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V
DIE
WELTANSCHAUUNG RICHARD WAGNERS
VON
RUDOLF LOUIS
LEIPZIG
DEUCK UND YBRLAG VON BREITKOPF & HÄRTBL
1898.
Music
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SEINEM LIEBEN FREUNDE
LUDWIG JAHN.
Vorwort.
Zur erschöpfenden Behandlung meines Themas hätte es
zweifellos mehr als eines dicken Bandes bedurft. Wollte ich
innerhalb des engen Rahmens, in dem diese kleine Schrift von
Anfang an geplant war, die Fülle des Stoffes einigermaßen be-
wältigen, so konnte ich einen zweifachen Weg einschlagen.
Entweder mußte meine Arbeit den Charakter eines Kompen-
diums annehmen, das nicht sowohl entwickelt und ausführt, als
nur andeutet und aufzählt, — oder ich mußte mich unter Hin-
weglassung allen Details darauf beschränken, die Haupt-
punkte der Wagnerschen Weltanschauung und ihrer Genesis,
die dann aber auch mit aller wünschenswerten Ausführlichkeit,
zu behandeln. Ich habe keinen Augenblick gezögert, den letzte-
ren Weg zu wählen, schon deshalb, weil mein Buch sich nicht
ausschließlich an das engere wissenschaftliche Publikum, sondern
vor allem auch an die breite Masse der Gebildeten wendet.
Diese Alternative und die von mir getroffene Entscheidung
möge man im Auge behalten, wenn man ein Eingehen auf alle
die Einzelanwendungen, welche die Weltanschauung Richard
Wagners auf die verschiedensten Gebiete des Lebens und der
Kunst in den Schriften ihres Urhebers findet, etwa allzusehr
vermissen sollte, — wie ich mich denn andererseits auch nicht
vor Wiederholungen gescheut habe, so oft ich solche für die
stete Aufrechterhaltung eines ununterbrochenen Zusammen-
hanges der Darstellung mit jenen Haupt- und Grundgedanken,
VI Vorwort.
auf deren Entwickelung es mir vor allem ankam, für nötig er-
achtete.
Soweit Detailausfiihrungen nicht zu umgehen waren, habe
ich mich bemüht, diejenigen Einzelpunkte der Wagnerschen
Weltanschauung in dieser Beziehung zu bevorzugen, die mir
in der bisherigen Wagnerlitteratur etwas vernachlässigt worden
zu sein schienen.
Daß meine Ausführung in manchen Stücken nicht uner-
heblich hinter meiner Absicht zurückgeblieben ist, dessen bin
ich mir selbst sehr wohl bewußt. Möge der einsichtige Beur-
teiler mit in Erwägung ziehen, wie große Schwierigkeiten eine
zugleich knappe und allgemein verständliche Behandlung meines
Themas zu überwinden hatte, wenn sie nicht an den Klippen
der Einseitigkeit und Oberflächlichkeit scheitern wollte!
Das redliche Bestreben, gerade diese letzteren Gefahren thun-
lichst zu vermeiden, wird man nicht leicht verkennen können,
wie man auch sonst über den Wert meiner Arbeit denken möge.
München, im Juli 1898.
B« L*
Inhalt
Seite
'L Richard Wagner als Künstler und Denker. Kunst und Philosophie 1
*II. Die Weltanschauung Richard Wagners als sich entwickelnde Ein-
heit. Die historische Stellung: Beethoven und Schiller. Greistige
Eindrücke und Bildungseinflüsse der Jugendzeit 12
lU. Richard Wagners künstlerischer und menschlicher Charakter. Die
Entwickelung vom ünbewußtsein zum Bewußtsein . 39
IV. Das Reinmenschliche als oberster Idealbegrifif. Richard Wagner
und Ludwig Feuerbach 64
V. Die Kimstwerke vom Fliegenden Holländer bis zum Lohengrin.
Der Ring des Nibelungen. Richard Wagner und Arthur Schopen-
hauer. Tristan und Isolde 101
VI. Vom absoluten zum bedingten Pessimismus. Deutschtum und
Christentum. Der Regenerationsgedanke. Die Meistersinger von
Nürnberg und Parsifal 149
Die Citate aus Wagners Schriften beziehen sich ausnahmslos auf die
2. Auflage der Q-esammelten Schriften und Dichtungen, Leipzig 1888.
I.
Biobard Wagner als Künstler and Denker.
Kunst und Philosophie.
Ein tiefes, dem menschlichen Geiste eigentümliches und an-
geborenes Bedürfnis treibt ihn dazu an, sobald er einmal aus dem
primitiven Zustande halbtierischen und unbewußten Dahinvege-
tierens herausgetreten ist, sich in irgend einer Weise Rechen-
schaft zu geben über sich und seine Stellung in und zu dem
Weltganzen, sich ein Büd auszumalen, welches die ihm von der
täglichen Erfahrung gelieferten Einzelzüge zu einem mehr oder
minder einheitlichen Granzen zusammenfaßt, — und es giebt wohl
kaum ein menschliches Individuum, das so stumpf wäre, daß es
nicht wenigstens die Rudimente einer Weltanschauung in
diesem Sinne besäße.
Verstehen wir so unter der Weltanschauung eines Indivi-
duums ganz allgemein die Sunmae der von ihm ausgehenden
Urteile über Wesen und Wert der Welt, so können wir, un-
beschadet der durch keinerlei Klassifizierung zu bewältigenden
unendlichen Fülle von inhaltlichen Verschiedenheiten, infolge
deren, genau genommen, ein jeder Mensch seine eigene, aparte
und im tiefsten Grrunde auch nur ihm allein vollkommen ver-
ständliche Weltanschauung besitzt, in Bezug auf die Form und
äußere Einkleidung, in welcher uns eine Weltanschauung gegen-
über tritt, drei specifisch verschiedene Arten unterscheiden:
wir sprechen von religiöser, künstlerischer und philo-
sophischer Weltanschauung und wollen damit den Unterschied
Louis, Weltanschauung R. Wagners. 1
2 R. Wagner als Künstler und Denker.
in der Darstellungsform bezeichnen, gemäß dem der Schöpfer
einer Weltanschauung ihren Inhalt entweder in Mythen und
Dogmen, in ästhetischen Bildern oder in abstrakten
Begriffen niedergelegt hat.
Daraus, daß die religiöse und künstlerische Form der Mit-
teilung einer Weltanschauung uns schon in frühen Zeiten der
menschlichen Geistesentwickelung gegenübertritt, während der
Philosoph erst viel später und nur in Zeiten hochentwickelter
Verstandeskultur erscheint, hat man wohl geschlossen, daß Re-
ligion und Kunst, insofern sie sich, gleich der Philosophie, in
den Dienst des »metaphysischen Bedürfnisses« des Menschen
stellen und der Vermittelung einer Weltanschauung dienen,
lediglich als Vorstufen zu der vollendetsten und einzig einem
metaphysischen Inhalte vollständig adäquaten Form der philo-
sophischen Spekulation zu betrachten seien, welch letztere
dann auch natürlicher Weise dazu berufen erscheine, jene pri-
mitiven und s. z. s. atavistischen Formen der Darstellung einer
Weltanschauung schließlich ganz zu verdrängen und zu ersetzen.
Die vielumstrittene Frage, wie sich in dieser Beziehung die Re-
ligion zur Philosophie verhalte, kann uns hier nicht näher
beschäftigen. Es genügt darauf hinzuweisen, daß ein Konflikt
zwischen den Vorstellungen des religiösen Bewußtseins und den
Resultaten des wissenschaftlichen Denkens dann allemal eintreten
muß, wenn das verstandesmäßige Erkennen des Menschen so-
weit fortgeschritten ist, daß es sich außer stände fühlt, ge-
wissen religiösen Lehren und Dogmen mehr als bloß allego-
rische Wahrheit zuzugestehen, während die Vertreter der
religiösen Orthodoxie, und von ihrem Standpunkte aus mit Recht,
daran festhalten, die Lehren der Religion im eigentlichen, d. h.
supranaturalistischen Sinne aufzufassen. Der so entstehende
Kampf zwischen dem überlieferten religiösen Dogma und der
wissenschaftlich geschulten menschlichen Vernunft führt, wie die
Geschichte lehrt, immer zu einer Zersetzung der traditionellen
Religion und verurteilt diese schließlich zu einem bloßen Schein-
dasein, in dem sie solange fortvegetiert, bis sie durch eine neue
Offenbarung des religiösen Bewußtseins abgelöst wird.
Ganz anderer Natur ist dagegen das Verhältnis der Kunst
zur Philosophie, und einzig ein vollständiges Verkennen dieses
Religiöse, künstlerische und philosophische Weltanschauung. 3
Verhältnisses konnte zu dem Glauben verführen, die Kunst, als
eine primitive und einzig dem Jugendalter der Menschheit an-
gemessene Geistesmanifestation, müsse durch die Fortschritte
des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens schließlich
antiquiert und überflüssig gemacht werden.
Daß dies unmöglich ist, davon überzeugt schon eine ober-
flächliche Betrachtung der charakteristischen Eigentümlichkeiten,
welche die künstlerische Form der Mitteilung einer Weltan-
schauung von der philosophischen und wissenschaftlichen unter-
scheidet. Beide, der Philosoph wie der Künstler, gehen aus
von dem, was man im weitesten Sinne des Wortes Anschau-
ung nennt, von einem sinnlichen Eindrucke, einem konkreten
Erlebnisse, in dem ihnen mit der unvermittelten Plötzlichkeit
einer Offenbarung ein Licht aufgeht über eine bisher dunkel
gebliebene Seite der Welt. Aber während für den Philosophen
die Anschauung nur der Ausgangspunkt ist, den sein Denken
sogleich wieder verläßt, um in eine ganz andere Sphäre, näm-
lich die der Abstraktion, überzugehen, d.h. um seine kon-
kreten Anschauungen in allgemeine Begriffe umzusetzen, aus
der Fülle der besonderen Einzelfälle Gesetz und Regel, aus
dem Individuellen das Typische und Generelle zu abstrahieren
und s. z. s. die Arithmetik der Erfahrung zu einer Algebra des
Denkens zu sublimieren, — besteht die Eigentümlichkeit des
künstlerischen Verfahrens darin, daß der Künstler bei der An-
schauung stehen bleibt und das, was ihm sein genialer Blick in
die Welt geoffenbart hat, nicht wie der Philosoph zum Zwecke
der Mitteilung in die Sprache der Vernunft und des abstrakten
Denkens übersetzt, sondern im Kunstwerke anschaulich ge-
staltet, d. h. die Welt, wie er sie geschaut hat, in einem konkre-
ten und sinnlichen Abbilde zur Darstellung bringt. Darauf nun,
daß der Künstler in der Sphäre der Anschauung verharrt und
überhaupt nicht aus ihr heraustritt, beruht die eigentümliche Be-
deutung seines Werkes, das, was ihn vom Philosophen unterschei-
det und zugleich verbürgt, daß sein Schaffen niemals durch die
Arbeit des wissenschaftlichen Denkens antiquiert und ersetzt
werden kann.
Denn der Weg von der Anschauung zum abstrakten Be-
griff ist ein weiter und mannigfach vermittelter; ja es kann
1*
4 B. Wagner als Künstler und Denker.
zweifelhaft erscheinen, ob es überhaupt möglich sei, den In-
halt einer konkreten Anschauung vollkonunen restlos und
ungetrübt in die ihrer innersten Natur durchaus inadäquate
Sprache der Vernunft zu übersetzen. Und wenn wir das
auch dahin gestellt sein lassen wollen, so muß doch auf
alle Fälle die Anschauung an Frische, Unmittelbarkeit und
Lebendigkeit verlieren, ihre organische Einheit muß in die Dia-
lektik des >dis-kursiven« Denkens »auseinander gehen«,
um überhaupt in Begriffen wiedergegeben werden zu können.
— Da erscheint denn das Kunstwerk als der berufene Ver-
mittler zwischen der konkreten Sinnlichkeit des lebendigen,
realen Seins und der rein gedanklichen Abgezogenheit der ab-
strakten Begriffswelt. Nicht mehr ganz »objektive« Natur, son-
dern bereits durch das Prisma einer Subjektivität hindurch-
gegangen und durch dieses zum Spektrum einer individuellen
Anschauung auseinander gezogen, sind die Gestalten des Künst-
lers doch noch soweit Naturprodukt, daß sie sich zunächst und
direkt an das primäre Geistesvermögen des Menschen, die An-
schauung, wenden, geradeso wie die Naturerscheinungen selbst,
daß sie die konkrete Fülle und lebendige Sinnenfälligkeit des
realen Seins beibehalten, indem das Allgemeine in ihnen nicht
als toter, abgezogener Begriff, sondern als konkrete, ihre
Existenz nur im individuellen Einzelnen habende Idee erscheint,
der Künstler, um in der Sprache der Scholastiker zu reden,
die ^umversalta in re« giebt, nicht wie der Philosoph, T^post renK.
Durch diese größere Unmittelbarkeit der Sprache des Künstlers,
seine »Ungebrochenheit« und Naivetät, ist es ihm mögKch, das
mit einem Schlage und als direkt einleuchtendes Erlebnis uns
mitzuteilen, wozu der philosophische Denker eines mannigfach
vermittelten, eigentlich nur auf Umwegen sein Ziel erreichenden
gedanklichen Prozesses bedarf.
Darum wird auch gerade der echte Philosoph im Künstler
seinen natürlichen Bundesgenossen erblicken, dessen Werk sei-
nem Denken nicht nur als Quelle dient — nämlich als »Natur
aus zweiter Hand«, als y>nature vue ä travers un temperamenU^
wie Zola sagt — , sondern auch als Ergänzung, die aUemal
da einzutreten hat, wo seine eigene Sprache, die der abstrakten
Vernunft, nicht mehr ausreicht, den tiefsten Gehalt seiner
R. Wagners Kunstwerke und Prosaschriften. 5
ursprünglichen Anschauung zu völlig überzeugendem und zwin-
gendem Ausdruck zu bringen. Weit entfernt also, daß der
Künstler, als eine nur der Kindheit des Menschengeschlechtes
angehörende Erscheinung, schließlich einmal dem Philosophen
das Feld zu räumen und sich von diesem zu mediatisieren lassen
hätte, herrschen beide mit unbeschränkter Souverainetät in zwei
verschiedenen, aber benachbarten und einen lebhaften Grenz-
verkehr miteinander treibenden Reichen. Sie rivaUsieren nicht,
sondern ergänzen einander, und eben deshalb, weil der Künstler
das hat, was dem Philosophen fehlt, und dieser wieder im Be-
sitze dessen ist, was jenem unerreichbar bleiben muß, kann
keiner ohne den anderen leben, sind beide aufeinander ange-
wiesen; und wie die Philosophie auf den Höhepunkten ihrer
geschichtlichen Entwickelung die Kunst auf das nachhaltigste
und fruchtbarste beeinflußt hat, so ist auch andererseits das
Studium der Weltanschauung eiues genialen Künstlers nicht
nur für die tiefere Ergründung der Natur des künstlerischen
Individuums selbst, sondern auch für das philosophische Er-
kennen im allgemeinen von der allergrößten Bedeutung.
Treten wir nun an die Aufgabe, die Weltanschauung Bichard
Wagners zu entwickeln, selbst heran, so finden wir als Quellen
unserer Darstellung zwei verschiedene Arten von Kundgebun-
gen, in denen der Meister seine Ansicht vom Wesen der Welt
niedergelegt hat: seine Kunstwerke und seine (prosaischen)
Schriften — und es ist zunächst notwendig, Wert und Be-
deutung beider für unser Unternehmen zu charakterisieren und
gegeneinander abzuschätzen. Da soll denn zu allererst aus-
drückhch konstatiert werden, wie wir keinen Augenblick ver-
gessen wollen, daß Richard Wagner in erster Linie Künstler
gewesen ist, erst in zweiter Denker und philosophischer Schrift-
steller, und zwar so sehr, daß wir auch bei Beurteilung seiner
Prosaschriften, wenn wir sie im richtigen Lichte erblicken wollen,
niemals aus dem Auge verlieren dürfen, daß sie ein Künstler
geschrieben hat, dem als solchem das unbestreitbare Becht zusteht
zu verlangen, daß man an seine philosophischen Arbeiten, was
streng wissenschaftliche Systematik, fachmännische Vorbildung,
6 R. Wagner als Künstler und Denker.
überhaupt die äußere Form und Einkleidung der Gedanken an-
belangt, nicht denselben strengen Maßstab anlege, wie an die
Werke des zünftigen Philosophen. Für diesen Mangel ent-
schädigen die Wagnerschen Schriften voUauf durch ihren hohen
substantiellen Gehalt, die sprühende Lebendigkeit und Unmittel-
barkeit ihres Vortrags und vor allem dadurch, daß der Gegen-
stand, der ihren Hauptinhalt ausmacht und im Lichte dessen
ihr Urheber die ganze Welt erbKckt, die Kunst, ihm nichts
Fremdes, von außen Aufgenommenes, sondern ein durchaus und
innigst Vertrautes, mit seinem eigenen Wesen und Wollen ge-
radezu Identisches ist. Es gehört daher die ganze selbstgefällige
Uberhebung des philiströsen Zunftgelehrten dazu, um den Wert
solcher, streng genommen allerdings nur halbphilosophischen,
Offenbarungen des Genies gänzlich zu verkennen und bei ihrer
Beurteilung, wie dies gerade Wagnern gegenüber öfter geschehen
ist, einzig an ihrer formalen Außenseite hängen zu bleiben.*
Damit, daß wir in Wagner vor allem und in erster Linie
den Künstler sehen, hinter den der von jenem zudem in jeder
Beziehung abhängige Denker durchaus zurücktritt, haben vrir
nun für unseren Zweck einer Darstellung der Weltanschauung
des Meisters seine Schriften zwar als die erste und nächst-
liegende Quelle erkannt, um zu erfahren, wie Wagner über die
Welt dachte, zugleich aber auch zugestanden, daß diese
Schriften nur im Zusammenhang mit den das eigentliche Lebens-
werk des Meisters bildenden Kunstwerken, in welchen sich
uns offenbart, wie Wagner die Welt anschaute, wahrhaft
verstanden und gewürdigt werden können. Die Kunstwerke und
ihr poetischer Gehalt werden uns immer als die oberste Listanz
zu gelten haben für jegKche Beurteilung des inneren Kerns der
Wagnerschen Weltanschauung, und gerade auch seine Schriften
werden wir erst dann für unsere Absicht recht nutzen können,
wenn vrir sie zusammen mit den Kunstwerken als deren Ergän-
zung, das gesamte Schaffen und Wirken des Meisters als eine
organische Einheit betrachten.
Denn nicht so ist die vielseitige Begabung eines Wagner
* Vergl. meinen Aufsatz »Eichard Wagner als Musikästhetiker« in
»Die redenden Künste«. 1896/97, Heft 43 ff., namentHch S. 1059 ff.
Das Wagnersche Lebenswerk. 7
zu verstehen, als ob da wunderbarerweise zwei grundverschiedene
Seelen, eine künstlerische und eine philosophische, in einen
Körper gefahren wären und da nun, so gut es ging, nebenein-
ander gehaust hätten, — vielmehr ist das Grundstreben, welches
das innerste Wesen des Wagnerschen WoUens ausmacht, ein
einziges und durchaus einheitliches: es ist gerichtet auf die Ver-
wirkKchung eines dramatischen Kunstwerkes, wie es sich
ihm gemäß seiner Begabung als Worttondichter als natur-
gemäßer Ab- und Zusammenschluß der bis auf ihn getrennten
Entwickelung des gesprochenen Dramas und der Oper
geoffenbart hatte.
Nichts ist daher verkehrter und unsinniger als jenes oft
gehörte Gerede, Wagner hätte besser gethan, bei seinem Leisten
zu bleiben, als sich um Dinge zu kümmern, wie PoKtik, Religion
u. s. w., die ihn als Musiker doch eigentlich gar nichts angingen.
Denn abgesehen davon, daß nicht einzusehen ist, warum einem
denkenden Menschen verwehrt sein sollte, jenen höchsten Fragen
des äußeren und inneren Menschenlebens, die dazu noch für
jedermann das allerhöchste persönliche Interesse haben, seine
Aufmerksamkeit und Thätigkeit zuzuwenden, selbst wenn er nur
Künstler ist, - Wagner hat auch jenen gutgemeinten Rat in
Wirklichkeit so sehr befolgt, daß er Zeit seines Lebens eigent-
lich über gar nichts anderes geschrieben hat, als über das von
ihm angestrebte Kunstwerk. Das klingt paradox, wenn man die
mannigfaltigen Gegenstände, welche in den Wagnerschen Prosa-
schriften behandelt werden, sich vergegenwärtigt, ist aber nichts-
destoweniger buchstäblich richtig. Denn so sehr erblickt er die
ganze Welt nur im Lichte und in Beziehung auf die ihm ge-
wordene individuelle Lebensaufgabe, daß man ihn mit einem
Wanderer vergleichen könnte, der unentwegt die eine Straße,
welche er einmal eingeschlagen, einhält, ohne jemals von ihr
abzuweichen. Aber auch nichts, was ihm auf dieser Straße
begegnet, entgeht ihm; wehrt ihm ein den Weg versperrendes
Hindernis die weitere Verfolgung seiner Bahn, so macht er sich
zunächst daran, dieses aus dem Weg zu räumen, kommt er an
einen höher gelegenen Punkt, der einen freien Ausblick gewährt,
so genießt er diesen in vollen Zügen, und manchmal besteigt er
einen steilen Gipfel, um sich aus dem Erschauen des fernen
g R. Wagner als Künstler und Denker.
Zieles Mut und Kraft zu holen für unennüdetes Weiterwandem ;
wüste Strecken sind es, die er oft zu durchschreiten hat, spär-
lich die Oasen. Sollte es am Ende nur das Luftschloß der Fata
morgana sein, das er als lockendes Ziel am fernen Horizonte zu
erbKcken wähnt ? Einerlei, auf alle Fälle wird es von höchstem
Interesse sein, unseren Wanderer auf seinem Wege zu be-
gleiten.
EigentKch gesprochen: Wagner erstrebt die Yerwirklichung
seines Kunstideals, er erkennt die Unmöglichkeit seiner vollen
Verlebendigung und ReaKsierung unter den modernen Kunst-
verhältnissen, wie sie ihm als ein notwendiger Ausfluß unseres
ganzen socialen und öffentlichen Daseins, unserer Oivilisation
und Kultur erscheinen: daher seine Kritik dieser Zustände.
Aber auch abgesehen von diesen äußeren Hindernissen gelangt
er in Verfolgung seines Weges an einen Punkt, wo sich ibni
die unabweisliche Nötigung aufdrängt, über sein eigenes Wollen
zu vollständig klarem Bewußtsein zu gelangen und das, was er
bis dahin instinktiv und unbewußt angestrebt hatte, mit der
Fackel des begrifflichen Erkennens zu beleuchten : so entstehen
anscheinend rein theoretische Werke, wie »Oper und Drama«.
Er findet Genossen auf seinem Wege, solche, die vor ihm
dieselbe Straße gezogen, und solche, die mit ihm gleichzeitig
nach demselben Ziele streben; es drängt ihn, sich mit ihnen
auseinanderzusetzen, über ihr Wesen und Wollen im Verhältnis
zu seinem eigenen sich klar zu werden: so macht er einen Beet-
hoven, einen Liszt zum Gegenstand seiner kunstphilosophischen
Untersuchungen u. s. w. Aber immer und überall werden wir
in den Prosaschriften des Meisters diese enge und genaue Be-
ziehung zu seinem künstlerischen WoUen und Streben, seiner
eigentlichen Lebensaufgabe finden; nur wenn wir dies nie ver-
gessen, werden wir im stände sein, Wagner als Denker richtig
zu verstehen und zu würdigen; dies außer Acht gelassen, muß
diese Seite seiner Thätigkeit notwendigerweise in falschem Lichte
erscheinen und ungerecht beurteilt werden. Hüten wir uns also
vor allem vor der irrtümlichen Meinung, Wagner habe irgendwie
außerkünstlerische Zwecke verfolgt, etwa ein philosophisches
System begründen oder eine rehgiöse Sekte stiften wollen. Wagner
war Künstler, und zwar im tiefsten Grunde seines Wesens nur
Die individuelle Beschränktheit einer jeden Weltanschauung. 9
Künstler. Wenn er sich nicht damit begnügen konnte, bloß
Kunstwerke zu schreiben und diese aufzuführen, so lag das
eigentlich immer nur daran, daß es ihm zeitweise, in gewissem
Sinne sogar sein Leben lang verwehrt war, dies so zu thun, wie
er es einzig wollen konnte, nämlich so, daß diese Werke für
sich allein ohne die Möglichkeit eines Mißverständnisses oder
einer Mißdeutung dem Publikum seine Meinung und Absicht
vollkommen verständlich übermittelt hätten. —
Eine jede Weltanschauung ist individuell gefärbt, subjektiv
und somit einseitig, schon deshalb, weil wir die Dinge nur so
und soweit kennen, wie sie uns erscheinen, als unsere Vorstel-
lung, und weil als subjektive Paktoren, welche diese bedingen,
neben der uns allen gemeinsamen Organisation des Erkenntnis-
vermögens nicht minder die individuellen Differenzen, Charakter,
Temperament, Stimmung u. s. w. in Frage kommen. In ganz
besonders hohem Grade gilt dies von der künstlerischen Welt-
anschauung; denn alle jene individuellen Einflüsse, welche der
philosophische Denker bis zu einem gewissen Grade als > Fehler-
quellen« betrachten und eliminieren kann, sie machen sich beim
Künstler ohne allen Gegeneinfluß geltend; was für den Philo-
sophen ein oft lebhaft gefühlter Mangel ist, den er mögUchst
unschädlich zu machen sucht, die individuelle und subjektive
Bedingtheit und Einseitigkeit seiner Weltanschauung, für ihn
»ein Erdenrest zu tragen peinlich«, gerade das betrachtet der
Künstler als einen ihm eigentümlichen Vorzug. Und mit Recht.
Denn diese Einseitigkeit, mit welcher der Künstler alles s. z. s.
vom »egocentrischen« Standpunkt aus betrachtet, sie allein
verleiht ihm jene ruhige Festigkeit und eindringende Tiefe des
BKcks, die ihn Abgründe erhellen lässt, die dem wissenschaft-
Uchen Denken ewig im Dunkel bleiben oder im irrlichterlierenden
Hin- und Herflackem des dialektisch sich widersprechenden
Für und Wider das augenblendende und alles bestimmte Er-
kennen eines festen Gegenstandes unmöglich machende Anti-
nomienspiel eines unentschiedenen Skepticismus zeigen. Man
könnte die künstlerische Individualität in dieser Beziehung ver-
gleichen mit einem scharf geschHffenen, aber gefärbten Augen-
glase. FreiKch zeigt es uns alle Gegenstände in einer einzigen,
einfarbigen Beleuchtung, aber es entschädigt dafür durch die
10 R. Wagner als Künstler und Denker.
geradezu magische Erhöhung der Sehkraft^ die es unserem Ge-
sicht verleiht. Je genialer der Künstler ist, desto mehr tritt
dieser Nachteil hinter dem Vorzug zurück, desto weniger ist
jene individuelle Beleuchtung eine inhaltliche Fälschung oder
Trübung des Wesens der Dinge, desto ausschließlicher erstreckt
sie sich allein auf die formale Gestaltung und Art der Mittei-
lung; denn, wie schon Schopenhauer sagt, »Genialität ist Ob-
jektivität«, — aber nicht jene oberflächliche, welche aus dem
sich widersprechenden Für und Wider das arithmetische Mittel
einer lendenlahmen Kompromißmeinung zieht, welche ihre In-
dividuahtät zurücktreten und schweigen läßt, soweit sie über-
haupt eine solche hat, nicht jene Objektivität der *aurea medio-
critas<y sondern eine ganz anders geartete, welche dadurch
entsteht, daß sich das künstlerische Subjekt zur Weltseele erweitert,
daß das Individuum alles Seiende in sich aufnimmt und aus seiner
selbsteigenen schöpferischen Urkraft heraus neu gebiert, —
die Objektivität der im Gegensatz zur diskursiven Vernunft u7io
obtutu das Wesen der Dinge erfassenden genialen Intuition.
Diese höchste Art genialer Objektivität, welche identisch
ist mit der Subjektivität eines das All umfassenden, wahrhaft
universal veranlagten Individuums, besaß kein Künstler mehr
als Wagner, und er besaß sie in so hohem Maße gerade wegen
seiner »Einseitigkeit«, die ihn, unbekümmert um einen mög-
lichst vorurteilsfreien und allgemein zugängKchen Standpunkt,
die ganze Welt s. z. s. suh specie suae ipsius individualitatis
erblicken ließ, die ihn befähigte, den Dingen auf den Grund
zu sehen, weil er ihre Seele in sich aufgenommen, sich in ihnen
wiedererkannt und sie in seinem und durch seinen eigenen
Geist zu neuem bewußtem Leben erweckt hatte. Wie viel diese
gute Einseitigkeit des genialen Individuums mehr wert ist und
tiefer dringt als die an ihrem Orte und innerhalb der ihr ge-
zogenen Schranken ja keineswegs zu verachtende individualitäts-
entleerte wissenschaftKche Objektivität, das können wir von
niemand besser lernen, als von dem großen Bayreuther Meister.
Und daß wir diese Lehre nötig haben, dürfte so lange unbe-
streitbar sein, als wir noch inmier nicht ganz aufgehört haben,
eine Charakter- und physiognomielose Allerweltsobjektivität, die
zudem oft nichts weiter ist als ein billiger Deckmantel für mark-
Wert subjektiver Einseitigkeit. H
lose Gesinnungslosigkeit und feige Opportunitätspolitik, schon
an und für sich für etwas Höheres zu halten als das Recht
einer autonomen und selbsterworbenen eigenen Meinung, solange
noch die Charakteristik, welche Bogumil Goltz einmal vom
modernen Menschen entwirft und welche ich mir nicht versagen
kann hier in extenso anzuführen, mehr oder minder zutrifft.
>Der moderne Fluch und Unsinn, « meint der geniale, heutzu-
tage leider Gottes viel zu wenig mehr gelesene Seelenkündiger,
»ist die überall angestrebte Universalität, Objektivität und Welt-
bürgerlichkeit. Die gebildeten Leute möchten heute rechts und
links, oben und unten, sie möchten witzig und weise, pfiffig und
einfältig, und Alles in Allem und in einem Atem sein,
und darum sind sie eben charakterlose Gaukler und Narren,
darum sind sie nichts. Die Bestimmung des Volks ist aber
Stärke, Tiefe und Festigkeit in der Einseitigkeit und Sub-
jektivität. Einer großen, wahren Idee, einem Gefühl soll
der Mensch mit aller Kraft der Seele und des Geistes hinge-
geben sein, das macht ihn charakterfest, freudig und frei. Wer
aber keinen festen Anknüpfungspunkt im Innern hat, der buhlt
mit allen Erscheinungen und geht mit keiner eine Ehe ein, —
der ist ein Rohr im Winde. Es gilt aber, das Leben in einem
und demselben Gesichtswinkel festzuhalten, es gilt einen festen
Standpunkt in diesem Wechsel und Wandel der Erscheinungen,
es gilt Tiefe und Einseitigkeit; denn wer Eines versteht und
lebt, der versteht und lebt Alles, da die Welt dieselbe ist
überall.« (Das Menschendasein in seinen weltewigen Zeichen
und Zügen. I. S. 299 f.)
12 Die Weltanschauung B.. Wagners als sich' entwickelnde Einheit.
IL
Die Weltansobauung Biobard Wagners als sich estwiokelnde
Einheit. Die historisohe Stellung: Beethoven und Schiller.
Geistige Eindrücke und Bildungseinflüsse der Jugendzeit.
Die Darstellung der Weltanschauung eines genialen Indi-
viduums hat sich vor zwei Klippen zu hüten, wenn sie nicht
einseitig werden und damit ihren Zweck verfehlen soll. Ist
nämlich die geistige Individualität des Genies eine reiche und
mächtige, erstreckt sich sein Lehen und Schaffen über eine
lange Reihe von Jahren, innerhalb welcher die verschiedensten
intellektuellen Strömungen und Eindrücke auf ihn einwirken, so
ist es unausbleiblich, daß seine Schöpfungen und Mitteilungen,
die Quellen der Darstellung seiner Weltanschauung, ein gar
wechselndes AntUtz zeigen, ja daß sich zu verschiedenen Zeiten
ausgesprochene Ansichten nicht nur zu widersprechen scheinen,
sondern thatsächlich für das logische Denken unvereinbar sind.
Kann man dies schon bei jedem genialen Philosophen beobachten,
so braucht man sich nicht sehr zu wundem, daß solche Wider-
Sprüche in den Äußerungen eines genialen Künstlers, der sich
als solcher zunächst und mit dem Gros seiner Schöpfungen,
als welches Kunstwerke sind, gar nicht an die Vernunft, son-
dern an Gefühl, Phantasie und Anschauung wendet, uns noch
viel häufiger begegnen. Da liegt denn die Gefahr nahe, daß
der Darsteller, an der Außenseite hängen bleibend, über der
Beobachtung und Konstatierung formaler Widersprüche, die im
Grunde trotzdem vorhandene materiale Einheit aus dem Auge
verliere. Statt Satz und Gegensatz gleichsam als Revers und
Avers derselben Medaille zu betrachten, die sich einander er-
gänzen, und nebeneinander gehalten, ja als zusammengehörige
Einheit erfaßt werden müssen, wenn ein nur als untrennbares
Ganzes zu verstehendes Bild uns nicht in seine einzelnen Teile
zerfallen soll, wird er da einen Wechsel der Anschauung, eine
Sinnesänderung annehmen, wo in Wirklichkeit nur eine neue,
Schwierigkeiten der Darstellung. 13
bis dahin latent gebliebene Seite derselben Ansicht ans Tages-
licht des Bewußtseins tritt, dieselbe Überzeugung, nur in anderer
Beleuchtung, sich uns darbietet. Ein solcher Darsteller, der
nicht bis zu dem Kernpunkt der Individualität vorzudringen
vermag, wo alle ihre verschiedenen Äußerungen und Bethäti-
gungen ihren Einheitspunkt haben und wie die Badien im Cen-
trum des Kreises sich schneiden, der sich darauf beschränkt, —
um im Bilde zu bleiben — s. z. s. bloß die Abstände der
Endigungspunkte der verschiedenen Radien auf der Peripherie
des Kreises zu messen, der wird immer auch Einwirkung und
Einfluß fremder Lehren und Meinungen auf die von ihtTn
dargestellte Weltanschauung mehr oder minder überschätzen,
und damit gerade das, was das Wichtigste und Wesentlichste
an ihr ist, nämlich das Eigentümliche und Originale, aus per-
sönlichem Schauen und Erleben Hervorgegangene, das Indivi-
duelle und Eigenständige zu kurz kommen lassen.
Bei der Darstellung der Weltanschauung eines Künstlers
liegt diese Gefahr doppelt nahe: denn soweit er dieselbe in
Kunstwerken niedergelegt hat, ist sie an den in den seltensten
Fällen vom Künstler frei erfundenen Stoff gebunden. Dieser
ist ihm gegeben, von außen aufgenommen; er ist für den geisti-
gen Inhalt, welchen uns der Künstler mitteilen will, einerseits
die Form, in welcher er erscheint, andererseits aber auch die
»Einkleidung«, welche ihn bis zu einem gewissen Grade verhüllt.
Je mehr wir also an der stofflichen Außenseite des Kunstwerkes
haften bleiben, desto mehr kleben wir an dem, was dem Künst-
ler eigentlich gar nicht selbst angehört, während wir erst, wenn
wir unser Augenmerk auf das richten, was der Künstler aus
dem Stoffe gemacht hat, auf die mit ihm vorgenommenen Ver-
änderungen, die Gestaltung und Formung im weitesten Sinne
des Wortes, hoffen dürfen, den eigenthchen dem Künstler an-
gehörigen Inhalt des Kunstwerkes zu erfassen. — Soweit der
Künstler aber als Denker -sich vernehmen läßt, wird er immer
— denn daß dasselbe Individuum gleichzeitig genialer Künstler
und primärer, ein selbständiges, eigenes System begründender
Philosoph ist, dürfte kaum vorkommen — gezwungen sein,
die begrifflichen Formen für die Mitteilung seiner Anschauung
einem fremden philosophischen Systeme zu entnehmen. Diese
14 Die Weltanschauung R. Wagners als sich entwickelnde Einheit.
Begriffe werden nun der eigentlichen Meinung des Künstlers
nicht immer vollständig entsprechen, und wenn wir jene selbst
richtig erfassen wollen, werden wir zwischen den Zeilen lesen,
uns in die Seele des Künstlers hineinversetzen, den Kern
von der Schale wohl unterscheiden müssen. Wie der > Stoff«
des Kunstwerkes nur das Medium ist, mittels welchem der
Künstler uns ein Eigenes mitteilt, gerade so sind die einem
bestünmten philosophischen System entlehnten Begriffe seiner
theoretischen Schriften nur das immer mehr oder minder un-
genügende Hilfsmittel, dessen er sich bedient, um in der ihm
eigentlich fremden, auf alle Eälle aber ungewohnten Sprache
der abstrakten Vernunft sich überhaupt nur verständlich machen
zu können. Beide verhalten sich zum innersten Wesen der vom
Künstler intendierten Kundgebung, wie die »Welt als Vorstel-
lung« zum »Ding an sich«, wie das Phänomenale (Existentielle)
zum Essentiellen in der ideaKstischen Metaphysik; denn gerade
so wie dieses in jenem sowohl erscheint und sich offenbart, als
auch sich hinter ihm verbirgt und verhüllt, so dürfen wir auch
bei der Darstellung und Beurteilung der Weltanschauung eines
Künstlers die Bedeutung des »Stoffes« der Kunstwerke, wie die
der begrifflichen Einkleidung seiner theoretischen Lehrmeinungen
nicht überschätzen, wenn wir diese selbst in richtigem Lichte
und in ihrer individuellen Einheit erblicken wollen. So wäre
es z. B. durchaus falsch, aus dem äußeren Umstände, daß
Wagner die Fabel seiner früheren Werke »Tannhäuser« und
»Lohengrin« dem Sagenschatze des christlichen Mittelalters, die
des späteren »Ring des Nibelungen« dagegen der altnordischen
Mythologie entnahm, imi erst wieder mit dem »Parsifal« einem
christlichen Stoffe sich zuzuwenden, die abenteuerliche Ansicht
herzuleiten, Wagner sei bis zu seinem 35. Lebensjahre etwa
gläubiger Ohrist gewesen, dann plötzlich ungläubiger Heide ge-
worden, um sich schließlich wieder zu den Heilswahrheiten der
christHchen B;eligion bekehren zu lassen, — und daraus, daß der
Meister in seinen großen theoretischen Schriften von Anfang
der fünfziger Jahre sich der philosophischen Terminologie Lud-
wig Feuerbachs bediente, während er nach seiner Bekanntschaft
mit den Werken Schopenhauers sich mit Vorliebe an diesen in
seinem Denken anschloß, folgt nicht, daß er in jener früheren
Entwickelung und Einheit. 15
Zeit durchaus und in jeder Beziehung (z. B. auch als Künstler)
Optimist gewesen sei, um sich dann plötzlich und unvermittelt
unter der Ägide des großen Frankfurters dem Pessimismus zu-
zuwenden, wie man wohl gemeint hat. Vor solcher Äußerlich-
keit und Oberflächlichkeit wollen wir uns hüten. Wir wollen
niemals vergessen, daß wir erst dann überzeugt sein dürfen, in
den Kern einer individuellen Weltanschauung eingedrungen zu
sein, wenn wir sie als ein im Grunde EinheitHches und Selb-
ständiges, und deshalb auch trotz alles Wechsels ihrer äußeren
Erscheinungsformen in ihrem innersten Wesen Konstantes und
Beharrendes erkannt haben.
Je mehr wir nun aber diese innere Einheit und Konstanz
der Weltanschauung eines genialen Individuums betonen und
hervorheben, desto größer wird die Gefahr, in das entgegen-
gesetzte Extrem zu verfallen, an der zweiten jener oben er-
wähnten Khppen zu scheitern, indem wir nämUch verkennen,
daß Leben und Entwickelung gleichbedeutend sind, daß auch
der Geist sich nur dadurch lebendig erhalten kann, daß er
fremde Stoffe in sich aufnimmt, daß er sich fortwährend er-
neuert und damit verändert, daß das Individuum — ob man es
nun philosophisch als bloß der »Welt als Vorstellung« ange-
hörig oder als schlechthin ewiges Wesen von metaphysischer
Aseütät betrachten mag — jedenfalls in die Erscheinung treten
kann nur als bedingt durch seine Bezogenheit auf andere.
Wenn uns die Weltanschauung eines Richard Wagner daher
mehr und etwas Besseres sein soU als ein totes Dogma, nämlich
etwas Lebendiges, weil Erlebtes und Empfundenes, so ist es
ganz selbstverständlich, daß wir ihre Einheit nicht in dem Sinne
zu verstehen haben, daß sie in einem bestimmten Augenblicke,
wie die Athene aus dem Haupte des Zeus, fix und fertig dem
Gehirne des Künstlers entsprungen sei und nun durch ein an
Erlebnissen, Erfahrungen und Studien überreiches Leben von
70 Jahren sich unverändert in ihrer ursprünglichen Gestalt er-
halten habe. Wir werden vielmehr von vornherein als sicher
annehmen können — und die Quellen beweisen es aufs un-
widerlegKchste — , daß die Weltanschauung unseres Meisters
gemäß seinem reichen und bewegten Geistesleben eine zeitliche
Entwickelung erfahren habe, daß ihm verwandte Geister der Vor-
16 Die Weltanschauung R. Wagners als sich entwickelnde Einheit.
und Mitwelt sie auf das nachhaltigste beeinflußten, so daß eine
»Dogmatik« derselben zu schreiben, ohne die Eigentümlichkeiten
der einen Periode zu Gunsten einer anderen zu vernachlässigen
oder gar zu fälschen, ein Ding der Unmöglichkeit wäre.
Wenn wir nun trotzdem von einer Weltanschauung
Bichard Wagners und nicht von verschiedenen, sich in der
Geistesentwickelung des Künstlers ablösenden und aufeinander
folg^iden Weltanschauungen reden, so wollen wir damit nicht
bloß sagen, daß die verschiedenen Entwickelungsphasen der
Wagnerschen Weltanschauung in der lebendigen Individualität
des Künstlers ihre organische Einheit haben, sondern vor allem
auch dies, daß das Urteil über das Wesen der Welt, wie es
sich dem Künstler aus seinem ersten hellen und ungetrübten
Blicke in die Tiefen des menschlichen Daseins geoffenbart hatte,
seinem innersten Kerne nach im Laufe seines Lebens sich immer
gleich bleibt, daß die Entwickelung Wagners keine plötzlichen
Schwankungen und unvermittelten Wendungen aufweist, daß viel-
mehr alle die Änderungen, welche seine Weltanschauung in den
verschiedenen Perioden seines Lebens erleidet, einzig und allein
dadurch entstehen, daß neue Seiten und Elemente seiner geisti-
gen Natur, welche in einer früheren Phase s. z. s. »unter der
Bewußtseinsschwelle« geblieben waren, schärfer und in hellerer
Beleuchtung hervortreten, daß das, was zuvor latent und un-
bewußt gewesen war, nun deutlicher und kenntlicher von dem
dunkeln Hintergrund sich abhebt, hinter dem nun jenes andere
zuvor Beleuchtete verschwindet.
Wie mir scheint haben die beiden Autoren, welche vor mir
den Versuch einer Darstellung der Weltanschauung Bichard
Wagners gemacht haben, Hugo Dinger und Houston Stewart
Chamberlain, * diese Wahrheit, daß das geistige Leben eines
Künstlers nur dann wahrhaft und in seinem innersten Wesen
zu verstehen ist, wenn man es einerseits als strenge Einheit,
andererseits aber auch als sich entwickelnde Einheit auffaßt,
nicht genügend gewürdigt, — ersterer, indem er die Bedeutung
* Vergl. Hugo Dinger, Richard Wagners geistige Entwickelung,
Band I. Leipzig 1892, u. H. St. Chamberlain, Richard "Wagner, München
1896.
Hugo Dinger und H. St. Chamberlain. 17
der Wandlungen in der geistigen Entwickelung des Meisters,
namentlich aber auch die der fremden Einflüsse auf dieselbe,
überschätzt und so die organische Einheit der geistigen Natur
des Künstlers zerstört, letzterer, indem er durch sein Bestreben,
gleichsam eine Dogmatik des Wagnerschen Denkens zu geben,
sich verleiten läßt, das entwickelungsgeschichtliche Moment über
Gebühr zu vernachlässigen und die Bedeutung fremder geistiger
Einflüsse für das Wachsen und Werden der Wagnerschen Welt-
anschauung in einer Weise zu unterschätzen, wie es mit den
geschichthchen Thatsachen nicht immer zu vereinbaren ist.
Diese beiden Klippen, die meinen Vorgängern gefährlich
geworden sind, zu vermeiden, war bei der vorliegenden Arbeit
mein vorzügUchstes Bemühen. Ob und wie weit mir das ge-
lungen ist, kann natürlicher Weise nur meine Darstellung selbst
in ihrem Verlaufe erweisen. Hier sei mir nur gestattet, ein paar
Worte über die von mir selbst befolgte Methode zu sagen, in
der ich das rein historisch-genetische Verfahren Dingers und die
quasi dogmatische DarsteUungsweise Chamberlains s. z. s. zu
kombinieren suchte, indem ich mir das Berechtigte an beiden
Arten zu Nutzen machte.
Wie wir sehen werden, hat die Weltanschauung Richard
Wagners ihren festen Einheitspunkt in einem obersten Ideal-
begriffe, in dem der Meister das Endziel seiner durch das
Leben unbefriedigten künstlerischen und menschlichen Sehnsucht
nach außen projiziert. Einmal erschaut und ergriffen, bleibt
dieses Ideal durch alle Entwickelungsphasen des Wagnerschen
Geistes hindurch in seinem innersten Wesen unverändert das-
selbe; was sich im Lauf der Zeit ändert, und zwar wesentlich
und radikal ändert, ist einzig das Urteil des Theoretikers, des
philosophischen Denkers Wagner über das Verhältnis der realen
Wirklichkeit der Welt zu diesem seinem Ideale, und im Zu-
sammenhang damit die Begründung seines Glaubens an die
Möglichkeit einer Verwirklichung dieses Ideales auf Erden.
Wir werden daher, wollen wir die Wagnersche Weltan-
schauung als sich entwickelnde Einheit darstellen, zunächst die
Voraussetzungen derselben zu untersuchen haben. Es sind
dies folgende: 1) das von seinen großen Vorgängern ihm hinter-
lassene Geisteserbe, oder mit anderen Worten: die von ihm vor-
Louis, Weltanschauung R. Wagners. 2
18 Die Weltanschauung K. Wagners als sich entwickelnde Einheit.
gefundene Lebensaufgabe ; 2) des Meisters eigener künstlerischer
und menschlicher Charakter als der die besondere Art und Weise,
mit welcher er diese seine Lebensaufgabe ergrijff, bestimmende
individuelle Faktor; und endlich 3) des Künstlers geistige und
seeHsche Erlebnisse bis zu dem Zeitpunkte, in welchem seine
Weltanschauung zum erstenmale greif- und faßbare Gestalt ge-
winnt. Aus dieser Yonintersuchung wird sich uns das Wagnersche
Ideal, dessen Verwirklichung all sein Wirken und Streben gilt,
ergeben, die, gleich dem berühmten roten Faden der englischen
Schiffstaue, durch seine ganze geistige Entwickelung sich hin-
durchziehende fundamentale Grundidee seiner Weltanschauung,
— während uns die Darstellung dieser Entwickelung selbst die
Fragen beantworten wird: Welches Urteil fällt Wagner in den
verschiedenen Perioden seiner Entwickelung über Wesen und
Wert der an jenem Idealbegriffe gemessenen Realität unseres
Lebens und Daseins? — und: Welche Hoffnungen hegt Wagner
für eine Verwirklichung seines Ideals trotz des ihm als durch-
weg feindhch erkannten Charakters der Welt der Gegenwart?
Wie sich im Verlaufe der Darstellung zeigen wird, ist Wagners
Ideal das Reinmenschliche, d. h. die von allen Schranken
gesellschaftlich konventionellen Zwanges und historisch gewor-
dener Unnatur befreite Idee des im Gleichgewichte seiner körper-
lichen und geistigen Kräfte seine Individualität harmonisch aus-
lebenden »reinen« Menschen. In diesem Idealbegriffe glaubte
er sich zunächst zu begegnen mit den Anschauungen desjenigen
Philosophen, der ihm zuerst die systematischen Begriffe und
Terminologieen für die Mitteilung seiner eigenen Gedanken lie- '
forte, Ludwig Feuerbachs. Als die naive Hoffnung, daß
die natürliche und notwendige Entwickelung der Dinge ganz
von selbst die endliche VerwirkKchung seines Ideals mit sich
bringen werde, eine Hoffnung, die ihn in den großen Kunst-
schriften von Anfang der 50er Jahre die Menschheitsgeschichte
noch durchaus im Sinne der Hegelianischen Geschichtsphilosophie
als eine natürhche und vernünftige Entwickelung und stetige
und kontinuierUche Annäherung an den vollkommenen und idealen
Zustand ansehen ließ, durch allerbitterste Lebenserfahrungen
und gründlichste Enttäuschungen unwiederbringlich zu Grabe
gesunken war, lernte er die Philosophie Schopenhauers
Unsere Methode. 19
kennen. Im Centralpunkte dieses Systems steht die Überzeu-
gung, daß Ideal und Wirklichkeit nicht nur in Bezug auf die
Gegenwart in einem empirischen und zeitlichen Gegensatze
stehen, sondern daß der Konflikt zwischen Ideal und Realität
ein absoluter und ewiger ist, der nur dadurch gelöst werden
kann, daß der metaphysische Träger der realen Welt, der Wille
zum Leben, sich gänzhch umkehrt, indem er das verneint, was
er zuvor bejaht hatte. Daß die Bekanntschaft mit Schopenhauer
eine totale Revolution im Denken unseres Meisters hervorbrachte,
ist unbestritten, wenn auch nicht geleugnet werden kann, daß
Wagner einserseits, ehe er noch eine Seite von Schopenhauer
gelesen hatte, durch eigenes Erleben und Nachdenken zu dem
Standpunkte vollkommener Resignation in Bezug auf die historische
Entwickelung des Menschengeschlechtes gelangt war, wie er an-
dererseits, was die trotz alledem uns noch verbleibende Hoffnung
auf eine ^ final emancipatioTK, eine schließliche Erlösung von der
Not und dem Elend der realen Welt anlangt, auch späterhin nicht
bei dem absoluten Pessimismus Schopenhauers stehen blieb. Indem
Wagner über diesen hinaus dazu fortschritt, seinen Glauben an
die Möglichkeit einer Gesundung und Idealisierung unserer ge-
samten Zustände auf eine höchst originelle und eigentümliche
Weise dadurch zu begründen, daß er eine in vorgeschichtlicher
Zeit stattgefundene Abirrung des Menschen von seiner reinen,
ihm ursprünglich eigenen und mit dem Idealbegriffie des Rein-
menschlichen in Übereinstimmung befindlichen Natur annahm,
zu. welcher wir nun mit Bewußtsein eine Rückkehr anzubahnen
hätten, begegnete er sich in diesem Versuche eines Kompromisses
zwischen pessimistischer und optimistischer Weltanschauung mit
den religiösen Lehren des Christentums, dessen eigentümliches
Wesen auf einem analogen Kompromisse beruht. Diese drei
Gesichtspunkte: Wagners Ideal, sein urteil über die an diesem
Ideale gemessene Wirklichkeit, sein Glaube an die Möglichkeit
einer (vollständigen oder teüweisen) Realisierung dieses Ideals
ergeben sich also von selbst als das Grundgerüst, an dem sich
seine Weltanschauung aufbaut.
Acceptieren wir sie als Leitsätze für unsere Darstellung, so
werden wir imstande sein, der durch das gesamte Wagnersche
Denken sich hindurchziehenden Grundidee als Einheit, wie auch
2*
20 I^ie historische Stellung.
ihrer genetischen Entwickelung gleicherweise gerecht zu werden.
Denn es wird sich zeigen, daß zwischen diesen drei Fragen und
dem Verhältnis Wagners zu Feuerhach, Schopenhauer und dem
Christentum, durch welche Namen drei Hauptperioden seiner
Entwickelung bezeichnet werden, ein gewisser Parallelismus be-
steht: an der Hand Feuerbachs gelangt der Meister zuerst zur be-
wußten Formulierung seines Ideales des Rein-Menschlichen, durch
Schopenhauer werden ihm die Augen geöffnet für die Erkennt-
nis der absoluten Unvereinbarkeit des Ideales mit dem Wesen
der Welt, wie sie ist, und endlich, indem er den Strahlen des
Sterns von Bethlehem nachgeht, glaubt er, über den unbedingten
Pessimismus des großen Frankfurters hinaus, die Berechtigung
zu erneuter Hoffnung auf Verwirklichung seines Ideales aner-
kennen zu dürfen. Indem wir so diese drei Gesichtspunkte bei
unserer Darstellung niemals aus dem Auge verlieren wollen,
wird sich uns sowohl die Grundeinheit als auch die fortschrei-
tende Entwickelung der Wagnerschen Weltanschauung in be-
friedigender Weise offenbaren. —
Friedrich Nietzsche sagt einmal von Richard Wagner, er
gehöre »zu den ganz großen Kulturgewalten«, und er
konnte dies sagen, weil in der That eine solche Kulturgewalt in
Wagner lebt, in deren Dienst er sich gestellt, mit der er sich
vollständig identifiziert hat. Diese Kulturgewalt ist die deutsche
Kunst in ihrer ganz besonderen Eigenart, durch die sie eine
über das rein und bloß Ästhetische weit hinausgehende Bedeutung
erlangt hat, — und zwar nenne ich die deutsche Kunst eine
Kulturgewalt nicht im Sinne einer rhetorisch-hyperbolischen
Phrase, wie es wohl bei hochpatriotischen Anlässen und feucht-
fröhlichen Sängerfesten üblich ist, sondern verstehe den Ausdruck
durchaus eigentlich und ernsthaft. Denn das zeichnet die deutsche
Kunst in ihren wahrhaften und bedeutenden Vertretern aus, daß
ihnen ihr Schaffen nicht eine bloße Luxussacbe ist, ein rein
ästhetisches, formales Spiel, das zwar die schönste Blüte unseres
Daseins, aber trotzdem nur ein Schmuck, ein überflüssiges und
s. z. s. bloß Dekoratives wäre, sondern sie betrachteten die Kunst
als eine Lebensmacht, als eine Kraft von fundamentaler und
Die deutsche Kunst als Kulturgewalt. 2 t
konstruktiver Bedeutung für den Aufbau und die Gestaltung
unseres ganzen Daseins, als eine Potenz, durch die der Mensch
erst wirklich befähigt wird, seine eigentliche und höchste Be-
stinunung zu erreichen und das menschliche Ideal zu verwirk-
lichen. Dem deutschen Künstler ist seine Kunst ein seelisches
Grundprincip, welches das Bildungsferment für das Wachstum
der ganzen psychischen Persönlichkeit abzugeben hat, ein Flui-
dum, welches die ganze Individualität belebend durchströmen
soll, das geistige Bindemittel, welches allererst die verschiedenen
auseinanderstrebenden Seelenkräfte zur idealen Einheit zu-
sammenschweißt, mit einem "Worte: die conditio dne qua non
der Persönlichkeit im eminentesten Sinne des Wortes.
Dadurch unterscheidet sich die deutsche Kunst vor allem
auch von der ihr vorausgegangenen großen und weltbewegenden
ästhetischen Erscheinung, durch die sie sich so vielfach beein-
flussen Keß, von der Kunst der Renaissance. Denn, wie
Heinrich von Stein in seinen >Vorlesungen über Ästhetik« (Stutt-
gart 1897, S. 79) feinsinnigbemerkt: >Im Renaissancemenschen
. . . geht im allgemeinen das Bewußtsein für sich den Weg
des Gelehrtentums, inspiriert durch den Ruhmsinn, und der
künstlerische Geist für sich den Weg der dekorativen Instinkte,
inspiriert durch den Prunksinn; die belebende große gemeinsame
Gesinnung fehlt,« — während dagegen bei unseren Klassikern
»von den tiefsten Gründen der Gesinnung bis zu der Einzelheit
des Kunstwerks ein Zusammenhang reicht.« (A. a. O. S. 78.)
Daher auch das innige Wechsel Verhältnis zwischen deut-
scher Kunst und deutscher Philosophie auf den Höhepunkten
ihrer beiderseitigen Entwickelung. Denn der deutsche Künstler
wollte von jeher das Bewußte und Unbewußte seines geistigen
Seins zu einer einheitlichen individuellen Weltanschauung ver-
binden, indem er danach strebte, einerseits seine unbewußten
künstlerischen Gefühle und Instinkte mit Hilfe des philoso-
phischen Erkennens sich zu klarem und deutlichem Bewußtsein
zu bringen, und andererseits wiederum jene durch dieses zu
rechtfertigen und zu veredeln. —
Zwei Hauptströmungen sind es, in denen dieser specifisch
deutsche Kunstgedanke in mächtigen Wogen durch die Jahr-
hunderte fließt, um sich in Richard Wagner zu vereinigen: die
22 I^ie historische Stellung.
deutsche Musik und die deutsche Dichtung. Beide strebten von
entgegengesetzten Richtungen demselben Ziele zu, ihrer Ver-
einigung; denn daß die Sehnsucht, welche Musik und Dichtung
sich immer wieder in die Arme treibt, niemals erlöschen, noch
auch jemals vollständig und restlos befriedigt werden kann, ist
eine einfache Folge der geschichtlichen Thatsache, daß Musik
und Dichtkunst ursprünglich in einer einzigen Kunst vereinigt
und verbunden waren, wie denn z. B. noch ein Piaton sowohl
die von Musik entblößte reine Wortdichtung als auch die ab-
solute Instrumentalmusik als eine Verirrung verwirft (Leges ü,
669 d).* So unleugbar es nun ist, daß erst die Trennung und
Differenzierung der primitiven Wort-Tonkunst in zwei getrennte
Sonderkünste die reiche und gewaltige Entwickelung beider er-
möglichte, indem jede durch ihre Isolierung gezwungen war, nun
für sich allein zum Organ einer universalen künstlerischen Mittei-
lung zu taugen und alle in ihr ruhenden Ausdrucksmöglichkeiten
bis an die äußersten Grenzen durchzuprobieren und auszubeuten,
so natürlich ist es andererseits auch, daß beiden die Sehnsucht
nach einer Wiedervereinigung trotz der erfolgten Trennung
immerdar verbleiben wird, obgleich es nicht denkbar ist, daß
irgend einer dieser auch noch so vollendeten Versuche, Dicht-
und Tonkunst zu der gemeinsamen Wirkung eines Gesamt-
kunstwerkes zu verschmelzen, in dem Sinne definitiv sein könnte,
* Die Stelle ist interessant genug, um sie hier anzuführen: ravia ze
yitQ , . TiuyTfc 6iiaiiüaiy ol nou^tnl, Qv&fioy /tiey xal c//;^««!« fiiXov^
/(a()if, Xoyovi \piXov^ eis fiixqa xid^iyieg^ f^iXos d* ccv xal qvd-fxoy ayer-
Qr;iiiaiu}y, ilnXfi xi&aQiaei tb xal avXT}azi nQo^xQCJ/bieyoij iy otg 6tj nayxciXt-
nov ayev koyov yiyyofiBUoy Qvi^fAoy re xal hqfxoviay yiyyiaaxBiv ^ oxi tb
ßovXBTai xal ory lotxB lüy aUoXoyojy fiifAf;fint(oy. aXXa vnoXaßBiy ayccy-
x«toi', ort To Toiovtoy yB noXXf;s (tyQoixlceg^ fiBaxoy nay »Dieses
alles« (nämlich die Elemente der musischen Gresamtkunst) »reißen die
Künstler aber nun auseinander, indem sie einerseits dadurch, daß sie bloß
gesprochene Worte in Metren bringen, Rhythmus und Versmaß von der
Melodie, andererseits im rein instrumentalen Kithara- und Flötenspiel Me-
lodie und Eliythmus vom Gesang trennen, wobei es dann sehr schwer ist,
ohne dazukommende AVorte zu begreifen, was der betreffende Eliythmus
und die Harmonie zu bedeuten haben, und was für ein künstlerisch bedeu-
tungsvoller Inhalt damit eigentlich zum Ausdruck gebracht werden solle.
Dieses alles müssen wir notwendigerweise als eine ganz und gar rohe
Kunstausübung ansehen.«
Tonkunst und Dichtkunst. 23
daß die in ihm verbundenen Künste von nun ab ihre Sonder-
existenz aufgäben und die einmal erfolgte Differenzierung voll-
ständig wieder rückgängig gemacht würde. Poesie und Musik
befinden sich in der nämlichen Lage, wie Mann imd Weib nach
dem grotesk-tiefsinnigen Mythos, den Aristophanes im Symposion
des Piaton erzählt: Die waren ursprünglich zusammengewachsen
in der Gestalt eines doppelgeschlechtlichen Hermaphroditen, bis
Zeus aus Furcht, das zu gewaltige Geschlecht möchte der Herr-
schaft der Götter gefährlich werden, auf das Auskunftsmittel
des »Divide et impera* im eigentlichsten Sinne des Wortes ver-
fiel und sie mitten entzwei schnitt. So entstanden die getrennten
Geschlechter. > Nachdem mm so die Gestalt entzwei geschnitten
war, sehnte sich jedes nach seiner anderen Hälfte, und so kamen
sie zusammen, umfaßten sich mit den Armen und schlangen
sich ineinander.« Die Liebe »vereinigt sie miteinander zu der
alten Natur und versucht aus zweien eines zu machen und so
die menschliche Natur zu heilen«. (Symposion XIV f.)
Wie im Leben des Menschen, so ist im Dasein der musi-
schen Sonderkünste diese Maienzeit der Liebe, in welcher die
trennenden Schranken vor der überströmenden Gewalt des nach
Vereinigung brünstig sich sehnenden Gefühls zusammenstürzen,
nur eine vorübergehende Episode, aber die schönste und frucht-
barste.
Li Deutschland hatte nun die absolute Listrumentalmusik
zum erstenmale im Laufe ihrer selbständigen Entwickelung einen
Punkt erreicht, über den sie auf dem von ihr bisher eingehalte-
nen Wege nicht hinausgelangen konnte, ja wo sie die Unmög-
lichkeit einsehen mußte, die künstlerische Absicht, welche ihre
innerste Seele war, allein durch die reine und absolute Ton-
sprache vollständig und mit bestimmender, ein Mißverständnis
ausschließender Deutlichkeit zu offenbaren und restlos zum
Ausdruck zu bringen. Diesen ihren Kulminationspunkt bezeich-
net die gigantische Gestalt Beethovens. Man weiß, auf welch
unerhört kühne Weise dieser Echteste der Echten im letzten
Satze seiner 9. Symphonie sich zu helfen suchte, indem er das
gesungene Wort sagen ließ, was durch die bloße Sprache der
Listrumente zu sagen ihm unmöglich dünkte. Die Art und
Weise nun, wie Beethoven das Wort in seine Dienste nahm.
24 Beethoven und Schiller.
hat innerhalb jener Symphonie unleugbar keine andere Bedeu-
dung als die eines mißglückten Experimentes. Aber dieses
Experiment war kein willkürliches und zufälliges, wie uns die
Verfechter der absoluten Musikmacherei ä tout prix immer
wieder weiß machen wollen, sondern ein notwendiges, von der
höchsten Not und Verlegenheit um ein seinen Intentionen voll-
kommen adäquates musikalisches Ausdrucksmittel dem Künst-
ler eingegebenes. Es ist nicht anders als wie Wagner einmal Mi
Liszt schreibt, nachdem dieser ihm den Plan seiner Dante- Sym-
phonie mitgeteilt hatte : »Für die neunte Symphonie (als Kunst-
werk) ist der letzte Satz mit den Chören entschieden der
schwächste Teil, er ist bloß kunstgeschichtlich wichtig,
weil er uns auf sehr naive Weise die Verlegenheit eines wirk-
lichen Tondichters aufdeckt, der nicht weiß, wie er endhch
(nach Hölle und Fegfeuer) das Paradies darstellen soll.«
(Briefwechsel 11, 78 f.)
