
ſie mit den Engländern auch die Mahlzeiten einnahm, 
waren Egon und Johannes genöthigt, außer dem Hauſe 
zu ſpeiſen. Der Lieutenant ſchloß ſich ſelbſtverſtänd⸗ 
lich der Tafel ſeines Regiments an, Johannes beſuchte 
ein anderes Speiſehaus, und wie der Erſtere gelegent- 
lich von ſeinen Kameraden für die Abendſtunden in 
Beſchlag genommen wurde, ſo kam der Doktor nun 


46 


auch öfter mit feinem verheiratheten Bruder und deſſen 
junger Frau zuſammen, und Egon und Johannes 
waren endlich darüber ganz verwundert, wie die Tage 
hinſchwanden, ohne daß ſie einander begegneten. Aller⸗ 
dings hatte man ſich dann nur um ſo mehr zuſagen, aber 
Johannes fragte gewöhnlich nur nach Frau von Raven, 
nicht nach der Kreolin; Egon zögerte ebenſo, das Ge— 
ſpräch auf ſie zu bringen, bis er, in der Regel, kurz 
ehe man ſich trennte, plötzlich von ihr zu ſprechen 
anfing. 

Eines Tages jedoch, als er vom Dienſt heim⸗ 
kehrte, trat er eilig und offenbar in angeregter Stim⸗ 
mung bei dem Freunde ein, und noch ehe er den Helm 
abgelegt und den Säbel abgeſchnallt hatte, ſagte er: 
„Geſtern Abend bin ich bei den Engländern geweſen!“ 

„Du hatteſt alſo vorher einen Beſuch gemacht? 
Das haſt Du mir nicht geſagt.“ 

„Nein!“ entgegnete Egon, „ich bin vorher nicht 
dort geweſen. Ich hatte das eben um der Verhält⸗ 
niſſe willen, in denen meine Mutter zu den Leuten 
ſteht, vermieden. Es paßte mir nicht, mich ihnen halb⸗ 
wegs zwangsweiſe aufzunöthigen. Vorgeſtern hat aber 
Herr Ernsby meine Mutter gefragt, ob ſie ſich ent⸗ 
ſchließen könnte, ſeine Tochter nach der Schweiz zu 


47 


begleiten, wo ſie eine Badekur gebrauchen ſoll, und 
meine Mutter hat Bedenken gehegt, dies ohne eine 
Rückſprache mit mir zuzuſagen. Als ſie mich genannt 
hat, iſt Herr Ernsby plötzlich aufmerkſam geworden, 
wie wenn er zum erſten Male von mir reden hörte, 
obſchon Du wohl denken kannſt, daß die Mutter mei⸗ 
ner auch vorher Erwähnung gethan haben wird.“ 

„Glauben Sie, daß der Lieutenant dawider ſein 
könnte?“ hat er mit jener Theilnahme gefragt, die er 
immer an den Tag legt, wo es die Wünſche ſeiner 
Tochter gilt. 

„Die Mutter hat entgegnet, daß ihre Geſundheit 
nicht zuverläſſig, daß ſie des Reiſens nicht gewohnt ſei. 

„Sie ſollen jegliche Bequemlichkeit haben, und 
Durward, der ein vorzüglicher Courier iſt, ſoll mit 
Ihnen gehen!“ hat er erwidert. „Bringen Sie mir 
den Lieutenant her, ich bitte ſie darum! ich will ſel⸗ 
ber mit ihm ſprechen. Ramonna muß in dieſes Bad 
gehen und Ramonna will nicht gehen ohne Sie!“ 

„Und wollen Sie Ihre Tochter denn nicht ſelbſt 
begleiten?“ hat ſie ihn gefragt. 

„Ich möchte nicht, und der Profeſſor will's auch 
nicht,“ hat er ihr entgegnet. „Der Profeſſor hat mir 
gerathen, in den hohen Norden zu gehen und ich möchte 


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den hohen Norden kennen lernen, weil ich den tiefen 
Süden kenne. Alſo bringen Sie mir Ihren Sohn, 
Madame! ich will mit Ihrem Sohne ſprechen.“ 

„Nun?“ fiel ihm Johannes ungeduldig in die Rede. 

„Nun?“ verſetzte der Andere, „ich bin denn dort 
geweſen, und meine Mutter macht im Hochſommer die 
Reiſe mit.“ 

„Und das iſt Alles?“ fragte der Doktor noch 
einmal. 

„Was ſoll's denn weiter ſein?“ ſprach Egon mit 
einer Gleichgiltigkeit, die auffallend gegen ſeine frühere 
Erregtheit abſtach. „Für meine Mutter wird die Reiſe 
unter den günſtigen Bedingungen, unter denen ſie ge⸗ 
macht wird, vorausſichtlich ſehr heilſam ſein, und ich 
könnte ihr dieſe Badekur nicht bieten. Sie wird alſo 
mit Ramonna gehen, aber ich hoffe, wenn ſie im Herbſte 
wiederkehren, hat man meiner Mutter nicht mehr nöthig.“ 

Er brach plötzlich ab, Johannes wußte nicht, was 
er davon denken ſollte. Er erkundigte ſich, ob der 
Freund irgend eine Unannehmlichkeit mit dem Englän⸗ 
der gehabt habe, Egon verneinte dieſes. So entſtand 
ein Schweigen zwiſchen ihnen, bis Johannes ſagte: 
„Du biſt verſtimmt, geſtehſt mir das nicht und kamſt 
doch heiter zu mir.“ 


49 


„Nun denn ja! ich bin verſtimmt, ich bin unzu⸗ 
frieden und bin ärgerlich, aber nur auf mich allein. 
Ich hätte die Mutter nicht reiſen laſſen ſollen — und 
ich gehe auch nicht wieder in das Haus.“ 

„Man hat Dich alſo irgendwie gekränkt, verletzt?“ 

„Verletzt? Oh nein! das hätte ich abzuwehren ge⸗ 
wußt,“ entgegnete Egon, und ſeine dunkeln, tiefliegen⸗ 
den Augen nahmen den ſtolzen Ausdruck an, der ſein 
Geſicht oft finſter ausſehen machte; „der ganze Vor⸗ 
gang war mir läſtig, war nicht nach meinem Sinne.“ 

„Was war Dir denn entgegen?“ fragte ihn Jo⸗ 
hannes. 

Egon ging im Zimmer auf und ab. Er wollte 
ſprechen und brachte es nicht zum Wort. Endlich, 
als er ſich von dem Freunde abgewendet hatte, ſo daß 
dieſer ſein Geſicht nicht ſehen konnte, ſagte er: „Du 
kennſt mich, und ich weiß, Du tadelſt die Empfindlich⸗ 
keit an mir, die Du einmal, ich habe den Ausdruck 
nicht vergeſſen, die Ueberſpanntheit der Armen genannt, 
und damals ſpottend als eine beſondere Hyperäſtheſie 
eine Ueberreizung des Ehrgefühls, bezeichnet haſt. Du 
magſt Recht haben in dieſer Anſicht; das ändert aber 
für mich in der Sache nichts. Seit ich denken kann, 
iſt meine Mutter genöthigt geweſen, einen ir ihres 


Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 


50 


Unterhaltes und des meinen, mit der Geſchicklichkeit 
ihrer Hände zu erarbeiten. Das hat ſie indeſſen nicht 
abhängig gemacht, und der Nothwendigkeit, für mich zu 
ſorgen, habe ich ſie enthoben, ſobald ich dieſes nur 
zu thun vermochte. Jetzt, von dieſen Engländern wird 
ſie abhängig. So höflich der Vater ſeine Wünſche 
auch ausſpricht, er rechnet doch darauf, daß ſie als 
Befehle angeſehen und vollzogen werden; wie kindlich 
auch Ramonna ſich an meine Mutter anſchmiegt, ſie 
würde höchlichſt erſtaunt ſein, wenn ſie auf eine ernſte 
Zurechtweiſung oder auf einen beſtimmten Widerſtand 
ſtieße; und meine Mutter ſelber hat, weil ſie für per⸗ 
ſönliche Dienſte Geld von ihnen nimmt, gegen dieſe 
Leute eine Rückſicht, eine Verbindlichkeit, die mir un⸗ 
erträglich ſind.“ | 

„Deine Mutter iſt ja immer ſehr verbindlich!“ 
wendete ihn zu beſänftigen, Johannes ein. | 

„Nicht in dieſer Weiſe!“ fuhr der Aufgeregte in 
ſeinem Unmuth fort. „Dem Mädchen iſt nicht zu 
widerſtehen! ſagt ſie, und es iſt wahr, ſie iſt unwider⸗ 
ſtehlich, wenn ſie Einen mit der Kindeszuverſicht ihrer 
wundervollen Augen anſieht. Als ſie mich fragte: Sie 
werden die Mama gewiß nicht hindern, mit mir zu 
gehen; denn Sie ſind geſund und ich bin krank! da hätte 


51 


ich nicht Nein ſprechen können, und wenn ich ſelber 
wer weiß wie krank geweſen wäre. Aber gerade das 
macht mir das Mädchen unheimlich. Der Gedanke, 
einmal von ein paar ſchönen Augen abhängig, von 
einem ſolchen Kinde um meinen rechten freien Willen 
gebracht werden zu können, iſt mir ſtets verhaßt ge⸗ 
weſen. Ich werde froh ſein, wenn ich ſie unter Weges 
weiß, und froher, wenn dies ganze Abenteuer erſt vor⸗ 
über ſein wird!“ 

Johannes lachte hell auf über die Entrüſtung 
ſeines Freundes. „Wie ſich die Kinderkrankheiten bei 
Erwachſenen doch in ſonderbaren Formen zeigen!“ rief 
er. „Verliebtſein äußert ſich bei Dir als eine Art 
von Grimm!“ 

„Du irrſt!“ entgegnete ihm Egon ſehr beſtimmt, 
„und Du ſollteſt mich doch kennen. Wann war ich 
je verliebt? — Es hat mir ein Mädchen beſſer gefal⸗ 
len als ein anderes, ich habe Dieſe und Jene ſchön. 
gefunden, im Verkehr mit ihr Vergnügen gehabt; aber 
verliebt? — das weißt Du, das war ich nie; und 
mich in eine ſogenannte reiche Erbin zu verlieben, um 
die ich entweder ohne Hoffnung ſchmachten, oder die 
glauben würde, mir gegenüber um ihres Reichthums 


willen die Herrin ſpielen zu dürfen — dazu bin 
4 * 


52 


ich nicht gemacht! Dazu taugen meine Elemente 
nicht.“ N 

„Und regnet's Brei, ihm fehlt der Löffel!“ brummte 
Johannes ſcherzend vor ſich hin. 

Der Andere fragte, was er damit ſagen wolle? 

„Für Dich nichts! denn wer einmal die Elemente 
zu einem Cato in ſich trägt, der muß auch danach 
handeln, das iſt richtig. Glücklicherweiſe habe ich ſie 
nicht und ich ſinne und ſinne nur darüber nach, ob 
ich nicht irgend etwas beſitze: eine Tante, oder eine 
Couſine, oder ſonſt irgend eine gute Fee, die mir, wie 
Deine Mutter Dir, einen angenehmen freien Eintritt 
zu der ſchönen Ramonna eröffnen könnte. Leider bin 
ich in dem Punkte ſolcher lieben weiblichen Angehörigen 
nur gar nicht gut verſehen. Es wird mir alſo nichts 
übrig bleiben, als mich einfach durch Deine Mutter 
vorſtellen zu laſſen, und ich weiß auch ſchon die Form 
dafür. Der Profeſſor verlangt ja, daß Ramonna Zer⸗ 
ſtreuung haben ſoll; nun ich will mich gern anbieten, 
ſie ſo zu amüſiren, daß ſie an nichts mehr denken 
ſoll, als nur an mich!“ 

„So thu's, wer hindert Dich daran!“ meinte 
Egon achtlos, und es hatte damit für das Erſte ſein 
Bewenden. 


53 


Es war aber gar nicht lange nachher, als der 
Profeſſor ſeinen Schüler rufen ließ, der ihn unwohl 
und zu Bette fand. 

„Ich habe einen Auftrag für Sie,“ ſagte der 
Kranke, „Sie ſollen mich vertreten, bis ich wieder auf 
den Füßen bin. Ich werde genöthigt fein, bis zum 
Ende der Woche das Haus zu hüten, mein Aſſiſtenz⸗ 
arzt iſt zu ſeiner Hochzeit fortgereiſt. Ein Verzeichniß 
von den Beſuchen, die Sie für mich machen ſollen, 
habe ich geſchrieben; ſetzen Sie ſich her, damit ich 
Ihnen die nöthigen Mittheilungen mache, dann nehmen 
Sie meinen Wagen und bringen mir ſpäter den Be⸗ 
richt!“ 

Solch ein Auftrag von einem berühmten Arzte 
kommt jedem jungen Praktiker erwünſcht; aber Johan⸗ 
nes hatte noch ein beſonderes Vergnügen an demſel⸗ 
ben, denn nachdem die Reihe der ſchwer darniederlie⸗ 
genden Kranken, welche als die Erſten auf der Liſte 
ſtanden, durchgeſprochen waren, gelangte der Profeſſor, 
mit dem Auge über das Verzeichniß fortgleitend und 
über die einzelnen Beſuche dem jungen Collegen 
flüchtige Anweiſungen gebend, endlich auch an den Na⸗ 
men Ernsby. „Ueber dieſe Leute,“ ſagte er, „haben 
wir neulich ſchon geſprochen, ſo viel ich mich erinnere. 


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Der Vater hält darauf, daß ich die Tochter möglichſt 
oft beſuche, und er iſt ein Mann, dem man dieſes 
Vergnügen machen kann. Fahren Sie hin, bleiben 
Sie eine Viertelſtunde dort, Sie kennen ja ohnehin, 
wie Sie mir ſagten, die Geſellſchafterin des Fräuleins, 
die Majorin von Raven, die eigentlich der wahre Arzt 
des Mädchens iſt; verſichern Sie dem Vater und der 
Tochter, daß ſich dieſe ganz wohl befindet, und dieſer 
Beſuch wird Sie ohne Frage ſchadlos halten für die 
Langeweile mancher vorher zu machenden Viſite.“ 

Er ſah dabei nach ſeiner Uhr, draußen ſchlug es 
zehn Uhr, mit dem letzten Schlage fuhr ſein Wagen 
vor das Haus, und Johannes verabſchiedete ſich und 
machte ſich auf den Weg. 


Sechstes Capitel. 


Es war hoher Mittag, als er durch den wohl— 
bekannten Hausflur in den Garten ſchritt und an das 
Treibhaus kam, das in ſeiner jetzigen umgewandelten 
Geſtalt kaum noch als ein ſolches zu erkennen war. 
Die Fenſter waren ausgehoben und durch Vorhänge 
von leichtem farbigem Strohgeflecht erſetzt, blühende 
Rankengewächſe bekleideten die Pfoſten zwiſchen den⸗ 
ſelben, ſchöne, ſüdliche Pflanzen verdeckten die mit Ta⸗ 
peten bekleidete Hinterwand. Ampeln voll Blumen 
hingen von den Decken nieder, und eine jener Einrich⸗ 
tungen, wie man ſie in Gartenſälen liebt, war mit 
dem höchſten Luxus in dem Raume hergerichtet wor⸗ 
den, den weithin ausgeſpannte Zelttücher vor der zu 
ſtarken Einwirkung der Sonne wahrten. Alle Möbel, 
alle Geräthſchaften in dem improviſirten Gartenſaale 
waren modiſch und doch hatte das Ganze durch die 


56 


Polſterlager und durch die Art der Aufſtellung und 
Zuſammenſtellung der einzelnen Dinge etwas durchaus 
Fremdartiges. Hier ſchaukelten ſich ein paar feuer⸗ 
rothe Vögelchen, die ſelber wie Blumen ausſahen, in 
einem von Blumen umſtellten Bauer, dort ſaß ein 
ganz kleiner Affe auf einem Ständer und verſuchte, 
mit den klugen Augen neugierig umherblickend, ſeine 
Zähne an einer großen Nuß, und hart an der Schwelle 
hatte ſich einer der großen afrikaniſchen Hunde gela⸗ 
gert. Es ſchien ihm in der Hitze einmal recht wohl 
zu ſein, gerade ſo wie den beiden Schildkröten, die 
mit lang vorgeſtrecktem Halſe ſich mühſam aufrichtend 
und die kurzen, dicken Füße nach Kräften hebend, die 
Schwelle zu erklimmen und über ſie hinweg in die 
volle freie Sonne hinaus zu kommen ſtrebten. 

Oben an der Seite des Treibhauſes, an welcher 
ſich ſonſt die eigentliche Eingangsthüre befunden, die 
man ebenfalls ausgehoben hatte, ſo daß man dort ſich 
in einem friſchen Luftdurchzug befand, hatte man einen 
Tiſch aufgeſtellt, an welchem die beiden Frauen ſaßen. 
Frau von Raven hatte ein Buch in der Hand, Ramonna 
ſchrieb, was Jene ihr diktirte. 

Johannes hatte ſich mit dem Bemerken melden 
laſſen, daß er in Stellvertretung des Profeſſors käme, 


57 


und Ramonna's erſte Frage galt alfo dem Befinden 
des von ihr verehrten Mannes. Als ſein Stellvertre⸗ 
ter ſie über daſſelbe beruhigt hatte, und ſich nach ihrem 
Ergehen zu erkundigen begann, kreuzte ſie die beiden 
entblößten Arme auf dem Tiſche, und ſich weit vor⸗ 
beugend, ſo daß ſie mit dem ſchönen, feinen Kopfe 
dem jungen Manne bedeutend näher kam, ſagte ſie: 
„Ah, ich glaube, der Profeſſor hat Sie nur hierher ge⸗ 
ſchickt, um nicht mehr ſelber anhören zu müſſen, was 
er ſchon gehört hat; und es iſt ja auch genug, daß ich 
der guten Mama und dem Profeſſor Langeweile mache. 
Ihnen klage ich nicht, mein Herr!“ 

Johannes entgegnete ihr, daß ſie ihm damit ein 
Zeichen ihres Mißtrauens gäbe, daß er dem Profeſſor 
Bericht über ſie zu bringen habe, und daß er ſie alſo 
bitten müſſe, ihm ſeine Fragen zu beantworten. Auch 
Frau von Raven redete ihr in dem Sinne zu. Indeß 
Ramonna hörte nicht darauf. Sie ſah den Doktor 
lächelnd an, ſchüttelte das Haupt und ſprach ein kur⸗ 
zes, beſtimmtes: „Nein!“ aus, dem ſie dann noch ein⸗ 
mal die Worte hinzufügte: „Ihnen klage ich nicht!“ 

Von jedem andern Kranken würde ſolches Betra— 
gen dem jungen Arzte unangenehm geweſen ſein, aber 
Ramonna gegenüber fühlte er Nichts als die Gewalt 


58 


ihrer fremdartigen Schönheit, und er wußte es ja auch, 
daß er in dieſem Mädchen weniger einer Kranken, als 
den phantaſtiſchen Einbildungen eines verwöhnten Kin⸗ 
des zu begegnen habe. Er konnte ſich nicht ſatt ſehen 
an der klaren Stirne und den fein gezeichneten Brauen. 
Der Blick ihrer großen Augen drang ihm mit ſeinem 
ſanften Glanze bis in das Herz. Sie war in der 
Nähe noch ſchöner, als aus der Ferne, von der er ſie 
zuvor geſehen hatte. Alles an ihr war eigenartig und 
beſonders. Selbſt der loſe, weiße Morgenanzug, der 
die Arme und den Hals und den zierlichen Anſatz des 
Halſes an die Bruſt halb verhüllte und halb zeigte, 
während ein feuerrother Shawl das Gewand um den 
ſchlanken Leib zuſammengürtete, und eine feuerrothe 
Salvia mitihren traubenförmigen Blüthen in Ramonna's 
ſchwarzem Haar erglänzte, gab dem Mädchen durch 
die Art und Weiſe, wie ſie ihn trug, ein ſo fremdes 
Anſehen, daß Johannes vor ihr wie vor einem Bilde 
ſich in ein entzücktes Betrachten verlor, und ſich faſt 
gewaltſam zu der Frage aufraffen mußte, wie er ſich 
ihre Weigerung, ihm Rede zu ſtehen, deuten ſolle. 
„Denken Sie gar nicht darüber nach, und deuten 
Sie ſie gar nicht; das iſt ja gar nicht nöthig!“ rief 
die ſchöne Kreolin, als ſie bemerkte, daß Frau von Ra⸗ 


59 


ven mit ihrem Verhalten nicht zufrieden war. „Deus 
ten Sie meine Weigerung gar nicht — denn ich will ſie 
Ihnen ſelber deuten,“ ſprach ſie mit einem bezaubern⸗ 
den Lächeln; „Ihnen klage ich nicht, denn Sie ſind 
fröhlich!“ 

Frau von Raven ſowohl als der Doktor waren 
überraſcht von dieſer Antwort. „Iſt das ein Grund, 
mir nicht zu vertrauen,“ erkundigte ſich Johannes. 

„O nein!“ verſetzte ſie, und ſchüttelte das Köpf⸗ 
chen; „aber es iſt ein Grund, Ihre gute Laune nicht 
zu ſtören. Sie ſehen fröhlich aus und ſind es auch.“ 

Ihre Freundin fragte, woher ſie das wiſſe. 

„Woher ich's weiß? — Ich ſehe es und habe es 
gehört! —“ und ſich zu Johannes wendend, ſprach 
ſie: „Ich habe Sie ſingen hören, ein ſchönes Lied, 
gleich in den erſten Tagen, nachdem wir in dies Haus 
gekommen waren. Oben an Herrn Egon's Fenſter 
haben Sie geſungen. Ich habe die fröhliche Melodie 
behalten und ich ſinge ſie mir oft, obſchon ich damals 
darüber weinen mußte; denn damals glaubte ich, ich 
würde noch in dieſem Frühling ſterben, und wenn ich 
Schönes hörte oder ſah, ſo weinte ich darüber, daß 
ich's verlaſſen ſolle.“ 

„Aber jetzt — jetzt glauben Sie das hoffentlich 


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nicht mehr?“ rief Johannes, der ſich wie in einem 
Zauberreiche fühlte. 

Ihr Geſicht war ernſthaft geworden, ſie ſah ihn 
prüfend an. „Am Tage glaube ich es nicht — aber 
in der Nacht, wenn das böſe Herzklopfen mich erfaßt, 
daß ich nicht ſchlafen kann, da glaube ich doch noch 
oft, daß ich den Morgen nicht mehr ſehen werde.“ 

„Scheuchen Sie dieſe Beſorgniß von ſich, wie 
einen böſen Traum der Nacht!“ rief der Doktor mit 
großer Wärme. „Sie ſind nicht krank, Sie werden 
leben —“ 

Ramonna unterbrach ihn. „Der Profeſſor ſagt 
das auch,“ verſetzte ſie, „und die Mama hier ebenſo, 
aber ſie ſehen immer ſo nachdenklich dabei aus!“ 

Frau von Raven meinte, ſie und der Profeſſor 
wären eben ernſthaft. 

„Das weiß ich!“ ſprach Ramonna, „aber wenn 
meine letzte Schweſter, wenn Juanita in unſerm Hei⸗ 
mathlande die Aerzte fragte, ob ſie leben bleiben würde, 
ſo ſagten ihr die alten Herren auch mit ſolchem ern⸗ 
ſten Geſichte: „Ja!“ — und ſie iſt doch geſtorben. 
Das kann ich nicht vergeſſen, und darum glaube ich 
auch dem Profeſſor nicht.“ 

„Nun,“ rief Johannes, „wollen Sie mir denn 


61 


glauben, der ich nicht allzu viel älter bin, als Sie, und der 
das Leben liebt, wie Sie? Wollen Sie mir glauben, 
wenn ich Ihnen verſichere, daß für Sie nicht das Ge: 
ringſte mehr zu befürchten iſt? daß Sie leben bleiben, 
geſund leben bleiben werden, wenn Sie rur gar nicht 
mehr an Ihr Sterben denken wollen? Ihre Ge— 
ſchwiſter ſind dem Klima der Tropen erlegen. Hier 
in Europa iſt die Luft für Sie geſund; Sie müſſen 
in Europa bleiben, und Sie fühlen ja auch ſelber, 
daß es Ihnen gut geht und daß es Ihnen alle Tage 
beſſer gehen wird? — Wollen Sie mir das glau⸗ 
ben?“ 

„Ja! das will ich!“ gab ſie ihm zur Antwort. 

Er war aufgeſtanden und ſchickte ſich zum Gehen 
an, denn er machte ſich innerlich zum Vorwurf, daß 
er mit ſeiner Lebhaftigkeit ſeiner ärztlichen Würde zu 
nahe getreten ſei. Als er ſchon den Hut genommen 
hatte, rief Ramonna ihn zurück. N 

„Melden Sie dem Profeſſor,“ ſprach ſie, „daß ich 
heute viel beſſer bin! Und ich danke Ihnen, Doktor! 
Ich bin ſicher, Sie glauben, was Sie ſagen, Sie ha— 
ben mir ſehr wohl gethan. Ich danke Ihnen!“ — 
Damit reichte ſie ihm die kleine, ſchmale Hand hin, 
und er mußte machen, daß er fortkam, um ihr nicht 


62 


zu ſagen, wie fie ihn bezaubert habe und wie fie ihm 
der Inbegriff aller Holdſeligkeit bedünke. 

Was die anderen Kranken von ihm gedacht haben 
mochten, die er an dem Mittage im Auftrage des Pro⸗ 
feſſors noch beſucht, das fing er ſich erſt zu fragen 
an, als der und jener von ſeinen eigenen Patienten 
ſich bei ihm erkundigte, was ihm denn geſchehen ſei, 
und weshalb er ſo gar vergnügt ausſähe? Er konnte 
auch vor dem Profeſſor, als er mit ſeinen Berich⸗ 
ten bis zu der engliſchen Familie gekommen war, 
es nicht zurückhalten, wie überraſchend die Anmuth 
der jungen Kreolin ihm geweſen ſei. 

Der Profeſſor hörte das wohlgefällig an. „Meine 
Praxis,“ ſagte er, „ſcheint unter Amors ganz beſon⸗ 
derem Schutze zu ſtehen, ſchade nur, daß ich ſelber davon 
nicht mehr profitiren kann. Mein Aſſiſtent hatte ſich 
bei dem Beſuch meiner Kranken die reizende Tochter 
einer ſehr reichen Wittwe aus den Rheinprovinzen an⸗ 
geeignet, Sie ſcheinen auf die ſchöne Weſtindierin gleich 
im Sturmſchritt loszugehen, und ich traue Ihnen zu, 
daß Sie ihr die Todesgedanken zu vertreiben wiſſen 
würden.“ 

Zu des jungen Doktors ganz beſonderer Genug⸗ 
thuung wollte aber der Hüftſchmerz ſeines verehrten alten 


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Lehrers nicht fo ſchnell weichen, als man es erwartet 
hatte. Die Vertretung bei deſſen Kranken war alſo 
fortzuſetzen, und noch ehe eine Woche vergangen war, 
hatte Frau von Raven durch die zufällige Erwähnung, 
wie Johannes ein Jahr vor dem Feldzuge eine Reiſe nach 
dem hohen Norden von Schweden und Norwegen gemacht 
habe, eine nähere Bekauntſchaft zwiſchen dieſem und dem 
Vater ihrer jungen Pflegebefohlenen herbeigeführt. 
Herr Ernsby beſaß die ganze unermüdliche Frage⸗ 
ſeligkeit der reiſenden Engländer, er wünſchte neben 
ſeinem Murray und ſeinen ſonſtigen Handbüchern noch 
wo möglich die ſelbſtgemachten Erfahrungen eines ihm 
bekannten Mannes zu benutzen, und er war alſo augen⸗ 
blicklich bei der Hand, den jungen Arzt ſeiner Tochter, 
ſo oft derſelbe in das Haus kam, um alle Dinge zu 
befragen, die er ſeit einigen Wochen alltäglich in ſeinen 
Handbüchern nachgeleſen hatte. Da nun der Doktor 
nicht Zeit hatte, in den Vormittagsſtunden dieſe Reiſe⸗ 
berathungen zu ertheilen, erſuchte der Engländer ihn, 
eine Abendſtunde dazu feſtzuſetzen, und was konnte 
Johannes Beſſeres verlangen, als Abends an dem 
Theetiſch der Familie neben Ramonna zu ſitzen, mit 
ihr und Frau von Raven in dem Wege um den Raſen⸗ 
platz ſpazieren zu gehen, und wenn das ſchöne Mäd⸗ 


64 


chen ihn darum bat, fein Partner für eine Partie Feder⸗ 
ball zu ſein, oder ihm eines jener deutſchen Volkslieder 
am Klaviere vorzuſingen, die zu hören die junge Kreolin 
immer wieder wünſchte? 

Egon erfuhr das Alles von ſeiner Mutter ſowohl 
als von dem Freund, aber er äußerte ſich nicht dar⸗ 
über. Die Aufforderung der Fremden, ſich ebenfalls 
zum Thee bei ihnen einzufinden, welche ſeine Mutter 
ihm brachte, lehnte er unter einem annehmbaren Vor⸗ 
wande ab, und erſt als der Freund ihn fragte, ob er 
danach nicht wenigſtens den üblichen Höflichkeitsbeſuch 
zu machen denke, entgegnete der Lieutenant kurz und 
abweiſend, er liebe es nicht, ſich benutzen zu laſſen. 

Johannes wollte wiſſen, was das heißen ſolle. 
Egon wich der Antwort aus. Er beneide den Freund 
um ſeine Unbefangenheit, ſagte er und wolle ſie ihm 
nicht trüben und nicht rauben. Das machte natürlich 
den Doktor nur noch dringlicher, und mit jener andauern⸗ 
den Verſtimmung, welche ſich ſeit einiger Zeit des jungen 
Offiziers bemächtigt hatte, meinte er: „Ich bin kein 
Freund von Wiederholen beſonderer Geſpräche, aber es 
iſt vielleicht nothwendig, daß Du erfährſt, wie Dein eng⸗ 
liſcher Freund Deinen Verkehr in ſeinem Hauſe an⸗ 
ſieht, und wie Leute ſeiner Art überhaupt über die⸗ 


65 


jenigen urtheilen, deren Dienſte fie bezahlen.“ Er hielt 
inne, als überlege er noch einmal, ob er dem Freunde 
die Mittheilung machen ſolle oder nicht, dann ſprach 
er: „Ramonna's Vater nennt Dich einen ſehr amüſan⸗ 
ten jungen Menſchen. Er freut ſich, daß feine Toch⸗ 
ter in Deiner Geſellſchaft ſo vergnügt iſt, er findet, 
daß die Anleitung, die Du ihm für ſeine heilgymna⸗ 
ſtiſchen Uebungen giebſt, eine Extra⸗Bezahlung werth 
iſt, daß Ramonna von Dir im Deutſchſprechen viel pro⸗ 
fitiren kann, und er iſt entſchloſſen, Dich für alle dieſe 
verſchiedenen Dienſte, wenn ſie in drei Wochen reiſen 
werden, ſo anſtändig zu bezahlen, daß Du die Abend⸗ 
ſtunden, welche Du jetzt für ihn und ſeine Tochter 
aufwendeſt, nicht zu bereuen haben ſollſt! Und nun 
verzeih mir's, wenn ich Dich mit dieſem Bericht in 
Deinem Behagen etwa ſtöre. Ich meinte aber, daß 
es gut ſei, wenn Du dies erführeſt!“ 

Zu des Lieutenants ſichtlichem Erſtaunen blieb 
aber der Doktor von den Mittheilungen unberührt. 
„Du ſtörſt mich in meinem Behagen ganz und gar 
nicht!“ verſetze er gleichmüthig, „und ich begreife nicht, 
was Dir dabei auffällt. Seine ärztlichen Dienſte be⸗ 
zahlt zu bekommen iſt jeder Arzt gewohnt, und je höher 
er ſie ſich von den Reichen bezahlen BL um fo 

Fanny Lewald, Neue Erzählungen, 


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freier kann er fie den Armen unentgeltlich leiſten. 
Will ein ſehr reicher Mann mir einmal ausnahms⸗ 
weiſe etwas, was mir Vergnügen macht und ihm 
nebenher erwünſcht iſt, noch beſonders bezahlen, fo 
kann ich mir das gefallen laſſen, da er mir ſchwer⸗ 
lich ſagen wird, dies iſt für Ihre Morgenbeſuche und 
dies iſt für die Geſellſchaft, die Sie mir am Abend 
leiſteten. Nimmſt Du doch Dein Gehalt vom Kö— 
nige oder vom Staate, ebenſowohl für die Paraden 
und die müßigen Wachedienſte im Schloſſe, als für 
den Dienſt im Kriege; Dienſt iſt Dienſt, und Sold 
iſt Sold. Das ſchöne Kind der Tropen iſt mir ein 
Entzücken, der Vater amüſirt mich, Deiner Mutter 
bin ich angenehm, alle Theile ſind alſo gleichmäßig 
befriedigt; Du aber biſt ein Thor, daß Du dieſe vor⸗ 
übergehende anmuthige Geſellſchaft nicht fröhlich mit 
uns theilſt. Es verlangt ja dabei Niemand von Dir das 
Opfer irgend einer Ueberzeugung; und drückt Dich, wie 
Du ſagſt, die Abhängigkeit, in welche Deine Mutter ſich 
begeben hat — obſchon ich Nichts gewahr worden bin, 
was ſie im Entfernteſten verletzen könnte — nun, ſo wäre 
es doppelt gerathen, daß Du Deinen Säbel, Deine 
Epauletten und Deine Orden in die Wageſchale leg⸗ 
teſt, und mit Deiner Ehrerbietung vor der Mutter 


67 


auch dem Engländer die Achtung vor derſelben einflößeft, 
die ihr gebührt — wenn er es je an ſolcher fehlen 
laſſen ſollte, was ich nicht befürchte.“ 

Dieſer letzte Grund machte Eindruck auf den 
Lieutenant. Er reichte dem Freunde die Hand und 
meinte: „Dein Verkehr mit Menſchen aus allen Stän⸗ 
den macht Dich einſichtiger und weniger einſeitig als 
mich, und die Lebensfreiheit, die Du von jeher genoſ⸗ 
ſen haſt, hat Dich nicht ſo argwöhniſch werden laſſen, 
als ich es leider bin. Mir ſtecken die alten drücken⸗ 
den Erfahrungen noch im Blute; ich ſehe es bei jedem 
Anlaß, wie mich dies befängt, wie es mich behindert, und 
die Erfenntniß beſſert meinen Zuſtand nicht. Liebte ich 
Dich nicht, ich könnte Dich um Deine Seelenfreiheit, um 
Deine ſtete liebenswürdige Heiterkeit beneiden.“ 

„So laß denn doch endlich einmal alle Deine drücken⸗ 
den Erinnerungen zum Teufel fahren!“ rief Johannes. 
„Grüble nicht über Dich, ſondern freue Dich, daß 
Du jung biſt. Prüfe die Geſinnungen der Menſchen 
nicht wie der Bibel⸗Gott bis auf Herz und Nieren, 
was ihm ſchwer gefallen ſein muß bei dem damaligen 
Zuſtande der Wiſſenſchaft, ſondern nimm die Leute 
als das, was ſie ſein wollen, und vor Allem — Du 
kommſt heut' in den Garten.“ 


5* 


68 


Die Worte, welche an eine Textſtelle aus dem 
Mozart'ſchen Figaro erinnerten, machten Beide lachen. 

„Um die beſtimmte Zeit!“ antwortete ſingend der 
Lieutenant. 

„Läßt mich nicht lange warten?“ intonirte Jo⸗ 
hannes. 

„Nein!“ ſang Egon; und die Melodie des rei⸗ 
zenden Duettes vor ſich hinſummend, gingen ſie heiter 
und guter Dinge von einander. 


Siebentes Capitel. 


Von da ab ſchloß ſich auch Egon der engliſchen 
Familie an, und da zwei junge Männer niemals ne⸗ 
ben einem ſchönen Mädchen leben können, ohne un⸗ 
willkürlich in einen Wettſtreit der Liebenswürdigkeit 
zu gerathen, ſo gewann der geſellige Verkehr an Le⸗ 
ben, ſeit der Lieutenant an demſelben Theil nahm. 

Als nach vierzehn Tagen der Profeſſor, von ſei⸗ 
nem Krankenlager auferſtanden, die ſchöne Kreolin zum 
erſten Male wieder beſuchte, fand er ſie heiter und 
von allen ihren melancholiſchen Gedanken ganz und 
gar geneſen. Er ſtand nicht an, dies in freundlich 
vornehmer Beſcheidenheit ſeinen Rathſchlägen zuzu⸗ 
ſchreiben; er erinnerte den Vater, wie er die Prognoſe 
richtig gemacht und die Geneſung vorausgeſagt habe; 
unterließ dabei nicht, die verſtändige Sorgfalt ſeines 
zweiten Aſſiſtenten gebührend anzuerkennen, von dem 


70 


er, als von einem jungen Manne aus ſehr achtungs⸗ 
werther und wohlhabender Familie, noch leichthin ein 
paar freundliche Worte ſagte — denn der Profeſſor 
war ein Mann, der gern lebte und leben ließ — und 
er erklärte darnach, daß jetzt der Reiſe Ramonna's 
nichts mehr im Wege ſtehe und daß man aufbrechen 
ſolle, ehe die fortſchreitende Jahreszeit den Aufenthalt 
in der großen Stadt unbehaglich, und die Hitze das 
eigentliche Reiſen angreifend machen würde. 

Herr Ernsby verlangte es gar nicht beſſer. Seit 
er der Sorge um das Leben ſeiner Tochter enthoben 
war, hatte ſie unverkennbar an Intereſſe für ihn ver⸗ 
loren. Er hatte nicht gewollt, daß auch dieſes letzte 
Kind ihm ſterben ſolle, er hatte Alles daran gewendet, 
Ramonna zu erhalten; jetzt war ihm dies gelungen, er 
hatte ſeinen Willen durchgeſetzt, und er ſehnte ſich nach 
einem neuen Gegenſtand für ſeine Willensthätigkeit. 
Die gleichmäßig andauernde Pflege eines jungen Frauen⸗ 
zimmers war nicht ſeine Sache, eine langſame und 
begrenzte Reiſe, wie man ſie für Ramonna nöthig fand, 
würde ihm eine Qual geweſen ſein. Jahr und Tag 
hatte er für die Tochter gelebt, es war nach ſeinem 
Empfinden hohe Zeit, daß er jetzt wieder an ſich ſel⸗ 
ber dachte, und er hatte ſeinen Sinn darauf geſtellt, 


71 


den längſten Tag am Nordkap zu verleben. Die Bor- 
bereitungen zu ſeiner Tochter Reiſe waren lange ſchon 
getroffen worden, und vierundzwanzig Stunden nach 
dem Beſuche des Profeſſors, geleitete der Vater Ra⸗ 
monna und ihre Beſchützerin nach der Eiſenbahn. 