Aber diese kunstgeschichthche Bedeutung jener That Beet-
hovens ist unbestreitbar, sie bezeichnet eine Epoche in der Ent-
wickelung der Musik als Sonderkunst, und Richard Wagner
war es, der dies zuerst einsah und begriff. Wollte die Musik
jene Freiheit von der konventionellen Form und reiche Mannig-
faltigkeit gewaltigster und differenziertester Ausdrucksmittel,
welche ihr der Genius Beethovens erobert hatte, sich erhalten
und weiter ausbauen, wollte sie über jenen Gewaltigen fort-
schreiten und hinausgehen, das Problem lösen, an dem er ge-
scheitert war, 80 mußte sie sich mit dem Worte des Dichters
verbinden und zwar derart, daß die Dichtung und Musik in
intimster Wechselbeziehung einander gegenseitig bedingten, in-
dem die Musik das innerste An- sich der poetischen Gestalten,
gleichsam ihre klingende Seele, zum tönenden Ausdruck zu
bringen hatte, während der Dichtung die Aufgabe zufiel, die
wesenlosen Schemen der allgemeinen, quasi abstrakten Ton-
sprache mit einem sichtbaren Körper zu umkleiden, ihnen jenes
formale Schema zu liefern, ohne das die in ihrem Wesen rein
innerliche Musik nicht Erscheinung werden kann, jene An-
knüpfung an die räumliche Außenwelt, wie sie die klassische
Symphonie an ihrer aus der Tanzmusik hervorgegangenen viersätzi-
gen Form hatte, — mit dem Unterschiede, daß das dichterische
Die That Beethovens. 25
Wort, insonderheit in dem den ganzen Menschen zu restlosem
Ausdruck und sinnenfälliger Darstellung bringenden Drama,
der Musik die Möglichkeit einer freiesten Entfaltung und Indi-
vidualisierung geben kann, wie dies innerhalb der engen und
schematisch unfreien Form der alten Symphonie nicht im ent-
ferntesten anging, wenn nicht die Tonsprache unmotiviert und
somit unverständlich werden sollte.
War so die Musik durch ihre Entwickelung als von der
Poesie getrennte selbständige Sonderkunst dazu gekommen, nach
einem ihrer rein innerlichen Welt entsprechenden und dieselbe
in ihren einzelnen Gestaltungen bestimmenden und motivierenden
Gegenbilde in der sichtbaren Außenwelt sich zu sehnen, nach
einer Ergänzung des bloßen »Hörspieles« durch ein ihm kon-
gruentes »Schauspiel«, eine Sehnsucht, welche uns beim An-
hören jener gewaltigen letzten Symphonie des großen Beethoven
mit dem Gefühl erfüllt, als wolle »alles Hörbare der Welt auch
als Erscheinung für das Auge ans Licht hinauf und hinaus«,
wie Friedrich Nietzsche einmal von Wagner sagt (Sichard Wag-
ner in Bayreuth, S. 47), als suche eine überirdische transscen-
dentale Geisterwelt nach sinnUcher »Leiblichkeit«, um durch sie
und in ihr erst zu jenem realen Dasein und konkreten Leben
zu erwachen, das sie uns ganz verständlich macht, — so hatte
die deutsche Dichtung unterdessen einen gewissermaßen ge-
radezu umgekehrten Weg zurückgelegt, den der immer fort-
schreitenden Vertiefung und Verinnerhchung. Von den sicht-
baren Gestalten und Vorgängen der äußeren Welt ausgehend,
wie es dem Dichter natürlich ist, suchten unsere Klassiker —
worunter ich Goethe und SchiUer verstanden wissen will, nicht
aber etwa sämtliche Autoren, die so glücklich waren, ihre Werke
bei Ootta in Stuttgart verlegen lassen zu können — s. z. s. durch
den Körper der Dinge hindurchzudringen, um ihre verborgene
Seele zu entdecken. Sie gingen aus von der nackten Wirklich-
keit der realen Welt, um eine höhere Wahrheit aufzusuchen,
die sich zu jener verhält wie das Ding an sich zu seiner Er-
scheinung in der gleichzeitigen kritischen Philosophie Kants, die
den darzustellenden Gegenstand nur deshalb in eine höhere
Sphäre erhebt, idealisiert, wie man gewöhnlich sagt, um sein
eigentliches und innerstes Wesen unentstellt und gereinigt von
26 Beethoven und Schiller.
den verwirrenden Nebensächlichkeiten und störenden Zufällig-
keiten des empirischen Daseins in seiner schlechthinigen Not-
wendigkeit zum Ausdruck zu bringen, so daß sich Gehalt und
Form vollkommen decken, diese nichts zu sein hat als der
Körper, der sichtbare Leib der Idee, wie der Inhalt die Seele
der Form. Sie strebten nach jener poetischen Wahrheit, zu der
sich die Wirklichkeit verhält, wie die BGstorie zur Kunst, in
Beziehung auf welche schon der alte Stagirite das Urteil fällte,
daß die Poesie philosophischer und gehaltvoller sei als die Ge-
schichte. {Kai cpt,Xoao(pcüT€QOv xal GTrovöawTCQov TtoltjOLg Igto-
Qtag Aristot. Poet. IX, 3.)
Ein Kunstwerk, das in solcher Weise das Rätsel des Da-
seins uns deuten soll, indem es die Gestalten und Vorgänge
desselben in ihren typischen und vorbildlichen Grundformen,
ihren wesentlichen, den Kern des Seienden wiedergebenden
Hauptzügen uns vorführt, suchten Goethe und Schiller auf dem
Höhepunkte ihres Schaffens zu verwirklichen. In der Vergangen-
heit fanden sie ein solches Kunstwerk vor, das alte attische
Drama. Es ist daher wohl begreiflich, daß sie sich in ihrem
Streben nach dem idealen Drama dazu verleiten Ueßen, dasselbe
auf dem Wege einer Nachahmung der altgriechischen Tragödie
zu suchen, ein Weg, der Schillern bis zu dem merkwürdigen
und doch, wenn man es aus diesem Gesichtspunkt betrachtet,
so ungemein lehrreichen Experimente der »Braut von Messina«
führte. Als beide von diesem Wege sich wieder abwendeten,
kehrte Goethe resigniert dem Theater für immer den Rücken,
während Schiller, nachdem er den Geist der Kantischen Philo-
sophie in sich aufgenommen hatte, mittels einer Durchdringung
des historischen Stoffes mit dem philosophischen Gedanken in
immer erneuten und immer edler und bedeutender sich gestal-
tenden Versuchen seinem Ideale sich näherte. — Wir kennen
die häufigen Klagen Schillers über die Sprödigkeit der histori-
schen Stoffe, die der dichterischen Auffassung ihres idealen
Gehalts so unüberwindHche Hindemisse in den Weg stellten
und die ihm doch einzig in Frage zu kommen schienen, wie
auch über die Verlegenheiten, die sich daraus ergaben, daß ihm
die Idee des Allgemeinen nur als abstrakter, philosophischer
Gedanke sich geoffenbart hatte! »Gewöhnlich,« schreibt er am
Das ideale Drama. 27
21. August 1794 an Goethe, ȟbereilte mich der Poet, wo ich
philosophieren sollte, und der philosophische G-eist, wo ich
dichten sollte. Noch jetzt begegnet es mir häufig, daß die
Einbildungskraft meine Abstraktionen, und der kalte Verstand
meine Dichtung stört.« Und wenn er drei Tage vor seinem
Tode ausruft: »Gebt mir Märchen und Rittergeschichten,
da Hegt doch der Stoff zu allem Großen und Schönen« — so
bewegte sich sein ahnender Künstlerinstinkt damit in derselben
Richtung, wie wenn er (29. 12. 1797) seinem Freunde schreibt:
»Ich hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper, daß aus
ihr, wie aus den Chören des alten Bacchusfestes das Trauerspiel
in einer edlem Gestalt sich loswickeln sollte.«
Aber zur Gewißheit konnte diese Ahnung sich erst bei
einem Geiste erheben, der ebensosehr genialer Musiker als
genialer Dichter, die Epoche Beethovens in seinem Innern er-
lebt und in ihrer Bedeutung vollkommen erlebt und begriffen
hatte. Dieser Genius war Richard Wagner.
Ihm mußte es aufgehen, daß jenes mit Worten so ganz
unnennbare und unsagbare Etwas, das aus den wunderbaren
musikalischen Gebilden Beethovens uns entgegentönt und
trotz seiner unfaßbaren Idealität und unbegreiflichen Trans-
scendentalität doch so deutlich und unverkennbar als der Aus-
druck eines ganz bestinmiten Inhaltes sich kundgiebt, nichts
anderes sei, als eben jene innerste Seele der Dinge, welche ein
Schiller hinter den so vielfach bewegten und verwirrenden Er-
scheinungen der empirischen und historischen Wirklichkeit ge-
sucht und in seinem Drama zur Darstellung hatte bringen
wollen, daß die Musik das Allgemeine, Generelle und Typische,
das An-sich alles Seienden, das einem Schiller nur in der Gestalt
des abstrakten Begriffs und als Ergebnis einer seine dichterische
Phantasie störenden und erkältenden philosophischen Reflexion
sich geoffenbart hatte, ganz direkt und unvermittelt als künst-
lerische Anschauung — das Wort in jener erweiterten Bedeu-
tung genommen, in der es auf alle Sinne anwendbar ist —
ausspricht, daß also das Drama sich nur mit ihr zu einer ein-
heitlichen Gesamtwirkung verbinden müsse, um ganz von selbst
in jene höhere und idealere Sphäre sich zu erheben, in welcher
statt der Gesetze der realen Wirklichkeit nur das Gebot der
2S Beethoven und Schiller.
inneren Notwendigkeit und Folgerichtigkeit herrscht, und daß
die Verlegenheit um einen für dieses recht eigentlich so zu
nennende »Seelendrama« geeigneten Stoff, welche Schillern so
viel zu schaffen gemacht hatte, sofort gehoben erscheint, wenn
man die Frage einfach so stellt: welche Stoffe lassen zu ihrer
dramatischen Bearbeitung die Musik als integrierendes Aus-
drucksmittel der künstlerischen Absicht zu, oder genauer: welche
Stoffe erfordern eine solche Mitwirkung der Musik, welches sind
die Stoffe, für welche eine Heranziehung der Tonkunst conditio
sine qua non ihrer dramatischen Gestaltung ist?
Welche Schwierigkeiten Wagner zu überwinden hatte, bis
er die in diesem Problem implizierten Fragen sich vollständig
beantwortet und zu klarem Bewußtsein gebracht hatte, warum
er vor allem die historisch vorhandene Kunstform der Oper, in
welcher eine Verbindung der Tonkunst und Dichtkunst zu ge-
meinsamer dramatischer Wirkung schon vor ihm versucht wor-
den war, als für seine höheren Zwecke ungeeignet verwerfen
mußte, um etwas ganz Neues an ihre Stelle zu setzen, das soll
später an seinem Orte untersucht werden. Hier genüge der
Nachweis, daß die künstlerische Erscheinung Bichard Wagners
nur zu verstehen ist als eine notwendige historische Konsequenz
der vorhergegangenen Entwickelung der deutschen Musik und
der deutschen Poesie, wie sie einerseits in Beethoven, anderer-
seits in Schiller kulminierte, als der Zusammenfluß zweier
Strömungen, die von Anfang an von entgegengesetzten Aus-
gangspunkten demselben Ziele zustrebten, als die Verbindung
— um es kurz und paradox, aber nach der vorhergegangenen
Erörterung kaum mehr mißverständlich auszudrücken — des
unbewußten Metaphysikers Beethoven (man erinnere sich an die
Schopenhauersche Theorie der Musik), der zu dem Lichte des
Bewußtseins und der sichtbaren Sinnenwelt hinaufstrebt, und
des dichtenden Denkers Schiller, der nach der hinter der kon-
kreten Körperwelt verborgenen tönenden Seele der Dinge sucht,
der danach strebt, das An-sich der Welt, das ihm als kritischem
Philosophen und Schüler Kants nur als rein negativer > Grenz-
begriff« bekannt war, künstlerisch zu erfassen und darzustellen.
Als idealistischer Künstler, dem seine Kunst nicht bloß
dekorative Luxussache ist, sondern eine seelische Macht, welche
Das Problem R. Wagners. 29
das ganze menschliche Leben durchdringen und zu den höchsten
ihm erreichbaren Möglichkeiten hinanführen soll, ist Wagner
ein specifisch deutsches Genie, das in seinem Streben dem
Zuge folgt, der gerade die deutsche Kunst vor der aller anderen
Völker auszeichnet, — als Schöpfer des durch die Mitwirkung
der Musik einzig zu ermöglichenden idealen Dramas ist er direkter
Erbe der künstlerischen Hinterlassenschaft Schillers und Beet-
hovens, in welchen das Streben nach einem idealen Kunstwerke
höchsten Stils auf den Sondergebieten der Musik und drama-
tischen Dichtung sich in seinem eigentlichen Wesen am deut-
lichsten und unverkennbarsten kundgegeben hatte.
Wie Bichard Wagner das formale und stilistische Problem,
an denen sich jene beiden Großen vergeblich abgemüht hatten,
gemäß seiner eigentümlichen Begabung, die ihn ausschließUch
auf das Drama hinwies, zu lösen versuchte, haben wir oben
schon kurz angedeutet. Wollten vrir nun dazu fortgehen, den
Inhalt, welcher in der Symphonie Beethovens so geheimnisvoll-
überirdisch lebt und webt, sich hinter der konventionellen musi-
kalischen Form zuerst verbirgt und verhüllt, um sie schließlich
kühn zu durchbrechen, uns zu deutlichem Bewußtsein zu bringen,
jenen Inhalt, von welchem wir durch Wagner wissen, daß er
identisch ist mit jenem ideellen An-sich alles Seienden, das
Schiller als den der realen Welt zu Grunde liegenden Wesens-
kem hinter den — oder besser gesagt: im Innern der — Er-
scheinungen gesucht hatte, um ihn lauter und rein, befreit von
allem nebensächlichen und störenden Beiwerk dichterisch zu
gestalten, so würden wir sehen, daß diese Idee nichts anderes
ist als das Rein-Menschliche, jener Begriff, welcher, im
Mittelpunkt der Wagnerschen Weltanschauung stehend, unserem
Meister ebensosehr Schaffens- als Lebensideal ist, dessen künst-
lerischer Darstellung alle seine Werke gewidmet sind, wie er in
seiner praktischen Verwirklichung das erhabene Ziel der gesamten
Menschheitsgeschichte erblickt. — Wir stehen also unmittelbar
vor dem ersten Teil unserer eigentlichen Aufgabe, der Betrach-
tung und Darstellung des Rein -Menschlichen als des der
Wagnerschen Weltanschauung zu Grunde liegenden Ideals.
Um indessen die historische Kontinuität der Erscheinung
Richard Wagners, ihr natürliches Hervorgehen aus dem voran-
30 Geistige Eindrücke und ßüdungseinflüsse.
gegangenen und ihren Zusammenhang mit dem gleichzeitigen
Leben und Wirken des deutschen Geistes noch weiter zu er-
weisen, müssen wir zuvor noch einen BKck werfen auf die Zeit,
in die unser Künstler hineingeboren wurde, und die geistigen
Einflüsse und Eindrücke, die auf seine Entwickelung eingewirkt
haben, vor unserem Auge vorüberziehen lassen.
Wilhelm Richard Wagner wurde den 22. Mai 1813 zu
Leipzig geboren, kaum 5 Monate vor den Tagen jenes gewaltigen
Ringens, in welchem die verbündeten Völker vor den Thoren
derselben Stadt den korsischen Eroberer niederwarfen. Er war
der jüngste der drei großen Musiker, welche der ernsten Ton-
kunst unseres Jahrhunderts den Stempel ihres G-enius aufgedrückt
haben: Hektor Berlioz war um zehn, Franz Liszt um zwei
Jahre älter. Beethoven rüstete sich eben in erhabener Ein-
samkeit, unverstanden von der Mitwelt, seine reifsten und tiefsten
Schöpfungen zu concipieren; er hatte im Herbst des verflossenen
Jahres (1812) seine 8. Symphonie vollendet und stand unmittel-
bar vor der Missa solemnis, der > Neunten«, den letzten Sonaten
und Quartetten. Was die musikalische Offenthchkeit mehr be-
wegte als die fast ungehört verhallende Stimme dieses Predigers
in der Wüste, war der eben aufgehende Stern Rossinis, der
gerade in demselben Jahre (1813) mit seinem Tancred sich den
ersten Platz unter den zeitgenössischen italienischen Opem-
komponisten erobert hatte. Sein deutscher Antipode Karl
Maria von Weber, dessen Romantik von so bestimmendem
Einflüsse auf die künstlerische Entwickelung des Bayreuther
Meisters werden sollte, bewährte sich einstweilen als musikalischer
Leiter und Organisator der Oper zu Prag (Ostern bis Oktober
1813), um erst mit den 1814 erschienenen Kompositionen aus
Theodor Kömers >Leier und Schwert« weiteren Kreisen bekannt
zu werden, während sein Mitschüler bei Abbe Vogler in Darm-
stadt, Jakob Liebmann Beer, nachdem er zu seinem Ver-
druß bemerkt hatte, daß mit ernstem künstlerischem Streben
nicht viel zu >machen« sei, sich anschickte in Itahen in jenen
kosmopolitischen Tausendkünstler »Giacomo Meyerbeer« sich zu
verwandeln, als welcher er berühmt geworden ist.
So stand es mit der Musik. In der deutschen Dichtung
hatte die sogenannte »klassische Periode« mit dem Tode
Die Komantik in Musik und Poesie. 31
Schillers (1805) ihren Abschluß erreicht. Goethe, durch den
Verlust des Freundes nun ganz vereinsamt, überschreitet die
Schwelle des Greisenalters, um den ihn umgebenden Zuständen
der künstlerischen, litterarischen und politischen Öffentlichkeit
gegenüber immer mehr in eine bloß schauende, nur selten von
lebhafterer Anteilnahme an einer ihm besonders sympathischen
Erscheinung (Lord Byron) unterbrochene, hoheitsvolle und weh-
mütig-heitere Resignation sich zurückzuziehen. Zwei Jahre vor
der Geburt Richard Wagners hatte er begonnen, in »Wahrheit
und Dichtung« seinen Lebens- und Entwickelungsgang zu schil-
dern (1811 ff.). — Gegen die antikisierenden Tendenzen, zu wel-
chen die beiden großen Weimaraner infolge ihres Strebens nach
einem idealen Kunststile auf der Höhe ihres Schaffens hinneigten,
hatte sich in der Romantik eine Reaktion erhoben, welche,
obgleich es keinem ihrer Vertreter gelang, sich zu den höchsten
Höhen der Kunst zu erheben, besonders durch ihr zeitliches
Zusammenfallen mit dem Neuerwachen des deutschen National-
gefühls in den Freiheitskriegen und mit der Begründung einer
volkstümlichen deutschen Oper durch Weber von der größten
Bedeutung für die Entwickelung unseres geistigen und künst-
lerischen Lebens wurde. Die deutsche Vergangenheit, in erster
Linie Mittelalter und Rittertum, traten in den Vordergrund des
poetischen Literesses, gegenüber der im 18. Jahrhundert als
allein »klassisch« und absolut vollendet betrachteten Kunst und
Poesie der Antike fing man an, die großen Spanier, einen
Oalderon de la Barca und Lope de Vega, vor allem den großen
Briten William den alten Griechen an die Seite zu setzen; durch
Schlegels Übersetzung (1797—1810) wurde Shakespeare unser
»dritter Klassiker«.
Die herrlichen Schätze unseres Volkes an Liedern, Sagen
und Märchen begannen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken
(»Des Knaben Wunderhom« 1806, Grimmsche Märchen 1812),
ebenso wie die mittelalterliche Kunstpoesie und Malerei (Gebrüder
Boisseree!) anfingen, gerechtere Würdigung zu finden. Die
Richtung auf das Geheimnisvolle und Übernatürliche, eine natur-
gemäße Rückwirkung auf die platten und nüchternen Aufklärungs-
tendenzen des Rationalismus des 18. Jahrhunderts, ließ die
Romantiker von neuem in die Mysterien der christlichen ReHgion
32 Geistige Eindrücke und Bildungseinflüsse.
sich vertiefen, eine Strömung, welche bei einzelnen ihrer Ver-
treter in ein Hinneigen zum asketisch gefaßten Ejttholizismus,
in krankhaftes Spielen mit Magie und Mystik, endlich in tollen
Obskurantismus ausartete.
Für die geistige Entwicklung Richard Wagners wurde die
Romantik namentlich durch zwei ihrer Elemente von Wichtigkeit:
ersthch durch ihr Betonen des nationalen Standpunktes in der
Kunst, und zweitens dadurch, daß die Sehnsucht der Poesie nach
einer Vereinigung mit ihrer Schwesterkunst Musik, von der wir
oben sprachen, in der Romantik s. z. s. akut wurde. Seinem
innersten Wesenskeme nach können wir das Streben der Roman-
tiker nämlich charakterisieren als den krampfhaften Versuch
der Poesie, mit ihren Mitteln die Wirkungen der Dichtkunst und
Tonkunst in sich zu vereinigen. In der Romantik zerfloß die
Dichtung einerseits in den gestaltlosen Nebel bloßer Stimmungen,
um andererseits durch ironische Selbstzersetzung in ihr gerades
Gegenteil, nämlich die reine und nackte Prosa umzuschlagen,
welche Konsequenz dann die Erben der Romantik, die Vertreter
der sogenannten »jungdeutschen« Schule, mit vollem Bevmßtsein
zogen.
Bei dem künstlerisch genialsten und gestaltungskräftigsten
der deutschen Romantiker hatte sich infolge einer im Kleinen
an Wagner erinnernden ungemeinen Vielseitigkeit der Be-
gabung diese charakteristische Doppelstellung der Romantik
in seinem äußern Leben gleichsam symbolisiert. Ich meine den
späteren kgl. preußischen Kammergerichtsrat E. Th. A. Hoff-
mann, der um die Zeit, als Wagner das Licht der Welt er-
blickte, Musikdirektor der Secondaschen Theatergesellschaft in
Dresden war, um bald als Komponist einer selbst von einem
AVeber hochgeschätzten Oper (Undine 1816) und noch mehr als
heute noch unerreichter Meister der phantastischen Novelle die
Aufmerksamkeit des deutschen Publikums auf sich zu lenken.
Wir werden in der Folge noch sehen, wie stark und mannigfach
sich der junge Wagner von seinen Schriften anregen ließ.
Parallel mit der romantischen Bewegung in der schönen
Litteratur entwickelte sich in jenen Tagen die deutsche Philo-
sophie, indem sie sich bemühte, von den Fesseln und Schranken,
welche der nüchterne Ernst und die kritische Gewissenhaftigkeit
Die zeitgenössische Philosophie. 3S
Kants d^r spekulativen Vernunft aufgenötigt hatten, loszukonnnen,
um sich frei in der Begion einer vieles ahnenden und wenig er-
kennenden, immer zügelloser werdenden Phantastik zu ergehen.
Da indessen auf Wagner mit Ausnahme des um kaum ein
Jahrzehnt älteren Ludwig Feuerbach (geb. 1804) und Schopen-
hauers kein Philosoph irgendwie nennenswerten Einfluß ausge-
übt hat, so mag der Hinweis genügen, daß Scheliing, dessen
späteres System der positiven Philosophie, wie Kuno Fischer
(Greschichte der neueren Philosophie VI, S. XI) mit Brecht bemerkt,
unserem Meister, wenn er es gekannt hätte, manchen Berüh-
rungspunkt mit seiner eigenen Weltanschauung hätte bieten kön-
nen — ein Verwandtschaftszug, der sich auch später in der Wid-
mung einer Darstellung jener letzten Phase der Schellingschen
Philosophie durch Wagners politischen Freund und Gesinnungs-
genossen Gonstantin Frantz an ihn ausspradi, — gerade um
jene Zeit vor dem aufgehenden Sterne seines an Jahren älter^i,
in seiner geistigen Entmckelung jüngeren Studien- und Jugend-
jEreundes Hegel in den Augen des phibsophisch^i Publikums
zurückzutreten begann. Hegel selbst weilte, mit dem Ausbau
seines eigenen Systems beschäftigt, als Rektor des Gymnasiums
zu Nürnberg, wo er im Jahre zuvor begonnen hatte, seine
»Wissenschaft der Logik« (1812 — 1816) herauszugeben, während
d«r junge Schopenhauer (geboren 1788), ohne sich vom nahen
Kriegsgetmnmel stören zu lassen, in dem abgelegenen Eudolstadt
an seiner Abhandlung Ȇber die vierfache Wurzel des Satzes
vom zureichenden Grunde« arbeitete, mit derer am 2. Oktober 1813
vor der philosophischen Fakultät der Universität Jena zum Doktor
der Philosophie promovierte. —
Seiner Abstammung nach gehörte Richard Wagner in jaae
sociale Schichte, welche in Deutschland seit jeher recht rigent-
lich den gebildeten Mittelstand repräsentiert hatte. Die ersten
nachweisbaren Vertreter des ursächsischen Geschlechtes waren
Schullehrer und Organisten in kleinen Gemeinden, sein Groß-
vater, studierter Theologe, trat später zur Steuerverwaltung über,
und sein Vater ergriff die juristische Staatsbeamtenlaufbafan.
Schon in diesem Manne, der übrigens wenige Monate nach der
Geburt Richards starb, trat eine auffallende leidenschaftliche
Begeisterung für das Theater charakteristisdi hervor, und nach-
L Ollis, Weltanschauung B. Wagners. 3
34 Geistige Eindrücke und Bildungseinfiüsse.
dem seine Witwe den Schauspieler, Sänger und Lustspieldichter
Ludwig Geyer geheiratet hatte (1814), geriet die ganze Familie
in die Sphäre des Theaters: außer dem Meister selbst gingen
sein älterer Bruder Albert (geboren 1799) und drei Schwestern
zur Bühne. Somit partizipierte Richard schon durch seine
Familie gleichzeitig an zwei gänzlich verschiedenen socialen
Kreisen, dem soliden, akademisch gebildeten deutschen Bourgeois-
tum und jener, aus dem verachteten Stande der »fahrenden
Leute« hervorgegangenen eigentümlichen ßohemien-Welt des
deutschen Schauspielertums, das eben erst eigentlich anfing, sich
sociale Gleichberechtigung mit den übrigen Staatsbürgern zu er-
obern. Dieses Doppelverhältnis wurde in mannigfacher Bezieh-
ung bestimmend für seine geistige Entwickelung.
Wagners innerste Veranlagung machte ihn zum dramatischen
Dichter und Komponisten, der Trieb zur Bühne war ihm an-
geboren, und die ganze Umgebung seiner Kinderjahre kam diesem
Triebe entgegen: er wuchs s. z. s. auf dem Theater auf und
lernte die theatralische Praxis und Misere von frühester Jugend
an aufs genaueste kennen. Aber andererseits war er der erste
unserer großen Musiker, der eine vollständige humanistische
Bildung genoß, dem es vergönnt war, im Reiche des deutschen
Geistes heimisch zu werden, ein Vorteil, der einem Mozart und
Beethoven z. B. schon durch ihre Abstammung aus Familien
des damals geistig wie gesellschaftlich gleich tief stehenden aus-
übenden Musikantentums vorenthalten blieb und der in seiner
Bedeutung für die ganze geistige Entwickelung nicht leicht
überschätzt werden kann.
Aber was nicht minder wichtig ist: dadurch, daß Wagner
dem sittlich tüchtigen und gesunden, wenn auch oft allzu phi-
liströsen, deutschen Bürgerstande angehörte, war ihm jenes Ge-
fühl für .ethische Würde und Reinheit angeboren, das dem
geborenen Theaterkinde trotz oft unleugbar vorhandener, indi-
viduell vorzüglicher Charaktereigenschaften in der Regel abgeht,
ja, wenn man gerecht sein will, bei der heute noch nicht ganz
überwundenen socialen Stellung der Bühnenangehörigen, abgehen
mußte. So war unser Meister gleichsam schon durch seine
Familie prädestiniert zu dem leidenschaftlich begeisterten
Theaterreformator, der er geworden ist, indem er niemals
Abstammung und sociales Milieu, 35
ganz in dem Bühnenleben, wie es ist, auf- und untergehen
konnte, noch auch je es vermochte, über dem äußeren Glanz und
Flitter den inneren Ernst und das ideale Ethos des seiner mo-
ralischen Bestimmung sich bewußten höheren Menschen zu ver^
Heren, während er andererseits infolge seiner Zugehörigkeit zu
jener dem soliden Bürgertum so diametral entgegengesetzten Welt
des Theaters stets die Augen offen behielt für das , was an
jenem äußerlich so wohlanständigen Bourgeois bloß täuschender
Firnis ist, für die Prüderie und moralische Heuchelei des guten
Staatsunterthanen, für die Lüge einer mit ihrer Sittlichkeit
pharisäisch sich brüstenden Scheinheiligkeit. —
Die großen geistigen Eindrücke, welche die Entwickelung
der Jugendjahre Wagners bestimmten, lassen sich in fünf Namen
zusammenfassen: das klassische Altertum, welches Wagner
als Gymnasiasten so intensiv beschäftigte, daß seine Lehrer den
künftigen Philologen in ihm zu erkennen glaubten, Shake-
speare, um dessentwillen er im 1 3. Lebensjahre für sich Englisch
lernte, Karl Maria von Weber, den er in Dresden noch
persönlich sah, Beethoven, der ihn erst zum Musiker machte
und weihte, und E. Th. A. Hoffmann, der Meister der roman-
tischen Novelle. Wie sehr die Antike die Gestaltung des Wag-
nerschen Kunstideals beeinflußte, ist bekannt und wird an seinem
Orte noch öfter zu berühren sein, nicht minder die Bedeutung,
welche Wagner dem Schwan vom Avon beilegte, in dem er den
Dramatiker par excellence erkannte, der sich zu den übrigen
dramatischen Dichtern verhält, wie Beethoven zu allen anderen
musikalischen Genies. Von diesem als dem Vorgänger unseres
Meisters, dessen Erbe er antrat, ist schon oben geredet worden,
und der Einfluß Webers auf Wagner ist eher bisweilen über-
schätzt worden, als daß darüber etwas nachzuholen wäre. Da-
gegen sind wohl einige Worte über Hoffmann am Platze.
Sein Einfluß auf Wagner war bedeutend, wie er selbst
konstatiert, die Lektüre seiner Schriften ohne Zweifel nach dem
Eindruck der Beethovenschen Symphonieen das, was die ganzen
Nerven und Sinne des jungen Künstlers am intensivsten uud
heftigsten in jenen Jahren erregte. *
* »In meinem sechzehnten Jahre war ich, zumal durch die Lek-
3*
35 Geistige Eindröcke und Bildungseinflüsse.
Und das ist nicht zu verwundem. Von ebenso vielseitiger,
wenn auch nicht gleich genialer Begabung wie Wagner, Schrift-
steller, Komponist, Dirigent und hervorragender Zeichne:, war
Hofimann entschieden das bedeutendste poetische Tal^dt der
ganzen deutschen romantischen Schule. Das ist im Ausland,
z. Bu in Prankreich, wo der Verfasser der Serapionsbrüder zu
den gelesensten deutschen Schriftstellern gehört, mehr anerkannt
als bei uns. Seine Neigung zum Excentrischen, seine kühne,
auch vor dem Bizarren nicht zurückschreckende, durch und durch
antiphiliströse Laune, seine glühende Phantastik und leid^i-
schaftliche SinnUchkeit haben es verschuldet, daß er von unseren
litteraturgeschichteschreibenden Herren Professoren unter die
Eüategorie der krankhaft überspannten und > ungesunden« Talente
eingereiht wurde, und das ist im lieben Deutschland verhängnis-
voller als etwa konstatierte normale und »gesunde« Talentlosig-
keit. Die Zahl derer, die Hoffinann in seiner unerreichten
Eigenart wirklich kennen und lieben, ist gering, aber es sind
die besten, und, wenn es noch eines Beweises bedürfte, daß,
was man so gewöhnlich Litteraturgeschichte nennt, zum großen
Teüe nichts ist, als von mediokren Geistern dem allgemeinen
Bewußtsein aufoctroyierte fable cojwenue, so brauchte man für
Deutschland nur die beiden Namen Lichtenberg und Hoff-
mann zu nennen.
Was Wagner Hoffmann verdankte, war mancherlei. Zu-
nächst ist HofEmann der erste deutsche Musikschriftsteller
gewesen, der diesen Namen wirklich verdient, d. h. der genug fach-
männisches Urteil und technisch musikalisches Wissen besaß, um,
wenn er über Musik redete, nicht den Boden des Thatsächlichen
unter den Füßen zu verlieren, nicht in inhaltlose ästhetische
Schönrednerei zu verfallen, aber andererseits auch genug Künstler
und Dichter war, um nicht an der formalen und technischen
Außenseite der Musik hängen zu bleiben, sich mit trockenem
Analysieren zu begnügen, ohn£ ins Innere der Sache zu dringen.
türe Hoffmanns, zum toUsten Mysticismus aufgeregt: am Tage, im Halb-
scMafe hatte ich Yisionen, in denen mir Grundton, Terz und Quinte leib-
haft erschienen und mir ihre wichtige Bedeutung offenbarten.« G-. Sehr. u.
D. I. 6. ... Hoffmanns Erzählungen wirkten in phantastisch-mystischer
Weise auf meine jugendliche EinbüduEigskraft. Ebd. lY, S. 269.
E, Th. A. HoffiBÄnö. 37
An Hoffmann hat sich der Musikschriftsteller Wagner gebildet;
besonders in den frühesten litterarischen Arbeiten unseres
Meisters, den Pariser Novellen und Skizzen, ist der stilistische
Einfluß des Verfassers der Phantasiestücke in Callots Manier
unverkennbar. Dazu kam noch, daß Hoffmann nicht nur im
allgemeinen ein tiefes, aus eigenem gefühlsmäßigen Erleben der
Wirkungen der Musik hervorgegangenes Verständnis für die
specifische Eigenart der Tonkunst besaß, sondern auch speciell
über dramatische Musik und die Oper Ansichten entwickelte
(man sehe z. B. das interessante Gespräch »Der Dichter und der
Komponist« im 1. Teile der Serapionsbrüder), welche den jungen
Musikdramatiker auf das nachhaltigste anregen mußten, daß
femer Hoffmann wohl Wagners Auge zuerst auf die Stoffwelt
hinlenkte, welcher er später seine Sujets entnahm: in jenem
oben angeführten Gespräche macht Hoffmann auf die drama-
tischen Märchen des Italieners Gozzi als für die Oper geeignete
Vorwürfe aufmerksam, was sicherlich den ersten Anstoß zu
Wagners Erstlingswerke »Die Feen« (nach Gozzis »Die Frau
als Schlange«) gab. Bei Hoffmann begegnete unser Künstler
zuerst dem Sängerkrieg auf der Wartburg, und der Heinrich
von Ofterdingen Hoffmanns weist manche verwandte Züge mit
Wagners den gleichen Rufnamen führenden Tannhäuser auf;
hier lernte er zum erstenmale die farbenprächtige und reiche
Welt des alten Nürnberg kennen, und es ist anzunehmen, daß
er in der Novelle Hoffmanns »Meister Martin der Küfner und
seine Gesellen« zuerst auf den Titel jenes Buches des Altdorf er
Professors Johann Christoph Wagenseil »Von der Meistersinger
holdseligen Kunst« stieß, das ihm späterhin als Hauptquelle für
die kulturhistorische Milieuschilderung seines Hans Sachs-Dramas
dienen sollte.
Aber über diese Einzelheiten hinaus war es ein charakte-
ristischer Grundzug in Hoffmanns Wesen, in dem sich Wagner
sympathisch mit ihm berührte: das ist der scharf ausgeprägte
Dualismus zwischen sinnlichem und geistigem Princip, zwischen
dem nach Genuß und Macht auf dieser Erdenwelt begehrenden
und dem einzig in einem transscendenten, überirdischen, idealen
Dasein sein Genüge findenden Teile der menschlichen Seele,
ein Gegensatz und Konflikt, den wir in Wagner und Hoffmann
38 Geistige Eindrücke und Bildungseinflüsse.
gleicherweise vorfinden, nur daß dieser Zwiespalt bei diesem
unversöhnt blieb und seinem Leben den Charakter des Zerrissenen
aufdrückt, was ihn mit Vorliebe in seinen Werken der ästhe-
tischen Form der Ironie sich bedienen läßt, während der Bay-
reuther Meister es verstand, mit gewaltiger ethischer Energie
die beiden auseinanderstrebenden Teile seiner Psyche zu der
bruchlosen Einheitlichkeit einer geschlossenen Persönlichkeit zu-
sammenzuzwingen.
Ich glaubte hier über Hoffmann etwas ausführlicher sein
Äu müssen, erstlich weil sowohl seine allgemeine Bedeutung
innerhalb der Geschichte unserer Dichtung als sein besonderer
Einfluß auf Wagner bisher meistens nicht genügend gewürdigt
wurden, und zweitens weil er, nur für Wagners geistige Jugend-
entwickelung von Wichtigkeit, uns in der Folge nicht mehr be-
gegnen wird.
Als Deutschlands Völker von dem herannahenden Ende
der galHschen Fremdherrschaft das Heraufblühen eines neuen
VölkerfrühUngs erhofften, erblickte Bichard Wagner das Licht
der Welt. Die Zeit seiner Kinderjahre brachte über das politisch
nach wie vor ohnmächtige deutsche Vaterland jenen Sturm der
Reaktion, welcher die freiheitlichen und nationalen Kiiospen im
Keim zerstörte und, als der junge Wagner im Jahre 1831 als
18 jähriger stud. music. die Universität Leipzig bezog, hatte gerade
in Paris die Juli-Revolution (1830) eine politische und sociale
Bewegung entfacht, die sich auch auf Deutschland ausdehnte
und der romantischen Periode des deutschen Geisteslebens ein
Ende machte. Neue Ideen, neue Schlagworte tauchten auf; es
kamen jene so aufgeregten und gärenden Jahre, wo jede Stimde
fast ein neues weltbeglückendes System gebar, das so schnell
wieder verschwand, als es erschienen war, jene Zeit voll ehr-
lichen IdeaHsmus und lügnerischen Schwindels, der man unrecht
thun würde, wenn man als ihre einzige Wirkung den tragiko-
mischen Rummel der sogenannten deutschen Revolution von
1848/49 ansehen wollte, eine Zeit voll glühender, schwärmerischer
Hoffnungen, aber von einer gewissen ephemeren Kurzatmigkeit
und durchaus auf das Diesseits, das Reale, die Gegenwart und
das Heute gerichteten Kurzsichtigkeit, eine Zeit, die noch in
weit höherem Maße (wenigstens geistig) schnelllebig war, als
Beaktion und Bevolution. 39
unsere fin de sücle, die im Gegenteil dem tiefer dringenden
Auge des aufinerksamen Beobachters unverkennbare Anzeichen
von Stagnation und schläfriger Müdigkeit zeigt — eine wirre,
tolle, unklare, aufgeregte, stürmische, aber sicherHch nicht un-
fruchtbare Periode unseres Geisteslebens.
Wie sich unser Meister mit ihr auseinandersetzte, worin er
sich mit ihr berührte, worin sie ihn abstieß, zu welchen lUu-
sionen und Täuschungen sie ihn verleitete, das werden wir in
der Folge zu sehen Gelegenheit haben.
III.
Bichard Wagners künstlerischer und menschlicher Charakter.
Die Entwickelang vom ünbewafstsein zum Bewufstsein.
>Zwei Seelen wohnen ach! in meiner Brust,
die eine wiU sich von der andern trennen;
die eine hält in derber Liebeslust
sich an die Welt mit klammernden Organen;
die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
zu den Gefühlen hoher Ahnen« —
mit diesen oft citierten Worten beklagt Goethes Faust den un-
lösbaren Konflikt im Innern seiner Seele, und wir können sagen,
daß er damit den Dualismus im Wollen eines jeden einem
idealen Ziele zustrebenden Menschen überhaupt in typischer
Weise formuliert.
In der Sprache der Metaphysik ausgedrückt ist es ein
Wille, der seinen Inhalt sowohl bejaht als auch verneint und
gerade in diesem gleichzeitigen Zusammen von sich wider-
sprechendem Ja und Nein sein eigentümliches Wesen offenbart
und auslebt, was allem irdischen Sein mit seinem rastlosen
Werden und Vergehen schließlich zu Grunde Hegt, und im
Bereiche des menschlichen Wollens ist es die — wie es
der Philosoph, welcher diese uralte Erkenntnis in den Oentral-
punkt seines tiefsinnigen Systems gestellt hat, Julius Bahn-
sen, nennt — »realdialektische« Natur des Ideals, in
40 ^* Wagners künstlerischer und menschlicher Charakter.
welcher das uniTersale TJrgesetz des Widerspruchs sich am deut-
lichsten zu erkennen giebt. Das Ideal ist das seiner innersten
Natur nach dem Bealen Entgegengesetzte, das absolut Unwirk-
liche, weil an keinem Ort und zu keiner Zeit jemals Eealisierte
oder auch Realisierbare, ein bloßes Gedankending^ das Sinn
und Bedeutung nur dadurch erhält,* daß es Motivitationskraft
für den menschlichen Willen gewinnt, daß es eine lebendig
wirkende Gewalt im praktischen Handeln des Menschen wird.
Indem der durch einen Wahn, eine Illusion über die Un-
realisierbarkeit des Ideals irre geführte Wüle durch keine
Enttäuschung sich davon abhalten läßt weiter zu streben, ob-
gleich ihn — an der absoluten Unendlichkeit der Entfernung
des Ideals von seiner Realisierung gemessen — kein Schritt
seinem Ziele wesentlich näher bringt, lebt der einzelne Mensch
sein individuelles Dasein, die gesamte Menschheit ihre Ge-
schichte.
Diesem widerspruchsvollen Charakter des Ideals entspricht
nun innerhalb der Subjektivität des strebenden Individuums
jene Doppelheit des WoUens, wie sie sich in den oben ange-
führten Worten des Goetheschen Faust ausdrückt. Darum ist
auch das Leben eines jeden naoh einem idealen Ziele streben-
den Menschen mit Notwendigkeit tragisch, insofern die Ein-
heit eines in sich gespaltenen, sich widersprechenden Wollens
ihm als letztes Ziel seiner Lebensarbeit, iu dessen Erreichung
er einzig endgültige Befriedigung zu erlangen hofit, eben
ein Ideal vorhält, d. h. ein seiner innersten Natur nach Un-
realisierbares. Populär ausgedrückt: der höhere Mensch, d. h.
der Mensch, der mehr ist als ein ^animal risibüe< (nach der
Definition Spinozas), erscheint als »Bürger zweier Welten«:
einerseits verwehrt ihm seine jenseitige, geistige Natur an der
realen Welt, wie sie ist, Genüge zu finden, während anderer-
seits seine diesseitige, sinnliche Natur es ihm nicht erlaubt, ganz
in das Reich des unwirklichen Idealen zu flüchten, ihn zwingt,
das erkannte Ideal irgendwie zu gestalten, in die Sphäre des
realen Seins herabzuziehen, dasselbe in irgend einer Weise zu
»verwirklichen« zu suchen. Zwischen diesen beiden Welten
pendelt der Wille des Menschen unaufhörlich hin und her; was
wir sein Leben und Wirken nennen, besteht im Grunde aus
Die realdialektische Natur des Ideals. 41
nichts anderem als dem rastlosen Herüber und Hinüber von der
einen znr anderen.
Je nachdem nnn die eine dieser beiden Seiten des mensch-
lichen Wesens überwiegt, oder aber beide sich mehr oder min-
der die Wage halten, wird die Art der Lebensarbeit des Indi-
vidnnms eine verschiedene sein. Präponderiert die auf das
Reale und Diesseitige gerichtete Seite seiner Natur, so wird es
dem betreffenden Menschen hauptsächhch um thatsächKche Er-
folge und handgreifliche Ergebnisse in der wirklichen Welt der
Gregenwart zu thun sein; es wird ihm zwar ein festumrissenes
Idealbild bei all seinem Thun und Lassen vorschweben, aber er
wird sich nicht allzusehr darüber grämen, wenn er nur zu bald
einsehen muß, daß eine vollkommene und restlose Verwirklichung
desselben unmögUch ist, er wird vor eiaem Kompromiß seines
Ideals mit den realen Mächten der Wirklichkeit nicht zurück-
schrecken, er wird sich begnügen,, soviel von seinem Ideal zu
reaUsieren, als ihm eben, wie die Welt nun einmal ist, reali-
sierbar dünkt, er wird trotz des ihm im Herzen wohnenden
Ideals Dinge und Menschen nehmen tels quHls sonty und nie-
mals so sehr Ideahst sein, um darüber die Klugheit und prak-
tische Lebensweisheit aus dem Auge zu verheren: er ist im
wesentlichen Opportunist, der geborene Staatsmann und Poli-
tiker — ich würde sagen »Realpohtiker«, wenn dies nicht ein
Pleonasmus wäre, wie »Idealpohtiker« eine contradictio in ad-
jecto — ein Typus, wie ihn z. B. in unseren Tagen Fürst
Bismarck in genialer Größe repräsentierte.
Hat umgekehrt die ideale Seite der menschlichen Natur
das Übergewicht über die dem Diesseits und der realen Wirk-
Hchkeit zugekehrte, so werden, je nachdem der Schwerpunkt des
individuellen Charakters im Intellekt oder im Willen (dem
Moralischen) ruht, zwei äußerhch sehr verschiedene, aber in
ihrer Wurzel unmittelbar miteinander verwandte Phänomene
entspringen: zuerst die rein kontemplative Natur, die mit dem
»Wanderer« im »Siegfried« sagt: »Zu schauen kam ich, nicht
zu schaffen«, der Denker, der Philosoph, der sein praktisch thä-
tiges Leben als etwas für sein eigentliches Seia durchaus »Ir-
relevantes« hält, für einen »Erdenrest zu tragen peinlich«, für
ein notwendiges Übel, das keine andere Bedeutung hat, als das
42 ^' Wagners künstlerischer und menschlicher Charakter.
Piedestal für das geistige Leben abzugeben, — woher es denn
auch kommen mag, daß man dem > Gelehrten« von Alters her
Vernachlässigung des > äußeren« Menschen und seiner Beziehun-
gen zur Umgebung nachgesagt hat. Diesem Typus, welcher sich
damit begnügt, das Ideal geschaut imd erkannt zu haben, und
sich höchstens darin mit der realen Wirklichkeit berührt, daß
er das Resultat seines Denkens auch darstellen und mitteilen,
schheßlich sogar von anderen, sei es auch nur eine geringe
Zahl auserwählter Freunde, verstanden und gewürdigt wissen
will, der eigentlich nur in einer vorgestellten und gedachten
Welt wirklich lebt, diesem s^ z. s. rein intellektualen Menschen
entspricht als sein genaues G-egenbild in der Kategorie der
»Willensmenschen« die eigentliche ethische Heldennatur, deren
Wollen sich den Mächten der realen Wirklichkeit gegenüber
gerade so bloß negativ und ablehnend verhält, wie das wertende
Bewußtsein des rein theoretischen Menschen.
Der echte ethische Held ist im Grunde so wenig darum be-
kümmert, sein Ideal auch faktisch zu verwirklichen und sich mit der
realen Wirklichkeit auseinanderzusetzen, daß er sich schließlich
immer zu dem »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« bekennt ;
er kommt in unsere Erdenwelt gleichsam nur herab, um hier Zeug-
nis abzulegen für eine andere jenseitige Welt — ob er sich diese
mythologisch »überm Sternenzelt« denkt, oder sich bewußt ist,
daß es nur der Gott, der ihm »im Busen wohnt«, ist, der aus
ihm spricht, ist von keiner wesenthchen Bedeutung — , für eine
Welt, von welcher der gewöhnliche Mensch, der av&Qojrcog
ipvxiy^og des Apostels Paulus (1. Kor. 15) keine Ahnung hat;
er ist Märtyrer, und in seiner reinsten und vollendetsten Aus-
bildung als totale Resignation und Entsagung anstrebender
Asket hängt er nur insofern noch an einem dünnen Faden
mit der Welt in Raum und Zeit zusammen, als eine vollstän-
dige und restlose Verneinung des Willens zum Leben eben
faktisch unmöglich ist.
Mitten inne zwischen diesen Extremen als der Mensch par
excellence, als derjenige, der nicht nur überhaupt, sondern in
gleicher Weise und in gleichem Maße »Bürger zweier Welten«
ist, insofern jene beiden antagonistischen Triebe der mensch-
Uchen Seele in ihm sich die Wage halten und mehr oder
Der künstlerische Mensch. 43
minder ausgleichen, steht der Künstler, oder besser gesagt:
der künstlerische Mensch.
Es ist bekannt, daß Schiller es war, der, ausgehend von
der mittleren und vermittelnden Stellung, welche Kant der
ästhetischen Urteilskraft innerhalb seines kritischen Dualismus
angewiesen hatte, zuerst die Forderung einer Ȋsthetischen
Erziehung des Menschen« aufstellte, als des einzigen Mittels,
den Zwiespalt, welchen Kultur und CSvilisation zwischen dem
natürlichen und geistigen Menschen, dem avd'QcoTtog xpv%iY.6g
und dem avS'QcoTtog TtrevinaTixog aufgerissen, durch gleichmäßige
Ausbildung aller seiner Ej'äfte, der körperhchen wie der geisti-
gen, in einer harmonischen Einheit zu versöhnen. Wagner,
der diesen Zwiespalt, wie vielleicht kein anderer, an und in sich
selbst erlebt und erlitten hat, griff diesen Schillerschen Ge-
danken auf und begegnete sich mit ihm in der Würdigung der
Kunst als der im eminentesten Sinne des Wortes eigenthch
und specifisch menschlichen Lebensbethätigung, durch die eine
ideale menschliche Kultur allein zu ermöglichen sei, eine Wür-
digung, die wir als ein Fundamentalaxiom seiner Weltanschau-
ung in der Folge kennen lernen werden.
Stellen wir uns nun einen Künstler vor, bei dem diese
beiden Triebe, sowohl der auf das Reale und Sinnliche, als der
auf das Ideale und Geistige gerichtete, nicht nur sich die Wage
halten, sondern gleich mächtig und kräftig entwickelt sind, so
wird sich ein solcher nicht damit zufrieden geben, seine künst-
lerische Absicht, das von ihm erschaute Ideal, in ästhetischen
Formen mehr öder minder bloß anzudeuten oder auszusprechen,
er wird vielmehr nicht eher ruhen, als bis er den Inhalt seiner
künstlerischen Mitteilung vollständig und restlos hat sinnliche
und sichtbare Erscheinung werden lassen, bis alles Innerliche
und Seelische auch greifbare Gestalt gewonnen hat; denn so
sehr drängt ihn die aufs Diesseits gerichtete Seite seiner Na-
tur zur blühend lebendigen und sinnenfälligen Realität, daß
er erst in ihr seine Absicht verwirklicht, sein Wollen erlöst
fühlt. Andererseits aber auch wird ihm nichts Sichtbares, kein
in Raum und Zeit sich bewegendes reales Ding bloß als solches,
s. z. s. als reine »Vorstellung« (Phänomenen) genügen, ehe er
nicht seine innerste Seele, sein >An-sich« durch die Hülle der
44 R- Wagners künstlerischer und menschlicher Charakter.
äußeren Eracheinung bindurchidringend, entdeckt hat, um es
durch das Ausdrucksmedium der Musik als tönende Weltseele
zu offenbaren. (Vergl. S. 24 ff.) Ein solcher Künstler wird sich
nur in einer Kunstform voll aussprechen und ausleben können,
in der »Vorstellung« und >Ding an sich«, Phänomenon und
Noumenon, Äußeres und Inneres, Gestalt und Gefühl, sicht-
bare und hörbare Welt in gleicher Weise zu ihrem Eechte
kommen, in der wahrend des ganzen Verlaufs der künstlerischen
Mitteilung zwei sich genau entsprechende und nur in ihrer gegen-
seitigen Bezogenheit verständhche Welten parallel nebeneinander
herlaufen, wo alle EeaUtät ideahsiert und alle Idealität reaü-
siert, alle Innerlichkeit veräußerlicht und alle Äußerlichkeit
verinnerlicht erscheint, wo sowohl der !keaUsierungs- wie der
Idealisierungstrieb in gleicher Weise Befriedigung finden: ein
solcher Künstler war Richard Wagner, und die Kunstform,
in welcher er allein, als seiner Natur vollkommen gemäß und
ganz entsprechend, schaffen konnte, war das Worttondrama,
in welchem scenische Kunst (Mimik im weitesten Sinne des
Wortes) und Musik als Repräsentanten der sichtbaren realen
und der unsichtbaren idealen Welt, zusammengehalten durch
die vermittelnde und beide als Ausdrucksmittel einer künstle-
rischen Absicht mit Bewußtsein verwendende Kunst des Dich-
ters, sich zu gemeinsamer, gegenseitig einander er^nzender
Wirkung verbinden.
Und wie dieser Gedanke eines Antagonismus zweier gleich
mächtig und stark entwickelten, nach entgegengesetzten Seiten
gerichteten Triebe uns das Geheimnis der künstlerischen
Persönlichkeit Richard Wagners enthüllt, so giebt er uns auch
einen Schlüssel in die Hand, den, absichtUch und unabsichtlich,
so vielfach verkannten menschlichen Charakter des Meisters
uns zu deuten, wenn wir nur erst einmal eikannt haben, daß
die beliebte und trotzdem so unsäglich oberflächliche, ja direkt
falsche Trennung von »Künstler« und »Mensch« nirgend so
wenig angebracht ist als bei dem Manne, der selbst einmal vom
Künstler gesagt hat, daß man ihn erst dann als solchen verstehe,
wenn man ihn auch als Menschen lieben gelernt habe (IV, 231).
Friedrich Nietzsche, der schon darum immer in erster Linie
gehört zu werden verdient, wenn wir den Charakter unseres
Nietzsches Deutung des Wagnerschen Charakters. 45
Meisters wahrhaft ^gründen wollen, weil er die »geheimnisvolle
Gegnerschaft«, von der er selbst einmal sagt, daß sie zum Be-
trachten, als welches ein »Entgegenschauen« verlange, nötig
sei (Bidwrd Wagner in Bayreuth S. 46), Wagnern gegenüber
audi in der Periode seiner enthffiäiastisdhesten Veisdirung des
Bayreuther Meisters nie ganz verleiognen konnte, — Friedrich
Nietzsche war es, der zuerst auf jene elj^nentare psychisdie
Doppektrömung als das eigcntlidbe Grefaeinmis der Persönlichkeit
Bichard Wagners hinwies. »Seine Natur,« heißt es a. a. 0. S, 10t,
»erscheint . , . . in zwei Triebe oder Sphären auseinander-
gerissen. Zu Unterst wühlt ein heftiger Wille in jälier Strömung,
der gleichkam auf allen Wegen, Höhlen und Schluchten ans
Licht will und nach Macht verlangt. Nur eine ganz reine und
freie Kraft konnte diesem Will^i einen Weg ins Gute und
Hilfreiche weisen; mit einem engen Geiste verbunden, hätte ein
solcher Wille bei seinem schrankenlosen, tyrannischen Begehren
zum Verhängnis werden können Es war ein liebevoller,
mit Güte und Süßigkeit überschwenglich mild zuredender Geist,
dem die Gewaltthat und die Selbstzerstörung verhaßt ist und
der Niemanden in Fesseln sehen will: dieser sprach zu Wagner.
Er ließ sich auf ihn nieder und umhüllte ihn tröstlich mit seinen
Flügeln, er zeigte ihm den Weg. Wir thun einen Blick in die
andere Sjdaäre der Wagnerschen Natur « Entkleidet
der poetisierenden Sprache, in welcher sich der künftige Dichter
des Zarathustra schon damals gefiel, heißt das nichts anderes,
als daß den natürlichen Untergrund des Wagnerschen Charakters
ein heftig und ungestüm begehrender Wille ausmadite, der,
wäre er sich allein überlassen geblieben, den von ihm besessenen
Menschen 2u einem machtgierigen Tyrannen und Egoisten, als
Künstte zu einem nur dem Kufe des Ehrgeizes und der Ruhm-
sucht folgenden Streber, einem äußerlichen Erfolgen mit eitler
Gier nachhaschenden Virtuosen gemacht hätte. Und in der
That sind das so ziemlich die Charakterzüge^ aus denen sich das
Büd Bidxard Wagners bei denen zusammensetzt, die [bonm oder
muia ßde) nur diese eine, der realen Außenwelt zugekehrte Seite
seines Charakters zu erkennen imstande sind, eine Yerkennung
seines wahren Wesens^ die in solch hohem Maße und in mkh.
weitgehender VerbreiUmg nicht hätte entstehen können, wenn
46 ^- Wagners künstlerischer und menschlicher Charakter.
sie nicht an thatsächlich vorhandenen, wenn auch einseitig ent-
stellten Charaktereigenschaften des Meisters einen Stützpunkt
gehabt hätte.
Was ihn nun davor bewahrte, an einem bloß egoistischen
Wollen sein Genüge zu finden, dieses sein besseres Selbst, sein
guter Greist, ist nicht ebenso leicht wie sein Antagonist mit
kurzen Worten deutlich zu bezeichnen und zu charakterisieren:
Wagner nennt selbst einmal die Musik als seinen guten Engel
(IV, 263), und was er damit meint, erfahren wir aus der wenige
Zeilen darauf folgenden Definition: >Ich kann den Geist der
Musik nicht anders fassen, als in der Liebe.« (Ebd. 264) Die
Musik war es, die ihn als Künstler davor behütete, sich an die
Prosa zu verlieren, »kritischer Litterat« zu werden (Ebd.),
wie ihm in der Liebe der Erlösung bringende Engel an die
Seite trat, der befreiend das Gefühl seiner eigenen und persön-
hchen Not zum Mitempfinden und Mitleiden der allgemeinen
Menschheitsnot erweiterte, sein egoistisch isoliertes Ich, die
Schranken des principii individuationis durchbrechend, zur sym-
pathisch die ganze Menschheit umfassenden »Weltseele« aus-
dehnte.
Man kann es auch so ausdrücken: zu dem blinden und
heftigen Wollen in Wagner gesellte sich ein tiefer und heller
Blick, den kein Wahn und keine Täuschung auf die Dauer zu
blenden vermochte; indem der sonnige Strahl dieses Blicks die
dunkeln Abgründe seines WoUens erhellte und erleuchtete, gab
er diesem, dessen Streben zunächst nur auf Erreichung von
Macht, Herrschaft und Genuß ä tout priz gerichtet war, den
idealen Inhalt: nur an solchen Erfolgen, an solcher Macht und
Herrschaft sein Genüge zu finden, die. auf Wahrheit beruhen,
dagegen solche zu verabscheuen, die einem Irrtum, einem Miß-
verständnis entspringen, nur in dem Glück sich befriedigt zu
fühlen, >das ohne Reu'«, nur eine solche Herrschaft über die
Menschen zu begehren, welche diese wirklich und wahrhaft
unterwirft, eine Herrschaft, wie sie nur die alle Täuschungen
und Mißverständnisse ausschließende Macht der sich selbst hin-
gebenden und in dieser Selbstentäußerung erst ihr volles
Selbst offenbarenden Liebe zu gewähren vermag.
Darum finden wir als einen hervorstechenden Hauptzug in
Liebe und "Wahrhaftigkeit. 47
Wagners Charakter eine unbedingte Wahrhaftigkeit, die
nichts so sehr haßt als Lüge und Heuchelei, und die, oft genug
die Gebote auf den eigenen Vorteil bedachter Weltklugheit und
sachhche Gegensätze um der Persönlichkeit willen verschweigender
Rücksichtnahme bis zur Tollkühnheit außer Acht lassend, nicht
nur darauf achtet, daß alles, was sie sagt, wahr sei, sondern
auch — entgegen der Maxime Kants — nichts aus irgend
welchen Opportunitätsgründen zu verschweigen imstande ist
von dem, was sie einmal als wahr erkannt hat, eine unbedingte
Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe, die auch das erklärt, was
man oft als >TJndankbarkeit« Wagners brandmarken zu müssen
glaubte: es war ihm eben auch vorgeblichen und faktischen
Wohlthätern gegenüber unmöglich, aus seinem Herzen eine
Mördergrube zu machen, seine innersten Gefühle zu verbergen.
Jener tiefe Blick, vor dem keine Täuschung noch Illusion
Stand hielt, ließ Wagner sein hohes Ideal erschauen und mit
einer Klarheit und DeutKchkeit aussprechen, wie dies noch
keinem Künstler vor ihm gelungen war, und seine mächtige
aktive Willensnatur wiederum ließ ihn nicht bei dieser Erkennt-
nis des Ideals stehen bleiben, trieb ihn vielmehr zu immer wieder
erneuten Versuchen zu dessen Verwirklichung an. Jenes war
das Ethos, dieses das Pathos des Wagnerschen Charakters,
jenes verwehrte ihm, sich mit irgend welchen halben, auf Täusch-
ung und Mißverständnis beruhenden Erfolgen zu begnügen, wie
dieses ihn davor bewahrte, jemals durch noch so bittere Ent-
täuschungen in eine auf alles fernere Wirken in der realen
Welt der Gegenwart verzichtende, rein passive Resignation sich
einlullen zu lassen. Jene furchtbar ernste Wahrhaftigkeit seines
Wesens belehrte ihn darüber, daß in der Welt, wie sie ist, nur
ein würdeloses und unsittliches Glück möglich sei, während seine
mit naiver Daseinsfreudigkeit dem Realen zugekehrte Willens-
natur ihn niemals die Hoffnung verlieren ließ, den dem Menschen
so tief eingeborenen, nur im sinnlichen Diesseits seine volle Be-
friedigung findenden Glückseligkeitstrieb mit den ethischen
Postulaten seiner idealen Natur schheßKch doch noch auf irgend
eine Weise aussöhnen zu können. So sehr gehörte er gleich-
zeitig und zu gleichen Theilen jenen beiden Welten, der des
alle Widersprüche und Gegensätze in sich versöhnenden idealen
4B ^- Wagners künstlerischer und menschlicher Charakter.
(Jedankens, wie der des sinnlich Wirklichen und Gegenwärtigen
«a, daß es ihm nicht möglich war, weder vollständig aus der
Kealität ins Ideale zu flüchten, die Brücken des Lebens ganz
hinter sich abzubrechen, noch auch die Sehnsucht nach der
idealen Heimat in der wogenden Brandung der Wirklichkeit
jemals zu vergessen: immer drängte es ihn dazu, eine Versöhnung
beider zu versuchen, ja darin seine eigentliche Lebensau^abe
zu erblicken, das Wirkliche zu vergeistigen und zu idealisieren,
und das Ideale zu verwirklichen, zu lebendigem sinnlichen Dasein
zu erwecken.
Wenn wir nun unser Auge auf die beiden äußersten Enden
dieser zwei Seiten der Wagnerschen Natur richten, imi hier
einen auf die Eroberung der Welt durch seine Kunst aus-
gehenden, heftigen, egoistischen und tyrannischen Willen, ein
mit voller, ungetrübter Freude am gleißenden Glanz der sinn-
lichen Außenseite der Welt auf individuellen Genuß und Glück-
seligkeit ausgehendes Streben, dort einen tiefen sittlichen Ernst
zu erblicken, der soweit allen Wahn der Welt hinter sich gelassen
hat, daß er aus voller Seele mit den asketischen Heiligen der bud-
dhistischen und christHchen B;eligion zu sympathisieren vermag,
so köimen wir nicht genug das Wunder anstaunen, das es dem
Meister ermöglicht hat, diese beiden einander diametral ent-
gegengesetzten und sich kontradiktorisch widersprechenden Seiten
seiner Natur zu der Harmonie einer einheitlichen Persönlichkeit
zusammenzuschweißen, wie sie uns das Leben dieses Mannes
zeigt, dessen Entwickelung sich mit einer geradlinigen Konsequenz
von solch logischer Folgerichtigkeit vollzogen hat, wie kaum di«
eines anderei Menschen vor ihm. Diesem Wunder, in dem wir
das eigentliche und tiefste Geheimnis der Persönlichkeit dieses
Wunderbaren ahnen, giebt Friedrich Nietzsche einen schönen
Namen, indem er es mit jener, von jeher für specifisch deutsch
gehaltenen Tugend identifiziert, die Wagner iq seinen Kunst-
werken in immer neuen Formen und Gestalten zu verherrlichen
nicht müde wird. Er nennt es Treue. Die Treue ist es, die
den Meister darum zu immer wieder erneuter dichterischer Ge-
staltung ihres geheimnisvollen Wesens anregt, weil er sie selbst
erlebt, weil sie das tiefste Mysterium seines eigenen Wesens
ausmacht, — »jene wundervolle Erfahrung und Erkenntnis, daß
Kunst- und Lebensideal. 49
die eine Sphäre seines Wesens der anderen treu blieb, aus freier
selbstlosester Liebe Treue wahrte, die schöpferische schuldlose
lichtere Sphäre der dunklen, unbändigen und tyrannischen«
(Richard Wagner in Bayreuth, S. 13). —
Diese beiden antagonistischen, jedoch unzerreißbar anein-
ander geketteten und in der Einheit seiner individuellen Per-
sönlichkeit sich verschmelzenden Triebe der Natur Wagners
machen ihn als Künstler zum dramatischen Worttondichter,
als Menschen zum praktischen Idealisten, der seine eigent-
liche Lebensaufgabe darin findet, das, was er als Ideal erkannt,
auch zu verwirklichen, nicht bloß im Olymp mit den Göttern
himmlische Freuden zu genießen, sondern als Prometheus das
Feuer des idealen Gedankens von dort den bedürftigen Menschen
herabzuholen, der nimmer rastet noch ruht, und durch keine
noch so herbe Erfahrung und Enttäuschung sich Hoffnung und
Mut zu immer wieder erneuten Versuchen rauben läßt. In der
gegenseitigen Beziehung und Wechselwirkung dieser beiden
Triebe, wie sie erst imbewußt nebeneinander hergehen, hierauf
der eine hinter dem anderen zurücktritt, um dann ihn wieder
von der Oberfläche zu verdrängen, bis sie nach langem Kampfe
zu endlichem Gleichgewicht kommen, vollzieht sich die Ent-
wickelung der Weltanschauung Eichard Wagners; der ihr zu
Grunde liegende Idealbegriff wechselt sein Verhältnis zur Wirk-
lichkeit nach der jeweiligen Stufe der Lebenserfahrung und
Welterkenntnis, welche der Meister bei dem Streben nach har-
monischer Versöhnung der beiden seine Natur konstituierenden
Triebe im Laufe seines geistigen Werdens erklimmt, wobei
Kunstideal und Lebensideal im engsten Zusammenhang stehen,
und zwar der Art, daß die Verwirklichung des letzteren zuerst
als die unumgängliche Vorbedingung zur Realisierung des ersteren
erscheint, während später die Arbeit an der Verlebendigung des
Kunstideals als eine Vorbereitung und Vorstufe zur Verwirk-
lichung des Lebensideals, gleichsam als seine ideale Anticipation
in der Sphäre des ästhetischen Scheins proklamiert wird.
Unsere nächste Aufgabe ist es nun, die geistige Entwickelung
Wagners bis zu dem Punkte zu verfolgen, wo er seines Wollens
zum erstenmale sich bewußt wird, wo sein Kunst- und Lebens-
ideal in ihrer wechselseitigen Bezogenheit s. z. s. das Licht der
Louis, Weltanscliannng B. Wagners. 4
50 I^iö Entwickelung vom ünbewußtsein zum Bewußtsein.
Welt erblicken, wo er anfängt sich Rechenschaft zu geben über
sich und sein Verhältnis zur Welt. Dieser Entwickelung ent-
springt der Gedanke, welchen wir den »obersten IdealbegrifE«
der Wagnerschen Weltanschauung genannt haben, die Idee des
Reinmenschlichen; dieser selbst wie die ganze von ihm getragene
Weltanschauung müssen daher unverständlich bleiben, wenn nicht
ein wenigstens kurzer und summarischer XJberblick über diese
Entwickelung, als deren Resultat und Produkt er erscheint, vor-
angegangen ist.
Wagner war nichts weniger als ein ingenium praecox^ und
am allerwenigsten zeigte seine musikalische Begabung jene
stupende Frühreife, wie sie uns bei einem Mozart oder Mendels-
sohn begegnet. Er treibt als Knabe mancherlei, übersetzt aus
dem Griechischen und EngUschen, dichtet, malt und komponiert,
aber alles zunächst so, daß man mehr auf eine flüchtige dilet-
tantische Neigung als auf eine wirkUche künstlerische Begabung
daraus zu schließen sich berechtigt fühlen konnte. Indessen
lässt sich von dem, was Wagner dann als Mann wirklich ge-
worden ist, zurückblickend manches Interessante diesen ersten
kindlichen Versuchen entnehmen. Nachdem sich bis dahin keine
Spur von irgend welchem musikaUschen Talent bei dem Knaben
gezeigt hatte, beginnt er, durch das Studium Shakespeares zur
Nachahmung angeregt, in seinem 14. Lebensjahre eine große
Tragödie, wie er selber sagt, »ungefähr aus Hamlet und Lear
zusammengesetzt« (I, 5), die ihn zwei Jahre hindurch so intensiv
beschäftigt, daß er das bisher mit Eifer und Fleiß betriebene
Schulstudium gänzlich vernachlässigt. Während dieser Zeit
erhält er zum erstenmale in seinem Leben mächtige und tiefe
musikaUsche Eindrücke, er lernt Beethovens Symphonien, Mozarts
Requiem kennen.
»Beethovens Musik zu »Egmont« begeisterte mich so, daß
ich um alles in der Welt mein fertig gewordenes Trauerspiel
nicht anders vom Stapel laufen lassen wollte, als mit einer
ähnlichen Musik versehen: ich beschloß Musiker zu
werden« (I, 6). Es war also ein Bedürfnis, das er während
Schul- und Studienjahre. 51
der Ausarbeitung einer dramatischen Dichtung empfand, was
den jungen Wagner der Musik in die Arme trieb. Das ist
charakteristisch, es verrät schon in etwas die Eigenart des spä-
teren Musikdramatikers, dem die Musik nichts ist als ein Aus-
drucksmittel zur Verwirklichung einer dramatischen Absicht, der
die Oper als Kunstform verwirft, weil in ihr »ein Mittel des
Ausdrucks (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes
(das Drama) aber zum Mittel gemacht war« (HI, 231). —
Die Studien, vermittelst derer er seine Absicht Musiker zu
werden, verwirklichen will, sind zunächst weder sehr ernst, noch
allzu gründüch. Er tritt in jene Periode des Mysticismus, in
der er vomehmUch von HofEmann (vergl. S. 35 f.) und Beethoven
sich anregen läßt, er entwirft phantastische und tolle Kompo-
sitionen und lebt so sehr in einer unwirklichen idealen Traum-
welt, daß er sich nicht einmal darum bemüht, durch geregelte
musikalische Studien die handwerksmäßige Technik zur künstle-
rischen Gestaltung seiner Phantasieen sich zu verschaffen. Da
tritt ein plötzKcher Rückschlag ein; die aufs reale Diesseits und
sinnhchen Lebensgenuß gerichtete Seite seiner Natur erwacht
und es scheint einen Augenblick, als ob sie ganz die Oberhand
gewinnen, der junge Künstler sich im Strudel des Tages verheren
wolle. »Es kam die Julirevolution; — mit einem Schlage
wurde ich Revolutionär und gelangte zu der Überzeugung, jeder
halbwegs strebsame Mensch dürfte sich ausschließUch nur mit
PoUtik beschäftigen.« Er bezieht die Universität in der Absicht,
Philosophie und Ästhetik zu hören, ohne dies jedoch zu thun.
»Von dieser Gelegenheit mich zu bilden, profitierte ich so gut
als gar nicht; wohl aber überUeß ich mich allen Studenten aus -
Schweifungen, und zwar mit so großem Leichtsinn und sol-
cher Hingebung, daß sie mich bald anwiderten, meine
Musik hatte ich fast gänzlich hegen lassen« (I, 7). Tann-
häuser war in den Venusberg eingezogen.
Diese Periode des Untergehens in den Wogen des Genuß-
lebens dauerte nur kurze Zeit, sie ist aber wichtig, und Wagner
war selbst so sehr dieser Ansicht, daß er sie in der 1842 ver-
faßten »Autobiographischen Skizze« nicht übergehen zu dürfen
glaubte. Bald erwachte der Ernst seiner Natur von neuem,
er fand in dem Thomaskantor Theodor Weinlig einen treff-
4*
52 I^iö Entwickelimg vom Ünbewußtsein zum Bewußtsein.
liehen Lehrer, der ihn gründlich in die Geheimnisse des Kontra-
punktes einweihte und zum selbständigen Musiker machte. —
Da wir keine Biographie Bichard Wagners zu schreiben
haben, so übergehen wir die nächstfolgenden Jahre, wo er zu-
nächst in Nachahmung der klassischen deutschen Meister
Ouvertüren, Symphonieen und Sonaten schreibt und die prak-
tische Musikerlaufbahn als Theaterkapellmeister betritt, die ihn
in kurzer Zeit von Würzburg über Magdeburg nach Königsberg
und Biga durch fast ganz Deutschland führt, um erst wieder
bei der Betrachtung seiner ersten beiden größeren ausgeführten
Kunstwerke Halt zu machen. Es sind dies die Opern: Die
Feen und Das Liebesverbot. Beide stehen, sowohl was Li-
halt und Geist des Sujets als auch was die Art namentlich der
musikalischen Ausführung anbelangt, in einem ausgesprochenen,
ja krassen Gegensatze zu einander, sie wiederholen s. z. s. auf
künstlerischem Gebiet den Kontrast zwischen dem phantastisch-
mystischen HofEmann- und Beethovenschwärmer und dem allen
Studentenausschweifungen mit Leichtsinn sich hingebenden Nicht-
hörer der Philosophie der Leipziger Zeit.
Zunächst ist ersichtlich, daß der junge Künstler mit diesen
Werken nichts weiter angestrebt hat, denn als Opemkom-
ponist seine Schöpferkraft zu bethätigen und — Erfolge zu
erringen. Von einer reformatorischen oder gar in Bezug auf
die überKeferte Opemform revolutionären Bichtung ist noch
keine Spur vorhanden. Die Dichtimg soll und will nicht mehr
sein als der Bahmen, welcher dem Musiker Gelegenheit giebt,
seine Kunst zu entfalten. In den >Feen« zeigt sich dieser
Musiker als Anhänger der soliden und ernsten Bichtung, die
eben in Weber sich der alten deutschen Form des Singspiels
bemächtigt hatte, um diese zu einer echt deutschen romantischen
Volksoper zu erweitem, wie sie uns im »Freischütz«, der unseren
Meister schon als Knaben so tief ergriffen hatte, entgegentritt.
Weber und Beethoven waren seine musikalischen Vorbilder, der
Stoff jener Zauberwelt der Bomantik entnommen, die Weber
zuerst mit so entschiedenem Glück betreten hatte. Grozzis dra-
matisches Märchen »Die Frau als Schlange« hatte ihm die
poetische Fabel geliefert, ein Werk des phantasievollen Meisters
der alten italienischen Commedia delV arte^ auf den er, wie
Die Feen und Das Liebesverbot. 53
schon gesagt (S. 37), wohl zuerst durch Hoffmann aufmerksam
geworden war.
Ist somit diese Oper ein durchaus verständliches und folge-
richtiges Produkt seiner bisherigen künstlerischen Entwickelung,
mit dem er auf dem von den verehrten Meistern seiner Jugend-
zeit ihTTi gewiesenen Wege und in ihrem Ideenkreise, zunächst
noch unselbständig genug, vorwärts schreitet, so schlägt er da-
gegen mit dem kaum 5/4 Jahre nach der Vollendung der »Feen«
(l. Januar 1834) geschaffenen »Liebesverbot« (nach Shakespeares
Komödie »Maß für Maß«, erste und einzige Aufführung in
Magdeburg am 29. März 1836) eine so gänzlich andere Rich-
tung ein, daß man dieses letztere Werk nach Geist, Anlage
und Ausführung nicht besser charakterisieren kann, als wenn
man es das strikte und gerade Gegenteil der »Feen« nennt.
Dort phantastische Romantik und eine überirdische Geisterwelt,
hier sinnlichster Realismus und ungebundenste Daseinsfreude,
dort idealer Ernst und Gewissenhaftigkeit, hier nicht zu leug-
nende Oberflächlichkeit und Frivolität, dort Nachahmung der
deutschen Kunst Webers und Beethovens, hier kecke Imitation der
leichtgeschürzten Muse der neufranzösischen und neuitalienischen
Opemschule: welch ein Kontrast! — und doch nicht unschwer
zu erklären. Es war die andere Seite der Wagnerschen Natur,
dieselbe, die ihn in die »Genüsse« des Leipziger Studentenlebens
hineingerissen hatte, wieder nach oben gekommen. Wagner
konnte seiner ganzen Natur nach, wie wir schon ausgeführt
haben, sich nie und nimmermehr mit einem bloß »idealen« und
eingebildeten Schaffen begnügen. Unaufgeführte Partituren in
seinem Pulte aufzuhäufen und in der Arbeit des Komponierens
selbst seine Befriedigung zu finden, wie es wohl dem deutschen
Musiker älteren Schlags genügte, war für ihn ein Ding der Un-
möglichkeit. Ihn drängte es mit aller Macht, nach außen zu
wirken, Erfolge zu erringen, seine künstlerische Persönlichkeit
zu offenbaren und mitzuteilen; erst im aufgeführten und vom
Publikum aufgenommenen Kunstwerk konnte sein ungestümer
KünstlerwiQe zur Ruhe kommen.
Der gewünschte Erfolg nun war bei den »Feen« aus-
geblieben, es war ihm nicht gelungen, dieselben irgendwo zur
Aufführung zu bringen. Dagegen sah er das deutsche Publi-
54 Die Entwickelung vom ünbewußtsein zum Bewußtsein.
•
kum den Werken eines Bellini, Auber und Donizetti allerorten
begeistert zujubeln. Von dieser Lehre wollte er profitieren.
»Die schlaffe Charakterlosigkeit unserer heutigen Italiener, so-
wie der frivole Leichtsinn der neuesten Franzosen schienen mir
den ernsten, gewissenhaften Deutschen aufzufordern, sich der
glücklicher gewählten und ausgebildeten Mittel seiner Neben-
buhler zu bemächtigen, um es ihnen dann in Hervorbringung
wahrer Kunstwerke entschieden zuvor zu thun« — so lauten
seine eigenen Worte (I, 9 f.). Zum erstenmale enthüllte sich
ihm die Bedeutung jenes Momentes im Kunstwerk, dem er
später eine so große Wichtigkeit zuerkannte: der Sinnlichkeit.
Das Kunstwerk wendet sich zimächst an die Sinnlichkeit des
Menschen, durch das offene Thor der Sinne soll der künstle-
rische Lahalt in die Seele eindringen. Daher müssen die
künstlerischen Mittel sinnlich wirksam, d. h. so beschaffen sein,
daß sie sich der Sinne bemächtigen, diese zwingen, sich dem
künstlerischen Eindruck gefangen zu geben. Diese Wahrheit
ging Wagnern zuerst in jener Zeit auf. Die große Schröder-
Devrient, die selbst in einem musikalisch so unbedeutenden
Werke wie BeUinis »Romeo und Julia« die großartigsten Wirkun-
gen zu erzielen wußte, öffnete ihm hierfür die Augen (1, 9. IV, 254),
er erkannte, daß die sinnliche Natur des menschKchen Stimmorgans
mehr in seiner Eigenart zu berücksichtigen sei, als dies von den
in der reinen Instrumentalmusik künstlerisch groß gewordenen
Deutschen bisher geschehen war, er entdeckte jenen Mangel der
im Anschluß an Beethoven und Weber komponierenden Deutschen,
den er in »Oper und Drama« so glücklich bezeichnet, wenn er die
deutsche Oper im Gegensatz zur französischen, der »Koketten«, und
der italienischen, der »Buhlerin«, eine »Prüde« nennt (III, 317 ff,).
Wenn wir nun aber sehen, wie Wagner im »Liebesverbot«
die Figur des heuchlerischen und pietistisch-lüstemen deutschen
Statthalters zu einer unverkennbaren, in anti-nationalem Sinne
tendenziösen Spitze benutzt, so erhellt daraus, daß die Reaktion
gegen die ernste und solide Lebensauffassung, wie sie aus den
Bestrebungen des Komponisten der »Feen« spricht, keineswegs
eine bloß künstlerische war, sich vielmehr auf den ganzen Men-
schen erstreckte. Hören wir seine eigenen Bekenntnisse: »Die
phantastische Liederlichkeit des deutschen Studentenlebens war
Rienzi. 55
mir nach heftiger Ausschweifung bald zuwider geworden: für
.mich hatte das Weib begonnen vorhanden zu sein« (IV, 253).
»Damals war ich einundzwanzig Jahre alt, zu Lebensgenuß und
freudiger Weltanschauung aufgelegt; »Ardinghello« und »das
junge Europa« spukten mir durch alle GUeder: Deutschland
schien mir nur ein sehr kleiner Teil der Welt. Aus dem ab-
strakten Mysticismus war ich herausgekommen, und ich lernte
die Materie lieben« (I, 10). Diese allgemeine Stimmung begeg-
nete sich nun mit dem durch das »Liebesverbot« bezeichneten
künstlerischen Rückschlag. Auch in der moralischen Wohlan-
ständigkeit der deutschen Gesellschaft erkannte er wie in ihrer
Kunst die sittlich bigotte Prüderie als eigentliches Grundelement,
gegen die sich nun sein Wahrhaftigkeitsgefühl und seine Lebens-
lust gleichermaßen empörten, imd der französisch-italienischen
Opemmusik warf er sich vor allem auch darum so rückhaltlos
in die Arme, weil er in ihr den Ausdruck dessen auf künstle-
rischem Gebiet wieder erkannte, was er damals als ganzer Mensch
empfand: »freudige Lebenslust in der notgedrungenen Äußerung
als Frivolität« (IV, 254).
Das Resume seiner Entwickelung bis zu diesem Punkt giebt
Wagner selbst in folgenden Worten: »Vergleicht man dieses
Sujet (des Liebesverbotes) mit den Feen, so sieht man, daß
die MögKchkeit, nach zwei grundverschiedenen Richtungen hin
mich zu entwickeln, vorhanden war Die Ausgleichung
beider sollte das Werk meines weiteren künstlerischen Entwicke-
lungsganges sein« (IV, 255).
Unterdessen hatte Wagner, unbedachtsam genug, ohne die
nötigen Subsistenzmittel eine Ehe geschlossen (mit der Schau-
spielerin Wilhelmine Planer, 24. November 1836), welche ihn
naturgemäß im Ausleben seiner Individualität nach jeder Rich-
tung hin noch mehr beschränken mußte, als dies schon die ein-
geengten künstlerischen und gesellschaftlichen Verhältnisse seines
Wirkungskreises an einem kleinefl' deutschen Provinzialtheater
thaten. Er lenkte seine Blicke auf Paris. Dort hoffte er
beides finden zu können: freudigen Lebensgenuß in freier, un-
gehinderter Bethätigung aller seiner sinnlichen und geistigen
Kräfte, wie Anerkennung und Erfolge als ernsten und hohen
Zielen zustrebender Künstler, der zu sein er in seinem tiefsten
56 I^iö Entwickelung vom ünbewußtsein zum Bewußtsein.
Innern trotz der Verirrung des >Liebe8verbotes« niemals ganz
aufgehört hatte. Ruhm und Geld durch Aufführung ideal con-
cipierter und großartig angelegter dramatischer Werke, Erlösung
aus all der Misere, die sich für den deutschen Künstler in dem
schrecklichen Worte »Provinz« zusanmienfaßt, das suchte er in
Paris. Aus Bulv^ers historischem S;oman >B,ienzi« hatte er
sich den Stoff zu einer fünfaktigen großen Oper geholt, mit der
er zum erstenmale ein trotz aller unschwer erkennbaren Vor-
bilder originales und eigenartiges Werk schuf. War zwar seine
nächste Absicht bei der Abfassung auch dieses Textbuches nur
darauf gerichtet, sich einen glänz- und wirkungsvollen Rahmen
für die darauf zu komponierende Musik zu verschaffen, so war
doch die Gestalt des großmütigen Tribunen und Volksbeglückers,
der an der Kleinheit und Erbärmlichkeit seiner Umgebung zu
Grunde geht, derart, daß sie den jungen Meister aufs tiefste er-
greifen und wirklich begeistern konnte. Er hatte, wie wir ge-
sehen haben, trotz seiner Jugend schon eine an scharfen
Kontrasten reiche Entwickelung hinter sich: diese Gegensätze
auszugleichen ist bei der Ausarbeitung des »Rienzi« sein offen-
ersichtliches Bemühen.
Er will den ernsthaften deutschen Künstler zeigen, der
aber trotz seiner Gediegenheit und Gewissenhaftigkeit es nicht
verschmäht, alle die sinnlichen und äußerlich wirksamen Aus-
drucksmittel zur sichtbaren und hörbaren Gestaltung seiner Idee
anzuwenden, die er in den Modewerken der französisch-italie-
nischen Opemschule als effektvoll und Erfolg versprechend
kennen gelernt hatte. Als Muster mochte ihm Meyerbeer
vorschweben, dem ebenfalls eine eklektische Verbindung welschen
und deutschen Opemstils gerade damals Ruhm und Ehren in
Hülle und Fülle gebracht hatte, wie denn nicht zu verkennen
ist, daß die nach künstlerischer Gestaltung um ihrer selbst willen
ringende dramatische Idee auch im »Rienzi« noch durchaus
zurücktritt hinter dem Schwelgen im sinnlich-äußerlichen Apparat
der »großen Oper« mit all ihren groben Effekten. Das Drama
ist auch hier mehr noch bloß angedeutet als schon wahrhaft
gestaltet und verwirklicht; auch in diesem Werke ist der Meister,
wie er selbst vom »Liebesverbot« sagt, keineswegs immer skru-
pulös in der Wahl der Mittel.
Paris. 57
Aber es kann nicht geleugnet werden, daß im Bienzi der
Musikdramatiker erwacht ist, der sich bestrebt zeigt, alles,
auch das geringste Detail, auf die dramatische Idee zu beziehen,
wenn er auch noch nicht alles aus ihr allein ohne Nebenab-
sichten herleitet. Die Schranken der konventionellen Opemform
halten ihn noch gefangen, er hat noch nicht eingesehen, daß
wahrhaftes Drama (als Ausdruck einer dichterischen Idee) und
Oper einander ausschließen, daß die restlose Verwirklichung
einer dramatischen Absicht innerhalb des traditionellen Opem-
schemas unmöglich ist.
Ohne jegliche pekuniäre Mittel, alle seine Hoffnungen auf
dieses Werk setzend, schiffte er sich mit Frau und Hund Ende
Juni 1839 in Riga ein, um über London am 18. September
desselben Jahres in Paris anzukommen. Dort bleibt er bis zum
Frühjahr 1842. "Was er in der Seinemetropole erlebte, ist aus
den Biographieen hinlänglich bekannt. Deshalb braucht uns hier
nicht das Thatsächliche, sondern nur die Wirkung der Pariser
Erlebnisse auf Wagners geistige Entwickelung zu beschäftigen.
Es waren Enttäuschungen herbster Art, die ihm dieser Aufent-
halt in fremdem Lande brachte, die bitterste Lebensnot und die
beschämendste, entwürdigendste künstlerische Lohnarbeit, um
sein Dasein notdürftig zu fristen, blieben ihm nicht erspart.
Und doch waren es nicht diese persönlichen Leiden und Bitter-
nisse, welche den eigentlichen Anstoß zu der großen Umwäl-
zung im ganzen Denken und Fühlen des Meisters gaben, durch
die jene beiden Pariser Jahre epochemachend in seinem Leben
wurden. Vielmehr bewirkte diese Revolution eine allgemeine Ein-
sicht, ein Blick hinter die Ooulissen, welcher ihm das Geheim-
nis unseres ganzen modernen öffentlichen Kunstbetriebes an
seinem äußerUch glänzendsten Mittelpunkte, der Paris ohne
Zweifel damals war, enthüllte. Bisher hatte er als Kapellmeister
an deutschen Provinzbühnen nur kleinliche, in den Mitteln be-
schränkte und ungenügende Kunstverhältnisse kennen gelernt,
und er war mit der ausgesprochenen Hoffnung nach Paris ge-
kommen, daß hier, wo alle diese Erbärmlichkeiten und Miseren
eines WoUens, dem die Mittel zum Vollbringen fehlen, nicht in
Frage kamen, ein begabter Künstler nur etwas Energie zu ent-
wickeln brauche, nur einmal zu zeigen habe, was er zu leisten
58 I^i^ Entwickelung vom Unbewußtsein zum. Bewußtsein.
im stände sei, um damit sofort auch zu einer freiesten Entfal-
tung aller seiner Kräfte zu gelangen, zu jener Harmonie zwischen
innerem und äußerem Sein, zwischen künstlerischem Streben und
thatsächlichem, von Erfolg gekröntem und mit der ErmögHchung
behaglichen Lebensgenusses belohntem Wirken, welches ihm als
Ideal vorschwebte. Darin sah er sich bitter getäuscht. Nicht
energisches Wollen und künstlerischer Ehrgeiz verbürgen den
großen Erfolg, nicht auf Talent und Können kommt es an,
sondern es bedarf dazu der Intriguen, der Hintertreppen, der
Schmeichelei und Bestechung, man braucht, um es in Paris zu
etwas zu bringen, Protektion und vor allem das, woran es ihm
gänzUch mangelte: Geld. Der gerade und ehrhche, stolze und
selbstbewußte Charakter ist verloren, es wird ihm von dem rück-
gratlosen Streber, der keine auch noch so anrüchigen Mittel
zur Erreichung seiner Zwecke verschmäht, immer und überall
der ßang abgelaufen. Er durchschaute den täuschenden Firnis
des äußerlichen Glanzes imd FKtters der künstlerischen Offen1>-
lichkeit, er sah ein, daß die idealen Tendenzen dem modernen
Künstler fast ausnahmslos nichts sind als ein Vorwand, ein
Deckmantel, hinter dem sich der schlaue, mit merkantiler Klug-
heit die Chancen des Modegeschmacks berechnende Geschäfts-
mann verbirgt, er erkannte als den innersten Kern, als das » An-
sich« unserer gesamten heutigen Kunst die Industrie, inner-
halb deren der echte Künstler, der nicht das Seine sucht oder
die Sache der wahren und reinen Kunst, die keine Rücksicht
nimmt auf Zeitgeschmack und Modekurs, ganz zu der seinen
gemacht hat, geradeso verraten und verkauft ist, wie überhaupt
im modernen Leben ein jeder Mensch, der sich zum bloßen
money-maker für zu gut hält.
Zum erstenmale offenbarte sich hier unserem Meister mit
furchtbarer Deutlichkeit, was es mit der Herrschaft des Kapi-
talismus, mit der tyrannischen Macht des »bleichen Metalls«
für eine schreckUche Bewandtnis habe. Seine persönliche und
künstlerische Lebensnot enthüllte sich ihm als eine Folge der
Krankheit, an der unsere ganze moderne Gesellschaft leidet, er
empfand und erkannte seine Not als eine allgemeine
Menschheitsnot.
Das war der Inhalt der wichtigen Pariser Epoche im Lebens-
Die Empörung gegen Kunst und Leben der Gregenwart. 59
■gange des Meisters, von der er selbst sagt: »Ich betrat nun
eine neue Bahn, die der Revolution gegen die künstle-
rische Öffentlichkeit der Gegenwart, mit deren Zu-
ständen ich mich bisher zu befreunden gesucht hatte, als ich
in Paris deren glänzendste Spitze aufsuchte« {IV, 262) — wo-
bei wir allerdings unter »Revolution«, zunächst wenigstens, nicht
etwas irgendwie mit poHtischen und umstürzlerischen Bestre-
bungen Verwandtes zu verstehen haben, sondern den Ausdruck
tiefster sittlicher Empörung gegen ein als unwürdig, erbärmlich
"und gerade in seinen glänzendsten Äußerungen doppelt schmach-
voll erkanntes Dasein.
Noch aber war dieses Gefühl der Empörung gegen die
künstlerische Gegenwart mehr ein unbewußt geahntes als klar und
deutlich erkanntes, mehr der Keim und Ansatz zu einer aller künst-
lerischen ÖffentUchkeit, wie sie unter den modernen Verhältnissen
allein mögUchist, gegenübergänzlichablehenden und resignierenden
Haltung als diese schon selbst, was Wagner sich in Paris eroberte.
Vor allem waren diese enttäuschenden und erbitternden Eindrücke
zunächst nur an den Lokalbegriff Paris geknüpft; von da sehnte
er sich weg nach einer idealen Heimat, und diese Sehnsucht
mußte sich bei der elastischen, lebensfreudigen "Willenskraft
dieses mit einer geradezu wunderbaren Energie ausgestatteten
Mannes notwendigerweise auf seine thatsächliche nationale Heimat
richten, als die unvermutete Nachricht von der Annahme seines
»Rienzi« am Dresdener Hoftheater ihm gleichsam einen mit
allen überstandenen Bittemissen aussöhnenden Liebesgruß aus
Deutschland brachte. An die Heimat knüpften sich nun all
seine Hoffnungen, in dem Namen »Deutsch« faßt er jetzt den
Gegensatz alles dessen zusammen, was ihn an Paris und den
französischen Kunstverhältnissen abgestoßen hatte. Es erwachte in
ihm zum erstenmale jenes unbegrenzte Vertrauen auf den deutschen
Geist, das ihn trotz der Fruchtlosigkeit aller seiner zahlreichen
Appelle an den von ihm vorausgesetzten hohen Sinn seiner Nation
auch während seines späteren Lebens niemals wieder verUeß, die
Überzeugung, daß die dem Deutschen ursprünglich eigene Natur
ihn recht eigentlich dazu bestimme, der geborene Hüter und
Wahrer alles idealen Besitztums der Menschheit zu sein.
»Deutsch« und »Echt« wurden ihm in der Folge Wechsel-
50 ^i^ Entwickelung vom ünbewußtsein zum BewuGtBein. f^*
begriffe (vergl. Sachsens Apostrophe am Schluß der »Meister»
singer« und die Abhandlung: »Was ist deutsch?«), fem von
jeder engeren staatlichen und politischen Beziehung ward ihm die
Idee des »Deutschen« s. z. s. die Gewähr für die MögUchkeit
der ReaHsierung seines höchsten Ideals, wie er sie der Geschichte
des deutschen Volkes und seiner großen Männer entnehmen zu
können glaubte.
Wie sein »Fliegender Holländer« nach den Irrsalen und
Leiden seiner fluchbeladenen Meerfahrten nach Erlösung durch
die sühnende That des hebenden Weibes sich sehnt, so richtete
Wagner seinen BUck nun nach der deutschen Heimat, nachdem
alle seine auf Paris gesetzten Hoffnungen vernichtet waren.
Deutschland erschien ihm als das ideale Weib, das ihm, wie
Senta dem Holländer, Erlösung vom Fluch verhieß, — ihm warf
er sich vertrauensvoll in die Arme. Damit soll nun nicht ge-
sagt sein, daß er in Deutschland das, was er suchte, schon fertig
vorhanden finden zu können glaubte: es war nur die Hoffnung
auf eine Möglichkeit, die ihm aus seinem Vaterlande grüßend
entgegenzuwinken schien, auf die Möglichkeit eines reforma-
torischen Wirkens im Sinne seiner hohen künstlerischen
Bestrebungen innerhalb seiner Heimat. Und diese Erkenntnis,
daß, wenn das von ihm Angestrebte überhaupt erreichbar sei,
dies nur auf deutschem Boden und mit Hilfe der im Schöße
der deutschen Nation schlummernden edlen und unverdorbe-
nen Kräfte mögUch sein könne, sie entschwand ihm nun nicht
mehr. Alle späteren Bemühungen, mit Paris wieder anzu-
knüpfen, sind nur Versuche, auf indirektem Wege sein Ziel
zu erreichen, d. h. durch dort errungene äußere Erfolge die
Aufmerksamkeit seiner Heimat auf sich zu lenken.
Daß die damals in Deutschland auch auf künstlerischem
Gebiet thatsächhch herrschenden Zustände — um vom PoK-
tischen gar nicht erst zu reden — keineswegs dem entsprachen,
was er als seine »ideale Heimat« suchte, darüber war er sich
so wenig unklar, daß er, als nach der ungemein erfolgreichen
Erstaufführung seines »Eienzi« (20. Oktober 1842) ihm die Stel-
lung eines kgl. Kapellmeisters am Dresdener Hoftheater, in
der ein deutscher Musiker gewöhnUchen Schlages die krönende
Erfüllung seiner ausschweifendsten Träume erblickt haben würde,
Dresden. 61
angeboten wurde, erst eine »innerliche Abneigung« zu über-
winden hatte, ehe er sich zur Annahme bewegen ließ (IV, 274).
Was ihn schKeßlich neben der glänzenden Aussicht auf ein
ehrenvolles und auskömmliches Amt dazu brachte anzunehmen,
war eben die Hoffnung, von einer Stelle, die ihm alle Mittel
zu einer fruchtbringenden künstlerischen Thätigkeit in denkbarster
Vollkommenheit gewährte, auf die Gesundung und Veredelung
der deutschen Kunstverhältnisse im Sinne des ihm vorschweben-
den Ideals reformatorisch einwirken zu können.
Es würde uns zu weit führen, wenn wir des Näheren ver-
folgen wollten, welche Erfahrungen Wagner während seiner
sechsjährigen Thätigkeit als kgl. sächsischer Kapellmeister
zu machen hatte, wie seine reformatorischen Tendenzen weder
oben noch unten, weder beim Hof noch beim Publikum, am
allerwenigsten bei der Kritik, Würdigung und Verständnis
fanden, wie der Enthusiasmus, den der Rienzi erregt hatte,
nur zu bald verrauchte, die neuen Werke aber, mit welchen der
Meister immer klarer eine neue und eigentümliche Sichtung
einschlug, bei ihren Erstaufführungen (»Fliegender Holländer«
2. Januar 1843, »Tannhäuser« 19. Oktober 1845) kaum eine
gewisse staunende Verwunderung, aber nicht jenes das Wesen
der Sache erfassende Verständnis fanden, das einen Wagner
allein befriedigen konnte. Wir begnügen uns damit, das Re-
sultat dieser Erlebnisse mitzuteilen: es war die Einsicht, daß
unter den Verhältnissen der Gegenwart eine Gesundung der
öffentKchen Kunstzustände, ein erfolgreiches reformatorisches
Wirken auf dem Gebiete der Kunst überhaupt unmögHch sei,
und zwar deshalb unmöglich, weil die Stellung, welche die
Kunst innerhalb des öffentlichen Lebens der Gegenwart ein-
nimmt, eine ihrer hohen und idealen Mission durchaus unwür-
dige, weil lügnerische und heuchlerische ist. Eine echte Kunst
ist unter den modernen socialen Verhältnissen undenkbar, sie
lebt nur in der Sehnsucht des einsamen genialen Künstlers,
ohne die Möglichkeit, jemals zu lebendiger »Wirklichkeit« er-
wachen, eine reale Macht im Dasein der Menschheit werden zu
können, bevor nicht in diesen allgemeinen socialen Verhältnissen
selbst eine gänzliche Veränderung, eine radikale Umgestaltung
von Grund aus eingetreten ist.
62 I^iö Entwickelung vom ünbewußtsein zum Bewußtsein.
Nach den Anzeichen einer solchen totalen Umwälzung
spähte nun der Künstler mit banger Sorge; aus ihnen glaubte
er allein noch eine Hoffnung schöpfen zu können. Was ihm
in Paris erst noch als mehr geahntes denn deutlich und mit
Bewußtsein motiviertes Gefühl aufgegangen war, die Überzeu-
gung, daß der ideale, die Kunst um ihrer selbst und ihres
hohen kulturellen Wertes willen betreibende Künstler in unserer
Welt des KapitaKsmus, die auch in der Kunst im Grunde nichts
zu erblicken vermag als eine Luxusindustrie, notwendigerweise
ein Fremdling sein müsse, daß die von ihm gesuchte und er-
sehnte Heimat weder in Frankreich noch in Deutschland, über-
haupt nicht in der Gegenwart zu suchen sei, das wurde ihm
nun vollkommen klar. Er fühlte sich in dem Ausleben seiner
künstlerischen wie menschlichen Persönlichkeit von allen Seiten
gehemmt und gedrückt, er erkannte die bestehenden socialen
Verhältnisse als die letzte Ursache dieser Hemmung, welche
ihni jeden Lebensgenuß verkümmerte, er empfand seine persön-
liche Not als eine allgemeine, als die Not aller Elenden und
Bedrückten, aller an der historisch gewordenen Form unseres
socialen Lebens Leidenden, als die Not des Volkes, worunter
er nicht die Masse der Besitzlosen verstand, sondern, wie er es
später ausdrückte, den »Inbegriff aller derjenigen, welche eine
gemeinschaftliche Not empfinden« (HI, 48).
Um sich blickend gewahrte er in Deutschland eine allge-
meine Gärung auf geistigem wie poUtischem Gebiete, alles
schien gleich ihm von dem leidenschaftUch- instinktiven Gefühle
ergriffen, daß nur eine große Umwälzung* eine Revolution Ret-
tung und Hilfe aus einer als unerträglich empfundenen Not
bringen könne; was diese Umwälzung Neues an die Stelle des
zerstörten Alten setzen solle, darüber stritt man sich mit echt
deutscher doktrinärer Gründlichkeit; aber darin schienen alle
übereinzustimmen: es muß anders werden, wenn es besser
werden soll. Dieser Bewegung warf sich Wagner in die Arme.
Nicht als ob die politischen Ideale der damaligen deutschen
Revolutionäre, demokratische RepubHk, einiges Vaterland, Kon-
stitutionalismus und parlamentarische Volksvertretung für ihn
irgendeine Bedeutung gehabt hätten. Das war ihm alles herz-
lich gleichgültig. Was ihn sympathisch an der politischen Be-
Die Revolution. 63
wegung der 40er Jahre berührte, war namentlich und in erster
Linie der in ihr sich geltend machende sociale, nicht sowohl
auf eine bloße Umänderung der politischen Staatsformen, als
auf eine totale Umwälzung unserer gesamten Gesellschaftsord-
nung gerichtete Grundzug, wie ihn der radikale linke Flügel
der damaligen Demokraten repräsentierte (Bakunin!), war vor
allem der Glaube, daß in ihr der Anfang vom Ende der »großen
Menschheitsrevolution, deren Beginn die griechische Tragödie
einst zertrümmerte« (m, 29), der Abschluß des tausendjährigen
Reiches der staatlich legalisierten Anarchie (Carlyle) sich an-
kündige, daß nun endUch vollständige tabula rasa gemacht
werden solle mit den unmenschlichen Institutionen einer ver-
nunftwidrigen, ihre Berechtigung allein aus der brutalen That-
sache des historischen Gewordenseins ableitenden Weltordnung,
daß die Zeit gekommen sei für die Vertauschung des Staates
der Not mit dem Staate der Freiheit (Schiller).
Am 5. Mai 1849 brach in Dresden eine Revolte aus, an
der sich auch Wagner, allerdings mehr als die Ereignisse mit
sympathischer Theilnahme verfolgender Zuschauer, denn als
aktiv Mitwirkender beteiligte. Indessen war er durch seinen
vertrauten Umgang mit Haupträdelsführem der Bewegung, einem
Bakunin und August Röckel, vielleicht auch durch die Namens-
verwechselung mit einem Konditorgehilfen Heinrich Woldemar
Wagner, kompromittiert genug, um, nachdem der Aufstand mit
Hilfe preußischer Truppen rasch niedergeworfen war, steckbrief-
lich verfolgt, ins Ausland flüchten zu müssen. * Er wandte sich
über Paris nach Zürich, wo er bis zum August des Jahres 1858
verblieb. — Nun war mit einem Schlage eine solch totale Ver-
änderung in seiner äußeren Existenz, in allen seinen Beziehungen
zur Außenwelt eingetreten, daß dieser Umstand allein es schon
begreifUch machen würde, wie er sich nun geradezu gezwungen
fühlte, sich selbst Rechenschaft zu geben über sein Wollen und
dessen Verhältnis zu seiner Umgebung, sich seiner selbst bewußt
zu werden, das in die Sphäre des klar Erkannten zu erheben.
* über die Beteiligung Wagners an der Dresdener Revolution siehe
namentlich: Hugo Dinger, Kichard "Wagners geistige Entwickelung. I.
S. 152. ff., und William Ashton EUis, »1849. Der Aufstand in Dresden«.
^4 Das Reinmenschliche als oberster Idealbegriff.
was er bisher instinktiv und mehr oder minder unbewußt, von
seinem Daimonion getrieben, angestrebt hatte, — selbst wenn
nicht noch das Andere dazu gekommen wäre, daß er auch in
seiner Entwickelung als schaffender Künstler gerade zu jener
Zeit an einen Punkt gelangt war, wo es für das Weiterschreiten
auf dem von ihm eingeschlagenen Wege unumgänglich nötig
wurde, aus der Periode -des unbewußten in die des vollbewußten
Produzierens überzugehen, wo er die Reflexion zu Hilfe nehmen
mußte, nicht zur Oonception und Ausführung von Kunstwerken
— dabei verfuhr Wagner gerade so naiv und instinktmäßig, wie
jedes echte Genie — , sondern zur Erhellung des Pfades, den zu
verfolgen ihn sein Genius zwang. Nun erblickte er zum ersten-
mal in lichtvoller Eiarheit sein Ideal, er wußte von nun ab.
was er wollte.
Der Betrachtung dieses Ideals, das Wagner in den Kunst-
werken vom »Holländer« bis zum »Lohengrin« gesucht, in den
epochemachenden Kunstschriften der Jahre 1849 — 1851 darge-
legt hat, um es dann in der großartigen poetischen Oonception
des »Ring des Nibelungen« zur Grundlage eines Weltgedichtes
zu machen, das künstlerisch die Weltanschauung allumfassend
zum Ausdruck bringen sollte, die er in den vorangegangenen
theoretischen Schriften sich als Philosoph spekulativ zu ent-
wickeln versucht hatte, haben wir uns nun zuzuwenden. —
IV.
Das Beinmenschliche als oberster Idealbegriff.
Bichard Wagner und Ludwig Feuerbach.
Überblicken wir die Reihe der Wagnerschen Werke vom
»Rienzi« bis zum »Lohengrin«, so bemerken wir an ihnen rein
äußerlich und formell eine mit jedem neuen Werke deutlicher
sich zeigende schrittweise Entfernung von dem traditionellen
Opemschema. Ist »Rienzi« der Form nach noch ganz die alte
historische große Oper, wie sie Spontini geschaffen, hatte sich
der Dichterkomponist des »Fliegenden Holländers« verleiten
Der Weg des Künstlers. ß5
lassen, den knappen und präcisen Inhalt dieser dramatischen
Ballade der »Oper« zu Liebe und sehr zum Schaden des »Dramas«
über Gebühr auszudehnen und mit überflüssigem Beiwerk aus-
zustatten ( — ursprünglich hatte Wagner die Absicht, dieses
Werk in einen einzigen Akt zusammenzufassen — ), so bezeich-
nen »Tannhäuser« und noch mehr »Lohengrin« die vollendete
Emanzipation von der Form der Oper, mit der diese Werke
fast nur noch durch ihre Titelbezeichnung als »Romantische
Opern« zusammenhängen.
Wären uns nur diese ausgeführten Werke bekannt, so läge
die Annahme nahe, Wagner sei mit genauer Kenntnis aller der
Opemform notwendigerweise anhaftenden Mängel und der
vorgefaßten Absicht einer Vermeidung derselben von vornherein
darauf ausgegangen, die Oper in ihrer bisherigen Gestalt zu
vernichten, um ein Besseres und Edleres an ihre Stelle zu setzen;
denn die Reihe dieser vollendeten Dramen zeigt eine stetige
und ununterbrochene Vervollkommnung; mit keinem folgenden
Werke fällt er auf den Standpunkt eines vorhergegangenen
zurück, er schreitet ohne Aufenthalt vorwärts und aufwärts, der
Realisierung seines Ideals entgegen. Vergleichen wir aber mit
den ausgeführten Werken die unvollendet gebliebenen Entwürfe
aus jenen Jahren , so sehen wir, daß er vollkommen instinktiv
und reflexionslos zu Werke ging. Nach dem »Fliegenden
Holländer« plant er eine Oper »Die Sarazenin«, in deren Mittel-
punkt Manfred, der Sohn des Hohenstaufen-Kaisers Friedrich U.,
steht, * ein Werk, mit welchem er, wie er selbst später bekennt,
im Begriffe war, mehr oder weniger in die Richtung seines
»Rienzi« sich zurückzuwerfen (IV, 272), und zwischen dem voll-
endeten »Lohengrin« und der Dichtung der Nibelungendramen
in ihrer definitiven Gestalt finden wir gar vier Fragment ge-
bliebene Entwürfe: »Friedrich Barbarossa«, »Jesus von Naza-
reth«, »Siegfrieds Tod« und »Wieland der Schmied«. Warum
hat der Meister diese Pläne nicht ausgeführt, warum konnte er
sie nicht ausführen?
Wir erinnern uns an das früher über die eigentümliche
* Der Entwurf der Dichtung findet sich abgedruckt in den »Bay-
reuther Blättern« 1889, I.
Louis, Weltanschauung B. Wagners. 5
66 Das BeinmeiiBchliche als oberster Idealbegriff.
Natur der künstlerischen Begabung Bichard Wagners Gesagte.
Schon die Erfahrung, welche er bei dem Tragödienplan seiner
Gymnasiastenjahre gemacht, hatte ihn darüber belehrt, daß er
zwar von Haus aus Dichter sei, aber ein solcher Dichter, der
zur vollständigen Verwirklichung seiner dichterischen Absicht
das Ausdrucksmittel der Musik unbedingt nötig hat. Diese
Erfahrung bestimmte ihn zu dem Entschlüsse Musiker zu werden.
Ein dramatischer Dichter, dessen Werk der Musik bedarf, musste
notwendigerweise seinen Blick zuerst und zunächst auf die
Oper werfen als diejenige vorhandene dramatische Kunstform,
in welcher allein Poesie und Tonkunst zu gemeinsamer Wirkung
sich verbinden.
Daß das von ihm unbewußt angestrebte ideale Kunstwerk
innerhalb des Rahmens der Oper auch thatsächlich möglich sei,
daran konnte er von vornherein um so weniger zweifeln, als er
sah, wie sich dieses Ideal unter besonders günstigen Umständen,
so namentlich in den besten Werken des von ihm enthusiastisch
verehrten Mozart, thatsächlich schon verwirklicht hatte. Daß
man, wollte man innerhalb der Oper ein wahrhaftes und nicht
bloß vorgebliches Drama schaffen, anders verfahren müsse, als
alle seine auch Opern komponierenden Zeitgenossen, das war
ihm allerdings schon zur Zeit der Abfassung des »Holländer«
vollkonunen klar. Es ist seine eigene Überzeugung, die er in
der 1840 verfaßten Novelle »Eine Pilgerfahrt zu Beethoven«
djem großen Meister der Symphonie in den Mund legt: »Wenn
ich «ine Oper machen wollte, die nach meinem Sinne wäre,
würden die Leute davonlaufen; denn da würde nichts von Arien,
Duetten, Terzetten und all dem Zeuge zu finden sein, womit
sie heutzutage die Opern zusammenflicken, und was ich dafür
machte, würde kein Sänger singen und kein Publikum hören
wollen« (I, 109). Aber er suchte das Ideal immer noch auf
dem Boden der Oper selbst. Die Frage, welche er sich mit jedem
seiner Werke von neuem stellte, lautete: Wie muß der drama-
tische Stoff gestaltet werden, damit ein einheitliches musikdrama-
tisches Kunstwerk entstehe ? Der Grundirrtum, an dem die Oper
krankt, war ihm noch nicht aufgegangen.
Für die schließliche Erkenntnis dessen, worauf es beim
musikalischen Drama eigentlich ankommt, war nun die Erfahrung,
Das reinmenschliche Kunstwerk. ß'J,
welche er mit seinen nicht ausgeführten Entwürfen machte, von
ausschlaggebender Bedeutung. Hatte er sich mit einem jeden
seiner ausgeführten Werke immer mehr dem angenähert, was
ihm instinktiv als Ideal vorschwebte, so brauchte er nur die
liegen gebliebenen Entwürfe mit jenen zu vergleichen, um mit
einem Male die Lösung des Problems in Händen zu haben.
Er mußte finden, daß schon der Stoff jener Fragment gebliebenen
Dramen derart war, daß er für den Musikdramatiker gar
nicht in Frage kommen konnte, daß er, innerlich und ohne es
zu wissen, über jene Stoffe jeweils schon hinaus gewachsen war,
als sie in ihm auftauchten. Deshalb mußten Friedrich Barba-
rossa, das historische Schauspiel, Jesus von Nazareth, das
philosophische Drama, und Siegfrieds Tod, die Oper, liegen
bleiben, weil er sich auf der von ihm nunmehr erreichten
künstlerischen Entwickelungsstufe außer stände fühlte, sie in
der Form, welche ihn allein befriedigen konnte, nämlich als
Worttondrama, auszuführen.* Überblickte er seine ausge-
führten dramatischen Werke, so mußte er finden, daß sie der
Reihe nach in immer höherem Maße die Eigentümlichkeit auf-
wiesen, mit dem Kern ihrer Handlung sich direkt an das
menschliche Gefühl zu wenden und diesem allein sich vollkommen
verständlich mitzuteilen. Wandte er aber seinen Blick auf die
liegen gebliebenen Entwürfe, so sah er, daß er sie gerade des-
halb nicht hatte ausführen können, weil es ihm unmöglich
dünken mußte, den betreffenden Stoff so zu gestalten, daß die
Handlung, ohne einer Vermittelung durch den Verstand zu be-
dürfen, sich von selbst als einen für das Gefühl vollkommen
begreiflichen und aus ihm allein zu rechtfertigenden Vorgang
kundgebe.
Er merkte, daß das Problem weiter zurücklag, daß es mit-
hin in erster Linie auf die Wahl des Stoffes ankomme, der
schon ein Schiller so große Wichtigkeit zuerkannt hatte. (Brief
an Goethe 4/4. 1797.) Nicht um ein: Wie? sondern um ein:
Was? handelte es sich zunächst. Die Frage hatte zu lauten:
* über die Bedeutung dieser Entwürfe für das Durchdringen "Wag-
ners aus der Periode des unbewußten in die des bewußten Produzierens
vergleiche die lichtvollen Ausführungen bei Chamberlain, Richard "Wagner.
S. 247 ff.
5*
5S I^äs Keinmenschliche als oberster Idealbegriff.
Welches sind die Stoffe, welche bei ihrer dramatischen Gestaltung
eine Mitwirkung der Musik gestatten, weil sie zu derselben einer
solchen Mitwirkung bedürfen, weil sie ohne Musik dramatisch
gar nicht möghch sind? Die Antwort lautete: Solche Stoffe sind
allein für das Worttondrama zu gebrauchen, deren Handlung
durchaus und allein auf rein-menschlichen Motiven beruht,
d. h. auf solchen, welche, aus dem natürlichen Wesen des
Menschen hergeleitet, allgemeine Gültigkeit und Bedeutung für
das menschliche Gefühl haben, wie es aller Orten und zu allen
Zeiten empfunden hat. Das ist z. B. nicht der Fall bei den
historischen Stoffen; denn hier sind es die dem Gefühl als
solchem unverständlichen politischen Vorgänge und Zustände,
die zu rein äußerlichen, konventionellen Gebilden erstarrten so-
cialen Verhältnisse und Rangordnungen, welche das dramatische
Agens der Handlung bilden. Dieser Wust des Thatsächlichen
legt sich wie eine dicke undurchdringliche Nebelschicht vor
unser Auge, so daß wir das hinter ihm verborgene Rein-Mensch-
liche nicht zu erkennen vermögen, und aus demselben Grunde
ist das Leben der Gegenwart unfähig, den Stoff zu einem
musikalischen Drama zu liefern. Unser ganzes Thun und Treiben
ist viel zu sehr von der tyrannischen Macht der Sitte und Kon-
vention bestimmt, viel zu unnatürUch und civihsiert, d. h. unwahr
geworden, als daß ihm mit der Musik, dieser reinen Gefühlskunst,
irgendwie beizukommen wäre. Nun war aber Wagners ganze
künstlerische Natur, wie wir gesehen haben, derart, daß er
nur in einem Poesie und Musik zu einer einheitlichen Wirkung
verbindenden Worttondrama Befriedigung finden konnte. Des-
halb war von der Stunde dieser Erkenntnis an sein künstlerisches
Ideal das »von aller Konvention« — allem »Historisch -For-
mellen«, wie er an einer anderen Stelle sagt — »losgelöste Rein-
Menschliche«.
Sein ursprünglicher und eigentünüicher Instinkt trieb Wag-
nern zu künstlerischer Mitteilung vermittelst der zu gemeinsamer
Wirkung verbundenen Ausdrucksmittel der Poesie und Musik.
Daß der Inhalt einer solchen Mitteilung nur das Reinmensch-
hche sein könne, erkannte er zwar erst später. Aber aus dieser
Erkenntnis können wir den Rückschluß ziehen, daß von Anfang
an, wenn auch unbewußt, das Reinmenschliche der eigentUche
Der Einfluß Feuerbachs. 69
Inhalt seines ganzen Schaffens gewesen, daß dieses das war,
was ihn, im Grunde genommen, eigentlich nur dazu antrieb, sich
überhaupt künstlerisch mitzuteilen. Deshalb erkennen wir im
»Reinmenschlichen« das eigentliche Fundament der Wagnerschen
Weltanschauung, das was er hinter allen den mannigfaltigen
Grestalten und Vorgängen des äußeren Lebens suchte, um es
künstlerisch mitzuteilen, und es kann uns bei der untrennbaren
Einheit von Künstler und Mensch in Richard Wagner nicht
verwundem, daß dieser Begriff des Reinmenschlichen eine weit
über das Gebiet der Kunst hinausgehende Bedeutung bei ihm
erlangt, daß er nicht nur Inhalt seines künstlerischen Schaffens,
sondern das oberste Ideal seiner gesamten Lebens- und Welt-
auffassung wird. —
Die nähere Begriffsbestimmung dessen, was wir unter dem
Reinmenschlichen bei Wagner zu verstehen haben, wird sich
aus der späteren Darstellung ergeben. Vorderhand können wir
uns mit der formalen Definition begnügen: das Reinmensch-
liche ist »das, was das Wesen der menschlichen Gattung
als solcher ausmacht« (IV, 102), um aus ihr schon ersehen
zu können, einen wie großen Eindruck auf Wagner das philo-
sophische System eines Denkers machen mußte, der eben-
denselben Begriff der Menschheit als solcher in den Mittel-
punkt seiner Spekulation gestellt hatte. Dieser Philosoph war
Ludwig Feuerbach. Er hat Richard Wagner allererst
zum philosophischen Denker gemacht, soweit er als Künstler
dies überhaupt werden konnte. Er lieferte zu jener Zeit, als
es den Meister unwiderstehlich dazu trieb, mit Hilfe der Reflexion
sich über sich selbst klar zu werden, seinem Denken die ab-
strakten Begriffe und philosophischen Terminologieen. Denn nicht
so haben wir uns den Einfluß Feuerbachs — geradeso wie den
späteren Schopenhauers — auf Wagner zu denken, als habe
der Philosoph dem Künstler irgendwie den Inhalt seiner
Weltanschauung übermittelt, oder dieselbe auch nur irgendwie
in höherem Maße materiell beeinflußt. Wäre das der Fall ge-
wesen, so hätten wir überhaupt kein Recht, von einer Welt-
anschauung Wagners als einer ihm eigentümlichen Auffassung
des Wesens der Welt zu reden. Ja, genau betrachtet, ist diese
Ansicht in sich widersinnig. Denn »Lösungen des Welträtsels
werden nicht gelehrt, sondern erlebt«, sagt einmal Heinrich
70 R- Wagner und L. Feuerbach.
von Stein, und ein fremdes Denken kann nnser eigenes nur
insofern befruchten, als es das zum bewußten Wissen und deut-
lichen Erkennen erhebt, was zuvor schon, mehr oder minder
unbewußt, in ihm enthalten war, indem es uns das BegrifEs-
schema leiht für das, was uns das Leben zuvor schon selbst
gelehrt.
Tritt also der Künstler zur Philosophie in ein näheres
Verhältnis, so ist von vornherein selbstverständlich, daß er den
eigentlichen Inhalt seiner Weltanschauung als eigensten Er-
trag seines Schauens und Erlebens bereits besitzt, lange bevor
er auch nur eine Seite in irgend einem philosophischen Werke
gelesen hat. Was er bei dem Philosophen sucht, ist nicht
materiale Bereicherung seiner Weltanschauung, sondern ledig-
lich die technische Handhabe, die es ihm ennögUcht, dessen, was
er schon längst sein Eigen nennt und in künstlerischen Ge-
stalten in seiner Sprache ausgedrückt hat, sich nun auch be-
wußt zu werden. Aus diesem Grunde bedurfte Wagner, da
er nicht selbst Philosoph von Fach war, in jener Epoche, wo
er aus der Periode des unbewußten Schaffens in die des be-
wußten Produzierens überzutreten hatte, eines Denkers, der ihm
das fachmännische Rüstzeug, die Begriffe, Schemata und Termi-
nologieen für sein Philosophieren liefern konnte. Dieser Philo-
soph wurde ihm Ludwig Feuerbach.
Daß Feuerbach diesen s. z. s. maeeutischen Dienst dem
Wagnerschen Denken nicht hätte leisten können, wenn nicht
auch im Materialen eine große Übereinstimmung zwischen seiner
und des Künstlers Weltanschauung, wenn in der Feuer-
bachschen Philosophie nicht Begriffe vorhanden gewesen
wären, die des Künstlers eigenen Anschauungen bis zu einem
gewissen Grade entsprachen und adäquate Repräsentanten der-
selben in der Sphäre des Abstrakten wenigstens damals ihm
zu sein schienen, ist ohne weiteres klar. Später glaubte Wag-
ner einzusehen, daß diese Übereinstimmung doch keine so voll-
ständige war, als er zu jener Zeit vermeint hatte, daß er der
Lektüre Feuerbachs »verschiedene Bezeichnungen für Begriffe
entnommen«, welche er »auf künstlerische Vorstellungen an-
wendete, denen sie nicht immer deutlich entsprechen konnten«.
Hieraus sei dann »eine gewisse leidenschaftliche Verwirrung«
Materiale und formale Beeinflussung. 71
entsprungen, »welche sich als Voreiligkeit und Undeutlichkeit im
Gebrauche philosophischer Schemata kundgab« (III, 3).
Inwiefern diese spätere Korrektur Wagners nur eine Folge
des veränderten Lichtes war, in welchem ihm, nachdem er
Schopenhauer kennen gelernt hatte, seine damaligen Schriften
erschienen, und inwiefern eine solche Inkongruenz zwischen dem
eigentlichen Kern der Wagnerschen Weltanschauung und der
begrifflichen Form, welche sie unter dem Einflüsse der Philo-
sophie Feuerbachs annahm, schon von Anfang an thatsächlich
vorhanden war, die Entscheidung dieser Frage können wir nur
aus einer Quelle schöpfen, die außerhalb des Gebietes der
philosophischen Spekulation fließt, — und eine solche Quelle
haben wir in den Wagnerschen Kunstwerken, denen wir schon
in der Einleitung (S. 6) eine den theoretischen Äußerungen des
Meisters gegenüber superiore Stellung angewiesen haben, wenn
es sich um die Erkenntnis des eigentlichen Wesenskemes seiner
Weltanschauung handelt. Es wird in der Folge, wenn wir den
Übergang Wagners von Feuerbach zu Schopenhauer betrachten,
um das Beharrende in diesem, äußerlich betrachtet, so schroffen
Umschwung, das Oontinuum bei diesem Sprunge aufzufinden,
unsere Aufgabe sein, die Bedeutung der Wagnerschen Dramen
vom »Holländer« bis zum »Ring« für die Erkenntnis der Welt-
anschauung des Meisters in dieser Beziehung eingehend zu
würdigen.
Auf keinen Fall geht es aber an, auch wenn keine andere
Tendenz diesem Bestreben zu Grunde läge, als die an und für
sich durchaus löbliche Absicht, die Weltanschauung Wagners
als möglichst geschlossene und trotz des Wechsels ihrer äußeren
Gestalt im Grunde stets unveränderte und sich gleich bleibende
Einheit darzustellen, den Einfluß Feuerbachs auf die Ent-
wickelung Wagners in einer der historischen Wahrheit durchaus
widersprechenden Weise als möglichst unbedeutend und ober-
flächlich hinzustellen, wie dies Chamberlain versucht hat, der
darin so weit geht, daß er schon rein formal-logisch dem: Qui
mmium probat nihil prohat verfällt.
So will er aus einer Briefstelle Wagners an den Verleger
Wigand vom 4. August 1849, worin der Meister schreibt:
»Leider ist es mir hier noch nicht möglich geworden, von
72 R« Wagner und L. Feuerbach.
Feuerbachs Werken« (es sind natürlich die Opera omnia^ welche
im Jahre 1845 zu erscheinen begonnen hatten, gemeint) >mehr
als den dritten Band mit den Gedanken über Tod und Unsterb-
lichkeit zur Kenntnis zu erhalten,« — schließen, daß Wagner
überhaupt zu jener Zeit, als »Das Kunstwerk der Zukunft«
bereits geschrieben und Feuerbach gewidmet war, von diesem
noch nichts gekannt habe als eben jene Gedanken über Tod
und UnsterbUchkeit. So sehr ist das von Chamberlain selbst
citierte Wort des Duns Scotus: Voluntas superior intellectu
wahr, daß ein so scharfsinniger und feiner Kopf wie dieser
Wagnerkenner mit den elementarsten Regeln der Logik in Kon-
flikt kommt, sobald eine vorgefaßte Meinung und Tendenz ihm
den Blick trübt. Daß das, was Chamberlain aus der ange-
führten Brief stelle folgert, durchaus nicht aus ihr folgt, ist ohne
weiteres klar. Auch wenn Wagner keinen einzigen Band der
»Werke« Feuerbachs in Zürich hätte bekommen können, so
könnte man daraus nicht schließen, daß er die vorher einzeln
erschienenen Schriften des Philosophen (»Das Wesen des
Christentums« 1841, »Grundsätze der Philosophie der Zukunft«
1843 u. s. w.) nicht längst gekannt hätte. Allein es giebt auch
direkte Instanzen gegen die Chamberlainsche Annahme: 1)
Wagner spricht selbst von der damals ihn lebhaft anregenden
Lektüre mehrerer Schriften »Ludwig Feuerbachs« (IH, 3);
2j in der Widmung* des »Kunstwerkes der Zukunft« an Feuer-
bach (in die gesammelten Schriften nicht mit aufgenommen)
bezeugt er ausdrücklich, daß diese Arbeit dem Eindrucke der
»Schriften« des Philosophen auf ihn »namentlich mit ihr Da-
sein verdanke«, was, abgesehen von dem Pluralis »Schriften«,
doch unmöglich auf die »Gedanken über Tod und Unsterblich-
keit« sich beziehen kann; 3) der Titel »Kunstwerk der Zu-
kunft« weist so direkt auf Feuerbachs »Grundsätze der Philo-
sophie der Zukunft« hin, daß man nicht gut annehmen kann,
Wagner sei ohne Einfluß dieses Feuerbachschen Werkes, ja
ohne es zu kennen, auf diesen gewiß nicht gerade sehr nahe-
liegenden Titel verfallen; und 4) selbst wenn er bis zum
* Richard "Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, Otto Wi-
gand, 1850, S. V— Vm.