Draußen in dem Bahnhofe traf man Egon an, 
der hinausgegangen war, um bis zum Augenblick der 
Abreiſe bei ſeiner Mutter zu verweilen. Auch Johannes 
hatte ſich, wie er ſagte, in ſchuldiger Höflichkeit ein⸗ 
gefunden, und nach ſeiner Weiſe munter, hatte er mit 
Scherzen und Necken die letzte Viertelſtunde hingebracht. 
Als man dann aber an den Wagen trat, als der Kou- 
rier, der die Frauen begleiten ſollte, ihnen die kleinen 
Handſäcke und ihre Fächer reichte, als Egon die Mut⸗ 
ter hineinhob, dieſe ſich mit Rührung noch einmal zu 
ihm wendete und ihre Augen trocknete, da ſchien der 
Gedanke des Scheidens Ramonna zum erſten Male zu 
überkommen und gewaltſam zu ergreifen. Mit einer 
Leidenſchaftlichkeit, welche man bis dahin niemals an 
ihr wahrgenommen hatte, warf ſie ſich ihrem Vater 
an die Bruſt, und unter Schluchzen und unter Thrä— 
nen rief ſie: „Oh, laß mich bleiben! laß mich bei Dir 
bleiben, Vater! ich kann nicht fort! ich will nicht fort 
von hier! Ich ſterbe, wenn ich gehe!“ 


72 


Man war in großer Verlegenheit. Die Umſtehen⸗ 
den wurden achtſam; Herr Ernsby, welchem ſolch ein 
Vorgang ſehr zuwider war, ſtellte ihr verweiſend vor, 
daß er ſie doch nicht nach dem Nordkap mit ſich neh⸗ 
men könne. Frau von Raven gab ihr zu bedenken, daß 
ſie, die ſo viel älter ſei, ſich von ihrem Sohne trenne, 
ohne deshalb gleich Todesahnungen zu hegen, Johan⸗ 
nes gab ihr ſeine Hand und ſein ärztliches Wort dar⸗ 
auf, daß ſie Alle ſich in kurzer Zeit und in Geſund⸗ 
heit wiederfinden würden, aber ſie ſah ihn gar nicht 
an, und weinte leiſe fort, nachdem der Vater ſie in 
den Wagen hineingehoben hatte. Endlich, als der 
Zugführer bereits herantrat, die Billete einzufordern, 
richtete ſie ſich auf, und ſich weit hinausbiegend zu 
Egon, der ernſt und ſchweigend an dem Schlage ſtand, 
rief ſie, indem ſie ihm die Hand hinreichte: „Leben 
Sie wohl, Herr Egon! Sie wiſſen es, was ſcheiden heißt!“ 
In dem Augenblick ſchrillte aber ſchon die Pfeife — ein 
ſtoßender Ruck — das junge Mädchen warf ſich weinend 
in die Ecke ihres Platzes zurück, und der Zug ſauſte 
davon. 

„Das arme Kind! es hängt zu ſehr an mir!“ 
ſagte der Vater; „es iſt Zeit, daß ich ſie auf ſich ſelbſt 
verweiſe. Ein Mann kann nicht blos für ſeine Toch⸗ 


13 


ter da fein!’ Dann ſchüttelte er den jungen Männern 
feſt die Hand, und ging, den Hunden pfeifend, die ihn 
ſtets begleiteten, nach ſeinem Wagen. Auch die Freunde 
machten ſich auf den Weg, aber ſie trennten ſich bald. 
Keiner von ihnen nannte Ramonna's Namen bei dem 
Gange; und auch wenn ſie in den folgenden Tagen 
und Monaten zuſammenkamen, war es, als vermieden 
ſie Beide von dem Mädchen zu reden, das ſie doch 
die ganze Frühlingszeit hindurch ſo ſehr beſchäftigt 
hatte. 

Aber auch nach der Entfernung der ſchönen Kreo— 
lin verlor ſich das Intereſſe für dieſelbe in Johannes 
nicht. Er hatte ſich gewöhnt, ſie an jedem Tag zu 
ſehen, er hatte ſeine Stunden danach eingetheilt, mit⸗ 
ten in ſeinen Berufsgeſchäften hatte er darauf geſon⸗ 
nen, ihr eine Freude, eine Zerſtreuung zu bereiten; ihr 
Frohſinn, ihre wiederkehrende Zuverſicht zum Leben, 
die Anmuth, mit welcher ſie ihm ſeine Fürſorge zu 
danken wußte, hatten ihn immer neu beglückt; nun 
war mit Einem Male eine Lücke in ſeinem Daſein 
entſtanden. Er vermißte das Mädchen mehr als er je 
zuvor einen Anderen vermißt. Er war unruhig bei 
aller Arbeit, allem Thun, unruhiger in jeder Muße⸗ 
ſtunde. Es litt ihn nicht in ſeiner Wohnung, das 


74 


Wirthshaus, in dem er Jahre lang in fröhlichem Bi- 
hagen mit ſeinen Freunden zuſammengekommen war, 
erſchien ihm plötzlich unwirthlich und widerwärtig, 
und doch mochte er es ſich nicht eingeſtehen, was ihm 
fehle und was ihm ſeine Ruhe raube. Egon's Mit⸗ 
theilungen über die Denkungsweiſe von Ramonna's Va⸗ 
ter wirkten in dem Doktor nach. Daß der Engländer 
ein Egoiſt, ein Sonderling, daß er hochmüthig und 
geldſtolz ſei, das hatte Johannes freilich ſelbſt geſehen 
und gewußt, es hatte ihn aber weiter nicht gekümmert. 
Ramonna hatte ihm ſo ſehr gefallen, er hatte nur an 
ſie, nur an den Augenblick gedacht. Bisweilen war 
es wohl durch ſeinen Sinn gezogen, daß es etwas 
ſehr Schönes ſein müſſe, eine ſo reizende Frau und 
mit ihr zugleich ein großes Vermögen zu gewinnen, 
und wie die thätig gewordene Phantaſie nicht leicht 
eine Schranke findet, war er dann im Geiſte an Ra⸗ 
monna's Seite auf dem leuchtenden Uferſande ihrer 
Heimathinſel unter Palmen und Karuben umherge⸗ 
wandelt. Es war das aber, ſo lange er neben dem 
Mädchen gelebt hatte, weiter Nichts als ein flüchtiges 
Spiel ſeiner Einbildungskraft geweſen; in der nächſten 
Stunde hatte er nicht daran gedacht, ſein Herz war 
eigentlich ganz frei geblieben. Jetzt indeſſen war es 


75 


anders. Jetzt konnte er es ſich nicht mehr verbergen, 
daß er Ramonna liebte, leidenſchaftlich liebte, und — 
daran zweifelte er nicht — Egon hatte von Anfang an 
in ſeiner Bruſt geleſen, hatte ihn beobachtet, hatte ihn 
beſſer verſtanden, als er ſich ſelbſt. Deshalb hatte 
der ernſte, kluge Freund ihn auch gewarnt, deshalb 
allein hatte er ihn vorſorglich auf den Charakter und 
die Denkart von Ramonna's Vater hingewieſen. Aber 
was hatte es ſagen wollen, daß das Mädchen Egon im 
Moment des Scheidens ſo leidenſchaftlich angerufen hatte? 

Sie hatte ſich bei Johannes allerdings zu ver⸗ 
ſchiedenen Malen nach dem Sohne ihrer Pflegerin er⸗ 
kundigt; und das war ihm immer aufgefallen, denn 
was ſie über Egon wiſſen wollte, hätte ſie ja durch 
deſſen Mutter ſtets erfahren können, die es gar nicht 
beſſer forderte, als von dem Sohne zu ſprechen. Hatte 
vielleicht Egons ſtolze Zurückhaltung die Neugier, die 
Theilnahme des an Zuvorkommenheit gewöhnten Mäd⸗ 
chens aufgeregt? Hatten die Mittheilungen der Ma⸗ 
jorin, die in ihrem Sohne den Inbegriff aller Tu⸗ 
gend und aller Würdigkeit erblickte, vielleicht eine Liebe 
in Ramonna's Herz entzündet, deren ſie ſich, wie Jo⸗ 
hannes der feinen, im Augenblick des Scheidens erſt 
bewußt geworden war? 


76 


Möglich ift das Alles, ſagte ſich der Doktor, die 
Herzenslaunen reicher und müßiger Frauen ſind ja 
unberechenbar! — Aber er fand ſich mit dieſer tiefen, 
durch Ueberlieferung geheiligten Erkenntniß, mit dieſer 
Einſicht in die weibliche Natur nicht beruhigt, nicht 
gefördert, er hatte eben nur die Feſtigkeit, dem Freunde 
zu verbergen, wie aufgeregt er war. Er mochte mit 
ſeinen ſiebenundzwanzig Jahren und in dem Gefühl 
ſeines würdigen Berufes dem kalten, feſten Egon nicht 
mehr wie der leichtfertige Falter erſcheinen, der ſich die 
Flügel verbrennt im gaukelnden Spiel um die Flamme: 
und daß Egon ihn gewarnt, das nöthigte ihn erſt recht 
zum Schweigen. Er ging ſeinen Geſchäften nach, die 
ſich im Sommer, als die alten Aerzte ihre Erholungs⸗ 
reiſen machten, ſehr vermehrten; er verkehrte mit ſei⸗ 
nen Bekannten und mit Egon ganz wie ſonſt, dieſer 
ſchien die Entfernten gar nicht zu vermiſſen, und nur 
das Eine fiel dem Doktor auf, daß Jener ihm von 
den Briefen ſeiner Mutter wenig ſprach, daß er ſie 
ihm nicht wie in andern Zeiten theilweiſe zu leſen gab. 

reilich erzählte er, wo ſeine Mutter ſich befinde, 
er gab auch Auskunft über dieſes oder jenes Er⸗ 
lebniß der beiden reiſenden Frauen, und erwähnte eines 
Tages, daß Ramonna einen Gruß für ſie Beide mitten 


77 


in den Brief der Mutter hineingeſchrieben habe; als 
Johannes dieſes Schriftſtück aber zu ſehen wünſchte, 
hatte Egon es nicht bei ſich, und der Doktor kam auf 
ſein Verlangen dann nicht mehr zurück, da er keine 
zu große Theilnahme oder Neugier zu verrathen wünſchte. 
Wo aber zwei Menſchen, die einſt ein volles und 
unbedingtes Vertrauen zu einander gehegt haben, aus 
welchen Gründen es auch ſein mag, ſich zu einem vor⸗ 
ſichtigen Schweigen gegen einander veranlaßt fühlen, 
iſt eine Erkaltung eingetreten, die nothwendig und 
mit Schnelle zunimmt; und Egon ſowohl als Johan- 
nes waren ſich dieſer wachſenden Entfremdung auch 
bewußt, obgleich man ſie noch immer als die Unzer⸗ 
trennlichen bezeichnete. 


* 


Achtes Capitel. 


Es war ſchon gegen das Ende des Sommers und 
die jungen Männer waren am Mittage länger und 
Beide in gewiſſem Sinne aufgeſchloſſener als in der 
letzten Zeit beiſammen geweſen, als ſpät am Abende 
Egon noch in die Wohnung ſeines Freundes kam. 
„Gut, daß ich Dich finde,“ rief er, ſowie er 
eingetreten war, „ich bringe Dir eine wunderbare 
Neuigkeit.“ a 

Er zog dabei einen Brief hervor und reichte ihn 
dem Freunde hin. Die Aufſchrift zeigte Frau von Ra⸗ 
vens Hand; und wenn es Johannes auffiel, daß Egon 
ihm jetzt plötzlich ein Schreiben ſeiner Mutter zum Leſen 
anbot, nachdem er ihm alle Briefe derſelben ſo lange 
vorenthalten hatte, ſo war die Dringlichkeit, mit welcher 
er ihn antrieb, von dem Inhalt Kenntniß zu nehmen, 
noch viel auffallender und völlig gegen ſeine Art und 


19 


Weiſe. Indeß fie wurde dem Doktor ſehr erklärlich, 
als er die folgenden Mittheilungen las. 

„Es iſt geſtern ein Brief von Herrn Ernsby in 
unſere Hände gekommen,“ ſchrieb Frau von Raven aus 
dem Schweizer Kurorte, „der die arme Ramonna in 
eine große Aufregung verſetzt hat, und der auch mich 
nicht zur Ruhe kommen läßt, weil er mich zu einer 
neuen Entſcheidung drängt, die ich ohne Deine Zu⸗ 
ſtimmung und ohne reifliches Ueberlegen mit Dir, nicht 
faſſen kann. 

„Herr Ernsby hat ſich mit einer kaum zwanzigjähri⸗ 
gen Norwegerin verheirathet. Ohne ſeine Tochter vorher 
auch nur davon benachrichtigt zu haben, meldet er ihr 
ganz plötzlich dieſe Thatſache in der Weiſe, wie man 
Jemandem die Nachricht geben würde, daß man ſich 
einen neuen Diener angeſchafft, oder einen neuen Wa⸗ 
gen gekauft habe. Er ſagt, da er die ſchmerzliche Er⸗ 
fahrung gemacht habe, wie wenig verläßlich die Ge— 
ſundheit der Südländerinnen ſei, wolle er es jetzt mit 
einer Nordländerin verſuchen. Er habe auf der Rück⸗ 
kehr vom Nordkap, in Bergen, in dem Hauſe des eng⸗ 
liſchen Conſuls, die Nichte deſſelben kennen lernen, habe 
ſich mit ihr verheirathet, und da ſeine Frau, ſo wie 
er den Norden, den Süden kennen lernen wolle, ſo 


80 


werde er mit ihr die Hochzeitsreiſe über Deutſchland, 
Paris und Havre nach Cuba machen. Wolle Ramonna 
mit ihnen gehen, ſo möge ſie gleichzeitig mit ihm und 
ſeiner Frau am dreißigſten Auguſt in Berlin eintreffen, 
um dann in einigen Tagen nach Paris aufzubrechen. 
Ziehe ſie, wie er vermuthe, es jedoch vor, in Europa län⸗ 
ger zu verweilen, ſo könne ſie das thun, und er über⸗ 
laſſe ihr in dieſem Falle die Wahl ihres Aufenthalts⸗ 
ortes, vorausgeſetzt, daß ich bei ihr bliebe, und ganz 
und gar die Sorge und Verantwortung für ſie über⸗ 
nähme. Chriſtina ſei ſchön und geſund, er hoffe Kin⸗ 
der zu bekommen, die ihn über ſeine gehabten Verluſte 
tröſten könnten, und da er nun für ſich nach ſeinem 
Ermeſſen und Bedürfen gehandelt habe, wolle er der 
Tochter auch die gleiche Freiheit zugeſtehen. 

„Das Alles hat er in ſeiner gewohnten gebiete⸗ 
riſchen Weiſe ausgeſprochen, und Ramonna mußte es 
fühlen, wie die junge Frau und die neuen Ausſichten 
in die Zukunft ihn ganz ausſchließlich beſchäftigten, 
und wie ſie daneben wenig in Betracht kam. Dazu 
war der Termin des Zuſammentreffens in Berlin ſo 
kurz anberaumt, daß wir wirklich faſt noch in der Stunde, 
in welcher der Brief uns erreicht, von hier hätten fort- 
reifen und Tag und Nacht unter Weges bleiben müſ⸗ 


81 


ſen, um am Dreißigſten in Berlin eintreffen zu können. 
Das arme Kind täuſchte ſich alſo gewiß nicht, wenn 
es annahm, daß der Vater es nicht mitzunehmen 
wünſche; und während er der Tochter nach ſeinen Wor⸗ 
ten freie Wahl verhieß, war ihr dieſelbe thatſächlich 
entzogen. Bei dem Schrecken und der Aufregung, in 
welche der Gedanke an eine Stiefmutter und obenein 
an eine ihr ganz fremde und ſo junge Stiefmutter ſie 
verſetzte, konnte man nicht ſofort an die Abreiſe gehen, 
und Ramonna's Klagen, daß ſie um einer Fremden 
willen aus dem Herzen ihres Vaters ausgeſtoßen ſei, 
daß er ſie alſo nie wirklich geliebt haben könne, daß 
ſie einſam auf der Welt ſei, hatten eine erſchütternde 
Wahrheit in ſich. Ich bin wie der arme tropiſche 
Vogel, ſagte ſie, den ein Sturm verſchlagen hatte, 
und der auf unſer Schiff herniederfiel, als wir ſchon 
an der Küſte von Europa waren. Ich nahm ihn auf 
und pflegte ihn — und er iſt doch geſtorben! Was 
ſoll aus mir hier in Furopa werden, wenn Du, mein 
Mütterchen, nicht bei mir bleibſt? 

„Wir haben Herrn Ernsby geantwortet, daß wir 
bis zu dem feſtgeſetzten Tage nicht bei ihm ſein können; 
Ramonna hat gebeten, daß der Vater nach feinem Er⸗ 


meſſen über ſie entſcheiden, daß er bis zum nächſten 
Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 6 


82 


Schiffe in Europa bleiben möge, und dabei erklärt, fie 
hoffe, ich würde ſie nicht verlaſſen, wenn er ſie nicht 
mitzunehmen wünſche. Wir brechen aber natürlich ſo⸗ 
fort auf, werden ſpäteſtens den Dritten des kommen⸗ 
den Monats zu Hauſe ſein, und erwarten unter We⸗ 
ges telegraphiſch von den Entſchließungen des neuen 
Ehemannes unterrichtet zu werden. 

„Daß er die Gelegenheit benutzen wird, ſich für 
den Augenblick von der Geſellſchaft der Tochter frei 
zu machen, deſſen bin ich ſicher; daß er mir in ſeinem 
Briefe mit der großartigen Nichtachtung des Geldes, 
die wir an ihm kennen, im Voraus alle Bedingungen, 
die ich nur irgend machen könnte, zugeſtanden hat, 
brauche ich nicht erſt zu erwähnen. Mir iſt es eine 
große Herzensbefriedigung geworden, mit dem lieben 
Mädchen zuſammen zu ſein, mich ſeiner wahrhaft töch⸗ 
terlichen Liebe zu erfreuen und es zu betrachten, wie 
ſein Geiſt und ſein Herz ſich bilden und entfalten. 
Die rückſichtsloſe und dabei unbewußte Selbſtſucht, 
die ihr durch ihren Vater förmlich anerzogen worden 
war, iſt in ihr faſt ganz erloſchen. Sie iſt ihrer Na⸗ 
tur nach anſchmiegend und liebevoll, und das phan⸗ 
taſtiſche Wünſchen, zu welchem der Reichthum ihres 
Vaters ſie verleitet hat, weicht in ihr allmälig einer 


83 


maßvollen und weiblichen Beſchränkung. Es iſt, noch 
ehe wir die Kunde von der Verheirathung ihres Va⸗ 
ters empfangen hatte, ſchon zum Oeftern vorgekom⸗ 
men, daß ſie von ihrer eigenen einſtigen Verheirathung 
und von dem Glück des Familienlebens, wie ſie es 
aus meinen Schilderungen kennen lernt, mit mir ge⸗ 
ſprochen hat. Daß ſie unter den jetzigen Verhältniſſen 
ſich noch mehr als früher darauf hingewieſen fühlen 
muß, an ihre Verheirathung zu denken, iſt natürlich; 
daß ihr Vater dieſelbe wahrſcheinlich gerne ſehen und 
die Stiefmutter ſie wünſchen wird, iſt eben ſo ſelbſt⸗ 
verſtändlich, und mein Amt neben meinem Pflegekinde, 
denn wie ein ſolches iſt Ramonna mir in's Herz ge⸗ 
wachſen, wird alſo vorausſichtlich nicht lange währen, 
wenn ſie bei ihren hergeſtellten Kräften dieſen Winter 
in der Geſellſchaftswelt erſcheint. Es fragt ſich alſo, 
ob Du mit meiner Abſicht, bei Ramonna zu bleiben, 
einverſtanden biſt? Ob Du geneigt biſt, unſere Häus⸗ 
lichkeit für das Erſte zu entbehren? Ein großes Opfer 
kann es Dich nicht koſten, da ja ohnehin die Mög⸗ 
lichkeit Deiner Verſetzung nahe liegt; und ich meine, 
der Gedanke, daß mir in Ramonnga eine töchterliche 

Liebe erwachſen iſt, müſſe Dir ſelber eine Beruhigung 


ſein für die Zeiten, in denen Deine Liebe nicht mehr 
6 * 


84 

mir allein gehören wird, für Zeiten, die ich ja ſelbſt 
erſehnen muß.“ | 

Die allgemeinen Auseinanderſetzungen des Briefes 
waren damit zu Ende. Es folgten noch einige An⸗ 
deutungen, in welcher die Majorin ihren Haushalt 
aufzulöfen, über die Bedingungen, welche ſie Herrn 
Ernsby zu ſtellen dachte, und nachdem der Doktor 
auch dieſe durchflogen hatte, gab er dem Freunde den 
Brief zurück. 6 

„Das ſind allerdings überraſchende Neuigkeiten,“ 
ſagte er mit ſtrahlenden Augen und mit glühenden 
Wangen ; „aber Neuigkeiten, die man ſich gefallen laſ⸗ 
ſen kann, denn den Vater iſt man los!“ Er zog die 
Uhr heraus und ſah nach der Stunde. „Komm!“ rief 
er, „laß uns auf die Geſundheit der ſchönen Norwe⸗ 
gerin trinken gehen, welche das holdſeligſte aller Pa⸗ 
radiesvögelchen alſo flügge macht und quaſi vogelfrei 
erklären läßt. Beſſer kann ich's gar nicht wünſchen.“ 

Aber weit entfernt, auf des Doktors gute Laune 
einzugehen, ſagte Egon mit einer finſteren Beſtimmt⸗ 
heit: „Sprich von Ramonna nicht in dieſem Tone!“ 

Johannes traute ſeinen Ohren nicht. Er ſah 
den Freund an, es lag etwas ihm bisher völlig Frem⸗ 
des in deſſen Mienen; indeß, da er nicht gewohnt 


85 


war, mit ihm zu rechten und da er feine Reizbarkei⸗ 
ten meiſt ſehr arglos hinnahm, entgegnete er: „Wahr⸗ 
haftig, Egon! Du wirſt pedantiſch! Du hätteſt Pre⸗ 
diger werden ſollen! Meinſt Du, weil Du tugendhaft 
biſt, ſoll es keinen ſüßen Wein und keine Torten mehr 
geben?“ 

„Ich bitte Dich allen Ernſtes,“ wiederholte der 
Lieutenant, „laß Deine Späße, denn Du ſiehſt es, 
ich bin ſehr ergriffen und nicht in der Stimmung, 
auf dieſelben einzugehen. Du weißt noch nicht Alles, 
was geſchehen iſt — ich habe eine Unterredung mit 
dem Vater gehabt — “ 

„Mit welchem Vater?“ erkundigte ſich der Dok⸗ 
tor, dem das Betragen ſeines Freundes immer räth⸗ 
ſelhafter, ja unheimlich zu werden anfing. 

„Mit ihrem Vater! er iſt eingetroffen auf die 
Stunde, die er feſtgeſetzt hat — aber komm! laß uns 
hinausgehen! es iſt heiß hier innen und die Nacht iſt 
ſchön!“ 

Damit griff er nach ſeinem Helm, ſchnallte den 
Degen wieder um, und ſie verließen zuſammen das 
Zimmer und das Haus. Als ſie dann hinunter auf die 
Straße kamen, ſchlug Egon gegen das Erwarten des An⸗ 
dern den Weg ein, der ſie nach dem Park hinüberführte, 


86 


und nach wenig Schritten befanden ſie ſich auf dem 
großen freien Platze, auf deſſen Gartenanlagen der 
Vollmond Tagesklarheit niederſtrömte. 

Wie ſie nun allein und dem Geräuſch der Straße 
entrückt waren, ſagte Egon: 

„Ich habe den Brief meiner Mutter am Nach⸗ 
mittage erhalten. Als ich Abends nach Hauſe kam, 
war das erſte Stockwerk erhellt, Herr Ernsby war an⸗ 
gelangt. Oben in meiner Stube erwartete mich eine 
Karte von ihm, die mich einlud, ihn aufzuſuchen. Da 
es noch nicht ſpät war, ging ich hinunter. Er ſaß 
mit ſeiner Frau beim Thee. Sie iſt groß, ſtark, 
ſchön, wie man ſich eine junge Brunhilde denkt. Er 
ſtellte mich ihr vor, und ohne uns Zeit auch nur zu 
einer Begrüßung zu laſſen, meinte er, es ſei ihm lieb, 
daß ſeine Tochter nicht gekommen ſei, und daß er dar⸗ 
aus ſchließen könne, ſie wolle in Europa bleiben und 
meine Mutter wolle mit ihr leben. Er wiederholte mir, 
was er meiner Mutter einmal geſagt hatte, wie er viele 
ſeiner beſten Jahre mit ſeiner kranken Frau und mit 
der Sorge um ſeine Kinder verloren, nun ſei die Toch⸗ 
ter geſund, nun wolle er ſeines Lebens wieder froh 
werden, denn der Menſch ſei um ſeiner ſelbſt willen 
auf der Welt; danach müſſe man handeln und danach 


87 


müſſe auch feine Tochter handeln lernen. Sie ſei reich 
durch das Vermögen ihrer Mutter auch ohne ihn, und er 
werde ſie ſicher nicht beſchränken. Er ſei beruhigt, 
wenn er ſie unter der Aufſicht meiner Mutter wiſſe. 
Er laſſe die Wohnung, laſſe die Equipage zu ihrer Ver⸗ 
fügung, die Hunde und ſeine Leute nehme er mit, meine 
Mutter, die er hoch ſchätze, werde die Einrichtung ſicher 
gut beforgen, dafür kenne er fie. Aber auch mich kenne 
er; er wiſſe, ein preußiſcher Offizier ſei doppelt ein 
Ehrenmann, er habe das Zutrauen zu mir, daß ich 
ſeiner Tochter zur Seite ſtehen würde, als wäre ſie meiner 
Mutter Tochter und als gehörte fie zu mir, kurz —“ 

„Kurz,“ fiel ihm der Doktor mit ungeduldiger 
Heftigkeit in's Wort, „er trug Dir feine Tochter an —“ 

„Wenn ich ihn recht verſtanden habe — ja! Es 
ſcheint, er will die Sorge für ſie los ſein.“ 

„Und Du würdeſt Dich trotz all des Mißtrauens, 
das Du gegen die Reichen hegſt, dann allenfalls er⸗ 
bitten laſſen, ihm die Erleichterung zu ſchaffen,“ meinte 
der Doktor mit der gleichen Herbigkeit. 

„Spotte nicht! wo es ſich für mich um ein Hei⸗ 
liges handelt!“ entgegnete der Lieutenant. 

„Was willſt Du damit ſagen?“ fragte Jener. 

„Muß ich Dir das erſt erklären?“ verſetzte Egon. 


88 


„Alſo Du, Du liebſt Ramonna!“ rief der Dok⸗ 
tor und faßte nach Egons Arm. 

„Ja!“ ſprach dieſer und ſeine Stimme klang 
dumpf, weil er ſich zwang, ſeine Erregung zu verber⸗ 
gen. „Ja! ich habe ſie geliebt von der erſten Stunde 
an, da ich ſie geſehen; ſie iſt mein einziger Gedanke! 
und ſelbſt die ganze Kraft meiner Hoffnungsloſigkeit 
hat nicht ausgereicht, mich vor dieſer Liebe zu bewah⸗ 
ren. Weil es mir ſo leicht geweſen wäre, ihr unter 
dem Schutze meiner Mutter zu nahen, habe ich es 
mir verſagen müſſen, ſie zu ſehen. Mit der leiden⸗ 
ſchaftlichſten Eiferſucht habe ich Dich darum beneidet, 
daß Du freien Herzens um ſie ſein, tändelnd Dich 
an ihrer Geſellſchaft freuen könnteſt. Ich — ich hätte 
das nicht vermocht. Ich mußte ſie meiden, oder vor 
ihr niederſtürzen und ihr ſagen: Ich bete Deine Schön⸗ 
heit an!“ | 

Er hielt inne, auch der Doktor ſchwieg. So 
gingen ſie einmal um den Platz herum, Beide unfähig, 
zu weiterer Rede, bis endlich Egon wieder anhub. 
„Haſt Du kein Wort für mich?“ fragte er, der mit⸗ 
fühlenden Theilnahme bedürftig. 

„Einen Nachtwandler darf man nicht wecken!“ 
entgegnete ihm Johannes kalt. 


89 


„Fürchte Nichts! ich bin des Bodens ziemlich 
ſicher, auf dem ich mich befinde.“ 

„Seit wie lange?“ fragte der Doktor ſcharf. 

„Ich bitte Dich!“ rief der Andere, „ſprich nicht 
in dieſem Tone, wenn Du mir nicht den Mund ver⸗ 
ſchließen willſt; ich bin kein Träumer. Ich hatte mich 
gefliſſentlich taub gemacht gegen all die lieblichen Zei⸗ 
chen ihrer Theilnahme, von der die Mutter mir er⸗ 
zählte; ich hatte es abſichtlich überhört, wenn Du mir 
ſagteſt, Ramonna habe nach mir gefragt, habe verlangt, 
daß ich Eure Geſellſchaft theile. Ich habe mir nicht 
eingeſtanden, wie herzlich ſie mich ſtets begrüßt, wie 
vertraulich ſie mit mir verkehrt hat. Ich habe das 
Alles auf die Anhänglichkeit geſchoben, welche ſie für 
meine Mutter hegt — bis zu der Stunde, da im 
Scheiden ihr Gefühl ſie überwältigte. Von da ab 
habe ich gehofft! von da ab durfte ich ja hoffen! —“ 
Er hielt wieder inne und ſagte dann: „Keinem der 
Briefe, die ich von meiner Mutter empfangen habe, 
hat ein Zeichen von Ramonna's Hand gefehlt. Es 
war meiſt nur ein Wort. Ein: Auf Wiederſehen! — 
Auf den Herbſt! — oder: Bald ſind wir wieder in 
Berlin! — aber es war immer derſelbe Ausdruck 
neigungsvoller Sehnſucht, bis ich heute dieſe Zeilen 


90 


von ihr empfing. Da! höre fie ſelber!“ 

Er trat an die große Gruppe von Laternen heran, 
ſuchte aus ſeiner Brieftaſche ein kleines zuſammenge⸗ 
faltetes Blatt hervor und las mit unverkennbarer Be⸗ 
wegung die folgenden Worte: „Ich bitte Sie, mein 
theurer Egon! nehmen Sie mir die liebe Mama nicht 
fort und ſeien Sie nicht eiferſüchtig, weil ich fie bei 
mir behalten will. Wir wollen Beide bei ihr bleiben, 
wollen ſie Beide lieben, Beide ihre guten Kinder ſein, 
da mein Vater mir die freie Wahl für meine Zukunft 

läßt.“ 

Er las das mit dem Ausdruck wahren Glückes, 
und es kam ihm offenbar ſehr hart an, daß der Dok⸗ 
tor keine zuſtimmende, keine glückwünſchende Bemer⸗ 
kung danach machte. Er ſteckte alſo das Blatt an 
ſeinen alten Platz, und meinte, um ſich über ſein Miß⸗ 
behagen fortzuhelfen: „Ich ſehe, Du biſt überraſcht, 
ich war es ebenſo. Nimmſt Du indeſſen dieſe Zeilen 
mit den heutigen Aeußerungen des Vaters zuſammen, 
die nur durch Geſtändniſſe ſeiner Tochter veranlaßt 
ſein können, ſo wirſt Du begreifen, wie es in mir 
ausſieht und wie mir ſchwindelt vor der Glücksaus⸗ 
ſicht, die ſich ſo unerwartet vor mir aufthut!“ 

Aber noch immer ſchwieg der Andere, und erſt 


9 


als Egon ihn noch einmal anrief, ſagte er wie zur 
Abwehr: „Laß mich zu mir ſelber kommen! wir wol⸗ 
len gehen! wir wollen morgen davon ſprechen!“ 

„Deine Freundſchaft äußert ſich heute ſonderbar,“ 
meinte Egon. 

„Nicht ſonderbarer als die Deine ſich bewährt 
hat!“ fuhr der Doktor auf, der ſich bis dahin müh⸗ 
ſam überwunden hatte; „Du haſt kein ehrlich Spiel 
geſpielt!““ 

„Johannes! nimm das Wort zurück!“ rief der 
Lieutenant ſchwer getroffen. 

„Das Wort drückt nur aus, was Du gethan 
haſt!“ wiederholte Jener; „oder wie ſoll ich es nen⸗ 
nen, daß Du mich monatelang meine Bewunderung 
für Ramonna, mein Entzücken über ſie ausſprechen 
läßt, daß Du es ruhig mit auſiehſt, wie ich mich um 
ihre Neigung und um ihres Vaters Wohlwollen be- 
mühe; und Du, der Du mir wie ich Dir die vollſte 
Brüderlichkeit und das vollſte Vertrauen angelobt haſt, 
Du verbirgſt es mir, daß Du dieſes Mädchen liebſt. 
Nur einmal wirfſt Du, um mich abzuſchrecken, einen 
Stachel des Mißtrauens in mein Herz; aber Du 
thuſt auch dies nur ſo zu ſagen heimlich. Du biſt 
in einem beſtändigen Zuſammenhauge mit dem Mäd⸗ 


92 


chen, das ich liebe, und ich erfahre Nichts davon; 
Du nennſt Dich gekränkt durch die Stellung, in wel⸗ 
cher Deine Mutter neben der Fremden lebt, und be⸗ 
nutzeſt dieſelbe doch geſchickt für Deine Zwecke. Soll 
ich etwa einen großen Akt Deiner Freundſchaft darin 
ſehen, daß Du mich auf die Zukunft vorbereiteſt? — 
Freilich! Du hätteſt mich ja eines ſchönen Morgens 
mit der gedruckten Anzeige Deiner Verlobung über⸗ 
raſchen und mir dabei die Mittheilung machen können, 
es werde Dir lieb ſein, wenn ich auch ferner Sorge 
für Deine und Deiner Braut Gefundheit tragen wolle!“ 

Er lachte dabei laut und bitter auf. Das Echo 
trug von dem großen Hauſe an dem andern Ende des 
Platzes den Schall zurück, daß er Beiden unheimlich 
wiederklang. Der Doktor wendete ſich ab und wollte 
allein davon gehen, Egon aber hielt ihn zurück. 

„Du darfſt ſo nicht von mir gehen!“ ſagte er. 
„Du haſt mir einen Vorwurf gemacht, auf den ich 
jedem Andern mit der Waffe in der Hand die Ant⸗ 
wort geben müßte, und den ich auch von Dir nur er⸗ 
tragen darf, weil er mich nicht trifft. Ich konnte 
Dir nicht bekennen, was ich mir ſeloſt nicht eingeſtehen 
wollte; und auch Du haſt mir es nicht geſagt, daß Du 
Ramonna liebteſt.“ 


95 


„Aber Du ſahſt es, daß ich mich um fie bewarb!“ 
entgegnete ihm der Doktor. 

„Wie Du Dich auch um Andere in vorüber⸗ 
gehender Laune, wer weiß, wie oft, beworben haſt, ohne 
ernſtere Plane daran zu kaüpfen. An Dir wäre es 
geweſen, mir dies zu vertrauen, denn meine Freund⸗ 
ſchaft für Dich hätte mich in dieſem Falle vor jedem 
eigenen Wunſche gewahrt!“ 

Er ſagte dies mit der ihm eigenthümlichen ern⸗ 
ſten Einfachheit und Johannes fühlte, daß der Freund 
die Wahrheit ſprach; aber dieſe Erfenntriß brachte ſie 
der Verſtändigung nicht näher. Es hatte ſich eine 
Kluft zwiſchen ihnen aufgethan, in welcher ihre Ju⸗ 
gendfreundſchaft, ihre ganze ſchöne gemeinſame Ver⸗ 
gangenheit zu verſinken drohte, wenn das rechte, ver⸗ 
ſöhnende Wort nicht eben in dieſem Augenblicke ge⸗ 
ſprochen ward. Sie empfanden das alle Beide; indeß 
in ihrer Gereiztheit und Verſtörung waren ſie unfähig, 
es zu ſuchen, oder gar zu finden. Ihre Gedanken 
ſchweiften rückwärts und vorwärts; ſie erinnerten ſich 
all des Guten, das ſie einander ſchuldig geworden 
waren, und gerade aus dieſem Boden zogen die Ge- 
kränktheit und eine bittere Abneigung ihre helle Nah⸗ 
rung. Daß ſie, eben ſie, einander grollten, ſchnürte 


94 


Jedem von ihnen die Kehle zu, und nahm ihnen, die 
dem Tode feſt in's Auge geſehen hatten, den rechten 
höchſten Muth, den Muth der Selbſtüberwindung. 
Ohne weiter ein Wort mit einander zu wechſeln, er⸗ 
reichten ſie das Thor und trennten ſich mit einem 
kurzen, trockenen „Gute Nacht!“ 

Aber die Nacht war keinem von Beiden eine gute; 
der Schlaf wollte keinem von ihnen kommen. Dafür 
kamen ihnen wirre, wilde Gedanken; Gedanken in de⸗ 
nen Liebe und Haß mit einander kämpften, bis das 
Gehirn davon müde ward und die ſchweren Augen⸗ 
lieder endlich niederfielen als der Morgen graute. 
Solche Nacht hatten ſie Beide noch nicht erlebt, ſolche 
Herzzerriſſenheit und ſolchen inneren Zwieſpalt noch 
nicht erfahren. 

Es war Jedem von ihnen am Morgen zu 
Muthe wie auf einer Brandſtätte nach einem großen 
Feuer. Das Haus, in dem ſie von Kindheit an 
gelebt hatten, war niedergebrannt, rund um ſie her 
war Alles eine Zerſtörung, ſie ſelber waren entſtellt 
und geſchädigt durch das Ankämpfen gegen das fremde, 
wilde Element, Jeder dachte an ſeinen Verluſt und 
dachte doch auch mit Sorge und mit Mitleid an den 
Andern. Wäre ein Dritter, ein Unbetheiligter dazu 


95 


gekommen und hätte ſie bei der Hand gefaßt und zu 
einander geführt, ſo würden ſie gegangen und einan⸗ 
der in die Arme gefallen ſein, aber es kam kein ſol⸗ 
cher Helfer, und ein böſer Zufall fügte es, daß ſie 
einander in den nächſten Tagen gar nicht ſahen. Der 
Doktor ward zu einem Kranken über Land gerufen, 
Egon zu Schießübungen nach der benachbarten Feſtung 
kommandirt, und während deſſen kehrten Frau von Ra⸗ 
ven und Ramonna in die Reſidenz zurück. 


Neuntes Capitel. 


Am Abend des zweiten Tages, als der Doktor 
vom Bahnhof kommend, an dem Hauſe vorüberfuhr, 
in welchem die beiden Frauen wohnten, glänzte das 
Licht ihm durch ihre Fenſter hell entgegen. Das be⸗ 
lehrte ihn über ihre Heimkehr, und wäre er ſeinem 
Antriebe gefolgt, ſo würde er geraden Weges, im Reiſe⸗ 
rocke wie er war, hinaufgeeilt ſein, ſie willkommen zu 
heißen; aber die Erinnerung an Egon und an den 
Streit mit ihm, hielt ihn davon zurück. 

Zu Hauſe fand er die Nöthigung noch vor der Nacht 
einen Krankenbeſuch zu machen; am folgenden Morgen 
hatte er das in ſeiner Abweſenheit Verſäumte nachzuholen, 
und es war noch einmal Abend geworden, als er endlich 
vor Ramonna's Thüre ſtehend, mit einem nicht zu über⸗ 
windenden Zweifel in der Seele ſich die Frage aufwarf: 
„was willſt Du eigentlich jetzt hier?“ — Aber der Die⸗ 


97 


ner, der ihn kommen ſah und ihm die Thüre öffnete, 
überhob ihn der Antwort auf die ſelbſtgethane Frage 
und das war ihm grade recht. 

Wie er nun bei den Frauen eintrat, kamen ſie 
ihm mit einem Male wie völlig Fremde vor, obſchon 
Frau von Raven ihn mit der gewohnten mütterlichen 
Freundlichkeit begrüßte. Er war nie zuvor in dieſem 
Zimmer geweſen, hatte Ramonna immer nur in dem 
phantaſtiſch aufgeputzten Gartenſaal unter ihren Blu⸗ 
men und Vögeln, in leichter, luftiger Kleidung auf 
den Polſtern ruhen oder unter den Bäumen des Gar- 
tens ſich frei bewegen ſehen; nun fand er ſie in einer 
reichen aber doch gewöhnlichen Umgebung, dunkel und 
herbſtlich gekleidet wie alle andern Mädchen. Sie 
hielt eine Häkelarbeit in der Hand, wie andere Mäd⸗ 
chen auch, und da ſie viel geſünder ausſah und kräftiger 
und ſtärker geworden war, hatte ſich ſelbſt der Aus⸗ 
druck ihres Geſichtes verändert. Die Augen ſahen 
nicht mehr mit dem früheren, kindlich bittenden Aus⸗ 
druck zu ihm empor, ſie hatte bewußt oder unbewußt 
von Frau von Raven eine ſichere geſellſchaftliche Haltung 
angenommen, ihre Verbeugung, ihr Gruß, die Art 
mit welcher ſie ihm die Hand reichte, waren nicht die 
früheren. Aus dem tropiſchen elfenhaften Weſen war 


Fonny Lewald, Neue Erzählungen. 0 


98 


ſie ein ſchönes Frauenzimmer geworden, und ihre 
veränderte Erſcheinung wirkte unwillkürlich auf den 
jungen Arzt zurück. Er fragte nur oberflächlich nach 
ihrem Ergehen, da er jetzt nicht mehr als Stellver⸗ 
treter des Profeſſors bei ihr erſchien, ſie nannte ſich 
vollſtändig geſund, dankte ihm, daß er früher mit 
ihren melancholiſchen Grillen fo viel Nachſicht gehabt 
habe, aber ſie war verlegen, war nicht zutraulich wie 
ſonſt, es wollte keine rechte Unterhaltung in Gang 
kommen; nur Frau von Raven ſprach mit heiterer Be⸗ 
friedigung von ihrer Reiſe. Als er ſich darauf er⸗ 
kundigte, ob Ramonna ihren Vater hier noch angetrof⸗ 
fen habe, verneinte ſie das, ohne ſeiner oder ihrer 
Stiefmutter weiter zu erwähnen. Sie hatte überlegen, 
ſchweigen, ſich beherrſchen gelernt, ſelbſt ihr Betragen 
gegen ihn erſchien ihm nicht natürlich. Er wußte ſich 
die Wandlung nicht zu deuten, die mit ihr vorgegan⸗ 
gen war. Bisweilen, wenn der warme Blick ihrer 
Augen plötzlich in die ſeinen fiel, dann ſah er die 
frühere Ramonna wieder und eine ſelige Hoffnung 
zuckte in ihm auf; aber kaum empfunden war der 
ſonnige Strahl auch ſchon erloſchen, ſo daß er ſich ſel⸗ 
ber und ſeiner Beobachtung nicht mehr vertraute. 
Seine Leidenſchaft ſteigerte ſich an dieſer Ungewißheit. 


99 


Er wußte nicht, was er thun ſollte. Er wollte blei- 
ben, dann wollte er gehen. Er hing an jeder ihrer 
Mienen und hörte kaum, wovon ſie mit ihm ſprach, 
weil ihn die Vorſtellung beſchäftigte, daß ſie eben jetzt 
an Egon denken möchte. Wäre Frau von Raven nicht 
dabei geweſen, hätte er Ramonna nur wenige Minuten 
allein geſehen, ſo würde er ihr ſein Herz erſchloſſen 
und eine Entſcheidung von ihr gefordert haben; aber 
dazu kam es nicht, und ſchon wollte er ſich entfernen, 
als Egon ſich melden ließ, und dem Diener aaf dem 
Fuße folgend in das Zimmer trat. 

Beide Frauen erhoben ſich und gingen ihm ent⸗ 
gegen. Die Mutter umarmte ihn, Ramonna reichte 
ihm die Hand, die er an ſeine Lippen drückte. Sie 
nannte ihn bei ſeinem Namen, nannte ihn ihren lie⸗ 
ben Freund, ſie dankte ihm mit all dem Zauber, den 
auch Johannes nur zu oft empfunden hatte, für die 
Selbſtloſigkeit, mit welcher er gegen ſie verfahre, ſie 
zeigte ſich plötzlich frei, plötzlich munter und aufge⸗ 
ſchloſſen, und eine ſinnverwirrende Eiferſucht loderte in 
Johannes Herzen auf, als der freudeſtrahlende Egon 
ihn mit der heiteren Ruhe des Beſitzenden begrüßte, 
als wäre er bereits des Hauſes Herr. 


Das hatte Johannes nicht erwartet. Die Ge⸗ 
| 5 


160 


danken jagten in tollem Wirbel durch fein Gehirn. 
Er ſchalt ſich einen eiteln Narren, und eine brennende 
Scham, eine tiefe Empörung trieben ihn von einem 
Vorſatz zu dem andern. Er wollte ſprechen und fürchtete 
bei dem erſten Worte zu verrathen, was in ihm vor- 
ging, dann wieder kam ihm die fröhliche Sicherheit 
des Freundes wie eine gefliſſentliche Kränkung, wie 
eine Herausforderung vor, und er beſchloß zu bleiben. 
Aber je unbefangener Ramonna, je zuverſichtlicher Egon 
ſich bezeigte, je ſchrecklicher dies Beides dem Doktor war, 
um ſo mehr glaubte er ſich genöthigt, ſich zu einer Hei⸗ 
terkeit zu zwingen, die zu fühlen er weit entfernt war. 
Er ſcherzte, er lachte, er neckte Ramonna, es gelang 
ihm, ſie an ſich zu feſſeln. Endlich fing man zu 
muſiziren an, und niemals war des Doktors 
Stimme, niemals ſein Vortrag ſeelenvoller, hinreißen⸗ 
der geweſen als an dieſem Abende. Ramonna hing 
wie gebannt an ſeinen Lippen, er ſah es und es 
ſteigerte ſein Feuer. Die Furien der Eiferſucht wichen 
von ihm vor der Gewalt der ſüßen Melodieen, die 
er anftimmte, und wie Ramonna dann endlich das 
Liedchen von ihm forderte, das ſie zuerſt von ihm ge⸗ 
hört hatte, wie er den Schlußvers jeder Strophe, das 
immer wiederholte: „Du weißt's, ich liebe Dich!“ 


101 


mit all der zärtlichen Gluth emporklingen ließ, die in 
ihm brannte, da hellten Ramonna's Augen ſich völlig 
wieder auf, das ſüße Lächeln, das ihn von je bezau⸗ 
bert hatte, ſchwebte wieder auf ihren Lippen, und 
Egons Mutter mußte endlich an die vorgerückte 
Stunde mahnen, denn Johannes war unerſchöpflich 
im Geſang, weil er ſo unerſättlich war im Anſchauen 
der Geliebten. Frau von Raven's Weiſung ſchreckte 
ihn wie aus einem ſchönen Rauſche auf. Die Muſik 
hatte alle Fibern ſeines Weſens aufgeregt, er hätte 
nichts Gleichgültiges zu ſprechen vermocht, er nahm 
plötzlich und mit wenig Worten ſeinen Abſchied und 
ging raſch davon, von froher Hoffnung belebt. Egon 
blieb zurück. Indeß Johannes hatte nur eine kleine 
Strecke ſeines Weges hinter ſich, als Jener ſchon an 
ſeiner Seite war. | 

Es fiel ein feiner kalter Regen, der Herbſt brach 
an, die Nacht war ſehr dunkel, Johannes konnte 
Egons Angeſicht nicht ſehen, aber er hörte die Heftig⸗ 
keit ſeines Schrittes und hörte, daß ſein Athem kurz 
ging, als er ohne alle Vorbereitung, den in ſeine 
ſchwelgenden Gefühle verſunkenen Johannes, mit 
den Worten anfuhr: „Du haſt es kein ehrlich Spiel 
genannt, daß ich Dir meine Liebe für Ramonna nicht 


102 


vertraute; wie aber ſoll ich's nennen, daß Du Dich 
mit Deinen Künſten in ihr Herz zu ſtehlen ſuchſt, da 
Du's jetzt weißt, daß ich ſie liebe und an ihre Nei⸗ 
gung für mich glaube!“ 

Weil der Angriff ſo unerwartet kum und weil 
er in ſo grellem Widerſtreit mit ſeiner Stimmung 
ſtand, reizte er Johannes doppelt auf; und in dem⸗ 
ſelben Tone haſſenden Zornes, in welchem Jener die 
Frage an ihn richtete, verſetzte er: „Nenn's wie Du 
willſt!“ 

„So nenn' ich's ehrlos!“ ſtieß Egon ſeiner ſelbſt 
vergeſſend, wild hervor. 

Johannes fuhr zuſammen, aber ſie ſtanden eben 
Mann gegen Mann, und kalt, als hätte er einen 
Fremden ſich gegenüber, ſagte er: „Die Antwort 
darauf morgen!“ Damit ſchieden ſie. 


Zehntes Capitel. 


Draußen ſchlug es drei Uhr und Johannes war 
noch in ſeinen Kleidern. Er trat an das Fenſter und 
ſah in die Nacht hinaus. Der Regen hatte nachge— 
laſſen, ein ſcharfer Wind jagte die Flammen in den 
Gaslaternen hin und her und trocknete die Straße. 
Es war Alles ſtill, kein Wagen fuhr, kein Menſch 
ging vorüber, Nichts zog ihn ab, auch nur für einige 
Minuten ab, von den Gedanken, die ihn wie Furien 
umdrängten, ohne daß er irgendwo den Ausweg ſah. 

Er war beſchimpft! beſchimpft von ſeinem Freunde, 
von dem Manne, der bis auf dieſe Stunde ſeinem 
Herzen der Nächſte geweſen war; und Egon, dem er 
ſich einſt in ernſter Stunde zugeſchworen hatte, dem 
er gelobt hatte, ſeiner Mutter ein treuer Sohn zu 
ſein, wenn der Krieg ihr den eigenen Sohn entriſſe, 
Egon war nicht umgedreht an der Ecke der Straße, 
war ihm nicht nachgeeilt, ihm zu ſagen: vergieb mir, 
ich habe wie ein Sinnloſer gehandelt! 


104 


Je länger Johannes es bedachte, je rathloſer 
fand er ſich vor dem Ereigniß. Vor dem Gedanken, 
dem Genoſſen ſeines ganzen Lebens, dem Freunde, 
denn ein ſolcher blieb ihm Egon trotz allem was zwi⸗ 
ſchen ihnen vorgefallen war, mit den Waffen in der 
Hand gegenüber zu treten, ſchreckte er als vor einem 
Unmöglichen zurück; auch Egon mußte ſo empfinden. 
Aber leider hatte dieſer von Kindheit an jene unheil⸗ 
volle Starrheit gefliſſentlich in ſich gepflegt, die von 
dem betretenen Wege, auch wenn er ein falſcher iſt, 
nicht laſſen mag, und die Ehrbegriffe der Kaſte und 
des Standes, denen er angehörte, hatten ihn in der 
üblen Gewohnheit ſo befeſtigt, daß er dieſe Fehler ſei⸗ 
nes Verſtandes und ſeines Herzens als Charakterſtärke 
an ſich ſchätzte. Daß Egon ihm damals vor dem 
Kriege eingeſtanden, er ſcheue den Tod, weil er für 
die Mutter leben müſſe, das verſchlimmerte den ge⸗ 
genwärtigen Konflikt und hinderte, wie Johannes die 
Sinnesart des Freundes kannte, jede freiwillige Aus⸗ 
gleichung von deſſen Seite. 

Die Stunden ſchlichen langſam an Johannes 
hin, ſeine Gedanken jagten einander um ſo ſchneller. 
Es war als wolle dieſe Nacht kein Ende nehmen, als 
könnten die Gedanken nirgend raſten. Beſonnene 


105 


Ueberlegungen und wilde Phantaſiegebilde zogen in 
unaufhaltſamen Wechſel durch ſein Gehirn. Er ſah 
Egon entſeelt zu ſeinen Füßen — dann wieder ſah 
er ihn in Ramonna's Armen — es war Pein um 
Pein, Verzweiflung um Verzweiflung. Er hatte in 
den blutigen Schlachten des böhmiſchen Heeres dem 
Tode in's Auge ſchauen lernen, er war ihm ſeitdem 
begegnet in dem Gifthauch grauſer Seuchen, und er 
hatte vor der Möglichkeit eines nahen Endes feſt ge— 
ſtanden im Bewußtſein ſeiner Pflicht. Aber jetzt von 
dem Leben zu ſcheiden, da Ramonna in dem Licht der 
Sonne athmete! zu fallen und ſie dem Manne zu 
überlaſſen, der ihm das Leben nahm um ihretwillen 
— oder ihn ermorden um ſie zu beſitzen? Und wie⸗ 
der war er in dem Zirkel, in welchem lauter Unmög⸗ 
lichkeiten ihn umringten, wo die Verzweiflung und 
die Reue ihm in's Antlitz ſtierten, wo die Frau, die 
er wie eine Mutter liebte, händeringend die flehenden 
Augen zu ihm erhob. Denn wie der Ausgang dieſes 
von Egon heraufbeſchworenen Kampfes immer ſein 
mochte, Frau von Raven hatte die Folgen deſſelben mit 
zu tragen, und ſie fielen ſchwer auf ſie, die Schuldloſe, 
die vom Leben ohnehin ſo hart Geprüfte. 

Mit einem Male ſtieg ein Gedanke in ihm auf, 


106 


es war ihm als komme er aus einem wüſten Rauſche 
zu ſich. Er hätte in dem Augenblick darüber lachen 
können, daß er dieſen nächſten Ausweg nicht gleich 
geſehen, hätte er ſich nicht immer noch unter dem un⸗ 
heilvollen Bann befunden, in den die Leidenſchaft ihn 
und den Freund verſtrickt. Aber er begann wie ein 
Ernüchterter um ſich zu blicken und ſah plötzlich Alles in 
ſeinem natürlichen Licht. Was hatten er und Egon 
denn im Grunde zu entſcheiden? Ja, wie hatten ſie 
ſich um eines Mädchens willen überhaupt entzweien, 
ſich bis zu tödtlicher Beleidigung treiben laſſen können? 
Wie durften ſie daran denken, um die Hand und um 
den Beſitz eines Mädchens zu kämpfen, deſſen Neigung 
und deſſen freier Wille doch vor allem Andern in 
Betracht kam? deſſen Glück, falls ſie Einen von 
ihnen Beiden liebte, bei dieſem beabſichtigten Zwei⸗ 
kampf ebenſo wie die Zukunft von Frau von Raven 
auf dem Spiele ſtand. Ramonna war ja da! Von ihr, 
von ihrer Neigung hing Alles ab. Beide, er und 
Egon mußten vor die Geliebte treten, offen wie Män⸗ 
ner und wie Freunde ſprechen, und ihre Entſcheidung 
gelten laſſen und ertragen, wie ſie immer fiel. 

Er war völlig Herr über ſich geworden, war ge— 
faßt und freien Sinnes, daß es ihm wieder wohl zu 


107 


Muthe wurde. Und von dem Zuge feiner offenen 
warmherzigen Natur zu raſchem Handeln angetrieben, 
warf er, da es Tag zu werden anfing, den Mantel 
über ſeine Schultern und verließ das Haus. 

Auf den Straßen war es noch leer, auch in den 
Höfen der Kaſerne, in welcher Egon wohnte, ſeit 
Frau von Raven im Sommer zu der Badereiſe aufge- 
brochen war, regte ſich nur der Dienſt in den Stal⸗ 
lungen und den Remiſen. Johannes verſchaffte ſich 
den Eintritt, ſtieg ſchnell die Treppen hinan und ge⸗ 
langte raſchen Schrittes durch die langen Korridore 
bis an des Lieutenants Zimmer. 

Aber wie er nun die Treppe hinaufſtieg und vor 
der Thüre deſſen ſtand, der ihm das beſchimpfende 
Wort in's Angeſicht geſchleudert hatte, fühlte er ſich 
wie angebannt. Das, was er that, verſtieß gegen 
alles Hergebrachte, verſtieß vor Allem gegen die Re— 
geln, welche ſeit Jahrhunderten für Ehrenſachen und 
für Ehrenhändel feſtgeſtellt und durch eine lang und 
ſtreng geübte Handhabung zu einem geheiligten Geſetz 
erhoben worden waren. Er, der gefliſſentlich Belei- 
digte, der in dieſer Stunde ſeinen Sekundanten hätte 
entſenden müſſen, dem Beleidiger die Ausforderung 
zu überbringen, er ging ſelber zu ihm, zu dem Be— 


108 


leidiger, um aufzuklären, was die Leidenſchaft Ver⸗ 
wirrendes zwiſchen ſie geſtellt hatte, um Frieden zu 
ſtiften, ehe einem Dritten bekannt geworden war, wohin 
ſie, die Freunde geweſen waren ſo lange er nur den⸗ 
ken konnte, ſich verirrt hatten; und von dieſer Erinnerung, 
wie von dem Bewußtſein das Rechte zu thun, über 
jedes anerzogene Bedenken fortgetragen, klopfte er an 
die Thüre und trat bei Egon ein. 

Der Lieutenant ſaß am Tiſche und ſchrieb, die 
Lichter brannten noch, es war kaum ſieben Uhr. 
Ein Blick auf das Zimmer und den Freund überzeug⸗ 
ten den zu raſcher Beobachtung gewöhnten jungen 
Arzt, daß auch Egon eine ruheloſe Nacht gehabt ha— 
ben mußte. Sein Piſtolenkaſten ſtand geöffnet auf 
einem Stuhle, eines der Piſtole lag auf dem Tiſch. 
Als er den Doktor erblickte, fuhr er auf. 

„Du hier?“ rief er und ſtrich mit der Hand das 
lange dunkle Haar hinweg, das ihm wirr die bleiche 
Stirn verdeckte? „Du?“ — und ſtatt dem Freunde 
an die Bruſt zu fallen, wie dieſer es, ohne ſich deſſen 
klar bewußt zu fein, erwartet hatte, trat er finſtern 
Blicks von ihm zurück. 

Das ſtimmte auch Johannes um, und machte 
ihn plötzlich kalt und ſtarr. Er bereute ſeiner Ein⸗ 


109 


gebung gefolgt zu ſein, und ſich gewaltſam zuſammen⸗ 
nehmend, ſprach er, ſo gemeſſen als er's konnte: 
„Ich komme Dir zu ſagen, daß ich nicht auf Dich 
ſchieße — im Uebrigen thu' was Du willſt.“ 

Statt aller Antwort reichte Egon ihm ein Blatt 
hin. „Lies!“ ſagte er, ohne ihn anzuſehen. 

Es lautete: „Ich habe mit mir gerungen die 
lange Nacht hindurch, mich zur Entſagung zu zwingen 
um Deinetwillen; ich vermag es nicht. Zwiſchen 
die Nothwendigkeit geſtellt die Hand zu legen an Dich 
oder an mich ſelbſt, wähle ich das Letztere!“ — 

Johannes las nicht weiter. Er warf das Blatt 
von ſich und faßte die Hände des Freundes. Sie 
waren kalt wie die eines Todten. „Egon!“ rief er 
und die Angſt ſeines Herzens beflügelte ſeine Worte, 
„Egon! höre mich. Ein Wahnſinn hat uns in ſeine 
wirren Strudel geriſſen, daß wir das Nächſte nicht 
mehr ſahen. Zuſammen wollen wir vor ſie hintreten, 
ſie ſoll wählen, ſie ſoll entſcheiden!“ 

Egon ſchüttelte das Haupt. „Nein!“ ſprach er, 
„auf ihr junges Herz ſoll die Verantwortung nicht 
fallen! denn ich jage mir die Kugel durch den Kopf, 
wenn ſie nicht mein wird!“ 

„Das iſt Wahnſinn!“ ſtieß Johannes hervor. 


110 


„Möglich!“ entgegnete der Andere, „aber ich habe 
dieſe Nacht Abrechnung gehalten mit dem Leben und 
mit mir. Ich weiß, was ich vermag, was nicht!“ 

Johannes' Beſonnenheit und Geduld hielten vor 
der egoiſtiſchen Entſchloſſenheit des Lieutenants kaum 
noch Stand; und mit dem letzten Reſt der Faſſung, 
über die er Herr war, fragte er: „Du glaubſt Dich 
ihrer Liebe alſo völlig ſicher?“ 

„Nein!“ ſprach Egon, „nein! Das iſt's, was 
mich von Sinnen bringt. Mir fehlen die Eigenſchaf⸗ 
ten, die Dir von je die Weiberherzen zugewendet ha⸗ 
ben, und ſie iſt jung! Treten wir vor ſie hin — 
heute — in dieſer Stunde — Du mit dem Lächeln 
des Glückes auf den Lippen, ich mit meiner düſtern 
Stirne — wie ſollte ſie ſchwanken zwiſchen Dir und 
mir? Ich ſah es ja, wie geſtern Dein Blick ihre 
Sinne erweckte, wie er ihr das Herz im Buſen wan⸗ 
delte, das ſich mir zugewendet hatte. Und dennoch 
fühl' ich's, weiß ich's mit unabweislicher Gewißheit, 
der Gewalt meiner Liebe würde ſie nicht widerſtehen 
— ohne Dich! Zieh' Dich zurück!“ 

„Um ſie einem Sinnloſen zu überlaſſen!“ fuhr 
Johannes auf; und ohne ein Wort hinzuzufügen 
ſchritt er nach der Thüre. 


111 


Egon vertrat ihm den Weg. „Wohin?“ fragte 
er gebieteriſch. 

„Ich habe mehr als meine Pflicht gethan,“ ent⸗ 
gegnete der Doktor, „ich bin jetzt meines Handelns 
freier Herr.“ 

Da, noch ehe Johannes die Thüre des Zimmers 
erreicht, hatte Egon die Piſtole ergriffen, und mit 
einer Kälte, die dem Andern Mark und Bein erſchüt⸗ 
terte, ſprach er: „In dem Augenblick, in dem Du 
dieſe Schwelle überſchreiteſt, iſt's gethan! Geh' dann 
zu ihr, und melde, was geſchehen iſt.“ 

Johannes ſchleuderte ſeinen Mantel mit heftiger 
Bewegung von ſich. Egon ſtand noch mit der Piſtole 
in der Hand, dann ließ er fie ſinken und fiel erſchöpft 
auf einen Stuhl. Der Doktor hatte ſich nach dem 
Fenſter gewendet und ſah ſtumm hinaus. Es empörte 
ihn, ſich auf ſolche Weiſe zwingen und beherrſchen zu 
laſſen, und doch wagte er es dem Aufgeregten gegen⸗ 
über nicht, es zum Aeußerſten zu treiben. Ein paar 
Minuten mochten ſo vergangen ſein und ſie waren 
Beiden lang geworden. Da raffte Johannes ſich auf 
und ſagte, an den Tiſch herantretend, an welchem 
Egon ſaß, und ſich ihm feſt entgegenſtellend: „Laß 
uns zu Ende kommen! Es ſteht feſt bei mir, frei⸗ 


112 


willig gebe ich Ramonna nicht auf, es wäre Feigheit 
und gegen meine Ueberzeugung, denn ein Mann von 
Deiner Leidenſchaft iſt ein Unglück für ein Weib. 
Entſagen willſt Du auch nicht — todtſchießen wollen 
wir einander nicht — aber wenn ſie mich erwählt, 
willſt Du Dir das Leben nehmen, und ich ſoll das 
Bewußtſein mit mir durch das Leben ſchleppen, Dich 
in den Tod getrieben, Deiner Mutter ihren Sohn ge⸗ 
raubt zu haben. Danach trag' ich kein Verlangen!“ 
Er brach ab, denn weil er ſich ſo gewaltſam zur 
Ruhe zwang, ward ihm das Sprechen ſchwer, und erft 
nach einer kurzen Pauſe, fügte er hinzu: „Sage Du 
nun ſelber — was ſoll jetzt geſchehen?“ 

Da richtete der Andere ſich empor und ſprach: 
„Einen Ausweg giebt es, der das Gewiſſen und das 
Empfinden eines Jeden frei und unangetaſtet läßt. Wir 
legen die Entſcheidung in eine höhere Hand.“ 

„Was ſoll das heißen?“ 

„Wir machen's wie die drüben jenſeits des Ozeans. 
Wir looſen — und der Verlierende erſchießt ſich 
ſelbſt!“ — Er hatte das mit einer Feierlichkeit ge⸗ 
ſprochen, die Eindruck auf den Doktor machte, obſchon 
er es verlernt hatte, an eine höhere Macht zu glauben. 

Es enttand eine neue Pauſe, der Doktor ging 


113 


in finſterem Brüten im Zimmer auf und ab, Egon 
ſchnitt mit der Genauigkeit, die er in allem Thun be⸗ 
zeigte, zwei Papierſtreifen und ſchrieb in den einen 
den Namen: „Ramonna“ hinein. Dann faltete er 
ſie mit höchſter Gleichmäßigkeit zuſammen, legte ſie in 
eine offene metallene Schaale, die auf feinem Schreib: 
tiſch ſtand, und an Johannes herantretend, ſprach er: 
„Wähle!“ 

Aber dieſe gebieteriſche umuthung gab Johannes 
ſich ſelber wieder, und mit geſunder Lebensluſt die 
Schaale von ſich ſtoßend, rief er, als ob ihm eben 
aus der Fülle ſeiner Lebensluſt und Jugendkraft eine 
Erleuchtung käme: „Nein! ich will nicht ſterben! 
aber fort muß Einer. — Looſen wir!“ 

Egon ſah ihn mit ſtarrem Auge an. Die ſchwar⸗ 
zen Gedanken, mit denen er ſich herumgeſchlagen die 
Nacht hindurch, lagen noch auf ihm und verengten 
und verdüſterten ſeinen Sinn. „Ich verſtehe Dich 
nicht,“ ſagte er, „Du weiſeſt meinen Vorſchlag ab 
und willſt doch looſen?“ 

„Um Bleiben oder Gehen!“ fiel Johannes ein. 
„Der Unterliegende räumt das Feld. Niemand als 
der Bleibende erfährt wohin der Scheidende ji) wen— 


det. Er wählt einen Aufenthalt, der ie dem ge⸗ 
Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 


114 


wohnten Bereich der Wanderzüge liegt, und kehrt nicht 
wieder, bis der Andere ihn ruft!“ 

Wie er die Worte ausgeſprochen hatte, leuchtete 
ihre Tragweite ihm erſt völlig ein; auch Egon ermaß 
ſie in ihrer ganzen Bedeutung. Sie zeigten einen 
Ausweg, aber ſterben war in gewiſſem Sinne nicht ſo 
ſchwer als dies Verſchwinden, das für den Offizier, 
wenn es nicht vorbereitet werden konnte, zur Ent⸗ 
ehrung wurde; auch zögerte er in dumpfem Schwei⸗ 
gen. Das reizte Johannes auf. „Wähle!“ rief er 
jetzt von ſeiner Seite dringend. 

„Ich kann nicht deſertiren, ich bedarf acht Tage 
Zeit!“ ſagte Egon. 

„Die habe auch ich nöthig!“ entgegnete Ae 
und ſeine Uhr herausziehend, fügte er hinzu: „Heute 
in acht Tagen, um dieſe ſelbe Stunde, verläßt Einer 
von uns die Stadt. Bis dahin ſieht Keiner von uns | 
Ramonna wieder!“ — | 

„Sei es alſo!“ ſprach Egon, und hielt dem An⸗ 
dern die Schaale mit den Looſen hin. 

Johannes wählte und entfaltete das Blatt. — | 
Dann wendete er ſich ab und verließ, ohne ein Wort 
zu ſprechen, das Zimmer und das Haus. 


Elftes Capitel. 


Volle vierzehn Tage waren ſeitdem hingeſchwun⸗ 
den, als der Poſtbote dem Bruder des Doktors, während 
dieſer behaglich mit ſeiner Frau bei ſeinem Frühſtück ſaß, 
einen Brief von Johannes brachte. Er war aus 
ihrer Vaterſtadt datirt, wohin der Doktor ſich zum 
Beſuche ihrer dort lebenden Angehörigen begeben, und 
von wo er zu ſchreiben verſprochen hatte. Der Rath 
öffnete alſo das Couvert in aller Ruhe, aber gleich 
die Kürze des Briefes fiel ihm auf, und der Inhalt 
deſſelben erregte ihm die höchſte Beſtürzung. 

„Wenn Du dieſe Zeilen erhältſt,“ hieß es in 
dem Schreiben, „bin ich von der Heimath entfernt. 
Ich war nur einen Tag bei den Unſern. Wohin ich 
gehe, wann ich wiederkehre, kann ich Dir nicht ſagen; 
und ich verlange es ausdrücklich, daß Du nicht das 
nach forſcheſt. Verhältniſſe, die ich Dir vorläufig 

8 


116 


nicht erklären kann, haben meinen Entſchluß beſtimmt. 
Meine Entfernung iſt nothwendig und freiwillig. Alle 
meine Angelegenheiten ſind geordnet. Daß keine un⸗ 
ehrenhafte That meinem Fortgehen zum Grunde liegt, 
brauche ich Dir nicht zu verſichern. Ein Unglück, das 
mir zuſtieße, würdeſt Du erfahren, ſei alſo unbeſorgt 
ſo lange Du ohne Nachricht von mir biſt, und hebe 
auf was mein iſt — für den Fall, daß ich es a 
oder ſpäter einzufordern käme.“ 

Der Brief ſollte den Bruder offenbar beruhigen, 
aber er wirkte das Gegentheil, und was das Uebelſte 
war, es fehlte demſelben jeder Anhalt auch zu der 
leiſeſten Vermuthung, über die Urſache eines fo räth⸗ 
ſelhaften Schrittes; denn Johannes war immer ver⸗ 
ſtändig und dazu auch leichtlebig geweſen. Wenn er 
trotzdem einmal in eine mehr oder weniger ernſthafte 
Verwicklung gerathen war, hatte er ſich mit ſeiner 
einfachen Wahrhaftigkeit immer bald herausgefunden, 
und es war nicht abzuſehen, was ihn zu einem ſo 
folgenreichen und zugleich ſo geheimnißvollen Schritt 
beſtimmt haben konnte. Natürlich war der erſte Gang 
des Bruders zu dem Lieutenant. — Statt aller Ant⸗ 
wort aber wies dieſer ein faſt gleichlautendes Schrei⸗ 
ben vor, das er zu der nämlichen Stunde und von 


117 


dem nämlichen Orte empfangen hatte, und wie der 
Rath dann lebhafter in Egon drang, bekannte dieſer, 
daß in den letzten Wochen eine kleine Verſtimmung 
zwiſchen ihm und Johannes obgewaltet hätte, und 
daß er denſelben in den Tagen vor deſſen Abreiſe 
gar nicht mehr geſehen habe. Auch Frau von Raven, 
bei welcher der Bruder unter der Hand Nachricht ein⸗ 
zuziehen verſuchte, erwähnte, daß Johannes in der 
letzten Woche nicht bei ihr geweſen ſei, fügte aber hinzu, 
daß der Doktor an dem einzigen Abende, den er nach 
ihrer Heimkehr bei ihr zugebracht habe, ſich von der heiter⸗ 
ſten Laune und liebenswürdig wie nur je erwieſen habe. 

Es war für den Bruder und die näheren Be⸗ 
kannten des Verſchwundenen eine ſehr drückende und 
ſorgenvolle Lage. Johannes hatte bis zur Stunde 
ſeiner Abreiſe alle ſeine Obliegenheiten erfüllt, mit 
ſeinen Freunden in gewohnter Art verkehrt, von dem 
Bruder und deſſen Frau mit der Heiterkeit Abſchied 
genommen, mit welcher man ſich auf eine Luſtreiſe 
begiebt. An irgend eine gewaltſame That zu denken, 
hatte man keinen Grund; ebenſo wenig war eine 
Spur zu entdecken, daß Johannes in einen Streit 
oder in einen Ehrenhandel verwickelt worden wäre. 
Auf einen Liebeshandel, einen Roman, eine Entfüh⸗ 


1 
v4 


118 
rung zu ſchließen war auch keine Veranlaſſung, und 
während man ſich unabläſſig mit der Frage beſchäfti⸗ 
gen mußte: was kann denn geſchehen ſein? wagte 
man doch nicht die gewöhnlichen polizeilichen Nach⸗ 
forſchungen zu veranlaſſen, eben weil man Johannes 
als beſonnen und zuverläſſig kannte, und alſo an die 
Möglichkeit denken mußte, ihn für die Zukunft zu be⸗ 
nachtheiligen, wenn man ſeiner Anweiſung, keine 
Nachforſchungen anzuſtellen, entgegenhandelte. Man 
wußte nicht, ob man eingeſtehen dürfe, daß man ſeinen 
Aufenthalt und die Gründe ſeines Fortgehens nicht kenne, 
daß man ſelber vor einem Räthſel ſtehe, oder ob man 
die Angabe verbreiten ſolle, der Doktor habe ſich nach 
erhaltener Eiagladung zur Theilnahme an einer über⸗ 
ſeeiſchen wiſſenſchaftlichen Reiſe, welche eben damals 
im Werke war, raſch entſchloſſen; und man entſchied 
ſich endlich für dies Letztere, weil man dadurch 
Zeit gewann. Ob dies Vorgeben bei den Leuten 
Glauben fand, das ſtand dahin, und die Ungewißheit, 
in welcher die Angehörigen des Doktors und ſeine 
nächſten Freunde ſich über ſein Geſchick befanden, 
wurde dadurch nicht vermindert. Niemand aber ſchien 
von derſelben mehr zu leiden als derjenige, deſſen 
täglicher und unzertrennlicher Gefährte der Verſchwun⸗ 


119 


dene bis dahin geweſen war, und man hatte häufig 
Gelegenheit, dies zu beobachten, denn der Lieutenant 
von Raven lebte in dieſem Winter mehr noch als in dem 
vorigen in den Geſellſchaften der ſchönen Welt, in denen 
er ſeine Mutter und deren Pflegetochter zu begleiten hatte. 

Es ſah jedoch gar nicht danach aus, als ob 
Egon Freude an dem Amte oder Luſt an der Gefel- 
ligkeit empfände, denn ſeine finſtere Schweigſamkeit 
bildete förmlich einen Gegenſatz zu der ſtrahlenden 
Schönheit der jungen Kreolin und zu dem Vergnügen, 
mit welchem Frau von Raven das ihr anvertraute 
Mädchen als den Gegenſtand einer allgemeinen Be⸗ 
wunderung erblickte. Er war immer ernſthaft, immer 
leicht verletzlich geweſen, jetzt war er Beides in erhöh— 
tem Grade, und die gemeinſamen Bekannten von 
Johannes und von ihm, bemerkten häufig, wie ſehr die 
ausgleichende Weiſe des Erſtern ihnen im Verkehr mit 
Egon fehlte. Daß dieſer eine Leidenſchaft für Ra⸗ 
monna hege, war Allen deutlich, daß die vielfache Be⸗ 
werbung, von der ſie überall umgeben war, ihn pei⸗ 
nigte, war eben ſo gewiß; aber ob er Hoffnung habe, 
ihre Gunſt zu gewinnen, ob ihm dieſelbe vielleicht ſchon 
zugewendet ſei, darüber waren weder feine Mitbewer⸗ 
ber, noch ſeine Freunde, noch gar er ſelbſt im Klaren. 


120 


Er hatte erreicht, was er gewollt, indeß er fand ſich 
im Grunde dadurch nicht gefördert, und er durfte ſich 
nicht fragen, um welchen Preis er ſeines Nebenbuhlers 
ſich entledigt hatte. Wie oft er es ſich vorhalten 
mochte, daß es Johannes geweſen ſei, der den Vor⸗ 
ſchlag zu dieſem Auswege vor dem Zuſammenſtoße ge⸗ 
macht, daß Johannes das Loos gezogen, und daß er 
ſelber jetzt in der Ferne ſein würde, wenn die Hand 
des Andern in dem entſcheidenden Augenblicke glück⸗ 
licher geweſen wäre, es half ihm nicht über die Reue 
fort, den Freund zu dieſem Aeußerſten gedrängt zu 
haben, und doch konnte er es nicht über ſich gewinnen, 
ihm zu ſchreiben: „Kehre wieder!“ Wenn er in der 
einen Stunde auf dem Punkte ſtand, den Verbannten 
zurückzurufen, um ſich ſelber von der Verſtellung und 
von den inneren Kämpfen zu erlöſen, mit welchen 
das unſelige Geheimniß ihn belaſtete, ſo warfen ein 
freundliches ihm Hoffnung gebendes Wort, ein Blick 
Ramonna's das Alles in der nächſten Stunde wieder 
über den Haufen. Die Leidenſchaft ſiegte über ſein Ge⸗ 
wiſſen und er blieb gefeſſelt in dem Banne, den er 
ſelber über ſich heraufbeſchworen hatte. 

Darüber gingen der ganze Winter und die erſte 
Zeit des Frühjahrs hin, ohne daß in ſeinem Verhält⸗ 


124 


niß zu der Pflegetochter ſeiner Mutter eine Entfchei- 
dung oder auch nur eine weſentliche Aenderung einge— 
treten wäre. Er ſah ſie an jedem Tage, ſie hatte ſich 
mehr und mehr an ihn gewöhnt und ein herzliches Vertrauen 
zu ihm gefaßt. Sie plauderte mit ihm von den Ga- 
lanterieen der Männer, die ihr huldigten, und zeigte 
ihm die Briefe, welche ihr am fünfzehnten jeden Monats 
von ihrem Vater kamen. Der Inhalt derſelben blieb 
ſich faſt beſtändig gleich. Einmal wie das andere mel- 
dete ihr Herr Ernsby, daß er geſund und ſehr zufrieden 
ſei, daß Frau Ernsby ſich in der Havannah ſehr wohl 
befinde, und daß es bei Ramonna ſtehe, nach Hauſe 
zu kommen, wenn ſie dieſes wünſche und wenn ſie 
glaube, das Klima der Tropen ertragen zu können. 
Sei dies Beides nicht der Fall, ſo möge ſie in Eu⸗ 
ropa unter dem Schutze und nach dem Rathe ihrer be— 
währten Freundin ihr Leben ſo geſtalten, wie es ſie 
am meiſten befriedige. Es folgten dann noch immer 
ein paar Zeilen ihrer Stiefmutter, die das Gleiche 
noch gleichgiltiger wiederholten, und dieſe Briefe 
warfen regelmäßig einen Schatten über die Seele 
des jungen Mädchens, aber fie äußerte ſich nie— 
mals über das, was in ihr vorging, und Frau 
von Raven hatte Recht gehabt, als fie Ramonna in 


122 


einem Geſpräch mit ihrem Sohne einft mit jenen 
lachenden Schweizerſee'n verglichen hatte, deren ſchim⸗ 
mernde Oberfläche nicht vermuthen läßt, wie tief ſie 
ſind, und was ſie geheimnißvoll in ihrer Tiefe bergen. 

Die Frage, ob ſie ihn mit dieſer Bemerkung 
warnen wolle, hatte ſich Egon bei dem Gleichniß ſei⸗ 
ner Mutter nothwendig aufgedrängt, aber er hatte ſie ihr 
nicht vorgelegt. Sein Ehrgefühl ſträubte ſich dagegen, 
die Mutter zur Vertrauten ſeiner Wünſche zu machen, 
eben weil Ramonna ihrer Obhut überantwortet war, 
und er war ohnehin gewiß, daß der ſcharfſichtigen 
Frau, die von ſeiner Geburt an in ſeinem Herzen ge⸗ 
leſen hatte, nicht verborgen ſein konnte, was in ihm 
vorging, wenn auch ſie in den gegebenen Verhältniſſen 
es angemeſſen fand, davon zu ſchweigen und die Zeit 
und die Umſtände gewähren zu laſſen. 

In wenig Tagen ſollte es jährig werden, daß 
Ramonna in das Haus gekommen und mit ihrer Pflege⸗ 
mutter bekannt geworden war. Man hatte beſchloſſen, 
zu dieſem Tage das Gartenhaus wieder öffnen und 
herrichten zu laſſen, wenn man es auch nicht mehr 
wie in dem verwichenen Sommer dauernd zu bewoh⸗ 
nen meinte, und weil man vielen Familien für die 
im Winter empfangene Gaſtfreundſchaft und für man⸗ 


123 


chen geſelligen Genuß zu danken hatte, wollte man 
mit dieſer Rückkehr in das zur Gartenwohnung um⸗ 
gewandelte Gewächshaus zugleich ein kleines Feſt für 
die jungen Mädchen und jungen Männer veranſtalten, 
mit denen Ramonna näher bekannt, und die ihr ange⸗ 
nehm geworden waren. 

Die Vorbereitungen, welche man zur Aufnahme 
der Geſellſchaft zu machen hatte, gaben den Frauen 
viel zu ſchaffen, und führten Ramonna und Egon mehr 
noch als ſonſt zuſammen. Sie wünſchte dem Garten⸗ 
ſaale ſo viel wie möglich ein ſüdliches Anſehen zu 
geben, ſie wollte den Raſenplatz erleuchtet und blumige 
Schlinggewächſe von einem Baume zu dem andern 
gezogen haben. Was an natürlichen Pflanzen und 
Blüthen nicht herbeizuſchaffen war, ſollte durch fünft- 
liche Blumen, die bei dem Lampenlicht wohl täuſchen 
konnten, erſetzt werden, ein paar Guitarren- und 
Flötenſpieler ſollten, während man ſpeiſen würde, 
einige ſpaniſche Nationalmelodieen ſpielen, welche Ra⸗ 
monna in ihrer Heimath beſonders lieb geweſen wa— 
ren, und ſie nahm für alle dieſe Zurüſtungen, welche 
ſie in der heiterſten Laune und mit einem ihr ſonſt 
nicht gewöhnlichen Eifer betrieb, die Dieuſte Egon's 
mit einer ihn entzückenden Zuverſichtlichkeit in Anſpruch. 