Chamberlains Behauptung widerlegt. 73
Moment der Abfassung seines > Kunstwerkes der Zukunft« die
Feuerbachsche »Philosophie der Zukunft« etwa nur dem Titel
nach und vom Hörensagen oder aus Recensionen gekannt hätte,
so würde es ihn doch sicher gedrängt haben, nun, da er für
die Kunst ein analoges Zukunftsideal zu konstruieren im Be-
griffe war, die Arbeit des ihm damals, was auch Chamberlain
nicht leugnen kann, ungemein sympathischen und, wie er
wenigstens glaubte, geistesverwandten Philosophen kennen zu
lernen. Daß er aber diese, die im Jahre 1843 in Zürich
selbst erschienen war, am Verlagsorte nicht hätte auftreiben
können, ist undenkbar. 5) Alle jene Begriffsbezeichnungen, welche
Wagner späterhin selbst als der Philosophie Feuerbachs ent-
nommen angiebt (IH, 3), wie. Willkür und Unwillkür, Sinnlich-
keit, Kommunismus, kommen in jener früheren Schrift des
Philosophen über Tod und Unsterblichkeit noch gar nicht oder
kaum, jedenfalls nicht in der scharf ausgeprägten, specifisch
terminologischen Bedeutung vor, mit der er sie späterhin ge-
braucht.
Es ist daher gar nicht zu leugnen, daß Wagner zum min-
desten die »Grundsätze der Philosophie der Zukunft« und »Das
Wesen des Christentums« von .Feuerbach genau gekannt hat,
als er seine ersten großen Schriften verfaßte, und auch die
allgemeine Behauptung Chamberlains (S. 1 36], daß die etwa von
Feuerbach dem Meister überkommenen Gedanken »bei Wagner
in so. gänzlich anderer Beleuchtung« erschienen, bei ihm »Be-
ständteile einer so wesentlich unterschiedenen Weltanschauung
seien«, »daß einzig Wortklauberei eine Abhängigkeit Wagners
von Feuerbach folgern kann«, läßt sich kaum ernsthaft durch-
führen. Sehen wir uns also einmal näher danach um, was die
Philosophie des Einsiedlers von Bruckberg dem Wagnerschen
Denken und Fühlen Verwandtes entgegenbrachte.*
Es ist in erster Linie der Begriff des »Reinmenschlichen«,
der Wagner zu dem Denker hinzog, der von sich selbst sagte:
»Gott war mein erster Gedanke, die Vernunft mein zweiter, der
* Die hauptsächlichsten Schriften, welche "Wagner unter dem Ein-
flüsse Feuerbachs verfaßte, sind: »Die Kunst und die B/Cvolution« 1849,
»Das Kunstwerk der Zukunft«, »Kunst und Klima« 1850, »Oper und
Drama« und »Eine Mitteilung an meine Freunde« 1851.
74 R- Wagner und L. Feuerbach.
Mensch mein dritter und letzter Gedanke«, mit diesen Worten
seinen Entwickelungsgang von der Theologie über die Hegeische
Metaphysik zum Anthropologismus charakterisierend. Es war
das anthropologische Grundelement, demzufolge bei Feuerbach
der Mensch im Mittelpunkt des ganzen Systems steht, die ganze
Weltanschauung s.z.s. anthropocentrisch wird, was Wagnern
zunächst sympathisch berührte.
Diese >subjektivistische« Anschauungsweise ist für^ den
Künstler ohne Zweifel die natürliche, ja in gewissem Sinne ein-
zig mögliche, nicht aber ebenso auch für den Mann der Wissen-
schaft, den Philosophen. Sie war es, die der Philosophie Feuer-
bachs jenen künstlerischen, poetisch-mystischen Grundzug verlieh,
den sie auch in ihrer äußeren Form (Vorliebe für den Apho-
rismus, gehobene, ja bisweilen enthusiastisch überschäumende
Diktion, Vernachlässigung der logischen Geschlossenheit —
Lange [Geschichte des Materialismus S. 247] meint geradezu:
>Ein ,folgKch* hat bei Feuerbach nicht den Sinn eines wirk-
lichen oder doch beabsichtigten Verstandesschlusses, sondern
es bedeutet einen in Gedanken vorzunehmenden Sprung«)
nicht verleugnen kann. Also schon rein äußerlich etwas, was
den Künstler anziehen mußte.
Der Übergang von der Anschauung, daß die Vernunft (der
»subjektive Geist«) das eigentliche Grundwesen des Menschen
sei, zu der Überzeugung, daß nur im wirklichen lebendigen
Körper und Seele gleicherweise umfassenden Sinnenmenschen
das wahre Wesen des Menschen sich offenbare, bezeichnet den
Abfall Feuerbachs von Hegel und die Begründung seines eige-
nen sensualistischen Systems. Von nun ab räumt er der Sinn-
lichkeit eine besondere Bedeutung ein: wieder ein Punkt, von
dem sich der Künstler sympathisch berührt fühlen mußte, und
zumal ein Künstler, den die, wie wir gesehen haben (S. 43 f.), so
ungemein kräftig entwickelte, aufs Diesseits gerichtete Seite
seiner Natur dazu zwang, einzig im sinnhch-realen Leben und
Wirken des Kunstwerkes sein künstlerisches Wollen befriedigt
und erlöst zu fühlen, dem nichts so verhaßt war als eine bloß
gedachte und vorgestellte papierene Litteraturkunst.
Trotz dieser Betonung der konkreten Sinnlichkeit war nun
dieser Feuerbachsche Mensch aber nicht etwa das Individuum,
Anthropocentr. Standpunkt, Sinnlichk. u. entwickelgsgesch. Gedanke. 75
der »Einzige« Stimers, sondern, genau genonunen, immer wieder
nur ein Abstraktum, die »Menschheit«, das »Wesen des Men-
schen«, eine idealistische Anschauung, gegen die der »Einzige«
(von seinem Standpunkt aus) recht behält, wenn er meint (Der
Einzige und sein Eigentum, Reclam S. 43), daß damit Gott
nicht aufgehoben, sondern lediglich aus dem Jenseits in unser
Inneres herabgezogen sei, indem »unser Wesen« zu uns in einen
Gregensatz gebracht, wir selbst in ein wesentliches und unwesent-
liches Ich zerspalten würden. Das »Wesen des Menschen« ist
bei Feuerbach nicht nur die Idee des Menschen im eigent-
lichen Sinn des Wortes, sondern auch sein Ideal, d. h. das,
was der Mensch ursprünglich und von Natur aus ist, ist iden-
tisch mit dem, was er sein soll und sein wird, wenn er sein
Ziel, seine Bestimmung erreicht hat.
Daß in dieser Weise Idee und Ideal im Grunde zusammen-
fallen, ist nur möglich innerhalb eines philosophischen Systems,
das auf dem entwickelungsgeschichtlichen Gedanken
basiert. Denn wenn die Bedeutung des ewigen Wandels und
Wechsels, dessen ständiger Schauplatz unsere Erde ist, darin
liegt, daß der Mensch das, was er an sich, aber ursprünglich bloß
potentiell, keimhaft und der Anlage nach, ist, im Laufe der
Geschichte in einer streng notwendigen und mit logischer Kon-
sequenz aus seinem Wesen hervorgehenden Entwickelung aus
sich heraus- und in aktuelle Wirklichkeit umzusetzen hat, dann
können wir in der That sagen, daß die Idee und das Ideal der
Menschheit, ihr natürliches Wesen und das ihr gesteckte Ziel,
ihr Müssen und ihr Sollen im Grunde und essentiell identisch
sind. Diesen Entwickelungsgedanken hatte Feuerbach aus seiner
Hegelianischen Periode beibehalten, und Wagner hat ihn von
ihm übernommen. Nicht nur daß der Meister zu dieser Zeit
fest und unbeirrt an die »Zukunft« glaubt — dieser Glaube
hat ihn eigentlich zu keiner Zeit, wenigstens nicht auf die Dauer,
verlassen — , sondern er vertraut auch durchaus auf die mit
Notwendigkeit aus dem Wesen des Seienden von selbst erfol-
gende Entwickelung, auf den Lauf der Welt, der, ob mit un-
serer Hilfe oder gegen uns, die Verwirklichung des Ideals ganz
allein herbeiführen müsse. So heißt es z. B. IH, 32 1: »Nichts
wird gemacht in der Geschichte, sondern alles macht sich selbst,
76 B.. Wagner und L. Feuerbach.
nach seiner inneren Notwendigkeit — ,« und Entwürfe S. 64:
»Wenn mir die Erde übergeben würde, um auf ihr die mensch-
liche Gesellschaft zu ihrem Glücke zu organisieren, so könnte
ich nichts anderes thun, als ihr vollste Freiheit geben, sich
selbst zu organisieren.«
Wie aber der Zwiespalt in dieses von Haus aus schlechte
hin einfache menschliche Wesen kommt, der Konflikt, der als
treibendes Agens die ganze Entwickelung allererst möglich macht,
der Widerspruch zwischen dem »Wesentlichen« und »Unwesent-
hchen« im realen Menschen, das hatte Feuerbach so wenig
erklären können, als sein Meister Hegel trotz der logischen
Jongleurkunststücke seiner »dialektischen Methode« es irgendwie
wirklich begreiflich zu machen wußte, warum und wie so das
»Unvernünftige« als ein »Moment« der Vernunft in diese selbst
hineingeraten sei, — und auch dem Denker Wagner machte
dieser Skrupel keine weiteren Sorgen. Wir werden aber später
sehen, wie gerade in diesem Punkte der Dichter Wagner mit
dem »Ring des Nibelungen« über seine eigene damalige philo-
sophische Weltanschauung, deren künstlerische Gestaltung
und Verherrlichung er mit jenem Dramencyklus ursprünglich
beabsichtigt hatte, hinauswuchs, sich das, wenn auch zunächst
nur erst als Künstler, d. h. mehr oder minder unbewußt, ein-
gestand, was ihn befähigte, die Philosophie Schopenhauers, so-
bald er sie kennen gelernt hatte, als willkonmiene Bestätigung
seiner eigenen innersten, kaum noch ausgesprochenen Überzeu-
gung vom Wesen der Welt freudig zu begrüßen.
Endlich war es noch ein drittes Element der Feuerbach-
schen Geistespersönlichkeit, worin Wagner sich ihm verwandt
fühlte: nennen wir es kurz das religiöse. Daß Wagner eine
im Grund seiner Seele tief rehgiöse Natur war, kann nicht be-
stritten werden: in vielen seiner Werke spielt das religiöse Ge-
fühl eine hervorragende Rolle, und gerade zu jener Zeit, wo er
sich in polemischen Angriffen gegen das historische und dog-
matische Christentum nicht genug thun konnte, beschäftigte er
sich mit dem dramatischen Plane eines »Jesus von Nazareth«,
und während der Ausarbeitung des »Tristan« , als ihn die
Schopenhauersche Philosophie am festesten in ihrem Banne hielt,
tauchte zum erstenmale das Bild des reinen Thoren »Parsifal«,
Das religiöse Element. 77
diese specifisch christliche Heldengestalt, in greifbaren Zügen
vor seinem künstlerischen Auge auf. Weniger einleuchtend dürfte
es dagegen sein, wenn ich dem großen Atheisten und Eeligions-
zertrümmerer Feuerbach ein tief religiöses Gefühl zusprechen,
ja das Religiöse geradezu als den Grundzug seines geistigen
Charakters ansehen zu müssen glaube. Indessen wird dem auf-
merksameren Blick die Richtigkeit dieser Beurteilung nicht ent-
gehen. Gerade darum wird Feuerbach nicht müde, seinen Ge-
danken von der Entstehung aller Religion, daß sie nämlich
nichts anderes sei als das nach außen bezw. ins Jenseits proji-
zierte Bild des eigenen Wesens des Menschen, in immer neuen
Variationen zu wiederholen, weil er tief überzeugt ist von der
Wahrheit und Bedeutung dieses Sehnsuchtsgefühls, das den
Menschen zwingt, immer wieder den Inhalt seines idealen
Wünschens zu personifizieren, und darum nur zertrümmert er
die überlieferten Götterrehgionen, um an ihre Stelle seine Mensch-
heitsreligion zu setzen. (Sein Bruder Friedrich Feuerbach, der
von sich sagte: »Ich predige, was Ludwig lehrt«, schrieb über
>die Religion der Zukunft«.)
Ein anderes, minder religiös angelegtes Gemüt hätte sich
wohl begnügt mit der Erkenntnis, daß das Geheimnis der Reli-
gionen ja schon seit den Tagen des Lucrez offenkundig sei für
alle die, welche Augen haben zu sehen, verbunden mit der
resignierten Anerkennung der Thatsache, daß die Dummen eben
zu keiner Zeit alle werden. Anders Feuerbach. Er fühlt sich
geradezu als Apostel einer neuen, reinen, mit der Vernunft in
Übereinstimmung befindUchen Religion ; nicht, wie etwa der nur
gelehrte Kritiker D. F. Strauß, bloß zur Befriedigung eines rein
intellektualen, wissenschaftUchen Bedürfnisses, erhebt er seine
Stimme; nein, er will Hilfe und Rettung bringen aus einer all-
gemeinen menschlichen Not, er will die Menschheit erlösen von
dem Fluch der transcendenten Religion, von der Knechtschaft'
des überirdischen Gottes, aus »Kandidaten des Hjmmels« will
er die Menschen zu Herrschern der Erde, aus Sklaven Jehovahs
zu Arbeitern am Wohle der Menschheit machen; er verkündigt
ein neues Evangelium, eine frohe Botschaft, von der er ebenso
überzeugt ist, daß sie dem sündigen Menschen Erlösung bringe,
wie der Zimmermannssohn von Galiläa dies von der seinigen
78 ^^^ Reinmenschliche.
geglaubt hatte. Er predigt eine Keligion^ die zwar nicht bloß
un- und antikirchlich, sondern direkt atheistisch ist, aber daß
Religion und Atheismus keine sich absolut ausschließenden Be-
griffe sind, dürfte heutzutage selbst im Occident kein Paradoxon
mehr sein.
Dieses stark ausgeprägte religiöse Pathos hat den Dichter
des Tannhäuser und Lohengrin vielleicht stärker zu Feuerbach
hingezogen, als irgend einer der anderen oben auseinandergesetzten
Berührungspunkte. —
Zu seinem Ideale des Reinmenschlichen gelangte Wagner,
wie wir gesehen haben, zunächst in Verfolgung seines Weges
als schaffender Künstler. Er sah, daß nur solche Stoffe für
die Kunstart, in welcher er allein seine KünstlerpersönKchkeit
voU und ganz ausleben konnte und die ihm daher für die höchste
galt, nämlich das Worttondrama, geeignet seien, deren Inhalt
ein »reinmenschlicher« ist. Das Reinmenschliche ist aber das
von aUem Historisch-Formellen, von aller Konvention losgelöste
und befreite Wesen des Menschen (IV, 318). Es tritt also hier-
mit der historische Mensch, dem nur mit dem Verstände, also
künstlerisch überhaupt nicht, beizukommen ist, dem natürlichen
Menschen gegenüber, dessen Handeln ganz unmittelbar dem
Gefühle selbst verständlich sich kundgiebt. Er allein ist der
echte und wahre, der freie Mensch, der Mensch als Schöpfer,
nicht als Geschöpf und Sklave, der Verhältnisse. Dieser ideale
Mensch ist zunächst nur ein Phantasiebild, ein Wunsch. Wo
finden wir die Gewähr seiner Wirklichkeit ? Nicht in der Gegen-
wart, auch nicht in der geschichtlichen Vergangenheit, sondern
einzig in der gewissermaßen »prähistorischen« Welt des Mythos.
Wagner beschreibt selbst diese Auffindung des wahren Menschen
(IV, 3111): »In dem Streben, den Wünschen meines Herzens
künstlerische Gestalt zu geben, und im Eifer, zu erforschen,
was mich denn so unwiderstehlich zu dem urheimatlichen Sagen-
quelle hinzog, gelangte ich Schritt für Schritt in das tiefere
Altertum hinein, wo ich dann endlich zu meinem Entzücken,
und zwar ebendort im höchsten Altertum, den jugendlich
schönen Menschen in der üppigsten Frische seiner Kraft an-
treffen sollte Was ich hier ersah, war nicht mehr die
historisch-konventionelle Figur, an der uns das Gewand mehr
Die Genesis des reinmenschlichen Ideals. 79
als die wirkliche Gestalt interessieren muß; sondern der wirk-
liche, nackte Mensch, an dem ich jede Wallung des Blutes,
jedes Zucken der kräftigen Muskeln, in uneingeengter freiester
Bewegung erkennen durfte; der wahre Mensch überhaupt,« —
während sich ihm in der Geschichte »nichts als Verhältnisse«
boten, hinter denen er die Menschen nur insoweit gewahrte,
»als ihn die Verhältnisse bestimmten, nicht aber, wie er sie zu
bestimmen vermocht hatte«. — Und weiter: »Um auf den Grund
dieser Verhältnisse zu kommen, die in ihrer zwingenden Kraft
den stärksten Menschen zum Vergeuden seiner Kraft an ziellose
und nie erreichte Zwecke nötigten, betrat ich von neuem den
Boden des hellenischen Altertums; und auch von dieser Seite
her leitete mich der Mythos gerade wieder einzig auf den Men-
schen als den unwillkürlichen Schöpfer der Verhältnisse hin,
die in ihrer dokumental-monumentalen Entstellung als Geschichts-
momente, als überKeferte irrtümliche Vorstellungen und Rechts-
verhältnisse, endlich den Menschen zwangvoll beherrschten und
seine Freiheit vernichteten« (a. a. 0. S. 312).
Es stellt sich also die Genesis des rein-menschlichen Ideals
bei Wagner folgendermaßen dar: Von Anfang an trug er dieses
Ideal unbewußt in sich als die höchste Sehnsucht seiner eigenen
Persönlichkeit, und diese Sehnsucht drängte ihn als Künstler,
sie zu gestalten und nach außen zu setzen; denn: »die Kunst
ist ihrer Bedeutung nach nichts anderes, als die Erfüllung des
Verlangens, in einem dargestellten bewunderten oder geliebten
Gegenstande sich selbst zu erkennen, sich in den, durch ihre
künstlerische Darstellung bewältigten, Erscheinungen der Außen-
welt wieder zu finden« (IV, 32 f.). Diese Sehnsucht trieb ihn
dazu an, nach dem Gegenbüde seines idealen WoUens in der
realen Wirklichkeit zu suchen, und zwar, da das Leben der
Gegenwart seinem Inhalte offenbar strikte entgegengesetzt war,
in der Vergangenheit. Denn: »Alle unsere Wünsche und heißen
Triebe, die in Wahrheit uns in die Zukunft hinübertragen,
suchen wir aus den Bildern der Vergangenheit zu sinnlicher
Erkennbarkeit zu gestalten, um so für sie die Form zu gewinnen,
die ihnen die moderne Gegenwart nicht verschaffen kann« (IV,
311). In diesem Ideale lag also schon von Anfang an die Em-
pörung gegen das gesamte Leben der Gegenwart impliziert. Die
gO Das Reinmenscbliche.
Gegenwart war unfähig, das wahre und ideale Kunstwerk her-
vorzubringen aus demselben Grunde, weshalb kein Stoff für eine
wahrhaft künstlerische Offenbarung ihr zu entnehmen war: der
natürliche Mensch ist in ihr unter dem Schutte vernunftwidriger,
ihre einzige Berechtigung aus dem historischen Gewordensein
ziehender Verhältnisse bis zur Unerkennbarkeit begraben; nur
in dem frühesten Altertum, in den Gestalten des Mythos ist er
zu finden, nur in der Zukunft kann er wieder zu lebendigem
Dasein erwachen.
Wenden wir uns zu einer näheren Charakterisierung des
Eeinmenschlichen : In ihm spricht sich das ^esen des Menschen
aus, das Gattungsgemäße, das Typische, Bleibende und Ewige
an ihm, die Idee des Menschen. Was ist nun das, was den
Menschen allererst zum Menschen macht, das specifisch Mensch-
liche in ihm ? Darauf giebt Wagner dieselbe Antwort wie Feuer-
bach, wenn dieser (Philosophie der Zukunft) sagt : »Der einzelne
Mensch für sich hat das Wesen des Menschen nicht in sich,
weder in sich als moralischem, noch in sich als denkendem
Wesen. Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft,
in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten« —
ein Gedanke, der bei Wagner so ausgedrückt wird: >In Allem,
was da ist, ist das Mächtigste der Lebenstrieb. Das Lebens-
bedürfnis des Lebensbedürfnisses des Menschen ist aber das
Liebesbedürfnis Nichts Lebendiges kann aus der
wahren unentstellten Natur des Menschen hervorgehen oder von
ihr sich ableiten, was nicht auch der charakteristischen Wesen-
heit dieser Natur vollkommen entspräche: das charakteristischeste
Merkmal dieser Wesenheit ist aber das Liebesbedürfnis« (HI,
68, 69). Die »gemeinsame menschliche Natur wird am stärksten
von dem Individuum als seine eigene und individuelle Natur
empfunden, wie sie sich in ihm als Lebens- und Liebestrieb
kundgiebt : die Befriedigung dieses Triebes ist es, was den ein-
zelnen zur Gesellschaft drängt, in welcher er eben dadurch, daß
er ihn nur in der Gesellschaft befriedigen kann, ganz von selbst
zu dem Bewußtsein gelangt, das als ein rehgiöses, d. h. gemein-
sames seine Natur rechtfertigt« (IV, 73).
Also erst in der Gemeinschaft erwacht der Mensch als
solcher, erst im liebenden Menschen offenbart sich das Wesen
Egoismus und Koinmunismus. gl
der Menschheit, das Reinmenschliche. Der wahre, natürliche und
unentstellte Mensch als der ideale Repräsentant seiner Gattung
ist nicht der Egoist, sondern, wie Wagner im Anschluß an
Feuerbach sagt, der Kommunist, d.h. der liebende und aus
Liebe sich selbst an die Allgemeinheit hingebende Mensch.
Eine infolge der Seichtigkeit und Oberflächlichkeit ihrer
Gedanken zu einiger Berühmtheit gelangte moderne national-
ökonomisch-utilitaristische ethische Schule nennt den Gegensatz
zum Egoismus Altruismus, eine Bezeichnung, die schon deshalb
schief und verkehrt ist, weil sie dem ganz bestimmten und in-
dividuell lebendigen >Ego<^ die indefinite, leere und inhaltslose
>quiddita8€ des >aUer< entgegensetzt. Den Egoismus hält sie
für den dem Menschen natürlichen und angeborenen Lebenstrieb,
den Altruismus glaubt sie ihm als sociale Pflicht auferlegen zu
müssen, damit die Welt nicht aus dem Leim gehe. Mit dieser
waschlappigen Utilitätsmoral hat der Feuerbach-Wagnersche
Kommunismus — >Tuismus« wäre ein zwar auch nicht gerade
schöner, aber bezeichnenderer Ausdruck — gar nichts gemein.
Was bei Wagner dem Ich gegenüber steht, ist nicht der abstrakte
alier quidam, der x-beliebige »Mitmensch«, sondern das konkrete
Du, d. h. der geliebte Gegenstand, das als notwendige Ergän-
zung der eigenen Individualität mit Inbrunst umschlungene alter
egoj worin das vereinsamte Ich aufzugehen sich sehnt, um in
ihm erst zum vollen Leben zu erwachen. Hier ist von keiner
socialen Pflicht die Rede, hier wird überhaupt nichts vor-
geschrieben, sondern einfach ein Gefühl konstatiert, dessen Exi-
stenz noch niemand zu leugnen vermocht hat, das menschliche
Liebesbedürfnis als die höchste Blüte des dem Menschen ange-
borenen natürlichen Lebenstriebes proklamiert.
Viel mehr Verwandtschaft hat die Wagnersche »Liebe«
auch schon zu jener Zeit mit dem, was Schopenhauer als »Mit-
leid« zum Fundament seiner Ethik gemacht hat, insofern sie,
wie dieses, durchaus auf ein unmittelbares, konkretes Gefühl
gegründet ist. Nur hat das Wagnersche Moralprincip im Gegen-
satz zu dem Schopenhauers einen durchaus diesseitigen und in
Bezug auf das natürliche Wesen des Menschen immanenten
Charakter. Während bei Schopenhauer das Mitleiden zwar auch
mit der Unmittelbarkeit, und zwingenden Gewalt einer Natur^
Louis, Weltanschauung R. Wagners. 5
g2 ^&8 Remmenschüche.
kraft beim AnbKck fremden Wehs unserem Herzen entspringt,
aber gleichsam als Offenbarung einer anderen, von der vor un-
serem Auge in Kaum und Zeit sich bewegenden gänzlich ver-
schiedenen Welt, die wir mit unserer Vernunft nur negativ
erfassen können, indem wir sie »Verneinung« dieser realen Welt
und ihres metaphysischen Trägers, des Willens zum Leben,
nennen, soll Wagners Liebestrieb als individuelles Liebesbe-
dürfnis gleichsam die noch undifferenzierte Einheit von (natür-
lichem) Egoismus und Kommunismus darstellen und damit einer-
seits die Möglichkeit einer ungebrochenen Harmonie im Linem
des natürUchen Menschen gewährleisten, andererseits aber auch
die selbstlose Handlung als eine ganz natürliche Bethätigung
des individuellen Lebenstriebes erscheinen lassen. Die tugend-
hafte Handlung ist bei Schopenhauer als Resultat des Mitleidens
negativ in Bezug auf das reale Wesen der Welt, seine Ethik
ist »akosmistisch«; wogegen die Liebe bei Wagner eine durch-
aus positive, natürliche Äußerung des ungebrochenen Willens
zum Leben ist. Von irgend einer Selbstbeschränkung zu
Gunsten der Allgemeinheit will er daher nichts wissen; die For-
derung dieser »unmöglichen Tugend« hat gerade die »jeden
wahrhaften Menschen empörende, furchtbare Entsittlichung
unserer socialen Zustände« zur notwendigen Folge gehabt: Die
ermögUchende Kraft der wirklichen Tugend ist nicht der selbst-
beschränkende Wille, sondern — die Liebe. Den gedachten
Erfolg der Anforderung der Selbstbeschränkung führt die Liebe
in unermeßlich erhöhtem Maße herbei, »denn sie ist eben nicht
Selbstbeschränkung, sondern unendlich mehr, nämUch —
höchste Kraftentwickelung unseres individuellen
Vermögens, zugleich mit dem notwendigsten Drange
der Selbstaufopferung zu Gunsten eines geliebten
Gegenstandes« (IV, 250 f.).
Dem entspricht, daß, entgegen der scharfen Scheidung
zwischen Amor und Caritas, wie wir sie bei Schopenhauer fin-
den, Wagner nicht nur keine Trennung beider Gefühle kennt,
sondern geradezu eine Vorliebe zeigt, alle Verhältnisse und Be-
ziehungen zwischen zwei Individuen nach Analogie der sexuellen
Liebe zu betrachten; ohne Zweifel nicht sowohl deshalb, weil
das Verhältnis zwischen zwei Angehörigen verschiedenen Ge-
Individuum und Allgemeinheit. g3
schlechts den intensivsten Gefühlsgrad au&uweisen pflegt, woran
man zunächst denken könnte, als vielmehr, weil das derartige
Verhältnis in seiner Beinheit dem Wagnerschen Begriff der
Liebe: »höchste Kraftentwickelung des individuellen Vermögens,
zugleich mit dem notwendigsten Drange der Selbstaufopferung«
— am besten entspricht.
Ist somit das Liebesbedürfnis in der ursprünglichen Natur
des Menschen nicht nur enthalten, sondern geradezu die höchste
Entfaltung und Blüte seines natürlichen Lebenstriebes, so bedarf
es, um zu einer vollkommenen Gestaltung der menschlichen Ge-
sellschaft zu gelangen, gar nichts anderen, als daß es diesem
Triebe ermöglicht sei, sich frei und ungehindert auszuleben.
Die höchste dem Menschen erreichbare Sittlichkeit wird
verwirklicht, wenn er einfach dem unwillküi'lichen Glückselig-
keit striche nachgeht, den die Natur in seine Seele gelegt hat.
»Die geschichtlichen Erscheinungen sind die Äußerungen der
inneren Bewegung, deren Kern die sociale Natur des Menschen
ist. Die nährende Kraft dieser Natur ist aber das Individuum,
das nur in der Befriedigung seines unwillkürlichen Liebesver-
langens seinen Glückseligkeitstrieb stillen kann: aus dem
Bedürfnisse des Individuums, sich mit den Wesen seiner Gat-
tung zu vereinigen, um in der Gesellschaft seine Fähigkeiten
zur höchsten Geltung zu bringen, erwächst die ganze Bewegung
der Geschichte« (IV, 50). Wäre sich der Mensch von Anfang
an hierüber klar gewesen, so hätte es einen Konflikt zwischen
den Bedürfnissen der Allgemeinheit und dem Freiheitstriebe des
Individuums gar niemals geben können.
Der Irrtum über das natürliche Verhältnis des Individuums
zur Allgemeinheit ist die Quelle all der unseligen Mißverständ-
nisse, als deren Produkt das Leben der Gegenwart erscheint.
Aber dieser Irrtum selbst war ein notwendiger, seine Auf-
lösung ist der Zweck der ganzen Menschheitsgeschichte, mit dem
sie den Kreislauf ihrer natürlichen Entwickelung vollendet, das
ihr gesteckte Ziel erreicht haben wird.
Ein Konflikt zwischen Individuum und Allgemeinheit war
undenkbar, solange der Mensch noch in vollkommenem Einklang
mit der Natur sich befand, sich noch nicht von ihr unter-
schieden hatte, d. h. solange er noch bloßes Naturprodukt, noch
6*
S4 ^^ Reinmenscbliche.
nicht »Mensch« im eigentlichen Sinne des Wortes war. Denn
erst »von dem Augenblick an, wo der Mensch seinen Unter-
schied von der Natur empfand«, begann er seine Entwickelimg
als Mensch, >indem er sich von dem Unbewußtsein tierischen
Naturlebens losriß, um zu bewußtem Leben überzugehen« (HI,
43). Diesen Zwiespalt zwischen Natur und Mensch, mit dem
der Mensch seine Entwickelimg anhebt, auszugleichen, den Men-
schen mit Bewußtsein zu der Einheit mit der Natur zurück-
zuführen, in welcher er als unciviUsiertes reines »Naturprodukt«
bereits gelebt hatte, ist Zweck und Ziel dieser Entwicklung
selbst. Der Unterschied des Menschen von der Natur hört
also »da wieder auf, wo der Mensch das Wesen der Natur
ebenfalls als sein eigenes, für alles wirkUch Vorhandene und
Lebende dieselbe Notwendigkeit, daher nicht allein den Zu-
sammenhang der natürlichen Erscheinungen unter sich, sondern
auch seinen eigenen Zusammenhang mit der Natur erkennt«
(Ebenda).
Hugo Dinger hat Recht, wenn er (S. 272) in dieser Be-
ziehung eine gewisse Verwandtschaft des Wagnerschen Ideals
mit Rousseaus Aufforderung: >Eetournons ä la naiureU be-
hauptet. Nur darf der eine große Unterschied nicht vergessen
werden: nach Rousseau hat die Oivilisation dem Menschen nur
Schaden und Nachteil gebracht, während bei Wagner unsere
schlechte, heuchlerische und unsittliche Oivilisation eine Ent-
wickelungsstufe ist, ein notwendiges Durchgangsstadium zu dem
schließlichen Endziele einer bewußten Übereinstimmung mit
der Natur, welche durchaus nicht ein kulturloser Naturzu-
stand sein wird. Durch Irrtum hindurch, und nur durch ihn
führt die Straße zur Wahrheit. Rousseau war extremer Reak-
tionär und verhielt sich zur Civihsation bloß ablehnend, so etwa
wie in unseren Tagen Graf Leo Tolstoi. Wagner war in jener
Periode seines Geisteslebens durch und durch Evolutionist,
und zwar ganz im Sinne der Hegeischen Philosophie. Urver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft des Menschengeschlechtes
verhalten sich zu einander wie Thesis, Antithesis und Synthesis
im dialektischen Schema jenes Philosophen, und gerade wie bei
ihm, ist auch bei Wagner der Inhalt der Menschheitsent-
Wickelung der Übergang vom Unbewußtsein zum Bewußtsein.
G-eschichtsphilosophie. 85
Anfangs in unbewußter Einheit und Übereinstimmung mit der
Natur »setzt« der Mensch, sobald er sich seines Unterschiedes
von der Natur bewußt geworden ist, sich ihr gegenüber und
schafft damit den Zwiespalt zwischen Natur und Mensch. Dieser
Zwiespalt begreift alles das in sich, was wir heute >Oivilisation«
nennen. Die Auflösung desselben in einer höheren, bewußten
Einheit mit der Natur, die den Menschen, bereichert um alle
die geistigen Errungenschaften, welche er sich im Kampfe mit
der Natur erstritten hat, wieder in die Arme der All-Mutter
zurückführt, hat die Kultur der Zukunft zu bringen, in welcher
der Konflikt zwischen Natur und Oivilisation aufgehoben, d. h.
die letztere von alledem gereinigt und befreit sein wii'd, was mit
der reinmenschlichen Natur im Widerspruch sich befindet.
In >Die Kunst und die Revolution« giebt Wagner
eine großartige geschichtsphilosophische Konstruktion dieses
Entwickelungsprozesses der Menschheit, eine »Geschichtsdich-
tung« von packender Lebendigkeit und genialster Anschau-
lichkeit, die noch heute, wo wir doch ziemlich skeptisch —
vielleicht ein wenig zu skeptisch — geworden sind gegen diese
Art ideologischer Geschichtsbetrachtung, gegen dieses kühne
Zusammenfassen der Mannigfaltigkeit der historischen Erschei-
nungen unter eine Idee, dieses Deuten der Thatsachen aus
dem Inhalt einer rein individuellen Anschauung und Auffassung
heraus, ihre tiefe Wirkung auf empfängliche Geister nicht ver-
fehlen kann.
Es ist eben bei Wagner nicht ein abstrakter, trockener
und dürrer Begriff, in dessen Rahmen er die Geschichte spannt,
sondern seine lebendige, warme Künstlersehnsucht, sein blühender,
glühender Menschheits- und Zukunftsglaube sind es, in deren
Lichte er die Vergangenheit erblickt; die werden ihm zu einem
magischen Brennspiegel, der die zerstreuten Strahlen der histo-
rischen Thatsachen in seinem Focus zu einem gedrängten Bilde
der WirkUchkeit zusammenfaßt und vereinigt.
Der Kopf des kritischen Geschichtsforschers kann ohne
Zweifel nur lächeln über diese historische Phantasie, aber das
Herz des gemütswarmen Menschen, dem es zuhöchst darauf
ankommt zu erkennen, was die Dinge für uns sind und zu
bedeuten haben, nicht aber auf die doch ewig unentscheidbare
jgß Das EeinmenBchliche.
Frage, was sie an sich gewesen sein mögen, wird sich der Macht
dieses die Fülle der Erscheinungen zur Einheit einer individuellen
Ansicht zusammenschauenden Geistes immer wieder gerne ge-
fangen geben.*
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Wagnersche
Geschichtsphilosophie im Einzelnen zu verfolgen. Es mag eine
flüchtige Skizzierung des Grundgedankens genügen, um das
Interesse, die ganze Schrift kennen zu lernen, beim Leser zu
erwecken.
Eine annähernde Verwirklichung seines socialen Ideals, d. h,
eine den natürlichen Greboten des Eeinmenschlichen entsprechende
Gemeinschaftsform des öffentlichen Lebens glaubte Wagner im
klassischen Staatswesen des hellenischen Altertums in der
Vergangenheit gefunden zu haben. Hier waren Individuum und
Staat nicht als zwei feindliche Mächte einander gegenübergestellt,
sondern in harmonischer Übereinstimmung wies eines in gegen-
seitiger Ergänzung auf das andere hin; der griechische Staat
war das natürliche Produkt des individuellen geselligen Lebens-
triebes der einzelnen Hellenen; deshalb fühlte sich auch das
Individuum in ihm vollständig unbehindert und frei; deshalb
entblühte dieser Gemeinschaft das idealste Kunstwerk, die
attische Tragödie.
Allein diese ideale Form des socialen Lebens krankte an
einem Fehler, der sie früher oder später vernichten mußte. Dieser
Fehler war ihre nationale Beschränktheit: sie erstreckte sich
einzig auf die Stammesgemeinschaft des hellenischen Volkes.
»Dem Griechen galt nur der starke und schöne Mensch frei, und
dieser Mensch war eben nur er: was außerhalb dieses griechischen
Menschen lag, war ihm Barbar, und wenn er sich seiner be-
diente — Sklave. Sehr richtig war auch der Nicht-Grieche in
Wirklichkeit Barbar und Sklave; aber er war Mensch, und
sein Barbarentum, sein Sklaventum war nicht seine Natur, sondern
sein Schicksal, die Sünde der Geschichte an seiner Natur
* Noch kühner hat Wagner in »Die Wibelungen. Weltgeschichte aus
tier Sage« die Geschichte des deutschen Volkes aus der Sage vom Nibe-
lungenhort gedeutet, worauf ich in diesem Zusammenhang (Wagner als
Geschichtaphilosoph) hinzuweisen nicht unterlassen wül.
HellQuentum und CIuriBiehtum. g7
— Diese Sünde der Geschichte sollte sich aber an dem freien
Griechen selbst gar bald ebenfalls ausüben: wo das Gewissen
der absoluten Menschenliebe in den Nationen nicht lebte,
brauchte dör Barbar den Griechen nur zu unterjochen, öo War
es mit seiner Freiheit auch um seine Stärke, seine Schönheit
gethan; und in tiefster Zerknirschung sollten zweihundert Mi^
Ucmenim römischen Reich wüst durcheinander geworfen^ Menschen
gar bald empfinden, daB — sobald alle Menschen nicht gleich
frei und glücklich sein können — alle Menschen gldch Sklaven
und elend sein müßten« (HI, 27).
Diese allgemeine Sklaverei blieb nun die Signatur des
öffentlichen Lebens bis auf unsere Tage. Zwar hatte das
Christentum das theoretische Princip der allgemeinen Menschen-
liebe aufgestellt, aber zur Verwirldichung und praktischen
Realisierung dieses Princips war es seiner Natur nach außeir
stände. Allerdings wollte das Christentum alle Menschen ohne
Unterschied gleich frei und glücklich machen, aber nicht hier
auf Erden, sondern im Himmel. Es ging nicht darauf aus, die
Yerhältnisse des Diesseits so zu gestalten, daß der Mensch
durch freies Ausleben seiner natürlichen Individualität in der
Gemeinschaft seiner Mitmenschen hienieden beglückt und be-
friedigt werde, sondern es beschränkte sich darauf, seinen An-
hängern paradiesische Wonnen im Jenseits in Aussicht zu stellen,
wenn sie ihre reinmenschliche Natur verleugneten und mit
freudiger Resignation die Jammerexistenz eines elenden Erden^
daseins acceptierten. Diese seine Transcendentalität und un-
sinnliche, daher auch unsinnige,* Naturwidrigkeit machten es
dem Christentum unmöglich, aus sich heraus eine vernünftige
Organisation der menschlichen Gesellschaft hervorzubringen.
Trotzdem bezeichnet es einen Fortschritt über das auf die enge
Gemeinschaft einer einzigen Nation beschränkte Eulturprincip
des Hellenismus, insofern es nämlich den Satz aufstellt: alle
Menschen sind als solche gleich und haben ein natürliches An-
recht auf den ihnen zukommenden Anteil an Menschenglück
und Menschenwürde. Aber insofern als das Christentum Glück
* »Nur das Sinnliehe ist auch sinnig: das Unsinnliche ist auch un-
liimig« — heißt es einmal in den »Entwürfen«. .
gg Bas Reinmenschliche.
und Wüi'de des Menschen in eine eingebildete jenseitige, rein
geistige und himmlische Welt verlegte, bedeutet es auch anderer-
seits einen Rückschritt gegenüber der starken und schönen, Geist
und Sinnlichkeit harmonisch umfassenden und gleichmäßig aus-
bildenden MenschHchkeit der griechischen Kultur. Man könnte
sagen: das Griechentum hat in seiner Beschränkung auf eine
einzige Nation mehr geleistet, aber weniger gewollt als das
Christentum mit seiner Forderung einer principiellen Gleichbe-
rechtigung aller Glieder des Menschengeschlechts; und umgekehrt:
das Christentum hat eben mit seiner Universalität Höheres und
Größeres angestrebt als das rein partikularistische Griechentum,
dafür aber thatsächlich weniger als dieses erreicht. Eine Syn-
these zwischen diesen beiden einander diametral entgegengesetzten
Principien, eine Versöhnung des auf Verwirklichung des mensch-
lichen Ideals im Diesseits ausgehenden und der Sinnlichkeit ihr
Recht lassenden, aber national beschränkten Griechentums mit
dem universalen, aber transcendenten, naturwidrigen, die
menschliche Sinnlichkeit in Acht erklärenden Geiste des Christen-
tums herbeizuführen, ist die Aufgabe der Zukunft, deren allge-
meine Menschheitsreligion die Gegensätze zwischen Hellenentum
und Christentum in der höheren Einheit des Reinmenschhchen
aufheben wird. »So würde uns denn,« heißt es am Schlüsse
von »Die Kunst und die Revolution«, »Jesus gezeigt haben,
daß wir Menschen alle gleich und Brüder sind: Apollon aber
würde diesem großen Bruderbunde das Siegel der Stärke und
Schönheit aufgedrückt, er würde den Menschen vom Zweifel an
seinem Werte zum Bewußtsein seiner höchsten göttlichen Macht
geführt haben. So laßt uns den Altar der Zukunft, im Leben
wie in der lebendigen Kunst, den zwei erhabensten Lehrern der
Menschheit errichten: — Jesus, der für die Menschheit
litt, und Apollon, der sie zu ihrer freudevollen Würde
erhob!« (in, 41).
Die Bewegung nun, in der und durch die dieser Übergang
von der national beschränkten altgriechischen Kultur durch die
civihsierte Barbarei der christlichen Zeiten zu der Kultur der
Zukunft, welche den Geist der freien Menschheit über alle
Schranken der Nationalitäten hinaus umfassen soll, sich vollzieht,
ist die Revolution, welchen Ausdruck Wagner also in einem
Die Kunst. g9
viel umfassenderen Sinne anwendet, als dies sonst übKcli ist.
Seit dem Untergang der griechischen Kultur, d. h. seit der Zer-
trümmerung der griechischen Tragödie, datiert »die große Mensch-
heitsrevolution«, in der wir noch befangen sind; seitdem herrscht
in allen öflEentlichen Dingen Anarchie, d. h. willkürlich legali-
sierte Unordnung, gegen die sich der wahrhaftige Mensch, also
auch der echte Künstler, einzig revolutionär verhalten kann:
»Bei den Griechen war die Kunst im öffentlichen Bewußtsein
vorhanden, wogegen sie heute nur im Bewußtsein des Einzel-
nen, im Gegensatz zu dem öffentlichen Unbewußtsein davon,
da ist. Zur Zeit ihrer Blüte war die Kunst bei den Griechen
daher konservativ, weil sie dem öffentlichen Bewußtsein als
ein gültiger und entsprechender Ausdruck vorhanden war: bei
uns ist' die echte Kunst revolutionär, weil sie nur im Gegen-
satze zur gültigen Allgemeinheit existiert« (III, 28). Deshalb
leidet auch gerade der Künstler am meisten unter dem Elend
unserer modernen natur- und vernunftwidrigen Civilisation,
deren unbestreitbarstes Kennzeichen ihre Unfähigkeit zur Her-
vorbringung einer Kunst ist, welche sich zu ihr verhielte wie
die griechische Kunst zur hellenischen Kultur, d. h. wie die
Blüte zu dem sie tragenden und nährenden Stamme.
Was versteht Wagner überhaupt unter Kunst? Jedenfalls
etwas ganz anderes, als man gewöhnlich darunter versteht. Im
»Kunstwerk der Zukunft« definiert er folgendermaßen: »Wie
der Mensch sich zur Natur verhält, so verhält die Kunst sich
zum Menschen. Gelangt die Natur, durch ihren Zusammenhang
mit dem Menschen, im Menschen zu ihrem Bewußtsein, und soll
die Bethätigung dieses Bewußtseins das menschhche Leben selbst
sein, — gleichsam als die Darstellung, das Bild der Natur, —
so ist die Darstellung des Lebens, das Abbild seiner Notwendig-
keit und Wahrheit: die Kunst« (HI, 42). Die Kunst ist also s.z. s.
der Akt, in dem das menschhche Leben sich seines Zusammen-
hanges mit der Natur, seiner Naturnotwendigkeit und Natur-
wahrheit bewußt wird. Der Künstler sucht im menschhchen
Leben die Natur (das ßeinmenschliche). Hat sich nun eine
Form des menschlichen Lebens ausgebildet, welche gar keinen
Zusammenhang mehr mit der Natur hat, wird dieses selbst,
statt von der unwillkürlichen Notwendigkeit des menschlichen
90 ^^ Beinmenschliche.
Lebensbedürfnisses, von Mode und Willkür gestaltet, so ist ein-
leuchtend, daß die Kunst einem solchen Leben, wie es z. B,
das der Gegenwart ist, nicht nur keinen Stoff abgewinnen kann,
sondern daß sie in ihm überhaupt keinen Platz hat. Was sich
in unserer Zeit Kunst nennt, ist in Wahrheit gar keine; denn
die echte Kunst ist Befriedigung eines wahren und tiefen
menschlichen Bedürfnisses, während dagegen, was sich heute
unter uns für Kunst ausgiebt, überflüssiger Luxus, heuchlerische
Befriedigung eines unwahren, eingebildeten Bedürfnisses ist
Kann somit die Kunst im Leben der Gegenwart nicht als Wirk-
lichkeit existieren, so hat sie ihre einzige Daseinsfonn in der
Sehnsucht des echten Künstlers, des Grenies, in dem das na-
türliche menschUche Bedürfnis nach künstlerischer Gestaltung
des Lebens bis zur schrecklichen Not, zum intensivsten Leiden,
verursacht durch die kunst- weil naturwidrige Form des mo-
dernen Lebens, anwächst.
Es ist also in der Kunst, gerade so wie in den socialen Ver-
hältnissen überhaupt, der Konflikt zwischen dem Einzelnen und
der Allgemeinheit, zwischen Individuum und Gesellschaft das,
worin Wagner den eigenthchen Grund alles modernen Elends
erblickt. Wie jeder wahrhaftige Mensch, d. h, jeder, den es
drängt, sein Leben frei nach den Bedürfnissen und natumot-
wendigen Gesetzen, die ihm seine Lidividualität vorschreibt,
zu gestalten, zu der modernen Gesellschaft in einen unversöhn-
lichen Gegensatz treten muß, gerade so klafft heutzutage ein
unüberbrückter Abgrund zwischen Künstler und OffentKchkeit,
ein Zwiespalt, der die VerwirkUchung der Kunst, d. h. ein
wirkliches Kunstleben, in der Gegenwart unmöghch macht.
Dieser Konflikt ist nach Wagners Anschauung weder na-
türhch noch absolut notwendig; er ist einfach eine Folge der
Abkehr von der Natur, welche unsere moderne Civilisation
charakterisiert. Von Haus besteht, wie wir gesehen haben
(S. 83), gar kein Konflikt zwischen Individuum und Allgemein-
heit, im Gegenteil: die Befriedigung der reifsten Blüte seines
eigenen Lebenstriebes, des Liebesbedürfnisses, drängt das Indi-
viduum von selbst zur Gesellschaft; nur in der Einheit und
Harmonie mit ihr kann er sich überhaupt als Individuum voll
und ganz ausleben. Wie sich nun das Individuum als solches
Das Kunstleben der Gegenwart. 91
zur Gesellschaft verhält, so verhält sich der Künstler zur Öffent-
lichkeit. Auch ihn treibt seine innerste Künstlernatur an, seine
Persönlichkeit an die Öffentlichkeit hinzugeben und erst im
vollen Aufgehen in dieser sein Streben befriedigt und erlöst zu
fühlen. Die Kunst wird nur dann Wirkhchkeit, wenn der
Künstler faktisch seinen Zweck erreicht hat, d. h. von denen,
an die er sich wendet, in seinem Wollen verstanden und be-
griffen worden ist. In der Gegenwart ist ein solches Aufgehen
des Künstlers und seines WoUens in der ÖffentKchkeit im wei-
testen Sinne des Wortes unmöglich: darunter hatte noch jeder
moderne Künstler zu leiden, und vielleicht keiner so intensiv
und furchtbar, wie die in so hohem Grade leidensfähige Natur
Bichard Wagners. Aber was ihn vor allen seinen Leidens-
genossen auszeichnet, das ist die feste und unerschütterliche
Überzeugung, daß dieses unselige Verhältnis, demzufolge heute
der Künstler ein Einsamer und Vereinsamter, die Kunst selbst
das ausschließliche Eigentum einer eximierten Klasse von Künst-
lern und ästhetisch gebildeten Kunstverständigen ist, kein not-
wendiges und in der Natur der Sache selbst begründetes sein
könne. Das Bedürfnis, dessen Befriedigung die Kunst bezweckt,
ist, wie Wagner mit unerschütterKcher Festigkeit glaubt, kein
auf wenige ausgewählte Individuen beschränktes, sonderu ein
allgemein-menschliches. Daß dieses Bedürfnis in der Gegen-
wart für die Allgemeinheit nicht befriedigt werden kann, ja
nicht einmal mehr von ihr empfunden wird, ist nichts als eine
Folge der Naturwidrigkeit unserer CiviUsation, welche den na-
türhchen und wahren Menschen mit seinen reinen, ungekünstel-
ten Bedürfnissen unter dem Schutte einer willkürlichen, heuch-
lerischen und lügenhaften Konvention und Sitte begraben hat.
Es braucht nur dieser Schutt hinweggeräumt zu werden, um
das B^inmenschliche in ungetrübter Klarheit und Schönheit vor
unseren Augen neu erstehen zu lassen.
In engem Zusammenhange mit diesem Verdammungsurteil
unserer egoistischen und naturwidrigen Oivihsation, welche ein
harmonisches Sich-Ausleben des Individuums innerhalb der Ge-
meinschaft und damit eine lebendige Kunst, als welche nichts
Anderes ist, als das Abbild dieser natürlichen Gemeinschaftlich-
keit des menschlichen Lebens, und daher nicht von eii^em
92 ^^ Reinmenschliche.
einzelnen Individuum, dem vereinsamten Künstler, sondern nur
von der Gremeinschaft verwirklicht werden kann, — unmöglich
macht, steht nun jene Wagnersche Theorie, welche von allen
seinen Lehren am bekanntesten geworden ist, nämlich die vom
sogen. »Gresamtkunstwerke«. Wie nämlich der Untergang der
reinmenschlichen Kultur, die einst die alten Griechen faktisch
besessen hatten, das Individuum aus der natürlichen Gemein-
schaft der menschlichen Gesellschaft herausriß und isolierte, so,
meint Wagner, hat dieselbe Entwickelung den Verband der
musischen Künste, in welchem dieselben ursprünglich nur eine
ungeteilte Kunst bildeten, aufgelöst und die Einzelkünste, wie
wir sie heute kennen, geschaffen. Und gerade so, wie die Kul-
tur der Zukunft das Individuum aus seiner Vereinsamung er-
lösen und befreien soll, so wird das dieser idealen reinmensch-
lichen Kultur entsprießende »Kunstwerk der Zukunft« die
getrennten Einzelkünste wieder zu einer einigen und einzigen
Kunst vereinigen. Tanzkunst, Musik und Dichtkunst werden
im reinmenschUchen Drama der Zukunft gerade wieder so eng
verbunden sein, wie sie dies schon in der griechischen Tragödie
gewesen waren, jenem Kunstwerk, welches für Wagner die
idealste aller aus der Vergangenheit uns überlieferten Offen-
barungen des künstlerischen Geistes der Menschheit ist.
Daß die »Künste der Zeit«, die Künste des »Ausdrucks«
oder, wie Wagner sagt, die Künste, in welchen der Mensch als
sein eigener künstlerischer Gegenstand und Stoff erscheint (im
Gegensatz zu denen, in welchen er sich als künstlerischer »Bild-
ner« aus natürlichen Stoffen zeigt, den »bildenden Künsten«),
einen gemeinschaftlichen Ursprung gehabt und sich erst durch
einen fortgesetzten Differenzierungsprozeß in die Einzelkünste
gespalten haben, leuchtet aus der Natur der Sache ein, wie es
sich auch aus der Geschichte der griechischen Kunst historisch
beweisen läßt, — ist überdies auch niemals mit ernsthaften
Gründen bestritten worden. Anders die Überzeugung Wagners,
daß, wie das musische Gesamtkunstwerk der gemeinschaftliche
Ausgangspunkt für die Einzelentwickelung der Tanz-, Ton- und
Dichtkunst gewesen, so auch ihre Wiedervereinigung als das
Zukunftsideal, die krönende Vollendung des ganzen Prozesses
anzusehen sei. Diese Ansicht ist ebenso oft zu widerlegen
Das Kunstwerk der Zukunft. 93
versucht worden, als sie mißverstanden worden ist. So meint
z. B. Wilhelm Wundt, um einen streng wissenschaftlichen und
gewissenhaften Gelehrten herauszugreifen (Q-rundzüge der physio-
logischen Psychologie IT, 624), gegen Wagners Zukunftstheorie
anführen zu müssen: es widerspräche allen Entwickelungsge-
setzen, >daß, wo einmal eine Differenzierung verschiedener For-
men eingetreten ist, diese wieder zur ursprünglichen Einheit
zurückkehren«. Hätte Wundt die Wagnersche Kunstlehre nicht
nur vom bloßen Hörensagen gekannt, so würde ihm kaum ent-
gangen sein, daß der Meister von nichts weiter entfernt ist, als
eine Rückkehr der Künste zur undifferenzierten Einheit zu
postulieren. Diese Instanz kann wohl gegen den absoluten
Reaktionär Rousseau geltend gemacht werden, der auch in
diesem Punkte seinem > kategorischen Imperativ«: ^Retoumons
ä la natureU treu bleibt, nicht aber gegen den mit den natür-
Uchen Entwickelungsgesetzen durchaus in Übereinstinmiung be-
findlichen Evolutionismus Wagners. Die unveränderte Rückkehr
zu einem primitiven Naturzustande liegt ihm bei seiner Kunst-
lehre ebenso fem, als bei seinem allgemeinen Kulturideale.
Die Differenzierung des Gesamtkunstwerkes, wie es die alten
Griechen besessen hatten, in die Einzelkünste war für diese
selbst conditio sine qua non der reichen und mannigfaltigen
Ausbildung ihrer Ausdrucksmittel, die sie erst zu dem gemacht
hat, was sie heute sind. Keine dieser Errungenschaften soll
verloren gehen oder rückgängig gemacht werden. Alles, was
sie an lebensfähigem Ausdrucksstoff und Ausdrucksformen wäh-
rend ihrer Einzelentwickelung gewonnen haben, sollen die Künste
zum Gesamtkunstwerke der Zukunft mitbringen, um erst in ihm
das wirklich erreichen und restlos verwirkKchen zu können, was
sie in ihrer Vereinzelung umsonst erstreben, nämlich künstle-
rische Darstellung des menschlichen Lebens in seiner allum-
fassenden Totalität.
Um ein Gleichnis zu gebrauchen: es verhält sich damit
gerade so wie mit der Differenzierung des Menschen in die
beiden Geschlechter. Kein Vernünftiger wird verlangen, daß
diese Differenzierung jemals in der Art wieder rückgängig ge-
macht werde, daß die psychischen Geschlechtsunterschiede — um
von den physischen, bei denen dies ohnehin unmöglich ist, ganz
94 I^fts Beinmenschliche.
zu schweigen — sich verwischten und zu einem geschlechtslosen,
abstrakten und eingebildeten, »absoluten« Menschen sich nivel-
lierten, — ohne daß man sich deshalb der Einsicht zu ver-
schließen brauchte, daß durch diese Arbeitsteilung es dem
einzelnen Menschen, Mann oder Weib, unmöglich geworden ist,
für sich allein das Menschheitsideal zu verwirklichen, daß es
vielmehr dazu der Vereinigung von Mann und Weib, ihrer durch
die Bande der Liebe geknüpften Verschmelzung bedarf. Genau
so verhält es sich mit den Einzelkünsten und ihren gegenseitigen
Beziehungen innerhalb des Gesamtkunstwerkes der Zukunft, wie
denn ja Wagner selbst das Gleichnis von Mann und Weib zur
Versinnbildlichung des Verhältnisses zwischen Dichtkunst und
Musik mit Vorliebe angewendet und bis ins Einzelne ausgemalt
hat (vergl. z. B. HI, 3 1 6 ff.). Gerade weil Wagner, wie keiner
vor ihm, die Grenzen und natumotwendigen Schranken des
Ausdrucksbereiches und der Ausdrucksmöglichkeit in den ein-
zelnen Künsten genau beachtet und respektiert wissen wollte und
es als durchaus naturwidrig empfand, daß mit den Mitteln der
Musik z. B. Wirkungen erstrebt würden, wie sie nur die Dicht-
kunst auszuüben vermag, verlangte er, daß zur Verwirklichung
desjenigen Kunstwerkes, welches die Darstellung des ganzen
menschlichen Lebens nach allen seinen Seiten hin bezweckt,
und das ihm eben deshalb als das höchste galt, die einzelnen
Künste sich verbänden, um durch diese ihre Verbindung sich
in ihren Einzelwirkungen zu einem universalen Totaleindrucke
zu ergänzen.
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Kunstlehre
Wagners in ihre Einzelheiten weiter zu verfolgen; auch ist ja
dieser Punkt der Wagnerschen Weltanschauung seit jeher am
eingehendsten und häufigsten — allerdings nicht immer mit
allzuviel Verständnis für Wagners wahre Meinung — diskutiert
und erörtert worden. Nur ganz kurz möchte ich noch auf den
weitverbreiteten Irrtum hinweisen, als habe der Meister ein
Aufhören der Sonderexistenz der einzelnen Künste verlangt,
oder auch gemeint, der bildende Künstler dürfe in Zukunft
etwa nur noch Festspielhäuser bauen und Theaterdekorationen
malen. Es ist ein trauriges testtmomum paupertatis ingenü^
welches sich die »Kritiker« Wagners damit selbst ausstellten,
Die Eunstlelire. 95
daß sie einem Manne, der doch sattsam bewiesen hatte, daß er
nicht gerade auf den Kopf gefallen war, allen Ernstes derartige
toUhäuslerische Absurdidäten zutrauten. (Denn nicht immer
handelte es sich dabei um rein böswillige Verleumdung.)
Wagners Ansicht war ganz einfach die, daß »wo es den
unmittelbarsten und doch sichersten Ausdruck des Höchsten,
Wahrsten, dem Menschen überhaupt Ausdrückbären gilt, —
auch der ganze, vollkommene Mensch beisammen sein« müsse
(in, 66), d. h. daß das höchste und idealste Kunstwerk, welches
all das umfassen und erschöpfen soll, was überhaupt künstle-
risch mitteilbar ist, sich an den ganzen, ungeteilten Menschen
zu wenden habe, an den Menschen, der Auge und Ohr, Ver-
stand und Gefühl, Vernunft und Phantasie gleichzeitig und in
einem ist. Dies kann aber nur dadurch erreicht werden, daß
die einzelnen Künste, welche sich getrennt allein oder doch
vorzugsweise und zunächst immer nur an einen der mensch-
lichen Sinne, an eine einzelne seiner Geisteskräfte wenden, an
das Auge oder das Ohr, den Verstand oder das Gefühl u. s. w.
sich zu gemeinsamer Wirkung, zu gegenseitiger Ergänzung mit-
einander verbinden, zu einer künstlerischen Einheit, wie sie nur
das von Wagner erstrebte ideale Worttondrama ermöglichen
kann. In dieser Verbindung sollen die einzelnen Künste nicht
verschwinden und untergehen, sondern gerade von seinem
»Kunstwerk der Zukunft« hofft Wagner, daß in ihm einst »das
Volk sich und jede Kunst veredelt und verschönert wieder-
finden« werde (I, VII), und sein Exeget H. St Cliamberlain
paraphrasiert dies richtig mit den Worten, daß »an dieser
Quelle aller wahren Inspiration auch jede einzelne Kunst für
sich unversiegbares Leben und frische Kraft schöpfen« werde
(Bichard Wagner S. 184).
Was Wagner will, ist nichts weiter, als die Hindernisse
hinwegräumen, welche der naturgemäßen Verbindung der Ein-
zelkünste zu einer gemeinsamen künstlerischen Wirkung (nicht
etwa ihrer Verschmelzung zu einer Kunst) im Wege stehen.
Das hauptsächUchste dieser Hindemisse ist die faktisch schon
bBstehende, aber falsche, naturwidrige und unkünstlerische Form
einer solchen Verbindung — die Oper. Man kann also sagen:
die Oper verhält sich zum Kunstwerk der Zukunft gerade so,
1
96 Das Beinineiuchliche.
wie sich unser moderner politischer Staat zur Gesellschaft der
Zukunft verhält; auch hier ist es das falsche, künstliche und
unn türliche Gebilde, welches erst vernichtet und hinweggeschafft
werden muß, um Platz zu machen für die Verwirklichung des
Idealen. Gegen beide, Staat wie Oper, verhält sich Wagner
radikal revolutionär. Gegen jenen empört sich der Mensch, gegen
diese der Künstler. Beider Schicksal ist eng miteinander ver-
knüpft; denn sie sind analoge Äußerungen des Geistes derselben
lügenhaften und barbarischen Oivilisation, die unser ganzes mo-
dernes Leben beherrscht, Ausfluß derselben falschen Stellung
des Individuums zur Allgemeinheit, bezw. der einzelnen Kunst
innerhalb des Kunstverbandes. Die Kunst ist notwendiges
Produkt des menschlichen Lebens. Unser modernes Leben kann
daher gar keine andere Kunst hervorbringen, als die heuchle-
rische Pseudo-Kunst, wie sie in der Oper, diesem Gipfelpunkt
ästhetischer Unsinnigkeit, kulminiert; und eben darum kann
auch das von Wagner ersehnte ideale Kunstwerk erst zu Leben
und Wirklichkeit erwachen, wenn unsere ganze heutige Gesell-
schaftsordnung vom Erdboden weggefegt ist.
Kein Einzelner kann das Kunstwerk der Zukunft schaffen,
und wäre es der genialste Künstler, es kann nur vorbereitet
werden durch die ausgesprochenste Negation des Lebens und
der Kunst der Gegenwart. In diesem Sinne faßt Wagner auch
seine eigene damalige künstlerische Produktion auf. In einem
Briefe an seinen Freund Theodor Uhlig in Dresden schreibt er
(Briefwechsel S. 20 f.): »Das Kunstwerk kann jetzt nicht geschaf-
fen, sondern nur vorbereitet werden, und zwar durch Revolutio-
nieren, durch Zerstören und Zerschlagen alles dessen, was zer-
störens- und zerschlagenswert ist. Das ist unser Werk, und ganz
andere Leute als wir werden erst die wahren schaffenden Künstler
sein. Nur in dem Sinne fasse ich auch meine bevorstehende Thä-
tigkeit in Paris auf: selbst ein Werk, das ich für dort schreibe
und aufführe, wird nur ein Moment der Revolution, ein Affir-
mationszeichen der Zerstörung sein können. Nur Zerstörung
ist jetzt notwendig, — aufbauen kann gegenwärtig nur will-
kürlich sein.« Der »Erzeuger« des Kunstwerkes der Zukunft
ist zwar »niemand anderes als der Künstler der Gegenwart,
der das Leben der Zukunft ahnt und in ihm enthalten zu sein
Politische Anschauungen* 97
sich sehnt«. Aber empfangen und geboren werden kann
dieses Kunstwerk nur von dem Leben der Zukunft, das den
befruchtenden Samen der Sehnsucht des Künstlers der Gegen-
wart in seinem Mutterschoße aufnimmt (vergl. IV, 228 f.).
Deshalb setzt Wagner seine ganze Hoffnung auf die revolutio-
näre Bewegung des Jahres 1848/49, von der er glaubte, daß sich
in ihr der Anfang vom Ende unserer modernen socialen Ordnung
ankündige. Die rein politischen Bestrebungen der damaligen
deutschen B^volutionäre waren ihm, wie gesagt, herzlich gleich-
gültig, zum Teil direkt unsympathisch : den durch und durch un-
deutschen Konstitutionalismus und Parlamentarismus haßte er im
Grund seiner Seele und erkannte mit klarem Blicke seine unhalt-
baren Schwächen und Mängel; sein eigenes politisches Ideal, das
er in der (bei Dinger S. 107 ff. abgedruckten) »Vaterlandsvereins-
rede« vom 14. Juni 1848 in kurzen Strichen zeichnete, kann
man charakterisieren als sociales Königtum auf der Grundlage
der urdeutschen Stammesgenossenschaft, ein Ideal, dessen Rea-
lisierung^ nur dann denkbar ist, wenn in der Person des Königs
selbst der Wille der Volksgemeinschaft und nur dieser, rein
und ungetrübt zum Ausdruck kommt, so daß die Möglichkeit
eines Konfliktes zwischen König und Volk durchaus ausge-
schlossen erscheint. Wie dieses Sideroxylon einer »monarchi-
schen Republik« zu verwirklichen sei, hat Wagner sich selbst
wohl kaum genau überlegt, wie denn überhaupt jene ganze Rede
den Eindruck einer Transaktion, eines Kompromisses macht,
diktiert nicht von politischen Opportunitätsrücksichten, sondern
von der Stimme seines Herzens, die den Forderungen seines
politischen Denkens zum Trotze, das nur den Willen des Volkes
als oberste staatliche Instanz anerkennen konnte, die Person
des geliebten Monarchen erhalten und aus den Stürmen der
Revolution gerettet wissen wollte.
Überhaupt, das eigentlich und im engeren Sinne Politische
lag Wagnern auch damals ziemlich ferne. Was ihn an der
Umsturzbewegung jener Tage anzog, war, wie schon bemerkt
(8. 62f.), ihr socialer Grundzug, der sich in ihr aussprechende
radikale Charakter. Es schien, als ob endlich einmal tabula
raset gemacht werden solle mit all dem Natur- und Vernunft-
widrigen in unserem modernen Leben, das auch die Verwirk-
Lo ui 8, Weltanschauung B. Wagners. 7
^ Das Eeinmensdüiche.
lichung ^es von Wagner ersehnten idealen Kunstwerkes un-
möglich machte. Dieser radikale Charakter jener Bewegung
kam sowohl dem praktischen Idealismus als dem Optimis-
mus seiner damaligen Gesinnung entgegen.
' Was Wagner von der Revolution erwartete, können wir
ganz kurz und präcise so ausdrücken: er eriioffte von einem
allgemeinen socialen Umstürze radikale Beseitigung alles dessen,
was willkürlich in unseren staatlichen und gesellschaftlichen
Zuständen ist, freie Bahn für ungehinderte Entfaltung der Un-
willkür, d. h. des notwendigen, wahllosen, mit der Sicherheit
des ungetrübten Instinktes das Richtige treffenden Waltens der
reinmenschlichen Natur. Die beiden Begriffe: Willkür und
Unwillkür hatte der Meister gleich einigen anderen, wie Sinn-
lichkeit, Egoismus und Kommunismus, der philosophischen
Sprache Feuerbachs entlehnt. Als Wagner später die Ab-
handlungen aus jener Zeit in seine »Gesanmielten Schriften«
aufnahm, erläuterte er in der Einleitung zum 3. und 4. Bande
derselben diese beiden Begriffe vom Standpunkte der Schopen-
hauerschen Philosophie dahin, daß unter »Unwillkür« nichts
anderes zu verstehen sei als der reine Wille, »wie er als Ding
an sich im Menschen sich bewußt wird«, wogegen »Willkür«
»den durch die Reflexion beeinflußten und geleiteten, den so-
genannten Verstandes- Willen bezeichnet« (III, 4). Es verhält
sich also die »Unwillkür« zur »Willkür« beziehungsweise wie
das Unbewußte zum Bewußten, wie das Unmittelbare zum Ver-
mittelten, wie der Instinkt zum Intellekt, wie die Naivetät zur
Reflexion, wie die Natur zur Civihsation, wie das Volk zum
»Gebildeten«, wie das Genie zum Nichtgenie. Das Bezeichnende
an der Unwillkür ist, daß sie wahllos die richtige Entscheidung
trifft, indem bei ihr ein Irrtum deshalb absolut ausgeschlossen
ist, weil in ihr die ungetrübte reinmenschliche Natur frei sich
ausspricht. In der Urzeit handelte Alles unwillkürlich, deshalb
auch imtrüglich und instinktiv richtig. Die reinmenschliche
Natur des Individuums war in vollkommener Übereinstimmung
mit der Allgemeinheit. Dieses natürliche Verhältnis wurde ge-
stört, sobald der reflektierende Verstand anfing, das mensch-
liche Leben absichtsvoll und die Zukunft vorausbestimmend zu
gestalten, von oben herab statuieren und dekretieren wollte,
i;\rillktir und UnwiUkür. ^9
statt den Dingen ihren naturgemäßen Lauf zu lassen. Nun
herrschte die Willkür, die XJnwillkür lebte nur noch in der
Sehnsucht des einsamen Individuums, das sich den Zusammen-
hang mit der reinmenschlichen Natur bewahrt hatte, des Künst-
lers, des Genies, sie lebte noch als dumpf empfundenes Gefühl
einer allgemeinen Not im Volke, von dem auch die Revolution
ausging. In ihr glaubte Wagner den Kampf der Unwillküi*
gegen die Willkür, der Natur gegen Unnatur, der Sehnsucht
nach freier und würdiger Gestaltung des menschlichen Lebens
gegen eine von beschränkter und kürzsichtiger staatsmänni«cher
Weisheit eingegebene willkürliche und naturwidrige Gesellschafts-
ordnung zu erkennen, und deshalb warf er sich ihr in die Arme.
Das Ideal ist kein eingebildetes Gedankending, sondern
realste Wirklichkeit,* der Konflikt zwischen Individuum und
Allgemeinheit, ernst strebendem Künstler und Publikum, Genie
und Volk ist kein notwendiger, in der Natur selbst begründeter.
Ihr glaubt es nicht, ihr verweist auf die widersprechenden
* So sehr war Wagner in jener Zeit davon überzeugt, ein ideales
Streben im eigentiichen Sinne des Wortes, d. h. eine mit Notwendigkeit
aus dem menschlichen Inneren sich emporringende Sehnsucht nach einem
seiner Natur nach Unrealisierbaren, sei ein bares Unding, wogegen das
natürliche, nicht eingebüdete, im Wesen des Menschen selbst begründete
Ideal im tiefsten Grunde mit der Realität der menschlichen Natur in Über-
einstimmung sich befinde, ja eigentlich mit ihr identisch, also auch gar
nicht >Ideal« proprio sensu verbi zu nennen sei, — daß er an einer Stelle des
»Kunstwerk der Zukunft« (S. 52 f.) energisch gegen den Gebrauch dieser
mißverständlichen Bezeichnung protestiert: »Das oft gepriesene oder ver-
worfene Ideal ist in Wahrheit eigentlich gar nichts. Ist in dem, was wir
uns mit dem Wunsche des Erreichens vorstellen, die menschliche Natur
mit ihren wirklichen Trieben, Fähigkeiten und Neigungen als bewegende
und sich selbst wollende Kraft vorhanden, so ist das Ideal eben nichts an-
deres, als der wirkliche Zweck, der unfühlbare Gegenstand unseres Willens ;
begreift das sogenannte Ideal eine Absicht, die zu erfütten außerhalb der
Kräfte und Neigungen der menschlichen Natur liegt, so ist dieses Ideal
eben die Äußerung des Wahnsinnes eines kranken Gemütes, nicht aber des
gesunden Menschenverstandes.« Schon die alleinige Thatsache, daß Wagner,
als er »Das Kunstwerk der Zukunft« in seine gesammelten Schriften auf-
nahm, diese Stelle strich, würde hinreichen zu beweisen, daß in der Wag-
iierschen Weltanschauung, was die Stellung und das Verhältnis des Ideals
zur Realität anbelangt, eine totale Umwälzung im Laufe seiner geistigen
Entwickelung eingetreten ist, wovon später zu reden sein wird.
7*
100 ^^ Beinmenscbliohe.
Thatsachen der Gegenwart? So blickt rückwärts in die Ver-
gangenheit, schaut die alten Hellenen an, seht, wie das Volk
im Mythos selbst zum genialen Dichter ward, wie es sich in der
Urzeit die tiefsten Bätsel des menschlichen Daseins zu plasti-
schen Bildern von so sinnenfälliger Deutlichkeit und entzücken-
der Schönheit, von so erhabener Würde und Bedeutsamkeit
verdichtete, wie sie kein einzelner Künstler, auch nicht das
größte Genie, nachher je wieder zu schaffen vermochte! Ihr
meint, das sei unwiederbringlich verloren und dahin? Ich sage
euch : nein und abermals nein ! Befreit nur die reinmenschliche
Natur von dem sie bedrückenden Alp, räumt den Schutt hin-
weg, den eine vernunftwidrige Civilisation aufgehäuft hat, streift
die verhüllenden Gewänder und Mummereien ab, die euch zu
häßlichen, abgeschmackten Ungetümen gemacht haben, und ihr
werdet den starken, schönen und freien, den wahren, den
menschlichen Menschen in seiner göttlichen Nacktheit erblicken!
So lautete Wagners Glaubensbekenntnis während der revolutio-»
nären Periode seiner Geistesentwickelung.
Unsere nächste Aufgabe wird nun sein zu untersuchen,
was in diesen Anschauungen, wie sie Wagner in der während
der Jahre 1849 — 51 verfaßten Reihe von kunsttheoretischen
Schriften, man könnte fast sagen, als geschlossenes »System«
niederlegte, als reiner Ausfluß seiner geistigen Persönlichkeit,
und somit als konstanter Faktor seiner Weltanschauung anzu-
sehen ist, und was als Produkt vorübergehender Stimmung, als
beeinflußt von falsch gedeuteten äußeren Ereignissen und kritik-
los aufgenommenen fremden Meinungen und Lehren betrachtet
werden muß. Diese Untersuchung ist notwendig, wenn wir
nicht die Schale für den Kern nehmen, dem Vorübergehenden
und bloß Temporären eine ihm nicht gebührende Bedeutung
und Wichtigkeit gegenüber dem Wesentlichen und Bleibenden
beimessen, den eigentlichen Gehalt über der mehr oder minder
zufälligen äußeren Form vernachlässigen wollen. Zu dem Be-
hufe dieser Untersuchung dienen uns als Quelle die Kunstwerke,
welche Wagner schuf, noch ehe er sich mit der Philosophie
Feuerbachs beschäftigt, und bevor die revolutionäre Bewegung
ihn in ihre Strudel hineingerissen hatte. Ihrer Betrachtung in
Beziehung auf die Frage, ob sich in ihnen eine eigentümliche
Frühere und spätere Werke. 101
individuelle Weltanschauung überhaupt schon deutlich zu er-
kennen gebe, und, wenn ja, wie diese sich zu den in der Reihe
der theoretischen Schriften von 1849 — 1851 ausgesprochenen und
systematisch entwickelten Anschauungen verhalte, wollen wir
uns nun zuwenden.
V.
Die Kunstwerke vom »Fliegenden Holländer« bis zum
>'Loliengrin((. »Der Bing des Nibelungen«. Bichard Wagner
und Schopenhauer. »Tristan und Isolde«.
Daß der »Fliegende Holländer« das erste der Wagnerschen
Dramen ist, welches für die Darstellung seiner Weltanschauung
in Betracht kommen kann, ist ohne weiteres einleuchtend. Hat
der Meister doch selbst gesagt (IV, 266), daß mit diesem Werke
seine Laufbahn als Dichter begonnen, das bloße Verfertigen
von Opemtexten aufgehört habe, — und wenn auch zugegeben
werden kann, daß schon im »Rienzi« eine persönliche Stimmung
mit leidenschaftlich-kräftigem Enthusiasmus sich ausspricht, so
ist das Buch doch allzusehr noch bloße Dramatisierung eines
von Wagner bereits fertig und künstlerisch gestaltet vorgefun-
denen Stoffes, als daß man es als Quelle für die Darstellung
der Weltanschauung des Künstlers ansehen könnte» Ja selbst
die folgenden Werke: Holländer, Tannhäuser und Lohengrin
sind im Gegensatz zu den späteren: ßing, Tristan, Meistersinger
und Parsifal in dieser Beziehung nur mit Vorsicht zu benutzen.
Man stelle sich vor, es sei von Wagner Alles verloren gegangen
mit Ausnahme der Partituren seiner dramatischen Meisterwerke,
wir besäßen keine einzige seiner theoretischen Auslassungen und
vor allem nicht die Erläuterungen, die er selbst zu seinen Kunst-
werken, namentlich in der »Mitteilung an meine Freunde« (1851),
gegeben hat: die Weltanschauung, die in den vier letzten Dramen
zu künstlerischem Ausdi*uck gelangt, wäre auch ohne jeglichen
Kommentar aus den betreffenden Werken allein klar zu erkennen
102 I^ie Kunstwerke vom »Holländer« bis zum »Lohengrin«.
und zu deuten, nicht aber ebenso auch die, welche in jenen
drei früheren Kunstwerken sich ausspricht. Damit soll bei Leibe
nicht gesagt sein, daß jene Schöpfungen als Kunstwerke nicht
ebenso unmittelbar und allein durch sich selbst verständlich
wären als die späteren, und am allerwenigsten soll ein ästheti-
sches "Werturteil mit der obigen Behauptung gefällt werden.
Ich meine nur, und es läßt sich dies wohl nicht gut abstreiten:
die Gesichtszüge der geistigen Persönlichkeit, welche uns aus
den letzten und reifsten Kunstschöpfungen Wagners entgegen-
blicken, sind markanter, scharfer ausgeprägt und profiliert,
individualisierter, als die Physiognomie jener früheren Werke.
Hier ist Alles noch s. z. s. genereller, allgemeiner und typischer,
das Originale und Individuelle mehr noch bloß angedeutet als
ausgeführt und zu restlosem Ausdruck gebracht.
Dies hängt mit zwei Dingen zusammen, in welchen sich
diese Werke von den späteren wesentlich unterscheiden. Ersi^
lieh war der Meister zur Zeit der Conception und Ausführung
von Holländer, Tannhäuser und Lohengrin noch nicht zum
vollen Bewußtsein über das natumotwendige gegenseitige Ver-
hältnis der das Worttondrama konstituierenden künstlerischen
Ausdrucksfaktoren, insonderheit von Dichtung und Musik,
durchgedrungen, und dies mußte ihn als Dichter notwendiger-
weise insofern beschränken und beengen, als es ihm noch nicht
möglich war, ohne Rücksicht auf hergebrachte, traditionelle
Kunstformen, einen im Geist der Musik empfangenen Stoff rein
aus sich selbst und seinen individuellen Bedingungen heraus
zu gestalten. Deshalb finden wir auch in diesen früheren Werken
durchgängig eine viel größere Abhängigkeit des Dichters von
dem Stoffe, wie er ihn in seinen Quellen vorfand, als dies bei
den späteren der Fall ist. Holländer, Tannhäuser und Lohen-
grin sind Umdichtungen, teilweise sehr freie und für die
geistige Persönlichkeit ihres Urhebers ungemein charakteristische,
aber immerhin bloß Umdichtungen eines mehr oder minder
fertig, wenn auch noch nicht künstlerisch, im höheren Sinne des
Wortes, gestaltet vorgefundenen Stoffes, wogegen Bing, Tristan,
Meistersinger und Parsifal durchaus und in jeder Beziehung
Neudichtungen sind, zu denen die sogenannten »Quellen«
Wagners nicht viel mehr als die Namen, einzelne Details und
' ""-V
Verhältnis zu den Quellen. lÖJ
höchstens etwa, wie beim Tristan, den äußeren Rahmen der
Handlung beigesteuert haben. Nehmen wir die Meistersinger
aus, deren Fabel gänzlich frei erfunden ist — und zwar ist das
Hans Sachs-Drama das einzige Werk Wagners, bei dem dies
der Fall ist — , so hat zwar der Meister bei allen diesen seinen
späteren Kunstschöpfungen leicht nachweisbare Quellen benutzt,
beim Bing die altnordischen Sagen^ beim Tristan das Epos des
Grottfried von Straßburg und beim Parsifal das des Wolfram
von Eschenbach. Aber das Verhältnis der Wagnersehen Dich-
tungen zu ihren Quellen ist bei diesen späteren Werken ein so
loses und oberflächliches, daß man ihnen kein größeres Unrecht
anthun kann, als sie als »Dramatisierungen« jener Quellen zu
betrachten. Bei allen dreien ist der eigentliche poetische Ge-
halt, die Idee, durchaus alleiniges geistiges Eigentum Wagners;
nach ihr in den alten von dem Meister benutzten Sagen und
Dichtungen zu suchen, wäre ein vergebliches und nutzloses Be-
mühen, und umgekehrt würde man sich jeder Möglichkeit eines
Verständnisses der Wagnerschen Dichtungen berauben, wenn
man Geist und »Idee« ihrer sogenannten »Quellen« in ihnen
wieder auffinden wollte.*
Anders verhält es sich mit Holländer, Tannhäuser und
Lohengrin. Hier kann nicht geleugnet werden, daß vieles, was
man auf den ersten Blick für einen wesentlichen und integrie-
renden Bestandteil der in diesen Werken zum Ausdruck ge-
langenden dichterischen Idee zu halten geneigt sein könnte,
seinen Grund einzig in der Form und Gestaltung hat, in welcher
Wagner den von ihm behandelten Stoff in seinen Quellen be-
reits vorfand, und daher für die individuelle Weltanschauung
des Dichters selbst von nur sekundärer und untergeordneter
Bedeutung, ja zuweilen direkt unwesentlich und zufällig ist. So
wäre es z. B. durchaus verkehrt, aus dem Umstände, daß Tann-
* Diesem Irrtum sind thatsächlich manche Beurteiler des Dichters
Wagner verfallen. Ich nenne aus ihrer Zahl, nur J. Stammhammer (Die
Nibelungen-Dramen seit 1850, Leipzig 1878), der es Wagnern allen Ernstes
zum Vorwurf macht, daß er >die Sage nicht in ihrer Echtheit dargestellt«
habe (S. 127) und sich mit diesem unangebrachten Vergleichen von vorn-
herein der Wagijerschfen Nibelungendichtung gegenüber auf einen ftilschen
Standpunkt stellt.
104 ^^0 Kunstwerke vom »Holländer« bis zum »Lohengrin«.
häuser durchaus auf dem Boden der christlichen Weltanschau-
ung sich abspielt; schließen zu wollen, daß zur Zeit der Con-
ception und Ausführung dieses Werkes sein Autor selbst auch
für sich auf dem £oden dieser Weltanschauung gestanden hätte.
Vielmehr ist das > Christliche« in diesem Werke durchaus nichts
weiter als die von dem Stoffe, wie ihn der Dichter in seiner
Quelle vorfand, ihm nahe gelegte und auf seinem damaligen
künstlerischen Standpunkte zur verständlichen Mitteilung seiner
dichterischen Absicht ibm unerläßUch dünkende Einkleidung
eines allgemein und rein menschlichen Gedankens in eine dem
gemeinen Bewußtsein geläufige und gewohnte äußere Form.
Und das hat Wagner selbst empfunden, wenn ihm späterhin
>die klugen Albernen« nur lächerHch erschienen, welche im
Tannhäuser ein Moment »christlicher XJberspanntheit« finden
zu müssen glaubten, oder wenn er meint: »Wem am Lohen-
grin nichts weiter begreif Hch erscheint, als die Kategorie:
Christlich-romantisch, der begreift eben nur eine zufällige
Äußerlichkeit, nicht aber das Wesen seiner Erscheinung.«
{IV, 304 und 298.)
Und damit komme ich zu dem zweiten Punkte, in welchem
sich jene früheren Werke von den späteren wesentlich unter-
scheiden. Während nämlich seine späteren Dramen condpiert
und ausgeführt sind von einem Geist, der sich im bewußten
Besitze einer klar erkannten individuellen Weltanschauung be-
findet, wird diese Weltanschauung in den früheren Werken
allererst gesucht. Holländer, Tannhäuser und Lohengrin
zeigen uns Wagnern auf dem Wege, sich eine Weltanschauung
zu erobern — , in Tristan, den Meistersingern und Parsifal wird
eine ausgereifte und fertige Weltanschauung aus dem BevniBt-
sein des deutlich erkannten und erfaßten Ideals heraus künstle-
risch gestaltet und mitgeteilt: darin besteht der große Unterschied.
Sind demzufolge Holländer, Tannhäuser und Lohengrin
Werke eines dichterischen Genies, das sich noch mitten in der
Entwickelung befindet, das sich s. z. s. noch nicht selbst ge-
funden hat, das den Inhalt seiner Weltanschauung erst sucht,
sein Ziel noch nicht erreicht hat, so erklärt sich, warum in diesen
früheren Schöpfungen Wagners seine Weltanschauung mehr
noch als unbewußtes Gefühl, denn als mit Bewußtsein erfaßte
Die ideale Sehnsucht. 105
Erkeimtnis uns entgegentritt, weshalb wir aus ilinen den
Inhalt seiner Weltanschauung nicht sowohl positiv, als viel-
mehr nur erst negativ kennen lernen können. Was in ihnen
sich ausdrückt und zu künstlerischer Offenbarung gelangt, nimmt
eben deshalb die Gestalt der als solche bis zum Wollen der
Selbstvernichtung gesteigerten, aber ohne Bewußtsein eines klar
erkannten Zieles sich quälenden, unbefriedigten Sehnsucht an.
Die Sehnsucht nach einem unerkannten und unbestimmten
idealen Etwas ist das gemeinsame dramatische Grundthema,
welches den Holländer, Tannhäuser und Lohengrin in gleicher
Weise beherrscht. In keinem der drei Werke wird das Ziel
dieser Sehnsucht im Leben selbst erreicht; beim Holländer und
Tannhäuser fällt die Erlösung des Helden mit seinem indivi-
duellen Tode zusammen, imd im Lohengrin, der dadurch die
herbste Tragik von allen Wagnerschen Werken ohne Ausnahme
erhält, erleben wir überhaupt keine Lösung des Konfliktes, der
Gegensatz zwischen dem götthchen Manne und dem menschlich
hebenden Weibe klafft gerade am Schlüsse in unverhüllter
schneidender Schärfe auf.
Wagner hat selbst (in >Eine Mitteilung an meine Freunde«)
den Versuch gemacht, die fortschreitende Entwickelung seiner
Weltanschauung an der auf einander folgenden Reihe jener
drei Werke zu demonstrieren, und wir können uns darin um so
vertrauensvoller seiner Führung anvertrauen, als der Zeitpunkt
der Abfassung dieser kommentierenden Erläuterungen (1851)
dem der Entstehung jener Werke (bezw. 1841, 1845, 1847) zu
nahe liegt, als daU man mit einigem Grunde annehmen könnte,
der Künstler habe sich dem Geiste dieser Schöpfungen 10 Jahre
nach der Vollendung des ersten, 4 Jahre nach der des letzten
von ihnen schon so weit entfremdet gehabt, um nachträghch
ihnen selbst Fremdes in sie hineinzutragen, nicht sowohl aus-, als
unterzulegen.
Von vornherein liegt es schon nahe, in den Kunst-
schöpfungen eines Dramatikers, der selbst gesagt hat, daß
der Künstler in dem dargestellten Gegenstande sich selbst
wiedererkenne, daß in der instinktiven Gefühlserkenntnis des
»2>e te fabula narraiur^ der eigenthche Moment der künst-
lerischen Conception sich vollziehe, — Selbstbekenntnisse
106 Die Kunstwerke vom »HoU'änderc bis zum »Lohengrinc.
als das Wesentliche ihres Inhaltes, als das, was uns der Künstler
eigentlich und als Eigenes mitteilen will, anzunehmen. Und
als eine fortlaufende Beihe von Selbstbekenntnissen hat in der
That auch Wagner selbst seine Werke in der oben angeführten
Mitteilung interpretiert. Es ist die tief empfundene und darum
mit solch eindringUcher Kraft und Macht dargestellte Sehn-
sucht des Künstlers und Menschen Wagner selbst, welche aus
seinen Werken zu uns spricht, es sind seine eigenen Leiden
und Schmerzen, in deren Geheimnis das Schicksal seiner Helden
uns einweiht.
Im Holländer ist diese Sehnsucht ganz unbestimmt allge*
meiner, s. z. s. abstrakter Natur. Das dumpfe und unbestimmte
Gefühl zweckloser Mühen und ruheloser ünbefriedigung, wie
es der Künstler nach seinen erfolglosen Versuchen, den Gott,
der ihm im Busen wohnte, nach autSen wirken zu lassen,
empfinden mußte, wird hier symbolisiert in der Gestalt des
bleichen Seemannes, den ein schrecklicher Fluch ohne Zweck
und Ziel, ohne Rast und Ruhe auf den Meeren umherinen
läßt. Sein einziger Wunsch, seine einzige Sehnsucht ist: Ruhe,
Erlösung von dem Fluche, — die »Heimat«, d. h. ein Dasein,
in welchem er sich daheim und heimisch, seine Sehnsucht sich
befriedigt fühlen könnte, — Erlöschen des ihn unerbittlich von
Ort zu Ort, von Meer zu Meer hetzenden, unseligen Wander-
triebes, Aufgehen seiner fluchbeladenen Ahasverusnatur in einem
höheren, edleren und reineren Elemente. Erst im Tode kann
er diese Erlösung finden.
Ist so im Grunde der Fluch, der auf dem Holländer
lastet, nichts anderes als das unselige, ruhelose Wollen seines
eigenen Wesens, der Dämon, der in seiner eigenen Seele haust,
so erscheint doch in der dramatischen Gestaltung dieser Idee
das Schicksal der Helden als eine von außen, von der Gottheit,
oder wie man es sonst nennen will, über ihn verhängte Strafe
für eine als Frevel erachtete Selbstüberhebung. Die Folge da-
von ist, daß im Holländer der Charakter des Helden und sein
Geschick noch nicht ganz organisch verbunden sind, das Erleben
und Leiden des unglücklichen Seefahrers als notwendige Folge
seiner Natur noch nicht deutlich und klar erkennbar zum Aus-
drucke gelangen. In dieser Beziehung bezeichnet der Tann-
»Holländer« und »Tannhäuser«. J07
häuser einen großen Fortschritt über das vorangegangene Werk,
der, ganz abgesehen von allen rein formalen und technischen
Fragen des Kunstwerkes als solchen, schon allein begreiflich
macht, mit wie großem Rechte Wagner (am 22. Mai 1851) an
Liszt schreiben konnte, daß erst an der »vollendeten Dichtung
des Tannhäuser« er sich vollkommen klar geworden sei über
eine Bichtung, in die ihn »unbewußter Instinkt trieb«.
Das Schicksal des Tannhäuser ist nicht von außen über
ihn verhängt, es resultiert mit unerbittlicher strikter Notwendig-
keit aus der besonderen Artung seiner individuellen Natur.
Zwei Triebe wohnen gleichmäßig in seiner Brust, von denen
der eine ihn in die Arme der Venus treibt, der andere ihn von
dort sich wieder hinwegsehnen läßt nach der heimatlichen Erde.
Es ist ein unversöhnlicher Konflikt in seiner Seele, der ihn
weder im Venusberg, noch auf der Wartburg, — um die beiden
in ihm sich bekämpfenden Mächte in zwei Lokalbegriffen kurz
zusammenzufassen — Ruhe und Befriedigung finden läßt, der
ihn rastlos aus einem Extrem seiner Natur ins andere treibt
ohne die Möglichkeit, beide miteinander auszusöhnen, ihren
Gegensatz in einer harmonischen höheren Einheit »aufzuheben«.
Tannhäuser will mit gleicher Stärke und Energie zwei Dinge,
von denen er in der Welt, in der er lebt, immer nur eines
allein und mit Ausschluß des anderen haben kann: die sinn-
liche und geistige Seite seiner Natur, das Streben nach Lebens-
genuß und Lebenswürde, nach Befriedigung des der realen
Sinnenwelt zugekehrten, wie des einzig in einer idealen Ge-
dankenwelt sein Genüge findenden, von aller befleckenden Be-
rührung mit der unvollkommenen Wirklichkeit verletzt sich
abwendenden rein geistigen Seelentriebes sind in ihm gleich-
mäßig ausgebildet. Venusberg und Wartburg stehen sich als
zwei gleichberechtigte Mächte gegenüber, von denen keine in
ihrer Einseitigkeit der nach Einheit des sinnlichen und geistigen
Menschen strebenden Sehnsucht des Tannhäusers allein genügen
kann, und nichts wäre verkehrter, als wenn man die Venus
etwa schlechthin als Vertreterin des sündigen, höllischen, an und
für sich verdammenswerten Elementes ansehen wollte. Das ist
sie wohl für die frommen landgräflich thüringischen Hofsänger,
nicht aber für den Helden des Dramas und auch nicht für den
103 Die Kunstwerke vom »Holländer c bis zum »Lohengrinc.
Dichter. Ja, Wagner selbst hat solchen Wert darauf gelegt,
dieses Verhältnis in richtigem, die Möglichkeit eines Mißver-
ständnisses ausschließenden Lichte erscheinen zu lassen, daß er
späterhin die erste Scene zwischen Tannhäuser und Venus einer
eingehenden Umarbeitung im Sinne einer Erweiterung unterzog
und die sogenannte >neue Venusbergmusik« hinzukomponierte.
Denn die Bedeutung dieser »Pariser Bearbeitung« des Werkes
liegt eben darin, daß die Venus und ihr Hof, d. h. das Prinzip
der Sinnlichkeit und des Lebensgenusses, in ihr jene innere
Gleichberechtigung mit der würdigen, aber kalten, farblosen und
unsinnlichen Sittlichkeit des Wartburglebens auch äußerlich
angewiesen erhalten, wie sie aus der ersten Passung nicht mit
voller Klarheit und Deutlichkeit zu ersehen war, womit indessen
nicht geleugnet werden soll, daß, auch wie das Werk jetzt ist
und — nicht aufgeführt wird, Einzelheiten in der Dichtung
vorhanden sind, welche die Möglichkeit eines Mißverständnisses
begreiflich machen. Daß es aber ein Mißverständnis ist, wenn
man den Aufenthalt des Tannhäuser im Venusberg s. z. s. nur
als eine »liederliche Verirrung«, als einen Abfall von seiner
wahren und reinen Natur ansieht, aus der er sich mit seiner
Rückkehr auf die Oberwelt dann wieder zurückfände, erhellt
nicht nur aus dem Werke selbst, sondern vor allem auch aus
den Erläuterungen, die der Meister selbst dazu gegeben hat.
Sinnlicher und geistiger Trieb sind im Grunde ihres Wesens
vielmehr dem Charakter Tannhäusers gleich natürlich und eigen-
tümlich; er fühlt sich gleichermaßen angewidert von einem
Dasein, in dem er nur einem dieser beiden Seelentriebe auf
Kosten des anderen Genüge thun kann, die Wartburg ekelt
ihn auf die Dauer gerade so an wie der Venusberg, und aus
demselben Grunde, — weil nämlich keine dieser beiden entgegen-
gesetzten Welten in ihrer Einseitigkeit dem auf Einheit und
harmonische Versöhnung des körperlichen und geistigen, des
sinnlichen und idealen Menschen gerichteten Streben seiner
Seele Befriedigung zu gewähren vermag. Dieses höhere und
edlere, über den Gegensatz von Sinnlichkeit und Geistigkeit
erhabene — weil diesen Gegensatz in noch undifferenzierter
Einheit absoluter »Naivetät« in sich aufgehoben enthaltende —
Wesen ist Elisabeth, die »keusche Jungfrau«, die einzig be-
Der »Tannhäuser« als Selbstbekenntnis. 109
fähigt ist, den Zwiespalt im Innern des Helden aufzulösen, ihn
selbst durch ihre treue Liebe zu erlösen. Wäre sie nur »reine«,
nicht zugleich auch »liebende« Jungfrau, so wäre sie eben
auch nichts weiter als eine, nur etwas idealere, Vertreterin der
»Wartburg-Moralität« und nimmermehr imstande, den unseligen
Tannhäuser zu erlösen. Einzig deshalb weil sie ihn liebt, liebt
mit aller Inbrunst einer natürlichen, nicht bloß geistigen Liebe
(vergl. ihr Gebet im HI. Akt), und weil sie den Stachel sinnlichen
Verlangens selbst in sich empfunden hat, versteht sie die Natur
des unglücklichen Sängers mit dem unmittelbaren Instinkte des
naiven Gefühlswissens, stößt ihn nicht in sittlicher Entrüstung
zurück, sondern hält ihm Treue und weist ihm voranschreitend
den einzigen Weg, auf dem er restlose Befriedigung seines
zwiespältig zerrisssenen Sehnens finden kann, — den Weg
zum Tode.
Erinnern wir uns nun an unsere Darstellung des mensch-
lichen und künstlerischen Charakters Richard Wagners, wie
nämlich in ihm selbst die sinnliche und die geistige Seite seiner
Natur, der auf das Reale und der auf das Ideale gerichtete
Willenstrieb gleich stark und mächtig entwickelt gewesen sind,
wie seine ganze Lebensarbeit als Mensch wie als Künstler
darauf gerichtet war, beiden Seiten seiner Natur und Begabung
gleichmäßig gerecht zu werden, einen allgemeinen Gesellschafts-
zustand als Menschheits-Ideal zu ersehnen, in welchem es dem
Individuum vergönnt wäre, alle seine natürlichen Kräfte und
Triebe, sinnliche und geistige, zu harmonischer Entwicklung zu
bringen und in Übereinstimmung mit der Gesellschaft allseitig
frei und ungehemmt auszuleben, wie als künstlerisches Ideal
jenes allumfassende Worttondrama, in welchem das Auge als
Organ der sichtbaren realen Außenwelt und das Ohr als Organ
der hörbaren idealen Innenwelt gleichermaßen zu Vermittlem
der dichterischen Absicht erhoben sind, — so sehen wir, in
wie hohem Maße der Tannhäuser in der besonderen Auffassung,
die er durch Wagner erhielt, als ein Selbstbekenntnis des
Meisters angesehen werden kann. Den Konflikt zwischen sinn-
licher und geistiger Natur, zwischen heidnischem und christlichem
Prinzip, dem wir den edlen Sänger zum Opfer fallen sehen, hat
Wagner selbst in seinem eigenen Innern erlebt. Ihn selbst
110 ^^6 Kunstwerke vom »Holländer c bis zum »Lohengrin«.
drängte es danach, mit allen Sinnen das Leben freudig zu
genießen. Diejenigen Formen und Arten des Lebensgenusses
aber, welche unter der Herrschaft unserer modernen Civilisation
allein möglich sind, ekelten ihn ebenso an, wie er es nicht über
sich gewinnen konnte, künstlerische Erfolge und Anerkennung
um den Preis zu erkaufen, um den sie von dem Publikum der
Gegenwart allein zu erlangen sind, nämlich mit dem Aufgeben
seiner Künstlerwürde, mit dem Verrat seiner idealen Künstler-
mission. Wie sein Tannhäuser fühlte er sich vor ein im mo-
dernen Leben unlösbares Dilemma gestellt. Seine in sich
einige, aber in Beziehung auf die Außenwelt nach zwei ent-
gegengesetzten Eichtungen auseinandergehende Natur verlangte,
um es ganz kurz zu sagen, für den Menschen würdigen, edlen
Lebensgenuß, für den Künstler würdige, edle Erfolge.
Was ihm aber die Welt, wie er sie kennen gelernt hatte, bieten
konnte, war immer nur eines von beiden auf Kosten des andern:
hier würdeloser, unedler Lebensgenuß, dort freude- und genuß-
lose Würde und willensschwache, prüde, natur- und sinnen-
widrige Moralität, hier triviale Modeerfolge als dem kapriciösen
Augenblicksgeschmacke der urteilslosen Menge huldigender vir-
tuoser Scheinkünstler, dort Wahrung der höheren künstlerischen
Würde und Reinheit um den Preis der Vereinsamung, des Un-
beachtet- und Unverstandenbleibens. Dieses Dilemma ließ seinem
Herzen jene Sehnsucht entkeimen, die sich im Holländer und
Tannhäuser so ergreifend ausspricht, die Sehnsucht nach der
wahren und echten Heimat, nach Erlösung, nach einer Form
des Daseins, von der der Dichter selbst noch nicht mehr weiß,
als daß sie das Gegenteil aller derjenigen Daseinsformen sein
müsse, die das Leben der Gegenwart allein ermöglicht.
Diese selbe Sehnsucht beherrscht auch den Lohengrin als
dichterisches Grundmotiv, als das eigentliche dramatische Agens,
nur in anderer, s. z. s. umgekehrter Fassung. War der Inhalt
der Sehnsucht, welche den Holländer ruhelos von Meer zu Meer,
von Land zu Land treibt, ohne daß er sein Ziel anders als im
Tode erreichen kann, noch ganz in der unbestinmiten Sphäre
eines dunkel und unbewußt empfundenen Gefühls verblieben,
und waren es beim Tannhäuser die beiden antagonistischen
Triebe, der Zwiespalt in seiner eigenen Brust, dessen Versöhnung
Die Tragik des »Lohengrinc. \\l
und Ausgleichung unter den Verhältnissen * der realen Welt
unmöglich ist, was den Kern der inneren (seelischen) Handlung
des Dramas ausmachte, so können wir als das Gemeinsame in
beiden Werken ansehen, daß die Sehnsucht ihrer Helden ge-
wissermaßen von unten nach oben führt, den Holländer von
seinen fluchbeladenen Meeresfahrten zum erlösenden Tode in
den Armen Sentas; den Tannhäuser aus dem Venusberg über
die Wartburg und Rom zur Bahre der aus treuer Liebe zu ihm
gestorbenen HeiUgen. umgekehrt ist es beim Lohengrin. Die
Sehnsucht, welche dieser empfindet, führt ihn von oben nach
unten, aus der Göttlichkeit zur Menschlichkeit, von der Grals-
burg zu den Ufern der Scheide in die Arme Elsas. Ein rein
göttlicher Held, der in fernen Landen innerhalb einer edlen
Werken und Kämpfen für die Menschheit ihr ganzes Dasein
weihenden Genossenschaft lebt, sehnt sich aus seiner idealen
Höhe herab nach dem in warmer Liebe ihn umfangenden mensch-
lichen . Weibe. Nur als Mensch will er geliebt, nicht als Gott
bewundert und angestaunt sein. Darum verbietet er jede Frage
nach »Nam' und Art«, nach seiner Natur und Herkunft. Nur
um seiner selbst willen begehrt er Liebe, einzig dem liebenden
und vermöge der Liebe sein Geheimnis instinktiv erfassenden
Gefühle des geliebten Weibes will er sich direkt und unver-
mittelt hingeben, nicht aber kann er mit erklärenden, vermitteln-
den und deutenden Worten auch dem Verstände sein geheim-
nisvolles Wesen offenbaren: wollte er dies wagen, so würde
sofort der Zauber, der ihn umgiebt^ unwiederbringlich ver-
schwunden sein.
Es ist die Tragödie des modernen Künstlers, des Genies,
die wir im Schicksale des Lohengrin dramatisch gestaltet sehen,
— wie Wagner selbst sagt, »eine durchaus neue Erscheinung
für das moderne Bewußtsein; denn sie konnte nur aus der
Stimmung und Lebensanschauung eines künstlerischen Menschen
hervorgehen, der zu keiner anderen Zeit als der jetzigen, und
unter keinen anderen Beziehungen zur Kunst und zum Leben,
als wie sie aus meinen individuellen, eigentümlichen Verhält-r
niss^i entstanden, sich gerade bis auf den Punkt entwickelte,
wo mir dieser Stoff als nötigende Aufgabe für meine Gestalten
erschien« (IV, 298).
112 -^is Kunstwerke vom »Holländer« bis zum »Lohengrin«.
Gerade so wie wir uns hüten müssen, den Aufenthalt des
Tannhäuser im Venusberg als eine » Veriming«, die gut bürger-
lich moralische Welt der Wartburg aber als seine eigentliche
»Heimat« zu betrachten, so benimmt man sich alle Möglichkeit
eines Verständnisses des dem Lohengrin zu Grunde liegenden
tragischen Problems, wenn man die Frage der Elsa, mit der
sie das Verbot ihres Helden verletzt, als eine »tragische Ver-
schuldung« im Sinne der landläufigen Dramaturgie auffaßt.
Wenn wir den Charakter der Elsa richtig und tief erkannt
haben, werden wir uns vielmehr überzeugen, daß sie die Frage
thun muß, daß sie kraft ihrer Natur als liebendes Weib gar
nicht anders handeln kann, daß es ihre wahre und innige Liebe
zu Lohengrin selbst ist, die sie zvnngt, nachdem ihr einmal die
Ahnung eines Geheimnisses, das ihr Geliebter vor ihr verbirgt,
aufgegangen, nicht eher zu ruhen, als bis sie dieses durchschaut,
sein Wesen restlos erkannt, zur Mitwisserin seines Geheimnisses
geworden ist: denn früher darf sie sich nicht im ungeschmälerten
Besitze dessen wissen, den sie liebt und nach dessen absolutem
Besitze ihre Liebe verlangt, als bis er sich in seinem wahren
göttlichen Wesen ihr enthüllt hat. Aber auch Lohengrin kann
sich dem Menschenweibe nur in einer Weise mitteilen, die den
ihn umgebenden Zauber, sein göttliches Wesen selbst sofort
zerstört und vernichtet. Wir haben also im Lohengrin eine
»Schicksalstragödie« im höchsten und edelsten Sinne des Wortes
zu erblicken, d. h. eine Tragödie, in welcher der tragische Kon-
flikt zwar nicht — wie in der gewöhnlichen Schicksalstragödie
— aus einem rein äußerlichen Zusammentreffen widriger Fü-
gungen des Schicksals, ebensowenig aber auch aus einer mehr
oder minder willkürlichen und zufälligen »tragischen Schuld«
der handelnden Personen resultiert, sondern wo das Geschick,
das Erleben und Leiden der Handelnden mit strengster, unab-
wendbarster Notwendigkeit hervorgeht aus ihrem unabänder-
lichen Charakter, ihrem ein für allemal feststehenden natür-
lichen Wesen. Der tragische Konflikt ist notwendig im aller-
strengsten Wortsinne. Das tragische Leiden der Personen
folgt mit logischer Konsequenz aus ihrem Handeln, und ihr
Handeln folgt ebenso notwendig aus ihrem Sein, nach dem
Satze: Operart sequiiur esse, Sie leiden. Weil sie so handeln,
Die Tragödie des Genies. 113
wie sie handeln, und sie müssen so handeln, weil sie so sind,
wie sie sind. Eine solche »Charakterschicksalstragödie« ist
Lohengrin, und man versteht nunmehr, warum Wagner selbst so
großen Wert darauf legte, daß gerade das Tief-Trägische in
Charakter und Situation der Figuren des Lohengrin verstanden
und gewürdigt werde (vergl. IV, 299 ff.).
Wir haben oben (S. 111) den Lohengrin die Tragödie des
Genies genannt. Wagner hat sein Werk selbst so gedeutet.
Wie es den Lohengrin aus seiner einsamen Göttlichkeit herab-
verlangt, um in den Armen des geliebten Weibes zu sinnlich
gefühlter Menschlichkeit zu erwarmen, so sehnt sich der künst'
lerische Genius hernieder aus seiner ^solitude of kings<^ um
im beseligenden Gefühle des restlosen Verstandenwerdens in
die Allgemeinheit aufzugehen, den bloß bewunderten Künst-
ler in den geliebten Menschen zu erlösen. Aber wie Lohen-
grin diese Sehnsucht nicht zu befriedigen vermag, ohne seiner
Göttlichkeit verlustig zu gehen, so kann auch der Künstler sich
der modernen Öffentlichkeit nur dann verständlich mitteilen,
wenn er aufhört, Künstler zu sein. Wagner selbst formuliert
diese Tragik der Situation des modernen Künstlers so: »Das
notwendigste und natürlichste Verlangen des Künstlers ist,
durch das Gefühl rückhaltslos aufgenommen und verstanden zu
werden; und die — durch das moderne Kunstleben bedingte — •
Unmöglichkeit, dieses Gefühl in der Unbefangenheit und
zweifellösen Bestimmtheit anzutreffen, als er es für sein Verstan-
denwerden bedarf, — der Zwang, statt an das Gefühl sich fast
einzig nur an den kritischen Verstand mitteilen zu dürfen, —
dies eben ist zunächst das Tragische seiner Situation, das ich
als künstlerischer Mensch empfinden mußte, und das mir auf
dem Wege meiner weiteren Entwickelung so zum Bewußtsein
kommen sollte, daß ich endlich in offene Empörung gegen den
Druck dieser Situation ausbrach« (IV, 299).
Mit Tannhäuser hatte sich Wagner selbst von und aus dem
Leben der modernen Gegenwart erlöst und befreit. »Mit diesem
Werke,« lesen wir in der »Mitteilung an meine Freunde« (IV,
279), »schrieb ich mir mein Todesurteil: vor der modernen
Kunstwelt konnte ich nun nicht mehr auf Leben hoffen.« Mit
Lohengrin wandte er sich von der Höhe des neu errungenen
Louis, Weltanschauung B. Wagners. 8
XU Die Kunstwerka vom >HoirfU[uler« bis zum >Lohengrin«.
Standpunktes aus wieder herab, um s. z. s. die Probe zu
machen auf die Unlösbarkeit des tragischen Konfliktes, in
welchißm er sich befand; mit diesem Werke gestand er sich die
unentrinnbare Tragik seiner Situation als Künstler und Mensch
innerhalb des Lebens der Gegenwart mit unerbittHcher Schärfe
und Konsequenz ein. »Über dieses höchste und wahrste tra*
gische Moment der Gegenwart hinaus,« so urteilt der Meister
selbst über Löhengrin — »giebt es nur noch die volle Eiiiheit
von Geist und Sinnlichkeit, das wirklich und einzig heitere
Element des Lebens und der Kunst der Zukunft nach deren
höchstem Vermögen« (IV, 297). —
Nachdem wir so die Kunstwerke Wagners vom Holländer
bis zum Löhengrin im engen Anschlüsse an des Meisters eigene
Erläuterungen und Bekenntnisse in ihren dichterischen Grund*
motiven vor unseren Augen haben vorüberziehen lassen, können
wir uns der oben aufgeworfenen Frage wieder zuwenden: was
für Schlüsse lassen sich aus ihrem Ideengehalt und dessen
Ausgestaltung auf die damalige Weltanschauung Wagners
ziehen? Wir haben gesehen, daß das durch alle drei Werke
hindurchgehende Grundmotiv das Gefühl einer unbefriedigten
Sehnsucht ist, einer Sehnsucht, die wir uns nach dem Vorgange
des Meisters deuten dürfen als das dichterische Abbild der
Sehnsucht, die seine eigene innerste Seele durchflammte, der
Sehnsucht des Menschen und Künstlers nach einer Form des
Daseins, in der er seine Individualität nach allen Seiten hin
frei und ungehindert ausleben, sich selbst an die Allgemeinheit
und Öffentlichkeit rückhaltslos mitteilen und hingeben könnte,
zweifellos sicher des unmittelbaren Verstandenwerdens vermöge
der hellsichtig machenden Gefühlskraft der Liebe. Über die
Möglichkeit und positive Form der Verwirklichimg dieses vom
Holländer, Tannhäuser und Löhengrin in gleicher Weise er-
sehnten Ideals erfahren wir aus den betreffenden Dramen selbst
nichts, wir gewinnen nur die negative Einsicht, daß in dem
Milieu, in welchem die Handlung vor sich geht, d. h. innerhalb
der historisch gewordenen, christlich modernen Welt die Ver-
wirklichung dieses Ideals unmöglich ist. Nichts weiter wollen
wir diesen Werken für die Erkenntnis der Weltanschauung des
Meisters entnehmen, als diese beiden Thatsachen: im tiefsten
Die Kunstwerke und di^ Schriften. . , . 115
Iniieni des modernen Menschen lebt eine glühende Sehnsucht, die
naturgemäß der Künstler, in welchem das menschliche Leben sich
objektiviert, und der infolgedessen s. z. s. den Menschen in der
zweiten Potenz repräsentiert, am lebhaftesten und schmerzlichsten
empfinden muß; und weiter: die Befriedigung; dieser Sehnsucht
ist im modernen, d.h. in dem von konventioneller Sitte und
historisch-traditionellen Daseinsformen einzig beherrschten Leben
ganz und gar unmöglich. Aus dieser Sehnsucht entspringt nun
für Wagner ganz unmittelbar, und ohne daß ein Einfluß fremder
Meinxmgen und Philosopheme zur Erklärung herbeigezogen zu
werden brauchte, der Idealbegriff des Eeimnenschlichen, wie wir
ihn im vorigen Kapitel entwickelt haben, ja er ist bereits in ihr
enthalten, nur eben erst als unbewußtes, konkretes. Gefühl,
noch nicht als vollbewußter, abstrakter Gedanke.-
Jetzt wird auch einleuchten, weshalb ich es vorgezogen
habe, eine Würdigung der Bedeutung dieser Werke für die
Entwickelung der Wagner sehen Weltanschauung erst nach der
Darstellung der ersten ausgeführten und quasi systematischen
Form, welche diese in den theoretischen Schriften der Jahre
1.849 — 1851 angenommen, zu versuchen. Der Grund ist der.;
die Schlüsse, welche man aus der äußeren Form und Einkleidung,
in welcher jene Dichtungen uns entgegentreten, auf die in ihnen
zu künstlerischer Gestaltung gelangende Weltanschauung zu-
nächst zu ziehen versucht sein könnte, sind fast ausnahmslos
trügerisch. Deshalb weil in Lohengrin gebetet wird, annehmen
zu wollen, Wagner sei zur Zeit der Ausführung dieses Werkes
»noch« frommer, jehovahgläubiger Monotheist gewesen, oder aus
dem Umstände, daß der Boden, auf dem Tannhäuser und Lohen-
grin sich abspielen, die Welt der christUch -mittelalterlichen
Bomantik ist, zu schließen, der Meister habe damals für dog-
matisches Christentum und feudale Staats- und Gesellschafts-
ordnung irgendwelche Sympathieen gehegt, ist bare Oberfläch-
lichkdt. Denn das Milieu dieser Dramen gehört, genau be-
trachtet^ gar nicht Wagner an, sondern dem Stoffe, vrie ei: ihn
in seinen Quellen vorfand, * — und gerade darin besteht meines
* Einzig bemerkenswert erscheint in dieser Beziehung nur, daß in
Tannh'äuser, und noch mehr in Lohengrin, an einzelnen Stellen ein scharf
8*
116 Die Kunstwerke vom >Hoir&nder< bis zum »Lohengrinc.
Erachtens der Hauptunterschied dieser Werke der ersten »un-
bewußten« Schaffensperiode von denen aus der Zeit des »voll-
bewußten« künstlerischen Produzierens, daß jene noch nicht
ganz einzig und allein und in einem Guß von innen heraus
gestaltet sind, daß ihre äußere formelle Gestaltung noch bis zu
einem gewissen Grade abhängig ist von dem vom Dichter fertig
vorgefundenen Stoffe, daß man an ihnen noch eine gewisse
Diskrepanz zwischen Form und Inhalt bemerken kann, daß sie,
mit einem Worte, Umdichtungen überlieferter Sagen sind,
während die späteren Werke als Neudichtungen im vollen
Sinne des Wortes angesehen werden müssen, wie schon gesagt
wurde. Das aber, was in den drei früheren Werken wirklich
alleiniger Ausfluß individueller Weltanschauung ist, nämlich der
Grundgedanke des reinmenschlichen Ideals in der keimhaften
Form der mehr oder minder unbestimmten, sich des Zieles noch
unbewußten Sehnsucht nach einer Welt, in welcher das Wesen
des Menschen mit den gesellschaftlichen Lebensbedingungen des
Individuums sich nicht mehr im Widerspruch befände, dieser
eigentliche Gehalt jener Werke ist erst dann vollkommen zu
würdigen und zu begreifen, wenn wir das reinmenschliche Ideal
zuvor als Begriff in der Gestalt, wie es dem Meister selbst
später zum vollen Bewußtsein kam, kennen gelernt und, von
dieser Erkenntnis zurückblickend, den von ihm zurückgelegten
Weg klar zu überschauen und zu verstehen uns befähigt haben.
Nun sind wir auch in Stand gesetzt, durch eine Verglei-
chung der ausgeführten Weltanschauung des Denkers Wagner
mit den Keimen und Ansätzen derselben, wie wir sie in den
betrachteten Kunstwerken finden, die Frage zu entscheiden: was
ist an der Gestaltung dieser Weltanschauung, die uns der
philosophische Schriftsteller Wagner in seinen theoretischen
Abhandlungen bietet, reiner Ausfluß seiner Natur, was etwa
durch fremde Meinungen, vorübergehende Stimmungen und
äußere, vielleicht falsch oder doch übertrieben gedeutete Ereig-
nisse beeinflußt, d. h. was ist an den von ihm ausgesprochenen
ausgeprägtes, enthusiastisches Nationalgefuhl in einer Weise sict ausspricht,
die nicht verkennen läßt, wie stark die Saiten in der Seele des Künstlers
selbst dabei mitgeklungen haben.
Das Weib. . 117
Anschauungen Produkt konstanter Faktoren seiner geistigen
Persönlichkeit und somit bleibender Bestandteil des Wesens,
s. z. s. des »An-sich« seiner individuellen Weltanschauung, —
was nicht.
Tiefe Unbefriedigung mit den Formen des Daseins, welche
das Leben, wie es ist, allein ermöglicht, und heiBe Sehnsucht
nach einem anderen Leben, von dem nichts weiter klar ist, als
daß es von dem realen, unter den Gresellschaftsbedingungen,
wie sie die Erfahrung bietet, einzig möglichen Leb^n toto genere
verschieden sein müsse, um dem idealen Wollen des Indivi-
duums Befriedigung gewähren zu können, — das ist der eigent-
liche poetische Gehalt, der im Holländer, Tannhäuser und
Lohengrin zur künstlerischen Gestaltung gelangt. Das höhere,
reinere und edlere Element, in welchem das leidende Individuum
aufzugehen und erlöst zu werden sich sehnt, erscheint symboli-
siert in der Gestalt des liebenden Weibes.* Das erscheint
bedeutungsvoll. Denn wenn es auch unbestreitbar zunächst nur
das rein persönliche Gefühl seines unbefriedigten sexuellen
Liebesbedürfnisses selbst war, was den Künstler das >Ewig-
Weibliche« zum Symbol des absoluten Menschheitsideals erhöhen
ließ, so bot sich doch auch objektiv und in Ansehung seines
Wesens das Weib, wie es ist, als natürlichen Gegensatz zum
Manne, dem eigentlichen Repräsentanten der modernen, zwie-
spältig in sich zerrissenen, durch die Macht der Keflexion und
einer einseitig geistigen Kultur ihrer natürlichen Einheit und
Harmonie von Geist und Sinnlichkeit beraubten Menschheit dar.
Auch abgesehen von allen sentimentalen Hirngespinsten, wie sie
der Wille zum Leben in seiner verführerischsten Gestalt nur
* In einem tieferen Sinne gilt dies nämlich auch von Lohengrins Ver-
hältnis zu Elsa. Der ideale, s. z. s. rein geistige Held ist bloß Gott;
Elsa ist mehr: sie ist Mensch, d. h. ungeschiedene (naive) Einheit von
Sinnlichkeit und Geist. Um so viel als das totale, Sinnlichkeit und Geist
harmonisch in dich einschließende, rein menschliche Wesen höher steht als
die isolierte, wenn auch nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauche idealere,
eine Seite desselben, der reine Gteist, — um soviel steht Elsa höher als Lohen-
grin. Daß der »reine Geist« sich an das unmittelbare Gefiihlsverständnis
der ungeteilten rein menschlichen Natur trotz seiner Sehnsucht danach
nicht mitzuteilen vermag, darauf beruht im tiefsten Grunde die herbe Trti-
gik des Lohengrinproblems, wie wir sie oben zu deuten versucht habeu»
f j^ Die Kunstwerke vom »Holländer« bis zum »Lobengrin«.
allzugerne webt, steht das Weib thatsächlich, weil es eben immec
noch bis zu einem gewissen Grade außerhalb unserer Kultur
und Bildung sich befindet, der Natur um einen Schritt näher
als der Mann, es besitzt zum Teil noch die ungebrochene
Naivetät der unbewußten Einheit von Geist und Sinnlichkeit,
welche der Mann durch bewußte Rückkehr zur Natur sich erst
wieder erobern muß, es repräsentiert diese Einheit, um an das
Schema der Hegeischen Dialektik zu erinnern; auf der Stufe
der noch nicht in ihre Gegensätze auseinandergegangenen >^The^
sis«, während der Mann eben erst auf dem Wege aus der
Antithesis zur Synthesis sich befindet. Darum erscheint das
Weib dem Manne auch in nicht sexueller Beziehung als IdeaL
Denselben Gedanken spricht Wagner selbst aus, weim ier ein*
inal an seinen Freund Uhlig schreibt: >— glaube mir, dieses
Mädchen ist dir weit voraus, — und woher? durch ihre Geburt,
weil sie ein Weib ist! sie ist als Mensch geboren,— du
und jeder Mann wird heutzutage als Philister geboren, und
langsam und mühevoll gelangen wir Ärmsten erst dazu, Me»^
sehen zu werden.«
Also auch aus diesem Zuge, daß der Künstler Wagn^
sein Ideal in der Erscheinung des Weibes symbolisiert, erkennen
wir die Sehnsucht, die das Grundmotiv jener Dichtungen bildet,
als geriehtet auf die Wiederherstellung der Natur im Menschen,
d. h. der harmonischen Einheit von Geist und Sinnlichkeit, wie
sie uns das holde Wunder der Naivetät, der durch Keflexion
noch ungebrochenen UrsprüngUchkeit des Weibes offenbart
Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, daß die Wagn^sche
Weltanschauung in der Gestalt, wie er sie in Anlehnung an
die philosophischen Schriften Feuerbachs in dem Begriffssystem
seiner großen theoretischen Schriften ausführte, in Bezug auf
die Hoffnung einer Verwirklichung des reinmenschlichen Ideals
durchaus optimistisch gesinnt war, beseelt von dem unbegrenz-
testen Vertrauen auf die Zukunft und die notwendige vernünf-
tige Entwickelung der Dinge, welche ganz von selbst und ohne
unser Zuthun den idealen Zustand einer leidlosen, unendlich
beglückten Menschheit herbeiführen müsse. Zu diesem Opti-
mismus stehen nun die Kunstwerke Wagners in einem scharfen
und ausgesprochenen Gegensatze. Die ihnen zu Grunde liegende
Dichter und Denker. ' Ü^
Weltan»chaauug kaim uiclit andere slLh tragisch und pessi-^
inistisch bezeichnet werden. Die Erlösung^ die Befriedigung
des Sehnens wird entweder gar nicht erreicht, wie im Lohengrin
— der somit als das tragischste von allen Wagnerschen Dramen
ohne Ausnahme anzusehen ist — , oder erst im Erlöschen des
iÄdividuellen Lebens, im Tode, wie beim Holländer und Tann-
häuser. Becht deutlich erhellt diese Diskrepanz zwischen der
künstlerischen Grestaltung der Wagnerschen Weltanschauung in
den Dramen und ihrer begri£Elichen Fassung in den theoreti^
sehen Schriften daraus, daU der Meister in der »Mitteilung ian
meine Freunde« die Dramen nur dadurch als im Einklaiig mit
dem BegriSsoptimismus seiner »philosophischen« Weltanschäu-i
ung befindlieh darstellen kann, daß er ihrer Tragik eine bloU
partielle und relative Bedeutung, nämlich in Bezug auf die Welt,
wie sie ist, die Welt der Gegenwart, zuerkennt, nicht aber
auch eine universale und absolute, in Beziehung auf die Welt
überhaupt, wie sie ihrem tiefsten Wesen nach sein muß und
von Natur aus nicht anders sein kann.
Eine befriedigende Auflösung dieses Widerspruches zwischen
der Weltanschauung des Dichters und der des Denkers können
wir nun nicht so gewinn^ daß wir annehmen, Wagner sei
etwa bis zur Vollendung des Lohengrin Pessimist gewesen,
dann auf ein Lustrum unter der Ägide Feuerbachs Optimist
geworden, lun danach durch Schopenhauer zum Pessimismus
zurückgeführt zu werden. Diese Annahme würde, abgesehen
davon, daß sie die merkwürdige Entstehungs- und Entwickelungs^
geschichte des Nibelungencyklus, auf die wir sofort zu sprechen
kommen werden, unerklärt ließe, der ernsten und konsequenten
geistigen PersönHchkeit Wagners so wenig gerecht, daß sie ihn
zu einem jeden Augenblick die Farbe wechselnden Chamäleon
kärrikierte, ihn zu einem Hanswurst machte, mit dessen »Welt-
anschauung« auch nur eine Minute lang sich abzugeben die
offenbarste Zeitvergeudung wäre.
Vielmehr erinnern wir uns, daß Wagner in erster Linie
und vor allen Dingen Künstler gewesen ist. Dem Künstler
ist es nun eigentümlich, daß er zunächst in Anschauungen
und Bildern denkt, nicht aber in abstrakten Begriffen und
philosophischen Beflexionen. Seine eigentUche Stärke, das,
120 1^16 Kunstwerke vDin »Holländer c "bis zum »Lohengrin«.
worin er sich vor anderen auszeichnet, ist die Kraft des sinn-
lichen, konkreten Anschauungsvermögens, der tiefe, hellsichtige
Blick, mit dem er den Dingen auf den Grund, gleichsam in die
Seele schaut. Hat nun der geniale Philosoph, der, wie Schopen-
hauer so überzeugend nachgewiesen hat, mit dem Künstler in
dieser wichtigen Beziehung wesens verwandt, ja identisch ist,
diesen »weit-hellsichtigen« Blick — um der dichterischen Sprache
Wagners eine ihrer prägnantesten und glückUchsten Bezeich-
nungen zu entleihen — mit dem Künstler gemein, so unter-
scheidet er sich wesentlich von ihm darin, daß seine eigentüm-
liche Begabung darin besteht, das in genialer Intuition Erschaute
sofort in die Spraiche des abstrakten Begriffes zu übersetzen,
sich an Verstand und Vernunft, die diskursive Erkenntnis des
Menschen zu wenden, während der Künstler in der Sphäre des
Intuitiven stehen bleibt, aus der inneren Anschauung eine
äußere macht, indem er sie zum Zwecke ihrer Mitteilung ge-
staltet, und demgemäß seine Offenbarungen an das zur Auf-
nahme von Anschauungen geeignete menschliche Erkenntnisver-
mögen, an Phantasie und Gefühl adressiert.
Wir haben uns nun vorzustellen, daß Wagner als Künstler
bereits vom Holländer an sich klar war über die durchaus
leidensvolle und tragische Beschaffenheit der Welt. Damals
schon hatte er jenen tiefen Blick in die Abgründe des Seins
gethan, der ihm das mysterium magnum unseres Daseins ent-
hüllte. Aber diese Erkenntnis war rein künstlerisch, konkret
und anschaulich, also unbewußt, und zwar unbewußt auch in
Bezug auf ihn selbst, soweit er nicht als Künstler, sondern als
begrifflich denkender, reflektierender und theoretisierender Mensch
sich verhielt. Es war eine Erkenntnis gleich dem Hellsehen der
Somnambule, welches Phänomen Schopenhauer so gerne zur
Veranschaulichung dieses im vollsten Sinne des Wortes mysti-
schen Vorganges der künstlerischen Inspiration und Oonception
heranzieht.