124 


Er mußte dabei fein, als fie die Zelttücher, un- 
ter denen man den Thee einnehmen ſollte, vor dem 
Gewächshauſe ausſpannen ließ, er mußte ihr helfen 
die Zurüſtung der Tafel zu überwachen. Sie hatte 
Südfrüchte und tropiſche Früchte herbeigeſchafft und 
ordnete ſie ſelber mit dem ihr eigenthümlichen 
Schönheitsſinn in den Körben von überſeeiſchem Ge— 
flecht; ſie hing ſelber die Rankengewächſe um die 
Vogelhäuſer, die man wieder in das Gartenhaus ge⸗ 
tragen hatte, und befehlen und ſelber ſchaffen ſtanden 
ihr gleich natürlich an. Alles gehorchte ihr mit Luſt, 
man ſah es dem geringſten Arbeiter an, wie ihre 
Schönheit ihn beherrſchte. Wie auf die Winke einer 
Feenkönigin fügte ſich Alles ihrem Willen, gelang 
Alles unter ihrem Gebot, und Egon konnte ſich Fig- 
weilen der Vorſtellung nicht entſchlagen, daß auch das 
Wetter ihr gehorſame; denn ſeit fie angefangen, die 
Vorbereitungen zu ihrem Feſte zu treffen, war die 
Jahreszeit plötzlich ſo warm geworden und die Witterung 
ſo beſtändig, daß der frühe Mai dem Sommer glich und 
die Nächte lind waren wie in des Jahres Mitte. 

Alles ließ ſich alſo auf das Beſte an, und gleich— 
ſam als ob die frühe Wärme des Jahres auch 
alles Andere verfrühe, traf diesmal ein Brief von 


125 


Herrn Ernsby bald nach dem Beginn des Monats 
ein. Er meldete der Tochter, daß er Gelegenheit ge— 
funden habe, ſeine Beſitzungen in einer ihm vortheil- 
haften Weiſe zu verkaufen, daß Miſtreß Ernsby Aus⸗ 
ſicht habe, binnen kurzem Mutter zu werden, und daß 
er, ſobald dieſe Hoffnung in Erfüllung gegangen ſein 
werde, die Havannah zu verlaſſen und ſeinen Wohn⸗ 
ſitz dauernd in dem Landhauſe auf der Inſel Wight 
zu nehmen denke, das er inne gehabt, als er mit Ra⸗ 
monna dort verweilt habe. Von dem Wunſche oder 
auch nur von der Erwartung, daß ſeine Tochter ſich 
dann zu ihm begeben und unter ſeinem Dache weilen 
werde, ſtand in dem Brief kein Wort, wohl aber lag 
ein beſonderes Schreiben an Frau von Raven in dem⸗ 
ſelben, deſſen Inhalt ſie ihrer Pflegetochter vorenthielt. 

Herr Ernsby ſchrieb ihr ganz daſſelbe, was er der 
Tochter gemeldet hatte, fügte aber, wie er ſagte, ver— 
trauensvoll und ihrer umſichtigen Verſchwiegenheit ge⸗ 
wiß, hinzu, daß er nicht die Abſicht habe, Ramonna 
bei ſeiner Ueberſiedelung nach Europa aus ihrer jebi- 
gen Umgebung zu entfernen. Er habe darüber mit 
ſeiner Frau geſprochen und bei dieſer ein Widerſtreben 
gegen das Zuſammenſein mit der ihr an Jahren faſt 
gleichen Stieftochter gefunden, die obenein früher der 


126 


einzige Gegenftand feiner alleinigen Sorge und an 
ſeine ausſchließliche Beachtung gewöhnt geweſen ſei. 
Er ſelber verhehle ſich es nicht, daß ein ſolches Ver— 
hältniß für alle Theile ſeine Bedenken habe, er wünſche 
deshalb auch nicht, einen Verſuch damit zu machen, 
um ſo weniger, da er bei dem heirathsfähigen Alter 
ſeiner Tochter vorausſichtlich doch nur von kurzer Dauer 
ſein würde. Frau von Raven habe ihm in allen 
ihren Briefen eine ſo verſtändige und mütterliche 
Zärtlichkeit für Ramonna an den Tag gelegt, daß er 
ihr geſtehen dürfe, wie deren baldige Verheirathung 
ihm willkommen ſein würde, weil ſie ihn der Sorge 
für ihr Wohlbefinden enthöbe. Er frage Frau von 
Raven deshalb an, ob in dem Kreiſe, in welchem 
Ramonna in dieſem Winter gelebt, ſich eine ſchickliche 
Partie für fie geboten habe? Er wolle ſeiner Toch- 
ter keinen Zwang anthun, ſie ſelber ſei reich genug, 
nur ihre Neigung zu befragen, und er ſei reich genug, 
ſelbſt einem ſehr reichen Manne und den Anſprüchen 
der erſten Familien ein Gegengewicht in die Schaale 
zu legen; aber er wünſche dieſe Angelegenheit geord— 
net zu ſehen, wenn er nach Europa komme, und ein 
Beſuch ſeiner verheiratheten Tochter werde dann ihm 
und ſeiner Frau immer und überall willkommen ſein. 


127 


Er bäte Frau von Raven, Ramonna ihre Lage in die⸗ 
ſem richtigen Lichte vorzuſtellen, und die Sache mit 
dem Geſchicke in die Hand zu nehmen, welches kluge 
Frauen in ſo delikaten Angelegenheiten zu bewähren 
pflegten. Er werde ſich für dieſe Erfüllung ſeiner 
Wünſche dauernd als ihren Schuldner betrachten, und 
es ſich angelegen ſein laſſen, ihr dieſes in zuſagendſter 
Weiſe zu bethätigen. 

Sie hatte den Brief eben zu Ende geleſen, als 
Egon bei ihr eintrat, und noch unter dem Eindruck, 
den ſie ſelber davon empfangen hatte, hielt ſie ihn 
dem Sohne hin. „Lies!“ das war Alles was fie ſa— 
gen konnte, aber ihre Blicke hingen unverwandt an 
ihm, und wie ſeine Wange ſich vor ſtürmiſcher Er- 
regung zu färben, wie ſein Auge zu leuchten begann im 
Licht der Hoffnung, welches dieſes Schreiben in ſeinem 
Herzen entzündete, ſtrahlte die Freude auch von ihrer 
Stirne, und ohne ein Wort zu ſprechen, breitete ſie 
ihm die Arme entgegen. 

„Mutter! Mutter! Du haſt es wohl gewußt!“ 
rief er, und knieete neben ihr nieder, ſein Haupt wie 
in ſeiner Knabenzeit an ihre treue Bruſt geſchmiegt, 
„Du haſt es gewußt, daß ich ſie liebe, ſie liebte, ſeit 


128 


ich ſie geſehen, ſie bis zum Wahnſinn, zum Verbrechen 
liebte, und doch weißt Du noch nicht Alles. —“ 

Er athmete tief auf, als gelte es Bande zu zer⸗ 
ſprengen, die ihn lang und ſchwer gedrückt, aber er 
hatte die Worte kaum ausgeſprochen, als er ſie auch 
ſchon bereute. Wie durfte er ſeine Mutter zur Mit⸗ 
wiſſerin eines Vorganges machen, den er vor ſeinem 
eigenen Gewiſſen nie zu rechtfertigen vermocht hatte? 
Wie durfte er fie mit der Laſt eines Geheimniſſes 
beſchweren, das ſie nicht bewahren konnte, ohne zu 
ſeiner Mitſchuldigen zu werden? Oder wie ſollte ſie 
in dem Falle, daß ſeine Wünſche ſich erfüllten, bei 
Ramonna's Vater für ihn bürgen, wenn er ihr bekannte, 
wohin ſein ſelbſtſüchtige Leidenſchaft es zwiſchen ihm 
und dem Freunde und Genoſſen ſeines ganzen Lebens 
hatte kommen laſſen? | 

Das Geheimniß und ſein Schulobewußtjein jtell- 
ten ſich zwiſchen ihn und ſeine Mutter, ſie ſchloſſen ihm 
den Mund; aber arglos und voll Zuverſicht, wie ſie 
ſich dem Sohne gegenüber fühlte, erſchüttert durch den 
Ausdruck ſeiner Leidenſchaft, befremdete ſein plötzliches 
Verſtummen ſie keines Weges, und der Eintritt ihrer 
Pflegetochter machte ohnehin jede weitere Mittheilung 
unmöglich. 


129 


Allein dasjenige, was Egon eben jetzt erfahren, 
und die Art, wie er davon benachrichtigt worden war, 
reichten hin, feine Bruſt mit einer Glückesſicherheit 
zu erfüllen, wie er ſie nie zuvor empfunden hatte. 
Er zweifelte nicht daran, ſeine Mutter mußte ſich über⸗ 
zeugt haben, daß Ramonna's Herz noch frei ſei, daß 
ſie keine andere Wahl getroffen und daß Egon alſo 
Ausſicht habe, ihre Neigung zu gewinnen, ihre Hand 
zu erwerben, wenn er ihr ſeine Liebe eingeſtand; und 
gerade die Freiheit eines Feſtes, wie man es für den 
Abend vor ſich hatte, verſprach ihm dazu eine Ge⸗ 
legenheit zu bieten, die er ſich nicht entgehen laſſen durfte. 


Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 9 


Zwölftes Capitel. 


Die Geſellſchaft hatte in Scherz und heiterem Ge⸗ 
plauder, in Spielen, wie die rüſtige Jugend ſie im 
Freien liebt, ein paar Stunden anmuthig verbracht, 
dann hatte man ſich in das Gartenhaus begeben, und 
die fremdartige Einrichtung des Raumes, wie die Her⸗ 
richtung der Tafel, an der die junge Welt ſich unter 
dem Schutz von Frau von Raven niederließ, hatte die 
Stimmung belebt. Man kam ſich in der ungewohn⸗ 
ten Umgebung ſelber als ein Anderer vor, man be⸗ 
wegte ſich freier, gab ſich offener als in dem Zwange 
der geſchloſſenen Säle, und als dann vollends die 
Muſik erklang, die fremden Weiſen ſchmeichelnd das 
Ohr berührten, als man die Vorhänge von den ge⸗ 
fliſſentlich verhängten Fenſtern fortzog, und unter dem 
milden Licht der monderhellten Frühlingsnacht der 
Garten mit ſeinen von bunten Lampen vielfarbig be⸗ 


131 


leuchteten Blumen⸗ und Rankengehängen vor den über⸗ 
raſchten Augen der Fröhlichen in märchenhaftem Zau⸗ 
ber dalag, da ſprang Alles von der Tafel auf, Alles 
umringte Ramonna, Alles huldigte ihr, der ſchönen 
freudeſpendenden Fee. Aber der Anblick des phantaſtiſch 
geſchmückten Gartens, die erquickende Wärme der 
Nacht, welche die Anderen berauſchte und alle die jun⸗ 
gen Herzen fröhlich klopfen machte, übten zum Erſtaunen 
ihrer Gäſte eine entgegengeſetzte Wirkung auf die Her⸗ 
rin dieſes Feſtes aus. 

Mitten in dem Scherzen und Lachen ihrer Freunde 
ward ſie plötzlich ſtille, ſie vermochte kaum den Anfor⸗ 
derungen zu genügen, welche ihre Pflicht als Wirthin 
ihr auferlegte, ſie verwehrte es unter einem Vorge⸗ 
ben, zum Tanze anzutreten, da man ein paar Tou⸗ 
ren im Freien zu machen wünſchte, ehe man ſich 
trennte; und den beſorgten Fragen ihrer Pflegemutter, 
wie dem Auge Egon's ausweichend, das jeder ihrer Mie⸗ 
nen und Bewegungen folgte, ſchien ſie es endlich wie 
eine Erleichterung zu empfinden, als die letzten Gäſte 
Abſchied von ihr genommen, und den Garten und das 
Haus verlaſſen hatlen. 

Egon hatte ihnen das Geleit gegeben. Als er in 
den Garten zurückkehrte, ſtand Ramonna unter der Ve⸗ 


9 *² 


132 


randa vor dem Saale. Ihr Kleid ſchimmerte hell 
im Mondſchein. Sie hatte die ſchwarze Mantille, 
die ſie nach heimiſcher Gewohnheit trug, über ihr 
Haupt gezogen, und ſah, den ſchönen Kopf gegen den 
Pfoſten angelehnt, ſo gedankenvoll in die Nacht hinaus, 
daß fie Egons Kommen erſt gewahrte, als er ſchon 
in ihrer Nähe war. Es war noch warm und ſchön, 
nur der Nachtwind hauchte leiſe durch die Büſche und 
machte die jungen Blätter an den Bäumen zittern. 
Leichte weiße Wolken flogen lichtdurchſchimmert über 
den Mond dahin, ſie waren ſo dünn, daß ſie ſelbſt 
die Sterne nicht verhüllten. Im Garten war es ſtill, 
das Geräuſch von der Straße drang nicht mehr hier⸗ 
her, in dem dichten Buſche auf dem Raſenplatze fin⸗ 
gen die Nachtigallen zu locken und zu ſchlagen an. 
Jetzt endlich war der Augenblick gekommen, jetzt 
war er mit der Geliebten allein! Das Herz klopfte 
ihm mächtig in der Bruſt, wie er an ſie herantrat. Sie 
hob den Kopf zu ihm empor und trocknete die Augen. 
„Sie weinen!“ rief er betroffen aus, und da ſie 
auf ſeinen Anruf ſchwieg, fragte er ſie mit beſorgtem 
Dringen: „Was haben Sie? was hat Sie mitten in 
der Luſt des Feſtes bis zu ſolcher Traurigkeit gebracht?“ 
„Muß ich Ihnen das erſt ſagen?“ verſetzte ſie. 


133 


„Nicht meinen Gäſten, mir ſelber habe ich ein Ab⸗ 
ſchiedsfeſt gegeben. Den ganzen Tag hat's mir das 
Herz belaſtet, daß ich mein Heimathland nicht wieder⸗ 
ſehen ſoll; und wie ich dann am Abende hier hinaus⸗ 
trat in das — ach! ſo ſchwache Abbild des Südens, 
das ich mir hier erſchaffen, da kam die Sehnſucht 
allgewaltig über mich.“ Sie hielt inne, ſchüttelte 
traurig das ſchöne Haupt, und ſprach dann leiſe: 
„Sie wiſſen nicht, was es heißt, unter einem frem⸗ 
den Himmel leben; Sie können gar nicht ahnen, wie 
meine Heimath ſchön iſt. Und zu denken, daß ich nie⸗ 
mals wieder unter dem Dache der Palmen wandeln 
werde, die unſer Haus umſtanden, daß ich nie wie⸗ 
der die helle Nacht verträumen ſoll beim Wellen⸗ 
ſchlage unſeres lichtſprühenden Meeres! — Ich kann 
es noch nicht faſſen, kann's nicht glauben, nicht ver⸗ 
ſchmerzen!“ 

Sie ſetzte ſich nieder, das Haupt auf die Hand 
geſtützt, er nahm an ihrer Seite Platz. Er begriff 
ſie in ihrem Schmerze, und um ſie von demſelben ab⸗ 
zuleiten, um ſie auf den Weg zu lenken, auf welchem 
er ihr von ſeinen Wünſchen ſprechen konnte, ſagte er: 
„Sie ſchienen ſich aber doch hier wohl zu fühlen und die 
Ueberſiedelung Ihres Vaters, die Nähe der Ihrigen —“ 


134 


Sie ließ ihn nicht zu Ende ſprechen. „Was 
wird mit der Ueberſiedelung meines Vaters und mit 
feiner Nähe für mich anders? Mein Vater? —“ fie 
machte eine leiſe, abwehrende Bewegung und ſagte 
dann mit einer Bitterkeit, die ſie nicht beherrſchen 
konnte: „Mein Vater liebt mich nicht, kann gar nicht 
lieben. Ihm ſind die Menſchen nur Etwas, wenn 
er ihnen gebieten, ſie zu ſeinem Willen zwingen kann. 
Weil meine Geſundheit das nicht zuließ, weil er ſah, 
daß ich unter der Hand ſeiner gewaltthätigen Liebe 
hinſtarb wie die Mutter und die Geſchwiſter, die er 
auch auf ſeine Weiſe liebte, hat er mich aufgegeben, 
und ſeine junge Frau erſetzt mich ihm, erſetzt uns 
Alle. Was mich liebte, was ich liebe, das ſchläft 
Alles dort, jenſeits des Oceans! Alles!“ | 

„Alles?“ fragte Egon, dem ihre Klagen wehe 
thaten bis in's tiefſte Herz. „So iſt Ihnen denn 
die Liebe meiner Mutter Nichts? So hat meine Er⸗ 
gebenheit, meine grenzenloſe Ergebenheit keinen, gar 
keinen Werth für Sie?“ 

„Ach! Egon!“ rief ſie, ganz erſchrocken über die 
Wirkung, welche ihre Worte auf ihn hervorgebracht 
hatten, „lieber Egon! ſagen Sie das nicht wieder!“ 
und ſeine Hände mit warmer Herzlichkeit ergreifend, 


135 


fügte fie hinzu: „Sie müſſen es ja fühlen, was Sie 
mir ſind, wie ſicher ich mich Ihrer fühle, daß ich ſo 
vor Ihnen ſpreche! Aber ich war ſo unglücklich, den 
ganzen Tag! ſo unglücklich! Und wie gut die Mutter 
und Sie auch zu mir ſind — einſam bin ich doch! und 
in der Fremde doch!“ 

„Und Sie haben nie daran gedacht, daß dieſe 
Fremde Ihnen eine Heimath werden könnte?“ fragte 
er und ſeine Stimme klang weich und milde an ihr Ohr. 

Sie blickte ihn an, das Licht aus dem Saale fiel 
hell über ſein Angeſicht, ſie ſah mit welcher Liebe ſein 
Auge auf ihr ruhte, und ihre Hand auf ſeine Schul⸗ 
ter legend, während ſie das Köpfchen an ihn ſchmiegte, 
ſprach ſie leiſe: „Ja! Egon! ich habe daran gedacht!“ 

„Ramonna!“ rief er mit einer Freude, die alle 
ſeine Pulſe klopfen machte, „ſprich! ich bitte, ich be⸗ 
ſchwöre Dich!“ und er ſchloß ſie feſt in ſeine Arme. 

„Ach!“ ſagte ſie, indem auch ſie ihn umſchlang, 
„Du, mein Egon, Du, mein Bruder! Du haſt ihn 
ja auch verloren! denn jetzt kehrt er nicht mehr zurück!“ 

Sie weinte bitterlich, Egon preßte ſie krampfhaft 
an ſein Herz. Er war keines Wortes mächtig, er biß 
die Zähne feſt zuſammen in grimmem Schmerz. Seine 


136 


Stirne ſank auf ihr Haupt herab, ſeine bitteren Thrä⸗ 
nen fielen auf ſie nieder. g 

Was er in dieſem Augenblicke erlitt, erlebte, ging 
faſt über eines Menſchen Kraft. Zum erſten Male 
hielt er die mit Leidenſchaft Erſehnte in ſeinen Ar⸗ 
men, und ſie weinte an ſeinem Herzen um den Freund, 
an dem er ſich verſündigt, ſie weinte um den Gelieb⸗ 
ten, den er ihr geraubt hatte. Und nicht eine Ahnung, 
daß er ſelber ſie geliebt mit allem Feuer ſeiner Seele, 
nicht die Ahnung deſſen, was er jetzt empfand, kam 
in ihr junges Herz. 

Ihm ſchwindelte das Hirn, er konnte keinen Ge⸗ 
danken feſthalten. Das ganze lange Jahr mit allen 
ſeinen Freuden und Qualen, mit all ſeinen inneren 
Vorwürfen und ſeiner Reue, lag wie ein Chaos vor 
ihm, ein Ganzes und doch Trümmer. Von dem Gip⸗ 
fel ſeiner Hoffnungen, in dem Augenblicke, als er ſich 
am Ziele ſeiner Wünſche geglaubt, war er hinabge⸗ 
ſchleudert worden in die Tiefe eines Schmerzes, dem 
das Bewußtſein, wie er auch auf das geliebte Haupt 
Ramonna's durch feine blinde Leidenſchaft und Selbſt⸗ 
ſucht Gram und Leid gehäuft, den Stachel ſchärfte. 
Aber der Gedanke an ſie, an ihren Kummer und an 
des Freundes nahes, ſicheres Glück, das war die Vor⸗ 


137 


ſtellung, vor welcher er ſich endlich zu ſammeln und 
zu faſſen anfing. Hätte er ſich gefolgt, dem Drange 
ſeines Herzens nachgegeben, er hätte ihr zugerufen: 
Johannes lebt, er lebt, er liebt Dich! in wenig Ta⸗ 
gen wird er zu Deinen Füßen ſein! Aber er hatte es 
eben jetzt erprobt, wie jähe Wechſel der Empfindung 
wirken, er durfte Ramonna ſolchem Sturm nicht aus⸗ 
ſetzen, er hatte auch nicht darüber zu entſcheiden, wann 
und wie Johannes wiederkehren wollte. 

Er richtete ſich auf und hob des Mädchens Haupt 
empor, das noch an ſeinem Herzen ruhte. „Muth! 
Muth, Ramonna!“ ſagte er, „und keine Thränen mehr. 
Ich bin gewiß, er lebt, wir ſehen ihn wieder! —“ 
Aber er vermochte ſich nicht zu überwinden, er konnte 
in dieſer Stunde noch nicht zu ihr ſprechen. Er blieb 
eine Weile ſchweigend ſtehen, dann hüllte er ſie 
feſter in die Mantille, die ihr herabgeſunken war, 
und führte ſie ſchweigend durch den Garten. 

Wie ſie an den erleuchteten Gehängen vorüber⸗ 
gingen, fingen die farbigen Lampen zu verlöſchen an 
und der Thau breitete ſich wie ein feuchter grauer 
Schleier über den Raſen aus. Der Mond war im 
Untergehen, es ward kühl und dunkel; von der Feſtesluſt 
war nichts mehr zu ſehen, als ſie an das Haus gelangten. 


138 


Auf der Schwelle ſtehend, reichte ſie ihm die 
Hand. „Egon!“ bat ſie, „ſagen Sie mir es noch einmal!“ 

„Er wird wiederkommen!“ ſprach er, da ſie's 
wollte; dann küßte er ihr die Hand und ging davon. 

Es war vorbei. Sein Urtheil war gefällt! Was er 
bisher erſtrebt, was er erhofft hatte, es mußte ver⸗ 
geſſen, es mußte begraben ſein für immerdar. Er kam 
ſich wie geſtorben vor; aber ſeine Mutter lebte und Jo⸗ 
hannes und Ramonna lebten! Es galt, ſich zu erlöſen 
durch ihr Glück und aufzuerſtehen als ein Gewandel⸗ 
ter, wenn er des Opfers werth ſein wollte, das er 
von dem Freunde angenommen hatte. 


Dreizehntes Capitel. 


Wenige Tage ſpäter ſaß in einem der Badeorte, 
welche an dem Ausfluſſe der Themſe in das Meer 
gelegen ſind, ein junger Mann in ſeine Studien ver⸗ 
ſenkt an ſeinem Arbeitstiſche. 

Es waren nahezu acht Monate ſeit ſeiner An⸗ 
kunft hingegangen. Im verwichenen Spätherbſt, ge⸗ 
rade als die letzten Badegäſte den Ort verlaſſen hatten, 
war er eingetroffen, hatte ſich in einem der beſten 
Häuſer eine Wohnung genommen, und an der Thüre 
ein Schild befeſtigen laſſen, das ihn als einen Arzt 
bezeichnete. Als einen ſolchen, und zwar als einen 
ſehr geſchickten Arzt, hatte er ſich denn auch kurz dar- 
auf bei einem Unglücksfall erwieſen, der ſich auf der 
Straße zugetragen, und das hatte ihm bald zu einer 
Kundſchaft verholfen, die ohne dieſen Umſtand vielleicht 
lange hätte auf ſich warten laſſen. 
| Er hatte Bücher und allerlei Apparate mitgebracht; 
die Wirthin, die im Laufe der Jahre Leute aller Art 
in ihrem Hauſe aufgenommen hatte und ſich als eine 
große Menſchenkennerin betrachtete, merkte alſo bald, 


140 


daß er ein Gelehrter ſei; und da er ein ruhiger Ein⸗ 
wohner war, der ſeine Miethe wie alle Auslagen für ihn 
auf das Pünktlichſte bezahlte, und die Wirthin obenein 
bei ihren Rheumatismen unentgeltlich behandelte, hegte 
ſie eine vortreffliche Meinung von ihm und von ſeinem 
Charakter, obſchon er, deſſen hielt ſie ſich verſichert, 
nicht aus freiem Antrieb in dem Ort verweilte. Er 
mußte ein Verbannter fein, und das gaſtliche Eng 
land hatte ja zu allen Zeiten Flüchtige aus fremden 
Ländern ſchutzſuchend an ſeinen Ufern landen ſehen. 
Sie durfte alſo ihrem Vaterlande auch nicht Schande 
machen, durfte nicht fragen, was zu fragen nicht ihres 
Amtes war; und doch fiel es ihr auf, daß der 
Doktor niemals einen Brief erhielt, ſich niemals er⸗ 
kundigte, ob Briefe für ihn angekommen ſeien, während 
er, ſie hatte ihn beobachtet, doch jedesmal ſehr achtſam 
wurde, wenn der Poſtbote ſeine regelmäßigen zwei 
Schläge mit dem Thürklopfer gegen die Hausthüre that. 

An dem Tage, deſſen wir vorhin gedachten, ſaß 
der Doktor am Mittage, nachdem er ſeine Kranken⸗ 
bejuche beendet hatte, ſchon eine geraume Zeit bei den 
mikroſkopiſchen Unterſuchungen, mit denen er ſich in 
den hellſten Stunden zu beſchäftigen pflegte, als auch 
wieder der Poſtbote ſich vernehmen ließ. Die Wirthin, 


141 


welche ihm eben einen Auftrag von einem Kranken aus⸗ 
gerichtet hatte, war noch in ſeinem Zimmer und ſie ſah 
es wieder, wie er emporblickte, nach dem Schalle horchte 
und zu warten ſchien, obgleich er gar nichts ſagte. Dies⸗ 
mal aber mußte es wirklich mit dem Briefträger etwas 
Beſonderes ſein, denn er klopfte wieder und noch einmal. 

Die Wirthin ging hinaus, die Thüre zu öffnen, 
aber das Mädchen hatte es bereits gethan, und von 
dem Briefträger gefolgt, trat ſie mit den Worten in 
das Zimmer: „Sir! der Poſtbote hat Sie zu ſprechen.“ 

Der Doktor ſtand auf, das Mädchen und die 
Wirthin merkten es alle Beide, daß er ſich verfärbte. 

„Ein empfohlener Brief für Sie, Sir!“ ſagte 
der Bote. 

„Wohl!“ entgegnete der Doktor und nahm ihn 
ab; aber wie ruhig er ſich auch zu zeigen ſtrebte, die 
Hand zitterte ihm, mit der er den Empfangsſchein 
unterſchrieb. Der Briefträger ging hinaus, die Magd 
ging ebenfalls. Die Wirthin wäre gern geblieben, hätte 
es ſich nur machen laſſen, aber ſie wußte, was ſich ziemte, 
und räumte endlich auch das Feld. Nun war Johannes 
allein; allein vor der Entſcheidung ſeines Schickſals. 

Der Brief kam ihm von dem Einzigen, der von 
ihm und ſeinem Aufenthalte wußte. 


142 


„Ramonna hat entſchieden und für Dich!“ fo 
ſchrieb ihm Egon. „Sie hat Dich von je geliebt. 
Vor wenig Augenblicken hat ſie ſelbſt es mir geſagt. 
Dich und ſie habe ich Unſeliger, in der Verblen⸗ 
dung meiner Selbſtſucht, um eine lange Zeit des 
Glücks betrogen. Vergebt mir wenn Ihr's könnt! 
Vergieb Du mir vor Allem, Du, den ich kaum noch 
daran zu erinnern wage, was wir einander bis zu dem 
unheilvollen Augenblick geweſen ſind.“ 

„Morgen werde ich um meine Verſetzung aus der 
Hauptſtadt einkommen; aber ich werde nicht fortgehen, 
ehe ich von Dir die Anweiſung empfangen habe, wann 
Du zurückzukehren gedenkeſt und in welcher Weiſe 
Deine Wiederkunft in Ausſicht geſtellt und vorbereitet 
werden ſoll! Ich habe Dir gegenüber nur Pflichten 
zu erfüllen, und es Dir womöglich durch die vollſte 
Hingebung zu vergüten, daß ich Dich gezwungen habe, 
ſo groß zu handeln als Du es gethan haſt.“ 

Johannes ließ das Blatt herniederfallen auf den 
Tiſch. Er hatte die lange, lange Zeit hindurch ſein 
Herz in feſten Banden gehalten, hatte mit der ſtillen 
Pflichttreue, zu welcher ſein erhabener Beruf den Arzt 
erzieht, an jedem Tage ſeine Schuldigkeit gethan, ohne 
viel zurückzublicken, ohne ſich an unbeſtimmte Hoffnun⸗ 


143 


gen zu klammern, wie ſehr ihm wünſchende Sehnſucht 
bisweilen auch das Herz bewegte. Jetzt aber drängten 
ſich all ſein Leben und ſein Wünſchen, ſein Leiden 
und die Glückshoffnung, die ſich vor ihm aufthat, in 
ein gewaltiges Empfinden zuſammen. Es war ſtärker, 
als er es ertragen konnte; er ſchlug die Hände vor 
ſein Angeſicht und weinte! — Und wie er dann das 
Haupt emporhob und ſich fragte: weshalb denn dieſe 
Thränen? da fand er, daß es der Freund ſei, dem ſie 
floſſen, daß es Egon ſei, den er beweinte. 

Aber draußen vor ſeinem Fenſter breitete ſich 
unter dem Schein der Frühlingsſonne die prachtvolle 
Weitung des Meeres aus, und leicht getragen von 
feinen Fluthen zogen die weißen von friſchem Weſt⸗ 
winde geſchwellten Segel der Schiffe hin, winkten die 
langen, ziehenden Dampfesfahnen ihn nach der Hei⸗ 
math zurück, wohin ihn Alles rief, Alles, was dem 
Menſchenherzen theuer iſt: Liebe, Freundſchaft und ein 
ehrenvoll begonnener Beruf. Und voll von der bele⸗ 
benden Ausſicht auf dies Glück ſchrieb er an Egon: 

„Es iſt überſtanden und es iſt Alles vergeſſen, 
was uns trennen könnte. Ich habe meine Zeit hier 
nicht verloren. Ich bin fleißig geweſen und komme 


144 


mit wiſſenſchaftlichen Reſultaten zurück, die, wie ich 
glaube, nicht unbedeutend ſind.“ 

„Wie mein Fortgehen erklärt, wie meine Rück⸗ 
kehr eingeleitet werden ſoll? Durch das einfache Ge⸗ 
ſtändniß der Wahrheit, durch das Bekenntniß, daß wir 
uns lieber für eine Weile trennen, als Einer dem An⸗ 
dern das Leben nehmen wollten.“ 

„Was ich Ramonna zu ſagen habe, enthält das 
Blatt, das ich dieſem Briefe beifüge. Gieb Du es 
ihr. Es iſt der erſte Dienſt, den ich wieder von Dei⸗ 
ner Freundſchaft fordere. — Sobald ich der Sorge 
für ein paar Schwererkrankte, deren Behandlung ich 
übernommen habe, ledig bin, kehre ich heim. Von Dir 
und Deinem Bedürfen und Empfinden allein hängt 
es ab, ob ich Dich bei der Rückkunft treffe oder nicht; 
aber ich hoffe, die Zeit wird nicht auf ſich warten 
laſſen, in der auch wir uns wiederſehen. Bis dahin 
grüße Deine Mutter, und ſage ihr, ihre beiden Söhne hät⸗ 
ten wieder einen neuen Feldzug, einen Feldzug gegen ihre 
Leidenſchaft beſtanden, und wären nach hartem Kampfe 
Beide wieder mit dem Leben davon gekommen. Das ſei 
uns eine Bürgſchaft für ein langes Beiſammenbleiben, und 
für eine helle Zukunft in unwandelbarer Freundſchaft.“ 


Ende. 


Yflegeeltern. 


Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 10 


Erſtes Capitel. 


Unter den bedeutenden Männern, die mir auf 
meinem Lebenswege begegnet find, iſt mir Boris Kru⸗ 
pinin immer einer der anziehendſten geweſen. Er war 
der einzige Sohn einer alten und reichen Bojarenfa⸗ 
milie und hatte nur eine viel ältere Schweſter gehabt, 
deren Mann unter dem Kaiſer Nikolaus einen hohen 
Poſten in der Armee bekleidete. Die Schweſter ihrer- 
ſeits verſah das Amt einer Palaſtdame, oder eine ähn⸗ 
liche Stelle bei der Kaiſerin, und Beide hatten ſehr 
in Anſehen geſtanden. 

Scchon ſeit den Zeiten Peters des Großen waren 
die Krupinins in Aemtern und Würden geweſen, aber 
obgleich ihr Ehrgeiz ſie der Reihe nach in die Dienſte 
der Czaaren geführt, hatten ſie ſich immer viel damit 
gewußt und es hervorzuheben geliebt, daß ſie in dem 


heiligen Rußland ſchon eine Bedeutung gehabt hätten, 
10% 


148 


ehe noch von den Romanows die Rede geweſen wäre, 
und daß fie ſich nur entſchloſſen hätten, ihren mos— 
kauer Stammſitz in der Nähe des Kreml zu verlaſſen 
und Peter dem Erſten nach feinem ſumpfigen Peters⸗ 
burg zu folgen, weil er ein Kaiſer aus ihrer Fabrik 
geweſen ſei, weil ſie dazu mitgewirkt und ihren Ein⸗ 
fluß dazu verwendet hätten, ihn aus der Gewalt der 
Strelitzen zu befreien und ihn zum Kaiſer zu erheben. 
Sie führten ihre Stammtafeln bis in die fernſte Zeit 
zurück, hatten von ihren Hauspopen ſeit Jahrhunder⸗ 
ten Familien⸗Chroniken ſchreiben laſſen, indeß die Fa⸗ 
milien⸗Tradition bewahrte daneben noch eine Menge 
von Erinnerungen auf, von denen in den geſchriebenen 
Chroniken nichts zu leſen ſtand, von denen aber auf 
den Gütern in den Spinnſtuben, bei dem flackernden 
Kienſpan, deſto mehr geſprochen wurde, und von denen 
die leibeigene Amme und die leibeigenen Wärterinnen, 
welche die Kindheit meines Freundes bewacht, auch zu 
ſagen gewußt und mehr geſagt hatten, als für die leb⸗ 
hafte Phantaſie und die zärtliche Natur des Knaben 
vielleicht gut geweſen war. 

Der Knabe hatte mit blitzenden Augen zugehört, 
wenn ſein Vater ihm erzählt, welche Heldenthaten 
Gleb Krupinin einſt bei Pultawa unter den Augen 


149 


Peters verrichtet habe, und wie er nachher, als die 
Czaarewna einmal auf feinem Gute fein Gaſt gewe— 
ſen ſei, ſie den einen Tag mit vier gezähmten Bären, 
den andern Tag mit Kameelen, und den dritten Tag 
mit den ſchönſten arabiſchen Schimmeln gefahren habe, 
die er alle mit ihrem koſtbaren Geſchirr der Kaiſerin 
zum Geſchenk gemacht. Es gab in der Familie reiches 
Silbergeſchirr und Ehrenſäbel mit Brillanten, welche 
der ſchöne Jegor Krupinin von der zweiten Katha⸗ 
rina erhalten hatte, und eine Ausgabe von Voltaire's 
Schriften, welche dieſer Dichter ſelbſt dem erklärten 
Günſtlinge der Kaiſerin verehrt. Ein Krupinin war 
Roſtopſchins rechte Hand geweſen, als derſelbe Mos⸗ 
kau in Brand geſteckt, und war in dem Gefolge Alexan⸗ 
ders mit den alliirten Fürſten eingezogen in Paris. 
Auch auf dem Wiener Congreſſe war er dabei gewe⸗ 
ſen, während ſeine ſchöne und geiſtreiche Schweſter 
bis an den Tod des Kaiſers Alexander in deſſen höch⸗ 
ſter Achtung geſtanden hatte, nachdem in ihrer Ju- 
gend ein weit innigeres Verhältniß zwiſchen ihnen ob⸗ 
gewaltet haben ſollte. 
So weit man zurückdenken konnte, immer hatten 
ſeit dem erſten Peter der Glanz und die Gunſt der 
Kaiſer und der Kaiſerinnen über den Krupinins ge⸗ 


150 


leuchtet. Sie waren mit den mächtigſten Familien des 


Landes verwandt und verſchwägert; nicht nur am 
Hofe zu Petersburg, ſondern an allen Höfen Europa's 
waren ſie wohl gelitten, denn ihnen hatte die Erlaub⸗ 
niß, in das Ausland zu gehen, nie gefehlt, und ſie 
hatten, die Frauen ſowohl als die Männer, ſich denn 
auch mit der ausgedehnteſten Sprachkenntniß jene glat⸗ 
ten, bequemen Umgangsformen angeeignet, in denen 
die Ruſſen, wenn ſie ſie an den Tag legen wollen, 
vollendete Meiſter ſind. Das ſchloß nicht aus, daß 
das wilde tartariſche Blut, das von ihrem Stamm⸗ 
vater her in ihren Adern floß und durch die gelegent- 
liche Vermiſchung mit den armeniſchen Lazajarews 
nicht fanfter geworden war, gelegentlich) in heftiger 
Gluth und blindem Zorne aufflammen konnte; und es 
waren in der Familie gewiſſe Todesfälle vorgekommen, 
über die man gerne hinwegging, wie daneben Gerüchte 
von einer Menge Liebeshändel in Umlauf waren, mit 
denen man auch nicht an die große Glocke ſchlug. 
Einen Sohn des Hauſes hatte man einſt in der Nacht 
vor ſeiner Hochzeit erdroſſelt gefunden, und am fol⸗ 
genden Morgen hatte man die ſchönſte Leibeigene der 
Herrſchaft bei einer fürchterlichen Kälte im Garten 
entkleidet und ſie ſo lange mit Waſſer übergoſſen, 


151 


bis ſie erfroren war. Weshalb das fo geſchehen war, 
ſagte man nicht. Geſchehen aber war es; und daß der 
Großvater meines Freundes einen ſeiner Muſiker hatte 
zu Tode peitſchen laſſen, weil er ſeine Blicke zu des 
Herrn Schweſter erhoben, die er zum Geſange ſtets 
begleiten müſſen, das hatte die Leibeigene, welche Bo⸗ 
ris in ſeiner Kindheit gewartet, noch mit eigenen 
Augen angeſehen und entſann ſich deſſen ganz genau, 
obſchon ſie damals noch ein kleines Ding geweſen war. 
Bei dem Vater unſeres Freundes, bei Michael 
Krupinin, hatten die Leute es jedoch verhältnißmäßig 
gut gehabt. Er hatte es ihnen an keinem Nöthigen 
mangeln laſſen, ſie nicht mißhandelt, nicht an Fremde 
in die Städte vermiethet, und ſie auch nicht verkauft. 
Sowohl auf den Gütern als in dem Hauſe in Mos⸗ 
kau, das inmitten ſeiner Gärten mit ſeinen grünen 
und vergoldeten Thürmen wie ein Palaſt da lag, war 
die zahlreiche Dienerſchaft mit dem Herrn alt gewor⸗ 
den, und ſie hing an ihm und an dem Hauſe, obſchon 
nicht viel Freude in demſelben zu finden war. Michael 

| Petrowitſch, der Herr — fo nannte ihn alles, was 
ihn umgab — hatte ſeine Jugend ſehr genoſſen; da⸗ 
für war er im Mannesalter finſter und ſtreng gewor⸗ 
den, und da obenein ſeine Geſundheit nicht die beſte 


152 
war, hatten feine Frau und fein Sohn immerfort von 
ihm zu leiden gehabt. Je älter er geworden war, um 
ſo mehr hatten ſeine hypochondriſchen Grillen ſich ent⸗ 
wickelt, und mit der Hypochondrie war ſeine Selbſt⸗ 
ſucht gewachſen. An jedem Morgen hatte er es be⸗ 
klagt, daß er ein Kranker ſei, und mit Mißgunſt auf 
diejenigen geblickt, die ihres Lebens froher waren, als 
er ſelbſt. Er neidete ſeinen Leuten ihren guten Appe⸗ 
tit, er neidete ſeiner bedeutend jüngeren Frau die er⸗ 
gebene Gelaſſenheit, mit welcher ſie ihre Tage hin⸗ 
fließen ſah, und er fühlte eine unbeſtimmte Eiferſucht 


gegen den Sohn, der ſo viel länger zu leben hatte, 


als er, und der nach ihm genießen ſollte, was er ſelbſt 
nicht mit ſich nehmen konnte, wenn er einmal ſtarb. 
Vor Allem aber war ihm die Zärtlichkeit zuwider, mit 
welcher der Sohn und die Mutter an einander hin⸗ 
gen. Er konnte ihnen nicht verbieten, ſich zu lieben; 
indeß er wollte nicht daran erinnert werden, daß er 
ſelbſt ihnen nicht die gleiche Liebe einzuflößen ver⸗ 
mochte. Er konnte es nicht ſehen, wie glücklich ſie mit 
einander waren, und deshalb mußte er ſie trennen. 
Boris wurde unter dem Vorwande, daß die Mutter 
ihn verwöhne, frühzeitig einer Erziehungs⸗Anſtalt in 
Moskau übergeben, in der er ſich für die Univerſität 


a 


153 


vorbereiten ſollte, und ſeitdem brachten ſeine Eltern 
die Winter nicht mehr in der Stadt zu. Der Vater 
behauptete, er könne die Geſellſchaft nicht wie ſonſt 
ertragen; im Sommer aber mußte man nach Deutſch⸗ 
land in die Bäder gehen, und Boris und die Mutter 
ſahen ſich auf dieſe Weiſe immer ſeltener wieder. 
So lange er auf der Schule geweſen war, hatte 
der Sohn die Entfernung von der Mutter ſchwer 
empfunden; auf der Univerſität aber hatten ſich neue 
Bekanntſchaften für ihn geknüpft, die ſeinem Geiſte 
eine neue Richtung gegeben hatten. Er war in die 
wiſſenſchaftlichen und politiſchen Beſtrebungen des jun⸗ 
gen Rußlands hineingezogen worden, und es focht ihn 
nicht eben an, als er von ſeiner Mutter aus Deutſch⸗ 
land die Nachricht erhielt, wie die Geſundheit des Va⸗ 
ters einen Winteraufenthalt in den Pyrenäen noth⸗ 
wendig mache, und daß man alſo erſt im nächſten 
Frühjahr wieder in die Heimath zurückkehren werde. 
In der Lebensweiſe des Sohnes änderte das ſo 
gut wie nichts. Der Winter ging ihm in der glän⸗ 
zenden, üppigen Geſellſchaft von Moskau, in dem 
Kreiſe ſeiner Freunde ſchnell vorüber, und die Gefahr, 
welche über all den Männern und Jünglingen ſchwebte, 
die auch für Rußland den Eintritt in die Bahnen 


154 


eines freieren Staatslebens für nothwendig erachteten, 
ſteigerte die Haſt, mit der man ſich dem Genuſſe des 
Lebens überließ. Den und Jenen hatte die Hand 
des Czaaren ſchon erreicht; der und Jener, der 
noch vor wenig Wochen die Herzen der Jünglinge 
mit ſeinen feurigen Worten erhoben hatte, wanderte 
jetzt in Ketten die eiſige Straße, die ihn nach den 
Bergwerken führen ſollte, und jeder der Zurückgeblie⸗ 
benen mußte ſich ſagen, daß ihn heute oder morgen 
das gleiche Schickſal ereilen könnte. Man war mit 
dem Allgemeinen beſchäftigt und hatte mit ſich ſelber 
zu thun. Man war der nächſten Stunde niemals 
ſicher, und entwarf doch weite Plane für die Zukunft; 
man lebte mit großem Bewußtſein und doch wie in 
einem Rauſche. In dieſem Zuſtande erhielt Boris 
von ſeinem Vater gegen das Frühjahr hin plötzlich die 
Nachricht, daß die Mutter nach einer Krankheit von 
nur wenigen Stunden in den Eaux bonnes geſtorben ſei. 