In unserer Charakterzeichnung der geistigen Persönlichkeit
Wagners haben wir hingewiesen auf die der realen Welt mit
höchster Energie zugekehrte, lebens- und hoffnungsfreudige eine
Seite seiner Natur, die ihn zu keiner Zeit vollständig daran
verzweifeln ließ, sein Ideal zu verwirklichen, das scheinbar
Optimismus und Evolutionismus. 121
Unmögliche möglich zu machen, auf jenen, man kann sagen,
durchaus antipessimistischen Grundzug seines Willens, der sich
durch keine noch so herbe Enttäuschung ganz niederkriegen
ließ. Diesem seinem glaubenö- und hoffnungsvollen Willen kam
nun die Philosophie Feuerbachs entgegen in einem Zeitpunkte,
wo es ihn mit aller Macht danach drängte, sich über sich selbst
und seine Stellung zur Welt auch begrifflich klar zu werden,
zu welchem Behufe er der leitenden Führung eines systemati-
schen Fachphilosophen notwendigerweise bedurfte. Was daher
als ein fremder Bestandteil in der »philosophischen« Weltan-
schauung des Wagner jener Periode, als direkte und zwar un-
organische Entlehnung aus Feuerbach angesehen werden muß,
ist nicht, woran man zunächst denken könnte, die starke Be-
tonung einer genußfreudigen, allem unwirklichen, verstiegenen
IdeaUsmus abgeneigten Sinnlichkeit, der Wagnersche »Sensua-
lismus« — Tannhäuser kann uns darüber belehren, wie sehr
dieser Zug der eigensten Natur des Künstlers entsprang, —
auch nicht die optimistische Hoffnung auf die Zukunft — denn
diese lebte, selbst nachdem der Meister durch die Philosophie
Schopenhauers hindurchgegangen war, noch einmal, allerdings
nicht mehr in so enthusiastisch überschäumender Form und
zweifelloser Siegeszuversicht, wieder auf — , es ist vielmehr die
ganz bestimmte Formuherung, welche er für diese Hoffnung in
der Philosophie des <7t-fl?^«?a«^-HegeUaner8 Feuerbach vorfand,
der Glaube nämlich an die aus dem von Natur aus konfliktlos
angelegten Wesen des Menschen mit logischer Notwendigkeit
hervorgehende vernünftige geschichtliche Entwickelung der
menschlichen Dinge, es ist der Wagnersche Evolutionismus
im Sinne eines stetigen Fortschrittes der Menschheit, einer
kontinuierlichen Annäherung an das in endlicher Entfernung
in der Zukunft vor ihr liegende Ziel eines schlechthin idealen
Zustandes. Der war ihm von außen gekommen, und zwar
wurde die Feuerbachsche Philosophie darin unterstützt durch
die politischen Ereignisse der damaligen so ungemein auf-
geregten Revolutionszeit, wo Alles in Gärung sich befand,
das Alte stürzte und, wie es einem hoffenden Herzen vor-
kommen mußte, neues Leben aus den Ruinen blühen zu
wollen schien. Einzig diese äußeren Einflüsse veranlassten in
t22 I^io Kunstwerke vom ^ Holländer c bis zum iLohengrinc.
Wagaer jenen Wahn, als ob die Wahrheit, daß der Mensch
zum Leiden und Entsagen geboren sei, nur relative Greltung
habe für die Welt der Gegenwart, nicht aber absolute für die
Welt überhaupt, Vergangenheit und Zukunft in gleicher Weise,
daß die Natur den Menschen eigentlich zu einem freudigen und
im ungehinderten, freien Ausleben aller seiner sinnUchen wie
geistigen Kräfte sich restlos befriedigenden, wahrhaft edlen Gre-
nußleben bestimmt habe, obgleich er sich als Dichter im Hol-
länder, Tannhäuser und Lohengrin die volle und unerbittliche
Wahrheit der notwendigen Tragik alles Menschendaseins bereits
eingestanden hatte, ein Geständnis, von dem allerdings, als ganz
in der Sphäre der reinen und konkreten Anschauung verblieben,
sein Verstand nichts wußte.
Eine einfache Folge dieses Glaubens an das ursprünglich
und von Natur aus konfliktlose, gute und zum Glücke ge-
schaffene menschüche Wesen, das im Verlaufe der geschicht-
lichen Entwickelung auch mit Notwendigkeit wieder zum Durch-
bruch kommen müsse, war nun die Überzeugung, daß die
Uindemisse, welche der Realisierung des absolut vollkommenen
Zustandes im Wege stehen, nur äußerliche, einzig in den
Verhältnissen, nicht aber in Natur und Charakter des Menschen
selbst begründete seien, daß, da Ideal und Wirklichkeit im
tiefsten Grunde identisch, insofern eben das Ideal nichts:
anderes als die ungetrübte reinmenschliche Natur selbst ist^ ein
Konflikt zwischen Ideal und AVirklichkeit nur solange möglich
erscheine, als der Mensch selbst über sein eigenes Wesen sidi
im Irrtum befindet, daß dieser Irrtum allein das ganze Mensch-
heitselend verschuldet habe, das wir als Folge einer natur-
widrigen Oivilisation, unmenschlichen historischen Konvention
und heuchlerischen Sitte vor uns ausgebreitet sehen, und daß
es daher zur Realisierung des Ideals nichts weiter bedürfe als
Hinwegräumung aller der in Bezug auf die reinmenschliche
Natur bloß äußerlichen Hindemisse, welche die Geschichte
aufgehäuft, — also Umwälzung, Umsturz, vollständige sociale
Revolution.
»Ein Moment der Revolution, ein Affirmationszeichen der
Zerstörung« soll nun auch, wie wir gesehen haben, sein eigenes
künstlerisches Schaffen für Wagner bedeuten. Jesus von
Der revolutionäre Held. 123
Nazareth, der Revolutionär gegen die Welt der werkheiligen
Gesetzesmoralität zu G-imsten der reinmenschlichen »Gefühls-
Sittlichkeit« der Liebe, und Wieland der Schmied, dem in
höchster Not die Sehnsucht Flügel wachsen läßt, auf denen er
sich seiner Knechtschaft entschwingt, ein Symbol des Volkes
— oder des Genies: denn beide sind ja bei Wagner zu jener
Zeit eigenthch identisch — , das, als ihm sein Elend unerträg-
lich getirorden, kühn die Sklavenketten sprengt und stolz sich
in den Ath^ der Freiheit erhebt — , das waren die Entwürfe,
welche den Meister damals beschäftigten und mit deren Aus-
föhrung er der Empörung gegen die Welt der Gegenwart
künstlerischen Ausdruck geben wollte. Beide mußten zurück-
treten, als eine neue Gestalt seine ganze Seele gefangen nahm,
vor deren übermächtig strahlendem Glänze alles andere erblich:
Siegfried, der Held der deutschen Nibelungensage.
Wir erinnern uns an Wagners Erzählung von der Auf fin-
dung des wahren Menschen (vergl. S. 781), wie das Suchen
nach diesem ihn immer weiter in die Vergangenheit zurück-
führte, aus der Geschichte in die Sa^e, aus der Sage in den
Mytiius, bis er ihn endlich dort im fernsten grauesten Alter-
tume entdeckte und klar vor Augen sah. Dieser von dem
Meister gesuchte schöne, freie und starke Mensch ist niemand
anderes 'als der jugendüche Heros des Nibelungenmythus:
Siegfried. Schon durch seine Abstammung aus der Verbin^
düng ^nes ehebrecherischen Zwillingspaares ein »Affirmations-
zeichen der Zerstörung« aller durch das Herkommen geheiligten
Sitte, bedeutet sein ganzes Leben mit all seinen Thaten nichts
als eine fortgesetzte Revolution der Unwillkür gegen die Will-
kür, der Natur gegen die Unnatur, der Kraft gegen Schwäche
und Ohnmacht, des einzig seinem individuellen Lebenstriebe und
Lebensbedürfnisse folgenden sinnUchen Wirklichkeitsmenschen
gegen eine durch unfreiwillige, erzwungene Verträge mühevoll
zusammengehaltenen Welt der Gesetzlichkeit So erschien
Siegfried, der sonnige Held, dem Meister als der Typus des
>Ewig-Jungen« gegenüber dem unentrinnbarem Untergänge ver-
fallenen Alten und >Ewig-Gestrigen«, — als Vertreter der in
sorgloser Heiterkeit sich selbst genießenden Gegenwart gegen-
über der nutzlos sich abquälenden Angst um eine ungewisse
124 »Der Ring des Nibelungen«.
Zukunft, mit einem Worte als idealer Repräsentant des Hein-
Menschlichen, wie er es damals verstand.
Seine natürliche Ergänzung, mit der verbunden er allererst
das reinmenschliche Wesen erschöpft, findet nun dieser Held
in Brunn hilde, der Walküre, dem göttlichen Weibe, das um
des reinmenschlichen Gebotes mitleidsvoller Liebe willen gegen
den Vater und Gebieter Wotan sich auflehnt und wegen dieses
Verbrechens aus Walhall verstoßen wird. Aus dem Schlafe,
in den sie des Gottes Strafe versenkt, wird sie durch Siegfried
erweckt, der dadurch die höhere Macht der freiwählenden Liebe
über die Herrschaft des durch Gesetz und Verträge gebundenen
Wotan thatsächlich erweist und damit auch das Ende dieser
Herrschaft, den Untergang der alten Götterwelt ankündigt
In den auf dieser Welt lastenden Fluch verstrickt, bewirkt
endlich das liebende Heldenpaar, das in seinem innersten Wesen
keinen Teil an ihrer Unseligkeit hat, durch seinen Tod die Be-
freiung und Erlösung der Welt von dem Fluche, ihre Heilung
und Entsühnung.
Zunächst wollte Wagner nur den letzten Akt dieses Welt-
erlösungsdramas ausführen: »Siegfrieds Tode, die spätere
»Götterdämmerung«. Bald muBte er jedoch einsehen, daB
ihn die separate Ausführung der SchluBkatastrophe, getrennt
von den ihr vorangegangenen und sie bedingenden Gescheh-
nissen, zwang, mehr teils als bekannt vorauszusetzen, teils als
den Gang der Handlung unterbrechende Erzählung einzuschie-
ben, als für die klare Verständlichkeit und lebendige Wirksam-
keit des Dramas gut war. Er kam zu der Überzeugung, daB
die von ihm beabsichtigte Wirkung unmöglich zu erreichen sei,
wenn nicht der Hörer auch die ganze Vorgeschichte miterlebend
imd mitleidend von der Bühne herab vor sich hätte vorüber-
ziehen sehen. So kam zu »Siegfrieds Tod« noch »Der junge
Siegfried«, welches Dramenpaar sich dann endlich zu dem ganzen
vierteiligen Cyklus des »Bing des Nibelungen« entwickelte, wie
wir ihn jetzt vor uns haben.
Schon durch diese Umgestaltung des anfängUchen Planes
wurde die ursprüngUche, wie Wagner selbst zugiebt, in bewußter
Weise absichtsvolle Tendenz, die ihn bei der Gestaltung des
SiegfriedstofEes leitete, verrückt, zunächst allerdings nur erst im
Siegfried und "Wotan. 125
Sinne einer bloßen Erweiterung. Hatte der Meister zuerst
»die Individualität eines Siegfried herausgegriffen . . . mit
dem Willen, ein schmerzloses Dasein hinzustellen« (Brief an
Röckel vom 23. August 1 856), so kam nun mit der Darstellung
des ganzen Nibelungen-Mythos die weitere Absicht der »Auf-
deckung des ersten Unrechtes, aus dem eine ganze Welt des
Unrechtes entsteht, die deshalb zu Grunde geht, um .... uns
eine Lehre zu geben, wie wir das Unrecht erkennen, seine
Wurzel ausrotten, und eine rechtliche Welt an ihrer Stelle
gründen sollen« (a. a. O.), hinzu. Damit mußte nun von selbst
Wotan, dessen Wille die alte fluchbeladene und der Erlösung
bedürftige Welt trägt, immer mehr in den Vordergrund der
Handlung rücken, bis zu dem Punkte, wo Siegfried, der freie,
starke und schöne Mensch der Zukunft, um dessentwillen ur-
sprünglich der ganze Plan concipiert worden war, selbst zur
Bedeutung einer bloßen, allerdings wichtigsten und die Tragik
des Weltengeschicks erst in ihrer ganzen Furchtbarkeit ent-
hüllenden Episode herabsinkt. Aus dem Siegfried-Drama
wird die Wotan-Tragödie — , wie ja Wagner selbst sich eine
Zeit lang mit dem Gedanken trug, dem ganzen Cyklus geradezu
den Titel »Wotan« zu geben.
Die Metamorphosen, welche Wesen und Charakter des un-
glücklichen Gottes, der als der eigentliche Träger der ganzen
Handlung des »Ring« anzusehen ist, in den drei (bezw. vier)
Gestaltungen, in denen uns die Bearbeitung des Nibelungen-
stoffes durch Wagner vorliegt, * durchgemacht hat, im Einzelnen
genau zu verfolgen, wäre eine in vieler Beziehung interessante
und dankbare Aufgabe: doch würde sie uns hier zu weit führen.
Für unseren Zweck genügt die kurze Bezeichnung der Haupt-
züge dieser Entwickelung. Zuerst (1848) ist Wotan der Gott,
welcher durch ein Unrecht, nämlich durch die an Alberich ge-
übte List und Gewalt, in den Besitz des Nibelungenringes
gelangt, mit dem er die Biesen, welche ihm seine Burg gebaut,
befriedifft und sich so seine Weltherrschaft sichert. Durch
* 1) Der Nibelungen-Mythus. Als Entwurf zu einem Drama 1848.
2) Siegfrieds Tod 1848. 3) Der Ring des Nibelungen 1853, in fünfzig
Exemplaren für Wagners Freunde gedruckt, und 4) der erste öffentliche
Druck der wesentlich gegen No. 3 nicht mehr veränderten Dichtung 1863,
126 *^^T ^^ d^ Nibelungen«.
Verträge gebunden, könnte er nur durch ein n^ies Unrecht das
alte wieder gut machen, das von Alberidi drohende Verderben
abwenden. Deshalb muß er das, was er selbst nicht thun darf,
durch einen menschlichen Helden vpUbringen lassen, der *frei
Tom Göttergesetz«, selbst schuldlos, »alle Schuld auf sich selbst
zu laden und zu büßen imstande ist«. Dieser Held ist eben
Siegfried. Durch seinen Tod löst er den auf Göttern und "Welt
lastenden Fluch und, mit Brünnhilde vereint, zieht er indre ent-
sühnte Götterburg ein, um dort an- Wotans Sfeite himmlische
Freuden zu genießen, — wie der Chor im Angesicht des bren-
nenden Scheiterhaufens am Schlüsse von »Siegfrieds Tod« singt:
• • • « •
»Wotan» Wotan! Waltender Gott!
Wotan, weih© den Brand!
Brenne Held und Braut,
brenne das treue Roß:
daß wundenheil und rein,
Allvaters freie Genossen,
Walhall froh sie begrüßen
zu ewiger Wonne vereint!« • ^ .
Was diesen Wotan von dem des-späteren »Ring« wesent-
lich unterscheidet, ist der Umstand, daß sein Wille von An-
fang an unverändert auf dasselbe Ziel gerichtet bleibt: er will
Macht und Herrschaft über die Welt zum Zweck eines allgüti-
gen und allweisen, Regimentes. Kann er diese Macht erringen
nur durch ein Unrecht und gerät er dadurch in einen Konflikt
mit dem Inhalt der von ihm selbst angestrebten Weltordnung,
deren Absicht »sittliches Bewußtsein« ist (vergL II, 157), so ist
nun sein Wille darauf aus, dieses Unrecht zu sühnen und damit
Alberichs Fluch unwirksam zu machen, was ihm auch vollkom-
men gelingt. Der Untergang, seiner Herrschaft, vor dem ihn
die Nomen warnten, wird verhütet, und Brünnhilde kann am
Schlüsse singen: »Nur Einer herrsche, Allvater, herrlicher, du!«
Es ist ersichtlich, daß die alleinige Ursache, durch die das
erste Unrecht in die Welt kommt, Wotans Wille zur Macht ist^
der seine Herrschaft einzig auf dem Wege des Unrechts er-
ringen und erhalten kann. Soll somit dieses Unrecht wirklich
getilgt werden und aus der Welt verschwinden, so kann dies
Die Charakterentwickelung des Wotan. 127
radikal geschehen nur durch die vollständige Aufhebung seiner
Ursache, d. h. eben von Wotans nach Macht begehrendem
Willen. Ohne Zweifel war es das instinktive Gefühl des Dich-
ters, welches den Meister, ohne daß er sich im mindesten be-
grifflich darüber klar geworden wäre, einsehen ließ, daß es,
um das Unrecht,, die Quelle aller irdischen Not, versiegen zu
machen, nicht genüge, seine Wirkungen zu zerstören, sondern
daß es, um ganz und auf immer zu verschwinden, in seiner
Ursache aufgehoben werden müsse. Es muß in Wotan selbst,
dem Träger dieser Welt des Unrechts, eine Wandelung seines
Willens vorgehen, infolge deren er nun das Gegenteil von dem
will, was er bisher gewollt hatte, d. h. die Erlösung der Welt
kann nicht von außen, sie muß von innen kommen. Mit der
Anerkennung dieser Wahrheit hatte nun aber der Dichter
Wagner einen der Grundpfeiler, auf dem die Weltanschauung
des philosophierenden Theoretikers Wagner ruhte, um-
gestürzt. Der lehrte, wie wir gesehen haben, daß die Natur
den Menschen zu einem ungetrübten, glücklichen und freudigen
Dasein geschaffen habe, daß sein reinmenschliches Wesen nur
wieder entdeckt zu werden brauche, um alle Menschen gleich
glücklich imd zufrieden zu machen, daß Alles, was diesem all-
gemeinen Menschenglücke im Wege stehe, nur äußerlich, daher
nur von der Revolution zu zerstören und hinwegzufegen sei,
um das ein seliges Erdendasein verbürgende reinmenschliche
Ideal in schlackenloser Klarheit vor uns erstehen und Wirk-
lichkeit werden zu lassen. Als aber der Dichter daran ging,
den Ursprung jenes ersten Unrechtes aufzudecken, »aus dem
eine ganze Welt des Unrechts entsteht die deshalb zu Grunde
geht, um uns eine Lehre zu geben, wie wir das Unrecht er-
kennen, seine Wurzel ausrotten, und eine rechtliche Welt an
ihre Stelle gründen sollen«, — da entdeckte er mit jenem
instinktiven Blicke für die Jävdyycrj^ der den echten Dramatiker
auszeichnet, daß diese Welt des Unrechts ein natürliches Pro-
dukt, ein notwendiger Ausfluß des Willens ist, der ihren in-
nersten Wesenskem ausmacht, daß die Welt erlösen nichts
andere^ heißt als sie Vernichten, daß das Dasein unabwendbar
leidvoll und tragisch sein muß, weil der Konflikt, welcher alles
Elend im Grunde verursacht und die Realisierung des Ideals
128 »Der Bing des Nibelungen«.
ewig unmöglich macht, nicht bloß relativ und partiell, sondern
universal und absolut, nicht historisch, sondern metaphysisch,
nicht phänomenal, sondern essentiell, daß mit einem Wort die
Signatur, welche die Welt der Gegenwart trägt, nicht bloß eine
zu überwindende »Phase der Weltentwickelung«, sondern »das
Wesen der Welt selbst« kennzeichnet. (Vergl. den oben S. 125
angeführten Brief an Röckel.)
Dieser Konflikt nun selbst kommt in der Brust des Wotan
zum Ausdruck in den zwei entgegengesetzten Trieben, in die
des Gottes Wollen gespalten ist: in seinem Macht- und sei-
nem Liebesbedürfnis. Indem er beidem nachjagt, der Liebe
wie der Weltherrschaft, von denen eben keine allein und von
der anderen getrennt ihm zu genügen, ihn ganz zu befriedigen
vermag, verwickelt er sich in jene widerspruchsvollen Situationen
und Leiden eines nach zwei verschiedenen Seiten nnt gleicher
Heftigkeit begehrenden Willens, aus denen ihm schließlich die
Erkenntnis aufdämmert, daß für ihn nur eine Erlösung mög-
lich und denkbar sei: das Ende. Dies führt er selbst herbei,
indem sein Wille sich bricht, eine vollständige Umkehrung und
Verneinung seines Wollens eintritt, eine totale Besignation, die
ihn das vorher mit banger Sorge gefürchtete Herannahen der
»Götterdämmerung«, des Endes der Götter und ihrer Herr-
schaft, als erwünschte Befreiung und Erlösung herbeisehnen läßt.
So sehr war diese fundamentale Umwälzung in Wagners
Grundanschauungen vom Wesen der Welt unbewußt und unter
einziger Leitung des künstlerischen Instinktes vor sich gegangen,
daß er sich selbst nach Abschluß der Nibelungendichtung in
ihrer definitiven Gestalt noch keineswegs begrifflich darüber
klar war, daß eine solche fundamentale Revolution in seinem
Denken stattgefunden habe, oder, mit anderen Worten, daß der
Inhalt seiner ausgeführten Dichtung mit dem Optimismus seiner
früheren theoretischen Schriften im Widerspruche sich befinde,
und noch am 2C. Januar 1854 versucht er in einem Briefe an
seinen Freund Röckel eine ausführhche Deutung und Erläute-
rung der Nibelungen-Dramen aus den Voraussetzungen seiner
Feuerbachianischen Philosophie, bei der trotz aller geistvollen,
ja tiefsinnigen Einzelheiten auffallend bleibt, daß gerade der
Hauptpunkt, auf den alles ankommt, gar nicht berührt wird:
Die Bekanntschaft mit Schopenhauer. J29
Wie nämlich die Welterlösung, welche die Götterdämmerung
herheif ührt, dem Geiste und der Anlage der ganzen Dichtung
nach gar nicht anders vorgestellt werden kann, denn als voll-
ständige Weltvernichtung, wie nach den Vorgängen der
Schlußkatastrophe keinerlei noch so ideale Form des Daseins
mehr gedenkhar ist, die als positive Seite der Verneinung der
zu Grunde gegangenen alten Welt anzusehen wäre. Was am
Schlüsse der G<)tterdämmerung ührig hleibt, ist in der That das
Nichts, nämlich die Negation aller und jeder Art realen Da-
seins. Aber gerade das Gegenteil davon hatte ja — nach
Wagners bewußter Absicht — seine Nibelungendichtung dar-
thun sollen, nämlich die Möglichkeit einer Kealisierung des
Paradieses auf Erden, einer definitiven und restlosen Befriedi-
gung der Ursehnsucht alles Menschenlebens innerhalb des ir-
dischen Daseins. Es war ihm gegangen wie demi Kolumbus,
der ausfuhr, den Seeweg nach Ostindien aufzufinden, und eine
neue Welt entdeckte, er landete an einer Küste, die er zwar
zunächst selbst noch für das beabsichtigte Ziel seiner Fahrt
ansah, von der er aber — darin dem Kolumbus unähnlich —
bald merkte, daß sie unter einem ganz anderen Himmels-
striche lag.
Diese Erkenntnis brachte ihm die Bekanntschaft mit der
Philosophie Arthur Schopenhauers, der er — von Herwegh
auf die innere Verwandtschaft seiner Nibelungendichtung mit
dem Geiste dieses Philosophen aufmerksam gemacht — im
Jahre 1854 zum erstenmale näher tritt. Er verschlingt die
Werke des Denkers, er ist hingerissen und vollständig über-
zeugt. Nicht etwas Neues glaubt er zu vernehmen, sondern
etwas seinem innersten Fühlen alt Vertrautes und Bekanntes.
Es ist nicht anders: dieser Philosoph giebt seinem denkenden
Bewußtsein die vollkommene Bestätigung dessen, was er sich
als instinktiv schaffender und intuitiv gestaltender Künstler
längst eingestanden hatte. Schopenhauer verschafft ihm die
Begriffe für seine Anschauungen, hilft ihm zum Bewußtsein seines
s. z. s. unbewußten Wissens, deutet ihm seine eigene Nibelungen-
dichtung.
Denn Wagner hatte es nun an sich selbst erfahren, was
er vom Künstler sagt: dieser selbst stehe »vor seinem Kunst-
Lonifl, Weltanscliannng B. Wagners. 9
130 A* Wagner und A. Schopenhauer.
werke, wenn ei^ wirklicli ein solches ist, wie vor einem Rätsel
. . ., über das er in dieselben Täuschungen verfallen kann, wie
der Andere«. (An Röckel, 23. August 1856.) Die Aufklärung
dieses Irrtums, in dem sein Denken über sein eigenes Werk
befangen war, verschaffte ihm die Schopenhauersche Philosophie.
Ganz einleuchtend wird das, worin diese Aufklärung bestand,
wenn wir den ursprünglichen Schluß der Götterdämmerung mit
seiner späteren, von Schopenhauer beeinflußten Fassung ver-
gleichen. Hier hatte der Meister anfänglich seine bewußte Ab-
sicht, die er mit der ganzen Dichtung des »Bing« zu verwirk-
lichen glaubte, s. z. s. der Denker dem Dichter zum Trotz, wie
er selbst sagt: »gewaltsam« zur Geltung gebracht, »und zwar
— zum einzigsten Male — in der tendenziösen SchluBphrase,
welche Brünnhilde an die Umstehenden richtet, und von der
Verwerflichkeit des Besitzes ab, auf die einzig beseligende Liebe
verweist«.
Warum diese Stelle ihm als unorganisches tendenziöses
Anhängsel schließlich zu einer marternden Pein wiffde, das
kann dem Kenner der Schopenhauerschen Philosophie nicht
lange verborgen bleiben: ist doch der Amor — und dieser kann
doch allein unter der »Liebe« Brünnhildens verstanden werden
— selbst ganz und gar der Unseligkeit des Willens zum Leben
verfallen, dessen am höchsten gesteigerter Ausdruck er ist, un-
trennbar gebunden an den Egoismus des Besitzen* und Gre-
nießenwoUens, also durchaus nicht ein dem Streben nach Gold
und Macht absolut entgegengesetztes reines Princip, sondern
mit diesem eiusdem generis^ derselbe Wille zum Leben, aller-
dings in seiner lockendsten und verführerischsten Gestalt, —
wie wir denn auch diese, angeblich allein beseligende Liebe —
Wagners eigene Worte — »im Verlaufe des Mythos eigentlich
doch als recht gründlich verheerend auftreten sahen«. »Es be-
durfte wahrlich,« bekennt er weiterhin, »einer großen Um-
wälzung meiner Vemunftvorstellung, wie sie schließlich durch
Schopenhauer bewirkt wurde, um mir den Grund meiner Pein
aufzudecken, und mir zu meinem Gedichte den wii*klich ent-
sprechenden Schlußstein zu liefern, der in einer aufrichtigen
Anerkennung des wahren tiefen Verhaltens der Dinge besteht,
ohne im mindesten dabei tendenziös zu sein.«
Die Sohlußworto der »Getterdämmemngc.
131
Was Wagner mit seinem >Bing« zu verkünden anlänglich
beabsichtigte) und Wohin ihn sein unbewußter dichterischer In-
stinkt; gleichsam gegen seinen Willen, trieb, erhellt mit solcher
Deutlidikeit aus der Konfrontierung der ersten Fassung der
Schlußworte der Brünnhilde mit dem späteren Resum^, in dem
der Dichter aus dem Geiste der Schopenhauerschen Philosophie
heraus die Idee seines Dramas zusammenfaßte, daß ich mir
nidit versagen kann, beide hier einander gegenüberzustellen:
L
Ihr, blühttiden Lebens
bleibend Girodiilecht:
was ich nun euch melde,
merket es wohl!
Saht ihr vom zündenden Brand
Siegfried nnd Brünnhild verzehrt;
saht ihr den Rheines Töchter
zur Tiefe entfuhren den Bing:
nach Norden dann
blickt durch die Nacht:
erglänzt dort am Himmel
ein heÜiges Glühen,
so wisset all' —
daß ihr Walhalls Ende gewahrt! -
Verging wie Hauch
der Götter Geschlecht,
laß' ohne "Walter
die Welt ich zurück:
meines heiligsten Wissens Hort
weis' ich der Welt nun zu. —
Nicht Gut, nicht Gold,
noch göttliche Pracht;
nicht Haus, nicht Hof,
noch herrischer Prunk;
nicht trüber Verträge
trügender Bund,
nicht heuchelnder Sitte
hartes Gesetz:
selig in Lust und Leid
läßt — die Liebe nur sein. —
n.
Fuhr' ich nun nicht mehr nach Wal-
halls Feste,
wißt ihr, wohin ich fahre?
Aus Wunschheim zieh' ich fort,
Wahnheim flieh ich auf immer;
des ewigen Werdens
ofine Thore
schließ ich hinter mir zu:
nach dem wünsch- und wahnlos
heiligsten Wahlland,
der Welt- Wanderung Ziel,
von Wiedergeburt erlöst,
zieht nun die Wissende hin.
Alles Ew'gen
sel'ges Ende,
wißt ihr, wie ich's gewann?
Trauernder Liebe
tiefstes Leiden
schloß die Augen mir auf:
enden sah ich die Welt.*
♦ Auch diese Worte blieben bei der musikalischen Ausfuhrung end-
lich weg. Wagner selbst begründet dies folgendermaßen: »Daß diese
9*
132 R« Wagner und A. Schopenhauer.
Hier sieht man deutlich die Umwäkung, welche vor sich
gegangen. In der ersten Passung noch keine Andeutung von
einem allgemeinen Weltuntergange (>ihr, blühenden Lebens
bleibend Geschlecht!«), nur die Götter mit ihrer auf Verträge,
Sitte und Gesetz (Willkür) gegründeten Herrschaft verschwin-
den, um einer neuen Weltordnung Platz zu machen, in welcher
der Mensch einzig von der natürlichen, reinmenschlichen Gewalt
der freien (unwillkürlichen), in der Gegenwart des sinnlichen
Gefühls ihr ganzes Sein erschöpfenden, daher auch ewig wechseln-
den (vergl. den Brief an Röckel vom 25. Januar 1854) Liebe
sich leiten lassen werden, um durch diese Anerkennung des
immer Wechselnden als des einzig »Ewigen« (weil allein »Wirk-
lichen«) (vergl. a. a. O.) diejeüige Beseligung »in Lust und
Leid« zu gewinnen, welcher sie unter der Herrschaft des die
Zukunft willkürlich vorausbestimmenden Gedankens nicht
hatten teilhaftig werden können. Wie anders die zweite Fas-
sung! Auch hier ist der Liebe ; eine hohe Bedeutung zuerkannt,
aber nicht als Zweck, sondern ß,ls Mittel. Die Liebe ist nicht
mehr das allein selig Machende, sondern gerade kraft der aus
ihrem Wesen mit Notwendigkieit entspringenden Leiden ent-
zündet sie in der menschlichen Seele die Erkenntnis von der
Nichtigkeit alles Seienden: »trauernder Liebe tiefstes Leiden
schloß die Augen mir auf.« Die Liebe ist allerdings eine Ge-
fühlsmacht, der welterlösende Eraft innewohnt, aber nicht ihr
als solcher, dem natürlich-sinnlichen Liebesgefühl, sondern nur
insofern, als dieses Gefühl die Wurzel ist, dem die Blüte der
Befreiung von allem Erdenleid entkeimt, wenn es, durch die
übermächtige Gewalt namenlosen Schmerzes hellsichtig geworden,
sich selbst verneint. In der verschiedenen Bedeutung, welche
der Liebe für die Erlösung der Welt nach den beiden aufein-
anderfolgenden »Fassungen« der Tdee des »Ring« zukommt,
ist also schon jenes Problem eingeschlossen, welches das dra-
matische Grundmotiv von »Tristan und Isolde« bildet: die Frage
nach dem Verhältnis zwischen Amor und Caritas, um es mit
Strophen, weil ihr Sinn in der Wirkung des musikalisch ertonenden Dra-
mas bereits mit höchster Bestimmtheit ausgesprochen wird, bei der leben-
digen Ausführung hinwegzufallen hatten, durfte schließlich dem Musiker
nicht entgehen.«
Der Schopenhauersclie Einfluß im Tristan. J33
einem aus Schopenliauer allgemein bekannten Terminus vorläufig
ganz kurz und präcise zu bezeichnen.
»Tristan und Isolde«, »das eigentliche opm metaphysicum
aller Kunst«, wie es Nietzsche einmal nennt (Sichard Wagner
in Bayreuth, S. 62), ist dasjenige der Wagnerschen Kimstwerke,
in welchem nach allgemeiner Ansicht der Einfluß der Schopen-
hauerschen Philosophie auf das Fühlen und Denken des Künst-
lers am reinsten und imgetrübtesten zum Ausdruck gelangt.
Dies kann natürlich nicht in dem Sinne verstanden werden, als
ob Wagner sich eines schönen Tages hingesetzt habe, um »Die
Welt als Wille und Vorstellung« in Musik zu setzen, sondern
einzig so, wie überhaupt der Einfluß eines philosophischen
Systems auf einen genialen, im tiefsten Grunde durchaus mit
naiver Ursprünglichkeit und ünwillkür schaffenden Künstler zu
denken ist, nämlich als in seinem innersten Wesen künstle-
rischer, d. h. anschaulicher und nicht begrifflicher, Niederschlag
des seelischen Erlebnisses, welches die Lektüre Schopen-
hauers ohne Zweifel für Wagner bedeutete. Nun ist eine weit-
gehende Übereinstimmung der Weltanschauung des »Tristan«
mit der Schopenhauerschen, imd zwar eine größere als in allen
anderen Werken des Meisters, schon deshalb zu präsumieren,
weil dieses Drama, in dem Jahre, in welchem Wagner Schopen-
hauem kennen lernte (1854), concipiert, das einzige seiner spä-
teren Werke ist, welches in einem Zuge ausgeführt und voll-
endet wurde und infolgedessen den frischen und imgetrübten
Eindruck des Philosophen in seiner ursprünglichen Beinheit
zum Ausdruck bringen konnte, noch ehe eine Reaktion der dem
Schopenhauerschen Pessimismus heterogenen Seite von Wagners
geistiger Natur hätte eintreten können. Dann, in der lücken-
los geschlossenen Einheit dieses aus einem Gusse nicht nur,
sondern, ich möchte sagen, in einem Atem niedergeschriebenen
Werkes unterscheidet sich »Tristan« wesentlich vom »Sing«, der
die Spuren seiner allmählichen, über eine lange Beihe von
Jahren sich erstreckenden Ausführung — ähnlich dem Groethe-
schen »Faust« — deuthch an sich trägt.
Während so für die Dichtung des Bing eine gewisse In-
kongruenz zwischen ursprünglicher Absicht und schließlicher
Ausführung, ein Widerspruch zwischen dem, was der Dichter mit
J34 »Tristan und Isolde«.
seinem Werke in tendenziöser Weise eigentlich hatte »beweisen«
wollen, und dem, was sein Grenius ihn, s. z. s. gegen seinen
Willen, zu zeigen zwang, charakteristisch ist, herrscht im Tristan
eine durchgängige und vollständige Übereinstimmung zwischen
Bewußtsein und ünbewußtsein, zwischen ausgesprochener Ab-
sicht und instinktivem Müssen, wie sie für Wagner eben
allererst möglich wurde, nachdem ihm das »Himmelsgeechenk«
der Schopenhauerschen Philosophie zu Teil geworden war.
Ich kann deshalb auch nicht mit Chamberlain tibereinstim-
men, wenn er eine grundsätzliche und tiefe Abweichung der
im »Tristan« zu künstlerischem Ausdruck gelangenden Welt-
anschauung von der des großen Frankfurters annimmt. Penn
selbst, wenn es wahr wäre, was dieser glänzende Autor auf
S. 145 seines Wagner- Buches behauptet, Tristan und Isolde
sei »die höchste Verherrlichung, die Apotheose des Willens zum
Leben«, so involvierte das zwar einen Widerspruch mit der
Ethik Schopenhauers, nicht aber mit seiner Philosophie schlecht-
hin und überhaupt, d. h. seiner Anschauung vom Wesen d^
Welt, wie es ist, abgesehen von der Frage, wie es zu ändern
wäre. Aber gerade diese Ansicht von »Tristan« als einer »Apo-
theose der Bejahung des Willens zum Leben« ist so grundver-
kehrt, daß Chamberlain selbst sie nur so durchzuführen vermag,
daß er den Fortschritt der inneren Handlung in der Seele
Tristans, den der dritte Akt gegenüber dem zweiten repräsen-
tiert, einfach ignoriert. Der sogenannte »Liebesfluch«, in wel-
chem Tristan sich selbst, seinen Willen und sein eigenes Sehnen,
als den metaphysischen Grund und Träger alles Welten-Elendes
und aller Erden-Not erkennt, in welchem der Held sich zur
höchsten und letzten Erkenntnis emporschwingt, diese Stelle, die
den Schlüssel zum Verständnis des ganzen Dramas enthält, und
die der Meister sdbst einmal »die Spitze der Pyramide« nennt,
»bis zu welcher die tragische Tendenz dieses Tristan sich auftürmt«
(Vin, 180), wird von Chamberlain auf den 16 dem »Tristan«
gewidmeten Seiten seines Buches auch nicht einmal erwähnti
Wenn Tristan und Isolde, wie Chamberlain meint, ganz in
der Bejahung des Willens zum Leben befangen bleiben, dann
ist der tragische Schluß des Wagnerschen Dramas im höheren
Sinne gerade so zufälhg, wie der von Shakespeares ^Bomeo ond
Tristan keine Apotheose der Willensbejahung. 135
JtdieU^ welcUe» Werk Gliaiuberlaiu zur Yergleicliuiig heranzieht.
Denn dann brauchte der edle König, der von Brangäne »des
Trankes Greheimnis« erfahren und nun, seUg, den Freund frei
von Schuld zu finden, herbeieilt, Isolden zu entsagen, sie »zu-
zuführen dem Freund«, — ich sage, er brauchte nur ein paar
Minuten früher zu kommen, und Tristan wie Isolde würden
zweifellos mit beiden Händen das glückliche Arrangement
acoeptieren. Aber beide wollen eben nicht ihrer Liebe leben
— wenigstens im dritten Akt nicht mehr — , sondern sterben.
Wenn das nun Bejahung des Willens zum Leben sein soll, so
mutt ich gestehen, daU sie der Schopenhauerschen Verneinung
des Lebenswillens so ähnlich sieht, wie ein Ei dem anderen.
Noch einmal bäumt sich freilich in Tristan, als er siech auf
seinem Schmerzenslager liegt, der Wille zum Leben mächtig
auf, außer stände zu leben wie zu sterben leidet er die furcht-
barsten Qualen der Sehnsucht, die sich ihm in dem Namen
Isolde zusammenfalit. Aber immer tiefer dringt mm sein Bück
in den Grund seines Leidens und immer verklärter und dem
Leben abgewendeter wird dar Inhalt seiner Sehnsucht, bis ihm
dann schlieUUch »seine« Isolde gar nicht mehr das konkrete
irdische Weib ist, das er leibhaftig wiedersehen will, sondern
ein göttliches Phantasiegebilde, das Symbol des ersehnten Todes,
der Erlösung selbst. Die Isolde, welche nun wirklich auf der
Bühne erscheint, die kann ihm ja gar nicht das bringen, was
er einzig noch ersehnt, sie könnte ihn nur wieder in das ver-
fluchte Leben mit all seiner ungestillten Liebesqual zurückführen.
Darum, weil er dem Leben und der nach dem sinnlichen Be-
sitze der Geliebten sich sehnenden Liebe wirklich und endgültig
abgesagt hat, muß er auch Isolden um das »einzige ewig-kurze
letzte Welten-Glück« des Wiedersehens betrügen und gerade
mit dem Aufreißen der Wunde, das ich durchaus nicht als eine
sinnlose That des Fieberwahnsinns auffasse, vollzieht er den
Akt der Verneinung des Willens zum Leben, schließt er defini-
tiv und zum letztenmale das Thor des Lebens hinter sich zu,
— und an der Leiche ihres Helden verklärt sich dann auch die
Sehnsucht Isoldens zum Wollen nicht mehr des Liebes-lebens,
sondern des Liebes-todes. Daß dieser Liebestod nun in den
Worten der Dichtung pantheistisch als ein Aufgaben in des
136 »Tristan und Isolde«.
»Weltatems wehendem All« nicht nihilistisch als ein Erlösch^ot
alles Lebens im Nirwana gefaßt wird, kann doch höchstens —
wie auch das letzte Auftauchen des »Sehnsuchtsmotives« im
Orchester, Ell. Ausz. S. 260, Z. 3—4 — so gedeutet werden,
daß Wagner damit habe anerkennen wollen, wie eine absolute
und restlose Verneinung des Willens zum Leben trotz alles
Strebens danach eben faktisch unmöglich ist, wie die Erlösung
immer nur für das einzelne Individuum, nicht aber für das
Ganze, also in gewissem Sinne nur für die Existentia, nicht aber
auch für die Essentia des Willens zum Leben zu erreichen ist,
— ein Zugeständnis an den absoluten Pessimismus, das aller-
dings wieder einmal beweisen würde, wie ungleich tiefer der Blick
des genialen Künstlers in die Tiefen des Seins hinabdringt,
als die Analyse des scharfsinnigsten Philosophen; aber doch
nicht gut eine »Verherrlichung und Apotheose der Bejahung
des Willens zum Leben« genannt werden kann.*
Doch dieses Hinausgehen über Schopenhauer möge dahin»
gestellt bleiben. Dagegen ist ein anderer Punkt in diesem
Zusammenhange zu berühren, nämlich die Modifikation, welche
die Auffassung vom Wesen des Amor bei Wagner der Schopen-
hauerschen Metaphysik der GeschlechtsHebe gegenüber enthält.
Wagner hat sich darüber selbst in einem wohl aus dem Jahre
1857 stammenden unvollendeten und nicht abgeschickten Brief-
fragmente an Schopenhauer ausgesprochen. So kurz dasselbe
ist, bezeichnet es doch deutUch den Punkt, auf den es dem
Meister ankam. Es lautet folgendermaßen:
»Endlich hat jedes Jahr auch einen oder den anderen Fall
von gemeinschaftlichem Selbstmord eines liebenden, aber durch
äußere Umstände verhinderten Paares aufzuweisen; wobei mir
inzwischen , unerklärlich bleibt, wie die, welche beiderseitiger
Liebe gewiß, im Genüsse dieser die höchste Seligkeit zu finden
erwarten, nicht lieber durch die äußersten Schritte sich allen
Verhältnissen entziehen und jedes Ungemach erdulden, als daß
sie mit dem Leben ein Glück aufgeben, über welches hinaus
ihnen kein größeres denkbar ist.« (Schopenhauer, Werke,
Eeclam II, 625.)
*.Yergl. meinen »Widerspruch in der Musik« S. 96.
Das Brief&agment an Schopenhauer. 137
»Es reizt mich,« fährt Wagner nach Anführung dieser
Stelle fort, »anzunehmen, daß Sie hiervon wirklich keine Er-
klärung gefunden hätten, weil es mir schmeichelt, an einen
solchen Punkt anzuknüpfen, um Ihnen eine Anschauung mit-
zuteilen, in der sich mir selbst in der Anlage der Geschlechts-
Uebe ein Heilsweg zur Selbsterkenntnis und Selbstvemeinung des
Willens, und zwar nicht etwa nur des individuellen Willens dar-
stellt. Sie einzig geben mir das Material der Begriffe, durch die
meine Anschauung auf philosophischem Wege mitteilbar wird,
und versuche ich mich darüber deutUch zu machen, so geschieht
es nur im Vertrauen auf das durch Sie Erlernte. Sehen Sie es
auch meiner Ungeübtheit, vielleicht auch Unbegabtheit zur Dia-
lektik nadi, wenn es nur auf Umwegen, und namentlich erst durch
Darstellung der vollkommensten und höchsten Erscheinung der
von mir gemeinten Willensentscheidung, zur Erklärung des von
Ihnen angezogenen Falles gelangt, den ich eben nur als einen
unvollkommenen und niederen Grad Jener verstehen kann.«
{Bayreuther Blätter, 1886, S. 101.)
Daß sich dieser Versuch, dem heikein Probleme, welches
Schopenhauer zuerst philosophisch anzufassen den nicht hoch
genug zu preisenden Mut gehabt hat, auf den Grund zu kom-
men, bei Wagner im Anschluß an die Dichtung des > Tristan«
entwickelt haben muß, steht außer allem Zweifel. Ja, beim
näheren Zusehen kann uns nicht entgehen, daß der in dem
Brieffragmente angedeutete Gedanke mit der dichterischen
Grundidee der erschütterndsten Liebestragödie der gesamten
Weltlitteratur geradezu identisch ist. Im Tristan erleben wir,
wie die zunächst auf sinnlichen Besitz gerichtete Liebessehn-
sucht sich immer mehr läutert und verklärt, bis sie nach erfolgter
Selbsterkenntnis in ihr Gegenteil umschlägt, sich selbst verneint
und aufhebt. Eine solche Verklärung der Liebessehnsucht,
meint nun Wagner in dem Fragmente, ist nur dann denkbar,
wenn schon »in der Anlage der GeschlechtsHebe« ein Element
enthalten ist, das sie selbst unter Umständen als »einen Heils-
weg zur Selbsterkenntnis und Selbstverneinung des Willens«
erscheinen läßt; d.h. mit anderen Worten: schon im reinen
Amor muß ein keimhaftes Moment der WiUensvemeinung vor-
handen sein, welches zunächst als Sehnsucht nach Aufgeben
)3$ »Tristan und Isolde«.
und Aufgehen der eigenen Individualität in einer fremden, des
Ich in dem geHebten Du, wie sie von Dichtem aller Zeiten —
am reflektiertesten von Rückert — so oft besungen ward, ganz
unmittelbar neben der Bejahung des Willens im sinnlichen
Liebesgenuß zur Geltung kommt. Jene geistige und mystische
Seite des Eros, die seit den Tagen des Platonischen Symposion
von tiefer dringenden Denkern immer wieder betont wurde,
ist durchaus nicht bloß eingebildetes Produkt einer hyperro-
mantischen Yerstiegenheit und sentimentalen Unnatur, sie ist
faktisch vorhanden, — und wie die Geschlechtsliebe überhaupt
den Charakter des Lebens als seine reifste und vollste Blüte
am reinsten und deutlichsten ausprägt, s. z. s. als Paradigma
des Willens zum Leben, so ist auch die widerspruchsvolle
(»realdialektische«) Natur des Lebenswillens, derzufolge er seinen
eigenen Inhalt gleichzeitig sowohl bejaht als auch verneint,
Affirmation und Negation des Seins in einem ist, aus dem Wesen
der sexuellen Liebe am hellsten einleuchtend. Sind nun im
Amor, da wo er ganz naiv und ungebrochen auftritt, seine beiden
Seiten, von denen die eine den Weg zur »Hölle«, die andere
den zum > Himmel« weist, gleichmäßig angelegt, so ergiebt sich
daraus die Möglichkeit für ihn, sich nach zwei ganz verschie-
denen Seiten hin zu entwickeln. Wie jenes ideale und den
individuellen Willen verneinende Moment ganz zurücktreten und
die nackte Ich-sucbt übrig bleiben kann — man erinnere sich
an verbrecherische Handlungen, wie stuprum violentum eines
wahnsinnig Verliebten — , so ist es umgekehrt auch möglich,
daß das in der Geschlechtsliebe potentiell präformierte Ele-
ment der Willensvemeinung die Oberhand gewinnen und der
Knospe des Amor die Blüte der Caritas entkeimen zu lassen
vermag.
Es ist interessant, daß fast zur selben Zeit, als Wagner
damit umging, sich Schopenhauem gegenüber zur Sache der
Metaphysik der Geschlechtsliebe brieflich zu äußern, Julius
Bahnsen, der geniale Metaphysiker der Schopenhauerschen
Schule, wirklich an den Frankfurter Einsiedler genau in dem-
selben Sinne schrieb : >Der amor kann sich zur Caritas verklären
und widerstreitet schon darum nicht unbedingt den Motiven
Die widerspruchsvofle Natur des Amor. 139
der Selbstvemeinung, * — und den gleichen Gedanken, nur
etwas vorsichtiger ausgedrückt, finden wir bei Schopenhauer selbst
in der Stelle des Nachlasses (Reclam, IV, 3o2): T^üaritus und
amor haben ganz in der Tiefe eine gemeinschaftliche Wurzel,«
ein Ausspruch, den man dem Wagnerschen > Tristan« geradezu
als Motto vorsetzen könnte. Denn unter der »vollkommensten
und höchsten Erscheinung« der von ihm gemeinten Willens-
entsdbeidung, die Wagner zur Erklärung des gemeinen Selbst-
mordes aus unbefriedigter Liebessehnsucht (in dem Brief frag-
mente) verwenden will, ist nichts anderes zu verstehen, als das
Tristan-rProblem selbst
Soviel möge genügen um zu zeigen, daß ohne Heranziehung
des Einflusses der Schopenhauerschen Philosophie auf Wagner
eine tiefere Erfassung des »Tristan« unmögUch ist, wie denn
auch fraglos ohne diesen EinfluB der Tristan, den wir heute
besitzen, gar nicht entstanden wäre, — d. h. nur der Schopen-
hauerianer Wagner konnte der eigenen Lebenserfahrung, welche
ihm die nächste und persönliche Anregung zu dieser leidenschaft-
durchglühten Liebestragödie gab, gerade diese reife künstlerische
Ernte abgewinnen, ja es kann zweifelhaft erscheinen, ob er jenen
Stprm, der ihn in jenen Tagen selbst dem »Liebestode« nahe-
brachte, überhaupt hätte überstehen können, wenn ihm Schopen-
hauer nicht als Paraklet zur Seite gestanden hätte.
Schließlich darf man ja auch das nicht vergessen, wenn es
auch verkehrt wäre, zuviel Aufhebens davon zu machen: die
äußeren Lebensumstände, in denen sich Wagner damals befand,
als er Sehopenhauem zuerst kennen lernte, waren überaus dazu
angethan, gerade einer pessimistischen Weltanschauung den
Sieg über sein Fühlen und Denken ungemein zu erleichtem. Die
Hoffnung auf die Kevolution war der letzte dünne Strohhalm,
an den er sich, wie ein Ertrinkender, in seiner Verzweiflung
{angeklammert hatte ; selbst noch nach der Dresdener Katastrophe
hatte er erwartet, daß wenigstens in Frankreich über kurz oder
lang die Dinge sich zum Guten, in seinem Sinne, wenden
n^üBten. So knüpfte er z« B. ganz specielle, ja materielle Hoff-
nungen an den bestimmt von ihm erwarteten Eintritt dieses
* Juliu« Bahnsen, Beiträge zur Chapakterologie, II, 2 9.
140 ^* ^^P^^^ und A. Schopenhauer.
Ereignisses, wenn er seinem Freunde Ulilig u. a. einmal schreibt:
»Geht mir das Geld zu früh aus, so hoffe ich mit Sicherheit auf
einen anderen Beistand, das ist die sociale Bepublik, die früher
oder später in Frankreich unvermeidlich und unausbleiblich ist:
tritt sie ein, nun dann stehe ich für sie fertig da und habe
ihr in der Kunst tüchtig vorgearbeitet« (Briefe an ühlig etc.
S. 20).
Je weiter nun die Fluten der 49er Bewegimg zurückebbten
und die politische Strömung auch in Frankreich ruhig wieder
in ihr altes Bett zurückkehrte, desto trostloser mußte die Situa-
tion des verbannten Künstlers werden, der, seiner ganzen Natur
nach darauf angelegt, nach außen zu wirken, und, weit davon
entfernt, mit der stillen Freude des Schaffens selbst sich be-
gnügen zu können, erst in der Hingabe und Mitteilung seines
Wirkens an die Allgemeinheit sich befriedigt fühlen durfte.
Die letzte Hoffnung, welche er in dieser Beziehung gehegt hatte,
sah er sich nun entschwinden. Die Existenzsorgen, die nach-
gerade chronisch werdende Geldnot, das war noch das Aller-
wenigste. Aber dazusitzen, eine Partitur nach der anderen zu
vollenden, ohne irgend eine MögUchkeit, sie lebendig aufgeführt
und dargestellt sehen und hören zu können, mit einem Kopfe
voll neuer fruchtbarer Ideen, die geeignet waren, der Kunst
eine gänzUch veränderte, edle und ihrer würdige Stellung im
modernen Leben zu geben, dazu verurteilt zu sein, auch nicht
einmal Versuche zur B»eaUsierung seiner Ideale mehr unter-
nehmen zu können, das mußte zur namenlosen Pein werden für
einen Mann, der die Bühe Zeit seines Lebens nur als sehn-
süchtigen Wunsch, nicht aber jemals auch als thatsächlichen
Besitz gekannt hatte.
Freilich alle diese und noch bitterere Erfahrungen und
Erlebnisse hätten den Meister nicht zum Pessimisten machen
können, wenn er es nicht in einem gewissen Sinne von Anfang an
gewesen wäre, d. h. wenn es nicht seine Naturanlage schon mit
sich gebracht hätte, Welt und Leben ernst zu nehmen, durch
keine wahnvolle Illusion sich über das wahre Wesen der Dinge
täuschen zu lassen. Das erhellt ja schon daraus, daß Wagner
Tragöde im höchsten Sinne des Wortes von jeher gewesen
und auch immer gebüeben ist — trotz der »Meistersinger«, welche
Pessimismus des Künstlers und Optimismus des Denkers. 141
hiergegen nicht nur deshalb nicht angeführt werden können,
weil bereits der Platonische Sokrates sagt: rot avrov ävÖQog
elvai ytcofX(i)dlav xal tqaytfdlav iTtiaraad-ai noieiv [eiusdem
viri esse trctgoediam comoediamqne componere^ Convtv. in fine\
sondern vor allem deshalb, weil gerade das Hans Sachs-Drama
mit seiner dichterischen Grundidee auf einer durchaus pessi-
mistischen Weltanschauung ruht.
Wenn aber Wagner von der ihm durch Schopenhauer zur
unumstößlichen Gewißheit eines Axioms erhobenen Überzeugung
der durchaus leidensvollen und tragischen Beschaffenheit der
Welt jetzt auf seine früheren künstlerischen Schöpfungen zu-
rückblickte, so mußte es ihm auffallen, wie sehr der in ihnen
zum Ausdruck gelangende geistige Gehalt mit dem Pessimismus
seines jetzigen philosophischen Standpunktes, wie wenig dagegen
mit dem Optimismus seiner durch Feuerbach beeinflußten frühe-
ren Theorieen übereinstimme. >Die Periode,« schreibt er am
23. August 1856 an Röckel, »seit der ich aus meiner inneren
Anschauung schuf, begann mit dem Fliegenden Holländer;
Tannhäuser und Lohengrin folgten, und wenn in ihnen ein
poetischer Grundzug ausgedrückt ist, so ist es die hohe Tragik
der Entsagung, der wohlmotivierten, endlich notwendig eintreten-
den, einzig erlösenden Verneinung des Willens. Dieser tiefe
Zug ist es, der meiner Dichtung, meiner Musik die Weihe gab,
ohne die alles wirklich Ergreifende, was sie ausübte, ihnen nicht
zu eigen werden konnte. Nun ist nichts auffallender, als daß
ich mit allen meinen der Spekulation und der Bewältigung des
Lebensverständnisses zugewandten Begriffen der dort zu Grunde
liegenden Anschauung direkt entgegenarbeitete. Wo ich als
Künstler mit so zwingender Sicherheit anschaute, daß alle
meine Gestaltungen dadurch bestimmt wurden, suchte ich als
Philosoph mir eine durchaus entgegengesetzte Erklärung der
Welt zu verschaffen, die, mit höchster Gewaltsamkeit aufrecht
erhalten, von meiner unwillkürlichen, rein objektiven, künstle-
rischen Anschauung, zu meiner eigenen Verwunderung, immer
vollständig wieder über den Haufen geworfen wurde. « Je mehr
ihm dieser Widerspruch zwischen dem Geiste seines künstle-
rischen Schaffens und den Resultaten seines spekulativen
Denkens, wie es uns in den großen theoretischen Schriften der
142 R« Wagner und A. Schopenbauto.
Jahre 1849/51 entgegentritt, klar wurde, desto mehr verloren
diese für ihn an Wert, während gerade seine künstlerischen
Schöpfungen ihm jetzt in einem ganz neuen Lichte erschienen,
nämlich als eine unbewußte, rein intuitive Anticipatiön der
Wahrheit des Pessimismus, wie sie seinem bewußten Denken
erst durch Schopenhauer aufging. Sein früheres Philosophieren
erschien ihm nun geradezu als ein Irrtum, eine Täuschung, in
die er durch fremde Einflüsse, in erster Linie durch die un-
bedachte und unkritische Bezeption Feuerbachscher Philoso^
pheme geraten sei, als ein Widerspruch mit dem innersten
Wesen seiner geistigen Persönlichkeit, die sich einzig in seinen
rein künstlerischen Oiffenbarungen bisher klar und tmgetfübt
geäußert hätte.
Mögen wir nun diesen »philosophischen Optimismus«
Wagners, der ihn im Gegensatz zu seinem «künstlerischen Pegh
simismus« auf eine restlose Verwirklichung des Menschheits-
ideals durch bloße Hinwegräumung der ihm im Wege stehenden
äußerlichen Hindemisse hoffen Heß, immerhin mit ihm selbst
als Irrtum und Verirrung betrachten, — dies eine dürfen wit
nicht vergessen, wenn wir das hier vorliegende charakterologische
Problem wirklich erfassen wollen : dieser Irrtum war keinedwegB
ein rein zufälliger und bloß äußerlicher, eine einfache Täu-
schung des Intellektes, die dem im philosophischen Denken
unbewanderten, einzig in der Eegion der künstlerischen An-
schauung sich völlig zu Hause fühlenden Dichter etwa nur
infolge eben dieser seiner »Unbegabtheit für die Dialektik«
passiert wäre. Vielmehr müssen wir diese »Verirrung«, wenn
wir den Widerspruch zwischen dem Schauen des Künstlers
und dem Denken des Philosophen überhaupt so nennen wollen,
als etwas durchaus Notwendiges, mit natürlicher Konsequenz
aus der geistigen Individualität Wagners Entspringendes aö*
sehen. Um diese Notwendigkeit zu begreifen, brauchen wir
uns nur an das zu erinnern, was im 3. Kapitel über den eigen-
tümlichen Charakter des Meisters gesagt worden ist, dessen
tiefstes Wesen wir darin zu erkennen glaubten, daß seine
Psyche, dem Diesseits wie dem Jenseits, dem Keal^i wie
dem Idealen, dem Sinnlichen wie dem Geistigen, gleicherweise
und mit gleich starker Energie zugekehrt, weder an der unvoll-
Der Weg vom Optimismus zum Pessimismus. 143
kommenen Wirklichkeit der Welt, wie sie ist, noch an der rei-
nen Gedanklichkeit eines bloß innerlich geschauten und geahnten
Ideals ihr Genüge finden konnte, vielmehr durch diese ihre
Doppelnatur gezwungen wurde, erst bei dem restlos Wirklich-
keit gewordenen Ideale, bei einer mit dem Ziele der idealen
Sehnsucht vollkommen in XJbereinstimmung befindlichen Realität
sich beruhigen zu können, und deshalb in Ausübung eines prak-
tischen Idealismus die Versöhnung von Ideal und Wirk-
lichkeit, die Idealisierung des Realen und die Realisierung des
Idealen sich zur ersten und obersten Lebensaufgabe machen
mußte. Als nun Wagnern zum erstenmale der absolute und durch
keinerlei reformatorisches Wirken aufzuhebende Widerspruch des
künstlerischen, politischen und socialen Lebens der Gegenwart
mit dem in seiner Seele wohnenden Ideale mit bewußter IQar-
heit aufging, was war da natürlicher, als daß der daseinsfrohe
und energische Wille des Künstlers seinen Intellekt zunächst
übersehen ließ, wie jener Konflikt ein ewiger und notwendiger,
aus der Natur des Welt- und Menschenwesens selbst fließender
ist, daß er sich sagte: In mir lebt die ideale Sehnsucht als
eine reale Thatsache des Gemüts, — warum sollte dies nicht
auch in den Seelen aller anderen Menschen, die meine Liebe
als meinesgleichen umfaßt, ebenso der Fall sein? Also sind
Ideal und Wirklichkeit keine absoluten Gegensätze, sondern
beide sind im Grunde und in ihrem innersten Wesen identisch,
das Ideal meiner künstlerischen und menschlichen Sehnsucht
ist nichts anderes als der reine und ungetrübte Ausdruck des
in mir lebendigen natürlichen Wesens des Menschen, des Rein-
menschlichen, und daß überhaupt die Gegenwart unter einem
Konflikte zwischen Ideal und Wirklichkeit leidet, rührt einzig
daher, daß der Mensch, in einem Irrtum über sein wahres und
eigentliches Wesen befangen, einem naturwidrigen und deshalb
unrealisierbaren Ideale nachgestrebt und damit die Erreichung
des in seinem Wesen selbst angelegten, von der Natur ihm
bestimmten Ideals verfehlt hat. Eine einfache und logisch
unausweichbare Konsequenz dieser Prämissen war es nun, daß
einerseits die Detailausmalung des reinmenschlichen Ideals in
jener Periode, wo Wagner an eine Verwirklichung desselben
auf dem Wege der natürlichen und notwendigen Entwickelung
144 R- Wagner und A. Schopenhauer.
glaubte, durchaus in naturalistischem und sensualistischem Sinne
ausfiel, — wobei allerdings nicht außer acht gelassen werden
darf, daß eine im eminentesten Sinne des Wortes so ungemein
wahrhaftige Natur, wie die Wagners, unmöglich auf dem Wege
logischer Folgerungen allein zur Aufstellung eines die freie
Liebe als höchste Lebensbethätigung des Menschen proklamie-
renden und das durch keinerlei »Sollen« gehemmte anarchische
Ausleben aller dem Individuum von der Natur eingepflanzten
sinnlichen wie geistigen Triebe als einzige Forderung reinmensch-
licher Sittlichkeit postulierenden Ideals hätte gelangen können,
wenn nicht eine glühende, leidenschaftliche Sinnlichkeit von
ungebändigter Kraft einen integrierenden Bestandteil seiner
eigenen Individualität gebildet hätte, — wie andererseits aus
eben jenen Voraussetzungen mit der gleichen Notwendigkeit
folgt, daß Wagner, solange er von der wesentlichen Identität
seines Ideals mit dem natürlichen Wesen der Menschheit über-
zeugt war, unmögUch die Ansicht vertreten konnte, daß ideales
Streben etwas sei, was einzelne Individuen vor ihren wesentlich
anders und niedriger gearteten Mitmenschen auszeichne, wodurch
sie sich über die triviale und banausische Masse der gewöhn-
liehen Menschheit zu etwas übermenschlichem erhüben, daß er
vielmehr die Not des Genies als eine allgemeine Not, als die
Not des Volkes, der ganzen Menschheit ansehen, des Glaubens
sein mußte, daß im Künstler nur jene Sehnsucht zum Be-
wußtsein gelange, welche unbewußt in der Seele jedes Men-
schen wohne, ein Glaube, von dem seine tiefe und unerschüt-
terliche allgemeine Menschenliebe, sein jedes Menschenleid als
eigenen persönlichen Schmerz empfindendes, mitleidsvolles Herz
sich erst nach bittersten Erfahrungen und herbsten Enttäu-
schungen zu emancipieren vermochte.
Eine Natur, wie die Wagners, konnte nur leben, solange
sie hoffte, seinem innersten Wesen nach außer stände, sich
bei dem Laufe der Welt, wie er nun einmal ist, resignierend
zu beruhigen, noch auch an der reinen Innerhchkeit eines un-
verwirklichten Ideals sein Genüge zu finden, war die Hoffnung
auf die Realisierbarkeit des Ideals, der Glaube an die Möglich-
keit einer Versöhnung von Ideal und WirkUchkeit für ihn con-
ditio sine qua non seiner Existenz, die eben in dem Streben
Der absolute PesflimisnuiB als DurchgimgBBtadium. 145
nach Verwirklicfaung seines küjistlensehen und tueofieMiehen;
Ideals ihren einzigen Inhalt hatte und deshalb in nichts hatte
aeoiallen müssen, wenn ihm die Ausübt auf die Möglichkeit
eines solchen Streben^ definitiv und endgültig geraubt worden
wäre. Darum konnte auch Wagner unmöglich bei d^n abso-
luten Pessimismus Schopenhauers stehen bleiben, der für die
Idealisierung des Ideals einzig die negative Formel der »Ver-
neinung des Willens zum Leben«, der vollständigen Aufhebung
des metaphysischen Trägers der Welt, de» Aufgehens alle»
Wollens im Nirwana, im Nicht-sein gefunden hatte. Wie wir
im Folgenden sehen werden, wird die geistige Entwickelung des
Meisters in der Periode von seinem Bekanntwerden mit der Lehre
Schopenhauers bis zu seinem Tode geradezu durch ein allmähli-
ches Zurücklenken zu einem bedingten Optimismus, zu einem
Kompromisse zwischen Pessimismus und Optimismus, zu einer
Yearsöhnung seines Kopfes, der inmier pessimistisch blieb, mit
sanem Herzen, das von Glaube und Hoffnung nicht lassen
konnte, charakterisiert, wie die in der Ausführung der Dichtung
des >Bing« kulminierende Entwickelung von Feuerbach zu
Schopenhauer als Übergang von einem prinzipiellen Optimismus,,
der einzig in seinem Urteile über die Beschaffenheit der Welt
der Gegenwart sich die pessimistische Wahrheit bereits einge-
standen hatte, zu einem unbedingten und universalen Pessimis-
mus sich kennzeichnet. Denn das kann nicht bestritten werden,
daß es einen Moment gab, wo Wagner auch in Beziehung auf
die einzig mögliche Art der Erlösung aus der Not des Lebens
sich mit Schopenhauer durchaus in Übereinstimmung befand.