Die Kunde traf den Jüngling in das Herz, und 
die eiſige Kälte, mit welcher ſein Vater ihm, als ob 
er ein Fremder wäre, dieſe Mittheilung machte, hatte 
noch etwas ganz beſonders Beäugſtigendes für ihn. 
Der Vater ſchrieb ihm nicht, woran die Mutter ge⸗ 
ſtorben ſei, es war in der ganzen langen Zeit nie 


* 


155 


die Rede davon geweſen, daß fie ſich weniger gut als 
ſonſt befunden habe, man ſagte dem Sohne auch nicht, 
ob ſie mit Bewußtſein verſchieden ſei, ob ſie ſeiner 
noch gedacht habe. Die ganze Art und Weiſe war grau⸗ 
ſam. Sie behielt daneben etwas Geheimnißvolles für 
den Sohn, und doch konnte er auf alle ſeine beſtimmt 
geſtellten Fragen keine aufklärende Antwort von dem 
Vater erlangen. | 

Gegen den Sommer hin kam derſelbe von der 
Reiſe heim. Er hielt ſich jedoch kaum einen Tag in 
Moskau auf, und ſah den Sohn nur im Beiſein an⸗ 
derer Perſonen. Von dem Tode der Mutter wurde 
nur in den allgemeinſten Ausdrücken geſprochen; Michael 
Petrowitſch war ein Feind unnöthiger Gemüthsbewe⸗ 
gungen, und ſein ohnehin finſteres Geſicht verdüſterte 
ſich noch mehr, als er im Laufe dieſes Tages den 
Sohn im einſamen Geſpräche mit der alten Kammer⸗ 
frau der Todten fand. Er wußte, wovon die Beiden 
mit einander zu reden hatten. Es waren aber nur 
lauter vereinzelte Bemerkungen, welche die Alte dem 
jungen Manne mittheilte, und doch erbebte das Herz 
des Sohnes, wenn er es unternahm, ſie zuſammen 
zu reihen. Er hatte die Mutter geliebt und verehrt, 
er konnte ſich nicht entſchließen, an ihr zu zweifeln; 


156 


was aber hatte es mit dem Franzoſen auf ſich, der 
beſtändig neben ſeiner Mutter geweſen war, ſeit die 
Eltern in Paris mit ihm zuſammengetroffen, und was 
war geſchehen, das ſeine Mutter bewogen hatte, ihr 
Leben freiwillig zu enden? Er hat es nie erfahren. 

Der Vater vergrub ſich von dem Zeitpunkte ſei⸗ 
ner Rückkehr ab, ganz auf ſeinen Gütern, er mochte 
Niemanden von ſeinen Verwandten und von ſeinen 
Freunden ſehen. Die leibeigene Wirthſchafterin, die 
immer Einfluß auf ihn gehabt hatte, eine ſchöne und 
entſchloſſene Perſon, war bald ſeine einzige Geſell⸗ 
ſchaft, und wurde mehr und mehr völlig ſeiner Meiſter. 
Sie beſtimmte Alles, was geſchehen ſollte, und ſie 
war es, welche noch weniger als ihr Herr des Sohnes 
Nähe wünſchte. Seine Verbindung mit den jungen, 
revolutionairen Männern, die Verhaftung eines ſeiner 
Freunde boten der umſichtigen Leibeigenen den Anlaß, 
ſeine Entfernung durchzuſetzen. Ohne daß man ihn 
davon auch nur unterrichtet hatte, erhielt der junge 
Mann eines Tages mit einem Briefe ſeines Vaters 
eine Geldanweiſung auf den Banquier der Familie 
nebſt dem Gouvernementspaß, der ihm die Erlaubniß 
zu einer Reiſe in das Ausland ertheilte, und daneben 


157 


den väterlichen Befehl, von dieſer Erlaubniß einen ſo⸗ 
fortigen Gebrauch zu machen. 

„Ich kann Dich nicht länger in der ſchlechten 
und gefährlichen Geſellſchaft leben laſſen, in welche 
Du in Moskau hineingerathen biſt,“ alſo ſchrieb ſein 
Vater ihm, „und ich erwarte von Dir umgehend die 
Nachricht, daß Du ſo ſchnell wie möglich außer Lan⸗ 
des gehſt. Wohin Du gehen willſt, überlaſſe ich Dei⸗ 
ner Wahl, den Zeitpunkt Deiner Heimkehr werde ich 
beſtimmen.“ 

Boris ging. Seine Freunde ſelber riethen ihm dazu 
und es währte lange, bis er wiederkehrte. 

Er war einundzwanzig Jahre alt, als er Moskau 
verließ, und er mochte etwa fünfunddreißig Jahre 
zählen, als ich ihm zuerſt begegnete. Damals war 
er noch ein ſchöner Mann, obgleich man ihm anſah, 
daß er einer Familie angehörte, welche ſich durch viele 
Geſchlechter in üppigem und raſchem Lebensgenuſſe 
verweichlicht hatte. Er war hoch gewachſen, aber ſeine 
Bruſt war nicht breit, und er trug ſich ein wenig ge⸗ 
bückt, was ihm bei feiner auffallenden Kurzſichtigkeit 
für den erſten Moment etwas Schwächliches gab. 
Betrachtete man ihn dann näher, oder fing er zu 
ſprechen an, ſo entwickelte ſich aber ein ſolcher Aus⸗ 


158 


druck von Kraft in feinen beweglichen Mienen, der 
Ton ſeiner Stimme war ſo voll und klangreich, und 
ſeine Augen leuchteten trotz der Brille, die er niemals 
von ſich that, in einem ſo ſchwärmeriſchen Glanze, 
daß man ihn tiefen Gefühles und einer großen Ent⸗ 
ſchloſſenheit fähig halten mußte, und ſich zu ihm hin⸗ 
gezogen fühlte, noch ehe er ſich die Mühe machte, ir⸗ 
gend welchen Antheil für ſich zu erregen. g 
Ein eben ſolcher Gegenſatz, wie in ſeiner äußeren 
Erſcheinung gab ſich, wenn man ihn näher kennen 
lernte, auch in ſeinem geiſtigen Weſen kund. Ich 
vermochte mich Anfangs gar nicht in ihn zu finden 
und meinte oftmals, die eine oder die andere ſeiner 
Aeußerungen könne nicht aus ſeiner wahren Ueberzeu⸗ 
gung kommen, müſſe Folge einer unwillkürlich ange⸗ 
nommenen Maske ſein. Ich hatte mich jedoch darin 
getäuſcht, es war wirklich ein ſolches Doppelweſen in 
ſeinem Charakter entwickelt. Das lange Reiſeleben, 
die Bekanutſchaft mit jener ausſchließlich auf den Ge⸗ 
nuß geſtellten Geſellſchaft aller Nationen, hatten ihn 
ſelber überſättigt, und ihm von den Menſchen in der 
Maſſe eine ſchlechte Meinung gegeben. Er verſpottete 
ſie und ihr Thun und Treiben und ſich ſelber mit, 
und hegte dabei in ſeinem tiefen Inneren das erha⸗ 


159 


bene Ideal einer edeln, neugeborenen Menſchheit. Er 
nannte ſich blafirt, verſicherte, daß er an nichts mehr 
glaube, daß ihn nichts mehr freue, und konnte von 
einem freundlichen Worte, von einem ehrlichen Ge⸗ 
ſichtsausdrucke zu großen Opfern und Dienſten hin⸗ 
geriſſen werden, konnte ſich an die Spiele von Kin⸗ 
dern mit einem Eifer und einer Fröhlichkeit hingeben, 
daß man ihn ſelber hätte für einen Knaben halten 
mögen. Wenn er heute mit der größten Erbitterung 
von der ruſſiſchen Regierung, und mit wahrhaftem 
Zorne von den in ſeinem Vaterlande herrſchenden Zu⸗ 
ſtänden geſprochen hatte, konnte er ſich morgen mit 
inbrünſti ger Hoffnung in den Gedanken verſenken, daß 
in ſeiner Heimath ſich aus dem kräftigen, von der 
Entartung der höheren Stände nicht berührten niede⸗ 
ren Volke ein neues Rußland erheben werde; und 
während er mit einem ganz ariſtokratiſchen Sinne 
auf die Erhaltung ſeines Namens und Hauſes Gewicht 
legte, hörte man ihn ſagen, daß alle dieſe alten Adels⸗ 
geſchlechter entartet und eben deshalb dem Untergange 
geweiht wären, und daß ſie auch untergehen müßten, 
damit ihre dem Gemeinwohl ſchädlichen Vorurtheile 
mit ihnen aus der Welt verſchwänden. — Man wurde 
nicht leicht fertig mit ihm. Denn da er geiſtreich 


160 


war, wußte er mit großer Lebhaftigkeit die eine wie 
die andere ſeiner Behauptungen zu vertheidigen und 
auszuſchmücken, und wie die Mehrzahl ſeiner moskauer 
Freunde in Hegel'ſcher Dialektik geſchult, war er im⸗ 
mer bereit, das „ſowohl als auch“ aufrecht zu erhal⸗ 
ten, und mit ſich ſelber im entſcheidenden Augenblicke 
jene Vermittlungsverſuche zu machen, welche ſeine na⸗ 
türliche Liebenswürdigkeit und Güte zwiſchen ihm und 
den Dritten immer leicht zu Stande kommen ließ. 


Zweites Capitel. 


Unſer erſtes Beiſammenſein hatte nicht lange ge⸗ 
währt; wir hatten jedoch gegenſeitig eine angenehme 
Erinnerung davon bewahrt, und als wir uns dann 
nach einer Reihe von Jahren bei einem Sommeraufent⸗ 
halte im Hochgebirge zufällig wieder fanden, traten wir 
uns wie alte Bekannte und wie Freunde entgegen. 

Boris war diesmal nicht allein, ſondern hatte 
einen ſchönen, jungen Menſchen mit ſich, den er uns 
als ſeinen Sohn vorſtellte, und es fiel uns gleich 
beim erſten Anblicke auf, daß derſelbe nicht die ent⸗ 
fernteſte Aehnlichkeit mit ſeinem Vater hatte, ja, daß 
er gar nicht wie ein Ruſſe ausſah. Wo man dem 
jungen Manne auch begegnet wäre, überall hätte man 
in ihm den Bergbewohner aus dem ſüdöſtlichen Deutſch⸗ 
land, den Steiermärker oder Oberbaiern erkannt, und 


wenn ſchon er wie ſein Vater das nillae Fran⸗ 
Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 


162 


zöſiſche und Engliſche mit großer Leichtigkeit hand⸗ 
habte, hörte man ſeinem Deutſch einen Provinzial⸗ 
Dialekt und gewiſſe Kehllaute an, die nur den deut⸗ 
ſchen Bergbewohnern eigenthümlich zu ſein pflegen. 

Der Vater hing mit der größten Zärtlichkeit an 
Joſef, und es war auch gar nicht möglich, ſich an der 
prachtvollen, breitbrüſtigen Geſtalt des dreiundzwanzig⸗ 
jährigen jungen Mannes nicht zu erfreuen oder nicht mit 
ihm heiter zu werden, wenn ſeine hellbraunen Augen 
vor Lebensluſt und Frohſinn blitzten, und ſein Lachen 
die ſchönen Zähne zwiſchen den vollen Lippen ſichtbar 
machte. Dazu hatte er einen ſchnellen und ſcharfen 
Verſtand, eine unbefangene Gradheit des Urtheils, und 
wie der Vater früh überſättigt und ein Zweifler geweſen 
war, ſo hatte der Sohn eine Zutraulichkeit und eine 
Urſprünglichkeit bewahrt, welche ihm bei dem Leben in 
der großen Welt nur eine beſonders glückliche Natur 
oder die größte Achtſamkeit des Vaters erhalten ha⸗ 
ben konnte. 

Joſef war offenbar des Vaters größter Stolz und 
ſeine ganze Freude. Er ſprach gern von ihm, gedachte 
freiwillig der Art und Weiſe, in welcher er ihn er⸗ 
zogen, wie er es angefangen habe, ſeines Sohnes 
volles, unumſchränktes Zutrauen zu erwerben und zu 


163 


erhalten; und er hob es gegen uns beſonders noch 
hervor, daß der junge Mann die Geſellſchaft des Va- 
ters ſelbſt der von ſeinen Altersgenoſſen vorziehe. 

Und hängt er denn auch an ſeiner Mutter mit 
gleicher Zärtlichkeit? fragte eine junge Dame, die ſich 
zufällig dabei befand, als unſer Freund einmal eben 
jene Bemerkung machte. 

Boris blieb die Antwort ſchuldig. Das würde 
mir nun an und für ſich nicht aufgefallen ſein, da es 
einem Fremden gegenüber eine von den müßigen Fra⸗ 
gen war, in denen eine große Anzahl von Frauen 
ihrer taktloſen Zudringlichkeit den Zügel ſchießen laſſen; 
aber wir hatten ſchon früher bemerkt, daß ſowohl der 
Vater als der Sohn der Mutter nie erwähnten, und 
wir hatten uns daraus die Lehre gezogen, ihrer und 
ihres Daſeins gleichfalls nicht zu gedenken. 

Unſer Verkehr war im Uebrigen durchaus be— 
haglich; wir waren beſtändig zuſammen, wenn ſie nicht 
Partieen in das Gebirge machten, auf welchen Boris ſeinen 
Sohn regelmäßig begleitete, obſchon ſolche angreifende 
Märſche ihm nicht grade heilſam ſein konnten. Er 
hielt aber darauf, es dem Sohne noch gleich zu thun, 
und dieſer war wiederum ſo beſorgt für ſeinen Vater, 
ſuchte fo gefliſſentlich ihn zu ſchonen, daß man ſich 

41° 


164 


wirklich ein ſchöneres Verhältniß zwiſchen Vater und 
Sohn nicht vorſtellen konnte. Trotzdem behandelten die 
Landsleute von Boris den jungen Mann mit einer wunder⸗ 
lichen Art und Weiſe, die ihm nicht entgehen konnte und 
die es machte, daß er ſie vermied. Von Boris Krupinin 
jedoch ſprachen ſie immer, wenn nicht mit Zuneigung, 
ſo doch mit Anerkennung und mit Bewunderung ſei⸗ 
ner großen geiſtigen Begabung und ſeiner Klugheit. 

Sie erzählten, Graf Boris habe nach dem Tode 
ſeines Vaters gleich ſeinen ganzen Grundbeſitz ver⸗ 
kauft und ſein Vermögen aus dem Lande gezogen; 
dadurch ſei er ein Millionär geblieben, während ſeine 
Standesgenoſſen durch die Emanzipation der Bauern 
an den Rand des Abgrundes gebracht worden wären; 
und wenn die Ruſſen ſich erſt auf dieſem Meere 
der Klagen eingeſchifft haben, bringt man ſie nicht ſo 
bald davon zurück. — Reich ſchien Graf Boris aller⸗ 
dings zu ſein, und er ſelber erwähnte einmal, daß er 
ſeine Güter in Rußland aufgegeben habe, aber er 
dachte daneben an die Möglichkeit, daß ſein Sohn ſich 
einmal in den ſüdöſtlichen Provinzen von Rußland 
ankaufen könne, deren Klima der Vater für eines der 
ſchönſten heilſamſten der Welt erklärte. 

Eines Tages, als wir, ich weiß nicht wie, auf 


165 


dieſe mögliche Niederlaſſung am Schwarzen Meere zu 
ſprechen kamen und ich den Grafen fragte, ob er für 
die Ausführung dieſes Planes einen Zeitpunkt feſt⸗ 
geſetzt habe, rief er mit einer ihm nicht gewöhnlichen 
Lebhaftigkeit: Einen Zeitpunkt feſtſetzen? Plane machen? 
Ich mache niemals Plane, die über mehr als ein paar 
Tage hinausgehen! Ein Plan iſt ein Tyrann und 
beruht doch in der Regel nur auf einem augenblick⸗ 
lichen Einfalle, auf einem Tone, der in unſerem Ge⸗ 
hirne anklingt. Wie kann man ſich alſo zum Sklaven 
einer Blutwelle machen? Ich mache niemals Plane, 
wiederholte er lebhaft, denn ich habe es an mir ſelbſt 
erfahren, wie unzuverläſſig unſer Wünſchen und wie 
unbeſtändig unſer Wollen iſt. Was uns heute als 
das höchſte Glück erſcheint, hat vielleicht ſehr bald all 
feinen Reiz für uns verloren, und was uns heute ge— 
ringfügig erſcheint, wird uns morgen wichtig. Mit 
ſechszehn Jahren war ein hervorragendes Amt im 
Staatsdienſte mein Ideal, mit zwanzig Jahren lechzte 
ich nach Unabhängigkeit und Freiheit. Nun, ich habe 
ſie genoſſen, die allervollſte Unabhängigkeit und Frei⸗ 
heit faſt ein Menſchenleben lang. Meine Mutter 
war todt, mein Vater verlangte nicht nach mir, ich 
fühlte keinen Zug zu ihm. Werthe Bekannte, ange— 


166 


nehme Verbindungen hatte ich, wohin ich kam, ich war 
mit meinem Looſe ſehr wohl zufrieden. Als mein 
Vater ſein Ende nahen fühlte, rief er mich an ſein 
Sterbebett. Ich kam noch vor dem letzten Augenblicke. 
Wir waren einander ſehr fremd geworden, das laſtete 
in den Tagen furchtbar ſchwer auf ihm und mir, und 
war doch unabänderlich. — Boris fuhr ſich mit der 
Hand über die Stirn, ſchwieg eine kleine Weile und 
ſetzte dann in derſelben, kurz erzählenden Weiſe ſeine 
Mittheilungen fort. Ich hatte nicht die Abſicht, in 
Rußland zu bleiben, ſagte er; ich wünſchte meine 
Güter zu verkaufen, und das zwang mich zu einem 
längeren Verweilen. Damals ſchätzte man noch bei 
uns den Landbeſitz nach der Zahl der Seelen, die auf 
der Scholle lebten, und ich konnte nur mit großen 
Schwierigkeiten Käufer für die Güter finden, auf de⸗ 
nen ich den Leuten ihre Freiheit und ſo viel Grund 
und Boden gegeben hatte, daß ſie ſich ſelbſt erhalten 
konnten. Man hielt mich deshalb für einen Thoren, 
man ſagte mir meinen Ruin voraus. Jetzt bewun⸗ 
dert man meine Klugheit und ſieht noch heute nicht 
ein, daß ich in jenen Tagen nur meinem Gewiſſen genug 
thun wollte, ohne auf die künftige Geſetzgebung des 
Kaiſers zu ſpekuliren. Als ich damit zu Stande gekom⸗ 


167 


men war, ging ich aus Rußland fort. Ich war nun 
freier als je zuvor. Mich band kein liegender Beſitz, 
keine Familienrückſicht, ich ſagte mir, daß ich mich 
jetzt in dem erwünſchten Zuſtande befände, und ſtatt 
nun dieſes glücklichen Zuſtandes froh zu werden, 
fühlte ich mich plötzlich von einer Melancholie, von 
einer Traurigkeit ergriffen, die durch keine Zerſtreuung 
zu beſiegen waren. Ich fing an, mich zu fragen, was 
ich denn mit dieſer Ungebundenheit vor den Anderen 
voraus hätte, was ich thun oder erreichen könnte, das 
ihnen nicht eben ſo erreichbar und möglich wäre. 
Und zu meinem Erſtaunen wurde ich es inne, daß ich 
nicht freier als die anderen Menſchen ſei, und daß 
ich Niemanden hätte, der mich liebte, den ich liebte. 
Tage und Wochen quälte ich mich mit dem Gedanken 
ab, etwas auszufinden, das mir Freude machen, das 
mir einen neuen Genuß bereiten und mich das Glück 
meiner Freiheit fühlen laſſen könne. Es reizte mich 
nichts, ich hatte Alles gehabt und genoſſen, ich lang— 
weilte mich, wo ich war und was ich auch that; und 
mitten in den Kreiſen, in denen ich zu leben gewohnt 
war, und in denen ich mich bis dahin wohl befunden 
hatte, überfiel mich der Gedanke, daß keiner dieſer 
Menſchen in meinem Herzen eine weſentliche Lücke 


165 


laſſen würde, wenn er von der Erde ſchiede, und daß 
man an dieſen Kartentiſchen eben ſo eifrig ſpielen, auf 
dieſen Divans gerade ſo verlockend liebäugeln, in die⸗ 
ſen Sälen ganz ſo reizend tanzen und dieſelbe geiſt⸗ 
reich heitere oder frivol leichtſinnige Unterhaltung 
führen würde, wenn man mich auch eben an dem 
Tage zur Ruhe beſtattet hätte. Das Gefühl meiner 
Einſamkeit wuchtete ſich lähmend und erdrückend auf 
mich nieder, und der Gedanke, daß unſer alter Name 
mit mir untergehen, daß nicht einmal dieſer Schatten mei⸗ 
nes Daſeins zurückbleiben würde, vergällte mir die Tage. 

Er brach plötzlich ab. Verzeihen Sie, ſagte er, 


daß ich Sie ſo lange von mir ſelber unterhalten habe. 


Es iſt das auch eine häßliche Selbſtſucht, aber man 
wird dieſe böſe Eigenſchaft nicht mehr los, wenn man 
ſich ihr durch lange Jahre überlaſſen hat. Sprechen 
wir nicht mehr davon. Es ſind alte traurige Erin⸗ 
nerungen. Ich mag nicht rückwärts denken, ſeit ich 
mich alltäglich an der fröhlichen, blühenden Jugend 
meines Joſef erfreue. 

Er erhob ſich, drückte mir die Hand, als wolle 
er ſich für mein Zuhören bedanken, und ging ſeinem 
Sohne entgegen, der eben zum Hauſe herauskam, den 
gewohnten Abendſpaziergang mit ihm zu machen. — 


Drittes Capitel. 


Ich konnte in den folgenden Tagen die Erinne⸗ 
rung an dieſe Mittheilungen nicht los werden, ſie be⸗ 
ſchäftigten mich ſehr lebhaft, und ich ſtellte mir im 
erſten Augenblicke vor, das Boris Michailowitſch ſich 
eben in jener Zeit, von der er zuletzt geſprochen, ver— 
heirathet haben werde. Aber je mehr ich darüber nach- 
dachte, um ſo unwahrſcheinlicher wurde mir dies. 
Boris war höchſtens fünfzig oder einundfünfzig Jahre 
alt, ich hatte ihn als einen Fünfunddreißigjährigen 
und als einen Junggeſellen kennen lernen, und Jofef 
ſtand, wie er mir ſelbſt geſagt hatte, im vierund⸗ 
zwanzigſten Jahre. Er konnte alſo in keinem Falle 
ſein rechtmäßiger Sohn ſein, und der Umſtand, daß, 
wie ich ſchon bemerkte, von der Mutter nie die Rede 
war, beſtärkte mich in dieſer Ueberzeugung. Indeß 
während dieſes ganzen Beiſammenſeins erwähnte un⸗ 


170 


ſer Freund ſeiner Vergangenheit nicht wieder, und erſt 
ein paar Jahre ſpäter, als er uns in unſerer Hei⸗ 
math aufſuchte, kam er einmal auf dieſelbe und über⸗ 
haupt auf ſeine Erlebniſſe zurück. Sein Sohn war 
nicht mehr bei ihm, und gleich am erſten Tage, als 
wir uns nach demſelben erkundigten, erfuhren wir, in 
welcher Weiſe das Verhältniß zwiſchen dem Vater und 
dem Sohne ſich ſeitdem entwickelt hatte. Da die Vor⸗ 
gänge eigenartig ſind, will ich im Zuſammenhange 
nacherzählen, was ich in einzelnen Bruchſtücken da⸗ 
mals von unſerem Freunde mit jenem Anfluge von 
Ironie zu hören bekam, die grade ihn ſo vortrefflich 
kleidete, weil die Herzensgüte und Kraft ſeiner Natur 
ſich darin gleichmäßig offenbarten. 

Ich habe Ihnen einmal von dem Trübſinne ge⸗ 
ſprochen, ſagte er, von welchem ich befallen ward, als 
ich merkte, daß ich nicht beſſer wäre als die Anderen 
auch, und daß das von mir ſo oft verſpottete bibliſche 
Wort: „Es iſt nicht gut, daß der Menſch allein ſei!“ 
wirklich auch auf mich ſeine Anwendung finde. Natürlich 
ſagte ich mir: Du mußt ein Ende damit machen, mein 


Lieber! Steige von dem Throne Deiner freien Selbſt⸗ 4 


herrlichkeit hernieder, ſieh Dich in der Geſellſchaft um 
und nimm Dir eine Frau, damit Du zu einer Familie 


171 


kommſt und Dein Name fortterbe unter den Gefchlechtern 
der Menſchen! — So etwas iſt aber bei Weitem leichter ge⸗ 
ſagt als gethan, wenn man ſiebenunddreißig Jahre alt 
geworden iſt, und die Welt und die Frauen kennen gelernt 
hat. Man vernichtet, man erſchießt ſich in einem An⸗ 
falle von Raſerei, man ſtürzt ſich in einer Aufwallung 
von großmüthiger Menſchenliebe in die Flammen, 
aber man legt ſich nicht mit ruhiger Ueberlegung auf 
einen Roſt, um bei kleinem Feuer allmälig gebraten 
zu werden — und ſelbſt in der Hitze des Hazard— 
ſpiels habe ich immer zu viel kaltes Blut gehabt, um 
einen unverhältnißmäßigen Einſatz auf eine Nummer 
zu riskiren. — Stand ich am Morgen auf und ſaß 
vor meinem einſamen Frühſtücke, mir gegenüber ſtehend 
der Diener, der nur darauf wartete, wann ich gehen 
würde, um ſein eigener Herr zu ſein, ſo ſagte ich mir: 
eine kleine hübſche Frau, die Dich zärtlich bäte, bei ihr 
zu bleiben, und Kinder, die ſich an Deine Kniee klam⸗ 
merten, um Dich zurückzuhalten, würden Dir den Mor- 
gen angenehmer machen. Mittags jedoch, wenn ich ein⸗ 
ſam auf meinem Spaziergange meinen Gedanken nach— 
hing, und Abends, wenn ich mich, ſo wie es mir be— 
liebte, in meinem ſtillen Zimmer meinen Studien 
überließ, ſprach eine geheime Stimme in mir: Jetzt 


172 


— 


würde Madame in das Bois de Boulogne zu fahren 
wünſchen! Jetzt würde Madame noch auf dem Balle 
oder in der Soirée zu bleiben begehren, Du aber 
würdeſt ihr dabei Geſellſchaft leiſten müſſen, wollteſt 
Du Dein Glück und Deine Ehre nicht auf's Spiel ſetzen, 
wie jo mancher Andere! und bei der bloßen Vor— 
ſtellung an dieſen Zwang fing Madame an, mir äußerſt 
unbequem zu werden. Zudem wußte ich, die Wahr- 
heit zu geſtehen, ſelbſt nicht, was für eine Frau ich 
wünſchte. Die guten häuslichen Frauen — und ich 
hatte deren verſchiedene gekannt — hatten nicht nur 
mich, ſondern in der Regel auch ihre Männer mit der 
Wichtigkeit gelangweilt, die ſie auf das Alltägliche 
und Geringfügige legen zu müſſen glauben. Die Frauen 
von Geiſt und von weitem Blicke hatten nur zu häufig 
das ihnen Zunächſtliegende überſehen und verabſäumt 
und waren für alle Welt thätig und angenehm ge⸗ 
weſen, nur nicht angenehm für ihren Mann und nicht 
thätig für ihre Kinder; und die Frauen der ſogenann⸗ 
ten großen Geſellſchaft hatte ich vielfach — ſoll ich 
ſagen zu meinem Vortheil oder zu meinem Nachtheil? 
— von ſo leichtlebigen und fo gefälligen Manieren 
gefunden, daß ich mich nicht geneigt fühlte, andere 
Männer die gleichen angenehmen Erfahrungen auf 


173 


uteine Koſten machen zu laſſen. Darüber ging ein 
Tag nach dem andern hin, meine Geſundheit und 
meine Stimmung wurden nicht dadurch gebeſſert, und 
weil mein Leben mich nicht freute, fing ich zu glau⸗ 
ben an, daß es auch nicht mehr lange damit währen 
würde. Um ſo beſſer für Dich! ſagte ich mir, bis die 
alten Erinnerungen wieder einmal über mich kamen 
und der Untergang des alten, ſchönen Namens mir 
Bedauern erregte. Es half nicht, wenn ich mir vor⸗ 
hielt, was dieſer und jener meiner Ahnen gegen Ge⸗ 
ſetz und Recht und gegen alle Menſchlichkeit ver⸗ 
brochen hatte. Es war ein alter Name, es war ein 
ſchöner Name, es war mein Name und ich wollte ihn 
erhalten wiſſen, weil es mich dünkte, als dauerte ich 
in ihm ſelber fort. Aber wie das? und durch wen? 

Ich konnte nicht fortleben in der gewohnten 
Weiſe. Paris, ſeine Geſellſchaft, die große Welt 
waren mir unerträglich geworden. Ich vermochte 
nicht mehr die Luft auf den Boulevards und auf den 
Promenaden zu athmen, auf denen der Leichtſinn und 
das Unglück ſich feilbieten und das Laſter ſie kauft. 
Ich ließ mir einen Koffer packen und reiſte fort, ohne 
Bedienung, allein. 

Zum erſten Mal entzückten mich die Eiſenbahnen. 


174 


Ich fand fie poetiſch, weil ſie mich mit Zauber⸗ 
ſchnelligkeit von allem demjenigen entfernten, das mir 
zuwider geworden. Ich flog an den Orten vorüber, 
an denen ich ſonſt mich zu erholen und zu zerſtreuen 
gewohnt geweſen war. Baden und Frankfurt, Heidel⸗ 
berg und München blieben hinter mir zurück, bis ich 
mich endlich fragen mußte; Wohin nun? — Ich hatte 
keinen Plan, keinen Zweck, keine Pflicht! Ich ſtand 
vor meiner Freiheit wie vor einem dunkeln, boden⸗ 
loſen Abgrunde, und das Einzige, was deutlich aus 
ihm emporſtieg, war die Reue, die mich ergriff. Ich 
bereute es, mein Vaterland verlaſſen zu haben, ſtatt 
mich für daſſelbe nützlich zu machen und mitzuwirken, 
wo noch ſo viel zu ſchaffen war. Aber wenn ich an 
die Möglichkeit einer Heimkehr, an die Arbeit dachte, 
die dort zu leiſten war, fühlte ich in mir nicht mehr den 
Muth dazu. Es waren dort jüngere, friſchere Kräfte, 
urſprünglichere Naturen nöthig, als ich; Naturen, 
die das Glauben und Hoffen noch nicht verlernt hatten, 
die noch voll Zutrauen und voll Liebe zu den Men⸗ 
ſchen waren, an deren Erhebung ſie arbeiten ſollten. 
Wie konnte ich, deſſen Vorfahreu ſeit anderthalb 
Hundert Jahren nur ihrer Selbſtbefriedigung gelebt 
und Enttäuſchungen und Menſchenverachtung als Lohn 


175 


ihres Servilismus und ihrer Tyrannei geerntet hatten, 
ich, der ich ſelbſt meine ſchönſten Jahre in geſchäfti— 
gem Müßigange verträumt hatte, herniederſteigen 
in die Reihen des Volkes, aus deſſen Erhebung wir 
allein die Wiedergeburt der Menſchheit erwarten kön⸗ 
nen? — Ich war allein mit meinen Gedanken noch 
unglücklicher als in der großen Welt; ich war völlig 
gemüthskrank, und überſättigter und zugleich leerer 
als ich, hat ſich ſchwerlich ein Menſch gefühlt. 

So kam ich im Beginne der guten Jahreszeit in 
den tiroler Alpen an, nahm einen Führer und ſtrich 
planlos von Berg zu Thal, von Thal zu Berg. Die 
Größe der Natur, die belebende Luft thaten mir gut. 
Ich ward müde am Tage, ich ſchlief in der Nacht, 
ich hörte auf, über mich ſelbſt nachzudenken, ich lebte, 
wenn ich ſo ſagen darf, ein körperliches Leben, und zu 
meinem eigenen Erſtaunen befriedigte es mich. Die 
Gebirgsreiſe, welche ich mit meinem Führer zurücklegen 
wollen, war beendigt, und ich mochte mich weder von 
dieſer Natur, noch von dieſem Menſchen trennen. 
Sein einfaches Pflichtgefühl, ſein grader Verſtand und 
die Klarheit, mit welcher er die Menſchen aus unſeren 
Lebenskreiſen beurtheilte, mit denen er ſeit langen 
Jahren zu verkehren gehabt hatte, machten ihn mir 


176 


werth. Er war bedeutend älter als ich und war un⸗ 
verheirathet wie ich. Ohne daß ich ihn darum fragte, 
erzählte er mir ſein einfaches Geſchick. Er hatte ſeine 
Eltern verloren, als er in den erſten Zwanzigen ge⸗ 
weſen war. Der Vater und die Mutter waren raſch 
nach einander geſtorben und hatten ihm einen ſpät 
nachgeborenen Bruder hinterlaſſen, der bei dem Tode 
der Eltern ein ganz kleiner Junge geweſen war. Den 
hatte er aufgezogen, und mit dem hatte er, wie er es 
nannte, für ſein Theil genug gehabt. Der Bruder 
war aber ein ſchöner, friſcher Junge geweſen, der bei 
Zeiten nach einer Frau verlangt und ſich denn auch 
ſehr jung verheirathet hatte. Kind auf Kind waren 
ihm geboren worden, und er hatte deren bereits fünf 
gehabt, vier Mädchen und einen Buben, als er zu⸗ 
ſammen mit einem Fremden, der in zu ſpäter Jahres⸗ 
zeit noch eine Bergbeſteigung hatte machen Wake 
um's Leben gekommen war. 

Nun ſaß das arme Weib mit all den Kindern 
und ich konnte ſehen, wie ich mit ihnen durchkam! 
ſagte Gaſſer einfach. Sie ſind aber alle geſund und 
ſtark, und weil ich ihren Vater wie mein Kind ge⸗ 
halten, hab' ich nun an ihnen, ſo zu ſagen, das Haus 


177 


voll Enkel, und habe doch mein Lebenlang kein Weib 
gehabt! a 

Er lachte bei den Worten herzlich, und da er ſah, 
daß ich ihm mit Antheil zuhörte, ſprach er von den 
Kindern mit einem Vergnügen und mit einer Liebe, als 
wenn es wirklich ſeine Enkel geweſen wären. Ich wurde 
neugierig, ſeine Familie kennen zu lernen. Kann ich bei 
Euch ein Unterkommen finden für die Nacht? fragte 
ich. — Wir haben's nicht im Brauch, entgegnete er; 
unſere Betten reichen auch eben nur für uns und 
werden Euch zu ſchlecht ſein! Aber wenn Ihr in der 
Oberſtube die Nacht auf einer guten Streu zubringen 
wollt — Betttücher haben wir — und Brod und 
Kaffee iſt im Hauſe. Wollt Ihr mehr, ſo wird's zu 
ſchaffen ſein. — Ich erklärte mich mit Allem im vor⸗ 
aus zufrieden, und als die Sonne ſchon ſtark im 
Sinken war, ſtiegen wir von der Höhe in ſein Thal 
hinab. 

Das Haus lag mit dem Rücken hart am Berge 
an. Ein paar alte Bäume ſtanden zur Seite. Ihr 
breites Laubdach hielt das Waſſer in der Quelle 
friſch, die aus dem Fels hervorkam. Es war Nie⸗ 
mand zu ſehen. Als der Hund zum Haufe heraus- 
ſprang und anſchlug, ſteckte eine Frau, die nahezu 


Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 12 


178 


vierzig Jahre haben mochte, den Kopf durch das 
kleine Fenſter und trat in die Thüre, da der Alte ſie 
darauf anrief. — Setze Kaffee zum Feuer und ſchicke 
mir den Joſef her, ſagte er, der Herr bleibt zu Nacht! 
— Die Frau ſah ihn verwundert an, that aber keine 
Frage und keine Einwendung; ſie wies mit den Wor⸗ 
ten: Gefällt's Euch? — nach dem Hauſe, mich zum 
Eintritte einzuladen, und nahm dem Alten mein Ge⸗ 
päck ab. f 

In der Stube war's, wie's in allen ſ olchen Stuben iſt: 
trübe Fenſterſcheiben, eine unerträgliche Hitze, Schwärme 
von Fliegen, eine rieſige Bettſtelle, Tiſch und Bank; 
und ſchon fing meine romantiſche Aufwallung mich zu 
reuen an. Indeß weiter fortzugehen, war ich zu müde, 
und ich mochte auch der Gaſtlichkeit meines Führers 
nicht die Kränkung anthun, ſie zu verſchmähen, nach⸗ 
dem ich ſie gefordert hatte; als ich aber erſt die Nacht 
geblieben war, blieb ich auch noch länger. 

Was mich feſthielt? Zunächſt das feierliche 
Schweigen, in welchem am Morgen unter dem leiſen 
Hauche des Windes der Thau von den Aeſten der 
Bäume niederträufte; und dann die ſanfte Stille der 
Menſchen unter die ich gerathen war. Die Mutter 
und ihre vier Töchter, Mädchen von vierzehn bis zu 


179 


achtzehn Jahren, lauter ſchöne und ſchlanke Geftalten, 
gingen bei all ihren Geſchäften ſtill und ohne Haſt 
umher. Sie fragten auch mich nicht, was ich wolle 
und begehre; ſie brachten mir alles Beſte, was ſie hat- 
ten und zu ſchaffen wußten, und ſahen ſie, daß ſie mich 
damit zufrieden ſtellten, ſo ſtrahlte eine Genugthuung 
aus ihren hellen Augen, daß ich ſelber mich zufrieden fühlte. 
Nur Einer machte eine Ausnahme von der übrigen 
Familie, aber es war ihm nicht zu widerſtehen in fei- 
ner feurigen Lebendigkeit. | 

Boris Michailowitſch unterbrach ſich, und fagte 
dann mit einem Ausdrucke, den ich mir damals nicht 
gleich zu deuten wußte: Nun, Sie haben den Bur⸗ 
ſchen ja vor drei Jahren kennen lernen und mögen 
Sich vorſtellen, was er in ſeinem eilften Jahre geweſen 
iſt! Das Ideal eines knabenhaften Antinous! Die 
freie, breite Bruſt, der ſchlanke und doch ſtarke Bau 
des ganzen Leibes, die weit offenen, blitzenden Augen 
und das damals noch goldbraune Haar bei der ſatten 
Farbe ſeiner Haut waren auffallend ſchön. Nicht mit zu 
lachen, wenn er die vollen Lippen öffnete und ſeine 
Zähne ſichtbar wurden, hätte man ein Cato ſein 
müſſen, und er hörte nicht auf zu lachen, wie er nicht 


aufhörte, zu fragen. Alles erregte ſeine Verwunde— 
12* 


180 


rung: von meinem Reiſeplaid bis zu dem kleinſten 
Geräthe in meiner Reiſetoilette. Er ging nicht von 
meiner Seite, ich war der erſte Fremde, der in's Haus 
kam, ich war ein Wunder für ihn; und da die Frauen 
ihm, als dem Jüngſten und dem einzigen Sohne, ſei⸗ 
nen Willen thaten, drängte er ſie bald alle auf die 
Seite, um mich ausſchließlich zu bedienen, ſoweit 
ſeine Kraft und ſein Geſchick dafür ausreichten. Von 
früh bis ſpät war er an meiner Seite. Er kannte 
weit herum die Wege, und Gaſſer ſelber hatte mir 
geſagt, daß ich mich, wenn es nicht eben hoch hinauf 
gehe, der Führung des Burſchen unbedenklich über⸗ 
laſſen dürfe. So ſtrichen wir denn die Tage hindurch 
in der Gegend umher, und ich fand mehr und mehr 
Gefallen an des Knaben Geſellſchaft. Ich hatte mich 
niemals mit einem Kinde andauernd beſchäftigt, nie 
ein Kind genau beobachtet. Zum erſten Male trat 
mir die urſprüngliche Menſchennatur, wie ſie ſich in 
einem gutgearteten Kinde offenbart, rein und unver⸗ 
fälſcht entgegen. Die unſchuldige Freude, die auf⸗ 
richtige und ſtets ſchnell vorübergehende Traurigkeit 
des Knaben bewegten mich zu einer Theilnahme, welche 
die größten Kunſtleiſtungen der erſten Bühnenkünſtler 
mir nicht mehr erregen konnten. Ich lachte mit 


181 


Joſef, wie ich ſeit meiner eigenen Kindheit nicht mehr 
gelacht hatte; ich lehrte ihn Knabenſpiele, ich empfand 
ſelbſt wieder ein Vergnügen an ihnen, und als er an 
einem Mittage im Walde, während wir raſteten, an 
meiner Seite auf dem Raſen einſchlief, kam eine ganz 
neue und mir völlig fremde Empfindung über mich. 
Ich zog den Buben an mich heran, ich legte ſein 
Haupt auf meine Kniee, ich genoß an dem Anblick 
dieſes ſanft ſchlafenden Knaben, den ich bewachte, 
eine Freude, ich fühlte eine Wärme in meinem Her⸗ 
zen, deren ich mich gar nicht mehr für fähig gehalten 
hatte. — 

Meine Abreiſe war für den nächſten Tag beſtimmt. 
Gaſſer ſollte mich zurückführen bis zu dem Punkte, 
von welchem ich mit Fuhrwerk in den Bereich der 
Eiſenbahnen gelangen konnte; aber als der Morgen 
aubrach, als mein Gepäck zuſammengenommen wurde 
und ich Allen Lebewohl geſagt hatte, umfaßte Joſef 
mit beiden Armen meine Kniee und verſicherte wei- 
nend und ſchreiend: ich dürfe nicht fortgehen, ich 
dürfe durchaus nicht fortgehen, oder er wolle mit mir 
gehen. Die Mutter, der Onkel ſuchten ihn zurückzu⸗ 
halten, ihn mit tröſtenden Vorſtellungen und endlich 
mit drohendem Schelten zu beruhigen. — Scheltet's 


182 


nur, rief er, ich find' ihn ſchon aus! Wenn Ihr mich 
auch zurückhalten thut, ich find' ihn ſchon aus! 

Dieſe Anhänglichkeit, ja, ſelbſt ſeine leidenſchaft⸗ 
liche Wildheit entzückten mich. Laßt ihn noch bis 
morgen Abend mit uns gehen, ſagte ich, und ſchon in 
der Stunde dämmerte in mir der Gedanke auf, den 
Knaben bei mir zu behalten; aber erſt die Lebhaftig⸗ 
keit, mit welcher er von dem Neuen ergriffen wurde, 
das ihm entgegentrat, ſobald er ſeine nächſte Heimath 
verlaſſen hatte, beſtimmte meinen Entſchluß. Ich 
hatte auf Reiſen mitunter ſehr unterrichtete Freunde, 
ſehr liebenswürdige Frauen zu Gefährten gehabt: 
Keiner von ihnen allen hatte mich in ſo beſtändiger 
Anregung erhalten, als dieſer von Natur begabte und 
wißbegierige Knabe. Genug, um es kurz zu machen 
L als wir die Berge hinter uns hatten und Gaſſer 
mit ſeinem Neffen, nachdem ſie die Nacht mit mir 
im Gaſthofe zugebracht, den Heimweg antreten wollte, 
machte ich ihm den Vorſchlag, Joſef bei mir zu laſſen, 
ſo lange ich im Lande bliebe, und verſprach, ihn, ehe 
ich weitergehen würde, ſelber bei der Mutter abzulie⸗ 
fern oder dem Oheim anzuzeigen, wo ich ſei und von 
wo er den Knaben abzuholen habe. 1 

Nach kurzer Ueberlezung ging der Alte auf mein 


183 


Anerbieten ein. Er fand Fremde, die er in das Ge— 
birge zu führen hatte, Joſef blieb bei mir, und jenes 
Wohlbehagen, das ich zuerſt empfunden hatte, als ich 
ihn ſchlafen ſehen, ſteigerte ſich, nun er mir allein 
überlaſſen war und gleichſam mir gehörte, mit jedem 
Tage. Ich hatte bis dahin nur Dienſte gefordert 
und empfangen, nun fing ich an, mich in der Sorge 
um den mir anvertrauten Knaben ihm unwillkürlich 
dienſtbar zu machen. Ich dachte nicht mehr ganz 
ausſchließlich an mich, ich hatte auch für ihn zu den⸗ 
ken, und während ich mir ſagte, daß es ein rein ſelbſt⸗ 
ſüchtiger Beweggrund geweſen ſei, der mich bewogen 
habe, mir Joſef's erheiternde Geſellſchaft für einige 
Tage zu ſichern, war zum erſten Male eine Zuneigung 
in meiner Seele erweckt worden, die wie die Liebe 
beglückte, ohne wie fie aufzuregen und zu beunruhigen. 


Viertes Capitel. 


Ich blieb in dem kleinen Curorte, den ich beſuchte, 
länger als ich es irgend beabſichtigt hatte, und mußte 
mir ſchließlich geſtehen, daß die Scheu, mich von dem 
Knaben zu trennen, mich noch immer in dem Bade 
feſthielt, als die ganze übrige Geſellſchaft es ſchon 
zu verlaſſen begann. Ohne es zu wiſſen und zu wol⸗ 
len, hatte Joſef mit ſeiner Lernbegierde mich zu ſei⸗ 
nem Lehrer gemacht. Er wurde nicht müde zu fragen, 
und jede meiner Antworten führte ihn vorwärts, wie 
meine Sorgfalt für ihn neue Quellen der Zärtlichkeit 
in ſeinem Gemüthe eröffnete; denn es iſt ein großer 
Unterſchied in der Art und Weiſe, in welcher unſere 
Liebe und die Liebe der weniger gebildeten und ver⸗ 
feinerten Menſchen ſich ausdrückt. Joſef war Anfangs 
völlig verwundert, wenn ich ihn mit einem Liebesworte 
nannte, aber es machte ſein ganzes Antlitz doch vor 


185 


Liebe ſtrahlen; und ſchneller noch als fein Verſtand, 
entwickelte ſich in meiner Pflege ſein Herz, ſo daß 
ich nicht mehr daran denken mochte, ihn von mir zu 
thun oder ihn zu entbehren, denn ſeine Liebe für mich, 
die ſich ganz leidenſchaftlich zeigte, war mir zu einem 
wirklichen Troſte geworden. 

Ich ſchrieb denn endlich an ſeinen Onkel, ob er 
und die Mutter damit einverſtanden wären, mir den 
Knaben zu überlaſſen, für deſſen Erziehung und für 
deſſen Fortkommen ich zu ſorgen verſprach. Man 
machte Anfangs Einwendungen. Nicht, daß die Mut⸗ 
ter ihre Liebe und ihre Scheu vor der Trennung eben 
hoch angeſchlagen hätte! Man iſt es in jenen Stän- 
den gewohnt, daß die Kinder ſich früh auf die eigenen 
Füße ſtellen und ihres Weges gehen; aber ſie gab 
es zu bedenken, daß Joſef ihr einziger Sohn ſei, 
und daß ſie alſo darauf gerechnet habe, in ihm ein⸗ 
mal ihre Stütze zu finden. Gehe er mit mir, ſo werde 
ihm natürlich gar nichts fehlen, er werde jedoch die 
Seinigen vergeſſen und die Mutter bleibe dann auf 
die Töchter angewieſen, die doch wohl heirathen und 
alſo auch nicht ewig bei ihr bleiben würden. — Gegen 
dieſe Einwendungen war nun leichtlich Rath zu ſchaf⸗ 
fen. Ich legte bei den Gerichten eine mäßige Summe 


186 


nieder, deren Zinſen Joſef's Mutter lebenslang genie⸗ 
ßen ſollte, und ohne von den Seinen irgend eine feſte 
Zuſage zu verlangen, nahm ich nach erhaltener Zu⸗ 
ſtimmung ihn dann weiter mit mir fort. Ich hatte 
noch keine beſtimmten Abſichten mit ihm, und hatte 
ich etwa einen dunkeln Plan für ſeine Zukunft, ſo war 
es der, ihn in eine Erziehungsanſtalt zu thun, wenn 
es mir nicht mehr Vergnügen machen würde, ihn um 
mich zu haben, und ihm dann ſpäter einen ihm an⸗ 
gemeſſenen Lebensweg zu eröffnen. 

Indeß gleich von dem Augenblicke an, in welchem 
ich mich mit ihm aus ſeinem Heimathlande entfernte, 
fing die Sorge für ihn, beſtimmend auf mein eigenes 
Leben einzuwirken an. Ich hatte einige Zeit in 
Oeſterreich zu bleiben gedacht, aber weil ich wollte, 
daß er mit der Landestracht auch den Dialekt ſeiner 
Berge baldmöglichſt ablegen ſollte, ging ich mit ihm 
nach dem Norden von Deutſchland und zwar zunächſt 
nach einer kleineren Stadt, damit die Maſſe der neuen 
Eindrücke nicht zu überwältigend auf ihn eindringen 
ſollte. 

Es war der erſte Winter meines Lebens, den ich 
in einer faſt vollſtändigen Einſamkeit zubrachte, allein 
mit meinen Studien und mit der Erziehung meines 


187 


Joſef beſchäftigt, und dieſe Ruhe that mir ungewöhn⸗ 
lich wohl. Ich fühlte nicht mehr die Raſtloſigkeit, 
welche mich ſonſt von einem Orte nach dem anderen 
getrieben hatte; ich ließ meinen Diener, ließ einen 
Theil meiner Sachen kommen und richtete mich auf 
ein längeres Verweilen ein, weil mir dies für meinen 
Pflegling als das Gebotene erſchien. 

Wie mir der Knabe durch ſeine Hingabe an mich 
in das Herz gewachſen iſt, wie die ſchöne Entwicklung 
ſeiner Eigenſchaften mich an ihn gefeſſelt hat, will 
ich Ihnen nicht ausführlich beſchreiben. Ich konnte 
bald nicht mehr ohne ihn ſein, denn ich dankte es ihm, 
daß ich eine uneigennützige Liebe kennen lernen und 
daß ich um ſeinetwillen wieder mit lebendigen Hoff⸗ 
nungen in die Zukunft ſah. Je älter er wurde, je 
jünger fühlte ich mich in ihm und mit ihm werden. 
Ich konnte es vergeſſen, mit welch verachtendem Zwei⸗ 
fel ich die Menſchheit betrachtet, wenn ich ſah, wie 
vertrauensvoll er glaubte; und weil ich mich erinnerte, 
wie die finſtere, launenhafte Herbigkeit meines Vaters 
meine Jugend verbittert hatte, fing ich an, mich zu 
einem Gleichmuthe und zu einer Gemeſſenheit zu ge— 
wöhnen, die zu erreichen ich früher nicht für möglich, 
oder auch nur für nöthig erachtet hatte. 


183 


Weil ich den Körper meines Pfleglings anszubil⸗ 
den wünſchte, wurde ich ſelbſt zu Uebungen und An⸗ 
ſtrengungen geführt, die ich ſeit Jahren aufgegeben 
hatte. Ich machte ſtarke Wege mit ihm, ich ritt, ich 
ſchwamm mit ihm, ich kräftigte mich auf's Neue, wäh⸗ 
rend ich ihn geſund zu erhalten ſtrebte; und wenn ſich 
in ihm mit jedem Jahre mehr die Dankbarkeit gegen 
mich ſteigerte, ſo wußte er nicht, ja, er konnte es nicht 
einmal ahnen, was ich ihm zu danken hatte. Wäh⸗ 
rend er mich als ſeinen Wohlthäter betrachtete, war 
er thatſächlich der meinige geworden, denn der Hin⸗ 
blick auf ſeine reine und ſchöne Natur hatte mir die 
Liebe und das Vertrauen zu der Menſchheit wieder⸗ 
gegeben. } 

Als er achtzehn Jahre alt geworden war und ich 
ihn in die Geſellſchaft der großen Hauptſtädte ein⸗ 
führte, von der ich ſelbſt mich um ſeinetwillen lange 
fern gehalten, genoß ich das Wohlgefallen, welches er 
erregte, wie einen eigenen Triumph, denn ich durfte 
mir ſagen, ſo wie Joſef jetzt iſt, iſt er mein Werk 
und mein eigen; und da man ihn überall für meinen 
Sohn hielt und ihn wie einen ſolchen liebte, beſchloß 
ich nach reiflicher Ueberlegung endlich, ihn auch als 
ſolchen anzunehmen. Ich that mir ſelber genug da⸗ 


189 


mit, ich dachte gern daran, in ihm und durch ihn 
meinen Namen erhalten und fortgepflanzt zu ſehen, 
und von einem Geſchlechte fortgepflanzt zu ſehen, deſſen 
Vergangenheit nicht von den ſchwarzen Erinnerungen 
befleckt war, welche an dem Andenken meiner Ahnen 
hafteten. 

Ich war faſt achtundreißig Jahre alt geweſen, 
als ich den Knaben mit mir nahm, und es ſtand bei 
mir feſt, daß ich mich nicht mehr verheirathen würde, 
als ich ihn in ſeinem zwanzigſten Jahre in aller Form 
adoptirte. Dieſe Wendung ſeines Geſchickes hatte 
Joſef natürlich nie erwarten dürfen, und ich werde es 
nicht vergeſſen, wie er, als ich ihm mein Vorhaben 
kund gab, in dunkler Röthe aufflammte, einen Augen⸗ 
blick ſprachlos vor mir ſtehen blieb, um ſich mir 
dann unter hervorbrechenden Freudenthränen mit dem 
Ausrufe: Ich werde Dir keine Schande machen, 
mein Vater, mein geliebter Vater! an die Bruſt zu 
werfen. i 8 | 

Boris Michailowitſch nahm die Brille ab und 
putzte ihre Gläſer mit dem Taſchentuche. Es mochte 
ein feuchter Hauch die klaren Kryſtalle getrübt haben. 

„Wenn es einen Gott gäbe,“ ſagte er, indem er 
die Brille wieder aufſetzte und mich betrachtete, als 


190 | 


ob ich feine Gefühlswallung etwa wahrgenommen hätte, 
wenn es einen Gott gäbe, allgütig und allmächtig, 
wie der Glaube ihn ſich vorſtellt, müßte er zugleich 
der Inbegriff des höchſten Glückes ſein; denn es iſt 


ein wundervoll erhabenes Gefühl, ein Weſen vor ſich 


zu ſehen, deſſen Glückesſchöpfer man durch ſeinen 
freien Entſchluß geworden iſt. Und ich habe dieſes 
Glück genoſſen, völlig ungetrübt. Sie haben es wohl 
ſelbſt geſehen, als wir damals im Gebirge ſo uner⸗ 
wartet zuſammentrafen. Es konnte kein beglückenderes 
Verhältniß zwiſchen Sohn und Vater geben, und es 
war nicht meines Sohnes Schuld, daß es für eine 
gewiſſe, für eine ganz kurze Zeit einmal getrübt 
ward. 

Vielleicht, ſo hob er mit ſeinem feinen Lächeln 
an, vielleicht wiſſen Sie von den Dingen, die ich 
Ihnen jetzt zu erzählen habe, eben ſo viel, als ich 
ſelbſt, denn Sie ſind ſcharfſichtig, und Joſef hatte ſich 
ſehr an Sie angeſchloſſen; aber hätte ich nicht immer 
begriffen, welch ein mißlich Ding es um das Plane- 
machen iſt, ſo hätte ich es damals lernen können, als 
ich eben wieder einmal angefangen hatte, mich jener 
unfruchtbaren Beſchäftigung zu überlaſſen. 

Es war nämlich von dem Tage ab, an welchem 


191 


ich Joſef als meinen Sohn erklären laſſen, ein neues 
Bedauern über die Heimathloſigkeit in mir rege ge- 
worden, zu der ich mich freiwillig verdammt hatte. 
Ich hatte den Unſegen dieſer Vogelfreiheit, welche uns 
zu Egoiſten macht, weil ſie uns von jedem dauernden 
und langſam fördernden, auf ein beſtimmtes Ziel ge⸗ 
richteten Zuſammenwirken mit Anderen entbindet, an 
mir ſelber kennen lernen; ich wünſchte alſo meinen 
Sohn davor zu wahren, und da ſich eben in dieſer 
Zeit bei uns in Rußland die Aufhebung der Leibeigen⸗ 
ſchaft vorbereitete und vollzog, wendete ſich mein Blick 
dorthin zurück, wo jetzt tüchtigen Kräften und einer 
einſichtigen Menſchen⸗ und Vaterlandsliebe plötzlich 
ein Feld für eine erſprießliche Thätigkeit eröffnet zu 
werden ſchien. Die Güter waren in dem Augenblicke 
billig, meiner Rückkehr ſtand nichts mehr im Wege, 
meine Schweſter mahnte unabläſſig an dieſelbe, meine 
Reiſeluſt und mein Wohlgefallen an meiner ſogenann⸗ 
ten Freiheit waren gering geworden, und ich betraf mich 
zum Oefteren auf Träumereien, die ſich heimwärts 
wendeten. Es war häufig zwiſchen mir und meinem 
Sohne die Rede davon geweſen, daß ich ihm Rußland, 
daß ich ihm die Orte einmal zeigen würde, in denen 
ich meine Kindheit und Jugend verlebt hatte; des 


192 


Ruſſiſchen war er völlig Herr, und da er eine ange⸗ 
borene Neigung für das Leben in der freien Natur 
beſaß und immer gewünſcht hatte, eine Gutswirth⸗ 
ſchaft zu führen, hatte ich ihn die dahin einſchlagen⸗ 
den landwirthſchaftlichen Studien auf NE Aka⸗ 
demieen treiben laſſen. 


Fünftes Capitel. 


So ſtanden die Sachen, und ich war noch zu 
keiner Entſcheidung gelangt, als die Gräfin Alderberg 
oben bei uns im Gebirge erſchien. Sie erinnern ſich 
des Morgens vielleicht. Wir ſaßen vor dem Hotel 
unter der Veranda beim Frühſtück, als der ſchwer 
bepackte Wagen vor dem Hauſe hielt und die Gräfin, 
ſo wie ſie nur den Fuß zur Erde geſetzt und mich er⸗ 
blickt hatte, mit der Verſicherung auf mich zueilte, daß 
ſie nur hinaufgekommen ſei, um mich einmal wieder⸗ 
zuſehen, und um mir die Grüße meiner Schweſter zu 
bringen, die vor Sehnſucht nach mir gar nicht mehr 
leben könne. 

Noch ehe ſie in das Haus getreten war, hatte 
ich von ihr eine Reihe der auffälligſten Anekdoten er⸗ 
fahren, die zwiſchen dem Bottniſchen Meerbuſen und dem 


Schwarzen Meere von ſchönen Lippen aus einem Saale 
Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 13 


194 


in den andern getragen wurden, und ich konnte mich 
ſchon in dieſer erſten Viertelſtunde überzeugen, daß ich 
bei dieſer Colportage nicht zu kurz gekommen ſei. In⸗ 
deß ich kannte die lebhafte Phantaſie meiner reizenden 
Landsmännin; ich wußte auch, daß ſie meine Schweſter 
ſeit Jahr und Tag nicht mehr geſehen hatte, und 
durfte überzeugt ſein, daß meine Anweſenheit in dem 
Gebirge unmöglich ein Grund nn fein fonnte, fie 
dorthin zu führen. 

Ich war froh, als wir ſie unter Dach und Fach 
gebracht hatten, was bei ihren nicht geringen An⸗ 
ſprüchen für ſich und die ſie begleitende Nichte, und 
für ihre Dienerſchaft und für ihre beiden Hunde, in 
dem überfüllten Hauſe keine Kleinigkeit war; und erſt 
als ich im Fortgehen aus ihrem Salon die Augen 
noch einmal auf ihre Nichte warf, fiel es mir auf, 
welche vollendete Regelmäßigkeit die Geſichtsformen 
des ſchweigſamen jungen Mädchens hatten, das ich 
bis⸗ dahin vor der phantaſtiſchen Lebendigkeit der Gräfin 
kaum gewahr worden war. 

Ich mußte unwillkürlich lachen, als ich die Treppe 
aus dem erſten Stockwerke zu meiner Wohnung hin⸗ 
abſtieg, denn die Herzlichkeit, mit welcher die Gräfin 
mich, weil es ihr eben jetzt bequem war, ihren Vetter 


195 


nannte, beluftigte mich, da fo gut wie gar feine Vers 
wandtſchaft zwiſchen uns vorhanden war. Anna An- 
drajewna war eine Tochter von meines Schwagers 
Schweſter und dadurch allerdings die Nichte meiner 
Schweſter; aber wenn ich hülfsbedürftig oder in übler 
Lage zu ihr gekommen wäre, hätte fie ſich unſerer ſo⸗ 
genannten Verwandtſchaft vielleicht weniger ſchnell er⸗ 
innert. Die mehr oder weniger günſtigen Umſtände, 
in welchen wir uns befinden, üben nun einmal häufig 
einen großen Einfluß auf das Gedächtniß vermögen und 
auf den Familienſinn der lieben Unſeren aus. Ich hatte 
indeß gar nichts dagegen, mit der Gräfin, die ich kurz nach 
ihrer Verheirathung einmal im Auslande flüchtig ken⸗ 
nen gelernt hatte und die ich dann in Rußland ver- 
ſchiedentlich wiedergeſehen, auf das Neue zuſammenzu⸗ 
treffen, und die Gefahr eines zu langen Verweilens 
an demſelben Orte hatte man im Allgemeinen nie von 
ihr zu fürchten. 

Die Gräfin war eine geborene Fürſtin Agarew 
und die Jüngſte von einem Corps von Schweſtern. 
Ihr Vater war ein vortrefflicher Soldat geweſen und 
frühzeitig geſtorben, ohne ſeiner Frau etwas Anderes 
zu hinterlaſſen, als einen glänzenden Namen und die 
Sorge für ihre Schaar von Töchtern. Man hatte 


13* 


196 


der Wittwe alſo ein Palaſtamt bei einer der Groß⸗ 
fürſtinnen ausgemittelt und die ganze Schweſterſchaft 
in die Krons⸗Inſtitute zur Erziehung untergebracht. 
Aber in den Erziehungs-Anftalten kann man nicht f 
ewig bleiben, und Anna Andrajewna, die lebhafteſte 

der Schweſtern, die das regelmäßige Leben in dem 
Inſtitute vermuthlich ſehr wenig nach ihrem Geſchmack 
fand, wird ſich wohl bei Zeiten die Frage aufgewor⸗ 
fen haben, was aus ihr werden ſolle, wenn ſie ein⸗ 
mal mit all den glänzenden Zeugniſſen, die ihre leichte 
Auffaſſungsgabe ihr eintrug, und mit ihrem großen 
Namen aus dem Inſtitute werde ſcheiden müſſen. 
Die älteren Schweſtern waren als Hofdamen einge⸗ 
ſchrieben, und damit war ihnen eine kleine Warte⸗ 
Penſion und eine mäßige Mitgift für den Fall ihrer 
Verheirathung geſichert worden. Eine und die An⸗ 
dere hatte man allmälig auch an den Mann gebracht; 
die übrigen hielten ſich unterdeſſen bei verſchiedenen 
Verwandten auf dem Lande auf, des Augenblicks ge⸗ 
wärtig, der ſie bei einer eintretenden Vacanz in eine 
Hofdamenſtelle und nach Petersburg rufen ſollte. Aber 
weder die Briefe, welche die verheiratheten Schweſtern 
aus den entlegenen Garniſonen und Stationsorten ihrer 
Männer ſchrieben, noch die Schilderungen jener ande⸗ 


197 


ren, die im Inneren des Landes auf den Gütern bei 
den Verwandten wohnten, machten Anna Andrajewna 
Luſt zu einem gleichen Looſe. Sie war bei all ihrer 
Jugend und Lebhaftigkeit klug und eine Beobachterin; 
ihr Spiegel gab ihr daneben guten Muth, und ſie 
hatte es ſehr bald bemerkt, wie der alte Graf Alder- 
berg, der Präſident der Prüfungs⸗Commiſſionen für 
die weiblichen Erziehungs⸗Anſtalten, ſie achtſam durch 
ſeine Lorgnette anſah, ſo oft er ſich zu den Examen 
in dem Inſtitute einfand. Ihr gefälliges Organ, ihre 
belebte Declamation, die ſie beſtändig und vorzugs⸗ 
weiſe an ihn richtete, erhielten jedes Mal ſein beſon⸗ 
deres Lob; die Dankbarkeit, mit welcher ſie dieſes auf⸗ 
nahm, gab dem alten Herrn eine gute Meinung von 
dem Charakter des jungen Mädchens, und als Anna 
die Claſſen durchgemacht hatte, war es die Vermitt⸗ 
lung des Generals, welche ſie als Geſellſchafterin in 
das Haus ſeiner verwittweten kranken Schweſter brachte, 
bei der er allabendlich ein Plauderſtündchen abzuhal⸗ 
ten pflegte, ehe er in die Welt und in die Theater 
fuhr. Anna Andrajewna machte dort die Honneurs, 
und anderthalb Jahr, nachdem ſie die Stelle bei der 
Gräfin angetreten hatte, verließ das achtzehnjährige 
Mädchen das Haus derſelben, und erſchien plötzlich 


198 


als Gräfin Alderberg an der Seite ihres hochbetagten 
Gatten in der Geſellſchaft und am Hofe. 

Der gute Graf, wie Anna ihn beſtändig nannte, 
war das Muſter eines greiſen Ehemannes. Seine 
junge Frau hatte eine völlige Herrſchaft über ihn, 
Alles geſchah, wie ſie es wünſchte; man war viel auf 
Reiſen, und er trieb die Rückſicht für ſie ſo weit, mit 
einem plötzlichen Tode von dem Leben zu ſcheiden, 
noch ehe er angefangen hatte, ſeiner reizenden Gattin 
beſchwerlich zu erſcheinen. Nun hatte die ſchöne junge 
Wittwe, der das ganze, ſehr bedeutende Vermögen 
ihres Mannes zugeſichert worden war, völlig freie 
Hand, und ſie benutzte das auf ihre Weiſe. Sie 
hatte niemals lebhafte Sinne oder ein beſonders war⸗ 
mes Herz gehabt; ſie war alſo vor Liebeshändeln, 
welche ihr und ihrem Rufe gefährlich werden konnten, 
ein⸗ für allemal ſicher. Sie verlangte nach Anbetern, 
nicht nach Liebhabern; man brauchte ſie nicht zu lieben, 
man mußte ſie nur unterhalten, von ihr ſprechen, mit 
ihr allein beſchäftigt ſcheinen und ſich ihr anſchließen, 
während man ihr ihre Freiheit ließ; denn jeder Zwang 
und jede Gebundenheit waren ihr, wie ſie es einem 
Jeden verſicherte, ein- für allemal verhaßt, nachdem 
ſie den Reiz der Freiheit erſt gekoſtet hatte. Sie 


199 


ſchien nur Eine Leidenſchaft zu haben: eine gewiſſe 
fröhliche Eitelkeit. Sie wollte auffallen, von ſich re⸗ 
den machen, überraſchen, und um dies zu thun, ver⸗ 
fiel ſie auf einen Geiſt des Widerſpruches, der ſie 
weiter und weiter trieb und ſie vielleicht zu großen 
Thorheiten verleitet haben würde, hätte man ſie für 
ein Muſter der Tugend gehalten, was ſie im Grunde 
war. Man hatte vorausgeſagt, daß fie ſich bald wie- 
der, und gewiß ſehr vortheilhaft, verheirathen werde; 
das war genug für ſie, um ſie die glänzendſten Ver⸗ 
ehrer abweiſen zu machen. Man nahm an, daß ſie ſich 
in das Leben der großen Welt ſtürzen, wieder auf Reiſen 
gehen und ſich fraglos compromittiren werde — und ſie 
zog ſich in Begleitung eines betagten Gelehrten auf eines 
ihrer Güter zurück, um ihre Bildung zu vervollſtändigen, 
die durch ihre zu frühe Heirath unterbrochen worden war. 

Als die Gräfin ein Jahr nach vollendeter Trauer⸗ 
zeit vom Lande wieder in die Stadt zurückkam, hatte 
ſie ihr prächtiges, viel bewundertes und beſungenes 
Haar abgeſchnitten, weil, wie ſie ſagte, das Ordnen 
ihrer langen Flechten ſie in ihren Studien geſtört 
hatte; aber die unzähligen Löckchen, die ſie noch heute 
trägt, ſtanden ihr bei ihrer kleinen Statur weit beſſer, 
als die großen Friſuren, und zu ihrem kindlichen Ge— 


200 


fichte bildeten die paradoxen Einfälle, die jetzt, nach⸗ 
dem ſie ſich als eine gelehrte Frau betrachtete, auf 
dem Boden ihres unvollſtändigen Wiſſens immer blitz⸗ 
ſchnell in die Höhe ſchoſſen, einen ſo beluſtigenden 
Gegenſatz, daß man ſie noch reizender fand, als vor⸗ 
dem. Ohne daß ſie etwas Gründliches gelernt hatte, 
ohne eigentlich geiſtreich zu ſein, gelangte ſie in un⸗ 
ſerer nur auf den Schein geſtellten großen Welt, zu 
dem Rufe einer genialen Frau, weil ſie ihre wunder⸗ 
lichen Fragen und ihre noch wunderlicheren Behaup⸗ 
tungen den Leuten wie Raketen und Schwärmer ſo 
plötzlich an den Kopf warf, daß grade die Ernſthaf⸗ 
ten und Beſonnenen, davor erſchreckend, ihre Faſſung 
verloren und oftmals etwas Verſtändiges gehört zu 
haben glaubten, wo im Grunde nur eine Grille aus⸗ 
geſprochen worden war. Aber Niemand trug ihr dies 
nach, denn trotz ihrer Eitelkeit war die Gräfin keine 
Egoiſtin, und ſo unvorſichtig ſie ſich, um aufzufallen, 
in ihren Aeußerungen über ſich ſelbſt bisweilen gehen 
ließ, war ſie unter Verhältniſſen fähig, eine gute und 
ſogar eine ſehr verläßliche Freundin für Frauen und 
für Männer zu ſein. Sie konnte ſich für die Schön⸗ 
heit einer Frau neidlos begeiſtern, und da die Gelehr⸗ 
ten, die ſie gefliſſentlich an ſich zog, ſich von ihr gern 


201 


ein Stündchen unterhalten ließen, wenn fie vom Den⸗ 
ken müde waren, fo fanden ſich bald auch die Geijt- 
reichſten unſeres Adels und unſerer Hofleute bei Anna 
Andrajewna zuſammen, bei der man ſicher war, ſchöne 
Frauen und berühmte Männer anzutreffen. Es währte 
denn auch gar nicht lange, bis die anſcheinend nur 
ihren augenblicklichen Einfällen nachgebende junge Frau 
einen der beſuchteſten Salons um ſich verſammelt, 
einen gewiſſen Einfluß gewonnen hatte und zu den 
Tonangeberinnen von Petersburg gezählt ward. Das 
ſteigerte ſich noch, ſeit einer ihrer Anbeter ihr den 
Namen einer „Göttin des Unerwarteten“ gegeben 
hatte. Mit ſolchem Beinamen gewinnt eine Frau, wenn 
ſie ihn anzunehmen und auszunutzen verſteht, eine be⸗ 
ſondere Stellung, und die Gräfin war geſcheidt genug, 
dies einzuſehen. Indeß eine ſolche Auszeichnung hat 
auch ihr Beſchwerliches und ihre Gefahren. Sie 
mußte jetzt um ſo gefliſſentlicher immer etwas Neues, 
etwas Unerwartetes in Scene ſetzen, um ihrem Bei⸗ 
namen zu entſprechen, und ſo kam ſie denn auch eines 
Tages, als man grade mit Gewißheit ihre Heirath 
mit dem damaligen franzöſiſchen Geſandten erwartete, 
plötzlich mit einem zwölfjährigen, mageren und finſter 
ausſehenden Mädchen, der Tochter ihrer älteſten Schwe 


202 


ſter, angefahren, die fie zu ſich genommen hatte, und 
an der ſie ſich, wie ſie aller Welt erzählte, eine Stütze 
für ihr einſames Alter erziehen wolle. Das hatte 
natürlich in dem Munde einer achtundzwanzigjährigen 
und ſehr lebensluſtigen Schönen äußerſt komiſch ge⸗ 
klungen, und meine Schweſter hatte mir davon einmal 
als von einer Thorheit der Gräfin geſchrieben. Da 
ich für dieſe aber keine beſondere Theilnahme hegte, 
hatte ich der Thatſache nie weiter gedacht. An dem 
Tage jedoch, als Anna Andrajewna mit ihrer Beglei⸗ 
terin bei uns oben ankam, erinnerte ich mich daran, 
und als wir an dem Abende an ihrem Theetiſche 
ſaßen und das ſchöne Mädchen uns den Thee bereitete, 
fragte ich die Gräſin, wie man ſolch eine Frage mit 
gleichgültiger Neugier einmal hinwirft: Sagen Sie mir, 
ich bitte, man hat mir vor Jahren einmal geſchrieben, 
Sie hätten ein häßliches und unangenehmes Mäd⸗ 
chen zu ſich genommen, was iſt daraus geworden? 
Die Gräfin, die, ihre Cigarette rauchend, in einem 
| Ruheſeſſel lag, warf den Kopf nach hinten und rief 
mit lautem Lachen: O, das ſind Sie! Das bringt 
Niemand zu Stande, als Sie, der Sie bei all Ihrem 
Geiſte mit Ihrer himmliſchen Naivetät nicht umſonſt 
das enfant terrible des Salons geheißen haben! 


203 


Darja Feodorowna, ich bitte Dich, mein Engel, be— 
danke Dich bei Boris Michailowitſch! Das ift un— 
vergleichlich, unvergleichlich — und obenein ſo ex 
abrupto, und obenein gleich zum Debut! Das iſt 
wahrhaft unvergleichlich! 

Sie konnte der Ausrufe und des Lachens kein 
Ende finden, denn das Lachen ſtand ihr ganz vorzüg⸗ 
lich; aber Darja Feodorowna blieb ganz gelaſſen bei 
ihrer Beſchäftigung und ſagte, ihre ernſthaften Augen 
ruhig auf die Tante richtend: Warum lachen Sie dar⸗ 
über, liebe Tante? Haben Sie doch ſelber mir oft 
geſagt, daß ich ein ſehr häßliches und ſehr unliebens⸗ 
würdiges Kind geweſen ſei, und daß man mich ſogar 
in meinem Elternhauſe deshalb hintenangeſetzt habe. 

Weil man keine Augen hatte, weil man keinen 
Schönheitsſinn beſaß! rief die Gräfin. Aber mit et⸗ 
was Scharfblick, mit etwas phrenologiſchem Scharfblick 
iſt es nicht ſchwer, vorauszuſagen, was aus einem 
Kinde werden wird; und wenn man dazu die richtige 
Pädagogik anwendet, wenn man alle Kräfte eines Kin⸗ 
des gleichmäßig entwickelt, kann man nebenher eine 
förmliche Umwandlung der Naturanlage bewirken. Ich 
habe Darja ohne alle Verweichlichung wie einen Kna⸗ 
ben erzogen, und fie hat eine anbetenswerthe Geſund— 


204 


heit dadurch bekommen. Sie weiß nicht, was Nerven 
ſind, ſie kennt — im Gegenſatz zu ihrer armen, klei⸗ 
nen Tante — keine Ermüdung und keinen Schwindel, 
keinen Schreck und keine Ahnungen. Sie iſt wie ge⸗ 
feit, und ich könnte gar nicht leben ohne ſie, die überall 
für mich mit ihrer Stärke eintritt, wo meine unglück⸗ 
lichen Nerven mich im Stiche laſſen. Komm, meine 
Darja, küſſe Dein altes Kind! — Ach, Sie glauben 
nicht, Boris, wie wir die Rollen getauſcht haben; 
Darja iſt jetzt die Frau im Hauſe und ich bin das 
Pflegekind! 