Aber so verkehrt es ist, das, was Wagner bei Schopenhauer
anzog, allein oder auch nur vorzugsweise in jenen mehr neben-
sächlichen, zum Teil sogar bloß episodischen Elementen des
Schopenhauerschen Denkens zu suchen, wie wir sie z. B. in
dem Betonen der Priorität und Superiorität des anschaulichen
und konkreten Brkennens vor dem begrifflichen und abstrakten
Denken, in der Sonderstellung der Musik als einer von den
übrigen Künsten specifisch verschiedenen Kunst u. a. m. bei dem
großen Philosophen finden, — und so entschieden betont wer-
den muß, daß gerade die pessimistische Grundansicht, die
Überzeugung von der Notwendigkeit des Leidens als eines un-
Louis, Weltanschauang R. Wagners. 10
f46 ^ Wagner und A. Schopenhauer.
mittelbaren Ausflusses des Wesens der Welt und von der Un-
lösbarkeit des widerspruchsvollen Konfliktes zwischen Ideal und
Wirklichkeit innerhalb und auf dem Boden des realen Seins es
war, was den Meister mit der Macht einer höheren Offenbarung
ergriff tmd zur widerstandslosen Gefolgschaft in den Ideenkreis
Schopenhauers bannte, so muß doch auch wieder gesagt werden,
daß die kritik- und vorbehaltslose Acceptierung des Schopen-
hauerschen Pessimismus nur einen Durchgangspunkt, einen rasch
vorübergehenden Moment in der Geschichte des Wagnerschen
Geistes bildet, daß er zu dieser Zeit, wo nur eine Hoffnung
noch in ihm lebte, die auf einen baldigen Tod (vergl. Brief-
wechsel mit Liszt IT, 46), geradeso, nur nach einer anderen
Richtung hin, seinem eigenen innersten Wesen infolge einer
äußeren Beeinflussung entfremdet war, wie damals, als er sich
den Ideen Feuerbachs gänzlich gefangen gegeben hatte. War
es zu jener Zeit ein seinem kühnen Wollen, seiner daseins-
und thatenfreudigen Energie wie seiner glühenden Sinn-,
lichkeit gleicherweise schmeichelnder Optimismus, welcher die
eine, dem Diesseits und dem sinnlich-behaglichen Lebensge-
nüsse zugekehrte Seite seiner Natur einseitig und auf Kosten
ihres Antagonisten in seinem theoretischen Denken zum Über-
gewicht gelangen ließ, so war es nun ein seine Erfahrungen
und Erlebnisse bestätigender und erklärender absoluter Pessi-
mismus, der ihn eine Zeitlang glauben machte, es könne jemals
in ihm die ideale, dem Diesseits der wirklichen Welt abge-
wandte und einem überirdischen Jenseits zugekehrte Seite seiner
Seele die andere ganz besiegen, sich und ihre ideale Sehnsucht
dem ihn an die Erde fesselnden und auf ihr festhaltenden
Triebe zum Trotz durchsetzen, ein pessimistisch-asketisches Ideal
für ihn zwingende Gemütskraft gewinnen. Das war ebenso ein
Irrtum wie der naturalistische SensuaUsmus der Feuerbachschen
Periode, die in dieser Beziehung gewissermaßen den entgegen-
gesetzten Pol zu der Epoche Schopenhauer repräsentiert. Wollte
der Künstler weiterleben und, was für ihn damit gleichbedeutend
war, weiterwirken, so mußte er, nachdem er bald emgesehen
hatte, daß ihm das von Schopenhauer aufgestellte sittiiche Ideal
des asketischen HeiUgen unerreichbar sei (vergl. den Brief an
Röckel vom 23. August 1 856) , einen Ausweg aus dem absoluten
Bedentimg der. Epoche: Schopenhauier. 147
Pessimismus suchen, s. z. s. eiile Synthese der Antithese Feuer-
bach-Schopenhauer, wie wir sie ihn während der letzten Perioda
seines. Lebens anstreben seilen.
Wenn wir nun mit £.ücksicht auf jene im 2. Kapitel auf-
gestellten drei G-esichtspunkte den Umschwung, welchen die
Philosophie Schopenhauers im Denken Wagners bewirkte, auf.
seine Bedeutung prüfen wollen und uns fragen: welche Verän-
derungen hat die Wagnersche Weltanschauung durchgemacht
1) in Bezug auf die Formulierung des ihr zu Grunde liegenden
Ideals, 2} in Ansehung des Verhältnisses dieses Ideals zur realen
Welt und 3) in Betreff des Glaubens an die Möglichkeit einer
vollkommenen, oder auch partiellen Verwirklichung des Ideals,
-r- SO können wir sagen, daß die definitive Festsetzung des
ersten Punktes für die sogenannte Feuerbachsche Periode cha-
rakteristisch ist Nachdem das Beinmenschliche einmal als oberstes
Ideal anerkannt ist, bleibt es unverändert in dieser Stellung.*.
Zwar verliert es im Laufe der geistigen Entwickelung Wagners
etwas von der forciert naturahstischen und sinnlichen Färbung,
die es unter dem Einflüsse Feuerbachs angenommen hatte, die
Meinung, daß ein freies Ausleben aller dem Menschen einge-
pflanzten natürlichen Triebe von selbst zu einer Verwirklichung
des reinmenschhchen Ideals führen müsse, wird durch Schopen-
hauer gründlich alteriert, aber trotzdem bleibt im großen
Ganzen das Ziel dasselbe: nämlich ein Zustand, in welchem' die
Natur des Menschen mit seiner idealen Sehnsucht nicht mehr
im Widerspruch sich befände, und noch am 31. Januar 1883,
* Das gilt namentlich auch von Wagners künstlerischem Ideal, das,
einmal erfaßt, unverändert festgehalten wird, wie denn überhaupt die
Kunstlehre Wagners von allen seinen theoretischen Meinungsäußerungen
auch äußerlich die wenigsten Wandlungen aufweist, — es müßte denn sein,
daß. man darauf besonderen Wert legen wollte, daß der Meister, nachdem
er durch Schopenhauer für die eximierte Stellung der Musik, innerhedb
des Kreises der Künste die philosophische Formel gefunden hatte, diese
Sonderstellung der Tonkunst nun auch stärker und entschiedener betont
und ausgiebiger zur Begründung der Theorie des Worttondramas heran-
zieht, als ihm dies früher möglich gewesen war (vergl. namentlich die Schrift
über »Beethoven«). Aber eine prinzipielle Änderung der kunsttheoretischen
Anschauungen Wagners kann ich (im Gegensatz zu Hugo Dinger) darin
nicht finden.
10*
t4& B- Wagner and A. Sofaopenfainiieir.
d. h. also 14 Tage tot seinem Tode^ fonauliert Wagner dein
inhalt semer regeneratorischen Bestrdnmgen in der For derung'^
es sei >das Beinmenscliliche mit dem ewxg^ Natürlißken in hao?^
monischer übereinstixmnung zu exkalten« (X, dü%}.
Dagegen tritt die Hauptiunwälzniig in Beziehuaig auf de»
zweitem Pmikt ein. Hatte Wagner fröker angenommen^ daBl
einzig das Leben der Gegenwart zu seinem Ideale des Bein^
mensckUcken in unvereinbaremj Gregensatz steke, daB dies aJber
ebensowenig von dem Leben des Yergangenkeit als von dem der
Zukunft gelte, daß es viebnebr nur einer Bevolution^ einer ge^
waltsamen Umwälzung imd Zerstörung alles Bestekendien be*
dürfe, um das Ideal ganz von selbst zu lebendigem Basein
ersteben zu lassen, wurde er nun von Schopenbauer darüb^
belehrt, daß der KoniSikt zwischen Ideal und Wirklickkeit ein
ewiger und absoluter,^ aus der Natur des Menschen, wie sie un&
aus dem Leben der Q^genwart und den bistoriscken Zeugnissen
der Yergextgenkeit einzig erkennbar vorliegt, selbst mit unent-
rinnbarer Notwendigkeit fließender ist. Sollte nun trotzdem die
Möglicbkeit einer Lösung dieses Konfliktes und einer Befreiung
des Menschen von dem auf ihm lastenden Fluche gewahrt
bleiben, so war das eine klar: mit einer bloß äußerlichen Yer^
änderung der Zustände und Verhältnisse, der Umgebung des
Menschen war gar nichts erreicht; vielmehr konnte das Heil
einzig von innen kommen, nämlich aus einer gründlichen see-
lischen Umwandlung der menschlichen Natur selbst. Das war
der Hauptgewinn, den das Wagnersche Denken aus der Philo*
Sophie Schopenhauers zog: der Kern des Erlösungsproblems
wurde von außen nach innen verlegt, wurde aus einer poli-
tischen und socialen eine ethische Frage, und diesen
Standpunkt, daß die Natur des historischen Menschen selbst
die Verwirklichung des reinmenschlichen Ideals unmöglich mache,
imd daß, wenn die Idealisierung dieses Ideals überhaupt ermög-
licht werden solle, eine Regeneration im Sinne einer radi-
kalen Sinnes- und Herzensänderung der menschlichen Natur
vorhergegangen sein müsse, erreicht Wagner in direktem An-
schlüsse an die durch Schopenhauer ihm zu Teil gewordenen
Aufschlüsse über das Wesen der Welt. So sehr sein ganzes
geistiges Streben im letzten Drittel seines Lebens darauf gerichtet
Se^^dution und Begienerstion. 1-49
ist, dem Heilgrwege, weloibetL der Fhiloscxpii nur negAtiY, als
»Yemeiming des Wilens zom Leben« liatte 4)ezeidinen kozmen,
•eüiie positive BedemtuBg abzageidmieii, und demgeomäS ki ge^
wissem Sinne iüber Sohopenbaoer MnaBSzugeheto, so hält ea* <Aocih
immer Sckofiezihaiiter als Fandameoat für allen "weitereiQ A:iisibaiti
seiner Ideen lest >cind verfehlt nicht, des öfteren mit eutbasiasti-
«chen Worten aof ihn hinzuweisen: »Ich habe,« so schreibt er
im Jahre 1 868 an Lenbadä, >die <eine HoiSimng für die Kühmr
des deirtschan G-dstes, daiB «die Zeit komme, in welcher Schopesb-
hanier zam G*esetz für mnser Deniken jsttd firkennen gemacht
werde.« (Schemann, Schoipenhaazer-Briefe, S. ^^10.)
Wie nrnd auf welchem Wege in dem dritten der oben ajtt-
^geführten Punkte, nämlich in der Begründung *des iä-lauhens
nind der Hoffnung auf die Möglichkeit einer Erlösung, der Meister
>den absoliiten Pesämismus Schopenhaners zu modifizieren waä.
mit den gebieterischen Forderungen seiner künstlerisidien und
menschlichen Natur in Einklang zu bringen suchte, haben wir
im folgenden Kapitel zu untersuchen.
VI.
Vom absoluten «um bedingten PessimisoMis.
Deatsditaffl und (IhrifiteiitaBi. Der B^en^AtionsgedaidDe.
Die MeistQfrsinger rem Nürnberg und Faifeii^
»Wenn ich auf die Stürme meines Herzens, den furchtbaren
Krampf, mit dem es sich — wider Willen — an die Lebens-
hoffinung anklammerte, zurückdenke, ja, wenn sie noch jetzt
oft zum Orkan anschwdlen, — so habe ich dagegen doch nun
ein Quietiv gefunden, das mir endlich in wachen Nächten einzig
JEU Schlaf vezhilft; es ist die herzliche und iimige Sdinsucht
nach dem Tod: volle Bewd^osigkeit, gänzlidaes Niditsean,
Verschwinden aller Träume — einzigste endlich« Erlcfewmgl . .
.... Idi habe im Kopfe einen Tristan und Isolde entworfen,
^e einfachste, aber vollblutigste musikalische Oonception; mit
15D Vom absoluten ^mn bedingten Pessimismus.
der ^schwarzen Flagge^ die am Ende weht; will ich mich dann
zudecken, um — zu sterben — «. Wie sehr diese Worte (Brief
an Liszt ü, 45 f.) und die in ihnen zum Ausdruck gelangende
Todessehnsucht des Meisters Ausfluß einier tiefen und unge-
heüchelten Einpfindung waren, kaim uns ein einziger Blick in
die Partitur des Tristan zeigen, dieses leidenschaft- durch-
glühten Hymnus auf die Wonne des Sterbens, des »Nie-
wiedererwachens wahnlos hold bewußten Wunsch«. Wie einer,
-der ein innigst geliebtes Wesen durch den Tod verloren, nun
wohl glaubt, selbst aller Möglichkeit des Weiterexistierens be-
raubt zu sein, so sah auch Wagner, nachdem ihm alle Hoffnung,
siTch und seine Idlsen in der Welt durchsetzen zu können, ent-
schwunden T^ar, im Erlöschen des individuellen Lebens den
einzig möglichen Ausweg aus einem als zwecklose Qual empfun-
denen endlosen Krämpfe tiefster Unbefriedigung. Doch auch
ihm geschah nach dem Worte des Dichters:
»Begrabe nur dein Liebstes! —
Dennoch gilts nun weiter leben!
Und im Drang des Tages
dein Ich behai4>tend
stehst bald wieder du!c (Theodor Storm.)
Wagner hatte mehr als nur »sein Liebstes«, er hatte s. z. s.
Alles, den ganzen bisherigen Inhalt seines Lebens und Strebens
zu Grabe tragen müssen, — und es giebt vielleicht keinen
schlagenderen Beweis für die ungebrochene Gesundheit dieses
titanischen Geistes, in dem bornierte Afterwissenschaft gewisse
»pathologische« Elemente entdecken zu müssen glaubte, als die
einfache Thatsache, daß Wagner die Zeit des »Tristan« über-
haupt überlebt, ja nach dieser furchtbaren Seelenkatastrophe
noch den Glauben an die MögHchkeit und den Erfolg praktisch
idealistischen Wirkens in dieser Welt sich wieder zurücker-
obert hat.
Der rettende Engel, welcher damals dem Meister helfend
zur Seite stand und ihm die Möglichkeit des Weiterlebens einzig
.zu geben vermochte, war seine Kunst, wie wir denn auch die
nächste Zeit nach jener gewaltigen Umwälzung, welche die
Schopenhauersche Philosophie im G:eistesleben Wagners hervor-
Küdwttg auf die Kunst; 151
gebracht hatte^ charakterisiert sehen durch eine Besignation, in
welcher der Meister sich gänzlich auf seine Kunst und deren
Ausübung zurückzieht, sich darauf beschränkt, seine künstle-
rischen Entwürfe auszuführen, unter Verzichtleistung auf ^Ufes
aktive Wirken nach außen, auf jegliches Befa-ssen nüt den
Dingen der Welt, die er als unheilbar, erkannt hat. In diesem
Sinne schreibt er in jenem schon öfter citierten Briefe an
Böckel vom 23, August 1856, — vielleicht dem wichtigsten
resümierenden Selbstbekenntnisse des Meisters nach der »Mit-
teilung an meine Freunde« — : »Ich bin nur Künstler: -*r
und das ist ein Segen und ein Fluch; sonst möchte ich. gern
Heiliger sein, und das Leben auf die einfachste Weise für mich
abgethan wissen; so renne und jage ich Thor aber, um mir
Buhe zu verschaffen, d. h. jene komplizierte Buhe eines unge-
störten, genügend behagUchen Lebens, um — nur arbeiten, nur
Künstler sein zu können.« — Und noch im Jahre 1864, als er
Ittif Veranlassung seines neu gewonnenen erhabenen Freundes,
des Königs Ludwig 11. von Bayern, in der. Schrift »Über Staat
und Beligion« sich zum erstenmale wieder mit außerkünstle-
rischen Fragen T)e8chäftigt, um sich darüber zu äußern, ob und
in welcher Art seine Ansichten über diese Dinge seit der Ab-
fassung der Kunstschriften aus den Jahren IS49 bis 1851
sich geändert hätten, steht er noch ganz auf diesem Stand-
punkte einer absoluten Beschränkung seiner Thätigkeit auf das
rein künstlerische Produzieren, auf .das Gebiet, wo einzig »Heiter-
keit« herrschen kann (VHI, 6). .
Die Täuschung, in welcher er während seiner »revolutio-
nären« Periode über den furchtbaren Ernst des Lebens befan-
gen gewesen war, und infolge deren er, wie er selbst einmal
sagt, dazu gelangt war, den Schillerschen Satz: »Ernst ist das
Leben, heiter die Kunst« gewissermaßen umzukehren, und seine
ernste Kunst in ein heiteres Leben gestellt wissen wollte, diese
Täuschung ist dahin. Die Macht, welche alles menschliche
Leben bewegt und gestaltet, ist ihm nun nicht mehr jenes {dian*
tastische sociale »Liebesbedürfnis«, das einen idealen Zustand
der menschlichen Dinge garantiert, sobald man es nur frei und
ungehindert gewähren und sich bethätigen läßt, sondern der
blinde, durchaus und rein egoistische Wille zum Leben. Er
152 Yom absolntea zum bedingten Pessimismus.
tifäimEt niciht mehr von einem paradieeiBcheiiä :Staate deEr Zukunft,
in welchen die iinvallkommenen, ikatur- und ^emusiftmdiigeii
Btiaotongebilde der -Gegenwart anfzi^eihen xmd sich za eitdeefi
hätten, sondern der politische Stsuat, der »N^etstasst« Schill
lers, ist ihm jeM die einzig mögliche Art des Staates, ak das
»Übereinkommen des in unzählige, Mind begehrende indivi-
duen geteilten, menschlichen Willens jm erträglichen Audcom-
men mit sich selber« (VIH, 8). >Wie im der NaturreUgiom
den Oöttem ein Teil der FeldEnu^t oder Jagdbeute zum Opier
gebracht wurde, um dadurch ein Becbt auf den Oebrauch des
Ohrigen sich zugeteilt zu wissen, so oplerte ka Staate der Ein-
zelne so yiel ^on seinem Egoismus, als nötig erschien, um die
Befriedigung des großen Bestes ^lesselben sich zu «idiem« (a. a.
O.). Das Prbaizip des Staates ist daher Stabilität, insofern
der Wunsch nach einer Veränderung d^ Staatsform immer
nur Ton einer einzelnen Partei als VertFetedn eines Standes
bezw. einer Interessengruppe ausgehen kann, wddie mit Recht
oder Unrecht glaubt, unter der besteibenden Staatsordnung mehr
an Opfern ihres natürlichen Egoismus bringen zu müssen, als
sie im Verhältnis an persönlichen Vorteilen sich dafür gewähr-
leistet sieht, — und der relativ beste Siatat ist derjenige, m
welchem die notwendigen socialen Interessengegensätze derart
aimähemd ausgeglichen erscheinen, daß kedne Partei und kern
Stand berechtigten Grund zu einer tieferen Unzufriedenheit mit
dem Bestehenden haben kann. Man sieht, aus dem ideologischen
Utopisten von ehedem ist ein nüchterner Denker geworden, der
V0n der Grundmaxime des großen Healpolitikex« Bismarck, daß
man die Mensch^i eben ndimen und gebrauchen müsse, wie
sie nun einmal sind, in einer Beziehamg nich^ mdir allzuweit
entfernt ist
Aber der Wille zum Leben, obwohl in der Erscheinung im
die individualen Einzelwillen auseinandergegangen, ist an sich
eine Einheit. Als solche steht er über den Individuen und
verwendet diese als Mittel zu höheren, d« h. allgemeinen Zwecken.
Dazu bedient er sich s. z. s. eines Kunstgriffes, eines ^truc^^
indem er dem rein egoistischen WoUoi der Individuen vav
mittelst einer Illusion, eines Wahnes vor^egelt, sie verfolgten
ilu*e eigen^i persönlichen Zwecke, wäikrend de in Wahrheit im
WüIb und Waim. t&S
Dieztste «ines fiöfaeFen, der «bttazig, <ier A%wkB9iilieit «teik^n.
Dieser Begadfi des Wahnes umd ^semer Bedeniuiig für den TjKoi
äsr Weit chaicalpfcgcisiert gleicharmaBeEEi die pMtesopliische Gnmd-
«htmiiwmg der Solinft »über Staat «md Rekrgkm«., 'wie auch die
des gfakfeffltigen EiniiostwerlBeB »Die Meistersiziger yxm Niiiii-
tieig« (TdUendet am ^. Oktober 18(»7). Er ist von gröBter
Widhtigbeait, Tmd nir müsBezi daker etwas bei iiim rerweileiB.
In ihm^eigt sidi zum erstenmale die fa8t:Ei0di unmerkHche
Ri-nlPTilnmgr -^ism eiuem nbscduten PessimdsniDB xa msneac tröst-
Idcheoresi, loptimistii^chBren AutEassimg ron Wesen xmd Oang der
Welt Eine Hypotihese Scitopenibauera, die dies^ selbst wieder
in dirddieiu Ansdihiß an seine »Meta^daysik der Gescddeebts-
liebe« .zur Erklänaaskg der Instink&aindlimgen der Temonftloeffin
Tiere -verweaidet (vergL Scliopenl]a;uers Werke, JEteclam, IE, •63:i!flE.),
ddmt Wagner bei sdner Wahn-Ldire in der Weise bdinls
Deutung des liaaifes der Welt im allgemmten ans, daß er an-
nimmt, der Wille zum Leben sei imstande, jenes Interesse Mr
bäbere waä, aUgemeinere, über das jßersänLk^e Wofalergeben des
XotdividiaaDaEks binausreiGhende Zwecke, — ein Interesse, "weldies
als bewußtes und eingestandenes WoUen eines idealen, d. 1l
überpersönlicben Zweckes nur in Tereinzelten, besooiders bocb
fitebenden und ahnarm veranlagten IndiTidnen ausnahmsweise
einmal angetroffen wird, — auch bei dem geW'öhxiHcken, nur
auf Befriedigung s^azes persönlichen Egoismus ausgehenden
Menschen dadurch saa erwecken, daß er ihm eben vennittelfit
eines Wahnes den Glauben erweckt, er sorge dfür seine Person,
er befriedige ein indiTidoelles Bedürfnis, während er in Wahr-
heit sein persönliches WM. einem höheren uiäd allgemeinen
Zwecke jQ/vIopfert. Sin solcher Wahn erscheint in den Hand-
inngen des Patriotismus, der Behgiosität, überhaupt in all den
Phänomenen, bei weichen wir den Mensch^i aus Egoismus
mneg^istisch handeln, d. h. nm eines entfernten, dem geredf-
teilen Denken als illusorisch sich offenbarenden personlichen
Vorteiles willen, das näherliegende egoistische Bedürfnis mo-
mentanen Wohlbefindens aufgeben und auBer acht lassen sehen.
Es ist klär, daß, streng genommen, ndt dieser Annahme
der Boden eines abscduten Pessimismiis bereits verlass^i ist,
und die Möglidikeit der YerwirkEchung des Edlen nnd Idealen
154 Vom absoluten zam bedingten Pessimismus.
trotz des aUgemeinen Egoismus der Einzelnen ^en yermittelst
des Wahnes als möglich zugestanden wird. Und wenn es in
^Über Staat und Beligion« auch noch pessimistisch genug
heißt: > Wahre Gerechtigkeit und Menschlichkeit sind eben un-
zuverwirklichende Ideale: in der Stellung sein, nach ihnen stre^
ben, ja zu ihrer Yerwirklidhung eine unabweislicbe Forderung
erkennen zu müssen^ heißt zum Unglücke bestimmt sein« (Vlii,
18 f.), — so zeigt doch schon die Bolle, welche der Wahn in
4en Meistersingern spielt, wo Hans Sachs, gleich dem Alles
regierenden Willen zum Leben, die Päden der ganzen Handlung
in den Händen hält, um sie nach seiner Absicht zum Zwecke
der Ermöglichung eines edlen Werkes zu leiten — , wie unter
besonders günstigen Umständen das Ideale »trotz alledem«
Wirklichkeit werden kann, indem der Wahn die Menschen ver-
leitet, gerade das zu thun, was sie ägentlich nicht wollen,
nämlich ein mit ihreia persönlichen Wohle gar nicht Zusammair
hängendes, ja ihm direkt Entgegengesetztes, wie gerade aus der
widerspruchsTollen Verkettung der realen Konflikte, dem natur-
notwendigen Antagonismus der Einzelwillen wohl einmal eine
ideale Diagonale resultieren kann, welche das a priori scheinbar
UnmögUche faktisch ermögKcht, - eine Anschauung, gewisser-
maßen »jenseits von Optimismus und Pessimismus« (im konyen-
tionellen Sinne des Wortes), welche in letzter Hinsicht der
eigentliche Träger des tiefen, über alle individuellen Gegensätze
erhabenen und alle Widersprüche in sich umfassenden und »be-
greifenden« Humors der Meistersinger ist.
Haben so die politischen G^rundanschauungen des Meisters
eine totale Umwälzung erfahren, die sich in den Gegensätzen:
früher Optimist, jetzt Pessimist, und darum: früher revolutionär,
jetzt konservativ, zusammenfassen läßt, so giebt es doch einen
Punkt, in welchem der nüchterne »realpolitische« Denker des
Jahres 1864 mit dem phantastisch-utopistischen Schwärmer von
1849 sich berührt, nämlich in der hohen Bedeutung, welche
beide der Person des Königs, der monarchischen Spitze des
Staates zuweisen. Wie in der »Vaterlandsvereinsrede« vom
14. Ji;ini 1848 (vergl. S. 97), in schroffem Gegensatze zu den
politischen Schlagworten, wie sie in den extrem-radikalen por
litischen Kreisen, denen Wagner selbst angehörte, damals
JStaat und BeligiojL . . . 155
nmUefeiL, das Grefühl von d€lr Notwendigkeit der Syinboliaierung
omd Bepräsentierung des allgemeinen Yolkswillens in der Person
des über den G-egensatz der Partden erhabenen Monarchen
aüm Ausdruck gelangte, ao ist ihm nun die geheiligte Persön-
lichkeit des Königs, der aus dem beschränkten Giebiete des rein
nationalen und politischen Staates in die Sphäre des Allgemein-
und Reinmenschlichen emporragt, die Gewähr für die Möglich-
keit einer Ergänzung des seiner Natur nach bloß negativen,
das anarchische Bellum omnium contra onmes verhütenden
staatlichen Rechtes durch die, positive Förderung des Idealen
bewirkende, Macht der fürstlichen Gnade, wie sie der Meister
selbst eben erst durch die huldreiche Hand seines wahrhaft
»königlichen« Freundes erfahren hatte.
In ihrem innersten Wesen dem seiner Natur nach unvoll-
kommenen, auf Kompromissen aufgebauten, niemals über Schein-
ynxd Halberfolge hinausgelangenden und nur unter Zusammen-
wirken besonders günstiger Umstände da und dort einmal Raum
für die Ausbreitung und Wirksamkeit idealer Mächte gewahren-
den Staate entgegengesetzt ist die Religion: >Ihre Grundlage
ist das Gefühl der Unseligkeit des menschlichen Daseins, die
tiefe ünbefriedigung des reinmenschlichen Bedürfnisses durch
-den Staat. Ihr innerster Kern ist Verneinung der Welt, d. h.
Erkenntnis der Welt als eines nur auf einer Täuschung be-
ruhenden, flüchtigen und traumartigen Zustande», sowie erstrebte
Erlösung aus ihr, vorbereitet durch Entsagung, erreicht durch
4en Glauben« (ViU, 20). Wir sehen hier in Bezug auf die
Religion dieselbe vollständige ümkehrung der früheren An-
schauung wie bei der Beurteilung des Wesens des Staates.
Hatte der Optimismus recht, so war natürlicherweise nichts
unsinniger als eine dem Diesseits abgekehrte, transscendente
:Religion, wie das Christentum, die den Menschen mit einem
imaginären, einzig in einer krankhaften Phantasie existierenden
'Himmel um die Freuden und Genüsse der Erde betrog. So
hatte der schwärmerische Verkündiger der allgemeinen Mensch-
heitsreligion der Zukunft von 1849 geurteilt. Hatte dagegen
der Pessimismus recht, und war die Unmöglichkeit einer rest-
losen Verwirklichung des reinmenschHchen Ideals auf Erden
j&rkannt und anerkannt, so mußte dem Künstler jetzt das:
1S6 Vom absoluten zum bedingten Pessimismus.
»Mein fiäcih ist meist tcqei dieser Welt« der christHohem Heil»-
üefare in >6iniNn ^«dz ^saidereii lioibte erscheineiBL; vr«r m > dieser
Welt« kein £aaaii für das Ideale, so JcosQxte es ma als Wizfe-
üfdiJEeit angeDoomiesQ werden m •einer anderesn, votn dieser^ in
Smun und Zeit sich bew^enden, toto g^enere yerschiedenen Welt,
von der unser, allem dem Diesseits aogepaBter Intell^ üichte
weiter begreifem nnd sßossa^n kann, als daB sie das Gegentoä,
die Vecneimurg dessen sei, was übm aUein als »Stwas« gilt.
Danim können wir auch nacht sag^ daß Wagner, als er
das »Kunstwexk der Zukunft« schrieb, »irreli^ös« gewesen und
nion auf eanmal >Teligiös« geworden sei. Es ist vieioM^ die-
selbe S^nsndrt nach Verwirklichung des reinmensehlichen Ideak,
welche immer in ihm lebendig gewesen war, die, nachdem sie
vergebens Befriedigung in der und durch die AnBesrwelt gesucht
hatte, mm die ihr dort versagte JEkiösung im !Eimem, m der
Abwendung von den Dingen der realen Welt sucht. Es ist die
Verlegung des Problems von außen nadi innen, aus dem F&-
litisch-^Socialen ins Ethische, wie wir oben ausgeführt haben,
was den Meister nunmehr das Ohristentum mit ganz anderen
Augen ansehen läßt, und es ist zweifellos, didB gerade
Schopeajhauer Wagnern, wie so vielen anderen vor ihm und
nach ihm, dazu verholfen hat, den iomeren Kern der chiist-
lidhen Seügion, s. z. s. ihren esoterischen <}ehalt, dui^ die
entstellenden Hüllen der historisch gewordenen konfessioaellen
Dogmen und Kirchenlehren hindurch zu erblicken und zu
würdigen. Diese Wandlung vollzieht sich bei Wagner gleidi-
zeitig mit dem offenen Eingeständnis der Grundwahiikeüt des
Pessimismus, und man hat daher ganz recht gehaiM;, als
man die, rein äußerlich genommen, so paradoxe Behauirtung
a^ufstellte, die poetische Grundtendcmz des »Sing des Nibeiim»
gen« m. gerade so sehr christHch, wie die des >Pareifal«, ündem
fiesignation, Säitsagung^ Verneinung des Willens zum Leben
^eicherweise in beiden Werken als einzige Möglichkeit einer
di^Snitiven Eriöstmg sich uns ^oiienbaren.
Weist somit der Heilsw^, den die Seligion uns erö&iet,
gänzlich aus dieser Welt hinaus, so müßte für den »großen,
waJirhaft religidsen Menschen« die »Sehnsucht, dieser Welt
igänzlidi den Sücken zu wenden, notwaidig und umabw^edslidi
Difi Kunst als »bewußt giewolJier Wahn.«. |57
2wing^id anwacfafien«, und es wäre ihm auf die Bduer dierMög-
Hcbkat gisaommeiv es ia ihr auszuhalten, »wenn es nie&t auch
ffiir ih% wie fiiar den in steter Sorge dahinlebenden gemeinen
Mensch^B^ eine* gewisse Zerstreuung, eine periodische röUige
Abwendung toh dem, sonst ihm stets gegenwärtigen Ernste der
Welt gäbe. Was fiiar den gemeinen Menschen Unterhaltung
uaxd Yergnjögung ist, muÜ für ihn, nur eben in der ihm esir-
sprechenden edlen Form, ebenfalls Torhanden seist ; und was
ihm diese Abwendung, diese edle Täuschung, möglich machte
muß wiederum ein Werk jenes menschenerlösenden Wahnes sein,
dar überall da seine Wunder verrichtet, wo die normale An-
schauungsweise des Individuums sich nicht weiter zu helfen
weiß. Dieser Wahn muß in diesem Falle aber vollkommen
aufrichtig sein; er muß sich von vornherein als Täuschung be-
kennen, um von demjenigen willig aufgenommen zu werden, der
wirklich nach zerstreuender Täuschung, in dem von mir gemeiaten
großen und ernsten Sinne, verlangt. Das vorgeführte Wahn-
gebilde darf nie Veranlassung geben, den Ernst des Lebens
durch einen möglichen Streit über seine Wirklichkeit und be-
weisbare Thatsächlichkeit anzuregen oder zurückzurufen, wie
dies das religiöse Dogma thut: sondern seine eigenste Eraft
muß es gerade dadurch ausüben, daß es den bewußten Wahn
an die Stelle der Eealität setzt. Dies leistet die Kunst; und
sie zeige ich daher beim Abschiede meinem hochgeliebten
Freunde* als den freundlichen Lebensheiland, der zwar nicht
wirklich und völlig aus dem Leben hinausführt, dafür aber
innerhalb des Lebens über dieses erhebt und es selbst uns als
ein Spiel erscheinen läßt, das, wenn es selbst zwar auch ernst
und schrecklich erscheint, uns hier doch wiederum nur als ein
Wahngebilde gezeigt wird, welches uns als solches trös.tet und
der gemeinen Wahrhaftigkeit der Not entrückt. Das Werk der
edelsten Kunst wird von ihm gern zugelassen werden, um, an
die Stelle des Ernstes des Lebens tretend, ihm die Wirklichkeit
wohlthätig in den Wahn aufzulösen, in welchem sie selbst, diese
ernste Wirklichkeit, uns endlich wiederum nur als Wahn erscheint:
♦ König Ludwig 11., an den die Schrift »Über Staat und Religionc
gerichtet ist.
f 5& ^oiQ absoluten zum bedizigten Pessdmuimas.
und im entrücktesten Hinblicke auf dieses wundervolle Wahn-
spiel wird ihm endlich das unaussprechliche Traumbild der
heiligsten Offenbarung, urverwandt, sinnvoll, deutlich und hell
wiederkehren, — dasselbe göttliche Traumbild, das, im Disput
der Kirchen und Sekten ihm immer unkenntlicher geworden^
als endlich fast unverständliches Dogma ihn nur noch ängstigen
konnte. Die Nichtigkeit der Welt, hier ist sie offen, harmlos,,
wie unter Lächeln zugestanden: denn, daß wir uns willig täuschen
wollten, führte uns dahin, ohne alle Täuschung die Wirklichkeit
der Welt zu erkennen« (Vm, 28 f.).
So wurde die Kunst als »bewußt gewollter Wahn« dem
Meister selbst das Paradies, in das er sich aus den Nöten und
Wirren des realen Lebens zurückzog, die überirdische Sphäre,
innerhalb deren Verwirklichung eines Ideals allein möglich ist,
die Erscheinung, welche einzig uns trösten kann über die Ideal-
losigkeit einer entgötterten Welt, über den Verlust der höchsten
Güter des realen Lebens selbst, — wie Hans Sachs am Schlüsse
der Meistersinger sagt:
» — zerging in Dunst
das höil'ge röm'sche Reich,
uns bliebe gleich
die heil'ge deutsche Kunst!« —
Hier ist nun der Ort, einer Wandlung in Wagners An-
schauung vom Verhältnis der Kunst zu der Kultur im allge-
meinen zu gedenken, die dem aufmerksamen Leser nicht ent-
gangen sein wird. Während nämlich der Meister in seiner
revolutionären Periode die Idealisierung unserer gesamten
socip^len Zustände, die Vernichtung unserer heutigen G-esell-
schaftsordnung und die Errichtung des Staates der Zukunft als
Vorbedingung für das Ins-Leben-treten einer echten und wahren
Kunst, d. h. seines Kunstwerkes der Zukunft ansieht, ja sich
stellenweise zu der radikalen Anschauung versteigt (vergl. den-
auf S. 96 citierten Brief an Uhlig), daß der Künstler der
Gegenwart überhaupt unfähig sei zu positiver, aufbauender
künstlerischer Thätigkeit, daß er vielmehr einzig dazu berufen
erscheine, an der Zerstörung des Bestehenden mit seinem Schaffen
Das AVechselyerhältnis yon Kunst und allgenxemer Kultur. 159
mitzuwirken, ich sage, in striktem Gegensatze zu dieser früheren
Meinung, welche die Verwirklichung des reinmenschlichen Ideal»
auf demGehiete der allgemeinen Kultur zur Voraussetzung, zur
conditio sine qua non der Eealisierung des idealen Kunstwerkes
macht, ist jetzt für Wagner gerade die Kunst das einzige Ge*.
biet, welches von dem Fluche des realen Seins, nur ausnahms-
weise und unter besonders günstigen Umständen einmal dem
Idealen Baum zu ungehinderter Entfaltung seiner göttlichen
Kraft zu gewähren, frei bleibt, — und wenn er in der letzten
Phase seiner Entwickelung dazu fortgeht, nach neuen Hoffnungen
und Möglichkeiten einöp Gesundung unserer allgemeinen Kultur-
zustände mit banger Soi^e auszuspähen, so sehen wir ihn ge-
rade aus dem Glauben an die Möglichkeit edelster Kunstthaten
trotz und im Gegensatz zu unserer durchaus kunstfeindlichen
Civilisation die Hoffnung schöpfen für die endUche Anbahnung
einer Regeneration dieser Civilisation selbst, ja er betrachtet
die Thatsache des Bestehens dieser Kunst als einer Lebens-
macht, wie sie uns namentlich in der deutschen Musik gleichsam
als ein leidenschaftlicher Protest des reinmenschlichen Gefühls
gegen den Druck einer unmenschUchen Civilisation entgegentritt,
geradezu als die Anticipation seines allgemeinen Menschheits-
ideals in der Sphäre des »Wahns«, als die Gewähr für die
Möglichkeit, das reinmenschliche Gefühl zu einer wirkenden
Macht im Leben der Gegenwart überhaupt zu erheben.
Auch für diesen Widerspruch ist unschwer der Einheitspunkt
zu finden. Er liegt nämlich darin, daß bei Wagner der Künstler
und der Mensch selbst eine untrennbare Einheit bilden, ja streng
genommen identisch sind: was aus seiner Kunst zu uns spricht,
ist nichts anderes als Ausdruck der sehnsüchtigen Not des
Menschen, dem es verwehrt ist, seine reinmenschhche Individua-
lität frei und ungehindert auszuleben, und wo wir dem Maischen
Wagner außerhalb seiner Kunst im Konflikte mit seiner Um-
gebung, als Schriftsteller, Revolutionär, Richter unserer Kul-
tur u. s. w. begegnen, da ist es schließlich immer wieder nur
der Künstler, der sich abmüht, den Grund dafür aufzufinden,
warum seine Kunst in der Welt der Gegenwart eine fremde,
unbegriffene Erscheinung bleiben mußte. Daß die Kunst nichts
außerhalb des Lebens Stehendes, von ihm Unabhängiges ist,
tgO Yom ftbaolnten ziim bedingten PteBmuflmns.
SKoftte ihm deshalb schoa früh einleuchten, sobald er nämlich
earkaimt hatte^ daft es gerade die Gestaltung des Lebens selbst
war, was die restlose Yerwirklichung des künstlerischeii Ideals
unmöglich machte. Trat ihm mm eine politisch und social
revolutionäre Bewegung entgegen, welche eingestaadenermaßen
darauf ausging, dieses Leben von Grund! aus umzugestalten, was
war da für ihn natürHeher als die HofEnnng, diese Bewegung
werde tVitti die Erfüllung seiner künstlerischen Sehnsucht bringen,
sie werde ihm durch radikale Zerstörung aller im Wege stehen^-
d^i Hindemisse freie Bahn schaffen für die ungehemmte Ent-
faltung und Mitteilung seiner Kunst? Als ihm diese Hoffnung
zu Grabe gesunken war, ab er eingesehen hatte, dafi, um den
Menschen seinem Ideale entgegenzuführen, nicht eiae Verände-
rung der ihn umgebenden äußeren Zuslände und Verhältnisse
genüge, daß es dazu vielmehr einer inneren Wandlung und
Umkehr des menschlichen WiUens selbst bedürfe, da bot sich
dann von selbst die Kunst als das dar, was sie Wagnern nun aus-
gesprochenermaßen wurde: Ersatz für das absolut und restlos
doch nicht zu verwirklichende allgemeine Menschheits-Ideal,
Ghirantie für die trotz allem in der Menschenseele schlummern-
den höheren Kräfte und Anlagen und mächtigstes Mittel zur
Erweckung der Sehnsucht nach Erlösung im menschlichen Ge-
müte selbst.
War ihm so in gewissem Sinne zuerst die reinmenschliche
Kunst von der reinmenschlichen Kultur bedingt, und nachher
umgekehrt das ideale Kunstwerk ein Antecedens der idealen
Kultur, diese ein Erfolg jener, so können wir sagen, daß er
beidemal recht hatte, und wir thun mit dieser Einsicht einen
Blick in das unlösbare Dilemma, infolgedessen das von Wagner
erstrebte Ziel dazu verurteilt ist, Ideal zu bleiben, d. h. sich
niemals und nirgend realisieren zu lassen. Denn, damit echte
Kunst wirklich lebendig werden könnte, müßte es dem Künstler
möglich seiu, sich allumfassend dem Gefühlsverständnisse der
Allgemeinheit mitzuteilen. Dies könnte aber nur dann wahrhaft
der Fall sein, wenn der ideale Kultur- und Gesellschaftszustand,
den die Kirnst doch allererst herbeiführen helfen soll, bereits
realisiert und »alle Menschen Brüder« geworden wären, wie
Wagner ganz richtig bereits zur Zeit seiner ersten großen
Stellung der Wagnerschen Kirnst in der Q-egenwart. XQl
Kunstschriften eingesehen hatte. Aber dann brauchte man ja
eigentlich gar keine Kunst mehr, deren EigentümKchkeit darin
besteht, das reinmenschliche Wesen, für das in der realen Welt
kein Raum ist, im Gegensatz zu dieser in einer Welt des Scheins
zur Geltung zu bringen; und in der That gehen die Kunst-
schriften der Jahre* 1849/51 geradezu darauf aus, die Kunst in
dem Leben aufgehen zu lassen und zu erlösen, und umgekehrt
das Leben in der Kunst: die Kunst soll Leben, und das Leben
Kunst, das Ideale restlos Realität, und das Reale reine, makel-
lose Idealität werden. Also stehen ideale Kunst und verwiric-
lichtes Lebensideal in der That zu einander im Verhältnis der
Wechselbedingtheit proprio sensu verbL Als einziges Mittel,
im Sinne seines Kultur- und Menschheitsideals auf die Zeit-
genossen zu wirken, erkennt Wagner seine Kunst; aber, solange
jenes noch nicht verwirklicht ist, kann diese Kunst immer nur
erst auf Einzelne wirken, nicht aber, wie es der Fall sein müßte,
wenn sie uns dem Ziele wirklich näher bringen sollte, auf die
Allgemeinheit im ausgedehntesten Wortsinne, — ein Dilemma
also, aus dem ein Ausweg schlechterdings unmöglich ist. —
Und wem diese Beweisführung zu abstrakt und formal logisch
vorkommt, als daß ihr zwingende Überzeugungskraft zugestanden
werden dürfte, der prüfe doch einmal aufmerksam die Schick-
sale der Wagnerschen Kunst, seitdem sie, wie man so sagt,
»durchgedrungen« ist Äußerlich, unleugbar, ein Bild, um dem
enragiertesten Theodiceenschreiber das Herz im Leibe lachen
zu machen. Wo gäbe es auch ein glänzenderes und schlagen-
deres Argument für die Wahrheit des schönen Satzes, daß sich
das Gute und Edle allen Hemmungen und Hindernissen zum
Trotz dennoch endHch Bahn bricht? Wagner ist der unbestrittene
dramatische »Lieblingskomponist« des deutschen TheaterpubK-
kums geworden — (neben welchen anderen Lieblingen, das
bleibe hier Ueber, um ein Bild, das dunkel genug ist, nicht noch
mehr zu trüben, gänzlich außer Acht!) — , um die »Texte«
seiner »Opern« kümmert man sich zwar nicht viel und nimmt
sie höchstens, indem . man dem großen Musiker die kleine
Schwachheit, partout auch Dichter sein zu wollen, zu Gute
hält, als unliebsame Beigabe zu der herrlichen Musik mit in
Kauf. Aber Wagnef sehe Musik ist entschieden das Populärste,
Louis, Weltanschaaimg B. Wagners. H
162 Yom absoluten zum bedingten Pessimismus.
was es heutzutage auf dem Gebiete der Kunst giebt, ja, sie
gehört geradezu zur Phjsiognomie unserer Zeit als einer ihrer
am meisten auffallenden Züge, sie ist ein modemer Sport ge-
worden, sie rangiert in unserem Leben unmittelbar neben dem
Fahrrad und der Ansichtspostkarte. Von allen Theaterzetteln
leuchtet uns der Name Wagner entgegen, auf allen öffentlichen
Plätzen des lieben deutschen Vaterlandes schmettert uns die
Wachtparademusik den Walkürenritt ins Ohr, keine Hofbühne,
die sich nicht alljährlich ihre »Festspiele« und » Muster auffüh-
rungen« leistete, wo es dann scheint, als ob, wie im 18. Jahr-
hundert jeder deutsche Souverain aus seiner Residenz ein
Klein -Versailles zu machen suchte, nun jedes Hof theater ein
EIlein-Bayreuth werden solle, — ^nfin^ um das Verhältnis der
Wagnerschen Kunst zur modernen Öffentlichkeit in einem
Satze, »Alles sagend«, zusammenzufassen: wir haben es »so
herrlich weit gebracht«, daß, wie Chamberlain ausdrücklich be-
merkt, — Tristan und Isolde die »Lieblingsoper« der Münchener
geworden ist.
Daß diese ganze Musikschwärmerei imd -schwelgerei mit
dem Wesen der Wagnerschen Kunst, mit dem, was der Meister
mit seinem Schaffen eigentUch gewollt und beabsichtigt hatte,
gar nichts zu thun hat, daß alle die geräuschyollen Tageserfolge
Wagnerscher Werke auf unseren Bühnen nur scheinbar und
einem Mißverständnisse zu verdanken sind, ist zu einleuchtend,
als daß es nötig wäre, darüber viele Worte zu verlieren; und
wenn es jemanden geben sollte, der dies bezweifelte, den möchte
ich nur auf zwei unbestreitbare Thatsachen verweisen. Die erste
betrifft den Charakter und die Qualität der bei uns üblichen
Wagneraufführungen: diese Werke aus einem Guß und ohne
jedes überflüssige Füllsel mögen noch so verstümmelt, entstellt
und verhunzt zur Darstellung gelangen, immer wird sich der
gleiche Enthusiasmus beim Publikum einstellen, und, was eigent-
lich noch mehr beweist, — wenn einmal ausnahmsweise irgendwo,
wie es wirklich vorkonmit (ich erinnere an die Wagnerauffüh-
rungen des Karlsruher Hoftheaters in seiner besten Zeit !), eine
solche Darstellung dem Ideale der Vollkommenheit sich nähert,
oder doch wenigstens das Bestreben, die richtig verstandene
künstlerische Absicht des Worttondichters zum Ausdruck zu
Bayreuth. j63
bringen, bei der Aufführung deutlich erkennbar hervortritt, —
kein Mensch wird dann das Grefühl empfinden, etwas von dem
Gewohnten und Hergebrachten toto genere Verschiedenes erlebt
zu haben, höchstens werden die »Musikalischen« unter den Zu-
hörern urteilen, der und der Sänger habe besser »gesungen«
als jener, das Orchester »klinge« schöner als früher u. s. w., das
ist Alles. Worauf es eigentlich und im Grunde genommen
einzig ankommt, das wissen, sondern was schlimmer ist, das
fühlen auch heute noch immer nur einzelne Auserwählte.
Die zweite Thatsache betrifft Bayreuth. Wollte man die
Statistik zur obersten Instanz für die Entscheidung der »Bay-
reuther Frage« machen, so könnte man sich auch hier einem
ungezügelten Optimismus hingeben: Die BesuchszifEem der Fest-
spiele wachsen von Jahr zu Jahr^ und ihr oft prophezeites Ein-
gehen dürfte noch recht lange auf sich warten lassen. Aber
eine viel bemerkte Erscheinung macht mich bedenkhch: der
Prozentsatz der Deutschen unter den Festspielgästen wird immer
kleiner, und zwar möchte ich aus dieser Thatsache nicht das
schließen, was unsere Zeitungsjoumalisten gewöhnlich daraus
folgern, daß nämhch Gefahr vorhanden sei, die Bayreuther
Aufführungen möchten schließlich ihres nationalen Charakters
als eines »deutschen Olympia«, wie man sie wohl, nicht gerade
glücklich, genannt hat, verlustig gehen, oder aber daß die Fest-
spiele von heute sich so weit von ihrem ursprünglichen Geiste
entfernt hätten, so »heruntergekommen« wären, daß es für einen
echten deutschen Wagnerianer, diese leibhaftige Inkarnation der
»ästhetischen Urteilskraft«, sich gar nicht mehr verlohne, nach
Bayreuth zu fahren, — sondern ich schließe daraus etwas ganz
Anderes. Ich finde in diesem Wegbleiben des deutschen Publi-
kums einen Beweis mehr für die Behauptung, daß der ganze
moderne Wagnerenthusiasmus Modesache ist, und gar nichts
weiter. Eine Zeit lang ist es Mode, nach Bayreuth zu pilgern;
diese Mode hört eines schönen Tages auf, wie alle Moden. In
Frankreich, England und Amerika ist Bayreuth zehn Jahre später
in Mode gekommen als bei uns, und nun sehen wir Franzosen,
Engländer und Amerikaner es für T>fashionable^^ halten, sich
den »Ring« in Bayreuth anzuhören, während wir davon längst
abgekommen sind, gerade so, wie man in der Provinz ein Kostüm
11*
154 Vom absoluten zum bedingten Pessimismus.
als Tthaute nouveautS* anstaunt, wenn es in der Kapitale bereits
ein altmodischer Fetzen geworden ist: denn in Bezug auf
Wagner ist das Ausland Provinz, Deutschland — >Paris«.
War denn überhaupt Wagner für den »modernen Menschen«
jemals etwas anderes und besseres als eine nerrenaufrüttelnde
»Sensation^, eine Sensation gerade so, wie s. Z. der Naturalis-
mus seligen Andenkens, wie noch vor kurzem Ibsens dramati-
sierte Moraltraktätchen, oder wie im Augenblicke Nietzsches
pseudophilosophisches Aphorismen- Bagout ä la sauce piquanie?
Eine »Sensation« übt die ihr zukonmiende »Attraktion«, solange
sie neu ist; hört der Reiz der Neuheit auf, dann bedarf es einer
neuen »Sensation«, der Messias von Gestern wird zum alten
ISisen geworfen, — und, um zu einer solchen modernen »Sen-
sation« zu taugen, ist nichts zu schlecht, leider Gottes aber
auch nichts — zu gut. Denn, aus diesem Mißverständnis
Wagners, diesem Mißbrauch, der mit seiner Erscheinung ge-
trieben wurde, einen Schluß auf das Wesen und den Charakter
der Wagnerschen Kunst selbst zu ziehen, dieser logische Schnitzer
blieb den traurigen Sophisten vom Schlage eines Max Nordau
vorbehalten, deren Scheinargumentation dadurch nicht mehr
Gewicht erhält, daß der geistvolle Einsiedler von Sils-Maria in
einer Stunde, die nicht seine beste war, sich ihnen anzuschließen
wenig vornehm genug war. —
Daß es Wagnern, diesem Künstler, den es mit aller Ge-
walt seines Herzens dazu drängte, sich voll und ganz dem Ge-
fühlsverständnisse einer schrankenlosen Allgemeinheit mitzuteilen,
den seine innerste Natur zwang, die Kunst erst dann als ver-
wirklicht anzusehen, wenn sie aufgehört Privilegium einer bevor-
zugten Minorität zu sein, Allgemeingut, eine das Leben der
ganzen Volksgenossenschaft befruchtende und gestaltende Kul-
turmacht geworden ist, daß es diesem Künstler infolge der
natürlichen Organisation der Majorität des Menschengeschlechts
und ihres Verhältnisses zur Kunst verwehrt blieb, sich diesem
seinem Endziele — Aufgehen des vereinsamten Künstlers in der
Allgemeinheit durch restloses Verstandenwerden — je wirklich
zu nähern, geschweige denn es zu erreichen, darin beruht letzten
Endes die tiefe Tragik im Leben Richard Wagners, und diese
Tragik enthüllte sich am offenbarsten im letzten Drittel seiner
Lebensschicksale nach der Züricher Zeit. 135
Laufbahn, als nach Hinwegräumung aller äußeren Hindemisse
für eine erfolgreiche Wirksamkeit seines künstlerischen WoUens
nichts mehr einem Verständnis des Wesentlichen an seinen
Werken, dessen, worauf es ihm selbst allein ankam, im Wege
zu stehen schien, als diese selbst ihren »Siegeszug« über sämt-
liche Bühnen des In- und Auslandes anzutreten begannen. Als
es auch dann noch immer wieder nur einzelne wenige waren,
die überhaupt begriffen, wovon die Rede war, da mochte selbst
diesem titanischen Herzen, das im Hoffen und Grlauben so groß
war als im Wollen und Wagen, wohl manchmal der trübe
Gedanke kommen, als sei das Einzige, wofür ein Künstler der
Gegenwart noch mit einiger Aussicht auf Erfolg wirken könne,
ein nicht ganz würdeloses Ende unserer unrettbar verlorenen
Kultur, eine sorgsame Pflege dessen, was sie trotz allem noch
an Gutem und Erhaltenswertem birgt, damit »in dem großen
Untergange nicht nur das Schlechte und ganz Verdorbene,
sondern auch noch ein Weniges von dem edelsten Erbe der
Menschheit mit untergehe!« (Vergl. Wolzqgen, Erinnerungen
an Bichard Wagner, S. 15.) —
Der Betrachtung der so vielfach mißverstandenen und, wenn
man gerecht sein will, auch nur aus einer genauen Kenntnis
der Individuahtät des Meisters richtig zu verstehenden, zum
Teil höchst eigenartigen Gedanken, mittels welcher Wagner,
im Gegensatz zu der vollkommenen Resignation einzelner trüber
Stunden, sich die Hoffnung auf eine Verwirklichung seines rein-
menschhchen Ideals, oder doch auf eine Annäherung an dasselbe,
trotzdem zu bewahren suchte, wollen wir uns nun zuwenden.
In Wagners äußerem Leben waren unterdessen gewaltige
Veränderungen eingetreten. Nachdem er Zürich im August des
Jahres 1858 für immer verlassen, führt ihn ein unstetes Wander-
leben zuerst nach Paris, wo am 13., 18. und 24. März 1861
jene denkwürdigen, von dem aristokratischen Pöbel der Seine-
hauptstadt niedergezischten Aufführungen des »Tannhäuser«
stattfinden, dann nach einem kürzeren Aufenthalte am Rhein
nach Wien, und endlich zum Zwecke von Konzertveranstaltungen
1^6 Vom absoluten zum bedingten Peflsimismus.
nach Petersburg, Prag, Pest u. s. w. Aus dieser Ton der
äußersten materiellen Not ihm aufgenötigten Zigeunerexistenz
erlöst ihn mit einem Schlage seine Berufung nach München
durch den enthusiastisch für ihn schwärmenden König Lud-
wig n. Yon Bayern, dessen Botschaft ihn am 4. Mai 1864 trifft
War der Aufenthalt in München zwar selbst nur von kurzer
Dauer (bis Dezember 1865), so war doch durch die Munificenz
des hochherzigen Bayemkönigs dem Künstler die Möglichkeit
eröffnet, nun seinem alten Plane, zur stilgerechten Aufführung
seiner Werke ein eigenes Festspielhaus zu errichten, naher zu
treten, — ganz abgesehen davon, daß auch die politische Be-
wegung der 60er Jahre, die zur Gründung des neuen Deutschen
Kelches führte, und die Wagner mit sympathischer, wenn auch
durchaus nicht in allen Punkten zustimmender Teilnahme ver-
folgte, dem Streben des Meisters nach einer Neubelebung des
deutschen Kunstlebens auf nationaler Grundlage fördernd ent-
gegen kam. Am 25. Januar 1866 stirbt seine erste Gattin, am
6. Juni 1869 wird ihnn sein Sohn Siegfried, aus der Verbindung
mit Cosima Liszt, der geschiedenen Gemahlin Hans von Bü-
lows, geboren, und nachdem er in Bayreuth einen passenden
Ort für die ihn beglückende neue Häuslichkeit und seine Fest-
spielbühne gefunden, überschreitet er die Schwelle des Greisen-
alters, das ihm an erfüllten Wünschen zu viel bringt, als daß
man nicht sagen müßte, sein Wirken und Streben sei von Er-
folg gekrönt gewesen wie kaum das eines anderen Künstlers
vor ihm, zu wenig, als daß er sich selbst befriedigt und am
Ziele angelangt hätte fühlen können. Im Jahre 1876 finden
die ersten Aufführungen seines Nibelungenringes im Bayreuther
Festspielhause statt, denen 1882 die seines letzten Werkes, des
Parsifal folgen, und am 13. Februar 1883 schließen sich für
immer die leuchtenden Augen, in denen sich so hell die ganze
Welt gespiegelt hatte.
Das Hauptkennzeichen, welches die letzten Jahre Wag-
ners in ihren äußeren Lebensumständen von der Zeit des
Züricher Exils unterschisidet, ist die in immer größerem
Umfange sich vollziehende Wiederanknüpfung der gänzlich ab-
gebrochenen Beziehungen zu dem öffentlichen Kunstieben der
Gegenwart. Während sich nun diese neuangeknüpften Be-
Einfluß der äußeren Lebensumstände auf die Weltanschauung. |67
Ziehungen äußerlich immer günstiger g^talten, des Meisters
Buhm immer mehr im Wachsen begriffen ist, bis sich endlich
sein schönster Lebenstraum in Bayreuth zu verwirklichen be-
ginnt, hatten die inneren Fortschritte, welche das Verständnis
des Wesens seiner Kunst und des von ihm Beabsichtigten im
Bewußtsein der Zeitgenossenschaft machten, mit jenen äußeren
Erfolgen keineswegs gleichen Schritt gehalten; ja, in gewissem
Sinne stand es damit gerade so schlecht, wenn nicht schlimmer,
als vor 25 Jahren. Denn als Wagner in den Jahren 1849/51
seine großen Kunstschriften veröffentlichte, da konnte er einzig
an den G-lauben appeUieren, an den Grlauben, daß in der Kunst,
wie er sie verstand, die Möglichkeit einer Entwicklung ange^
legt sei, von der man bisher keine Ahnung gehabt habe, und
es wäre unbillig gewesen zu verlangen, daß jemand diesen
Glauben sofort und ohne weiteres geteilt hätte, der nicht selbst
die verzehrende Sehnsucht empfunden, aus welcher dieses un-
erschütterhche, über jeden Zweifel erhabene Vertrauen bei
Wagner selbst geboren ward, d. h. der nicht gleich ihm Künst-
ler gewesen wäre. Anders war es im Jahre 1876. Da hatte
das deutsche Volk die That erlebt, die Werke des Wagner-
schen Glaubens gesehen, und es hätte nur die Augen aufzu-
machen brauchen, um zu gewahren, was der einzige Mann einer
ihm durchaus feindlichen Welt allein durch seine übermächtige
Energie abgetrotzt hatte, um aus dem faktisch schon Erreichten
einen auch dem ungläubigsten Skeptiker einleuchtenden Schluß
zu ziehen auf das bei Vereinigung und Konzentrierung aller
Kräfte in der Zukunft zu Ermöglichende. Aber die so viel
mißverstandene Aufforderung, mit welcher sich der Meister am
Schlüsse der 76er Pestspielaufführungen an sein Publikum
wendete: »Wollen Sie, dann haben wir eine deutsche Kunst!«
— , sie verhallte ungehört und unbegriffen. Man wollte nicht,
und wie wenig man woUte, ja auch nur wußte, worum es sich
handelte, oder fühlte, daß es sich überhaupt um etwas handelte,
das hat eigenthch erst die Entwickelung der Dinge nach Wag-
ners Tode so recht deutlich und mit alle Hoffnungen nieder^
schmetternder Klarheit gezeigt.
Diese eigentümliche Gestaltung seines Verhältnisses zur
Mitwelt während der letzten Periode von Wagners Leben, eines
168 Vom absoluten zum bedingien Pessiinisinas.
Verhältnisses, das an äußeren Erfolgen, Biihm und Ehre so
viel auf ihn häufte, daß selbst ein ^veniger glaubens- und hoff-
üungsstarkes Herz als das Wagners unter dem Strahl dieser
ungewohnten Gunst der Menge hätte neu erwarmen müssen,
andererseits aber von jenen auf tieferem Verständnis seiner
Absichten beruhenden Wirkungen, an denen ihm doch schließ-
lich einzig gelegen sein konnte, so wenig brachte, daß er im
Grunde genommen am Schlüsse seines Lebens gerade so weit
war als etwa im Jahre 1856, d. h. in seiner eigentlichen und
innerlichen Wirksamkeit beschränkt auf eine kleine Schar
auserwählte Freunde seiner Kunst, — . diese eigentümliche
Gestaltung seiner Lage beeinflußte nun die Form, welche
seine Weltanschauung in dieser Zeit annahm, in unverkenn-
barer Weise. Während er einerseits den absoluten Pessimis-
mus Schopenhauers immer mehr verläßt, um dem von dem
Philosophen bloß negativ, als »Verneinung des Willens zum
Leben«, bezeichneten ethischen Ideale eine positive Seite ab-
zugewinnen, behält andererseits sein verdammendes Urteil über
die Welt, wie sie ist und gewesen ist, seitdem es eine Geschichte
giebt, seine volle pessimistische Schroffheit und Entschiedenheit.
Daß das Gute, Edle, Schöne und Liebenswerte trotz Allem
in der Welt existiert als eine lebendige Macht von realster
Wirklichkeit, welcher Pessimist wäre in der doktrinären Ver-
ranntheit jemals so weit gegangen, das zu leugnen? Und wie
hätte gar das Herz eines Künstlers, der von sich selbst be-
kannte, daß er das Wesen der Kunst, welche im tiefsten und
höchsten Sinne des Wortes die seine war, der Musik, nicht
anders fassen könne, als in der »Liebe«, wie hätte es sich dieser
Einsicht entziehen können? Und so sehen wir denn Wagner
diese Thatsache der faktischen Existenz des Guten innerhalb
einer als grundschlecht erkannten Welt nun immer wieder von
neuem betonen und hervorheben. Daß er weiterhin aus dieser
Thatsache Hoffnungen allgemeiner Art für eine Gesundung der
irdischen Dinge im Sinne seines reinmenschlichen Ideals abzu-
leiten sich gedrungen fühlte, das können wir uns aus Wagners
Individualität unschwer erklären, wenn auch die logische Bün-
digkeit dieser Schlußfolgerung nicht ohne weiteres einleuchtet:
denn ist es nicht gerade die unabweisliche Erkenntnis, daß alles
Wiederankaüpfuiig der Beziehungen zur Außenwelt. 169
unserem idealsten Wollen Erstrebenswerte (wenigstens der »rei-
nen« Möglichkeit nach) in dieser Welt thatsächlich vorhanden
ist, was uns mit unlösbaren Ketten an sie festschmiedet und
unsere Leiden allererst unheilbar macht? — , wogegen wir mit
einer Welt, die nur schlecht wäre, nur Verabscheuungswürdiges
enthielte, gar bald fertig sein würden, indem, ihr kurzer Hand
den Rücken zu kehren, es nicht einmal eines sonderlich heroi-
schen Entschlusses bedürfte.
Gerade so wie der in vieler Beziehung so unerwartet glück-
Uche Umschwung in Wagners Verhältnis zur Zeitgenossenschaft
diesen Fortgang seiner Weltanschauung vom absoluten zu einem
bedingten Pessimismus mitbeeinflußte, so erklärt sich nun auch
aus der Wiederanknüpfung seiner gänzUch abgebrochenen, bezw.
auf das rein und bloß Geschäftliche reducierten Beziehungen
zur künstlerischen Außenwelt eine andere Erscheinung, durch die
sich das letzte Drittel des Wagnerschen Lebens wesentlich von
der unmittelbar vorhergegangenen Periode unterscheidet: ich
meine das Heraustreten aus jener gänzlichen Resignation in Be-
ziehung auf die außerkünstlerischen Dinge der Welt, die wir noch
in der Schrift »Über Staat und Religion« finden, zu erneutem Be-
fassen mit allgemeinen Kultur- und Lebensfragen. Wieder war
es im Grunde nur der Künstler in Wagner, der sich veran-
laßt fühlte, die Ursachen für die Unmöglichkeit, sich mit seinen
Werken allumfassend und ohne Gefahr eines Mißverständnisses
an die OffentUchkeit mitzuteilen, in dem allgemeinen Stande
unserer modernen Kultur und Oivilisation und der Stellung,
welche die Kunst, wie er sie verstand, in und zu derselben
einnimmt, aufzusuchen. Von neuem sah er sich gezwungen,
den Problemen, welche ihn zuerst zum philosophischen Denker
gemacht hatten, mit ernster Sorge nachzugehen und, verhindert,
.einzig so zu der Welt zu sprechen, wie er es am liebsten ge-
than hätte, nämUch als Künstler, des undankbaren Richteramtes
über die Gegenwart und ihre Bestrebungen zu walten. War
er in der Zeit nach Abschluß der großen Schriften der 50er
Jahre auch als Schriftsteller nur Kunst theoretiker gewesen,
— mit einziger Ausnahme von »Über Staat und Religion«,
welche Schrift indessen einen besonderen, s. z. s. bloß privaten
Zweck hatte — , so sehen wir ihn nun wieder die menschlichen
170 Deutschtum und Christentum.
Dinge in ihrer Gesamtheit mit ernster Sorge betrachten, sich,
wie die Widersacher meinten, mit Dingen abgeben, die ihn als
»Musiker« eigentlich gar nichts angingen.
Aber der Standpunkt, von dem aus der Meister nun, nach-
dem er die Schopenhauersche Philosophie als geistiges Erlebnis
hinter sich hatte, Menschen und Welt betrachtet, ist ein ganz
anderer, als der, den er unter dem Einflüsse Feuerbachs und
den Einwirkungen der Revolutionszeit eingenommen hatte, und
wie es in jener früheren Geistesperiode der Entwickelungs-
begrifi ist, der ihm als Schlüssel für die S;ät8el unseres Da-
seins dient, so ist es nun der Kegenerationsgedanke, der in
den Mittelpunkt seiner Weltanschauung tritt
Wie wir gesehen haben, bestand die große Umwälzung,
welche Schopenhauer in Wagners Denken hervorbrachte, in
nichts anderem als in der Vertiefung und VerinnerÜchung eines
Problems, welches sich dem Künstler zuvor nur in seiner äuße-
ren Gestalt, als eine politische und sociale Frage, geoffenbart
hatte, indem es von außen nach innen, aus den Zuständen
und Verhältnissen in die Seele und den Willen des Menschen
verlegt wurde. Zuvor lautete das Bekenntnis Wagners, kurz
zusammengefaßt, so: Die reinmenschliche Natur garantiert die
Möglichkeit einer Realisierung des idealen Menschheitszu-
standes. Es bedarf einzig der Hinwegräumung und Vernichtung
der mit der reinmenschlichen Natur im Widerspruch befind-
lichen äußeren Zustände (politischer Staat, moderne Gesell-
schaft u. s. w.), um diese sich rein und frei bethätigen zu lassen,
— wogegen wir die nunmehrige Anschauung des Meisters
folgendermaßen in eine knappe Formel bringen können: Der
durch und durch egoistische Wille des Menschen selbst hat die
unselige Entwickelung der irdischen Dinge, an der die Gegen-
wart leidet, verschuldet und mit Notwendigkeit herbeigeführt.
Trotzdem finden wir in demselben menschlichen Willen die An-
lagen zur Erreichung der höchsten ethischen Ideale. Diese
zum Teil verkümmerten und entarteten Keime des besseren
Selbst des Menschen aufzusuchen, zu bewahren, zu pflegen und
weiter zu entwickeln, ist die Aufgabe, der sich der Meister
nun mit vollem Eifer widmet Zwei Mächte der Wirklichkeit
sind es hauptsächlich, die ihm dazu berufen erscheinen, eis
Das Nationale und übernationale in R. Wagner. 171
Führer und Wegweiser zum Ideale, zu einer Gesundung der
verderbten und degenerierten menschlichen Natur uns voran-
zuleuchten: das Deutschtum und das Christentum.
Diese beiden Eichtungen, welche das Wagnersche Denken
nun einschlägt — und zwar sei für Freunde eines (in seinem
sachlichen Werte allerdings ziemlich prekären) subtilen Periodi-
sierens bemerkt, daß die erstere, die nationale, zuerst sich be-
merkbar macht (etwa vom Jahre 1861 ab), während die zweite,
die christlich-religiöse, erst in den allerletzten Jahren uns deut-
lich ausgesprochen entgegentritt — , diese Richtungen werden
repräsentiert je durch ein Kunstwerk, »Die Meistersinger von
Nürnberg« (vollendet 20. Oktober 1867; erste Aufführung in
München 21. Juni 1868) , und »Parsifal« (vollendet am
13. Januar 1882, erste Aufführung in Bayreuth am 26. Juli
desselben Jahres), sowie durch eine Reihe von Schriften, von
denen »Deutsche Kunst und deutsche PoUtik« (1865) und
>Was ist Deutsch?« (Fragment aus dem Jahre 1865, mit einem
Nachwort herausgegeben 1878) für die erstere, »Religion und
Kunst« (1880) und die daran sich anschließenden Ausführungen
»Was nützt diese Erkenntnis?« (1880), »Erkenne dich selbst!«
und »Heldentum und Christentum« (1881) für die zweite Rich-
tung die bezeichnendsten und wichtigsten sind.
Das specifisch Deutsche in Richard Wagner, sein hohes
imerschütterliches Vertrauen auf den deutschen Geist und sein
Streben, den Deutschen eine ebenso originale und ihnen eigen-
tümhche Kunst zu schaffen, wie sie die anderen europäischen
Völker bereits besitzen, oder doch in der Vergangenheit besessen
hatten, ist so oft gewürdigt worden, daß in diesem Punkte kaum
etwas nachzutragen bleibt, wenn nicht dies eine, daß man viel-
leicht bisweilen zu sehr und zu einseitig in Wagner den bloß
»nationalen« Künstler erbhckt hat, besonders wenn man
unter »Deutsch« einen rein ethnologischen oder gar nur poli-
tischen Begriff verstand, ganz im Gegensatz zu Wagner selbst,
der das Wort »Deutsch«, wo es bei ihm gleichsam als Termi-
nus auftritt, durchweg in einem höheren, geistigeren und ideale-
ren Sinne anwendet, als dies sonst üblich ist. Wagner war
ohne Zweifel ein nationaler Künstler; aber welcher echte Künst-
ler wäre das nicht? Daß das Nationale in ihm besonders stark
172 Deutscbtum und Christentum.
(aber nicht einseitig) ausgeprägt war und sich deshalb zu einem
fe^t bestimmten Deutschbewußtsein entwickeln konnte, mag
zugegeben werden, wenn man darüber nur nicht vergißt, daß
Wagner, so tief auch die Wurzeln seiner Individualität in den
heimathchen Erdboden eingesenkt waren, gerade so, wie jedes
wahrhafte Genie, im Laufe seiner Entwickelung über jeg-
liche nationale Beschränktheit hinauswuchs und seine
Aste und Wipfel frei in den Äther des Allgemein- und Kein-
Menschlichen emporstreckte. Man darf dieses »Uber-Natio-
nale« in Wagner nicht außer acht lassen, wenn man ihm
gerecht werden will, als einem Künstler, der, herausgewachsen
aus dem Nationalen, gelebt und gewirkt hat für die ganze
Welt.* Nur wenn man diese beiden Elemente, der Wagner-
sehen Persönlichkeit, das Nationale und das Uber-Nationale in
ihm, gleicherweise berücksichtigt, wird man auch ein Verständ-
nis gewinnen können für die anscheinend so schroffen und un-
vermittelten Wandlungen, welche die Anschauungen Wagners
im Laufe seines Lebens in Bezug auf das, was man so ge-
wöhnhch »Patriotismus« nennt, aufweisen. Überblickt man die
betreffende Rubrik in der Dingerschen schematischen Tabelle,
so könnte man auf die Vermutung kommen, Wagner sei Poli-
tiker von Beruf gewesen : in der Art zeigt er sich hier als ewig
veränderlicher Proteus. Die Lösung dieses B/ätsels hegt aber
einfach darin, daß Wagner, wie jeder höhere, nicht in dem
»Wahne« des engen, staatsbürgerKchen Patriotismus befangene
iStensch, sobald er sich einmal zum Selbstbewußtsein durchge-
rungen hatte, jederzeit beides zugleich und in einem war,
national sowohl als übernational, insofern nämlich als er sich
immer bewußt blieb, in wie hohem Grade das Nationale die
Natürliche Voraussetzung seiner ganzen geistigen PersönUch-
keit sei, als welche losgelöst vom heimatlichen Mutterboden
weder gedeihen, noch auch verstanden und gewürdigt werden
könne, ohne darüber zu vergessen, daß sein ideales Ziel ihn
hinausweise über jede nationale Beschränktheit auf die
freien Bergeshöhen des Allgemein^ Menschlichen. So sehen
wir ihn denn auch — was, wenn er bloß »Deutschtümler« im
* Vergl. auch Nietzsche, Richard "Wagner in Bayreuth, S. 92»
Was isl deutsch? 173
gewöhnlichen Sinne des Wortes gewesen wäre, nie hätte ge-
schehen können — durchaus nicht den Deutschen, wie er ist,
oder gar die deutschen Zustände, wie sie die Gegenwart zeigt,
als Ideale hinstellen; vielmehr stellt er sich mit ernstester
Sorge die Frage: Was ist Deutsch? — d. h. welches sind die
Eigenschaften des Deutschen, die ihn zu einem eigengearteten
und vor anderen Nationalitäten ausgezeichneten Bepräsentanten
des Eein-Menschhchen machen, worin bestehen die Vorzüge,
die ihn berufen erscheinen lassen, eine ganz besondere Mission
im Dienste der allgemeinen Menschheit zu erfüllen?
Wie er zur Zeit seines ersten Pariser Aufenthaltes nach
der Beendigung des Fliegenden Holländers alle seine Wünsche
und Hoffnungen in dem einen Begriffe der »Heimat« zusammen-
faßte, obgleich er sich sehr wohl bewußt war, wie wenig die
thatsächhchen Verhältnisse des deutschen Vaterlandes seiner
Sehnsucht wirkhch Genüge thun konnten, so verband er auch
in der Folge mit der Bezeichnung »Deutsch« einen ausgesprochen
idealen Sinn. Ausgehend von der Geschichte der deutschen
Kunst, ist ihm das Deutsche zunächst das mit unwillkürlicher
Notwendigkeit aus unserer eigenen Natur Hervorgehende im
Gegensatz zu dem von modischer Willkür unserem Wesen un-
organisch Aufgepfropften, das Echte gegenüber dem Unechten
und Falschen, dem »welschen Dunst« und »welschen Tand«.
(Vergl. Sachsens Apostrophe am Schlüsse der »Meistersinger«.)
Und wo immer der Meister daran geht, das naher zu bestim-
men, was ihm als das »Wesen« des Deutschen angegangen
ist, da entnimmt er seine Argumentation nur den höchststehen-
den Vertretern des deutschen Geistes und den erhabensten
Momenten unserer Volksgeschichte. Der Deutsche, wie er ist,
besitzt so wenig seine volle Sympathie, daß er nicht übel Lust
hat, das Wort Arnold Buges, der Deutsche sei »niederträchtig«,
gelten zu lassen, wenn man dabei nur nicht vergäße, »daß wir
ja selbst der ,Deutsche' sind, der vor seinem eigenen entarteten
Wesen zurückschreckt« (IX, 334), — und man kann wohl sagen,
daß, was »vorurteilslose« Beurteilung seiner Volksgenossen an-
belangt, Wagner sich einem Goethe und Schopenhauer stellen-
weise würdig genug anschließt. Von dem engherzigen National-
egoismus, der sein Volk über alle anderen stellt, nicht tmi der
174 Deutschtum und 'Christentum.
edlen und liebenswerten Eigenschaften willen, die er an ihm
entdeckt hat, sondern einzig deshalb, weil das Individuum selbst,
das eigene »liebe« Ich ihm gerade zufällig angehört, Ton dieser
Borniertheit war ein Wagner himmelweit entfernt Worauf es
ihm allein ankommt, ist, immer wieder darauf hinzuweisen, wie
der deutsche Geist durch Anlagen, welche wir in seinen edelsten
Vertretern ausgebildet finden, berufen erscheint, der Menschheit
wegweisend voranzuschreiten auf einer Bahn, auf der sie viel-
leicht noch Bettung finden könnte von dem ihr sonst unaus-
bleibhch drohenden Verfall.
Da sind es in erster Linie die Heroen der deutschen Kunst,
welche er als Bepräsentanten des »Deutschen« in diesem idealen
Sinne ansieht. Sie charakterisiert vor den KünsÜem aller
anderen Nationen ein tiefer, heüiger Ernst, der den Deutschen
zu jener ihn auszeichnenden rein sachhchen Objektivität be-
fähigt und ihn zum berufenen Vertreter des anti-utilitaristischen
Princips in der Welt macht. So findet der Meister auf die
Frage: »Was ist deutsch«, die Antwort: Deutsch sein heißt,
»die Sache, die man treibt, um ihrer selbst willen und der
Freude an ihr willen treiben; wogegen das Nützlichkeitswesen,
d. h. das Princip, nach welchem eine Sache des außerhalb
liegenden persönhchen Zweckes wegen betrieben wird, sich als
undeutsch herausstellt« (Viii, 96 f.). Vermöge eben dieses
Ernstes fühlt sich der Deutsche gedrungen, den Dingen immer
und überall auf den Grund zu gehen, niemals die Schale für
den Kern zu nehmen, jederzeit bis zu dem Wesen der Sache
vorzudringen. Hieraus entspringt die deutsche Innerlichkeit,
vermöge deren der »echte deutsche Instinkt« in allen Dingen
nach dem »Rein-Menschlichen« forscht (X, 273). So hat die
dem deutschen Geeiste angeborene »xmiversahstische« Tendenz
sich aller bedeutenden, auf fremdem Boden gewachsenen Er-
scheinungen bemächtigt, um gleichsam das Innere, eben das
»Rein-Menschliche« an ihnen herauszukehren, wie es sich am
deutlichsten im Verhältnisse der deutschen Geisteskultur zum
klassischen Altertume zeigt, welches, nachdem die »Renaissance«
der romanischen Völker ihm nur ihrem eigenen Wesen kon-
forme Außerhchkeiten willkürhch entnommen hatte, erst durch
die deutsche Geistesarbeit eines Winckelmann, Lessing und
Politische AnBchauungen. 175
Goethe in seinem wahren »reinmen»chlichen« Wesen der Welt
gedeutet und geoffenbart wurde. »Der Italiener eignete sich
von der Antike an, was er nachahmen und nachbilden konnte;
der Franzose eignete sich wieder von dieser Nachbildung an,
was seinem nationalen Sinne für Eleganz der Form schmeicheln
durfte: erst der Deutsche erkannte sie in ihrer reinmenschlichen
Originalität und der Nützlichkeit gänzlich abgewandten, dafür
aber der Wiedergebung des ReinmenschHchen einzig förderlichen
Bedeutung« (X, 401).
Auf dieser seiner Sichtung auf das ReimnenschUche, die
dem deutschen Wesen überhaupt eignet — * denn: »in Etwas
ist jeder Deutsche seinen großen Meistern verwandt« (VIH,
165) — , beruht seine hohe weltgeschichtliche Mission.
Hatte Wagner den politischen Aufschwung des deutschen
Volkes in den 60er Jahren mit sympathischer Teilnahme ver-
folgt und die Thaten deutscher Tapferkeit im großen Kriege
durch Dichterwort (»Zum 25. August 1870« imd »An das
deutsche Heer vor Paris«) und die erhabenen Töne seines
»E^aisermarsches« gefeiert, so war er weniger erbaut von dem
Verlaufe der Dinge, wie sie sich im neuerstandenen Reiche nun
entwickeln sollten. Die Persönlichkeit Bismarcks — dies geht
aus den wenigen Stellen, wo er von ihm spricht, mit Deutlich-
keit hervor — war Wagnern im Grunde durchaus unsym-
pathisch, und, wenn wir gerecht sein wollen, mußte es sein;
denn der praktische Opportunitätsrealist, die politische Diplo-
matennatur, welcher kein Princip und keine Überzeugung zu
hoch stand, um sie nicht gelegenthch um eines zu erreichenden
Vorteils willen zurücktreten zu lassen, die vor keiner, ihrem
innersten Wesen noch so unsympathischen Bundesgenossenschaft
zurückschreckte, wenn sie einen momentanen Erfolg zu garan-
tieren schien, dieser Proteus, von dem die anderen immer
wähnten, er sei ein Spielball in ihren Händen, während er sie
zu seinem Zwecke benutzte, dessen Abneigung gegen allen und
jeglichen Doktrinarismus bisweilen bis zu einer Art »dämoni-
schen Leichtsinnes« im Sich- Anschmiegen und skrupellosen
Sich-zu-nutze-Machen der extremsten Parteischattierungen ging,
— dieser »Realpolitiker« im eminentesten Sinne des Wortes
bildete in seinem innersten Wesen den striktesten und aus-
17g Deutschtum und Ohristentum.
gesprochensten Gegensatz zu dem idealistischen Künstler, dem,
unbekümmert tun äußere Wirkung und Erfolg, seine innerste
Überzeugung auszusprechen und als eine lebendige Macht durch
ihre eigenste Kraft allein zur Geltung zu bringen einziger
Zweck seines Daseins war, der jeder noch so unschuldigen
Heuchelei und jeglichem diplomatischen Transigieren in innerster
Seele abhold, auf seinem Wappen die Devise trug: Vigeat
veritas, pereat mundus!
Und jgerade die liberale Ära der Bismarckschen Politik
von Anfang der 70 er Jahre mußte auch den damaUgen
politischen Anschauungen Wagners schnurstracks zuwider-
laufen. Diese selbst bezeichnet Hugo Dinger nämhch ganz
richtig als entsprungen einem »idealen Konservatismus*, in-
sofern durch das Beiwort »ideal« der Gegensatz zu dem
gewöhnlichen Konservatismus bezeichnet wird, der immer,
was für Überzeugungen er auch als Deckmantel zum Zwecke
der Agitation vorschützen mag, letzten Grundes beruht auf
dem berechtigten Widerwillen eines durch die bestehende
Staatsordnung bevorzugten und privilegierten Standes gegen
jegliche Veränderung. Geht eine solche trotzdem vor sich, so
wird der frühere, nunmehr depossedierte Konservative reaktionär,
der bisherige »Liberale« aber konservativ, eine Entwickelung,
wie wir sie an der Verschiebung der beziehungsweisen Stellung
des Großgrundbesitzes und des Großkapitals zu unserem Staats-
wesen erlebt haben. Gänzlich anderen, eben rein »idealen«
Beweggründen entsprang die konservative politische Gesin-
nung bei Wagner. Sie ist, wie wir schon gesagt haben, eine
direkte und notwendige Folge seines Überganges von einer
theoretisch optimistischen Weltanschauung zum Pessimismus.
War die Hoffnung auf eine Verwirklichung des Ideals im Laufe
der notwendigen und natürlichen Entwickelung der Welt ge-
schwunden, und hatte sich das von Grund aus egoistische
Wesen des Menschen selbst als die letzte Ursache dieser Un-
möglichkeit, das irdische Dasein befriedigend zu gestalten, ent-
hüllt, so bUeb als einziger Ausweg, trotz dieser Erkenntnis den
Glauben an die Zukunft sich aufrecht zu erhalten, die An-
nahme eines Verfalls, einer Degeneration der ursprünglidb
und von Haus aus keineswegs mit dem Ideal in absolutem
Th. Carlyle und C. Frantz. 177
Widerspruch sich befindenden Menschennatur. Mit dieser
Annahme mußte dann aber auch jeder Portschritt, jedes Weiter-
schreiten auf der Bahn, auf der wir die Menschheit der Gegen-
wart erbKcken, notwendigerweise als fortgesetztes Hinabgleiten
auf der schiefen Ebene der Decadence, als weiterer Verfall
und Entfernung vom Ideale erscheinen, wogegen die einzig
möghche Thätigkeit des praktischen Idealisten jetzt nur noch
im Aufhalten dieser als zum Untergang führend erkannten Be-
wegungy im sorgsamen Bewahren und Pflegen des noch intakt
gebhebenen edleren Kernes des Menschenwesens, d. h. eben in
einem, im idealsten Sinne des Wortes, konservativen Wirken
erblickt werden konnte.
Nennen wir für die geschichtsphilosophische Auffassung
des ganzen Menschheitsdramas den Namen Thomas Carlyle,
für die Beurteilung der politischen Zustände des neuen deutschen
Reiches den föderalistischen Publicisten Constantin Frantz,
so haben wir ungefähr die Grenzlinien umschrieben, innerhalb
deren sich das historisch-pohtische Denken des Meisters in
seinen letzten Lebensjahren bewegte, — zusammengehalten und
durchglüht von dem einen immer wieder auftauchenden Ge-
danken, in dem er sich mit beiden angeführten Männern be-
gegnete, — dem Glauben an die hohe weltgeschichtliche Mission
des Deutschtums. —
Die zweite Hoffnung, auf welche sich neben dem Ver-
trauen auf den deutschen Geist Wagners Glaube an die Mög-
lichkeit einer idealeren Gestaltung der Zukunft der Menschheit
stützte, war das Christentum. »Noch besteht das Christen-
tum,« das ward für Wagner der trostreiche Gedanke, welcher
in erster Linie seinem Lebensabend jenen erhabenen Schimmer
seliger Milde und ruhiger Verklärtheit verleiht, der auch den
in rührende Ergriffenheit bannen muß, dem es seine geistige
Individualität nicht erlaubt, dem Meister immer und überall
auf diesen seinen letzten Gängen mit vorbehaltsloser Zustim-
mung zu folgen. Gerade dieser »TJmfall« und »Abfall« zur
principiellen Eeligiosität — anders konnte sich ja unser erleuch-
tetes und »aufgeklärtes« Zeitalter die Entwickelung Wagners
in diesem Punkte gar nicht vorstellen! — ist min aber von
jeher immer wieder mißverstanden und, absichtlich oder uriab-
Lonis, Weltanschaaung B. Wagners. 12
t78 DeutBchtum und Christentiun.
sichtlich^ falsch gedeutet worden, wenn man (wenn auch zarter
ausgedrückt) niclits anderes darin zu erblicken yermochte, als
eine neue Bestätigung des psychologischen Gemeinplatzes: Jeune
cocotie^ vieüle bigotte. Zur Widerlegung dieser ganz unhalt-
baren Auffassung y — die den Bayreuther Meister etwa mit
einem Friedrich Schlegel in die Kategorie der innerlich halt*
und charakterlosen Konyertitennaturen bringen würde, während
vielmehr sein Verhältnis zum Christentum vielfach Ähnlichkeit
zeigt mit dem eines anderen imserer Größten, des Dichters der
»Braut von Korinth« und des ü. Teiles des Faust — , möge
nur auf zwei Punkte ganz kurz hingewiesen werden.
Erstlich ist es nicht abzustreitende Thatsache, daß ein
tiefes religiöses Gefühl sich gleichmäßig durch die ganze geistige
Entwickelung Wagners hindurchzieht. Jene Sehnsucht, jenes
Erlösungsbedürfnis, das wir als dichterisches Grundmotiv m
sämtlichen Wagnerschen Dramen ohne Ausnahme finden, es
war ja im Grunde von Anfang an nichts anderes als ein Aus*
fluß desselben Gefühls tiefster XJnbefriedigung durch die Dinge
und Zustände der realen Welt, das den Menschen seit jeher
dazu antrieb, in einem überirdischen Dasein das zu suchen,
was ihm hienieden zu finden unmöglich dünken mußte. Und
wenn wir Wagnern in seiner Feuerbachschen Periode dem
Christentum den Vorwurf machen hören, daß es eben mit
seiner Transcendentalität, dadurch daß es das Paradies »über'm
Sternenzelt« gesucht habe, statt seine Verwirklichung in der
irdischen Welt anbahnen zu helfen, ein naturwidriges und
krankhaftes Ideal aufgestellt habe, so können wir unschwer
erkennen, wie auch diese ungerechte Beurteilung des »Wesens
des Christentums« sofort einer gerechteren Würdigung Platz
machen mußte, sobald der Meister selbst die Unmöghchkeit
einer restlosen Realisierung seines Ideals auf dieser Erde ein-
gesehen hatte, wie sie uns denn schon in der Schrift Ȇber
Staat und Beligion« entgegentritt, wo an Stelle der früheren
diesseitigen allgemeinen Menschheitsreligion der Zukunft das
Christentum gerade wegen seiner überirdischen Jenseitigkeit
als die Beligion par excellence, s. z. s. als die specifisch »reli-
giöse« Beligion proklamiert wird. Wenn man nun noch be-
denkt, daß die erhabene Persönlichkeit des Stifters der christ-
BeUgioeität. I79
Hellen Beligion selbst dem Meister Zeit seines Lebens ein
Gegenstand höchster und aufrichtigster Verehrung war, daß
in seiner in gewissem Sinne >revolutionär8ten« Schrift »Die
Kunst und die Bevohition« Jesus und ApoUon die »zwei er«
habensten Lehrer der Menschheit« genannt werden, daß er zu
derselben Zeit ein Drama plante, in welchem Jesus als Yer-*
künder seiner eigenen Weltanschauung auftreten sollte, und
endlich daß der Begriff der Liebe, in welchem sich eigentlich
die ganze Wagnersche Ethik zusammenfaßt, gerade so (wenn
auch etwas anders gefärbt) im Mittelpunkt seines revolutio-
näxen Denkens steht, wie er, in der aus Schopenhauer ent-
lehnten Fassung als »Mitleid«, den eigentlichen ethischen Kern
seiner späteren Begenerationsidee bildet, so kann man sich
unmöglich der Einsicht verschließen, daß hier überhaupt kein
Bruch, kein »Abfall« oder »Umfall«, wie die »freien Greister«,
aber auch keine plötzliche Gnadenwirkung oder göttliche Er-
leuchtung, wie die Gläubigen wohl sagen würden, vorliegt,
sondern eine ganz einfache und natürliche Entwickelung, deren
Einheitspunkt so offen und klar zu Tage liegt, daß es wahrlich,
um ihn zu entdecken, keiner besonderen Clairvoyance bedarf.
Ich komme jetzt auf die zweite Instanz gegen die beliebte
Deutung der Wagnerschen Religiosität als einer Erscheinung
seniler decrepitude. Man könnte nämlich noch zur Not von
einem »Alter8«-stadium in der Wagnerschen Weltanschauung
reden, wenn er bei dem Schopenhauerschen absoluten Pessi-
mismus stehen geblieben wäre, wenn er sich wirklich zu einer
asketischen »Weltflucht« hätte entschließen können, und wenn
er etwa statt des christlichen »Parsifal« die indisch -buddhisti-
schen »Sieger«, mit welchem Plane er sich eine Zeitlang trug,
ausgeführt hätte. Gerade aber daraus, daß dies nicht der Fall
war, daß er das pessimistisch-optimistische Christentum dem
rein pessimistischen Buddhismus vorzog, kann man ersehen, wie
ungebrochen die Kraft dieses Geistes geblieben ist, der im-
stande war, nach einer erschütternden Katastrophe, in welcher
ihim alle seine schönsten Zukunftsträume jäh erblaßten und
ins wesenlose Nichts versanken, neuen Mut und neue Hoff-
nung zu fassen, und gerade im höchsten Alter wieder er-
neutes Zutrauen zu gewinnen wußte zu der wunderwirkenden
12*
IgO Deutschtum und Christentum.
Macht der im Menschen trotz allem yorhandenen reinen und
edlen Seelenkräfte. So weit war dieser titanische Grenius von
jeder Spur sich bemerkbar machender > Greisenhaftigkeit« ent-
fernt, daß er gerade im letzten Decennium seines Lebens die
Kraft in sich fühlte, die beiden Antithesen seiner Gteistesent-
wickelung, den Feuerbachschen Optimismus und den Schopen-
hauerschen Pessimismus, in einer höheren Einheit aufzuheben
und zusammenzuschließen, zu einer Einheit, für die ihm sich
eben die christliche Religion als entsprechendes Symbol darbot.
Darum ist es von großer Wichtigkeit, den »Parsifal«, die
letzte Bühnenschöpfung, in welcher der Meister seine religiöse
Weltanschauung künstlerisch zum Ausdruck brachte, nicht
dahin mißzuverstehen, als ob gänzUche Weltflucht, mönchische
Askese und absolute »Verneinung des Willens zum Leben«
das in diesem Werke gepredigte ethische Ideal seien. Viel-
mehr wird ein aufmerksames Studium der Dichtung und Musik
dieses Dramas — denn beide bilden auch hier, wie in jedem
Wagnerschen Drama, eine untrennbare Einheit — gar bald
zu der Einsicht führen, daß, so sehr auch Wagner von jedem
Betonen eines einseitig konfessionellen Standpunktes entfernt
ist, — über das historische und kirchliche Christentum fällte
er dasselbe Urteil, wie Schopenhauer, daß nämlich durch seine
unorganische Verquickung mit dem ihm gänzhch heterogenen
Geiste des alten Testamentes der innerste Kern des christhchen
Erlösungsgedankens, die ewige Wahrheit an ihm, bis zur Un-
kenntlichkeit entstellt worden sei — daß, sage ich, gerade
eine specifisch protestantische Auffassung des Christen-
tums im »Parsifal« zu Tage tritt. Denn weit davon entfernt,
daß die sittliche Umkehr, wie sie das Christentum verlangt,
aus der Welt hinausführte in eine einsiedlerische Abkehr von
allem positiven Wirken und Schaffen, stellt sie uns vielmehr
erst recht mitten in sie hinein, und gerade die Uberwindimg
der Welt selbst weist uns wieder auf sie zurück, um in ihr
den neuen Menschen zu bethätigen, in stetem Kampfe mit den
Mächten rov tocovvov y,6o^ov das ideale Princip zum Siege
zu führen und schließlich das »Reich Gottes« hienieden Wirk-
lichkeit werden zu lassen: in diesem positiven und affirmativen
Grrundzuge begegnet sich der Parsifal mit dem Geiste des
Graf Gobineau. Igt
Protestantismus, dem das Evangelium der »Sauerteig« ist, der
die ganze Welt erneuernd durchdringen soll.*
Also: bedingter Pessimismus, d. h. Festhalten an der
pessimistischen Grundüberzeugung in Bezug auf die Welt und
die Menschheit der Gegenwart nicht nur, sondern auch der
Vergangenheit, solange sie ims als geschichtliche Erfahrung
bekannt ist; daneben: Annahme einer Abirrung des Menschen
von seiner reinen Natur und eines daher datierenden allge-
meinen, immer offenkundiger werdenden Verfalls der Mensch-
heit, und endlich Glaube an die Möglichkeit einer Regene-
ration im Sinne des reinmenschlichen Ideals, gewonnen aus
dem Vertrauen auf die Macht des deutschen Geistes,
wie er sich namentlich in der deutschen Kunst und hier
wieder in erster Linie in der deutschen Musik geoffenbart hat,
und des Christentums, wie er es nun erkannt hatte, —
in diesen Schlagworten läßt sich ungefähr die Summe dieser
letzten Form, welche die Wagnersche Weltanschauung annahm,
kurz zusammenfassen.
Gegen das Ende seines Lebens trat Wagnern ein Mann
näher, der eben jetzt beginnt, die Aufmerksamkeit weiterer
Kreise auch in Deutschland auf sich zu ziehen, ich meine den
Grafen Gobineau. Auch dieser hatte in seinem epoche-
machenden Werke > Essai sur Tinegalite des races humaines<
(1853/55)** eine allgemeine Degeneration als charakteristisches
Kennzeichen unserer gegenwärtigen Kulturzustände bezeichnet,
suchte diese aber aus der natürüchen Ungleichheit der Men-
schenrassen und der Eigentümlichkeit aller civilisatorischen
Nationen, sich im Laufe ihrer Entwickelung mit fremden Stäm-
men zu vermischen und infolgedessen ihrer ursprünglichen
Reinheit und körperlichen wie geistigen Überlegenheit verlustig
zu gehen, zu erklären. Wagner, der schon früh, und zwar in
♦ Über Wagners Verhältnis zur christlichen Beligion vergleiche, ne-
ben vielen Beiträgen der »Bayreuther Blätter«, namentlich den trefflichen
Aufsatz: »Eichard Wagners Stellung zum Christentum« von Arthur Seidl
in »Die christliche Welt«, Leipzig 1893, No. 41 — 45.
** Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen. Vom ö^rafen
Gobineau. Deutsche Ausgabe von Ludwig Sohemann. Erster Band 1898.
182 Der Begenerationsgedaiike.
«einem > Judentum in der Musik« (1850) die Bedeutung des
Bassenunterschiedes für die Erscheinungen der geistigen Kultur
in ihrer ausschlaggebenden Wichtigkeit erkannt hatte, fühlte sich
von dieser Theorie seines geistvollen und gelehrten französischen
Freundes sympathisch angezogen, ohne indessen die Hoffnung auf
eine Abyrendung der nach Gobineau unausbleiblichen SchluBkata-
strophe der großen Kulturtragödie der europäischen Menschheit
sich gänzUch rauben zu lassen. Indessen, wenn in besonders
ernsten Augenblicken der Ausblick auf eine hoffnungsroUe
Zukunft auch ihm sich manchmal trübte, dann sehen wir wohl,
wie sehr die Gobineausche Perspektive seine innerste Seele
ergriffen. So in dem (teilweise bereits citierten) von Hans von
Wolzogen überlieferten Ausspruche, den ich hier in extenso
anführen will, um zu zeigen, erstlich wie wenig Wagner auch
nach der Überwindung des unbedingten Pessimismus Schopen-
hauers in eine sorglose, leichtsinnige Hoffnungsseligkeit sich
einlullen ließ, und zweitens, wie unerschütterlich diese Helden-
natur an der Notwendigkeit praktischer Bethätigung des Idea-
lismus im Leben festzuhalten wußte, auch wenn aller Glaube
an einen thatsächlichen Erfolg solcher Bestrebungen dahin-
schwinden sollte. Wolzogen berichtet (Erinnerungen an Bichard
Wagner S. 15): >Er sprach es noch in seinen letzten Jahren
öfters aus, was er in der Kunst und von ihrer Zukunft ersah:
,Es steht schUmm mit unserer Kultur! Retten wir wenigstens
auf alle Fälle das Gute, Schöne, Edle, was uns darin noch
geblieben ist; suchen wir sie wie eine Fahne im Gefecht zu
schützen, wie ein Heiligtum nach Möglichkeit rein zu erhalten.
Vielleicht bleibt es noch über den allgemeinen Untergang, der
doch schließlich vorauszusehen ist, als unbeachtetes Kleinod
hinübergerettet; wenn nicht, — nun, so ist es schon etwas
wert, daß in dem großen Untergange nicht nur das Schlechte
und das ganz Verdorbene, sondern auch noch ein Weniges von
dem edelsten Erbe der Menschheit mit untergeht!* Immer mehr
schien ihm ein würdiges heroisches Ende des Großen, Edlen
und Schönen das höchsterreichbare Ziel unseres Strebens,« —
woraus man dann wohl schließen könnte, daß gerade in den
allerletzten Jahren des Meisters, zeitweise wenigstens, wieder
eine größere Hinneigung zu einer absolut pessimistischen
YivisektioxL 183
Weltanschauung, zu einer rückhaltslosen Anerkennung des
Tragischen als »Wdtgesetzes« sich eingestellt habe.
Es erübrigt noch, der Stellungnahme Wagners zu zwd
Bewegungen der Gegenwart Erwähnung zu thun, welche zwar,
meiner Meinung nach, für die Würdigung des inneren Wesens
seiner Weltanschauung in ihrer letzten Entwickelungsphase von
keiner allzugraßen, geschweige denn principiellen, Bedeutung
ist, die aber doch so viel von sich reden gemacht hat und so
vielfach mißverstanden worden ist, daß sie nicht übergangen
werden kann. Ich meine sein Parteiergreifen für die Anti-
vivisektionsbewegung und den Vegetarianismus. So
befremdlich es auf den ersten BUck erscheinen mag, wie ein
Künstler — mochte er immer, wie jeder andere Mensch, auch
über diesen Punkt seine eigene Meinung haben — sich ge-
drungen fühlen konnte, für eine seiner Lebensbethätigung so
fernliegende Frage, wie die nach der Berechtigung des physio-
logischen Experimentes am lebenden Tierkörper, die volle Au-
torität seiner Person einzusetzen und vor der Öffentlichkeit in
die Wagschale zu werfen,* so wenig wird es den erstaunen,
der die Wagnersche PersönUchkeit genauer kennen gelernt hat.
Ebenso großer Tier- als Menschenfreund,** von Schopenhauer
belehrt über die metaphysische Identität der Tier- und Men-
schenseele, des in beiden zur Erscheinung gelangenden »Willens
zum Leben c, unfähig, sein alle Schmerzen der Welt sympathisch
mitleidendes großes Herz irgend einem fremden Weh zu ver-
schließen, mußte ihm die Vivisektion als das erscheinen, als
was er sie beurteilte: ein Greuel. Aber dieser Abscheu allein
würde vielleicht noch nicht imstande gewesen sein, den Meister
zu öffentlichem Aussprechen seiner Ansicht in dieser Frage zu
bewegen, wenn die Vivisektion sich ihm nicht als ein charakte-
ristisches Zeichen der Zeit geoffenbart hätte, als ein Symptom
jener utilitaristischen Richtung, der er seine religiöse und
ethische Weltanschauung als ihr direktes Gregenteil entgegen-
setzen zu müssen glaubte. Denn womit begründen die Physio-
* Offenes Schreiben an Herrn Ernst von Weber (1879) X. 194 ff,
♦* VergL H. von "Wokogen, Richard Wagner und die Tierwelt.
Leipzig, Härtung u. Sohn.
184 I^er BegenerationggedAnke.
logen die Notwendigkeit der Vivisektion anders als mit dem
Hinweise auf das »Heü« der Menschheit, in deren Dienste und
zu deren Nutzen das Tier gemartert werde? Aber Wagner
war diesem NützKchkeitsstandpunkte gegenüber in innerster
Seele davon überzeugt, daß es keinerlei >Heil« für die Mensch-
heit gebe, als das ihr von innen Kommende einer sittlichen
"Wiedergeburt, die sich zuhöchst zu bethätigen habe in der
Anerkennimg des Mitleidens als unumstößlichen Moralprin-
cips, — daß, wenn anders das Menschenleben mit seinem end-
losen Leiden mehr und etwas besseres sein solle als ein absolut
ziel- und zweckloses Chaos, einzig seine ethische Bedeutung
als eines Passionsweges des "Willens, auf welchem er sich durch
Leiden aus seiner Blindheit zum Wissen seiner selbst imd
damit zum Frieden und zur Einigkeit mit sich zu erlösen habe,
ihm einen Sinn verleihen könne. Die Erkenntnis, daß alle
lebenden Wesen im tiefsten Grunde mit unserem eigenen An-
sich identisch sind, diese höchste Einsicht, der das unbegrenzte
Mitleid mit aller empfindungs- und leidensfahigen Kreatur
entblüht, sie ist das einzige Ziel unseres jammervollen Daseins,
sein oberster Endzweck, gegen den alle anderen Bücksichten
zurückzutreten und zu schweigen haben.
Der Anhänger der utilitaristischen Weltanschauimg kann
ohne Zweifel nur ein ironisches Lächeln übrig haben für deiv
artige »sentimentale Anwandlungen«, aber, wer da etwas tiefer
hinabgebHckt hat in die Abgründe unserer so fragwürdigen
Existenz, dem wird wenigstens das Eine einleuchten, daß hier
ein Problem vorliegt, über das ein ernster Denker nicht mit
einer einfachen Statistik und dem kahlen Hinweis auf den »un-
bestreitbaren Nutzen und Segen« hinweggehen darf,*
Eine Wiederaufnahme des die Schriften der revolutionären
Periode durchziehenden Gedankens, daß die menschliche Natur
ursprünglich und von Haus aus dazu bestimmt gewesen sei,
sich ruhig und konfliktlos in der Bichtung ihrer edelsten und
reinsten Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln, von welcher
* Man vergleiche auch Schopenhauers Ansichten über die Vivisektion,
— also eijies Denkers, der selbst ein für seine Zeit trefflich geschulter
Physiologe war und die Sache nicht bloß vom Hörensagen kannte. Werke
(Reclam) V, 392 ff.
VegetamniflnittB. tg5
Entwickelung sie einzig durch ein Abirren von dem ihr vor-
gezeichneten Wege abgekommen sei, war es dagegen, was
Wagnern zum Vegetarianismus hinzog. Ln Anschluß an
die Schrift des französischen Yegetarianerapostels Gleiz^s
»Thalysia« (Deutsche Ubersetzimg von R Springer, 1872) veiv
suchte Wagner, sich das »Phantasiebild« (wie er es selbst
nannte) einer in den Urzeiten bloß von Vegetabilien sich näh-
renden und infolge dieser Nahrung paradiesisch milder Sitten
und edel sanfter Lebensgewohnheiten sich erfreuenden Mensch-
heit zu zeichnen. Greologische Umwälzungen und daraus ent-
standene Hungersnot hätten diesen »Naturmenschen« gezwungen
zur Fleischkost überzugehen, zum Baubtier zu werden und da-
mit auch Baubtiercharakter anzunehmen. Einzig die Eück-
kehr zur »naturgemäßen« Lebensweise, eben der vegetarischen,
könne Heilung dieser Krankheit, an der die Menschheit bis
zum heutigen {Page hinsiecht, bringen.
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, uns mit diesen
unleugbar »kühnen«, nicht immer von allzufest fundamentierten
Hypothesen gestützten »Phantasieen« kritisch auseinanderzu-
setzen; vielmehr kommt es uns einzig darauf an zu zeigen, wie
sie aus dem, was man die »innere« Weltanschauimg Wagners
nennen kann, im Gregensatz zu ihrer »äußeren« und wechselnden
begrifflichen Form und Eiakleidung, hervorgehen. Und da ist
es denn immer wieder nur der imerschütterliche Zukunftsglaube
des Meisters, die aus der besonderen und individuellen Artung
seines geistigen Charakters fließende Notwendigkeit, zu hoffen
und immer wieder zu hoffen trotz aller Enttäuschungen, was
ihn veranlaßte, mit rührendem Ernst und banger Sorge dahin
auszuspähen, wo immer sich hur die kleinste, wenn zunächst
auch noch so unbestimmte, Aussicht auf einen Weg des Heils,
auf eine Möglichkeit der Bettung aus einer als leidvoll und
unwürdig erkannten Existenz ihm zu bieten schien.
Der nüchternere Geist aber, dem es vielleicht bedünken
möchte, als sei es eben doch vneder nur der »menschenerlösende
Wahn« gewesen, der dem Meister diese Phantasmagorieen vor-
gespiegelt habe, um ihm dadurch das Weiterschaffen und
-wirken nach herbsten Enttäuschungen überhaupt nur zu er-
möglichen, der möge einen Blick auf die beiden Werke richten.
Igß Die MeigtersxDger imd Parsifal.
in welchen die Weltanschauung Wagners in ihrer entwickel-
testen und abgeklärtesten Form zu künstlerischem Ausdruck
gelangte^ auf »Die Meistersinger« und »Parsifal«. Beide ge-
hören untrennbar zusammen als die Werfte, in welchen nicht
nur das negative Element der Erlösung, die Verneinung des
zwiespältigen und sündigen »Willens zum Leben«, sondern auch
die positive Seite dieses Befreiungsaktes, die Bejahung des
»besseren Bewußtseins«, das sieghafte Durchdringen zu einem
edleren und reineren Wollen sich uns in künstlerischer Gestal-
tung offenbart. Hans Sachs, der aus der Zerrissenheit eines
in sich gespaltenen Strebens zur seHgen Verklärtheit eines welt-
erlösenden Humors emporgehobene Wotan, und Parsifal,
der aus der Bealität des Eiwig-Natürlichen in die Idealität des
Beinmenschlichen übersetzte Siegfried, sie ergänzen einander
zu einem Bilde, das uns den tiefen Sinn und die ewige Wahr-
heit der Wagnerschen Weltanschauung in ihrer alle Gegensätze
versöhnenden Harmonie, zu der sie sich schließlich verklärte,
deuthcher und reiner kündet, als dies jemals durch eine noch
so gründliche Untersuchung vielfach mißverständlicher theore-
tischer Meinungsäußerungen ermöghcht werden könnte. »Durch
Entsagung — nicht zum Tode, sondern zum Leben!« —
das könnte man als den Wahlspruch der in diesen beiden
Werken niedergelegten Weltanschauung bezeichnen, die damit
in der Sphäre der künstlerischen Lituition das mit unmißver-
ständlicher Klarheit darstellen und interpretieren, was Wagner
meinte, wenn er einmal der von Schopenhauer negativ als
»Verneinung des Willens zum Leben« bezeichneten Erlösung
die eigentliche Bedeutung einer Affirmation, als der Negation
einer Negation, d. h. der Wiederherstellung der von ihrem my
sprünglichen und wahren Wesen abgeirrten und einzig in dieser
ihrer Verirrung uns aus der geschichtHchen Erfahrung bekannten
Menschennatur zuerkennt. Das Gebiet aber, auf dem Wagner
dieses Wunder der Erlösung zum Leben allein mit alle
Bedenken überwindender, das menschliche Gefühl ganz un-
mittelbar gefangennehmender und widerstandslos überzeugender
Macht zu einem so zwingenden Ausdruck bringen konnte, daß
sich auch das skeptischeste Gemüt ihm nicht zu entziehen ver-
mag, ist einzig wieder nur seine Kunst.
Schluß.
187
Der Aufgabe, dieses »holde Wunder« durch die zersetzende
Analyse einer ins Einzelne gehenden philosophischen Deutung
zu zerpflücken und zu zerstören, kann ich mich nun um so
mehr überhoben erachten, als bei diesen Werken weder prin-
cipielle Mißverständnisse — von der angeblichen »Weltflüchtig-
keit« des Parsifal ist übrigens schon die Rede gewesen — aus
dem Wege zu räumen sind, noch auch ihre Stellung als krönen-
der Abschluß einer Weltanschauung, die wir in ihrem Wachsen
und Werden vor uns haben vorüberziehen sehen, die besondere
Klarlegung ihrer Bedeutung für diese Entwickelung notwendig
macht. Hier legt der »Darsteller« der Weltanschauung den
Griffel aus der Hand, um die einzig adäquate Darstellung der
»Philosophie« des Künstlers an die Stelle seiner trockenen
Darlegungen treten zu lassen: — die lebendige Wirkung des
Kunstwerkes selbst. Der Rest ist, für ihn — Schweigen, für
den Leser -7 Schauen und Erleben! —
Namen- und Sachregister.
A.
Abfitraktion s. Anschauung.
Allgemeinlieit s. Individuum.
Altruismus 81.
Amor (s. a. Liebe; 130, 136—139.
Amor und Caritas 82, 132, 138 f.
Anarchismus 76, 98 f., 144.
Anschauung und Begriff 3 ff., 10,
26 f., 70, 119 f.
Anthropologismus 73 f.
Antike 31, 35, 79, 86, 174 f.
Apollon 88, 179.
Aristoteles 26.
Arnim-Brentano (Des Knaben Wun-
derhom) 31.
Auber 54.
B.
Bahnsen, Julius 39, 138 f.
Bakunin 63.
Bayreuth 163 f., 166 f.
Bayreuther Blätter 65, 137, 181.
Beethoven 8, 23 ff., 27—30, 34 f.,
50—54.
Befreiungskriege^ die deutschen 30 f.,
38.
Begriff s. Anschauung.
Bellini 54.
Berlioz 30.
Bewußtsein s. Schaffen.
Bismarck 41, 152, 175 f.
Boisseree, Gebrüder 31.
Briefe B. Wagners: an Liszt 24,
107, 146, 150; an Böckel 125, 128,
130, 132, 146, 151; an Schopen-
hauer 136 f.; an ühlig etc. 96, 118,
140, 158.
Brünnhüde 124, 126.
Bülow, Hans von 166.
Bulwer (Eienzi) 56.
Byron 31.
C.
Galderon 31.
Caritas s. Amor.
Carlyle, Thomas 63, 177.
Charakter R. Wagners 18, 37 f., 43
—49, 109 f., 142 f.
Chamberlain, H. St. 16 f., 67, 71 ff.,
95, 134 f., 162.
j Christentum, das, und Wagners Ver-
hältnis zu ihm 14, 19 f., 104, 115,
155 f., 171, 177—181.
Christentum und Hellenismus 87 f.
CiviHsation 84 f., 90 f., 117 f., 158 ff.,
169.
Degeneration s. Menschheit.
Denker s. Künstler.
Deutsch (s. a. Nationale, das) 29, 54,
59f., 115f., 166, 171—175, 177,
181.
»Deutsch? Was istc 60, 171.
Namen- mid Sachregister.
189
»Deutsche Kunst und deutsche Po-
litik« 171.
Deutschland, das junge 32.
Dichtkunst und Musik, 21— 28.
, Entwickelungsgang der deut-
schen 25 fr.
Dinger, Hugo 16 f., 63, 84, 97, 147,
176.
Dogma, religiöses 156 ff.
Donizetti 54.
Drama, antikes 26, 86*
, gesprochenes 7.
, das ideale (s. a. Worttondrama)
25 f.
Dramatiker, Wagner als s. Wortton-
dichter.
Dualismus im Wollen des Menschen
39—43.
Duns Scotus 72.
£•
Egoismus 81 f., 151—154.
Einseitigkeit, Wert der 10 f.
EUis, William Ashton 63.
Entwickelung s. Eyolutionismus.
Entwürfe, Wagners dramatische 65[ff.
Erlösung 19, 124, 127, 129, 145, 148,
155f., 178, 180, 186.
Ernst 174.
Ethik 34 f., 47, 126, 144, 146 ff., 156,
168, 170, 179 f., 183 f.
Europa, das junge 55.
Evolutionismus 75 f., 84 f., 93, 121 f.,
170.
F.
»Feen, Die« 52 f.
Feuerbach, Friedrich 77.
Ludwig, und Wagners Verhält-
nis zu ihm 14 f., 18—20,33,69—78,
80 f., 98, 100, 118f., 121, 128, 141 f.,
145 ff., 170, 178, 180.
Fischer, Kuno 33.
Frantz, Constantin 33, 177.
»Friedrich Barbarossa« 65.
Gedichte Wagners, kleinere 175.
Gefühl und Verstand 67, 111, 113.
Gegenwart, die (s. a. Kunst) 89 ff.
Genies, die Tragödie des 111, 113.
G^samtkunstwerk, das (s. a. Künste}
91 ff.
Geschichte 26, 68, 75 f., 78 ff., 83 ff.
Geschichtsphilosophie 1 8, 75 f., 85—89.
Geyer, Ludwig 34.
Gleizfes, Antoine 185.
Glückseligkeitstrieb 83.
Gnade s. Kecht.
Gobineau, Graf 181 f.
Goethe 25 ff., 31, 39 f., 133, 173 f., 178.
Goltz, Bogumil 11,
»Götterdämmerung, Die« 124, 130 ff.
Gottfried von Straßburg 103.
Gozzi 37, 52.
Griechentum 86 — 89.
Grimm, Gebrüder (Märchen) 31.
H.
Hegel 18, 33, 74 ff., 84, 118, 121.
Heiligen, die Natur des 42.
Heinse (Ardinghello) 55.
Hellenentum s. Griechentum.
Herwegh, Georg 129.
Hoffinann, E. Th. A. 32, 35—38, 51 ff.
»Holländer, Der fliegende« 60, 64 f.,
71, 101—107, HO f., 114, 117,
119 f., 122, 141, 173.
Humor 154, 186.
I.
Ibsen, Henrik 164.
Ideals, die widerspruchsvolle Natur
des 39 ff.
, Verwirklichung des 18 f., 40 ff.,
47, 49, 75f., 99f., 118 £, 144, 147 ff.,
153—156, 158, 160, 165, 176.
Idealismus, praktischer 49, 98, 143.
Individuum und Allgemeinheit 83 ff.
Innerlichkeit 174.
Instinkt s. Schaffen.
190
Namen- und Sachregister.
J.
Jesus 77, 88, 179.
> Jesus von Nazsareth« 65, 76, 1221,
179.
> Judentum in der Musik, Dasc 182.
Julirevolution, die 38 f., 51.
»Kaisermarsclic 175.
Blant 25 f., 28, 33,- 43, 47.
Kapitalismus 58, 62.
Kolumbus 129.
Kommunismus 81 f.
Königtum 97, 154 f.
Konservatir 89, 154, 176 f.
Kontemplative Natur, die 41 f.
Kömer, Theodor 30.
Kultur 83 ff., 158 ff., 169.
Kunst 6, 79, 89 ff., 150 f., 157—160,
169.
und Gegenwart 61, 89 ff., 158.
und Industrie 58, 62.
und Leben 49, 151, 158—165.
und Philosophie 2—5, 9, 187.
, die deutsche, als Kulturgewalt
20 f.
, , und die deutsche Philo-
sophie 21.
die Wagnersche, ihre Stellui^
in der Gegenwart 161 — 164, 167.
> und Klima« 73.
> Die, und die Bevolution« 73,
85, 88, 179.
Künste, die einzelnen, und das Ge-
samtkunstwerk 22 f., 92 — 95.
Kunstlehre, Wagners 91 — 97, 147.
Künstler, Wagner als 5—9, 119 f.,
151.
und Denker 5 ff., 13 f., 26 £, 70,
11-9 f., 127, 141 ff., 169 f., 186 f.
und Mensch 44, 69, 159.
Künstlerische Mensch, der 42 f.
Kunstwerk, das 4.
Form und Inhalt im 13 f., 26,
67 f., 115 f.
Kunstwerkes, Sinnlichkeit des 54.
Kunstwerk der Zukunft 91-^-97, 158.
»Kunstwerk der Zukunft, Dasc 72 f.,
89, .99, 156.
Kunstwerke, Wagners 5 ff.
, , frühere und spätere 101
—105.
102 ff.
-, Verhältnis zu den Quellen
-, als Selbstbekenntnisse
105 f., 109 f.
L.
Lange, Fr. A. 74.
Leben s. Kunst.
Leben, Wagners : Abstammung 33 f.
Jugendeindrücke 35 ff. Schul- und
Studienzeit 50 ff. Paris 55 — 59.
Dresden 60 ff. Verbannung 63,
139 f. Vom 2. Pariser Aufenthalt
bis zum Ende 165 ff.
Lebensaufgabe, Wagners 7 ff., 17 f.,
27 ff.
Lessing 174.
Lichtenberg, G. Ohr, 36,
Liebe (s. a. Amor und Caritas) 46,
81 f., 87, 130, 132, 139, 168, 179.
Liebesbedürfoifl 80, 82 f., 128, 151.
»Liebesverbot, -Das« 52 — 56.
Xiszt, Cosima 166.
, Franz 8, 30.
»Lohengrin« 14, 64 f., 71, 78, 101—
105, 110—117, 119, 122, 141.
Lucrez 77.
Ludwig n., König von Bayern 151,
157, 166.
M.
»Meistersinger von Nürnberg, Die«
60, 101—104, 140 f., 153 f., 158, 171,
173, 186 f.
Mendelssohn,. Felix 50.
Mensch s. Künstler.'
, natürlicher und historischer 78 f,
, seine sociale Natur 83.
Namen- und Sachregister»
191
Mensch nnd Philister 118.
Menschheit, Entwickelnngsgaog der
86 ff.
, VerfaU der 19, 176 f., 181, 185.
Meyerbeer, G. 30, 66.
Mitleid 81 f., 179, 184.
>Mitteilung an meine Freunde, Eine«
73, 101, 105, 113, 119, 151.
Mozart 34, 50, 66.
Musik 23 ff., 27, 46, 147, 159, 168.
und Dichtkunst 21—29.
, Entwickelungsgang der deut^
sehen 23 ff.
Musikschwärmerei 161 f.
Mythos 78.
Napoleon Buonaparte 30,
Nationale und Übernationale, das,
in "Wagner 171 f.
Natur und Kultur 83 ff., 117 f.
>Nibelungen< s. »Ring«.
»Nibelungenmythos, Der« 1 25r
Nietzsche, Friedrich 20, 25, 44 f., 48 f.,
133, 164, 172.
Nordau, Max 164.
Objektivität 10, 174.
Oper 7, 27 f., 51, 57, 66 f., 95 f.
, deutsche 31.
, deutsche, fitinzosische und ita-
liänische 54.
»Oper und Drama« 8, 73. •
Optimismus und Pessimismus 15, 19 f.,
98, 118—121, 127 f., 133, 136, 139
—147, 149—156, 165, 168 ff., 176f.,
179—183.
P.
»Parsifal« 14, 76 f., 101—104, 156,
166, 171, 179 f., 186 f.
Patriotismus (s. auch Deutsch) 153,
172.
Paulus, der Apostel 42.
Pessimismus s. Optimismus.
Philosoph B. Denker.
Philosophie und Kunst 2 ff.
und Beligion 2..
, deutsche 32 f.
»Pilgerfahrt zu Beethoyen, Eine« 66.
Planer, Wilhelmine 55.
Piaton 22 f., 138, 141.
Politik, die, und "Wagners Verhält-
nis zu ihr 97, 148, 151 ff., 156, 166,
170, 175—177.
Politiker, der 41, 175 f.
Prosaschriftsteller, "Wagner als 5 ff.,
37, 159.
Protestantisch 180 f.
Kassenfrage 182..
Beaktion in Deutschland, die 38.
Becht und Gnade 155.
Beflexion s. Schaffen.
Beformator, "Wagner als (s. a. Theater-
reformator) 34, 60 ff.
Begeneration 148 £, 170, 179, 181.
Beinmenschliche, das 17 f., 29, 49 f.,
68f.,73ff., 78ff., 115,118,143f.,l47,
155, 159 f., 168, 170, 173 ff., 186.
Beinmenschlichen , die Sehnsucht
nachdem 105 ff., HO, 114f., 156,178.
Beligion (s. a. Kunst und Philosophie)
153, 155 ff., 178.
»Beligion und Kunst« (nebst den
»Ausführungen«) 171.
Beligiosität, Wagners 76 ff., 156,
177—181, 184.
Benaissance, die 21, 174 f.
Bevolution 88 f., 122, 148.
, die deutsche, von 1848/49 38,
62 f., 97.
Bevolutionär, Wagner als 51, 59,62f.,
96ff., 122f., 148, 151, 154, 158ff.
»Bienzi« 56 f., 59 f., 64, 101.
»Bing des Nibelungen, Der« 14, 64f.,
71, 76, 101 ff., 119, 123—134, 145,
156, 166.
192
Namen- und Sachregister^
Böckel, August 63.
Bomantik, die deutsche 31 f.
Bossini 30.
Rousseau, J. J. 84, 93.
Rückert 138.
Buge, Arnold 173.
S.
Sachs, Hans (i. d. Meistersingern)
60, 154, 158, 173, 186.
»Sarazenin, Die« 65.
Schaffen, bewußtes und unbewußtes
(Instinkt und Beflexion) 8, 64 f.,
128ff., 134.
ScheUing 33.
Schemann, Ludwig 181.
SchiUer 25—29, 31, 43, 63, 67, 151 f.
Schlegel, A. W. 31.
, Fr. 178.
Schopenhauer, Arthur, und Wagners
Verhältnis zu ihm 10, 14 f., 18fif.,
28, 33, 69, 71, 76, 81 f., 98, I19fif.,
129—139, 141 f., 145—150, 153,
156, 170, 173, 179f., 183f., 186.
Schriften, Wagners 5 — 8.
Schriftsteller s. Prosaschriftsteller.
Schröder-Devrient, Wilhelmine 54.
Seidl, Arthur 181.
Sensualismus s. Sinnlichkeit.
»Sieger, Die« 179.
Siegfried 123 ff., 186.
»Siegfrieds Tod« 65, 124.
Sinnlichkeit 51, 54, 74, 87, 107 ff.,
121, 144, 146f.
SittUchkeit s. Ethik.
Sociale Frage und Socialismus 5S —
61, 63, 90, 97 f., 148, 156, 170.
Spinoza 40.
Spontini 64.
Springer, B. 185.
Staat 95 f., 152, 155.
»Staat und Beligion, Über« 151—154,
169, 178.
Stammhammer, J. 103.
Stein, Heinrieh von 21, 69 f.
Stimer, Max 75.
Storm, Theodor 150.
Strauß, D. Fr. 177.
Subjektivität 9 ff., 74.
T.
»Tannhäuser« 14, 61, 65, 71, 78, 101,
102—111, 113—117, 119, 121 f.,
141, 165.
Theaterreformator, Wagner als 34 f.
Todessehnsucht 146, 149f.
Tolstoi, Graf Leo 84.
Tragik im Leben Wagners 164 f.,
167.
Tragöde, Wagner als 140 f.
Treue 48 f.
»Tristan und Isolde« 76, 101—104,
132—139, 149 f., 162.
ü.
Unbewußtsein s. Schaffen.
Unwillkür s. Willkür.
Utilitarismus 81, 174 f., 183 f.
V.
Vaterlandsvereinsrede, Wagners 97,
154.
Vega, Lope de 31.
Vegetarianismus 183 — 185.
Verfall s. Menschheit.
Verstand s. Gefühl.
Vivisektion 183 f.
Vogler, Abbe 30.
Volk 62.
W.
Wagenseil, J. Chr. 37.
Wagner, Albert (Bichards Bruder) 34.
, Cosima (Bichards 2. Frau) 166.
, Friedrich (Bichards Vater) 33.
, Heinrich Woldemar 63.
, Bichard s. Charakter, Kunst-
werke, Leben, Schriften, Tragik,
Weltanschauung u. s. w.
, Bichards Großvater, Mutter
und Schwestern 33 f.
Namen- und Sachregister.
193
"Wagner, Siegfried (Eichards Sohn)
166.
, Wilhebnine (Bichards 1. Frau)
55, 57.
Wagnerbegeisterung, die moderne
161 ff.
Wahn 152 ff., 157 ff., 185.
Wahrhaftigkeit 47.
Weber, Karl Maria von 30 ff., 35,
52—54.
Weib, das 55, 117 f.
Weinlig, Theodor 51.
Weltanschauung, religiöse, künstle-
rische und philosophische 1 — 5.
, individuelle Beschränktheit
einer jeden 9.
, Bedeutung der künstlerischen
3ff., 9ff.
— Wagners, die : ihre Darstellung
(Methode, Quellen, Schwierigkei-
ten) 12—20.
, fremde Einflüsse auf die
13, 15ff., lOOf., 116f.
, Einflüsse der Lebensum-
stände auf die 139 f., 167 ff.
Weltanschauung Wagners: ihre Ein-
heit 7, 12—15.
: ihre Entwickelung 15 ff.
: ihre Voraussetzungen 17 f.
: Widersprüche 12 f., 119,
159ff.
»Wibelungen, Die« 86.
»Wieland, der Schmied« 65, 123.
WiUe, 98, 126 ff., 138, 151—154, 184,
186.
Willens, Verneinung des 127 f., 137 f.,
141, 145, 149, 155f., 168, 180, 186.
Willkür und Unwillkür 98 f., 132.
Winckelmann, J. J. 174.
Wolfram von Eschenbach 103.
Wolzogen, Hans von 165, 182 f.
Worttondichter, Wagner als drama-
tischer 7, 29, 49, 51, 57, 66.
Worttondrama 7, 24 f., 27 f., 44, 67 f.,
78, 95.
Wotan 124—128, 186.
Wundt, Wilhelm 93.
Z.
Zola, Emile 4.
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