Die Gräfin ſtreckte dabei ihre Arme nach Darja aus, 
und ich war nahe daran, die Art und Weiſe, in wel⸗ 
cher die Gräfin ſich gehen ließ, geſchmacklos zu fin⸗ 
den; aber Darja's Gleichmuth bei der ganzen kleinen 
Komödie hatte etwas Auffallendes und Anziehendes. 
Sie ließ das Gebahren ihrer Pflegemutter ruhig über 
ſich ergehen, wie einen Luftzug, der an uns vorüber⸗ 
ſtreicht. Sie wurde nicht verlegen, nicht geſchmeichelt | 
durch die Erwähnung ihrer guten Eigenschaften, ſie 
ſah freundlich nach der Gräfin hin, reichte Jedem von 
uns ſeine Taſſe Thee, und fing an, mit mir und mit 
Joſef von dem Wege zu ſprechen, den man einſchla⸗ 
gen müſſe, um am bequemſten den Ort im Gebirge 


205 


zu erreichen, nach dem die Gräfin eigentlich zu gehen 
beabſichtigte. | 

Als wir die Frauen dann verließen, erkundigte 
ſich Joſef, für wie alt ich die Beiden hielte. 

Die Gräfin muß in der Mitte der dreißiger 
Jahre ſein, und danach würde Darja im neunzehnten 
Jahre ſtehen, ſagte ich. 

Darja iſt ſchön! meinte er; und ſie hat eine ſo 
beſondere Schönheit, daß man ſie immerfort anſehen 
muß, um es ſich einzuprägen, wie ſie denn eigentlich 
ausſieht, um es ſich klar zu machen, worin ihre Be— 
ſonderheit beſteht. 

Er ſprach lange von ihr, ſie hatte offenbar einen 
großen Eindruck auf ihn gemacht; auch mir war ſie 
ſehr anziehend erſchienen, aber wie ausſchließlich ſie 
mich beſchäftigt hatte, bemerkte ich erſt, als Joſef an⸗ 
fing, von all den kleinen Geſchichten zu ſprechen, mit 
denen die Gräfin uns unterhalten und die ich voll⸗ 
kommen überhört hatte. Sie erinnern ſich Darja's zu⸗ 
verläſſig, denn Sie haben einmal ſelber die Beobachtung 
gemacht, daß ſie wie das ideale Urbild einer byzantiſchen 
Madonna ausſähe. Die ſcharf gezeichneten Brauen, die 
feinen Linien der Naſe und des kleinen Mundes, die großen 
Augen mit den breiten Lidern, ſelbſt ihre Hautfarbe 


206 


hatten etwas durchaus Fremdartiges; und dieſer Ein- 
druck der Fremdartigkeit ſteigerte ſich, wenn man ſie 
die Obliegenheiten des täglichen Lebens vollbringen 
ſah. Mehr noch, als ihre Schönheit aber hatte ihre 
ſanfte, volle Altſtimme mich entzückt. Jeder Ton der⸗ 
ſelben drang tief aus ihrer Bruſt empor. Sie ſprach 
dabei gegen die Gewohnheit unſerer ruſſiſchen Frauen 
langſam, als wolle ſie der Stimme Zeit laſſen, bei 
jedem Worte in dem Ohre des Hörers auszuklingen, 
und weil ſie wenig ſprach, achtete man auf dieſes We⸗ 
nige und konnte bemerken, daß ſie immer etwas Ver⸗ 
ſtändiges ſagte, immer das Schickliche und das Rich⸗ 
tige traf. 


Sechſtes Capitel. 


Wir ſahen die beiden Frauen in der Regel nur 
an der Mittagstafel und wenn wir Abends den Thee 
bei ihnen tranken, denn die Gräfin kam wenig in das 
Freie. Es war mit ihrer leidenſchaftlichen Naturbe⸗ 
wunderung wie mit allem, was ſie leidenſchaftlich zu 
wünſchen oder zu lieben vorgab. Sie war gewöhnlich 
damit fertig, wenn fie es ausgeſprochen hatte. Es ge- 
nügte ihr alſo vollkommen, zu wiſſen, daß ſie ſich in 
einer Gegend befände, die von Anderen bewundert 
wurde und die ſie daher auch zu bewundern habe; ſie 
wich um deshalb von ihren petersburger Lebensge⸗ 
wohnheiten nicht ab. Sie wachte in ihren Zimmern 
bei ihren ſogenannten Studien und einem höchſt aus⸗ 
gedehnten Briefwechſel bis tief in die Nächte hinein, 
erhob ſich am Morgen erſt, wenn es Zeit war, ſich 
für den Mittagstiſch anzukleiden, und zog ſich nach 


208 


demſelben in ihre Zimmer zurück, weil fie die Sonne 
nicht ertragen zu können behauptete. Darja mußte 
natürlich dieſe Lebensweiſe theilen, und ſie that das, 
ohne ſich im geringſten darüber zu beſchweren. Sie 
war immer gleich rückſichtsvoll für die Gräfin, gleich 
zutraulich mit Joſef wie mit mir, ſtets bemüht, es uns 
neben ihrer Tante bequem zu machen, und völlig ohne 
jeden Anſpruch für ſich ſelbſt. Die Folge davon war, 
daß man ſich bald gewöhnte, mit ihr wie mit einem 
Freunde oder wie mit einer weit älteren Frau zu ver⸗ 
kehren, und ſie ſchien es denn auch nicht auffallend 
zu finden, daß man ihr nicht wie anderen jungen 
Mädchen begegnete, ihr nicht ſo huldigte, wie ihre 
Schönheit es verdiente. Das war aber im Grunde 
ſehr natürlich, weil die Gräfin alle Aufmerkſamkeit 
für ſich begehrte, und Jeden, der in ihre Nähe kam, 
völlig für ſich in Beſchlag nahm. Sie hatte deß auch 
gar kein Hehl, wie denn überhaupt ihre kluge Taktik 
darin beſtand, allen nachtheiligen Bemerkungen, die 
man etwa über ſie hätte machen können, im voraus 
die Spitze abzubrechen, indem ſie ihre Fehler lachend 
eingeſtand, und alles dasjenige von ſich offen ausſagte, 
was andere Frauen, wenn ſie es empfinden, vorſichtig 
verbergen. Sie gab damit dem Ungewöhnlichſten und 


209 


Gewagteſten den Anſtrich des Unbedachten und des Harm— 
loſen, während ſie ihre Rechte doch ſtets im Auge hielt. 

Wiſſen Sie, Boris, ſagte ſie plötzlich eines Abends, 
nachdem wir etwa vierzehn Tage beiſammen geweſen 
waren, ich wundere mich an jedem Morgen, daß ich 
es immer noch hier oben, in dieſem abſtracten Natur⸗ 
genuſſe aushalte, und jeden Abend, daß ich Sie wieder 
an meinem Theetiſche ſehe; denn Beides iſt ſo durch— 
aus planlos. 

Ich fragte ſie, was ſie damit meine. 

Ich denke, das iſt leicht verſtändlich! entgegnete 
fie. Als ich hier herauf kam, geſchah es aus Neu⸗ 
gierde. Ich wollte ſehen, was aus Ihnen geworden 
wäre; denn Sie werden es wiſſen, als ich bei Ihrer 
letzten Rückkehr nach Rußland mit Ihnen zuſammen⸗ 
traf, hatte ich eine Leidenſchaft für Sie, und wir 
Frauen vergeſſen den Mann nicht leicht, der uns ein⸗ 
mal Liebe eingeflößt hat. 

Sie ſagte das hin mit dem Tone und der Miene, 
mit welcher man erzählen würde, daß man einmal ein Klei⸗ 
dungsſtück beſeſſen und aufgehoben oder fortgethan habe, 
und ſie ließ mir auch gar keine Zeit, ihr meine große Ueber⸗ 
raſchung auszudrücken, denn von dieſer vorgeblichen Leiden⸗ 
ſchaft hatte weder ich noch ſonſt Jemand e gehabt. 


Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 


210 


O, Sie haben einen weit größeren Einfluß auf 
mein Leben ausgeübt, als Sie wiſſen! fuhr ſie fort; 
denn nur Ihr Beiſpiel hat mich, da ich fühlte, daß 
ich Ihre Neigung nie für mich gewinnen würde, ſpä⸗ 
ter dahin gebracht, Darja Feodorowna zu mir zu 
nehmen und mir eine Tochter zu erwerben, wie Sie 
Sich einen Sohn erworben hatten — durch freie An⸗ 
eignung. Ich glaube aber, wir haben damit Beide 
eine Dummheit gemacht und ohne Vorausſicht für 
uns ſelbſt gehandelt. 

Dieſe Art der vertraulichen Mittheilung war mir 
keinesweges angenehm. Ich weiß nicht, Anna Andra⸗ 
jewna, entgegnete ich, ob und wie Sie Sich in Ihrer 
Wahl und in Ihren Erwartungen getäuſcht haben 
mögen; ich kann Ihnen aber verſichern, daß ich mich 
meines Joſef's noch an jedem Tage freue. 

Ihres Joſef's! Ihres Joſef's! wiederholte ſie, 
das Wort betonend. Thun Sie, Sie, der einftige 
Vorkämpfer für die Emanzipation der Leibeigenen, 
doch wirklich, als ob Joſef Ihr Leibeigner wäre! Wie 
lange denken Sie denn, daß er noch Ihr Joſef blei⸗ 
ben wird? Glauben Sie, daß die Frauen keine Augen 
haben, daß Sie keine Empfindung mehr haben, weil 
Sie ſelbſt jetzt keinen Anſpruch mehr an dieſe 


211 


Empfindung zu machen belieben? Ich gebe mich 
in Bezug auf Darja keinen ſolchen Einbildungen 
hin. Meine Darja wird mich verlaſſen, ſobald ſich 
ihr die ihr zuſagende Gelegenheit dazu bieten wird, 
eines Anderen Darja zu werden, und Ihr Joſef 
wird das Gleiche thun. Was wollen Sie denn auch 
mit ihm machen? Sie werden alt, Boris, ſo gut 
wie ich. Ihnen wird auch in nicht zu ferner Zeit 
die weiche, weibliche Hand fehlen, die Ihnen die 
Kiſſen zurecht legt, wenn Ihre jetzigen Rheumatismen 
ſich in Gicht verwandelt haben werden. Das iſt keine 
Lebensaufgabe für einen Mann, kein Amt für einen 
ſolchen Antinous wie Joſef. Dazu wäre ich gut 
geweſen, die es früh gelernt hat, einen alten Mann 
zu pflegen, oder auch eine ſo gelaſſene Seele wie 
Darja. Und auf der anderen Seite bin ich auch nicht 
beſſer daran. Was nützt mir Darja eigentlich? Ein 
junger Mann wie Joſef würde mir ein weit ange⸗ 
nehmerer, weit zweckmäßigerer Reiſegefährte ſein, als 
dieſes Mädchen mit all ſeiner Liebe und Geduld. Der 
lebhafte Frohſinn eines jungen Mannes hat etwas 
Verjüngendes; ich bin entzückt von Joſef, ich beneide 
Sie um ihn. Ich bin überzeugt, wir haben Beide 


eine falſche Wahl gethan: Ihnen fehlte eine Tochter, 
14* 


212 


mir der Sohn! Und um vor dem letzten ehrlichen 
Worte nicht zurückzuſchrecken, Ihnen fehlt jetzt mehr 
als je die Frau, und ich hätte vielleicht auch klüger 
daran gethan, mir nach dem Tode meines alten, guten 
Grafen einen jungen Mann zu nehmen. Aber man 
hat die Einſicht eben nie zur rechten Zeit! 

Sie brach plötzlich, und wie immer lachend, in 
den ſonderbaren Bekenntniſſeu ab, nahm eine Cigarette 
aus der kleinen Schachtel, die beſtändig auf ihrem Tiſche 
ſtand, zündete ſie an und ſagte, während ſie den leich⸗ 
ten Rauch durch die feinen Naſenlöcher blies: Sehen 
Sie, mein Lieber, ich tröſte mich! Man muß ſich 
tröſten, wie man kann. 

Sie hätte noch lange ſo fortſprechen können, 
ohne von mir unterbrochen zu werden, denn ſie hatte 
mich in doppeltem Sinne nachdenklich gemacht. Es 
lag etwas ſehr Richtiges in ihren Worten. Ich ſel⸗ 
ber hatte es mir zum Oefteren vorgehalten, daß mein 
bisheriges Zuſammenleben mit meinem Sohne nicht 
ewig währen könne und würde. Ich hatte bei manchen 
Anläſſen an ſeine einſtige Verheirathung gedacht, aber 
dieſelbe bei ſeiner Jugend und ſeiner ausſchließlichen 
Liebe für mich nicht eben nahe geglaubt, und grade 
in dieſem Beiſammenſein mit der ſchönen Darja Feo⸗ 


213 


dorowna hatte die Ruhe, welche er trotz feiner Be— 
wunderung für ihre Schönheit ihr gegenüber bewahrte, 
mich in der Beziehung ſicher gemacht. Ein paar Ge— 
ſchwiſter konnten nicht zutraulicher, nicht harmloſer 
mit einander umgehen, als dieſes ſchöne junge Paar. 
Es hatte zu verſchiedenen Malen mich höchſt angenehm 
berührt, wie fie einander in den kleinen Mühewaltun⸗ 
gen für die Gräfin und für mich behülflich waren, 
wie ſie mit einander in dem guten Willen und der 
Rückſicht für uns zu wetteifern ſchienen. Es hatte 
ſich ganz unmerklich eine Art von Familienleben und 
von Häuslichkeit zwiſchen uns ausgebildet, und ich 
ertappte mich bisweilen auf dem Wunſche, daß dieſes 
Beiſammenſein ſich zu einem dauernden geſtalten möge. 
Mein Wohlgefallen an Darja wuchs mit jedem Tage; 
die Gräfin behauptete, nie heiterer geweſen zu ſein, 
als hier oben im Gebirge, Darja war die Anmuth 
ſelber, und Joſef ſchien mehr und mehr von ihrer 
Schönheit und von ihrem ſanft entſchloſſenen Weſen 
hingenommen zu werden. In dieſer ruhigen Weiſe 
noch ein paar Jahre auf Reiſen zu verleben, danach 
Darja mit Joſef zu verheirathen und mit ihnen zu⸗ 
ſammen mich in der Heimath niederzulaſſen, das er— 
ſchien mir eben ſo wünſchenswerth als verſtändig und 


214 


ausführbar; aber mitten in dieſen angenehmen Zuſtänden 
fingen die Verhältniſſe zwiſchen uns ſich in einer Anfangs 
kaum merklichen Weiſe zu wandeln und zu verſchieben an. | 

Die Gräfin beſaß im höchſten Grade jenes Sich- 
gehenlaſſen, in welchem reife Frauen ſich jüngeren 
Männern gegenüber ſo wohl gefallen, und übte dieſes 
auch gegen Joſef aus. Sie ſtellte ſich damit über 
ihn und gleichſam außer den Bereich ſeiner freiwilli⸗ 
gen Huldigungen, um dadurch doppelt begehren zu 
können, was ihr gut dünkte. Sie nannte ihn bei ſei⸗ 
nem Taufnamen, nannte ihn bisweilen auch „mein 
Kind,“ und wäre er ihr Pflegeſohn wie Darja ihre 
Pflegetochter geweſen, ſo hätte ſie die Beiden nicht 
auf gleicherem Fuße behandeln können. Ich bemerkte 
das natürlich, aber von meinen Wünſchen beherrſcht, 
erregte die wachſende Vertraulichkeit zwiſchen Joſef 
und der Gräfin in mir nur die Vermuthung, daß 
auch Anna Andrajewna an eine Verbindung zwiſchen 
unſeren Pflegekindern denke, und ich fand es in der 
Ordnung, daß Joſef ſich ihr eben deshalb angenehm 
zu machen ſuchte. 

Indeß je länger wir beiſammen waren, deſto 
ausſchließlicher nahm ſie ihn für ſich in Beſchlag; 


215 


ſie fing an, ihm das Gute, das fie von ihm dachte, 
in das Geſicht zu ſagen, ſie ſchmeichelte ihm wie 
einem Kinde und reizte ihn doch wie einen Mann, 
ſo daß die Aeußerungen, welche ſie damals gegen 
mich über ihr verfehltes Leben und über Joſef ge⸗ 
than hatte, mir allmälig in einem bedenklichen Zu⸗ 
ſammenhange mit ihrer jetzigen Handlungsweiſe zu 
erſcheinen begannen. Ich hatte bis dahin geglaubt 
— wir Männer ſind ja alle eitel, ſobald wir den 
Frauen gegenüber ſtehen — Anna Andrajewna habe 
ein Doppelſpiel im Sinne, und des Wittwenſtandes 
wie der Geſellſchaft Darja's müde, hege fie die Ab- 
ſicht, unſere Pflegekinder mit einander zu verheirathen, 
um dann vielleicht ihre Freiheit mir zum Opfer zu 
bringen; und ſie gefiel mir in der That jetzt beſſer, als 
in früheren Zeiten, denn der Grund ihres Charakters 
war ein durchweg guter. Nun aber wendeten ſich meine 
Vermuthungen nach einer anderen Seite, und einmal 
aufmerkſam geworden, fand ich täglich Beſtätigungen 
dafür, daß nicht ich es war, auf den die Gräfin ihr 
Augenmerk gerichtet hatte. Sie ließ Joſef kaum mehr 
von ſich, und mit ihrem unverkennbaren Wohlgefallen 
an ſeiner Geſellſchaft ſchien ihr Darja's Anweſenheit 
unbequem zu werden. Sie klagte darüber, daß ihre 


216 


Nichte ſchwerlebig ſei, daß Darja durchaus nichts mit 
ſich ſelber anzufangen wiſſe, daß ſie keine eigenen 
Einfälle, keine eigenen Lebenszwecke habe, und daß 
ſich an ihr eine Uebellaunigkeit bemerklich mache, die 
ſich wie ein erkältender Nebel auf jede gute Stim⸗ 
mung der Anderen lege. Sie meinte, Darja ſei krank, 
ſprach davon, ſie nach einem Curorte zu ſchicken, und 
auch ich und Joſef hatten die Veränderung wahrge⸗ 
nommen, welche mit dem ſchönen Mädchen vorging; 
aber wir hatten ſie Beide auf die ſitzende Lebensweiſe 
geſchoben, zu welcher Darja neben ihrer Tante ver⸗ 
dammt war. Joſef hatte ſogar verſchiedene Verſuche 
gemacht, Darja zu unſeren Spaziergängen heranzuzie⸗ 
hen; ſeine Vorſchläge waren jedoch beſtändig mit einer 
auffallenden Kälte, ja, in einer höhniſchen Weiſe zu⸗ 
rückgewieſen worden. Er hatte das ſchwer empfunden, 
hatte ſich fern von ihr gehalten; das war Darja nicht 
entgangen, und es war eine Verſtimmung zwiſchen 
den jungen Leuten eingetreten, die ſchnell zunahm und 
nur noch ſelten durch eine Rückkehr zu dem früheren 
guten Einvernehmen unterbrochen wurde. Darja 
wurde immer abgeſchloſſener, die Gräfin, immer hei⸗ 
terer. Es war natürlich, daß Joſef ſich beſſer mit der 
Tante als mit der Nichte unterhielt, und eben fo na⸗ 


217 


türlich, daß dieſe meine Gefährtin wurde, wenn bie 
beiden Anderen ein ſo vollkommenes Genüge an einan⸗ 
der fanden. Joſef fing über Darja im Tone der Gräfin 
zu klagen an; auch er nannte ſie launenhaft und ge⸗ 
müthlos, auch er behauptete, daß es mit ihr ſchwer 
zu leben ſein müſſe, ja, er warf ihr endlich vor, daß 
ſie ihn gefliſſentlich kränke und verletze — und ich 
ſah in dem Allem nur den Einfluß, den die Gräfin über ihn 
gewonnen hatte, und dem ich ein Ende machen mußte. 

Es iſt jedoch immer ein ſehr bedenkliches Ding, ein 
ſolches Abenteuer durch eine plötzliche Trennung zu 
unterbrechen, wenn die Fluth gerade im Steigen iſt; 
ich verſuchte alſo, durch ein geſchicktes Laviren den 
Planen der Gräfin entgegen zu ſteuern, und Joſef's 
Freude an allen Bergpartieen bot mir dafür eine gute 
Handhabe. Wir waren oft mehrere Tage abweſend, 
und einmal eben erſt aus dem Hochgebirge heimge— 
kehrt, als wir uns vorſetzten, eine der herrlichen 
Mondſcheinnächte zur Beſteigung der nahen Felſen zu 
benutzen und dort oben die Sonne aufgehen zu ſehen. 
Als wir vor den beiden Damen davon ſprachen und 
es erwähnten, wie wir danach am Morgen unſer 
Frühſtück in dem Baumesſchatten des Quellgrundes 
einnehmen, und zur Mittagstafel wieder zurück in un⸗ 


218 


ferem Gafthofe fein wollten, rief Darja, einmal aus 
ihrer Verſchloſſenheit hervorgehend, lebhaft aus: Ach, 


eine ſolche Nacht, ein ſolcher Morgen im Freien, wie 


beneide ich Sie darum! 

So kommen Sie mit! fiel Joſef augenblicklich ein. 

Sie aber ſchüttelte verneinend den ſchönen Kopf 
und meinte, das ſei nichts für ihre Tante, ſolche An⸗ 
ſtrengungen ertrage und liebe ihre Tante nicht. 

Machen Sie die Partie ohne die Gräfin mit! ſchlug 
ich vor, weil das arme Mädchen wirklich in der herr- 
lichſten Gegend wie eine halbe Gefangene lebte. Wir 
brechen eine Stunde vor Mitternacht von hier auf, 
und ehe die Gräfin ſich erhebt, ſind wir wieder hier 
an Ort und Stelle. 

Darja ſah die Tante fragend an; dieſe behauptete, 
daß ſie nichts dawider habe, ihre Nichte mit uns 
gehen zu laſſen, wenn ich und Joſef — ſie betonte 
dieſes Letzteren Namen ganz ausdrücklich — die Be⸗ 
gleitung ihrer Nichte wünſchten; aber ſie war offenbar 
empfindlich, und da Joſef bereits gewöhnt war, ſich 
ihr zu fügen, ſagte er ſchnell entſchloſſen: 

Laſſen Sie das Fräulein mit meinem Vater 
gehen, ich will bei Ihnen bleiben, Frau Gräfin, wenn 


ͤ— — EEE 


219 


Sie es nicht vorziehen, was noch viel ſchöner wäre, 
uns mit dem Fräulein zu begleiten. 

Die Gräfin lächelte. Sie vergeſſen, mein Kind, 
entgegnete ſie, daß ich nicht jung bin, wie Sie und 
Darja, und nichts weniger als abgehärtet. Ich würde 
auf halbem Wege liegen bleiben. 

Aber wer denkt daran, daß Sie gehen ſollen! 
wendete Joſef ihr mit Eifer ein. Wir nehmen vier 
Träger, die Sie abwechſelnd tragen... 

Und auf dem Trageſeſſel, in dem Halblichte des 
Mondſcheins, komme ich vor Schwindel um! verſicherte 
die Gräfin. 

Sie ſollen keinen Schwindel fühlen, Gräfin! be⸗ 
theuerte er. Ich werde mich immer neben Ihnen an 
der Seite des Abhanges halten; und wollen Sie Sich 
denn nicht tragen laſſen, ſo will ich vor Ihnen her⸗ 
gehen, daß Sie Sich in jedem Augenblicke auf mich 
ſtützen können, während die Führer Sie halten. Der 
Weg iſt obenein ohne alle und jede Gefahr. Sie 
müſſen durchaus dabei ſein! — Sie und Darja Feo⸗ 
dorowna wiſſen ja noch gar nicht, was eine Mond- 
nacht in den Bergen iſt, und wenn Ihnen dann da 
oben die Elfenkönigin erſcheinen wird, jo... 

Nun, was dann? unterbrach ihn die Gräfin, 


220 


welcher feine dringenden Bitten eben fo wohl zu ge= 
fallen ſchienen, als fie mir überraſchend waren. Sie 
ſah ihn dabei mit ihren ſchönen, halb geſchloſſenen f 
Augen langſam taſtend an, ſo daß er die Farbe wech⸗ 
ſelte, und ſich zu ihr neigend, um dieſem Blicke zu 
entgehen, ergriff er ihre Hand, führte ſie an ſeine 
Lippen und ſagte haſtig: Wenn ſie Sie ſieht, wird 
die Elfenkönigin ſagen: Ich danke ab! 

Er war dabei wie erſchrocken über ſich ſelbſt und 
trat ſchnell von der Gräfin wieder fort. Sie war 
aber in allerbeſter Laune. | 

Das iſt nicht übel für einen Anfänger! meinte 
ſie. Man merkt es, Ihr Joſef iſt bei Ihnen in einer 
guten Schule geweſen, Boris Michailowitſch! Nun, 
Sie ſollen ſehen, daß ich nicht leicht ein Spiel ver⸗ 
derbe. Ich gebe mich gefangen; machen Sie mit 
mir, was Sie wollen! Beſtellen Sie Führer, Träger, 
wie es Ihnen gut ſcheint! Mein Teſtament iſt längſt 
gemacht! 

Sie erhob ſich mit den Worten von ihrem Ruhe⸗ 
bette, reichte ihrer Nichte die Hand und fragte, ob ſie 
nicht eine kleine, willfährige Tante ſei. Indeß Darja 
verzog keine Miene, ſagte kein Wort des Dankes, und 
auch Joſef's Verſicherung, daß er ſich auf die nächt- 


221 


liche Wanderung von Herzen freue, fand bei ihr fei- 
nen Wiederhall. Es war nach der heiteren Erregung 
plötzlich eine noch größere Geſpanntheit in unſeren 
Anfangs ſo gut geſtimmten Kreis gekommen, und 
dieſe gab ſich auch am nächſten Tage dadurch kund, 
daß Darja ſich ausſchließlich zu mir hielt, während 
die Gräfin Joſef gar nicht mehr entbehren konnte. 
Sie hatte ſich unabläſſig bei ihm über die höchſt all⸗ 
täglichen Vorkehrungen zu erkundigen, die für ſie und 
ihre Bequemlichkeit getroffen würden, ſie nahm ihn ſo⸗ 
gar einmal allein in ihre Zimmer mit hinauf, um ihm 
von ihrer Kammerfrau die Bergſtiefel zeigen zu laſſen, 
die ſie mit ſich führte, und Joſef gab ſich mit einer 
Gefliſſenheit ihrem Dienſte hin, der viel zu auffallend 
war, um mir völlig natürlich zu erſcheinen. 


Siebentes Capitel. 


So kam denn der Vollmond und mit ihm unſere 
Mondſcheinpartie heran, und ich brauche Ihnen nicht 
zu ſagen, wie die Gräfin auf dem Wege meinen Sohn 
für ſich in Anſpruch nahm. Anfangs verſuchte er 
ſeine Aufmerkſamkeit zwiſchen ihr und uns beiden An⸗ 
deren zu theilen. Er war gewohnt, mir ſeinen Arm zu 
bieten, wenn die Pfade ſteil anſtiegen; ich bemerkte 
auch, daß er plötzlich von der Seite der Gräfin, welche 
ſich tragen ließ, fortſprang, um Darja die Hand 
zu reichen, ſo oft irgend ein Hinderniß auf dem Wege 
oder ein tieferer Abhang bedrohlich für ſie ſein konnte, 
aber ſie wies ſeine Hülfe kurz zurück. 

Kümmern Sie Sich nicht um mich, ſorgen Sie 
für die Gräfin, die Ihnen zu Liebe ſich überwunden 
hat und mitgekommen iſt. Ich bedarf keiner Hülfe, 
ich bin meiner ſehr gewiß! ſagte ſie und eilte bei den 


223 


Worten, da der Weg ſich eben ſenkte, mit der Xeich- 
tigkeit des Rehes den ziemlich ſchmalen Pfad hinab. 
Inzwiſchen hatte auch die Gräfin ſchon ängſtlich 
nach ihrem Ritter gerufen, und da ich zu fürchten 
anfing, daß Darja, um ihre Selbſtſtändigkeit zu be⸗ 
weiſen, eine Unvorſichtigkeit begehen möchte, die ihr 
gefährlich werden konnte, eilte ich, ihr nachzukommen. 
Als ich ſie erreichte, ſtand ſie auf der Balkenbrücke, 
welche die beiden Felswände überſpannt, zwiſchen de⸗ 
nen der Kaltenbach zu Thale ſchießt. Sie hatte ihren 
Mantel über das Geländer geworfen und ſah, den 
Kopf auf den Arm geſtützt, in die flimmernde, webende 
Nacht hinaus. Erſt als ich die Brücke betrat, bemerkte 
ſie mein Kommen, und da ſie ihr Antlitz zu mir wen⸗ 
dete, jo daß das Mondlicht jeden ihrer Züge hell be- 
leuchtete, fiel mir der ſchwermüthige Ausdruck in den⸗ 
ſelben auf. Ich ſagte ihr, daß ſie Unrecht thue, in 
dem unſicheren Lichte auf dem ihr fremden Wege ſo 
weit voraus zu gehen, und daß es gefährlich ſei, eine 
Höhe hinab zu laufen, deren Abhang man nicht kenne. 
Sie konnten Schaden nehmen, konnten ausgleiten, in 
eine falſche Richtung kommen und, nicht Herr über 
Ihren Lauf, elend zu Grunde gehen! warnte ich. 
Was thäte das? meinte ſie. Aber mir wird nichts 


224 


geſchehen. Menſchen wie ich haben Glück! e ſie 
ſchnell darauf hinzu. 

Was ſoll das heißen? fragte ich. 

Sie zögerte eine kleine Weile, dann ſagte ſie: 
Meine Mutter pflegte immer zu behaupten, die Ein⸗ 
ſamen hätten es am beſten, deren nähme Gott ſich an. 

Sind Sie denn einſam, Darja? 

Sie antwortete mir auf dieſe Frage nicht, ſon⸗ 
dern machte ablenkend eine Bemerkung über eine 
Wolke, welche in dem Augenblicke, phantaſtiſch geſtal⸗ 
tet, über den Mond hinwegglitt, und ich mochte ſie 
nicht zu Geſtändniſſen verleiten, die gethan zu haben ſie 
ſpäter bereuen konnte; aber ich nahm ihren Arm in den 
meinen, und wir ſchritten nun wieder, langſam em⸗ 
porſteigend, die Höhe hinan. Eine Weile ſprachen 
wir Beide nicht, dann, als wir einmal raſtend ſtehen 
blieben, ſagte Darja plötzlich: Ich möchte nicht, daß 
Sie übel von mir dächten, daß Sie mich für undank⸗ 
bar halten könnten; ich habe vorhin Niemandem einen 
Vorwurf machen wollen; aber ich weiß ſelbſt nicht, 
worin es liegt, ich bin ſeit einiger Zeit von einer 
Schwermuth, von einer Traurigkeit befallen, in der 
ich mich ſelbſt nicht wiederkenne. Ich glaube, die 
Landeskrankheit, das Heimweh, hat ſich meiner bemächtigt. 


225 


Ich habe eine Sehnſucht, nach Rußland zurüdzufom- 
men — eine Sehnſucht, als ob ich dorten eine Hei- 
math hätte. 

Und haben Sie die nicht? fragte ich, um ſie jetzt im 
Strome ihrer Mittheilungen nicht ſtocken zu machen, 
da ich fühlte, daß ſie ihr Bedürfniß waren. 

Wo ſollte ich ſie haben? entgegnete ſie. Meine 
Eltern haben mich zu meinem Beſten ſo glaubten ſie 
gewiß aufgegeben. Mein Vater iſt ſeitdem geſtorben, 
meine Mutter hat ſich wieder verheirathet, ich kenne 
ihren Mann nicht, ich bin nie an dem Orte geweſen, an 
welchem ſie jetzt mit ihm lebt. Und die Tante? — 
Nun ja, ſie beſitzt ein Haus in Moskau und hat ihre 
Güter, aber ſie iſt heimathlos, heimathlos in einem 
Grade, der mich, an ihrer Stelle, auf die Dauer zur 
Verzweiflung bringen würde. Ewig in Geſellſchaft, ewig 
auf Reiſen, immer unter Fremdenzu ſein das iſt gar zu öde. 
Sie denken es nicht aus, wie ich ſie müde bin, dieſe 
großen Portale der Gaſthöfe mit den kalten, die Rei⸗ 
ſenden gierig prüfenden Geſichtern ihrer Wir“ he und 
Kellner! — Wie ich ſie müde bin, die Säle der Bade— 
orte und der Reſidenzen, und die Speiſezimmer der 
Hötels, und die neuen Bekanntſchaften, und alle die 


Mühe und Unruhe, mit der wir uns zu entfliehen 
Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 15 


226 

trachten! — Ach, nicht das kleinſte Haus hier ſehe 
ich an, ohne zu denken: dieſe beiden Stuben unter 
dem niederen Dache, dieſer Baum vor der Thüre in 
dem kleinen Gitter — wie würde ich ſie lieben, wenn 
ich da bleiben, wenn ich ſie alle Tage und alle Tage 
ſehen, wenn ich ſie mein, meine Heimath nennen könnte, 
und ſicher wäre, hier Ruhe zu finden, endlich einmal 
Ruhe! Ruhe und ſtille Einkehr in mich ſelbſt! 

So plötzlich wie ſie zu ſprechen angefangen hatte, 
brach ſie in ihrer Rede ab. Sie war offenbar er⸗ 
ſchrocken über ſich ſelbſt und über den Einblick, den 
ſie mir unaufgefordert in ihr Inneres und in ihr 
Verhältniß zu ihrer Tante gewährt hatte, und in der 
That war ich durch dieſen Herzenserguß ſeltſam über⸗ 
raſcht worden. Daß die beiden Frauen ſehr verſchie⸗ 
den geartet waren, darüber konnte Niemand ſich täu⸗ 
ſchen, daß aber Darja ſich unglücklich neben ihrer 
Tante fühlte, hatte ich lange zu glauben angeſtanden. 
Andererſeits lag in des Mädchens Verlangen nach 
Raſt und Ruhe ein Etwas, das ich ſehr wohl nach 
empfinden konnte, wenn ſchon dieſes Bedürfniß ſich 
erſt jetzt, erſt ſpät bei mir geltend zu machen begann. 
Ja, wenn ich mich in meinem tiefſten Innern fragte, 
ſo war der Wunſch nach einer gleichmäßig ruhigen 


227 


Häuslichkeit in mir nie ſo lebhaft geweſen, als ſeit 
der Anweſenheit der Gräfin, als ſeit wir die Abende 
an ihrem Theetiſche in der ſanften Geſellſchaft ihrer 
Nichte zubrachten. Selbſt jetzt, da ich an Darja's 
Seite durch die zauberhaft ſchöne Nacht hinging, that 
es mir leid, ſie nicht in ihrem ſtillen, häuslichen Walten 
vor mir zu ſehen; doch hatte auch dieſer einſame 
Gang mit ihr ſeinen großen Reiz für mich. Ich fand 
einen beſonderen Genuß daran, ſie zu führen, ſie vor 
den Unebenheiten des Weges zu warnen, es zu empfin⸗ 
den, wie ihr Arm ſich feſter auf den meinen zu ſtützen 
begann, je weiter wir gingen; und als dann der Weg 
immer ſchmaler und ſteiler wurde, als ſie ſtark anſteigend 
vor mir einherſchritt, weil man nur einzeln vorwärts 
kommen konnte, entzückten mich die Schönheit ihrer 
Geſtalt und die anmuthige Sicherheit ihrer Bewegun— 
gen auf das Neue. Ich wartete mit Spannung dar⸗ 
auf, ob ſie ſich nicht umwenden, ob ich ihr Antlitz 
nicht wieder im Glanze des Mondſcheines vor mir 
leuchten ſehen würde, und wenn ſie ſich dann mit irgend 
einem Ausrufe ihrer weichen Stimme an mich richtete, 
dachte ich unwillkürlich: die Gräfin hat Recht gehabt 
Die Adoption eines Mädchens wäre beglückender 
für mich geweſen, als die eines jungen Mannes! 
15 


Achtes Capitel. 


Es war ein köſtlicher Augenblick, als ich mit 
Darja endlich die Höhe des Berges erreicht hatte. 
Die Träger mit der Gräfin, und Joſef, der ſie nicht 
verlaſſen durfte, waren noch weit hinter uns zurück⸗ 
geblieben, wir hatten die ganze Feier des erſten Ein⸗ 
druckes für uns allein. Der Mond ſtand hoch im 
Zenithe über uns, die Luft war ſo durchſichtig klar, 
daß man die Sterne in ihrem verſchiedenen Lichte 
deutlich brennen ſah, und ſelbſt auf der Höhe regte 
kein Windhauch ſich. Von dem einſamen, nackten 
Grat des Felſens ſahen wir hinüber zu den ſchnee⸗ 
bedeckten Berggipfeln jenſeit des Waſſers, und aus 
dem Waſſer glänzten in zauberhaftem Wiederſcheine die 
Sterne des Himmels, und die Brücke, welche die gol- 
denen Mondesſtrahlen von einem Ufer nach dem an⸗ 
deren ſpannte, noch einmal wieder zu uns empor. 


229 


Die lautloſe Stille, das Alleinſein in der Natur haben 
etwas Ueberwältigendes. Der Menſch ſinkt davor in 
ſich zuſammen und fühlt ſich doch gleich wieder weit 
über ſich hinausgehoben. Mir war dieſer Eindruck 
ein vertrauter; Darja aber, die ihn zum erſten Mal 
erlebte, ward davon tief erſchüttert. Sie war keines 
Wortes mächtig, ſie breitete ihre Arme wie vor Ent⸗ 
zückung aus und ließ ſie dann leiſe niederſinken, um 
die gefalteten Hände an die Bruſt zu drücken. Die 
tiefe Innerlichkeit ihrer Natur gab ſich auch diesmal 
wieder kund, und wie ſie ſo daſtand in anbetendem 
Schauen verſunken, regten ſich in meinem Herzen eine 
ſolche Zärtlichkeit und Bewunderung für ſie, daß ich 
die Gräfin um ſie beneidete. Weshalb hat das Schick— 
ſal mir die dauernde Nähe dieſes Mädchens verſagt, 
weshalb iſt mir nicht eine Tochter wie ſie zu Theil 
geworden? fragte ich mich, und wie ich meine Hand 
auf ihre gefalteten Hände legte, war es, als errathe 
ſie, was in mir vorging, denn ſie ergriff ſie und 
drückte ſie an ihre Lippen. 

Darja, ſagte ich betroffen und gerührt, Darja, 
was thun Sie? 

Ach, rief ſie, es iſt zu groß, zu viel, das Herz iſt 


230 


mir zu voll! und in Thränen ausbrechend, warf fie 
ſich an meine Bruſt. 

Da — lachen Sie immerhin über den Phanta⸗ 
ſten, über den Phantaſten, der ſich ſeiner Wärme auch 
heute noch nicht ſchämt — da zuckte ein Feuer, ein 
beſeligendes Feuer in meinem Herzen auf; lange, lange 
Jahre verſanken vor mir, als wären ſie niemals da⸗ 
geweſen, ich ſchloß das ſchöne Mädchen in meine 
Arme, ich küßte ſeine Stirn, ſein Haar, ich war 
ſprachlos wie Darja ſelber, ich war ſo jung wie ſie, 
und ich hätte, ich weiß nicht was dafür gegeben, hätte 
in dem Augenblicke nicht Joſef's lauter Anruf zu uns 
emporgeſchallt, wäre nicht eben jetzt die ganze Kara⸗ 
wane der Gräfin auf der Höhe angelangt. 

Darja richtete ſich ſchnell empor, aber ich hielt 
ihre Rechte noch in der meinen, und ich ſah es, wie 
weich ihre Züge waren, wie liebevoll ihr Auge ſtrahlte, 
als Joſef mit der Frage an ſie herantrat, ob er ihr 
von der Herrlichkeit hier oben zu viel geſagt habe. 

O, nein, rief ſie und reichte auch ihm die Hand, 
ſo daß wir durch ſie verbunden waren, o nein! 
und ich danke Ihnen, denn Ihnen ſchulde ich es, daß 
mir dieſe Offenbarung der erhabenſten Natur zu Theil 


231 


wird! Ihnen Beiden, fette fie hinzu, und ich werde 
Ihnen das auch nie vergeſſen! 

Und mir dankſt Du nichts, Du Undankbare? fiel 
die Gräfin ihr in die Rede. Mir, die vielleicht mit 
Tagen und Tagen voll Nervenleiden dieſe tolle Unter⸗ 
nehmung büßen wird, die ich höchſt unnöthig und gar 
nicht lohnend finden würde, hätte mir Joſef nicht ſo 
gute Geſellſchaft geleiſtet. Ihren Arm, Joſef! rief 
ſie, indem ſie, ſich auf ihn lehnend, einige Schritte 
gegen die Vorderſeite des Felſens that. Laſſen Sie 
uns ſehen, was es hier zu ſehen giebt, und gönnen 
Sie Ihrem Vater und Darja, die wie für einander 
geſchaffen ſind, ſich in Empfindſamkeiten zu berau⸗ 
ſchen. — Sie hielt ſich dabei ihr Glas vor die Augen 
und ſagte, nachdem ſie ein wenig umgeblickt hatte: 
Was iſt denn hier zu ſehen? Nebel, Nebel! und 
der See und ein paar unbeſtimmte Berglinien, die 
man am Tage weit beſſer unterſcheidet, ein klarer 
Himmel, den man von unten eben ſo gut bewundern 
kann, und Mondſchein, der auch überall derſelbe iſt! 
In der That, das Spiel iſt den Einſatz nicht werth, 
und dazu wird es kalt! Ihre verheißene Elfenkönigin 
läßt ſich nicht ſehen, Joſef, und Darja's Sentimen⸗ 
talität fängt Sie Alle zu erfaſſen an! Das iſt lang⸗ 


232 

weilig, meine Freunde! Laſſen Sie die Körbe öffnen, 
Joſef! Gießen Sie uns von dem Milchpunſch ein, 
den ich proſaiſches Weſen glücklicher Weiſe mit hinauf 
beordert habe! Darja, hilf unſerm jungen Freunde, 
ich bin müde, ich bin hungrig, und mich dürſtet! 

Sie war offenbar höchlich zufrieden mit ſich und 
der Partie, aber zum erſten Mal ſeit unſerem dies⸗ 
jährigen Zuſammentreffen war ſie mir nicht angenehm. 
Jeder Ton, jedes ihrer Worte beleidigte mich in mei⸗ 
ner Stimmung. Es that mir förmlich weh, daß Darja 
ihr gehorchte, ihr gehorchen mußte, und grade heute 
ſchien die Gräfin ein Vergnügen daran zu haben, ihrer 
Pflegetochter die Abhängigkeit fühlbar zu machen. Sie 
litt es nicht, daß ich oder Joſef ihrer Nichte bei dem 
Auspacken der Körbe Hülfe leiſteten, ſelbſt den Bei⸗ 
ſtand der Träger wies ſie mit der Bemerkung zurück, 
daß ſie etwas zerbrechen könnten, daß Darja ſolche 
Arbeit gut verſtehe; und ſie wußte dabei Joſef in 
einer ſo berechneten Weiſe neben ſich feſtzuhalten 
und an ſich zu ziehen, daß mir in dem Augenblicke 
kein Zweifel über die Art ihrer Gefühle für ihn und 
über ihre Plane bleiben konnte. Als dieſe Vermuthung 
zuerſt in mir emporgeſtiegen, war mir die Angelegen⸗ 
heit ſehr mißfällig geweſen, nun erſchien ſie mir in 


298 


einem veränderten Lichte, und die Aeußerung der Gräfin, 
daß Darja und ich wie für einander geſchaffen mwä- 
ren, gewann für mich eine tiefere Bedeutung. Die 
Gräfin wußte, trotz ihres beſtändigen Anſtrichs von 
achtloſer Laune, in jedem beſonderen Falle ſehr wohl, 
was ſie ſagte, und daß ſie bei einer ſehr feinen und 
ſcharfſichtigen Beobachtungsgabe weitgreifender Plane 
fähig ſei, das hatte ſie von ihrer früheſten Jugend 
an bewieſen. Ich, ich allein, das fing ich jetzt zu 
merken an, war ihr gegenüber bisher nicht achtſam 
genug geweſen, ich hatte in einer mir jetzt ſelbſt un⸗ 
begreiflichen Verblendung den Eindruck, den Joſef's 
Schönheit gleich von der erſten Stunde an auf fie ge⸗ 
macht hatte, nicht hoch genug angeſchlagen, nicht auf 
ſeinen richtigen Grund zurückgeführt. Die Gräfin 
war noch jung, noch blühend genug, eine Leidenſchaft 
zu fühlen, die ſie für ihren greiſen Gatten nicht ge⸗ 
hegt haben konnte und die, durch ihre Eitelkeit und 
ihre Grillen zurückgedrängt, vielleicht bis jetzt in ihr 
geſchlummert haben mochte. Jetzt aber war ſie in 
dem Beiſammenſein mit Joſef, deſſen kraftvolle, un⸗ 
entweihte Jugend für alle Frauen etwas doppelt An⸗ 
ziehendes beſaß, erweckt worden und erwacht, und es 
war kein Grund vorhanden, der Anna Andrajewna 


234 


abhalten konnte, an eine neue Ehe mit einem ſolchen 
jungen, ſchönen Manne zu denken. Sie war völlig 
unabhängig, war eine unſerer reichſten Frauen, ſie galt 
allgemein noch für begehrenswerth, für eine glänzende 
Partie, und ſelbſt ihre Gegner mußten ihr dies zu⸗ 
geſtehen trotz aller ihrer Wunderlichkeiten und trotz 
der Anekdoten, die über ſie umhergetragen wurden, 
war ihr Ruf niemals angetaſtet worden. Freilich, 
ſie war älter, zehn, eilf Jahre älter als mein 
Pflegeſohn — aber was thut das Alter zu dem Glück 
der Ehe? Eine Frau iſt immer jung, ſo lange ſie zu 
gefallen weiß, und wenn ich Joſef's Vortheil im 
Auge haben wollte, ſo war auch dieſer bei dem Plane 
wohl gewahrt; denn in Ehen, in denen eine beträcht⸗ 
liche Altersverſchiedenheit obwaltet, pflegt der jüngere 
Theil gewöhnlich das Heft in die Hand zu bekommen, 
und um ſo ſicherer, wenn der Mann der jüngere der 
beiden Gatten iſt. Freilich, in zehn, in fünfzehn Jah⸗ 
ren mußte der Unterſchied des Alters zwiſchen Joſef 
und der Gräfin ſich ſehr bemerkbar machen; aber 
wenn er an ihr Gefallen fand, wenn ſie ihn liebte, 
wenn ſie in Bezug auf ihr Vermögen ſich freigebig 
gegen ihn erwies, den ich natürlich ebenfalls ange⸗ 
meſſen auszuſtatten dachte, ſo war vom Standpunkte 


der Geſellſchaft und des Herkommens gegen dieſe Ver— 
bindung kaum etwas Anderes einzuwenden, als Joſef's 
bürgerliche Herkunft, und das war der Gräfin Sache. 
Was Joſef anbelangte? Dieſer und Jener hatte eine 
ältere Frau geheirathet und man hatte eine gute, 
ſchickliche Ehe mitſammen geführt. Mochte die Gräfin 
zuſehen, wie ſie mit ihrem Erwählten auskommen 
würde. Nur freilich die ſchöne Pflegetochter, Darja, 
durfte nicht im Hauſe bleiben — und Darja wußte 
um der Tante Leidenſchaft und Plan. 

Daher des Mädchens Gereiztheit gegen meinen 
Sohn, daher ihre Kälte gegen ihre Tante, daher ihre 
Klagen über das Wanderleben, ihre Sehnſucht nach 
Ruhe, ihr Verlangen, irgendwo, wenn es auch in der 
Fremde wäre, eine eigene Heimath zu finden. Nun 
verſtand ich Alles, und Alles ſtimmte mit meinen Ab⸗ 
ſichten gar wohl zuſammen. Wenn Joſef ſich wirk- 
lich mit Anna Andrajewna verheirathete, konnte ich nicht 
daran denken, den Dritten in ihrem Bunde zu machen; 
ich blieb alſo allein — falls Darja ſich nicht entſchloß, 
bei mir zu bleiben und meine Frau zu werden. 

Es war mir wunderbar zu Muthe, als ich dieſen 
letzten Gedanken zuerſt in meinem Innern aufkommen 
fühlte. Ich ſagte mir vergeblich, daß es etwas ſpät 


236 


für ſolchen Vorſatz ſei, daß ich mein einundfünfzigſtes 
Jahr bereits vollendet hatte, aber ich fühlte in dieſem 
Augenblicke die vergangenen Jahre nicht. Ich fühlte 
nur ein freudiges Hoffen in meinem Herzen, das mich 
belebte wie in den Tagen der Jugend, das Blut rollte 
fröhlich klopfend durch meine Adern, ich war wieder 
jung, ich war glücklich, ich ſah mit wonnigem Ver⸗ 
trauen in die Zukunft, ich liebte Darja, weil ſie mir 
dieſe Jugend wieder gab, und auch die Gräfin liebte 
ich. Weshalb ſollte ſie nicht empfinden, was mich ſo 
beſeligte? Weshalb ſollte ſie nicht ſo gut wie ich 
ihre Neigung an die Jugend, an die Schönheit knüpfen? 
Weshalb ſich nicht die Stütze einer jüngeren Kraft 
für die ſpäteren Lebensjahre ſichern? Sie war dem 
Grafen Alderberg einſt eine liebenswürdige Gefährtin 
geweſen; ich? nun ich war fünfzehn Jahre jünger als der 
Graf, und Darja war älter als die Gräfin es einſt 
am Tage ihrer Hochzeit geweſen war. Mit einem 
Worte — ich war nicht der Erſte, der die Welt und 
alles in und anf ihr wieder einmal in roſenfarbenem 
Lichte ſchaute und fie als die beſte Welt betrachtete, 
weil er fie mit dem Sonnenſcheine ſeines Herzens be⸗ 
leuchtete. 

Das Vertrauen, das wir einem Menſchen ſcheu⸗ 


237 


ken, bindet uns an ihn; das mochte Darja auch empfin⸗ 
den, denn ſie nahm jetzt von ſelber meinen Arm und ihre 
Augen blickten mich oftmals fragend an, als wolle ſie 
meine Gedanken errathen. Sie waren nur mit ihr 
beſchäftigt, und ich dachte mit großer Zuverſicht an 
ſie. Ihre Wahrhaftigkeit war unbedingt. Gab ſie 
mir ihr Wort, ſo durfte ich ihrer ſicher ſein; aber 
wie warm mein Herz ihr auch entgegenwallte, mir 
fehlte eine der herrlichſten Eigenſchaften der Jugend 
— der unbedingte ſelbſtvertrauende Muth. 

Ich konnte mich nicht entſchließen, gleich jetzt ihr 
die entſcheidende Frage vorzulegen, ich wollte kein Wag⸗ 
niß beſtehen, mich nicht der Möglichkeit einer Zurück⸗ 
weiſung ausſetzen, ſondern erſt wenn die Gräfin und 
Joſef mit einander einig geworden waren, wenn Darja 
auf ſolche Weiſe von ihren bisherigen Verhältniſſen 
losgelöſt und ſich ſelber überlaſſen ſein würde, wollte 
ich mit meinen Anſprüchen vor ſie hintreten, und das 
unverkennbare Zutrauen, die achtſame Neigung, die ſie 
mir erwies, machten mich das Beſte hoffen. 


Weuntes Capitel. 


Ein Tag ging fo nach dem anderen hin, die drei 
Wochen, welche die Gräfin, und auch die Zeit, welche 
wir noch im Gebirge zu bleiben gedacht hatten, waren 
bereits lange überſchritten. Die Mehrzahl der Gäſte 
waren abgereiſt oder mit Zurüſtungen für die Abreiſe 
beſchäftigt, es fing an, leer in dem Gaſthofe zu wer⸗ 
den, die Spaziergänge mußten wegen der Morgen- und 
Abendkühle auf die paar ſonnigen Mittagsſtunden 
eingeſchränkt werden, die Feuer brannten in den Ka⸗ 
minen, die Tage wurden kurz, man hatte Abends be⸗ 
reits viele Stunden bei der Lampe zuzubringen. Lange 
konnten wir nicht mehr auf dieſer Höhe bleiben, die 
ſcharfe Luft war bisweilen ſchon empfindlich, die Un⸗ 
gewißheit, in welcher ich mich befand, ward mir zur 
Qual, und da die Anderen zu keiner Entſcheidung zu 
kommen ſchienen, mußte ich endlich ſelber daran gehen, 
unſere Angelegenheiten aufzuklären. 

Ich hatte mir den Sonntag Morgen dafür feſt⸗ 


239 


geſetzt, weil Darja dann immer einen einſamen Spa⸗ 
ziergang als Morgenandacht zu unternehmen pflegte. 
Ich kannte den Weg, den ſie zu machen gewohnt war, 
und wollte ſie auf demſelben treffen, um ihr meine 
Wünſche auszuſprechen. Es war mir alſo ſehr will- 
kommen, als eben in der Stunde die Gräfin zu uns 
ſchickte, um Joſef zu einer Fahrt in die Stadt auf⸗ 
fordern zu laſſen; aber zu meinem Erſtaunen lehnte 
er den Vorſchlag ab. Er ſagte, er habe mit einem 
jungen Engländer eine Partie verabredet, und ohne 
mich zu fragen, ob ich dieſelbe mitmachen oder was 
ich unternehmen würde eine Rückſicht, die er ſonſt 
niemals aus den Augen ſetzte, nahm er Hut und 
Handſchuhe und verließ mich gleich nach dem Früh— 
ſtücke. Ich ſah ihn fortgehen — aber allein. 

Es war eilf Uhr, die wenigen Engländer, die 
noch in dem Hauſe und den benachbarten Penſionen 
lebten, kamen wohl friſirt, mit regelrecht geknüpftem 
Halstuche aus ihren verſchiedenen Wohnungen hervor, 
um ſich in den Speiſeſaal zu begeben, in welchem 
einer ihrer geiſtlichen Landsleute den Gottesdienſt ab- 
hielt. Es fehlte keiner von der kleinen Kolonie, die 
von Joſef vorgegebene Verabredung war alſo eine 
Ausrede geweſen. Ich ſann aber weiter nicht dar- 


240 


über nach, ſondern verließ ebenfalls das Haus, um Darja 
aufzuſuchen, die, wie ich wußte, bereits ausgegangen war. 

Der Morgen war bis dahin bewölkt und kühl 
geweſen. Als dann aber die Sonne hinter dem Schnee⸗ 
gebirge hervorkam, das unſeren Horizont nach Oſten 
abſchloß, fingen die Nebel ſich unter ihrem Zauber zu 
lichten und ſich, verſchwebend, zu zertheilen an, daß 
die Kühle ſich plötzlich in ſanfte, erquickende Wärme 
und die Trübe in ein klares, goldiges Licht verwan⸗ 
delten, das fröhlich belebend in mein Herz drang. 
Bergauf und hinan! ſagte ich mir mit freudigſter Zus 
verſicht, während ich deu Weg hinaufſtieg, an deſſen 
Ende ich Darja zu finden hoffte; aber wie lebhaft 
meine Sehnſucht, ſie zu erreichen, mich auch vorwärts 
trieb, ich hatte nicht mehr den raſchen ungehemmten 
Schritt und die vollathmige Bruſt der Jugend. Ich 
mußte zum Oefteren ſtehen bleiben, mußte ruhen; und 
dieſer Abſtand zwiſchen meiner Empfindung und meiner 
Kraft war mir eine unangenehme Mahnung, eine un⸗ 
willkürliche Einſicht und Erkenntniß, welche ich eben 
jetzt mir gern ferngehalten hätte. Ich wollte ſie mir 
verſcheuchen, ich ſuchte zur Rechten und zur Linken 
nach dem erſehnten Gegenſtande. Auf jeder Matte 
hoffte ich ſie zu ſehen, ſo oft ich um eine Ecke bog, 


241 


meinte ich ihrer anfichtig zu werden; aber Darja war 
weit früher als ich von Hauſe fortgegangen, und ſie 
war jung. Ich hatte keine Ausſicht, ſie noch auf dem 
Wege zu erreichen. Unwillkürlich blieb ich hier und 
dorten ſtehen, um von den ſchönen Zeitloſen, von de⸗ 
ren röthlichen Blüthen die grünen Abhänge ſchimmernd 
bedeckt waren, einen Strauß für Darja mitzunehmen, 
den ich mit dem noch friſchen Eichenlaube vermiſchte. 
War doch meine Liebe für dieſes Mädchen auch ſolch 
eine zeitloſe Herbſtesblume, aufgeblüht in einer Nacht, 
— um zu dauern? um zu welken? — Die nächſte 
Stunde mußte das entſcheiden. 

Ich ging vorwärts und vorwärts. An den baum⸗ 
loſen Stellen des Weges brannte die Sonne heiß; 
dann wieder, wenn der Baumesſchatten ſie mir barg, 
ſah ich die Tropfen des Nebels noch an den Aeſten 
funkeln, und ein leuchtender Sprühregen fiel auf mich 
Eilenden herab, wenn ein Vogel ſich auf die Zweige 
niederſenkte, oder ein Windhauch ihre Blätter zittern 
machte. Je näher ich der Stelle kam, an welcher 
Darja gewöhnlich zu raſten pflegte, um ſo unruhiger 
klopfte mir das Herz. Ich hörte ſchon das Murmeln 
der Quelle, die von der Höhe niederrieſelnd mir ent- 
gegenkam. Schon ſah ich die Gruppe der Es mäch- 


Fanny Lewald, Neue Erzählungen. 


242 


tigen Edeltannen ſtolz und freudig aus dem niederen 
Gehölze emporragen. Alt wie ſie waren, lag doch 
nirgends das Licht ſo herrlich ausgebreitet wie über 
ihren friſchen Häuptern, denen das Schneegebirge und 
der blaue Himmel einen herrlichen Hintergrund bil⸗ 
deten; und wie die Sonne ihnen Dauer und immer 
neue Jugend verlieh, ſo hoffte auch ich auf eine lange 
Zukunft und auf ſchöne, von Liebe erhellte und er⸗ 
wärmte Tage. Alles wurde mir zum Symbol, Alles 
zum Gleichniß, denn die Liebe iſt ſo allmächtig, daß ſie 
ſich Alles zu eigen macht. Die ganze Schöpfung iſt ihr nur 
der Spiegel, aus dem ihr eigenes Bild ihr wiederſtrahlt. 

Oben unter den Tannen, wo aus der mooſigen 
Felswand die Quelle klar hervordrängt, hatte man 
ein Rohr eingelegt, welches das Waſſer in einem zum 
Troge ausgehöhlten Baumſtamm leitet. Ein anderer 
Baumſtamm lag daneben. Wir hatten dort nach einem 
warmen Tage einmal zu Vieren im Sonnenuntergange 
geſeſſen und hinabgeſehen in die Thäler und über den 
See hinweg nach den fernen Bergen und in die Lande 
hinaus. Es waren ſchöne Stunden geweſen, aber ſie 
erſchienen mir in der Erwartung des nächſten Augen⸗ 
blickes blaß und kalt. Und doch bangte mir vor der 
Entſcheidung, die ich heraufbeſchwören wollte. Ich 


243 


blieb zögernd ſtehen, zögernd bog ich um die Ede; 
dort mußte ich Darja finden — und ſie war auch 
da — aber ſie war nicht allein. 

Das Bild, das ich erblickte, war der lieblichſten 
Eines. Kein Maler konnte es reizender, konnte es an⸗ 
muthiger denken; mir aber that es weh, weher, als 
ich es mir eingeſtehen mochte, und ich durfte meinen 
Schmerz nicht zeigen, durfte dem Worte, das ſich auf 
meine Lippe drängte, den Laut nicht einmal geben. Um⸗ 
leuchtet von der goldigen Mittagsſonne, die den ganzen 
Platz überfluthete, ſaß Darja an der Quelle auf dem 
Baumſtamme, ſelber wie von einer Glorie umfloſſen. 
Aber ſie ſah mich nicht, ſie hatte meinen Schritt 
auf dem weichen, mooſigen Grunde nicht gehört. 
Joſef lag zu ihren Füßen. Er hatte ihren Leib mit 
ſeinen Armen umſchlungen, ihr Kopf barg ſich an 
ſeiner Bruſt — Jugend und Schönheit hatten ſich 
zu einander gefunden, wie es ſich gehörte. Es war 
gut, es war natürlich, wie es war, und — es iſt 
nicht der erſte Selbſtbetrug, nicht die erſte Enttäu⸗ 
ſchung meines Lebens! ſagte ich mir und hätte mich 
meiner Schwachheit gern geſchämt, wäre ich die 
Zeit her weniger glücklich in meinen hoffnungsreichen 


Träumereien geweſen. 
16* 


Zehntes Capitel. 


Was nachfolgt, ſagte Boris, tief Athem ſchöpfend 
und mit einem Lächeln, das nicht ganz ungezwungen 
war, was nachfolgt, können Sie ſich leichtlich denken. Ich 
rief die Kinder an; ſie erhoben ſich und warfen ſich 
Beide, ſo wie ſie mich gewahrten, in meine Arme. 
Sie nannten mich ihren Vater, ſie küßten in Freuden⸗ 
thränen meine Hände; ich weinte auch — aber in 
dem Augenblick galten meine Thränen nur mir ſelbſt 
und meiner lang entſchwundenen Jugend, die ich nicht 
in ſolcher Liebe genoſſen hatte und die verſunken war 
für immer. 

Darja gewann am erſten Sprache. O, mein 
Vater, mein theurer Vater! rief ſie; Sie waren mein 
Troſt und mein Hoffen, denn Sie wußten es ja ſeit 
jener Nacht auf der Brücke. Ich habe es wohl 
empfunden, Sie wußten, was mich von dannen trieb, 
und wie ich den Gedanken gar nicht faſſen konnte, ihn 


245 


zu verlieren, ihn von einer Anderen geliebt zu ſehen! 
Aber warum ſagten Sie es denn dem armen Joſef 
nicht, daß ich ihn liebte und daß ich Alles, Alles er- 
tragen könne — nur nicht ohne ſeine Liebe neben ihm 
zu leben? 

Sie blickte mit überwallender Zärtlichkeit zu dem 
Geliebten auf; er ſchloß ſie auf's Neue in ſeine Arme. 
Sie ſprachen Beide mit einer Erregung, die ſie völlig 
achtlos dafür machte, wie ſehr ich durch ſie überraſcht 
und wie ſehr ich erſchüttert worden war. 

Der Erzähler machte eine Pauſe. Er war wär⸗ 
mer im Ausdrucke geworden, als er es beabſichtigt 
haben mochte; nun änderte er plötzlich ſeinen Ton. 

Es iſt ſonderbar und nicht eben angenehm, ſagte 
er ſcherzend, ſich „lieber Vater“ von einem Munde 
nennen zu hören, dem man ein weit ſüßeres Wort 
zu entlocken erwartet hatte; aber ein erfahrungsreiches 
Leben und die Gewohnheit der Selbſtbeherrſchung, 
welche man in unſerer Geſellſchaft annimmt, ſind 
treue Bundesgenoſſen und gute Stützen in ſolchen Le⸗ 
benslagen, und die jungen Liebenden vermißten es 
nicht, daß ich ihnen meinen Antheil an ihrem Glücke 
nicht mit größerer Wärme ausſprach. Sie hatten ſo 
viel zu erzählen. Joſef ſagte, wie ihn Darja bezau⸗ 


246 


bert von der erſten Stunde an, wie ihr Zutrauen ihn 
ſicher über ſie gemacht habe, und wie er bemüht geweſen 
ſei, die Freundſchaft und die Gunſt der Gräfin zu 
gewinnen, um ſie ſeiner Werbung geneigt zu machen. 
Nicht eine Sekunde habe er geſchwankt in ſeiner Liebe, 
aber Darja's plötzliche Uebellaunigkeit und die Art, 
in der ſie ihn gemieden, hätten ihn verdroſſen. Er 
habe ſie beſtrafen wollen für die Qualen, die ſie ihm 
bereitet; fröhlich und glücklich habe er ſich geſtellt, 
weil er zu ſtolz und zu thöricht geweſen ſei, ihr zu 
ſagen, wie ſie ſein Herz in Händen habe. Und Darja 
lachte und klagte ſich an, und ſprach von ihrem Glücke 
und weinte, und fragte, ob ich ſie denn auch leiden 
könne, weil ſie mir doch ein Stück von meines Soh⸗ 
nes Herz entzöge? Und Joſef ſagte: Das ganze 
Herz! — Und ſie umarmten mich wieder und wieder und 
die Sonne ſchien ſo hell auf uns herab, und die 
Weindroſſeln ſchoſſen an uns vorbei zu Thal, und die 
neugierigen Eidechſen auf den warmbeſonnten Steinen 
hoben die klugen Köpfe empor und guckten das ſchöne 
Paar an, als wollten fie ſich an dem Anblicke ſolch 
junger Liebe freuen. Und ich alter Geſell, was 
wollte ich am Ende machen, als mich auch an ihrer 
Schönheit freuen und lieben, was ſo liebenswürdig 


247 


war. Hatte ich es doch am Anfange ſelber ſo gewollt, 
wenn ich Darja und Joſef beiſammen geſehen hatte! 
War es ihre Schuld, daß ich ein paar Tage lang 
vergeſſen, wie der Jugend die Welt gehört? 

Joſef ließ mir keine Ruhe, ich ſollte gleich, gleich 
bei unſerer Heimkehr Darja's Hand für ihn erbitten. 
Das war kein leichter Auftrag, aber ich konnte es den 
Kindern nicht verdenken, daß ſie der Gräfin nicht zu 
nahen wünſchten, ehe ſie von dem Vorgefallenen un⸗ 
terrichtet war. Wie ſeelenruhig Joſef ſich auch zeigte, 
er mochte in ſeines Herzensgrunde ſich doch wohl 
ſagen, daß er in ſeinem Beſtreben Darja für ihre Ei⸗ 
ferſucht zu ſtrafen, weiter gegangen und befliſſener geweſen 
ſei, als er es nöthig gehabt hatte; und wenn Darja 
eben aus Eiferſucht es nicht verrieth, wie leidenſchaft⸗ 
lich ihre Tante ſich zu Joſef hingezogen fühlte, ſo 
hegte ſie doch ſelber keinen Zweifel daran, daß die 
Gräfin bisher von Joſef's Liebe für ihre Nichte keine 
Ahnung gehabt hatte. 

Aus einem zärtlichen Bewerber war ich alſo im Hand⸗ 
umdrehen zu einem Freiwerber geworden, und wollte 
ich mir ſelber nicht lächerlich werden, ſo mußte ich 
das Gefühl der Enttäuſchung, die Wehmuth, die ge⸗ 
heime Scham und den Schmerz über das Verlöſchen 


248 


dieſes Alpenglühens meiner Jugend ſtill in mir ver⸗ 
ſchließen, mußte gute Miene zu dem guten Spiele 
machen, und mich in meine neue Würde ſchicken. 

Ich ließ mich bei der Gräfin melden und wurde 
angenommen. Sie war bereits für die Mittagstafel 
angekleidet und lag leſend in einem Lehnſeſſel unter 
dem aufgeſpannten Zeltdache ihres Balkons. Das 
weiße Kleid und der voll erblühte Roſenſtrauß an 
ihrer Bruſt kleideten ſie ganz vortrefflich; ſie ſah ſel⸗ 
ber noch wie eine Roſe aus. 

Gut, daß Sie kommen, rief ſie mir entgegen; 
ich habe es heute wieder den ganzen Morgen bitter⸗ 
lich bereut, nicht kirchlich zu ſein. Wie glücklich ſind 
alle dieſe Gläubigen, die jeden Sonntag eine neue, 
ſie erhebende Herzensbefriedigung genießen, während 
wir ſtarken Geiſter uns doch nicht von der Grille be- 
freien können, daß der Sonntag etwas Beſonderes 
ſei, uns etwas Beſonderes leiſten müſſe — und weil 
er dies nicht thut, gerade am Sonntag immer einer 
ganz beſonderen Langenweile anheimfallen. Und dazu 
Darja's ſonntägliche Naturſchwärmerei und Joſef's 
ſonntägliche Wanderluſt! Ich hätte einem Menſchen, 
der mich heute gut unterhalten oder der mir auch nur 


249 


eine Neuigkeit erzählt hätte, gleichviel welche, vor 
Dankbarkeit um den Hals fallen können! 

So fallen Sie mir um den Hals, Anna Andra⸗ 
jewna, ſagte ich — denn ich bringe Ihnen eine 
Neuigkeit; und da Sie eine Frau von Wort ſind, ſo 
freue ich mich über mein Glück, denn Sie ſehen heute 
reizend aus! 

Bravo, bravo! fiel Sie mir ein. Sie nehmen 
Sich als fahrender Ritter einer Verlaſſenen an, Sie 
haben Mitleid mit einer in der Wüſte der Langen⸗ 
weile Verſchmachtenden. Aber reden Sie, erzählen 
Sie! Was wiſſen Sie? 

Errathen Sie es! 

Wie kann ich? meinte ſie. 

Ich werde ſagen, wie Frau von Sévigny, unſer 
aller Meiſter es an ihre Tochter ſchrieb: Je vous le 
donne en un, je vous le donne en deux, je vous 
le donne en dix, je vous le donne en cent! 

Ah, rief die Gräfin, alſo handelt es ſich um eine 
Verlobung? Denn auf eine Verlobung bezieht ſich 
jener der Brief der Sévigny. 

Um eine Verlobung, allerdings! beſtätigte ich. 

In Petersburg oder im Auslande? 

Wie Sie das nehmen wollen. 


250 


Alſo es find Landsleute? 

Ja und Nein. 

Bekannte von uns? 

Nahe Bekannte, ſehr nahe Bekannte. 

Die Gräfin richtete ſich in ihrem Seſſel in die 
Höhe und wurde achtſam. Sie blickte mir ſcharf 
in's Auge. 

Der Poſtbote iſt noch nicht gekommen, ſagte ſie, 
plötzlich ernſthaft werdend. Nachrichten aus der Welt 
können Sie heute noch nicht erhalten haben. Ihre Neuig⸗ 
keit muß alſo hier geſchehen ſein. — Sie hielt mit 
einer Art von Schrecken inne; aber den Ernſt aus 
ihren Mienen ſchnell verſcheuchend, ſagte ſie mit großer 
Anmuth: Haben Sie ſelber mir etwa eine Ueberraſchung 
bereitet, lieber Freund? ſo ſagen Sie es nur heraus, 
denn hier errathen zu wollen, wäre indiscret. Sie 
waren in letzter Zeit ſehr um Darja bemüht. 

Sie vollendete nicht, und ich wollte ſie nicht 
vollenden laſſen. Sie haben es errathen, fiel ich ihr 
in's Wort, und Ihr Scharfblick hat ſich nicht getäuſcht. 
Ich wünſchte Darja kennen zu lernen, wie Sie ja 
auch Joſef beobachtet haben, um zu ſehen, ob er 
Ihren Anſichten entſpräche, ob er der Mann ſei, dem Sie 
Ihre Nichte anvertrauen könnten, und ob er Ihnen 


251 


die Stütze zu werden vermöchte, die man in ſeinem 
Schwiegerſohne zu finden hofft, wenn man keinen 
eigenen Sohn beſitzt. 

Die Gräfin war ſehr blaß geworden; ich ſah 
ihre Lippen leiſe beben, und die kleine Hand zitterte, 
als ſie den Roſenſtrauß von ihrem Buſen nahm und 
ihn achtlos zu entblättern anfing. 

Ich that, als bemerkte ich ihre Ueberraſchung 
nicht, aber ich bedauerte ſie, denn ich hatte ja eben 
erſt den gleichen Kampf durchkämpft. Um ſie der 
Nothwendigkeit einer Antwort zu entheben, fuhr ich 
fort zu ſprechen. Darja und Joſef ſind mit einander 
einig, ſagte ich. Der Zufall ließ mich ſie finden, als 
ſie eben unter den ſieben Tannen einander ihre Liebe 
geſtanden hatten. Ich wollte, Sie hätten ſie geſehen, 
wie ich. Ein ſchöneres Paar iſt kaum zu denken, 
und ich komme nun, Sie in aller Form um Ihrer 
Nichte Hand für meinen Sohn zu bitten! 

Die wenigen Minuten hatten der Gräfin genügt, 
ſich zu ſammeln und zu faſſen; ſie war wieder Herr 
über ſich geworden. Mit ihrem gewohnten ſilberhellen 
Lachen ſchlug ſie die Hände in einander. Wenn Sie 
Sich ſehen könnten, Boris Michailowitſch, wenn Sie 
ſehen könnten, wie dieſe feierliche Werbung Ihnen 


252 


komiſch ſteht, Sie würden lachen, wie ich! rief fie. 
Und ſie lachte wieder und wieder, und dieſes Lachen 
wurde ſo nervös, daß es mich zu beänſtigen anfing. 
Aber mitten in demſelben hielt ſie plötzlich inne. 

Nun, ſagte ſie, und ihr Blick und ihr Ton waren weit 
ſchärfer, als ſie wollte und wußte, nun, Boris, habe 
ich nicht Recht gehabt, als ich neulich gegen Sie be⸗ 
hauptete, wir hätten beide eine Thorheit begangen, als 
wir dieſe Adoptionen machten, ſtatt uns ſelber zu ver⸗ 
heirathen? Ihr Joſef und meine Darja werden von 
uns gehen und uns das Nachſehen laſſen; denn, ich 
mache Ihnen gar kein Hehl daraus, ich bin nicht ſo 
ſelbſtlos, mir daran genügen zu laſſen, daß zwei An⸗ 
dere glücklich ſind. Aber kommen Sie, Boris, kom⸗ 
men Sie, umarmen Sie mich! Ich bin Ihnen die 
Bezahlung für die Neuigkeit noch ſchuldig, und wir 
werden ja noch nähere Verwandte werden, wenn wir 
die gemeinſamen Enkel auf unſeren Knieen ſchaukeln 
werden! Mein Gott, Enkel, wie das garſtig klingt! 

Sie ſchüttelte ſich wie im Widerwillen und reichte 
mir ihre Hand hin. Als ich ſie küßte, küßte ſie mir 
die Stirne und drückte mir feſt die Hand. Wir ver⸗ 
ſtanden einander ohne Worte. 

Am Abende ſchrieben wir unſeren gemeinſamen 


253 


Bekannten von der Verlobung unſerer Pflegekinder; 
zwei Tage ſpäter trennten wir uns. Die Hochzeit 
des jungen Paares ſollte nach Neujahr in Paris voll⸗ 
zogen werden; dann ſollten die Neuvermählten nach 
Italien gehen, und inzwiſchen wollten wir für ihre 
ſpätere Niederlaſſung Sorge tragen. Und ſo iſt es 
auch geſchehen. 

An dem Abende, an welchem die neuen Eheleute 
ſich in Paris von uns getrennt hatten, ſaß ich allein 
an dem Theetiſche der Gräfin. Sie und ich fühlten 
die Einſamkeit recht ſchwer. Ich hatte Anna Andra⸗ 
jewna nie ſo ernſt geſehen. Wir ſprachen von Dem 
und Jenem; es wollte aber mit keiner Unterhaltung 
glücken, und doch ſchien die Gräfin etwas auf dem 
Herzen zu haben. Endlich als ich mich von ihr ver⸗ 
abſchiedete, fand ſie das Wort dafür. 

Ich bin in Ihrer Schuld, Boris Michailowitſch, 
ſagte ſie zu mir. Sie haben mir einmal einen 
Freundſchaftsdienſt geleiſtet, den ich Ihnen nicht ver⸗ 
geſſen werde; Sie haben es mir geſchickt erſpart, vor 
Ihnen zu erröthen. Ich danke Ihnen dafür. Den⸗ 
ken Sie gut von mir, ich bin vielleicht beſſer, als Sie 
glauben; und wenn mir auch jede andere gute Eigen⸗ 
ſchaft gebrechen ſollte — eine habe ich für Sie — ich 


254 


bin Ihre Freundin und ich verehre Sie! Bedürfen 
Sie meiner, ſo rufen Sie mich, und ich werde ſtolz 
darauf ſein, Ihnen vergelten zu dürfen! 

Damit trennten wir uns. Ich hatte das in 
Anna Andrajewna nicht geſucht, ſie hatte mir zum 
erſten Male eine große und wahre Theilnahme abge⸗ 
wonnen. Im Herbſte, als Joſef mit ſeiner Frau 
nach Rußland ging, um die Bewirthſchaftung der 
Güter zu übernehmen: die ich im Süden für ihn ge⸗ 
kauft hatte, traf ich mit den jungen Leuten und mit 
der Gräfin in Moskau zuſammen, und im verwichenen 
Frühjahre haben Anna Andrajewna und ich gemein⸗ 
ſam den ſchönen Knaben aus der Taufe gehoben, den 
Darja ihrem Manne geboren hat. Der Name Kru⸗ 
pinin hat alſo alle Ausſicht, von einem ſtattlichen 
Geſchlechte weiter fortgeführt zu werden, und es be⸗ 
reitet ſich für uns ein freundliches Familienleben in 
der Kinder Haufe vor — aber wir find des Land⸗ 
lebens beide nicht gewohnt, wir wollten das junge 
Paar auch ſich ſelber überlaſſen, und nach einem län⸗ 
geren Verweilen in dem Schloſſe ſchickten die Gräfin 
und ich uns zum Fortgehen an. | 

Darja und Joſef zeigten ſich darüber ſehr be⸗ 
trübt. Der Gedanke, Dich, mein Vater, und die Tante 


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fo einſam in der weiten Welt zu wiſſen, ſagte die 
junge Frau, läßt mir keine Ruhe. Du haſt die Tante 
oftmals eine verläßliche Freundin genannt; ihr Sinn 
iſt auch gewandelt in den letzten Jahren, ſie iſt ernſt⸗ 
hafter geworden, und ſie ſchätzt Dich mehr als irgend 
einen Anderen. Darja ſchmiegte ſich mit ſchmeicheln⸗ 
der Verſchämtheit an mich an. — Wenn Du dich 
mit der Tante verbinden wollteſt, lieber Vater, ſagte 
ſie, ſo brauchten wir uns kein Gewiſſen daraus zu 
machen, daß wir jungen Leute es beſſer haben, als 
Ihr Beide. Du haſt für Joſef um mich gefreit, laß 
mich Deinen Freiwerber bei der Tante machen! 

Darja hat Recht, bekräftigte mein Sohn, der ſich 
höchſt erfahren und weiſe vorkommt, ſeit er von ſei⸗ 
nem Sohne ſprechen kann, und der von Darja's Ein⸗ 
ſicht die allerhöchſte Meinung hat, weil ſie immer ſeiner 
Anſicht iſt — Darja hat Recht. Du ſelber pflegteſt es ja 
ſtets zu ſagen, lieber Vater, das Verſtändige zu thun 
ſei es nie zu ſpät; und wenn die Tante liebt, kann 
ſie unwiderſtehlich ſein. 

Sprichſt Du das aus Erfahrung? fragte ich — 
und wir blieben einander, wie es ſich von ſelbſt ver⸗ 
ſteht, die Antwort ſchuldig; denn die Phantaſie der 


296 


Gräfin für den jungen Mann war eine ihrer müßigen 
Launen geweſen und nichts mehr. — 

Damit endete unſer Freund die Mittheilungen, 
die ich ihm nacherzählte. 

Wenige Monate ſpäter erhielt ich einen Brief 
von ihm. In ſchönen franzöſiſchen Lettern ſtanden 
mitten auf dem Blatte die Worte: „Anna Andra⸗ 
jewna Krupinin, geb. Fürſtin Agarew und Boris 
Michailowitſch Krupinin.“ 

Darunter aber hatte die Gräfin mit feiner Hand 
geſchrieben: Die alten Pflegeeltern als junge Ehe⸗ 
leute, oder ſpätes Finden, treues Halten! Klingt das 
nicht wie der Titel eines Schauſpiels, wie die Ueber⸗ 
ſchrift einer Novelle? Ich bitte Sie, liebe Freundin, 
machen Sie eine Novelle aus all unſerer Thorheit und 
Vernunft, aus unſerem eingebildeten Leid und aus un⸗ 
ſerem wahren Glück. Das ſoll meine Hochzeitsgabe 
von Ihnen ſein, denn man genießt ſein Leben und 
deſſen Freuden noch um viel bewußter, wenn ſie uns 
in der Verklärung der Dichtung gegenüber ſtehen.“ — 

Sollte ich der Bitte nicht willfahren, den Freunden 
nicht den Willen thun? — Und ſo gehe dieſes Spiegelbild 
ihrer Vergangenheit denn zu ihnen und auch in die Welt. 

Ende. 


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